Skip to main content

Full text of "Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen II.Band I.Hälfte 1910"

See other formats


JAHRBUCH 
an EUR | | % 
 PSYCHOANALYTISCHE un PSYCHO- 
? PATHOLOGISCHE FORSCHUNGEN. 





HERAUSGEGEB EN VON 


| Pror., Dr. F. BLRULER De Dr. 8. FREUD- 


IN ZÜRICH, IN WIEN. 
REDIGIERT VON 
De. 0. 6. JUNG, 
PRIVATDOZENTEN DER PSYCHIATRIE IN ZÜRICH, 


II. BAND. 


IL. HÄLFTE. 


LEIPZIG UND WIEN. 
er FRANZ DEUTICKE. 
3 ur N Verlags-Nr. 1707. 











RR a ni sa u dei TE 7 h 
Dan, Ru ER ee h ha IM au R en BE 5 u augrt TE ’ 





VERLAG VON FRANZ Bee IN LEIPZIG UND WIEN. 


an 








Nachstehende sieben Werke, welche als die Dokumente für 
den Entwieklungsgang und Inhalt der Freudschen Lehren anzu- 
sehen sind, werden, wenn auf einmal bezogen, zum Vorzugspreise 
von M 50-— = — K 43'80) abgegeben: 





Von Dr. Jos. Breuer und Prof. Dr. $S. Freud. 
Zweite Auflage. — Preis MT— = K 340. 


Studien über Hysterie. | x 


Die Traumdeutung. 
Von Prof. Dr. Sigm. Freud. 
Zweite, vermehrte Auflage. — Preis M 9 — = K 108. 


Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 
Von Prof. Dr. Sigm. Freund. 


Zweite Auflage. Preis M 2&— = K 240. 


> Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 
Von Prof. Dr. Sigm. Freud. 
I. und II. Reihe. — Preis ı M5— = K6—. 


Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. 
(Schriften zur angewandten Seelenkunde. I. Heft.) 
| | Von Prof. Dr. Sigmund Freud in Wien. | ve 
den Preis M 250 = K 3—. 


Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. er 
Von Prof. Dr. Sigm. Freund. 
EUR Preis M5— = K6— 


aa 


Über Prychoai | 
‚ Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungsfeier | 
a der Clark University in Worcester Mass. BEER N 
| Von Prof. Dr. Sigm. Freud. | 
Preis M te = K 120. 





JAHRBUCH 


FUR 


PSYCHOANALYTISCHE und PSYCHO- 
PATHOLOGISCHE FORSCHUNGEN. 


HERAUSGEGEBEN VON 


Pror. Dr. E. BLEULER uno Por. Dr. S. FREUD 


IN ZÜRICH, IN WIEN. 


REDIGIERT VON 


Dr. C. 6. JUNG, 
PRIVATDOZENTEN DER PSYCHIATRIE IN ZÜRICH, 


II. BAND. 


I. HÄLFTE. 


LEIPZIG uno WIEN. 
FRANZ DEUTICKE. 
1910. 


EN 


a) 
\# 
% 


De 


I Ele 5, 





Inhaltsverzeichnis 


der ersten Hälfte des zweiten Bandes. 


Seite 
Abraham: Über hysterische Traumzustände. . 2 2 2 2 m m une. 1 
Jung: Über Konflikte der kindlichen Seele... 2. 2:22 2 222 .. 33 


Sadger: Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen . 59 


Pfister: Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses und 
der Versöhnung . 5, „Vuris.e um RE Bu Al a 134 


Freud: „Über den Gegensinn der Urworte“ 
Maeder: Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken . 185 
Riklin: Aus der Analyse einer Zwangsneurose . » 2 2 2 2 2 2 20. 246 
Jung: Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: Die sexuelle Not . 312 
Jones: Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur 


zur klinischen Psychologie und Psychopathologie. .. . . 22... 316 
Neiditsch: Über den gegenwärtigen Stand der Freudschen Psychologie 

in Rußland ... a,a #000 ns er a Be EEE 347 
Assagioli: Die Freudschen Lehren in Italien, . . .. 22 2 2 2.0. 349 
Jung: ‚Referate über psychologische Arbeiten schweizerischer Autoren 

(bis Ende 1909)... . » .uc.u ia ee ee Kae a Eee 356 


Zusendungen an die Redaktion sind zu richten an Dr. C, 6. Jung, 
Küsnach-Zürich, 





°. INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 


UNIVERSITY BERLIN 





“ 


Über hysterische Traumzustände. 
Von Dr. Karl Abraham (Berlin). 





In einem kürzlich erschienenen Aufsatz ‚Über traumartige und 
verwandte Zustände” hat Löwenfeld!) eigentümliche, bei Neurotikern 
auftretende Störungen behandelt, die bisher in der Literatur keine ge- 
nügende Würdigung gefunden haben. Zur Orientierung zitiere ich 
Löwenfelds allgemeine Beschreibung dieser Zustände. 

„Die Außenwelt macht nicht den gewöhnlichen Eindruck, das 
wohl Bekannte und täglich Gesehene erscheint verändert, wie un- 
bekannt, neu, fremdartig, oder die ganze Umgebung macht den Eindruck, 
als sei sie ein Phantasieprodukt, ein Schein, eine Vision. In letzterem 
Falle besonders ist es den Patienten, als ob’sie sich in einem Traum’ 
oder Halbschlaf befänden, hypnotisiert oder somnambul seien, und 
sie sprechen dann auch zumeist von ihren Traumzuständen.“ — Der 
Autor erwähnt ferner, daß diese Zustände dem Grade nach sehr ver- 
schieden sein können und in der Dauer große Schwankungen auf- 
weisen, daß sie oft mit dem Affekte der Angst verknüpft sind und daß 
sich neben ihnen in der Regel noch andere nervöse Symptome nach- 
weisen lassen. 

Löwenfeld gründet seine Beschreibung auf eine beträchtliche 
Anzahl von Krankengeschichten. Ich selbst bin bei einer ganzen Reihe 
meiner Patienten, die ich psychoanalytisch behandelte, auf diese Zu- 
stände gestoßen. Da die bisherigen psychoanalytischen Arbeiten sich 
mit den Traumzuständen noch nicht beschäftigt haben, so teile ich 
meine hauptsächlichsten Resultate mit. Sie bilden eine Ergänzung 
derjenigen Aufschlüsse, die uns die Psychoanalyse über das Wesen 
der anderen episodischen Erscheinungen im Krankheitsbilde der Hysterie 
gebracht hat. 

!) Zentralblatt für Nervenheilkunde, 1. und 2. Augustheft 1909. 


Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 1 


92 Karl Abraham. 


Ein einfaches Beispiel möge zunächst zeigen, bis zu welchem 
Grade wir das Wesen der Traumzustände zu begreifen vermögen, 
wenn wir von der Psychoanalyse keinen Gebrauch machen. Die Ex- 
ploration eines Patienten, den ich nur ein einzelnes Mal in der allgemein 
geübten Art explorieren konnte, ergab nach der hier interessierenden 


Richtung folgendes?): 


Beobachtung A. 


Der in jugendlichem Alter stehende Patient A neigt zu Tag- 
träumereien von großer Lebhaftigkeit. Wie er angibt, reizen ihn 
namentlich aktuelle Ereignisse zum wachen Träumen. Die Nachricht 
von der Entdeckung des Nordpols z. B. gab ihm Anlaß zu der Phantasie, 
er wäre an einer großen Expedition beteiligt. Er malte sich diese mit 
allen Einzelheiten aus, besonders in bezug auf seine eigene Tätigkeit. 
Derartige Phantasien nahmen ihn schon seit längerer Zeit fast ganz 
in Anspruch. Er brauchte nur etwa auf der Straße aus der Unterhaltung 
Vorübergehender ein Wort wie z. B. ‚Zeppelin‘ aufzufangen, und schon 
geriet seine Einbildungskraft in die lebhafteste Tätigkeit. Haben nun 
diese Träumereien eine große Intensität erreicht, so fühlt Patient sich 
mehr und mehr der Wirklichkeit entrückt. Eine traumhaite 
„Benommenheit kommt über ihn. Dann tritt für kurze Zeit eine „Leere“ 
im Kopf ein, auf welche rasch ein lebhaftes Schwindelgefühl folgt, 
das sich mit Angst und Herzklopfen verbindet. Patient bezeichnet 
den Zustand bis zum Eintreten des Schwindelgefühles als lustvoll. 

Neben diesen Erscheinungen bestehen nervöses Erbrechen, 


nervöse Diarrhöen, Anfälle von Kopfschmerz, ferner Reizbarkeit, 
Schreckhaftigkeit usw. 


Der mitgeteilte Fall — und, wie sich zeigen wird, auch jeder 
der folgenden — läßt den Zusammenhang der Traumzustände mit 
den Tagträumereien ohne weiteres erkennen. Ich betone diese Tatsache, 
weil Löwenfeld ihr keine besondere Beachtung geschenkt hat. Die 
typische Einleitung des Traumzustandes bildet ein Stadium der 


phantastischen Exaltation, dessen Inhalt ein durchaus indi- 
viduelles Gepräge zeigt. 


‘) Die Krankheitsfälle, die ich im folgenden bespreche, sind in alpha- 
betischer Reihenfolge mit den Buchstaben A bis F versehen. Alle für das Ver- 
ständnis der Sache entbehrlichen Angaben über Alter, Beruf und sonstige per- 
sönliche Verhältnisse der Patienten habe ich fortgelassen. 


Über hysterische Traumzustände. 3 


Es folgt der Zustand traumhafter Entrückung!). In ihm er- 
scheint den Patienten, wie Löwenfeld treffend schildert, die ihnen 
wohlbekannte Umgebung unwirklich, fremd, verändert. Sie selbst 
fühlen sich „wie im Traum“. Die Bezeichnung ‚Traumzustand“, 
die von vielen Patienten spontan gebraucht wird, gründet sich auf die 
phantastische Gedankenrichtung im ersten und auf die Alteration 
des Bewußtseins im zweiten Stadium. 

Ich unterscheide weiter ein drittes Stadium der Bewußtseins- 
leere. Es wird charakterisiert durch das von den Patienten bemerkte 
„Stillstehen der Gedanken“ (auch: ‚Leere im Kopf“ oder ähnlich 
benannt). 

Den Abschluß bildet ein depressiver Zustand, dessen wichtigstes 
Kennzeichen der Affekt der Angst mit seinen gewohnten Begleit- 
erscheinungen (Schwindel, Herzklopfen usw.) bildet. Die meisten 
Patienten beschreiben überdies Phantasien von depressivem Charakter. 

Die Abgrenzung der einzelnen Stadien gegeneinander ist nicht 
absolut scharf. Im Gegenteil lassen sich Übergänge zwischen ihnen 
erkennen. Die praktische Brauchbarkeit und Wichtigkeit der Einteilung 
wird erst bei der Besprechung der genau analysierten Fälle hervor- 
treten. Alsdann wird die obige, summarisch gehaltene Schilderung der 
einzelnen Stadien auch eine ausgiebige Vervollständigung erfahren. 

Den Höhepunkt des Zustandes bildet ohne Zweifel das dritte 
Stadium. Auf ihm findet, sozusagen, die Peripetie statt, nicht nur 
insofern, als die phantastische Produktion beim Eintritt dieses Stadiums 
eine jähe Unterbrechung erfährt. Von ebenso großer Bedeutung ist es, 
daß das dritte Stadium die Grenze zwischen zwei entgegengesetzten 
Affektbesetzungen bildet. Es ist keine spezielle Eigentümlichkeit des 
skizzierten Falles, daß der Traumzustand bis zum dritten Stadium als 
lustvoll geschildert wird, während dem letzten Stadium ein starker 
Unlustaffekt zugeschrieben wird. 

Wir vermögen so durch die Exploration des Patienten mancherlei 
Kenntnisse über Vorstellungen und Gefühle im Traumzustand, über den 
auslösenden Anlaß, über die Schwankungen des Bewußtseins zu erhalten. 
Würden wir eine Reihe weiterer Fälle in derselben Weise betrachten, 
so könnten wir noch dazu gelangen, die individuelle Mannigfaltigkeit 
in den genannten Beziehungen kennen zu lernen; wir würden auch 
Löwenfelds Angaben über die Differenzen in bezug auf Intensität 


1) Den Ausdruck „Entrückung‘“ entlehne ich von Breuer (cf. Breuer 
und Freud, Studien über Hysterie, Seite 191 der 2. Auflage). 


1* 


A Karl Abraham. 
und zeitliche Ausdehnung der Zustände bestätigen können. Damit 
sind wir aber an der Grenze der Erkenntnismöglichkeiten angelangt, 
sofern wir uns auf das dem Patienten Bewußte als einzige Quelle 
Wissens beschränken. Unerklärt bleibt die Ursache des Auf- 
tretens der Traumzustände. Im allgemeinen begnügt sich der Neurotiker 
mit wachen Träumereien. Es bleibt dunkel, warum diese gelegentlich 
eine Steigerung zu akuten, anfallsähnlichen, mit einer leichten Alteration 
des Bewußtseins verbundenen Zuständen erfahren. Unklar bleibt in 
ihrem ganzen Wesen die Entrückung, speziell das Gefühl des Fremd- 
artigen, Unwirklichen. Vollends in Dunkel gehüllt bleiben die temporäre 
Bewußtseinsleere und endlich das Auftreten der Angst mit ihren Begleit- 
erscheinungen. Alle diese Erscheinungen sind überdies der individuellen 
Variation unterworfen. Jeder einzelne Fall bietet seine Rätsel. Ins- 
besondere die Phantasien des Anfangsstadiums (und auch die des Schluß- 
stadiums) sind ohne eingehende Analyse nur in ganz beschränktem 
Umfange verständlich. 

Den Schlüssel zur Lösung dieser Rätsel gibt uns die Kenntnis 
vom Phantasieleben des Neurotikers, die durch die psycho- 
analytischen Forschungen gewonnen wurde. 

Wir haben durch Freud gelernt, daß unsere Phantasien Ver- 
lautbarungen unserer Triebe sind. Wünsche, deren Erfüllung verhindert 
ist, sucht unsere Einbildungskraft als erfüllt oder in Erfüllung begriffen 
darzustellen. Beim Neurotiker ist nun das gesamte Triebleben, sind alle 
Partialtriebe von ursprünglich abnormer Stärke. Gleichzeitig ist die 
Neigung zur Triebverdrängung besonders groß. Aus dem Konflikte 
zwischen Trieb und. Verdrängung geht die Neurose hervor. Der Viel- 
gestaltigkeit und der Macht seines Trieblebens, der Fülle verdrängter 
Wünsche entspricht es, daß der Neurotiker ein Phantast ist. 
Er neigt darum, wie die Erfahrung lehrt, in hohem Grade zur Tag- 
träumerel; auch sein Schlaf pflegt reich an lebhaften Träumen zu sein. 
Die Triebkraft seiner verdrängten Wünsche ist aber so gewaltig, daß 
der Neurotiker mit diesen auch dem Normalen eigenen Ausdrucks- 
mitteln nicht sein Auskommen findet. Die Neurose selbst steht ganz und 
gar im Dienste dieser Tendenzen. Der neurotische Traumzustand ist, 
wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, nur eines der mannigfachen 
Phänomene, durch welche das Heer der verdrängten Wünsche sich 
manifestiert. 

Der Krankheitsfall, aus dessen umfangreicher Analyse ich das zum 
Verständnis der Traumzustände Notwendige nun zunächst mitteile, 


unseres 


Über hysterische Traumzustände. d 


eröffnet klärende Einblicke in das Gewirr. der einander verstärkenden 
oder unter sich widerstreitenden Triebregungen. Die Analyse läßt die 
alles beherrschende Bedeutung der Sexualphantasie erkennen; es wird 
vollkommen durchsichtig, daß die bewußten, dem äußeren Anscheine 
nach nicht sexuellen Phantasien durch den Prozeß der Sublimierung 
aus sexuellen Wünschen hervorgegangen sind. Die von der Zensur zum 
Bewußtsein zugelassenen Phantasien dienen lediglich zur Vertretung 
verdrängter Wünsche; ihre Triebkraft haben sie von den letzteren 
entlehnt. 


Beobachtung B, 


Der Patient B leidet an einer ungewöhnlich schweren Hysterie 
mit Phobien und Zwangserscheinungen. Seine Angst, allen das 
Haus zu verlassen, macht ihn seit fünf Jahren zur Ausübung seines 
Berufes und überhaupt zu fast jeder sozialen Betätigung unfähig. Neben 
schweren Angstzuständen treten mit großer Häufigkeit Traumzustände 
bei ıhm auf. 

Den ersten derartigen Zustand erlebte Patient, wie er sich erinnert, 
im Alter von 10 Jahren, als er sich einmal zurückgesetzt fühlte. Es be- 
mächtigte sich seiner ein „Gefühl des Weltschmerzes“, dem rasch 
Kontrastvorstellungen folgten: ‚später, wenn ich erst groß bin, werde 
ich euch schon imponieren‘. Er geriet dabei in eine ekstatische Be- 
geisterung und empfand eine traumartige Veränderung seines Bewußt- 
seins. Seither führt jede Situation, in der ihm die Überlegenheit anderer 
und seine eigene Tatenlosigkeit besonders zu Bewußtsein kommen, einen 
Traumzustand herbei. Durch seine Lage ist er also zu solchen Zuständen 
fortwährend disponiert. Es genügt z. B., daß man in seiner Gegenwart 
die Tüchtigkeit oder die Erfolge eines Altersgenossen erwähnt; sofort 
reagiert er mit einem Traumzustande. Im Laufe der Zeit hat sich eine 
größere Variabilität in bezug auf den auslösenden Anlaß herausgebildet. 
Der Anblick weiblicher Personen, Theater, Musik, Lektüre wirken in 
diesem Sinne, indem sie bei dem Patienten ehrgeizige oder erotische 
Phantasien hervorrufen. Weniger leicht verständlich ist schon die 
auslösende Wirkung, welche von lebhafter Körperbewegung (z. B. 
Gehen auf der Straße) oder vom Hören starker Geräusche (z. B. Fahrt 
eines Eisenbahnzuges über eine Brücke) ausgeht. Am häufigsten tritt 
der Zustand auf der Straße ein. 

Alle diese Anlässe rufen zunächst eine lebhafte Tätigkeit der 
Phantasie hervor und zugleich den Vorsatz, mit aller Energie an der 


6 Karl Abraham. 


Verwirklichung der phantastischen Wünsche zu arbeiten. Patient 
rührt, wie er sich ausdrückt, seine ganze Willenskraft auf. Im Mittel- 
punkte steht immer der Gedanke, dereinst aus der Absonderung hervor- 
zutreten und aller Welt zu imponieren. Er wird einst durch großes 
Wissen Aufsehen erregen, wird als Autor eines Dramas vor den Vorhang 
gerufen werden und aller Blicke auf sich ziehen; oder er wird ein Meister 
im Schachspiel werden und als Simultanspieler im Cafe von Tisch zu 
Tisch gehen, die Figuren ziehen und dabei von bewundernden Menschen 
beobachtet werden. In anderen Fällen erdenkt er sich die Idealgestalt 
eines großen Feldherrn, hinter der er seine ehrgeizigen Wünsche ver- 
birgt. Die energischen Vorsätze dokumentieren sich äußerlich darin, 
daß Patient im Zimmer hastig umhergeht, oder auf der Straße einen 
Sturmschritt anschlägt. 

Patient selbst bezeichnet den geschilderten Vorgang als einen 
immer höher gehenden „Enthusiasmus“. Dieser geht bald und un- 
merklich in das zweite Stadium über. Die Schilderung des Patienten 
ist sehr bezeichnend: es findet eine völlige „‚Nachinnenkehrung‘“ statt, 
eine Ausschaltung aller äußeren Eindrücke. ‚Man verliert beim Phan- 
tasieren den Boden unter den Füßen.‘ Das soll heißen, daß er die Herr- 
schaft über den Flug seiner Gedanken verliert und sich völlig vom 
realen Boden entfernt. Nun kommt er sich wie im Traume vor, die ganze 
Umgebung, sogar der eigene Körper erscheint ihm fremd und es treten 
Zweifel an dessen wirklicher Existenz auf. Alsbald folgt das typische 
dritte Stadium: der Gedankenstillstand. Rasch tritt dann der Angst- 
affekt auf und leitet das vierte Stadium ein. Patient wird von Schwindel 
ergriffen; er hat das Gefühl, daß er nicht mehr vorwärts kommen, die 
Beine nicht mehr heben kann, als wenn er gleitet, fällt, versinkt. Diese 
Sensationen sind mit höchster Angst verbunden. Die Menschen erscheinen 
ihm merkwürdig groß; dies gilt auch von den ihn umgebenden Gegen- 
ständen. Er selbst kommt sich klein vor, hat auch den Wunsch, es zu 
sein, um nur nicht gesehen zu werden; er möchte ‚als nichts gelten, 
ganz in die Erde sinken“. Er beschreibt ferner das Gefühl, als müsse 
er auf allen Vieren kriechen, um nach Hause zu kommen. 
gesetzte en ee 5 es nn 
bemerkbar maeht. Wir EAERER i ne | de u. je Ba 
a, a I ae er auf Parästhesien und vasomotorische 
nicht genügend eek RR He ren die bisher 

worden sind. Im Stadium der Gedankenleere 


Über hysterische Traumzustände. 7 


wird das Kältegefühl intensiv. Mit der Angst setzt manchmal eine 
plötzliche ‚„‚Hitzewelle‘“ ein, eine Kongestion nach dem Kopfe. Macht 
die Angst schließlich dem Gefühle der Schwäche Platz, so ist das Gefühl 
der Kälte stets sehr lebhaft; zugleich besteht die Sensation, daß Teile 
des Körpers abgestorben seien. 


Das Eintreten eines Traumzustandes ist dem Patienten wegen 
der begleitenden Lust erwünscht. Er versucht jedoch manchmal, bevor 
der Höhepunkt, d. h. die Bewußtseinsleere, erreicht ist, den Vorgang 
zu unterbrechen. ‚Ich will mich vom Enthusiasmus losreißen, ich ver- 
suche wie aus einer Wolke herauszukommen.‘ Der Ausdruck „Wolke“ 
ist zu beachten; er deutet das Gefühl einer Umnebelung des Bewußt- 
seins, also das Traumhafte an. Bei vorzeitiger Unterbrechung tritt 
Angst- und Schwächegefühl ein. 


Das letzte Stadium ist bei diesem Patienten sehr protrahiert. 
Um sich von der Angst, die nicht weichen will, zu befreien, bedient 
er sich eines eigentümlichen Mittels: er zündet sich eine Zigarre an. 
Übrigens taucht auch schon im Stadium des Enthusiasmus der Wunsch 
zum Rauchen auf. 


Als ıch auf die Analyse seiner Traumzustände einging, gab mir der 
Patient spontan die Erklärung, er halte diese Zustände schon seit langer 
Zeit für eine Art von Vergeistigung des Sexualtriebes. Unsere Nach- 
forschungen sollten diese Auffassung durchaus bestätigen. 


Patient gehört zu den Neurotikern, die sich in früher Kindheit 
der Masturbation ergeben und später mit ihrer masturbatorischen 
Neigung in einem steten Kampfe leben. Die Abgewöhnung der Onanie, 
oft mißlungen und immer wieder versucht, hat dem Patienten die be- 
kannten Enttäuschungen, Selbstvorwürfe und hypochondrischen Sorgen 
eingetragen. Eine Reihe von Symptomen seiner Neurose steht unter 
dem determinierenden Einfluß dieses Vorganges; doch soll auf diese 
hier nicht eingegangen werden. Der Konflikt zwischen Wunsch und Ver- 
drängung hat, wie so oft in der Neurose, seinen Abschluß in einem 
Krompromiß gefunden. Der Patient hat oft für längere Zeit auf die 
ÖOnanie verzichtet. Er meidet dann die körperliche Selbsterregung 
mitsamt ihrem Endziel, der Ejakulation. Für eine oberflächliche Be- 
trachtung hat er damit die gewohnte Sexualbetätigung aufgegeben. 
Aber sein Unbewußtes verlangt eine Ersatzbefriedigung, deren Wesen 
und Ziel dem Bewußtsein entgeht, die daher ungehindert von hemmenden 
Einflüssen vor sich gehen kann. 


8 Karl Abraham. 


Freud!) hat den Nachweis erbracht, daß gewissen ae 
Erscheinungen der Hysterie die Bedeutung einer Iırsa tzb erein = in > 
für die aufgegebene Masturbation zukommt; wir müssen Eis Bee 
Anschauung unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Eine ri Z- 
befriedigung in dem angegebenen Sinne jet nun auc u 
Traumzustand. Bevor ich diese Auffassung begründe, muß ich noc 
erwähnen, daß der Patient besonders neuerdings den Traumzuständen 
auch zu solchen Zeiten unterworfen ist, in denen er dem Drange nach 
Masturbation häufig nachgibt. Doch spricht dies nur scheinbar gegen 
die Auffassung der Traumzustände als Ersatzbefriedigung. Denn gerade 
zu solchen Zeiten sind lebhafte Gegenvorstellungen vorhanden, die den 
Patienten hindern, dem Drange ganz ungehemmt nachzugeben. Die 
Triebstärke ist außerdem so groß, daß eine volle Befriedigung schwer 
zu erzielen ist. Auch bei häufiger Ausübung der Masturbation werden 
daher Surrogate nicht entbehrlich. Endlich bilden diese selbst eine 
Lustquelle und es ist bekannt, wie schwer namentlich der Neurotiker 
eine solche wieder aufgibt. 

Patient hat sich in der frühen Jugend gewöhnt, Tagträumereien 
nachzuhängen und auf der Höhe lebhafter Phantasietätigkeit der an- 
gesammelten Erregung durch Masturbation Abfuhr zu verschaffen. 
Als er sich von der Masturbation zu entwöhnen suchte, bedurften die 
Tagträumereien eines andern Abschlusses; sie bilden seither die Ein- 
leitung zum Traumzustand wie früher zum Masturbationsakt. Das 
zweite und dritte Stadium — Entrückung und Bewußtseinsleere — 
entsprechen der steigenden Sexualerregung und ihrer Akme im Moment 
der Ejakulation. Das Endstadium mit Angst und Schwäche ist un- 
verändert vom masturbatorischen Vorgang herübergenommen; diese 
Symptome sind uns ja als jedesmalige Folgen der Masturbation bei 
Neurotikern geläufig. 

Diese Auffassung bedarf bezüglich des zweiten und dritten Sta- 
diums noch einer weiteren Begründung. Ein der ‚‚Entrückung“ im Traum- 
zustand analoges Stadium findet sich auch- im masturbatorischen Akt. 
Die steigende sexuelle Erregung führt zu einer Absperrung gegen alle 
äußeren Eindrücke. Dieser Vorgang findet sich im Traumzustande 
mehr ins Psychische übersetzt. Der Patient empfindet eine absolute 
„Nachinnenkehrung“. Durch diese autoerotische Abschließung von der 

') „Allgemeines über den hysterischen Anfall.“ Zeitschrift für Psycho- 


therapie und medizinische Psychologie 1909, auch in der zweiten Folge der „Kl. 
Schriften zur Neurosenlehre‘“, Deuticke, Wien 1909. 


Über hysterische Traumzustände. 9 


Außenwelt erhält er das Gefühl der Isoliertheit. Er ‚‚tritt aus der 
Gemeinschaft heraus“ ; seine Vorstellungen versetzen ihn in eine andere, 
seinen verdrängten Wünschen entsprechende Welt. So groß ist die Macht 
der verdrängten Wünsche, wenn sie einmal dem Unbewußten ent- 
steigen, daß ihre phantasierte Erfüllung als Wirklichkeit, die Wirklich- 
keit aber als ein nichtiges Traumgebilde erscheint. Die gesamte Um- 
gebung, selbst der eigene Körper, erscheint dem Patienten fremd und 
unwirklich. 

Das Gefühl des Isoliertseins ist vielen Neurotikern eigen, die sich 
zur einsamen Sexualbetätigung von der Welt zurückziehen. Unser 
Patient erinnert sich aus der frühen Jugend einer von ihm bevorzugten 
Phantasie von einem verborgenen Zimmer, das irgendwo im Walde 
unter der Erde versteckt sei: dahin wünschte er mit seinen Phantasien 
zu flüchten. Der Wunsch machte später einer Angst Platz: der Angst, 
allein im geschlossenen Raume zu sein, die ihn noch als Erwachsenen 
beherrscht. 

Das dem dritten Stadium eigentümliche Schwinden der Gedanken, 
die Bewußtseinsleere, entspricht dem mehr oder weniger erheblichen 
„Bewußtseinsentgang‘ (Freudt), wie er sich besonders ausgesprochen 
beim, Neurotiker auf der Höhe jeder sexuellen Erregung einstellt. 
Gleichzeitig setzt ein heftiges Schwindelgefühl oder eine andere, dem 
Schwindel ähnliche, aber schwer zu beschreibende Sensation ein. Unser 
Patient gibt mit Bestimmtheit an, daß das nämliche Gefühl bei der 
Masturbation im Augenblicke der Ejakulation eintrete. Die kurze, 
der Entleerung der Sexualprodukte entsprechende Bewußtseinspause 
findet sich auch im hysterischen Anfall. 

Nunmehr ist es nicht länger verwunderlich, daß der Traumzustand 
bis zum Stadium der Bewußtseinsleere lustvoll ist. Er verleugnet dadurch 
nicht seine Herkunft von der Masturbation, die bis zu dem entsprechenden 
Stadium lustvoll, beim Neurotiker oft die lebhaftesten Unlustgefühle 
nach sich zieht. Sehr interessant ist es, daß der Patient, wie erwähnt, 
manchmal den Traumzustand vorzeitig, d. h. vor dem Eintritte der 
Bewußtseinsleere unterbricht. Das ist gleichsam ein Versuch, sich die 
Traumzustände abzugewöhnen. Ganz das Gleiche tun Neurotiker 

sehr häufig, wenn sie sich von der Masturbation entwöhnen wollen?). 
Sie sind oft der Meinung, der Samenverlust sei das eigentlich Schädliche 


1) „Allgemeines über den hysterischen Anfall“, 1. c. 
2) Vgl. hierzu Rohleder, Über Masturbatio interrupta. Zeitschrift für 
Sexualwissenschaft, 1908. 


10 Karl Abraham. 


an der Masturbation und begnügen sich daher mit einer vor der Eja- 
kulation abgebrochenen Masturbation. Sie ‚geben sich dann der be- 
ruhigenden Vorstellung hin, in Wirklichkeit nicht masturbiert zu haben. 
Diesem Sophismus kann man bei Nervösen häufig begegnen. Den 
Verzicht auf die Endlust suchen sie durch sehr ausgiebigen Vorlustgenuß 
wettzumachen. Der abschließenden Angst freilich vermögen sie nicht 
zu entgehen. Die zu einer gewissen Höhe angewachsene Sexualerregung, 
der die Abfuhr versagt wird, verwandelt sich in Angst. 

Wenn wir nun in dem Traumzustande die Ersatzbefriedigung 
für eine aufgegebene Form der Sexualbetätigung erkennen, so sind 
wir doch noch entfernt von einem vollen Verständnis seiner Eigentüm- 
lichkeiten. Die Phantasien im ersten und vierten Stadium sind so in- 
dividueller Natur, daß wir sie nur aus einer genauen Kenntnis des Trieb- 
lebens des Patienten werden begreifen können. 

Bei dem Patienten haben sich in der dem Psychoanalytiker ge- 
läufigen Art die infantilen Neigungen in solchem Grade auf die ihm am 
nächsten stehenden Personen fixiert, daß ın der Pubertät die normale 
Ablösung nicht gelingen konnte. Es handelt sich im vorliegenden Falle 
um eine ausgesprochen bisexuelle Fixierung. Die heterosexuelle 
Komponente seiner Libido hat zum Objekt die Mutter. Ihr gegenüber 
identifiziert er sich mit dem (übrigens verstorbenen) Vater. Mit seiner 
homosexuellen Komponente hängt er dem Vater an und identifiziert 
sich ihm gegenüber mit der Mutter. So spielt er in der Neurose bald den 
Vater, bald die Mutter. Im allgemeinen ist das Verhalten des Patienten 
als ein äußerst passives zu bezeichnen; er ergibt sich in das Elend seiner 
Neurose. Auch seine Liebe zum Vater, der eine sehr energische Per- 
sönlichkeit war, trägt den Charakter der Unterwerfung unter eine 
unbedingt überlegene Person. Patient bietet die typische Eifersucht 
des Neurotikers, die sich aus seiner Kindheit erhalten hat. Als Knabe 
betrachtete er den Vater als seinen Rivalen bei der Mutter, während die 
Mutter seiner Neigung zum Vater im Wege stand. Daraus ergaben sich 
feindselige Wünsche, die — wie so oft bei neurotischen Kindern — 
in der Phantasie, Vater oder Mutter zu töten, gipfelten. Diese Äußerungen 
des Sadismus fanden eine intensive Verdrängung. Von der Fortdauer 
dieser Wünsche im Unbewußten legt eine große Zahl von Träumen, 
in denen er den Tod des Vaters oder der Mutter erlebt, Zeugnis ab. 
Dazu kommen häufige Tagesphantasien der gleichen Art sowie plötzliche 
aggressive Impulse. Die Vorstellung, verbrecherisch zu sein, sowie eine 
Menge psychischer Zwangserscheinungen beruhen auf jenen verdrängten 


Über hysterische Traumzustände. 11 


Regungen und auf gewissen Fällen aggressiver Betätigung im Kindes- 
alter und in der Pubertät. 

Die Aggressionsneigungen wurden in weitem Umfange sublimiert. 
Sie könnten nun Verwendung finden als impulsive Energie und als 
Neigung zu hochfliegenden Plänen auf anderem als erotischem Gebiet. 
Aber dieser Wall genügt nicht gegen eine solche Impulsivität der Triebe. 
Zu ihrer wirklichen Unschädlichmachung müssen sie geradezu in ihr 
Gegenteil verkehrt werden. Die gewalttätigen Regungen gegen die 
Mutter werden ersetzt durch völlige Passivität, durch eine absolute 
Abhängigkeit von der Mutter, die bei dem längst erwachsenen Pa- 
tienten fortdauert. Er ist nun gänzlich an sie und an das Haus gefesselt 
wie ein kleines Kind. Dies ist die wichtigste Quelle der Angst, die ihn 
hindert, allein das Haus zu verlassen. Man vermißt diese Abhängigkeit 
von einer bestimmten Person (oder auch von mehreren) in keinem Falle 
von Straßenangst. Der Versuch, sich allein vom Hause zu entfernen, 
würde eine dem Patienten verbotene Aktivität in sich begreifen, er 
würde symbolisch eine Ablösung von der Mutter bedeuten und — wie 
die Analyse ergibt — zugleich eine Hinwendung nach der väterlichen 
(homosexuellen) Seite. Will Patient sich von den heterosexuellen Inzest- 
phantasien losreißen, so verfällt er den homosexuellen, die wiederum 
vom Bewußtsein energisch abgewiesen werden. Es findet also eine 
umfassende Triebunterdrückung statt; ihr entspricht die besondere 
Heftigkeit der nervösen Angst in unserem Falle. 

Der Patient korrigiert nun, wie jeder Neurotiker, die unbefriedi- 
gende Wirklichkeit mit Hilfe seiner Phantasie. Er macht von diesem 
Mittel besonders dann Gebrauch, wenn ein äußerer Anlaß ihm vor 
Augen führt, wie sehr er sich durch seine kindliche Abhängigkeit und 
durch sein passives Verhalten, namentlich aber durch seinen Hang zur 
Masturbation von gesunden Altersgenossen unterscheidet. Schon als 
Knabe litt er unter diesem Empfinden; sein heftiger Wunsch war es, 
sein zu können ‚wie die andern“. Er quälte sich mit Vorwürfen, daß 
er sich durch seine Neigungen von den ‚andern‘ entferne, daß er dadurch 
unfähig werde, mit jenen zu konkurrieren. Besonders peinigte ihn die 
Befürchtung, den anderen lächerlich oder verächtlich zu erscheinen. 
Aus diesen Gründen erklärt sich die übermäßige Empfindlichkeit 
für eine Zurücksetzung gegenüber „andern“. In der Zurücksetzung 
sah er ein Zeichen dafür, daß man ihn nicht achte. Das mußte alle seine 
unterdrückte Aktivität in Aufruhr bringen. Seine ursprünglichen 
Aggressionsneigungen hätten ihn auf eine Zurücksetzung mit einem 


12 Karl Abraham. 


Gewaltakt antworten lassen. Aber sie wurden ja frühzeitig durch 
„Reaktionsbildung‘“ unschädlich gemacht und wagten sich nur noch 


als geheime Phantasien hervor. Auf eine Beeinträchtigung, die ihm 


seiner Meinung nach zuteil geworden war, reagierte er mit sublimierten 


Aktivitätswünschen, mit Größenphantasien, deren Erfüllung er 
in die Zukunft verlegte: ‚wenn ich nur erst einmal erwachsen bin... ..“ 

Je mehr Patient heranwuchs, um so mehr trat das Gefühl bei 
ihm hervor, er bleibe ein Kind. Es entging ihm, daß es der stärkste 
Wunsch seines Unbewußten war, diesen kindlichen Zustand 
zu erhalten. Sein Bewußtsein reagierte darauf mit der entgegen- 
gesetzten Tendenz. Jeder Traumzustand diente dem Wunsch, er- 
wachsen zu sein. Das bedeutete für ihn ein Vielfaches: unabhängig, 
selbständig, energisch zu sein (wie der Vater), frei von der ihn be- 
herrschenden Gewohnheit und vor allem fähig zu sexueller Aktivität. 
Denn die Angst vor Impotenz beherrscht ihn wie jeden Neurotiker, 
der von der infantilen Sexualbetätigung und von den Objekten der 
infantilen Sexualphantasie nicht lassen kann. 

Mit den Größenphantasien, die wir von der Sublimierung ‚‚sadi- 
stischer“ Regungen ableiteten, verbindet sich bei dem Patienten regel- 
mäßig die Vorstellung, sich vor Zuschauern hervorzutun, aller Blicke 
auf sich zu lenken. Sie erklärt sich aus der Sublimierung verdrängter 
Exhibitionswünsche. Bei Neurotikern, die einen krankhaft gesteigerten 
Ehrgeiz aufweisen, konnte ich stets den Nachweis erbringen, daß in 
diesem Charakterzuge die verdrängten sadistischen und exhibitio- 
nistischen Wünsche sich gewissermaßen einen gemeinsamen Ausweg 
suchen. In unserem Falle läßt sich nun feststellen, daß es in der Jugend 
wirklich zu sadistisch-exhibitionistischen Handlungen gekommen ist, 
aus denen der Patient schwere Selbstanklagen herleitet. Die immer 
wieder notwendige Verdrängung dieser Triebe ist eine stetige Quelle 
der Angst. Er vermag z. B. nicht die Straßenbalin zu benutzen, weil oft 
plötzlich der Impuls auftaucht, vor den anwesenden Personen zu 
exhibieren oder auf eine weibliche Person einen sexuellen Angriff zu 
machen. Ahnliche Impulse treten auch sonst, z. B. in der Unterhaltung 
mit Frauen auf. Der Sublimierungsprozeß führt nun zu einem par- 
tiellen oder gänzlichen Verzicht auf das ursprüngliche Ziel des Ex- 
hibitionstriebes, die Entblößung. Die unerlaubte Exhibition wird durch 
Phantasien ersetzt, die sich mit einem weit harmloseren Ziel begnügen. 
Der Patient zieht die Blicke der Menschen auf sich, aber nicht die sexuell 
begehrenden oder neugierigen, sondern die bewundernden Blicke. 


Über hysterische Traumzustände. 13 


Wir hatten verschiedenartige Eindrücke kennen gelernt, welche 
bei dem Patienten zum Auftreten der Traumzustände Anlaß geben. 
Ihre Wirkung beruht, wie wir nunmehr sagen können, darauf, daß 
sie Wünsche der sexuellen Aggression oder der Exhibition bei ihm 
wachrufen, die in sublimierter Form zum Ausdruck gebracht werden, 
Daß der Anblick weiblicher Personen einen Traumzustand auslösen 
kann, ist nun leicht verständlich. Wird dem Patienten anderen, tat- 
kräftigen Menschen gegenüber seine Passivität allzu fühlbar, so korrigiert 
er die Wirklichkeit, indem er sich mit Hilfe seiner Einbildungskraft 
zu einem sehr aktiven Manne macht, der die Aufmerksamkeit auf 
sich zieht. Starke Körperbewegung kann zur auslösenden Ursache 
dadurch werden, daß sie dem Patienten das Gefühl der Aktivität gibt. 
Das Poltern eines Eisenbahnzuges erregt in ihm den Wunsch nach 
Kraftentfaltung. Auch die sich nun anschließenden Phantasien gehören 
ganz in das Gebiet der erwähnten Triebe. Als Simultan-Schachspieler 
im Caf® von Tisch zu Tisch zu schreiten, das ist allerdings eine be- 
sonders gute Gelegenheit, sich den Blicken anderer zu exponieren. 
Das Schachspiel selbst bietet überdies dem Patienten, wie die Analyse 
ergeben hat, vollauf Gelegenheit zur Betätigung sublimierter Triebe. 
Daß auf dem Brett zwei Parteien kämpfen, daß man angreift, schlägt, 
die feindliche Stellung zertrümmert usw., das sind Vorstellungen, die 
den Patienten seiner eigenen Aussage nach geradezu faszinieren. Er 
schwelgt in diesen technischen Ausdrücken; er befriedigt in einsamen 
Schachübungen seinen Aggresionstrieb. 

Während die phantasierte Erfüllung seiner ehrgeizigen Wünsche, 
d. h. die Befriedigung sublimierter Triebe mit Gefühlen der Lust 
verbunden ist, weist das Schlußstadium des Traumzustandes den 
entgegengesetzten Affekt der Angst auf. Es läßt sich nun dartun, 
daß auch der Inhalt der Phantasien im Schlußstadium in 
einem gegensätzlichen Verhältnis zum Inhalt der einleitenden Phan- 
tasien steht. 

Im Beginne des Traumzustandes erhebt sich der Patient aus seiner 
habituellen Passivität zur Aktivität. Das Schlußstadium leitet: wieder 
zu dem alten Zustande hinüber. An Stelle der großen Pläne finden 
wir jetzt Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit. Der Patient, der 
vorhin voller Kraftgefühl war und in Sturmschritt verfiel, fühlt sich 
jetzt schwach und in seinen Bewegungen gehemmt. Er glaubt, nicht 
mehr vorwärts kommen zu können — eine treffende, symbolische 
Charakteristik seiner tatsächlichen Situation. Er wird wieder zum 


14 Karl Abraham. 


kleinen Kinde, das ja nicht allein laufen kannt). Die unbewußte Ten- 
denz, die den infantilen Zustand aufrecht erhalten will, hat den Sieg 
davongetragen. Darum kommt Patient sich so winzig vor, erscheinen ihm 
Menschen und Dinge so groß?). Wie ein Kind, das noch nicht laufen 
gelernt hat, möchte er auf allen Vieren kriechen, nach Hause zur 
Mutter. Wollte er vor wenigen Augenblicken noch aller Blicke auf 
sich lenken, so möchte er jetzt verschwinden, in den Boden sinken, 
um nur nicht gesehen zu werden. 

Das sehr intensive Gefühl der Schwäche im vierten Stadium 
ist mehrfach determiniert. Es bedeutet zunächst die befürchtete sexuelle 
Schwäche. Nahm Patient im Beginne des Traumzustandes einen Anlauf 
zur kraftvollen Aktivität, so fällt er nun wieder in die Passivität zurück; 
es fehlt ihm die männliche Kraft. Das Gefühl, vor Schwäche nicht 
stehen zu können, enthält einen symbolischen Hinweis auf die Im- 
potenz. Eine weitere Determinierung für diese Hinfälligkeit geben die 
Todesphantasien, die ja niemals fehlen, wenn Aggressionspläne gegen 
Angehörige unterdrückt werden mußten. Diese Todesphantasien des 
Schlußstadiums stehen in einem beachtenswerten Gegensatze zu der 
energischen Vitalität im einleitenden Stadium. 


Aggressionstrieb und Exhibitionstrieb sind nun wieder der Unter- 
drückung verfallen. Aus dem zurückbleibenden Zustand der Depression 
sucht Patient sich, wie erwähnt wurde, durch Rauchen einer Zigarre zu 
befreien. Es ist aber nicht so sehr die Nikotinwirkung, der die De- 
pression allmählich weicht. Vielmehr hat auch das Rauchen für den 
Patienten die Bedeutung einer Ersatzbefriedigung. Es ist ein Zeichen 
der Männlichkeit, die er entbehrt?). Das Rauchen ist ihm ein Trost 
in dieser Situation. 


Die vasomotorischen und parästhetischen Begleiterscheinungen 
erfordern ein gesondertes Eingehen. Das von diesem Patienten (und 
wie sich zeigen wird, auch von anderen) beschriebene Hitzegefühl gehört 
zu den normalen Begleiterscheinungen der Dexualerregung; es wurde 


‘) Auf die anderweitigen Determinierungen des „Gleitens“ und „Fallens‘ 
will ich hier nicht eingehen. 


?) Dies die wichtigste Ursache des als „Makropsie“ 


Ich habe es in ganz gleicher Weise in d 
beobachtet. 


®) Ich gehe der Kürze halber au 
(Betätigung der Mundzone; 


beschriebenen Symptoms. 
en Angstanfällen einer Patientin 


f die anderen Determinationen des Rauchens 
Identifikation mit dem Vater) nicht näher ein. 


Über hysterische Traumzustände. 15 


aus dem masturbatorischen Akt in den Traumzustand übernommen. 
Es ist bemerkenswert, daß Patient auch sehr leicht errötet; sobald er 
unter Menschen kommt, tritt seine außerordentlich erregbare Sexual- 
phantasie in Tätigkeit und äußert sich im Körperlichen durch die Hitze- 
welle. Es kann uns nicht verwundern, daß diese kongestive Blutwelle 
auch die Aktivitätsphantasien des Patienten begleitet; denn letztere 
vertreten ja nur unbewußte Sexualphantasien. 

Schon während der phantastischen Exaltation nimmt der Patient 
neben der aufsteigenden Hitze eine „Unterströmung“ von Kälte und 
Angst wahr. Im abschließenden Stadium der Angst ist das Kältegefühl 
vorherrschend. Im allgemeinen also tritt das Hitzegefühl auf, wenn 
Patient sich zur sexuellen Aktivität aufschwingen möchte, während das 
Kältegefühl erscheint, wenn mit der Umwandlung der Triebregungen 
in Angst die Verdrängungstendenz wieder die Oberhand gewinnt. Das 
Blut wird nun nicht mehr mit der vorherigen Heftigkeit nach der Peri- 
pherie getrieben. Das nun einsetzende Kältegefühl ist jedoch noch 
anderweitig determiniert. Patient fühlt, wie ihm Körperteile ab- 
sterben; er glaubt, im nächsten Augenblick zusammenzubrechen, 
hinzuschwinden. Es kommt also im vierten Stadium zu einem 
symbolischen Sterben, welches u. a. in dem Kältegefühl seinen Aus- 
druck findet. Die weiter fortgesetzte Analyse ergibt dann, daß auch 
dieses Sterben eine doppelte Bedeutung hat. Es erhält einen besonderen 
Sinn durch die vom Patienten befürchtete Impotenz; die eigentliche 
Lebenskraft fehlt ihm. 

Dient das erste Stadium des Traumzustandes den Phantasien 
von der kraftvollen Männlichkeit, so weist das letzte Stadium eine Ver- 
dichtung zweier Vorstellungsreihen auf, welche den Männlichkeits- 
phantasien entgegengesetzt sind: 1. ein Kind bleiben und 2. sterben. 
Der erwachsene Mann mit seiner energischen Vitalität steht in der 
Mitte zwischen Kindheit und Tod. 

Die Traumzustände dieses Patienten gewähren uns Einblicke 
in den Kampf zwischen Trieb und Verdrängung, wie er sich in jeder 
Neurose abspielt. Verdrängte Triebe von ursprünglich abnormer Stärke 
ringen sich vom Unbewußten los, um rasch den verdrängenden Mächten 
wieder zu liegen. Jeder solche Zustand dieses Patienten stellt eine 
Revolution gegen die Neurose dar, freilich eine stets vergebliche. Schon 
der nächste Fall wird aber zeigen, daß die Traumzustände nicht bei allen 
Patienten die nämliche Tendenz haben. | 


16 Karl Abraham. 


Beobachtung C. 


Die Traumzustände entstehen bei der Patientin C ebenfalls, 
wenn sie sich durch eine aktuelle Situation, der sie nicht entgehen kann, 
gequält, deprimiert, erniedrigt fühlt. Ein Gespräch mit peinlichem 
Inhalt gibt den Anlaß, oder ein körperliches Übelbefinden. In dieser 
Beziehung kommt besonders der Menstruation die Rolle des aus- 
lösenden Anlasses zu. Die Patientin äußert: „Während der Periode 
geht mir jede Realität verloren.“ Ganz wie bei dem vorigen Patienten, 
findet auch hier im Traumzustand eine Isolierung von der Außen- 
welt statt. Man könnte nun nach Analogie jenes Falles erwarten, 
der Traumzustand entführe die Patientin der quälenden Wirklichkeit, 
Das Gegenteil trifft zu. Tatsächlich versetzt Patientin sich durch 
ihre Phantasien in einen Zustand noch größeren Leidens, in absolute 
Passivität, und zieht daraus masochistischen Lustgewinn. Aus Ihrer 
Kindheit ließen sich interessante Details über wirkliche masochistische 
Betätigung mitteilen. Aber auch jetzt ist diese Triebrichtung deutlich 
erkennbar. Die Patientin versteht es nämlich, ganz wie ich es auch bei 
verschiedenen anderen Patienten sah, den Traumzustand auch 
willkürlich herbeizuführen. „Manchmal verlockt mich etwas, 
den Traumzustand herbeizuführen“. Sie rezitiert zu diesem Zwecke aus 
dem Gedächtnis eine Stelle aus Hebbels ‚Maria Magdalena“ (III. Akt, 
2. Szene). Es sind folgende Worte der Klara: 


„Ich will dir dienen, ich will für dich arbeiten, und zu essen sollst 
du mir nichts geben, ich will mich selbst ernähren, ich will bei Nachtzeit 
nähen und spinnen für andere Leute, ich will hungern, wenn ich nichts 
zu tun habe, ich will lieber in meinen eigenen Arm hineinbeißen, als zu 
meinem Vater gehen, damit er nichts merkt. Wenn du mich schlägst, 
weil dein Hund nicht bei der Hand ist oder weil du ihn abgeschafft hast, 
so will ich eher meine Zunge verschlucken, als ein Geschrei ausstoßen, 
das den Nachbarn verraten könnte, was vorfällt. Ich kann nicht ver- 
sprechen, daß meine Haut die Striemen deiner Geißel nicht zeigen soll, 
denn das hängt nicht von mir ab, aber ich will lügen, ich will sagen, 
daß ich mit dem Kopf gegen den Schrank gefahren oder daß ich auf dem 
Estrich, weil er zu glatt war, ausgeglitten bin, ich wills tun, bevor noch 
einer fragen kann, woher die blauen Flecke rühren. Heirate mich — 
ich lebe nicht lange. Und wenn’s dir doch zu lange dauert und du die 
Kosten der Scheidung nicht aufwenden magst, um von mir loszu- 
kommen, so kauf’ Gift aus der Apotheke, und stell’s hin, als ob’s für 


Über hysterische Traumzustände. 17 


deine Ratten wäre, ich will’s, ohne daß du auch nur zu winken brauchst, 
nehmen und im Sterben zu den Nachbarn sagen, ich hätt’s für zer- 
stoßenen Zucker gehalten!“ 

Die Patientin gerät, wenn sie diese typisch masochistischen Vor- 
stellungen in sich eingesogen hat, in einen Zustand traumhafter Ent- 
rückung. Sie empfindet als lustvoll einerseits die masochistische Unter- 
werfung der Klara, mit welcher sie sich identifiziert, andrerseits ihre 
eigene Isolierung von der Welt. Sie betont mit großem Nachdruck 
das Lustvolle dieser Abgeschiedenheit; in ihren Träumen durchlebt sie 
ähnliche Situationen. Die Welt ist ihr fern, der eigene Körper erscheint 
ihr verändert, die eigene Stimme fremd. ‚Der Mensch, der da spricht, 
ist mir ganz fremd.“ Um die Qual noch zu erhöhen, nehmen alle Dinge 
bizarre, verzerrte Formen an, so daß sie an Zeichnungen von Kubin 
erinnern. „Alles ist grausamer, schwärzer als in Wirklichkeit.‘“ Diese 
masochistischen Phantasien gipfeln in Vorstellungen vom Tode, in der 
Idee, zum Fenster hinausspringen zu müssen usw. Nach Überschreitung 
des Höhepunktes setzt heftige Angst ein. Dazu gesellen sich angstvolle 
Vorstellungen, die entsprechend der momentanen Lage variieren. 
Macht Patientin z. B. auf der Straße den Zustand durch, so hat sie das 
Gefühl, sie müsse fallen, sie könne nicht allein nach Hause gelangen, 
müsse irgend einen beliebigen Mann ansprechen. „Fallen“ und ‚einen 
Mann ansprechen‘ sind doppelsinnige Ausdrücke. Sie charakterisieren 
nicht nur den Zustand der Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit, sondern 
sie deuten auf die bei hysterischen Frauen so häufigen, aber streng geheim 
gehaltenen Prostitutionsphantasien hin!). Patientin empfindet den 
Trieb, sich dem ersten besten Manne hinzugeben und hat dies zu Zeiten, 
in denen Zustände wie die geschilderten häufig auftraten, wirklich getan. 
Die Prostitutionsgelüste erscheinen hier nur als eine spezielle Form des 
Masochismus; sie begreifen für die Patientin, die im allgemeinen selbst- 
bewußt, ja herrschsüchtig ist, die tiefste Erniedrigung in sich. 

Bei dieser Patientin lernen wir auch das Vorkommen sehr pro- 
trahierter Traumzustände kennen, wie ihrer Löwenfeld ebenfalls 
Erwähnung tut. Bei manchen Neurotikern dauert das Gefühl, in einem 
Traum befangen zu sein, mitsamt den Zweifeln an der Realität der Um- 
gebung durch Monate und noch darüber. Patientin litt sehr lange unter 
dem Eindruck, alles um sie sei nur ein Schauspiel, sie selbst sei körperlich 
tot, sei nur ein geistiges Wesen, das die wirkliche Welt beobachte, 


1) Diese kommen bei der Patientin in häufigen Träumen zum deutlichsten 
Ausdruck, desgleichen in verräterischen Symptomhandlungen. 
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 2 


18 Karl Abraham. 


ohne mit ihr irgend etwas gemein zu haben. Sie erklärt, dieser lang- 
dauernde Zustand sei eigentlich eine Qual gewesen, aber eben dadurch 
habe er ihr den Zugang zu Dingen verschafft, die ıhr sonst verschlossen 
geblieben wären. Diese Zustände gestatteten es der Patientin, sich aus 
der Welt, die ihre Wünsche unbefriedigt ließ, ın eine Traumwelt zu 


flüchten. 
Beobachtung D. 


Der noch jugendliche Patient D leidet seit seiner Kindheit an einer 
schweren Hysterie, die ihn fast völlig unsozial macht. Er spricht z. B. mit 
anderen Menschen kaum das Nötigste und vermeidet es, in Gegenwart 
Fremder zu essen, weil er bei jeder solchen Gelegenheit schwere Angst 
ausstehen muß. Schon durch seine Art zu leben schließt er sich also gegen 
die Außenwelt ab. Dieser Tendenz dienen auch seine Traumzustände. 

Das Sonderlingsleben eines so jungen Mannes ist motiviert durch 
eine ganz ausnahmsweise starke Fixierung der Libido auf die nächsten 
Angehörigen. Patient ist außerordentlich fest an den engen Kreis dieser 
Personen gebunden; jedes Hinaustreten aus diesem erregt Angst. Geht 
er aus dem Hause, will er Fremden einen Besuch machen, will er mit 
einem Vorgesetzten sprechen, stets tritt Angst ein. Die ungewöhnlich 
starke Sexualphantasie des Kranken hängt an seiner Familie, und zwar 
sind nicht nur seine heterosexuellen Wünsche auf Mutter und Schwester 
fixiert, sondern in ganz besonderem Grade beschäftigt er sich in homo- 
sexuell-masochistischem Sinne mit der Person seines Vaters. Nähert 
sich Patient nun irgend einem fremden Menschen, so beschäftigt sich 
seine Sexualphantasie sofort mit diesem. Der Versuch einer ‚‚Über- 
tragung‘ erfährt aber ebenso rasch eine Unterdrückung. Patient wollte 
einen Augenblick lang aus dem engen Kreise heraustreten, aber die 
Fixierung seiner Libido auf die Angehörigen ist zu stark, und so folgt 
jedem Versuche, den er in dieser Richtung unternimmt, die Angst 
auf dem Fuße. 

Die erwähnten sexuellen Phantasien bildeten für den Patienten 
stets die Einleitung zur Masturbation. Er betreibt nun die Masturbation 
in einer raffinierten Weise, indem er nie brüske Manipulationen an- 
wendet, sondern im Gegenteil ganz leichte, dafür aber lange fortgesetzte 
Reize appliziert (leichtes Zusammenpressen der Schenkel, Mani- 
pulationen durch die Kleider hindurch). Unter diesen körperlichen 
Reizen und den sie begleitenden Phantasien tritt nun die traumhafte 
Entrückung ein. Es kommt beim Patienten nie zur Ejakulation, dagegen 


Über hysterische Traumzustände. 19 


zu einem sehr ausgeprägten Stadium der Bewußtseinsleere. Wir sehen 
in diesem Falle die Traumzustände noch in ihrer direkten und ursprüng- 
lichen Verknüpfung mit der Masturbation. Doch treten sie auch ganz 
spontan auf, und zwar namentlich in Anwesenheit des Vaters des Patien- 
ten. Dann regen sich eben jene Phantasien, denen Patient in der Ein- 
samkeit nachhängt. Sie leiten jetzt den Traumzustand wie sonst die 
Masturbation ein. 

Jahrelang hat Patient diese für ihn in hohem Grade lustvollen Zu- 
stände während des Schulunterrichtes genossen. Er war, wie seine Lehrer 
bemerkten, ohne Teilnahme für den Unterricht und meist wie geistes- 
abwesend. Ihn beherrschten eben Phantasien, die vom Unterrichte 
weit abseits lagen. Wurde er nun durch eine Frage des Lehrers aus seinem 
Dämmern aufgescheucht, so trat heftige Angst ein. Im Laufe der Jahre 
hat sich in dieser Hinsicht bei ihm nichts geändert. Der Traumzustand 
dient ihm auch jetzt dazu, sich in völliger Einsamkeit abzuschließen. 
Er ist ganz in sich gekehrt und es fällt ihm schwer, sich auf irgend 
etwas, das außerhalb des Kreises seiner Phantasien liegt, zu kon- 
zentrieren. Befindet der Patient sich in einer ihm unerwünschten 
Situation, so ruft er nicht selten den Traumzustand willkürlich durch 
ein einfaches Mittel hervor, das den Abschluß gegen äußere Eindrücke 
in deutlichster Weise symbolisiert: er schließt die Augen. Während der 
psychoanalytischen Sitzungen schloß er die Augen stets, wenn wir 
auf ein Gebiet kamen, über das er nicht zu reden wünschte. Dann war 
es unmöglich, auch nur ein Wort aus dem Patienten herauszubringen, 
der wie erstarrt und geistesabwesend dasaß. Als ich ihm erklärte, die 
Traumzustände erforderten ein genaues psychoanalytisches Eingehen, 
trat sofort ein Traumzustand ein, der natürlich ein solches Eingehen 
zunächst unmöglich machte. Übrigens ist Patient auch imstande, den 
Traumzustand selbst zu unterbrechen. Er tut dies durch einen plötz- 
lichen Ruck des Kopfes. 
| Eine besondere Verwendung findet der Traumzustand noch, wenn 
Patient unter einem eigentümlichen, psychisch bedingten Schmerz 
zu leiden hat. Er ruft dann durch sexuell erregende Manipulationen 
den Traumzustand hervor. Der Schmerz verwandelt sich dann ganz 
allmählich in ein Lustgefühl. 


Beobachtung E. 


Auch bei dem Patienten E begegnen wir einer überaus starken 
infantilen Sexualübertragung auf beide Eltern und vermissen nicht 


IF 


30 Karl Abraham. 


die stets zugehörigen, vom Bewußtsein streng abgelehnten Todeswünsche. 
Diese letzteren waren besonders auf die Mutter gerichtet, durch den 
Vorgang der Reaktionsbildung aber in eine übergroße Anhänglichkeit 
von durchaus kindlichem Charakter verwandelt. Dem längst erwachsenen 
Manne kommt es noch jetzt sonderbar vor, daß er erwachsen ist; er hat 
das Gefühl, eigentlich noch ein Kind zu sein. Es ıst sehr bemerkens- 
wert, daß der Tod der Mutter bei diesem Patienten den ersten Traum- 
zustand auslöste, welcher einen sehr protrahierten Verlauf nahm. Patient 
hatte viele Monate hindurch beständig das Gefühl, im Traum umher 
zu gehen; nur die Intensität dieses Gefühles bot große Schwankungen. 
Ganz spontan äußert Patient: „Ich kann mir die Realität nicht 
vorstellen, wenn ich nicht Seite an Seite mit ihr (der Mutter) 
bin.“ An die Stelle der verdrängten Phantasien, die sich einst gegen 
das Leben der Mutter gerichtet hatten, ist also im Bewußtsein die 
Vorstellung getreten, das eigene Leben des Patienten hänge vom Leben 
der Mutter ab, und höre auf, wenn das ihrige aufhöre. Die Todesphan- 
tasien haben sich gegen den Patienten selbst gekehrt. Er äußert 
weiter wörtlich: „Hand in Hand damit geht die Vorstellung vom Un- 
wert alles Vorhandenen‘“. Mit dem Tode der Mutter hat die Welt auf- 
gehört, für den Patienten Wert zu haben! Seine Libido zieht sich zeit- 
weise von den Dingen zurück. Nun erscheint ıhm, ganz wie wir es bei 
den anderen Kranken sahen, alles fremd, als hätte er es nie gesehen. 
Die Menschen, mit denen er spricht, scheinen ihm gar nicht wirklich 
zu existieren. Alle früheren Erlebnisse — d. h. diejenigen, welche sich 
zu Lebzeiten seiner Mutter zugetragen haben — sind weit von ihm 
abgerückt: ‚Rückwärts hat alles etwas Traumhaftes, als wäre es un- 
endlich lange her.“ 

Der geschilderte Zustand herrscht auch jetzt öfter, ohne daß 
sein Kommen und Gehen dem Patienten besonders auffällt. Patient 
ist auch im allgemeinen imstande, die in seinem Berufe notwendige, 
sehr intensive geistige Arbeit zu leisten. In den letzten Jahren sind nun 
Traumzustände von kurzer Dauer und akutem Verlaufe hinzugetreten. 
Sie haben eine sehr eigenartige Eintstehungsgeschichte. 

Patient leidet an periodischen Kopfschmerzen von quälendster 
Heftigkeit, über deren Ursprung später einiges erwähnt werden soll. 
Vor ungefähr 3 Jahren entschloß er sich, die Hilfe eines Nervenarztes 
in Anspruch zu nehmen, der sich speziell mit hypnotischer Therapie 
beschäftigte. Da eine Reihe von Versuchen nicht zu einer Hypnose führte, 
gab Patient die Behandlung auf, versuchte nun aber selbst, sich in einen 


Über hysterische Traumzustände. 21 


von dem gewöhnlichen abweichenden Bewußtseinszustand zu versetzen, 
in der Hoffnung, dadurch den Kopfschmerz zu verlieren. Es gelang ihm 
eine Anzahl von Malen, einen solchen höchst lustvollen Zustand 
hervorzurufen, den er selbst als eine ‚„Autohypnose“ auffaßt. Der Kopf- 
schmerz wurde freilich dadurch nicht beeinflußt. 

Patient hat den Wunsch, hypnotisiert zu werden, auch mir wieder- 
holt und auffallend eindringlich geäußert. Die Unterordnung unter den 
Willen eines andern liegt in der Richtung seines Masochismus. Er spricht 
es selber aus, daß sein höchstes Ideal sei, sich völlig passiv verhalten zu 
können, daß er es als eine Qual empfinde, im Leben alle seine Energie 
anstrengen zu müssen. Seine Sexualität bietet unverkennbare maso- 
 chistische Züge in Menge. Lange Zeit masturbierte er unter maso- 
chistischen Phantasien, bis er sich unter schweren Kämpfen halbwegs 
von der Masturbation befreite. Ein für das Verständnis der Traum- 
zustände ausschlaggebendes Symptom der sexuellen Passivität ist aber 
seine psychische Impotenz. Sie ist bei dem Patienten in der gleichen 
Zeit entstanden, als er die Traumzustände hervorrief. Patient hat sıch 
übrigens, wie er spontan erklärt, schon früher gewünscht, sexuell passiv 
sein zu können. Er möchte sich der sexuellen Lust passiv hin- 
geben können wie ein Weib. 

Der Traumzustand bringt die Erfüllung dieser Ideale unter hoher 
Lust. Dem Wunsche nach dem Ende aller Aktivität entspricht es, daß 
Patient sich, um den Zustand herbeizuführen, mit aller Gewalt darauf 
konzentriert, nichts zu denken. Sein Leben dient im allgemeinen 
der angestrengten Denkarbeit; er wünscht das Gegenteil dieses Zustandes 
herbei. Wir sahen bereits bei den anderen Patienten auf der Höhe des 
Traumzustandes eine ‚@Gedankenleere‘‘ eintreten. Im vorliegenden 
Falle finden wir ein ganz bewußtes Tendieren nach diesem Stadium, 
daß ja dem Moment der höchsten Lust entspricht. 

Hören wir nun die eigene Beschreibung, die der Patient unter 
den Zeichen eines starken Affektes spontan gegeben hat; sie ist uns 
nach dem Gesagten ohne weiteres verständlich. ‚Zuerst ist es eine An- 
strengung, wie beim sexuellen Verkehr; wenn ich es jetzt machen wollte, 
ich müßte mich hinlegen und müßte arbeiten. Es ist die strengste Kon- 
zentration darauf, nichts zu denken. Ich schließe die Augen. Nichts 
von der Außenwelt darf zu mir dringen. Dann kommt das kurze Stadium 
der Wonne, der vollständig umgekehrten Lebensgefühle, die größte 
physische Veränderung, die ich kenne. Ich glaube, ich kann die Worte 
nicht extrem genug gebrauchen. Das kurze Stadium der Lust ist doch 


223 Karl Abraham. 


wie eine Unendlichkeit.‘ Auf dem Höhepunkte des Erregungsvor-. 
ganges — als einen solchen müssen wir ihn bezeichnen — ist das Denken 
unterbrochen. 

Der Patient vervollständigt seine Schilderung wie folgt: „Man 
hat die Idee im Leben, als wenn alles vorwärts drängt; ich meine z. B. 
den Blutkreislauf. Mit einem Schlage ist alles anders; nun ebbt alles 
zurück, als wenn es nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts ginge. 
Es ist, als wenn ein Zauber in Kraft getreten wäre. Während sonst 
alles aus dem Körper hinaus will, wird es nun in den Körper zurück- 
getrieben. Ich strahle nicht aus, sondern ich ziehe ein.‘ Dann, nach 
einer kleinen Pause fortfahrend: ‚Es liegt darüber eine absolute, har- 
monische Ruhe, eine wohltuende Passivität, im Gegensatze zu meinem 
wirklichen Leben. Die Wogen strömen über mich hin. Es wird etwas 
mit mir gemacht. Wenn der Zustand nicht aufhörte, würde ich mich 
bis ans Ende der Tage nicht bewegen.“ 

Diese Traumzustände dienen dem Patienten dazu, in seiner Phan- 
tasie uneingeschränkte Lust aus sexueller Passivität zu gewinnen. 
Er möchte ein Weib sein; im Traumzustand erlebt er die Erfüllung 
dieses Wunsches. Er hat vollkommen recht, wenn er von der ‚denkbar 
größten, physischen Veränderung“ spricht. Eine eingreifendere Ver- 
änderung als die Verwandlung in ein Wesen des andern Geschlechtes 
kann ja nicht erdacht werden. Für den Patienten bedeutet sie nicht 
nur eine Veränderung seines Geschlechtes, sondern eine Umkehrung 
seiner gesamten Lebensführung. 

Der Wunsch, Weib zu sein, weist uns auf die homosexuelle Trieb- 
komponente bei dem Patienten hin. Da wir von der intensiven Über- 
tragung der infantilen Libido auf den Vater bereits erfahren haben, 
so wird die Annahme nahegelegt, der Patient identifiziere sich, wenn 
er ein Weib sein will, mit seiner Mutter, um beim Vater ihren Platz 
einzunehmen. Diese Annahme wird gesichert durch die Ätiologie des 
schon erwähnten Kopfschmerzes, der in erster Linie der Identifizierung 
des Patienten mit seiner Mutter dient. Die Mutter litt schon in der 
Kindheit des Patienten an Anfällen von Kopfschmerz, welchen die 
seinigen auffallend gleichen. Der Kopfschmerz der Mutter kam stets 
mit der Periode; sie war gleichzeitig einige Tage lang sehr empfindlich 
gegen jeden Reiz und mußte sich vollkommen schonen. Auch bei dem 
Patienten wiederholte sıch der Kopfschmerz jahrelang in 
vierwöchentlichen Intervallen und dauerte jeweilendrei bis 
vier Tage. Patient ist während des Kopfschmerzes äußerst empfindlich 


Über hysterische Traumzustände. 23 


gegen jeden Reiz, muß die Arbeit aussetzen und einen bis zwei Tage 
im Bette zubringen. Patient identifiziert sich also durch den Kopfschmerz 
mit seiner Mutter. Daß er eine dunkle Ahnung von diesem Zusammen- 
hange hatte, geht daraus hervor, daß er in der ersten Zeit der Behandlung 
einmal scherzend sagte: ‚Ich habe augenblicklich meine Periode.‘ 

Kopfschmerzanfälle und Traumzustände dienen bei dem Patienten 
der Metamorphose zum Weibe. Die vierwöchentliche Periode und die 
sexuelle Passivität sind zwei hervorragend wichtige Züge im Geschlechts- 
leben des Weibes. Patient handelte aus einem ganz richtigen Instinkt 
heraus, als er den Kopfschmerz durch den Traumzustand zu vertreiben, 
oder — wie wir jetzt richtiger sagen werden — zu ersetzen suchte. 
Denn beide dienen ja dem gleichen Ziele, der sexuellen Passivität. 
Wäre ıhm sein Plan gelungen, so hätte er eine unlustvolle Krankheits- 
erscheinung durch eine gleichsinnige lustbetonte ersetzt gehabt. 
Daß seine Erwartung enttäuscht wurde, vermögen wir freilich auch zu 
erklären. Der Kopfschmerz beruht eben nicht nur auf dem einen er- 
wähnten Motiv, sondern er steht noch im Dienste anderer verdrängter 
Wünsche, die durch den Traumzustand keinen adäquaten Ausdruck 
gefunden hätten. Der Traumzustand konnte daher nur neben den 
Kopfschmerz, nicht aber an seine Stelle treten, 

Die beabsichtigte Unlustverhütung ist dem Patienten mißlungen; 
aber er hat eine neue Lustquelle gewonnen. Vermag der Traumzustand 
den Patienten auch nicht von seinem Schmerze zu befreien, so ent- 
schädigt er ihn doch durch eine Lust, die ihn den ausgestandenen Schmerz 
verwinden läßt. 


Beobachtung F. 
Übergänge zwischen Tagträumereien und eigentlichen Traumzuständen. 


Ich schließe hier ein Fragment einer weiteren Psychoanalyse 
an; dieser Fall weist keine ausgesprochenen Traumzustände im Sinne 
der bisher beschriebenen auf, macht uns aber mit einer Art Vorstufe 
zu diesen bekannt. Er demonstriert in besonders einleuchtender Weise 
die Abkunft der Traumzustände von den Wachträumen und überdies 
die nahe Verwandtschaft zwischen den neurotischen Traumzuständen 
und den nächtlichen Träumen. 

Der Patient F wird von gewissen, häufig wiederkehrenden Phan- 
tasien in so hohem Grade beherrscht, daß er sie als seine ‚„Zwangs- 
vorstellungen““ bezeichnet. Namentlich Lektüre gibt ihm die An- 
regung zu seinen Träumereien. Er identifiziert sich sofort mit dem 
Helden der Erzählung. ‚Wenn ich einen Liebesroman lese, glaube ich 


24 Karl Abraham. 


der Held zu sein, den die Frauen umschwärmen.“ In Wirklichkeit 
ist die geschlechtliche Aktivität des Patienten sehr reduziert. Neben 
den erotischen Träumereien beschäftigen den Patienten Größen- 
phantasien. Hat er von gewissen historischen Persönlichkeiten gelesen, 
so kommt die Vorstellung, er sei der Held. Er durchlebt dann in der 
Phantasie die Rolle seines Helden. ‚Ich lese z. B. gern von Napoleon. 
Den Jubel, den er hörte, empfinde ich auch.‘ Ja, Patient braucht nur 
an Jubel, Ruhm und Beifall zu denken, so überläuft ihn ein Schauern. 
Auch Musik (z. B. Militärmusik) wirkt begeisternd auf ihn und ruft 
ein „‚Schauern“ hervor. In dem Wachtraum, der durch solche erregenden 
Anlässe ausgelöst wird, erlebt der Patient, der von Beruf Kaufmann 
ist, wie er ein bedeutender oder reicher Mann wird ‚‚etwa ein Fabrikant 
wie Krupp“. Er malt sich dann aus, wie er gegen seine Än- 
gestellten rücksichtslos vorgehen, ihnen seinen Willen 
aufzwingen würde. (Napoleon!) Es wird ihm schwer, sich von diesen 
Vorstellungen frei zu machen. „Wenn ich die Zwangsvorstellungen 
{= Tagträume) habe, rezitiere ich ein Gedicht, um mich abzulenken, 
meist die ‚Lorelei‘, ‚Heil dir im Siegerkranz‘ oder ein anderes Gedicht 
aus meiner Schulzeit.‘“ Er muß das Aufsagen solcher Gedichte aber oft 
wiederholen, ehe er die Wirkung erzielt. 

Im Mittelpunkte der Phantasiegebilde des Patienten steht ent- 
weder ein Sexualheld oder ein rücksichtsloser Despot oder Kriegsheld. 
Man errät unschwer, daß Patient in diesen Wachträumen diejenigen 
Wünsche zu befriedigen sucht, die aus der „Verschränkung‘“ des Sexual- 
triebes mit dem Aggressionstrieb hervorgehen, also seine „sadistischen“ 
Regungen. 

Patient hat im allgemeinen das Gefühl, als erwecke 
er nicht den Eindruck der Männlichkeit, als behandle man 
ihn wie ein Kind. Dieses Gefühl beruht auf der Unterdrückung seines 
Sadismus. In seinen Träumereien wird er zum energischen, despotischen 
Manne, um sich hernach wieder in das abhängige, schwache ‚‚Kind“ 
zurück zu verwandeln. Die Gedichte aus der Schulzeit sind geeignet, 
die Phantäsien zu unterbrechen, weil Patient sich durch sie in die Kind- 
heit zurückversetzt fühlt. Die inhaltliche Ähnlichkeit der Phantasien 
dieses Patienten mit denjenigen des ausführlich beschriebenen Falles B 
fällt sofort auf. Die Ähnlichkeit erstreckt sich übrigens noch auf ein 
besonderes Symptom. Bei dem Patienten B konstatierten wir eine 


auffällige Neigung zum Erröten. Patient F leidet an Erröten und aus- 
gesprochener Erythrophobie. 


Über hysterische Traumzustände. 29 


Es handelt sich in diesem Falle nicht um Traumzustände von dem 
früher geschilderten Charakter, denn es fehlt die Entrückung, die Be- 
wußtseinsleere und die nachfolgende Angst. Auch der Verlauf ist ein 
anderer. Aber es handelt sich um sehr intensive, über das Gewöhn- 
liche hinausgehende Tagträumereien, die mit dem Traumzustande 
(sensu strietiori) einen wichtigen Zug gemeinsam haben. Der Patient 
verliert während des Phantasierens die Herrschaft über seine Gedanken; 
er kann sie nicht ohne weiteres nach seinem Belieben unterbrechen. 
Er mußte, ganz wie wir es bei anderen Patienten sahen, ein Mittel erfinden, 
um die Träumereien unterbrechen zu können, und muß von diesem 
einen ausgiebigen Gebrauch machen, bevor es wirkt. Besonders ist noch 
zu erwähnen die große visuelle Lebhaftigkeit der Tagträumereien 
in diesem Falle; sie wird noch eine genauere Besprechung finden. 

Der gleiche Fall zeigt nun außerdem sehr schön, daß die Tages- 
phantasien auch die Vorstufe der nächtlichen Träume bilden. Der 
Patient berichtet über einige Träume, die seit seiner Kindheit öfter 
wiederkehren. In einem dieser Träume wird er im Bett von einem 
bärtigen Manne überfallen. Dieser sticht mit einem Dolche auf ihn ein. 
Er selbst liegt ruhig da, als wären ihm die Hände gelähmt. Er erwacht 
aus dem Traum mit großer Angst. Noch häufiger wird Patient im Traum 
von einem Löwen verfolgt. In großer Angst schlüpft er schließlich 
durch einen Mauerspalt, durch welchen der Löwe ihm nicht folgen kannt). 
Der Mann mit dem (symbolischen) Dolch ist der Vater, dessen ‚Über- 
fall“ auf die Mutter der Patient als kleiner Knabe beobachtet hat. 
Der Traum verrät den verdrängten Wunsch des Patienten, beim Vater 
die Stelle der Mutter einzunehmen. Auch der Traum vom Löwen gehört 
diesem Komplexe an. 

Forderte ich diesen Patienten, der nur kurze Zeit in meiner Be- 
handlung stand, auf, in der zur Analyse notwendigen Weise mitzuteilen, 
was ihm einfiele, so schloß er gewöhnlich die Augen und berichtete über 
Bilder, die vor seinen Augen erschienen. Zu dem Traume vom Erdolcht- 
werden ließ er sich folgendermaßen vernehmen?): ‚Ich sehe, wie ein 
Mann von einem andern gestochen wird. Der eine liegt auf dem Diwan, 
der andere kniet auf ihm und sticht zu, in die Brust. Der Liegende hält 


!) Ähnliche perennierende Träume berichtet auch Patient B, Die Analyse 
solcher Träume habe ich aber der Darstellung des Falles B nicht eingereiht, um die 
Übersicht nicht zu erschweren. 

2) Die oben gegebene Deutung des Traumes war dem Patienten unbekannt, 
als er seine Visionen mitteilte. 


236 Karl Abraham. 


mit der linken Hand die rechte des Gegners fest. Der Knieende mag etwa 
30 Jahre alt sein, er sieht sehr wild aus, hat einen dunkeln Bart. Der 
Liegende ist vornehm, wie von altem Adel, er hat ein Seidenwams 
mit Spitzenkragen.“ 

Daß diese Bilder den erwähnten perennierenden Träumen inhaltlich 
gleichen, ist ohne weiteres ersichtlich. Der Liegende ist Patient selber; 
er liest übrigens während der Vision auf dem Diwan in meinem Sprech- 
zimmer. Sehr zu beachten ist die Form der Darstellung durch das 
Passivum: ein Mann wird von einem andern gestochen. Patient selbst 
ist das Subjekt. Der Vater war zur Zeit, als Patient das Schlafzimmer 
der Eltern teilte, ungefähr 30 Jahre alt und trug einen Bart. Daß Patient 
den Liegenden als Adeligen vornehm ausstattet, wird aus den typischen 
Abkunftsphantasien!) verständlich, die beim neurotischen Kinde 
mit großer Lebhaftigkeit auftreten. Das Seidenwams mit Spitzenkragen 
hat er einem über dem Diwan hängenden Bilde entnommen (der 
„lachende Kavalier‘“ von Frans Hals); er hatte es eifrig betrachtet, 
bevor er die Augen schloß, weil es den infantilen Vornehmheitskomplex 
traf. Als er es jetzt nochmals betrachtet, bemerkt er, die Kleidung erinnere 
an ein vornehmes Frauenkleid. Das Bild hatte also noch einen weiteren 
Komplex — den homosexuellen — berührt. 

Einen Tag später produzierte Patient, wiederum auf dem Diwan 
liegend, noch folgende Visionen: 

„Ein Zentaur — jetzt kommt ein kleines Kind... ein kleiner 
Zentaur hinzu.‘ (Vater und Patient selbst. Zu beachten die sexuelle 
Symbolik im Vergleiche mit dem wilden Zentauren oder dem Hengst!) 

„Ein Wettrennen... wie die Reiter die Hürde nehmen.“ (Die 
Rivalität mit dem Vater. Patient hat überhaupt den Charakterzug, 
den Patient B bei sich selbst als ‚, Wetteifergefühl‘“ bezeichnet.) 

„Bin gestürztes Pferd vor einem Wagen.“ (Patient gibt an, auf 
dem ‚Wege zu mir ein gestürztes Pferd gesehen zu haben. Die tiefere 
Begründung dieses Bildes liegt in den typischen Phantasien vom Tode 
des Vaters?.) 





um 2 dt yo Schrift „Traum und Mythus‘ (Seite 40) sowie Rank, ‚Der 
ythus von der Geburt des Helden“, beide in ‚‚Schrifte See 
kunde“, Wien, F. Deuticke., ei; 


An: . . 
5 ) Die gleiche Phantasie vom gestürzten Pferde habe ich kürzlich wieder 
nem andern Falle gefunden. Ihre Analyse bei einem Knaben findet man in 


Freuds ‚Analyse der P Fo Bas 7, 22% 
buches. i er Ehobie eines fünfjährigen Knaben“ in Band I dieses Jahr- 


Über hysterische Traumzustände. 27 


„Der Mann mit dem Helm, das Bild von Rembrandt.‘“ (Dieses 
Bild hängt nicht in meinem Zimmer; es ist aber ein Lieblingsbild des 
Patienten. Der Vater des Patienten war eine große, kraftvolle Er- 
scheinung; er hatte zwei Kriege als Gardist mitgemacht. Patient hat 
den Wunsch, ein Krieger zu sein wie der Vater; dieser ist auch das Vor- 
bild der Napoleon-Phantasien.) 

Es folgten dann noch weitere Erscheinungen von ähnlichem 
Charakter. 

Phantasien aus der Kindheit des Patienten geben in gleicher 
Weise seinen Wachträumereien und seinen nächtlichen Träumen den 
Inhalt. Sogar die halluzinatorischen Bilder sind beiden gemeinsam. 
Eine der ‚Traumarbeit‘ analoge psychische Leistung formt auch in den 
Traumzuständen aus dem verdrängten (latenten) Gedankenmaterial 
den manifesten Inhalt. Ich verweise hier nur auf die ausgiebige Ver- 
wendung der Symbolik sowie auf die sehr intensive Verdichtungsarbeit. 
Wir sind zahlreichen Beispielen begegnet, welche zeigen, daß irgend 
ein Detail des Traumzustandes (und dieser selbst, als Ganzes betrachtet) 
sehr verschiedenen, ja entgegengesetzten Phantasien zum Ausdruck 
dient. 

Träume und neurotische Traumzustände sind nicht 
die einzigen Abkömmlinge der Tagträumereien. Wir können ihnen 
zwei weitere, durch eine tiefergehende Störung des Bewußtseins aus- 
gezeichnete Gebilde anreihen. Aus dem Traum geht der somnamb.ule 
Traum hervor; in ihm setzt der Neurotiker seine Phantasien in mehr 
oder weniger komplizierte Handlungen um, für welche er später 
keine Erinnerung hat. 


Zu den Traumzuständen stehen in ganz analogem Verhältnis 
die „hypnoiden Zustände“ und ,„Dämmerzustände“. In 
diesen letzteren finden wir Erscheinungen wieder, die uns von den 
Traumzuständen her geläufig sind ; ich nenne mit den Worten Bre uers!) 
die ‚„Entrückung“, das ‚Verdämmern der umgebenden Realität“ 
und das ‚affekterfüllte Stillestehen des Denkens“. In den Dämmer- 
zuständen werden oft komplizierte Handlungen ausgeführt. Dem Grade 
der Bewußtseinsstörung entspricht die den Dämmerzuständen folgende 
Amnesie; den von uns betrachteten Traumzuständen ist diese nicht 
eigentümlich. 


!) „Studien über Hysterie‘‘ von Breuer und Freud, Seite 191 der 
2. Auflage. 


38 Karl Abraham. 


Diesen episodischen Erscheinungen im Krankheitsbild der Hysterie 
sind noch andere, nahe verwandte Phänomene anzureihen, deren Be- 
ziehungen zu den Tagträumereien bereits durch frühere Untersuchungen 
erwiesen sind. Ich nenne zunächst die hysterischen Anfälle. Freud!) hat 
kürzlich seine Anschauungen von ihrem Wesen in sehr knapper Form 
zusammengefaßt. Aus seinen Ausführungen, auf die ich schon früher 
zu verweisen hatte, zitiere ich einige Stellen wörtlich: 

„Die Erforschung der Kindergeschichte Hysterischer lehrt, daß 
der hysterische Anfall zum Ersatz einer ehemals geübten und seither 
aufgegebenen autoerotischen Befriedigung bestimmt ist.“ Wir sind 
durch die Analyse der Traumzustände zu analogen Resul- 
taten gelangt. 

„Die Anamnese der Kranken ergibt folgende Stadien: @) auto- 
erotische Befriedigung ohne Vorstellungsinhalt, 5) die nämliche im 
Anschlusse an eine Phantasie, welche in die Befriedigungsaktion aus- 
läuft, c) Verzicht auf die Aktion mit Beibehaltung der Phantasie, d) Ver- 
drängung dieser Phantasie, die sich dann entweder unverändert oder 
modifiziert und neuen Lebenseindrücken angepaßt im hysterischen 
Anfalle durchsetzt und e) eventuell selbst die ihr zugehörige, angeblich 
abgewöhnte Befriedigungsaktion wiederbringt. Ein typischer Zyklus 
von infantiler Sexualbetätigung — Verdrängung — Mißglücken der 
Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten.‘ Die ersten drei 
Entwicklungsstadien sind also dem Traumzustand und 
dem hysterischen Anfalle gemeinsam. 

Der Bewußtseinsverlust, die Absence des hysterischen Anfalles 
geht aus jenem flüchtigen, aber unverkennbaren Bewußtseinsentgang 
hervor, der auf der Höhe einer jeden intensiven Sexualbefriedigung 
(auch der autoerotischen) zu verspüren ist.... „Der Mechanismus 
dieser Absencen ist ein relativ einfacher. Zunächst wird alle Aufmerk- 
samkeit auf den Verlauf des Befriedigungsvorganges eingestellt, und mit 
dem Eintritte der Befriedigung wird diese ganze Aufmerksamkeits- 
besetzung plötzlich aufgehoben, so daß eine momentane Bewußtseins- 
Fo entsteht. Diese sozusagen physiologische Bewußtseinslücke wird 
Dar ara der Verdrängung erweitert, bis sie all das aufnehmen 

‚ was die verdrängende Instanz von sich weist.“ 
en a Be 
een 2 eren raumzustand und hysterischer Anfall 
‚gen Hıttein der Darstellung und meist auch im Verhalten des 

‘) Vgl. Zitat auf Seite 8. 


Über hysterische Traumzustände. 29 


Bewußtseins. Während die Absence im Traumzustand fast stets von 
kurzer Dauer ist, namentlich ım Vergleiche mit der Ausdehnung der an- 
deren Verlaufsstadien, erweitert sich beim hysterischen Anfalle die 
„Bewußtseinslücke‘ je nach Bedarf. Zur Darstellung der verdrängten 
Phantasien bedient sich der hysterische Anfall des ‚Reflexmechanismus 
der Koitusaktion‘‘ und bewirkt so die „motorische Abfuhr der ver- 
drängten Libido“. Im Traumzustande spielt sich der Vorgang auf dem 
Gebiete der Phantasie ab, wenn wir von gewissen motorischen 
Äußerungen (wie z. B. Veränderung der Körperhaltung oder des Ganges) 
absehen, die zur Koitusaktion keine Beziehung haben. 

Nächst den motorischen Anfällen der Hysterie stehen die Angst- 
anfälle im naher genetischer Beziehung zu den Traumzuständen. 
Auch in dieser Art episodischer hysterischer Erscheinungen haben wir 
umgewandelte sexuelle Erregungsvorgänge zu erblicken!). Ich möchte 
hier erwähnen, daß die Patienten, über deren Traumzustände ich aus- 
führlich berichtet habe, sämtlich mehr oder weniger häufig auch an 
Angstanfällen, nicht dagegen an motorischen Anfällen leiden. Hier 
liegen individuelle Differenzierungen im Krankheitsbilde vor, in die 
wir noch keinen genügenden Einblick gewonnen haben. 

Ich will hier erwähnen, daß Traumzustände von ganz analoger 
Struktur auch bei Geisteskranken (Dementia praecox) vorkommen. 
Ihre Entstehung aus den Wachträumen konnte ich kürzlich bei einem 
jungen Hebephrenen mit Sicherheit feststellen. In diesem Falle war 
der Zustand der Entrückung besonders ausgesprochen; in den Traum- 
zuständen schien es dem Patienten, ‚‚als wäre alles nur ein Theater‘. 
Ich erinnere daran, daß ım Verlaufe der Dementia praecox auch Dämmer- 
zustände vorkommen, die wichtige Züge mit den hysterischen gemeinsam 
haben. Traumartige Zustände von protrahiertem Verlauf mit besonderem 
Hervortreten des Fremdheitsgefühles sind von Wernicke, Julius- 
burger u. a. Autoren beschrieben worden?). 

Die analysierten Fälle gehören sämtlich zu den schweren Psycho- 
neurosen. Es darf daraus aber nicht der Schluß gezogen werden, 
daß Traumzustände bei leicht Neurotischen nicht vorkämen. Sicherlich 


!) Vgl. hierzu Stekel, Nervöse Angstzustände und ihre Behandung, Berlin 
und Wien, Verlag von Urban & Schwarzenberg, 1908. 

2) Ich konnte kürzlich bei einer Patientin eine Serie katatonischer 
Anfälle beobachten. Sie wurden durch heftige Kußbewegungen des Mundes ein- 
geleitet und stellten im Weiteren unverkennbar einen sexuellen Akt dar. Also 
auch hier Analogie zum hysterischen Anfall. 


30 Karl Abraham. 


ist eine große Zahl Leichtkranker wie Schwerkranker mit ihnen be- 
haftet. Zur Tagträumerei neigen sie alle; es will ihnen nicht gelingen, 
das Heimweh? nach der autoerotischen Betätigung ihrer Kindheit zu 
überwinden. Die einfachen Wachträume oder die von diesen ableit- 
baren komplizierteren Gebilde dienen ihnen dazu, sich zeitweise aus der 
Wirklichkeit in ihr Kinderland zu flüchten. Ist ein Individuum zur 
Produktion von Traumzuständen disponiert, so genügt ein sehr geringer 
Reiz, der die verdrängten Komplexe berührt, zur Hervorrufung des 
Zustandes. 

Besonders bei leicht Neurotischen entziehen sich die Traum- 
zustände oft der ärztlichen Beobachtung, oder sie werden nicht in ihrer 
eigentlichen Bedeutung erkannt. Nicht selten erklärt z. B. eine Pa- 
tientin dem Arzt — und zwar keineswegs nur bei der Psychoanalyse —, 
daß sie sich von ihm hypnotisiert fühle. Das ist ein durchsichtiges 
Phänomen der ‚‚Übertragung‘“. Die Patientin ist unbewußt dazu bereit, 
sich dem Willen des Arztes unterzuordnen, d. h. bereit zum passiven 
Verhalten gegenüber einem von ihrem Unbewußten gewünschten Angriff 
des Arztes. Ihre Phantasie bearbeitet intensiv die Erfüllung dieses 
Wunsches. Es kommt dann zur traumhaften Entrückung und zu den 
bekannten weiteren Erscheinungen. Die Patientin macht, während sie 
beim Arzt weilt, einen Traumzustand durch. Andere Hvysterische 
fühlen sich durch die Gegenwart eines beliebigen Mannes hypnotisiert. 
Ich behandelte eine Patientin, die in der Straßenbahn stets von Angst 
befallen wurde. Sie hatte das Gefühl, sie werde von den Blicken eines 
beliebigen ihr gegenüber sitzenden Mannes „‚durchbohrt‘“, Daraus ging 
jedesmal ein Zustand hervor, den sie als eine Art von Hypnose bezeich- 
nete und der mit Angst abschloß. 

Andere neurotische Mädchen berichten, daß sie mitten ım Ge- 
spräche mit einem Manne sich plötzlich entrückt fühlen, ihrer eigenen 
Stimme zuhören, als spräche eine Fremde. Dann tritt die „Gedanken- 
leere“ ein, der schließlich Angst und ein Gefühl der Beschämung folgt. 
Durch die Analyse erfährt man, daß solche Individuen sich in aus- 
giebiger Weise mit Tagträumereien beschäftigen. Besonders lieben sie 
es, morgens im Bette liegend sich den Phantasien hinzugeben. Bei 
geeignetem Anlaß wird der Faden dieser Träumereien wieder auf- 
genommen und es folgen dann die anderen typischen Stadien des Traum- 
zustandes. 
ae arten Abhandlung hat Freud eine gedrängte 

nlaß und Zweck des Auftretens hysterischer 


Über hysterische Traumzustände. 3l 


Anfälle gegeben. Der hysterische Anfall wird assoziativ hervor- 
gerufen, wenn der Komplex durch eine Anknüpfung des bewußten 
Lebens angespielt wird; organisch wird er dann hervorgerufen, wenn 
die Libido, durch äußere oder innere Gründe gesteigert, keine Abfuhr 
hat. Es liegt auf der Hand, daß in der Regel beide Anlässe gleichzeitig 
vorliegen. Die nämlichen auslösenden Faktoren wirken auch 
bei der Entstehung der Traumzustände. 

Die hysterischen Anfälle dienen nach Freud zunächst der pri- 
mären Tendenz der Krankheit (Flucht in die Krankheit), bilden 
also eine Tröstung für den Patienten; außerdem stehen sie im Dienste 
der sekundären Krankheitstendenzen, wenn das Kranksein 
praktisch nützt. Von den Traumzuständen läßt sich durchaus das 
Nämliche erweisen. Ein ausgezeichnetes Beispiel einer Flucht ın die 
Krankheit bietet der Patient E, der nach dem Tode der Mutter in 
einen langdauernden Traumzustand geriet. Daß die Traumzustände 
auch einem aktuellen, praktischen Zweck dienen, zeigt jeder einzelne 
der mitgeteilten Fälle. Bei mehreren Patienten stellt sich in peinlicher 
Situation der Traumzustand ‚wie gerufen‘ ein. Besonders aber muß 
hier angeführt werden, daß manche Patienten ihn bewußt und ab- 
sichtlich herbeirufen, um Unlustgefühlen zu entgehen oder Lust zu 
gewinnen. Man wird hier wieder an die genetischen Beziehungen der 
Traumzustände zur Onanie erinnert; auch der letzteren bedient sich 
der Neurotiker häufig zum Trost, um z. B. eine Verstimmung zu be- 
seitigen. 

Gemeinsam mit dem Traume ist den neurotischen Traumzuständen 
die Funktion der Unlustverhütung!). Aber die letzteren dienen darüber 
hinaus auch positiv der Lustgewinnung. Der Patient B, welcher durch 
den Traumzustand aus dem Zustande der Passivität entrückt wird, 
entgeht dadurch nicht nur der Unlust, sondern er zieht in den ersten 
Stadien des Vorganges positive Lust aus phantasierter Aktivität. 

Ein Wechsel des Sexualziels, wie er in den Traumzuständen 
des Patienten B stattfindet , ist nicht die Regel. Es gibt einen andern 
Typus, der z. B. durch die Patientin C vertreten wird. Die Phan- 
tasien bewegen sich hier in der Richtung der schon herrschenden Passi- 
vität. Den masochistischen Gefühlen wird hierdurch eine außer- 
ordentliche Intensität verliehen. 

Die Traumzustände bieten dem Neurotiker, ganz wie die übrigen 
Phänomene der Neurose, Ersatz für eine ihm versagte Sexualbetätigung. 


!) Vgl. Freud, Der Witz. Seite 154. Deuticke, Wien 1905. 


32 Karl Abraham. 


Sein Unbewußtes macht von diesem Surrogat Gebrauch, solange die 
Befriedigung bestimmter Wünsche ausbleibt. Erfährt dagegen die 
Libido eine ausreichende Befriedigung, so treten die Traumzustände 
zurück, ja sie verschwinden gänzlich. Letzteres geschah einer leicht 
neurotischen Dame meiner Beobachtung, sobald sie in der Ehe sexuell 
befriedigt wurde. Bei einem jungen Manne, der wegen psychischer 
Impotenz in meiner Behandlung stand, ging die ruhelose Tätigkeit 
seiner Sexualphantasie auf ein normales Maß zurück, als er wieder 
potent wurde und eine genügende Befriedigung erzielen konnte. 

Die Analyse der Traumzustände beweist aufs Neue die außer- 
ordentliche Fruchtbarkeit der Freudschen Ideen. Seit es eine psycho- 
analytische Forschung gibt, sind wir nicht mehr darauf beschränkt, 
die Symptome der Neurosen lediglich zu beschreiben, ohne zugleich 
ihr Wesen erfassen und ihr individuelles Gepräge im Einzelfalle er- 
klären zu können. Wir vermögen die Bedingungen und Motive ihrer 
Entstehung zu begreifen, die in ihnen wirksamen Triebkräfte und die 
in ıhnen verborgenen Tendenzen aufzuzeigen. Wir vermögen die 
individuelle Eigenart eines Krankheitsfalles zu verstehen, indem wir 
nicht nur das gegenwärtige Triebleben des Neurotikers berücksichtigen, 
sondern seinen verdrängten Kindheitswünschen nachforschen. Denn 
sein innerstes Dichten und Trachten strebt nach der Wiederholung 
infantiler Befriedigungssituationen, deren Erinnerung sein Unbewußtes 
bewahrt. 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 


Von Dr. med. et jur. 6. &. Jung, Privatdozent der Psychiatrie an der 
Universität Zürich. 





