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Full text of "Jahrbücher Für Psychiatrie Und Neurolo 1913 34"

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JAHRBÜCHER 

_ fQj. 

PSYCHIATRIE 

und 

NEUROLOGIE. 


Organ des Vereines für Psychiatrie und Neurologie 

in Wien. 

HERAUSGEGEBEN 

von 

I)r. F. Hartmann, Dr. K. Mayer, Dr. H. Obersteiner, 

Frofessor in Graz. Frofessor in Innsbruck. Professor in Wien. 

Dr. A. Pick, Dr., J. Wagner y. Jauregg, 

Frofessor in Prag. Frofessor in Wien. 


REDIGIERT 

von 

Dr. 0. Marburg und Dr. E. Raimann 
in Wien. 


VIERUNDDREISSIGSTER RANI). 


Mit 8 Tafeln. 


LEIPZIG UND WIEN. 
FRANZ DEUTICKE. 
1913. 


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Verlags-Nr. 20L7. 


K. u. k. Hofbuchdrucker Fr. Winiker & Schickardt, Brünn. 



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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 


Neuburger, Hax, Studien zur Geschichte der deutschen Gehirn¬ 
pathologie 1. 1 

Wada, Toyotane, Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in 

Japan nebst einem Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychologie 74 
Pfungen V., Über die täglichen Schwankungen der Leitungsfähig¬ 
keit des menschlichen Körpers und ihre Begründung. 93 

Redlich, Emil, Über Rückbildungserscheinungen bei Fällen mit dem 

klinischen Bilde der Gehirngeschwulst. Mit Taf. I.— TU . 102 

Grosz, Carl und Pappenheim, Martin, Über die Einwirkung poli¬ 
tischer Ereignisse auf psychische Krankheitsbilder. 125 

Rothfeld, J., Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydroceplialus 

chronicus und bei Epilepsie. 137 

Schlöfi, Heinrich, Referat über die Änderung des offiziellen Dia¬ 
gnosenschemas für die statistischen Berichte der Irrenanstalten in 

Österreich. 152 

Hartmann, F., Referat über Kranksinnigenstatistik. 173 

Anhang zum vorstehenden Referate. 193 

Diskussion zu den vorstehenden Referaten. 204 

Referate. 213 

Neuburger, Max, Studien zur Geschichte der deutschen Gehirn¬ 
pathologie II. 229 

Gerstmann, Josef, Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen . . 287 

Reinhold, Josef und Alt, Ludwig, Die Bogengänge als anatomische 

Grundlage der Schallrichtungswahrnehmung. 322 

Serko, Alfred, Im Mescalinrausch. 355 

Pilez, Alexander, Über Nerven- und Geisteskrankheiten bei katholi¬ 
schen Geistlichen und Nonnen. 367 

Referate. 376 

Vereinsbericht. 384 

Mitgliederverzeichnis. 413 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirn¬ 
pathologie 

von 

Dr, Max Neuburger, 

a. ö. Professor an der k. k. Universität in Wien. 


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Aus der Frühgeschichte der Encephalomalacie. 

Angaben über Verminderung der Konsistenz der Gehirnsubstanz 
als gelegentlichen Sektionsbefund trifft man in der medizinischen 
Literatur mindestens seit Morgagni in wachsender Zahl. 1 ) — Die 
Geschichte der Encephalomalacie als spezifischer pathologischer 
Veränderung mit einem scharf präzisierten Krankheitsbild setzt aber 
erst im Anfang des 3. Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts ein. 

Es war — abgesehen von manchen Antezedentien 2 ) — 
Rostan’s Schrift „Recherches sur le ramollissement du 

x ) In der älteren Literatur findet die Erweichung zum Teil unter 
der Bezeichnung „Brand“ (Spbacelismus) Erwähnung. Von deutschen 
Autoren des 18. Jahrhunderts, welche über Fälle von partieller Hirn¬ 
erweichung berichten, wären z. B. Haller, E. Gr. Schmidt, Gre¬ 
din g, Sömmerring, Prochaska, Beil zu erwähnen. Bemerkens¬ 
wert ist es, daß Arnemann (Versuche über das Gehirn und Rücken¬ 
mark, Göttingen 1787) bei seinen Experimenten an Kaninchen Erweichung 
nach Gehirnverletzung nachwies, und daß der Wiener Anatom A. R. 
Vetter (Aphorismen aus der pathol. Anatomie, Wien 1803) es zuerst 
als eine Eigentümlichkeit des Gehirns hinstellte, daß es durch Entzün¬ 
dung weicher werde. 

a ) Wie aus Lallemands „Recherches anatomopathologiques sur fen- 
c^phale“ (Lettre I. Nr. 22, III) hervorgeht, scheint als erster Reca- 
mier vom Ramollissement als einer eigentümlichen Affektion in 
seinen Vorlesungen gesprochen zu haben, er betrachtete die Erweichung 
als Wirkung eines „ataktischen“, bösartigen Fiebers als dögenörescence 
ataxique, foyer ataxique; noch vor ihm glaubte R o c h o u x, daß Er¬ 
weichung der Gehirnsubstanz die Voraussetzung für die Entstehung einer 
Gehirnhämorrhagie bilde (Traitö sur l’apoplexie, 1818), und erklärte 
Brichetau, daß sicher einmal die Identität der Encephalitis und En¬ 
cephalomalacie nachgewiesen werden würde (Journ. compl. du Dict. des 
Sciences mödicales, 1818). 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. i 


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Dr. Max Neuburger, 


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cerveau“ (Paris 1820), welche der „Gehirnerweichung“ einen 
Platz in der Pathologie eroberte und zwei Dezennien hindurch die 
Hauptgrundlage aller einschlägigen Untersuchungen blieb 1 ), wenn 
auch dem neuen Forschungsgebiet sehr bald in Lallemand und 
Abercrombie, in Bouillaud, Andral, in Dechambre und 
Carswell — um nur die Bedeutendsten zu nennen — ausgezeichnete 
Bearbeiter erstanden. Die Anschauungen, welche R o s t a n auf Grund 
seiner — durchwegs an senilen Personen angestellten — Beobach¬ 
tungen ausgesprochen hatte, erfuhren freilich in der Folge erhebliche 
Modifikationen, da die verschiedenen Autoren, wie wir heute wissen, 
unter demselben Krankheitsbegriff pathogenetisch oft recht differente 
Affektionen subsumierten. 

Am meisten drehte sich der Streit um die Frage, 
ob der malacische Prozeß entzündlichen oder nicht¬ 
entzündlichen Ursprungs sei. Während Rostan, frei von 
Einseitigkeit, eine entzündliche und eine mit der Gangrän vergleich¬ 
bare, mit der Verknöcherung der Arterien im Zusammenhang ste¬ 
hende Form unterschied, verhalfen Lallemand, der vorzugsweise 
traumatische Fälle im Auge hatte, und Bouillaud der Meinung 
zur Herrschaft, daß es außer der entzündlichen keine andere Gehirn¬ 
erweichung gebe. Cruveilhier, der schon 1821 neben der ence- 
phalitischen auch eine hydrocephalische und eine von kapillärer 
Apoplexie herrührende Erweichung beschrieb, späterhiu Andral, 
der, allerdings unklar, noch andere Bedingungsmöglichkeiten als 
Entzündung für die Encephalomalacie in Anspruch nahm — blieben 
gegenüber den Vertretern der Entzündungstheorien in der Minorität. 

Eine endgültige Lösung schien 1843 die Arbeit Durand- 
Fardels „Traite du ramollissement du cerveau“ zu 
bringen, eine Arbeit, welche alle früheren hinsichtlich der Sympto¬ 
matologie und der pathologischen Anatomie der Gehirn¬ 
erweichung in den Schatten stellte. Mit ihr beginnt die zweite 
Epoche in der Geschichte der Encephalomalacie. Durand-Fardel 


x ) Rostan unterschied im Krankheitsverlauf der Encephalomalacie 
zwei Perioden. Die erste Periode charakterisiert sich durch fixen, hart¬ 
näckigen Kopfschmerz, Schwindel, Abnahme der Geisteskräfte und Sinnes¬ 
funktionen, Schlafsucht, Delirien, Parästhesien, Konvulsionen, Kontraktur, 
Parese in den Extremitäten einer Seite etc.; die zweite durch allmäh¬ 
liche oder plötzliche Steigerung der genannten Symptome, besonders aber 
durch Lähmung der Extremitäten. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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wurde der Hauptvertreter der Entzündungstheorie und die von ihm 
mit Geschick zu ihren Gunsten beigebrachten Argumente, welche 
er auch späterhin x ) ungewöhnlich hartnäckig immer wieder ins Feld 
führte, bewahrten weit länger, als sie es verdienten, bei der Mehr¬ 
zahl der französischen Autoren ihre Geltung. 

Englische Forscher, namentlich Abercrombie und Carswell, 
hatten zwar ziemlich früh einzelne Tatsachen aufgefunden, welche 
mit der dominierenden einseitigen Entzündungstheorie nicht in Ein¬ 
klang zu bringen waren, sie hatten auch dem wahren Sachverhalt 
nahekommende Vermutungen geäußert — den entscheidenden Um¬ 
schwung in der pathogenetischen Auffassung der Encephalomalacie, 
und damit die dritte Epoche ihrer Geschichte herbeigeführt zu 
haben, die Begründung der heute allgemein anerkannten 
Lehre von der lokalen Nekrobiose durch Gefäßver¬ 
schluß, ist das verdienstvolle Werk der deutschen 
Forschung. 

Daß die deutschen Forscher schon vorher, nicht nur in 
Gefolgschaft der Franzosen und Engländer, sondern auch selbständig 
gearbeitet, daß sie in der Ätiologie, Klinik und pathologischen Anato¬ 
mie der Gehirnerweichung, insbesondere aber in der Mikroskopie 
höchst Anerkennenswertes geleistet haben, mögen die nachfolgenden 
Ausführungen wieder ins Gedächtnis rufen. 

Rostans epochemachendes Buch erschien zwar erst 1824 in 
deutscher Übersetzung, aber der wesentliche Inhalt desselben wurde 
weiteren ärztlichen Kreisen schon 1821 durch einen Auszug über¬ 
mittelt, der von dem Berliner Praktiker Oppert, einem Freunde 
Rombergs, herrührte 8 ). 

Oppert selbst eröffnete gleich die Diskussion über das neue 
Krankheitsbild, indem er seinem Referat einige kritische Eigen¬ 
bemerkungen hinzufügte 3 ), von denen eine gegen die Aufstellung 


J ) Besonders in seinem Werke über die Krankheiten des Greisenalters. 

8 ) Horns Archiv f. mediz. Erfahrung, Jahrg. 1821, I., pag. 547 ff. 
Über die krankhafte Erweichung des Gehirns. 

3 ) Unter anderem wendet sich Oppert dagegen, daß Rostan alle 
Fälle von vermeintlicher „Apoplexia nervosa“ für verborgene oder 
unbemerkt gebliebene Gehirnerweichung hält; es gebe auch „Vitalitäts¬ 
verletzungen ohne vitia organica oder bemerkbare Fehler in der 
Struktur und Organisation der tierischen Materie“. 

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Dr. Max Neuburger. 


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der Encephalomalacie als selbständige Krankheitsform 
gerichtet ist. Er weist nämlich darauf bin, daß Eostans Kranke 
durchwegs hochbejahrte Personen — keiner unter 70 Jahren — 
gewesen sind, und ruft aus: „Es scheint überflüssig, eigentümliche 
Krankheitsformen aufzusuchen, wo die sehr gewöhnlichen Erschei¬ 
nungen des hohen Alters das Aufhören der Lebenstätigkeit unter 

gewissen Formen von selbst begreiflich machen.“ 

Von einigem Interesse ist ein noch im gleichen Jahre bekannt¬ 
gemachter Befund Wedemeyers, Dieser sah bei der (12 Stunden nach 
dem Tode gemachten) Sektion eines Syphilitischen, bei dem im letzten 
Stadium zerebrale Symptome aufgetreten waren, die eine Gehirnhämor- 
rhagie vermuten ließen, die ganze Gehimmasse ungemein blutarm und 
in eine weiche breiartige Substanz verwandelt; er glaubte diese 
Erweichung auf die vielen Merkurialkuren zurückführen zu sollen. (Rusts 
Magazin IX, 1821, pag. 551.) 

Auffallend früh, schon von manchen der ersten deutschen 
Autoren, welche das Thema gelegentlich behandelten oder streiften, 
wurde die entzündliche Natur des Erweichungsprozesses 
in Frage gestellt, beziehungsweise geleugnet, so von Hopfen - 
gärtner (1820), der die Malacie als „örtliche Vernichtung der 
Vegetation“ auffaßte, oder von Richter (1824) und Heusinger 1 ), die 
darin, im Geiste der Naturphilosophie, eine Rückbildung auf eine 
frühere Lebensstufe erblicken wollten. Hingegen hielten z.B.Rom¬ 
berg 2 ) und Funk (1825) an der Entzündungstheorie fest und 
auch der große Gehirnforscher Bur dach (1826) neigte ihr trotz 
einigen Schwankens zu. 

Hopfengärtner beschrieb (in Hufelands Journal 1820, 4. St., 
pag. 32 ff.) einen Fall, wo die Sektion im Marke der Großhirnhemisphären 
viele rote Punkte, breiige Erweichung des Seh- und Streifenhügels, 
gallertartige Veränderung der Vierhügel, Markkügelchen und Zirbel, 
Weichheit des Kleinhirns nach wies. Er knüpft daran folgende Bemerkung: 
Die Verwandlung ganzer organischer Gebilde oder einzelner Teile derselben 
in eine gallertartige Masse wird nicht ganz selten beobachtet . . . Nie 
habe ich eine Spur von Entzündung beobachtet und der ganze Krankheits¬ 
prozeß scheint auf einer örtlichen Vernichtung der Vegetation zu beruhen, 
die ohne erhöhte Tätigkeit in der Nachbarschaft stattfindet und wobei 
das erste Produkt der Krankheit vielleicht wie ein chemisches Auflösungs- 
mittel auf die angrenzenden Teile wirkt. Es ist hier um so weniger wahr- 

x ) Richter, Über die aus inneren Ursachen entstehenden Durch¬ 
löcherungen des Magens (Horns Arch. für mediz. Erf. 1824, Sept. und 
Okt. pag. 236). Heusinger, Berichte der anthropotom. Anstalt in 
Würzburg 1826. 

2 ) Archiv f. mediz. Erf. 1823. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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scheinlich, daß diesem Zerstörungsprozesse ein entzündlicher Zustand 
vorausgegangen sei, als keine Zufälle erschienen, die auf eine allgemeiner 
verbreitete Abnormität in der Tätigkeit der Gefäße des Gehirns hinwiesen. 

Funk glaubte, daß jede Erweichung des Gehirns auf einer chronischen 
Entzündung beruhe. (Die Rückenmarksentzündung, 2. Aufl., Bamberg 1825.) 

Bur dach äußert sich in seinem Werke V o m Baue und Leben 
des Gehirns, 3. Band, Leipzig 1826, an mehreren Stellen über die 
Erweichung. Im § 246 heißt es nach Erwähnung der Lehre Lallemands, 
daß die Erweichung ein wesentliches Merkmal der Hirnentzündung sei: 
„Die Erwägung der Umstände, unter welchen bei Leichenöffnungen eine 
besondere Weichheit des Gehirns bemerkt wird, bestimmt uns allerdings, 
dieser Meinung beizutreten, wiewohl es noch keineswegs erwiesen ist, 
daß schon im Anfang der Entzündung, nicht erst in ihrem spätem Ver¬ 
lauf und namentlich bei einem chronischen Gange derselben das Gehirn 
erweichen wird.“ Im § 254 sagt er: „Die Erweichung scheint wenigei 
auf reiner Schwäche des Bildungsherganges zu beruhen als vielmehr durch 
einen gereizten Zustand bedingt zu sein, dieser mag nun als eine aus¬ 
gebildete akute oder chronische Entzündung oder bloß als eine entzündliche 
Diathese erscheinen.“ Sie tritt nämlich ein: 1. nach äußern Verletzungen 
des Kopfes und des Gehirns, und zwar findet man sie bisweilen schon 
am 2., 3. oder 4. Tage, 2. im Umfange einer Blutergießung, 3. in der 
Nähe eingedrungener fremder Körper, besonders Knochensplitter, 4. im 
Umkreis eines Aftergebildes, 5. bei Eiterung und in der Nähe von Ge¬ 
schwüren, 6. bei Typhus mit entzündlichem Zustand des Gehirns und 
seiner Häute, 7. bei hydrocephalischer Meningitis. Im § 362 heißt es: 
„Eine solche schleichende örtliche Entzündung ist es, welche Rostan und 
Brichetau als Gehirnerweichung beschreiben, wo bei anhaltendem Kopf¬ 
schmerze die Geisteskräfte allmählich abnehmen^ bis apoplektische Anfälle 
eintreten, welche in kurzem töten.“ Im Anhang (pag. 534 ff.) stellt 
Burdach — ohne Berücksichtigung von Rostans Fällen — die in der 
Literatur aufgefundenen Beobachtungen von partiellen Gehirnerweichungen 
zusammen. Von deutschen Autoren sind zitiert: A. W. Arnold, Greding, 
Hopfengärtner, Nasse, Prochaska, Reil, Romberg, Scharschmidt, E. G. 
Schmidt, Sömmerring, Wenzel, Winkel. Aus der Zusammenstellung ergibt 
sich hinsichtlich der Häufigkeit des Vorkommens der Erweichung die 
folgende Tabelle: Verlängertes Mark (1), Kleinhirn (37), Brücke (12), 
Stamm des Großhirns (2), Bindearme (2), Vierhügel (3), Sehhügel (14), 
Streifenhügel (34), Zirbel (16), Hirnanhang (13), Gewölbe (17), Scheide¬ 
wand (6), Balken (15), Mantel des Großhirns (23), Oberlappen (32),. 
Unterlappen (6), Hinterlappen (18), Vorderlappen (13), Höhlenhaut (5), 
Gefäßhaut (1), Dura (1), wobei die beigesetzten Zahlen die Anzahl der 
beobachteten Fälle von Erweichung bezeichnen. 

Sehr bemerkenswert sind die Ausführungen des Rostocker 
Professors H. Spitta 1 ) (1826), der auf den Gegensatz der von 

x ) Die Leichenöffnung in bezug auf Pathologie und Diagnostik,. 
Stendal 1826. 


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Dr. Max Neuburger. 


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Lallemand und ßostan beschriebenen Fälle hinweist und daher ver¬ 
mutet, „daß man unter Hirnerweichung, wie es gewöhnlich 
bei der Entdeckung neuer Krankheitsformen der Fall ist, noch 
sehr verschiedenartige Zustände begreift,“ wobei er 
sich auch auf Cruveilhier beruft, der 1. die apoplektische Erweichung, 
2. die „Suppuration infiltr6e“, 3. die Erweichung bis zur Desorgani¬ 
sation ohne Spur von Eiterung, Entzündung, ohne Farbeveränderung 
(wobei die Hirnsubstanz in Brei verwandelt ist) voneinander unter¬ 
scheide. Die eigentliche Hirnerweichung hält er für eine 
krankhafte Form des Hirnabsterbens, vergleichbar 
der Gangraena senilis, Putrescentia uteri und Erweichung 
der Milz. Die Verknöcherung der Hirnarterien spreche 
ganz besonders für die Analogie mit der Gangraena senilis, und 
der Einfluß niederdrückender Affekte, des Mißbrauchs geistiger 
Getränke und ähnlicher Momente auf die Entstehung des Er¬ 
weichungsprozesses begünstige eben nicht die Annahme 
eines entzündlichen Zustandes. „Ein jedes Organ kann 
allein für sich schon im Leben den Tod vorbereiten und beginnen 
und ein jedes hat dann seine besondere Sterbensweise, wie es sich 
am Uterus, an der Leber, den Lungen, der Milz, dem Hirne nach- 
weisen läßt. Eine solche beginnende Zersetzung ist 
ihrem inneren Grunde nach von den Zerstörungen 
eines Entzündungsprozesses durchaus verschieden, 
und nur die allerdings oft auffallende Ähnlichkeit der Produkte 
beider, der unsichere Begriff einer asthenischen Entzündung in 
vorigen Jahren, der heutige gänzliche Mangel einer Begrenzung 
des Begriffes der Entzündung überhaupt, hat diesem Prozesse zu¬ 
schreiben können, was seiner inneren Natur nach gerade als Gegen¬ 
satz desselben sollte betrachtet werden.“ 

S p i 11 a hebt hervor, daß es sich bei Rostans Kranken durchwegs 
um Personen über 70 Jahre handle, während Lallemands Fälle zum Teil 
junge Leute betrafen. „Hirnabszesse“, sagt er, „sind allerdings Produkte 
der Entzündung, aber ist wirklich die erste Periode einer solchen Eiter¬ 
bildung jenes Ramollissement, eine Durchdringung der Hirnsubstanz mit 
Eiter, der sich noch nicht zu einem Herde angesammelt hat? . . . Auf¬ 
fallend ist es doch, daß Lallemand jene Eiterherde bei jungen, kräftigen 
Subjekten antraf, während das „Ramollissement“ (Rostans) so vorzugs¬ 
weise bei alten, abgelebten Leuten gefunden wird, die doch in der Regel 
nicht sehr zur Entzündung disponiert sind“. . . . Der erfahrene Recamier 
betrachtet die Himerweichung als die Wirkung eines nervösen ataktischen 
malignen Fiebers, welches seine Richtung auf das Nervensystem nehme, 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehimpathologie. 


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und genauer und treffender noch scheint es uns das Übel zu bezeichnen, 
wenn er es mit Gangraena senilis, Putrescentia uteri und der Erweichung 
der Milz vergleicht. Der oft schnell tötende Verlauf kann nicht als Ein¬ 
wurf angeführt werden, wenn man an die Bedeutung des ergriffenen 
Organs denkt, auch bezeichnen die kurz vor dem Tode hervortretenden 
Symptome häufig nur die höchste Spitze des lange schon und langsam 
sich steigernden Übels. . . . „Bemüht man sich übrigens nur zu unter¬ 
scheiden, so ist es vermutlich nicht so schwer, eine durch Entzündung 
hervorgebrachte Erweichung des Hirnes — und hierunter können wir 
nur den Himabszeß verstehen, der freilich nicht immer von festen 
Wänden umgeben und eingeschlossen ist — nicht mit der Weichheit 
desselben wie man sie bei manchen Leichenöffnungen in verschiedenem 
Grade antrifft, zu verwechseln. Bei der letzteren, wenn sie nichts als 
ein Produkt der Verwesung des Hirnes ist, soll die Struktur des Organes 
unverändert sein, auch gewöhnlich die Marksubstanz, seltener die graue, 
daran teilnehmen und äußere Einflüsse, z. B. Wärme, langes Liegen- 
lasseu des Leichnams u. a. sollen die Entstehung dieser Weichheit be¬ 
günstigen. In der krankhaften Erweichung, d. h. derjenigen, welche 
sich schon vor dem Tode, besonders bei Greisen entspann, soll hingegen 
das Hirngefuge zerstört werden und der eigentümliche faserige Bau ver¬ 
schwinden, indem die erkrankte Stelle in eine homogene, breiartige Masse 
verwandelt werde. Höchst ersprießlich wäre es, wenn in dem Angeführten 
auch sichere Unterscheidungsmerkmale der Hirnerweichung, inwiefern 
sie schon im Leben oder erst nach dem Tode eingetreten sei, enthalten 
wäre; aber ein Mittelgrad der pathologischen Hirnerweichung (und dieser 
kommt am häufigsten vor) möchte wohl das Hirngefüge noch nicht so 
gänzlich zerstören, und anderseits vernichtet ein hoher Grad der Ver¬ 
wesungsweichheit die Organisation des Hirnes sicherlich. So wären wir 
wieder dahin zurückgewiesen, daß eine partielle Erweichung mit großer, 
eine allgemeine nur mit geringer Wahrscheinlichkeit als schon vor dem 
Tode so vollständig vorhanden angesehen werden könne, und eine sorg¬ 
fältige Vergleichung wird es erst noch lehren müssen, ob und wann die 
erste der Anfang der letzteren und daher zwischen beiden kein wesent¬ 
licher Unterschied anzunehmen sei. Im Leben beginnt der Zersetzungs¬ 
prozeß immer an einer Stelle und schreitet so weiter kriechend fort; 
die Verwesung hingegen befällt das ganze Organ zugleich, denn ihr 
stehen keine reagierenden Kräfte mehr gegenüber.“ (L. c. pag. 78—82.) 

Daß es außer anatomischen auch klinische Verhältnisse waren, 
welche den Zweifel an der entzündlichen Genese einer jeden Hirn¬ 
erweichung anfachten, beweist das um die gleiche Zeit erschienene 
Buch G. F. J. S ahme ns in Dorpat über die Krankheiten des 
Gehirns und der Hirnhäute (Riga und Dorpat 1826), worin das 
Symptomenbild der Encephalomalacie gegenüber der Encephalitis 
zu bestimmen versucht wird. 

S a h in e n räumt der Erweichung des Gehirns in seinem Buch ein 


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Dr. Max Neuburger. 


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eigenes Plätzchen ein und beruft sich auf Rostan, der sie als selbständige 
Krankheitsform aufgestellt habe, welche bald auf Entzündung beruhe, 
bald davon ganz unabhängig sei. Symptomatologisch decke sich die von 
Rostan gegebene Krankheitsschilderung im ganzen mit der „Cephalitis“, 
doch fehlen in manchen seiner Fälle die Symptome der Erregung. In 
solchen Fällen äußere sich das Leiden durch ein allmähliches Erlöschen 
oder Unterdrücktwerden der sensoriellen Funktionen; man bemerke keinen 
Kopfschmerz, keine Delirien, kein Fieber oder krampfhafte Erscheinungen. 
Es trete dagegen ein Schwinden eines oder des andern Sinnes, Lähmung 
des einen oder andern Gliedes ein, die Lähmung verbleite sich sodann 
auf mehrere Organe. Es geselle sich endlich Sinnlosigkeit oder tiefe 
Schlafsucht hinzu; zuweilen ginge dem Tode ein adynamisches Fieber 
voran. Der Verlauf der Krankheit sei charakteristisch. Die Lähmungen, 
die Abnahme der Hirnfunktionen erfolgen allmählich, bleiben oft längere 
Zeit auf einer gewissen Stufe stehen und schreiten dann wieder schneller 
zum Tode fort. Zuweilen erfolge nach scheinbarem Stillstand eine plötz¬ 
liche Steigerung der Symptome, die schnell letal endigt, oder es bilden 
sich Erscheinungen eines tödlichen adynamischen Fiebers heraus. „Der 
angegebene Verlauf der Krankheit sowie der Umstand, daß diese 
Form nicht nur im höheren Alter vorkommt, scheinen uns 
zureichend Grund, um die Erweichung dieser Art von der 
cephalitischen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung dünkt 
uns um so annehmbarer, da es sich wohl denken läßt, daß dem im höheren 
Alter eintretenden Schwinden der Funktion von Organen oder ihren 
Teilen eine fehlerhafte oder mangelnde Ernährung derselben entspreche. 
Es würde also die fehlerhafte Funktion in diesem Falle nicht 
sowohl für die Wirkung der fehlerhaften Organisation des Teils zu 
halten sein, als beide vielmehr für gemeinschaftliche Wirkung derselben 
Ursache, nämlich der in einem oder dem andern Teil am zeitigsten hin¬ 
schwindenden Lebenskraft.“ Der Anschein der Entzündung werde bei 
der senilen Erweichung durch das dem Tode vorangehende Fieber und 
andere Erregungszustände erweckt; das Fieber werde hiebei oft durch 
zufällige Komplikationen veranlaßt. 

Ein kritisches Resume der bisher geäußerten Ansichten, 
unter Verwertung des reichen Beobachtungsmaterials der franzö¬ 
sischen und englischen Ärzte, gab Carl Gust. Hesse im Rahmen 
seines Werkes über die Erweichung der Gewebe und Organe des 
menschlichen Körpers (Leipzig 1827, pag. 3—62). Hesse zeigt, wie 
wenig stichhaltig die Argumente sind, mittels welcher man die 
entzündliche Genese der Himerweichung verteidigt hatte, wie sehr 
die anatomischen und klinischen Erscheinungen und auch der 
Mißerfolg der antiphlogistischen Therapie gegen diese Annahme 
sprechen. Er glaubt, daß der Erweichung „eine eigentümliche 
Kachexie“ als prädisponierendes Moment zu Grunde liege, eine 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 9 

vorausgegangene „Schwächung des Bildungslebens des Gehirns“, 
und führt unter anderem zur Stütze seiner Meinung den Umstand 
an, daß manche Kranke an Herzaffektionen, unterdrückten Blut¬ 
flüssen usw. litten, andere einen apoplektischen Habitus besaßen 
oder durch deprimierende Gemütsaffekte geschwächt waren. Am 
Schlüsse seiner Ausführungen über die Malacie der einzelnen 
Organe sagt er, „daß die Erweichung nur in den wenigeren Fällen 
als ein Abkömmling der Entzündung, sondern weit mehr als ein 
z errütteter'Ernährungsprozeß zu betrachten ist, wobei die 
Teile ihren organischen Zusammenhang aufgeben und sich in sich 
selbst auflösen. Den inneren Hergang dieses Prozesses 
kennen wir freilich nicht.“ 

Hesse erkennt die Schwierigkeit, ein Krankheitsbild der Gehirn¬ 
erweichung zu entwerfen, das auf alle Fälle paßt. Er unterscheidet 
drei Perioden. Erste Periode. Kopfschmerz (meist heftig, mit 
Remissionen von verschiedener Dauer) oft Tage oder mehrere Wochen, 
bisweilen jahrelang vorausgehend, Schwere des Kopfes, Kongestionen, 
Schwindel, Ohrenklingen, Sehstörungen, optische Täuschungen (Rotsehen), 
Schlafsucht, vorübergehende Bewußtlosigkeit. Manchmal vorausgehende 
Scblaganfälle, gelegentlich Sehstörungen bis zur Amaurose, selten 
Schielen, Hörstörungen bis zur Taubheit, Gedächtnisstörungen, Intelligenz¬ 
defekte, Apathie, Motilitätsstörungen, schleppender Gang, Gliederschmerzen, 
Parästhesien, manchmal Erschwerung des Sprechens. Selten seien alle 
diese Symptome vorhanden. Zweite Periode. Plötzlich eintretende 
vollständige Lähmung einer, selten beider Seiten oder anfangs unvoll¬ 
kommene, später zunehmende Lähmung. Sensibilitätsstörungen anfangs 
geringer als die Motilitätsstörung, selten Schmerz in den gelähmten 
Gliedern. In andern Fällen erfolgt der Beginn der zweiten Periode in 
Form von meist halbseitigen Konvulsionen; dieselben sind meist von 
kurzer Dauer, von verschiedener Intensität, in kürzern oder längern 
Zwischenräumen wiederkehrend; manchmal Sehnenhüpfen. Nach den 
Konvulsionen Lähmung oder normale Beweglichkeit oder Kontraktur 
(spastische Starre) der Glieder. Diese Beugekontrakturen seien 
charakteristisch für die Affektion. In den Extremitäten Parästhesien 
oder stechende oder reißende Schmerzen. Bisweilen Trismus. Manchmal auf 
einer Seite Lähmung, auf der andern Konvulsionen oder auf der einen 
Seite Lähmung und Konvulsionen, auf der andern Kontraktur. Bewußt¬ 
sein nicht getrübt oder nur kurze Zeit, bisweilen aber Betäubung und 
Sopor. Sinnesempfindung kehrt schnell zurück, wenn sie anfangs 
geschwunden war. Sprachstörung oder Sprachlähmung, Mund nach der 
gesunden Seite verzogen, Zungenspitze oft nach einer Seite gerichtet, 
Starrheit der Augen oder unruhiges Hin- und Herbewegen der Augen, 
Augenlid manchmal im Zustand der Kontraktur, das Auge ganz oder 
teilweise bedeckend oder Augen offen, nach oben gerichtet, Pupillen 


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öfter verengert als erweitert. Manchmal musitierende Delirien, manchmal 
Schlingbeschwerden, meist Stuhlverstopfung, Blasenstörungen, Fieber 
selten, Puls sehr veränderlich, Respiration nicht wesentlich beeinträchtigt, 
außer bei bestehenden Lungen- oder Herzleiden. Gesicht meist bleich, 
seltener rot, mit leidendem Ausdruck. Dritte Periode. Zunahme der 
Erscheinungen. Kopfschmerz, Konvulsionen, heftiger und sich weiter 
verbreitend, Zunahme der Lähmung, Schwäche der Sinnesempfindung, 
Artikulationsstörung oder Aphasie. Koma, aus dem Pat. noch erwacht, später 
aber in den Tod übergehend. Lähmung vollkommen, Empfindungslosig¬ 
keit, adynamisches Fieber, stertoröses Atmen, Schlinglähmung, Incon¬ 
tinentia recti et vesicae, Flockenlesen, Sehnenhüpfen, seltener Delirien, 
Stupor, Tod. — Die Hirnerweichung zeigt oft Remissionen, die Sympto¬ 
matologie ist oft modifiziert durch Komplikationen (Entzündung der Häute, 
Hydrocephalus, Typhus, Irresein, Apoplexie. Tuberkeln, Geschwülste, 
Karies der Schädelknochen, Fremdkörper, otitische Prozesse, Entzündung 
der Brust- und Unterleibsorgane). Pathologische Anatomie. Im 
geringsten Grade der Hirnerweichung, Konsistenz der normalen nahe¬ 
stehend, Form normal. Von diesem geringsten Grade an gibt es stufenweise 
höhere Grade bis zur breiartigen (gallertartigen, pulpösen, rahmartigen) 
Konsistenz und mehr oder weniger Geschwundensein der Hirnwindungen ; 
manchmal sind die erweichten Teile kollabiert, sehr selten aufgetrieben; 
Differenz zwischen grauer und weißer Substanz verschwindend; manchmal 
ganze Hirnpartien zerstört, öfter verschiedene Grade der Erweichung in 
demselben Gehirn vorkommend. Größe des Herdes von Haselnußgröße 
bis zu einer, den größten Teil des Gehirns umfassenden Ausdehnung. 
Abgrenzung gegen das normale Gewebe unmerklich, selten durch eine 
blutinjizierte oder sehr harte oder grauweißliche Stelle oder einen rötlichen 
Streifen. Mitte des Herdes gewöhnlich am meisten erweicht. Oft sind 
in der erweichten Masse alte Extravasate oder Eiterinfiltration oder 
Eiter (frei oder in Zysten). Manchmal umgeben den Herd skirrhöse 
Exkreszenzen. In den Hirnhöhlen meist Serum, oft in sehr beträchtlicher 
Menge. Hirnhäute zeigen oft Spuren frischer oder älterer Entzündung, 
Verwachsung oder Hyperämie, seltener sind sie unverändert oder trocken, 
blaß. Farbeveränderung in drei Hauptarten: 1. wenig verändert, schmutzig 
oder mattweiß oder milch-käseartig; 2. gelblich, zitronengelb, honiggelb, 
pomeranzengelb, dunkelsafrangelb oder grünlich in verschiedenen Ab¬ 
stufungen; 3. graulich, bleifarbig, rot, rötlich, dunkelrot, bräunlich, 
dunkelbraun, weinhefeartig, selbst schwärzlich. Hesse bekämpft die 
Ansicht Lallemands, daß die weiße Färbung von Eiter herrühre, und 
meint, daß der gelbe Farbenton selten durch Eiter, hingegen in manchen 
Fällen durch Farben Veränderung des Blutes bedingt werde. Die rote 
Erweichung (hauptsächlich in der grauen Substanz) ist durch Hyperämie 
der feinsten Hirngefäße, Stase in denselben, blutige Infiltration ins Hirn¬ 
gewebe oder wirkliche kleine Blutungen hervorgerufen. Vorkommen 
der Erweichung meist bei Personen höheren Alters, aber auch bei 
Kindern, wo sie neben Hydrocephalus acutus oder H. chronicus, wahr¬ 
scheinlich auch in andern Krankheiten, wahrscheinlich sekundär auf- 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 11 

trete. Doch habe man zu beachten, daß die Konsistenz des Kinderhims 
schon de norma weicher als diejenige des Gehirns Erwachsener ist. 
Ätiologie, Im Gegensatz zu Rostan meint H., daß höheres Alter an 
sich nicht die Anlage zur Encephalomalacie bedinge, da sie auch bei 
Kindern vorkomme, auch habe man nur deswegen die firmsten Volks¬ 
schichten am meisten disponiert gehalten, weil man sich auf Spitals- 
bcobachtungen stützte. Die Disposition werde durch alle aufs Hirn 
schädlich wirkenden Einflüsse geschaffen (übermäßige geistige Anstrengung, 
Affekte, Abusus spirituöser Getränke, Erschütterung und Verletzung des 
Kopfes etc.), Hesse glaubt, daß die Diagnose nicht mit Sicherheit 
intra vitam gestellt werden könne. Therapie. H. ist der Ansicht, 
daß die von Lallemand empfohlene antiphlogistische Behandlung nicht 
für alle Fälle passe, wenn aber die Krankheit nicht entzündlich ist, 
„werden dann die von Rostan empfohlenen Rubefacientia oder Drastika 
noch etwas ausrichten und werden tonische, erweckende, aromatische 
Mittel an ihrer Stelle sein? . . . Welchen Weg die Natur zur Heilung 
einschlägt, ist uns noch durchaus verborgen.“ 

Hesse spricht sich gegen die Annahme aus, daß Erweichung auf 
Entzündung beruhe. Was die Farbeveränderung anlange, so erwecke 
nur die rote den Anschein einer Entzündung, diese entstehe aber durch 
Blutergießung und Blutinfiltration. Es sei auch schwerlich anzunehmen, 
daß schon im Beginn einer Entzündung so bedeutende Destruktion 
cintrete. Die Symptome zeigen keinen entzündlichen oder wenigstens 
akut entzündlichen Charakter; Fieber fohle meist bis zuletzt, oft auch 
der Kopfschmerz. Wenn im Verlaufe entzündliche Erscheinungen auf- 
treten, sind sie Folgen, nicht Ursachen. Die Hirnerweich fing zeige auch 
auffallende Remissionen nach Art der nervösen Affektionen. Am meisten 
Ähnlichkeit besitze die Krankheit mit Gehirnhämorrhagie. Es fehlen alle 
Eigentümlichkeiten einer akuten Entzündung, so namentlich Schwellung, 
Turgeszenz des Gehirns. Allerdings gebe es Fälle, wo die Erweichung 
zusammen mit Entzündung des Gehirns oder seiner Teile vorkomme, 
insbesondere nach Kopfverletzung 5 hier sei aber das Gehirn in der 
Regel gequetscht oder erschüttert und dadurch für die Erweichung eine 
Prädisposition geschaffen. In solchen Fällen sei nicht die Entzündung 
allein die Ursache der Erweichung, es kämen dabei noch als auslösende 
Hilfsmomente Erschütterung, Quetschung usw. in Betracht. 

Mit besonderer Bezugnahme auf Hesse erklärte sich bald 
darauf JosefFrank gegen die Aufstellung der Encephalomalacie 
als selbständige Krankheitsform und nahm für ihr Auftreten ver¬ 
schiedene Ursachen in Anspruch: In der für ihn charakteristischen 
Weise sagt er: De cerebri mollitie, quatenus pro morbo sui 
generis venditata, tumultum inanem Abercrombie, Rostan, Lalle¬ 
mand, Bouillaud, Cruveilhier aliique eiere, lllam pro effectu habeo 
diversarum causarum cerebrum non minus quam reliquas corporis 
humani partes attingentium, quas inter colloco peculiarem cadaverum 


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nonnullorum flacciditatem, putredinem ingruentem, inflammationem, 
tum cerebri, tum arachnoideae ad suppuratiouem tendeutem nec 
non cöllectionem morbosam seri 1 ). Man sieht aus dieser Stelle, 
daß er mit der Encephalomalacie noch die kadaveröse Erweichung 
in einen Topf warf. Noch weiter ging in dieser Hinsicht H a n k e 1, 
der die Hirnerweichung überhaupt nur als Zersetzungsprozeß 
in derLeiche auffaßte und denselben zu einer Folgeerscheinung 
der „Apoplexia nervosa“ machte 2 ). 

ft 

H a n k e 1 (Mediz. Beobachtungen und Bemerkungen in Rüste 
Magazin 1832, 37. Bd., 1. H., pag. 29 ff.) beschrieb zwei Fälle von 
Gehirnerweichung. Beim ersten war die Gehirnsubstanz in der Gegend 
des dritten Ventrikels im Umfang eines halben Guldens in eine rahm¬ 
artige, weißliche Masse verwandelt, beim zweiten war das Kleinhirn an 
dem Vereinigungspunkt beider Hälften, dicht unter dem Tentorium im 
Umfang eines Viergroschenstücks erweicht, von weißgrauer Farbe, die 
Textur ganz unkenntlich, nebstdem fand sich Verknöcherung der Arterien 
und Nephrolithiasiß. H. sucht die Identität der „Apoplexia nervosa“ 
und der Hirnerweichung folgendermaßen zu begründen. „Nimmt man 
eine Apoplexia nervosa an, und von dieser wieder mehrere Grade, sa 
wird man gewiß mit Recht behaupten können, daß die nervöse Apoplexie 
und die Gehirnerweichung eine und dieselbe Krankheit ist. Die Erweichung 
sehe ich nicht für etwas Wesentliches bei der Krankheit an, denn sie 
entsteht erst nach dem Tode als schnell eintretender Zersetzungsprozeß 
des kranken Gehirns. Die Erfahrung ist schon alt, daß in Fällen, wo 
nach heftigen mechanischen oder dynamischen Einwirkungen auf das 
Gehirn oder Nervensystem der Tod erfolgte, man das Gehirn von weicherer 
Beschaffenheit als im normalen Zustand antrifft, wenn nicht unmittelbar 
nach dem Tode die Sektion unternommen wird. Zufällige Erfahrungen und 
absichtlich angestellte Versuche haben mich gleichfalls von der Wahrheit 
dieses Satzes überzeugt. Sieht man nun, daß in denjenigen Fällen, wo 
der Tod nach heftigen Einwirkungen auf das ganze Gehirn erfolgte, die 
ganze Hirnmasse von weicherer Konsistenz als im natürlichen Zustand 
gefunden wird, so muß man wohl folgern, daß bei der sogenannten Er¬ 
weichung des Gehirns, wo nur eine oder mehrere Stellen von dieser 
Konsistenz, das übrige Gehirn aber von gewöhnlicher Konsistenz vor¬ 
kommt, die kranke Einwirkung sich nur auf diese Stellen beschränkte. 
Von welcher Art die kranke Einwirkung ist, läßt sich nur durch Ver¬ 
mutung angeben. Die Identität der Gehirnerweichung und der nervösen 


x ) Prax. medic. univers. praecepta. Ed. II, Pars II, Vol. I, Sect. I, 
Lips. 1832, cap. 3, pag. 217. 

2 ) Schon Ros tan hatte in seinem berühmten Buche die gewiß 
ganz richtige Ansicht vertreten, daß viele jener Fälle, welche die älteren 
Arzte als „Apoplexia nervosa“ bezeichnet hatten, ins Gebiet der 
Hirnerweichung gehören. 


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Apoplexie tritt deutlich hervor, wenn man bei letzterer drei Grade wie 
bei der Apoplexia sanguinea annimmt, welches auf folgende Weise ge¬ 
schehen könnte: 1. Der leichte Grad. Der Kranke wird unter oder ohne 
Vorboten vom Schwindel, Sinnestäuschungen, Übelsein usw. der Besinnung 
für kurze Zeit beraubt, bekommt zuweilen Zuckungen und hat bei meistens 
blassem Gesicht und kühler Hauttemperatur einen kleinen, etwas frequenten 
Puls; nachdem der Anfall vorüber ist, bleiben weiter keine üblen Folgen 
zurück. 2. Dem mittleren Grade gehen in der Regel Vorläufer vorher, 
sie bestehen in Kopfschmerzen, Ohrensausen, Sinnestäuschungen, Er¬ 
starrung und teilweiser Lähmung der Extremitäten usw. Nach einem 
intensiv stärkeren Anfalle als im ersten Grade bleibt der Kranke ent¬ 
weder bewußtlos oder gelähmt, die Krankheit nimmt entweder zu und 
der Tod erfolgt nach Stunden oder Tagen, oder der Kranke kommt 
wieder zur Besinnung und hat, wenn keine Lähmung zurückbleibt, außer 
länger dauernder Hinfälligkeit große Neigung zu Rezidiven behalten, 
welche aber unter ähnlichen Erscheinungen den Tod herbeiführen. 3. Mit 
oder ohne die bei 2. genannten Vorboten sinkt der Kranke wie vom Blitz 
getroffen zusammen und ist tot. Bei der Sektion der am zweiten Grade 
der Krankheit Verstorbenen findet man diejenige Veränderung im Gehirne, 
welche Rost an sehr genau als Gehirnerweichung beschrieben hat. Die 
Grade der krankhaften Konsistenz des Gehirns, um Rostans Worte zu 
gebrauchen, steigern sich von einer dem gesunden Zustande sich nähern¬ 
den Festigkeit bis zu einer breiartigen Flüssigkeit; am häufigsten kommt 
indessen der Mittelzustand zwischen beiden Extremen vor. Bei der 
Leichenöffnung der am dritten Grade Verstorbenen richtet sich der 
Befund teils nach der Zeit, in welcher man sie vornimmt, teils nach der 
wärmeren oder kälteren Lufttemperatur. Geschieht die Sektion iu den 
ersten 24 Stunden nach dem Tode, welches eigentlich nicht geschehen 
sollte, oder bei kalter Jahreszeit, so findet man keine materiellen Ver¬ 
änderungen des Gehirns; seziert man nach zwei oder drei Tagen oder 
bei warmer Lufttemperatur, so findet sich allgemeine Erweichung des 
Gehirns mit mehr oder weniger Farben Veränderung. u (L. c. pag. 42—44.) 

Wie wenig man sich von der Irrlehre, wonach die Malacie 
stets ein postmortaler Zersetzungsprozeß sei, einnehmen ließ, zeigt 
die an wachsende Kasuistik von Erweichungsfällen, beweisen die Ver¬ 
suche, zwischen den intra vitam beobachteten Symptomen und den 

Sektionsbefunden die innere Wechselbeziehung herzustellen. 

Eine eigentümliche Krankheitsform glaubte der spätere Wiener 
Professor Lippich in der partiellen Erweichung der Ventrikelhöhlen ent¬ 
deckt zu haben. Er hielt dieselbe für entzündlicher Natur und für einen 
mit dem Hydrocephalus acutus analogen Prozeß; beide könnten, jeder 
für sich oder zusammen, Vorkommen (die schmelzendeEntzündung 
der Gehirn höhlenwände usw. in Mediz. Jahrb. des österr. Staates 
16. Bd., Wien 1835, pag. 41 ff. u. pag. 224ff.). 

Auf Grund des vorliegenden Materials, gestützt auf ansehn¬ 
liche selbständige Erfahrung und nicht ohne kritische Begabung, 


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lieferte ein Schüler Schönleins, der Würzburger Professor C. H. 
Fuchs, die erste deutsche Monographie „Beobachtungen und 
Bemerkungen über Gehirnerweichung“ (Leipzig 1838) — 
eine Schrift, welche nicht geringen Einfluß auf die weitere Ent¬ 
wicklung der Lehre von der Encephalomalacie ausgeübt hat. Fuchs 
behandelt in eingehendster Weise die pathologische Anatomie, 
♦ Symptomatologie, Diagnostik, Prognostik, Therapie der Gehirn¬ 
erweichung und entwickelt seine Ansichten über das Wesen der 
Affektion an der Hand von 20 mitgeteilten Krankengeschichten 1 ), 
von denen 18 aus der eigenen Beobachtung stammten. Er unter¬ 
schied im Verlaufe des Leidens drei Stadien — das Stadium 
der Prodromalerscheinungen, der Lähmung, des tor- 
pidenFiebers — und trennte von der p r i m ä r e n, idiopathischen, 
die sekundäre, konsekutive Encephalomalacie. Keiner hat 
damals mit solcher Energie die nichtentzündliche Genese 
der Affektion verteidigt, die von den meisten französischen 
Autoren vertretene Identität der Hirnerweichung und Encephalitis 
bekämpft, wie Fuchs — freilich mit den noch recht unvollkom¬ 
menen Waffen seines Zeitalters! Und nicht bloß bei der Theorie 
stehenbleibend, zog er auch für die Praxis bedeutungsvolle Schlüsse, 
indem er im Gegensätze zu den Franzosen und ihren Anhängern 
die stimulierende Therapie in den Vordergrund schob und 
der Antiphlogose bloß eine sekundäre Rolle zuwies. 

„Wenn Lallemand, sagt Fuchs, die Encephalomalacie als Entzündung 
betrachtet wissen will, so hat er sich wohl sehr geirrt. Nie sind in den er¬ 
weichten Partien jene zahlreichen Gefäßverästelungen, die sich in wahrhafc 
entzündeten Organen finden, nie sind in ihnen Spuren neugebildeten Paren¬ 
chyms oder der inflammatorischen Pseudoplasmata zu entdecken, und 
wohl immer ist das Blut, mit welchem sie tingiert sind, extravasiert, der 
destruierten Gehirnmasse beigemengt. Es erscheint deshalb nicht selten 
nur an einzelnen Stellen der Erweichung in der Gestalt von roten Flecken, 
Sugillationen usw. und hie und da ist ein Teil der kranken Gehirnpartie 
intensiv blutig gefärbt, während der andere weiß, falb oder gelblich ist. 
Die verschiedenen Nuancen der Röte werden wohl durch die größere 
oder geringere Menge des beigemischten Blutes bewirkt; braun, grünlich - 
oder bräunlichgelb, bleifarben, grau und schwärzlich aber wird die Masse, 
indem das mit ihr vermengte Blut mit der Zeit ähnliche Veränderungen 
erleidet, wie sie in den Extravasaten unter der Haut bei Ekchymosen, 

x ) Vier von diesen Krankengeschichten wurden auf seine Anregungen 
schon vorher veröffentlicht in Staudingers Dissertation de encephalomalacia, 
Francof. a. M. 1835. 


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Peliosis usw. stattfinden. Diesem entspricht es auch, daß in jenen Fällen 
von Encephalomalacie, welche frühzeitig tödlich verlaufen, die erweichte 
Substanz stets weiß, falb, gelblich oder durch Blut tingiert ist und nur 
in solchen, die erst nach mehreren Tagen und Wochen letal enden, 
dunkelgelb, bräunlich usw. gefunden wird. Nach Lallemand, Gendrin 
u. a. müßte jede Encephalomalacie mit roter Färbung — synonym der 
Entzündung — beginnen und die blasse, falbe, gelbe Erweichung — 
synonym der Eiterung — wäre stets ein Folgezustand jener. Mir aber 
scheint gerade die farblose, blasse oder falbe Erweichung die einfachste; 
die rötliche, rote, weinhefenfarbige hingegen bildet sich, meinem Dafür¬ 
halten nach, wenn blutreiche Partien des Gehirnes getroffen werden oder 
die Malacie aus was immer für einem Grunde mit Kongestion koinzidiert, 
durch Zerstörung der Gefäße in der erweichten Stelle und mehr oder 
minder innige Durchdringung der destruierten Substanz mit extravasiertem 
Blute, und die dunkle Mißfarbe endlich ist ein Folgezustand der blutigen 
Erweichung. Es gibt Fälle, in denen die Blutung in die erweichte 
Masse so beträchtlich ist, daß es nicht bei einer einfachen Durchdringung 
bleibt, das Erweichte durch das extravasierte Blut gleichsam aufgelöst 
und abgewaschen wird und sich eine Höhle bildet, in der erweichte 
Himsubstanz im exsudierten Blute schwimmt.“ (L. c. pag. 4, 5.) 

Pathologische Anatomie. Die Encephalomalacie charak¬ 
terisiert sich durch verminderte Konsistenz einer größeren oder geringeren, 
mehr oder minder umschriebenen Partie des Gehirns mit Verlust der 
normalen faserigen Struktur und in der Regel mit Veränderung der Farbe; 
zu unterscheiden davon ist die im frühen Kindesalter normaler Weise, sowie 
die bei typhösen Geisteskranken usw. nicht selten vorkommende Weichheit 
des Gehirns, welche sich zumeist über das ganze Hirn verbreite, nie 
auf umschriebene Stellen beschränkt sei, gewöhnlich keine Farbever¬ 
änderung aufweise und die Faserung deutlich erkennen lasse. Es gibt 
eine primäre und eine sekundäre Encephalomalacie. Von den an¬ 
gegebenen 3 Graden'(1. noch normale Gestalt und Wölbung der er¬ 
weichten Partien; 2. normale Gestalt nicht mehr erhalten; 3. Verflüssigung 
der Hirnmasse) hat F. den dritten Grad nie beobachtet. Häufig ist das 
Zentrum des Erweichungsherdes in eine Pulpa verwandelt, während die 
Peripherie nur leichter zerdrückbar als normal ist. Farbe zuweilen milch¬ 
weiß, mattweiß oder opalisierend, häufiger falb, schmutziggelb, gelb¬ 
grünlich, gelbbräunlich, nicht selten rötlich, hochrot, dunkelrot, braunrot, 
braun, selbst schwärzlich. Nur selten keine Farbeveränderung, u. zw. 
nur dann, wenn ausschließlich die weiße Substanz betroffen ist. Die 
Ansicht Lallemands, daß die weiße und gelbe Erweichung durch Eiter¬ 
infiltration bedingt sei, ist unrichtig; in Fällen, wo sich Eiterhöhlen von 
erweichter Substanz umgeben finden, ist die Eiterung kein vorgeschrittenes 
Stadium der Malacie, sondern die Erweichung ist sekundär, so wie sie 
sekundär auch bei Blutextravasaten, Tuberkeln, serösen Exsudaten usw. 
auftritt. Die erweichte Gehirnsubstanz verhält sich weder histologisch noch 
chemisch wie Eiter. F. schildert die verschiedene Größe des Erweichungs¬ 
herdes (von Kirschkemgröße bis zu einer eine Hemisphäre umfassenden 


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Ausdehnung), die verschiedene Tiefe und Ausbreitungsweise. Häufiger 
zeige sich die graue als die weiße Substanz ergriffen, häufiger die rechte 
als die linke Seite des Gehirns, am häufigsten das Corpus striatum, 
das Großhirn ungleich häufiger als das Kleinhirn, die Zentralgebilde 
öfter als die Rinde. Die Grenze zwischen dem Erweichungsherd und 
der Umgebung ist keine scharfe. Die manchmal beobachtete venöse 
Überfüllung in den Sinus der Dura mater, in den Gefäßen der Pia, die 
Trübung und Verklebungen einzelner Stellen der Arachnoidea können 
nicht als Beweise der entzündlichen Natur der Encephalo- 
malacie betrachtet werden, da sich analoge Veränderungen auch 
bisweilen ohne Zerebralstörungen fänden, bei Greisen, Phthisikern usw. 
Oftmals ist in den Häuten und Höhlen Serum in geringer Menge, manchmal 
aber so reichlich vorhanden, daß man berechtigt sei, an eine Komplikation 
mit Hydrocephalus zu denken. Davon zu unterscheiden die sekundäre 
Malacie bei Hydrocephalus. F. sah in einigen Fällen Atheromatose 
der Gefäße an der Basis, Verknöcherung des Are. aortae, des Klappen¬ 
apparates des linken Herzens, auffallende Weichheit oder Hypertrophie 
des Herzens, Erweiterung des rechten Ventrikels, Verwachsung des 
Herzens mit dem Herzbeutel. Fast in allen seinen Fällen war das Blut 
auffallend dünnflüssig. Die beschriebenen Zustände hält er nur für 
entfernt prädisponierend, die Dissolution des Blutes bloß für 
einen Folgezustand. Einige Male beobachtete er auch Komplikationen 
mit Pneumonie, mit Bronchitis maligna, mit Gallen- und Nieren¬ 
steinen. Die sekundäre Erweichung charakterisiere sich dadurch, 
daß sie nur im nächsten Umkreis der primären pathologischen Veränderung 
(z. B. Blutextravasate, Tuberkeln, skirrhöse . Geschwülste, Eiterherde, 
seröse Exsudate usw.) vorkomme. Auch um Fremdkörper könne sich 
Erweichung bilden. In anderen Fällen entstehe um die Ablagerungen 
herum Induration. Weder diese, noch die sekundäre Erweichung halte 
er für Produkte eines Entzündungsvorganges: die sekundäre Erweichung 
dringe gewöhnlich weniger in die Tiefe, sie sei in der Umgebung eines 
hämorrhagischen Herdes meist blutigrot, in der Umgebung eines Abszesses 
gelb, um Tuberkel und andere Geschwülste falb oder mißfarbig, bei 
Hydrocephalus milchweiß und gewöhnlich in den Ventrikeln lokalisiert. 
F. suchte differentialdiagnostisch zu bestimmen, wann die Malacie und 
wann der Hydrocephalus, bzw. die Apoplexie als primär anzusehen ist. 

Symptomatologie: Ein Vorläuferstadium, bald nur 
Tage, bald Monate während, eröffnet in der Regel die Krankheit; nur 
selten mangelt es. Ein Gefühl von Mattigkeit im ganzen Körper, von 
Schwere, Taubheit und Unvermögen in einzelnen Extremitäten, gewöhn¬ 
lich der einen Körperhälfte, psychische Verstimmung und trübes, blasses 
Aussehen sind seine konstantesten Erscheinungen. Die krankhaften Sen¬ 
sationen in den Extremitäten sind bald mehr anhaltend, bald mehr 
anfallsweise auftretend, es ist den Kranken, als ob die Glieder ein- 
geschlafen wären, sie haben einen mehr schleppenden Gang und ver¬ 
mögen Arm und Hand nicht so frei und kräftig zu gebrauchen als sonst, 
die Extremitäten einer Seite versagen plötzlich \ien Dienst, die Kranken 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehimpathologie* 


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müssen sich niedersetzen oder fallen zusammen, wenige Sekunden oder 
Minuten darauf aber können sie sich wieder aufrichten und ihren Weg 
fortsetzen. Nur selten und ausnahmsweise beobachtet man halbseitige 
Zuckungen. Überdies klagen die Leidenden zuweilen über Kopfschmerz, 
Schwindel, Schwere der Zunge, Flimmern vor den Augen, Rauschen vor 
den Ohren usw. und ihre Geisteskräfte nehmen ab; oft aber fehlen auch 
alle diese Symptome. Das zweite Stadium tritt gewöhnlich plötzlich, 
meistens in den Morgenstunden ein, nur selten gehen die Prodrome all¬ 
mählich und ohne eigentlichen Insult in das zweite Stadium über. Die 
Kranken werden in der Regel halbseitig gelähmt und stürzen, mit verzogenem 
Munde und des Gebrauches der Extremitäten einer Seite (häufiger der linken als 
der rechten) beraubt, zusammen. In manchen Fällen ist die Paralyse der 
Glieder sogleich im ersten Insulte komplett; in anderen hingegen sind 
anfangs noch mehr oder minder beschränkte Bewegungen ohne Kraft 
und Halt möglich und die Parese geht erst allmählich im weiteren Ver¬ 
laufe der Krankheit in vollkommene Lähmung über. Bald sind die ge¬ 
lähmten Glieder zugleich empfindungslos, bald dauert das Gefühl in 
ihnen fort; in manchen Fällen sind sie der Sitz heftiger lanzinierender 
Schmerzen und in anderen fühlen sich ihre Beugemuskeln straff, hart, 
verkürzt, von einem tonischen Krampfe kontrahiert an; nur selten werden 
sie im Beginne dieses Stadiums von klonischen Krämpfen ergriffen. Das 
Bewußtsein wird zuweilen sogleich im Insulte aufgehoben, in der großen 
Mehrzahl der Fälle erlischt es erst später und nach und nach; aber 
alle Kranken klagen über Eingenommenheit des Kopfes, Schwindel, 
Sinnestäuschungen, und viele bezeichnen den Kopf, vorzüglich auf der, 
der gelähmten entgegengesetzten Seite, als schmerzhaft. Alle sind mehr 
oder minder benommen, fassen an sie gerichtete Fragen langsamer 
als Gesunde auf und sprechen mit schwerer, lallender Zunge, oft un¬ 
artikuliert und unverständlich, manchem verfällt die Sprache ganz. Zuweilen 
vermögen die Kranken nicht zu schlingen, besteht Obstipation, geht der Ham 
unwillkürlich ab. Dabei mangeln alle Erscheinungen der Kongestion und 
des Blutdruckes; das Gesicht ist blaß und kollabiert, die Temperatur 
des Kopfes und des ganzen Körpers normal, das Auge matt, glanzlos, 
nicht injiziert, eingesunken, die Pupillen unverändert; die Respiration 
ist leicht und geräuschlos und der Puls klein, schwach, zuweilen von 
normaler Frequenz, oft etwas beschleunigt, ungleich und unregelmäßig. 
Erfolgt nicht, wie es bisweilen bei sehr intensivem Insulte der Fall ist, 
schon kurze Zeit nach dem Eintritte dieses Stadiums der Tod oder 
wendet sich die Affektion nicht schon hier zum Guten, so stellt sich, 
indem alle Erscheinungen mit der Zeit an Intensität zunehmen, bald 
nach wenigen, bald nach mehreren (5—7—10—14) Tagen endlich das 
dritte Stadium ein. Fieber mit trockener, brennend heißer Haut, fre¬ 
quentem, kleinem, unregelmäßigem Pulse, dunkel belegter, trockener 
Zunge, fuliginösem Anfluge der Nasenflügel und mit großer Prostration 
der Kräfte. War das Bewußtsein früher noch wenig getrübt, so stellt 
sich musitierendes Irrereden ein, das bald in Sopor endigt; war die Be¬ 
täubung schon bedeutender, so verfallen die Kranken jetzt in tiefen 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 2 


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Lethargus. Sie sind nicht mehr zu erwecken, sprachlos; die Lähmung 
ist komplett und alle Perzeption für äußere Eindrücke erloschen. Endlich 
wird auch die Respiration beschleunigter, mühsamer und zuweilen ge¬ 
räuschvoll, und unter diesen Symptomen tritt in der Begel in wenigen 
Tagen der Tod ein. Oft hat sich Dekubitus ausgebildet. 

Diagnose: F. versucht die Differentialdiagnose gegenüber Apo¬ 
plexia sanguinea, A. serosa, A. nervosa, gegenüber verschiedenen Formen 
der Hirnentzündung, Tuberkeln und Tumoren zu entwickeln. 

Die Apoplexia sanguinea trete plötzlich ohne Prodrome oder 
nach einem kurzen kongestiven Vorläuferstadium auf, es handelt sich 
dabei meistens um plethorische Individuen (besonders Männer in den 
50er und 60er Jahren), der Insult erfolgt nach kongestionierenden Einflüssen. 
Bei der Encephalomalacie fehlen alle beträchtlichen Kongestionserschei¬ 
nungen, das Vorläuferstadium ist lange, besonders charakteristisch sind 
im Verlaufe desselben der halbseitige Kopfschmerz und die paretischen 
Symptome; meist sind es Individuen dekrepider Art (hauptsächlich Frauen 
in den 70er und 80er Jahren), die befallen werden; zu den Gelegen¬ 
heitsursachen gehören keine Inzitamente. Beim apoplektischen Insult: 
Gesicht rot oder zyanotisch, Kopfhaut heiß, Pulsation der Karotiden, 
Anschwellung der Jugulares, Augen injiziert und hervoigetrieben, Pu¬ 
pillen erweitert oder verengert, Respiration stertorös, Puls voll, groß, 
langsam. Bei der Encephalomalacie im Insult Gesicht blaß und entstellt, 
Kopf nicht heiß, keine venösen Symptome, Auge matt, trübe, Pupille 
normal, Atemholen geräuschlos, Puls häufig frequenter, klein, schwach. 
Bei beträchtlichem Bluterguß Bewußtsein vollkommen aufgehoben, Koma, 
komplette halbseitige Lähmung. Bei der Erweichung ist das Bewußtsein 
im Beginne des zweiten Stadiums nicht völlig aufgehoben, Hemiplegie 
häufig unvollkommen. Bei der Hämorrhagie fehlen die Schmerzen in den 
gelähmten Gliedern, die Kontrakturen, halbseitigen Zuckungen, die sich 
zuweilen bei der Encephalomalacie finden. Bei der Hämorrhagie lassen die 
Erscheinungen an Intensität nach und erst ein neuer Anfall bringt Ver¬ 
schlimmerung oder Tod. Bei der Malacie wachsen, wenn auch mit zeit¬ 
weisem Stillstand oder Rückgang, die Erscheinungen in der Regel ohne 
neue Anfälle an. Genesung tritt bei Malacie seltener als bei der Apoplexie 
ein, Heilung oder Exitus letalis erfolgt bei der Malacie später als bei 
der Gehirnhämorrhagie. — Die Apoplexia nervosa hat keine Vor¬ 
boten, es erfolgt gänzlicher Verlust des Bewußtseins, meist augenblick¬ 
licher Tod. — Apoplexia serosa. Der Hydrocephalus acutus senilis 
(nie langwährende Prodromalerscheinungen, Paresen, halbseitige Lähmung, 
Kontrakturen, Schmerzen in den Extremitäten) verläuft in kürzerer Zeit 
letal, Bewußtlosigkeit das hervorstechendste Moment. Hydrocephalus 
chronicus senilis ohne Insulte, Hemiplegie, Muskelkontraktionen. Beim 
Hydrocephalus acutus der Kinder und jungen Leute stärkere Kongestions¬ 
erscheinungen, Erbrechen, frühzeitige Bewußtlosigkeit, erweiterte Pupillen, 
Pulsverlangsamung, Lähmung erst im letzten Stadium. Differentialdiagnose 
gegenüber akuten Formen der Encephalitis. Bei dieser heftiges 
Fieber, intensiver Kopfschmerz, ausgeprägte Kongestionserscheinungen, 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 19 

Sinnestäuschungen, furibunde Delirien, Konvulsionen, paralytische Er¬ 
scheinungen erst am Ausgang der Affektion. Bei der chronischen Menin¬ 
gitis Verworrenheit, krampfhafte Kontraktion und Zucken der Extremi¬ 
täten, träger, schwankender, taumelnder Gang, frühzeitige Incontinentia 
urinae et alvi, Somnolenz, Apathie, keine Insulte, allmähliche Entwicklung 
der Erscheinungen in Wochen und Monaten, Kopfschmerz, Kongostions¬ 
erscheinungen, Geistesverwirrung stärker als bei der Hirnerweichung, 
keine völlige Paralyse. Differentialdiagnose gegenüber Hirntuberkeln. 
„Abgesehen davon, daß Gehirntuberkeln in der Regel keine so bejahrten 
Individuen als die Erweichung befallen; daß sie größtenteils dyskrasischen 
Übeln ihr Entstehen verdanken; daß sie im allgemeinen viel langsamer 
verlaufen; daß der Kopfschmerz umschriebener, anhaltender und heftiger 
als im Vorläufer Stadium der Malacie oft jahrelang währt, bevor andere 
Symptome hinzutreten; daß paretische Erscheinungen in den Extremitäten 
nur äußerst selten in frühen Perioden der Krankheit und nie so deutlich 
und ausgebildet als bei der Encephalomalacie Vorkommen; daß sich 
dagegen häufig ein sympathisches, anhaltendes, kaum zu stillendes Er¬ 
brechen, wie es bei unserer Krankheit nur in seltenen Ausnahmen auf- 
tritt, findet usw.; wird die Diagnose durch den Umstand gesichert, daß 
bei der Gehirnerweichung auf das Stadium der Vorläufer sogleich 
Lähmung, bei den Tuberkeln aber auf den Kopfschmerz usw. erst ein 
Stadium konvulsivischer Paroxysmen folgt, das der Erweichung fehlt. 
Bald sind diese Konvulsionen halbseitig; bald allgemein, der Epilepsie 
ähnlich und nur durch den Mangel der Aura von ihr unterscheidbar; 
nicht selten gesellen sich ihnen so heftige Kopfkongestionen, so tiefer 
Lethargus bei, daß sie an Apoplexia sanguinea mahnen; immer treten 
sie in deutlichen, durch oft wochen- und monatelange Intervalle ge¬ 
trennten Anfällen auf und unterscheiden sich hiedurch und durch ihre 
Häufigkeit leicht von den Zuckungen, die in seltenen Fällen im Beginne 
der Hirnerweichung Vorkommen. Der fixe Kopfschmerz, das Erbrechen 
usw. währt neben diesen Paroxysmen fort und durch sie erst stellt sich 
allmählich Paralyse der Glieder ein, die häufig halbseitig, in der Regel 
anfangs nur während des Anfalles zugegen ist, auf die Konvulsionen 
folgt oder ihre Stelle vertritt und erst später anhaltend, auch über die 
Intervalle ausgedehnt ist. Auf dieselbe Weise wächst durch immer häufigere 
und heftigere Anfälle die Bewußtlosigkeit und Betäubung der Kranken 
und sie sterben endlich, wenn nicht einer der Paroxysmen früher durch 
plötzliche Erschöpfung der Gehirntätigkeit oder durch Blutapoplexie das 
Leben aufhebt, unter den Erscheinungen des Hydrocephalus oder wie die 
durch Encephalomalacie Betroffenen, indem sich der Lähmung und dem 
Sopor torpides Fieber beigesellt. Dann weisen aber auch die Leichen¬ 
öffnungen außer den Tuberkeln, Wasserbildung oder Malacie, dieselbe 
sekundäre Erweichung der umgebenden Himsubstanz, die neben Blut¬ 
extravasaten, Eiterherden usw. vorkommt, nach, und häufig finden sich gleich¬ 
zeitig beide Zustände. 4 — Differentialdiagnose gegenüber Hirnabszeß. 
„Die Vereiterung des Gehirnes (Encephalophthisis), mit der Lallemand 
die blaß- oder gelbgefärbte Gehirnerweichung fast für identisch hält, 

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bildet sich vorzüglich bei jenen chronischen Entzündungen, die aus 
traumatischer Ursache oder durch Weiter Verbreitung der Phlogose des 
inneren Ohres, der Stirnhöhlen usw. auf das Gehirn oder in Individuen, 
denen Arterien des Kopfes verletzt wurden, entstehen und unterscheidet sich 
daher schon durch die Anamnese von der Malacie. Es gehen ihr immer 
die Symptome einer wenn auch scheinbar oft sehr gelinden Encephalitis 
voraus, die bei der Erweichung mangeln; früher oder später aber wird 
der bisher stechende oder drückende Schmerz klopfend und es stellen 
sich Fieberparoxysmen ein, die für die Suppuration charakteristisch, der 
Encephalomalacie aber gänzlich fremd sind. Sie beginnen mit heftigem 
Schüttelfrost, dem Hitze folgt, und enden nach einer Dauer von 
mehreren Stunden, wie wahre Intermittens, mit Schweiß und Ausscheidung 
im Harn; allein ihr Typus ist erratisch, bald kommen sie täglich, bald 
in großen unregelmäßigen Intervallen; ihre Eintrittszeit ist unbestimmt, 
doch häufiger in den Abendstunden, und überdies sichern die Kopf¬ 
schmerzen vor einer Verwechslung mit dem Wechselfieber; denn die 
Symptome der Encephalitis sind auch jetzt noch, bald in höherem, bald 
in gelinderem Grade zugegen; Kopfschmerz an einer bestimmten Stelle, 
erhöhte Temperatur und, vorzüglich während des Hitzestadiums der 
Fieberanfälle, intensive, oft halbseitige Rötung des Gesichtes, Lichtscheu, 
Rauschen vor den Ohren, Schwindel, große Vergeßlichkeit, leichte De¬ 
lirien, zuweilen Konvulsionen; dabei magern die Kranken, wenn die 
Affektion nur etwas langsamer verläuft, auffallend ab und kommen von 
Kräften. Endlich, bald schon wenige Tage, bald Wochen und Monate 
nach dem ersten Froste, ,treten hiezu noch die Erscheinungen des Gehirn - 
drucks; die Pupillen erweitern sich, einzelne Sinnesorgane versagen ihren 
Dienst, die Extremitäten einer Seite oder einzelne Glieder, ein Arm, ein 
Bein werden gelähmt und die Kranken verfallen gewöhnlich plötzlich in 
tiefen Lethargus mit lividem Gesicht, vorgetriebenem Auge und stertoröser 
Respiration. Sie sterben wie Apoplektiker/ Geht dagegen neben den 
sonstigen Erscheinungen der Encephalophthise die charakteristische Febris 
intermittens suppuratoria allmählich in ein remittierendes Fieber mit 
mehr torpidem Charakter über, erlischt das Bewußtsein und die Be¬ 
wegung mehr nach und nach, und sind im letzten Zeiträume der Krank¬ 
heit weniger die Symptome des Gehimdruckes, mehr die der einfachen 
Gehirnlähmung vorwaltend, so ist anzunehmen, daß im Umkreise des 
Gehirnabszesses sekundäre Erweichung stattgefunden habe, die verhältnis¬ 
mäßig häufig im Geleite der Encephalophthise auftritt.“ 

Ätiologie. Fuchs hält das höhere Greisenalter und das 
weibliche Geschlecht vorzugsweise für die Encephalomalacie prä¬ 
disponiert und meint, daß die überwiegende Mehrzahl jener Fälle, welche 
nach Angabe Lallemands und Abercrombies jugendliche Personen be¬ 
trafen, in die Kategorie der sekundären Erweichung gehören. Idiopathische 
Encephalitis konnte er bei Kindern und Jünglingen nicht beobachten. 
Meistens handelt es sich um Individuen, bei denen Krankheiten (Hämor¬ 
rhoiden, Gicht, Schleimfieber usw.) vorausgegangen waren, bei denen 
Siechtum oder krankhafte Nervenerregbarkeit eine Prädisposition geschaffen 


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hatten. Von den verschiedenen Affektionen scheint aber nur die Ar¬ 
thritis in direkter Beziehung zur Erweichung zu stehen und zwar durch 
konsekutive Verdickung der Gehirnhäute und Verknöcherung der 
Basalarterien, Veränderungen, welche gewiß auf das ve¬ 
getative Leben des Hirns schwächende Einflüsse üben 
können. „Auf eine ähnliche Weise scheinen auch die Verknöcherungen 
der Aorta und des Klappenapparates, die Hypertrophie, Erweiterung, 
Erweichung und Verwachsung des Herzens, kurz die organischen 
Veränderungen in den Zentralgebilden des Kreislaufes, 
die mir allzu häufig neben der Gehirnerweichung begegnet sind, als daß 
ich an Zufall glauben sollte, auf die Genesis unserer Krankheit zu 
influieren; sie alle hemmen den freien Zu- und Rückfluß 
des Blutes nach und aus dem Kopfe und wirken somit mehr 
oder weniger beeinträchtigend, beschränkend auf die organische 
Metamorphose, auf das vegetative Leben des Gehirns ein.“ 
Wenn sich manchmal entzündliche Brustaffektionen vorfinden, so darf 
man daraus nicht wie Rostan auf eine der Erweichung zu Grunde 
liegende entzündliche Diathese schließen, ebenso kann von einer spezi¬ 
fischen Kachexie, wie Hesse meint, keine Rede sein, wohl aber wirkt 
körperliche Schwäche, gepaart mit erhöhter Sensibilität, sei sie durch 
Alter, Individualität oder anderweitige Krankheit bedingt, disponierend, 
und diese Disposition wird noch durch andere, die vegetative Tätigkeit 
des Gehirns herabstimmende Verhältnisse gesteigert. Zu den auslösenden 
Faktoren zählen schlechte Lebensweise, Gemütsaffekte, geistige Über¬ 
anstrengung, Nachtwachen, Mißbrauch spirituöser Getränke, Narkotika usw. 
Bei jüngeren, kräftigeren Individuen scheinen die schädlichen Einflüsse 
mehr die chronische Form der Erweichung herbeizuführen. Mit sekun¬ 
därem Bluterguß verbindet sich die Malacie besonders bei solchen Per¬ 
sonen, die, sei es an habitueller oder an erworbener venöser Blutüber¬ 
füllung des Gehirns (z. B. durch Bronchitis maligna mit Herzerweiterung) 
leiden. Fuchs verwirft Lallemands Ansicht, daß Kopfverletzung als Ge¬ 
legenheitsursache direkt Erweichung hervorrufen könne, sie entstehe in 
diesen Fällen erst längere Zeit nach der Verletzung und zwar sekundär 
neben einem Blut- oder Lymphextravasat oder nach der Eiterung. Die 
Entstehung sekundärer Encephalomalacie erfolge nicht durch entzündliche 
Reizung, sondern durch den lähmenden Einfluß, den die verschiedenen 
Krankheitsprodukte auf das vegetative Leben der benachbarten Hirn- 
partien ausüben, indem sie dieselben komprimieren, räumlich beschränken 
oder (wenn sie flüssiger Art sind) mechanisch durchdringen. Freilich 
können neben der Malacie auch Entzündungsprodukte gefunden werden. 

Therapie. Bei reiner idiopathischer Encephalomalacie erregende 
Mittel für sich oder in Verbindung mit ableitenden. Bei Erweichung mit 
venöser Überfüllung und Blutextravasaten im Beginne derivierende oder 
vorsichtige blutentziehende, später erregende Behandlung. Tritt Hydro- 
cephalus hinzu, so ist neben erregender ableitende, sekretionsbefördernde 
Therapie am Platze. Sekundäre Erweichung erfordert Reizmittel und 
Derivantia. 1. Im Vorläuferstadium. Prophylaktisch hygienisch- 


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diätetische Diät gegen das Grundleiden (z. B. Arthritis), Bewahrung vor 
Gemütsaffekten, geistiger Anstrengung, Abusus alkoholischer Getränke usw., 
bei schwachen alten Personen Roborantia (Cort. aurant., Calamus, 
China, Absinth usw.); gegen die sinkende Nerventätigkeit Nervi na 
(Valeriana, Liq. ammon. succinat. und subcarbon., Tinct. Bestuscheffii, 
Naphthen), Einreibung des Kopfes und der Extremitäten mit spirituösen 
Mitteln, aromatische Bäder; gegen Kopfschmerz und Sinnesstörungen 
Fontanellen hinter dem Ohre, bei konvulsivischen Erscheinungen Moschus; 
Sorge für geregelte Darmfunktion. Im 2. Stadium. Im Anfall starke 
Riechmittel, Bestreichen der Schläfen mit Naphthen und Salmiakgeist, 
Frottieren und Bürsten des ganzen Körpers, Eintauchen der Extremitäten 
in warmes Wasser, reizende Klistiere. Nach Ablauf des Insults Flores 
Arnicae montanae, Naphthen, Ammoniumpräparate und Phosphor (in 
Naphtha oder Mandelöl gelöst), äußerlich Einreibungen auf den abgescho¬ 
renen Schädel mit Liniment, volatile camphor., Ol. phosphorat. usw., 
Einreibung der paretischen Glieder, Epispastica, Blasenpflaster im Nacken 
und hinter den Ohren, Senfteige auf die Waden usw., Klysmen, Diuretika; 
hygienisch-diätetisches Regime. Im dritten Stadium, Fortsetzung des 
Gebrauches innerer und äußerer Reizmittel und symptomatische Be¬ 
handlung. In der Rekonvaleszenz stärkendes Regime, Tonika, Fernhaltung 
aller Schädlichkeiten, Behandlung der Lähmung (Duschebäder, Galvani¬ 
sation). Bei venöser Kongestion Derivantia (z. B. Fuß- oder Handbäder 
mit Senf; Sinapiemen auf die Waden, ableitende Klistiere); bei Stauungs¬ 
erscheinungen (Hämorrhoiden, Unterleibsstockungen, Herzaffektionen) 
Abführmittel, Klysmen, Blutegel am After; bei Respirationsstörungen 
Sinapismen, reizende Handbäder, Fontanellen usw. 

Im Schlußkapitel seines Buches spricht sich Puchs gegen 
die Lehre vom entzündlichen Ursprung der Gehirnerweichung 
aus, ja er bestreitet entschieden, daß es neben nichtentzündlichen 
auch entzündliche Formen gebe. Die rote Erweichung, die man 
auf entzündliche Injektion zurückführe, sei nur durch Beimischung 
und Imbibition extravasierten Blutes bedingt. Die sekundäre Malacie, 
auf die sich Ros tan beruft, werde durch Druck auf die Umgebung 
und Beschränkung des „vegetativen Lebens 44 bewirkt. Ebenso ver¬ 
wirft er andere Argumente, welche die Autoren zu Gunsten der 
Entzündungstheorie angeführt hatten, den fixen Kopfschmerz, die 
zuweilen vorkommende Verdickung der Hirnwindungen, die vage Auf¬ 
fassung der Erweichung als Ausgangsform der Entzündung. „Wenn 
ich 44 , sagt er, „die Ätiologie, die Symptome, den Leichenbefund, 
die Wirkung der verschiedenen Heilmethoden usw. berücksichtige, 
muß ich mich dahin entscheiden, daß unsere Krankheit ein Leiden 
asthenischer Natur ist . 44 Die Erweichung beruhe auf dem Erlöschen 
des vegetativen Lebens einer größeren oder geringeren Partie des 


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, Gehirns. Daher trete sie unter Verhältnissen auf, die, wie hohes 
Alter, schwächliche Konstitution, vorausgegangene Krankheiten, Blut¬ 
verlust usw. eine Herabstimmung des vegetativen Lebens überhaupt 
bedingen oder in specie störend in „die organische Metamorphose“ 
des Gehirnes eingreifen, wie z. B. die Verknöcherung der Arterien 
des Kopfes, die Ablagerung pathologischer Produkte. Wenn in 
manchen Fällen die Krankheit nach Gemütsbewegungen, übermäßiger 
geistiger Anstrengung, Nachtwachen, Mißbrauch der alkoholischen 
Getränke zum Ausbruch kommt, „so führe eben in prädisponierten 
Individuen die Erschöpfung der sensoriellen Tätigkeit gerne das 
Erlöschen der Vegetation herbei.“ Für diese Ansicht sprächen auch 
die Symptome, „die, mit Ausnahme der nichtkonstanten Erscheinungen 
in der sensiblen Sphäre, alle ein bald rasches und plötzliches, bald 
ein allmähliches Erlöschen der Gehirntätigkeiten, zuerst der niederen, 
mit der vegetativen Sphäre inniger verbundenen, zuletzt der geistigen 
anzeigen.“ Im ersten Stadium scheinen die Funktionsstörungen nur 
von der affizierten Stelle und ihrer nächsten Umgebung auszugehen, 
im zweiten werde die betroffene Hemisphäre oder das ganze Gehirn 
in seinen Lebensäußerungen gehemmt, im dritten nehme der gesamte 
Organismus unter der Form eines torpiden Fiebers an der Aflfektion 
teil. Der Leichenbefund liefere den Beweis „der örtlich vernichteten 
Vegetation“ in der aller organischen Struktur beraubten, in eine 
verschieden gefärbte, geruchlose Pulpa verwandelten Gehirnpartie, 
ferner verrate auch die Dissolution des Blutes die asthenische 
Natur des Leidens. Endlich spreche auch der Erfolg der erregenden 
und der Nachteil der antiphlogistischen Therapie gegen die Ent¬ 
zündungstheorie. „Ich erkläre daher nochmals,“ so schließt der 
Autor, „daß ich im wesentlichen .... die Encephalomalacie 
für ein eigentümliches, asthenisches Leiden des Ge¬ 
hirns mit Vernichtung der örtlichen Vegetation halte.“ 
Die Arbeit von Fuchs ist neben denjenigen der ausländischen 
Autoren in der Abhandlung des Greifswalder Professors Berndt 
benutzt, der im Enzyklopädischen Wörterbuch der medizinischen 
Wissenschaften, Band 22, Berlin 1840, den Artikel Malacia be¬ 
arbeitete. Berndt sagt darin, daß die ursächlichen Verhältnisse der 
Gehirnerweichung noch sehr im Dunkeln lägen, im allgemeinen 
könne nur angenommen werden, daß sie verhältnismäßig am häu¬ 
figsten bei Kindern, jugendlichen Individuen und Greisen beobachtet 
werde, daß ein kachektischer Säftezustand ihre Ausbildung 


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befördere, daß in vielen Fällen bestimmte Gelegenheitsursachen, 
nicht aufgefunden würden, am häufigsten aber Kopfverletzungen, 
ungewöhnlich starker Blutandrang zum Gehirn und akute exanthe- 
matische Krankheiten die Gehirnerweichung hervorrufen. Ihrem 
Wesen nach gehöre sie zu den „asthenisch-kachektischen“ 
Entzündungen. Es handle sich dabei mehr um eine seröse 
K o n g e s t i o n in der ergriffenen Gehirnsubstanz mit ihren, schließlich 
zur Auflösung führenden Folgeerscheinungen. Bei der Gehirn¬ 
erweichung der Greise scheine der Prozeß hin und wieder von einer 
Verknöcherung der Gehimarterien auszugehen. Berndt unter¬ 
scheidet und beschreibt drei Formen: 1. die in Erweichung 
übergehende Cephalitis centralis, für welche er die mit 
der Lähmung koinzidierenden Kontraktionen der 
Flexoren pathognomonisch hält; diese tetanische Steifigkeit 
befalle stets die dem Krankheitssitze gegenüberliegende Seite, und 
zwar zuerst die obere, sodann erst in geringerem Maße die untere 
Extremität; 2. die mit Hydrocephalus acutus verknüpfte Gehirn¬ 
erweichung des frühen Kindesalters, welche auch im Verlaufe von 
Gastromalacie, Keuchhusten, Scharlach, „Mesenterialreizfiebern“ 
vorkomme, meist auf erblicher Anlage beruhe und sich durch eine 
eigentümliche Schädelform ausspreche; 3. die mehr schleichend als 
selbständige Krankheitsform auftretende Gehirnerweichung des 
späteren Lebensalters (nach dem zurückgelegten 50. Jahre). 

Das Gegenstück zur Monographie von Fuchs bildet diejenige, 
welche der Berner Professor Ph. Fr. W. Vogt „Über die Er¬ 
weichung des Gehirns und Rückenmarks“ (Heidelberg und 
Leipzig 1840) veröffentlichte. Vogt schildert ziemlich überein¬ 
stimmend mit Fuchs die anatomischen und klinischen Verhältnisse, 
er unterscheidet wie dieser drei Stadien: 1. das der beginnenden, 
2. das der ausgebildeten Krankheit, 3. das der eintretenden Läh¬ 
mung. Er hält streng an der Lehre von der Einheitlichkeit des 
Erweichungsprozesses fest. „Der Krankheitsprozeß der Er¬ 
weichung ist seiner inneren Natur nach immer nur 
einer, und wenn man auch nicht verkennen kann und darf, daß 
er wie jeder andere viele Modifikationen macht, so können diese 
doch nicht auf so wesentlichen Verschiedenheiten beruhen; die 
Malacie wäre ja auch nach dieser Ansicht nur ein Symptom, nicht 
mehr eine besondere Krankheitsform.“ (L. c. pag. 109.) Vogt folgt 
auch keineswegs der Meinung jener Autoren, welche in der Gehirn- 


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erweichung den Ausgang einer. Entzündung im gewöhnlichen Sinne 
des Wortes erblickten, in der Sprache der Zeit ausgedrückt, das 
Produkt einer aktiven, phlegmonösen, arteriellen oder passiven, 
venösen Entzündung. Aber so sehr er die Argumente anerkennt, 
welche gegen die Annahme einer akuten Entzündung sprechen, ist 
er doch weit davon entfernt, der Ansicht von der nichtentzündlichen 
Genese des Erweichungsprozesses zu huldigen. Ihm ist die Gehirn¬ 
erweichung vielmehr eine chronische, liqueszierende Ent¬ 
zündung und er erschöpft sich in weitläufigen Ausführungen, 
um diesen vagen Begriff anatomisch und klinisch zu begründen. 
„Die Einwürfe, welche man gegen die Annahme, daß die Gehirn¬ 
erweichung ein chronischer Entzündungsprozeß sei, gemacht hat, 
beruhen auf falschen Grundlagen und falschen Folgerungen. Indem 
man nämlich nachwies, daß sie keine akute phlegmonöse Ent¬ 
zündung sei, folgerte man zugleich, sie könne also keine andere 
Art von Entzündung sein. Da sie, sagte man, sich in ihren Sym¬ 
ptomen von allen Phlogosenformen des Gehirns wesentlich unter¬ 
scheide, kein Fieber in Begleitung habe, langsamer verlaufe als die 
Kopfentzündungen, durch erregende Mittel mitunter geheilt werde, 
^ den Leichen weder blutige Injektion noch Ablagerung plastischer 
Lymphe, noch Eiterung zeige usw., so könne man sie nicht als 
Encephalitis betrachten. Erwägt man aber, daß die Gehirnerweichung 
zwar von den akuten phlegmonösen Phlogosenformen des Gehirns 
in ihren Symptomen sich wesentlich unterscheidet, hingegen mit 
den chronischen Entzündungsarten dieses Organs so zusammenfällt, 
daß eine sichere Unterscheidung in allen Fällen unmöglich ist, daß 
auch manche andere Formen von Gehirnentzündungen, wo niemand 
zweifeln kann, daß sie wirkliche Entzündungen sind, oft ohne Fieber 
verlaufen, daß manche Entzündungsprozesse in gewissen Zeiträumen 
und Verhältnissen allerdings auch erregender Mittel bedürfen und 
daß endlich die Abwesenheit der genannten Produkte durchaus 
nicht die Abwesenheit einer chronischen, nichtphlegmonösen Ent¬ 
zündung beweisen können — so sieht man, auf welchen Pfeilern 
die Argumente zum Beweis der Nichtentzündlichkeit der Gehirn- 
malacie aufgebaut werden.“ (L. c. pag. 115.) 

Vogt wendet sich gegen die prinzipielle Unterscheidung einer 
akuten und chronischen Erweichung, gegen die Aufstellung der roten 
Erweichung als besondere Form, gegen die Meinung von Gendrin, 
daß bei der Verbindung von Malacie mit Apoplexia capillaris die 


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letztere stets das Primäre sei usw. Als pathognomonisch für die 
Encephalomalacie gilt ihm kein einziges Symptom, doch beobachte 
man in der Kegel bei ihr — nicht immer — den Mangel eines 
heftigen Fiebers, anhaltende tetanische Spannungen der Glieder, 
öftere Insulte von leichten Schlaganfällen, Mangel aller Zeichen 
von Hirndruck. Ganz eigenartig ist schließlich seine These, daß 
die chronische liqueszierende Entzündung des Gehirns, d. h. die 
Erweichung pathogenetisch mit der exsudativen chronischen Ent¬ 
zündung der Gehirnhäute identisch sei. 1 ) Ja Vogt stellt sogar an 
die Spitze seiner Darlegungen den Satz, „daß diejenigen Formen 
des akuten Wasserkopfs der Kinder, welche durch ein Leiden der 
Gehirnsubstanz selbst begründet sind, mit der Gehirnerweichung 
älterer Personen ganz identisch sind, und diejenigen Formen des 
Wasserkopfs, welchen nur ein Leiden der Arachnoidea zu Grunde liegt, 
ebenfalls dasselbe Grundleiden sind, das sich jedoch in diesen 
Fällen in einem anderen Teile ausgebildet hat.“ (L. c. pag. 96.) 
Demgemäß schildert er in der Symptomatologie gesondert die 
Gehirnerweichung älterer Personen und diejenige der Kinder, wobei 
er unter letzterer Meningitis und Hydrocephalus versteht — worin 
ihm wenige folgten. 

Pathologische Anatomie. Vogt beschreibt drei Intensitäts¬ 
grade der Erweichung (1. noch deutliche Faserung, noch deutliche Ver¬ 
schiedenheit der grauen und weißen Substanz, aber stärkere Feuchtigkeit 
der erkrankten Stelle; 2. Faserung nicht mehr erkennbar, Farbendifferenz 
zwischen weißer und grauer Substanz verwischt, Hirnmasse palpabler; 
3. Hirnsubstanz in breiige Masse verwandelt, die gewöhnlich mit etwas 
wässeriger Feuchtigkeit gemischt ist und in irregulären Flocken in der¬ 
selben herumschwimmt). Die Farbe der erweichten Substanz ist 
nur etwas Zufälliges, begründet keine wesentlichen Differenzen. 
Die Farbe ist manchmal unverändert, bald weißer als gewöhnlich (milch¬ 
weiß, opaleszierend), bald graulich, gelblich, rotgelb, rostfarben, rot usw. 
Die verschiedene Färbung hat keinen konstanten Zusammenhang mit dem 
Grade der Erweichung, mit dem Stadium derselben, selbst nicht mit dem 
stattgehabten Blutandrang. Was den Sitz der Erweichung anlangt, so ist ihr 
Vorkommen an jeder Stelle des Groß- und Kleinhirns möglich, am häufigsten 
sind die Hemisphären des Großhirns betroffen (meist in der Mitte); bei Kindern 
und jungen Leuten besonders oft das Septum pellucidum, derFornix, die Ober¬ 
fläche der Ventrikel, der Seh- und Streifenhügel, bei alten Leuten die Mitte der 
Hemisphären. Wenn manchmal die Erweichung nur auf einer Seite ge- 


x ) Abercrombie hatte in Fällen von Hydrocephalus mit Erweichung 
die letztere für das Primäre erklärt. 


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funden, intra vitam aber doppelseitige Symptome beobachtet wurden, sei 
dies daraus zu erklären, daß der Krankheitsprozeß in der andern Hirn¬ 
hälfte weniger entwickelt war. Die Größe der Herde variiert sehr von 
Erbsen-, Haselnußgröße aufwärts, bald findet sich Erweichung nur an 
einem Punkte, bald ist sie disseminiert. Zwischen der Größe des Herdes 
und der Intensität der Symptome besteht nicht in allen Fällen ein nach¬ 
weisbarer Zusammenhang. Was den Geruch betrifit, so ist oft gar keiner, 
manchmal ein säuerlich-fötider, niemals ein hydrosulfuröser (Brand¬ 
geruch) vorhanden. Die Umgebung des Erweichungsherdes zeigt sich mit 
seröser Feuchtigkeit durchtränkt, ihre Farbe ist unverändert oder mehr 
weißlich oder rötlich. Die Apoplexia capillaris lasse sich von der 
Injektionsröte dadurch unterscheiden, daß bei ihr größere oder kleinere 
Klümpchen von ausgetretenem grumösen Blute Vorkommen. Die Apoplexia 
capillaris finde sich fast stets in der Nähe der erweichten Stelle, und 
zwar am häufigsten in den Streifen- und Sehhügeln. Wenn die Erweichung 
sekundär bei Apoplexia sanguinea auftritt, so liegt sie an der Grenze 
des Blutergusses, ist aber die Apoplexie das Sekundäre, so schwimmt 
die erweichte weißliche Gehirnsubstanz im ergossenen Blut oder wird 
von grumösem Blut eingehüllt. Die in der Umgebung eines Erweichungs¬ 
herdes vorkommende Verhärtung bilde sich infolge einer aktiven phlegmo¬ 
nösen oder einer chronischen Entzündung, welche später „liqueszierend 44 
werde; die Induration kann aber auch die Folge eines die Erweichung 
abgrenzenden Entzündungsprozesses sein (Naturheilung). Die Hirnhäute 
sind bei der Encephalomalacie oft affiziert, besonders bei Kindern und 
jungen Leuten. Die Ossifikation der Arterien, welche manche 
Autoren zur Erklärung des Krankheitsprozesses heran¬ 
zogen, haben keinen Zusammenhang mit der Gehirn¬ 
erweichung. Trete Lungenödem als Komplikation auf, so sei dies 
auf die Serosität des Blutes als gemeinschaftliche Grund¬ 
ursache zurückzuführen. Skrofulöse, Tuberkulose der Lungen 
und anderer Organe finde sich bei Kindern so häufig neben der Hirn¬ 
erweichung — Vogt versteht darunter die Fälle von Meningitis und 
Hydrocephalus —, daß ein ursächlicher Zusammenhang vorauszusetzen sei. 

Symptomatologie. V. beschreibt zuerst das Krankheitsbild, 
wie es bei der „ Hirnerweichung 44 der Kinder beobachtet wird, sodann 
die Symptome bei der Hirnerweichung älterer Individuen. Wir führen 
nur die letzteren an. Erstes Stadium: Kopfschmerz, Schwindel, 
Gemütsverstimmung, leichte Intelligenzdefekte, Vergeßlichkeit, Sinnes¬ 
störungen , Artikulationsstörungen, vorübergehende Motilitätsstörungen 
(Schwäche in den Gliedern, Unsicherheit der Bewegung, Nachschleppen 
eines Beines), Zittern, leichte Kontraktionen in Fingern oder Zehen, 
Pelzigsein, Herabsetzung der Sensibilität, Formikationsgefühl, Schmerzen. 
Alle diese Symptome zusammen sind in keinem der Fälle vorhanden. 
Zweites Stadium: Unter Zunahme oder Abnahme der geschilderten 
Erscheinungen apoplektischer Insult von sehr verschiedener Intensität, 
mehr oder minder komplette Lähmung der Bewegung oder auch der 
Bewegung und Empfindung einer Körperseite hinterlassend. In vielen, 


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aber nicht in allen Fällen krampfhafte Kontraktion der Fle¬ 
xoren, manchmal eigentümliche Schmerzen in den gelähmten Gliedern, 
oft hochgradige Sprachstörung, Deviation der Zunge, Betäubung manch¬ 
mal bis zum Koma gesteigert, bisweilen Delirien. V. will einen eigen¬ 
tümlich säuerlich - fötiden Geruch aus dem Munde, fast analog dem 
Geruch der erweichten Hirnsubstanz, bemerkt haben. Im dritten 
Stadium allmählich oder rasch eintretende Lähmung, komatöse oder 
soporöse Anfälle, Respirationsstörung usw., Tod durch Gehirn- oder 
Lungenlähmung. Im Anfall hält V. die Unterscheidung zwischen Gehirn¬ 
erweichung und Gehirnhämorrhagie für unmöglich. In der Differential¬ 
diagnose berücksichtigt er subakute und chronische Meningitis, Arachnitis 
tuberculosa, Hirnabszeß, seröse Apoplexie usw. 

Ätiologie. Die Mehrzahl der Fälle betrifft das senile und das 
infantile Alter (die Erweichung im Sinne Vogts). Damit gewisse, von den 
Autoren angegebene okkasionelle Momente, die Reizung und Blutandrang 
oder anderseits Anämie und Schwächung hervorrufen, wirksam werden 
können, scheint eine prädisponierende Anlage nötig zu sein. Besonders 
werden Personen von kachektischem, leukophlegmatischem Typus, Kinder 
von skrofulösem Habitus betroffen. Die Grundlage geben Unterernährung, 
mangelhafte Hautkultur, Dyskrasien, Ausschweifungen, anhaltend schwere 
Arbeit, Atonie der festen Teile, Armut des Blutes an festen Teilen und 
Übermaß an Serum; auslösend wirken Mißbrauch geistiger Getränke, 
Gehimkongestion, Insolation, Gemütsaffekte, geistige Überanstrengung usw. 
Bei vorhandener Anlage kann Blutkongestion nach dem Kopfe Gehirn- 
malacie hervorrufen. 

Therapie. Zwischen den beiden Extremen der antiphlogistischen 
und der erregenden Heilmethode ist der Mittelweg zu wählen, ist eine 
spezifische Antiplilogose als Grundbehandlung mit individualisierenden 
Modifikationen einzuschlagen. Der Indicatio causalis kann nur durch die 
hygienisch-diätetische Prophylaxe entsprochen werden. Therapie im 
ersten Stadium: Blutentziehungen (Blutegel am Kopfe oder 
Aderlässe, je nachdem es sich um Kinder, alte, geschwächte oder kräftige, 
plethorische Personen handelt, je nachdem Fieber und Kongestionserscheinun¬ 
gen fehlen oder vorhanden sind), Kalomel, später Digitalis, unter Umständen 
Salze; als Unterstützungsmittel der Blutentziehung Kälteapplikation auf 
den Kopf, Blasenpflaster mit eitererregenden Salben, Senfpflaster usw., 
Anregung der Haut-, Darm-, Nierenfunktion. Im zweiten Stadium: 
Digitalis, Purganzen, Exsutorien am Köpfe, reizende Fußbäder, Jod 
(Kal. hydrojod. mit Digitalis, Jodsalbe auf den geschornen Kopf), Ipeca- 
cuanha, Arnica, kleine Dosen belebender Mittel (Serpentaria, Valeriana, 
Angelica, Naphthen, Liq. Ammon, caust.), Anregung der Diurese und 
Darmfunktion; gegen die Lähmung örtliche Reizmittel bis zur Elektrizität. 
Im dritten Stadium: Arnika mit Phosphomaphtha und anderen er¬ 
regenden Mitteln, Fontanellen, Haarseile, Behandlung der Lähmungen, 
hygienisch-diätetisches Regime. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 29 

Wie sehr der Begriff Gehirnerweichung als besondere Krank¬ 
heitsspezies erstarrt war, zeigt nichts so deutlich als das Faktum, 
daß K. H. Baumgärtner in seiner Kranken-Physiognomik, 2. Aufl. 
1842, unter seinen 80 Krankenbildern auch einen Fall von Ence- 
phalomalacie aufgenommen hat. (Vgl. Fig. 1.) 

Es ist nicht ohne Interesse, seinen Ausführungen zu folgen. „Wohl 
in der Mehrzahl der Fälle beginnt die Gehirnerweichung mit einem 

geringeren oder größeren Grade des Schlagflusses, wobei Gehirnfasern zer¬ 
reißen, was nun die Veranlassung der Erweichung wird. Das Krankheits¬ 
bild entwickelt sich daher oft von einem bestimmten Augenblick an, 
in welchem der Kranke wenigstens von einem Schwindel oder Ohren¬ 
klingen befallen war; in manchen Fällen bildet sich aber die Erweichung 
ohne bestimmt erkennbaren Anfang aus. Es ist auch das Krankheits¬ 
bild verschieden, je nachdem die Gehirnerweichung in dieser oder jener 
Gehimpartie ihren Sitz hat. Nach meinen Erfahrungen ist der häufigste 
Sitz des Übels in der einen oder andern Hemisphäre nahe bei dem 
Corpus striatum. In diesen Fällen wird allmählich das Gedächtnis 

schwach, so daß die Kranken viele Worte nicht finden können und sie 
daher zu umschreiben suchen; ja es kann dasselbe, ohne daß vorher 
Lähmungen sich entwickeln, fast ganz verloren gehen, so daß der 
Kranke beinahe nicht mehr zu sprechen vermag und oft nur unver¬ 
ständliche Worte unter einer Art lallenden Sprache hervorbringt und 
auch sich falscher Ausdrücke bedient. Hiebei wird nun das Aussehen 
der Kranken ein eigentümliches. Die Augen erhalten etwas Stieres und 
Nichtssagendes (Dummes); bei dem Gespräche lachen die Kranken viel 
und auf eine eigene Weise, was an das Lachen der Blödsinnigen er¬ 
innert (wohl um das nicht gehörige Auffassen zu verbergen) und bei 

dem Lachen bemerkt man allmählich, daß die eine Seite des Antlitzes 
beweglicher ist als die andere. Die Kranken tragen den Kopf und den 
ganzen Körper grad und steif und ihr Gang wird dabei unstet. In der 
Regel stellen sich nun Anfälle ein, die entweder als Apoplexie auftreten 
oder in Zuckungen bestehen, die oft der Epilepsie ähnlich sind und sich 
vorzüglich auf die Seite verbreiten, die schon länger als die geschwächtere 
erscheint. Nach solchen Anfällen wird das Aussehen des Kranken noch 
stupider und die Gesichtslinien der einen Seite werden mehr und mehr 
hängend. Manchmal erkennt man, daß bei vollkommener Zerstörung des 
Gedächtnisses doch noch eine ziemlich frische Urteilskraft besteht, in¬ 
dem die Kranken oft durch lebhafte Zeichen, die sie mit den Händen 
geben, bei dem gänzlichen Mangel des Sprachvermögens sich verständ¬ 
lich zu machen suchen. In seltenen Fällen wird der Kranke blind. 
Endlich sinkt derselbe, meistens nachdem vorher ein neuer apoplektischer 
Anfall oder ein Anfall von Krämpfen sich eingestellt hatte, zuweilen 
aber auch allmählich in einen soporösen Zustand, in welchem das Atmen 
röchelnd und sehr erschwert wird, der Körper kalt wird und der Tod 
eintritt. u 


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aber dieselben sind fr ia z stier und aus sieri ■tveiteo dunkle» ihijnlleu 
dringt 'kein. Steihi dör Sgeie hera'd*.^Eire tieslnhtßlibi’eh der linken Beite, 
namansticla Me : Bhhi.aUjn.fo. sind etwa« stärket »üsge.d[rftekt 

als die «l«r nrnßbteh dfo inehr hiiageßd, sind, J>et Miiadwiökel 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


31 


links hängt etwas herab. Die Gesichtsfarbe ist ziemlich blaß, die Er¬ 
nährung nicht vermindert. Der Kranke kam in dem Zustande, wie wir 
ihn vor uns sehen, in das Hospital und von seiner Geschichte konnten 
wir nichts erfahren. Es hat der Kranke das Gedächtnis in dem Grade 
verloren, daß er nur einzelne Worte nach langem Besinnen und unter 
stammelnder Sprache hervorzubringen vermag. Er ist so vollkommen 
blind, daß er Tag und Nacht nicht zu unterscheiden vermag; dagegen 
hat er subjektive Lichtempfindungen. Kopfschmerz ist durchaus keiner 
vorhanden, aber Schwindel. Von Zeit zu Zeit wird der Kranke, vor¬ 
züglich auf der rechten Seite, von heftigen Konvulsionen befallen, die 
ihn schon einige Male beinahe getötet hätten. Die ganze rechte Seite 
ist in Hinsicht der Bewegungsfähigkeit geschwächt und zeigt auch eine 
geringere Empfindlichkeit bei der Einwirkung schmerzerregender Ein¬ 
flüsse. Der Kranke liegt den ganzen Tag ruhig in seinem Bett auf 
dem Bücken und gibt keine Zeichen einer geistigen Tätigkeit als auf 
starkes Anrufen eine kurze, meistens nur in den Wörtern gut oder ja 
oder nein bestehende Antwort. Hat derselbe ein Bedürfnis, so wird 
er unruhig und befriedigt sodann unter Unterstützung des Kranken¬ 
wärters dasselbe, oft läßt er aber auch Kot und Urin in das Bett 
gehen. Die vegetativen Prozesse gehen so gut vonstatten, daß der 
Kranke einen ziemlichen Grad von Beleibtheit während des Aufenthaltes 
im Hospital, der schon über ein halbes Jahr dauert, erreicht hat.“ 

Als. selbständiges Krankheitsbild neben der Hirnentzündung 
figurierte „die Hirnerweichung“ in allen Lehr- und Hand¬ 
büchern, von denen wir beispielsweise nur Canstatts Handbuch 
der medizinischen Klinik (2. Aufl., IH, 1, pag. 84), Erlangen 1843, 
hervorheben wollen. Über die Pathogenese der Krankheit wurden auf 
ungenügender anatomischer oder klinischer Grundlage verschiedene 
Vermutungen geäußert x ), bemerkenswerterweise erlangte 

l ) Sundelin (Handb. d. Diagnostik, 1833) meinte, daß durch ab¬ 
normen Einfluß der die Kapillaren im Gehirn begleitenden Sympathikus¬ 
zweigehen eine chemische Auflösung bedingt werde. Noch späterhin 
suchte Grünbaum (Diss. de encephalomalacia, Berlin 1843) die Erwei¬ 
chung von Störungen in den „trophischen Nerven des Gehirns“ herzuleiten. 

Verteidiger und Bekämpfer der Entzündungstheorie stützten sich 
meist auf die Argumente französischer oder englischer Autoren. Von den 
Verteidigern der Entzündungstheorie wurde unter anderm angeführt, daß 
die roten Punkte in oder in der Umgebung der Erweichung, die Schwellung 
der erkrankten Hirnpartie, der prodromale Kopfschmerz, die oft beobachtete 
erhöhte Temperatur und sonstige febrile Symptome für ihre Ansicht sprechen. 
Die Gegner wandten ein, daß in den meisten Fällen kein pathognomonisches 
Zeichen von Encephalitis vorhanden sei, ferner daß zerebrale Depressions¬ 
erscheinungen vorherrschen, daß oft der Kopfschmerz und die febrilen Er¬ 
scheinungen fehlen, daß hauptsächlich geschwächte, marastische Individuen 
befallen werden usw. 


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Dr. Max Neuburger. 


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aber in Deutschland die Ansicht von der durchaus 
entzündlichen Natur der Affektion nie die Oberhand. 
In mehreren Dissertationen zwischen 1830 bis 1840 ist die Meinung 
vertreten, daß die Erweichung eine Ernährungsstörung des 
Gehirns sei, hervorgerufen durch allgemeine Dyskrasie oder Zirku¬ 
lationsstörungen, welche wirksam würden, wenn das Gehirn durch 
äußere schädliche Einflüsse verschiedener Art, durch Gefäßverände¬ 
rungen (Ossifikation) usw. dazu disponiert sei. 

Inzwischen schien aber ein sicheres Kriterium dafür gefunden 
zu sein, um die vieldiskutierte Frage entscheiden zu können, ob 
die Hirnerweichung entzündlicher oder nichtentzündlicher Natur 
sei. Es waren die von Gottlieb Gluge entdeckten Körnchenzellen 
oder, wie er sie nannte, die „Entzündungskugeln“, deren Nach¬ 
weis die entzündliche Genese jedes pathologischen Prozesses mit 
voller Sicherheit verbürgen sollte. Erwies sich diese Annahme auch 
bald als eine Täuschung, so gebührt Gluge doch das Verdienst, 
die mikroskopische Forschung auf unserem Gebiete inauguriert zu 
haben. 

Gluge, Professor in Brüssel, hatte seine einschlägigen Be¬ 
obachtungen zwar bereits 1837 der Akademie der Wissenschaften 
in Paris vorgelegt (vgl. compte-rendu dieses Jahres) und 1840 eine 
Abhandlung in den Archives de la Medecine beige erscheinen lassen, 
an die deutschen Ärzte, deren Kreisen er entstammte, wandte sich 
der Autor aber erst mit den „Abhandlungen zur Physio¬ 
logie und Pathologie. Anatomisch-mikroskopische Unter¬ 
suchungen.“ Jena 1841 *). In diesem Buche handelt das 5. Kapitel 
„über die Erweichung des Gehirns“. 

Nach einer kurzen Einleitung über den mikroskopischen Bau des 
Gehirns sucht Gluge zunächst das Wesen der Entzündung zu erörtern, 
von der er fünf Grade unterscheidet. 1. Kongestion, 2. Anschoppung, 
3. der Faserstoff schwitzt durch die Blutgefäße in die Gewebe, 4. es 
bildet sich Eiter, 5. Brand. Von diesen fünf Graden kommen für unser 
Thema in der Kegel nur der zweite in Betracht. „Die Blutkügelchen 
verlieren ihre Farbe und ihren Umfang, sie bilden in den Gefäßen selbst 
zusammenklebende Haufen von 30—40 Kügelchen, diese agglomerierten 
Haufen sind schwärzlich, den Maulbeeren zu vergleichen und leicht 


*) Vogt (vgl. oben) erwähnt allerdings schon 1840 die Entzün¬ 
dungskugeln und nennt hiebei nicht bloß Gluge, sondern auch seinen 
Berner Kollegen Valentin als Entdecker. Ihm sind diese Gebilde ein 
Beweis, daß bei der Erweichung etwas der Eiterung Analoges stattfindet. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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durch Di^ick in die kleinen Kügelchen zu sondern, aus welchen sie zu¬ 
sammengesetzt sind. Wir nennen sie zusammengesetzte Ent¬ 
zündungskugeln. Sie haben Yso Millimeter und mehr Durchmesser. 
Die kleinen Kügelchen, aus denen sie zusammengesetzt sind, sind halb¬ 
durchsichtig und haben Y400 bis Vsoo« .Ob diese kleinen Körper ihren 
Ursprung den Blutkörperchen verdanken, ob sie neu durch das Blut ge¬ 
bildet sind, das ist für unseren Zweck von keiner Wichtigkeit. Die Tat¬ 
sache, daß jene zusammengesetzten Kugeln sich selbst in den Gefäßen 
bilden, steht fest; mit Epitheliumzellen wird sie wohl niemand ver¬ 
wechseln, noch weniger kann man sie mit den sphärischen Y100 Milli¬ 
meter großen, mit 3 bis 4 sehr kleinen Kernen versehenen Eiterkügelchen 
verwechseln. Die flüssigen Teile des Blutes schwitzen 
durch die Wände der Haargefäße und verändern die 
Dichtigkeit und Farbe der Organe. Die Gefäße selbst 
zerreißen durch diese wahrhafte Erweichung, und man 
sieht alsdann zusammengesetzte Kugeln in der aus¬ 
geschwitzten oder ergossonen Flüssigkeit sich indenGc- 
weben verbreiten.“ 

Im folgenden beschreibt er seine Beobachtungen über Gehirn¬ 
erweichung. Die Fälle gehörten den verschiedensten Altersperioden (von 
15 Jahren bis ins Greisenalter) an. 

1. Frau. Paralyse. In der grauen und besonders in der weißen 
Substanz des großen und des kleinen Gehirns finden sich erweichte 
Stellen etwa von der Größe eines Viergroschenstückes. Die Substanz ist 
dort zerfließend, die Umgebung gesund. Unter dem Mikroskop zeigen 
sich in der erweichten Masse nur Fragmente der zerrissenen Hirnröhren, 
aber sie sind von normalem Aussehen. Mit diesen Fragmenten sind 
folgende Körper gemischt. In großer Anzahl, sphärisch, fast undurch¬ 
sichtig, ungefähr zehnmal größer als Eiterkügelchen, sind sie aus viel 
kleineren Kügelchen zusammengesetzt, wie ein leichter Druck es zeigt; 
diese letzteren sind sphärisch und durchsichtig. Sie entsprechen ganz 
den Entzündungskugeln. Taucht man das Skalpell in die erweichte Masse, 
so erhält man in einem Tropfen eine ungeheure Menge jener Kugeln, 
gemischt mit Fragmenten der Hirnröhren. 

2. Mann. Gehimsymptome ohne Lähmung. Erweichung im vorderen 
Lappen des Gehirns, einige Zoll breit. Die erweichte Masse enthält 
Fragmente der Himröhren und eine große Zahl der beschriebenen Ent¬ 
zündungskugeln. Die Kapillargefäße der weißen Substanz sehr zahlreich 
und stark injiziert. 

3. Frau. Apoplexie, Lähmung der linken Seite, nach 15 Tagen 
neuer Anfall. Tod. Die rechte Hemisphäre ist bis zum Thalamus nervorum 
opticorum erweicht und von roter Farbe mit grau untermischt. In beiden 
Hemisphären finden sich Herde von ergossenem Blut und in den beiden 
Seitenventrikeln rötliches Serum. 1. Diese Flüssigkeit enthält zusammen¬ 
gesetzte Kugeln und Fragmente von Himröhren. 2. Das koagulierte Blut 
schließt Fragmente von Hirnröhren ein. 3. In der Himsubstanz der 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 3 


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Dr. Max Neuburger. 


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rechten Seite findet sich eine große Menge der Entzündungskugeln, auf 
der linken Seite sind sie nur in geringer Zahl. 4. Die Nervenkanäle sind 
nur mit Mühe im Blutkoagulum zu erkennen, sie bilden nur Fragmente 
in dem erweichten Teile, im übrigen Gehirn sind sie unverletzt. Ohne 
Zweifel hatte das Blut als mechanische Reizung Entzündung bewirkt, 
in der rechten Hemisphäre hatte sich, weil sie zuerst befallen, dieselbe 
auch am stärksten entwickelt. 

4. Mann. Lähmung der linken Seite seit mehreren Monaten. Rote 
Erweichung der rechten Hemisphäre des Gehirns. Die Kapillargefäße 
sehr injiziert. In dem erweichten Teile sind die Himröhren verschwunden 
oder sind nur in kleinen Fragmenten da. Im übrigen Gehirn sind sie 
normal. Entzündungskugeln finden sich in großer Menge in der erweichten 
weißen und grauen Substanz. 

5. Frau. Plötzlicher Fall 4 Wochen vor dem Tode. Lähmung der • 
linken Seite und Kontraktur der Extremitäten. Erguß von Blut im rechten 
Ventrikel und Erweichung in demselben. Die erweichte Masse enthält 
Fragmente der Himröhren mit vielen Entzündungskugeln gemischt, so¬ 
wohl in der grauen als weißen erweichten Substanz. In dem die Er¬ 
weichung umgebenden Teile des Gehirns sind die Kapillargefäße sehr 
injiziert. 

6. Mann von 50 Jahren. Man ist ungewiß, ob die Krankheit mit 
keinem Schlagfluß angefangen hat. Während eines 18 tägigen Aufenthaltes 
im Hospital zeigte er beständiges Delirium, außerordentliche Empfindlich¬ 
keit der Haut beim leisesten Berühren, leichte Kontraktur des rechten 
Arms, keine Paralyse. Im rechten Hirnlappen ist eine tiefgehende rote 
Erweichung. Der linke Seitenventrikel enthält eine gelbliche Flüssigkeit, 
das Corpus striatum oberflächlich erweicht, der Pons Varoli und das 
Corpus callosum zeigen weiße Erweichung, im Innern des kleinen Ge¬ 
hirns ist rotgraue Erweichung. 1. Die gelbliche Flüssigkeit enthält spar¬ 
same Blutkügelchen und einige Entzündungskugeln. 2. In der weißen 
Erweichung sind kaum erkennbare Fragmente von Himröhren und zu¬ 
sammengesetzte Kugeln. 3. Die rote Erweichung enthielt ebenfalls die 
Entzündungskugeln, aber in ungeheurer Quantität. 4. Im kleinen Gehirn 
befindet sich inmitten der Erweichung eine Sougroße Stelle von gela¬ 
tinöser Erweichung. Ich unterschied leicht die Hirnröhren darin, viele 
zusammengesetzte Kugeln und außer diesen Eiterkügelchen. In mehreren 
der beschriebenen Fälle befanden sich die Entzündungskugeln noch 
innerhalb der Gefäße, die sich leicht isolieren und darstellen ließen. 

7. Frau von ungefähr 40 Jahren. Fiel 14 Tage vor ihrem Tode 
plötzlich (wahrscheinlich vom Schlagfluß getroffen). Lähmung des linken 
Armes, das linke Bein unvollständig gelähmt. Der hintere Teil der 
rechten Hemisphäre zeigt alle Nuancen der Erweichung von der roten 
Farbe bis zu gelben eingestreuten Inseln, die Erweichung ist nicht bis 
zum Zerfließen, eine 2 cm breite und 4 cm lange Stelle in der weißen 
Substanz ist erweicht, aber ohne Veränderung der Farbe. 1. Weiße er¬ 
weichte Substanz. Die Hirnröhren sind wie verengt, sehen wie solide 
Fäden aus. Es finden sich keine zusammengesetzten Kugeln, aber es ist 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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eine amorphe Masse zwischen den Röhren abgelagert, die wahrscheinlich 
nengebildet ist. 2. Rotgraue Erweichung. Die zusammengesetzten Kugeln 
befinden sich in ihr in großer Menge, und in dieser erweichten Stelle 
ist fast keine Spur der Himröhren mehr oder sie erscheinen nur noch 
wie einfache Streifen, in denen die zwei Seitenkonturen nicht mehr sicht¬ 
bar sind. 3. Die gelben Punkte bestehen aus Haufen von kleinen fett¬ 
ähnlichen Tröpfchen. 

8. Weiße Erweichung eines großen Teiles des Gehirns. Die 
Kapillargefäße sind sehr injiziert, die Himkanäle der erweichten Stelle 
sind zerstört oder nur in Fragmenten mit einer großen Menge Eiter¬ 
kügelchen gemischt. 

9. Ein Soldat, lymphatisch - sanguinischer Konstitution, 24 Jahre 
alt, nicht vakziniert, frühere Krankheit Pocken. Der Kranke war im 
Oktober wegen Karies am Arm amputiert und der Stampf gut vernarbt 
worden. Später stellte sich Abszeß am Knie ein, der allgemeine Zustand 
blieb dabei befriedigend, bis sich Ende November 1840 plötzlich all¬ 
gemeine Unbehaglichkeit, dann Koma, Steifigkeit der rechten Körper¬ 
hälfte, krampfhafte Bewegungen der Glieder einstellten und der Kranke 
in wenigen Tagen erlag. Die Lungen enthielten einige kleine Tuberkel¬ 
höhlen, sonst waren, bis auf das Gehirn, alle Organe gesund. Im Ge¬ 
hirn, im hinteren linken Lappen der Hemisphäre, befand sich eine 
äußerlich 2 Franken große erweichte Stelle, die sich in die Tiefe 
herab erstreckte. Die Erweichung war weiß, außerdem die oberflächliche 
Schicht im Ventrikel derselben Seite zerfließend. Auch im anderen Ven¬ 
trikel erweichte Stellen. Der ganze übrige Teil des Gehirns war von 
normaler Konsistenz. Die Erweichung bestand aus zerrissenen und zer¬ 
störten Himröhren mit einer großen Menge Eiterkügelchen gemischt. An 
einigen dunkleren Stellen der Erweichung fanden sich zahlreiche zu¬ 
sammengesetzte Kugeln. 

10. Ein junger Mensch fiel vom ersten Stockwerk eines Hauses. 
Kontusion des Gehirns. Koma. Tod nach eintägigem Aufenthalt im 
Hospital. Bruch des Schädels an der Grundfläche, wo die Kavität für 
das Kleinhirn gebildet wird. Erguß von Blut an der Basis desselben, 
in den beiden Seitenventrikeln und an einigen Stellen des großen Ge¬ 
hirns; mehrere Stellen der Gehirn Substanz sind in Brei verwandelt und 
enthalten nur die Fragmente der Himkanäle, aber ohne eine Spur der 
zusammengesetzten Kugeln. Das Blutkoagulum schließt Fragmente von 
Kapillargefäßen und Nervenkanälen ein. 

Gluge erwähnt ferner, daß bei Apoplexie und Meningitis Er¬ 
weichung ohne Entzündungsprozeß vorkomme, ferner daß er bei Typhus 
abdominalis Erweichung des Gehirns mit Texturveränderung beob¬ 
achtet habe. 

Nach diesen klinischen pathologisch-anatomischen Beobachtungen 
berichtet Gluge über einen Tierversuch. Er stach einem und dem¬ 
selben Kaninchen zu verschiedenen Zeiten Nadeln in verschiedene Stellen 
des großen und kleinen Hirns bis zu einem Zoll tief ein und ließ die- 

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selben kürzere oder längere Zeit liegen, so daß sie nicht verfehlen 
konnten, eine Irritation hervorzurufen. So lange die Nadeln liegen blieben, 
riefen sie die entsprechenden Reizerscheinungen hervor, nach ihrer Heraus¬ 
nahme befand sich das Tier ganz wohl. Als dasselbe aber nach einigen 
Wochen infolge einer durch einen neuen Nadelstich verursachten Hirn¬ 
blutung starb, fand sich überall, wo eine Nadel ins Gehirn eingedrungen 
war, ein roter Punkt von Blutkoagulum, in dessen nächster Umgebung 
in einem kleinen Umkreise das Gehirn erweicht war und die verschie¬ 
densten Farbennuancen zeigte. In den erweichten Stellen wurden Gluges 
zusammengesetzte Kugeln angetroffen. Ähnliche Versuche stellte G. öfter, 
stets mit dem gleichen Ergebnis an. 

Gluge stellt seine Untersuchungsergebnisse zum Schlüsse in fol¬ 
gender Übersicht zusammen. „1. Die Erweichung des Gehirns kann 
einen Teil oder das Ganze einnehmen. Die Erweichung des ganzen Ge¬ 
hirns wurde nur im Typhus beobachtet, und die Ursache derselben ist 
ganz unbekannt. Die Hirnröhren verändern alsdann ihre Form. 2. Die 
Erweichung kann die primitive Gehirnfarbe haben oder doch grauweiß 
sein. In diesem Falle sind entweder eine amorphe Exsudation oder spar¬ 
same zusammengesetzte Kugeln oder Eiter der erweichten Gehirnmasse 
beigemischt, und das Mikroskop vermag die beiden ersten Veränderungen, 
das bloße Auge aber den Eiter nur dann zu erkennen, wenn er in großer 
Menge vorhanden ist oder exsudiertes Serum, wie in der Meningitis, die 
Erweichung bewirkt. 3. Existiert außer im Typhus noch eine andere Art 
Erweichung des Gehirns, die nicht eine mechanische Mazeration des Ge¬ 
hirns durch eine Art Auflösung, Zersetzung der Gehirnsubstanz ist? 
Fernere mikroskopische Untersuchungen müssen diese gewiß seltenen Fälle 
erst noch beweisen. 4. Gewöhnlich ist die Farbe der erweichten Gehirn¬ 
substanz verändert, rosenfarben, gelb, grau usw. Wenn diese Farben¬ 
veränderungen da sind, so kann nur das Mikroskop die Natur der Er¬ 
weichung nachweisen. Diese ist entweder entzündlicher Natur oder, durch 
einen Bluterguß veranlaßt, ohne Entzündung, a) In dem ersten Falle 
kann die Entzündung wie in allen Geweben so auch im Gehirn sich 
primitiv entwickeln; die festen Teile des Blutes bilden die zusammen¬ 
gesetzten Kugeln, die flüssigen gefärbten Teile dringen durch die Wände 
der Blutgefäße und veranlassen eine mechanische Mazeration der Gehirn¬ 
substanz, die sie färben. Oder es findet eine Apoplexie statt, das Blut 
wird nicht resorbiert, wirkt dann entzündungserregend auf das Gehirn 
wie jeder andere fremde Körper, b ) Die Erweichung kann durch das 
ergossene Blut stattfinden, wie in allen schnell verlaufenden Apoplexien, 
ohne Entzündung zu erregen; das Blut infiltriert sich dann in die Ge¬ 
hirnsubstanz und färbt diese. 5. In allen Fällen von Erweichung zer¬ 
reißen die Hirnröhren, in vielen verändern sie ihre Farbe. 6. Die Er¬ 
weichung des Gehirns ist allen von mir beobachteten Fällen (mit Aus¬ 
nahme des Typhus) rein mechanisch, bei Tieren künstlich hervorzubringen, 
und durch Serum, Exsudate, Eiter oder Blutextravasat veranlaßt. 

Hauptresultate. 1. Die weiße Erweichung zeigt in den 
meisten Fällen Eiter. 2. Die gefärbte Erweichung ohne 


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vorhergehenden Bluterguß zeigt die Produkte der Ent¬ 
zündung im zweiten Grade. 3. Die gefärbte Erweichung 
mit Bluterguß kann Entzündungsprodukte oder auch 
bloße Infiltration des roten Serums zeigen.“ 

Zum Schlüsse sind Abbildungen beigegeben, welche die mikro¬ 
skopisch-anatomischen Verhältnisse bei der Hirnerweichung (Destruktion 
der Textur, Entzündungskugeln) demonstrieren 1 ). 

Nach Glu ge sind die meisten Fälle von Hirnerweichung — 
nicht alle — entzündlicher Natur, was eben durch die Gegenwart 
von „Entzündungskugeln“ im mikroskopischen Befund bewiesen 
werde. Der Erweichungsprozeß ist nach Ginge nichts anderes 
als eine Mazeration der Hirnsubstanz in Serum. Das Serum 
könne aber durch verschiedene Vorgänge geliefert werden, nämlich 
a) durch einen gewissen Grad von Entzündung, wobei Blut¬ 
plasma ausgeschwitzt wird, dessen seröser Anteil dann die Er¬ 
weichung herbeiführt, b) durch Bluterguß, c) durch hydro- 
cephalischen Erguß, welcher nach seiner Resorption Erwei¬ 
chung der benachbarten Hirnsubstanz erzeuge. 

Bluterguß könne eine entzündliche oder eine nichtentzünd¬ 
liche Erweichung verursachen. Der Cruor bilde den apoplektischen 
Herd, das Serum aber wirke auf die umgebende Hirnsubstanz 
erweichend (ohne Entzündungsprozeß). Dieser Vorgang finde aber 
nur in der ersten Zeit nach der Blutung statt, denn später, wenn 
der apoplektische Herd einmal konsolidiert ist, bilde er — analog 
den Tumoren usw. — einen Entzündungsreiz für die Umgebung 
und veranlasse dort eine entzündliche Erweichung. 

Um die Verbreitung von G lug es Beobachtungsergebnissen, 
um die Verteidigung seiner Anschauungen hat sich am meisten 
Eisenmann bemüht, freilich nicht ohne tatsächliche Zusätze zu 
machen und theoretische Modifikationen vorzunehmen. Es leiteten 
ihn dabei besonders patriotische Momente, weil eben in dieser Zeit 
Durand-Fardels glänzende Forschungen alles in die Ver¬ 
gessenheit zu stoßen drohten, was deutsche Ärzte vorher auf dem 
Gebiete geschaffen oder wenigstens erstrebt hatten. 

Eisenmanns Schrift über „die Hirn-Erweichung“ 3 ) 

x ) Vgl. in Jahrb. f. Psych. u. Neurol. XXXIII. Bd., meinen Auf¬ 
satz, „Streifzüge durch die ältere deutsche Myelitis-Literatur“, wo die 
betreffende Tafel reproduziert ist. 

2 ) Datiert von der Feste Oberhaus, wo Verfasser, ein politischer 
Märtyrer, gefangen saß. 


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erschien 1842 (Leipzig) und beruht auf gründlicher Kenntnis der 
bisherigen Literatur. Der eigenen Arbeit ist eine deutsche Über¬ 
setzung der im gleichen Jahre erschienenen Denkschrift Durand- 
Fardels über die anatomischen Veränderungen der Hirnerweichung 
y orangeschickt 1 ). 

Die Hauptergebnisse, zu denen Durand-Fardel in seinen 
Memoire sur le ramollissement du cerveau (Archives: g6n4rales de 
Medecine 1842) kommt, sind folgende: 

Die Hirnerweichung der Greise ist, mit sehr wenigen Ausnahmen, 
eine sich immer gleiche Krankheit, sie verläuft bald akut, bald chronisch» 
Die Hirnerweichung entwickelt sich immer infolge einer ßlutkongestion 
und ist fast immer in ihrer akuten Periode von Röte begleitet. Wenn sie in 
den chronischen Zustand übergeht, verschwindet diese Röte und 
macht gewöhnlich einer gelben Farbe Platz, Welche durch das im 
Anfang infiltrierte Blut erzeugt ist und besonders häufig und deutlich 
in der Rindensubstanz auftritt. Die chronische Erweichung kündigt sich 
zuerst durch eine einfache Verminderung der Konsistenz, durch den 
pulpösen Zustand des Marks ohne Röte an. Später nimmt sie in der 
Rindensubstanz der Windungen die Form von membranartigen, gelben, 
weichen Lamellen an: gelbe Platten der Windungen. Zu gleicher 
Zeit verflüssigt sich das Mark der weißen und der zentralen grauen 
Substanz und verwandelt sich in eine trübe, körnige Flüssigkeit, Kalk¬ 
milch, welche sich in die Zwischenräume des durch die Verflüssigung 
des Nervenmarks bloßgelegten Zellgewebes infiltriert: Zelleninfil¬ 
tration. In einer späteren Epoche entstehen entweder Verschwärungen 
auf der Oberfläche des Hirns oder umschriebene Höhlen oder umfang¬ 
reiche Substanz Verluste. 

Eisenmann schließt sich in der Schilderung der anatomi¬ 
schen Verhältnisse Durand-Fardel vollkommen an 3 ), nur wendet 
er sich gegen dessen Einteilung der Erweichung in eine akute und 
chronische Form lediglich nach der Färbung, und unterscheidet 
statt dessen in einem und demselben Prozeß vier Stadien; auch 
deutet er die von Durand-Fardel beschriebenen gelben Platten 
in der Kindensubstanz als Vernarbung. Der makroskopischen Be- 

*) E. fügt kritische Anmerkungen hinzu, die öfters nicht grundlos 
polemisch werden. 

2 ) E. nennt eingangs die wichtigsten französischen, deutschen und 
englischen Autoren und sagt: „Ohne den Leistungen der übrigen zu 
nahe treten zu wollen, glaube ich, daß Durand-Fardel die Aufeinander¬ 
folge der anatomischen Veränderungen bei der Hirnerweichung, Gluge 
die nächste Ursache derselben, Andral und Fuchs die Symptomatologie 
und die Diagnose, Dechambre endlich den Heilungsvorgang dieser Er¬ 
weichung am erfolgreichsten bearbeitet haben.“ 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie, 


39 


Schreibung reiht er die Ergebnisse von Gluges mikroskopi¬ 
schen Untersuchungen an, nämlich 1. die Nervenröhren 
desHirnmarks verlieren ihre scharfen Umrisse; 2, sie 
zerreißen und sind nur noch in kleinen, mehr oder 
weniger erkennbaren Trümmern vorhanden; 3. sie 
sind beinahe oder gänzlich verschwunden. 

In der Erklärung des Erweichungsprozesses stimmt Eisen¬ 
mann mit Gluge der Hauptsache nach überein, auch ihm gilt 
derselbe als eine Mazeration der Hirnsubstanz; doch dehnt er 
den Begriff Erweichung viel weiter, bezieht auch die Eiterung usw. 
ein und nähert sich der Ansicht Durand-Fardels vom ausnahmslos 
entzündlichen Ursprung der Encephalomalacie, indem er fast allen 
Fällen eine „Stase“ zu Grunde legt. $ 

„Das zur Mazeration nötige Serum ist in der Regel das Ergebnis 
einer Stase, es soll aber auch ohne Vermittlung einer Stase abgesondert 
werden, doch dürfte letzteres nur beim angeborenen chronischen Wasser¬ 
köpfe und bei den Hirnblutungen der Fall sein; aber selbst beim an¬ 
geborenen chronischen Wasserköpfe könnte vielleicht eine Stase in jenen 
Haargefäßen zugegen sein, welche bloß Blutplasma und keine Blut¬ 
kügelchen führen, und bei den Hirnblutungen geht immer eine Hyperämie 
der Blutung vorher. Demnach hat die Hirnerweichung ihren nächsten 
Grund in einer das Hirn mazerierenden Flüssigkeit und diese Flüssigkeit 
ist in der Regel das Produkt einer Stase...“ (L. c. pag. 69.) 

Eisenmann unterscheidet sechs Grade der Stase. Beim ersten 
Grade fließt das Blut langsamer in den ausgedehnten Haargefäßen, ob 
und wie sich die Blutkügelchen dabei verändern ist noch unerforscht, 
jedenfalls werden hier keine zusammengesetzten Entzündungskugeln ge¬ 
bildet. Übrigens wird Serum ausgeschwitzt. Wesentlich ist dieser Grad 
von der Entzündung nicht verschieden, er ist nur eine niedrigere Stufe 
derselben und geht leicht in sie über. „Jedenfalls steht fest, daß bei 
diesem Grade der Stase, welchen manche Schriftsteller Irritation nennen 
und den ich als sthenische Stase bezeichnet habe, ausgeschwitztes Serum 
das Nervenmark zersetzt, wie solches täglich in den Leichen der an 
Hydrocephalus gestorbenen Kinder nachgewiesen werden kann.“ Beim 
zweiten Grade der Stase stockt das Blut in den ausgedehnten Haar¬ 
gefäßen, die Blutkügelchen verlieren ihre Hüllen, das Blut löst sich in 
Serum auf, es bilden sich noch innerhalb der Haargefäße Gluges zu¬ 
sammengesetzte Kugeln. Das Serum durchdringt die Haargefäße und 
wirkt ganz auf ähnliche Art auf die Gewebe zurück wie das Serum des 
ersten Grades, namentlich bringt es noch leichter die Röhren des Nerven- 
marks zur Erweichung, ja es scheint noch etwas deletärer zu sein, denn 
es zerstört auch die Wände der Haargefäße, welche zerreißen und deren 
Trümmer sich neben den Fragmenten der Nervenröhren und den zu¬ 
sammengesetzten Kugeln in der erweichten Masse finden. Bei der infolge 


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Dr. Max Neuburger. 


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des zweiten Grades der Stase entstandenen Erweichung findet man 
oft auch Eiterkügelchen. Beim dritten Grade der Stase wird ein 
faserstoffreiches Serum ausgeschwitzt, mit dem Vermögen zu neuer or¬ 
ganischer Gestaltung. Von einer Erweichung ist hier keine Rede. Beim 
vierten Grade der Stase, wo das Plasma oder faserstoffreiche Exsudat 
zu Eiter zerfließt, entsteht die freilich seltener vorkommende purulente 
Erweichung, in welcher sich Eiterkügelchen, Eiterserum, Trümmer von 
Hirnmarkröhren, Trümmer von Kapillargefäßen und auch zusammen¬ 
gesetzte Entzündungskugeln finden. Beim fünften Grade der Stase ist 
das Exsudat gleich genuin eine purulente Masse und erzeugt abermals 
eine purulente Erweichung. Beim sechsten Grade der Stase wird 
Jauche gebildet, welche auf die Gewebe noch auflösender wirkt als der 
Eiter. Es ergibt sich dadurch eine jauchige Erweichung, welche unter 
dem Namen kalter Brand bekannt ist. „Wir haben sohin eine seröse 
Erweichung als Ergebnis des ersten und zweiten Grades der Stase, eine 
eitrige Erweichung als Ergebnis des vierten und fünften Grades der 
Stase und eine jauchige Erweichung als Ergebnis des sechsten Grades 
der Stase. Von diesen Erweichungen ist aber gewöhnlich nur die seröse 
gemeint, wenn von Hirnerweichung die Rede ist; es muß aber auch die 
übrige Erweichung dabei berücksichtigt werden, da dieselbe zuweilen 
neben der serösen Erweichung vorkommt.“ (L. c. pag. 71 bis 74.) 

Eisenmann führt den Hydrocephalus und die Erweichung 
auf denselben Grundprozeß zurück, insofern einmal die „Stase“ haupt¬ 
sächlich die Hirnhäute, das andere Mal das Hirnparenchym betrifft 
und er schlägt daher vor, statt der Namen akuter und chronischer 
Wasserkopf und akute und chronische Himerweichung die Bezeichnung 
akute und chronische Hirnstase zu wählen. Er erinnert selbst an eine 
ähnliche Anschauung Vogts, sagt aber, daß dieser irrigerweise die Er¬ 
weichung als das Primäre betrachte. (L. c. pag. 75 u. 110.) 

Für die Behauptung, daß die Erweichung mit einer Stase 
beginne, spreche der Befund von Entzündungskugeln und die. Gefä߬ 
injektion in Fällen des beginnenden Prozesses, ferner die experimen¬ 
tellen Ergebnisse. Dafür, daß das Serum destruierend wirke, führt 
Eisenmann außer verschiedenen anderen Argumenten die Versuche 
an, welche Robert Paterson über die Imbibitionsfähigkeit 
des Gehirns bekanntgemacht hatte. 

Diese Versuche wurden im Edinburg medical Journal (Jan. 1842) 
publiziert. Paterson fand, daß das tote Hirn (von Hammeln, Schafen usw.) 
in Wasser, Mischung von Wasser und Ochsengalle gelegt, schnell die 
Flüssigkeiten, mit welchen es in Berührung steht, absorbiert, und zwar 
am schnellsten jene Hirnpartien (Septum pellucidum, Corpus striatum, 
große Kommissur, Gewölbe), welche in Krankheitsfällen am häufigsten 
erweicht gefunden werden. Er schloß daraus, daß die Autoren oft bloße 
Leichenveränderungen für Krankheitsprodukte angenommen hätten. 
Eisenmann weist diese Folgerung motiviert zurück. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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Es sei hier erwähnt, daß Fremy (Annalen der Chemie und Phar¬ 
mazie, Bd. 40) auf Grund seiner chemischen Untersuchungen den Er¬ 
weichungsprozeß des Gehirns mit der Fäulnis identifiziert. Die Gehirn¬ 
substanz gehe sehr leicht in Fäulnis über und dann zersetze sich die 
Olphosphorsäure in Olein und Phosphorsäure, und durch das sich eben¬ 
falls zersetzende Albumin werde das Olein veranlaßt, sich in Ölsäure 
zu verwandeln, welche mit dem freiwerdenden Ammoniak eine Verbindung 
eingehe. Dieselben Umwandlungen gingen auch bei der Gehirnerweichung 
vor sich. Nach Fremy zersetze sich die Olphosphorsäure unter dem Ein¬ 
flüsse von Wasser schon bei gewöhnlicher Temperatur. Eisenmann sieht 
darin einen Beweis, daß diese Zersetzung das erste Moment beim Er¬ 
weichungsprozeßbilde und daß derselbe tatsächlich eine Mazeration 
des Hirnmarks in ausgeschwitztem Wasser sei. 

Bei der ausführlichen, mit Krankengeschichten belegten Be¬ 
sprechung, welche Eisenmann der Ätiologie der Hirnerweichung 
widmet, spricht er eingangs als erster den bedeutsamen Satz aus: 
„Man hat bisher die Hirnerweichung als eine eigene 
Krankheitsspezies betrachtet und sich sohin auch nach 
den Ursachen dieser Krankheitsart umgesehen, allein nichts 
kann irriger sein als eine solche Anschauungsweise, 
denn die Hirnerweichung ist nur der Ausgang, das Ergebnis einer 
Stase, die sehr verschiedener Natur sein kann, und ich hoffe die 
Zeit zu erleben, wo die Hirnerweichung als solche nicht länger ein 
Kapitel der speziellen Nosologie bilden, sondern als ein genereller 
krankhafter Zustand in der allgemeinen Nosologie ihren Platz finden 
wird.“ (L. c. pag. 86.) 

Aus seiner Symptomatologie wäre hervorzuheben, daß er den 
Kontrakturen nicht mehr, wie die meisten Vorgänger es taten, 
einen so bedeutenden Wert für die Diagnose beimißt und auf die 
Verwechslung der tonischen Krämpfe mit ihnen hinweist. Wie schon 
oben bemerkt, rechnet Eisenmann zur Erweichung als „universelle 
oder komatöse Form“ auch die Affektion, welche andere Beobachter 
als eine Art der Arachnitis bezeichneten, weil ja auch ihr eine Stase 
oder Hyperämie der Hirnhäute zu Grunde liege. Bezüglich der Dif¬ 
ferentialdiagnostik spricht er sich mit weit größerer Vorsicht und Be¬ 
scheidenheit als die früheren Autoren aus, und was die Therapie 
betrifft, so verwirft er die Blutentziehung für die Mehrzahl der Fälle. 

Ätiologie. Traumen, „miasmatische“ Einflüsse (Rheuma, Erysipel, 
Typhus usw.), chronische Dyskrasien (gichtische, skrofulöse, hämorrhoidale 
usw.), Urämie, Pyämie, Kohlenoxydvergiftung, Alkoholismus, Störungen 
der Zirkulation und organische Fehler des Kreislaufapparates, deprimie- 


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Dr.-Max Neuburger. 


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rende Gemütsbewegungen, Sekundär kann die Himerweichung durch 
Gehirnblutungen, Tuberkeln und sonstige Geschwülste (teils Druckwirkung, 
teils Irritation) veranlaßt werden oder vom Rückenmark her entwickeln, 
indem sich die Spinalirritation oder die Rückenmarkserweichung auf das 
Hirn verbreitet. (E. deutet im letzterwähnten Sinne die Krankengeschichte 
seiner eigenen Mutter, wobei aber keine Sektion des Rückenmarks vor« 
genommen wurde, und einen zweiten Fall.) Prädisponierend wirken 
nicht nur das Greisen-, sondern auch das Kindesalter, ferner das weibliche 
Geschlecht. 

Pathologische Anatomie. E. unterscheidet 4 Stadien. 1. die 
erkrankte Hirnsubstanz ist durch Gefäßinjektion rot gefärbt und beginnt 
zu erweichen; 2. pulpöse Beschaffenheit des Himmarkes, die rote Färbung 
geht (rascher in der Mark- als in der Rindensubstanz) ins Gelbe, dann 
ins Blasse und Weiße über; 3. in der Marksubstanz bildet sich die von 
Durand-Fardel beschriebene Zelleninfiltration, die Rindensubstanz zerfließt 
in einen grauen Brei; 4. Vernarbung. In der Marksubstanz wird die 
Flüssigkeit der Zelleninfiltration resorbiert, es bildet sich eine, nur noch 
Zellengewebefaden enthaltende Höhle, deren Wände sich nähern; in der 
Rindensubstanz bildet sich eine Narbe, welche bald mehr gelb gefärbt 
ist und dann der von Durand-Fardel so bezeichneten „gelben Platte“ 
entspricht. Mikroskopisch zeigen sich folgende Veränderungen: 1. Die 
Nervenröhren des Hirnmarks verlieren ihre scharfen Umrisse; 2. sie 

zerreißen und sind nur noch in Trümmern vorhanden; 3. sie sind beinahe 
oder gänzlich verschwunden. 

Symptomatologie. E. beschreibt 1. die Symptome in der sen¬ 
sitiven Sphäre: Störungen der Empfindung (Kopfschmerz, Schmerzen, 
Taubsein, Anästhesie in den Extremitäten, Gesichts- und Gehörstörungen, 
Schwindel, Eingenommensein des Kopfes), Intelligenzstörungen, Bewegungs¬ 
störungen (Lähmungen, tonische Krämpfe, Kontrakturen, Konvulsionen); 
2. die Symptome in der vegetativen Sphäre: Störungen der Verdauung, 
Zirkulation, Respiration, Nutrition, im Terminalstadium torpides Fieber, 
Dekubitus usw. 

Diagnostik. Merkmale, welche in allen Fällen aus¬ 
reichen würden, um die Erweichung von allen anderen 
Hirnkrankheiten mit Zuverlässigkeit zu unterscheiden, 
gibt es nicht, was auch andere Beobachter sagen mögen, 
und abgesehen von Verwechslungen mit anderen anatomischen Verände¬ 
rungen des Hirns kommen Fälle vor, wo bei Abwesenheit aller Zerebral¬ 
symptome im Hirn ausgebildete Erweichungen angetroffen werden und 
umgekehrt, wo nach dem Vorhergange von Zerebralsymptomen, welche 
sonst die Erweichung begleiten, im Hirn entweder bloß eine Hyperämie oder 
auch gar keine wahrnehmbare Veränderung angetroffen wird. Für Hirn¬ 
blutung spricht nicht der plötzliche Eintritt der Zerebralsymptome, sondern 
das Vorherrschen des „Gefäßorgasmus“ (Gesichtsfarbe rot oder livid, 
Pulsation der Karotiden, Anschwellung der Jugulares, Größe, Härte, 
Völle des Pulses usw.). 


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Original fro-rn 

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Studien 2 -Ut Geschichte der deutsche« örfeiurapathoiogie, 


Therapie, Da unrpr dein Begriff llirnorweiohung verschieden^- ; 
Aifektiotien zusarnttjoagefatöt werdn«. st* kann m keia« Tür all» 

'gÄltfge Therapie gehen. In der Regel st niBJ.nfew tVieh «»gen i>\ 
vermeiden, etetf derseihen kalte Umschläge auf den Kopf und kalte 
Begteiituiger*- Intern kommen ia Hetraekt Mittel, welche spezifieei* -Hi?/ 
das Hirn vrafcep (salp*ibraadrea 8LU>er oav.\), Hirtel, welche die Vaso< 
motoren erregen (cssigöaureB -Blei mit Opium mty*), Nervinu (Ämitva,: 
Asa foetida. Ead, iingtiberia, Naphtha vgett, Naphtha pkegpiidrata usw.l. 
Extern KateihxingeK des Ivopte» fnit »vä^serifier ober • tjglc%iSai<rv'5t4»nJ»g 
von Ammonium. Blasenpflaeter in der iSnekea%<!g<iml. ?>mt Anregung dw 
Darnitätigfcöir leichte Drästika, lüymntwi. 

Vom Fortgang der durch .Ginge in Deutschland angeregten 
wiktoskofiiachen Forschung auf juiserein Gebiete geben unter ahderm 
zwei Figuren ein frühea ^eögiiiä, weiche in den „Erlau terung?TaMü 
zur pathologische» Histnlßgie 4 * (Leipzig 1843;) des Göttinger Prof. 


Jtilius Vogel enthalt»» sind. Die eine derselben stellt de« mikro- 
sküpisehen Befand ^äef erweichte». Gebirosubstanz im tlmkreia eines 
Turmm« dar (vgl,. Big. 2), die- andere den der „gelben Brwtdehttflg im 
Umkreis eines hämorrhagischen. Herdes* (vgl Big 3) 


Eisen märiiv trat für Glwge nochmal* in dm Schranken. Im 
Jahre 1843 war IVümml-Faj'deis beriihuiUA Welk -Traue du ;v,~ 
«äolüsseinent ilit- /£#yean? erschienen. Über dir- Bedeutung, über 
iioB teilweise /.tu«/ tiri.verilnderlichgji Besitztum (der 'Wisseuhcbaft 


i).Im Original, Taf XIIX, Big. C Uöd Taf, XiV. 11g./3 : 


Goc igle 


Original from 

UNI.VERSITY OF MfCHIGA 





gewordenen luiiult des Werken bnineitt hier kein Wort verloren zu 
werden, sicherlich maßte aber zur Zeit des Irselj.eiöens die; Art. 


verletzen, in welcher • der Autor die vorauagegangene deutsche 
Vorsehung entweder gänzlich %iiorierte oder, wie. im Falle Ginge, sie 
zwar zur Kenutnin ualnn, aber ziemlich, geringschätzig behandelte 
Etsemnaüo Versetzte alahaiG das Buch ins Deutsche, widmete • 
die Übersetzung Ginge als dein- Kiitdeck.cn der wahren Sä tut der 
Büruerwetdnmg" • und benutzte m der Vorrede, in Amuerkuhgeh 
und ZmUzm gegen „die anmaßenden Üb«j- % eS 

Wallungen* des Autors "zu nrofederea, ’ vemeintludie Lüekem 
namentlich in bezug auf die mikro^kopisehe Untersuchung zu er¬ 
gänzen 1 ). Was diese letztere anlaitgt, so konnte er mit Befriedigung 

l \ ; räile HirneTWcidiang, 

übersetzft umi mit Zusätzen versehGii von Di*, ©8e4Xtnan.U:,, Leipzig 1844.. 

In der Vuvmle dea 1 r hei heißt Cs.:*Di£ Abimiidlutig hat so viel 

imkern Wert,; daß .eine. LHoir^tzmig derselben .keiner ltecbt.fatf.igu ug 
'bexlarf..-Etwas' Vsllemfato durfte nrao aber -vodr Verfasser doch nicht 
erwarten, du er die mikroafeaptaehe IJntersucbasig der Hirnervreichimg 
vermicfcl$ssigi hat Diese Lucke. glaubte ich in . der Übersetzung anefülleu 
und dabei unser 01 Ivanihunracic fr 1 U g e öihe '.wohWcrdiente: .GeTOgtoUng 
vi>y**häden äh inussnü, leb konnte auch nicht tun.lun, die apn-iaiieudeu 
Über wo Hu.ugen französbiclici Nauoaalitivt, insoweit solche uns Deutschcni 
zu uabe. traten, ^urUekzuw^jsei3 v Ich Itebe die .FrutiÄoaen und habe hohe 
Aclitühg vor ihrer wussenBehartiieiiexi • Tätigkeit', liivm Anmaßungen aber 
werde.'ich'uhßtalj und immer vmtg.cgeDtraten.* Besonders reizte. Eiseamaun 
fciae- Stelle in der Yörredfc des T*uraöd> Kardef wo er. sagt • ^Öie Frage 





Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 45 

auf die inzwischen erschienenen „Pathological and histological 
researches on inflammation of the nervous centres“ des Edinburger 
Arztes John Hughes Bennett hinweisen, der die Beobachtungen 
Gluges der Hauptsache nach bestätigte, wenn er auch in manchen 
Einzelheiten oder in Schlußfolgerungen abwich. Eisenmann ist 
in seinem patriotischen Eifer gewiß oft zu weit gegangen, denn 
auf solch breiter Grundlage wie Durand-Fardel hat keiner vor ihm, 
und ganz gewiß auch nicht Gluge die längst als irrig erwiesene 
Behauptung von der durchaus entzündlichen Natur der Encephalo- 
malacie vertreten — aber die Eitelkeit 1 ) und der Starrsinn des sonst 
so verdienten französischen Autors war gebührend gekennzeichnet; 
machte er sich doch auch noch viel später zum Schaden des wissen¬ 
schaftlichen Fortschritts geltend. 

Einige Lehrmeinungen Durand-Fardels fanden übrigens bald 
darauf ihre Korrektur durch Rokitansky, der für die deutsche 
Forschung über den Prozeß der Hirnerweichung zunächst ma߬ 
gebend blieb. Dieser Meister war es, der nicht bloß präzise, muster¬ 
gültige Schilderungen der anatomischen Verhältnisse, der roten, 
gelben und weißen Erweichung und ihrer Folgezustände 
entwarf, sondern auch der Einheitlichkeit des Begriffs 
„Hirnerweichung“ ein Ende bereitete, was ihm noch 
lange nachher von französischer Seite arg verübelt wurde 2 ). Da 
er in seinem Handbuch der pathologischen Anatomie, Band II, 
1. Auflage, Wien 1844, die rote Erweichung in richtunggebender 
Weise im Kapitel Encephalitis, die weiße an den einschlägigen 
Stellen behandelt, so erübrigt uns hier, nur seine Ausführungen 
über „Gehirnerweichung“ im allgemeinen, d. h. hauptsächlich über 


über die Himerweichung gehört, wie beinahe alle Fragen, welche sich 
auf die Pathologie des Hirns beziehen und wie wir mit Stolz behaupten 
können, der französischen Medizin an. Es ist wahr, ich weiß nicht, was 
die deutschen Arzte in diesem Gegenstand geleistet haben; aber diese 
Unhekanntschaft läßt mich vermuten, daß sie keine wichtigen Arbeiten 
über diese Eirankheit geliefert haben.“ 

*) Durand-Fardel hat übrigens auch für manche Fakten und Ideen 
die Priorität beansprucht, die ältera französischen Autoren rechtmäßig 
zukommt. 

2 ) So schreibt im Dictionnaire encyclop. des Sciences m6dicales, 
T. XIV., pag. 424, Parrot noch 1873, M. Rokitansky, „l’un des pro- 
moteurs de cette f&cheuse conception“. 


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Dr. Max Neuburger. 


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die gelbe Gehirnerweichung mitzuteilen, die ihm noch als 
spezifische, selbständige Zerebralerkrankung galt 1 ). 