Zu der Zeit, wo ich die Herausgabe der ersten Hälfte des letzt- 
jährigen Jahrbuches vorbereitete, in der Freud seine denkwürdigen 
Mitteilungen über den ‚‚kleinen Hans‘ machte, erhielt ich von einem 
der Psychoanalyse kundigen Vater eine Reihe von Beobachtungen 
über sein damals 4jähriges Töchterchen. 

Diese Beobachtungen haben so viel Verwandtes und Ergänzendes 
zu den Mitteilungen Freuds über den ‚kleinen Hans“, daß ich es mir 
nicht versagen konnte, dieses Material auch einem weiteren Publikum 
zugänglich zu machen. Das vielfache Unverständnis, um nicht zu sagen 
die Entrüstung, mit der ‚der kleine Hans‘ aufgenommen wurde, war 
mir mit ein Grund zur Veröffentlichung meines Materials, das an 
Umfänglichkeit dasjenige des ‚‚kleinen Hans‘ allerdings nicht erreicht. 
Immerhin sind darin Stücke enthalten, welche bestätigen können, 
wieviel Typisches der ‚kleine Hans‘ gebracht hat. Die sogenannte 
wissenschaftliche Kritik, soweit sie überhaupt Notiz von diesen wich- 
tigen Dingen genommen hat, ist auch diesmal wieder in ein zu schnelles 
Tempo geraten, indem man immer noch nicht gelernt hat, erst nach- 
zuprüfen und dann zu urteilen. 

Das Mädchen, dessen Spürsinn und intellektueller Lebhaftigkeit 
wir die folgenden Beobachtungen verdanken, ist ein gesundes, frisches 
Kind von temperamentvoller Gemütsanlage. Es war nie ernstlich 
krank gewesen, auch von seiten des Nervensystems hatten sich nie 
irgendwelche ‚Symptome‘ bemerkbar gemacht. 

Lebhaftere systematische Interessen erwachten bei dem Kinde 
etwa um das dritte Jahr; es begann zu fragen und Phantasiewünsche 
zu äußern. Die nun folgenden Mitteilungen müssen leider auf eine 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. I, 3 


94 0. G. Jung. 


zusammenhängende Darstellung verzichten, denn es sind Anekdoten, 
die ein einmaliges Erlebnis aus einem ganzen Zyklus en ähnlichen 
schildern und die darum nicht wissenschaftlich systematisch, sondern 
novellistisch beschreiben; eın Darstellungsmodus, dessen wir bei dem 
gegenwärtigen Standpunkt unserer Psychologie noch nicht entraten 
können: denn noch sind wir weit entfernt davon, ın allen Fällen das 
Kuriose vom Typischen mit unfehlbarer Sicherheit sondern zu können. 

Einmal, als das Kind, das wir Anna nennen wollen, etwa 3 Jahre 
alt war, entspann sich zwischen ihr und der Großmutter folgendes Ge- 
spräch: 
Anna: „Großmama, warum hast du so verwelkte Augen?” 
Großmutter: „Weil ich halt schon alt bin.“ 
Anna: „Aber gelt, du wirst dann wieder jung.“ 
Großmutter: ‚‚Nein, weißt du, ich werde immer älter und dann 
werde ich sterben.“ 

Anna: „Ja und dann?“ 

Großmutter: „Dann werde ich ein Engel —“ 

Anna: „Und dann wirst du wieder ein kleines Kindchen?“ 

Das Kind findet hier willkommenen Anlaß zu einer vorläufigen 
Lösung eines Problems. Schon seit längerer Zeit pflegt sie die Mutter 
zu fragen, ob sie denn nicht einmal eine lebendige Puppe bekomme, 
ein Kindchen, z. B. ein Brüderchen, woran sich natürlich die Fragen nach 
der Herkunft der kleinen Kinder schlossen. Da solche Fragen nur spontan 
und unauffällig auftraten, so maßen die Eltern ihnen keine Bedeutung 
bei, sondern faßten sie so leicht auf, wie das Kind auch zu fragen schien. 
Do erhielt sie eines Tages die scherzhafte Auskunft, daß die Kinder vom 
Storche gebracht würden. Eine andere, etwas ernsthaftere Version hatte 
Anna sonstwie gehört, nämlich, daß die Kinder Enngelchen seien, im Himmel 
wohnen und dann vom Storche heruntergebracht würden. Diese Theorie 
scheint der Ausgangspunkt für die Forschertätigkeit der Kleinen 
geworden zu sein. Es zeigt sich beim Gespräche mit der Großmutter, 
daß die Theorie einer ausgedehnten Anwendung fähig ist; nämlich 
es läßt sich damit der peinliche Gedanke des Sterbens nicht nur in 
erleichternder Weise auflösen, sondern zugleich auch das Rätsel des Ur- 
sprunges der Kinder. Anna scheint sich zu sagen: Wenn ein Mensch 
stirbt, so wird er ein Engel und dann wird er ein Kind. Lösungen dieser 
Art, die mindestens zwei Fliegen auf einen Schlag treffen, pflegen nicht 
nur in der Wissenschaft hartnäckig festgehalten zu werden, sondern 
können auch beim Kinde nicht ohne gewisse Erschütterungen rück- 


f L 
‚! 
i 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 35 


gängig gemacht werden. In dieser einfachen Auffassung liegen die 
Elemente der Reinkarnationslehre, welche — wie bekannt — noch in 
Millionen von Menschen lebendig ist. 


Wie in der Geschichte des ‚kleinen Hans“ der Wendepunkt die 
Geburt eines Schwesterchens war, so ist es in diesem Falle de Ankunft 
eines Brüderchens, die stattfand, als Anna eben 4 Jahre erreicht 
hatte. Damit wird das vorher kaum bewegte Problem der Kinder- 
entstehung aktuell. Die Schwangerschaft der Mutter blieb zunächst 
anscheinend unbemerkt, d. h. es wurde nie eine Äußerung des Kindes 
ın dieser Hinsicht beobachtet. Am Abend vor der Geburt, als sich bei 
der Mutter schon die Wehen zeigten, befand sich das Kind im Zimmer des 
Vaters. Der Vater nahm sie auf die Knie und fragte: „Höre mal, was 
würdest du sagen, wenn du heute nacht ein Brüderchen bekämest?“ 
„Dann würde ich es töten“, war die prompte Antwort. Der Ausdruck 
„töten“ sieht sehr gefährlich aus, ist aber im Grunde genommen recht 
harmlos, denn ‚‚töten““ und ‚sterben‘ ım kindlichen Sinne heißt nur 
aktiv oder passiv entfernen, wie dies übrigens Freud schon mehrfach 
gezeigt hat. Ich behandelte einmal ein 15jähriges Mädchen, bei der in 
der Analyse ein mehrfach wiederkehrender Einfall auftrat: Schillers 
Lied von der Glocke fiel ihr ein; sie hatte es zwar noch nie gelesen, 
sondern nur einmal durchgeblättert und konnte sich nur entsinnen, 
etwas von einem „Dome“ gelesen zu haben. An weitere Einzelheiten 
konnte sie sich nicht entsinnen. Die Stelle lautet: 

„Von dem Dome 
Schwer und bang 


Tönt die Glocke 
Grabgesang usw. 


Ach die Gattin ist’s, die Teure, 

Ach es ist die treue Mutter, 

Die der schwarze Fürst der Schatten 
Wegführt aus dem Arm des Gatten“ usw. 

Die Tochter liebt natürlich ihre Mutter und denkt nicht entfernt 
an deren Tod, hingegen liegt die Sache gegenwärtig so: Die Tochter 
muß mit der Mutter auf 5 Wochen zu Verwandten reisen, das Jahr zuvor 
war die Mutter allein gegangen und die Tochter (einziges und ver- 
wöhntes Kind) blieb allein mit dem Vater zu Hause. Leider wird heuer 
„die kleine Gattin“ aus dem Arme des Gatten ‚„weggeführt‘‘, während 
es doch dem Töchterchen lieber wäre, wenn die „treue Mutter‘‘ vom 
Kinde schiede. 

3+ 





36 ©. G. Jung. 


„Töten“ im Munde eines Kindes ist darum eine harmlose Sache, 
besonders noch, wenn man weiß, daß die Kleine das Wort „töten“ 
ganz promiscue gebraucht für alle möglichen Arten von Zerstörung, 
Entfernung, Vernichtung usw. Immerhin ist die Tendenz beachtenswert. 
(Vgl. die Analyse des „kleinen Hans“, pag. 5.) 

Am frühen Morgen erfolgte die Geburt. Ein Arzt und eine Heb- 
amme waren anwesend. Als alle Reste der Geburt sowie sämtliche 
Blutspuren beseitigt waren, ging der Vater in das Zimmer, wo Anna 
schlief. Sie erwachte, wie er eintrat. Der Vater teilte ihr die Neuigkeit 
von der Ankunft eines Brüderchens mit, was Anna mit erstauntem 
und gespanntem Gesichtsausdruck aufnahm. Der Vater nahm sie hierauf 
auf den Arm und brachte sie in die Wochenstube. Die Kleine warf 
zuerst einen raschen Blick auf die etwas blasse Mutter, dann zeigte 
sie etwas wie ein Gemisch von Verlegenheit und Mißtrauen, wie wenn 
sie dächte: „Was wird jetzt geschehen?“ (Eindruck des Vaters.) Freude 
am Neugeborenen bezeugte sie so viel wie keine, so daß die Eltern etwas 
enttäuscht waren über den kühlen Empfang. Während des Vormittags 
hielt sich die Kleine auffallenderweise von der Mutter fern, was um 
so mehr auffiel, als sie sonst sehr an ihr hängt. Als die Mutter aber 
einmal allein war, lief Anna ins Zimmer, faßte sie um den Hals und 
flüsterte ihr hastig zu: „Ja, sterbst du jetzt nicht?“ 

Nun wird uns ein Stück des Konfliktes in der kindlichen Seele 
klar, die Storchtheorie hat offenbar nie recht verfangen, wohl aber die 
fruchtbare Wiedergeburtshypothese, nach welcher ein Mensch stirbt 
und so einem Kinde zum Leben verhilft. Die Mama müßte also demnach 
sterben — wie sollte Anna da Freude am Neugeborenen empfinden, 
gegen das sich sowieso schon die kindliche Eifersucht erhebt? Darum 
muß sie sich in einem günstigen Moment versichern, ob die Mama sterben 
muß oder nicht. Die Mama starb nicht. Mit diesem glücklichen Ausgang 
erleidet aber die Wiedergeburtstheorie einen schweren Stoß. Wie soll 
von jetzt an die Geburt des Brüderchens, die Herkunft der Kinder 
überhaupt erklärt werden? Da war nur noch die Storchtheorie, die zwar 
nie ausdrücklich, aber durch die Annahme der Wiedergeburt implicite 
abgelehnt wurdet). Die allernächsten Erklärungsversuche blieben den 





‘) Man kann hier die Frage aufwerfen, warum überhaupt die Annahme 
berechtigt sein soll, daß es den Kindern dieses Alters an solchen Theorien gelegen 
ur soll. Darauf ist zu antworten, daß Kinder ein intensives Interesse für alles 
= n, a in ihrer Umgebung sinnlich Wahrnehmbares passiert. Es verrät sich 

8 auch durch die bekannten endlosen Fragen nach dem Warum und Wozu aller 


Über Konflikte der kindlichen Seele. Sr 


Eltern leider verborgen; denn das Kind kam nun auf mehrere Wochen 
zur Großmutter. Wie aus deren Berichten hervorging, kam mehrfach 
die Storchtheorie zur Sprache, natürlich unterstützt durch die Zu- 
stimmung der Umgebung. 

Als Anna wieder zu den Eltern zurückkehrte, zeigte sie im Mo- 
mente des Wiedersehens mit der Mutter wieder jenes verlegen-miß- 
trauissche Benehmen wie nach der Geburt. Der Eindruck war beiden 
Eltern deutlich, jedoch nicht deutbar. Das Benehmen gegenüber dem 
Neugeborenen war sehr nett. Unterdessen war auch eine Pflegerin ge- 
kommen, die mit ihrer Ordenstracht der Kleinen einen großen Eindruck 
machte, zuerst allerdings einen höchst negativen, indem sie ihr in allem 
den größten Widerstand entgegensetzte. So wollte sie sich um keinen 
Preis abends von der Pflegerin entkleiden und zu Bett bringen lassen. 
Woher dieser Widerstand stammte, zeigte sich bald bei einer zornigen 
Szene am Bettchen des Brüderchens, wo Anna die Pflegerin anschrie: 
„Das ıst nicht dein Brüderchen, das ist meins.‘ Allmählich versöhnte 
sie sich aber mit der Pflegerin und begann selber Pflegerin zu spielen, 
mußte eine weiße Haube und Schürze haben und ‚pflegte‘ bald das 
Brüderchen, bald ihre Puppen. Eine etwas elegische, träumerische 
Stimmung im Gegensatze zu früher war unverkennbar. Oft saß Anna 
lange unterm Tisch und fing an, lange Geschichten zu singen und zu 
reimen, die zum Teil unverständlich waren, zum Teile aber Phantasie- 
wünsche über das Thema ‚‚Pflegerin‘ enthielten (,‚Ich bin eine Pflegerin 
vom grünen Kreuz“) und zum Teil waren es deutlich schmerzliche 
Gefühle, die um Ausdruck rangen. 

Hier begegnen wir einer wichtigen Neuigkeit im Leben der Kleinen: 
es kommen Träumereien, sogar Ansätze zur Dichtung, elegische An- 
wandlungen. Alles Dinge, denen wir sonst erst in einer späteren Lebens- 
phase zu begegnen gewohnt sind, und zwar zu jener Zeit, wo der jugend- 
liche Mensch sich anschickt, die Bande der Familie zu zerschneiden, 
ins Leben selbständig hinauszutreten, aber innerlich noch zurück- 
gehalten ist durch schmerzliche Heimwehgefühle nach der Wärme 


möglichen Dinge. Sodann muß man die Kulturbrille auf einen Moment weglegen, 
wenn man die Psychologie des Kindes verstehen will: die Geburt eines Kindes ist 
das für jeden Menschen schlechthin wichtigste Ereignis. Für das zivilisierte Denken 
aber hat die Geburt viel von ihrer biologischen Einzigartigkeit eingebüßt, so gut wie 
die Sexualität überhaupt. Irgendwo muß aber doch der Geist die ihm durch die Jahr- 
zehntausende eingeprägten richtigen biologischen Schätzungen aufbewahrt haben. 
Was ist wahrscheinlicher, als daß dasKind sie noch hat und zeigt, bevor der Schleier 
der Zivilisation sich über das primitive Denken legt? 


98 C. G. Jung. 


des elterlichen Herdes. Zu jener Zeit fängt man an, das Mangelnde 
mit diehtender Phantasie zu erschaffen, um den Ausfall zu kompen- 
sieren. Auf den ersten Blick dürfte es paradox erscheinen, die Psycho- 
logie des 4jährigen Kindes der des Pubertätsalters anzunähern: die 
Verwandtschaft liegt aber nicht im Alter, sondern im Mechanismus. 
Die elegischen Träumereien sprechen es aus, daß ein Stück Liebe, das 
vorher einem realen Objekte gehörte und einem solchen gehören sollte, 
introvertiert, d.h. nach innen, ins Subjekt gewendet ist und dort 
eine vermehrte Phantasietätigkeit erzeugt!). Woher stammt nun aber 
diese Introversion? Ist sie eine diesem Alter eigentümliche psycho- 
logische Erscheinung oder verdankt sie ihre Entstehung einem Kon- 
flikt? 

Darüber klären uns die folgenden Ereignisse auf. Öfter kommt 
es vor, daß Anna der Mutter nicht gehorcht. Sie ist trotzig und sagt: 
„Ich gehe wieder zur Großmama !“ 

Mutter: „Dann bin ich aber traurig, wenn du wieder fortgehst.“ 

Anna: ‚Ach, du hast ja das Brüderchen !” 

Die Wirkung auf die Mutter zeigt, wohin die Kleine mit ihrer 
Drohung, wieder fortzugehen, eigentlich zielte: sie wollte offenbar hören, 
was die Mutter zu ihrem Projekte meint, d. h. wie sie sich überhaupt 
zu ihr stellt, ob nicht vielleicht das Brüderchen sie doch gänzlich aus 
der mütterlichen Gunst verdrängt hat. Man darf aber nicht ohne weiteres 
dieser kleinen Schikane Glauben schenken. Das Kind hat ja eigentlich 
sehen und fühlen können, daß ihr nichts Wesentliches an der Mutter- 
liebe abgeht, trotz der Existenz des Brüderchens. Der Vorwurf, den sie 
der Mutter quasi deshalb macht, ist darum ungerechtfertigt und verrät 
dies dem kundigen Ohre auch durch seinen etwas affektierten Ton. 
Man hört ähnliche Töne häufig auch bei Erwachsenen. Ein solch un- 
verkennbarer Ton erwartet, nicht ernst genommen zu werden, darum 


‘) Dieser Vorgang ist überhaupt typisch. Stößt das Leben auf ein Hindernis, 
kann eine Anpassung nicht geleistet werden, und stockt deshalb die Überführung 
der Libido ins Reale, so findet eine Introversion statt, d. h. an Stelle des Wirkens 
auf die Realität entsteht eine vermehrte Phantasietätigkeit, deren Tendenz es 
ist, das Hindernis zu beseitigen, wenigstens zunächst phantastisch eine Beseitigung 
herbeizuführen, woraus nach einiger Zeit auch eine praktische Lösung hervor- 
gehen kann; daher die übertriebenen Sexualphantasien der Neurotiker, welche 


die spezifische Verdrängung zu überwältigen ver 


suchen, daher die typischen 
Phantasien der Stotterer, daß sie eigentlich großes Rednertalent besäßen. (Daß 


sie eine gewisse Anwartschaft darauf haben, legen uns Adlers gedankenreiche 
Studien über Örganminderwertigkeit nahe.) 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 89 


drängt er sich verstärkt auf. Auch den Vorwurf als solehen darf die 
Mutter nicht ernst nehmen, denn er ist bloß der Vorläufer anderer 
und diesmal stärkerer Widerstände. Nicht lange nach dem vorhin 
mitgeteilten Gespräche trug sich folgende Szene zu: 

Mutter: „Komm, wir gehen jetzt in den Garten!“ 

Anna: „Du lügst; paß auf, wenn du die Wahrheit nicht sagst!" 

Mutter: „Was fällt dir ein? Ich sage doch die Wahrheit.“ 

Anna: „Nein, du sagst die Wahrheit nicht.“ 

Mutter: „Du wirst schon sehen, daß ich die Wahrheit sage, wir 
gehen jetzt in den Garten.“ 

Anna: „Ja ist das wahr? Ist das gewiß wahr? Lügst du nicht?“ 

Szenen dieser Art wiederholten sich einige Male. Diesmal war der 
Ton ein heftiger und eindringlicher und zudem verriet der Akzent, 
der auf dem „Lügen“ lag, etwas ganz Besonderes, das aber die Eltern 
nicht verstanden, indem sie überhaupt den spontanen Äußerungen 
des Kindes anfangs zu wenig Bedeutung beimaßen. Sie taten damit 
nichts anderes, als was die Erziehung im allgemeinen ex officio tut. 
Man hört die Kinder im allgemeinen zu wenig an und behandelt sie 
auf jeder Altersstufe in allen Wesentlichkeiten als Unzurechnungsfähige 
und in allem Unwesentlichen werden sie zu automatenhafter Voll- 
kommenheit dressiert. Hinter Widerständen liegt immer eine Frage, 
ein Konflikt und zu anderer Zeit und anderer Gelegenheit hören wir auch 
davon. Gewöhnlich vergißt man aber, das Gehörte mit den Wider- 
ständen in Zusammenhang zu bringen. So stellte Anna zu anderer Zeit 
ihrer Mutter schwierige Fragen: 

Anna: „Ich möchte eine Pflegerin werden, wenn ich groß bin.“ 

Mutter: „Das wollte ich auch, als ich noch ein Kind war.“ 

Anna: „Ja, warum bist du denn keine geworden?“ 

Mutter: „Nun weil ich halt eine Mama geworden bin und so habe 
ich ja auch Kinder zum Pflegen.“ 

Anna: (nachdenklich) ‚Ja, werde ich denn eine andere Frau 
als du? Werde ich dann an einem andern Ort wohnen? Werde ich 
dann auch noch mit dir reden?“ 

Die Antwort der Mutter zeigt wieder, wohin eigentlich die Frage 
des Kindes zielt!): Anna möchte offenbar auch ein Kindehen zum 


!) Die vielleicht paradox anmutende Auffassung, das Ziel der kindlichen 
Frage in der Antwort der Mutter zu erkennen, bedarf der Erörterung. Es ist eines 
der größten psychologischen Verdienste Freuds, die ganze Fragwürdigkeit 
der bewußten Willensmotive wieder aufgedeckt zu haben. Es ist eine Folge 


40 ©. G. Jung. 


„Pflegen“ haben, so wie es die Schwester Pflegerin hat. Woher die 
Schwester das Kindchen hat, ist ja ganz klar, so könnte Anna, wann 
sie einmal groß ist, auch ein Kindehen bekommen. Warum ist denn 
die Mama keine solche durchsichtige Pflegerin geworden? D. h. woher 
hat sie denn das Kind, wenn sie doch nicht so dazugekommen ist wie 
die Schwester Pflegerin? So wie die Schwester ein Kind hat, so könnte 
Anna auch eins haben, aber wie das in Zukunft anders werden soll, 
respektive wie sie der Mutter im Kinderbekommen ähnlich werden 
könnte, ist nicht abzusehen. Daraus ergibt sich die nachdenkliche Frage: 
„Ja, werde ich denn eine andere Frau als du?“ Werde ich in allen Be- 
ziehungen anders sein? Mit der Storchtheorie ist es offenbar nichts, 
mit dem Sterben ebensowenig, also bekommt man das Kind z. B. wie's 
die Schwester Pflegerin bekommen hat. Auf diesem natürlichen Wege 
könnte sie es auch bekommen, aber nun die Mutter, die keine Pilegerin 
ist und doch Kinder hat? So fragt Anna von ihrem Standpunkte aus: 
‚, Warum bist du denn keine Pflegerin geworden? “scilicet hast auf einem 
klaren Wege ein Kind bekommen? Diese sonderbar indirekte Art des 
Fragens ist typisch und dürfte mit der Unklarheit der Problemerfassung 
zusammenhängen, wenn man nicht etwa eine gewisse „diplomatische 
Unbestimmtheit‘‘ annehmen will, die durch ein Ausweichen vor der 
direkten Fragestellung bedingt wäre. Wir werden später einen Beleg 
für diese Möglichkeit antreffen. 


Wir stehen also offenbar vor der Frage: ‚Woher kommt das Kind 
Der Storch hat’s nicht gebracht, die Mama ist nicht gestorben, so wie 
die Schwester hat es die Mama auch nicht bekommen. Sie hat aber 
doch früher gefragt und vom Vater vernommen, der Storch bringe 
die Kinder; das ist aber entschieden nicht so, darüber hat sie sich nie 
täuschen lassen. Also lügen Papa und Mama und alle anderen auch. 
Daher erklären sich ungezwungen ihr Mißtrauen bei der Geburt und ihre 
Vorwürfe gegen die Mutter. Es klärt sich aber noch ein weiterer Punkt 
auf, nämlich die elegische Träumerei, die wir auf eine partielle Intro- 
version zurückgeführt haben. Nun wissen wir, von welchem realen 





der Triebverdrängung, daß die Bedeutung des bewußten Denkens für das Handeln 
maßlos überschätzt wird. Fre ud setzt als Kriterium der Psychologie des Handelns 
nicht das bewußte Motiv, sondern das Resulta t (letzteres aber nicht in seiner 
physikalischen, sondern in seiner psychologischen Wertung). Diese Auffassung 
se das ‚Handeln in einem neuen und biologisch bedeutsamen Lichte erscheinen. 
ch verzichte auf Beispiele und begnüge mich mit dem Hinweis, daß diese Auf- 
fassung für die Psychoanalyse wesentlich und heuristisch äußerst wertvoll ist. 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 41 


Objekt Liebe weggenommen und als gegenstandslos introvertiert 
werden mußte, nämlich von den Eltern, welche sie belügen und ihr 
die Wahrheit nicht sagen wollen. (Was muß es dann sein, wenn man’s 
nicht sagen kann? Was geht da vor? So lauten etwas später die pa- 
renthetischen Fragen des Kindes. Die Antwort ist: „Das muß demnach 
etwas zu Verheimlichendes, vielleicht gar etwas Gefährliches sein.) Auch 
die Versuche, die Mutter zum Sprechen zu bringen und mit (verfäng- 
lichen?) Fragen die Wahrheit herauszulocken, mißlingt, also wird 
Widerstand gegen Widerstand gesetzt und die Introversion der Liebe 
beginnt. Begreiflicherweise ist die Sublimationsfähigkeit eines 
4 jährigen Kindes noch zu spärlich entwickelt, als daß sie mehr als einige 
symptomatische Dienste leisten könnte, das Gemüt ist also auf eine 
andere Kompensation angewiesen, nämlich auf eine der schon auf- 
gegebenen infantilen Formen der Liebe-Erzwingung, von denen die 
beliebteste nächtliches Geschrei und Herrufen der Mutter ist. Dies war 
schon im ersten Lebensjahr eifrig praktiziert und ausgenutzt worden. 
Jetzt kam es wieder, und zwar entsprechend der Altersstufe wohl 
motiviert und mit rezenten Eindrücken ausstaffiert. 

Eben war nämlich das Erdbeben von Messina geschehen und 
man sprach bei Tische von den Ereignissen. Anna interessierte sich außer- 
ordentlich dafür und ließ sich namentlich von der Großmutter immer 
wieder erzählen, wie der Boden gebebt habe und die Häuser einstürzten, 
und wieviel Menschen dabei umgekommen seien. Von da an datierte 
allabendliche Angst, sie könne nicht allein sein, die Mama müsse zu 
ihr kommen, bei ihr bleiben, sie habe sonst Angst, das Erdbeben komme, 
das Haus falle ein und erschlage sie. Tagsüber ist sie auch lebhaft mit 
solchen Gedanken beschäftigt; wenn sie spazieren geht mit der Mutter, 
so plagt sie sie mit Fragen: ‚Wird das Haus noch stehen, wenn wir wieder 
heimkommen? Wird Papa noch am Leben sein? Ist gewiß kein Erdbeben 
zu Hause? Oder bei jedem Stein, der im Wege lag, wurde gefragt: ‚‚Ist 
der vom Erdbeben?‘ Ein Neubau war ein durch Erdbeben zerstörtes 
Haus usw. Schließlich schrie sie oft nachts auf, das Erdbeben komme, 
sie höre es schon donnern. Man mußte ihr abends feierlich versprechen, 
daß gewiß kein Erdbeben komme. Man versuchte verschiedene Be- 
ruhigungsmittel, z. B. sagte man ihr, es gebe nur da Erdbeben, wo es 
Vulkane gebe. Nun mußte ihr aber wieder bewiesen werden, daß die 
Berge in der Umgebung der Stadt gewiß keine Vulkane seien. Dieses 
Räsonieren führte das Kind allmählich auf einen ebenso starken wie 
für sein Alter unnatürlichen Wissensdrang, der sich darin äußerte, 


42 C. G. Jung. 


daß man der Kleinen alle geologischen Bilder und Atlanten aus der 
Bibliothek des Vaters holen mußte. Sie durchstöberte dann die Werke 
stundenlang nach Abbildungen von Vulkanen und Erdbeben und 
te endlos. 

Ha Wir stehen hier vor einem ganz energischen Anlauf zur Subli- 
mation der Angst in Wissenschaftstrieb, der aber zu dieser Lebenszeit 
als entschieden verfrüht anmutet. Wie manches begabte Kind aber, 
das genau am gleichen Probleme leidet, wird an dieser unzeitigen 
Sublimation aufgepäppelt, gewiß nicht zu seinem Vorteile. Denn wenn 
man Sublimation in diesem Alter begünstigt, so unterstützt man nur 
ein Stück Neurose. Die Wurzel des Wissenschaftstriebes ist die Angst, 
und die Angst ist der Ausdruck einer konvertierten Libido, d.h. 
einer nunmehr neurotisch gewordenen Introversion, die in 
diesem Alter weder nötig, noch für die Entwicklung des Kindes günstig 
ist. Wohin dieser Wissenschaftstrieb in letzter Linie zielte, wird ver- 
ständlich aus einer Reihe von Fragen, die sich fast täglich erhoben: 
„Warum ist 8. (ein jüngeres Schwesterchen) jünger als ich? Wo ist 
denn Fritzchen (das Brüderchen) vorher gewesen? War er im Himmel, 
was hat er denn dort gemacht? Warum ist er erst jetzt und nicht schon 
früher heruntergekommen?“ 

Diese Sachlage gab dem Vater den Gedanken ein, die Mutter 
solle dem Kinde die Wahrheitüberdie Herkunftdes Brüderchens 
bei erster bester Gelegenheit sagen. 

Dies geschah, als Anna sich bald darauf wieder einmal nach dem 
Storch erkundigte. Die Mutter sagte ihr, die Geschichte mit dem Storche 
sei nicht wahr, sondern Fritzchen sei in der Mama gewachsen wie die 
Blumen aus der Erde. Zuerst war er ganz klein und dann ist er immer 
größer geworden wie die Pflanzen. Das Kind hörte ohne das geringste 
Erstaunen aufmerksam zu und fragte dann: 

„Ja, ist er denn ganz von selbst herausgekommen?“ 

Mutter: „Ja.“ 

Anna: „Er kann ja noch gar nicht gehen.“ 

Das jüngere Schwesterchen: ‚Dann ist er halt herausgekriecht.“ 

Anna (die Antwort. des Schwesterchens überhörend): ‚Ja, gibt es 
denn da (auf die Brust zeigend) ein Loch? Oder kam er aus dem 
Munde? Wer ist denn aus der Pflegerin herausgekommen?“ 

Sie unterbrach sich aber selber wieder durch Zwischenrufe: ‚Nein, 
ich BD» der Storch hat das Brüderchen vom Himmel herunter- 
gebracht!“ Dann, bevor die Mutter die Fragen beantworten konnte, 


Über Konflikte der kindlichen Seele, 43 


verließ sie das Thema und verlangte wieder Abbildungen von Vulkanen 
zu sehen. Der auf diese Unterredung folgende Abend war ruhig. Die 
plötzliche Aufklärung nötigte dem Kinde offenbar eine ganze Reihe 
von Einfällen auf, was sich in einer gewissen Hast der Fragen kundgab. 
Es eröffneten sich neue, unerwartete Perspektiven, sie nähert sich rasch 
einem Hauptproblem, nämlich der Frage: „Wo ist das Kind heraus- 
gekommen? Aus einem Loche in der Brust oder aus dem 
Munde? Beide Vermutungen sind geeignet zu fest angenommenen 
Theorien. Es gibt sogar jung verheiratete Frauen, die noch der Theorie 
des Loches in der Leibeswand und des Kaiserschnittes huldigen, was eine 
ganz besonders große Unschuld ausdrücken soll. Natürlich handelt es 
sich in solchen Fällen wohl immer um infantile Sexualbetätigungen, 
welche die vias naturales später in Verruf gebracht haben, und beileibe 
nicht etwa um Unschuld. Man sollte sich eigentlich wundern, woher bei 
dem Kinde die ungereimte Idee stammt, es gebe ein Loch in der Brust, 
oder die Geburt finde durch den Mund statt; warum denn nicht durch 
eine der natürlichen, schon vorhandenen Öffnungen des Unterleibes, 
aus denen doch täglich Dinge herauswandern? Die Erklärung ist einfach: 
Die Zeit, wo unsere Kleine durch ein erhöhtes und nicht immer den 
Anforderungen der Reinlichkeit und des Anstandes entsprechendes 
Interesse für die beiden Unterleibsöffnungen und deren bemerkens- 
werte Produkte die Erziehungskünste der Mutter herausforderte, liegt 
noch nicht allzu fern. Damals hatte sie zum ersten Male die Ausnahme- 
gesetze für diese Körperregion kennen gelernt und als empfindsames 
Kind bald herausgemerkt, daß da irgend etwas ‚tabu‘ ist. Dieses 
Gebiet hat daher aus jeglicher Rechnung auszufallen; ein kleiner Denk- 
fehler, der dem 4jährigen Kinde wohl zu verzeihen ist, wenn man an 
alle die Leute denkt, die trotz schärfster Brillen nirgends etwas Sexuelles 
entdecken können. Insofern reagiert unsere Kleine viel doziler als ihr 
jüngeres Schwesterchen, das auf dem Gebiete der Kot- und Urin- 
interessen allerdings Hervorragendes leistete und dann auch beim 
Essen ähnliche Manieren an den Tag legte. Ihre Exzesse bezeichnete 
sie Immer mit „lustig“; die Mutter aber meinte: ‚nein, das ist nicht 
lustig und verbot ihr den Spaß. Das Kind ging anscheinend auf diese 
unbegreiflichen Erziehungslaunen ein, bald aber zeigte sich seine Rache. 
Wie nun einmal ein neues Gericht auf den Tisch kam, weigerte es sich 
kategorisch mitzutun, mit dem Bemerken, „das ist nicht lustig‘. Von 
‘da an wurden alle Fremdartigkeiten in Speisen abgelehnt als „nicht 
lustig“. 


44 C. G. Jung. 


Die Psychologie dieses Negativismus ist typisch und unschwer 
zu verstehen. Die Gefühlslogik lautet einfach: ‚„‚Wenn ihr meine Künste 
nicht lustig findet und mich zwingt sie aufzugeben, dann finde ich 
auch eure Künste, die ihr als gut anpreist, nicht lustig und werde 
nicht mitmachen.“ Wie alle kindlichen (so häufigen Kompensationen 
dieser Art), geht auch diese nach dem wichtigen infantilen Grundsatz: 
„Es geschieht euch schon recht, wenn’s mir weh tut.“ 

Kehren wir nach dieser Abschweifung zu unserem Falle zurück. 
Anna hat sich einfach dozil erwiesen und sich soweit an die Kultur- 
forderungen angepaßt, daß sie an das Einfachste zuletzt denkt (wenig- 
stens so spricht). Die an die Stelle der richtigen gesetzten unrichtigen 
Theorien halten jahrelang an, bis einmal von auswärts brüske Auf- 
klärung erfolgt. Es ist daher kein Wunder, daß solche Theorien, deren 
Entstehung und Festhaltung sogar von Eltern und Erziehern begünstigt 
wird, später in einer Neurose zu wichtigen Symptomdeterminanten 
werden oder in der Psychose zu Wahnideen, wie ich in meiner Psycho- 
logie der Dementia praecox nachgewiesen habe. Was jahrelang in der 
Seele einmal existiert hat, das ist auch immer irgendwie da, wenn schon 
unter anscheinend anders gearteten Kompensationen versteckt. 

Noch bevor aber die Frage, wo eigentlich das Kind herauskommt, 
erledigt ist, drängt sich ein neues Problem auf: also aus der Mama 
kommen Kinder, wie aber ist es bei der Pflegerin? Ist da auch jemand 
herausgekommen? Und nach dieser Frage erfolgt der Abbruch: ‚‚Nein, 
nein, der Storch hat das Brüderchen vom Himmel heruntergebracht.“ 
Was ist denn Besonderes daran, daß aus der Schwester niemand heraus- 
gekommen ist? Wir erinnern uns, daß Anna sich mit der Schwester iden- 
tifiziert hat und plant, ebenfalls später Pflegerin zu werden, denn — 
sie möchte auch ein Kindchen haben und so wie die Schwester könnte 
sie's auch bekommen. Aber jetzt, wo man weiß, daß das Brüderchen 
in der Mama gewachsen ist, wie ist das jetzt? 
| Diese bange Frage wird rasch abgewendet durch Rückkehr auf die 
eigentlich noch nie geglaubte Storch-Engeltheorie, die aber nach einigen 
Anläufen doch endgültig aufgegeben wird. Es schweben aber zwei Fragen 
in der Luft; die eine lautet: „Wo kommt das Kind heraus?‘ Die zweite 
ist bedeutend schwieriger und lautet: „Wie kommt es, daß die Mama 
Kinder hat, nicht aber die Pflegerin und die Mägde?‘ All diese Fragen 
meldeten sich zunächst nicht mehr. 


Am folgenden Tag beim Mitta ä 
gessen erklärte An hei 
ganz unvermittelt: > 


Über Konflikte der kindlichen Seele. % 45 


„Mein Bruder ist in Italien und hat ein Haus aus Stoff (Tuch) 
und Glas und es fällt nicht um.“ 


Wie immer, konnte auch diesmal um eine Erklärung nicht gefragt 
werden, denn die Widerstände sind zu groß, so daß sich Anna nicht 
fixieren läßt. Diese einmalige, wie offiziös anmutende Erklärung ist 
sehr bedeutsam. Schon seit zirka einem Vierteljahr spannen die Kinder 
eine stereotype Phantasie von einem „großen Bruder“, der alles weiß, 
kann und hat, an allen Orten war und ist, wo die Kinder nicht waren und 
alles tun darf, was sie nicht dürfen. Jede hat einen solchen großen Bruder, 
der große Kühe, Schafe, Pferde, Hunde usw. besitzt!). Die Quelle 
dieser Phantasie ist nicht weit zu suchen; das Modell dazu ist der Vater, 
der so etwas zu sein scheint wie ein Bruder der Mutter. Auch die Kinder 
müssen dann einen ähnlich mächtigen „Bruder“ haben. Dieser Bruder 
ist sehr mutig, ist gegenwärtig im gefährlichen Italien und bewohnt 
ein unmöglich gebrechliches Haus, und das fällt nicht um. Damit ist 
ein für das Kind wichtiger Wunsch realisiert: das Erdbeben ist nicht 
mehr gefährlich. Darum hat die Angst und die Phobie wegzufallen 
und sie blieb auch weg. Von da an war die ganze Erdbebenfurcht 
verschwunden. Anstatt daß nun abends der Vater ans Bettchen ge- 
rufen wird, um die Angst zu beschwören, zeigt die Kleine größere Zärt- 
lichkeit und bittet den Vater, abends sie zu küssen. Um die neue Lage 
der Dinge zu erproben, zeigte der Vater der Kleinen neue Abbildungen 
von Vulkanen und Erdbebenwirkungen. Anna blieb aber kalt und 
betrachtete die Bilder gleichgültig: „Das sind Tote! Ich habe das schon 
oft gesehen.“ Auch die Photographie eines Vulkanausbruches hatte 
für sie gar nichts Anziehendes mehr. So fiel das ganze wissenschaftliche 
Interesse wieder in sich zusammen und verschwand so plötzlich wie es 
gekommen war. In den nächsten Tagen nach der Aufklärung hatte 
Anna aber auch Wichtigeres zu tun; sie breitete die neugewonnenen 
Erkenntnisse auf ihre Umgebung aus, und zwar folgendermaßen: es 
wurde zunächst nochmals ausführlich konstatiert, daß Fritzchen in der 
Mama gewachsen sei, ferner sie und das jüngere Schwesterchen; der 
Papa aber in seiner Mama, die Mama in ihrer Mama und die Mägde 
ebenfalls in ihren respektiven Müttern. Durch Ööfteres Fragen wurde 
die Erkenntnis auch auf die Dauerhaftigkeit ihrer Wahrheit geprüft, 
denn das Mißtrauen der Kleinen war in nicht geringem Maße geweckt 
worden, so daß es mehrfacher Bekräftigungen bedurfte, um alle Bedenken 


!) Eine primitive Definition der Gottheit. 


46 ©. G. Jung. 


zu zerstreuen. Zwischenhinein kam es öfter vor, daß beide Kinder wieder 
die Storch- und Engeltheorie aufbrachten, aber in wenig glaub- 
würdigem Tone, mit etwas singendem Ton auch den Puppen vor- 


getragen. 
Im übrigen bewährte sich offenbar das neue Wissen, denn die 


Phobie blieb weg. 

Nur einmal drohte die Sicherheit in Stücke zu gehen. Etwa 3 Tage 
nach dem Momente der Aufklärung blieb der Vater einmal wegen einer 
Influenza vormittags zu Bette. Die Kinder wußten nichts davon, und 
Anna kam ins Schlafzimmer der Eltern und sah den Vater ungewohnter- 
weise im Bette liegen. Sie machte wieder ein sonderbar erstauntes 
Gesicht, blieb in weiter Entfernung vom Bette stehen und wollte sich 
nicht nähern, offenbar wieder scheu und mißtrauisch. Plötzlich platzte 
sie mit der Frage heraus: „Warum bist du im Bett, hast du etwa auch 
eine Pflanze im Bauch?“ 


Natürlich mußte der Vater lachen und beruhigte sie, daß nämlich 
im Papa keine Kinder wachsen könnten, daß überhaupt die Männer keine 
Kinder hätten, nur die Frauen, worauf das Kind sofort wieder zu- 
traulich wurde. Während aber die Oberfläche ruhig blieb, arbeiteten 
die Probleme im Dunkeln weiter. Einige Tage später erzählte Anna 
wieder beim Mittagessen: ‚Ich habe heute Nacht die Arche Noah ge- 
träumt.“ Der Vater fragte sie, was sie denn davon geträumt habe, worauf 
Anna lauter Unsinn antwortete: In solchen Fällen muß man einfach 
warten und aufpassen. Richtig, nach einigen Minuten sagte sie zur 
Großmutter: „Ich habe heute Nacht die Arche Noah geträumt und da 
waren viele Tierchen drin.‘ Darauf trat wieder eine Pause ein, dann 
begann sie die Erzählung zum dritten Male: „Ich habe heute Nacht 
die Arche Noah geträumt und da waren viele Tierchen darin 
und da waruntenein Deckeldaran, der ging auf und die Tier- 
chen fielen alle heraus.“ Der Kundige versteht die Phantasie. Die 
Kinder besitzen tatsächlich eine Arche, jedoch ist die Öffnung ein Deckel 
am Dache und nicht unten. Es wird somit zart angedeutet: Die Ge- 
schichte mit der Geburt aus Mund oder Brust stimmt nicht; man ahnt 
den richtigen Sachverhalt: es geht nämlich unten heraus. 


Es vergingen nun mehrere Wochen ohne bemerkenswerte Ereig- 
nisse. Einmal kam ein Traum vor: ‚Ich habe Papa und Mama 


BOSAINN, . seien noch lange im Studierzimmer und die Kinder seien 
auch dabei. 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 47 


An der Oberfläche findet sich ein bekannter Wunsch der Kinder, 
auch so lange aufbleiben zu dürfen wie die Eltern. Dieser Wunsch wird 
hierrealisiert oder vielmehr benutzt zur Maskierung eines viel wichtigeren 
Wunsches, nämlich abends dabei zu sein, wenn dieElternallein 
sind, natürlich unschuldigerweise im Studierzimmer, wo die Kleine 
ja alle die interessanten Bücher gesehen hat, wo sie den Wissensdurst 
stillte, d. h. eigentlich die brennende Frage zu beantworten suchte, 
woher das Brüderchen kam. Wenn die Kinder dabei wären, so wüßten 
sie est). 

Wenige Tage darauf ereignete sich ein Angsttraum, aus dem Anna 
mit Geschrei erwachte: ‚Das Erdbeben kommt, das Haus zittert schon.“ 
Die Mutter geht zu ihr, beruhigt und tröstet sie, es komme kein Erd- 
beben, es sei alles ruhig und alle Leute schlafen. Worauf Anna in drin- 
gendem Tone sagte: „Ich möcht’ halt den Frühling sehen, wie 
alle Blümlein herauskommen und wie die ganze Wiese voll 
Blumen ist — ich möcht’ jetzt halt Fritzchen sehen, er hat 
ein so liebes Gesichtchen — was macht der Papa? — was 
sagt er? (Die Mutter sagt: ‚Er schläft und sagt nichts.““) Nun bemerkt 
die Kleine mit spöttischem Lächeln: „Er wird wohl morgen wieder 
krank sein!“ 


Dieser Text will rückwärts gelesen sein. Der letzte Satz ist nicht 
ernst gemeint, denn er wurde in spöttischem Tone vorgebracht: als der 
Vater das letzte Mal krank war, da hatte ihn Anna im Verdacht, er habe 
„eine Pflanze im Bauche.“ Der Spott will also wohl sagen: Morgen 
wird der Papa wohl ein Kind haben? Doch es ist nicht ernst gemeint, 
der Papa wird kein Kind haben, sondern die Mama hat bloß Kinder, 
sie wird morgen vielleicht wieder eins haben und woher? ‚Was macht 
der Papa?“ Hier taucht unverkennbar eine Formulierung des schwierigen 
Problems auf: Was tut eigentlich der Vater, wenn er keine Kinder gebärt? 
Die Kleine möchte gar zu gerne Aufschluß über alle ihre Probleme 
haben, sie möchte wissen, wie Fritzchen zur Welt gekommen ist, sie 
möchte die Blümlein sehen, wie sie im Frühling aus der Erde hervor- 
kommen und diese Wünsche stecken hinter der Erdbebenangst. 


Nach diesem Intermezzo schlief Anna ruhig bis am Morgen. Am 
Morgen befragte sie die Mutter: ‚Was hast du denn heute Nacht gehabt?“ 


!) Dieser Wunsch, sitzen zu bleiben bis in die tiefe Nacht bei Vater oder 
Mutter spielt später in der Neurose nicht selten eine Rolle. Der gewöhnliche Zweck 
ist: den elterlichen Koitus zu verhindern. 


48 C. G. Juug. 


Die Kleine hat alles vergessen und meint, bloß einen Traum gehabt zu 
haben: „Ich habe geträumt, ich könne den 80 mmer machen 
und dann hat jemand einenKasperlin den Abtritt hinunter- 
geworfen.“ 

Dieser sonderbare Traum hat offenbar zwei verschiedene Sze- 
nerien, die durch „dann“ getrennt sind. Der zweite Teil bezieht sein 
Material aus einem rezenten Wunsche, einen Kasperl zu besitzen, d.h. 
eine männliche Puppe, so wie dieMama ein Bübchen hat. Jemand wirft 
den Kasperl in den Abtritt, man läßt sonst andere Dinge in den Abtritt 
fallen. So wie die Sache auf dem Abtritt, so kommt auch das 
Kindchen heraus. Wir haben hier also die Analogie zur „Lumpf”- 
theorie des ‚‚kleinen Hans“. Wenn in einem Traume mehrere Szenen 
vorhanden sind, pflegt jede Szene eine besondere Variante der Kom- 
plexbearbeitung zu sein. So ist hier der erste Teil nur eine Variante 
eines mit dem zweiten Teil gemeinsamen Themas. Was es heißt, ‚den 
Frühling sehen‘, oder ‚die Blümlein herauskommen sehen“, das haben 
wir oben gesehen. Jetzt träumt Anna, sie könne den Sommer 
machen, d. h. bewirken, daß die Blümchen herauskommen, sie kann 
selber ein Kindchen machen, und der zweite Teil des Traumes sagt, 
so wie man den Stuhlgang macht. Hier haben wir den egoistischen 
Wunsch, der hinter den anscheinend objektiven Interessen des nächt- 
lichen Gespräches liegt. 

Ein paar Tage später erhielt die Mutter Besuch von einer Dame, 
die ihrer Niederkunft entgegensah. Die Kinder achteten scheinbar nicht 
im Geringsten darauf. Folgenden Tags aber vergnügten sie sich unter 
Anführung der Älteren mit einem besonderen Spiel: Sie hatten sich 
alle alten Zeitungen des väterlichen Papierkorbes vorn unter die Röcke 
gestopft, so daß die Absicht der Nachahmung unverkennbar war. Nachts 
hatte die Kleine wieder einen Traum: ‚Ich habe eine Frau in der 
Stadtgeträumt,unddiehateinenganzdicken Bauch gehabt.“ 
Der Hauptakteur im Traume ist immer der Träumende selbst unter 
irgend einem bestimmten Aspekt; so findet das kindliche Spiel des 
Vortages seine völlige Deutung. 

Nicht lange darauf überraschte Anna ihre Mutter mit folgendem 
Schauspiele: Sie hatte sich ihre Puppe unter die Röcke gesteckt, zog sie 
langsam, mit dem Kopfe nach unten, hervor und sagte: „Schau, da 
ko mmt JetztdasKindchenheraus, esist schonganz draußen.“ 
Damit sagte Anna der Mutter: „Siehst du, so fasse ich die Geburt auf, 
was meinst du dazu? Ist das richtig? Das Spiel-will nämlich als Bas 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 49 


aufgefaßt sein, denn wie wir später sehen werden, mußte sie sich noch 
eine offizielle Bestätigung dieser Auffassung geben lassen. 

Daß die Rumination des Problems damit nicht etwa beendet 
war, zeigen gelegentliche Einfälle während der folgenden Wochen. 
So wiederholte sie das Spiel ein paar Tage später mit ihrem Bären, 
der die Funktion einer besonders geliebten Puppe hat. Eines Tages 
sagte sie zur Großmutter, indem sie auf eine Rose zeigte: 
„Siehst du, die Rose bekommt ein Kindehen.“ Der Groß- 
mutter wollte diese Meinung nicht recht einleuchten; Anna deutete 
aber auf den etwas geschwellten Kelch: ‚‚Siehst du, hier ist sie schon 
ganz dick.“ Ä 

Einmal zankte sich Anna mit dem Schwesterchen und letzteres 
rief zornig: „Ich töte dich!“ worauf Anna entgegnete: „Wenn ich tot 
bin, so bist du ganz allein, dann mußt du zum lieben Gott beten um 
ein lebendiges Kindehen.“ Und schon hatte sich die Szene verwandelt; 
Anna war der Engel, und das Schwesterchen mußte vor ihr knieen 
und sie bitten, ihr ein lebendiges Kindchen zu schenken. So wird Anna 
zur kinderspendenden Mutter. 


Es gab einmal Orangen zum Nachtisch, Anna verlangte ungeduldig 
danach und sagte: „Ich nehme eine Orange und schlucke sie ganz 
hinunter, ganz in den Bauch hinunter und dann bekomme 
ich ein Kindchen” 

Wer denkt hier nieht an die Märchen, wo kinderlose Frauen 
durch Verschlucken von Früchten, Fischen oder dergleichen endlich 
schwanger werden?!) So versuchte Anna sich das Problem zu lösen, 
wieso die Kinder eigentlich in die Mutter hineinkommen. 
Damit nimmt sie eine Fragestellung auf, die bis jetzt noch nie mit 
solcher Schärfe formuliert wurde. Die Lösung erfolgt in Form eines 
Gleichnisses, wie solches dem archaischen Denken des Kindes eigen- 
tümlich ist. (Das Denken in Gleichnissen besitzt auch noch der Er- 
wachsene in der unmittelbar unter dem Bewußtsein liegenden Schicht. 
Die Träume bringen die Gleichnisse an die Oberfläche, ebenso tut es 
die Dementia praecox.) Bezeichnenderweise sind sowohl in den deutschen 
wie in zahlreichen fremdländischen Märchen derartige kindliche Ver- 
gleiche recht häufig. Die Märchen sind, wie es scheint, die Mythen der 
Kinder und enthalten darum unter anderm auch die Mythologie, die 


!) Vgl. Riklin: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. F. Deuticke, 
Wien. 
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 4 


80 ©. G. Jung. 


sich das Kind über die sexuellen Vorgänge spinnt!). Der auch auf den 
Erwachsenen wirkende Zauber der Märchenpoesie beruht vielleicht 
nicht zum geringsten Teil darauf, daß in unserem Unbewußten noch 
einige der alten Theorien lebendig sind. Man hat nämlich eben gerade 
dann ein besonders eigenartiges und heimliches Gefühl, wenn ein Stück 
unserer fernsten Jugendzeit wieder angeregt wird, ohne dabei Be- 
wußtheit zu erlangen, sondern bloß einen Abglanz seiner Gefühlsstärke 
ins Bewußtsein sendet. 

Das Problem, wieso das Kind in die Mutter hineinkommt, ist 
schwer zu lösen. In den Leib kommt doch nur das, was durch den Mund 
hineingeht; es ist daher zu vermuten, daß die Mutter irgend etwas wie 
eine Frucht gegessen hat, die dann im Leibe gewachsen ist. Doch nun 
kommt eine weitere Schwierigkeit, nämlich: man weiß zwar, was die 
Mutter hervorbringt, nicht aber, wozu der Vater gut ist. Es ist eine 
alte Sparregel des Geistes, daß man zwei Unbekannte gerne zusammen- 
hängt und bei der Lösung der einen auch die andere mitnimmt. 

So befestigt sich beim Kinde sehr rasch die Überzeugung, daß 
der Vater bei der ganzen Sache irgendwie beteiligt ist, und zwar be- 
sonders darum, weil am Problem der Kinderentstehung immer noch die 
Frage offen ist, wieso das Kind in die Mutter hineinkommt. 

Was tut der Vater? Diese Frage beschäftigte jetzt Anna aus- 
schließlich. Eines Morgens lief die Kleine in das Schlafzimmer der Eltern, 
wo die Eltern gerade bei der Toilette waren, sprang ins Bett des Vaters, 
legte sich auf den Bauch und strampelte mit den Beinen. 
Dazu rief sie: „Gelt, so macht der Pa pa?‘ Die Eltern lachten und 
beantworteten die Frage nicht, da ihnen erst nachher ein Licht aufging 
über die mögliche Bedeutung dieser Darstellung. Die Analogie zu dem 
Pferde des „kleinen Hans“, das mit den Füßen „Krawall macht“, ist 
überraschend. 


) Das Märchen: ein Mythus des Kindes ist eine zu sehr abgekürzte De- 
monstration. Zunächst ist ja die Trägerin des Märchens die Mutter, welche die 
wirklichen Sexualverhältnisse kennt und jedenfalls nicht bewußt ” Symbolik 
übersetzt. Auch unbewußt wird es jetzt kaum mehr geschehen, indem die Sym- 
bolik seit Jahrhunderten festliegt und überdies schon in den ältesten Be in 
fast identischer Form nachgewiesen werden kann. Viele Symbole komme ifell 
auf dem Wege abergläubischer respektive vergessener kultische ah & * 
ins Märchen. Obschon sich die Deutung im einzelnen Falle irren k Be db h 
der Sexualcharakter eines wesentlichen Teiles der Märchensymb lik un ir N at 
Die Entstehungszeit der Symbole ist ziemlich früh ie jr . 


infantil, d. h. analogisch gedacht wurde. Seit ; 
j . t jener Z ; . ; 
viel mehr als 100 Kulturgenerationen linker. eit sind allerdings wohl nicht 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 51 


Mit dieser letzten Leistung schien das Problem gänzlich zu ruhen, 
wenigstens waren die Eltern nicht in der Lage, entsprechende 
Beobachtungen zu machen. Daß das Problem gerade hier zum Stillstand 
kam, ıst nicht zu verwundern, denn man ist hier wirklich an der 
schwierigsten Stelle. Zudem weiß man aus Erfahrung, daß nicht all- 
zuviele Kinder schon im Kindesalter diese Grenze überschreiten. Das 
Problem ist fast zu schwer für den kindlichen Verstand, denn ihm 
fehlen noch viele unerläßliche Kenntnisse, ohne die das Problem nicht 
gelöst werden kann. Das Kind weiß nichts vom Sperma und nichts 
vom Koitus. Die eine Möglichkeit ist: Die Mutter ißt etwas, denn nur 
so kann etwas in den Leib kommen. Doch was tut der Vater dabei? 
Die häufigen Vergleiche mit der Pflegerin und mit anderen ledigen 
Personen waren offenbar nicht umsonst. Anna mußte daraus schließen, 
daß die Existenz des Vaters von Bedeutung ist. Aber was tut er? Der 
kleine Hans und Anna sind der Meinung, es müsse etwas mit den Beinen 
sein. 

Der Stillstand dauerte etwa 5 Monate, während welcher Zeit 
keine phobischen Symptome und keine sonstigen Anzeichen von Kom- 
plexbearbeitung vorhanden waren. Nach Ablauf dieser Frist kamen 
Vorzeichen von Ereignissen. Annas Familie wohnte damals in einem 
Landhause an einem Gewässer, wo die Kinder mit der Mutter baden 
durften. Da Anna sich fürchtete, weiter als knietief ins Wasser vorzu- 
dringen, setzte sie der Vater einmal ins Wasser, was aber zu einem 
großen Geschrei führte. Abends beim Zubettgehen fragte Anna die 
Mutter: ‚„‚Gelt, der Papa hat mich ertränken wollen?“ 

Wenige Tage darauf wieder großes Geschrei. Sie hatte dem Gärtner 
solange vor den Füßen gestanden, bis er sie schließlich im Scherze in eine 
eben gegrabene kleine Grube stellte. Anna fing an, jämmerlich zu 
schreien und behauptete nachher, der Mann habe sie begraben wollen. 

Zuguterletzt erwachte Anna noch einmal nachts mit ängstlichem 
Schreien. Die Mutter ging zu ihr ins Nebenzimmer und beruhigte sie. 
Anna hatte geträumt: „Eine Eisenbahn fahre da oben vorbei und 
falle um“. 

Wir haben also auch noch die Stellwagengeschichte des ‚kleinen 
Hans‘. Diese Vorfälle zeigten zur Genüge, daß wieder Angst in der Luft 
war, d. h. daß wieder ein Hindernis gegen die Übertragung auf die 
Eltern sich erhob und daher ein größerer Teil Liebe in Angst konvertiert 
wurde. Diesmal richtet sich das Mißtrauen nicht gegen die Mutter, 


sondern gegen den Vater, der doch die Sache wissen mußte, aber nie 
4*r 


592 C. G. Jung. 


etwas davon verlauten ließ. Was der Vater wohl im Schilde führt oder 
tut? Dem Kinde erscheint das Geheimnis als etwas sehr Gefährliches, 
so daß man sich offenbar des Schlimmsten von seiten des Vaters ver- 
sehen muß. (Diese kindliche Angststimmung gegen den Vater sehen 
wir im erwachsenen Alter namentlich bei Dementia praecox wieder in 
deutlichster Weise. wie überhaupt diese Geisteskrankheit, als ob sie 
nach psycho-analytischen Prinzipien handelte, die Decke von vielen 
unbewußten Prozessen wegzieht.) Daher kommt Anna auf die an- 
scheinend sehr ungereimte Vermutung, der Vater wolle sie ertränken. 

Anna ist unterdessen etwas mehr herangewachsen und ihr Interesse 
für den Vater hat eine besondere Tönung angenommen, die schwer zu 
beschreiben ist. Die Sprache ermangelt der Worte, um die ganz be- 
sondere Art zärtlicher Neugier zu beschreiben, die aus den Augen des 
Kindes leuchtet. 

Es dürfte wohl kein Zufall sein, daß die Kinder zu dieser Zeit auch 
ein hübsches Spiel trieben. Sie ernannten die beiden größten Puppen 
zu ihren Großmüttern und spielten mit ihnen „Krankenhaus“, wobei 
ein Gartenhäuschen als Spital angenommen wurde. Dorthin wurden 
die Großmütter gebracht, interniert und über Nacht sitzen gelassen. 
Die ‚Großmutter‘ in diesem Falle erinnert verzweifelt an den ‚großen 
Bruder“ der Vorzeit. Es scheint sehr wahrscheinlich, daß die ‚‚Groß- 
mutter“ einfach die Mutter vertritt. So fängt also die Kleine schon an, 
die Mutter wegzuschaffen!). Diese Absicht wird ihr erleichtert dadurch, 
daß ihr die Mutter wieder Gelegenheit zur Mißachtung gegeben hat. 

Das kam folgendermaßen: Der Gärtner hatte eine große Fläche 
angelegt, die er mit Gras besäte. Anna half ihm bei dieser Arbeit mit 
viel Vergnügen, anscheinend nicht die tiefe Bedeutung des „‚kindischen 
Spieles“ ahnend. Etwa 14 Tage später betrachtete sie oft mit Freuden 
das hervorkeimende junge Gras. Und einmal ging sie zur Mutter und 
fragte sie: „Sag mir, wie sind denn die Augen in den Kopf hinein- 
gewachsen?“ 


‘) Die Tendenz, die Mutter zu beseitigen, zeigte sich auch bei folgender 
Gelegenheit: Die Kinder hatten das Gartenhaus mit ihren Puppen als Wohnung 
bezogen. Ein wichtiger Raum des Hauses ist bekanntlich das Klosett, das selbst- 
verständlich nicht fehlen durfte. Dementsprechend verrichteten die Kinder ihr 
Bedürfnis in einer Ecke des Gartenhauses. Die Mutter konnte natürlich nicht 
umhin, diese Illusion zu stören, indem sie dergleichen Spiele verbot. Bald darauf 
bekam sie die Erklärung zu hören: „Wenn die Mama gestorben ist 435 machen 
wir alle Tage ins Gartenhäuschen und ziehen alle Tage die Bönntkgikleider an.“ 


Über Konflikte der kindlichen Seele, 83 


Die Mutter meinte, das wisse sie nicht. Anna erkundigte sich aber 
weiter, ob denn der liebe Gott das wisse und der Papa, warum der liebe 
Gott und der Papa alles wissen? Die Mutter wies sie an den Vater, 
sie solle ihn fragen, wieso die Augen in den Kopf hineinwüchsen. Einige 
Tage darauf war die ganze Familie beim Tee vereinigt, man hatte die 
Mahlzeit beendet und ging nach verschiedenen Seiten auseinander. 
Der Vater blieb noch etwas bei der Zeitung sitzen und Anna war auch 
geblieben. Plötzlich trat sie zum Vater und fragte: ‚Sag mir, wie sind 
die Augen in den Kopf hineingewachsen ?“ 

Vater: „Die sind nicht in den Kopf hineingewachsen, sondern 
sind schon von Anfang an drin und mit dem Kopfe gewachsen.“ 

Anna: „Hat man die Augen nicht gesetzt (gepflanzt)? 

Vater: „Nein, sie sind halt gewachsen im Kopfe wie die Nase.“ 

Anna: „Aber sind der Mund und die Ohren auch so gewachsen? 
Und auch die Haare?“ 

Vater: „Ja, sie sind alle so gewachsen.“ 

Anna: ‚Aber auch die Haare? Die kleinen Mäuschen kommen doch 
ganz nackt auf die Welt. Wo sind denn die Haare vorher? Werden nicht 
Sämlein dazu gegeben?“ 

Vater: „Nein, weißt du, die Haare kommen schon aus so kleinen 
Körnchen, die wie Sämchen sind, aber die sind schon vorher in der Haut 
und es hat sie niemand gesät.“ 

Hier gerät nun der Vater etwas in die Klemme. Er ahnte, wo die 
Kleine hinauswollte; er wollte deshalb die so diplomatisch eingeführte 
Samentheorie, die sie in glücklichster Weise der Natur abgelauscht 
hatte, nicht umstoßen um einer einmaligen falschen Anwendung willen, 
denn das Kind sprach mit ungewohnter Ernsthaftigkeit, die sich Berück- 
sichtigung erzwang. 

Anna (sichtlich enttäuscht, mit Betrübnis im Ton): ‚Aber wie 
ıst denn der Fritzchen in die Mama hineingekommen? Wer hat ihn denn 
hineingeklebt? Und wer hat dich in deine Mama hineingeklebt? Wo ist 
er denn herausgekommen? 

Aus diesem Sturm plötzlich entfesselter Fragen wählte der Vater 
zur Beantwortung zuerst die letzte: „Denke mal nach, du siehst doch, 
daß der Fritzchen ein Bub ist; aus Buben gibts Männer, aus den Mädchen 
gibts Frauen und nur die Frauen können Kinder haben, die Männer nicht. 
Jetzt denke mal, wo wird der Fritzchen herausgekommen sein?“ 

Anna (lacht, freudig erregt, zeigt auf ihr Genitale): ‚Ist er da 
herausgekommen 


4 C. G. Jung. 


Vater: „Ja natürlich, das hast du doch gewiß auch schon ge- 


dacht?” 

Anna (die Frage überhörend, eilig): ‚Aber wie ist denn Fritzchen 
in die Mama hineingekommen? Hat man ihn gesetzt (gepflanzt)? Hat 
man denn Sämlein gesetzt?“ 

Dieser höchst präzisen Frage konnte der Vater nicht mehr aus- 
weichen. Er erklärte dem Kinde, das mit größter Aufmerksamkeit 
zuhörte, daß die Mutter sei wie der Boden und der Vater wie der Gärtner, 
der Vater gebe die Sämlein und bei der Mutter wüchsen sie und so 
entstehe ein Kindlein. Diese Antwort befriedigte sie außerordentlich, 
sie sprang sofort zur Mutter und rief: „Der Papa hat mir alles erzählt, 
jetzt weiß ich alles.” Was sie aber alles wußte, erzählte sie niemandem. 

Folgenden Tags aber wurde die neue Erkenntnis ausgespielt. 
Anna ging zur Mutter und erzählte ihr: „Denk Mama, der Papa hat mir 
erzählt, wie Fritzchen ein Engelchen war und vom Storche aus denı 
Himmel gebracht wurde.‘ Die Mutter war natürlich erstaunt und sagte: 
„Das hat dir der Papa ganz gewiß nicht gesagt.‘‘ Worauf die Kleine 
lachend wieder davonsprang. 

Das war offenbar die Rache. Die Mutter wollte oder konnte 
nicht wissen, wie die Augen in den Kopf hineingewachsen sind, sie 
weiß am Ende auch nicht einmal wie Fritzchen in sie hineingekommen 
ist. Darum kann man sie ruhig mit der alten Geschichte noch einmal 
aufs Eis führen. Sie glaubt es vielleicht doch noch. 


Das Kind war jetzt beruhigt, denn seine Erkenntnis war bereichert 
und ein schwieriges Problem gelöst. Ein noch größerer Vorteil aber war 
der Umstand, daß sie ein intimeres Verhältnis zum Vater, das ıhre 
intellektuelle Unabhängigkeit nicht im geringsten beeinträchtigte, 
gewonnen hatte. Dem Vater freilich blieb die Unruhe, es war ihm nicht 
ganz wohl bei dem Gedanken, daß er dem 4!/,jährigen Kinde ein Ge- 
heimnis ausgeliefert hatte, welches andere Eltern sorgfältig hüten. 
Begreiflicherweise beunruhigte ihn der Gedanke, was Anna wohl mit ihrem 
Wissen anstelle. War sie indiskret und beutete sie es aus? Sie könnte 
ja unschwer ihre Gespielinnen belehren oder Erwachsenen gegenüber 
mit Wonne enfant terrible spielen. Die Befürchtungen erwiesen sich 
aber als gänzlich grundlos. Anna ließ nie und bei keiner Gelegenheit 
ein Wort darüber verlauten. Auch war mit dieser Aufklärung eine 
völlige Beruhigung des Problems erzielt, so daß keine Fragen mehr vor- 
kamen. Das Unbewußte allerdings verlor die Rätsel der Menschen- 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 59 


schöpfung nicht aus dem Blick. Einige Wochen nach der Aufklärung 
erzählte Anna folgenden Traum: 

„Sie träumte, sie sei im Garten und mehrere Gärtner stehen an 
den Bäumen und urinieren, dabei ist auch der Vater.“ 

Man erkennt das von früher ungelöste Problem: wie macht es 
der Vater? 

Zur selben Zeit kam ein Schreiner ins Haus, um eine wider- 
spänstige Schublade zu reparieren; Anna stand dabei und sah zu, wie 
er sie abhobelte. In der Nacht hatte sie folgenden Traum: 

„Der Schreiner hobelt ihr das Genitale ab.“ 


Der Traum läßt sich unschwer dahin deuten, daß Anna sich die 
Frage vorlegt: Geht es bei mir? Muß man nicht etwas Ähnliches machen 
wie der Schreiner, damit es geht? Die Annahme deutet darauf hin, 
daß dieses Problem der unbewußten Bearbeitung augenblicklich in 
besonderem Maße unterliegt, weil etwas daran unklar ist. Daß dem 
so ist, zeigte sich bei nächster Gelegenheit, die jedoch erst einige Monate 
später eintrat, als sich Anna dem fünften Geburtstage näherte. Unter- 
dessen war auch das jüngere Schwesterchen, Sophie, in diese Fragen 
hineingewachsen. Sie war zwar zugegen gewesen, als Anna zur Zeit der 
Erdbebenphobie aufgeklärt wurde. Sie hatte damals sogar eine an- 
scheinend verständnisvolle Zwischenbemerkung gemacht (vgl. oben). 
Die Aufklärung war aber in Tat und Wahrheit von ihr damals nicht 
verstanden worden. Das zeigte sich bald darauf. Sie bekam Zeiten, 
wo sie in vermehrtem Maße zärtlich war mit der Mutter, ihr nicht von 
der Schürze ging und zugleich auch recht unartig und gereizt war. 
An einem dieser bösen Tage wollte sie die Wiege des kleinen Brüderchens 
umstoßen. Die Mutter verwies ihr es, worauf sie in ein großes Geschrei 
ausbrach. Plötzlich mitten im lauten Weinen sagte sie: „Ich weiß ja 
gar nicht, woher die kleinen Kinder kommen.‘ Natürlich wurde ihr 
darauf die gleiche Erklärung zuteil, wie früher ihrer älteren Schwester. 
Damit beruhigte sich bei ihr das Problem anscheinend, und zwar für 
mehrere Monate. Dann kamen wieder Tage, wo sie weinerlich und 
schlechter Laune war. Einmal wandte sie sich ganz unvermittelt an die 
Mutter mit der Frage: „War denn Fritzchen in deinem Bauche?“ 

Mutter: ‚‚Ja.“ 

Sophie: „Hast du ihn herausgedrückt?“ 

Mutter: „Ja.“ 

Anna: (einfallend), ‚Aber unten hinaus?“ 


56 ©. G. Jung. 


Sie wendete dabei einen kindlichen Terminus an, der ebensowohl 
für Genitale wie für Anus gebraucht wird. 

Sophie: „Und dann hat man ihn heruntergelassen®?” 

Der Ausdruck ‚‚heruntergelassen“ stammt von dem die Kinder 
sehr interessierenden Mechanismus des Waterklosetts, wo man die 
Exkremente ‚‚herunterläßt“. 

Anna: „Ja war denn Fritzchen Erbrochenes?” 

Anna hatte abends infolge einer leichten Verdauungsstörung 
Erbrechen gehabt. 

Sophie hat nach mehrmonatiger Pause einen plötzlichen Anlauf 
genommen und sich noch einmal der früheren Aufklärung versichert. 
Diese nachträgliche Wiederversicherung scheint auf Zweifel hinzudeuten, 
die sich gegen die mütterliche Erklärung erhoben haben. Nach dem 
Inhalte der Fragen zu schließen, gingen die Zweifel aus von der un- 
senügenden Erklärung der Geburt. Der Ausdruck „herausdrücken“ 
wird von den Kindern für den Akt der Defäkation verwendet. Er zeigt, 
welchen Weg die Theorie auch bei Sophie nehmen wird. Ihre weitere 
Bemerkung, ob man Fritzchen dann ‚„heruntergelassen habe, zeigt 
eine völlige Identifikation des Brüderchens mit dem Exkrementum, 
die so weit geht, daß sie das Scherzhafte streift. Anna macht darauf 
die sonderbare Bemerkung, ob denn Fritzchen „Erbrochenes” ge- 
wesen sei? Ihr Erbrechen am Vorabende war ihr sehr eindrucksvoll 
gewesen. Sie hatte seit frühester Kindheit zum ersten Male wieder 
Erbrechen gehabt. Das war ein Weg, auf dem Dinge das Körperinnere 
verlassen können, an den sie bis jetzt offenbar nie ernstlich gedacht 
hatte. (Eigentlich bloß damals, als es sich um die Körperöffnung handelte 
und sie an den Mund dachte.) Sie lenkt mit ihrer Bemerkung von der 
Exkrementtheorie entschieden weg. Warum rät sie nicht gleich auf das 
Genitale? Der letzte von ihr berichtete Traum gibt uns eine Einsicht 
in die wahrscheinlichen Gründe: Am Genitale ist etwas, was Anna nicht 
versteht; da muß noch irgend etwas gemacht werden, damit es „‚geht“. 
Vielleicht ist es das Genitale gar nicht? Der Samen für die Kinder 
kommt vielleicht durch den Mund in den Leib so wie die Speisen und 
das Kind kommt dann heraus wie ‚‚Erbrochenes“. 

Der detaillierte Mechanismus der Geburt ist also noch rätselhaft. 
Anna wurde von der Mutter wiederum belehrt, daß das Kind tat- 
sächlich unten herauskomme. Nach etwa 1 Monat erzählte Anna plötzlich 
folgenden Traum: 

„Ich träumte, ich sei im Schlafzimmer von Onkel und Tante. 


Über Konflikte der kindlichen Seele. 97 


Beide lagen im Bette. Ich zog dem Onkel die Decke herunter, setzte 
mich auf seinen Magen und ritt!) darauf herum.“ 

Dieser Traum kam anscheinend sehr unvermittelt heraus. Die Kinder 
waren damals für mehrere Wochen in den Ferien und der Vater, der durch 
Geschäfte in der Stadt festgehalten war, war gerade an diesem Tage 
zu Besuch gekommen. Anna war besonders zärtlich mit ihm. Der Vater 
fragte sie scherzend: „Willst du heute abend mit mir in die Stadt 
reisen?“ Anna: „Ja und dann darf ich bei dir schlafen?‘ Zugleich 
hängte sie sich zärtlich an den Arm des Vaters, genau in derselben 
Weise, wie es die Mutter gelegentlich tut. Wenige Augenblicke darauf 
erzählte sie den Traum. Sie war einige Tage vorher bei der im Traum?) 
erwähnten Tante zu Gaste gewesen. Sie hatte sich auf jenen Besuch- 
gang besonders gefreut, weil sie mit Sicherheit voraussetzte, dort zwei 
kleinen Vettern zu begegnen, für welche sie ein ungeheucheltes Interesse 
an den Tag legt. Leider waren die Vettern nicht dort, worüber Anna sehr 
enttäuscht war. Irgend etwas in der gegenwärtigen Situation muß 
dem Inhalte des Traumes verwandt sein, damit er plötzlich wieder 
erinnert wird. Ganz klar ist die Verwandtschaft zwischen dem manifesten 
Trauminhalt und dem Gespräch, das sie mit dem Vater geführt hatte. 
Der Onkel ist ein schon recht alter Herr und dem Kinde nur aus einigen 
seltenen Begegnungen bekannt. Er ist im Traume eine lege artis aus- 
geführte Ersetzung des Vaters. Der Traum selber schafft einen Ersatz 
für die Enttäuschung des Vortages: sie ist im Bette des Vaters. Hier 
ist das tertium comparationis mit der Gegenwart. Daher wird der Traum 
plötzlich wieder erinnert. Im Traume wird ein Spiel wiederholt, das Anna 
oft im (leeren) Bette des Vaters ausgeführt hatte: nämlich dieses Reiten 
und Strampeln, im Spiel aber auf der Matraze. Aus diesem Spiele 
stammt die Frage: Macht der Papa so? (Vgl. oben.) Die aktuelle Ent- 
täuschung ist, daß der Vater auf ihre Frage antwortete: „Du darist 
dann allein im Nebenzimmer schlafen.“ Darauf folgt die Erinnerung 
desjenigen Traumes, der sie schon einmal bei einer erotischen Ent- 
täuschung getröstet hatte. Zugleich bringt der Traum eine wesentliche 
Verdeutlichung der Theorie: Es geschieht im Bette und durch die 
oben geschilderte rhythmische Bewegung. Ob die Bemerkung, daß sie 
sich dem Onkel auf den Magen setzt, mit dem Erbrechen etwas zu 
tun hat, ist noch nicht evident. 


!) Der hierfür gebrauchte Dialektausdruck („uf und abgjuckt‘) ist un- 
übersetzbar, er heißt: eine in senkrechtem Sinne schnellende Bewegung ausführen. 
2) Der Traum war ebenfalls einige Tage alt. 


98 C. G. Jung. 


Soweit reichen die bisherigen Beobachtungen. Anna ist jetzt 
etwas über 5 Jahre alt und weiß schon, wie wir gesehen haben, um eine 
Reihe der wesentlichsten sexuellen Tatsachen. Irgend eine schlimme 
Wirkung dieser Wissenschaft auf Moral und Charakter war nicht zu 
bemerken. Von der günstigen therapeutischen Wirkung sprachen wir 
schon. Es ergibt sich aus dem Mitgeteilten auch, daß die Jüngere 
Schwester offenbar einer für sie selbst bestimmten Aufklärung bedarf, 
und zwar dann, wenn sich bei ihr das Problem meldet. Ist es noch nicht 
reif, so nutzt auch, wie es scheint, die Aufklärung nichts. 

Ich bin kein Anhänger der sexuellen Aufklärung der Kinder in 
der Schule oder überhaupt irgend einer mechanischen Generalaufklärung. 
Ich bin daher nicht in der Lage, einen positiven und allgemein gültigen 
Ratschlag zu erteilen. Ichkann nur einen Schluß aus dem mitgeteilten 
Materiale ziehen, nämlich: Man sehe einmal die Kinder an, so wie sie 
wirklich sind, und nicht wie wir sie zu haben wünschen, und man folge 
bei der Erziehung den Entwicklungslinien der Natur, nicht toten Prä- 
skriptionen. Wenn diese Forderung nicht Phrase sein soll, so gibt es nur 
einen Weg der Vollziehung, und das ist die Psychoanalyse. Was sie 
leistet, sieht man an diesem Stück kindlicher Geistesentwicklung. 


Ein Fall von multipler Perversion 
mit hysterischen Absenzen. 


Von Dr. J. Sadger, Nervenarzt in Wien. 





Einleitung. 


Am 15. Dezember 1908 wurde mir von Prof. Freud ein dänischer 
Graf von 32 Jahren zugewiesen, den sein Berater, Privatdozent der 
Psychiatrie und Direktor einer Irrenanstalt, dem Professor geschickt 
„in der Hoffnung‘, wie es im Begleitschreiben hieß, „daß Sie ihm helfen 
könnten“. Ich zitiere den mitgegebenen Brief: ‚Der Beruf des Patienten 
ist die Archäologie, worin er Bedeutendes geleistet haben soll. Seine 
Geschichte: Er stammt aus einer stark degenerierten Familie. Vater 
Gutsbesitzer. Eltern sollen zu einer trüben, melancholischen Stimmung 
neigen, unmotivierte ökonomische Befürchtungen hegen usw. Patient 
selbst immer schon reizbar, schüchtern, zurückgezogen, mitunter 
während der Kindheit zornmütige Accös, wo er ganz von Sinnen war, 
angeblich bewußtlos wurde, ganz blau im Gesicht. Später ausgesprochene 
Alkoholintoleranz mit atypischen Rauschzuständen, Automatismen, 
Dämmerzuständen, Amnesie. Als Offiziersaspirant einmal ein Anfall 
von Bewußtlosigkeit (epileptischer Natur?). Jetzt häufig kurzdauernde 
endogene Zustände trüber und reizbarer Stimmung, die ich als epi- 
leptischer Natur aufgefaßt habe. Immer un certain goüt pour la canaille, 
pour la crapule; verkehrt mit allerlei suspekten Figuren, Zirkusleuten, 
konnte in der unkritischesten Weise gewissen inferioren Typen seine 
Bewunderung schenken, sonst in seiner Wissenschaft sehr kritisch und 
originell. Hat immer eine starke Abneigung gegen- Homosexuelle ge- 
fühlt und konnte es niemals aushalten, in einer Gesellschaft mit solchen 
Personen zusammen zu sein. Gleichzeitig hat er indessen eine gewisse 
Anziehung an Männer konstatiert. Der weibliche Körper ist ihm nie 


60 J. Sadger. 


eigentlich schön vorgekommen. Immer stark sexuell, seit zwei Jahren 
verheiratet mit einer ehemaligen Prostituierten. Seine homosexuellen 
Regungen immer dunkel und halb unbewußt bis vor einigen Wochen, 
wo er sich in einen ganz unbedeutenden jungen Mann (Kellner) ver- 
liebte, mit dem er schon verabredet hatte, nach ÖOstende zu reisen, 
um nimmer zurückzukehren. Als er mich konsultierte, gab er falsche 
Auskünfte und wollte den Namen des Geliebten nicht nennen, der 
mir dann durch seine Frau bekannt wurde. Trotz ihrer Antezedentien 
soll diese letztere einen günstigen Einfluß auf den Patienten gehabt 
haben und ein willensstarkes und gutgesinntes Weib sein. So steht 
die Sache jetzt. Um eine unmittelbare Katastrophe zu vermeiden, 
habe ich ihn stante pede zu Ihnen geschickt. Ob was damit anzufangen 
ist, mag fraglich sein.“ 

Soweit die Anamnese des Arztes. Ich will ergänzen, daß Patient 
mit seiner Frau in einem unlegalisierten Verhältnisse lebte, die Eltern 
als Bedingung einer Versöhnung legitime Eheschließung verlangten, 
der er bislang noch immer Widerstand entgegengesetzt, daß endlich 
diese Frau nicht bloß eine ehemalige Dirne war — als solche hatte 
sie auch schon ein Kind mit einem andern gehabt, das freilich bald 
darauf starb — sondern obendrein vorher von einer Syphilis „geheilt“ 
worden war. Dann weiters, was die jüngere Schwester des Patienten 
über meine Anfrage betreffs der Mutter und deren Verhältnis zu ihrem 
Sohne etwas später schrieb. Ihr verhältnismäßig günstiges Urteil über 
die Mutter erhält dadurch noch besonderen Wert, daß dieses hoch- 
intelligente Mädchen am Bruder sehr hing und obendrein aus Verliebt- 
heit in den Vater zur Mutter in einem direkt feindseligen Verhältnisse 
stand. Ihre Mitteilung lautet: 

„Mutter stammt aus einer sehr angesehenen und wohlhabenden 
Gutsbesitzersfamilie. Eltern und Geschwister sehr gesund. Kummerlose, 
angenehme Kindheit und Jugend. Mutter war 6 Jahre hindurch Hof- 
dame und heiratete mit 30 Jahren. Bis auf eine kurze Unterbrechung 
hat sie immer auf unserem Landgut gelebt. Sie war immer von vorzüglicher 
Gesundheit, guten Körperkräften und jugendlichem Aussehen. Doch 
hat sie mehr weniger an Schlaflosigkeit gelitten und ist immer etwas 
unruhig gewesen. Sehr gute Haushälterin und peinlich ordentlich, hat 
sie sich oft über Kleinigkeiten geärgert und etwas irritierend und de- 
primierend auf Mann und Kinder gewirkt. Sie ist immer die Steuernde 
ın der Familie gewesen, nicht aber auf kräftige, herrische Weise, sondern 
mehr durch Eigensinn und wegen der nachgebenden Natur ihres Mannes. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 61 


Ihre Kinder, die alle empfindlich, voll Phantasie und Gefühl waren, 
hat sie nie recht verstanden, nicht mit ihnen spielen oder sich herzlich 
benehmen können. Sie ist gut gebildet und begabt, aber ohne spezielle 
Interessen und kommt Fremden etwas kalt, trocken und konventionell 
vor. Im Grunde fühlt sie doch sehr tief, was man freilich äußerst selten 
bemerken kann. Namentlich ist ihre Natur außerordentlich zugeknöptt. 
Der Patient, ihr einziger Sohn, ist immer ihr Favorit gewesen. Er war 
stets ein weichliches, kränkliches Kind. Sie hat seiner gewartet, alle 
seine Wünsche erfüllt, den Vater manchmal gehindert, eine ebenso 
nötige wie ungewöhnliche Bestrafung auszuüben. Die Eltern haben 
dem Patienten nur die größte Freundlichkeit und Güte bewiesen, für 
ihn pekuniäre Opfer gebracht, aber er hatniediemoralische Stütze, 
Verstehen und Strenge, die ihm am nötigsten waren, be- 
kommen (von der Schwester unterstrichen). Gegen die Mutter hat er 
sich immer gefühllos und mehr und mehr nonchalant bewiesen, während 
sie sich immer nach Freundlichkeit von ihm gesehnt und über die 
kleinste Zärtlichkeit sehr gefreut hat, wie auch der Vater. Die Heimat 
ist ihm stets offen geblieben, auch nach der Verbindung mit einer 
Person, von einem Vorleben, das die Eltern und besonders die Mutter 
natürlich auf das höchste schmerzen und aufregen mußte. Der Patient 
hat sich in dieser Beziehung sonderbar gefühl- und rücksichtslos be- 
nommen, hat nicht verstanden oder verstehen wollen, den Wider- 
stand der Eltern, respektive Mutter, welche er für altmodisch, für die 
neuen radikalen und ‚freien‘ Ideen absolut unverständig und nur 
für den Schein lebend hält, zu brechen. Einige verzweifelte Briefe 
der Mutter haben ihn sehr empört und ihn ihr noch mehr entfremdet.“ 

Wie aus dem Berichte des Psychiaters hervorgeht, legte dieser 
das Hauptgewicht auf die Degeneration und die Epilepsie, während 
er die Homosexualität nur nebenbei streifte, weil sie just damals zum 
argen Skandal sich auszuwachsen drohte. Sein Urteil lautete ziemlich 
trostlos und noch nach sechs Wochen durchgeführter Psychoanalyse, 
als ich schon erkleckliche Besserung vermelden konnte, bekam ich 
zur Antwort: „Wenn Sie ein bißchen Ordnung in diese ungeordnete 
und detraquierte Psyche hineinbringen können, dann dürfen Sie mit 
Recht auf Ihr therapeutisches Können stolz sein.‘ Die Psychoanalyse 
von bloß fünf Monaten — länger war sie aus äußeren Gründen nicht 
durchführbar, obwohl ich zwei Jahre veranschlagt hatte — ergab 
bereits deutlich, daß nicht so sehr die zweifellose Degeneration im Vorder- 
srunde des Krankheitsbildes stand oder mindestens dem Kranken 


62 J. Sadger. 


weit weniger Beschwerden machte, als die Auswüchse seiner Vita 
sexualis. Neben der schreienden Homosexualität erwies sich gar bald, 
daß die für das Kind normalen geschlechtlichen Perversionen auch 
beim Jüngling und Mann noch persistierten, was wohl auf die schwere 
Belastung zurückgeht. Als Krankheit jedoch empfand er nicht sie und 
die anderen Stigmen der Degeneration, sondern lediglich deren öftere 
Verschärfung durch akute sexuelle Schädlichkeiten, sowie die angebliche 
Epilepsie. Auch die letztere empfing durch die Psychoanalyse verborgen 
geblieben sexuelle Deutung und völlige Heilung. Ehe ich das alles im 
einzelnen ausführe, will ich von dem Kranken einen kurzen 


Lebensabriß 


entwerfen. Bis zu seinem 10. Lebensjahre wurde er auf dem Landgute 
seiner Eltern erzogen, zuerst von diesen, dann fortlaufend von einem 
Kindermädchen, zwei Gouvernanten und einem Hofmeister. Mit 10 Jahren 
kommt er zum Besuche des Gymnasiums in die Hauptstadt, wo er 
bei einem Onkel untergebracht wird. Nach Absolvierung der Mittel- 
schule tritt er mit 18 Jahren auf Wunsch seines Vaters, der selber 
Offizier gewesen, in dessen früheres Regiment ein, bleibt aber daselbst 
nur 3?/, Monate, worauf er wegen einer angeblichen Gehirnentzündung 
quittieren mußte. Da sein Interesse schon vorher durch den Bruder 
des Vaters auf Kostümkunde und Rüstungen gelenkt worden war, 
begann er, um in der Rekonvaleszenz eine leichtere Beschäftigung 
zu haben, an der Waffensammlung des Museums zu arbeiten, und bezog 
dann später die Universität, wo er Kunst- und Kulturgeschichte stu- 
dierte. Im ersten Jahre der Universitätszeit hat er viel gesoffen und 
Hasard gespielt und auch seine Intoleranz gegen Alkohol gezeigt, die 
zu Dämmerzuständen, ja ausgesprochenem Bewußtseinsverlust führte. 
Dies zügellose Leben währte ein Jahr, dann begann er sich wieder am 
Museum zu betätigen, ernsthaft zu studieren und auch am politischen 
Leben teilzunehmen, wo er natürlich Radikaler wurde. Das brachte 
auch den scheinbar ersten Konflikt mit seinem Vater. Als Graf aus 
altadeligem Hause nämlich hatte er eine Einladung zu Hof bekommen, 
auch der Vater wünschte sehnlichst, er möge dorthin gehen, doch er 
lehnte ab, angeblich wegen seiner differierenden politischen An- 
schauung, und trieb es absichtlich zum Bruche mit dem Vater. Da 
er ein J ahr beim Militär verloren, obendrein seinen Chef (einen Ver- 
wandten) öfter am Museum vertreten mußte und das Studium der 
Kulturgeschichte sehr mühsam und langwierig, ward er 27 J ahre, 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 63 


als er die Universität verließ und eine Stelle an der Waffensammlung 
des Museums annahm. Hatte er von den Eltern sich schon vorher 
derart zurückgezogen, daß er sie nur noch zweimal im Jahre besuchte, 
so kam es mit 30 Jahren zu völligem Bruche, als er mit einer Pro- 
stituierten einen gemeinschaftlichen Haushalt begann und seinen 
Eltern, die sich schließlich mit allem zufrieden geben wollten, nicht 
einmal die Konzession einer kirchlichen Trauung gewähren mochte. 
Schon früher, von der Militärzeit ab, hatte er seinen homosexuellen 
Neigungen reichlich, wenn auch nur platonisch gefrönt. Kurz vor 
seiner Herreise nach Wien jedoch bestand die Gefahr, daß er sich mit 
einem Kellner arg verplempere, den er seit 14 Tagen kannte und da nur 
sieben Mal gesprochen hatte. ‚Je öfter ich ihn sah,‘ erklärte Patient 
gleich in der ersten Analysenstunde, ‚desto stärker wirkte er auf mich. 
Das erste Mal gefiel mir sein Aussehen und Wesen, ich habe ihn immer 
ansehen müssen und mich gleich zu ihm hingezogen gefühlt.‘ Er begann 
ihn auszufragen nach seinen Verhältnissen, Stellung, ob er mit seinem 
Berufe zufrieden sei, und rückte endlich mit dem Vorschlage heraus, 
gemeinsam mit ihm nach Ostende zu reisen, worauf der andere bereit- 
willig einging. Doch da kam die Ernüchterung. Teils hatte die Frau 
schon Lunte gerochen und sich ins Mittel gelegt, teils drängte sich 
ıhm selber die Erkenntnis auf, das müsse ein schlechtes Ende nehmen, 
kurz er suchte einen Psychiater auf, der, wie wir schon wissen, ıhn 
samt der Frau nach Wien expedierte. Im Verlaufe der hier eingeleiteten 
Analyse ergab sich nun, daß der Kranke nicht bloß die vom Psychiater 
vermeldeten Symptome der Degeneration, Alkoholintoleranz, epilepsie- 
artigen Anfälle und Homosexualität aufwies, sondern daneben noch 
ein reichbesetztes Sexualprogramm, von dem etwa anzuführen wären: 
eine Reihe von Äußerungen des Autoerotismus, wie Onanie, Narzismus, 
eine Art von Selbstkoitus, will sagen: Versuche und Phantasien, sich 
selbst mit dem Membrum in den After zu dringen, einen mächtigen 
Schautrieb und Exhibitionismus und eine ganz ungeheuerliche Anal- 
erotik; dann weiter Statuenliebhaberei, masochistische und sadistische 
Züge, Selbstgeißelung, pyromanische Antriebe und eine Dysuria psy- 
chica. Wie man sieht, eine ansehnliche Musterkarte. Von dieser will 
ich die 
Homosexualität 

zuerst vornehmen. Als ich ıhn fragte, was er denn vom Kellner eigentlich 
ersehnte und wie sein Typus beschaffen sei, kam folgende Antwort: 
„Auch wenn ich mit ihm gereist wäre, hätte ich eigentlich nicht ge- 


64 J. Sadger. 


wußt, was ich mit ihm beginnen solle. Ich wollte nur seine Nähe, eventuell 
mit meiner Hand seine Schultern und Oberarme fassen. Ich glaube, 
das allein gewährte mir schon sexuellen Genuß. Vielleicht hätte ich 
ihm auch die Hoden gestreichelt, aber nicht den Penis. Es wäre mir 
genug gewesen, wenn er Erektionen bekommen hätte. Bei mir kommt 
nämlich alles durch die Augen, meine meisten und stärksten Gefühle, 
wenn ich etwas sehe. Eshätte miralso genügt, seinen Penis steifzu sehen, 
ohne ihn anzurühren. Doch hätte ich gewünscht, daß der Hodensack 
sich unter meiner Hand kontrahiere, die Hoden dürfen auch nicht 
hängen und schlaff sein, hingegen ist eine Erektion nicht unbedingt 
nötig.“Als ich nach weiteren sexuellen Strebungen forsche, meinte er, 
zu küssen liebe er überhaupt nicht, wohl aber hätte er gern den Arm 
um des Kellners Hüfte geschlungen, neben ihm zu liegen gewünscht, 
vor allem aber hätte ihn verlangt, von hinten und unten jenem an die 
Hoden zu greifen, während dieser selber ruhig liege, so daß er alles 
sehen könne. ‚Das aber wäre das äußerste, das übrige ist ganz asexuell, 
ich wollte ihn nur vergnügt sehen. Hätten wir zusammen gereist, so wären 
wir miteinander spazieren gegangen, ich hätte ihm Geologie und Kultur- 
geschichte vorgetragen (was vermutlich dem Kellner besonderes Ver- 
snügen bereitet hätte), ihm von den Wundern der Natur erzählt, wir 
hätten zusammen gespeist und wären stets bei einander gewesen, so 
daß ich ihn immer hätte ansehen können.‘ Fassen wir einmal kurz 
zusammen: das Auge ist ihm der wichtigste Sinn, die Quelle aller, 
auch sexueller Genüsse. Den Geliebten wünscht er stets anzusehen 
und zu bewundern, ihn zu belehren, ihm an die Hoden zu greifen, die 
stramm sein sollen und sich unter seiner Berührung kontrahieren. 
Endlich besteht auch noch der Wunsch, seine Schultern mit den Händen 
zu umfassen. 

Die Frage nach dem Typus beantwortet er so: ‚‚Mich ziehen zwei 
Sorten von Menschen an: 1. Jünglinge von 17, 18 Jahren, das ist der 
wichtigste und beliebteste Typus, und 2., aber schon erheblich weniger, 
Männer von 25 bis 30 Jahren. Die Jünglinge sollen ein wenig weiblich 
sein, mit lebhaften, fesselnden Augen, sonst aber still, nur die Augen 
müssen immer lebhaft sein, doch bloß wenn sie auf mich gerichtet 
sind, fesselnd wie Rehaugen, ein bißchen wehmütig dreinschauen 
und an meinem Gesichte hangen. Homosexuell darf der J üngling nicht 
sein, weil mich alles Unnatürliche abstößt. Ferner muß er eine kräftige 
Muskulatur besitzen, dasWeibliche darf nur in der Haltung zum Ausdruck 
kommen, d.h. er darf nicht stramm militärisch auftreten, eher weiche 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 65 


Formen. Auch ein wenig Intelligenz muß da sein und etwas Aristo- 
kratisches in den feinen Zügen und dem Oval des Gresichtes.‘“ Diesem 
Typus gehört auch der Kellner an, den er folgendermaßen schildert: 
„Blond, ein wenig bleich, ovales Gesicht, sehr schlank, aber nicht zu 
groß. Feine Hände, wenn auch nicht so lange Finger, als ich sonst 
wünsche und für aristokratisch halte. Lichtgraue Augen, sehr niedrige 
Schultern, Hals und Rücken ein wenig gebogen, durchaus nicht mili- 
tärische Haltung. Besonders zogen mich Gesicht und Haltung an, 
die Schultern sind nicht mein Typus, schadeten aber in diesem Falle 
nichts. Der 2., der Männertypus, zeigt ein gesundes Aussehen, muß 
blut- und kraftvoll sein, auch sexuell kraftvoll. Ich muß annehmen 
können, daß ein solcher Mann sehr oft mit Weibern sexuell verkehrt. 
Intellektuell braucht er nicht hervorragend zu sein, er darf sogar den 
unteren Schichten angehören, wenn er nur gut gepflegt ist. Dieser 
Typus reicht vom Offizier bis zum Straßenbahnkondukteur.‘‘ Während 
er für den 1. Typus wirklich Liebe fühlt und z. B. in Wien nur für diesen 
empfindet, hat er für den 2. nach seiner Behauptung ‚eigentlich 
keine Neigung, sondern nur ein lebhaftes Interesse mit einem Bei- 
geschmack von Sexualität. Es interessiert mich, was man von ihrem Ge- 
sichte in sexueller Beziehung ablesen kann. Nur solche Männer in diesem 
Alter interessieren mich, die einen Drang zum weiblichen Geschlechte 
haben, was ich am Gesichte erkenne. Solche Männer sehen sehr gesund 
aus, haben frohe Augen mit kleinen Furchen in den Augenwinkeln, 
scheinen glücklich zu sein, sind niemals düster und traurig und haben 
auch Arbeitsenergie. Sie dünken mich den idealen Typus von Männern 
darzustellen, sie können etwas durchsetzen und dabei habe ich noch 
ein Nebengefühl sexueller Reizung. Ich wüßte nichts mitihnen zu machen, 
aber ich stelle mir immer vor, wie dieser Mann ein Weib koitiert, und das 
reizt mich, ich bekomme selbst Neigung zu koitieren‘“, 

Zwischen diesen beiden erstgenannten Typen scheint keineÄhnlich- 
keit zu bestehen. In zwei späteren Sitzungen jedoch kam eine Reihe von 
Ergänzungen zutage, die jene beiden sehr nahe brachte. Da gab Patient 
nämlich folgendes an: „Die einzelnen Personen des 1. Typus sind 
einander gar nicht ähnlich. Das Gemeinsame ist, glaube ich, das Jugend- 
liche, und zwar weniger die frische Farbe als die jugendlich-weiche Haut. 
Die entscheidende Rolle aber spielen die Augen. Ich liebe sowohl die 
großen offenen als die langen, nicht zu viel geöffneten. Alle müssen 
sie leuchtend sein, Sehnsucht muß aus ihnen sprechen und Sinnlichkeit. 
Gerade das stark leuchtende, ein wenig feuchte Augen zieht mich an.” 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. U. 5) 


66 J. Sadger. 


Wie sich später herausstellte, hatte er gerade solche Augen an sich 
selber beobachtet als er sich mit 15, 16 Jahren im Spiegel studiertet). 
Ein andermal wieder erzählte er, daß es in den Straßen Wiens von 
Jünglingen des 1. Typus, besonders Kadetten, nur so wimmle im Gegen- 
satze zu seiner Heimat. ‚Es beschäftigt mich bei diesen Leuten stets 
der Gedanke: Wie stellt sich die sexuelle Frage für diesen Mann, quält 
ihn geschlechtliches Verlangen, ist es schon erwacht oder noch nicht? 
Es wäre für mich von großem Interesse, den Roman eines solchen ver- 
folgen zu können, wie seine geschlechtliche Entwicklung verläuft, 
seine Liebe zum Weibe. Denn in den meisten Fällen glaube ich, dab 
es alle anderen recht machen, nur ich selber nicht, und ich möchte 
auf diese Art erfahren, wie ich es selber anstellen sollte. Vielleicht 
trachte ich auch zu erfahren, wie ein frecher Mensch geht, sich bewegt 
und trägt, um selber einen so frechen Menschen spielen zu können. 
Denn ich wünsche nicht, den Menschen zu zeigen, daß ich unglücklich 
bin. Endlich tragen die Kadetten auch Säbel oder Bajonett zur Schau, 
also ihren Penis.“ 

Am 15. Tag der Analyse machte er mir noch einen 3. Typus 
namhaft, den sogenannten ‚‚wissenschaftlichen‘‘, von dem er vier Exem- 
plare liebte, durchwegs hochbegabte, wissenschaftlich hervorragende 
Männer, sämtlich blond und viel (10 bis 30 Jahre) älter als er, von 
politischer Gesinnung liberal bis radikal. ‚All diese Leute haben ferner 
gesehen, daß ich etwas leisten kann und mir Mut zugesprochen, so 
daß ich wieder Glauben an mich gewann.‘ Mit diesen drei Typen sind 
aber dıe von ihm geliebten Jünglinge und Männer, deren Zahl Legion 
ist, keineswegs erschöpft. Es gibt eine Menge von Übergängen sowie 
endlich zwei Männer, die in keinen der genannten Typen passen: Vater 
und Onkel Archäologen. 

Seiner Homosexualität bewußt geworden sei Patient erst mit 
18 Jahren. Früher war er zwar schon homosexuell, doch ganz unbewußt. Er 
habe nie ein Mädchen begehrt und schon mit 15 Jahren den männlichen 
Körper für schöner angesehen als den weiblichen. Auch beim späteren 
Studium der Kunstgeschichte fand er immer, daß die männlichen 
Statuen schöner seien als die weiblichen. Ebenso interessierte ihn 


| !) Ich will hier gleich einfügen, was für die ganze Analyse gilt, daß ich 
um nicht allzu weitwendig zu werden, nur die Resultate der Analyse RR ek 
aber den Widerstand, der stellen- und zeitweise äußerst stark war. Ein en 
ware eu zu meinen, daß die Behandlung so glatt verlaufen, | 


Kürze halber dargestellt wird. als sie im Texte der 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 67 


in der Kulturgeschichte und in der Tracht der Mann mehr als das Weib, 
männliche Kostüme mehr als weibliche. „Ich habe nie wie die meisten 
Schulknaben ein Mädchen verehrt und bin nie mit einer gegangen.“ 
Hingegen verliebte er sich als 18jähriger Kadett in einen 17jährigen 
Kameraden vom 1. Typus. „Er hatte so wunderschöne Augen und 
Gesicht, daß ich ihn lieben und immer anschauen mußte. Die Augen 
waren sehr strahlend, das Gesicht sehr fein, die Haut desselben zart 
und gut gefärbt. Diese Liebe, bei der ich meiner Homosexualität mir 
zuerst bewußt ward, währte nur zwei Monate. Dann wurde er versetzt.“ 
Übrigens hat er sich ihm gar nie zu nähern versucht, so daß sich nicht 
einmal ein derart intimer Verkehr entspann wie mit anderen Kameraden. 
Dann habe er noch vor dem Kellner sich mit 25 Jahren in einen 
23]Jährigen Museumskameraden verliebt, der mehr dem 1. Typus als dem 
2. angehörte. „Eigentlich war er nicht schön und hatte auch keine 
harmonischen Züge, wohl aber sehr große, starr dreinblickende Augen, 
starke, affenartige Augenbrauenbogen und ein sehr intelligentes 
Gesicht. Mich hat eigentlich sein Wesen angezogen. Wir waren Kame- 
raden, hatten dieselben Interessen, ganz die nämlichen Ideen und 
beide gute Augen. Wir studierten alles mit den Augen, nicht aus 
Büchern. Ich glaube, wir liebten uns gegenseitig. Wir lebten zusammen, 
waren alle Tage zusammen, gingen gemeinsam überallhin, kurz wir 
waren unzertrennliche Freunde. Ich liebte ihn, saß bei ihm, schlang 
meinen Arm um seine Schultern und Taille, zu mehr aber kam es nicht. 
Denn als ich merkte, daß ich sexuelle Neigung zu ihm bekam, sagte ich 
ihm es und daß wir uns trennen müßten, was dann auch geschah. Das 
Ganze dauerte nur einen Herbst.‘“ Die Entstehung dieser sexuellen 
Neigung beschrieb er so: „Ich hatte das Verlangen, ihn zu lieben, nackt 
mit ihm zusammenzuliegen in einem Bette. Wir badeten auch zu- 
sammen, wobei ich fortwährend seinen Körper mit den Augen ver- 
schlang. Ich erinnere mich noch an seine Brustwarzen, die sehr groß 
waren, größer und dunkler als sonst bei Männern; ferner an seine Mus- 
kulatur, besonders seine gut ausgebildeten Schultermuskeln, 
die wie Kugeln an den Schultergelenken lagen. Hingegen 
haben mich die Hoden zu jener Zeit noch nicht interessiert. Eines 
Abends, als wir im Variete zusammen saßen, kam es mir zum Bewußt- 
sein, daß ich ihn mehr als wie einen Freund liebe, daß mit meiner Liebe 
etwas Sexuelles verbunden sei. Ich glaubte, wenn wir zusammenlebten, 
würden wir homosexuell miteinander verkehren, wenn ich mir auch 
nicht klar machte wie. Vielleicht war es mir mehr darum zu tun, daß er 


5*+ 


68 J. Sadger. 


mich liebe, mich umarme und küsse, ‘mir die Hände streichle und den 
Körper, mir über Schultern, Brust und Rücken streichle und mich stark 
in seine Arme presse. Ich weiß nicht, ob ich mir das Ganze klar machte, 
aber es lag wohl hinter meinen Gefühlen für ihn. Es erschien mir so 
abscheulich, daß ich ihn sexuell liebte. Wenn es zu etwas Geschlecht- 
lichem gekommen wäre, wäre mir die Sache so abscheulich erschienen, 
daß es sicher zum Bruche geführt hätte. Deshalb brach ich lieber vorher, 
damit ich die Erinnerung rein behielte. Wir sind noch jetzt gute Freunde. 
Dieser Freund hat mich auch ganz verstanden. Wir fürchteten beide, 
daß wir uns trennen müßten, wenn es zu mehr käme.“ 

In all diesen drei großen Liebschaften spielt also die Hauptrolle 
das Ansehen und Bewundern des Freundes und das eigene Bewundert- 
und Gestreicheltwerden durch diesen Freund. Daneben tritt das 
Interesse für die kugelförmigen Schultermuskeln, die Brustwarzen 
und später für die Hoden hervor, sowie das Verlangen, nackt neben 
dem Geliebten zu liegen. Des weiteren ein ausgesprochener Abscheu 
vor sexuellem Verkehr, der ihn zu vorzeitigem Abbrechen zwingt, selbst 
bei dem Kellner. 

Bei diesen Harmlosigkeiten sollte es nicht bleiben. Am 25. Tag 
der Analyse, nachdem er sich tagsvorher an Männern verschiedentlich 
gereizt, bekam er dann nachts sehr starke homosexuelle Anfechtungen. 
Zuerst Verlangen nach anderen Männern, zum Schluß nach dem Kellner. 
Was er zu Hause wegen seiner Flucht nach Wien nicht hatte ausführen 
können, begann er jetzt in der Phantasie auszuspinnen. Wie sie ge- 
meinsam ihr Reiseziel wählten, dort telephonisch Zimmer bestellten, 
gemeinsam soupierten, er ihn ausfrage usw. Da diese Gedanken ihn 
quälten, weckte er die Frau, die nun auf ihn einsprach und ihn zärtlich 
am ganzen Körper streichelte, wie er es so liebte, vom Kopf bis zu den 
Füßen. Diesmal jedoch wollte nichts verfangen, ja es war ihm bei ihren 
Liebkosungen sogar, als empfinge er sie vom Kellner. Seine Phantasie 
begann nun höher zu fliegen. Er malte sich aus, wie ihn der Kellner 
im After koitiere und ihn dabei gleichzeitig mit der Hand onaniere. 
Die ganze Zeit über fühlte er sich nicht wohl, die Phantasien waren ihm 
widerwärtig, aber sie ließen sich doch nicht verscheuchen. Endlich 
kam er zur Ruhe, nachdem er seine Frau halb widerwillig normal 
koitiert hatte. 

| Ich möchte zum Schlusse noch anführen, daß er sehr häufig zu 
dreien liebt und auch wissenschaftlich arbeitet, im Triumvirat oder 
„Dreibund“, wie er sagt. Das war schon in der letzten Gymnasialklasse 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 69 


so und beim Militär, noch mehr dann in der Studenten- und Museums- 
zeit. Er schafft und wirkt am besten in einem Triumvirat und stets, 
wenn er etwas durchführen will, geschieht es zu dreien. Ihm fällt dabei 
die Rolle des heftig Vorstürmenden zu, seine Rede führt die Sache 
im allgemeinen theoretisch durch, den Kameraden obliegt es dann, 
seine Ideen festzuhalten und auszuführen, weil er als echter Schwer- 
belasteter nach dem ersten Anstoß sehr schnell ermüdet. Auch im 
Gespräche und in Gesellschaft liebt er die Dreizahl und haßt jede 
größere Zusammenkunft, angeblich weil bei Dreien die Unterhaltung 
gemeinsam sein muß, während schon bei Vieren sich zwei und zwei 
zusammenfinden. Die Vorliebe für den Dreibund geht soweit, daß 
er selbst seine Frau ursprünglich nur zusammen mit einem andern je- 
weils Geliebten besitzen wollte, ja sogar auch jetzt noch den Kitzel ver- 
spürt, einen Dritten heranzuziehen. Diese Dreibundssucht entstand, 
wie er meint, durch sein Zusammenleben mit den Schwestern. In der 
ganzen Kindheit bis zum 10. Jahre waren sie seine einzigen Kameraden, 
der ursprüngliche Dreibund, der unter anderm auch geschlossen wurde 
zu gemeinsamem Auftreten gegen eine verhaßte Gouvernante. Als 
treibendes Motiv für einen späteren Dreibund nennt er in der Analyse: 
„Bigentlich gefiel es mir ganz gut, so einen kleinen Herrscher zu spielen. 
Wäre ich allein gewesen, so wäre mir vieles nicht gelungen.‘ Eine 
tiefere Begründung jenes Dreibundes werden wir späterhin kennen lernen. 
Nun wollen wir uns einmal 


die Familie 


des Patienten besehen. Nur flüchtig will ich hier des Onkel Archäo- 
logen gedenken, in welchen er unzweifelhaft verliebt war, wie später 
in einen anderen Mann, der diesem in einer Reihe von Zügen glich. 
Dieser Onkel war auch der einzige gewesen, der schon in der Schulzeit 
seine Kostümestudien lobte und ihn dabei stets unterstützte. Seinem 
Einflusse ist es vornehmlich zu danken, daß Patient sich dem jetzigen 
Berufe zuwandte. Seine weitere Bedeutung werde ich später noch 
wiederholt zu besprechen haben. 

Nun zu dem Vater. Schon im Berichte des Psychiaters stand 
die Degeneration der Eltern erwähnt, zumal ihre Neigung zu trüben 
Stimmungen. Nach Angabe des Sohnes leide der Vater auch an Absenzen, 
die er mit einem Sturz vom Pferde in ursächlichen Zusammenhang 
bringt. Vor diesen Anfällen — drei davon habe er selber beobachtet — 
bekomme der Vater oft eine Aura, ein Brummen im Ohre, infolgedessen 


70 J. Sadger. 


er auch schlechter höre, dann stellten sich gewöhnlich die Absenzen 
ein, doch niemals noch ein größerer Anfall. Diese Absenzen, dann des 
Vaters Gicht und sein zeitweiliges schlechtes Sehen und Hören hat 
der Sohn, wie wir späterhin hören werden, hysterisch imitiert. Lange 
Zeit war der Vater für ihn ein höheres Wesen, erst in den letzten Jahren, 
streng genommen erst seit seiner Heirat vor zwei Jahren, begann ihn 
Patient mit anderen Menschen zu vergleichen. Über sein Verhältnis 
zum Erzeuger bemerkt er folgendes: ‚Im Grunde bewundere ich ihn, 
denn er ist ein sehr arbeitsamer und tüchtiger Mensch. Früher Offizier, 
hat er außerdem noch einige Eisenwerke geleitet. Er war sehr beschäftigt 
und hatte sehr wenig Zeit für uns Kinder, zumal er im Dienste der 
Eisenwerke oft für lange Zeit verreisen mußte. Wir liebten den Vater 
alle sehr und waren überaus glücklich und froh, wenn er von der Reise 
zurückkehrte. Während der Schulzeit lebte ich fern von ıhm, so daß 
ich ihn eigentlich gar nicht kannte und nie so ganz Intim mit ihm wurde.“ 
In späteren Jahren kam dann der Zwist wegen der Einladung zu Hofe. 
Im Verlaufe des Streites erklärte der Sohn, fortab für sich selber sorgen 
zu wollen, während der Vater nur sehr niedergeschlagen wurde, ohne 
ıhm ein böses Wort zu geben. Tatsächlich kam jetzt unser Patient 
bloß zweimal jährlich in die Heimat und nur mit dem Onkel Archäologen 
unterhielt er noch familiäre Beziehungen. Der letzte und schwerste 
Konflikt mit dem Vater datiert von der Ehe mit der Prostituierten, 
die, legitim zu freien, er sich beharrlich aus im Grunde nichtigen Mo- 
tiven weigerte. Der Vater wünscht sehnlichst, daß alles wieder gut 
würde, und verlangt nur, von der Mutter angestiftet, die offizielle 
Trauung. Allein, obgleich es ihm selber weh tut, mit dem Vater nicht 
zusammenkommen zu können, der, wie er mit Schrecken wahrnehmen 
muß, immer mächtiger altert, obschon er ihn ferner trotz aller Streitig- 
keiten immer mehr bewundern muß als echt aristokratisch-vornehme 
Natur, endlich auch sein gutes Herz preist und rühmt, das ihn treibe, 
den Sohn ganz unaufgefordert und fast überreichlich mit Geld zu 
versehen, verlangt er doch, der Vater solle den ersten Schritt zur 
Versöhnung tun. Dabei ist es ihm vollständig durchsichtig, daß der 
Streit sich nur um eine Formalität drehe, und gıbt er selbst zu, seit 
seiner Heirat alle Liebe zum Vater geflissentlich unterdrückt zu haben. 
„Ich war herzlos gegen ihn, suchte ihn niemals auf, er mußte immer 
mich rufen. Ich habe niemals um Geld gebeten, sondern er mußte es mir 
stets anbieten. Ich bat dann ferner auch nicht um Versöhnung, weil 
ich ganz sicher weiß, er will es tun, und so habe ich der Sache den An- 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. Tl 


strich gegeben, als sei der Bruch stärker, als er in Wirklichkeit war. 
Der Vater wolle mich gar nicht sehen.‘“ Natürlich liegen die Gründe 
des Konfliktes weitaus tiefer, denn in divergierender politischer oder 
sozialer Anschauung und es ist sicher kein Zufall, daß er gerade infolge 
seiner Ehe so gewaltig ausbrach. All dies wird später ausführliche 
Besprechung finden müssen. 

Im Leben des Patienten spielt wie bei jeder Homosexualität 
die entscheidende Rolle aber nicht der Vater, sondern die Mutter. 
Sie bezeichnet der Sohn als furchtbar adelsstolz und bigott, wenig 
intelligent und ohne eigene Meinung. Dabei lese sie fast nichts, so daß 
sie keine neuen Anschauungen aufnehme. Er sei von jeher ihr Liebling 
gewesen und habe sich unter den Geschwistern noch am besten mit 
ihr verstanden. Allmählich jedoch, so mit 15, 16 Jahren kam die Ent- 
fremdung, weil er sich von ihr gar nicht mehr verstanden 
fühlte und sie kaum mehr ertrug. Seit dem 16. Jahre, da er eigene 
Interessen bekam, erinnert er sich nicht, je intimer mit ihr gesprochen 
zu haben. Noch später begann er sie direkt zu hassen, nachdem er an- 
geblich einsehen gelernt, daß sie alle drei Kinder verkehrt erzogen, 
d. h. nur für eine christliche Welt, und daß alle Schwierigkeiten der 
Geschwister nur von jener religiösen Erziehung herrührten. Diese suche 
nur das Böse im Menschen zu unterdrücken, nie sein Gutes zu fördern. 
Wie sich bald herausstellte, steckt ein anderer begründeterer Vorwurf 
hinter diesen Worten: die Mutter habe ihn nämlich sexuell ganz schlecht 
erzogen. Nie konnte man mit ihr wie mit anderen Müttern offen über 
Erotisches reden, vom Sexuellen habe sie stets ein ganz falsches Bild 
gegeben, jeder außereheliche Verkehr erschien ihr als sündig, ja, schon 
wenn ein Junger Mann sich einem Mädchen näherte und mit ihm scherzte, 
fand sie es unrecht. Nie habe sie ihn oder die Schwestern gefördert, 
nie er bei ihr Verständnis gefunden wie später bei zwei fremden 
Frauen, die ıhm Zimmer vermieteten, mit 20 und mit 23 Jahren. Die 
hätten nicht bloß ihre Kinder vernünftig sexuell erzogen, sondern 
auch ıhn selber weit besser verstanden, ihm Mut zugesprochen, seinen 
Wert erkannt, während die eigene Mutter immer erst von Fremden 
auf solche Dinge aufmerksam gemacht werden mußte. Mit ihr könne man 
über gar nichts reden, ganz im Gegensatze zu jenen genannten Frauen. 
Und während er noch mit 14 Jahren derart an seiner Mutter hing, 
daß ihr Lob, welches sie einem Vetter spendete, ihn zu furchtbarer 
Eifersucht entflammte und er diesen nicht einmal mehr grüßen wollte, 
so sah er sie jetzt nur mit haßerfüllten Augen an. Nachträglich erwachten 


79 J. Sadger. 


nun schwere Vorwürfe gegen sie, die er bislang gut unterdrückt hatte. 
Sie sei geistlos und beschränkt, allzeit an Kleinigkeiten und Äußer- 
lichkeiten klebend. Als er noch nicht einmal 5 Jahre alt war, habe 
sie ihn schon zu Unrecht bestraft, später wieder ihre Kinder gequält 
und ihnen kein Vergnügen gegönnt. Stets wolle sie alles selbst diri- 
gieren. Auch sei sie geizig und dabei trotz alles Sparens doch 
unökonomisch. 

Dieser letztere Vorwurf gehört schon in ein sehr wichtiges Kapitel, 
den bei ihr geradezu klassisch ausgebildeten Analcharakter, der sich 
auf Kosten einer gut unterdrückten Analerotik bildet!). Die Mutter 
habe sich niemals etwas Ordentliches vergönnt, berichtet der Sohn. 
Wenn sie vom Lande in die Hauptstadt kam, ging sie nie ins Restaurant, 
sondern aß lieber etwas Kaltes am Bufett, weil dies weniger koste. 
Bei Einkäufen nehme sie immer die weitaus schlechteren Sachen, wenn 
sie nur eine Kleinigkeit billiger kämen. Am unerträglichsten aber sei 
ihre Ordnungssucht und Pedanterie. Jedes Ding müsse seinen bestimmten 
Platz haben. Wenn z. B. drei Bücher auf einem Tische liegen, müsse 
immer dasselbe Buch oben oder unten liegen, auch wenn sie gleich 
groß seien. Abends, wenn alles schlafen gegangen, gehe sie noch ein 
paar Stunden herum, um alles auf den richtigen Platz zu stellen. Wenn 
es naß war oder regnete, war ihr alles Vergnügen an einer Reise ver- 
dorben, weil sie immer daran dachte, wie die Kleider leiden würden. 
Nun noch ein paar weniger bekannte Symptome. „Mutter hatte wenig 
Vertrauen zu anderen. Keiner kann es ordentlich machen. Drum wünschte 
sie immer, alles selber zu tun, und wenn sie schon andere heranziehen 
mußte, so durften sie ihr höchstens Handreichung leisten. Die eigent- 
liche Arbeit machte sie stets selbst, was alle im Hause ohne Ausnahme 
verdroß. Man wird sehr leicht ungeduldig, ja zornig gegen die Mutter, 
denn alles muß nach ihrem Kopfe gehen. Zu einer Reise entwirft sie 
immer ein großes Programm, das sie buchstäblich befolgt, wenn auch 
andere viel wichtigere Dinge dazwischen kommen‘). Endlich noch ein 
paar Reste der schon aufgezehrten und zur Charakterbildung ver- 
wendeten Analerotik, wie sie besonders durch die pflichtgemäße Kinder- 
pflege wieder geweckt wurden. ‚‚Sie fürchtet auch immer Darmkrebs zu 
bekommen, an dem ihre Mutter gestorben war, und wendete alle mög- 


| ‘) Vgl. S. Freud, „Charakter und Analerotik‘ in der „Sammlung kleiner 
Schriften zur Neurosenlehre“, 2, Folge, 1909, Seite 132. 


= 5 ! 
) Zu diesen Symptomen sowie den nachfolgenden vergleiche meinen Auf- 
satz „Analerotik und Analcharakter‘‘, ‚Die Heilkunde‘, Februar 1910 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 73 


lichen Mittel gegen Verstopfung an. Sie wartete stets ängstlich auf 
Leibesöffnung und, wenn sie einen Drang zu verspüren glaubte, ließ 
sie sofort alles liegen und stehen. Sie hat sich aber nicht bloß selbst 
fortwährend Irrigationen gemacht, sondern diese auch in größerer 
Zahl ihren Kindern versetzt, zumal mir, als sie entdeckte, daß ich 
Würmer habe.‘ Daß dies nicht bloß therapeutische Sorgfalt, beweist, 
daß sie ihre Kinder möglichst lange noch selbst auf den Topf setzte, 
auch zu großen Geschäften, und daß unser Patient noch immer von der 
Mutter abhängig blieb, als alle Kameraden sich längst zur analen 
Selbständigkeit schon durchgerungen hatten. 

Ich will hier eine Episode einflechten, auf welche Patient den 
Haß gegen seine Mutter zurückführt. „Als ich mit 13 Jahren sehr 
schwächlich war und sehr schlecht aussah, äußerte der Hausarzt zur 
Mutter die Vermutung, ich onanierte, sie möge mir doch einmal ins Ge- 
wissen reden. Mutter war davon so überwältigt, daß sie eines Abends 
weinend zu mir kam: ‚Du sollst dich nicht berühren, das ist eine große 
Sünde!‘ Meinen Protest, ich verstünde nicht, was sie meine, ließ sie 
nicht gelten. ‚Du verstehst mich sehr wohl, aber du willst es nicht ver- 
stehen!‘ Verschärft wurde mein Verdruß über diese Ungerechtigkeit, 
als mir ein Vetter später mitteilte, er habe wieder durch seine Mutter, 
die ihn mit Recht wegen Masturbation zur Rede stellte, von meiner 
angeblichen Onanie vernommen, d. h. meine Mutter hatte der seinigen, 
die ihre Schwester war, davon gesprochen. Das ärgerte mich nun außer- 
ordentlich, denn das hatte mir die Mutter verheimlicht.‘‘ Vielleicht 
nahm er sich beides auch deshalb so zu Herzen, weil der Hausarzt tat- 
sächlich Recht gehabt hatte. Der Junge hatte wirklich schon Onanie- 
gefühle gekannt, d. h. beim Seilklettern in der Turnstunde mehrmals 
Ejakulationen bekommen, gefolgt von einem eigentümlich-angenehmen 
Gefühl, ohne die Bedeutung dieser Vorgänge zu verstehen. Als er dann 
später mit 15, 16 Jahren tatsächlich zu onanieren begann, da merkte 
er wohl, daß die Mutter ihm nachspionierte, namentlich die Leintücher 
morgens untersuchte, was ihn natürlich nur zu vermehrter Vorsicht 
spornte und, wie er vermeint, auch seinen Haß gegen die Mutter weckte. 
„Das Vertrauen hatte ich schon früher verloren, damals begann vielleicht 
der Haß gegen sie.‘ Ohne die Bedeutung all der genannten Faktoren 
zu bestreiten, ist doch zu bemerken, daß dieser Haß durch die un- 
gerechte Beschuldigung und das Nachspionieren wohl eine neue Nahrung 
erhielt und sie zum willkommenen Anlaß des Bruches genommen wurden, 
daß aber jene feindselige Regung weit tiefer wurzelt, gleichwie der 


74 J. Sadger. 


Verdruß, die Mutter habe ıhm etwas verheimlicht. Doch davon 
später. 
Es blieben noch die beiden Schwestern zu besprechen. Sie 
sind unvermählt geblieben, haben ihre rote Gesichtsfarbe verloren und 
sind frühzeitig gealtert, trotzdem dies keineswegs in der Familie lag. 
Die ältere wurde später Krankenpflegerin und ist wahrschemlich 
homosexuell. Sonst ist von ihr nichts Besonderes zu sagen. 

Viel wichtiger ist für unseren Patienten die jüngere Schwester, 
die eine Reihe pathologischer Züge aufweist. Als schwersten Anfälle 
von Bewußtlosigkeit gleich Vater und Bruder, die sich seit ihrem 
14. Jahre ganz regelmäßig wiederholen, bei angestrengter Tätigkeit 
jede Woche, wenn sie weniger arbeitet, jegliches Halbjahr. Sie dauern 
länger als bei ihrem Bruder, oft !/, Stunde, bisweilen geht eine Aura 
5 bis 10 Minuten vorher. ‚Im geologischen Institut fand man sie nicht 
selten am Boden liegen und, wenn sie mit jemand geht, fühlt sie es oft 
kommen und verlangt eine Droschke, rasch nach Hause zu fahren.” 
Krämpfe und Verziehen des Gesichtes hat unser Patient an ihr nie ge- 
sehen. Seit etwa zwei Jahren wird sie zeitweise „durch Nervosität“ 
fast blind, was sich dann wieder gibt und wohl eine Imitation und 
Identifikation mit dem heißgeliebten Vater darstellt, der auch stets 
über schlechtes Sehen klagt. Sie war als Kind recht lange arge Ex- 
hibitionistin, die bis zu 10 Jahren ganz nackt oder nur im Hemdchen 
vor allen herumlief. Als unser Patient 4 Jahre zählte, sah er sie einmal 
mit weit gespreizten Beinen auf dem Topfe urinieren. Damals erblickte 
er zum ersten Male das weibliche Genitale an der Schwester, das ihm 
fortab als Muster diente für alle seine diesbezüglichen Vorstellungen 
und Zeichnungen. Die Schwester hatte weiter eine lebhafte Analerotik, 
saß immer sehr lange auf dem Kloset und drückte als Kind ihre kotbe- 
schmutzten Finger an den Aborttapeten ab. Späterhin nach der Subli- 
mierung ward sie peinlich sauber und verwendete im Übermaß den 
Irrigator. Früh zeigte sie schon den Trotz und Eigensinn des Anal- 
charakters. „Was sie nicht recht fand, tat sie nie, auch wenn es der 
Wunsch der Eltern war. Eine Gouvernante hatte sie einmal wegen einer 
Sache bestraft, die sie nicht begangen. Darauf beleidigte sie die Gouver- 
nante und die Eltern verlangten, sie solle sie um Verzeihung bitten, 
wozu sie ‚aber nicht zu bringen war. Trotzdem sie einen ganzen Tag 
lang in ein finsteres Zimmer eingesperrt wurde, erklärte sie doch, sie 
tue es nicht, und setzte ihren Willen durch. Seit meiner frühesten Kindheit 
steht es mir vor Augen, was für einen starken und guten Charakter 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen, 15 


sie hat, Auch von anderen verlangte sie immer ein starres Festhalten 
am Rechte. Sie hat mir auch allezeit nicht bloß gepredigt: ‚ein Mann, 
den ich schätzen soll, muß ein Charakter sein!‘, sondern hatte obendrein 
die Theorie vom reinen Mann, d. h. der Mann müsse völlig rein in die 
Ehe treten, genau wie das Weib!). 

In ihrem ganzen Leben hatte sie nur eine Puppe, die fünf 
Jahre aushielt und zu der sie eine ganz besondere Liebe hegte. Sie nahm 
sie zu sich ins Bett, schlief mit ihr und spielte mit ihr lieber wie mit den 
Geschwistern. Als diese Puppe in der Schwester 10. Lebensjahre von 
einem andern zerschlagen wurde, trauerte sie ihr tief und lange nach 
und wollte keine andere mehr haben. Schon als Kind war sie ein kleines 
Original. Sie konnte niemals im Wagen fahren, sonst wurde sie krank. 
Ferner spielte sie nicht wie andere kleine Kinder, sondern bloß mit 
Naturgegenständen, Steinen, kleinen Bäumen u. dgl., nicht mit Puppen. 
In späteren Jahren setzte sie es trotz großen Widerstandes der Mutter 
durch, daß sie die Gärtnerei lernen durfte (aus durchsichtigen sexuellen 
Gründen?). Ursprünglich Lehrerin, studiert sie jetzt Geologie. Ich glaube, 
sie lebt überhaupt nur, weil sie Geologie studiert, sonst wäre sie schon 
längst zusammengebrochen. Das Leben wäre ihr wertlos und da hat 
man keinen Widerstand. Daß sie Lehrerin geworden, ist, glaube ich, nur 
unterdrückte Liebe zum Mann (sc. Vater). Auf dem Lehrerinnen- 
seminar fand sie übrigens außerordentlich viel Liebe von seiten ihrer 
Kolleginnen. Sie hat jetzt auch etwas Männliches im Gesicht, mindestens 
ist es ganz und gar nicht weiblich, auch abgesehen von der sehr hohen 
Stirne und der sehr kräftigen Nase. Es ist geradezu verdorben zu heißen 
und besteht fast nur aus den ungeheuer großen Augen. Jetzt bringt 
ihr dieselbe homosexuelle Neigung und Bewunderung meine Frau 
entgegen, die ihr in allem nachzuahmen trachtet, was gar nicht selten 


!) Über den analen Ursprung dieses Verlangens vergleiche meine Studie 
„Analerotik und Analcharakter‘“, 


?) Man denke an das tägliche Begießen, an die Düngerhaufen, an die aus 
Träumen und Hysteriesymptomen gar wohl bekannten Genitalsymbole der ver- 
schiedenen Blumen und Gemüsearten. Zu beachten ist natürlich, daß nicht jeder 
Gärtnerei eine sexuelle Bedeutung zukommt. Wer mit 14 Jahren zu einem Gärtner 
in die Lehre eintritt, macht dies nicht anders wie ein Schuster- oder Schneider- 
lehrling. Ganz anders ist es selbstredend zu werten, wie ich dies schon dreimal 
beobachten konnte, wenn ein candidatus juris, ein Professursaspirant oder eine 
Lehrerin von unwiderstehlichem Verlangen gepackt wird, sich plötzlich auf die 
Gärtnerei zu werfen; da ließen sich immer verborgene sexuelle Motive aufdecken, 
die jene sonst unbegreifliche Leidenschaft genügend erklärten. 


76 J. Sadger. 


meine Eifersucht weckt. Früher habe ich sehr gut mit ihr harmoniert, 
sie hatte großen Einfluß auf mich und mir über vieles die Augen geöffnet. 
Unter anderm auch schon mit 10 Jahren über die Fehler der Mutter, 
die sie scheinheilig hieß, während sie den Vater leidenschaftlich liebte, 
was sich periodenweise steigerte.“ 

Interessant ist endlich, daß unser Patient mit 24 oder 25 Jahren 
direkt Inzestgedanken auf sie hatte. „Es regte sich nämlich in mir der 
Gedanke, ich würde ihr einen großen Dienst erweisen, wenn ich sie 
koitierte, weil sie eine alte Jungfer zu werden begann und sichtbar 
verblühte durch den Mangel an sexuellem Verkehr. Ich wußte, sie würde 
nie einen Mann finden, der ihr rein genug wäre, und dachte, mir würde 
es leichter gelingen als einem andern, sie zum Koitus zu bewegen, 
weil wir einander sehr innig liebten. Ich zeigte ihr einmal ein Buch, 
welches von der Geschwisterehe in Alexandria handelte, und daß der 
Autor meinte, die Rasse werde durch sie keineswegs degeneriert, sondern 
nur die Eigenschaften fixiert.‘ Trotzdem er der Ansicht ist, seine 
Schwester habe ihn ganz gut verstanden, sagte sie nichts weiter, sondern 
machte ihm Vorwürfe über seinen Verkehr mit Prostituierten und 
Zirkusdamen. Sie hatte nämlich damals bei einem Besuche die Photo- 
graphie seiner erstgeliebten Prostituierten gefunden. Da er verzweifelte, 
ihre ethischen und religiösen Skrupel beseitigen zu können, gab er die 
Inzestgedanken bald wieder auf. 

Beim Studium der Urninge ist es üblich, nach 


homosexuellen Zügen in der Verwandtschaft 


zu suchen. Außerdem lenkte ich beim Salzburger Psychoanalitischen 
Kongreß die Aufmerksamkeit auf die häufige Mischung männ- 
licher und weiblicher Züge bei den Allernächststehenden. 
In unserem Falle ließ sich außer dem schon bei den Schwestern Er- 
wähnten noch Folgendes feststellen: Der Kranke selber, ein Mann 
' von 32 Jahren und 182 cm Höhe, hat noch ausgesprochen kindliche 
Züge, dabei ein breites Becken!) und ein fettes Gesäß. Vater und 
Schwester sagten immer, erzählt Patient, ‚‚es wäre eine Verwechslung 
gewesen, ich hätte ein Mädchen werden sollen“. Wenn ich mich z. B. 
als Nonne kleidete, war ich eigentlich schöner als meine Schwester, 
hatte eine feinere Haut und einen kleineren Mund und im allgemeinen 
gehörten die weiblichen Züge mir zu. Der Vater ist ausgesprochen 


1) Deshalb i 
Ei vermutlich bewundert er an Kadetten besonders das schmale 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 17 


männlich, hat aber als Jüngling und Offizier sehr gerne gestickt und 
besorgt noch heute bei den Jagden das Frühstück. Von der Mutter 
ist nichts Besonderes anzuführen. Der Onkel Archäologe wurde schon 
in der Jugend von den Brüdern geneckt, daß er lieber bei der Mutter 
hocke, statt zu jagen oder zu reiten wie sie. Auch heute noch hat er 
für diese Künste keinen Sinn, desto mehr für das Hauswesen, so daß 
er dem Großvater bis ans Lebensende die Wirtschaft wie eine Hausfrau 
führte. Von höchst sanfter Gemütsart, benahm er sich auch den be- 
suchenden Kindern der Verwandten gegenüber wie eine Mutter. Ein 
jüngerer Bruder des Vaters ist kokett im Äußern, schnürte sich als 
Leutnant wie eine Frau und kräuselt sich die Haare. Ein Onkel mütter- 
licherseits ist Haarfetischist, die älteste Schwester der Mutter hat 
ausgesprochen männliche Züge und trägt nur männlich geschnittene 
Kleider. Mehrere Vettern und Cousinen ersten bis dritten Grades sind 
homosexuell, eine Kousine des Vaters ausgesprochene Virago. ‚Sie 
ist wie ein alter Junggeselle, hat auch nicht geheiratet, spielt mit Vor- 
liebe männliche Rollen im Schauspiele, natürlich auch in männlicher 
Kleidung, und liebt es, in Gesellschaft von sexuellen Dingen zu reden 
und ältere Leute zu skandalısieren“. , 


Heterosexuelles. 


Wenn ich bislang fast nur die Homosexualität besprach, so ist 
doch zu beachten, daß auch das Weib als Sexualobjekt unserem Kranken 
nicht fremd war und beispielsweise, während er mit dem Kellner durch- 
zugehen abredete, er gleichzeitig mit einer gewesenen Prostituierten 
in stetem, genußvollen Sexualverkehre lebte. Wir hörten ferner von 
seinen bedeutsamen heterosexuellen Regungen selbst zu streng ver- 
pönten Geschlechtsobjekten, z. B. von der Liebe zur Mutter, die beim 
l4jährigen heftige Eifersucht entflammte, und von Inzestgedanken 
auf die Schwester noch mit 24 Jahren. Und ich werde gar bald noch 
eine Reihe von Fällen anführen können, da er nach einem Weibe ver- 
langte, so daß man trotz aller gleichgeschlechtlichen Velleitäten den 
Patienten doch nur als bisexuell bezeichnen darf, wenn auch, wie ın 
allen gleichartigen Fällen, mit vorwaltender Triebrichtung aufs eigene 
Geschlecht. 

Ehe ich auf seinen Frauentyp eingehe, muß ich hier eine Persön- 
lichkeit nachtragen, die für sein Leben von tief einschneidender Be- 
deutung wurde: das Kindermädchen nämlich. ‚Sie kam in unser Haus,“ 
berichtet Patient, ‚‚als ich etwa 3 Jahre zählte, und blieb bis zu meinem 


78 J. Sadger. 


17. Jahre. Allerdings sah ich sie zwischen 10 und 17 nur im Sommer. 
Sie war es, die mich in meiner Kindheit erzog, und nicht die Mutter. 
Von meinem 3. bis 6. Jahre schlief sie mit mir und meinen Ge- 
schwistern in einem Raume, vom 7. ab kam ich dann gern aufihr Zimmer, 
ging auch gerne mit ihr spazieren und darf sagen, daß ich sie wirklich 
liebte. Zu meinen frühesten Erinnerungen, vielleicht schon mit 3 Jahren, 
gehört, daß ich sie öfter mit Armen und Beinen umschlang (die Arme 
um ihre Knie), damit sie nicht fortgehe. Wahrscheinlich hatte ich Angst, 
allein zu bleiben.“ Bei dieser Umarmung hatte er schon damals ein 
Spannungsgefühl im Kreuz, das uns später noch als sexuell begegnen 
wird. „‚Gleichfalls aus der nämlichen frühen Zeit erinnere ich, daß ich 
sie ebenso mit Armen und Beinen zu umschlingen pflegte, wenn ich 
von ihr auf den Topf gesetzt wurde.‘ Beide Reminiszenzen sprechen 
für seine Liebe zu ihr. In ganz früher Kindheit sah er sie auch einmal 
ohnmächtig werden, als sie sich in den Finger geschnitten hatte und 
das herausfließende Blut erschaute. Endlich noch eine bedeutsame 
Erinnerung aus dem 7. oder 8. Jahre. ‚Morgens gleich nach dem Auf- 
stehen pflegten wir Geschwister so gebadet zu werden, daß sie aus 
einem großen Schwamme Wasser über Kopf und Körper ausdrückte 
und uns dann trocken rieb. Einmal nun, da ich aufrecht stand, 
schwenkte sie meinen Penis hin und her, was mich sehr zornig machte. 
Ich riß mich los und verbot es ihr streng, behielt jedoch im übrigen 
die Sache für mich. Was sie dazu trieb, weiß ich nicht. Sie war vielleicht 
die einzige sinnliche Person in meiner Umgebung. Als Landmädchen 
hatte sie gesunde, rote Backen und große, blaugraue, sinnliche 
Augen.“ 

Ich stellte auf dem Salzburger Tag die Behauptung auf, alle 
Invertierten ohne Ausnahme zeigten einen sehr früh und stark auf- 
tretenden Sexualtrieb, der sich vorerst regelmäßig nicht dem eigenen, 
sondern dem andern Geschlechte zuwende; die homosexuellen Re- 
gungen seien überhaupt erst ein späteres Stadium und fänden die Er- 
lebnisse mit dem andern Geschlechte für die homosexuellen Ideale 
Verwertung; hinter den männlichsten Sexualidealen jegliches Urnings 
ließen sich ausnahmslos weibliche Urgeliebte nachweisen. 
| Wie liegt die Sache in unserem Falle? Da tritt sehr früh und vor 
gen BEER Regung die Liebe zum Kindermädchen auf, das 

eren später zu nennenden Mädchenidealen sehr wichtige 


Züge zum geliebten J ünglingstypus hergibt und allerlei homosexuellen 


Wünschen. Mit 5 bis 7 Jahren taten es ihm zwei Schwestern an, Cousinen 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 79 


3. Grades, deren ältere zwei Jahre mehr zählte als er!). Sie hatte gleich- 
falls die frische Gesichtsfarbe, daneben, was später im Jünglingstypus 
wiederkehrt, ein langes, schmales, ovales, ariıstokratisches Gesicht. 
Diese Mädchen gehörten zu den wenigen Gefährten, mit denen er als 
Kind zu spielen in die Lage kam. Mit 8 Jahren machten wieder zwei 
andere Schwestern sehr starken Eindruck auf sein Herz, wunderschöne 
und allgemein gefeierte Cousinen 2. Grades, die ihn auch sichtlich 
bevorzugten. Auch hier zählt die ältere zwei Jahre mehr als er. 
„Ich habe sie mindestens stark bewundert, wahrscheinlich aber auch 
direkt geliebt. Ich mußte fortwährend ihr Aussehen bewundern. Ihr 
Gesicht war reizend, blaugraue bis schwarze, sinnliche Augen, schön 
geformte rote Lippen, sehr schmale, schön geformte Augenbrauen. 
Sie hatte auch eine gewisse männliche Art, genau wie ihre Brüder, 
ja noch mehr als diese. Die sinnlichen Augen und die rote Gesichtsfarbe 
des Jünglingstypus gehen zweifellos auf sie und das Kindermädchen 
zurück‘'?). In der ersten Gymnasialzeit verliebt er sich im Hause des 
Onkels in eine Freundin von dessen Tochter mit großer, gerader, grie- 
chischer Nase, welche, wenn auch nicht regelmäßig, im Männertypus 
wiederkehrt. Desgleichen mit 13, 14 Jahren in ein ebenso altes Mädchen 
mit schwarzem, wolligem Haar, was die Ursache war, daß er später 
in einen Jüngling mit ebensolchen Locken eine Zeitlang vergafft war. 
Bei all diesen Mädchen handelte es sich stets nur um ganz Platonisches, 
um bloßes Ansehen und Bewundern. Doch gestand er den Kameraden 
und seinen Schwestern, daß er jene Mädchen heiß bewundere. Dann 
folgt eine Pause bis zum 18. Jahre, wo er in ein hochadeliges, doch ultra- 
demokratisch tuendes Mädchen sich zweifellos verliebte, wie er mit 
voller Bestimmtheit angibt. Er träumte auch von ihr und findet sie noch 
heute wunderschön. Sie hat zuerst soziales Interesse bei ihm geweckt 
und aus dem kurz vorher, noch als Kadetten, höchst Adelsstolzen einen 
Erzdemokraten und -radıkalen gemacht. Am bezeichnendsten aber ist 
ein anderer Punkt. Als er sie kennen lernte, war sie mit einem Kameraden 
von ihm, einem Mediziner, verlobt, der sie später auch freite. In diesen 
verliebte er sich nun homosexuell und er ist jetzt sein Hausarzt. Da 


!) Dieser Umstand, der noch einmal wiederkehrt, weist wohl auf seine 
um zwei Jahre ältere Schwester hin, an der er in der Kindheit und Jugend mehr 
hing wie an der jüngeren. Er zwischen den beiden eigenen Schwestern ist zweifellos 
Vorbild für diese und die nächste Verliebtheit. 


?) Freilich werden wir für die sinnlichen Augen noch ein anderes Vorbild 
kennen lernen, nämlich — ihn selbst. 





80 J. Sadger. 


fand also wieder direkt Übertragung der Neigung statt vom geliebten 
Weib auf den geliebten Mann. Allerdings war damals schon die völlige 
und definitive Abkehr von der Mutter erfolgt. Es kamen dann noch zwei 
Liebesaffären ohne tiefere Bedeutung. 

Wie man sieht, ist die Liste der Mädchenliebschaften für einen 
angeblich Homosexuellen wirklich nicht klein. Und was ich in Salzburg 
als Regel aufstellte: das frühzeitige intensive Auftreten des Sexualtriebes, 
und zwar zunächst immer zum andern Geschlecht, daß ferner hinter 
der Liebe zum Mann konstant die zu Frauen der Kindheit stecke, 
deren Eigenschaften im homosexuellen Ideale dann wiederkehren, 
dies alles findet sich auch in diesem Falle vollständig bestätigt. 

Dies Transskribieren vom Weibe auf den Mann tritt selbst in seiner 
letzten Zeit in einem Zuge deutlich hervor. Seit etwa 8 Jahren hat er 
einen Frauentyp, der ihn fesselt. Es sind 16- bis 18jährige Mädchen, 
sehr lebhaft, nicht zu groß und dick, doch ‚‚von blutvollem Aussehen“ 
und häufig auch mit kleiner Nase. Verliebt hat er sich nun freilich nie 
in ein solches Mädchen, allein er spürte ein Verlangen nach dem Koitus 
mit ihr, was wohl hinter seinem Interesse steckte. Häufiger nun als 
Mädchen sieht er Jünglinge dieses Typus. Bald fesseltihn der männ- 
liche Typus mehr, bald wieder der weibliche. Auch an älteren 
Frauen findet er mitunter Gefallen, doch müssen sie dann weit jünger 
aussehen. Seine Frau z. B. hatte, als er sie kennen lernte, direkt ein 
kindliches Aussehen (also genau wie er selbst). Übrigens studiere er 
auch gern seine eigenen Bilder von 15 bis 25 Jahren!). 

Ich muß hier noch ein Kapitel einflechten über 


sein Verhältnis zu den Prostituierten. 


Als ich ihn das erste Mal danach fragte, erzählte er mir, er habe 
wie soviele Schwerbelastete an häufigen Depressionen gelitten und in 
solcher Zeit sei er ohne sexuelles Verlangen zu einer Dirne gegangen, 
nicht um mit ihr zu verkehren, sondern bloß um mit ihr zu schlafen. 
„Ich hatte einen Menschen, mit dem ich sprechen konnte. Zu Kameraden 
kann man so spät in der Nacht nicht gehen. Auch findet man unter den 
Prostituierten oft recht intelligente. Ich war übrigens auch bei 
ihnen immer monogam und suchte stets ein und dieselbe auf. 
Eigentlich wollte ich nur mein Herz ausschütten und die Zeit tot- 
schlagen; zudem konnte ich auch nicht schlafen, denn ich litt viel an 


+) Hier schlägt die Sache ebenso wie bei der Frau direkt in den Narzismus 
um, wovon ich später handeln werde. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. sl 


Schlaflosigkeit. Meist verkehrte ich ja sexuell mit ihnen, aber einige 
Male ging ich direkt nur hin, mit ihnen in einem Bette zu schlafen. 
Die erste, zu der ich kam, war eigentlich zu dick und alt für meinen 
Geschmack (sie 28, ich 24), aber sie war sehr intelligent und sehr liebens- 
würdig zu mir, nicht bloß auf das Geld erpicht wie andere Dirnen, 
und bedauerte mich auch. Später ging sie mit einem Varietekünstler 
davon und war seitdem verschollen.‘ So erzählte er, wie gesagt, das erste 
Mal auf meine Frage. In der nächsten Stunde aber stellte sich heraus, 
daß er mir nicht die volle Wahrheit gebeichtet hatte. Jene Dirne war 
nämlich nicht seine erste, sondern die fünfte. Bis zum 25. Jahre onanierte 
er regelmäßig. Doch war er bis dahin schon dreimal bei einer Dirne 
gewesen, immer in Begleitung eines Kameraden, was, wie wir später 
hören werden, seinen bestimmten Sinn hat. Das erste Mal, noch beim 
Militär, ging er hin, ohne verkehren zu wollen, das zweite Mal mit 
19 Jahren an der Universität, schon in der Absicht zu koitieren, schützte 
sodann aber Krankheit vor, teils aus Furcht, sich aus Unkenntnis 
zu blamieren, teils daß man seine Masturbation nicht entdecke. Das 
dritte Mal mit 24 bis 25 Jahren ging er wieder mit einem Kameraden 
zu einer Dirne, eigentlich um so spät noch Bier zu trinken. Die Dirne 
war aber sehr intelligent und gefiel ihm. Er legte sich zu ihr, bekam aber 
aus Furcht keine Erektion. Als er sie einige Wochen später wieder auf- 
suchte, war sie verreist. Er meint, das zweite Mal hätte er sicherlich 
reüssiert. Endlich gelang ihm der Koitus wirklich mit 25 Jahren bei 
der vierten Dirne, einem jungen, hübschen, lächelnden Mädchen, das 
er in die Höhe hob, ins Bett trug und sofort koitierte. Bei der ging es 
auf einmal ganz von selbst, angeblich weil er gar keinen Ekel vor ihr 
empfand. Sie entsprach bis auf die Augen seinem Weibtypus. Mit dieser 
verkehrte er in den nächsten 14 Tagen jede oder jede zweite Nacht, war 
also mit einem Schlage sehr potent. ‚Das Leben begann mir sehr gut zu 
gefallen, die Arbeit ging mir flott von der Hand, alles schien mir hell und 
licht.“ Da”entdeckte der Arzt plötzlich einen tuberkulösen Spitzenka- 
tarrh an ihm und schickte ihn aufs Land. Als er zurückkehrte, war die 
Dirne weg, was ihn sehr unglücklich machte. Er bot alles auf, sie auszu- 
kundschaften, ja übernahm sogar eine wissenschaftliche Expedition nach 
N., wo er sie wiederzufinden hoffte, doch ganz vergebens. Er tröstete sich 
dann mit Zirkus, Variete und Masturbation, allein es währte ein volles 
Jahr, bis er wieder zu Prostituierten ging. Damals begann auch seine 
Schlaflosigkeit. Endlich suchte er doch eine Dirne auf, um mit ihr 
zu sprechen und bei ihr zu schlafen. Es war die Gebildete, von der er 
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 6 


83 J. Sadger. 


mir gleich zu Anfang als der ersten sprach, während sie in Wahrheit die 
fünfte gewesen. „Obwohl sie eigentlich nicht meinem Typus entsprach, 
so verstand sie doch, daß ich nicht glücklich sei, und war gut gegen 
mich. Der Koitus mit ihr ging ganz gut, freilich nur, weil sie, meinem 
Verlangen entsprechend, mich koitierte, während ich selber passiv blieb. 
Sie mußte das Glied einführen und die nötigen Bewegungen machen, 
wenigstens das erste Mal. Weil sie mich aber ‚blasiert‘ nannte, tat ich 
es die folgenden Male selber. Diese Dirne benutzte ich einen Monat, 
bis sie mit einem Varietekünstler verreiste, worauf in ihre Wohnung 
eine andere Dirne zog, die mir wegen ihrer phänomenalen Reinheit 
gefiel und mit der ich einmal im Monate verkehrte. Das Jahr darauf 
endlich lernte ich meine jetzige Frau kennen.“ 

Ein bezeichnend Detail. Nach der Rückkehr von N., wo er die 
geliebte Dirne vergeblich gesucht, trachtete er die Inzestgedanken 
auf die Schwester zu realisieren, von denen ich oben gesprochen habe. 
Und dieses Verlangen schwand wieder völlig, als er Nr. 5, die intelligente, 
ältere Prostituierte kennen lernte (Mutter für die Schwester). ‚Damals 
hatte ich sicher ein starkes Bedürfnis nach weiblicher Gesellschaft, 
der ich gänzlich ermangelte. Diese Prostituierte beruhigte mich sehr. 
Wenn ich nur mit ihr sprach, ging meine Nervosität und Unruhe ganz 
weg. Es war eigentlich sehr schön, einer sagen zu können, daß mir 
alles so traurig schien. Mir war damals immer so traurig zu Mute.“ 

Fassen wir das Vorstehende zusammen, so wünscht er zunächst 
immer, von einem Kameraden zur Dirne geführt zu werden, was später 
als auf den Vater zurückgehend erwiesen werden wird. Anfangs ist 
sein Verlangen nur, neben der Dirne zu schlafen, einen Menschen zu 
haben, dem er sein Herz ausschütten könne und der ihn versteht, ihm 
liebevoll entgegen kommt, bedauert und tröstet und der ihn endlich 
selber in die Geheimnisse der Liebe einführt, all das, wie ich später 
ausführen werde, von der Mutter auf die Dirne übertragen. Nur ein einzig 
Mal findet er völlig Genügen, da er eine Dirne in die Höhe hebt, genau 
wie er es früher schon mit anderen geliebten Frauen tat, der Mutter, 
Tante und dem Kindermädchen. Diese eine Dirne trägt er dann auch 
sofort ins Bett und bei der gelingt der Koitus nicht nur zum ersten Male 
spielend, sondern obendrein rasch und häufig nacheinander. Als er sie 
verloren, beut er alles auf, sie wiederzufinden, versucht, sich bei der 
Schwester zu entschädigen und hilft sich endlich mit Onanie. Wenn 
= sein großes Liebesbedürfnis kein entsprechendes weibliches Objekt 

exommt, ıst er tief deprimiert, während er auf der andern Seite, da 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 83 


sein Ideal sich vorübergehend nahezu erfüllt, mit einem Male alles 
rosig und licht schaut. Auch warum ihn immer just eine Dirne trösten 
muß und warum bloß diese sein sexuelles Ideal zu erfüllen vermag, 
wird uns später klar werden. 

Was nun endlich seine Frau betrifft, so gefiel sie ihm gleich das 
erste Mal sehr gut. Sie war jung, von frischer Gesichtsfarbe und hatte 
sehr gutmütige Augen. „Sie liebte mich schon als Dirne“, erzählte er 
später. „Trotzdem sie um ihres Wesens und Auftretens willen sehr 
gefeiert war und ich ihr eigentlich gar nichts bieten konnte, bevorzugte 
sie mich doch, was ihr schon damals meine Dankbarkeit erwarb. Ich 
fühlte mich immer wohl bei ihr, mich fesselte gleich beim ersten Zu- 
sammentreffen ihr gutes Wesen, ihr starkes Rechtsgefühl, ihre Liebens- 
würdigkeit, dann ihre stille Natur und endlich, daß sie sich immer 
geschmackvoll kleidete. Nachdem er ein halbes Jahr mit ihr verkehrt 
hatte, wurde er wegen rezidivierenden Spitzenkatarrhs auf ein halbes 
Jahr in ein Sanatorium gesteckt, wo er sich in eine Gymnasiastin ver- 
liebte, was freilich zu keinen Weiterungen führte. Nach seiner Rückkehr 
verkehrte er etwa alle zwei bis drei Wochen mit seiner jetzigen Frau. 
!/, Jahr später kam es fast zum Bruche, als er, einer momentanen Laune 
folgend und weil ihm das lebhafte Wesen der Dirne gefiel, eine der 
Kameradinnen seiner Frau koitierte. Es bedurfte der Intervention 
und der ganzen Überredungskunst eines Kameraden, seine Frau wieder 
zu versöhnen, doch stellte sie die Bedingung, er müsse sie von der 
Polizei herausnehmen und für sie bürgen, was dann auch geschah, worauf 
er ıhr auch eine eigene Wohnung nahm. Doch war er damals nicht 
ihr einziger Freund — dazu langten auch seine Mittel nicht —, sie hatte 
vielmehr jetzt drei solcher Freunde statt der vielen, denen sie sich 
früher hingeben mußte. Auch hier also wieder der alte Dreibund. Bald 
aber wurde ihm das doch zuwider und er wünschte, sie solle selber 
wählen. Wenn sie einen der anderen mehr liebe als ihn, wolle er zurück- 
treten. Damals dünkte ihn nämlich, ihr gefalle der zweite, ein Kadett 
und späterer Offizier, am besten von den Dreien. Die beiden spielten 
wie Kinder zusammen und er vermeinte, sie liebten einander, 
was er nicht stören wollte. Der wahre Grund lag natürlich viel tiefer: 
er war in den Kadetten selber verliebt, der in seinen späteren Phan- 
tasien noch lange eine große Rolle spielte. Sooft er glaubte, seine 
Frau fühle sich bei ihm nicht glücklich, meinte er, sie hätte 
besser getan, den andern zu heiraten. Damals jedoch reiste dieser 
Kadett bald gänzlich weg, so daß er seine Frau allein gehabt hätte. Da 

6* 


84 J. Sadger. 


kommt nun ein anderer merkwürdiger Zug. Unter dem Vorwande, 
er habe nicht Zeit genug für sie, da seine Arbeiten ihn allzusehr in 
Anspruch nähmen, veranlaßte er sie selbst, den Dreibund zu erneuern 
und sich noch einen Freund zu nehmen, einen Artillerieleutnant, der 
sie auf ihren Spaziergängen begleiten sollte — worauf er natürlich 
wieder eifersüchtig ward. Der Leutnant jedoch begnügte sich mit der 
Rolle des Ritters und Beschützers. Endlich entschloß sıch unser Patient, 
gemeinsamen Haushalt mit ihr zu führen, ohne sie aber legitim zu 
freien, was dann die Konflikte mit den Eltern setzte, die noch während 


der Analyse nicht zu Ende kamen. 


Belastung und Sexualität. 

Wir haben in der Einleitung von Zornanfällen des Kindes gehört, 
des weiteren, daß die Eltern Neigung zu Depressionen haben. Der Patient 
erzählte mir nun gleich in der ersten Analysenstunde: „Ich leide an 
periodischen Schwermutsanfällen in Zwischenräumen von 1 bis 1?/, Mo- 
naten. Sie können schwerer oder leichter sein, währen längstens eine 
Woche, bisweilen aber auch nur ein paar Tage. Mitunter sind sie so 
schwach, daß die anderen sie gar nicht bemerken, dann aber auch wieder 
so stark, daß ich überhaupt nicht arbeiten kann. In den schwächeren 
Anfällen bin ich etwas behindert, in den schwereren fürchte ich, meinen 
Verstand zu verlieren. Fällt finsteres, nebeliges Wetter mit meiner Ver- 
stimmung zusammen, so macht es das Ganze noch viel schlimmer. 
Meine Gedanken stehen dann ganz still, ich kann gar nichts tun. Es 
scheint mir ganz ohne Grund zu kommen. (Auf meine direkte Frage:) 
Ein Zusammenhang mit meinen homosexuellen Neigungen besteht 
nicht.‘“ Dann in einer späteren Sitzung: „Ich kann aus ganz gering- 
fügigen Anlässen außerordentlich zornig werden, was vielleicht mit 
meiner Homosexualität zusammenhängt. So kurz, ehe ich nach Wien 
kam und in den Kellner noch ganz verliebt war, da konnte ich meine 
Frau in der Früh absolut nicht vertragen. Sie schien mir immer auf dem 
Platze zu stehen, wo ich gerade stehen wollte, z. B. am Waschtische, 
wenn ich mich waschen, oder im Badezimmer, wenn ich mich baden 
wollte.“ 

Wir haben nun in der steten Neigung zur Schwermut, in der 
Maßlosigkeit der Affekte, z. B. des Zornes ‚zwei gut gekannte‘ typische 
Symptome der schweren Belastung. Bedeutsam aber ist, daß auch das 
Angeborene, die pathologische Gehirnanlage, die ich als „Belastung“, 
andere als ‚„Degeneration“ bezeichnen, in ihren Symptomen wesentlich 


Ein Fall von multipler Perversion. mit hysterischen Absenzen. 85 


verschlimmert wird durch sexuelle Faktoren. Diese erst sind es, die oft 
Form und Farbe der Symptome bestimmen, sie auslösend sich ent- 
falten lassen. Unser Kranker z. B. bringt seine Anfälle von Zorn- 
mütigkeit jetzt mit der Homosexualität in Verbindung, die in der 
Kindheit stellten sich als Wutausbrüche heraus, weil er bei der Mutter 
keine Gegenliebe gefunden hatte. Und später begann er spontan zu er- 
zählen, wenn er länger als vier Tage (sein gewöhnliches Intervall zwischen 
zwei Sexualakten) mit der Frau nicht verkehre, bekomme er regel- 
mäßig Depressionen, die nach einem Koitus stets besser würden. Auch 
aus homosexuellen Gründen kamen solche Verstimmungszustände 
häufig. Sobald er z. B. in den letzten zwei Jahren (seiner Ehezeit) mit 
dem geliebten Vater gesprochen hatte, wurde es ihm stets sehr schwer, 
seine Frau zu ertragen. Ferner ‚‚wenn sie mir wehrte, zu ihr zu kommen, 
weil sie z. B. ihre Menstruation erwartete, dann wurden wir beide 
Immer nervös und es kam regelmäßig zu Streitigkeiten.“ Diese Ner- 
vosität wurde immer leichter, wenn er ein Weib koitierte. ‚Ich weiß 
schon seit Jahren, daß ich gegen meine Depressionszustände zu einer 
Prostituierten gehen muß, dann wird es besser, und dies selbst dann, 
wenn Ich mit ihr gar nicht verkehrte, sondern bloß mit ihr sprach und 
mich von ihr trösten ließ‘‘, was offenbar Erinnerung an die Mutter ist 
und eine aufgelegte Wunscherfüllung. 

Weitere Wurzeln für die Depressionszustände werden wir noch 
in den pseudoepileptischen Anfällen (gleichfalls aus sexuellen Be- 
dingungen) und in der Onanie entdecken, endlich noch darin, daß, wenn 
er von einem Jüngling erregt ist, er mit einem Weibe nicht verkehren 
mag. Nachdem ich ihm schon in der ersten Analysenstunde den Zu- 
sammenhang zwischen Homosexualität und Depression aufgedeckt 
hatte, erzählte er mir schon am 15. Tage, er sei jetzt nicht mehr so oft 
verstimmt und die einzelnen Depressionen auch nicht mehr so arg. 
Er könne leichter arbeiten und die Anfälle gingen auch rascher vorüber. 
Unzweifelhait also eine Heilwirkung, die sich späterhin immer noch 
mehr vertiefte und nach den Regeln der Psychonalyse den supponierten 
Zusammenhang untrüglich erweist. 

Um meine Anschauung noch einmal scharf zu präzisieren: es 
herrscht kein Zweifel, im Gehirne muß etwas Krankhaftes angeboren 
sein, was wir Belastung oder Entartung heißen, wenn es zu so schweren 
Symptomen kommt, wie konstante Neigung zu Depressionen und 
stete Maßlosigkeit der Affekte. Das ist conditio sine qua non. Wird doch 
ein nur halbwegs normaler Mensch nicht gleich schwermütig, weil er 


SB- J. Sadger. 


vier Tage bei keinem Weibe war. Allein neben dieser unerläßlichen 
Disposition, der angeborenen Konstitution, braucht es dann immer 
noch einer Ursache, die jene erst in Wirksamkeit treten läßt. Diese 
scheint mir recht häufig gerade die sexuelle zu sein. Um ein Beispiel 
aus der internen Medizin zu geben: ein phthisischer Habitus oder min- 
destens eine Disposition ist unbedingt nötig, damit ein Mensch von 
Tuberkulose befallen wird und sich der eingedrungenen Keime nicht 
mehr zu erwehren imstande ist. Allein es kann auch der schönste Habitus 
zeitlebens von der Phthise verschont bleiben, wenn der Kochsche Ba- 
zillus durch Abhärtung des Körpers oder günstige Umstände nicht zur 
Festsetzung gelangen kann. Worauf ich besonders hinweisen möchte 
und was der Nachprüfung an einem recht großen Materiale harrt, das 
ist der Zusammenhang zwischen angeborener Anlage, der Belastung 
also, und dem begünstigend-auslösenden Faktor der Sexualität. Bisher 
ward einseitig stets nur das erstere Moment betont. Mich will nach 
meinen Erfahrungen bedünken, daß dem Sexuellen zumindest in einer 
Reihe von Symptomen die spezifisch auslösende Bedeutung zukommt, 
zumal bei der Neigung zu Depressionen, vermutlich aber auch bei maß- 
losen Atfekten. 

Nach dieser Abschweifung wollen wir wieder zu unserem Kranken 
zurückkehren und uns um die 


Erziehungseinflüsse 


umsehen, die erfahrungsgemäß bei jeglichem Urning von ganz be- 
sonderer Wichtigkeit sind. „Als Kind hatte ich gar keinen Kameraden“, 
erzählt Patient. „Einen solchen bekam ich erst in einem Vetter, als ich 
mit 10 Jahren zu meinem Onkel zog.“ Doch auch mit diesem ent- 
spann sich kein dauerndes Bündnis, nur einige Betätigungen der 
Analerotik, so daß er eigentlich auch von 10 bis 15 Jahren noch ohne 
Kameraden blieb. „Ich war der Sohn eines Grafen und die Spiel- 
kameraden meiner Kindheit Söhne von Arbeitern und kleinen Beamten, 
die mir deshalb Respekt entgegenbrachten. Später im Gymnasium 
erwartete ich dasselbe von meinen nunmehrigen Kameraden, wurde aber 
nicht mehr so respektiert. Es ist eigentümlich, daß ich um diese Zeit 
so wenig Freunde hatte. Ich verkehrte nur mit Cousins und Cousinen, 
eventuell auch deren Freundinnen und hatte auch kein Bedürfnis 
nach Kameraden, wohl aber nach Beschützern, d. h. Kameraden 
aus älteren Jahrgängen, wohinter sich ein gewisses Begehren nach 
Macht barg. Man fühlt sich auch so sicher, wenn man einen solchen 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 87 


Beschützer hat.‘“ Dieser Mangel an Kameraden just in den wichtigsten 
Kinderjahren war gewiß von einschneidender Bedeutung für ihn und 
hat dann sicher die spätere Reaktion gefördert, d. h. seine förmliche 
Kameradschaftssucht. Ein stetes Verlangen, zusammen mit Kameraden 
zu leben, durchzieht von den höheren Gymnasialklassen ab sein ganzes 
Leben und bestimmt sein Handeln, ja selbst seine wissenschaftliche 
Tätigkeit in ausnehmender Weise. Seine ganze Kindheit verlebte er 
vornehmlich in Gesellschaft von Weibern, die fast ausschließlich seine 
Erziehung leiteten bis in die höchsten Gymnasialklassen hinauf. Daserwies 
sich nach mehrfacher Richtung verhängnisvoll, zumal für die bei unserem 
Patienten so früh auftauchende sexuelle Neugier, die natürlich von den 
Frauen vollständig mißkannt ward. Teils strebte ihre Erziehung nämlich, 
das Geschlechtliche bei ihm ganz zu unterdrücken, teils gab sie ihm 
selber unwissentlich die stärkste Nahrung aus dem weit verbreiteten 
Vorurteile heraus, es gäbe für das Kind keine Sexualität. Niemand 
sprach ihm vor dem 15. Jahre von Sexuellem, ja, es wurden etwaige 
Anbohrungen des Knaben absichtlich überhört und abgelehnt. Erst 
als er zwischen 15 und 17 sich selber ältere Kameraden suchte, erhielt er 
von diesen geschlechtliche Aufklärung, freilich auch dannnochso ungenau, 
daß er zumal über das Exekutive ganz im Dunkeln tappte. Dies lernte 
er nicht eher als beim Militär, wo die Sitte bestand, daß die Älteren 
die Jüngeren zu Dirnen mitnahmen. Im Gegensatze zu dieser absicht- 
lichen Fernhaltung vom Baume der Erkenntnis stand die Erziehung 
im Familienkreise. Da hatte der Vater den Wunsch ausgesprochen, 
daß man gar keinen Unterschied zwischen den Kindern mache. ‚Wir 
Geschwister schliefen die längste Zeit im selben Zimmer, ja bis zu 
meinem 16. Jahre badete ich sogar zusammen mit den Schwestern 
und nach dem Bade legten wir uns alle drei in die Sonne. Vater hielt 
uns Sommer und Winter zum Baden an. Als wir später Ponies erhielten, 
Titten wir auch zusammen und meine Schwestern saßen ebenso zu Pferde 
wie ich.‘ Der Vater nahm auch jeden Morgen eine Art Bad, und zwar 
in völlig nacktem Zustande, wobei der Sohn bis zum 7. Jahre sich 
regelmäßig als Zuschauer einfand. Mit der gleichen Unbekümmertheit 
wurden auch vor ihm die verschiedenen körperlichen Funktionen 
verrichtet. Nicht nur, daß die jüngere Schwester ihren exhibitionistischen 
(Gelüsten ganz unbehindert fröhnte, bis zum 10. Jahre ganz nackt oder 
nur im Hemdchen vor den Geschwistern herumsprang, ein andermal 
wieder in unseres Patienten 4. Jahre so gespreizt auf dem Topfe saß, 
daß dieser ihre Genitalien ganz offen sah, sondern auch die Mutter 


88 J. Sadger. 


setzte sich ganz ungeniert jeglichen Morgen im bloßen Hemd vor dem 
Sohne auf den Topf. Auch bei ihrer Toilette war er gewöhnlich anwesend 
und hatte Gelegenheit, stets ihre Brustansätze zu schauen, was uns 
später einläßlich beschäftigen wird. Vom Vater wäre nur noch zu ver- 
melden, daß er eine Zeitlang, so um des Patienten 5. Jahr herum, sich 
viel mit seinen Kindern befaßte, sie überallhin mitnahm, ihnen Sehens- 
würdigkeiten zeigte und einmal, was sehr bedeutsam wurde, die Ge- 
schwister in den Zirkus führte. 

Ehe ich dies Thema weiter spinne, muß ich auf eine besondere 
Veranlagung unseres Patienten genauer eingehen, die für seine ganze 
Entwicklung, zumal nach nach der pathologischen Seite entscheidend 


geworden: seine enorme . 
| Schaulust. 


„Mein ganzes geistiges Leben geht durch das Auge“, erzählt er 
einmal. ‚„‚Schon als Kind las ich sehr ungern, übrigens auch jetzt noch. 
Ich las auch nicht so schnell wie andere Menschen, kann aber dafür 
um so mehr von Bildern und Gegenständen sehen. Obwohl ich fast alle 
Weihnachten Bücher bekam, las ich solche nicht eher, als bis ich 15 Jahre 
alt war. Alles, was ich gesehen habe, erinnere ich sehr gut, sonst 
aber habe ich gar kein gutes Gedächtnis. Ziffern z. B. merke ich nur 
mit größter Mühe, selbst meine eigene Telephonnummer behielt ich 
erst nach Monaten.‘‘ Auch seine Erinnerungen sind fast ausschließlich 
visueller Art. Er gibt noch selber an, daß er eine besondere Geschick- 
lichkeit habe, alles zu sehen, was er nicht sehen soll, offenbar zurück- 
gehend auf Sexuelles, das er frühzeitig verbotenerweise erblickte. 
Niemand dürfe den mindesten Toilettenfehler haben, ohne daß er dies 
augenblicklich wahrnehme und durch seine Miene aller Welt verkünde, 
er habe es bemerkt. Ich habe noch keinen Menschen gefunden, bei dem 
das Auge eine so ausgesprochen erogene Zone war wie just bei ihm, 
es ist direkt ein Sexualorgan. ‚Wenn ich etwas geschlechtlich Reizendes 
sehe, so spüre ich in den Augen geradezu ein sexuelles Gefühl. Ein ge- 
spanntes Gefühl und den lebhaften Wunsch, es mit den Augen einzu- 
saugen, meine Augen treten dabei hervor,“ Das bemerkte er bereits 
mit 18 Jahren. Auf dieser enormen Augenhaftigkeit fußt mindestens 
großenteils auch seine 


frühzeitige sexuelle Neugier, 


die zweifellos auf beide Geschlechter sich richtet, sowie noch andere 
sexuelle Regungen. Ich erwähnte bereits, daß er mit 4, 5 Jahren die 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 89 


Genitalien seiner Schwesterklaffenderblickte, alsdiese breit auf dem Topfe 
saß, und daß ıhm jene fortab als Muster für entsprechende Zeichnungen 
und Phantasien dienten. Doch der Knabe begann gleichzeitig über die 
Verschiedenheit der Geschlechter zu reflektieren und machte dem Kinder- 
mädchen darüber Bemerkungen. Wir vernahmen dann weiter, er habe 
die Mutter öfter auf dem Topfe urinieren sehen. Das geschah sogar noch 
mit 14 Jahren, wenn er wegen Fiebers im Schlafzimmer seiner Eltern 
lag. Sie hieß ihn dann höchstens sich abwenden, was ihn aber nicht 
hinderte, doch verstohlen hinzuschauen. Auch hier begann er zu re- 
flektieren. Zumal fiel ihm auf, daß man beim Urinieren der Weiber 
viel mehr höre als bei dem der Männer. Der Mutter Niedersetzen auf den 
Topf im bloßen Hemde ahmte er, wie wir noch hören werden, in späteren 
hysterischen Absenzen nach. Wenn sie ferner als echter Analcharakter 
sich bei Kotwetter die Röcke furchtbar hob, so schien ihm das immer 
besonders lächerlich, weil es ihn, wie er ausdrücklich bemerkt, an die 
Mutter auf dem Topfe erinnert. „Es ist ganz dasselbe, als wenn sie sich 
auf den Topf setzte. 

Aber auch an direkt geschlechtlichen Regungen fehlte es unserem 
Patienten nicht. Ich sprach schon davon, daß er das Kindermädchen, 
später auch die Mutter, kräftigst mit Armen und Beinen umschlang, 
angeblich um sie so am Fortgehen zu hindern. Nur hatte er dabei gleich- 
zeitig eine Muskelspannung im Kreuz, die sich später als ausgesprochen 
sexuell erwies. Noch zwei andere Zeichen für die geschlechtliche Natur 
des Umklammerns. Als er in späteren Jahren erfuhr, daß man beim 
Koitieren die Weiber nicht mit den Beinen umschlinge, da fühlte er 
sich mächtig enttäuscht. Auch hatte er eine ganz merkwürdige ‚Liebe‘ 
für zylindrische Gegenstände. Z. B. für einen großen zylindrischen Ofen, 
den er häufig inbrünstig mit Armen und Beinen umschlang (genau wie 
mit Kindermädchen und Mutter vorher), und dann mit 12 Jahren sogar 
loszubrechen und aufzuheben versuchte (gleichfalls die nämliche Ana- 
logie). Bei diesem Umschlingen wirkt die Kraftleistung und Spannung im 
Rücken nach den Worten des Kranken ausgesprochen sexuell. Ebenso 
spielte er schon mit 3, 4 Jahren mit einem großen, zylindrischen Kissen, 
das über die Betten der Eltern ging und das er häufig und innig um- 
armte, so innig, daß er mit dem für sein Alter viel zu großen und schweren 
Kissen einfach umfiel. Endlich gab es noch eine zylindrische Kleiderpuppe 
der Mutter, auf welcher gewöhnlich ein Unterrock hing. „Auch diese 
habe ich sehr geliebt, sie auch oft umarmt und dasselbe Gefühl gehabt 
wie beim Umschlingen des Kindermädchens.‘‘ Ich will hier ergänzen, 


90 J. Sadger. 


daß wir aus der Traumsymbolik sowie aus der Deutung hysterischer 
Symptome längst bereits wissen, daß jeder zylindrische Gegenstand 
den Frauenleib bedeutet. Endlich noch einen ausgesprochen hetero- 
sexuellen Zug: „Ich war auch sehr gern bei der Mutter, wenn sie sich 
anzog, und folgte ihr wie ein Hund“, erzählte Patient, „ebenso wenn 
sie morgens in ihr Kleiderzimmer ging. Dabei waren ihre Arme bloß 
und auch der obere Teil der Brust frei‘, die, wie ich hier gleich einfügen 
will, sein Interesse derart erregte, daß er sie auf verschiedene Weise 
nachahmte. ‚Wenn wir strafweise in das Kleiderzimmer der Mutter 
gesperrt wurden, so liebten wir es, um die Zeit totzuschlagen, uns durch 
die ganze Kleidermasse durchzudrängen. Diese hing so niedrig, daß 
wir förmlich durch sie hindurchschwimmen mußten. Ich bohrte mich 
auf diese Art förmlich in die Kleider der Mutter hinein. Vielleicht rührt 
daher zum Teil auch meine Liebe zum Schwimmen und daß es für mich 
als kleines Kind ein Lieblingsspiel war, in dichtes Gebüsch hinein- 
zuspringen. Es handelt sich immer darum, sich durch dichte Dinge 
hindurchzudrängen. Wasser weckte dann das nämliche Gefühl wie 
Gebüsch und Kleider“. 

Neben diesen normalgeschlechtlichen Regungen fesselten ihn 
auch die Genitalien des Mannes sehr früh, vor allem des Vaters, die 
häufig zu sehen ihm äußerst leicht war. Jeden Morgen nämlich nahm 
der Vater in einer niedrigen, größeren, runden Wanne, die mit kaltem 
Wasser gefüllt war, ganz nackt ein Bad in solcher Weise, daß er ‚in 
Affenstellung‘‘ — auch dies wird bedeutsam wiederkehren — sich nieder- 
kauerte und dann aus einem großen Schwamme Wasser über Brust und 
Rücken ausdrückte. Bis zum 7. Jahre wohnte unser Patient jeden 
Morgen diesen Bädern bei und freute sich, dem Vater zu zeigen, daß 
er so früh aufstehe, und dessen Lob dafür zu ernten. Als es später zum 
Bruch mit dem Vater kam, ward es ihm bezeichnenderweise- schwer, 
am Morgen aufzustehen, ‚weil dies doch jetzt gar keinen Sinn mehr 
hatte‘. „Ich hatte ganz sicher ein Interesse, die Genitalien des Vaters 
zu sehen, später auch die des Onkel Archäologen, dem ich beim Baden 
gleichfalls zuschaute.‘“ Ein andermal wieder berichtet er, wie es ihn 
verdroß, wenn der Vater — in Dänemark badet man völlig nackt — 
beim Hineingehen in das Schwimmbassin die Hände vor seine Geni- 
talien hielt. „‚Ich fand dies sehr dumm, denn ich wünschte sie zu schauen, 
und wenn er die Hand vorhielt, sah ich zu wenig. Ich konnte auch 
absolut; nicht verstehen, warum die Tat der Söhne Noahs so schlecht 
sein sollte, worin da eigentlich die Sünde liege.“ 


Ein Fall von multipler Perversion: mit hysterischen Absenzen. 91 


Die verbotene Neugier auf die Genitalien des Vaters ist auch 

mit eine Ursache der 

Dysuria psychica, 

an welcher Patient noch zu Beginn der Analyse litt. Sie trat schon 
im 10. Jahre auf, dann später beim Militär, wo ihn einmal die Ka- 
meraden fragten, ob er vielleicht Gonorrhoe akquiriert habe. Das 
erste Mal mit 10 Jahren hatte der Vater beobachtet, daß er lange brauche, 
sein Wasser zu lassen, als sie beide im Walde sich zum Urinieren an- 
stellten, und ihn auch gefragt. Die Ursache war, daß er damals bereits 
den Penis des Vaters immerzu ansah und darüber ans eigene Urinieren 
vergaß. Er verglich ihn mit seinem eigenen und fahndete besonders 
auf Unterschiede im Aussehen der Vorhaut, der Form und Größe der 
beiden Membra. Das hat er auch später immer bei anderen vergleichen 
müssen, zumal das Verhältnis zwischen Eichel und Schaft. Sowie er 
sich beobachtet sieht, wird er immer ‚‚nervös‘“ und kann nicht urinieren, 
in der Erinnerung an jenes Ertapptwerden durch den Vater, als er 
vor lauter eifrigem Hinschauen ans Urinieren vergaß, nebenbei bemerkt 
eine typische Wurzel für die Dysuria psychicat). 

Wenn der Knabe dem Vater beim Baden zusah, fiel ihm sehr früh 
auf, daß dessen Hoden so herabhingen, viel mehr als bei Tieren, und 
er gab sich dann selber die Erklärung, bei den letzteren wären jene 
näher am Körper befestigt, damit sie die Tiere im Laufen nicht hin- 
derten, | 

Das Interesse für die Hoden 
ist bei unserm Patienten ausnehmend entwickelt. Daß sie ihn um so 
viel mehr anziehen, als etwa das Membrum, erklärt sich zu einem Teil 
wohl daraus, daß das letztere in nicht erigiertem Zustand bei Nationen, 
welche die Beschneidung nicht üben, hinter dem Präputium fast völlig 
versteckt ist, während anderseits die Hoden deutlich hervortreten; 
dann ferner, daß der Kranke als richtiger Voyeur die Kontraktion 
der väterlichen Testes im kalten Bade sehr rasch bemerkte. Unter den 
Wünschen auf den geliebten Kellner lernten wir auch den befremdenden 
kennen, ihm von hinten und unten an die Hoden zu greifen. Als er einmal 
der Säuberung eines Knäbleins zusah, kam ihm ein plötzlich erleuch- 
tender Einfall aus der eigenen Kindheit — mit dem Griffe von hinten 
und unten an die Testikel werden ihn selber das Kindermädchen, noch. 
früher die Mutter gereinigt haben, wenn er sich daran auch nicht positiv 


1) Die letzten Wurzeln für dieses Symptom liegen freilich viel tiefer. 
Darüber jedoch ein andermal. 


92 J. Sadger. 
erinnert. „Es ist mir auch gar nıcht unangenehm, wenn man mich 
fortwährend an den Hoden streichelt. Als ich mit 25 Jahren wegen 
Blinddarmentzündung im Spitale lag, wurde ich auch auf jene Weise 
mit feuchter Watte gereinigt, und diese Methode erschien mir außer- 
ordentlich rein, viel reinlicher als mit Papier.‘ Man sieht also deutlich, 
wie hinter seinem homosexuellen Verlangen die Identifizierung mit 
Mutter und Kindermädchen steckt sowie der Wunsch, als Weib dem 
Geliebten die infantile Befriedigung zu gewähren. Doch fehlt es auch 
nicht an einer auf den Mann bezüglichen Wurzel. Wenn der Vater nämlich 
in hockender Stellung sein kaltes Bad nahm und die Hoden ihm herunter- 
hingen, verspürte unser Kranker das Gelüste, sie ihm abzuschneiden, 
also einen ausgesprochenen Kastrationswunsch, hier wie in allen ähn- 
lichen Fällen durch die Eifersucht auf die Mutter bedingt. 

Das Interesse für Penis und Testikel wäre angeblich erst seit 1905 
bei ihm aufgetreten, doch stellte sich gar bald heraus, daß es sich seit 
damals bloß stärker kund tat. In Wirklichkeit war es viel früher schon da, 
vor allem bei dem seit dem 11. Jahre betriebenen Turnen und später 
beim Onanieren vor dem Spiegel. Hatte er doch bereits als kleiner 
Knabe die Wahrnehmung gemacht, wieviel kleiner seine Hoden und sein 
Penis waren als die des Vaters, worauf natürlich der Wunsch entbrannte, 
dem Vater auch hierin gleich zu werden. Als er mit 15 bis 16 Jahren zu 
masturbieren begann, las er in einem Buche, der Onanist sei daran kennt- 
lich, daß die Hoden hängend und das Membrum im Verhältnis zu ihnen 
allzu groß sei, was er dann sowohl am eigenen Körper wie bei jenen 
Leuten im Bade bestätigt fand, die er für Masturbanten hielt. Er hatte 
auch gelesen, die Kinder von Onanisten würden schwach — später 
beschuldigte er darum den Vater, der Masturbation gefröhnt zu haben — 
woraus er in den letzten Jahren die Phantasie entwickelte, wenn er 
einmal einen Knaben bekäme, so würden bei diesem Penis und Hoden 
zusammengewachsen sein. Förderung erhielten diese Gedanken noch 
durch den Umstand, daß er von Haus aus ein sehr schwächliches Kind 
war, bei dem die Testes natürlich noch stärker herunterhingen. Und 
seine verschiedenen gymnastischen Übungen verfolgten, wie er sich 
selber vorsagte, hauptsächlich den Zweck, seine Muskulatur, zumal der 
Schultern, zu heben und zu stärken, in Wahrheit, wie aus einer zweiten 
Determinierung hervorgehen wird, um die Hoden durch Kräftigung 
der Aufhängemuskeln minder hängend zu machen. In den letzten Jahren 
konnte er nach dem Baden befriedigt feststellen, daß sein Penis und seine 
Hoden ganz natürlich aussähen und keine Verschiedenheit mehr bestünde 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 95 


zwischen ıhm und den anderen, wie er bei seinen vergleichenden Studien 
früher vermeinte. Selbstredend hatte er bei diesen Beobachtungen sein 
Augenmerk auch daraufgewandt, unter welchenUmständensich dieHoden 
kontrahierten. Und da glaubte er gefunden zu haben, daß die spontane 
Kontraktion der Testikel einen Beweis der höchsten Potenz darstelle. 
Sie trete ein, wenn man Lust zum Verkehr mit dem Weibe habe, nach 
dem kalten Bade oder wenn man sich sehr stark und wohl fühle. Er habe 
auch darum das Verlangen, einem Manne an die Hoden zu greifen und 
dessen Kontraktionen dabei zu verspüren, weil dies ein Beweis sei, 
daß der Mann für ıhn etwas empfinde. Auch an sich selber habe er es 
versucht und da gefunden, daß seine Testes sich nur nach dem Bade 
kontrahierten oder wenn er mit einem Weibe verkehren wolle. : Wenn 
er sich selbst an die Hoden greife, so wirke dies sehr beruhigend bei 
starker sexueller Erregung, zumal wenn seine Hände recht kalt seien. 
Auch beim Zähnebürsten lege er ganz automatisch die Hand an die 
Testes, angeblich damit sie stille hielten, weil beim Bürsten der ganze 
Körper in Bewegung gerate. Desgleichen stütze er die Hoden bei Nacht, 
indem er sie in eine Falte seines Hemdes lege. ‚Dies alles rührt daher,“ 
gibt er einmal zur Erklärung an, „daß meine Hoden mehr hängen als bei 
Tieren und antiken Statuen und ich den Wunsch hatte, sie sollten nicht 
so hängen. Als ich ferner zum Militär kam, hat mir ein älterer Verwandte 
geraten, ein Suspensorium zu tragen, was ich aber nicht aushielt. 
Wohl aber erwachte dadurch der Wunsch, meine Hoden zu stützen.‘ 

Dies seit der Kindheit brennende Interesse für seine und der 
andern Testikel verstand sich nicht selten sehr gut zu verbergen. So 
verliebte er sich z. B. während der Analyse in einen Photographen- 
gehilfen, an dem ihn der lange und rückwärts ganz schmale Schädel 
anzog. Diese Schädelform erinnerte ihn wieder an einen geliebten 
Museumskameraden, der die meisten aristokratischen Züge zum Typus 
lieferte. „Bei der Frau ist der Übergang vom Genick zum Hinterkopf 
fast immer häßlıich. Nur bei der Cousine, die ich mit 19 Jahren liebte, 
war er auch so. Der Photograph gemahnte mich weiter an den Kellner 
und diese schmale Hinterseite, das Genick mit seinen Sehnen durch 
ihre Form — an die Hoden.‘ Er liebte also einen Menschen, der seine 
Testes offen zur Schau trug. Schon mit 15, 16 Jahren war er in das 
Genick eines Knaben verliebt, der auch blond war und dieselbe ari- 
stokratische Form des Nackens hatte, doch gelang es ıhm nicht, jenem 
näher zu treten. Noch wahrscheinlicher dünkt ihn, daß er vergrößerte 
Hoden zu sehen wünschte. Solche aber stellen die kräftige Schulter- 


94 J. Sadger. 


muskulatur und die Wölbung des Deltoides dar, daher sein unablässiges 
Streben, sie durch Gymnastik kräftiger zu machen. 

Doch auch in anderen Körperpartien findet er vergrößerte Testes 
wieder. Er zeigte z. B. schon mit 4, 5 Jahren ein außerordentliches 
Interesse für die Zulus, deren Abbildungen er in einer englischen illu- 
strierten Zeitung beim Großvater sah. Nächst dem glänzend schwarzen 
Körper fesselten ihn ihre kräftigen Bewegungen ‚die mächtige Muskulatur 
des Deltoides, dann ferner — sie tragen ja alle den Lendenschurz — jenes 
frei sichtbare Stück Gesäß, das in die OÖberschenkelmuskulatur übergeht, 
endlich ihr glattrasierter Schädel. Sie lassen das Haar nämlich nur 
dort stehen, wo katholische Priester die Tonsur besitzen. Solche glatt- 
rasierte Schädel, die er ähnlich auch im Zirkus bei Clowns und Pierrots 
entdeckte, endlich noch die Schädel von Totenköpfen, die er immer 
wieder mit Vorliebe zeichnete, zogen ihn ebenso wie jenes Stück der 
Gesäßmuskulatur deshalb so an, weil er darin immer stark vergrößerte 
Hoden sah. Ein ähnliches Interesse für kräftige Testes, auf das ıch 
später noch zurückkommen werde, liegt auch zum großen Teil seiner 
Liebe für Statuen zugrunde. Ebenso hat er frühzeitig die Hoden von 
Tieren, besonders Pferden und Hunden mit den seinen verglichen 
und zumal für die mächtigen Organe der ersteren eine überaus große 
Bewunderung genährt. Als er im Heeresmuseum ein berühmtes Schlacht- 
roß sah, konnte er das Verlangen nicht unterdrücken, dessen Hoden 
mit den Fingern zu untersuchen, was er denn auch tat. 

Die Kehrseite der Schaulust, mit dieser im Gegensatzpaar un- 
löslich verbunden, ist 

der Exhibitionstrieb, 
d. h. das Verlangen, sich nackt zu zeigen, welches unser Patient in aus- 
gezeichneter Weise aufwies. Als er mit 4, 5 Jahren die Zulus abgebildet 
sah, drapierte er sich mit seinem Nachthemd als ein solcher und 
stolzierte in der Nachahmung eines Lendenschurzes, also fast nackt, 
vor Kindermädchen und Schwestern herum. Dann spielte er auch 
Negerweib, wie er es gleichfalls auf Abbildungen gesehen, indem er 
nach dem Baden das Leintuch so umschlug, daß es oben nur bis zu den 
Brustwarzen reichte, unten wieder bis zu den Knien. Aus der frühesten 
Kindeszeit bis zum 6. Jahre erinnert er deutlich, daß, wenn er nach 
dem Baden in der Sonne lag und ein Dampfer sich näherte, er im Adams- 
kostüm am Ufer herumtanzte. Im 11. Jahre beim Onkel begann er mit 
einem gleichaltrigen Vetter nackt am Trapez Turnübungen zu machen. 
Zuhause hatte es kein solches gegeben, jetzt aber beim Onkel tat er 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 95 


es nicht anders als unbekleidet, angeblich weil er mit seinen schwäch- 
lichen Armen sich leichter nackt aufziehen könnte. Die Hüllenlosigkeit 
aber nützte er des weiteren auch dazu, dem Vetter seinen Anus zu zeigen, 
womit er natürlich die Absicht verband, dieser solle zur Revanche ihm 
auch den seinen demonstrieren. Mit 12, 13 Jahren hatte er immer den 
Wunsch, bloß Trikot zu tragen, also so gut wie gar nichts, was zum 
Teil auf den Zirkusbesuch in der Kindheit, teils darauf zurückgeht, 
daß er schon als Knäblein nackt herumzustolzieren pflegte wie seine 
Schwester. Mit 15 Jahren begann er sich selber nackt zu zeichnen, 
in allen möglichen Stellungen, wie er sich im Spiegel bei seinen Turn- 
übungen beobachtet hatte, in der Regel mit erigiertem Penis. Als Er- 
klärung meint er, natürlich beschönigend: ‚Es interessierte mich 
immer, meinen eigenen Körper nackt zu zeichnen, wahrscheinlich damit 
ich die Fehler wegbringe, daß z. B. die Hüften breiter waren als meine 
Schultern und meine Arme kraftlos, während die Beine durch ver- 
schiedenen Sport sehr entwickelt waren. Das Zeichnen war mir ein 
Mittel, mich selbst zu idealisieren.‘‘ Mit etwa 24 Jahren begann er, 
gymnastische Übungen vor dem Spiegel zu treiben, das ganze System 
Lingg, natürlich nackt, um, wie er sich weismachte, „zu sehen, dab 
er die Übungen korrekt ausführe“. Neben dem Zwecke, die Schulter- 
und Oberarmmuskeln zu kräftigen und seine Körperfehler wegzubringen, 
betrieb er die Gymnastik noch mit dem Gedanken: ‚Jemand, der mich 
nackt sähe, sollte meinen Körper schön finden. Den unmittelbaren Anlaß 
dazu bot ein homosexueller Malerkamerad, mit dem ich häufig zusammen 
badete und in den ich verliebt war. Dieser bemerkte einmal, mein Körper 
wäre gut gebaut, nur sollten die Schultern ein wenig mehr entwickelt 
sein. Diese Freiübungen, die ich noch jetzt jeden Morgen nackt vor dem 
Spiegel mache, gehen auf den Besuch des Zirkus zurück. Damals war 
es das erste Mal, daß ich trikotgekleidete Menschen sah, also beinahe 
ganz nackte erwachsene Menschen. Einer, ein älterer Mann, lag unten, 
einige jüngere standen auf seinen Füßen. Das erinnerte mich an den 
Vater.‘ „In den allerletzten Jahren pflegte ich mich zu Hause im 
Sommer ganz nackt auszuziehen, unter dem Vorwande, es wäre so 
gesund für die Haut. In der Universitätszeit wieder wusch ich mir zu 
Mittag immer Gesicht und Hände, zog mich aber dazu stets völlig aus.‘ 
Der Grund hierfür war, daß gewöhnlich seine Kameraden mit ihm kamen, 
vor denen er so mit Lust exhibitionierte, worauf sie gemeinsam zum 
Essen gingen. 

Am sonderbarsten aber mutet sein akrobatisches Trapezturnen 


96 J. Sadger. 


an, das er mit 15 und 16 Jahren trieb, wenn er sich abends vor dem 
Schlafengehen splitterfasernackt ausgezogen hatte. ‚Das war ganz 
sicher nur eine Art sexuellen Turnens, eine geschlechtliche Befriedigung, 
Kraftleistung zu sexueller Erregung. Ich geriet auch wirklich in solche 
und bekam Erektionen, später wurde ich dann ruhiger. Wenn ich 
morgens darauf halb erwachte, so kamen mir Träume und Phantasien 
merkwürdiger Art. Ich hing z. B. am Reck, den Kopf unten und mit 
erigiertem Penis und so drang ich in das Weib ein, ohne es sonst mit dem 
Körper zu berühren, was außerordentlich schwer sein sollte.“ Außerdem 
gab es da noch eine Reihe weiterer stark sadistisch und exhibitionistisch 
gefärbter Phantasien, die zum Teil auf den Zirkusbesuch, zum Teil 
auf die Beschreibung des Schicksals eroberter Städte im 30jährıgen 
Kriege zurückgingen und sich tiefer auf Vater und Mutter und sein Ver- 
hältnis zu ihnen zurückverfolgen ließen. Auf diese Punkte, dann ferner 
auf andere sadistisch-masochistische Akte, sowie endlich die Selbst- 
geißelung gehe ich nicht näher ein, weil sie im Sexualbilde des Kranken 
von geringem Belang sind und auch ihre Auflösung in den fünf Mo- 
naten Analyse nicht weit gedieh. 
Mehr ist über seine 


Verliebtheit in Statuen 


auszusagen, über welche er folgende Angaben macht: „Mit 13, 14 Jahren 
konnte ich Statuen nie ansehen, ohne eine wollüstige Neugier auf die 
Hoden zu empfinden, die bei ihnen auch nicht hängen.‘“ Mit 24 Jahren 
folgte die Verliebtheit in ein hölzernes Bild im Museum. Damit man 
nämlich die verschiedenen Uniformen studieren könne, wurden dort 
Holzfiguren aufgestellt, die mit ihnen bekleidet sind. In eine dieser 
‘ Figuren, einen etwa l8jährigen Kadetten darstellend, verliebte er 
sich nun. Ihn fesselten besonders das rosige Gesicht und die eng- 
anliegenden Kleider zumal an Achseln und Oberarmen. Noch früher, 
schon mit 21 Jahren, verliebte er sich in die Photographie des David von 
Michel Angelo, an welcher ihn wieder die Muskulatur der Arme, Brust, 
der Innenseite der Oberschenkel und des Knies reizten. Die Musku- 
latur wirke angeblich deshalb so erogen, weil er die Männer den Weibern 
vorziehe. Endlich bekam er noch in der Analysenzeit ein starkes se- 
xuelles Verlangen, als er in einem Buche die Abbildung einer antiken 
Statue sah, die einen etwa 20jährigen Sieger in den Olympischen 
Spielen zeigte. „Die Statue ist schwarz und blank. Wahrscheinlich 
erinnerte mich"das an die Zulus, denn die Bronzefarbe der Statue er- 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 97 


scheint auf der Abbildung schwarz wie die Zulus. Der starke Wechsel 
von Licht und Schatten in der Bronze läßt die Muskulatur stärker hervor- 
treten, besonders Schultern und Taille. Einer der Gründe, weshalb ich 
den männlichen Körper dem weiblichen vorziehe, ist, daß er härtere 
Muskeln besitzt.‘ Hier sei noch eine weitere Erinnerung des Kranken 
eingeflochten: ‚Als Kind spielte ich sehr viel mit schwarzen, hölzernen 
Kugeln, die an den vier Ecken des Sophas befestigt waren. Sie staken 
in kleinen hölzernen Zapfen, die ihrerseits wieder in Löcher des Sofas 
stachen. Ich habe nun sehr früh die Ähnlichkeit dieser Kugeln mit der 
weiblichen Brust entdeckt, insbesondere erinnerten sie mich an die 
schwarzen Brüste der Kaffernweiber. Ich habe diese schwarzen Sofa- 
kugeln an meine eigene Brust gesetzt und mich so vor den Schwestern 
und dem Kindermädchen produziert und es eine Brust genanntt!).‘“ 
Es sei hier eingefügt, daß nach meinen psychoanalytischen Erfahrungen 
sein Interesse für Hoden, das ich oben berichtete, zwar primär sein 
könnte, gemeinhin jedoch nur eine Verschiebung von den Mammae 
her darstellt oder, noch spezieller, von den Brüsten der Mutter. Darum 
auch das Interesse für Muskelwölbungen an den verschiedensten Körper- 
teilen. Dies verdeckt sehr gut, daß hier nur Verschiebung vom Weibe 
auf den Mann nach der Abkehr von ersterem stattgefunden hat. 