Die Lehre von der Gehirnerweichung, sagt Rokitansky, ist 
ungeachtet vielfacher älterer und neuerer Bearbeitung noch hei 
weitem nicht zu einer klaren und erschöpfenden anatomischen 

Diagnostik gelangt. „Es ist völlig untunlich, von einer 

Gehirnerweichung im allgemeinen zu handeln, sofeme 
es mehrere völlig differente Formen derselben gibt. Demzufolge ist 
es aber auch unmöglich, sich über die Frage zu entscheiden, ob 
die Gehirnerweichung entzündlicher Natur sei, d. i. durch Gehirn¬ 
entzündung gegeben werde oder nicht — eine Frage, welche von 
einer großen Partei bejaht und von einer ebenso großen anderen 
verneint wird. Es gibt drei wesentlich verschiedene 
Formen der Gehirnerweichung. 1. Die erste Form ist 
diejenige, die wir bei den Hydrocephalien und beim Gehirnödem 
als weiße, auch hydroceph alische Erweichung der Gehirn¬ 
substanz kennen gelernt haben. Sie besteht in Lockerung und 
endlicher Zertrümmerung der Gehirntextur durch ein in dieselbe 
exsudiertes Serum. Sie kommt, wie die Ödeme überhaupt, bald 
ohne alle Entzündung zustande, bald ist sie allerdings entzünd¬ 
licher Natur, sofeme mit dem Serum auch eine gewisse Menge 
eines gerinnbaren, einer elementaren Gestaltung fähigen Blastems 
exsudiert. Hieher gehören namentlich die mehr weniger akuten 
Ödeme in der Nachbarschaft von Entzündungsherden und vor allen 
das den akuten Hydrocephalus meningiticus begleitende, die Um¬ 
gebung der Gehirnventrikel destruierende Ödem. Dies sind dann 
solche Erweichungen, wo man in der zerfließenden Gehirnmasse die 
gemeinhin eine Entzündung charakterisierenden mikroskopischen 

Bildungen vorfindet“. „Die zweite Form ist jene, die wir 

als rote Erweichung und für seltene Fälle auch als eine Er¬ 
weichung mit mattweißer Färbung bei der Entzündung 
kennen gelernt haben. Ihre entzündliche Natur kann keinem 
Zweifel unterliegen; die letztere Varietät ist wegen des Mangels 
der Färbung, d. i. der Weiße der erweichten Gehirnsubstanz, dem 

J ) Schon 1839 erschien eine von Rokitansky inspirierte Wiener 
Dissertation „De encephalomalacia flava“ von Ign. Poche, in 
welcher ausschließlich die gelbe Erweichung als „morbus 
substantivus“ betrachtet wird. Verf. neigt der Ansicht zu, daß die 
gelbe Erweichung kein entzündlicher Prozeß sei. 


Go gle 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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entzündlichen Gehimödeme verwandt. Die Erweichung ist durch 
die Zertrümmerung der Gehirntextur durch das Exsudat und durch 
den schmelzenden Einfluß desselben gegeben. Hieher gehört ferner 
anch jener Zustand, den wir als einen Ausgang der Encephalitis, 
und zwar als Ausgang in Atrophie, Besorption, als sogenannte 
Zelleninfiltration kennen gelernt haben. Diese Erweichungen kommen 
bald als primitive und substantive, bald als sekundäre und sympto¬ 
matische vor.“ 

„Die dritte Form ist die gelbe Erweichung. Sie ist 
eine in jeder Hinsicht ausgezeichnete Gehirnkrank¬ 
heit, welcher merkwürdigerweise bis auf die neueste 
Zeit nicht die verdiente Bücksicht geschenkt worden 
ist, indem die Beobachter derselben überall nur bei¬ 
läufig gedenken. Und gerade auf sie würden noch am 
ehesten die vielen, die Entzündungstheorien bestrei¬ 
tenden Meinungen deutscher und französischer Ärzte 
über das Wesen der in ihren Arten nicht sorgfältig 
genug geschiedenen Gehirnerweichung passen — 
zumal die die Krankheit als eine sui generis, als eine 
spezifische Veränderung der Ernährung u. dgl. aus¬ 
gebenden. Die gelbe Erweichung betrifft das Gehirn gleich 
der Entzündung nie in seiner Totalität, sondern sie kommt als 
primäre und selbständige Erkrankung in ziemlich scharf 
umschriebenen Herden vor. Ihre Kennzeichen sind alsdann: An 
einer Stelle, von verschiedenem, jedoch im allgemeinen kaum ein 
Hühnerei überschreitendem Umfange, erscheint die Gehimsubstanz 
in einen stroh- oder schwefelgelben, sehr feuchten, sulzähnlichen, 
zitternden Brei verwandelt, in welchem jede Spur der dem freien 
Auge wahrnehmbaren Gehirntextur untergegangen ist, und welcher 
auf dem Durchschnitte sich merklich über das Niveau der Durch¬ 
schnittsfläche erhebt. Aus dem Herde der Degeneration gelangt 
man durch eine Schichte Gehirns von unbeträchtlicher Dicke, an 
der die Erkrankung dem Grade nach geringer ist — somit ziemlich 
rasch in die (relativ) normale Gehirntextur. So verhält sich die 
Sache im exquisiten Falle; der Grad der Erkrankung ist aber, wie 
man schon in der nächsten Umgebung der exquisiten Entartung 
erkennen kann, verschieden. Er wird durch den Grad der Ent¬ 
färbung, d. i. der Farbensättigung, den Grad der Durchfeuchtung 
und der Desorganisation der Textur bestimmt“. „Weder in dem 


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Dr. Max Neuburger. 


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Herde, noch in seiner Umgebung findet sich Injektion und Injektions¬ 
röte, bisweilen aber wohl eine gesprenkelte oder gestriemte Röte 

von kleinen Extravasaten (Ekchymosierung) vor“. „Der Sitz 

der gelben Erweichung ist ganz vorzüglich das Großhirn, nebst- 
dem das Kleinhirn, kaum je der Pons und andere Gebilde auf der 
Gehirnbasis. Sie befällt sowohl das Gehirnmark, als auch oft die 
tiefen Lagen der grauen Substanz. In der Gehirnrinde ist sie 

höchst selten und fast immer eine sekundäre“. „Die Größe 

des Herdes variiert von der einer Bohne bis zu der einer Walnuß, 
eines Hühnereis, wir haben bisher keine primitive, von Kompli¬ 
kation rein gelbe Erweichung von größerem Umfang beobachtet. 
Gewöhnlich ist nur ein Herd vorhanden. Seiner Gestalt nach ist 
er rund. Die gelbe Gehirnerweichung kommt sowohl als primi¬ 
tive und selbständige, als auch, und zwar häufiger, als eine 
sekundäre und symptomatische Erkrankung vor. Die erstere 
war vorzugsweise der Gegenstand der bisherigen Erörterungen. Als 
letztere gesellte sich die gelbe Erweichung zur Gehirnentzündung, 
zur Gehirnblutung, zu den verschiedenartigsten Aftergebilden im 
Gehirn. Sie betrifft hier meist, in Form eines Hofes, die umgebende 
Hirnsubstanz; bei der Entzündung umgibt sie unmittelbar den Herd 
oder man sieht wohl auch dieselbe an verschiedenen Stellen im 
Herde selbst, indem sie nämlich die innerhalb großer Herde nicht 
selten vorkommenden Partien unversehrt gebliebener Gehirnsubstanz 
befällt. Bisweilen beobachtet man sie in der Umgebung der 
Kammern als dem Zentralherde des akuten Gehirnödems bei akuten 
Hydrocephalien. Rings um den apoplektischen Herd und rings um 
Aftergebilde betrifft sie bisweilen auch die unmittelbare Umgebung, 
weit gewöhnlicher aber verhält sich die Sache anders: die un¬ 
mittelbare Umgebung ist ein Entzündungshof (rote Erweichung), 

und über diesen hinaus kommt gelbe Erweichung.Die gelbe 

Gehirnerweichung kommt sowohl als primitive als auch als sekundäre 
in jeder Lebensperiode, unter beiden Bedingungen, jedoch ungleich 
häufiger in der mittleren und vorgerückten Lebensperiode vor. 
Das Wesen der gelben Erweichung ist zur Stunde 

durchaus problematisch“. »Wir halten.eine 

Entzündungstheorie für die gelbe Erweichung für 
durchaus unzulässig. Ebensowenig wie von Eiter rührt die 
gelbe Farbe von den Blutkügelchen und dem Pigment allein her. 
Vor allem muß man den so gewöhnlichen Irrtum nicht begehen, 


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Stadien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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die Farbe unserer gelben Erweichung mit der rost-, hefen- oder 
ockergelben zu verwechseln, welche die Gehirnmasse im hämorrhagi¬ 
schen Herde, im Entzündungsherde darbietet und welche bestimmt 
vom Blutrote herrührt. Die gelbe Farbe unserer Erweichung ist 
von dieser völlig different; sie dürfte übrigens nicht allein vom 
Blutrote kommen, indem die Blutkügelchen sowie jenes amorphe 
Pigment in viel zu geringer Menge in der Flüssigkeit enthalten 
sind. Merkwürdig ist, daß die gelbe Gehirnerweichung nie eine 
Entzündung (Reaktion) in ihrer Umgebung veranlaßt. Wir ver¬ 
muten, daß die gelbe Gehirnerweichung in einem pathologisch¬ 
chemischen Prozesse begründet sei“... „Eine zweite Frage ist, 
wodurch und in welcher palpablen Weise etwa dieser Prozeß ver¬ 
anlaßt werde. In dieser Beziehung läßt sich aus dem Umstande, 
daß die gelbe Erweichung, so gewöhnlich in der Umgebung von 
Entzündungsherden sowie inmitten solcher in den durch das Ex¬ 
sudat nicht zertrümmerten Gehirnportionen, in der Umgebung von 
Entzündungshöfen ringsum Apoplexie, Aftergebilde oder auch un¬ 
mittelbar in der Umgebung der letzteren sich entwickelt, abnehmen, 
daß Obturation der Gefäße im Entzündungsherde, 
ihre Unwegsamkeit von Druck auf sie, somit eine Be¬ 
hinderung und Aufhebung des Kreislaufes in einem 
Gehirnteile ein beachtenswertes veranlassendes 
Moment abgeben dürfte. Nebstdem mag unter gewissen 
Umständen der Kontakt der Gehirnmasse mit einem in verschie¬ 
denen Metamorphosen begriffenen Blutextravasate und mit Ent¬ 
zündungsprodukten den Anstoß zur Entstehung der gelben Erweichung 
geben.“ 

Ganz auf Rokitansky beruht die Darstellung, welche Dietl in 
seiner „Anatom. Klinik der Gehirnkrankheiten“, Wien 
1846, von der gelben Gehirnerweichung als besonderem Krankheits¬ 
bilde gab. 

Die weiße Erweichung kommt nach Dietl in der Regel ohne alle 
Entzündung zustande, durch exsudiertes Serum werde Lockerung und 
Zertrümmerung der Gehimsubstanz bewirkt. Sie äußere sich klinisch 
durch Gehirndruck, lasse sich als solche nicht unmittelbar erschließen, 
sei notwendige Konsequenz jeder Hydrocephalie. 

Die rote Erweichung ist Produkt der Encephalitis. 

Die gelbe Erweichung ist ein eigentümlicher, in 
Herden auftretender Krankheitsprozeß des Gehirns. Sie 
verhält sich in mancher Beziehung wie die Gangrän. Die Gangrän 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 4 


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Dr. Max Neuburgefr. 


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hinterläßt ebenso wie die gelbe Erweichung Spuren der abgestorbenen Partien, 
sie entsteht wie diese entweder durch Obturation der Gefäße 
infolge von Entzündung oder durch Druck auf dieselben von After¬ 
gebilden, somit durch Behinderung des Kreislaufs in den 
betroffenen Teilen, sie kommt primär wie die gelbe Erweichung, 
vorzugsweise aber im Verlaufe akut dyskrasischer Leiden vor. Dietl 
verweist auf das Vorkommen von gelber Erweichung im Gefolge des 
Typhus — während der Typhusepidemie des Jahres 1842 wurde die 
sehr häufig beobachtet, wobei man aber auch Gangrän der Lunge, Leber, 
Milz, äußerer Teile öfter als je auffand. Gelbe Erweichung könne durch 
jede andere Blutzersetzung herbeigeführt werden. 

„Die primäre gelbe Erweichung ist mehr den chronischen als den 
akuten Krankheiten anzureihen, insoferne man überhaupt diesen Unter¬ 
schied gelten lassen darf und unter chronischem Verlaufe eine mehr¬ 
wöchige Krankheitsdauer mit mäßigem Fieber, allmählicher Abmagerung 
und Entkräftung versteht. Die primäre gelbe Erweichung kann in selteneren 
Fällen auch einen sehr raschen Verlauf nehmen und wird dann von 
einer Meningitis kaum zu unterscheiden sein. Kopfschmerz, Erbrechen, 
Stumpfsinn, an Blödsinn grenzende Apathie, große Muskelschwäche, 
äußerste Abmagerung, ohne Konvulsionen, ohne Kontrakturen und 
Lähmungen, sind die wichtigsten und gewöhnlichsten Erscheinungen der 
gelben Erweichung. Indes Störungen der Bewegung, Konvulsionen, ins¬ 
besondere aber Kontrakturen und Lähmungen bei der roten Erweichung 
Regel sind, sind sie bei der gelben Erweichung nur Ausnahmen, da 
dieselbe nur selten den Seh- und Streifenhügel befällt, überdies aber 
so allmählich zunehmende Himschwellung bewirkt, daß der Konsensus 
der die Bewegung vermittelnden Hirnteile nur unbedeutend sein kann. 
Da die gelbe Erweichung weder Entzündung in ihrer nächsten Umgebung 
hervorruft, noch überhaupt Blutextravasate setzt, so werden entzündliche 
und apoplektische Zufälle in ihrem Verlaufe nicht Vorkommen, während 
sie bei der roten Erweichung zu den ganz gewöhnlichen Ereignissen 
gehören. Erscheinungen von hyperämischem Hirnreiz und von Apoplexie 
schließen danach die gelbe Erweichung aus. Die gelbe Erweichung ent¬ 
steht entweder im Verlaufe irgend eines Siechtums oder nach akuten 
erschöpfenden Krankheiten, vorzüglich nach Typhus, welche Kombinationen 
ihre Diagnose erleichtern. Die sekundäre gelbe Erweichung läßt sich bei 
konstatierter Gehirnentzündung, Apoplexie, Gehirntuberkulose, aus plötz¬ 
lich eintretendem Koma, kurz vor dem Tode vermuten, aber nicht sicher 
diagnostizieren.“ (L. c. pag. 306, 307.) 

In der Therapie empfiehlt Dietl diätetisches Regime, Tonika; alles 
andere, wie Purganzen, Digitalis, Arnica, sei zwecklos, Blutent- 
ziehungen, „die doch bei keinen Krankheiten fruchtloser 
und schädlicher sind als bei denen des Gehirns,“ seien 
gänzlich zu verwerfen. 

Dietl ist nach Erörterung der verschiedenen Theorien am 
ehesten geneigt, die gelbe Erweichung des Gehirns für einen der 


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Gangrän analogen Prozeß zu halten, wofür der Umstand 
spreche, daß sie hauptsächlich in solchen Fällen auftritt, wo eine 
akute oder chronische Blutentmischung dazu die Disposition ge¬ 
schaffen hat. 

Wie sehr sich besonders unter dem Einflüsse Kokitanskys die 
Überzeugung immer mehr Bahn zu brechen begann, daß unter 
dem Erankheitsbegriff „Gehirnerweichung“ (anato¬ 
misch, klinisch und ätiologisch) sehr differente Affek¬ 
tionen zusammengefaßt worden waren — geht z. B. aas 
der Königsberger Dissertation Degenesiemollitionis cerebri 
von C. B. Heinrich (1845) deutlich hervor, einer Arbeit, die 
auf dem kritischen Studium der wichtigsten früheren Autoren des 
In- und Auslands, namentlich Andrals, beruht. 

Tfach der sorgfältigen Analyse der verschiedenen Lehrmeinungen 
über das Wesen der Gehirnerweichung kommt H. zum Schlüsse, daß die 
Autoren in ihren Ansichten deshalb so sehr voneinander abweichen, 
weil sie nur von einer bestimmten Gruppe der Affektionen ausgingen, 
ihre dabei gemachten Beobachtungen einfach generalisierten und mit vor¬ 
gefaßter Meinung an die Beurteilung der übrigen genetisch differenten 
Fälle schritten. H. meint, Gehirnerweichung entstehe aus aktiver oder 
passiver Stase, erstere sei mit übermäßiger Extravasation und konsekutiver 
Entzündung, letztere erfolge bei geschwächter Zirkulation infolge organi¬ 
scher Erkrankungen des Herzens oder der Gefäße. Es gebe aber noch 
ganz eigenartige Fälle, welche Rokitansky als „gelbe Erweichung“ 
bezeichnet, und eigentlich sollte diese allein unter dem Begriff Gehirn¬ 
erweichung verstanden werden. Die Theorien, welche man über die Ent¬ 
stehung derselben aufgestellt habe (Gangrän, regressive Metamorphose 
in den Embryonalzustand, chemische Theorie von Fremy und Rokitansky), 
genügen nicht, vielleicht würde infolge von Gemütsbewegungen, Alko¬ 
holismus, Abusus veneris usw. ein subparalytischer Zustand hervorgebracht, 
der schließlich zu Exsudation und abnormer chemischer Zersetzung führt. 
Ein einheitliches Krankheitsbild könne eigentlich wegen der Verschieden¬ 
heit des Krankheitssitzes und der Mannigfaltigkeit der Symptome nicht 
entworfen werden, sondern nur ein Durchschnittsbild. Manchmal lassen 
sich drei Stadien unterscheiden (Prodromi, Paralyse, torpides Fieber), 
oft gehen dieselben aber ineinander über, auch seien sie in den ein¬ 
zelnen Fällen hinsichtlich der Dauer und Intensität usw. sehr verschieden. 
Bisweilen fehlen alle Prodromalerscheinungen, der Kranke fällt plötz¬ 
lich zusammen, das dritte Stadium tritt dann gar nicht ein. Kommen die 
drei Stadien zur vollen Entwicklung, so werde folgender Verlauf beob¬ 
achtet. 1. Stadium: Mattigkeit, psychische Depression, Blässe des Ge¬ 
sichts. Schwäche der Glieder meist auf einer Seite, Schwere oder Steifig¬ 
keit, manchmal Schmerz, Parästhesien in den Extremitäten, Schwindel, 
Kopfschmerz, Ohrensausen, Gedächtnisstörung, Intelligenzschwäche. 2. Sta- 

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d i u m: Apoplektischer Insult, halbseitige motorische, manchmal auch 
Empfindungslähmung, Fazialislähmung, Blässe des Gesichts. Oft entsteht 
beim ersten Anfall nur Parese, erst beim zweiten komplette Lähmung. 
Nicht in allen Fällen Kontrakturen, manchmal Schmerz in den gelähmten 
Teilen, selten klonische oder tonische Krämpfe. Häufig Sprachstörung 
oder totale Aphasie, Dysphagie, Verstopfung, Enuresis u. a. Bewußtlosig¬ 
keit gleich total oder allmählich in Koma übergehend, selten Delirien, 
Respiration beschleunigt und stertorös, später oft arhythmisch, keine 
Temperatursteigerung. Manchmal eigentümlicher Geruch, wie auch bei 
anderen Gehirnaffektionen. Puls sehr verschieden, manchmal arhythmisch 
oder intermittierend. Oft tritt der Tod in einem neuen Insult ein oder 
es nehmen die Symptome allmählich zu und es tritt nach 5 bis 10 Tagen 
das letzte Stadium ein. 3. Stadium: Fieber, kleiner, oft arhythmischer 
Puls, fuliginöse Zunge, Kollaps, Lethargus, Köcheln, Tod. Manchmal un¬ 
mittelbar vor dem Exitus Wiederkehr des Bewußtseins. 

Überblickt man die Entwickelung, welche die Lehre von der 
Hirnerweichung in Deutschland vom Beginn des 3. bis zur Mitte 
des 5. Dezenniums erfahren hat, so ergibt sich, daß an Stelle der 
ursprünglichen Identität des Krankheitsprozesses, für welchen die 
einen eine entzündliche, die andern mit ebenso unzulänglichen 
Argumenten eine nichtentzündliche Genese in Anspruch nahmen, 
eine Dreiteilung getreten war. Man unterschied nach der Farbe 
die weiße oder hydrocephalische Erweichung, durch 
Transsudat oderExsudat veranlaßt, die rote alsTeil- 
erscheinung der Encephalitis, die gelbe als Wirkung 
einer eigentümlichen, selbständigen Ernährungs¬ 
störung der Hirnsubstanz. Für die Pathogenese kamen drei 
Haupttheorien in Betracht, welche der Reihe nach den genannten 
drei Formen der Erweichung am besten zu entsprechen schienen: 
Die Imbibitions- und Mazerationstheorie (weiße Er¬ 
weichung), die Theorie der entzündlichen Stase (rote 
Erweichung), dieTheorie einer chronischen, asthenischen 
Ernährungsstörung (saure Zersetzung der Fettsubstanzen, 
gangränartiger Prozeß; gelbe Erweichung). Wir wissen heute, daß 
diese Unterscheidung von vermeintlich im Wesen differenten Er¬ 
weichungsformen lediglich nach der Farbe, ebensowie die drei 
Theorien irrtümlich, bzw. unzulänglich waren — Den Einsichtigen 
entging dies übrigens schon damals nicht, — immerhin wurde 
durch den „lehrreichen Irrtum“ auch hier der Bann gebrochen, 
der bisher fortschrittshemmend auf der Entwicklung der Lehre 
lastete. Nur dadurch, nämlich, daß die Identität des Krankheits- 


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Prozesses, die Einheitlichkeit des Krankheitsbildes aufgegeben 
wurde, konnten endlich jene Sektionshefunde zur Geltung kommen, 
die bisher als nebensächlich galten, in der Tat aber, wie die Folgezeit 
erwies, von fundamentaler Bedeutung waren. Seit Rostan war ja den 
Beobachtern das Zusammentreffen von Hirnerweichung mit 
Arteriosklerose, bzw. Atheromatose, besonders der.Gehirn- 
gefäße, mit Obliteration der Arterien, in manchen Fällen 
die Koinzidenz mit Anomalien des Klappenapparats 
aufgefallen. Solange man aber an der Identität des 
Krankheitsprozesses festhielt, mußte die Bedeutung 
dieser Befunde verkannt oder doch unterschätzt 
werden, weil sie in sehr vielen, damals zur Encephalomalacie 
gerechneten F ällen fehlten. Freilich hätte man gerade dadurch auf 
die Verschiedenheit der Pathogenese in den verschiedenen Fällen 
aufmerksam werden sollen, aber die Suggestion der herrschenden 
Doktrin war eben stärker 1 Im besten Falle — und dies gilt 
namentlich seitens jener Forscher, welche als Ursache der Krank¬ 
heit eine allgemeine Ernährungsstörung (z. B. durch Djskrasie) 
oder eine lokale Ernährungsstörung im Gehirn annahmen — räumte 
man der Erkrankung der Gefäße oder des Herzens einen begünsti¬ 
genden, sekundären Einfluß ein, insofern als unter 
den angeführten Umständen der Zustrom des Blutes in 
seiner Intensität abgeschwächt werden, die Menge 
oder Qualität des dem Gehirn zufließenden Blutes 
eine Einbuße erleiden sollte. 

Vereinzelte französische und englische Forscher wußten allerdings 
die Bedeutung der Befunde am Zirkulationsapparat besser einzuschätzen, 
sie kamen mehr oder minder dem wahren Sachverhalt näher, aber 
namentlich in Frankreich drängte die dominierende Entzündungstheorie 
derartige Ansichten in den Hintergrund. Wir wollen nur die frühesten 
Hauptvertreter anführen. Rostan meinte, daß die Himerweichung zu¬ 
weilen bloß in einer nichtentzündlichen Desorganisation bestehe, 
die mit der Gangraena senilis vergleichbar sei. „Diese Alte¬ 
ration“, sagt er, „scheint oft eine senile Destruktion zu sein, welche die 
größte Ähnlichkeit mit der Gangrän des Greisenalters darbietet. Wie bei 
dieser letzteren erscheint die Erweichung als Desorganisation des be¬ 
troffenen Teiles, wie bei jener Krankheit sind auch hier die Gefäße, 
welche bestimmt sind, Blut und Leben dem affizierten Organ zuzuführen, 
nicht durch eine Entzündung, sondern durch Fortschritte des Alters 
krankhaft verändert.“ Abercrombie äußerte sich folgendermaßen: 
„Ich betrachte die Erweichung des Hirnmarkes als ein Analogon der 


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Gangrän, welche in allen, anderen Teilen des Körpers erscheint; wie 
die Gangrän, so kann auch die Erweichung zwei sehr verschiedene Ur¬ 
sachen haben, nämlich die Entzündung und die Hinderung der Zir¬ 
kulation durch Krankheiten der Arterien. Ich betrachte die 
Entzündung als den Ursprung der Krankheit, welche ich beobachtet, die 
gehinderte Zirkulation aber als die Ursache der von Rostan beobachteten 
Fälle. 4 . . . „Es scheint mir wahrscheinlich, daß die Verknöcherung der 
Arterien diese besondere Verletzung eines Teiles des Gehirns veranlassen 
könne, aus welcher die Erweichung entsteht, welche Rostan bei Greisen 
beobachtet hat. 4 . . . „Die Erweichung entspricht genau jenem Zustande 
der Arterien, durch welchen bekannterweise die Gangrän in anderen 
Teilen des Körpers erzeugt wird. 4 Nach Bright ist die gewöhnlichste 
Form der Krankheit jene, wo der betreffende Himteil infolge eines 
Zirkulationshindernisses eine der Gangrän analoge Ver¬ 
änderung erleidet. Carswell (1838) anerkannte neben der entzünd¬ 
lichen auch eine Erweichung durch Obliteration der Arterien. 
Law (1840) vertrat die Ansicht, daß es Veränderungen des Herzens 
gebe, welche Läsionen des Gehirns dadurch veranlassen, daß sie die 
Zirkulation unzureichend machen, eine solche sei z. B. die Verengerung 
der Mitralklappe oder jede andere Läsion, welche die Quantität des 
gegen den Kopf gehenden Blutes vermindern kann, wodurch man dann 
Hirnerweichung entstehen sieht. 

Unter diesen allzulang zurückgedrängten Einflüssen begannen hie 
und da auch deutsche Forscher endlich auf diese Verhältnisse mehr zu 
achten. Ein klassisches Beispiel bietet der Obduktionsbefund, welcher 
der Krankengeschichte des großen Künstlers Schinkel (gest. 9. Oktober 
1841) angehängt ist. 

„Schinkels letzte Krankheit und Leichenbefund 4 , 
mitgeteilt von Dr. A. Pätsch, prakt. Arzt in Berlin, Caspers Wochenschr. 
f. d. gesamte Heilkunde, 1841, Nr. 49. „Die 40 Stunden nach dem 
Tode vorgenommene, durch den Herrn Prof. Schlemm mit der größten 
Genauigkeit verrichtete Obduktion gab folgendes merkwürdige Resultat: 
Die Arterien der Grundfläche des Gehirns zeigten überall sehr starke Ver¬ 
knöcherungen, vorzüglich das Ende der linken Arteria vertebralis, die 
unterhalb dieser Verknöcherungsstelle neben der Medulla oblongata spin¬ 
delförmig erweitert und angeschwollen war. Die Arteria basilaris hatte 
drei verknöcherte Stellen, wovon die vordere gerade in ihren Teilungs- 
winkel fiel. Die Karotiden waren nach beiden Seiten hin in ihren Asten 
verknöchert, doch weniger die Arteria corporis callosi als die Arteria 
fossae Sylvii und der linke Ramus communicans. Besonders stark waren 
die beiden Arteriae profundae cerebri verknöchert und die linke außerdem 
in einer Strecke von l l / a Zoll hart und dem Anschein nach in ihrem 
Lumen ganz verstopft. Die untere Fläche des hinteren Hirnlappens der 
linken Seite war in der ganzen Ausdehnung, soweit sich das absteigende und 
hintere Horn dieses Seitenventrikels erstreckt, so stark erweicht, daß die 
Himmasse beim Berühren zerfloß, diese Hirnmasse außerdem an der be- 
zeichneten Stelle so außerordentlich verdünnt, daß sich kaum noch eine 


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mohnblattdünne Lage zwischen den äußeren häutigen Bedeckungen des 
Gehirns und der inneren Auskleidung der linken Himhöhle vorfand. Am 
Ende des hinteren Horns dieser Seitenhöhle, zwischen diesem und dem Ende 
des hinteren Hirnlappens, befand sich mitten in der erweichten Stelle 
des Gehirns eine Verhärtung in der Größe einer kleinen Walnuß, welche 
sich noch weiter zu der inneren Fläche des hinteren Lappens der linken 
Seite ausdehnte und da, wo dieser Lappen über der Mitte des Tentoriums 
liegt, sich allmählich in der erweichten Masse verlor. Die Durchschneidung 
dieser verhärteten Stelle gab hinsichtlich ihrer ursprünglichen Textur und 
Beschaffenheit kein befriedigendes Resultat, doch fühlten sich einzelne 
Punkte darin ähnlich an wie die verknöcherten Stellen der Arterien. Das 
Ammonshorn und sein Saum von dem Fomix cerebri waren bis zu den 
Vierhügeln hinauf in eine breiartige, weiche, mißfarbige Masse verwan¬ 
delt und größtenteils ganz zerstört. Das linke Corpus striatum war auf 
seiner der Hirnhöhle zugekehrten Oberfläche an drei Stellen grubenfprmig 
vertieft und überall sehr glatt, weniger gewölbt als im natürlichen Zu¬ 
stand. Vor den Vierhügeln, da, wo sie in den Sehhügel der linken Seite 
übertreten und der Sehhtigel dieser Seite das Tuberculum posticum bildet, 
war die Masse ebenfalls ganz verdorben, erweicht und zusammengefallen, 
was sich denn auch in der Verlängerung des Sehnerven um den Schenkel 
des großen Gehirns fortsetzte. Die Vermutung gänzlicher Verstopfung 
der Arteria cerebri profunda der linken Seite zeigte sich zuletzt bei der 
Eröffnung der Arterien vollkommen bestätigt, wo das Lumen dieser 
Arterie durch ein krankhaftes Sekret mit abgelagertem Faserstoff des 
Blutes völlig obliteriert gefunden Wurde. 

Die angegebenen pathologischen Veränderungen im Gehirn waren 
das einzige Krankhafte, was die Obduktion ergab. Die in den beiden 
anderen Kavitäten enthaltenen Eingeweide zeigten sich vollkommen nor¬ 
mal, nur die Aorta schien in ihrem oberen Bogen ein wenig erweitert. 
Alle Krankheitserscheinungen waren durch die bedeutenden Zerstörungen 
im linken Großhirn vollkommen erklärt und bei dem großen Umfange 
derselben nur die noch so lange Erhaltung des Lebens auffallend. 
Offenbar war Ablagerung der krankhaften knochen¬ 
artigen Masse in den Häuten der Hirnarterien und end¬ 
liche totale Obliteration der linken Arteria . profunda 
cerebri das primäre Übel. Beachtung verdient aber auch in bezug 
auf die Krankheitserscheinungen die durch die Verengerung der Hirn¬ 
arterien veranlaßte Erweiterung der Arteria vertebralis sinistra, indem 
die Medulla oblongata durch diese aneurysmatische Ausdehnung einem 
beständigen Druck ausgesetzt war.“ 

Allmählich nahm die supponierte Ernährungsstörung als Ur¬ 
sache gewisser Fälle von Erweichung allerdings etwas greifbarere 
Formen an, insofern man die Analogie mit der Gangraena 
senilis erfaßte. Wir finden diese Analogie in Deutschland erst zu 
der Zeit mit größerer Entschiedenheit vertreten, seitdem man unter 


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Aufgabe der pathogenetischen Identität aller Fälle von Encephalo- 
malacie, die gelbe Erweichung als spezifischen, nichtentzündlichen 
Krankheitsprozeß von den andern Arten abgetrennt hatte- Neben 
den chemischen Hypothesen wurde jetzt nämlich zurErklärung 
dergelben Erweichung von manchen die Analogie mit der 
Gangrän herangezogen. Freilich waren dadurch die Anhänger 
der Entzündungstheorie noch immer nicht aus dem Felde ge- 
• schlagen, weil die Lehre von der Gangrän noch nicht ihre völlige 
Klärung gefunden hatte und man sich auf Cruveilhiers dominierende 
Theorie von der Gefäßentzündung berufen konnte („La phlebite 
domine toute la pathologie“). Glaubte man doch, daß diein den 
obturierten Gefäßen Vorgefundenen Pfröpfe stets das 
Produkt einer Arteritis seien, und daß zu dieser die 
Erweichung in einem Abhängigkeitsverhältnis stehe. 

In dieser Beziehung ist besonders ein von Gely (Arch. gen. Nov. 
1837; deutsch in Frorieps Notizen 1838, Nr. 105) publizierter Fall 
lehrreich. Der Autor berichtet über seinen Fall unter dem Titel „Über 
das Verhältnis der Entzündung der Karotis zur Gehirnerweichung“, stellt 
die Analogie der Erweichung mit der senilen Gangrän auf, führt aber die 
Vorgefundene Obliteration auf Arteriitis zurück, welche eine Gerinnung des 
Blutes, Ernährungs- und somit Funktionsstörung des Gehirns bewirkt habe. 

Man sieht, es mußten, über das Spezialgebiet weit hinaus¬ 
gehend, Grundprobleme der Pathologie in Angriff genommen werden, 
und hier war es gerade die deutsche Forschung, welche damit 
begann und das Begonnene zum glücklichen Abschluß brachte. 

Als Pionier aller weiteren einschlägigen Leistungen ist der 
Züricher Professor K. E. Hasse zu bezeichnen, der auf der Basis 
seiner mit Kölliker vorgenommenen Untersuchungen über die Aus¬ 
breitung der atheromatösen Entartung der Hirnarterien in die 
Kapillaren sich an die zunächst gestellte Aufgabe heranwagte, dem 
Wesen der gelben Erweichung auf die Spur zu kommen. Seine 
Arbeit „Über die Verschließung der Hirnarterien als 
nächste Ursache einer Form der Hirnerweichung“ 
erschien (in der Ztschr. f. rat. Medizin v. Henle u. Pfeufer, 4. Bd., 
pag. 91 ff.) 1846. Anknüpfend an Rokitansky, der eine hydro- 
cephalische, eine entzündliche und eine noch nicht ergründete 
(gelbe) Hirnerweichung unterschied, unter Hinweis ferner auf die 
Beobachtungen Rostans, Abercrombies und Carswells über Ob¬ 
literation der Arterien, sagt Hasse einleitend: „Da nun Roki¬ 
tansky das Verhalten der Hirnarterien bei seiner dritten Spezies 


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gänzlich unerwähnt läßt, so fühle ich mich veranlaßt, auf diesen 
Gegenstand neuerdings aufmerksam zu machen, um so mehr, als 
mir in letzterer Zeit zwei Fälle vorgekommen sind, in welchen 
bei jüngeren Individuen auf andere Weise als bei 
Greisen, durch Arterienverschließung, eine Erwei¬ 
chung des Gehirns entstanden war.“ Hasse berichtet zunächst 
über sechs Fälle von Gehirnerweichung durch Gefäßverstopfung bei 
Greisen. 

1. Bei einer 85 jährigen Frau. Im hinteren Lappen der rechten 
Hemisphäre des Großhirns oberhalb und in noch größerem Umfange 
unterhalb des hinteren Hornes des rechten Seitenventrikels fand sich die 
Hirnsubstanz von graugelblicher oder gelbrötlicher Farbe, teils halbflüssig, 
teils breiartig erweicht, so daß weder die graue und weiße Substanz, 
noch eine Spur von Faserung zu unterscheiden ist. Hie und da an den 
Grenzen der Erweichung und zum Teil in den erweichten Stellen selbst 
blutige Punktierung. Die verschiedenen Hirnarterien zeigen sämtlich 
Verknöcherungen und Verdickungen ihrer Häute; namentlich ist die 
rechtsseitige Arteria cerebri profunda und mehrere ihrer Verzweigungen 
derart verändert und stellenweise von atheromatöser Masse verstopft. 

2. Frau von 69 Jahren. Der größte Teil der rechten Hemisphäre 
ist erweicht und schmutzig-blaßgelb, mit Ausnahme ihrer vorderen und 
inneren Partie. Vorzüglich ist die Erweichung nach außen und unten, 
beinahe bis zur Verflüssigung, sie erstreckt sich bis in den Riechhügel. 
Nirgends Blutextravasat, überall strohgelbliche Färbung, hie und da mit 
rötlicher Punktierung. Sämtliche Hirnarterien zeigen verschiedene Grade 
der Verknöcherung, namentlich sind die Arteriae profunda und fossae 
Sylvii der rechten Seite nebst mehreren ihrer Äste fast gänzlich durch 
atheromatöse Ablagerung verstopft. 

3. Bei einer 86jährigen Frau sind die Arteriae fossae Sylvii, am 
meisten diejenigen der rechten Seite, mehrfach verknöchert oder wenigstens 
durch atheromatöse Masse und faserstoffige Pfropfe bis in die kleinsten 
Aste verengert und verstopft. Diesen Veränderungen entsprechend, fand 
sich in der rechten Hemisphäre des Großhirns eine Erweichung, welche 
sich oberhalb des mittleren Teiles des Seitenventrikels bis gegen den 
Fomix und in der Umgebung der Fossae Sylvii bis an die Hirnoberfläche 
erstreckte. In der linken Hemisphäre fand sich die Erweichung etwas 
mehr nach hinten in denselben Teilen, aber in weit geringerem Grade. 
Die erweichten Stellen hatten eine matte gelblich-weiße Färbung und 
zerflossen bei der Berührung. 

4. Bei einer 70 jährigen Frau zeigten die Gehirnarterien beginnende 
Verknöcherung, namentlich waren die Arteriae corp. callos und fossae 
Sylvii der rechten Seite und deren Äste durch atheromatöse Ablagerungen 
verstopft. Der Hirnbalken und der Fornix besonders nach rechts im 
höchsten Grade erweicht, zum Teil völlig zu einem gelblichen halbflüssigen 
Brei entartet. 


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5. Frau von 73 Jahren. Die linke Hemisphäre des Großhirns auf 
ihrer Wölbung an einigen Stellen etwas abgeflacht und schmutzig-gelblich, 
die Himsubstanz daselbst breiig und teilweise zerflossen in eine wenig 
trübe, mit feinen Bröckelchen vermengte hochgelbe Flüssigkeit. Diese 
Erweichung erstreckte sich bis an die Grenze des Riechhügels und bis 
über das hintere Horn des linken Seitenventrikels, nach vorn zu war 
sie mehr auf die Oberfläche beschränkt. Rechts nur einzelne wenig er¬ 
weichte, etwas mißfarbige Steilen. Die Himarterien zeigten die zahl¬ 
reichsten atheromatösen Obstruktionen, namentlich waren einige Aste der 
linken Seite völlig verschlossen. 

6. Bei einem 74jährigen Manne fand sich der größte Teil der 
Umgebung des hinteren Hornes des linken Seitenventrikels erweicht, die 
Hirnsubstanz blaßrötlich, hie und da ins Gelbliche übergehend. Die 
größeren Himarterien zeigten nur Spuren gelblicher Ablagerungen zwischen 
ihren Häuten; allein in den Asten der linksseitigen Arteriae profunda 
cerebr. waren die Häute stark atheromatös entartet, so daß stellenweise 
deren Lumen völHg verstopft war. 

Hasse betont die Identität seiner Beobachtungen mit denen 
Carswells, meint aber, derselbe habe unrecht, wenn er behauptet, 
daß die Hirnerweichung durch Verschließung der Arterien nur bei 
Personen in vorgerücktem Alter vorkomme. „Jede Ursache, 
welche eine Verstopfung der Hirnarterien bis in ihre 
Zweige hervorbringt, kann in jedem Alter eine ent¬ 
sprechende Erweichung des Gehirns erzeugen.“ Zum 
Beweise bringt er die Krankengeschichte und den Sektionsbefund 
von zwei derartigen Fällen, „wo bemerkenswerterweise das ursäch¬ 
liche Moment nicht wie bei den früheren sechs Fällen von seniler 
Erweichung langsam, sondern sehr rasch auf die Zirkulation ein¬ 
wirkte.“ 

Aus dem Sektionsbefund des ersten Falles: „Wenig Flüssigkeit 
zwischen den Hirnhäuten, welche nur mäßig blutreich sind. Mehrere 
Hirnwindungen in der Mitte der rechten Hemisphäre des großen Gehirns 
ragen etwas über die Umgebung hervor, sie sind zugleich breiter und 
flacher und die Furchen zwischen ihnen ausgeglichen. Die Farbe dieser 
Windungen ist blaßbläulichrot (hortensiafarben), diese Farbe erstreckt 
sich durch die ganze Dicke der Rindensubstanz, welche weicher als ge¬ 
wöhnlich, sehr zerreiblich und durchsät ist mit einer Menge äußerst 
feiner Blutpünktchen. Die Medullarsubstanz unterhalb der erweichten 
Windungen ist milchweiß, ebenfalls weicher und zerreiblicher als ge¬ 
wöhnlich und mit einer geringeren Menge kleiner Blutpunkte durchsät. 
Der Riechhügel ist durchaus, mit Ausnahme seiner vordersten und innersten 
Partie, in der gleichen Weise wie die Rindensubstanz verändert. Die 
erweichten, etwas geschwollenen und verfärbten Teile begrenzen sich nur 
sehr undeutlich gegen die Umgebung. In den Seitenhöhlen eine geringe 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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Menge klarer Flüssigkeit. Die rechtsseitige Carotis cerebralis ist mit einem 
schwarzen, fest anhängenden Gerinnsel erfüllt, welches sich in die Aste 
fortsetzt, die nach den erweichten Teilen gehen. In diesen Asten ist das 
Gerinnsel größtenteils den Arterienwänden noch fester anhängend und 

mehr braunrot.Bei der mikroskopischen Untersuchung der ziemlich 

feuchten erweichten Himteile zeigte sich die Himsubstanz noch ziemlich 
deutlich, Hirnfasern und Ganglienkugeln ließen sich erkennen, waren 
aber erstere varikös, zum Teil in Fragmente zerfallen, gerollt und ge¬ 
knickt, letztere selten und sehr granulös; zwischendurch unterschied man 
deutlich mehr oder weniger kleine Entzündungskugeln als unregelmäßig 
runde Körper, in welchen Elementarkörnchen in einer graulichen trüben 
Masse zusammengeballt waren. Jene zahlreichen feinen Blutpünktchen 
hatten ihren Grund darin, daß sich überall die Kapillargefäße mit nicht 
untereinander verklebten, aber dicht und unregelmäßig znsammengedrängten 
Blutkörperchen gefüllt zeigen.“ 

Aus dem Sektionsbefunde des zweiten Falles: „Hirnhäute wenig 
blutreich. Gehirn an seiner Oberfläche gespannt, die Windungen flach, 
breit, die Furchen verstrichen. Die rechte Hirnhälfte, das kleine Gehirn, 
das verlängerte Mark und der hintere Lappen der linken Hemisphäre 
des großen Gehirns normal, sehr konsistent, mehr trocken und mäßig 
blutreich. Die übrigen Teile der linken Hälfte des großen Gehirns auf¬ 
fallend erweicht, die graue Substanz von matter blasser Rötung, wie 
aufgequollen; der Seh- und namentlich der Riechhügel der linken Seite 
sind am meisten aufgeschwollen und in hohem Grade erweicht; die also 
veränderte Hirnsubstanz mit vielen sehr kleinen Blutpünktchen durch¬ 
sät. Die linke Carotis cerebralis, der Anfang der linken Art. corp. callosi, 
die linke Art. fossae Sylvii und der größte Teil ihrer Verzweigungen 
gefüllt mit einem teils bräunlichen geschichteten, teils dunkelroten, dichten, 
den Gefäßwandungen fest anhängenden Pfropfe. Dieser Pfropf setzt sich 
am Halse hinunter in der Carotis cerebralis und communis bis nahe an den 
Ursprung der letzteren fort und reicht auch in die Aste der Carotis externa 
mehr oder weniger weit hinein. Er zeigt in diesen Arterien die be* 
schriebene verschiedenartige Beschaffenheit; an der Teilung der Carotis 
communis jedoch ist er an einer etwa kirschkerngroßen, unregelmäßigen, 
aber scharf begrenzten Stelle auffallend blaßbraunrot und besteht wie 
aus einer faserstoffigen Hülse, in welcher eine breiige und zum Teil 
flüssige, schmutzig-rötlichgelbe Masse enthalten ist. Darunter, gegen das 
Herz zu, füllt die Arterie eine fest anhängende, fest geronnene, aber 
zerreibliche schwarzrote Masse. Die übrigen Arterien enthalten die ge¬ 
wöhnlichen Gerinnsel, mit Ausnahme der Art. coronaria und ihrer 
Aste, in welchen ein erweichter bräunlicher Pfropf 

steckt.Das Herz ist sehr groß, von schwarzgeronnenem Blute 

bedeutend ausgedehnt; der linke Ventrikel ist hypertrophisch und er¬ 
weitert, seine Substanz gegen die Spitze zu blaß und auffallend 

erweicht, zerreiblich . Die Mitralklappe zeigt an ihren 

Rändern teils ältere Verschrumpfungen, teils frische Auflagerungen 
von verschiedener Konsistenz und Form, ihre Sehnenfäden sind verkürzt 


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Dt. Max Neuburger. 


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und etwas verdickt, die Aortenklappen etwas verschrumpft und verdickt. 
Die rechte Herzhälfte ebenfalls einigermaßen hypertrophisch und er¬ 
weitert . . . Der untere Lappen der rechten Lunge zeigt ... in seinem 
Gewebe eine walnußgroße, braunrote, umschriebene, morsche Verdichtung; 
eine nach dieser Stelle führende Arterie ist verstopft mit einem bräun¬ 
lichen, fest anhängenden Pfropfen .... Die mikroskopische Untersuchung 
erwies Anfüllung sämtlicher Kapillargefäße mit dichtgedrängten, nicht 
verklebten Blutkörperchen; die Strukturelemente der Hirnsubstanz aber 
waren in geringerem Grade zerfallen als im vorhergehenden Falle; von 
Entzündungskugeln war nichts zu sehen.“ 

Hasse hebt nach der Beschreibung der Obduktionsbefunde 
der beiden, in mehrfacher Hinsicht interessanten Fälle mit Becht 
hervor, wie leicht die zu Grunde liegende Krankheitsursache hätte 
übersehen werden können: „Als der eigentümliche Befund sich zum 
ersten Male bot, so wurde ich nur durch die Unmöglichkeit, eine 
Entzündung der Hirnsubstanz in demselben zu erkennen, darauf 
geführt, alle Verhältnisse der in der Schädelhöhle enthaltenen Teile 
nochmals zu prüfen, wonach sich erst die Verschließung der Ge¬ 
fäße mit leichter Mühe nachweisen ließ. Bei der zweiten Sektion 
erkannte ich alsbald den schon früher beobachteten Zustand aus 
dem äußeren Ansehen des Gehirns und suchte sogleich nach der 
sofort sich darbietenden Obliteration der Arterien.“ Er verweist so¬ 
dann auf die Ähnlichkeit der beobachteten Erscheinungen, mit der 
plötzlich eintretenden Bewußtlosigkeit und halbseitigen Lähmung 
nach Karotisunterbindung. Das rasche Auftreten erkläre sich 
hier wie dort aus der plötzlichen Verminderung der Blutzufuhr zum 
Gehirn. Bei der Karotisunterbindung können die Erscheinungen aber 
wieder verschwinden oder brauchen wenigstens nicht unbedingt zur 
Desorganisation des Gehirns zu führen, weil die Blutmenge durch 
Vermittlung der Anastomosen des Circulus Willisii allmählich ihr 
rechtes Maß wieder zu erlangen imstande ist. 

Wenn Hasse auch nach seinen Beobachtungen eine von der 
hydrocephalischen und entzündlichen verschiedene 
Art der Hirnerweichung, die von Arterienverschlie¬ 
ßung abhängig ist, nunmehr für empirisch erwiesen hält, so 
widmet er doch den folgenden Abschnitt seiner wertvollen Ab¬ 
handlung der Widerlegung Durand-Fardels, der mit seiner Polemik 
gegen die ungenauen Angaben Rostans und Abercrombies alles 
erledigt zu haben glaubte und irrigerweise die Behauptung aufgestellt 
hatte, daß infolge des Vorhandenseins zahlreicher Anastomosen eine 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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Unterbrechung der Zirkulation im Gehirn hei Unwegsamkeit einer 
oder mehrerer Hirnarterien ganz unmöglich sei. Hasse ist der An¬ 
sicht, daß die Kommunikationen durch den Circulus Willisii aller¬ 
dings zur Aushilfe genügen, wenn ein Zirkulationshindernis zwischen 
denselben und der Aorta an irgend einer Stelle stattfindet, daß sie 
dagegen wirkungslos bleiben, wenn das Hindernis jenseits des Cir¬ 
culus Willisii seinen Sitz hat. Was die übrigen Anastomosen der 
Himarterien anlange, so seien dieselben nicht bedeutend und höch¬ 
stens in jenen Fällen ausreichend, wo bloß eine unvollkommene und 
nur auf kleinere Strecken beschränkte Gefäßverschließung allmählich 
stattfindet (so bei chronischer Encephalomalacie der Greise); auch 
erfolge doch im Gehirn wegen der zarten Strukturverhältnisse eine 
Erweichung und Desorganisation viel rascher als in anderen Organen, 
jedenfalls noch ehe sich der Kollateralkreislauf hergestellt habe. 

„Versuchen wir schließlich noch die mitgeteilten Tatsachen zu einer 
Darlegung der einzelnen pathologischen Vorgänge, durch welche es unter 
der genannten Bedingung zur Erweichung der Himsubstanz kommt, zu 
benutzen, so werden sich dazu vorzugsweise diejenigen Fälle eignen, bei 
welchen die Verschließung der Arterien sowohl als auch die Erweichung 
des Gehirns binnen kurzer Zeit zustande kam. Hier aber finden wir die 
größeren Aste von geronnenem Blute usw. erfüllt, die kleineren Zweige, 
wie der verhältnismäßig geringere Blutreichtum und der Mangel größerer 
Blutpunkte auf dem Durchschnitt der betreffenden Himmasse zeigt, leer, 
die Kapillaren dagegen und die kleinsten Ästchen von größtenteils noch 
erhaltenen dichtgedrängten Blutkörperchen erfüllt. Darnach ist es wahr¬ 
scheinlich, daß nach der Gerinnung des Blutes in den größeren Asten 
und dadurch erfolgter Aufhebung der Wirkung des Herzstoßes das in 
den kleineren Ästen und in den Kapillaren enthaltene Blut durch die 
selbständige Kontraktilität der Gefäßwandungen nach vorwärts getrieben 
worden ist, daß jedoch diese Kontraktilität nur hingereicht hat, die 
kleineren Äste, nicht aber die Kapillaren selbst zu entleeren, besonders 
da in den ersten Anfängen der Venen infolge der Aufhebung der Vis a 
tergo gleichfalls eine mehr oder weniger vollkommene Stagnation ein¬ 
getreten sein muß. Die Wahrnehmung von Entzündungskugeln sowie die 
Anschwellung der betreffenden Hirnteile scheint nun ferner dafür zu 
sprechen, daß wirklich Exsudation eines Teiles des Gefäßinhaltes statt¬ 
gefunden hat. Wie diese Exsudation zustande gekommen ist, läßt sich 
mit Bestimmtheit nicht sagen, da indessen die Beobachtung einen deut¬ 
lichen Grad von Erweiterung der Kapillaren nicht nachgewiesen hat, so 
scheint sie nicht auf die nämliche Weise wie bei Entzündung entstanden 

zu sein.Die Erweichung der Hirnfaser ist dann zuletzt die Folge 

der Mazeration durch das Exsudat, welches wahrscheinlich größtenteils 
nur die wässerigen Bestandteile des Blutes enthält.“ 

„Was nun die einzelnen Vorgänge bei der Hirnerweichung im 


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Dr. Max Neubürger. 


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Greisenalter betrifft, so hat man wohl keinen Grund, zu zweifeln, daß 
dieselben zu Anfang ihres Zustandekommens im wesentlichen den eben 
analysierten gleich sind. Namentlich dürfte auch hier nach eingetretener 
Obliteration die oben beschriebene Stockung in den kleinsten Gefäßen 
stattfinden; ja ich glaube, daß die Austreibung des Blutes jenseits der 
obliterierten Stelle hier noch weniger als bei den anderen Fällen durch 
die selbständige Kontraktilität der Gefäßwandungen zustande kommt, da 
diese letzteren meist erkrankt sind. Eine solche Erkrankung weist aber 
die mikroskopische Untersuchung auf das bestimmteste nach.“ 

„Aus dem Angegebenen erhellt das Verhältnis, in welchem der 
Entzündungsprozeß zu den erörterten Fällen von Hirnerweichung steht. 
Einzelne der elementaren Vorgänge, sowie einzelne der äußeren Zeichen 
der Entzündung (Geschwulst, ein gewisser Grad von Rötung) zeigen sich 
auch hier; allein sie sind teils ihrem Auftreten, teils ihrem Grade nach 
durchaus untergeordnet der eigentlichen mechanischen Ursache des ganzen 
Krankheitszustandes gegenüber. Sie befinden sich bei demselben in einem 
ganz ähnlichen Verhältnisse wie die entzündlichen Erscheinungen bei der 
Entwicklung einer spontanen Gangrän der Extremitäten infolge von Ver¬ 
stopfung ihrer zuführenden Gefäße. Mit diesen aber hatte man die senile 
Encephalomalacie bereits früher im allgemeinen verglichen, ohne für 
eine solche Analogie den genauen Nachweis gegeben zu haben.“ 

Hasses Abhandlung eröffnete für die Lehre von der Encephalo¬ 
malacie eine neue Epoche, wenn sich auch der Umschwung der 
Anschauungen erst nach Überwindung mancher hartnäckiger Wider¬ 
stände durchsetzen konnte. 

Schon 1846 erschien eine Arbeit von Günsburg (in den 
Verh. der schles. Ges. f. vaterl. Kultur) über die Abhängig¬ 
keit der Hirnerweichung von der A therose der Gef äße, 
worin in sehr übersichtlicher Weise die verschiedenen Arten der 
Encephalomalacie besprochen werden, die hämorrhagische, hydro- 
cephalische, eitrige und von der Obliteration der Gefäße abhängige. 

Das Jahr 1847 brachte ganz ungeahnte Fortschritte in Form 
der bahnbrechenden Arbeit Virchows „Über die akute Ent¬ 
zündung der Arterien“ (Arch. I, pag. 272 ff.). Hier wurde im 
Rahmen der Lehre von der Embolieund Thrombose, im Zu¬ 
sammenhang mit der Widerlegung der herkömmlichen Doktrin der 
Arteriitis die Auffassung der durch Gefäßverschluß be¬ 
dingten Encephalomalacie alsNekrose wesentlich gestützt. 
Unter den von Virchow ausführlich mitgeteilten Fällen von „partiell 
obliterierenden Gerinnseln“ finden sich auch vier Fälle von Gehirn¬ 
embolie (1. c. pag. 323 ff.). 

Fall 4. Herzhypertrophie, Arteriosklerose, Obliteration der Art. 


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foss. Sylvii; gelbe Gehirnerweichung; eitrige Infiltration der Lunge. 
..(Genaue Beschreibung des Falles im Arch. f. Psych. 1846, H. 2, pag. 246.) 
Fall 7. Verdickung und Verengerung der Mitralklappe, faserstoffige 
erweichende Gerinnsel auf derselben. Pfropfe in der Carotis cerebralis, 
der Art. crural. sin. und iliaca dextra. Hämorrhagische Milzinfarkte. 
Gehirnerweichung. Fall 10. Herzhypertrophie, Sklerose mit Erweichung 
und Verkalkung der Mitral- und Aortenklappen. Obliteration verschiedener 
Aste der Art.. foss. Sylvii, Frische und alte Hirnerweichung, braune 
Induration der Lunge, alter Milzinfarkt, morbus Brightii. Fall 11. Obli¬ 
teration von zwei Asten der Art. foss. Sylvii, umschriebene gelbe Hirn- 
erweichung usw. 

Die Konklusionen, welche Virchow aus seinen wertvollen 
Beobachtungen zieht, lauten: „Die Entstehung der gelben 
Hirnerweichung nach Arterienobiiteration, welche 
Carswell zuerst nachgewiesen hat, findet sich auch bei uns mehr¬ 
fach erwähnt. Namentlich im 10. Fälle habe ich mich sehr 
genau überzeugt, daß weder die Verstopfung von der 
Erweichung abhängig, also eine sekundäre war, noch 
daß die Erweichung als ein von den Veränderungen 
in den Arterienhäuten her fortgesetzter Entzündungs¬ 
prozeß betrachtet werden konnte 1 ). Die verstopfende 
Stelle war entfernt von dem Erweichungsherd, die an diesem lie¬ 
genden Arterienäste leer; andererseits zeigte sich weder in den 
Arterienhäuten, noch in der nächsten Umgebung eine wesentliche 
Veränderung. Dabei zeigte sich außerdem die bisher un¬ 
bekannte Tatsache, daß auch dieser Form der gelben 
Erweichung eine Form der roten als erstes Stadium 
vorhergeht 8 ). Ob man nun aber die gelbe Erweichung, die von 
der Arterienobiiteration abhängig ist, direkt als Brandform an¬ 
sprechen darf, wie Emmert, Dietl u. a. getan haben, und ob man 
die rote Färbung im Anfänge des Prozesses als ein Analogon der 
Extravasatflecke zu betrachten hat, welche beim Beginn des 
Brandes an den Extremitäten sich in der Haut bilden, lasse ich 
vorläufig dahingestellt sein“ (1. c. pag. 371). 

Neue Belege für Virchows Ansicht brachte zunächst Rühle, 
der 1853 (in Virch. Arch. V, pag. 189 ff.) über „Drei Fälle 


L ) Vgl. S. 56. 

8 ) Damit wurde jetzt die eine Zeitlang auf die gelbe 
Erweichung beschränkte Forschung wieder auf die Er¬ 
weichung überhaupt ausgedehnt. 


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Dr. Max Neuburger, 


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halbseitiger Lähmung, verursacht durch Verstopfung 
einer Gehirnarterie“ berichtete. Diese Fälle von Gehirn¬ 
embolie waren „besonders deshalb brauchbar, weil bei ihnen 
durchaus keine Veränderung der Gefäßwand der verstopften Stelle 
selbst wahrgenommen werden konnte“. Während sich im 1. und 
3. Falle Herde von Himerweichung und kollaterale Hyperämie 
vorfanden, konnte bei der Obduktion im 2. Falle, wo die linke 
Zerebralkarotis verstopft war und der Tod 7 Stunden nach dem 
plötzlichen Eintritt der Lähmung erfolgte, keine Veränderung nach¬ 
gewiesen werden. Rühle ist wohl der Ansicht, daß die Verstopfung 
der Arterien mit der Gehirnerweichung im kausalen Zusammen¬ 
hänge stehe, hegt aber in Anbetracht der leichten Herstellung eines 
Kollateralkreislaufs noch Zweifel über die direkte Abhängigkeit der 
Erweichung von der Absperrung der Blutzufuhr. Wichtig war es, 
daß er die Aufstellung der Gehirnembolie als eigenes 
Krankheitsbild vorbereitete. 

1. Fall. Insuffizienz der Aortenklappen, Verengerung der Aorten¬ 
mündung, großes freibewegliches Konkrement an einer der Klappen, 
Verstopfung der Art. fossae Sylvii sinistra durch ein 
Kalkstückchen, ohne irgend eine Erkrankung der Gefä߬ 
häute. Erweichung des mittleren Teils der linken Gro߬ 
hirnhemisphäre. 

Zu diesem Fall, bei welchem Lähmung der rechten Körperseite 
plötzlich eingetreten war, bemerkt Rühle: Neben der Verstopfung der 
Arteriae fossae Sylvii finden wir eine umfängliche Gehirnerweichung. 
War diese nun die Folge jener? Eine genügende Antwort auf diese Frage 
läßt sich, glaube ich, zurzeit nicht geben. Daß durch Verstopfung von 
Arterien in den von ihnen versorgten Geweben Atrophie, Fettbildung, 
Erweichung, Brand entstehen, als ausgemacht anzusehen, muß man die 
zahlreichen Anastoraosen der Gehirnarterien, durch welche die Unter¬ 
brechung des Blutstromes von einer Seite her leicht durch Zufuhr von 
einer anderen ergänzt werden könnte, als Grund für die Verneinung 
obiger Frage anführen. Immerhin aber bleibt die Häufigkeit des Vor¬ 
kommens beider Befunde nebeneinander, sowie das Vorkommen von 
Gehirnerweichung nach Unterbindung der Karotis unbestreitbar und muß 
einen Kausalnexus dieser Erscheinungen wahrscheinlich machen. Für die 
partiell obliterierenden Gerinnsel aber, wo zwischen der verstopften Stelle 
und dem erkrankten Parenchym das Gefäß völlig intakt gefunden wird, 
kann dann die Gefäßverstopfung nur als Ursache der Parenchymveränderung, 
nicht Umgekehrt angesehen werden, also auch im vorliegenden Falle. 

Wenn wir also die Erweichung der Gehimsubstanz als abhängig 
von der Arterienverstopfung betrachten dürfen, hing nun die Lähmung, 
welche plötzlich einige Wochen vor dem Tode auftrat, von der Er- 


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weichung ab ? In den meisten Fällen, wo bei Symptomen der Apoplexie 
nach dem Tode eine einfache Erweichung gefunden wurde, ging diesem 
plötzlichen Anfall bei Lebzeiten längere Zeit Störung in der Motilität 
oder Sensibilität voraus, die das Bestehen eines Himleidens bereits an¬ 
zeigten. Dies war hier nicht der Fall, vielmehr trat die Lähmung der 
ganzen rechten Körperseite plötzlich auf und behielt bis zum Tode ihre 
ursprüngliche Ausdehnung. Dies scheint zu beweisen, daß derselben nicht 
eine allmählich sich entwickelnde Desorganisation im Gehirn zu Grunde 
lag, sondern daß die plötzliche Störung seiner Funktion einem plötz¬ 
lichen Vorgänge angehörte, dessen Wirkung von vornherein denselben 
Umfang hatte, den sie bis zum Tode behielt. Es wird also wahr¬ 
scheinlich, daß die Verstopfung der Arterien an sich die 
Lähmungserscheinungen bedingt habe, da sie das einzigeist, 
was im vorliegenden Falle mit dem plötzlichen Eintritt derselben har¬ 
moniert. Da indes Fälle mitgeteilt werden, wo Gehirnerweichungen be¬ 
standen haben, ohne alle Zeichen während des Lebens, und andere, wo 
plötzliche Lähmungen einer ganzen Körperseite bei sehr beschränkten 
zentralen Störungen eintraten, so könnte auch hier die Erweichung eine 
Zeitlang bestanden haben, ohne sich kundzugeben, und erst als sie einen 
gewissen Punkt des Gehirns bei ihrer Ausbreitung erlangte, wäre die 
Lähmung plötzlich eingetreten. Der folgende Fall wird daher bei dieser 
Ungewißheit von besonderem Interesse, weil er zeigt, daß die alleinige 
Verstopfung einer G ehirnarterie zur Hervorrufung halb¬ 
seitiger Lähmung genügt. 

2. Fall. Fehler der Bikuspidalklappe, beträchtliche alte Fibrin¬ 
ablagerungen auf derselben, Verstopfung der Carotis cerebralis 
sinistra, ohne wahrnehmbare Veränderung in der linken 
Gehirnhemisphäre. Hier trat der Tod 7 Stunden nach der plötzlich 
erfolgten rechtsseitigen Lähmung mit Sopor ein. „Es liefert also diese Be¬ 
obachtung“, sagt R., „den Beweis, daß die Lähmung direkt von 
der Verstopfung einer Gehirnarterie, d. h. von der man¬ 
gelnden Blutzufuhr abhängen kann.“ 

3. Fall. Verstopfung der Carotis cerebr. sin. durch 
einen derben, elastischen, weißen Faserstoffpfropf, gelbe Erweichung im 
unteren und mittleren Teile der linken Hemisphäre. Alte Fibringerinnungen 
auf warzenförmigen Exkreszenzen der Vorhofsfläche der sonst normalen 
Bikuspidalklappe. Tuberkulöse Lungenkaverne. Hier war Lähmung der 
rechten Körperhälfte beobachtet worden. 

Mit größter Entschiedenheit wurde die nekrotische Be¬ 
schaffenheit der durch Gefäßobiiteration bedingten Hirnerweichung 
von Traube verteidigt, der im Jahre 1854 (in der Gesellschaft 
für wissenschaftl. Medizin in Berlin) einen Vortrag unter dem 
Titel „Über die durch Embolie bewirkte Gehirnerwei¬ 
ch ung a (vgl. Deutsche Klinik, Nr. 44). hielt. 

Traube resümierte seine Ausführungen über die embolische Ence- 
Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. * 


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Dr. Max Neuburger. 


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phalomalacie in folgenden Sätzen. 1. Sie ist ein wegen der besonderen 
Beschaffenheit der Himsubstanz sich eigentümlich gestaltender Nekroti¬ 
sierungsprozeß, der mit dem Zerfallen der Nervenfasern und Ganglien¬ 
kugeln in einen feinkörnigen, zahlreiche feine Öltröpfchen enthaltenden, 
je nach seinem Gehalt an Hämatin und freiem Fett verschieden gefärbten, 
geruchlosen Brei endet. 2. Diesem Nekrotisierungsprozeß liegt notwendig 
eine Unterbrechung des Stoffwechsels in der Hirnsubstanz zu Grunde, und 
diese Unterbrechung wird, wie es scheint, ausschließlich herbeigefuhrt 
durch abnorme Widerstände, die sich dem Blutstrom, sei es in den 
Arterien oder in den Venen oder in den Kapillaren der leidenden Ge- 
himteile, entgegenstellen und groß genug sind, um eine vollkommene 
Stauung des Blutstromes zu bewirken. 3. Die Obstruktion der Arterien, 
welche zur Hirnerweichung führt, kann auf doppelte Weise zustande 
kommen. Sie ist o) ein Resultat des atheromatösen Prozesses, indem die 
Wände der erkrankten Arterie auf Kosten des Lumens allmählich bis 
zur Vernichtung desselben sich verdicken, vielleicht auch, indem auf der 
rauh gewordenen inneren Fläche der Arterie sich Faserstoffgerinnungen 
bilden, welche durch ihre allmähliche Vergrößerung den Verschluß des 
Rohres zustande bringen (Carswell). Oder sie ist b ) durch einen vom 
Arterienstrom herangeschwemmten festen Körper verursacht, welcher ent¬ 
weder durch seine Beschaffenheit schon für sich allein imstande ist, eine 
wasserdichte Verstopfung zu bewirken oder an der Stelle, in weiche er 
eingekeilt ist, eine Ausscheidung von Faserstoff aus dem vorüberfließenden 
Arterienblute veranlaßt, wodurch schließlich die Lücken zwischen ihm 
und der Arterienwand ausgefüllt werden (Virchow). 4. Die durch Venen¬ 
obstruktion (Faserstoffgerinnsel in den Sinus der Dura mater) veranlaßte 
Nekrose der Hirnsubstanz gewinnt dadurch ein eigentümliches Ansehen, 
daß es gleichzeitig zur Bildung zahlreicher kleiner Blutextravasate inner¬ 
halb der erweichten Hirnsubstanz kommt. 5. Die Obstruktion der Ka¬ 
pillaren, welche zur Himnekrose führt, ist entweder 6) durch eine An¬ 
häufung von großen Öltröpfchen in dem Lumen derselben verursacht 
oder b) im Verlaufe einer Encephalitis, noch bevor es zu einer erheb¬ 
lichen Exsudation in das Hirngewebe gekommen ist, also durch eine zur 
Stase gesteigerte entzündliche Hyperämie entstanden. 

Die Hirnerweichung durch Embolie erscheint unter fünf ver¬ 
schiedenen Formen, von denen folgende drei am häufigsten Vorkommen. 
Erste Form (zuerst genauer von Hasse beschrieben). Die ergriffenen 
Teile sind nur mäßig erweicht, dabei geschwellt und in verschiedenen 
Nuancen gerötet. Die Rötung erweist sich bei näherer Besichtigung als 
durch zahllose dichtstehende feine rote Punkte bewirkt, welche das Pro¬ 
dukt einer intrakapillaren Anhäufung von intakten roten Blutkörperchen 
sind. Die Gehimsubstanz enthält zahlreiche normale Nervenröhren und 
Fettkömchenkonglomerate, welch letztere jedoch auch fehlen können. 
Zweite Form. Die erkrankten Teile sind wie im vorigen Falle nur 
mäßig erweicht, aber von schmutzig grauweißer oder gelblicher Farbe 
und von geringerem Volumen als im normalen Zustande. Die mikro¬ 
skopische Untersuchung zeigt auch hier neben einer Anzahl von Fett- 


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körnchenkonglomeraten zahlreiche normale Nervenröhren. Dritte Form. 
Die Konsistenz des erkrankten Teiles ist so beträchtlich vermindert, daß 
er im eigentlichen Sinne des Wortes einen Brei darstellt; dieser Brei, 
dessen Farbe am häufigsten grauweiß oder gelblich ist, mitunter auch 
ins Bräunliche spielt, enthält von den Elementen des Himgewebes keine 
Spur mehr und besteht aus einem feinkörnigen, zahlreiche feine Oltröpf- 
■chen einschließenden Detritus. Die erste Form ist unter dem Namen der 
' j ,roten Erweichung“, die zweite und dritte unter dem Namen der „gelben 
Erweichung“ bekannt. 

Vermöge seiner eigentümlichen chemischen Konstitution vermag das 
Himgewebe die Suspension des Arterienzufiusses nicht so lange zu er¬ 
tragen als andere Gewebe des menschlichen Körpers; es erleidet daher 
beim Eintritt einer solchen Suspension viel schneller als diese Verände¬ 
rungen in seiner chemischen Zusammensetzung und dadurch auffallende 
Veränderungen in seinen physikalischen und physiologischen Eigenschaften. 
Der des Arterienblutes beraubte Teil wird nicht nur in seinem Umfange 
verringert und blasser, sondern auch weicher als die Umgebung, er ver¬ 
liert auf dem Durchschnitt den ihm eigentümlichen Glanz, und die von 
ihm abhängigen muskulösen Apparate werden dem Einfluß des Willens 
entzogen usw. Handelt es sich um einen Teil, an dessen Integrität der 
normale Ablauf der geistigen Funktionen geknüpft ist, so werden natür¬ 
lich auch diese, je nach der Ausdehnung der Affektion in verschiedenem 
Maße, beeinträchtigt. In seltenen Fällen kann durch den frühzeitigen 
Eintritt eines vollständigen Kollateralkreislaufes das im Absterben be¬ 
griffene Gewebe allmählich ad integrum restituiert werden. Die Lähmungs¬ 
erscheinungen nehmen dementsprechend an Ausdehnung und Intensität 
bis zum Verschwinden ab. Kommt es während dieser Restitutionsperiode 
zur Autopsie, dann stoßen wir auf eine „rote Erweichung“. Die den 
affizierten Teil durchziehenden Kapillaren sind über die Norm von Blut 
ausgedehnt, weil die Elastizität des zwischengelagerten Nervengewebes 
mit seiner Erweichung vermindert wurde. Die Volums Vergrößerung des 
Teiles erklärt sich einfach aus seinem vermehrten Blutgehalt. In anderen 
Fällen kommt es zwar zur Bildung eines vollständigen Kollateralkreis¬ 
laufes, aber der Kranke stirbt, bevor die durch den Kollateralkreislauf 
zurückgeführten normalen Ernährungsbedingungen Zeit hatten, die im 
Absterben begriffenen Nervenelemente bis zum Punkte beginnender Wir¬ 
kungsfähigkeit herzustellen. Hier hatte die Bewußtlosigkeit und Hemi¬ 
plegie bis zum Tode fortgedauert. Der Tod wurde kurze Zeit nach dem 
Anfall, sei es durch eine zu eingreifende Behandlung oder dadurch 
herbeigeführt, daß der außer Funktion gesetzte Teil des Gehirns zu groß 
war, um längere Zeit vom Organismus entbehrt werden zu können. Auch 
hier weist die Autopsie eine „rote Erweichung“ nach. In den meisten 
Fällen kommt kein Kollateralkreislauf zustande und dann zeigt die 
Autopsie entweder die zweite oder, wenn ein größerer Zeitraum seit der 
Obstruktion verstrichen ist, die dritte der beschriebenen Formen. 

Traube suchte auch als erster die Diagnostik der em- 

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Dr. Max Neuburger« 


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bolischen Gehirnerweichung auf eine sichere Grundlage zu 
stellen. „Die Diagnose“, sagt er, „wird mit Sicherheit unter folgen¬ 
den Umständen gemacht werden können: wenn es sich um eine 
plötzlich, d. h. ohne Vorboten, mit oder ohne Bewußtlosigkeit ein¬ 
getretene Hemiplegie handelt; wenn das so erkrankte Individuum 
sich im jugendlichen Alter befindet; wenn die Untersuchung einen 
Klappenfehler im linken Ventrikel nachweist, der das Produkt einer 
unlängst abgelaufenen oder noch florierenden Endokarditis ist; wenn 
die der Untersuchung zugänglichen Arterien keine oder nur geringe 
Spuren atheromatöser Erkrankung darbieten; wenn die Milz, ohne 
daß Intermittens usw. vorausgegangen, vergrößert und empfindlich 
gegen die Perkussion ist, infolge eines auf dieselbe Weise wie die 
Gehirnerweichung zustande gekommenen hämorrhagischen Infarktes; 
wenn brandige Entzündungen an den Extremitäten erscheinen, ver¬ 
bunden mit Pulslosigkeit der zu den erkrankten Teilen führenden 
Arterien. Mit Wahrscheinlichkeit endlich wird eine Gehirnerweichung 
durch Embolie noch in dem Falle angenommen werden können, 
wo e3 sich um eine plötzlich mit oder ohne Bewußtlosigkeit ein¬ 
getretene Hemiplegie bei einem durch tuberkulöse Lungenphthise 
herabgekommenen jugendlichen Individuum mit normalem Herzen 
und normalen Arterien handelt.“ 

Und schließlich unter dem Eindruck der neuen pathogene¬ 
tischen Erkenntnisse wagt es Traube auch, an der herkömmlichen 
Therapie zu rütteln: „Statt der in dergleichen Fällen üblichen, 
mitunter sehr energischen Antiphlogose muß eine roborierende und 
stimulierende Methode Platz greifen; denn auf der schnellen Herbei¬ 
führung eines kollateralen Kreislaufes beruht die Möglichkeit der 
Heilung; der Kollateralkreislauf aber muß um so leichter zustande 
kommen, je höher der Druck im Arteriensystem ist.“ 

Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die geschichtliche Entwick¬ 
lung der Lehre von der Gehirnembolie und -thrombose usw. zu 
verfolgen, wir wollen nur einige Daten anführen, um zu zeigen, 
daß sich die Rezeption dieser Lehre nicht ohne Schwie¬ 
rigkeiten vollzog und daß nur allmählich der längst 
obsolet gewordene Begriff „Gehirnerweichung“ im 
Sinne Rostans aus der Pathologie verschwand. 

Ein fortschrittshemmender Umstand ist vor allem in der Tat¬ 
sache zu suchen, daß den Obduzenten anfangs nicht selten der 
Nachweis des obturierten Gefäßes mißlang oder daß man zu wenig 


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darauf achtete. Sehr charakteristisch sind in dieser Hinsicht zwei 
Krankengeschichten Bambergers. 

Bamberger (in Verhandlungen der physikal.-mediz. Gesellsch. 
in Würzburg VI, pag. 311 ff.) teilte 1856 zwei Fälle mit zur Illustration 
des Themas: „Die Encephalitis durch Thrombose infolge von Pfröpfen, 
die in die Hirnarterien aus irgend einem Abschnitt des Gefäßsystems 
gelangen.“ „Leider“, sagt er, „wurde in beiden Fällen, die zu einer 
Zeit vorkamen, als diese Verhältnisse noch weniger bekannt waren, die 
verstopfte Arterie selbst nicht aufgefunden, was begreif¬ 
licherweise nicht immer leicht ist. 

1. Fall: Eine 28 jährige Frau, die zweimal, zuletzt vor 2 l /t Jahren 
normal geboren hatte, verlor 7 Wochen vor ihrer Aufnahme ins Spital 
plötzlich die Sprache, dabei war das Bewußtsein etwas getrübt, aber 
nicht aufgehoben. Nach einigen Minuten, kehrte das Sprachvermögen 
zurück, verschwand aber sogleich wieder und blieb seitdem völlig aufgehoben* 
Gleichzeitig mit dem Eintritte der Sprachlosigkeit empfand sie große 
Schwäche in der rechten oberen und unteren Extremität, die sich innerhalb 
24 Stunden zu vollständiger Lähmung steigerte und seitdem andauert. Nach 
einigen Tagen gesellten sich Eingenommenheit des Kopfes, Delirien, 
endlich Bewußtlosigkeit hinzu, welcher Zustand durch 14 Tage anhielt, 
worajif das Bewußtsein wiederkehrte, die Lähmungserscheinungen aber 
fortbestanden. Zu dieser Zeit bemerkte der behandelnde Arzt zuerst eine 
vollkommene Pulslosigkeit am linken Arme. Bei der Aufnahme auf die 
Klinik fand sich ein abgemagertes blasses Individuum mit mimischer 
Lähmung der rechten Gesichtshälfte und vollständiger motorischer Para¬ 
lyse der rechten obem und untern Extremität bei völlig erhaltener Sen¬ 
sibilität. Sie kann nur einige unartikulierte Laute stammeln und ver¬ 
neint jeden Schmerz. Das Bewußtsein ist frei, sie ist fieberlos, Appetit 
und die übrigen Funktionen nicht gestört. Die Untersuchung der Brust 
zeigt eine bedeutende Herzhypertrophie mit den gewöhnlichen Erscheinun¬ 
gen der Mitralklappeninsuffizienz. Der Puls in der linken Subclavia ist 
viel schwächer als in der rechten, ebenso in der Axillaris, an der Radialis 
ist der Puls gar nicht wahrzunehmen, während er rechts unverändert ist. 
Dabei zeigt der linke Arm keine Veränderung bezüglich der Sensibilität, 
Motilität, Ernährung und Wärmebildung. Der Tod erfolgte 17 Wochen 
nach dem Beginn der Krankheit unter den Erscheinungen des Marasmus. 
Sektion. Obsoleszierende Encephalitis im linken Streifenhügel im Zustande 
der Zelleninfiltration. Insuffizienz und Stenose der Mitralklappe mit 
reichlichen frischen endokarditischen Produkten und Vegetationen an der 
Mitral-, zum Teil auch an der Aortaklappe und an der Wand des 
linken Vorhofs. Ausgedehnte metastasische Splenitis und Nephritis, die 
linke Brachialarterie war vor ihrer Teilung in der Ausdehnung eines 
halben Zolls durch einen teils fibrösen, teils knochenharten Thrombus 
verstopft. 

2. Fall. Eine 45jährige Frau, die kürzlich zwei schlagartige 
Anfälle mit zurückbleibender, sich aber bald wieder verlierender Läli- 


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mung der linken oberen Extremität erlitten hatte, kam mit den Er¬ 
scheinungen der beginnenden Gangraena senilis am rechten Fuß auf die 
Klinik, wo sich die Gangrän in kurzem vollkommen ausbildete. Die 
gangränöse Extremität war zugleich vollständig gelähmt. Der Arterien - 
puls an derselben nirgends fühlbar. Die linken Extremitäten waren zwar 
nicht gelähmt, aber die Bewegungen derselben träge und ohne Energie. 
An der linken obem Extremität befand sieh ein leichter Grad von Kon- 
traktur im Ellbogengelenk. Dabei ausgeprägte Erscheinungen der Mitral¬ 
klappeninsuffizienz und mäßige Bigeszenz der Arterien. Die Kranke 
klagte nur über die heftigen reißenden und brennenden Schmerzen im 
rechten Fuße. Die Geisteskräfte waren nicht gestört. Unter den Er¬ 
scheinungen des fortschreitenden Brandes und eines ausgedehnten bran¬ 
digen Dekubitus erfolgte in kurzer Zeit der Tod. Sektion. In beiden 
Streifenhügeln und deren Umgebung fanden sich mehrere bohnengroße, 
mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte, von einem safrangelben Beschläge 
ausgekleidete apoplektische Zysten. In der Umgebung einer solchen, nach 
außen vom linken Streifenhügel und diesen zum Teil einnehmend, fand sich 
eine walnußgroße, zu einem hellgelben Brei erweichte Stelle (gelbe Hirn¬ 
erweichung), die umgebende Hirnsubstanz ödematös. Die rechte Arteria 
iliaca von ihrem Ursprung bis zum Abgang der Epigastrica von einem 
schmutzigbräunlichen, in seinem Innern zerflossenen Pfropfe verstopft, ein 
ähnlicher, 2" langer Pfropf befand sich in der rechten Poplitaea. In der 
linkenVena iliaca eine frische, bis in die Cava hinaufreichende Gerinnung. 
Insuffizienz und Stenose der Mitralklappe. Hämoptoische Infarkte der 
Lungen, fettige Muskatnußleber, metastatische Nephritis, erbsengroße, 
flache blutige Erosionen der Duodenalschleimhaut. 

Theoretisch wurde der Einwand längere Zeit geltend gemacht, 
daß die embolische* Erweichung die Folge einer Stase in den Kol- 
lateralbahnen mit konsekutiver Exsudation sei — eine Ansicht, die 
besonders von Eisenmann vertreten wurde. 

Eigentümlich berührtes, daß Rokitansky trotz der starken 
Umänderungen, welche er in der 3. Auflage seines Lehrbuchs 
der pathologischen Anatomie (II. Bd., Wien 1856) an dem Kapitel 
über Gehirnerweichung vorgenommen hat, den neuen Tatsachen der 
Embolie usw. noch wenig Rechnung trägt. *) 

Das besondere Kapitel über „Gehirnerweichung 44 
ist in dieser Auflage ganz weggefallen. 


x ) Nach Bocks Lehrbuch der pathol. Anatomie (1847), pag. 432* 
hatte Engel die Ansicht ausgesprochen, daß die gelbe Erweichung wohl 
in allen Fällen von einer Gerinnung des Blutes innerhalb der Gehirn¬ 
gefäße abgeleitet werden könne, wobei die Gerinnung bald von den 
größeren Arterien ausgeht und in den Kapillaren die Blutbewegung auf¬ 
hebt oder von Kapillaren aus in die größeren Gefäße fortschreitet. 


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Im Abschnitt „Anomalien der Konsistenz“ heißt es: „Eine Ver¬ 
minderung der Konsistenz rührt von einem vermehrten Wassergehalte 
der Gehirnmasse, d. i. von Ödem her. In ihren höchsten Graden degene¬ 
riert das Gehimmark zu einem wässerigen flockig-trüben Brei von der 
dem Gehimmark zukommenden weißen Farbe. Sie stellt die sogenannte 
weiße und, wo sie als Begleiterin akuter Exsudation auf dem Epen- 
dyma in der Umgebung der Ventrikel auftritt, die sogenannte hydro- 
cephalische Erweichung dar. In den Fällen, wo die Des¬ 
organisation mit Zerreißung injizierter Gefäße und 
Blutung einhergeht oder wo das Ödem in und von Ge¬ 
hirnpartien aus zustandekommt, welche an Hämorrhagie 
(zhmal in Form der Apoplexia capillaris) erkrankt sind, 
bekommt der wässerige Brei eine gelbe, gelbliche (stroh¬ 
gelbe) Färbung. Er enthält dann nebst varikösen Trümmern des 
Marks zahlreiche aufgeblähte, blasse Blutkugeln und häufig gelbe Pig¬ 
mentkörnchen. 

Diese von mir ehedem auf Grund der zuweilen vor¬ 
kommenden säuerlichen Reaktion des Breies und der 
Annahme eines durch die von Fremy behauptete leichte 
Zersetzbarkeit der Oleophosphorsäure (bei Berührung mit 
Wasser und mit in Zersetzung begriffener tierischer Materie) ver- 
anlaßten Freiwerdens einer Säure (der Phosphorsäure oder 
einer oder mehrerer Fettsäuren) als eine besondere Form auf¬ 
gestellte gelbe Erweichung muß ich nunmehr dem Wesent¬ 
lichen nach als ein durch di e Aufn ahme von sehr diluier- 
tem Blutrot gefärbtes, die Hirntextur zertrümmerndes 
und mazerierendes Ödem halten. 

Außerdem kommt eine Verminderung der Konsistenz als Ausdruck 
von Desorganisation vor bei der Encephalitis, wo sie der gemeinhin sehr 
reichlichen Blutaustritte wegen den Namen der roten Erweichung 
bekommen hat. In späterem Verfolge der Entzündung treten Degene¬ 
rationen des Gehirnmarkes zu einem weißlichen, dicklichen Breie, zu 
einer emulsiven, kalkmilchähnlichen Flüssigkeit auf.“ (L. c. pag. 438.) 

Bei Besprechung der aus inneren Ursachen entstehenden Ence¬ 
phalitis sagt Rokitansky (1. c. pag. 461): „...sehr häufig entwickelt 
sie sich aus kollateralen Hyperämien von Embolie, wohin 
die Encephalitis bei Vegetationen der Herzklappen, 
fibrinösen Absätzen in den Herzhöhlen, die Encephalitis 
nach Unterbindung der Karotis usw. gehören. Zuweilen 
mögen Impermeabilität einzelner Gehirngefäße von 
kalkerdiger Inkrustation, von Fettmetamorphose dieselbe 
veranlasse n.“ 

Leubuscher behandelt in seinem Spezialwerke „DiePatho- 
logie und Therapie der Gehirnkrankheiten“, Berlin 1854, 
die Entzündung und die Erweichung des Gehirns in demselben 


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Kapitel, wenn er auch nicht verkennt, „daß manche Momente auch 
gegen die Zusammengehörigkeit dieser Prozesse sprechen.“ 

Die Erweichung ist eines der Stadien der Entzündung, abhängig 
vom Austritt des Exsudats und seiner durchfeuchtenden, zertrümmernden 
oder auf lösenden Wirkung auf die Hirnfasern; wir finden sie gemischt 
und kombiniert mit anderen Stadien und gewöhnlich als Entzündung 
bezeichneten Vorgängen. Die populäre Auffassung hat sich aber ge¬ 
wöhnt, den Begriff der Entzündung allzusehr in den Begriff der Hyperämie 
als den einen und der Suppuration als den anderen Endpunkt einzuengen; 
bleibt man dabei stehen, so fällt eine Reihe von Erweichungen weg, bei 
denen Hyperämie fehlt, sei es, daß sie durch eine langsame Änderung 
der Ernährung in isolierten Partien durch Druck oder durch 
direkt nachweisbare Aufnahme verstopfender Substanzen 
in die Gefäße und durch Abschneidung der Blutzufuhr 
als Mortifikationsprozesse auftreten. So sehr wir also die Diffe¬ 
renz der Erweichungsprozesse anerkennen, so scheint uns doch praktisch, 
den Symptomen nach, die Anreihung an Entzündung am brauchbarsten 
zu sein. 

Leubuscher schließt sich im großen ganzen Virchow und 
Traube an, kann aber doch einige Bedenken nicht unterdrücken 
und wendet sich nicht mit Unrecht insbesondere gegen die An¬ 
nahme einer durchwegs mechanischen Entstehung des Er¬ 
weichungsprozesses. 

„So häufig nun aber auch die Fälle von Obturation der Gefäße 
sein mögen. . . , und so sehr wir überzeugt sind, daß eine fortgesetzte, 
darauf gerichtete Aufmerksamkeit sie vermehren wird, und daß diese 
Lehre für die ganze Auffassung plötzlicher Todesfälle von der größten 
Tragweite ist, so halten wir es für vollständig einseitig, ge¬ 
rade die Verstopfung als das einzige ursächliche Mo¬ 
ment zu betrachten. Ich kann versichern, daß es doch öfter nicht 
glückt, dieses grob mechanische Moment aufzufinden. Müssen wir ja 
doch auch für die Erklärung anderer Zirkulationsstörungen und Ernährungs¬ 
anomalien abstehen, ihre Genese in grob palpablen Verhältnissen zu 
suchen. Es gibt eine Reihe von Hirnentzündungen und Erweichungen, 
welche ohne nachweisbare Anomalie der Blutzufuhr nur aus Alterationen 
in der Blutkonstitution hervorgehen und selbst nicht immer mit einer 
nachweisbaren stärkeren Exsudation in die ergriffenen Teile verbunden 
sind, die bei Anämischen Vorkommen oder unter dyskrasischen Verhält¬ 
nissen, wo das Blut nicht geeignet ist, der Ernährung vorzustehen und 
durch seine nächste Wirkung auf die Gefäßwandung Transsudationen 
erzeugt. Hierher gehören die allgemeine Hirnerweichung bei Alkohol- 
dyskrasie, Typhus, die durch Einwirkungen von Metallen, Blei, Queck¬ 
silber gesetzten Erweichungen, und vielleicht beruht auf dieser letzteren 
Einwirkung ein Teil der als syphilitisch bezeichneten Hirnerweichungen. 
Öfter gibt in diesen Fällen eine spezielle Ursache, wie etwa Gefäß- 


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Verstopfung, noch die lokalisierende Gelegenheitsursache oder es wird die 
lokale Entzündung, Hirnerweichung durch andere dazwischen liegende 
Vorgänge, die als die nächsten Folgen der Blutveränderung auftreten, 
erst in weiterer Folge vermittelt, so daß uns sehr komplizierte Prozesse 
entgegentreten. “ 

Einen vorläufigen Abschluß bietet die Darstellung in Hasses 
„Krankheiten des Nervenapparates“ (Virchows Handb. der spez. 
Pathol. u. Therapie, IV. Bd., 1. Abt., Erlangen 1855). Hier ist mit 
großer Sachkenntnis und Kritik alles bisher Geleistete in über¬ 
raschender Klarheit zusammengefaßt. Das Krankheitsbild „Gehirn¬ 
erweichung“ ist verschwunden. Im Kapitel „Encephalitis“ wird das 
Verhältnis derselben zur Encephalomalacie eingehend besprochen, 
darauf folgt ein neuer Abschnitt: „Verschließung der Gefäße 
des Gehirns durch atheromatöse Entartung, Thrombose 
und Embolie derselben.“ Es war zum erstenmal, daß ein 
Handbuch diesem neuen Krankheitsbegriff ein eigenes Kapitel 
widmete. 

Das erste Lehrbuch, welches die Gehirnerweichung nicht 
mehr als selbständige Krankheitsform, sondern als Folgeerscheinung 
der lokalen Anämie und der Encephalitis behandelte, war das von 
F. v. Niemeyer (Lehrb. der spez. Pathologie, Berlin 1859/61). 

Trotz mancher späterer Nachzügler war der Geschichte der 
„Gehirnerweichung“, im Sinne Rostans, der Schlußpunkt gesetzt 
worden! 


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Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan 
nebst einem Beitrag zur vergleichenden Rassen¬ 
psychiatrie. 

Von 

Dr. Toyotane Wada, 

Professor an der medizinischen Hochschule zu Osaka, Japan. 

Trotzdem noch nicht so lange Zeit verflossen ist, seitdem 
Korsakow im Jahre 1890 eine eigenartige Geistesstörung, kombiniert 
mit Polyneuritis, veröffentlicht hat, die durch Störungen der Merk¬ 
fähigkeit und Orientierung, retrograde Amnesie, sowie Konfabulation 
charakterisiert ist, erfahr die Kenntnis dieser Krankheit sehr große 
Fortschritte. Korsakow war damals der Ansicht, daß die Geistes¬ 
störung nicht nur auf dem Boden des chronischen Alkoholismus, 
auftritt, sondern durch verschiedene toxämische Ursprünge hervor¬ 
gerufen werden kann, so daß er sie „Cerebropathia psychica tox- 
aemica“ nannte. Seine Meinung fand viele Anhänger. 

So teilte T i 1 i n g sieben Fälle von Geisteskrankheit mit hoch¬ 
gradiger Merkstörung, mit, die mit Polyneuritis alcoholica kom¬ 
biniert waren. Redlich sah zwei Fälle von polyneuritischer Psychose 
alkoholischen Ursprunges und behauptete, daß das typische Deli¬ 
rium tremens in Korsakowsche Psychose übergehen kann. 

In der großen Arbeit von Jolly, welche auf einer klinischen 
Beobachtung von 60 Polyneuritisfällen beruht, führte er an, daß er 
in 19 die Korsakowsche Psychose fand, worunter nur zwei nicht¬ 
alkoholischen Ursprungs. 

Ferner gibt es zahlreiche Arbeiten, nach welchen die in Rede 
stehende Psychose lediglich durch Alkoholmißbrauch hervorgerufen 
werden soll. Dahin gehören die Fälle von Rohde, Kahlbaum, 
Raimann, Boedecker, Eisenhofer, Thielepape, Tiede- 


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Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan. 


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mann, Pashayan, Nicolauer, Oekonomakis, Horwitz, 
Block u. a., sowie die in den Monographien von Bonhoeffer 
und Knapp. 

Über die Korsakowsche Psychose, deren Ursache Toxikämien 
verschiedener Art außer dem Alkohol sein sollen, haben wir auch 
sehr viele Mitteilungen. Ich will aber hier die einzelnen Literatm¬ 
angaben nicht näher zitieren, sondern mich mit der Erwähnung 
begnügen, daß man die Psychose von verschiedenen akuten und 
chronischen Infektionskrankheiten, Magendarmstörungen, Schwanger¬ 
schafts- und Wochenbetterkrankungen, Funktionsstörungen der Leber 
und der Nieren, Stoffwechselveränderungen durch langdauernde 
Zirkulationsstörung, Marasmus und Diabetes, sowie Vergiftungen 
mit Arsenik, Blei, Morphium und Kohlenoxydgas usw. hervor¬ 
gerufen fand. 

Wir sehen ferner in der Literatur mannigfache ursächliche 
Momente, welche mit irgend einer Intoxikation oder Autointoxikation 
in keiner Beziehung stehen. So beobachteten Wagner, Wollen¬ 
berg, Sommer, Fraenkel u. a. bei wiederbelebten Erhängten, 
Mönkemöller, Kaplan, Ridewood, Meyer, ßaecke, Freud 
u. a., schließlich besonders Pfeifer bei verschiedenen Hirntumoren, 
Weber, Römheld, Choroschko, Ziehen u. a. bei organischen 
Hirnerkrankungen, besonders hei Hirnsyphilis, Aronsohn, 
Wernicke und Ziehen nach Gehirnerschütterung die Korsakowsche 
Geistesstörung. 

Was die Beziehung der Polyneuritis zu der Korsakowschen 
Psychose anbelangt, so betrachteten die Autoren (Korsakow, 
Tiling, Jolly usw.) anfangs die erstere, wenn sie auch manchmal 
nicht deutlich ausgeprägt ist, als eine unentbehrliche Teilerscheinung. 
Nachherige Angaben, wie die von Mönkemöller, Schultze, 
Baimann, Turner, Wernicke, Pashayan, Bornstein, 
Aronsohn u. a., wiesen aber nach, daß die Korsakowsche Geistes¬ 
störung auch ohne Polyneuritis auftreten kann. 

Wenn man daher die oben erwähnten Literaturangaben über¬ 
blickt, so erhellt daraus, daß die Korsakowsche Psychose einesteils 
nicht immer eine streng toxämische Krankheit ist, andernteils daß 
auch bei ihr die Polyneuritis keine absolut notwendige Begleiterin 
sein muß; mit anderen Worten, sie ist keine Krankheit suigeneris, 
sondern vielmehr ein Symptomenkomplex, zu dessen Entstehung 
mannigfaltigste Momente Anlaß geben können. 


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Dr. Toyotane Wada. 


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Nach dieser Meinung wäre die Bezeichnung „Cerebropathia 
psychica toxaemica“ oder „Psychosis polyneuritica“ nicht zutreffend. 

Bei uns in Japan ist über diese Psychose nur wenig berichtet, 
weil sie offenbar sehr selten beobachtet wird. Miyake, der erste, 
der darüber schrieb, fand 1904 nach der Wiederbelebung eines 
erhängten Geisteskranken den amnestischen Symptomenkomplex, 
Er beschrieb ausführlich die Krankheitserscheinungen, kritisierte die 
Entstehung einzelner Symptome und machte auf die forensische 
Bedeutung der Konfabulation und retrograden Amnesie aufmerksam. 
1906 veröffentlichten Kawagoye und Osawa einen Fall ohne 
Polyneuritis, welcher bei einem Nichttrinker ohne nachweisbare 
Ursache vorkam. Imamura publizierte im Jahre 1910 zwei Fälle 
von Korsakowscher Psychose, kombiniert mit Beriberi (Kakke). 
Er führte dabei genau die Literatur über „Psycho-polynövrite böri- 
börique“ in Südamerika an und wies nach, daß auch Kakke die 
genannte Psychose veranlassen kann. Sein erster Fall betraf aber 
einen Säufer, weswegen er nicht wagte, bei diesem Falle die Kakke 
als einziges Moment anzusehen. Beim zweiten Fall jedoch war es 
einwandfrei, daß die Kakke die Geistesstörung zur Folge hatte. 

Araky, der in demselben Jahre in Sommers Klinik psy¬ 
chische und nervöse Erkrankungen infolge unseres letzten Krieges 
mit Bußland veröffentlichte, beschrieb in einem Fall der von ihm als 
Kakkestupor bezeichneten Fälle ein amnestisches Symptom, endlich das 
sich höchstwahrscheinlich der Korsakowschen Psychose anreihen läßt. 

Im letzten Jahre beschrieb Higuchi zwei Fälle von Geistes¬ 
störungen, welche sich nach Wiederbelebung erhängter Verbrecher 
entwickelten. Er hob genau die klinischen Erscheinungen hervor 
und behauptete, indem er eine reichhaltige Literatur berücksichtigte, 
daß die psychischen Symptome, besonders die retro- und anterograde 
Amnesie, von physischen Schädigungen der Gehirnsubstanz infolge 
Strangulation bedingt sind, wie Wagner und andere es annehmen. 

Auch ich hatte im letzten Jahre Gelegenheiten, zwei Fälle 
von Korsakowscher Psychose zu beobachten, welche ich ausführ¬ 
licher beschreiben möchte. 


I. Fall. 

T. I., verheiratete Frau, 26 Jahre alt. 

Hereditäre Verhältnisse: Die Eltern leben und sind gesund; über 
die Großeltern ist nichts bekannt. Patientin hat fünf Geschwister, worunter 


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Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan. 

eine ältere Schwester im 6. Lebensjahre an Nephritis mit Ekzem, eine jüngere 
im 20. auch an Nephritis, die Jüngste am dritten Tage nach der Geburt 
wegen Lebensschwäche starben. Ein älterer Bruder lebt und ist gesund. 
Bei den näheren Verwandten nie Tuberkulose, Lues oder anderweitige 
hereditäre Krankheiten. 

Anamnese: Die Patientin wurde voll entwickelt und leicht ge¬ 
boren; während der Schwangerschaft war die Mutter ganz gesund. Im 
Kindesalter und in der Pubertätszeit war die Patientin immer gesund. 
Erste Menses im 16. Lebensjahre. Bei den Menstruationen soll sie immer 
etwas empfindlicher und reizbarer sein als sonst. Sie absolvierte das 
Mädchenlyzeum und schloß, 20 Jahre alt, eine glückliche Ehe. Sie ist 
von etwas kleinmütiger und nachgiebiger Natur, soll aber von Zeit zu 
Zeit leicht zornig werden, besonders während der Menstruationen. Kein 
Alkohol- und Tabakabusus. 

Als Patientin im April 1907 im letzten Monate der ersten Schwanger¬ 
schaft war, bekam sie Nephritis und eklamptische Anfälle. Ein Geburts¬ 
helfer leitete eine künstliche Frühgeburt unter Narkose ein und sie gebar 
ein totes Kind. Trotzdem die eklamptischen Krampfanfälle durch die 
Operation in einigen Tagen nach der Geburt aufhörten, war Patientin 
fortwährend bewußtlos; sie delirierte und warf sich hin und her; nach 
ungefähr zwei Monaten kehrte ihr Bewußtsein wieder. Damals wurde es 
der Familie auffällig, daß Patientin sich an die nächsten Erlebnisse 
gar nicht erinnern konnte, während sie sich früherer Erfahrungen be¬ 
wußt war. Diese Gedächtnisstörungen sollen sich mit der Zeit gebessert 
haben, aber sie seien bis jetzt noch deutlich ausgeprägt. Inzwischen 
machte Patientin 1909 eine Geburt durch, welche ganz glatt verlief. 
Patientin soll nie über Empfindungs- und Bewegungsstörungen geklagt 
haben. Sie wurde am 29. April 1911 in unsere psychiatrische Klinik 
aufgenommen. 

Status praesens. Somatische Symptome: Eine mäßig kräftig ge¬ 
baute und genährte Frau von 155 cm Körperlänge und 54 kg Gewicht. 
Haut nicht trocken, Körpertemperatur und Puls normal. Keine Degenerations¬ 
zeichen. Pupillen beiderseits gleichgroß, Reaktion auf Lichteinfall und 
auf Akkommodation prompt und ausgiebig. Keine Artikulationsstörungen. 
Das Gesicht rötet Sich leicht beim Sprechen. Kein Tremor an den 
Extremitäten und der Zunge. Sensibilität#- und motorische Störungen 
nirgends nachweisbar, Nervenstämme nicht druckempfindlich. Patellar- 
reflexe beiderseits gleichstark, sonstige tiefe und Hautreflexe nicht 
besonders. Patientin ist jetzt im fünften Schwangerschaftsmonat; Fundus 
uteri zwei Finger breit oberhalb des Nabels fühlbar, sie soll schwache 
Kindsbewegungen spüren. Harn hellfarbig, klar; spezifisches Gewicht 1020, 
eiweißhaltig, zuckerfrei, hyaline Harnzylinder immer nachzuweisen. 

Psychische Symptome: Während ihres Aufenthaltes in der Klinik 
vom 29. April bis zum 3. Juni zeigte Patientin folgende Symptome, 
welche keine Schwankungen darboten. 

Patientin sieht scheinbar psychisch gesund aus; ihr Gesichts- 


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Dr. Toyotane Wada. 


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ansdruck, ihre Sprache and Benehmen sind nicht besonders auffällig. 
Sie ist gewöhnlich von heiterer Natur, aber gerät leicht in eine reiz¬ 
bare und etwas zornige Stimmung infolge minimaler Veranlassungen. 
Die Fragen, welche an sie gerichtet werden, faßt sie schnell auf und 
gibt zutreffende Antworten. Sie ist zerstreut, schwer fixierbar. Keine 
Sinnestäuschungen, ebensowenig Störungen der Ideenassoziationen und 
des Urteils. 

Die augenfälligsten und schwersten Störungen der psychischen 
Tätigkeiten bestehen in der Orientierung und besonders im Gedächtnis. 
Patientin ist zwar räumlich und in betreff der Umgebung gut orientiert, 
doch ist die zeitliche Orientierung schwer geschädigt; sie weiß nicht, 
welchen Tag wir heute haben und gibt öfters falsche Auskunft. Sie 
gibt richtig an, wann sie geboren und wann der japanisch-chinesische 
Krieg stattfand, aber hat die Geschichte des japanisch-russischen Krieges 
ganz vergessen; ebenso kann sie sich auch des Datums ihrer Ver¬ 
heiratung nicht erinnern; Patientin sagt bald, sie hätte vor ungefähr 
fünf Jahren, bald im Jahre 1906 geheiratet (eigentlich 1905). Ferner 
weiß sie nicht mehr, wann sie das Mädchenlyzeum absolvierte, wann 
eie hier aufgenommen wurde und sogar nicht, was sie gestern abend und 
heute morgen speiste. Wenn ich sie fünf Minuten, nachdem ich ihr 
meine Taschenuhr gezeigt hatte und sie die Zeit gut merken ließ, fragte: 
„Wie viel Uhr war es jetzt?“, so konnte sie sich nicht mehr daran 
erinnern. Ich versuchte nun folgende Proben, um zu konstatieren, von 
welchen Sinnesterritorien äußere Eindrücke besser gemerkt werden: 

Ich schrieb einerseits auf einem Papier drei zweistellige Zahlen, 
ließ Patientin die Zahlen optisch gut merken — ich zeigte sie immer 
eine Minute lang — und fragte nach fünf Minuten, ob sie sich an die 
Zahlen noch erinnern kann. Andererseits sagte ich ihr auch drei zwei¬ 
stellige Zahlen vor — dreimal langsam und laut —, ließ sie akustisch 
gut jmerken und fragte nach denselben Minuten. 

Das Resultat war sehr präzis; die Eindrücke vom Gesichtssinn 
aus wurden fast immer gut gemerkt; dagegen waren ihr die von der 
akustischen Sphäre kaum erinnerlich. Durch diese einfache Unter¬ 
suchung konnte ich bestätigen, daß bei der Patientin die Merkfähigkeit 
von akustischen Eindrücken schwerer gestört ist, als von optischen. Es 
ist sehr merkwürdig, daß bei ihr kein Zeichen einer Konfabulation 
nachzuweisen war, außer den falschen Antworten auf die Fragen, wie 
z. B.: Wann haben Sie geheiratet? Den wievielten Tag haben wir 
heute u. a. m. 

Wenn man diesen Status praesens überblickt, so geht daraus hervor, 
daß die Patientin nicht bloß in der Merkfähigkeit seit den eklamptischen 
Anfällen eine schwere Beeinträchtigung erlitten hat — eine anterograde 
Amnesie —, sondern ihr Gedächtnis überhaupt stark geschädigt ist; 
offenbar besteht bei ihr eine retrograde Amnesie, welche bis drei Jahre 
vor den Attacken zurückliegt. 

Epikrise: Eine 26 Jahre alte, hereditär nicht belastete Frau, 


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Zu Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan. 


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die keine Potatorin ist, bot einen deliranten Zustand dar nach einer 
künstlichen Frühgeburt wegen Nephritis und Eklampsie. Trotzdem 
dieser Zustand nach mehreren Wochen zurückging, blieb eine 
schwere Merkstörung bestehen, welche jetzt noch, nach vier Jahren, 
deutlich bemerkbar ist. Ferner zeigt sich eine retrograde Amnesie, 
die sich drei Jahre vor den eklamptischen Attacken zurückverfolgen 
läßt. Die Orientierung ist nur zeitlich gestört. Eine phantastische 
Konfabulation ist aber nicht nachzuweisen, ebensowenig die Zeichen 
einer Demenz. Somatisch findet man keine Spur von Polyneuritis, 
doch besteht noch immer eine leichte Nephritis. 

H. Fall. 

H. M., verheirateter Mann, 40 Jahre alt. 

Hereditäre Verhältnisse: Vater, der Potator war, starb 70 Jahre 
alt an einer Herzerkrankung; Mutter im 64. Lebensjahre, Todesursache 
unbekannt. Fünf Geschwister leben alle gesund. Patient hat fünf Kinder, 
worunter vier gesund sind. Sonst keine psycho- und neuropathische 
Heredität. 

Anamnese: Im Kindesalter soll Patient sehr empfindlich und reiz¬ 
bar, die Entwicklung des Ganges ziemlich verspätet gewesen sein. Sonst 
aber litt er an keiner nennenswerten Krankheit. Patient ist von heiterem 
und geduldigem Temperamente. Die Erziehung ist dürftig; er besuchte 
nur eine Volksschule mit gutem Erfolge. Er machte dann als Infanterist 
zweijährigen Militärdienst durch. 28 Jahre alt, heiratete er adoptiv eine 
Tochter eines Restaurateurs. Seither trank er täglich etwa 200 g japa¬ 
nischen Sake 1 ). Mäßiger Raucher. Beim japanisch-russischen Kriege 
wurde er als Reservist einberufen und verließ seinen Dienst in voller 
Gesundheit. 

Am 27. Juli 1909, als Patient 28 Jahre alt war, stürzte er 
plötzlich ohne bemerkbare Ursache nieder. Er war ganz bewußtlos, 
delirierte und bekam Krämpfe. Der damals berufene Arzt diagnostizierte 
Urämie und durch seine Behandlung kam Patient nach zwei Tagen zu 
sich. Aber er schien ihm wie geistesabwesend; er sprach gar nicht von 
selbst, antwortete aber auf Fragen, ohne daß man ihn verstand. Essen, 
Trinken, Umkleiden, Zubettgehen usw. vernachlässigte er, wenn man ihn 
nicht hiezu aufforderte. Gegen diese Aufforderungen aber sträubte er sich 
nie. Dieser stuporöse Zustand dauerte etwa einen Monat lang, um sich all¬ 
mählich zu bessern. Aber er wurde dann durch außerordentliche Verge߬ 
lichkeit auffällig. Beim Schreiben eines Briefes wiederholte er denselben 
Inhalt, vergaß den Adressaten; beim Empfangen eines Besuches grüßte 
er zweimal; bei der Zubereitung eines Fisches konnte er sich nicht 
daran erinnern, ob er den Fisch braten oder kochen sollte. Neben einer 


x ) Nach der Analyse enthält Sake ungefähr 12 bis 13°/ 0 Alkohol. 


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solch hochgradigen Gedächtnisstörung trat eine gewisse Veränderung der 
Stimmung zu Tage. Patient, der früher heiter war, wurde gleichgültig und 
bekümmerte sich nicht mehr um die Familie und Umgebung. Er brachte 
Tag und Nacht mit Nichtstun zu, wenn man ihn sich selbst überließ. 

Durch langdauernde ärztliche Behandlung soll sich der psychische 
Zustand des Patienten allerdings nach und nach, aber nicht vollständig 
gebessert haben. Darum suchte er am 10. März 1911 unsere Klinik 
auf, in welcher er bis zum 12. April verweilte, ohne augenfällig ge¬ 
bessert zu werden. 

Status praesens. Somatische Symptome: Kräftig gebauter und 
gut genährter Mann. Körperlänge 166 cm> Körpergewicht 62*3 kg. Tem¬ 
peratur 36*7°, Puls 84, regelmäßig und stark gespannt, Arteria radialis 
nicht geschlängelt. Gesichtsfarbe etwas blaß und leicht ödematös, be¬ 
sonders an den Augenlidern. Keine Degenerationszeichen. Am linken 
Augenhintergrunde sieht man einen Konus. Pupillen beiderseits gleich¬ 
groß, Licht- und Akkommodationsreaktion lebhaft, keine Störung der 
Augenbewegungen. Sprache zwar langsam, doch keine Artikulations¬ 
störung. Kein Händetremor, Schrift glatt und geschickt. Sensibilitäts¬ 
und motorische Störungen nirgends nachzuweisen. Sämtliche Haut- und 
Sehnenreflexe sind nicht besonders lebhaft. Keine Schmerzen beim Drucke 
der Nervenstämme und der Muskulatur. Harn: Tagesmenge ziemlich 
reichlich, 1700 bis 2300 cm 8 , leicht gelblich, schwach sauer, enthält immer 
mittelmäßige Mengen von Eiweiß und hyalinen Zylindern, zuckerfrei. 
Im Kot einige Eier von Ascaris lumbricoides. 

Psychische Symptome: Bei der Untersuchung am Krankenbette 
hält der Patient seinen Oberkörper etwas vorgebeugt. Gesichtsausdruck 
apathisch. Er spricht nicht freiwillig, antwortet nur auf Fragen. Die 
Sprache ist langsam und leise. Er hat eine gewisse Krankheitseinsicht; 
er sagt: „Ich bin gehimleidend und sehr vergeßlich, deswegen bin ich 
hierher gekommen.“ Örtlich orientiert, doch weiß er nicht, wann er 
aufgenommen wurde, den wievielten wir heute haben. 

Die Fragen faßt er gut au£ die Aufmerksamkeit ist nur eine 
oberflächliche. Schulkenntnisse und Rechnen ziemlich gut erhalten im 
Vergleiche zu seiner Erziehung. Alte Erlebnisse, z. B. der Aufruhr 1877, 
der japanisch-chinesische und der letzte Krieg mit Rußland sind gut im 
Gedächtnisse geblieben. Sinnestäuschungen. Wahnideen und Zwangs¬ 
vorstellungen sind nicht aufzufinden. Assoziation ist inhaltlich nicht 
gestört, doch ihr Verlauf ziemlich verlangsamt. Der Patient ist bald 
traurig verstimmt, klagt immer über seine Vergeßlichkeit, bald bekümmert 
er sich nicht um Familienverhältnisse, nähere Umgebung und soziale 
Angelegenheiten usw., so daß eine Abstumpfung der Gemütserregbar¬ 
keit erschlossen werden kann. Die Willenstätigkeit ist deutlich herab¬ 
gesetzt, er ist wortkarg, bewegungsarm; Befehlsautomatie, Negativismus 
und andere katatonische Zeichen aber nie vorhanden. 

Die augenfälligste und ausgeprägteste psychische Störung bei dem 
Patienten fällt im Gedächtnisse besonders in der Merkfähigkeit auf. 


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Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan. 81 

Diese Störung bot während seines Verweilens in der Klinik keine 
Besserung dar. Vorgesagte und vorgezeigte Zahlen sowie die gemerkte 
Zeit einer Taschenuhr vergißt er schon nach einigen Minuten gänzlich. 
Auf meine Frage: „Wie viel Milch haben Sie heute schon getrunken? 4 
antwortet er gleich mit den Worten: „Trinke heute gar nicht, 4 trotzdem 
er ungefähr einen halben Liter Milch trank. Ich versuchte auch in diesem 
Falle durch die im ersten angestellten Proben zu untersuchen, ob 
optische Eindrücke fester haften bleiben als akustische oder umgekehrt. 
Aber der Patient war zu stark vergeßlich, so daß kein sicheres Resultat 
erreicht werden konnte. 

Als ich die Gedächtnisstörung beim Patienten zurückverfolgte, fand 
ich, daß er sich nicht bloß an die Erfahrungen seit dem Anfall im 
Juli 1909 nicht erinnern konnte, sondern noch frühere Erlebnisse ihm 
aus dem Gedächtnisse geschwunden sind oder, wenn er sich auch noch 
erinnern konnte, diese Erinnerungen nach Zeitreihen nicht richtig zu 
erzählen vermochte. Auf die Frage: „Wie viel Kinder haben 
Sie? 4 antwortet er sofort: „Zwei Kinder. 4 Er hat aber dabei sein 
jüngstes vieljähriges Kind vergessen, welches 1907 geboren wurde. 
Über die Einzelheiten des japanisch-russischen Krieges vermag er aber 
sehr genaue Angaben zu machen. Aus diesen Umständen scheint es 
gerechtfertigt anzunehmen, daß der Patient an einer retrograden Amnesie 
leidet, eine retrograde Amnesie, die sich ungefähr zwei Jahre vor dem 
urämischen An falle zurück verfolgen läßt. 

Epikrise. 

Ein 40 jähriger verheirateter Mann ohne hereditäre Belastung. 
Im Kindesalter war er etwas empfindlich, sein Gang entwickelte 
sich verspätet. Seit dem 28. Lebensjahre trinkt er täglich 200 Cc. 
Sake, aber es zeigt sich keine Spur von chronischem Alkoholismus. 
Mäßiger Baucher. 

Im Jahre 1909 bekam er plötzlich einen schweren urämischer 
Anfall, der mit Bewußtlosigkeit, Delirium und Krämpfen einher¬ 
ging. Nach dem Anfaile wurde Patient ganz stuporös, welcher 
Zustand mehrere Wochen dauerte. Seither trat eine eigentümliche 
Störung der Merkfähigkeit auf, welche bis heute fortbesteht. Da¬ 
neben bemerkt man eine retrograde Amnesie, die sich bis zwei 
Jahre vor dem Anfalle zurückverfolgen läßt. Die Konfabulation 
ist nicht deutlich ausgeprägt, dagegen bietet er eine Gefühlsstörung 
im Sinne der traurigen Verstimmung und der Abstumpfung, keine 
eigentliche Verblödung. Die Orientierung ist nur zeitlich beeinträchtigt. 

Somatisch findet man keine Zeichen von Polyneuritis, hingegen 
ganz sicher die Symptome der chronischen Nephritis, resp. Schrumpf- 

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niere. Daß der Patient nicht an Alkoholismus leidet, wurde schon 
oben erwähnt. 

Wenn man noch einmal die klinischen Untersuchungen der 
oben erwähnten zwei Fälle überblickt, so wird man gleich eine 
Analogie finden. Der erste Fall fing mit einem deliranten Zustand 
nach eklamptischen Anfällen im letzten Schwangerschaftsmonate, 
der zweite mit einem stuporösen Zustand nach einem plötzlich aus¬ 
gebrochenen urämischen Anfall an. Die Zustände im Anfangsstadium 
waren in beiden Fällen verschieden, aber die nachherigen Symptome 
sind ganz gleich; sie bestehen in einer schweren Störung der Merk¬ 
fähigkeit, retrograden Amnesie und Störung der zeitlichen Orien¬ 
tierung, welche uns die sichere Diagnose einer Korsakowschen Psychose 
gestatten, obgleich eine Konfabulation und Polyneuritis fehlen. 

Was die Ätiologie unserer Fälle betrifft, so kommt im ersten 
Falle ein Alkoholabusus absolut nicht in Betracht, ebenso kaum 
im zweiten Fall, wenn auch der Patient täglich eine kleine Menge 
von Sake trank, zumal bei ihm in der Anamnese und im Status 
kein Zeichen des chronischen Alkoholismus nachzuweisen war. Hin¬ 
gegen ist es unzweifelhaft, daß die Nephritis, welche im ersten 
Fall die eklamptischen, im zweiten die urämischen Anfälle hervor¬ 
rief, auch die Geistesstörung veranlaßte, denn außer den anamne¬ 
stischen Angaben kann man durch den Nachweis von Albuminurie 
und Harnzylindern gegenwärtig noch das Vorhandensein einer 
Nephritis bestätigen. Betrachtet man die Tatsache, daß toxische 
Substanzen als Stoffwechselprodukte bei Nephritikern öfters urämi¬ 
sche Geistesstörungen oder periphere Neuritis herbeiführen, indem 
sie bald das zentrale, bald das periphere Nervensystem angreifen, 
so wird es nicht wundemehmen, daß die Nephritis auch einmal 
Korsakowsche Psychose hervorzurufen imstande ist. In diesem Sinne 
gehören meine Fälle zur Gruppe der toxämischen Geistesstörungen. 

In der Literatur aber gibt es nur wenige diesbezügliche An¬ 
gaben. Außer Korsakow machten Redlich und Wagner darauf 
aufmerksam, daß bei der Korsakowschen Psychose Albuminurie 
häufig vorkommt, Mönkemöller und Kaplan beschrieben bei 
einem Fall mit Hirntumor Albuminurie und Retinitis albuminurica, 
ohne aber die letzteren als die Ursache der Geistesstörung anzu¬ 
sehen L’Hermitte und Halberstadt, welche an der Leber und 
den Nieren von an Korsakowscher Psychose Verstorbenen schwere 


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Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan. 


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Veränderungen sahen, schrieben ihnen eine ätiologische Bedeutung 
zu. In Japan findet man keine entsprechende Literatur. 

Frühere Angaben über die Korsakowsche Psychose betrafen 
meistens relativ frische Fälle; veraltete und doch noch ausge¬ 
sprochene Fälle wie die vorliegenden sind ziemlich selten, wiewohl 
deren klinische Untersuchung auch gewiß von einigem Interesse 
wäre. Meine zwei Fälle, bei welchen seit dem Ausbruch zwei bis 
vier Jahre verflossen sind, boten noch gegenwärtig am ausgeprägte¬ 
sten die Merkstörung und die retrograde Amnesie. Die Orientierung 
war hingegen nur zeitlich beeinträchtigt, während sie räumlich und 
gegen die Umgebung korrekt existierte. Bei der Erinnerung der 
näheren Erlebnisse, die allerdings |nur stückweise gemerkt wurden, 
verfehlten die Patienten immer die zeitliche Reihe. Konfabulation 
war nicht nachweisbar. Die Stimmung war bei einem etwas heiter, 
ab und zu reizbar; bei dem anderen gleichgültig. In der Willens¬ 
sphäre konnte man Auffälliges nicht finden. 

Nach diesen Darlegungen scheint es mir, daß die deutlichsten 
und langdauerndsten Symptome bei Korsakowscher Psychose die 
Merkstörung und die retrograde Amnesie sind und ihnen die 
Störung der Orientierung, insbesondere die zeitliche folgt. Die Kon¬ 
fabulation wäre entweder relativ selten oder würde relativ früh 
verschwinden oder überhaupt nicht auftreten, ebensowenig charakte¬ 
ristisch wären die Störungen des Gefühls und Wollens. 

Daß beim Korsakow mit Hirntumor die retrograde Amnesie 
nach Pfeifers Angabe immer fehlt, während sie in meinen 
Fällen deutlich ausgeprägt war, wie es nach hysterischen, epilepti¬ 
schen oder paralytischen Anfällen oder nach Kopftrauma, resp. 
Gehirnerschütterung der Fall ist, wird darauf hinweisen, daß die 
retrograde Amnesie bei plötzlich aufgetretenen, mit schwerer Be¬ 
wußtseinstrübung einhergehenden Fällen sehr deutlich nachweisbar 
würde und umgekehrt. 

Was das Wesen der retrograden Amnesie betrifft — eine Frage, 
ob sie entweder von organischen Hirnläsionen oder von funktionellen 
Schädigungen bedingt wird — ist heute noch nicht sicher entschieden. 
Während Möbius eine funktionelle Entstehung derselben behauptet, 
halten Wagner, Wollenberg, Sommer u. a., welche die Er¬ 
scheinung nach der Wiederbelebung Erhängter beobachteten, es für 
richtig, daß die Amnesie durch organische Läsionen der Großhirn¬ 
rinde, durch Ernährungsstörung infolge Strangulation hervorgerufen 

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wird. Bei uns in Japan schließen sich Miyake und Higuchi, 
die auch diese Amnesie bei wiederbelebten Erhängten sahen, der 
Meinung der letzteren europäischen Autoren an. In meinen Fällen 
ist die Sache nicht schwer zu erklären. Ich bin auch der Ansicht, 
daß die retrograde Amnesie sicher organischen Schädigungen der 
Gehirnrinde zugeschrieben werden soll, weil es sich hier um die 
Fälle mit Nierenläsionen handelt, deren deletäre Wirkungen auf 
das Gehirn bekannt sind und ferner die retrograde Amnesie schon 
so lange bestanden hat, daß man ihre Unheilbarkeit annehmen 
muß. Aber die retrograde Amnesie nach hysterischen Anfallen 
könnte wohl kaum organischer Natur sein, denn wir haben dafür 
keinen Beweisgrund. Deswegen würde man in solchen Fällen nicht 
leugnen können, daß die retrograde Amnesie auch funktionell 
bedingt sein kann — eine Beschränkung gegenüber der Annahme 
des konstant organischen Ursprungs. 

Das Fehlen einer Konfabulation bei meinen Patienten trotz 
hochgradiger Merkstörungen hätte seinen Grund darin, daß bei 
ihnen Halluzinationen, delirante Zustände, Steigerung der Phantasie, 
Wahnideen und Steigerung der psychischen Regsamkeit nicht vor¬ 
handen waren, die alle die Entstehung der Konfabulation zu be¬ 
günstigen pflegen. 

Bonhoeffer erwähnte in seiner Monographie, daß zwei Drittel 
von alkoholischer Korsakowscher Psychose mit einem deliranten 
Zustand anfängt, und er hält dies für charakteristisch für die Fälle 
alkoholischen Ursprungs. Knapp teilte aber zwei Fälle von deliranter 
Form mit nicht alkoholischer Genese mit, ebenso auch Thomseu 
dieselbe Form nach Kohlenoxydvergiftung. Mein erster Fall zeigte 
auch anfänglich einen deliranten Zustand, 'aber er ist nicht durch 
Alkohol verursacht, sondern durch Eklampsie. Der zweite Fall, 
welcher von einer Urämie hervorgerufen wurde, gehört zur stupo- 
rösen Form — eine Form, welche nach Bonhoeffer auch beim 
alkoholischen Korsakow sehr häufig auftreten soll. 

Nach diesen Erörterungen vermag man nicht aus anfänglichen 
Zuständen die veranlassende Ursache der Korsakowschen Psychose 
zu erschließen. Bonhoeffer selbst bestätigte in seiner späteren 
Veröffentlichung, daß auch die stuporöse Form in Fällen von nicht 
alkoholischem Ursprünge zum Vorschein kommen kann. 

Über die Merkstörung bei der Korsakowschen Psychose 
schrieb Kiefer, der sie bei chronischem Alkoholdelirium unter- 


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Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan. 85 

suchte, daß optische Eindrücke schwerer zu merken wären, als 
akustische. Morstatt führte in zwei Fällen von Korsakowschem 
Symptomenkomplex mit alkoholischer Genese und in einem von 
paralytischer Natur experimentell-psychologische Untersuchungen 
über die Merkstörung aus. Nach seinen Untersuchungen war die 
Merkfähigkeit in den ersteren Fällen ebenso wie bei Kiefer in 
der optischen Sphäre schwerer beeinträchtigt als in der akustischen, 
aber im letzteren Fall verhielt sich die Sache ganz umgekehrt, die 
optische Merkfähigkeit war viel besser erhalten als die akustische. 

In meinen Fällen machte ich auch einfache diesbezügliche 
Versuche. Bei dem zweiten Fall war das Resultat nicht sicher, 
weil der Patient zu sehr vergeßlich und gemerkte Eindrücke aus 
den beiden sinnlichen Sphären ihm nach einigen Minuten gleich¬ 
wohl aus dem Gedächtnis verschwunden waren. Im ersten Falle 
konnte ich aber ein präzises Resultat erheben. Bequemlichkeits¬ 
halber möchte ich hier noch einmal die Untersuchungsmethode und 
die Ergebnisse zitieren. 

Ich schrieb einerseits auf ein Papier drei zweistellige Zahlen, 
ließ die Patientin die Zahlen sich gut merken und nach fünf Minuten, 
in welchen ich ihren Patellarreflex untersuchte und einige Worte 
sprach, fragte ich sie, ob sie sich noch der Zahlen erinnern kann. 
Andererseits sagte ich ihr drei zweistellige Zahlen vor, ließ sie 
dieselben sich akustisch gut merken und fragte nach derselben 
Zeit. Diese Proben wurden an verschiedenen Tagen wiederholt an¬ 
gestellt und das Resultat war merkwürdigerweise immer dasselbe. 
Es waren nämlich die Eindrücke von der Gesichtssphäre her fast 
immer gut gemerkt, während die von der akustischen Seite nur 
schwer erinnerlich waren. Diese Proben weisen also darauf hin, 
daß die Merkfähigkeit bei der Patientin für akustische Eindrücke 
schwerer gestört war als für optische, ein ganz entgegengesetztes 
Resultat gegenüber dem Kiefers und Mors tatts beim Kor sakow 
alkoholischen Ursprungs. Ich gestatte mir unten einige Erklärungen 
über die Verschiedenheiten der Störungen von der Merkfähigkeit 
aus den optischen und akustischen Sphären anzustellen. 

Zuerst denke ich an die psychische Entwicklung in früherer 
Kinderzeit. Bei derselben spielt selbstverständlich die Aufnahme 
äußerer Eindrücke vermittels der Sinnesorgane, besonders der Augen 
und Ohren die Hauptrolle. Wenn optische und akustische Emp¬ 
findungsorgane angeboren oder früh erworben funktionsunfähig 


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sind, so kann gewöhnlich die psychische Entwicklung nicht einen 
so hohen Grad erreichen, obwohl dies auch ausnahmsweise geschehen 
kann, wie es bei Laura Bridgeman und Helen Keller der Fall war, 
welch beide mittels der Tastempfindung unter sorgfältigster Er¬ 
ziehung eine außergewöhnliche Ausbildung der psychischen Ent¬ 
wicklung erreichten. Unter den optischen und akustischen Sinnes¬ 
organen scheint das letztere weit wichtiger für die Geistesentwick¬ 
lung zu sein als das erstere, denn blind Geborene sind größtenteils 
relativ besser psychisch entwickelt, während Taubstumme häufig 
minderwertig sind. Wenn man dies rein oberflächlich nimmt, so 
scheint es, als ob akustische Eindrücke psychisch besser verarbeitet 
werden als optische, mit anderen Worten, die Assoziation von 
akustischen Eindrücken weit komplizierter und vielseitiger sind als 
die von optischen, und dementsprechend die Merkfähigkeit für die 
ersteren fester sein soll als für die letzteren. 

Wenn dies richtig wäre, so wäre die Beobachtung von Kiefer 
und Morstatt, nach welcher die Merkstörung bei alkoholischem 
Korsakow für optische Eindrücke beträchtlicher war als die für 
akustische, nicht schwer zu erklären. In der Tat aber scheint sich 
die Sache komplizierter zu verhalten. Man muß zunächst ins Auge 
fassen, daß bei der psychischen Entwicklung im früheren Kindes¬ 
alter die Entwicklung der Sprache eine sehr große Rolle spielt. 
Die minderwertige Entwicklung von Taubstummen ist auf Nicht¬ 
entwicklung des Sprachzentrums zurückzuführen. Nach der Ent¬ 
wicklung desselben soll das Verhältnis etwas verschieden sein. Nach 
experimentell-psychologischen Untersuchungen hat man heute schon 
bestätigt, daß bei den meisten Personen optische Eindrücke fester 
im Gedächtnis eingeprägt werden als akustische, obwohl es sich 
in der Minderzahl ganz umgekehrt verhält. Ich meine also, daß 
bei der Korsakowschen Psychose, bei welcher die Merkfähigkeit im 
allgemeinen als herabgesetzt zu betrachten ist, meistens optische Ein¬ 
drücke besser gemerkt werden müssen als akustische. Aber beim 
Korsakow, welcher die Personen betrifft, die von Haus aus eine 
stärkere Merkfähigkeit für akustische Reize besitzen, müßte meiner 
Meinung nach die Fähigkeit auch für akustische Eindrücke schwerer 
beeinträchtigt werden als für optische, wie Kiefer und Morstatt 
es beobachteten. Ich bin daher jetzt der Ansicht, daß die Verschieden¬ 
heiten des Grades der Merkstörungen in einzelnen Sinnesterritorien 
von individueller Ungleichheit in der Zähigkeit des Gedächtnisses 


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Zur Kenntnis der Korsakowschen Psychose in Japan. 


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für einzelne Sinneseindrücke abhängig sind, nicht aber von den 
Ursachen der Geistesstörung. Ob meine Meinung richtig ist, werden 
in Zukunft noch exaktere und umfangreichere Untersuchungen an 
reichlicherem Krankenmateriale lehren. 

Es erübrigt noch einiges zu erwähnen über rassenpsychiatrische 
Beziehungen der Korsakowschen und der alkoholischen Geistes¬ 
störungen. Mitteilungen über den Korsakowschen Symptomenkomplex 
in Japan existieren nur von sieben Fällen (sechs Autoren). Wie 
ich bereits zitierte, betreffen die Fälle von Miyake und Higuchi 
wiederbelebte Erhängte, Osawa und Kawagoye beobachteten 
einen Fall unbekannter Genese; die Fälle von Imamura und 
Araky sind der Kakke als Ursache zuzuschreiben und meine zwei 
Fälle sind durch Nierenschädigungen veranlaßt worden. Also finden 
wir in Japan keine Literaturangabe Fälle alkoholischen Ursprungs be¬ 
treffend. Allerdings betraf der erste Fall Imamuras einen Pota¬ 
tor — ein Umstand, der für die Entwicklung des Korsakowschen 
Symptomenkomplexes ätiologisch nicht gleichgültig ist, so daß der 
Verfasser annahm, daß bei seinem Fall der Alkoholmißbrauch den 
Ausbruch der Psychose durch Kakke sehr begünstigte% 

Aber in Europa oder — besser gesagt — bei der weißen Basse 
tritt die Korsakowsche Psychose meistens auf dem Boden des chro¬ 
nischen Alkoholismus auf. Nach Bonhoeffer sollen 11% der 
Kranken, die wiederholt an Delirium tremens leiden, die Korsakowschen 
Symptome zeigen. Ferner berichteten Bonhoeffer, Raimann, 
Boedecker u. a. über innige Beziehungen derselben Geistesstörung 
zur Polioencephalitis haemorrhagica superior acuta, welche ja auch 
hauptsächlich durch chronische Alkoholvergiftung hervorgerufen wird. 

Andererseits sah und hörte ich persönlich, daß in Irren-, resp. Heil- 
und Pflegeanstalten in europäischen Großstädten Delirium tremens- 
Kranke fast kontinuierlich aufgenommen werden. Dementgegen findet 
man in Japan außerordentlich selten Angaben über Delirium tremens 2 ) 


v ) Neuerdings teilte mir Sakaki, Professor der Psychiatrie an 
der Universität in Kiushiu, persönlich mit, daß er einen Fall von 
Korsakowscher Psychose mit alkoholischer Genese beobachtet hätte. 

ä ) Voriges Jahr beobachtete ich zufälligerweise einen Fall von 
abortivem, doch zweifellosem Delirium tremens, den ich in der hiesigen 
medizinischen Gesellschaft vorstellte. Der Fall ist der erste und einzige, 
den ich während meiner Praxis in Japan vor und nach dem Aufenthalt 
in Europa zwecks Studiums der Neurologie und Psychiatrie sah. 


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Auch beobachten wir in Japan ebenso selten anderweitige 
alkoholische Geistesstörungen, nämlich den halluzinatorischen Wahn¬ 
sinn und die Alkoholparanoia. 

Hier möchte ich die Frage offen lassen, ob die alkoholischen 
Geistesstörungen sich als eine direkte Folge der Alkoholvergiftung 
entwickeln oder auf die Intoxikation mit schädlichen Substanzen, 
welche als durch Alkohol umgeänderte Stoffwechselprodukte gebildet 
wurden, zurückzuführen sind, wie man dies heute häufiger annimmt. 
Allerdings ist es einleuchtend, daß bei der Entstehung der Alkohol¬ 
psychosen langdauernder Alkoholabusus die Hauptrolle spielt. Je 
stärker alkoholhaltig das Getränk ist und je länger es gewohnheits¬ 
mäßig gebraucht wird, desto gefährlicher ist es für das Auftreten der 
Geistesstörungen. Daß aber individuelle Prädisposition dabei eine 
große Rolle spielt, ist selbstverständlich. 

Aber die Zuverlässigkeit des Gesetzes erhellt aus der 
Tatsache, daß die Alkoholpsychosen in Großstädten Deutschlands, 
wo unstreitbar viel Alkoholexzesse getrieben werden, weit häufiger 
Vorkommen als am Lande, wie dies Kraepelin schon in seinem 
Lehrbuch ausführlich tabellarisch darstellt. 

Bei uns in Japan ist das häufigste Genußmittel „Sake“, 
welcher durch Gärung von Reis hergestellt wird. Sake enthält nach 
der amtlichen Analyse 12 bis 13% Alkohol — ein Alkoholgehalt, 
der mehrfach so stark ist als der des Bieres. In den nordöstlichen 
und südwestlichen Gegenden Japans pflegt man noch stärkeres 
schnapsähnliches Getränk, welches aus Kartoffeln bereitet wird, zu 
trinken. Auch Stadtbewohner, besonders reiche Leute in Tokio und 
Osaka, genießen nicht selten gewohnheitsmäßig eingeführtes, kost¬ 
spieliges, starkes alkoholisches Getränk, wie schottländischen Whisky, 
Branntwein usw. Ferner findet man häufig in Kreisen der Arbeiter 
ein künstlich gemischtes, schnapsähnliches, starkes Getränk in 
Gebrauch. Es ist sehr merkwürdig, daß, trotzdem in Japan so viel 
Alkohol getrunken wird, alkoholische Psychosen außerordentlich 
selten beobachtet werden. Diese Tatsache ist gewiß von rassen¬ 
psychiatrischem Interesse. 

Der leider verstorbene H. Sakaki berichtete schon im Jahre 
1902 über die Seltenheit des Delirium tremens in Japan. Roche, 
Buschan und Org^ans beschrieben ebenso ein seltenes Vor¬ 
kommen der Alkoholpsychosen bei Negern. Pilcz erwähnte in 
seinem Beitrag zur vergleichenden Rassenpsychiatrie, daß Alkohol- 


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Zur Kenntnis dQr Korsakowschen. Psychose in Japan. 89 

psychosen am häufigsten bei Europäern, besonders bei Germanen 
und Slawen beobachtet werden. Ferner behauptet Kraepelin auf 
Grund seiner Beobachtungen in Buitenzorg in Java, daß alkoholische 
Geistesstörungen bei den dortigen Eingeborenen, die viel zu trinken 
pflegen, nicht zu finden sind, während sie bei kolonisierten Euro¬ 
päern öfters beobachtet werden. Nach diesen Darlegungen könnte 

man annehmen, daß verschiedene Menschenrassen verschiedene 

» 

Widerstandsfähigkeiten gegen Alkohol besitzen. Aber bei der Be¬ 
urteilung der Sache muß vorher noch eine Frage gelöst werden; 
die Frage, ob überhaupt verschiedene Menschenrassen gleichmäßig 
Jiäufig von Psychosen befallen werden. Es ist schon lange bekannt, 
daß bei Naturvölkern Psychosen überhaupt sehr selten Vorkommen. 
Nach Kraepelin findet man bei den sogenannten Naturvölkern 
in Afrika und in Australien, sowie bei Indianern und eingeborenen 
Amerikanegem am wenigsten Geisteskranke, bei Persern, Abessiniern, 
Arabern und Chinesen relativ selten. Bei den Japanern dagegen ist 
unglücklicherweise das Verhältnis sehr ähnlich dem in Europa. 
Nach der statistischen Angabe Eures soll man bei uns durch¬ 
schnittlich unter 1000 Bewohnern zwei Geisteskranke antreffen. 
Also in der Häufigkeit der Psychosen ist Japan gegenüber Europa 
nicht sehr zurück. Trotzdem sind alkoholische Geistesstörungen 
ausgesprochen selten, wie ich schon oben erwähnte. Wenn man 
nun die vorliegenden Auseinandersetzungen berücksichtigt, so müßte 
man annehmen, daß wir Japaner gegen Alkohol, resp. Alkohol- 
psychoseü eine starke Widerstandsfähigkeit besitzen. 

Zum Schlüsse möchte ich jedoch betonen, daß ich keines¬ 
wegs die anderen deletären Wirkungen des Alkohols auf den mensch¬ 
lichen Organismus vernachlässigen will, weil wir trotz der Seltenheit 
der Alkoholpsychosen im engeren Sinne in Japan manchmal den 
chronischen Alkoholismus und seine tatsächlich verhängnisvollen 
Folgen zu beobachten Gelegenheiten haben. 

Literatur. 

Anders, Ein Fall von Korsakowscher Psychose nach Cholera. 
Ref. Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete 
der Neurologie und Psychiatrie, 1910. 

Araky. Beobacht, über psych. u. nerv. Krankb. im japanisch¬ 
russischen Kriege 1904 bis 1905. Sommers Klinik f. psych. u. nerv. 
Krankh., 1909. 


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Aronsohn. Der Korsakowsche Symptomenkompl. nach Commotio 
cerebri. Deut. med. Wochenschr. Nr. 23, 1909. 

Block. Beitrag zur Alkoholneuritis mit K’schem Symptomenkompl. 
Dissert., Kiel, 1910. 

Bonhoeffer. Die akuten Geistesstör. d. Gewohnheitstrink. 
Jena, 1901. 

— Der K’sche Symptomenkompl. in seinen Bezieh, zu den verschied» 
Krankheitsformen. Neurol. Centralbl., 1904. 

Boedecker. Üb. einen akuf. u. einen chron. Fall v. Korsakow- 
scher Psychose. Arch. f. Psych. Bd. XL, 1905. 

— Klinischer Beitrag zur Kenntn. d. akut, plkoh. Augenmuskel- 
lähm. Charit6-Ann. Jhrg. XVII, 1892. 

Bornstein. Üb. die sog. Korsakowsche Psych. (polnisch). Ref. 
Jahresbericht, 1907. 

Brodmann. Experm, und klinischer Beitr. z. Psycholog, d. poly- 
neurit. Psych. Journal f. Psychol. u. Neurol. Bd. I u. III. 

Choroschko. Zur Lehre der Korsakowschen polyneur. Psych. 
Ref. Jahresbericht, 1907. 

Dufour. Un cas de psychose polyn6vritique post-grippale. Ref» 
Jahresbericht, 1909. 

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Würzburg, 1906. 

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Über die täglichen Schwankungen der Leitungs- 
fähigkeit des menschlichen Körpers und ihre 

Begründung. 

Von 

Dozent Dr. v. Pfungen, 

k. k. Primarius im k. k. Kra n kenhause Wieden. 

(Vortrag, gehalten am 14. Januar 1913 im Verein für Neurologie und 

Psychiatrie.) 

Im Jahre 1840 hat Du Boys Reymonds im Vorwort zum ersten 
Bande seines großen Werkes über die Elektrizität der Tiere es 
als ein Ideal gepriesen, daß er die Funktionen durch Zustands¬ 
veränderungen der Muskeln und Nerven durch feine physikalische 
Apparate deren physikalischen Prüfern zugänglich gemacht habe. 
Waller hat neben ihm eifrig geforscht, und seither eine lange Reihe 
physiologischer Koryphäen bis zu Biedermann und dessen Elektro- 
physiologie. Und was ist seither durch Bequerels Strahlen, Prof. 
Curie und dessen Frau, Rutherford, Gocht, Fürnkranz bis zu 
Lazarus’ Radiumbiologie und zu den neuen Arbeiten über Strahlen¬ 
therapie biologisch, physiologisch und physikalisch geforscht worden, 
des weiteren über Elektronentheorie und Thomsons*) Korpus¬ 
kulartheorie ? Was ist weiter dabei für Bakteriotherapie und 
Therapie der Neoplasmen, für die Diagnostik der Herzkrankheiten, 
insbesondere bei Geheimrat Kraus in Berlin, und wie wenig ist seit¬ 
her für die physiologische Prüfung der Affekte geschehen. Man 
kann Bände durchlesen, die sich mit Elektrophysiologie beschäftigen 
und wird vergebens danach suchen, daß es irgend einem Physiologen 


*) Johannes Stark bemaß die durch Konvertionsstrahlen mit- 
geschleppten Korpuskeln zu 1/1000 H Atom, s. Elektrizität in Gasen, 
pag. 300, Thomson zu 1/1900 H Atom, in der Abhandlung „Die Elek¬ 
trizität in Gasen“; zu 1/1700 H Atom. Thomson, „Korpuskulartheorie“, 
pag, 10. 


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Dr. v. Pfungen. 


oder Kliniker eingefallen wäre, über afifektlose Zustände, über 
Affekte, über Hemmung physischer Leitungsfähigkeit nur Anfänge 
zu machen. Es fehlt absolut jede Physiologie der Leitfähigkeit des 
Menschen; es sind unscheinbare Anfänge, aber kein System. 

Schon lange waren Puls und Arterienspannung zur Diagnose 
psychischer Erregungen verwendet worden. Der bekannte Angelo 
Mosso hat an Personen mit Schädellücken durch Plethysmogramme 
geistvolle Aufschlüsse über Veränderungen gegeben, welche durch. 
Schlüsse, durch Bechenaufgaben oder durch Affekte, durch die 
Erinnerung] an Begebenheiten, selbst das Anhören der Vesper¬ 
glocke bei einer Bäuerin auftraten. Erst Prof. Weber hat in einer 
gründlichen, sehr schönen Studie über die gesamte Blutverteilung 
im Körper des Menschen und der Tiere unter Affekten sympathischer 
und peinlicher Affekte oder Bechenaufgaben Bilder gegeben, welche 
zur Diagnose des bezüglichen Zustandes führen könnten. Im Jahre 
1850 hat der geniale Helmholtz die Tatsache exakt festgestellt, 
daß am Nervus ischadicus des Frosches mit den erhöhten elektri¬ 
schen Beizen die Leitungsgeschwindigkeit ansteigt *), unter Kältereiz 
verlangsamt wird, auch dann, wenn der Kältereiz nicht zwischen die 
beiden Elektroden fällt, aber die Leitfähigkeit des Körpers hat er nicht 
geprüft. Seither ist insbesondere durch Förös Entdeckung, daß bei 
Hysterischen sowohl unter sensibler Beizung wie unter psychischer Er¬ 
regung der Ausschlag eines gegebenen Stromes am Galvanometer an¬ 
steigt, die Mutmaßung gegeben worden, daß der Leitungswiderstand bei 
Affekten absinkt. Den Leitungswiderstand selbst hat er nicht bestimmt. 
Der junge Viguroux schloß 3 ) daran eine interessante klinische Studie, 
in der zuerst die Größe des Leitungswiderstandes wirklich gemessen 
wurde. Er fand, daß bei echter Melancholie der Leitungswiderstand 
auffallend groß ist 8 ), bei zahlreichen anderen Psychosen und psychi¬ 
schen Erregungszuständen ein auffallend niedriger Leitungswiderstand 
besteht 4 ). Darnach haben Tarschanoff, Sticker, Veraguth, Botecky 
in sehr gründlicheren Studien, bei Prüfung mit sensiblen Beizen und 


*) Von 34 zu 36 M. pro Sekunde im Nervus ischadicus. 

8 ) Viguroux Etüde de la resistanceelectrique chic les mölancho- 
liques. Paris 1899, Rueff et Co. 

8 ) Ca. 130.000 gegen ca. 5000 Ohm. 

4 ) Aber ähnlich niedrig wie bei den zum Vergleiche herangezogenen 
Wartepersonen, die doch offenbar bei dem ungewohnten Versuch ängst¬ 
lich waren. 


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Schwankungen der Leitungafähigkeit des menschl. Körpers. 95 


bei Prüfung mit geistigen Leistungen ein auffallendes Absinken 
des Leitungswiderstandes behauptet, kein einziger von ihnen gab 
sich die Mühe, die Zahl von Ohm an Widerständen zu messen, 
wie es Viguroux allein versucht hat. Kein einziger bemühte sich, 
die normalen physiologischen Ruhewerte und die Schwankungen des 
LeitungsWiderstandes zu prüfen, kein einziger gibt absolute Werte 
des Leitungswiderstandes, kein einziger stellte fest, unter welchen 
Umständen erhöhter Leitungswiderstand eintritt. 

Meine von 1902 bis 1908 mit meinem Assistenten Dozent 
Dr. Jellinek betriebenen Studien über Starkstromunfälle und Blitz¬ 
verletzungen gaben mir den Anstoß, die Frage in Angriff zu nehmen. 
Einzelne Tatsachen schienen die Wichtigkeit der Leitfähigkeit für 
die Gefährdung des Menschen bei Starkstrom wahrscheinlich zu 
machen. Es war Professor Appolant, der im Lancet auf die 
geringe Schädigung hingewiesen hat, welche Elektriker, wenn sie 
im Schlafe sind, bei derselben Stromstärke erfahren; es galt also 
die physiologische Leitfähigkeit des Menschen zu prüfen. Vier 
Jahre lange Messungen ergaben mir Resultate, über welche ich im 
folgenden berichten will. 

Meine Studien sind nur ein Anfang. Nur ganz rohe klinische 
Tatsachen lagen bisher vor, als die Studien begannen. Meist mit 
ungeeigneten Instrumenten angestellt und ohne psychologische Durch¬ 
dringung des Projekts. Dozent Dr. Jellinek hat auch an 100 Elek- 
trizitätsarbeitem vergleichende Untersuchungen an den Händen, als 
den häufigsten Eintrittspforten der Starkströme, gemacht. Er arbeitete 
unter Mithilfe von Assistenten des Oberbaurates Prof. Hochenegg. 
Er maß am Universalgalvanometer von Siemens & Halske; seine Werte 
schwankten zwischen 16.000 und 80.000 Ohm- Ich habe in meinen 
vierjährigen Studien Werte an einem exakten Galvanometer von 
Siemens & Halske 1 ) gefunden, welche zwischen 3000 und 180.000 
Ohm ausschwankten. Ich konnte aber glücklicherweise auch die 
Ursachen entdecken, welche einmal eine enorme Steigerung des 
Leitungswiderstandes, das andere Mal eine enorme Verkleinerung 
Leitungswiderstandes bedingen. 

Wie sollte aber die Methodik eingeleitet werden? Kohlrausch 
hat für die Leitfähigkeit der Elektrolyten den Wechselstrom an¬ 
gewendet und durch Einschalten von Widerständen Vergleichs- 


x ) Nr. 62.203. 


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Dr. v. Pfungen. 


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widerstände eingeführt, bis ein eingeschaltetes Telephon unhörbar 
wurde oder wenigstens das Minimum vom Schall gab. Er wollte 
die Polarisation von galvanischen Strömen vermeiden. Kohlrausch 
und Hollbom haben auch eine lange Reihe von sehr wertvollen 
Feststellungen der Leitfähigkeit von Elektrolytlösungen geschaffen 
und durch ihre Schüler anstellen lassen. Konnte ich aber reizende 
Wechselströme an wenden, wo es doch seit langem bekannt ist, daß 
jeder kutane Reiz grobe Veränderungen in der Leitfähigkeit 
bedingt? Dasselbe galt für galvanische Ströme, welche überhaupt 
sensible Reize ausüben können 1 ). Dazu kam noch bei galva¬ 
nischen Strömen die selbstverständliche Polarisation an den Elek¬ 
troden. Allein Veraguth führte Messungen mit Schwachströmen aus 
von nicht mehr als zwei Volt Spannung. Ich wählte Ströme von 
150 Milliampere Stromstärke und 150 Millivolt Spannung. Ich ließ auch 
die Elektroden entweder in meiner Hand oder in der warmen Hand 
der Patienten mindestens so lange liegen, bis die. Temperatur¬ 
differenz zwischen Hand und Elektrode auf ein Minimum ab¬ 
gesunken war 8 ). Ich schaltete endlich große Widerstände in den 
Galvanometer ein, um die Trägheitsschwankungen des Galvano¬ 
meters möglichst zu verkleinern und die unberechenbar kleinen 
Fehler beim Anschalten der Elektroden an die Drähte, der 
Drähte am Galvanometer und etwa durch den Körper ablaufende 
mit dem Pulse synchron oder mit Atemwellen parallel gehende 
Schwankungen zu verhüten. So wie schon Faraday bei elektro¬ 
chemischen Messungen, bei denen Metallelektroden, selbst Platin, 
durch Anätzung störend sein könnten, wählte ich Kohlenelektroden, 
welche mir auch Prof. Lecher, der bekannte Physiker, warm 
empfahl. Ihre Leitfähigkeit hat auch einen enorm geringen Tem¬ 
peraturkoeffizienten. Die Elektroden waren trocken. Die Prüfung 
geschah erst nach einem die Kranken möglichst beruhigenden 

: ) So berechnet Robert Weber Beispiele und Übungen aus Elek¬ 
trizität und Magnetismus, Nr. 478, den Körperwiderstand von der Hand 
zur Fußsohle auf 950 Ohm, während doch tatsächlich alle diese Werte 
schwankend sind, und hier durch den Schmerz durch den Strom stark 
erniedrigt. 

8 ) Da die Elektrolyte der Hand nach Arrhenius einen sehr starken 
und daher nicht zu vernachlässigenden Temperaturkoeffizienten haben 
der mit steigender Temperatur entgegen den Metallen rasch zunimmt, 
nach der Formel A, = A 0 (1 -j- b t), siehe auch Walther Lobs Elek¬ 
trochemie, pag. 99. 


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Schwankungen der Leitungsfähigkeit des menschl. Körpers. 97 

Examen über ihre ganze Lebenszeit, über ihre Lebensschicksale, 
ihre Lebensweise, Ernährung, Schlaf, Stuhl, etwaige Beschwerden 
und Dauer derselben 1 ). Die Kohlenstäbe können ähnlich wie in 
den Experimenten von Waller über die Kennzeichen des Lebens 
mit starken Yorschaltwiderständen angewendet werden, wie ja auch 
der große Forscher Thomson bei den hoch interessanten Messungen 
verfuhr. Trotz dieser Dämpfung konnten die erwähnten enormen 
Widerstandsdifferenzen festgestellt werden und genau von mir am 
Galvanometer abgelesen werden, ohne daß die Kranken das Spiel 
der Nadel beobachteten, was selbstverständlich wenigstens zu Auf¬ 
merksamkeitsschwankungen geführt hätte. Nun galt es festzustellen: 
1. Gibt es tägliche Schwankungen, sind sie mit dem wachenden 
Zustande oder schlafenden Zustande im Zusammenhänge? 2. Welche 
Werte findet man im affektlosen Zustande und welche Werte ent¬ 
sprechen den bei Affekten und sensorischen Reizen von F£rö, 
Viguroux, Tarschanoff, Sticker und Yeraguth beobachteten Verände¬ 
rungen? 3. Welche somatische Bedingungen sind obenan mächtig, 
den Leitungswiderstand zu erhöhen? 4. Was sind die Ruhewerte? 

Zunächst bat ich meinen Assistenten Dr. Kraus, den Leitungs¬ 
widerstand an Leichen zu prüfen. Die Werte waren sehr ähnlich 
höchsten Widerständen an Lebenden. 

Dann wandte ich mich selbst an die in meine Ambulanz 
kommenden Kranken. Unter vielen andern kam zu mir eine Patientin 
mit einem recidiven Neoplasma des Darmes, mit starker Kotstauung 
im Dickdarm, sie bot bei wiederholter Messung 180.000 Ohm 
Widerstand. Dann ging ich an Messungen an mir selbst und fand 
bei mir regelmäßig am Morgen vor dem Morgenstuhle ebenfalls 
180.000 Ohm. Es hing davon ab, ob ich das Glück hatte, den Darm¬ 
inhalt gut zu entleeren oder nicht, ob überhaupt der Leitungs¬ 
widerstand auf 70.000 bis 80.000 Ohm absank oder wenn noch 
Kotmassen im aufsteigenden oder absteigenden Dickdarm übrig 
blieben, der Leitungswiderstand immer noch etwa 180.000 Ohm 
betrug. Ein anderes Moment: der Inhalt der Morgenpost konnte 
auch diesen Widerstand wieder ändern, wenn ich eine Broschüre 
oder ein Buch erhielt, das mich interessierte oder Hoffnung auf 

*■) Dann folgte die genaue körperliche Untersuchung mit Einschluß 
von Harnprüfung, von Blutdruck in immer drei Bestimmungen, endlich 
der elektrischen Leitfähigkeit und des Hämoglobingehaltes des Blutes nach 
v. Fleischl-Miescher neben sonst etwa nötigen Prüfungen von Reflexen. 

Jahrbücher für Piychlatrie. XXXIV. Bd. 7 


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Dr. v. Pfungen. 


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Aufklärung gab, so daß der L ei tungs widerstand etwa nur auf 
120.000 Ohm absank. Den Erfolg wirklicher Affekte, Todesangst, 
schwer tuberkulös zu sein, schwer herzkrank zu sein, von einem 
schweren Schlaganfall bedroht zu sein u. dgl., fand ich mehrmals 
bei meinen ambulanten Patienten, wobei der Leitungswiderstand 
auf 4800 oder mindestens auf 10.000 Ohm absank. An Schlafenden 
kann, mit Ausnahme von Träumen, das psychische Moment für 
Absinken des Leitungswiderstandes nicht eintreten. Prüfungen über die 
Einwirkung von Alkohol, Kaffee, Tee konnte ich an mir nicht 
machen, da ich dieselben seit Jahren nicht nehme. Mein Ruhewert 
ohne irgendwelche sensible oder sensorische Reize oder Affekte 
oder erhöhten Leitungswiderstand durch Kot im Dickdarm beträgt 
70.000 bis 80.000 Ohm. Da aber die Untersuchungen von Mafadyen, 
Nensky und Sieber 1891 und von Schmitt 1898 ergeben hatten, daß 
5 bis 6 Stunden nach der letzten Mahlzeit der Dünndarminhalt schon 
bis in den Dickdarm vordringt, so konnte ich manchmal auch bei mir 
vor Tisch oder nach Tisch 160.000 bis 180.000 Ohm nachweisen. Die 
Untersuchungen über die Wirkung des Aufenthalts des Darminhaltes 
im Dünndarm, also in den nächsten Stunden nach den großen 
Mahlzeiten waren vollständig negativ. Die Prüfungen meines Assi¬ 
stenten Dr. Kraus an Patienten und Patientinnen, die spontan nach 
Tisch eingeschlafen waren, ergaben nur sehr geringe Differenzen 
zwischen wachendem und schlafendem Zustand. Die Untersuchungen 
des provisorischen Assistenten Dr. Fürth im Nachtschlafe ergaben, 
obwohl an 15 Kranken ausgeführt, keine Resultate, da die Kranken 
tatsächlich nicht schliefen. Endlich ließ ich Herrn Dr. Fürth auch 
eine Reihe von Fällen von Nephritis, akuten und chronischen Nieren¬ 
entzündungen prüfen und sie ergaben an fünf Fällen keine Bestätigung 
dafür, daß Nephritis den Widerstand erhöht. So kann ich nur ein 
paar sichere Zahlen anführen, daß bei Ausschaltung von Kotstauung 
im Dickdarm und von psychischer Erregung der Widerstand etwa 
70.000 bis 80.000 Ohm beträgt. Selbst starkes Kollern im Dick¬ 
darm mit Abgang von Blähungen auch bei Fehlen perkutierbarer 
oder tastbarer Kotmassen kann den Leitungswiderstand bis auf 
180.000 Ohm ansteigen lassen. Umgekehrt kann jede psychische 
Erregung, selbst bloß das Beobachten der Galvanometernadel, den 
Ausschlag am Galvanometer erhöhen, also den Leitungswiderstand 
abgesunken zeigen. Schon 1910 suchte ich zur Beobachtung am 
Tier die Tatsache bezüglich der Erhöhung des Leitungswider- 


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Schwankungen der Leitungsfähigkeit des menscbl. Körpers. 99 


Standes durch Kotstauung zu kontrollieren. Eine sehr zahme Hündin 
wurde, nachdem ich sie in meiner Wohnung gebracht hatte und 
sie mit mir täglich spazierengegangen war, von mir mit unpolarisier- 
baren Tonelektroden geprüft. Am Morgen vor dem Morgen¬ 
stuhl ins Zimmer gebracht und nachdem bis zur Erwärmung der 
Elektroden die Pfoten an den Elektroden angelegt waren, ergaben 
sich 180.000 Ohm Widerstand. Sie wurde dann mit der einkaufenden 
Köchin spazieren geschickt. Wenn sie dann den Morgenstuhl ent¬ 
leert hatte, wurde sie wieder geprüft. Dann fand ich wiederholt 
Werte von etwa 35.000 Ohm. Nachdem sie einmal das Malheur 
hatte, bei sehr weichem Stuhl das Vorzimmer zu beschmutzen und 
Püffe bekommen hatte, zeigte sie nur 5500 Ohm 1 ). 

Während Kot im Colon ascendens und descendens, wie 
erwähnt, sehr mächtig den Widerstand erhöht, waren Skybala im 
Antrum recti, ebenso auch die Füllung und Entleerung der Harn¬ 
blase ohne jeden Einfluß auf den Galvanometerausschlag und den 
Leitungswiderstand bei mir, da ich doch das Klosett nahe wußte. 

Wie sollen wir uns nun erklären, daß Kotmassen im Kolon 
den Leitungswiderstand erhöhen? Werden dabei Nichtleiter resorbiert? 
Dem widerspricht erstens die Tatsache, daß zur Zeit der Resorption 
der Hauptmasse der Nahrung und in den nächsten Stunden nach der 
Hauptmahlzeit, während große Mengen von Kohlehydraten, Fett 
und Eiweißkörpern aus dem Dünndarm in den Kreislauf aufgenommen 
werden, keinerlei Veränderung des Leitungswiderstandes besteht. 
Dasselbe beweisen auch die Versuche Svanthe Arrhenius bei Zufügen 
von 10% Nichtleitern zu einer Menge Elektrolyten, z. B. von 
Alkohol. Es erfolgte nur ein Ahsinken um 1 % der Leitungsfähig¬ 
keit. Somit können wir nur denken, daß auf irgend einem nervösen 
Wege durch den Splanchnicus dieser Vorgang bewirkt wird. Das¬ 
selbe müssen wir auch für die von uns noch nicht begründbare 
erhöhte Leitungsfähigkeit unter psychischen Erregungen supponieren. 
Über solche Rätsel haben schon tüchtige Forscher nachgedacht. 
Als 1791 Galvani den neben einer Reibeelektrisiermaschine zuckenden 
Froschschenkel sah,. konnte er es trotz jahrelanger Versuche nicht 
erklären und erst 1888 gab Fleming in seinem Buche über elek¬ 
trische Wellentelegraphie die Erklärung durch Herzsche Wellen. 

x ) Nach einer Stunde beruhigt, bot sie nur 8000 Ohm. Wer ruhig 
beobachtet, sieht aber bei Mensch und Tier fortwährende Schwankungen, 
so daß nur von Mittelwerten gesprochen werden kann. 

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Dr. v. Pfungeu. 


Du Bois Reymond hat 1872 in seinem Vortrag Über die 
Grenzen des Naturerkennens in Leipzig die astronomische Kenntnis 
der Bewegungen der Atome als möglich hingestellt; er sagt dann 
weiter: „Machen wir dagegen dieselbe Voraussetzung astronomischer 
Kenntnis für das Gehirn des Menschen oder auch nur das Seelen¬ 
organ der niedersten Tiere, deren geistige Tätigkeit auf Empfinden 
von Lust und Unlust sich beschränken mag, so wird zwar in bezug 
auf alle darin stattfindenden materiellen Vorgänge unser Erkennen 
eben ein vollkommenes sein und unser Kausalitätstrieb sich eben 
so befriedigt fühlen, wie in bezug auf Zuckung oder Absonderung 
bei astronomischer Kenntnis des Muskels und der Drüse.“ Er sagt 
an einer anderen Stelle: „Es wäre grenzenlos interessant, wenn 
wir so mit geistigem Auge in uns hineinblickend, die zu einem 
Rechenexempel gehörige Hirnmechanik sich abspielen sähen wie 
eine mechanische Rechenmaschine“ und zum Schlüsse sagt er: „Durch 
keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Teilchen 
aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins schlagen.“ 
Prof. Ostwald führt in seinem Buch über die Energie in 
breiter Ausführung die Eigentümlichkeit organischer Vorgänge 
gegenüber physikalischen und chemischen aus: „Läßt sich auf 
solche Weise eine Beruhigung darüber gewinnen, daß die Erschei¬ 
nungen des Lebens der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich 
sind, so treten doch erneuerte Fragen auf, wenn man eine andere 
Gruppe von Tatsachen ins Auge faßt, die gleichfalls mit dem Leben 
verbunden sind, aber doch von den physischen Erscheinungen als 
durch eine breite Kluft getrennt angesehen werden. Es sind dies 
die psychischen Erscheinungen oder die des Seelenlebens.“ An einer 
anderen Stelle sagt er: „Für die mechanistische Weltauffassung 
besteht zwischen den physischen Erscheinungen als mechanischen 
einerseits und den geistigen andererseits eine unüberbrückbare Kluft; 
für die energetische Weltauffassung besteht im Gegenteil ein 
stetiger Zusammenhang zwischen den einfachsten Energiebetätigungen, 
den mechanischen und den psychischen.“ 

Die energetische Auffassung hat Helmholtz seit 1850 sicher 
beherrscht. Sie führte Hitzig und Fritsch zur Entdeckung der 
motorischen Zentren der Hirnrinde. Sie führte unsern Altmeister 
Siegmund Exner dazu, durch Reizung der peripheren Nerven mit 
Einschluß der Bewegungsempfindungsnerven an lädierten kortikalen 
Zentren die leichtere Ansprechbarkeit derselben zu erweisen, so 


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Schwankungen der Leitungsfähigkeit des menschl. Körpers. 101 


daß die Lähmung früher verschwand. Sie führte Theodor Meynert 
zur Deutung der Assoziationsbahnen und auf der Grundlage, daß 
bei Beobachtung bestimmter Gegenstände mit gleichen durch mehrere 
Sinnesorgane aufgenommenen Beizen der Schluß auf ein Objekt 
bekannter Art gezogen werden kann, dazu, den Schlußprozeß ener¬ 
getisch zu erklären. Auf gleichem Wege konnte ich vor 30 Jahren 
aus der Differenzierung, ob bei psychischen Prozessen kurze oder 
lange Assoziationshahnen gestört oder unterbrochen waren, auf die 
Schwere des Prozesses Schlüsse ziehen 1 ). 

Möge sich diese energetische Methode, mit den uns noch 
fehlenden Bruchstücke meiner Lehre über die Abhängigkeit der 
Leitungsfähigkeit 2 ) von somatischeD und psychischen Elementen 
zu einem schönen und geschlossenen Bau vollenden. Möge die 
Nervenphysiologie zur Psychophysiologie sich erweitern und auch am 
Tiere beweisende Experimente des Geschehens ermöglichen, wo wir 
heute nur erst Zuschauer der einander begleitenden Vorgänge sind 3 ). 

Möge geradeso, wie die von Dozent Dr. Jellinek den Elek¬ 
trizitätsarbeitern freiwillig gehaltenen Vorträge über die Vermeidung 
der Gefahren von Starkströmen die Zahl der elektrischen Unfälle auf 
ein Fünftel herabdrückten, das gewiß vorbildliche Vorgehen Italiens, 
der Schweiz, Englands und Deutschlands, Frankreichs und Nord¬ 
amerikas auch bei uns Nachahmung finden, die schwarze Kohle 
unserer Bergwerke durch die weiße Kohle, die Elektrizität, zu 
ersetzen. 

x ) Auf gleichem Wege glaubte Cöhnheim 1866 die Entzündung 
durch bloße Einwanderung farbloser Zellen zu erklären, bis Stricker 
auch die Umwandlung der Hornhautkörperchen nachwies, über die ich 
1873 eine Publikation verfaßte. Angesichts dieser von mir in Leipzig bei 
C. Ludwig hergestellten Goldpräparate war mit 1873 bei allen Teilnehmern 
der Naturforscherversammlung die Frage zu Gunsten Strickers entschieden. 

2 ) Die Widerstände berechnen sich leicht nach der Formel 
1*5 

1 \ = 60.000 X q. 25 bei 1*5 Volt Spannung und 0‘25 Volt Aus¬ 
schlag = 36.000 Ohm. 

8 ) Ein 1884 von mir beobachteter Fall, bei dem infolge von 
Arteriosklerose basaler Gehirngefäße plötzlich motorische Aphasie ein- 
stellte und die Obduktion nur im Linsenkernherd nachwies, belehrte mich 
auch, daß bei geschädigtem Kreisläufe schon die Verengerung der basalen 
Gefäße zu motorischer Aphasie führen kann. 


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Über Rückbildungserscheinimgen bei Fällen mit dem 
klinischen Bilde der Gehirngeschwulst, 

Von 

Professor Dr. Emil Redlich in Wien. 

Mit 3 Textfiguren und Tafel I—III. 

Daß die klinischen Erscheinungen bei Himgeschwülsten spontan 
oder im Anschlüsse an eine eingeleitete Therapie weitgehende Re¬ 
missionen zeigen, selbst ganz zurücktreten können, und auf diese 
Weise eine vorübergehende oder auch dauernde Heilung eintreten 
kann, ist seit langem bekannt. Oppenheim 1 ), Bruns 2 ), Anton 3 ), 
Donath 4 ) und viele andere haben eine ganze Reihe solcher inter¬ 
essanter Fälle aus eigener Beobachtung, sowie aus der Literatur 
zusammengestellt. Am häufigsten tritt dies nach Oppenheim bei 
Aneurysmen, Zysten, speziell parasitären, ein, dann auch bei Tu¬ 
berkeln, Gliomen, Sarkomen u. a. Die Modalitäten, unter denen, 
ohne daß die Geschwulst etwa operativ entfernt worden wäre, oder 
ohne daß ein Syphilom vorliegt, solche weitgehende Remissionen 
im klinischen Bilde möglich sind, sind nach Oppenheim Wachs¬ 
tumsstillstand, degenerative Vorgänge im Tumor (unter anderem 
Thrombosierung bei Aneurysmen, Verkalkung bei Tuberkeln und 
anderen Geschwülsten), Abfluß von Liquor durch die Nase bei Tu¬ 
moren mit Hydrozephalus, wodurch die Druckverhältnisse günstiger 
werden usw. Auch Anton hat die Bedingungen, die zur klinischen 


4 ) Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns, 2. Aufl,, pag. 278. 

2 ) Bruns, Die Geschwülste des Nervensystems, 2. Aufl., pag. 225. 

3 ) Anton, Über Selbstheilungsvorgänge bei Großhirngeschwülsten, 
Berliner klinische Wochenschrift, 1909, pag. 915. 

4 ) Donath, Gliom des linken Stirnlappens, Zeitsch. f. die ges. 
Neurol. Orig. Bd. 13, p. 214, 1912. 


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Über Rückbildungsersclieinungen bei Gehirogeschwülsten. 103 

Rückbildung der durch Tumoren ausgelösten Erscheinungen führen 
können, ausführlich auseinandergesetzt. 

Interessant ist z. B. die Frage nach dem Verhalten der Ge¬ 
schwülste nach Palliativtrepanationen. Horsley hatte angegeben, 
daß nach Eröffnung des Schädels im Tumor eine Neigung zu re¬ 
gressiven Vorgängen auftrete, d. h. also die Möglichkeit klinischer 
Rückbildungsvorgänge gegeben sei. Bruns kann dies nicht be¬ 
stätigen, Landau 1 ) hält sogar den beim Tumor gesteigerten Druck 
in der Schädelhöhle für eines der wichtigsten, die Rückbildung des 
Glioms beherrschenden Momente; wenn man den Druck herabsetze, 
dürfte der Tumor eher rascher wachsen. Immerhin hat erst in der 
allerletzten Zeit Binswanger 2 ) einen Fall mitgeteilt, wo nach 
Palliativtrepanation allmählich das voll ausgeprägte klinische Bild 
eines Hirntumors sich zurückbildete, und der Kranke jahrelang 
seinem Berufe nachging, ohne daß außer einer Hemianopsie andere 
Erscheinungen bestanden hätten. Nach dem aus anderen Gründen 
(Magenkarzinom) erfolgten Tode deckte die Obduktion an der me¬ 
dialen Seite des rechten Temporallappens eine harte, von kleinen 
Zysten umgebene und durchsetzte Geschwulst, die sich mikro¬ 
skopisch als geschrumpftes Gliom erwies, auf. In der Diskussion 
zum Vortrage Binswangers wußten auch Sänger und Anton 
über ähnliche Vorkommnisse zu berichten. Es scheint also beides 
vorzukommen, eine relative Heilung oder auch rascheres Wachs¬ 
tum einer Geschwulst nach Palliativtrepanation. 

Am bekanntesten ist aber eine solche Besserung der klinischen 
Erscheinungen beim Hirntumor nach einer Jodmedikation. Wer- 
nicke war der erste, der nach freilich sehr großen Joddosen bei 
nichtsyphilitischen Geschwülsten volle (klinische) Heilung sah. 
Oppenheim, Bruns u. a. wissen über einschlägige eigene 
Beobachtungen und solche aus der Literatur zu berichten. Auch 
nach Quecksilberbehandlung kann man, wenigstens vorübergehend, 
einen vollständigen Rückgang der Erscheinungen bei nichtsyphiliti¬ 
schen Geschwülsten sehen. So habe ich 3 ) eines Falles von Endo- 
theliom der Dura mater Erwähnung getan, wo nach einer Queck- 

x ) Landau, Über Rückbildungsvorgänge an Gliomen, Frankfurter 
Zeitschrift für Pathologie, Bd. 17, pag. 351, 1911. 

2 ) Binswanger, Neurologisches Zentralblatt, 1912, pag. 1458. 

3 ) Redlich, Art. Hirntumor in Handbuch der Neurologie, 3, 
pag. 628. 


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104 


Dr. Emil Redlich. 


silberkur für ein Jahr die Erscheinungen vollständig zurücktraten; 
Donath erwähnt Ähnliches. Auch nach Salvarsaneinverleibung ist 
von Nochte, Donath u. a. eine vorübergehende Besserung be¬ 
obachtet worden. 

Bei solchen vorübergehend oder dauernd gebesserten Fällen 
wird freilich, sofern nicht durch die Obduktion der Nachweis des 
wirklichen Bestandes einer Gehirngeschwulst geführt ist, an die 
Möglichkeit zu denken sein, daß es sich tatsächlich nicht um diese, 
sondern um eine andere zerebrale Affektion gehandelt hat, einen 
Hydrozephalus internus, dessen Differentialdiagnose gegenüber dem 
Hirntumor zu den schwierigsten Problemen gehört, um Enzephalitis, 
speziell Schilders Enzephalitis periaxialis diffusa, um die so¬ 
genannte akute multiple Sklerose u. a., vor allem aber den soge¬ 
nannten Pseudotumor von Nonne, dessen pathologische Stellung 
freilich noch immer nach vielen Bichtungen hin der Aufklärung 
bedarf, zudem ja bekannt ist, daß in manchen solchen Fällen 
schließlich die Obduktion doch nachträglich einen Hirntumor 
aufwies. 

Aus diesem Grunde dürfte der folgende Fall mit seinem inter¬ 
essanten anatomisch-histologischen Befunde auf ein gewisses Interesse 
Anspruch erheben. Ich hatte Gelegenheit, den Fall auf der Klinik 
von Hofrat v. Wagner-Jauregg lange Zeit klinisch zu beobachten. 
Ich danke ihm, sowie Herrn Hofrat Weichselbaum für die Über¬ 
lassung des anatomischen Materiales aufs beste. 

Am 27. September 1910 wuchs die damals 41jährige, verheiratete 
Marie P. der psychiatrischen Klinik zu mit einem Parere, das besagt, 
daß die Patientin seit drei Wochen verwirrt und vergeßlich sei, ihrer 
häuslichen Beschäftigung nicht mehr nachgehen könne, sich und ihr 
Hauswesen vernachlässige, auf der Straße sich nicht mehr zurechtfinde. 
Bei der Untersuchung durch den Polizeiarzt klagte die Patientin über 
Kopfschmerzen, erwies sich aber sonst orientiert. Der Mann ergänzte diese 
Angaben noch dahin, daß die Patientin früher stets gesund gewesen sei. 
Die Vergeßlichkeit bestehe erst seit drei Wochen und nehme immer mehr 
zu; insbesondere vergesse die Patientin alle Ereignisse der Jüngst Ver¬ 
gangenheit. Anderseits spreche sie von ihrem bereits seit drei Jahren 
verstorbenen Kind, als lebte dieses noch. Auch sollen Geruchshalluzina¬ 
tionen bestanden haben, wenigstens behauptete Patientin, die Speisen hätten 
einen eigentümlichen Geruch und Geschmack. Patientin klagte auch über 
Doppelbilder. Über Lues war nichts zu erfahren. Patientin hat später 
noch angegeben, daß ihr erstes Kind nach einigen Tagen an Darmkatarrh 
gestorben sei; dann folgte ein Abortus im dritten Monate, ein drittes Kind 
im Alter von sechs Jahren ist an Hirnhautentzündung gestorben. Auch 


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Über Rückbildungserscheinungen hei Gehimgeschwülsten. 105 

sie datiert den Beginn ihrer Erkrankung drei Wochen vor ihrem Spitals¬ 
eintritt; die ersten Symptome sollen starke Kopfschmerzen und Erbrechen 
gewesen sein. 

Die erste vorläufige Untersuchung ergab bei der mittelgroßen, 
mäßig kräftig gebauten Patientin in somatischer Beziehung: Klagen über 
Kopfschmerzen; die linke Pupille größer als die rechte, beide auf 
Lichteinfall prompt reagierend, linksseitige Hemianopsie. Bei extremer 
Blickrichtung nach rechts Andeutung von Nystagmus. Kornealreflex 
beiderseits vorhanden. Der Facialis ohne deutliche Lähmung, desgleichen 
die oberen Extremitäten; deutliche linksseitige Hypästhesie. Der Bauch¬ 
deckenreflex links schwächer als rechts. Patellarsehnenreflex >, links 
> rechts, kein Babinskisches Phänomen. Gang spastisch-ataktisch 
mit Neigung, nach rechts zu fallen. In psychischer Beziehung schwer¬ 
fälliges Wesen, Klage über Vergeßlichkeit. Die Antworten erfolgen ver¬ 
langsamt, bei flüchtiger Untersuchung sind grobe Störungen der Merkfähig¬ 
keit nicht nachweisbar. Patientin klagt über Geruchs- und Geschmacks¬ 
täuschungen, die aber als solche erkannt und nicht wahnhaft gedeutet 
werden. Die Wassermann sehe Reaktion (im Blute) ist negativ. Die 
ophthalmoskopische Untersuchung ergibt normalen Befund. Röntgenbefund 
(Dozent Dr. Schüller): Schädeldach 4 mm dick, spongiös, Innenfläche 
glatt, Basis normal. 

In der folgenden Zeit, z. B. am 13. Oktober 1910, war die links¬ 
seitige Hemianopsie in deutlichem Rückgang begriffen. Sonst aber ver¬ 
schlimmerte sich das Befinden der Patientin zusehends. Es trat wiederholt 
Erbrechen zerebralen Charakters auf. Jetzt ist auch eine leichte Schwäche 
des linken Fazialis zu konstatieren. Beim Gehen wird das linke Bein 
nachgeschleppt. Die linksseitige Hypästhesie ist deutlich, auch die 
Stereognose links deutlich gestört, ebenso das Lagegefühl. Die Sehnen¬ 
reflexe ohne deutliche Differenz, die Bauchreflexe links fehlend, rechts 
vorhanden. Der Augenhintergrund normal. 

Am 12. Oktober 1910 wurde mit einer Jodmedikation eingesetzt, 
Patientin erhielt zunächst 2 g Jodnatrium pro die. 

Am 27. Oktober 1910 ist verzeichnet: Klage über heftige Kopf¬ 
schmerzen, wiederholtes Erbrechen. Konvergenzstellung der Bulbi. Das 
rechte Auge kann nicht in die seitliche Endstellung gebracht werden. 
Beim Blick nach rechts grober Nystagmus. Deutliche Einschränkung 
des Gesichtsfeldes nach links auf beiden Augen. Der linke Fazialis 
schwächer innerviert, und zwar sowohl bei intendierten, als bei mimischen 
Bewegungen. Es besteht eine deutliche Schwäche der ganzen linken 
Körperhälfte. Beim Versuche, sich aufzusetzen, bleibt der linke Arm und 
das linke Bein unbewegt. Auch sonst die Beweglichkeit des linken 
Armes schwer herabgesetzt. Beim Gehen, das mit kleinen Schritten 
erfolgt, leichtes Schwanken, das linke Bein wird nachgeschleppt. Links 
deutliche Hypästhesie. Beim Versuche, mit dem linken Zeigefinger 
nach der Nasenspitze zu fahren, grobes Danebengreifen. Links Fußklonus, 
kein Babinski. Dabei ist Patientin schwer benommen, schlafsüchtig. 


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Dr. Emil Redlich. 


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Am 31. Oktober 1910 hat die Lähmung der linksseitigen Extremitäten 
zugenommen. Es besteht nahezu komplette Lähmung derselben mit 
leichten Spannungszuständen. Beim Stehen Tendenz, nach links und 
rückwärts zu fallen. Die Sehnenreflexe etwas erhöht; es besteht jetzt 
linksseitiger Babinski. Auch die Sensibiiitätsstörung der linken Seite hat 
zugenommen und betrifft alle Qualitäten, auch die der tiefen Teile. 
Ausgesprochene linksseitige Hemianopsie. Anfangs November wurde beider¬ 
seits eine voll ausgeprägte Stauungspapille konstatiert. Die 
linksseitige Fazialisparese war bei mimischen Bewegungen etwas deutlicher. 
In den letzten Tagen des November wurden bei der Patientin auffällige 
Pupillenphänomene konstatiert. Die Pupillen wechseln oft innerhalb weniger 
Minuten beträchtlich in der Weite, sind nicht selten unregelmäßig con- 
figuriert. Bisweilen waren auch die Pupillen, und zwar sowohl wenn sie 
weit, als wenn sie eng waren, vorübergehend lichtstarr. Beim Blick nach 
rechts bleibt das rechte Auge zurück, dabei tritt an beiden Augen grober 
Nystagmus auf. Patientin sieht auffällig selten nach links. Sonst der 
Zustand unverändert. Bei einer jetzt vorgenommenen Röntgenuntersuchung 
erweist sich die Sattellehne verkürzt, die Processus clinoidei anteriores 
zugeschärft. 

Ende Dezember war eine Besserung im Befinden der 
Patientin unverkennbar. Das Erbrechen hatte sistiert, das Sen- 
sorium ist freier, Patientin ist örtlich orientiert, zeitlich nicht, gibt ihre 
Personalien richtig an. Der Schädel nicht perkussionsempfindlich, die 
Klagen über Kopfschmerzen sind zurückgetreten. Die Pupillen sind 
different, die linke längsoval, etwas exzentrisch gelagert, beide prompt 
reagierend. Die rechtsseitige Abduzenslähmung nicht mehr deutlich. 
Beiderseits vollentwickelte Stauungspapille, links zahlreiche Hämorrhagien 
um den Sehnerven. Noch deutliche linksseitige Hemianopsie. Der Facialis 
links nicht mehr deutlich paretisch, die Sprache frei. Die Parese der 
linken oberen Extremität nur mehr schwach vorhanden, die Sehnenreflexe 
der linken unteren Extremität etwas lebhafter. Kein Babinski. Gehen 
nur mit sehr kräftiger Unterstützung möglich, dabei Nachschleifen des 
linken Beines. Die Sensibilitätsstörungen links wesentlich besser, jetzt 
kaum mehr nachweisbar. 

Die Besserung machte im Laufe des Monates Jänner — Patientin 
hatte während der ganzen Zeit 2 bis 3 g Jodnatrium pro die erhalten — noch 
weitere Fortschritte. Patientin war psychisch freier, sie gibt jetzt ziemlich 
gute Auskünfte, kann sich an die Zeit ihres bisherigen Spitalsaufenthaltes 
nur dunkel erinnern. Für die Zeit vor ihrem Spitalseintritte ist ihr Erinne¬ 
rungsvermögen wesentlich besser. Immerhin muß sie sich auch da bei 
Fragen, selbst nach der Zahl ihrer Kinder, längere Zeit besinnen. Auch 
die Untersuchung des somatischen Status ist jetzt viel leichter durch¬ 
führbar. Keine Klagen über Kopfschmerzen, der Schädel nicht perkus¬ 
sionsempfindlich. Es besteht noch Andeutung einer Abduzensparese rechts. 
Keine Doppelbilder. Die linke Pupille eine Spur weiter wie die rechte,, 
beide auf Lichteinfall prompt reagierend. In der linken Gesichtsfeldhälfte 


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Über Rückbildungserscheinungen bei Gehirngeschwülsten. 107 


beider Augen werden Handbewegungen gesehen, jedoch werden Farben 
hier nicht erkannt, sondern nur als bewegte Flächen gesehen. Der 
Blinzelreflex von links her weniger prompt als von rechts her. Der linke 
Fazialis noch spurweise paretisch, auch im oberen Ast ist eine gewisse 
Schwäche zu konstatieren. Eine stärkere Ausprägung der Parese bei 
mimischen Bewegungen ist nicht zu konstatieren. Der V., motorisch und 
sensibel, intakt; auch XI., XII. frei, das Geruchsvermögen gut. 

Die linke obere Extremität etwas schwächer wie die rechte, Dy. 
rechts 15, 20; links 9, 8. Die linke obere Extremität kann weniger 
hoch gehoben werden, wie die rechte. Beim Fingernasenversuch links 
etwas Zittern und Danebengreifen. In den Sehnenreflexen der oberen 
Extremitäten keine deutliche Differenz. 

Bezüglich der Sensibilität der linken oberen Extremität ergeben 
sich bloß leichte Störungen der Lokalisation, besonders an der Hand, 
auch werden in der linken Hand und in den linken Fingergelenken passiv 
ausgeführte Bewegungen nicht so gut empfunden wie rechts; diese 
Störung ist an der ulnaren Seite etwas deutlicher. Lageempfindung und 
Stereognose links intakt. Die Bauchdeckenreflexe =, mäßig lebhaft. 

In der groben Kraft der unteren Extremitäten keine deutliche 
Differenz, bei Bewegungen der linken unteren Extremität im Bette keine 
deutliche Ataxie. Beim Ro mb er gschen Versuch nur ganz leichtes Schwan¬ 
ken, beim Gehen keine wesentliche Störung; beim raschen Umdrehen 
besteht eine gewisse Neigung, nach links abzuweichen, Patellarsehnen- 
reflex und Achillessehnenreflex beiderseits gleich, beiderseits leichter 
Patellarklonus; Fußsohlenstreichreflex gleich, kein Babinski, kein Oppen¬ 
heim, Sensibilität der unteren Extremitäten und des Rumpfes ohne 
Störung. Die Augenspiegeluntersuchung ergibt jetzt den Befund einer 
regressiven Stauungspapille; rechts noch stärker erweiterte 
Venen, links beginnen die Konturen des Sehnerven deutlich hervor¬ 
zutreten; links drei kleine gelbe Herde in der Chorioidea. 

Da mit der Möglichkeit gerechnet werden mußte, daß die auf¬ 
fällige Besserung im subjektiven und objektiven Befunde — nur Ende 
Jänner 1911 hatten für kurze Zeit wieder mehr Kopfschmerzen und 
Erbrechen bestanden — mit der Jodmedikation im Zusammenhang stehe, 
wurde trotz der negativen Wassermannschen Reaktion anfangs Februar 
mit einer Quecksilberkur begonnen; die Patientin erhielt am 4., 6. und 
8 . Februar 1911 je 0*02 Hydrargyrum succinimidatum. Schon am 
6 . Februar wurde eine deutliche Verschlimmerung des Zustandes 
konstatiert, noch deutlicher am 8. Februar. Patientin wurde wieder schwer¬ 
besinnlich, es traten Kopfschmerzen, speziell im Hinterkopf, dabei leichte 
Klopfempfindlichkeit, Erbrechen auf, gelegentlich leichte Pulsverlangsamung. 
Es besteht keine deutliche Parese des rechten Abduzens, dagegen tritt 
beim Blick nach rechts Nystagmus auf. Die linke Pupille ist queroval, 
reagiert schlechter als die rechte. Die linksseitige Hemianopsie ist deutlich, 
die Parese des linken Mundfazialis etwas ausgesprochener, insbeson¬ 
dere bei mimischen Bewegungen. Auch in der linken oberen Extremität 


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Dr* Emil Redlich. 


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besteht eine gewisse Parese und leichte Ataxie. Starke Störung des 
Lagegefühls in den distalen Abschnitten, ebenso der Schmerzempfindung 
und der Lokalisation an der linken oberen Extremität. Beim Flanken¬ 
gang starkes Schleifen des linken Beines. Beim Stehen besteht Tendenz, 
nach links hinten zu fallen. Die Sehnenreflexe der linken oberen Extremi¬ 
tät sind etwas lebhafter, Patellarsehnenreflex >, links > rechts, Achilles¬ 
sehnenreflex >, links > rechts, links Fußklonus. Deutlicher linksseitiger 
Babinski. Die Sensibilität der linken unteren Extremität ohne wesentliche 
Störung. Am 10. Februar 1911 weitere Verschlimmerung des Zustandes; 
Patientin ist somnolent, es besteht häufiges Gähnen. 

Die Quecksilberinjektionen wurden zunächst ausgesetzt. Am 
13. Februar 1911 trat eine gewisse Besserung auf, am folgenden Tage 
aber wieder deutliche Verschlimmerung des Zustandes. Am 16., 18., 20., 
22. und 24. Februar 1911 erhielt Pat. je 0*02 Hydrargyrum succinimi- 
datum. 

Am 23. und 24. Februar 1911 ist Patientin schwer benommen, 
reagiert nicht auf Anruf, es besteht Erbrechen. Oberflächliche Respiration, 
die zeitweise durch tiefes Seufzen unterbrochen wird. Puls klein, wenig 
gespannt, Frequenz 60. Leise, aber reine Herztöne. Patientin nimmt 
passive Rückenlage ein. Bulbi leicht divergent, beide Pupillen etwas quer¬ 
oval, verzogen, die rechte weiter als die linke, beide Pupillen lichtstarr, 
die sympathische Reaktion beiderseits erhalten. Kornealreflex rechts 
links 0. Das Gesicht im ganzen schlaff, bei Verziehen des Gesichtes 
bei Schmerzreizen bleibt die linke Hälfte deutlich zurück. Die linke obere 
Extremität fällt erhoben schlaff nieder, in den Sehnenreflexen der oberen 
Extremitäten keine Differenz. Auf Nadelstiche reagiert Patientin beider¬ 
seits mit Schmerzäußerungen. Bauchdeckenreflex beiderseits 0. Deutliche 
Parese der linken unteren Extremität. Patellar- und Achillessehnenreflex 
links etwas lebhafter, links Andeutung von Patellar- und Fußklonus; 
Babinski beiderseits positiv, links > rechts. 

Am 24. und 25. Februar 1911 ist der Zustand der Patientin 
wenig verändert. Die Quecksilberinjektionen wurden ausgesetzt, Patientin 
erhielt wieder Jodnatrium 2 bis 3 g . 

Am 27. Februar 1911 ist Patientin psychisch wieder freier, sie 
gibt einige Auskünfte. Die Pupillen sind different, die linke leicht 
exzentrisch, queroval, bei erstmaliger Belichtung auf beiden Augen deut¬ 
liche Reaktion, die aber rasch erlischt. Nystagmus bei allen Blick¬ 
richtungen. Blickbewegungen nach rechts prompt, nach links erschwert, 
indem dabei das linke Auge zurückbleibt. Auch bei den anderen Blick¬ 
richtungen bleibt das linke Auge meist etwas zurück. Auch die Kon¬ 
vergenzbewegungen sind unvollständig. Noch deutliche Parese des linken 
Fazialis. Bewegungen der linken oberen Extremität im Schulter- und 
Ellbogengelenk möglich, jedoch in vermindertem Umfange, Handbewegun¬ 
gen, Schließen und Öffnen der Finger möglich, jedoch vollständig kraft¬ 
los. Lageempfindung im linken Schultergelenk gut, im linken Ellbogen 
herabgesetzt, in der linken Hand schwer geschädigt; beim Aufsuchen 


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Über Rückbildungserscheinungen bei Gehirngeschwülsten« 109 

derselben mit der rechten Hand (bei geschlossenen Augen) starkes Da¬ 
neben greifen, obwohl Patientin es versucht, die linke Hand der rechten 
entgegenzubringen. Passive Fingerbewegungen an der linken Hand werden 
nur mangelhaft perzipiert und falsch gedeutet. Die Empfindung für Be¬ 
rührungen und Nadelstiche an der linken oberen Extremität nicht deut¬ 
lich gestört, ebenso für Temperatur reize. In die linke Hand gelegte 
Gegenstände werden zum Teil erkannt (z. B. Portemonnaie, Schlüssel), 
zum Teil mangelhaft oder falsch (1 Krone = 20 Heller, Papier = 
Leder, Mantel = Leder). Die linke untere Extremität kann von der 
Unterlage gehoben und kurze Zeit in dieser Lage erhalten werden, sinkt 
dann langsam zurück. Streckung und Beugung im Hüftgelenk links 
kraftlos. Aufstehen und Gehen unmöglich. Patellarsehnenrefiex 
links > rechts, links Fußklonus, Achillessehnenrefiex links > rechts, 
kein Fußklonus, 0 Babinski, Bauchdeckenreflex links -}-, rechts 0. 

Im Laufe des März zeigt der Zustand der Patientin eine weitere 
Besserung, sie nimmt an den Vorgängen der Umgebung wieder teil. 
Ophthalmoskopisch (21. März): Rechts Stauungspapille in Rückbildung, 
Grenzen unscharf, nicht überhängend, die großen Gefäße ganz verdeckt; 
Papille weiß und von kleinen Gefäßen durchzogen, vergrößert, Niveau¬ 
differenz 2 D., in der Umgebung Streifung der Retina. Links die 
Stauungspapille fast ganz zurückgebildet, Grenzen etwas unscharf, Gefäße 
eng, Färbung ziemlich normal. Es läßt sich jetzt mittels Perimeter eine 
typische linksseitige, homonyme Hemianopsie nachweisen. Augenmuskel¬ 
störungen bis auf geringe Insuffizienz des rechten Abduzens geschwunden, 
beim Blick nach links noch Andeutung von Nystagmus. Die Pupillen 
gleich, reagieren prompt. Die Beweglichkeit der linken oberen Extremi¬ 
tät hat zugenommen, Dynamometer rechts 20 bis 23, links 4 bis 11. 
Patientin geht frei, aber etwas breitbeinig, beim Gehen mit geschlossenen 
Augen ist Patientin etwas zaghaft. Die Sehnenreflexe der linken unteren 
Extremität sind noch etwas lebhafter wie rechts 

Mitte April hat die Besserung Fortschritte gemacht. Patientin gibt 
sinngemäße Antworten, ist zeitlich und örtlich vollständig orientiert. 
Keine Klagen über Kopfschmerzen; Schädel nirgends perkussionsempfind¬ 
lich, Kopfbewegungen nach allen Richtungen frei. Pupillen gleich, mittel¬ 
weit, längsoval, auf Licht und Akkommodation prompt reagierend. Beim 
Blick nach rechts Andeutung von Nystagmus; die Augenbewegungen 
jetzt normal. Bei grober Prüfung am linken Auge noch leichte Ein¬ 
schränkung der linken Gesichtsfeldhälfte, am rechten Auge ist dies nicht 
nachweisbar. Im Gesichte nur beim Lachen leichte Differenz, sonst die 
Gesichtsinnervation frei, ebenso der sensible und motorische V. Komeal- 
reflex beiderseits wenig prompt. Die Zunge wird gerade vorgestreckt, 
frei beweglich, zeigt leichtes Zittern. Uvula steht nach links, Gaumen¬ 
reflex links nicht auszulösen, rechts prompt. Racheureflex beiderseits 
vorhanden. Der Händedruck rechts kräftiger wie links, sonst aber keine 
deutliche Herabsetzung der Beweglichkeit und Kraft links. Die Sensi¬ 
bilität der linken oberen Extremität auch für feinste Berührungen gut, 


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ebenso die Lokalisation und das Gefühl für passive Bewegungen, des¬ 
gleichen die Lageempfindung und Stereognose. Keine Ataxie der linken 
oberen Extremität. Sehnenreflexe der oberen Extremitäten ziemlich gleich. 
Die Rumpf- und Bauchmuskulatur ohne Störung, die oberen Bauchreflexe 
beiderseits auslösbar, die übrigen fehlen. Die Beweglichkeit der linken 
unteren Extremität im Bette ohne Störung. Beim Kniehacken versuch 
keine Ataxie. Der Gang etwas breitbeinig, beim Umdrehen leichtes 
Schwanken, der Oberkörper wird etwas vorgeneigt gehalten. Beim Gehen 
oder Stehen mit geschlossenen Augen etwas Schwanken und Zittern 
ohne deutliche Tendenz nach einer Seite zu fallen. Patellarreflex beider¬ 
seits lebhaft, links Patellarklonus, Achillessehnenreflex links eine Spur 
lebhafter wie rechts. Fußsohlenstreichreflex beiderseits vorhanden, kein 
Babinski. 

Mitte April 1911 wurde die Patientin nach Hause entlassen; sie 
fühlte sich wohl, hatte keine Kopfschmerzen, ging ihrer häuslichen Be¬ 
schäftigung in mäßigem Umfange nach. Am 21. Mai wurde sie von 
einem Automobil überfahren und umgeworfen. Seitdem klagte sie wieder 
über Kopfschmerzen und allgemeine Nervosität, gab auch an, sie sehe 
schlechter. Augenuntersuchung Ende Mai (Dozent Dr. Ulbrich) ergibt: 
rechts Grenze oben unscharf, aber auch sonst verwaschen, Venen nicht 
besonders weit, etwas geschlängelt, keine Niveaudifferenz; links Papille 
scharf begrenzt, etwas blasser, Gefäße enger, einige eingescheidet; unten 
eine weiße, dreieckige, die Gefäße überdeckende Stelle am Papillarrand 
(neuritisclie Atrophie). 

Am 18. November 1911 stellt sich Patientin wieder an der Klinik 
vor. Sie steht ihrer Wirtschaft vor, klagt aber, daß sie beim Gehen auf 
der Straße, oder wenn sie auf einen Sessel steige, Schwindel bekomme. 
Sie leide an Vergeßlichkeit, dagegen bestehen keine Kopfschmerzen, 
kein Erbrechen. Auffällig ist ein gewisses Zwangslachen. Schädel nicht 
perkussionsempfindlich, Augenbewegungen frei, kein Nystagmus. Die Pu¬ 
pillen gleich, auf Lichteinfall prompt reagierend. Leichte Parese des 
linken Mundfazialis beim Zungezeigen, nicht beim Lachen. Die grobe 
Kraft der oberen Extremitäten gleich. Bei Zielbewegungen links leichte 
Ataxie. Sehnenreflexe links eine Spur lebhafter, Hypästhesie und Hyp- 
algesie an der linken oberen Extremität, die Lokalisation von Nadelstichen 
links unsicher. Lagegefühl links etwas weniger sicher, Tastempfindung 
gut. Beim Gehen wird das linke Bein etwas unbeholfener aufgesetzt, die 
grobe Kraft des linken Beines nicht wesentlich herabgesetzt, Patellar¬ 
reflex eher rechts, Achillessehnenreflex links etwas lebhafter. Kein 
Babinski. 

Am 27. Jänner 1912 wurde Patientin neuerdings auf die Klinik 
aufgenommen. Sie gibt an, daß sie in der letzten Zeit Schwindel hatte, 
auf der Straße über alles erschrak, so daß sie nicht allein ausgehen 
konnte. Kein Erbrechen. Auch ihr Sehen sei wieder schlechter geworden. 
Es treten, insbesondere in der rechten Stirne, Kopfschmerzen auf, sie 
werde vergeßlich. 


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Über Rückbildungserscheinungen bei Gehirngeschwülsten. 111 

Patientin ist in ihrem Wesen gehemmt, verlangsamt. Sie spricht 
wenig, sitzt apathisch da. Sie kann die ihr von früher her bekannten 
Ärzte zum großen Teil mit Namen nennen. Zeitlich ist sie mangelhaft 
orientiert ; sie merkt nicht, daß die Klinik seit ihrem letzten Aufenthalt 
in andere Räume übergesiedelt ist. Der Schädel nicht perkussionsempfind¬ 
lich, hingegen sollen beim Husten in der rechten Stirne Schmerzen auf- 
treten. Die Pupillen gleich, reagieren auf Lichteinfall und Konvergenz, 
die linke vielleicht etwas träger. Augenbewegungen frei, kein Nystagmus. 
Am linken Auge scheint die linke Gesichtsfeldhälfte ausgefallen zu sein, 
am rechten Auge ist dies nicht deutlich. Fazialis ohne Differenz, Zunge 
weicht beim Vorstecken etwas nach links ab. Die Sensibilität im Bereiche 
des Gesichtes ohne Störung. Kornealreflex gleich. Das Schlucken ohne 
Störung, desgleichen die Sprache. Ohrbefund (Dozent Dr. Bdrdny): 
Trommelfell, Gehör beiderseits normal, kein spontaner Nystagmus, etwas 
Romberg, normale kalorische Erregbarkeit, beiderseits normale kräftige 
Zeige- und Fallreaktionen. Die motorische Kraft der linken oberen Ex¬ 
tremität normal, jedoch erfolgen feinere Handgriffe und rasch aufeinander¬ 
folgende Bewegungen hier etwas weniger geschickt wie rechts. Bei 
Zielbewegungen keine Ataxie. Sehnenreflexe der oberen Extremitäten 
gleich, lebhaft, Sensibilität der linken oberen Extremität nach jeder 
Richtung hin frei. Auch die Kraft der unteren Extremitäten, das Gehen 
ohne wesentliche Störung, der Patellarsehnenreflex rechts etwas lebhafter 
als links, der Achillessehnenreflex links > als rechts, Hautreflexe spur¬ 
weise rechts >. Kein Babinski. 

Am Hals eine derbe, walnußgroße Struma, alle Lappen betreffend; 
zu beiden Seiten derselben große harte Drüsen, sternale Dämpfung zirka 
zwei Querfinger nach abwärts. 

Im Laufe der nächsten Zeit wird Patientin vergeßlicher, apathischer. 
Sie ist zeitlich nicht orientiert, weiß ihre Wohnungsadresse nicht, erkennt 
aber dieselbe, als sie ihr genannt wird. Reihen, z. B. Vater unser, 
Wochentage, werden richtig aufgezählt. Die Monate des Jahres kann sie 
zunächst nicht aufzählen; erst als ihr der erste genannt wird, folgen 
die anderen automatisch richtig nach. Rückläufige Assoziationen (Monate, 
Tage rückwärts aufzählen) gelingen nicht. Merkworte sind nach drei 
Minuten schon vollständig vergessen. Bekannte Bilder von Personen und 
Lokalitäten werden zum Teil erkannt, zum Teil aber nicht. 

Die Wassermannsche Reaktion ist neuerdings negativ. Der Augen¬ 
spiegelbefund ergibt rechts Stauungspapille mit beträchtlicher Prominenz, 
keine Blutungen, beginnende bindegewebige Umwandlung, links Atrophia 
postneuritica (fast keine Arterien). Gesichtsfeldaufnahme ergibt am linken 
Auge nahezu komplettes Fehlen der linken Gesichtsfeldhälfte mit starker 
unregelmäßiger Einengung der erhaltenen rechten Gesichtsfeldhälfte, am 
rechten Auge unregelmäßige Gesichtsfeldeinengung beider Hälften. 

Der Röntgenbefund: Schädel von normaler Größe und Form, 
5 mm dick, Innenfläche eben, Basis normal konfiguriert, Sellalebne verkürzt. 

Die Struma nahm in allen Lappen rasch sehr beträchlich an 


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Dr. Emil Redlich. 


Größe zu, zu beiden Seiten derselben waren harte Drüsen zu fühlen, 
es trat schwere Atemnot auf. Der nervöse Zustand, soweit eine Unter¬ 
suchung möglich war, blieb unverändert. Unter Sufiokationserscheinungen 
starb die Patientin am 2. April 1912. 

Wir sehen also, daß sich bei der Kranken ziemlich rasch, 
beginnend mit psychischen Erscheinungen, vor allem Vergeßlichkeit, 
das volle klinische Bild eines Hirntumors entwickelt hatte. Von. 
Allgemeinerscheinungen bestanden auf der Höhe des Krankheits¬ 
hildes psychische Störungen, mangelhafte Orientierung, Vergeßlich¬ 
keit, Apathie, Verlangsamung der psychischen Leistungen, dann 
Kopfschmerz und Perkussionsempfindlichkeit des Schädels, Stauungs¬ 
papille, Erbrechen, Pulsverlangsamung. Von lokalen Symptomen 
kamen in Betracht: linksseitige Hemiparese, Hemianästhesie und 
linksseitige Hemianopsie, sowie rechtsseitige Abduzenslähmung. 
Während letztere wohl als Fern Wirkung aufzufassen war, wiesen die 
übrigen Erscheinungen auf den Sitz in der linken Hemisphäre hin, 
speziell auf den Scheitellappen und den Hinterhauptslappen. Eine zeit¬ 
weilig vorhandene, stärkere Ausprägung einer mimischen Fazialis¬ 
lähmung ließ uns auch an den rechten Thalamus opticus denken. 

Interessant waren gewisse Pupillenphänomene, die manchmal, 
und zwar zu Zeiten, wo die Druckerscheinungen sehr ausgesprochen 
waren, zu beobachten waren: abwechselnde Weite der Pupillen, 
Verzogensein derselben, exzentrische Lagerung, vorübergehende 
Lichtstarre oder rasche Erschöpfbarkeit der Lichtreaktion, Erschei¬ 
nungen, die in mancher Beziehung an die von Westphal, 
Meyer u. a. bei der Katatonie beobachteten Pupillenphänomene 
erinnern 1 ). Ich habe Gleiches kürzlich noch bei einem anderen 
Falle von Hirntumor (multiple Metastasen eines Karzinoms) gesehen. 
Ich wäre geneigt, diese Pupillenphänomene nicht etwa mit der vor¬ 
handenen Stauungspapille, respektive Optikusatrophie in Zusammen¬ 
hang zu bringen, sondern auf den erhöhten Hirndruck zurückzu¬ 
führen, denn in dem uns hier beschäftigenden Falle waren si.e nur 
zu Zeiten schweren Hirndrucks vorhanden, verschwanden mit der 
Besserung des Befindens und waren wieder zu schlechteren Zeiten 
nachweislich. Jedoch soll vorläufig von einem detaillierten Erklärungs¬ 
versuche abgesehen werden. 

Seit Dezember 1910 war, nachdem schon vorher die Intensität 

x ) Kürzlich hat Westphal Ähnliches auch in einem Falle von 
Migräne beobachtet (Deutsche medizinische Wochenschrift, 1912, Nr. 38). 


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Über Rückbildungserscheinungen bei Gehirngeschwülsten. 113 


der Symptome gewisse Schwankungen gezeigt hatte, eine zunehmende 
Besserung des Befindens unverkennbar; Patientin hatte in dieser 
Zeit täglich 2 g Jodnatrium erhalten. Für Lues lag kein Anhaltspunkt 
vor, auch die Wasser mann sehe Reaktion war negativ. Nichts¬ 
destoweniger versuchten wir zweimal eine Quecksilberkur (Injek¬ 
tionen von Hydrargyrum succinimidatum), mußten dieselbe aber 
rasch wieder abbrechen, da danach eine ganz unverkennbare Ver¬ 
schlechterung der Symptome auftrat. Da, wie wir sehen werden, 
Lues tatsächlich nicht vorlag, ist der Fall ein Beweis für die von 
Pötzl und Schüller schon erwähnte Möglichkeit, daß auch nicht¬ 
luetische Hirnprozesse auf Hydrargyrum eine Verschlechterung, etwa 
im Sinne von Hirnschwellungsvorgängen, zeigen können. 

Wir begannen also wieder mit der Jodmedikation, und der 
Zustand der Kranken besserte sich, freilich mit gewissen Schwan¬ 
kungen, in zunehmendem Maße; die Linksseitige Hemiparese ver¬ 
schwand, die Hemianästhesie und Hemianopsie waren nur in Besten 
nachweisbar, desgleichen der Kopfschmerz und die psychischen 
Erscheinungen, die Stauungspapille rechts war merklich gebessert, 
links leichte Atrophia nervi optici nachweislich. Die Kranke konnte 
nach Hause entlassen werden und konnte nahezu neun Monate, 
freilich in stark vermindertem Maße, ihrer häuslichen Beschäftigung 
wieder nachgehen. Jetzt aber stellten sich wieder Kopfschmerzen, 
leichte psychische Störungen, linksseitige Symptome in stärkerem 
Grade, sowie eine Akzentierung der Stauungspapille ein, die eine 
neuerliche Aufnahme der Kranken auf die Klinik notwendig 
machten. Inzwischen hatte sich bei der Kranken eine maligne 
Struma entwickelt, der sie nach drei Monaten, während welcher 
Zeit die zerebralen Symptome eine leichte Verschärfung aufwiesen, 
eineinhalb Jahre nach Beginn der cerebralen Symptome erlag. 

Bei der am 3. April durch Herrn Dr. Schopper vorge¬ 
nommenen Obduktion fand sich: Struma maligna mit sarkomatöser 
Entartung der Schilddrüsenlappen und besonders mächtiger Tumor¬ 
bildung im rechten Seitenlappen, substernale Metastasen in den 
beiderseitigen Hals- und mediastinalen Lymphdrüsen und im rechten 
Herzohr, sonst noch parenchymatöse Degeneration der inneren 
Organe. Durch das Gehirn wurde nur ein Frontalschnitt geführt; 
dabei fand sich ein ausgedehnter Herd anscheinender Erweichung 
im rechten Hemisphärenmark in der Gegend der Interparietalfurche. 
Ein kleinerer Herd fand sich in der lateralen Wand des linken 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. g 


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Mb Hei gehärtet; nnd nach Einbettung ui eine fortkitffta#• Serie 
verlegt die nach vürsclii e<lenen Methoden gefärbt'. wurde 3 ). 

. Drv lusto logische Befund soll im Mgimden in Kurze wieder- 
gegeben wintern 

fjOör die Ansdehnuiig des Hmles orlenriereii die Fig, 1 bi» 3^ die 
M^r^scbeideHSr^bg^;. bmsprecdisru £fer ttetd hat s$mc itea- 

dehimng im rechten 'Ämterbau-pisiappco, respektive im ("bergarig vorn 
'Hinterhaüptsi^pe'a .ÄUm- S^heUeliappv-rj; ' hi Fig* 1 z. B, nimmt er. den 


•] Durch eio tml]ebs;V!>*es Versehen hi es Würdet» 

Präparate, ; 0 fc y:;-. 


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größten Ter» des. .fto&gj&len Matldüger^ «ito/Pie Rmdc ist erhalten, 

mk* auch boö U ein Teil de* ihr »nereü^erukn Martlagere, nnnäcsteuB 
die U-R^ern--, uiir an dner Stedie reicht der Hord bis" an- »j/e Bincte 
-selbst- Von d» 2 ?i das Hihtorhoni ningranäimrica ( iVbirkl^gem' i&t; die 
Balken faset iing 5 das Tape tum, zürn Teil ui den Herd embezogen, wobei 
aber meist uoch einzelne erhaiteüe Inseln .von Miirhbisern m halten ge- 
blieben smA\ Hier reicht der Herd bis nahe an den VentxIkdV selbst 
ferfin. Das Stratum sngittale mediale ist gleJchfaHb "•stark beteiligt. 


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während das Stratum aagittale ktevalc recht gut erlmUou bvt% imt at-iii« 
domlen Anteile enden scharf abges^hni.Uen aut Herd»:. Ditiior &*»fcreekt. 
öici» nach außen, von erstätstifitioek stark basal nv daä MndHageiv £Um Teil 
bis nabe an die Rinde . hcraureicbemi. In dem m der linken Hetnmjdiftie 
l^genOo Ariteiie de* Spierimm^ cdTpprk ep-Umd findet Ach Pp Zm-dTVim eine 
«leutüßbc‘ Auflißllm-ig,. die, \\io Big. h k fceigr, oval tfärtfr di neu groben .Teil des 
tjp^iurn corporis ca) !u*i einnirönit und h itfeb.tffchebv>?«isa w» mo jh <m t£ ü• it dem 
jjpßmi Herde im Mh.rklägm* der rechten HetDisphiinv ^tPhf/lm übrigen bat hier 
der Herd schon etwas n« Umfang e.mgebiili't, hoKrhrdukt sich im wesoftt- 
behea auf das dorsale Markt pger. erstreckt sieh aber mit einem zunächst 


Original frei 
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um$m M&m 


über breiter SFerdebdenÄüteite w^yli uaßen vom Stratum 
önglttalü laterale im. Marklagejr basatwärtß, atfro TMl wieder bis an die 
Siüde h er a n r e ickeutL fite itfektioii dfe t 80 1 Muschiebte ist ähiijicb v?ie 
früher,, (je^ücfeieiü üir ueö Stratum «igittal? mediale und laterale* 
Ersterb ist Im vontraUm Aü teile deutlich, ivafgehcdlt, ähnlich übrigens 
auch te der linken Hwdsph&re, Im ScheiteHappen selbst, ist der H>>rd 
weitem atark .ve'd>r/ f ierU Nur ini .ddrbatenvlatftratete Anteile des' Marke, 
fi H*i*a steh (Fig. 3 ) der MadcftYesnv gaits entbehrende Stellte«*. jfjftr&nd* 


basalwftrte davon das Mark nur eufgeheiH ist, Die Balkeusehichtö ist 
te*Äer arimkan ; beafigüeh fies .Stratum sngittaie nrediate gehen die früher 
erwähnten y^i ; liültikse> während das Strafum ^agittaie laterale in seinem 
dorsalen Anteite allmählich in die Aufhellung ‘ ikicrgelit. Der Herd 
in» Sptehuun oorpuri* callosi emmkt meh tovh .roim* kenntHch an 
ehmr iieHmu Färbung mir Verbreiterung • luid. Vw iictöehiu*# der Fmni» 
#cteciitel, Eii» kleiner Herd findet öicb uu det Ute* utetv (Jun^udiiDg d-as 
linken ■ Unterhorns. iro auch die Aufhebung des Stratum sagittale medi&te 
rijUeh deutiieh Weiter oralwärts verliert sieh 

An atidereu SteHen äJ* 4<?» erwiihiiLten jaiml deutliche patho- 
lo^sc-W--Veränderungen . nicht rmchweisbar. l>er rechte SeUen Ventrikel 


I 






Über Rückbildungserscheinungen bei Gehirngeschwülsten. 117 

ist stark erweitert, die Konfiguration der rechten Hemisphäre dadurch 
etwas verschoben, aber andere Schwellungs-und Verdrängungserscheinungen 
speziell der Mittellinie usw., fehlen. 

Die histologische Zusammensetzung des Herdes ist an ver- , 
schiedenen Partien eine verschiedene. Als Prototyp und wesentlich können 
wir etwa die Verhältnisse nach Tafel I, Fig. 1 nehmen. Wir sehen hier, daß 
das Gewebe im wesentlichen zusammengesetzt ist aus Gliazellen und Glia¬ 
fasern. Neben halbwegs normalen Gliazellen finden wir insbesondere 
gro&e Zellen, zum Teil von extremer Größe und unregelmäßiger Form, 
zum Teil an Storchs 1 ) Monstre-Gliazellen oder an Sanos 2 ) groteske 
Zellformen erinnernd, oder Zellen, die man als fiaschenförmig bezeichnen 
könnte. Ganz vereinzelt gibt es an Stäbchenzellen erinnernde Gliazellen, 
wie sie auch Sano beschreibt. Das Protoplasma der großen Zellen 
ist homogen; ihr Kern ist groß, hell, rundlich oder noch häufiger 
oblong, unregelmäßig, seine Membran scharf ausgeprägt, er enthält 
kleinste Körnchen, daneben meist ein oder zwei größere, dunkelgefärbte 
Körnchen. Der Kern liegt meist an die Peripherie gerückt, in nicht 
wenigen Zellen sieht man auch zwei, selbst mehrere Kerne, meist von 
verschiedener Größe, nirgends ist Karyokinese zu sehen. Diese Glia¬ 
zellen sind gegen die Umgebung scharf abgegrenzt, stellen geschlossene 
Gebilde dar, wie sich auch am Mallory -Präparat zeigt. Syncitiale 
Bildungen, amöboide Gliazellen größeren Kalibers fehlen im allgemeinen, 
nur ganz vereinzelt gibt es letztere in kleineren Exemplaren. Die er¬ 
wähnten großen Zellen haben meist reichliche Fortsätze, die zum Teil 
sehr grob sind, zum Teil aber feinere und feinste Fasern darstellen. 
Es handelt sich hier, wie die Weigertsche Gliafärbung zeigt, um typische 
Gliafasern (Tafel I, Fig. 2), wobei die Fasern sich deutlich vom Proto¬ 
plasmaleib abheben. Die Gliazellen liegen stellenweise ganz dicht aneinander 
gedrängt, so daß sic sich förmlich gegeneinander drängen und kaum 
Platz für Fasern übrigbleibt. An anderen Stellen ist aber der Zwischen¬ 
raum zwischen den Zellen ein größerer, so daß hier ein dichtes Glia¬ 
fasernetz sich etabliert, dessen Fasern teils parallel nebeneinander ver¬ 
laufen, teils aber ein mehr minder weites Maschenwerk bilden, respektive 
sich unregelmäßig durchflechten. 

In einzelnen Partien finden sich zwischen den geschilderten glio- 
matösen Strukturen kleinere und etwas größere Anhäufungen von Zellen, 
die ihrer Struktur nach als Lymphocyten zu bezeichnen sind, teils um 
Gefäße gruppiert, teils auch im Gewebe verstreut, wie dies Tafel II, Fig. 3 
zeigt. An solchen Stellen sind auch vereinzelt anscheinend frische,* kapillare 


2 ) Storch, Über die pathologisch - anatomischen Vorgänge im 
Stützgerüst des Zentralnervensystems. Virchows Archiv, Bd. 157, 
pag. 127, 1899. 

2 ) Sano, Beiträge zur Kenntnis des Baues der Hirngliome mit 
Berücksichtigung der Zellformen. Arbeiten aus dem Wiener neurologischen 
Institute, Bd. 17, pag. 159, 1909. 


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Dr. Emil Redlich. 


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Blutungen zu sehen. In manchen Partien, z. B. den Anteilen des Herdes 
im Splenium corporis callosi, zwischen den Fornixschenkeln ist dieLympho- 
cytenanhäufung eine besonders reichliche und verbreitete, während der oben 
erwähnte kleine Herd an der basalen lateralen Umrandung des linken 
Seitenhorns bloß aus ihnen, ohne Bildung gliomatösen Gewebes, besteht. 

An anderen Stellen des Herdes, insbesondere gegen die Peripherie 
desselben und im Übergange zur Rinde, finden sich aber im gliomatösen 
Gewebe, das dadurch zu mehr minder breiten Balken reduziert erscheint, 
zahllose kleinste Herde eingestreut, in denen regressive Vorgänge 
Platz gegriffen haben. Ein nach Marchi gefärbtes, dann mit Eosin nach¬ 
gefärbtes Präparat (Tafel III, Fig. 4) zeigt zwischen den gliomatösen 
Balken (Gl) schwarze Inseln (F), die aus Fetttröpfchen und Schollen und 
Fettkristallen bestehen. 

Van Gieson- (Tafel III, Fig. 5) und Mallory -Präparate zeigen, 
daß diese Inseln meist von typischen Gitterzellen ausgefüllt sind; sie haben 
eine rundliche oder eckige, respektive unregelmäßige Form, erreichen 
mitunter eine beträchtliche Größe, können an epitheloide Zellen erinnern, 
haben einen kleinen unregelmäßigen, polyedriseben, mitunter exzentrisch 
gelegenen Kern oder auch deren zwei; ihr Protoplasma ist leicht gekörnt 
oder hat ein wabenförmiges, vakuoläres Aussehen. An einzelnen Stellen 
finden sich Blutkristalle, respektive Zellen, die solche enthalten. Überall 
ist es deutlich, daß das Maschenwerk dieser Lücken aus dem oben 
geschilderten gliomatösen Gewebe, den großen Gliazellen und den Glia¬ 
fasern, besteht. Deutliche Übergänge zwischen den Gliazellen und den 
Gitterzellen fehlen im allgemeinen, jedoch sieht man, insbesondere 
am M a 11 o ry - Präparat, einzelne Gliazellen, als solche noch kenntlich 
durch die Fortsätze und einen etwas dunkleren, zentralen Anteil, die 
sonst aber wabenartig von Vakuolen erfüllt sind. An der Peripherie 
des Herdes, insbesondere gegen die Rinde, sind diese Inseln, die sonst 
unregelmäßig verteilt sind, wie schon erwähnt, am reichlichsten, hier 
können sie auch etwas größeren Umfang gewinnen, respektive hier finden 
sich größere Lücken, die nicht mehr von Gitterzellen erfüllt sind, aber 
noch immer von Glia oder gliomatosem Gewebe abgegrenzt sind. Durch 
einzelne größeren Lücken ziehen Gefäße hindurch, eine Bindegewebs- 
umrandung ist aber auch hier nicht oder nur ganz vereinzelt zu sehen. 
Der Übergang des veränderten Gewebes in das gesunde geschieht meist 
in der Weise, daß letzteres lockerer wird, die Gliazellen eine unregel¬ 
mäßige Gestalt bekommen, ihr Protoplasmaleib größer wird, einzelne 
Zellen erinnern dann an Spinnenzellen, andere wieder an amöboide Zellen, 
das gliöse Netz wird derber und dichter, und so entsteht allmählich das 
oben geschilderte gliomatöse Gewebe. An der Übergangsstelle des letzteren 
zum gesunden, zum Teil auch noch tiefer in demselben, finden sich 
vereinzelte, teilweise unregelmäßige Markscheiden, die aber im Zentrum 
des Herdes gänzlich fehlen. 

Die Rinde selbst über den veränderten Partien ist relativ gut er¬ 
halten, die Struktur der Ganglienzellen zwar leicht alteriert, sie selbst 


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Uber Rückbildungserschemungen bei Gehirngeschwülsten. 119 

aber erhalten, ihre Zahl nicht wesentlich vermindert; um einzelne Gan¬ 
glienzellen finden sich spärliche Trabant zellen, die sich auch sonst im 
Gewebe, vereinzelt in kleinen Häufchen, finden; Plasmazellen fehlen. Die 
Gefäße selbst, speziell die größeren der Pia, zum Teil auch in den Stamm¬ 
ganglien, in der Medulla oblongata sind in ihrer Wanduug leicht verdickt, 
dabei aber ihre Struktur gut erhalten, ohne auffällige hyaline Umwandlung. 
Veränderungen, die einer Endarteriitis luetica oder ausgesprochenen 
atheromatösen Veränderungen entsprechen würden, fehlen, desgleichen 
Thrombenbildung, nur ist vielfach eine deutliche Hyperämie mit Er¬ 
weiterung der Gefäße, auch der kleinsten, speziell in der Rinde 
deutlich. 

Im Herde selbst sind die Gefäße, wie schon erwähnt, stellenweise 
von Lymphocyten umscheidet. Des Öfteren sieht man, insbesondere 
deutlich ist dies an Längsschnitten, den adventitiellen Raum erweitert, 
von roten Blutkörperchen und Abraumzellen ausgefüllt. 

Im Parietal- und Hinterhauptslappen, entsprechend dem Herde, über 
der, wie wir gesehen haben, relativ wenig veränderten Rinde zeigt auch 
die Pia stellenweise schwere Veränderungen, die sich, wenn auch in 
abgeschwächter Form, noch in die einzelnen Sulci verfolgen lassen. 
Die Pia ist hier stark verdickt, dort, wo sie die Sulci überbrückt, in 
ganz besonders hohem Maße. Sie besteht aus dichten, zum großen Teil 
parallelen, zum Teil aber sich durchflechtenden Bindegewebsbalken, die 
relativ wenige Zellen enthalten, stellenweise aber größere Lücken lassen, 
in denen einzelne Zellen, von denen manche mehrkernig sind, liegen. 
Der subpiale Raum ist frei. Der Nervus opticus erweist sich auf beiden 
Seiten in seinen peripheren Partien an Fasern verarmt; hier ist das 
Gliagewebe verdickt, das perineurale und endoneurale Bindegewebe 
leicht vermehrt, stellenweise etwas kernreicher. 

Die Deutung des kurz skizzierten histologischen Bildes ist 
nicht leicht. Wir finden als progressiv zu bezeichnende Ver¬ 
änderungen der gliösen Elemente, die zur Bildung großer, unregel¬ 
mäßiger, zum Teil sehr dicht aneinander liegender Zellen führen, 
andererseits eine reichliche Gliafaserproduktion bedingen. Während 
der Hauptanteil des geschilderten umfangreichen Herdes in dieser 
Weise zusammengesetzt ist, finden wir daneben, respektive da¬ 
zwischen verstreut zahllose, kleinste, regressive Herde, die mit 
Bildung von Gitterzellen und Fetttröpfchen einhergehen, respektive 
nach Resorption dieser Gebilde kleinste, vereinzelt auch größere 
Lücken hinterlassen. Endlich finden sich infiltrative Vorgänge, 
Lymphocvtenanhäufungen um die Gefäße und im Gewebe, meist 
auch hier zwischen dem gewucherten gliösen Gewebe. Wie sind 
nun die genannten Veränderungen zu charakterisieren und in 
welchem Verhältnis stehen sie zueinander? 


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Man wird nicht fehlgehen, wenn man die von uns als 
progressiv bezeichneten Veränderungen als das Primäre ansieht? 
in denen regressive Veränderungen erst sekundär Platz gegriffen 
haben. Darauf weist zunächst der klinische Befund hin, der in all¬ 
mählich steigender Progression immer schwerere Erscheinungen 
brachte und zu dem vollen klinischen Bilde des Hirntumors sich 
entwickelte, worauf dann wieder allmählich Rückgang der Symptome 
bis auf einen kleinen Rest sich einstellte. Erst in der allerletzten 
Zeit zeigte sich eine neuerliche Verschlimmerung. Für die gemachte, 
Annahme spricht meines Erachtens auch der histologische Befund 
indem die Umrandung der einzelnen Lücken schon das von uns 
als gliomatös bezeichnete Gewebe in voller Ausbildung zeigt, 
während eine sekundäre Entwicklung desselben, etwa als Reaktion 
auf die Erweichungsherde, doch einen allmählichen Übergang zeigen 
müßte; ein solcher ist aber nur gegenüber den gesunden Partien 
nachweisbar. Die lymphocytären Infiltrate, die auch histologisch die 
Charaktere rezenter Bildung zeigen, dürften wohl erst in der aller¬ 
letzten Zeit aufgetreten sein; die Annahme, daß sie mit der letal 
wirkenden Erkrankung, der sarkomatösen Entartung der Schild¬ 
drüse, einen Zusammenhang haben, liegt nahe, läßt sich aber meines 
Erachtens nicht mit Sicherheit feststellen. 

Wohin aber können wir den histologischen Prozeß, der in 
unserem Falle vor liegt, einreihen? Daß es sich um eine Enze¬ 
phalitis im engeren Sinne handelt, läßt sich wohl, wie ich nicht 
näher auseinandersetzen will, ausschließen. Abgesehen von den be¬ 
schriebenen histologischen Besonderheiten spricht dagegen, daß wir 
nirgends Plasmazelleninfiltrate finden, die Gefäße auch alle eigent¬ 
lich als entzündlich zu bezeichnenden Veränderungen vermissen 
lassen. Näher steht der Prozeß der sogenannten akuten mul¬ 
tiplen Sklerose, die Marburg 1 ) vor einigen Jahren zum 
Gegenstand einer eingehenden klinischen und anatomischen Studie 
gemacht hat. Denn auch hier gibt es Fälle, die klinisch unter dem 
Bilde des Tumor cerebri verlaufen können oder wenigstens an diesen 

x ) Marburg, Die sogenannte akute multiple Sklerose. Jahrbücher 
für Psychiatrie, Bd. 27, pag. 211, 1906; siehe auch dessen Aufsatz 
über die multiple Sklerose in Lcwandowskys Handbuch der Neuro¬ 
logie, Bd. 2; dann die Arbeit von Völsch, Ein Fall von akuter mul¬ 
tipler Sklerose. Monatsschrift für Psychiatrie, Bd. 23, pag. 111, 190S, 
Wohl will u. a. 


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Über Rückbildungserscheinungen bei Gehirngeschwülsten. 121 

erinnern; auch Regression der Erscheinungen ist nicht selten. Gegen 
die Annahme einer akuten multiplen Sklerose spricht aber meines 
Erachtens der Umstand, daß in unserem Falle ein einziger Herd 
gefunden wurde, während bei der multiplen Sklerose doch stets 
mehrere oder zahlreiche Herde sich finden. Selbst wenn mehrere 
Herde konfluieren, erreichen sie nicht die Ausdehnung des in 
unserem Falle Vorgefundenen. In histologischer Beziehung gibt es 
zwar manche Übereinstimmung zwischen den Befunden hei der 
akuten multiplen Sklerose und in unserem Falle; doch sind, glaube 
ich, die Differenzen überwiegend. Eine solche Anhäufung großer 
Gliazellen, wie wir sie in unserem Fall im größten Anteile des 
Herdes nachgewiesen haben, fehlt hei der akuten multiplen Sklerose, 
ebenso die ungemein zahlreichen Erweichungsherde in schroffem 
Übergange zu gliomatös veränderten Partien. Auch sind bei der 
akuten multiplen Sklerose mitunter neben den akuten Veränderungen, 
manchmal im Zentrum eines Herdes, mehr der typischen multiplen 
Sklerose entsprechende histologische Veränderungen zu sehen, was 
in unserem Falle vermißt wird. Es ist, wie schon erwähnt worden, 
unterlassen worden, in unserem Falle zu untersuchen, ob sich durch 
die Bielscho wskysche Methode persistente Achsenzylinder nach- 
weisen lassen, wie es der multiplen Sklerose zukommen würde. 
Der Befund an anders behandelten Präparaten spricht zwar gegen 
das Vorhandensein solcher, doch hat dies selbstverständlich keinen 
beweisenden Wert. 

Am nächsten steht unser Fall jedenfalls einem kürzlich von 
Schilder 1 ) klinisch und anatomisch eingehend beschriebenen Falle, 
den er mit einzelnen Fällen der Literatur (Rossolymo, Ceni, 
Beneke, Haberfeld und Spieler) aus dem Bilde der diffusen 
Sklerose als eine eigenartige Krankheit heraushebt und als Ence¬ 
phalitis periaxialis diffusa zu bezeichnen vorschlägt. Sein 
Fall verlief, wie der von Ceni und wie der unsrige, unter dem 
Bilde des Hirntumors. Bei der Obduktion fanden sich nun im Gehirn 
sehr ausgedehnte, aber zusammenhängende Veränderungen in beiden 
Hemisphären, die stellenweise den größten Teil des Marks, z. B. 
der linken Hemisphäre, den Balken usw., einnahmen. Die Rinde 
ist, wie bei uns, auch bei Schilders Fall mit Ausnahme einer 


J ) Schilder, Zur Klinik der sogenannten diffusen Sklerose. Zeit¬ 
schrift für die gesamte Neurologie, Orig.-Bd. 10, 1912 und 1913. 


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kleinen Partie der rechten Mantelkante verschont, außer ihr an 
manchen Partien noch ein Rest der U-förmigen Assoziationsfasem. 
Auch in histologischer Beziehung sind viele Ähnlichkeiten unseres 
Falles mit dem Schilder sehen nachzuweisen. Darunter möchte 
ich besonders hervorheben, daß sich auch hier zahlreiche große 
Gliazellen finden, die in vieler Beziehung an die von uns beschrie¬ 
benen erinnern, dann den Schwund der Markscheiden, das Auf¬ 
treten von zahlreichen größeren und kleinen Lücken, die von Glia 
eingescheidet und von Gitterzellen ausgefüllt sind, die Infiltration 
der Gefäßscheiden mit Gitterzellen, während schwere, direkt ent¬ 
zündliche Veränderungen der Gefäßwand selbst fehlen, und vieles 
andere. 

Freilich gibt es auch Differenzen. Zunächst im klinischen 
Bilde. Der Fall Schilders betrifft ein 14jähriges Mädchen; auch 
die anderen von Schilder herangezogenen Fälle (Rossolymo 
16 Jahre, Ceni 9 Jahre, Beneke l */4 Jahre, Haberfeld und 
Spieler 7 Jahre) sind jugendliche, respektive kindliche Individuen, 
unser Fall eine 41jährige Frau. Doch würde ich diesem Umstande 
keine ausschließende Bedeutung zuschreiben, auch nicht den anderen 
klinischen Differenzen, die sich einerseits aus der anatomischen 
Ausbreitung des Herdes — in unserem Falle im wesentlichen eine, 
bei Schilder beide Hemisphären betreffend —, andererseits aus 
dem Verlaufe, der bei Schilder subakut innerhalb 4’/ 3 Monaten 
zum Exitus führte, während in unserem Falle das Leiden wesentlich 
länger dauerte, der Exitus durch eine Komplikation herbeigeführt 
wurde, erklären. Diese längere Dauer unseres Falles bewirkte wohl 
auch eine andere, wesentlichere Differenz im klinischen Bild. 
Während Schilder für die von ihm abgegrenzten Fälle angibt, 
daß der Verlauf nur wenig zu Remissionen neige, sind gerade diese 
das Auffälligste in unserem Falle. Es ist dies durch die ausge¬ 
dehnten und intensiven regressiven Veränderungen bedingt, die weit 
über das von Schilder Beschriebene hinausgehen. Das Gesagte 
würde aber doch nur Modifikationen des von Schilder gewiß nur 
provisorisch zusammengefaßten Krankheitsbildes bedingen. Übrigens 
gibt es auch in histologischer Beziehung gewisse Differenzen. Der 
Herd in unserem Falle hat nicht die scharfen Grenzen, wie sie 
Schilder angibt; die Gliazellen in unserem Falle sind noch 
größer, plumper, schärfer abgegrenzt, ich möchte sagen, starrer, 
als bei Schilder; sie stehen ganz besonders dicht. Vor 


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Über Rückbildungserscheinungen bei Gehirngeschwülsten. 123 

allem ist die Gliafaserproduktion in unserem Falle eine sehr 
auffällige und reichliche, während Schilder angibt, daß sie sich 
in seinem Falle in mäßigen Grenzen halte. Die Lücken in meinem 
Falle sind viel zahlreicher/größer als bei Schilder, vor allem 
ist ihre Umrandung von großen Gliazellen und reichen Gliafasern 
gebildet, in dieser Beziehung z. B. an einen von Merzbacher 
und Uyeda 1 ) beschriebenen Fall erinnernd. Bezüglich der Achsen¬ 
zylinder, die bei Schilder in reicher Zahl erhalten geblieben sind, 
muß ich auf das oben Gesagte verweisen. Andererseits fehlen bei 
Schilder die ausgedehnten lymphocytären Infiltrate; aber das 
kann in meinem Falle sekundär sein. 

Im großen ganzen habe ich den Eindruck, daß mein Fall dem 
Gliom, speziell dem diffusen Gliom, noch etwas näher stehe als der 
von Schilder, der übrigens selbst seinen Befund zuerst dem Gliom 
anreihte, von einer solchen Annahme nach genauem Studium aber 
abkam. Ceni, dessen Fall Schilder heranzieht, bezeichnete seinen 
Fall als Gliom, Rossolymo erörtert ausführlich die Differential¬ 
diagnose der von ihm gefundenen Veränderungen gegenüber dem 
Gliom. Freilich weicht der Befund auch in meinem Falle, wie 
leicht ersichtlich, recht beträchtlich von dem typischen Gliom ab. 
Ich kann diesbezüglich außer auf die Ausführungen von Schilder 
noch auf Banke 3 ), Stumpf 3 ) u. a. verweisen. Schon makro¬ 
skopisch ist auffällig, daß Verdrängungserscheinungen im wesent¬ 
lichen fehlen; auch histologisch gibt es vielfache Abweichungen. 

Fälle, wie der von mir eben beschriebene, lassen es begreiflich 
erscheinen, wenn Merzbacher meint, daß die Grenzen zwischen 
Gliom und Gliose nicht immer scharfe sind. Ich will es vorläufig 
unterlassen, eine endgültige Entscheidung über die Zugehörigkeit 
meines Falles zum Gliom oder zu der von Schilder beschriebenen 
Gruppe von Erkrankungen des Gehirns zu treffen. Weiteres klini¬ 
sches und anatomisches Material dürfte später eine Entscheidung 
zu treffen gestatten, ob es sich hier tatsächlich um eine eigenartige 

*) Merzbacher und Uyeda: Das reaktive Gliom und die re¬ 
aktive Gliose. Zeitschrift für die gesamte Neurologie, Orig. Bd. 1, 
pag. 285, 1910. 

2 ) Ranke, Histologisches zur Gliomfrage. Zeitschrift für die ge¬ 
samte Neurologie, Orig. Bd. 5, pag. 690, 1911. 

3 ) Stumpf, Histologische Beiträge zur Kenntnis des Glioms. 
Zieglers Beiträge, Bd. 51, pag. 1, 1911. 


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Dr. Emil Redlich. 


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Erkrankung handelt. Heute betrachte ich meine Arbeit in erster 
Linie als kasuistischen Beitrag zur Kenntnis der histologischen Ver¬ 
änderungen in Fällen, wo klinisch das Bild des Hirntumors eine 
weitgehende Rückbildung zeigte. In dieser Hinsicht werden wir die 
regressiven histologischen Vorgänge, die zeitlich mit der Anwendung 
der Jodtherapie zusammenfallen, vor allem für das Zurücktreten 
der schweren Allgemeinerscheinungen heranziehen können. Bei den 
Herderscheinungen dürfte es sich zum Teil um Nachbarschafts¬ 
symptome, respektive um Druckwirkung gehandelt haben. Ein 
kleiner Teil von ihnen ist ja nie ganz verschwunden; er entspricht, 
den direkt betroffenen Partien, so daß wir von der Annahme einer 
funktionellen Leistungsmöglichkeit der schwerst veränderten Stellen 
absehen können. 


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Aus der psychiatrischen Klinik in Wien. 
(Hofrat Prof. v. Wagner.) 


Über die Einwirkung politischer Ereignisse auf 
psychische Krankheitsbilder. 

Von 

Carl Grosz und Martin Pappenheim. 

Die Fälle, die im folgenden kurz mitgeteilt werden, betreffen 
Psychosen, die in ihrem Inhalte mehr oder minder stark von den 
Wirkungen der kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan beeinflußt 
waren. Sie kamen der Mehrzahl nach in den Novemberwochen des 
vergangenen Jahres an der Wiener Psychiatrischen Klinik zur Be¬ 
obachtung, als durch Zeitungsnachrichten über eine bevorstehende 
Mobilisierung, durch tatsächlich erfolgte Einberufungen usw. in 
weiteren Kreisen der Bevölkerung eine gewisse Kriegsfurcht Platz 
gegriffen hatte. 

Überden Einfluß von Kriegen mit ihren Schädlichkeiten 
mannigfacher Art — körperliche Strapazen, Infektionskrankheiten, 
psychische Alterationen — und von bedeutenden innerpoli¬ 
tischen Ereignissen auf das Zustandekommen von Psy¬ 
chosen existiert eine Reihe von Arbeiten. Soweit sie sich auf 
Kriegspsychosen beziehen, stammen sie zum Teil schon aus der 
Zeit der Kriege von 1866 und 1870/71. 

Arndt faßt seine Erfahrungen aus jener Zeit dahin zusammen, 
daß „die größte Mehrzahl der Störungen sich erst nach dem Krieg 
entwickle“, und findet unter seinen Fällen auffallend viele Para¬ 
lysen. Nasse kann, entgegen der allgemein verbreiteten Ansicht, 
nicht finden, daß der Krieg eine nachweisliche Vermehrung des 
Irreseins nach sich ziehe. Dagegen will er eine „spezifische Wirkung“ 
des Deutsch-Französischen Krieges darin erblicken, daß die im 
Anschlüsse an ihn aufgetretenen Psychosen in eine „auffallende 
psychische Schwäche“ ausliefen. (Von den 14 von ihm mitgeteilten 


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Carl Grosz und Martin Pappenheim. 

Fällen, die sich erst nach dem Krieg entwickelten, sind nach 
unserer Auffassung 12 Verblödungspsychosen — darunter wenigstens 
drei Paralysen; in zwei Fällen erschien uns die Diagnose — 
heilbare oder Verblödungspsychose? — fraglich.) 

Nasses Ansicht gegenüber betont Jolly, dessen Material 
sich größtenteils auf im Kriege selbst entstandene Psychosen bezieht, 
deren vorwiegend günstigen Verlauf. 

Aus den psychiatrischen Arbeiten, die sich mit dem Russisch- 
Japanischen Kriege befassen, ist zu erwähnen, daß — ab¬ 
gesehen von der Häufigkeit alkoholischer, epileptischer und para¬ 
lytischer Geistesstörungen, deren Zusammenhang mit dem Kriege 
jedenfalls nur ein indirekter ist — eine Reihe von Psychosen ver¬ 
schiedener Art zur Beobachtung kam, die als mit der Schädlichkeit 
des Krieges ursächlich zusammenhängend betrachtet werden. 

Schumkow erwähnt hysterische Erregungs-, Angst- und 
Dämmerzustände, Krampfanfälle, Aphonie usw., die oft plötzlich 
unter dem unmittelbaren Einflüsse der Schlacht auftraten. Awto- 
kratow schildert „neurasthenische Psychosen“ mit Kopfschmerzen, 
Schlaf- und Appetitstörungen, gedrückter Stimmung, bis zu Selbst¬ 
mordgedanken sich steigernder Bangigkeit, Weinen, Abgeschlagenheit, 
Apathie, Leistungsunfähigkeit, Geräuschempfindlichkeit; bei der 
Mehrzahl fanden sich auch Zwangsideen und auf den Krieg bezügliche 
Sinnestäuschungen, denen manche Kranke kritisch gegenüber¬ 
standen. Als besonders charakteristisch gelten ängstlich-melancholische 
Zustandsbilder, wie sie Suchanoff beschreibt. Schaikewitz 
sieht in einer „Amentia depressivo-stuporosa“ die Kriegspsychose kat' 
exochen. 

Der Einfluß innerpolitischer Ereignisse auf das Zustande¬ 
kommen von Psychosen wurde in früheren Jahrzehnten verschieden 
gewertet. Nasse spricht den politischen Ereignissen jeden Einfluß 
auf die Vermehrung der geistigen Störungen ab und erklärt, daß 
über die „folie politique“ der Franzosen „der Stab gebrochen“ sei. 
Damerow mißt den Märzereignissen des Jahres 1848 zwar eine 
Bedeutung für die Entstehung von Geisteskrankheiten zu, kann 
aber eine solche — wie er meint, aus lokalen Gründen — an 
seinem Material nicht feststellen. Die Zahl der Aufnahmen in seine 
Anstalt habe sich infolge der Einflüsse des Jahres 1848 nicht ge¬ 
steigert ; unter 107 Aufnahmen hätten sich höchstens vier befunden, 
„bei welchen der Einfluß der politischen Zustände in den Ursachen 


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Über die Einwirkung politischer Ereignisse usw. 127 

und Erscheinungen der psychischen Krankheiten zu erkennen war 

— und alle vier waren schon früher seelenkrank gewesen.“ . . . 
„Die Ursache der Krankheiten war keineswegs eine wesentlich 
politische.“ . . . „In den meisten Fällen waren die religiösen oder 
politischen Symptome wenn nicht zufällige, so doch unwesentliche, 
konnten andere sein und waren gleichzeitig andere, gleichberechtigte, 
da. Die religiösen oder politischen Ansichten wurden erst zu krank¬ 
haften, zu Krankheitserscheinungen durch die psychische Krankheit.“ 
. . . „Wenn die Seelenkrankheit, welche ihrem Begriff nach allen 
wesentlichen Eigenschaften der Natur der Seele unterworfen ist, 
. . . noch keine innere Selbständigkeit und eigentliche Form ge¬ 
wonnen hat, dann“ — meint Damerow — „kann jeder äußere 
lebhafte, psychische Eindruck, selbst oft genug ein Traum, nicht 
sowohl gelegentliches Krankheitsmoment, sondern auch Krankheits¬ 
symptom werden, als Krankheitsform erscheinen.“ 

In den Arbeiten der letzten Jahre wird — wohl mit Recht 

— ein Zusammenhang zwischen innerpolitischen Ereignissen und 
dem Auftreten psychischer Krankheiten angenommen. So erwähnt 
Kopystinsky, daß die politischen Ereignisse die Zahl der Geistes¬ 
krankheiten indirekt wohl vermehren, daß sie den Gesundheits¬ 
zustand prädisponierter Personen ungünstig beeinflussen und die 
Entstehung gewisser Psychosen mit religiöser Färbung begünstigen, 
ßybakow und Herrn an beschreiben geistige Störungen im 
Zusammenhänge mit politischen Ereignissen von ähnlichem Charakter 
wie die Angstpsychosen des Krieges (Psychosen mit trauriger Ver¬ 
stimmung, Angst, in der Mehrzahl der Fälle Sinnestäuschungen 
beängstigender Natur, vagen Verfolgungsideen, bei manchen Kranken 
Verwirrtheit und Fehlen jeglicher Orientierung). 

Während sich die zitierten Arbeiten mit den ätiologischen 
Beziehungen zwischen den erwähnten Schädlichkeiten und den Psy¬ 
chosen beschäftigen, finden sich in der uns zugänglichen Literatur 
nur spärliche Mitteilungen über deren Einfluß auf den Inhalt 
der Psychose. Bendixsohn erwähnt — allerdings, ohne dafür 
Beispiele zu geben —, daß die einzelnen Symptome (Wahnideen, 
Halluzinationen) in nicht unerheblichem Grade durch kriegerische 
Ereignisse beeinflußt wurden. Awtokratow weist auf die Ein¬ 
tönigkeit der bei den „neurasthenischen“ Psychosen vorkommenden, 
auf den Krieg bezüglichen Sinnestäuschungen hin: Leichengeruch, 
Leichenhaufen, Knall platzender Geschütze, Schreien Verwundeter 


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Carl Grosz und Martin Pappenheim. 


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u. dgl. Ermakoff berichtet über 35 Fälle von Dementia praecox, 
die er im Russisch-Japanischen Kriege beobachtete. Unter 22 Hallu¬ 
zinierenden fanden sich nur vier, deren Halluzinationen kriegerische 
Vorfälle zum Gegenstände hatten. Auch in den Wahnideen der 
Kranken spielten gelegentlich Beziehungen zu den Kriegsereignissen 
eine bedeutende Rolle. Ein 32 jähriger Arzt verbigerierte sehr 
schnell und unaufhörlich: „Je m’en vais ä Moukden, je m’en vais 
ä Moukden, oui ä Moukden, directement ä Moukden . . .“ Auf die 
Frage, ob er etwas sehe: „0 oui, Japon, Japon, Japon, Japon, Ö 
non, ö non, il n’existera plus, non. 0 non il n’existera plus usw.“ 
Aus seinen Worten war zu ersehen, daß er einen Plan habe, um 
Rußland zu erretten und Japan zu zerstören. Ein 30 jähriger 
Arzt, der bereits als Student Verfolgungsideen gehabt hatte, dann 
aber nach einer anscheinend vollständigen Remission erst 
unter den Strapazen des Krieges neuerlich erkrankte und später 
verblödete, fühlte sich u. a. von japanischen Spionen verfolgt, die 
ihn vergiften wollten. Awtokratow schildert ein Alkoholdelirium 
bei einem jungen Offizier: Er wähnte sich von Japanern verfolgt, 
hörte ihre Stimmen, sie machten Anstalten zu seiner Hinrichtung; 
gleichzeitig hörte er Geschützfeuer und fühlte, wie die Kugeln 
seinen Körper durchbohrten. 

In bezug auf innerpolitische Ereignisse konstatiert 
Kopystinsky, daß sie dem Inhalte der Sinnestäuschungen und 
Wahnideen eine spezifische politische Färbung verleihen können. 
In den von Herrn an geschilderten Fällen zeigt sich das gleiche: 
die Kranken sahen überall „Tücke, Verfolgungen durch Kosaken, 
durch das „schwarze Hundert“, durch die sozialdemokratische Partei“. 
Es folgen die von uns beobachteten Fälle. 

Beobachtung 1. Anton St., geboren 1871, Tiachlergehilfe. Auf¬ 
enthalt in der Klinik vom 30. November bis 7. Dezember 1912. Der 
Vater war Potator, die Mutter litt an Dementia senilis. Patient selbst 
war früher starker, seit 4 bis 5 Jahren mäßiger Trinker. Seit 3 Jahren 
klagte er über Schmerzen in den Beinen. Vor einem Jahre erlitt er ein 
Schädeltrauma mit nachfolgender Ohnmacht. Am 26. November Stellungs¬ 
wechsel. In den folgenden Tagen war er verstimmt, aß und sprach 
wenig. Am 30. November trank er vor dem Zubettgehen — 10 Uhr — 
einen Liter Wein. Gegen halb 3 Uhr erwachte er plötzlich, angeblich 
infolge eines Geräusches, „hatte das Gefühl, daß er plötzlich einrücken, 
gegen die Türkei marschieren müsse.“ Die Frau gab an, er habe 
in großer Angst nach einer Militärpatrouille gerufen: er müsse in die 
Türkei. Bei der Untersuchung durch den Polizeiarzt sang und schrie er, 


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Über die Einwirkung politischer Ereignisse usw. 


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schimpfte, forderte die Frau vor dem Arzt zum Geschlechtsverkehr auf. 
Um 7 Uhr früh wurde er in die Klinik eingeliefert. Bei der kurz darauf 
erfolgten Untersuchung war er bereits vollständig geordnet, machte die 
oben angeführten Angaben, konnte sich aber an die weiteren Geschehnisse 
bis zur Einbringung in die Klinik nicht erinnern. Somatisch: Prompte 
Pupillenreaktionen, P. S. R. und A. S. R. fehlen. Bei der am 26. Jänner 
persönlich erhobenen Katamnese zeigte er sich vollständig gesund. Auf 
Fragen gab er an, daß er an den gegenwärtigen politischen Verhältnissen 
keinen besonderen Anteil genommen habe. 

Es handelt sich um einen kurzdauernden Dämmerzustand mit 
teilweiser Amnesie bei einem initialen Tabiker. Die Krankheits¬ 
äußerungen bezogen sieb ihrem Inhalte nach vorzugsweise auf die 
kriegerischen Ereignisse, welche nach der Aussage des Kranken 
auf ihn sonst keinen besonderen Eindruck gemacht hatten. Ätio¬ 
logisch kommen die durch die Entlassung hervorgerufene Verstimmung, 
Alkoholgenuß am Abend vorher und Schlaftrunkenheit in Betracht. 
Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Kriegsfurcht scheint nach 
den Angaben des Kranken nicht vorzuliegen. 

Beobachtung 2. Josef A., geboren 1883, Kutscher. Aufgenommen 
am 19. Jänner 1913. Starker Rumtrinker. Seit längerer Zeit sehr auf¬ 
geregt, zunehmend eifersüchtig. Aufregungszustände, in denen er die 
Wohnungseinrichtung demolierte, die Frau unflätig beschimpfte, sie mit 
Umbringen bedrohte. Da die Frau um ihre Sicherheit besorgt war, ver- 
anlaßte sie seine Internierung. Bei der Untersuchung durch den Polizeiarzt 
am 19. Jänner klagte A. über heftige Kopfschmerzen, befand sich in 
gedrückter, weinerlicher Stimmung, sagte, er habe niemandem etwas 
getan, seine Frau mache ihm die Kinder abspenstig und vernachlässige 
die ehelichen Pflichten. Ihre Angaben seien unwahr. Bei seiner, am 
selben Abend erfolgenden Einlieferung in die Klinik war er ruhig, ver¬ 
langte Bier. Nachts schlief er gut. Bei der ärztlichen Untersuchung am 
nächsten Tage behauptete er, am Bahnhofe von Sarajevo zu sein. Er sei 
vier Monate im Kriege gewesen. (Wie viele haben Sie erschossen?) „Es 
ist noch keine Liste aufgestellt.“ (Ist denn überhaupt Krieg gewesen?) 
„Wir werden uns ja nicht von den Lumpenkerlen etwas wegnehmen 
lassen.“ Nach der Jahreszahl gefragt, beginnt er an den Fingern zu 
zählen: „1909, 1910, — 1913 wird sein.“ (Monat?) „Grad nach Neu¬ 
jahr, der erste.“ (Der wie vielte ist heute?) „Ich weiß nicht, wir sind 
die ganze Zeit im Freien gelegen.“ Auf energisches Fragen gibt er das 
richtige Datum an. Auf Vorhalt, daß er, wenn er keine vernünftige 
Antwort gebe, auf den Steinhof (Irrenanstalt) kommen werde, erwidert 
er: „In Steinhof, da war ich vorigen Sommer, hab’ dort Heu geführt. 
Ich hab’ immer meiner Frau gesagt, sie soll mich nicht so ärgern. Sie 
hat immer gedroht, sie bringt mich nach Steinhof. Deswegen bin ich ja 
freiwillig in den Krieg gegangen. Ich bin früher ja nie beim Militär 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 9 


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130 Carl Grosz und Martin Pappenheim. 

gewesen. — Ich hab’ gedacht, lieber im Kriege sterben, als als ein 
Narr.“ Über seine Erlebnisse in Sarajevo befragt, gibt er an, er sei nach 
seiner Ankunft — als Datum derselben bezeichnet er im Gegensätze zu 
seiner früheren Aussage den 16. Jänner — „eingekleidet“ worden und 
in der Schlacht gewesen. Er steht nach diesen Worten plötzlich auf und 
brüllt mit Kommandostimme „Halt!“. Nachdem er sich beruhigt hat, 
erzählt er auf entsprechende Fragen, daß es in Sarajevo lauter arme 
Leute gegeben habe, „lauter Hütten, es war finster.“ Die Serben hätten 
weiße Kittel angehabt und hätten gegen die Österreicher gekämpft, am 
linken Flügel. Als er mit einigen anderen bei einer „Stauden“ gestanden 
sei, wären plötzlich Feinde gekommen, die ihm die Fahne hätten ent¬ 
reißen wollen. Er habe „Halt!“ geschrien, worauf er einen Hieb auf 
den Kopf bekommen und das Bewußtsein verloren habe. Er sieht sich 
bei diesen Worten ängstlich um, fragt, ob die Feinde auch hier seien. 
Er glaube immer, daß er noch in Sarajevo sei, obwohl man ihm hier 
gesagt habe, daß er sich in Wien befinde, was ihm sehr recht wäre. 
Vorgezeigte Gegenstände benennt er richtig; ebenso zählt er Schlüssel 
richtig, verwechselt aber beim Ablesen der Uhr den kleinen mit dem 
großen Zeiger. Im somatischen Befund außer mäßigem Finger- und Zungen¬ 
tremor nichts von Belang. Potus und Eifersucht gibt er zu, ist in etwas 
gedrückter Stimmung und klagt über Kopfschmerzen. 

21. Jänner. Geht ängstlich im Zimmer herum. Über die Örtlichkeit 
scheint er sich noch nicht im klaren zu sein. Er glaube, er sei im Arrest, 
man sagte, er sei im Spital. „Warum sind aber im Spital die Türen 
versperrt?“ Er erinnert sich nicht, gestern mit dem Arzt gesprochen zu 
haben. Den Wärter bezeichnet er als einen Menschen, der die Türe 
versperrt. Wenn er in Wien sei, warum besuche ihn dann die Frau nicht? 
Er glaube noch immer, daß er von Wien nach Sarajevo gefahren sei. 
Wo er sich jetzt befinde, darüber sei er sich nicht klar. Dabei gerät 
er in ängstliches Weinen und ist kaum zu beruhigen. 

22. Jänner. Vollständig geklärt. Für den Inhalt seiner hier gemachten 
Angaben amnestisch. Ein Herr habe ihn gestern darüber aufgeklärt, daß 
er ein Narr gewesen sei. Zur Anamnese gibt er noch an, daß er in 
den Neunzigerjahren einige Anfälle mit Bewußtseinsverlust gehabt habe. 
(Nähere Angaben hierüber waren nicht zu erhalten. Die Frau weiß nichts 
‘von epileptischen Antezedentien.) 

27. Jänner. Geheilt entlassen. 

Bei einem chronischen Potator kommt es — möglicherweise 
unter dem Einfluß von Alkoholexzessen — zu einem mehrtägigen 
Dämmerzustände, in welchem er unter Angabe aller möglichen 
Details über seine Beteiligung am Kriege berichtet. Als vermut¬ 
liche Ursache des Dämmerzustandes kommen die durch sein asozi¬ 
ales Verhalten hervorgerufenen Streitigkeiten mit seiner Frau und 
seine Einweisung auf die Beobachtungsstation in Betracht Um der 
angedrohten Internierung in der Irrenanstalt zu entgehen, flüchtet 


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Über die Einwirkung politischer Ereignisse usw. 


131 


der Patient — unzweckmäßigerweise — in die Psychose. Für die 
Annahme einer epileptischen Grundlage des Dämmerzustandes 
bieten die vagen Angaben des Kranken über Anfälle keinen ge¬ 
nügenden Anhaltspunkt. Die im Dämmerzustand vollzogene Ver¬ 
wandlung des von seiner Frau gescholtenen Trunkenboldes in 
einen Kriegshelden könnte Psychoanalytikern zu Deutungen — 
Wunsch des Kranken, seine Männlichkeit zu dokumentieren oder 
dergleichen — Anlaß geben. 

Forensisches Interesse bieten die beiden folgenden Fälle von 
Dementia praecox. 

Beobachtung 3. Franz K., geboren 1880, Eisendrehergehilfe. Erste 
Aufnahme in die Klinik am 21. Mai 1911. In der Schule schlecht gelernt. 
Seit einem Sturz im Jahre 1906 verändertes Benehmen. In der letzten 
Zeit Verschlimmerung. Patient hielt es auf keinem Posten aus. In den 
letzten Wochen vor seiner Aufnahme war er arbeitslos, lachte ohne Grund, 
schlief den ganzen Tag, vernachlässigte sich. In der Klinik war er 
ängstlich, kniete im Bett, ging nicht auf die an ihn gerichteten Fragen 
ein, klagte, daß er seit einem Sturze vor einigen Wochen verwirrt sei. 
Seine Arbeitskollegen hätten ihn mit dem Messer verfolgt. Er glaubte, 
sich im Arsenal zu befinden, was er aus dem militärischen Aussehen der 
Betten schloß. Am 24. Mai 1911 wurde er in die Irrenanstalt am Steinhof 
übergeführt. 

Zweite Aufnahme in die Klinik am 12. Dezember 1912. Nach der 
Angabe seiner Mutter war er nach seiner Entlassung aus dem Steinhof 
zeitweise verwirrt gewesen, habe unmotiviert gelacht und Angst vor dem 
Aufhängen gezeigt. Er habe auch geäußert, er werde ein großer Herr, 
der böhmische König. 

Am 12. Dezember wurde K. in einer Straße der inneren Stadt 
verhaftet, weil er die Hufe ausgestoßen hatte: „Hoch Serbien! Nieder 
mit Österreich!“ Während der Eskorte rief er den ihm begegnenden 
Soldaten patriotische Bemerkungen zu. Bei der Polizei begründete er 
seine Ausrufe damit, daß er „die Aufmerksamkeit darauf habe lenken 
wollen, daß das österreichische Volk von den Juden ausgebeutet werde 
und im Zaren seinen einzigen Schutz finde“. Den Zaren bezeichnet er 
als seinen Protektor, den Grafen Caprivi (Ähnlichkeit mit seinem Familien¬ 
namen!) als seinen Onkel. 

Bei der Untersuchung am Tage nach seiner Ankunft in der Klinik 
gab er geordnete Auskunft. Er habe vor dem Vorfälle einen Liter Wein 
getrunken. In der Straße, in der er verhaftet wurde, habe er vor dem 
Redaktionslokale einer Zeitung die neuesten Nachrichten gelesen und 
mit einem Bekannten ein politisches Gespräch geführt. In der Erregung 
darüber, daß Österreich im Begriffe sei, eine serbenfeindliche Politik 
* einzuschlagen, habe er die beanstandeten Rufe ausgestoßen. Die den 
Grafen Caprivi betreffende Äußerung bezeichnet er als Ausfluß seiner 

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132 Carl Grosz und Martin Pappenheim. 

alkoholischen Stimmung. Die Richtigkeit der anamnestischen Angaben 
seiner Mutter negiert er kraftlos. Er könne König von Böhmen werden, 
wenn er gewählt würde. Seine Äußerung, daß er ein großer Mensch 
werden würde, habe sich nur auf seine Körperlänge bezogen. Am 
16. Dezember wurde K. nach Hause entlassen. 

Beobachtung 4. Karl Kl., geboren 1880, Bildhauer. Vater starb 
an Paralyse. Ein Bruder soll sozial heruntergekommen sein. Nach der 
Schule trat Patient in die Bildhauerakademie ein, kam aber vom dritten 
Jahrgang an schwer mit. Nach seinen eigenen Angaben war er seit jeher 
schüchtern, trieb bis zum 21. Jahre Onanie, da es ihm an Mut gefehlt 
habe, mit Frauen anzubandeln. Seit Jugend Zwangsvorstellungen, die es 
ihm unmöglich machen, über glatte Flächen zu gehen. „Wenn keine Leute 
am Wege sind, fühle er sich schutzlos.“ Praktisch beschäftigte er sich 
nicht mit der Bildhauerei, sondern lebte dürftig von einem kleinen Privat¬ 
vermögen und betrieb Musik. Schon in der Akademie glaubte er, von 
soinen Kollegen gehänselt zu werden. 

Am 19. September 1911 meldete sich Kl. bei der Polizei und bat 
um Schutz vor dem Pöbel, vor Plattenbrüdern, die „Rache an seinem 
Leben nehmen“ wollten. Seit drei Jahren werde er verfolgt, beschimpft 
und verlacht. In der Klinik, in welche er am selben Tag aufgenommen 
wurde, bezeichnete er sich als „geborenen Neurastheniker“, als ein viel¬ 
seitiges Talent (Musiker, Bildhauer, etwas Maler). Seit vier Jahren leide 
er an bronchialem Asthma, nervösem Herzklopfen — sei überhaupt „ein 
schwer degeneriertes Individuum“. Seit zwei Jahren fühle er sich von 
den Sozialdemokraten verfolgt, deren Bestrebungen er abfällig kritisiert 
habe, und höre beleidigende Zurufe: „Sonderling, nervöser Tepp.“ In der 
Irrenanstalt, in welche er am 25. September übergeführt wurde, gab er 
an, daß ihm seit drei Jahren durch Provokationen die Lust am Klavier¬ 
spielen verleidet worden sei, weshalb er eine Malschule besucht habe. 
Wenn er provoziert worden sei, habe er zum Fenster hinausgerufen: „Sinn¬ 
reiches Volk, sehnsüchtige Phthisiker!“ Phthisiker seien Leute, die sich 
nach Idealen sehnen. Am 12. November wurde er aus der Anstalt ent¬ 
lassen. Noch am Tage vorher hatte er geäußert, daß er von Sozial¬ 
demokraten und Plattenbrüdern verfolgt werde. 

Am 25. November 1912 wurde Kl. verhaftet und in das Landes¬ 
gericht eingeliefert, weil er durch wiederholte Rufe: „Der Kaiser ist ein 
H—kerl,“ die er auf offener Straße ausstieß, einen Auflauf verursacht 
hatte. Bei der psychiatrischen Untersuchung gab er an, daß er seit vier 
Jahren sekiert und durch verschiedene Namen herabgewürdigt werde. 
Nach seiner Entlassung aus der Irrenanstalt sei man ihm auf der Straße 
nachgegangen, habe ihm „blöder Bildhauer“ nachgerufen. In seiner 
Wohnung habe er Schimpfnamen gehört, die aus dem oberen und unteren 
Stockwerke zu kommen schienen. „Eine furchtbare Quälerei!“ Er dachte 
zuerst, es seien die Hausparteien, bemerkte aber bald, daß es überall 
so gehe. Man sprach von Volksbewegung- er meinte, die Öffentlichkeit 
sei ihm feind, weil er selbst feindliche Bemerkungen gemacht habe. 


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Über die Einwirkung politischer Ereignisse usw. 133 

In der letzten Zeit, als man viel von einer bevorstehenden Mobili¬ 
sierung sprach, sei ihm aufgefallen, daß er öfter auf der Straße „Damen¬ 
stimmen“ gehört habe, die unsittliche Bemerkungen machten, z. B.: „Da 

werden einem die F.(Vulgärausdruck für das weibliche Genitale) 

steif.“ Diese und ähnliche Äußerungen habe er dahin gedeutet, daß sich 
die „Damen“ durch den Anblick verwundeter Krieger in geschlechtliche 
Aufregung versetzen wollten und deshalb für den Krieg Stimmung machten. 
In der Absicht, sich über diesen Punkt Klarheit zu verschaffen, habe er 
eine Prostituierte aufgesucht. Er habe ihr ein in einer Zeitung abgebildetes 
Kanonenrohr (!) gezeigt und sie gefragt: „Begeilst du dich auch dabei?“ 
was diese aber verneinte. Auf der Straße habe man gerufen: „Es spritzen 

die F.auf die Geschütze.“ Seine Empörung über die Damenstimmen 

sei in der Beschimpfung der höchsten Person zum Ausdruck gekommen. 
Er sehe jetzt ein, daß seine Äußerung unberechtigt gewesen sei. Übrigens 
sei er etwas angeheitert gewesen, da er vorher einen halben Liter Wein 
getrunken habe. 

In den beiden letzten Fällen handelt es sich um ziemlich 
vorgeschrittene Schizophrenien. Bei beiden Kranken kam es nach 
vorhergegangenem Alkoholgenusse zu provokanten Äußerungen, die 
ihre Verhaftung, bei dem einen sogar die gerichtliche Untersuchung 
zur Folge hatten. Während im dritten Falle die „hochverräterischen“ 
Äußerungen des Kranken keine klare Beziehung zu seinen Wahn¬ 
vorstellungen erkennen lassen, vielmehr einen ganz episodischen 
Charakter zu haben scheinen, sind sie im vierten Fall als der 
Ausdruck einer inhaltlich durch die Kriegsgefahr bestimmten wahn¬ 
haften Verarbeitung seiner hallunziatorischen Erlebnisse aufzufassen. 

Der vierte Fall ist auch wegen der weit zurückreichenden 
psychopathischen Erscheinungen bei dem Kranken und seiner Ein¬ 
sicht für diese bemerkenswert. Stark betont ist der sexuelle Komplex 
des Patienten. Interessant ist die doppelte Bedeutung, die er den 
Geschützen beilegt: Sie gelten ihm einerseits als Werkzeug zur 
Erregung der sadistischen Gelüste der Damen und bilden andrerseits 
ein durch Ähnlichkeitsassoziation geschaffenes Symbol des Penis. 

Diagnostisch unklar ist die 

Beobachtung 5. Frieda B.,' geboren 1877, Jüdin, aus Rumänien. 
Aufgenommen am 19. November 1912. Eine Schwester des Vaters der 
Patientin litt an „fixen Ideen“. Vor neun Jahren Heirat mit einem 
syphilitischen Manne, der auch viel trank; Streitigkeiten in der Ehe. 
Vor sieben Jahren normale Geburt. Vor sechs Jahren verletzte sie der 
Mann durch einen Schuß in die linke Schläfe; das Projektil blieb im 
Schädel stecken. Der Mann starb bald nachher. 


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Carl Grosz und Martin Pappenheim. 


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Seit vier Monaten äußerte sie Wahnideen, behauptete nach einer 
kleinen gynäkologischen Operation, daß sie künstlich befruchtet worden 
sei. Später sagte sie, sie sei Maria, ihr Bub’ sei Jesus, äußerte die Be¬ 
fürchtung, gekreuzigt zu werden. Sie sei eine Freimaurerin, ihr sieben¬ 
jähriger Knabe werde von den Freimaurern verlangt; wenn er enthauptet 
werde, habe der Krieg ein Ende. Sie selbst sei die Türkei; sie sei auf 
der schwachen Seite. Ihr Schwager sei Österreich, eine Schwester Monte¬ 
negro, eine andere Bulgarien. Sie wolle zwischen diesen Reichen Frieden 
schließen. 

In der Klinik war sie deprimiert, bald still und abwehrend, bald 
ängstlich agitiert. Sie sprach davon, daß sie die sieben Todsünden begangen 
habe. Sie denke, daß sie die Türkei sei und daß ihr Kind enthauptet 
werden müsse; dann sei der Krieg zu Ende. Vor einigen Tagen sei sie 
zu einem Rabbiner gefahren, um ihn zu bewegen, zwischen den krieg- 
führenden Mächten Frieden zu machen. Sie jammerte, man solle sie töten, 
aber dem Lande nichts tun u. dgl. 

Am 22. Dezember wurde sie in unverändertem Zustand in die 
Irrenanstalt übergeführt. 

Die Differentialdiagnose zwischen ängstlicher Melancholie und 
Dementia praecox scheint uns in dem eben geschilderten Falle 
nicht möglich zu sein. Das in der Klinik beobachtete Zustandsbild 
erinnert an die in unserer Einleitung erwähnten ängstlichen Psy¬ 
chosen, die von russischen Autoren als Folge teils des Krieges, 
teils der innerpolitischen Wirren beschrieben wurden. Der Ausbruch 
der Psychose ging jedenfalls dem Beginne des Krieges voraus. 
Trotzdem spielte dieser in ihrem Inhalt eine bedeutende Rolle. 

Die beiden ersten Fälle unserer Mitteilung betreffen funk¬ 
tionelle Psychosen, die — besonders im zweiten Falle— inhaltlich 
durch auf den Krieg sich beziehende Vorstellungen ausgefüllt er¬ 
scheinen. Ätiologisch kam aber die Kriegsfurcht für die Krankheit 
der anscheinend politisch indifferenten und durch die Kriegsgefahr 
persönlich kaum betroffenen Patienten nicht in Betracht. Diese 
Beobachtungen scheinen uns dafür zu sprechen, daß im Inhalte 
der Psychose Zeitereignisse die führende Rolle spielen 
können, ohne daß ihnen eine ätiologischeBedeutung zukommt. 

Im dritten und vierten Falle handelt es sich um chronische, 
bereits seit langem bestehende Psychosen. Die beiden ziemlich 
dementen Kranken waren gleich den übrigen Inwohnern der Stadt 
durch die beunruhigenden Vorgänge in Mitleidenschaft gezogen. Und 
wenn auch selbstverständlich nicht die Grundkrankheit, waren doch die 
p sy chotische n Äußeru ngen, die zu ihrer Anhaltung führten, 


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Über die Einwirkung politischer Ereignisse usw. 


135 


durch die kriegerischen Ereignisse bedingt. Im vierten 
Falle ist es besonders interessant, in welch komplizierter Weise diese vom 
Kranken mit seinen Gehörstäuschungen in Einklang gebracht wurden. 

Im fünften Falle sind die phantastischen Wahnvorstellungen, 
die Identifikation der eigenen Person der Kranken und der ihrer 
Angehörigen mit den am Kriege interessierten Mächten hervorzu¬ 
heben. Dies scheint auf eine Persönlichkeitsalteration hinzu^eisen, 
die man gelegentlich bei melancholischen Psychosen, häufiger wohl 
bei der Schizophrenie findet. Bemerkenswert ist, daß die Kranke 
sich im Sinne ihrer Kleinheitsideen mit der unterliegenden Türkei, 
ihre Angehörigen aber mit den siegreichen Mächten identifiziert. 

Außer den hier geschilderten Fällen kamen im Laufe der 
letzten Zeit an unserer Klinik noch mehrere zur Beobachtung, 
deren Symptome durch die Kriegsereignisse mehr oder minder ge¬ 
färbt waren. Ein Paralytiker z. B. erklärte, er sei in Kirkilisse gewesen, 
und demonstrierte eine alte Narbe am Unterschenkel, die er einer 
feindlichen Kugel zu verdanken haben wollte. Ein Säufer behauptet ein 
einem Dämmerzustände, er habe eine Einberufung bekommen u. dgl. 

Gemeinsam ist den mitgeteilten Fällen, daß die „politischen 
Symptome“, die sie zeigen, akzidentieller Natur, für die 
Entstehung der Psychose ohnei Belang sind. Wir konnten keinen 
einzigen Fall beabachten, in dem die politischen Ereignisse eine 
Psychose hervorriefen. Die Angaben der russischen Autoren 
über den Einfluß der innerpolitischen Ereignisse auf das Entstehen 
von Psychosen dürften mit der durch die Furcht um Leben und 
Eigentum bedingten starken psychischen Inanspruchnahme des 
einzelnen russischen Untertanen Zusammenhängen, die als psychisches 
Trauma weit unmittelbarer und eindringlicher wirken mußte, als 
unsere, bloß am Horizonte erscheinende, überdies in der Publizistik 
eher gedämpft dargestellte Kriegsgefahr. 

Benützte Literatur. 

Arndt: Diskussionsbemerkung zu einem Vorträge von Nasse. Allg. 

Ztschr. f. Psych. Bd. XXX, 1874, S. 64. 

Awtokratow: Die Geisteskranken im russischen Heere während des 
Japanischen Krieges. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. LXIV, 1907, 
S. 286. 

Bendixsohn: Psychosen im Russisch-Japanischen Kriege. Klin.-therap. 
Wochenschrift, 1911, S. 361. 


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Carl Grosz und Martin Pappenheim. 


Damerow: Zur Kritik des „politischen und religiösen Wahnsinns“. 

Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. VII, 1850, S. 375. 

Ermakoff: La dömence pröcox pendant la guerre Busso-Japonaise. 

Arch. de Neurol. 1911, vol. II, p. 142. 

Her man: Über psychische Störungen depressiver Natur, entstanden auf 
dem Boden der gegenwärtigen politischen Ereignisse. Allg. Ztschr. 
f. Psych. Bd. LXIV, 1907, S. 111. 

J o 11 y: Klinische Mitteilungen über einige infolge des Feldzuges von 
1870/71 entstandene Psychosen. Arch» f. Psych. Bd. III, 1872, 
S. 442. 

Kopystinsky: Zur Kasuistik der Psychosen, die mit den politischen 
Ereignissen Zusammenhängen. Obesrenje psychiatrii N. III (russ. 
Beferat in der Allg. Ztschr. f. Psych.). 

Nasse: Bemerkungen über Geistesstörungen bei Militärpersonen infolge 
des Krieges von 1866. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. XXVII, S. 517. 
Bybakow: Zit. nach Herman. 

Schaikewitz: Zit. nach Bendixsohn. 

Schumkow: Zit. nach Bendixsohn. 

Suchanoff: Zit. nach Herman. 


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Aus der psychiatrischen Klinik der Universität in Wien 
(Vorstand Hofrat Prof. Dr. v. Jauregg Wagner). 

Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydro¬ 
cephalus chronicus und bei Epilepsie. 

Von 

Dr. J. Rothfeld, Assistent der Nenrenklinik der Univ. Lemberg. 

Seitdem Fröhlich 1 ) den Symptomenkomplex, den wir unter 
dem Namen der Dystrophia adiposo-genitalis kennen, beschrieben 
hat und auf den Zusammenhang desselben mit der Hypophysen¬ 
funktion hingewiesen, haben klinische Beobachtungen gezeigt, daß 
wir diesem Symptomenkomplex auch in Fällen begegnen können, 
in welchen die primäre Erkrankung außerhalb der Hypophyse 
und Hypophysengegend liegt. So können im Verlaufe von Gehirn¬ 
tumoren sowohl einzelne diesem Typus angehörende Störungen 
auftreten, wie Menstruationsstörungen, Impotenz) Adipositas, als 
auch die Dystrophia adiposo-genitalis in ihrer vollen Entwicklung 
zu Tage treten. Es sind dies dann Störungen, die auf gesteigerten 
Hirndruck zurückzuführen sind, der nach C u s h i n g 2 ) eine Funktions¬ 
läsion der Hypophyse bedingt. Cushing glaubt sogar, daß jede 
Gehirngeschwulst unabhängig von ihrer Lokalisation und unabhängig 
davon, ob sie Hydrocephalus bewirkt, eine Schädigung der Hypo¬ 
physenfunktion zur Folge hat. Anderseits können die erwähnten 
Symptome, die im Verlauf hirndrucksteigemder Prozesse Vorkommen, 
durch veränderte topographische Verhältnisse, oder durch den 
begleitenden Hydrocephalus erklärt werden. Die Dystrophie bei 
Kleinhirntumoren erklärt Müller 8 ) durch Erweiterung des dritten 
Ventrikels durch den Hydrocephalus und Druck auf die Hypophyse. 

J ) Fröhlich: Wiener klinische Rundschau 1901. 

2 ) Journ. of the Amer. med. Assoc. 1909. Journ. ofn erv. a ment, 
dis 11 1906. Bull, of John Hopk. Hosp. 20, 105, 1909. 

8 ) Neurologisches Zentralblatt, 1905. 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 9 a 


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138 


Dr. J. Rothfeld, 


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Wichtig erscheint die Tatsache — worauf K. Goldstein 1 ) hin¬ 
gewiesen hat —, daß es auch infolge einer Meningitis serosa zum 
ausgesprochenen Bilde der Dystrophia adiposo-genitalis kommen 
kann; die von ihm beobachteten Fälle verliefen unter dem Bilde 
eines Hypophysentumors mit dystrophischen Erscheinungen. Als 
Ursache ihrer Entstehung wird der Druck angenommen, den der 
Hydrocephalus auf die Hypophyse ausübte. Analoge zwei Fälle hat 
Sievert 8 ) beschrieben; es handelte sich um zwei Geschwister, 
bei denen eine Optikusatrophie und eine bedeutende Adipositas 
bestand. In einer Diskussionsbemerkung zu diesen Fällen glaubt 
Meyer, daß es sich um einen Hydrocephalus nach einer Meningitis 
handelte, der auf die Nervi optici und Hypophyse drückte. Fälle 
von Hydrocephalus und Adipositas hypogenitalis haben Marinesco 
und M. Goldstein 3 ), wie auch Neurath 4 ) beobachtet. In der 
Arbeit Bonhoefers 5 ) finden wir Fälle von idiopathischem und 
sekundärem Hydrocephalus mit bedeutender Adipositas. In der 
jüngsten Zeit haben W eygandt 6 ), Jaksch 7 ) und K. Goldstein 8 ) 
über ähnliche Fälle berichtet. 

Im nachstehenden sei über fünf Fälle von Hydrocephalus mit 
Dystrophia adiposo-genitalis berichtet, von denen drei mit Epilepsie 
kombiniert sind. Für die Überlassung dieser Fälle erlaube ich mir 
Herrn Hofrat Prof. v. Wagn e r meinen innigsten Dank auszusprechen. 

Fall 1. 

Albin B.. 10 Jahre alt, Mutter gesund, Vater ist seit einigen 
Jahren infolge eines Unfalles in einer Irrenanstalt. Eine Schwester 

*) K. Goldstein: Archiv für Psych., B. 47, 1910. 

*) Sievert: Zeitschrift für Augenheilkunde, B. 19, H. 6. 

®) Marinesco und M. Goldstein: Nouvelle Iconographie de 
la Salpetrifere B. XXII, 1909. 

4 ) Neurath: Wien, klinische Wochenschrift 1909. (Sitzungsbericht 
der Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde und Sitzungs¬ 
bericht des Vereines für Psychiatrie, Wien.) Siehe auch Wiener klinische 
Wochenschrift, B. 24, 1911, Nr. 2. 

5 ) Bonhoefer: Archiv für Psychiatrie, 1912. 

6 ) Demonstration auf der Jahresversammlung der Gesellschaft 
deutscher Nervenärzte, Hamburg, 1912. 

7 ) Deutsche med. Wochenschrift, 1913. 

8 ) Deutsche med. Wochenschrift Nr. 1, 1913. (Sitzungsbericht der 
Gesellschaft deutscher Arzte in Königsberg.) 


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starb m .The» puImoMü»: Patient stammt £©m. ersteh Partus, 
derselbe war rechtzeitig mid aervaal; Inr zwe-iteir Lebensjahre 
Fraisen; Patient hat an öirt<-m Tage sieben Aufülie gehabt, Später 
haben sieh die Anfälle «ie wiederholt. Daa jetzige Leiden,. die 
Mhaiimgen, besteheu seit dom FraisenanML Seit dieser Zeit, wuchs 




M 


au dt der Scbädelrimpiäug, so daß er im fünften LobensjäLiro <38 m 
aUSaiachte und seitdem, stationär geblieben ist. Objektiv wurde 
Mittelgroß, Ivörptrliinge beiläufig ‘ 127 m ,^ Körper 
tVttlHihig mit starker Fettansarnmltiog um die Mammae, iD.sbesoudere 
um dun Mons Voueris. (Abb. di ) Ibis Oenifcäie klein, Hoden !x«b.tt«.‘6' 
groß, ira Skrotum, jedoch niitdSleigung., siclv in den Leisteuhanal zu 


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Dr. J. Rothfeld, 


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retrahieren. Am Mons Veneris ganz vereinzelte Härchen, sonst Stamm 
und Extremitäten haarlos. Schädel extrem groß, asymmetrisch, die 
rechte Schädelhälfte, besonders aber der rechte Stirnhöcker stärker 
vorgewölbt. Der Schädel erscheint kugelförmig; starke Auswärts¬ 
stellung beider Schläfen, der Stirne, weniger des Hinterhauptes. 
Über der rechten Schädelhälfte Geräusch des gesprungenen Topfes, 
mit tympanitischem Beiklang; links ist dieses Symptom nicht so 
deutlich. Größter Horizontalumfang des Schädels 68 cm, Querumfang 
von einem Ohre zum anderen 48 cm, Längsdurchmesser 20-7 cm, 
Querdurchmesser 21 cm, Ohren groß, Läppchen angewachsen, Zähne 
rhachitisch. Augen ziemlich stark vorstehend, dabei deutlicher Stra¬ 
bismus divergens, das rechte Auge nach oben außen abgelenkt. 
Augenbewegungen nach rechts anscheinend normal, mit leichten 
nystaktischen Bewegungen, Bewegungen der Bulbi nach links, 
vielleicht eingeschränkt. (Genaue Prüfung unmöglich.) Pupillen 
etwas eng und different; die Lichtreaktion läßt sich infolge des 
störenden Verhaltens des Patienten nicht genau bestimmen. Augen¬ 
hintergrund: beiderseitige Sehnervenatrophie nach Stauungspapille. 
Mundfazialis links leicht paretisch; sonst Hirnnerven frei. Rechte 
obere Extremität kräftig, normal entwickelt; linke deutlich schwächer, 
vielleicht auch etwas verkürzt; der linke Oberarm ist um 1 cm, 
der Vorderarm um Va cm schmächtiger als rechts. Links deut¬ 
licher Spannungszustand; linke Hand meist stark spontan flektiert. 
Finger ulnar flektiert. Die grobe Beweglichkeit der linken oberen 
Extremität erhalten, jedoch erfolgen die Bewegungen langsam. 
Bei Zielbewegungen der linken Hand tritt grober Tremor, resp. 
Ausfahren auf. Sehnenreflexe an der linken oberen Extremität 
lebhafter als rechts. Sensibilität scheint ungestört zu sein. Patient 
vermag nicht aus liegender Stelluug sich allein aufzusetzen. Bauch¬ 
deckenreflexe rechts stärker als links, Hodenreflexe gleich. Untere 
Extremitäten ziemlich fettreich, grobknochig. Keine deutliche 
Differenz im Umfange der Oberschenkel, an den Unterschenkeln 
beträgt die Differenz 1 cm zu Ungunsten der linken Seite. Hoch¬ 
gradige Varusstellung links, rechts angedeutet und mehr korrigier¬ 
bar als links. Leichter Spannungszustand links. Patellarsehnen- 
reflexe beiderseits sehr lebhaft, gleich, Achillessehnenreflexe rechts 
klonisch, links wegen Spannung nicht auszulösen. Babinski- 
sches Phänomen links vorhanden, Patient kann nicht allein stehen, 
muß unterstützt werden; von zwei Seiten unterstützt geht er, wobei 


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Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydrocepbalus usw. 141 


das linke Bein nachgeschleppt wird und eine Neigung zum Über¬ 
kreuzen auftritt. Wassermann sehe Reaktion negativ. 

Zusammenfassung: Im Anschluß an einen im zweiten Lebens¬ 
jahre durchgemachten Fraisenanfall kam es zu einer linksseitigen 
Hemiplegie und einem bis zum fünften Lebensjahre zunehmenden 
Hydrocephalus. Außer diesen Symptomen entwickelte sich eine 
bedeutende Adipositas, besonders in der Gegend der Mammae, am 
Bauche und Mons Yeneris und eine Aplasie der Genitalien. 

Fall 2. 

Johanna K. 14 Jahre alt, Mutter Potatrix, Vater an einem 
Magenleiden gestorben, drei Geschwister gesund. Zwischen dem 
zweiten und dritten Lebensjahre einige Fraisenanfälle, die sich 
später nie wiederholten; keine epileptischen Anfälle. Mit zwei Jahren 
begann Patientin zu sprechen, mit zweieinhalb Jahren zu gehen. 
Schon zu dieser Zeit hatte sie — nach Angaben der Schwester — 
einen, im Verhältnis zum Körper etwas zu großen Kopf; auch 
später weitere Zunahme des Schädelumfanges. Patientin soll immer 
ein zartes Kind gewesen sein, erst mit fünf bis sechs Jahren immer 
stärkere Dickenzunahme. Geistig gut entwickelt, hat in der Schule 
gut gelernt. Seit drei Jahren erschwertes Gehen; schon als Kind 
mit drei bis vier Jahren hat Patientin schlecht herumgehen können 
und ließ sich meistens auf den Händen tragen. Bis nun keine Menses. 

Objektiv: Körperlänge 125 cm. Sehr starke Adipositas mit 
besonderer Fettansammlung an der Brust und Bauch, sehr wenig 
an den unteren Extremitäten (Abb. 2). Mammae ungefähr dem 
Alter entsprechend, rechts ist die Drüse palpabel, links kaum ange¬ 
deutet. Behaarung am Kopfe normal, fehlt in den Achselhöhlen 
und am Mons Veneris. Schädel hydrocephal, Schädelumfang 58 cm, 
bei Perkussion deutliches Scheppern in der linken Parietal- und 
Temporalgegend, rechts nur in der Temporalgegend. Tetaniezähne, 
leichte Prognatie. Augenhintergrund: Beiderseits postneuritische 
Atrophie. Visus beiderseits 5 / 10 , Gesichtsfeld normal. Röntgenaufnahme 
des Schädels (Dozent Dr. Schüller): Schädel hydrocephal, Nähte 
offen, Sella turcica stark erweitert, mäßig tief. Motorische Kraft der 
oberen Extremitäten normal. Beiderseits Intentionstremor, Spur von 
Ataxie rechts, Adiadochokinesis beiderseits angedeutet. Kein Trousseau- 
phänomen. Bauchdeckenreflexe beiderseits gleich. Parese der unteren 


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Ör. 3 . Röthfoid, 


Extremitäteu links stärker als recht». 

»öits klonisch, rechts, stärker als links, beider¬ 

seits Klonus angödeufcei B a b i n s k i scixea Phänomen beiderseits 
positiv, »lang unsicher, Schwanken nach allen lüchtungeu. Keine, 




Km« 


Ataxie der unteren Extreinitäten Beim Kiiiehackenversaoh, Sensibilität 
aornialv Röntgenbefund der' Skelettknochen- ■<Dozent Br- IIolz- 
kneehtji Normaler OssifikatiousprozeÜ des Skeletts.- Was.se r- 
ni a n n sehe Reaktion neght)v. 

Zusammenfassung: Ähnlich wie hu Fall 3 .-entwickelte sich 


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Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydrocepbalus usw. 143 


im Anschluß an einen Fraisenanfall ein hochgradiger Hydrocephalus, 
Parese der unteren Extremitäten und cerebellare Störungen. Neben 
diesen Symptomen besteht bedeutende Adipositas, keine Behaarung 
in den Achselhöhlen und Mons Yeneris; Patientin hat noch nicht 
menstruiert. 

In den nachstehenden drei Fällen handelt es sich um dystrophische 
Störungen hei mäßigem Hydrocephalus und Epilepsie. 

Fall 3. 

Thomas W., 12 Jahre alt. Normale Geburt, in der Kind¬ 
heit keine Fraisen. Mit sechs Jahren wurde Patient von einem 
Wagen in die Brust gestoßen, an die Seitenwand einer vorbei¬ 
fahrenden Elektrischen geschleudert, prallte dort ab und fiel auf 
das Trottoir. Keine Bewußtlosigkeit. Zwei Tage später konnte er 
schon wieder die Schule besuchen. Zwischen dem achten bis 
neunten Lebensjahre erster epileptischer Anfall, dessen Verlauf der 
Vater des Patienten folgendermaßen schildert: Mund verzogen, Augen 
nach rechts gedreht, klonische Krämpfe mehr in der rechten oberen 
Extremität, als in der linken; Schaum vor dem Munde, kein Harn¬ 
abgang. Nach dem Anfall erschöpft. Nach drei Wochen zwei Anfälle, 
dann — im Anschluß an Extirpation der Tonsillen — Pause von 
zehn Monaten, dann zwei Anfälle, nachher wieder einige anfallsfreie 
Monate. Gleich nach der Aufnahme in die Klinik wurde ein Anfall 
beobachtet: Rötung der rechten Gesichtshälfte, Hinstarren, Verziehen 
des Mundes und der rechten Gesichtshälfte, obere Extremität in 
leichter Flexion, untere auseinandergestreckt in starrer Haltung, 
hierauf klonische Zuckungen, am Gesichte beginnend und sich dann 
über den ganzen Körper verbreitend; Bewußtsein erloschen. Dauer 
des Anfalles zirka zwei Minuten; kein Zungenbiß. Patient erinnert 
sich nur, wie er aufs Bett getragen wurde und gibt an, daß er 
„Fraisen“ hatte. Die Untersuchung, die gleich nach dem Anfalle 
vorgenommen wurde, ergab: Rechtshänder, Pupillen weit, Reaktion 
prompt, Augenbewegungen frei. Rechter Mundfazialis etwas paretisch, 
Zunge weicht etwas nach rechts ab. Reflexe an den oberen Extremi¬ 
täten rechts stärker als links. Intentionstremor rechts. Bauchdecken¬ 
reflexe rechts schwächer als links. Patellarsehnenreflexe: Rechts 
Klonus, links lebhaft. Fußphänomen rechts. Babinskisches Phä¬ 
nomen rechts positiv. Parese der rechtsseitigen Extremitäten, beim 


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Dr. J. Rothfcld. 


Gehen Nachschleifen der rechten unteren Extremität. Körperlänge 
133 cm. Kopfumfang 54 cm. Augenhintergrund normal. Nach 
einigen Wochen wurde der Patient aus der Klinik entlassen; 
nach einem Jahre zweite Aufnahme. Die Anfälle wiederholten sich 
wie vorher. Es wurde eine Abnahme der Intelligenz beobachtet. 
Somatisch: Auffällig fettleibig, mangelhafte Genitalentwicklung. 
Hirnnerven frei, keine Paresen der Extremitäten, keine Reflex* 
differenzen. Augenhintergrund normal. Röntgenuntersuchung des 
Schädels (Dozent Dr. Schüller): Schädel hydrocephal von geringer 
Dicke, Innenfläche glatt, Basis normal. 

Fall 4. 

W. K., 15 Jahre alt. Patient war bereits vor eineinhalb Jahren 
durch einen Tag auf der Klinik. Es wurden in der Nacht mehrere 
epileptische Anfälle beobachtet, nach welchen Patient im Zimmer 
herumging und andere Patienten weckte. Er selbst wußte nichts 
davon. Aus den anamnestischen Daten ist hervorzuheben, daß Patient 
in der Kindheit Masern, Keuchhusten und Lungenentzündung durch¬ 
machte und daß er im Verlaufe jeder dieser Krankheit an „Fraisen“ 
litt. Kein Schädeltrauma. Mit neun Jahren Scharlach und Nieren¬ 
entzündung. Ein halbes Jahr später traten Anfälle auf, während 
welcher Patient nicht bei Bewußtsein war, die Augen verdrehte^ 
mit den Händen in der Luft herumarbeitete, laut schrie und weinte. 
Kein Zungenbiß. Derartige Anfälle, die die Mutter des Patienten 
„große Anfälle“ nennt, hatte er im ganzen zwei. Häufiger treten 
„kleine Anfälle“ auf, die darin bestehen, daß Patient kurz aufschreit, 
der Blick wird starr, der Mund fest verschlossen, Patient ist bewußt¬ 
los. Keine Zuckungen, weder in den Beinen, noch in den Armen. 
Diese Anfälle treten sogar mehreremal im Tage auf. — Patient ist 
hei der Aufnahme zeitlich und örtlich orientiert, gibt auf Fragen 
zutreffende Antwort; kein abnormes psychisches Verhalten des 
Patienten. Über seine Anfälle und Halluzinationen kann er nichts 
Bestimmtes angeben. Somatisch: Dem Alter entsprechend ziemlich 
groß. Starker Fettpolster, besonders an der Brust, Hüfte und Mons 
Veneris. Genitale klein, hypoplastisch. Um die Mammillae ist der 
Fettansatz so stark, daß die Brust fast den Eindruck der Brust 
eines in Entwicklung begriffenen Mädchens macht; das Becken von 
fast femininem Typus, kein vorstehendes Ponum Adami, Stimme 


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Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydrocephalus usw. 145 

nicht mutiert, Crines pubis schneiden horizontal über dem Scham¬ 
bein ab. Schon bei der ersten Aufnahme, vor eineinhalb Jahren, 
wurden analoge Symptome verzeichnet. 

Hirnnerven frei, keine Paresen der Extremitäten, keine merk¬ 
bare Reflexdifferenz. 

Röntgenbefund (Dozent Dr. Schüller): Hydrocephalus, keine 
Vergrößerung der Sella. 

Fall 5*). 

11 Jahre alt. Patient ist das sechste Kind. Geburt normal. 
Seit sechs Jahren epileptische Anfälle. Objektiv: Ziemlich groß, 
sehr fettleibig; Patient soll immer dick gewesen sein. Gewicht 
50 Jcg. Stamm sehr fett. Becken und Mons Veneris feminin. 
Andeutung von Crines. Hoden und Genitale sehr mangelhaft. Schild¬ 
drüse nicht zu fühlen. Schädel hydrocephal, in der Stirne sehr 
schmal, ziemlich hoch, größte Zirkumferenz 52 1 / a cm. Ohren 
sehr groß, abstehend. Röntgenbefund (Dozent Dr. Schüller): Sella 
etwas weit, etwas stärkere Ausprägung der Impress, digit. Augen¬ 
hintergrund normal. Reflexe der rechten oberen Extremität stärker 
als links. Bauchdeckenreflexe beiderseits fehlend. Kremasterreflex 
links etwas lebhafter. PSR. rechts lebhafter als links. Im Harn 
vermehrte Harnsäure, Zucker 0*06 %. 

Wir haben es in den drei letzten Fällen mit epileptischen 
Anfällen zu tun, wobei ein mäßiger Hydrocephalus und eine 
Dystrophia adiposo-genitalis besteht. 

Wir haben schon oben erwähnt, daß in den in der Literatur 
beschriebenen Fällen von Meningitis serosa und Hydrocephalus das 
Auftreten der Fettsucht mit Aplasie der Genitalien auf einen Druck 
auf die Hypophyse durch den Hydrocephalus zurückgeführt wird. 
Es bleibt jedoch bei dieser Erklärung unentschieden, welche Art 
der Störung der Hypophysenfunktion dadurch hervorgerufen wird 
und wie dieselbe zur Dystrophia adiposo-genitalis führt. Die 
Beantwortung dieser Frage ist schon deshalb unmöglich, weil bis 
nun nicht endgültig entschieden wurde, welche Teile der Hypophyse 
und ob ausschließlich die Hypophyse für die Entstehung der Dys¬ 
trophie verantwortlich zu machen ist. 

Wir wissen, daß Fröhlich das Auftreten der Dystrophie auf 


*) Diesen Fall verdanke ich Herrn Professor Dr. Redlich. 

Jahrbücher für Psychiatrie, XXXIV. Bd. IQ 


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146 


Dr. J. Rothfeld. 


eine Störung der Hypophysenfunktion, einen Dyspituitarismus, Hypo¬ 
pituitarismus zurückführte, welche Auffassung E r d h e i m x ) auf Grund 
pathologisch-anatomischer Untersuchungen zu widerlegen sucht und 
trophische Zentren an der Gehirnbasis annimmt, deren Läsion die 
Dystrophie hervorruft. Auf die Ergebnisse experimenteller Arbeiten, 
die den Zusammenhang der Dystrophie mit der Hypophyse beweisen, 
wie auch auf die Erfolge chirurgischer Eingriffe bei Hypophysen¬ 
tumoren sich stützend, spricht sich Fischer 2 ) gegen die Theorie von 
Fröhlich und Erdheim aus und behauptet, daß der nervöse 
Anteil der Hypophyse (Hinterlappen, Stiel und Infundibulum) als 
Sitz trophischer Zentren anzusehen sind, und daß eine Schädigung 
dieser Teile die Dystrophie hervorzurufen vermag. Er läßt dabei 
die Frage offen, auf welchem Wege die Dystrophie entsteht und 
weist auf einige Möglichkeiten hin: Es ist möglich, daß allein ein 
Druck auf den Hinterlappen, oder die Verlagerung des Infundibulums 
zur Entstehung der Dystrophie genügt, oder daß es sich um 
Störungen in der Resorptionsfähigkeit im Infundibulum und Hinter¬ 
lappen, eventuell um Verminderung der normalen Sekretion handelt; 
schließlich kann eine Behinderung des Sekretionsstromes bestehen. 

Trotz beweiskräftiger Argumente Fischers kommt Pick in 
seinem Referate 8 ) zur Ansicht, daß außer den von Fischer an¬ 
geführten Möglichkeiten auch eine Hypoplasie der Hypophyse oder 
ein Druck auf die Hirnbasis für die Entstehung der Dystrophie 
angenommen werden muß. 

Wenn auch diese komplizierten Fragen noch nicht gelöst sind, 
so kann es doch verständlich sein, daß in Fällen mit bedeutendem 
Hydrocephalus derselbe durch Druck auf die Hypophyse dystrophische 
Störung hervorruft. Es ist jedoch die Möglichkeit nicht auszuschließen, 
daß außerdem noch andere Faktoren eine Rolle spielen, insbesondere 
4a einerseits dystrophische Störungen kein konstantes Symptom eines 
wenn auch hochgradigen Hydrocephalus darstellen, anderseits, weil 
wir manchmal schon bei geringem Hydrocephalus eine ausgeprägte 
Dystrophie finden können, wie zum Beispiel in unserem Fall 3, 4 
und 5. Welche Faktoren hier von Bedeutung sind, läßt sich nicht 

x ) Erdheim: Zieglers Beiträge, 33, 1903, Sitzungsbericht der 
Wiener Akademie, 113, 1904. 

2 ) Fischer: Hypophyse, Akromegalie und Fettsucht, Wiesbaden, 
1910, Frankfurter Zeitschrift für Pathologie, Bd. 11, Heft 1. 

3 ) Pick: Deutsche med. Wochenschrift, 1911. 


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Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydrocephalus usw. 147 

mit Sicherheit sagen; es wäre jedoch denkbar, daß ein geringer 
Hydrocephalus nur in solchen Fällen ein auslösendes Moment für 
die Entstehung der Dystrophie darstellt, bei welchen bereits eine 
Störung im physiologischen Zusammenwirken der endocrinen Drüsen 
vorhanden war. So könnte in unserem Falle 3, 4 und 5 auf eine 
derartige prädisponierende Störung in der Korrelation der Drüsen 
mit innerer Sekretion aus der gleichzeitig bestehenden Epilepsie 
geschlossen werden. Die Beziehung der Epilepsie zu den endocrinen 
Drüsen gewinnt immer mehr Anerkennung; ohne auf die theoretischen 
Erwägungen dieses Zusammenhanges einzugehen, möchten wir hier 
nur auf Zusammentreffen der Epilepsie mit der Tetanie, epileptischer 
Anfälle mit Basedowscher Krankheit hinweisen, an das Auftreten 
epileptischer Anfälle im Pubertätsalter, wie an den menstruellen 
Typus der Epilepsie erinnern. — Wichtig sind auch die Ergebnisse 
pathologisch-anatomischer Untersuchungen der endocrinen Drüsen 
bei Epilepsie, die— wenn auch nicht konstante — jedoch bedeutende 
Veränderungen ergeben haben. C1 aud und Schmiergeld 1 ) haben 
weitgehende Veränderungen in der Thyreoidea gefunden, die in 
diffuser Sklerose neben hypertrophischen Herden bestanden. Die Ver¬ 
änderungen in der Hypophyse, Parathyreoidea, Ovarium, Nebenniere 
wiesen auf eine Hypofunktion dieser Drüsen hin. Voll and 2 ) hat 
auf 102 Autopsien von Epilepsie 24 mal eine Thymus persistens 
gefunden. Ohlmacher 3 ) betont die Häufigkeit des Status thymico- 
lymphaticus und Thymus persistens bei Epileptikern und betont die 
Wichtigkeit dieser Befunde für die Pathogenese der Epilepsie. Auch 
Redlich 4 5 ) gibt den Einfluß der endocrinen Drüsen auf die Epi¬ 
lepsie zu und glaubt, „daß die Drüsen mit innerer Sekretion bei der 
Epilepsie mindestens bei der Auslösung epileptischer Anfälle eine 
nicht unbedeutende Rolle spielen.“ 

Dieses Verhältnis der Epilepsie zur inneren Sekretion läßt die 
Vermutung zu, daß bei der Epilepsie eine noch nicht näher bekannte 
Störung der Funktion der endocrinen Drüsen vorhanden ist, bei der ein 

4 ) Claud und Schmiergeld, C. r. Soc. de Biol., 1908, II, 
pag. 80 und 138. 

2 ) Volland, Zeitschrift für ges. Neurol. und Psych., Orig. Bd. 3. 

5 ) Ohlmacher, Ref. Jahrb. für Psych., 1898, S. 816 und 1901, 
S. 595. 

4 ) Redlich, Referat erstattet auf der Tagung der Gesellschaft 
deutscher Nervenärzte in Hamburg, 1912 (S. Karger, Berlin, 1913). 

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Dr. J. Rothfeld. 


schon geringer Hydrocephalus genügen kann, um eine Funktions¬ 
störung der Hypophyse zu verursachen, eine Störung, die sich in 
der Dystrophia adiposo-genitalis kennzeichnet. Es müßte in diesen 
Fällen, wie unserem Fall 3, 4 und 5 nicht bloß der Hydrocephalus 
für die Entstehung der Dystrophie beschuldigt werden, vielmehr ist 
anzunehmen, daß bereits eine Disposition bestand und daß der 
Hydrocephalus nur ein auslösendes Moment darstellt. . 

Das Aufdecken solcher disponierender Momente, im allgemeinen 
aller der Faktoren, die zur Entstehung der hypophysären Fettsucht 
und der Genitalatrophie bei Hydrocephalus beitragen können, scheint 
uns aus diesem Grunde von Bedeutung zu sein, weil sie, bis zu 
einem gewissen Grade, den Zusammenhang zwischen Hydrocephalus 
und dem erwähnten Symptomenkomplexe werden erklären können. 

Ich will hier kurz auf die Untersuchungen von Stumpf 1 ) 
verweisen, der auf Grund topographischer Studien beweist, daß der 
Druck eines mäßigen Hydrocephalus nur den vorderen Teil der 
Hypophyse komprimiert, wogegen der neurale Anteil unversehrt 
bleibt. Da eine Kompression bloß des drüsigen Teiles — wie 
Stumpf zugibt — die Dystrophie nicht auszulösen vermag, so 
wäre die Entstehung dieser Erscheinungen bei mäßigem Hydro¬ 
cephalus, wie in unserem Fall 3, 4 und 5, ohne eine schon bestehende 
Läsion der normalen Korrelation der endocrinen Drüsen zueinander 
anzunehmen, unverständlich. 

Aber nicht bloß für die Fälle von geringem Hydrocephalus 
ist eine solche Ausnahme notwendig, sondern auch für Fälle, wo 
der Hydrocephalus beträchtlicher ist. Nach Stumpf wird zwar der 
nervöse Anteil bei hochgradigem Hydrocephalus stets komprimiert, 
jedoch kann eine Dystrophia adiposo-genitalis bei chronischem Hydro¬ 
cephalus entstehen, „ohne daß der Türkensattel erweitert ist und 
die Hypophyse erheblich komprimiert erscheint.“ Auch histologisch 
kann man nach Stumpf in Fällen auch von hochgradigem Drucke 
keine deutlichen Unterschiede im Bau des Hirnanhanges nachweisen, 
ohne Rücksicht auf das Vorhandensein oder Fehlen der Dystrophie 
Da jedoch die Abhängigkeit dieses Symptomenkomplexes von der 
Hypophyse als sichergestellt anzunehmen ist, glaubt Stumpf, daß 
der Hydrocephalus eine Beeinträchtigung der Beziehung zwischen 
Hypophyse und Gehirn bewirkt. 


*) Stumpf: Virchows Archiv, Bd. 209, H. 3, S. 339. 


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Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydrocephalus usw. 149 

Aus den von Stumpf festgestellten anatomisch-histologischen 
Tatsachen, wie aus dem bereits erwähnten Umstande, daß nicht in 
jedem Fall von hochgradigem Hydrocephalus die Dystrophie auf- 
tritt, ergibt sich, daß der Hydrocephalus als solcher zur Erklärung 
des gleichzeitig bestehenden Fröhlich sehen Symptomenkomplexes 
nicht ausreicht, und daß wir noch nach anderen ursächlichen Momenten 
fahnden müssen. Auf diese hinzuweisen, wäre vorderhand reine 
Hypothese, insbesondere, da noch viele Fragen auf dem Gebiete der 
Physiologie und Pathologie der inneren Sekretion auf eine Lösung 
warten. 

Wenn für die Entstehung der Dystrophia adiposo-genitalis bei 
Hydrocephalus eine erschöpfende Erklärung fehlt, so vermissen wir 
sie vollkommen in den Fällen, wo kein nachweisbarer Hydrocephalus 
vorhanden ist. Dies betrifft Fälle von genuiner Epilepsie mit Adi¬ 
positas und Aplasie der Genitalien. Stern 1 ) hat sechs solche Fälle 
von Epilepsie beobachtet, bei welchen er starke Adipositas, geringe 
Behaarung der Achselhöhlen und Schamgegend, trockene Haut, 
Sterilität feststellen konnte. Symptome, die auf eine direkte Er¬ 
krankung der Hypophyse hinweisen könnten, fehlten vollkommen. 
In diese Gruppe der Fälle gehören auch Neuraths „Fettkinder“ 
mit Epilepsie, ohne Hydrocephalus. 

Diesen Fällen möchte ich die mir von Herrn Professor 
Redlich in freundlichster Weise überlassenen Fälle von Epilepsie 
mit dystrophischer Störung hinzufügen. 

Fall 6. 

N., 17 Jahre alt. Keine hereditäre Belastung. Patient ist seit 
langem nervös, reizbar, klagt oft über Schwächegefühl; Schlaf und 
Appetit gut. — Libido herabgesetzt. Objektiv: Sehr fettleibig, 
deutliche Fettwülste in der Mammagegend, hier vielleicht auch 
Drüse tastbar. Genitale normal. Kein deutliches Pomum Adami. —, 
Stimme noch nicht mutiert. Augenhintergrund normal, keine Zeichen 
einer primären Hypophysenerkrankung, Reflexe gesteigert, Herz¬ 
tätigkeit beschleunigt. 

Fall 7. 

8 Jahre alt. Einziges Kind; Eltern gesund. Bis zum zweiten Jahr 
zart, dann — wegen Lymphdrüsenaffektion stark gefüttert — beträcht- 

J ) Stern: Jahrb. für Psych. Bd. 30. 1909. 


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Dr. J. Rothfeld. 


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liehe Zunahme an Körpergewicht. Hat zur rechten Zeit sprechen 
und gehen gelernt. Objektiv: Körperlänge 135 cm Gewicht 42 kg. 
Schädel ziemlich groß, jedoch keine deutlichen hydrocephaüschen 
Kennzeichen. Hirnnerven frei. Fundus normal. In der Mamma¬ 
gegend starke Fettansammlung, keine Drüse zu fühlen, Formen 
feminin. — Schilddrüse nicht palpabel. Aplasie des Genitale, 
Penis sehr klein, linker Hoden überbohnengroß, rechter nicht zu 
fühlen, auch nicht im Leistenkanal. 


Fall 8. 

B., 10 Jahre alt. Die Mutter des Patienten hat während der 
Gravidität mit diesem Kinde an epileptischen Anfällen gelitten, 
Patient hat mit neun Monaten Fraisen gehabt, dann typische 
epileptische Anfälle. Objektiv wurde nur eine bedeutende Fett¬ 
leibigkeit verzeichnet — vielleicht Andeutung von Myxödem. 


Fall 9. 

P., 15 Jahre alt. Familienanamnese ohne Belang. Mit neun 
Monaten Sturz mit Bewußtlosigkeit; keine Konvulsionen. Mit zehn 
Jahren erster Anfall. Objektiv: Mittelgroß, sehr fettleibig, Genitale 
dem Alter entsprechend, Augenhintergrund normal. Röntgenbefund 
negativ. 

Wiewohl ich mir darüber bewußt bin, daß aus diesen nur 
kurz skizzierten Fällen keine weitgehenden Schlüsse zulässig sind, 
so möchte ich nur darauf hinweisen, daß wir in diesen Fällen den 
Hydrocephalus vermissen, den wir in den oben beschriebenen Fällen 
von Epilepsie (Fall 3, 4 und 5) feststellen konnten und als 
auslösendes Moment für die Entstehung der Dystrophie angenommen 
haben und daß wir vielmehr in der Epilepsie selbst, respektive in 
den Beziehungen der Epilepsie zur inneren Sekretion die Ursache 
für ihre Entstehung suchen müssen. — 

Ich möchte noch zum Schluß die jüngst von K. Goldstein 
in der Königsberger Gesellschaft demonstrierten Fälle erwähnen, 
die zwei Geschwister betreffen, bei denen starke Adipositas mit 
besonderer Fettansammlung am Bauche, in der Mammagegend, Mons 
Yeneris, Aplasie der Genitalien gefunden wurde. Keine zerebralen 
Symptome. Röntgenuntersuchung des Schädels ergab eine sehr kleine 


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Über Dystrophia adiposo-genitalis bei Hydrocephalus usw. 151 


Sella turcica. Goldstein will in diesen zwei Fällen, in Anbetracht 
des negativen Nervenbefundes und der kleinen Sella turcica, eine 
„Hypoplasie des Hypophysenhinterlappens“ für die Entstehung der 
Dystrophie verantwortlich machen. 

Diese zwei Fälle bilden das letzte Glied in der großen Reihe 
von Fällen, in welchen die Dystrophia adiposo-genitalis vorkommt: 
Tumoren der Hypophyse und Hypophysengegend, Hydrocephalus 
chronicus, Fälle von Epilepsie mit und ohne Hydrocephalus, endlich 
Fälle, wo die Dystrophie das einzige Symptom darstellt. Schon diese 
Verschiedenheit der Fälle, die Verschiedenheit der zu Grunde 
liegenden primären Erkrankung, — in manchen Fällen eine direkte 
Läsion der Hypophyse, in anderen eine sekundäre, näher nicht 
präzisierte Schädigung, in einer Anzahl der Fälle wieder eine 
nur vermutliche Störung — dies weist darauf hin, daß in der 
Pathogenese der Dystrophia adiposo-genitalis mehrere, noch unbekannte 
Faktoren eine Rolle spielen und daß nicht jeder Fall durch die 
jetzt herrschenden Theorien erklärt werden kann. — 

Wenn wir außerdem den Umstand in Erwägung ziehen, daß 
die Adipositas auch nach primären Läsionen der Geschlechtsdrüsen 
auftreten kann (Schüller 1 ), Tandler und Groß) 2 ), daß siebei 
Eunuchoiden und Kastraten mit gesteigertem Längewachstum 
(P e r i t z 3 ), T a n d 1 e r) bei physiologischer Involution der Keimdrüsen 
zum Vorschein kommt — Symptome, die wahrscheinlich auf dem 
Umwege durch die Hypophyse zustande kommen (Marburg, 
Tandler, Peritz) —, so sehen wir, welch komplizierte Erschei¬ 
nung die Dystrophia adiposo-genitalis darstellt und welch kompli¬ 
zierter Mechanismus ihre Entstehung bedingt. 


*) Schüller: Arb. Obersteiners, 1907. 

2 ) Tandler und Groß: Wiener klinische Wochenschrift, 1907, 
1910, Archiv für Entwicklungsmechanik, 1909 und 1910, siehe auch 
Tandler: Wiener klinische Wochenschrift, 1908, 1910. 

3 ) Peritz: Neurol. Zentralblatt, 1910, Nr. 23. 


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Wanderversammlung des Vereines für Psychiatrie 
und Neurologie in Wien am 18. März 1913. 

i. 

Referat über die Änderung des offiziellen Biagnosenschemas 
für die statistischen Berichte der Irrenanstalten in Österreich. 