Die Analerotik. 


Wir haben gehört, daß unser Patient von Haus aus ein schwäch- 
liches Kind gewesen. Dies geht wahrscheinlich auf einen langwierigen 
Darmkatarrh zurück, der bis in sein zweites und drittes Jahr währte 
und ıhn fast an den Rand des Todes brachte. Ein Umstand, der seine 
konstitutionelle Veranlagung nach zwei Richtungen hin zu verstärken 
geeignet ist. Er spornte zunächst die ohnehin hypertrophische Analerotik 
durch fortwährende Reizung der Mastdarmschleimhaut und förderte 
zweitens, wenn wir Czerny glauben?), das Belastungssymptom der De- 


!) Von den Zulus rührt auch die „Affenstellung‘‘ her, die uns später noch 
beschäftigen wird. 


2) Nachdem dieser Autor davon gesprochen, daß der gesunde Säugling 
stets heiter und froh ist, fährt er fort: „Tatsächlich ernst sind und bleiben aber 
Säuglinge, welche im ersten Jahre krank sind. Ernährungsstörungen selbst leichterer 
Art sind schon imstande, ein vorher frohes Kind ernst zu machen... Ist ein Kind 
während des ganzen "ersten Lebensjahres oder auch noch während \des zweiten 
fast ununterbrochen durch Ernährungsstörungen und Infektionen in seinem Wohl- 
befinden gestört, was nicht so selten der Fall ist, so erlangt das Kind auch später, 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. HU. 7 


98 J. Sadger. 


pressionsneigung. Eine der frühesten Erinnerungen des Grafen ist, 
daß er ins Bett machte, als er bei Großvater zu Besuch war. Vielleicht 
bekam er infolge des anhaltenden Darmkatarrhs auch seinen Prolapsus 
recti, den ihm zuerst die Mutter reponierte, was er jedoch selber bald 
ausführen lernte!). „Nachher habe ich es eigentlich die ganze Zeit über 
so gemacht, d.h. mit dem Finger im Rektum hantiert, auch wenn es nicht 
gerade notwendig war. Ja, die Rudimente sind noch heute da, indem 
ich nämlich, wenn im Bette Winde abgehen sollen, den Finger in den 
Anus stecke, damit es unhörbar werde. Schon als kleines Kind hatte 
ich Lustgefühle, wenn ich den Prolaps wieder hineingab. Hingegen 
genierte es mich später, mit 5, 6 Jahren sehr, wenn es einmal wieder 
die Mutter tat, ja ich hatte geradezu Abscheu davor. Das hängt vielleicht 
damit zusammen, daß wir als Kinder solchen Abscheu vor den Lavements 
hatten, die uns Mutter sehr häufig wegen der Spulwürmer versetzte?). 
Verstärkt wurde die Vorliebe für meine Manipulationen im After, 
als ich mit 15 Jahren von Päderastie las. Eigentlich war sie sehr sym- 
pathisch geschildert, wie man da mit einem Jüngling zusammen jage, 
Ausflüge mache, gemeinsam lebe und daß es für den Jüngling in vielen 
Fällen nützlich sei. Bald darauf sah ich dann auf Kameen die Einführung 
des Gliedes in den After. Ich fühlte dabei eine sexuelle Erregung im 
Gehirn. Das Ganze erschien mir ausnehmend interessant. Ich habe 
es an mir mit dem Finger nachzuahmen versucht, wobei ich ein Wollust- 
gefühl und Erektionen bekam. Ich weiß nicht, ob es gleich zu Beginn 
war oder erst später, daß ich nach Einführung des Fingers onanierte. 


selbst wenn es körperlich alles einholt, was es durch die Krankheit versäumt hat, 
doch nicht die gleichen Charaktereigenschaften wie ein Kind, welches dasselbe 
Lebensalter hindurch stets gesund war. Es bleibt ernst und behält eine Über- 
empfindlichkeit gegen viele kleine Reize, durch welche sich gesunde Kinder nicht 
ihre humoristische Stimmung verderben lassen“, Adolf Czerny ‚Der Arzt als 
Erzieher des Kindes“, Wien 1908, Deuticke. 


!) Der Wiener Kinderarzt Dr. Josef Friedjung teilt mir mit, daß 
nach seinen Erfahrungen der Prolapsus ani keine rein organische oder zufällige 
Erkrankung sei, sondern wahrscheinlich auf analerotischen Bewegungen beruhe 
und ein gut Teil aktiven Mittuns des Kindes zur Voraussetzung habe. Auch Thie- 
mich machte aufmerksam, daß Analprolapsus häufig eine monosymptomatische 
Form der Kinderhysterie sei. 


?) Der wahre Hauptgrund ist natürlich die Reaktion, die Sexualverdrängung. 
Der „Abscheu“ ist die Sühne für die ehemals empfundene besondere Lust, als die 
Mutter den Prolaps reponierte. Unterstützt wurde dieser Abscheu noch durch die 
Ungeschicklichkeit der Mutter bei der Reposition, die ihrerseits wieder eine Reak- 
tion auf eigene unterdrückte Analerotik war. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 99 


Onanie und Päderastie waren nicht immer verbunden. Ich übte auch 
bloße Masturbation, doch wenn ich Päderastie getrieben hatte, onanierte 
ich danach immer. Das erstere tat ich etwa zweimal wöchentlich, die 
Verbindung beider, welche mir den größten Reiz gewährte, etwa zweimal 
in drei Wochen. Mit 20 Jahren oder noch später dünkte es mich, daß 
sich infolge der Päderastie meine Nerven beruhigten. Wenn ich bloß 
masturbiert hatte, währte der Trieb zum Weibe fort, nach der Päderastie 
konnte ich eine Woche oder länger auf das Weib verzichten.“ 

Es ist völlig unmöglich, seine wenig anmutende Analerotik in solcher 
Vollständigkeit wiederzugeben wie die anderen Äußerungen seiner 
Sexualität. Ist sie doch sein stärkst entwickelter Teiltrieb, der weitaus 
den größten Platz beanspruchte. Wollte ich alles erschöpfend erzählen, 
was in der Analyse vorgebracht wurde, so brauchte ich mindestens 
ebensoviel Raum, als ich schon beschrieb, und der Leser würde zweifel- 
los in die Flucht gejagt. So will ich denn nur die Hauptpunkte anführen 
und gleich vorausschieken, daß es keine Beschäftigung mit dem Anus, 
Stuhl und den Darmgasen gibt, die der Graf nicht auch schon aus- 
probiert hätte. Ich vermute, daß diese Analerotik in einzelnen Sym- 
ptomen bis auf die Säuglingszeit zurückgeht, wenn sie auch Patient 
zusammenhängend erst vom 5. Lebensjahre ab“entsinnt. In diesem 
Alter, wahrscheinlich aber noch aus früherer Zeit, erinnert er aus- 
gesprochene Koprophagie.. Wenn er nämlich beim Abwischen Kot- 
reste auf den Finger bekam, pflegte er sie nachher abzuschlecken. Später, 
um 14 Jahre herum, folgte eine Periode, da er alles und jedes in kleinsten 
Teilchen zu kosten unternahm, wobei er auch Exkremente nicht ver- 
schonte. Dann spielte er mindestens als 5jähriger Knabe schon im Garten 
mit Lehm, dem er mit den Händen die Form von menschlichen Kot- 
klumpen gab. Als der Gärtner den Lehmboden mit Sand bestreute, 
war er lange unglücklich. Zwischen 5 und 7 Jahren interessierten ihn 
die verschiedenen Arten von Tierkot, worauf ihn übrigens sein Vater, 
ein passionierter Jäger, stets aufmerksam machte. Auch schmeckten 
ihm kotähnliche Bäckereien besser als andere und pflegte er lange 
Zeit Speisen, die besonders gemundet hatten, hinterdrein nochmals 
heraufzuwürgen, was er bezeichnend ‚Koterbrechen“ hieß. 

Ich habe schon früher davon erzählt, wie lang seine Mutter ihn 
von der analen Selbständigkeit abhielt, so daß, alsz. B. mit 4,5 Jahren 
seine gleichaltrigen Vettern zu Besuche kamen, diese längst schon 
gewöhnt waren, allein hinauszugehen, während er noch immer auf den 
Topf gesetzt wurde. Weitere Verzögerung setzte eine äußerst unzweck- 

7? 


100 J. Sadger. 


mäßige Art seiner Oberhosen, die es ihm schwer machte, sie allein zu 
öffnen. Drum brauchte er lange sowohl beim Stuhlgang wie Urinieren 
noch von anderen Hilfe, Mutter oder Kindermädchen, was um so be- 
deutsamer war, als er beide Verrichtungen ‚‚direkt intressant“ fand und 
beide ihm besondere Lust gewährten. Auch als Erwachsener leistete 
er, als große Stuhlmassen abgegangen waren, sich einst den Ausspruch: 
‚‚Das ist so schön, als wenn man von einem Kinde befreit worden wäre!“ 
Ich will noch anfügen, daß ihm in verhältnismäßig später Kinderzeit 
noch einzelne Male Menschliches passierte. 

Frühzeitig begann er, auf den Austritt der Fäzes genau zu achten 
und nach den verschiedenen Gefühlen im Anus Konsistenz und Farbe. 
der kommenden Massen zu diagnostizieren. Seit dem 15. Jahre pflegte 
er im Klosett den Abgang im Spiegel zu kontrollieren, wobei ihm das 
Herauspressen der Rektumschleimhaut bei starkem Drücken sowie 
das nachfolgende Zurückgehen derselben besonders interessierte und ihn 
auch ganz an Pferde gemahnte. Noch früher, bereits mit 12 Jahren, 
liebte er Glaskugeln in den After zu stecken und wieder auszudrücken. 
Vorbild hierzu waren wohl die nicht seltenen Temperaturmessungen, 
welche die Mutter bei ihm als Kind stets in ano vornahm, noch früher 
sodann das Auspressen seiner Rektumschleimhaut in den ersten Jahren, 
das zum Prolapse führte. 

Eın großes Interesse besaßen für ihn schon als kleines Kind lange 
Gummirohre, besonders weil man aus ihrer Verwendung ein Geheimnis 
machte. Ein solches hatte die Mutter z. B. als Spülapparat für ihre 
Vagina, ein zweites der Vater für seine Lavements. Als nun dem 
l5jährigen Grafen ein langes Gummirohr mit Ballon geschenkt ward, 
das früher als Läuteapparat gedient hatte, hub er nun an, sich selber 
zum Vergnügen Lavements zu machen. ‚‚Sie erinnerten mich an meine 
Lavements in frühester Kindheit, waren aber viel angenehmer, weil ich sie 
jetzt selber dirigierte. Eine Zeitlang machte ich sie jeden Abend, dann 
etwas seltener, alsich zu masturbieren begann. Auch in den letzten Jahren 
war es mir noch angenehm, mir Lavements zu machen, wenn dies auch 
nur mehr sporadisch vorkam. Auch bevor ich Selbstpäderastie ausführte, 
reinigte ich mir zunächst den Mastdarm durch Wasserspülung, dann 
erst steckte ich den Finger hinein. Das trieb ich immerhin jeden zweiten 
oder jeden Monat einmal. Ich glaube, ich versuchte auch einmal, den 
Mastdarm wieder herauszubekommen wie in der Kindheit. Ich habe 
ren geprebt und dabei den Finger gegen den After gedrückt, 

s@ang es mir nicht. Ob ich da nicht zu reproduzieren versuchte, 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 101 


wie Pferde defäzieren und dabei der Mastdarm herauskommt, was ich 
bei unseren Ausfahrten häufig sah, wenn ich beim Kutscher oben am 
Bock saß?“ 

Zum Schlusse noch eine merkwürdige Beziehung. Wenn er jetzt 
verstopft ist oder nur mit Schwierigkeit Stuhl bekommt, ist er verstimmt. 
Andererseits hat er noch gegenwärtig einen gewissen Genuß beim 
Stuhlabsetzen, doch bloß wenn eine große Masse leicht abgegangen. 
Früh wartet er schon ängstlich auf die Entleerung ganz wie die Mutter. 
Bleibt jene aus, so fühlt er sich den ganzen Tag irritiert und muß dann 
nachmittags oder abends gehen, soll er am nächsten Morgen nicht 
Erektionen bekommen. Diese Reizbarkeit hat infantile Wurzeln. 
Zunächst identifiziert sich Patient mit der Mutter, die er früher so heiß 
und innig geliebt. Ferner hatte der Vater ihn schon von seinem 7. Lebens- 
jahre ab stets angehalten, zu einer bestimmten Stunde hinauszugehen, 
„dann’ komme’es von selber‘. Als er aber mit 14 Jahren dies Geschäft 
auf den Abend verlegen wollte, riet ihm der Vater davon ab, viel besser 
sel es am Morgen zu gehen. Nun war er dazumal in den Vater verliebt 
und dessen Worte darum autoritär. Und wenn er noch jetzt tagsüber 
irritiert ist, da er frühmorgens nicht zu Stuhle ging, so deshalb, weil er 
damit das Gebot des Vaters übertrat. 

3 Es ıst uns bisher schon zweimal die 





Masturbation 


begegnet, bei der Selbstpäderastie wie bei den Vorwürfen gegen seine 
Mutter. Die letztere hatte ihn mit 12,13 Jahren, wie ich oben erzählte, 
fälschlich jenes Lasters bezichtigt. Doch hatte er tatsächlich beim 
Seilklettern ‚ein eigentümliches Gefühl‘ verspürt, „eine Art von 
Spasmus“, wie später bei der Ejakulation, doch ohne jedweden Samen- 
erguß. „Es war ein kleines, krampfhaftes Gefühl, ich glaube in der 
Prostata zwischen Mastdarm und Glied.‘ Dies Gefühl nun stellte sich 
alle fünf Wochen regelmäßig ein, wenn im Turnen das Klettern an die 
Reihe kam. Dann aber folgten andere Turnübungen und damit eine 
Pause von 1 bis 2 Jahren ohne jede Reizung. Mit 15 Jahren sagte ihm 
ein Kamerad, wenn man so alt wäre, sollte man Erektionen haben. 
Weil nun diese nicht von selber auftraten, zog er das Präputium 
auf und ab und war sehr erstaunt, als plötzlich ein Samenerguß sich ein- 
stellte. Auf diese Methode kam er dadurch, daß ihm ein Kamerad 
schon früher gesagt hatte, da vom Koitus die Rede, das könne man auch 
mit der Hand besorgen, doch sei es ungesund. Jene einmalige Ma- 


102 J. Sadger. 


sturbation steht ganz isoliert. Erst mit 16 Jahren begann er regelmäßig 
zu onanieren, und zwar jede Woche nach dem warmen Bade. Im 16. 
und 17. Jahre überhaupt nur nach diesem, also bloß einmal wöchentlich, 
weil er immer Erektionen bekam, sobald er das Glied im warmen Bade 
mit Seife wusch. Erst gegen Ende des 17. Jahres begann er das Laster 
häufiger zu treiben, dazu bald außer der Hand noch einen Schwamm 
benutzend. ‚Mir scheint,“ gibt er zur Erklärung an, „der Schwamm 
gleicht mehr dem Genitale eines Weibes.‘“ Doch auch wenn er abends 
bei einer Dirne gewesen, pflegte er am Morgen des folgenden Tages 
mit dem Schwamme zu masturbieren. ‚Vielleicht war mir auch der 
Schwamm ein reines Weib. Am Tage nach dem Koitus erscheint mır 
das Weib ganz unausstehlich, das ist auch jetzt noch bei meiner Frau 
nicht selten der Fall. Da scheint sie mir alle Schwächen eines Weibes 
zu haben, nicht konsequent zu sein, nur an Kleider zu denken usw.“ 
Außer mit dem Schwamme begann er auch mit einem Gummiring zu 
masturbieren, beide wie ein weibliches Genitale brauchend. Später 
jedoch, um das 20. Jahr, kehrte er wieder zur Handonanie zurück 
(neben dem Schwammkoitus), und zwar so, daß er mit beiden Händen 
eine Röhre bildete, in welche hinein er masturbierte. 

Um diese Zeit hub er auch vor dem Spiegel zu onanieren an oder 
eigentlich vor zweien, um alle Körperbewegungen beobachten zu können. 
Ihm genügte nicht, die Vorderseite anzusehen, er wollte sämtliche 
Körperbewegungen von allen Seiten schauen, besonders auch von 
rückwärts. Interessierte ihn neben dem Membrum ja doch am meisten 
das Muskelspiel des Gesäßes. Er machte nämlich bei dieser Onanie 
die gleichen Bewegungen wie beim Geschlechtsakt,' indem er das Mem- 
brum zwischen den beiden Händen fixierte, während sein Körper alle 
Zuckungen eines Koitus ausführte. Das bloße Auf- und Abziehen übte 
er nur, um rasch fertig zu werden, oder wenn ihm die Onanie gar zu 
abscheulich schien infolge von allzugroßem Reiz. Ebenso im Anfange 
der Masturbation, als er vom Geschlechtsakte noch nichts wußte. 
Doch begann er mit der Koitusonanie schon in der letzten Gymnasial- 
klasse, als er vernahm, wie der Beischlaf geübt werde. Er hatte auch 
gehört, daß die weiblichen Geschlechtsteile wie ein Rohr aussähen — 
dies wußte er von der Anatomie — worauf er mit dem Gummirohr 
zu koitieren begann. 

Wie alle Masturbanten, hatte auch der Graf auf der einen Seite 
Furcht, seine Onanie zu verraten, auf der andern Scheu vor ihren 
Folgen. „Es steckt da vielleicht ein wenig von der kindlichen Ver- 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 103 


achtung der Gymnasialkollegen in mir, mit der sie auf den Masturbanten 
herabsahen. Zwei meiner besten Freunde erzählten mir, man erkenne 
den Onanisten an der blassen Gesichtsfarbe. Sie nahmen einen solchen 
auch nicht als vollwertig, was man in diesen Jahren am schmerzlichsten 
empfindet. Die ganze Zeit her, von jenen Schuljahren bis zum heutigen 
Tage, habe ich gefürchtet, man könne mir die Masturbation absehen, 
zumal ich sie neben den Manipulationen am After bis in die jüngste 
Zeit hinauf trieb, und war auch bestrebt, von Gesprächen über Onanie 
stets abzulenken, um mich nicht zu verraten.‘‘ Von den Folgen lang- 
jähriger Masturbation hatte er teils richtige, teils absurde Vorstellungen. 
Die Onanisten besäßen hängende Hoden und ein im Verhältnis zu 
großes Glied; sie schwitzten sehr leicht, ıhre Kinder seien schwach 
und durch ein verbildetes Genitale gebrandmarkt, d. h. Testes und 
Membrum zusammengewachsen. Endlich studierte er von 16. Jahre 
ab sich immer im Spiegel, ob er Masturbationsveränderungen zeige, 
um diese dann besser verbergen zu können. 

„Je älter ich wurde, desto mehr erschien mir die Onanie als 
Priapuskult. Wahrscheinlich wurde ich da beeinflußt von den Kameen 
und dem belgischen Maler 


Felicien Rops. 


Mich interessierte bei diesem, daß er das Glied wie ein selbständiges 
Wesen, genauer: wie ein lebendes Tier darstellte. Er zeichnet ihn sehr 
häufig als Schlange, die sich um den Körper schlingt, was ich nicht nur 
nachzeichnete, sondern auch in Wachs und Lehm modellierte. Ehe 
ich Rops kennen lernte, hatte ich einmal einen Penis gezeichnet, von 
dem meine Kameraden sagten, ich müsse ihn schöner machen. ‚Vielleicht 
hast du ihn nach deinem eigenen Modell gezeichnet.‘ Drum glaubte 
ich, er sei nicht normal, nicht so lang und groß wie der von anderen.‘ 
Ich darf hier einfügen, daß ihn wohl just dieser schwer empfundene 
Mangel zu Rops hinführte, der ja das übergroße Membrum verherrlicht. 
„Rops zeichnet ja auch Menschen mit einem schlangenartigen Penis, 
der sich um den Körper dreht, in der Luft wie eine Schlange bewegt, 
erhebt und emporrichtet, er hat dem Penis ganz die angriffsmäßige 
Stellung gegeben. Vielleicht hatte ich auch den Wunsch, mit so einem 
schlangenartigen Penis mich selbst zu päderastieren. Wenigstens zeichnete 
ich mit 25 Jahren einen Mann, mit so schlangenartig erigiertem Glied. 
Zuerst ging er über den Arm, dann längs des Rückens, aber noch 
in der Luft, bis er schließlich in den After eindrang. Rops hat mich 


104 J. Sadger. 


deshalb so gefesselt, weil mir vorkam, er drückt das Erotische, was die 
Menschen und mich im Speziellen plagte, so gut aus, daß das Erotische 
nämlich ein Leiden sei. All seine Menschen und Figuren tragen einen 
Leidenszug im Gesicht. Das stete Geschlechtsverlangen plagte mich 
riesig, besonders in der letzten Zeit, ehe ich mit dem Weibe zu ver- 
kehren begann, so daß ich sogar schon daran dachte, mich kastrieren 
zu lassen, bis ich hörte, daß auch dies nichts helfe. Ich litt besonders 
unter erotischen Phantasien. Sowohl Kameen als Ropsbilder drehten 
sich weniger um den Koitus, als um Bilder vom Penis. Ich hatte immer 
Phantasien von riesenhaften, schlangenartigen Membris, die mir gar 
keine Ruhe gaben, mich in der Arbeit und im Schlafe störten. Wenn 
ich in diesen Phantasien so einen Penis sah, habe ich an meinen eigenen 
gedacht, ihn angeschaut und dabei kam es am häufigsten zur Mastur- 
bation. Ich hatte natürlich dabei auch den Wunsch, mein Membrum 
solle so groß werden. Seitdem ich regelmäßig mit Weibern zu verkehren 
begann, wurde es viel besser. Aber wenn ich jetzt meine Morgenerektionen 
bekomme, kehrt auch die alte Plage wieder und damit die alten Phan- 
tasıen.“‘ Ich weiß von anderen Psychoanalysen, daß jenes ungeheure 
Membrum, welches unser Graf sich so sehr ersehnte und Rops bildlich 
darstellte, nichts anderes ist als das Glied des Vaters, welches dem 
Kinde stets so groß erscheint im Verhältnisse zum eigenen, noch unent- 
wickelten. Heißt doch der stete Wunsch jedes Knaben, groß zu sein, 
in erster Linie: so große Genitalien zu bekommen, wie er sie immer 
am Vater bewunderte. Unser Graf ergänzt noch: „Der Läuteapparat, 
das Gummirohr, welches ich geschenkt bekam und zu überflüssigen 
Lavements benutzte, erinnerte mich gleichfalls an die Ropsphantasien. 
Auch Kondome erregten mich sexuell, weil sie, mit Wasser gefüllt oder 
aufgeblasen, das Glied so vergrößerten.“ 


Sekundärer Autoerotismus. 


Vorstehend sind wir einem neuen Phänomen begegnet, für das ich 
nach einem mündlichen Vorschlage Freuds die Bezeichnung „sekundärer 
Autoerotismus“ einführen möchte. Den primären zeigt ja ein jegliches 
Kind!), am deutlichsten in der Erscheinung des Ludelns oder Wonne- 
saugens. Aber selbst ein Säugling, welcher nicht ludelt, führt doch alles, 


\) Ich folge in der Beschreibung des primären Autoerotismus sowie seiner 
Umwandlung in der Pubertät Freuds ‚Drei Abhandlungen zur Sexualthorie“, 
während die Ausführungen über sekundären Autoerotismus mein geistiges Eigen- 
tum sind. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 105 


was er in die Hand bekommt, Spielzeug, Finger oder irgendeinen Gegen- 
stand, sofort zum Munde, in Erinnerung an die primäre Lust, die beim 
Trinken an der Brust oder ihren Surrogaten ihm während seines Erden- 
wallens begegnete. Also ist die allererste, in der Kindheit wichtigste 
erogene Zone die Lippenschleimhaut. Eine zweite von ebensolcher 
Bedeutung und angestammt häufig noch mehr verstärkt scheint 
die Schleimhaut des Anus, welche sowohl bei den täglichen Ent- 
leerungen als den häufigen Darmkatarrhen der Kinder ihre ganz be- 
sondere Reizung erfährt. In der Pubertät nun ordnen sich alle erogenen 
Zonen, die genannten wie die anderen, dem Primat der Genitalien unter 
und wird der Sexualtrieb, der bisher vorwiegend autoerotisch, auf ein 
fremdes Sexualobjekt gerichtet. Die Genitalien werden jetzt die eigent- 
lichen Lusterreger, während die anderen erogenen Zonen, mindestens 
normalerweise, nur gewisse Vorlustbeiträge liefern. In diesen physio- 
logischen Entwieklungsgang schiebt sich nun nicht selten beim Knaben 
eine Zwischenepisode ein, die zeitlich frühestens in die Vorpubertät 
fällt — in unseren Breiten also etwa zwischen 10 und 13 Jahren — 
nicht selten aber später, in den Anfang der Reife. Bezeichnend für diese 
Zwischenepisode sind folgende Umstände. Der Trieb ist noch immer 
autoerotisch und eines fremden Objektes entbehrend. Er knüpft des 
weitern immer an erogene Zonen an, genau wie beim Kinde und bevor- 
zugt ebendieselben Schleimhäute: Lippen und After. Insoweit läuft der 
sekundäre Autoerotismus dem primären parallel. Hingegen steht bei 
ersterem die Vorherrschaft der Geschlechtsorgane schon endgültig fest, 
so daß nur die einzige Aufgabe bleibt, das Membrum zur Schleimhaut 
der haupterogenen Zonen zu führen, d. h. in den Mund oder Anus zu 
stecken. Dies Kunststück, das eines Schlangenmenschen würdig wäre, 
ist natürlich für den Knaben nie wirklich ausführbar. Er kann nur 
versuchen, annähernd oder mit Zuhilfenahme fremder Zwischenstücke 
seinen Plan zu realisieren. So kannte ich einen Burschen, der nach 
Monate währendem vergeblichen Mühen, seinen Penis nach rückwärts 
bis zur erforderlichen Länge zu dehnen, endlich eine Eprouvette an der 
Glans befestigte, um auf diesem Wege sein Ziel zu erreichen. Ein anderer 
quälte sich tagelang, durch allerlei Verrenkungen und künstliche 
Stellungen sein Membrum bis in den Mund zu bringen. Auch unseren 
Grafen stach durch Jahre hindurch das Verlangen, sich selbst zu pädera- 
stieren, und da dies schlechterdings unmöglich war, so schwelgte er 
mindest in solchen Phantasien. Ich vermute, daß auch die Ropsschen 
Zeichnungen gleichem Streben ihren Ursprung danken. Doch die 


106 J. Sadger. 


Wünsche unseres Grafen sind noch komplizierter und heischen eine 
genauere Darstellung. Zunächst ersehnte er in seiner akrobatischen 
Zeit, also etwa um 15 oder 16 Jahre, seinen Körper so stark nach vorn 
zu biegen, daß er sich in den Penis zu beißen vermöchte, wasaber natürlich 
niemals gelang. Noch früher schon las er von Hermaphroditen und dachte 
sofort, ein solcher könne dann ‚von sich selber ein Kind bekommen 
durch Selbstbefruchtung“. Aber erst mit 17 erwachte sein Wunsch, 
sich selbst zu päderastieren. Er stellte sich das nicht unmöglich vor, 
wenn man nur den Rücken stark krümme und so den After nach vor- 
wärts biege. Doch steckt hinter diesem bereits in Spätjahre fallenden 
Verlangen schon der Übergang zum fremden Sexualobjekt, d. h. der 
Wunsch, von einem geliebten Manne päderastiert zu werden in der 
Lage eines begatteten Weibes. Bei weiterer Nachprüfung ergab sich 
sodann, daß dies nur Wiederholung von Kindheitseindrücken, von 
rektalen Temperaturmessungen und Klystieren durch seine Mutter war. 
Also neuerliche Bestätigung meines früheren Fundes, daß hinter dem 
scheinbar geliebten Mann bei jeglichem Urning die eigene Mutter und 
hinter dem päderastischen Verlangen die Klystierspritze oder das 
Afterthermometer nachweisbar ist. 

Ehe ich meine neuen Anschauungen über Homosexualitätin extenso 
darlege, sei noch ein Moment ausführlicher besprochen: des Patienten 


Sehnsucht nach sexueller Aufklärung. 


In dem Leben eines jeglichen Menschen taucht früher oder später, 
gewöhnlich in der Kindheit, längstens jedoch in der Pubertät die Sphinx- 
frage auf: Woher kommen eigentlich die kleinen Kinder? Die ersten, 
an welche man sich in seiner Unwissenheit zu wenden pflegt, sind 
Mutter und Vater. Nur sind freilich die wenigsten unter diesen willens 
oder fähig, mit zarter, kundiger, vorsichtig und weise leitender Hand 
in das verpönte Land zu führen. Meist werden drum die Kinder teils 
grob, teils ausweichend abgefertigt, so daß sie schließlich bei Alters- 
genossen, dienstbaren Geistern oder dem allwissenden Konversations- 
lexikon Aufklärung suchen und endlich auch finden. Dies elterliche 
Versteckensspiel ist, von welcher Seite immer betrachtet, verhängnisvoll 
zu heißen. Da in der letzten Zeit über diesen Gegenstand soviel publi- 
ziert ward, will ich mich hier auf einzelnes beschränken, das noch wenig 
oder gar nicht ins Treffen geführt wurde, zumal die Bedeutung der 
mangelnden sexuellen Aufklärung für die Entstehung der Neurosen 
und Perversionen. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 107 


Zunächst betrachtet das von den Eltern nicht aufgeklärte Kind 
jene Vorenthaltung der stets wieder erfragten Geschlechtsbeziehungen 
als Mangel an Vertrauen, ja sie wird zur häufigsten, allerbedeutsamsten 
Wurzel der Entfremdung zwischen Eltern und Sprößling, ganz besonders 
dort, wo sexuelle Anziehung nicht entgegenwirkt, wie zwischen Mutter 
und Tochter, Vater und Sohn. Es ist sehr ominös, wenn ein Kind seinen 
Eltern „dahinter kommt“, daß sie eheliche Beziehungen pflegten: 
Es fühlt sich betrogen, sein Vertrauen getäuscht und glaubt ihnen 
fortab überhaupt nichts mehr ungeprüft, weil sie es in diesem wich- 
tigsten Punkte belogen haben. Nicht selten rührt auch die Aufklärung 
durch Fremde eine arge Lüsternheit in ihm auf, wenn es das Geschlecht- 
liche nicht schlankweg ablehnt. Hingegen hängt das von der Mutter 
unterwiesene Kind an dieser stets doppelt. Im ersteren Falle drängt 
sich nicht selten der häßliche Gedanke ans Licht: meine Eltern müssen 
sich gut amüsiert haben, wie ich gezeugt ward. Im zweiten läßt es sich 
leicht zu dem Empfinden lenken: was hat die Mutter um mich gelitten 
bei meiner Geburt! ein Gedanke, der Liebe und Pietät ausnehmend 
erhöht. 

Noch einen zweiten Punkt muß ich berühren. Das ewige Ablehnen, 
ja schroffe Verpönen alles Geschlechtlichen kann bei Mädchen, besonders 
wenn strenge Verfolgung der Onanie hinzutritt, eine dauernde, lebens- 
lange sexuelle Anästhesie herbeiführen. Ich habe gar nicht so selten 
vernommen,daß solcheMädchen sich in späteren Jahren bitter beklagten, 
zu Hause hätten sie niemals ein Wort in den Mund nehmen dürfen, 
das auch nur entfernt an Geschlechtliches streifte, wie Geburt, Ent- 
bindung, Verhältnis u. dgl. Wird dann noch obendrein die Mastur- 
bation aufs heftigste verfolgt, ohne daß man doch offen über alles Sexuelle 
spräche, so können stete und schwere hysterische Angstzustände, 
dauernde Unfähigkeit, beim Koitus irgend Lust zu empfinden, sowie 
ein vergeblicher, lebenslanger Kampf mit der Onanie trotz späterer 
Ehe die Konsequenz sein. Bei Knaben hinwieder führt oft solches 
Vorgehen entweder zu psychischer Impotenz mit der Milderung bis- 
weilen, daß sie bei der käuflichen Liebe potent bleiben, in anderen Fällen 
aber, bei konstitutioneller Disposition, wenn dann noch die Abkehr 
von der Mutter dazukommt, zur Homosexualität. Wo aber wie bei den 
späteren Neurotikern ein ungeheures und nicht zu ersättigendes Liebes- 
bedürfnis vorhanden ist, das natürlich zuerst auf die Eltern sich richtet, 
geschieht es nicht selten, daß schon in der Kindheit oder spätestens 
in Pubertätsphantasien von diesen verlangt wird, sie mögen ihr Kind 


108 J. Sadger. 


aktiv in die Liebesgeheimnisse einführen, d. h. sie an ihrem eigenen 
Leibe über alles belehren. Darauf beruht unter anderem auch das be- 
kannte Erlösermotiv in der Kunst. Die Mutter soll ihren Knaben von 
der Masturbation befreien, indem sie ihm sich selber hingibt (Freud). 
Und da naturgemäß solche Inzestphantasien und -wünsche Verwirk- 
liehung nie finden können, so fühlen sich regelmäßig solche Kinder 
zu wenig oder gar nicht geliebt, obwohl sie sehr häufig Lieblingskinder 
und vor allen Geschwistern bevorzugt werden. 

Ein glänzendes Beispiel für die Folgen verkehrter Sexualerziehung 
ist auch unser Graf. Von der Pubertät bis zum heutigen Tage heißt der 
schwerste Vorwurf, welchen er gegen seine Mutter erhebt, sie habe ıhm 
die geschlechtliche Aufklärung versagt, ja selbst dort, wo sie sprach, 
ein durchaus falsches Bild gegeben. Und wenn er ihr den heimlichen 
Brief an die Tante, worin sie von seiner Onanie erzählte, besonders 
krumm nimmt, so steckt die Wut über ein anderes Heimlichtun dahinter, 
ihr Verhehlen nämlich der sexuellen Beziehungen zwischen Mann und 
Weib. ‚Was sie eigentlich hätte tun sollen, weiß ich nicht zu sagen“, 
erzählte Patient in der Analyse, ‚allein das Negative empfand ich als 
Unrecht. Drum hab ich mich von ihr nie verstanden gefühlt. Nachher 
habe ich es auch von Vater als unkameradschaftlich angesehen, daß 
er mit mir so gar nicht davon sprach. Erst hätte die Mutter aufklären 
sollen, da sie es nicht tat, dann später der Vater. Ihr machte ich schon 
mit 16 Jahren schwere Vorwürfe, dem Vater erst mit 19, 20, als ich 
vernahm, wie andere Väter ihre Söhne aufklären, ja direkt selber zu 
Dirnen führen. Der Mutter wohl wegen der Masturbation, daß sie mir 
nicht davon geholfen habe, ja mich anfangs sogar noch fälschlich be- 
schuldigte und mir auch obendrein die Vorstellung einpflanzte, der 
Verkehr mit dem Weibe sei etwas Unrechtes‘‘!). 

So wenig Patient in der ganzen Analyse mit der Sprache heraus- 
rückte, was er eigentlich für sexuelle Phantasien auf die Mutter hatte, 
gelegentlich brach doch einiges durch. So erzählte er einmal: ‚Mir 
ist die Geschichte, daß die Mutter sich vom Sohne begatten läßt, nie un- 
geheuerlich erschienen. Bei Hunden z. B. ist das ganz gewöhnlich. 
Als ich mit 13 Jahren im Cornelius Nepos von einem solchen Inzest 
las und daß dies eine ungeheuerliche Schande sei, erschien mir die 
Sache sehr wohl begreiflich. Doch erinnere ich mich nicht, direkte Koitus- 
gedanken auf die Mutter gehabt zu haben.“ —_ „Aber, als sie das nicht 


= Auf die Lehren der Mutter geht auch sein anfänglicher Abscheu vor 
sexueller Betätigung bei den männlichen Geliebten zurück. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 109 


erriet, wurden Sie böse?“ — ‚Ja, das ist richtig. Es kommt bei mir 
sehr häufig vor, daß, wenn man meine heimlichen Gedanken nicht 
errät, ich zornig werde. Das könnte auch bei Mutter gewesen sein. Nur 
war der Gedanke so geheim, daß er mir selbst nicht bewußt wurde.“ 
Daß dies keine bloße Hypothese ist, beweist ein Brief, den ich von ihm 
drei Wochen nach beendeter Analyse erhielt. Da schrieb er nämlich: 
„Ich habe mich in den letzten Tagen in meiner Phantasie auf sexuellen 
Situationen mit meiner Mutter überrascht.‘ Ein Näheres freilich wollte 
er trotz wiederholter Anfragen mir nicht angeben, einfach weil er mit dem 
Mutterkomplex, der erst in die letzten Tiefen hineinführt, in den 
fünf Monaten der Analyse und auch jetzt noch zurückhält. 

Wie wenig die Eltern in der Seele ihrer Kinder zu lesen verstehen, 
sobald Geschlechtliches mit im Spiele ist, beweist nachfolgende Episode 
aus des Grafen 16. Lebensjahre schon nach dem völligen Bruch mit der 
Mutter. Eines Abends ist er tief deprimiert und bricht in heftige Tränen 
aus. Alles sieht er düster, er tauge zu nichts, die Vorwürfe wegen der 
ÖOnanie erwachen. Dabei jedoch läßt er geflissentlich die Türe seines 
Zimmers offen. Wenn der Vater vorbeigehe, solle er ihn weinen hören, 
hereinkommen und ihn liebreich trösten.” Das alles gelingt nun auch 
ganz programmäßig. Allein, da der Vater nach dem Grunde seiner 
Tränen fragt, weiß er nur zu sagen, die Welt erscheine ihm so schwarz, 
er wisse nicht, ob er zu etwas tauge. Kein Wort jedoch von der Mastur- 
bation und seinen anderen sexuellen Nöten. ‚Der Vater sprach mir be- 
ruhigend zu, doch ich hatte das Gefühl, er durchschaut, daß ich Komödie 
spiele. Ich war ja wirklich traurig, aber ich spielte noch viel mehr, 
als ich es wirklich war, nur um Trost zu bekommen. Vielleicht habe 
ich zuerst auch von meiner Onanie zu zprechen gewünscht, doch da 
mit den ersten Worten des Vaters schon die Sorge wegging, unterließ 
ich es dann.“ Trotzdem sich der Vater hier eigentlich ganz korrekt 
benommen, trugihm der Sohn seinen Mangel an intimerer Seelenkenntnis, 
daß er seine sexuellen Nöte nicht durchschaute und sich drum auch 
keine Mühe gab, ihm herauszuhelfen, zeitlebens nach. Er hätte ihn 
damals zu einer vollen Beichte zwingen müssen und ihn dann von der 
Masturbation befreien, indem er ihn selber zum Weibe führte!). Das 


!) Ursprünglich ist da natürlich die eigene Mutter gemeint, bei der er zu- 
sammen mit seinem Vater den primären Dreibund erreichen wollte. Charakteristisch 
ist auch, wie er seine Frau selbst in der Ehe immer dazu verleiten möchte, sich noch 
einen zweiten Verehrer zu nehmen, auf den er dann freilich ganz regelmäßig eifer- 
süchtig würde. 


110 J. Sadger. 


ist der tiefste Grund seines Hasses gegen den Vater, warum er es nicht 
zu einer Versöhnung kommen lassen will. Und bezeichnenderweise 
bricht sein Konflikt mit dem Vater aus und unterdrückt er geflissent- 
lich jede Liebe zu diesem, nachdem er endlich eine Frau gefunden, 
die seiner Geschlechtsnot wenigstens in heterosexueller Beziehung 
für die Dauer abhalf. 

Was er vergeblich vom Vater erhofft, besorgten dann schließlich 
beim Militär seine Kameraden, die ihn zu einer Dirne führten. Recht 
früh, bereits in der Pubertät, quälte ihn der Gedanke, es müsse doch 
eine Norm existieren, wie der Koitus auszuführen sei, ja, er sammelte 
direkt der Kameraden Aussprüche über den Geschlechtsakt. Endlich 
suchte er bis in die jüngste Zeit immer wieder Männern seines 2. Typus 
ihr sexuelles Geheimnis abzulauschen, wie man beim Weibe zum Erfolge 
gelange, wie ein frecher Mensch sich betragen müsse. Bei denen des 
1. Typus jedoch, die, wie wir später vernehmen werden, nach dem eigenen 
Eibenbilde gewählt sind, plagte ihn die Neugier: wie stellt sich für diesen 
die sexuelle Frage, ist sein Geschlechtsleben schon erwacht? Daß er 
endlich bei Prostituierten landete und von ihnen wirkliche Hilfe bekam, 
ist durchaus begreiflich. Wenn er stets sexuelle Aufklärung wünschte 
und direkte Anleitung zum Verkehr, wer hätte ihn besser unterrichten 
können? Mit Dirnen konnte er jederzeit über Erotisches sprechen, 
ihnen alle sexuellen Nöte klagen, und es ist bezeichnend, daß er in 
seinen Depressionszeiten immer wieder hinging, auch wenn er gar nicht 
verkehren mochte. Ihm genügte, mit der Dirne zu reden und sich von 
ihr Trost zusprechen zu lassen — beides vermutlich ursprüngliche 
Wunschphantasien auf die Mutter — damit ‚seine Unruhe und Ner- 
vosität weggehe‘. Natürlich bekommt er da auch gar nie eine Erektion, 
so wenig wie bei der eigenen Mutter. Immer wußte er auch Prostituierte 
zu finden, die mindestens taten, als liebten sie ihn um seiner selber willen. 
In jeder der vielen, die er aufsuchte, besonders jedoch in seiner Frau, 
kehren deutlich die Züge der Mutter wieder, ansonsten waren sie für 
ihn unbrauchbar. Von einer der Dirnen verlangt er geradezu, sie möge 
aktiv sein Membrum einführen und die noch nötigen Bewegungen 
machen, während er selber ganz ruhig bleibe, ein Vorgehen, das er 
vermutlich ursprünglich in seinen Phantasien von der Mutter begehrt 
hatte. Am besten jedoch verkörpert die Frau sein Mutterideal, teils 
wie sie wirklich und in seiner Phantasie gewesen, teils wie er sie ver- 
klärend geschaut. Schon als Dirne hatte ihn jene bevorzugt, obwohl 
er ihr gar nichts zu bieten vermochte, ihn also um seiner selbst willen 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 111 


geliebt, und alles getan, was er sich ersehnte. Obendrein war sie in er- 
wünschtem Gegensatze zu seiner Mutter stets geschmackvoll gekleidet 
und liebenswürdig, von starkem Rechtsgefühl und stillem Wesen. 
Nur eine Dirne endlich vermochte es über ihn davon zu tragen. Eine 
solche wäre ja auch seine Mutter selber gewesen, hätte sie nebst dem 
Vater auch ihn zu ihrem Geliebten erklärt, und sowie die Mutter vermag 
er die Frau nur mit einem zu teilen, in welchen er verliebt ist, wie schon 
als Kind und primo loco in seinen Vater. 


Neue Beiträge zur Theorie der Homosexualität. 


Die dauernde Neigung zum eigenen Geschlecht tritt in der 
Regel und jedenfalls am stärksten in der Pubertät zutage, frühestens 
in der Vorpubertät, für unsere Breiten also mit 10 oder 11 Jahren. 
Ein mitunter vermeldeter früherer Beginn steht jedenfalls vereinzelt 
und hat seine ganz besonderen Gründe. Ausgelöst wird das ständige 
homosexuelle Empfinden gewöhnlich durch ein bedeutsames Ereignis, 
das die Mutter von Ihrer bisherigen Rolle der idealen Helferin, Lehrerin 
und Erzieherin für immer oder mindestens lange verdrängte. Solche 
Zufälle sind z. B. ihr Tod oder schwere, vielleicht auch entstellende 
Krankheit, ein Vermögenskrach mit folgender schwerer Neurose, 
die zum Aufenthalt im Sanatorium zwingt, eine unzweckmäßige Ver- 
folgung des Sohnes wegen Onanie und dergleichen Dinge. Wem dann 
der werdende Homosexuelle sich in Liebe zuwendet, hängt wieder von 
äußeren Umständen ab. In selteneren Fällen dem Vater oder älteren 
Männern, am häufigsten gleichaltrigen oder etwas älteren Kameraden, 
die ıhn jetzt in die Liebe tatsächlich einführen, wie er es früher von der 
Mutter erhofft. Bezeichnend ist auch, daß in den homosexuellen Idealen 
neben den Zügen der bisher hetero- wie homosexuell Geliebten!) auch die 
eigene Person ganz deutlich in den Vordergrund tritt und In einer 
Reihe von Eigentümlichkeiten unzweifelhaft Verwendung findet. Es liegt 
recht nahe, hier an die liebende Bewunderung zu denken, die die Mutter 
einst ihrem Knaben schenkte?). Er flüchtet dann einfach von der jetzt 
so wenig liebreichen Mutter zu der, die ihn einst so heiß geliebt. 

Wir sind hier bei einem ganz neuen Punkte, der für die Genese 
der Inversion mir entscheidend dünkt: der Weg zur Homosexuali- 

1) Vgl. hiezu meine frühere Arbeit ‚Zur Ätiologie der konträren Sexual- 
empfindung“ 1. c. 

2) Ich spreche hier nur vom männlichen Urning, weilAnalysen von Urninden 


noch nicht vorliegen. Ich selber weiß von letzteren nur einzelne leicht auflösbare 
Züge. 


112 J. Sadger. 


tät führt nämlich stets über den Narzismus, d. h. die Liebe 
zum eigenen Ich. Das konnte ich in all’ meinen Fällen nachweisen 
und auch Freud hat mir dies über meine Frage von seinen Urningen 
bestätigen können. Der Narzismus ist nun nicht etwa ein vereinzeltes 
Phänomen, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe beim Über- 
gang vom Autoerotismus zur späteren Objektliebe. Die Verliebtheit 
in die eigene Person, hinter welcher sich die in die eigenen Genitalien 
birgt, ist ein nie fehlendes Entwicklungsstadium. Von da erst geht man 
später zu ähnlichen Objekten über. Der Mensch hat allgemein zwei 
primäre, ursprüngliche Sexualobjekte und sein weiteres Leben hängt 
davon ab, ob und bei welchem er schließlich fixiert bleibt. Für den 
Mann sind diese beiden Objekte die Mutter (beziehungsweise erste 
Pflegerin) und die eigene Person. Um gesund zu bleiben, muß er beide 
los werden, bei ihnen nicht allzu lange verweilen. Nur kurze Zeit wird 
die eigene Person durch den Vater ersetzt, weil dieser als primärer 
Rivale bei der Mutter bald wieder in feindliche Stellung einrückt. 
Hier zweigt die Inversion dann ab und man wählt sich die neuen Sexual- 
objekte nach dem eigenen Vorbilde, dem wirklichen, wie dem idealı- 
sierten. Der Urning kommt von sich selber nicht los, das ist sein Ver- 
hängnis. Viel besser gelingt ihm die Lösung von der Mutter. Diese kann 
er verdrängen, indem er mit ihr sich identifiziert, wie wir von den Psycho- 
neurosen her wissen. Mit der Liebe zur Mutter verdrängt er auch die 
Liebe zum weiblichen Geschlechte überhaupt aus einem durchsichtigen 
Gedankengange: wenn schon die beste unter allen Frauen so wenig 
taugt, meine eigene Mutter, wie sollte eine andere bestehen können?!). 

Daß aber der Urning sich mit seiner Mutter identifiziert, ist an zahl- 
reichen Zügen gut nachzuweisen. Am deutlichsten daran, daß er so gern 
den Geliebten zu belehren trachtet, nicht selten über Dinge, die diesen 
überhaupt nicht interessieren. So wollte z. B. unser Graf seinem Kellner 
Geologie vortragen und ihn in Kunstgeschichte unterweisen. Auch 
was jeder Urning von seiner Mutter einst brennend ersehnte, Belehrung 
in sexuellen Dingen, verlangt er, dem Geliebten später zu geben. Wenn 
die Invertierten die Reinheit ihres Tuns betonen, daß sie meist den 
Freund nur ansehen und bewundern wollen oder höchstens ihn streicheln, 
liebend umfassen und herzlich abküssen, Grobsinnliches aber ihnen 


!) Nicht selten kommt es kurz vor der definitiven Ablösung zu einer per- 
turbatio procritica, einem besonders starken Auflodern derLiebe, d.h. es gehen der 
Abwendung von der Mutter und Hinneigung zu Freunden sehr lebhafte Eifersuchts- 
regungen voraus, da die Mutter einen anderen Jungen lobte. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 113 


ferne liege, so ist dies zuÄAnfang gemeinhin auch wahr. Sind das ja 
nichts anderes als die Liebesäußerungen seiner Mutter in des Urnings 
frühesten, glücklichsten Tagen. Allerdings kommt es später doch immer 
zu grellerer Betätigung der Sinnlichkeit, wie es nun einmal unvermeidlich 
ist. Der Urning spielt da gewöhnlich das Weib, so den Mann verführt, 
mit andern Worten, die phantasierte Mutter, auch nach der Ablösung 
sich noch immer mit ihr identifizierend. Ist’s doch ein unsterblicher 
Wunsch jedes Knaben, die Mutter möge ihn ins sexuelle Leben ein- 
führen, am liebsten natürlich an ihrem eigenen Leibet). 


Ganz kurz noch einige ergänzende Bemerkungen. Die meisten 
Urninge sind einzige Kinder oder einzige Söhne und erfahren darum 
besondere Zärtlichkeit von ihren Müttern und gewöhnlich auch den 
anderen Hausgenossen. Das ist nun keineswegs ein Glück zu heißen, 
schon weil es die Kinder in ihrem Liebesverlangen ganz unersättlich 
macht und nach der spätern Ablösung von der Mutter derenGeschlecht 
in toto verwerfen läßt. Auch kann man rein erfahrungsgemäß die Regel 
aufstellen, daß Aufwachsen in einer bloß weiblichen Umgebung (der 
Vater kommt hier nicht in Betracht) für beide Geschlechter, Knaben 
und Mädchen, die Inversion befördert. Der Mann wird dadurch zum 
Manne hingedrängt, das Weib zum Weibe. Woran dies liegt, vermag 
ich nicht zu sagen, nur die Tatsache selbst ist sicher zu belegen. Beim 
Knaben könnte man sich schließlich denken, der Mangel an Kameraden 


1) Hier seien ganz kurz die verschiedenen Wünsche des Grafen resumiert 
mit den entsprechenden infantilen Wurzeln. Er will dem Kellner die Hoden 
streicheln, indem er von hinten und unten greift, sowie es Mutter und Kinder- 
mädchen ihm selber einst taten. Die Hoden dürfen nicht hängen oder schlaff 
sein, wie er es so lange mit Leid an sich selber beobachtet hatte. Das Umfassen 
der Schultern und kräftiger, gewölbter Muskelbäuche ist von den Brüsten der 
Mutter verschoben. Die beim Geliebten erwünschten Augen sind direkt seine 
eigenen, teilweise auch, wie er einmal ergänzte, die der jüngeren Schwester. Das 
Streichen über Schultern, Brust und Rücken geht auch darauf zurück, daß das 
Kindermädchen ihn so nach dem täglichen Morgenbade abtrocknete. Dies Streicheln 
verlangte er später auch von andern Frauen. Die Bedeutung der Brustwarzen 
bei einem seiner Erstgeliebten erklärt sich aus der Erinnerung an seine Mutter, 
das Verlangen, päderastiert zu werden, aus den Lavements und den rectalen Tem- 
peraturmessungen. Wenn er sich mit 23 Jahren in einen Museumskameraden 
verliebt, der die gleichen Ideen, die gleichen Interessen besitzt wie er und ebenso 
vornehmlich die Augen benutzt, so ist dies einfach Verliebtheit in sich selbst. 
Desgleichen liebt er in den Kameraden beim Militär und auch späterhin immer 
wesentlich sich selber mit einigen Zügen, die von weiblichen Sexualobjekten 
übernommen. 


Jahrbuch für psychoanalyt, u. psychopathol. Forschungen. I. 8 


114 J. Sadger. 


lasse ihn solche dann doppelt ersehnen, beim Weibe jedoch weiß ich 
Erklärung überhaupt nicht zu geben. 

Um zusammenzufassen, was meine psycho-analytischen Unter- 
suchungen über die Inversion zutage gefördert, so fand ich zunächst 
all’ jenes bestätigt, das ich schon in einer früheren Arbeit („Zur Ätiologie 
der konträren Sexualempfindung“ 1. c.) angeführt habe. Als neue Er- 
kenntnis, allerdings bloß an männlichen Homosexuellen gewonnen, 
kann ich nachfolgende Thesen aufstellen: 

1. Der Urning leidet an der Abkehr von der Mutter (beziehungs- 
weise ersten Pflegerin), ${in deren Liebe er sich schwer getäuscht 
fühlt. Er verdrängt die Mutter, indem er sich mit ihr identifiziert. Eine 
Reihe typischer Inversionszüge geht auf diese Identifikation zurück, 
vor allem die harmlosen Liebesäußerungen, sowie das Bestreben, den 
Geliebten zu belehren und zu unterweisen. 

2. Der Weg zur Homosexualität führt über den Narzismus, d.h. 
die Liebe zu sich selbst, wie man tatsächlich war, oder, idealisiert, 
gern gewesen wäre. | 

3. Im Sexualideal des Invertierten finden sich nicht nur Züge 
früherer weiblicher und männlicher Sexualobjekte, sondern noch 
vielmehr des eigenen geliebten Ichs. 

4. Aufwachsen. ausschließlich in weiblicher Umgebung — der 
Vater kommt hier nicht in Betracht — befördert die Homosexualität 
beim Manne wie beim Weibe aus Gründen, die noch nicht genügend 
bekannt sind. Zudem sind Urninge meist einzige Kinder oder einzige 
Söhne, mit aller Verzärtelung, welche diesen zukommt. 

5. Unterstützt wird endlich die Inversion durch den ‚‚nach- 
träglichen Gehorsam‘ gegen die Worte der Mutter, was wieder an 
die mangelnde sexuelle Aufklärung, ja Abhaltung von allem Geschlecht- 
lichen anknüpft. Ich fand nicht selten, daß die Mutter frühzeitig ihren 
Kindern — dies scheint für Knaben wie für Mädchen zu gelten — 
einen selbst ganz harmlosen, doch freundschaftlicheren Verkehr mit dem 
andern Geschlechte als etwas Unrechtes und Anstößiges hinstellte, 
was in leider nur zu buchstäblichem, spätern Gehorsam die Neigung 
zum eigenen Geschlechte verstärkt. 


Theoretisches über den ganzen Fall. 


Ich habe bisher die Perversionen des Grafen verfolgt, die man 
zusammenfassend als Fall von Infantilismus bezeichnen könnte. Schon 
äußerlich wies der 32jährige Mann ganz deutlich die Gesichtszüge eines 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 115 


Kindes auf. Die verschiedenen Äußerungen seines Geschlechtstriebes 
zeigen eminent infantilen Charakter. Das Kind ist ja nach dem treffenden 
Ausspruch Professor Freuds ‚„polymorph pervers‘. Das ist nun genau 
das Bild unseres Grafen, der eigentlich äußerst wenig sublimierte und 
im Grunde dasselbe Schwein geblieben, welches er als Kind physiologisch 
war. Ausdrücklich anzumerken ist, daß er seine Perversionen durchaus 
nicht etwa als abnorm empfand und sie auch keineswegs aufgeben 
mochte, Selbst die Homosexualität, welche ihn in Konflikt mit dem 
Strafgesetz zu bringen drohte, hat ihn subjektiv nicht sehr gestört, 
Solcher Infantilismus der Perversionen ist in regierenden Häusern, 
dem höheren Adel und in alten durch Unzucht stark degenerierten 
Patrizierfamilien keine große Seltenheit. Doch gelangen sie nur wenig 
zur Kenntnis des Arztes, weil solche Menschen, wenn sie nicht just im 
puncto Inversion das Zuchthaus streifen, keinen rechten Impuls haben, 
anders zu werden. 

Wir sind gewohnt, daß die Perversionen irgendwo in die Neurose 
umschlagen. Das ist auch bei unserm Patienten der Fall, der außer an 
Dysuria psychica, die ihn nur wenig belästigt, noch an 


Pseudoepileptischen Zuständen 


leidet. Epileptoide Anfälle, worunter Ohnmachten und kleine Ab- 
senzen zu begreifen sind, bekam er — ich folge da seinen frühesten 
Angaben — zum ersten Male mit 16 Jahren, dann wiederholt bis zum 
18., das Militärjahr war frei bis auf einen eigenartigen hysterischen 
Anfall, von dem ich später noch reden werde; weiterhin traten sie be- 
sonders häufig im ersten Universitätsjahre auf nach übermäßigem 
Alkoholgenuß, doch auch in der späteren Universitätszeit, als er zu 
saufen schon aufgehört hatte; endlich, wiewohl viel seltener, in den 
letzten 6 bis 7 Jahren, seitdem er am Museum arbeitet, das jüngste 
Mal vor 5 bis 6 Monaten. Von den ersten Anfällen, die angeblich nach 
Überanstrengung im Gymnasium sowie bei mathematischen Klausur- 
arbeiten kamen, berichtete er zu Anfang Folgendes: „Es wurde mir 
finster vor den Augen und ich fiel zu Boden, war aber nur kurze Zeit 
bewußtlos. Nach dem Erwachen sah ich zuerst das Licht, dann die 
Kameraden, aber alles drehte sich vor mir. Es war eigentlich ein 
sehr angenehmes Gefühl, wenn man bewußtlos wurde, man 
fühlte sich so beruhigt, wie wenn man schön einschläft. Ich 
konnte es auch bei starken gymnastischen Übungen bekommen, wenn 
ich Hantel hochstemmte, daß ich zusammenstürzte und das Bewußsein 
8* 


116 J. Sadger. 


verlor“. Bald kamen spezialisiertere Angaben. Die erste Attaque kam 
bei einer mathematischen Klausurarbeit, die von 8 bis 1 Uhr währte, 
und zwar gegen Ende dieser Zeit, als er merkte, die Sache gehe schief. 
„Plötzlich begann ich zu taumeln, ein Kamerad und der Lehrer sprangen 
herzu, hielten mich, damit ich nicht falle, und reichten mir Wasser, 
worauf ich rasch wieder zu Bewußtsein kam. Vorher merkte ich gar 
nicht, daß ich das Bewußtsein verlieren werde. In der nachträglichen 
Erinnerung erscheint es mir wie ein ruhiges Einschlafen. Mehr weiß 
ich von diesem ersten Mal nicht zu sagen, wohl aber von den Ohn- 
machten bei den gymnastischen Übungen. Damals war auch ein Ka- 
merad bei mir, in den ich ein wenig verliebt war. Ich machte diese 
Übungen und fiel dabei zusammen. Er stürzte auf mich zu und legte 
mich auf das Sofa. Alles drehte sich vor meinen Augen, aber ich war 
ganz klar dabei und hatte volles Bewußtsein. Das Ganze währte nur 
wenige Sekunden, nachher fühlte ich mich auch ganz gesund und ging 
mit ihm fort.“ 

Hier tritt uns bereits ein ganz merkwürdiger Zug entgegen. Konnte 
man bei der Klausurabsenze noch daran denken, sein Unbewußtes 
habe sie darum produziert, um einem Nichtgenügend zu entgehen, 
so fiel dieser Grund hier vollständig weg. Dafür aber zeigte sich ein 
homosexuelles Leitmotiv, von einem geliebten Kameraden aufgefangen 
und in die Arme genommen zu werden. Es stellte sich gar bald heraus, 
daß solche homosexuelle Motive bewußt oder unbewußt auch seinen 
früheren Anfällen nicht fehlten. Zunächst bemerkte er in einer späteren 
Sitzung, daß nur die beiden ersten Ohnmachten aus Anlaß mathe- 
matischer Klausurarbeiten, die er auch rasch nacheinander produzierte, 
von selber kamen; später rief er sie mindestens zweimal absichtlich 
hervor, weil die Sache schief ging. Man hatte ihm gesagt, die früheren 
echten Absenzen seien gekommen, als er vornüber gebeugt schrieb und 
sich dann aufrichtete. Also probierte er jetzt in der Verlegenheit, ob 
sie nicht künstlich zu erzeugen wären, stemmte die Schultern zurück 
und die Brust heraus, weil er derart das Blut in den Kopf heraufzupressen 
vermeinte, und richtig gelang es ihm, eine Absenze so künstlich zu er- 
zeugen. Neben diesem eingestandenen Grunde war sicher noch ein 
zweites Motiv vorherrschend, wie er selber angibt: er war in den Mathe- 
matikprofessor verliebt. Von diesem hatte er bei der ersten Ohnmacht 
viel Liebe erfahren. „Er trug mich aus der Klasse, nahm seinen eigenen 
Dessel für mich heraus und flößte mir Wasser ein. Deshalb vermutlich 
produzierte ich gerade bei ihm die Absenze, um das wieder zu 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 117 


erleben!).‘“ Das Ganze währte nicht einmal eine Minute und er hatte den 
Eindruck, daß seine Kameraden gar nicht an die Echtheit dieser 
Ohnmachten glaubten, schon deshalb, weil sie einzig und immer bloß 
bei der mathematischen Klausurarbeit kamen. 


Das Militärjahr 


war, wie wir oben hörten, von Ohnmachten frei. Hingegen erlebte unser 
Patient dazumal einen als ‚„Gehirnentzündung‘ diagnostizierten 
Zustand, der seinen Abschied vom Militär nach sich zog. Voraus- 
zuschicken wäre, daß er schon früher, zwischen 13 und 15, wenn er sich 
schuldbewußt fühlte, z. B. wegen Onanie oder schlechter Schulnoten 
und darum deprimiert war, am Abend einen griechischen Wahnsinnigen 
mimte. Hiezu drapierte er sich mit dem Bettlaken, wobei er Schultern 
und Arme freiließ — also ähnlich wie damals, da er Negerweib spielte, 
und aus analogen sexuellen Motiven — und machte sich aus Papier 
zwei Flöten, auf welchen er blies. „Einen Toren habe ich deshalb ge- 
mimt, weil ich wußte, daß Geisteskranke meinen, sie wären Könige 
oder große Männer, außerdem sind sie noch unverantwortlich, mich 
konnte also keine Schuld mehr treffen. Doch spielte ich das nur für 
mich selbst, in einer erträumten Welt. Beim Militär führte ich nun 
einmal eine andere Komödie auf. Eines Sonntags hatte ich Kasern- 
arrest und während die andern in die Stadt zu Weibern gingen, mußte 
ich mit einem Kameraden, den ich nicht leiden mochte, allein in der 
Kaserne bleiben. Obendrein masturbierte ich zu jener Zeit viel weniger, 
was mein sexuelles Verlangen natürlich noch steigerte. Wenn man mit 
vielen Kameraden zusammen ist, die man gut leiden mag, spürt man 
das nicht so. Wir saßen also beide zusammen und er wollte sich mit 
mir unterhalten. Ich aber spürte eine gewisse Gereiztheit gegen ıhn 
und ein Gefühl von Spannung vorn an der Stirne. Alles erschien mir 
so unerträglich und, da der Mond hereinschien, erinnerte ich mich, 
daß er eine gewisse Rolle beim Ausbruche von Seelenkrankheiten 
spielen soll, und mir kam der Einfall, Wahnsinn zu mimen. Ich wußte 
ganz klar, daß ich nur Komödie spielte, konnte es aber nicht hindern. 
Mein Gehirn war gespannt, ich war sehr nervös, empfindlicher für alles 
und so deutete ich mit der Hand auf den Mond und sagte etwas ganz 


1) Man begreift auch sehr gut das angenehme und beruhigte Gefühl, wenn 
er so bewußtlos wurde. Dahinter steckt vermutlich das nämliche Gefühl, wenn er 
ganz klein von der Mutter, Amme oder Kindermädchen auf den Armen getragen 
und in Schlaf gewiegt wurde. 


118 J. Sadger. 


Unverständliches. Dann nahm mich das Spiel gefangen und ich wußte 
nicht mehr, was ich tat. Zuerst sah ich noch ganz gut, wasich machte, 
konnte mich aber selbst nicht beherrschen. Ich habe dem Kameraden 
Angst eingeflößt, indem ich sinnlose Worte ausstieß. Er lief um den 
Unteroffizier, ich ihm nach in den Korridor, wo ich meinen Säbel ergriff, 
und als dann beide zurückkamen, hieb ich zuerst auf ihn los, hierauf, 
als sie zusperrten, mit dem Säbel auf die Türe. Dann kam noch mehreres 
dazu, was ich nicht mehr erinnere, endlich floh ich in mein Zimmer 
unter das Bett und man wagte nicht, sich mir zu nähern. Ich lag ganz 
still unten, allmählich aber verließen mich meine Kräfte, ich ließ meinen 
Säbel fallen und so zog man mich hervor und brachte mich zu Bette. 
Ich lag wie ein Toter, mein Körper war ganz steif. Ich hatte zwar das 
Bewußtsein, lag aber da wie bewußtlos. Ich hörte gut, was man sagte, 
konnte aber oder wollte nicht antworten, ich weiß nicht recht was, 
und man versuchte, mich auf alle mögliche Weise zu beruhigen. Ein 
kleiner Trompeter saß neben mir und hielt meine Hand, die die seinige 
so kräftig umklammerte, daß er sie nicht losbringen konnte, was vielleicht 
eine ganze Stunde währte. Darnach war ich so müde, daß ich wirklich 
das Bewußtsein verlor. Man brachte mich ins Lazarett, wo ich erst am 
folgenden Nachmittag um 2 Uhr erwachte, ungeheuer müde und kraft- 
los, so daß ich nicht einmal dem besuchenden Vater antworten konnte. 
Ich blieb drei Tage im Bette, machte eine Bromkalikur und so endete 
meine militärische Laufbahn.“ 

Aus dieser Schilderung erhellt ganz deutlich, wie er zu Anfang 
mit vollem Bewußtsein Komödie spielt, allmählich aber dann das Un- 
bewußte die Herrschaft an sich reißt und das Bewußte willenlos folgt. 
Bezeichnend ist der Satz: ‚Ich wußte ganz klar, daß ich nur Komödie 
spiele, ich konnte es aber nicht hindern.“ Ebenso spielte er zuerst 
den Bewußtlosen, bis er es schließlich tatsächlich wurde. Auslösendes 
Motiv für den ganzen Anfall war mangelnde homosexuelle Befriedigung, 
ja, mehr noch geradezu Widerwillen gegen den einzigen, der sich ihm 
bot. In einem späteren Nachtrag bemerkte er hiezu: ‚Ich war in der 
Militärzeit furchtbar adelsstolz, zumal wenn ich getrunken hatte. 
Jener Kamerad war nun der einzige Nichtadelige und es war mir furcht- 
bar, gerade mit ihm allein sein zu müssen. Außerdem war er der einzige 
Kamerad, der mich noch vom Gymnasium her kannte“. In der Schule 
war der Graf in diesen auch verliebt gewesen, beziehungsweise in seine 
Kraft, doch ohne Gegenneigung zu finden. Ja, als er einmal Anschluß 
zu einem Dreibund suchte, wurde er direkt zurückgewiesen. Beim 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 119 


Militär nun mochte er ihn gar nicht mehr leiden, um so minder, als jener, 
ein ungewöhnlich intelligenter Offizier, dabei bürgerlich war und oben- 
drein damals mit einer Gonorrhoe behaftet, was wieder bewies, daß er 


schon mit Weibern verkehrt haben mußte, ein Grund des Neides für 
die Kameraden. “r. 


Alkoholintoleranz und alkoholische Dämmerzustände. 


Im ersten Jahre der Universität verkehrte Patient nur mit reichen 
Kameraden, mit denen er sich einem wüsten Studentenleben hingab, 
das ıhn zum Säufer zu machen drohte. Obendrein zeigte er als echter 
Schwerbelasteter eine ausgesprochene Alkoholintoleranz mit Neigung 
zum Bewußtseinsverlust. Zumal wenn er den ersten Becher schnell ex 
getrunken, verlor er es rasch. Er konnte da freilich mit den Kameraden 
noch weiter Hazard spielen, wozu es ja keines Nachdenkens bedurfte, 
oder auch von einem zum andern gehn, um Punsch zu trinken, so daß 
diese nicht das Geringste merkten. Nur trieb er dies, wie er selber angibt, 
ganz automatisch, ohne sich dessen bewußt zu werden, und hatte 
auch nachher nicht die geringste Erinnerung daran, so daß er es nur aus 
den Erzählungen der Kameraden weiß. Er vermochte sogar eine Rede 
zu halten, ohne davon nachträglich überhaupt zu wissen. Doch bekam 
er diese Dämmerzustände bloß, sobald er das erste Glas rasch in einem 
Zuge leerte, auch verlor er das Bewußtsein nicht auf der Stelle, erst ein 
Weilchen später. Hatte er zu Anfang nur wenig getrunken, und erst 
nach und nach mehr, so wurde er überhaupt nicht benebelt. Merkwürdig 
war, daß die andern gar nicht merkten, er sei nicht mehr bei sich. Sie 
liebten es auch, ihm im Übermaß zu trinken zu geben, weil er dann 
sehr lustig wurde, viele Dummheiten machte, tanzte, sang, über den 
Tisch setzte, ja, sogar auf das Dach des Hauses kletterte und von dort 
auf ein Nachbardach sprang!). Solcher Dämmerzustände dürfte es 
in jenem Jahre etwa 5 bis 7 gegeben haben. Gewöhnlich wurde er zum 


1) Schon als Knabe von 5 Jahren liebte er es, sich von Erwachsenen auf 
die Schultern heben zu lassen und so höher zu stehen als alle andern, zumal den 
Schwestern überlegen zu sein. So tat er selbst mit 10 Jahren noch gern. Noch 
später liebte er auf Dächer, hohe Berge oder Bäume zu steigen. In der Universitäts- 
zeit trieb er seine Studien am liebsten am Dach, angeblich weil er da ganz allein 
sei und mehr Freiheit als im Zimmer hätte. Als weitere Erklärung führt er noch 
an, daß er gern an Erwachsenen, namentlich an Kindermädchen hinaufkletterte, 
von anderen wieder, die ihm zu groß waren, wie der Vater, ließ er sich heben. Ähn- 
liche unbewußt-sexuelle Motive homo- wie heterosexueller Art dürften auch dem 
Hinaufsteigen auf die Dächer bei der Mondsucht zugrunde liegen. 


120 J. Sadger. 


Schlusse von Kameraden nach Hause gebracht, was ihm als Liebes- 
beweis besonders wohl tat, entkleidete sich aber immer selbst. Am 
nächsten Morgen war er wieder ganz klar, erinnerte jedoch von den 
Vorfällen des vergangenen Abends stets nur den Anfang, etwa die erste 
halbe oder Dreiviertelstunde, dann kam ein Moment, wo es plötzlich 
abschnitt. ‚Ich habe große Anstrengungen gemacht, mir das Spätere 
zurückzurufen, doch gelang es mir nie. Ebensowenig half es, wenn 
man mich durch Erzählen darauf führen wollte, ich konnte mich absolut 
nicht erinnern.“ 

Nicht lange, so stellte sich heraus, daß diese alkoholischen Dämmer- 
zustände im ersten Universitätsjahre ıhre Vorläufer in der Militärzeit 
hatten. Da liebten es die älteren Kameraden nämlich, ihn mit Wein 
besoffen zu machen, weil er nicht trinken mochte und Widerstand 
leistete. Sie zwangen ihn, mit jedem von ihnen ein Glas zu leeren, 
worauf er bezecht war und erbrach, ohne doch das Bewußtsein ein- 
zubüßen. „Einmal nur gab man mir ein volles Glas Whisky ohne Wasser- 
zusatz, worauf ich die Besinnung verlor und alles austrank, was ich 
erblickte, die ganze Flasche Whisky. Trotzdem begab ich mich noch 
allein zu Bett, wie man mir nachträglich erzählte. Eın Kamerad folgte 
mir und sagte: ‚Dort kommt ein Offizier!! worauf ich automatisch 
salutierte, ohne etwas von mir zu wissen.‘ Als ich einwendete, es sel 
doch sonderbar, daß er sich im Zustande der Bewußtlosigkeit ins Bett 
gelegt habe, statt wie sonst ein Besoffener unter den Tisch zu fallen, 
das scheine einen sexuellen Sinn zu haben, entgegnete er, für den Ka- 
detten sei das Bett das einzige Territorium, welches er beherrsche, 
ıhm dünke, er sei in sein eigenes Territorium geflohn. 

Die verschiedenen Sorten von Alkohol wirkten auch direkt auf 
seine Sexualität, was ein wichtiges Motiv für sein Trinken abgab. 
Kognak z. B. dämpfte sein Verlangen, zumal mit 23, 24 Jahren, da er 
sehr darunter litt. Das einzige Gedicht in seinem Leben schrieb er auf 
den Kognak, weil dieser ihn vom Weibe befreite. Hingegen verstärkte 
etwas später mäßiger Punsch- und Whiskygenuß sein Verlangen nach 
diesem, während große Quantitäten oder wenn er vom Punsch das 
erste Glas rasch hinuntergegossen, fünf Jahre zuvor die Dämmer- 
zustände herbeigeführt hatten. 

Zum Schlusse noch eine wichtige Beziehung des Alkohols zu 
sexuellen Perversionen. In der Gymnasialzeit pflegte Patient im Sommer 
eine Unmenge schwarzer Kirschen und Beeren zu vertilgen, oft mehrere 
Liter täglich. „Ich nahm die Hand da immer ganz voll und schluckte alles 


Ein Fall von multipler Peryersion mit hysterischen Absenzen. 121 


auf einmal herunter. Mich dünkte das etwas Symbolisches zu sein, 
denn es schmeckte ja nicht mehr. Es könnte dasselbe sein, wie daß 
ich später soviel trank, und das auch immer mit vollem Munde, besonders 
lichten Punsch und eine Unmenge leichten schwarzen Bieres. Eigen- 
tümlich war, daß mir das Verlangen nach dem schwarzen Biere immer 
um die nämliche Stunde kam (11 Uhr vormittags) und daß ich selber 
in den Keller ging, es mir zu holen. Das Bier war eigentlich für die 
Dienerschaft bestimmt, das Kindermädcehen und die anderen. Und es 
muß eine symbolische Bedeutung gehabt haben, denn ich hatte sonst 
gar keinen Durst. In den letzten Jahren trank ich keinen Alkohol mehr, 
sondern um 7 Uhr große Gläser Limonade. Ich wünschte eigentlich 
einen Mundvoll Flüssigkeit hinunterzuschlucken. Die schwarzen Früchte 
bedeuteten wahrscheinlich Kot, die Flüssigkeitsmengen Jauche aus dem 
Kuhstalle, die aufgepumpt wurde und die wir mit demselben Namen 
belegten wie das Bier.‘ Also eine förmliche Uro- und Koprophilie. 
Aber auch die Stunden seiner Dipsomanie sind nicht belanglos. „11 Uhr 
ist die Klosettstunde von Vater und Mutter nach dem zweiten Frühstück. 
Ich selber liebte ferner in Gläser zu urinieren, wodurch es noch wahr- 
scheinlicher wird, daß der lichte Punsch Urin bedeutet. Ich habe also 
eigentlich Urin getrunken!). Ein solcher ist auch die Limonade, deren 
täglichen Genuß ich mir von meinem jetzigen Chef angewöhnte, in den 
ich verliebt war. 7 Uhr war die Zeit, wo auch mein Vater Punsch trank. 
Ich bemerke noch, daß ich um 14 Jahre herum, als ich alles auf seinen 
Geschmack hin prüfte, auch Urin und Kot schmeckte.“ 

Fassen wir alles über den Alkohol Gesagte nochmals zusammen, 
so liegt zunächst der Intoleranz gegen geistige Getränke sicher eine 
Disposition zugrunde auf dem Fundament einer schweren Belastung. 
Daneben jedoch spielt, wie ich bereits bei des Kranken Schwermut 
und Zornmütigkeit nachwies, das Sexuelle eine wesentlich mit- 
bestimmende, ja geradezu meist die auslösende Rolle. Er trinkt, um 
den Drang nach dem Weibe zu dämpfen, und gibt sich Exzessen aus 
homosexuellen Gründen hin. Boten doch letztere die erwünschte Ge- 
legenheit, sich vor geliebten Kameraden zu produzieren, dann von ihnen 
nach Hause geleiten zu lassen, was sicher ein starker Liebesbeweis, 
und endlich sogar sich vor ihnen vollständig ausziehen zu können. 
Er trank dann obendrein nicht selten ohne Durst und Genuß, nur um 


1) Eine Nachtragserinnerung vom 142. Analysentage: „Wenn ich in der 
Museumszeit deutsches Bier trank, schien es mir wie Urin zu schmecken und ich 
schickte es unter dem Vorwande zurück, es sei ein schlechtes Bier.‘ 


122 J. Sadger. 


große Quantitäten einer Flüssigkeit zu schlucken, die ihm den Urin 
geliebter Personen symbolisierte. 

Wir haben die epileptoiden Zustände bis zum ersten Universitäts- 
jahre verfolgt. Ich hätte nun jene anzuschließen, die in 


den letzten Jahren der Hochschule und in der Museumszeit 


sich abspielten. Die ersteren bekam er beim Studieren zu Hause ge- 
wöhnlich jeden 2. oder 3. Tag zwischen 1 und 2 Uhr nachmittags. Es 
währte stets nur ein paar Sekunden, daß er ganz geistesabwesend war, 
was er darum mit Sicherheit feststellen konnte, weil er mit der Uhr vor 
sich studierte. Wenn er ein langes Wort las, konnte der Anfall mitten 
im Worte einsetzen und, wieder zu sich gekommen, fuhr Patient in der 
zweiten Worthälfte fort, als ob nichts geschehen. Die andern merkten 
nie etwas davon. Als Ursache könnte er höchstens etwa den Hunger 
angeben, weil er gewohnt war, um 2 Uhr Tee mit Butterbrot zu nehmen. 
Kamen diese Absenzen, dann fühlte er sich gar nicht wohl, nach dem 
Essen aber, das ihm eine alte Zimmerfrau brachte, um vieles besser. 
Auf diese Anfälle, die zu analysieren sich mir die Gelegenheit nicht mehr 
bot, will ich aus diesem Grunde nicht eingehen. 

Durchsichtiger sind die Attaquen der Museumszeit, die weniger 
regelmäßig kamen und auch viel seltener, dafür aber bis in die Gegen- 
wart reichen. Ich will dieselben nicht mehr der zeitlichen Folge nach 
ordnen, sondern nach der Klarheit und Verständlichkeit. Ich beginne 
zunächst mit den kurzen Absenzen, die seit den zwei Jahren seiner 
Ehe beim Lesen nach dem Mittagessen, etwa ein Halbstündchen nach 
beendeter Mahlzeit, aufzutreten pflegten, und die ich am besten jenen 
der späteren Universitätszeit anreihe. Er fühlte da plötzlich, wie es ihm 
unmöglich sei, die Augen offen zu halten, ohne daß er aber schläfrig. 
wurde, die Lider schlossen sich ganz von selbst und das Bewußtsein 
schwand für 1 bis 2 Sekunden. In einzelnen Fällen ging dies allmählich 
über in normalen Schlaf, weit häufiger jedoch blieb es bei jenen kurzen 
Absenzen. Die Anfälle schildert der Kranke so: „Wenn jene Zustände 
kommen wollen, so lese ich zuerst ganz gut und mit vollem Verständnis, 
dann auch noch gut, doch schon ohne Erinnerung, was ich las, so daß 
ich es mir hernach noch einmal vornehmen muß, endlich folgt die Ab- 
senze, bei welcher sich die Augen schließen. Nach dem Erwachen setze 
ich beim nämlichen Worte fort, wo ich stehen geblieben.‘ Die Sache 
sieht typisch epileptisch aus, ohne es in Wahrheit aber zu sein. Als ıch 
nämlich nachforschte, bei welcher Stelle seiner Lektüre einmal die 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 123 


Absenze gekommen war, die er mir als Tagesereignis angegeben hatte, 
trat Folgendes ans Licht: Er liest nach dem Essen immer Wissenschaft- 
liches. Darin ist nun sehr oft versteckt Sexuelles für ihn zu finden. 
Er las z. B. von mittelalterlichen Trachten, die seine besöndere Spe- 
zialität darstellen, und die Illustrationen wiesen enganliegende Hosen 
auf mit riesigen Schamkapseln. Gelangte er nun weiter zu 
asexuellen Stellen, z. B. den Geschützen!), dann begann die Absenze. 
Solange er noch vom Sexuellen las, wie etwa jenen Trachten, verließ 
ihn das Bewußtsein nie, immer erst bei dem für ihn Nichterotischen. 
Dies läßt wohl kaum eine andere Deutung zu, als daß er sich in die 
Bewußtlosigkeit flüchtet, weil die ihm ermöglicht, noch länger im Ge- 
schlechtlichen zu schwelgen, eventuell beim Übergang in den Schlaf 
davon zu träumen. Bezeichnend ist noch ein weiterer Umstand. Zu 
anderen Malen nämlich bekommt er auch wieder 1/,Stunde nach dem 
Mittagessen und statt der Absenze — fast möchte ich sagen: vicarlirend 
— ein starkes Verlangen, mit der Frau zu verkehren?). Auch dies be- 
stätigt die erotische Natur jener Abwesenheiten, das Flüchten in den 
sexuellen Genuß, wie ich es bereits vor Jahr und Tag an dem ersten 
analysierten Fall von Pseudoepilepsia hysterica aufzuzeigen vermochte?). 
Aber jene Absenze ist noch determinierter. Als der Graf von den riesigen 
Schamkapseln liest, wird mit eins die Erinnerung an die eigenen ersten, 
so unzweckmäßigen Hosen lebendig, die bei jeder Notdurft die Mit- 
hilfe anderer notwendig machten. Und er verliert sich in die Absenze, 
weil sie ein erinnerndes Schwelgen bedeutet, in dem die Manipulationen 
geliebter Personen an seinen Genitalien nochmals zur Gänze ausgekostet 
werden. Die Möglichkeit solcher Phantasieschwelgereien in in- 
fantilen Perversionen ist wohl auch der Grund, weshalb die geschlecht- 
lichen Verirrungen des Grafen just in puncto Absenze in die Neurose 
umschlagen. Sonst hatte er nicht den mindesten Grund, „nervös“ zu 
werden, und zeigt auch, abgesehen von der Dysuria psychica und dem 
hysterischen Anfall beim Militär, kein einziges Symptom, das über die 
„Belastung‘“ hinausgeht. 


1) Für andere sind gerade Geschütze ganz ausgesprochene Sexualsymbole. 

2) Auffallend ist die Häufigkeit gewisser Anfälle und neurotischer Zustände 
nach dem Essen, auch abgesehen von unserem Grafen. Dafür scheinen doch or- 
ganische Bedingungen maßgebend zu sein, die natürlich dann symbolisch um- 
kleidet werden. Heranziehen muß man auch die Tatsache, daß viele Menschen 
nach Tisch das Bedürfnis sexueller Betätigung haben. 

3) „Ein Fall von Pseudoepilepsis hysterics psychoanalytisch erklärt‘“, 
Wiener klinische Rundschau, Nr. 14—17, 1909. 


124 J. Sadger. 


Komplizierter und neuartiger sind andere Ursachen der Absenzen. 
So empfand z. B. unser Patient, wie er ausdrücklich angibt, beim 
Dehnen und Recken seiner Arme ‚ein direktes Wollustgefühl“, nicht 
selten jedoch kam es dazu, daß er beim Strecken einen Moment wie geistes- 
abwesend ward, also wieder ein Zusammenhang zwischen Wollust 
und Absenze. Von einem ähnlichen Konnex erzählte ich schon oben. 
Er verlor für Augenblicke das Bewußtsein, sowohl beim Hantelstemmen 
mit 16 Jahren, als wenn er beim Lösen mathematischer Aufgaben 
sich nach längerem angestrengten Schreiben aufrichtete und streckte, 
dabei die Rückenmuskeln stärker kontrahierte und den Brustkorb 
weitete, immer natürlich vor geliebten Personen. Er konnte die Ab- 
senzen auch künstlich erzeugen, indem er Schultern und Arme nach 
rückwärts einzog und die Brust vorwölbte. Noch deutlicher trat die 
Bewußtseinstrübung bei plötzlichem Aufrichten aus gebückter oder 
hockender Stellung auf, wie z. B. dreimal im Museum, da er Objekte 
auf dem Boden untersuchte und sich jäh erhob. Dann ähnlich auch 
am 54. Tage der Analyse, als er morgens ‚‚in Affenstellung“ am Boden 
seine Zeitung las und sich plötzlich aufrichtete. Er verlor da zwar das 
Bewußtsein nicht ganz, wohl aber wurde ihm schwarz vor den Augen 
und er wäre zweifellos umgefallen, hätte er sich nicht gegen den Tisch 
gestemmt. 

Dieser Anfall hatte eine ganz interessante Vorgeschichte. Zunächst 
erzählte unser Patient, er habe am vorhergehenden Abend mit der Frau 
verkehrt, am Morgen aber alles vergessen, um den Akt nochmals aus- 
üben zu können, da er rasche Wiederholung aus Gesundheitsgründen 
perhorresziere. Bezeichnenderweise erinnerte er gut die Müdigkeit der 
Frau, weshalb er die Sache verschieben wollte. Daß er es dann aber 
trotzdem getan, war ihm beim Erwachen einfach entfallen. Allmählich 
erst kam ıhm alles ins Gedächtnis, womit das bewußte Verlangen schwand. 
Jetzt aber ergab sich die Schwierigkeit, aufzustehen, ja, die Augen zu 
öffnen, weil kein sexueller Genuß ihm mehr winkte. Als er schließlich 
das Bett doch verlassen mußte, ließ er sich sofort in Affenstellung 
zusammenfallen, wie er es beim Vater und den Zulus gesehen, und las 
so die Zeitung, statt sich zu waschen. Sein Lesen betraf charakteristischer 
Weise die Parteienbildung in der Heimat, die aus homosexuellen Gründen 
ihn fesselte, weil er in den Führer der einen Partei, die jetzt zur Regierung 
gelangen sollte, recht lange verliebt war. Da reißt ihn ein Wort seiner 
Frau heraus, es sei schon spät, und als er sich stracks aufrichten will, 
kommt die Absenze. ‚Ich meine, weil ich gezwungen wurde, von der 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 125 


bequemen Stellung und der interessanten Lektüre wegzugehen, und dann 
obendrein noch die sexuelle Unbefriedigtheit.‘“ 

Der Mechanismus dieser Absenze ist völlig durchsichtig. Zunächst 
das Zurückdrängen eines starken heterosexuellen Verlangens, dann 
Flüchten ın die Gleichgeschlechtigkeit, indem er sich durch die Affen- 
stellung mit dem Vater identifiziert und obendrein von einem andern 
geliebten Manne liest. Als ihn die Frau nun auch da verscheucht, folgt 
eine Absenze, damit er wenigstens noch einen Augenblick bei den Ge- 
liebten und vielleicht auch bei Phantasien mit ihnen verweilen könne. 
Zur Abwesenheit just beim Aufrichten kommt ihm spontan ein treffender 
Einfall: er selber sei ein symbolisierter Penis, der sich plötzlich erigiere. 
Tatsächlich hat er schon mit 15 Jahren das membrum mit dem Ober- 
körper eines Mannes verglichen. Auch bei anderen Patienten fand ich 
bestätigt, daß die Anfälle bei plötzlichem Aufrichten neben dem or- 
ganischen Teile, der ihnen zweifellos zukommt, die Phantasie der 
Erektion darstellen. Diese Kranken schwitzen dabei, werden rot, 
kurz benehmen sich wie ein Penis. 

Eine neue Absenze 14 Tage später mit anderer Erklärung. Wieder 
das Hocken auf der Erde und Benutzung der jetzt gewonnenen Erkennt- 
nis: er identifiziere sich mit dem Vater und strecke sich wie ein erigierter 
Penis. Ob wohl die Absenze heute kommen wird beim plötzlichen Auf- 
stehen? Und wirklich, sie bleibt auch jetzt nicht aus, nur ist sie doch 
ein wenig verändert. Zwar wird ihm auch diesmal schwarz vor den 
Augen, nur ist es kein Taumeln, er fühlt bloß deutlich, daß er sich 
bald stützen, bald halten müsse. Auch kann er sich in der gegenseitigen 
Lage der Dinge nicht gleich zurechtfinden, ein Fenster scheint ihm 
höher zu stehen als das entsprechende zweite. Doch glaubt er nicht, 
daß ein anderer die Bewußtseinstrübung erkenne. Schwester und 
Kameraden, die ihn in solehen Anfällen beobachteten, erzählten ihm 
hinterdrein, seine Augen seien offen gestanden und hätten gerollt. 
„Es gibt überhaupt nichts, woran man die kleinen Absenzen erkennen 
könnte, wenn nicht an den Augen. Das Ganze ist sehr ähnlich dem 
Schaukeln in der Kindheit, bei dem die Objekte gleichfalls bald höher, 
bald tiefer stehen. Auch muß man bei dieser Lustbarkeit sich bald 
anhalten, bald wieder stützen, je nachdem man kauert oder sich auf- 
richtet. Und das Gefühl beim Zurückgehen der Schaukel, da der Rücken 
nach vorne steht, ist ganz identisch mit dem Einschlafen in der Absenze, 
welches mir immer als die höchste Wonne erschien. Wenn man nur 
so in die Ewigkeit einschlafen könnte! dachte ich öfters.“ Wir sehen 


126 J. Sadger. 


also deutlich, wie das Lustgefühl des kindlichen Schaukelns, das dem 
Sexuellen mindestens äußerst nahe steht, bei unserem Kranken aus- 
nehmend stark ist, ihm geradezu höchste Wonne gewährt, die er in den 
jetzigen Bewußtseinstrübungen einfach wieder aufsucht. Bedenkt 
man weiters, daß er beim Geschaukeltwerden das Gefühl des Zurück- 
fallens für identisch erklärt mit dem des Einschlafens in der Absenze, 
so liegt es sehr nahe, an das Wiegen des kleinen Kindes durch die Mutter 
zu denken, wobei jenes tatsächlich selig einschläft. In einer späteren 
Analysenstunde behauptete der Kranke geradezu: ‚Das Einschlafen 
in der Absenze ist für mich die Befreiung von allem Unangenehmen“, 
sowie ja bekanntlich kleine Kinder auch jedes Unbehagen vergessen, 
sobald es gelingt, sie in Schlaf zu lullen. 

Doch auch eine gewisse konstitutionelle Verstärkung des Lust- 
gefühls beim Geschaukelt- und Gewiegtwerden dünkt mich wahrschein- 
lich. Nicht bloß, daß das erstere für ihn ein besonderes Vergnügen dar- 
stellte, von dem er fast nicht genug kriegen konnte, so berichtet er 
noch von Schwindel mit begleitender starker und lebhafter Lust- 
empfindung, wenn er sich mit ausgestreckten Armen um sich selber 
drehte oder beim Blindekuhspiel um seine eigene Achse gedreht ward. 
Es scheint, daß Schwindel, ja vielleicht sogar kurze Bewußtseins- 
trübungen — und andere traten ja niemals auf — für ihn direkt wollust- 
betont sind, was durch die Alkoholintoleranz!) noch körperlich unter- 
stützt wird, andererseits wieder die Neigung zu hysterischen Absenzen 
wesentlich fördert. 

Es ıst uns schon mehrfach ein noch nicht erklärter Umstand 
begegnet, daß der Kranke zuweilen die allergrößten Schwierigkeiten 
hatte, am Morgen aufzustehen, ja nur die Augen zu öffnen. „Genoß 
ich längere Zeit keine sexuelle Befriedigung, so nehmen die Schwierig- 
keiten des Erwachens außerordentlich zu. Ich stehe zwar auf, bin aber 
doch nicht recht wach, es scheint mir, als ob ich fortwährend schliefe, 
ich bin stets wie abwesend. Dabei kann ich noch auf Fragen antworten, 
doch nicht selbständig denken, ja, ich sehe nicht einmal gut, auch 
wenn ich die Augen offen habe. Das begann, glaube ich, mit 18, 19 Jahren. 
Denn beim Militär, wo man sehr früh aufsteht, hatte ich gar keine 
Schwierigkeiten, weil ich auch genügend homosexuelle Befriedigung 


!) Das war schon mit 9 Jahren der Fall, als er beim Diner zum ersten Mal 
ein wenig Wein genoß. Beim Aufstehen fühlte er sich nicht recht sicher, mußte 
sich auf die Stuhllehne stützen und einen Augenblick warten, bis er das Gleich- 
gewicht wieder erlangte. 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 127 


hatte. Es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß ich in diesen Abwesen- 
heiten sexuelle Phantasien habe, obwohl ich gar nichts davon weiß, 
mir davon nicht das Mindeste bewußt ist.‘“ — ,„D.h. Sie wollen nicht 
ganz bewußt werden, um nicht aufstehen oder arbeiten zu müssen, 
und auf diese Phantasien verzichten?‘ — ‚Ja, ich glaube, ich könnte 
erwachen. Da kehre ich doch lieber zu den unbewußten Phantasien 
zurück. Auch habe ich bemerkt, die Absenzen kommen nie, wenn ich 
leicht erwache mit dem Gefühle, gut geschlafen zu haben, sondern 
nur nach einer unruhigen Nacht, wenn es mir schwer fällt, mich morgens 
zu erheben.‘‘t) 

Eine neue Schwierigkeit, aufzustehen, ergab sich, als heißere Tage 
kamen. Er konnte Arme und Beine kaum rühren und hatte die Em- 
pfindung, als würde er etwas in den Beinen haben, das durch Massage 
wegzubringen wäre, Die Sommerhitze führte seine Erinnerung auf die 
türkischen (Heißluft-) Bäder, in welchen ihn Diener ganz nackt durch- 
massierten (also Exhibition vor diesen) und ihm obendrein schmei- 
chelten, sein Körper sei so besonders geschmeidig. Wenn er sich aus 
der Ruhelage dann aufrichtete, bekam er regelmäßig kleine Absenzen, 
angeblich wegen der Hitze, so daß er taumelte und gegen die Wand 
sich stützen mußte. Die weitere Nachforschung ergab nun Folgendes: 
Solche Heißluftbäder besuchte er schon vor der ersten Ohnmacht in der 
Schule. Wenn ihn die Diener massierten, bekam er Erektionen, die erst 
auf kalte Douchen weggingen. Auch sah er dort viele nackte Männer, 
was seine Gelüste wesentlich erhöhte. ‚Ich glaube, die türkischen 
Bäder waren eine Art homosexueller Befriedigung für mich, namentlich 
die Massage. Und nach dem Bade wird man dann nackt in den Kotzen 
gepackt und schläft eine Weile.“ 

Es blieben noch seine künstlichen Absenzen zu erklären, die er 
erzeugte, indem er die Schultern nach rückwärts zog und den Brust- 
korb vorwölbte. Gedenken wir seines mächtigen Interesses für die Hoden, 


1) Hierzu noch folgende Ergänzung aus einem der letzten Analysentage: 
„Vor zwei Jahren habe ich im Pariser Louvre die Abbildung eines Mönches ge- 
sehen, dem man an den Augen absah, wie schwer ihm die Abstinenz fiel. Ich fühlte 
dies um so besser, als ich gerade zu jener Zeit mit derselben Schwierigkeit zu kämpfen 
hatte, weil ich meiner Frau versprochen, ihr auf der Pariser Reise treu zu bleiben. 
Die Augen des Mönches waren förmlich brennend und hatteneinenAus- 
druck von Abwesenheit, so weltentrückt, von seiner 
Phantasie beschäftigt.“ Auf der einen Seite also Anknüpfung an 
seine eigenen Absenzen, andererseits wieder an die Vorstellung, jungen Männern 
an den Augen ihr sexuelles Leben absehen zu können. 


128 J. Sadger. 


dahinter jenes für die weiblichen Brüste, erinnern wir uns ferner an 
sein Negerweib-Spielen schon in zartester Kindheit, so wird uns die Deu- 
tung nicht allzuschwer werden. Bei jener künstlichen Erzeugung von Ab- 
senzen spielt er ganz einfach die eigene Mutter, wie durch das Herunter- 
sinken in die Knie beim Aufstehen am Morgen. Ich will hier ergänzen, 
daß er in der hockenden, der ‚Affen‘“stellung, nicht bloß den Vater 
und die Zulus imitiert, wie ich früher schon ausführte, sondern auch 
die Mutter, die ganz ungeniert vor dem Sohne auf den Nachttopf ging. 
Dieser hat ja dann auch viel länger als üblich in weiblicher Weise auf dem 
Topf gesessen und empfindet deutlich bei Schwäche in den Beinen 
nach schwerem Aufstehen den Wunsch, in die hockende Stellung zu 
verfallen, sowie er sie früher bei der Mutter gesehen. Wieso er jedoch 
durch bloßes Zurückziehen seiner Schultern und Vorwölben der Brust 
Absenzen willkürlich zu erzeugen vermochte, bedarf der Erklärung, 
die ich dann später versuchen will. Hier will ich noch anfügen, daß er 
in die Geistesabwesenheit flüchtet, nicht bloß, um ungestört und länger 
im Sexualgenusse verharren zu können und sich verschiedenen erotischen 
Phantasien hinzugeben, sondern auch, um alles bergen zu können vor 
der Neugier der anderen. Darum dann mit seine spätere Furcht, dab 
man ihm die Absenzen anmerken könnte. 