Erstattet von 

Regierungsrat Dr. Heinrich Schloß. 

Allenthalben auf deutschem Sprachgebiete — in Deutschland 
wie in Österreich — machte sich mit dem Fortschritt der psy¬ 
chiatrischen Diagnostik die Notwendigkeit fühlbar, die zu den amt¬ 
lichen Statistiken der psychischen Krankheitsformen verwerteten, 
veralteten Schemen einer zeitgemäßen Umarbeitung zu unterziehen. 
Auf den Jahresversammlungen des deutschen Vereines für Psy¬ 
chiatrie wurden lange Debatten in dieser Beziehung geführt, die 
jedoch zu keinem positiven Ergebnis führten. Später kam auf Grund 
persönlicher Besprechungen zwischen der psychiatrischen Klinik 
Heidelberg und den Heil- und Pflegeanstalten Illenau und Wies- 
loch ein Diagnosenschema zustande, welches H. Roemer in der 
Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie (Band XI, 
Heft 1/2) veröffentlicht hat. Dieses bei der Einteilung der Psy¬ 
chosen und Psychopathien bis in die Einzelheiten durchgeführte 
Diagnosenschema wurde jedoch von dem Verfasser selbst in einem 
Nachtrag vereinfacht, nachdem der „deutsche Verein für Psychiatrie“ 
gelegentlich der letzten Jahresversammlung in Kiel beschlossen 
hatte, Vorschläge für eine zeitgemäße Änderung der Statistik der Irren¬ 
anstalten ausarbeiten zu lassen, wobei jedoch nur die Aufzählung 
der hauptsächlichsten Krankheitsformen in Betracht kommen sollte*). 

l ) Siehe H. Roemer: Eine Einteilung der Psychosen und Psycho¬ 
pathien für die Zwecke der Statistik, vereinbart zwischen der psy¬ 
chiatrischen Klinik Heidelberg und den Heil- und Pflegeanstalten Illenau 
und Wiesloch, 1. c. 


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Offizielles Diagnosenschema der Irrenanstalten. 


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In Österreich wurden die statistischen Jahresberichte der 
Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke nach einem Formulare 
verfaßt, an welches diese Institute dem Erlaß des Ministeriums des 
Innern vom 24. Jänner 1894, Z. 851, zur Folge gebunden waren. 

Dieses Formulare (lit. D;) enthält das folgende, von Meynert 
verfaßte und empfohlene Diagnosenschema: 

1. Angeborener Blödsinn, 

2. angeborener Schwachsinn, 

3. Selbstanklagewahn, 

4. Tollheit, 

5. Verwirrtheit, allgemeiner Wahnsinn, 

6. primäre Verrücktheit, partieller Wahnsinn, 

7. periodische Geistesstörung, 

8. erworbener Blödsinn, 

9. paralytische Geistesstörung, 

10. epileptische Geistesstörung, 

11. hysterische Geistesstörung, 

12. neurasthenische Geistesstörung, 

13. Geistesstörung mit Herderkrankuug, 

14. Geistesstörung mit Pellagra, 

15. Alkoholismus, 

16. andere Intoxikationspsychosen, (Morphinismus, Kokainismus, 
Chloralismus usw.), 

17. Simulation, 

18. ohne Geistesstörung, 

19. in Beobachtung. 

Einer Kritik dieses Schemas, welche uns zweckmäßige Winke 
und Fingerzeige zur Entwertung eines neuen, dem gegenwärtigen 
Stande der psychiatrischen Wissenschaft entsprechenden Schemas 
zu geben geeignet ist, soll aber zweckmäßig eine Erörterung der 
Frage vorausgehen, ob eine amtliche Statistik der Geistesstörungen 

— die in den Heil- und Pflegeanstalten zur Beobachtung kommen 

— nach einem auf wissenschaftlicher Grundlage aufgebauten 
Diagnosenschema überhaupt notwendig erscheint, und ob es nicht 
der offiziellen Statistik genügen würde, lediglich die Anzahl der 
in den bezeichneten Anstalten behandelten Kranken zu verzeichnen, 
die weitere Sonderung dieser Fälle aber nach wissenschaftlichen 
Diagnosen als Sache ohne allgemeinen Wert der Forschung der 
dafür interessierten Fachmänner zu überlassen. 


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Dr. Heinrich Schloß. 


Diesbezüglich soll bemerkt sein, daß eine Einteilung des in 
den Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke untergebrachten 
Krankenmateriales nach einem auf nosologischer Gruppierung be¬ 
ruhenden offiziellen Schema einesteils den Zweck hat, diese Anstalten 
zu einer dem heutigen Stande der Psychiatrie entsprechenden^ 
wissenschaftlich begründeten Differenzierung der verschiedenen 
Krankheitsformen anzuregen, und daß andernteils eine jährliche 
Übersicht über das nach den verschiedenen Krankheitsformen ein¬ 
geteilte Krankenmateriale dieser Anstalten praktisch statistischen 
Zwecken dient. Und diesen Zwecken entspricht eine möglichst über¬ 
sichtliche und knappe Aufzählung der hauptsächlichsten Krankheits¬ 
formen am besten. 

Was nun das angeführte Schema anbelangt, so bestehen keine 
Zweifel, daß dieses in manchen Punkten dem heutigen Stande der 
psychiatrischen Wissenschaft nicht mehr entspricht. Eine Kritik 
desselben wird uns, wie bereits gesagt, die besten Direktiven für 
eine neue, modernen Anschauungen entsprechende Einteilung der 
psychischen Krankheitsformen geben. 

Zunächst die beiden ersten Rubriken dieses Schemas: an¬ 
geborener Blödsinn und angeborener Schwachsinn. In der Anleitung 
zur Gruppierung der Geistesstörungen 1 ) gehört in diese Gruppe 
jeder Fall von angeborener oder in dem ersten Kindesalter akqui¬ 
rierter Behinderung der Intelligenzentwicklung. Es besteht also 
zwischen Rubrik 1 und 2 nur ein gradueller Unterschied wie 
zwischen Idiotie und Imbezillität. Die Idiotie — heißt es in der 
betreffenden Tabelle — hat auch den Kretinismus zu umfassen und 
zur Imbezillität gehören auch die Imbezillen mit Gefühlsentartung, 
„das heißt jene Schwachsinnigen mit Aufregung, welche vorzugs¬ 
weise durch Unverständnis der familiären und sozialen Beziehungen 
und Forderungen, durch Unfähigkeit zur Unterordnung unter diese 
auffallen, welche Imbezillität gewöhnlich mit dem weniger 
empfehlenswerten, weil irreführenden Ausdrucke moralisch Irrsinnige 
bezeichnet wird.“ 

Da die Trennung des angeborenen oder frühzeitig erworbenen 
Intelligenzdefektes in Idiotie und Imbezillität lediglich auf gra¬ 
duellen, durch keine scharfe Grenze umschriebenen Unterschieden 


x ) Siehe: Handbuch der österreichischen Sanitätsgesetze von Dr. 
Jos. Daimer, Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1896, pag. 97. 


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Offizielles Diagnosenscliema der Irrenanstalten. 


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beruht, würde sie besser vermieden werden. Den Kretinismus der 
Idiotie zuzuzählen, ist ganz ungerechtfertigt. Die psychische Sym¬ 
ptomatologie stimmt allerdings überein, trotzdem sind Idiotie und 
Kretinismus im Wesen different. Während es sich bei der ersteren 
um eine Keimschädigung handelt oder um eine Noxe, welche im 
intra- oder im früheren extrauterinen Leben das in der Entwicklung 
begriffene Gehirn des Kindes Schädigte, liegt das Wesen des Kreti¬ 
nismus im Funktionsausfall der Thyreoidea. Davon soll noch später 
die Rede sein. 

Das moralische Irresein in eine Rubrik zu geben mit dem 
angeborenen oder frühzeitig erworbenen Intelligenzdefekt ist wohl 
nicht ganz einwandfrei. Richtig ist, daß der moralische Schwach¬ 
sinn zumeist auf hereditär-degenerativer Basis beruht, also an¬ 
geboren und zum mindesten häufig mit intellektuellem Schwach¬ 
sinne kombiniert ist. Anderseits aber kann er sich auch auf Grund 
einer Gelegenheitsursache erst im späteren Lebensalter entwickeln 
und — ob angeboren oder nicht — nach der Anschauung vieler 
Psychiater bei gut entwickelter Intelligenz bestehen. Letztere Fälle 
würden dann allerdings nicht in eine Gruppe mit den Zuständen 
angeborenen oder frühzeitig erworbenen Intelligenzdefektes passen. 
Es würde sich daher wohl am besten empfehlen, die Fälle von 
moralischem Irresein in einer besonderen Rubrik anzuführen. 

Es wäre also nach Ausscheidung des Kretinismus und des 
moralischen Schwachsinnes und nach Vereinigung aller angeborener 
und frühzeitig erworbener Intelligenzdefekte — mögen sie graduell 
noch so verschieden sein — in einer Gruppe diese zu betiteln: 
Angeborene oder frühzeitig erworbene Intelligenzdefekte. 

Gruppe 3 des bisherigen Diagnosenschemas lautet: Selbst¬ 
anklagewahn. In der Anleitung zur Gruppierung der Geistesstörungen 
heißt es wörtlich: „Die Melancholie oder der Selbstanklagenwahn. 
Die Symptome sind: traurige Verstimmung, Gedanken- und Be¬ 
wegungshemmung, Selbstanklage-Delirium und eigener Kleinheits¬ 
wahn neben Überschätzung anderer Menschen.“ Es ist also in dieser 
Anleitung der Selbstanklagewahn mit der Melancholie identifiziert, 
gewiß mit Unrecht, da es einesteils Melancholien ohne Selbst¬ 
anklagewahn gibt, anderseits Selbstanklagen auf wahnhafter Grund¬ 
lage auch bei Paranoia, Dementia praecox, Hysterie, Alkoholismus 
und auf der degenerativen Basis bei angeborenem Schwachsinne 
Vorkommen. Von diesem Standpunkte genommen wäre es also besser 


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I)r. Heinrich Schloß. 


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die Rubrik „Melancholie“ zu betiteln, doch ist auch hier zu be¬ 
denken, daß diese Rubrik nie einwandfreie statistische Daten er¬ 
geben wird, da es verläßliche Kriterien für eine Unterscheidung 
der echten Melancholie von der zirkulären oder periodischen über¬ 
haupt nicht gibt übrigens auch die echte Melancholie — wie 
alle akuten funktionellen psychischen Störungen — zu Rezidiven 
neigt. Davon noch später. Die senilen Depressionszustände sollten 
aus der Rubrik „Melancholie“ ausgeschieden werden und würden 
besser unter der Diagnose „senile Demenz“ Anführung finden. 

Die vierte, im alten Diagnosenschema enthaltene Rubrik ist 
betitelt „Tollheit“ und in der Anleitung wird gesagt: „Die Manie, 
Tollheit, ist der wirkliche Gegensatz zur Melancholie. Die Er¬ 
scheinungen sind: heitere Verstimmung, Gedanken-und Bewegungs¬ 
flucht, eigener Größenwahn neben Unterschätzung der anderen 
Menschen. Hieher gehören auch gewisse Formen sogenannten mo¬ 
ralischen Irrsinnes, welcher besser als das manische Bild der Ge¬ 
fühlsentartung zu bezeichnen wäre.“ 

Auch diese Rubrik muß zu bedenklichen statistischen Resul¬ 
taten führen in Anbetracht des Umstandes, daß die Manie nur 
höchst selten als einfache Geistesstörung auftritt und in der Regel 
nur als einzelner Anfall einer zirkulär oder periodisch verlaufenden 
Geistesstörung aufzufassen ist. 

Der Ausdruck „Tollheit“ sollte fallen gelassen werden; wenn 
auch in früherer Zeit dieser Ausdruck mit dem Krankheits¬ 
begriff der Manie sich deckte, so ist er doch heute veraltet und 
ungebräuchlich. 

Die fünfte Diagnose „Verwirrtheit oder allgemeiner Wahnsinn“ 
ist nach der Anleitung durch die Zusammenhanglosigkeit der Asso¬ 
ziationen charakterisiert. „Von der ungeordneten Reproduktion nahe¬ 
liegender, aber bedeutungsloser Rindenbilder in Assonanzen, Meta- 
pheren, Wortaufzählungen bis zum Gedanken- und Bewegungs¬ 
stillstand : Stupor, finden sieb mannigfache Übergänge, so Zusammen¬ 
hanglosigkeit der Beziehungen mit dem Gegenstände bis zur Auf¬ 
lösung der Bestandteile der Wörter als pseudaphasische Verwirrt¬ 
heit, langandauernde Beschränkung auf einzelne, immer wiederholte 
Wörter: Verbigeration Kahlbaums, oder ebenso wiederholte Einzel¬ 
bewegungen: Bewegungsstereotypien. Häufig ist die Amentia von 
reichen Halluzinationen begleitet: Halluzinatorische Verwirrtheit. 
Die Stimmung ist verschieden, oft anfangs angstvoll, oft im Ver- 


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Offizielles Diagnosenschema der Irrenanstalten. 


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laufe heiter und geht der Zustand häufig durch ungeordnete und 
geordnete Manie in Heilung über. Beginn stets, Verlauf häufig 
akut, letzterer mitunter sehr kurz, transitorisch, doch bei zusammen¬ 
gesetzten Formen jahrelang.“ 

In dieser Anleitung sind die wesentlichen Kriterien der Amentia 
im Sinne Meynerts enthalten: Die Zusammenhanglosigkeit der 
Vorstellungen, die Halluzinationen, während die Stimmung in ver¬ 
schiedenen Fällen eine verschiedene, in jedem Falle aber eine 
veränderliche ist. 

Diese Definition entspricht einer noch heute anerkannten 
klinischen Einheit, der Amentia oder der akuten halluzinatorischen 
Verwirrtheit, und es obwaltet kein Anstand, diese Rubrik, jedoch 
unter verändertem Titel beizubehalten, indem der Passus „all¬ 
gemeiner Wahnsinn“ fallen gelassen und durch „akute halluzina¬ 
torische Verwirrtheit“ ersetzt wird. Fälle, welche Verbigeration oder 
Bewegungsstereotypien zeigen, sind nach der heutigen Auffassung 
der Dementia praecox zuzuzählen und aus der Rubrik Amentia 
auszuscheiden. 

Bezüglich der sechsten Rubrik, welche sich betitelt: „Para¬ 
noia, primäre Verrücktheit, partieller Wahnsinn“ sagt der Kom¬ 
mentar : „Beginn allmählich, Verlauf chronisch. An hypochondrische 
Sensationen und Halluzinationen schließt sich der Wahn des Auf- 
sichbeziehens der Wahrnehmungen, der zum Beachtungswahn oder 
zum Verfolgungswahn und zum Größenwahn wird. Letztere finden 
sich häufig vereinigt. Die Befähigung zum geordneten Ausdrucke 
ist ein Differentialsymptom von Amentia. Angst und hypochondrische 
Verstimmungen kommen häufig, oft nur vorübergehend, vor. Selbst¬ 
anklagen sind selten, meist leicht zu widerlegen und erklären sich 
aus dem Wahne äußerer Beeinflussung. Dazu gehört auch der 
Verfolgungswahn mit Verfolgungssucht, insbesondere die Proze߬ 
krämerei, der Querulantenwahn.“ 

Der Begriff der Paranoia als einer Krankheit sui generis fand 
unter dem Einflüsse der Kraepelinschen Lehre eine allmähliche 
Einengung und es ließen sich selbst Stimmen vernehmen, die der 
Paranoia die Existenzberechtigung überhaupt absprachen und sie 
als ein Zustandsbild des manisch-depressiven Irreseins auffaßten. 
Aber die obige Definition entspricht •— zwar nicht unbestritten 
und allgemein — dennoch nach den Anschauungen eines großen 
Teiles der Psychiater auch heute noch dem Begriff der Paranoia 


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Dr. Heinrich Schloß. 


welche durch die chronisch fortschreitende Entwicklung von systemi- 
sierten Wahnvorstellungen und das Vorhandensein von Halluzi¬ 
nationen (zumal des Gehörsinnes) bei Fehlen von primären Stim¬ 
mungsanomalien und Störungen des Assoziationsprozesses charak¬ 
terisiert ist. 

Die Aufrechterhaltung einer Rubrik in diesem letzteren Sinne 
und die Bezeichnung derselben als „Paranoia-Verrücktheit“ erscheint 
mithin gerechtfertigt. 

In dieser Rubrik könnten auch alle jene Fälle Anführung 
finden, deren Abnormität sich lediglich auf pathologische Charakter¬ 
eigentümlichkeiten beschränkt, welche also die sogenannte originär 
paranoische Konstitution aufweisen, dies um so mehr, als ohnedies 
nur solche hieher gehörige Fälle in Anstalten sich zu finden pflegen, 
bei denen sich die pathologische Charakterveränderung in allmäh¬ 
licher Verschlimmerung zu einer ausgesprochenen Psychose ent¬ 
wickelt hat. 

Auch die Auffassung der im Kommentar angeführten Psychose 
„Verfolgungswahn mit Verfolgungssucht — Die Prozeßkrämerei 
oder der Querulantenwahn“ als Form der Paranoia ist zu recht- 
fertigen. Die nosologische Stellung des Querulantenwahns ist noch 
vielfach kontrovers. Specht (1. c.) spricht von einer „Querulanten¬ 
manie“, indem er bei der als Querulantenwahn bisher bezeichneten 
Psychose die ganze Symptomatologie der Manie feststellt. Diese 
Auffassung wird wohl kaum allgemeinen Anwert finden. Andernteils 
verdienen aber doch die Stimmen jener Psychiater Beachtung, 
welche den Querulantenwahn von der Paranoia trennen wollen, 
so Heilbronner 1 ), der beim Querulanten — im Gegensätze 
zum Paranoiker mit seiner ganz diffusen, krankhaften Eigen¬ 
beziehung in den Initialstadien — einen wirklichen Beziehungs¬ 
wahn findet im Sinne einer überwertigen Idee, Bonhöffer 2 ), 
der das Wesen des Querulantenwahnsinnes zumeist in paranoischen 
Episoden bei abnorm veranlagten Individuen erkennt, welch erstere, 
durch äußere Umstände entstanden, auch wieder verschwinden 


x ) Heilbronner: Hysterie und Querulantenwahn, Gaupps 
Zentralblatt, 1907. 

2 ) Bonhöffer: Klinische Beiträge zur Lehre von den Degene¬ 
rationspsychosen, Halle, 1907. 


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Offizielles Diagnosenschema der Irrenanstalten. 


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können. Und dieser Auffassung schließen sich Silfert 1 ) und 
Wi lim an ns 2 ) an. 

Wie dem immer sein möge, ob im Sinne Hitzigs und 
Kraepelins der Querulantenwahnsinn sozusagen das Prototyp 
der Paranoia ist, oder ob es sich bei ihm um eine durch äußere 
Umstände hervorgerufene krankhafte Entwicklung einer degenerativen 
Anlage handelt, sicher ist, daß auch in diesem Sinne der Queru¬ 
lantenwahn der Paranoia nahesteht, insoferne die beim Querulanten¬ 
wahnsinn auftretenden Wahnvorstellungen als von außen ausgelöste 
Reaktionen hei zur Bildung von Wahnvorstellungen veranlagten 
Individuen aufzufassen sind. Ob also der Querulantenwahnsinn mit 
der Paranoia identisch ist oder nicht, es liegt jedenfalls die 
Berechtigung vor, ihn in einer eigenen Rubrik neben die Paranoia 
zu stellen. 

Eine weitere Diagnose — die siebente — betitelt sich „perio¬ 
dische Geistesstörung“. Die Anleitung knüpft daran die Worte: 
„Sie umfaßt die periodische Manie und Melancholie, die periodische 
Verwirrtheit, die Dipsomanie und die periodischen Anfälle von 
kombinierter Melancholie und Manie, das sogenanute zirkuläre 
Irresein.“ 

Bei dieser Gruppe kann auf Manches zurückgegriffen werden, 
was bei der Besprechung der Gruppen Melancholie und Manie 
bereits gesagt wurde. 

Dort wurde schon darauf verwiesen, daß die Frage, ob es eine 
einfache Melancholie oder Manie gebe, nicht gelöst, vielleicht auch 
nicht lösbar sei, daß es charakteristische Merkmale für die „echte“ 
Melancholie oder Manie zum Unterschiede von einer Phase im 
Verlaufe einer periodischen Psychose nicht gebe. Auch die Frage, 
ob man von periodischer Geistesstörung oder von Rezidiven sprechen 
soll, ist ungeklärt, und wenn auch der eine oder der andere Fall 
zu Gunsten der einen oder anderen Auffassung gedeutet werden 
kann, so sind andere Fälle wieder willkürlich einer anderen Aus¬ 
legung preisgegeben. 

Von diesem Standpunkt aus würde es sich, um etwaige 


! ) Silfert: Über die Geistesstörungen in der Strafhaft, 
Halle, 1907. 

2 ) Willmanns: Gaupps Zentralblatt, 1907, pag. 417, und „Zur 
klinischen Stellung der Paranoia“, Gaupps Zentralblatt, 1910. 


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Fehlerquellen möglichst zu vermeiden, am besten empfehlen, die 
Diagnosen: Manie, Melancholie und Mischformen, worunter solche 
Fälle zu verstehen wären, bei welchen manische und melancholische 
Zustandsbilder sich folgen, in einer „manisch-depressives Irresein“ 
betitelten Gruppe zusammenzufassen. Leichtere, die sogenannte 
manisch-depressive Konstitution begründende Fälle: die konstitu¬ 
tionelle Verstimmung, die konstitutionelle Erregung und die 
Zyklothymien, würden leicht in dieser Gruppe ihre Einreihung finden. 

Die obige Anleitung spricht auch die periodische Verwirrtheit 
der Gruppe „periodische Geistesstörung“ zu. Auch die Verwirrtheit 
neigt wie alle akuten Psychosen zu Rezidiven, und auch hier ist 
die Frage, wo die Rezidive aufhört und die Periodizität beginnt, 
nicht so leicht zu lösen. 

Es wird sich daher vielleicht auch hier eine ähnliche Präventiv¬ 
maßregel empfehlen wie vorhin, die amentialen Formen in einer 
Gruppe zusammenzufassen, welche die Verworrenheitszustände — 
Amentia und periodische Verworrenheitszustände — in sich vereinigen 
würde. 

In obigem Kommentar fungiert ferner noch die Dipsomanie 
in der Gruppe der periodischen Geistesstörung. Diese Krankheit, 
in seltenen reinen Fällen durch das periodische Einsetzen eines 
unwiderstehlichen Triebes nach Alkoholgenuß im allgemeinen 
charakterisiert, könnte mit den übrigen Geistesstörungen, welche 
durch die periodische Wiederkehr eines krankhaften Triebes charak¬ 
terisiert sind, wie die periodische sexuelle Psychopathie, die periodische 
Kleptomanie, Pyromanie usw., in einer besonderen Gruppe vereinigt 
werden. Es würde sich also den obigen Gruppen eine dritte angliedern 
unter dem Titel: Periodische Zwangszustände mit zwei Rubriken: 
„Dipsomanie“ und „andere periodisch auftretende krankhafte Triebe“. 

Eine weitere Diagnose im alten Schema: „Dementia, erworbener 
Blödsinn“ findet in der Anleitung folgende Unterteilung: 

„a) die sekundäre Geistesstörung, der aus anderen Geistes¬ 
störungen hervorgegangene Blödsinn und Schwachsinn und 

b) der senile Schwund, sowie 

c) der durch Trauma oder Asphyxie bewirkte primäre Blödsinn 
und Schwachsinn.“ 

In dieser Gruppe sind mithin dreierlei in ihrem Wesen und 
in ihrer Genesis ganz verschiedene Demenzzustände vereinigt. Was 
die in der Anleitung als sekundäre Geistesstörung bezeichnete 


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Offizielles Diaguosenschema der Irrenanstalten. 161 

Demenzform anbelangt, werden die in diese Rubrik gehörigen Fälle 
wie früher auch fernerhin im Zusammenhänge mit der ursprünglichen 
psychischen Erkrankung zweckmäßig angeführt. Die senile Demenz 
bildet eine Gruppe für sich. Der durch Trauma oder Asphyxie 
bewirkte primäre Blödsinn und Schwachsinn wird in verschiedenen 
Rubriken Platz finden. 

Es würde sich also die Gruppe „Erworbener Blödsinn“ eigentlich 
auflösen. Hingegen würde, einer modernen Auffassung entsprechend^ 
eine neue Diagnose einzustellen sein, die Dementia praecox. Gelegent¬ 
lich der Besprechung der Paranoia wurden letzterer im Sinne der 
früheren Definition chronisch fortschreitende Entwicklung und 
Systemisierung von Wahnideen und Halluzinationen als Symptome 
zugeschrieben, während primäre Stimmungs- und Assoziations¬ 
anomalien fehlen. 

Der Begriff der Dementia praecox läßt sich eben nur unter 
Bedachtnahme auf die Auffassung des Begriffes „Paranoia“ festsetzen. 
Es bleiben, wenn der Paranoia der durch die obige Definition 
gegebene Umfang zugesprochen wird, der Dementia praecox nur 
jene eigenartigen, häufig juvenilen Verblödungsprozesse übrig, die 
bald als einfache Demenz, bald mit allerlei psychopathischen Zügen, 
wie Wahnideen, Sinnestäuschungen, Spannungszuständen usw., unter 
den mannigfaltigsten Zustandsbildern verlaufen. Das Mißverhältnis 
zwischen Affektlage und Vorstellungsinhalt, zwischen anscheinender 
Klarheit und dem absonderlichen Handeln und der rasche Wech¬ 
sel im Krankheitsverlaufe treten im Bilde dieser Fälle hervor, 
während die Sinnestäuschungen, wo sie vorhanden sind, nichts 
Charakteristisches an sich haben, ebensowenig wie die der Systemi¬ 
sierung entbehrenden, abrupten Wahnvorstellungen. Das motorische 
Gebaren, Ticks, Grimassen, Schrullen, Sonderbarkeiten, die als 
katatone Symptome bezeichneten eigentümlichen Spannungszustände 
in der willkürlichen Muskulatur: Katalepsie, Flexibilitas cerea, 
Negativismus, ferner Bewegungsstereotypien, Verbigeration, Echo- 
praxie und Echolalie, Vorbeireden, sind ebenso kennzeichnend für 
die Dementia praecox, wie der Wechsel der Symptome, z. B. des 
katatonen Stupors mit völlig geordnetem Verhalten. Remissionen 
sind häufig, bei schwerer erblicher Belastung zeigen die Symptome 
oft Periodizität. Die Kranken sind trotz, ja im Gegensätze zu ihrem 
unsinnigen Handeln, zu den zahlreichen Sinnestäuschungen und 
Wahnideen auffallend orientiert. Verworrenheitszustände leiten 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. H 


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mitunter die Kraukheit ein, mitunter schieben sie sich als inter¬ 
kurrente Phasen in den Verlauf. Die Krankheit führt allmählich 
zu einer mehr minder ausgesprochenen Demenz. 

Mit der Rubrik neun beginnen in dem bisherigen offiziellen 
Diagnosenschema die komplizierten Geistesstörungen, wozu die 
paralytische, die epileptische, die hysterische Geistesstörung, die 
Geistesstörung mit Neurasthenie, die Geistesstörung durch Herd¬ 
erkrankung und die Geistesstörung mit Pellagra gehören. 

Bezüglich der Diagnose „die paralytische Geistesstörung, die 
progressive Paralyse“ ist nichts zu bemerken, sie kann unverändert 
beibehalten werden. 

Zur Gruppe zehn, „Die epileptische Geistesstörung“ betitelt, 
gehört nach der Anleitung „das prä- und postepileptische Irresein, 
die akute, doch auch die chronische Verwirrtheit der Epileptiker, 
der durch Epilepsie bedingte Blödsinn und Schwachsinn“. In 
Parenthese ist hinzugefügt: „Der Begriff Epilepsie kann vom Anfall 
nicht getrennt werden. Ohne epileptischen Anfall gibt es keine 
epileptische Geistesstörung. Das Äquivalent ist eine Komplikation 
kein Ersatz.“ 

Damit würde eine ganze Gruppe epileptischer Geistesstörungen, 
welche ohne enge Beziehung zu konvulsiven Anfällen, oft sogar 
ohne solche auftreten, von einer richtigen statistischen Wertung 
ausgeschlossen oder sie würden unter Rubriken geführt werden, in 
welche sie ihrem Wesen nach nicht gehören, so die als psychische 
Epilepsie bezeichnete Bewußtseinstrübung, ohne Konvulsionen auf¬ 
tretende Dämmerzustände verschiedener Art. 

Bezüglich der Auffassung der periodisch auftretenden krank¬ 
haften Triebe wurde bereits an anderer Stelle gesprochen. 

Die interkurrenten deliranten Verworrenheitszustände vom 
Charakter der epileptischen Psychosen und die senile Epilepsie, 
möge sie sich in epileptischen Anfällen oder nur auf psychischem 
Gebiete in Form von Verworrenheits- und delirösen Zuständen 
äußern, würden, wo sie das klinische Bild des Altersblödsinnes 
kombinieren, zweckmäßig der Diagnose „senile Demenz“ zugezählt 
werden, während sie andernteils, wo sie als selbständige Psychosen 
bei sensilen Individuen auftreten, in die Rubrik „epileptische Geistes¬ 
störungen“ einzureihen wären. 

Bezüglich der Fälle von sogenannter Alkoholepilepsie wird 
noch die Rede sein. Schließlich soll noch bemerkt werden, daß 


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die Rubrik richtiger „epileptische Geistesstörungen“ betitelt 
würde. 

Die elfte Diagnose umfaßt die hysterische Geistesstörung. 
„Sie bedingt“, heißt es in der Anleitung, „den hysterischen Anfall. 
Verschwommene Symptome, die man Hysterie nennt, fallen der 
Neurasthenie zu oder stehen in der horizontalen Reihe als hysterische 
Veranlagung unter den Ursachen in Evidenz.“ 

Es wäre besser, von „hysterischen Geistesstörungen“ statt von 
„hysterischer Geistesstörung“ zu sprechen, mit Rücksicht auf die 
mannigfaltigen Formen, in welchen Psychopathien bei Hysterischen 
auftreten. Es können auch jene bleibenden psychischen Anomalien 
in dieser Rubrik Anführung finden, welche den sogenannten hyste¬ 
rischen Charakter bedingen und oft Ursache der Aufnahme in eine 
Heil- und Pflegeanstalt werden, doch bezieht sich der Ausdruck 
namentlich auf die im Verlaufe der Hysterie beobachteten Geistes¬ 
störungen, wie Dämmerzustände, delirante Verworrenheitszustände, 
die sogenannten „Ausnahms- und Fuguezustände“. 

Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Einreihung eines 
Falles in die Rubrik „hysterische Geistesstörungen“ keineswegs an 
den hysterischen Anfall gebunden ist. Es genügt die Feststellung 
der dauernden der Hysterie eigenen Geistesbeschaffenheit, auf deren 
Grundlagen sich die hysterischen Geistesstörungen entwickeln, um 
die Diagnose zu stellen, dies um so mehr, als gerade bei der hyste¬ 
rischen Psychose die körperlichen Stigmata der Hysterie — auch 
Anfälle — fehlen können. 

Als zwölfte Diagnose findet sich in dem alten offiziellen Schema 
die neurasthenische Geistesstörung angeführt. „Darunter fällt“ — 
sagt der Kommentar — „die Hypochondrie oder Pathophobie und 
das reiche Gebiet der Zwangsvorstellungen (Phobien): Grübelsucht, 
Fragesucht, die Autophobie mit dem irrigen Anscheine von Selbst¬ 
anklage, die konträre Sexualempfindung.“ Unter den Begriff der 
neurasthenischen Geistesstörung gehören aber vor allem die bei der 
konstitutionellen Neurasthenie unter dem Einflüsse gewisser Schäd¬ 
lichkeiten eintretenden transitorischen Dämmerzustände — mit und 
ohne Delirien und Wahnbildung — mit nachfolgender Amnesie 
oder nur unvollständiger Erinneruug, während die Zwangsvorstel¬ 
lungen, krankhaften Triebe, die in das Gebiet der Psychopathia 
sexualis gehörenden Anomalien des Geschlechtstriebes besondere 
Formen unter den psychopathischen Minderwertigkeiten repräsen- 

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tieren, zu welchen auch die Neurasthenie zu zählen ist. Es ist 
daher die Aufstellung einer Gruppe: „Psychopathische Minder¬ 
wertigkeiten“ mit zwei Rubriken gerechtfertigt: „Neurasthenisches 
Irresein“ und „Andere psychopathische Minderwertigkeiten, nämlich 
die Zwangsvorstellungen, die Psychopathia sexualis, die Pseudologia 
phantastica und das impulsive Irresein.“ Keinesfalls wäre die 
Diagnose neurasthenische Geistesstörung in jenen Fällen gerecht¬ 
fertigt, welche als Zyklothymien — fälschlich zirkuläre Neur¬ 
asthenie — den periodischen Geistesstörungen zuzuzählen sind. 
Ebenso würden die neurasthenischen Prodromalstadien der Paranoia, 
Dementia praecox und progressiven Paralyse den letzteren Diagnosen 
zuzuzählen sein. 

Die Diagnose 13 lautet: „Geistesstörung mit Herderkrankung“ 
und in der Erläuterung heißt es: „Geistesstörung durch Herd¬ 
erkrankung, das heißt durch Apoplexie, Erweichungsherde, Tu¬ 
moren usw.“ 

So vielgestaltig die unter dem Namen „Geistesstörung mit 
Herderkrankung“ zusammengefaßten klinischen Zustände sind und 
obwohl in der eben angeführten Diagnose weniger dem klinischen 
Bilde, als vielmehr der Ursache der psychischen Störung — der 
Herderkrankung — Rechnung getragen wird, würde es sich dennoch 
empfehlen, die Diagnose beizubehalten, weil die psychischen Ver¬ 
änderungen praktisch gegenüber den allgemeinen und lokalen Herd¬ 
symptomen sehr in den Hintergrund treten und füglich ihrer Sym¬ 
ptomatologie nach nicht in verschiedenen Rubriken geführt werden 
können. 

Es würde sich mithin empfehlen, die Diagnose „Geistesstörung 
durch Herderkrankung“ beizubehalten und in diese Rubrik ein¬ 
zuweisen die psychischen Störungen bei Hirnsyphilis, bei Gehirn¬ 
geschwülsten, bei den dauernden Herderscheinungen, welche bei 
Sklerose der Hirnarterien zu beobachten sind, bei tuberkulöser und 
eitriger Meningitis. 

Diagnose 14 „Geistesstörung mit Pellagra“. Die Geistes¬ 
störungen mit Pellagra bilden keine klinische Einheit. Trotzdem 
ist es in bezug auf das Vorkommen der Pellagra in einzelnen 
Provinzen der österreichischen Monarchie aus statistischen Gründen 
empfehlenswert, diese Rubrik beizubehalten und sie mit einer 
zweiten Rubrik, „Ergotismus,“ den toxischen Geistesstörungen zu 
subsumieren. 


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Offizielles Diagnosenschema der Irrenanstalten. 


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Die Rubriken 15 und 16 umfassen die toxischen Geistes¬ 
störungen, und zwar 15 Alkoholismus mit Einschluß des Delirium 
tremens und 16 Morphinismus, Kokainismus, Chloralismus und 
analoge Geistesstörungen. 

Die Diagnose Alkoholismus würde zweckmäßiger den Titel 
„alkoholische Geistesstörungen“ führen. In diese Rubrik gehören 
nicht nur Fälle, die lediglich den unter dem Einfluß des chro¬ 
nischen Alkoholmißbrauches sich entwickelnden psychischen Verfall 
— der sich in sittlicher Entartung und intellektueller Abschwächung 
kundgibt — zeigen, sondern auch diejenigen Fälle, welche auf dem 
Boden der chronischen Alkoholvergiftung zur Entwicklung gekom¬ 
mene Geistesstörungen aufweisen: das Delirium tremens, der akute 
Alkoholwahnsinn (die akute Halluzinose der Trinker), der patho¬ 
logische Rausch, die Alkoholparanoia (Eifersuchtswahn der Trinker) 
und die Korsakoffsche polyneuritische Psychose. Endlich würde 
es sich aus praktischen Gründen empfehlen, den einfachen Rausch 
dieser Rubrik zu subsumieren. 

Nicht dem Alkoholismus zuzuzählen wären die Dipsomanie, 
welche besser — wie bereits gesagt — in der Gruppe der perio¬ 
dischen Zwangszustände angeführt würde, und die Fälle von so¬ 
genannter Alkoholepilepsie, bei welchen die epileptische Disposition 
denn doch das grundlegende Moment, der Alkoholmißbrauch nur 
die auslösende Ursache ist, und die daher zweckmäßiger der 
Diagnose „epileptische Geistesstörung“ zugezählt werden. 

Die Diagnose 16 lautet: „Andere Intoxikationspsychosen“ 
(Morphinismus, Kokainismus, Chloralismus usw.). Es ist gegen die 
Beibehaltung dieser Diagnose nichts einzuwenden. 

Es kommen nun noch einige Diagnosen in Betracht, welche 
bei der Gruppierung auch nach den vorgeschlagenen Änderungen 
ausgeschaltet wären, so das Delirium acutum, die Myxödem¬ 
psychosen und die Basedow-Psychosen. Die selbständige Natur 
des Delirium acutum ist fraglich. Viele unter diesem Namen ge¬ 
führte Fälle sind ätiologisch und symptomatologisch lediglich als 
Fälle schwerster Amentia aufzufassen während andere sich später 
als progressive Paralyse, als Katatonie oder als eine Phase des 
manisch-depressiven Irreseins deklarieren. Sicherlich deckt sich der 
Name Delirium acutum nicht mit einem eiuheitlichen Krankheits¬ 
prozeß, es handelt sich nur um ein verschiedenen psychischen 
Störungen vielleicht unter gewissen ätiologischen Voraussetzungen 


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eigenes Zustandsbild. Es erscheint daher nicht notwendig, das 
Delirium acutum unter einer eigenen Rubrik zu führen. 

Da die Myxödempsychosen nicht besondere Formen psychischer 
Störung darstellen, sondern in den einschlägigen Fällen durch den 
bekannten myxödematösen Geisteszustand eigentümlich gefärbte 
psychische Krankheitsbilder vorliegen, die nichts Charakteristisches 
an sich haben, ist es nicht notwendig, in den offiziellen statisti¬ 
schen Berichten eine eigene Rubrik für die Myxödempsychosen offen 
zu halten. Dasselbe gilt von den bei Morbus Basedowii vor¬ 
kommenden psychischen Veränderungen. Solange dieselben sich 
lediglich in leichten Stimmungsanomalien und Reizbarkeit äußern, 
werden sie kaum je Gegenstand einer Anstaltsbehandlung sein. 
Ausgesprochene psychische Störungen aber finden in den ent¬ 
sprechenden Rubriken ihre statistische Wertung. Hingegen würde 
es sich empfehlen, für die Delirien (Delirium febrile, eklamptische 
und urämische, ferner toxische Delirien) und andere pathologische 
Bewußtseinstrübungen bei Gebärenden und Neuentbundenen eine 
Rubrik zu schaffen. Derartige Zustände kommen zwar selten in 
Anstaltsbehandlung; dennoch soll die statistische Wertung dieser 
Psychopathien im offiziellen Diagnosenschema möglich sein, da die¬ 
selben sich gegebenenfalls keiner der anderen Rubriken dieses 
Schemas angliedern ließen. 

Unter Berücksichtigung obenstehender Ausführungen würden 
sich im offiziellen Diagnoseuschema nebenstehende Rubriken fixieren 
lassen. (Siehe Seite 167.) 

Eine weitere Teilung der Geistesstörungen in größere Gruppen, 
wie einfache, komplizierte usw. Geistesstörungen, hat weder einen 
statistischen Wert noch eine wissenschaftliche Berechtigung. 

Zu dieser Gruppierung wäre folgende Anleitung zu empfehlen: 

1. Angeborene und frühzeitig erworbene Intelligenzdefekte: 

Zu diesen ist nicht bloß die im engeren Sinne angeborene, 

sondern auch die im ersten Kindesalter akquirierte und graduell 
verschiedene Behinderung der Intelligenzentwicklung mit Ausschluß 
der gewöhnlichen Taubstummheit zu rechnen. Der Kretinismus 
ist von dieser Rubrik ausgeschlossen, ebenso das moralische Irresein. 

2. Moralisches Irresein: 

Maßloser Egoismus bei Defekt der altruistischen Gefühle, 
Perversion des Affektlebens, indem Situationen, welche normal 


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Lustgefühle, beziehugnsweise Unlustgefühle hervorrufen, die ent¬ 
gegengesetzte Gefühlsreaktion veranlassen. Intelligenz kann gut 
entwickelt sein, doch kommt Kombination mit intellektuellem 
Schwachsinne vor. 

3. Manisch-depressives Irresein (Manie, Melancholie, Misch¬ 
zustände) : 

Diese Gruppe umfaßt die Manie, die Melancholie und Misch¬ 
zustände, das heißt die periodischen Anfälle von kombinierter Manie 
und Melancholie. Leichtere, die sogenannte manisch-depressive Konsti¬ 
tution begründende Fälle: Die konstitutionelle Verstimmung, die 
konstitutionelle Erregung und die Zyklothymien sind gleichfalls in 
der Gruppe manisch-depressives Irresein zu führen. 

Die Symptome der Manie sind: primäre heitere Verstimmung 
(zuweilen auch Reizbarkeit und zornige Affektlage), Gedanken- und 
Bewegungsflucht, oft bis zur Tobsucht gesteigert. Die Symptome 
der Melancholie sind: primäre ängstliche Verstimmung, Gedanken- 
und Bewegungshemmung, häufig der Stimmung entsprechende 
Wahnideen (Selb3tanklagewahn, Kleinheitswahn). 

Mischzustände. Dieselben sind dadurch charakterisiert, daß 
sich Anfälle von manischen und melancholischen Zustandsbildern 
in regelmäßiger oder unregelmäßiger Folge kombinieren. 

Die senilen Depressionszustände gehören nicht in die Rubrik 
Melancholie. 

Die Dipsomanie und andere periodisch auftretende krankhafte 
Triebe gehören nicht in diese Gruppe. 

4. Verworrenheitszustände: 

Diese Gruppe umfaßt die Amentia und die periodische Ver¬ 
worrenheit. Die Amentia ist durch die Zusammenhanglosigkeit der 
Assoziationen charakterisiert (Verwirrtheit). Die Verwirrtheit ist 
von massenhaften Halluzinationen auf allen Sinnesgebieten begleitet, 
die Stimmung ist verschieden. Die periodische Verworrenheit besteht 
in periodisch auftretenden Phasen von Verworrenheit mit massen¬ 
haften Halluzinationen und meistens hochgradiger Erregung. 

5. Periodische Zwangszustände: 

Diese Gruppe umfaßt die Dipsomanie und andere periodisch 
auftretende krankhafte Triebe. 

Ein periodischer Zwangszustand ist charakterisiert durch das 
periodische Auftreten eines bestimmten unwiderstehlichen Triebes 


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Offizielles Diagnosenschema der Irrenanstalten. 169 

zu einer Handlung, die der Kranke gegen seinen Willen und trotz 
inneren Widerspruches ausführt. 

Als Dipsomanie bezeichnet man die periodische Wiederkehr 
eines unwiderstehlichen Triebes zum Genüsse geistiger Getränke. 

Außerdem gibt es andere, mit der Macht eines unwidersteh¬ 
lichen Triebes periodisch auftretende Zwangszustände: die perio¬ 
dische Kleptomanie, die periodische Pyromanie, die Psychopathia 
sexualis periodica usw. 

6. Die Paranoia — Verrücktheit: 

Beginn allmählich, Verlauf chronisch. Das wesentliche Symptom 
ist Systemisierung und Fixierung von Wahnvorstellungen in fort¬ 
schreitender Entwicklung. Halluzinationen (zumal des Gehörsinnes) 
sind ein konstantes Symptom. Primäre Stimmungsanomalien fehlen. 
Die Befähigung zum geordneten Ausdruck bleibt erhalten. 

In die Rubrik „Paranoia“ gehört auch die sogenannte originär 
paranoische Konstitution, welche sich durch pathologische Charakter¬ 
eigentümlichkeiten zum Ausdrucke bringt. 

7. Die Paranoia querulans (der Querulantenwahnsinn): 

Bei der Paranoia querulans wird die Wahnbildung ausgelöst 
durch eine tatsächliche oder von dem Kranken bloß angenommene 
rechtliche Benachteiligung. Der Kranke bildet auf dieser Grund¬ 
lage ein unkorrigierbares Wahnsystem, welches er in fortschreitender 
Entwicklung auf immer weitere Kreise ausdehnt. 

8. Die psychopathischen Minderwertigkeiten: 

Das neurasthenische Irresein: 

Darunter fallen die bei konstitutionellen Neurasthenikern 
unter dem Einflüsse gewisser äußerer Schädlichkeiten auftretenden 
transitorischen Dämmerzustände — mit oder ohne Delirien und 
Wahnbildung — mit nachfolgender Amnesie oder nur summarischer 
Erinnerung. 

Andere psychopathische Minderwertigkeiten: 

Die anderen psychopathischen Minderwertigkeiten (impulsives 
Irresein, Pseudologia phantastica, Zwangsvorstellungen, Psychopathia 
sexualis) sind meistens durch erbliche Belastung, seltener durch 
erworbene Schädigungen hervorgerufene Anomalien. Störungen der 
Intelligenz oder psychopathische Symptome in Form von Wahn¬ 
vorstellungen, Sinnestäuschungen und dgl. gehören nicht zum 
Krankheitsbilde, welches durch eine abnorme Reaktion auf äußere 
Reize, durch ein abnormes Gefühlsleben, durch abnorme Ver- 


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arbeitung äußerer Eindrücke charakterisiert ist. Das impulsive Irre¬ 
sein ist eine Form der psychopathischen Minderwertigkeit und 
charakterisiert durch triebartige, einem unbezwinglichen inneren 
Drange entspringende, äußerlich nicht motivierte, häufig kriminelle 
Handlungen (Kleptomanie, Pyromanie, homizide Impulse). Die 
Pseudologia phantastica ist in einer krankhaften Übererregbarkeit 
der Einbildungskraft, sowie in einem abnormen Einfluß der Stim¬ 
mungslage auf das Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen be¬ 
gründet. 

Als Zwangsvorstellungen sind solche Vorstellungen zu be¬ 
zeichnen, welche sich dem Bewußtsein des Kranken wider seinen 
Willen zwangsmäßig aufdrängen. 

Die Psychopathia sexualis umfaßt alle krankhaften Abwei¬ 
chungen auf dem Gebiete des Geschlechtslebens (konträre Sexual¬ 
empfindung, Sadismus, Masochismus, Fetischismus usw.). 

9. Hysterische Geistesstörungen: 

In diese Kubrik gehören einesteils jene bleibenden psychischen 
Anomalien, welche den sogenannten hysterischen Charakter be¬ 
dingen, andern teils die im Verlaufe der Hysterie auftretenden 
Geistesstörungen, wie Dämmerzustände, delirante Verworrenheits¬ 
zustände, die sogenannten „Ausnahmszustände“ der Hysterischen 
und die „Fugue“-Zustände auf hysterischer Basis. 

Eine hysterische Geistesstörung hat keineswegs den hysterischen 
Anfall zur Voraussetzung. Es genügt die Feststellung der dauernden, 
der Hysterie eigenen Geistesbeschaffenheit, um die Diagnose auf 
hysterische Geistesstörung zu stellen. 

10. Epileptische Geistesstörungen: 

Unter diese Diagnose fallen jene dauernden psychischen Ano¬ 
malien, welche den epileptischen Geisteszustand repräsentieren, 
ferner jene Geistesstörungen, welche im Verlaufe dieser Neurose 
auftreten: die postepileptischeu Dämmerzustände, die präparoxys¬ 
malen Delirien, die psychische Epilepsie (psychische Äquivalente), 
periodisch auftretende Verstimmungen, periodische Dämmerzustände 
mit impulsiven Trieben, chronische Wahnbildung bei Epileptikern. 

Ein Teil dieser Psychosen läßt eine Beziehung zu den An¬ 
fällen vermissen. Der epileptische Anfall ist nicht unbedingt not¬ 
wendig, um eine Geistesstörung als eine epileptische zu bezeichnen. 

Die Fälle von Alkoholepilepsie sind hier (Diagnose 10) an- 
zuführen. Die interkurrenten delirauten Verworrenheitszustände vom 


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Offizielles Diagnosenschema der Irrenanstalten. 


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Charakter der epileptischen Psychosen und die senile Epilepsie ge¬ 
hören, wo sie das Bild des Alterblödsinnes kombinieren, in die 
Diagnose „senile Demenz“. 

11. Geistesstörung durch Herderkrankung, das heißt die psy¬ 
chischen Störungen bei Hirnsyphilis, bei Hirngeschwülsten, bei 
durch Sklerose der Hirnarterien bedingten Herderkrankungen (Er¬ 
weichungsherden, Blutungen), bei tuberkulöser und eitriger Me¬ 
ningitis. 

12. Die paralytische Geistesstörung, die progressive Paralyse. 

13. Dementia senilis — Altersblödsinn: 

Ein auf dem Boden des senilen Marasmus entstandener pro¬ 
gressiver Blödsinn. Störungen des Gedächtnisses sowie herdförmig 
zu lokalisierende Ausfallserscheinungen sind neben allgemeinen 
senilen Erscheinungen in der körperlichen Sphäre die hervorragendsten 
Erscheinungen. 

ln dieser Bubrik sind auch die senilen Depressionszustände 
— die sogenannten Altersmelancholien —, ferner die interkurrenten 
deliranten Verworrenheitszustände vom Charakter der epileptischen 
Psychosen und die senile Epilepsie anzuführen, wenn diese Zustände 
das Bild des Altersblödsinnes kombinieren. 

14. Dementia praecox: 

Unter dieser Diagnose werden eigenartige, häufig juvenile 
Verblödungsprozesse zusammengefaßt, die bald in der Form einer 
einfachen progressiven Demenz, bald in Verbindung mit verschie¬ 
denen psychopathischen Zügen, wie Wahnideen, Sinnestäuschungen, 
Spannungszuständen usw. verlaufen und allmählich zu einer mehr 
weniger ausgesprochenen stationären Demenz führen, während ein 
Verfall in der vegetativen Sphäre nicht zum Krankheitsbilde gehört. 

15. Toxische Geist3sstörungen: 

Diese Gruppe umfaßt die alkoholischen Geistesstörungen, die 
durch Pellagra bedingten und die den Ergotismus begleitenden 
psychischen Störungen, endlich die durch medikamentöse Intoxi¬ 
kationen hervorgerufenen Psychosen, wie Morphinismus, Kokainismus, 
Chloralismus usw. Die alkoholischen Geistesstörungen umfassen 
den einfachen Bausch, ferner jene Fälle, welche den unter dem 
Einflüsse des chronischen Alkoholmißbrauches sich entwickelnden 
psychischen Verfall — der sich in sittlicher Entartung und intel¬ 
lektueller Abschwächung kundgibt — zeigen, ferner diejenigen 
Fälle, welche auf dem Boden der chronischen Alkoholvergiftung 


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172 


Dr. Heiurich Schloß. 


zur Entwicklung gekommene Geistesstörungen aufweisen. Als solche 
sind anzuführen: das Delirium tremens, der akute Alkoholwahn¬ 
sinn (die akute Halluzinose der Trinker), der pathologische Rausch, 
die Alkoholparanoia (Eifersuchtswahn der Trinker) und die Korsa- 
k off sehe polyneuritische Psychose. 

Die Dipsomanie ist nicht als alkoholische Geistesstörung auf¬ 
zufassen, die Fälle sogenannter „Alkoholepilepsie“ sind in der 
Rubrik epileptische Geistesstörungen anzuführen. 

16. Kretinismus: 

Eine endemische, seltener sporadische, auf Fehlen oder Ent¬ 
artung der Schilddrüse zurückzuführende Erkrankung, charakterisiert 
durch einen mehr minder hohen Grad von Schwachsinn und die 
bekannten kretinistischen Entartungserscheinungen des Körpers. 

17. Delirien und andere pathologische Bewußtseinstrübungen: 

In diese Rubrik gehören endlich das Delirium febrile, ferner 

eklamptische, urämische und durch eingeführte Gifte hervorgerufene 
toxische Delirien. Einem jeden Delirium kommen Bewußtseins¬ 
trübung, Verworrenheit, lebhafte Sinnestäuschungen und rascher 
Verlauf als gemeinsame Merkmale zu. 

In diese Rubrik gehören endlich noch andere pathologische 
Bewußtseinstrübungen, so der pathologische Affekt und die Bewußt¬ 
seinstrübungen hei Gebärenden und Neugeborenen. 

18. Simulanten. 

19. Ohne Geistesstörung. 

20. In Beobachtung. 

Anmerkung. In einer Fußnote wäre klarzustellen, mit wel¬ 
cher Diagnose die im Berichte vom Vorjahre in der Rubrik „In Be¬ 
obachtung“ geführten Fälle nunmehr verzeichnet sind. 

Ebenso wäre in einer Fußnote bei jeder Form und bei den 
Summen der Zuwächse klarzustellen, wie viele Kranke mehr als 
einmal im Berichtsjahre zugewachsen sind. 


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Referat über Kranksinnigenstatistik. 


Erstattet von 

Univ.-Prof. Dr. F. Hartmann. 

Mit der Erstattung eines Referates über Kranksinnigenstatistik 
beehrt, fasse ich meine Aufgabe dahin auf, eine möglichst 
vereinfachte und doch lückenlose Übersicht über die 
vorkommenden Krankheitsfälle so zu schaffen, daß dieselbe 
einerseits klaglos den ärztlichen Bedürfnissen einer 
Rubrizierung der umschriebenen Krankheiten dient und andrer¬ 
seits allejeneKautelen berücksichtigt, welche für die 
Statistik wertvoll sein müssen. Die ganze Übersicht soll 
nach Tunlichkeit, insbesonders auch hinsichtlich der Nomenklatur 
ungefähr auf der Höhe unseres modernen Wissens sich 
halten und den Möglichkeiten weiterer Entwicklung 
desselben einen gewissen Spielraum eröffnen. 

Daß das bisherige Schema diesen Anforderungen in 
keiner Weise mehr entspricht, darüber gibt es nirgends einen 
Zweifel und kann ich mir eine nähere Begründung erübrigen, weil 
der Herr Korreferent 1 ) dies schon in ausführlicher Weise ent¬ 
wickelt hat. 

Sowohl für das ärztliche Bedürfnis als für das statistische 
kann unmöglich die regellose Aufzählung verschiedener 
üblich g ewordener Krankheitsbezeichnungen (solcher 
vom anatomischen Einschlag, von ätiologischen Prinzipien oder 
rein symptomatologischen Betrachtungen) genügen. 

Ich bin, meiner wissenschaftlichen Überzeugung folgend, von 


x ) Korreferat von Regierungsrat Dr. Heinrich Schloß. Jahrbücher 
für Psychiatrie. Band 34, 1913, pag. 152. 


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Prof. Dr. F. Hartmann. 


Griesingers 1 ) seither weitaus nicht genügend gewürdigten Worten: 
„Das Irresein . . . ist ein Symptom“ ausgegangen. 

Die Nervenheilkunde ist derzeit schon weit über eine rein 
symptomatologische Betrachtung der Erscheinungen hinaus 
gewachsen und auch in der Klassifikation derselben hat eine 
Reihe von Autoren zum Teil sehr fruchtbringende Fortschritte zu 
einer einheitlichen ätiologischen Betrachtungsweise angebahnt. 

Aber nicht nur von diesem rein medizinisch über¬ 
geordneten Gesichtspunkte haben wir unsere Auf¬ 
gabe nicht mehr in einer Klassifizierung von „Geistesstö¬ 
rungen“ zu sehen, auch einer ihrer Ziele bewußten 
Statistik kann nicht an einer Registrierung von Funk¬ 
tionsstörungen eines Organes —und das sind ja die sogenann¬ 
ten Geistesstörungen — gelegen sein, sondern, und hier decken 
sich die gemeinsamen Interessen, nur eine Feststellung jener Krank¬ 
heiten und jener Krankheitsursachen, welche zu psycho- 
pathologischen Funktionsstörungen führen, kann wert¬ 
volle Anhaltspunkte für einen medizinischen Überblick und 
auch für die Endziele der Statistik geben, nämlich die 
einer Verwertung gefundener Tatsachen für Verwaltung — admini¬ 
strative, soziale, hygienische und andere Zwecke. 

Um in einem Beispiele zu bleiben, kann es weder den Arzt 
noch den Statistiker befriedigen, zu wissen, wie viel manische oder 
amente oder stuporöse Zustände in Österreich vorgekommen sind, 
insbesondere seitdem wir wissen, daß sie Teilerscheinungen der 
verschiedensten Gehirnkrankheiten sind. 

Aber welche Gehirnkrankheiten zur Störung der geistigen 
Tätigkeit oder — wie ich mich ausdrücken will — zu „psycho- 
pathologischen Funktionsstörungen“ — führen, das muß 
den Arzt und Statistiker in gleicherweise interessieren. Sonach 
komme ich zu dem Schlüsse, daß eine 

Klassifikation der psycho pathologischen Funktions¬ 
störungen bei Gehirnkraukheiten 
unser oberstes Ziel sein muß. 

1 j Griesinger: Die Pathologie und Therapie der psychischen 
Krankheiten, 1845, Seite 1. „Das Irresein selbst... ist ein Symptom;“ 
die Aufstellung der ganzen Gruppe der psychischen Krankheiten ist 
aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise hervorgegangen und 
ihr Bestehen nur von einer solchen aus zu rechtfertigen. 


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Referat über Kranksinnigenstatistik. 


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Daß bei einer Aufzählung von Gehirnkrankheiten, sowie bei 
einer Aufzählung von solchen anderer innerer Organe nur ein ätiolo¬ 
gisches Einteilungsprinzip befriedigen kann, ist über allen Zweifel. 

Diese Aufzählung der Gehirnkrankheiten soll nach allgemein 
pathologisch-medizinischen Grundlagen erfolgen, selbst 
auf die Gefahr hin — die sich bei derartigen Versuchen in jeder 
Disziplin gefunden hat —, daß noch nicht ganz feststehenden Kate¬ 
gorien vorübergehend, bis zur Reife unserer besseren Einsicht, ein 
Zwang angetan wird; dies besonders auch unter dem Gesichtspunkte, 
daß zu speziellstatistischen Zwecken auch eine möglichste 
Vereinfachung eines solchen Schemas erstrebt werden muß 1 ). 
Dies darf jedoch nie so weit getrieben werden, daß hiedurch grund¬ 
legende medizinische Anschauungen oder aber das 
ärztliche Bedürfnis der Anpassung an die Fortschritte 
und das Wissen über Gebühr gehemmt werde. 

Dem Umstande Rechnung zu tragen, daß nicht selten zwar 
eine symptomatologische Diagnose gestellt, aber eine ätiologische 
Grundkrankheit zunächst nicht sichergestellt werden kann,’ ist bei 
einer Klassifikation nach ätiologischen Prinzipien eine wichtige 
Forderung für die praktische Handhabung. Auch diesem Um¬ 
stande kann gerade bei den psychopathologischen Funktionsstörungen 
bei Gehirnkrankheiten heute in einer ziemlich einwandfreien Weise 
Rechnung getragen werden. 

Sonach war es meineAufgabe, diesenAnforderun- 
gen einer ätiologischen Klassifizierung von Gehirn- 
krankheiten nach dem Stande unseres der maligen Wi s- 
sensnachTunlichkeit unabhängig von begrenzt vertre¬ 
tenden Schulmeinungen zu genügen, was ich in der 
vorliegenden Tabelle zur Ausführung gebracht habe. 

Beschreibung der Tabelle I. (Seite 190,191.) 

Ein Gesamtüberblick über dieselbe zeigt — für die Statistik 
eines Institutes gedacht — die Möglichkeit der Verzeichnung 
von psychopathologischen Funktionsstörungen bei I—VIII ätiolo- 

x ) Deshalb kann ein derartiger Versuch der Rubrizierung nie das Be¬ 
dürfnis des Forschers und Lehrers voll befriedigen, welcher zum Zwecke des 
Erkenntnisfortschrittes sich jeweils spezieller Methoden bedient. Dies schließt 
jedoch gewiß nicht aus, daß für zunächst rein praktische Bedürfnisse eine 
Ordnung der vielfältigen Erscheinungen versucht wird. 


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Prof. Dr. F. Hartmanm. 


gischen Krankheitsgruppen und einer IX. Rubrik für ätiologisch 
zunächst nicht greifbare Fälle, aber auch die Möglichkeit, ohne 
psychopathologische Funktionsstörung in offener Behandlung be¬ 
findliche Fälle zu verzeichnen. (Gruppe X.) Neben dem Stabe, 
welcher die ätiologische Krankheitsgruppe enthält, findet sich ein 
solcher, in welchem unter 24 Laufnummern Eiuzelformen der ätiolo¬ 
gischen Krankheitsgruppen in der Weise verzeichnet sind, daß 
besonders wichtigen eine eigene Rubrik, minder wichtigen oder 
selteneren, nach entsprechender Zusammenlagerung, eine gemeinsame 
Rubrik zugeteilt wurde. 

Hernach folgen Summenstäbe für Männer und Frauen 1 ) für 
die 24 Laufnummern und für die IX. ätiologische Krankheitsgruppe, 
dann ein Stab, welcher die Registrierung der in den einzelnen 
Gruppen in offener Behandlung stehenden psychopathologischen 
Funktionsstörungen enthält. Soweit würde diese Hälfte der Tabelle 
ärztlichen und statistischen Anforderungen gemeinsam entsprechen. 


Doch schien es mir außerordentlich wünschenswert, ja, ich 
glaube, gar nicht umgehbar, die wichtigsten, zu systemati¬ 
schen Er sch einungskomplexen vereinigten psycho¬ 
pathologischen Funktionsstörungen noch mit zur Re¬ 
gistratur heranzuziehen. 

Ich habe schon in früheren Arbeiten 3 ) den Standpunkt ver¬ 
treten, daß gewisse psychopathologische, in der Literatur zum Teil 
als „Zustandsbilder“ 3 ) bezeichnete, in typischer Weise aus 

x ) Fs wird sich bei der praktischen Verwendung einer solchen 
Tabelle empfehlen, die Zusammenstellungen getrennt für Männer und 
Frauen zu verfassen. 

2 ) Die traumatische Gehirnerkrankung; in Dittriclis 
Handbuch der ärztl. Sachverständigentätigkeit, Band IX, pag. 656, 657. — 
Die Epilepsie; im Handbuch der Neurologie von Lewandowsky, BandV. 

3 ) Hiezu möchte ich in prinzipieller Hinsicht bemerken, daß meines 
Erachtens der Ausdruck „Psychose“ je eher, je lieber ganz aus der medizi¬ 
nischen Nomenklatur verschwinden sollte, in die er bei seiner jetzigen 
Anwendung nur Verwirrung zu bringen geeignet ist. Man bezeichnet 
damit wahllos organische Gehirnkrankheiten mit psychopathologischen 
Funktionsstörungen, paralytische Psychose, arteriosklerotische Psychose, 
Komplexe von letzteren auf organischen Grundlagen (Psychosen bei 
Herderkrankungen) oder psychopathologische Symptomenkomplexe allein 
auf zunächst „funktioneller Grundlage“ (Angstpsychose) oder im Gefolge 
von Vorgängen im außernervösen Lebensbetrieb (Menstruationspsychosen). 


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Referat über Kranksinnigenstatistik. 


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gewissen Einzelnerscheinungen sich zusammensetzende Symptomen- 
komplexe, wie der manische, melancholische, stuporöse, psycho¬ 
motorische usw. (vgl. die Tabelle, rechte Hälfte oben) aufgestellt 
und in einer Reihe mit analog systematischen Komplexen von 
Funktionsstörungen betrachtet werden müssen, wie sie uns zum 
Beispiel in den verschiedenen aphasischen, im hemiplegischen, im 
choreatischen usw., entgegentreten. So wie hier die aus einer Reihe 
charakteristischer Einzelsymptome sich zusammensetzende komplexe 
Störung auf Schädigung systematisch angeordneter Struktur und 
Funktionselemente beruht, so darf dies auch für diese in ihren 
reinen Formen so überaus typischen psychopathologischen Funktions¬ 
störungen postuliert werden 1 ). Sie rücken damit in die allgemeine 
Symptomatologie und Pathologie und erleichtern uns die Stellung 
symptomatologischer Diagnosen, sei es, daß sie isoliert, sei es, daß 
sie in Mischformen auftreten. 

In der beigegebenen vorläufigen Definitionstafel (Tabelle II) 
(Seite 194) 2 ) sollen ihre Einzelsymptome ersichtlich sein. 

Durch diese Anordnung und die Anwendung dieser von mir 
vertretenen Anschauung auf das vorliegende statistische Problem 
wird ermöglicht, die jeweilige Form der psychopathologischen 
Funktionsstörung, welche die Einzelformen der ätiologischen Krank¬ 
heitsgruppen aufweisen, zu registrieren, aber auch jene Fälle, bei 
welchen zunächst sich keine Ätiologie feststellen läßt, in der 
Querkolonne IX in den Stäben a bis t zu verzeichnen. 

Beispiele: 

1. Manischer Symptomenkomplex (mittleres Lebensalter), 

ist die Ätiologie zweifelhaft: 

Die hierin zum Ausdrucke kommende Gedankenlosigkeit darf nicht 
stillschweigend weiterbestehen, will sich die Nervenheilkunde nicht von 
Seiten der ernsten Forschung, die nicht zuletzt größten Wert auf eine exakte 
und reinliche Umgrenzung und Benennung von entstandenen Begriffen hält, 
den berechtigten Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit zuziehen. 

x ) Diese Auffassung schwebte wohl auch Wernicke vor. W e r n i c k c, 
Grundriß der Psychiatrie, 2. Aufl., pag. 168: „Halten wir nur daran 
fest, daß die Psychosen Gehirnkrankheiten sind, und daß wir voraus¬ 
setzen können, daß eine und dieselbe Örtlichkeit immer die gleichen 
Symptome macht.“ 

2 ) Diese Tabelle wurde aus rein technischen Gründen hinter dem 
Referate abgedruckt. 

Jahrbücher für P«ychiatrie. XXXIV. Bd. 12 


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(z. B. ob es sich handelt um die Teilerscheinung einer manisch- 
depressiven Konstitution oder 

Teilerscheinung einer beginnenden Paralysis progressiva oder 
Teilerscheinung eines Morbus Basedow), IX. a. 

Ist die Ätiologie eine „periodische Dekonstitutiou“: II. 2. a. 

2. Psychomotorischer Symptomenkomplex, eine Reihe von 
Symptomen des amenten Syndroms mit kritischen Rückgängen und 
während dieser auftretenden paranoischen Symptomenkomplexes 

wenn Ätiologie zweifelhaft: IX, t., 
wenn Ätiologie Dementia praecox: III, 6 t., 
wenn Ätiologie Lactation: III, 7 t. 

3. Dementer Symptomenkomplex, 

Ätiologie zweifelhaft: IX, m., 

Wenn die Entscheidung zwischen Trauma oder Alcoholismus 
chronicus zweifelhaft: 

Im Palle zweifelhafter Bewertung werden die Kriterien gegen¬ 
einander abzuwägen und der hauptsächlichen Schädigung der Vor¬ 
zug zu geben sein. Hiebei bleibt es ja unbenommen, solche Fälle 
noch getrennt unter konkurrierenden Ätiologien zu registrieren. 
Solange eine einheitliche Erfahrung über die Häufigkeit solcher 
Vorkommen, in denen eine Entscheidung gar nicht zu treffen ist, 
ermangelt, läßt sich ein Bild über die Notwendigkeit einer statisti¬ 
schen Darstellung derselben nicht gewinnen. 

Wie aus vorstehendem hervorgeht, gestattet die vorgeschlagene 
Rubrizierung eine Berücksichtigung aller der verschiedenen Möglich¬ 
keiten, welche die Reichhaltigkeit des uns zükommenden Kranken¬ 
materiales schafft. Sie fordert anderseits — und dies scheint mir 
eher ein Vorzug, denn ein Nachteil zu sein — eine klare Stellung¬ 
nahme des Arztes zu dem ihm vorliegenden Probleme in jedem 
einzelnen Krankheitsfalle, gewährt ihm aber auch die weitestgehende 
Möglichkeit gewisse Krankheitszustände nach gewonnener besserer 
Einsicht richtiger bewertet anderweitig einzureihen. 


A. Die linke Hälfte der Tabelle I. 

Die Wahl und Zusammenfassung einzelner ätiologischer Krank¬ 
heitsgruppen bedarf einer Erläuterung und einer gewissen Recht¬ 
fertigung, was im folgenden versucht werden soll. 


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Referat über Kranksinnigenstatistik. 179 

I. Psyehopathologische Funktionsstörungen bei angeborenen 
Entwicklungshemmungen des Gehirnes und früherworbenen 

Gehirnkrankheiten. 

Hieher gehören von Gehirnkrankheiten im wesentlichen: 
Hydrauencephalie, Cebocephalie, Hemicephalie, Mikrocephalie, Hydro- 
cephalie, Porencephalie, Encephalitis foetalis, atrophische Sklerose, 
hypertrophische tuberöse Sklerose, Meningitis chronica, Hypertrophia 
cerebri, Tay-Sachssche Erkrankung, Mongoloid usw. usw. 

Unter den psychopathologischen Funktionsstörun¬ 
gen dieser Gruppe sind alle schon seit früher Jugend bestandenen 
Störungen zu verstehen, welche sich in Unterentwicklung und 
Hemmung der geistigen Tätigkeit und davon abhängigen Funktions¬ 
störungen zum Ausdrucke bringen. 

Hier werden also alle Zustände mit dem gemein¬ 
samen Charakter des primären Schwachsinnes Platz 
finden. 

Von den leichtesten Formen der psychischen Infantilität, der 
Imbezillität bis zur Idiotie. 

Die häufigen, schon aus frühester Kindheit hergeleiteten 
Phänomene moralischer Abartung auf dieser Grundlage dürfen hieher 
gezählt werden. 

Eine Gruppe „Moralisches Irresein“ selbständig zu schaffen, 
habe ich aus dem Grunde unterlassen, weil es erstens gar nicht 
in das ärztlich-naturwissenschaftliche Bereich fällt, etwas als mo¬ 
ralisch oder nichtmoralisch zu bezeichnen, denn vom ärztlichen 
Standpunkte sind nur Funktionen und Bedingungen von solchen 
festzustellen und die etwaige Krankhaftigkeit der Bedingungen 
nachzuweisen. 

Die Begriffe von „moralisch“ und „nichtmoralisch“ sind zu 
Zeiten und nach Gegenden verschieden und es liegt die Gefahr 
nahe, daß den moralischen subjektiven Begriffen des Untersuchers 
damit ein Einfluß auf die naturwissenschaftliche Beurteilung 
gewährt wird. Man kann dies auch leider gar nicht zu selten 
beobachten. 

Der Begriff des „moralischen Irreseins“ ist außerdem ganz 
im Schwinden begriffen, seit man erkannt hat, daß für eine Fülle 
von Krankheiten die Tatsache feststeht, daß unter den Erscheinungen 
derselben sich solche finden, welche nach den allgemeinen sozialen 

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Prof. Dr. F. Hartmann. 


Anschauungen als nicht moralische Eigenschaften eines Individuums 
gelten. 

Schließlich sollen meines Erachtens, wie ich schon eingangs 
ausgeführt habe, nicht Teilsymptome von Gehirnerkrankungen zum 
Gegenstände einer Rubrizierung in einer allgemeinen Zwecken 
dienenden Krankheitenstatistik gemacht werden. 

Und endlich ist wohl ziemlich unwidersprochen, daß in allen 
Fällen, in welchen Symptome einer moralischen Abartung krank¬ 
haft bedingter Natur vorhanden sind, auch noch sonstige krank¬ 
hafte Symptome nachweisbar sind, welche entweder dem Gebiete 
angeboren bedingter Grundlagen angehören und dann in die be¬ 
sprochene Rubrik gehören, oder aber Teilsymptome im individuellen 
Leben erworbener Krankheiten darstellen und dann eo ipso den 
betreffenden Gruppen zugeordnet werden müssen. Ich verweise 
diesbezüglich auf die Erscheinungen auf dem Gebiete moralischer 
Defekte beim submanischen Symptomenkomplex der periodischen 
Dekonstitution gleichwie bei anderen Gehirnkrankheiten, sowie der¬ 
jenigen bei Epilepsie, Hysterie, beim Morphinismus chronicus, nach 
Trauma usw. 

II. Psychopathologische Funktionsstörungen bei Konstitutions¬ 
erkrankungen des Gehirnes. 

Diese Gruppe schließt sich als eine Gruppe „konstitutioneller“ 
Störungen vom allgemein pathologischem Standpunkt enge an die 
vorhergehende an. 

Die Aufstellung einer solchen Gruppe ist keine Eigenart 
neurologischer Betrachtung, sondern es bestand und besteht seit 
jeher eine solche in der inneren Medizin, von dem die Neuro¬ 
pathologie doch nur ein Teil ist. 

Die Berechtigung, die in der Gruppe Konstitutions¬ 
erkrankungen des Gehirnes eingereihten Krankheiten 
unter diesem Sammelnamen zu vereinen, leitet sich von der Tat¬ 
sache her, daß 

1. ihnen allen die Häufigkeit mehr minder schwerer erblicher 
Belastung gemeinsam ist, 

2. sie alle tatsächlich in der ganzen nervösen Konstitution 
insoferne begründet sind, als eine solche oft lange latent bleibt 
und nicht selten schon auf physiologische Schäden des Lebens hin 


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Referat über Kranksinnigenstatistik. 


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krankhafte Reaktionen des Nervensystems erfolgen. Wenn auch für 
das Nervensystem wissenschaftlich einwandfrei nicht hei allen hier 
subsumierten Krankheiten nachgewiesen erscheint, daß so, wie 
Kraus dies für innere Erkrankungen feststellte, „die Ermüdung ein 
Maß für die Konstitution“ ist, so gilt dies jedenfalls für den 
typischen Hauptvertreter dieser Gruppe, die „konstitutionelle 
Neurasthenie“. Ihnen allen gemeinsam ist es auch, daß die einmal 
ausgebrochene Erkrankung außerordentlich zu Rezidiven neigt oder 
aber eine schwere konstitutionelle chronische Abartung (eine neue 
dauernde Funktionenverkettung) des Gehirnlebens erzeugt, wie bei 
der Hypochondrie und bei der Paranoia chronica. 

Daß die Erscheinungsformen im einzelnen sehr verschiedenen 
Charakter haben, liegt wohl jedenfalls in der Eigenart der Wider¬ 
standsfähigkeit bestimmter Hirnleistungen, bzw. der Widerstands¬ 
unfähigkeit von solchen. 

Welche Rolle hiebei endogenen Vorgängen im Gesamtkörper 
zukommen, wird erst die Zukunft lehren. 

Der Begriff der „Konstitution“ Lat sich auf dem Gesamt¬ 
gebiete der Medizin sehr eingeengt, dafür aber auch schärfer ab¬ 
gegrenzt. Doch subsumiert z. B. die innere Medizin in ihrer 
Gruppierung von Krankheiten noch Rhachitis, Osteomalacie, Gicht, 
Fettsucht, Rheumatismus chronicus, Diabetes unter den Sammel¬ 
begriff der Konstitutionserkrankungen, bzw. vereinigt einen Teil 
von ihnen unter den Begriff von Stoffwechselerkrankungen. 

Es handelt sich um allgemeine Veränderungen des Organismus 
oder der Organbeschaffenheit, vermöge welcher oft schon unter dem 
Einflüsse physiologischer Leistungen oder Schäden oder ungünstiger 
Milieubediugungen des Organismus Krankheitserscheinungen aus¬ 
gelöst werden oder die Entwicklung von pathologischen Prozessen 
verschiedener Art eine Begünstigung oder doch keine der Norm 
entsprechende Hemmung erfährt und Störungen im verminderten 
Maße kompensiert und ausgeglichen werden. „Diese Veränderung 
in der Körper- oder Gewebsverfassung nennen wir konstitutionell.“ 

(Martius, Pathogenese innerer Krankheiten, 2. Heft, S. 170, 
zitiert nach Krehl.) 

„Der Name Allgemein- oder Konstitutionskrankheit legt den 
Wert auf das Erkranktsein der gesamten körperlichen Persönlichkeit, 
wenn man so sagen darf. Das Einheitliche des Organismus und 
also die Beteiligung aller Gewebe oder wenigstens der wichtigsten 


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Prof. Dr. F. Hartmann. 


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Organe ist das Wesentliche.“ (Krehl, Pathologische Physiologie VI, 

A. 1910, S. 510.) 

„Die fortschreitende Kenntnis der Organfunktionen und ihrer 
Beziehung zueinander wird hier vieles klären, manches vielleicht 
auch aus der Gruppe verweisen. Denn naturgemäß könnten Zu¬ 
stände aus dem Allgemeinen in das Spezielle in dem Maße ver- - 
wiesen werden, wie der Anteil des einzelnen Organes uns klar 
wird als maßgebend für das Gesamte, es kommt eben dann darauf 
an, ob dieses im Mittelpunkte stehende Gewebe auch das einzige 
oder wesentlich erkrankte darstellt.“ 

Diesen Ausführungen Krehls (ibidem) schließe ich mich voll¬ 
inhaltlich an. 

Wenn ich der Gruppe Konstitutionserkrankungen noch das 
Epitheton „des Gehirnes“ anschloß, so wollte ich damit eben zum 
Ausdrucke bringen, daß die konstitutionelle Veränderung dieses 
Organes es vorzüglich ist, welche im Mittelpunkte der Erscheinungen 
steht und zur Ursache eines Großteils der allgemeinen Konstitutions¬ 
erkrankung wird. Vielleicht wäre schon heute der Ausdruck von 
„Stoffwechselerkrankung des Gehirnes“ gerechtfertigt, wenn es ge¬ 
lungen wäre, näheren Einblick in die Physiologie des Stoffwechsels 
im zentralen Nervensystem zu erhalten. Damit würde sich auch 
diese Gruppe von der nächsten („Biopathien“) insoferne abtrennen, 
als hier die Erscheinungen konstitutioneller oder von Stoffwechsel- 
Veränderungen zunächst auch schon unter physiologischen Ver¬ 
hältnissen in erster Linie auf eine Reihe außernervöser Organe und 
Lebensvorgänge hinweisen, die schon in der physiologischen Breite 
innige Wechselbeziehungen mit dem Nervensystem aufweisen, deren 
pathologische Veränderung mit schwerer Aflfektion des Nervensystems 
einhergehen kann. 

Übergänge zwischen beiden Gruppen sind zweifellos vorhanden, 
scharfe Grenzen sind nicht zu ziehen. Eine feinere Sonderung wird 
erst mit der Vertiefung unseres Wissens eintreten. Mit dem fort¬ 
schreitenden Wissen über die krankhaften Bausteine der Dekonsti- 
tution wird auch auf unserem Gebiete eine allmähliche Einengung 
und eine greifbarere ätiologische Betrachtung und Gruppierung 
Platz finden können. 

Im speziellen habe ich dieser Gruppe vier wichtige Unter¬ 
teilungen gegeben: 

2. Periodische und zirkuläre Dekonstitution. 


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Referat über Kranksinnigenetatistik. 


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Dahin gehören periodische Manie, periodische Melancholie, zirk. 
Formen, konstitutionelle Amentia, periodische Verstimmung mit 
Zvrangstrieben usw. 

3. Konstitutionelle Neurasthenie, Hypochondrie, 
Psychogenie, pathologische Sexualität. 

4. Konstitutionelle (genuine) Epilepsie. 

5. Paranoia chronica. In der ersten Abteilung sind die 
unter den Sammelnamen des periodischen und zirkulären, bzw.. 
manisch depressiven Irreseins zusammengefaßten Zustände vereinigt. 

Ich wähle hier im Sinne der (soweit sie bisher durchschaubar 
sind) ätiologischen Grundlagen den Namen der 

„periodischen und zirkulären Dekonstitutionserkrankung“. 

Hiefür habe ich mehrere Beweggründe: 

„Manisch-depressives Irresein“ im tatsächlichen, sprach¬ 
lichen Sinne des „symptomatischen“ Begriffes und Wortes besteht 
z. B. oft bei Dementia praecox, bei Paralysis progressiva, bei Dementia 
senilis, bei Alcoholismus chronicus, bei Hysterie, bei Neurasthenie, 
und soll diese rein symptomatische Bezeichnung nicht einer Krank¬ 
heitsentität gegeben werden. 

In der Periodizität prägt sich neben der grundlegenden Dekon- 
stitution (oder mit anderen Worten dem Mangel sonstiger ätiologi¬ 
scher Faktoren) eine sehr scharfe Definition dessen, was wir ab¬ 
grenzen wollen. 

Die Periodizität ist auch Charakteristikum anderer typischer 
Symptomkomplexe auf konstitutioneller Grundlage, wie gewisser 
Formen des amenten Symptomenkomplexes u. a. z. B. der Dypsomanie 
und analoger mit mehr oder minder deutlich vortretenden Stimmungs¬ 
anomalien einhergehender Zwangstriebe, welche hier verzeichnet 
werden können. 

In einer zweiten Abteilung (II,3) habe ich konstitutionelle 
Neurasthenie und Hysterie verzeichnet. 

Der ersteren noch die innig damit zusammenhängende Hypo¬ 
chondrie und pathologische Sexualität als besonders hervorstehender 
eigenartiger Erscheinungen Baum gegeben. 

Ich habe die konstitutionelle Hysterie damit von einer bei 
den verschiedenartigsten Erkrankungen vorkommenden „sympto¬ 
matischen“ Hysterie (hysterischer Symptomenkomplex) abgetrennt, 
welcher letzterer nur der Charakter eines Symptomes zuzumessen 


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Prof. Dr. F. Hartmann. 


wäre, während die konstitutionelle Hysterie als eine besondere 
Krankheitsform vorläufig bestehen bleiben mag, bis wir, was ich 
hoffe, auch hier einmal klarer sehen. 

In der dritten Gruppe (II, 4) führe ich die „konstitutionelle 
Epilepsie“ an. 

Damit wird die sicher symptomatische Epilepsie (der epilepti¬ 
sche Symptomenkomplex) abgetrennt und an die ihm gebührende 
Stelle in den anderen Gruppen gewiesen. 

Sie wird zunächst mit dem mit allen Einschränkungen zu 
gebrauchenden Begriffe der „genuinen Epilepsie“ identifiziert werden 
können, als eine Erkrankung, welche eindeutig greifbarer Ätiologie 
noch entbehrt. 

ln der vierten Gruppe (11,5) wurde die „Paranoia chronica“ 
untergebracht. 

Sie wird abzutrennen sein von allen Symptomenkomplexen 
paranoischen Charakters, wie sie auf toxischer (Alkohol-, Morphin-) 
Grundlage oder bei Dementia praecox, paralytica oder bei periodi¬ 
schen Dekonstitutionserkrankungen, oder was noch sehr zweifelhaft 
scheint, als Erscheinung der Hysterie auftritt. Sie kommt demnach 
als eine idiopathische chronische Paranoia allein hier in Betracht, 
insolange die Entstehung der ihr zu Grunde liegenden Schädigung 
des zerebralen Mechanismus nicht geklärt ist. 


III. Psychopathologische Funktionsstörungen bei endogenen 
Biopathien (auf Grundlage von Störungen des Stoffwechsels 
bei Generationsvorgängen). 

Ich habe unter dem Sammelnamen der Biopathien, den ich 
Griesinger entlehnt habe, Krankheiten zusammengefaßt, welche 
mit den physiologischen Zuständen der Generationsorgane und der 
Generationsvorgänge enge verknüpft sind, ohne daß wir bisher 
mehr darüber zu sagen vermöchten. Sie dürften wohl durch 
Störungen des Stoffwechsels im Gesamtkörper, insbesondere auch 
der Korrelation der Drüsen mit innerer Sekretion, des patho¬ 
logischen parenteralen Eiweißzerfalles, der antitryptischen Ferment¬ 
bildung usw., entstehen, welche ihrerseits das Hirnleben krankhaft 
beeinflussen, und stehen in diesem Sinne der vorhergehenden 
Gruppe sehr nahe gegenüber, deren Grundlage bis auf weiteres in 


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Heferat über Kranksinnigenstatistik. 


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primären Alterationen des Stoffwechsels des Zentralnervensystems 
gedacht werden kann 1 ). 

Da jedoch der direkte Nachweis toxischer Zwischenprodukte 
hier keineswegs noch geliefert ist 2 ), wird sie hiedurch vorläufig 
zweckmäßig von jenen durch Stoflfwechselstörungen im Körper ent¬ 
stehenden Krankheiten, bei welchen das Zwischenprodukt eines 
toxischen Agens mehr oder minder scharf bereits nachgewiesen ist, 
das ist den endogenen toxischen Gehirnkrankheiten, geschieden. 

Die Notwendigkeit dieser Gruppe, ob man sie nun mit dem 
oder jenem Namen — es kann immer nur ein Provisorium sein — 
zusammenfaßt, kann im einzelnen kaum bestritten werden. 

IV. Psychopathologisehe Funktionsstörungen bei toxischen 
Gehirnkrankheiten auf verschiedener Grundlage. 

An der Berechtigung zur Aufstellung einer solchen Gruppe 
kann eine Meinungsdifferenz kaum aufkommen. Sie ist längst in 
dieser Passung in die beachtenswerten Lehrbücher übergegangen 
und ist neben der folgenden wohl eine feststehende Errungenschaft 
der modernen Medizin geworden. 

Ich habe die toxischen Schädlichkeiten in endogene und 
exogene Schädlichkeiten getrennt, die Einfluß auf Struktur und 
Funktion des Zentralnervensystems nehmen. 

In die Gruppe der Störungen der inneren Sekretion gehören 
alle Erkrankungen der Drüsen mit innerer Sekretion. Sie lehnt 
sich sinngemäß an die vorausgehende Gruppe an. 

Aus denselben besonders herauszuheben wegen ihrer sozialen 
Wichtigkeit sind Myxödem nnd Kretinismus. Sie sind mit einer 
unter dem Sterne stehenden Separatsumme zu bezeichnen. Es ist 
vielleicht wünschenswert, dem Myxödem eine eigene Rubrik zu 
eröffnen, um den Kretinismus als reine Ziffer zu erhalten. Die 
nächste Gruppe enthält die übrigen häufiger vorkommenden endo¬ 
genen Intoxikationen, welche vielfach mit psychopathologischen 
Funktionsstörungen einhergehen. 

J ) Vgl. die Bemerkungen auf Seite 182. 

a ) W enn auch durch die Arbeiten von Alb recht und H. Pfeiffer, 
F a u s e r s und anderer, sowie durch im Drucke befindlichen Untersuchungen 
von H. Pfeiffer und de Crinis an meiner Klinik für die Dementia 
praecox (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig. 1913) die ersten An¬ 
läufe eines pathogenetischen Verständnisses gemacht sind. 


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Die exogenen Intoxikationen sind nach den angeführten fünf 
wichtigsten Gruppen geteilt und entspricht dieselbe sowohl den 
ziemlich allgemein angenommenen medizinischen Anschauungen, 
als den statistischen Bedürfnissen. Diese Unterabteilung wird 
auch für den Fall zu bleiben haben, als man die eigentlich am 
Zentralnervensysteme störend einwirkende Schädigung als ein 
toxisches Zwischenprodukt erkennen sollte. 

V. Psyehopathologisehe Funktionsstörungen bei infektiösen 

Gehimerkrankungen auf verschiedenen Grundlagen. 

Es wird sich empfehlen, eine solche Gruppe trotz des Um¬ 
standes gesondert zusammenzufassen, daß auch bei infektiöser 
Ätiologie das krankmachende Agens ganz vorwiegend als ein 
„toxisches“ zur Wirkung kommt. 

Über den statistischen Wert einer infektiösen Gruppe erübrigt 
sich wohl eine spezielle Begründung. 

VI. Psyehopathologisehe Funktionsstörungen bei traumatischen 

Gehirnerkrankungen. 

Diese Gruppe erscheint mir wegen der eindeutigen Ätiologie 
nicht nur, sondern insbesondere auch vom Standpunkte der Statistik 
und des lebhaften Interesses der Unfallheilkunde daran als nicht 
zu umgehen. 

VII. Psyehopathologisehe Funktionsstörungen bei (Blut- und) 
Gefäßerkrankungen und Kreislaufstörungen (allgemeinen und 

speziell des Gehirnes). 

Hierin werden die im Gefolge der Bluterkrankungen, von 
Kreislaufstörungen im allgemeinen, neben den seltenen und meist 
transitorischen psychopathologischen Funktionsstörungen bei Myo¬ 
pathien des Herzens, insbesondere bei der allgemeinen (auch die 
vorzeitigen) Arteriosklerose und der spez. Arteriosklerose des Gehirnes 
auftretenden Störungen Platz finden. Es wird Geschmackssache sein, 
die senile Hirnatrophie hierin aufgehen oder als eine spezielle Krank¬ 
heit aufnehmen zu lassen, was unter Umständen durch eine Be¬ 
zeichnung und Heraushebung der speziellen Summen durch Sterne 
j ederzeit geschehen kann. In praxi wird eine Trennung oft schwer sein. 


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Referat über Kranksinnigenstatistik. 


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VIIL Psychopathologisehe Funktionsstörungen bei Baum¬ 
beengenden Erkrankungen des Gehirnes (exklusive des 

Abszesses). 

Ich halte es nicht für angängig, eine Gruppe von psycho- 
pathologischen Funktionsstörungen bei Herderkrankungen des Ge¬ 
hirnes zu statuieren, weil die Folgen von verschiedenen Herd¬ 
erkrankungen für die Funktion des Gehirnes schon der ganzen 
Natur nach eine grundverschiedene ist. So sind beispielsweise die 
Folgen einer Thrombose und einer Blutung unter sich für das 
Gehirn, schon der Natur des Krankheitsprozesses nach, ganz anders 
geartete und ebenso gegenüber etwa einer langsam wachsenden 
Geschwulst. Es sind alle auf Gefäßerkrankung beruhenden Pro¬ 
zesse mit mehr minder herdförmig hervortretenden Erscheinungen 
von ganz anderer Struktur hinsichtlich ihrer Angriffspunkte, als 
etwa Tumoren, Narben, Abszesse usf. 

Auch würde eine solche Gruppe eine ganze Reihe anderer 
ätiologischer Gruppen überdecken, z. B. Lues, Tuberkulose, Abszeß, 
deren Wert für die Genese psychopathologischer Phänomene von 
überragender Bedeutuug auch ohne das Hervortreten von Herd¬ 
symptomen ist. 

Ad IX würden die Summen jener nur symptomatologisch 
diagnostizierbaren Erkrankungen zur Eintragung gelangen, welche 
Summen sich aus der Zusammenziehung der in der Rubrik IX 
unter a) bis s) eingetragenen Krankheitsfälle ergeben. 


B. Die rechte Hälfte der Tabelle I. 

Die rechte Hälfte der Tabelle enthält zwei Aufzeich¬ 
nungsgruppen, wovon die eine, linke, lediglich ärztlichen Be¬ 
dürfnissen entgegenkommt und nicht Gegenstand einer ge¬ 
setzlichen Vors chreibung gemacht werden soll, weil 
sie, erst in der Entwicklung begriffen, noch Änderungen und Er¬ 
weiterungen entgegengeht und für statistische Amtszwecke keinen 
weiteren Wert hat. 

Die rechte Rubrik ist für „statistisch bemerkenswerte 
Erscheinungen“ reserviert und werden in dieser Rubrik jene Er¬ 
scheinungen verzeichnet werden, welche im Einvernehmen zwischen 
Ärzten und Statistikern aufgestellt werden sollen, wobei vorzusehen 


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sein wird, daß eine Erweiterung dieser Bubrik nach Maßgabe des 
sich erweisenden Bedürfnisses jederzeit erfolgen kann. 

In dieser letzteren Rubrik habe ich im Einvernehmen mit 
dem Grazer Statistiker Prof. Gürtler 1 ) zunächst des Beispieles halber 
eine Reihe von Erscheinungen verzeichnet. 

Der leitende Grundsatz derselben wäre zunächst eine Um¬ 
grenzung jener Erscheinungen, welche die soziale Wertstel¬ 
lung des Individuums und seine wirtschaftliche Akti¬ 
vität schwerer herabdrücken. 

Hiezu gehören also z. B.: 

Schwere hereditäre Belastung, 

Rezidiven, 

Unheilbarkeit, 

Vagabondage, 

Kriminelle Akte, 

Verbrecher. 

Die Anordnung der Rubrik ermöglicht eine Feststellung, bei 
welchen ätiologische Krankheitsgruppen und einzelnen Formen der¬ 
selben solche statistisch bemerkenswerte Erscheinungen vorwiegend 
auftreten. Ihre Summierung stellt die Zahl jener Individuen fest, 
deren soziale Wertstellung und wirtschaftliche Aktivität gegen¬ 
über der übrigen Krankenzahl schwer herabgesetzt ist. 

Zum Schlüsse habe ich noch in der Rubrik X die Möglich¬ 
keit geschaffen, die Zahl der ohne psychopathologische Funktions¬ 
störungen in offener Behandlung stehenden Kranken zu verzeichnen 
und im Stabe 7. die Möglichkeit eröffnet, die Zahl der psycho- 
pathologischen Funktionsstörungen, die sich in offener Behandlung 
befinden, herauszuschälen, (wobei ihre Angehörigkeit an die ver¬ 
schiedenen Krankheitsgruppen erkenntlich wird) und mit den übrigen 
in offener Behandlung befindlichen zu summieren, wodurch jedes 
Institut in die Lage versetzt wird zu zeigen, wie viele seiner 
Kranken sich in offener, wie viele in geschlossener Behandlung 
befinden. 

Hiedurch wurde den Möglichkeiten Rechnung getragen, daß 
durch Meinungsverschiedenheiten über die Art der Behandlungsform 


x ) Es sei mir gestattet, an dieser Stelle für das freundliche Interesse 
bei der Beratung dieses Gegenstandes Herrn Prof. Dr. Gürtler meinen 
besten Dank zu sagen. 


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Referat über Kranksinnigenstatistik. 


189 


einmal in eine Anstalt mit ausschließlich geschlossener Behandlung 
Nervenkranke, für welche eine offene Behandlung angezeigt ist, 
verbracht werden; denn daß Menschen ohne jegliche nervöse Krank¬ 
heitszeichen in ein Institut für Kranksinnige gebracht werden, 
dürfte wohl kaum Vorkommen. Die modernen Institute für Krank¬ 
sinnige stehen ja alle auf dem Standpunkt, daß sie Institute für 
geschlossene und offene Krankenbehandlung sind. 

Diese Rubrik hielt ich schon für das Dekorum der modernen 
Heilanstalt für notwendig. Hiedurch würden auch jene Falsifikate, 
zufolge welcher Kranke, die schon nahezu genesen sind, wegen 
Rückfallsgefahr noch Wochen oder Monate in der Anstalt bleiben, 
beseitigt, im Interesse der Institute und der Patienten. 

Dies entspricht einer Übung, welche an der Grazer Klinik 
seit vielen Jahren mit Erfolg geübt wird und gleichzeitig auch 
ein statistischer Ausdruck für die therapeutische Leistung ist. 

Von einer Rubrik „in Beobachtung“ glaubte ich Abstand 
nehmen zu sollen, weil alle Kranken eines Krankenhauses ständig 
in Beobachtung sind und es sich bei einer Rubrizierung höchstens 
um zweifelhafte Diagnosen handeln kann, wobei es im gegebenen 
Falle wünschenswert erscheint, sich zunächst für die eine oder die 
andere zu entscheiden. Für eine Änderung der Diagnosen ist 
statistisch durch entsprechende Anmerkungen vorzukehren, wie sie 
der Herr Korreferent schon angedeutet hat. Was die Aufnahme 
-der alten Rubrik „Simulation“ anlangt, so kann sie meines Er¬ 
achtens entfallen, weil 

1. mit der besseren Erkenntnis und Diagnostik die Diagnose 
„Simulation“ auf ein Minimum eingeschränkt wurde. Ich habe seit 
dem Jahre 1896 unter rund 20.000 Kranken nicht einen ein¬ 
zigen Fall gesehen. Sie werden daher ein wenden können, daß 
ich keine Erfahrung über Simulation habe, aber diese Erfahrung 
ist mir in statistischer Hinsicht doch wertvoll genug. 

Sollte wirklich einmal ein bewiesener Fall von Simulation 
beobachtet werden, dann verdient dieser weiße Rabe auch in der 
Statistik als besondere Note verzeichnet zu werden, wobei ich be¬ 
merke, daß hiefür dann auch eine wissenschaftliche Begründung 
zu geben wäre. 


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192 


Prof. Dr. F. Hartmann. 


Zusammenfassung. 

1. Es sollen „Gehirnkrankheiten“ rubriziert werden, 
bei welchen „psychopathologische Funktionsstörungen“ 
beobachtet werden. 

2. Ärztlich und statistisch kann nur eine ätiologi¬ 
sche Klassifikation befriedigen. 

3. Es ist heute möglich, eine ätiologische Klassifika¬ 
tion durchzuführen. 

4. In symptomatologischer Hinsicht ist der Begriff 
der „psychopathologischen Symptomenkomplexe“ einzu¬ 
führen und dieselben in der Statistik als typische 
Erscheinungsformen von psychopathologischen Funk¬ 
tionsstörungen zu führen. 

Mangels zunächst feststellbarer Ätiologie sind 
sie als symptomatologische Diagnose zu betrachten. 

5. Es ist eine Rubrizierung der in offener Behand¬ 
lung befindlichen Kranksinnigen und Nichtkrank¬ 
sinnigen wünschenswert. 

6. Es erscheint im ärztlichen und statistischen 
Interesse, wenn besondere statistisch wichtige Er¬ 
scheinungen betreffend die soziale Wertstellung des 
Individuums und seine wirtschaftliche Aktivität, 
registriert werden. 

Zum Schlüsse danke ich Ihnen für die Geduld, mit der Sie 
meinem Referate gefolgt sind und bitte Sie, dasselbe mit Wohl¬ 
wollen aufzunehmen, weil es in dem aufrichtigen Bestreben geschaffen 
wurde, unserer Disziplin auch in der Statistik eine ihrer würdige 
Stellung anzuweisen und den Krankheitszuständen einen, den 
Prinzipien der Gesamtmedizin entsprechenden Rahmen 
zu geben. 


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III. 


Anhang zum vorstehenden Referate. 

Das in der Versammlung des Vereines für Psychiatrie und 
Neurologie in Wien erstattete Referat konnte naturgemäß auf eine 
nähere Schilderung und Begründung der „Symptomenkomplexe“ 
nicht eingehen, daher glaube ich nach dieser Richtung die Vor¬ 
schläge des Referates noch in einem Anhänge über die leitenden 
Gedanken einer „vorläufigen Definition psychopatho- 
logischer Symptomenkomplexe“ für die Fachwelt ergänzen 
zu sollen. (Siehe Tabelle II. Seite 194.) 

Ich habe schon in früheren Arbeiten 1 ) auf das Entstehen ver¬ 
schiedener typischer Krankheitserscheinungen des Gehirnes nach 
ein und derselben ätiologischen Schädigung als einer Erscheinung 
hingewiesen, welche in der Weise verstanden werden kann, daß der 
Art und Verbreitung der Schädigung nach „verschiedenfältige 
Gruppierungen pathologischer Funktionsmechanismen“ entstehen 
können. Ich durfte damals bei der Betrachtung und Darstellung 
der nach Schädeltrauma auftretenden vielfältigen Formen von 
Erkrankungserscheinungen des Gehirnes sagen: 

„Es nimmt in dieser Betrachtung nicht wunder, daß 
hiebei Funktionsmechanismen in die Erscheinung treten, wie 
sie auch durch andere als mechanische Schädigung entstehen, 
wenn man bedenkt, daß die Gruppierung von krank¬ 
haft veränderten Funktionen durch den morpho¬ 
logischen Aufbau und die physiologische Zu¬ 
sammenhangsform der Organteile wesentlich mit¬ 
bestimmt wird. So wird auch die Gesetzmäßigkeit gewisser 
pathologischer Symptomengruppen verständlich, die sich in im 
wesentlichen gleicher Zusammenfügung auf den verschiedensten 
krankmachenden Grundlagen entwickeln. 

*) Zuerst in:Die traumatische Gehirnerkrankung, Haud- 
buch der ärztlichen Sachverständigentätigkeit von Dittrich, die forensische 
Psychiatrie. Bd. VIII, S. A. S. 24, 1909. 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. jo 


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Anhang zum Referat über Krank »innigen Statistik. 


195 


Der amnestische, delirante, traumhafte (Dämmer-), Kor¬ 
sakowsche, amente, stuporöse, epileptische, hysterische, neur- 
asthenische usw. Symptomenkomplex sind ebenso Teilerscheinung 
der verschiedenartigsten funktionellen und organischen Krank¬ 
heiten. Sie sind mitunter der fast alleinige Bestandteil einer 
Krankheit, der sie seinerzeit den Namen pars pro toto geliehen 
haben. 

Dieser meines Erachtens in der Nomenklatur der Gehirn¬ 
erkrankungen systematisch festzuhaitende Gedanke wirkt außer¬ 
ordentlich klärend. Wir haben uns hiebei von der Tatsache 
leiten zu lassen, daß z. B. der epileptische Symptomenkomplex, 
sei es der rein motorische, seien es verschiedene andersartige, 
etwa die als psychische Äquivalente beschriebene Störungen, 
in sich geschlossene Funktionsgruppierungen darstellen, die 
einmal durch gewisse Gifte, einmal durch traumatische Ver¬ 
änderungen der nervösen Substanz, ein drittemal durch 
Gefäßerkrankung, durch Tumoren usw. hervorgerufen werden 
können, daß im Prinzipe der epileptische motorische Mecha¬ 
nismus, der manische Funktionsmechanismus, der katatone 
Bewegungsmechanismus spezifische eigenartige Typen in be¬ 
stimmter Weise krankhaft abgearteter Funktionsgruppierungen 
des Zentralnervensystemes darstellen. 

Die Verschiedenartigkeit des ätiologischen Momentes, 
durch welches im einzelnen Falle diese pathologischen Funk¬ 
tionsgruppierungen ausgelöst werden, prägt sich im Auftreten 
von Nebensymptomen, in bestimmten Formeu des Verlaufes, 
im Ausfall oder der Veränderung einzelner Bestandteile der 
Funktionsgruppe (man denke an den manischen Symptomen¬ 
komplex im Bilde des manisch-melancholischen Irreseins, der 
Dementia praecox, der progressiven Paralyse, der Epilepsia 
genuina usw.) 

Welcher Art im Detail die Schädigungen sein müssen, 
welche funktionellen Beziehungen gelöst oder abgeändert sein 
müssen, damit in einem Falle diese, im anderen jene Funk¬ 
tionsgruppe entsteht, verschließt sich noch unserer Erkenntnis 
wegen der entsprechenden Lücken unseres hirnphysiologischen 
Wissens. Daß es aber hiebei sich nicht nur um grob anatomi¬ 
sche Läsion von Fasergruppen des Zentralnervensystems handelt, 
sondern um Beeinträchtigung der Beziehungen des Großhirnes 

13* 


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196 


Prof. Dr. F. Hartmann. 


zu den Funktionen des Gesamtkörpers und die feineren chemi¬ 
schen Relationen des Stoffwechsels der nervösen Substanz, geht 
aus unseren bisherigen Kenntnissen hervor. 

In dieser Auffassung hat das zweifellose Vorkommen einer 
ganzen Reihe typischer Symptomengruppen nach mechanischer 
Schädigung des Zentralnervensystemes nichts Wunderbares...“ 
Es ist wohl kein Zweifel, daß die klassische Gesetzmäßigkeit 
gemeinsam bei Erkrankung eines Organes auftretender symptomati¬ 
scher Funktionsabänderungen nicht so sehr auf immer dieselbe Schäd¬ 
lichkeit, als vielmehr auf immer dieselbe Topik hinweist, daß 
dieselben Strukturen oder dieselben Funktionsverkettungen in typi¬ 
scher Weise gestört werden, daß aber auch unter gewissen Umständen 
fruste Symptomenkomplexe Vorkommen oder sich zwei oder mehrere 
gleichzeitig entwickeln, gegenseitig interferieren oder zum Teil 
verdecken. 

Es sei auch hier noch einmal darauf hingewiesen, daß z. B. 
ein und dieselbe Schädlichkeit den epileptischen, choreatischen, 
soporösen Symptomenkomplex erzeugen kann; so z. B. eine mit 
infektiöser Endokarditis einhergehende Infektion; daß z. B. die 
chronische exogene Intoxikation einmal einen deliranten, akut 
halluzinanten, paranoischen, Korsakowschen, epileptischen, dementen 
Symptomenkomplex erzeugt, daß sie geradeso auch zu neuritischen, 
pseudo-tabischen, zerebellar-ataktischen, hemiplegischen J ) Sympto- 
menkomplexen führen kann. Während wir für die letzteren bei 
gleicher Ätiologie die genauere Topik angegriffener Strukturen 
zum Teil kennen, in deren Gefolge typische ceteris paribus gleiche 
Funktionsstörungen einsetzen, ist uns ein solcher näherer Einblick bei 
den sogenannten „psychopathologischen“ Symptomenkomplexen vor¬ 
läufig noch verwehrt. Die3 darf uns jedoch nicht daran hindern, die 
gesetzmäßigen Funktionsanomalien ohne anatomischen Befund mit 
den letzteren einheitlich biologisch aufzufassen. 

Inzwischen hat Hoche in einem Referate bei der Jahres¬ 
versammlung des deutschen Vereines für Psychiatrie im Mai 1912 
(5. August 1912 in Zeitschrift für die ges. Neurologie und Psy¬ 
chiatrie Band XII Originalia, Seite 540 ff.) über die Bedeutung der 
Symptomenkomplexe in ihrem Verhältnis zu Krankheitsformen einer- 


*) Ich nenne nur der Kürze halber diese und analoge auf S. 174 
zusammenfassend „neuropathologische“. 


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Anhang zum Referat über Kranksinnigenstatistik. 


197 


seits, zu Elementarsymptomen andrerseits seine Anschauungen in 
beachtenswertester Weise in den Grundzügen dargelegt. 

Ho che ist hiebei an der von mir schon oben mitgeteilten 
Anschauung über die „Symptomenkomplexe“ offenbar in Unkenntnis 
meiner früheren Darlegungen vorübergegangen und es freut mich 
tun so mehr, feststellen zu können, daß unsere Grundzüge der Ge¬ 
dankenrichtung dieselben sind und daher auch zu nicht wesens¬ 
verschiedenen Resultaten kommen mußten. 

Hoc he sagt z. ß. Seite 549 f.: „Die fortgesetzte und gesetz¬ 
mäßige Wiederkehr solcher Symptomenkomplexe erweckt zweifellos 
den Eindruck, daß bei einer großen Anzahl, vielleicht bei allen 
psychischen Störungen, Symptomenverkupplungen ausgelöst werden, 
die schon gewissermaßen parat liegen. Ein grobes und nur zum 
Teil jedenfalls sich deckendes Beispiel auf anderem Gebiete würde 
der epileptische Anfall sein, der, sobald bestimmte, uns nicht näher 
bekannte Voraussetzungen vorliegen, sofort mit der ganzen Reihe 
seiner Einzelkomponenten: Aura, Bewußtlosigkeit, Toni, Zuckungen 
usw. in die Erscheinung tritt, ohne daß etwa das zentrale Nerven¬ 
system diesen ihm absolut neuen Vorgang irgendwie vorbereiten 
oder durch Übung lernen müßte. Ganz verschiedenartige und von 
dem, der etwas Derartiges noch nicht gesehen hat, in ihrer Zu¬ 
sammensetzung keineswegs prophezeibare Einzelheiten eines patho¬ 
logischen Vorganges kehren immer in der gleichen Weise wieder, 
bei dem hundertsten Anfall nicht anders als bei dem ersten, und 
müssen wohl irgendwelchen tieferen gesetzmäßigen inneren Zu¬ 
sammenhängen gerade diese Gruppierung verdanken. In ähnlicher 
Weise mutatis mutandis würde man sich vorzustellen haben, daß 
beispielshalber die Kombination von deprimierter Stimmungslage, 
Kleinheitsgefühl und motorischer Hemmung oder von gehobener 
Stimmung, Bewegungsdrang, Ideenflucht oder die innige Verbindung 
von Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen oder die Verkupplung 
von Störungen der Merkfähigkeit mit der Neigung zu Konfabulation 
und vieles andere präformiert x ) vorhanden ist und im Falle einer 
psychischen Erkrankung fertig in die Erscheinung tritt. 

Diese Symptomenkomplexe sind von mir schon früher als 
„Einheiten zweiter Ordnung“ bezeichnet worden. Die sogenannten 


1 ) Die „Verkuppelung“ von „Störungen“ kann wohl kaum 
„präformiert“ gedacht werden. 


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Prof. Dr. F. Hartmann. 


Krankheitsformen in ihrer heutigen Umgrenzung haben sich als zu 
groß erwiesen, die Elementarsymptome andrerseits sind natürlich 
noch weniger geeignet, da sie Einzelerscheinungen darstellen, für 
die Abgrenzung der verschiedenen Zustände verwendet zu werden. 
Zwischen diesen beiden Erscheinungsreihen würden die Symptomen- 
komplexe stehen, auf die unser heutiges Sehen noch zu wenig ein¬ 
gestellt ist, weil wir immer nach Verwirklichung unserer Ideen von 
dem Inhalt der größeren Einheiten der reinen Krankheitsformen 
gestrebt haben.“ 

Auch ich teile seit Jahren seine Meinung, „daß wir uns bei 
dem unablässigen Suchen nach abgegrenzten reinen Krankheits¬ 
bildern psychischer Art auf einem Holzwege befinden,“ und habe 
unter Zugrundelegung dieser Anschauungen auch bei der Dar¬ 
stellung der Krankheitszustände in den Vorlesungen seit acht Jahren 
nach dem Grundsätze, der in den Tabellen meines Referates er¬ 
sichtlich ist, die Wahrnehmung machen können, daß diese Art der 
Auffassung dem Hörer allein den Zusammenhang der neurologisch¬ 
psychiatrischen Erscheinungen und ihre Analogisierung mit, den 
Erscheinungen bei den Erkrankungen anderer Organsysteme ver¬ 
mittelt und ihn nicht wie bishin vor, mit seinen anderweitigen 
medizinischen Erfahrungen, völlig inkommensurable Erscheinungen 
stellt. Eine Existenz reiner Krankheitsformen auf psychischem 
Gebiete, gegen welche Möglichkeit Hoc he ausführlich polemisiert, 
schließt sich meines Erachtens aus allgemein medizinischen Gründen 
vollkommen aus, „das Irresein ist.... ein Symptom,“ oder besser, 
es gibt keine psychischen Krankheiten, denn wie auch Roux 
seinerzeit beherzigenswert ausgeführt hat, können Funktionen nicht 
erkranken, sondern nur Bedingungen solcher durch krankmachende 
Agenzien abgeändert werden, und wir haben als Ärzte und Natur¬ 
forscher daher den abgeänderten Bedingungen der Funktionen nach¬ 
zugehen, wenn wir die Krankheitslehre auf naturwissenschaftliche 
Grundlagen stellen wollen. 

Ich habe daher auch im Beginne meines Referates aus¬ 
drücklich hervorgehoben, daß es in der praktischen Zwecken 
dienenden Klassifikation, aber auch in diesem Zweige der neuro¬ 
logischen Forschung unsere Aufgabe ist, „psychopatho- 
logische Funktionsabänderungen bei Gehirnkrank¬ 
heiten“ zu studieren und diesen Grundsatz stets als wesent¬ 
lichsten festzuhalten. 


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Anhang zum Referat über Kranksinnigenstatistik. 199 

Hier will ich hinzufügen, daß es noch korrekter wäre zu 
sagen: Psychopathologische Funktionsabänderungen des Gehirnes 
(durch Krankheiten). Ich gehe mit dieser Fassung noch über 
Hoches Darlegung, daß es heute eine unabweisbare Vorstellung 
ist, daß an allen höheren psychischen Vorgängen eine allgemeine 
Funktion der verschiedensten Hirn teile vorausgesetzt werden 
muß, noch weiter hinaus und beanspruche damit ausdrücklich die 
normale Mitarbeit der anderen Organsysteme, abgesehen von mar¬ 
kanten Krankheiten derselben, besonders hinsichtlich von schon im 
Normalen unerläßlichen Funktionsverkettungen (körperliche Begleit¬ 
erscheinungen psychischer Vorgänge, Rückwirkung von Störung 
körperlicher Begleiterscheinungen auf den intakten Ablauf der 
zerebralen Funktionen)*). 

Die Inkommensurabilität der psychischen Erscheinungen mit 
materiellen Vorgängen ist keine vereinzelte Erscheinung in der 
Naturwissenschaft (vgl. die Inkommensurabilität der Bedingungen 
des Entstehens und des Wesens von Elektrizität, Magnetismus 
usw.). Sie wird uns nur solange beunruhigen und beschäftigen, als 
wir in unserer Disziplin nicht gelernt haben, lediglich nach den 
Bedingungen zu forschen und eine möglichste Vollständigkeit in der 
Erkenntnis der Bedingungen eines Vorganges oder einer Erscheinung 
anzustreben, Grundsätze endlich in der wissenschaftlichen Methode 
unserer Disziplin nicht fortgesetzt außer acht zu lassen, wie sie in 
heute umfassend anerkannter Weise Mach u. a. festgelegt haben. 

Die Aufstellung der „Symptomenkomplexe“ er¬ 
möglicht ihre Zuteilung zu allen Ätiologien, ohne über die nähere 
pathologische Beziehung zu denselben zunächst etwas auszusagen; 
diese ist noch völlig zu erforschen. 

Die mit der fötalen Entwicklung abgeschlossene erste Periode 
der selbständigen embryonalen Entwicklung der Organe (und des 
Zentralnervensystemes) führt zu einer „funktionellen Struktur“ 
(Roux') auf Grundlage der vererbten Gestaltungen. Nach dieser 
Entwicklungsphase treten die gestaltenden und erhaltenden Er¬ 
scheinungen des „funktionellen Lebens“ hervor. In dieser 

„Biologische Aufgaben des zentralen Nervensystems als eine 
Grundlage der Lehre von den Erkrankungen desselben“, Graz, Leuschner u. 
Lubensky 1909. — Gaspero: „Hysterische Lähmungen“, Monographien 
von Alzheimer-Lewandowsky, IV, 1912. 


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200 Prof. Dr. F. Hartmann. 

Phase des „funktionellen Wachstums“ vollzieht im wesentlichen 
die funktionelle Anpassung die Ausbildung der im individuellen 
Leben erworbenen funktionellen Strukturen, die sich von den 
allgemein gestaltenden Prinzip der trophischen Wirkung des 
funktionellen Reizes ableiten läßt. Die funktionelle Struktur ist 
(nach Roux) „die der typischen Funktion im hohen Maße ent¬ 
sprechende, ihr scheinbar direkt angepaßte Struktur der Organe“. 

Die Bildung der funktionellen Struktur markiert sich in der 
Leistung der Organe wieder als Erhaltungifunktion, verleiht ihr 
Stabilitäts- und Sicherheitswerte des Ablaufes. Ihre mangelhafte 
Ausgestaltung in der Zeit des „selbständigen Wachstums“ infolge 
vererbter Schädigung oder in der Zeit des „funktionellen Lebens“ 
wird in gleicher Weise deletären Einfluß auf die spätere quantitative 
und qualitative Organleistuug nehmen. 

Auch ihre Schädigung auf der Höhe ihrer prinzipiellen Ent¬ 
wicklung kann zu mehr minder schwerer und dauernder Abänderung 
derselben (der funktionellen Struktur und der Struktur der 
funktionellen Verknüpfung) führen. Für einzelne Gewebe sind diese 
Tatsachen in der Entwicklungsmechanik und für die Pathologie 
schon in höchst belehrender Weise gesicherter Kenntnisbestand 
(z. B. in der Entwicklungsmechanik und Pathologie der funktionellen 
Strukturen des Knochens). 

Für das Nervensystem sind fast nur die gröbsten Tatsachen 
bekannt, die feinere Entwicklung der funktionellen Struktur läßt 
sich nur ahnen. Hier bleibt mit verheißungsvollen Methoden noch 
alles zu tun übrig; ist uns doch der überwiegendste Teil des 
funktionellen Aufbaues der zentralen Leistungen von der Geburt 
an völlig unbekannt! Seine Kenntnis ist jedoch unerläßlich, wollen 
wir von physiologischen „Symptomenverkuppelungen“ x ) (Struk¬ 
turen funktioneller Verknüpfungen), auf die Ho che als „präformierte“ 
psychische Eigenschaften hin weist, ausgehend, die pathologischen 
Symptomenkomplexe verstehen und werten lernen. 

Es müßte dann zunächst die Art und Qualität der — Aus¬ 
lösung von Funktionen — bedingenden pathologischen Reize (im 
weitesten Sinne des Wortes) mit exakten Methoden untersucht 
werden. Hernach bedürfte es der Untersuchung der Beziehungen von 
Reiz und Reaktionsart hinsichtlich des Umstandes, inwieweit patho- 


*) Ho ehe 1. c., pag. 549. 


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Anhang zum Referat über Kranksinnigenstatistik. 


201 


logische Reize nicht bloß auslösend, sondern auch auslesend auf 
die durch die „funktionellen Strukturen“ und die Struktur funktio¬ 
neller Verknüpfungen vorgebildeten und de norma gewährleisteten 
Reaktionsformen wirken. 

In analoger Betrachtung mit für andere Organsysteme schon 
wohlgekannten pathologischen Gesetzmäßigkeiten vorbezeichneter 
Art dürfen wir auch für das Nervensystem mit dem Eintritte 
krankhafter Bedingungen eine Abänderung der „funktionellen 
Strukturen“ und der Struktur funktioneller Verknüpfungen erwarten; 
es sind dann neue funktionelle Strukturen, die ihren klinischen 
Ausdruck in den „psychopathologischen Symptomenkomplexen“ 
ebenso finden, wie in den „neuropathologischen“. 

Die Abgrenzung „psychopathologischer Symptomenkomplexe“ 
ist zunächst der Erfahrung am Krankenbette entlehnt, 
daher noch erweiterungs- und einengungsfähig. Sie muß einer 
physiologischen Begründung vorläufig noch entsagen. 
Psychophysiologische Deutungen der Beziehung der einzelnen Sym¬ 
ptome zueinander wurden in früherer Zeit schon vielfach versucht, 
doch auch hier wurde mehr ein empirisches Nebeneinander oder 
Nacheinander postuliert oder gefunden, eine exaktere Durchdringung 
der Materie der Erscheinungen hinsichtlich ihrer pathophysio- 
logischen oder auch psychophysiologischen Bedingtheit oder wechsel¬ 
weisen Beziehung wurde entweder noch nicht versucht, oder die 
Versuche blieben rein konstruktiv und spekulativ, oder es 
zeigte sich vorläufig wegen des Mangels einer geeigneten Methodik 
die vorläufige Unmöglichkeit. Aber auch auf diesem so außer¬ 
ordentlich schwierigen Gebiete naturwissenschaftlicher Forschung 
wird mit dem Fortschreiten der Methodik der Erfolg nicht ver¬ 
sagt bleiben. 

Vorbedingung ist hier wie anderwärts bei schwierigen und 
zunächst kaum überschaubaren Materien zunächst die Schaffung 
brauchbarer Arbeitshypothesen. 

Als eine solche fasse ich die Abtrennung und Abgrenzung 
der psychopathologischen Symptomenkomplexe auf. 

Ausgehend von den früher mitgeteilten Überlegungen soll die 
fürdiepraktischeÜberschau der mannigfaltigen Erscheinungen 
am Krankenbette eine brauchbare „symptomatologische“ 
Arbeitsgrundlage geben und einer endlichen Klärung der 
medizinischen „Begriffe“ und Nomenklaturen (über meinen Stand- 


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Prof. Dr. F. Hartmann. 


punkt zum Begriffe „Psychose“ siehe Keferat Seite 176) in diesem 
Teile der Neuropathologie Vorarbeiten, eine gleichsinnige Be¬ 
trachtung der Erscheinungen am Krankenbette durch eine möglichste 
Vielheit von Beobachtern ermöglichen, während wir heute noch 
vielfach auf vollkommene Inkongruenz der „Begriffe“ und ihrer 
Definitionen in diesem Teile der Disziplin stoßen. Sie soll also eine 
gleichartige Beobachtung der Krankheitserscheinungen in den ver¬ 
schiedenen Arbeitsstätten und auf dieser Grundlage eine gemeinsame 
Verständigung in symptomatologischer Hinsicht ermöglichen und 
damit unsere symptomatologische Erkenntnis und Darstellung des 
empirischen Materiales fördern helfen. In zweiter Linie soll sie für 
fortschreitende wissenschaftliche Forschung durch die 
scharfe Scheidung der rein symptomatologischen Betrachtungsgegen¬ 
stände von ätiologischen, pathogenetischen, physiologischen, psycho¬ 
physiologischen Errungenschaften, Kenntnissen, Wahrnehmungen und 
Vorstellungen die notwendige Klarheit darüber bringen, was reine 
symptomatologische Erfahrungstatsache am Krankenbette ist und 
diese von allen übrigen Forschungsresultaten, Spekulationen und 
Deutungen prinzipiell trennen. Erst wenn diese reimliche Scheidung 
erfolgt ist, darf man hoffen, daß die exakte Erforschung der Be¬ 
dingungen der Einzelerscheinungen und ihrer Beziehungen unter¬ 
einander zu ätiologischen, anatomischen, experimentellen und 
psychophysiologischen usw. Tatsachen mit Erfolg einsetzen kann. 
Allen Funktionsstörungen eines Organes lediglich mit anatomisch 
histologischen Methoden beikommen zu wollen, gehört heute in das 
Gebiet der Geschichte der Medizin und es ist ein Zeichen von 
Zurückbleiben hinter dem Stande der übrigen Medizin, wenn diese 
Tatsache bisher in der neuropathologischen Forschung zu wenig 
beherzigt worden ist. 

Bei dem Übergang dieses Zweiges unserer Wissenschaft aus 
dem symptomatologischen Zeitalter in eine Phase, in der wir hoffen 
dürfen, mittels aller exakter Methoden unsere Kenntnis von den 
Bedingungen der Symptome zu erweitern, ist es unbedingt nötig, 
einen klaren und reinlichen Überblick über das empirische Sym- 
ptomenmaterial zu gewinnen. 

Diese meine Darlegung eignet sich dermalen meines Erachtens 
nur hinsichtlich der Anerkennung dieses eben gekennzeichneten 
Standpunktes über den Wert meiner Vorschläge als Arbeitshypothese 
zu einer literarischen Auseinandersetzung. 


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Anhang zum Referat über Kranksinnigenstatistik. 


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Hinsichtlich der Frage nach der Aufstellung gerade der vor¬ 
geschlagenen Symptomenkomplexe der Einengung oder Erweiterung 
ihrer Zahl, der Aufzählung der angeführten Einzelsymptome, der 
Berechtigung von deren Zahl, Nomenklatur und Definition, sowie 
der Richtigkeit der Stellung dieser im Symptomenkomplexe ist die 
Darstellung ausdrücklich als eine „vorläufige“ gekennzeichnet und 
bin ich mir klar bewußt, daß hier noch vieles erübrigt. 

Nur die Einsicht, daß ein Forscher allein außerstande ist, 
die Ausarbeitung durchzuführen, daß dies im Interesse der Sache 
auch gar nicht wünschenswert erscheint, andrerseits meine früher 
gekennzeichnete Überzeugung von der Notwendigkeit der endlichen 
Schaffung einer allgemein brauchbaren Arbeitsgrundlage, haben 
mich gelegentlich des mir übertragenen Referates zu dieser „vor¬ 
läufigen“ Publikation gedrängt. Die Anerkennung meines prinzipiellen 
Standpunktes von der Notwendigkeit einer solchen symptomato- 
logischen Arbeitsgrundlage vorausgesetzt, stelle ich mir die Weiter¬ 
arbeit als eine „Zusammenarbeit und nicht als Polemik vor. Yon 
Meinungsdifferenzen über Details sollte vorläufig abgesehen werden 
und die Arbeitsrichtung zunächst das Wesentliche darstellen. 
Die Zeit eines Jahres wird wohl genügen, um zu einer auf neuen 
Einzeluntersuchungen (nicht festgelegten Meinungen) beruhenden 
ersten Kritik des jetzigen Entwurfes zu führen. Die reichen Er¬ 
fahrungen von den verschiedensten Arbeitsstätten, die vielfach ver¬ 
schiedene Arbeitsmethodik, werden auf diesem Wege zu einer 
Klärung bisher auseinandergehender Meinungen ebensowie zu 
einer endlichen Festlegung gewisser grundlegender Erfahrungs¬ 
tatsachen führen. 

Auf die Durchführung dieser gemeinsamen Arbeit komme ich 
in anderer Form zurück. 


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IV. 

Diskussion zu den vorstehenden Referaten. 

Vormittagssitzung. 

Vorsitzender: Hofrat Obersteiner. 

Schriftführer: Prof. Marburg. 

Diskussion: 

Hofrat Wagner v. Jauregg: Es ist nicht unsere Aufgabe, ein 
Schema zu beschließen. Es war nur der Wunsch des obersten Sanitäts¬ 
rates, die Wünsche der Anstaltsärzte in dieser Frage kennen zu lernen. 

Beide Herren Beferenten gaben vollständige Schemata, die von¬ 
einander sehr wesentlich verschieden sind. Das des Herrn Regierungsrat 
Schloß ist vom Bestreben geleitet, sich an das Bestehende anzulehnen, 
bei möglichster Schonung des Bestehenden dessen schwerste Mängel zu 
beseitigen, also das Bestehende weiter zu entwickeln. Das Schema von 
Prof. Hart mann ist etwas vollständig Neues. Ich sehe in dem Schema 
einen außerordentlich geistreichen und konsequent durchgeführten Ver¬ 
such, ein Schema der Geisteskrankheiten auf streng wissenschaftlicher 
Basis aufzustellen. 

In beiden Schemen sind also zwei voneinander recht verschiedene 
Bestrebungen geltend gemacht worden. Beide haben verschiedene Schwierig¬ 
keiten. Dem Schema von Schloß ist mit Recht der Vorwurf der System- 
losigkeit gemacht worden. Dieser Fehler haftete schon dem Schema 
von Meynert an, der verschiedene Gesichtspunkte miteinander ver¬ 
quickte. Es haftet also diesem Schema vom ästhetischen Standpunkte 
der Fehler mangelnder Schönheit an. 

Andere Schwierigkeiten finden wir, wenn wir uns auf die Bahn 
Hartmanns begeben. Es besteht die Schwierigkeit, ein logisch 
gegliedertes System der Psychosen aufzustellen. Den meisten Autoren 
hat es sich aufgedrängt, daß es das Richtige wäre, eine ätiologische 
Klassifikation der Psychosen aufzustellen. Alle diese Systeme zeigen 
aber Lücken und Mängel. Hartmann meint, daß eine ätiologische 
Klassifikation durchzuführen sei. Ich will das zugeben, aber mit der 
Einschränkung, daß es nicht möglich ist ohne Zuhilfenahme von viel 
Hypothetischem. 

Während das Prinzip von Schloß vielleicht nicht schon ist, so, 


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Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmann. 


205 


muß man sagen, ist das andere nicht ohne Zwang durchzuführen. Es 
handelt sich darum, daß diejenigen, die die vielen Rubriken auszufüllen 
haben, die Arzte aus den Irrenanstalten, zu dem, was sie gehört haben, 
Stellung nehmen. Es handelt sich nicht darum, daß wir beschließen, ob 
wir das eine oder das andere Schema annehmen. Vielmehr soll das, 
was die Referate und die Diskussion ergeben, dem obersten Sanitäts¬ 
rate als Richtschnur bei seinen Beschlüssen dienen. Ich richte daher 
an die Herren, namentlich von den Anstalten, den Appell, ihre Ansichten 
zu äußern. Ich schlage vor, daß wir die Diskussion trennen in eine 
solche über die allgemeinen Gesichtspunkte und in eine, die sich auf 
die einzelnen Punkte der Schemen bezieht. 

Priv.-Doz. Dr. Stransky: Es wird sich, wie Redner schon 
früher andeutete, sicher empfehlen, neben der administrativen eine ätio¬ 
logische Statistik zu führen, letztere aber systematischer zu gruppieren 
als bisher, wobei man sich gewiß an die Hauptgesichtspunkte Hart¬ 
manns anlehnen könnte. 

Prof. Redlich: Die zwei Vorschläge zur Statistik, die uns heute 
vorgelegt wurden, sind, glaube ich, charakteristisch für den heutigen 
Standpunkt in der Psychiatrie. Der eine von Direktor Schloß geht von 
der Anschauung aus, daß wir in der Psychiatrie, wie sonst in der Medizin 
Krankheiten zu unterscheiden und zu rubrizieren haben. Der andere, 
neuerer Richtung verzichtet darauf und unterscheidet nur Symptomen- 
komplexe. Hier ist der Versuch gemacht worden, alle psychopatho- 
logischcn Bilder ausschließlich vom ätiologischen Standpunkt aus ein¬ 
zuteilen. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich im einzelnen da 
ergeben müssen, erscheint es mir zweifelhaft, ob das heute überhaupt 
durchführbar, ja auch nur erstrebenswert ist, ob wir nicht doch trachten 
müssen, ätiologisch-anatomisch-klinische Einheiten abzugrenzen; einzelne 
solche besitzen wir ja, wie z. B. die Paralyse. Andrerseits müssen wir 
bei einem solchen Standpunkte Dinge auseinanderreißen, die klinisch 
zusammen gehören, wie z. B. die Epilepsie. Dazu kommt, daß ja die 
verschiedenen ätiologischen Faktoren sich nicht ausschließen, sondern 
ergänzen, z. B. manches von dem, was sich in dem Schema Prof. Hart¬ 
manns als Biopathien findet, nur infolge der Konstitution wirksam wird. 

Ich glaube, es wird vorläufig noch praktischer sein, das Schema 
von Direktor Schloß zu wählen, das freilich noch sehr verbesserungs¬ 
fähig ist. An dieses kann dann vielleicht nach dem Muster von Prof. 
Hartmann ein ätiologisches Schema angefügt werden. 

C. Mayer erblickt in dem Vorschlag Hartmann den Ausdruck 
eines Wunsches nach ätiologischer Einteilung, der uns allen gemeinsam 
ist. Leider ist unser Wissen der Erfüllung dieses Wunsches noch nicht 
gewachsen. Das Eingehen in die Spezialdebatte würde dies hinsichtlich 
einer Reihe von Punkten erweisen. Die Biopathien dürften vielfach auf 
Trikopathien hinauslaufen. Die Dementia praecox könnte nicht bei den 
Pubertätserkrankungen bleiben, weil sie doch auch dem späteren Lebens¬ 
alter nicht fremd ist. Sehr zu begrüßen ist die Heraushebung einzelner, 


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Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmann. 


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in sozial- und rassenhygienischer Hinsicht wichtiger, statistischer Punkte 
im Vorschlag Hartmann. 

v. Wagner schlägt vor, über ein bestimmtes Thema, nämlich 
über die Krankheitsursachen, die Diskussion zu eröffnen. Diese sind 
schon gegenwärtig Gegenstand der Statistik. Ähnlich wie im Schema von 
Hartmann werden jetzt in einer vertikalen Kolonne die Krankheits¬ 
ursachen, in der horizontalen die Symptomenkomplexe aufgeführt. Da 
das Schema nicht allen Herren bekannt ist und sich aus dem Vergleich 
ergeben wird, ob das Hart mann sehe Schema für den praktischen 
Gebrauch erschöpfend ist, verliest Wagner das gegenwärtige Schema 
der Krankheitursachen. 

Diesem gegenübergehalten haben im Hart mann sehen Schema 
berücksichtigungswerte ätiologische Momente keinen Ausdruck gefunden, 
z. B. Lärm, Überbürdung, Erschöpfung durch geistige Überanstrengung. 
Die Herren wollen sich darüber äußern, ob man bei der bisherigen Art 
bleiben soll — es würde dann keine so systematische, aber vielleicht 
in gewisser Richtung erschöpfendere Aufführung der Krankheitsursachen 
möglich sein — oder ob die Krankheitsursachen in der Weise wieder¬ 
gegeben werden sollen wie im Schema von Hartmann oder ob man 
beides vereinigen soll: erst die Aufführung der Krankheitsformen nach 
ätiologischen Gesichtspunkten, dann noch außerdem die der ätiologischen 
Momente. 

Priv.-Doz. Dr. Stransky schließt sich im allgemeinen den soeben 
von Hofrat v. Wagner aufgez3igten Gesichtspunkten an; es handle 
sich ja um keine Einteilung zu wissenschaftlichen, sondern um eine 
solche zu praktischen und halb administrativen Zwecken. Er regt an, 
die separate ätiologische Statistik modern auszugestalten und weiter die 
Kinderpsychosen gesondert zu buchen. 

Professor Hartmann hebt zusammenfassend hervor, daß er die 
Aufgabe des referierenden Klinikers gegenüber dem Referate eines Ver¬ 
treters der Bedürfnisse, Wünsche und Anschauungen der Anstalten 
darin erblickt habe, neue Gesichtspunkte aufzuzeigen und eine Gruppierung 
zu schaffen, welche nach Möglichkeit neue Errungenschaften berücksichtigt 
und so beschaffen ist, daß sie für die weitere Entwicklung unserer 
Kenntnisse aufnahmsfähig bleibt. 

Im speziellen könne er nicht zugestehen, daß in den wesentlichsten 
Grundzügen ein besonderer Zwang notwendig war, um eine ätiologische 
Klassifikation durchzuführen. 

Hinsichtlich des Begriffes von Konstitution und der „Biopathien“ 
verweist er nochmals auf die Ausführungen des Referates und erklärt, 
daß man nach Belieben der Dementia praecox eine eigene Rubrik 
einräumen kann und dies an der prinzipiellen Gruppierung nichts 
ändern würde. 

Redner verweist noch auf sein Bestreben, auch eine Rubrizierung 
der in offener Behandlung stehenden Kranken zu ermöglichen und bittet, 
sich dazu zu äußern. 

Die ganze Anlage der schematischen Klassifizierung sei auch von 


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Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmann. 


207 


der Überzeugung getragen, daß es für jeden Arzt wünschenswert sei, 
eich in jedem Fall eine klare symptomatologische Diagnose zurechtzu¬ 
legen und wenn anders möglich, sich Rechenschaft über die zu Grunde 
liegende Ätiologie zu geben, eine Anregung, welche die bisherigen Schemen 
vollkommen vermissen und ihre Abfassung daher auch für die Verfasser 
der Berichte unbefriedigend erscheinen lassen. 


Nachmittagssitzung. 

Vorsitzender: Hofrat v. Wagner. 

Schriftführer: Dr. Pötzl. 

Der Vorsitzende begrüßt den für die k. k. Statistische Zentral¬ 
kommission erschienenen Ministerial-Vizesekretär Fizia. 

Über Antrag des Vorsitzenden wird die spezielle Diskussion so 
geführt, daß einzelne Fragen zur Sprache kommen. 

Reg.-Rat Schloß erinnert daran, daß in seinem Schema eine 
Rubrik über sekundäre Demenz fehlt und regt die Diskussion 
darüber an. 

Prof. Meyer fragt, ob im Schloß sehen Schema die Rubrik 
psychopathische Minderwertigkeit nicht erweitert werden soll. Ferner 
beantragt er, für Dementia praecox den Ausdruck Schizophrenie zu 
wählen. 

Reg.-Rat B o e c k ist der Meinung, daß der Begriff der sekundären 
Demenz aufrechterhalten bleiben müsse, da erst zu überblicken sein 
werde, wieweit sich akute Psychosen mit diesem Ausgang wirklich 
restlos als Dementia praecox auffassen lassen. 

Prof. Pilcz ist wie Schloß für die Auflassung der sekundären 
Demenz. 

B o e c k fragt, wie jetzt der Ausgang einer akuten Psychose in 
sekundäre Demenz rubriziert werde. Alles Derartige als Dementia praecox 
zu bezeichnen, sei eine petitio principii. 

Pappenheim schlägt eine eigene Rubrik paranoide 
Demenz vor. 

v. W a gn e r: Die Dementia praecox, wie sie zuerst von Kraepelin 
aufgestellt wurde, war eine Krankheit, die man gut in der sekundären 
Demenz unterbringen konnte. Seit längerer Zeit aber umfaßt sie neben 
den Folgezuständen ungeheilter Geistesstörungen auch eine große Zahl 
akuter Geistesstörungen. Es würde daher eine gewisse Berechtigung 
haben, die sekundäre Demenz von ihr zu trennen, doch erscheint das 
praktisch nicht durchführbar. Die Dementia praecox hat eine große Zahl 
von Anhängern, namentlich unter den jungen Psychiatern, gewonnen. 
Sie wird ungemein häufig diagnostiziert, während unter dem Einflüsse 
der herrschenden Anschauungen die Rubrik der sekundären Demenz 
vielleicht leer ausgehen würde. Es erscheint daher nicht zweckmäßig, 
die sekundäre Demenz wieder zum Leben zu erwecken. 

Wenn wir über die Dementia praecox debattieren, müssen wir uns 
vornehmen, beim Worte Demenz nicht das zu denken, was es wörtlich 


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Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmanu. 


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ausdrückt. Nach der herrschenden Anschauung ist die Dementia praecox 
eine Sammlung von akuten Psychosen, die weitgehend heilbar sind, und 
von Psychosen, die nicht zur Heilung gekommen sind. 

Wichtig ist die Stellung der Dementia praecox zu anderen Psy¬ 
chosen, die im Schema von Schloß am Anfänge, bei Hartmann unter 
II untergebracht sind. Manche Fälle, die an einem Orte als Dementia 
praecox diagnostiziert werden, gehen an anderen Orten als Amentia, ja 
sogar als Manie. Es dürfte sich daher empfehlen, die Dementia praecox 
im Schema näher an diese Psychosen heranzubringen. 

Durch Dr. Pappenheim wurde eine neue hieher gehörige Frage 
angeregt, die von großer Wichtigkeit ist, nämlich die Frage, ob man 
nicht Untergruppen der Dementia praecox aufstellen soll: die Hebephrenie, 
die Katatonie und die paranoide Demenz. Ich glaube, das würde dem 
Anstaltsarzt die Handhabung des Schemas sehr erleichtern. Es kann 
nicht jedem konvenieren, in dieselbe Rubrik einen verblödeten Hebe- 
phrenen und eine akute Katatonie zu setzen. Es würde sich daher 
empfehlen, die Unterabteilungen aufzunehmen. 

Hartmann betont die Unsicherheit der Klassifizierung nicht 
juveniler Psychosen der Dementia praecox-Gruppe; Meyer betont, daß 
gerade aus diesem Grunde der Ausdruck Schizophrenie wichtig und 
passend sei. 

Bo eck betont nochmals die Eigenart sekundär gewordener Amentia- 
Fälle; Pappenheim meint dagegen, daß solche Fälle als unklar zu 
rubrizieren seien. 

Priv.-Doz. Dr. Stransky beantwortet die Frage Boecks dabin 
daß bis vor kurzem die Gepflogenheit herrschte, die Dementia praecox 
unter die offizielle Rubrik „Amentia“ einzureihen. 

Zur Frage der Dementia praecox plädiert Stransky für den 
Ausdruck Schizophrenie als Grundeinteilung, die Rubriken „Katatonie“, 
„Hebephrenie“, „paranoide Formen“, „gemischte Formen“ und „End¬ 
zustände“ als Unterteilung des Grundbegriffes. 

Der Vorsitzende bringt hierauf die Anregung von Prof. Meyer 
zur Diskussion, die die Erweiterung der Rubrik „Psychopathische 
Minderwertigkeiten“ vorschlägt. 

Meyer schlägt als Grundbezeichnung für diese Rubrik den Aus¬ 
druck „Originäre psychopathische Artung“ vor; die Präzision seiner 
Unterformen habe noch genau durchgeführt zu werden. Auch die perio¬ 
dischen Zwangszustände könnten hier untergebracht werden. 

Pappen heim schlägt dazu vor, das „moralische Irresein“ nicht 
als eigene Gruppe zu führen, es aber auch nicht mit den Intelligenz¬ 
defekten zusammenzufassen. Seiner Beziehungen zur Pseudologia phan- 
tastica und zu andern Formen der Minderwertigkeit halber sei es am 
besten als Untergruppe der psychopathischen Minderwertigkeiten zu 
registrieren. 

Meyer zieht die Hart mann sehe Fassung der Rubrik I dem 
Vorschlag Pappenheims vor. Er bringt hierauf die Frage der neur- 
asthenischen Dämmerzustände zur Diskussion. 


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Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmann. 


209 


Für diese sei vielleicht besser eine Rubrik „Transitorische Geistes¬ 
störungen“ einzurichten. Die Dipsomanie könnte, freilich nicht ohne 
einen gewissen Zwang, in der Rubrik „alkoholische Geistesstörung“ 
untergebracht werden. 

v. Wagner: Die transitorische Psychose läßt sich allenfalls, wenn 
auch nicht vollkommen passend, in der S ch 1 ö ß sehen Rubrik: „Delirien 
usw.“ unterbringen; für diese Rubrik könnte dann der Titel „transi¬ 
torische Geistesstörungen“ gewählt werden. 

Stransky: Symptomatische Delirien sollte man zur Amentia- 
Gruppe nehmen; transitorische Psychosen sollten eine eigene Rubrik 
nahe den epileptischen Psychosen sein. 

Für den Ausdruck „neurasthenisches Irresein“ wäre vielleicht 
„degeneratives Irresein“ zu setzen. 

Meyer bemerkt zu seinem Vorschlag über die Dipsomanie, daß 
ja auch für den Alkoholismus das konstitutionelle Moment wichtig sei. 

S c h 1 ö ß erklärt nichts dagegen zu haben; er habe nie einen 
reinen Dipsomanen in der Anstalt gesehen. 

v. Wagner meint dagegen, daß das sehr angefochten würde; 
dipsomanische Zustände kämen auch ohne Alkoholgenuß vor. 

Es sei vielleicht zweckmäßig, die Alkoholdelirien besonders zu 
kodifizieren; vielleicht allerdings sei die Zahl der Alkoholdelirien in der 
Irrenanstalt zu gering dazu. 

Bo eck ist gleichfalls der Ansicht, es sei zum Ausdruck zu bringen, 
daß Dipsomanie etwas anderes als Alkoholismus ist. Konform Schloß 
sei es doch besser, das Alkoholdelirium nicht separat unterzubringen. 

Berze bringt Rubrik 3 (Manisch-depressives Irresein) zur 
Diskussion und empfiehlt für sie eine andere Unterteilung. Der Aus¬ 
druck „Manie“ bedeute doch „einfache Manie“; unter Mischzuständen 
sei der Kraepel in sehen Benennung entsprechend etwas anderes zu 
verstehen als manische und depressive Phasen im Wechsel; dem ent¬ 
sprechend sei auch eine Rubrik „Zirkuläres Irresein“ ausständig. 

Ferner schlägt Berze vor, zu Rubrik 11 (Geistesstörung durch 
Herderkrankung) noch eine Rubrik: „Geistesstörung bei diffuser Him- 
erkrankung“ zu schaffen. 

Stransky empfiehlt beim manisch-depressiven Irresein als Unter¬ 
gruppe eine Rubrik „zirkuläres Irresein“. Bei den Geistesstörungen durch 
Herderkrankung würde er als Untergruppen beantragen: infektiöse, 
nichtinfektiöse, traumatische, dann Psychosen bei organischen Nerven¬ 
krankheiten. 

Schloß ist für die Beibehaltung der ursprünglichen Gruppierung 
der manisch-depressiven Psychosen, da die Einordnung der einzelnen 
Fälle so viel eindeutiger sei. 

Stransky wirft die Frage auf, ob für die Haftpsychosen eine 
eigene Untergruppe zu schaffen sei. 

Pappenheim schlägt hiezu vor, eine Gruppe „Pathologische 
Reaktionen“ einzuführen, zu denen die Haftpsychosen und andere 
reaktive, nichthysterische Psychosen gehören würden. 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 14 


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210 Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmann. 

v. Wagner: Dieses Moment ist unter den ätiologischen 
Faktoren sehr verwendbar. 

Bisher bezog sich die Diskussion zumeist auf das Schema Schloß. 
Ich greife auf beide Schemen zurück* und habe folgende Bedenken: 

Die ätiologische Einteilung der Psychosen (Hartmann) macht die 
Angabe der ätiologischen Faktoren nicht überflüssig. Es soll auch die 
Möglichkeit bestehen, mehrere konkurrierende ätiologische Faktoren an¬ 
zugeben. 

In Hartmanns Begriff „Konstitutionserkrankungen des Gehirns“ 
könne Redner nichts als den Begriff _der Disposition erblicken. 
Eine Disposition einer speziellen Art sei für die große Mehrzahl der 
Psychosen notwendig; und so müßten schließlich alle Psychosen in diese 
Gruppe. Hier, im Hartmannschen Schema, ist die Disposition bei 
einigen Gruppen hervorgehoben, bei anderen zurückgedrängt. 

Der Begriff konstitutionelle Epilepsie klingt an den Begriff der 
genuinen Epilepsie an; er enthält damit eine Anschauung, die ich nicht 
akzeptieren kann. 

Ein weiterer Übelstand im Hartmannschen Schema ist, daß 
manche Erkrankungen naturgemäß doppelt Vorkommen müssen. Ein 
Beispiel dafür ist die Paranoia chronica, die im Klimakterium beginnt. 
Das gleiche gilt von den Erkrankungen der Pubertät und der Dementia 
praecox, von der Rubrik Gravidität usw. 

Es bedarf also der Bildung von Gruppen, die leichter und ein¬ 
wandfrei zusammenzuhalten sind. 

Meyer schlägt vor, bestimmte Momente von besonderer sozialer 
und rassenhygienischer Bedeutung zu berücksichtigen. 

Ministerial-Vizesekretär Fizia spricht sich für eine möglichste 
Vereinfachung des Schemas aus, selbstverständlich nur soweit, als es 
die wissenschaftliche Basis des Schemas gestatte. Für eine Rubrizierung 
der zur Erörterung von Rassenfragen nötigen Daten sei im bisherigen 
Schema nur Konfession und Geburtsland angegeben, was wohl lücken¬ 
haft sei. Es sei vielleicht eine gesonderte Rubrizierung der rassen¬ 
hygienischen Daten für die Einzelnformen der psychischen Krankheiten 
durchführbar. 

Vor allem aber sei es für die Statistische Zentralkommission 
wichtig und wünschenswert, die Zählblätter der einzelnen Geisteskranken 
direkt zur statistischen Bearbeitung zu bekommen. 

Gewiß seien die Kliniken mit einzubeziehen; auch solche Siechen- 
anstalten, die Geisteskranke halten, wären zur Statistik mit heran¬ 
zuziehen. 

Bo eck wirft die Frage auf, wie man sich beim Hartmann¬ 
schen Schema verhalten solle, wenn mehrere Ursachen konkurrieren. 

Hartmann erwidert, die Benennung a potiori genüge für 
alle Fälle. 

B o e c k wendet dagegen Beispiele ein: die Wirkung eines Trauma 
bei notorischem Alkoholismus usw. Es sei ja eben der Zweifel, welches 
ätiologische Moment a potiori zu nehmen sei, der in seiner Anstalt es 


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Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmann. 


211 


so oft dahinbringe, daß bei der ätiologischen Rubrizierung in einem 
Fall mehrere Ursachen angegeben werden. 

Hofrat Obersteiner erinnert daran, daß die Frage der Zähl¬ 
karten als sehr wichtig seinerzeit viel in den Zeitschriften diskutiert 
worden ist. Das Anerbieten, daß die Statistische Zentralkommission selbst 
die Zählkarten verarbeite, sei hochherzig und nur geeignet, den Anstal ts- 
ärzten viel Arbeit abzunehmen. 

Betreffs der ätiologischen Rubrizierung schließt sich Obersteiner 
der Ansicht v. Wagners an; es gehe nicht in jedem Fall mit einer 
Ätiologie. 

Ist man gezwungen, sich mit der Anführung einer einzigen zu 
begnügen, so nimmt sich jeder nur dasjenige Moment heraus, das seiner 
Lieblingsanschauung entspricht. So mochte seinerzeit für die progressive 
Paralyse das Moment der Überanstrengung, das Trauma betont, die 
Lues vernachlässigt worden sein. Eine solche Praktik des Rubrizierens 
ist geeignet, subjektiv zu färben. 

Pappenheim erinnert an den Vorschlag v. Wagners, das 
ätiologische Schema beizubehalten und schlägt vor, es nach dem Muster 
der Hartmann sehen Einteilung umzuarbeiten. 

Schlöß bemerkt, daß statistische Berichte auch an den Landtag 
zu liefern sind und daß daher der Vorschlag Fizias, die Zählblätter 
direkt zur Verarbeitung einzusenden, dem Anstaltsarzt keine wesentliche 
Erleichterung bringe. Demgegenüber weist Berze darauf hin, daß der 
Bericht an den Landtag ungleich einfacher in Gesichtspunkten und 
Ausführung sei als der an die Statistische Zentralkommission. Auch 
v. Wagner hält den Vorschlag Fizia für einen großen Gewinn. Den 
einzelnen Landesausschüssen sei zu empfehlen, sich auf das Interesse an 
den Krankenbewegungen und an den Kostennachweisen zu beschränken. 

Allerdings würden durch den Vorschlag Fizia Duplikate der 
Zählblätter nötig sein, was wiederum eine gewisse Mehrarbeit bedeute. 

Fizia sagt, seine Anregung sei nicht eigentlich ein Antrag 
gewesen. Die Kopien von den Zählblättern seien leicht mit Durchschlag 
herzustellen. Die Landesbehörden haben tatsächlich nur an Krankenzahl 
und Kosten Interesse; der Überblick hierüber habe natürlich als rasch 
zu leistende Arbeit der Anstalt selbst überlassen zu bleiben. 

Auch Eg lau er betont die Vorteile des Vorschlages Fizia für 
die Anstaltsärzte, während Bo eck betont, daß auch die Ärzte selbst 
an den Ergebnissen der Statistik so viel Interesse haben, daß sie die 
Mitarbeit nicht gern aufgeben. 

Fizia bemerkt schließlich, daß ja die Anstalt an kein Schema 
gebunden ist. 

Prof. Hartmann begründet im einzelnen nochmals den Begriff 
der ^konstitutionellen Krankheiten“ gegenüber dem Begriffe der Dispo¬ 
sition, die eine wechselnde, von den verschiedensten Bedingungen momen¬ 
taner stets variabler Einflüsse abhängige, bei einem und demselben 
Individuum zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene Größe der 
jeweiligen Widerstandsfähigkeit gegenüber krankmachenden Einflüssen 

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Diskussion zu den Referaten Schloß und Hartmann, 


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darstelle. Er ist nicht der Meinung, daß das vorgetragene Schema Ver¬ 
anlassung geben müsse, manche Erkrankungen doppelt zu rubrizieren. 
Die im Klimakterium einsetzende Paranoia chronica wird man, soferne 
man (und das geschieht doch allenthalben) sie als eine ätiologisch mit 
dem Klimakterium in Zusammenhang stehende Erkrankung auffaßt, in der 
ätiologischen Gruppe unter dem paranoischen Symptomenkomplexe 
einreihen, ebensowie die Symptomenkomplexe der Gravidität, man wird 
unter Pubertätserkrankungen den jeweiligen Symptomenkomplex zur Ein¬ 
tragung bringen. 

Redner glaubt nicht, daß aus diesen Gründen von einer über¬ 
geordneten ätiologischen Klassifikation der Gehirnkrankheiten und der 
hiebei vorkommenden psychopathologischen Symptomenkomplexe abge¬ 
gangen werden müßte. 

In prinzipieller Hinsicht schiene es ihm wünschenswert, daß diese 
Statistik nicht nur für die Anstalten, sondern auch für die Kliniken 
Anwendung finden möchte, denn in einer Reichs Statistik für Krank¬ 
sinnige würde (wie bisher) durch den Wegfall des nur die Kliniken 
passierenden Materiales die Statistik wichtige Krankheiten nicht be¬ 
rücksichtigen und als lückenhaft zu bezeichnen sein. 

Zum Schlüsse dankt der Vorsitzende den beiden Herren Referenten, 
dem Herrn Vertreter der Statistischen Zentralkommission und den 
Diskutierenden. 


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Referate. 


G. Aschaffenburg, Prof. Dr.: Handbuch der Psychiatrie. 

Leipzig und Wien, 1912, Franz Deuticke. 

Allgemeiner Teil, 4. Abteilung. 

Th. Kirchhoff, Prof.: Geschichte der Psychiatrie. 

Ein Stück Kulturgeschichte in gefälliger Darstellung. Der 
Autor verfolgt die Entwicklung der Psychiatrie vom griechischen 
und ägyptischen Altertum durch das Mittelalter bis ungefähr zur 
Zeit Griesingers, und hebt besonders den Gesichtspunkt hervor, 
daß eben die Psychiatrie die Einheit der gesamten Medizin her¬ 
zustellen geeignet sei. 

A. Groß, Direktor: Allgemeine Therapie der Psychosen. 

Verfasser schließt an eine Besprechung der Prophylaxe des 
Irreseins besonders ausführlich die der modernen Irrenanstalt, ihrer 
Einrichtungen und Wirkungsmöglichkeiten; er vergleicht die ein¬ 
zelnen Anstaltstypen, nimmt zu den Problemen des Anstaltsbaues 
Stellung, wie zu den Fragen der Anstaltsverwaltung. Ein dritter 
Abschnitt ist der Psychotherapie im weitesten Sinne gewidmet, 
wozu Beschäftigungstherapie ebensowie Unterhaltung und Zer¬ 
streuung gerechnet werden. Es folgt das Kapitel physikalisch¬ 
diätetische Behandlungsmethoden, medikamentöse, chirurgische 
Therapie; Groß schließt mit einer kritischen Würdigung der 
Fürsorge für Geisteskranke außerhalb der Anstalt. 

Spezieller Teil, 5. Abteilung. 

A. Hoche, Prof.: Dementia paralytica. 

Verfasser eröffnet mit einer kurz zusammenfassenden Dar¬ 
stellung des heutigen Standes der Lehre von der Dementia 
paralytica. Es überrascht im ersten Augenblicke zu sehen, daß 
Hoche hiefür, inkl. Literaturverzeichnis mit 81 Seiten sein Aus¬ 
langen findet. Der Autor erklärt auch, daß er auf Symptomatologie 
und allgemeine klinische Statistik weniger breit einzugehen die 
Absicht hatte. Er liefert so eine Darstellung, die trotz ihrer Knapp¬ 
heit noch den persönlichen Standpunkt Hoclies in der Klassifikations- 


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Referate. 


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wie in der Ätiologiefrage zum Ausdrucke bringt. Er interessiert 
sich für die Frage der persönlichen Empfänglichkeit und der 
Rassendisposition, die Beziehung der klinischen Erscheinungen auf 
bestimmte greifbare Hirnveränderungen, die feinere, namentlich 
chemische Diagnostik, die abortiven Formen der Paralyse. Besonders 
pessimistisch ist Hoche im Kapitel Therapie. 