Als er nach diesen verschiedenen Aufklärungen wieder einmal 
in hockende Stellung verfällt und sich vornimmt, beim Aufrichten 
keine Absenze zu bekommen, gelingt dies tatsächlich, nur hat er dann 
hinterdrein das Gefühl, als wäre jene Absenze jetzt weggegangen, als 
hätte eine Spannung im Kopfe sich gelöst. Natürlich ist dies Ver- 
schiebung nach oben und die Lösung einer Spannung im Kopfe nichts 
anderes als die Lösung einer Erektion. Bezeichnend ist auch, daß, wenn 
es ihm schwer fällt, aufzustehen und er’s dennoch tut, er alsbald in 
hockende Stellung zusammenfällt, weil es nach seiner spontanen Er- 
klärung ihm unmöglich ist, die Beine durch längere Zeit „steif“ zu 
halten. 

Eine gewisse Bestätigung erhielt diese Deutung durch eine spätere 
Absenze, die abermals nach dem Aufrichten kam, wieder mit dem 
Gefühl, als ob eine Spannung im Kopf wegginge, die sich jedoch da- 
durch von den früheren unterscheiden ließ, daß er seine Augen die 
ganze Zeit über offen halten konnte. „Auslösendes Moment für die 
Spannung im Kopfe war gestern ein Brief des Vaters, der sich um die 
Versöhnung drehte und mich sehr verdroß. Hätte ich meinen Zorn auf 
irgendeine Weise auslassen können, so wäre die Spannung nach meinem 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 129 


Empfinden sofort verschwunden. Ich hatte auch tatsächlich den leb- 
haften Wunsch, den Brief des Vaters zu zerreißen und zu verbrennen, 
Ich vergleiche die Spannung mit einer Energie, die nicht abgeführt 
werden kann (also wieder eine Erektion, die zu nichts führt. Anm. 
des Autors). Es scheint mir auch, daß die jetzige Spannung nichts 
anderes als Zorn ist, weil ich mich beherrschen muß. Ich bin vom Vater 
her schon sehr jähzornig und habe im Gymnasium meine Zornes- 
äußerungen oft absichtlich übertrieben. Ob nicht die Absenze über- 
haupt eine Zornesäußerung ist, weil ich nicht ruhig sitzen oder liegen 
bleiben darf, obwohl ich doch Frieden und Ruhe so liebe?“ Das spricht, 
wie ich ihm vorhalte, wieder dafür, daß er vor der Absenze just etwas 
Lustvolles empfinde oder tue, worin er dann durchaus verharren wolle. 
Dies könne natürlich nichts anderes sein als Sexuelles. Nur zu be- 
greiflich werde er bei jeder Störung böse und antworte prompt mit 
einer Absenze, die dann einen Zornausbruch markiere. ‚Dies muß 
ich als durchaus richtig zugeben. Daß ich es bekomme, wenn ich mich 
aus hockender Stellung aufrichte, hat noch einen Grund. Die hockende 
Stellung ist selber ein Sexualgenuß, weil da der Bauch zusammen- 
gepreßt wird, wie wenn Stuhl herauskäme (was bei seiner starken Anal- 
erotik schon seit der Kindheit mit großen Lustgefühlen verbunden). 
Und der Zusammenhang mit dem Zorn erhellt auch daraus, weil ich 
im Gymnasium, wenn ich den Zorn übertrieb, den Atem einhielt, um 
das Blut so in den Kopf zu pressen, wodurch ich daselbst eine Spannung 
bekam, wie in den jetzigen Anfällen. Noch früher habe ich beim Ma- 
sturbieren und später beim Orgasmus des Koitus den Atem eingehalten, 
wodurch mein Gesicht oft dunkelrot wurde. Ich erinnere mich sogar 
aus der Gymnasialzeit noch an direkte Übungen, die ich anstellte, 
um meinen Atem und die Bewegung des Herzens beherrschen zu lernen, 
damit man mir die Masturbation nicht anmerken könne“. 

Das nämliche Motiv führt dann zu einer andern Beobachtung 
des Kranken, die ihm bei den Anfällen Furcht einjagte und zu einer 
falschen Erklärung trieb. Er bemerkte nämlich, daß nach jeder kurzen 
Bewußtseinstrübung sein Herz viel stärker und dabei erheblich langsamer 
schlage, wie etwa „nach einer großen Angst, wenn ich erschrekt wurde 
und Furcht hatte, überrascht zu werden“. Natürlich ist dies ursprünglich 
Angst vor Entdeckung seiner Masturbation und später hinwieder, 
daß man den Sexualgenuß in seinen Absenzen ihm anmerken könne. 
Auch ist man ja oft bei der Onanie auf der Höhe des Orgasmus einen 
kurzen Moment wie geistesabwesend. Und ich glaube ferner, es hängt 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. I. 9 


130 J. Sadger. 


die Möglichkeit, künstlich Absenzen zu erzeugen durch Zurückziehen 
der Schultern und Vorwölbung der Brust, mit seinen Atemübungen 
zusammen, in welchen er ‚‚das Blut in den Kopf hinaufpreßte‘, richtiger 
den venösen Abfluß hemmte, was bei Disponierten momentane Ab- 
senzen herbeiführen kann. Er wähnte auch durch längere Zeit, die 
Ursache seiner Bewußtseinstrübungen liege in einer Gefäßverkalkung 
(er leidet nämlich als väterliches Erbteil an sehr erweiterten Haut- 
venen) und Berstung eines Blutgefäßes im Gehirn, weil ıhm bei jedem 
plötzlichen Aufrichten aus gebückter Stellung das Blut in den Kopf 
schoß. Unterstützt wurden solche Vorstellungen dadurch, daß er in 
seinem 4. Lebensjahre Zuschauer war, wie sowohl die Mutter als das 
Kindermädchen ohnmächtig wurden, da sie nach einer kleinen Ver- 
letzung ihr Blut fließen sahen, und er sich mit beiden geliebten Per- 
sonen in den Symptomen identifizierte. Endlich, was noch mehr zur 
sexuellen Ätiologie zurückführt, daß ein Verwandter, der in späteren 
Jahren ein sehr liebebedürftiges Mädchen freite, sich durch allzugroße 
geschlechtliche Anstrengungen einen Schlaganfall zuzog, mit langem 
Bewußtseinsverlust, halbseitiger Lähmung, Aphasie und Verblödung. 

Immer und überall — das erweist ein jedes der angezogenen 
ätiologischen Momente — ist für die Absenzen und Bewußtseins- 
trübungen neben dem konstitutionellen Faktor der sexuelle wahrhaft 
entscheidend und jeglichen Anfall erst auslösend. Ja, ich möchte sogar 
noch präzisieren: bestimmend ist immer das Bedürfnis nach Geschlechts- 
genuß und dessen Verlängerung in der Abszenze sowie das Schwelgen 
in angeregten Sexualgenüssen. In einzelnen Fällen liegt dies dermaßen 
auf der Hand, daß es Patient aus freien Stücken selber ergänzt. So, 
als er z. B. einmal abends mit der Frau verkehrt hatte, trotzdem dann 
aber am folgenden Morgen die Absenze bekam. ‚Mir fehlte der homo- 
sexuelle Genuß, den ich in der Bewußtseinstrübung nunmehr nach- 
holte.“ Ein andermal wieder schlägt er seiner Frau den Koitus ab, 
weil er schon morgens genug getan. „Ich hatte selber starkes Verlangen, 
allein mich störte die Theorie. Ich hatte ja früher meine Absenzen stets 
mit dem Geschlechtsverkehr in Verbindung gebracht und fürchtete 
auch das Beispiel des Verwandten mit dem Schlaganfall. Drum holte 
ich die ersehnte Befriedigung jetzt in der Bewußtseinstrübung nach.“ 


Theoretisches über Pseudoepilepsia hysterica. 


In einer früheren Studie (vgl. Anmerkung 3 auf Seite 123) führte 
ich aus, daß sowohl die kurzen Sinnesverwirrungen, als die großen 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 131 


epileptoiden Ohnmachten nichts anderes darstellten als ein Flüchten 
des Kranken in die Sexualität und Unabhängigmachen von jeder 
störenden Außenwelt, mit anderen Worten ein Koitusäquivalent wie 
vielleicht die hysterischen Anfälle überhaupt. Das trifft auch im jetzigen 
Falle durchaus zu und ist für jede Einzelattaque im Speziellen nach- 
weisbar. Ich habe weiters im vorjährigen Kasus, bei welchem dann 
freilich mehr die länger währenden, tiefen Ohnmachten mit Zungenbiß 
im Vordergrunde standen, eine gewisse Gewaltsamkeit des motorischen 
Apparates supponiert, die sich sonst im Beischlafe auszutoben pflege, 
hier aber den einzelnen Anfall bestreite. Diese letztere ergänzende 
Ätiologie ist nun bei unserem dänischen Grafen, der eigentlich bloß 
an ganz kurz währenden Absenzen leidet und obendrein eine starke 
familiäre Disposition besitzt, nicht aufrecht zu halten. Fest steht nun 
freilich auch bei diesem Patienten die ausschließlich sexuelle Natur 
all seiner Attaquen, daß sie Sinn und Zweck und Entstehung lediglich 
dem Bedürfnis nach Geschlechtsgenuß danken: Nur scheint mir dies- 
mal weit mehr als früher das Konstitutionelle im Vordergrund zu 
stehen, wofür ja einerseits die Alkoholintoleranz anzuführen, auf der 
andern Seite die bei Vater und Schwester unseres Patienten ja noch 
viel stärker auftretenden Dämmerzustände. 

Zu diesem konstitutionellen Faktor kann ich nur sagen, daß 
mir drei Hauptpunkte aus den Symptomen hervorzustechen scheinen, 
Punkte, die einander stützen und ergänzen. Zunächst, was ein Stigma 
schwerer Belastung, die Maßlosigkeit der Triebe, hier vor allem des 
(Geschlechtstriebes, dann eine angeboren verstärkte Neigung, das 
hemmende Bewußtsein auszuschalten, endlich Überwuchern, erhöhte 
Ansprechbarkeit und verstärkte Tätigkeit des Unbewußten bei besonders 
lebhaftem Traum- und Phantasieleben. Man denke an die Redensart 
„etwas bis zur Bewußtlosigkeit treiben‘ und dann auch daran, daß bei 
vielen Mensehen exzessive Triebe jede Hemmung des Bewußtseins 
ausschalten können. Vor allem schwinden nicht wenigen Individuen 
auf der Höhe des sexuellen Orgasmus wenn auch nur vorübergehend 
die Sinne. Von dieser noch fast physiologischen Erscheinung bis zur 
absichtlichen, künstlich erzeugten Ausschaltung des Bewußtseins 
bei disponierten Pseudoepileptikern ist nur ein Schritt. 


Schlußbetrachtung. 
Nachdem ich vorstehend Verlauf und Resultate meiner Psycho- 
analyse abgehandelt habe, bleibt noch die Frage zu beantworten: 
9* 


132 J. Sadger. 


was ist ihr theoretischer Gewinn für uns und der praktische Heilerfolg 
für den Kranken? Theoretisch ergab sie, zumal für die Genese der 
Inversion nebst voller Bestätigung von schon Bekanntem eine Reihe 
neuer, bedeutsamer Faktoren und solche zum Teil auch für die Statuen- 
liebhaberei, den Analcharakter, Alkoholsucht und -intoleranz, die 
verschiedenen Formen des Autoerotismus und endlich den Zusammen- 
hang von schwerer Belastung und Sexualität. Noch höher zu werten 
war der Heileffekt für den Patienten selber. Trotzdem der Fall an 
Kompliziertheit nichts mehr zu wünschen übrig ließ, die Behandlung 
hingegen kaum ein Viertel der angesetzten Kurzeit gewährt hatte, 
der Kranke sich darum wichtige Erinnerungen, zumal an die Mutter, 
zurückbehalten konnte, sind doch die epileptiformen Dämmerzustände 
vollständig geschwunden und auch die Inversion erfuhr einen ganz 
erklecklichen Wandel. Schon während der Analyse begann er seine 
Frau ‚viel mehr zu lieben‘‘ als je vorher und Hand in Hand damit sein 
Interesse für junge Leute in Uniform etwas abzuflauen. Er verkehrte 
spontan mit der Frau weit häufiger und war auch nicht mehr hinterdrein 
‚nervös‘ wie in früheren Zeiten. Wenn er in Freuds Büchern von weib- 
lichen Genitalien las, so bekam er dabei die nämliche sexuelle Erregung 
wie ehedem bei Erwähnung der Geschlechtsteile überhaupt, unter 
welchen er sich bisher stets die männlichen vorgestellt hatte. Kameen 
erregten ihn gar nicht mehr. Am bezeichnendsten jedoch war folgender 
Punkt. Als er mit seiner Frau nach Wien gekommen, war die letztere 
auf alle jungen Leute zumal in Uniform eifersüchtig, gegen Ende der 
Behandlung aber kehrte diese Regung sich gegen Personen weiblichen 
Geschlechtes. Bedenkt man die außerordentliche Feinfühligkeit der 
Frau in allen Liebessachen, dünkt solcher Erfolg mich am beweiskräftig- 
sten. Als die Kur beendet und er nach Krakau gereist war, wo schon 
die Mittelschüler Uniform tragen, da wurde er in den ersten drei Tagen 
durch diese Fülle von Uniformen geschlechtlich erregt und fand dem- 
entsprechend, daß seine Frau ihn an den Studien hindere. Bald aber 
machte er sich selber begreiflich, daß es eigentlich eine urnische Regung 
sei, die ihn gegen seine Frau aufbringe, und mit dieser Erkenntnis war 
alles vorüber. Endlich noch ein sehr bezeichnender Punkt. Er war in 
die Heimat zurückgekehrt und hatte Gelegenheit, den vormals geliebten 
Kellner zu sehen. Da er ihn zum ersten Male wieder erblickt, bemerkte 
er auf einmal, dieser sei „verändert, ein wenig verwachsen und 
mager geworden“. Nun wäre ja denkbar, daß jener in der Zeit der Ent- 
fremdung abgenommen habe, doch daß er da auch noch skoliotisch 


Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absenzen. 133 


geworden, ist wohl ausgeschlossen. Dies war er offenbar auch schon 
vorher, nur hatte die Liebe des sonst so scharfsichtigen Patienten 
dafür kein Auge. Kurz nach ‚Beendigung seiner Kur schrieb mir 
Patient: „Es ıst gar kein Zweifel, daß ich viel besser bin. Auch sagt 
meine Frau, ich sei verändert. Selber bemerke ich, daß ich im Ver- 
hältnis zu anderen Menschen viel klüger und berechnender bin als früher, 
da die sexuelle Sympathie eine so große Rolle spielte. Ja, ich fürchte 
sogar, daß dies in Herzlosigkeit übergehen könne, denn ich bin ja doch 
ein arger Egoist.‘ 

Ich glaube, die Wissenschaft wie unser Graf, sie dürfen mit dem 
bisher Erreichten, obendrein in so kurzer Behandlung Erzielten, zu- 
frieden sein. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie 
des Hasses und der Versöhnung. 


Von Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich. 





Die Psychanalyse hat sich als unentbehrliches Forschungsprinzip 
um eine ganze Anzahl von Wissenschaften verdient gemacht. Nach der 
Neurologie besetzte sie die Gebiete der Psychologie, Kriminologie, 
Ästhetik, Mythen- und Märchenforschung, Pädagogik und Pastoral- 
theorie. 

Die vorliegende Abhandlung möchte, nachdem es mir vergönnt 
gewesen war, das Banner der Psychanalyse auf dem Boden der Päda- 
gogik und der Pastoraltheorie aufzupflanzen, einen Vorstoß in das 
Land der Ethik wagen. Freilich kann es sich noch nicht darum handeln, 
die ethischen Kernfragen dem Scheinwerfer der neu gewonnenen heu- 
ristischen Methode auszusetzen. Daß diese auch in den Prinzipien- 
fragen der Sittenlehre mitzureden hat, steht außer Zweifel. Über das 
monistische oder dualistische Moralprinzip z. B. kann schon heute nicht 
mehr zeitgemäß verhandelt werden ohne Kenntnis der Entdeckungen 
Sigmund Freuds. Ob die Ethik allgemein verbindliche Pflichten 
oder nur gemeingültige sittliche Ideale aufstellen und als Pflicht- 
sebot individuell verschiedene Richtlinien zur bestmöglichen Ver- 
wirklichung jener Ideale darbieten soll, oder wie es sich in dieser Hin- 
sicht sonst etwa verhalten möge, setzt ebenfalls genaue Beherrschung 
des psychanalytisch gewonnenen Tatbestandes voraus. 

Vorläufig scheint es angezeigt, einer induktiven Verarbeitung 
des sittlichen Sachverhaltes seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auch 
als Normwissenschaft kann sich eine moderne Ethik dieser Aufgabe 
nicht entziehen. Die Tage, da die „reine Vernunft“ die Sittengebote 
konstruieren sollte, sind vorüber. Schon die allgemeine Frage nach den 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 199 


Kennzeichen, Bedingungen und Gesetzen des Sittlichen ist, wie Lipps 
betont, eine psychologische Tatsachenfrage!). Deshalb fußt selbst die 
spekulative oder metaphysische Ethik eines Wundt auf der empirischen 
Methode?) so gut wie die am Wohlfahrtsprinzip orientierte Sitten- 
lehre eines Höffding?). 

Die psychologische Ergründung ethischer Phänomene fällt nicht 
nur wegen ihres Objektes in die Domäne der Ethik, sondern auch darum, 
weil die Exploration sehr häufig von einer bewertenden Tätigkeit 
nicht zu trennen ist. Der Sühnebegriff z. B. ruht offenbar auf dem 
Sühnebedürfnis, welches seinerseits auf unterschwellige, durch 
Verdrängung entstandene Tatsachen zurückgreift. Bei der analytischen 
Behandlung des Dranges nach Sühne nun schwindet unter gewissen 
Bedingungen der Sühnetrieb ebenso zugunsten eines andern Be- 
wußtseinsinhaltes, wie etwa die Auffindung der unterschwelligen 
Ursachen einer Angstneurose der quälenden Gemütslage ein Ende 
bereitet und eine neue einleitet. In anderen Fällen führt ein kleiner 
Schritt von der psychologischen Arbeit zur Lösung ethischer Probleme. 

Die folgenden Erörterungen setzen Kenntnis der Traumforschung 
voraus. Ich möchte sie gerne jedem Leser vorenthalten, der nicht durch 
gründliches Studium der Freudschen Traumdeutung und eigene Ana- 
Iysen die Gesetze des subliminalen Phantasielebens kennen gelernt hat. 


Vorbemerkung. 

Max, geboren im Februar 1894, war vom Frühling 1905 an während 
eines Jahres mein Schüler und wies sich in dieser Zeit als intelligentes 
Bürschehen aus. Von da an sah ich ihn alle zwei Wochen im Jugend- 
gottesdienst, bis ich ihn im Mai 1908 in den Religionsunterricht einer 
hier nicht näher zu bestimmenden Schule aufnahm. Seine Leistungen 
zählten zu den besten der Klasse. 

Die in einem früheren Aufsatz?) geschilderte Erkrankung seines 
Bruders Arno gab mir anfangs Oktober 1908 Einblicke in das 
gespannte Verhältnis, das zwischen fast allen Familiengliedern bestand, 
und in die Hysterie der Mutter. Max berichtete mir regelmäßig, wie es 
um seinen älteren Bruder stehe. War irgend ein Zwist ausgebrochen, 


ı) Th. Lipps, Die ethischen Grundfragen, 4. 

2) W. Wundt, Ethik?, 14 f. 

3) H. Höffding, Ethik?, 44 f. 

4) Psychanalytische Seelsorge und experimentelle Moralpädagogik. Pro- 
testantische Monatshefte 1909, Nr. 1. 


136 Oskar Pfister. 


so wußte er so geschickt die eigene Unschuld und das Verlangen nach 
Aussöhnung herauszustreichen, daß ich ihn für einen netten Jungen 
hielt, dem es nur an Willenskraft fehle, um ein friedliebender Mensch 
zu sein. Allerdings bedauerte ich, daß meine zahlreichen und eindring- 
lichen Ermahnungen, gegen den kranken Bruder ritterlich zu sein, 
keinerlei nachhaltige Wirkung ausübten. Auch Ermahnungen zu Willens- 
übungen im Sinne F. W. Försters fruchteten wenig, obwohl es dem 
Burschen nicht an Geneigtheit und redlichen Vorsätzen fehlte. 
Am 12. November erzählte er mir, Arno habe sich, seit er in 
meiner speziellen Seelsorge stehe, innerlich umgewandelt. Sogar seine 
Sprache habe sich verändert. Und nun platzte Max mit der Bitte heraus, 
ich möchte auch an ihm die neue Methode erproben. Er rede nicht aus 
Neugierde. Allein er fühle, daß er oft unter einem bösen inneren Zwang 
handle, so daß er nicht, wie er möchte, gut sein könne. Es sei sein 
Wunsch, gleich seinem Bruder ein neuer Mensch zu werden. 


Erste (vorbereitende) Sitzung, 21. November 1908. 


Max gesteht auf mein Befragen, daß er sich seit 4 bis 5 Jahren 
Unehrlichkeiten zuschulden kommen lasse. Am 14. Februar 1907 sei 
er überdies durch einen Kameraden zur Onanie verleitet worden, vor 
welcher man ihn nicht gewarnt hatte. Damals sei starke Reue über 
ihn gekommen, auch haben die heftigen Vorwürfe über Unehrlichkeit 
und Grobheit erst jetzt eingesetzt. Die Willenskraft ließ sehr zu wünschen 
übrig. Erst als Max, durch meinen Religionsunterricht angeregt, Willens- 
übungen vornahm, z. B. nächtliches Aufstehen mit Abwaschungen, 
früher Beginn der Aufsätze, wuchs die Willensenergie, aber nur wenig. 

Den Vater schilderte Max als wohlgesinnt, früher gelegentlich 
zornig, aber weichherzig, die Mutter dagegen als nervenleidend, daher 
aufgeregt, tadelsüchtig, mitunter kleinlich. Arno wollte er sehr lieben; 
er sehne sich danach, gut mit ihm zu stehen. Der kleine Bruder war 
ihm, wie er angab, recht lieb. 

Über sich selbst interpelliert, rühmte der Knabe sein weiches 
Herz. Beim Anblick eines Armen werde er sehr gerührt. Auffallend 
war eine gewisse Todesfurcht neben ausgesprochener Todessehnsucht. 
Er bemerkte: „Ich wurde einst chloroformiert und erinnere mich, wie 
ich entschwand. Jetzt denke ich oft daran, wie es wäre, wenn ich sterben 
müßte, wie die anderen weinten. Ich träumte schon oft vom Tode des 
Bruders oder der Mutter. Der Betreffende (so!) liegt dann tot im Bette. 
Das tut mir weh, und ich denke, ich wäre lieber tot und gar nicht auf 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 137 


der Welt. Ich wollte, meine Stellung zur Mutter wäre besser. Wenn 
sie schilt, so mache ich meinem Zorne in Grobheiten Luft, was ich 
nie In Ihrer Gegenwart, dagegen nachher in der Einsamkeit sehr bereue.“ 

Die stereotypen Träume verraten, daß der anscheinend gut- 


mütige Bursche Bruder und Mutter tot wünscht, die frevelhafte Be- 
gierde aber unterdrückt. 


I. Komplexphantasien im Zeichen des Hasses. 


Zweite Sitzung, 25. November. 


Max erzählt, daß er seit einem Monat nicht mehr onaniere und sich 
deshalb wohler fühle. Auch sei sein Denken klarer geworden. Kom- 
pensationserscheinungen sind bis jetzt nicht wahrzunehmen. 


Am Vorabend hatte er mit dem kranken Arno Streit, weil er 
sich bei brennender Lampe entkleidete. Der Bruder nannte ihn Quatsch- 
kopf, Wasserschädel u. dgl. Max benutzte die Gelegenheit zur Willens- 
übung und schwieg, was ihn nachher freute. Den Wert dieser asketi- 
schen Verdrängung werden wir alsbald kennen lernen. 


Da ich gewiß war, daß der Groll gegen den Bruder mit peinlichen 
Erlebnissen zusammenhing, die aus der Erinnerung verdrängt worden 
waren, ließ ich mir alle Szenen, die durch bloßes Verhör ins Bewußtsein 
gezogen werden konnten, ausführlich mitteilen. Natürlich ergaben sich 
zahlreiche Prügeleien, deren letzte 2 bis 2!/, Jahre zurücklag. Stets 
war Max der leidende Teil, das unschuldige Lämmchen. 


Als auf diesem Wege nichts mehr hervorzuholen war, griff ich zum 
Assoziationsexperiment, dem ich anfangs das Schema von Jung zu- 
grunde legte, um aber bald nach Jungs und Stekels Vorgang zur freien 
Assoziationskette überzugehen. Ich bin ein wenig in Verlegenheit, 
wie ich die Ergebnisse darstellen soll. Gebe ich den Gang der Unter- 
suchung protokollarisch wieder, so sind kleine Verwicklungen nicht 
zu vermeiden. Trachte ich nach säuberlicher Ordnung, so fehlt dem Leser 
der Einblick in meine Arbeitsmethode. Ich wähle daher das erstere 
und begnüge mich damit, Erklärungen und Nachträge in runden 
Klammern anzuführen. In eckigen Klammern findet der Leser meine 
an den Schüler gerichteten Worte. 


[Ich werde dir jetzt einzelne Worte zurufen. Sofort wird dir ein 
anderes Wort in den Sinn kommen. Du teilst es mir sogleich mit, auch 
wenn es dir dumm oder häßlich erscheinen sollte. 


138 Oskar Pfister. 


Kopf.] Verstand. Zwischenzeit 3,2 Sekunden. [Was fällt dir jetzt 
ein?] Im Kopf ist Verstand. [Weiter!] Leute mit verstörtem Gesichte 
sind irr. Die meisten sind unheilbar. (Nachtrag vom 29. November:) 
Wenn mein Bruder unheilbar würde, so müßte er sterben. (Arno war 
infolge von Hysterie geistesgestört. Vgl. Protestantische Monatshefte 
1909, Seite 13. Max verrät wieder seinen verdrängten Wunsch, der Bruder 
möchte sterben). 

[Grün.] Rot. 2 Sekunden. Grün ist die Farbe der Hoffnung. 

[Wasser.] Leiche. 4 Sekunden. Schiff, ein Ertrunkener. Ich sah, 
wie ein Ertrunkener in ein Schiff gezogen wurde. [Nenne alle Worte, 
die dir jetzt in den Sinn kommen!] Baden, schwimmen, Bade- 
anstalt, Badewärter, Grund, Seegras, Haifisch, Erde, Stein, 
Sprungbrett, Luft, Kette, Balken, Unterseeboot, Mann- 
schaft, keine Luft, ertrunken, Taucher, Taucherglocke, 
Gold, Strickleiter. [Was kommt dir jetzt in den Sinn?] Im Kine- 
matographentheater sah ich zwei Taucher, die Gold fanden. Einer 
durchhieb den Luftschlauch des andern, nahm das Gold und stieg 
empor. 

[Baden.] Weil mein Bruder viel badet. Ich auch sehr gerne. 

[Schwimmen.] Mein Bruder behauptet, er sei vom Sprungbrett 
aus fast bis auf den Grund getaucht. Dies macht mir einen tiefen Ein- 
druck. Es schauert einen ganz. Ich tauchte einmal an einer weniger 
tiefen Stelle auf den Grund. Das Ertrinken kommt mir in den Sinn. 
Ich sah im Kinematographentheater, wie einer ertrinkt. 

[Seegras.] Man kann darin hängen bleiben. Dies passierte mir 
einmal. 

[Erde.] Der Grund des Wassers. Dunkelschwarz. Das Grab im 
Busento. (Nachtrag vom 29. November:) Darin ist einer auf einem Pferd, 
groß, stramm, bleich. Es ist mein Bruder. 

[Kette.] Außen an der Badeanstalt beim Fäßchen. Arno ging 
einmal dort in die Tiefe und blieb etwa 10m unter dem Wasserspiegel 
mit einem Finger hängen. Er sagte dann, er halte nicht viel vom Leben, 
er mache gerne lebensgefährliche Sachen, wie Schleifenbahn mit dem 
Velo. 

[Unterseeboot.] Ich sah auf einem Bilde, wie die Mannschaft 
eines solchen erstickte. (29. November 1908:) [Kennst du jemand davon ?] 
Der Kapitän ist Arno. 

[ Taucher. ] Der ertrinkende Taucher im Kinematographentheater. 
Man sieht das bleiche Gesicht durch das Glas. Der Mann war groß 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 159 


und schwarz. Wır bekamen aus einem Panoptikum eine lebensgroße 
Wachsmaske,.die einen sterbenden König darstellte. Die Augen waren 
nach oben gerichtet. Arno setzte diesen Kopf einmal auf seine Schultern 
und schlug ein Leintuch um sich. Da sah er wie ein Geist aus. Ich er- 
schrak sehr. Der sterbende Taucher erinnert mich an jenes Wachsbild. 
(Man sieht deutlich die Verdrängungsarbeit: Max meint natürlich 
den, der in der Wachsmaske steckt, Arno, läßt aber diese Vorstellung 
nicht aufkommen.) 

[Der Mörder.] Er war ein kleinerer Mann. Sein Gesicht sah man 
nicht. Er hatte große Furcht vor der Einsamkeit (!) und weil er den 
andern tötete. [Bilde eine Reihe!] Mitleid, Strafe, Kapitän, sucht 
nach dem Mörder, elektrischer Stuhl, Vergangenheit, Himmel, 
Hölle, Weltgericht, Gott, Abraham, Lazarus, der reiche 
Mann, Kluft, Wasser, Brüder, Lazarus auf dem Schemel 
bei Gott, die Bitte des Reichen, der Mann, der sich im Himmel 
einen Palast wünschte, mit dem Petrus Mitleid hatte, der 
Mann auf den Zehenspitzen, der durch das Astloch schaut, 
das Gottesreich. (29. November:) Der Mörder ist klein, flink, kurz- 
armig, habsüchtig, geldgierig, roh. [Wer ist’s?] Ja, ich. Das bemerkte 
ich schon am 25., dachte aber, es habe keinen Wert. Ich bin doch im 
gewöhnlichen Leben nicht roh? [Nein. Aber du bist das, was die Sprache 
so trefflich „zwiespältig‘“ nennt. Du hegtest schon böse Wünsche und 
wolltest sie vertreiben. Das ist dir nicht völlig gelungen. Daher dein 
Groll, dein dunkler Trieb zum Bösen.] 

(Die ausführliche Analyse würde uns zu weit führen. Hier das 
Ergebnis: Der Mörder, Max, wird auf dem elektrischen Stuhl (siehe unten) 
hingerichtet, tröstet sich indessen durch die Hoffnung, er müsse nicht 
wie der reiche Mann im Gleichnis Jesu ewige Höllenpein dulden, sondern 
werde wie der Reiche in der schönen Erzählung von Volkmann-Leanders 
in der Hölle ein prächtiges Schloß voll Gold empfangen, auf den Zehen- 
spitzen stehend durch ein Astloch den Himmel sehen und endlich selig 
werden. Im Mann auf den Zehenspitzen erkennt Max deutlich sich 
selbst.) 

[Was hast du jetzt gemerkt?] Ich bin zu habsüchtig, und doch 
ist Arno nicht so bevorzugt wie ich. [Hast du jemals mit Wissen deinem 
Bruder den Tod gewünscht?] Ganz offen gesagt: Ich mag es nicht 
hören, wenn mein Bruder sagt, es sei ihm gleichgültig, wenn er ertrinke. 
Mit 10 Jahren war ich einmal dem Ertrinken nahe. [Hat dein Bruder 
schon gesagt: Ich bringe dich um?] Ja, aber ich nahm es nicht für wahr 


140 Oskar Pfister. 


und entgegnete nichts ähnliches. Ich bin ganz sicher, daß ich Arno nie 
tot wünschte. 

[Stechen.] Schmerz. 2,2 Sekunden. 

[Engel.] Gott. 1 Sekunde. 

[Lang.] Straße. 2,4 Sekunden. 

[Schiff.] Kapitän. 2,4 Sekunden. Arno will Kapitän werden. 

[Pflügen.] Acker. 2,6 Sekunden. 

[Wolle.] Strumpf. 2,2 Sekunden. 

[Freundlich.] Freund. 2 Sekunden. Jeder soll einen Freund haben. 
Brugger ist meines Bruders Freund, auch ein wenig der meine. 

[Tisch.] Decke. 2,6 Sekunden. Auf dem Tische wird das Mittag- 
essen eingenommen. 

(Man sieht aus diesen Beispielen, daß die Assoziationen zwar 
oft wichtige Vorstellungskomplexe angeben, allein durch das neue 
Reizwort wird der Eintritt in die tieferen Bewußtseinsschichten oder — 


auf den Namen kommt hier wenig an — in die heikleren Regionen 
des Unterbewußtseins verwehrt. Ich kehre darum zur freien Kette 
zurück). 


[Tisch, . Decke.] Tischnachbar, Fräulein, Gesellschaft, 
Bier, fünf Gänge, Caligula, grausam, verschwenderisch, 
Nero, wenn die Römer nur einen Kopf hätten, so würde 
er auch diesen abschlagen, sagte er zu seinen Tischgenossen. 
Da fragte ihn ein Freund, warum er lache. Cäsarenwahn, 
Cäsar, Brutus, Cinna, wurdevom Volkezerrissen. Die übrigen 
waren geflohen. Pompejus, Rom von Nero verbrannt..., 
Eitelkeit, Dichter, Schauspieler. — Mit mir stirbt ein großer 
Mann, Nero war sehr feig. Er ließ sich von seinem Sklaven 
töten. Dnjestr, ich weiß nicht, warum, Fluß, Rußland, Zar, 
Moskau, Kreml, Kirche, Ausrufer, Halsweh, Doktor, Schmer- 
zen, Tod, die Verpflichtung, die Verantwortung des Doktors, 
seine zerstörte Praxis, Student, Bursche, Herr A., englisch. 

(Die ersten Assoziationen beziehen sich auf einen vergnügten 
Ferienaufenthalt.) 


‘) Als ich die Untersuchung vornahm, war ich mit den Feinheiten der 
Jungschen Assoziationsforschung nur so weit bekannt, als Publikationen vor- 
lagen. Ich möchte nicht unterlassen, zu bemerken, daß für den Kundigen das 
schlichte Assoziationsexperiment nach Jungs Schema sehr viel rascher als die 
freie Kette auf alle verschiedenen Komplexe hinweist und somit der Analyse 
Ansatzpunkte verschafft. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 141 


[Bier.] Reizt die Geschlechtlichkeit. Als ich einst keines bekam, 
verlor ich jeden Reiz zur Onanie. 

[Fünf Gänge.] Soviel erhielten wir eines Tages. 

[Caligula.] Lebte auch sehr verschwenderisch und aß viel. (29. No- 
vember:) Der Name interessiert mich viel mehr als alles andere. (Er- 
klärung später.) Ich glaube, er war der, welcher im Cäsarenwahnsinn 
zwei Tage mit Wagen und Pferden über eine Brücke fuhr. Er ist groß 
und hat eine schwarze Nase. Er ist mein Bruder (der auch geisteskrank 
war und übertrieben viel Velo fährt. Caligula wurde bekanntlich er- 
mordet). 

[Grausam.] Nero lebte auch verschwenderisch und grausam. 
Er war auch sehr eitel, Kürzlich redeten wir von ihm in der Geschichte. 
Ich las einmal ein Sherlock-Holmes-Buch, auf welchem Nero mit den 
lebenden Fackeln abgebildet war. Darin wurde geschildert, wie ein 
Maler seinen Gehilfen an ein Kreuz band und in seinem Atelier ver- 
brennen ließ, um die Züge des Sterbenden zu studieren und abzumalen. 
Ein andermal brachte der Bruder des Malers, ein Mann mit großem, 
schwarzem Mantel, großem Schlapphut und Bockbärtchen ein Fräulein, 
das der Künstler auch verbrannte. Das zuerst gefertigte Bild gewann in 
der Ausstellung den ersten Preis. Ein Fräulein besah es und fiel in 
Ohnmacht, da es in dem verbrennenden Jüngling den Bräutigam er- 
kannte. Der Maler wurde auf dem elektrischen Stuhle hingerichtet, 
sein Bruder kam ins Gefängnis. (29. November:) Das verbrannte 
Fräulein war eine schöne Blondine mit blauen Augen. [Einfall?] Es 
ist ein Mädchen, namens Berta. Arno und ich rissen sie oft umher, 
wobei wir aufgeregt wurden. Unsere Liebeswerbungen wies sie zurück, 
weshalb Arno wütend auf sie wurde. [Bilde eine Kette!] Berta, blond, 
schlank, jetzt kommt mir etwas in den Sinn: mein Bruder sah sie 
einmal beim Waschen unbekleidet. 

(Arno ist somit der Verbrecher, der am Schlusse hingerichtet wird, 
Max sein Bruder. Beide zerrten jenes Mädchen umher. Die bei der 
Toilette betrachtete Berta wird zum brennenden Modell, das vom 
Maler studiert wird. Die sexuelle Brunst wird auf das Arno und Max 
gemeinsam erregende Sexualobjekt transponiert. Man beachte, daß 
ich vergaß, nach dem gekreuzigten Gehilfen zu fragen. Infolgedessen 
taucht das noch nicht völlig herausgezogene Material sechs Wochen 
später (5. Januar) plötzlich in ganz anderem Zusammenhange wieder auf.) 

[Der Bruder des Malers.] Der fliegende Holländer. 

[Warum er so lache.] Caligula lachte höhnisch, aber er dachte 


142 Oskar Pfister. 


etwas Gemeines. (Arno pflegt zu lachen, wenn er mit bösem Gewissen 
redet!.) 

[Cäsar.] König von Rom. Empereur. Cäsar Brugger. Cäsar ist der 
richtige Vorname des Knaben, an den ich denke. 

[Brutus.] Der beste Freund meines Bruders, der ihn kürzlich 
zu seinem intimsten Freund erklärte. Deswegen bin ich auf ihn eifer- 
süchtig. (29. November:) Brutus tötete sich selbst. Brugger macht oft 
verwegene Bergtouren. Er ißt sehr viel. [Und Arno?] Arno wenig. 
(Wahrscheinlich eine Eifersuchtsphantasie: Max wünscht, daß Arno, 
weil er den Bruder verschmäht, am Freunde so schlechte Erfahrungen 
mache, wie Cäsar an Brutus. Beide Freunde werden zweimal iden- 
tifiziert: Cäsars Name geht auf Brugger, Cäsars Schicksal als eines 
Ermordeten auf Arno (vgl. auch ‚„Cäsarenwahnsinn‘). Caligula als 
wahnsinniger Wagenlenker repräsentiert den Bruder, als Vielesser 
dessen Freund.) 

[Cinna, wurde vom Volke zerrissen. ] Unschuldig. Keller, ein anderer 
Freund Arnos, wird viel geneckt, ohne es zu verdienen. 

[Pompejus.] War ein Herrscher. Weiteres weiß ich nicht. Doch! 
Die Stadt Pompeji geht mich persönlich nahe an. 

(Die Vorstellung von der Ermordung des Pompejus, hinter dem 
natürlich Max als Rivale Cäsars, Arnos und Bruggers steckt, wird 
so recht geschickt abgeleitet.) 

[Eitelkeit.] Kunstfahrer. 

[Neros Eitelkeit.] Mein Bruder, den ich schon oft für eitel hielt. 

[Dichter.] Schiller, Goethe, Kraniche des Ibykus, Homer, Odyssee, 
Penelope, Meer, Schiff, Untergang, Insel, Hungersnot... ., Kinder des 
Odysseus, Kleid, Frau, Faden, Nadel, Schmerz, Empfindungsnerven, 
Gehirn, Bein, Unglück, Sanitätswagen,.... Eisfeld, Zollstraße, Hirn- 
erschütterung. Arno ist Dichter, er macht Verse. 

(Die Analyse kann nicht wiedergegeben werden. Die Odyssee 
schildert eine schmerzliche Familiengeschichte, Arno erlitt vor fünf 
Jahren auf dem Eisfeld eine Hirnerschütterung und wurde sanitäts- 
polizeilich nach der Zollstraße verbracht.) 

[Schauspieler.] Bühne, Sängerin, Gesang, Ehre,... Fenster, 
See, Himmel, Tiefe. Arno wollte einmal Schauspieler werden, weil 
man als solcher zu Ehren gelangen kann. (Nero ist eitel !) Als ich einst 
Theater spielte und ein Mädchen, das ich von ferne liebte, anwesend 


‘) Protestantische Monatshefte, Seite 21. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 143 


war, wurde ich beim Blick auf die Straße, wie seit einigen Jahren immer, 
wenn ich an einem Fenster stehe, von Angst befallen. [Hast du denn 
schon eine starke sexuelle Aufregung erfahren?] Vor fünf Jahren sah 
ich, wie im Walde einige Kameraden sich entkleideten und aufeinander 
lagen. Mein Bruder und ich taten es nicht, gerieten aber in Aufregung. 
[Damit ist vielleicht deine Furcht vor dem Abgrunde bereits erklärt. 
Das Mädchen hat die früher erregten Triebe aufgewühlt.] 

[Nero ließ sich von einem Sklaven töten. Hinter Nero steckt doch 
offenbar dein Bruder!] Das stimmt ganz genau mit meinen Einfällen, 
aber nicht mit meiner wirklichen Gesinnung. (29. November:) [Be- 
schreibe den Sklaven!] Er war kleiner als Nero, schwarz, ein Mulatte, 
nackt, mittelfest, hält dem Nero einen Dolch an die Gurgel. Er muß 
auf den Zehen stehen. Ich bin’s! (Ein sehr interessanter Wachtraum! 
Max erscheint auf den Zehen stehend, wie in der Gestalt des reichen 
Mannes, weil er als solcher der ewigen Höllenpein entgeht. Als Mulatte, 
erscheint er, da seine heiß begehrte Berta einen Neger heiratete, der auf 
den verliebten Arno eifersüchtig sein könnte, und Max gerne in dessen 
Lage wäre, teils als Ehemann, teils als kräftiger und rachsüchtiger 
Verteidiger seiner Liebe. Möglicherweise hat Max das Wort des Caligula: 
„Wenn die Römer doch nur einen Kopf hätten, so könnte ich sie auf 
einmal köpfen‘ dem Nero beigelegt, um die Wollust der Rache in der 
Ermordung lebhafter zu fühlen. Der Mörder vollzieht nur, was ihm 
vom Ermordeten selbst zugedacht und aufgetragen war — eine recht 
findige Beschwichtigung des Rachetriebes. Der Schnitt in die Gurgel 
mag auch durch den wächsernen Kopf des sterbenden Königs deter- 
miniert sein.) 

[Dnjestr, ich weiß nicht, warum.] Wir besprachen diesen Fluß 
unlängst in der Geographiestunde. Er fließt ins Schwarze Meer. Jetzt 
kommt mir das Tote Meer in den Sinn. Es ist salzig, Körper schwimmen 
darin. [Was für einen Körper siehst du?] Es ist ein weißer Leib, ein 
Badender. Es ist Arno. Ich sehe ganz deutlich, daß es der Leib meines 
Bruders ist. Ich sage dies nicht etwa, damit es stimme. 

[Zar.] Oberherr. Er trägt einen Bocksbart und hat Bomben unter 
dem Sitz. Ein Anarchist schleicht mit einer Lunte hinzu und will an- 
zünden, wird aber verhindert. (Der Leser entschuldige, wenn das Fol- 
gende konfus klingt. Er wird für seine Aufmerksamkeit entschädigt 
werden.) Die Anarchisten werden gefangen, kommen nach 
Sibirien, Hunger leiden, Kerker, einzelne auf Sachalin, 
dort eingeschlossen in Kerker ohne Fenster, oft geprügelt, 


144 Oskar Pfister. 


für die Russen ein schönes Schauspiel. In Sıbirien sieht man 
oft einen, der einen Toten mit einer Kugel am Beine nach- 
schleppt. Der andere ist schon tot. Ein sibirischer Flücht- 
ling, Terroristen, Bomben, Revolver, Dolch, Plan, zur Tür 
hinaus, überfallen, Weib, vom Sohne des Gouverneurs be- 
gnadigt. Von ‚Plan‘ an handelt es sich um ein Kinematographen- 
bild, das ich sah: Unter einer Schar überfallener Terroristen befand 
sich ein schönes Weib, das auch gefangen genommen werden sollte, 
Der Sohn des Gouverneurs nahm es in seine Kutsche auf und erlangte 
seine Begnadigung. Der Vater des Mädchens wollte aber die 
Ehe mit dem Gouverneurssohne nicht zugeben. Kaum auf 
Bitten der Tochter freigelassen, versucht der Alte den Gou- 
verneur zu erschießen. Seine Tochter fängt die Kugel auf 
und wird getötet. 

[Der Zar trägt einen Bocksbart, ähnlich wie früher der Bruder 
des Malers?] Es steckt mir noch einer mit einem Bocksbärtchen im 
Kopfe. Ich weiß nicht, wer. Doch! Es ist ein Herr K., ein Deserteur, 
der überall betrog. Er hatte blaue Augen. Einmal ließ er sich den Bart 
abschneiden. 

[Beschreibe den Zaren noch genauer!] Er ist ein großer, schlanker 
Mann mit dunkeln Augen und braunen Haaren. [Ist es dein Vater?] 
Nein, der ist groß und hager! [Also doch wie der Vater?] Mit dem stehe 
ich jetzt in sehr guter Beziehung. 

[Schildere den Anarchisten!] Er ist klein, mittelfest, trägt hohe 
russische Stiefel, großen Schlapphut, braunen Rock, Schnäuzchen, 
duckt sich, will gerade den Zünder in Brand setzen, da kommt plötzlich 
ein Soldat von hinten, schlägt zu und macht dem Plan ein Ende. 
Ich sah einmal ein Bild des Zaren, unter welchem Bomben lagen. [Und 
der Anarchist?] Ich weiß, wer es ist: Ich bin’s. Es wird mir während 
dieser Übung wohler zumute. Gegen meinen Vater habe ich nicht 
das Geringste. (Etwas später:) Arno steht noch viel schlechter mit dem 
Vater als ıch. 

(Wie erklärt sich das Behagen? Wenn Max seinen Vater liebt, 
sollte er sich doch eigentlich als Anarchist unglücklich fühlen. Das 
Rätsel löst sich einfach: Der Zar bedeutet, wie Kaiser, König u. dgl. 
fast immer den Vater. Auf den trifft auch die große und schlanke Figur 
einigermaßen zu. Und doch weigert sich der Knabe, noch bevor er sich 
als den Attentäter erkannte, im Zaren den Vater zu erblicken. Erst 
später entschließt er sich, wie wir sehen werden, dazu. Hinter dem 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 145 


Zaren steckt eben jener Herr K., der sich an des Vaters Stelle setzte, 
indem er mit dessen Frau zum Verdrusse des Wachträumers ein Ver- 
hältnis anstrebte. In der Gestalt des Anarchisten rächt Max seinen 
Vater. Für diese Tat sieht der Träumer eine verhältnismäßig milde 
Strafe, die Verbannung nach Sibirien, voraus.) 

[Durch wen wird der Anarchist an seinem Unterfangen ver- 
hindert?] Durch einen großen Soldaten mit hohen Glanzstiefeln, grüner 
Uniform, roter Borte, langem, breitem Schnurrbart. Es ist Arno. Er 
ist groß, trägt Velostulpen (dadurch war Caligula = Stiefelehen mit- 
bestimmt) und ein grünes Kleid. Auch besitzt er einen Soldatenmantel 
mit roten Borten. 

Ich weiß, daß in mir noch viel Böses steckt. Darum werde ich oft 
so jähzornig. Als ıch vier Jahre alt war, fiel ich oft vor Zorn in Krämpfe 
und bekam blaue Lippen. 

Jetzt kommt mir noch etwas in den Sinn: Gewöhnlich, wenn 
ich denke, daß mein Bruder gestorben ist, so erinnere ich mich dessen, 
was er besitzt (vgl. Taucherszene). Dann sage ich mir, diesen Gedanken 
möge ich nicht leiden und schiebe ihn weg. 

Ich mache diese Übungen ungeheuer gern. 


Dritte Sitzung, 29. November. 


Gerne wollte ich schon jetzt zur Bearbeitung der bisherigen Phan- 
tasien schreiten. Allein die Assoziationen der vorangehenden Kette 
und besonders die Phantasie vom Zaren sind noch zu wenig aufgeklärt. 
Ich fahre daher in meinem etwas abgekürzten Protokoll fort. 

Zu Beginn der Besprechung wurden die rätselhaft gebliebenen 
Reaktionen nachgeprüft. Die Befunde habe ich an den betreffenden 
Orten bereits eingereiht. 

[Zar.] Tot, Mord, Dolch, Säbel, Bomben, groß, fest, Begleiter, 
Herr K., Holzsoldat, Gang, Grube, Thron, nichts weiter. Der Zar war in 
Lebensgefahr. Er sollte mit Dolch und Bombe ermordet werden. Der 
Säbel ragt über den Kleineren, der sich zu Boden duckt, hinaus. Der 
Soldat oder Offizier schaut nicht auf den Kleinen. Er hat es auf den Zaren 
abgesehen, weil „Säbel‘‘ zwischen „Dolch“ und „Bomben“ steht. 
Der Soldat erinnert an einen Holzsoldaten. Das ganze Bild ist be- 
wegungslos. 

Der Kleine duckt sich vor Angst. Ich glaube nicht, daß er eine 
Lunte anzünden will. Man sieht ihn nicht handeln. Er kauert vor dem 
Soldaten zusammen. Ja ja, es ist schon wahr, daß ich vor Arno etwas 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 10 








146 Oskar Pfister. 


wie Furcht empfinde. Er erhebt gegen den Vater Anklagen und haßt 
mich. Der Kleinere kommt mir nun nicht mehr als Anarchist vor. 
Ich zweifelte schon früher an jener Auslegung. 

(Im Traumbilde waren zwei getrennte Gedanken kunstvoll in 
einem einzigen Gemälde ausgedrückt: Die Rache an Herrn K., dem 
Liebhaber der Mutter, und die Furcht vor Arno und seinen Angriffen 
auf den Vater. Das Bild mußte bewegungslos erscheinen, weil bei der 
leisesten Handlung das Gebilde zerbricht, indem das Rachemotiv 
eine andere Bewegung fordert als der Furchtgedanke. Die Einfälle, 
die sich an die Apperzeption des Traumtableaus anschließen, verraten 
widerspruchsvolle Schwankungen, je nachdem sie im Zaren Herrn K. 
oder den Vater vermuten. Ersterem gegenüber ist der Gebückte in der 
Tat ein Anarchist, letzterem gegenüber der hilflose Vasall, der sich 
selbst fürchten muß. Dem Feinde des Vaters gegenüber ist Max der 
Angreifer, sofern er die schnöde Handlungsweise dem Vater mitteilen 
wollte, was ihm Arno verwehrte. 

[Der Attentäter in Sibirien.] Er ist der sıbirische Flüchtling, 
der einen Toten schleift. Er trägt nicht ganz ein Bocksbärtchen wie 
Herr K. Sonst gleicht er ihm. Er ist schwarz und besitzt blaue 
Augen. (Zuvor hatte Max Herrn K. das Bocksbärtchen beigelegt, 
das ihm selbst als Malergehilfen eignete. Jetzt identifiziert er seinen 
Feind vollends mit sich selbst: Herr K. ist nun der Attentäter, der mit 
Arno an derselben Kette festgeschmiedet ıst. Ein Grund der 
Identifikation liegt ohne Zweifel darin, daß der Knabe selbst die Stelle 
des Liebhabers bei der Mutter einnehmen möchte. Behilflich war auch 


der Einfall:) 
Herr K. ging einmal bei tiefstem Schnee über einen Paß, kam aber 


mit dem Leben davon. 

Der Tote ist von ziemlich langer Gestalt, sein Gesicht ist ver- 
borgen, seine Hände sind weiß. (Vgl. oben: der weiße Körper im Toten 
Meere, unten: die weißen Knie. Arno hat allerdings auffallend blassen 
Teint.) Beide sind zusammengekettet. Schade, daß ich das Gesicht 
nicht sehe! [Bilde eine Reihe! Der Tote.] Brutus, lachen, schwarz, 
Schuhe, Himmel, Hölle, Arno, bleich ... 

[Brutus.] Der Freund Arnos. 

[Lachen.] Er lacht gerade. 

[Oben hast du Brutus und deinen Bruder identifiziert. Jetzt 
tust du es wieder. Das Lachen des Brutus vertritt das Arnos, das schon 
früher vorkam. 


= 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 147 


Schuhe.] Gewöhnliche Militärschuhe. (Himmel, Hölle, Arno 
wiederholen den Schluß der Taucherszene.) 

[Das terroristische Weib.] Es ist die Mutter, die Herr K. haben 
wollte. 

[Der Sohn des Gouverneurs.] Arno. 

[Der Vater des Weibes.] Herr K. 

(Weil Arno die dem Vater übermittelte Anklage gegen die Mutter 
hintertreiben will, verdächtigt ihn Max, daß er die Mutter für sich haben 
wolle. Diese Vermutung sprach mir mein Analysand auch offen aus. 
So erklärt es sich, daß Arno als Sohn des Gouverneurs mit der schönen 
Terroristin (der Mutter) in die Kutsche steigt und Begnadigung vom 
Gouverneur (Vater) erfleht. Das Verhältnis zwischen der Mutter und 
Herrn K. hat zur Zeit der Analyse bereits ein Ende genommen. Der Be- 
werber hat sich als Schwindler herausgestellt, die Mutter haßt ihn. 
Er ist so mit Vater und Mutter in Konflikt geraten. Deshalb ließ 
sich das Kinematographenbild auf die Familienverhältnisse des Träumers 
anwenden, obwohl Herr K. als Vater des Mädchens sich ungern in den 
Rahmen fügt. Viel wird immerhin erreicht: Arno ist der unlauteren Ab- 
sicht gegen die Mutter bezichtigt, letztere wird erschossen, Herr K. 
kann seinem Todeslose nicht mehr entrinnen, auch wenn es nicht aus- 
drücklich gesagt wird. Letztere Unterlassung führt übrigens, wie wir 
sehen werden, zu neuen Mordphantasien, da der peinliche Eindruck, 
den die Untreue der Mutter hervorrief, noch nicht genügend ausgeführt 
wurde.) | 

[Moskau.] Hauptstadt von Rußland, durch Napoleon verbrannt, 
Kreml, Burg des Zaren usw. Napoleon war großmütig. Auf St. Helena 
nahm er einst einer schlafenden Schildwache das Gewehr aus dem Arme 
und stand selbst Wache, um zu beweisen, daß er ein gutes Gewissen 
habe und nicht fliehen wolle. Dies sah ich kinematographisch dargestellt. 
Auch mein Vater weilt auswärts (vgl. oben ‚„Odysseus‘‘). Er bestand 
immer auf seiner Rechtschaffenheit. Die Schildwache ist der gegen 
den Vater argwöhnische Arno. 

[Kreml.] Krim, Krimkriegs. Ein Kinematographenbild: Ein 
Sterbender übergibt einer Frau den Ring ihres im Krimkrieg gefallenen 
Gatten. Die Frau macht ein schreckliches Gesicht, wie wenn sie ihn 
töten wollte. Der Sterbende ist nicht der Gatte der Frau. Dieser ist 
vielmehr auf dem Schlachtfelde gestorben. Der Gefallene ist mein Bruder. 
Der Ring geht auf das Tagebuch, welches Arno dem Vater übergab. 
Die Mutter hat Arno lieber als ihren Mann, darum erscheint der Sohn 

10* 


148 Oskar Pfister. 


als ihr Gatte. Im Tagebuche, das ein Testament darstellt, steht, daß 
Arno über den Vater besser dachte als über die Mutter, weil Fehltritte 
bei Männern verzeihlicher sind als bei Frauen. (Rache an der Mutter, 
welcher der Sohn mit Verrat lohnt, sowie am Bruder, der im Kriege 
stirbt. Zu ‚„schreckliches‘‘ Gesicht vgl, ‚„Terroristin‘“.) 

[Kirche.] Pfarrer P. Sie helfen mir, daß es besser kommen wird. 

[Ausrufer.] In einem Kinematographentheater sah ich auf einem 
Turme einen Ausrufer stehen. Er rief Gebetstunden aus. Man sieht nur 
den Turm. Es sieht aus, als schwebte er in der Luft. Ich dachte, er werde 
bald heiser sein. Man sah ihn den Mund aufsperren, aber es kam kein 
Ton. Die Leute blieben alle stehen und beteten. Die Pharisäer stunden 
und beteten. Einigen war es ernst. Der Ausrufer ist Pfarrer P. 

[Halsweh.] Der Ausrufer bekommt es. Mein kleiner Bruder leidet 
jetzt gerade daran. Es kommt schlimmer mit dem:Ausrufer, so daß 
man den Doktor holen muß. Vielleicht stirbt der Kranke, vielleicht 
nicht. Toter Ausrufer, Blödsinn, armer Kerl, andere Stellung, Ver- 
zweiflung, Gehorsam, Wirken, Früchte bringen. 

[Blödsinn.] Es ist Blödsinn, daß der Ausrufer da hinausfteist 
und daß man sich vor ihm verhenst. 

[Armer Kerl.] Der Ausrufer, dem der Hals sicher weh tut. 

[Andere Stellung.] Er nimmt die gleiche Stellung gewiß nicht 
mehr an. (5. Dezember:) Er sucht eine andere. (Max wußte, daß ich 
eine Berufung erhalten und abgelehnt hatte.) 

(5. Dezember.) [Verzweiflung.] Er ist verzweifelt über die Wahl 
seiner Stellung. 

(5. Dezember.) [Gehorsam.] Wenn der Mann ausruft, so beugen 
sich die Leute und beten. 

(5. Dezember.) [Früchte bringen.] Oft nützt dieses Beten, oft 
nicht. Es ist Blödsinn, daß der Ausrufer so die Stunden ausruft. Die 
Leute kennen sie selber. Blödsinn ist auch der Ruf, man solle brav 
sein. Das weiß man schon selber. 

(29. November.) [Toter Ausrufer.] Grab, Ausgrabung, Wagen, 
Nick Carter, gefangen. Wieder ein Büchlein: Ein Totengräber grub 
immer für Studenten Leichen aus. Einer, der zwölf Löcher im Magen 
trug, hatte sich dieses Schicksal nach dem Tode nicht gewünscht. Da 
wurde er dennoch ausgegraben. Nick Carter stellte sich, als wollte 
er dem Totengräber helfen und fing ihn so. Der Tote ist mein Vater, 
Arno der Totengräber, weil er ihn gleichsam verkaufen will, und ich 
bin Nick Carter. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 149 


(Der Ausrufer ist demnach wieder eine Mischfigur, zusammen- 
gefügt aus dem Vater und dem Pfarrer. Beide stellen ethische For- 
derungen, die Max unangenehm berühren. Daß besonders der Ana- 
Iytiker im Wachtraum übel mitgenommen wird, ist eine Übertragung 
im Sinne Freuds (vgl. Freud, Bruchstück einer Hysterieanalyse. 
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XVIII (1905), 462 
bis 465 = Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, 2. Folge, 
104 £.) 

(5. Dezember.) [(Lachend:) Rede ich denn im Unterrichte über 
lauter selbstverständliche Dinge? Sage ich euch immer, wie ein lang- 
weiliger Moralprediger: ‚Buben, seid doch brav‘? Beschäftigen 
wir uns nicht in weihevollen Stunden viel mit religiöser Dichtung und 
Malerei? Reden wir nicht in strammen Diskussionen über moderne 
Probleme und Persönlichkeiten, wie sie im Lichte des Christen- 
tums erscheinen, oder über Lebensfragen, die ihr selbst als 
brennend mir vorlegtet?] (Max sieht sofort den tückischen Streich ein, 
den ihm seine unterbewußte Phantasie spielen wollte. Daß die Ab- 
wendung der nachteiligen Übertragung trotzdem unvollständig gelang, 
wird sich später weisen.) 

(29. November.) [Doktor.] Unser Hausarzt. Als Arno krank war, 
wollte es lange nicht besser werden. Da sagte der Arzt, der Kranke müsse 
mehr Wickel umlegen, sonst würde man ihm, dem Arzte, die Schuld 
an einer Lungenentzündung beilegen. 

[Schmerzen.] Arnos. 

[Tod.] Arno. 

[Die Verpflichtung, die Verantwortung des Doktors, seine zer- 
störte Praxis.] Die Praxis des Arztes wäre zerstört, wenn Arno gestorben 
wäre. 

[Student, Bursche, Herr A., englisch.] Man wird zuerst Fuchs, 
dann Bursche. Herr A. erzählte uns in der Englischstunde, man rufe 
unter Studenten oft aus: „Hat’s brav gemacht, hat’s brav gemacht, 
drum wird er auch nicht ausgelacht!‘“ So weit Max. 

Wir fragen zuerst nach den Komplexen, die jenen dunkeln Drang 
zu bösen Regungen hervorgerufen haben. 

Vor uns steht eine nur allzu lange Reihe von Phantasien, 
in welchen der Träumer sich mit brutalem Sadısmus an der Qual von 
verhaßten und doch im Grunde geliebten Menschen weidete. Mit schauer- 
licher Ausdauer malte uns Max Bilder, die mit häßlichen und darum 
verdrängten Wünschen zusammenhingen. Dabei kamen Menschen, 


150 Oskar Pfister. 


gegen die er nur Abneigung empfand, und es gibt solche, nicht vor. 
Diese auffallende Erscheinung könnte allerdings auch mit der Art 
der Einstellung auf die das moralische Bewußtsein hemmenden Kom- 
plexe zusammenhängen. Stellen wir nun die Phantasien zusammen: 


Tabelle A (Phantasien im Stadium des Hasses),. 
a) Auf Arno bezogen sich folgende Phantasien, die wir öfters als 
heimliche Wünsche entlarven konnten: 
1. Er muß an unheilbarer Geisteskrankheit sterben. 

. Er wird als Taucher vom Bruder ermordet und beraubt. 

. Er ertrinkt, indem er bis auf den Grund taucht. 

. Er ist im Busento begraben. 

. Er bleibt an einer Kette unter Wasser hängen. 

. Er verunglückt auf dem Velo beim Sturze aus der Schleifenbahn. 

. Er stirbt als Kapitän eines Unterseebootes. 

. Er stirbt in der Maske eines Königs. 

. Er ist; Caligula (der im Wahnsinn rasend auf einer Brücke fährt 

und ermordet wird). 

10. Er ist Nero, grausam, eitel, wird von einem Sklaven erdolcht. 

11. Er ist ein Maler, der seinen Gehilfen und sein Modell am Kreuze 
lebendig verbrennt und dafür auf dem elektrischen Stuhl endigt. 

12. Er wird als Cäsar vom Freunde getötet (?). 

13. Er verunglückt auf dem Eise. 

14. Er schwimmt als weiße Leiche im Toten Meere. 

15. Er will den Vater (Zaren) töten. 

16. Er wird als sibirischer Flüchtling tot an einer Kette geschleift. 

17. Er blamiert sich als schläfrige Schildwache vor Napoleon (dem Vater). 

18. Er liegt tot auf dem Schlachtfelde, nachdem er sterbend die Mutter 
verriet. 

19. Er stiehlt des Vaters Leiche. 

20. Er stirbt an Lungenentzündung. 

b) Sich selbst behandelt Max in folgender Weise: 

21. Er macht sich als Taucher zum Mörder und Räuber, wird gefangen, 
elektrisch hingerichtet, in die Hölle verbannt, zuletzt in den Himmel 
aufgenommen. 

22. Er wird als Gehilfe des Malers gekreuzigt und verbrannt, als Bruder 
des Malers und Gehilfe zum Mord eingekerkert. 

23. Er wird als Fliegender Holländer gerettet (undeutlich). 

24. Er wird als Pompejus ermordet (undeutlich). 


SS OO NIS OT ww BD 


26. 


27. 


28. 


29. 


Ss. 
31. 


92. 


39. 
34. 


39. 
36. 
91. 


38. 


39. 
40. 


41. 
. als Terrorist zum Mörder an seiner Geliebten. 


43. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 191 


. Er ermordet in der Gestalt des schwarzen Sklaven (Gatte der 


Berta und reicher Mann) seinen Bruder als Nero. 

Er versucht als Anarchist Herrn K. zu töten; dieser als sein Doppel- 
gänger kommt als Flüchtling nach Sibirien. 

Er entdeckt als Nick Carter den Verkauf der Leiche seines Vaters, 
damit den Verrat des Bruders. 

c) Dem Vater sind gewidmet die Vorstellungen: 

Er wird als Zar von Arno mit dem Tode bedroht. 

Er wird als Gouverneur vom Verehrer seiner Frau nach einer groß- 
mütigen Tat beinahe erschossen. 

Er macht als großmütiger Napoleon Arno lächerlich. 

Er übergibt als Sterbender einen Ring, der für ihn ein günstiges 
Zeugnis von Arnos Seite her ablegt. 

Er liegt mit zwölffach durchlöchertem Magen tot. 

d) Von der Mutter wird geträumt: 

Sie wird von ihrem Liebhaber K. erschossen, ferner 

von ihrem geliebten Arno sterbend verraten. 

e) Pfarrer P. | 

Er hilft, daß es besser mit Max wird (keine Phantasievorstellung). 

Er erscheint als blödsinniger Ausrufer, bekommt Halsweh und 
stirbt. 

f) Die Freunde Arnos kommen übel weg. 

Brugger (nachdem er Cäsar-Arno getötet hat) wird Selbstmörder. 
Keller wird unschuldig in Stücke gerissen. 

g) Berta fällt 

vor dem Bilde des gekreuzigten Bräutigams in Ohnmacht und 
wird am Kreuze verbrannt. 

h) Herr K. soll 

als Zar in die Luft gesprengt werden, kommt nach Sıbirien und wird 


i) Der Arzt Arnos 
verliert seine Praxis. 
Fast alle diese Phantasien drücken offenbar den Haß aus, als 


dessen Triebfedern zu erkennen sind: 


1. Rachedurst. Würden wir die Einfälle tiefer analysieren, so 


zeigte sich an manchem Punkte deutlich, daß der böse Wunsch auf 
erlittene Unbill zurückgeht und durch sie mitdeterminiert wird. 


2. Habsucht. (Der räuberische Taucher.) 
3. Eifersucht 


152 Oskar Pfister. 


a) auf Arno: Seine Freunde enden tragisch; 

b) auf die Mutter: Identifikation des Max mit ihrem Liebhaber; 
c) auf Berta: Max als mordender Mulatte. 

Diese Züge verraten neben der Stellung zum Vater die Anwesenheit 


= 


von Liebe. 

In der Betätigung des Hasses zeigt sich aufs deutlichste sein 
sexueller Faktor, der im extrem sadistischen und masochistischen 
Charakter fast aller Phantasiebilder zum Ausdruck kommt. | 

Entschieden sadistisch bedingt sind die Schilderungen 1 bis 19, 
21 bis 22, 25 bis 26, 32 bis 34, 36 bis 41. 

Masochistisch gefärbt sehen wir die Einfälle 21 bis 22, 24 und 26. 

Auch außerdem finden sich sadistische und masochistische Züge 
von schwächerer Ausprägung. Ob mit den Phantasien deutliche sexuelle 
Innervationen verbunden waren, stellte ich nicht fest. Es ist jedoch nicht 
daran zu zweifeln. Jedenfalls muß der Sexualität bei der Ent- 
stehung und Auswirkung des Hasses ein enormer Einfluß 
zugeschrieben werden. 

Wichtig ist die Erscheinung, daß aus dem phantastischen Material 
nur ganz wenige gütige Vorstellungen aufsteigen, und zwar nur solche, 
die gleichzeitig der Rache dienen (z. B. 30 bis 31). Nur in der bewußten 
Reflexion kommt Sympathie zur Geltung. Dies mag daher rühren, 
daß Max auf seinen Haß gegen den Bruder eingestellt war. 

Die Psychologie des Hasses stellt uns nun vor die Frage: Wann 
sind diese Phantasiegebilde eigentlich entstanden? 

Wir beginnen beim spätesten überhaupt möglichen Zeitpunkt, 
dem des Hersagens der ausgeführten Phantasie. Gegen ihn ist ein- 
zuwenden, daß schon in der Assoziationskette einzelne Wortfolgen 
deutlich die ihnen zugrunde liegende Phantasie verraten, z. B. keine 
Luft, ertrunken, Taucher, Taucherglocke, Gold. Es könnte sich höchstens 
fragen, ob einzelne Wachträume in der Seele des Knaben erst nach der 
Aussprache des Wortes, aus dessen Apperzeption sie zuletzt auftauchen, 
neu geschaffen wurden. Sicher ist ja, daß im Augenblicke, da das Glied 
der Reihe ausgesprochen wird, oft die zugehörige Phantasie dem Be- 
wußtsein fehlt, z. B. ‚‚Dnjestr, ich weiß nicht, warum.‘ Allein daß im 
Unterbewußtsein die sadistische Vorstellung bereits in jenem Moment 
vorhanden war, ergibt der Zusammenhang. Die vorangehende Er- 
mordung Neros hat mit dem Dnjestr nichts gemein, wohl aber der Tod 
Neros mit der hinter „‚Dnjestr“ steckenden, im Toten Meere schwim- 
menden Leiche Arnos. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 19893 


Schon die Wortfolge der Reaktionsketten ist somit, wie wir an 
vielen anderen Punkten zeigen können, nur unter der Annahme er- 
klärlich, daß die bei der späteren Exploration ausgehobenen Phan- 
tasien im Augenblicke der Reihenbildung schon vorhanden waren, ohne 
bewußt zu sein. Ein einziges Mal schien erst während der analytischen 
Bearbeitung der Kettenworte die Phantasie gestaltend tätig zu sein. 
Es war damals, als der am Boden kauernde Anarchist sich in den Freund 
des Zaren, der diesen schützende Soldat sich in einen Attentäter ver- 
wandelte. Aber gerade da ergab die Fortsetzung der Analyse, daß beide 
Gedankenzüge bereits jenem Tableau zugrunde lagen, weshalb es zur 
Bewegungslosigkeit verurteilt war. | 

Wir kommen somit zur Überzeugung, daß im Augenblick, da das 
Signal des assoziierten Wortes emporsprang, die ihm zugehörige Phan- 
tasie im Unterbewußtsein bereits gegeben war. Seit wann? Wahrschein- 
lich öfters ungefähr seit der Zeit, da der die Szenerie liefernde Eindruck 
eintraf. Daher machten jene Bilder einen so starken Eindruck. Oft 
aber auch wurde möglicherweise das Bild erst später zum Träger der 
grausamen Gedanken. Darum blieb es haften. Der vorhandene Komplex 
nahm es in Empfang und wußte sich sogleich oder später in ihm zu ver- 
stecken und zu betätigen, so daß er in seiner Verhüllung auf den Rui 
des Reizwortes desto leichter ins Bewußtsein aufsteigen konnte, während 
er ohne Verhüllung wegen seines peinlichen Charakters nur schwer ins 
Bewußtsein eingetreten wäre. Öfters wurde auch durch ein Erlebnis 
ein entsprechendes früheres Bild ausgelöst und dieses jetzt in den 
Dienst des Komplexes gestellt. 

Die früheste mögliche Entstehungszeit der verschiedenen 
Phantasien läßt sich somit aus folgenden Daten der vorkommenden 
Beobachtungen ableiten: 

Arnos geistige Umnachtung: 1908, IX. 

Leiche aus dem Wasser gezogen: 1908, Sommer. 
Kinematographenbild der Taucher: 1903 oder 1904. 
Hängenbleiben im Seegras: 1907. 

Grab ım Busento: 1908, X. 

Arnos Abenteuer mit der Kette: 1908, VII. 
Unterseeboot (Kinematographenbild): 1908, IX. 
Erlebnis mit der Wachsmaske: 1905. 

Die Erzählung vom Reichen, der auf den Zehen steht: 1907. 
Geschichte vom mörderischen Maler: 1908, I. 

Arno prahlt mit seiner Todesverachtung: 1908, IX, X. 


154 Oskar Pfister. 


Max ist in Gefahr zu ertrinken: 1903. 

Ferienaufenthalt: 1908, IX. 

Caligula im Geschichtsunterricht behandelt: 1908, XI (3 Wochen vor 

der Sitzung). 

Nero im Geschichtsunterricht behandelt: 1908, VII. 

Liebesgetändel mit Berta: 1904 bis 1907. 

Freundschaftsbund zwischen Arno und Brugger: 1908, XI. 

Odyssee: 1908, V. 

Arnos Hirnerschütterung: 1903. 

Theatervorstellung: 1906. 

Dnjestr: 1908. XI (3 Wochen vor der Sitzung). 

Das Tote Meer: 1906. 

Bild des Zaren (Kinematographenbild): 1908, V. 

Der Geschleifte in Sibirien: 1905, V und später. 

Die Tragödie des terroristischen Weibes: 1907, XI. 

Bruch mit Herrn K. (Erlebnis): 1908, V. 

Napoleon als Schildwache (Kinematographenbild): 1907, XI. 

Moskau 

Kreml 

Der Sterbende mit dem Ring (Kinematographenbild): 1908, XI (2 Tage 

vor der Sitzung). 

Der Ausrufer auf dem Turm (Kinematographenbild): 1908, V. 

Pfarrers Berufung: 1908, IV. 

Der Leichenraub (Nick Carter): 1906. 

Arnos Gefahr in Krankheit: 1908, XI (3 Wochen vor der Sitzung). 
Angesichts dieser Daten mußte ich meine anfängliche Meinung, 

die sadistischen Phantasien bilden eine Kompensation für die gehemmte 

masturbatorische Sexualbetätigung, fallen lassen. Immerhin ist es 

denkbar, daß die Reproduktion einer so großen Menge von grausamen 

Vorstellungen mit der Überwindung der Onanie zusammenhängt. 

Man vergesse übrigens nicht, daß am Abend vor der großen Assoziations- 

kette die Erbitterung gegen den Bruder unterdrückt, also nicht ab- 

reagiert worden war. 


} Geographiestunde: 1908, XI (eine Woche vor der Sitzung). 


Vierte Sitzung, 5. Dezember. 


[Von der langen Kette wollen wir noch das letzte Wort näher 
besehen, nämlich: 


englisch.] Indien, England, Doktor Meier, Schulknabe, 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 199 


Felsen, Zylinder, Felsenvorsprung, Wasser,... Schiff, 
Untergang, Kapitän, Land, fertig. 


[Indien.] Dort wird englisch gesprochen. Ich sehe ein Kine- 
matographenbild: von zwei Indern prahlt der eine, um einem Fräulein 
zu imponieren. Ein Fischer, der nie prahlte, liebte sie auch. Als einst 
ein Tiger drohte, lief der Prahlhans immer hintendrein und fürchtete 
sich. Da rettete der Fischer das Fräulein vor dem gegen sie anspringenden 
Tiger, den er ın ein Netz verwickelte. Auch der Feigling wurde in einem 
Netze gefangen und durchgeprügelt. [Wie sieht er aus?] Er ist ein 
Engländer, trägt Hut, Bart, Schnauz, hohe Gamaschen. Wegen der 
Gamaschen wird es mein Bruder sein. Der Mann war eitel. Er wurde 
gleichsam aus seinem Volke herausgeworfen. Auch Arno ist eitel. Nach 
seiner Krankheit wollten ihn zwei Lehrer nicht mehr aufnehmen. 

[Doktor Meier.] Er erzählte uns von England. Einmal berichtete 
er, wie drei Schiffe strandeten. Der Kapitän blieb auf einem der Schiffe, 
damit es nicht als herrenlos gekapert werde. Der Kapitän ist immer der 
gleiche. Wenn er untergegangen wäre, so hätte das Schiff niemand 
gehört. [Dachtest du in jener Geographiestunde an Arno?] Nein, gar 
nicht. [Dachtest du vielleicht, du hättest gerne ein herrenloses Schiff 
angetroffen?] Herr Doktor Meier sagte, wenn man das Schiff nicht in 
Besitz nehme, so hole es einfach ein anderer. Ich dachte, dann ginge 
ich es schnell holen. Ich fragte mich, wie lange der Kapitän wohl noch 
auf dem Schiffe bleibe. 


[Schulknabe.] In England haben schon die Schulknaben Zylınder 
an. Einer kletterte auf dem Felsenvorsprung der Ruine Regensburg 
in die Höhe, kam aber nicht hinauf. Es ist mein Bruder, er hat sein Ziel 
nicht erreicht. 


Mit dem dunkeln Drang steht es besser. Es ist aber noch 
mehr da. 


(Max bestätigt somit treffend den Eindruck, den die Einfälle 
erwecken.) 


Zusammenstellung der in der vierten Sitzung produzierten 
Phantasien über dieBrüder: 


Sympathisches Verhalten zu Arno: 

1. Er wird als Prahlhans auf der Tigerjagd geprügelt. 

2. Er schwebt als Kapitän in Gefahr, mit seinem Schiffe unter- 
zugehen, damit Max es erbe. (Der Wunsch, daß die Katastrophe 


156 Oskar Pfister. 


eintrete, tritt bei Max deutlich hervor, seine Erfüllung steht 
aber aus.) 

3. Er kann die gefährliche Ruine nicht erklimmen. 

Die geschilderten Phantasien ergeben ein zunächst für die Psycho- 
logie der Rache unseres Analysanden, aber auch für gewisse andere 
Personen und Komplexe gültiges Gesetz, das wir in die Worte kleiden: 

Der verdrängte Haß bestimmter Individuen bildet 
aus geeigneten erlebten oder nur vorgestellten Erfahrungs- 
inhalten nach den Gesetzen der Traumarbeit Phantasien, 
durch welche er sich vorstellungsmäßige Befriedigung 
schafft. Diese Komplexbefriedigung kommt dadurch zu- 
stande, daß ein auf Schädigung des Gehaßten gerichteter 
Wunsch deutlich oder verhüllt im Inhalt des Wachtraumes 
als verwirklicht dargestellt ist. Die sexuelle Komponente 
des Hasses kommt in Form des Sadismus und Masochismus 
zum Ausdruck. Die „Wollust des Hasses‘ enthüllt der Analyse ihr 
Geheimnis. 

Wie weit der aus den Phantasien abgeleitete Satz auf andere 
Individuen angewendet werden darf, soll uns hier nicht weiter be- 
schäftigen. Nur beiläufig bemerke ich, daß ich ähnliche Erscheinungen 
bei vielen Personen beobachtete, während andere nichts Ähnliches 
im Wachzustande produzieren, womit natürlich nicht gesagt ist, daß die 
Phantasien auch subliminal fehlen. — Es liegt auf der Hand, daß die 
angegebenen Wachträume, die sich bei Max oft mit obsedierender 
Aufdringlichkeit einstellten, als Komplexfunktionen anzusehen sind, 
welche die Bedeutung von Sicherheitsventilen für das menschliche 
Geistesleben besitzen. 


II. Komplexphantasien im Zeichen der Versöhnung. 


Fünfte Sitzung, 10. Dezember. 


Max hat mit seinem Bruder nach langem, durch Mißtrauen gegen 
Arnos Entgegenkommen bestärktem Zögern offen geredet und sich mit 
ihm ausgesöhnt. Die knappe Zeit erlaubt nur eine kurze, oberflächliche 
Kette: 

[Max.] Arno, Haß, Baum, der kleinste Bruder, Bücher, Kette. 

[Arno.] Mein Bruder ist gut, bleich im Gesicht. Sein Kleid ist grau. 

[Haß.] Vorher war Haß zwischen uns, jetzt nicht mehr. 

[Der kleinste Bruder.] Der Haß auf ihn. Er ist neckisch, aber gut. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 157 


[Baum.] Ich sehe ihn vor Ihrem Fenster. 
[Bücher.] Bevor ich zu Ihnen kam, rüstete ich meine Bücher. 
[Kette.] der 5!/,jährige Kleine zerriß mir meine Uhrkette. 


Zusammenstellung: 


a) Urteil über Arno: 

1. Er ıst gut. 

2. Er ist bleich. 

3. Der frühere Haß ist verschwunden. 
b) Urteil über das Brüderchen: 

1. Es ist gut, aber neckisch. 

2. Es zerriß meine Uhrkette. 


(Unterbewußte Phantasien treten nicht hervor, vielleicht weil das 
Reizwort zu direkt das Wachbewußtsein herausforderte.) 


Für den Erzieher ist wichtig die Beobachtung, daß nun der Groll 
gegen das Brüderchen, wiewohl er kräftig verdrängt wurde, hervortritt. 
Deswegen das Überspringen von den Erinnerungen zu einem visuellen 
Eindruck, dem Baum. Hinter der Erinnerung an das Einpacken der 
Bücher steckt wieder jener Familienkomplex, den ich dem Leser vor- 
enthalten muß. 


Sechste Sitzung, 16. Dezember. 


[Willst du heute ein beliebiges Wort nennen, an das sich eine lange 


Kette anschließen soll?] Ja, Erde. Es spielt sich gewöhnlich alles auf 
der Erde ab. 


Erde, Geheimnis, Wasser, Mond, Atmosphäre, Saturn, 
Erdball, Splitter (Pause), Mars, Menschen, Verbindung (Pause), 
Glut, Eis, Nordpol, Schlitten, Andr&e, Grönland, Walroß, 
Sonne, Strahlen, Mekka, Indien, Bahn, Huber, Moschee, 
Pantoffel, Reise, blind, Blödsinn, Arbeit, Belohnung, Himmel, 
Schwester und Bruder, Germanen, Walhalla, Eskimo, Eisbär, 
Beil, Schlitten, Schiff, eingefroren, Andre&e, fertig. (3'/, Min.) 

[Erde.] Erdkruste. Sie ist dünn. Darunter glühende Lava. Welt- 
schmerz. Mein Bruder hatte Weltschmerz. (Arno erzählte mir am 14. De- 
zember, er habe mit 9 Jahren eine Erdkarte oder ein Relief gesehen; 
da sei ihm Weltschmerz aufgestiegen, da die Erde so klein sei.) Auch 
ich hatte schon Weltschmerz. Gerade jetzt. Aber weil Sie im Religions- 
unterrichte davon redeten, wirkt das nicht. 


158 Oskar Pfister. 


[Geheimnis.] Die Erde birgt Geheimnisse. Das Naturgeheimnis 
ist eng verbunden mit der Religion. 

[Wasser.] Das Meer. Meerschiff. Das Meer birgt auch Geheimnisse, 
auch Schätze. Der Taucher. Meerfisch. [Welcher Taucher?] Der das 
Beil hält. (Feuchte Augen.) Das andere Bild, der sterbende 
Taucher, ist wie von einer Wand verdeckt, einer ganz 
schwarzen Wand. 

[Mond.] Eine Fahrt um den Mond. Es ist ein Kinematographen- 
bild. Ein Automobil fuhr durch die Alpen und Wolken nach dem Mond. 
Dann gab es ein Wettrennen auf den Saturn, durch die Wolken auf die 
Erde. Auf einer Straße wird das Automobil angehalten, in ein Bett 
verwandelt, um die Polizei irrezuführen, dann wieder zurückverwandelt, 
um dann zu verschwinden. Ich komme nicht darauf, was alles bedeutet. 
[ Wer sitzt im Automobil?] Einer in einem Hemde mit einer großen Brille, 
ungefähr wie Arno. Neben ihm eine Dame mit offenem Haar, auch im 
 Hemde und auch mit Brille. [Wer könnte es sein?] Man kann es wegen 
der Brille nicht beschreiben. [Haarfarbe?] Hell. [Größe?] Ungefähr 
wie Arno. Es könnte Berta sein, ja ja! [Du willst also nicht mehr auf ıhn 
eifersüchtig sein?] Dazu muß ich mich gar nicht anstrengen. 

[Die Polizisten.] Sie wollen nicht ernstlich verhaften, sie treiben 
nur Scherz. Beide haben krumme Beine. Der Kleinere hat X-Beine 
und kommt gar nicht vorwärts; er trägt einen blonden Schnurrbart 
und sieht aus wie ein Hanswurst. Ich habe keine Ahnung, wer es ist. 
Ich kann es doch nicht sein. [Am Ende ein Lehrer Arnos?] Ei natürlich ! 
Herr Y. wird wegen seiner Kleinheit und seiner X-Beine ausgelacht, 
von Herrn Z. heißt es, er mache O-Beine, wenn er an der Reckstange 
hängt (vgl. die zwei Lehrer der 4. Sitzung). 

[Atmosphäre.] Sie wird in der Höhe immer dünner. Oft werden 
Registrierballons entsandt, die platzen. Sie haben einen Fallschirm. 
Sonst fällt mir nichts ein. [Doch !] Arno möchte gern Luftschiffer werden. 
Zeppelin. 

[Saturn.] Rennbahn, Automobilrennen. Ich sah auf einem Kine- 
matographenbild, wie Automobile sich überschlugen und durch eine 
Wand brachen. L. ist ein berühmter Fahrer. Er trägt blonden Schnurr- 
bart und volles Gesicht. Ihm ist noch nie etwas passiert. Es ist mein 
Vater. | 

[Erdball.] Er ist ein Splitter der Sonne. Sonst weiß ich nichts. 
Doch! ‚In Splitter fällt der Erdenball einst gleich dem Glück von Eden- 
hall.” Der junge leichtsinnige Lord in jenem Gedicht ist schlank wie 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 159 


Arno. Vor einer Woche wünschte sich Arno leichtsinnigerweise einen 
Degenstock. Ich fand, das passe nicht für ihn und wollte es ihm sagen, 
unterließ es aber. [Wie ging es dem Lord?] Er wurde erstochen. (Die 
sadistische Phantasie erhielt sich, weil eine Verdrängung stattgefunden 
hatte.) 

[Mars.] Man versuchte schon, mit Marsbewohnern in Verbindung 
zu treten. Auf einem Bilde des Mars sah ich aber keine Leute. 

[Menschen.] Zuluindianer. So nannte ich scherzhaft einen 
Kameraden. Bertas Gatte ist ein guter Mensch. Brutus nannten wir auch 
oft einen Zulu. 

[Glut.] Das Innere des Erdballs. Vulkan, Pompeji, verschüttet, 
Menschenformen. Man gräbt Teller und Gipsfiguren aus, Statuen, 
Bismarck, weiße Bilder, nichts mehr; den Ritter, den Sie uns auf Dürers 
Bild zeigten. Der Teller trägt ausgestemmte Ornamente, Kreise und 
Spiralen. Einen solchen Teller, der aus Ägypten stammte, ließ die 
Mutter in einer Kellerecke stehen. Da ging ich und verkaufte ihn um 
zwei Franken. Dies geschah vor vier Jahren. — Bismarck hatte Willens- 
kraft. Er trug einen abwärts gebogenen Schnurrbart. Sie sind es. 
[St. Georg von Dürer.] Groß, scharfe Augen, stramme Beine, gerade 
Haltung. Wieder Sie. 

[Eis.] Letzthin wurde Andrees Grab angeblich gefunden. Er wollte 
sein Glück versuchen und fukr mit dem Luftschiff (Sic!) hin. Er wollte 
etwas für die Wissenschaft erobern und ging dabei unter. Er trug einen 
heruntergebogenen Schnauz. Sie sind es. Er hatte zwei Gefährten, 
die auch umkamen. Ich kann sie nıcht beschreiben, da man sie nur 
aus der Ferne sieht. Sie stellen wohl Arno und mich vor. [Sind wır 
denn an ein schlimmes Ziel gelangt?] Im Gegenteil. Es will heißen, 
daß Sie vieles erklärten und sich um uns Mühe gaben, und daß es später 
vielleicht nichts nutzt. Hoffentlich wird es aber nicht so kommen. 
Es ist ja unmöglich, zu vergessen, was Sie mit uns besprachen. Ich 
glaube, es steckt auch der Gedanke hinter dem Bilde, daß ich wegen 
dieser Besprechung meine Aufgaben noch nicht machen konnte. 

[Nordpol.] Gehört zu Andree. 

Ich spüre, daß die Antworten viel leichter kamen als früher, weil 
jetzt alles abgeladen ist. 


Siebente Sitzung, 5. Jänner 1909. 


Die Stellung zum Bruder ist jetzt tadellos. „Ich kann Ihnen 
deswegen nur dankbar sein.“ Die Beiden sind wirklich ein Herz und eine 


160 Oskar Pfister. 


Seele geworden und besprechen gewisse für beide höchst peinliche 
Verhältnisse brüderlich. Von den Sherlock-Holmes-Geschichten will 
Max keine Ahnung mehr haben, ‚‚wiewohl wir noch lange nicht alle 
behandelten‘. — Wir setzen die begonnene Analyse der Kette fort. 

[Schlitten.] Dolder (guter Schlittweg). 

[Grönland.] Zürichbergstraße, Schlitten, Mädchen, meine Freundin, 
die ich aus der Ferne liebe. Ich traf auch beim Schlittenfahren ein 
Mädchen, dessen Vater eine Grönlandexpedition machen will. Dies 
geschah aber erst vor einigen Tagen. 

[Walroß.] Ich habe immer den bisher unbefriedigten Drang, jemand 
lieb zu haben. (Kompensation für den Haß, zugleich seine Ursache.) 
Jetzt kommt mir ein abenteuerliches Büchlein in den Sinn: Ein Matrose, 
namens Klaus, stand auf einer Eisfläche. Da hackte ein Walroß das 
Eis unter seinen Füßen auf. Er aber packte das Tier an den Zähnen 
und drückte es nieder. So wurde es gerettet. Der kleine, starke Matrose 
bin ıch, das Ungetüm die von mir besiegte Onanie. 

[Sonne.] Himmelskörper. Weltuntergang. Nordlicht. 

[Strahlen.] Fallen über die ganze Erde bis nach Mekka. 

[Mekka.] Teppich, Perser, Turban, demütig, blind, glühender 
Stein, tot, fertig. 

[Teppich.] Die Perser beten auf einem Teppich und wallfahren 
nach Mekka. Einige gehen zu Frauen, die glühende Steine haben, und 
lassen sich ihre Augen verderben, bis sie blind sind, um sich selber 
vor Mohammed zu demütigen. Dabei starben viele. Aber das ist 
ja gar nicht möglich, an ausgebrannten Augen zu sterben. Ich weiß nicht, 
was dahinter steckt. [Siehst du solche Perser?] Ja, einen mit einem 
Bocksbärtchen, Turban, Strohpantoffeln, blauen Augen. [Siehst 
du eine solche alte Frau?] Ja, eine, die einer Hexe gleicht, mit glühenden 
Augen und herabhängenden Haaren, wie bei Aschenbrödel. Es ist die 
Mutter (vgl. ihren schrecklichen Gesichtsausdruck bei der Ringüber- 
gabe), der Perser ihr Liebhaber, Herr K. Ich wünschte, daß er sich 
an ihr die Augen verbrenne und verderbe. 

[Indien.] (Muß verschwiegen werden.) 

[Bahn.] Die Verbindungsbahn zwischen Indien und Mekka. Ich 
sehe einen Arbeiter, der Frondienste leistet und nach Mekka zieht. 
Es ist der nämliche Perser (Herr K.). (Weshalb er eine Verbindung 
zwischen Indien und Arabien herstellen soll, kann hier nicht erörtert 
werden.) 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 161 


[Huber.] Mein Lehrer. Er erzählte von seiner Reise nach Karthago 
und berichtete von mohammedanischen Sektierern, die sich selbst 
peinigten, indem sie den Kopf herumwarfen, sich durch die Muskeln 
stachen und von Schlangen beißen ließen. Seine Frau wurde dabei ohn- 
mächtig. Nun kommt wieder das Bild von der Blondine, die in der 
Gallerie das Porträt ihres Geliebten erblickt. 

Die Sektierer sind braun und nur mit einem Tuch bekleidet. Ich 
sehe nur einen von Ihrer Größe. Sie sind es. Die Sektierer quälen sich 
für jemand ab, für Mohammed, für Jesus. 

Die Ohnmächtige ist Berta. Der Gekreuzigte ist mittelgroß, ganz 
nackt, etwas fest, nicht so sehr schlank. Er ist wie der Gekreuzigte 
auf Dürers Bild. Den Kopf sehe ich nicht. Es ist, wie wenn eine schwarze 
Wand darüber wäre. Der Körper ist auffallend weiß, besonders das Knie, 
die Muskeln. Es ist Arno. [Wir vergaßen früher nachzuforschen, wer der 
gekreuzigte Gehilfe des Malers sei.] Ich kann mich unbedingt nicht mehr 
an Ihn erinnern. Er sah etwas schauspielerhaft aus, machte ein ver- 
liebtes Gesicht, trug gebügelte Hosen, wie eine Art Bureaustift. Der 
Gekreuzigte ist mittelgroß. Ich kann nicht sagen, daß es mein Bruder ist. 
Ich glaube, ich bin’s. 

Unten am Kreuze stehen Mulatten. Ich sehe nur einen, fühle aber, 
daß noch andere da sind. Der eine sitzt, ein Knie hat er gebeugt und 
sieht zum Kreuz empor. Es ist Pfarrer P. 

Auch Nero kommt hier vor, ich sehe ihn aber nicht. Er spielt 
auch keine Rolle. Er ist mein Vater. 

(Der fanatische Sektierer, der sich um eines Höheren willen 
mißhandelt, bildet somit eine gemilderte Neuauflage des Ausrufers 
auf dem Turme. 

Berta wird ohnmächtig, da sie in dem Gekreuzigten den Verlust 
des Geliebten sieht. Wer ist’s? Wahrscheinlich eine Mischfigur, zu- 
sammengesetzt aus Arno und Max. Denn beide werden von Berta 
geliebt, ihre Verschmelzung ergibt eine mittlere Größe, während sonst 
Arno groß, Max fast immer klein auftritt. Die schwarze Wand über 
dem Gesicht entspricht genau der, die in der vorigen Sitzung den 
sterbenden Taucher verdeckte. Die Auslegung der Phantasie mag etwa 
so lauten: Die früheren Kreuzigungsszenen im Atelier des Malers (A 11, 
22, 40) erscheinen ins Erhabene umgedeutet. Freilich spielt noch ein 
gewisser Sadismus und Masochismus mit, aber bereits sublimiert, 
insofern Max das Schicksal seines Bruders teilt und das Todeslos Jesu 
übernimmt. Das weiße Knie entspricht der Gewohnheit, kurze Bein- 

Jahrbuch für psyehoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 11 


:162 Oskar Päster. 


‚kleider und Strümpfe zu tragen. Zu Beginn der Phantasie wird die 
Frau vor dem Sektierer, der sich quälen läßt, also dem Pfarrer, ohn- 
mächtig, wie A 39 die Geliebte vor dem Bilde des vom Maler Ge- 
kreuzigten. Somit ist auch von seinem Tode die Rede, und es finden 
die Brüder mit ihrem Lehrer, wie früher im Wachtraum von Andree, 
ein gemeinsames heroisches Ende. -» 

Weshalb bin ich nun zur Rolle des Zuschauers verurteilt worden? 
Weshab trete ich als Mulatte auf? Da Berta dabei steht, ist anzu- 
nehmen, daß Max mir seine Geliebte als Gattin abgetreten hat. Die 
Anwesenheit noch anderer Mulatten fügt aber hinzu: Jetzt kann sie 
haben, wer will. (Vgl. B 14: Brutus als „Zuluindianer‘.) Eine kleine 
boshafte Ironie ist unverkennbar. Als Zuschauer könnte ich mich über 
den freiwilligen Opfertod der Burschen freuen. Als Mulatte trage ich 
aber auch das Odium, dieses Ende aus Eifersucht gewünscht zu haben 
und mich am Anblicke des Gekreuzigten vielleicht sogar zu weiden, 
wie seinerzeit Arno als Maler sich am Tode seines gekreuzigten Ge- 
hilfen erfreut. Max empfindet die Analyse insgeheim als ein wenig 
peinlich. — Der Ausdruck ‚auch Nero“ erinnert an ‚die brennenden 
Fackeln des Nero‘, woselbst Arno als Maler die Rolle des Zuschauers 
spielte. Nehmen wir hinzu, daß Arno auch als Nero ausführlich gekenn- 
zeichnet wurde (grausam, eitel, Dichter, Schauspieler), so werden wir 
vermuten dürfen, daß auch jetzt der römische Kaiser den Knaben 
repräsentiert, zumal der Vater außer seiner Würde mit Nero nichts 
gemein hat. Der Vater kann doch dahinter stecken, indem er und Nero 
sich aussprachen undnäher kamen. Soerklärtsich auch die Unsichtbarkeit 
Neros. Für eine wenig beteiligte Mischperson mußte keine sichtbare 
Figur geschaffen werden.) 

[Moschee.] Nichts. Doch! Der Ausrufer auf dem Turme. Das 
. Bild entschwindet mir, wie wenn es nicht hervorkommen wollte. Wahr- 
scheinlich, weil die Geschichte schon mitgeteilt ist. 

[Pantoffel.] Herr Huber bestach einen Aufseher und betrat in 
Pantoffeln eine Moschee. Mit Schlauheit kommt man überall durch. 

[Reise.] Nach Mekka. Ich sehe wieder die Eisenbahn, die im 
Abendrot durch Afrika fährt. (Die früher erwähnte Bahn kam von 
Indien her. Die Erinnerung an Herrn Hubers Reise hat die Szene ver- 
schoben. Der Komplex des Hasses gegen Herrn K. ist noch nicht völlig 
abreagiert, deswegen erscheint die Bahn noch einmal, er ist aber, so 
kann man vielleicht vermuten, bald erledigt, darum das Abendrot.) 

[Blind.] Wieder das mit dem glühenden Stein (Herr K.). 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 1693 


[Blödsinn.] Es ist ein Blödsinn, sich blenden zu lassen, um Gott 
besser zu gefallen. (Bezieht sich vielleicht noch ein wenig auf Pfarrer P., 
der mit Herrn K. vermischt wird, vgl. oben „blödsinniger Ausrufer‘“.) 

[Arbeit.] Man sollte lieber arbeiten, dann gefällt man Gott und 
erreicht sein Ideale. 

[Belohnung.] Das ist dann die Belohnung für die Arbeit. 

[Himmel.] Man braucht sich dann nicht vor der Hölle zu fürchten. 

[Schwester und Bruder.] Die Mohammedaner stellten sich vor, 
Himmel und Erde seien Bruder und Schwester. Zur Strafe wurden sie 
auseinander gerissen. Ich und Arno. (Homosexueller Anklang.) Wenn 
man nicht gegen die Hölle kämpft, so wird man auseinander geführt. 
(Ich hatte aus der australischen Kosmogonie erzählt, Regen und Tau 
bedeuten die Tränen, welche die wegen eines Unrechtes getrennten 
Geschwister Himmel und Erde aus Sehnsucht nacheinander ver- 
gießen. Die Liebe zu Arno bricht somit hier recht kräftig hervor.) 

[Germanen.] Die Germanen glaubten an Walhalla. 

[Walhalla.] Dort werden dem verwundeten Ritter die abgehauenen 
Glieder wieder angesetzt. Ich sehe ihn nicht. Höchstens St. Georg 
von Dürer. Er und sein Pferd tragen Rüstung, er sitzt stramm im Sattel, 
genau wie im Bilde. Das Gesicht sieht man nicht. Der Schnurrbart 
ist schwarz. [Das reimt sich doch nicht!] Es fiel mir eben so ein. Die 
Figur ist schlank und groß. Pfarrer P. Nein, Sie können es nicht sein, 
ich dachte nicht mehr an Walhalla. (Es handelt sich um den Bruder.) 
Auf einem Bilde sah ich vor 1 bis 2 Jahren, wie zwei Könige miteinander 
turnierten. Der eine von ihnen, Heinrich IV. von Deutschland, wurde 
an der Stirne verwundet. (Arno hat vor etwa zwei Jahren Max absichtlich 
ein Loch in den Kopf geschlagen. Protestantische Monatshefte 1909, 
21. Die Könige sind Arno und Max.) Er trug ein Bocksbärtchen, aber 
kein spitziges. — Jetzt sehe ich wieder ein anderes Bild, auf dem das- 
selbe dargestellt wird, wieder König Heinrich, aber er ist ein anderer, 
obschon er genau gleich aussieht. Er trägt einen Degen in der Hand 
und kämpft gegen fünf oder sechs Feinde. Er ist groß, schlank, seine 
Augen sind schwarz. Er sieht ungefähr aus wie der Bruder des Malers. 
Ich bin’s. 

(Die beiden Könige sind Arno und Max. Der eine von ihnen, 
der wegen des Bocksbärtchens mit dem Gehilfen des Malers, also Max, 
zu identifizieren ist, erscheint zuerst als Verwundeter, der von seinem 
Bruder, dem andern König, verletzt wird, sofort aber als ein anderer 
Mensch, der nicht mehr mit dem Bruder, sondern mit fremden Feinden 

441% 


164 Oskar Pfister. 


siegreich kämpft. Dabei hat Max die Statur des Bruders angenommen, 
um sein Einssein mit ihm auszudrücken.) 

[Eskimo.] Er denkt sich das Jenseits als Polarlandschaft voll 
Eisbären. 

[Eisbären.] Wo sie sind, kann man prächtig Schlitten fahren. 

[Schiff.] Eingefroren. Andr &e wollte auch in der Polargegend 
zu landen versuchen. Ich sehe sein Brustbild, die schwarzen Augen, den 
Sehnurrbart, die energischen Züge. Es ıst Pfarrer P. 

(Der scheinbar in der Luft schwebende Ausrufer verwandelt sich 
in den unglücklichen Luftschiffer.) 

[Es fällt mir auf, daß dein Bruder nie deutlich hervortrat.] Wir 
kommeneben so gut miteinander aus, daß gar keinEindruck 
zurückbleibt. Arno ist jetzt sehr artig mit allen. Ich bemerkte 
vorher jeden Tag, daß mich etwas drückte. Ich meinte, es 
wäre ein Stein. Jetzt ist dies ganz verschwunden. Ich fühle 
mich als andern Menschen. 


Achte Sitzung, 15. Jänner 1909, 


Der Versuch, über den Sektierer und Heinrich IV. mehr zu er- 
fahren, mißlingt. Max berichtet: „Es wird immer schwieriger, etwas 
zu den Worten, die ich aneinander füge, zu finden. Es geht einfach 
nicht mehr. Es ist, wie wenn es fertig wäre. Wir haben zwar lange nicht 
alle aufregenden Bilder und Bücher, die ich kennen lernte, besprochen. 
Allein sie kommen mir nicht mehr in den Sinn. Im Anfang hatte ich 
das Gefühl, daß die Bilder von selbst aus mir heraussprangen. Natürlich 
ist mir dabei wohl geworden, das ist klar. Sobald man aber denkt, 
es sel nicht mehr nötig, ging es schwerer. In den letzten Stunden war 
der Drang nach Befreiung nicht mehr so stark, darum wurden mir die 
Antworten unangenehm.‘ Daher also die schlechte Behandlung des 
Analytikers! 

Im Wachbewußtsein anerkennt übrigens der Knabe willig den 
hohen Wert der vollzogenen Analyse. 

[Was hast du bis jetzt aus unseren Beobachtungen gelernt?] Er- 
stens können aufregende Bücher und Kinematographenbilder einen 
ganz ruinieren. Sie lassen starke Eindrücke zurück, die man fast nicht 
mehr aus sich heraus bringt. Der geringste Streit in der Familie ver- 
wandelt sich unter dem Einflusse jener Bilder in Gift und Galle, so daß 
der Zwist vergrößert wurde. [Kamen dir die Bilder während des Streites 
in den Sinn ?] Doch, doch! Nicht im Augenblicke des Streites, aber gleich 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 169 


nachher. Ich sah dann gewöhnlich Arno als ertrunken oder als über- 
fahren. (Max behauptet, einmal nach Schluß der eigentlichen Sitzung 
von einem Bahnwärtermädchen erzählt zu haben, das überfallen und 
auf die Schienen gebunden, aber von einem Zugführer gerettet wurde. 
Ich kann mich dieser Phantasie jedoch nicht entsinnen. Die Be- 
sprechungen während der Sitzung wurden wörtlich nachgeschrieben.) 

Zweitens habe ich gelernt, daß man die häßlichen Bilder nur mit 
Hilfe der Analyse entfernen kann. Letztere ist so stark, daß die Romane 
und schauerlichen Bilder keine Macht mehr haben, um zur Lektüre 
der Romane und zum Besuche der Buden zu verführen. 


Drittens weiß ich jetzt, daß es doch schön ist, wenn man in Frieden 
und ohne Zwietracht leben kann. Jetzt habe ich Freude an der Religion, 
an den Freunden und an der Schule. Von der Onanie weiß ich mich 
frei. Ich fühle mich jetzt vollkommen glücklich und leicht. 

Die Phantasien der sechsten und siebenten Sitzung ordnen wir in 


Tabelle B (Phantasien im Stadium der Versöhnung). 
Sechste Sitzung. 


a) Phantasien über Arno: 
l. Er leidet an Weltschmerz (keine Phantasie). 
. Er erscheint als sterbender Taucher, aber hinter einer ganz schwarzen 
Wand. 
3. Er erlebt mit Berta zusammen lustige Abenteuer im Automobil 
und wird von den Lehrern nur angehalten, nicht bestraft. 
4. Er fliegt in einem Ballon auf, welcher platzt, rettet sich aber mit 
Hilfe des Fallschirmes. 
5. Er geht als Lord von Edenhall unter. 
6. Er endet an der Seite Andre&es am Nordpol. 
6) Sieh selbst bedenkt Max mit folgenden Einfällen: 
7. Er litt an Weltschmerz: (Sympathie mit Arno, keine Phantasie). 
8. Er sieht sich noch einmal im Bilde des Tauchers als den Mörder 
seines Bruders (Tränen im Auge). 
9. Er sieht, wie ein Teller, den er entwendete, ausgegraben wird. 
10. Er geht als Gefährte Andrees und seines Bruders zugrunde. 
c) Phantasie über den Vater: 
ll. Er trägt als Automobilist große Siege davon. 
d) Von der Mutter träumt Max in dieser Sitzung nichts. 
e) Pfarrer P. 


166 | Oskar Pfister. 


12. Er wird als Bismarck- und St.-Georg-Statue aus den Ruinen von 
Pompeji ausgegraben. 

13. Er findet als Andr&e einen ehrenvollen Märtyrertod. 
f) Arnos Freund Brutus 

14. avanciert zum harmlosen ‚„Zuluindianer‘ und wird damit Bertas 
Gatten gleichgesetzt. 
g) Berta besitzt einen guten Gatten (keine Phantasie). 
h) Arnos Lehrer 

15. werden mit krummen Beinen geschmückt. 


Siebente Sitzung. 


a) Bildliche Darstellungen Arnos. 

16. Er erscheint als Gekreuzigter in der aus ihm und Arno zusammen- 
gesetzten Mischfigur, sein Kopf ist verdeckt. Als Nero wohnt er 
unsichtbar der Szene bei. 

17. Er ist der Himmel (oder die Erde) und weint über die Trennung 
vom Bruder. | 

18. Er erscheint als St. Georg sowie als königlicher Gegner, der in 
ritterlichem Turnier verwundet, zu glorreichem Gefecht aber nicht 
mehr nötig ist, da andere Partner auftreten. 

b) Erinnerungen an sich selbst: 

18a. Er traf die Tochter eines Grönlandfahrers. 

185. (Indien.) 

19. Er überwindet ein Walroß (Onanie). 

20. Er teilt mit Bruder und Pfarrer den Kreuzestod. 

21. Er weint als Erde (oder Himmel) über die Ferne des Bruders. 

22. Er tritt auf als mit seinem Bruder harmlos turnierender und siegreich 
kämpfender König Heinrich IV. 

c) Der Vater zeigt sich nicht mehr deutlich. 

23. Seine Anwesenheit in der Gestalt des Nero wird nur noch gefühlt. 
d) Die Mutter 

24. wird zur grausamen Hexe. 

e) Pfarrer P. wird übel hergenommen: 

25. Er peinigt sich seinem Glauben zulieb als brauner Sektierer; 
vielleicht auch: er läßt sich blenden, um Gott besser zu ı gefallen. 
(Identifikation mit Herrn K.) 

26. Er tritt als Mulatte, der einer Kreuzigung zuschaut, in die Rolle des 
grausamen Malers, der sich am Tode seines Opfers weidet, und 
(vielleicht) in die Stellung des Gatten der geliebten Berta. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 167 


27. Er erscheint unklar entschwindend in der Figur des Ausrufers, 

28. Er wird von St. Georg, mit dem er in der sechsten Sitzung iden- 
tifiziert worden war, unterschieden. 

29. Er gelangt als Andr&e ins Eskimojenseits. 
f) Herr K. kommt übel davon: 

30. Er stirbt an geblendeten Augen. 

31. Er leistet Frondienste beim Bau einer Wüstenbahn. 

32 und 33. Beides klingt nochmals an. 

g) Lehrer Huber wird in keine Phantasie einbezogen. Es ist 
lediglich von seiner interessanten Reise sowie seiner Klugheit und 
Energie die Rede. 

h) Berta 
34. erscheint noch einmal, indem sie vor einem gequälten religiösen 

Fanatiker in Ohnmacht fällt, wird aber durch mehrere Mulatten 

(Anspielung auf ihren Ehemann) entschädigt. Ein Trost liegt auch 


in der leisen Anspielung auf ihre Gleichsetzung mit Maria, der Mutter 
Jesu. 


II. Die psychologischen Veränderungen 
bei der Versöhnung. 


I. Bearbeitung der Phantasien. 


Wir stellen zunächst die Transformationen der Wachträume 
in systematischer Anordnung zusammen. 


Tabelle C (Tropen der Transformation). 
A. Veränderungen auf gleichbleibendem Funktionsniveau. 
I. Mit Beibehaltung der früheren Szene: 


a) Derselbe Deutlichkeitsgrad mit Konversion: 
A21. Der mordende Taucher. BS8. Dasselbe Bild; Tränen. 


b) Das vorige Bild abgeschwächt: 
A 36. Der Pfarrer als Ausrufer. B 27. Entschwindend. 


II. Mit Veränderung der früheren Szene: 


a) Verhüllung des peinlichen Bildes: 
AS8. Arno als sterbender Taucher. B2. Hinter einer schwarzen Wand. 


168 Oskar Pfister. 
b) Abbruch der Phantasie vor dem tragischen Ausgang: 
AT. Arno als sterbender Kapitän. Vierte Sitzung Nr. 2: als gefähr- 
deter Kapitän. 
c) Verwandlung der tragischen Figur in eine ihr ähnliche nicht- 
tragische: 
A4. Arno als Alarich im Busento. B18. Als St. Georg. 
A8. Arno als sterbender König. B18. Als turnierender König. 
d) Ersatz der früheren schädlichen Handlung in eine ähnliche mit 
harmlosem Ausgang. (Zugleich Disjektion.) 
A 6. Arnos Sturz ausder Schleifen- { B4. Arnos Rettung mit Hilfe des 
bahn. Fallschirmes. 
B3. Sein Flug um Saturn und 
auf die Erde im Automobil. 
e) Verzeichnung ins Komische. 
ce) Umdeutung der unangenehmen Erinnerung in eine un- 
schuldige Karikatur: 
Vierte Sıtzung. Die Lehrer wollen B15. Sie lassen ihn als krumm- 
Arno sitzen lassen. beinige Polizisten passieren. 
ß) Derselbe Vorgang mit Verdichtung. 
A6. Arno als Velofahrer in der 
Schleifenbahn. 
A 9. Arno als toll den Wagen len- {| B3. Er kreist im Automobil um 
kender Caligula. | den Mond. 


B. Veränderungen mit Sublimierung. 
I. Mit Hilfe der Verdichtung. 
A13. Arno auf dem Eise verun- ]) B6. Arno stirbt als Begleiter An- 


glückt. drees in eisiger Gegend. 
16. Als Flüchtling tot in Sıbirien 

geschleift. 
25. Max als fliegender Holländer. | 10. Max endigt neben ihm nach 
26. Als mit Arno zusammen- einem Flug durch die Luft. 


geketteter sibirischer Flüchtling 
in Gestalt des Herrn K. 

35. Der Pfarrer als blödsinniger | 13. Der Pfarrer geht als Märtyrer 
auf dem Turme in der Luft der Wissenschaft in Gestalt 
schwebender, sich in guter Ab- eines Luftschiffers zugrunde. 
sicht verzehrender Ausrufer. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 169 


10. Arno als Nero, ] B 16. Arno ist als Nero unsichtbarer 
11. als Maler, der seinen Gehilfen Zeuge einer Kreuzigung, er ist 
und sein Modell kreuzigt. also nicht vom schwarzen Skla- 


ven (Max) ermordet; er wird 
16. ähnlich dem Heiland und ge- 
meinsam mit 
22. Max, der als Gehilfe des Malers | 20. Max gekreuzigt. 
gekreuzigt wird. 
25. Max, der als schwarzer Sklave 
Nero ermordet. 
39. Berta, die als Modell ge- 


34. Berta fällt vor einem sich aus 


kreuzigt und religiösen Motiven opfernden 
40. als Betrachterin des ihren Fanatiker nieder; an Stelle des 
Bräutigam darstellenden Ge- Fanatikers erscheint der ge- 
mäldes in Ohnmacht fällt. kreuzigte Heiland, so daß Berta 


das Aussehen der Maria erlangt. 

26. Der Pfarrer übernimmt als 
Mulatte die Rolle des sich an den 
Qualen seines Opfers weidenden 
Malers Arno, als Mulatte die 

des schwarzen Sklaven Max, 

| der den Bruder (Nero) ermordet. 


Il. Mit Hilfe der Disjektion. 


A 35. Der Pfarrer stirbt als blöd- { B12. Der Pfarrer als Bismarck, 
sinniger, den Mund lautlos öff- d. h. geistreicher, kraftvoller 


nender, auf einem Turme schwe- Redner, sowie 
bender Ausrufer, indem er sich | 13. als Luftschiffer, der sich für 
für eine törichte Sache wegwirft. die Wissenschaft opfert. 


Weitaus die meisten Phantasien, die im Stadium des Hasses 
(Tabelle A) hervorsprangen, erfuhren im Zeichen der Versöhnung 
eine rückläufige Bewegung, nämlich bezüglich Arnos die Nummern 
2 (2)!), 3, 4 und 5 (18), 6 (3, 4), 7 (Vierte Sitzung, 2), 8 (18), 9 (3), 10 (16), 
11 (16), 12 (14), 13 (6), 14 (Fünfte Sitzung, a, 2), 16 (6). 

Unerledigt blieben einzelne Teilstücke in 9 (der Wahnsinn), 10 (der 
braune Sklave), ferner ganz die Nummern 1, 15, 17 bis 20, 


1) Die eingeklammerten Zahlen bezeichnen die korrespondierenden Bilder 
in Tabelle B. 


170 Oskar Pfister. 


Einige dieser Phantasien wurden später umgearbeitet, nämlich 1 
und 9 (der Wahnsinn Arnos). (Siehe unten, Seite 175.) Nr. 15, 17 und 19 
gingen keine Veränderung ein, weil die Stellung zum Vater auch nach der 
Versöhnung mit dem Bruder ungünstig blieb. Aus Nr. 17 wurde nur die 
Schläfrigkeit der Schildwache zurückgenommen. (Siehe gleichfalls 
unten, Seite 176.) Der braune Sklave (10) geht auf Max und ist dort zu 
untersuchen. Gänzlich unbeachtet scheinen nur die Bilder 18 und 20 
zu bleiben. 

Auch auf sein eigenes in Wachträumen beschriebenes Geschick 
kommt Max meistens zurück: 21 (8), 22 (16), 23 (10), 24 (schon in A. 
Pompejus in Pompeji abgeschwächt. Die auf der Hand liegende Deutung 
muß verschwiegen werden), 25 (16), 26 (der sibirische Flüchtling) (10). 
An Stelle des braunen Sklaven (A 10) erscheinen zur Abschwächung 
Brutus als ‚‚Zuluindianer‘ (B 14), der Pfarrer (26) und andere Mulatten 
(26); vielleicht dient auch (B 9) die Ausgrabung des gestohlenen Tellers 
dazu, vom -Brudermord aus Habsucht abzulenken. Aus 26 restiert 
Max als Anarchist. 27 (Max rettet des Vaters Leiche) konnte nicht um- 
gewandelt werden, da die Stellung der Brüder zum Vater ungefähr 
gleich blieb. 

Der Pfarrer wurde rehabilitiert: 36 (12, 13, 25, 27). Allein die 
antipathische Übertragung spricht deutlich aus den sublimierten 
Bildern. Die steigende Erbitterung des subliminalen Bewußtseins 
drückt sich darin aus, daß seine in der sechsten Sitzung vollzogene 
Identifikation mit St. Georg in der siebenten Besprechung zurück- 
genommen und der Ausrufer (A 36) zum fanatischen Sektierer (B25) wird. 

Die auf die Mutter (A 33 bis 34), Keller (A 38), Herrn K. 
(A 41 bis 42) und den Arzt (A 43) bezogenen Vorstellungen erfahren 
keine erneute Würdigung, weil der ihnen zugrunde liegende Komplex 
in ungeminderter Virulenz verharrte. 

Dagegen würdigt der Träumer die Berta gewidmeten Tableaux 
einer Transformation: 39 (34), 40 (16, 20). 

Gänzlich neu gebildet wurden die Phantasien: 

B5. Arno stirbt als Lord von Edenhall. Der Grund dieser sadi- 
stischen Vorstellung liegt darin, daß Max seinem Bruder den Verdacht 
auf Leichtsinn verschwieg (Verdrängung). | 

B9. Max sieht die Ausgrabung eines von ihm gestohlenen Tellers. 
Ein Zusammenhang zwischen dieser Szene und den Rachephantasıen 
besteht darin, daß Max zuvor als habsüchtiger Mörder (A 21) und lüsterner 
Erbe auftrat (Geständnisse in der zweiten Sıtzung, Schluß, und vierten 


Analytische Untersuchuugen über die Psychologie des Hasses usw. 171 


Sitzung a, 2). Doch liegt hier ein relativ selbständiger Komplex vor, 
erzeugt durch Eigentumsdelikte, 


B19. Max bezwingt ein Walroß. Hier tritt der Masturbations- 
komplex auf. 


B 17. Die Brüder als Himmel und Erde, die sehnsüchtig umeinander 
trauern. Vielleicht ist auch dieses Bild nicht ganz neu, sondern eine 
Umwandlung von A2 und 21, wonach Arno als Mörder in der Gestalt 
des reichen Mannes in die Hölle kommt. Lazarus, der schon in der 
Assoziationsreihe vorkommt, wäre natürlich der ausgeplünderte Arno. 
Doch erlaubte der Haß damals noch nicht, die Vorstellung der himm- 
lischen Seligkeit dieses Lazarus ins Bewußtsein treten zu lassen. In der 
Konsequenz der jetzt produzierten Szene läge also die harmloseTrennung 
der Brüder in der Höhe (Himmel) und der Tiefe (Erde, statt Unterwelt). 

B1l. Der Vater als Automobilist drückt seine Annäherung zu 
dem früher von ihm innerlich getrennten Arno aus, somit einen neuen 
Gedanken. Eine Aussöhnung der beiden hat jedoch nicht stattgefunden, 
ihre Gesinnung ist noch ungefähr dieselbe, wenn auch die Spannung 
gemildert wurde. 

B24. Die Mutter als Hexe, 
B30. Herr K. als von ihr geblendet £ 

und umgebracht drücken den gesteigerten Haß aus. 
B 31 bıs 33. Herr K. als Fronsklave 


Aus den angegebenen Transformationen und Neubildungen 
können wir nunmehr das folgende für die Psychologie des Hasses und 
Versöhnung wichtige Gesetz ableiten: 

Bei Verschärfung bedient sich der Haßkomplex zum 
Zwecke der Befriedigung in Wachphantasien immer neuer 
Bilder. Ob dies nur in unserem Schulfalle oder überhaupt die Regel 
ist, läßt sich hier nicht entscheiden. Weitere Erfahrung bejaht die Frage. 

Bei der Versöhnung dagegen kehren die früheren Phan- 
tasien wieder, jedoch entweder unverändert verblaßt, re- 
spektive von Konversionszeichen begleitet oder in einer 
Umarbeitung, welche ihnen nach den Gesetzen der Traum- 
bildungden vormals peinlichenCharakterdurch Umdeutung 
auf gleichem oder sublimiertem Funktionsniveau nimmt. 

Sofern wir bei dieser Arbeit das Bestreben erkennen, die früheren 
als unstatthaft und bedauerlich empfundenen Wunschphantasien 
zurückzunehmen, beobachten wir den Einfluß der Reue. 


172 Oskar Pfister. 


Die Umarbeitung der Phantasien nach der Versöhnung hat die 
Natur einer Kompensationsbildung. Die von der Analyse aufgeklärten 
Haßträume boten Befriedigung, indem sich in ihnen der Rachedurst 
kühlte. Das Gewissen konnte keinen Einspruch erheben, da es den wahren 
Sinn der Charaden nicht verstund. Durch die Analyse belehrt, verwirft 
es die ganze Phantasie und damit die unterschwellige Lustgewinnung, 
deren Verlust nun gedeckt werden muß. Dies geschieht dadurch, daß 
der Träumer auf die einst subliminal lustvolle Betätigung zurückkommt 
und durch Umdeutung usw. vorgibt: In Wirklichkeit war es nicht se, 
wie du irrtümlich aus den Phantasien herauslasest, sondern so und so. 
Die Versöhnungsphantasien geben sich dem Unterbewußtsein als 
Berichtigung früherer Irrtümer, und zwar die gleichstufigen durch 
einfache Zerstörung eines nichtigen Wahnes, durch Abschwächung 
oder Parodierung, die sublimierten durch ideale Überbietung. Da die 
Rachephantasie aber immerhin dem Rachetriebe Befriedigung bot, 
bedeutete eine nur gleichstufige Transformation Preisgabe einer lust- 
vollen Betätigung. Damit kann sich der psychische Organismus nicht 
zufrieden geben. Er muß einen Ersatz gewinnen. Die in der Versöhnung 
zutage tretende Sublimierung erweist sich somit als eine Kompen- 
sation, die im Bedürfnis der Selbsterhaltung begründet liegt. 

Zu den mehrwertigen Neubildungen gehören besonders die Vor- 
stellungen vom Gekreuzigten und Andr&e. Beide enthalten abermals 
sadistische und masochistische Züge, aber in einwandfreier Ausprägung. 
Schön ist’s ja, daß der ehemalige Gehilfe zu grausamem Mord sich in 
der Weise Jesu kreuzigen läßt, erhebend, daß der einstige Terrorist 
sich mit dem früheren Spießgesellen neben Andree, dem Märtyrer 
der Wissenschaft, opfert usw. Allein wir verhehlen uns nicht, daß auch 
in diesen Reaktionen, die wir als Sühne bezeichnen, die nämlichen 
Sexualkräfte liegen wie in den primären Sadismen und Masochismen, 
nur jetzt sublimiert. Von hier aus erweist sich das Sühnebedürfnis 
überhaupt als Kompensationserscheinung auf sublimiertem Niveau. 
Bei grausamer Sühne springt die sexuelle Bedingtheit nur zu deutlich 
in die Augen. 


2. Die Bedeutung der Phantasien und ihrer Analyse 
für das sittliche Verhalten. 


Um die Frage zu prüfen, welche Bedeutung die hervorgelockten 
oder spontan geäußerten Wachträume im Gesamtleben unseres Ana- 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw, 173 


Iysanden besitzen, erinnern wir daran, daß dieser einerseits angab, 
unter einem bösen inneren Drange zu stehen, anderseits die unschönen 
Bilder als eine aufdringliche Belästigung empfand. Ohne Zweifel haben 
wir es also mit den Manifestationen verdrängter Wünsche zu tun, 
die wegen ihrer Verwerflichkeit auf der Bildfläche des Klarbewußtseins 
nicht erscheinen durften, und zwar spiegelt sich in den Phantasien 
der Inhalt jener vor dem Gewissen verborgenen Begierden mit großer 
Deutlichkeit. Noch überzeugender trat dieser symptomatische Wert 
der Wachträume ım späteren Verlaufe der Analyse hervor, als Max 
mit seinem Bruder ausgesöhnt zu sein glaubte, aber eine Reihe neuer 
Mordphantasien produzierte. (S. unten.) 

Wenn nun äußerer oder innerer Zuspruch den Haß bekämpfte, 
stellte sich der böse Trieb dem Angreifer nicht in seiner wahren Gestalt. 
An seiner Stelle befand sich eine harmlose oder fatale Episode mit un- 
bekannten Personen. Durch die Allegorie erlangte somit der Komplex 
den Vorteil, sich auswirken zu können, ohne der Gefahr des Entdeckt- 
werdens ausgesetzt zu sein. Meine Ermahnungen verfehlten ihr Ziel, 
weıl der Komplex nicht bloßgelegt wurde und die Anklage des eigenen 
sittlichen Bewußtseins nur auf Beobachtung einzelner relativ harm- 
loserer äußerer Symptome, lästiger Erinnerungen, bitterer Gefühle, 
nicht auf Kenntnis der schwerwiegenden subliminalen 
Delikte, der sadistischen Rachewünsche, fußte. 

Wie die Wachträume den Haß in sicherer Hut beschirmten, 
so wußten sie ihn zu schüren. In erster Linie regten grausame Kine- 
matographenbilder und Schauergeschichten den Komplex an und 
reizten sein Gelüsten. In dieser Wirkung ruht die größte Gefahr derartiger 
Hlaborate für das sittliche Verhalten. Aber auch harmlose Bilder aus 
dem Unterrichte in Geschichte, Geographie und Religion mußten sich 
zu erwünschter Speise für die Haßbegierde umformen lassen. So mußte 
sich denn der dunkle Drang mehr und mehr ausbreiten und verstärken. 

Gleichzeitig geriet der Rachsüchtige in immer tiefere Isolation. 
Er bewahrte das Geheimnis seines glühenden Hasses mit Hilfe der ob- 
sessionsartig auftretenden als unheimlich betrachteten Phantasien 
mit immer gesteigerter Sorgfalt, um nicht als Scheusal angesehen zu 
werden. Je mehr er sich nach außen abschloß, desto üppiger wucherte 
seine Libido im Sinne des Haßkomplexes. Nach Freud liegt die Isolierung 
von der Welt in der Tendenz jeder psychoneurotischen Störung!). Jung 


1) Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Jahrbuch 
für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, Bd. I, 410. 


174 Oskar Pfister. 


faßt in einer brieflichen Mitteilung diesen Prozeß in die Formel: ‚Der 
Komplex verhindert Übertragungsmöglichkeit, somit psychologische 
Anpassung, und hemmt auf diese Weise den Arterhaltungsinstinkt 
(Unterabteilung Sozietätstrieb) überhaupt; er isoliert den Menschen 
und schafft auf dem Wege des Circulus vitiosus introversio lıbidinis.‘ 


Die Analyse wirkte gegenüber den Wachträumen ebenso wie 
gegenüber den Obsessionen, Phobien, hysterischen Defekten u. dgl. 
Sie zog die verdrängte Vorstellung in ihrer wahren Gestalt ins Bewußt- 
sein, der Eindruck des Analytikers verstärkte den spontanen Widerstand 
gegen sie, das Kompromißgebilde der Phantasie mußte weichen, da es 
seinen listig verfolgten Zweck nicht mehr erfüllte. Der Haß wurde 
dereagiert, während die früheren Ermahnungen ergebnislos hatten 
verlaufen müssen. Die erhebliche moralpädagogische Wirkung der 
Analyse tritt auch hier deutlich hervor. 


Um so bemerkenswerter ist der Umstand, daß die früheren Phan- 
tasıen umgearbeitet wurden. Die Kontinuität des geistigen Lebens 
kommt indiesen rückwärts gewandten Bemühungen schön zum Ausdruck. 


Dieser Sachverhalt zeigt aber auch, daß der Analyse nur die 
negative Aufgabe zufällt, vorhandene Hemmungen zu beseitigen. 
Die neue Triebrichtung muß angebahnt werden durch bereits vor- 
handene Kräfte. Wo sie fehlen, kommt das Resultat eines neuen, ethisch 
höherwertigen Wollens nicht zustande. Darum hat die Analyse bei 
ethisch Imbezillen nur den theoretischen Wert, ihre Handlungsweise 
verständlich zu machen. | 


Allein schon die befreiende Tätigkeit der Analyse ist bei ethisch 
Normalen von großer Bedeutung. Neben den angegebenen Wirkungen 
kommt ganz besonders eine in Betracht. Jung beschreibt sie mit dem 
Satz: „Durch Dereaktion wird Übertragung geschaffen und so das 
Individuum wieder in die Herde aufgenommen. Ein gemeinsamer 
Komplex ist kein Komplex (geistliche Orden, Klöster usw.). Durch 
Mitteilung wird der Komplex uninteressant.“ 

Selbstverständlich kann die Analyse nicht verhindern, daß neues 
traumatisches Material eintrifft und den Haßkomplex erneuert. Allein 
es wird wenigstens im ethisch gesund beanlagten Individuum 
durch die Mitteilung an einen als sittlich geachteten Hörer die Sehn- 
sucht nach einem von Haß gereinigten Modus vivendi geschaffen. 
Ist eine solche äquivalente oder supervalente Kompensation unmöglich 
oder wird sie bald gehemmt, so ist an Dauererfolg nicht zu denken. 


Analytische Untersuchungen über die Psychologie des Hasses usw, 1798 


Im Falle Max wurde eine erhebliche Besserung der brüderlichen 
Beziehungen erzielt. Beide Knaben kamen einander innerlich nahe. 
Eine auffallende Herzlichkeit herrschte einige Wochen oder Monate 
vor. Allein mißliche Familienverhältnisse, Müßiggang, schlechte Gesell- 
schaft, Geldmangel, die Gereiztheit der Mutter, die eine Denunziation 
von seiten ihrer Söhne befürchtete, und andere ungünstige Faktoren 
schufen eine Atmosphäre, die den Bund der Brüder stören mußte. 
Die Stellung zum Analytiker blieb bis zur Stunde, wie die Briefe aus der 
Ferne verraten, herzlich. 

Am 14. und 15. April, am 24. Mai und am 3. Juli, dem 
Tage der Abreise, fand sich Gelegenheit zu analytischen Besprechungen. 
Dabei kam der Haß wiederum deutlich zum Vorschein, besonders 
am 14. April, wiewohl abends zuvor eine neue Versöhnung ein- 
getreten war, die angeblich alle früheren Friedensschlüsse übertraf. 
Die bösen Wünsche traten jedoch weit zahmer als früher auf: Arno 
fällt ‚vielleicht‘ bei einer Schiffahrt um, wobei er oben, Max 
unten zu liegen kommt, er erscheint als Kapitän eines lecken 
Schiffes, doch ist das Bild verwischt, er zeigt sich: auf einem 
Lift (Anspielung auf den Luftschiffer Arno), er erscheint ganz weiß 
als Gekreuzigter, ferner als Mörder des Lords von Edenhall (den diesmal 
Max repräsentiert, also Personenvertauschung), als Chauffeur im Auto- 
mobil, doch ohne Berta, und endlich geht er mit brennender Zigarre 
in den Benzinkeller, wobei vielleicht ein Unglück geschieht und vielleicht 
ein Toter unter dem Schutthaufen liest (vgl. B 12). Dann tritt er als 
Wilderer an der Seite seines Spießgesellen Max auf. (Beide hatten 
in der Tat etwas entwendet.) Die Analyse wurde aus Zeitmangel nur 
oberflächlich aufgenommen. 

Tags darauf phantasiertte Max: Das Automobil verschwindet 
hinter einer schwarzen Wand, im versinkenden Schiffe sitzt Arno unten, 
Max oben, doch erreicht es den Strand usw. Sodann setzt eine große 
Phantasie ein, in welcher ein Astronom, Mephistopheles, ein Edelknabe 
(das Brüderchen) und Feen, die aus den Sternen hervortreten, eine Szene 
aufführen. Die Analyse dieses Wachtraumes konnte in Kürze nicht 
durchgeführt werden, da die unklare Situation während der Besprechung 
wechselte und an Farbe verlor, ähnlich wie Schlafträume bei längerer 
Analyse verblassen. Öfters schien es, als sollte in der Figur des Ge- 
lehrten oder seines Versuchers die Geisteskrankheit Arnos (A 1) revoziert 
werden. Max spielte dann den Braven, der den vom Bruder dargebotenen 
Gifttrank der Verführung zurückwies. 


176 Oskar Pfister. 


Am 24. Mai erschien Arno beim Reizwort ‚Saturn‘ als verführt 
von einem „Satur‘ oder ‚Satan‘, und zwar vom Geschlechtsteufel, 
der dann auch als grüne Schlange vor ihm als Naturforscher auftrat. 
Doch wurde Arno von einem Soldaten gewarnt, der zuerst die Züge des 
Pfarrers, dann deutlich die Arnos annahm (vgl. A 17, die schläfrige 
Schildwache). Hierauf erschien er zusammen mit Berta, doch nicht 
mehr im Hemde, sondern im Sportskleid, auch nicht mehr so zärtlich 
wie früher, bis eine schwarze Wand die beiden zudeckt. 

Sich selbst schilderte Max außerhalb der erwähnten Bilder als 
Graf Zeppelin (vgl. B 10), als Bruder des unvorsichtigen Rauchers 
(beides am 15. April). Als Naturforscher will er sich einer Fee nähern, 
doch verwandelt sie sich in eine alte Hexe. Dahinter steckt eine Neigung 
zu einem Mädchen, dessen Mutter sein Töte-ä-töte öfters störte. Das 
Bild der gewünschten Schwiegermutter wird so von der Mutter her 
übernommen. 

Der Vater figurierte als Richter über die beiden Wilderer (15. April). 

Die Freunde kommen als Verführer zum Vorschein. 

Wir begegnen somit auch noch einige Monate nach der Analyse 
den Ausläufern der einst quälenden Phantasien. Dies fällt um so mehr 
auf, als Max erklärte, die früheren Bilder vergessen zu haben. Man 
übersehe nicht, daß eben die ganze Analyse von Anfang an sehr unvoll- 
ständig war und die sekundären Determinanten großenteils aufzustöbern 
unterließ. Auch konstellierte die Person des Analytikers zugunsten 
der alten Gebilde. Ferner drängen Triebhemmungen — in diesem 
Falle Störungen der brüderlichen Liebe — immer wieder in verlassene 
Kanäle zurück. Bevor die Analyse durchgeführt werden konnte, verreiste 
Max für immer. 


3. Der Wert unserer Untersuchung für die ethische 
Beurteilung des Hasses und der Versöhnung. 


Die beiden Begriffe, deren psychologische Unterlage wir in einem 
speziellen Fall zu analysieren versuchten, pflegen in den Lehrbüchern 
der Ethik nicht näher geprüft zu werden. Sogar die neueren Werke 
von Wundt, Paulsen und Höffding schweigen sich über den wichtigen 
Gegenstand aus. Und doch ist es eine selbstverständliche Aufgabe, 
die für das individuelle und soziale Leben so überaus wichtigen Vor- 
gänge ethisch zu bewerten. Unsere Arbeit ermöglicht uns, wenn auch 
nicht überraschende Neuheiten, so doch empirisch erhärtete und auf 


Analytische Uutersuchungen über die Psychologie des Hasses usw. 177 


sonst meist verborgene Tiefen der Seele zurückgreifende Wertaussagen 
zu geben. 

Für die ethische Würdigung des Hasses kommen folgende Beob- 
achtungen in Betracht: 

1. Verarmung der Persönlichkeit durch einseitige 
Richtung und Festlegung des Interesses. Der Komplex wendet 
das Augenmerk mit monotoner Hartnäckigkeit den Stoffen zu, die ihm 
Beschwichtigung gewähren und präpariert sie zum Zwecke der Be- 
friedigung. Wir sahen, wie die verschiedensten Lebensgebiete vom 
Haß beschlagnahmt wurden, um ihn zu speisen. 

2. Entgeistigung der Persönlichkeit durch wachsende 
Abhängigkeit vom dunkeln Drang. Die Gefahr nimmt überhand, 
daß der Mensch, teils in anhaltender Mißstimmung, teils in explosiven 
Enntladungen des Jähzornes seine Unfreiheit bezeuge. Max fühlte diese 
unheimlichen Gewalten deutlich in ihrem Zusammenhange mit den 
Phantasien. 

3. Willenslähmung durch den unentschiedenen Wider- 
streit zwischen dem Hasse einerseits, der Liebe oder Furcht 

anderseits. Zur Geltung gelangt Freuds Satz: ‚Steht einer inten- 
sıven Liebe ein fast ebenso starker Haß bindend entgegen, so muß die 
nächste Folge eine partielle Willenslähmung sein, eine Unfähigkeit 
zur Entschließung in all den Aktionen, für welche die Liebe das treibende 
Motiv sein soll!).“. 

4. Verflüchtigung sittlicher Energie in unproduktives 
Träumen. Die widerspenstigen Bilder vertreten bei unserem Ana- 
Iysanden wie bei der Zwangsneurose Taten. Dadurch wird der Hasser 
zum Hamlet, seine Kraft verpufft in bloßen Wünschen. 

5. Sadistische und masochistische Sexualisierung des 
Hasses. Indem er sein Geheimnis in die mannigfaltigsten Erlebnisse 
hineinträgt, breitet sich die Vernichtungswut im seelischen Organismus 
Immer weiter aus. 

6. Wachsende Isolierung der Persönlichkeit. Durch die 
komplexbedingte Involutio libidinis lebt der Haßerfüllte nur noch 
sich selber. Der Egoismus ist vom Hasse unabtrennbar. Aber auch 
die in der involutio begründete pathogene Tendenz des Hasses tritt 
hervor. Ethik und Neurosenlehre verkünden übereinstimmend seine 
gesundheitsfeindliche Natur. Der ganzen Menschheit gilt daher in 

1) Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Jahrbuch 


I, 415. 
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 12 


178 Oskar Pfister. 


seelenhygienischer Hinsicht Antigones Wort: „Nicht mitzuhassen, 
mitzulieben bin ich da.“ Die Neurologie bestätigt so die Forderung 


der Ethik. 
Die Versöhnung gewinnt aus folgenden Gründen ethische Be- 


deutung: 

1. Dieim HaßgelegenendiePersönlichkeitberaubenden 
Einflüsse werden aufgehoben. 

2. Die Persönlichkeit wird nicht allein in den Stand 
gesetzt, neue Inhalte aufzunehmen, sondern auch nach dem 
Gesetze der Ersatzbildung angespornt, die vom Hasse ge- 
schaffenen Mängel zu überkompensieren, sei es aufgleichem 
Funktionsniveau, sei es durch Sublimierung. 

3. Indem die Versöhnung darauf ausgeht, die im Haß 
seschaffenenbösen Wünschedurchsympathischeüberwertig 
zu ersetzen, tritt gleichzeitig an die Stelle der zuvor be- 
günstigten sadistischen Komponente die masochistische. 
Bei gleichzeitiger Sublimierung entstehtaus diesem Zurück- 
fluten des Rachetriebes das Bedürfnis, Sühne zu leisten. 

Da die Versöhnung auch ohne Analyse das geistige Leben in die 
vom Haß benutzten Kanäle zurücktreibt und hier die frühere Trieb- 
richtung umkehrt, vollzieht sie unbewußt die Arbeit, welche der Ana- 
lytiker zur Beseitigung aller Psychoneurosen anstrebt. Anerkennen 
wir in Übereinstimmung mit unserer Untersuchung die Versöhnung 
als einen Prozeß im Interesse der ethischen Gesundung, so wird uns 
diese Übereinstimmung in dem empirisch erhärteten Vertrauen be- 
stärken, daß die Psychanaylse ein naturgemäßes Mittel zur ethischen 
Seelentherapie darstellt. 


„Über den Gegensinn der Urworte.“ 


Referat über die gleichnamige Broschüre von Karl Abel, 1884. 
Von Sigm. Freud. 





In meiner „Traumdeutung“ habe ich als unverstandenes Ergebnis 
der analytischen Bemühung eine Behauptung aufgestellt, die ich nun 
zu Eingang dieses Referates wiederholen werdet): 

„„töchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kate- 
gorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg 
vernachlässigt. Das ‚Nein‘ scheint für den Traum nicht zu existieren. 
Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammen- 
gezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Frei- 
heit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, 
so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Elemente weiß, 
ob es in den Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.‘“* 

Die Traumdeuter des Altertums scheinen von der Voraussetzung, 
daß ein Ding im Traume sein Gegenteil bedeuten könne, den ausgiebig- 
sten Gebrauch gemacht zu haben. Gelegentlich ist diese Möglichkeit 
auch von modernen Traumforschern, insofern sie dem Traume überhaupt 
Sinn und Deutbarkeit zugestanden haben, erkannt worden?). Ich glaube 
auch keinen Widerspruch hervorzurufen, wenn ich annehme, daß alle die- 
jenigen die oben zitierte Behauptung bestätigt gefunden haben, welche 
mir aufden Weg einer wissenschaftlichen Traumdeutung gefolgt sind. 

Zum Verständnisse der sonderbaren Neigung der Traumarbeit, 
von der Verneinung abzusehen und durch dasselbe Darstellungsmittel 
Gegensätzliches zunı Ausdrucke zu bringen, bin ich erst durch die 
zufällige Lektüre einer Arbeit des Sprachforschers K, Abel gelangt, 
welche 1884 als selbständige Broschüre veröffentlicht, im nächsten Jahre 
auch unter die „Sprachwissenschaftlichen Abhandlungen“ des Verfassers 
aufgenommen worden ist. Das Interesse des Gegenstandes wird es 

1) Zweite Auflage, pag. 232, im Abschnitte VI: Die Traumarbeit. 


TR 2) Siehe z. B. G. H. v. Schubert, Die Symbolik des Traumes, vierte 


Auflage, 1862, Kap: 2. Die Sprache des Traumes. 3% 
1 


180 Sigm. Freud. 


rechtfertigen, wenn ich die entscheidenden Stellen der Abelschen 
Abhandlung nach ihrem vollen Wortlaute (wenn auch mit Weglassung 
der meisten Beispiele) hier anführe. Wir erhalten nämlich die erstaun- 
liche Aufklärung, daß die angegebene Praxis der Traumarbeit sich 
mit einer Eigentümlichkeit der ältesten uns bekannten Sprachen deckt. 

Nachdem Abel das Alter der ägyptischen Sprache hervorgehoben, 
die lange Zeiten vor den ersten hieroglyphischen Inschriften entwickelt 
worden sein muß, fährt er fort (pag. 4): 

„„‚In der ägyptischen Sprache nun, dieser einzigen Reliquie einer 
primitiven Welt, findet sich eine ziemliche Anzahl von Worten mit zwei 
Bedeutungen, deren eine das gerade Gegenteil der anderen besagt. 
Man denke sich, wenn man solch augenscheinlichen Unsinn zu denken 
vermag, daß das Wort ‚stark‘ in der deutschen Sprache sowohl „stark“ 
als „schwach‘‘ bedeute; daß das Nomen ‚Licht‘ in Berlin gebraucht 
werde, um sowohl ‚Licht‘ als „Dunkelheit“ zu bezeichnen; daß ein 
Münchener Bürger das Bier ‚Bier‘ nännte, während ein anderer das- 
selbe Wort anwendete, wenn er vom Wasser spräche, und man hat die 
erstaunliche Praxis, welcher sich die alten Ägypter in ihrer Sprache 
gewohnheitsmäßig hinzugeben pflegten. Wem kann man es verargen, 
wenn er dazu ungläubig den Kopf schüttelt?....... ““ (Beispiele.) 

(Pag. 7): ‚Angesichts dieser und vieler ähnlicher Fälle anti- 
thetischer Bedeutung (siehe Anhang) kann es keinem Zweifel unter- 
liegen, daß es in einer Sprache wenigstens eine Fülle von Worten 
gegeben hat, welche ein Ding und das Gegenteil dieses Dinges gleich- 
zeitig bezeichneten. Wie erstaunlich es sei, wir stehen vor der Tatsache 
und haben damit zu rechnen.“ 

Der Autor weist nun die Erklärung dieses Sachverhaltes durch 
zufälligen Gleichlaut ab und verwahrt sich mit gleicher Entschiedenheit 
gegen die Zurückführung desselben auf den Tiefstand der ägyptischen 
Geistesentwicklung: 

(Pag. 9): „Nun war aber Ägypten nichts weniger, als eine Heimat 
des Unsinnes. Es war im Gegenteil eine der frühesten Entwicklungs- 
stätten der menschlichen Vernunft.... Es kannte eine reine und 
würdevolle Moral und hatte einen großen Teil der zehn Gebote for- 
muliert, als diejenigen Völker, welchen die heutige Zivilisation gehört, 
blutdürstigen Idolen Menschenopfer zu schlachten pflegten. Ein Volk, 
welches die Fackel der Gerechtigkeit und Kultur in so dunkeln Zeiten 
entzündete, kann doch in seinem alltäglichen Reden und Denken nicht 
geradezu stupid gewesen sein ...... Wer Glas machen und ungeheure 


„Über den Gegensinn der Urworte.“ 181 


Blöcke maschinenmäßig zu heben und zu bewegen vermochte, muß 
doch mindestens Vernunft genug gehabt haben, um ein Ding nicht für 
sich selbst und gleichzeitig für sein Gegenteil anzusehen. Wie vereinen 
wir es nun damit, daß die Ägypter sich eine so sonderbare kontra- 
diktorische Sprache gestatteten?.... daß sie überhaupt den feindlichsten 
Gedanken ein und denselben lautlichen Träger zu geben und das, was 
sıch gegenseitig am stärksten opponierte, in einer Art unlöslicher Union 
zu verbinden pflegten?“ 

Vor jedem Versuche einer Erklärung muß noch einer Steigerung 
dieses unbegreiflichen Verfahrens der ägyptischen Sprache gedacht 
werden. „Von allen Exzentrizitäten des ägyptischen Lexikons ist es 
vielleicht die außerordentlichste, daß es, außer den Worten, die entgegen- 
gesetzte Bedeutungen in sich vereinen, andere zusammengesetzte 
Worte besitzt, in denen zwei Vokabeln von entgegengesetzter Be- 
deutung zu einem Kompositum vereint werden, welches die Bedeutung 
nur eines von seinen beiden konstituierenden Gliedern besitzt. Es gibt 
also in dieser außerordentlichen Sprache nicht allein Worte, die sowohl 
„stark“ als „schwach“ oder sowohl „befehlen“ als ‚„‚gehorchen‘ be- 
sagen; es gibt auch Komposita wie „altjung“, „fernnah“, ‚binden- 
trennen‘, „außeninnen“ (...... ), die trotz ihrer, das Verschiedenste 
einschließenden Zusammensetzung das erste nur „jung“, das zweite 
nur „nah“, das dritte nur ‚verbinden‘, das vierte nur „innen“ bedeuten. 
.... Man hat also bei diesen zusammengesetzten Worten begriffliche 
Widersprüche geradezu absichtlich vereint, nicht um einen dritten 
Begriff zu schaffen, wie im Chinesischen mitunter geschieht, sondern 
nur um durch das Kompositum die Bedeutung eines seiner kontra- 
diktorischen Glieder, das allein dasselbe bedeutet haben würde, auszu- 
drücken...... 

Indes ist das Rätsel leichter gelöst, als es scheinen will. Unsere 
Begriffe entstehen durch Vergleichung. ‚Wäre es immer hell, so würden 
wir zwischen hell und dunkel nicht unterscheiden und demgemäß weder 
den Begriff noch das Wort der Helligkeit haben können...... BR 
ist offenbar, alles auf diesem Planeten ist relativ, und hat unabhängige 
Existenz, nur insofern es in seinen Beziehungen zu und von anderen 
Dingen unterschieden wird...... “ „Da jeder Begriff somit der Zwilling 
seines Gegensatzes ist, wie konnte er zuerst gedacht, wie konnte er 
anderen, die ihn zu denken versuchten, mitgeteilt werden, wenn nicht 
durch die Messung an seinem Gegensatz? .... .“ (Pag.15): „„Da man 
den Begriff der Stärke nicht konzipieren konnte, außer im Gegensatze 


182 Sigm. Freud. 


zur Schwäche, so enthielt das Wort, welches ‚stark‘ besagte, eine 
gleichzeitige Erinnerung an „schwach“, als durch welche es erst zum 
Dasein gelangte. Dieses Wort bezeichnete in Wahrheit weder ‚stark‘ 
noch ‚schwach“, sondern das Verhältnis zwischen beiden, und den 
Unterschied beider, welcher beide gleichmäßig erschuf...... “ „Der 
Mensch hat eben seine ältesten und einfachsten Begriffe nicht anders 
erringen können, als im Gegensatze zu ihrem Gegensatz, und erst all- 
mählich die beiden Seiten der Antithese sondern und die eine ohne 
bewußte Messung an der andern denken gelernt.“ 

Da die Sprache nicht nur zum Ausdruck der eigenen Gedanken, 
sondern wesentlich zur Mitteilung derselben an andere dient, kann 
man die Frage aufwerfen, auf welche Weise hat der „Urägypter‘“ dem 
Nebenmenschen zu erkennen gegeben, ‚‚welche Seite desZwitterbegriffeser 
jedesmal meinte?‘ In der Schrift geschah dies mit Hilfe der sogenannten 
„determinativen‘‘ Bilder, welche, hinter die Buchstabenzeichen gesetzt, 
den Sinn derselben angeben und selbst nicht zur Aussprache bestimmt 
sind. (Pag. 18): ‚Wenn das ägyptische Wort ken ‚stark‘ bedeuten soll, 
steht hinter seinem alphabetisch geschriebenen Laut das Bild eines 
aufrechten, bewaffneten Mannes; wenn dasselbe Wort ‚schwach“ 
auszudrücken hat, folgt den Buchstaben, die den Laut darstellen, das 
Bild eines hockenden, lässigen Menschen. In ähnlicher Weise werden 
die meisten anderen zweideutigen Worte von erklärenden Bildern 
begleitet.‘ In der Sprache diente nach Abels Meinung die Geste dazu, 
dem gesprochenen Worte das gewünschte Vorzeichen zu geben. 

Die „ältesten Wurzeln“ sind es, nach Abel, an denen die Er- 
scheinung des antithetischen Doppelsinnes beobachtet wird. Im weiteren 
Verlaufe der Sprachentwicklung schwand nun diese Zweideutigkeit, 
und im Altägyptischen wenigstens lassen sich alle Übergänge bis zur 
Eindeutigkeit desmodernen Sprachschatzes verfolgen. ‚Die ursprünglich 
doppelsinnigen Worte legen sich in der späteren Sprache in je zwei 
einsinnige auseinander, indem jeder der beiden entgegengesetzten 
Sinne je eine lautliche „Ermäßigung“ (Modifikation) derselben Wurzel 
für sich allein okkupiert.‘“““ So z.B.spaltet sich schon im Hieroglyphischen 
selbst ken (‚starkschwach‘‘) in ken ‚‚stark‘“ und kan „schwach“. „Mit 
anderen Worten, die Begriffe die nur antithetisch gefunden werden 
konnten, werden dem menschlichen Geiste im Laufe der Zeit genügend 
angeübt, um jedem ihrer beiden Teile eine selbständige Existenz zu 


ermöglichen und jedem somit seinen separaten lautlichen Vertreter 
zu verschaffen.‘ 


„Über den Gegensinn der Urworte,“ 183 


Der fürs Ägyptische leicht zu führende Nachweis kontradiktorischer 
Urbedeutungen läßt sich nach Abel auch auf die semitischen und 
indoeuropäischen Sprachen ausdehnen. „Wie weit dieses in anderen 
Sprachfamilien geschehen kann, bleibt abzuwarten; denn obschon 
der Gegensinn ursprünglich den Denkenden jeder Rasse gegenwärtig 
gewesen sein muß, so braucht derselbe nicht überall in den Bedeutungen 
erkennbar geworden oder erhalten zu sein.‘ | 

Abel hebt ferner hervor, daß der Philosoph Bain diesen Doppel- 
sinn der Worte, wie es scheint, ohne Kenntnis der tatsächlichen Phäno- 
mene aus rein theoretischen Gründen als eine logische Notwendigkeit 
gefordert hat. Die betreffende Stelle (Logic I, 54) beginnt mit den Sätzen: 

„Ihe essential Relativity of allknowledge, thought or consciousness 
cannot but show itself in language. If everything that we can know 
is viewed as a transition from something else, every experience must 
have two sides; and either every name must have a double meaning, 
or else for every meaning there must be two names.“ 

Aus dem „Anhang von Beispielen des ägyptischen, indoger- 
manischen und arabischen Gegensinns“ hebe ich einige Fälle hervor, 
die auch uns Sprachunkundigen Eindruck machen können: Im La- 
teinischen heißt altus hoch und tief, sacer heilig und verflucht, wo 
also noch der volle Gegensinn ohne Modifikation des Wortlaute besteht. 
Die phonetische Abänderung zur Sonderung der Gegensätze wird 
belegt durch Beispiele wie clamare schreien — clam leise, still; siee us 
trocken — suceus Saft. Im Deutschen bedeutet „Boden heute 
noch das Oberste wie das Unterste im Haus. Unserem bös (schlecht) 
entspricht ein bass (gut), im Altsächsischen bat (gut) gegen englisch 
bad (schlecht); im Englischen to lock (schließen) gegen deutsch 
Lücke, Loch. Deutsch kleben —- englisch to cleave (spalten); 
deutsch Stumm -— Stimme usw. So käme vielleicht noch die viel- 
belachte Ableitung lucus a non lucendo zu einem guten Sinn. 

In seiner Abhandlung über den „Ursprung der Sprache“ (l. c., 
pag. 305) macht Abel noch auf andere Spuren alter Denkmühen auf- 
merksam. Der Engländer sagt noch heute, um „ohne“ auszudrücken 
„without“, also „mitohne“ und ebenso der Ostpreuße. „With“ selbst, 
das heute unserem ‚mit‘‘ entspricht, hat ursprünglich sowohl „mit“ 
als auch ‚‚ohne‘‘ geheißen, wie noch aus „withdraw“ (fortgehen), „with- 
hold‘ (entziehen) zu erkennen ist. Dieselbe Wandlung erkennen wir 
in dem deutschen ‚wider‘ (gegen) und „wieder“ (zusammen mit). 

Für den Vergleich mit der Traumarbeit hat noch eine andere, 


184 Sigm. Freud. 


höchst sonderbare Eigentümlichkeit der altägyptischen Sprache Be- 
deutung. „Im Ägyptischen können die Worte — wir wollen zunächst 
sagen, scheinbar— so wohl Laut wie Sinn umdrehen. Angenommen, 
das deutsche Wort gut wäre ägyptisch, so könnte es neben gut auch 
schlecht bedeuten, neben gut auch tug, lauten. Von solchen Laut- 
umdrehungen, die zu zahlreich sind, um durch Zufälligkeit erklärt zu 
werden, kann man auch reichliche Beispiele aus den arischen und 
semitischen Sprachen beibringen. Wenn man sich zunächst aufs Ger- 
manische beschränkt, merke man: Topf—-pot, boat -—- tub, wait— 
täuwen, hurry — Ruhe, care — reck, Balken — klobe, club. 
Zieht man die anderen indogermanischen Sprachen mit in Betracht, 
so wächst die Zahl der dazugehörigen Fälle entsprechend z. B.: capere 
— packen, ren — Niere, the leaf (Blatt) — folium, dum-a 
®vuos — Sansc. mödh, müdha, Mut, Rauchen — Russ. Kur-iti, 
kreischen -—- to shriek usw.“ 

Das Phänomen der Lautumdrehung sucht Abel aus einer 
Doppelung, Reduplikation der Wurzel zu erklären. Hier würden wir 
eine Schwierigkeit empfinden, dem Sprachforscher zu folgen. Wir 
erinnern uns daran, wie gerne die Kinder mit der Umkehrung des Wort- 
lautes spielen, und wie häufig sich die Traumarbeit der Umkehrung 
ihres Darstellungsmaterials zu verschiedenen Zwecken bedient. (Hier 
sind es nicht mehr Buchstaben, sondern Bilder, deren Reihenfolge 
verkehrt wird.) Wir würden also eher geneigt sein, die Lautumdrehung 
auf ein tiefer greifendes Moment zurückzuführen!). 

In der Übereinstimmung zwischen der eingangs hervorgehobenen 
Eigentümlichkeit der Traumarbeit und der vom Sprachforscher auf- 
gedeckten Praxis der ältesten Sprachen dürfen wir eine Bestätigung 
unserer Auffassung vom regressiven, archaischen Charakter des Ge- 
dankenausdruckes im Traume erblicken. Und als unabweisbare Ver- 
mutung drängt sich uns Psychiatern auf, daß wir die Sprache des 
Traumes besser verstehen und leichter übersetzen würden, wenn wir 
von der Eintwicklung der Sprache mehr wüßten?). 


!) Über das Phänomen der Lautumdrehung (Metathesis), welches zur 
Traumarbeit vielleicht noch innigere Bezishungen hat als der Gegensinn (Anti- 
these), vgl. noch W. Meyer-Rinteln in: Kölnische Zeitung, 7. März 1909. 

’) Es liegt auch nahe anzunehmen, daß der ursprüngliche Gegensinn der 
Worte den vorgebildeten Mechanismus darstellt, der von dem Versprechen zum 
Gegenteile im Dienste mannigfacher Tendenzen ausgenützt wird. 


Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia 
| praecox-Kranken. 


Von Dr. A, Maeder, 1. Assistenzarzt. 





I. Analysen von zwei Fällen von Dementia praecox 
(paranoide Form). 


a) Fall J. B. 
1. Krankengeschichte. 


Über erbliche Belastung (bis auf den Großvater mütterlicherseits, 
der Potator war) ist nichts bekannt. Ein Bruder ist gesund. Der Vater, 
der Webermeister war, ist an Phthise gestorben. — Patient hat drei Kinder, 
alle körperlich etwas schwächlich; die Frau war einige Zeit im Lungen- 
sanatorıum W. 

Patient ist in B. geboren (1869) und aufgewachsen. Er erlitt als Junge 
ein Trauma (Schneeball ins rechte Auge), trägt eine Pupillendifferenz und 
einen Kornealfleck davon. Seit längerer Zeit leidet er an Konjunktivitis. 
B. war ein intelligenter Schüler. Nach zwei Jahren Sekundarschule trat 
er in die kaufmännische Lehre. 1883 starb seine Mutter. 

B. bekleidete verschiedene Stellen als Kommis, wurde für eine Zeit- 
lang Weber in einer kleinen Fabrik, trieb Politik als Sozialdemokrat. Fır 
half bei der Gründung einer Nahrungsmittelgenossenschaft, wurde Sekretär 
derselben und gab die Stelle als Arbeiter definitiv auf. Er hatte Bekannt- 
schaft mit einer Arbeiterin gemacht, verkehrte sexuell mit ihr und mußte 
sie heiraten. Im Jahre 1886 wurde er Kassier und Einkäufer im Konsun- 
vereine W., dann in Z., 1894 kam er nach O. in eine Handelsgesellschaft 
als Buchhalter. Sein Bureauchef spekulierte, wurde verdächtigt; die 
Prüfungskommission konstatierte große Verluste und entließ ihn 1897. 
Es war für B. eine aufregende Zeit. Er wurde 1897 zum Bureauchef 
ernannt, mußte das Geschäft wieder in die Höhe bringen und einen Prozeß 
gegen den Vorgänger und einige Mitglieder des Verwaltungsrates führen, 
der jahrelang dauerte. Die Stelle war gut, machte aber dem Patienten 
viele Sorgen. Patient war daneben Gemeinderat, aktives Mitglied von einem 
Turn- und speziell Schützenverein; er war angesehen und beliebt. 

Um 1900 wurde Patient aufgeregt, schien überanstrengt, wurde mehr 
und mehr eigentümlich verschlossen. 1901 wurde nachts in sein Bureau 
eingebrochen und es wurden 1800 Franken gestohlen; B. beunruhigte sich, 
meinte, man verdächtige ihn, mitgemacht zu haben; er hatte Angst, man 


156 | A. Maeder. 


arretiere ihn, es seien Männer auf der Straße, Polizisten, die auf ihn warten; 
in der Nacht machte er Hausuntersuchungen mit seiner Frau, um sich zu 
überzeugen, daß man das Geld nicht heimtückisch ins Haus gebracht hatte, 
um ihn verdächtig zu machen. Er fing an, sich vom politischen Leben 
zurückzuziehen, ging von da an unregelmäßig zur Arbeit, klagte viel über 
Kopfschmerzen (an der Stirne, am Scheitel), gab den Mitgliedern des Ver- 
waltungsrates ungern Auskunft, so daß er deshalb etwas auffiel. 

Im Sommer 1901 ging er zur Kur nach Churwalden. Im Oktober 
desselben Jahres nach Lugano auf Rat des Arztes. Er brauchte daselbst 
ziemlich viel Geld, sprach vom Ankauf einer schönen Villa, wozu er kein 
Kapital besaß. Er war in der Nacht unruhig, mußte auf Bitte des Wirtes 
abgeholt werden. 

Dann fing er plötzlich an, am Sonntag in Zylinder und schwarzem 
Rock in die Kirche zu gehen und ließ für seine Eltern schöne Grabsteine 
setzen. Er schlief ein paar Nächte in einem sehr teuern Hotel. Er wurde 
der Familie gegenüber sehr gleichgültig, ärgerte sich manchmal über die 
Frau, was früher nie der Fall war. Er war bis dato ein sehr guter Mensch 
gewesen; jetzt fing er plötzlich an, von Scheidung zu sprechen; er müsse 
auf höheren Befehl eine andere heiraten; ‚Frau und Kinder werden dann 
eine Pension bekommen“. März 1902 schrieb er der Königin Wilhelmine 
und bat sie um eine Stelle. 

Für die Louis d’or hatte er damals einen echten Kultus, wollte kein 
Gold mehr ausgeben. 

Wegen dieser Wahnideen und der zunehmenden Gleichgültigkeit der 
Familie gegenüber, der Pupillendifferenz usw., wurde er zwecks Beobachtung 
mit der Diagnose Progressive Paralyse in der Anstalt interniert (5. Mai 
1902). 

Er war bei der Aufnahme orientiert in Zeit und Raum. Die Auf- 
fassung war gut, die Merkfähigkeit und das Gedächtnis ebenso. Eine 
Intelligenzprobe bestand er gut. Affektivität abnorm: gleichgültige 
Stimmung, stumpfe Euphorie. Wahnideen (er sei der morganatische 
Mann der Königin Wilhelmine, habe sie mehrmals in Zürich und Umgebung, 
sogar ım Eisenbahncoupe 3. Klasse getroffen. Beziehungsideen. Er deutet 
alles um, bezieht die harmlosesten Bemerkungen auf sich. Größenideen: 
er stamme aus der Orlöansfamilie; sei auch ein Sohn von Napoleon ].; 
seine Frau stamme aus dem katholischen belgischen Königshause. Sinnes- 
täuschungen: Er höre Stimmen von ‚einem Weibe“, habe das körperliche 
Gefühl der Anwesenheit der Königin Wilhelmine. — Gab frühere Visionen 
zu (beim Tode der Mutter), auch später in O. habe er in der Nacht General- 
marsch blasen hören; er sei auf den Friedhof gegangen, habe aber nichts 
gesehen, als ein leuchtendes Ding am Grabsteine seiner Mutter, es sei wie 
eın Stern gewesen. Pupillendifferenz vorhanden; Reaktion beiderseits 
prompt. Körperlich nichts Abnormes, außer lebhaften Sehnenreflexen. 

Er wurde am 10. Juli 1902 als ungebessert entlassen mit der Diagnose: 
Dementia praecox (paranoide Form). Zu Hause blieb er unbe- 
schäftigt, saß die längste Zeit in seinem Zimmer mit geschlossenen Läden, 
aß immer für sich; in den letzten Monaten vor der zweiten Internierung 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 187 


(März 1903) klagte er die Frau an, sie wolle ihn vergiften. Er wurde der 
Frau gegenüber grob und gewalttätig, sie habe es mit anderen, habe 
heimlich eine Frühgeburt einleiten lassen, zu einer Zeit, wo er zur Erholung 
weg war (bei der Frau mußte in der Tat Abort wegen Tubereulosis incipiens 
eingeleitet werden). Er müsse also scheiden. 

Zweite Aufnahme am 17. Juli 1903, er kommt wieder mit der Diagnose 
Progressive Paralyse. Körperlich außer der schon erwähnten Pupillen- 
differenz keine Abnormitäten. Auffassung, Merkfähigkeit, Gedächtnis 
immer noch gut. Keine Demenz. Wahnideen (Größenideen, Verfolgungs- 
ıdeen; über letztere wird weniger berichtet als über die Größenideen). Er 
scheint viel zu halluzinieren, „studiert‘‘ viel; ist zeitweise sehr aufgeregt. 

Patient will nicht arbeiten, steht lange am Fenster im Wachsaale, 
spricht viel von seinen Kindern, die draußen zu leiden haben (er ist mit 
ihnen, wenn sie ihn besuchen, meistens zärtlich). Sie werden draußen 
mißhandelt, verfolgt, wie der Vater auch. Patient hält die Ärzte für ‚‚Fem- 
richter“ (die Verfolger sind zu einer Feme organisiert). 

Im Dezember 1903 behauptet er, es habe im ärztlichen Bureau eine 
Sitzung seiner Richter stattgefunden, der Direktor der Anstalt sei die 
untersuchende Behörde. Der Bundesanwalt K. war auch dabei. 

Neulich habe er einer Sitzung des Schwurgerichtes anwohnen müssen, 
wo man behauptete, er habe Homosexualität getrieben. 

Er wird gegen die Ärzte immer ablehnender, schimpft, droht, muß 
in den Wachsaal versetzt werden. Im Jänner 1904 behauptet er, es habe 
soeben eine Versammlung der Ärzte des Kantons stattgefunden vor dem 
Hause; er habe die Verhandlungen verfolgen können. Der Assistenzarzt 
' W. sei vom Vereine ausgeschlossen worden, er dürfe nicht mehr Psychiatrie 
treiben. Er habe auch gehört, daß einer seiner Söhne erschossen werden soll. 

Juni 1904. Seine Sache sei sehr einfach, wenn man nur annehmen 
wolle, daß sein echter Name ‚Bonaparte‘ ist und Joh. B. nur der Name 
des Pflegevaters sei. 

Jänner 1905. Äußert viele hypochondrische Klagen; man injiziere 
ıhm alle möglichen Gifte; er habe „Glanzaugen“ (der sogenannten Gens _ 
ulpia), die unter dieser Behandlung zugrunde gehen (,‚Chloridinjektionen““). 
— ‚Es werden Messingscheiben in die Augen eingesetzt‘‘; mit einem ‚‚Pro- 
tektor‘‘ wird ihm in die Augen hineingeschossen; er versteckt den Kopf 
unter das Bettuch, um das zu verhindern. Es sei ein Verbrechen, ihn zurück- 
zuhalten, man verhindere, daß er dem Volke gezeigt wird. 1906 wurde er 
etwas zugänglicher, steckt immer aber voll von Wahnideen, hört viel 
Stimmen. Er komme nicht. mehr heraus, könne seine Erfindungen nicht 
patentieren lassen usw. Eine Verschlechterung trat ein; er wurde unruhig, 
mußte nachts in der Zelle schlafen, wo er sehr viel geplagt wird; er kommt 
allmählich von den besten Abteilungen auf die unruhigsten. 

1907 ist er schon in der unruhigsten Abteilung. Im August 1906 
wurde ein Detail notiert, das erst später verständlich sein wird: Bei der 
Exstirpation einer Warze führte er sich ziemlich wehleidig auf, spülte die 
Stelle viertelstundenlang am Brunnen. 

Jänner 1908. Trotzdem er auf der Zellenabteilung ist, ist es gelungen, 


188 A. Maeder. 


ihn allmählich zu einer regelmäßigen Tätigkeit zu erziehen, er arbeitet 
acht Stunden auf dem Felde; ist für die Ärzte wieder etwas zugänglicher 
geworden, hält aber fest an seinen Wahnideen. In den freien Stunden steht 
er allein in einer Ecke des Zellenhofes, mit der Mütze dicht vor den Augen. 
Er ist manchmal sehr gereizt, manchmal klagt er über seine Leiden: häufig 
treibt er eine eigentümliche Gymnastik, über die er nie Auskunft geben will: 
plötzlich schwingt er die beiden Arme nach vorn und lacht dabei; oder er 
steht-mit gespreizten Beinen da, gibt sich mit der rechten Faust rhythmisch 
wiederholte Stöße in die eine oder andere Poplitealgrube, so daß eine plötz- 
liche unwillkürliche Bewegung des Beines im Kniegelenk erfolgt. 

Dieser Status muß als paranoide Form der Dementia 


praecox bezeichnet werden. 


2, Analyse. 


Nach dieser Krankengeschichte, welche nach rein klinischen 
Gesichtspunkten geführt ist, wollen wir jetzt versuchen, die Psycho- 
analyse des Falles darzustellen. Sie setzte zu einer Zeit ein, wo der 
Patient noch auf der unruhigen Abteilung war, wurde einige Wochen 
fortgesetzt bis zu dem im folgenden dargestellten relativen Abschluß. 
Während der Untersuchungszeit besserte sich der Zustand des Patienten 
derart, daß er in einem Sprunge von der unruhigsten auf die ruhigste 
offene Abteilung versetzt werden konnte, auf welcher er sich jetzt 
noch (nach 1'/, Jahren) hält. Über den möglichen therapeutischen 
Wert der Untersuchungsmethode will ich damit nichts gesagt haben. 
Der Parallelismus der beiden Vorgänge sei nur erwähnt. 

Die Analyse brachte ein sehr großes Material ans Licht, welches 
ich in der Darstellung nur um zwei Zentren, der Klarheit wegen, herum- 
gruppiert und nur zum Teil verwertet habe. Meine Tätigkeit beschränkt 
sich darauf, das bruchstückweise produzierte Material in zusammen- 
hängender Darstellung zu geben, was in diesem Falle möglich erscheint, 
da Patient gute Auskunft gibt; er ist intelligent, hat ein gewisses Inter- 
esse an der Analyse, eine ausgesprochene Übertragung auf Ref. 

Daß die Analyse lückenhaft ist, ist selbstverständlich. Der 
Fall ist nicht frisch, für vieles fehlen objektive Daten, die Technik ist 
noch mangelhaft und Patient ist eben ein Fall von Dementia praecox, 
mit dem man doch nicht den gemütlichen Rapport einer Hysterie hat. 


Ergebnisse der Analyse. 
Das letzte, wirklich auslösende Moment der Psychose ist bei B. 
der Einbruchdiebstahl in seinem Bureau. Von diesem Augenblicke 
an wird die Krankheit nach außen manifest, speziell durch die Ver- 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 189 


folgungsideen und Größenideen, welche vorher nur episodisch, 
isoliert aufgetreten waren (der Grabstein der Eltern, das Absteigen in 
einem Hotel 1. Ranges usw.). Zu dieser Zeit sind namentlich zwei Vor- 
stellungskomplexe besonders gefühlsbetont: die Macht (das Geld, die 
hohe Abstammung) und die Sexualität und alles was damit zu- 
sammenhängt. Dieselben lassen sich jetzt noch nach acht Jahren 
ebenso deutlich nachweisen. Die Verfolgungsideen und Größenideen 
lassen sich bei den beiden Komplexen nachweisen: es wird sich im Laufe 
der Analyse zeigen lassen, daß zahlreiche Verbindungsbrücken diese 
sozusagen parallel verlaufenden Vorstellungsreihen miteinander ver- 
binden. Sie sind nicht scharf abgegrenzt, ihre Trennung ist eher künst- 
licher Natur, aber zwecks bequemerer Darstellung gemacht worden. 


A. Komplex der Sexualität. 

Patient ist seiner Frau gegenüber allmählich (1901 bis 1902) 
indifferent geworden, er sucht sie nur selten auf, höchstens einmal im 
Monat (objektive Bestätigung durch Ehefrau), „er war früher viel 
eifriger‘“. „Die Schwarzen sind sehr schwer zu sättigen“ (gemeint 
sind die schwarzhaarigen mit dunkeln Augen, wie die Frau von B.; er 
selbst ist blauäugig und dunkelblond — dieser Umstand spielt eine 
wichtige Rolle in der späteren Entwicklung der Wahnideen), ‚sie haben 
ein heißes Temperament“. Er muß eine andere, eine Blondine heiraten 
(die erste Andeutung eines Impotenzkomplexes, er bedarf eines neuen 
Reizes, seine Frau verlangt zu viel). Als transitive Form dieses 
Wunsches taucht eine Wahnidee auf, die Frau sei ihm untreu, sie habe 
heimlich einen Abort einleiten lassen. Als Bestätigung der Impotenz- 
befürchtung kann die Unfähigkeit des Patienten gelten, die Zahl 
seiner Kinder richtig anzugeben, indem er immer zu viel angibt; einmal 
sagt er fünf, dann ‚eine ganze Menge von rassigen und nichtrassigen 
Kindern“, er behauptet, jedesmal Zwillinge gehabt zu haben usw. — 
er hat in Wirklichkeit drei Kinder gehabt. — Er sagt, ‚man wolle ihn 
ruinieren“, das heißt ‚direkt impotent machen‘ (sein eigener Ausdruck); 
man verfolgt ihn sexuell und mißhandelt ihn in einer grausamen 
Weise, durch Injektionen von Giften in die Augen, in das Abdomen, 
sogar in den After, man will den „wunderbaren Glanz“ seiner Augen 
vernichten, seine Samendrüsen ruinieren; es gibt Wüstlinge (wol- 
lüstige Männer und Weiber), die ihn nachts aufsuchen und „miß- 
brauchen‘ ; im verlorenen Samen könne man das grüne Gift noch nach- 
weisen. Hier taucht der Verdacht auf, es könne sich zum Teil um 


190 A. Maeder. 


homosexuelle Verfolgungen handeln: Einspritzung in den After, 
wollüstige Männer in Träumen und Halluzinationen. — In der 
Tat erzählt Patient, wie seine Feinde versucht haben, ihn danach zu 
erproben: als er noch zu Hause war und im Bette lag, kam es vor, 
daß irgend welche Wüstlinge sein Glied steif gemacht haben — auf eine 
geheime Weise —, dann schickten sie seine Frau in sein Zimmer (die 
Frau gehört aus vielen noch zu besprechenden Gründen zu den Ver- 
folgern), welche, um ihn zu verdächtigen, einen seiner Knaben gegen sein 
Bett zu ihm hinstieß. „Es wurde auch von meinen Feinden behauptet, 
daß meine Knaben einen syphilitischen Ausschlag am After und an den 
Augen haben, um auf diese Weise wahrscheinlich zu machen, ich hätte 
sie mißbraucht.‘ In der Anstalt wurden andere Proben gemacht; wenn er 
im Bad ist, werden manchmal nackte Männer ins Badezimmer geschickt, 
zur Probe ob sein Glied steif wird; es tritt bei ihm allerdings nicht ein, 
„eher das Gegenteil vom Erwünschten“, 

(Es stimmt, daß mehrere Patienten zu gleicher Zeit nackt im Bade- 
zimmer gebadet werden, B. hat daran Beziehungsideen geknüpft.) 

Folgendes ist auf homosexuelle Tendenzen ebenso verdächtig: 
Einmal abends wird B. allein im Privatzimmer eines Patienten der- 
selben Abteilung gefunden, und zwar im Bette. Der betreffende Zimmer- 
besitzer ist in der Anstalt als Homosexueller bekannt (deswegen inter- 
niert) und hat sein Zimmer in entsprechendem Stile dekoriert. B. be- 
hauptet, er habe die Idee gehabt, er bekäme nachts den Besuch einer 
hohen Dame; dieses Zimmer habe für ein Rendezvous am besten gepaßt. 
Er weıß aber auch, daß der andere ein Invertierter ist. (Siehe auch 
oben die Anklagen vor dem Schwurgerichte wegen Homosexualität.) 

Sämtliche Äußerungen des Patienten über sexuelle Dinge lassen 
sich auf irgend einen der betonten Punkte zurückführen: Polygame 
Tendenzen, verdrängte homosexuelle Neigungen, Impotenz- 
befürchtungen (diese Elemente sind alle mit einem + oder — Zeichen 
versehen, als Verfolgungen, kompensatorische Wunscherfüllungen usw.). 

In diesem Rahmen spielt sich der wesentliche Inhalt dieser Psy- 
chose ab. Es liegt mir nun ob, die Zusammenhänge im einzelnen nach- 
zuweisen. 

Wir gehen von den hypochondrischen Beschwerden aus: 

B. klagt seit vielen Jahren über Schmerzen im Scheitel, in der 
Stirne, speziell in den Augen; man trifft ihn häufig daran, wie er sich 
förmliche Augenspülungen zuadministriertt, mit gewöhnlichem 
Wasser, seltener mit Milch oder gar mit Limonade, die er einfach übers 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 191 


Auge löffelweise gießt; er reibt auch viel in den Augen; hat natürlich 
eine hartnäckige Konjunktivitis bekommen. Die Schmerzen rühren von 
Vergiftungen her, von Injektionen von „Grünsäure“, „Grüngift“, 
Chloralhydrat, Morphium, Phosphor, Schwefel und anderen „grünen 
Giften“. Er bemerkt es, wenn nachts wieder etwas gemacht worden ist, 
am unscharfen Sehen, alles ist ‚„‚schleierhaft‘, der Himmel sieht dann 
nicht recht blau aus. Wenn er gegen das Licht durch die röhrenförmig 
geschlossene Hand hinschaut, sieht er grüne Farben, die aus seinen 
Augen ausstrahlen, ‚‚das sollte nicht sein“. Es kommt vom grünen 
Gift (daher die Spülungen). Man will überhaupt den wunderbaren 
Glanz seiner blauen Augen, deren „befruchtende Strahlen, welche 
nur seiner Rasse, der sogenannten Gensulpia angehören, vernichten.!) 
Daß die Augen bei ihm mit der Sexualität assoziiert sind, wissen wir 
schon. Seine Knaben sollen an den Augen einen syphilitischen Aus- 
schlag haben, der von sexuellem Mißbrauche herrührt. Die eingespritzten 
Gifte kreisen im Körper herum. In der Krankengeschichte wurde 
notiert zu einer Zeit, wo diese Vergiftungsgeschichte noch nicht bekannt 
war: nach der Exstirpation einer kleinen Warze spülte Patient die 
Wunde eine Viertelstunde lang am Brunnen. Diese Spülungen zur 
Verdünnung der Gifte, wie er selbst sagt, hat er ganz systematisch 
angewandt. Er verlangte auch täglich ein Bad, um sich von den fremden 
Stoffen gründlich reinigen zu können, und wenn er badet, so reibt er 
sich mit Seife energisch ab. Abreibungen mit Kampferspiritus wollte 
er auch als nervenreinigendes Mittel. Manchmal trinkt er literweise 
Wasser; er „muß“ auch onanieren, um die Ausscheidung durch die 
Genitaldrüsen zu befördern. Der Samen sei häufig grünlich verfärbt; 
der Urin habe zeitweise eine grünliche, verdächtige Farbe oder er sieht 
wie rosthaltig aus. Diese grünen und syphilitischen Gifte werden durch 
Injektion in die Augen, durch den Schädel, in das Abdomen, auch 
in den After, selten mit der Suppe (‚als Phosphate‘‘) eingeführt; er 
habe auch gesehen, wie ein Wärter eine grüne Flasche manchmal auf 
die Abteilung bringt. Man möchte den ganzen Körper ruinieren; in 
der Blase sei schon eine dicke grüne Kruste, speziell links; der linke 
Hoden ist schwarz wie Kohle. Den Anstoß zu dieser Hodenveränderung 
gab eine Kontusion, die ihm seine eigene Frau beigebracht habe. Der 
Magen, die Milz, die linke Niere, überhaupt alles auf der linken Seite, 
ist angegriffen; ‚„‚das Bedenkliche ist das, daß gerade die linke Seite die 


t) Siehe die Besprechung der Impotenzkompensation und der Größenideen- 
Abstammung. 


192 A. Maeder. 


positive Seite ist, wegen dem Herzen, von dem ja die Ausstrahlung 
ausgeht‘‘. — Alles das fühlt er in sich; er sieht es auch, er hat die Eigen- 
schaft, in sein Inneres schauen zu können, die er der Doppelseitigkeit 
seiner Gewebe‘ verdankt (?). 

Patient leidet viel unter Verfolgungen; scharfe Instru- 
mente werden von den Feinden gebraucht, Messer, Dolch, Nadeln, 
Flobertgewehr, Revolver, ‚Protektor‘; gezielt wird nach den Augen, 
dem Abdomen, dem Rücken (speziell nach der unteren Partie, in den 
After). Das dauert schon viele Jahre. Jetzt sind es Männer, die nachts 
mit Instrumenten ins Zimmer eindringen und manipulieren. 


Bei weiblichen Patientinnen wissen wir, daß Injektionen häufig 
sexuell aufgefaßt werden, bei einzelnen sogar ganz bewußt. Die Rolle des 
Messers, der Pistole usw. als Symbol des männlichen Geschlechts- 
organes ist uns ebenso klar. Handelt es sich hier um etwas Ähnliches 
bei einem männlichen Patienten? Das Vorhandensein der homo- 
sexuellen Tendenzen ist oben aus ganz anderer Quelle bewiesen 
worden. 

Die Annahme wird immer wahrscheinlicher, wenn wir von B. 
erfahren, daß die Quälereien meist von Pollutionen begleitet sind. 
B. hat vielfach geglaubt, er habe einen Molch, eine Schlange oder 
Würmer im After. Solche Phantasien haben Frauen häufig, mit dem 
Unterschiede, daß die betreffenden Tiere sich bei ihnen in der Vagina 
oder sonst im Leibe befinden. Die Angabe, er habe einige Zeit einen 
Molch im Darme gehabt, dessen Abgang sehr schwer war, klingt beinahe 
wie eine Entbindungsphantasie. 


Durch die Annahme der homosexuellen Tendenzen und Ver- 
folgungen wird in unserem Falle verschiedenes klar; zuerst der für 
einen Schizophrenen auffallend gute gemütliche Rapport mit dem 
untersuchenden Arzte. Der adhäsiveHändedruck!)war an sich schon 
längst verdächtig. 

In seinen Phantasien zeigt sich eine eigentümliche Passivität; 
„es wird etwas an mir gemacht“; „Wüstlinge sättigen ihre Wollust an 
mir‘ usw., ferner spricht B. sehr rühmlich von den ‚„Stauffacherinnen“, 
bekanntlich einem legendären Typus der energischen Frau, die ihren 
Mann zum Widerstande gegen die Landvögte ermutigt. Zum selben 


‘) Siehe bei Epileptikern die Zurückführung des Symptomes auf die homo- 
sexuelle Komponente der Libido, Maeder, Die Sexualität der Epileptiker, 
dieses Jahrbuch, I. Band, 1909. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 193 


Gedankengange gehört die Wahnidee, daß seine Söhne genau wie er 
mit Messerhieben in den Rücken verfolgt und gemartert werden; 
sie werden von den Feinden in der Nähe der Anstalt zurückgehalten; 
Patient spürt am eigenen Körper alles, was an den Kindern gemacht 
wird. Durch diesen Transitivismus scheint er sich der homo- 
sexuellen Neigung zu seinen Söhnen zu entledigen. Seine 
Feinde machen die Quälereien, mißbrauchen die Knaben, nicht er. 


Die Verfolgung ist hier wohl im wesentlichen als homosexuelles 
Attentat aufzufassen. 


Die Vergiftung soll die psychische Impotenz des Patienten 
erklären. Wir wissen schon, daß seine schwarzhaarige Frau in der letzten 
Zeit vor der Internierung keinen Reiz mehr auf ihn ausübte: ‚‚die Natur 
ist mir dreimal gekommen, während sie bei der Frau nur einmal kam“; 
„die Schwarzen sınd überhaupt nicht zu befriedigen, sie sind zu gierig“. 
Sie müsse weg, könne einen andern heiraten, er werde für sie finanziell 
schon sorgen, wenn er nur selbst eine andere, eine Blondine bekommt. 
In der letzten Zeit zu Hause hat er sich sexuell ‚‚geschont“. ‚‚Es heißt 
nämlich (eine Stimme sagt es), wenn ich eine Frau geschwängert habe 
dann bin ich impotent gewordent)‘“. „Wenn das eintreten sollte, wäre 
es ein Unglück für die ganze Menschheit“. Die ganze Männlichkeit 
würde zugrunde gehen, ja sogar die ganze organisierte Welt; man weiß, 
daß in den letzten Jahren die Natalität namentlich in Frankreich 
zurückgegangen ist, die Reben produzieren auch weniger, ganz speziell 
ist die Produktion des roten Weines (für ihn das spezifisch männliche) 
zurückgegangen“. Alles das ist ihm der klarste Ausdruck der sexuellen 
Verfolgungen, welche gegen ihn gerichtet sind. 


Von ihm aus geht die „befruchtende Ausstrahlung“ in der 
ganzen Natur, von seinem ganzen Körper, speziell von seinen „wunder- 
baren Augen“, die gleich zwei Magnetpolen sind. Diese Strahlen heißen 
die Lebenslichtstrahlen oder elektromagnetische Strahlen. Sie er- 
wecken die ‚„Geschlechtsliebe“, sobald er jemanden nur anschaut. 
Die Frauen verlieben sich sofort in ihn. Es sind schon viele für ıhn 
bestimmt worden, meistens Blondinen, wie die Königin von Niederlande; 
die Ehe wurde bis jetzt durch die organisierten Feinde (die Feme) 
verhindert. Die Strahlen üben eine Anziehungskraft nicht nur auf die 
Frauen, sie erwecken auch die Samenproduktion in den Männern 
(Homosexualität), noch mehr, sie spielen in der ganzen Natur eine maß- 


!) Man sieht daraus den teleologischen Wert psychischer Erscheinungen. 
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forsehungen. II. 13 


194 A. Maeder. 


gebende Rolle; die Erde zieht ja die Sonne zu sich und die 
Wirkung ist gegenseitig, der Mond übt eine negative, feminine Wir- 
kung aus. Ein Beweis dieser Bestrahlung von der Erde aus und 
nicht von der Sonne sieht B. darin, daß die Alpen nur oben an der 
Spitze ewigen Schnee haben, das heißt weit weg von ıhm und nicht 
etwa an der Basis. 

Alle großen Naturereignisse, wie Vulkanausbrüche, Zyklone, 
Überschwemmungen usw. hängen mit dem Zustande seines Körpers, 
speziell mit der Ausstrahlung, zusammen. 


Die erste derartige Beobachtung machte er noch in O. Nachdem 
er einige Tage deprimiert war und unter einem schweren Weinkrampfe — 
dessen Ursache Injektionen in das Gehirn waren — gelitten hatte, 
merkte er, wie es plötzlich hell wurde, im Momente, wo er sich besser 
fühlte; der Himmel wurde klar, schön blau, wie seine Augen. Er 
erkannte bald darin einen innigen Zusammenhang; jetzt weiß er mit 
Sicherheit, daß, wenn nachts an seinen Augen „gepfuscht‘“ wurde, das 
Wetter am Morgen nicht klar ist; man kann an diesem Tage in der 
Stadt nicht photographieren, weder der Himmel noch seine Augen sind 
dann blau. Die Sonnenflecken hängen mit seiner Augenverletzung 
zusammen. Die Irisflecken entsprechen den Injektionsstichen, die Iris- 
flecken sind aber die Sonnenflecken. Er untersuchte seine Jugend 
rückgreifend danach und es war ihm leicht nachzuweisen, daß früher 
schon viel Auffallendes passiert war. Z. B. als er sich die Tautropfen 
näher ansah, merkte er farbige Strahlen, ‚die nur von seinen Augen 
ausstrahlen konnten“. 


Einmal fiel er von einem Baume auf die Nase hinunter, ‚‚es war 
wie wenn eine Lichtkugel platzen würde‘, seit der Zeit habe er ein Gefühl 
des Beißens und Brennens in den Augen gehabt. 


Mit 15 Jahren traf ihn ein Schneeball ins rechte Auge. Zu der- 
selben Zeit ereignete sich eine furchtbare Überschwemmung in ganz 
Europa (‚‚der Tränenfluß‘“) usw. Alles bis in die Neuzeit hinein hängt 
mit dem Geschicke seiner Familie zusammen; z. B. die Zerstörung des 
Zeppelinschen Luftschiffes bei der Mainzprobefahrt war die Reper- 
kussion eines Attentates auf seinen Knaben Hans. Patient untersucht 
fast jeden Tag die Zusammensetzung seiner Ausstrahlung, um die 
Intensität der Verwüstungen zu schätzen, welche in der Nacht durch 
die Mißhandlungen entstanden sind. Er macht das so, daß er die Hand 
zu einer Röhre schließt und durch sie nach der Sonne hinblickt. Er 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 195 


sieht, wenn er blinzelt, farbige Strahlen; wenn die roten und blauen 
überwiegen, steht es mit ihm gut, das sind die befruchtenden Strahlen 
(dem roten und blauen Blut entsprechend). Sie sind „sozusagen durch 
Elektrizität zerstäubtes arterielles und venöses Blut“. Wenn das grüne 
überwiegt, ist die Vergiftung mit dem Grüngifte (dazu gehören nach 
ihm S, P, Cu, As usw.) stark gewesen. 


Es ist ganz unmöglich, ihm das Phänomen begreiflich zu machen, 
er kann absolut nicht anerkennen, daß andere Menschen solche Farben 
auch sehen können. Die anderen können es nur sehen zur gleichen Zeit 
wie er, „durch .Übertragung‘“. 


B. kommt sich selbst vor wie eine kosmische Macht (ähnlich 
einer Gottheit), welche befruchtet und belebt; er sagt z. B. von seinem 
Herzen, daß es seine Pulsationen auf alle Uhren der Welt überträgt; 
Störungen im Uhrwerke gebe es nur, wenn bei ihm nachts etwas ge- 
pfuscht wurde. 


B. fürchtet die Konkurrenz seiner eigenen Kinder, alle 
Rassenkinder müssen sofort von ihm entfernt werden; es ist nicht mög- 
lich, es ist schädlich, daß zwei Wesen von dieser Beschaffenheit zu- 
sammenleben, ‚wegen der Kreuzung der Lebenslichtstrahlen‘“, Patient 
selbst genüge, was die befruchtende Kraft anbelangt, für die ganze 
Schweiz, 

Die angeführten Phantasien des Patienten über seine außer- 
gewöhnliche Fruchtbarkeit und Kraft bilden eine Kompen- 
sation seines zunehmenden Insuffizienzgefühles im se- 
xuellen Gebiete, seiner eintretenden Impotenz, sie sind klare 
Wunscherfüllungen. 

Diese besondere Fähigkeit und Potenz gehört seiner ganzen Rasse 
an, von der später noch mehr die Rede sein wird; ich gebe jetzt nur ein 
paar Züge, welche in diesen Zusammenhang hineinpassen. Die Rasse 
ist die „Urgens‘ oder „Gens ulpia‘, sie besitzt die „Menschen- 
erzeugende Kraft, sie ist der Urtrieb der menschlichen und tierischen 
Erzeugungskraft“. „Gens ulpia, Genesis gleich Keimfähigkeit, 
Ulpia oder urgens gleich Ursprung des Geschlechtstriebes, Ursache 
der Lebensimpulse.‘ „Zum Gens ulpia Geschlecht gehören ich, meine 
Mutter, einige von mir erzeugten Töchter und einige andere Frauen 
(z. B. Königin Wilhelminet). Ich bin der Fortpflanzer der Männer, 
die männliche Gens ulpia regt auch die weibliche Zeugungskraft an.“ 


1) Also nur Frauen, 


13* 


196 A. Maeder. 


In der umgebenden Natur sieht B. einen Beweis seiner sexuellen 
Funktion; die Früchte an den Bäumen, speziell die Äpfel und Birnen, 
dieKirschen und Haselnüsse, die Hülsenfrüchte, sind nur ‚Darstellungen 
sowie Vervielfältigungen seiner eigenen Genitalien“, ganz speziell die 
„Eichel sei wie sein Glied geformt‘. Daß so etwas für die anderen 
Männer auch paßt, kann B. nicht verstehen; er kommt, seiner Ansicht 
nach, allein in Betracht (B. ist wieder ein Beispiel eines Schizophrenen, 
dem die Sexualsymbolik ganz bewußt ist, im Gegensatze zu den 
Hysterischen!). 

Einmal äußert B. den Wunsch, sich mit dem Gartenbau, nament- 
lich mit dem edlen Obstbau zu beschäftigen; er wolle sich sogar, wenn 
er aus der Anstalt herauskommt, einen großen Obstgarten anschafien, 
den er liebevoll pflegen würde; er könne dann auf jedes soziale Leben, 
auf jede höhere Stellung verzichten. 

Seit einigen Wochen arbeitet er allein fleißig im Obstgarten der 
Anstalt. Daß dieser Wunsch auch eine Äußerung seiner Komplexe ist, 
also psychisch genau determiniert ist, können wir vermuten, er hat uns 
gesagt, das ‚„Kernobst“ sei ein Sinnbild seiner eigenen Genitalien; 
wir wissen auch, daß B. unter einem starken Impotenzkomplexe leidet. 
Die Obstpflege selbst dürfte also symbolisch gemeint sein; das gibt er 
ohne weiteres zu, sobald man ihn zur Rede stellt, dieser Gedanke ist 
ihm vollkommen bewußt, es bedeutet nichts anderes in der Logik eines 
Dementia Praecox Kranken als die Pflege des ‚‚edelsten Teiles“ seiner 
Person. 


Die Abwehr der Verfolgungen. 


Gegen die Verfolgungen hat Patient eine Anzahl von Abwehr- 
oder „indirekten Verteidigungsmitteln‘“, wie er sie selbst nennt, 
erfunden. Zuerst die Abwaschungen und Spülungen der Augen 
und des ganzen Körpers, welche schon oben erwähnt worden sind,?) 
das Vielwassertrinken zwecks Verdünnung, die Onanie zur Aus- 
scheidung der in den Hoden angesammelten Gifte — eine neue Art 
Entschuldigung des Lasters —, dann die sogenannte Heilgymnastik: 
Patient faßt sich selbst plötzlich am Hinterhaupte und gibt sich einen 


!) Er sagt z. B. „er sei von den schwarzen Katzen verfolgt oder den 
schwarzen Weibern, es ist gleich“. 
?) Einreibungen mit Kampferspiritus, den er als Nervenreinigungsmittel 
bezeichnete; der Kampfer ist als Antaphredisiakum im Volke bekannt. Diese 
ganze Symptomengruppe gehört, wie man jetzt weiß, zur Onanieabwehr. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 197 


Stoß nach vorn; „durch Gefühlsübertragung fallen dann seine 
Feinde um“ ; oder er schnürt sich den Hals mit dem Taschentuch ein, 
als ob er sich erdrosseln wollte, lacht dabei, wie wenn er etwas recht 
Gescheites gemacht hätte; oder er hält einen kleinen Taschenspiegel 
dicht vor die Augen oder setzt seinen Hut so auf, daß er die Augen 
verdeckt. ‚Durch Übertragung sehen die Feinde auch nicht vor sich 
und wenn sie zufällig eine Treppe hinuntergehen, fallen sie um“; ‚‚es 
kommt doch hinzu, daß sie immer ein Messer in der Hand haben, um 
ihn zu quälen“; „man kann hoffen, daß das Stürzen ihnen einmal 
verhängnisvoll wird‘. Das erklärt das eigentümliche Triumphlachen, 
das einer solchen Handlung regelmäßig folgt. 

Ein anderer Trick besteht darin, daß er sich selber rhymthische 
Faustschläge in die Poplitealgegend gibt, um eine unwillkürliche Beugung 
des Beines zu provozieren, welche weiter auf die Feinde übertragen wird, 
oder er streckt plötzlich den Arm nach einer bestimmten Richtung etc. 
Außer den schon erwähnten, hat B. noch eine ganze Anzahl anderer 
Verteidigungsmittel, die ich nicht alle erwähnen will. Er zieht sich 
dazu meistens in eine Ecke zurück, führt die Handlung mit großem 
Ernste aus, sie hat den Charakter des Automatischen in hohem 
Grade. In diesem Falle gibt uns die Psychoanalyse Aufschluß über den 
Sinn dieses katatonischen Symptomes par excellence. Hier ist die Stereo- 
typie sicher nicht der Ausdruck einer „psychomotorischen Reizung“, 
wie die gewöhnliche Phrase lautet, sondern ein psychisch genau deter- 
minierter Akt, eine symbolische Handlungt). 