W. Spielmeyer, Dr., Priv.-Doz.: Die Psychosen des Rück- 
bildungs- und Greisenalters. 

Verfasser geht von den anatomisch bestimmbaren Psychosen 
aus, reiht an die gewöhnliche senile Demenz die Besprechung 
atypischer Fälle nach Lokalisation, Intensität und zeitlichem Auf¬ 
treten, daran die Geisteskrankheiten auf arteriosklerotischer Grund¬ 
lage. Besonders schwierig ist das Kapitel über Psychosen, welche 
auf deutlich erkennbaren, aber noch nicht scharf zu bestimmenden 
Hirnerkrankungen beruhen, die weder gewöhnliche senile noch 
arteriosklerotische, aber doch Altersprozesse sind. Endlich werden 
die Psychosen des Alters erörtert, namentlich depressive und 
paranoide Bilder. Über die Stellung der Melancholie im Präsenium 
ist ein heftiger klinischer Streit entbrannt. Spielmeyer erwartet 
von der Anatomie auch auf diesem Gebiete die Führerschaft. 

Bernh. Beyer, Dr.: Die Bestrebungen zur Reform des 
Irrenwesens. Material zu einem Reichs-Irren¬ 
gesetz. Halle a. S., 1912, Carl Marhold. 

Der Oberarzt am Sanatorium Herzoghöhe zu Bayreuth macht 
hier den wohlgemeinten Versuch, Laien und Ärzten, natürlich Nicht¬ 
psychiatern ausführliches Material zu liefern über die Unstichhaltig¬ 
keit der gegen die Irrenärzte gerichteten Angriffskampagne. Ver¬ 
schiedene Psychiatertage haben sich mit der Diskussion über die 
beste Art der Abwehr ungerechtfertigter, ja oft böswilliger, ver¬ 
leumderischer, unsinniger Angriffe gegen den Stand und einzelne 
Mitglieder befaßt. Das Problem ist unlösbar. Und auch Beyer 
wird wohl nicht glauben, daß Leute, welche kritiklos von einem 
früheren Anstaltsinsassen Informationen weitergeben oder Sensation 
aus der Morgenzeitung verlangen, zwölf Mark opfern werden, um 
sich gründlich darüber belehren zu lassen, daß etliche 20 Fälle* 
die immer als Märtyrer der gegenwärtigen Irrenpflege aufmarschieren, 
dieses Nimbus tatsächlich entbehren. Zu wünschen wäre, daß das 
vorliegende Buch die weiteste Verbreitung finde, speziell in Deutsch¬ 
land; die im Buch abgedruckten Sitzungsberichte des deutschen 
Reichstages und preußischen Abgeordnetenhauses stimmen die Er¬ 
wartungen des Menschenfreundes tief herab; gegen so viel Tendenz, 
unausrottbares Mißtrauen kämpft der Psychiater vergeblich. Der 
Autor weist auch darauf hin, daß die Irrenfürsorge immer noch 


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Referate. 


215 


verbesserungsbedürftig sei; für den Fachmann bedarf es keines 
Beweises, daß hier nur die Irrenärzte berufen sein können, zu 
reformieren; aber der Laie versteht es besser. Mit der Wiedergabe 
der Beschlüsse des deutsehen Vereines für Psychiatrie vom Jahre 
1893 (!) und einem reichhaltigen Verzeichnis antipsychiatrischer 
Literatur schließt das Buch, welches unter das Volk verteilt zu 
werden verdiente. 

L. Frank-Zürich, Dr.: Psychiatrie und Armenpflege. Zürich, 
1912, art. Institut Orell Füssli. 

Ein populärer Vortrag, welcher die Wichtigkeit psychiatrischer 
Kenntnisse für die Armenpflege dartut, praktische Vorschläge spez. 
für die Schweiz bringt. 

Leo Zaitzeff-Kiew : Die strafrechtliche Zurechnungs¬ 
fähigkeit bei Massenverbrechen. Halle a. S., 1912, 
Carl Marhold. 

Die sehr lesenswerten Ausführungen des russischen Juristen 
stellen einen Versuch dar, die Gesetze der Kollektivpsychologie 
auf die Kriminalpolitik anzuwenden. Die Massenwirkung wird durch 
zahlreiche Beispiele aus früherer und jüngster Zeit illustriert, die 
französische Revolution und Rußland liefern reichlich Material. Ver¬ 
fasser entscheidet sich nicht. Man könnte Massenverbrechen behandeln 
gleich den Verbrechen, die unter dem Einflüsse der Hypnose verübt 
werden. Wenn aber das in der Menge befindliche Individuum bis 
zu einem gewissen Grade seine Fähigkeit, sich von Überlegung 
bestimmen zu lassen, bewahrt, dann wäre es strenger zu bestrafen, 
aus der Notwendigkeit einer Verstärkung der Gegenmotive heraus- 

ErnstSiefert, Dr.,Priv.-Doz.:PsychiatrischeUntersuchun- 
gen über Fürsorgezöglinge. Halle a. S., 1912, 

Carl Marhold. 

Die vorliegende Untersuchungsreihe unterscheidet sich einmal 
von anderen durch ihre Großzügigkeit. Nicht weniger als 1057 
Anstaltszöglinge möglichst vieler Kategorien bilden ihr Objekt. 
Weiters beschränkt der Verfasser sich darauf, die Akten über jeden 
einzelnen Fall nach allen interessierenden Einzelheiten zu erschöpfen, 
Erkundigungen bei den Erziehern einzuholen und die Zöglinge 
selbst kurz zu untersuchen. Er bemüht sich dann, die Resultate 
gemeinverständlich darzustellen. Siefert setzt sich als ausdrück¬ 
lichen Programmpunkt, das Wort „minderwertig“ zu vermeiden, gegen 
das er allerlei Bedenken hat; es ist ihm nun aber nichts übrig 
geblieben, als einmal die Gruppe der Gesunden sehr weit zu fassen —, 
hier stecken auch alle diagnostisch unklaren Fälle; er unterscheidet 
weiters Debile, die nicht gesund und nicht schwachsinnig sind, 
Abnorme, Individuen mit abwegigem Gefühlsleben; schließlich stellt 


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Referate. 


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er doch fest, daß die Fürsorge-Erziehungsanstalten angefüllt sind 
von einem in intellektuellen Leistungen und nervöser Gesundheit 
stark unter wertigen Menschenmaterial: Die Differenz im sprach¬ 
lichen Ausdruck zwischen Siefert und den anderen Autoren wird 
also nicht mehr unüberbrückbar sein. 

Als ein besonderer Vorzug des vorliegenden Buches muß 
nach Ansicht des Referenten hervorgehoben werden, daß die Ergeb¬ 
nisse einer überaus mühevollen Arbeit auf engem Raume gedrängt 
beisammenstehen, sowie daß Verfasser zu einer bestimmten Stellung¬ 
nahme kommt — mögen andere aus anderem Materiale andere 
Schlüsse ziehen, in der sächsischen Provinz sind die Resultate 
recht eindeutig. Schon der merkwürdige Gegensatz, daß bei den 
Mädchen erst in den Jahren nach der Konfirmation ein Krimina¬ 
litätszentrum sich bildet, das alle zurückliegenden Lebensalter 
übertrifft, während bei den Knaben mit Schulende die Kriminalität 
bereits aufgerollt ist, beweist einen Entwicklungskontrast von 
denkbarster Schärfe zwischen den beiden Geschlechtern und stützt 
den Gedanken, daß nicht im Milieu, sondern in der organischen 
Struktur die innersten und eigentlichen Gründe auch des kriminellen 
Geschehens liegen. 

Der Autor resümiert in einer großen Anzahl von Punkten die 
Resultate seiner Untersuchungen, die Optimisten der Fürsorge¬ 
erziehung recht unangenehm klingen müssen. Dem werdenden 
eigentlichen Schwerverbrecher, Vagabund und Dirne gegenüber 
erleidet die Fürsorge dieselben tragischen Niederlagen, wie alle 
anderen Gegenbestrebungen; wir sind auch machtlos gegen die 
stete Neuproduktion solcher Individualitäten. Immerhin zieht Siefert 
auch praktische Folgerungen. Wenngleich er der Meinung ist, daß 
frühzeitiges Überleiten der Individuen in psychiatrische Hände das 
praktische Ergebnis nicht wesentlich bessern wird, ist doch das 
ärztliche Anschauen richtiger und besser als der Gedanke der 
Besserung. Die für weite Kreise bestimmte und zum Studium bestens 
zu empfehlende Arbeit schließt mit acht Krankengeschichten, resp. 
kurzen Gutachten über typische Fälle des Verfassers. 

Ernst Bischoff, Dr., Priv.-Doz.: Lehrbuch der gerichtlichen 
Psychiatrie für Mediziner und Juristen. Urban und 
Schwarzenberg, Berlin und Wien, 1912. 

Das vorliegende Lehrbuch ist die Frucht einer langjährigen 
gerichtspsychiatrischen Tätigkeit, leicht zu erkennen an der auf 
praktische Erfahrungen in foro gegründeten persönlichen Note. 
Bischoff verzichtet auf umfangreichere Ausführungen über die 
gesetzlichen Bestimmungen, da der Jurist von zuständiger Seite 
darüber unterrichtet werde; er skizziert auch die klinische Psychiatrie 
nur kurz, da es dem Juristen und Laien genügen müsse, die Be¬ 
griffe zu kennen, mit welchen der Psychiater operiere; Bischoff 


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Referate. 


217 


stellt vielmehr die allgemeine Psychiatrie mit ihren Hilfswissen¬ 
schaften in den Vordergrund. Diskutabel sind allerdings zwei Punkte: 
so wenn der Autor in der Einleitung bei Präzisierung seiner 
Stellungnahme zur Frage der Zurechnungsfähigkeit überall zusammen¬ 
fassend „die Psychiater“ setzt, wo von Differenzen im ersprießlichen 
Zusammenwirken mit den Juristen die Rede ist; ebenso am Schlüsse, 
wenn Bise hoff wesentlich drei Formen der geistigen Minder¬ 
wertigkeit unterscheidet: Moral insanity, impulsives Handeln und 
Willensschwäche. Es ist aber eigentlich selbstverständlich, wenn so 
subjektiven Problemen gegenüber Meinungsverschiedenheiten be¬ 
stehen. Anordnung wie Durchführung der Aufgabe empfehlen das 
Lehrbuch aufs beste. 

Hans Schultze, Dr., Oberarzt: Geschichte der Landesirren¬ 
anstalt Sorau. N. L. 

Eine Jubiläumsschrift. Um einen ehrwürdigen Barockbau 
seinerzeit zur Abhaltung fürstlicher Feste bestimmt, dann Armen 
versorguugs- und Arbeitsanstalt, ist im Laufe von 100 Jahren eine 
ganze Irrenstadt herangewachsen, deren musterhafte Einrichtungen 
in Wort und Bild verewigt werden. 

Ludwig Scholz, Dr., Direktor in Kosten: Leitfaden für Irren¬ 
pfleger. Vom deutschen Verein für Psychiatrie gekrönte 
Preisschrift. 9. verm. u. verb. Auflage. Halle a. S., 1912, 
Carl Marhold. 

Die Tatsache der 9. Auflage spricht dafür, daß das Büchlein 
grundlegender Änderungen nicht bedarf. Möge es segensreich weiter 
wirken bei der Heranbildung eines idealen Pflegepersonales. R. 

J. Wagner v. Jauregg, Prof.: Myxödem und Kretinismus. 
Aus dem Handbuch der Psychiatrie von Aschaffenburg, 
spez. Teil 2. Abteilung, 1. Hälfte. Leipzig und Wien, 1912, 
Franz Deuticke. 

Die hier behandelten Krankheiten nehmen insoferne eine 
eigentümliche Stellung ein, als bei ihnen das Interesse an den 
psychischen Phänomenen zurücktritt gegenüber den vielfachen Be¬ 
ziehungen, die sie sonst zu den verschiedensten Kapiteln der 
Pathologie aufweisen. Je nach den Bedingungen, unter denen die 
Herabsetzung oder Aufhebung der Schilddrüsenfunktion zustande 
kommt, unterscheidet v. Wagner: das Myxödem der Erwachsenen, 
das operative Myxödem, den endemischen und den sporadischen 
Kretinismus. Zwecks Einführung in die Klinik bespricht Verfasser 
die Fortschritte in der Physiologie und Pathologie der Schilddrüse 
während der letzten Jahrzehnte, eines der interessantesten Kapitel 
der inneren Medizin. Am vielgestaltigsten sind die Seelenstörungen 
beim Myxödem der Erwachsenen. 


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Referate. 


Den größten Raum beansprucht die Klinik des endemischen 
Kretinismus, dessen Vorkommen, Symptomatologie, Geistesleben, 
Formen, Entwicklung und Verlauf, pathologische Anatomie, Patho¬ 
genese Ätiologie, Diagnose und Therapie erörtert wird. Speziell 
was die Ätiologie betrifft, bringt v. Wagner negative wie positive 
Anhaltspunkte für die Rolle des Trinkwassers. Verfasser folgert - 
dann weiter, daß die endemische Schädlichkeit, die in den Körper 
eindringe, durch die gesunde Schilddrüse unschädlich gemacht werde, 
andrerseits aber die Eigenschaft habe, die Schilddrüse selbst in 
ihrer Funktion zu beeinträchtigen. Daraus ergebe sich, wenn die 
Schilddrüse ihrer schützenden Aufgabe nicht mehr nachkomme, 
Hypertrophie. Wenn aber die Schilddrüse wegen allzu großer Menge 
der auf sie einwirkenden Schädlichkeit oder weil sie von Haus aus 
schwach, oder durch Krankheit geschwächt, sich selbst nicht mehr 
genügend schützen könne, komme es zu einem Ausfall der Funktion, 
zu Kretinismus, v. Wagner stellt fest, daß es unmöglich ist, zwischen 
sporadischem Kretinismus und der myxödematösen Form des Infan¬ 
tilismus eine scharfe Trennung zu machen. 

Acht Abbildungen sind der ebenso präzisen wie übersichtlich 
klaren Darstellung beigegeben, die das Thema erschöpft; 267 Lite¬ 
raturnummern bilden den Beschluß. 


Schefold, Dr., Landrichter, und Werner, Dr. Ass., Der Aber¬ 
glaube im Rechtsleben. Halle a. S., 1912, Carl Marhold. 

Das vorliegende 8. Heft des 8. Bandes der juristisch-psychia¬ 
trischen Grenzfragen bringt zwei Referate, welche am 19. Mai 1912 
erstattet wurden. 

Landrichter Dr. Schefold stellt fest, daß auch heute noch 
und bei allen zivilisierten Völkern der Aberglaube weit verbreitet 
und für das Rechtsleben von nicht unerheblicher Bedeutung sei. 
Referent führt systematisch durch, wie der Aberglaube Kriminalität 
bedingt, wie er bei Zivilstreitigkeiten eine Rolle spielt, wie er dem 
Richter helfen, umgekehrt seine Kreise stören kann. Den Beschluß 
bilden Ausführungen darüber, welche Stellung das geltende Recht 
dem Aberglauben gegenüber einnimmt, welche Wünsche an den 
Gesetzgeber zu richten wären. 

Der medizinische Referent Werner beschäftigt sich mit einigen 
speziell für den Arzt wichtigen Formen des Aberglaubens, findet 
wechselseitige Beziehungen zwischen abnormem Geisteszustand und 
Aberglaube und meint, daß Aberglaube allein bei Fehlen sonstiger Sym¬ 
ptome einer Geistesstörung oder hochgradiger Geistesschwäche nicht 
als krankhafte Störung der Geistestätigkeit aufgefaßt werden könne. 

In einer angehängten Diskussion dreht es sich wesentlich darum, 
ob der Aberglaube namentlich im Falle eines Mordes als ein be¬ 
sonders privilegierter Strafmilderungsgrund ins Gesetz kommen solle. 


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Referate. 


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Das 1. Heft des 9. Bandes der juristisch-psychiatrischen Grenz¬ 
fragen Halle a. S., 1913, Carl Mar hold, bringt unter dem Ober¬ 
titel: Über die Zurechnungsfähigkeit, drei Aufsätze: 

0. Engelen, Dr., Landgerichtspräsident: Behandlung der 
sogenannten vermindert Zurechnungsfähigen. 

Verfasser sieht von Kindern, Trunksüchtigen und Individuen 
ganz ab, welche drohen kriminell zu werden. Er hält der Majorität 
der Versammlung gegenüber daran fest, daß ein genauer Begriff 
der verminderten Zurechnungsfähigkeit zwar bequem wäre, aber 
nicht aufzustellen ist. 

Wilhelm Kahl, Prof.: Der Stand der europäischen 
Gesetzgebung über verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit. Gleich dem Vorigen ein Referat vom 7. inter¬ 
nationalen Anthropologenkongreß zu Köln 1911. 

K. erklärt für die beste Definition jene des 27. deutsch-öster¬ 
reichischen Juristentages: „Der Täter müsse sich bei Begehung 
der strafbaren Handlung in einem nicht bloß vorübergehenden 
krankhaften Zustande befunden haben, welcher das Verständnis für 
die Strafwürdigkeit seiner Handlung oder seine Widerstandskraft 
gegen strafbares Handeln verminderte.“ Minder wichtig erscheint 
ihm die Straffrage; für prinzipiell richtig hält er die Aufstellung 
eines besonderen Strafrahmens für vermindert Zurechnungsfähige. 

E. Mezger, Dr.: Die Klippe des Zurechnungsproblems, 

unterzieht sich der sehr verdienstvollen Aufgabe, unter reicher Heran¬ 
ziehung philosophischerLehrmeinungen in klarer und gefälliger Art aus¬ 
einanderzusetzen, daß die Frage, eine rein empirisch-psychologische, 
untersucht und entschieden werden kann, ganz unabhängig davon, 
welche Stellung man der Frage der Willensfreiheit gegenüber ein¬ 
nimmt. Trotzdem ist es ein unlösbares Problem, ob eine gegebene 
antisoziale Tat das Produkt krankhafter Vorgänge ist oder nicht. 
Sohin muß der Richter vor dem praktischen Bedürfnisse des Lebens 
Halt machen, die Umsetzung der vorhandenen psychischen Einzel¬ 
momente in die Tat der uneingeschränkten strafrechtlichen Be¬ 
urteilung Vorbehalten bleiben. 

Paul Horn, Dr.: Über nervöse Erkrankungen nach 
Eisenbahn Unfällen (mit besonderer Berücksichtigung 
ihrer Beeinflussung durch Kapitalabfindung, beziehungsweise 
Rentenverfahren). Bonn, 1913, A. Markus und E. W. Webers 
Verlag. 

Zu der vorliegenden sehr fleißigen und willkommenen Arbeit 
hat Th. Rumpf ein Vorwort geschrieben, worin er seinen Stand- 


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Referate. 


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punkt in der Frage der traumatischen Neurosen entwickelt und die 
Wichtigkeit einer genaueren Kenntnis des Verlaufes begründet. 
Das größte Material von Erkrankungen rein psychischer Art findet 
sich nach Eisenbahnunfällen. Neben eigenen Beobachtungen liegen 
der Studie seines Assistenten Horn zu Grunde: das gesamte Material 
der königlichen Eisenbahndirektion Elberfeld, Akten von vier an¬ 
deren Direktionen. Eine Übersicht der bisherigen Anschauungen 
ergibt recht weitgehende Meinungsverschiedenheiten über das 
Wesen der Neurosen nach Unfällen. Horn weist nach, daß bei im 
Arbeiterverhältnis stehenden Bediensteten die Neurosen oft nicht an 
ein Prozent der entschädigten Unfälle heranreichen, während Be¬ 
amte, namentlich Privatpersonen, der Erkrankung an nervösen Be¬ 
schwerden besonders ausgesetzt sind, bis zu 46 Prozent. Der Leser 
denkt sofort daran, daß hier etwas, was mit dem Unfall selbst gar 
nicht zusammenhängt (Differenzen im Entschädigungsverfahren), 
diesen auffälligen Unterschied am ehesten erkläre. 

Verfasser befürwortet eine ätiologische Einteilung der Neu¬ 
rosen an Stelle der so unscharfen symptomatologischen. Wenn H. 
unter seinen 173 genau verfolgten Fällen nur dreimal direkt 
Simulation nachweisen konnte, so stimmt doch die Feststellung 
bedenklich, daß einer dieser Fälle von autoritativer Seite unter der 
Diagnose „Myoklonische Form von Hysterie“ als völlig erwerbs¬ 
unfähig begutachtet, Simulation oder Übertreibung als absolut 
unmöglich bezeichnet wurde. Schwierig ist auch die Stellung des 
Gutachters zu den Rentenkampfneurosen. Am interessantesten sind 
die von Horn übersichtlich und in einer großen Tabelle zusammen¬ 
gestellten Daten über den Verlauf seiner 173 Fälle. Es ist wohl 
schon allgemeine Überzeugung, daß mit dem Rentenverfahren ein 
Faktor eingreift, der den weiteren Heilungsverlauf direkt hemmt. 
Auf Grund seiner Zahlen ist Verfasser gewiß berechtigt, für eine 
Abfindung, auch gegen den Willen des Verunfallten zu plädieren. 
Bezüglich der Einzelheiten sei auf das Buch selbst verwiesen, das 
Juristen wie Ärzten in der Unfallpraxis, nicht zuletzt dem Gesetz¬ 
geber selbst zum Studium bestens empfohlen sei. 

Ludwig Stern, Kultur kreis und Form der geistigen 
Erkrankung. Halle a. S., 1913, Carl Marhold. 

Eine Untersuchung nach drei Richtungen: Wie wirkt die 
Kultur auf das Seelenleben des Menschen? Bedeutet die Kultur 
für gewisse geistige Erkrankungen einen ätiologischen Faktor? Ist 
es möglich, auf dem Wege des Vergleiches gewisse Unterschiede 
in der Häufigkeitsquote der Psychosen bei einzelnen Völkern als 
kulturelle Verschiedenheiten unter Ausschaltung des Rassenmomentes 
zu deuten? Den Verfasser interessiert besonders das Volk der Juden. 
Leider umfaßt das statistisch verarbeitete Material im ganzen 
1326 Fälle, die Aufnahmen der Freiburger Psychiatrischen Klinik 


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Referate. 


221 


ex 1906 bis 1912, wenngleich Verfasser namentlich bezüglich der 
Juden auch fremde Zahlen heranzieht. Es wäre sehr lehrreich, die 
vielseitigen und mitunter recht anmutenden Schlußfolgerungen an 
einem universelleren Materiale nachzuprüfen. 

Zeitschrift für positivistische Philosophie, heraus¬ 
gegeben von M. H. Baege. Verlag von Dr. Arthur Tetzlaff, 
Berlin. 

Zeitschrift für positivistische Philosophie, herausgegeben von 
M. H. Baege. Verlag von Dr. Arthur Tetzlaff, Berlin. 

Von der Überzeugung ausgehend, daß namentlich für die 
Naturwissenschaften schon seit längerer Zeit ein dringendes Be¬ 
dürfnis nach einer Philosophie besteht, die nicht — fremden 
Ursprungs — ihnen oktroyiert, sondern auf natürliche Weise aus 
ihnen selbst hervorwächst, wurde eine wissenschaftliche Gesellschaft 
gegründet, die sich ausdrücklich gegen alle metaphysischen Strebun¬ 
gen erklärt und als obersten Grundsatz die strengste und um¬ 
fassendste Ermittlung der Tatsachen auf allen Gebieten der Forschung, 
der technischen und organisatorischen Entwicklung hinstellt. Den 
Aufruf dieser Gesellschaft für positivistische Philosophie Unter¬ 
zeichneten u. a. Bechterew, Forel, Freud, Ziehen. 

Im Aufträge dieser Gesellschaft ist nun das erste Heft einer 
neuen Zeitschrift erschienen, eingeleitet durch einen Vortrag über 
positivistische Philosophie, gehalten von Josef Petzold-Spandau, 
in der Eröffnungssitzung, 11. November 1912, zu Berlin. Daran 
schließt ein in der nächsten Sitzung gehaltener Vortrag von 
Bertold Kern, zur Erkenntnislehre der Marburger Schule. 
Weiters folgt: der Inhalt der vier Hauptschriften von Richard 
Avenarius, von ihrem Verfasser selbst dargestellt. Endlich: 
Übergreifende Begriffsbildung und Kausalität von Dr. Hugo D i n g 1 e r. 

Unter den Mitarbeitern der neuen Zeitschrift zeichnen weiters: 
H. Boruttau, P. Jensen, H. Kleinpeter, H. Potonie. R. 

H. Lundborg. Medizinisch - biologische Familienfor- 
schungen innerhalb eines 2232köpfigen Bauern¬ 
geschlechtes in Schweden. Mit einer Vorrede von Max 
v. Gruber, München, 1913, Jena, Verlag Gustav Fischer. 

Fünf Jahre rastloser, mühsamer Forschungsarbeit hat Ver¬ 
fasser darauf verwendet, die gesundheitlichen und sozialen Lebens¬ 
schicksale eines bestimmten Bauerngeschlechtes zu verfolgen, und 
er hat damit eine Arbeit vollbracht, die nicht nur an sich höchst 
interessante Einzelheiten zu Tage gefördert hat, sondern auch vor¬ 
bildlich genannt werden muß für künftige Forschungen auf dem 
schwierigen Gebiete der Hereditätsfragen und der Eugenetik. 

Aus der Fülle der Tatsachen sei unter anderem nur hervor¬ 
gehoben, daß Verfasser eine Bestätigung der M e n d e 1 sehen Regeln 


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Referate. 


für die menschliche Pathologie in klarer Weise erbringen konnte, 
daß jener Antagonismus zwischen Veranlagung zur Dementia praecox 
und der zum manisch-depressiven Irresein sich wieder in unverkenn¬ 
barer Weise ergab; auf die vielen klinisch-symptomatologischen 
Einzelheiten betreffs der Paramyklonuskrankheit sei besonders ver¬ 
wiesen, ebenso auf das an Anregungen so reiche Kapitel „Zukunfts¬ 
fragen. Einige Richtlinien“. Gerade, wenn man diesen Abschnitt 
durchliest, bedauert man fast — so paradox dieser Ausspruch 
klingen mag —, daß ein so exakt wissenschaftliches Werk vorliegt, 
dessen Lektüre selbstverständlich dem Laien unzugänglich ist. Man 
wünschte einen „populärwissenschaftlichen“ Auszug dieser Studien, 
um die kompetenten Behörden auf die Wichtigkeit systematischer 
derartiger Forschungen aufmerksam zu machen und deren Bedeu¬ 
tung für die Volksgesundheit ihnen darlegen zu können. Bei dieser 
Gelegenheit sei übrigens erwähnt, daß die Kosten dieses Werkes 
sich auf mehr als 20.000 Mark beliefen, die Verfasser aus privaten 
und staatlichen Mitteln zusammenbrachte. Mit einem gewissen 
Gefühle von Beschämung und Neid müssen wir dem Autor recht 
geben, wenn er sagt, daß „die Schwierigkeiten hiebei in dem armen 
Schweden geringer gewesen sind als in vielen anderen, reicheren 
Ländern, dank der erhabenen Denkart der Schweden, sowie der 
idealen Lebensanschauung und des hohen Bildungsgrades des. Volkes“. 

Die Ausstattung des Werkes ist prächtig. Der ganze zweite 
Band der mächtigen Folianten ist ein Atlas mit 37 Photogrammen auf 
zehn Tafeln und 51 Deszendenztafeln; auch der erste Band enthält 
Karten, Diagramme, Tabellen sowie ausführliche Krankengeschichten. 

Die warm empfundenen Geleitworte, welche Gr über der vor¬ 
liegenden Arbeit als Vorrede widmete, seien gleichfalls der Lektüre 
bestens empfohlen. Nur Gr über gegenüber, nicht vor dem Verfasser, 
der die einschlägige Literatur gewissenhaft berücksichtigt, erlaubt 
sich Referent daran zu erinnern, daß die Annahme einer Pluralität 
der Anlagen zu Geisteskrankheiten von Wien aus, nämlich von 
v. Wagn er, seit langem in mehrfachen Publikationen vertreten wird. 

Dem Werke Lundborgs wünscht Referent die Verbreitung 
und den Erfolg, welchen es verdient. 

Wien. Pilcz. 

Theodor Heller: Grundriß der Heilpädagogik. Zweite um¬ 
gearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig, Engelmann, 1912. 

Dem Psychiater und Neurologen, der oft zuerst Gelegenheit 
hat, bei einem schwer erziehbaren, launenhaften Kinde die psycho¬ 
pathische oder nervöse Konstitution zu entdecken oder der vor der 
Frage steht, wieweit ein imbezilles oder idiotisches Kind noch 
erziehbar ist, ist Hellers Buch eindringlichst zu empfehlen. Er 
wird über die ersten Kapitel — Schilderung der verschiedenen 
Schwachsinnszustände — vielleicht hinweggehen, um desto länger bei 


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Referate. 


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jenen Abschnitten zu verweilen, welche der heilpädagogischen 
Erziehung und dem Unterrichte gewidmet sind. Die Kunst Hellers 
besteht darin, seine Methode nach der eigentümlichen Reaktions¬ 
weise des Zöglings einzurichten, id est zu individualisieren. Bildungs¬ 
fähig ist ihm jeder überhaupt geistig entwicklungsfähige Schwach¬ 
sinnige, so daß er auch solche Kranke in den Kreis seiner segens¬ 
reichen Tätigkeit zieht, bei denen es nur auf das Abgewöhnen 
tierischer Eigentümlichkeiten ankommt. Der Unterricht steht im 
Mittelpunkte (Methode der Wahl). Große Bedeutung kommt den 
Lehrspielen zu, bei denen dem Kinde verschiedene Tätigkeiten 
spielend beigebracht werden. Sehr interessant erscheint dem 
Referenten die Ausführung über Belohnung und Strafe; belohnt 
darf ein schwachsinniges Kind nur werden, wenn es eine Leistung 
vollführt hat, die aus erziehlichen Rücksichten in angenehmer 
Erinnerung bleiben soll. 

Im Unterrichte führt er zwei Methoden an (Methode der Übung 
der Sinne und jene der Wahl). Die besondere Berücksichtigung 
der Entwicklung der Körpermuskulatur ist wichtig für die Erziehung 
{gymnastische Übungen). Dadurch wird nicht nur dem Schwach¬ 
sinnigen die Herrschaft über den eigenen Bewegungsapparat gegeben, 
sondern es tritt damit eine gewisse Bahnung für andere Funktionen 
ein (intellektuelle). Eine Geschichte und Ausführungen über den 
gegenwärtigen Stand der Schwachsinnigenfürsorge schließen diese 
lehrreichen Abschnitte und zeigen, wie viel auf diesem Gebiete 
eigentlich noch geleistet werden kann. 

Schließlich werden der nervösen psychopathischen Konstitution, 
und der Hysterie eigene Kapitel gewidmet, welche zeigen, wie tief 
Heller in das Verständnis dieser Krankheitsgruppen eingedrungen, 
und wie leicht es oft möglich ist, durch die heilpädagogische Erziehung 
die Nervosität im Keime zu ersticken und gesunde Menschen heran¬ 
zubilden. Hellers Buch ist ein wichtiger Hinweis, wo und wie 
die Prophylaxe der Neurosen einzusetzen hat, wie man durch eine 
vernünftige Hygiene und Erziehung des nervösen Kindes dieses 
zum nervengesunden umwandeln kann. 

Wer einmal diese klaren, folgerichtigen, auf großer eigener 
Erfahrung basierenden, von einem hohen ethischen Gefühl geleiteten 
Ausführungen Hellers gelesen hat, der wird auch dessen Konse¬ 
quenzen ziehen und der Heilpädagogik im Sinne des Autors zu 
weiter Verbreitung verhelfen müssen. 

B. Laquer : Die Großstadtarbeit und ihre Hygiene. 
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der 
Nerven- und Geisteskrankheiten. IX. Bd., 8. Heft, Halle, 
Marliold, 1912. 

Diese äußerst vernünftig geschriebene Arbeit ist in erster Linie 
wohl für den gebildeten Laien bestimmt, enthält aber auch den Arzt 
interessierende Ansätze zu einer Hygiene des Großstadtlebens. Was hier 


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über die Notwendigkeit einer Schonung des Nervensystems und die Mög, 
lichkeiten einer solchen gesagt wird, muß jeder Nervenarzt gutheißen. 

W. Fuchs : W ie schützen wir uns vor Irrsinn und Irren? 
Gmelin, München, 1913. 

Auch dieser populärwissenschaftliche Vortrag ist vorwiegend 
ein hygienischer und bringt Aufklärungen über das Irrenwesen des 
Staates Baden. Freilich dem Schlußsatz: „Die Prophylaxe der Völker 
sind ihre großen Männer“ wird man nur bedingt zustimmen können. 
Man muß sich doch bemühen, die Allgemeinheit emporzuzüchten, 
nicht warten, bis ein großer Mann erscheint. 

F. Schultze und H.Stursberg 1 : Erfahrungen überNeurosen 
nach Unfällen. Wiesbaden, Bergmann, 1912. 

Im allgemeinen Teil bringt Schultze zunächst eine Statistik 
der Unfallsneurosen, deren Häufigkeit er auf 1*3 Promille berechnet, 
das wären bei 672*961 im Jahre 1910 gemeldeten Unfällen etwa 
875, also eine recht geringfügige Zahl. Er gibt weiters allgemeine 
Anweisungen für die Untersuchung solcher Kranker, betont, daß 
eine einmalige Untersuchung nicht genügt, und daß eine solche 
fachmännisch exakt vorgenommen werden muß. Als Bezeichnung 
für die traumatische Neurose auf Basis einer Kommotion schlägt 
der Autor den Namen Kommotionsneurose vor, während alle anderen 
Formen als Unfallsneurosen bezeichnet werden sollten. Die Prognose 
der Neurose ist nicht ungünstig, besonders wenn man gleich von 
Anbeginn nicht zu hohe Kenten zubilligt; hingegen ist er kein 
Anhänger der einmaligen Kapitalsabfindung. 

Die statistischen Untersuchungen von Stursberg betreffen 
zunächst die Frage der Aggravation, die in mehr als der Hälfte 
der 172 Kranken bestand. Das Resultat änderte sich nicht, wenn 
man Nachforschungen über den weiteren Verlauf dieser Patienten 
anstellt. Prognostisch sind die einfachen Fälle günstig, insoferne 
als Heilungen überwiegen, nur bei kombinierten Erkrankungen ist 
dies nicht der Fall. Auch er tritt für niedrige Rentenbemessung ein, 
wodurch ein Zwang zur Arbeit entsteht. 

R. Stern, Dr.: Über körperliche Kennzeichen der Dis¬ 
position zur Tabes. Leipzig und Wien, Deuticke, 1912. 

Die vorliegende Schrift wird ebensoviel Zustimmung als 
Widerspruch erfahren, denn sie ist interessant und geistreich und 
bringt — was bedeutungsvoller erscheint — etwas Neues. Inter¬ 
essant, weil hier zum erstenmal der Versuch gemacht wird, den 
Begriff der Disposition durch klinische Tatsachen zu umschreiben. 
Die von einem staunenswerten Fleiß zeugenden Literaturstudien, 
sowie das eigene, allerdings etwas spärliche Material führen Stern 
dahin anzunehmen, daß die Astheniker, wenn sie einmal Lues 
akquiriert haben, eminent tabesgefährdet sind. Ja gewisse Sym- 


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Referate. 


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ptome oder besser Typen der Krankheit lassen körperliche Kenn¬ 
zeichen hervortreten. So neigen Menschen mit akromegalem Habitus, 
wenn sie Astheniker sind, zur Optikusatrophie; das gleiche gilt 
für Menschen mit adipösem Breitwuchs und dysgenitalen Zügen. 
Menschen mit asthenischem Habitus und starker Stammbehaarung 
sind vielleicht den tabischen Krisen stärker ausgesetzt. Sieht 
Stern in dem asthenischen Habitus die angeborene Disposition, 
so ist abgesehen von dem zur Tabes und Paralyse nötigen exogenen 
infektiösen Faktor (Lues), noch ein drittes Moment als auslösendes 
zu fordern, und das ist ein innersekretorisches. Tabes und Para¬ 
lyse zeigen Hyperfunktion der Keimdrüsen und Epithelkörperchen, 
Hyperfunktion (?) des glandulären Hypophysenabschnittes. Die Tabes 
auch eine Hyperfunktion der Thyreoidea neben einer Hypofunktion 
der Nebenniere; die Paralyse das umgekehrte. Freilich scheint 
dem Referenten, daß auch dem Astheniker eine pluriglanduläre 
Formel entspricht, und es wäre wohl möglich, daß hier Disposition 
und auslösender Faktor eines sind. Auch hätten gewisse zu konse¬ 
quente Nutzanwendungen der gefundenen Resultate wegbleiben 
können, ohne Schaden für das Ganze, Aber gerade daraus spricht 
vielleicht die volle Überzeugung des Autors, die nur durch exakte 
Weiterverfolgung der Untersuchungen auch zu einer allgemeinen 
werden wird. Trotz dieser kleinen Mängel erscheint das Werkchen 
Sterns richtunggebend und bedeutungsvoll. 

Iwan Bloch: Die Prostitution. Handbuch der gesamten 
Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen. Berlin, Marcus, 1912* 

Es muß in erster Linie den Psychiater und Neurologen an¬ 
genehm berühren, wenn endlich auch einem Forschungsgebiete, das 
gerade von den genannten vielfach Anregung und Aufklärung er¬ 
hielt, eine exakt wissenschaftliche Bearbeitung zuteil wird. Das 
gilt besonders für Bl ochs Buch, der die sexuelle Frage vom 
anthropologisch-ethnologischen Standpunkte aus betrachtet und 
mit einem stupenden Aufwand an Kenntnis der Literatur zunächst 
das Problem der Prostitution aufzuhellen versucht. Man wird 
Bloch am besten gerecht, wenn man ein paarSätze der Vorrede 
wörtlich anführt: „Um den Vernichtungskampf gegen die Prosti¬ 
tution zu einem erfolgreichen Ende zu führen, bedarf es einer 
wirklichen Erkenntnis des wahren Wesens der Prostitution als 
eines merkwürdigen Überrestes des primitiven Geschlechtslebens, 
bedarf es ferner einer tief eindringenden Erforschung ihres Kausal¬ 
zusammenhanges mit der antik mittelalterlichen-modernen . Sexual¬ 
ethik, bedarf es endlich einer neuen Ethik im Sinne der An¬ 
erkennung der Sexualität als einer natürlichen biologischen Er¬ 
scheinung und ihrer Anpassung an die moderne Kultur durch die 
Ausprägung der Begriffe der Arbeit, der Verantwortlichkeit und 
der relativen sexuellen Abstinenz.“ 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. ]5 


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Referate. 


Im ersten Bande des monumental angelegten Werkes finden 
sich nur die Wurzeln des Problems — ethnologische Studien, die 
bis in die Urzeit reichen. Die Schilderung ist bis zum Ende des 
Mittelalters fortgeführt. Aber auch hier fühlt man überall neben 
einer klaren sachlichen Darstellung, tiefgehender Kritik, daß das 
ethische Moment allenthalben führend ist, bei einer Auffassung 
der Ethik, die den Beifall aller Ärzte finden muß. Es fehlt an 
Raum näher in Details einzugehen; auch gehört Bloch zu jenen 
Autoren, die weniger erhoben — dafür eifriger gelesen sein wollen. 
Und die Lektüre seines Buches kann nur empfohlen werden. 

Krafift-Ebing : Psychopathia sexualis. XIV. Auflage. Her¬ 
ausgegeben von Prof. A. Fuchs, Enke, 1912. 

Fuchs macht es sich zur Aufgabe, dem grundlegenden Werke 
seines Lehrers, dessen klinische Erfahrungen nicht veralten, An¬ 
schluß an die modernen Auffassungen zu vermitteln. So trägt er in 
dieser neuen Auflage vorwiegend den Studien über innere Sekretion 
Rechnung, ohne dabei den Gesamtcharakter des Werkes in irgend 
einer Weise zu stören. Er beginnt damit, ein Verständnis anzubahnen 
für die oft paradox anmutenden Verirrungen der Vita sexualis. 

Jaskowski Friedrich: Philosophie des Vegetarismus. 
Berlin, Salle, 1912. 

Aneinanderreihung verschiedener Anschauungen über den 
Vegetarismus, Versuche, ihn mit Ernährungsproblemen im all¬ 
gemeinen zusammenzubringen, auch mit Ethik, Religion und Kunst, 
machen wohl keine Philosophie, aber eine auf breitere Basis ge¬ 
stellte Schrift für den Vegetarismus. 

Ebbinghaus-Diirr : Abriß der Psychologie. Veit & Comp., 
Leipzig, 1912. IV. Auflage. 

Es darf gesagt werden, daß die Neuauflage dieses vortrefflichen 
Werkchens die Vorzüge der früheren Auflagen besitzt, überall den 
modernen Forschungen Rechnung trägt, ohne das Wertvolle der 
älteren Forschung zu vernachlässigen. 

Anna Wiest: Beschäftigungsbuch für Kranke und 
Rekonvaleszenten, Schonungsbedürftige jeder 
Art. Stuttgart, Enke, 1912. 

Der Vorzug dieses Buches besteht nicht nur darin, daß hier 
eine Übersicht über alle Arten der Beschäftigungstherapie gegeben 
wird, sondern, daß deren Ausführung, Bezugsquellen für die Beschaffung 
und schließlich die innere Bedeutung der einzelnen Arbeiten dargestellt 
sind. Der Umstand, daß auch gleichzeitig angegeben ist, ob die Arbeit 
körperlich oder geistig anstrengend ist oder nicht, ob sie geistig 
ablenkt, läßt das Werk auch für den Arzt wertvoll erscheinen. 


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Referate. 


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Insbesondere der Nervenarzt und Anstaltsarzt wird für seine Patienten 
vielfache Arbeitsanregungen erhalten. Fröbelarbeiten, die verschieden¬ 
artigsten Handarbeiten, Liebhaberkünste sind vollständig vertreten, 
so daß jedem Wunsche nachgekommen erscheint. 

Binswanger: Die Epilepsie. Nothnagels spez. Patho¬ 
logie und Therapie. II. Neubearbeitete Auflage. Wien- 
Leipzig, Hölder, 1913. 

Der bekannte Standpunkt Binswangersin der Epilepsiefrage 
— Anerkennung einer genuinen Form, Bezeichnung der Anfälle 
bei organischem Hirnleiden, respektive Toxämien als epileptiforme 
Anfälle—wird auch hier festgehalten. Desgleichen wird die Annahme, 
daß der die epileptischen Konvulsionen auslösende Reiz in einer 
primären Rindenerregung zu suchen sei — durch neue Beweis¬ 
momente gestützt. Doch ist der Sitz der epileptischen Veränderung 
die ganze Hirnrinde. Ihre Natur ist noch nicht aufgeklärt. 

Sehr interessant ist der Nachweis, daß bei der Hälfte der 
Fälle außer der auslösenden Gelegenheitsursache der erbliche Faktor 
nachgewiesen werden kann. Die Syphilis ist an sich geeignet — ohne 
gröbere anatomische Veränderung —, die Epilepsie hervorzurufen. 

Wie die ganze Auffassungsweise des Autors in der Klinik 
wurzelt, so ist auch die Darstellung des klinischen Teiles — der 
Symptomatologie — der gelungenste. Es geht leider nicht an, hier 
die profunde eigene Erfahrung Binswangers, die kritische und 
klare Verwertung des immensen Materiales der Literatur durch 
Beispiele zu belegen. 

Die großen Fortschritte der pathologischen Forschung führen 
ihn zum Schlüsse, daß heute von einer anatomischen Epilepsie mit 
einem einheitlichen Befunde noch nicht zu sprechen sei. 

Sehr wichtig erscheinen die Ansichten Binswangers über 
die Therapie des Leidens. Das strikte Verbot der Ehe, die Forderung, 
die staatlichen Epileptikeranstalten sollen mehr Heil- als Pflege¬ 
anstalten sein, die diätetischen Vorschriften, die Angaben über die 
Brommedikation wird jeder Psychiater und Neurologe als klassisch 
anerkennen müssen. Auch das, was über die operative Therapie 
gesagt wird, darf auf allgemeine Zustimmung rechnen, besonders 
die Forderung, solche Fälle auch nach der Operation noch medi¬ 
kamentös zu behandeln. 

So ist auch diese zweite Auflage des Bi ns wange r sehen 
Buches das Standard-work der Epilepsie, trotzdem die subjektiven 
Auffassungen des Autors sicher nicht in jeder Beziehung allgemeine 
Billigung finden werden. Aber dadurch, daß in objektiver Weise 
auch allen anderen Auflassungen Rechnung getragen wird und die 
modernsten Forschungsergebnisse eine kritische Würdigung erfahren, 
wird die Subjektivität teilweise paralysiert und der Standpunkt 
über den Parteien erreicht. 

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Referate. 


Abderhalden: Fortschritte der naturwissenschaft¬ 
lichen Forschung. VI. Band, Urban-Schwarzenberg, 
Berlin—Wien, 1912. 

Im vorliegenden Band des großangelegten Werkes Abderhal¬ 
dens interessieren vor allem Bumkes Ausführungen: „Zur Frage 
der funktionellen Psychosen,“ die eine allgemeine Übersicht mehr 
kritischer Natur über die Probleme der funktionellen Psychosen 
bringt. Auch Barfurths Aufsatz — Regeneration und Ver¬ 
wandtes — wird gleich dem von Hahn-Meitner — Grundlagen 
und Ergebnisse der radioaktiven Forschung — Interesse erwecken. 

Artur Schüller: Röntgendiagnostik der Erkrankungen 
des Kopfes. Supplemente zu Nothnagels spez. Pathologie 
und Therapie. Wien—Leipzig, Hölder, 1912. 

Die große Bedeutung, welche die Radiologie in der Neurologie 
gewonnen hat, wird heute wohl niemand mehr leugnen. Sie gehört 
zu den notwendigsten diagnostischen Hilfsmitteln und es muß deren 
Kenntnis, resp. deren Verständnis auch von jenen gefordert werden, 
die nicht in der Lage sind, selbständig Aufnahmen zu machen. 
Dem Bedürfnis nach einem solch allgemein orientierenden Werk 
kommt Schüllers Buch in jeder Weise nach. — Damit ist aber 
dasselbe nicht ausreichend charakterisiert. Was hier durch zehn¬ 
jährigen Bienenfleiß aus 5000 Aufnahmen festgestellt wurde, sind 
die sicheren Fundamente eines neuen Zweiges der Diagnostik, der 
viele Zweifel der zumeist auf subjektiven Angaben fußenden Er¬ 
kenntnisse des Nervenarztes beheben wird. 

Man lernt den normalen Schädel mit all seinen Varianten 
kennen, die verschiedenen Veränderungen bei Erkrankungen des 
Schädels (Mißbildungen, Mikro- und Makrokephalien, Turmschädel, 
Schädelformen bei Systemerkrankungen des Skelettes, Entzündungen 
der Knochen und atrophische Prozesse). Was aber von besonderer 
Wichtigkeit ist — Schüller sucht auch für die intrakraniellen 
Affektionen zu scharf umrissenen Bildern der diesen entsprechenden 
Schädelveränderungen zu kommen. Die diesbezüglichen Kapitel — 
das was über Hypophysengeschwülste — Akustikustumoren — all¬ 
gemeinen Hirndruck gesagt wird — dürfte wohl bald Gemeingut der 
Neurologen werden. Von großer Bedeutung erscheinen auch die 
Befunde bei Epilepsie. Gerade bei diesen Dingen ist es nicht mög¬ 
lich, Details anzuführen und Beispiele zu bringen, um die Richtig¬ 
keit des Gesagten zu erweisen. Ein umfassendes Literaturverzeichnis 
und einige gute Photogramme auf 5 Tafeln schließen das Werk, 
das tatsächlich als grundlegendes der Schädelradiologie bezeichnet 
werden muß. Die klare, übersichtliche Darstellung wird auch dem 
Nichtfachmann rasche Orientierung ermöglichen. 

Marburg. 


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Jahrbücher für Psychiatrie XXXiV.Bd. 

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Studien zur Geschichte der deutschen Gehim- 

pathologie 

von 

Dr. Max Neuburger, 

a. ö. Professor an der k. k. Universität in Wien. 


ii. 

Aus den ersten vier Dezennien der Tumorenforschung. 

In der Literatur finden sich schon seit dem 16. Jahrhundert 
(Plat er) Fälle von GehimgeschWülsten vereinzelt beschrieben — 
das nicht unansehnliche Material ist zum größten Teile in Burdachs 
Werke „Vom Bau und Leben des Gehirns“ gesammelt und gesichtet 
worden. Der Menge der Beobachtungen entspricht aber so wenig die 
Genauigkeit der anatomischen und klinischen Schilderung, daß zu 
verallgemeinernden Schlußfolgerungen noch keine genügende Hand¬ 
habe geboten war. Um den Beziehungen zwischen dem Sektionsbefund 
und den klinischen Erscheinungen nachgehen zu können, bedurfte 
es eines ganz neuen, auf dem Wege einer höher entwickelten 
Untersuchungstechnik gewonnenen Erfahrungsstoffes, wie ihn erst 
die Forschung des beginnenden 19. Jahrhunderts zunächst in Frank¬ 
reich und England zu liefern vermochte. 

In Deutschland beginnt die systematische Forschung über die 
Symptomatologie, Pathologie und Diagnostik der Gehirngeschwülste 
mit Friedrich Nasse. 

Ein Vorspiel bildete allerdings der dezennienlang geführte Streit, 
ob der ursprüngliche Sitz des „Fungus durae matris“ in der harten 
Hirnhaut oder in den Schädelknochen zu suchen ist. Nachdem Louis 
(M4moires sur les tumeurs fongeuses de la dure mfere, in Memoires de 
l’Acadämie de Chirurgie, T. XIII, Paris, 1774) die Aufmerksamkeit der 
Arzte auf das Thema gelenkt hatte, war es in Deutschland zuerst 
C. Siebold (Arnemanns Magazin der Wundarzneiwissenschaft, I, 4. St., 
Göttingen, 1797), der auf Grund zweier Beobachtungen die Behauptung 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. jß 


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Dr. Max Neuburger. 


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aussprach, daß das sogenannte Schwammgewächs der harten Hirnhaut 
nicht aus dieser, sondern aus den Schädelknochen, namentlich der Diploe, 
hervorgehe; von hier aus finde die Ausbreitung auf beide Tafeln der 
Schädelknochen und weiterhin einerseits auf die Dura, andererseits auf 
das Perikranium statt. Im Gegensatz hierzu erneuerten die Brüder 
Wenzel (Josef und Karl) in der Schrift „Über die schwammigen 
Auswüchse auf der äußern Hirnhaut“ (Mainz, 1811) wieder 
die Ansicht von Louis, daß die Dura selbst die Ursprungsstätte bilde, 
vermochteil aber, da sie sich nur auf einen einzigen Fall stützten, dieser 
Lehre nicht zur allgemeinen Anerkennung zu verhelfen. Die genannten 
Autoren waren auch bestrebt, die Symptomatologie dieser Tumoren vor 
und nach der Perforation festzustellen. In der Folge verteidigte Walther 
(Journal für Chirurgie und Augenheilkunde, Bd. I, 1820) die Sieb old¬ 
sehe Meinung und bekämpfte auch die von den Brüdern Wenzel auf¬ 
gestellte Symptomatologie. Der Streit wogte hin und her, bis Eber¬ 
maier in seiner Abhandlung „Über den Schwamm der Schädel¬ 
knochen und die schwammartigen Auswüchse der harten 
Hirnhaut“ (Düsseldorf, 1829) auf Grund neuer Beobachtungen zeigte, 
daß Wenzel und Walther wesentlich verschiedene Fälle vor sich 
gehabt hatten, so daß ihre entgegenstehenden Meinungen keine Allgemein¬ 
gültigkeit beanspruchen können. Die Entscheidung brachte aber erst 
Chelius, welcher in seiner Schrift „Zur Lehre von den schwam¬ 
migen Auswüchsen der harten Hirnhaut aus den Schädel¬ 
knochen“ (Heidelberg, 1831, mit 11 Tafeln) die ganze vorausgegangene 
Literatur kritisch nachprüfte und auf Grund genügender Beobachtungen 
den überzeugenden Beweis erbrachte, daß die fraglichen Ge¬ 
schwülste bald von den Knochen, bald von den Hirn¬ 
häuten ausgehen könnten. 

Nasse veröffentlichte im Jahre 1821 eine Arbeit „Über Ge¬ 
schwülste im Gehirn“ als Anhang zu einer deutschen Über¬ 
setzung von A b e r c r o m h i e's Pathological and practical researches on 
diseases of the brain etc. 1 ), womit schon von vornherein der wichtigste 
Ausgangspunkt gegeben ist. Abercrombie hatte 24 gut beschriebene 
Fälle zusammengestellt und war bei seinen vergleichenden Betrach¬ 
tungen über organische Gehirnkrankheiten dahin gekommen, nach 
den Hauptsymptomen acht Gruppen von Krankheitsbildern zu 
differenzieren 8 ); hingegen schien es ihm unmöglich, „den eigen- 

x ) Abercrombie, Über die Krankheiten des Gehirns und des 
Rückenmarks. Aus dem Englischen übersetzt von Fr. de Blois. Mit 
einem Anhang über Geschwülste im Gehirn, von Fr. Nasse, Bonn 1821. 

8 ) 1. Lange dauernder Kopfschmerz, welcher mit Koma und all¬ 
mählicher Erschöpfung endet. 2. Kopfschmerz, Sinnes-, Sprach- und 
Geistesstörungen. 3. Kopfschmerz mit Sinnesstörungen und Konvulsionen. 
4. Konvulsionen ohne Sinnesstörungen, mitunter Geistesschwäche. 5. Ge- 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 231 


tümlichen Charakter der Symptome mit der Natur oder dem Sitze 
des Übels in direkte Beziehung zu bringen.“ 

Nasse, der durch zwei selbst beobachtete Fälle zur intensiveren 
Beschäftigung mit dem Thema angeregt worden war, unternahm 
unter Benützung des Materials und der Methodik des englischen 
Autors von neuem den Versuch, allgemeine Sätze über die Pathologie 
und Klinik der Hirngeschwülste ausfindig zu machen, jedoch gab 
er der kritisch-vergleichenden Untersuchung eine breitere Grundlage, 
indem er zu den von Abercrombie angeführten und seinen beiden 
eigenen noch 26 aus der älteren und neueren Literatur zusammen¬ 
gestellte Fälle hinzufügte. Über den angestrebten Zweck und den 
Gang seiner Untersuchungen spricht sich der Bonner Kliniker 
folgendermaßen aus: „Zu dem Gegenstände durch jene beiden 
mir vorgekommenen Fälle hingezogen, habe ich die mir durch 
Abercrombie und anderweitig bekannt gewordenen, sowie auch 
die beiden von mir beobachteten, ihre Übereinstimmungen und 
Abweichungen aufsuchend, untereinander verglichen und ich teile, 
was ich hierbei in verschiedener Beziehung vielleicht nicht Un¬ 
beachtenswertes gefunden, als erste allgemeinere Bearbei¬ 
tung dieses der Aufmerksamkeit und fernerer Untersuchungen, 
zu denen ich auch andere gerne anregen möchte, wohl würdigen 
Gegenstandes hier mit.“ Vorangestellt sind der Abhandlung die 
Krankengeschichten und Sektionsergebnisse der beiden von Nasse 
selbst beobachteten Fälle, deren Vergleichung sofort gewisse Über¬ 
einstimmungen und andererseits gewisse Verschiedenheiten in bezug 
auf die Beschaffenheit, die Zahl und den Sitz der Tumoren, ebenso 
in bezug auf die Symptomatologie und den Decursus morbi deutlich 
hervortreten ließ. 

Im ersten Palle ergab die Sektion erbsengroße Tumoren (Tuberkel) 
an Zahl 21, davon 8 links, 7 rechts in den Windungen des Großhirns, 
6 in den Corp. striat. Symptome waren: Intermittierende Cephalalgie, 
Hals- und Nackenscbmerzen, epileptiforme, sodann tetaniforme Anfälle, 
plötzliche vorübergehende Blindheit, Diplopie links mit Schielen, Anfälle 
von Schlafsucht, Erbrechen; Dauer zwei Jahre. Im zweiten Falle wurde 
ein Tumor im linken Kleinhirnlappen mit verhärteter Umgebung ge¬ 
funden. Symptome: Intermittierende Schmerzen im Hinterhaupt, Schmerzen 

hirnsymptome mit Lähmung, Hemiplegie. 6. Gehirnsymptome mit Para¬ 
plegie. 7. Vorhergehen von Erscheinungen, welche in den Verdauungs¬ 
organen ihren Sitz haben. 8. Schwindel und apoplektische Symptome, 
schwache und vorübergehende apoplektische Anfälle. 

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Dr. Max Neuburger. 


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in den Gliedern, Verlust der Sensibilität in den Fingern der rechten 
Hand; Pupillen verengert, Erbrechen, Verstopfung, manchmal Palpi- 
tationen, Abmagerung; Symptome oszillierend, Dauer ein Jahr. 

Im folgenden ist die statistische Methode auf 
das gesamte Material angewendet, um Aufschluß über 
die allgemeine Ätiologie, Symptomatologie und Patho¬ 
logie der Hirntumoren zu gewinnen, um die etwaige 
Korrelation zwischen den in derLeiche Vorgefundenen 
anatomischen Veränderungen und den klinischen Er¬ 
scheinungen festzustellen. Demgemäß zerfällt Nasses Ar¬ 
beit in die drei Abschnitte: 1. Verhältnisse während des Lebens. 
2. Leichenbefundsverhältnisse. 3. Vergleichung der Krankheits- und 
der Leichenbefundserscheinungen. 

Es kann nicht überraschen, daß in den beiden ersten Ab¬ 
schnitten einzelne richtige Ergebnisse hinsichtlich der Ätiologie 
und allgemeinen Symptomatologie enthalten sind, während 
die Versuche, „ein bestimmtes Zusammentreffen der Krankheits¬ 
erscheinungen und der sichtbaren Veränderungen“ nachzuweisen, 
damals zum größten Teil resultatlos bleiben mußten, da ja die 
verschiedenartigsten Fälle von Hirntumoren als gleichwertige Größen 
behandelt wurden. Immerhin verrät manche zutreffende Bemerkung 
auch hier den scharfblickenden und gewissenhaft prüfenden Be¬ 
obachter. 

Nach Nasse ist das männliche Geschlecht mehr disponiert 
als das weibliche, vermutlich weil es gewissen Schädigungen des Gehirns 
(Aufregung durch Arbeit, geistige Getränke, Traumen usw.) mehr aus¬ 
gesetzt ist; doch könne noch eine andere, tiefere Ursache dabei mit- 
wirken. Die Mehrzahl der Fälle komme im mittleren Lebensalter 
vor; auffallend oft handle es sich bei den Erkrankungsjahren um ein 
Vielfaches der Zahl sieben. Über die ersten Krankheitserscheinungen, 
über die Bedeutung der Heredität lasse sich nichts Bestimmtes aussagen. 
Als ätiologische Faktoren könnten in einzelnen Fällen Traumen, 
Erkältungen, Syphilis, Skrofeln, Skorbut, zurückgetrie¬ 
bene Krätze angesehen werden. 

Das verbreitetste und meist auch früheste Symptom ist der Kopf¬ 
schmerz. Dieser fehlte manchmal allerdings gänzlich oder es gingen 
ihm andere Beschwerden voran. Der Kopfschmerz ist anhaltend oder 
anfallsweise auftretend, zuweilen periodisch wieder kehrend. Besonders 
häufig wirke körperliche Anstrengung auf die Schmerzanfälle auslösend. 
Der Schmerz wird als stechend, klopfend, durchschießend, reißend, 
drückend, rollend usw. geschildert. In manchen Fällen wechselt er seinen 
Sitz, auch strahlt er von demselben mehr oder minder weit aus. Außer 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 233 

dem Kopfschmerz gehören Konvulsionen (partielle, epileptiforme) 
und Lähmungen zu den häufigsten Symptomen; bisweilen wechseln 
Zuckungen und Lähmungen miteinander ab. Die Lähmung ist oftmals, 
wenigstens eine Zeitlang, nur partiell, bald betrifft sie zuerst die oberen, 
bald die unteren Extremitäten. Psychische Störungen sind nur in 
der Minderzahl der Krankengeschichten erwähnt. Auffallend oft leidet 
der Gesichtssinn, seltener der Gehörsinn, ausnahmsweise auch Geruch 
und Geschmack. Mit Gehirngeschwülsten seien weit häufiger Unterleibs¬ 
beschwerden (Übelkeit, Erbrechen, Obstipation) als Brustaffektionen ver¬ 
bunden ; während der Anfälle von Betäubung oder kurz vor dem Exitus 
werde freilich die Atmungstätigkeit mit ergriffen. Zunahme des Schädel¬ 
umfanges komme auch ohne Hydrocephalus vor. Die Krankheits¬ 
dauer, soweit sie den Krankheitsgeschichten entnommen werden kann, 
ist in den einzelnen Fällen sehr verschieden; es werden einige Jahre 
oder Monate oder selbst nur wenige Tage angegeben. In manchen Fällen 
trat der Tod plötzlich ein, in anderen ging ihm einen oder mehrere Tage 
Sopor oder Koma voraus. Die meisten Sterbezeiten fallen in die Monate 
vom September bis April. 

Was die Therapie anlangt, so wirken Blutentziehungen 
und Abführmittel eine Zeitlang günstig; von einigen Autoren wurden 
auch Kalomel mit Quecksilbereinreibungen, China, Kampfer angewendet. 
Nasse verspricht sich unter Umständen auch von der Anwendung der 
Brechmittel Erfolg. 

Bezüglich der pathologisch-anatomischen Verhältnisse, sagt Nasse, 
„geben die bisher bekannt gewordenen Beobachtungen kein Hecht, irgend 
einem von den größeren Teilen des Gehirns die Fähigkeit abzusprechen, 
eine Lager- und vielleicht auch Zeugungsstätte solcher Geschwülste zu 
sein.“ Die mittleren oder auch hinteren Lappen des Großhirns waren auf¬ 
fallend oft ergriffen, bei Kleinhirntumoren und Ponstumoren fand sich 
vorherrschend die linke Seite betroffen. Nur in der geringeren Zahl der 
Fälle kamen multiple Geschwülste vor, einige Male wurden neben den 
(skrofulösen) Tumoren des Gehirns auch solche an anderen Körperstellen 
gefunden; einige Male bestand die Gehimgeschwulst aus mehreren neben¬ 
einander liegenden „Drüsen oder tuberkelähnlichen Körpern“. In der 
Folge bespricht Nasse den flüssigen (eiterartigen, serösen), fettigen oder 
breiigen Inhalt mancher Tumoren, ihre Gefäßversorgung, ihre Struktur 
(z. B. drüsig, milzähnlich, blutschwamm artig), ihre äußere Bedeckung, 
Farbe, Größe usw., das Vorkommen der Tumoren sowohl in der weißen 
wie grauen Substanz, die Verbindung mit der Umgebung, die Beschaffen¬ 
heit der umgebenden Hirnsubstanz (normal, erweicht, verhärtet, ent¬ 
zündlich verändert, vereitert), die Kompressionserscheinungen (Abplattung, 
Verschiebung, Substanzverminderung, Atrophie der Nerven), das Ver¬ 
halten der entfernteren Teile (Hyperämie, Verwachsung der Hirnhäute 
usw.). Welchen Anteil eine vorausgegangene Entzündung auf die Ent¬ 
stehung der Geschwülste habe, will Nasse dahingestellt sein lassen. 
Mit den Tumoren sei oft, aber nicht immer Hydrocephalus verbunden. 


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Di. Max Neuburger. 


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Um Einblick in Nasses Untersuchungsergebnisse und damit 
in das historisch interessante Frühstadium der nach Erkenntnis 
ringenden Forschung zu erlangen, empfiehlt es sich, den Autor, der 
Symptom für Symptom nach seiner vorwaltenden Bedeutung ab¬ 
schätzt und mit den anatomischen Befunden in Beziehung zu setzen 
trachtet, selbst sprechen zu lassen. Die wichtigsten seiner Schlu߬ 
sätze sind die folgenden. 

„Zuerst von dem Kopfschmerze als derjenigen Krankheits- 
erscheiiiung, die bei Geschwülsten im Gehirn von allen noch die be¬ 
ständigste ist . ♦ offenbar führen uns die Tatsachen zur Anerkennung 
des Satzes, es sei bei Geschwülsten im Gehirn der Kopfschmerz zwar 
ein sich leicht hinzugesellender Begleiter, jedoch kein notwendiger . . . 
Ist der Schmerz zur Entstehung der Geschwulst nicht erforderlich, so 
fällt noch ein Grund mehr hinweg für die ohnehin wenig begründete 
Annahme, dergleichen Geschwülste entständen durch Entzündung . . . 
Nach einigen Fällen könnte es scheinen, als wenn kleine Geschwülste 
nicht so geneigt seien, Schmerzen zu erregen, als große, die Sache ist 
damit jedoch nicht entschieden . . . Eine unstreitig beachtenswerte Über¬ 
einstimmung ist es, daß in Fällen, wo eine Erweichung der die Geschwülste 
umgebenden Hirnsubstanz gefunden wurde, heftige Schmerzen dagewesen 
waren . . . nur ist allerdings die Sache nicht so zu nehmen, als sei 
bloß bei solchen Erweichungen Schmerz beobachtet worden . . . Offenbar 
fand in mehreren Fällen eine mehr oder weniger bestimmte Beziehung 
zwischen dem Ort, wo der Kopfschmerz gefühlt ward, und dem bei der 
Leichenöffnung aufgefundenen Sitze der Geschwulst statt. Beide entsprachen 
einander mehrmals genau . . . Nicht immef zeigte jedoch die Leichen¬ 
öffnung den Sitz der Geschwulst so genau an dem Orte, wo der Schmerz 
empfunden worden; solcher Fälle sind indes nur wenige. Ein paarmal 
ward der Schmerz in beträchtlicher Entfernung von dem Orte gefühlt, 
wo sich nachher die Geschwulst fand . . . Ein paarmal stimmte der 
Ort des Schmerzes zwar in der früheren Zeit der Krankheitserscheinungen 
mit dem Orte, wo sich nachher die Geschwulst fand, nicht überein, wohl 
aber nach längerer Dauer der Krankheit . . 

„Wo Zuckungen und, wie in mehreren Fällen, völlige Epilepsie 
dagewesen waren, da zeigte die Leichenöffnung den regelwidrigen Körper 
doch meistens in dem großen Gehirn und besonders in der Nachbar¬ 
schaft der Seitenhöhlen, in deren Wänden oder in den Höhlen selbst. 
Wo sich jedoch . . . außer den Geschwülsten im großen Gehirn keine 
Substanz Veränderung in den nahgelegenen oder entfernteren Teilen fand, 
da waren auch keine Krampfzufälle dagewesen. Andernteils fehlt es aber auch 
nicht an Beobachtungen von Geschwülsten mit Substanzveränderung im 
großen Gehirn ohne Krampfzufälle . . . Unter den sieben Fällen, wo 
das kleine Gehirn der Sitz von Geschwülsten war, sind drei ohne Krampf¬ 
erscheinungen . . . zweimal kamen Krampfanfälle bei Geschwulst in der 
vierten Hirnhöhle vor ... in zwei Fällen, wo eine Geschwulst auf dem 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 235 


Hirnknoten saß, waren Zuckungen vorhanden . . . Weder die Größe 
noch die innere Beschaffenheit der im Gehirn gefundenen Geschwülste, 
weder die Erweichung noch andere Veränderungen ihrer Umgebungen 
finde ich in den mir bekannt gewordenen Beobachtungen an ein be¬ 
stimmtes Verhältnis zu Krampfanfällen geknüpft. Außer der Bedingung 
des Orts, der im Gehirn leidet, scheint indes für die Entstehung von 
solchen Zufällen noch eine andere im Spiele zu sein . * . Für die Frage, 
ob die von Veränderungen im Gehirn entstehenden Krampfzufälle jedesmal 
von derjenigen Seite des Körpers, auf der sich die Veränderungen be¬ 
finden, die entgegengesetzte betreffen, geben die mir bekannt gewordenen 
Fälle keinen befriedigenden Aufschluß . . * So viel ergibt sich indes aus 
den vorhandenen Nachrichten, daß in mehreren Fällen auch da, wo die 
Leichenöffnungen nur eine Geschwulst auf einer Seite zeigten, doch 
Zuckungen auf beiden dagewesen waren . * . In keinem Falle finde ich 
Lähmung angemerkt, wo bei der Leichenöffnung bloß Geschwülste 
der kleineren Art, wenn auch mehrere derselben, gefunden werden. Die 
kleinsten in Fällen mit Lähmung waren die von der Größe einer großen 
Bohne . . • und die . . . welche die Größe von Haselnüssen hatten. 
Andernteils sind jedoch auch nicht gerade von den Fällen mit ganz 
großen Geschwülsten Lähmungen angegeben ... die Größe des 
Drucks, sofern sich diese nach dem Umfang der Geschwülste 
richtet, war es also wahrscheinlich nicht, wovon die 
Lähmungen abhingen . . . Wichtiger scheint für die Ent¬ 
stehung von Lähmungen der Ort der Geschwülste . . . 
Und so trifft es denn nach den hier verglichenen Erfahrungen überein, 
daß sowohl Zuckungen als auch Lähmungen mehrmals mit Geschwülsten 
im großen Gehirn verbunden waren. Es trifft ferner diesen Erfahrungen 
zufolge überein, daß Geschwülste im kleinen Gehirn sich sowohl den 
Lähmungen als den Zuckungen weniger günstig zeigen als solche im 
großen . . . Und hieran schließt sich denn ferner, daß sowohl Ge¬ 
schwülste als Substanzveränderungen, die den Hirnknoten antreffen, 
ebenso geneigt scheinen, Krampfzufälle als Lähmungen zu veranlassen . . # w 
„Für die Vergleichung der Krankheitserscheinungen mit den Er¬ 
scheinungen des Leichenbefunds sind noch die Störungen des Spre¬ 
chens und Sehlingens beachtenswert, die in mehreren Fällen, wo 
nachher die Leichenöffnungen Geschwülste im Gehirn zeigten, beobachtet 
wurden. In drei Fällen, wo sich auf oder an dem Hirnknoten eine Geschwulst 
oder eine Substanzveränderung derselben fand, hatte die Sprache gelitten, 
ferner in einem zugleich mit der Sprache das Schlingen und einmal bloß 
das Schlingen. In den übrigen Fällen, wo eine Störung des Sprechens 
oder des Sehlingens stattgefundän hatte, fanden sich Geschwülste in den 
Hemisphären des großen Gehirnö . . . Nur von einigen Fällen, wo bei 
Geschwülsten im Gehirn das Sehen litt, läßt sich nach weisen, daß ein 
unmittelbarer Druck auf die Sehnerven oder die Teile, aus denen man 
dieselben zunächst ableitet, stattfand ... In mehreren Fällen litt, ob¬ 
gleich sich nur auf einer Seite des Gehirns Geschwülste oder andere 
sichtbare Veränderungen fanden, dennoch das Gesicht auf beiden Seiten 


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Dr. Max Neuburger. 


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... Wo das Sehen nur auf einer Seite litt, war es einmal das der 
nämlichen Seite, auf welcher die Geschwulst lag, dagegen ein anderes* 
mal die entgegengesetzte; was den Verteidigern einer teilweisen Kreuzung 
der Sehnerven für ihre Ansicht günstig scheinen kann. Beachtenswert 
ist unstreitig; daß bei einer Geschwulst in der Substanz nach dem hinteren 
Teile der linken Hemisphäre hin das Sehen auf der entgegengesetzten 
Seite ganz verloren, bei an der Basis des Gehirns auf dem Felsenbein 
ruhender das auf der nämlichen Seite nur etwas angegriffen war. Von 
der Hälfte der Fälle, in denen das Gesicht litt, ist auch Lähmung der 
willkürlichen Muskeln bemerkt. Bei einem Leiden des Gehörs fanden 
sich die Geschwülste nach Verhältnis der Zahl der Fälle weit weniger 
in den oberen Teilen des Gehirns als bei einem Leiden des Gesichts . . . 
Nirgends litt das Gehör bei einer Geschwulst im kleinen Gehirn . . .“ 
„Unter den Fällen, von denen ausdrücklich angegeben ist, daß sie 
ohne psychische Krankheitserscheinungen gewesen seien, sind 
auch solche, wo beide Hirnhälften in sich Geschwülste enthielten . . . 
Fast in allen Fällen, wo psychische Krankheitserscheinungen zugegen 
gewesen waren, fanden sich die Geschwülste > in den Halbkugeln des 
großen Gehirns ... In den wenigsten Fällen, wo psychische Krankheits¬ 
erscheinungen stattgefunden hatten, fanden sich Geschwülste in beiden 
Hemisphären ... Von den nach psychischen Krankheitserscheinungen 
in den großen Hemisphären gefundenen Geschwülsten finden sich unter 
den mir bekannt gewordenen Fällen beträchtlich mehr auf der linken 
Seite als auf der rechten; für die verschiedenen Lappen der Hemisphäre 
ergibt sich aber ein ziemlich gleiches Verhältnis . . . Die angegebenen 
psychischen Abweichungen waren zweimal Gedächtnisschwäche (wo sich 
nachher in dem einen eine Geschwulst auf dem linken Felsenbein und 
in dem anderen eine im hinteren linken Lappen fand), einmal Verstandes¬ 
schwäche (mit einer Geschwulst unter dem linken Scheitelbeine), einmal 
erschwertes Denken, Erinnern und Wollen in den Zeiten, wo der Schmerz 
zunahm (mit einer Geschwulst in der rechten Hirnhälfte gegen den 
hinteren Lappen hin), einmal leichtes Phantasieren (mit Geschwülsten in 
der linken Hirnhälfte und den gestreiften Körpern), einmal unzusammen¬ 
hängende Keden (mit Geschwülsten in der Nähe vor und hinter beiden 
Gefäßgruben und in den gestreiften Körpern), einmal zuerst nächtliches 
Faseln, nachher Mangel an Besonnenheit bei Tage und alsdann Be- 
täubtheit (mit Geschwülsten in der rechten Hirnhälfte von deren Mitte 
bis zur Grundfläche und ungewöhnlicher Festigkeit des übrigen Großhirns), 
einmal Stupor (mit einer Geschwulst in der linken Himhälfte), zweimal 
„Bewußtlosigkeit“, und zwar in dem einen Falle bloß 16 Tage vor dem 
Tode (mit Geschwülsten in der Gegend der großen Fontanelle auf der 
Oberfläche der linken und im Zentrum ovale Vieuss der rechten Hirn¬ 
hälfte), in dem anderen die letzten Jahre vor dem Tode hindurch (mit 
einer Geschwulst in der rechten Gefäßgrube), einmal hartnäckige Schlaf¬ 
losigkeit (mit einer Geschwulst in der Substanz der linken Hirnhälfte) 
und einmal „Melancholie“ (mit einer auf die linke Hirnhälfte drückenden 
Geschwulst an der linken Seite der Sichel etwas über dem Zelte) . . . 


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Stadien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 237 

Erwähnenswert scheinen mir noch die Fälle, wo bei Geschwülsten im 
Gehirn Erhöhung der Geistesäußerungen bemerkt ward . . . Dieser Er¬ 
scheinung ähnlich ist es, daß sich unter den Fällen mit Störungen des 
Gehörs nicht bloß solche mit Abnahme dieses Sinnes, sondern auch solche 
finden, wo gerade das Gegenteil, Erhöhung desselben, vorhanden war 
. . . Vielleicht fällt es bei einem Rückblick auf die hier in Beziehung 
auf die psychischen Störungen erörterten Fälle auf, daß bei den so 
mannigfaltige Hirn teile betreffenden Veränderungen doch die Formen der 
psychischen Äußerung oder mit anderen Worten: der einzelnen Seelen¬ 
vermögen, welche bei den Kranken abweichend gefunden wurden, nur so 
wenige sind . . . Was den Puls betrifft, so findet sich eine Beschleuni¬ 
gung desselben und ein bei der Leichenöffnung entdeckter aufgelöster 
oder vereiterter Zustand der Geschwülste nur für wenige von den 
mir bekannt gewordenen Fällen zusammen; selbst wo die Geschwülste 
nach dem Tode fest gefunden wurden, war in ein paar Fällen eine solche 
Abweichung des Pulses dagewesen. Auch Erweichung der Hirnsubstanz 
in der Umgebung der Geschwülste kam nicht immer mit dieser Krank¬ 
heitserscheinung zusammen vor. Beachtenswert ist die Langsamkeit des 
Pulses in mehreren Fällen, wo sich nach dem Tode Geschwülste auf 
oder an dem Hirnknoten fanden . . . Indessen war er doch auch in 
anderen Fällen langsam ... Von drei Fällen, wo nach dem Tode Ge¬ 
schwülste im kleinen Gehirn gefunden wurden, ist heftiges, wiederholtes 
Erbrechen der Kranken angegeben . . . Von einigen anderen Fällen 
mit einem ähnlichen Gehirnübel wird aber in den darüber vorhandenen 
Nachrichten keines Erbrechens erwähnt . . . Bei Geschwülsten im großen 
Gehirn war mehrmals Erbrechen vorhanden, jedoch nur ein paarmal ein so 
heftiges wie in jenen drei Fällen mit Geschwülsten im kleinen Gehirn 
. . . Bei einer Vergleichung der Fälle, wo Erbrechen stattfand, mit 
denen, wo psychische Krankheitserscheinungen zugegen waren, finde ich 
nur wenige von jenen unter diesen und umgekehrt; einigemal trifft indes 
ein geringes Erbrechen mit geringer psychischer Abweichung zusammen 
. . . Obgleich die Kranken in einigen Fällen über große Schwäche klagten 
und sogar Ohnmächten eintraten, während sie sich dagegen in anderen 
ziemlich kräftig fühlten, so hingen diese verschiedenen Zustände derselben 
doch zu offenbär mit vorübergehenden, zum Teil nur zufälligen Verhält¬ 
nissen zusammen, als daß sie uns hier einen sicheren Stoff zu Ver¬ 
gleichungen darbieten konnten. — Über die Todesart der mit Ge¬ 
schwülsten im Gehirn Gestorbenen geben uns die bisherigen Leichen¬ 
befunde keinen genügenden Aufschluß . . . Wahrscheinlich gibt es durch 
Geschwülste im Gehirne mehrere Todesarten . . . Vielleicht irren wir 
nicht in der Annahme, der Tod von Geschwülsten im Gehirn entstehe 
in der Regel durch eine allgemeine Erschöpfung der Lebenskraft, sofern 
die stete Erfrischung dieser letzteren vom Gehirn aus bedingt wird. 
Erst sinkt die Kraft des Gehirns allmählich oder plötzlich, durch ge¬ 
störten Kreislauf in demselben, durch Entartung seiner Substanz, durch 
Überreizung; die notwendige Folge hievon ist ein verminderter Lebens¬ 
einfluß des Gehirns teils auf die unmittelbar von ihm beherrschten Nerven, 


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teils auf das Rückenmark; jene Nerven und das Rückenmark sind alsdann 
ihren Verrichtungen nicht mehr in dem Grade, wie zur Erhaltung des 
Lebens es erforderlich ist, vorzustehen imstande, und so erfolgt der 
Tod . . 

„Indem wir im Vorigen ein bestimmtes Zusammentreffen der 
Krankheitserscheinungen und der sichtbaren Veränderungen im 
Gehirn aufsuchten, hat sich uns, wie nicht zu verkennen scheint, 
ein solches Zusammentreffen zwar für einige von den verglichenen 
Punkten dargeboten, es blieben aber selbst da, wo mehrere Fälle in 
gute Übereinstimmung traten, doch fast immer noch einzelne übrig, 
die sich widerspenstig erwiesen. Warum kommen z. B. in einigen 
Fällen von Geschwülsten im Gehirn, ohne daß die anatomischen 
Nachweisungen darüber befriedigenden Aufschluß gewähren, Zuckun¬ 
gen, in anderen Lähmungen vor? Warum findet sich nur bei einigen 
Fällen von Geschwülsten im kleinen Gehirn Erbrechen und nicht 
bei allen? Warum fehlen psychische Störungen in einem Falle, 
während sie in einem anderen, der Gebimveränderung nach, ziemlich 
ähnlichen, da sind? Müssen wir nun nicht trotz aller mühsamen 
Vergleichungen dennoch verzweifeln, in betreff dieser Punkte für 
die Beziehungen des Gehirns eine Kegel aufzufinden? Man hat 
offenbar Recht zu jenen Fragen, nicht so jedoch zu dieser letzten . . . 
Das Gehirn ist ein Teil, der, wie das Rückenmark und das übrige 
Nervensystem, sein Leben und dessen Veränderungen im gesunden 
und kranken Zustande weit weniger durch sich selbst äußern kann, 
als die meisten andern Teile ... Nun kommt es aber darauf an, 
in welchem Zustande sich die Teile befinden, deren das Gehirn zu 
seinen Äußerungen bedarf. Seine Äußerungen sind demnach sowohl 
abhängig von dem Zustande dieser, als wie von dem, worin es sich 
selbst befindet. . . Dies zeigt sich denn nun auch bei den Krank¬ 
heitserscheinungen, die eine Folge von Geschwülsten im Gehirn 
sind . . . Recht sehr istzu bedauern, daß die meisten 
Nachrichten, die wir über Fälle von Geschwülsten im 
Gehirn besitzen, so wenig ausführlich sind... Endlich ist 
bei Betrachtung der Krankheitserscheinungen, die bei Geschwülsten 
im Gehirn Vorkommen, wohl nicht zu übersehen, daß das Gehirn mit allen 
Teilen des Körpers in Beziehung steht und daß also wenn einerderseiben 
geschwächt oder krank ist, das Leiden des Gehirns diesen Zustand von 
Schwäche,von Krankheit, steigern und nach den Umständen auch eine 
Abänderung in der Form der Erscheinungen hervorbringen wird. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehimpathologie. 


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Der Einfluß Nasses kommt deutlich in einer Anzahl von 
Dissertationen zur Geltung. 

Beispielsweise sei hier auf zwei Berliner Arbeiten hingewiesen, 
auf Calows Diss. de tumoribus cerebri (1826) und auf Dav. 
Meyers Diss. de cerebri tumoribus (1829). 

Ca low wendete sich dagegen, daß auch die bloße Substanz¬ 
vermehrung zu den Tumoren gerechnet werde, und unterschied unter 
Anführung entsprechender Beispiele aus der Literatur einen Tumor 
steatomatosus, T. albus firmus, T. fungosus, T. cysticus usw. Als häufigste 
Symptome führt er an: Kopfschmerz (fix oder vagierend), Kongestionen, 
Konvulsionen (manchmal epileptiform), Störungen der Sinnesorgane, be¬ 
sonders des Auges (Amblyopie, Amaurose, Miosis oder Mydriasis, Stra¬ 
bismus), psychische Störungen (Gedächtnisstörung, Intelligenzdefekte, 
Stupor, Delirien, manchmal gesteigerte Geistestätigkeit). Ein Fall 
Rudolphi’s (Beschreibung mit Abbildung) und ein von Nasse be¬ 
obachteter Fall illustrieren die gemachten Angaben. 

Meyer erörtert die pathologische Anatomie und hält sich an die 
von Abercrombie unterschiedenen acht Symptomgruppen. Er teilt Fälle 
von Tumoren aus der älteren Literatur (Plater, Borelli, Rho dius, 
Fantoni, Haller usw.) mit und fügt am Schlüsse die Beschreibung 
eines von Rudolphi überlassenen Falles bei (Abbildung). 

Das Studium der in Dissertationen oder Journalaufsätzen 
niedergelegten Tumorenliteratur dieses Zeitraumes bietet mangels 
wesentlicher Fortschritte kein Interesse und erübrigt sich um so 
mehr, als die Quintessenz der pathologisch-anatomischen Kenntnisse 
in Otto’s Lehrbuch der pathologischen Anatomie (Berlin 1830, I, 
S. 239) enthalten ist, und der Bonner Professor Johann Friedrich 
Hermann Albers besonders inseinen Erläuterungen zu dem 
Atlas der pathologischen Anatomie (Bd. I, Bonn 1832 bis 
1847)*) ohnedies alles zusammengefaßt hat, was damals in Deutsch¬ 
land aus englisch-französischen Quellen (Abercrombie, Carswell, 
Lalle man d, Andral), aus älteren und neueren Beobachtungen 
geschöpft worden war. 

Der Atlas der pathologischen Anatomie von Albers (Bonn, 
1832—1867) — das erste Werk dieser Art in Deutschland — bringt 
in seinem ersten Bande auf einer Reihe von Tafeln Abbildungen von 
verschiedenen Hirntumoren. 

Albers kommt (auf Grund von 237 aus der Literatur zusammen¬ 
gestellten Beobachtungen) zu folgenden Ergebnissen. Geschwulst¬ 
bildung kann in jeder der Hirnsubstanzen und in jedem Teile des 

*) Auch im Journal für Chirurgie und Augenheilkunde von Gräfe 
und Walther, XXIII. 


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Dr. Max Neuburger, 


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Gehirns Vorkommen, den häufigsten Sitz stellen die großen Hemisphären, 
die Umgebung des Gehirns, das Kleinhirn dar. Die Geschwülste sind 
in anatomischer Hinsicht ebenso verschieden wie ihrem Wesen nach, 
die meisten bestehen aus Zellgewebe mit Infiltration der heterogenen 
Masse in demselben. Die größeren sind innerlich erweicht und das 
Zellgewebe bildet den die flüssige Masse umschließenden Balg. 
Solange die Geschwülste klein sind, findet man die Masse in kon¬ 
sistenter Beschaffenheit... Fast ebenso häufig, als die heterogene 
Masse mit Zellgewebe die Geschwulst bildet, findet man sie auch 
in der Hirnsubstanz infiltriert. Die Beschaffenheit einer solchen 
Geschwulst kann nur unter dem Mikroskop deutlich gesehen werden. 
(Folgen diesbezügliche Angaben.) In der Umgehung der Geschwülste 
ist die Hirnsuhstanz verändert (Erweichung, Verhärtung, Hyperämie). 

Die Symptome, welche die Tumoren begleiten, unterscheiden 
sich 1. nach den Folgen, die sie hervorrufen (Beizung, Entzündung, 
Erweichung, Kompression), 2. nach der eventuell zu Grunde liegenden 
Dyskrasie, 3. nach dem Sitze. „Wäre es wahr,“ sagt Albers, 
„daß einzelne Hirnpartien bestimmte Verrichtungen 
und daher im kranken Zustande bestimmte Symptome 
besäßen, so müßte sich dies nirgends mit größerer 
Sicherheit ergeben als bei den Geschwülsten, denn 
keine der anderen Krankheiten bleibt so umgrenzt’ 
an einer kleinen Stelle vorhanden wie diese.“ Leider 
konnte von den aus älteren und neueren Autoren gesammelten 
Beobachtungen (256) wegen mangelhafter Angaben nur ein Teil 
benützt werden. Dabei ergab sich folgendes. Jede Stelle des Gehirns 
kann an einer kleinen Geschwulst leiden, ohne Krankheitssymptome 
zu erregen. Kleinere Geschwülste erregen am leichtesten Symptome, 
wenn sie sich an der Basis des Gehirns befinden; sind sie größer 
als eine Haselnuß, so bewirken sie hier jedesmal Störungen der 
Hirnverrichtungen. An der Hirnoberfläche und an den Seiten können 
die Geschwülste schon so groß wie eine Walnuß sein, und die 
Hirntätigkeiten erscheinen doch noch ungetrübt. Es mag aber die 
Geschwulst ihren Sitz im Gehirn haben, wo sie will, so entstehen 
Zufälle der gestörten Hirnfunktion, wenn sich Fieber oder auch 
Kongestionen zum Gehirn ausbilden. Diese Zufälle sind solche, 
welche sich vorzüglich auf den Krankheitsort, die Geschwulst be¬ 
ziehen. Am gewöhnlichsten gibt sich die Stelle, wo 
eine solche Geschwulst vorhanden ist, durch örtlichen, 


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Stadien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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andauernden Schmerz zu erkennen. Nicht selten fühlt 
sie sich auch äußerlich wärmer an als die übrigen 
Kopfteile. Nach den Hirnpartien ergab sich nach Al her s 1. daß 
Geschwülste des Corpus Striatum vorzüglich Lähmung ver¬ 
ursachen, 2. daß die des Thalamus nervor. optic. dasselbe be¬ 
wirken, 3. daß die Geschwülste des Pons Varoli und der nächsten 
Umgebung an der Basis des Gehirns Sopor und Lähmung (anfangs 
mit Konvulsionen abwechselnd) und Erbrechen zur Folge haben, 
4. daß die Geschwülste der Seitenventrikel sich wie die des Corp. 
striat. und derThalam. verhalten, 5. daß dasselbe von den Geschwülsten 
des Centrum semiovale gilt, 6. daß die Tumoren der Medulla 
oblongata besonders Atembeschwerden und gestörte Bewegung 
sowie Erbrechen bewirken, 7. daß die des Kleinhirns keine 
betimmten Zufälle, bald Krämpfe, bald Lähmung hervorrufen, 8. daß 
die Geschwülste an der Oberfläche des großen Gehirns 
Sopor, Blödsinn, Ohnmächten, Lähmung, örtlichen und allgemeinen 
und abwechselnden Schmerz herbeiführen. 

In den zu Grunde gelegten Fällen bestanden die Geschwülste 
überall längere Zeit, ehe sie Symptome hervorriefen. Zu beachten 
sei auch, daß manche auf das Gehirn bezogene Symptome, wie Er¬ 
brechen, Schmerz in den Hypochondrien, Abmagerung, Verstopfung 
bei den Geschwülsten, doch eigentlich selten Vorkommen. An sich 
bewirke jede Geschwulst nur die Symptome des Hirn drucks, 
aber bei längerem Bestehen können sich die Erscheinungen der 
Einwirkung auf die Umgebung geltend machen: Beizung und 
Kongestion (Schwindel, Betäubung, vorübergehende Delirien, 
Schlaflosigkeit, Unruhe, Gesichts- und Gehörshalluzinationen, Stam¬ 
meln und Stottern, Zittern der Zunge, Krämpfe, Böte im Gesicht, 
Klopfen im Kopf, Erbrechen, Schmerz in der Oberbauchgegend), 
Entzündung besonders der Hirnhäute (daher die ent¬ 
sprechenden Symptome), Erweichung (Schwindel, Stirnkopf¬ 
schmerz, Anfälle von Bewußtlosigkeit mit nachfolgender Lähmung), 
Apoplexie, Blutung, Eiterung, Verhärtungen. 

A1 b e r s sucht die Diflferentialdiaguose festzustellen gegenüber 
Hirnatrophie (Stumpfsinn, Blödsinn, allgemeine Blässe, Abmagerung), 
Apoplexien und Blutextravasaten, apoplektischen Zysten, chronischem 
Hydrocephalus. Was das Alter anlangt, in welchem die Hirntumoren 
am häufigsten Vorkommen, so ergab sich aus 88 Beobachtungen, 
daß sich die meisten Fälle auf das 36. bis 40. Jahr beziehen. Es 


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Dr. Max Neuburger, 


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unterliege keinem Zweifel, „daß zwischen den Geschwülsten des 
Gehirns und den allgemeinen, der einzelnen Altersperiode zu¬ 
kommenden dyskrasischen Leiden ein Verhältnis besteht. Das kind¬ 
liche Gehirn zeigt fast nur Skrofeln und Markschwamm, das 
mittlere Alter Tuberkeln, Markschwamm, Eiterbälge, die abnehmende 
Lebensperiode seröse Säcke, Markschwamm, Krebs, Verknöcherungen, 
nur noch selten Tuberkeln.“ Daß der ausgebildete Habitus apo- 
plecticus auch zur Hervorbringung von Geschwülsten beitrage, sei 
gewiß. Die Hirnskrofeln und Hirntuberkeln kämen nicht selten bei 
Individuen vor, deren Lungen von jeder Krankheit frei sind. Im 
allgemeinen prävaliere das männliche Geschlecht infolge der häu¬ 
figeren zerebralen Schädigungen (Schläge auf den Kopf, Stöße, 
Fallen, Verletzungen usw.); Beruf und Lebensweise spielen als 
ätiologische Faktoren eine unbedeutende Holle, wohl aber gewisse 
Dyskrasien, besonders skrofulöse, tuberkulöse, krebsige. Von den 
Gelegenheitsursachen seien Traumen die wichtigsten, aber auch 
hier müsse für das Zustandekommen eines Tumors noch eine 
eigene Disposition des Gehirns vorausgesetzt werden, denn 
man dürfe sich nicht verhehlen, „daß Hunderte von Kindern und 
Erwachsenen den Kopf verletzen, ohne eine Hirngeschwulst dadurch 
zu erhalten.“ Über andere gelegentlich namhaft gemachte Gelegen¬ 
heitsursachen, wie zu warme und unzweckmäßige Kopfbedeckung, zu 
kurzes Abschneiden der Haare (!), Unreinlichkeit des Kopfes, Zurück¬ 
treiben von Grind- und anderen Krankheiten des behaarten Kopfes, 
müsse die Erfahrung entscheiden. „Es sollte namentlich jetzt,“ 
sagt Albers, „wo die Hirngeschwülste häufiger als früher Vor¬ 
kommen (sic!), die Erforschung der Ursachen eine Hauptaufgabe 
der Ärzte sein.“ 

Albers bespricht zunächst die Exostosen des Schädels (Vor¬ 
kommende Symptome: Epilepsie, Wahnsinn, Schlagfluß, Schwindel, 
Kopfschmerz), Cholesteatome und Angiome, und beschreibt so¬ 
dann folgende Gehirngeschwülste: 1. Abszesse, 2. Tuberkeln, 
3. Skrofeln, 4. (harte) Krebse, 5. Fungus medullaris 
und haematodes (Blut- und Markschwamm), 6. Melanosen, 
7. Fettgeschwülste, 8. Steatome, 9. Knochenkonkre¬ 
mente, 10. Hydatiden, 11. Sarkome, 12. Balggeschwülste, 
13. seröse Säcke (apoplektische Zysten). Dabei finden nicht 
bloß die pathologisch-anatomischen Momente eingehende Erörterung, 
sondern auch die betreffende Symptomatologie, illustriert durch 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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einzelne charakteristische Krankengeschichten, nebst differential* 
diagnostischen Hinweisen. 

Unter Tuberkeln sind folgende zwei Fälle vom Verfasser mit¬ 
geteilt: 1. Hühnereigroßer Tumor auf dem Corpus callosum, auf jeder 
Seite die Hemisphären zusammendrückend. Symptome: Kopfschmerz, 
Schwindel, drei Anfälle von Hemiplegie; Idiotie, Verlust der Sprache, 
Verlust des Bewußtseins. 2. Im Kleinhirn drei harte Tumoren in der 
Größe eines Taubeneies, Hydrocephalus. Symptome: Heftige Cephalalgie, 
Strabismus, Harnretention, Erbrechen, Abmagerung; allgemeine Tuberku¬ 
lose. Unter Skrofeln folgender Fall: Gelblicher fester Tuberkel im 
Pons, Umgebung erweicht, Hydrocephalus. Tuberkulose der Lungen. 
Symptome: Heftiger Kopfschmerz, Schwindel, Gang erschwert, Zunge 
nach rechts abweichend, rechter Mundwinkel nach oben gezogen, Pu¬ 
pillen erweitert, Schlafsucht, Erbrechen; OtorrhÖe, Rhachitis. In der 
Gruppe Hydatiden teilt A. ebenfalls einen Fall aus der eigenen Be¬ 
obachtung mit. Sitz der Hydatide an der rechten Seite des Pons. Größe 
eines Hühnereies, Durchbruch der Dura in der Nähe des Ganglion 
Gasseri, Abflachung der linken Seite des Pons, Glandula pituitaria 
enthielt eine gelblichrote Flüssigkeit. Symptome: Schwindel, apoplektischer 
Anfall, Kopfschmerz, Sehstörungen, Krämpfe, Erbrechen, Delirien. 

AIbers beschäftigte sich noch in einigen anderen Arbeiten 
mit den Hirngeschwülsten und lieferte im Anschluß an französische 
und englische Autoren, aber auch auf Grund von zwei eigenen 
Beobachtungen eine Spezialabhandlung über „Die Aneurysmen 
des Gehirns und der Hirnhäute 44 (Horns Archiv 1835). 

Was die Symptomatologie der Aneurysmen anlangt, so kam er zu 
folgenden Schlüssen: In der ersten Zeit treten Symptome der Reizung, 
später des Hirndrucks auf. In mehr als der Hälfte der Fälle bestand 
Kopfschmerz, verbunden mit einem Gefühl von Hämmern, bald anhaltend^ 
bald aussetzend, in der Stirngegend oder an anderen Stellen lokalisiert, 
bei Bewegung oder auf Druck zunehmend. Andere Symptome: Schwindel, 
Schwäche des Sehvermögens bis zur Blindheit, Doppeltsehen, Ohren¬ 
klingen, psychische Störungen, Erbrechen, Schwere der Glieder, Taubheit, 
Hemiplegie. Tod durch Apoplexie. — Uber Aneurysmen handelt auch 
Stumpf, Diss. Berol. 1836. 

Der Wert der zusammenfassenden Arbeiten von Nasse und 
Albe rs liegt hauptsächlich darin, daß sie die gewaltigen Lücken des 
Wissens deutlich hervortreten ließen und zu erneuten klinischen 
wie pathologisch-anatomischen Spezialuntersuchungen die Anregung 
gaben. 

Hervorzuheben wären namentlich die Schrift Engels „Uber den 
Gehirnanhang“ (Wien, 1839) und die Kasuistik des Würzburger Dozenten 
Mohr „Mitteilungen für neuropathologische Studien“ (Caspers Wochen- 


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schrift 1840), worin außer einem Markschwamm des unteren Wurms des 
Kleinhirns, einer „skrofulösen“ Geschwulst im linken Gehirnschenkel, 
auch ein Tumor der Hypophysis mit Kompression der Chiasma und des 
linken Hirnschenkels beschrieben wird. (Bemerkenswerterweise ist in 
der Krankengeschichte auch Adipositas unter den Symptomen eigens 
angeführt.) Über Fälle von Gehimtuberkeln berichteten Romberg 
(C aspers Wochenschrift 1834), Barez (ebenda), Budge (ebenda 1836), 
Kniesling (ebenda 1841), Hügel (Österreichisches medizinisches Jahr¬ 
buch 1847), Hirsch, De tuberculosi cerebr. Comm. (Regiomont. 1847), 
Lederer (Wiener medizinische Wochenschrift 1854), Stiebel jun. 
(Journal für Kinderkrankheiten 1855). 

Den besten Einblick in den damaligen Stand der pathologi¬ 
schen Anatomie der Geschwülste des Gehirns und seiner Häute 
gewährt Rokitanskys Handbuch der pathologischen 
Anatomie (II. Band, Wien 1844). 

Rokitansky beschreibt den Krebs des Schädelgewölbes und 
der Schädelbasis (1. c. pag. 258), Zystenformation, fibröse Geschwülste, 
Knochenproduktionen, Tuberkel und Krebs der Dura (1. c. pag. 709 
bis 712), Cholesteatom, fibroides Gewebe, Knochenbildungen und Krebs 
der Arachnoidea (1. c. pag. 721 bis 723), Tuberkel der Pia (1. c. 
pag. 734), Hydatiden (und den äußerst seltenen Krebs) des Plexus 
(1. c. pag. 736, 737), fibroide Neubildungen, Krebs und Cysticercus des 
Ependyras (1. c. pag. 758, 759), Fettgeschwülste, Zysten, fibröse Ge¬ 
schwülste, Tuberkel, Krebs, Echinokokkus und Cysticercus des Gehirns 
(1. c. pag. 833 bis 840). 

Auf der neugewonnenen pathologisch-anatomischen Grundlage und 
auf der Krasentheorie beruht die Darstellung, welche Jos. Dietl in 
seiner „Anatomischen Klinik der Gehirnkrankheiten“ 
(Wien, 1846) von den Aftergebilden des Gehirns und seiner Häute 
(pag. 312 bis 383) gab. Er suchte aus den anatomischen Verhältnissen 
die klinischen Erscheinungen und den Verlauf herzuleiten und besonders 
die differential diagnostischen Momente gegenüber der „Encephalitis“ 
festzustellen. Als wichtigste Symptome der Hirngeschwülste gelten ihm 
der fixe Kopfschmerz und die Konvulsionen. Mit Ausnahme der Tuberkel 
fand er die Tumoren vorwiegend im vorgerückten Alter vorkommend 
und betrachtete sie als Produkt der Involution und einer durch dieselbe 
eingeleiteten Dyskrasie. Im Speziellen erörtete er den Gehirntuberkel, 
den Krebs der harten Hirnhaut und des Gehirns, die Hydatiden in 
eingehender Weise, indem er stets die Klinik aus der Anatomie 
zu deduzieren versucht. 

Mit dem Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt 
ein rascheres Tempo ein, und der Fortschritt äußert sich nicht 
mehr bloß auf dem Gebiete der allgemeinen Symptomatologie und 
pathologischen Anatomie der Hirntumoren, sondern auch darin, daß 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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man daran geht, die Fundamente der topischen Diagnose zu 
legen. Zunächst galt es, die vorangeeilte französische Forschung einzu¬ 
holen, aus ihren Leistungen das Kesumö zu ziehen. Dieser wichtigen 
Aufgabe unterzog sich ein Arzt, der auch sonst die Vermittlung 
zwischen deutscher und französischer Medizin mit Erfolg anstrebte 
Hermann Lebert. Seine in Virchows Archiv (Bd. III) 1851 er¬ 
schienene Arbeit „Über Krebs und die mit Krebs ver¬ 
wechselten Geschwülste im Gehirn und seinen Hül¬ 
len“ eröffnete eine neue Epoche. Lebert konnte sich auf die 
Beobachtung von 21 Fällen stützen und hatte sich um die histo¬ 
logische Differenzierung der Hirntumoren durch genauere Beschrei¬ 
bung der „fibroplastischen“, nicht krebshaften Geschwülste 
bereits ein Verdienst erworben. Sein Bemühen war jetzt darauf ge¬ 
richtet, auf dem Wege der Analyse einer genügenden Anzahl und 
sorgsam aus der Literatur ausgewählter Beobachtungen über die 
Ergebnisse der Vorgänger hinauszukommen. Als Material dienten 
ihm 101 Fälle 1 ), von denen er 98 für den anatomischen und 90 
für den klinischen Teil benützte. 

Nach eingehenden Erörterungen über die pathologische Ana¬ 
tomie der „krebsigen und krebsartig scheinenden“ Geschwülste, 
wobei auch die mikroskopischenV erhältnisse geschildert werden, 
entwirft Lebert das allgemeine Krankheitsbild. 

Die Geschwülste des Schädels entstehen bald aus dem Perikranium, 
bald in der Diploe, die meisten Geschwülste aber, welche den Schädel 
durchbrochen haben, kommen aus dem Innern der Schädelhöhle. Die 
am häufigsten perforierten Knochen sind: die Scheitelbeine, das Sieb- 
bein, die Schläfenbeine, das Stirnbein und die Fronto-Parietalgegend. 
Von 18 Fällen perforierender Geschwülste waren dieselben siebenmal 
in den Hirnhäuten entstanden, fünfmal in den Knochen allein, viermal 
im Knochen und in der harten Hirnhaut zugleich, einmal im Knochen 
und im Gehirn und einmal im Gehirn allein. Mehrfacher Ursprung findet 
sich besonders bei mehrfachen Geschwülsten. Die Geschwülste des 
Schädels und der Schädelhöhle können also, zusammen 
betrachtet, von allen Teilen des Gehirns und seinen 
harten oder häutigen Hüllen ihren Ursprung nehmen. 
Die Basis des Gehirns ist ein häufiger Sitz derselben. 


x ) Nämlich 21 eigenen Fälle, 33 waren den Bulletins der Pariser ana¬ 
tomischen Gesellschaft, 29 dem Werke Abercrombies, 7 der medizini¬ 
schen Klinik Andra 1 s, 6 dem ikonographischen Werke Cruveilhiers, 
1 der Abhandlung Bayers, 1 der Dissertation Malespines, 2 einem 
Manuskripte Durand-Fardels entnommen. 

Jahrbücher für Psychiatrie, XXXIV. Bd. 17 


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Mit Unrecht sagt Lebert, bat man die meisten solitären Geschwülste 
dieser Teile für krebsartig gehalten ; nach unseren Untersuchungen sind die¬ 
selben ebenso häufig fibroplastischer Natur; in diese Kategorie 
gehören die meisten allein bestehenden Geschwülste, welche in den Hirn¬ 
häuten der Basis sitzen. Der Krebs zeigt in diesen Organen meist die Form 
des Markschwammes und ist weich, gefäßreich oder starke Blutergießungen 
enthaltend und hämorrhagisch. Seltener ist der Scirrhus, häufiger die 
Zwischenform zwischen hartem und weichem Krebs. Man beobachtet ent¬ 
weder deutlich umschriebene Geschwülste oder mehr diffuse Platten, die 
einen und die andern öfters vielfach. In der Gegend der Pro tuberanz 
erreichen sie selten einen großen Umfang, aber auf dem konvexen Teile 
des Gehirnes können sie die Größe der Faust eines Erwachsenen und 
darüber zeigen. Die mikroskopischen Elemente des Krebses sind meist 
sehr deutlich ausgesprochen; großkernige Zellen, Kerne mit umfang¬ 
reichen Nukleolis, Mutterzelien, Infiltration der Zellen mit Kernchen und 
Fett usw. . . . Öfters haben wir auch die tuberkelartige Gewebsform 
angetroffen, welche wir Phymatoid nennen . . . Die fibroplastischen 
Geschwülste in der Schädelhöhle kommen gewöhnlich von den ver¬ 
schiedenen Hirnhäuten, bald von der Dura mater, bald von der 
Arachnoidea und mitunter von der Pia mater. Sie gehen keine Gewebs- 
verbindung mit den Nachbargebilden ein, Lieblingssitz ist die Basis. 
Ihre mittlere Größe schwankt zwischen der einer Haselnuß und Walnuß, 
ihre Oberfläche ist platt oder warzig höckerig; auf einem frischen 
Schnitt sieht man ein gelblich weißes Grundgewebe, das mitunter einen 
Stich ins Grüne zeigt, häufig auch mehr oder weniger gerötet ist und 
beim Druck keinen weißen milchartigen Saft gibt, wie dies beim Krebs 
der Fall ist. Das Mikroskop zeigt in denselben deutlich fibroplastische 
Gebilde; die gelblich grünliche Färbung rührt von einer eigentümlichen 
Fettinfiltration her. Die Gehirnsubstanz in der Umgebung der Geschwülste 
ist entweder normal oder es haben sich diese an ihrer Oberfläche eine 
Grube gebildet; nicht selten trifft man im Umkreise rote entzündliche 
oder blasse gallertartige Erweichung an. Wassersucht der Gehirnhäute und 
Höhlen ist ihre häufige Folge. Resistente Gebilde, welche die Bildung 
jener Eindrücke und Gruben nicht zulassen, werden oft aus ihrer nor¬ 
malen Lage gedrängt. Apoplektische Ergüsse in der Nähe der Geschwülste 
oder in einer gewissen Entfernung sind nicht selten; einfache oder eitrige 
Meningitis zeigt sich oft gegen das Ende. Die Gehirnnerven sind häufig 
komprimiert, abgeplattet, atrophisch oder ihre Fasern auseinandergetrieben; 
seltener zeigen sie entzündliche Veränderungen, mitunter Krebsinfiltration. 
Am häufigsten unter den Gehirnnerven leiden die drei ersten, das fünfte 
und achte Paar. Oft sind mehrere zugleich komprimiert. Dann sind es 
gewöhnlich, dem Häufigkeitsgrade nach, die eben genannten Paare. Die 
fibroplastischen Geschwülste sind von keiner ähnlichen Ablagerung in 
andern Teilen des Körpers begleitet. Beim Krebs hingegen besteht dieselbe 
in einem Drittel der Fälle. Unter 16 Fällen war der Gehirnkrebs dreimal 
sekundär infolge von primitivem Krebs der weiblichen Brust, des Pylorus, 
der Gebärmutter. Unter den 13 übrigen Fällen fanden wir fünfmal das 


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Gehirn als Sitz eines alleinigen Krebses mit sekundären vielfachen 
Geschwülsten in anderen Organen; dreimal war das Gehirn allein der 
Sitz zahlreicher Geschwülste, und in den übrigen Fällen befanden sich 
zu gleicher Zeit im Gehirn und in den andern Organen mehrfache 
Ablagerungen. 

Symptomatologie. Der Anfang charakterisiert sich meist 
durch mehr oder weniger heftigen Kopfschmerz, welcher andauernd ist 
und oft in mehr oder weniger heftigen Anfällen auftritt, zugleich zeigt 
sich Schwäche einer Körperseite, welche zuweilen von Konvulsionen 
begleitet ist. Vielfache Sinnesstörungen zeigten sich nur einmal im Anfang, 
das Zusammentreffen von Störungen der Empfindung und Bewegung, 
letztere nur langsam eintretend, charakterisieren oft den Anfang, be¬ 
sonders wenn die Geschwulst an dem oberen Teile der Gehirnmasse 
sitzt, während, wenn zu gleicher Zeit Sinnesstörungen bestehen, der Sitz 
an der Basis wahrscheinlich wird. Geistesstörungen, Ekel und Erbrechen 
zeigen sich seltener im Beginne der Krankheit. Einseitige Sinnesstörung 
läßt den Sitz auf der gleichen Seite vermuten, Hemiplegie aber auf der 
entgegengesetzten Seite. 

Die physikalischen Symptome zeigen sich besonders bei 
den Geschwülsten, welche nach außen hervorragen. Durch die gewöhnlich 
unbeschädigte Hautdecke fühlt man eine weiche ungleiche und höckerige 
Geschwulst hindurch; Krepitation fühlt man, wenn losgetrennte Knochen¬ 
stücke um die Geschwulst herum bestehen. Klopfen, scheinbare Fluk¬ 
tuation zeigen sich besonders im Markschwamme. Nicht selten nimmt 
man die der Geschwulst mitgeteilte Expansion des Gehirns während des 
Atmens wahr. Dieselbe fehlt, wenn zugleich auf der inneren Seite des 
perforierten Schädels eine Geschwulst besteht. Dasselbe gilt von der 
Reduktibiiität. Vollkommenes Zurückführen gibt zu vorübergehenden Zu¬ 
fällen Anlaß, während unvollkommene Reduktion die Kranken oft er¬ 
leichtert. Die Fühlbarkeit eines mehr oder weniger abgegrenzten Knochen¬ 
randes im Umkreise beobachtet man ebensowohl bei den perforierenden 
Geschwülsten der Diploö als bei denen der Hirnhäute. Krebspolypen der 
Nasenhöhle lassen die Möglichkeit einer Geschwulst der Basis vermuten, 
welche das Siebbein durchbrochen hat. Die physiologischen Symptome 
sind in den perforierenden Geschwülsten weniger deutlich ausgesprochen, 
Kopfschmerz vielleicht ausgenommen. Die physikalischen Symptome 
haben zwar einzeln keinen pathognomonischen Wert, aber desto größeren, 
wenn mehrere zugleich bestehen. 

Die physiologischen Symptome sind im allgemeinen fol¬ 
gende : Kopfschmerz hat in Leberts Beobachtungen in zwei Drittel 
der Fälle bestanden und nur in ein Sechstel derselben auf einer Seite. 
Meist allgemein, wird er gewöhnlich mit der Zeit immer heftiger und 
hat außerdem oft stärkere Paroxysmen, welche bei einigen Kranken von 
Erbrechen und den Symptomen der Migräne begleitet sind. Schmerzen 
Bind auch in den gelähmten Gliedern häufig. Unempfindlichkeit 
tritt erst in einer späteren Periode ein; auch einfachen oder epilepti- 
formen Schwindel beobachtet man bei mehreren Kranken. Genaue 

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Korrelation zwischen dem Sitz der Kopfschmerzen und 
demder öeschwulstistdie Ausnahmeund nicht die Regel 1 ). 
Sinnesstörungen haben in zwei Drittel der Fälle bestanden, und 
zwar fast stets bei den Geschwülsten der Basis; das Sehvermögen hatte 
hauptsächlich gelitten, mit geringerer Häufigkeit das Gehör und der 
Geruch und oft mehrere Sinne auf einmal. Bei Erkrankung des fünften 
Nervenpaares beobachtet man mitunter eine Augenentzündung, welche mit 
jener viel Ähnlichkeit hat, die infolge der Durchschneidung des Quintus 
bei physiologischen Experimenten eintritt. Lähmung des oberen Augen¬ 
lides mit Schielen nach außen deutet auf Druck oder sonstige Veränderung 
im dritten Nervenpaar hin. Die Gehörstörungen enden gewöhnlich mit 
vollkommener Taubheit. Mitunter beobachtet man Überreizung dieser 
Sinne, von Schmerzen begleitet. Die StörungenderMotilität bestehen 
in einer Schwächung eines Teiles des Körpers, welche bis zur voll¬ 
kommenen Lähmung geht, oder in Spasmen und Konvulsionen. Diese 
verschiedenen Symptome haben in zwei Drittel der Fälle bestanden. Die 
Lähmung ist aber viel häufiger als die Konvulsionen, in einer gewissen 
Zahl von Fällen bestehen beide zugleich. Die Lähmung fängt gewöhnlich 
auf einer Seite des Körpers an, nimmt allmählich zu und ist öfters in ihrer 
Intensität schwankend. Schmerzen gehen derselben vorher oder begleiten 
sie in einer gewissen Zahl der Fälle. Konvulsionen kommen ebensowohl 
in den gelähmten Gliedern vor als in denen, die es nicht sind. Die aus¬ 
gedehnten Lähmungen haben gewöhnlich mit Hemiplegie begonnen. Para¬ 
plegie sowie Lähmungen eines einzelnen Gliedes sind seltener. Gekreuzte 
Lähmung ist, die der Sinne ausgenommen, die Regel, das Gegenteil die 
Ausnahme: je näher die Geschwulst an der Oberfläche des Gehirns sitzt, 
desto bestimmter spricht sich diese Regel aus. Plötzliche Lähmung tritt 
nur infolge interkurrenter Schlaganfälle ein. Das Verhältnis der ge¬ 
kreuzten Lähmung ist folgendes: In der Hälfte der Fälle unzweifelhaft 
und andauernd, in zwei Siebentel der Fälle erst gekreuzt und dann all¬ 
gemein, in einem Sechzehntel der Fälle Paraplegie und in einem Achtel 
der Fälle war bestimmt nicht gekreuzte Lähmung. Konvulsionen be¬ 
standen in einem Drittel der Fälle, und zeigten sich teils als unwill¬ 
kürliche Bewegung, Stöße, Zucken, epilcptiforme Anfälle, teils als mehr 
allgemeine Konvulsionen; gewöhnlich nahmen sie an Häufigkeit zu, 
einige Male waren sie nur vorübergehend, bei mehreren Kranken folgte 
ihnen vorübergehende Hemiplegie; bei einem Kranken traten sie ein, 
sobald er die sitzende Stellung einnahm. Die Intelligenz war bei 
einem Drittel der Kranken gestört, wovon dreimal nur höchst unbedeu¬ 
tend, dreimal Schwächung ohne eine Aberration des Urteils, elfmal durch 
Verlust des Gedächtnisses besonders charakterisiert und bei zwölf Kranken 


1 ) Lebert schließt sich der von Romberg (Archives de mödecine, 
2. s6rie tom. Vn, 1835) ausgesprochenen Vermutung, daß der Kopf¬ 
schmerz bei Tumoren der Konvexität durch starke Exspiration, bei 
Tumoren der Basis durch die Inspiration gesteigert werde, nicht an. 


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in viel ausgedehnterem Grade. Delirium und Koma treten gewöhnlich erst 
in der letzten Zeit auf. Statt der bei 20 Kranken notierten zunehmenden 
Betäubung hatte bei fünf anderen bis zum Ende eine bedeutende Aufr 
regung bestanden. — In einem Neuntel der Fälle haben wir Verdau¬ 
ungsstörungen gefunden, besonders Erbrechen, welches von den Mahl¬ 
zeiten unabhängig war. Stuhlgang und Hamausleerungen werden gegen 
das Ende der Krankheit bei zunehmender Lähmung unwillkürlich. Der 
Puls bleibt gewöhnlich normal. Lebert sah ihn jedoch bis auf 40 Schläge 
in der Minute verlangsamt; am Ende eintretende Meningitis beschleunigte 
den Puls gewöhnlich bedeutend. Das Atmen war bei fünf Kranken 
laut und beschleunigt, ohne materielle Lokalkrankheiten der Lungen. 
In diesen Fällen saßen die Geschwülste in der Gegend der Protuberanz. 
Schlechter Zustand des Allgemeinbefindens tritt besonders bei Krebs des 
Gehirns ein. Dem Tode gehen oft die Erscheinungen einer akuten 
Meningitis vorher. Sechs unserer Kranken sind plötzlich in Krampfanfällen 
oder in apoplektischen Anfällen zu Grunde gegangen. 

Verlauf. Die mittlere Dauer der Gehirngeschwülste schwankt 
zwischen eineinhalb bis zwei Jahren, sie war 17 7 / n Monate für Krebs 
und 23 3 /s Monate für nichtkrebsartige Geschwülste. Das Minimum der 
Dauer war drei Monate, das Maximum fünf Jahre. Schnelligkeit oder 
Langsamkeit des Verlaufes im Anfänge, geringe oder mehrfache funktio¬ 
nelle Störungen können den späteren Verlauf in bezug auf Geschwindig¬ 
keit einigermaßen vorhersehen lassen. Im allgemeinen sind alle Funk¬ 
tionsstörungen erst leicht und vorübergehend und werden nach und nach 
stärker und andauernder. Zu unterscheiden sind die wichtigeren Störungen 
und die nur vorübergehenden Erscheinungen, welche in augenblicklichen 
Kongestionen ihren Grund haben, wie Schmerzanfälle, heftige Krämpfe, 
Apoplexie, Schwindel und Erbrechen. Das Gehirn kann sich übrigens an 
die Gegenwart der Geschwülste gewöhnen, und man beobachtet dann die 
Abwesenheit aller funktionellen Störungen. Im allgemeinen scheinen diese 
Geschwülste bei Männern um ein Viertel häufiger als bei Frauen vor¬ 
zukommen. Was das Alter betrifft, so kommt ein Fünftel der Fälle vor 
dem 30. Jahre, und mehr als die Hälfte vor dem 45. Jahre vor. Der 
Unterschied ist hier übrigens nicht bedeutend zwischen Krebs und fibro- 
plastischen Geschwülsten. 

Die Prognose ist im allgemeinen ungünstig. Die Fälle, in denen 
die Geschwulst ohne Symptome besteht, sind die Ausnahme, perforierende 
Geschwülste zeigen weniger Symptome als im Schädel bleibende; Krebs 
ist schlimmer als fibroplastische Gebilde. Sekundärer Gehirnkrebs tötet 
selten durch das Gehirn. Geschwülste der Basis haben eine mannig¬ 
fachere und schlimmere Symptomatologie als die der Konvexität. Am 
ungünstigsten ist die Prognose für die in der Gegend der Protuberanz 
sitzenden Neubildungen. Außer dem tödlichen Ausgange, welcher das 
gewöhnliche Ende dieser Krankheit ist, kann der Tod plötzlich durch 
heftige Konvulsionen oder durch Schlagfluß eintreten. 

Die Behandlung kann nur palliativ sein. Die Operation bei 
perforierenden Gehirngeschwülsten hat stets schlimme Resultate geliefert. 


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Allgemeine oder örtliche mäßige Blutentziehungen bekämpfen die Neigung 
zu Hyperämie und Kongestionen des Gehirns. Kühlende Umschläge auf 
den Kopf, Fußbäder mit Säuren, Abführmittel und Exutorien, Moxen und 
Haarseil im Nacken können von Nutzen sein. Die Diät muß erfrischend 
und nicht zu substantiell sein. Die symptomatische Behandlung besteht 
hauptsächlich darin, daß man die heftigen Schmerzen und Nervenzufälle 
durch Narkotika und Antispasmotika mildert und gegen Erbrechen Eis 
und kohlensäurehaltiges Wasser anwendet. Nützen kann der Arzt in 
diesen Krankheiten, aber nicht heilen. 

Den wichtigsten Teil der Arbeit bildet der Abschnitt: 
„Gruppierung der Erscheinungen und ihr Verhältnis 
zu den anatomischen Veränderungen.“ Lebert sucht die 
pathognomonischen Symptome der Hirngeschwülste zu bestimmen, 
wobei er folgende Kategorien unterschied: Geschwülste des konvexen 
oberen Teiles des Gehirns, in den tiefen Teilen des Gehirnmarkes, 
des unteren Randes der Sichel, des Kleinhirns, des vorderen Teiles 
der Basis, der Pituitargegend, der Gegend der Protuberanz, Ge¬ 
schwülste, die den größten Teil der Basis einnehmen. Als letzte 
Kategorien sind aufgestellt: „Geschwülste mit apoplektischen Er¬ 
güssen an entfernteren Stellen“ und „mehrfache Geschwülste des 
Gehirns“. 

In seinem Resumö am Schlüsse der Abhandlung faßt Leber t 
seine Resultate folgendermaßen zusammen: 

Unter den beobachteten Fällen fanden sich vier mit voll¬ 
kommener Abwesenheit der Symptome, in vier anderen 
war die perforierende Geschwulst die einzige und hauptsächlichste 
Krankheitserscheinung. Bei ungefähr einem Siebentel der Fälle saß 
die Geschwulst an der Konvexität, hier war das vor¬ 
herrschende Symptom gekreuzte, allmähliche Hemiplegie, von teil¬ 
weisen Krämpfen und Konvulsionen begleitet und mehr oder weniger 
heftiger Kopfschmerz. Geistesstörungen kamen hier nur in zweiter 
Linie und selten vor, alle Sinnesfunktionen waren intakt. — In 
einem Neuntel der Fälle saß die Geschwulst in den tiefen 
Teilen des Gehirns; die Motilität war tief verletzt, Empfindungs¬ 
störungen etwas weniger häufig, die der Intelligenz ein wenig mehr. 
Sinnes- und Verdauungsstörungen (besonders erstere) fangen an sich 
zu zeigen. Bei den Geschwülsten der Sichel zeigt sich Ten¬ 
denz zu allgemeiner Lähmung, welche sich durch bilaterale Kom¬ 
pression erklärt. — Die Geschwülste des kleinen Gehirns 
stehen in ihrer Symptomatologie in der Mitte zwischen denen der 


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Stadien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


251 


Basis und denen des oberen Teiles des Gehirns; in fünf Fällen 
waren Motilitätsstörung, Kopfschmerz öfters am Hinterhaupt, leichte 
Sinnesstörungen die vorherrschenden Erscheinungen. — Die Ge¬ 
schwülste der Basis bilden die interessanteste Gruppe, ihre 
Zahl betraf ein Drittel der Gesamtfälle. Die Verbindung der Sinnes¬ 
störung mit der der Empfindung und Bewegung ist hier häufig 
und besteht in vier Fünftel der Fälle; nur in zwei Fünftel war 
die Intelligenz gestört und in einem Sechstel der Fälle bestand 
Erbrechen. Große Häufigkeit und Mannigfaltigkeit der Sinnes¬ 
störungen ist charakteristisch, sowie auch die Vielfachheit funk¬ 
tioneller Gehirnstörungen überhaupt. Die Geschwülste des 
vorderen Teiles der Basis zeigten besonders Störung der Be¬ 
wegung, der Empfindung und der Sinne. Die Motilität ist jedoch 
nicht so konstant gestört wie bei anderen Lokalisationen. Die 
Sinnesstörung ist besonders im Bereiche des ersten und zweiten 
Nervenpaares. In den (sieben) Fällen von Geschwülsten der 
Pituitargegend zeigten sich außerdem mehrmals Verdauungs¬ 
störungen und die im Bereiche des dritten Nervenpaares 
ferner zeigten tiefe Apathie. Die Geschwülste der Protube¬ 
ranz und ihrer Umgebung bieten als besonders charakteristi¬ 
sche Störung eine tiefe und sehr ausgedehnte Verletzung der Mo¬ 
tilität dar, mit besonderer Tendenz zu großer Verallgemeinerung; 
alsdann kommt der Häufigkeit nach die Störung der Empfindung, 
der Sinne, der. Intelligenz, der Verdauung. Die Hemiplegie war ge¬ 
wöhnlich gekreuzt, aber die Lähmung wurde dann allgemeiner und 
war von Steifheit, Stößen und örtlichen Konvulsionen begleitet 
Je mehr man sich dem hinteren Teil der Basis nähert, desto 
ausgesprochener werden die Störungen des fünften Nervenpaares. 
Gesichtsstörungen sind häufig, ferner zuerst Hyperästhesie und dann 
paralytische Unempfindlichkeit des Gesichtes. Der Kopfschmerz hat 
bald auf einer Seite und am Hinterhaupte seinen Sitz, bald ist er 
allgemein. Mitunter ist das Atmen laut, geräuschvoll und beschleu¬ 
nigt ohne physikalische Störungen in der Lunge. Die Geschwülste 
der Basis, welche eine größere Ausdehnung einnehmen als die der 
bezeichnenden Gegenden, nähern sich im allgemeinen in ihren Sym¬ 
ptomen denen der Umgebung der Protuberanz. — Die alleinigen 
Gehirngeschwülste, von einer anderen entfernten Verletzung begleitet, 
sowie die mehrfachen Gehirngeschwülste, erlauben nicht, während 
des Lebens ein Urteil über den Sitz, den sie einnehmen, zu fällen. 


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Dr. Max Neuburger. 


Vermuten lassen sie sich durch mannigfache Störungen, welche mit 
keiner der angeführten Lokalisationen übereinstimmen. 

Wenn auch Leberts Versuch einer topischen Diagnostik der 
Hirntumoren als verfrüht bezeichnet werden muß, so bleibt doch 
die von ihm ausgehende Anregung von dauernder Bedeutung, und 
namentlich war es äußerst wertvoll, daß zum erstenmal die Aufmerk¬ 
samkeit auf die Geschwülste an der Basis des Gehirns 
gelenkt wurde — ein Gebiet, das den Hilfsmitteln der damaligen 
Forschung und Untersuchungstechnik fast allein zugänglich war. 

Das würdige Gegenstück zu Leberts Abhandlung bilden die 
bald nachher erschienenen „Beiträge zur Lehre von den 
Geschwülsten innerhalb der S c h ä d e 1 h ö h 1 e u von 
N. Friedreich (Würzburg 1853). Der Verfasser hatte als Assi¬ 
stenzarzt im Juliushospitale in Würzburg Gelegenheit, elf Fälle zu 
beobachten und stellte die sehr genau geführten Krankengeschichten 
derselben (mit Sektionsbefund und Epikrise) an die Spitze seiner 
Arbeit. Anerkennenswerterweise wird von den inzwischen gemachten 
anatomisch-physiologischen Fortschritten in den epikritischen Er¬ 
örterungen soweit als möglich Nutzen gezogen. 

Die von Friedreich beobachteten Fälle waren die folgenden: 

1. Querverengter Schädel. Sarkomatöse Geschwulst von der Große 
eines Hühnereies im rechten Sehhügel. Kopfschmerz. Motilitäts- und 
Sensibilitätsstörungen auf der ganzen linken Körperbälfte. Anomalien 
der Sehfunktion und Intelligenz. Linksseitige Pneumonie. 

2. Geschwulst in der linken Großhirnhemisphäre. Fixer Kopf¬ 
schmerz; verminderte rechtsseitige Sehkraft; rechtsseitige totale Hemi¬ 
plegie und Anästhesie. Störungen der Intelligenz; Konvulsionen; Koma. 

3. Haselnußgroßes Agglomerat. kleiner sarkomatöser Geschwülste 
im linken Crus cerebelli ad pontem. Linksseitige Prosopalgie. Rechts¬ 
seitige Hemiplegie. Schwäche des Gesichts und Gehörs auf der linken 
Seite; purulente Ophthalmie des linken Auges. Interkurrierende Inter- 
mittens. Tod unter allgemeinen Konvulsionen. 

4. Querverengter Schädel. Gänseeigroßes Sarkom der rechten Gro߬ 
hirnhemisphäre ; eine zweite haselnußgroße Geschwulst in einem der 
Seitenventrikel. Vorübergehender Kopfschmerz. Anhaltende Neigung zum 
Schlaf. Stumpfe Intelligenz. Tod unter Fieber und Kopfschmerz. 

5. Sarkom der Dura mater an der Konvexität des Großhirns mit 
Usur und fast völliger Perforation des knöchernen Schädeldaches. 
Paroxysmenweiser Stirnschmerz und Schwindelanfälle. Epilepsieartige 
Zustände. Unaufhaltsamer Drang, nach vorwärts zu laufen in einer 
etwas nach links abweichenden Linie. Anomalien der Intelligenz. All- 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 253 

gemeine lähmungsartige Schwäche der Bewegungsorgane; Somnolenz, 
brandige Zustände auf beiden unteren Extremitäten. 

6. Taubeneigroße sarkomatöse Geschwulst der Dura mater an der 
linken Seite der Großhimbasis und des Pons Varoli; seröse Zyste 
zwischen der Geschwulst und dem Kleinhirn mit Kompression des 
letzteren. Schwindel und linksseitiger Kopfschmerz. Lähmung der Kopf¬ 
nerven auf der linken, der Extremitäten auf der rechten Seite. Störungen 
der Intelligenz. Sopor. 

7. Haselnußgroßer Tuberkel im linken Kleinhirn; hydrocephalischer 
Erguß. Alte und frische Tuberkulose der Lungen. Äußerst intensive 
Kopfschmerzparoxysmen mit Erbrechen* und opisthotonusartigen Zufällen. 
Plötzlicher Tod. 

8. Drei taubeneigroße Tuberkel im Kleinhirn, ein anderer kleinerer 
in der linken Großhirnhemisphäre. Allgemeiner und kontinuierlicher 
Kopfschmerz. Tod durch Lungenphthise. 

9. Haselnußgroße Geschwulst, welche sich vom Arbor vitae des 
Kleinhirns aus in den vierten Ventrikel hineinentwickelte; schiefer 
Schädel. Keine Erscheinungen im Leben. Tod durch Abdominaltyphus. 

10. Rheumatismus articulorum; Insuff. valv. mitral. et valv. Aort.; 
große Neigungen zu Blutungen. Erbsengroßes Aneurysma an der linken 
Arter. corpor. callos.; zwei andere größere Aneurysmen an der Arter. 
coronar. cord, sinistr. und an der Arter. lienal. Beratung des Aneurysmas 
der Gehirnarterie mit langsam erfolgender Blutung, Tod 56 Stunden nach 
der Ruptur. 

11. Konstitutionelle Syphilis. Exostosen an den inneren Teilen des 
Schädels. Amaurose. Lähmung des linken N. oculomotorius, trochlearis 
und facialis. Heilung. — Später Rezidive der Amaurose, Lähmung 
des rechten Oculomotorius. Tod durch Hirnerweichung. 

Zur Basis seiner vergleichenden Untersuchungen wählte 
Friedreich nebst zehn seiner eigenen Fälle noch 24 andere, 
welche überwiegend aus der französischen und englischen Kasuistik 
entnommen waren. Einleitend weist er darauf hin, daß die große 
Variabilität der Symptome von der Lokalität der Tumoren, von 
der Zeitdauer ihrer Entwicklung und schließlich von individu¬ 
ellen Verhältnissen (verschiedene Reizbarkeit des Nerven¬ 
systems) abhänge, ferner daß die Symptome des Hirnreizes 
und die des Hirndruckes im einzelnen Falle die mannigfachste 
Verkettung und Aufeinanderfolge darbieten können, da das Ent¬ 
stehen der Reiz- oder Druckerscheinungen nur vom Grade der 
Einwirkung bedingt werde. In der allgemeinen Symptomatologie 
der Tumoren, welche Friedreich im folgenden entwirft, findet 
sich manches, was entschieden als Fortschritt zu bezeichnen ist. 

Störungen der Sensibilität. Häufigstes und meistens in die 


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Dr. Max Neuburger. 


früheste Periode des Leidens zurückreichendes Symptom ist der Kopf¬ 
schmerz, der bei Neoplasmen verschiedenster Lokalität, Beschaffenheit 
und Ausgangsweise vorkommt. In der Mehrzahl der Fälle bildet der 
Kopfschmerz das Anfangssymptom, zu dem erst nach verschieden langer 
Dauer andere Erscheinungen sich hinzugesellen; manchmal bleibt er bis zum 
Ende das einzige Symptome, bisweilen machen sich zugleich mit dem 
Kopfschmerz andere Symptom bemerkbar, nur selten tritt der Kopf¬ 
schmerz erst im späteren Verlauf nach vorausgegangenen anderen Sym¬ 
ptomen auf. Der Kopfschmerz ist intermittierend (bisweilen typische 
Anfälle), seltener kontinuierlich, remittierend, der Qualität nach stechend, 
schneidend, dumpf usw. 5 die von Ros tan für die Diagnose karzino- 
matöser Tumoren so sehr hervorgehobenen lanzinierenden Schmerzen 
kommen auch bei anderen Geschwulstformen vor. Gewisse Körper¬ 
stellungen, Bewegung, Obstipation, Witterungswechsel u. a. rufen Ver¬ 
schlimmerungen hervor. In manchen Fällen ist der Kopfschmerz anfangs 
diffus und konzentriert sich erst später auf eine bestimmte Stelle, manch¬ 
mal ist er dauernd vagierend. Die Stelle des Kopfschmerzes 
hat nur sehr bedingten Wert für die Lokaldiagnose, doch 
scheint im allgemeinen Frontalschmerz vorzugsweise bei Geschwülsten 
der Basis, Okzipital- und Nackenschmerz bei Tumoren der Hinterlappen 
und des Kleinhirns vorzukommen. Auch aus halbseitigem Kopfschmerz 
kann nicht mit Bestimmtheit auf den Sitz des Tumors auf derselben 
Seite geschlossen werden. Die Ursache des Kopfschmerzes liegt anfangs 
nur in Ernährungsstörungen der Hirnsubstanz, erst später kommen Druck- 
und Reizwirkung des Neoplasmas als kausale Momente in Betracht. 
Schwindel wird in vielen Fällen beobachtet, manchmal als Begleit¬ 
erscheinung der Kopfschmerzanfälle, selten als erstes Symptom. Hart¬ 
näckiger, lang bestehender Schwindel, namentlich wenn sich zu dem¬ 
selben Störungen der Sensibilität, Motilität usw. hinzugesellen, dürfte 
von derselben diagnostischen Dignität sein wie anhaltende Cephalalgie. 
Die übrigen Störungen der Sensibilität — Kriebeln, Ameisenlaufen, 
partielles Taubsein, welchem später meist völlige Anästhesie folgt, 
Schmerzen sind von geringerer Bedeutung. Bei Tumoren in der Nähe 
des Trigeminus an der Basis finden sich häufig Sensibilitätsstörungen; 
selten dabei Mitbeteiligung der motorischen Partie des Quintus. 

Störungen der Motilität. Lähmungen, Konvulsionen, Kon¬ 
trakturen, tetanische Starrheiten. Manchmal ist bloß eine oder die andere 
Form zugegen, in den meisten Fällen treten dieselben in mannigfachster 
Kombination und Aufeinanderfolge auf. Lähmungen kommen in den 
verschiedensten Abstufungen vor, von einfachen Schwächezuständen bis 
zur kompletten Paralyse; meistens allmähliche Entwicklung, nur selten 
apoplektiform, nach vorausgehenden Zerebralsymptomen. Am häufigsten 
Hemiplegie, sehr selten Paraplegie; bisweilen geht aus halbseitigen Para¬ 
lysen allmählich Lähmung aller vier Extremitäten hervor. Manchmal 
beobachtet man ein abwechselndes Schwanken zwischen 
Nachlaß und Verschlimmerung der Lähmung — was 
Lebertals oszillierend bezeichnet. In der Regel schreitet die 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 255 

Lähmung von oben nach unten vor, Fazialislähmung ist wohl meistens 
früher vorhanden als die Extremitätenlähmung, doch wird in manchen 
Fällen auch ein umgekehrtes Verhalten beobachtet. Friedreich bespricht 
ausführlich die Lähmung des Hypoglossus und schließt sich in der 
Erklärung der Deviation der Zungenspitze nach der gelähmten Seite Schiff 
an (Genioglossuslähmung), ferner die Lähmung der Uvula und deren 
Mechanismus, die Lähmung der Schlingmuskulatur, der Blasen- und Mastdarm- 
sphinkteren. — Die Konvulsionen sind von verschiedener Intensität und Aus¬ 
breitung, manchmal mit Kopfschmerzparoxysmen zusammen auftretend, 
manchmal das einzige Symptom, bald bestehen nur leichte Zuckungen ein¬ 
zelner Extremitäten oder einer Gesichtshälfte, bald sind sie über eine ganze 
Körperseite oder allgemein verbreitet, epileptiform ; sie können ohne Lähmung 
Vorkommen oder damit verbunden sein. Fried reich hält in Gefolgschaft 
Leberts die Konvulsionen für direkte Folgen des Tumors, wenn auch 
Erweichung, Hydrocephalus usw. veranlassende Momente abgeben können; 
andere Autoren hielten die Konvulsionen ausschließlich für eine Kon¬ 
sequenz entzündlicher Zustände des Gehirns oder seiner Hüllen; die 
terminalen Konvulsionen dürften allerdings vorzugsweise durch „Ence¬ 
phalitis“ oder Hydrocephalus hervorgerufen sein. Manchmal wurde eine 
stereotype Reihenfolge im Auftreten der Konvulsionen 
beobachtet, so in einem Falle Mohrs, wo mehrfache Geschwülste in 
beiden Großhirnhemisphären bestanden und stets zuerst die rechte Ge¬ 
sichtshälfte, dann der rechte Arm, dann der rechte Fuß von Konvul¬ 
sionen befallen wurde, worauf dann die linke untere, dann die linke 
obere Extremität, endlich die linke Gesichtshälfte folgten. — Kontrak¬ 
turen fand F. nur selten, und zwar als Ausgangserscheinung von 
Lähmungen; ebenfalls selten kamen Steifigkeiten und Starr¬ 
heiten vor, gewöhnlich in Verbindung mit anderen Motilitätsstörungen. 

Störungen der Sinnesorgane. Am häufigsten Sehstörungen 
mit anderen sensoriellen Störungen verbunden oder ohne solche. Gehör¬ 
störungen sehr selten allein. Sehstörungen von einfacher Schwäche des 
Sehvermögens bis zur völligen Blindheit, meist in allmählicher Ent¬ 
wicklung, selten plötzlich auftretend, gewöhnlich von einem auf das 
andere Auge übergehend. In fast allen Fällen, in denen sich allmählich 
doppelseitige Gesichtsstörungen ausbildeten, fand F. Geschwülste an 
der Basis, nur in einem Falle inmitten der Großhirnhemisphäre; in 
Fällen bloß einseitiger Sehstörung wurden Tumoren von sehr verschie¬ 
denem Sitz beobachtet. Was die Motilitätsstörungen des Auges betrifft, 
so kamen Strabismus, Ptosis, Myosis oder Mydriasis vor. In allen Fällen, 
in denen Geruch und Geschmack alteriert waren, handelte es sich um 
eine Geschwulst an der Basis, nur in einem Falle litt der Geruch bei 
einer Geschwulst im Großhirn. 

Störungen der psychischen Tätigkeiten (am häufigsten 
Gedächtnisstörungen) traten in der Regel erst im späteren Verlauf auf 
und fast in der Hälfte der Fälle. Wie Lebert, fand auch Fried¬ 
reich in einem Fall das Erinnerungsvermögen für frühere Geschehnisse 
treuer, hingegen sehr unvollkommen für jüngst verflossene Erlebnisse. 


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Dr. Max Neuburger. 


Störungen der Digeationsorgane, des Kreislaufs 
und der Ernährung. Hier bespricht F. das Erbrechen, die Obstipation, 
die Pulsbeschleunigung oder -verla ngsamung, die Abmagerung (besonders 
bei Tuberkel und Karzinom) und erwähnt auch die von Mohr beobachtete 
Adipositas bei einem Tumor der Hypophysis. 

Dauer der Erkrankung. Die durchschnittliche Dauer betrug 
in Friedreichs Fällen 23 Monate. -*’Lebert hatte für krebsige 
Geschwülste eineinhalb, für nicht krebsige zwei Jahre angegeben; den 
kürzesten Verlauf haben Tuberkel, etwa achteinhalb Monate. 

Eine besondere Erwähnung verdient die Stelle, wo die später 
von Gubler genau beschriebene „Paralysie (Hömiplögie) 
a 11 e r n e“ x ) wenigstens im Grundriß schon von Friedreich skizziert 
wird. Die Stelle (1. c. pag. 54) lautet: „Bezüglich der näheren Ver¬ 
hältnisse der Hemiplegie finde ich, daß das Gesicht und die Extremitäten 
bald auf einer und derselben Körperseite gelähmt waren, bald ein 
gekreuztes Verhältnis zeigten in der Weise, daß der Fazialnerv und 
meist gleichzeitig damit noch andere Kopfnerven auf der den gelähmten 
Extremitäten entgegengesetzten Seite paralysiert waren. Obgleich man 

diese beiden Formen der Hemiplegie.am besten mit dem 

Namen ,nichtgekreuzte und gekreuzte Hemiplegie* bezeichnen 
könnte, so habe ich mich doch, um Verwechslung der Begriffe zu 
vermeiden, dieser Benennung nicht bedient, indem dieselbe bereits 
von Lebert für anderweitige, gleich näher zu erwähnende Ver¬ 
hältnisse gewählt wurde, sondern werde der Kürze halber dafür 
die Bezeichnung gleichseitige und ungleichseitige Hemi¬ 
plegie* gebrauchen. Es sei mir einstweilen die Bemerkung erlaubt, 
daß ich die ungleichseitige Form der Hemiplegie vorzugsweise bei 
Geschwülsten an der einen oder anderen Seite der Gehirnbasis an¬ 
treffe, indem dieselben einesteils durch unmittelbaren Druck auf 
die gehirnabtretenden Stämme der Kopfnerven, in specie des N. fa¬ 
cialis, zu Lähmung im Gesicht auf gleicher Seite Veranlassung 
gaben, während sie andernteils durch ihre komprimierenden Ein¬ 
flüsse auf die gleichseitige Groß- und Kleinhirnhemisphäre oder 
den Anfangsteil des verlängerten Markes vor den in letzterem und 
im Kückenmark stattfindenden Kreuzungsstellen Lähmungserschei¬ 
nungen auf den entgegengesetzten Extremitäten bewirkten. Bei fast 
allen Fällen, wo infolge einer an der einen oder anderen Seite der 
Basis bestehenden Geschwulst paralytische Erscheinungen der Ex- 


x ) Gaz. hebdomadaire, 1857. 


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Stadien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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tremitäten auf einer Seite vorhanden waren, finde ich die dem 
Neoplasma entgegengesetzten Extremitäten betroffen.... Jene Fälle, 
in denen Gesicht und Extremitäten auf einer und derselben Körper¬ 
seite gelähmt waren (gleichseitige Hemiplegie), waren vorzugsweise 
solche, in denen die Geschwulst innerhalb der Hemisphären ihren 
Sitz aufgeschlagen hatte. Mit Bezug auf die Lokalität der Er¬ 
krankung im Gehirn finde ich die gleichseitige Hemiplegie bald 
auf derselben Seite wie die Geschwulst, bald auf der entgegen¬ 
gesetzten, und für diese Verhältnisse bediene ich mich mit Lebert 
der Bezeichnung ,nichtgekreuzte und gekreuzte Hemiplegie*. Vor¬ 
zugsweise scheinen es jene Geschwülste zu sein, welche in den 
großen Himganglien oder zunächst denselben sich befinden, die zu¬ 
meist Lähmungen im Gesicht und auf den Extremitäten auf der 
der lokalen Erkrankung im Gehirn entgegengesetzten Körperseite 
veranlassen.“ Zur Erklärung zieht Friedreich die Untersuchungen 
Köllikers heran. 1 ) 

Nach der Betrachtung der einzelnen Symptomgruppen bemüht 
sich der Verfasser, den diagnostischen Wert derselben zu 
bestimmen. 

Am frühesten manifestieren sich die Hirngeschwülste in der 
Regel durch einen mehr oder minder ausgebreiteten, meist durch 
Hartnäckigkeit und Intensität ausgezeichneten Kopfschmerz, welcher 
gewöhnlich in Paroxysmen auftritt; nicht selten ist der Kopfschmerz 
mit Anfällen von Schwindel oder Betäubung, häufiger aber mit 
Erbrechen verbunden. In einer geringeren Zahl von Fällen findet 


Es muß hier übrigens bemerkt werden, daß Romberg bereits 
i m Jahr e 1840 auf Grund des Faktums der Paralysie alterne 
in einem Falle die durch Sektionsbefund bestätigte Dia¬ 
gnose Basalaffektion stellte. (Vgl. Caspers Wochenschrift, 1842.) 
In seinem Lehrbuch der Nervenkrankheiten 3. Aufl., 1. Bd., pag. 923 ff. 
kommt er auf diesen Fall zurück und sagt: „Der Verein von Lähmung 
der linken Rumpfglieder mit paralytischer Affektion der rechten Gesichts¬ 
hälfte ließ eine Krankheit auf der rechten Seite der Grundfläche des 
Gehirns voraussetzen, von welcher die dort abtretenden Nerven als 
peripherische Bahnen betroffen wurden. Denn wäre das Gehirn als 
Zentralorgan in seiner rechten Hemisphäre ergriffen gewesen, so würden 
sich, verbunden mit der Lähmung der linken Extremitäten, paralytische 
Symptome in der linken Gesichtshälfte gezeigt haben, und beim Sprechen 
und bei mimischen Bewegungen würde der rechte, nicht der linke Mund¬ 
winkel sich verzogen haben. 


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Dr. Max Neuburger. 


sich ein kontinuierlicher oder remittierender Kopfschmerz, nur selten 
bilden Anfälle von Schwindel ohne Cephalalgie das Anfangssymptom. 
Begründen schon die Intensität und die Hartnäckigkeit der ge¬ 
nannten Erscheinungen die Wahrscheinlichkeit eines sich in der 
Schädelhöhle entwickelnden organischen Leidens, so gewinnen sie 
noch dann an diagnostischer Bedeutung, wenn sich zu ümen nach 
kürzerer oder längerer Zeit Störungen der Sinnesorgane oder der 
Motilität hinzugesellen. Die Anomalien des Sehvermögens treten 
nicht selten als die nächsten Symptome nach dem Kopfschmerz 
auf, und zwar sowohl bei den Tumoren der Großhirnhemisphären, 
als bei denen an der Basis. Frühzeitig auftretende Sinnesstörungen 
vermindern die Wahrscheinlichkeit, daß der Sitz des Leidens im 
Kleinhirn zu suchen ist. Von besonderer Wichtigkeit für eine früh¬ 
zeitige Diagnose sind jene leichteren, weniger ausgebreiteten Mo¬ 
tilitätsstörungen, welche oft als die nächsten Symptome nach dem 
Kopfschmerz entweder mit oder ohne gleichzeitige Sinnesstörungen 
sich zeigen und welche häufig in einem vorübergehenden Schielen, 
in Paresen des Gesichts oder einer Extremität, manchmal auch in 
vorübergehenden Zuckungen in diesen Teilen bestehen. Seltener 
gehören zu den nächsten, nach dem Kopfschmerz sich einstellenden 
Symptomen Sensibilitätsstörungen (Schmerzen in einer Gesichtshälfte 
oder in einer Extremität, Formikation, Kriebeln und Taubsein in 
verschiedenen Teilen). 

Als eine diagnostisch sehr bedeutungsvolle Tatsache erklärt 
Friedreich die allmähliche Sukzession der Erscheinungen, 
die Länge der Zeitdauer, welche zwischen dem Kopfschmerz als 
Initialsymptom und den späteren ausgesprochenen Motilitäts- und 
Sensibilitätsstörungen liegt. „Wir müssen uns daran gewöhnen, den 
Symptomenkomplex im Leben in seiner allmählichen Entwicklung 
und Heranbildung zu betrachten und die in der Schädelhöhle be¬ 
stehende Veränderung als einen Prozeß aufzufassen, durch welchen 
ein in chronischer Weise sich ausbreitender und von geringerem zu 
höherem Grade sich steigernder Druck auf die Nerven Substanz aus¬ 
geübt wird.“ Schwieriger und unsicherer wird die Diagnose, wenn 
die Lähmungserscheinungen apoplektiform auftreten, und nur eine 
genaue Berücksichtigung etwaiger Antecedentia kann hier einen 
Irrtum verhüten. 

Nicht selten äußern sich Hirntumoren vorwiegend durch kon¬ 
vulsivische Zustände (häufig von epileptiformer Art). Die Störungen 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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der geistigen Fähigkeiten sind für die Diagnose von großer Wichtig¬ 
keit, sie gesellen sich meist zu mehr oder minder ausgesprochenen 
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen gewöhnlich in einer späteren 
Epoche des Krankheitsverlaufes hinzu und beginnen in der Kegel 
mit Gedächtnisschwäche. Die Alterationen der Verdauung und der 
Zirkulation hält Friedreich nur von untergeordneter Bedeutung, 
auch das zum Kopfschmerz hinzutretende Erbrechen sei für die 
Diagnose nicht entscheidend. 

Das meistens zu beobachtende Schwanken in der Intensität 
der Erscheinungen — Remissionen und Exazerbationen —, ver¬ 
ursacht durch hyperämische Anschwellung des Tumors und der 
umgebenden Hirnsubstanz oder der letzteren allein, begründe die 
Wahrscheinlichkeit der Diagnose. 

Die Disposition des männlichen Geschlechts ist. für Hirntumoren 
größer als diejenige des weiblichen. Was das Alter anlangt, so kommen 
Karzinome und Sarkome am häufigsten im Zeitraum vom 30. bis 50. Lebens¬ 
jahr, Tuberkel in einer früheren Altersperiode, nicht selten im Kindes¬ 
alter vor. Die Diagnose der Tuberkel werde durch eine bestehende 
Lungentuberkulose, diejenige der Karzinome durch die Kachexie begründet. 
In der Ätiologie spielen Schädeltraumen und chronische, lang¬ 
dauernde Exantheme die Hauptrolle; letztere geben durch länger an¬ 
dauernde Beizung der peripheren Ausbreitung zentripetaler Nerven den 
Anstoß zu Ernährungsstörungen des Zentralnervensystems. 

Die Prognose ist infaust, krebsartige Geschwülste fuhren 
früher den Exitus herbei als sarkomatöse, auch tuberkulöse bewirken 
schnell den tödlichen Ausgang. „A priori läßt sich allerdings die Mög¬ 
lichkeit einer Besorption und vollständigen Heilung zunächst der sarko- 
matösen Geschwülste durch frühzeitig angewandte Mittel nicht abstreiten, 
indem dieselben bei ihrem großen Beichtum an zelligen Bildungen am 
ehesten einer rückgängigen Metamorphose fähig sein möchten.“ The¬ 
rapie: Hygienisch-diätetische Maßnahmen. Femhaltung von Anstrengung 
und Aufregung, Sorge für kühle Temperatur, Darmtätigkeit; vorsichtige 
Anwendung allgemeiner oder lokaler Blutentziehung, kalte Umschläge, 
Hautreize, eventuell Jod-Merkur-Arsenpräparate. Die von Nasse emp¬ 
fohlene Anwendung von Brechmitteln ist zu verwerfen. 

Bezüglich der Lokaldiagnose kommt Friedreich zu 
folgenden Ergebnissen. 

„Geschwülste der Großhirnhemisphären: Hartnäckiger 
Kopfschmerz in der größten Mehrzahl der Fälle, zu welchem 
sich nicht selten Nausea oder Erbrechen hinzugesellt; ebensohäufig 
sind Motilitätsstörungen, welche sich meist als mehr oder 
minder ausgebreitete, bald mit, bald ohne gleichzeitige motorische 


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Lähmungen bestehende Konvulsionen äußern und welche gerne 
den epileptiformen Charakter annehmen. Findet sich Hemi¬ 
plegie, so ist dieselbe entweder eine gekreuzte oder nicht¬ 
gekreuzte, immer aber eine gleichseitige. Sinnesstörun¬ 
gen, und zwar isolierte Störungen der Sehfunktion, ohne Teil¬ 
nahme anderer Sinnesverrichtungen, gehören zu den häufigen Er¬ 
scheinungen und sprechen in keiner Weise gegen die Annahme 
einer Geschwulst in den Großhirnhemisphären. Dasselbe gilt von 
den Störungen der Intelligenz. Zu den Ausnahmen gehören jene 
Fälle, in denen während des ganzen Krankheitsverlaufes entweder 
bloß Störungen der Sensibilität, z. B. Kopfschmerz, oder bloß Stö¬ 
rungen der Motilität zugegen sind.“ (Pag. 80.) 

Geschwülste an derBasis in der Nähe der Brücke: 
Kopfschmerz, meist in der Stirngegend, und hier nicht selten 
halbseitig auf gleicher Seite mit der Geschwulst. Lähmung des 
Gesichtes und gewöhnlich noch anderer Kopfnerven 
auf gleicher Seite mit der Geschwulst neben paralyti¬ 
schen Erscheinungen an den Extremitäten der ent¬ 
gegengesetzten Seite; doch können, was seltener ist, letztere 
auch fehlen. Seltener sind gleichseitige Hemiplegien oderparaplegische 
Formen; auch sind Konvulsionen von geringerer Häufigkeit als bei 
Großhirngeschwülsten und nehmen, wenn sie vorhanden sind, nicht 
den epileptiformen Charakter an. Steifheiten, Stöße in den 
Gliedern scheinen von untergeordneter Wichtigkeit. Yon größtem 
Werte ist die Multiplizität der Sinnesstörungen, mit 
vorwiegender Neigung der Gesichtsstörung, doppel¬ 
seitig zu werden. Störungen der intellektuellen Fähig¬ 
keiten sind auch hier von Bedeutung, aber mehr für die Diagnose 
einer Geschwulst in der Schädelhöhle überhaupt als für die Unter¬ 
scheidung ihres speziellen Sitzes. (Pag. 84.) 

Geschwülste der Pituitargegend: Kopfschmerz, 
häufig im Vorderkopf, wozu sich Schmerzen in der Tiefe der 
Augenhöhlen hinzugesellen können; hinzutretende doppelseitige 
Amaurose. Motilitätsstörungen sind seltener und scheinen zu¬ 
nächst dann aufzutreten, wenn die Geschwulst den gemeinschaftlichen 
Augenbewegungsnerven erreicht (Schielen, Ptosis) oder wenn sie bei 
zunehmender Größe einen Druck auf das ganze Gehirn ausübt 
(allgemeine Lähmung). (Pag. 86.) 

Geschwülste am vorderen Teile der Basis. Die 


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vorwiegenden Störungen sind auch hier die der Sensibilität 
und der Sinne; erstere in der Form des Kopfschmerzes, der 
häufig seinen Sitz in der Stirngegend hat, letztere in der Form 
doppelseitiger Gesichtsstörugen. Seltener sind auch hier 
die Anomalien der Motilität und noch seltener jene der Intelligenz 
und Verdauung. (Pag. 86.) 