In das Gebiet der Abwehr gegen die Verfolgungen gehören noch 
die Erfindungen des Patienten; er hat hier ein Flugsutomobil 
erfunden, um seinen Feinden zu entschlüpfen, wenn sie ihn zu sehr 
drängen. Er hat ferner neue mächtige Feuerwaffen gezeichnet, die 
er patentieren lassen will. Bei der Gelegenheit erzählt er, daß er kurz 
vor der Internierung einen Revolver gekauft und Schießübungen im 
Walde gemacht hatte, um die Leute zu erschrecken. Wir wissen übrigens, 


!) Bei einem alten Katatoniker, der seit vielen Jahren die Gewohnheit 
hat, peinlich genau in gerader Linie längs einem Striche auf dem Parkett zu gehen, 
konnte ich feststellen, daß diese Eigentümlichkeit vom Patienten selbst als ein 
Ausdruck seines Strebens betrachtet wird, ‚ein besseres Leben anzufangen“, nicht 
vom geraden Wege abzuweichen; er hält sich auch dementsprechend immer isoliert 
von den anderen, da er sich für unwürdig hält, mit den „guten Menschen‘‘ zu ver- 
kehren; sobald jemand in die Nähe kommt, deckt er sich das Gesicht zu und 
nimmt eine demütige Stellung ein. „Er sei ein alterNarr, der nichts Rechtes sagen 
könne“, so entschuldigt er sich bei jeder an ihn gestellten Frage. 


198 A. Maeder. 


daß Patient ein sehr guter Schütze war und viele ersten Preise bei 
Schützenfesten gewonnen hat. B. begnügt sich damit nicht, sich regel- 
recht gegen die Feinde zu verteidigen, er versucht auch, sie mit dem 
Wortwitz und mit dem Rebus zu treffen. Z. B. trifft ihn Referent 
einmal auf der Abteilung, wie er eben folgendes Wort mit Nachdruck 
Silbe für Silbe auszusprechen versucht: Die Soziologen; er erzählt 
dann lachend, was es heißt: Die Sozi oh! logen! (Die Sozi = Gesellen 
sind die zur Feme organisierten Verfolger). 

Aus dem gleichen Bedürfnisse entsprang folgender Rebus, den 
Patient selbst mit allen Details zeichnete und erklärte: 





(Satyrisches Bilderrätsel.) 


Fortlaufend gelesen heißt es: Immunität besser für Euch 
als Unstrafbarkeit!); der Spruch ist an die Feinde adressiert. 

Ich will gleich bemerken, daß die Komplexe des Patienten sich 
sogar in den Einzelheiten verraten: unter dem Worte Im stehen noch 
die Worte Sac und Eier; B. liest Isaak Meier, erzählt dazu die Geschichte 
eines I. M., welcher in einem Harem überrascht und sofort kastriert 
wurde (Sac Eier = Hodensack). 


!) Das Tier soll einen Stier darstellen, im Dialekt ‚„Muni‘ genannt; der 
Mann ißt = ein Esser; 4 = für (nach Aussprache der Süddeutschen, welche wegen 
des Katholizismus zu seinen Verfolgern gehören); der Baum ist eine Eiche, wird 
aus obigem Grunde für „Euch‘‘ eingesetzt, das Boot für „Barke“. Immunität 
besser für Euch als Unstrafbarkeit. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 199 


Isaak ist ein Jude, der zu den geldgierigen Spekulanten, die ihn 
verfolgen, gehört. 

Auffallend ist weiter am Stier, daß er keinen Hodensack hat und 
daß er den Namen Falb trägt. ‚‚Falb reimt mit Kalb, es ist der Name 
des Wetterpropheten, welcher behauptete, etwas vom Wetter zu ver- 
stehen; er ist einer meiner ärgsten Feinde.‘ Er verdient auch kastriert 
zu werden, wie der Stier. Man erkennt hier den Impotenzkomplex des 
Patienten, welcher in der beständigen Angst lebt, durch die spezifische 
Vergiftung seine sexuelle Leistungsfähigkeit zu verlieren. Der erste 
Teil des Rebus hat noch einen dritten, etwas gezwungenen Sinn, 
den ich nicht ausführlich mitteilen will; er sagt in Substanz seinen 
Feinden, „sie sind alle Stiere‘!). 


B. Komplex der Abstammung. 


Was diese Einteilung des Materials in die Komplexe der Sexualität 
und der Abstammung Künstliches hat, braucht kaum hervorgehoben 
zu werden; sie geschieht aus rein äußerlichen Gründen, der Übersicht- 
lichkeit wegen. 

Wir wissen, daß die eigentliche Psychose im Anschlusse an den 
Diebstahl im Bureau des Patienten ausgebrochen ist. Es haben wahr- 
scheinlich schon ziemlich lange vorher isolierte Symptome bestanden. 
Von diesem sozusagen traumatisch wirkenden Momente an fühlt sich 
B. ungemütlich. 

„Man verdächtigt ihn, „er werde beobachtet‘, er wagt sich nicht 
mehr hinaus in der Angst, daß die Polizisten, welche auf ihn lauern, 
ihn auf der Straße abfassen; er geht unregelmäßig zur Arbeit. „Man 
meint“, er mache mit den Feinden des Geschäftes mit; das gestohlene 
Geld sei wahrscheinlich bei ihm versteckt. Er stellt in der Nacht Haus- 
untersuchungen mit der Frau an. Der Zustand wird unhaltbar, die 
Beobachtung geschieht mit allen Schikanen der modernen Wissenschaft, 
mit der sogenannten ‚Multiplex Camera obscura‘‘ (?) und mit dem 
Phonophotograph usw. Es wird alles registriert. Eine Zeitlang durfte 
man zu Hause nur flüstern, zuletzt überhaupt nicht mehr reden, nur 
schreiben. Der höchste Grad des Raffinements war die Photographie 
der Gedanken im Gehirne vor ihrer Entstehung selbst. 

Alles das ist das Werk einer Bande von Feinden, welche sich 


!) „Wenn man sie in Muni verwandeln täte, würden sie Kälber erzeugen 


können“. 


200 | A. Maeder. 


zu einer Feme organisiert haben, um ıhn ın seiner Kaıriere zu ver- 
hindern. 

Diese große Gesellschaft besteht hauptsächlich aus zwei Gruppen 
von Menschen, aus den Roten und aus den Schwarzen. Die Roten 
sind die geldgierigenKapitalisten und Spekulanten, „welche aber 
im Essen und im Geschlechtsverkehr ebenso unersättlich sind“. Der 
Vorgänger des Patienten als Bureauchef der Firma hatte viel spekuliert, 
Patient mußte gegen ihn und einige Mitglieder des Verwaltungsrates 
von Instanz zu Instanz einen Prozeß führen, welcher jahrelang an- 
dauerte und sehr aufregend war. Das Geschäft ward dadurch stark 
geschädigt, konnte nur mit großer Mühe wieder in die Höhe gebracht 
werden. B. war ein aktives Mitglied der sozialdemokratischen Partei 
gewesen, er war als Mitglied des Gemeinde- und Schulrates und als 
Präsident von verschiedenen Vereinen sozial sehr tätig. Das lieferte 
ihm offenbar Material zu dieser Art von Verfolgung. Die Schwarzen 
sind die Jesuiten, die Konservativen, sie sind geizig, neidisch, sie 
gönnen sich selbst nicht einmal das Essen. Sie erregen den Geschlechts- 
trieb zu wenig. An dieser bestimmten Stelle kommt B. regelmäßig auf 
seine Fra u zu sprechen und dann auf seinen Vater. Wie die Erfahrung 
zeigt, ist bei der Dementia praecox das Nebeneinander in den 
Assoziationen sehr häufig gleich einer Identifikation der derart 
angeführten Objekte; also hier Vater — Frau. Es trifft hier auch 
zu; Vater und Frau werden in der Tat mit genau den gleichen Aus- 
drücken charakterisiert. Sie waren beide „schwarzhaarig und 
schwarzäugig, geizig, neidisch und lungenkrank‘. Das sind die Eigen- 
schaften, welche wir von den schwarzen Verfolgern überhaupt kennen 
(bis auf die Lungenkrankheit). Dazu paßt noch, daß die Frau katholisch 
ist (die Jesuiten von oben). Aus verschiedenen Angaben wissen wir 
mit Sicherheit, daß die Frau zu den Verfolgern gehört, sie hantiert 
mit einem Messer, droht ihm, sobald er mit Blondinen spricht. (Die 
Mutter B.’s war blond und blauäugig wie Patient selbst.) Es war theore- 
tisch aus obigen Gründen zu vermuten, daß der Vater auch zu den 
Schwarzen gehört; B. machte spontan keine Angaben darüber. Bei 
der ersten Frage kam die Bestätigung. Patient vermutet, daß seinVater, 
der vor zirka zwanzig Jahren gestorben, wieder auf die Welt ge- 
kommen ist bei den Ausgrabungen zwecks Umbauten im Friedhofe 
seiner Vaterstadt. Er hat sich leider bei der Feme engagieren lassen. 

Es ist interessant, jetzt schon darauf aufmerksam zu machen, 
daß sämtliche Eigenschaften der zahllosen Feinde, der Roten und der 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 201 


Schwarzen zusammen charakteristische Züge der Frau und des Vaters 
des Patienten sind. Sie sind schwarz, geizig und gierig (in Geld und 
Geschlechtsgenuß), neidisch, Jesuiten (katholisch), erregen den Ge- 
schlechtstrieb zu wenig usw. Im Gegensatze dazu scheinen alle Eigen- 
schaften der erwünschten Geliebten und der phantasierten „‚Rassigen 
Kinder“ dem Typus der Mutter des Patienten anzugehören; sie war 
blond, hatte blaue Augen wie er selbst; die Königin der Niederlande, 
an die er sich in einem Brief gewendet hatte (in der Krankengeschichte 
steht noch eine authentische Antwort des holländischen Ministers des 
Äußern) und einige andere hohe Damen, mit welchen Heiraten 
auf diplomatischem Wege geplant worden waren, sind Beispiele 
davon. 


Aus objektiven Angaben wissen wir auch, daß B. seine Mutter 
dem Vater immer vorgezogen hatte, daß sie in ihrem Gemüte und 
Charakter viel Ähnlichkeit mit ihm hatte. Er soll sie mit großer Opfer- 
freude bis zum Tode gepflegt haben (1883), wo er die Vision eines Engels, 
seines „Schutzengels“, gehabt hat. 


Den Vater nennt er konsequent, ohne sich je zu versprechen, den 
„Stiefvater‘“ oder „Herr B.‘; er spricht immer in wenig günstigem Tone 
von ihm (,,er ist nicht gerade dumm gewesen, aber gehässig und geizig‘“), 
im Gegensatze zu der Mutter. 


Auf die Grundlage dieser infantilen Einstellung baute sich bei 
B. allmählich ein kompliziertes System von Größen- und Verfolgungs- 
wahnideen. B. fing an, sich für Stiefsohn des Vaters B. zu halten. Zu 
jener Zeit litt Patient viel unter physikalischen Verfolgungen aller Art, 
sein Gedankengang war, nach seinen eigenen Angaben folgender: Wenn 
ich nur der B., Buchhalter und Protestant wäre, würden mich die 
Jesuiten und Geldmenschen nicht derart verfolgen, „es müßte den 
Kapitalisten gleich sein, ob ein gewöhnlicher B. lebt oder nicht; ich muß 
mehr als ein gewöhnlicher Mensch sein“. 


Seine Mutter, eine geborene Kündig, sei die Königin Anna, 
der Name Kündig sei nur eine Verstümmelung von König!). Der echte 
Vater ist der französische König Louis Philippe d’Orleans; B. sei ein 
Abkömmling der Bourbons-Bonaparte-Orleans (den Widerspruch sieht 
er nicht, auch nicht, nachdem man ihn darauf aufmerksam gemacht 
hat). Als Beweis dafür erzählt er, daß es in seiner Jugend hieß, der 


!) König = altertümlich Künig — davon Kündig. 


202 A. Maeder. 


‚Großvater mütterlicherseits sei in fransösischem Dienste in Paris ge- 
standen, man zeigte noch einen adeligen Degen von ihm. „In Wirklich- 
keit war ein Mitglied des Herrscherhauses von Frankreich, man wagte 
es nur nicht zu sagen wegen der Verfolgung“. Dieser Wahn gibt uns die 
Erklärung, warum B. die ‚‚Louis d’or“ immer mit sich trug und sie nie 
ausgeben wollte. Einmal sogar war er in Geldverlegenheit; er hatte 
100 Franken in Gold bei sich, weigerte sich, davon Gebrauch zu machen 
und wollte die Frau zwingen, ihre goldene Uhr zu versetzen, ‚die Wappen 
seiner Familie kann man doch nicht abgeben!) !“ 


Wir verstehen jetzt, warum er einen kostbaren Grabstein seinen 
Eltern, zwanzig Jahre nach ihrem Tode, in den Friedhof setzte. 


Seine Familie nennt er die St. Johannesfamilie (er heißt selbst 
Johann, seine Mutter hieß Anna); ein Bindeglied zwischen der könig- 
lichen Familie Orleans und ihm ist die Jeanne d’Arc oder die Jungfrau 
von Orleans. Der Urvater des ganzen Geschlechtes ist der Erzengel 
Gabriel, welcher seinerzeit auf dem Himalaja wohnte, sich aber mit 
seinen Flügeln nach dem Kaukasus transportierte, dort als Prometheus 
auftrat, dann nach Griechenland, wo er Zeus und Apollo erzeugte, nach 
Palästina, wo Johannes der Täufer zur Welt kam, welcher ‚‚der eigent- 
liche Ehemann der heiligen Madonna und der Vater Christ!“ war, dann 
weiter nach dem Westen: nach Frankreich (die Orleans), nach England, 
das sogenannte Engelland usw. Der erste der schwarzen Bande war 
Kain, Abel war der erste Blonde der Johannesfamilie. 


Patient ist mit seinen rassigen Kindern eines der Endglieder dieser 
großen Familie. Die ehelichen Kinder mit der „schwarzen Ehefrau“ 
sind nicht rassig bis auf den letzten im Jahre 1900 Geborenen, welcher 
Hans (Johannes) genannt wurde; er ist in der Tat der einzige Blonde; 
die anderen sind brünett bis schwarz, ‚‚sie gehören der Frau allein“ und 
werden nicht anerkannt. Eine Eigenschaft charakterisiert die Johannes- 
familie, das ist außer dem blonden Haar und den blauen Augen?), der 
besondere Glanz der Augen; wir haben dies schon im ersten Teil 


!) Es ist dem Referenten aufgefallen, daß B. immer von Mark und nicht 
Franken spricht, was bei uns nicht üblich ist; er sagte z. B. ‚‚ich verdiene 5000 Mark“ 
statt 5060 Franken; zur Rede gestellt erklärte er, er vermeide den Ausdruck 
Franken absichtlich, „da es gewisse Leute gibt, welche meinen, unter Franken 
seien die blonden blauäugigen Einwohner von Frankreich gemeint und ich sollte 
zu ihrem Kaiser ernannt werden.‘ 

?) Bei den Verfolgungen sagten wir schon, daß die Augen bei B. mit der 
Sexualität assoziiert sind. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 203 


angetroffen unter dem Namen der Liehtaugen der Gens ulpia. 
Diese Strahlen haben eine kosmische Bedeutung, sie sind die Träger der 
‚Fruchtbarkeit überhaupt, sie bedingen die Anziehung und Bewegung 
der Himmelskörper (Gravitation usw.). 


Es ist für Patienten kein Zufall, daß der erste Meridian durch Paris 
geht, es ist ja die Stadt seiner Ahnen, seiner königlichen Familie!). 


3. Zusammenfassung. 


Wichtig für die spätere Entwicklung der Psychose ist die Ein- 
stellung des Patienten als Kind seinen Eltern gegenüber. Die 
Mutter, eine Blondine mit blauen Augen?), steht ihm von jeher am 
nächsten; sie scheint auf das Gemüt ihres Sohnes stark gewirkt zu haben. 
Er wollte sie, als er noch Junggeselle war, zu sich nehmen, als sie tödlich 
erkrankte. Nach dem Tode soll er eine Vision von ihr, als Schutzengel, 
gehabt haben. 


Der Vater war schwarz (Augen und Haare), Webermeister in 
einer großen Fabrik, wie der Bruder unseres Patienten. J. B. scheint 
ihn nicht besonders geliebt zu haben: ‚er war nicht gerade dumm, 
aber neidisch, geizig, schwarz und lungenkrank“. Wir wissen von 
objektiver Seite, daß das Verhältnis zwischen den beiden nie sehr 
innig war. Trotzdem muß der Vater auf den Sohn einen ziemlichen 


') Wie weit die Assimilationstendenz des Komplexes bei unserem Patienten 
geht, ersehen wir noch aus folgendem Detail: Patient zeigt dem Referenten bei der 
Visite eine Abbildung aus einem Buche, das sich auf der Abteilung befindet. Es ist 
ein allegorisches Bild. In der Luft schweben eine Frau (irgend eine mythologische 
Divinität) und ein Knabe mit einer brennenden Fackel. Unterhalb derselben 
auf der Erde befinden sich auf der Seite der Frau ein Löwe, rechts ein Adler. 
Patient deutet spontan das Bild folgendermaßen. Die Frau ist die Jungfrau von 
Orleans, unter ihr sei der Löwe, ein goldner Löwe, einor lion oder Orlean. 
Der Junge sei ein St. Johannes; die brennende Fackel, das Feuer, beweise es zur 
Genüge (,„Johannisfeuer“), der Adler sei ein Zeichen der königlichen Abstammung. 
Aus diesem Beispiele sieht man sehr schön, wie bei den Schizophrenen das Innen- 
leben eine Überbetonung zeigt; die eigenen Wünsche und Befürchtungen stören die 
Wahrnehmungen, diese Kranken schauen die Außenwelt mit Gläsern eigener 
Fabrikation, deren Zusammensetzung von ihrem Vorleben und von ihrem Streben 
abhängt; das wahrgenommene Bild wird durch die Unvollkommenheit der Gläser 
verzerrt. | 

2) Patient hat auch blaue Augen; er war blond, er ist jetzt brünetter als 
früher, was er auf die Vergiftung zurückführt. 


204 A. Maeder. 


Eindruck gemacht haben. J. B. hatte eine vollständige kaufmännische 
Lehre hinter sich, als er sich plötzlich entschloß, ohne äußeren Grund, 
Weber zu werden wie der Vater. Einen anderen Grund sehen wir darin, 
daß er sich eine Frau wählte, welche er, allerdings nachträglich, mit 
genau den gleichen Ausdrücken beschreibt wie den Vater!), allerdings 
fügt er noch hinzu: unersättlich und katholisch. Patient führt ein 
tätiges, relativ erfolgreiches Leben. Die Psychose bricht kurz nach dem 
40. Lebensjahre aus; sie beginnt mit einem ausgesprochenen Beziehungs- 
wahn, dessen Inhalt ursprünglich an Ereignisse der letzten Jahre im 
Geschäfte anknüpfen. Episodisch treten Verfolgungs- und Größen- 
ideen auf, welche sich allmählich systematisieren. Es kommt gradatim 
bei B. zu einer Einteilung des psychischen Materials (aus der Ver- 
gangenheit wie aus der Jetztzeit) in zwei große Gruppen: Größen- 
wahn und Verfolgungswahn. Es ist interessant, jede Gruppe getrennt 
zu betrachten. 


Die mütterlichen Züge, welche wir oben erwähnt haben, werden 
zu den typischen Zügen einer besonderen Rasse, der „Gens ulpia“. 
Zuerst gibt es nur weibliche Mitglieder außer B. selbst?), und zwar 
die Mutter, die blonde Königin von Niederlande (mit der er sich mor- 
ganatisch verehelicht glaubt) und einige starke Blondinen. Von der 
Mutter kommt er durch eine Klangassoziation auf eine glorreiche 
Ahnentafel (von Anna Kündig auf Königin Anna, Johanna von Orleans 
usw.), die durch sämtliche Königsfamilien der Welt bis auf Johannes 
den Täufer, Abel, Prometheus und den Erzengel Gabriel zurückgeht. 
Die Familie heißt die St. Johannisfamilie (Patient heißt Johann, die 
Mutter Anna). Alles Große und Gute auf der Erde ist von ihr geleistet 
worden. Die Erdgröße reicht aber nicht aus. Die Augen des J. B., 
welche aus zahlreichen Gründen?) eine Zentralstelle einnehmen, werden 
zu kosmischen Gebilden; sie befruchten durch ihre Ausstrahlung die 
ganze Welt, sie enthalten die Kraft der Gravitation, sie sind der Himmel 
selbst. 


‘) Vgl. Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen. 
Deuticke, Wien 1909. 


?) Dann sah er es ein und gründete eine männliche Gens ulpia, zu der 
außer ihm selbst seine rassigen Knaben gehörten. 


®) Die Verteilung der Augenfarben in der Familie, die Verletzungen der 


Augen in der Jugend, die Beobachtung der schillernden Tautropfen, die Macht des 
Blickes in der Liebe usw. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 205 


Zur zweiten Gruppe gehören die Verfolger des Kranken — zuerst 
sind es vage Gestalten, welche ihn in der denkbar grausamsten Art 
quälen, mit allen möglichen Instrumenten und Giften mißhandeln 
(der ganze physikalische Verfolgungswahn). Allmählich präzisiert 
sich die Art der Verfolgung, welche zum guten Teil symbolischer Art 
ist, die Verfolgung ist hauptsächlich eine sexuelle, und zwar ganz 
speziell eine homosexuelle. Die Hauptzüge der Feinde sind der Frau 
des Kranken und seinem eigenen Vater entnommen (im Gegensatze 
zu den Zügen der Mutter); die Mitglieder der Feme sind schwarze 
und rote Menschen, von einer besonderen Gierigkeit und Unersättlich- 
keit in sexueller und finanzieller Beziehung wie ihre Modelle. Sie wollen 
B. vollständig ruinieren, wogegen er sich wehrt so gut er kann, durch 
die Erfindung eines komplizierten Systems; er greift sogar zum Witz 
und Rebus. Der Wahn dehnt sich allmählich auf alles das aus, was 
für ihn negativ gefühlsbetont ist (Klerikalismus, Konservatismus, 
Sozialdemokratie usw.), schließlich kommt er auf Satan selbst, die 
Personifikation des Bösen. Schließlich ist aus dem ursprünglichen 
individuellen Konflikte bei B., welcher in der Familienkonstellation 
angelegt war, ein abstrakter Kampf des Guten gegen das Böse ge- 


worden. 


4. Anhang. 


Nachdem die Psychoanalyse zu diesem soeben mitgeteilten 
relativen Abschlusse gekommen war, habe ich das Jungsche Asso- 
ziationsexperiment mit dem Patienten gemacht, um den Lesern zu 
zeigen, wie es erlaubt, sich in aller Kürze eine Übersicht der psychi- 
schen Konstellation der Versuchsperson zu verschaffen. Es wurden 
100 Assoziationen aufgenommen. Das wahrscheinliche Mittel der 
Reaktionszeit war !*/, Sekunden. Ich werde im folgenden die 
50 ersten Assoziationen kurz besprechen, mich nur bei denjenigen 
aufhalten, welche besondere Komplexmerkmale (im Sinne Jungs) 
aufweisen?). 


1) Unterstrichen werden nur die Reaktionen mit Komplexmerkmalen 
(lange Reaktionszeiten, Reproduktionsstörungen usw.). In Klammern ( ) sind 
Bemerkungen der Experimentators.. (W) = Wiederholung des Reizwortes 
durch die Versuchsperson. — = richtige Reproduktion. 


206 A. Maeder. 





Nr. | RBReizwort Reaktion Zeit Reproduktion 
















— 


„gelb, malen“ 


(Die Reproduktionsstörung spricht für eine Gefühlsstörung; die Gifte, 
mit denen man ihn traktriet, sind alle grün) 


3| Wasser Feuer 17 | ‚tragen‘, dann + ‚‚Wie Feuer, 
und Wasser sein, wenn man 
Feinde hat‘“ (Verfolgung) 


4 singen dichten 16 schön? Fürs Vaterland, 
früher (gesungen). 

5 Tod lebendig ir E_ 

6 lang kurz 6 u 

7 Schiff Meer ll |Luftschiffe, selbst konstruiert 
(Siehe oben unter seinen Entdeckungen) 

8 Zahlen Schulden 11 E= 

9 | Fenster Nische 9 Scheibe, Türe 











(Er steht sehr viel vor Fenstern und Türen und halluziniert, es wird 
immer von draußen gerufen, Verfolgung) 


10 | freundlich häßlich 7 — 

11 Tisch Stuhl 12 Bank, dann + 

12 Fragen Antworten 9 En 

13 Dorf Stadt 9 u 

14 kalt warm 6 _— 

15 | Stengel wachsen 17 (lächelt) Zuckerstengel 


Samenstengel usw., 
sogar menschliche $8. 
(Stengel also Penis symbol) 


16 | Tanzen | ja (W.) sehen | 50 — 

(Am Tage vorher war Tanz in der Anstalt.) „Es gab da Patientinnen, die 

meinten ich würde sie heiraten“ (er hat nur zugesehen, nicht mitgetanzt). 

Als ledig früher viel getanzt. (Charakteristisch ist, daß er einige Patien- 

tinnen anführt, welche sich immer erotisch benehmen und welche ihn 
offenbar gereizt haben, deswegen wird dieser Wunsch transitiv) 


See Berg 9 r 
krank gesund 11 | aussehen, werden, ich selbst 
(Schließlich Reproduktion richtig) 


17 
18 











Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 207 





Nr.| Reizwort Reaktion Zeit Reproduktion 

19 Stolz Stein 9 in 

20 kochen essen 7 — 

21 Tinte schreiben 11 —- in die Tinte geraten 

22 bös gut 11 + 

23 Nadel stechen 27 | oder Stücke meinetwegen + 


Verfolgung. „Das sind eckige 

Worte zu‘ beantworten (lacht) 

(Der Komplex der Verfolgung drückt sich nicht nur in der langen 

Reaktionszeit, sondern auch in dem subjektiven Tone der Reproduktion 
aus; das sind typische Affektäußerungen) 


24 | schwimmen | stehen 1.4 8»;] fahren 
(Vielleicht eine Perseveration von der letzten Reaktion?) 

25 Reise machen 6 = 

26 blau färben 16 | rot ... Die Augen, bei mir 


sehr wichtig! 
(Größenidee der Abstammung und Verfolgung) 
27 | Lampe zünden 12 | —+ Ja, es ist ein Verbum, es 
wird dem Leben verglichen 
28 | sündigen | viel (lacht) oder | 14 |-+ Vorwürfe über die Abwehr- 
wenig gymnastik, sie kann Un- 


schuldige auch treffen 
(Siehe Kapitel über die Abwehr) 


29 essen 6 | = 


30 sein oder machen?| 25 werden 
(Größenidee, man weiß, daß er aus einem Herrscherhause stammt, in 
Hotel I. Klasse absteigt usw.) 
Pflanze 21 |-+-ich möchte mich dem Obst- 
baue (edlen Obst) widmen 
(Wir haben schon die symbolische Bedeutung dieses Wunsches besprochen) 
32 stechen |(W.?) ja mit dem| 88 E= 
stechen! meiden | 
(Verfolgung, der Mechanismus mit dem Spritzen ist oben auseinander 
gesetzt worden) 
33 Mitleid haben 6 2= 


34 gelb werden 21 | grün, welk, die Blätter und 


Menschen vor Ärger 
(HypochondrischeWahnideenim AnschlußandieVerfolgungen und Quälereien) 


Brot 
reich 











31 Baum 























208 A. Maeder. 











Nr.| Reizwort Reaktion | Zeit Reproduktion 
35 Berg Tal 17 | + über Berg und Tal wandern, 
lieber (als hier in der Anstalt 
bleiben) 
36 | sterben leben 17 |+- das Letzte; solche Gedanken 
(Selbstmord) schon gehabt 
37 Salz Kochsalz oder 18 —- Nähr- und Giftsalze 
Essen (Vergiftung) 
38 neu alt 14 —+ geboren 
39 Sitte Gebräuche 24 was mit einer Person alles 


geschehen ist 
(Sexuelle Attentate auf ihn) 


40 beten arbeiten 482 u 
(motor. Unruhe) 

41 Geld bekommen 9 m 

42 dumm werden 9 n_ 

43 Heft schreiben 7 | - 

44 | verachten | (Unruhe in den 173 |+- als die Feinde (bedeutender 
Händen) niemand und begreiflicher Affekt!) 

45 Finger Ring 22 |-+ neulich für den Tanzabend 


(in der Anstalt) habe ich den 
Ehering verlangt, damit die 
Frauen wissen, ich sei schon 


verheiratet 
46 teuer kekommen 9 —- 
47 Vogel (lacht) frißt oder | 22 —- humoristisch 


stirbt 


(Macht ein Komplexgesicht, es hat offenbar Beziehungen zwischen ihm 
und den Feinden, nach der Mimik zu schließen) 


48 fallen lassen 7 | _ 

49 Buch halter 7 + (war er) 

50 | ungerecht beurteilt, 17 —- ich 
beurteilen 


(Er ist unzufrieden, seit so vielen Jahren in der Anstalt eingesperrt zu 
bleiben, die Feme hat ihn ungerecht abgeurteilt) 


2 Die Besprechung dieser 50 Assoziationen wird genügen, um zu 
zeigen, wie die Komplexe, welche wir im Laufe der Psychoanalyse 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 209 


allmählich kennen lernten im Experiment zum Ausdrucke kommen, 
das System der Verfolgung, die Abwehr mit der sexuellen Betonung 
des ganzen, die Größenideen usw. konstellieren den Patienten in klarer 
Weise und rufen die typischen affektiven Störungen, welche unter der 
Form der Komplexmerkmale aufgezeichnet sind. 


b) Fall F. R. 


1. Krankengeschichte. 


F. R., Schlosser, von Zürich, ledig, reformiert, geb. 
8. März 1869. 

F. R. ist erblich belastet: Der Großvater mütterlicherseits war ein 
„kurioser Mensch‘, die Mutter war acht Jahre in der Irrenanstalt. (Para- 
noia?) Drei Geschwister derselben waren Psychopathen. Zwei Geschwister 
des Patienten, sehr ehrgeizig, „fühlen sich zu Höherem bestimmt“. Der 
Vater des F. R. war Lehrer in der Realschule, ein Bruder des Patienten 
ist Zeichenlehrer. 

R. lernte frühzeitig sprechen und gehen. Eine gewisse Debilität 
wurde in den letzten Jahren der Primarschule (in der Klasse des Vaters), 
namentlich aber in der Sekundarschule bemerkbar, im speziellen in der 
französischen Sprache versagte er. (Siehe später: die Bedeutung dieser 
Tatsache in der Psychose;) er kam schlecht nach, verlor bald den Mut, 
entschloß sich ‚aus Liebe zur Botanik‘, wie er in seiner Biographie sagt, 
für die Gärtnerei. Nach einem Jahre gab er das schon wieder auf und 
wurde 1884 Schlosserlehrling. Als Knabe soll er aufgeregt, jähzornig 
gewesen sein, kam mit dem Bruder schlecht aus, wollte ihn einmal mit 
9 Jahren erwürgen, war mit seinen Eltern bös, ließ sich nichts sagen, soll 
einmal die Stiefmutter geschlagen haben, als sie ihn ermahnen wollte. 
Er war körperlich auch schwach, machte mit 15 Jahren einen schweren 
Lungenkatarrh durch. Nach der Lehrzeit nahm er einen Kurs als Maschinist 
und Heizer. 

1888 ging er auf Wanderschaft, reiste durch die Schweiz, Süd- 
deutschland; wollte mit 25 Franken nach Paris, konnte wegen Mangel an 
Geld nicht einmal über die Grenze und kam schließlich wieder in die Heimat 
zurück. Er soll sich nirgends lange Zeit aufgehalten haben, kam nicht vor- 
wärts, erwies sich als unfähig bei selbständigen Arbeiten, war mehr als 
Handlanger tätig, bekam vielfach Streit mit seinen Meistern, lief einfach weg. 

Die letzten zwei Jahre vor der Internierung, die 1895 erfolgte, blieb 
er zu Hause, versah nur Aushilfsdienst. Es traten allmählich deutliche 
Zeichen von Geisteskrankheit auf, die der Familie auffielen; er war jäh- 
zornig, warf mehreremals ein Messer oder eine Gabel dem Bruder und der 
Stiefmutter ins Gesicht, war alkoholintolerant, fing an zu gestikulieren, 
für sich zu reden; er verlangte das Geld, das ihm seine verstorbene Mutter 
hinterlassen haben soll, sagte, „die Haushaltung könnte ohne ihn nicht 


Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II. 14 


210 A. Maeder. 


bestehen“, er müsse eine reiche Frau heiraten, welche einen ‚theologischen 
Herzfehler‘‘ habe, der liebe Gott habe es ihm am Karfreitage gesagt. Es 
bestehe eine Allianz gegen ihn. Sein Vater habe an ihm gepfuscht, sonst 
wäre er ein großer Kanzelredner geworden, die Welt gehe Ende der neun- 
ziger Jahre zugrunde, wenn sie (die Verwandten oder Eltern) vorher nicht 
„große Zofinger“ werden. 


Er nahm körperlich und geistig rapid ab, wurde am 23. März 1895 
in die Anstalt gebracht. 

Diagnose: Originäre Paranoia. 

Resume: Wir haben es mit einem wenig gebildeten, scheinbar 
unbegabten Manne zu tun, welcher von einer nicht ungebildeten 
Familie stammt. In selbständiger Stellung hat er überall versagt. 
Er ist körperlich schwach, nervös, ist arm und sehr häßlich (siehe später). 

Es wird im folgenden interessant sein, diese Daten mit dem Inhalt 
seines Wahnes zu vergleichen. 

In der Psychose lernen wir einen ganz anderen Menschen kennen. 
Die Krankengeschichte fängt mit folgender Angabe des Patienten an: 


„Ich habe Freude an der Kultur und habe mir darüber Poesie gemacht. 
Ich fühle mich unglücklich, daß ich Schlosser geworden bin und nicht ein 
Bauer. Ich habe in der letzten Zeit nachgedacht, wie ich es einrichten würde 
— alles was mir gefällt, würde ich mir anschaffen. In dieser Weise habe 
ich mir Pläne im Kopfe bezeichnet und nachstudiert‘‘ und: ‚‚seit drei 
Vierteljahren höre ich Stimmen, die mich ärgern, necken, mit Nadeln 
stechen, kneifen, indem sie meinen, ich hätte sie beleidigt und sei mit ihnen 
grob gewesen‘ (mit wem denn?), ‚das ist eine Allianz, ich höre ihre Stimmen, 
sie sind hell und tönen wie kindliche Sprache‘. 

„Es hat mich aufgeregt, ich bin taub geworden (taub = zornig), es 
war mir zu dumm geworden, ıch habe sie zusammengeschimpft. Es 
hat aber nichts genutzt, sie haben wieder angefangen. Ich weiß, woher 
alles das kommt, aber ich habe keine Beweise dafür. Es sind noble 
Leute, die sich von mir verletzt fühlen usw. Es ist die Allianz Contesse, 
Zürich. Leute von der Bahnhofstraße (die größte Straße der Stadt!). B. ist 
der Präsident der Allianz, von der Union der noblen Leute, die ihre Positive 
auf die Volksseite auslassen, insofern sie beleidigt werden. Das sind 
die Kapitalisten usw. Ich glaube sie gesehen zu haben, wie sie nachts in 
mein Zimmer gekommen sind. Ich habe dann das Licht angezündet, konnte 
aber niemanden wahrnehmen usw.‘ ‚Manchmal habe ich auch einen be- 
sonderen Geschmack im Munde, als ob ein kleines Tierchen mir auf die 
Zunge gemacht hätte.“ 

. Im Laufe der Beobachtungszeit wurden ähnliche und andere Hallu- 
zinationen konstatiert, z. B.: R. ist beim Abwischen auf der Abteilung; 
plötzlich wirft er die Bürste weg, aufgeregt, „das ist unerlaubt“, er nimmt 
sein Notizbuch aus der Tasche und schreibt: „unerlaubte Störung durch 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praeeox-Kranken. 211 


die Madonna“; oder er beklagt sich, daß man mit den Fingern in sein Ge- 
hirn „langt“. 

Aus diesen wenigen Angaben entnimmt man schon Verschiedenes, 
was später eine große Bedeutung im Wahnsystem des Patienten nehmen 
wird: Patient ist mit seiner Lage nicht zufrieden, in der Phantasie 
stellt er sich die Sachen ganz anders vor. Er wird verfolgt von noblen 
Leuten der Bahnhofstraße, es sind die reichen Kapitalisten. Man macht 
etwas heimtückisch an ihm, er wird geplagt. 

Die moderne Diagnose würde lauten Dementia praecox (paranoide 
Form). 


2. Analyse. 


A. Die Verfolgungen, hypochondrischen Klagen 
und die Insuffizienzgefühle. 


„Im Jahre 1894 hat man mich nervös gemacht, der Satan hat 
meine Leitorgane weggenommen und die seinigen dafür gegeben; 
ich bemerkte das, weil mich der Leitstrom im Gehirn, Hinterkopf 
sowie im Leibe gezupft und gerupft hat. Die Leitorgane des Satans 
waren galvanisiert und schadeten mir dadurch, daß sie einen Anzug 
an meinen Nerven verursachten; im Blute fühlte ich eine schnelllere 
Zirkulation sowie eine Erhitzung. Ich bekam so die Glieder- 
sucht, es biß mich am ganzen Körper, überall Stechen und Kitzeln, 
Satan ärgerte mich tief und teilweise lächerlich, weil er nicht höflich 
sein wollte mit meiner kleinen Exzellenz von Jeremia.‘“ Später ändert 
sich die Darstellung etwas: „Mein Kopf ist nicht mehr in Ordnung, 
es ist etwas weggenommen worden, es wurde von den großen Herren 
gepfuscht (starker Affekt dabei), es war unanständig (auf die Frage 
was? — Sperrung....), ein lustiger Schund (lacht läppisch), ich war 
früher in gewissen Dingen, im Fach Schlosserei und Regierungswesen 
sehr geschickt, jetzt ist das kaput gegangen. Man muß Nerveneinlagen 
und Anschlüsse machen, für die Nerven des Verstandes, der Vernunft, 
es ist ein Konfessivnerv herausgenommen worden (konfessiv 
heißt für den Patienten ‚vom täglichen Leben“, ‚was man für das 
Alltagsleben braucht“), es sind auch „Störungen der Destillation des 
Blutes, des Kreislaufes, Hoch- und Niederdruck aufgetreten‘; die 
ganze „Menschheitsrechnung‘“ oder die Fähigkeit des Menschen zu 
rechnen hat eingebüßt. Man muß neue Einlagen machen; man kann 
sie aus dem „Kasten der Optik der Lage‘ nehmen (siehe später 
über den Sinn des Ausdruckes). ‚Das kann der Gerechte machen, die 
Gerechtigkeit, das höhere Wesen, die Optik“ (Optik wird immer an 

14* 


212 A. Maeder. 


Vorstellungen wie Hohes, Wissenschaftliches, Zahlen und Rechnen usw. 
assoziiert), ‚‚es ist eigentlich eine Medizinalfachsache, gehört zur Dok- 
torurie, diese hohen Herren sind lauter Heilande, eine Gesellschaft 
von lauter Ärzten“. 

Die Art der Verfolgung hat etwas Unbestimmites, sie wird nicht 
immer gleich beschrieben, der älteste Feind scheint der Satan selbst 
zu sein, den Patient in seiner „Kunstsprache“ eine galvanische 
Optik nennt, womit er ausdrücken will, ‚er sei galvanisch wie Zink, 
er sel aus einem andern Fleisch wie wir, er habe einen andern Stoff 
und andere Tinktur; es heißt galvanisch oder magnetisch, weil es einen 
‚Anzug‘ hat; er kann einen besser anlocken und festhalten“; Optik 
hängt mit der eigentümlichen Beschaffenheit der höheren ‚‚wissent- 
lichen“ Wesen zusammen, es ist das feine, hohe, im intellektuellen 
Gebiete das schwierige, schwer verständliche, wie die Optik selbst — 
für einen Schlosser mit recht mittelmäßiger Primarschulbildung. — 
Der Satan ist auch der ‚Amphie“ und hat einen sexuellen Charakter 
(Schamreaktion dabei), ‚‚er rupft und zupft an einem, zieht an der 
Glocke, will das Wärlein!) (beides ihm bewußte Penissymbole) in 
die Hand nehmen“. Bei dieser Erzählung hat Patient immer das gleiche 
läppische Lachen und bringt in diesem Zusammenhange immer die 
Ausdrücke ‚Schund treiben“, „lustige, junge oder g’spassige Leute“. 
Diese sexuelle Verfolgung geschieht manchmal sogar seitens Frauen; 
beim Anblick eines Madonnabildes sagt er: ‚‚es ist eine hohe wissen- 
schaftliche Person, so wie Schulen, Lehrerin usw.; sie hat uns geneckt, 
es war eine Lügnerin und hat beim Lebenswerk die Glocke abgenommen“ 
(siehe später über das Lebenswerk, man merke sich nur die Wieder- 
holung des Ausdruckes ‚‚die Glocke‘‘ und den Satz aus seinem Notiz- 
buche in der Anamnese: unerlaubte Störung durch die Madonna), 
„sie ist mein Mütterlein‘ usw. 

Es gibt nach des Patienten Angaben weibliche Teufelinnen oder 
„Datanine“, die den ‚„Schamschlitz“ seitlich (Hüften) haben. Der 
Gerechte ist der Heiland, manchmal der liebe Gott, er ist der Be- 
schützer des Patienten, welcher sich sogar als das ‚‚Neveutchen“ (Neffe) 
vom Heiland gibt. Trotzdem erlaubt er sich ausnahmsweise (,,‚er hatte 
zu viel gesoffen‘“) in dem Gehirn unseres F. R. zu „pfuschen“, „er 
langt allerdings nur an den Kopf“. 

Es gibt noch viel mehr Feinde als diese, eine ganze Bande, welche 
mehr oder weniger organisiert ist, es sind Neidische zum Teil. ‚‚Die 


!) Wärlein = Diminutiv von Ware, Dialektausdruck für Genitale. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 213 


Feinde waren ein Raufvolk, ein gewisser Haß gegenüber höheren und 
besseren Personen und Justiz, gegen Ratspersonen usw.; ich hatte viele 
Anhänger und Freunde, war auf höheren Posten, Emanuel und Zar 
und Napoleon von Frankreich; es hatte sie geneckt wegen meiner 
besseren Geschäfte, sie hatten einen Haß auf uns, weil wir gescheit und 
und reiche Leute waren, sie konnten nicht dulden, daß wir so waren.‘ 

An einer andern Stelle erfahren wir, daß alle noblen Leute zu einer 
Allianz sich vereinigt hatten und ihre ‚Positive auf die Volksseite 
ausließen“. Die Positive auslassen heißt nach F. R. das Faust- 
recht ausüben, schlagen, prügeln, ‚sie protestierten, daß jemand an- 
genehmer sei oder besser rechnen könne“. Das Rechnen scheint 
bei Patienten besonders gefühlsbetont zu sein, wie die Optik, das spielt, 
wie wir noch sehen werden, bei der Entwieklung seiner ‚„Kunstsprache“ 
eine große Rolle. Patient klagte, namentlich im Anfang der Krankheit, 
viel über sehr peinliche Körperhalluzinationen, welche er auf „Schläge 
und Prügel seitens seiner Umgebung zurückführte, er war selbst mehrere- 
mal gewalttätig, offenbar um abzuwehren. Vielfach kamen die Miß- 
handlungen nicht nur von den vornehmen „Allianzleuten‘“, sondern 
von den Cortez Preglia, große Männer mit aufgekrempelten Ärmeln, 
wie Athleten, Bauersleute, Rüeblibuben!), sie sind meistens kecke, 
frische, schöne, junge Leute. Diese lustigen, etwas bösartigen Leute 
haben auch mit kleinen Messern hantiert, gekratzt und geschnitten 
und geklemmt, es war so etwas Nationalhässiges, weil ich nicht 
immer dienen konnte mit Geldern und Waren in der Agadations- 
zeit‘ (offenbar Agitation, es wird nämlich daran assoziert, ‚wenn das 
Volk stürmisch war“). 


Dicht an die Verfolgungsideen schließen sich die hypochondri- 
schen Vorstellungen und sonstige Insuffizienzgefühle. 

Er war und ist noch krank, zum Teil soll es sich um eine Er- 
schöpfung durch Überanstrengung handeln, „war zu müde wegen der 
Geschäfte in Gro ß-Winterthur““ (Groß ist sein Ausdruck; er hat eine 
Zeitlang dort als Schlosser gearbeitet, hielt sich für den Fabrik- 
besitzer; zum Teil ist die Gliedersucht schuld, für welche er freiwillig 
in die Anstalt gekommen sein will; die Schmerzen in den Gliedern be- 
stehen teilweise jetzt noch, er hat z. B. das Gefühl, in die große Zehe 
werde etwas hineingestochen usw., es ist nur ein euphemistischer Aus- 


!) Rüebli = Deminutiv von Rübe, Dialektausdruck für Penis. 


214 A. Maeder. 


druck für die physikalische Verfolgung. Die Verwüstungen 
durch die Mißhandlung sind sehr ausgedehnt und bedenklicher Natur; 
Patient hat sogar jetzt Einsicht, daß das Leiden nicht nur körperlicher, 
sondern auch intellektueller Natur sei. Das Pfuschen in das Hirn 
und den ganzen Körper hat zu einer Abschwächung des Blutes und der 
Zirkulation und Destillation usw. geführt, wie er sagt, zu einer Ab- 
nahme des Verstandes, der ‚„Menschheitsrechnung‘ oder Fähigkeit 
des Menschen zu rechnen. Die ‚‚Leitorgane“ sind durch Herausnahme 
von wichtigen Bestandteilen, Nerven und Adern, Blut, schwer ge- 
schädigt. 

Die Aufzählung derselben, welche alle mit eigenen Ausdrücken, 
die der besonderen Anatomie des Kranken entstammen, behaftet sind, 
werden wir auf später verschieben, um dieses ganze System einiger- 
maßen einheitlich zur Darstellung zu bringen. 

„ich bin ein ganz verrückter Kerl geworden, habe mich auf- 
geregt, man hat mir viel Ärgernis und Halluzinationen gemacht, der 
Kopf muß jetzt vergrößert werden, damit er kompetenter wird und mehr 
normaler, man muß die Einlagen wieder hereintun, das macht ein 
gewisser Arzt, der alle Doktorereien studiert hat.‘ ‚‚Mein Kopf ist 
nicht in Ordnung, es ist ein Gesundheitsproblem, mit mangelhaften 
Bestandteilen kann der Mensch nicht gesund sein; diese Sache wird 
in Vernunftsanstalten (Irrenanstalten) gemacht, wo ‚Korrektur ge- 
nommen’ wird, das ist der Abwag.“ 


B. Die Kompensationen (Wunscherfüllungen). 


Wir haben in der Anamnese konstatiert, daß Patient aus einfachen 
Kreisen kommt, der Vater war Lehrer, die Stiefmutter hielt ein alko- 
holfreies Restaurant. Der Kranke selbst hat eine sehr unvollständige 
Bildung genossen, kam im ersten Jahre der Sekundarschule nicht mehr 
nach. Er ist körperlich schlecht gewachsen, von jeher schwächlich 
(sogar tuberkulös), hat ein häßliches Aussehen. Nach einem miß- 
lungenen Versuche bei einem Gärtner wurde er Schlosser, brachte es 
bis zu einem wenig tüchtigen Gesellen, der überall in Konflikt mit den 
Meistern kam, sich nirgends bewährte. Mit einem Worte: das Schicksal 
hat ıhn schlecht behandelt; Patient sorgt in der Psychose für reich- 
liche Kompensation, die Ungerechtigkeit wird in der Phantasie 
durch Wunscherfüllung korrigiert. 


Zuerst kommen die infantilen Wünsche an die Reihe, man 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 215 


sei reich, ein Prinz oder ein Heiliger, und wenn man aus einer Lehrer- 
familie stammt, wird man dazu noch ein Gelehrter. In der Tat erzählt 
Patient: „Ich war ein Großfürst von Gappflihaus, hatte Residenzen 
in Frankreich, Italien und Rußland usw., ich hatte viele Anhänger 
und Freunde, war früher auf hohen Posten, fürstlichen und königlichen 
Posten, Emanuel und Zar und Napoleon von Frankreich usw., ich war 
auch Friedensrichter, Großrat, Bundesrat und Genieoffizier der 8. Divi- 
sıon.‘“ Er verkehrt nur mit Exzellenzen. Von seinen Feinden, den Cortex 
Preglia, sagt er: „Es sind so junge Leute, die nicht mit Exzellenzen 
frequenzieren und nicht im Anstand zu leben wissen“. Er redet 
den Arzt auch mitten im Gespräch als ‚Ehrwürdige Exzellenz“ an. F.R. 
hat noch einen andern Titel, der eine eigene Schöpfung ist, er gibt sich 
für den Bilderbuchherr aus. Das Bilderbuch ist eine Landschaft, 
es besteht aus Städten, Wiesen, Wäldern und Flüssen, das heißt aus 
Landschaften; ein Bilderbuch ist eine Sammlung von Bildern. Bilder- 
buchherr heißt auch Staatsherr, der Ausdruck ist der sogenannten 
Exzellenzsprache entnommen, es ist eine „verbesserte Sprache für 
Leute der Union und besserer Stände‘ (die Sprache wird in einem be- 
sonderen Kapitel besprochen werden). 

Unser Kranke ist noch mehr, er ist das „Neveutchen‘“ oder 
„der Sohn der rechten Linie des Heilandes‘, er steht in direktem 
Verkehr mit dem Gerechten, welcher sich allerdings manchmal erlaubt, 
in seinem Gehirn zum ‚Schund” zu pfuschen. Patient brüllt ihn dann 
als Kamel an. Er ist dem Heiland unterworfen, ist zeitweise der Christus 
selbst. „Ich komme von Privatdozent auf Bankdoktor, dann 
geht es hinauf in den Offiziersgrad”“ usw. Als Privatdozent bildete er 
sich im ,„Schloßfach“ und als Mechaniker aus. Bankdoktor ist ein 
„devisiver Herr oder ein Finanzherr“. Devisiv kommt immer 
in diesem Zusammenhange, hat mit Geld und Reichtum zu tun, „es 
ist finanzielle Sache‘ (ob es mit Defizit und Devise (Börse!) zu- 
sammenhängt, können wir nicht sagen, esscheint nicht unwahrscheinlich). 
„ich habe Groß-Winterthurgeschäft (die industriellste Stadt der Ge- 
gend), die Werkstätten, alle großen Geschäfte unter mir, ich bin von 
den Fürsten der aktiv, wir sind Freimaurer‘ usw., ‚wir sind in der 
Union, heimatlisches Mitglied, es sind wissenschaftliche, geschäft- 
liche Leute (Leute, welche Geschäfte machen), die Union ist nur 
Geschäftssache, Offerte, Geschäfte, heimatländische Geschäfte, kon- 
struktionell‘‘., Alles Assoziationen, welche mit seiner früheren Be- 
schäftigung zusammenhängen. 


216 A. Maeder. 


Der Ausdruck Privatdozent ist uns früher schon begegnet; 
er tritt häufig auf, ebensosehr wie Schule, Schulkinder, Lehrer usw., 
noch häufiger ist „wissentliche und wissenschaftliche Personen“. ‚Der 
Präsident der Union ist eine wissentliche Person.‘ Ein Beweis, daß 
das Wissen und die Bildung und alles, was drum und dran hängt, bei 
ihm sehr gefühlsbetont ist. Er ist der Sohn und der Bruder von Lehrern, 
hat selbst keine rechte Bildung genossen, wünscht es natürlich um so 
mehr. Dies erklärt uns bis zu einem gewissen Grade seine Preziosität, 
welche immer der Ausdruck einer gewissen Unzufriedenheit mit der 
sozialen Lage und eines Strebens nach Höherem ist. Der Ausdruck 
Dozentwage, den er braucht, um eine gute Wage (Apothekerwage) 
zu benennen, charakterisiert diese Tendenz sehr deutlich; es ist etwas 
Besseres, „für bessere Leute‘‘, wie es sonst heißt. Von den Ärzten spricht 
er auch immer in großer Ehrfurcht; diejenigen welche ihn gesund machen 
werden, haben alle ‚„„Doktorereien‘‘ studiert, es sind lauter Heilande 
usw., er legt große Hoffnung auf sie. (Siehe später den Brief: Und Acla- 
miert Das!) 


In einem Gebiete muß er noch erwartungsgemäß kompensieren, 
in demjenigen der normalen Sexualbefriedigung. Wir haben 
schon zur Genüge erwähnt, daß er arm, schwächlich und besonders 
häßlich ist, von der Jugend an ein Sonderling,. der natürlich ledig 
bleiben mußte. In der Phantasie schafft er sich genügenden Ersatz. 
„Meine Frau ist Königin von Italien, sie heißt Anna (wie die Schwester), 
sie ist schön und jung, es sind aber noch viele andere, Italienerinnen, 
Schweizerinnen und Französinnen; ich habe große Freundinnen, stolze 
schöne Frauen. In jedem Staate habe ich eine Hofdame, von meinem 
konfessiven Hause (konfessiv heißt Wohnhaus, alles was mit dem 
täglichen Leben zusammenhängt), es sind alles Lonsche Damen, das 
sind vornehme Personen, wie Volkslehrerinnen und Vorsteherinnen 
der Exzellenzen‘ (Lonsche ist überhaupt alles, was von noblen Leuten 
gemacht wird oder ihnen gehört, wie z. B. die Fassade der Anstalt und 
die schönen Bäume vor dem Eingang — Fassadebäume). Wir wissen 
schon, daß die Madonna, welche mit der Mutter identifiziert wird (siehe 
oben, sie ist mein Mütterlein), sich erlaubt, ihn am Glied zu fassen, 
worüber er sich entsetzt und im Notizbüchlein schreibt; allerdings 
ist das Entsetzen vielleicht nicht ganz echt, die Erzählung wird immer 
begleitet von einem läppischen Lachen, manchmal von Gesten, die 
eine andere Einstellung im Unbewußten vermuten lassen. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 217 


Das Kosmische. Das sogenannte „Lebenswerk“. 


Bei Besprechung der hypochondrischen Vorstellungen haben wir 
auf die besonderen anatomischen Vorstellungen des Patienten hin- 
gewiesen, welche hier im Zusammenhange besprochen werden wollen. 
Durch einen eigentümlichen Mechanismus der Projektion wird der 
Körper des Patienten zu einem wichtigen Teil des Weltalls; noch mehr, 
der Körper, zusammen mit dem Apparat zur Herstellung der Gesundheit, 
wird selbst zum Weltallt). 

F. R. war Schlosser und hat nur Volksschulbildung, seine ana- 
tomischen Vorstellungen, welche in seiner Psychose eine so große 
Rolle spielen, hat er aus seinem Fache geschöpft. Die Hauptbestand- 
teile des Körpers sind Nerven und Adern, die Nerven werden wie die 
Adern als Röhren aufgefaßt, da sie zur Leitung dienen. Der feine 
Mechanismus im Leibe und Gehirn besteht aus Räderchen und Krön- 
chen (Örthodix) und beweglichen Flügelchen (Zyklon genannt, von 
folgender Form ‚f'), aus einigen Hebeln, Hahnen und Anschlüssen. 
Die Funktion dieser Maschine reduziert sich auf „Zirkulation, De- 
stillation, Hin- und Her-, Hoch- und Niederdruck“. Das Nerven- 
system ist ziemlich kompliziert, es enthält Leitorgane oder Leit- 
nerven, Kondukteur- oder Kontrollnerven, welche alle ent- 
sprechenden Funktionen dienen; die Leistungsfähigkeit des Menschen 
hängt von der Größe und Dicke dieser Nerven ab. Ferner enthält der 
Kopf einen „Sägenerv“, eine kleine Säge in einer Hülse; der Mensch 
ist damit vor Konflikten geschützt, ‚‚die Hindernisse werden so gelöst 
und beiderseits auf die Seite getan.“ Die „Stellina“ sind Nerven und 
Adern, welche in den Kopf das Vernunft- und das Rechnungsblut 
namentlich (‚das hat jeder Gesunde, sonst könnte er gar nicht arbeiten‘) 
führen; dieses Blut heißt auch Blut des Wissens im Gegensatze zum 
„Kraftblut“, welches für die körperliche Arbeit und für die Be- 
wegung ist. Der Konfessivnerv dient zum Hausleben, zum all- 
täglichen Leben. Wichtig für den Zusammenhang ist die Existenz 
eines „Blutexaminiernerven oder Eßkort, für Destillation und 
Inhalt im Hinterkopf, er sorgt für eine gewisse Normalität, für einen 
gewissen Grad von Steigerung und Kraft“. 

Ebenso direkt aus der Technik entnommen ist der Olgenerv, 
ein „Fleischnerv, damit es keinen Brand und keine Materie (= Eiter) 


!) Siehe die Analyse des J. B., wo das kosmische Element auch eine be- 
deutende Rolle spielt. 


—R— yme mun 





218 A. Maeder. 

gibt an den Rundungen, innerhalb der Gelenke, an den Hautfalten, 
zwischen den Fingern, genau wie das Öl für die Maschine“. (,Olge‘ 
Derivat von Öl?) | 

Je «, Wenn Ermüdung in einem bestimmten Organ eintritt, wird es ein- 
fach abgeschraubt und durch ein anderes ersetzt. Der Kopf, sogar die 
„Büste“, die ganze Figur, können abgenommen und ersetzt werden. 
Patient will mindestens 5000 Ersatzfiguren haben, dazu einzelne ‚‚spe- 
ziell für den Sonntag“. Wenn man krank ist, sind entweder durch Ab- 
nutzung oder böswillige Absichten einzelne Teile beschädigt. Es wird 
z. B. gepfuscht, geritzt, geklemmt oder gedrückt. Die Hauptkunst 
in der Heilkunde besteht dann darin, richtige Einlagen herzustellen. 
Manchmal werden sie an einem unrichtigen Ort eingelegt oder absicht- 
lich miteinander. verwechselt, „auf das Geratewohl eingesetzt“. Un- 
angenehme Störungen der Zirkulation können auftreten, „wenn zwei 
Hähne, zwei Hebelhähne, Destillationshähne aufgemacht werden, 
es übt Einfluß auf die Zirkulation, an einem Orte gab es Anzug, es ist 
bei mir eine gewisse Nervosität eingetreten auf den Kondukteur und 
Konduktor der Vernunft, ich bin schwach im Kopf geworden“. Die 
Einlagen müssen immer bereit sein, „in Bereithaltung sein,‘ wie er 
sich ausdrückt; sie sind in einem Kasten enthalten, ‚im Kasten 
der Optik der Lage,“ einem Fachkasten“, wo alle „zarten Organe 
für die guten Leute, für die Exzellenzen‘ enthalten sind; sie werden 
in den besseren Häusern, in den schönen Villen eingelegt. Optik hängt, 
wie oben schon einmal erwähnt wurde, mit den „hohen wissenschaft- 
lichen Sachen” zusammen, wie Algebra, Dinge, zu deren Verständnis 
unser Schlosser sich nie aufschwingen konnte; es bedeutet auch für ihn 
das Zarte, Feine, ‚jedes zarte Stück Organ,‘ der Augapfel, das Trom- 
melfell, das sind alles optische Sachen!). 

Die Optik der Lage ist die bessere Lage, die den wertvollen Gegen- 
ständen gehört. Ein interessantes Detail, das die naive Denkweise des 
Patienten wiedergibt: die optischen Sachen bei den besseren Leuten 
sind aus kostbaren Stoffen, z. B. aus Silber, Elfenbein, Pergament. 
Diese Synthese genügt F. R. nicht, er versucht, sich den Stoffwechsel 
und den Heilungsvorgang etwas plastischer vorzustellen und kommt 
zu folgenden phantastischen Vorstelllungen. Das vorrätige Blut (Kraft- 
und Vernunftblut) ist in einem großen Gefäß enthalten (der sogenannte 


') Bei der Schreibmaschine (Referent registriert alles mit der Maschine) 


sind die Buchstaben „Optik“, „es gehört zu den Rechnungen und feineren zarten 
Gegenständen‘, 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 219 


Kubik aus Zinksilber), ein Reservoir, welches sich im Himmel befindet 
und mit dem Körper durch unsichtbare Leitungen kommuniziert — 
genau.wie das Wasserreservoir eines Dampfkessels — (es sind noch 
ähnliche Systeme für Wasser und Luft vorhanden); die Kraft und 
Gesundheit kommen so in den Menschen hinein, und zwar durch die 
Vermittlung eines Blutverteilungsapparates und von Anschlüssen. 
Der kostbare Apparat trägt den Namen Balance oder Wage, da er 
zur Verteilung von Blut und Wasser dient. Der Prozeß der Heilung 
(durch die Verteilungen) heißt „der Abwag“. Die Anschlüsse sind 
lange Röhren, welche in der Luft hängen wie Stränge, Nerven und 
Adern; Patient zeigt dabei Gas- und Wasserleitungen auf der Abteilung, 
welche dazu gehören sollen, er ladet den Referenten ein; in den Keller 
hinunter zu gehen, da sehe man am besten, was das große Werk, das 
Lebenswerk sei, kleine Kubiks seien auch vorhanden und Hähne- 
anschlüsse. „Das Lebenswerk ist der Inhalt aller korporaturrecht- 
lichen Nerven, Adern, Figuren, Büsten; es ist ein kombiniertes Werk 
in Vertikalen (Vertikale = Bestandteile).‘“ Es stellt sich aber heraus, 
daß die Verfolgungen, von denen oben berichtet wurde, nicht nur gegen 
den Patienten gerichtet waren und sind, sondern gegen das Lebens- 
werk selbst, ‚es wurden mieine, unsere Organe geprügelt, meine Brust 
gedrückt,“ ‚die Glocke am Lebenswerk abgenommen“. Die Identi- 
fikation von F. R. mit dem Lebenswerke wird vollständig, er merkt 
an sich selbst die Schädigungen, welche an dem großen Werke verübt 
werden. Wenn geritzt oder gekratzt wird an irgend einer Röhre, 
empfindet er das als Nervenschmerz, alles was im Keller und sonst an 
der großen Maschine gemacht wird (z. B. bei Reparaturen in der Anstalt)» 
ist einer Verletzung seines Körpers gleichgestellt; er ist das Lebens- 
werk selbst. Die früheren Prügelszenen mit den „Cortez Preglia“, 
die wir bei den Verfolgungen besprochen haben, werden als Schädi- 
gungen der Teile der großen Maschine aufgefaßt; die einzelnen Teile 
werden gestampft, gedrückt, herausgenommen. Die strangartigen 
Röhren, welche von der Wage herunterhängen, sind verlegt worden, 
sie hängen jetzt schief oder wurden so gedreht, daß der Abfluß nicht 
mehr richtig ist, es kommt bei ihm dann zu Verdauungsstörungen usw.: 
„die Verdauungsorgane sind wie eine Schnur verdreht worden, man 
muß sie wieder gerade machen usw., es war Krieg draußen“. | 
Hier sehen wir den Mechanismus der Projektion in Tätigkeit. 
Der eigene Körper wird hinausprojiziert in die Welt, alle Wirkungen 
auf das kosmische System sind auch Wirkungen auf das Individuum. 


220 A. Maeder. 


Schließlich läßt sich alles auf zwei Komponenten zurückführen: der 
Patient selbst mit dem lieben Gott, der er selbst auch ist (mit allem 
was drum und dran ist, Lebenswerk usw.), auf der andern Seite die 
Feinde, die starken, aber gemeinen Feinde, welche es mit dem Satan 
haben, der Teufel selbst. Also der Kampf des Bösen gegen das Gute. 

Es lag mir sehr daran, durch ausführliche Darstellung zu zeigen, 
daß trotz der anscheinenden Verblödung doch eine ganz beträchtliche 
Geistesarbeit vom Patienten geleistet wird. 


©. Sprachneubildungen.‘) 


Bevor ich auf das Allgemeine eingehe, will ich ein Schriftstück 
des Patienten mitteilen, das auf meine Veranlassung im Juni 1908 ab- 
gefaßt wurde. Der Auftrag lautete: Der Patient soll dem Referenten 
einen Brief schreiben. Dieser Brief lautete folgendermaßen: 


„Und Aclamiert Das! 


Baldiger Einholung Einhallt for Weitere Zerrüttung! Auf’s Dasein. 
böse oder gar auch Arm In Organen! Güpfeli: Eckrundungen. schlimme 
Krankheit Gibt. Organe Noch Alle zu Zart und kurz und klein Also! Ein- 
holung!!! Einziger bedarf. Stegenbilderbuch! Büstenfigurwechsel Und 
Der Abwag. Der Olgenhalltbehaltwaag. In Hausbordiev Zwischen und 
Sibill Garsche zwischen Wand und Lebens Werk! Fom Stammblut Und 
Der In Wand ®/,tel Cedur Stellina Obere 2. Der Körperkraft. abwägen Das 
Normahlieren blutstand Und Innere °/, ig Und Verdauung. Aller Eß und 
Trink Wahren. Und Kopffergrößerung. Aster 5,4 Igräk Ipsilong Sennjahl 
und Allfabeet. Anschlüsse Lonsche 4 Mitt Eßkort Confesiev Nerv 2—4 
Adern Hinderkopf Und Eßkort leib Abwägen. Weitere Sachen Inn Stück 
Dingen sind bereit! In Nerven Adern Belege und Fertikahl Consequente!!!! 
Und In Prima die Dinge! Fleisch! Sache! Asterchen! Die Prima. Ferzeien 
Sie Geerter Herr Dır. Für Hülfsfertikahle Ist Unser In Schwererträglicher 
Zeit. Der ganze Bruderkranz Arm An diesen Bedingungen. Und Also fer- 
tikahl bereit!!! Achtungsfollst. ! lange bemüt und Geduld blieb! Und Er- 
erbietig. Die Verungglükten Und bitte Die Herrn hoch Ererbietig Wenn 
Sie Das gesetzt Dingung Nicht Selbst Die Machenschaft bleiben können. 
Um den Stabs Arzt. auf Prompte Sache. 


Oder Aller Seehligen Jeremia Tellegramm! 
Dankvoll!: 
! Sekretär ! HB 


') Ein Teil dieses Kapitels ist verwendet worden für einen Aufsatz: La 
langue d’un ali6n&. Analyse d’un cas de glossolalie, in den Archives 
de Psychologie, T. IX, 1910. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 221 


Im folgenden werde ich versuchen, eine Art Übersetzung des 
Briefes zu geben. Zum voraus bemerke ich aber, daß nicht alles restlos 
übersetzt werden kann, es ist wahrscheinlich überhaupt nicht ganz in 
die Sprache des Normalen übersetzbar. Viele der Neologismen drücken 
Begriffe aus, die nur in einer schwer dissozüerten Psyche entstehen 
können. Immerhin hat das Ganze einen bestimmten Sinn, der mit 
den in den obigen Abschnitten mitgeteilten Wahnideen übereinstimmt. 
Der Patient wıll uns damit etwas sagen. 

Die Technik, die angewandt wurde, um diese Wortbildungen zu 
studieren, war folgende: Freies, zwangloses Assoziieren, jedes Wort 
für sich genommen, wie Jung es angewandt hat in seinem Fall St., 
der in seiner „Psychologie der Dementia praecox‘ dargestellt 
ist. Diese Methode war aber in unserem Falle nicht immer genügend. 
Ich ließ darum den Patienten vorgehaltene Gegenstände, Bilder be- 
schreiben, ließ ihn vorgelesene Geschichten nacherzählen, und auf 
diese Weise kam ich auf den Sinn von mehreren Neologismen, die mir 
bei der ersten Methode nicht klar geworden waren. 


Übersetzung: 


„Das sei gesagt! (laut gesagt, akkklamiert). Halt vor der weiteren 
Zerrüttung (meiner Gesundheit), der frühere Zustand muß bald ein- 
geholt (wiedererreicht) werden. Es ist eine Frage des Lebens oder des 
Todes; böse steht es mit mir, ich bin gar arm an Organen geworden!). 
Die Gelenke und Verzweigungen der Nerven und Adern (Güpfeli) sınd 
krank, es ist eine schlimme Krankheit?). Meine Organe (die frisch ein- 
gelegten) sind noch alle zu zart und kurz und klein, also vorwärts! 
Allein notwendig ...... sind: der Wechsel der Büste und Figur?) 
und die richtige Verteilung der Kraft. Diese Heilung durch den Abwag, 
„das macht ein Doktor‘*). Der Apparat (die Wage) befindet sich 
oben in der Luft im Stegebilderbuch. Und endlich ist notwendig die 
Verteilung der Flüssigkeit, — Öl —, gegen den Brand?)...... Man 


!) Man erinnere sich an die Theorie der herausgenommenen „Einlagen“, 

2) Anderswo als Eckenbrand, Brand an den Gelenken, Hautfalten usw. 
bezeichnet. 

3) Wir wissen, daß Patient glaubt durch Ersatz von schlechten Organen 
durch neue könne man wieder gesund werden. 

4) Der Abwag ist der Prozeß der Behandlung durch richtige Verteilung 
des Blutes und Wassers auf der Balance (= Wage). 

5) Olge entspricht in seiner Wirkung dem Öl in einer Maschine, es wirkt 
gegen die Reibung und die Erhitzung. 


222 A. Maeder. 


muß die Körperkraft messen, den Blutstand wieder herstellen!), ebenso 
muß die Verdauung für alle Speisen hergestellt sein. Dann muß der 
Kopf vergrößert werden (was für ihn eine Besserung bedeutet), bis zu 
einer gewissen Größe, die „Aster‘-Größe. Als Einlagen kommen dann 
hinein die Nerven oder Organe für das Rechnen ( Ygrec und Ypsilon), 
für das bessere Sprechen (das Alphabet ist die „Reihe der besseren 
Worte2),fürdas Handeln und ‚Bestreben‘ unddie,,positiven Leistungen“, 
Die Anschlüsse an das Lebenswerk müssen ‚‚lonsche‘‘ sein (das heißt: 
wie bei den Großen, Exzellenzen, Gesunden). Es müssen die Blut- 
examiniernerven (Eßkortnerv) für den Kopf und den Leib, 
welche für einen gewissen Grad von Normalität des Blutes sorgen, 
eingelegt werden, ebenso der Konfessivnerv (der Nerv des Haus- 
und Alltagslebens überhaupt). Diese Sachen, Einlagen usw., sind alle 
parat, mit allen ihren Bestandteilen (Vertikalen). Sehr wichtig 
(konsequente) ist, daß alles erster Qualität und richtiger Größe sei. 
Verzeihen Sie, Herr Dr., die Inanspruchnahme Ihrer Hilfe. Es ist 
für uns eine schwierige Zeit. Unsere armen Brüder?) sind schwach in 
Gesundheit. Es sei also alles bereit (Komponente, Elemente), Achtungs- 
vollst! Ich bin sehr lange bemüht und noch geduldig! Wir Verunglückte 
bitten noch die hochgeehrten Herren, wenn Sie die Behandlung nicht 
übernehmen können), einen Stabsarzt zu rufen; es ist eine dringende 
Sache; oder auch dem seligen Propheten Jeremia ein Telegramm 
schicken’). Mit bestem Dank. : Der Sekretär F. R. 


Durch die Unklarheiten des Schizophrenen erkennt man doch 
einen Faden; er bittet also um ärztliche Hilfe, zeigt die Fehler seines 
Körpers und Geistes an, gibt einen Wink für die Therapie nach seiner 
Auffassung. Einen Einwand will ich zum voraus beantworten; man 
könnte behaupten, die Assoziationen des Patienten an die einzelnen 
Neubildungen seien akzidentelle. Es stimmt aber nicht. Im Laufe der 
letzten 16 Monate habe ich häufig kontrolliert und immer wieder gefragt. 
aber jedesmal die Übereinstimmung konstatiert. Die täglichen Bruch- 
stücke von Gesprächen, welche ich mit dem Patienten auf der Abteilung 
führe, haben immer den gleichen Inhalt; die Gedanken und Phantasien 


!) Normalieren heißt: gesund machen. 

2) Patient stellt sich alles das rein mechanisch vor. 

?) Die Partei Gottes und die seinige. 

*) Machenschaft heißt das „Rezeptmachen‘‘, also die ärztliche 
Behandlung. 


5) Patient hält sich für einen Deszendenten von Jeremias. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 223 


des Patienten beschäftigen sich beständig mit den Feinden, die ihn 
krank gemacht haben, mit den Mitteln, wieder gesund zu werden, mit 
seiner früheren und aktuellen Größe, wie in diesem Briefe auch. Die 
Neologismen sind nicht willkürlich, sie kommen nur bei Kom- 
plexstellen vor. Über ganz gleichgültige Dinge spricht F. R. in unserer 
gewöhnlichen Sprache, freilich nur wenn man mit ihm nach längeren 
Bemühungen einen leidlich guten Rapport hat. Ich gebe im folgen- 
den eine sehr unvollständige Liste der Neologismen, nach dem Inhalt 
der Komplexe geordnet: Das Lebenswerk mit der Balance, wo 
der Prozeß des Abwages (Verteilung der Kraft) stattfindet. Dazu 
die zahlreichen Anschlüsse (Mandr &es) an die „Büste“ und Figur, 
durch welche das Kraft- und Vernunftblut in den Kopf gelangen, 
wo sich die oberen, zum Rechnen dienenden Nerven (Stellina) be- 
finden, die reichverzweigten Nerven und Gefäße (Cedur), der Eßkort- 
nerv (zur Untersuchung der Blutzusammensetzung = Blutexami- 
niernerv), der Konfessivnerv, welcher bei der gewöhnlichen Tätig- 
keit des Gehirns in Anspruch genommen wird. In der Korporation 
(Körper) sind verschiedene zarte Organe enthalten, wie das Zyklon, 
das sich wie Flügelchen (z. B. in einem Uhrwerke) bewegt, die Ortho- 
dixen, kleine Krönchen aus Elfenbein usw. Aus einer Vorratskammer 
(Kubik) stammt das Blut, das in die Menschen verteilt wird. Wie 
in jedem zusammengesetzten (aus Vertikalen — Bestandteilen 
bestehenden) Werke unterscheidet man im Lebenswerke die Optik, 
die feineren, zarten, komplizierten, mit hohem Wissen konstrulerten 
Gegenstände von den gröberen (Agreablen), welche „etwas kor- 
pulentes‘“, massives an sich haben. (In einer Uhr ist z. B. die Schale 
die Agreable, während der schöne Zeiger, das feine Räderwerk ‚„‚optische 
Sache“ ist.) 

Das Bilderbuch ist ein Land, ein Reich, die Erde z. B. ist eines; 
Patient ist deren Bilderbuchherr. Es besteht aus Proteriat 
(manchmal unsicher ‚‚Proletariat‘‘ ausgesprochen) und aus den Wiesen, 
Feldern, Wäldern und Flüssen usw. Das Proteriat selbst ist die Stadt 
mit der nächsten Umgebung, welche reich an Gärten ist; Gärten für 
das Gemüse, das Obst und für die zarteren und Luxuspflanzen. Er 
unterscheidet verschiedene Arten Erde, je nach Farbe (Täng = teint) 
und Verwendung; Strabliziertet) (bearbeitete) Erde, Ovensive 
Erde; ABC und Alphabet heißen auch diejenigen Teile, wo die 


!) Von Strapazen. 


224 A. Maeder. 


Treibhäuser in Reihen (in Kategorien) nebeneinander aufgestellt 
sind, Beetreihen oder Beetreigen usw. 

Wir wissen, daß F. R. mit 15 Jahren die Absicht hatte, Gärtner 
zu werden, daß er sogar 1 Jahr als solcher in der Lehre war. ‚Ich hatte 
Freude an der Kultur, habe mir darüber Poesie gemacht. Ich fühle 
mich unglücklich, daß ich ein Schlosser und nicht ein Bauer geworden 
bin‘ sagte er bei seiner Aufnahme in die Anstalt vor zirka 
15 Jahren. 

Mit 19 Jahren ist er „in die Nation“ (auf die Wanderschaft) 
gegangen, in die Kometarlinie (das heißt: in die weite Welt, aber 
nicht in gerader Linie). Er will ein devesiver Herr (reicher Herr) 
und Bankdirektor geworden sein, er sei sogar sehr reich (conce). Jetzt 
hat er sich auf sein „Dolis‘ gelegt (Ruhe, Ferien, Dolis heißt auch 
friedlich; alte Herren im Saal, im Leseartikel — welche lesen — sind 
ganz dolis). Ob es mit dem französischen ‚‚douce‘“, „dulcine‘ zusammen- 
hängt, konnte ich nicht ausfindig machen. F. R. verkehrt nur mit 
Longe oder lonschen Herren und Damen (vom französichen long?) 
„es hängt von der Größe und Länge ab“, „trifft bei vornehmen 
Leuten zu.“ 


Die Feinde, das Raufvolk bilden eine „Allianz“, eine organisierte 
Bande; lonsch sind diese nicht; dafür ist die ärztliche Direktion der 
Anstalt lonsch, ebenso die Fassadenbäume (vor der Anstalt), die großen 
Bände in der Bibliothek (Referent unterhält sich in der Bibliothek mit 
dem Patienten). Ocoliev sind die feinen Leute, die auf der Seite der 
Exzellenzen stehen und „zart sind‘, welche zu einem sagen ‚‚s’il vous 
plait“ oder ein ‚so sehr“ und welche ‚sehr höflich in Ange- 
nehmung“ sind. 


Sibille bezieht sich auf das ‚Fremde, Mysteriöse, Entfernte“, 
hat meistens noch einen etwas heimtückisch-befremdenden Charakter- 
zug; Sıbıll ist z. B. das „fremde Land, wo ‚‚die früheren Götter“ gelebt 
haben, Neptun und die Meeressibillen; es hat in sich etwas Verdorbenes, 
Ungesundes. ‚In Früchten sind die Sibillen schöne aber giftige Äpfel“ 
(„wie der falsche Apfel im Paradies‘); Sibille auf Wohnung bezogen 
charakterisiert die Labyrinthe im Altertum, eine Reihe von Zimmern 
(Kamerationen) hintereinander mit komplizierten Schlössern, ver- 
wickelten Gängen, wo Schätze aufbewahrt werden. Gotik oder 
gotisch hat (wie oben Sibille) einen sehr weiten Sinn; es bezieht 
sich auf den Stil in der Baukunst und Dekoration überhaupt; eine 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 225 


korinthische Säule ist für ihn ebenso gotisch wie das Ulmer Münster; 
es heißt einfach Stil, und kommt in einem andern Zusammenhange 
nicht vor. ‚‚Wenn ich meine Positive hatte“ heißt: wenn ich ärgerlich 
war; „seine Positive auslassen‘ ist soviel wie „Faustrecht ausüben‘. 
Topotiv ist der Druck, die Foreierung; in der Mechanik der Druck 
eines Kolbens in einer Pumpe; beim Menschen ‚wenn man die Kraft 
braucht“, ‚die Faust macht‘ (das Wort kam zum ersten Male heraus 
beim Assoziationsexperiment als Antwort auf das Reizwort „bös‘). 

Brojon (vom französischen Brouillon?) ist ein dickes Buch, 
wo die Rezepte, welche man nicht im Kopf behalten kann, geschrieben 
werden, es ist sauber, rein usw. 


Bemerken möchte ich noch, daß eine Anzahl von Worten in den 
Schriften von F. R. immer wieder vorkommt, mit allen denkbaren und 
unmöglichen Prä- und Suffixen, es sind dies unter anderen: Halt 
(Inhalt, Einhalt, Behalt, Vorbehalt Vorhalt usw.), Fach, Artikel, 
Padent (Patent), Prima, Prozent, Rechnen (Verrechnungen, 
Zuarechnung, Berechnung), Einsehen haben, Lehrfach, wissent- 
lich, Gelehrte, Alphabet, alle gefühlsbetonten Begriffe, alle 
Komplexwörter. 

Diese Sprache wird vom Patienten Sallischur- oder Ex- 
zellenzsprache genannt. Sie ist das Organ der Union. Es sei die 
Bildungssprache oder die kompetente Sprache), die Sprache der 
vornehmen Leute, der geschäftlichen Leute (es heißt: ‚Leute, welche 
Geschäfte machen, große Kaufleute), alle wissentlich (also gelehrt) 
in Fach Rezept und Schule, „für bessere Stände“, sie sei „klassisch“. 
Interessant ist ferner, daß Patient, als Referent anfing mit ihm 
etwas eingehender zu sprechen (vor zirka 1!/, Jahr), bei jedem 
neuen Worte, sobald es einen fremden Klang hatte, wie Vertikale, 
Nation, Proteriat, Observatorium usw., mit einem gewissen über- 
legenen Lächeln fragte: „Verstehen Sie das?“. Damit ist auch 
die psychologische Determinierung der Schöpfung einer solchen 
Sprache gegeben. Patient will seiner vornehmen Abstammung und 
Art, seiner Bildung, seiner Macht einen eigenartigen, ich möchte 
beinahe sagen, einen esoterischen Charakter geben; diese künst- 
liche Sprache entspringt dem Bedürfnisse, sich vor den 
andernen auszuzeichnen. Man sieht beim Überblicken des Wort- 
schatzes, daß die meisten Ausdrücke sich auf noble oder seltene, 


1) Im Gegensatze zum gewöhnlichen Deutsch, „das ein Patois ist‘“. 
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 15 


226 A. Maeder. 


schätzenswerte Eigenschaften beziehen. Das ganze hat einen naiven 
kindischen Charakter!). 

Die Bevorzugung der Fremdwörter französischen Ursprunges 
ist ohne weiteres klar: Das Französische gilt in dem Kreise, dem F. R. 
angehört, als vornehm;; es kommt hinzu, daß unser Patient diese Sprache 
nicht beherrscht; wir haben erfahren, daß er in der Sekundarschule 
gerade in diesem Fache versagte und daß er sich auf der Wanderschaft 
nur 3—4 Wochen in der französischen Schweiz aufhielt. Das Nicht- 
erreichte, beim Vorhandensein eines Bildungskomplexes (er stammt 
aus einer Lehrerfamilie!), wird leicht als etwas Vornehmes betrachtet. 
Es trifft auch hier zu. Patient sagt Balance statt Wage, Union usw. 
Die deutschen Wörter selbst müssen eine originelle Wendung, ein in- 
dividuelles Gepräge erhalten, man spricht von „Dingung‘, ‚Doktor- 
urie“. Die Verstümmelung hängt zum Teil mit der Unwissenheit des 
Patienten zusammen; er sagt ‚„Agadation“ für Agitation, „frequen- 
zieren“ für frequentieren, ‚Proteriat“ für Proletariat; schließlich 
wendet er Ausdrücke in einem ihm besonderen Sinne an, ohne sich 
um den gewöhnlichen Sinn der Worte zu kümmern, z. B. spricht er von 
Korporation wie wenn es ‚der gesamte Körper‘ wäre, von ‚„Zurech- 
nungsfähigkeit‘‘ als Fähigkeit zu rechnen usw. Diese Art Verdich- 
tung verwendet er viel, sie trägt sehr dazu bei, der Sprache von F. R. 
einen sonderbaren unverständlichen Charakter zu geben. 


Die Sprache ist also der Umgebung überhaupt nicht angepaßt. 
Man kann sie nicht ohne weiteres verstehen, was ihm ganz gleich ist, 
er hat sie ja nur für sich selbst geschaffen. Er schreibt nur sich selbst 
und den fingierten Feinden und Freunden; er allein versteht sie; er 
spricht fast ununterbrochen, aber in Monologen; er hat nie das Be- 
dürfnis sich mit anderen zu unterhalten, er gestikuliert im Korridor 
mit dem Besen (er hilft die Hausordnung auf der Abteilung machen), 
ohne sich durch Vorübergehende stören zu lassen. Spontan hat er 
Referenten noch nie angesprochen. 


1) Referent hat einen Epileptiker gekannt, der aus ungebildeten Kreisen 
stammte, dessen Bruder aber in einem Kloster eine hohe Stelle einnahm; der 
Patient war schon sehr dement, wenig produktiv und tätig, hatte daneben kom- 
pensatorische Wahnideen, er hielt sich für einen hohen Propheten, für einen Aus- 
erwählten. Er brauchte auch viele eigene Ausdrücke, welche meistens aus ver- 
zierten deutschen Wörtern stammten, wie „Gedünnerigung‘‘ und „Gedickerigung“ 
für dünner und dicker werden, die »Wärmigung‘‘ für Wärme; er sei von seinen 
Eltern „‚beschafferet worden‘, offenbar auch ein Ausdruck seiner Eitelkeit. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 227 


Seine Eitelkeit drückt sich nicht nur in der Geziertheit der 
Neologismen, sondern auch in der Satzbildung aus. F. R. drückt sich 
möglichst gelehrt, abstrakt und pompös aus. Er gibt z. B. folgende 
Legende zu einer Abbildung, welche einen Bauer darstellt, der einem 
Metzger ein Rind anbietet: „Ein Viehhändler in Angebot von 
Viehstand“. Von zwei Menschen, welche an einem Schlagbaume 
Halt machen müssen, sagt er: „Die Menschen, die da warten, sind 
Anhaltleute.“ Ein Magnet (Referent zeigt ihm einen solchen) ist für 
Kraftanzug oder Materialhebung. Er sieht das Bild der betenden 
Jungfrau von Orlean: „Das ist eine Gnadenfigur, die wäre im Gebet, 
es war eine Fürstin.“ EineMachenschaft heißt: die Fähigkeit, etwas 
zu machen, Rezepte zu schreiben z. B. 

Wie aus all dem hervorgeht, ist seine Sprache aus einem bestimmten 
Bedürfnisse entsprungen: Die Neologismen drücken meistens neue 
Begriffe (eigene Anatomie und Pathologie) oder für unseren Kranken 
besonders gefühlsbetonte Vorstellungen aus. Alle Wunscherfüllungen 
(Wissenschaft, Reichtum, Adel, Macht) sind reichlich vertreten. Die 
neue Sprache ist ein Instrument, um die wenig systematisierten Wahn- 
ideen darzustellen?). 


D. Die sogenannte Verblödung. 


F. R. ıst über 15 Jahre in der Anstalt. Er hält sich seit vielen 
Jahren auf der offenen Abteilung mit vielen anderen chronischen Pa- 
tienten zusammen. Er wird bei der Hausordnung beschäftigt, ist immer 
allein; wenn unbeschäftigt, füllt er Hefte mit Notizen, welche er nie- 
mandem zeigt. Er spricht halblaut fast ununterbrochen, antwortet 
auf seine Stimmen, erteilt Befehle in die Luft, gestikuliert. Dem Anstalts- 
leben gegenüber bleibt er vollständig gleichgültig, er macht nie ein 
Fest mit; er geht früh ins Bett, liegt viel tagsüber während der freien 
Zeit auf einer einsamen Bank. Man trifft ihn nie im Hofe. Spontan hat 
er nie etwas zu fragen, auch nie zu klagen. Er dreht sich nicht einmal 
um, wenn ein Arzt vorbeigeht. Er lebt mitten in einer Gruppe von über 
30 Patienten wie ein Einsiedler. Auf Fragen erhält man von ihm Ant- 
worten in einer sonderbaren, unverständlichen Sprache. Wenn 


!) Ein eingehenderes Studium dieser Sprache werde ich später noch ver- 
öffentlichen, wo ich einen Anschluß an die Xenoglossie und Glossolalie zu finden 
versuchen werde. Bei allen diesen Fällen von „sekundären Sprachen‘ spielen 
das Affektleben und das Infantile eine große Rolle. Der Nachweis der schizo- 
phrenenReaktionsweise läßt sich bis in die Einzelheiten leisten. 

15* 


228 A. Maeder. 


man nach dem Sinn dieser Ausdrücke frägt, antwortet er gleich unver- 
ständlich, spricht davon in einem selbstverständlichen Tone, wie wenn 
jedermann ihn verstehen sollte. Allen Einwendungen zum Trotz bleibt 
er dabei, daß man ihn verstehen müsse. Er sieht ziemlich vernach- 
lässigt aus, hat einen befremdenden Blick. Kurz, er bietet das klassische 
Bild einer Dementia praecox mit ausgebildeter Verblödung. 

Die in den obigen Abschnitten mitgeteilten Dokumente lassen 
uns schon vermuten, daß es mit der Verblödung bei tieferem Eingehen 
nicht so schlimm steht. Patient hat im Gegenteil den Beweis einer 
gewissen intellektuellen Tätigkeit und Produktivität ge- 
liefert. Er hat sich mit mangelhafter Schulbildung, mit den Erfah- 
rungen eines Schlossergesellen eine menschliche Anatomie und Pathologie 
auf seine Weise konstruiert, wozu seine Wahnideen, namentlich der 
physikalische Verfolgungswahn, ihn geführt haben. Daß ‚seine Wissen- 
schaft‘ unserer Anatomie nicht ebenbürtig ist, können wir dem armen 
Kranken nicht übel nehmen. Seine neue Sprache zeigt auch den Ver- 
such, sich vor den anderen herauszuheben, mit gebildeteren und sozial 
höher stehenden Leuten zu verkehren. Es ist ein mißglückter Versuch, 
aber doch das Zeichen einer gewissen, wenn auch verfehlten Produk- 
tivität. 

Die Phantasietätigkeit ist sehr ausgesprochen, sie hat die 
ganze Aufmerksamkeit des Patienten auf sich "gelenkt. Im Vergleiche 
dazu ist ihm die Außenwelt blaß, farblos und wenig des Interesses 
würdig. Wenn es gelingt, seine Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu 
konzentrieren, läßt sich folgendes konstatieren: Vorgelesene Fabeln 
ist er imstande richtig zu reproduzieren; die Moral versteht er gut, er 
drückt sie meistens mit eigenen Worten aus, ein Zeichen seiner guten 
individuellen Auffassung. ‚Der Adler und die Schildkröte“ 
resümiert er folgendermaßen: „Die Schildkröte bestritt das Fliegen. 
Der Adler gab seinen Beweis, daß man Flügel haben müsse, wenn man 
fliegen wolle; wenn er sie gehen ließ, konnte sie nicht (in der Luft) 
bleiben. Die Schildkröte war durch ihren Eigensinn betrogen.“ Die 
Schatzgräber erzählt er auch gut, etwas geziert: „Der Vater hatte 
ein Vermächtnis gemacht in Weinbergen. Die Söhne haben gegraben, 
um dem Schatz nachzukommen. Das Bebauen war wichtig“ usw. 

Referent lied ihn eine große Anzahl von Abbildungen erklären. 
Er zeigte sich geschickt und nicht so unwissend, wie eigentlich erwartet 
wurde. Er wußte z.B., daßMenhirs „Steine aus alten Gräbern“ sind; 
er konnte die meisten wilden Tiere, die gezeigt wurden, erkennen und 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 229 


benennen. Einiges wurde im Sinne seiner Komplexe assimiliert und 
gedeutet, z. B. die Sanduhr als „physikalischer Apparat für Unter- 
suchungen, ob etwas giftig sei‘. Napoleon mitten in seinem Offiziersstab 
wurde sofort erkannt. Ein Stiergefecht wird folgendermaßen be- 
schrieben: „Ein Stier ist in einem spanischen Stiergefecht gefallen; 
das ist die Fassade (er meint damit die Estrade, das Podium), die Maul- 
tiere ziehen es.‘ 

Zum „Spiel der Wellen“ von Böcklin gab er folgenden 
Kommentar: „Eine Meeressibille und Fische in Optik (also besonderer 
vornehmerer Art), sie haben früher gelebt, diese Wesen, haben ver- 
steckt gelebt, sie waren nicht so rein und gesund im Körper und in der 
Figur; sie konnten deswegen nicht gut tun, sind sündhaft, schwarz 
(moralisch gemeint). Sie schwimmen wie Fische; es (das Bild) ist 
lustig, und zwar imposant, sinnbildlich. Solche Leute konnten sich 
auf Erden nicht gut halten, sie hatten alle Seuchen, Pocken, Syphilis. 
Der Mann (zeigt eine Figur) ist dekoriert (mit Blumen); es ist ein Sinn- 
bıld aus der romantischen Zeit, eine Schwimmpartie, eine 
Unterhaltung mit Spässen. 

Zum Bild „Die Gefilde der Seligen‘ von Böcklin sagt er: 
„Kine Landschaft, ein Schwanenteich in der Landschaft, ein gleich- 
namiges (= gleiches) Bild wie das andere (siehe oben), die anderen 
waren im Meer. Es ist im Bade, lustige Leute, etwas familiäres, ein 
Sibillheer (zeigt den Kentaur); (die Insel:) ein Garten, ein Venusgarten 
oder Sibillvenusgarten.“ Ein symbolisches Bild der Hoffnung (Watts)— 
als eine Frau mit einer Harfe auf der Erdkugel sitzend dargestellt — 
beschreibt er: ‚Es ist ein Globus, ein Sinnbild, eine Weibsperson darauf, 
sie spielt Harfe; erfreuliches Zeichen, eine Jahreszeit, vielleicht die 
Wendung des Jahres usw.‘ 

Interessant, aber für diese Mitteilung zu ausführlich, wäre seine 
lange detaillierte Erzählung von Wilhelm Tell, welche sozusagen 
ganz konfabuliert ist und weitgehende Identifizierung des Patienten 
mit dem Landvogt Geßler und seiner Feinde mit Wilhelm Tell zeigt!). 

Referent erlaubte sich nach der Erzählung die Bemerkung, er kenne 
eine ganz andere historische Darstellung von Tell, wo von einem Hute, 
der gegrüßt werden sollte, die Rede ist und so weiter. Darauf erwiderte 
F.R.: ‚Das kann ich auch, es ist Guillaume Tell, den Sie meinen.“ Er 
erzählte es mir nachträglich im ganzen korrekt, mit wenigen erfundenen 


1) Überall wo Störungen der Auffassung, überall wo Neologismen vor- 
kommen, sind Ich-Beziehungen, Kompiexe im Spiel. 


230 A. Maeder. 


Einzelheiten. Dies halte ich für sehr wichtig; wenn man es nicht beachtet, 
kann man sehr irregeführt werden und die Urteilskraft des Patienten 
sehr unterschätzen. Bei den ersten vorgelesenen Geschichten, die R. 
mir erzählte, geriet er in eine vage phantasierte Erzählung, mit der 
. ich nicht zurecht kam. Ich war zuerst geneigt anzunehmen, die 
Schwierigkeiten des Textes seien für die Intelligenz des Kranken zu 
groß und glaubte schon meine Vermutung der Debilität des Patienten 
bestätigt, welche ich nach seinem Vorleben (schon in der Schule) als 
sehr wahrscheinlich hingestellt hatte (man sehe nach die Anamnese 
im Anfang der Analyse, welche vor acht Monaten niedergeschrieben 
wurde). Eine geduldige Prüfung, die Wiederholung der Versuche zeigte 
aber mit Sicherheit, daß es sich um einen Aufmerksamkeitsfehler 
handelte. Im Laufe der zahlreichen und langen Sitzungen mit dem 
Patienten lernte ich einsehen, daß für R. die Außenwelt wenig Interesse 
bietet, daß die Innenwelt, die Phantasie, seine ganze Aufmerksamkeit 
auf sich konzentriert. Ich konnte mich zugleich überzeugen, daß keine 
Demenz im eigentlichen Sinne besteht, sondern eine einseitige kom- 
plexmäßige Phantasietätigkeit ohne Fühlung mit der 
Wirklichkeit. Das Innenleben überwiegt so sehr, daß die ständige 
Anpassung an die äußeren Verhältnisse fehlt. Von Außen sieht dann 
das Treiben des Kranken unbegreiflich und namentlich blöd aus. 

Die krankhafte Phantasietätigkeit mit innerer Ablenkung wird 
wahrscheinlich in der Sekundarschule aufgetreten sein und die Debilität 
vorgetäuscht haben. Besonders bemerkenswert scheint in diesem Falle die 
Produktivität, die aktive (konstruktive) Phantasietätigkeit des 
Patienten zu sein. Sie steht in einem gewissen Gegensatze zu seiner 
Bildung und Begabung; letztere steht jedenfalls nicht über der Norm. 

Wahrscheinlich sollte auf diesen Unterschied bei psychiatrischen 
Untersuchungen mehr geachtet werden; es will uns scheinen, daß dies 
zum Verständinsse von scheinbar paradoxen Erscheinungen bei Im- 
bezillen (höhere Imbezille?) verhelfen könnte. Einschränkend muß 
aber hinzugefügt werden, daß die Produktivität eines Schizophrenen 
eine eigenartige Prägung trägt, sie ist nicht an die äußeren Verhältnisse 
angepaßt und dadurch meistens unnütz, ‚‚unbrauchbar“. Diese 
Kranken sind asoziale Typen par excellence. 


E. Zur Psychogenese. 
Ich halte es nicht für möglich in diesem Falle einen vollständigen 
Zusammenhang zwischen allen Krankheitserscheinungen zu geben, 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praeeox-Kranken. 231 


die Entwicklung von der Kindheit bis zum jetzigen Zustande klar- 
zulegen. Es fehlt eine detaillierte objektive Anamnese und die Einsicht 
in die intimeren Familienverhältnisse. F. R. ist derart in seine Phanta- 
sien versunken, daß er nicht imstande ist, sich vollständig an unsere 
Fragen anzupassen und sie entsprechend klar zu beantworten. Viel- 
leicht käme man weiter mit einem gründlicheren Studium seiner Sprache, 
die ich bisher nur soweit verfolgt habe, als es für das Verständnis der 
Hauptzüge der Psychologie unseres Patienten absolut notwendig war. 
Mit den gewonnenen Dokumenten läßt sich aber doch eine Art Gerüst 
aufstellen. Die Beziehungen zwischen dem Milieu, im weitesten 
biologischen Sinne — Einwirkung auf das Individuum ab ovo — und 
dem Inhalt der Psychose sind demonstrierbar. 

Der Vater R.s war Lehrer in Z.; er war ein stattlich gebauter ge- 
sunder Mann, „ein guter Bürger‘ und ‚strenger Herr“. Er wird auf 
den Sohn einen starken, ja imponierenden Eindruck gemacht haben. 
R. sagt an einer Stelle ‚man führte mich heim zum Vater, zum Herrn 
Lehrer‘, anderswo spricht er vom ‚Lehrvater‘‘. Daß er für ihn eine 
besondere Liebe empfunden hätte, läßt er nirgends durchblicken. 
Der Vater soll ziemlich hart und grob gewesen sein. Das verhinderte 
aber nicht, daß sein Einfluß auf den Sohn bedeutend war. Sicher ist 
es, daß die außergewöhnliche Achtung des Schlossergesellen für die 
Wissenschaft, für das Gelehrte vom Vater stammt. Patient hält sich 
selbst für einen Dozenten, für einen ‚‚wissentlichen‘‘ (— viel wissenden) 
Herrn. In der Exzellenzsprache spielt das ‚„Lehrfach“ eine große 
Rolle!). Der Wunsch, eine eigene Sprache zu sprechen, welche für die 
Vornehmen und Gelehrten bestimmt ist, die Geziertheit derselben, 
sind Beweise dafür. 