Geschwülste an der Basis in den Schenkeln und 
Stielen des Groß- und Kleinhirns. Dieselben scheinen hin¬ 
sichtlich ihrer Symptomatologie gewissermaßen in der Mitte zu 
stehen zwischen den Geschwülsten der Großhirnsubstanz und den 
Geschwülsten der Protuberanzgegend. Die (drei) Fälle stimmten 
darin überein, daß in allen Gesicht und Extremitäten auf einer und 
derselben, und zwar der Geschwulst entgegengesetzten Seite sich 
paralysiert zeigten, wodurch sie sich den Verhältnissen, wie die¬ 
selben bei Geschwülsten der Großhirnhemisphären nicht selten ge¬ 
funden werden, anschließen, während sie andererseits durch die 
(zweimal) vorhandenen mehrfachen Sinnesstörungen und die Be¬ 
teiligung anderer Kopfnerven (Okulomotorius, Trigeminus) auf 
gleicher Seite wie die Geschwulst, mehr der Symptomatologie der 
Basalgeschwülste sich nähern. (Pag. 87.) 

Geschwülste des Kleinhirns. Die häufigste Störung, 
welche bei den aufgezählten Geschwülsten des Kleinhirns sich 
zeigte, war die der Sensibilität, und zwar bestand in allen Fällen 
mit Ausnahme des letzten, in welchem das Neugebilde überhaupt 
ohne Symptome im Leben war, ein durch seine Intensität sich aus¬ 
zeichnender Kopfschmerz, der mehrmals in Intervallen auftrat 
und in vier Fällen von Erbrechen begleitet war. Der Sitz der 
Cephalalgie war in der Hälfte der Fälle in den hinteren Teilen des 
Schädels, worunter aber ein Fall sich befindet, in welchem der 
Schmerz zuerst in der Stirngegend saß und erst später das Okziput 
einnahm. In zwei Fällen saß der Schmerz zuerst in der Frontal¬ 
gegend, und einmal ist der Sitz desselben nicht näher angegeben. 
In zwei Fällen bestand neben dem Kopfschmerz ein kriebelndes 
Gefühl in der rechten oberen Extremität und es war in denselben 
der Sitz der Geschwulst in der linken Kleinhirnhälfte, so daß die 
gekreuzte Tätigkeit des Kleinhirns daraus hervorleuchtet. Seltener 
scheint die M o ti 1 i t ä t bei Kleinhirntumoren zu leiden; dieselbe war 
nur zweimal alteriert, einmal in der Form einer allgemeinen Schwäche 
der Bewegungsorgane und das anderemal in der Form von opistho- 

Jahrbdcher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. lg 


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tonusartigen Krämpfen, welche sich auf der Höhe der Cephalalgie 
einstellten. Auch Sinnesstörungen sind bei Kleinhirngeschwülsten 
viel seltener als bei Tumoren in anderen Teilen; am seltensten 
aber leiden die geistigen Punktionen, welche nur einmal in 
der Form religiöser Ekstase alteriert schienen. (Pag. 88.) 

Lebert und Friedreich hatten die Bahn eröffnet. Es kann 
daher nicht überraschen, daß unmittelbar nach dem Bekanntwerden 
der beiden Spezialarbeiten auch die Handbücher dem Kapitel 
Hirngeschwülste einen breiten Kaum widmeten. Es handelte sich 
dabei nicht nur um eine Zusammenfassung der Ergebnisse deutscher, 
französischer und englischer Forschung, um bloße Kompilationen, 
sondern auch um manche eigene Untersuchung oder doch um 
kritische Beurteilung der fremden Erfahrung. Wenigstens gilt dies 
von Wunderlich und Leubuscher. 

Wunderlich hat das Thema mit besonderer Gründlichkeit 
im dritten Bande seines Handbuches der Pathologie und Therapie 
(2. Aufl., Stuttgart 1854) behandelt. 

Er kennt Fettgeschwülste (Lipome, Cholesteatome), Zysten, Tuberkel, 
Kolloidanhäufung (Hypophysis), teleangiektatische, sarkomatöse, fibroide 
und krebsartige Geschwülste (harte und weiche, weiße — Encephaloid 
— rote — Fungus haematodes — melanotische). In der Ätiologie teilt 
er Traumen eine Rolle zu. Primärer Hirnkiebs scheint häufiger als 
sekundärer zu sein. Die ‘Rückbildung kleiner Tumoren hält er nicht un¬ 
möglich. Auf den Gesamtorganismus üben die Hirntumoren manchmal 
keine Störung aus; in anderen Fällen treten dagegen Veränderung der 
Pulsfrequenz und Respiration, Alteration der Sekretionen (Phosphaturie), 
der Darmtätigkeit, auffallende Gefräßigkeit und Abmagerung, Neigung 
zu Ausschlägen und Geschwüren usw., Anämie und Marasmus ein. Der 
Tod erfolge bisweilen in einem apoplektiformen Anfall oder unter 
meningitischen Erscheinungen. 

Die Symptome des Tumors sind bedingt durch unmittelbaren 
Druck, Zerstörung einzelner Hirnteile, indirekte Druckwirkung, Gegen¬ 
druck durch den Schädel, Folgeerscheinungen (Extravasat, Entzündung, 
Erweichung usw.); sie lassen sich unterscheiden in solche des Hirn¬ 
drucks (Funktionsschwächung) und in solche der Hirn r ei zun g. Ein 
Fehlen der Symptome komme namentlich vor bei Tumoren in den 
tieferen Lagen des Kleinhirns, in den hinteren Großhirnlappen, in den 
SeitenventrikeJn. Die Latenz der Erscheinungen ist nicht 
allein von der absoluten Größe des Tumors, sondern 
ganz besonders auch von der Langsamkeit des Wachs¬ 
tums abhängig. Man müsse auch annehmen, daß die ver¬ 
schiedenen Gehirne gegen den Druck in verschiedenem 
Grade empfindlich sind. 


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Therapie. Bei Karzinom exspektatives Verfahren, bei Lues 
spezifische Behandlung. Bei nicht konstitutionellen Tumoren Blutentziehung 
am Kopf, Haarseil, intern Jod, Lebertran. Am ehesten scheine Arsen 
in kleinen Dosen wirksam. 

Wunderlich unterscheidet im Symptomenkomplex der Tu¬ 
moren verschiedene Gruppen von Phänomenen, welche für die Be¬ 
urteilung eine wesentlich differente Bedeutung haben, auch zeitlich 
bis zu einem gewissen Grade für die Perioden des Verlaufes charak¬ 
teristisch sind, ohne jedoch scharf trennbare Stadien darzustellen. 
Diese Gruppen sind die folgenden: 1. Die allgemeinen und 
zugleich initialen Symptome, welche bei Tumoren jeden 
Sitzes und jeder Art Vorkommen können, im Anfang oft und nicht 
selten geraume Zeit hindurch allein vorhanden sind, aber auch in 
vorgerückten Stadien mehr oder weniger fortdauern. Es sind dies 
teils Reizungssymptome, teils Zeichen einer mäßigen Schwächung 
und Funktionsabstumpfung: Kopfschmerz von verschiedenster Intensi¬ 
tät, Schwindel, subjektive Sinnesempfindungen, unbestimmte Emp¬ 
findungen in den Gliedern und im Rumpfe, psychische Gereiztheit 
und Abschwächung, mäßige, meist partielle Schwächung motorischer 
Apparate (Pupille, Bulbus, Antlitzmuskel, Zunge, Extremitäten, 
Rektum, Genitalien), epileptische und andere Krampfformen, Er¬ 
brechen. 2. Die von der Einwirkung des Tumors auf sein Lager 
und seine Nachbarschaft abhängigen, topisch charakteristi¬ 
schen Zeichen, welche nur bei einem gewissen Grade der 
Volumsentwicklung sich kundgeben. Sie stellen sich nur ausnahms¬ 
weise in einer früheren Periode der Krankheit ein, entwickeln sich 
allmählich von leichten Andeutungen zu vollkommener Ausbildung, 
vervielfältigen sich meistens in dem Grade, als die Geschwulst an 
Größe zunimmt. Es sind dies Störungen der psychischen Funktionen, 
vornehmlich in der Form der Abschwächung, Verminderung und 
Aufhebung der Sinnesempfindung, am häufigsten des Seh- und 
Hörvermögens, Unempfindlichkeit im Gebiete des Trigeminus und 
zuweilen an der Haut des Rumpfes und der Glieder, Hemiplegien 
und Paraplegien an den Gesichtsmuskeln, an der Zunge und an 
den Extremitätenmuskeln. Sie sind also wesentlich Lähmungs¬ 
erscheinungen mit nur geringer und meist vorausgehender Bei¬ 
mischung von Reizungsphänomenen, bedingt durch Vernichtung der 
Tätigkeit der Hirnteile, an deren Stelle die Geschwulst tritt oder 
auch durch den unmittelbaren und mittelbaren Druck, den diese 

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auf die verschiedenen näheren und entfernteren Partien des Gehirns 
ausübt. 3. Die interkurrenten, von akzessorischen Stö¬ 
rungen abhängigen Krankheitserscheinungen. Sie 
können ganz fehlen und haben, wenn sie vorhanden sind, eine mehr 
zufällige Bedeutung, sie treten selten früh ein, in latenten Fällen 
stellen sie die ersten und zuweilen auch die einzigen Erscheinungen 
des Tumors dar, sie sind meistens transitorisch, können aber auch 
dauernd sein, sie werden durch nicht notwendige und vorübergehende 
Veränderungen im Tumor oder in dessen Umgebung (Hyperämie, 
Entzündung usw.) hervorgerufen. Hieher zählen: Halluzinationen 
komplizierter Art, maniakalische Paroxysmen, Konvulsionen (häufig 
von epileptischem Charakter, durchaus keinem bestimmten Sitze 
des Tumors entsprechend), zeitweise Schlafsucht, Ohnmächten, apo- 
plektische Anfälle, Symptome mennigitischer Reizung. 4. Dietermi- 
nalen Erscheinungen, welche bei gewöhnlichem Verlaufe fast 
immer in ziemlich gleicher Weise bei jeder Art und jedem Sitze der 
Tumoren dem tödlichen Ausgange eine unbestimmte, selten längere 
Zeit vorangehen. Sie entwickeln sich allmählich und verdecken 
endlich die topischen, charakteristischen Zeichen der Geschwulst. 
Das allgemeine Sinken des gesamten Hirnlebens infolge von Hydro- 
cephalus und allgemeiner Atrophie bringt dieselben mit sich. Es 
sind dies: anhaltende Schlafsucht und Koma verschiedenen Grades 
bis zur tiefsten Lethargie, Abstumpfung der Intelligenz bis zum 
Blödsinn, Abnahme der Empfindung in den höheren Sinnesorganen 
wie über den ganzen Körper bis zur vollständigen Empfindungs¬ 
losigkeit, ohne auffallende Unterschiede in den einzelnen Teilen, 
Eintreten von reflektierten, automatischen und Mitbewegungen 
(Zähneknirschen, Aufziehen der Stirne, Lippenbewegungen, Flocken¬ 
lesen usw.), allgemeine Abschwächung der motorischen Funktionen 
bis zur annähernden Paralyse, ohne auffallendes Überwiegen der 
Muskelschwäche in einzelnen Partien, Erlahmung und Inkohärenz 
aller zerebralen Funktionen, Abmagerung und allgemeiner Torpor. 

„Ein Tumor im Gehirn“, sagt Wunderlich, „ist zu vermuten: 
wenn spontan oder noch mehr nach einer vorangehenden Erschütterung 
des Kopfes (mit oder ohne Verletzung der äußeren Weichteile) ein 
allmählich an Intensität und Hartnäckigkeit zunehmender Kopfschmerz 
mit Schwindel sich einstellt und hiezu im Monate und Jahre sich hin¬ 
schleppenden Verlauf und in sukzessiver Vermehrung mäßige psychi¬ 
sche Alterationen in der Art der Gedrücktheit und des Torpors, 


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Schwäche und Paralyse in einzelnen oder mehreren Sinnesorganen 
(um so mehr, je schärfer deren Begrenzung ist) und in den moto¬ 
rischen Apparaten (zumal bei Beschränkung auf eine Körperhälfte 
und bei langsamer Zunahme der Schwäche) sich hinzugesellen, 
mögen dazwischen konvulsivische oder maniakalische Paroxysmen 
fallen oder nicht, endlich der Tod plötzlich und unerwartet oder 
nach einem tagelangen, höchstens wenige Wochen langen Koma 
eintritt. Unter Umständen kann jedoch bei derartigen Erscheinungen 
und Verlaufsweisen ein Abszeß, ein Tuberkel des Gehirns, ein 
wirklicher Parasit vorhanden sein, Erkrankungsformen, welche nur 
durch Inbetrachtziehung sämtlicher Verhältnisse des Falls zuweilen 
mit Sicherheit ausgeschlossen werden können.“ 

Wunderlich ist sich der Schwierigkeit der allgemeinen 
und namentlich der Lokaldiagnose vollkommen bewußt, er geht mit 
kritischem Spürsinn den mannigfachen Fehlerquellen nach. 

„Die Abhängigkeit der Symptome von mannigfaltigen Umständen 
und die Möglichkeit einer verschiedenen Gruppierung der die Symptome 
veranlassenden Verhältnisse läßt den von den Tumoren abhängigen 
Symptomenkomplex für die oberflächliche Betrachtung ganz regellos und 
unentwirrbar erscheinen. Nimmt man das faktische Material roh und 
ohne Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse; so kann man sehr 
wohl zu dem Resultate gelangen, daß mit jeder Art von Tumor und 
mit jeder Lokalisation desselben jede Art von Symptomengruppierung 
zusammenfallen könne und daß daher schlechthin in diesem Gebiete gar 
keine Diagnose möglich sei. In der Tat sehen wir, daß in nicht wenigen 
Fällen Hirnteile, welche nur einem mediaten Druck ausgesetzt sind, 
mehr Symptome geben als solche, auf welchen der Tumor lagert . . . 
Daher ist das fremde, in der Art der näheren Umstände 
nicht durchschaubare Material über diese Krankheits¬ 
formen nur mit der größten Umsicht und für einzelne 
Punkte zu benützen, und zumal ein statistisches Vor¬ 
gehen und ein Feststellen der Symptome nach der Häufig¬ 
keit ihres Vorkommens bei diesem oder jenem Sitz des 
Tumors eine Unmöglichkeit und prinzipiell eine Ver¬ 
irrung. Daß die Destruktion oder Erdrückung einer 
Hirnstelle von gewissen Symptomen begleitet wird, kann 
nicht dadurch bewiesen werden, daß solche Symptome in 
der Mehrzahl der Fälle jener Störung vorhanden sind; 
sondern wenn sie von derselben abhängen sollen, so 
müssen sie in jedem entsprechenden Einzelfalle sich 
zeigen, und wo sie zu fehlen scheinen, zeigt sich sehr häufig bei der 
nähern Prüfung des Falles, daß die Verhältnisse ganz andere sind, als 
die grobe Betrachtung erwarten ließ.“ 


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„Jedes einzelne Symptom für sich und selbst in seinem Verlaufe 
genommen, kann niemals einen Tumor bekunden, wohl aber die Sym¬ 
ptome in ihrer Vereinigung und namentlich in ihrer sukzessiven Ver¬ 
mehrung. Dabei sind die als Reizungserscheinungen anzusehenden Sym¬ 
ptome zwar von der größten Wichtigkeit für die Diagnose einer Hirn¬ 
erkrankung überhaupt, ihrer Hartnäckigkeit, ihrer Intensität, lassen aber 
für sich allein niemals auf einen Tumor schließen; in Verbindung mit 
paralytischen Symptomen sind sie dagegen wichtige Anhaltspunkte, um 
das Verhalten des Gehirns zu schätzen. Die Erscheinungen der Ab¬ 
schwächung und Paralyse entscheiden vornehmlich über den Sitz des 
Tumors; niemals aber rechtfertigt die Paralyse einer einzelnen Funktion 
die Annahme einer Geschwulst im Gehirn, obwohl zu gewissen Zeiten, 
im Anfänge des Verlaufes ein dann noch nicht diagnostizierbarer Tumor 
zuweilen nur auf eine einzelne Funktion schwächend wirkt. Die Diagnose 
des Tumors wird erst dann möglich, wenn mehrere Funktionen, die im 
Gehirn nachbarlich repräsentiert sind, gleichzeitig geschwächt und 
paralysiert erscheinen, und namentlich dann, wenn sukzessive die Para¬ 
lyse auf solche Funktionen sich ausbreitet, welche im Gehirn von be¬ 
nachbarten Fasern vertreten werden. Dabei erhöht es wesentlich die 
Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein einer Geschwulst, wenn die 
Paralyse eines Teiles nicht plötzlich und auf einmal sich ausbildet, 
sondern ganz allmählich aus einer zunehmenden Schwächung sich entwickelt, 
wenn neben vollkommen oder annähernd vollkommen paralysierten Teilen 
andere, deren Nervenfasern im Gehirn denen der ersteren benachbart 
liegen, geschwächt zu werden anfangen, und wenn über das Gebiet der 
Lähmung hinaus sich zeitweise oder dauernd Reizungssymptome zeigen. 
Durch dieses Verhalten unterscheidet sich der Tumor nicht bloß von 
der Apoplexie, deren paralytische Zufälle plötzlich eintreten, sondern 
auch von der Erweichung, welche niemals eine solche allmähliche pro¬ 
gressive Ausbreitung von Lähmung, Schwäche und Reizung zeigt, von 
der Hirnsklerose, deren Wirkung auf einzelne Funktionen beschränkt 
bleibt, von der chronischen Atrophie, welche, wenn sie auch progressiv 
ist, ohne Reizungsphänomene verläuft, endlich vom Abszeß und vom 
Tuberkel, welche zwar intensive Reizungsphänomene hervorrufen können, 
die Funktionen aber, welche sie paralysieren, rasch und fast plötzlich 
vollkommen aufheben. Immer ist jedoch festzuhalten, daß eine große 
Anzahl der Krankheitserscheinungen, ja selbst in manchen Fällen alle, 
gar nicht zunächst von dem Tumor, sondern von akzessorischen, bald 
vor ihm veranlaßten, bald ihn zufällig begleitenden Prozessen abhängen 
und daß daher der Tumor alle Phänomene der Abszedierung, der 
Meningealexsudation, der Apoplexie, der Atrophie, der Erweichung dar¬ 
bieten oder hinter ihnen versteckt sein kann. 

Um sich im Labyrinth der Erscheinungen einigermaßen zurecht¬ 
zufinden, unterscheidet Wunderlich sieben bis zu einem gewissen 
Grade fixierte Formen von Symptomenkomplexen, nach denen im 
groben die Diagnose gestellt werden könne. 


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1. Lang anhaltender oder hartnäckig wiederkehrender Kopfschmerz 
ohne irgend ein anderes Symptom oder doch mit geringen sonstigen Er¬ 
scheinungen (Schwindel, leichte Gedächtnisschwäche, mäßige psychische 
Gedrücktheit), vor dem Tode allmählich zunehmendes Koma oder Er¬ 
schöpfung: Geschwulst an einer insignifikanten Stelle (Masse des Gro߬ 
hirns, Hinterlappen, Vorderlappen, selbst an der Konvexität, wenn die 
Geschwulst nicht sehr groß ist, in den oberen oder mittleren Teilen des 
Kleinhirns) oder langsam wachsende Geschwulst in den Ventrikeln oder 
überhaupt sehr kleine Geschwulst mit beliebigem Sitz. 

2. Kopfschmerz mit frühzeitigen paralytischen Affektionen der 
höheren Sinne: Tumor an der Basis des Gehirns, zumal an deren vor¬ 
derer Hälfte. 

3. Kopfschmerz mit frühzeitigen Neuralgien des Quintus und nach¬ 
folgender Anästhesie oder mit kompletter Hemiplegie des Facialis, ge¬ 
wöhnlich gleichzeitig mit einseitiger Taubheit, oft mit kompletter Blind¬ 
heit und mit unvollkommenen Lähmungen auf der entgegengesetzten 
Körperhälfte, im weiteren Verlauf Beeinträchtigung der Intelligenz und 
überhaupt sehr zahlreiche Symptome: Geschwulst an dem hinteren Teile 
der Basis, auf der der Quintus- und Fazialisaffektion korrespondieren¬ 
den Seite. 

4. Kopfschmerz mit frühzeitiger Verwirrung der Intelligenz, Ab¬ 
stumpfung des Gedächtnisses, Schwierigkeit der Sprache, häufig mit 
epileptischen Anfällen und bald hervortretendem progressivem Blödsinn: 
mehrfache Geschwülste der Konvexität oder solitäre Geschwülste daselbst, 
die ihrer Größe oder der umfänglichen Reaktion wegen in großer Aus¬ 
dehnung die Konvexität beeinträchtigen, oder endlich voluminöse Ge¬ 
schwülste an insignifikanten Stellen, welche einen bedeutenden mediaten 
Druck auf das ganze Gehirn ausüben. 

5. Kopfschmerz mit unvollkommener, allmählich sich ausbildender 
Hemiplegie der Extremitäten oder des Antlitzes: meist Tumor in der 
Großhirnhemisphäre der anderen Seite. 

6. Kopfschmerz mit allmählich sich ausbildender Paraplegie: mehr¬ 
fache Geschwülste oder Tumor im Pons. 

7. Frühzeitige und auffallende Affektion der Genitalien bei Männern 
(Geilheit, Impotenz) neben Kopfschmerz und weiteren Erscheinungen 
läßt eine Beteiligung des Kleinhirns vermuten. Eine Anzahl von Fällen 
zeigt nichts als unvollkommene und keine zuverlässige Deutung zu¬ 
lassende Erscheinungen, wie epileptische Krämpfe, Ohnmächten, zeitweise 
geringe apoplektische Anfälle; sie lassen darum keine bestimmte Diagnose 
zu. Ebensowenig ändert das Hinzutreten dieser Symptome sowie das 
Vorhandensein des Erbrechens, des terminalen Koma, etwas in der 
Diagnose des Tumorsitzes. 

Einschränkend spricht er sich aber folgendermaßen aus: „Da 
jedoch jeder Tumor eine eigentümliche und von allen andern ver¬ 
schiedene Lagerung hat und ebenso sich die konsekutiven Prozesse 
in jedem Falle besonders gestalten, so kann jeder einzelne Tumor 


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nicht mit anderen absolut übereinstimmen, muß jeder konkrete Fall 
seine individuellen Verhältnisse haben. Man darf sich nicht der 
Illusion hingeben, daß die Symptomenbilder für die verschiedenen 
Lagerungen der Tumoren in den einzelnen Fällen sich schlagend 
wiederholen müßten. Noch mehr: Tumoren, welche an derselben 
Stelle beginnen, zeigen bei ihrem Wachstum verschiedene Modifi¬ 
kationen in der Richtung, und eine Ähnlichkeit zwischen zwei 
Fällen, die eine Zeitlang bestand, kann im weiteren Verlaufe sich 
vollständig verlieren. Eben darum ist es irrig, wenn man, ohne das 
Detail des Falles zu überlegen, ihn in seiner Gesamtheit als 
Material benützen will, um Regeln für die Diagnose aufzustellen. 
Es müssen vielmehr bei der Beurteilung der Einzelfälle die Sym¬ 
ptome streng analysiert werden, es müssen die Initialphänomene, 
die Terminalerscheinungen, welche bei allen Tumoren gleichmäßig 
Vorkommen können, in Abzug gebracht werden, es müssen ebenso 
die akzessorischen Phänomene in ihrem untergeordneten Werte ge¬ 
schätzt werden, und selbst in Beziehung auf die lokalen Symptome 
muß man trachten, zu unterscheiden, was von unmittelbarem Druck 
und Zerstörung, was von mediatem Druck und Gegendruck abhängt. 
Es begreift sich, daß bei solchen Postulaten sehr viele Fälle, welche 
die Kasuistik bietet, gar nicht oder nur höchst fragmentär ver¬ 
wendbar sind.“ 

Trotz dieser Monita versucht übrigens Wunderlich An¬ 
haltspunkte für eine sehr differenzierte Lokaldiagnose zu geben, 
auf welche hier nicht weiter eingegangen werden soll. Immerhin 
möge nicht unerwähnt bleiben, daß Wunderlich in vivo mehr¬ 
mals richtige Lokaldiagnosen gestellt hat, daß er z. B. in drei 
Fällen den durch die Sektion bestätigten Tumorsitz am „unteren Teil 
des Kleinhirns“ zu erkennen in der Lage war. 

Als eine vorzügliche Leistung, am Stande der damaligen 
Wissenschaft gemessen, ist die Darstellung zu bezeichnen, welche 
Leubuscher von den Hirntumoren im Rahmen seiner „Patho¬ 
logie und Therapie der Gehirnkrankheiten“ (Berlin 1854, 
pag. 411 bis 458) gibt. Hier sieht man überall echt natur¬ 
wissenschaftliche Kritik walten, auch werden alle wichtigeren der 
inzwischen über einzelne Spezialfragen veröffentlichten Arbeiten 
gebührend verwertet. Leubuscher selbst verfügte über 14 eigene 
Beobachtungen. 

Im anatomischen Teil werden kurz der Reihe nach abgehandelt: 


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Krebs (der Schädelknochen, der Hirnhäute, des Gehirns), nicht krebs¬ 
hafte Geschwülste (Fibroid, Sarkom, Neurom der Nerven der Hirnbasis, 
Lipom und Cholesteatom, Kolloidmassen in der Hypophysis, teleangi- 
ektatische Geschwulst, kavernöse Blutgeschwulst), Tuberkel, Parasiten 
(Cysticerken und Echinokokkussäcke), Knochenbildungen (Osteophytplatten, 
Exostosen des Schädels, kalkige Konkretionen im Gehirn), Aneurysmen. 

Die Wirkungen der Geschwülste auf die übrige Himsubstanz 
werden von L. unterschieden in rein mechanische, durch die Raum¬ 
verdrängung gegebene, und in solche, welche durch tiefere Erkran¬ 
kung bedingt sind. Diese Erkrankung kann eine unmittelbare (Fort¬ 
schreiten des Prozesses per contiguitatem) oder eine mittelbare sein 
(Veränderung der Hirnsubstanz durch allmählichen Druck; Ablagerung 
von Fettkörnchenzellen, Atrophie, Ödem, Blutextravasate, seröse Ex¬ 
sudationen). Die konsekutiven Veränderungen sind abhängig von der 
spezifischen Natur der Geschwülste, der Art ihrer Ausbreitung, ihrem 
Wachstum, ihrer Größe und ihrem Sitz, von den Adhärenzen, dem 
Druck auf größere Blutgefäße, von der Erweichung der Geschwülste. 
Schwellbarkeit derselben usw. Besonders wichtig sind die anatomi¬ 
schen Veränderungen der vom Gehirn austretenden 
Nerven (Abplattung, Atrophie, fettige Degeneration). 

Was die Symptomatologie anlangt, so weist L. an der Hand 
mehrerer Beobachtungen darauf hin, daß es Fälle gibt, bei welchen 
während des Lebens gar keine Symptome hervortreten. Die Intensität 
der Erscheinungen wird durchaus nicht durch die Größe der Geschwulst 
verursacht und ist großenteils von der individuellen Reizbarkeit des 
Gehirns abhängig. Je näher die Geschwulst der Basis liegt, je mehr 
die austretenden Nerven beteiligt werden, je mehr und je tiefere kon¬ 
sekutive Veränderungen vorhanden sind, desto erheblicher und aus¬ 
gebreiteter sind die funktionellen Störungen; geringere, wenig aus¬ 
gebreitete Symptome treten ein, wenn die Geschwülste hart, nicht 
schwellbar, vereinzelt, ohne Adhäsionen, mehr in der Mitte des Markes 
oder innerhalb der Ventrikel gelagert sind und wenn sie sich sehr 
langsam entwickeln. Im folgenden bespricht L. die „äußerlichen Sym¬ 
ptome“ perforierender Geschwülste (palpabler Knochenrand, Krepitation, 
Pulsation, Reduktibilität) und die funktionellen Symptome (Sensibilitäts¬ 
und Motilitätsstörungen, die sensoriellen und psychischen Störungen, 
die Alterationen der Ernährung und Zirkulation). Bezüglich des Kopf¬ 
schmerzes bemerkt er, daß der Sitz desselben durchaus 
nicht konstant dem Sitze des Tumors entspricht; die Angabe 
Friedreichs, daß Frontalschmerz vorzugsweise bei Geschwülsten der 
Basis vorkomme, bestreitet L., eher lasse Schmerz im Hinterkopfe und im 
Nacken auf einen Tumor des Kleinhirns schließen. Bei Amaurose sei der 
Sitz der Geschwulst am öftesten an der Basis oder, „wenn in der Masse 
des Hirns, in einem der Zentra des Optikus, oder so, daß die Optici 
nachweisbar gedrückt werden, doch haben auch Tumoren in anderen 
Teilen, im Zerebellum usw., Amaurose zur Folge.“ Bei der Besprechung der 
Lähmungen gedenkt L. auch der Fälle, wo die Facialis auf der mit 


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der Geschwulst gleichnamigen, die Extremitäten dagegen auf der ent¬ 
gegengesetzten Seite gelähmt sind. So muß also eine Geschwulst an der 
Basis, wenn sie der Fazialis drückt, zunächst die Entsprechende Seite 
des Gesichts lähmen; es ist aber ersichtlich, daß sie bei größerer Aus¬ 
dehnung auch die entgegengesetzte Seite der Extremitäten lähmen kann. 
Der Umstand, daß die Geschwülste auch eine Breitenausdehnung haben, 
daß andere Prozesse (z. B. Extravasat) hinzutreten, macht diese scheinbar 
einfache Formel zu einer unsicheren; die Ansicht Leberts, daß vorüber¬ 
gehendes vollständiges Zurücktreten der Lähmungserscheinungen für Tu¬ 
moren charakteristisch sei, bestreitet er entschieden. Unter den Krampf¬ 
erscheinungen erwähnt er auch Steifheit der Nackenmuskeln, in einzelnen 
Fällen Trismus (Ponstumoren), tetanische Steifheit des ganzen Körpers 
(Folge sekundärer Prozesse), konvulsivischen Strabismus, endlich gewisse 
Erscheinungen, welche bei Geschwülsten im Zerebellum, Pons, Medulla obl. 
beobachtet wurden, Unsicherheit, Schwanken im Gange, Neigung, nach 
vornüber zu fallen, rückwärts zu gehen usw. In bezug auf die psychi¬ 
schen Störungen bemerkt er, daß Schwäche des Gedächtnisses, depressive 
Zustände sehr häufig, dagegen solche Störungen, welche eine Aufnahme 
in eine Irrenanstalt erfordern würden, jedenfalls sehr selten Vorkommen. 
Die Symptome der Zirkulations- und Respirationsstörung bieten keinerlei 
bestimmten Anhaltspunkt für die Diagnose. 

Verhältnismäßig am leichtesten wird die T u m o r d i a g n o s e, wenn 
fixer Kopfschmerz als frühestes Symptom auftritt, um den sich Schwindel, 
Erbrechen, Sinnes- und Motilitätsstörungen, Schwächung der geistigen 
Fähigkeiten gruppieren; unsicherer wird die Deutung, wenn jahrelang 
dauernde Konvulsionen mit epilepsieartigem Charakter das hervor¬ 
stechendste Symptom bilden; noch schwieriger wird die Diagnose in 
Fällen, wo von vornherein apoplexieähnliche Anfälle aufzutreten scheinen. 

Die Symptome zerfallen in die der Reizung und der Depression, 
die in verschiedener Kombination und Abwechslung mit einander Vor¬ 
kommen. Die Reizung bewirken die der Geschwulstbildung vorausgehende 
Ernährungsstörung, sodann die Geschwulst selbst im Anfang ihres Be¬ 
stehens. Die allmähliche Ausbreitung der Geschwulst macht die Funk¬ 
tionsstörung zu einer persistenten und erzeugt eine vorschreitende 
LeitungsUnfähigkeit der Nerven — Depression in allen drei Gebieten 
der Nerventätigkeit. Ein Wechsel der Erscheinungen kann entstehen 
1. durch wechselnden Blutreichtum in der Geschwulst selbst oder in 
ihrer Umgebung, 2. durch die Verschiebbarkeit gewisser Tumoren, 
3. durch die Periodizität, welche überhaupt den Nervenaffektionen eigen 
ist, 4. durch konsekutive Prozesse (Meningitis, Blutextravasat oder Er¬ 
weichung usw.). 

Hinsichtlich der Ätiologie bemerkt L., daß Traumen möglicher¬ 
weise in manchen Fällen nicht die direkte Ursache ausmachen, sondern 
nur den Anlaß zu einer schnelleren Entwicklung eines Tu¬ 
mors bilden, jedenfalls sei die Entwicklung einer Geschwulst von spezi¬ 
fisch anatomischem Charakter auch von einer besonders konstitutio¬ 
nellen Anlage bedingt. Rückbildung einzelner Neoplasmen sei möglich, 


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Stadien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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wie verkreidete Tuberkeln und verödete Cysticerken beweisen, aber die 
meisten Kranken gehen schon vorher zu Grunde. Wenn von einzelnen 
Fällen berichtet wird, wo eine Reihe von Symptomen, 
die mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Hirntumor 
schließen ließen, sich zurückgebildet haben, so ist eher 
einlrrtum in der Diagnose als eine Heilung eines Tumors 
anzunehmen. Therapie: Hygienisch-diätetische Maßnahmen, mäßige 
Antiphlogose, besonders lokale Blutentziehungen. Von Jod usw. kann 
man sich (abgesehen bei syphilitischen Exostosen) in vorgerückteren Stadien 
keinen Erfolg versprechen. 

In der Lokaldiagnose kommt Leubuscher der Haupt¬ 
sache nach zu denselben Ergebnissen wie Lebert, bzw. Fried¬ 
reich, modifiziert durch eigene Forschungsresultate. „Die größte 
Sicherheit der Diagnose geben unter allen Hirngeschwülsten die 
Geschwülste der Basis; die bei ihnen unmittelbar eintretende 
Affektion der Nerven bewirkt, daß die Symptome verhältnismäßig 
frühzeitiger eintreten müssen als bei den Tumoren anderer Hirn¬ 
teile und daß die peripherischen Wirkungen konstanter und be¬ 
stimmter in ihren Erscheinungen sind; zuweilen gibt der Durch¬ 
bruch einer Basalgeschwulst (durch das Siebbein) noch direktere 
Anhaltspunkte.“ Unter den von Leubuscher mitgeteilten Fällen 
wäre z. B. ein Tumor des Pons erwähnenswert, wo „paralysis agitans, 
öfterer trismus und unvollständige Lähmung zuerst der oberen, später 
auch der unteren Extremitäten, stammelnde Sprache“ beobachtet 
wurde. Bei der Symptomatologie der Tumoren des Kleinhirns 
führt er als gelegentliche Erscheinung auch die (zuerst von Serres 
hervorgehobene) Unsicherheit, den Mangel an Koordination 
in den Bewegungen an. Die von Wunderlich verwertete Gall- 
sche Lehre von der Beziehung des Kleinhirns zu den Genital¬ 
funktionen verwirft Leubuscher ebenso, wie schon früher Bur¬ 
dach, Andral und Longet das getan hatten. 

Was die Artdiagnose der Tumoren anlangt, so kämen 
allgemeine konstitutionelle Eigentümlichkeiten (besonders bei Krebs, 
Tuberkulose, Syphilis) die Verlaufs- und Entwicklungsweise der 
Neoplasmen hiefür in Betracht, hingegen gebe die Qualität der 
Schmerzen (z. B. lanzinierende bei Karzinom) keinen Anhaltspunkt. 
Die Symptome der Cysticerken charakterisieren sich, wie Leu¬ 
buscher auf Grund eigener Beobachtungen schließt, verhältnis¬ 
mäßig weniger durch stabile Störungen der Nerventätigkeit, als 
vorwaltend durch wechselnde Reizungszustände (epileptiforme 


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Krämpfe, psychische Exaltation), was wahrscheinlich eine Folge der 
Entwicklung neuer Bälge, eventuell der Lageveränderung der 
Cysticerken sei. 

Die Spezialliteratur der Fünfzigerjahre brachte manche wesent¬ 
liche Bereicherung in pathologisch-anatomischer Hinsicht und in 
Form interessanter kasuistischer Beiträge. Man trennte die sarko- 
matösen von den karzinomatösen Geschwülsten, beschrieb Chole¬ 
steatome und Schleimgeschwülste (Virchow), Enchondrorae, kaver¬ 
nöse Blutgeschwülste (Luschka) usw.; man erforschte genauer 
die Wirkung der Tumoren auf die Umgebung, insbesondere der 
Basalgeschwülste auf die austretenden Nerven. 

Erwähnenswert sind vor allem einige in Virchows Archiv er¬ 
schienene Arbeiten von Luschka (Kavernöse Blutgeschwulst 
des Gehirns, 1. c. VI, pag. 458 ff.), Ludw. Meyer (Karzinomatöse Ge¬ 
schwulst im Corp. callos., 1. c. VII, pag. 572 ff.), Virchow (Über 
Perlgeschwülste, 1. c. pag. 371 ff.), E. Wagner (Ein Fall von 
Collonema im Gehirn, 1. c. VIII, pag. 532 ff.), B. Beck (Eine patho¬ 
logische Beobachtung über die Verrichtungen des dritten, vierten, fünften 
und sechsten Hirnnervenpaares, 1. c. X, pag. 449 ff.), C. Hennig und 
E. Wagner (Fall eines fötalen interzephalen gemischten Enchodroms, 
1. c. X, pag. 209 ff.), Luschka (Über gallertartige Auswüchse am Clivus 
Blumenbachii, 1. c. XI, pag. 8 ff.), F. A. Zenker (Über die Gallert¬ 
geschwülste des Clivus Blumenb., 1. c. XII, pag. 108 ff.), derselbe 
(Enorme Zystenbildung im Gehirn, vom Gehirnanhang ausgehend, 
1. c. pag. 454 ff.), Leubuscher (Pathologische Bindegewebsentwicklung 
im Gehirn, 1. c. XIII, pag. 404 ff.). Vgl. ferner Gradl (Ein Fall von 
Zystenbildung im Gehirn, Prager Vierteljahrschr. 1850, II. Erg. Bl., 
pag. 22), Eulenburg (Preuß. Ver. Ztg. 1853, Nr. 13), G. Meißner 
(Fungus durae matris, Archiv für physiol. Heilk. 1853, pag. 561 ff.), 
Körner (Württ. Korr. Bl. 1856, Nr. 24 ff.; betrifft ein Melanom), 
Freund (Fall von einem Gehirntumor an der Basis, Wiener med. 
Wochenschrift 1856), Friedr. Betz (Fungus cerebri in Memorabilien, 
Jahrg. III, pag. 114 ff., 1858), Finger (Klin. Mitteilungen, Prager 
Vierteljahrschrift 1860), Wagner (Papilläres Cystoid der Hirnbasis, 
Archiv der Heilkunde 1861) u. a. — Über Cysticerken des Gehirns 
handelt ausführlich, unter Benützung der wichtigsten vorausgegangenen 
Literatur 1 ) Stichs Arbeit „Über das Finnig-Sein lebender Menschen“ 
(Annalen der Charit^, Jahrg. V, Berlin 1854, pag. 188 ff.); das paroxys- 
matische Auftreten der Symptome will Stich aus den Bewegungen der 


x ) Die ältere, zusammenfassende Schrift von Rendtorf, De 
Hydatidibus, Berol, 1812 bezieht noch unter den Begriff „Hydatides“ 
sehr viele nicht hierhergehörende Fälle von Cysten ein. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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Cysticerken erklären. Vgl. auch Küchenmeister (Helmithologischer 
Bericht, Schmidts Jahrb. 1858). 

Ein besonderes Interesse bieten die einschlägigen, damals zu 
wenig verwerteten Arbeiten L.Türcks „Über Kompression und 
UrsprungdesSehnerven“ (Zeitschrift der Gesellschaft der Ärzte 
in Wien 1852, II, pag. 299 bis 304)*), „Ein Fall von Hämorrhagie der 
Netzhaut beider Augen“ (1. c. 1853,1, pag. 214 bis 218) 2 ) und „Mit¬ 
teilungen über Krankheiten der Gehirnnerven“. Hier sind mit über¬ 
raschender Feinheit im Anschluß an Tumoren die Beziehungen 
zwischen Gehirn und Auge, ferner die Kompressions¬ 
erscheinungen an den Gehirnnerven durch Basalprozesse 
studiert. 

Von nicht geringer Bedeutung war ferner die Arbeit von 
Ziemssen „Über Lähmung von Gehirnnerven durch 
Affektionen an der Basis“ (Virchows Archiv XIII, pag. 210ff.), 
worin in Gefolgschaft Duchennes mittels Prüfung der elektrischen 
ßeaktion die Differenzierung intrazerebraler und extrazerebraler 
(d. h. durch Basaltumoren bedingter) Lähmungen versucht wurde. 

In welchem Mißverhältnis aber die klinische Diagnostik der 
Hirntumoren noch zu den Fortschritten der pathologischen Anatomie 
stand, dieser Tatsache hat niemand treffenderen Ausdruck verliehen 
als Bamberg er. Erklärte er doch in seiner 1856 (in den Ver¬ 
handlungen der physikalisch-medizinischen Gesellschaft in Würzburg) 
erschienenen Abhandlung „Beobachtungen und Bemer¬ 
kungen über Gehirnkrankheiten“, daß mit Ausnahme der 
Basaltumoren Gehirngeschwülste in der Mehrzahl der Fälle 
höchstens vermutet, nicht aber mit Sicherheit diagnostiziert werden 
könnten. 

„Die Lehre von den Hirngeschwülsten“, sagt B am berger, „ist 
in neuerer Zeit sehr eifrig bearbeitet worden; ich erinnere besonders an 
Leberts Arbeit, die ihrer Reichhaltigkeit und Genauigkeit wegen den 
ersten Rang einnimmt. Eine genaue Bearbeitung dieses Teils schien sich 
ebensowohl in pathologisch-diagnostischer als physiologischer Beziehung 
als höchst dankbar herauszustellen, denn nicht leicht irgendwo anders 
ließen sich bestimmtere Aufschlüsse über die Funktionen einzelner Hirn- 

*) Im Anschluß an einen Fall von Hypophysistumor. 

2 ) Türck führte (1853) die im Anschluß an einen Tumor im 
linken Vorderlappen beobachtete Hyperämie der Retina mit konsekutiver 
Blutung auf den erschwerten Rückfluß aus dem Sinus cavernosus zurück 
— Antizipation der Theorie der Stauungspapille. 


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teile und hiemit wichtige diagnostische Anhaltspunkte erwarten als eben 
bei diesen, zunächst auf kleinere Partien beschränkten Produkten, und 
es schien, als ob es eben nur der Zusammenstellung größerer Reihen 
von verläßlichen Beobachtungen bedürfe, um zu positiven Resultaten zu 
gelangen. Daß indes diese Erwartungen bei weitem nicht befriedigt 
worden sind, zeigt schon der Umstand, daß für die physiologische Be¬ 
deutung der einzelnen Hirnteile sich selbst aus ziemlich großen Reihen 
solcher Beobachtungen kein einziges neues und sicheres Faktum ergeben 
hat. Man könnte sich indessen zufriedenstellen, wenn aus den genannten 
Erfahrungen und Zusammenstellungen wenigstens für die Diagnose dieser 
Geschwülste selbst sich brauchbare Anhaltspunkte ergeben würden. Ich 
fürchte indes, daß dies nicht der Fall ist, es ist bis jetzt die 
Diagnose der Hirngeschwülste mit wenigen Ausnahmen 
meist mehr eine Vermutung als eben eine Diagnose, die 
Bestimmung des Sitzes ebenfalls mit gewissen Ausnahmen 
meist unmöglich, und ich muß gestehen, daß ich bestimmte Gesetze 
weder aus meinen eigenen noch aus fremden Beobachtungen bisher 
deduzieren könnte. Begreiflicherweise machen hievon Ge¬ 
schwülste, die die an der Hirnbasis liegenden Nerven 
direkt treffen, eine längst bekannte Ausnahme, allein 
liegen die Geschwülste nicht an der Basis, so scheint 
es auch mit der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen 
ziemlich ein Ende zu haben. Wie es möglich sei, daß bei ganz 
verschiedenem Sitze der Geschwulst, doch die Erscheinungen ganz 
identisch und bei der Lagerung an ein und derselben Stelle doch wieder 
in verschiedenen Fällen ganz different sein können, ist bereits öfter be¬ 
sprochen worden. Das Hauptmoment ist hier meines Erachtens jedenfalls 
der Druck, der bei nur einigermaßen beträchtlicher Größe des After¬ 
produkts große Teile des Gehirns, ja meist die ganze entsprechende 
Hemisphäre wegen ihrer festen Begrenzung ziemlich gleichmäßig trifft. 
Unter diesem Drucke leiden nun nicht etwa jene Hirnteile am meisten, 
die eben der Geschwulst am nächsten liegen — man kann sich davon 
besonders bezüglich der Hirnnerven oft genug überzeugen — sondern 
jene, die aus uns nicht näher bekannten anatomischen oder physio¬ 
logischen Gründen durch Reize leichter in ihrer Wirksamkeit gestört 
werden, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein physiologisches 
Punctum minoris resistentiae darbieten. So überzeugt man sich leicht, 
daß bei jedem beliebigen Sitze der Geschwulst der Kopfschmerz und 
die Störung der Motilität in der entgegengesetzten Körperhälfte bei 
weitem die konstantesten Symptome sind und man würde sehr irren, 
wenn man hieraus einen andern Schluß ziehen wollte als den eben ge¬ 
nannten. Einen solchen irrigen oder wenigstens nicht hinlänglich be¬ 
gründeten Schluß hat man sich, wie ich glaube, namentlich bezüglich 
der Funktion der Seh- und Streifenhügel erlaubt, wenn man auf Grund¬ 
lage der in diesen Ganglien so häufig vorkommenden hämorrhagischen 
Herde, die mit Lähmung der entgegengesetzten obern und untern Ex¬ 
tremität verbunden sind, in ihnen die Bewegungsorgane dieser Teile zu 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 275 

sehen glaubt. Indes beweist dies doch gar nichts, weil die ganze 
Hemisphäre gleichmäßig dem Drucke des Extravasates ausgesetzt ist. . . 
Ein zweiter wichtiger Umstand sind die vielfachen anatomischen 
Veränderungen, nicht nur in der unmittelbaren Nähe der Geschwulst, 
sondern oft in ziemlich weiter Ausstrahlung, namentlich Entzündungen 
der Meningen und der Hirnsubstanz, Ödem, apoplektische Herde usw. 
Auf diese Veränderungen, die doch bezüglich der Erscheinungen im 
Leben von besonderer Wichtigkeit sind, ist in den meisten Beobachtungen, 
die zur Basis statistischer Zusammenstellungen gedient haben, fast gar 
keine Rücksicht genommen worden. Diese zwei Fehlerquellen, an denen 
eben sämtliche Arbeiten der Art, so verdienstvoll sie sonst auch sind, 
laborieren, sind jedenfalls so wichtig, daß man Wunderlich recht 
geben muß, wenn er das statistische Vorgehen, besonders nach fremden 
Beobachtungen, und das Feststellen der Symptome nach dem verschie¬ 
denen Sitze des Tumors eine prinzipielle Verirrung nennt. Ich glaube, 
daß jeder, der öfters im Leben solche Fälle beobachtet und sich von 
der Inkongruenz des wirklichen und des schematischen Symptomen- 
komplexes überzeugt hat, endlich obwohl wider Willen zu derselben 
Ansicht kommen wird. Einige Bedenken gegen das Vorgehen nach der nume¬ 
rischen Methode eben auf diesem Felde kann ich hier übrigens nicht unter¬ 
drücken, einesteils um vor dem Anscheine der Positivität, der mit der¬ 
selben gewöhnlich verbunden wird, zu warnen, andernteils um vielleicht 
manche unnütze Mühe und Arbeit zu sparen. Denn nach allem, was 
sich bisher überblicken läßt, scheint diese zeitraubende Methode gerade 
auf dem Felde der Hirnkrankheiten, wenigstens in der Weise, wie sie 
bisher geübt wurde, gar keine Zukunft zu haben. Der Zweck der 

numerischen Methode muß eben offenbar immer ein praktischer sein, er 
soll zu einer Art Wahrscheinlichkeitskalkül führen, das für die Diagnose 
von großem Wert sein kann, aber auch nur dann von Wert, wenn die 
sich ergebenden Zahlendifferenzen so bedeutend sind, daß sie wirklich 
eine Wahrscheinlichkeitsrechnung zulassen. So sind die der statistischen 
Methode entsprossenen Ausschließungsgesetze der Wiener Schule trotz 
aller gegen dieselben erhobenen Opposition, die sich zumeist nur an den 
allerdings unrichtigen Ausdruck „Gesetze“ knüpfte, was diese Häufig¬ 
keitsschlüsse weder sind noch sein sollen, in der Tat von hohem 

praktischen Wert —; nicht dasselbe läßt sich aber von der Anwendung 
dieser Methode auf die Hirntumoren sagen, denn die Zahlendifferenzen, 
die sich bezüglich der Symptomengruppe bei dem verschiedensten Sitze 
derselben ergeben, sind so gering, daß ich an die praktische Verwert¬ 
barkeit derselben noch nicht glauben kann.“ 

Bamberger fand unter 17 Fällen zehnmal die Hirnsubstanz, 

sechsmal die Meningen der Basis, einmal das Kranium als Ausgangspunkt 
der Geschwülste; zehnmal war der Sitz im Großhirn, fünfmal im Klein¬ 
hirn, zweimal im Bereiche beider. Das konstanteste Symptom war Kopf¬ 
schmerz, er fehlte nur in zwei Fällen mit Latenz der Symptome. Das 
nächsthäufigste Symptom waren Störungen der Motilität, und zwar meist 
eine unvollständige, allmählich zunehmende Lähmung. Kontraktur wurde 


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selten bei Tumoren ohne Komplikation („Encephalitis“) beobachtet, 
Konvulsionen bestanden in acht unter 17 Fällen. Trotz der Häufigkeit 
ihres Vorkommens können Kopfschmerz und Lähmungen nicht als Sym¬ 
ptome von entscheidender differentialdiagnostischer Bedeutung gelten, da 
sie eben bei allen Hirnkrankheiten auftreten und etwaige Modalitäten 
in der Erscheinungsweise nicht mit hinreichender Schärfe aufzustellen 
sind. Epileptische Anfälle in Verbindung mit andern, auf ein Hirnleiden 
deutenden Erscheinungen sind das wichtigste diagnostische Symptom für 
Hirngeschwülste, insofern als sie bei andern Hirnkrankheiten viel seltener 
Vorkommen. Psychische Funktionsstörungen beobachtete Bamberger 
achtmal, jedoch nur zweimal, ohne daß Komplikationen der Tumoren 
bestanden; die Komplikationen (Encephalitis, Hydrocephalus, Apoplexie) 
seien offenbar für die Entstehung der psychischen Störungen von 
größerer Bedeutung als die Tumoren selbst. Lebert und Friedreich 
hätten auf die Komplikationen keine Rücksicht genommen. Bamberger 
beschreibt ausführlich drei Fälle (Kalkmetastasen im Gehirn, fibroide 
Geschwülste an der Medulla oblongata, Tuberkel im Großhirn). 

Das Wissen der Zeit und die Kritik eines erfahrenen Forschers 
kam in der ausführlichen Gesamtdarstellung zum Ausdruck, welche 
H a s s e in Yirchows Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie 
(IV, 1, Erlangen, 1855, pag. 549 bis 594) veröffentlichte. 

Hasse behandelt getrennt, von den Hirngeschwülsten, die Tuberkeln, 
die Aneurysmen und die Parasiten, in besonderen Kapiteln. Er sagt 
darüber: . . es schien mir angemessen, die Tuberkeln zunächst gesondert 

zu beschreiben, da sie ein in mehrfacher Hinsicht offenbar ziemlich ver¬ 
schiedenes Verhalten gegenüber den andern Geschwülsten zeigen und 
ihrem Charakter nach schon während des Lebens eine Diagnose gestatten, 
weniger vielleicht des durch sie bedingten Symptomenkomplexes wegen, 
vorzüglich aber auf Grund ihres Auftretens in einem gewissen Alter 
und ihrer fast konstanten Verbindung mit gleichartigem Ergriffensein 
anderer der Untersuchung zugänglicher Organe. Weniger in praktischer 
Hinsicht gerechtfertigt ist allerdings die Abtrennung der Aneurysmen 
der Hirnarterien und der Parasiten; allein dieselben sind ihrer Natur 
nach zu verschieden von den übrigen Geschwülsten, als daß eine 
Zusammenfassung mit diesen anders als sehr gezwungen erscheinen könnte, 
wenn auch die Symptome nicht eigentliche charakteristische Unterschiede 
zeigen.“ 

Als Hauptgrundlage seiner Darstellung nennt Hasse die Arbeiten 
von Lebert und Friedreich. Im pathologisch-anatomischen Teile, 
der sehr ausführlich gehalten ist, sind alle inzwischen gemachten Fort¬ 
schritte berücksichtigt. Bevor Hasse auf die Symptomatologie eingeht, 
erörtert er die vorhandenen Schwierigkeiten. Sie bestehen hauptsächlich 
in den folgenden Umständen: „1. Die erste Entstehung und Entwicklung 
der Tumoren findet in weitaus den meisten Fällen sehr allmählich, unter 
ganz verborgenen und lokalen nutritiven Einflüssen, von dem Umfang 


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nach kleinsten Anfängen statt. Daher sind sie fast immer zuerst ganz 
latent oder zeigen doch längere Zeit hindurch nur ganz uncharakteristische 
Symptome, welche nicht notwendig auf ein Hirnleiden oder wenigstens 
durchaus nicht mit einiger Sicherheit auf das wirklich vorhandene hin¬ 
deuten. In dieser Beziehung verhalten sich die Tumoren des Gehirns 
ganz gleich wie solche, die in anderen unzugänglichen Organen ent¬ 
stehen. — 2. Auch die fernere Entwicklung, ja der gesamte Verlauf 
kann ganz latent sein. Unter den 89 von Lebert gesammelten Fällen 
verhielt es sich so bei vier, und es reihen sich an diese noch mehrere 
andere Beobachtungen. Fast die Kegel ist dies bei den Perlgeschwülsten. 
Die Symptomlosigkeit des Tumors kann ihren Grund in der großen 
Langsamkeit des Wachstums und in dem teil weisen Eintritt von regres¬ 
siven Metamorphosen haben. Sie kann auch vom Sitze der Läsion ab- 
hängen, denn es scheinen Geschwülste mitten in der Masse oder gegen 
die Oberfläche der Großhirnhemisphären, namentlich aber im hinteren 
Lappen am wenigsten Störungen mit sich zu bringen, ferner solche in 
der Mitte des kleinen Gehirns. Doch darf man die Bedeutung der Loka¬ 
lität nicht als zuverlässig nehmen, da teils bei sehr verschiedenem Sitze 
völlige Latenz, teils entschiedene Symptome bei Tumoren in den oben 
bezeichneten Hirnstellen beobachtet worden sind. — 3. Eine Haupt¬ 
schwierigkeit liegt darin, daß oft die Symptome nicht permanent sind, 
und zwar verhält es sich damit so, daß sowohl die einzelnen Erschei¬ 
nungen als auch alle Zeichen von Krankheit auftreten und wieder ver¬ 
schwinden können. Ich habe zwei Fälle von Krebs in der Masse des 
großen Gehirns beobachtet, wo nach sehr bedeutenden, aber allerdings 
mehr entzündlichen Symptomen mit mehr akutem Verlaufe scheinbar 
völlige Genesung eintrat, die Leute wieder ihren Beschäftigungen nach¬ 
gingen und erst nach längerer Zeit plötzlich und tödlich erkrankten. 
Dieses Verhalten erklärt sich zum Teil aus den folgenden zwei Momenten. — 
4) Sehr große Verschiedenheiten des Krankheitsbildes werden durch 
das Wachstum und die inneren Ernährungszustände des Tumors selbst 
bedingt. Die Entwicklung geht bald stetig und gleichmäßig, bald aus¬ 
setzend und stoßweise, bald langsam, bald rasch vor sich. Während 
derselben kann im Inneren oder überhaupt teilweise Rückbildung, Ver¬ 
fettung, Verschrumpfung u. dgl. cintreten, und die übrigen Teile trotzdem 
fortwachsen. Gefäßreiche und weiche Geschwülste erfahren wahrscheinlich 
nicht unbedeutende Schwankungen ihx*es Volumens durch Anämie und 
Hyperämie, namentlich aber durch innere Extravasate. — 5. Die näm¬ 
lichen Beziehungen hat nun die verschiedene Beteiligung der den Tumor 
umgebenden Partien, welche bald gar keine Veränderung erleiden, bald 
nur sachte verdrängt werden, bald aber völliger Atrophie oder Destruktion 
unterliegen, je nachdem mächtiger Druck und Gegendruck sich geltend 
machen oder je nachdem Erweichung, Entzündung und Blutung eintreten. 
Die letzteren Vorgänge verlaufen natürlich unter denselben Schwankungen, 
welche bei den betreffenden primären Erkrankungen schon beschrieben 
wurden. Man kann sich denken, daß eine Geschwulst, welche an sich 
keinen erheblichen Druck auf ihre Nachbarschaft ausübt, auf einmal 

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ganz anders wirkt, wenn rasch eine allgemeine zerebrale Hyperämie 
mit nachfolgender seröser Transsudation eintritt oder wenn eine hyper- 
ämische Schwellung des Tumors selbst erfolgt. — 6. Die grollte chaotische 
Verwirrung würde entstehen, wenn die Symptomenbeschreibung nicht 
sorgfältig auf die Verschiedenheiten nach dem Sitze der Läsion Rück¬ 
sicht nähme. Wir kommen darauf ausführlicher wieder zurück, doch mag 
hier sofort bemerkt werden, daß nur ausnahmsweise, und höch¬ 
stens bei Geschwülsten an der Hirnbasis, eine Gruppierung 
der Symptome statt findet, welche jedesmal mit Sicherheit 
auf einen bestimmten Sitz zu schließen gestattete, viel¬ 
mehr kommen in dieser Beziehung die störendsten Abweichungen vor, und 
hier ist die statistische Zusammenzählung des Plus und Minus der Häufigkeit 
der Symptome vorzugsweise von Wert. — 7. Eine sehr große Schwierigkeit 
ist in einer allen Hirnkrankheiten zukommenden Eigentümlichkeit begründet. 
Es fehlt uns nämlich fast gänzlich (mit Ausnahme der die Schädelknochen 
durchbrechenden Geschwülste) an örtlichen, unseren Sinnen unmittelbar zu¬ 
gänglichen Erscheinungen, immer haben die Symptome denselben bloß 
funktionellen Charakter wie bei allen anderen Hirnleiden. Sie bestehen 
in Reizungserscheinungen, welche die psychische, sensible und motorische 
Tätigkeit betreffen und bald sogleich, bald früher oder später mit einer 
Abnahme, Schwächung und endlichen Paralysierung dieser Funktionen 
sich verbinden. Die Unterschiede treten nur in der Entstehung, der 
Aufeinanderfolge, der Periodizität oder Stetigkeit, der Kombination, der 
Intensität und der Verbreitung dieser funktionellen Störungen über die 
verschiedenen Nervengebiete hervor, und es gehört dann allerdings wohl 
eine gewisse Geübtheit und eine große Sorgfalt der Beobachtung dazu, 
die bei der bezeichneten Einförmigkeit doch so große Mannigfaltigkeit 
der Kombinationen zum Zweck der Diagnose des Einzelfalles richtig 
aufzufassen und zu deuten. Leider wird dies oft genug gar nicht 
gelingen. — 8. Dieser rein funktionelle Charakter der Symptome bringt 
noch eine fernere Schwierigkeit mit sich, welche in der öfters sehr 
bedeutenden Verschiedenheit besteht, mit der die einzelnen Individuen 
auf Reizung sensibler und motorischer Nervenapparate reagieren, wozu 
auch die höchst variable psychische Empfindlichkeit kommt. — 9. Endlich 
werden die Hindernisse einer richtigen Auffassung in denjenigen Fällen 
fast unübersteiglich, wo entweder Entartungen der gleichen oder ver¬ 
schiedenen Art an mehreren Stellen innerhalb der Schädelhöhle zugleich 
Vorkommen, oder wo eine Komplikation mit verschiedenen anderen, 
zerebrale Symptome bedingenden Krankheiten (z. B. chronische Brightsche 
Krankheit) stattfindet. Hier deckt meistens die Symptomengruppe des 
einen Leidens völlig die des anderen. Nach alledem ist es wohl klar, 
daß eine naturgetreue und zugleich praktische Beschreibung der Symptome 
der Hirntumoren nicht allen Fällen in einem einzigen Bilde entsprechen 
kann, sondern daß dieselbe ohne Rücksicht auf unvermeidliche Wieder¬ 
holungen sehr zahlreiche Krankheitsbilder liefern müßte. Es geht hier¬ 
aus ferner hervor, daß eine ganz allgemeine statistische Aufzählung der 
Symptome einen sehr zweifelhaften Wert hat, und daß es vielmehr einer 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 279 

großen' Spezialisierung bedarf, mit strengem Anschluß an Art und Sitz 
der anatomischen Läsion, um zu einer klareren Einsicht zu gelangen* 
So zahlreich aber bereits die Einzelfälle in der Literatur angesammelt 
sind, so ist das Material doch noch nicht groß genug, und vorderhand 
muß sich die theoretische Darstellung noch bescheiden, auf die klinische 
Belehrung zu verweisen. Um die Gesichtspunkte möglichst zu verviel¬ 
fältigen, könnte die Aufzählung der Symptome an die hauptsächlichsten 
Verlaufsarten angeknüpft werden; allein dies würde vorerst eine ver¬ 
wirrende Zersplitterung ergeben. Es ist daher immer noch am geratensten, 
alle beobachteten Symptome einzeln durchzugehen, dann das Verhältnis 
der kombinierten Erscheinungen zu besprechen und endlich das Vorkommen 
derselben je nach dem verschiedenen Sitze der Tumoren zu erörtern. u 

In der Symptomatologie kommt Hasses eigene Beobachtung und 
Erfahrung wiederholt zur Geltung, bei der Lokaldiagnose stützt er sich 
auf Leberts und Friedreichs Angaben. In bezug auf die allgemeine und 
Differentialdiagnose sagt er folgendes: „Abgesehen von den nicht wenigen 
ganz latenten Fällen und von denjenigen, wo durch sehr lange Zeit nur 
ein oder ein paar vereinzelte Symptome vorhanden sind, bleibt immer 
noch eine ziemliche Anzahl, bei denen die Krankheit gar nicht oder 
höchstens ganz zuletzt erkannt werden kann. Es geht hier wie bei den 
meisten Hirnkrankheiten: ausgesprochen klare Fälle werden sich immer 
diagnostizieren lassen; leider sind aber diese bei den Hirntumoren bei 
weitem nicht so zahlreich wie z. B. bei der Apoplexie durch Extra¬ 
vasat. Am schwierigsten wird die Unterscheidung der Geschwülste von 
apoplektischen Zuständen, dem Hirnabszeß, den Hirntuberkeln, gewissen 
Fällen von Hirnatrophie, vor allem aber von der einer latent verlaufenden 
Encephalitis folgenden chronischen Erweichung sein. 

Was die allgemeinen Verhältnisse betrifft, so hat man in zweifel¬ 
haften Fällen bei jugendlichen Individuen bis in die Zwanzigerjahre 
immer eher Ursache auf Tuberkel oder auf hydrocephalische Zustände 
zu schließen. Bei Greisen sich entwickelnde zerebrale Störungen lassen 
weit eher Hirnatrophie und Erweichung erwarten. Bei vielen Arten von 
Geschwülsten dürfte der etwaige hereditäre Einfluß zu berücksichtigen 
sein, namentlich wichtig erscheint es, ob Eltern oder Geschwister an 
krebshaften und tuberkulösen Krankheiten litten. Eine sorgfältige 
Prüfung des gesamten körperlichen Zustandes ist stets notwendig, ob¬ 
schon sie freilich nur spärliche diagnostische Ergebnisse zu liefern pflegt. 
Allgemeine Abmagerung trifft man im Anfang selten, und wo sie dem 
Hirnleiden vorausging, deutet sie mehr auf Tuberkel; im weiteren Ver¬ 
laufe findet sie sich am häufigsten bei Krebs. Abwesenheit von ander¬ 
weitigen tuberkulösen Erkrankungen spricht bei jüngeren Kranken für 
Geschwulstbildung, ebenso überstandene und obsolet gewordene Lungen¬ 
tuberkulose und abgeheilte oder noch bestehende chronische Exantheme. 
Anwesenheit von Herz- und Gefäßleiden macht apoplektische Zustände, 
Abszeß und Erweichung wahrscheinlicher. Das Vorkommen von Eiweiß 
im Harn, von vermindertem spezifischen Gewicht und Harnstoffgehalt 
läßt Hirnatrophie und Hydrocephalien mit Erweichung (im Zusammen- 

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hang mit Brightscher Krankheit) erwarten. Ohrenleiden, Karies in ver¬ 
schiedenen Teilen des Skeletts, alte Geschwüre stehen häufiger mit 
Abszeß, Erweichung und Hirntuberkel in Zusammenhang. Ein sehr allmäh¬ 
licher Verlauf mit vielen und entschiedenen Schwankungen, mit anfänglich 
alleinigen Beizungserscheinungen, zu welchen sehr nach und nach 
Lähmungen hinzutreten, kann zwar auch bei Abszeß, Erweichung und 
Tuberkel Vorkommen, ist jedoch am häufigsten und reinsten bei Geschwulst¬ 
bildung. Bei Tuberkel ist die Dauer des Leidens durchschnittlich eine 
kürzere. — Ein ähnliches Mehr oder Minder stellt sich auch bei einer 
Musterung der einzelnen Symptome heraus. Hier ist besonders gar kein 
wesentlicher Unterschied zwischen Tuberkeln und anderen Geschwülsten 
zu entdecken, doch lassen sich die ersteren fast immer ziemlich sicher 
durch den Nachweis anderer tuberkulöser Krankheiten und durch die 
Berücksichtigung des Lebensalters diagnostizieren. Kopfschmerz kommt 
bei Tumoren allerdings nicht häufiger als bei Abszessen vor, doch 
ungleich öfter, heftiger und mehr in Paroxysmen als bei chronischer 
Erweichung. Jedenfalls sind die Sinnesstörungen bei Geschwülsten be¬ 
deutend häufiger als bei Abszeß und insbesondere bei Erweichung, 
namentlich die Amblyopien und Amaurosen. Anästhesien sind bei allen 
genannten Läsionen ziemlich gleich häufig, doch dürften diejenigen des 
Trigeminus öfter und ausgesprochener bei Tumoren Vorkommen. Bei 
diesen gehen auch den Gefühlslähmungen häufiger Neuralgien voraus. 
Entschiedene psychische Störung, vor allem Dementia, wird öfter bei 
chronischer Erweicliuug beobachtet. Konvulsionen, meist epilepsieartige, 
zeigen sich bei Geschwulstbildung fast in der Hälfte der Fälle, öfters 
ohne vorherige Lähmungen, bei Erweichung sind sie dagegen weit seltener 
und fast niemals ohne vorherige oder doch gleichzeitige Paralyse. Kon¬ 
trakturen kommen aber bei der letzteren Läsion häufiger vor. Die 
Paralysen treten verhältnismäßig oft bei Erweichung plötzlich auf, 
während dies bei Tumoren nur ausnahmsweise der Fall ist. Das um¬ 
gekehrte Verhältnis der Lähmung zerebraler und spinaler Nerven in 
bezug auf die leidende Seite, der zentrale Charakter dieser und der 
peripherische jener wird kaum bei Erweichung und selbst bei Abszeß 
angetroffen, auch die doppelseitigen Paralysen überhaupt sind hier seltener. 
Im allgemeinen findet man bei Tumoren in der Mehrzahl der Fälle ein 
Vorherrschen der Lähmung von Kopf- und insbesondere von Sinnes¬ 
nerven vor denen der Extremitäten, während das Verhältnis bei der 
Erweichung umgekehrt ist. Die Sprache findet sich bei letzterer häufiger 
und früher beeinträchtigt als bei den Tumoren.“ 

Das Jahr 1860 brachte zwei bahnbrechende Arbeiten, welche 
die ganze weitere Entwicklung der Lehre von den Gehirn¬ 
geschwülsten bestimmt haben. Die eine derselben rührte von dem, 
auf so vielen Gebieten fördernd eingreifenden Griesinger, die 
andere von A. v. Gräfe her. 

In Griesingers Abhandlung „Diagnostische Berner- 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 281 

kungen über Hirnkrankheiten“ (Archiv der Heilkunde I, 
pag. 51 bis 85) wurde zum ersten Male der fundamentale Unter¬ 
schied von diffusen und Herderkrankungen des Gehirns 
symptomatisch festgelegt 1 ), woraus späterhin die Gegenüberstellung 
von diffusen und Herdsymptomen geworden ist. Es ist klar, daß 
damit in die bisher höchst vage Symptomatologie der Hirntumoren 
eine höchst fruchtbare Kritik getragen wurde. Geschah dies freilich 
erst später, so machte sich der Einfluß Griesingers zunächst durch 
die diagnostischen Sätze bemerkbar, welche in der genannten 
Arbeit, illustriert von instruktiven Fällen, rhapsodisch vorgetragen 
werden. 

Vorangestellt ist die Differentialdiagnose gegenüber den Him- 
abszessen. 

Traumatische Ursachen, sagt Griesinger, sind weit öfter bei 
Abszessen als bei Tumoren, doch führt Griesinger selbst zwei Fälle 
von Hirngeschwülsten nach erlittenen Traumen an. — Vorausgehende 
Otorrhöe (Karies des innern Ohres) spricht bei schweren Herdsymptomen 
mit großer Wahrscheinlichkeit für Abszeß; doch hatte Griesinger aus¬ 
nahmsweise einen Tumor der Pars petrosa nach kariöser Otitis interna 
entstehen sehen. — Der Kopfschmerz ist im allgemeinen bei Tumoren 
viel stärker als bei Abszessen. — Krämpfe dürften bei Abszessen etwas 
häufiger sein als bei Tumoren. — Die Dauer des Leidens ist im ganzen 
und großen bei Tumoren länger als bei Abszessen. Doch gibt dieses 
Durch Schnitts verhalten keinen festen Anhaltspunkt, Griesinger gibt 
selbst Beispiele von Tumoren mit sehr kurzer Verlaufszeit. — Tumoren 
verlaufen im allgemeinen viel gleichmäßiger und stetiger als Abszesse. 
Rasche Verschlimmerungen kommen wohl bei ihnen vor (mitunter in 
Form apoplektischer Anfälle), aber nicht leicht Besserungen, und die 
große Mehrzahl geht mit von Woche zu Woche oder doch von Monat 
zu Monat weiterschreitenden Paralysen, Sinnesstörungen usw. ihren 
stetigen Gang vorwärts. Überblickt man dagegen die Kasuistik der 
chronischen enzystierten Hirnabszesse, so findet sich sehr oft eine Ver¬ 
laufsweise, die bei einem Tumor nie Vorkommen dürfte, nämlich anfangs 
ein akutes Stadium mit oft schweren Erscheinungen von Stupor, Kon¬ 
vulsionen, paralytischen Symptomen, nach einigen Wochen Ermäßigung, 
ja mitunter völliges Verschwinden dieser, z. B. selbst einer totalen 
Hemiplegie, und nun eine Zeit, wo die Kranken oft viele Monate lang 


x ) Zu den Symptomen der diffusen Affektionen gehören nach 
Griesinger: Kopfschmerz, Schwindel, Delirien, Bewußtseinsstörungen, 
Sopor, Abslumpfung der Intelligenz, Muskelschwäche, Muskelzittem, 
unregelmäßige Zuckungen, Erbrechen, Verlangsamung des Pulses und 
der Respiration. Herderkrankungen machen, nach Griesinger, halbseitige 
Erscheinungen (halbseitige Lähmungen usw.). 


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Dr. Max Neuburger. 


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fast wie ganz gesund erscheinen oder nur einzelne leichtere Symptome 
(Mängel im Wortgedftchtnis, stellenweise Anästhesien u. dgl.) darbieten, 
endlich wieder neuer Kopfschmerz, Erbrechen, Stupor, Paralysen, die 
sich eine Zeitlang aber rasch steigern oder die vollends ganz schnell 
zum Tode führen. »Ich weiß wohl, daß dies nicht die Verlaufsweise 
aller Abszesse ist, aber bei vielen trifft sie zu; die Symptomlosigkeit 
vieler Hirnabszesse (nur eine gewisse Zeitlang) hat ja zu allen Zeiten 
Verwunderung erregt. Auch Tumoren kommen vor, welche ihrer anatomi¬ 
schen Beschaffenheit nach lange bestanden haben müssen und doch einen 
sehr raschen Verlauf erst durch eine Komplikation machen, die also 
auch lange »symptomlos“ waren, aber ihnen kommt kein erstes Stadium 
lebhafter Hirnerscheinungen bei der Bildung des Herdes zu, wie so vielen 
Abszessen. Tumorkranke zeigen ein viel betäubteres, stumpferes Wesen 
als Abszeßkranke bei ungefähr gleicher oder wenig größerer örtlicher 
Destruktion, weil Tumoren den Raum in der Schädelhöhle beengen und 
viel häufiger mit chronischem Hydrocephalus kompliziert sind als Abszesse. * 

„Wenn überhaupt einmal“, sagt Griesinger, „wohlgegründeter 
Verdacht eines Tumors vorliegt, so ist vor allem das Verhalten 
des Gesichtssinnes zum Ausgangspunkt für die Bestimmung 
des Sitzes zu nehmen. Dieser Sinn führt uns am weitesten, denn von 
ihm allein ist auch ein intrazerebrales Zentrum bekannt 
(wovon für den Gehörsinn bis jetzt keine Rede) und der ihm dienende 
Nervenstamm berührt auf seiner langen Bahn so sehr verschiedene 
Stellen in der Schädelhöhle, an denen allen er lädiert werden kann. 
Ist der Gesichtssinn vollkommen intakt, so kann der Sitz des 
Tumors niemals in den Vierhügeln (intrazerebralem Zentrum) selbst, 
ja kaum jemals im vordersten, obersten und mittleren Teil des 
kleinen Hirns sein, wo er bei nur einigem Volum fast notwendig 
nach vorn die Vierhügel lädieren muß. Der Sitz kann auch 
nicht (extrazerebral) in der mittleren und nicht in der vorderen 
Schädelgrube sein, wo Chiasma und Tractus opticus von jedem 
auch nur einigermaßen voluminösen Tumor lädiert würden. Man 
kann aber noch weiter sagen, daß, wenn das Sehvermögen voll¬ 
kommen intakt ist, auch kein sehr beträchtlicher chronischer 
Hydrocephalus vorhanden sein wird, da von solchem die N. optici 
wenigstens oft bis zur Aufhebung ihrer Funktion auf die Schädel¬ 
basis angedrückt werden. Dagegen kann bei ganz erhaltenem Gesichts¬ 
sinn der sogenannte Thalamus opticus tief degeneriert sein. 

Ist das Sehvermögen erheblich gestört, so behalte man 
immer zunächst die Möglichkeit im Auge, daß ein Prozeß in der 
Orbita oder im Augapfel oder daß eine Erkrankung des N. opticus 


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Stadien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 


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selbst (Markschwamm desselben in der Schädelhöhle, vielleicht auch 
Degeneration infolge von beschränkten Basilarexsudaten) neben der 
eigentlichen Hirnkrankheit vorhanden sei. Sind neben erheblicher 
Störung des Gesichtssinnes Konvulsionen vorhanden, so ist eine 
Affektion der Corpora quadrigemina oder des vorderen mittleren 
Teils des Kleinhirns wenigstens ernstlich in Überlegung zu nehmen. 
Sind beide Kategorien von Annahmen sonst nicht gestützt und ist 
allm äh lich gekommene, beiderseits gleiche Amaurose vorhanden, so 
ist eine Läsion des Chiasma durch Druck eines sehr starken 
Hydrocephalus oder durch den direkten Druck eines Tumors der 
vordem Schädelgrube am wahrscheinlichsten. Nun kommen weiter 
alle die Momente in Frage, welche darüber entscheiden müssen, 
ob der Tumor extrazerebral und basilar ist; man hat ihn dafür zu 
halten, wenn Lähmung des Okulomotorius, Abducens oder Fazialis 
und Quintus einer Seite mit Hemiplegie der andern Seite zusammen 
ist und besonders, wenn noch das neulich von Ziemssen (vgl. S. 45) 
sehr hübsch benützte und auch von mir schon mit Nutzen und 
Belehrung angewandte Prüfungsmittel zutrifft, ob nämlich in 
den Muskeln, welche von den oben genannten Hirn¬ 
nerven versorgt werden, die elektrische Kontraktilität 
erhalten oder geschwächt, selbst aufgehoben ist; im 
letzteren Fall ist die Lähmung eine extrazerebrale, 
also sehr wahrscheinlich durch eineh Basilartumor 
bedingte. In diesem letzteren Prüfungsmittel dürfte auch das 
hauptsächlichste Diagnostikum zwischen wahren (extrazere¬ 
bralen) Basilartumoren, die die Fazialis oder Abducens lähmen 
und den Tumoren der Brücke zu suchen sein; beide machen 
Lähmung einiger Hirnnerven auf ihrer eigenen und Hemiplegie auf 
der andern Seite; die Afifektion der Fazialis in der Brücke aber läßt 
die elektrische Kontraktilität in den Gesichtsmuskeln unversehrt. 
Bei beeinträchtigter Kontraktilität im Bereiche der Fazialis ist aber 
allerdings noch an eine andere Möglichkeit zu denken, nämlich daß 
ein Tumor der Brücke existiert, der den Stamm der Fazialis außer¬ 
halb der Brücke durch Andrücken an den Schädel lädiert. Die 
Physiologie erklärt gegenwärtig die Funktionen des kleinen Hirns 
für unbekannt (Schiff); auch die unwahrscheinliche und vieldeutige 
Hypothese von Flourens, daß ihm die Koordination der Bewegungen 
zukomme, ist wieder verlassen. Demungeachtet können wir zuweilen 
Krankheiten des kleinen Hirns wenigstens als sehr wahrscheinlich 


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Dr. Max Neuburger. 


diagnostizieren; unsere Diagnostik gründet sich eben oft auf wesent¬ 
lich andere Momente als auf die Kenntnis der Funktion der erkrankten 
Teile ... Eines scheint doch aus der neuesten Experimentalphysiologie 
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hervorzugehen, nämlich daß das 
kleine Hirn mehr als das große auf die Bewegungen des 
Rumpfes, der Wirbelsäule usw. Einfluß hat, letzteres dagegen 
mehr (doch keineswegs ausschließlich) auf die Extremitäten als das 
kleine. In der pathologischen Beobachtung sind diese Differenzen 
bis jetzt wenig oder gar nicht beachtet.“ 

Es bedarf hier keines Nachweises, welche Korrektur Grie¬ 
singers Sätze in der Folgezeit erfahren haben, namentlich soweit 
sie sich auf das Verhalten des Gesichtssinnes als Hauptausgang 
für die Bestimmung des Tumorsitzes beziehen. Wurde doch die 
größte Umwälzung in der Diagnostik der Tumoren durch die Er¬ 
kenntnis herbeigeführt, daß sich die Begriffe, gestörtes Seh¬ 
vermögen und pathologische Veränderung des intra¬ 
okularen Sehnervenendes(Neuritis optica)keineswegs 
decken und daß die intraokulareSehnervenschweliung 
(bzw. Entzündung) das wichtigste Symptom intra¬ 
kranieller Neubildungen ausmacht. 

Es war, zum Ruhm der deutschen Forschung, v. Gräfe Vor¬ 
behalten, durch diese Entdeckung die Diagnostik der Hirntumoren 
auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Aus seiner im Archiv 
für Ophthalmologie (VIII, Abt. 2, pag. 58 ff.) 1860 erschienenen 
Abhandlung „Über Komplikation von Sehnervenentzün¬ 
dung mit Gehirnkrankheiten“ sind die beiden folgenden 
Absätze von größtem Interesse 1 ). 

„Gewiß ist die Kombination von Netzhautleiden mit Gehirn¬ 
leiden überhaupt für die Lehre der Nervenkrankheiten, insonder¬ 
heit für die neuerdings ventilierte Neuritisfrage von großer Wichtig¬ 
keit. Den in der vorophthalmoskopischen Zeit äufgestellten Schlu߬ 
folgerungen wird dadurch zum großen Teil der Boden entzogen. 


1 ) v. Gräfe beschreibt das Vorkommen der Stauungspapille bei 
Hirngeschwülsten an der Hand einer Reihe von Fällen, bemerkt aber, 
daß er einen geringeren Grad von Hervortreibung, sonst mit allen als 
charakteristisch hervorgehobenen Veränderungen auch dann beobachtet 
habe, wo eine Exsudation an der Basis cranii, bzw. Encephalomeningitis 
zu vermuten war. 


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Studien zur Geschichte der deutschen Gehirnpathologie. 285 

Trat mit einem Gehirnleiden, welches verschiedene 
Lähmungen gesetzt, auch Erblindung auf, so wurde 
diese früher in einer sehr natürlichen Weise auf 
Paralyse des Sehnerven bezogen. Wurden nun vollends aus 
solchen Fällen Rückschlüsse auf die Kreuzung der Sehnerven gemacht, 
so resultierten hieraus auch physiologische Irrtümer. So sind beispiels¬ 
weise in der Literatur mehrere Fälle beigebracht, in denen ein 
einseitiges Gehirnleiden vollkommene Erblindung de3 gegenüber¬ 
liegenden Auges hervorgerufen; meinen Erfahrungen nach ereignet 
sich dies nie durch Paralyse des Sehnerven. Eine einseitige Krank¬ 
heit in der Hemisphäre, sei es Apoplexie, Encephalitis oder Tumor, 
macht, wenn sie überhaupt auf die Sehnervenzentren wirkt, immer 
nur hemiopische Störungen auf dem einen, resp. auf beiden 
Augen, niemals aber eine vollständige Erblindung auf demselben 
oder dem entgegengesetzten Auge. Findet letztere statt, so ist entweder 
das Gehirnleiden nicht monolateral, sondern es sind multiple Herde 
vorhanden, oder es existieren gleichzeitig Veränderungen an der 
Basis cranii, welche direkt auf die Stämme der Optici wirken, oder 
es ist eine Komplikation mit einem peripherischen Sehnerven- und 
Netzhautleiden vorhanden.“ 

„Immerhin kann ich bis jetzt den erwähnten Habitus des 
Sehnerven nicht als unbrauchbar für die Diagnose von Gehirn¬ 
tumoren betrachten, sofern er in seiner höheren Entwicklung be¬ 
sonders mit solchen zusammenfiel. Aber notwendig muß die Schlu߬ 
folgerung eine sehr vorsichtige, mit Benutzung aller übrigen 
Kennzeichen Hand in Hand gehende sein. Eine weiter geführte 
Beobachtung, besonders eine Anhäufung von Sektionen, würde 
wahrscheinlich nachweisen, daß auch die höchsten Grade des Übels 
außer Gehirntumoren bei andern Krankheiten Vorkommen, bei denen 
der intrakranielle Druck erheblich steigt. Weil eben letzteres be¬ 
sonders bei Tumoren vorkommt, mag eine gewisse, für die Dia¬ 
gnose nicht unwichtige Beziehung bestehen. Ich hebe diese 
Ansichten hier eigens hervor, weil zwei Vorträge, die ich bereits vor 
längerer Zeit über denselben Gegenstand gehalten habe und deren 
Protokolle nur in abgekürzter Form zur Veröffentlichung gekommen 
sind (Gazette hebdomadaire 1859 und Berliner medizinische Zentral¬ 
zeitung 1860), zu dem Mißverständnis geführt haben, als wenn 
ich eine vollkommen pathognomische Beziehung dieser Sehnerven¬ 
erkrankung zu Gehirntumoren behaupten wolle.“ 


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Währte es auch noch einige Zeit, bis die „Stauungspapille 44 
die gebührende prädominierende Stelle in der Diagnostik der Hirn¬ 
tumoren einnahm, so läßt sich doch von v. Gräfes Entdeckung 
ungezwungen eine neue, über zwei Dezennien erstreckte Ära datieren, 
welche durch die fast gleichzeitige Veröffentlichung der grund¬ 
legenden Werke eines Nothnagel, Bernhardt undWernicke 
ihren Abschluß gefunden hat. 


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Aus der psychiatrisch-neurologischen Universitätsklinik in Wien. 

(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Wagner v. Jauregg.) 

Zur Frage der sympathischen Gehirnhahnen. 

Ein Fall von zerebraler Lähmung des Halssympathikus als klinischer Beitrag 
zur Kenntnis des Karplus-Kreialschen subkortikalen Sympathikuszentrums. 

Von 

Dr. Josef Gerstmann. 

Bei den enormen Fortschritten unseres Wissens über die 
Zentren und Bahnen des Zentralnervensystems ist die Spärlichkeit 
unserer diesbezüglichen Kenntnisse, was das sympathische System 
betrifft, sehr befremdend. Während wir über den extraspinalen Ab¬ 
schnitt des Sympathikus samt den zum Grenzstrang ziehenden Kami 
communicantes durch eine größere Beihe gründlicher Untersuchun¬ 
gen genau orientiert sind, wissen wir über seinen zerebrospinalen 
Teil noch so ganz wenig. Und doch muß das sympathische System 
ebensowie alle anderen Nervensysteme im Gehirn durch Zentren 
und Bahnen reichlich repräsentiert sein! Wie könnten wir uns denn 
sonst den kolossalen Einfluß des Zerebrums auf den Ablauf sym¬ 
pathischer Funktionen erklären? Ist es doch bekannt, wie jede 
Gemüts- und Affektschwankung die Tätigkeit des vegetativen Systems 
in hemmender oder fördernder Weise zu alterieren imstande ist. 
Bei Aufregungszuständen bedeckt sich die Stirne mit Schweiß, Angst 
oder Freude bringen das Herz zu stärkerem Pulsieren, die Schmerz¬ 
empfindung, wo auch immer sie im Körper zustande kommt, führt 
zur Pupillenerweiterung, zur vermehrten Tränen- und Speichel¬ 
sekretion usw., überhaupt jede seelische Erregung wirkt auf die 
sympathisch innervierten Organe in hohem Maße ein. Ja, das sym¬ 
pathische System arbeitet — wie Levandowsky 1 ) richtig behauptet 

*) Levandowsky M.: Experimentelle Physiologie des sym¬ 
pathischen Systems. Handbuch der Neurologie. Bd. I, pag. 417. 


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Dr. Josef G-erstmann. 


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— gar nicht so unwillkürlich, wofür beispielsweise die Blase oder die 
Kontraktion des Akkommodationsmuskels einen überzeugenden Beweis 
abgeben. Und noch mehr. Es gibt — wie man berichtet — sogar 
Leute, die manche Leistungen aus dem Bereiche des sympathischen 
Systems, welche scheinbar der Willkür nicht unterstehen, mit Bewußt¬ 
sein zustande bringen können. Levandowsky*) ist ein Mann be¬ 
kannt, der imstande war, seine Pupillen verschieden weit zu machen. 
Maxwell 8 ) hat einen Studenten untersucht, der seine Erectores 
pilorum durch einen direkten Willensimpuls innervieren konnte. 

Wenn auch das Letzterwähnte vielleicht etwas unwahrschein¬ 
lich klingen dürfte —, die unbestreitbare so starke unwillkürliche 
Beeinflussung der sympathischen Innervationen durch die Zerebro- 
spinalachse zeigt aber an sich schon zur Genüge, daß dafür zentrale 
Zuflußwege und Bahnen bestehen müssen, die auf ihrem Wege 
auch durch subkortikale Zentren unterbrochen sein dürften. 

Ich will mich hier nur mit dem zerebrospinalen Verlauf des 
Halssympathikus beschäftigen und auf Grund der bisher publizierten, 
sich darauf beziehenden klinischen Beobachtungen unter vergleichs¬ 
weiser Verwertung experimenteller Untersuchungen, die über die 
zentralen Verbindungen des Augensympathikus gemacht wurden, 
insbesondere der interessanten physiologischen Ergebnisse der letzten 
Jahre, dessen Leitungsbahnen und Zentren im Kückenmark und 
Gehirn zusammenzustellen versuchen. Den Anlaß dazu gab mir 
ein in der hiesigen Klinik beobachteter Fall von zerebraler homo¬ 
lateraler Lähmung des Halssympathikus, verbunden mit einer ge¬ 
kreuzten kompletten Sensibilitätslähmung von rein zentralem Typus, 
welch letztere nebst einigen später noch zu nennenden topisch¬ 
diagnostischen Momenten auf eine Schädigung im Gebiete des 
kaudalen Zwischenhirnabschnittes als Ursache der vorliegenden 
sympathischen Ophthalmoplegie hinweist. Dieser Fall, den ich noch 
ausführlich besprechen werde, steht bezüglich seiner lokalisatorischen 
Eigenschaft und der ihm dadurch zukommenden Bedeutung für die 
Lehre vom Gehirnsympathikus in der Literatur — meines Wissens 

— bis nun einzig da. 

Einen ähnlichen Versuch haben bereits vor ca. zwölf Jahren 

3 ) Levando wsky: Stand und Aufgabe der allgemeinen Physio¬ 
logie und Pathologie des sympathischen Systems. Ztschr. f. ges. Neur. u. 
Psych. 1913, Bd. XIV, H. 3, pag. 281. 

3 ) cit. ibid. 


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Zur Frage der sympathischen G-ehimbahnen. 


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Marburg und Breuer 4 ) gelegentlich zweier von ihnen ver¬ 
öffentlichten Fälle von apoplektiformer Bulbärparalyse mit homo¬ 
lateral betroffenem Sympathikus unternommen. Sie taten es aber 
lediglich auf Grund literarisch bekanntgegebener klinischer Be¬ 
obachtungen, ohne aber irgendwelche der damals bekannten dies¬ 
bezüglichen experimentell-physiologischen Untersuchungen vergleichs¬ 
weise herangezogen zu haben. Außerdem können mehrere der von 
ihnen verwerteten Fälle wegen der Unvollkommenheit des Horner- 
schen Symptomenkomplexes — es handelte sich nämlich bei jenen 
entweder um eine reine Miosis oder um eine reine Ptosis oder gar 
um eine Mydriasis bei völligem Mangel jeglicher vasomotorischer 
Störungen — gar nicht als sympathische Ophthalmoplegien an¬ 
gesehen werden. Für die Diagnose der letzteren verlangen wir 
mindestens das Nebeneinander einer Miosis und einer Verengerung 
der Lidspalte. Eine sympathische Ophthalmoplegie aber schon bei 
bloßer Miosis oder bloßer Ptosis als existierend anzunehmen, — 
geht absolut nicht, denn derartige Augenstörungen können, besonders 
wenn sie zerebral bedingt sind und mit anderweitigen Gehirnsymptomen 
koinzidieren, alle möglichen Ursachen für ihre Entstehung haben 
und lassen auch die verschiedensten Erklärungen zu. Ferner ist 
noch nach dem Erscheinen ihrer Arbeit eine größere Anzahl physio¬ 
logischer Untersuchungen und klinischer Beobachtungen veröffentlicht 
worden, die zur Klärung der Beziehungen des Gehirns zum Hals¬ 
sympathikus herangezogen werden können. Schließlich fehlte den 
genannten Autoren ein unserem wenigstens beiläufig analoger Fall, der 
— wie sich bald zeigen wird — in vollkommener Übereinstimmung 
mit einer sehr wichtigen, in neuester Zeit gemachten experimentellen 
Entdeckung eines subkortikalen Sympathikuszentrums sich befindet. 

Bevor ich auf diesen Fall eingehe, möchte ich zunächst die 
durch Tierexperimente gewonnenen Ergebnisse über den zerebro- 
spinalen Halssympathikus erörtern, um dann zu sehen, inwiefern 
die beim Menschen gemachten Beobachtungen mit jenen über¬ 
einstimmen. Bei der enormen diesbezüglichen Literatur werde ich 
natürlich nicht alle diese experimentellen Ergebnisse erwähnen 
können und nur die wichtigsten hervorheben. 

Die über die zentralen Mechanismen des Gesichtssympathikus 

4 ) Marburg 0. u. Breuer R.: Zur Pathogenese der apoplekti- 
formen Bulbärparalyse. Arbeiten aus d. neur. Inst. (Hofr. Prof. Ober¬ 
steiner). Bd. IX. 


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Dr. Josef Gerstmann. 


gemachten physiologisch experimentellen Untersuchungen könnte 
man übersichtshalber am besten in drei Gruppen einteilen. Die einen 
befassen sich mit den Beziehungen des obersten Spinal- und des 
medullären Markes, die andern wieder mit denen des Hirnstammes 
und die dritten schließlich mit denen der Großhirnrinde zu den 
peripheren halssympathischen Nervenfasern. 

Der Grund zu der ersten Gruppe der Untersuchungen wurde 
von Budge 5 ) gelegt. Derselbe fand durch Reizversuche an Rücken¬ 
marksquerschnitten ein pupillenerweiterndes Zentrum in der Höhe 
zwischen dem sechsten Zervikal- und zweiten Dorsalmark. Er nannte 
dasselbe Centrum cilio-spinale inferius, weil er noch daneben eine 
im bulbären Marke in der Nähe des Hypoglossuskerns gelegene 
Ursprungsstelle für den Augensympathikus angenommen hatte. 

Schiff 6 ) und später Salkowski 7 ) fanden, daß die Zilio- 
spinalgegend nicht scharf nach oben abgrenzbar ist, denn auch nach 
halbseitiger Durchschneidung des Rückenmarkes oberhalb des vierten 
Halssegmentes und — wie letzterer auch zeigte — sogar unmittel¬ 
bar unterhalb des Okziput kam es zu einer homolateralen Pupillen¬ 
verengerung. Salkowski verlegt daher das pupillendilatierende 
Zentrum in die Medulla oblongata. 

Auch Möbius 8 ) will auf Grund seiner Erfahrimgen das Budge- 
sche Zentrum cilio-spinale nicht anerkennen und meint, daß die 
sympathischen Fasern direkt im Halsmark abwärts steigen und im 
verlängerten Mark mit vasomotorischen und okulo-pupillären Zentren 
in Verbindung stehen. 

Nawrocki und Przybylski 9 ) meinen auf Grund ihrer an 
kurarisierten Tieren ausgeführten Reizversuche, daß ein okulo-pupil- 
läres Zentrum an der Grenze zwischen Hals- und Brustmark nicht 
anzunehmen sei, denn die Durchschneidung des Rückenmarks unterhalb 
der Medulla oblongata hebt die reflektorische Pupillenerweiterung 

5 ) Budge J.: Über die Bewegungen der Iris. Braunschweig, 1855, 
pag. 103. 

6 ) Schiff: Untersuchungen zur Physiologie der Nerven mit Be¬ 
rücksichtigung der Pathologie. 1855, Bd. I. 

7 ) Salkowski E.: Über das Budgesche Ziliospinalzentrum. 
Ztsch. f. rationelle Medizin. 1867, Bd. XXIX, pag. 167 bis 190. 

8 ) Möbius P. J.: Zur Pathologie des Halssympatb. Berl. kl. 
W. XXI, 1884. 

9 ) Nawrocki und Przybylski: Die pupillenerweiternden Nerven 
der Katze. Pflügers Arch. f. Phys., 1891, Bd. L, pag. 234. 


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Zur Frage der sympathischen Gebimbahnen. 


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bei Reizung des N. ischiadicus prompt auf. Sie haben daher auf 
die Existenz eines augensympathischen Zentrums im Gehirn ge¬ 
schlossen, von dem die entsprechenden Fasern ins Rückenmark 
herabsteigen und durch die achte Hals- und erste Brustwurzel 
dasselbe verlassen. 

In neuerer Zeit hat Lewinsohn 10 ) nach halbseitiger Durch¬ 
schneidung der Medulla oblongata das okulo pupilläre Syndrom 
vorwiegend gleichseitig gefunden. 

Schima 11 ) hatte bei Katzen, nachdem er sich davon über¬ 
zeugen konnte, daß das Adrenalin erst nach Exstirpation des obersten 
sympathischen Zervikalganglions eine mydriatische Wirkung erzeugt, 
auch nach Querdurchtrennung des Rückenmarks ausschließlich im 
Bereiche der von der Medulla oblongata bis zum obersten Dorsalmark¬ 
abschnitt sich erstreckenden Zone, bei gleichzeitiger Adrenalin¬ 
applikation, eine deutliche beiderseitige Pupillenerweiterung erzielt. 
Bei halbseitiger Querdurchschneidung oberhalb dieses Gebietes trat 
die Adrenalinmydriasis nur auf der gleichseitigen Pupille auf. 
Schima meint daher, daß im Hals- und oberen Brustmark sich 
die die Pupillendilatation beherrschenden sympathischen Bahnen be¬ 
finden, welche eigentlich Hemmungsimpulse sympathischer Natur 
enthalten, da erst nach deren Wegfall die erregende Adrenalin¬ 
wirkung auf die Pupille zum Vorschein kommen kann. 

Trendelenburg und Bumke 13 ) haben nach Halbseiten- 
durchschneidung des Markes zwischen dem hinteren Ende der 
Rautengrube und der fünften Zervikalwurzei bei Katzen, Hunden 
und Affen eine Pupillenverengerung, und zwar nur auf der Seite 
der Operation erzeugt. Die eingetretene Pupillendifferenz dauerte 
mehrere Wochen an. Nach vorausgegangener beiderseitiger Sympa¬ 
thikusresektion oier nach Exstirpation der obersten sympathischen 
Halsganglien bleibt die Pupillendifferenz nach halbseitiger Durch¬ 
trennung des betreffenden Markbezirkes aus. Die genannten Autoren 


10 ) Lewinsohn: Beitrag zur Physiologie der Pupillarreflexe, 
v. Graefes Arch. 1904, Bd. 59, pag. 191 bis 220. 

u ) Schima R.: Über Erweiterung der Pupillen auf Adrenalin und 
ihre Abhängigkeit vom Zentralnervensystem. Pflügers Arch. f. Phys., 1909, 
II. Mitteil., Bd. 127, pag. 99. 

13 ) Trendelenburg u. Bumke: Experimentelle Untersuchungen 
über die zentralen Wege der Pupillarfasern des Sympathikus. Klin. Mo- 
natsbl. f. Augenh., 1909, pag. 481. 


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Dr. Josef Gerstmann. 


nahmen daher auf Grund ihrer Versuche an, daß „von höheren 
Hirnteilen dauernd Erregungen zu den gleichseitigen Ursprungs¬ 
gebieten des Halssympathikus durch Medulla oblougata und Hals¬ 
mark abwärts fließen“. 

Aus den angeführten Untersuchungen folgt, daß der Hals¬ 
sympathikus im Rückenmark (an der Grenze zwischen Hals- und 
Brustanteil) gar kein abgeschlossenes Zentrum besitzt, sondern durch 
im Mark verlaufende Leitungsbahnen mit dem Gehirn in Verbindung 
steht. Von letzterem bekommt er seine Impulse, denn alle Autoren 
waren sich darin einig, daß eine Durchschneidung im Bereiche der 
Medulla oblongata prompt den Hornerschen Symptomenkomplex 
auslöst, genau so wie die Exstirpation des obersten Halsganglions. 

Auch über die Beziehungen anderer Partien des Zentralnerven¬ 
systems, insbesondere des Hirnstammes zum Halssympathikus, liegen 
schon seit längerer Zeit verschiedene Beobachtungen vor. 

So zeigte Kn oll 18 ), daß elektrische Reizung der vorderen 
Hügel der Corpora quadrigemina beim Kaninchen eine starke beider¬ 
seitige Mydriasis bewirkte, die nach einseitiger Durchtiennung des 
Halssympathikus auf der entsprechenden Seite ausblieb; wurden aber 
beide Halssympathici durchschnitten, so blieb eine Reizung der 
genannten Partie ganz erfolglos. Kn oll hat daraus gefolgert, daß 
die augensympathischen Fasern bis in die Vierhügel hinaufreichen. 

Ferrier 14 ) fand bei Hunden, Katzen und Affen, daß nicht 
nur die Reizung der vorderen, sondern auch die der hinteren Hügel 
der Corpora quadrigemina eine ausgesprochene Pupillen- und Lid¬ 
spaltenerweiterung hervorrief. 

Auch nach Gowers 15 ) kommt die Bahn für die sympathische 
Innervation des Auges aus der Gegend des Kerns des IH. Him- 
nerven, geht dann durch das Halsmark nach unten und durch den 
untersten Zervikal- und ersten Brustnerven zum Halssympathikus. 

Hensen und Volkers 16 ) beobachteten nach elektrischer 


18 ) Kn oll Ph.: Beiträge zur Physiologie des Vierbügels. Eckhards 
Beitr. zur Anat. u. Pbysiol., 1869, Bd. IV, H. 3, S. 111. 

14 ) Ferrier: Funktionen des Gehirns, übers, von Prof. Obersteiner. 
Braunschweig, 1879. 

15 ) Zitiert nach Hoffmann J.: Lähmungen des Halssympathikus 
bei unil. apoplekt. Bulbärparal. D. A. f. kl. Med., 1902, Bd. 73, S. 335. 

16 ) Hensen und Völkers: Über den Ursprung der Akkommo¬ 
dationsnerven. Graefes Arch. f. Ophthalmol., 1878, Bd. 24, S. 11. 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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Reizung des Bodengraus in der Gegend der Vierhügel, der Commissura 
posterior und der Querschnittsfläche des Thalamus opticus die ty¬ 
pischen Symptome einer Reizung des Halssympathikus, die nach Durch¬ 
schneidung des letzteren ganz ausblieben. Die Reizstelle liegt knapp 
an den nicht reizbaren vorderen Fornixschenkeln, geht von da, 
immer 5 bis 10 mm unter der Oberfläche liegend, nach rückwärts, 
entfernt sich aber immer mehr und mehr von der Mittellinie und 
geht unter den Vierhügeln weiter. 

Huet 17 ) hat, zur Feststellung der zerebrospinalen Bahnen 
und Zentren des Sympathikus, bei neugeborenen Kaninchen das 
Ganglion cervic. suprem. der einen Seite exstirpiert, dieselben eine 
längere Zeit leben lassen und beim erwachsenen Tiere das Gehirn 
und Rückenmark untersucht. Er fand dabei anatomische Verän¬ 
derungen nicht nur im Rückenmark und in der Medulla oblongata, 
sondern auch am Boden des 3. Ventrikels und in dem den Aquae¬ 
ductus Sylvii umgebenden zentralen Höhlengrau, sowie schließlich 
am Ganglion habenulae auf der operierten Seite. 

Bechterew 18 ) hat bei seinen Untersuchungen gefunden, daß 
die Reizung in der Tiefe des medialen Thalamusanteiles im Niveau 
des vorderen Abschnittes der grauen Kommissur die Symptome 
einer peripheren Sympathikuserregung in charakteristischer Weise 
zur Folge hatte, während man nach Durchschneidung des Sehhügels 
diese Wirkung, selbst nach elektrischer Reizung des N. ischiadicus, 
nicht mehr erzielte. 

Es ist aus diesen, das Verhältnis des Mittel- und Zwischenhirns 
zum Halssympathikus klärenden Beobachtungen ohne weiteres zu 
ersehen, daß die zentralen Sympathikusbahnen dieses Gebiet reichlich 
durchziehen, um sich dann nach unten bis zum obersten Rücken¬ 
markabschnitt fortzusetzen. 

Besonders reich an Zahl sind die über-die Beziehungen der 
Großhirnrinde zum peripheren Augensympathikus gewonnenen ex¬ 
perimentellen Ergebnisse. 

Schon Hitzig 19 ) hat eine bestimmte Stelle in der Hirnrinde 

17 ) Huet: Zwischenhirn und Halssympathikus. Pflügers Arch. f. 
ges. Phys., Bd. CXXXYII, 1911, pag. 627. 

la ) Bechterew: Die Funktionen des Nervensystems. 1909, II, 
und 1911, III. 

19 ) Hitzig: Untersuchungen über das Gehirn. Arch. für Anat., Phys. 
u. wissenschaftl. Medizin vonReichardt u. Du BoisReymond, 1874, pag. 392. 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 20 


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nachge wiesen, bei deren elektrischer Reizung eine Erweiterung der 
Pupille und der Lidspalte erzielt wurde. Später haben noch andere 
Autoren über den Einfluß von Hirnrindenreizungen und von an 
verschiedenen Rindenpartien gemachten Exstirpationsversuchen auf 
die sympathischen Innervationen des Auges berichtet. 

Was das Verhältnis der Rindenreizungen zu letzteren betrifft, 
so haben besonders Bochefontaine 20 ), Grünhagen 21 ), Kat- 
schanowski 22 ), Braunstein 23 ), Bechterew 24 ), Stewart 25 ), 
Lewinsohn 26 ) und mehrere andere Beobachter unsere diesbezüg¬ 
lichen Kenntnisse gefördert und festgestellt, daß es gewisse Stellen 
im Kortex gibt, deren elektrische und mechanische Reizung Pupillen¬ 
erweiterung und andere sympathische Reizsymptome hervorrufen. 
Interessant ist es, daß in mehr als zwei Dritteln der Beobachtungen 
die Lokalisation der Reizstelle im Bereiche des Frontallappens ge¬ 
funden wurde. Sie entspricht nämlich dem Gyrus suprasylvius anterior 
und der vor dem Gyrus centralis anterior und dem Gyrus praecen- 
tralis gelegenen Rindenpartie. Es wird daher von den verschiedenen 
Autoren, besonders von Bochefontaine, Katschanowski und 
Bechterew angenommen, daß diese kortikale Partie des Frontal¬ 
hirns eine Endstätte für den Halssympathikus repräsentiere. 

Für diese Ansicht sprechen auch durcli Rindenexstirpations¬ 
versuche gewonnene Ergebnisse. 

So hat Brown-Sequard 27 ) bei Hunden und Kaninchen durch 
oberflächliche Kauterisation der Großhirnhemisphäre in der Nähe 
der Sagittalnaht, ganz besonders aber bei Schädigung des vordersten 

20 ) Bochefontaine: Etüde experimentale. Arch. de phys. norm, 
et pathol., 1876, t. 3, pag. 140. 

21 ) Grünhagen: Über den Ursprung der pupillendil. Nerven. 
Hirschbergs Ztrbl. f. prakt. Augenh., 1884, pag. 165. 

23 ) Katsch anawski: Über die okulo-pupillären Zentren. Wien, 
med. Jahrbücher, 1885, pag. 445. 

a3 ) Braunstein: Zur Lehre von der Innervation der Pupillen¬ 
bewegung. Wiesbaden, 1894. 

24 ) Bechterew: Über pupillenverengernde und pupillenerweiternde 
Zentren. Arch. f. Anat. u. Physiol., 1900, pag. 25. 

25 ) Stewart: Eine Bern, über Pupillenerweiterung durch Reizungen 
der Großhirnrinde. Ztrbl. f. Physiol., 1901, pag. 617. 

26 ) Lewinsohn G.: Über die Beziehungen zwischen Pupille und 
Großhirnrinde. Ztschr. f. Augenheilk., 1904. 

37 ) Brown-Sequard: Recherches sur Texcitabilite des lobes 
cerebraux. Arch. de Phys. norm, et pathol., 1875, pag. 854. 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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Anteiles des Kortex, das Bild der sympathischen Ophthalmoplegie 
auf der Seite der Läsion erzeugt. 

Horsley und Schäfer 28 ) haben bei einem Affen nach Ex¬ 
stirpation des Gyrus marginalis und des ventralen Teiles der moto¬ 
rischen Windung okulo-pupilläre Symptome auf der kontralateralen 
Seite gefunden. 

Auch Ferrier 89 ) hat bei einem Affen eine deutliche Pupillen- 
und Lidspaltenverengerung rechterseits nach Abtragung des ganzen 
linken Frontallappens beobachtet. 

Braunstein 30 ) sah nach Exstirpation des Gyrus sigmoideus 
bei Hunden und Katzen eine Verengerung der Papille und der Lid¬ 
spalte und eine Vortreibung der Nickmembran auf der gleichen Seite. 

Ferner beobachtete Lewinsohn 31 ) bei einem Hunde, dem 
der Gyrus suprasylvius und der anliegende Teil des Gyrus centralis 
anterior zerstört wurde, homolaterale Symptome einer Halssympa- 
thykuslähmung, wie Pupillen- und Lidspaltenverengerung. 

Schließlich hat auch Schima 33 ) bei seinen Experimenten, 
welche die Beziehungen des Großhirns zur Adrenalinmydriasis zum 
Gegenstand hatten, gefunden, daß zwischen Frontalhirn und Hals¬ 
sympathikus enge kausale Zusammenhänge bestehen. Nach ein¬ 
seitiger Zerstörung des Frontallappens bei Erhaltensein des obersten 
Zervikalgauglions konnte er nach Einträufelung von Adrenalin in 
den Bindehautsack eine beiderseitige Pupillenerweiterung erzielen, 
genau so wie — was bereits erwähnt wurde — nach Durchschneidung 
des obersten Halsmarks oder nach Exstirpation des Ganglion supre- 
mam nervi sympathici, während die Exstirpation dieses Rindenbezirkes 
an sich eine deutliche Pupillendifferenz erzeugte, bei welcher die 
gleichseitige Pupille in der Regel viel enger war als die kontralaterale. 
Er meinte daher auf Grund dieser Ergebnisse — ebenso wie es 
die früher genannten Autoren auf Grund ihrer Reizversuche an- 

28 ) Horsley und Schäfer: A record of experiments upon the 
functions of the cerebral cortex. Phil. Trans, of the Royal Soc. of London, 
1888, pag. 1. 

29) Ferrier: Vorlesungen über Hirnlokalisation, aus d. Franzos, 
übers, von Weiß, 1892, pag. 163. 

30 ) Braunstein: Zur Lehre von der Innervation der Pupillen¬ 
bewegung. 1894. 

31 ) Lewinsohn: Z. f. Aug. 1904. 

3a ) Schima R.: Die Beziehungen des Großhirns zur Adrenalin- 
mydriasis. Pflügers Arch. f. Phys. 1909, Bd. 126, pag. 269 bis 299. 

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genommen haben —, daß im Frontalhirn, entsprechend dem Gyrus 
suprasylvius anterior, der Partie vor der vorderen Zentralwindung 
und dem an der Hirnbasis von vorne bis an die Substantia per- 
forata anter. heranreichenden Gebiete sich eine Ursprungsstätte für 
den Halssympathikus befindet. 

Eine ganz besondere Förderung erfuhr die Lehre von den 
Beziehungen des Gehirns zum Halssympathikus durch die sehr 
interessanten Untersuchungen von Karplus und Ereidl. War 
schon durch die bisher geschilderten Arbeiten die Existenz von zen¬ 
tralen Mechanismen für den Augensympathikus nachgewiesen, so 
wurde sie durch die neuesten diesbezüglichen experimentellen For¬ 
schungsresultate der genannten Autoren vollends gesichert. Wegen 
der Exaktheit dieser Forschungen, wegen ihrer logischen Evidenz 
und ihrer inneren Übereinstimmung möchte ich sie etwas aus¬ 
führlicher erwähnen. 

Karplus und Kreidl 33 ) haben nämlich vor zwei Jahren 
bei Katzen, Hunden und Affen an der Zwischenhirnbasis eine lateral 
vom Infundibulum, unmittelbar hinter dem Tractus opticus gelegene, 
scharf umschriebene Stelle gefunden, bei deren elektrischer Beizung 
die typischen Symptome einer peripheren Sympathikusreizung, also 
Erweiterung der Pupille und der Lidspalte, Protrusio bulbi und 
Zurückziehen des dritten Augenlides auftraten. Während dieser 
Beizversuche haben sie aber den Eindruck gewonnen, daß das ge¬ 
reizte Gebilde nicht ganz oberflächlich gelegen sei, denn bei An¬ 
wendung ganz schwacher Ströme konnten sie nur dann einen deut¬ 
lichen Effekt erzielen, wenn sie die Elektrodenspitzen in die Him- 
substanz ein wenig einsenkten. Sie legten dann, dieser Beizstelle 
entsprechend, einen Frontalschnitt durch die ganze Hemisphäre und 
den Himstamm, und reizten die Schnittfläche. Daraufhin fanden 
sie an letzterer, analog den Versuchen am intakten Gehirn, eine 
ganz bestimmte Partie im Hypothalamus, die, gereizt, typische Er¬ 
regung des Halssympathikus auslöste, während die Beizung ihrer 
Umgebung in dieser Beziehung gar keine Wirkung hervorrief. Die 
wirksame Partie liegt mediodorsal vom Hirnschenkelfuß, dort eben, 
wo derselbe in die innere Kapsel überzugehen beginnt, und wird 
durch den frontomedialen Anteil des Corpus subthalamicum reprä- 


ss ) Karplus und Kreidl: Gehirn und Sympathikus. I, Mitt. 1909, 
II, Mitt. 1910, III, Mitt. 1911. 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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sentiert. Sie soll vom Kortex nicht ganz abhängig sein, denn nach 
Exstirpation verschiedener Hirnrindenteile, die zu der Pupillen¬ 
innervation in spezieller Beziehung stehen, blieb ihre Erregbarkeit, 
selbst nach einem sechswöchigen Intervall zwischen Exstirpation 
und Reizversuch, unversehrt. Andrerseits wieder müssen die von 
der Rinde zum Halssympathikus ziehenden Impulse die betreffende 
Reizstelle im Hypothalamus passieren. Denn während sie von einer 
am Frontalpol der Hemisphäre gelegenen Partie aus (bei Katzen) mit 
schwachen Strömen beiderseits prompte Sympathikuswirkung erzielen 
konnten, gelang das nicht mehr, wenn sie die diese Reizstelle präsen¬ 
tierende graue Substanz mittels eines eingestochenen Galvanokauters 
auf einer Seite zirkumskript verätzten. Es blieb dann homolateral die 
vorher wirksame Reizung des Frontal pols effektlos, während Reizung 
der identischen Stelle der anderen Hemisphäre nach wie vor typisch 
beiderseitige Erregung des Halssympathikus hervorrief. Auf diese 
Weise glaubten die erwähnten Autoren ein im Hypothalamus gelegenes 
subkortikales Sympathikuszentrum nachgewiesen zu haben, das in die 
Bahn vom Frontalhirn zum Halssympathikus eingeschaltet ist. Daß 
es sich dabei in Wirklichkeit um das Corpus subthalamicum handelt, 
haben sie auch anatomisch und histologisch genau verifiziert. 

Der betreffende sympathische Zentralapparat im Zwischenhirn 
hat auch die Bedeutung eines Reflexzentrums für den Halssympa¬ 
thikus. Der auf periphere Schmerzreize auftretende sympathische 
Augenreflex soll nämlich in jenen übertragen werden. Denn während 
der Sympathikusreflex nach Entfernung der Großhirnhemisphären 
durch einen vor dem Chiasma geführten Frontalschnitt vollkommen 
intakt gefunden wird, verschwindet er sofort nach Zerstörung dieses 
zentralen Sympathikuszentrums oder nach frontaler Durchtrennung 
des Gehirns spinal von letzterem. 

Als Beweis dafür, daß die Erregungsleitung vom Hypothalamus 
durch das homolaterale Zervikalmark, dem Halssympathikus entlang, 
zum Auge geht, durchschnitten sie den kontralateralen Halsstrang, 
wodurch der Reizeffekt nur an dieser Seite ausblieb, während-die 
Durchtrennung des gleichseitigen Stranges auch an dem entsprechen¬ 
den Auge die Sympathikuswirkung zum Schwinden brachte. 

Nach diesem Überblick über den jetzigen Stand unserer expe¬ 
rimentellen Kenntnisse und Vorstellungen über die zerebrospinalen 
Sympathikusmechanismen, möchte ich nun die Besprechung der sich 
darauf beziehenden klinischen Beobachtungen angehen. 


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Einen diesbezüglich sehr lehrreichen Fall haben wir jüngst 
in der Klinik beobachtet. Er scheint zu dem experimentell ent¬ 
deckten subkortiko-hypothalamischen Sympathikuszentrum den ersten 
klinischen Beitrag abgeben zu können. Da er noch nicht publiziert 
wurde und ein solcher Fall in der Literatur nicht bekannt ist, 
möchte ich ihn etwas ausführlicher schildern. 

Zunächst die Krankengeschichte. Patient — ein achtzehn¬ 
jähriger Schlossergehilfe — will immer gesund und arbeitsfähig 
gewesen sein. Am 17. Dezember 1912 schoß er sich in selbst¬ 
mörderischer Absicht aus einem kleinkalibrigen Revolver in die 
rechte Schläfe. Er fiel dann bewußtlos zu Boden, und als er nach 
einigen Tagen aus dem bewußtlosen Zustand erwachte, war er links 
vollständig gelähmt. Keine sonstigen Erscheinungen, keine sensiblen 
und motorischen Reizsymptome, keine Kopfschmerzen, kein Er¬ 
brechen, keine Sehstörungen. In der Folge Rückgang der moto¬ 
rischen Lähmung bis auf ganz minime Reste, die sensible blieb 
aber völlig unverändert. 

Als Pat. anfangs Jänner in unsere Klinik kam, bot er fol¬ 
genden Status somaticus: 

Linke Schädelhälfte, namentlich in der Scheitel- und Schläfen¬ 
gegend, klopfempfindlich. 

Rechte Lidspalte enger als die linke. Das rechte Augenlid 
hängt bei ruhigem, geradeaus gerichtetem Blicke deutlich herab, 
kann aber willkürlich gut gehoben werden. 

Pupillen sind rund, ungleich, die rechte enger als die linke. 
Lichtreaktion beiderseits gut, ebenso Konvergenzreaktion. 

Der Unterschied der engen rechten Pupille von der bedeutend 
weiteren linken ist schon bei hellem Lichte sehr deutlich, tritt aber 
bei Beschattung ganz besonders hervor. Die sympathische Pupillen¬ 
reaktion bei peripheren Schmerzreizen ist rechts viel schwächer als 
links. Manchmal schien es mir, als ob die Schmerzreaktion am 
rechten Auge fehlen würde, doch habe ich keine sichere Überzeugung 
davon gewinnen können. 

Einträufelung von Kokain in den Konj unktivalsack ruft links 
normale Reaktion hervor, indem sich die linke Pupille maximal 
erweitert, rechts bleibt jedwede Reaktion aus. 

Auf Atropineinträufelung hingegen erfolgt prompt auch eine 
Dilatation der rechten Pupille. 

Eine deutliche Farbendifferenz zwischen beiden Wangen in 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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der Ruhe war nicht mit Sicherheit zu konstatieren, dagegen fühlte 
sich Wange und Ohr auf der rechten Seite, anfangs wenigstens, 
zweifellos wärmer an als auf der linken. Hat sich aber Pat. etwas 
mehr angestrengt, so konnte man sehr häufig bemerken, daß die 
rechte Gesichtshälfte viel röter war als die linke. 

Der rechte Bulbus liegt entschieden tiefer in der Orbita als 
der linke. 

Zeitweise vermehrte Tränensekretion und Konjunktivalinjektion 
rechterseits. 

Eine thermometrische Messung im ruhigen Zustande mehr¬ 
mals auf beiden Seiten im äußeren Gehörgange und in der Mund¬ 
höhle gemacht, ergab einen Temperaturunterschied von durchschnitt¬ 
lich 0-5°, in den Achselhöhlen ausgeführt einen Unterschied von 
ungefähr 0*3° zwischen rechts und links. 

Keine Augenmuskelstörungen. Die Bulbi können sehr gut nach 
allen Richtungen bewegt werden. 

Geringer feinschlägiger horizontal-rotatorischer Nystagmus bei 
extremem Seitenblick; geringer Nystagmus beim Blick nach oben. 

Nasale Hemiopie am rechten Auge. Letzterer Befund ist nicht 
konstant. 

N. V. — motorisch beiderseits intakt. 

N. V. — sensibel zeigt Hypästhesie und Hyperalgesie in der 
ganzen linken Gesichtshälfte. Geringe Nadelstiche lösen im Gegen¬ 
sätze zur gesunden rechten Seite sehr heftige Schmerzempfindung 
aus, während einfache Berührung kaum empfunden wird. 

Kornealreflex links deutlich herabgesetzt, rechts normal. 

Nasenkitzelreflex 1. < r. 

N. VII. — Linke Nasolabialfalte schwächer ausgeprägt als die 
rechte. 

Augen- und ätirnast intakt. 

Links alte Mittelohrentzündung und Laesio auris interna. 

Gaumensegelparese links. 

Rachenreflex 1. < r. 

Schlucken und Sprache ohne irgendwelche Störungen. 

Die oberen Extremitäten zeigen keine auffallende Differenz 
in der groben Kraft zwischen rechts und links. 

Sehnen- und Periostreflexe links etwas stärker als rechts. 

Distal zunehmende Störung der tiefen Sensibilität. Lage¬ 
empfindung und Gefühl für passive Bewegungen im linken Finger- 


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und Handgelenke ganz aufgehoben, im linken Ellenbogen- und 
Schultergelenke deutlich herabgesetzt. Rechts normaler Befund. 

Astereognose links. An den dem Pat. in die linke Hand 
gereichten Gegenständen werden weder die einzelnen Eigenschaften 
noch Form und Wesen derselben erkannt. 

Linksseitige Ataxie bei Zielbewegungen. 

Diadochokinesis 1. < r. 

Praxie beiderseits intakt. 

Bauchdeckenreflexe beiderseits vorhanden. 

An den unteren Extremitäten ist die grobe Kraft ebenfalls 
beiderseits annähernd gleich. 

Patellar- und Achilleussehnenreflexe beiderseits lebhaft, 1. > r. 

Links positiver Babinski, rechts normaler Zehenreflex. 

Tiefe Sensibilität links schwer gestört, distal ist die Störung 
komplett, Lageempfindung und Gefühl für passive Bewegungen auf¬ 
gehoben. 

Hypotaxie links beim Kniehackenversuch. 

Rhombergsches Phänomen negativ. 

Was die Oberflächensensibilität betrifft, so besteht auf der 
linken Körperhälfte eine ausgesprochene taktile Hypästhesie, eine 
erhebliche Hyperalgesie und eine Thermhyperästhesie. Während 
die Berührungsempfindung auf dieser Seite ganz deutlich herabgesetzt 
ist, werden selbst in schwächster Form applizierte Schmerz- und 
Temperaturreize sehr intensiv empfunden. Es stehen also auf der 
linken Körperseite eine stark herabgesetzte Berührungsempfindung 
einerseits und ein hochgradig gesteigertes Schmerz- und Temparatur- 
gefühl anderseits, einander gegenüber. 

Eine gewisse Zeit lang bestanden in den linksseitigen Extre¬ 
mitäten auch geringe spontane Schmerzen, die sich nicht lokalisieren 
ließen. Sie hatten die Eigenschaften von Schmerzen zentralen 
Ursprunges. 

Blase und Mastdarm in Ordnung. 

Wassermannsche Reaktion im Blute war negativ. 

Röntgenbefund (Doz. Dr. Schüller): Ein undeformiertes 
Projektil liegt im Zentrum des Gehirns, 1 cm nach links von der 
Mittellinie, in der Frontalebene der proeessi mastoidei, 6 cm über 
der Spitze derselben. 

Bezüglich der oben geschilderten Augensymptome wäre noch 
folgendes zu sagen: Eine gründliche Exploration sowohl des Pat. 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahneu. 


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als auch dessen Vaters ergab, daß jene Symptome vor der Schu߬ 
verletzung nie bestanden haben und erst nach letzterer aufgetreten 
sind. — Während der ganzen Zeit des Spitalaufenthaltes haben sie 
in unveränderter Form und Stärke fortbestanden. 

Kurz zusammengefaßt, bestanden bei dem Pat. folgende, durch 
längere Zeit objektiv nachweisbare Symptome, die ich der besseren 
Übersicht wegen für beide Körperhälften getrennt nebeneinander¬ 
stelle : 

Rechts. Links. 

Verengerung der Lidspalte und Sensibler Quintus - Hypästhesie 
der Pupille. und Hyperalgesie. 

Zurücksinken des Bulbus. Kornealreflexe 

Mangelhafter sympathischer Pu- Nasenkitzelreflexe herabgesetzt, 
pillenreflex auf periphere Rachenreflexe 
Schmerzreize. Leichte Steigerung der Sehnen- 

Kokaineinträufelung macht keine reflexe an der o. E., der P. S. R. 

Mydriasis. und A. S. R. an der u. E. 

Zeitweise Tränensekretion und Positiver Babinski, aber gar 
Bindehautinjektion. keine Parese. Grobe Kraft der 

Transitorische nasale Hemiopie. Extremitäten fast normal. 

Gesichtshälfte höher temperiert Hypästhesie, starke Hyperalgesie 
und zeitweise intensiv gerötet. und komplette Lähmung der 

tiefen Sensibilität. Lageempfin¬ 
dung und Gefühl für passive Be¬ 
wegungen der Gelenke, Stereo- 
gnose und Gnosie sind auf¬ 
gehoben. 

Der vorliegende Fall zeigt also das Bild einer sympathischen 
Ophthalmoplegie auf der rechten Seite, und links eine hochgradige 
Sensibilitätsstörung von rein zentralem Typus, — nämlich taktile 
Hypästhesie, stark gesteigerte Hyperalgesie und vollständiger Verlust 
der Tiefenempfindung, — kombiniert mit einer ganz leichten 
gleichseitigen Pyramidenschädigung, welch letztere bei fast voll¬ 
kommen. erhaltener motorischer Kraft gegenwärtig eigentlich nur 
in einem leichten Babinskischen Reflex sich kundgibt. Diese letztge¬ 
nannte Kombination, dieses so starke Überwiegen der exquisit zerebra¬ 
len Sensibilitätslähmung über die motorische, die nur in sehr 
geringen Spuren besteht, lenkt unsere Aufmerksamkeit sofort auf 
eine Partie des Großhirns, nämlich auf die das spinale Thalamus- 


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drittel charakterisierenden ventrolateralen Thalamuskerne. Ich meine 
— den kreisrunden Nucleus centralis thalami (Centre median de Luys), 
den ventrolateraler davon sich befindlichen Nucleus arcuatus und 
den am lateralsten gelegenen Nucleus lateralis ventralis externus, 
in welche Kerne die Hauptmasse der sensiblen Haubenbahnen ein¬ 
münden. Denn sensible Lähmungen von geschildertem Charakter 
kommen erfahrungsgemäß am häufigsten vor bei Läsionen dieser 
Kerne oder der Übergangsstelle der Haubenstrahlung in dieselben. 
Alle anderen Partien, welche für die Lokalisation solcher mit 
zentralen Schmerzen einhergehenden Sensibilitätsstörungen in Be¬ 
tracht kommen, und zwar die innere Kapsel und das Gebiet der 
hinteren Zentralwindung können, einerseits wegen des so geringen 
Befallenseins der Motilität, andrerseits wegen Mangels jeglicher, 
für Kindenläsion charakteristischer Erscheinungen, für unseren Fall 
aus der topisch-diagnostischen Erwägung ausgeschlossen werden. 
Es entsteht nun die Frage: Läßt sich das rechtsseitige okulo¬ 
pupilläre Phänomen aus dieser Lokalisation erklären? 

Wenn man nun das oben erwähnte, experimentell gefundene 
subthalamische Sympathikuszentrum auch fürs menschliche Gehirn 
anerkennt und sich jetzt einen durch die genannten ventrolateralen 
Thalamuskerne (d. i. Centre mödian de Luys, Nucleus arcuatus 
und Nucleus lateralis ventralis externus) geführten Frontalschnitt 
für einen Augenblick vergegenwärtigt, so fällt es nicht schwer, den 
hier vorliegenden rechtsseitigen Hornerschen Symptomenkomplex 
mit der von mir für die linke zerebrale Sensibilitätslähmung an¬ 
genommene Läsion im Gebiete dieser Kerne in Einklang zu bringen. 
Denn knapp unterhalb des Haubenfeldes, genau an der Stelle, wo 
dessen Fasern in die ventralen Thalamuskerne einstrahlen, befindet 
sich — bald die Substantia nigra ganz einnehmend, bald nur dessen 
lateralen Abschnitt —, die linsenförmige Masse des Corpus sub- 
thalamicum. Eine Läsion der betreffenden Kerne — eine solche 
liegt ja hier mit größter Wahrscheinlichkeit vor — muß also das 
letztere wegen seiner so nahen Lage absolut in Mitleidenschaft 
ziehen. Dazu kommt noch, daß die sympathischen Fasern, wie 
zahlreiche experimentelle Forschungen und mehrere klinische Be¬ 
obachtungen von zentral bedingter, homolateraler, sympathischer 
Ophthalmoplegie lehren, auf ihrem Leitungswege im Gehirn sich 
spinalwärts von den Stammganglien nicht kreuzen. Ich bin also 
ganz berechtigt, die rechtseitige Sympathikuslähmung auf einer 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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Schädigung des rechten oberen Hypothalamus anteiles, d. i. des 
Corpus subthalamicum, zu beziehen. Eine Läsion des rechten Plexus 
caroticus als Ursache der Sympathicoplegie, erscheint mir in diesem 
Fall unmöglich, da die Kugel — wie sich bald zeigen wird — 
zu hoch im Gehirn lief und zu weit von der Basis entfernt, als 
daß sie den Plexus affizieren könnte. 

Man könnte mir vielleicht Vorhalten, daß Fälle von Schu߬ 
verletzung sich für eine so feine Lokalisation nicht gut eignen, da 
die Kugel alle mögliche Richtung im Gehirn nehmen und daher 
schwerlich gerade die von mir supponierte Partie treffen kann. 
Bei vollständiger Würdigung dieses Eiuwandes möchte ich dennoch 
glauben, daß er in diesem Falle aus bald zu erwähnendem Grunde 
gar nicht zutrifft- Was sagt denn der Röntgenbefund? Nach 
demselben befindet sich das Projektil gegenwärtig im Meditullium, 
ungefähr 1 cm links von der Medianfläche, in der Frontalebene der 
processi mestoidei und einer 6 cm oberhalb des Processus mastoideus 
geführten Horizontalebene, also aufs Gehirn übertragen zirka 

1 cm nach links vom vorderen Anteil des Splennium corporis callosi. 
Betrachten wir jetzt die Einschußöffnung. Dieselbe liegt 1y 2 cm 
unterhalb eines Punktes, den wir erhalten, wenn wir eine durch 
den oberen Orbitalrand geführte Horizontale durch eine senkrecht 
zur Mitte des Jochbogens gezeichnete Vertikale kreuzen. Der 
Kreuz ungspun kt entspricht nach dem Krö ule in sehen hirn¬ 
topographischen Schema der Fossa Sylvii. Die Einschußöffnung auf 
die Hirnoberfläche projiziert, trifft dieselbe in einer Stelle zirka 

2 cm medialwärts von der Fossa. Wenn man jetzt durch diese 
Stelle an einem konservierten Gehirn eine längere Nadel hinein¬ 
sticht und an der Stelle, wo nach dem Röntgenbefund gegenwärtig 
die Kugel liegt, oder aber in Erwägung des Umstandes, daß die 
Kugel bis zur definitiv eingenommenen Lage sich etwas gesenkt 
hat, etwas oberhalb dieser Stelle aussticht und dann dieser Nadel 
entlang schräghorizontal das Gehirn durchschneidet, so kann man 
sich tatsächlich davon überzeugen, daß man auf diesem Wege das 
Gebiet der ventrolateralen Thalamuskerne und der oberen Hypo¬ 
thalamuspartie mit dem Corpus subthalamicum getroffen hat. Ich 
habe diesen Versuch an drei Gehirnen gemacht und er ist immer 
gelungen. Es soll damit beileibe noch nicht gesagt werden, daß 
die Kugel diesen geraden Weg genommen haben muß. Wenn man 
jedoch diese Tatsache berücksichtigt, wenn man ferner erwägt, daß 


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die Kugel auf dem Wege von der Einschußöffnung bis zur Stelle, 
wo sie sich gegenwärtig befindet, das kaudale Thalamusdrittel und 
den oberen Anteil des Hypothalamus zerstören mußte, um den vor¬ 
liegenden, oben erwähnten Symptomenkomplex auszulösen, während 
in der nächsten Umgehung, falls man schon Abnormitäten der 
Durchschlagsrichtung annehmen wollte, es gar keine Partie gibt, 
deren Läsion letzteren erklären könnte, wenn man schließlich in 
Betracht zieht, daß ja nach dem röntgenologischen Befund die 
Kugel nach links hinten oben laufen mußte, so erscheint jener 
Weg fast sicher. 

Der vorliegende Fall ist nicht nur als typisches Beispiel einer 
zerebralen Lähmung des Halssympathikus sehr interessant und des¬ 
halb schon wert, zur Vermehrung des ziemlich spärlichen, dies¬ 
bezüglichen kasuistischen Materials mitgeteilt zu werden, sondern 
er bietet noch etwas ganz Eigentümliches, das ihn in erster Linie 
publikationsfähig macht. Dieses Eigentümliche beruht einerseits in 
dem hohen Sitz des die genannte sympathische Ophthalmoplegie 
bedingenden Herdes, nämlich im Bereiche des spinalen Thalamus¬ 
drittels (ventro-lateralen Thalamuskerne) und des letzterem anliegen¬ 
den oralen Hypothalamusanteiles, andrerseits wieder in der daraus 
resultierenden Bedeutung dieses Falles als erster klinischer Beitrag zur 
Kenntnis des von Karplus und Kreidl experimentell entdeckten 
subkortiko-hypothalamischen Sympathikuszentrums*). Denn die oben 
charakterisierte zerebrale Sensibilitätslähmung, sowie die Beziehungen 
des röntgenologisch nachgewiesenen Sitzes der Kugel zur Einschu߬ 
öffnung und zur Gegend des unteren Thalamus- und oberen Hypo¬ 
thalamusgebietes weisen mit Sicherheit auf eine Schädigung des 
letzteren hin, die Vollkommenheit des Hornerschen Symptomen- 
komplexes hingegen, das Einsetzen desselben unmittelbar nach der 
Schußverletzung ebensowie das Fehlen irgendwelcher Anhaltspunkte 
für eine periphere Sympathikusaffektion, zwingen ferner zur Annahme, 
daß das in unserem Falle vorhandene okulo-pupilläre Syndrom nur 
durch den eben erwähnten Herd entstanden ist. 

Ich will nun jetzt an diesen Fall eigener Beobachtung eine 
Schilderung anderer klinischer Beobachtungen über zentral bedingte, 
mit anderweitigen Gehirnsymptomen kombinierte Sympathikus- 

*) Das Zwischenhirn wurde — wie bereits früher ausgeführt 
wurde — auch von vielen anderen Autoren mit dem Halssympathikus 
in Beziehung gebracht. 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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lähmungen anschließen, um dann in Einklang mit bisher bekannten, 
diesbezüglichen experimentellen Ergebnissen die Leitungsbahnen 
und Zentren für den Halssympathikus zusammenzustellen. Leider 
sind aber im Gegensätze zur großen Anzahl physiologischer Unter¬ 
suchungen über die zentralen Mechanismen des Augensympathikus 
die sich darauf beziehenden klinischen Publikationen verhältnismäßig 
spärlich. Das fiel mir schon bei oberflächlicher Durchsicht der be¬ 
treffenden Literatur auf; ich habe dabei jedoch auch den Eindruck 
gewonnen, daß diese geringe Zahl literarisch bekanntgegebener 
Fälle von zerebraler Sympathikoplegie nicht auf ein so seltenes 
Vorkommen der letzteren, sondern eher darauf zu beziehen ist, 
daß jene nicht genügend beachtet und nicht mit gebührender Exakt¬ 
heit verwertet wurden. Denn bei gründlicher Durchmusterung vieler 
publizierter Krankengeschichten habe ich mit anderen zerebralen 
Ausfallserscheinungen kombinierte und als solche imponierende 
Symptome einer sympathischen Ophthalmoplegie sehr häufig als 
Nebenbefund verzeichnet gefunden, ohne daß sie eine entsprechende 
Deutung erfahren hätten, obwohl für sie irgendwelche periphere 
Veranlassung vollständig fehlte. Wegen dieser Unvollkommenheit 
der einschlägigen Literatur wird eine nicht ganz lückenlose 
Wiedergabe der in letzterer niedergelegten Beobachtungen ent¬ 
schuldigt sein. 

Zu allererst müssen die wertvollen Erfahrungen von Kocher 3 *) 
angeführt werden, weil sie einen direkten Vergleich mit experimentell¬ 
physiologischen Forschungsresultaten eftnöglichen, indem es sich in 
seinen Fällen um Verletzungen, also plötzliche Zerstörungen zentraler 
Partien im Bereiche des zwischen dem ersten Dorsalsegment und 
dem Calamus scriptorius gelegenen Medullarabschnittes handelt. In 
den Fällen von Querschnittsläsionen in dem genannten Bereiche 
waren beiderseits Pupillen und Lidspalten verengt, während bei 
Halbseitenläsionen, wie z. B. Luxationen, Stichen usw., nur ein 
homolateraler, okulo-pupillärer Symptomenkomplex zu gewärtigen 
war. Kocher meinte daher, daß die halssympathischen Fasern vom 
verlängerten Marke nach abwärts, durch das ganze Zervikalmark zum 
Auge und zu den Gefäßen der Gesichtshälfte derselben Seite ver- 


**) Kocher: Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie I. Die 
Verletzungen der Wirbelsäule zugleich als Beitrag zur Physiologie des 
menschlichen Rückenmarks, 1896. 


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laufen. Er stützte diese Annahme auf die Beobachtungen von 
Weiß 85 ) und Bern dt 86 ). In der ersten kam es durch eine Stich¬ 
verletzung zwischen Atlas und Schädel, in der anderen durch Luxa¬ 
tion des Atlas gegen den Epistropheus zum Auftreten der Sym¬ 
ptome einer halbseitigen Halssympathikuslähmung. Ferner hat auch 
Albanese 37 ) bei einer traumatischen Trennung einer Markhälfte 
3 cm unterhalb des Calamus scriptorius eine Lähmung der sym¬ 
pathischen Fasern zum Auge gefunden. 

Über das Verhalten der sympathischen Augeninnervationen 
bei Erkrankungen der Medulla oblongata und des Pons selbst liegt 
eine Reihe klinischer Beobachtungen vor, welche beweisen, daß 
bei jenen sympathische Bahnen zum Auge sehr häufig zerstört werden 
können. Ich will nun diese Beobachtungen der besseren Übersicht 
halber in eine Tabelle*) zusammenfassen, möchte aber dabei sofort 
bemerken, daß ich im Gegensätze zu anderen Autoren diejenigen Fälle, 
bei welchen der Horn ersehe Symptomenkomplex nur in ganz fragmen- 
tärer Form vorhanden ist, nicht berücksichtigen kann, um so weniger, 
je höher der betreffende Herd im Gehirn sitzt. Man muß für die 
Diagnose eines okulo-pupillären Syndroms das Vorhandensein von 
mindestens zwei Symptomen desselben postulieren. Eine reine Ptosis 
oder eine reine Miosis kann nur dann verwertet werden, wenn sie 
mit typischen, vasomotorisch-sekretorischen Störungen koinzidiert, 
und wenn die sie bedingende Läsion sich derart gestaltet, daß eine 
Fernwirkung auf die Okulomotoriusgegend ausgeschlossen ist. 

-:— * 

35 ) W e i ß, zitiert nach Kocher. 

36 ) Berndt, zitiert nach Kocher. 

37 ) Albanese, zitiert nach Hoffman: Gleichseitige Lähmung 
des Halssympathikus bei unilateraler apoplekt. Bulbärparal. D. Arch. 
f. klin. Med., Bd. 73, 1902, pag. 335. 

*) Die sympathische Schmerzreaktion ist in der vorliegenden 
Tabelle nicht verzeichnet, weil in den einschlägigen Fällen auf diesen 
Reflex nicht untersucht wurde. 


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Ein Überblick über die hier eben geschilderten Beobachtungen, 
die Koinzidenz von Pons- und Oblongataaffektionen mit dem okulo¬ 
pupillären Syndrom betreffend, drängt den Eindruck auf, daß letzteres 
in überwiegender Mehrzahl bei apoplektiform in diesem Hirngebiet 
entstandenen Herden zum Vorschein kommt, ja daß es bei diesen 
ein fast konstantes Symptom ist. Es handelt sich da beinahe aus¬ 
schließlich um Erweichungsherde im Anschluß an eine Embolie 
oder eine Thrombose der Art. vertebraiis und ihrer Äste, insbesonders 
der Art. cerebelli inf. post. Das Versorgungsgebiet dieser Art. muß 
daher in engster Beziehung zum Halssympathikus stehen. 

Es sind in der Literatur noch einige andere Fälle von Brücken- 
und Oblongataherden verzeichnet, bei welchen das Vorkommen des 
einen oder des anderen sympathischen Augensymptoms auffiel. So 
hat z. B. Buschenberger 55 ) eine linksseitige Ptosis bei einem 
die Brücke komprimierenden Aneurysma der A. basilaris beobachtet, 
ebenso Griesinger 56 ) bei einer Erweichung der oberen vorderen 
Ponshälfte; fernersahen auch J ohnson und F errier 57 ) bei einem 
Tumor des spinalen Abschnittes der rechten Brückenhälfte eine gleich¬ 
seitige Senkung des oberen Lides, von Leyden 58 ) fand in zwei Fällen 
von Erweichungsherden im Bereiche der linken Oliva inferior und ober¬ 
halb derselben eine homolaterale Miosis, ebenso van Ordt 59 ) und 
Hun 60 ) bei einem im Gebiete des proximalen Oblongatateiles sitzenden 
Erweichung, und Heinicke 61 ) bei einer Blutung in dieser Partie. 
Schließlich will noch Meyer K. 6ä ) eine bei einer Embolie der linken 
a. cerebelli post. inf. aufgetretene linksseitige Lidspaltenverengerung 
auf eine zentrale Schädigung des Augensympathikus zurückführen. 

Ich habe aber diese Fälle iu der obigen Tabelle wissentlich 


5Ö ) Ruschenberger: zitiert nach Nothnagels Top. Diagnostik, 
pag. 527. 

56 ) Gr r i e s i n g e r: zitiert nach Nothnagels Top. Diagn., pag. 527. 

57 ) Johnson und Ferrier, zitiert nach Bleuler: Zur Kasuistik 
der Herderkrank, der Brücke . . . Arch. f. kl. Med. Bd.XXXVII, pag. 527. 

58 ) v. Leyden: (Über Bulbärerkr.) Arch. f. Psych. Bd. VII, 1877, 
pag. 44. 

59 ) Van Ordt: Deutsch. Z. f. Nervenheilk. Bd. VIII, 1896. 

60 ) Hun: The New York Medical Journal. XCVII, pag. 513. 

61 ) Heinicke W.: Ein Fall von Bulbärersch. mit dem Symptomen- 
bild der Halbseitenläsion. Therap. Rundschau 1910, Nr. 2. 

62 ) Meyer R.: Zur Kasuistik der apopl. Bulbärparal. Neur. C. 
1909, Nr. 22, pag. 1210. 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 315 

unberücksichtigt gelassen, weil es sich bei ihnen entweder nur um 
eine Ptosis oder nur um eine Miosis, also um ein einziges isoliertes 
Symptom handelt, für dessen Beziehung auf eine Sympathikus¬ 
affektion, selbst wenn manche der Autoren eine Fernwirkung auf 
die Okulomotoriusgegend für ausgeschlossen halten, gar kein zwingen¬ 
der G-rund vorliegt. Ich kann daher diese Fälle für die Lokalisation 
der zentralen Gesichtssympathikusbahnen in dem diversen Hirn¬ 
gebiet nicht verwerten. Ich glaube nämlich, daß die pupillen- 
dilatierenden, lidspaltenerweiternden, vasomotorischen u. dgl. Fasern 
im Gehirn nicht je einen selbständigen, gesonderten, sondern einen 
gemeinsamen, komplexen Verlauf nehmen. Eine Unterbrechung der¬ 
selben muß sich deshalb in einigen Symptomen kundgeben. Als 
Minimum für die Diagnose einer zerebralen sympathischen Ophthalmo¬ 
plegie muß also das Zusammensein wenigstens zweier Symptome, 
so z. B. einer Ptosis plus einer Miosis gelten, da ein solches Neben¬ 
einander auf keine andere Weise erklärt werden kann. Solange wir 
über die anatomischen Verhältnisse der Bahnen des Halssympathikus 
im Gehirn des Menschen noch gar nichts wissen und dieselben aus 
klinischen Befunden erst erschließen wollen, müssen wir dieselben 
mit etwas mehr Kritik behandeln und nicht jede Lidspalten- oder 
Pupillenverengerung oder Enophthalmus u. dgl., welche zwar zu¬ 
sammen das okulo-pupilläre Syndrom ausmachen, an sich aber und 
isoliert vorkommend — besonders wenn sie zerebral bedingt sind 
— alle möglichen Ursachen für ihre Entstehung haben können, 
sofort auf das Konto einer zentralen Sympathikusschädigung setzen. 

Wenn wir nun der Reihe nach weiter vorgehen wollen, so 
käme jetzt unser, oben bereits disputierter Fall zur Erwähnung. 
Denn über die Beziehungen des Mittelhirns zum Halssympathikus 
sind bis nun in der Literatur keine einwandfreien klinischen Be¬ 
obachtungen*) niedergelegt. Dagegen sind über das Vorkommen des 
Horn ersehen Symptomenkomplexes bei Aflfektionen im Bereiche 
des Großhirns und der proximalen Anteile der Hirnganglien schon 
einige Erfahrungen vorhanden. Da der unseren Fall charakterisierende 
Herd im Gebiete der ventrolateralen Thalamuskerne an der Stelle 
eben liegt, wo das Haubenfeld in dieselben einstrahlt, also an der 
Grenze zwischen dem Tegmentum des Mittelhirns und dem beginnen- 


*) Experimentell sind wir über die Beziehungen des Mittelhirns zum 
Gesichtssympathikus ziemlich gut orientiert. 


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den Zwischenhirn, so kann er sehr gut den Übergang zu diesen Gro߬ 
hirnsympathikuserkrankungen bilden. Die bei der genannten Lokali¬ 
sation des Herdes unumgängliche Läsion der oralen Hypothalamus¬ 
partie (Corpus Louys), sowie die experimentell-physiologisch zweifel¬ 
los nachgewiesene engste Beziehung der letzteren zum Halssympa¬ 
thikus machen das in diesem Falle vollkommenst ausgebildete 
Horn ersehe Syndrom gut erklärlich. 

Was die Beeinflussung des zervikalen Sympathikus durch 
höhere Hirnteile betrifft, so hat schon Nothnagel 63 ) zwei Fälle 
von hochsitzenden zerebralen Herderkrankungen infolge von Hämor- 
rhagien und embolischen Erweichungen beobachtet, bei welchen die 
zum Kopf und Gesicht verlaufenden sympathischen Nervenbahnen 
betroffen waren. Neben den Symptomen einer älteren, stationär 
gewordenen, gekreuzten Körperlähmung rein motorischer Natur war 
bei ihnen auf der Seite der Hemiplegie das okulo-pupilläre Syn¬ 
drom in typischerWeise ausgeprägt, ohne daß irgendwelche periphere 
Schädigung des Sympathikus dafür verantwortlich gemacht werden 
konnte. Es bestanden Miosis, Lidspaltenverengerung, Enophthalmus, 
erhöhte Temperatur der gelähmten Gesichtshälfte und abnorme vaso¬ 
motorische und sekretorische Phänomene. In dem einen Falle handelte 
es sich um einen, den hinteren oberen Abschnitt des linken Linsen¬ 
kerns fast ganz einnehmenden Erweichungsherd, der auch auf die 
innere Kapsel an der Stelle Übergriff, wo N. lenticularis, Corpus 
striatum und Thalamus opticus Zusammentreffen. In dem zweiten 
Fall fand sich ein alter Erweichungsherd in der rechten Hemisphäre, 
welcher den größten Teil des Streifenhügels und des angrenzenden 
Meditulliums absorbierte und sich nach außen bis in die hintere 
Zentral Windung erstreckte. 

Auch in einem von Prevost 64 ) beobachteten Falle von Er¬ 
weichung des linken Streifenhügelkopfes waren neben einer rechts¬ 
seitigen Hemiplegie die Symptome einer partiellen Lähmung des 
rechten Gesichtssympathikus vorhanden. 

Ferner konstatierte Schmidt-Bimpler 65 ) in zwei Fällen 

6S ) Nothnagel: 1. Fall. Virchows Arch. Bd. 68, pag. 26 und 
Top. Diagn. pag. 274. — 2. Fall. Top. Diagn. der Hirnkrankh. pag. 328. 

6i ) Prevost: zitiert nach Nothnagel ibid. pag. 270. 

65 ) Schmidt-Rimpler: Die Erkrankungen des Auges im Zu¬ 
sammenhang mit anderen Krankheiten. Nothnagels Spezielle Patho¬ 
logie und Therapie. Bd. XXI, pag. 201. 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 317 

von Krankheitsprozessen im Bereiche der Gehirnganglien, bei 
denen die Sektion am Halssympathikus nichts Abnormes nach- 
weisen konnte, einen vollständigen Horn er sehen Symptomen- 
komplex auf der linken Seite. Während aber in dem ersten Fall, 
neben einer chronischen Meningitis an der Konvexität des Gehirns, 
ein frisches Extravasat im rechten oberen Seh- und Streifenhügel¬ 
anteil gefunden wurde, war im zweiten Falle „die obere Schicht 
des linken Thalamus opticus auffallend weich“. 

Geiger* 6 ) soll einen Mann gekannt haben, der mehrere Jahre 
nach einem schweren Schädeltrauma, welches eine linksseitige 
Körperlähmung zur Folge hatte, die typischen Symptome einer 
Halssympathikuslähmung auf der linken Seite bekam. 

Wenn wir nun jetzt die bisher geschilderten experimentellen 
und klinischen Erfahrungen über die Beziehungen des Zentral¬ 
nervensystems zum Halssympathikus kurz zusammenfassen, so ergibt 
sich folgendes: Bei Zerstörung gewisser zentraler Partien, beginnend 
von der Ursprungsstelle des Gesichtssympathikus bis hinauf zur 
Hirnrinde, kommt es zum Auftreten des Hornersehen Symptomen- 
komplexes, also zur Pupillen- und Lidspaltenverengerung, En- 
ophthalmus, vasomotorischen und sekretorischen Störungen einer oder 
beider Gesichtshälften, je nachdem die Schädigung uni- oder bilateral 
stattgefunden hat. Beizung der betreffenden Teile haben hingegen 
die typischen Symptome einer peripheren Sympathikuserregung zur 
Folge. Bei Läsionen kaudal vom Hypothalamus treten, wie fast 
alle sowohl bei Menschen als auch bei Tieren gemachten Beobach¬ 
tungen lehren, die Sympathikuserscheinungen homolateral auf, 
während bei den oralwärts von der genannten Zwischenhirnregion 
entstandenen Herden die überwiegende Mehrzahl der Autoren eine 
kontralaterale, halssympathische Wirkung konstatierte. Die durch 
eine solche Schädigung ausgelöste sympathische Ophthalmoplegie 
scheint eine dauernde zu sein. Es müssen daher zentrale Ver¬ 
bindungen zwischen höheren Hirnteilen und den peripheren Ur¬ 
sprungsstellen des Halssympathikus bestehen, entlang welcher 
permanente Erregungen durch Medulla oblongata und Halsmark ab¬ 
wärts fließen. 

Es entsteht nun die Frage: Welchen Verlauf nehmen diese 
zentralen sympathischen Bahnen? Das wollen wir jetzt beantworten, 


66 ) Geiger: zitiert nach Hofinan siehe oben. 


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indem wir diejenigen Teile des Nervensystems zusammenfassen, 
deren sympathische Wirkung nachgewiesen ist. 

Nachdem die Fasern des Halssympathikus vom Grenzstrang 
durch die Kami communicantes zwischen oberem Brust- und unterem 
Halswirbel in das Spinalmark eingetreten sind, verlaufen sie in der 
gemischten Seitenstrangzone imgekreuzt nach aufwärts bis zur 
Medulla oblongata. Ein okulo-pupilläres Rückenmarkszentrum an 
der Grenze des achten Hals- und ersten Brustmarks, das sogenannte 
B u d g e sehe Centrum cilio-spinale, ist man auf Grund der geschilderten 
Beobachtungen nicht berechtigt anzunehmen, denn Verletzung des 
Kückenmarks oberhalb der bezeichneten Stelle hebt die reflektorische 
Sympathikuserregung bei Reizung des Ischiadikus auf und verursacht 
dauernde Lähmung des Gerichtssympathikus. Auch histologisch 
ist für die Existenz eines solchen Zentrums gar kein Beweis er¬ 
bracht worden. 

Im verlängerten Marke und in der kaudalen Partie der Brücke 
nehmen die Fasern für den Zervikalsympathikus ihren Weg im 
Gebiete der Substantia reticularis lateralis. Dafür spricht die bereits 
erwähnte, so häutige Koinzidenz des Horn er sehen Symptomen- 
komplexes mit Zirkulationsstörungen im Bereiche der Art. vertebrälis 
und seiner Äste, insbesonders der'A. cerebelli inf. post. Ein Ver¬ 
schluß dieser Gefäße macht in der Medulla oblongata und in der 
distalen Ponshälfte einen ischämischen Erweichungsherd, der auf 
Querschnitten ungefähr die zwischen der Olive und dem Corpus 
restiforme gelegenen seitlichen Bezirke umfaßt, proximalwärts bis 
zum Beginn des Facialisknies reicht und medialwärts fast parallel 
der Raphe sich abgrenzt, das mittlere Drittel der Subst. reticularis 
verschonend. In das Degenerationsfeld fallen die ventrolateral ge¬ 
legenen Tractus spinotectales et thalamici, die lateralsten Teile der 
Substantia reticularis, mehr dorsal die spinale Trigeminusbahn mit 
ihrer Subst. gelatinosa, der N. ambiguus mit der Vaguswurzel und 
schließlich die Radix n. Facialis während ihres bekannten längeren 
Verlaufs im Inneren der Brücke. Das durch diese Lokalisation des 
Herdes produzierte klinische Bild hat daher stets typische Züge. 
Zu letzteren gehört aber in überwiegender Mehrzahl auch ein okulo¬ 
pupilläres Syndrom. Es müssen deshalb die sympathischen Bahnen 
ebenfalls in diese degenerierte Partie fallen. 

Welche Stelle in der Subst. reticularis lateralis von dem 
zentralen Faserbündel des Halssympathikus okkupiert wird, das 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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läßt sich, insolange irgendwelche sichere mikroskopische Ergebnisse 
fehlen, nicht mit Bestimmtheit entscheiden und jede diesbezügliche 
Feststellung kann daher nur den Wert einer Hypothese besitzen. 

Die vielfach in der Literatur zitierte Ansicht von Breuer 
und Marburg, nach welcher die Fasern für den zervikalen Sym¬ 
pathikus im dorsomedialen Anteil der Substantia reticularis knapp 
unterhalb des Ventrikelbodens nach innen von der Gegend des 
Abduzenskernes verlaufen sollen, kann ich nicht teilen, denn sie 
scheint aus anatomischen und klinischen Gründen nicht stichhältig 
zu sein. Erstens einmal wegen der Häufigkeit der sympathischen 
Ophthalmoplegie bei Erkrankungen im Gebiete der Art. cerebelli 
inf. post. Die fragliche Stelle liegt nämlich zu hoch dorsal 
und zu weit medial, als daß sie vom Versorgungsgebiete der 
genannten Arterie erreicht werden könnte. Ja, es gibt auch, wie 
ein Durchblick der obigen Tabelle zeigt, andere Fälle mit zweifel¬ 
los zerebral bedingtem okulo-pupillärem Syndrom, wo diese Stelle 
ganz intakt geblieben ist. So der Fall Hatschek, wo ein kleiner 
Herd lateral vom N. ambiguus sitzt, wobei letzterer sogar frei ist. 
Zweitens wieder sind unter den Fällen, auf Grund derer die 
beiden Autoren sich diese Ansicht gebildet haben, mehrere kaum 
als zerebrale sympathische Ophthalmoplegien anzusehen, weil sie 
nur ein einziges, darauf hinweisendes Symptom, also nur eine 
Miosis oder nur eine Ptosis, besaßen, was — wie ich früher aus¬ 
führte — noch nicht aufs Konto einer Schädigung des Augen¬ 
sympathikus gesetzt werden kann. Unter den Fällen aber mit 
wirklicher sympathischer Ophthalmoplegie, die sie benutzten, wurden 
von ihnen einzelne in topisch-diagnostischer Hinsicht nicht ganz 
einwandfrei gedeutet. So z.B. der Fall Strümp eil, der wegen der 
Abduzens- und Facialisparese sie dazu verleitete, einen Herd in der 
Abduzenskerngegend anzunehmen. Sie vergaßen aber, daß in diesen 
Kasus von Anfang an eine Schlinglähmung das Krankheitsbild 
beherrschte, die acht Wochen in ausgesprochenster Weise anhielt 
und alle anderen Symptome überdauerte, so daß schließlich die 
Erkrankung fast durchwegs als isolierte Schlinglähmung sich 
darstellte. Die topische Diagnostik, an dieses Kardinalsymptom 
angeschlossen, ergibt mit annähernder Sicherheit den Sitz des Herdes 
in der Medulla oblongata und in der distalen Brückenhälfte, und zwar 
im Versorgungsgebiete der A; vertebralis und seines Astes, der Art. 
cerebelli i. p. Auch die übrigen Symptome sprechen nicht dagegen. 


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Dr. Josef Gerat mann. 


Ich möchte auf Grund der geschilderten experimentellen und 
klinischen Beobachtungsresultate eher glauben, daß die halssympa¬ 
thischen Bahnen im ventrolateralen Anteil der Substantia reticularis 
ihren Lauf nehmen. 

Auch in der oralen Hälfte des Pons scheinen die sympathischen 
Fasern in dem der Subst. reticularis entsprechenden Gebiete zu 
verlaufen. 

Im Mittelhirn würde ich, aus Mangel an klinischen, lediglich 
auf experimentellen Forschungsresultaten fußend, die Sympathikus¬ 
bahnen auch in die hier durch die Bindearmkreuzung peripherwärts 
gerückte retikuläre Substanz des Tegmentum, und zwar ventro- 
lateral von den Yierhügeln verlegen. 

Sie ziehen dann weiter in den Hypothalamus, wo sie — wie 
die exakten Forschungen von Kar plus und Kr ei dl gezeigt 
haben — in der dem Corpus subthalamicum entsprechenden Substanz 
eine Umschaltung erfahren. Letzteres soll ein subkortikales Sym¬ 
pathikuszentrum repräsentieren. 

Von da beginnt nun die sogenannte supranukleäre Bahn. Sie 
zieht teils ungekreuzt, größtenteils aber gekreuzt zur Hirnrinde. 
Welchen Weg schlägt sie hier ein? 

Wenn man sich einen durch das Corpus subthalamicum ge¬ 
führten Frontalschnitt und einen durch den Kopf des Streifenhügels, 
durch das Knie der inneren Kapsel, durch das Putamen des Linsenkerns 
und durch das genannte L o u y s sehe Ganglion gemachten Horizon¬ 
talschnitt für einen Augenblick vergegenwärtigt, so sieht man, wie vom 
Haubenfelde her eine reichliche Faserung in dorsolateraler Richtung 
zum subthalamischen Körper zieht, wie ferner aus dem Inneren des¬ 
selben einerseits von der lateralen Kante ein Faserzug schräg 
nach vorne außen in die innere Kapsel sich einsenkt, andererseits 
wieder von der medialen, spinaler liegenden Kante des Ganglions 
sehr reichlich Fasern durch die knapp hinter der Öffnung des dritten 
Ventrikels sich befindliche Commissura hypothalamica posterior 
(Comm. supramammillaris), die Mittellinie kreuzend, auf die kontra¬ 
laterale Seite gelangen. — Wegen der experimentell-physiologisch 
vielfach nachgewiesenen engen Beziehungen dieser Zwisehenhirn- 
region zum zervikalen Sympathikus möchte ich annehmen, daß die 
genannten Fasergruppen vorwiegend Halssympathikusbahnen dar. 
stellen. Dieselben laufen dann durch den Thalamus opticus (H e n s e n 
und Völkers, Bechterew, Fall Scbmidt-Rimpler u. a.), 


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Zur Frage der sympathischen Gehirnbahnen. 


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durch das Knie der inneren Kapsel (Fall Nothnagel), ferner 
hart am Kopfe des Corpus striatum oder eher durch denselben 
(Fälle von Nothnagel, Prevost, Schmidt-Rimpler) und 
schließlich durch das Meditullium zum Frontalhirn. In der Stirn¬ 
hirnrinde gilt besonders die hintere, an die Zentralwindung an¬ 
grenzende Region als Endstätte für den Gesichtssympathikus. 

Zur Stütze dieser im Anschluß an physiologische und klinische 
Erfahrungen von uns ausgesprochenen Ansicht über den Verlauf 
der supranukleären Sympathikusbahn möchte ich einer noch vor 
30 Jahren von v. Monakow 67 ), gelegentlich seiner Studien über 
die Entwicklungshemmungen nach umschriebenen Hirnexstirpationen, 
gefundenen Tatsache gedenken, v. Monakow hat nämlich bei 
Kaninchen und Hunden nach Abtragung des Frontalhirns, wobei 
die vorderen Partien des Corpus striatum mitlädiert wurden, oder 
nach einer experimentell erzeugten embolischen Erweichung des 
Streifenhügels nach mehreren Monaten eine sekundäre Degeneration 
und Schrumpfung des L ouyssehen Körpers beobachtet. Wurden aber 
das Frontalhirn und der Nucleus caudatus geschont, so blieb, selbst 
wenn der größte Teil der übrigen Hemisphäre exstirpiert wurde, das 
Corpus subthalamicum ganz intakt. Also nur ein Defekt im Frontalhirn 
und im Corpus striatum konnte eine sekundäre Erkrankung des sub- 
thalamischen Körpers erzeugen. Dieser anatomisch festgestcllte Befund, 
im Lichte der klinisch und experimentell sichergestellten engsten funk¬ 
tioneilen Beziehungen des Frontalhirns, des Seh-, Streifenhügels und 
des L ouys sehen Körpers zu den halssympathischen Innervationen be¬ 
trachtet, macht den von mir für die Halssympathikusbahnen zentralwärts 
vom Hypothalamus angenommenen Verlauf sogar sehr wahrscheinlich. 

Ich bin nun so zu Ende meiner Ausführungen. Ich glaube, daß 
ich mit der obigen Beobachtung einen interessanten und seltenen 
Fall bekanntgegeben habe, der zur Klärung der Frage der sym¬ 
pathischen Gehirnbahnen manches wird beitragen können. 

67 ) Monakow v. Mitteil, über durch Exstirpationen cirkumskripter 
Hirnrindenregionen bedingten Entwicklungshemmungen. Arch. f. Psych. 
1882. Bd. XII, Heft 1 bis 3. 


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Aus dem Nervenambulatorium der I. med. Klinik (Prof. C. v. N o o r d e n), Wien. 
(Leiter Prof. L. v. Fr ankl -Hoch wart.) 

Die Bogengänge als anatomische Grundlage der 
Schallrichtungswahrnehmung. 

Ein experimenteller Beitrag zur nativistischen Kaumtheorie. 

Dr. phil. und med. Josef Reinhold und Dr. med. Ludwig Alt. 

Unter den vielen Problemen, die uns heute die Psychologie 
und Physiologie des Hörens aufwirft, nimmt die Frage nach den 
psychophysischen Bedingungen der räumlichen Determinierung des 
Schalles, der Wahrnehmung der Schallrichtung oder, wie wir sie 
im Anschluß an die Vorgänge bei visuellen und taktilen Empfin¬ 
dungen nennen möchten, der Schallprojektion, durch ihre prinzipielle 
Bedeutung eine gesonderte Stellung ein. Diese prinzipielle Bedeutung 
gewinnt das Phänomen der Schallprojektion dadurch, daß die Pro¬ 
bleme, vor die es uns stellt, nicht rein tonpsychologischer Natur 
sind, sondern in das weite Gebiet der Raumpsychologie hineinragen. 

Denn schon die Fragestellung gleicht ganz derjenigen, wie 
wir sie bei Betrachtung der Genese der Raumvorstellung formulieren. 
Die Frage lautet: Ist es möglich, daß wir die an die Schallempfindung 
gebundene Raumwahrnehmung von anderen Qualitäten der Schall¬ 
empfindung ableiten, beziehungsweise aus den Umständen, unter 
denen sie entsteht, erschließen können, oder aber ist das räumliche 
Element als in ihr schon ursprünglich gegeben zu betrachten? 
Auf die Raumvorstellung überhaupt bezogen, ist es die Frage nach 
dem empirisch-genetischen oder nativistischen Ursprung der Raum¬ 
vorstellung. Beide Möglichkeiten haben ihre Vertreter gefunden 
und die nativistische und empiristische Raumtheorie stehen sich 
noch heute gegenüber, ohne daß es der Psychologie gelungen wäre, 
die Frage einer endgültigen Lösung zuzuführen. 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 


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Es ist hier nicht der Ort, auf diese Probleme näher ein¬ 
zugehen. Es sei uns nur gestattet, so viel zu sagen, als notwendig 
ist, um den Standpunkt, den wir in dieser Frage einnehmen und 
als leitende Idee dieser Arbeit benützen wollen, zu rechtfertigen. 

Allen empiristisch-genetischen Kaumtheorien ist die Annahme 
gemein, daß die Baumanschauung nicht ursprünglich in den 
Empfindungen enthalten ist, sondern daß sie sich von Empfindungen 
anderer Art, entweder wirklich vorhandenen, bewußten, wie Be¬ 
wegungsempfindungen, oder nur supponierten, unbewußten, wie 
„Lokalzeichen“ (Lotze, 13), oder aus einer Verschmelzung dieser 
beiden Empfindungsarten (Wundt, 30) ableiten lasse. 

Wie es aber möglich ist, daß aus Empfindungen nicht räum¬ 
licher Natur die Kaumanschauung als ganz heterogenes Gebilde 
entstehen kann, wird nicht gezeigt, auch nicht die Wahrscheinlich¬ 
keit einer solchen Entstehung durch Hinweis auf psychologische 
Tatsachen glaubhaft gemacht. An der Unmöglichkeit dieses Über¬ 
ganges eis äklo yevos scheitert jeder Versuch einer genetischen Er¬ 
klärung der Raumvorstellung. Die bloße Konstatierung der den 
Sehakt oder das Tasten begleitenden Bewegungsempfindungen in 
den perzipierenden Organen genügt nicht, um einen so weitgehenden 
Schluß zu begründen. Der Empirismus verwechselt die für die weitere 
Ausgestaltung der Raumvorstellung für unsere Orientierung im 
Raume und die genauere Beurteilung der in ihm enthaltenen 
Momente, gewiß nicht zu unterschätzende Hilfsmittel, mit den 
Bedingungen der Entstehung der Raumvorstellung selbst. 

Daß die Annahme unbewußter Empfindungsqualitäten, die als 
sogenannte Lokalzeichen im räumlichen Sinne uragedeutet werden, 
nicht mehr erklären kann, ist leicht einzusehen. Dieser Annahme 
gemäß sehen wir zwei Punkte einer sonst ganz homogenen Fläche 
deshalb als räumlich disparate Elemente, weil sie zwei verschiedene 
Netzhautstellen affizieren, diese aber differente Empfindungen liefern, 
die dann ins Räumliche übersetzt werden. Warum wir aber das 
eine Lokalzeichen mit dem einen, das andere aber mit dem anderen 
Punkt verbinden, wie aus dieser Verbindung eine räumliche Vor¬ 
stellung entstehen soll, danach dürfen wir nicht fragen. Dieses von 
Stumpf (21) in seiner Arbeit über den Ursprung der Raum¬ 
vorstellung gebrauchte Argument gegen die Lokalzeichentheorie ist 
gegen jeden Versuch, räumliche Empfindungselemente von nicht 
räumlichen abzuleiten, anwendbar und wird deshalb öfters im Laufe 


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der folgenden Erörterungen zitiert werden müssen. Aus den eben 
besprochenen Gründen müssen wir auch die vonWundt (30) auf¬ 
gestellte Theorie „der komplexen Lokalzeichen“ oder die Ver- 
schmelzungstheorie ablehnen, die sich im Grunde genommen nur 
als Verbindung beider Theorien zu einer präsentiert. 

Aus diesen prinzipiellen Einwänden ergibt sich die nativistische 
Kaumtheorie als die einzige Konsequenz. Wenn man das Gebiet 
des psychologisch Tatsächlichen nicht verlassen will, muß man an¬ 
nehmen, daß die Raumqualitäten der Empfindung gleich anderen 
Empfindungsqualitäten schon in der Empfindung ursprünglich 
vorhanden und mit ihr gegeben und nicht weiter ableitbar sind. 

Damit ist freilich die Frage nach den Quellen des räumlichen An¬ 
teils der Schallempfindung nicht entschieden. Denn es ist wohl denk¬ 
bar, daß jemand, der sonst Anhänger der nativistischen Raumtheorie 
ist, den Schall als ursprünglich unräumlich betrachtet und seine räum¬ 
liche Determinierung aus den im Laufe der Jahre gesammelten und 
aus anderen Empfindungsqualitäten geschöpften Erfahrungen ableitet. 

Und doch ist diese Frage für die nativistische Theorie nicht 
gleichgültig. 

Erstens wegen der Einheitlichkeit der Theorie. Zweitens aber, 
weil durch die Erbringung des Beweises für die ursprüngliche 
Räumlichkeit des Schalles die Theorie selbst eine bedeutende Stütze 
erhalten würde und das um so mehr, als das Gehör neben dem 
Gesichtssinn der einzige, beim Blindgeborenen der ausschließliche und 
entwicklungsgeschichtlich sicherlich der erste Fernsinn ist. Es ist 
also verständlich, daß die Vertreter der nativistischen Theorie einer¬ 
seits und die der empiristischen andrerseits sich auch in bezug 
auf die Räumlichkeit des Schalles auf den entgegengesetzten 
Standpunkt stellen. 

So sagt z. B. Wundt (30): „Unsere Schallvorstellungen 
empfangen ihre räumliche Beziehung erst vermöge der Existenz 
eines Bildes der Außenwelt, in das sie eingetragen werden. Dieses 
Bild ist beim Sehenden und zumeist auch noch beim Erblindeten 
der Gesichtsraum, bei Blindgeborenen oder Früherblindeten der 
Tastraum. Die Existenz eines besonderen Hörraumes, der von der 
qualitativen Beschaffenheit und räumlichen Ordnung der Gesichts¬ 
oder Tastempfindungen unabhängig wäre, ist demnach eine Fiktion.“ 

Der Nativist Stumpf (22) dagegen meint: „Die erste und 
unentbehrliche Grundlage für die räumliche Auffassung der Ton- 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 325 

empfindungen liegt in ilmen selbst in dinem immanenten Moment 
derselben.“ 

Jo dl (9), der auch auf dem Boden der nativistischen Raum¬ 
theorie steht, sagt in seinem Lehrbuch der Psychologie: „Alle 
Gehörsempfindungen werden, abgesehen davon, daß sie im Organ 
lokalisiert werden, was bei normaler Reizung für das Bewußtsein 
zurücktritt, zugleich in den Raum projiziert oder externalisiert. 
Eben dadurch ist jeder Schall durch sich selbst irgendwie örtlich 
bestimmt. Den Schallraum kann man als eine, das Ich umgebende 
Kugel von unbestimmbar großem Radius bezeichnen.“ 

Wenn wir nun auch die nativistische Raumtheorie nicht als 
Beweisgrund für die weiter folgenden Ausführungen benützen wollen, 
so war sie uns doch ein willkommener Ausgangspunkt und heuristi¬ 
sches Prinzip der Untersuchung. Dadurch aber war die Frage¬ 
stellung selbst in einem gewissen Sinne gegeben. Denn durch die 
Annahme, daß das Raummoment in der Schallempfindung schon 
ursprünglich enthalten sein muß, wird das ganze Problem vom rein 
psychologischen auf physiologisch-anatomisches Gebiet verschoben, 
d. h.: Es wird angenommen, daß das Raummoment der Schall¬ 
vorstellung sich dem Bewußtsein als ein aus seinen Inhalten nicht 
weiter ableitbares Phänomen darstellt, ebenso wie der Schall und 
seine Qualitäten, die Höhe, die Intensität selbst. 

Wie nun die Psychologie, um die Entstehung des Schalles zu 
erklären, auf den anatomischen Bau des Hörorgans und seine 
physiologischen Funktionen rekurriert, so müßte es auch bei unserer 
Frage geschehen. 

Diese Frage würde also lauten: In welchen Partien des 
Gehörorgans findet sich das anatomische Substrat 
für die Wahrnehmung der Schallrichtung? Dabei müssen 
wir aber deutlich hervorheben, daß wir im Gegensatz zur Trommel¬ 
fell- und Ohrmuscheltheorie der Schallrichtungswahrnehmung nicht 
nach einem Organ suchen, dessen Miterregung beim Ertönen eines 
Schalles uns irgendwie zum Bewußtsein kommen und im Sinne 
einer räumlichen Beziehung umgedeutet werden soll, sondern nach 
einem Organ oder Teile eines Organs, dessen Erregung uns 
selbst unbewußt bleibt und nur ihr Resultat bewußt wird, 
ebensowie die jenseits unseres Bewußtseins vor sich gehende, also 
als rein physiologisch zu deutende Erregung des Cortischen Organs 
als Resultat dieser Erregung die Schallempfindung liefert. 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 22 


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Dr. Josef Reinhold und Dr. Ludwig Alt. 


Bevor wir aber diese' Frage beantworten, müssen wir uns der 
Tatsache der Schallprojektion selbst zuwenden und die bisherigen 
Versuche, sie zu erklären, einer kritischen Wertung unterziehen. 

Was nun die Schallprojektionsfähigkeit selbst betrifft, so muß 
vorerst konstatiert werden, daß sie bei allen normal hörenden 
Menschen zu finden ist. Der Grad dieser Fähigkeit, die Feinheit 
und Genauigkeit der Unterscheidung von Schallrichtungen ist aller¬ 
dings bei verschiedenen Individuen ein verschiedener und hängt, 
wie die Unterscheidungsfähigkeit von Tonhöhe, von der Übung, der 
Intensität der Aufmerksamkeit usw. ab. Münsterberg (15), der 
diese Tatsachen eingehend studierte, fand, daß wir Abweichungen 
der Schallrichtung von der Medianebene nach rechts oder nach 
links um einen Grad schon bemerken können. 

Unsere Untersuchungen ergaben ein Minimum von einem 
halben Grad bei gut eingeübten Versuchspersonen und fünf Grad 
im Durohschnitt bei Ungeübten, ein Resultat, welches mit dem 
von Seashore(22) gefundenen übereinstimmt. Die Unterschieds¬ 
empfindlichkeit für Verschiebungen der Schallrichtung ist zwar 
nicht in allen Ebenen die gleiche, doch sind diese Differenzen so 
unbedeutend und inkonstant, daß es nicht gestattet ist, daraus 
irgendwelche Schlüsse auf die Bevorzugung einzelner Ebenen oder 
Richtungen zu ziehen, noch an diese Bevorzugung irgendwelche 
Folgerungen theoretischer Natur, wie es Preyer (17), Münster¬ 
berg (15) und Titchener (25) getan haben, zu knüpfen; um so 
weniger,als die Ergebnisse der einzelnenUntersuchungen[Preyer(17), 
Münsterberg (15), Bloch (4)] nicht genügend übereinstimmen, 
um als feststehende Tatsachen betrachtet werden zu können. 

Sicher ist, daß wir die räumliche Beziehung eines Schalles, 
gleichgültig aus welcher Richtung er kommt, zu unserem Körper 
mit einer großen Genauigkeit bestimmen können und daß die 
Wahrnehmung der Schallrichtung nicht gar so unbestimmt ist, wie 
es Wundt(30) meint. 

Aus dem Umstande, daß manche Menschen mit sonst intaktem 
Gehörorgan nur ungenaue Angaben über die Wahrnehmung der 
Schallrichtung machen können, auf die untergeordnete Bedeutung 
des Hörens für die Ausgestaltung der Raumvorstellung und für 
unsere räumliche Orientierung zu schließen oder gar, wie es von 
mancher Seite geschehen ist, die Berechtigung absprechen zu wollen, 
nach einem organischen Substrat dieser Fähigkeit zu suchen, ist 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 


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ebenso unzulässig, wie es unzulässig ist, aus der Tatsache, daß es 
normal hörende Menschen gibt, die nur große Tondistanzen zu 
unterscheiden vermögen, auf das Fehlen einer anatomischen Grund¬ 
lage für die Unterscheidung von Tonhöhen zu schließen. 

Zu erwähnen wäre auch, daß die Wahrnehmung der Schall¬ 
richtung beim Menschen schon sehr frühzeitig, in den ersten Lebens¬ 
monaten, auftritt. Übereinstimmende Angaben über den Zeitpunkt, 
in dem sie auftritt, sind allerdings nicht vorhanden. So berichtet 
P r e y er (18) in seinem Buche: „Die Seele des Kindes:“ „In der elften 
Woche bemerkte ich zum ersten Male, was andere erst im zweiten 
Vierteljahr, einige aber auch früher, wahrnahmen, daß das Kind den 
Kopf in der Richtung des gehörten Schalles unzweifelhaft bewegte. 
In der zwölften Woche war die Wendung des Kopfes nach dem tönen¬ 
den Körper rasch, auch wenn der Blick nicht gleich in die richtige 
Richtung fiel. In der sechzehnten Woche geschieht das Umdrehen des 
Kopfes nach einem Schall hin mit der Sicherheit einer Reflexbewegung. “ 

Es fehlen leider an einem größeren Kindermaterial gemachte 
Beobachtungen über dieses Thema. „Jedenfalls ist das Hinwenden 
des Ohres in die Richtung der Hörachse bei den Kindern schon 
zu einer Zeit ausgebildet, wo sie noch ganz unsicher nach den 
Gegenständen greifen.“ (Jodl, 9.) 

Der Versuch, die Frage nach den Bedingungen der Schall¬ 
richtungswahrnehmung durch rein introspektive Analyse dieses 
Phänomens zu beantworten, blieb stets ergebnislos. Man ist nicht 
imstande anzugeben, warum man einmal den Schall als von 
rechts, das anderemal als von rechts vorne kommend vernimmt. 
Die räumliche Determinierung des Schalles präsentiert sich dem 
Bewußtsein als letzte, nicht weiter ableitbare und analysierbare 
Tatsache. Zwar finden sich in der Literatur Angaben über Wahr¬ 
nehmung von Sensationen, die das Hören begleiten und einen 
Anhaltspunkt für die Lokalisation des Schalles geben sollen. Doch 
sind diese Sensationen von so unbestimmter Art, so vage und vor 
allem so vereinzelt, daß sie keineswegs auch nur einen kleinen 
Beitrag zur Klärung der Frage nach den Bedingungen der Schall¬ 
projektion liefern können. Die Tatsache, daß jemand beim Schall 
von links ein Gefühl der Spannung oder Entspannung im linken 
Trommelfell verspürt oder daß er eine unbestimmte Hautsensation 
hat, kann nicht erklären, wie es möglich ist, die Verschiebung der 
Schallquelle um einen oder einen halben Grad zu erkennen. 

22 * 


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Dr. Josef Reinhold und Dr. Ludwig Alt. 


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Jedenfalls können diese Angaben nicht die allgemeine Geltung 
der Behauptung einschränken, daß das räumliche Moment der 
Schallempfindung sich dem Bewußtsein als ebenso ursprünglich und 
unmittelbar darstellt, wie andere Qualitäten des Schalles. Diese 
Unmittelbarkeit der Schallrichtungswahrnehmung weist aber von 
selbst auf einen nativistischen Ursprung des räumlichen Elements 
der Schallempfindung hin und nur durch die hypothetische An¬ 
nahme von unbewußten Erfahrungsurteilen kann man sich dieser 
Konsequenz entziehen. 

Die Ergebnislosigkeit der Introspektion führte schon sehr 
frühzeitig auf den Weg der experimentellen Untersuchung. 

Im Jahre 1802 publizierte Yenturi (28) und bald darauf 
Chladni (6) Versuche über die Schallokalisation. Sie fanden, 
daß, wenn man auf einer Seite den äußeren Gehörgang verstopft, 
die Tendenz besteht, den Schall nach der Seite des offenen Ohres 
zu verlegen. „Wenn ein Ohr verstopft ist,“ heißt es bei Chladni (6), 
„und man bleibt bei verbundenen Augen immer in einerlei Stellung, 
so scheint der Schall, er werde erregt, wo man wolle, immer von 
der Seite des offenen Ohres herzukommen, und zwar von dem Orte, 
der dem Ohre gerade gegenüber liegt, oder mit anderen Worten: 
in der akustischen Achse des Ohres.“ 

Beide schlossen daraus, daß wir nur auf Grund der Wahr¬ 
nehmung des Intensitätsunterschiedes, mit dem z. B. ein von rechts 
kommender Schall in beiden Ohren erklingt, imstande sind, den 
Schall nach rechts zu lokalisieren, mit anderen Worten, wir ver¬ 
legen den Schall nach der Seite des Ohres, das der Schallquelle 
näher ist. 

So entstand eine Theorie der Schallrichtungswahrnehmung, 
die wir kurz als Intensitätstheorie bezeichnen wollen und die wohl 
von den meisten Physiologen, Psychologen, besonders aber von 
Ohrenärzten, die zu den Ergebnissen der Experimente vonVenturi 
und Chladni Beispiele aus der Pathologie (Pollitzer, 19) des 
Hörens hinzufügten, anerkannt, sich in fast unveränderter Form 
bis jetzt erhalten hat. 

Aus diesem Grunde und weil sie ein typisches Beispiel der 
empiristischen Deutungsweise des akustischen Raumproblems ist, 
werden wir bei dieser Theorie am längsten verweilen, um ihre 
Schwäche und Haltlosigkeit zu zeigen. 

Die Intensitätstheorie reicht vor allem nicht aus, um die 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 


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Möglichkeit, den Schall nach allen Richtungen zu projizieren, zu 
erklären. Sie macht im besten Falle nur die Tatsache verständlich, 
daß wir rechts und links akustisch unterscheiden können. Wie wir 
aber die übrigen Schallrichtungen von einander zu unterscheiden 
vermögen, läßt sie gänzlich unbeantwortet. 

Die Theorie supponiert ferner, daß wir jederzeit in der Lage 
sind, zu unterscheiden, mit welchem Ohre wir den Schall besser 
hören, eine Annahme, die wie Stumpf (22) mit Recht hervorhebt, 
gänzlich unerwiesen und angesichts der Tatsache, daß normaler¬ 
weise mit dem Hören gar keine Organempfindung verbunden ist, 
welche auf das Ohr als den Ort, in dem die Gehörempfindung 
zustande kommt, hinweist (Jodl, 9), in höchstem Maße unwahr¬ 
scheinlich ist. 


Daß wir schon Verschiebungen der Schallrichtung um einen 
Grad wahrnehmen können, widerspricht direkt der Theorie. Denn 
bei dieser Verschiebung resultiert eine Intensitätsdifferenz, die weit 
hinter der von der Psychologie als eben merkbare festgestellte 
zurückliegt. (Kries, 10.) 

Ferner müßte unter Zugrundelegung der Intensitätstheorie 
einerseits und des psychophysischen Grundgesetzes andrerseits die 
Unterschiedsempfindlichkeit für die Verschiebungen der Schallrichtung 
um so kleiner werden, je größer die Entfernung ist, aus der der 
Schall kommt. Wenn man nämlich als Quotienten für die Unter¬ 
schiedsempfindlichkeit von Schallintensitäten Vio annimmt und sich 
vorstellt, daß dieser Quotient auf beide Ohren zu verteilen ist, weil 
in dem Maße, als sich der Schall von einem Ohr entfernt, er sich 
dem anderen nähert, so ergibt sich für das Verhältnis des Winkels, 
bei dem die Intensitäten in beiden Ohren um Vio differieren, zur 
Entfernung der Schallquelle von beiden Ohren die Formel 


R 2 + d 
22 d 


-, wobei a den Winkel, um welchen die 


Schallrichtung von der Medianebene nach rechts oder links ver¬ 
schoben werden muß, damit die Verschiebung eben merklich ist, 
R die Entfernung der Schallquelle und d die Entfernung der Ohren 
voneinander bezeichnet. Wie zu ersehen ist, muß der Winkel a 
um so größer sein, je größer R ist, eine Annahme, die den Tatsachen 
widerspricht, da die Unterschiedsempfindlichkeit für die Veränderung 
der Schallrichtung von der Entfernung der Schallquelle unabhängig ist. 

Hier sei auch bemerkt, daß nur wenig Menschen auf beiden 



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330 Dr. Josef Rcinhold und Dr. Ludwig Alt. 

Ohren gleich hören, daß, wie Burnett (5) annimmt, der Hörsinn am 
linken Ohre stärker entwickelt ist als am rechten. Abgesehen davon, 
gibt es eine ganze Reihe von akzidentellen Momenten (Cerumen usw.), 
die ohne das Wissen des betreffenden Individuums das Gehör auf 
der einen Seite herabsetzen können, ohne die Schallprojektions¬ 
fähigkeit zu beeinträchtigen. Daß auch bedeutende Differenzen der 
Hörfähigkeit beider Ohren für die Wahrnehmung der Schallrichtung 
irrelevant sind, sei hier nur beiläufig bemerkt. 

Die experimentelle Grundlage und die Ergebnisse der Patho¬ 
logie des Hörens rechtfertigen diese Theorie nicht, vielmehr wider¬ 
sprechen sie ihr. Denn wenn man das Gehör auf einer Seite voll¬ 
ständig, z. B. vermittels des Bäränysehen Lärmapparates, wie wir 
es getan haben, ausschaltet, tritt nicht die Tendenz auf, den Schall 
nach der Seite des gut hörenden Ohres in dem Sinne zu verlegen, 
daß noch von einer Lokalisation überhaupt gesprochen werden kann: 
denn dann müßte ein Schall, der z. B. von rechts vorne kommt, 
entsprechend der Ausschaltung des Gehörs auf der rechten Seite 
nach links vorne in den Raum verlegt werden. Dies ist aber 
nicht der Fall. Durch Ausschaltung des Gehörs auf einer Seite 
hört man überhaupt auf zu lokalisieren. Man hört den Schall ein¬ 
fach im offenen Ohr und nicht im Raum, am wenigsten 
in der der Schallquelle korrespondierenden Richtung auf der Seite 
des gut hörenden Ohres. Dieses schon von C h 1 a d n i (6) angedeutete 
Verhalten der Schallokalisation nach Ausschaltung eines Ohres 
(siehe oben) beweist aber das Gegenteil von dem, was aus diesem 
Phänomen geschlossen wurde. Denn es zeigt, daß, wenn wir eine 
bewußte Wahrnehmung* haben, mit einem Ohre den Schall 
besser zu hören als mit dem anderen, wir nicht imstande sind, 
über diese Wahrnehmung hinaus den Schall in den Raum zu pro¬ 
jizieren. Diese Tatsache findet eine Parallele in der ganzen Ent¬ 
wicklungsgeschichte der Sinnesorgane. In dem Maße nämlich, als 
sich die Sinne von den Organempfindungen entfernen, die uns 
nur über den Zustand de3 eigenen Körpers aufklären, und je mehr 
sie dazu dienen, das außerhalb unseres Körpers befindliche zu er¬ 
kennen, um so weniger sind die Empfindungen, die sie liefern, von 
einem Organgefühl begleitet, welches auf das betreffende Sinnes¬ 
organ als Quelle der Empfindung hinweist. Die Sinne sind um so 
untauglicher, uns über die Außenwelt zu informieren, je mehr Organ¬ 
empfindung ihnen anhaftet. „Beim normalen Sehen und Hören,“ 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 


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sagt Jo dl (9), „werden unserem Bewußtsein nur Licht-, Farben- 
und Toneindrücke zugeführt; Farbe und Ton werden empfunden, 
nicht Zustände des Auges und des Ohres. Wenn sich Organ- 
.empfindungen in die Empfindungen der Inhalte, die das Organ ver¬ 
mittelt, einscbieben, so werden sie als Störungen betrachtet.“ „Je 
mehr in einer Gruppe von Empfindungen nur die Zustände des 
empfindenden Organs selbst zum Bewußtsein kommen, um so geringer 
ist der in ihr sich darbietende Inhalt (das präsentative Moment) und 
um so geringer ihre Bedeutung für die Erkenntnis der Außenwelt.“ 
„In der Beziehung stehen die aus der Vitalität stammenden Empfin¬ 
dungen, in welchen ein von den Organempfindungen verschiedenes 
sensorielles Element überhaupt nicht vorhanden ist, am tiefsten 
die Empfindungen des Auges und Ohres am höchsten.“ 

Daß ein für das normale Bewußtsein beim Hörakt zurück¬ 
tretendes Organgefühl durch die auf das Organ gerichtete Aufmerk¬ 
samkeit so verstärkt werden kann, daß es die Externalisation der 
Empfindung verhindert, ist selbstverständlich und wird durch die 
Beobachtungen an Schwerhörigen bestätigt. Es zeigt sich auch hier 
wiederum, daß zwischen Lokalisation und der Empfindung in einem 
Sinnesorgan und ihrer Externalisation eine funktionelle Beziehung 
im mathematischen Sinne besteht; so wie die Lokalisation beim 
Ohre und Auge von der Externalisation vollständig zurückgedrängt 
wird, so verdrängt die Lokalisation in einem Sinnesorgan die Exter¬ 
nalisation. (Jodl, 9.) Daß es so ist, erhellt daraus, daß, wenn die 
Schwerhörigkeit auf einem Ohre längere Zeit besteht und die Auf¬ 
merksamkeit von dieser Tatsache abgelenkt wird, auch die Schall¬ 
projektionsfähigkeit wieder ihren früheren Grad erreicht, ohne 
Besserung des Gehörs. (Mayer, 16.) Diese Tatsache bildet einen 
weiteren, schwerwiegenden Einwand gegen die Intensitätstheorie. 
Denn sie zeigt, daß in Fällen, wo der Schall notwendigerweise in 
einem Ohr mit einer geringeren Intensität vernommen wird als mit 
dem anderen, wo also jede objektiv gerechtfertigte Vergleichungs¬ 
möglichkeit der Intensitäten fehlt, die Schallprojektionsfähigkeit 
doch erhalten sein kann. Noch mehr aber widersprechen der Theorie 
die Fälle, in denen der Schall nach der Seite des schlechter hören¬ 
den Ohres verlegt wird. Solche Fälle sind vielfach beobachtet 
worden. (Urbantschitsch, (27,) Mayer, 16, Münnich, 14.) Sie 
zeigen, daß die Bedingungen für das Zustandekommen der Schall¬ 
richtungswahrnehmung doch irgendwo anders zu suchen sind. 


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Dr. Josef Reinhold und Dr. Ludwig Alt. 


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Gegen die Theorie spricht ferner die von S t e n g e r (24) ge¬ 
fundene Tatsache, daß, wenn zwei gleichhohe Stimmgabeln gleichzeitig 
mit der gleichen Intensität und in der gleichen Entfernung vom 
Ohre der entsprechenden Seite ertönen, wir zweiTöne wahrnehmen,. 
trotzdem die Intensitätsdifferenz auf beiden Ohren gleich Null ist. 
Dieser Versuch zwingt uns direkt zur Annahme eines der Schall¬ 
empfindung immanenten räumlichen Empfindungselementes. Denn 
beide Töne sind ja nur durch das Moment der Räumlichkeit von¬ 
einander verschieden. Alle anderen Empfindungsqualitäten und die 
sie begleitenden Empfindungen sind beiden Tönen gemeinsam. Wenn 
also die Töne doch differenziert werden können und als räumlich 
getrennt wahrgenommen werden, so muß dieses Moment der Räum¬ 
lichkeit als besondere inhärente Qualität in der Empfindung ent¬ 
halten sein und ebenso ursprünglich, wie die übrigen Empfindungs¬ 
qualitäten, dem perzipierenden Bewußtsein gegeben. 

Vom Standpunkte der Intensitätstheorie ist es auch unerklär¬ 
lich, warum wir hohe Töne besser lokalisieren als tiefe, da sie doch 
bei Entfernung ihre Intensität in derselben Weise verändern und 
die Unterschiedsempfindlichkeit für Intensitäten keine andere 
ist bei hohen Tönen als bei tiefen. * 

Daß nicht der Unterschied der Intensitäten, mit der ein Schall 
in je einem Ohr erklingt, uns die Wahrnehmung der Schallrichtung 
ermöglicht, beweisen die Erscheinungen beim sogenannten Web er¬ 
sehen Versuche. 

Wenn man nämlich eine tönende Stimmgabel in der Mitte 
des Schädels aufsetzt, hat man bei beiderseits normalem Gehör¬ 
apparat die Empfindung, als ob der ganze uns umgebende Raum 
von Schall erfüllt wäre. 

Da bei diesem Versuche die Schallintensität auf beiden Ohren 
gleich oder wenigstens ebenso gleich ist, wie wenn der Schall von 
der Medianebene käme, so müßten wir, wenn die Intensitätstheorie 
recht hätte, den gehörten Schall irgendwo in die Medianebene 
hinaus projizieren. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall: Der 
Schall wird zwar als räumlich, aber ohne jede Lokalisation 
gehört. Wir haben die Empfindung einer uns umgebenden Schall¬ 
kugel. Ist auf einer Seite ein Schalleitungshindernis, so wird der 
Schall in diesem Ohr, ist der nervöse Apparat auf einer Seite 
affiziert, im Ohre der entgegengesetzten Seite gehört — in keinem 
Fall aber nach außen, nach rechts oder links im Raume, pro- 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 333 

jiziert, trotzdem doch der Schall in einem Ohr intensiver tönt als 
in dem anderen. Daraus geht wohl mit Sicherheit hervor, daß die 
Intensitätsdifferenz allein nicht genügt, um uns über die Schall¬ 
richtung zu orientieren. Aus dem Web ersehen Versuch folgt aber 
noch etwas, was nur im Sinne unserer Auffassung von der räum¬ 
lichen Determinierung des Schalles zu deuten ist. Er zeigt nämlich, 
daß der Schall nur dann in einer bestimmten Richtung in den 
Raum hinausprojiziert wird, wenn er tatsächlich aus dem Raum außer 
uns kommt; und daß die Möglichkeit, den Schall zu lokalisieren, in 
dem Momente verschwindet, in dem die Schallquelle sich dem 
Kopfe so genähert hat, daß er selbst zur Schallquelle wird und 
jede räumliche Relation zwischen ihm und der eigentlichen Schall¬ 
quelle aufgehoben wird. Mit dem Entfernen der Schallquelle vom 
Schädel, also mit dem Schaffen einer räumlichen Relation zwischen 
ihr und unserem Körper tritt zu den übrigen Qualitäten des Schalls 
noch eine neue, die der Richtung, hinzu. Das Rudiment von Räum¬ 
lichkeit, welches im Web ersehen Versuch dem gehörten Ton 
anhaftet und sich uns als unbestimmtes Imraumsein präsentiert, 
differenziert sich zur Wahrnehmung einer bestimmten Richtung. 

Die logischen Schwierigkeiten der Intensitätstheorie, ihre Un¬ 
zulänglichkeit für die Erklärung aller in ihr Bereich fallenden 
Erscheinungen, der Widerspruch mit den Tatsachen, gab den Anstoß 
zum Suchen nach anderen Erklärungsgründen der Schallprojektions¬ 
fähigkeit. Während die Intensitätstheorie auf jede anatomische 
Grundlage verzichtete, zeichnet alle übrigen Theorien der Umstand 
aus, daß sie auf anatomische Erwägungen sich stützen und nach 
Organen suchen, die die Grundlage für die Funktion der Schall¬ 
richtungswahrnehmung bilden sollen. So entstand die Trommelfell-, 
die Ohrmuschel- und die Bogengangtheorie der Schallprojektion. 

Die erstere, zuerst von Elliot aufgestellt, von Weber (29) 
experimentell gestützt, will die Schallprojektionsfähigkeit mit der 
Sensibilität des Trommelfells erklären. 

Weber fand, daß man unter Wasser bei vollständig mit 
Wasser ausgefüllten Gehörgängen keine Wahrnehmung der Schall¬ 
richtung mehr hat, daß man aber noch deutlich rechts und links 
unterscheiden kann, wenn sich in den Gehörgängen Luft befindet. 
Weber schloß daraus, daß „der Grund, warum wir die Gehörs¬ 
eindrücke als von außen kommende wahrnehmen und unterscheiden 
können, ob sie von rechts oder links kommen, demnach nicht in 


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Dr. Josef Rein hold und Dr. Ludwig Alt. 


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der Empfindung der Gehörnerven liegt, sondern in der des äußerst 
nervenreichen Trommelfells“. 

Uns hot sich bis nun keine Gelegenheit, die etwas komplizierten 
Versuche nachzuprüfen. 

Logische Gründe sprechen aber gegen die Beweiskraft der 
Web ersehen Experimente. Denn das, was sie beweisen sollen, ist 
die Bedeutung der Trommelfellsensibilität, einer Sensibilität, die 
wohl nur als taktile gedeutet werden kann, für die Wahrnehmung 
der Schallrichtung. Diese Bedeutung wird aus der Tatsache er¬ 
schlossen, daß nach vollständigem Ausfüllen der Gehörgänge mit 
Wasser die Schallprojektionsfähigkeit aufgehoben, daß sie dagegen 
bei mit Luft gefülltem Gehörgang noch vorhanden ist. 

Nun ist es aber nicht klar, wie denn die Berührung des 
Trommelfells mit Wasser seine Sensibilität für Schallwellen beein¬ 
flussen soll. Weber meint augenscheinlich, es werde die Schwingungs¬ 
fähigkeit des Trommelfells durch den Druck der Wassermasse auf¬ 
gehoben, wodurch auch der sensible Eindruck entfällt. Das wird 
aber nicht bewiesen und wäre auch schwer zu beweisen. Denn der 
Druck der Wassermasse auf das Trommelfell wird bei aufrechter 
Kopfhaltung unter Wasser unverändert bleiben, gleichgültig, ob sich 
Luft oder Wasser im Gehörgang befindet. Die Herabsetzung der 
Exkursionsfähigkeit des Trommelfells erklärt also nicht das Aus¬ 
bleiben der Schallprojektion, da sie doch in beiden Fällen die 
gleiche ist. Die Tatsache aber, daß in einem Fall die Schallwellen 
dem Trommelfell durch die Luft, im anderen durch das Wasser 
zugeführt werden, ist zwar für die Intensität der Schallempfindung, 
aber nicht für die Schwingungsfähigkeit der Membrana tympani 
von Bedeutung. Da auch die Sensibilität des Trommelfells durch 
die Berührung mit Wasser nur unwesentlich beeinflußt wird, so muß 
der Grund, warum man nach Ausfüllen der Gehörgänge mit Wasser 
den Schall nicht mehr lokalisieren kann, irgendwo anders gesucht 
werden. Dafür spricht auch der Umstand, daß das Phänomen nur 
dann auftritt, wenn der ganze Kopf unter Wasser taucht. Dieses 
Aggredienz hat aber mit der Trommelfellsensibilität nichts zu tun. 
Fällt es aber weg, prüft man die Schallprojektionsfähigkeit nach 
Ausfüllen der Gehörgänge mit Wasser, ohne daß der Kopf unter 
Wasser taucht, so tritt zwar eine Herabsetzung dieser Fähigkeit, 
aber keine absolute Unmöglichkeit die Schallrichtung wahrzunehmen, 
auf. (Preyer 17.) Es muß also angenommen werden, daß durch 


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das Tauchen des Kopfes unter Wasser die bei der Besprechung des 
W eher sehen Stimmgabelversuches erörterten Verhältnisse eintreten, 
daß nämlich durch die Zuleitung der Schallwellen in einem Medium 
von ähnlicher Schalleitungsfähigkeit wie die der Kopfknochen die 
räumliche Relation zwischen Schallquelle und unserem Körper auf¬ 
gehoben wird. (Nagel, 16 a.) 

Diesem Moment und nicht dem Unwirksamwerden des Trommel¬ 
fellapparates ist es zuzuschreiben, daß die Wahrnehmung der Schall¬ 
richtung in den Versuchen Webers aufgehoben war. Daß man 
aber bei Vorhandensein von Luft in den Gehörgängen noch rechts 
und links unterscheiden kann, ist gewiß sonderbar und schwer zu 
erklären. Vielleicht haben wir nicht unrecht, wenn wir annehmen, 
daß durch die Einschaltung von Luft zwischen das den Schall 
leitende Wasser und die Paukenhöhle die Existenz einer Schall¬ 
quelle ad concham vorgetäuscht und so die räumliche Determinie- 
rung des Schalles erzwungen wird. Mit unserer Deutung würde es 
auch übereinstimmen, daß wir unter diesen Bedingungen nur rechts 
und links unterscheiden können, ein Umstand, der vom Standpunkte 
der Weberschen Trommelfelltheorie unerklärlich ist. Denn, wenn 
das Trommelfell die anatomische Grundlage der Schallrichtungs¬ 
wahrnehmung bildet und wenn es bei Vorhandensein von Luft im 
äußeren Gehörgange noch „wirksam“ ist, dann muß angenommen 
werden, daß man unter den gegebenen Verhältnissen alle Richtungen 
unterscheiden kann und nicht nur rechts und links. Diese Schwierig¬ 
keit sah Weber ein und suchte sie durch die Annahme zu um¬ 
gehen, daß das Unwirksamwerden der Ohrmuscheln im Wasser die 
Unterscheidungsmöglichkeit der übrigen Richtungen ausschließt. 
Durch diese, übrigens nicht weiter begründete, Behauptung wird 
die Bedeutung des Trommelfells für die Wahrnehmung der Schall¬ 
richtung wesentlich eingeschränkt und die Trommelfellsensibilität 
nur für die Erklärung der Unterscheidungsmöglichkeit von rechts 
und links herangezogen. 

In diesem Pall aber müssen wir auch gegen die Trommel¬ 
felltheorie denselben Einwand erheben, den wir gegen die Intensitäts¬ 
theorie gerichtet haben: Es muß von einer Theorie verlangt werden, 
daß sie alle in ihr Bereich fallenden Erscheinungen erklärt. Ebenso 
beziehen sich auf die Trommelfelltheorie die übrigen prinzi¬ 
piellen Einwände, die wir gegen die Intensitätstheorie erhoben 
haben. 


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„Erstlich ist“, sagt Stumpf (22), „bei aller Empfindlichkeit 
des Trommelfells für Berührungen doch mehr als zweifelhaft, ob 
so ungeheuer geringe, schnell periodische Veränderungen der Luft¬ 
dichtigkeit, wie sie bei einer leisen Tonschwingung stattfinden, noch 
eine Berührungsempfindung erzeugen können. 

Zweitens wäre die Frage, woran man denn Rechts und Links 
bei Tastempfindungen unterscheide? 

Drittens. Wenn zu gleicher Zeit ein Ton c rechts, ein anderer 
Ton, z. B. e, links erklingt, woran soll man erkennen, welche Tast¬ 
empfindung zu welchem Ton gehört?“ 

Dafür, daß die Trommelfellsensibilität für die Wahrnehmung 
der Schallrichtung ohne Bedeutung ist, spricht die Tatsache, daß 
wir hohe Töne, die doch vorwiegend durch die Knochenleitung 
vermittelt werden, besser lokalisieren als die tiefen, bei denen der 
Trommelfellapparat hauptsächlich beteiligt ist (Münnich, 14). 
Schließlich sei noch hervorgehoben, daß die Anästhesie des Trommel¬ 
fells die Wahrnehmung der Schallrichtung keineswegs beeinflußt 
(Lichtwitz, 12). 

Die Hilfshypothese Rogdestwenskys (20), daß es die durch 
die Zuckungen des Musculus tensor tympani vermittelten Muskel¬ 
empfindungen sind, die uns die Wahrnehmung der Schallrichtung 
ermöglichen, sei hier nur erwähnt, ohne daß wir angesichts der 
ganz unzureichenden Begründung dieser Annahme näher darauf 
eingehen. 

Mehr Bedeutung beansprucht die Annahme, daß die Ohr¬ 
muscheln die anatomische Grundlage der Schallrichtungswahrueh- 
mung sind. Für diese Theorie kommen weniger die- in den Ohr¬ 
muscheln ausgelösten Empfindungen in Betracht als die Veränderung 
der Schallqualität und -intensität, je nachdem, ob der Schall die 
vordere oder die hintere Fläche der Ohrmuschel trifft. Das aber 
ist die große Schwäche der Theorie, denn abgesehen davon, daß 
wir — ihre Richtigkeit vorausgesetzt — nur Töne von bekannter 
Intensität und Qualität lokalisieren könnten, erklärt sie 
nur die Unterscheidungsmöglichkeit von vorne und hinten, nicht 
aber die der übrigen Richtungen voneinander. Gegen die Theorie 
spricht auch das Verhalten der Ohrmuscheln bei den Tieren. Ihre 
Beweglichkeit macht es unwahrscheinlich, daß sie als Indikator 
für die Schallrichtung verwendet werden könne. Ein Pferd z. B. 
wendet die Ohrmuschel nach dem Ort, in dem sich die Schallquelle 


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befindet. Es muß also schon vorher von der Richtung, aus der der 
Schall kommt, unterrichtet sein und das Zuwenden der Ohrmuschel 
hat wohl nur den Zweck, die Hörschärfe für diesen Schall zu steigern. 

Die aus theoretischen Gründen gewonnenen Einwände werden 
durch die Tatsache gestützt, daß der Verlust, beziehungsweise 
pathologische Veränderungen der Ohrmuschel keine wesentliche 
Herabsetzung der Schallprojektionsfähigkeit verursacht [Toynbee 
(26), Münnich (14)] und daß auch die experimentelle Ausschaltung 
der Ohrmuschel durch Einführung eines Glastrichters in den äußeren 
Gehörgang oder durch Auspolsterung und Fixation der Ohrmuschel 
[Münnich (14), Küpper (11), Harleß (8)] die Wahrnehmung 
der Schallrichtung nicht beeinflußt. 

Wegen der Bedeutung, die die zuerst von Autenrieth (1) 
ausgesprochene, von Preyer (18) und Münsterberg (15) ex¬ 
perimentell begründete Behauptung, daß wir vermittels der Bogen¬ 
gänge die Schallrichtung wahrnehmen, für unsere Untersuchung 
hat, wollen wir uns etwas eingehender mit ihr beschäftigen. 

Autenrieth (1) ließ sich von rein anatomischen Gesichts¬ 
punkten leiten. Da ihm die Funktion der Bogengänge als Gleich¬ 
gewichts- und Orientierungsorgan unbekannt war, so brachte er die 
anatomische Anordnung der Bogengänge, die den Hauptebenen 
unseres Körpers einigermaßen parallel sind, mit der Erkennung 
der Schallrichtung in Zusammenhang. Diese Deutung der Funktion 
der Bogengänge mußte selbstverständlich nach den Versuchen von 
Flourens, Goltz, Breuer und Mach, die die neue Lehre vom 
Vestibularis begründeten, in den Hintergrund treten und geriet 
völlig in Vergessenheit. 

Erst Preyer (17), augenscheinlich durch Überlegungen ent¬ 
wicklungsgeschichtlicher Natur auf die Idee eines Zusammenhanges 
der Schallprojektion mit der Bogengangfunktion gebracht, versuchte 
für diese Idee eine experimentelle Basis zu schaffen. Er bediente 
sich zu diesem Zwecke einer „Schallhaube“, an der 26 Drähte die 
Richtungen markierten, aus denen der Schall kam. Als Schall¬ 
quelle benützte er das sogenannte Kri-kri. Vermittels dieser Vor¬ 
richtungen prüfte er die Genauigkeit der Wahrnehmung von Schall¬ 
richtungen. 

Die Versuche ergaben als Resultat eine in Prozenten aus¬ 
gedrückte Genauigkeit der Schallprojektion überhaupt und für ein¬ 
zelne Richtungen, beziehungsweise Ebenen, insbesondere. Der von 


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Preyer gefundene Wert von 29% richtigen Urteilen über Schall¬ 
richtungen, die um einen recht großen Winkel von einander dif¬ 
ferierten, steht in Widerspruch mit der von Münsterberg (15), 
Bloch (4) usw. später ermittelten Genauigkeit der Schallprojektion. 
Dieser Widerspruch wird sich wohl mit der Versuchsanordnung 
Preyers erklären lassen, in der die Wahrnehmung von Schall¬ 
richtungen mit der Benennung dieser Richtungen hinten oben, 
links hinten oben, links hinten unten usw. kompliziert wurde, 
ferner damit, daß von einer richtig wahrgenommenen Schall¬ 
richtung nicht nach einer oder der anderen Seite langsam vor¬ 
geschritten wurde, um die Unterschiedsempfindlichkeit für Schall¬ 
richtungen zu eruieren, sondern daß man den Schall promiscue 
aus verschiedenen Richtungen kommen ließ. Das aber ist für das 
eigentliche Ergebnis der Preyer sehen Versuche belanglos. Dieses 
Ergebnis aber war, daß wir in den der Lage einzelner Bogengänge 
korrespondierenden Ebenen den Schall am sichersten lokalisieren 
und daß diejenigen Schallrichtungen am häufigsten mit einander 
verwechselt werden, bei denen unter Berücksichtigung des ana¬ 
tomischen Baues des Vestibularapparates angenommen werden kann, 
daß sie annähernd gleiche Erregungsverhältnisse in den Bogengängen 
schaffen. Darauf gründete Preyer seine Theorie von der Bedeutung 
der Bogengänge für die Wahrnehmung der Schallrichtung. Er meint: 
„Die Endolymphe in den häutigen Bogengängen muß durch Schall¬ 
strahlen verschiedener Einfallsrichtung in Erschütterungen von der¬ 
selben Frequenz und entsprechender Stärke versetzt werden, wie 
sie das Wasser oder die Luft außerhalb erfährt. Dann werden diese 
aber auch wegen der an jedem Punkte jedes Bogenganges vor¬ 
handenen Krümmung sofort die ganze Masse der Flüssigkeit in 
isochrone Bewegungen versetzen müssen. Hiedurch kommen die in 
den Ampullen in die Endolymphe hineinragenden Hörhaare not¬ 
wendig in Mitschwingungen, und wenn man erwägt, daß bei der¬ 
artiger Erregung einer Ampulle durch Erschütterung der Flüssigkeit 
nur des ihr zugehörigen Bogenganges eine andere Schallempfindung 
bei gleicher Stärke, Tonhöhe und Klangfarbe als bei Erregung einer 
anderen Ampulle entstehen muß, so wird man diese Verschiedenheit 
nicht anders denn als eine räumliche bezeichnen können. Es ist 
also eine völlig legitime Hypothese, wenn ich behaupte: die spe¬ 
zifische Energie der Ampullennerven ist es, ein mit Schall ver¬ 
bundenes Raumgefühl zu geben, und zwar ein Richtungsgefühl.“ 


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Den Vorgang stellte sich Preyer dabei so vor, daß ein aus 
einer bestimmten Richtung kommender Schall zuerst und am 
stärksten den Bogengang erregt, der der Schallquelle zugekehrt 
und in ihrer Ebene liegt und daß diese Erregung, durch die 
Ampullennerven zentripetal geleitet, die Wahrnehmung der be¬ 
treffenden Richtung ermöglicht. 

Seine Theorie stützt Preyer ferner damit, „daß die Fische, 
welche keine Schnecke haben, nicht allein hören, sondern auch 
trotz Fehlens einer äußeren Ohröffnung die Richtung erkennen, aus 
welcher ein Schall kommt.“ Die vom Standpunkte der Bogengang¬ 
theorie der Schallprojektion postulierte Überlegenheit der Kopfknochen- 
leitung über die Luftleitung für die Erkennung von Schallrichtungen 
gelang Preyer durch einen schönen Versuch zu beweisen. Er setzte die 
Intensität des Schalles so lange herab, bis bei geschlossenem Gehör¬ 
gang keine Schallempfindung mehr vorhanden war. Hierauf wurden 
die Gehörgänge frei gemacht, wodurch der Schall, dessen Intensität 
nicht groß genug war, um auf dem Wege der Knochenleitung 
wahrgenommen werden zu können, vermittels der Luftleitung eine 
noch wahrnehmbare Gehörsempfindung auslöste. Diese Gehörs¬ 
empfindung konnte aber nicht mehr richtig lokalisiert werden. 

Gegen die Theorie wurde von Breuer (3) mit Recht ein¬ 
gewendet, daß die von Preyer gefundenen Ebenen der besten 
Schallokalisation mit den Ebenen der Bogengänge keineswegs 
zusammenfallen. Denn die Ebene des horizontalen Kanals liegt 
bei gerader Kopfhaltung nicht horizontal, wie Preyer annimmt, 
sondern ist um 45 0 nach rückwärts geneigt. Durch diesen Einwand 
wird die Beweiskraft der Preyer sehen Versuche bedeutend ver¬ 
ringert, wenn nicht gänzlich aufgehoben. Trotzdem leugnet Breuer 
nicht die Möglichkeit eines Einflusses des Schalles auf die Ampullen 
der Bogengänge und meint, daß es nicht ausgeschlossen sei, daß 
Vibrationen der Hörhaare in den Ampullen zwar eine andere, aber 
doch verwandte Empfindung hervorbringen können wie ihre Beugung 
en masse durch den Stoß der bei der Rotation zurückbleibenden 
Lymphe. 

„Der Stoß der Endolymphe auf die Hör haare der Ampullen 
bei passiver Rotation des Kopfes löst reflektorisch jene Kopf- und 
Augenbewegung aus, welche die Rotation kompensiert, und erzeugt 
zugleich die Empfindung der Rotation in bestimmter Ebene und 
Richtung; die in demselben Verhältnis auf die drei Ampullen ver- 


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teilte Erregung der Hörhaare durch Schallschwingungen würde die¬ 
selbe Bewegungskombination und dieselbe Vorstellung einer Kopf¬ 
drehung anklingen lassen. Es wäre dies jene, welche nötig ist, um 
die Ohröffnung in die Richtung des perzipierten Schalles zu bringen. 
Hiedurch würde der von der Schnecke gelieferten Schallempfindung 
ein Lokalzeichen beigefügt.“ 

„So regt jedes auffallende Bild, welches auf einer peripheren 
Netzhautstelle erscheint, reflektorisch jene Kombination von Augen¬ 
muskelinnervationen an, welche nötig waren, um dasselbe auf die 
Stelle deutlichsten Sehens zu bringen.“ 

Breuers Ein wände richten sich also, wie wir sehen, weniger 
gegen die Annahme Preyers, daß die Bogengänge durch ihre 
spezifische Erregung uns die Wahrnehmung der Schallrichtung ver¬ 
mitteln, als vielmehr gegen die Beweiskraft seiner Experimente und 
die Art, wie er sich den Vorgang bei der Schallprojektion vorstellt. 

Gegen den letzteren Punkt sind auch die Einwände von 
Harleß (8) gerichtet. Harleß meint, daß es bei der Wellen¬ 
länge der Schallschwingungen ausgeschlossen erscheint, daß ein 
Bogengang um eine bemerkbare Zeitgröße früher getroffen werden 
könne als der andere und daß bei dem Abstande von je zwei Bogen¬ 
gängen die isolierte Reizung eines Bogenganges möglich wäre, womit 
er die Wahrscheinlichkeit, vermittels der Bogengänge die Schall¬ 
richtung wahrzunehmen, leugnet. 

Mit seinem Einwande hat Harleß zweifellos recht. In der 
Konsequenz, die er daraus zieht, geht er aber zu weit. Denn es 
ist ja immer noch ein anderer Vorgang möglich, der, in den 
Bogengängen sich abspielend, die Empfindung der Schallrichtung 
erzeugen kann. 

Eine dieser Möglichkeiten, von Breuer, wie wir oben sahen, 
angedeutet, wurde von Münsterberg (15) zu eitler Neubegründung 
der vestibulären Theorie der Schallprojektion benützt. Er fand, daß 
vorn die weitaus genaueste Lokalisation möglich ist, insofern schon 
eine Verschiebung von 1*5 cm auf einem Kreis von einem Meter 
Radius, also eine Verschiebung um 1° merkbar wird und daß die 
eben merkbare Verschiebungsgröße bis hinten ohne den geringsten 
Rückschritt wächst, so daß die Lokalisationsfähigkeit sich um so 
geringer erweist, je weiter die Richtung der Schallquelle sich von 
vorn entfernt. 

In diesem Versuchsergebnis sieht Münsterberg eine Be- 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 


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stätigung seiner Annahme, „daß mit jeder Schallerregung sich eine 
bestimmte Bewegungsempfindung verbindet und in dem Maße, in 
welchem Verschiebungen der Schallquelle überhaupt wahrnehmbar 
sind, sich mit jeder räumlichen Veränderung des schallaussondernden 
Objektes die zu der Schallempfindung zugehörige Bewegungsempfin¬ 
dung verändern muß.“ „Nun verändert sich eine Bewegungs¬ 
empfindung bei zunehmender Muskelkontraktion vornehmlich in bezug 
auf ihre Intensität, eine Veränderung der akustischen Lokalisation 
würde.dann eintreten, sobald die Intensität der Bewegungs¬ 

empfindung sich eben merkbar verändert. 

.Das für alle bekannten Empfindungsintensitäten gültige 

Web er sehe Gesetz würde nun fordern, daß von 0° bis 180° im 
horizontalen Kreise, wenn der Nullpunkt genau in der Medianebene 
des Kopfes vorne liegt, die eben merkbare Verschiebungsgröße stetig 
zunimmt, zu 90° also, um bemerkt zu werden, eine größere Lokali¬ 
sationsveränderung hinzukommen muß, als zu 45° und zu 135° 
mehr als zu 90° und zu 180° mehr als zu 135°, weil eben mit 
der Größe der nötigen Kopfwendung die Bewegungsempfindung 
wächst und mit Wachsen der Empfindungsintensität der eben merk¬ 
bare Zuwachs steigen muß.“ 

„Wir können geradezu sagen, daß, wenn wirklich die Gehörs¬ 
lokalisation auf den begleitenden Bewegungsempfindungen beruht, 
ein solches Zunehmen der eben merkbaren Verschie¬ 
bungsgröße bei größer werdendem Winkel ein notwendiges 
Postulat ist.“ 

Auf die bekannten Keaktionsbewegungen bei Reizung der 
Bogengänge hinweisend, meint nun Münsterberg, daß auch die 
für die Erkennung der Schallrichtung notwendigen Muskelempfin¬ 
dungen durch die beim Auslösen eines Schalles gleichzeitig auch 
in den Bogengängen zustande kommenden Erregungen hervorgerufen 
werden und sieht somit in den Bogengängen die anatomische Grund¬ 
lage für die Wahrnehmung der Schallrichtung. 

Münsterberg verfährt also im Prinzip genau so, wie es 
Lotze und Wundt zur Begründung der empirischen Raumtheorie 
auf dem Gebiete der Gesichtsempfindungen getan haben. 

Was wir nun von der Berechtigung dieser Argumentation 
halten, haben wir schon in den einleitenden Bemerkungen gesagt, 
und dasselbe gilt nun auch von der Deduktion Münsterbergs. 
Es muß Kries (10) zugestimmt werden, wenn er, den Einwand 

Jahrbücher für Psychiatrie. XXXIV. Bd. 23 


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J)r. Josef Reinhold und Dr. Ludwig Alt. 


Stumpfs (22) gegen die Trommelfelltheorie benützend, Münster¬ 
berg einwendet, daß doch bei zwei gleichzeitigen Gehörsempfin¬ 
dungen auch zwei Muskelempfindüngen entstehen müssen und daß 
es a priori gar nicht einzusehen ist, warum die eine Muskelempfindung 
als dem einen, die andere als dem zweiten Schall zugehörig betrachtet 
werden soll. Die Muskelempfindungen können es also nicht sein, 
die uns die Wahrnehmung der Schallrichtung ermöglichen, und 
somit wäre der eine Schluß aus dem durch die Münsterberg- 
schen Versuche gewonnenen Material erledigt. Es bleibt noch der 
andere, daß die Reflexbewegung vom Vestibularapparat ausgelöst 
werde und daß der Vestibularapparat deshalb als Organ der Schall¬ 
richtungswahrnehmung zu betrachten ist. Dieser Schluß ist vollends 
unberechtigt. Denn es können vom Ohr aus Reflexbewegungen aus¬ 
gelöst werden ohne Einschaltung des Vestibularapparates in den 
Reflexbogen. Es ist deshalb gut denkbar, daß die Schallprojektion 
in einem anderen Teile des Gehörganges zustande kommt und daß 
der Schall entsprechend der Richtung, aus der er kommt, eine 
korrespondierende Reflexbewegung hervorruft. Weder die Experimente 
noch die Argumente Münsterbergs können als beweisend für 
die vestibuläre Theorie der Schallprojektion angesehen werden. 

Und doch läßt sich der Gedanke einer vestibulären Begründung 
der Schallprojektion nicht von der Hand weisen. Anatomische, entwick¬ 
lungsgeschichtliche und physiologische Gründe lassen den Zusammen¬ 
hang der Richtungslokalisation des Schalls mit der Funktion der 
Bogengänge als sehr wahrscheinlich erscheinen. Die Tatsache, daß 
der Kochlear- und der Vestibularapparat fast in der ganzen Tier¬ 
reihe so eng miteinander Zusammenhängen, daß man sie vom 
anatomischen Standpunkt als Einheit betrachten kann, würde 
durch die Annahme eines funktionellen Zusammenhanges beider 
Apparate einen biologischen Sinn bekommen. Die Entwicklung des 
Gehörorgans aus der Vestibularanlage macht es ohneweiters ver¬ 
ständlich, daß einzelne Qualitäten des Schalls in der Miterregung 
der Bogengänge ihre psychophysische Grundlage finden. Daß es 
gerade die Qualität der Räumlichkeit ist, läßt sich mit der Physio¬ 
logie der Bogengänge, mit der Tatsache, daß sie uns Empfindungen 
liefern, deren Inhalt nur räumliche Kategorien, vor allem aber die 
der Richtung bilden, in schöne Übereinstimmung bringen. Freilich 
liegt darin noch kein Beweis für die Annahme, daß die Bogengänge 
uns die Wahrnehmung der Schallrichtuug vermitteln. Denn diese 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 343 

Erwägungen haben so lange einen nur hypothetischen Wert, als 
nicht der Zusammenhang zwischen dem Yestibularapparat und der 
Schallprojektion experimentell erwiesen ist. Das Prinzip einer 
diesen Zweck verfolgenden experimentellen Untersuchung ergibt sich 
aus der Fragestellung von selbst. Wir werden den Zusammenhang 
zwischen dem Vestibularapparat und der Schallprojektion dann als 
erwiesen annehmen müssen, wenn wir bei einer sonst normal hören¬ 
den Versuchsperson durch Veränderung des Vestibularzustandes 
allein eine Veränderung der Schallprojektionsfähigkeit erzielen werden 
und wenn diese Veränderung im konstanten qualitativen und quan¬ 
titativen Verhältnis zur Art und Intensität des Vestibularreizes 
stehen wird. 

Nun haben wir 'in der Rotation ein Mittel der isolierten 
Vestibularisreizung und es handelte sich nun darum, ob und wie 
sich die Wahrnehmung der Schallrichtung durch Rotation be¬ 
einflussen läßt. 

Um das festzustellen, verfuhren wir folgendermaßen: 

Eine in der Mitte des Versuchszimmers sitzende Person wurde 
auf ihre Schallprojektionsfähigkeit geprüft. Zu diesem Zwecke wurde 
der Schall einer Stimmgabel c 4 benützt, die abwechselnd in acht 
verschiedenen Richtungen angeschlagen wurde. Die Versuchs¬ 
person hatte nun die Aufgabe, bei verschlossenen Augen die Rich¬ 
tung, aus der der Schall kam, zu benennen, und zwar vorne, vorne 
rechts, vorne links, rechts, links, hinten, hinten rechts und hinten 
links. So wurde die Schallokalisationsfähigkeit für die Richtungen 
in der Horizontalebene bestimmt. In einer zweiten und dritten 
Versuchsreihe wurde die Richtungslokalisation für den Schall in 
der Frontal- und Sagittalebene geprüft. Zu diesem Zwecke bedienten 
wir uns elektrischer Glocken, die ebenfalls um je 45° in der be¬ 
treffenden Ebene voneinander entfernt waren. 

Hat nun eine Versuchsperson die angegebenen Richtungen 
konstant richtig benannt, so wurde sie zuerst mit aufrechtem Kopfe 
und geschlossenen Augen mit Hilfe eines Drehstuhls 3 bis 15 mal 
nach einer Seite rotiert. Nach Anhalten des Drehstuhls wurde die 
Stimmgabel sofort wieder in einer der acht horizontalen Richtungen 
angeschlagen und die Versuchsperson wurde beauftragt, die Schall¬ 
richtung bei weiter geschlossen gehaltenen Augen zu benennen. 

In dieser Weise wurden 70 Personen zu wiederholten Malen 
untersucht. Das Ergebnis dieser Versuche war: 

23 * 


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Dr. Josef Reinhold und Dr* Ludwig Alt. 


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1. Man ist nach einer bestimmten, individuell verschiedenen 
Rotationszahl nicht mehr imstande, die Schallrichtung richtig an¬ 
zugeben. Wurde z. B. nach rechts gedreht, so wurde der Schall, 
der von vorne kam, nach rechts vorne oder rechts, selbst nach rechts 
hinten verlegt, rotierte man nach der entgegengesetzten Seite, so 
wurde der Schall in derselben Weise nach links vorne oder links, 
beziehungsweise nach links hinten vorbeiprojiziert. 

2. Die Größe des nach der Rotation begangenen Fehlers in 
der Bestimmung der Schallrichtung war von der Zahl der Drehun¬ 
gen, der Geschwindigkeit der Rotationen und einer individuell 
variablen Konstanten abhängig. Je häufiger und je rascher die 
Versuchsperson gedreht wurde, desto weiter wurde der Schall nach 
der einen oder der anderen Seite, immer im Sinne der voraus¬ 
gegangenen Rotation, nach Rechtsdrehung nach rechts, nach Links¬ 
drehung nach links, verschoben. Bei Personen mit stark erregbarem 
Vestibularapparat genügten bereits 3 bis 4 Drehungen, um ein Vorbei¬ 
projizieren des Schalls um 45° zu erzielen. Die Verschiebung um 
einen kleineren Winkel konnte bei unserer Versuchsanordnung nicht 
geprüft werden, da die Benennung von mehr als acht Richtungen 
in der Horizontalebene die Versuche notwendigerweise komplizieren 
mußte und ein Zeigen der Richtung mit der Hand mit Rücksicht 
auf das Ergebnis der Bäränysehen (2) Zeigeversuche vermieden 
werden mußte. Bäräny beobachtete nämlich, daß man nach Rotation 
beim Versuch mit geschlossenen Augen einen vorne befindlichen 
Gegenstand mit dem Finger zu treffen nach einer oder der anderen 
Seite, je nachdem man nach rechts oder links rotiert wurde, ab¬ 
weicht. Es konnte also, wenn nach der Rotation die Richtung, aus 
welcher der Schall kam, falsch gezeigt wurde, nicht unterschieden 
werden, wie viel von diesem Fehler auf das Vorbeizeigen im Sinne 
des Bäräny sehen Versuches und wie viel auf die durch den 
Vestibularreiz hervorgerufene falsche Lokalisierung des Schalles 
zurückzuführen ist. 

Durch die Rotation mit aufrechtem Kopfe wird vorwiegend 
der horizontale Bogengang der Seite gereizt, nach der rotiert wird. 
Postrotatorisch ist der horizontale Bogengang der entgegengesetzten 
Seite als vorwiegend gereizt zu betrachten. Es muß also die Ver¬ 
schiebung der Schallrichtung nach rechts mit einer vorwiegenden 
Reizung des linken horizontalen Bogenganges in Zusammenhang 
gebracht werden. Um das Verhalten bei Reizung der vertikalen 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 345 

Bogengänge zu prüfen, wurde mit nach rechts oder links geneigtem 
Kopfe rotiert und die Schallquellen der vertikalen Ebene, der 
früher erwähnte Glockenapparat, benützt. Dabei zeigte sich, wie 
nach den vorausgegangenen Versuchen nicht anders zu erwarten 
war, daß nach Rechtsdrehung mit nach rechts geneigtem Kopfe, 
wobei die beiden vorderen vertikalen Bogengänge vorwiegend gereizt 
wurden, und nach Aufrichtung des Kopfes, gleich nach dem An¬ 
halten des Drehstuhls, der Schall von vorne nach vorn oben, 
bzw. oben, von oben nach hinten oben, bzw. nach hinten vorbei 
projiziert wurde. Nach Linksdrehung unter gleichen Bedingungen 
wird der von hinten kommende Schall als von hinten oben, bzw. 
oben, der von vorne kommende als von vorne unten, bzw. unten 
kommend empfunden. 

Korrespondierende Ergebnisse erhielten wir in der dritten 
Versuchsreihe, bei der wir durch symmetrisches Beugen des Kopfes 
nach vorne eine vorwiegende Reizung der frontalen Bogengänge zu 
erzielen suchten x ). Die Experimente führten also zu einem im Sinne 
der Fragestellung positiven Ergebnis. Sie bewiesen die Ab¬ 
hängig keit der Richtungslokalisation vom Vestibularis- 
zustand und berechtigen somit zur Annahme, daß die 
Bogengänge der Ort sind, in dem sich der die Wahr¬ 
nehmung der Schallrichtung bedingende physiologi¬ 
sche Vorgang abspielt. Gegen diese Folgerung wurde nun 
eingewendet 1 ), daß sich die Erscheinung des Vorbeiprojizierens nach 
Vestibularreizung aus den durch sie hervorgerufenen Schwindel¬ 
empfindungen ableiten lasse, daß sie somit in eine Reihe zu stellen 
ist mit den auf den anderen Sinnesgebieten sich einstellenden 
Schwindelerscheinungen. 

Die falsche Beurteilung der Schallrichtung wäre im Sinne 
dieses Einwandes nur mittelbar vom Vestibularisreiz abhängig, 

l ) Diese Resultate wurden von einem von uns (Dr. Reinhold) 
in der Gesellschaft für innere Medizin in Wien am 14. Dez. 1911 
mitgeteilt und bald darauf durch eine auf ganz anderer Voraussetzung 
basierende und andere Zwecke verfolgende Versuchsreihe, die Dozent 
Dr. H. Frey ausgeführt und über die er in der Sitzung der Otologi- 
schen Gesellschaft in Wien vom 18. Dezember 1911 gesprochen hat, 
im großen und ganzen bestätigt. Siehe auch Monatsschrift für Ohren¬ 
heilkunde und Laryngologie XLVI, S. 16, Wiener Medizinische Wochen¬ 
schrift vom Jänner 1912 S. 178 und Wiener Klinische Wochenschrift vom 
7. März 1912 (Sitzungsbericht). 


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insofern dieser eine falsche Beurteilung unserer Lage im Raum 
bedinge. Es ließe sich also aus der Tatsache der falschen Beurtei¬ 
lung der Scballrichtung nach der Rotation ebensowenig auf den 
Vestibularapparat als auf das Organ schließen, welches uns die 
Wahrnehmung der Schallrichtung vermittelt, als wir auf Grund 
der Scheinbewegung im Zustande des postrotatorischen Schwindels 
den Vestibularis als das Organ der räumlichen Determinierung 
der Gesichtsempfindungen betrachten. Die Last des Beweises fällt 
o ffenbar denen zu, die diesen Einwand erheben. Sie müssen zeigen, 
inwieferne der Schwindel für die Beurteilung, beziehungsweise 
Empfindung der Schallrichtung in Frage kommt und beweisen, daß 
das Phänomen des Vorbeiprojizierens seinem Wesen und seinen 
Entstehungsbedingungen nach von den übrigen Schwindelphänomenen 
sich nicht unterscheidet. 

Es ist aber nicht schwer, das Gegenteil davon zu beweisen 
und zu zeigen, daß die falsche Beurteilung der Schallrichtung 
nach der Rotation unmöglich als Folge des Schwindelzustandes 
aufgefaßt werden kann und daß e3 sich dabei um eine von allen 
übrigen Schwindelsymptomen völlig differente Erscheinung handelt. 

Zuerst muß gefragt werden, auf welche Weise denn der 
Schwindel die Wahrnehmung der Schallrichtung beeinflussen soll. 
Stört der Schwindel die Urteilsfähigkeit überhaupt? Diese Frage 
kann unmöglich bejaht werden. Denn dann würden wir wohl falsche 
Urteile über die Schallrichtung bekommen: man würde die Schall¬ 
quelle das einemal nach der einen, das anderemal nach der anderen 
Richtung, das einemal um einen großen, das anderemal um einen 
kleinen Winkel verlegen. Die Reizung der Bogengänge bedingt 
aber gesetzmäßig falsche Urteile. Die Verlegung der Schall¬ 
richtung ist nicht eine beliebige, sondern durch die Art und die 
Intensität des Reizes im voraus bestimmt: nach Rechtsdrehung 
tritt immer eine Verlegung der Schallquelle nach rechts, nach 
Linksdrehung immer nach links ein und der Winkel, um den ver¬ 
legt wird, steht in einer konstanten, bei Berücksichtigung der in¬ 
dividuellen Erregbarkeit im voraus genau zu bestimmenden Korre¬ 
lation zur Intensität des angewendeten Reizes. 

Wie ist nun diese Tatsache mit dem Schwindel in Beziehung 
zu bringen? Was wird durch den Schwindel gesetzmäßig verändert? 
Das Urteil? Oder die Empfindung selbst? 

Im ersteren Falle müßte sich ein logischer Zusammenhang 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 


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zwischen dem falschen Urteil als Resultat und den durch den Schwindel 
gegebenen Voraussetzungen finden lassen. Die falsche Beurteilung 
der Schallrichtung müßte als Schluß aus einer falschen Prämisse 
aufgefaßt werden. Nun wird durch den Vestibularreiz eine Täuschung 
über unsere Beziehung zum Raum hervorgerufen. Diese Täuschung 
präsentiert sich zuerst und vorwiegend als Drehempfindung. Die 
Drehempfinduug ist noch kein Schwindel. Der Schwindel tritt erst 
dann ein, wenn die Drehempfindung mit den Daten anderer Sinne 
in Widerspruch gerät. Das Resultat dieses Widerspruches ist eine 
Korrektur der der Drehempfindung widersprechenden Empfindungen, 
beziehungsweise der auf ihnen sich gründenden Urteile. Die 
Korrektur hat den Zweck, dem Schwindel vorzuheugen, die Rat¬ 
losigkeit gegenüber den einander widersprechenden Empfindungen 
zu mildern. Das ist auch der biologische Zweck des Kopf- und 
Augennystagmus, durch den eine Scheinbewegung der Gegenstände 
in der Richtung der empfundenen Drehung hervoigerufen wird. 
Hier handelt es sich um eine Sinnestäuschung und nicht um ein 
falsches Urteil und trotzdem läßt sich ihr Inhalt in eine logische 
Beziehung zu der durch die Drehempfindung bedingte falsche Be¬ 
urteilung unserer Lage im Raume bringen. Denn wenn wir, wie 
es bei der Vestibularisreizung der Fall ist, die Empfindung haben, daß 
wir uns im Kreise drehen und dabei immer dieselben Gegenstände sehen, 
so ist daraus nur der Schluß erlaubt, daß sich auch die Gegenstände 
mit uns drehen. Diesen Schluß besorgt nun aus einer biologischen 
Zweckmäßigkeit der Nystagmus und setzt ihn in Empfindung um. 

Wie würde sich nun die Schallprojektion unter Zugrunde¬ 
legung dieser Betrachtung nach der Rotation verhalten müssen, 
wenn sie von der Täuschung unserer Lage im Raume beeinflußt 
wäre? Da sind zuerst zwei Eventualitäten in Erwägung zu ziehen. 
Entweder wird der Schall sensu stricto lokalisiert, das ist an irgend 
einem Punkte des imaginären (bei geschlossenen Augen!) Raumes 
fixiert, oder es wird nur seine Richtung, das ist die räumliche Be¬ 
ziehung der Schallquelle zu den Körperachsen, beurteilt. 

Nehmen wir nun an, daß der Schall an irgend einem Punkte 
des Raumes fixiert wird, was wir übrigens bei unseren Versuchen 
dadurch ausgeschlossen haben, daß wir nur die Richtung, aus 
der der Schall kam, nennen ließen, so müßte sich die Schallrichtung, 
wenn ihre Beurteilung vom Schwindel beeinflußt werden könnte, 
fortwährend ändern. 


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Die Empfindung, daß wir uns nach einer Richtung, z. B. 
nach links, drehen und so die Lage in dem uns umgebenden Raum 
wechseln, müßte vom Schluß gefolgt sein, daß wir unser räum¬ 
liches Verhältnis zu den in diesem Raume befindlichen Objekten, 
also auch zur Schallquelle verändern. Wir müssen uns vorstellen, daß 
der zuerst z. B. von vorne kommende Schall nach einer Weile rechts 
vorne, dann rechts, dann rechts hinten und hinten von uns sich 
befinde, also in der der Rotationsrichtung entgegen¬ 
gesetzten Richtung sich verschiebe, und diese Veränderung 
der Schallrichtung müßte ebenso rasch sein wie die empfundene 
Rotation. Der bei der Beurteilung der Schallrichtung begangene 
Fehler müßte um so größer sein, an einem je späteren Zeitpunkte 
während des bestehenden Schwindels die Schallrichtung beurteilt 
werden sollte. 

Das Experiment führt aber zu ganz anderen Ergebnissen. 
Der Schall wird unmittelbar nach der Rotation um einen bestimmten 
Winkel vorbeiprojiziert und an dieser Richtungslokalisation wird 
während der Dauer der intensivsten Erregung des betreffenden 
Bogenganges festgeb alten. In dem Maße, als der Vestibularreiz 
abklingt, wird der Fehler schrittweise korrigiert, wodurch sich eine 
scheinbare Verschiebung in der Richtung der empfundenen 
Rotation einstellt. Der bei Bestimmung der Schallrichtung 
begangene Fehler ist um so kleiner, an einem je späteren Zeit¬ 
punkte während der Dauer der Vestibularerregung das Urteil ab¬ 
gegeben wird. Es tritt also das Gegenteil von dem ein, was man 
auf Grund dieser Annahme erwarten würde. Nimmt man aber die 
zweite Eventualität an, hält man daran fest, daß nur die Richtung 
des Schalles bestimmt wird, daß nur darüber, ob sich die Schallquelle 
rechts oder vorn oder links von uns befindet, geurteilt werden soll 
und daß dieses Urteil von der Drehempfindung beeinflußt werden 
kann, dann müßte unter dem Eindrücke des Schwindels die Täuschung 
entstehen, daß die Schallquelle die Drehung mitmacht und daß sie 
sich mit uns in der einen oder anderen Richtung bewegt. Die 
Richtungslokalisation bliebe aber unverändert; der Schall würde 
immer als von rechts oder links kommend empfunden werden, ein 
Fehler in der Beurteilung seiner Richtung wäre unverständlich und 
ließe sich in gar keinen logischen Zusammenhang mit der falschen 
Beurteilung unserer Lage im Raume bringen. Denn im Richtungs¬ 
urteil ist nichts anderes enthalten als die Beziehung zu unseren 


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Körperachsen. Die Vorstellung vom Verhältnis unserer Körper¬ 
achsen zueinander wird aber durch die Drehempfindung nicht 
alteriert; links bleibt links und vorne bleibt vorne, ein die rechte 
Körperseite treffender Reiz wird rechts und nicht rechts hinten 
oder links empfunden. 

Daraus aber ergibt sich der Schluß, daß die Er¬ 
scheinung des Vorbeiprojizierens des Schalles nach 
der Rotation nicht als Folge der durch die Dreh¬ 
empfindung bedingten falschen Beurteilung unserer 
Lage im Raume aufgefaßt werden kann. Es muß also 
angenommen werden, daß wir es hier nicht mit einem auf einer 
falschen Voraussetzung, sich gründenden Urteile, mit einer „Urteils¬ 
täuschung“, sondern mit einer Sinnestäuschung zu tun haben. 

Mit dieser Feststellung ist aber der Einwand nicht ganz er¬ 
ledigt. Denn man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß auch 
eine Sinnestäuschung durch ein Urteil, beziehungsweise Vorstellung 
hervorgerufen werden kann, und auf die auf anderen Sinnesgebieten 
unter dem Einfluß des Vestibularreizes sich abspielenden Sinnes¬ 
täuschungen hinweisen. Es ist hier nicht der Ort auf das Prinzipielle 
dieser Frage einzugehen und Betrachtungen über die Möglichkeit 
oder Unmöglichkeit durch Urteile Sinnestäuschungen zu produzieren, 
anzustellen. Es ist auch nicht notwendig. Denn wenn wir auch 
diese Möglichkeit zugeben, so gilt doch für die Sinnestäuschung 
dasselbe, was wir früher von der Urteilstäuschung gesagt haben. Es 
muß sich ein logischer Zusammenhang zwischen dem Inhalte 
der Sinnestäuschung und dem Inhalte des sie bedingenden 
Urteils feststellen lassen, ein auf dem Wege der bewußten 
oder der unbewußten Induktion gefundener, zureichender Grund 
angenommen werden. Dieser Grund ist aber für das Vorbei¬ 
projizieren, wie wir gesehen haben, nicht zu finden. Durch 
den Hinweis darauf, daß der Vestibularreiz auch auf anderen 
Sinnesgebieten Täuschungen verursacht und daß trotzdem aus diesen 
Täuschungen nicht auf den Vestibularapparat als den Ort, in dem 
das räumliche Element dieser Empfindungen entsteht, geschlossen 
wird, kann die auf unsere Experimente aufgebaute vestibuläre 
Theorie der Schallprojektion nicht widerlegt werden. Denn das Vorbei¬ 
projizieren ist ein von diesen Sinnestäuschungen grundverschiedenes 
Phänomen. Die Scheinbewegungen, der Tastschwindel usw., sind 
nicht unmittelbar durch den Vestibularreiz bedingt, sondern werden 


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erst durch Einschaltung von Reflexbewegungen, beziehungsweise 
Bewegungsimpulsen hervorgerufen. Das Vorbeiprojizieren aber spielt 
sich auf rein sensorischem Gebiete ab; Zwischen dem Vestibular- 
reiz einerseits und der falschen Richtungswahrnehmung andrerseits 
ist kein muskulärer Prozeß eingeschaltet, der das Zustandekommen 
der Täuschung erklären könnte. Diese Täuschung ist vielmehr vom 
Vestibulariszustand in derselben Weise abhängig wie die Rotations¬ 
empfindung selbst, die auch ohne Einschaltung von Reflexbewegungen 
allein durch die physiologischen Vorgänge in den Bogengängen 
hervorgerufen wird. 

Wir können also mit demselben Recht behaupten, daß sich 
im Vestibularapparat das physiologische Korrelat der Schallrichtungs¬ 
wahrnehmung abspielt, mit dem wir die anatomische Grundlage 
der Rotationsempfindung in den Bogengängen suchen. 

Welcher Art der physiologische Prozeß in den Bogengängen, 
der sich psychisch als räumliche Determinierung des Schalls präsen¬ 
tiert, wissen wir nicht. Das ist eine Frage für sich und berührt 
nicht die Theorie selbst. 

Theoretisch muß die Möglichkeit einer Erregung der Bogen¬ 
gänge durch die Schallwellen zugegeben werden. Ebenso ist nicht 
auszuschließen, daß diese Erregung, je nach der Richtung, aus der 
der Schall kommt, eine verschiedene sein wird. Daß es sich dabei 
um verschieden gerichtete Schwingungen der Endolymphe, bzw. 
um ihr räumliches Verhältnis zur Stellung der* Sinneshaare der 
Ampullennerven handelt, kann nach dem Ergebnisse unserer Ex¬ 
perimente, in denen eine Änderung dieses Verhältnisses auch eine 
Veränderung in der Wahrnehmung der Schallrichtung bedingte, als 
wahrscheinlich angenommen werden. Diese Annahme stimmt mit 
der durch zahlreiche Versuche und durch die Tatsache, daß die 
vorwiegend vermittels der Kopfknochenleitung wahrgenommenen 
hohen Töne besser gehört und lokalisiert werden, bewiesenen Be¬ 
deutung der Kopfknochenleitung für die Wahrnehmung der Schall¬ 
richtung überein. Wenn auch nicht behauptet werden kann, daß 
die Schallwellen in den Kopfknochen ihre Richtung nicht verändern, 
so muß doch, da wir es hier mit einem konstanten Faktor zu tun 
haben, auch diese Änderung eine konstante sein und die Richtungen 
der Schallwellen im Schädel in dem Maße sich voneinander unter¬ 
scheiden, in dem sie außerhalb des Schädels voneinander differieren. 
Dadurch ist aber die Möglichkeit gegeben, daß die Endolymphe 


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des Labyrinths durch Schallwellen, die aus verschiedenen Richtun¬ 
gen kommen, in verschieden gerichtete Schwingungen gerät und 
daß diese Schwingungen den Sinneshaaren der Ampullennerven mit¬ 
geteilt und im Sinne der spezifischen Energie dieser Nerven als 
Schallrichtung empfunden werden. 

Dieser Deutungsversnch des physiologischen Vorganges in den 
Bogengängen bei der Wahrnehmung der Schallrichtung wird durch 
die bekannte Erscheinung illustriert, daß unter gewissen Bedin¬ 
gungen durch Schallreize Schwindel hervorgerufen werden kann. 
(Urbantschitsch, 27.)- Auch hier wird der Vestibularapparat 
durch Schallwellen in Erregung gesetzt, auch hier wird diese Er¬ 
regung mit einer für ihn spezifischen Empfindung beantwortet. 

Wir betonen aber, daß wir mit diesen Ausführungen nur eine 
anspruchslose Hypothese zu geben bezwecken. Wenn wir sie trotz 
dem hier bringen, so geschieht es nur deshalb, um unsere Tendenz 
deutlicher kenntlich zu machen und die Verschiedenheit unseres 
Standpunktes von dem Preyers und Münsterbergs zu betonen. 

Während nämlich die Preyersehe und Münsterbergsche 
Theorie durch die Erregung des Vestibularapparates Empfindungen 
entstehen läßt, die dann im räumlichen Sinne umgedeutet werden, 
behaupten wir, daß die Vorgänge in den Bogengängen während 
ihrer Erregung durch den Schall die physiologische Kehrseite dessen 
sind, was sich psychisch als Richtungsempfindung des Schalles 
repräsentiert. Die Bogengänge liefern nicht Empfindun¬ 
gen, welche die Wahrnehmung der Schallrichtung er¬ 
möglichen, sondern die Schallrichtung als Empfin¬ 
dungsinhalt selbst. Dadurch wird das Problem der räumlichen 
Determinierung des Schalles vom psychologischen auf rein physiologi¬ 
sches Gebiet verschoben. Die Annahme einer organischen Grund¬ 
lage für die Erkennung der Schallrichtung bedeutet ein Verzichten 
auf Versuche, die Richtungslokalisation von anderen Empfindungs¬ 
daten abzuleiten. 

Das räumliche Element der Schallempfindung ist, von hier aus 
gesehen, nichts anderes, als die psychische Seite eines in seinen 
Einzelheiten unbekannten physiologischen Prozesses in einem Organ, 
dessen Bedeutung für die Wahrnehmung der Schallrichtung durch 
unsere Experimente bewiesen wurde. 

So reiht sich das räumliche Element der Schallempfindung 
seinem Wesen und Entstehungsbedingungen nach den übrigen Schall- 


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qualitäten an. Es ist ebenso eine letzte, psychologisch nicht weiter 
ableitbare Tatsache, wie die Schallintensität und Höhe, und es wird 
durch den Hinweis auf ein Organ, in dem die Bedingungen seines 
Entstehens zu suchen sind, wenn auch nicht psychologisch, so doch 
physiologisch in analoger Weise erklärt, wie diese durch den Hin¬ 
weis auf den Bau und Funktion des Cortischen Organs. Das 
Resultat unserer Untersuchung ist also die Berechtigung, die 
nativistische Raumtheorie auch auf den Hörraum auszudehnen. Daß 
diese Berechtigung besonders für den Hörraum in Anspruch genommen 
werden darf, erhellt aus der entwicklungsgeschichtlichen und bio¬ 
logischen Stellung des Gehörorgans. Der Gehörsinn ist ein Fernsinn 
par excellence, dessen biologischer Zweck es ist, über die Vorgänge 
in der Außenwelt zu orientieren. Würde man nun annehmen, daß 
diese Beziehung der Gehörempfindung auf die Außenwelt erst langsam 
erlernt und auf Grund verschiedener Nebenumstände erschlossen 
werden müßte, dann würde man ein Stadium annehmen müssen, in 
dem die Gehörempfindungen reine Organempfindungen sind. Da sie 
aber als solche für das Individuum ganz wertlos wären, so wäre 
unter Zugrundelegung des für die biologische Forschung der letzten 
Zeit so fruchtbringenden teleologischen Prinzips nicht einzusehen, 
wie es überhaupt zur Entwicklung des so hoch differenzierten Organs 
kommen konnte. Die Annahme einer empirischen Entwicklung der 
räumlichen Qualität der Schallempfindung ist also sowohl vom 
psychologischen als auch vom biologischen Standpunkt unhaltbar. 

Wir wollen damit nicht behaupten, daß der Hörraum eine 
Sonderexistenz führt und daß auf Grund der durch das Hören 
gelieferten räumlichen Data auch ohne die Empfindungen der 
anderen Sinnesorgane eine vollständige Raumanschauung sich 
entwickeln könnte, wie Münster berg es meint. Sicher ist, daß durch 
das Hinzutreten der Erfahrung die durch verschiedene Sinne gegebenen 
räumlichen Inhalte zu einem koordinierten Ganzen geordnet werden. 
Erst die Erfahrung baut aus den von den Empfindungen gelieferten 
Bausteinen das Gebäude der Raumanschauung mit ihren Kategorien 
und Relationen. Aber die Bausteine selbst, dieses nicht weiter 
definierbare, weil eben nicht von anderen Elementen ableitbare 
Moment der Räumlichkeit, muß gegeben sein, damit die die Raum¬ 
vorstellung schaffende Erfahrung überhaupt möglich ist. Daß ein 
solches Rudiment der Räumlichkeit auch in der Schallempfindung 
enthalten ist, versuchten wir in der vorliegenden Arbeit zu beweisen. 


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Die Bogengänge als anatomische Grundlage usw. 


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Literatur. 

1. Autenrieth: Handbuch der empirischen menschlichen Physiologie. 

Tübingen 1802. 

2. Bdräny und Wittmack: Funktionelle Prüfung des Vestibular- 

apparates. Deutsche otol. Gesellschaft 1911. 

3. Breuer: Zitiert nach Stein: Die Lehren von den Funktionen 

der einzelnen Teile des Labyrinthes. Jena 1894, S. 457 f. 

4. Bloch: Das binaurale Hören. Zeitschrift f. Ohrenheilk. Bd. XXIV, 

S. 25, 1893. 

5. Burnett: „Das äußere Ohr, das Komplement eines Schallsammlers 

und Resonators.“ Ref. aus Arch. f. Ohrenheilk. Bd. IX. 

6. Chladni: Die Akustik. Leipzig 1802. 

8. Harleß: Artikel „Hören“ in Wagners Handbuch der Physiologie 

Bd. IV. Braunschweig 1853. 

9. Jo dl: Lehrbuch der Psychologie II. Auf 1. Stuttgart—Berlin 1903. 

10. Kries: Über das Erkennen der Schallrichtung. Zeitschrift für 

Psychologie und Physiologie d. Sinnesorgane Bd. I, 1890, S. 235. 
— Auerbach: Die Zeitdauer einfachster psychol. Vorgänge. 
Arch. f. Anatomie und Physiologie 1877, S. 329. 

11. Küpper: Über die Bedeutung der Ohrmuschel. Arch. für Ohren¬ 

heilk. Bd. VIII, 1874, S. 158. 

12. Lichtwitz: Zitiert nach Urbantschitsch: Lehrbuch der Ohren¬ 

krankheiten, 4. Aufl., Wien 1901. 

13. Lotze: Medizinische Psychologie. 

14. Münnich: Über die Wahrnehmung der Schallrichtung. Dissert. 

Berlin 1908. 

15. Münsterberg: Raumsinn des Ohres. Beiträge zur experimentellen 

Psychologie Heft 2, S. 182. Freiburg 1889. 

16. Mayer: Monatsschrift für Ohrenheilkunde und Laryngologie 

Bd. XLVI, 1912. 

16 a. Nagel: Artikel „Niedere Sinne“ in Zuntz u. Loewy. Lehrbuch 
der Physiologie des Menschen. Leipzig 1909. 

17. Preyer: Über die Wahrnehmung der Schallrichtung mittelst der 

Bogengänge. Pflügers Archiv Bd. XI, S. 586, 1887. 

18. Preyer: Die Seele des Kindes. 5. Aufl. Leipzig 1900. 

19. Pollitzer: Studien über Paracusis loci. Archiv für Ohrenheilkunde 

Bd. XI, S. 231, 1876. 

20. Rogdestwensky: Über Lokalisation vou Gehörsempfindungen, 

Petersburg 1887. Referat aus Zentralblatt für Physiologie Bd. I, 
S. 721, 1887. 

21. Stumpf: Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. 

Leipzig 1873. 

22. Stumpf: Tonpsychologie. Leipzig 1883 u. 1890. 

23. Seashore: The localisation of sound. Middltoniau 1903. 

24. St enger: Ein Versuch zur objektiven Feststellung einseitiger 

Taubheit mittels Stimmgabel. Archiv für Ohrenheilkunde Bd. L. 


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354 Dr. Josef Heinhold und Dr. Ludwig Alt. 

25. Titchener: Zitiert nach Münnich. (14.) 

26. Toynbee: Die Krankheiten des Gehörorgans. Würzburg 1863. 

27. Urbantschitsch: Lehrbuch der Ohrenkrankheiten. 4. Aufl. 

Wien 1901. 

28. Venturi: Betrachtungen über die Erkenntnis der Entfernung, die 

wir durch das Werkzeug des Gehörs erhalten. Beils Archiv 
Bd. V, 1802. 

29. Weber: Über den Mechanismus des Gehörorgans. Berichte der 

Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. Mathem.- 
Phys. Klasse. Jahrgang 1851. 

30. Wundt: Physiologische Psychologie. V. Aufl. 1902. 

31. Sitzungsbericht der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie in 

Wien am 13. Februar 1912. (Wiener klinische Wochenschrift 
vom 7. März 1912.) 


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Im Mescalinrausch. 


Von 

Dr. phil. und med. Alfred Serko. 

(Vortrag gehalten im Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien 

am 8. April 1913.) 

Auf der Versammlung bayerischer Irrenärzte in München, zu 
Pfingsten des Jahres 1911, berichtete Dr. Knauer über seine 
Versuche mit dem Mescalin, dem Alkaloid der mexikanischen 
Kaktuspflanze AnhaloniumLewinii, die er an sich und einigen 
Ärzten der Kraepelin sehen Klinik angestellt hatte. Da Herr 
Knauer damals wegen der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, 
einige sehr interessante Momente nur flüchtig erwähnen konnte und 
ich meinerseits persönlich an den damaligen Vergiftungsversuchen 
lebhaften Anteil genommen habe, so sei es mir gestattet, darüber 
hier einiges zu berichten. 

Ich will mich, um Herrn Knauer nicht in die Quere zu 
kommen, lediglich auf die subjektiven Beobachtungen, die ich an 
mir während der drei akuten Mescalin Vergiftungen gemacht habe, 
beschränken, und hoffe auch dadurch einiges Interesse für diese 
eigenartigen Kauschzustände bei der geehrten Versammlung zu 
erwecken. 

Das schwefelsaure Mescalin wurde in warmer wässeriger 
Lösung in Dosen zwischen 0-15 und 0-20 subkutan injiziert. Als 
erste Versuchsperson stellte ich mich zur Verfügung und bekam 
20 Santi Mescalin subkutan. 

Nach etwa einer Stunde stellten sich die ersten Vergiftungs¬ 
erscheinungen ein. Diese bestanden zunächst in einer leichten Nausea 
mit Frösteln und einer leichten, redselig läppisch heiteren Ver¬ 
stimmung. Bald darauf kam aber eine weitere und höchst merk¬ 
würdige Erscheinung hinzu, nämlich eine überaus lebhafte Hyper¬ 
ästhesie für Farbeneindrücke, eine Hyperästhesie, die sich im Laufe 


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Dr. Alfred Serko. 


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der nächsten Stunde zu einem wahren Farbenrausch steigerte. Nie 
gesehene und nie bemerkte Farbennuancen, ins feinste Detail 
abgestufte Farbentöne, ein wunderbares Spiel von Farben kam da 
zum Vorschein; die unscheinbarsten, sonst nie beachteten Objekte, 
wie Zigarettenstummel und halbabgebrannte Streichhölzchen auf 
dem Aschenteller, bunte Scherben auf dem Schutthaufen eines 
fernen, vom Fenster aus sichtbaren Bauplatzes, Tintenkleckse auf 
dem Schreibtisch, die monotonen Bücherreihen des Bücherschrankes 
glühten gleichsam auf in einer Farbengrelligkeit, die schwer zu 
schildern ist. Und insbesondere die indirekt gesehenen Objekte zogen 
durch ihre überaus lebhafte Farbenpointierung fast unwiderstehlich 
die optische Aufmerksamkeit auf sich. Die Folge davon war ein 
ständiges unruhiges Hingleiten mit den Augen über die Gegenstände 
der Umgebung; immer wieder flammten seitlich von dem Blick¬ 
punkt irritierend schöne Farben auf, die mächtig die Aufmerksam¬ 
keit erregten und den Blick zu fesseln suchten. Ja selbst die feinen 
Schatten auf der Zimmerdecke und den Wänden und die fahlen 
Schatten, die die Möbelgegenstände auf den Boden warfen, hatten 
einen feinen zarten Farbenton, der in Gemeinschaft mit der Farben¬ 
fülle der Tapeten und des bunten Teppichs dem ganzen Zimmer 
einen märchenhaften Zauber gab. Von überall, von allen Möbel¬ 
stücken, von allen Gegenständen, aus allen Winkeln strömten Farben 
in unbeschreiblicher Differenzierung ihrer Töne auf mich ein, es 
glimmte überall, wohin man blickte, ein feiner Farbenschimmer. Und 
Hand in Hand damit, ich möchte sagen fast damit harmonisch 
entwickelte sich eine immer mehr zunehmende rührselig-weich- 
sentimentale Stimmung, ein Alleweltumarmenwollen, ein Seelen¬ 
zustand ähnlich dem der Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit, 
mit jener leichten psychomotorischen Unruhe und jener Flüchtigkeit 
und Unbeständigkeit der Willensregungen, die solchen Rekonvales¬ 
zenzzuständen eigentümlich ist. Dazu das leichte Frösteln und ein, 
man könnte sagen angenehmes Unbehagen, was der ganzen Stimmung 
ein eigenartig weiches Kolorit verlieh. 

Zwei bis drei Stunden nach der Injektion begann das Höhen¬ 
stadium der Vergiftung, das lawinenartig stundenlang anschwoll, 
um dann allmählich im Laufe vieler Stunden langsam abzuklingen. 

Charakteristisch für dieses Akmestadium ist eine tiefe Zeit¬ 
sinnstörung, eine leichte räumliche Desorientierung und massenhafte 
Halluzinationen auf optischem und haptischem Gebiet. 


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Im Mescalinrausch. 


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Was die Zeitsinnstörung anbelangt, so handelt es sich um 
eine ganz enorme subjektive Überschätzung der abgelaufenen Zeit¬ 
strecken, mit anderen Worten, der Zeitabfluß ist subjektiv enorm 
beschleunigt. Die Folge davon ist, daß kaum Erlebtes überaus 
schnell in die Vergangenheit entschwindet, wodurch die Zeit 
gedehnt erscheint. Erlebnisse der letzten halben Stunde erscheinen 
so in weiter Ferne und das Gefühl der nächsten Zukunft überstürzt 
sich. Man hat zunächst das eigentümliche Gefühl, als hätte man 
die Herrschaft über die Zeit verloren, als schlüpfe diese einem 
gleichsam durch, als wäre man nicht mehr imstande, die augen¬ 
blicklichen Momente festzuhalten, um sie auszuleben; man sucht 
sich an sie anzuklammern, aber sie entwinden sich und fluten ab. 
Es ist ein sonderbares Haschen und ein Hasten nach der Zeit, ein 
inneres Vibrieren, eine eigenartige Unruhe im zeitlichen Erleben, 
die schwer zu schildern ist. Ich will etwas Konkretes bringen. Um 
diese Zeitsinnstörung objektiv zu fassen, hatte ich die Aufgabe, eine 
bestimmte kurze Zeitstrecke, deren subjektive Länge mir von Vor¬ 
versuchen im normalen Zustand her bekannt war, objektiv zu 
schätzen. Um sicherer zu schätzen, hatte ich mich im normalen 
Zustand eines Tricks bedient, das heißt, ich machte in Gedanken 
gehend einen ganz bestimmten Weg, und war der durchgegangen, 
so gab ich dem Experimentator das Signal der abgelaufenen Zeit¬ 
strecke. Dadurch war es mir möglich, diese stets annähernd gleich 
zu schätzen. Im Mescalinrausch versagte dieser Trick vollkommen. 
Auf das Signal, daß die zu schätzende Zeitspanne begonnen hat, 
schloß ich die Augen und betrat in der Vorstellung den mir ver¬ 
trauten Weg. Nach wenigen Sekunden schien es mir bereits, daß 
ich zu langsam gehe, daß ich gar nicht vorwärts komme, daß die 
Zeit auf keinen Fall ausreichen werde für den ganzen Weg, und 
ich begann zu laufen. Und nun geschah etwas ganz Sonderbares: 
es gelang mir nicht, mich mir laufend vorzustellen. Ich sah mich 
immer stürzen, mich kriechend auf dem Boden fortbewegen, die 
sonderbarsten Stellungen einnehmen, nur vorwärts kam ich nicht. 
Ähnliches erlebt man oft im Schlaf. Da kam Unruhe über mich, 
es schien mir, daß die Zeit schon längst verstrichen, die ich zu 
schätzen hatte, und ich gab das Schlußsignal. In Wirklichkeit war 
kaum ein gutes Drittel der festgesetzten Zeit verstrichen, ich hatte 
die Zeit somit um das Dreifache überschätzt. 

Auf der Höhe der Vergiftung ist die Zeitsinnstörung ganz 

Jahrbücher fitr Psychiatrie. XXXIV. Bd. 24 


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J)r. Alfred Serko. 


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enorm. Namentlich bei reichlichen Halluzinationen hat man ein 
Gefühl als schwimme man in einem unbegrenzten Zeitstrom, irgendwo 
und -wann. Man überblickt die Zeit nicht mehr, das unmittelbare 
Zeitgefühl ist tief getrübt. Man muß sich immer wieder mit einiger 
Anstrengung ruckartig die zeitliche Situation aktiv vergegenwärtigen, 
um dieser Zeitverflüchtigung für Augenblicke zu entgehen. Für 
Augenblicke nur, denn läßt die Spannung nach, läßt man sich 
gehen, so ist die uferlose Zeit gleich wieder da. 

Dies in Gemeinschaft mit einer leichten dämmerhaften räum¬ 
lichen — ich sage räumlichen, nicht örtlichen — Desorientierung 
gibt dem ganzen subjektiven Zustand einen eigenartig zauberhaften, 
mystisch-märchenhaften Anstrich. Die räumliche Desorientierung ist 
im wesentlichen charakterisiert durch ein Gefühl der Fremdheit der 
örtlichen Verhältnisse und durch ein Gefühl der Raumunendlichkeit. 
Sonst vertrauten Räumlichkeiten haftet etwas Fremdes, Rätselhaftes 
an. Es mag ja sein, daß die Farbenhyperästhesie ihren Teil dazu bei¬ 
trägt, die über Alles ungewohnte Farbentöne breitet, aber sicher ist 
dabei auch eine primäre Orientierungsstörung mitbeteiligt, denn 
erstens bleibt das Gefühl der Fremdheit auch bei Dämmerlicht und 
halber Dunkelheit, wo keine Farben mehr den Eindruck stören können, 
unverändert fortbestehen und zweitens mischt sich ständig eine zweite 
Komponente ein, die des Gefühls der Raumunendlichkeit. Dies letztere 
Gefühl ist ähnlich jenem, das man hat, wenn man sich in eine, das 
ganze Interesse in Anspruch nehmende geistige Arbeit vertieft; auch 
in solchen Augenblicken wird man eigenartig raumlos oder wenn Sie 
wollen raumunendlich. Im Mescalinrausch ist dieses Gefühl fast 
konstant vorhanden und man muß sich wie bei der Zeit immer 
wieder die räumliche Situation aktiv vergegenwärtigen, um dieser 
Raumverflüchtigung zu begegnen. Auch in dieser Störung erblicke 
ich, wie in der entsprechenden des Zeitsinns den Ausdruck einer 
leichten eigenartigen Bewußtseinstrübung, das um so mehr, als ich 
auf diese noch eine andere Störung, wenigstens zum Teil, zurück¬ 
führen zu dürfen glaube. Auf der Höhe der Mescalinvergiftung ist 
mir nämlich wiederholt passiert, daß ich für kurze Augenblicke, 
— wenige Minuten — in einen stuporähnlichen Zustand verfiel. 
Plötzlich stockte der Gedankenablauf und ich versank in eine psychische 
und körperliche Starre, wobei ich alles um mich her vergaß. Beim 
Schwinden dieses Zustandes war die zeitliche und räumliche Des¬ 
orientierung in hohem Grade ausgesprochen. 


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Im Mescalinrausch. 


359 


Noch etwas möchte ich kurz erwähnen: Schon im Stadium der 
Farbenhyperästhesie erschien mir die Tiefendimension des Raumes 
etwas gedehnt, was namentlich beim Gehen durch die langen Korridore 
der Klinik so recht zum Vorschein kam. Auf der Höhe der Ver¬ 
giftung hatte ich zeitweilig außerdem noch die Empfindung, als 
weiten sich die Räume diffus nach allen Seiten. 

Trotz dieser Eigentümlichkeiten der Mescalinvergiftung in 
zeitlicher und räumlicher Beziehung war die relative Orientierung 
stets intakt oder fast intakt. So schätzte ich die Stundenzeit durch¬ 
wegs annähernd richtig, ich wußte immer ungefähr, wie spät es an 
der Uhr sein könnte, auch wußte ich mich stets in der Klinik. 
Doch glaube ich, daß diese Orientierung nur durch äußere Ein¬ 
drücke, Sonnenhöhe, Grad der Dämmerung und anderes ermöglicht 
wurde, die Urteilsfähigkeit war ja die ganze Zeit ganz ungetrübt. 

Als Hauptcharakteristikum der Mescalinvergiftung erwähnte 
ich bereits die Sinnestäuschungen auf optischem und haptischem 
Gebiet. 

Ich will hier auf die Theorie der Halluzinationen nicht ein- 
gehen, sondern kurz das subjektiv Erlebte schildern. Die optischen 
Halluzinationen haben einen typisch eigenartigen Charakter, der 
von den Halluzinationen Geisteskranker, wenigstens der deliranten 
Trinker wesentlich abweicht. Zunächst, und das ist wesentlich, ist 
man sich stets bewußt, daß man halluziniert und man verliert in 
keinem Augenblick die Fähigkeit, sich seinen Halluzinationen gegen¬ 
über kritisch beobachtend zu verhalten. 

Die Gesichtstäuschungen nehmen ihren Ausgang von der 
Hyperästhesie der Retina. Liegt man im Höhenstadium der Ver¬ 
giftung im Dunkelzimmer gedankenlos in einem Lehnstuhl hin¬ 
gestreckt und blickt vor sich hin in die Dunkelheit, so leuchten früher 
oder später helle Streifen im Gesichtsfeld auf, ähnlich zarten Meteo¬ 
riten, kommen immer häufiger und dichter und schließlich prasselt 
ein Lichtregen, ähnlich den Kinematographenstreifen, nieder, unter¬ 
brochen von diffusen Lichterscheinungen, wie fernen Blitzen. Zu¬ 
weilen wird das ganze Gesichtsfeld für längere Zeit diffus erleuchtet, 
wobei man die Empfindung hat, als käme dieses Licht von hinten 
oder von den Seiten her. Drückt man sich nun in diesem Stadium 
mit den Fingern auf die Augen, so treten Druckvisionen von ganz 
spezifischem Charakter auf. Es sind das grelle Farben, die sich 
wirbelnd zu herrlichen Tapetenmustern, Ornamenten, Schnörkeln 

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und dergleichen ordnen, die ihrerseits alsbald zerfließen, um in 
neue Formen einzugehen. Es ist ein ständiges Entstehen und Ver¬ 
gehen, ein Sichformen und Zerfließen, ein Wirbeltanz von Licht 
und Farbe. Es handelt sich zumeist, wie schon gesagt, um Teppich¬ 
muster, Ornamente, Schnitzereien, Schnörkel- und Sternformen, 
geometrische Figuren, Zickzack- und Spiralenlinien, kometenartige 
rotierende Lichtstreifen. Aber ab und zu formen sich aus diesen 
mehr rein flächenhaften Malereien auch stereoskopische Gebilde, 
unter welchen wieder grinsende Gesichter, Masken, Blumensträuße, 
winzig kleine menschliche Figuren usw. dominieren. 

Öffnet man nun jetzt die Augen, so treten plastische Halluzi¬ 
nationen von kaum zu schildernder Reichhaltigkeit und außer¬ 
ordentlichem Formenreichtum auf. Ein Bild verdrängt in stetem 
Fluß das andere, Szenen kommen zur Entwicklung, die die reichste 
Phantasie in Schatten stellen; wunderbare Landschaften, Pracht¬ 
bauten, Kathedralen, Gärten, Parkanlagen, Jahrmarktsbuden und so 
weiter wachsen auf und schwinden wieder, gehen ineinander über, 
wandeln sich in ununterbrochenem Entstehen und Vergehen. Aus 
einer Szene entwickelt sich, man könnte sagen, fast organisch, die 
nächstfolgende, aus dieser wiederum die nächste und so fort in 
fließenden Übergängen. Es gibt da keine Sprünge, keine fertigen 
Tatsachen, man ist stets Zeuge der Entwicklung jeder Szene aus 
der nächstvoraufgegangenen. Es liegt System in diesem Auf und 
Nieder von Gesichten, das einleuchtet, es wirkt ein produktiver 
Geist in diesem Wandel, der befriedigt. Ein Beispiel wird das 
illustrieren. Ein herrliches Tapetenmuster wirbelt sich zusammen 
und wird zu einem tiefen Trichter. Die Rhomben, die im Muster 
dominierten, dehnen sich in ihren Ecken, wachsen aus, verbreitern 
sich nach oben, splittern sich in Äste, nehmen eine grüne Farbe 
an und werden so zu Bäumen, die in langer tiefer Reihe eine 
Allee bilden. Man sieht nun deutlich alle Einzelheiten der Allee, 
die schlanken Bäume, die weiße, schnurgerade Straße zwischen ihnen, 
ringsherum sattgrüne Wiesen, in welche sich die übrigbleibende 
Tapete umgewandelt hat. Doch der Prozeß geht unaufhörlich weiter: 
kaum gebildet, beginnt sich die Allee zu destruieren, die Bäume 
schrumpfen ein, werden dicker, massiger und kürzer, rücken dichter 
aneinander, der blaue Himmel senkt sich tief und tiefer und ver¬ 
mischt sich mit den Baumkronen zu einer Mauerwölbung, die Straße 
pflastert sich mit bunten Fliesen und man sieht in aller Deutlich- 


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Im Mescalinrausch. 


361 


keit, in allen Einzelheiten einen langen Klostergang. Nur kurze 
Augenblicke, dann wandelt sich das Bild: Die Marmorsäulen 
schrumpfen ein, beginnen sich zu drehen, werden so zu Schnörkeln 
und Verzierungen, während eine unter ihnen zu einer grinsenden 
Theatermaske wird: der Klostergang hat sich in eine Theaterloge 
umgewandelt. Doch schon beginnt die Logenbrüstung zu zerfließen, 
die Maske rollt sich auf, zersplittert sich in Schnitzereien, Fassaden 
tauchen auf und man sieht ein gotisches Portal, mit ins allerfeinste, 
minutiöseste Detail ausgearbeiteten Holzschnitzereien von wunder¬ 
barer Kompliziertheit und Exaktheit der Ausführung. So geht es 
fort in ununterbrochener Bewegung: Tapetenmuster wechseln ab 
mit Blumensträußen, Schnörkeln, Kuppelbauten, gothischen Portalen, 
wunderbaren Gärten, Landschaften, Alleen, grinsenden Gesichtern, 
prunkhaften Aufzügen, Prozessionen, Maschinenhallen, Kirchen, 
Volksversammlungen, Gewölben, Straßenzügen, marschierenden 
Kolonnen und so fort: ein ewiges Entstehen und Vergehen, ein 
ruheloses Wandeln ist das Merkmal dieser Sinnestäuschungen. 

Sind das nun wirklich echte Sinnestäuschungen ? K n a u e r sagt 
in seinem Keferat: „Trotz ihrer sinnlichen Kraft imponieren die 
Gesichte dem Beschauer stets als so subjektiv, so daß er im Zweifel 
bleibt, ob es sich hier um wirkliche Halluzinationen oder nur um 
sehr sinnliche Vorstellungen handelt.“ — 

Meiner Meinung nach handelt es sich zweifellos um echte 
Sinnestäuschungen, schon aus dem Grunde, weil es wirklich sinn¬ 
liche Vorstellungen nicht gibt. Sinnlich ist nur die Wahrnehmung 
und die Sinnestäuschung, die Sinn-Täuschung; sinnliche Vorstellung 
ist ein psychologisches Unding. Für meine Ansicht spricht in zweiter 
Linie die Tatsache, daß die Bilder völlig unabhängig vom aktuellen 
Bewußtseinsinhalt sind und sich aktiv, d. h. willkürlich in keiner 
Weise beeinflussen lassen. Man steht den Bildern faktisch machtlos 
gegenüber. Und drittens, ich zitiere wieder Knauer, „ist hervor¬ 
zuheben, daß neben diesen Bilderreihen der eigentliche Gedanken¬ 
gang ungestört weiter läuft, daß sogar zugleich mit den Bildern 
echte visuelle Vorstellungen von der Deutlichkeit, wie man sie 
alltäglich hat, reproduziert werden können.“ 

Und doch sind, meine Herren, diese Sinnestäuschungen ganz 
eigenartigen Charakters und nicht im weiten zu vergleichen mit 
jenen eines deliranten Säufers. Sie treten stets in ihrem eigenen, 
konstanten, scheibenförmigen, mikroskopischen Gesichtsfeld und stark 


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verkleinert auf, sie ordnen sich in keiner Weise der wirklichen Um¬ 
gebung ein, bilden vielmehr eine Welt für sich und zwar eine Theater¬ 
welt en miniature, tangieren nicht im mindesten den momentan vor¬ 
handenen Bewußtseinsinhalt, werden stets für subjektiv gehalten 
und haben demzufolge keinen wesentlichen Einfluß auf die 
Stimmungslage. 

Sie sind den hypnagogen Sinnestäuschungen, die namentlich 
Prof. Hoppe in den Achtzigerjahren beschrieben hat, verwandt und 
decken sich fast völlig mit den phantastischen Visionen, die Johannes 
Müller im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts so meisterhaft 
geschildert hat. 

Sie sind aufs feinste ziseliert und kleiden sich in grelle Farben, 
sie treten mit Vorliebe in tiefer Perspektive auf und ändern sich 
fortwährend. Sie gehen gern Komplikationen mit physiologischen 
Nachbildern ein, unterscheiden sich jedoch von diesen dadurch, 
daß sie bei Augenbewegungen ihre Stellung im Raume nicht ver¬ 
ändern, was bei Nachbildern stets der Fall ist. Sie sind somit 
zentralen Ursprungs, was schon Johannes Müller ausgesprochen hat. 

Viel schwieriger zu schildern sind die haptischen Halluzinatio¬ 
nen, welche ich nun kurz besprechen möchte. Zuvor sei mir jedoch 
noch eine kurze Bemerkung erlaubt. Knauer hat in seinem 
Vortrage darauf hingewiesen, daß das Bild der Meskalin Vergiftung 
nicht nur von Person zu Person wechselt, sondern auch bei der¬ 
gleichen Person zu verschiedenen Zeiten oft ganz anders ausfällt. 
Ich pflichte dem vollkommen bei. Während ich im ersten Mescalin- 
rausch nur optisch halluzinierte, waren im zweiten die optischen 
Halluzinationen äußerst spärlich, dafür traten aber haptische vor¬ 
wiegend in den Vordergrund. Im dritten endlich waren neben hap¬ 
tischen Halluzinationen eigenartige assoziative Störungen vorherr¬ 
schend, auf die ich später noch mit einigen Bemerkungen eingehen 
werde. Und nun zum Thema. 

Drei Stunden nach der Injektion im Dunkelzimmer bequem 
in einem Lehnstuhl liegend, warte ich auf optische Halluzinationen, 
die sich diesmal nicht einstellen wollen. Es sind nur einfache 
Lichtstreifen und diffuses Licht, was ich wahrnehme, und sonder¬ 
barerweise habe ich für diese Lichterscheinungen kein rechtes Interesse. 
Es kommt mir vor, als wäre ich für optische Eindrücke diesmal 
nicht recht disponiert. Dagegen finde ich mich immer wieder in 
psychischer Beschäftigung mit meiner Körperlage. Ich achte unwill- 


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Im Meacalinrausch. 


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kürlich auf die Stellung meiner Glieder, die ich ungewöhnlich 
scharf und deutlich perzipiere. Die leiseste Bewegung mit dem 
Fuß, Hand oder Kopf, auf die man sonst nie achtet und sie kaum 
bemerkt, zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich fühle 
meinen Körper ungewöhnlich plastisch und ungemein fein detailliert. 
Ich möchte diesen Zustand als somatopsychische Überempfindlichkeit, 
als haptische Hyperästhesie bezeichnen, wobei ich unter haptisch 
die Summe aller subjektiven kinästhetischen und oberflächlichen 
Empfindungen verstehe, in Verbindung mit einer gesteigerten Erregbar¬ 
keit der somatischen Vorstellungssphären. Das Gegenteil von hap¬ 
tischer Hyperästhesie ist die zuerst von Pötzl vollgewürdigte 
gliedkinästhetische Aufmerksamkeitslähmung, als erste Stufe moto¬ 
rischer Ausfallserscheinung. 

Die haptische ist ein Analogon der optischen Hyperästhesie, 
aus der sich weiterhin die haptischen Halluzinationen, wie aus jener 
die optischen entwickeln. 

Ich will, um mich nicht in Theorien zu verlieren, etwas Kon¬ 
kretes bringen. Man hat aktiv den Fuß dorsal flektiert. Diese Be¬ 
wegung wird aufs schärfste und positiv gefühlsbetont apperzipiert. 
Die Aufmerksamkeit bleibt nun auf diesem Gliede gleichsam haften, 
man achtet unwillkürlich auf die weiteren Empfindungen, die vom 
Sprunggelenk ausgehen könnten und erhält sie auch in Form von 
Halluzinationen. Auf einmal hat man die Empfindung, als hätte 
sich der Fuß vom Unterschenkel abgelöst; man empfindet ihn 
getrennt vom Körper neben dem amputierten Unterschenkel liegen. 
Wohlbeachtet! man hat nicht bloß die Empfindung, als fehlte ein¬ 
fach der Fuß, eine Empfindung, die zuweilen beim Einschlafen der 
distalen Extremitätenenden infolge von Druck auf den N. peroneus 
zustande kommt, man hat vielmehr zwei positive Empfindungen, 
die vom Fuß und die vom amputierten Unterschenkel mit dem hinzu¬ 
halluzinierten Lokalzeichen der seitlichen Verrückung, d. h. man 
empfindet den Fuß als solchen neben und getrennt vom Unter¬ 
schenkel, aber trotzdem als zum Ich gehörig. Es handelt sich nicht 
um eine Sensation, sondern um eine somatopsychische Halluzination. 
Auch für diese ist die ständig wechselnde Mannigfaltigkeit, der 
ruhelose Wechsel charakteristisch. Der ersten Halluzination folgt 
alsbald eine zweite — nur fehlt hier die organische Entwicklung 
der Halluzinationen einer aus der anderen, sie treten unvermittelter 
und brüsker auf als die des optischen Gebiets. 


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Achtet man auf seinen Körper, so merkt man bald, daß sich 
mm auch der linke Fuß vom Körper abgesagt hat; dann hat man 
die Empfindung, als hätte sich der Kopf um 180 Grad gedreht, 
der Bauch wird zu einer flüssig weichen Masse, das Gesicht hat 
Riesendimensionen angenommen, die Lippen schwellen an und werden 
zu massiven Wülsten, die Arme werden eigentümlich hölzern mit 
kantigen Umrissen wie die Figuren des Nürnberger Spielzeugs, oder 
wachsen aus zu langen Affenarmen, der Unterkiefer hängt über¬ 
mäßig weit nach unten, der Mund ist weit geöffnet. Es kommen 
da ganz sonderbare Mißempfindungen zustande, Umwandlungen 
der Glieder, ein Wachsen und ein Schrumpfen einzelner Körperteile, 
Transformationen sonderbarster Art, die kaum zu schildern sind. 
Ich will nur einiges davon erwähnen. Unter vielen anderen hatte 
ich auch die Halluzination, daß sich mein Kopf vom Körper los¬ 
getrennt hat und etwa ein halbes Meter weit nach hinten frei 
in der Luft schwebt. Ich fühlte ihn tatsächlich schwebend, aber 
doch als zu meinem Ich gehörend. Um mich zu kontrollieren sprach 
ich laut paar Worte und auch die Stimme schien von hinten aus 
einiger Entfernung zu kommen. Oder ich halluzinierte, daß ich 
mitten durch den Körper entzweigeschnitten bin, die untere Körper¬ 
hälfte befinde sich dabei in Bauch-, die obere in Rücken¬ 
lage. (Diese Halluzination hat mich noch die halbe Nacht darauf 
geplagt.) Oder ich fühlte meine Beine quer über meinem Bauche 
liegen. Noch sonderbarer und barocker sind die Transformationen. 
Es handelt sich dabei um Täuschungen betreffs der prinzipiellen 
Form der einzelnen, meist distalen oder sonstwie prominenten 
Körperteile. Während der vom Unterschenkel losgetrennte Fuß 
doch noch ein Fuß bleibt, verwandelt sich bei der Transformation 
ein Glied in etwas ganz Artfremdes. So nahmen z. B. meine Füße 
Schlüsselformen an, wurden zu Spiralen, Schnörkeln, der Unter¬ 
kiefer wurde eigentümlich hacken-paragraphenähnlich, die Brust 
schien zu zerfließen und so fort. Ich halte diese Täuschungen 
schon für Komplikationen der haptischen mit den optischen Trug¬ 
bildern. Doch zuvor noch einige ganz allgemeine Bemerkungen. 
Manche dieser haptischen Halluzinationen sind recht vage, flüchtig, 
unbestimmt, verschwommen und drängen sich nur wenig auf. 
andere wiederum sind so eindringlich, plastisch und anhaltend, daß 
man sich ihrer kaum erwehren kann. So hatte ich beim Aufrecht¬ 
stehen und beim Gehen fast eine halbe Stunde lang die lebhafteste 


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Im Mescalinrausch. 


365 


Empfindung, als schwebe mein Oberkörper frei in der Luft und stehe 
in keiner organischen Verbindung mit den Beinen. Die Täuschung 
war so lebhaft und so eindringlich, daß ich immer wieder unwill¬ 
kürlich auf die Beine blickte, um zu sehen, ob sie sich noch immer in 
einer Achse mit dem Oberkörper befinden und nicht davongeeilt sind. 
Auch schien es mir beim Gehen, als wären meine Arme hölzern und 
gehörten nicht zu meinem Körper, ja sogar bei optischer Betrachtung 
schwand die Täuschung nicht, ja auch den Augen erschienen meine 
Hände fremd. Nicht so konstant war die Empfindung, als stehe der 
Kopf in einem nach vorn offenen stumpfen Winkel schief zur Körper¬ 
achse, und die Empfindung, als fehlte überhaupt der Brustkorb ganz, 
als gähne zwischen meinem Kopf und den Beinen eine Leere. 

Begünstigt werden die haptischen Halluzinationen wie die 
optischen durch Dunkelheit und vollste Körperruhe. Optische Kon¬ 
trolle und energische Bewegungen bringen die flüchtigen und wenig 
ausgesprochenen sehr leicht zum Schwinden, während andere, wie 
erwähnt, recht hartnäckig sich behaupten können. 

Zuweilen gehen nun die haptischen Halluzinationen ganz eigen¬ 
artige und schwer zu schildernde Verschmelzungen mit jenen des 
optischen Gebietes ein. Ich will zunächst ein Beispiel geben. Im 
diffus erleuchteten Gesichtsfeld bildet sich durch lebhafte Bewegung 
eines Streifens eine Lichtspirale, die sich schnell rotierend im Gesichts¬ 
felde hin und her bewegt. Gleichzeitig kommt auf haptischem Gebiete 
zu schon erwähnten Transformationen, indem ein Bein Spiralenform 
annimmt. Die Lichtspirale und die haptische Spirale fließen im 
Bewußtsein ineinander, das heißt, die nämliche Spirale, die man 
optisch halluziniert, empfindet man auch haptisch. Das Bein ist 
haptisch halluzinatorisch in die Lichtspirale, die ein optisches Produkt 
ist, eingegangen. Man fühlt sich körperlich und optisch eins. 

Man hört zuweilen von Dementia praecox-Kranken scheinbar 
ganz absurde Äußerungen, die an. hier besprochene Erfahrungen 
erinnern; es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, daß es sich bei ihnen 
um ähnliche oder verwandte halluzinatorische Mischprodukte han¬ 
delt, um Verschmelzungen verschiedener Empfindungsqualitäten. 
Es ist auch möglich, daß das Farbenhören mancher sonst normaler 
Menschen irgendwie damit zusammenhängt. 

Ja Knauer sagt in seinem Referat: „Möglicherweise sind 
überhaupt alle stereoskopischen Bilder als solche Mischprodukte von 
optischen und taktilen Sinneserregungen aufzufassen.“ Ich füge dem 


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hinzu, daß sicher manche haptischen Halluzinationen vom optischen 
Gebiete her entlehnte Elemente beherbergen, durch welche sie erst 
ihre Signatur erlangen. Vor allem rechne ich, die von mir sogenannten 
haptischen Transformationen dazu. Weitere Versuche mit dem 
Mescalin würden sicher manche dieser dunklen Fragen weiter klären 
und manches zum Verständnis schwerverständlicher psychopatho- 
logischer Zustände beitragen. 

Zum Schluß noch einige Bemerkungen über assoziative Störungen 
im Mescalinrausch. Es liegt nahe, die Zeitsinnstörung und einige 
Eigentümlichkeiten der optischen sowie der haptischen Halluzinationen 
auf intrapsychische Parassoziationen zurückzuführen. Namentlich 
die Zeitsinnstörung könnte auf einen beschleunigten Vorstellungs¬ 
ablauf zurückgeführt werden, und auch das ungestüme Drängen 
der Sinnestäuschungen scheint auf ein ideenflüchtiges Moment 
hinzuweisen. Dieser Annahme widersprechen aber die Erfahrungen, 
die ich in meiner dritten Mescalinvergiftung zu machen Gelegenheit 
hatte. Im Stadium Decrementi der Giftwirkung kam nämlich dies¬ 
mal eine assoziative Störung zur Entwicklung vom Typus der 
Dissoziation, der intrapsychischen Ataxie im Sinne Stranskys. Es 
fiel mir auf, daß ich der Unterhaltung meiner Kollegen, die die 
Ergebnisse der eben mit mir durchgeführten experimentell-psycho¬ 
logischen Versuche besprachen, immer schwerer folgte, und schließlich 
ganz versagte. Das geordnete Mitdenken war in hohem Grade 
gestört. Es kam fortwährend zu gedanklichen Entgleisungen, zum 
Auseinanderreißen der Assoziationskette und infolgedessen zu immer 
wiederkehrender Notwendigkeit mit dem Gedankenaufbau vom neuen 
zu beginnen. Auch war ich nicht ablenkbar, im Gegenteil, ich 
haftete vielmehr an wenigen Gedankenelementen, über die ich nicht 
hinwegkommeu konnte. Ich dachte einen Gedanken nur bis zur 
Hälfte, dann kippte ich um, geriet auf Nebengeleise und mußte 
vom frischen beginnen. Ähnliches erlebt man zuweilen bei angestrengter 
geistiger Arbeit im Zustande starker Ermüdung. 

Nur noch ein Wort. Jedesmalige Vergiftung hatte eine schwere 
Asomnie zur Folge mit reichlichen abklingenden haptischen und 
hypnagogen Halluzinationen, die sich erst in den späten Morgen¬ 
stunden verloren und sich der Schlaf einstellte. Nach kurzem Schlafe 
fühlte ich mich stets ausnehmend frisch und munter und was ich 
nicht verschweigen will, außerordentlich alkoholtolerant. 


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Über Nerven- und Geisteskrankheiten 
bei katholischen Geistlichen und Nonnen. 


Von 

Dr. Alexander Pilcz, Wien. 

In durchaus übereinstimmender Weise wird von vielen Autoren 
die große Seltenheit des Vorkommens der progressiven Paralyse bei 
katholischen Priestern hervorgehoben, v. Krafft-Ebing erklärte, 
imter 2000 Paralytikern keinen katholischen Geistlichen gesehen zu 
haben; K u n d t verzeichnete unter 1090 Aufnahmen 17 Priester, davon 
aber keinen Paralytiker. Dasselbe sagt neuerdings Hoche, auf eine 
20jährige Erfahrung zurückblickend. Hirsch 1 weist in seiner Sta¬ 
tistik von 200 Fällen nur einen Geistlichen auf, Caboureau unter 
geisteskranken katholischen Priestern nur Bouchaud unter 

288 Fällen nur sieben Paralytiker. Obersteiner undKraepelin 
weisen, nahezu mit denselben Worten, darauf hin, daß eine para¬ 
lytische Nonne bisher überhaupt noch nicht beobachtet worden zu 
sein scheint. Diesen Literaturangaben gegenüber, die sich noch leicht 
vermehren ließen (R a y m o n d, M o r a v c s i k) kommt der Mitteilung 
Pändys, der eine größere Anzahl paralytisch gewordener katho¬ 
lischer Geistlicher zu sehen Gelegenheit hatte, nämlich unter 
53 Fällen 16, bzw. 20, wohl nur, wie Spielmeyer zutreffend 
bemerkt, mehr der Wert eines kultur-, bzw. sittengeschichtlichen 
Kuriosums’ zu. 

Das eben Gesagte, nämlich über die Seltenheit der progressiven 
Paralyse bei katholischen Geistlichen und Nonnen, scheint mir aber, 
soweit mir die Literatur zugänglich, so ziemlich das einzige, was 
über Psychosen bei diesem Berufsstande publiziert worden ist. Nach¬ 
dem ich selbst seit Jahren Gelegenheit habe, in meiner Privatklientel 
viele Fälle gerade katholischer Welt- und Ordenspriester sowie 
Nonnen zu sehen, schien es mir nicht ungerechtfertigt, meine Er- 


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Dr. Alexander Pilcz. 


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fahrungen über Nerven- und (Geisteskrankheiten bei dieser Berufs¬ 
klasse zusammenhängend mitzuteilen. Mich interessierte dabei nicht 
nur die Frage nach den relativen Häufigkeitsverhältnissen der ein¬ 
zelnen uns bekannten nosologischen Krankheitstypen, sondern, bei 
den Psychosen, Einzelheiten symptomatologischer Art, ob z. B. die 
Wahnideen, Sinnestäuschungen usw. irgend spezifisch durch das 
betreffende Milieu gefärbt seien. Eine weitere Anregung, meine 
eigenen Beobachtungen zu veröffentlichen, gab mir auch der jüngst 
erschienene Aufsatz von Hatschek, der u. a., gewiß mit vollem 
Recht, ausführt, daß, wenn die Freudschen Voraussetzungen 
betreffs der Rolle der Masturbation, sexuellen Abstinenz usw. in 
dem von dieser Schule behaupteten Maße zu Recht bestünden, ge¬ 
rade die katholischen Klosterfrauen und Geistlichen ganz besonders 
stark den Psychoneurosen unterworfen sein müßten. Es trifft dies 
aber nach seiner Erfahrung keineswegs zu, und er findet für diese 
seine Beobachtung eine Bestätigung in einer privaten Mitteilung 
von mir an ihn. 

Das Material meiner Privatpraxis umfaßt 169 Priester, Ordens¬ 
und Weltgeistliche, und 133 Nonnen, zusammen 302 Fälle, die sich 
wie folgt verteilen: 


I. Psychosen. Männer 

Melancholie. 2 

Manie. 1 

Amentia. 1 

Paranoia. 4 

Periodische Psychosen .. 4 

Paralysis progress. 0 

Arteriosklerotische Psychosen. 3 

Dementia senilis. 2 

Dem. praecox. 9 

Alkoholische Psychosen. 7 

Epileptische Psychosen. 0 

Hysterische Psychosen. 0 

II. Nervenkrankheiten, exklusive 
Psychoneurosen. 

Periphere Lähmungen. 2 

Neuralgien, Ischias usw.11 

Tabes. 1 


Frauen 

4 

0 

6 

3 

4 
0 
2 
0 

12 

0 

0 

0 


1 

6 

0 


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Über Nerven- und Geisteskrankheiten usw. 


369 


Männer Frauen 

Lues cer. spinal. 0 0 

Amyotr. Lateralskler.. . 1 0 

Poliomyel. chron. anter. 0 1 

Tumor cerebri. 2 2 

Meningitis tuberc. 1 0 

Apoplexie, Hemiplegie. 8 2 

Morb. Basedow. 0 3 

Chorea min. 0 2 

Tetanie. 2 0 

Epilepsie.• 2 1 

Migräne. 1 10 

Schreibkrampf. 1 0 

Polyneuritis. 3 0 

III. Verschiedene andere Fälle. 

Kopfschmerzen bei Anämie usw. 6 7 

Allgemeine und zerebrospinale Arteriosklerose 10 2 

Psychopathische Minderwertigkeit .... 14 7 

Konstitutionelle Neurasthenie.27 10 

Erworbene Neurasthenie .27 15 

Sine morbo. 29 20 

IV. Psychoneurosen. 


Zwangsvorstellungen, Phobien usw., Hysterie 4 3 

Außerdem konnte ich dtirch gütige Erlaubnis seitens des Herrn 
Hofrates Prof. Dr. v. W a g n e r 42 Krankheitsgeschichten der letzten 
20 Jahre aus der psychiatrischen Klinik im Allgemeinen Kranken¬ 
hause ausheben; 15 weitere Fälle betrafen Kranke der ehemaligen 
I. psychiatrischen Klinik in der alten Wiener Irrenanstalt, aus den 
Jahren 1886 bis 1907. Diese 57 psychiatrischen Fälle sind: 

Männer Frauen 


Melancholie. 1 2 

Amentia. 0 8 

Paranoia. 5 5 

Periodische 'Psychosen. 2 1 

Imbecillitas. 2 1 

Dementia paralytica 1 ) . 2 0 


x ) Es befindet sich darunter der von Hirschl erwähnte Fall. 
Doppelzählungen wurden selbstverständlich im übrigen vermieden. 


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370 


Dr. Alexander Pilcz. 


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Männer Frauen 

Dementia arteriosklerot. 1 0 

Dementia praecox. 7 11 

Alkoholische Psychosen.. . 9 0 

Soweit das Zahlenmaterial. Es ergibt sich zunächst wieder die 
enorme Seltenheit der progressiven Paralyse. Auch in diesem Materiale 
wurde die paralytische Nonne noch nicht gefunden, und unter 62 L ) 
geisteskranken Priestern waren nur 2, d. h. 3*22 % paralytisch, 
während der Prozentsatz von Paralytikern unter den Gesamt¬ 
aufnahmen in Mitteleuropa derzeit um 20 bis 30% herum zu be¬ 
tragen pflegt. 

Die Fälle von Amentia betrafen größtenteils Fieber-, bzw. 
Infektionsdelirien bei Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten; 
ferner sind darunter drei perakut ad exitum führende Fälle vom 
Zustandsbilde des Delirium acutum. 

Unter den Paranoikern sind zwei männliche und ein weiblicher 
Fall von Paranoia querulans. Die übrigen Fälle ließen eine be¬ 
sondere religiös-mystische oder sexuelle Färbung keineswegs erkennen, 
wenigstens nicht in den zur Beobachtung gelangten Stadien des 
Beziehungs- und Verfolgungswahnes. Über den konkreten Inhalt 
der späteren Größenwahnstadien vermag ich nichts auszusagen. Der 
derb-obszöne Inhalt der Gehörshalluzinationen, der bei vielen diesen 
Kranken zu Tage trat, unterschied sie keineswegs von unseren 
Paranoikern anderer Berufsklassen. Dasselbe, nämlich Mangel spe¬ 
zifischer Färbung, kann ich von den Melancholien sagen. 

Relativ groß muß das Kontingent alkoholischer Psychosen 
genannt werden. Es finden sich darunter zwei Fälle pathologischen 
Rauschzustandes, vier von Delirium tremens, einer von akuter 
Hall azinöse, während der Rest auf Fälle allgemeiner intellektuell¬ 
ethischer Säuferdepravation kommt. 

Auffallend stark sind die verschiedenen Formen der Schizo¬ 
phrenie vertreten, katatone, paranoide und hebephrene Zustandsbilder. 
Ein Teil erkrankte schon während der Studienzeit, bzw. noch vor 
Erlangung der Weihen, und es ließ sich durch eine sorgfältige 
Anamnese feststellen, daß die ersten Anzeichen der Psychose schon 
auf eine Reihe von Jahren zurückreichten. Ein anderer Teil, speziell 
sah ich dies bei weiblichen Individuen, erkrankte akut unter 


r ) 33 Fälle der Privatpraxis, 29 aus dem klinischen Materiale. 


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Über Nerven- und Geisteskrankheiten usw. 


371 


hysteriformen Erscheinungen, so daß manchmal die Anfangsdiagnose 
„Hysterie“ gestellt wurde, und erst der Verlauf die Klärung brachte 
und richtige Diagnose gestattete. Was den konkreten Inhalt der 
Wahnideen und Sinnestäuschungen anbelangt, so konnte ich nur 
dasselbe finden, wie bei den Paranoikern, d. h. nicht genügend 
bewandert in den technischen Geheimnissen der Symboldeutungs¬ 
kunst, vermochte ich es durchaus nicht, ein auffallendes Prädominieren 
sexueller Komplexe nachzuweisen, übrigens auch nicht eine spezifisch¬ 
religiöse Färbung. Beide diese Elemente, Sexualität und Mystizismus, 
traten bei dem Materiale dieser speziellen Kategorie weder quantitativ 
noch qualitativ irgendwie anders in Erscheinung, als bei allen übrigen 
Schizophrenen meiner an der Klinik oder privat gewonnenen Er¬ 
fahrung. 

Hysterische Psychosen finden sich unter meinem Materiale 
ebensowenig vertreten wie epileptische. Letzteres erklärt sich 
ohneweiters daraus, daß epileptische Psychosen erfahrungsgemäß so 
gut wie ausschließlich bei lange bestehender und schwerer Fallsucht 
vorzukommen pflegen, Epileptische aber nicht die letzten Weihen 
empfangen, bzw. als Priester ausgeweiht werden dürfen. Die sub II 
ausgewiesenen Fälle von Epilepsie betreffen auch nicht Priester, 
sondern Klostemovizen und Theologiekandidaten. 

Das Fehlen hysterischer Geistesstörungen muß besonders be¬ 
merkt werden, wenn man sich an die psychischen Epidemien in 
den Nonnenklöstern zu Marseille, 1610, Loudon, 1635, Avignon usw. 
erinnert. Aber auch die Hysterie als „Neurose“ ist viel seltener, 
als man vielleicht a priori erwarten würde, und damit möchte ich 
gleich die letzte Gruppe meiner Statistik, die sogenannten „Psycho- 
neurosen“, besprechen, worunter ich hier Zwangsvorstellungen, Pho¬ 
bien, Angstneurosen, Hysterien zusammenfassend gruppieren will. 

Unter den vier Fällen, Geistliche betreffend, sah ich eine 
traumatische Hysterie, eine „Phrenokardie“ nach Herz und zwei 
Fälle von Zwangsvorstellungen; die drei Fälle bei den Nonnen 
waren je eine Zwangsneurose, eine Schreckneurose und eine klassische 
Hysteria gravis. Bei den Fällen von Zwangsvorstellungen handelte 
es sich durchwegs um derb-obszöne Ideen, welche gerade nur während 
des Gebetes oder anderer religiöser Übungen auftauchten. Der Fall 
traumatischer Neurose war darum für mich interessant, weil das 
Moment der Rentenbegehrung oder dergleichen sicher nicht in Be¬ 
tracht kam. Bei einer jungen Nonne traten im unmittelbaren An- 


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Dr. Alexander Pilcz. 


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372 

Schluß an einen heftigen Schrecken — Kolleginnen hatten ihr 
scherzeshalber in einem dunklen Gang aufgelauert und unter 
lautem Geschrei ein Tuch über den Kopf geworfen — typisch 
hysterische Schrei- und Weinkrämpfe auf, die sich in der Folge 
noch wochenlang wiederholten. In einem Fall endlich, bei dem 
eine unmittelbar determinierende Ätiologie nicht zu erfragen war, 
bestanden Jahre hindurch in regellosem Wechsel die vielgestaltigen 
Bilder der Hysterie, arc de cercle, plötzliche lähmungsartige Zu¬ 
stände, Laryngospasmen, Borborygmen, Globus usw., dabei niemals 
psychische Störungen s. str.; Pat. war eine ob ihrer Arbeitskraft und 
Intelligenz sehr beliebte und verwendbare Kraft. 

Die Gruppe II bedarf keiner längeren epikritischen Bemerkungen. 
Ein einziger Fall von Tabes bei einem Weltpriester befindet sich 
darunter. Recht groß ist die Zahl von Apoplektikern, acht bei den 
Männern, zwei bei den Nonnen; wir werden darauf noch zurück¬ 
kommen. 

Länger müssen wir uns mit Gruppe III beschäftigen. Es fällt 
die große Zahl von Arteriosklerotikern auf. Ich habe hier Fälle 
aufgenommen, bei welchen neben Zeichen allgemeiner Arteriosklerose 
die Symptome der neurasthenischen Form der zerebralen Arterio¬ 
sklerose die Kranken zu mir führte, ohne daß gröbere Herd¬ 
erscheinungen (sub II) oder Psychosen (sub I) Vorgelegen hatten. 
Insgesamt zählte ich in meinem eigenen Materiale 27 Fälle von 
arteriosklerotischen Affektionen *). Ätiologisch konnte ich in nahezu 
allen diesen Fällen nur eine unbeschadet der Fastengebote über¬ 
mäßige Hingabe an die Tafelfreuden eruieren, bei den meisten auch 
mit Alkohol- und Nikotinabusus kombiniert. 

Die unter der Bezeichnung „psychopathische Minderwertig¬ 
keiten“ zusammengefaßten Fälle betreffen nur in zwei Individuen 
Priester; es hatte sich um wegen homosexueller Handlungen zur 
Beobachtung gestellte Fälle gehandelt, bei welchen Zeichen all¬ 
gemeiner psychopathischer Minderwertigkeit, jedoch keine Geistes¬ 
krankheit festgestellt werden konnte. Alle übrigen Fälle gehören 
eigentlich strenge genommen nicht hieher, sondern betreffen Kloster¬ 
novizen beiderlei Geschlechtes, sowie Theologiekandidaten, die wegen 
irgendwelcher nervöser Beschwerden oder Auffälligkeiten seitens 


*) 28 mit dem einen Fall arteriosklerotischer Psychose aus der 
Klinik. 


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Über Nerven* und Geisteskrankheiten usw. 


373 


ihrer Oberen zu mir geschickt wurden, teils um therapeutischen 
Bat einzuholen, teils um ärztlichen Bat zu suchen zur Entscheidung 
der Frage der Eignung für den geistlichen Beruf, also vor Ablegung 
der letzten bindenden Gelübde. Es waren darunter teils schwach¬ 
sinnige, zu Affekten geneigte Individuen, teils haltlose, reizbare, 
verschrobene Naturen, Hereditarier u. dgl. 

Auch in der Gruppe „sine morbo“ finden sich einige, welche 
ich sozusagen zur „Assentierung“ untersuchen mußte. Ein anderer 
Teil betrifft Hypochonder der verschiedensten Färbung, ältere 
Individuen mit Furcht vor „Schlaganfall“, „Vergeßlichkeit“, „Ge¬ 
hirnerweichung“ usw., meist „Konversationslexikon“-Hypochonder 
oder Opfer populär-medizinischer Traktätchen, teils junge Kleriker 
mit der schier stereotypen Angst, durch Pollutionen geschwächt 
oder „rückenmarksleidend“ zu werden. Auch Hypochonder e mastur- 
batione fehlten nicht, waren aber keineswegs besonders zahlreich 
vertreten. Zwei Fälle endlich betrafen ehemalige, völlig defektlos 
geheilte Psychosen, die mich behufs Erlangung eines Zeugnisses 
wegen Kuratelaufhebung aufsuchten. 

Und nun ein Wort über die „Neurastheniker“ meines Materiales. 
Kranke mit einem neurasthenischen Zustandsbilde, das aber lediglich 
einer beginnenden zerebralen Arteriosklerose entsprach, wurden ebenso¬ 
wenig hieher gerechnet, wie Fälle verkappter Melancholien, bei denen 
nur aus Opportunitätsgründen die Diagnose „Neurasthenie“ gestellt 
wurde, oder initiale Schizophrenen und dgl. Derartige Fälle sind 
unter den betreffenden Diagnosen aufgezählt. 

Die konstitutionellen Neurastheniker, deren Abgrenzung von 
den sub III geführten „psychopathischen Minderwertigkeiten“, 
wie ich ohneweiters zugeben will, ein wenig willkürlich ausfallen 
mußte, waren Leute von abnorm leichter Ermüdbarkeit, Stim¬ 
mungsmenschen, empfindlich, leicht übelnehmerisch, übertrieben 
ohrgeizig, auch religiös übertrieben skrupelhaft, meist Hereditarier, 
schon während der Gymnasial-, bzw. früheren Jugendzeit „nervös“. 
Nur bei dieser Gruppe hörte ich präzise Klagen über 
stärkere subjektive Beschwerden durch die sexuelle 
Abstinenz, Klagen über Wallungen, Kopfdruck, Unruhe, Schlaf¬ 
störung, Denkerschwerung u. dgl. Zwei Fälle dieser Art sind mir 
besonders in Erinnerung, weil dieselben nach Wechsel des Berufes, 
mit der Möglichkeit des vollen Sichauslebenkönnens quoad vitam 
sexualim, über genau dieselben nervösen Zustände klagten wie vordem. 

Jahrbücber für Piychiatrie. XXXIV. Bd. 25 


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Dt. Alexander Pilcz. 


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Bei den erworbenen Neurasthenikern trat der Zustand ein nach 
greifbaren äußeren Noxen, z. B. übermäßiger geistiger Anstrengung 
in Verbindung mit körperlich unhygienischen Verhältnissen, wie 
ungenügendem Schlaf, allzu strengem Fasten usf. Manche meiner 
Patienten bereiteten sich z. B. für das Lehramt vor, besuchten 
Universitätsvorlesungen und Institute, arbeiteten an wissenschaftlichen 
Publikationen und gingen außerdem in der gewissenhaftesten Weise 
der Erfüllung ihrer priesterlichen Obliegenheiten nach, der Seelsorge, 
Krankenpflege usf. Oder es trat der neurasthenische Zustand in 
ziemlich akuter Weise auf im Anschluß an eine schwere somatische 
Erkrankung mit nachfolgender ungenügender, zu kurzer Schonung 
während der Rekonvaleszenz. Mir ist nach meiner Erfahrung kein 
Fall bekannt, daß bei einem vordem nervengesunden Individuum 
lediglich durch das Moment der erzwungenen sexuellen Abstinenz 
ein ernstes nervöses Leiden entstanden wäre. 

Auf den naheliegenden Einwand, daß Zölibat nicht gleich¬ 
bedeutend sein muß und ist mit sexueller Abstinenz, möchte ich 
erwidern, daß erstens meine Erfahrungen sich eben auch auf Nonnen 
beziehen, bei welchen die Möglichkeit zu fortgesetztem Geschlechts¬ 
verkehr einfach ausgeschlossen ist, daß zweitens, wer über wirkliche 
eigene Erfahrung in geistlichen Kreisen verfügt, weiß, daß es dar¬ 
unter viele ethisch hochstehende, sehr gewissenhafte Charaktere 
gibt, die das Keuschheitsgebot wirklich ernst nehmen und unter 
Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft halten. Gewisse gegenteilige 
Erfahrungstatsachen dürfen da absolut nicht zu generalisierenden 
Schlüssen verleiten. Ich freue mich, gerade in diesem Punkte in 
den persönlichen Erfahrungen meines Lehrers v. Wagner eine 
Bestätigung zu erhalten, wie ich seiner mündlichen Belehrung 
verdanke. 

In Übereinstimmung mit Hatschek kann auch ich behaupten, 
daß jene Psychoneurosen, welche gerade bei katholischen Priestern 
und Nonnen besonders häufig und von besonders schweren Formeu 
zu erwarten wären, wenn die Freud sehen Lehren zutreffen würden, 
in Wirklichkeit nur ziemlich selten Vorkommen. 

Zusammenfassend möchte ich sagen: 

Die Häufigkeit und Symptomatologie der Nerven- und Geistes¬ 
krankheiten bei katholischen Priestern und Nonnen unterscheidet 
sich im allgemeinen nicht wesentlich von den Verhältnissen bei 
anderen Berufsklassen. 


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Über Nerven- und Geisteskrankheiten usw. 


375 


Relativ häufig sind Fälle von Schizophrenie und arterio¬ 
sklerotisch bedingter Ätiologie. 

Progressive Paralyse ist außerordentlich selten; eine para¬ 
lytische Nonne wurde noch nicht beobachtet. 

Gegenüber der Freudschen Schule muß betont werden, daß 
gerade Hysterien, Angstneurosen usw. nur selten Vorkommen, auf 
keinen Fall häufiger als bei anderen Berufen. 

Literatur. 

v. Krafft-Ebing, Die progressive allgemeine Paralyse, I. AufL 
Kundt, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie usw., 1894, pag. 258, 
„Statistisch-kasuistische Mitteilung zur Kenntnis der progressiven 
Paralyse. tt 

Ho che, „Dementia paralytica“ in Aschaffenburgs Handbuch der Psy¬ 
chiatrie. 

Hirschl, Jahrbücher für Psychiatrie usw., 1895, 14. Band, „Die 
Ätiologie der progressiven Paralyse,“ pag. 448. 

Caboureau, Thfese de Bordeaux, 1900, „La paralysie generale chez 
les religieux.“ 

Bouchaud, Annales m4d.-psycholog., 1891, I. T., „De la fr^quence 
relative de la paralysie g6n6rale chez les laiques et chez les religieux. tt 
Obersteiner, Die progressive allgemeine Paralyse, 1908. 
Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie, VIII. AufL • 

Pändy, Neurologisches Zentralblatt, 1908, pag. 11, „Die progressive 
Paralyse der katholischen Geistlichen.“ 

Spielmeyer, Ergebnisse der Neurologie und Psychiatrie, Band I, 1912. 
Hatschek, Wiener klinische Wochenschrift, 1913, pag. 1015, „Zur 
Praxis der Psychotherapie.“ 


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Referate. 


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EduardHitschmann: FrendsNeurosenlehre. Zweite ergänzte 
Auflage. Leipzig und Wien, 1913, Franz Deuticke. 

Wie schon bei der ersten Auflage hervorgehoben, ist dieses 
kleine Werkchen wie kaum eines geeignet, zur ersten Orientierung 
über die Freudsche Lehrmeinung zu dienen. Es besorgt das in einer 
vollkommen objektiven Weise, äußerst klar und übersichtlich, ohne 
jenen unangenehmen Affektausbruch, der sonst solche Darstellungen 
begleitet. Wenn Freud mehrere solche Schüler zur Seite gestanden 
hätten, wäre seinem Lebenswerke besser gedient gewesen, als es 
bisher der Fall war. 

Oskar Pfister, Dr.: Die psychanalytische Methode. Päd¬ 
agogium. Bd. I. Leipzig und Berlin, 1913, Klinkhardt. 

Es ist bezeichnend für eine Methoiensammlung für Erziehung 
und Unterricht, wenn dieselbe die psychanalytische Methode au ihre 
Spitze stellt und es ist nur Pfisters über jeden Zweifel erhabener 
Auffassung der Methode Freuds zu danken, wenn man nicht 
von vornherein scharf gegen ein derartiges Unternehmen auftritt. 
Pfister ist der Idealist der Psychanalytiker. Er setzt die höchsten 
ethischen und religiösen Anforderungen bei der Psychanalyse voraus. 
In seiner Darstellung wählt er den historisch-kritischen Weg und 
man sucht vergebens nach jenen Beispielen schamloser Analysen, 
wie man sie sonst in ähnlichen Werken findet. 

Ja was er über Strafe, sexuelle Erziehung und Aufklärung, 
sowie sittliche Erziehung sagt, wird man ohneweiters berechtigt 
finden. Es ist mehr eine Stellungnahme zu den Mechanismen des 
Unbewußten im Menschen, als jene besondere Hervorhebung der 
Sexualität, wie sie sonst den Freud-Anhängern eigen ist. Die Dar¬ 
stellung ist klar, übersichtlich und ungemein leicht faßlich. 

Aschaffenburg: Handbuch der Psychiatrie. Leipzig und 
Wien, 1913, Franz Deuticke. 

Allgemeiner Teil, 2. Abteilung. 

M. Rosenfeld, Prof., Dr.: Die Physiologie des Großhirns. 
M. Isserlin, Dr.,Privatdozent: Psychologische Einleitung. 

Es ist mit Freude zu begrüßen, daß endlich auch einmal eine 
für den Kliniker bestimmte Darstellung der Physiologie der Groß- 


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Referate. 


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hirnrinde zusammenfassend gegeben wird, eine Darstellung, die sich 
nicht wie die gewöhnlichen auf die Lokalisation beschränkt, sondern 
die zirkulatorischen Verhältnisse berücksichtigt, sowie die vaso¬ 
motorischen Phänomene. Bei der Lokalisation ist sowohl den Exstir¬ 
pationsversuchen als auch der Myelo- und Zytoarchitektonik Rechnung 
getragen. Auch alle jene Fragen, die in letzter Zeit vielfach zur 
Diskussion standen, wie die Aphasielehre, die Differenz der beiden 
Hemisphären sind erörtert. 

Den Schluß macht eine kurze Betrachtung der Physiologie 
der Stammganglien der Hypophyse und des Balkens. 

Interessant ist die Darstellung der Psychologie durch Isserlin. 
liier wird auch der Erfahrene viel Anregungen finden. Besonders 
die übersichtliche Darstelluug ist hervorzuheben. 

Edinger und Wallenberg: Anatomie des Zentralnerven¬ 
systems. Sechster Bericht. (Leistungen und Forschungs¬ 
ergebnisse in den Jahren 1911 und 1912.) Bonn, 1913, 
Marcus & Webers Verlag. 

Wie gewohnt bringen auch diesmal die vorliegenden Berichte 
eine große kritische Übersicht, die wohl erschöpfend genannt werden 
kann, über alle anatomisch-physiologischen Forschungen des Nerven¬ 
systems. Gerade aus diesen Berichten ersieht man, wieviel Detail¬ 
arbeit in den letzten Jahren geleistet wurde, um einzelne Kapitel 
zum Abschluß, andere zu erneuter Diskussion zu bringen. Der 
Anschluß neuer Mitarbeiter, besonders Röthigs in der vergleichen¬ 
den Anatomie ist dem Werke zum Vorteil geworden. 

Th. Rybakow: Travaux de la clinique psychiatrique 
de l’Universite imperiale de Moscou. Moskau, 1913. 

Dem russischen Werke ist ein kurzes französisches Resume 
der Originalarbeiten der Moskauer psychiatrischen Klinik beigedruckt. 
Sie behandeln die verschiedensten psychiatrisch-neuro logischen Themen 
(Korsakow, hysterische Epilepsie, Mikrocephalie, Tetaniepsychose, ver¬ 
gleichende Anatomie des Thalamus, Katatonie) und legen Zeugnis ab 
von der regen wissenschaftlichen Tätigkeit, welche die Klinik unter 
Rybakow entfaltet. 

R. Sommer: Öffentliche Ruhehallen. Sammlung zwangloser 
Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geistes¬ 
krankheiten. X. H. 4, Halle, Marhold 1913. 

Kein Psychiater oder Neurolog wird zweifeln, daß die Über¬ 
müdung und Ruhelosigkeit, wie Sommer meint, zu den häufigsten 
Quellen der Nervosität gehören. Um diese zu bekämpfen, schlug 
Sommer im Jahre 1902 zum ersten Male die Gründung öffentlicher 


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Referate. 


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Ruhehallen vor, die gegen ein mäßiges Entgelt zu benützen wären. 
Ein, allerdings ohne Sommers Wissen, auf der Dresdner Hygiene¬ 
ausstellung vorgenommener Versuch scheint von großem Erfolge 
begleitet gewesen zu sein. Sommer konnte danach seine Pläne 
auf der Düsseldorfer Städteausstellung vorführen. Wir lernen diese 
Pläne in der vorliegenden Schrift kennen, werden mit den Aussichten 
solcher Ruhehallen bekannt gemacht, insbesondere für die Unfalls¬ 
neurosen, wie auch frühe Invalidität, die dadurch verhütet oder 
mindestens eingeschränkt werden könnte. Auch der Vorschlag, 
frequenten Eisenbahnstationen solche Ruhehallen anzugliedern, wird 
Beifall finden. Sicherlich verdient diese Idee Sommers weiteste 
Propagierung. 

E. Trömner: Hypnotismus und Suggestion. Aus Natur 
und Geisteswelt. Teubner, Leipzig 1913, zweite Auflage. 

Dieses für den Laien bestimmte Werkchen ist auf streng 
wissenschaftlicher Basis geschrieben und zeigt nach einem kurzen 
Überblick über die Entwicklungsgeschichte, Methodik und, wenn 
man so sagen darf, Klinik der Hypnose, welche Bedeutung 
dieser letzteren auf den verschiedensten Gebieten zukommt. Hier 
muß man ebensosehr den Ausführungen, die sich mit der medizini¬ 
schen Bedeutung befassen, zustimmen, als jenen, die mehr das 
soziale Leben betreffen. Auch die Suggestion erfährt eine aus¬ 
reichende Darstellung, die zu einer raschen Orientierung auch dem 
Arzt willkommen sein dürfte. 

Prof. E. Schlesinger : Schwachbegabte Kinder. Mit 
20Ö Schülergeschichten und 65 Abbildungen Schwachbegabter 
Kinder. Enke, Stuttgart 1913. 

In dieser sehr lesenswerten Schrift werden die Ursachen, die 
Erscheinungen, sowie die Aussichten der Schüler von Hilfsschulen 
an der Hand eigener Erfahrungen besprochen. Neuropatliische 
Belastung, Trunksucht der Eltern, schlechtes Milieu schaffen diese 
Debilen, die auch körperlich den gleichaltrigen gut veranlagten 
Kindern gegenüber im Nachteil sind. Das beweist ihre höhere 
Sterblichkeitsziffer einerseits, die Erkrankungshäufigkeit andrerseits. 
Vielfach sind Hörstörungen vorhanden, die Mitschuld an der Debilität 
trifft, seltener Sehstörungen. Die Sprachstörung dieser Schwach¬ 
begabten ist das Stammeln. Etwas mehr als ein Drittel dieser 
zeigten Fortschritte der intellektuellen Entwicklung. Auffällig ist, 
daß Wahrnehmung, Empfindung meist nicht gestört sind, Gedächtnis 
jedoch, besonders Aufmerksamkeit häufig. Charakterverschlechte¬ 
rungen finden sich oft. — Nur ein Drittel taugt für einen Beruf; in 
erster Linie ist Landwirtschaft zu empfehlen. Schließlich spricht 
sich Schlesinger für die Ausgestaltung von Hilfsschulen und 


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Referate. 


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Fürsorgevereinen aus. Diese kleine Blütenlese mag zeigen, wie viel¬ 
seitig der Inhalt dieser Arbeit, wie reich an Anregungen und Aus¬ 
blicken dieselbe ist. 


S. Freud: Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen¬ 
lehre. Dritte Folge. Leipzig und Wien 1913, Deuticke. 

Der größte Teil dieser Abhandlungen erschien bereits in den 
Jahrbüchern für psycho-analitysche und psychopathologische For¬ 
schungen (1909 bis 1911). Besonders die Analyse der Phobie eines 
fünfjährigen Knaben, die seinerzeit vielfach scharfe Abwehrkritik 
fand, sei erwähnt. Von Interesse werden zwei Abhandlungen sein; 
die eine, die zukünftigen Chancen der psycho-analytischen Therapie 
(Vortrag Nürnberg 1910), in welcher über den innern Fortschritt 
der Lehre manches Interessante zu lesen ist. Zunächst wird man 
es wohl höchst sonderbar finden, daß sich Freud hier noch mit 
Steckeis seichter Assoziation der Traumsymbole identifiziert. Die 
Wiedergabe des Treppensteigentraums, der selbstverständlich ein 
Sexualsymbol ist (Bhythmus der Kohabitation-Stiegen steigen; 
Steiger, nachsteigen usw.) möchte man Freud kaum Zutrauen. 

Die Therapie hat gewonnen, da an Stelle der Aufklärung der 
Symptome, resp. der Aufdeckung der Komplexe die Auffindung und 
Überwindung der Widerstände gesetzt wird. Sehr wichtig erscheint 
uns die Bemerkung, daß auch die Psychoanalytiker, bevor sie an 
Heilung anderer herantreten, zunächst, um ihre eigenen Komplexe 
und inneren Widerstände zu überwinden, eine Selbstanalyse vor¬ 
zunehmen hätten. Freud meint doch nicht etwa, daß Menschen 
zu den normalen gehören, die Selbstanalyse in seinem Sinne not¬ 
wendig haben; man käme dadurch zum Schlüsse, daß er alle 
Psychoanalytiker als pathologische Menschen stigmatisiert. Auch 
die Abhandlung über wilde Psychoanalyse läßt uns einen Blick in 
die Technik der Ausführung einer solchen Kur tun. Man wird 
gerade in diesem Aufsatze merkwürdig berührt davon, daß Freud 
die brüske Hervorkehrung der Sexualität, und zwar dessen, was wir 
gewöhnlich darunter verstehen, einem Arzt als Fehler vorhält, 
während in den psychoanalytischen Schriften bisher immer dieser 
Punkt als der wesentlichste betont wurde. Freud rechnet zum 
Sexualleben alle Betätigungen zärtlicher Gefühle, die aus der 
Quelle der primitivsten sexuellen Erregungen hervorgegangen sind. 
Er nennt das Psychosexualität. Wie Freud auch immer mit seiner 
klassischen Dialektik dieses Problem drehen mag, er muß selbst 
zur Einsicht kommen, daß eine Monosymptomatik auch bei den 
Neurosen keineswegs Geltung haben kann, und daß die geschick¬ 
teste Psychologie allein eine degenerative Veranlagung zu erfassen 
nicht imstande ist. 


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Referate. 


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0. Anton und F. Q. v. Bramann : Behandlung der angebo¬ 
renen und erworbenen Gehirnkrankheiten mit 
Hilfe des Balkenstiches. Berlin 1913, S. Karger. 

Nach einer kurzen Einleitung und Schilderung des Verfahrens 
beim Balkenstich berichten die Verfasser ausführlich über die 
Erprobung des Verfahrens in 55 Fällen, deren Krankengeschichten 
sie bringen. Unter 17 nicht leichten Fällen von Hydrozephalie 
konnte die Beweglichkeit, speziell die Gangstörung, zwöltinal günstig 
beeinflulit werden; in einer Reihe wird geistige Weiterentwicklung, 
ja sogar normale Entwicklung im weiteren Verlaufe berichtet. 
Das Verfahren hat in den Gang der Gehirnentwicklung mitunter 
vorbeugend einzugreifen. Bei fünf Fällen von Hypophysen- und 
zwei Fällen von Vierhügeltumor konpte durch Balkenstich viermal 
das Symptom der Benommenheit auffällig und dauernd gebessert 
werden; die Symptome des Kopfschmerzes und des Erbrechens 
wurden immer autfäl.ig günstig beeinflußt. Einmal trat nach Jahr 
und Tag ein Rezidiv ein, das sich im K »pfschmerz und Benommen¬ 
heit äußerte, aber durch eine leichte Operation wieder andauernd 
beseitigt wurde. Weniger Erfolg war bei den Vierhügeltumoren auf¬ 
zuweisen, trotzdem die Operation selbst und die Entlastung der 
Seitenventrikel glatt und gut vonstatten ging. In vier Fällen von 
Tumoren des vierten Ventrikels entleerte sich die Flüssigkeit unter 
relativ starkem Drucke; die Stauungspapille ging in allen Fällen 
gut zurück; die Benommenheit wurde günstig beeinflußt, ebenso 
der Kopfschmerz. In zwei Fällen wurde daran gegangen, den vierten 
Ventrikel operativ zu eröffnen, die zystisch entarteten Tumoren zu 
entleeren, woraufhin die Stauungspapille vollständig zurückging 
und eine lange Phase des Wohlbefindens folgte. In drei Fällen von 
Geschwülsten im Seitenventrikel konnte die Diagnose erst durch 
die Balkenstichoperation überhaupt sichergestellt werden. Das 
Operationsverfahren hat nicht gewirkt, wenn auch in einem Falle 
ein lange dauerndes Wohlbefinden Platz griff. In keinem der sechs 
Fälle von Zysticercosis cerebri hat das Verfahren vollkommen ver¬ 
sagt; vier Fälle von Epilepsie hatten zum Teil verspäteten Erfolg, 
aber doch so ausgiebig, daß wenigstens bei komplizierten Fälleu 
vou Epilepsie der Balkenstich in Diskussion gezogen werden kann. 
Günstig waren auch die Erfolge bei einem Falle von Meningitis 
serosa, von Meningitis bei Lues und bei Turmschädel. Bei neun 
äußeren Tumoren ging achtmal die Stauungspapille merklich zurück, 
neunmal wurde der Kopfschmerz auf längere Zeit beseitigt, sieben¬ 
mal die Bewegungsstörungen günstig beeinflußt, ebensooft Schwindel 
und Erbrechen beträchtlich gebessert, zweimal allgemeine Krämpfe 
auf lange Zeit beseitigt. Eine Tabelle stellt die Operationserfolge 
der Autoren übersichtlich zusammen. Durch die Operation selbst 
ist kein Patient gestorben. Das Resume würde lauten, daß in allen 


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Referate. 


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Fällen von akuter oder chronischer Hirndrucksteigerung die An¬ 
wendung des Balkenstiches zu diskutieren ist, weiters in jenen 
Fällen, welche durch das Röntgenbild eine Entwicklungskrise in 
dem Sinne erkennen lassen, als die richtige Wachstumsrelatiou 
zwischen Gehirn und Schädel gestört erscheint. Die Autoren schließen 
mit ein paar Worten über die Gegenanzeigen und die Gefahren der 
Operation. Das Buch ist mit zehn Tafeln und 44 Textabbildungen 
geschmückt. 

0. v. Pirquet und F. Sauerbruch: Zeitschrift für die ge¬ 
samte experimentelle Medizin. 1. Bd., 1. und 2. Heft. 

Berlin 1913, Julius Springer. 

Eine neue Zeitschrift, die in zwanglosen Heften erscheinen 
soll, um einlangende Arbeiten, welche einen Fortschritt bedeuten 
und allgemein medizinisches Interesse haben, spätestens innerhalb 
sechs Wochen zu bringen. Das vorliegende Doppelheft enthält acht 
Aufsätze, welche weitere Kreise interessieren müssen. — Es sei noch 
darauf hingewiesen, daß als Herausgeber zeichnen die Herren: 
E. Abderhalden, E. Enderlen, B. Kröuig, C. v. Noorden, E. Payr, 
A. Schittenhelm, W. Straub, W. Trendelenburg, P. Uhlenhuth. — 
Möge es der neuen Zeitschrift vergönnt sein, die theoretische und 
praktische Medizin durch Zusammenschluß der einzelnen Forschungs¬ 
richtungen zu fördern. 

Valerian Kusnetzoff: Anonymes Briefschreiben. München 

1912, Rud. Müller & Steinicke. 

Kusnetzoff schildert möglichst ausgiebig jene Formen anonymer 
Briefe, welche unter die forensische Psychiatrie und deren Grenz¬ 
gebiete fallen. Eigene Beobachtungen und solche aus der Literatur, 
die er eingehend psychologisch analysiert, führen ihn zu Schlüssen, 
welche für das männliche und das weibliche Geschlecht gesondert 
aufgestellt werden. Zu feststehenden Behauptungen oder gar stati¬ 
stischen Feststellungen über die Häufigkeit des anoaymen Brief¬ 
schreibens bei einzelnen psychopathologischen Gruppen oder etwa 
zu einem in Zahlen ausgedrückten Verhältnis zwischen normalen 
und psychisch abnormen anonymen Briefschreibern konnte Verfasser 
nicht kommen. 

E.Rittershaus : Irrsinn undPresse. Jena 1913,Gustav Fischer. 

Weygandt hat durch das ganze Jahr 1911 aus den fünf größten 
Hamburger Tageszeitungen alle Notizen gesammelt, welche das 
psychiatrische Gebiet berühren und sie Rittershaus zur Bearbeitung 
übergeben, der sie in 18 Kapitel einordnet und mit sachverständigen 
Kommentaren versieht. So ist das Buch entstanden, welches sich 
demgemäß weniger an den Fachmann als an die Allgemeinheit, 


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Referate. 


namentlich an die Presse selbst wendet. Ohne dieser Schuld zu geben 
an den unausrottbaren Vorurteilen des Publikums, an all dem Unheil, 
allen Schäden, welche diese Vorurteile zur Folge haben, appelliert 
Kittershaus von den schlecht unterrichteten an die besser zu unter¬ 
richtenden Kreise der Gebildeten und erhofft von der tätigen Mit¬ 
wirkung der Presse in erster Linie eine Besserung der beklagten Übel. 

Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Berlin 1913, 
Julius Springer. 

Ein groß angelegtes Buch über das Gesamtgebiet der all¬ 
gemeinen Psychopathologie. Sein Programm legt Jaspers folgender¬ 
maßen sich zurecht: Er untersucht im ersten Kapitel (Phänomeno¬ 
logie) die subjektiven, wirklich erlebten, seelischen Qualitäten, 
sofern sie krankhaft sind, im zweiten Kapitel die objektiven 
Symptome, die körperlichen Begleiterscheinungen und die Ausdrucks¬ 
phänomene. Dann kommen die Zusammenhänge des Seelenlebens an 
die Reihe, u. zw. im dritten Kapitel die verständlichen, im vierten die 
kausalen Zusammenhänge. Es folgen zwei vorwiegend synthetische 
Kapitel: Intelligenz und Persönlichkeit, zwei eigentümliche Begriffe 
umfassender Gesamtheiten, deren besondere Bedeutung eine geson¬ 
derte Behandlung rechtfertigt. Das sechste Kapitel bringt die Synthese 
der Krankheitsbilder, die von den Symptomenkomplexen bis zur Idee 
der Krankheitseinheit aufsteigt. Insoferne der Mensch nicht bloß 
Naturgeschöpf, sondern auch Kulturwesen ist, bilden die soziologi¬ 
schen Beziehungen des abnormen Seelenlebens den Inhalt des 
siebenten Kapitels. 

Zur Einführung beschäftigt Jaspers sich mit der Abgrenzung 
und Aufgabe der allgemeinen Psychopathologie, den Vorurteilen, 
den Grundbegriffen, Methoden und der Terminologie, in einem 
Anhang mit der Untersuchung der Kranken, den therapeutischen 
Aufgaben und einem geschichtlichen Abriß der psychiatrischen 
Wissenschaft, der Begriffsbildungen und der Forschungsrichtungen, 
die zum Ziel eine Erkenntnis der seelischen Wirklichkeit ohne 
Rücksicht auf praktische Bedürfnisse hatten. 

Es ist dem Verfasser gelungen, in die Probleme Frage¬ 
stellungen und Methoden der allgemeinen Psychopathologie ein¬ 
zuführen, die überaus schwierigen Themen ebenso flüssig als über¬ 
sichtlich darzustellen, alle empirisch fundierten Forschungsrichtungen 
und Interessen gebührend zu berücksichtigen, so daß das Buch dem 
Studierenden, dem Arzte, dem Psychologen in gleicher Weise 
empfohlen werden kann. 

Maurycy Urstein: Spätpsychosen katatoner Art. Berlin 
und Wien 1913, Urban & Schwarzenberg. 

Auf drei sehr fragmentarische Absätze, Einfluß des Kli¬ 
makteriums auf die Psyche, Beziehungen zwischen Lebensalter und 


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Referate. 


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symptomatologischer Gestaltung der Psychosen, Physiologie und 
Psychologie des Greisenalters (zusammen 19 Seiten) folgen die 
Krankengeschichten (376 Seiten) von 40 Spätpsychosen, worunter 
Verfasser solche verstanden wissen will, die nach dem 40. Lebens¬ 
jahre zur Entwicklung gekommen sind, ausgeschlossen die organi¬ 
schen Fälle. Über die Hälfte entstammt der Laehrschen Anstalt; 
die Qualität dieser Journale konnte schon bei früheren Gelegen¬ 
heiten gerühmt werden. Auch in die kurzen Schlußbet. achtungen 
des Verfassers ist noch eine Krankengeschichte eingeschoben. 

Urstein will zeigen, daß die Späterkrankungen katatoner Art 
hinsichtlich der klinischen Bilder, Verlaufsformen und Prognose 
in nichts von dem abweichen, was bei analogen, in der Pubertät 
sich entwickelnden Prozessen festzustellen ist. Zu der hebephrenen, 
paranoiden und manisch-depressiven Verlaufsform fügt Urstein jetzt 
noch die klimakterischen und senilen Abarten des Leidens. Es ist 
wohl ziemlich aussichtslos, darüber zu streiten, ob Fälle, welche 
Kraepelin nicht zur Katatonie zählen will, ob ebenso der präsenile 
Beeinträchtigungswahn nach Urstein als Katatonie betrachtet werden 
soll. Vielleicht ist auch die Katatonie nur ein Syndrom, und es 
wird dem Verfasser nicht erspart bleiben, daß andere Forscher sein 
stolzes Gebäude wieder abtragen. 

Ph. Jolly: Kurzer Leitfaden der Psychiatrie für Stu¬ 
dierende und Ärzte. Bonn 1914, A. Marcus & E. Weber. 

Wohl mehr für Studierende als für Ärzte bestimmt, zufolge 
der lapidaren Kürze, welcher der Autor sich befleißigt. Es genüge 
zur Charakterisierung der Hinweis, daß die Psychopathie, also das 
ganze große Gebiet der Minderwertigkeit, eine Seite und zwölf 
Zeilen füllt. R. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie 

in Wien. 

(Vereinsjahr: 1912/13.) 

Sitzung vom 11. Juni 1912. 

Vorsitzender: Obersteiner. 

Schriftführer: Pötzl. 

1. Demonstrationen: 

a) Karl Groß, ein Fall von Lues spinalis mit Hg-Überempfindlichkeit r 
der unter Salvarsan-Behandlung weitgehend remittiert ist. 

Diskussion: Pötzl. 

b) Schacherl, ein Fall von Herderkrankung der Brückenhaube 
mit gekreuzter Sympathikus-Extremitätenlähmung. 

c ) Hirse hl, ein Fall von Lues cerebri mit Akromegalie, mut¬ 
maßlich ein Gumma der Hypophysis. 

d) Dimitz, ein Fall von familiärer Erkrankung der zerebello- 
spinalen Systeme, Tardivform bei Friedreich ähnlichem Symptomen- 
komplex; weiters das Präparat eines Akustikustumors mit eigenartigem 
klinischen Bild. 

e) Schüller, diagnostisch wichtige Röntgenbefunde bei Hirntumoren.. 

/) Lö wy demonstriert aus dem Institut Obersteiner ein Kindergehirn. 

mit doppelseitiger Broca-Zerstörung ohne Aphasie, weiters Präparate von. 
einer Salvarsan-Toxikose des Rückenmarks. 

2. Vorträge: 

a) Rothfeld, über die Einwirkung akuter und chronischer Alkohol¬ 
vergiftung auf die vestibulären Funktionen. 

b) Bdräny und Rothfeld, Untersuchungen der Vestibulär- 
funktionen bei Alkoholdeliranten. 

Diskussion: Stransky. 

Sitzung vom 12. November 1912. 

Vorsitzender: Obersteiner. 

Schriftführer: Pötzl. 

1. Demonstrationen: 

a) Ser ko, Fall von Rückenmarkstumor im VI. Dorsalsegment,, 
erfolgreich operiert. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien, 385 
Diskussion: Mkrburg. 

b) W i 11 n e r, Späteintritt von progressiver Paralyse auf Basis 
'von hereditärer Lues. 

c) Stransky und Dimitz, Präparate von einem Thalamustumor. 

d) Schüller, Röntgenbilder zweier Fälle von Turmschädel mit 
posttraumatischem Pseudotumor cerebri. 

2. Vortrag: 

L. D i m i t z: Salvarsan und Psychose. 


Sitzung vom 10. Dezember 1912. 

Vorsitzender: Obersteiner. 

Schriftführer: Marburg. 

a) Priv.-Doz. Dr. Bäräny berichtet über einen Fall von Tr io na 1- 
Vergiftung mit vestibulären, respektive zerebellaren 
Symptomen. 

Es handelte sich um eine 40 Jahre alte Frau, die 10 g Trional 
•eingenommen hatte. Ich hatte Gelegenheit, die Patientin am dritten Tage 
nach der Vergiftung zu untersuchen. Es bestand sehr starker spontaner 
rotatorischer und horizontaler Nystagmus nach rechts upd nach links 
und vertikaler Nystagmus geringen Grades nach abwärts. Der linke Arm 
und das linke Bein zeigten stark nach auswärts vorbei. Kein Vorbei¬ 
zeigen des Kopfes, dagegen Vorbeizeigen des Körpers nach links und 
hinten (im Sitzen geprüft). Beim Rhombergsehen Versuche Fallen nach 
links und hinten. Trommelfell und Gehör vollständig normal. Subjektiv 
besteht Schwindel. Die Ausspritzung des rechten Ohres mit kaltem Wasser 
-ergibt typischen starken Nystagmus nach links. Kein Schwindel, keine 
Übelkeiten. Vorbeizeigen beider Arme stark nach rechts, nach oben und 
unten bei Kopfdrehung. Vorbeizeigen des Körpers nach rechts, Fallen 
nach rechts. Es mußte demgemäß eine Affektion des zentralen Vestibular- 
apparates und Zerebellums angenommen werden, jedoch keine eigentlichen 
Lähmungserscheinungen. Wahrscheinlich handelte es sich nur um leichte 
Ausfallserscheinungen. Bereits am nächsten Tage waren Vorbeizeigen 
vollständig und Fallen fast vollständig geschwunden. Zwei Tage später 
war auch der Nystagmus wesentlich schwächer geworden. Nach drei 
Tagen bestand kein Schwanken mehr und fast kein Nystagmus. Die 
Patientin wurde geheilt entlassen. Es ist interessant, daß das Trional 
eine derartige Affinität zum Vestibularapparat und Zerebellum hat. Einer 
Mitteilung von Hofrat v. Wagner verdanke ich die Erfahrung, daß 
in früherer Zeit, wo viel Trional und Sulfonal gegeben wurde, sehr 
häufig schon nach mäßigen Dosen Gleichgewichtsstörungen zu beobachten 
waren. Es wäre von Interesse, dieses Mittel im Tierversuch zu prüfen. 

b) Priv.-Doz. Dr. Bäräny demonstriert seine Methode der Prüfung 
der Zeigebewegungen des Kopfes und Körpers, welche eine detaillierte 


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386 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


Prüfung der einzelnen, beim Bhomberg beteiligten Muskelgruppen er¬ 
möglicht. Fällt ein Patient nach hinten, so weiß man zunächst nicht, 
warum dies geschieht. Weichen die Füße nach vorne aus, wird der Körper 
nach hinten gezogen, welche Muskeln ziehen ihn nach hinten usw. Da¬ 
durch, daß man die Bewegungen des Körpers sowohl im Bereiche der 
Thorax- als auch der Lendenmuskulatur isoliert prüfen kann, ist man 
imstande zu eruieren, welche Muskelgruppen an einem Schwanken in 
bestimmter Richtung schuld sind. Man hat in dieser Methode auch eine 
bequeme Methode, um in Fällen von Simulationsverdacht den Rhomberg 
auf eine dem Patienten gar nicht auffällige Weise zu kontrollieren. 
Bdräny hatte Gelegenheit, an einem großen Materiale zu konstatieren,, 
daß beim Normalen nach kurzer Übung die Versuche stets richtig aus¬ 
geführt weiden und daß konstantes Abweichen in bestimmter Richtung- 
stets als pathologisch aufzufassen ist. 

Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Marburg berichtet, daß er einen 
Fall von Trionalvergiftung histologisch zu untersuchen Gelegenheit hatte, 
bei dem längs dem Verlaufe eines Nerven Blasen aufgetreten waren. Es 
zeigte sich in den zugehörigen Spinalganglien Entzündung ähnlich jener 
beim Zoster. Es scheint also das Zentralnervensystem überhaupt eine 
gewisse Affinität zum Trional zu besitzen. 

c ) Dr. M. Schacherl: Meine Herren! Gestatten Sie, daß ich 
Ihnen aus der Vorgeschichte der Familie, die ich Ihnen aus der Ambulanz 
der v. Wagnersehen Klinik zu demonstrieren mir erlauben will, mit¬ 
teile, daß der Vater im Jahre 1896 Lues akquirierte und im Jahre 1904 
mit Atrophia optici von der Klinik Fuchs an das Ambulatorium ge¬ 
schickt wurde. Der Mann hatte Januar 1901 geheiratet und der älteste 
Sohn wurde im September 1901 geboren. Da dieser im Herbst diese» 
Jahres ebenfalls schlechter zu sehen begann, suchte er mit ihm die zweite 
Augenklinik auf und wurde abermals an das Ambulatorium gewiesen. 
Da sein Befund Interesse bot, ließ ich dann die Mutter und die beiden 
jüngeren Geschwister des Kindes auch kommen. 

Der Vater ist 49 Jahre alt, zeigt bilaterale genuine Atrophia 
optici, beide Pupillen mydriatisch entrundet, lichtstarr, Patellar- und 
Achillessehenenreflexe fehlen. Wassermann positiv. 

Die Mutter zeigt normale Pupillen, auch sonst keine Zeichen 
organischer Nervenerkrankung. Wassermann positiv. 

Das älteste Kind, elf Jahre alt, zeigt Atrophia optici bilateralis, 
r > 1, die rechte Pupille ist weiter als die linke, beide lichtstarr, Patellar- 
sehnenreflex kaum auslösbar, Achillessehnenreflexe -j-, Wassermann positiv. 

Das zweite Kind, neun Jahre alt, klagt seit 1910 über Seh¬ 
störungen, zeigt geringe Abblassung beider Papillen, die rechte Pupille 
ist etwas träger als die linke, Reflexe normal, Wassermann positiv. 

Das jüngste Kind, sieben Jahre alt, fühlt sich völlig wohl, zeigt 
geringe Abblassung beider Papillen, 1 Pupille > r, links sehr träge, rechts 
reagierend, Reflexe normal, Wassermann positiv. 

Meine Herren! Im Hinblick auf das Interesse, das die Frage des 
familiären Einflusses der luetischen und metaluetischen Erkrankungen 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 387 


beansprucht und im Hinblick auf die relativ, das heißt im Vergleiche 
zur Zahl der luetischen und metaluetischen Erkrankungen verschwindend 
geringe Zahl beobachteter familiärer Erkrankungen habe ich mir erlaubt, 
Ihnen diese Familie vorzustellen, 

Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Marburg berichtet über ähnliche 
Fälle dieser Art, die sich häufiger finden, wenn man bei kindlicher Tabes 
immer die ganze Familie untersucht. So sah er jüngst ein tabisches 
Mädchen, deren Mutter neben positivem Wassermann differente Pupillen 
auf wies, deren eine lichtstarr war. 

d ) Prof. Obersteiner demonstriert Präparate der Kleinhirn¬ 
rinde von Elephas und Balaenoptera und bespricht gewisse Eigentümlich¬ 
keiten des Baues. So macht er aufmerksam auf einzelne besonders große 
Zellen, welche beim Elephanten innerhalb der Körnerschicht in Mark¬ 
inseln, beim Walfisch unterhalb dieser Schichte bereits im Marke gelegen 
sind. Sogenannte Golgizellen sind beim Elephanten nicht zahlreich, beim 
Wale nur spärlich. Bei letzterem Tiere zeichnet sich die Körnerschichte 
auch durch relative Armut an Körnern aus. 

e) Prof. Redlich: Demonstration eines Hirntumors mit regres- 
siven Erscheinungen. 

41jährige Frau; erste Erscheinung Vergeßlichkeit; dann in rascher 
Zunahme Entwicklung des Symptomenbildes des Hirntumors: Kopfschmerz, 
Benommenheit, linksseitige Hemiparese, Hemianästhesie und Hemianopsie, 
Stauungspapille, rechtsseitige Abduzensparese. Unter Jodmedikation nahezu 
vollständiger Rückgang der Erscheinungen für drei Vierteljahre, dann 
wieder Kopfschmerz, Stauungspapille. Rasche Entwicklung einer malignen 
Struma, der die Kranke erlag. 

Bei der Obduktion fand sich ein großer Herd im Mark des 
rechten Scheitel- und Hinterhauptlappens, der die Rinde respektierte. 
Mikroskopisch erwies sich derselbe vorwiegend als gliomatös, mit großer 
Gliazellen- und reicher Gliafaserbildung. Daneben fanden sich ungemein 
zahlreiche kleinste Erweichungsherde, meist von gliomatösem Gewebe 
eingescheidet und von Abraumzellen ausgefüllt. An vielen Orten fanden 
sich auch lyraphozytäre Infiltrate um Gefäße und im Gewebe, stellenweise 
auch außerhalb des großen Herdes. 

Die Deutung des histologischen Befundes ist nicht leicht; Vor¬ 
tragender hält es für das wahrscheinlichste, daß in einem Gliom nach¬ 
träglich regressive und entzündliche Vorgänge sich entwickelt haben. 
Damit würden auch die klinischen Erscheinungen übereinstimmen. 

Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Marburg verweist darauf, daß 
an den vorgezeigten Präparaten jedes expansive Wachsen der schein¬ 
baren Geschwulst vermißt wird, die rein substituierend im normalen 
Gewebe sich findet, was gegen die Annahme eines Glioms spricht; zeigen 
diese doch neben infiltrativem auch stets expansives Wachstum. Die 
Stauungspapille, respektive die Schwellung der Papille spricht nicht gegen 
die Annahme einer sklerotischen Plaque etwa bei multipler Sklerose, da 
man solche jetzt öfters bei Sklerosen beobachtet. Ferner hinge mit der 


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388 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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Annahme Sklerose auch der kleinzellige Herd zusammen, sowie die schein¬ 
baren Malacien. Immerhin ist der Fall sehr merkwürdig wegen der Einzelheit 
des Herdes. 

Prof. Redlich meint, daß die fehlende Expansion darauf zurück¬ 
geführt werden könnte, daß der Tumor zusammengefallen sei. Gegen 
die Annahme Sklerose sprechen ferner der histologische Befund der Glia¬ 
wucherung. 

Hofrat y. Wagner wendet sich zunächst gegen die Ansicht, daß 
Stauungspapille bei Sklerose nicht wundernehmen sollte. Es sei das doch 
eine zu große Seltenheit. Er meint ferner, daß das klinische Bild des 
Rückganges der Erscheinungen, das stationär geblieben ist, ganz gut mit 
eiuem Schrumpfen des Tumors Zusammenhängen könnte, weshalb die 
früher bestandene Expansion jetzt vermißt werde. 

/) Dr. Leidler demonstriert aus dem Neurologischen Institute 
(Vorstand: Hofrat Obersteiner) mehrere mikroskopische Prä¬ 
parate, welche einer im letzten Jahre daselbst ausgeführten Versuchs¬ 
reihe an jungen Kaninchen entstammen. — Derselbe hat bei 18 Tieren 
Verletzungen der Rautengrube im Endigungsgebiete des 
Nervus vestibuläris ausgeführt und die diesen Läsionen folgenden 
pathologischen Augen- und Kopfbewegungen (Nystagmus, Deviationen der 
Augen und des Kopfes) studiert, sowie die Erregbarkeitsverhältnisse des 
Ohrlabyrinths sowohl auf dem Drehbrett als auch mit der kalorischen 
Prüfung untersucht. Es ist diese Arbeit als eine Fortsetzung der von 
Bauer und Leidler im Jahre 1911 aus demselben Institute veröffent¬ 
lichten Abhandlung „Über den Einfluß der Ausschaltung ver¬ 
schiedener Hirnabschnitte auf die vestibulären Augen- 
r c flexe“ aufzufassen. 

Die wichtigsten Resultate, die bei diesen Versuchen sich ergaben, 
sind in gedrängter Kürze folgende: Wenn man ohne irgend eine Neben¬ 
verletzung (Vestibularis, Deiterskern) die aus dem Deiterskerngebiete 
stammenden dorsalsten ßogenfasern verletzt, so bekommt man stets einen 
spontanen Nystagmus. Liegt die Verletzung in dem Gebiete zwischen 
spinalem Beginn der Bogenfasern und ungefähr der Mitte des Glosso- 
pharyngeusherdes, so bekommt man nur Nystagmus horizontalis (manch¬ 
mal mit einer rotatorischen Komponente nach hinten) zur lädierten Seite, 
dessen Dauer im allgemeinen mit der Größe der Verletzung der Bogen¬ 
fasern wächst. Geht die Verletzung weiter oralwärts, so tritt zu diesem 
Nystagmus auch noch eine Vertikaldeviation der Augen zur lädierten 
Seite mit Drehung des Kopfes um die Längsachse zu derselben Seite. 
Auch diese Deviation wird ausgesprochener und konstanter, je weiter 
nach vorne die Verletzung reicht. Sind die oben genannten Bogenfasern 
bis in die Gegend des Fazialisknies (großzelliger Deiters) lädiert, so tritt 
ywar wieder die oben beschriebene Deviation der Augen und des Kopfes 
zur lädierten Seite in sehr starkem Maße auf, der spontane Nystagmus 
aber schlägt zur kontralateralen Seite. Bei allen bis jetzt beschriebenen 
Tieren ist die Erregbarkeit des Labyrinthes sowohl auf dem Drehbrett 
als auch für die kalorische Prüfung beiderseits gleich und typisch. Geht 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 389 

die Verletzung der Bogenfasern nun noch weiter oralwärts, so bekommt 
man zwar auch Deviation der Augen und des Kopfes zur lädierten Seite 
und Nystagmus zur Gegenseite, die Reaktionen des Labyrinthes aber sind 
auf der lädierten Seite erloschen. — Der Nystagmus ist in den kaudalen 
Partien vorwiegend horizontal, in den kaudalsten häufig auch rotatorisch, 
während er in den oralsten Partien mehr die Tendenz hat, vertikal zu 
werden. Die mannigfachen theoretischen Erwägungen, die sich aus diesen 
Experimenten ergeben, sowie die eventuellen Nutzanwendungen für die 
topische Diagnostik dieser Gegend werden in der demnächst erscheinenden 
ausführlichen Publikation erörtert werden. 

Vortrag: 

Prof. Karplus und Prof. Kreidl: Über experimentelle 
reflektorische Pupillenstarre. 

Es ist den Vortragenden gelungen, bei Katzen und bei Affen eine 
andauernde und isolierte reflektorische Pupillenstarre experimentell hervor* 
zurufen. Zu diesem Resultate sind sie bei ihren Studien über den Weg 
der zentripetalen Pupillenfasern gelangt. Diese Fasern ziehen vom Chiasma 
durch den Tractus opticus bis in die Nähe des Corpus geniculatum externum 
und gelangen dann in den Faserzug, der vom Tractus opticus zwischen 
«len beiden Corpora geniculata zum Vierhügel zieht, über den vorderen 
Vierhügelarm zum anteroiateralen Vierhügelrand und längs desselben bis 
ganz nahe an die Mittellinie, unmittelbar vor dem Vierhügel. 

Elektrische Reizung dieser Fasern ruft prompt beiderseitige Pupillen¬ 
verengerung hervor, nur an der Hirnbasis, dort, wo der Tractus opticus 
dem Hypothalamus anliegt, wird diese Wirkung bei Versuchen an Katzen 
verdeckt oder auch überkompensiert durch die unvermeidliche Mitreizung 
•des hier dem Traktus anliegenden Pupillenerweiterungszentrums. 

Durch trennt man den Tractus opticus oder den vorderen Vierhügel¬ 
arm, so wird die Reizung des peripheren (chiasmawärts gelegenen) Stumpfes 
unwirksam, während die Reizung des zentralen Stumpfes noch zu beider¬ 
seitiger Pupillenverengerung führt. Diese Resultate elektrischer Reizung 
konnten wiederholt durch mechanische Reizversuche bestätigt werden. 

Einseitige Durchtrennung des Tractus opticus oder des Vierhügel¬ 
arms führt bei Katzen zu einer noch nach Wochen nachweisbaren schweren 
hemianopischen Störung der Pupillenreaktion, während bei Affen (Makakus) 
keine deutliche Störung der Pupillenreaktion auftritt. 

Nach beiderseitiger Durchtrennung des vorderen Vierhügelarms ist 
die Lichtreaktion der Pupillen vollständig erloschen. Es gelang, derartig 
operierte Katzen und Affen monatelang am Leben zu erhalten, welche 
neben einer reflektorischen Lichtstarre prompte Konvergenzreaktion der 
Pupillen zeigten, wobei auch das Pupillenspiel bei Lidbewegungen und 
die Schmerzreaktion der Pupillen erhalten war. (Ausführliche Mitteilung 
in Pflügers Archiv, Bd. 149.) 


Jahrbücher für Psychiatrie. XXXLV. 1hl. 


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390 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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Sitzung vom 14. Jänner 1913. 

Vorsitzender: Obersteiner. 

Schriftführer : P ö t z 1. 

1. Demonstrationen: 

a) R. A. Stanojevics, ein Fall von Tastlähmung nach Schuß- 
Verletzung des Gehirns. 

b) Barany, ein Symptom der kortikalen und subkortikalen Blick¬ 
lähmung. 

c) Marburg, ein Fall von Tumor der linken Kleinhirnhemisphäre. 
Diskussion: Löwy, Bäräny, Reich, Redlich, Bäranv, 

Marburg. 

d) Schüller, eine Methode der Palliativtrepanation. 

2. Vortrag: 

Freiherr v. Pfungen, Über die täglichen Schwankungen des 
Leistungswiderstandes der Haut und deren Ursachen. 


Sitzung vom 11. Februar 1913. 

Vorsitzender: Hofrat Obersteiner. 

Schriftführer: Marburg. 

a) Priv.-Doz. Dr. Baräny demonstriert aus der Klinik v. Noorden 
einen Fall mit Nystagmus retractorius und Blicklähmung nach 
oben. Bisher sind vier Fälle von Nystagmus retractorius beschrieben: 
zwei Fälle von Korber (Über zwei Fälle von Retraktionsbewegungen 
des Bulbus. — Nystagmus retractorius. — Ophthalmologische Klinik 1903, 
S. 65), ein Fall von Salus, dem Assistenten Elschnigs (Über erwor¬ 
bene Retraktionsbewegungen der Augen. Archiv für Augenheilkunde 1910, 
Bd. 48, S. 61), ein Fall von El sehnig selbst (Nystagmus retractorius, 
ein zerebrales Herdsymptom. Medizinische Klinik 1913, Nr. 1). In allen 
Fällen bestand neben dem Nystagmus retractorius Blicklähmung nach 
oben, meist neben anderen Störungen der Blickbewegung oder Paresen 
einzelner Zweige des Okulomotorius. In zwei Fällen (Salus, Elschnig) 
konnte ein Obduktionsbefund erhoben werden. Im ersten Falle war ein 
Zystizerkus des vierten Ventrikels und des Aquaeductus Sylvii vorhanden, 
im zweiten Falle ein Tumor am Boden des Aquaeductus Sylvii. Der 
Fall, den ich mir vorzustellen erlaube, betrifft eine 46 jährige Frau. Die 
Anamnese ergibt, daß sie in den Zwanzigerjahren häufig an starken 
Kopfschmerzen litt, vor sechs Jahren bemerkte sie plötzlich, daß sie 
nicht nach aufwärts schauen könne, und auch das Zucken der Augen 
will sie damals bemerkt haben. Damals litt sie angeblich nicht an Kopf¬ 
schmerzen. Die Patientin sucht nicht wegen ihrer Augen-, sondern wegen 
Magenbeschwerden — es dürfte sich um ein Ulcus ventriculi bei ihr 
handeln — die Klinik auf. Durch die Güte von Priv.-Doz. Dr. Porges 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 391 

hatte ich Gelegenheit, den Fall zu untersuchen. Wie ich in Überein¬ 
stimmung mit Priv.-Doz. Dr. Ulbrich erheben konnte, besteht eine 
komplette Blicklähmung für den Blick nach aufwärts und eine komplette 
Lähmung der Konvergenz. Die Pupillen sind ungleich weit und reagieren 
ein wenig auf Licht. Beobachtet man die Patientin in Ruhe, so ist der 
Blick meist etwas nach abwärts und rechts eingestellt (auch im Sitzen), 
dabei sind selten Nystagmusschläge nach links bemerkbar. 

Bei der Erhebung von der gewöhnlichen Stellung nach unten zum 
Blick geradeaus tritt im linken Auge ein vertikaler Nystagmus nach auf¬ 
wärts auf, der jedoch bei Beibehaltung derselben Augensteliung nach 
einigen Schlägen sistiert. Läßt man jetzt die Blickwendung nach oben 
intendieren, so tritt an Stelle einer Erhebung des Blickes am linken 
Auge ein sehr deutlicher Nystagmus retractorius auf. Während der 
Bulbus seine Stellung gegenüber der Lidspalte nicht ändert, treten erst 
mehrere Sekunden dauernde, allmählich an Zeitdauer abnehmende Retrak¬ 
tionen des linken Bulbus auf. Man sieht die Retraktion, die mindestens 
2 bis 3 mm an Tiefe beträgt, am Bulbus direkt, besonders aber auch 
an der Einziehung des oberen und weniger des unteren Lides. Die Re¬ 
traktion erfolgt sehr rasch, das Nachlassen derselben ein wenig lang¬ 
samer, so daß dadurch der Eindruck eines Nystagmus nach einwärts 
entsteht. Während das linke Auge diesen ausgesprochenen Nystagmus 
retractorius zeigt, ist derselbe am rechten Auge nur angedeutet, dagegen 
erfolgen genau synergisch mit den Retraktionen des linken Auges am 
rechten Auge Nystagmusschläge nach links derart, daß mit der Retraktion 
des linken Auges eine rasche Linkswendung des rechten erfolgt. Während 
dieser Bewegungen erfolgt keine Veränderung der Pupillen. Auch das 
von Elschnig an seinem Falle von Nystagmus retractorius beobachtete 
Spiel der Verengerung und Erweiterung der Pupillen — das Bild der 
zyklischen Okulomotoriuslähmung Achsenfelds, das Laub er an 
einem Falle in der letzten Sitzung der Gesellschaft der Ärzte demon¬ 
striert hat — ist bei unserer Patientin nicht vorhanden. Die Retraktions¬ 
bewegungen der Augen können von der Patientin in jedem Momente 
willkürlich durch Blick nach rechts oder links oder nach unten unter¬ 
brochen werden, sie treten nur bei der Intention zum Blick nach oben 
auf. Prüft man die Bewegungen durch längere Zeit — einige Minuten 
— so ist eine deutliche Ermüdung des Phänomens zu konstatieren, das 
schließlich ganz versagt. Nach einer Pause von einigen Minuten ist es 
jedoch in früherer Deutlichkeit wieder vorhanden. 

Läßt man die Patientin auf eine sich drehende Rolle mit schwarzen 
und weißen Streifen schauen (Prüfung des optischen Nystagmus), so läßt 
sich typischer optischer Nystagmus nach links und rechts erzielen, ebenso 
nach aufwärts, dagegen kein Nystagmus nach abwärts. Trommelfell und 
Gehör sind beiderseits normal. Es besteht kein Vorbeizeigen der Arme, 
die kalorische Prüfung rechts ergibt typischen Nystagmus nach links an 
beiden Augen, nur sind die Bewegungen am linken Auge bedeutend 
kleiner, und wenn man die Blickwendung nach aufwärts intendieren läßt, 

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392 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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so verschwindet der vestibuläre Nystagmus und an seine Stelle tritt der 
Nystagmus retractorius. Vorbeizeigen beider Arme nach rechts typisch. 
Links kalt ergibt ebenfalls typischen Nystagmus. Jetzt sind die Ex¬ 
kursionen am linken Auge größer als am rechten. Die Hemmung des 
vestibulären Nystagmus durch Intention zum Blick nach aufwärts ist 
auch hier deutlich. Vorbeizeigen nach links ist typisch vorhanden. 

Befund am Augenhintergrund (Priv.-Doz. Ulbrich): Atrophische 
Stauungspapille beiderseits. Nervenstatus sonst negativ. 

Mit Rücksicht auf die beiden Obduktionsfälle Elschnigs werden 
wir hier wohl auch einen Tumor, vielleicht Tuberkel, am Boden des 
Aquaeductus Sylvii annehmen dürfen. 

b) Priv.-Doz. Dr. Bäräny demonstriert weiters eine Patientin 
der Klinik v. Wagner-Jauregg mit multipler Sklerose, die 
einen eigentümlichen Nystagmus aufweist. Eigentlich sollte man hier 
nicht von einem Nystagmus sprechen; es handelt sich um beständige 
kreisende Bewegungen der Bulbi. Während beim Nystagmus rotatorius 
das Auge sich um eine durch die Mitte des Bulbus gehende Achse dreht 
und der vertikale Irismeridian sich mit seinem oberen Ende beim Nysta¬ 
gmus rotatorius nach rechts nach rechts, beim Nystagmus rotatorius nach 
links nach links neigt, bleibt hier der vertikale Irismeridian unverändert 
stehen und das ganze Auge geht im Kreise um eine außerhalb des 
Bulbus befindliche ideale Achse herum. Die Bewegung erfolgt einmal 
links herum, einmal rechts herum; ab und zu kommen auch rein verti¬ 
kale Bewegungen vor. Die Bewegungen erfolgen ziemlich langsam. Ich 
habe noch keinen solchen Fall gesehen und erlaube mir, denselben daher 
vorzustellen. 

c ) Dr. Emil Frösch eis: Der erste Patient, den ich mir erlaube 
Ihnen vorzustellen, stammt aus dem sprachärztlichen Ambulatorium der 
Klinik Urbantschitsch. Er wurde mir vor zwei Wochen von der 
Abteilung Mannaberg mit der Bemerkung geschickt, daß sie und die 
Nervenabteilung der Allgemeinen Poliklinik keine Diagnose stellen konnte. 

Der Patient, ein 33jähriger Mann von gesundem Äußeren, erkrankte 
vor fünf Wochen an einer eigentümlichen Sprachstörung, welche sich, 
soweit man sie akustisch beschreiben kann, in einer Monotonie, Schwäche 
und einem eigentümlichen Preßton der Stimme kundgab. Der somatische 
Befund ist völlig negativ, besonders sind keine Zeichen einer Lungen¬ 
erkrankung, wie Asthma oder Emphysem, vorhanden. Die Ursache der 
Krankheit ist unbekannt. Mir fiel auf den ersten Blick, als ich den 
Patienten um seinen Namen fragte, auf, daß der Brustkorb während des 
Sprechens stark gehoben blieb und sich nicht senkte. Es wurde daher 
sofort eine pneumographische Untersuchung gemacht, welche Kurven er¬ 
gab, die ich Ihnen hier vergrößert aufgehängt habe. Die obere Linie 
bedeutet die Brust-, die untere die Bauchatmung. Erlauben Sie, daß ich 
bei dieser Gelegenheit einige Worte über die Physiologie der Atmung 
und besonders der Sprechatmung vorbringe. Sie sehen auf der Tafel das 
Registrierungsergebnis einer normalen Atmung. Der erste Teil derselben 
bedeutet die Atmung außerhalb des Sprechens. Man sieht, daß sich die 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 303 

Brust gleichmäßig hebt und senkt, so daß der Inspirationsschenkel der 
Kurve und der Exspirationsschenkel gleich lang sind. Dasselbe gilt für 
die Bauchatmungskurve. Während die Brustkurve einer aktiven Leistung 
entspricht, nämlich dem Heben und Senken der Zwischenrippenmuskeln, 
ist die Bauchkurve der Ausdruck einer rein passiven Bewegung. Sie stellt 
nämlich das Vor- und Zurückgehen der Bauchdecken vor. Diese arbeiten 
aber physiologisch bei der Atmung nicht aktiv und kommen vielmehr 
durch die Zwerchfellexkursionen zustande. Senkt sich dieses Organ, was 
beim Inspirieren der Fall ist, so übt es einen Druck auf die 
Baucheingeweide aus und diese müssen nun ausweichen, was nur nach 
der Seite der weichen Bauchdecke hin möglich ist. Beim Zurückwandern 
des Diaphragmas geht das entgegengesetzte Spiel vor sich. Zu erwähnen 
ist noch, daß der Höhepunkt des Inspiriums an Brust und Bauch bei 
der Ruheatmung synchron ist. Bei der Sprechatmung hingegen erfolgt 
die Einatmung schneller, der Inspirationsschenkel ist daher steiler, die 
Ausatmung hingegen geht langsam und allmählich vor sich. Während 
die Brustmuskeln sich heben, befindet sich das Zwerchfell, also auch die 
Bauchmuskeln, schon im Zurückgehen, weshalb der höchste Punkt der 
Bauchkurve vor dem der Brustkurve zu sehen ist. Beide aber, sowohl 
die Brustmuskeln als das Zwerchfell, beteiligen sich an der Sprech¬ 
ausatmung. Vergleichen Sie nun die von dem Patienten stammende 
Kurve mit den normalen, so finden Sie in bezug auf die Ruheatmung 
keinen Unterschied. Bei der Sprechatmung hingegen fehlt eigentlich die 
Brustkurve. Das ist so zu erklären, daß der Patient eine so gewaltige 
Inspiration mit den Brustmuskeln und auch mit den Auxiliarmuskeln, 
die sich am Schlüsselbein ansetzen, ausführte, daß der Schreiber der 
Mareysehen Kapsel weit über den Rand des Kymographions ge¬ 
schleudert wurde und nun in dieser Stellung während des Sprechens 
. fast immer verharrte. Nur hie und da sieht man Andeutungen einer 
Brustexspirationsbewegung beim Sprechen. Nach dem Sprechen fiel der 
Brustkorb schnell zusammen. Im Gegensatz dazu können Sie an der 
Bauchkurve völlig normale Verhältnisse konstatieren. Das Zwerchfell, 
bekanntlich eine unwillkürliche Muskelplatte, ging eben immer wieder 
langsam in die Ruhelage zurück. Sonst wäre ja überhaupt keine Sprache 
möglich gewesen. Wir haben also bis jetzt eine Störung in der Funktion 
der Brustatmungsmuskulatur verzeichnet. Das allein kann aber die 
Sprachstörung noch nicht erklären. Denn, da die Ausatmung ja auch 
infolge der Arbeit des Diaphragmas automatisch abläuft, so genügt das. 
In der Tat gibt es Gesanglehrer, welche den Brustkorb während des 
• Singens hoch stehen und nur mit dem Zwerchfell ausatmen lassen, was 
dann noch durch kräftiges Einsetzen der Bauchmuskeln gefördert werden 
kann. Solche Sänger können dann ohne weiteres auch mit hochgehobener 
Brust gut sprechen. Nun hatte die Stimme des Patienten manche Ähnlich¬ 
keit mit der Bauchrednerstimme. Diese entsteht nun nach Flatnu und 
Gutzmann dadurch, daß die Stimmbänder stark aneinandergepreßt und 
von den sich senkenden Taschenbändern, sowie dem sich stark neigenden 
Kehldeckel überdeckt werden. Ich vermutete nun einen solchen Mechanis- 


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394 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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mus, konnte ihn jedoch objektiv nicht bestätigen, da bei der Laryngo¬ 
skopie nicht nur ein normales Verhalten des Kehlkopfes, sondern auch 
— und das ist sehr wichtig — eine normale Stimme sich ergab. Da 
nun der Vorgang bei der Laryngoskopie keinen heilenden Einfluß kaben 
kann — höchstens kann sich durch das Hervorziehen der Zunge eine 
geringe Erleichterung der Stimmbildung ergeben — so war die Diagnose 
auf eine Erkrankung funktioneller Art gegeben, welche durch Ab¬ 
lenkung der Aufmerksamkeit infolge Einführung des Spiegels 
verschwindet — kurz auf eine Psychoneurose. Dazu paßte auch der 
negative somatische Befund und die auffallende Inkongruenz zwischen 
Ruheatmung und Sprechatmung. Wenn wir eine Inkongruenz zwischen 
diesen beiden Funktionen auch bei organischen Nervenerkrankungen 
sehen, zum Beispiel bei der Bulbärparalyse, wo die Ruheatmting normal, 
die Sprechatmung aber hochgradig gestört sein kann, so kommt doch 
ein isoliertes Versagen der Brustsprechatmung auf organischer Basis nicht 
vor. Es wäre auch schwer zu erklären, da doch bekanntlich gewisse 
Nervenstämme der letzten Zwischenrippenmuskeln auf das Zwerchfell 
übergehen. 

Die Therapie begann mit Atemübungen nach dem Sprechatem¬ 
typus, also in kurzer kräftiger Einatmung durch den Mund und lang¬ 
samer Ausatmung, wobei der Patient seine Hand auf den Thorax legte, 
um zu kontrollieren, ob er sich allmählich senkte. Daran schlossen sieb 
Stimmübungen, also Übungen der Vokale, wieder mit kurzem kräftigen 
In8pirium und Kontrolle der Exspirationsbewegungen mit der Hand. 
Dann folgten Silben- und Wortübungen und endlich Sätze. Eine neuer¬ 
dings gemachte Pneumographie zeigt schon die wesentliche Besserung. 
Diese Art der Therapie eignet sich für alle hysterischen 
Sprachstörungen sehr. Es imponiert den Patienten, wenn man vor 
ihren Augen die Sprache zergliedert und sie nun mit ihnen wieder auf¬ 
baut. Daß wir ihnen zentrale Vorgänge verschweigen, welche gerade für 
ihre Krankheit verantwortlich zu machen sind, wissen sie nicht. 

Der zweite Patient ist ein vierjähriger Knabe, welcher mir vor 
vier Monaten als taubstumm zugewiesen wurde. Die Mutter, welche 
das Kind brachte, war selbst der Überzeugung, daß ihr Kind taub sei. 
Bei der ersten Untersuchung gebärdete er sich sehr wild, so daß ich 
lediglich konstatieren konnte, daß Herz und Lunge gesund waren, daß 
keine Lähmungen bestanden, daß die Trommelfelle annähernd normal 
waren und auf zarte Berührungen beider Gehörgänge lebhafte Kitzel¬ 
reaktion erfolgte. Auf irgendwelche auch noch so laute akustische 
Einwirkungen reagierte das Kind in keiner Weise. Nun konnte ich vor* 
Jahren gelegentlich von Untersuchungen in Taubstummenanstalten kon¬ 
statieren, daß sowohl von den kongenital Tauben, als auch von den in 
der Kindheit Ertaubten die allermeisten (über 90 °/ 0 ) im äußeren Gehör¬ 
gang keine Kitzelempfindlichkeit haben, während andrerseits 
fast alle normalen Kinder dieses Gefühl in hohem Grade besitzen, was 
man auch bei Säuglingen aus Abwehrbewegungen, Blinzeln und Lachen 
erschließen kann. Das Kitzelsymptom war der einzige Anhalts- 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in AVien. 395 

punkt, der mir erlaubte, der Mutter zu sagen, daß ich nicht an Taub¬ 
stummheit, sondern an eine angeborene Seelentaubheit glaube. Zur 
weiteren Beobachtung wurde der Patient in das Sanatorium für Sprach¬ 
störungen aufgenommen. Dortselbst konnte trotz der genauesten Beob¬ 
achtung auch von Seiten des in derartigen Fragen bewanderten Pflege¬ 
personals die Taubstummheit nicht ausgeschlossen werden. 

Ehe ich nun weiter über den Patienten berichte, sei es mir ge¬ 
stattet, einige theoretische Bemerkungen zu machen. Fragen wir uns, 
wie das Hören zustande kommt. Durch den äußeren Gehörgang gelangt 
die Luft ans Trommelfell und von dort aus durch Übertragung der Luft¬ 
schwingungen auf dem AVege der Gehörknöchelchenkette in das Laby¬ 
rinth, woselbst die Nervenerregung erfolgt. Diese pflanzt sich nun bis 
in das Akustikuszentrum fort, welches im Schläfelappen liegen soll. 
Dem Neugeborenen, welchen zum ersten Male eine Schalleinwirkung er¬ 
reicht, wird diese nun auf dem skizzierten Wege bis ins Gehirn geleitet. 
Dortselbst erzeugt sie einen veränderten Zustand, und man kann nun 
bei einem normalen Kinde schon in den ersten Lebenstagen konstatieren, 
daß es sich nach der Schallquelle wendet. Es ist das eine wohl reflek¬ 
torische Reaktion, durch welche aber das Kind die Erfahrung erwirbt, 
daß dem veränderten Gehirnzustand ein Reiz in der Außenwelt adäquat 
ist. Erst das ist Hören im praktischen Sinne und wir sehen, daß dazu 
sowohl die Schallquelle imstande sein muß, die Aufmerksamkeit zu er¬ 
regen, als auch daß die Disposition für den Eintritt der Aufmerksamkeit 
durch Erregung des Akustikuszentrums gegeben sein muß. Ist nun aber 
die Aufmerksamkeit auf dem Hörwege nicht zu erwecken, so verlaufen 
die Erregungen des Hörnerven ebenso wertlos wie die elektrischen 
Wellen, wenn die Aufnahmsstation nicht funktioniert. Das Resultat ist 
dasselbe, als wenn die Zuleitung zur Station durch Zerschneiden der 
Drähte unmöglich wäre. So unterscheidet sich auch das Kind, dessen 
zentrale Hörsphäre nicht funktioniert, nicht von dem, dessen Zuleitungs¬ 
apparate funktionsuntüchtig sind, also von Taubstummen. Haben wir 
nun früher konstatiert, daß der springende Punkt der ist, ob die Auf¬ 
merksamkeit für akustische Vorgänge erregbar ist oder nicht, so müssen 
wir unser therapeutisches Handeln darauf richten, die Aufmerksamkeit 
womöglich doch zu erwecken. 

Wenn Sie sich vielleicht wundern, daß ich schon auf die Therapie 
übergehe, bevor ich noch über die Untersuchung Endgültiges berichtet 
habe, so gestatten Sie mir, daß ich erwidere, daß in einem medizinischen 
Gebiete wie die Sprachheilkunde, bei der es immer darauf ankommt, 
eine Funktion zu behandeln, die Untersuchung eigentlich erst mit der 
Behandlung abgeschlossen werden kann und die Behandlung mit der 
Untersuchung beginnt. Das Kind, welches sich, wie gesagt, in der Heil¬ 
anstalt befindet, wurde nun mit allen möglichen Schallquellen akustisch 
zu erregen versucht. Doch tagelang versagte alles. Versuche mit Sprechen 
und Rufen, Indiehändeklatschen, Pfeifen und Trompeten und auch 
Klavierspielen waren nicht imstande, die Frage, ob taubstumm oder 
seelentaub, zu lösen. Da versuchte ich es mit kleinen zart klingelnden 


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390 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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Glöckchen, und mit einem Schlage war die Diagnose gesichert. Drei 
Meter hinter dem Patienten ließ ich ein Glöckchen ertönen, ohne daß 
er vorher meine Anwesenheit geahnt hätte. Prompt drehte er sich um, 
und zwar jedesmal wieder. Für alle Mitbewohner wirkte dieses Experi¬ 
ment wie ein Wunder. Nun wurde so vorgegangen, daß die kleinen 
Glöckchen immer wieder zum Erklingen gebracht wurden, worauf er mit 
sichtlich zunehmendem Interesse und immer größerer Freude reagierte. 
Dann wurden zwischen den Glöckchen andere Instrumente benützt, wie 
Stimmgabeln, Trompeten, eine Trommel usw., und auch diese waren all¬ 
mählich imstande, die Aufmerksamkeit des Patienten zu erwecken. Nun 
darf nicht vergessen werden, daß auch die Erziehung wesentlich zu den 
Fortschritten beitrug. Während nämlich das Kind sich anfänglich wie 
irrsinnig gebärdete, schrie und um sich schlug und vollkommen ruhelos 
war, trachteten wir es zu beruhigen. Man war bestrebt, durch Bilder¬ 
zeigen es zu fesseln, und es wurde mit allen Mitteln getrachtet, seine 
Ruhelosigkeit zu bekämpfen. Dies glückte auch vollkommen, und je mehr 
es gewöhnt wurde, seine Umgebung zu berücksichtigen, um so mehr 
lenkte sich auch seine Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in derselben. 
Allmählich gelang es auch, sein Interesse für die menschliche Stimme 
zu erwecken, und etwa nach zweimonatigem Aufenthalt wußte es schon r 
daß, wenn man seinen Namen rief, es damit gemeint war. Dann ging 
ich darauf über, ihm Bilder zu zeigen und zu jedem Bilde das ent¬ 
sprechende Wort klar und deutlich zu sagen. Vor etwa zwei Wochen 
sprach er die erste Silbe nach. Damit war der Beweis erbracht, daß 
nunmehr auch das Wern icke sehe Zentrum zu arbeiten begann, und 
von diesem Augenblicke an ging es ziemlich schnell vorwärts. Er spricht 
heute schon alle Laute und Silben mehr oder weniger exakt nach, und 
es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß er in wenigen Monaten schon 
einen größeren Wortschatz besitzen wird, wohl auch mit dem ent¬ 
sprechenden Sprachverständnis. Von da bis zur Spontan spräche ist nur 
mehr ein kurzer Schritt. Dann werde ich mir erlauben, den Patienten 
neuerdings vorzustellen. Wenn ich ihn schon heute in diesem noch nicht, 
sehr fortgeschrittenen Stadium demonstriere, so geschieht das deshalb,, 
weil es später kaum mehr möglich sein wird, sich ein Bild von dem 
traurigen Zustande zu machen, in welchem er mir übergeben wurde. 

Diskussion: Dr. Hugo Stern: Wenn man Kurven miteinander 
vergleichen will, so darf man bezüglich des Synchronismus, respektive 
Asynchronismus nie die Schreibung mit der Marey sehen Trommel ver¬ 
wenden (höchstens auf dem Wege einer umständlichen Umrechnung), 
sondern wir wenden die Stirnschreibung an und können dann die Kurven 
auch bezüglich des zeitlichen Ablaufes miteinander vergleichen. Ich selbst 
habe früher derartig untersucht, wurde aber bei meinen diesbezüglichen 
Untersuchungen im Physiologischen Institute von Hofrat Prof. Exner 
und Prof. Kreidl auf diese Fehlerquelle aufmerksam gemacht und 
mache seither meine zahlreichen Untersuchungen nur mehr mit der Stirn¬ 
schreibung, welche allein diesbezüglich verläßliche Resultate zeitigt. Die 
vom Vortragenden erwähnte Gesangschule, die lehrt, in maximaler In- 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 397 

spiration zu singen, würde ich — gelinde gesagt — für nicht rationell 
halten und zu deren Erfolgen wenig Zutrauen haben. 

Bezüglich der Therapie verwende ich in derartigen Fällen neben 
systematischen Atemübungen auch Tiefstellung des Larynx (leichter 
Druck auf den Kehlkopf) und Übungen im weichen Stimmeinsatz. 

Was den zweiten Fall anbelangt, so halte ich ihn für keinen so 
seltenen Fall, wie ihn Dr. Fröschels hinstellt. Wir begegnen doch 
relativ oft Kindern, die eine derartig große Abneigung und Unlust 
akustischen Reizen gegenüber zeigen, daß man sie lange für taub hält. 
Es bedarf dann eben meist eines auslösenden Momentes, um die ver¬ 
spätete Sprachentwicklupg (Audi-Mutitas, Mutitas physiologica 
prolongata) in günstiger Weise zu beeinflussen und in systematischer 
Sprechübungstherapie die Sprache weiter aufzubauen. 

Dr. Hofbauer: Der erstvorgestcllte Fall ist wegen der hiebei 
beobachteten Divergenzen im Verhalten der Brust- und Bauchatmung^ 
überaus interessant. Dieselben beruhen wohl auf dem Umstande, daß das 
Zwerchfell (insbesondere beim Sprechen) durch die Aktion der Bauch¬ 
muskulatur aktiv in die Exspirationsstellung gebracht wird, während 
der Thorax solcher exspiratorischer liilfsmuskel mehr minder entbehrt. 

Weil die Inspiration immer durch Muskelkräfte besorgt wird, 
die Exspiration aber nur seltener (sondern normaliter durch elastische), 
so kommt es, wie auch in diesem Falle, zur habituellen Inspirations¬ 
stellung, dem Volumen pulmonum auctum, und schon aus diesem Grunde 
wäre die Einschaltung von Atemübungen behufs Bekämpfung dieser 
sekundären Gesundheitsstörung vielleicht zweckmäßig. 

Für die Mitteilung der (die an anderer Stelle ja schon vertretenen 
Ansichten über die Entstehung der Lungenblähung so anschaulich 
stützenden) pneumographischen Untersuchungen ist dem Vortragenden 
bester Dank sicher. 

Dr. Fröschels: Bezüglich der andersartigen Registrierung, welche 
Kollege Stern empfiehlt, habe ich leider bisher keine Erfahrung, auch 
hat er selbst seine Resultate noch nicht veröffentlicht. Uber Gesang¬ 
schulen zu debattieren, ist hier nicht der Platz, doch bin ich gerne 
bereit, mich mit Kollegen Stern gelegentlich zu messen. Die hohe 
Larynxstellung besteht bei meinem Patienten nicht. Den weichen Einsatz 
habe ich bei dem Patienten auch nicht geübt. Meine drei Patienten mit 
Seelentaubheit, die ich bis jetzt beobachtet habe, zeichnen sich dadurch 
aus, daß sie eben ein komplettes Bild dieses Zustandes geben. Ähnliche 
Fälle sind ja häufig, doch wird der erfahrene Beobachter bei solchen 
Fällen nicht daran zweifeln, daß sie hören, bei dem heute demonstrierten 
Patienten jedoch war ich mir selbst durch vier Tage völlig im unklaren. 
Herrn Hofbauers Anregung nehme ich dankbar an. 

d ) Priv.-Doz. Dr. L. Müller demonstriert einen Fall von Blick¬ 
lähmung nach oben und unten. (Wird später ausführlich publiziert.) 

Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Bdräny hatte Gelegenheit, den 
Patienten gelegentlich seines Aufenthaltes auf der Klinik von Wagner- 
Jauregg genau zu untersuchen. Wie Priv.-Doz. Dr»'Müller bereits 


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erwähnte, handelte es sich um eine inkomplette Blicklähmung nach oben 
und unten. B&rany fand, daß die Bewegungen nach oben und unten 
verlangsamt erfolgen, während die Bewegungen nach rechts und links 
mit normaler Geschwindigkeit stattfinden. Nystagmus horizontalis läßt 
sich nach rechts und links in normaler Weise erzeugen. Erzeugt man 
durch Drehung auf dem Drehstuhl einen vertikalen Nystagmus nach 
aufwärts, so können während der Dauer des Nystagmus beide Augen 
ad maximum gesenkt werden, respektive die Senkung der Augen tritt 
unwillkürlich auf und der Patient darf nur nichts dagegen tun. Versucht 
er während des Nystagmus nach aufwärts nach aufwärts zu blicken, 
so gelingt das nicht so gut wie vorher. Die Wendung der Augen nach 
oben ist jetzt noch mehr erschwert. Der Nystagmus nach aufwärts hat 
eine deutlich verlangsamte rasche Komponente. In ganz analoger Weise 
sind während des Nystagmus nach abwärts die Augen nach oben deviiert. 
Es gelingt jetzt, den Blick ad maximum zu heben, der Nystagmus nach 
abwärts zeigt eine verlangsamte rasche Komponente. Damit ist die voll¬ 
ständige Übereinstimmung der supranukleären Blicklähmung nach oben 
und unten mit den von Bärany festgestellten Eigenschaften der seit¬ 
lichen Blicklähmung dargetan. Es ist der vorgestellte Fall der erste Fall 
von Blicklähmung nach oben und unten, der auf diese Weise untersucht 
ist. Bemerkenswert ist noch, daß sich ein rotatorischer Nystagmus nach 
rechts bei dem Patienten nicht erzeugen läßt, während der Nystagmus 
rotatorius nach links in normaler Weise auslösbar ist. Wahrscheinlich 
handelt es sich auch um eine supranukleäre Lähmung der Rotation nach 
rechts. Dazu würde jedoch auch der Nachweis gehören, daß an Stelle 
des Nystagmus rotatorius nach rechts eine Rollung des Auges nach links 
eintritt. Dieser Nachweis wäre mit Hilfe des von Bäräny konstruierten 
Gegenrollungsapparates zu erbringen. Doch hatte Bdrdny keine Gelegen¬ 
heit, den Patienten bisher mit diesem Apparat zu untersuchen. 

e) Dr. Egon Fries: Fall von Pseudotumor cerebri. 1902 
Operation über der rechten Kleinhirnhemisphäre in der Klinik Hofrat 
v. Eiseisberg, welche durch die Symptome eines Kleinhirntumors 
(schwankender Gang, Nystagmus horizontalis, hochgradige Stauungspapille) 
veranlaßt wurde. Heute findet sich bei der Patientin über dem rechten 
Kleinhirn der durch die Operation geschaffene, etwas vorspringende 
Knochenlappen, Nystagmus horizontalis nach beiden Seiten (nach r > 1), 
Atrophia nervi optici utriusque post neuritidem. Wassermann negativ. 
Seit drei Jahren bestehen bei der Kranken Petit mal-An&llc, in denen 
sie erblaßt, Schluck- und Kaubewegungen macht, starr vor sich hin¬ 
blickt, manchmal sinnlose oder gewalttätige Akte vollführt. Für diese 
ganz kurz dauernden Anfälle besteht Amnesie. Die Patientin berichtet 
aber selbst, daß sie seit einem Jahre an durch etwa 20 Minuten dauern¬ 
den Anfällen von hochgradiger Angst leide, in denen sie imperative 
Stimmen („spring zum Fenster hinaus“ usw.) hört. Die Stimme ist eine 
Männerstimme und sie hört sie von rückwärts, niemals nur auf einem 
Ohr, obwohl sie auf dem rechten Ohr infolge Narbe schwerhörig ist. — 
Diese imperativen Stimmen sind nach Kraepelin ein Kriterium für 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 399 

Dementia praecox, es finden sich aber außer vagen Angaben über Reiz¬ 
barkeit und Beeiuträchtigungsideen zur Zeit des Auftretens der ersten 
Tumorsymptome keine Anhaltspunkte für diese Diagnose. Die Anfälle 
als ein psychisches Äquivalent aufzufassen, liegt nahe, hiegegen spricht 
aber das Fehlen der Amnesie. Es wäre möglich, die Stimmen als das 
Lautwerden eines im Angstaffekt entstehenden Impulses anzusehen. Über 
<lie Natur des die Tumorsymptome erzeugenden Prozesses können nur 
Vermutungen geäußert werden. 

Diskussion: Dr. Stransky fragt den Vortragenden, ob die 
Patientin ihre Gehörstäuschungen einseitig lateralisiert; ferner, ob sie 
sie als solche erkennt? 

f) Dr. Josef Gerstmann demonstriert aus der psychiatrischen 
Klinik (Prof. Wagner v. Jauregg) einen Fall von zerebraler 
sympathischer Ophthalmoplegie, der als klinischer Beitrag zu 
dem von Karplus und Kr ei dl experimentell gefundenen subthalami- 
schen Sympathikuszentrum dienen soll. — Der 18 jährige Patient schoß 
sich am 17. Dezember 1912 aus einem kleinkalibrigen Revolver in die 
rechte Schläfe. Er wurde sofort bewußtlos und als er erwachte, war er 
links ganz gelähmt. In der Folge ging die motorische Lähmung bis auf 
minime Reste zurück, die sensible blieb aber ganz unverändert. Anfangs 
Jänner auf die Klinik eingeliefert, bot er folgenden Status: Linke 
Schädelhälfte, besonders am Scheitel, klopfempfindlich. Rechte Lidspalte 
enger als die linke. Rechte Pupille enger als die linke, reagieren aber 
beide auf Licht und Akkommodation. Nach Einträufeln von Kokain in 
den Konjunktivalsack erweitert sich die linke Pupille maximal, die rechte 
zeigt gar keine Reaktion. Schmerzreaktion rechts schwächer als links. 
Rechter Bulbus liegt tiefer als der linke. Keine Augenmuskelstörungen. 
Linke Gesichtshälfte ist hypästhetisch und hyperalgetisch, rechts normaler 
sensibler V. Linker VII < r, VIII 1 <[ r, links Gaumensegelparese, 
Kornealreflexe 1 < r, Rachenreflexe 1 < r. Keine Schluck- und Sprach¬ 
störungen. 

Obere Extremitäten: Keine auffallende Differenz bezüglich 
der groben Kraft zwischen links und rechts. Distal zunehmende Lähmung 
der tiefen Sensibilität auf der linken Seite. Astercognose, Ataxie. Verlust 
der Lageempfindung und des Gefühls für passive Bewegungen links. 
Praxic beiderseits intakt. Links Steigerung der Periost- und Sehnenreflexe. 

Untere Extremitäten: Grobe Kraft beiderseits annähernd 
gleich. Erhebliche Störung der Sensibilität, distal komplett. Hypotaxie 
links. P. S. R. und A. S. R. links gesteigert. Links positiver Babinski. 
Die Prüfung der Oberflächensensibilität zeigt Hypästhesie und Hyper- 
algesie für alle Reizqualitäten auf der linken Körperhälfte. 

Die hier vorliegende echte zerebrale Sensibilitätslähmung, nämlich 
Hypästhesie, Hyperalgesie und Verlust der Tiefenempfindung, weist, einer¬ 
seits wegen der erfahrungsgemäß häufigsten Koinzidenz von Thalainus- 
läsionen mit derartigen zentralen Sensibilitätsstörungen, andrerseits wegen 
des so geringen Befallenseins der Motilität, ohne weiteres auf eine Schädi¬ 
gung im Gebiete der ventro-lateralen Thalamuskernc hin. Wie erklärt 


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400 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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sich dann die rechtsseitige sympathische Ophthalmoplegie? Da ist darauf 
aufmerksam zu machen, daß Kar plus und Kreidl vor eineinhalb' 
Jahren durch zahlreiche experimentelle Untersuchungen bei Tieren im 
Hypothalamus entsprechend dem Corpus subthalamicum ein selbständiges r 
subkortikalcs Sympathikuszentrum nachgewiesen haben. Nun liegt ja, wenn 
man sich einen durch diese ventro-lateralen Thalamuskerne (Centre me¬ 
dian de Luys, Nucleus arcuatus und Nucleus lateralis ventralis externus) * 
geführten Frontalschnitt vergegenwärtigt, das Corpus subthalamicum 
knapp unterhalb des Haubenfeldes an der Stelle, wo dessen Strahlen in 
die genannten Thalamuskerne einstrahlen. Eine Läsion dieser Kerne 
muß also den subthalamischen Körper sicherlich in Mitleidenschaft ziehen. 
Da ferner, wie die vielen in der Literatur publizierten Fälle von zerebral 
bedingter homolateraler Sympathikoplegie uns belehren, die sym¬ 
pathischen Bahnen im menschlichen Gehirn nicht kreuzen, so ist das in 
diesem Falle vorliegende rechtsseitige okulopupilläre Syndrom mit größter 
Wahrscheinlichkeit durch eine Schädigung dieses Luys sehen Körpers 
bedingt. Unser Fall repräsentiert also den ersten klinischen Beitrag zu 
dem von den oben genannten Autoren experimentell entdeckten sub¬ 
thalamischen Sympathikuszentrum. 

Daß die Kugel ihren Weg durch das Gebiet der ventro-lateralen 
Thalamuskerne und des oberen Hypothalamusanteiles genommen hat r 
dafür sprechen auch rein physikalische und topographisch-anatomische 
Gründe. 

Nach dem Röntgenbefunde befindet sich gegenwärtig die Kugel im 
Meditullium, ungefähr 1 cm nach links von der Medianfläche, in einer 
6 cm oberhalb des Processus mastoideus geführten Horizontalebene, also 
aufs Gehirn übertragen, zirka 1 cm nach links vom Splenium corporie 
callosi. Was die Einschußöffnung betrifft, so befindet sich dieselbe zirka 
i 1 /* cm unterhalb eines Punktes, der nach dem Krönlein sehen hirn¬ 
topographischen Schema der Fossa Sylvii entspricht; auf die Hirnrinde 
projiziert, trifft sie dieselbe in einer Stelle zirka 2 cm medial von der 
Fossa. Wenn wir jetzt durch diese Stelle an einem konservierten Gehirn 
eine längere Nadel hineinstechen und an der Stelle, wo nach dem 
Röntgenbefunde die Kugel liegt, ausstechen und dann entlang dieser 
Nadel schräghorizontal das Gehirn durchschneiden, so sehen wir tat¬ 
sächlich, daß wir auf diese Weise dieses spinale Thalamusdrittel und 
den daran grenzenden Hypothalamus getroffen haben. 

Vortragender hat diesen Versuch an zwei Gehirnen ausgeführt 
und er war beide Male positiv. Es ist das zwar noch kein sicherer 
Beweis dafür, daß die Kugel diesen geraden Weg durchgemacht haben 
mußte. Wenn wir aber diese Tatsache berücksichtigen, wenn wir erwägen, 
daß nach dem röntgenologischen Befunde die Kugel nach links hinten 
oben laufen mußte und auf diesem Laufe bis zur definitiv eingenommenen 
Lage — um den hier vorliegenden Symptomenkomplex auszulösen — 
nur das Gebiet der ventralen Thalamuskerne zerstören mußte —so 
erscheint uns dieser Weg sogar sehr wahrscheinlich. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 401 

Diskussion: Prof. Dr. Karp 1 us: Es hat mich sehr interessiert 
■zu erfahren, daß die experimentellen Untersuchungen, die ich über 
Oehirnzentren des Sympathikus gemeinsam mit Prof. Kreidl durch¬ 
geführt habe und die wir noch fortsetzen, für die Herren der Klinik 
Anregung zu einem Lokalisationsversuch beim Menschen geworden sind. 
Tatsächlich stimmen die bei diesem Kranken vom Vortragenden suppo- 
nierten Verhältnisse sehr gut mit unseren Ergebnissen bei Katze und Affe. 

Ich möchte noch daran erinnern, daß wir gefunden haben, daß 
bei der Pupillenerweiterung auf Schmerzreize (Okulomotoriushemmung 
und Sympathikusreizung) eine Reizübertragung im Hypothalamus statt¬ 
findet; beiderseitige Hypothalamusreizung hebt den Schmerzreflex auf die 
Pupille fast völlig auf. Es wäre interessant zu wissen, ob bei unserem 
Kranken mit der ausgewiesenen einseitigen Hypothalamusläsion ein Unter¬ 
schied der Schmerzreaktion zwischen rechter und linker Pupille besteht. 

g) Prof. Marburg: Neuere Arbeiten aus dem Wiener neurologi¬ 
schen Institut: A. Die individuellen Differenzen in der Aus¬ 
dehnung des motorischen Rindengebietes (von Dr. Jeannot 
Israelsohn). B. Studien zur Kenntnis der Hydrozephalus- 
Tin de (von Dr. Soichito-Minro, Kioto). Die Arbeiten erscheinen 
ausführlich im 20. Bande der Arbeiten aus dem Wiener neurologischen 
Institut. 


Wanderversammlung vom 8. März 1913. 

Referate und Diskussion bereits erschienen im Band XXXIV, 
pag. 152 ff. 


Sitzung vom 8. April 1913. 

Vorsitzender: v. Wagner. 

Schriftführer: P Ö t z 1. 

1. Demonstrationen: 

a) Ser ko, ein Fall von operiertem Rückenmarkstumor. 

b) Bdräny, die innervatorischen Mechanismen des Nystagmus. 

c) Moszkovicz, Ergebnis einer Muskelplastik bei Lähmung des 
M. Deltoideus, des M. supra- und infra-spinatüs. 

Diskussion: Marburg. 

ct) Fröschels, Ergebnisse einer Stimmübung bei multipler Sklerose, 
weiters athetoide Bewegungen der Zunge mit Stammeln, 

Diskussion: Fuchs, v. Wagner. 

2. Vortrag: 

Ser ko, über psychische Phänomene im Meskalinrausch, 
Diskussion: Stransky, Pötzl, Federn sen„ Redlich, 
Pappenheim, v. Frankl-Hochwart. 


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402 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

Jahresversammlung vom 20. Mai 1913. 

Vorsitzender: Obersteiner. 

Schriftführer: Marburg. 

a) Administrative Sitzung. 

Zum Ehrenmitglied wird Prof. Allen Starr, zum korrespondierenden 
Prof. Aschaffenburg, Köln, gewählt. 

Der Antrag des Ausschusses, den Mitgliedsbeitrag von 10 K auf 
12 K zu erhöhen, wird angenommen. 

Der bisherige Vereinsausschuß wird wieder gewählt, und zwar 
die Herren: Hofrat Obersteiner, Vorsitzender; Hofrat Wagner 
v. J a u r e g g, stellvertretender Vorsitzender; Regierungsrat Schloß, 
Prof. v. Frankl-Hoch wart, Prof. Redlich, Oberstabsarzt Drastich, 
Beisitzer; Prof. Fuchs, Kassier; Prof. Marburg, Priv.-Doz. Dr. P ö t z L 
Schriftführer. 

b) Wissenschaftliche Sitzung. 

Dr. Erwin Lazar, Leiter der heilpädagogischen Abteilung der 
k. k. Kinderklinik: Psychische Abnormitäten bei Fürsorge¬ 
zöglingen. 

Meine Herren! Einleitend einige Worte über den Begriff „Fürsorge¬ 
zöglinge“. Nach dem heute üblichen Sprachgebrauche versteht man 
darunter Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahre, die zwangsweise 
über behördliche Verfügung einer Erziehungsanstalt oder einer verwandten 
Institution übergeben werden. Die Fürsorgeerziehung erstreckt sich daher 
auf Kinder und Jugendliche, die wegen Verwahrlosung, wegen Gefahr 
der Verwahrlosung oder wegen Mißhandlung von ihren Angehörigen 
entfernt werden; z. B. auf solche, die wegen eigener, erlernter und 
erworbener oder wegen angeborener dissozialer Eigenschaften unter den 
gewöhnlichen Verhältnissen nicht zu halten sind. Nach dem heute üblichen 
Modus kommen die Erstgenannten je nach dem Grade ihrer Verwahrlosung 
in fremde Familienpflege oder in Institute, die den Waisenhäusern nahe¬ 
stehen, eventuell dann, wenn sich schwerere Schäden bereits gezeigt 
haben, in die „geschlossene Erziehungsanstalt“ (früher Besserungsanstalt). 
Letzteres geschieht in der Regel auch mit den Kindern, die dissoziale 
Eigenschaften aufweisen. Ob diese Eigenschaften krankhafter Natur sind 
oder nicht, wird in den seltensten Fällen berücksichtigt. Darauf beruht 
es, daß sich in allen Erziehungsanstalten sehr viele psychisch abnorme 
Kinder befinden und darauf sind sicher die vielen erzieherischen Mi߬ 
erfolge zurückzuführen. 

Es sind in den letzten Jahren in Besserungsanstalten des Deutschen 
Reiches vielfach psychiatrische Untersuchungen vorgenommen worden. 
Dabei konnte festgestellt werden, daß sich in allen diesen Anstalten ein 
sehr bedeutender Prozentsatz von psychisch Abnormen befindet. So hat 
Mönckemöller, Berlin, berechnet, daß 51 *5 °/ 0 von Knaben einer 
solchen Anstalt, die das 13. Lebensjahr nicht überschritten hatten, normal 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 40& 

sind, von älteren Knaben nur 28 °/ 0 . Cramer berechnet 63°/ 0 Abnorme 
bei schulentlassenen Knaben. Unter 151 weiblichen Zöglingen jenseits 
des 14. Jahres bezeichnet Ri so 68*9 °/ 0 als psychopathisch minderwertig. 
Zu ähnlichen Resultaten gelangt Siefert. 

Gruhle teilt sein Material (Flehingen, Baden, 105 Zöglinge 
jenseits des 13. Jahres) in fünf Gruppen: 

I. Körperlich und geistig Normale 14°/ 0 . 

II. Solche mit geringen körperlichen u. psychischen Abweichungen 26*6°/ 0 . 

III. Solche, die psychisch gesund, aber körperlich krank sind, 3*8°/ 0 . 

IV. Psychisch Auffällige 27 °/ 0 . 

V. Psychisch Abnorme 29°/ 0 . 

Als kleine Abnormitäten auf körperlichem und geistigem Gebiete 
gelten nach seiner Auffassung: Blässe, schwächlicher Körperzustand, 
Drüsenschwellungen, Kropf, schlechte Zähne, Bettnässen, Schreien im 
Schlaf U8w. Als psychisch auffällig bezeichnet Gruhle sehr erregbare 
Kinder, die bei jeder Gelegenheit leicht aus der Balance kommen; dann 
solche, die nur periodisch reizbar sind und schließlich diejenigen, wo 
ein besonderer äußerer Anlaß notwendig ist, um eine schwere abnorme 
Reaktion auszulösen. Unter die psychisch Auffälligen gehören auch die 
sogenannten Nervösen, Neurasthenischen, sowie die auffallenden Cha¬ 
raktere. Als pathologische Fälle bezeichnet Gruhle die Hysteriker, 
Epileptiker, Epileptoide, Imbezille und eventuell Geisteskranke. Weiters 
teilt Gruhle sein Material nach Milieu und Anlage. Danach: 

wurzeln im Milieu M 9*5 0 / 0 ; 

hauptsächlich im Milieu, aber auch in der Anlage, M (-(- A) 8*57 °/ 0 ; 

in Milieu und Anlage zu etwa gleichen Teilen A -)- M 40*95 °/ 0 ; 

zum Teil im Milieu, hauptsächlich in der Anlage A (-)- M) 20°/ 0 ; 

allein in der Anlage A 21 °/o* 

Meine eigenen Untersuchungen bezwecken, einmal festzustellen, 
wie sich der Prozentsatz von Fürsorgezöglingen, die von der Norm 
abweichen, also von psychisch Auffälligen und psychisch Abnormen in 
den niederösterreichischen Anstalten stellt und weiter zu untersuchen, 
wieviel von den Anstaltszöglingen tatsächlich durch die Anstaltserziehung 
gefördert werden können, wo keine erzieherischen Erfolge zu erzielen 
sind und weiter noch klarzulegen, daß man bei Kindern, wenigstens 
unter 14 Jahren, in vielen Fällen die Anstaltserziehung umgehen kann. 
In dieser Absicht habe ich die von mir schriftlich niedergelegten Berichte 
über Fürsorgezöglinge der Anstalten Eggenburg für Knaben und Mädchen, 
der Erziehungsanstalt in Weinzierl und des Pestalozzivereines miteinander 
verglichen. Es erscheint mir aus dem Grunde wichtig, weil die genannten 
Institutionen ihre Zöglinge unter ganz verschiedenen Bedingungen auf¬ 
nehmen, daher Kinder, die von vornherein verschiedene dissoziale Eigen¬ 
schaften und verschiedene Grade der Verwahrlosung aufweisen, hier 
nebeneinander gestellt werden. 

So ist die Aufnahmsbedingung für Eggenburg ein relativ höherer 
Grad von Dissozialität; es ist die gerichtliche Zustimmung für die Ab¬ 
gabe notwendig. 


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404 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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Bei der Anstalt Weinzierl kommt es mehr darauf an, Kinder vo 
Verwahrlosung zu schützen. Der Pestalozziverein nimmt statutarisch! 
mißhandelte Kinder oder solche, die frühzeitig verwahrlost sind, odei 
die in der Gefahr stehen, zu verkommen. 

Die Eggenburger Anstalt für Mädchen über 14 Jahre ist fast 
durchaus belegt von Mädchen, die wegen unsittlichen Lebenswandels, 
geheimer Prostitution, eingeliefert werden. Schließlich komme ich noch 
auf die Fälle, die der heilpädagogischen Abteilung wegen dissozialer 
Lebensführung zugewiesen wurden; es ist dies ein klinisch beobachtetes 
Material, das ich recht gut für die einzelnen Typen der Anstalten als 
Vergleichsobjekte heranziehen konnte. 

Die Untersuchungen beziehen sich nicht auf den Totalstand der 
Anstalten; sie sind lediglich in einem größeren Zeiträume anläßlich 
Aufnahmen und Abgaben vorgenommen worden. 

Ich halte mich an die Gruppierung der Gruh 1 eschen Unter¬ 
suchungen, um vor allem halbwegs die Möglichkeit eines Vergleiches in 
der Hand zu haben. 

Danach ergibt die Eggenburger Anstalt von 209 Zöglingen Knaben 


über und unter 14 Jahren: 

Physisch und psychisch Normale .... 25 = 11*9 % 

Mit kleinen Abweichungen. 74 = 35*4 °/ 0 

Psychisch gesund, körperlich krank ... 4 = 1*9 % 

Psychisch auffällig. 76 = 364% 

Psychisch abnorm. 30 = 14*3% 


Es besteht demnach eine geringe Differenz zwischen den von 
Gruhle Untersuchten und den Eggenburger Knaben (56% bis 50°/ 0 ), 
bezüglich derer, die von der Norm abweichen. In den Untergruppen, 
psychisch Abnorme und psychisch Auffällige, bestehen einige Differenzen, 
die wahrscheinlich mit der Art des Materials Zusammenhängen. Die 
Gruh 1 eschen sind ja durchschnittlich viel älter wie die Eggenburger. 

Bei der Gruppierung nach Milieu und Anlage ergibt sich für die 
Eggenburger Knabenanstalt folgendes: 

M (Milieu) 41 = 19-6% 

M (~j- A) 26 = 124% 

A + M 28 = 13-3% 

A (+ M) 63 = 30-1% 

A (Anlage) 51 = 244% 

Bei der Aufstellung der letzten Tabelle mußten als Milieueinflüsse 
folgende genommen werden: Fremde Pflege, Waisen, Großmuttererziehung, 
einzige Kinder, sehr viele Kinder, Elend, Obdachlosigkeit, Mißhandlung. 

Gesellt sich zu diesen rein äußeren Umständen noch eine leicht 
fehlerhafte Veranlagung, wie sie durch körperliche Schwäche, durch 
nervöse Verstimmungen, durch gesteigerte Reizbarkeit gegeben sein 
können, dann ist die Verwahrlosung, die Kriminalität, auf das Milieu 
und zum Teil auf die Veranlagung zurückzuführen. Die M (-j- A) werden 
daher am meisten in der Gruppe 2 (kleine Abweichungen) vertreten sein, 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 405 

können aber auch eventuell bei der Gruppe 4 auftreten, da die Krimina¬ 
lität des Debilen, des Neuropathen, durchaus nicht an seine psychische 
Abnormität gebunden zu sein braucht. Die A-Fälle finden sich bei 
4 und 5 und dort finden sich auch die meisten A (-|- M)-Fälle; bei 
letzteren hätte ein gutes Milieu die Kriminalität, die Verkommenheit 
teilweise verhindern können. 

Das Schlechte mußte ungünstig einwirken. 

Die Untersuchung der Eggenburger Mädchen über 14 Jahre ergibt 
folgendes: Gesamtzahl 59. 


I. Physisch und psychisch gesund ... 11 = 18*4 °/ 0 

II. Kleinere Abweichungen. 13 = 22 % 

III. Psychisch gesund, körperlich krank . 0=0 % 

IV. Psychisch auffällig. 18 = 30*4 °/ 0 

V. Psychisch abnorm. 17 = 28*8 °/ 0 

Getrennt nach Anlage und Milieu ergeben sich: 

M 17 = 28*8% 

M(+A) 7 = 11*8% 

A -f- M 11 = 18*6 o/ 0 
A (+ M) 14 = 13*7 % 

A ‘ 10 = 16*9 % 


Der Prozentsatz derjenigen, die von der Norm abweichen, ist 
demnach höher als der der Eggenburger Knaben, bleibt aber doch 
wesentlich gegenüber den früher erwähnten Angaben zurück. Unter den 
M-Fällen finden sich die elf Mädchen, die als physisch und psychisch 
gesund befunden wurden. Die übrigen sechs gehören zur Gruppe 11 
{kleinere Abnormitäten, körperliche Schwäche, Anämie, Unregelmäßigkeiten 
der Menstruation usw.). 

Die M (-)- A)-Fälle gehören alle zur Gruppe II, beruhen auf 
kleineren intellektuellen Defekten oder auf nervöser Veranlagung. 

Die A (4- M)-Fälle gehören .teils zur Gruppe IV (psychisch Auf¬ 
fällige) und von diesen sind vier als debil, drei als schwer neurasthenisch 
aufzufassen. Ferner gehören zu diesen Fällen aus der Gruppe V drei 
Hysterische und eine Epileptische, die sicher bei gutem Milieueinfluß 
nicht hätten Vorkommen müssen. 

Als A (-{- M)-Fälle sind aus der Gruppe IV zwei Debile, zwei 
mit Stimmungsanomalien und zwei Neurasthenische zu nehmen, aus der 
Gruppe V vier Hysterische, zwei Epileptische, intellektuell sehr Tief¬ 
stehende. 

Die A-Fälle setzen sich zusammen aus der Gruppe IV: Zwei 
Stimmungsanoraalien, zwei Hysterische mit starker Sexualbetonung; aus 
der Gruppe V: Vier schwere Verstimmungen und eine Moral insanity 
mit besonderer Entwicklung der Libido sexualis. 

Von den reinen M-Fällen sind sechs ohne Mutter, zwei ganz 
verwaist, eine ohne Vater, drei unehelich, bei zweien fehlte stets ein 
Jahrbücher für PsvchiUrie. XXXIV. TM. 27 


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406 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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günstiger mütterlicher Einfluß, eine stammte aus tiefstem Elend, zwei 
wurden lediglich verführt. Die auffallend vielen mutterlosen Mädchen,, 
die sich unter allen Fällen finden, erklären sich damit, daß einerseits 
die Mutter als Erzieherin wegfällt, andrerseits rein äußerlich dadurch, 
daß die Mädchen schwerer Unterschlupf finden und der gesetzlich er» 
forderliche Arbeitsnachweis nicht so leicht zu erbringen ist. Faßt man 
zusammen, daß 40°/ 0 der Mädchen etwa der Norm entsprechen und 
daß in diesen Fällen 28°/ 0 nur durch Milieueinflüsse, 12 °/ 0 hauptsächlich 
durch Milieu bei unsicherer Veranlagung verkommen sind, so wäre 
daraus der Schluß zu ziehen, daß man doch auf eine größere Anzahl 
von Mädchen rechnen könnte, die zu retten wären, als dies vielleicht 
tatsächlich der Fall ist. 

Die Untersuchung der Eggenburger Mädchen unter 14 Jahren 


ergibt: 

I. Körperlich und geistig normal ... 5 = 13 # l°/ 0 

II. Kleinere Abweichungen. 6 = 15*7 °/ 0 

III. Psychisch gesund, körperlich krank . 3= 7*8 % 

IV. Psychisch auffällig. 17 = 44*8 °/ 0 

V. Psychisch abnorm. 7 = 18*4 °/ 0 


Nach Milieu und Anlage: 


M 12 = 31-6 % 

M (-f A) 5 = 13-13% 
A -f- M 10 = 26*3 % 
A (-j- M) 7 = 18-4 % 
A 4 = 10-5 °/ 0 


Von diesen 38 Mädchen sind fünf unehelich, acht mutterlos, vier 
vaterlos oder ganz verwaist, also sind 27 ohne eigentliche Familie 
aufgewachsen, was man auch für diejenigen annehmen kann, deren 
Vater gestorben ist, die Familie in widrigen Verhältnissen zurückgelassen 
hat. In solchen Fällen ist die Mutter gezwungen, dem Erwerb nach¬ 
zugehen und kann ihre Kinder nicht beaufsichtigen. 

Die M-Fälle verteilen sich wieder auf die Gruppen I, II, III. In 
der Gruppe II finden sich noch einige M (-(- A) und dahin gehören 
auch einige neurasthenische Mädchen der Gruppe IV. Als A (-J- M) und 
A -}- M-Fälle sind die meisten der psychisch Auffälligen zu betrachten. 
Bei Mädchen in diesem Alter kann das Krankhafte (Debilität, Stimmungs¬ 
abnormität usw.) selten einen solchen Einfluß ausüben, daß daraus not¬ 
wendig die Verwahrlosung und die Kriminalität zu folgern wäre. Es 
muß also hier die M-Komponente stärker in Betracht kommen. Dem¬ 
entsprechend ist auch die A-Gruppe hier am schwächsten vertreten. Da 
also die Milieuverhältnisse hier besonders stark ins Gewicht fallen, müßte 
sich die Prognose hier bezüglich des erzieherischen Resultates relativ 
günstig stellen, d. i. demnach für die 45 % M und M (-j- A)-Fälle an¬ 
zunehmen und eventuell für einen Teil der A -j- M-Fälle. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 407 


Die Untersuchung der Knaben in Weinzierl ergibt: 


Gesamtzahl 46; davon: 

I. Normal. 13 = 28-2% 

II. Mit geringen Abweichungen . . . . 11 = 22*8% 

III. Körperlich krank. 0 = 0 °/ 0 

IV. Psychisch auffällig. 16 = 35’7% 

V. Psychisch abnorm. 6 = 13*2% 


Nach Milieu und Anlage: 

M 19 = 41-3 % 

M(+A) 2= 4-3 % 

M + A 6 = 13-12% 

A(+M) 4= 8-68% 

A 15 = 32-6 % 

Die Anstalt Weinzierl zeigt demnach für diejenigen, die überhaupt 
von der Norm ab weichen, ähnliche Verhältnisse wie die Anstalt Eggenburg 
für Knaben. Die ungünstigen Milieueinflüsse sind hier aber stärker ver¬ 
treten wie in Eggenburg, 45% gegen 32%, was offenbar damit zu- 
sammenhängt, daß mehr Fälle aus prophylaktischen Gründen aufgenommen 
werden. Die M- und M (-[- A)-Fälle werden hier bis auf drei der 
Gruppe IV (psychisch Auffällige) durch Fälle der Gruppe I und II 
vertreten. Von den psychisch Auffälligen gehören 13% zu den A -j- M- 
Fällen, das sind also solche, die bei ungünstiger Anlage durch die 
schlechten Milieu Verhältnisse verkommen sind. 

Schließlich die Untersuchungen beim Pestalozziverein in Wien 

Knaben und Mädchen unter 14 Jahren; Gesamtzahl 106. 


I. Psychisch und physisch gesund ... 15 = 14*1% 

II. Mit geringen Abweichungen .... 34 = 32 % 

III. Psychisch gesund, körperlich krank . 8 = 7*5% 

IV. Psychisch auffällig. 26 = 24-5 % 

V. Psychisch abnorm. 23 = 21*7 % 


Nach Milieu und Anlage: 

M 39 = 36*7 o/ 0 

M(+A) 6= 5-66 % 

A + M 27 = 25-4 o/ 0 
A (+ M) 10 = 9-4 o/ 0 
A 24 = 22-6 o/ 0 

Von diesen 106 Kindern sind 53 so beschaffen, daß nach ihrem 
Vorleben oder nach ihrem Benehmen während der ersten Zeit ihres 
Aufenthaltes im Vereinsheim ohne jede Schwierigkeit die Abgabe in 
eine der früher genannten Anstalten hätte erfolgen können. Diese Kinder 
sind aber meistenteils wegen Mißhandlung durch die Eltern, wegen 
Verarmung, wegen Stuprum, wegen Bettelei, nicht aber wegen krimineller 
Handlungen, in die Vereinspflege gekommen. 

27* 


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408 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

Untersucht nach der früher geübten Methode ergibt sich: Knaben 26, 
Mädchen 27. 

Knaben Mädchen 

I. Physisch und psychisch gesund . . 6 = 11 *2 °/ 0 = 1 und 5 

II. Mit gering. Abweichungen v. d. Norm 14 = 26*4 °/ 0 = 9 „ 5 

UI. Psychisch gesund, physisch krank . . 0 = 0 % = 0 „ 0 


IV, Psychisch auffällig.16 = 30 % = 10 „ 6 

V. Psychisch abnorm.17 = 32 °/ 0 = 6 „ 11 

Nach Milieu und Anlage: 

Knaben Mädchen 

M 7 = 13-6 o/o = 2 und 5 


M(+A) 1= 1*8 % = 0 „ 1 

A + M 23 = 42*6% =16 „ 7 

A(+M) 6 = 11-2%= 2 „ 4 

A 16 = 30 % = 6 „ 10 

Es zeigt sich hiemit, daß unter den Verwahrlosten und Mi߬ 
handelten, die in die Vereinspflege gekommen sind, 46% von der Norm 
abweichen, ein Prozentsatz, der sich stark denen der Anstalten Eggenburg 
für Knaben und Weinzierl nähert. Die Milieuverhältnisse spielen hier 
eine ähnliche Rolle wie in Weinzierl (46*1 % P.-V., 45*3 % W.), eine 
stärkere aber wie in Eggenburg (32 %). Auch hier sind wieder die 
Aufnahmsbedingungen maßgebend. 

Betrachtet man aber die 53 Kinder des Pestalozzivereines, die, 
wie gesagt, eigentlich Material der geschlossenen Erziehungsanstalt sein 
sollten, so findet man gegenüber den anderen Anstalten den besonders 
hohen Prozentsatz (62%) von solchen, die von der Norm abweichen. 
Auffällig ist die Übereinstimmung der prozentuellen Verhältnisse in der 
Gruppierung nach Milieu und Anlage mit denen der Flehinger Anstalt. 
Faßt man die verwandten Gruppen M und M (-j- A), sowie A und A (-(- M) 
zusammen, so zeigt sich M und M (-[- A) Flehingen 18*07 %, P.-V. 15*4 %, 
A und A (-f M) Flehingen 40*9%, P.-V. 41*2 o/ 0 , A + M Flehingen 
40*9 %, P.-V. 42*6 %. Diese Übereinstimmung ist um so bemerkens¬ 
werter, weil sie doch ein von vornherein anscheinend heterogenes Material 
betrifft. Flehingen hat Knaben jenseits des 13. Lebensjahres bis zum 20., 
der Pestalozzi verein Knaben und Mädchen unter 14 Jahren. Die Flehinger 
Knaben haben durch eigene dissoziale Lebensweise ihre Internierung 
verursacht, bei den Pestalozzivereinskindern waren es lediglich andere 
Umstände, die die Behörde veranlaßten, sie den Eltern wegzunehmen. 
Es besteht also nach diesen Ergebnissen kein Unterschied zwischen 
verwahrlosten kriminellen und verwahrlosten mißhandelten Kindern, es 
ist ganz gleichgiltig, ob die Schädigung durch Milieuverhältnisse dadurch 
gegeben wurde, daß man die Kinder verwildern ließ oder dadurch, daß 
man ihnen das Leben möglichst unangenehm machte. Der große Prozent¬ 
satz (62%) von Kindern, die von der psychischen Norm abweichen, 
spricht wohl in erster Linie dafür, daß die Kinder selbst einen großen 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. ,409 

Teil der Schuld in ihrer Anlage mit sich führten. Vergleicht man aber 
damit die starke Beteiligung an A -{- M-Fällen, ein Resultat, das an 
einem fast durchwegs mehrjährig beobachteten Material gewonnen wurde, 
wo also die Veränderung des Milieus tatsächlich Besserung erzielte, so 
müssen sehr viele dieser Fälle mit den vorgenannten zusammenfallen. 
Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß vieles, das wir heute als Anlage 
auffassen müssen, durchaus nicht primäre, krankhafte Veranlagung war, 
daß sie vielmehr erst durch die elenden äußeren Verhältnisse gezeitigt 
wurde, ein Umstand, in dem speziell bei sehr jugendlichen Individuen 
die Möglichkeit eines erzieherischen Erfolges gegeben ist. Ferner zeigt 
noch die Untersuchung der 53 letzten Kinder, daß ein wesentlicher 
Unterschied zwischen Knaben und Mädchen nicht besteht. Die größere 
Notwendigkeit der Internierung bei Knaben muß also letzten Endes 
lediglich auf rein äußere Momente (größere Gewalttätigkeit, Gemein¬ 
gefährlichkeit} zurückzuführen sein. 

Um sich ein Bild über die Chancen der Besserungsmöglichkeiten 
zu machen, ist es vor allem notwendig, sich über die Art der psychischen 
Auffälligkeiten und Abnormitäten klar zu werden. Bei der Lösung dieser 
Frage bin ich bestrebt, durch Erhebung genauer Krankengeschichten mit 
sorgfältigen Anamnesen die Eigenschaften der verwahrlosten kriminellen 
Kinder festzustellen und ziehe daraus die entsprechenden Schlüsse, 
während ich andrerseits trachte, aus dem Material der Erziehungsanstalten 
prozentuell in großen Gruppen verschiedene Arten der psychischen Auf¬ 
fälligkeiten und Abnormitäten zu bestimmen. 

Im Rahmen dieses Vortrages will ich nicht auf die klinischen 
Einzelheiten mich beziehen, vielmehr nur trachten, in groben Zügen die 
Arten der psychisch Abnormen und Auffälligen, wie sie eben unter den 
Verwahrlosten und Kriminellen Vorkommen, zu charakterisieren. 

Auffallend häufig finden sich intellektuell defekte Individuen darunter, 
eine Erscheinung, die ja weiter nichts Befremdendes hat, da man ja 
weiß, daß Schwachsinnige aller Grade sehr häufig zu dissozialer Lebens¬ 
weise neigen und daß die Entartung auf ethischem Gebiete gerade bei 
Schwachsinnigen sehr schwer zu bekämpfen ist. 

Differentialdiagnostisch gegen Schwachsinn kommt gar nicht selten 
die Verwahrlosung als solche in Betracht. Kleinere Kinder, die ver¬ 
prügelt sind, können direkt den Eindruck von Schwachsinnigen hervor- 
rufen; sie sind so scheu und ablehnend, daß sie gar nicht aus sich 
berauszutreten vermögen. Ferner führt das konstante Fernbleiben von 
der Schule, das Herumirren auf den Straßen oft zu einer Verwahrlosung 
des Intellektes, was sich noch viel später als eine Aufmerksamkeitsstörung 
beim Schulunterricht geltend macht. Eine Erscheinung, die man häufig 
bei jugendlichen Prostituierten finden kann, ist ein gewisser Grad von 
vorgetäuschtem Schwachsinn, wovon man sich durch den relativ raschen 
Rückgang der intellektuellen Ausfallserscheinungen überzeugen kann. 
Es ist wohl sicher, daß hiefür hauptsächlich andere Momente in Betracht 
kommen, der unsittliche Lebenswandel mit den starken sexuellen Er- 


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410 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

regungcn, das Nachtwachen, schließlich auch die Aufregungen des Ein¬ 
lieferungsverfahrens und die Internierung selbst. 

Bei den richtigen intellektuellen Defekten werden die Aussichten 
auf soziale Lebensführung vielfach unsicher sein, die spätere Umgebung 
wird stets allzu leicht auf die intellektuell schwach Veranlagten ein wirken, 
wird sie dadurch immer wieder ohne Schwierigkeiten rückfällig machen. 

In dem von mir untersuchten Material drückt sich das Verhältnis 
der intellektuell Defekten folgendermaßen aus: 

Eggenburg, Knaben 50 = 23*8 °/ 0 von 50*6 °/ 0 der nicht Normalen; 

Eggenburg, Mädchen über 14 Jahre 9 = 15’4 °/ 0 von 59 °/ 0 der 
nicht Normalen; 

Eggenburg, Mädchen unter 14 Jahren 12 = 31*7 °/ 0 von 63*2 °/ 0 
der nicht Normalen; 

Weinzierl, Knaben 4 = 8*6 °/ 0 von 48*2 °/ 0 der nicht Normalen; 

Pestalozziverein, Knaben und Mädchen 11 = 10*3 °/ 0 von 46*2 °/ 0 
der nicht Normalen. 

Den stärksten Prozentsatz haben die Mädchen unter 14 Jahren 
in Eggenburg. Die Erklärung dafür ist damit gegeben, daß gerade die 
schwachsinnigen oder halbschwachsinnigen Mädchen der untersten Schichten, 
aus denen eben diese Mädchen stammen, wegen ihres unsympathischen 
Äußeren und ihres unangenehmen Benehmens nicht so leicht jemanden 
finden, der sich ihrer annimmt wie ihre gleichaltrigen Genossinnen, 
wenn diese auch dieselben moralischen Mängel aufzuweisen haben. Bei 
den debilen Knaben spielt die Gewalttätigkeit, die Roheit den Haupt¬ 
grund, weshalb man sich ihrer ehebaldigst zu entledigen sucht. Die 
schwächere Beteiligung der jugendlichen Prostituierten mag mit der 
minderen Befähigung der Debilen für die Prostitution Zusammenhängen. 
Die in Eggenburg befindlichen Mädchen dieser Art sind auch mehr 
Vagantinnen, die gelegentlich zur Prostitution, eventuell zur Kasernen¬ 
prostitution gekommen sind. Eine andere, ärztlich und pädagogisch 
wichtige Gruppe bilden diejenigen, die an Aufregungszuständen irgend¬ 
welcher Art leiden, und die dadurch Anlaß zu häuslichen Konflikten, 
zu disziplinären Schwierigkeiten geben. Es handelt sich hier vielfach 
um Epileptiker, Epileptoide, Hysteriker, Neurastheniker usw. Ihnen 
allen ist gemeinsam, daß sie zeitweise einen durchaus sozialen Lebens¬ 
wandel führen können, daß sie aber gelegentlich aus arten und je nach¬ 
dem zur Gewalttätigkeit, zur Kriminalität, zur Prostitution, zu sexuellen 
Ausschreitungen, Perversitäten u. dgl. neigen. Hier findet sich ein manch¬ 
mal dankbares, immer aber sehr heikles Erziehungsmaterial, das an das 
Taktgefühl ein gewisses KrankheitsVerständnis der Erzieher große Anforde¬ 
rungen stellt. Auch für die Begutachtung bezüglich der Notwendigkeit 
einer Einlieferung stellen diese Fälle für den Begutachter schwierige 
Erwägungen. Im allgemeinen kann man sagen, daß für Neurastheniker 
das Anstaltsmilieu nicht günstig wirkt, daß es auch hier leicht zu Aus¬ 
schreitungen kommt, daß ein vielleicht ursprünglich nicht schlecht Ver¬ 
anlagter unter dem Druck der Anstaltsdisziplin noch unleidlicher, noch 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien 411 


dissozialer wird, als er früher war. Hysterische Mädchen hingegen 
scheinen in den Erziehungsanstalten nicht so schlecht aufgehoben zu 
sein. Die äußerste Seltenheit des hysterischen Anfalles bei Mädchen, die 
nach sicheren anamnestischen Daten früher vielfach daran gelitten haben, 
wäre wohl im Sinne einer günstigen Beeinflussung zu deuten. 

Meine Untersuchungen ergaben: 

Eggenburg, Knaben 15 = 7*3 °/ 0 von 59*6 °/ 0 der nicht Normalen ; 

Eggenburg, Mädchen über 14 Jahre 14 = 23 # 8°/ 0 von 59 °/ 0 der 
nicht Normalen; 

Eggenburg, Mädchen unter 14 Jahren 6 = 16*2 °/ 0 von 63*2 °/ 0 
der nicht Normalen; 

Weinzierl 9 = 19*5 °/ 0 von 48*9 °/ 0 der nicht Normalen; 

Pestalozziverein 19= 17*9 °/ 0 von 46*2 °/ 0 der nicht Normalen. 

Der relativ hohe Prozentsatz von Mädchen über 14 Jahren ent¬ 
spricht der häufigen Hysterie dieses Alters. Die Mädchen geraten in 
Zwist mit ihren Familien, kommen dadurch auf die Straße und zur ver¬ 
botenen Prostitution. Die höheren Prozentsätze in Weinzierl und beim 
Pestalozziverein sind auf die Aufnahmebedingungen zurückzuführen. 

Fällt bei der eben genannten Gruppe das Krankhafte des Be¬ 
nehmens auch dem Laien auf, so haben die, die jetzt besprochen werden, 
für Laien selten, aber auch oft nicht für den ärztlichen Untersucher 
den äußeren Anstrich der Psychopathen. Trotzdem möchte ich gerade 
diesen Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit schenken. Es sind 
Menschen, die immer gut gelaunt sind, immer bereit sind, einen Witz 
machen zu wollen, mit jedem Fremden, ob hoch oder niedrig, zu fraterni¬ 
sieren, niemanden ungeschoren zu lassen, alles, was ihnen nicht gleich zu 
Gefallen ist, zu verhöhnen, böse Streiche zu verüben usw. Als Kameraden 
hochgeschätzt, werden sie keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ge¬ 
fällig zu sein und, wenn es gerade ist, wird bei jeder unsauberen Hand¬ 
lung ohneweiters mitgetan. Das Ganze ist also charakterisiert als ein 
besonderer Leichtsinn, eine flotte Lebensauffassung, die mit einer heiteren 
Grundstimmung zusammenhängt. Diese Stimmung ist äußerst konstant; 
sie ist in der Schule vorhanden und führt dort zu den ersten Reibungen; 
sie dauert aber auch während jeder Internierung an; die Anstalten 
bleiben so gut wie wirkungslos. Periodische Schwankungen sind sehr selten 
und, wenn vorhanden, sehr undeutlich. 

Die Gefahr dieser Stimmungsabnormität liegt in dem leichten 
Entgleisen, in der Neigung zur Kriminalität; bei Mädchen führt die 
allgemeine Heiterkeit und Liebenswürdigkeit, sehr leicht zum unsittlichen 
Lebenswandel. Nach meinen Erfahrungen werden die meisten dieser 
Kinder nicht vor dem achten Jahre auffällig; es ist möglich, daß bis 
dorthin in ihrem Benehmen gar nichts Besonderes bemerkt wurde, daß 
die ersten Schuljahre klaglos verlaufen sind. Dann erfolgt ein rasches 
Ansteigen und beiläufig um das zehnte Jahr bei Knaben, etwas später bei 
Mädchen, findet die Umgebung, daß es jetzt einfach nicht mehr „zum 
Aushalten“ sei. Die Zukunft dieser Kinder ist bis zu einem gewissen Grade 


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412 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


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von ihrer Stimmung diktiert. Sie wenden sich am liebsten Berufen zu. 
bei denen ein regerer Verkehr mit vielen Menschen möglich ist (Gast- 
und Schankgewerbe), in etwas höheren Sphären der Bühnenlaufbahn, 
auch wenn kein Talent dazu vorhanden ist. 

Die erzieherischen Erfolge in den Anstalten sind relativ gering. 
Die Gefahr der Rückfälligkeit ist nicht geschwunden. Man hat haupt¬ 
sächlich dahin zu wirken, daß durch die handwerksmäßige Erlernung 
eines Berufes eine feste Basis geschaffen wird, hat aber der besonder» 
ausgeprägten Geschmacksrichtung dieser Kinder Rechnung zu tragen, 
weil man sonst auf unüberwindlichen Widerspruch stößt. 

In den Anstalten finden sich Fälle von abnormer Stimmung unter 
meinen Untersuchten: 

Eggenburg, Knaben 22 = 10*4 °/ 0 von 50*6 °/o der nicht Normalen ; 

Eggenburg, Mädchen über 14 Jahre 11 = 18*6 °/ 0 von 59°/ 0 der 
nicht Normalen; 

Eggenburg, Mädchen unter 14 Jahren 3 = 8*1 °/ 0 von 63°/o ^ er 
nicht Normalen; 

Weinzierl 4 = 8*8 °/o von 48*9 °/ 0 der nicht Normalen; 

Pestalozziverein 12 = 10*3 °/ 0 von 46*2 °J Q der nicht Normalen. 

Hat man in den bis jetzt mitgeteilten Fällen die dissoziale Lebens¬ 
weise, die Kriminalität auf eine besondere psychische Eigenart zurück¬ 
führen können, in den Kindern hilfsbedürftige Schwachsinnige oder 
seelisch Kranke gesehen, denen man nie recht die Sympathien versagen* 
konnte, so finden sich allerdings relativ seiten noch Wesen, die in ihrem 
moralischen Leben, in ihrer Gesinnung Züge verraten, die kaum mehr 
etwas Menschliches aufzuweisen haben. Nach denen, die ich bisher 
gesehen habe (18 Fälle), sind es meist kleine, immer aber sehr kräftige 
Individuen mit starkem Knochenbau, besonders gut entwickeltem Gebiß 
von fast stählerner Muskulatur. Sexuell sind sie entweder unterentwickelt 
oder wenigstens ziemlich inaktiv. Intellektuell sind diese Individuen als 
normal aufzufassen. Sie können alles mögliche erlernen, bringen aber in der 
Schule und in der Lehre so viel Widerstand entgegen, daß sie durch ihre 
Unwissenheit oft genug als intellektuell minderwertig angesehen werden. 
Erzieherisch läßt sich nichts anderes als eine gewisse Dressur zur Arbeit 
erzielen, wodurch einige auch tatsächlich ganz tüchtige Arbeiter werden. 

Aus allem dem ist zu ersehen, daß die Anstalten bei allen Fällen, 
die von der Norm abweichen, vor außerordentlich schwierigen, teilweise 
auch recht undankbaren Aufgaben stehen. Die vielen Mißerfolge sind 
zweifellos auf dieses Konto zu setzen. 

Die Wichtigkeit der psychiatrischen Beratung dieser Anstalten liegt 
darin, daß einmal festgestellt wird, wo Erfolge überhaupt zu gewärtigen 
sind, daß man danach die Gruppierung vornehmen kann, und schließlich 
wird die psychiatrische Beratung auch oft genug für die Fälle in An¬ 
spruch genommen werden, in denen das unleidliche Benehmen das 
Symptom einer krankhaften nervösen Veranlagung ist. 


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Mtgliederverzeichnis 

des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

Stand im Mai 1913. 

Ehrenmitglieder: 

Erb Wilhelm, Exz., Wirkl. Geheimer Rat und Professor, Heidelberg. 
Golgi Camillo, Professor, Pavia. 

Gowers William Richard, Sir, Professor, London, Queen Anne Street. 
Horsley Viktor, Sir, Professor, London, Cavendish Square 25. 
Kraepelin Emil, Professor, München. 

Magnan Valentin, Professor, 1 rue Cabanis, Paris. 

Marie Pierre, Professor, Paris, 209 Boulevard St. Germain. 

Ramon y Cajal S., Professor, Madrid. 

Retzius Gustav, Professor, Stockholm. 

Schäle Heinrich, Geh. Rat, Illenau bei Achern. 

Starr Allen, Professor, New-York, 5. West, 54. Str. 

Tamburini August, Professor, Rom. 

Korrespondierende Mitglieder: 

Alt Konrad, Professor, Uechtspringe. 

Aschaffenburg, Professor, Köln. 

Bleuler E., Professor, Zürich, Burghölzli. 

Borgherini Alexander, Professor, Padua. 

Br es ler Joh., Oberarzt, Lueben, Schlesien. 

Bruns, Professor, Hannover, Lavesstraße 6. 

Der cum, Professor, Philadelphia. 

van Deventer J., Inspektor, Amsterdam. 

Dubief, Exzell., Paris. 

E ding er Ludwig, Professor, Frankfurt a. M. 

Ferrari Giulio Cesare, Privatdozent, Imola. 

Förster Otfried, Professor, Breslau, Tiergartenstraße 83. 

Frank Ludwig, Direktor, Zürich. 

Henschen Salomon, Professor, Stockholm. 

Högel Hugo, k. k. General-Prokurator, Wien. 

Lähr Max, Haus „Schönow“, Zehlendorf bei Berlin. 

Liepmann Hugo, Professor, Berlin. 


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414 


Mitgliederverzeichnis. 


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Löffler Alexander, Professor der jurid. Fakultät, Wien XVIII, Gentz- 
gasse 38. 

Marie A., Direktor, Villejuif. 

Mayer Adolf, Professor, Baltimore. 

Mingazzini G., Professor, Rom. 

Moeii Karl, Geh. Rat, Professor, Herzberge. 

Monakow C. v., Professor, Zürich. 

Ne iss er Klemens, Direktor der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in 
Bunzlau, Preuß. Schlesien. 

Nonne Max, Hamburg, N. Jungfernstieg 23. 

O’Farrel George, Sir, M. D., Dublin. 

Oppenheim H., Professor, Berlin, Königin Augustenstr. 28. 

Saenger Alf., Hamburg, Alsterglacis 11. 

Schultze Fritz, Geh. Rat, Professor, Bonn. 

Smith Percy, London. 

Sommer R., Geheimrat, Professor, Gießen. 

Spill er William, Professor, Philadelphia. 

Türkei Siegfried, Hof- und Gerichtsadvokat, Wien VII, Stiftgasse 1. 
Ziehen Theodor, Geheimrat, Professor, Wiesbaden. 

Ordentliche Mitglieder: 

Albrecht Othmar, k. u. k. Regimentsarzt, Graz. 

Alexa nder Gustav, Professor, Wien I, Rathausstraße 11. 

All ers Rudolf, München, psych. Klinik. 

Altmann Siegfried, Badearzt in Gastein (Wien VIII, Florianig. 54). 
An ge rer Franz, Inhaber der Privatheilanstalt „Svetlin“, Wien III, 
Leonhardgasse 3/5. 

Anton Gabriel, Geh. Med. Rat, Professor, Halle a. d. S. 
Aufschnait er Otto v., Wien III, Starhemberggasse 6. 

Bamberger Eugen, Primararzt, Wien I, Lichtenfelsgasse 1. 

Baräny Robert, Privatdozent, Wien IX, Mariannengasse 5. 

Bartel t Robert, k. k. Stabsarzt, Wien VII, Schottenfeldgasse 77. 
Bauer Julius, Univ.-Assist., Wien VIII, Florianigasse 43. 

Bayer Karl, Regierungsrat, Primararzt, Sarajewo. 

Bechtali Milan, k. k. Regimentsarzt, Agram, Garnisonspital. 

Beck Rudolf, Wien III, Starhemberggasse 4. 

Berger Olga Renata, gew. Sek.-Arztin, Wien III, Reisnerstraße 17. 
Berze Josef, Privatdozent, Direktor, Klosterneuburg. 

Biach Paul, klin. Assistent, Wien I, Schottengasse 10. 

Biedl Artur, Professor, Wien XIX, Pyrkergasse 29. 

Bischoff Ernst, Privatdozent, Gerichtsarzt, Wien I, Reichsratstr. 15. 
Böck Emst, Sanitätsrat, Direktor der schlesischen Landesirrenanstalt 
in Troppau. 

Bon di Max, Augenarzt, Iglau. 

Bonvicini Giuglio, Privatdozent, Medizinalrat, Sanatorium Tulln. 


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Mitgliederverzeichnis. 


415 


Braun Ludwig I, Professor und Primararzt, Wien IX, Liechtenstein* 
Straße 4. 

Braun Ludwig II, Chefarzt, Tümitz, Niederösterreich, Sanatorium. 
Bresslauer Hermann, Wien I, Kaiser Wilhelmsring 18. 

Breuer Josef, korr. Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Wien 
VII, Neustifigasse 1. 

Bucura Konstantin, Privatdozent, Wien I, Museumstraße 8. 
Burkhart Josef, Primararzt, Wien XIII/12, Steinhof. 

Oanestrini Luigi, Primararzt, Triest. 

Catti Georg, Primararzt, Fiume. 

Ohvostek Franz, Professor, Wien IX, Garnisongasse 1. 

Coelho Antonio, Oporto, Portugal. 

Danadschieff Stephan, Primararzt im Alexanderspital, Sophia. 
Deiaco Pius, Direktor der Irrenanstalt Pergine. 

Deutsch Felix, Assistent am Wiedener Krankenhaus, Wien IV. 
Dimitz Ludwig, klin. Assistent, Wien IX, Lazarethg. 14. 

Dimmer Friedrich, Professor, Wien I, Reichsratstraüe 15. 

Divjak Stephan, ord. Arzt, Studenec bei Laibach, Post Sallocka. 
Dobrschansky Max, Wien XIII, Steinhof. 

Donath Julius, Privatdozent und Primararzt, Wien I, Landesgerichts- 
straße 18. 

Drastich Bruno, k. u. k. Oberstabsarzt, Wien VIII, Lederergasse 22. 

Economo Konstantin Frh. v., Privatdozent, Univ.-Assistent, Wien I, 
Rathausstraße 13. 

Eisath Georg, Sekundararzt der Irrenanstalt Hall i. Tirol. 
Eiseisberg, Frhr. v., Hofrat, Professor, Wien I, Mölkerbastei 5. 
Eisenschitz Emil, praktischer Arzt, Wien VIII, Piaristengasse 18. 
Elzholz Adolf, Privatdozent, Landesgerichtsarzt, Wien IX, Alserstr. 20. 
Engländer Martin, Wien VI, Mariahiiferstraße 74a. 

Eppinger Hans, Privatdozent u. klin. Assistent, Wien VIII, Alserstr. 43. 
Epstein Julius, Wien VIII, Zeltgasse 3. 

Erben Siegmund, Professor, Wien I, Teinfaltstraße 7. 

Fabritius Harris, Helsingfors (Finnland). 

Falta Wilhelm, Professor, Wien IX, Waisenhausgasse 8. 

Federn Paul, praktischer Arzt, Wien I, Riemerstraße 1. 

Federn S., Wien IX, Lakierergasse 1. 

Feiler Karl, Besitzer der Kuranstalt Judendorf bei Graz. 

Fellner L., kais. Rat, Franzensbad, Winter Wien I, Hotel Metropole. 
Feri Karl, Wien IX, Hörigasse 12. 

Fertl Augustin, k. u. k. Regimentsarzt, Mödling, techn. Akademie. 
Fischer Oskar, Privatdozent, Klinik Pick, Prag. 

Flesch Julius, Wien II, Untere Augartenstraße 13. 

Fodor Julius, Medizinalrat, leitender Arzt der Wasserheilanstalt im 
Zentralbad, Wien I, Schulerstraße 22. 


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416 


Mitgliederverzeielinis. 


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Formanek Franz, prakt. Arzt, Wien III, Hauptstraße 39 # 
Frankl-Hochwart Lothar v., Professor, Wien IX, Schwarzspanier - 
Straße 15. 

Freud Josef, Wien IX, Gamisonsgasse 20. 

Freud Siegmund, Professor, Wien IX, Berggasse 19. 

Freund Emst, Wien VII, Hofstallstraße 5. 

Frey Hugo, Privatdozent, Wien I, Maria Theresienstraße 3. 
Friedmann Hermann, Wien I, Karlsplatz 1. 

Friedmann Theodor, kais. Rat, Direktor der Privatheilanstalt Gainfarn. 
Fries Edgar, Direktor des Sanatoriums in Inzersdorf bei Wien. 

Fries Egon, klin. Assistent, Gerichtsarzt, Wien IX, Lazarethgasse 14. 
Frisch Felix, Wien I, Rotenturmstraße 7, im Sommer Porto Rose. 
Frisch Otto v., Primär u. Dozent, Wien VIII, Josefstädterstraße 17. 
Frischauf Hermann, klin. Assistent, Wien IX, Lazarethgasse 14. 
Fuchs Alfred, Professor, klin. Assistent, Wien IX, Gamisongasse 10. 
Fuchs Emst, Hofrat, Professor, Wien VIII, Skodagasse 16. 

Fuchs Richard, Distriktsarzt, Bleistadt, Bezirk Falkenau, Böhmen. 

Gellis Siegfried, Wien IX, Kolingasse 4. 

Glaser Otto, Regimentsarzt, Wien, Gamisonsspital Nr. 1. 

Goldstern S., Wien IX, Lazarethgasse 20. 

Göstl Franz, Irrenanstalt Görz. 

Groag Paul, Wien IX, Schwarzspanierstraße 11. 

Groß Karl, Assistent und Gerichtsarzt, Wien IX, Lazarethgasse 14. 
Großmann Michael, Professor, Wien IX, Gamisongasse 10. 

Gusina Eugenio, Irrenanstalt, Triest. 

Hab erd a Albin, Professor, Gerichtsarzt, Wien XIX, Cottagegasse 39. 
Hab er er Hans v., Professor, Innsbruck. 

Halb an Heinrich v., Professor, Lemberg. 

Halla Ludwig, prakt. Arzt, Wien I, Gonzagagasse 17. 
Hammerschlag Albert, Privatdozent, Wien I, Universitätsstraße 11. 
Hanke Viktor, Privatdozent, Primarius, Wien IX, Schwarzspanier- 
straße 15. 

Hartmann Fritz, Professor, Graz II, Karmeliterplatz 6. 

Haskovec Ladislaus, Professor, Prag, Ferdinandsstraße 24. 
Hatschek Rudolf, Sanitätsrat, Gräfenberg. 

Hellich Bohuslaw, Privatdozent, Primararzt, Wopran bei Tabor. 
Herz Albert, Privatdozent, Wien IX, Ferstelgasse 6. 

Hess Leo, klin. Assistent, Wien VIII, Josefstädterstraße 71. 
Heveroch Anton, Professor, Prag I, 251. 

Hi ft Robert, Wien XVIII, Währinger Gürtel 97. 

Hirsch Oskar, Wien IX, Währingerstraße 3. 

Hirsclil A. J., Professor, klin. Assist. Wien IX, Schwarzspanierstr. 15. 
Hitschmann Eduard, prakt. Arzt, Wien I, Rotenturmstraße 29. 
Hitschmann Richard, Augenarzt, Wien I, Graben 12. 

Hoevel Hermann, Gerichtsarzt, Wien VIII, Lerchenfelderstr. 28. 


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Mitgiiederverzeichnis. 


417 


Hofbauer Ludwig, prakt. Arzt, Wien IX, Alserstraße 6. 

Hoff mann Franz, Wien XIII, Hietzingerstraße 69. 

Holländer Alexander, Privatdozent, Wien I, Rathausstraße 20. 
Holzknecht Guido, Privatdozent, Wien I, Liebiggasse 4. 

Hueber Gottfried, Wien XVIII, Ferrogasse 3. 

Hüll es Eduard, Wien VII, Mariahilferstraße 58. 

Infeld Moritz, Primarius, Wien IX, Lazarethgasse 11. 

«J agie Nikolaus v., Privatdozent, k. k. Primararzt, Wien VIII, Schlössel- 
gasse 22. 

Jan eben Emil, k. u. k. Oberstabsarzt, Wien III, Streicherg. 3. 
Joachim Julius, Wien XVIII r Cottage-Sanatorium. 

Joannovicz Georg, Professor, Univ.-Assist., Wien IX, Kinderspital¬ 
gasse 15. 

]£aan Hans, Bezirks- und Gerichtsarzt, Mähr. Ostrau. 

Kaan-Albest Norbert v., Sanitätsrat, Meran. 

Kalmus Ernst, k. k. Landesgerichts- und Polizeiarzt, Prag II, 
Stephansgasse 27. 

Kar plus Paul, Professor, Univ.-Assist., Wien I, Oppolzergasse 6. 
Kattinger Otto, Gräfenberg. 

Kautzner Karl, Gerichtsarzt, Graz, Radetzkystraße 9/1. 
Kellermann Max, Hausarzt der n. ö. Landessiechenanstalt, St. Andrä- 
Wördern. 

Kneidl Cyrill, Primararzt in Kosmanos, Böhmen. 

Knöpflmacher Wilhelm, Professor, Wien IX, Günthergasse 3. 
Kobylansky, Primararzt, Irrenanstalt in Czemowitz, Bukowina. 
Koetschet Theophil, Primararzt, Sarajewo. 

Kobn Alfred, Sanatorium Inzersdorf bei Wien. 

Ko körn Maxim., Wien VII, Neubaugasse 33. 

Kolben Siegfried, k. k. Polizeiarzt, Wien XIX, Döblinger Haupt¬ 
straße 71. 

Konrad Eugen, Irrenanstalt Lipötmezö, Budapest. 

Kornfeld Siegmund, Wien IX, Alserstraße 8. 

Koväcs Friedrich, Professor, Primararzt, Wien I, Spiegelgasse 3. 
Krueg Julius, Mediz. Rat, Primararzt, Wien XIX, Billrothstraße 69. 
Krumholz Siegmund, Chicago, 111. U. S. A., c/o L. I., Delson Fort 
Wearborn Building. 

Kuraicza Bozo, Primararzt der Irrenanstalt in Scbenico. 

Kure Shuzo, Professor, Tokio. 

Lang Artur, Primär, Agram, Berggasse 2. 

Langer Josef, k. u. k. Regimentsarzt, Garnisonsspital Olrnütz. 

Lanzer Oskar, Medizinalrat, Wien VII, Westbahnstraße 20. 

Latz ko Wilhelm, Professor, Primararzt, Wien VI, Getreidemarkt 1. 
La über Hans, Privatdozent, Wien IX, Währingerstraße 24. 


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418 


Mitgliederverzeichnis. 


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Lazar Erwin, Abteilungsleiter, Wien I, Freyung 6. 

Leidler Rudolf, Wien IX, Waisenhausgasse 11. 

Leischner Hugo, Primararzt, Brünn. 

Lenz Otto, prakt. Arzt, Brioni, Istrien. 

Levi Ettore, Professor, Florenz, Piazza Savonarola 9. 

Linert Kurt, Wien VI, Mariahilferstraße 49. 

Linsmayer Ludwig, Direktor des städt. Jubiläums-Spitals, Wien XIII. 
Löwy Robert, Univ.-Assist., Wien II, Krafftgasse 6. 

Mann Artur, k. u. k. Regimentsarzt, Krakau, Gamisonsspital 15. 
Mannaberg Julius, Professor, Wien I, Luegerplatz 8. 

Marburg Otto, Professor, Univ.-Assist., WienIX, Ferstelgasse 6. 
Mattauschek Emil, k. u. k. Stabsarzt, Privatdozent, Wien VIII r 
Florianig. 16. 

Mayr Emil, k. k. Sanitätskonzipist, Radkersburg i. Steiermark. 

Mayer Hermann, k. u. k. Regimentsarzt, Wien IX, Hebragasse 1. 
Mayer Karl, Professor, Innsbruck, Kaiser Josefstraße 5. 

Michel Rudolf, k. u. k. Stabsarzt, Agram, Garnisonsspital. 

Müller Leopold, Privatdozent, Wien VI, Mariahilferstraße 1 b. 
Miyake Koichi, Professor, Tokio. 

Nep all eck Richard, Wien IX, Lazarethgasse 16. 

Neuburger Max, Professor, Wien VI, Kasernengasse 4. 

Neumann Friedrich, Wien, Kaltenleutgeben. 

Neumann Heinrich, Privatdozent, Wien VIII, Schlösselgasse 28. 
Neurath Rudolf, Privatdozent, Wien VIII, Langegasse 70. 

No 6 v. Nordberg Karl, Wien III, Leonhardgasse 3. 

Noorden Karl v., Professor, Hofrat, Frankfurt a. M. 

Nuß bäum Julius, Wien IX, Berggasse 17. 

Obe rmayer Friedrich, Professor, Primararzt, Wien I, Bartenstein¬ 
straße 3. . 

Obersteiner Heinrich, Hofrat, Professor, Wien XIX, Billrothstr. 69. 
Off er Josef, Sanitätsrat, Direktor der Landesirrenanstalt Hall, Tirol. 
Olbert D., Wien IX, Lazarethgasse 20, im Sommer Marienbad, Schwe¬ 
discher Hof. 

Orzechowski Kasimir v., Privatdozent, Primarius, Lemberg, Kra- 
szewskiego 15. 

Ortner Norbert, Hofrat, Wien I, Reichsratsstraße 11. 

Pal Jakob, Professor, Regierungsrat, Wien I, Rathausstraße 5. 
Pappenheim Martin, Gerichtsarzt, Wien VIII, Lederergasse 22. 
Pfungen Robert Frhr. v., Privatdozent, Primararzt, Wien VIII, 
Kochgasse 25. 

Pick Arnold, Hofrat, Professor, Prag, Jungmannstr. 26. 

Pilcz Alexander, Professor, Wien VIII, Alserstraße 43. 


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Mitglieder Verzeichnis. 


41» 


Piltz Jan, Professor, Krakau, Karmelicza. 

Pineies Friedrich, Professor, Wien I, Liebiggasse 4. 

Pirquet Clemens, Frh. v., Professor, Wien VIII, Alserstraße 21. 
Pötzl Otto, Privatdozent, klin. Assistent, Wien IX, Lazarethgasse 14. 
Pojlak Josef, Professor, Wien I, Kärntnerstraße 39. 

Pokorny Mauritius, Lainz, Jagdschloßgasse 25. 

Pospischill Otto, Direktor, Hartenstein bei Krems, Post Eis. 

Raimann Emil, Professor, Gerichtsarzt, Wien VIII, Kochgasse 29. 
Ranzi Egon, Professor, Univ.-Assist. Wien IX, Mariannengasse 2. 
Raschofsky Wilhelm, k.u. k. Oberstabsarzt, Wien III, Garnisonsspital2. 
Redlich August, Wien IX, Spitalgasse 21. 

Redlich Emil, Professor, Wien VIII, Schlösselgasse 15. 

Reich Zdislav, Univ.-Assist., Wien IX, Lackierergasse 1 c. 

Reichel Oskar, Wien XIX, Chimanigasse 11. 

Reitter Karl, Privatdozent, Primararzt, Wien XIII, Eitelbergergasse 7. 
Reuter Fritz, Professor, Wien XIII, Neue Welt 19. 

Richter August, Purkersdorf, Sanatorium. 

Richter Karl, Primararzt, Wien XIII, Steinhof. 

Rosenthal Robert, Wien XIII, Seutterg. 6. 

Rossi Italo, Mailand, Via Gioberti 2. 

Rothberger Julius, Professor, klin. Assist., Wien I, Augustinerstraße 8. 
Rothfeld Jakob, Lemberg, Hausnergasse 9. 

Rudinger Karl, Wien IX, Lackierergasse 1. 

Sachs Moritz, Professor, Wien VIII, Friedrich Schmidplatz 7. 
Salomon Hugo, Professor, klin. Assist., Wien VIII, Langegasse 70. 
Sand Ren4, Professor, Brüssel, Rue des Minimes 45. 

Schacherl Max, klin. Assist., Wien I, Wollzeile 18. 

Scheimpflug Max, Direktor des Sanatoriums in der Vorderbrühl. 
Sch in dl Rudolf, k. k. Regimentsarzt, Wien VIII, Laudongasse 54. 
Schlagenhaufer Friedrich, Professor, Wien VII, Kaiserstraße 41. 
Schlechta Karl, k. u. k. Regimentsarzt, Prag II, Tuchmacherg. 9. 
Schlesinger Hermann, Professor, Primararzt, Wien I, Ebendorfer- 
straße 10. 

Schlesinger Wilhelm, Privatdozent, Wien II, Hohenstaufengasse 2. 
Schlöß Heinrich, Regierungsrat, Direktor, Wien XIII, Steinhof. 
Schmelz Jakob, Wien I, Lobkowitzplatz 1. 

Schnabl Josef, Wien I, Rosenbursengasse 8. 

Schnopfhagen Franz, Sanitätsrat, Direktor, Irrenanstalt in Nieder- 
hard bei Linz. 

Schubert Konstantin, Direktor der mährischen Landesirrenanstalt in 
Sternberg, Mähren. 

Schüller Artuir, Privatdozent, Wien IX, Garnisongassc 7. 

Schultze Ernst, Professor, Göttingen. 


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y: & w 


Mitgliederverzeichnis. 


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420 

ehur Heinrich, Privatdozent und Primär., Wien I, Landesgerichtsstr. 18. 
chwarz Emil, Professor, Wien VIII, Wickenburggasse 14. 
chweighofer Josef, Regierungsrat, Direktor, Irrenanstalt Maxglan 
bei Salzburg. 

chweinburg Ludwig, Besitzer der Wasserheilanstalt Zuckmantel. 

Wien IX, Widerhofergasse 3. 
ei 11 er Rudolf, Frhr. v., Wien I, Schottenhof. 
er ko Alfied, klin. Assistent, Wien IX, Lazarethgasse 14. 

Sgardelli Alfred v., Sanatorium, Purkersdorf. 

Sickinger Franz, Primarius, Wien XIII, Steinhof. 

Singer Gustav, Professor, Primararzt, Wien I, Lothringerstraße 6. 
Sittig Otto, klin. Assistent, Prag, psych. Klinik. 

Sölder Friedrich v., Direktor, Privatdozent, Wien XIII, Rosenhügel. 
Spieler Friedrich, WienIX, Schwarzspanierstraße 4. 

Spitzer Alexander, Wien IX, Zimmermanngasse 1. 

Stärlinger Josef, Regierungsrat, Direktor der n. ö. Landesirrenanstalt 
Mauer-Ohling. 

Stein Ludwig, kais. Rat, Direktor der Privatheilanstalt in Purkersdorf 
bei Wien. 

Steiner Gregor, Ordinarius, Wien XIII, Steinhof. 

Stern Hugo, Spezialist für Sprachstörungen, Wien VIII, Langegasse 63. 
Stern Richard, Privatdozent, Wien IX, Frankgasse 4. 

Sternberg Max, Professor, Wien I, Maximilianstraße 9. 

Sterz Heinrich, Regierungsrat, Direktor der Landesirrenanstalt Feldhof 
bei Graz. 

Stejskal Karl v., Professor, Wien VIII, Wickenburggasse 5. 

Stichel Anton, Direktor des Sanatoriums Maria Grün bei Graz. 

Stiefler Georg, Linz, Promenade 15. 

Stranöky Erwin, Privatdozent, Gerichtsarzt, Wien VIII, Mölkergasse 3. 
Stransky Ludwig, Primararzt der Landesirrenanstalt in Prag. 

Straß er Alois, Professor, Wien IX, Wiederhofergasse 4. 

Sträußler Ernst, Privatdozent, k. u. k. Stabsarzt, Prag, Garnisons¬ 
spital. 

Subotic Wojeslaw, Direktor der Staatsirrenanstalt, Belgrad. 

Svctlin Wilhelm, Regierungsrat, Wien I, Kärntnerring 17. 

Tandler Julius, Professor, Wien IX, Beethovengasse 8. 
Tarasewitsch Johann, Nervenarzt, Moskau. 

Ted es ko Fritz, Wien VIII, Skodagasse 17. 

Ten Cate, Professor, Rotterdam, Eendrachtsweg 65. 

Tertsch Rudolf, Wien VI, Mariahilferstraße 31. 

Trojacek Hugo, k. u. k. Regimentsarzt, Lemberg, Garnisonsspital. 

Ul bricli Hermann, Privatdozent, Wien VII, Mariahilferstraße 8. 
Ullrich Karl, Direktor der böhmischen Landesirrenanstalt in Kosmanos, 
Böhmen. 


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Mitgliederverzeichnis. 


421 


Valek Friedrich, k. u. k. Regimentsarzt, Budapest. 

Volk-Friedland Elsa, Wien VIII, Langegasse 63. 

Vlavianos Simonides GL, Professor, Athen, Ruo de Stade 45. 

w agner-Jauregg Julius v., Hofrat, Professor, Wien 1, Landes¬ 
gerichtsstraße 18. 

Wechsberg Friedrich, Privatdozent, Primararzt, Wien I, Universitäts¬ 
straße 11. 

eidenfeld Stephan, Professor, Wien IX, Alserstraße 21. 
eiler Karl, Wien IV, Waaggasse 8. 

einberger Max, Primararzt, Privatdozent, Wien IV, Madergasse 1. 
einfeld Emil, prakt. Arzt, Wien VIII, Lerchenfelderstraße 75. 
eiß Artur, Klosterneuburg, Weinberggasse 2 a. 
eiß Heinrich, prakt. Arzt, Wien IX, Liechtensteinstraße 25. 
eiß Josef, Inhaber der Privatheilanstalt Prießnitztal in Mödling bei 
Wien. 

eiß Siegfried, Regierungsrat, Neulengbach, Klosterneuburg, 
eiß Samuel, Frohnleiten bei Gl-raz, (Winter: IX Schwarzspanierstraße 9). 
engraf Johann, k. k. Polizeiarzt, Wien XIII, Lainzerstraße 31. 
idakowich Viktor, Buenos Aires, 
iesel Josef, Privatdozent, Wien VIII, Florianigasse 4. 
iener Otto, Prag, Tuchmachergasse 3. 

interberg Heinrich, Privatdozent, Wien III, Gärtnergasse 17. 
interberg Josef, prakt. Arzt, Wien VIII, Lenaugasse 1. 
internitz Alfred, Besitzer der Wasserheilanstalt Kaltenbach-Ischl, 
Wien IX, Müllnergasse 3. 

internitz Wilhelm, Hofrat, Professor, Wien IV, Gußliausstraße 14. 
intersteiner Hugo, Professor, Wien I, Spiegelgasse 8. 
oltär Oskar, Aussig a. E., Böhmen, 
osinski, Direktor in Balf bei Odenburg. 

Zapp er t Julius, Privatdozent, Wien I, Skodagasse 19. 

Zeissl Maximilian v., Professor, Wien I, Opernring 6. 

Zini Josef, k. u. k. Regimentsarzt, Innsbruck, Garnisonsspital. 
Zulavski Karl, Professor, Primararzt an der Landesirrenanstalt in 
Krakau. 


Jahrbücher für Psychiatrie. XXXTV. Bd. 


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Hohe Mark im Tannas bei Frankfurt a. M. 

I. Klinik für innere und nervöse Kranke. 

II. Heit> und Pflegeanstalt für Kranksinnige. 

Beide Anstalten sind vollkommen von einander getrennt. 
Die Hohe Mark liogt in ruhiger Waldesgegend, 360 m hoch. 

Drei Ärzte. 

Besitzer und leitender Arzt: ProfeSSOP DP. Friedländer. 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. 

Soeben erschien: 

Klinik der Nervenkrankheiten. 

Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende. 

Mit Vorwort von Professor G. Klemperer 

von Dr. Leo Jacobsohn. 

1913. gr. 8. Mit 367 Textfiguren und 4 Tafeln in Farbendruck. 
Preis: 19 M., gebunden 21 M. 


Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien. 


ARBEITEN 

aus dem 

NEUROLOGISCHEN INSTITUTE 

(k. k. österreichisches interakademisches Zentralinstitut für Hirnforschung) 

an der Wiener Universität. 

Unter Mitwirkung von Prof. Dr. 0. Marburg herausgegeben von 

Prof ÜDr. H. Obersteiner. 

Lotzterschienenes Heft: 

XX. Band, 2. u. 3. Heft 1913. Mit 66 Abbildungen i. Text. Preis M 25’— = K 30’— 

Zur Erleichterung der Anschaffung gibt die Verlagsbuchhandlung Band I—X 
dieser Arbeiten bei gleichzeitigem Bezüge statt für M 175'— = K 210‘— 

zum ermäßigten Preise von M 135*— = K 162 — , Band I—XVI bei gleich¬ 
zeitigem Bezüge statt für M 325 — = K 390— zum ermäßigten Preise von 

M 250 — — K 300 — ab. 


Einführung in das Studium der Nervenkrankheiten 

für Studierende und Ärzte. 

Von Priv.-Doz. Dr. Alfred Fuchs, 

Assistent der k. k. Klinik für Psychiatrie und Nervenkrankheiten in Wien. 

Mit 69 Abbildungen im Text und 9 Tafeln in Lichtdruck. 

Preis geh. M 9*— — K 10-80, geb. M 10*50 == K 12*60. 


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Verlag von Franz Deutieke Leipzig und Wien. 
Mikroskopisch-topographischer Atlas 

des menschlichen Zentralnervensystems 

mit begleitendem Texte 

von Dr. Otto Marburg, 

Privatdozenten für Neurologie und erstem Assistenten am Neurologischen Institut 

der Wiener Universität. 

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. H. Obersteiner. 

Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. 

Mit 5 Abbild, im Texte und 34 Taf. nach Originalen des akad. Malers A. Kiss. 

Preis M 14 — = K 16*80. 


Anleitung beim Studium des Baues der nervösen 
Zentralorgane im gesunden und kranken Zustande. 

Vou Dr. Heinrich Obersteiner, 

k. k. o. ö. Professor, Vorstand des Neurologischen Institutes an der Universität zu Wien. 

Fünfte, vermehrte und umgearbeitete Auflage. — Mit 267 Abbildungen. 
Preis M 22*— = K 26 —, geb. M 24*50 = K 29*—. 

Lehrbuch der speziellen Psychiatrie 

für Studierende und Ärzte. 

Von Professor Dr. Alexander Pilcz. 

Dritte, verbesserte Auflage. 

Preis geh. M 7 50 = K 9 — geb. M 8 80 = K 10 40. 

Die hysterischen Geistesstörungen. 

Eine klinische Studie 

von Dr. Emil Raimann, 

Assistent der k. k. Psychiatrischen- und Nervenklinik des Herrn Professor v. Wagner 

in Wien. 

Preis M 9‘— = K 10 80. 

Beiträge zur Ätiologie und Pathologie 
des endemischen Kretinismus. 

Von Prof. Dr. Schlagenhaufer und Prof. Dr. Wagner v. Jauregg. 

Mit 10 Abbildungen im Text und 5 lithographischen Tafeln. 

Preis M 2 50 = K 3 —. 

Über die Kreuzung der zentralen Nervenbahnen 

und ihre Beziehungen zur Phylogenese des Wirbeltierkörpers. 

Von Dr. Alexander Spitzer 

in Wien. 

Mit einer Tafel. 

Preis M 10*— = lv 12*—. 


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