Das Verhältnis des Patienten zum lieben Gott und zum Heiland 
(er ist sein Sohn, manchmal sein ‚„Neveutchen“, manchmal auch der 
Heiland selbst), läßt die Vermutung aufkommen, daß es sich um eine 
Umformung des Verhältnisses des Sohnes zum Vater handelt, was sich 
in vielen Fällen deutlich nachweisen läßt; im speziellen sind wir auf 
solches Material nicht gestoßen, möchten aber nichts daraus folgern. 
Bei der Mutter läßt sich nämlich nachweisen, daß sie das Abbild der 
Madonna geliefert hat, ja daß sie die Madonna selbst ist. 

Von seiner Mutter sagt uns Patient, sie sei ‚„‚zart und fein“, „kränk- 


!) In der Autobiographie schreibt er über seine Schulbildung: ‚unser 
Fachasterfleiß (Aster heißt groß), immer das Gute beantwortet, etwas, Prima!, 
ein Gewisses in Darstellungen !“ 


232 A. Maeder. 


lich und fromm‘“ gewesen, was objektiv nachweisbar ist, da sie in un- 
serer Anstalt interniert war und hier an einer Lungentuberkulose starb. 
Laut Krankengeschichte war sie ein „geziertes Dämchen“, das stunden- 
lang beten konnte. Die Stieimutter, welche der Patient erhielt, ist im 
Gegenteil eine siarke, feste Person. Sämtliche Züge der beiden finden 
sich bei den idealen Figuren wieder, für welche F. R. in der Psychose 
schwärmt. Das Wörterbuch der „Sallischursprache“ ist sehr reich 
an Ausdrücken, um das Feine, Zarte, Vornehme auszudrücken; von 
der Madonna sagt R., sie sei „eine wissenschaftliche Person, wie 
eine Lehrerin, sie ist mein Mütterlein gewesen‘, ‚sie hat uns geneckt, 
sie hat die Glocke am Lebenswerk genommen, sie hat mit dem 
Wärlein gespielt“ usw. (man erinnert sich an die Notiz in seinem 
Hefte: ‚‚unerhörte Störung durch die Madonna”, was mit großer 
Entrüstung geschrieben wurde); von den „Lonschen Damen“, „Hof- 
damen‘ usw. wurde im Abschnitte über die Kompensationen schon 
genügend berichtet, es sind die zahlreichen Geliebten, welche die 
Prägung der ersten infantilen Liebesobjekte (Mutter und Stief- 
mutter) erhalten haben. | 

Hier, wie bei allen anderen Neurotikern und Psychotikern, welche 
eingehend analysiert werden, läßt sich die polymorph perverse Anlage 
(Freud), die sexuelle Polyvalenz!) feststellen; R. hat z. B. ‚in 
jedem Staat eine schöne Hofdame“; die homosexuelle Komponente 
fehlt auch nicht, und zwar befindet sie sich in der Verdrängung (siehe 
diesen Mechanismus im theoretischen Teil, siehe auch daselbst die Be- 
deutung des Vaters für die Entstehung der passiven Verfolgung). 
R. wird homosexuell verfolgt; es wird etwas an ihm von jungen 
Leuten und den Cortez Preglia, den Athleten gemacht, an seinem Ge- 
schlechtsteile gespielt usw. Im allgemeinen ist bei ıhm das Sexuelle 
unter Symbolen stark verdeckt. 

Einige Elemente spielen in der Psychose eine große Rolle, deren 
Ursache nicht bei den Eltern zu finden ist; ganz besonders gefühls- 
betont sind der Gartenbau, die Landwirtschaft und namentlich die 
Maschinentechnik, man erinnere sich an das ‚‚Proteriat im Bilderbuche?),“ 


!) SieheMaeder, Die Sexualitätder Epileptiker. Dieses Jahrbuch, I. Band, 
1. Hälfte. 

*) In einer Arbeit über die Sprache des Patienten werde ich auf eine Erzählung 
des Patienten über Wilhelm Tell zu sprechen kommen, in welcher aus Tell ein 
Kartoffel- und „Rüben‘dieb gemacht wird. Es wird sich zeigen, daß Patient 
sich mit dem Landvogte Geßler identifiziert hat, dem die „Rüebli‘‘ gestohlen 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 298 


an das Lebenswerk mit den Anschlüssen usw. Es haben in der Jugend 
ausgesprochene Interessen für den Gartenbau und die Technik be- 
standen; F. R. wurde ja nach der Schule zu einem Gärtner in die Lehre 
geschickt (‚ich hatte Freude an der Kultur“, ‚aus Liebe zur Botanik“ 
usw.); nach einem Jahre trat er aus uns unbekanntem Grunde bei einem 

chlosser in die Lehre; die tiefere Determinante dieser Zuneigung 
läßt sich nachträglich nicht mehr aufklären. Die meisten Wünsche, 
welche in der Psychose zur Erfüllung gelangen (Größenideen) und die 
wir ausführlich in einem besonderen Abschnitte beschrieben haben, 
sind infantile Wünsche oder Wünsche, welche aus der sozialen 
Stellung des Kranken entspringen, welche zu einer maßlosen Wuche- 
rung ohne Korrektur und Zensur gediehen sind. 


Sie sind alle echte Kompensationen; der Patient leistet sich 
in der Phantasie alles das, was die Natur ihm verweigert hat. In der 
Anamnese haben wir geschrieben: „Wir haben es mit einem wenig ge- 
bildeten, scheinbar unbegabten Manne zu tun, welcher von einer nicht 
ungebildeten Familie stammt, er hat in selbständiger Stellung überall 
versagt, er ist körperlich schwach, nervös; er ist arm und sehr häßlich. 
In der Psychose haben wir im Gegensatze dazu, mit einem Dozenten und 
Herrn zu tun, der eine höchst vornehme esoterische Sprache spricht 
mit vielen abstrakten Ausdrücken, der nur mit wissenschaftlich ge- 
bildeten Leuten zu tun haben will. Er ist der Besitzer der großen Winter- 
thurer Werke, das Haupt des Staates und der Erde; alles gehorcht ihm, er 
stammt von Gott selbst, Er ist enorm reich (Bankdoktor und ein de- 
vesiver Herr); ‚ich war zu charmant, zu galant und schön“; er wurde 
ein Objekt des Neides. Kein Geringerer als der Teufel selbst fing mit 
ihm den Krieg an, schickte gegen ihn seine Bande, die mächtige Allianz, 
ein ganzes Raufvolk. Der Kampf schwillt an zu einem Kampf der 
höchsten Macht gegen den Teufel. F. R. gewinnt also eine kosmische 
Bedeutung, das Summum der Größenidee überhaupt. Sein gesunder, 
kräftiger Körper wurde durch sonderbare ‚‚Manöver‘ stark geschädigt. 
Jetzt liegt er krank bei uns. Die physikalische Verfolgung nimmt 
einen eigenartigen Charakter dadurch an, daß der Körper des Patienten 
in die Welt hinaus projiziert und mit ihr identifiziert wird; der Kampf 
gegen ihn heißt soviel wie der Kampf des Bösen mit dem Guten!). 


werden. Dahinter stecken selbstverständlich Symbole, welche die Eigenart der 
Erinnerungstäuschung „einer so populären‘ Erzählung erklären. 


1) Ich mache auf die ähnlichen Resultate der Analyse J. B. aufmerksam. 


II. Theoretisehes. Über die Mechanismen. 


a) Über die Entstehung des Verfolgungswahnes. 


I. Aus der Analyse des ersten Falles J. B. entnehmen wir folgendes: 
Zu einer Zeit, wo die Frau des Kranken wegen einer beginnenden Lungen- 
tuberkulose in einem Sanatorium in Behandlung stand, erhielt sie von 
ihm einen Brief, in dem er ganz unerwartet von Scheidung sprach, 
und zwar mit der Motivierung, er könnte durch die Krankheit der Frau 
angesteckt werden. Später teilte er mit, er sei zu etwas Höherem berufen. 
Interessant ist, an dieser Stelle auf eine Erinnerungstäuschung 
aufmerksam zu machen. J.B. behauptet nämlich jetzt, die Behörde habe 
damals Schritte getan, um ihn von seiner Frau zu trennen, man habe eine 
andere Ehe ‚auf diplomatischem Wege“ für ihn in Aussicht gehabt. 
Die Verantwortlichkeit für diesen Schritt — die Scheidung — schiebt 
er unbewußt auf die Behörde. 

Die Ehefrau ging selbstverständlich auf seinen Vorschlag nicht 
ein. Bei ıhm traten allmählich neue Gedanken auf; sie sei ihm untreu, 
habe heimlich abortiert. In Wirklichkeit verhielt es sich so, daß der 
Abort wegen Tuberkulosis incipiens eingeleitet wurde. Das Verhältnis 
zwischen dem Ehepaar wurde immer gespannter (man erinnere sich an 
dıe Anekdote mit der goldenen Uhr, die er versetzen wollte). J. B. be- 
hauptete schließlich, die Frau verfolge ihm, sie hantiere mit Waffen 
um ihn herum, sie habe sich in die Feme aufnehmen lassen. Er wurde 
srob, mißhandelte sie, bis er interniert wurde. 

Die Untersuchung hat uns das Vorhandensein von ausgesprochenen 
polygamen und homosexuellen Tendenzen bei B. gezeigt, 
Tendenzen, welche freilich nicht zur Betätigung kamen. In der Psychose 
treten sie in den Vordergrund, sie veranlassen Patienten sogar zu Taten. 

Der Brief an das Ministerium des Äußeren in Amsterdam, hinter 
dem die Idee steckte, die junge Königin sei für ihn bestimmt. 

Zu dieser Expansion ist ihm die Ehefrau ein Hindernis. Nur 
dadurch, daß sie existiert, schon rein passiv!) ist sie für seine Ent- 


‘) Die Frau des Patienten ist eine selten brave und treue Person. B. ist seit 
9 Jahren interniert, sie besucht ihn jetzt noch zwei- bis dreimal im Monat, trotzdem 
er ihr gegenüber völlig gleichgültig ist. Sie kann kaum mit ihrer Arbeit ihre Familie 
durchbringen und bringt es noch fertig, etwas zu sparen, um ihrem Manne in der 
Anstalt bessere Kleider zu verschaffen. | 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 235 


wicklung ein Widerstand. Dies erklärt uns die Genese und Progres- 
sion der Wahnideen gegen sie. 

Der Mechanismus der Entstehung dieser Verfolgungsidee scheint 
folgender zu sein: Es besteht primär beim Patienten ein 
Trieb zur Tätigkeit, zur Expansion nach einer bestimmten 
Richtung. Von außen wirkt ein Hindernis hemmend darauf. 
Dieser passive Widerstand wird vom Ich als ein aktiver 
Widerstand empfunden, er wird sozusagen beseelt, er 
wird zu einer aggressiven Macht umgewandelt. 


Daß ein passiver Widerstand sehr leicht als eine feindliche Macht 
aufgefaßt wird, sehen wir aus dem Verhalten der meisten Anstalts- 
patienten dem Direktor gegenüber. Er ist derjenige, welcher in letzter 
Instanz die Patienten in der Anstalt zurückhält und sie nicht entlassen 
will. „Er muß ein Interesse daran haben, er ist ein F. ind.“ Die Direk- 
toren werden auch entsprechend gehaßt. 


Diese Reaktionsweise ist nicht bloß für den Verfolgungswahn 
charakteristisch, sie ist eine ganz allgemeine Reaktionsweise. 
Ich verweise auf das Verhalten der Kinder. Wenn ein Kind den Kopf 
an den Tisch anschlägt, wird es sofort mißmutig und schlägt den Tisch, 
indem es sagt: „Du böser Tisch!“ Rein infantil oder nur infantil ist 
diese Art auch nicht. Wir wissen aus der Geschichte, daß Xerxes das 
unruhige Meer mit Ketten schlagen ließ. Bei den Griechen wurden von 
den Senatoren alle leblosen Gegenstände, welche ohne menschliche 
Intervention den Tod eines Menschen verursacht hatten, aus dem 
Land entfernt und verbannt. Horatius verdammt in einem Liede den 
Baum, der ihn fast erschlug. Der Indianer beißt den Stein, an dem er 
sich stieß. Ähnliches kann man auch bei Tieren beobachten. 

Diese Belebungstendenz gehört zum Animismus, wie 
Tylor es genannt hat, oder allgemein ausgedrückt zum Anthro- 
pismus. 

Die Belebung (oder Beseelung) des Hindernisses (oder 
Widerstandes) ist ein primitiver und allgemeiner Reak- 
tionstypus; er hat höchst wahrscheinlich eine biologische Be- 
deutung und dient zur Verteidigung des Individuums. Sie 
ermöglicht die Reaktion auf die Aktio!). Ob diese Art der Entstehung 


1) Ein einfsches Bild des Vorganges gibt uns das Verhalten eines senkrecht 
auf einen Spiegel fallenden Lichtstrahles. Der zurückgeworfene Strahl scheint 
von einer Lichtquelle jenseits des Spiegels auszustrahlen. 


236 A. Maeder. 


der Verfolgung rein vorkommt ist schwer zu sagen und an sich wenig 
wahrscheinlich. Sie kombiniert sich vielfach mit der jetzt zu besprechen- 
den Art, welche Freud zuerst mit voller Klarheit formuliert hat. 

II. Wir gehen wieder von der Analyse des ersten Falles aus. 
Es bestehen bei J. B. unzweifelhaft homosexuelle Tendenzen. In 
der Psychose ist die Homosexualität hinter der Verfolgung versteckt. 
Er wird von einer gierigen Bande von roten und schwarzen Menschen, 
von Wüstlingen verfolgt, die ihn mißbrauchen und sexuell schädigen 
(sein physikalischer Verfolgungswahn). Durch welchen psychologischen 
Mechanismus ist aus dieser homosexuellen Tendenz eine passive Ver- 
folgung entstanden? 

Ein Beispiel einer Phantasie, die ich von einem gesunden, jungen 
Manne habe, scheint mir diese Genese plastisch zu schildern: 

Ein junger Mann sieht ein schönes Weib. Es taucht in ihm der 
Wunsch auf, sie zu besitzen. Dieser Gedanke wird als unanständig 
bewußt verdrängt. Kurz darauf tritt plötzlich die Phantasie auf, das 
Weib kommt auf ihn zu, will ihn sexuell angreifen; sie reizt ihn so, 
daß er nachgibt und sie überwältigt. 

Unser Kranker hat deutliche homosexuelle Neigungen; in seinen 
paranoiden Phantasien erleidet er homosexu«lle Attentate. Es liegt sehr 
nahe anzunehmen, daß die Umwandlung des aktiven Triebes in ein 
passives Erleiden, unter dem Einflusse der Verdrängung wie im 
obigen Beispiele, stattgefunden hat, wobei die Verdrängung nicht als 
ein x-beliebiges Deus ex machina zu betrachten ist; sie wird nichts 
anderes sein, als das durch die Erziehung und das Gesellschaftsleben 
auferlegte System der Hemmungen!). 

Freud hat diesen Mechanismus der Verfolgung vor vielen 
Jahren schon deutlich formuliert: Ein bestimmter Wunsch (z. B. die 
Liebe zu einer Frau) taucht auf, welcher der Verdrängung unterliegt, 
er erscheint unter einer veränderten Form als Verfolgung durch 
diese Frau mit pathologischem Affekt wieder. Anders ausgedrückt 
lautet es: .Der Wunsch des Ich wird auf das Wunschobjekt projiziert 
und kommt auf das Ich zurück. Es ist eine Projektion oder ein 
Transitivismus. Dieser hat für das Ich den Wert einer Entlastung: 
Die Verbindung dieses uneingestehbaren Wunsches mit dem Ich ist 
damit abgebrochen. Der Wunsch ist sozusagen „depersonalisiert“; 

‘) Vielleicht ist eine Komponente der Verdrängung direkt biologischer 


a Eee organisch bedingte Abwehr gegen die Überschreitungen und Perver- 
sıtäten. Siehe Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Deuticke, 1905. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 237 


das Ich kann dafür nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Der 
Patient erlebt auf diese Weise rein passiv. Nur wer aktiv tätig ist, ist 
verantwortlich. Der Transitivismus kann als eine Schutzma ßregel 
gegen unangenehm gefühlsbetonte Bewußtseinsinhalte aufgefaßt 
werden!). Die Phantasie selbst ist eine Art Ersatz und ist beim Nor- 
malen von einem Lustton begleitet. 


Die Tatsache, daß die Projektion auf das Wunschobjekt ge- 
schieht, ist besonders erwähnenswert. Im ersten Mechanismus der 
Verfolgung hatten wir festgestellt, daß irgendein Hindernis der 
Expansion der Ausgangspunkt der Verfolgung werden kann. Die Be- 
anspruchung des Wunschobjektes in diesem zweiten Typus stimmt mit 
der häufigen Beobachtung, daß die Verfolgung bei Paranoiden gerade 
von früher angeschwärmten Personen ausgeht oder von solchen, welche 
auf den Patienten irgendeinen Reiz ausgeübt haben. Wenn man von 
jemanden viel erwartet hat, was sich nie realisiert, ist man leicht geneigt, 
den Mißerfolg auf den schlechten Willen oder auf die feindliche Ein- 
stellung des Betreffenden zu schieben. Wie hoch die Ansprüche von 
vielen Paranoiden an ihre Mitmenschen sind, was sie alles von ihnen 
erwarten, weiß jeder Psychiater zur Genüge. Die Enttäuschung muß 
entsprechend den Erwartungen groß sein?). Mit dieser Projektion 
hängt es wahrscheinlich zusammen, daß die Kranken immer meinen, 
man wisse ganz genau, was sie denken und wünschen, ohne daß sie sich 
auszusprechen brauchen. 


Der Mechanismus der Projektion ist, wie wir gesehen haben, nicht 
spezifisch für den Verfolgungswahn der Paranoiden; er ist beim Nor- 
malen sozusagen vorgebahnt. Er gibt den Schlüssel zur Erklärung des 
Eifersuchtswahnes der Alkoholiker, wie Bleuler und seine 
Schüler es getan haben (siehe namentlich K. Abraham: Die psycho- 
logischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholismus, Zeitschr. 
f. Sexualwissenschaften 1908). Beim Paranoiden ist der begleitende 
Affekt (zum guten Teile Angst) von besonderer Intensität. Der 
Transitivismus hat aus diesem Grunde nicht mehr die einfache Bedeu- 


1) Die Reaktionsweise erinnert sehr an das Verhalten der Kinder, welche 
wenn angeklagt, die gleiche Klage an den Kläger sofort zurückgeben. Französisch 
heißt es z. B. sehr einfach: „Voleur!‘“ — „Voleur toi-m&me!‘‘ Auf das Spiel der 
Retourkutsche hat uns Freud wiederholt aufmerksam gemacht. 

2) In diesem Zusammenhang paßt es vielleicht daran zu erinnern, daß 
es aus der Alltagspsychologie zur Genüge bekannt ist, wie Haß und Liebe innig 
verbunden sind. Ein neutrales Wesen kann weder geliebt noch gehaßt werden. 


238 A. Maeder. 


-tung einer Entlastung und Schutzmaßregel wie beim Gesunden. Er ist 
eine mißlungene (pathologische) Schutzmaßregel. Freud hat 
‘durch seine Auffassung der Angst als verdrängte „Libido“ eine Er- 
klärung dieses pathologischen begleitenden Affektes ermöglicht. 
Interessant ist, daß bei chronischen Fällen der begleitende Affekt 
nieht mehr rein ist; er wird ein Mischaffekt, in dem man aus der Mimik 
leicht die negative und positive Komponente unterscheiden kann. 
‚Die Mitteilungen von J. B. und F. R. waren von einem solchen Misch- 
affekt begleitet, in dem eine sehr deutliche läppische Komponente 
herauszumerken war; sie kam immer an den kritischen Stellen zum 
Ausdruck, wo speziell über die Mißhandlung an den Genitalien erzählt 
_ wurde. Es ist das Stadium der Krankheit, in welchem wieder Kom- 
_ promisse mit der Außenwelt gemacht werden und die Verdrängung 
etwas nachgibt. & 
| Verallgemeinerung des Verfolgungswahnes. Wir haben 
die Entstehung des Verfolgungswahnes geschildert, oder vielmehr nur 
des Kernes desselben. (Ob andere als die zwei beschriebenen Mechanis- 
men wirken, mag dahingestellt bleiben.) Wie geschieht der Wachs- 
tum, die Verallgemeinerung? Es kommt allmählich zu einer Einteilung 
der Assoziationen, je nach dem Gefühlston derselben, und zwar gilt 
das, für die neuen Eindrücke wie für die Vergangenheit. J. B. erweitert 
die Bande der Verfolger allmählich bis auf den Beginn derWeltgeschichte. 
Das erste Mitglied der Feme war Kain. Die letzten Ereignisse wie das 
Unglück des Zeppelinschen Ballons werden assimiliert und im Sinne 
des Wahnes als Verfolgung gedeutet. Die Ausdehnung der Verfolgung 
von der Frau auf die Feme ist sehr bezeichnend. Er schildert sie wie 
eine gierige, unersättliche, leidenschaftliche, schwarze und geizige 
Person. Alle diese Eigenschaften werden den vermeintlichen Feinden zu- 
geschrieben, deren Kreis sich immer mehr erweitert. Das Schwarze ist 
nicht nur das Symbol des Bösen (Dunklen) und Leidenschaftlichen 
(die Rasse der Dunkelhaarigen, die Südländer, zu deren Typus seine 
Frau in Wirklichkeit gehört, sie stammt aus Frankreich), es wird aus- 
gedehnt auf die Katholischen (die Frau ist katholisch), die Jesuiten, 
die ‚„„Ultramontanen‘ und Konservativen. Schwarz und rot sind ihm 
die Farben des Teufels, der Unterwelt, die ihn plagt und verfolgt. Das 
Rote, Feurige, Blutige (die Gierigen, Unersättlichen) wird ausgedehnt 
auf die Freimaurer, die Liberalen, und speziell auf die Sozialdemo- 
kraten und Anarchisten. Früher hat er mit ihnen lebhaft sympathisiert; 
es paßt aber nicht mehr in die jetzige Konstellation, namentlich wegen 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 239 


der Größenphantasien. Er gerät in die Verdrängung wegen des nicht 
mehr passenden Gefühlstones. | 

Mit einem Worte: alles was ein Unlustgefühl enthält oder hervor- 
rufen kann, wird in die Kategorie der Bösen und Feindlichen eingereiht. 
Bei der Besprechung der Größenideen werden wir sehen, daß alles was 
gut und erhaben ist, zur „Gens ulpia“, zur blonden Rasse von Abel bis 
zum Patienten selbst gehört. 

Die Abspaltung der negativ gefühlsbetonten Vorstellungen und 
ihre Projektion nach außen, hat für das Ich den Wert einer Entlastung 
und einer Einengung. 


b) Über die Entstehung des Größenwahnes, 


Der an Dementia praecox Erkrankte sperrt sich allmählich von 
der Umgebung ab, er verliert immer mehr den Rapport mit der Außen- 
welt; der feine Gefühlskontakt mit den Mitmenschen geht gradatim 
zugrundet). Beim Normalen besteht ein steter Austausch zwischen 
Individuum und Außenwelt. Er gibt nach außen und empfängt von 
außen. Für irgend etwas, sei es das Weib, die Politik, die Religion, der 
Sport, das Bier, hat er ein Interesse, das ihn zu einer gewissen Tätigkeit 
bringt. Der Schizophrene büßt das alles allmählich ein. Die Welt wird 
für ihn leer; er gibt ihr immer weniger von sich, empfängt von ihr nur 
das Allernötigste. 

Daß das innere Leben bei den Kranken nicht still steht, haben 
uns die Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt; die obigen Ana- 
lysen sind ein neuer Beleg dafür. Es kommt allmählich zu einem mehr 
oder weniger manifesten Größenwahn, der sich auf alles bezieht, 
was mit dem Patienten zusammenhängt. Er ist von einem wunder- 
baren Körperbau, enorm kräftig, er versteht und weiß alles. J. B. 
rühmt ‚den wunderbaren Glanz‘ seiner Augen, die Macht seines Blickes, 
welcher die Liebe überall weckt, seine Potenz, welche auf die Männ- 
lichkeit der ganzen Welt einwirkt. F.R. sagt von sich „ich war zu 
charmant, zu galant und schön“. Kurz jeder hält sich für den Herr- 
lichsten der Herrlichen. 

Wie ist das zu erklären? Eine einfache Hypothese ermöglicht 
diese beiden Tatsachen zu vereinigen. Sie lautet: Durch die Ablehnung 
der Außenwelt, durch Zurückhaltung des geistigen und gemütlichen 
Verkehres mit ihr muß eine Retention entstehen. Der Tätigkeitstrieb, 
der Trieb nach Expansion wird zurückgehalten, er wird introver- 

!) Siehe Jung, Psychologie der Dementia praecox. Marhold, Halle, 1907. 


240 A. Maeder. 


tiert!), er appliziert sich anstatt auf die Objekte der Außenwelt auf 
das Ich. Daher das lebhafte innere Leben, daher die Überbetonung 
der eigenen Person, welche zu den Größenideen führt (Überbesetzung 
des „Ich“ Freuds)?). Die eigene Person rückt in den Vordergrund 
des Interesses, die Eindrücke der Außenwelt sind nur schwach besetzt; 
dadurch wird die objektive Korrektur immer schwächer. Die Selbst- 
überschätzung wächst maßlos und ungehemmt. Alle unbefriedigt 
gebliebenen Wünsche der Vergangenheit und der Jetztzeit 
werden aufgefrischt und gelangen in der Phantasie zur Erfüllung. 
Die Wiederaufnahme der infantilen Regungen (Jung hat sie mit 
dem bildlichem Ausdruck der „Rückstauung in die infantilen Kanäle“ 
treffend bezeichnet) ist in unseren analysierten Fällen leicht nach- 
weisbar. J. B. ist in der Psychose König und zur gleichen Zeit Kaiser 
von Frankreich; der Wunsch ist sicher infantilen Ursprunges, speziell 
für einen Schweizer. Sein Großvater hatte im französischen Militär- 
dienste in Paris gestanden, und hatte einen „adeligen‘‘ Degen heim- 
gebracht. Es wurde darüber viel gesprochen in der Kindheit des 
Patienten. Daran knüpfen die Phantasien an. F. R. spricht in der 
Psychose eine esoterische, abstrakte Sprache, er verkehrt viel mit Ge- 
lehrten. Als Kind war er in der Schule debil, er versagte schon sehr 
früh. Für ihn, als Sohn eines Lehrers, muß es eine peinliche Lage 
gewesen sein. Der Drang nach Bildung muß damals in den Phantasien 
eine Rolle gespielt haben. Seine Vorliebe für die Kultur und die Technik, 
welche vom späteren Datum ist, drückt sich in der Psychose in üppigen 
Phantasien aus, genau wie die infantilen Regungen. Die Impotenzbe- 
fürchtung von J. B., welche zu der uns bekannten maßlosen Kom- 
pensation gelangt, stammt aus den vierziger Jahren des Patienten. 
Die Psychose sorgt für eine gewisse Kompensation; die 
Phantasie leistet einigermaßen den Ersatz für die stiefmütterliche 
Behandlung durch das Schicksal?). Der Weg ist im Infantilen vorgebahnt; 


!) Vgl. Jung, Über Konflikte der kindlichen Seele. Dieses Jahrbuch, 
II. Band, 1. Heft. 
?) Die verschlossenen Naturen, welche noch nicht einen pathologisch zu 
nennenden Grad erreicht haben, zeigen schon eine Andeutung dieser Überbesetzung. 
®) Gerade bei solchen pathologischen Äußerungen, wie die der Phantasie 
in einer Psychose wird man instand gesetzt, diebiologische Bedeutung 
vieler Vorgänge zu erfassen. Daß dies (Funktion des Surrogats) die einzige Be- 
_ deutung der Phantasie sei, glauben wir nicht; die Verwertung der Theorie des 
Spiels vonK. Groos (Die Spiele der Tiere, Die Spiele des Menschen) ermöglicht 
- neue Einblicke, auf die wir hier nicht eingehen können. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 241 


denn Größenideen sind andeutungsweise bei jedem Kinde vorhanden. 
Der Vater eines jeden ist ‚„‚der Starke, der Gute, der Reiche‘, in einem 
Worte gesagt „der Held“. Er ist für das Kind ein Ideal. Die Korrektur 
kommt allmählich mit der Erfahrung, mit den Enttäuschungen und 
den Vergleichen. Es ist interessant zu sehen, wie alles das wieder auf- 
genommen wird beim Paranoiden, wie es rückläufig koordiniert wird. 
Die Bildung der Größenideen von J. B. über seine Augen ist sehr cha- 
rakteristisch für den Vorgang. Der Ausgang in der Psychose ist durch 
die Augenfarbe gegeben, welche ein Merkmal für die Einteilung der 
Menschen in zwei Kategorien liefert. Rückläufig werden alle früheren 
Erfahrungen aus der Vergangenheit geholt und zum Ausbaue benutzt, 
wie das Funkensehen beim Fallen aufs Gesicht, die Beobachtungen 
der schillernden Tautropfen usw. 

Exteriorisation. Wir möchten noch einen besonderen Mecha- 
nısmus des Größenwahnes zeigen, der eine wesentliche Rolle spielt. Wir 
wissen, daß J. B. seine Augen im weitgehenden Maße mit dem Himmel 
identifiziert (siehe oben die Erklärungen der Überschwemmungen, der 
Sonnenflecken); was im Himmel geschieht, geschieht an seinen eigenen 
Augen. Das an den Bäumen hängende Obst betrachtet er als Ver- 
vielfältigung seiner Genitalien. Der zweite Fall, F. R. empfindet jedes 
Manipulieren an den Gas- oder Wasserleitungen als eine Reizung 
seiner Nerven und Gefäße. Er ist selbst das „ganze Lebenswerk‘. 

Wir haben es in beiden Fällen mit einer eigenartigen „Projektion“ 
zu tun. Die Patienten finden in ihrer Umgebung Teile von ihrem 
eigenen Körper wieder. Es ist zu einer „Exteriorisation“ gekommen!). 
Die dem Wahn wichtigen Organe (Genitalien und Augen bei J. B.) 
werden exteriorisiert. Der Vorgang ist wahrscheinlich fortschreitend. 
‘Schließlich werden die Kranken durch diese besondere Erweiterung 
ihres Ich zu einer kosmischen Macht. [J. B. wird zur Gravitationskraft, 
zum befruchtenden Prinzip in der Natur.] Das Ich enthält die ganze 
Welt, mit Ausschluß der Verfolger. Damit ist der Gipfel des Größen- 
wahnes und der Egozentrizität erreicht. Der Kranke lebt in einer Welt, 
die er mit seinen Komplexen belebt hat. Sein Standpunkt hat sich 


1) Der Ausdruck stammt aus dem Okkultismus. Man hat behauptet, es sei 
möglich die Hautsensibilität eines bestimmten Mediums auf ein Objekt, das in einer 
gewissen Entfernung des Mediums stand, zu übertragen. Man sprach von der 
„Exteriorisation‘‘, der Sensibilität. Die Behauptung hat sich als falsch erwiesen. 
Das Envoütement (Behexen) beruht auf dieser Hypothese. Der Begriff ist uns 
aus der Traumanalyse bekannt, 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II, 16 


242 A. Maeder. 


etwas geändert. Früher hat er die Außenwelt abgelehnt, sie war für 
ihn leer. Allmählich hat er seine Umgebung nach seinen eigenen Wün- 
schen belebt, er tritt wieder in einen gewissen Verkehr mit ihr. In der 
Tat sind viele Patienten in diesem Endstadium brauchbare ‚Automaten“ 
in den Anstalten; sie werden bei allen möglichen Hausarbeiten ver- 
wendet. Es tritt eine gewisse bedingte Anpassung ein; sie schließen 
ein Kompromiß ab!). Man erinnere sich an die Tätigkeit von J. B. 
im Obstgarten. 

Die Exteriorisation ist für das Ich eine Erweiterung, im 
Gegensatze zum Transitivismus, der eine Einengung bedeutet. Diese 
beiden Mechanismen spielen in der Psychologie der Dementia praecox 
eine wichtige Rolle. 

Wir kommen zu dem Schlusse, daß in unseren beiden Fällen die 
Verfolgungs- und Größenideen unabhängig voneinander ent- 
standen sind. Gemeinsam ist ihnen aber in letzter Instanz der Aus- 
gangspunkt aus dem Triebleben, sie entstehen alle aus den freien 
oder verdrängten, nach Verwirklichung ringenden Wünschen. 


c) Schlußbemerkungen, 


Unsere Analysen haben mit Deutlichkeit gezeigt, wie in der Psy- 
chose alle Symptome in Zusammenhang mit einigen ge- 
fühlsbetonten Vorstellungskomplexen stehen, wie sie direkt 
als Folgen oder Wirkungen derselben zu betrachten sind. Es zeigt sich, 
daß der Inhalt der Psychose streng individuell determiniert 
ist, daß aber die Mechanismen bei den Patienten die gleichen 
sind; daß die Motive zum Handeln relativ wenig zahlreich 
sınd, und daß die meisten dem Triebleben der infantilen 
Zeit angehören. 

Es besteht bei diesen paranoiden Kranken noch eine 
lebhafte geistige Tätigkeit konstruktiven Charakters, welche 
sich im paranoiden System zeigt. Eine eingehende Untersuchung mit 
Berücksichtigung der psychoanalytischen Methode erlaubt den Schluß, 
daß die Zerfahrenheit im chronischen Stadium bloß vorgetäuscht ist, 
daß von Verblödung im eigentlichen Sinne wie bei einer or- 
ganischen Geisteskrankheit nicht die Rede sein kann. Die 
Patienten denken im Gegenteil noch sehr lebhaft; sie sind imstande, 





‘) Bleuler berichtet über einen Fall eines Kranken, der seit Jahren 
in der Abwaschküche tätig war, der aus dem Wasserstrahle am Hahn die 
Stimmen der Nixen hörte und dadurch so gefesselt war. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praeeox-Kranken. 243 


wenn sie sich zusammennehmen, relativ komplizierte Bilder zu be- 
schreiben und zu deuten und Erzählungen wiederzugeben. Eine Haupt- 
fehlerquelle ist die mangelhafte Applikation, die schlechte Fähig- 
keit sich zu konzentrieren. Der Experimentator muß einen solchen 
gemütlichen Rapport mit dem Patienten im Laufe der Untersuchung 
gewinnen, daß er vermag, die Komplexe des Patienten bis zu einem 
gewissen Grade auszuschalten (siehe das Beispiel der Tellgeschichte 
bei FR.) 

Die sogenannte Verblödung ist nur ein Schein. Die Tätig- 
keit des Patienten ist an die Außenwelt nicht genügend 
angepaßt; sie geht von innen heraus und erfährt die 
Korrektur nicht, welche die Fühlung mit der Außenwelt 
mit sich bringt. 

Es kommt beim Patienten zu einer Konzentrierung des Affekt- 
lebens um die wenigen Fragen, welche ihn persönlich stark interessieren 
(Komplexe!), das übrige ist ihnen blaß und bedeutungslos. 

Die Kranken leben iin einer Tra umwelt, in welcher sie ihre 
unerfüllten Wünsche der Kindheit und zum Teil der Jetztzeit 
zur Erfüllung, ja noch mehr, zu einer krankhaften Kompen- 
sation gelangen lassen. Aus diesem Grunde tragen die Wahn- 
ideen vielfach einen eigenartigen Charakter, der mit den Patienten, 
wie sie vor uns stehen, scharf kontrastiert. Dieser Traum ist für den 
Patienten so gefühlsbetont, daß er das Interesse für die Außenwelt 
verliert!). 

Ob die Unfähigkeit, sich an die wechselnden Verhältnisse der 
Außenwelt anzupassen (welche von kompensatorischen Phantasien 
begleitet ist), oder ob das Vortreten der Innenwelt mit sekundärer 
Vernachlässigung der Realität primär ist, ist eine offene Frage; die 
erste Hypothese einer gewissen primären Unzulänglichkeit hat vieles 
für sich; sie ist ein Versuch einer biologischen Erklärung der 
Phänomene?); wir glauben, daß die Psychiatrie danach trachten 
sollte, allmählich eine Naturwissenschaft zu werden, eine besondere 
Disziplin der biologischen Pathologie. 

Diese beiden Psychoanalysen haben uns einen Einblick in die 
Entwicklung des Individuums und der Krankheit gegeben. Wir sind 
von dem Einflusse des Milieu und der Konstellation in der 


1) Vgl. Jung, Der Inhalt der Psychose. Deuticke, Leipzig und Wien, 1908. 
2) Siehe die Definition der Krankheit von Ribbert in „Das Wesen der 
Krankheit‘, Bonn, 1909. 
16* 


244 | A. Maeder. 


Familie ausgegangen. Es ließ sich nachweisen, daß der Vater und 
die Mutter in beiden Fällen einen ganz bestimmten Einfluß ausübten, 
der für die spätere Entwicklung des Knaben maßgebend wurde. Die 
spätere Geschmacksrichtung läßt sich auf infantile Einflüsse 
zurückführen, die Berufswahl, die Sympathien und Antipathien 
(welche unter anderem bei der Wahl der Frau maßgebend sind), ge- 
wisse Tendenzen, wie bei F.R. ein echter „Bildungstrieb‘, alles das zeigt 
sich durch die Prägung seitens der Eltern in den ersten Lebens- 
jahren für immer fixiert. Das Milieu beim Erwachsenen wirkt auch 
bestimmend auf den Inhalt von einzelnen Symptomen; man denke an 
die Anatomie und Physiologie des Schlossergesellen F. R., an die be- 
sondere Art der Kompensation in den Größenideen, welche eine reich- 
liche Erfüllung der Wünsche eines durch das Schicksal schlecht be- 
handelten Menschen hervorgerufen hat (der häßliche, arme, schwächliche 
F.R. wird in der Psychose ein „charmanter, schöner, kräftiger, reicher, 
mächtiger‘ junger Mann). 

Interessant ist ferner, daß der Übergang des Normalen zum 
Pathologischen nicht scharf abgegrenzt, sondern im Gegenteil fließend 
ist; es gibt keine wirkliche Kontinuitätstrennung; die Psychose 
arbeitet nicht nach prinzipiell neuen Mechanismen (daß sie 
sich ohne Mechanismen entwickelt; daß die Symptome ohne nähere 
Determinante, aufs Geratewohl auftreten, wird wohl kein Psychiater 
mehr annehmen, der eine naturwissenschaftliche Bildung genossen 
hat), sie verwertet auch kein besonderes, eigenes Material, sie schöpft 
aus der früheren Erfahrung und wählt nach Komplexgründen aus 
der Gegenwart!). Die Triebkräfte des normalen Handelns (Selbst- 
erhaltungstrieb, Sexualtrieb, mit seinem zahlreichen Partialtrieben) 
wirken in der Psychose fort. Wahrscheinlich ist ihr Zusammenspiel 
— die Synergie — gestört. 

Unser Standpunkt läßt sich durch den Ausdruck psycho- 
genetisch charakterisieren. Die Psychiatrie ist auf dem Wege, eine 
erklärende Wissenschaft zu werden, sie war bis jetzt eine be- 
schreibende Wissenschaft. Zuletzt möchte ich einschränkend noch 
bemerken, dal ich in dieser Arbeit das Konstruktive, die neuen Ge- 
sichtspunkte hervorgehoben habe, ohne immer auf die vorhandenen 


!) Der Spieltrieb sogar bleibt in der Psychose erhalten und wird durch die 
Komplexe alimentiert, wie J. B. in seinen Rätselbildern und seiner Abwehr- 
gymnastik gezeist hat. Siehe auch F. Chalewsky, Heilung eines hyster. Bellens durch 
Psychoanalyse, Zentralblatt für Nervenheilkunde, 1909. 


Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken. 245 


Lücken hinzuweisen; es ist bewußt geschehen. Wenn man zu einem neuen 
Gesichtspunkte gekommen ist, muß man zuerst alles unter diesem neuen 
Gesichtswinkel anschauen; erst nachher soll die Kritik ihr Werk an- 
fangen, sonst sterilisiert sie jede Regung ab ovo. 

Um die Übersichtlichkeit der Darstellung beizubehalten, habe 
ich eine Auswahl des Materials der Psychoanalyse getroffen; die meisten 


Punkte könnten besser belegt werden, ich habe es für unnötig ge- 
halten?). 


1) Die hier entwickelten Gedanken stützen sich auf die Grundanschauungen 
von Freud und von der sogenannten Züricher Schule. Vieles ist schon 
in der Literatur niedergelegt, namentlich in den Arbeiten vonFreudundJung, 
Mehreres verdanke ich mündlichen Mitteilungen von Bleuler und Jung. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 


Von Dr. F. Riklin, Nervenarzt, kant. Inspektor für Irrenpflege, Zürich. 





Ich hatte Gelegenheit, während mehreren Wochen einen Zwangs- 
neurotiker zu beobachten, über dessen Analyse ich in der psychoana- 
Iytischen Vereinigung in Zürich berichtet habe. Dabei kamen mir 
die Ausführungen Freuds über die Zwangsneurose an der Versamm- 
lung in Salzburg, Frühjahr 1908, sehr zugute. Freuds Vortrag lag 
damals das gleiche Material zugrunde wie in seiner Arbeit „Bemer- 
kungen über einen Fall von Zwangsneurose“ im soeben er- 
schienenen II. Teil des ‚‚Jahrbuches‘“, Bd. I. Die Lektüre dieser pracht- 
vollen Abhandlung hat in mir die Bedenken, die ich gegen die Ver- 
öffentlichung meiner Untersuchung hatte, verstärkt; deren Unvoll- 
kommenheit ist mir allzusehr bewußt; ferner ist die Analyse unvoll- 
ständig, da sie aus äußeren Gründen nach kurzer Zeit eine Unter- 
brechung erleiden mußte; das erschwert die Durchleuchtung des 
komplizierten Gebildes noch mehr. 

Was mich dennoch zur Veröffentlichung bestimmt, ist der Fall 
an sich und eine Reihe von Gebilden, die wir trotz der Unfertigkeit 
der ganzen Analyse verstehen können. Ich hoffe, später den Fall auch 
theoretisch vollständiger aufklären zu können. 

Ich erhielt die unbeschränkte Vollmacht, das Material zu ver- 
werten. 

Die uneingeschränkte Erlaubnis zur Publikation wird ergänzt 
durch das Vorhaben des Patienten, auch seinen Leib der Wissenschaft, 
dem Seziermesser, zu opfern und ihn dereinst einer Anatomie zu schen- 
ken. Dieser Zug an unserem Kranken wurzelt ebensosehr in seinen 
„Komplexen“ wie die Wahl der Philosophie als Universitätsstudium 
und die Auswahl seiner Kollegien, in denen solche über Philosophie, 
Ethik und Geographie vorwiegen. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 247 


Er ist zwanzig Jahre alt, körperlich zart, von keinem Sport 
gestählt, der Habitus noch etwas infantil; sine Bewegungen sind 
bedächtig und ungeschickt. Ich sah von ihm eine Photographie aus 
dem fünften Jahr und es fiel mir auf, wie merkwürdig wenig er sich 
im Grunde genommen seither verändert habe. Dort sah er zart, aber 
sehr geweckt aus. Das ist er auch jetzt; nur liegt über der Persönlich- 
keit eine Unfreiheit, Unsicherheit und ein Ausdruck von Enttäuschung. 
Die seelischen Infantilismen, die seelische Unsicherheit der Zwangs- 
neurose, die Phobie vor der Berührung von Gegenständen, welche ihm 
als „infiziert“ galten, die Enttäuschung an der Wirklichkeit, an der 
Welt, wie sie ist und die damit zusammenhängende Tendenz der 
Regression ins Infantile malen "sich deutlich in seinem Gehaben. Er 
ist liebenswürdig und liebebedürftig. Die Übertragung gelingt leicht; 
‚doch machen sich oft große Widerstände geltend, aus denen der Kranke 
‚sichtlich einen Lustgewinn bezieht; er versteht es, den Arzt mit den 
Widerständen zu quälen. 

Er fühlte sich, mit seinem seelischen Kram und Spielzeug, mit 
seinen Leiden unverstanden und vereinsamt, ungemein erleichtert, 
einen Arzt zu finden, der die Vorgänge in seiner Seele überhaupt be- 
greifen will, nachdem er vorsichtig sondiert hatte, ob man ıhn nicht 
verlachen werde. Dann eröffnet“er seine Geheimnisse mit großer 
Pietät, nachdem er sie bisher wie einen jungfräulichen Schatz gehütet 
hatte. Namentlich sind es die?Produkte seiner wundersamen Tag- 
träumereien und Phantasien, welche er mit Sorgfalt entschleiert, und 
seine Leiden, welche er wirkungsvoll darstellt. 

Im Aufbau der Neurose und ihrer Symptome liegt ein ungemeiner 
Aufwand, eine große Leistung; er hat ihm auch einen großen Teil 
seiner Zeit und seines Daseins geschenkt. Ich habe den Eindruck, es 
bereite ihm Genuß und Behagen, einem Kenner seine Raritätensamm- 
lung zeigen und Wollust und Entsetzen seines Lebensromans dabei 
wieder durchkosten zu können. Dank der unverkennbaren maso- 
chistischen Tendenz, die sich anscheinend breiter, macht als die | sadi- 
‚stische, scheint er auch aus dem Peinlichen Lust zu schöpfen, sofern 
es gelungen ist, nicht nur das scheinbar Peinliche, sondern auch das 
wirklich Peinliche ans Licht zu ziehen. 

Neben den Widerständen zeigte sich eine große Wißbegierde, 
die der Analyse notwendig großes Interesse entgegenbrachte. Er 
bedauerte lebhaft die Unterbrechung der Behandlung, den Verlust 
der angenehmen und interessanten Unterhaltung! 


248 F. Riklin. 


An der Unterbrechung war Patient in erster Linie selbst schuld; 
es gab zwar mehrere einwandfreie Gründe, im kommenden Semester 
in eine andere Universitätsstadt überzusiedeln; aber es spielte dabei 
besonders der Wunsch mit, den Winter in einer Landschaft zu ver- 
bringen, die das Milieu seiner Tagträumereien widerspiegelte, und 
dieser Sehnsucht opferte er auch die Aussicht, möglichst bald durch 
die Analyse von seiner anscheinend qualvollen Krankheit befreit zu 
“werden. Die Tendenz, in der Krankheit zu bleiben und den darin ge- 
“botenen Gewinn auszukosten, hält somit der anderen, dem Wunsche 
‘gesund zu werden, noch reichlich die Wage; die Nachteile der Krank- 
‚heit haben den jungen Patienten noch nicht mürbe gemacht. 
fr Der folgende Traum, welcher die Behandlung inaugurierte, 
dem somit große Bedeutung zukommt, klärt uns noch weiter über 
die Art der Übertragung und die Verwertung der analytischen Be- 
handlung durch den Patienten auf. 

Er hatte sich aus dem Grausen seiner bisherigen Stadtwohnung 
geflüchtet und ein Zimmer in einem benachbarten Dorfe bezogen. 
Von dieser Flucht aufs Land hoffte er eine Verminderung seiner Pho- 
bien und anderseits kam er so in die Nähe von Dr. Jung, dem er sich 
anvertrauen wollte. 

In seiner Anschauung mußte sein Arzt übrigens unverheiratet 
sein und durfte keine Kinder haben, die Entdeckung des Gegenteils 
war eine unerwartete, fast unangenehme Überraschung und daß auch 
ich verheiratet bin, erwies sich für den Gang der Analyse als eine 
folgenschwere Tatsache. 

Dr. Jung wies den Kranken an mich. In der Nacht oder am Morgen 
vor der ersten Konsultation träumte er nun folgendes: 

Er stellt sich die Konsultation zum voraus vor; er sitzt bei mir 
und erzählt seine Leidensgeschichte. Da verändert sich allmählich 
die Szene: Statt daß er mir erzählt, verwandelt er sich in das Objekt 
einer masochistischen und exhibitionistischen Phantasie: er ist un- 
bekleidet an einen Pfahl oder Baum geschnallt, wehrlos, und zwar so, 
daß er den Baum umarmen muß, und dann wieder mit dem Rücken 
an denselben gebunden ist. Der Traum kennzeichnet genügend die 
Auffassung der Analyse und die Art der Übertragung. Patient scheint 
übrigens ein Traumstück unterschlagen zu haben; er sagt nicht, wer 
ihn bindet und quält; wir dürfen annehmen, daß es sich nicht nur um 
eine Exhibition des Leidens handelt; denn Patient hat zahlreiche, 
ganz entsprechende Phantasien, wo es der Vater ist (respektive die 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 249 


ım Vater verkörperten Tendenzen der Eltern!), der ihn mißhandelt 
oder mit Qual droht, Phantasien, wo er seinem Diener befiehlt, ihn wehr- 
los zu machen, zu binden, einzugraben (er war dabei immer nackt) und 
so die Drohungen des Vaters in der Phantasie zu realisieren. Der Arzt 
wird also mit dem Vater identifiziert, es wird ihm auch dessen Rolle 
zugeteilt. Die Analyse ergibt aber noch, daß eine der frühesten Szenen, 
welche dieser masochistischen Tendenz Nahrung boten, in sehr früher 
Kindheit stattfand und sich im Sprechzimmer eines Arztes abspielte. 
Er wurde wegen Plattfüßen und anderer kleinerer Gebrechen zum 
Orthopäden gebracht und mußte sich dort ausziehen. Es waren eine 
Reihe orthopädischer Apparate im Zimmer und Nebenzimmer und die 
Mutter drohte, wenn er nicht artig sei, werde er zur Strafe an solche 
Apparate geschnallt. Er stellte sich die Folterung durch den Arzt! 
lebhaft vor und empfand dabei eine Wollust, die er sich in Zukunft‘ 
durch Ausmalung ähnlicher Situationen wieder zu verschaffen suchte, 

Wir dürfen wohl annehmen, daß die Szene beim Orthopäden 
nicht die ursprünglichste ist, welche zur Qualeinstellung führte. Es 
fehlen uns vorläufig genauere Anhaltspunkte. Patient sagt, daß er 
als Knabe immer von der Mutter geprügelt worden sei, nicht vom 
Vater; und doch scheint die Szene beim Orthopäden eine frühere 
mit dem Vater irgendwie zu decken. 

Wir haben noch weitere Gründe zu der Annahmie, daß dem 
Masochismus ein alter Sadismus, wenn wir das so bezeichnen wollen, 
vorausgeht, eine alte Auflehnung gegen Vater oder Mutter, oder beide, 
und eine-Umgestaltung des Unterliegens in Genuß. 

Durch die spätere Jugendzeit hindurch bis in die letzten Jahre 
geht ein Zug von Zerstörungswut, der sich darin äußerte, daß er, wenn 
ihm ein kleines Unternehmen mißlang, z. B. ein Tintenklecks auf 
ein schön beschriebenes Zettelchen fiel oder sonst eine Vollendung 
nicht erreicht wurde in eine kleine Raserei geriet und die Zerstörung 


1) Der Kampf gegen die Macht und Autorität der Eltern konzentriert sich 
gewöhnlich im Vaterkomplex des Sohnes. Die männliche Gottheit entwickelt sich 
aus dem Vaterkomplex. So kann es nach meiner Meinung kommen, daß auch von. 
der Mutter her, sofern die Mutter an der Macht- und Autoritätswirkung beteiligt 
ist, Einflüsse kommen, die im. Vaterkomplex abgehandelt werden. 

Ein Patient, ein Pole, schöpfte aus der Revolution gegen die Eltern die Mo- 
tive zur Revolutionsbetätigung auf politischem Gebiete. Er ist sich über diesen 
Zusammenhang ganz klar. Dabei ist Polen in seinen Vorstellungen das Mutter- 
land, nicht das Vaterland. Die Autorität verkörpert sich im Vater. Von der 
Mutter will sich der neurotische Sohn zunächst nicht befreien. 


250 F. Riklin. 


fortsetzte; dadurch opferte er aber etwas, das, wie wir sehen, für ihn 
einen großen Wert hatte. Und bei diesem ganzen Vorgange kam eine 
Wollust über ihn, die seit der Pubertät zum Orgasmus führen konnte. 

Eine Serie von Opferhandlungen zeigt nicht mehr deutlich das 
Wutmotiv, das Mißlingen, sondern es wird nur noch etwas Liebes ge- 
opfert zugunsten eines andern geliebten Objektes und aus dem Opfer- 
schmerz der masochistische Genuß geschöpft, der später immer leicht 
zum Samenerguß führt. 

Ein weiterer Grund ist eine weitgehende Verdrängung des 
Analerotischen, d. h. in der Zwangsneurose sehen wir die sukzessive 
Darstellung des positiven Analerotismus und dessen Verdrängung. 
Und in den masochistischen Phantasien stellt er die Qual dar in irgend- 
einer Form, in welchem ihm von den Eltern Strafe angedroht worden 
war, 2. B. Gebunden- und Eingewickeltwerden; dabei finden wir auch 
die Qual der Züchtigung. 

Die Art der Übertragung auf den Arzt, welche in diesem Inau- 
guraltraum sich kennzeichnet, ruft den Vergleich mit den Über- 
tragungsträumen weiblicher Kranker. 

Diese bekommen ein Kind von ihm, mit oder ohne Zensur, d.h. 
mit oder ohne Vergewaltigung (im Sinne des Witzes, wo das im Walde 
ihres Geldes beraubte ältere Fräulein zum Räuber sagt: Ja, und wo 
bleibt denn die Vergewaltigung?) 

Unser Patient ersetzt das weibliche Analysenübertragungs- 
verhältnis eben einfach durch eine Vergewaltigung durch einen Mann, 
den Arzt (ehedem Vater?). 

Der Arztübertragung der weiblichen Patienten wird wohl ebenso 
eine Vaterübertragung vorausgehen. 

Sich selbst drängt der Patient durch diesen Traum in die Rolle 
des Weibes. 


Lebensgeschichte: 


Patient ist 1889 in einem Städtchen nahe der Landeshauptstadt 
geboren. Er ist das einzige Kind; die Mutter soll eines Myoms wegen, 
das sich in der Schwangerschaft ausgebildet habe, seither unfruchtbar 
geblieben sein; diese Kenntnis erhielt Patient in seinen Pubertäts- 
jahren durch Andeutungen. Beide Eltern leben: der Vater ist 15 Jahre 
älter als die Mutter. 

‚ Die Schilderungen des Patienten von seinen Eltern geschehen, 
wie er selbst sagt, in einer besonderen Beleuchtung. Er will ganz 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 251 


objektiv, sachlich beschreiben; in dieser versuchten, forcierten Sach- 
lichkeit, für deren Darstellung leider zu wenig Raum ist,'liegt gerade 
das Besondere. | 

„Ich bin ganz sachlich im Urteil über meine Eltern. Ich liebe 
sie genau so, nicht mehr und nicht weniger, als den Hund zu Hause. 
Wenn ich heim komme, bin ich zärtlich mit dem Hunde, tändle, spiele 
mit ihm, kneife und knete ihn. Genau so mache ich es mit meinem 
Vater.“ 

Patient erzählt, wie er den Hund heranlocke mit den Worten: 
„Komm, Foxerl, komm zur Qual“, und dann beginnen diese Lieb- 
kosungen des Hundes, den er auf den Rücken legt, knetet, oder an den 
Beinen über den Teppich schleppt. Den Vater quälte er in der gleichen 
Weise, wenn er am Morgen noch zu Bette lag, oder beim Mittags- 
schlafe, und freute sich, wenn er schrie oder piepte. 

Patient hat eine große Freude, diese etwas kindischen Dinge 
zu erzählen. Er rächt sich sadistisch am Vater in einer Form, die 
‚keine schlimmen Folgen für ihn hat. 

„Geistig stehe ich meinen Eltern genau so nahe wie dem Hund.“ 
In dieser, durch eine Auflehnung gegen die Eltern beruhenden Über- 
treibung ist doch etwas Wahres. Sie stehen ihm seelisch nicht nahe; 
seine Auflehnung hat sehr früh begonnen, so früh sozusagen wie sein 
Wissensdrang; und was von den Eltern verboten worden wäre, das 
rettete er in große Phantasien, die ihm als rein und heilig galten. In 
dieses geistige Leben hatten die Eltern keinen Einblick. 

‚Meinen Vater, über dessen Physis ich sonst wenig zu sagen 
weiß — er war immer gesund — halte ich für recht unintelligent. Er ist 
Richter. Ich halte ihn für einen miserablen Richter; zu Hause hat er 
keinen Gerechtigkeitssinn; daraus muß ich schließen, daß er auch in 
seinem Berufe so ist. Er ist ungeheuer gutmütig, Phlegmatiker, mit 
einem Stich ins Melancholische. Es vergehen Monate, bis er lacht.“ 

Dieser Ausschnitt ist vielsagend für die gegenwärtige Stellung 
des Sohnes zum Vater. Wir erkennen klar eine Auflehnung, den 
revolutionären Kampf, der zur Ablösung führen sollte. 

Der Vater wird als unwissend hingestellt — wahrscheinlich 
eine Rache dafür, daß er dem Sohn zu bestimmter Zeit gewisse Kennt- 
nisse vorenthielt, sich unwissend stellte; und als ungerecht, weil die 
väterliche Autorität dem Sohn Hemmnisse entgegenstellte, die er 
nun zu überwinden sucht. Er ist] im Zweifel, welcher Tendenz er 
endgültig folgen will: ob der kindlichen Befriedigung von Liebkosungen 


252 F. Riklin. 


mit sadistischem Zug, oder ob er erwachsen sein will, ob er sich vom 
Vater ablösen, befreien will. In der Vaterübertragung liegen Liebe und 
Haß; der Haß erleichtert die Vorbereitungen zur Übertragung auf 
neue Objekte. 

Zwischen die beiden Tendenzen stellt Patient eine Zwangs- 
zeremonie, zu welcher der Hund, der in diesem Zusammenhange den 
Vater vertritt, das Mittelglied abgibt. Unter dem Vorwande, der 
Hund habe Würmer, mit welchem man sich infizieren könnte, dehnt 
er einen aus einer andern Quelle hergeleiteten Waschzwang auf alles 
aus, was mit dem Hunde, d. h. mit den Eltern in Berührung kommt. 
Der Hund ist der Liebling der Mutter, er darf auf dem Bette und dem 
Sofa liegen, also sind die Eltern mit Wurmeiern (analer, d. h. anal- 
erotischer Abkunft) infiziert. 

Er knetet also den Bauch des Vaters oder des Hundes; da aber 
diese Objekte infiziert sind, erfolgt darauf eine gründliche Wasch- 
prozedur; die infantile ‚„Schweinerei, welche durch die wohl ver- 
wertete Symbolik des Hundes ausgezeichnet dargestellt ist, ist nur 
gestattet durch die nachfolgende Zwangsabsolution. Mit dieser Wa- 
schung quält er seine Eltern wieder, denen er ruhig sagt, er habe sie 
zwar lieb, aber sie seien ihm ein Gegenstand des Grausens und Ekels. 
Er weidet sich nun an der Indignation des Vaters und den Tränen- 
strömen der Mutter. 

Von der Mutter sagt er, sie sei aufgeregt, von einem Extrem 
der Stimmung ins andere fallend, übermäßig zärtlich und ungehemmt 
zornig. Sie verhätschelte den Sohn, ohne ihn später intellektuell zu 
verstehen. Er erinnert sich an Fälle, wo er schon als kleiner Bub 
von 6 bis 7 Jahren ganz ungerecht gezüchtigt wurde. 

Die Anschauungen in der Familie waren äußerst konventionell. 
Man sah sehr auf das Urteil der anderen Leute und tat nichts, was 
geläufigen Vorurteilen vor den Kopf stieß. 

Über natürliche Dinge wurde nie gesprochen. Als der Sohn z. B. 
ins Ausland studieren ging — was eine große Umwälzung bedeutete -— 
fühlte man sich verpflichtet, ihn sexuell aufzuklären, was ja schon 
längst anderwärts geschehen war. Jeder schob diese schwere Eltern- 
pflicht dem andern zu und die Aufklärung geriet sehr komisch. Man 
sprach vom Leben und seinen Gefahren und daß, falls „gewisse“ 
Krankheiten eintreten, man heutzutage nicht zu verzweifeln brauche. 
Das weitere übertrug man dem Onkel Apotheker, der es derber be- 
sorgte und dem angehenden Studenten zum Abschied ein kleines 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 258 


Paket mit Schutzmitteln in die Hand drückte — übrigens ganz über- 
flüssigerweise. In den ersten Universitätsferien amüsierte er sich dann 
damit, diese Geräte mit Wasser zu ira und die Mutter damit zu 
entsetzen! 

Zu den Beziehungen zwischen Sohn und Mutter ist zu bemerken, 
daß direkte Inzestphantasien vorhanden sind. Ferner, daß er immer 
den Wunsch hatte, die Mutter beim An- und Auskleiden zu sehen, 
wobei sie in späteren Jahren die Entrüstete spielte und ihn mit dem 
Onkel Apotheker verglich, der seine Schwestern jeweilen durch ähn- 
liche Überraschungen erschreckt hatte. Sie liebte es, ihre Füße zu zeigen; 
dann trieb sie einen Kult mit seinen Füßen, und nannte sie infantil 
„Futi“. Darunter verstand aber Patient selbst „ein ekelhaftes Wort“ 
und wenn das Dienstmädchen am Morgen hereinkam und das hörte, 
war es ihm äußerst peinlich; es mußte auch etwas anderes darunter 
verstehen. [Es gehört dies zu den Beziehungen zwischen Fußfetischis- 
mus und Sexualorganen.]) 

In seinen Phantasien treibt Patient dann selber einen Kult mit 
seinen Füßen. 

Es fanden auch Ringkämpfe statt, in denen die Mutter immer 
unterlag und in eine Ecke gedrängt wurde. Er verfolgte sie als Schlange 
(„Jetzt kommt die Schlange“), Salamander, Gespenst, das wie ein 
Frosch hüpfte und sie erschreckte. 

Er nannte diese bedeutsamen agressiven Spiele „Romps“ oder 
bezeichnete die Tätigkeit mit ‚Samen der Verwirrung streuen“. Nach- 
her hatte er oft moralischen Katzenjammer. Es ist uns leicht, den 
_ Sinn dieser Spiele mit dem sadistischen Zuge, als Abkömmlinge von 
Inzestvorstellungen zu entlarven. 

Die Mutter trieb mit ihm bis in die neuere Zeit das ‚Poperl- 
spiel“ oder den ‚„‚Poperlkultus“. Es war ein ausgesprochener Analzonen- 
kultus, den ich nicht näher zu beschreiben brauche und der sich auch 
noch dem erwachsenen Sohne gegenüber erhalten hatte, unter dem 
Schutze des mütterlichen Rechtes auf intime Zärtlichkeiten den 
Kindern gegenüber. Dieses von der Konvention anstandslos be- 
willigte Recht dehnte sie auch dahin aus, daß sie ihm mit Vergnügen 
intime Zimmerdienste wie einem kleinen Kinde besorgte, auch als er 
schon groß war und daß sie die Gelegenheiten dazu geradezu pro- 
vozierte. 

Der Sohn bekam mit der Zeit das Gefühl dafür, daß diese Aus- 
dehnung des infantilen Analzonenkultus nicht mehr passe; aber er 


254 F. Riklin. 


verzichtet doch nicht gerne darauf. Und darum erfindet die Neurose 
den gleichen Ausweg wie beim Vater: Sie läßt diese Kulte gewähren, aber 
‘da die Mutter den Hund mit den Würmern liebkost, erfolgt eine Wasch- 
prozedur dagegen. Der Analzonenkult erhält im Symbol des Hundes 
mit den Würmern seine Abwehr durch den Waschzwang, dessen Her- 
kunft, wie wir sehen werden, abzuleiten ist aus einem Reinigen, Ab- 
waschen des Unreinen, mit einer Verschiebung vom Psychischen ins 
‚Körperliche. Was unrein, schmutzig im konventionell-ethischen Sinne / 
ist, soll reingewaschen werden durch eine körperliche Waschung, eine 
Verschiebung, welche in den symbolischen Waschungen in den Kulten 
bereits stattgefunden hat (‚‚die Hände in Unschuld waschen“; Taufe; 
das ‚„Lavabo‘‘ in der Messe). Aber der Begriff ‚‚rein‘‘ und ‚‚unrein‘ 
wird beim Zustandekommen des Waschzwanges noch in einem andern 
Sinne gebraucht: ‚‚Unrein‘ 'sind die sadistischen und andern Lieb- ! 
- kosungen der Eltern und durch eine Verallgemeinerung, was von den 
Eltern herkommt. ‚‚Rein‘ sind seine infantil-erotischen und späteren 
erotischen Phantasien, die er vor den Eltern verborgen hält, für sich 
behält; es war ihm furchtbar peinlich, wenn er irgendein Zettelchen 
verlor, in welchem etwas von diesen Phantasien stand. 

Durch diese doppelte Herkunft des Begriffes ‚rein‘ und ‚‚unrein‘, 
ım Sinne der konventionellen Anschauungen (der Eltern) und gegen 
die Eltern kann es kommen, daß gewisse Dinge in seinen Phantasien 
„rein“ sind, welche im Zusammenhange mit den Drohungen der Eltern 
„unrein“ sind. Überdies ist der Begriff ‚rein‘ auf erotischem Gebiete 
ja den weitesten Schwankungen unterworfen, was dem Streben der 
Zwangsneurose, Unsicherheit zu haben und Entscheidungen aufzu- 
schieben, außerordentlich passend vorkommen muß. 

Im Begriffe ‚rein‘ aus der einen und andern Herkunft liegt 
das, daß die wirkliche erotische Betätigung am Objekt im Gegensatz 

kur Betätigung in der Phantasie abgelehnt wird. Dazu gehören: die 
Manipulationen an den Eltern und am Hunde, der wirkliche Sexual- 
verkehr, (wirklich im Gegensatze zum Vorkommen in der Phantasie), 
das sexuelle Berühren des Objektes der Liebe, die Masturbation. 

Der Waschzwang erfährt eine Ausdehnung auf alles, was von 
zu Hause kommt, auch auf die Briefe, die er zuerst mit Interesse liest. 

Die Würmertheorie beruht gleichfalls auf einer Verschiebung. 
Die Infektionstheorie ist nur für die Oberfläche. Die hunde- 
mäßige Art, wie das Tier zu Würmern kommt, ist das Wesentliche, 


dem die Abwehr, welche eine der Affektquellen des Wasch- 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 259 


zwanges bildet, gilt .dem ‚„Hundebrauch‘. (Belecken des Afters, ‚tie- 
rische‘“ Art der Hunde.) 

Im ‚„Hundebrauch‘ tritt uns vor allem die Analerotik ent- 
gegen. Der ‚„Poperlkult‘“ beweist uns, daß sie auch von der Mutter 
geradezu gezüchtet wurde. Im Übertragungstraume, wo Patient 
sich nicht allein von vorn, sondern auch von hinten quälen läßt, haben 
wir neue Beweise. Die Wurmeier treten, wie wir später sehen werden, 
in eine Linie mit Spermatozoen!). Das Gequältwerden von vorn 
wird in einer andern Phantasie — im Kampfe mit dem Schlaf — dar- 
gestellt durch schmerzhaftes Einführen eines Katheters in die Harn- 
röhre. Fügen wir hinzu, daß Patient ausgesprochen ästhetisch ist, 
auch von erotischen Bildern nur ästhetisch einwandfreie liebt, die 
anderen verabscheut, so vermögen wir durch den Waschzwang hin- 
durch die verdrängten infantilen, analerotischen Wünsche zu erkennen, 
dıe Patient in der Analyse noch nicht angebracht hat. Der Zwang 
setzt erst später, in der Vorpubertät ein, richtet sich in seiner Haupt- 
front gegen das Sexuell-Gemeine. Aber während es nicht allzuschwer 
war, dies bewußt zu machen, hat die Analyse die infantilen Quellen 
erst teilweise aufgedeckt. 

Wir sind von der Darstellung der Verhältnisse im Elternhause 
mitten in die Zwangssymptome und Phobien hineingeraten. 

Indem ich im Programme weiterfahre, möchte ich ein Beispiel an- 
führen, wie merkwürdig der Knabefdas ‚brutale Spielverderben‘“ 
durch den Vater abreagierte. 

Mit einem Kameraden hatte er abgemacht, jedesmal, wenn 
die Eltern (hauptsächlich betraf es den Vater) sie in ihren Spielen 
stören, brutal unterbrechen oder verständnislos schimpfen, solle in 
Gegenwart des Beleidigers laut das Wort ausgesprochen werden: 
„Mq“, „Emque‘‘. Das Wort wurde also da angewendet, wo wir etwa 
einen maskierten Fluch erwarten könnten. Der Sprachgebrauch pflegt 
Fluchworte, deren Analyse oft haarsträubende sexuelle Schmähungen 
zutage fördert, durch verschiedene Methoden: Abkürzung, Verball- 
hornung, Verschiebung usw. so abzuschwächen, daß ihre Bedeutung 
dem, der sie ausspricht, gar nicht mehr bewußt wird. So kann man die 
in ihrer Bedeutung schlimmsten Fluchabkürzungen im Munde der 
gesitteten Dame in bester Gesellschaft hören. Wir besitzen in der 
Schweiz z.B. Kose-Adjektiva, die ursprünglich schlimme Flüche waren. 


1) Darin liegt eine starke Verdrängung der Inzestwünsche, welche er als 
Kind mit infantilen und jetzt mit erwachsenen Anschauungen hat. 


256 F. Riklin. 


Freud hat in seiner erwähnten letzten Arbeit ähnliche Formeln 
analysiert, wie das „Emque‘‘ unseres Patienten; nur stammen sie 
dort aus Anfangsbuchstaben von Gebeten, in die sich zwangsmäßig 
die Negation eines guten Wunsches einmischt, und die als Wort ge- 
lesen, einen neuen bedeutsamen Inhalt bekommen. 

„Emque‘“ ist eine Abkürzung von „Marterqualen“. 

Als Fluch heißt das: „Du sollst Marterqualen erdulden!““ Welche 
Marterqualen gemeint sind, können wir leicht erraten; wir haben sie 
bei der Analyse des Übertragungstraumes und später kennen gelernt. 

Im Anwendungsritus von ‚„Emque“ liegt aber eine Übertreibung 
des Leides, das dem Knaben durch die ‚„Brutalisierung‘‘ zugefügt 
wird. Die Brutalisierung wird als Erduldung der Marterqualen ge- 
deutet, von denen der Knabe wunschhaft phantasiert. Sadistische und 
masochistische, männliche und weibliche Sexualphantasien sind 
also am Aufbau des ‚„Emque“ beteiligt. 

In der Anwendung liegt eine durch die Furcht vor dem Vater 
durch die Abkürzung und Symbolisierung abgeschwächte Auflehnung 
gegen die Autorität. Es ist eine Form, dem Vater zu sagen, er sei 
ein brutaler, dummer Kerl, ohne daß es der Vater versteht und sich 
rächen kann. 

„Emque“ ist ein Geheimnis der Knaben; sie wissen etwas, was 
der Vater nicht weiß. Sie hänseln ihn damit, sie sagen, daß sie das Ge- 
heimnis ganz gut wissen, das ihnen die Eltern vorenthalten, von dem 
sie heucheln, sie wissen nichts davon. 

Das wird uns klar, wenn wir erfahren, daß der Kamerad im 
Bunde der ist, welcher den Patienten kurz vorher in das große Ge- 
heimnis von der Herkunft der Kinder eingeführt hatte, das sie vor 
den Eltern, die nichts davon verlauten lassen wollten, geheimhalten 
mußten. ‚„Emque“ heißt also: ‚Wir wissen es schon; wenn ihr weiter 
die Naiven spielen wollt, wünschen wir euch viel Vergnügen.“ 

Bezeichnend ist die Verwendung einer Formel, deren Inhalt 
in archaischer Darstellung das sagt, was der Kleine in den ersten 
Kinderjahren schon einmal wußte und was durch die Mitteilung des 
Kameraden von neuem entdeckt wurde. 

Wir ergänzen die Beweisführung durch die Erzählung des Kran- 
ken, wie er gerade in jener Zeit in den Besitz weiterer Kenntnisse über 
das große Geheimnis zu kommen suchte. 

Als er als kleiner Bub einmal ein Buch mit anatomischen Abbil- 
dungen erwischte und die Mutter um Aufklärung bat, machte sie ihm 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 297 


Angst und schreckte ihn mit dem Knochenmann, dem Tod. Dieser 
Schrecken vor dem natürlichen Baue und den Verrichtungen des 
menschlichen Organismus, durch die Mutter hervorgerufen, haftet 
jetzt noch nachwirkend am Patienten und liefert Material zu Abwehr- 
bildungen gegen die Sexualität als Wirklichkeit. 

Wir haben also infantil-sexuelle Wünsche (infantile Inzest- 
wünsche), die verdrängt sind; nun kommen von der Mutter her neue 
Verdrängungen gegen die neuen Wünsche und Ziele der erwachsenen 
Sexualität, die so nachhaltig sind, daß er nicht zum definitiven Ziele 
gelangt und eine Regression in die Phantasie vollzieht, wo er Orgien 
feiert und wieder auf den Inzest mit der Mutter regrediert. Diese 
Inzestphantasien gab Patient in der Analyse ziemlich bald geheimnis- 
voll preis; die jetzigen Vorstellungen fußen nicht mehr auf infantilen 
Sexualtheorien, sondern auf den in der Vorpubertät neuerworbenen, 
richtigen Vorstellungen. 

Als Patient in meiner Bibliothek einmal ein illustriertes Lehr- 
buch der Geburtshilfe erwischte, überkam ihn ein neues Grausen vor 
der Roheit der menschlichen Physiologie in ihrer Wirklichkeit und 
bestärkte ihn in seinem — ohnmächtigen — Kampf gegen die Kinder- 
zeugung. 

Aber zur Zeit des „„Emque‘ überwog der Wissenstrieb und die 
Neugier. Vom Vater erhielt er die Erlaubnis, das Konversations- 
lexikon zu gebrauchen, wenn er über ihm unbekannte Dinge, die sich 
ihm in der Lektüre aufdrängten, Aufschluß haben wollte. Aber er 
mußte die Wörter auf einen Zettel schreiben und der väterlichen 
Zensur unterbreiten. Da brauchte er denn die List, daß er sich Wörter 
mit dem Anfangsbuchstaben M zusammenstellte, um die Zensur zu 
hintergehen und den Band M benutzen zu können, wo er das Geheim- 
nis des Menschen und der Menschwerdung erfahren konnte. 

Im Werdegang.des Normalen und des Neurotikers interessiert 
uns besonders, wie er sich von der infantilen Erotik ablöst, wie er das 
erste Sexualobjekt, die Mutter, verläßt, um sich neuen Objekten 
zuzuwenden und das definitive Ziel zu erreichen. Wir werden sehen, 
wie wenig diese normale Entwicklung unserem Kranken bis jetzt 
gelungen ist, welche Versuche er gemacht hat. In der neuen, zweiten 
Verdrängungsperiode, welche in der frühen Pubertät, genährt durch 
die infantile, einsetzt, wird er an der normalen Übertragung auf neue 
Objekte durch die Abwehr der realen Erotik gehemmt, und so kommt 
es zu einer Regression in die Phantasie, wo es ihm gelingt, ziemlich 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 17 


298 F. Riklin. 


ungehemmte Orgien zu feiern; aber auch auf diesen Schauplatz ver- 
folgt ihn der Streit der Zwangsantagonismen. Überdies pendelt seine 
Libido zwischen zwei Gebieten; bald kultiviert er in der Phantasie 
seine Holden, die er in der Wirklichkeit kennt, bald wendet er sich 
großen Phantasien und Tagträumereien zu, in denen die Wirklichkeit 
eine noch untergeordnetere Rolle spielt. 

Mit 7!/, Jahren (1896/97) sah er ein schönes Mädchen, das ein 
Fahrrad besaß. Es war mindestens 15 bis 16 Jahre alt. (Wir erkennen 
die Wirkung des Mutterkomplexes; die Mutter war zur Zeit seiner Geburt 
21 Jahre alt.) Er schloß es für kurze Zeit in seine Gedanken ein. Zu 
gleicher Zeit liebte er schon ein anderes Mädchen, dem wir bald be- 
gegnen werden (Lilly), und spielte gern mit ihm. Er glaubte damals 
noch an den Storch. 

1899 liebte er zwei Knaben; er trieb einen Kultus mit deren 
Namen, schrieb sie überall hin und schnitt die Anfangsbuchstaben 
in die Rinde der Bäume, wie Liebende tun. Sonst geschah nichts; 
aber der Namenkultus gelangte später in seinen Tagträumereien zu 
größerer Bedeutung. 

Er phantasierte sich darin u. a. als Vater mit vielen Kindern, 
an die er alle schönen und bedeutungsvollen Namen bringen mußte, 
welche er sammelte. 

1899/1900 kam die sexuelle Aufklärung durch den erwähnten 
Kameraden. Nun kannte er die Herkunft der Kinder. Den Zeugungs- 
vorgang lernte er erst etwas später kennen. Einmal kam er spontan, 
ohne äußeres Zutun, zur Pubertätsmasturbation mit Samenerguß, 
und nun war ihm auf einen Schlag alles klar, was beweist, daß er es 
eben schon früher wußte. Dann kamen noch ergänzende Aufklärungen 
durch Kameraden hinzu. (Nach anderen Angaben müssen wir an- 
nehmen, daß die Masturbation erst im Herbste 1903 auftrat. Wir 
haben in der Zwischenzeit noch Liebesverhältnisse mit infantilen 
Befruchtungstheorien.) 

Wir haben keine sicheren Bestätigungen für infantile Mastur- 
bation; aber einzelne Erinnerungen an Verbote der Mutter und des 
Arztes, nicht mit dem Gliede zu spielen. 

Und doch finden wir eine starke Abwehr gegen die Pubertäts- 
masturbation im Waschzwang, den wir kennen lernen werden. Wir 
ahnen vorläufig, durch die Ausdehnung des Waschzwanges auf den 
Hund, den Zusammenhang zwischen erster und zweiter Verdrängung, 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 259 


zwischen dem Material, das durch die Wurmeier repräsentiert wird, 
und dem Sperma. 

Durch das Verschlucken der Wurmeier bekommt man übrigens 
Würmer; eine Phantasie respektive eine Phobie, durch Verschlucken 
von Sperma schwanger zu werden, spukte noch im Anfang der Analyse 
in der Bitte des Patienten, ich möchte ausdrücklich bestätigen, daß 
dies nicht der Fall sein könne. Die Geburt hätte in beiden Fällen nach 
der ‚„Lumpf‘“-Theorie des kleinen Hans, durch den Anus respektive 
die Kloake, stattzufinden. (Freud, Analyse der Phobie eines fünf- 
jährigen Knaben.) & 

Wurmeier und Spermatozoen sind Kinder. Der Gedanke, 
nach erfolgter Masturbation in einem Schwarme von Kindern zu 
liegen, ist dem Patienten peinlich. So macht Patient die Keime zum 
Endprodukte und hat die Möglichkeit, Geburten auf dem analen und 
genitalen Weg darzustellen, und für die Befruchtung bleiben ihm 
außer der Oraltheorie noch zwei Wege übrig; der anale Weg und einer 
nach der Kathetrisierphantasie. Eine glänzende bisexuelle Ver- 
wertung!). 

Unmittelbar nach der definitiven sexuellen Aufklärung hatte 
er einen seiner bedeutsamen Träume. Er kehrte selbst auf dem natür- 
lichen Wege in den Schoß seiner Mutter zurück. Aber an die Einzel- 
heiten dieser Rückkehr erinnert er sich nicht ganz genau. Sicher handelt 
es sich um einen Inzesttraum, der sich später in den Phantasien noch 
deutlicher darstellt. Zweitens aber hat er in dieser Darstellung, als 
Pendant der Vergrößerung: Sperma-Kind, eine Verkleinerung vor- 
genommen: er wird zum Wurm, Penis oder Sperma. 

Im Herbst 1901, 12jährig, kam Patient mit der Mutter nach 
dem Süden wegen einer Bronchitis fibrinosa. Da hatte er im Fe- 
bruar 1902 einen weiteren bedeutsamen Traum. 

Er lag in der Situation eines Kranken oder Verwundeten, unter 
Verwertung einer Heldenphantasie (Freischarenheld) zu Bette. Da 
kommt ein kleines Mädchen (Lilly), das er zu Hause wohl gekannt, 
aber noch kaum geliebt hatte, an sein Lager, pflegt ihn voller Zärt- 
lichkeiten und umarmt ihn, gleichwie die Mutter bisher getan hatte. 

Wir lesen aus dem Traume, daß er die Mutter, sein erstes Sexual- 
objekt, durch das Mädchen ersetzt und daß er die Rolle des Helden, 


!) Zur Kathetrisierphantasie des „Schlafkampfes‘“: Seine rohen Kameraden, 
die er in der Pubertätszeit kennen lernte, pflegten sich auch kleine Gegenstände 


in die Harnröhre zu stecken. 
17* 


260 F. Riklin. 


wie im Märchen und Mythos, antritt; aus der Krankheit des schwäch- 
lichen’Knaben macht der Traum eine Verwundung des Helden. 

Das Mädchen ist jenes, mit dem er zu Hause vorher etwa gespielt 
hatte, und wird zur ersten Geliebten (nach der Mutter) erhoben. Er ist 
von da an heftig verliebt in das Kind. 

Um diese Zeit begann der Schnurrbart zu wachsen. 

Wenn er sich an diesem Kurorte auch von verschiedenen Frauen 
und Mädchen den Hof machen ließ, so freute er sich jetzt doch sehr 
auf das Wiedersehen mit der kleinen Freundin im Frühjahre 1902. 
Einige Wochen nach der Rückkehr wurden aber die Beziehungen 
vorläufig abgebrochen. Angestellte ihres Vaters machten ıhr den Hof; 
er wurde zuerst eifersüchtig und gab dann, zurückgesetzt, den 
Posten auf. 

Einmal befürchtete er, das Mädchen könnte durch seine Liebe 
schwanger geworden sein. Er war in seinen Sexualtheorien noch un- 
sicher und schloß aus den Gesetzesbüchern seines Vaters, wo von 
Kindern die Rede war, welche aus einem Liebesverhältnis hervor- 
gehen, durch seine bloße Liebe könnte schon etwas geschehen sein. 
[,, Allmacht der Gedanken“.] 

Die Unsicherheit in der Befruchtungstheorie kann vielleicht 
schon der Zwangsneurose zugeschrieben werden. Wir finden auch eine 
Unsicherheit des Gedächtnisses (vgl. Freud, Bemerkungen): so in 
der Zeitbestimmung des Masturbationsbeginnes (1900 bis 1903). Eine 
andere Unsicherheit über den Befruchtungsvorgang haben wir er- 
wähnt, die trotz aller Aufklärung im 20. Jahr sich noch bemerkbar 
machte (Selbstbefruchtung auf oralem Wege durch Sperma, das beim 
Masturbieren durch die Hand übertragen werden könnte). 

Durch die Phantasie, das geliebte Mädchen könnte von ihm 
schwanger sein, wird dessen Muttervertretung ja vollends gesichert. 

Im Sommer 1902 war wieder eine kleine Liebe, um die andere 
zu vergessen. 

Im Herbste 1902 trat sie aber zurück. Er las da zum erstenmal 
eine Beschreibung von Ozeanien, was von der allergrößten Be- 
deutung wurde, zum äußeren Ausgangspunkte von Tagträumereien, 
die sich über Jahre erstrecken und die wir kurz die Ins elphanta- 
sien nennen wollen, und die um Weihnachten 1902 zur größten Ent- 
faltung kamen. 

Der Sommer 1903 brachte daneben wieder eine kleine Liebe 
zu eınem Mädchen im Hause, älter als er (P.). Als er einmal Kleider 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 261 


im Korridor hängen sah, mußte er sich gewaltsam zurückhalten, um 
nicht die Bluse zu küssen. 

Im Herbste 1903 kam er zur weiteren Schulung in ein Konvikt‘ 
in ein kleines Städtchen, wohin er täglich mit der Eisenbahn fuhr 
zwei Stationen weit. 

Es ıst ein wichtiger Wendepunkt in seinem Leben. 

Kurz vorher war er zum erstenmal zum Masturbieren gelangt. 
Er erzählt davon mit Hemmungen. Auch das Zeugungsproblem wurde 
ıhm da klar. In der Konviktszeit trieb er die Masturbation weiter, 
wenn auch sehr mäßig. 

Bald begann auch der Waschzwang, den wir im Zusammen- 
hange durchnehmen. Wir wollen nur betonen, daß er, wie wohl fast 
immer wo er auftritt, der Masturbation auf dem Fuße folgte. Im 
Konvikte fehlte es nicht an sexuellen und schmutzigen Gesprächen. 
Ein Gartenpavillon hieß der „Schweinekongreß“, weil man da zu 
solchen Reden und Witzen zusammenkam. 

Der Patient benutzte geschickt das Wüste, Garstige der Konvikts- 
erlebnisse, um daran den Waschzwang anzuhängen. 


Genauer besehen, ist das Grausen auf Grund des Hundemotivs 
das erste. Es führte aber noch nicht selbständig zum Waschzwang; 
daneben grauste ihn, auch sehr früh, vor Käse u. dgl. Aber erst durch 

' das Hinzutreten der Masturbation kam es zur Ausbildung des Wasch- 
zwanges. 

Zur Ausbildung der Verdrängung in der Pubertät half noch die 
erwähnte Art bei, mit der man zu Hause den natürlichen Dingen und 
der Aufklärung gegenüberstand und all dies als garstig und ver- 
werflich hinstellte. 

Man entdeckte die Spuren von Pollutionen und Masturbation 
in seinem Bette. Es gab garstige Szenen. Die Mutter machte eine 
drohende, strenge Miene. 

Der Vater sagte: Du leidest an einer schrecklichen Krankheit 
usw. Patient war empört, denn die Masturbation stand ja im Zu- 
sammenhange mit den geheimen ‚reinen‘ Phantasien. Er hatte sich 
nie getraut, um Aufklärung anzufragen. So wurde ihm neuer Schrecken 
vor den körperlichen Äußerungen der Sexualität eingejagt. Er hatte 
regelmäßig Gewissensbisse, masturbierte 1904 monatelang gar nicht 
(arbeitete dafür die Inselphantasien auf der einen, Abwehrsymptome 
auf der andern Seite aus), und erst 1905 begann er die Sache intensiver 


262 F. Riklin. 


zu betreiben; das hing zusammen mit der Vertiefung der Liebe zum 
Mädchen aus dem Traume. 


Im J. 1904, wo sich der Wera ausbildete, geschah nichts 
Ernstliches im Verlieben. Alle sogenannten Liebesverhältnisse hatten 
überhaupt nichts Tätiges, Agressives — es passierte nichts, auch keine 
Geständnisse, Küsse oder ähnliches kamen vor. Im Herbste 1904 
nahm er Tanzstunden (15 Jahre alt). Da gab es eine Verliebtheit, 
die einige Monate dauerte; sie soll von Seite des Patienten',,‚ganz rasend“ 
gewesen sein. Sie war ein schwächliches Mädchen, eine Maurermeisters- 
tochter, was man daheim sehr unstandesgemäß fand. Ein Zug, wo er 
gegen die Vorurteile der Eltern trotzt und kämpft, geht überhaupt 
durch die Unternehmungen des Patienten und weckt in ihm Sym- 
pathien zum gewöhnlichen Volke, wenn auch nur als Symptom. 


Während dieser Zeit treten die Insel- und Paradiesphantasien 
zeitweise zurück, um im Winter 1905/06 wieder stark aufzublühen. 
Er wollte einmal daheim durchbrennen, weil er Schule und Haus 
unerträglich fand, um auf seine Phantasieinsel, sein Paradies, sein 
Jugendland, zu seinen Jugendträumen zurückzufliehen. 


Der Kern des Gedankens war die Wiederaufnahme eines Wun- 
sches, einer Phantasie aus der Zeit, wo die Inseltagträumereien aufs 
lebhafteste einzusetzen begonnen hatten. Er wollte zu jener nackten 
Samoanerin fahren, deren Bild zu Weihnachten 1902 diese Phantasien 
entfesselt hatte. 


Zur Zeit der Fluchtgedanken im 17. Jahre wurde sie oft ersetzt 
durch das Mädchen aus dem Traume. 


Der Plan war folgender: Er wollte mit den Eltern oder, wie auch 
schon, mit einem Lehrer eine Bergreise machen und einen Absturz 
fingieren, um unbemerkt fortreisen zu können. 


In der Flucht wäre auch eine Rache, eine Qual für die Eltern 
gelegen. Er dachte an eine spätere Rückkehr im Triumphe und Ver- 
söhnung voll Rührung. 


Die Inselphantasien wurden unter diesem Projekt etwas reali- 
sierbarer gestaltet, sie verloren am Ursprünglichen, Phantastischen. 


Zu den Fluchtvorbereitungen gehörten auch körperliche Übungen, 
um sich für die Strapazen zu stählen. Er trieb sie bis zur Erschöpfung, 
der Arzt konstatierte m. W. eine nervöse Herzerkrankung und diese 
Krankheit gab dem Patienten Gelegenheit, seinen Fluchtplan nicht 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 263 


ausführen zu können oder müssen, denn man pflegte ihn liebevoll, 
es bestanden wieder gute Beziehungen zu den Eltern!). 

Do haben sich gerade an diesem Punkte die gegensätzlichen 
Tendenzen, wie es bei der Zwangsneurose üblich ist, nacheinander 
geäußert, der Sieg blieb der ursprünglichen Tendenz, der Rückkehr 
zu den Eltern. | 

Indem er das Zimmerturnen bis zur Erschöpfung trieb, folgte 
er alten Wegen zur Lustgewinnung. 

In der wehrlosen Erschöpfung empfindet er Wollust wie in den 
Phantasien vom Gebunden-, Eingegraben-, Überwältigt- und Gequält- 
werden. 

Das Zimmerturnen wurde zum gleichen Zwecke schon früher 
geübt, spätestens zu Beginn der „‚Inselphantasien‘‘, und immer wurde 
die Ermüdung mit Wollust empfunden; er turnte mit entblößtem 
Körper. 

Im Turnen realisiert er die wollustige Marter durch ortho- 
pädische Apparate. 

Man ist auch von diesen Erscheinungen aus veranlaßt, hinter 
dem großen Spiel der Befreiung von den Eltern und dem Unterliegen, 
welches selber ein Unterliegen unter ihrer Liebe und unter ihrer Gewalt 
in sich schließt, ein altes Vorkommnis zu suchen, einen wirklichen 
‘Kampf des kleinen Buben gegen Vater oder Mutter, in welchem er 
aber unterlag und irgendwie gebändigt wurde. Dieser Vorgang müßte 
zurückdatiert werden vor die Konsultation beim Orthopäden. 

Noch jetzt muß er ab und zu, wenn ihn Eltern und Neurose, 
besonders das sogenannte ‚„Ichproblem‘“ drücken, sagen: „Ich sehe, 
ich muß doch auf meine Insel, um dort ganz einsam zu leben.“ 

Dieser phantastische Gedanke darf natürlich, so ernst er im 
Moment ausgesprochen wird, nur in seinem Wert als Symptom- 
äußerung aufgefaßt werden. 

Die Tanzstundenliebe war sein Trost, wenn der Schul- und 
Sexualekel des Konvikts ihn zu arg plagte. Er dachte viel an seine 
Liebe und masturbierte. Auch sonst war der Gedanke der sexuellen 
Vereinigung mit ihr oft da und tröstete ihn. Von der Mama ließ 
er sich gern erzählen, es sei doch ein liebes Mädchen. Aber es wurde 
ihm untreu (sie wußte jedenfalls, daß er sie anschmachtete!) und ging 
sogar mit einem Metzgerburschen. Da war es fertig. 


1) Ein Kranker wolite sich mit einem Revolver ernsthaft verwunden, um 
wieder die Liebe der Mutter zu erlangen. 


264 F. Riklin. 


Jetzt erinnerte er sich wieder Lillys, des Mädchens aus dem 
Traume, der alten Liebe, ging oft zu ihr hinüber und verlebte die 
schönsten, idyllischen Stunden. Zur Beruhigung'sei aber gleich wieder 
betont, daß gar nichts passierte. Patient meint nur: „Sie dürfte es 
immerhin gemerkt haben, daß ich in sie verliebt war.“ 


So oft er hingegen masturbierte, war sie in seine Phantasie ein- 
geschlossen und lag in seinen Armen. Er war zwischen 15 und 16 
Jahren. In der Schule ging es schlecht, und er malte sich allerhand 
Berufe aus, die er ausüben könnte, um bald zu heiraten; Marineoffizier, 
Seeaspirant usw., Berufsarten, in denen seine Insel- und Helden- 
phantasien abfärbten. Er wäre natürlich zu schwächlich gewesen. Er 
trat sogar in die Realschule über, um dort schneller abschließen zu 
können als am Gymnasium. 


Das ging bis ins Jahr 1906, bis zur Zeit des Fluchtplanes. 


Die Fluchtpläne gaben den Anlaß zur Gründung seines ‚„Mu- 
seums‘‘, dessen Inhalt wir noch kennen lernen werden. 


Vor der Abreise ins Sanatorium, wo er auf den Rat des Arztes 
sich von seiner ‚‚nervösen Herzerkrankung‘ erholen und, wie Patientsagt, 
eine Mastkur ‚‚erdulden‘ sollte, wollte er eine Entscheidung mit Lilly, 
dem Traummädchen, herbeiführen. Aber bei jedem Anlaufe zum 
Sprechen fiel ihm das Herz in die Hosen. Beim letzten Besuche bat 
er um die Erlaubnis, ihr das schreiben zu dürfen, was er ihr gern sagen 
wollte. Als er doch versuchte, ein Liebesgeständnis hervorzupressen, 
bekam er eine Erektion und mußte sich deswegen, höchst unhelder haft 
in” gebückter Stellung zurückziehen. Aus dem Sanatorium schrieb 
er ihr bald einen Liebesbrief mit den üblichen vieldeutigen Wen- 
dungen. Die Antwort lautete allgemein, unbestimmt. Patient sah ihre 
Mutter dahinter. Ihre Antwort auf seinen zweiten Brief enthielt nach 
seinem Vorschlag eine geheime Zusage durch die Art der Schlußformel, 
während der Inhalt, der die mütterliche Zensur passierte, nichts- 
sagend war. 


Nach Hause zurückgekehrt, machte er ihr einen Besuch; als 
er von Liebe reden wollte, wurde die Angelegenheit durch die DIOR, 
„Du wirst es doch nicht ernst meinen, du bist ja’ noch so jung“ USW, 
erledigt. Er wagte nicht mehr davon zu sprechen, vergoß daheim einige 
Tränen und fühlte sich auf einmal ganz wohl und frei. Im Frühjahr 
1907 endlich schrieb er ihr, nach dem noch längere Zeit ein kleinerer 
Briefwechsel stattgefunden hatte, den letzten Abschiedsbrief. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 265 


Zwischenhinein kam es noch zu verschiedenen kleineren Ent- 
flammungen, die nichts Besonderes an sich haben. 


Im Sanatorium lernte er ein reiferes Mädchen kennen. Sie wußte 
den Einsamen ans Licht zu ziehen. Sie war intelligent, was ihn lockte, 
hatte aber zum Teil ganz andere Ideale. Die Korrespondenz mit ihr 
dauert bis jetzt an. Sie enthält einen komischen Wechsel von An- 
ziehung und Abstoßung. Einmal verlobte sie sieh mit einem Offizier, 
aber nach einem Jahre ging es wieder aus, und nun teilt sie mit dem 
Patienten die Ideen gegen die Eltern und gegen das Kinderkriegen, 
die wir im ‚„Traktat‘‘ wiedersehen werden. 


Noch einen Liebeshandel müssen wir erwähnen, in den Patient 
wider seinen Willen geriet. 


Nach dem Konvikte, von 1906 an, wohnte Patient zuerst bei 
den Großeltern in der Stadt, wo er seine Studien fortsetzte. Dann 
bezog er ein Zimmer bei einfachen Leuten. Diesen Wirtsleuten gegen- 
über zeigt er von da ab die Liebe und Verehrung, die er den Eltern 
nicht schenken kann. Es sind Ersatzeltern. Wieder sein demo- 
kratischer revolutionärer Zug. Gegenüber wohnte eine junge Magd; 
ein frisches „‚Apferl“. Er bekam Anwandlungen von Kühnheit und 
Eitelkeit, und lenkte ihre Aufmerksamkeit durch Blicke und gelispelta 
Worte auf sich, ohne bestimmte Absicht, daß sie es hören sollte. 
„Wie lieb‘ flüsterte er beispielsweise. Im Juli 1908 sollte er dann 
ins Ausland fahren. Da fing er den drohenden Verlust ihres 
Anblickes zu bedauern an. Er schien zu bemerken, daß sie in ihn 
verliebt sei. 


Im Dezember 1908 schrieb ihm seine Wirtin, das ‚‚Apferl‘ lasse 
herzlich grüßen. Er war erstaunt und geängstigt. Um abzulenken, 
schrieb er zurück, auch im Ausland gebe es nette Apferl. Aber als er 
an Weihnachten heimkam, erfuhr er erst die ganze Geschichte. 


Das Apferl hatte es sehr ernst genommen, hatte Tränen ver- 
gossen, sich erkundigt, wohin er verschwunden sei, gebeten, den 
jungen Herrn an Weihnachten sprechen zu können. Ihm war es pein- 
lich, diese Liebesbrunst durch seinen Leichtsinn angefacht zu haben. 
Endlich gab es eine Zusammenkunft: Das unschuldige, harmlose 
Landmädel erklärte ihre unendliche Liebe zum jungen Herrn und 
schwor ihm ewige Treue. Der Held bekam fürchterliche Gewissens- 
bisse und in der Verwirrung sagte er zwar nicht ja, ließ aber doch noch 
Raum für Hoffnungen und streichelte ihr Wänglein und Händlein. Das 





266 F. Riklin. 


war seine agressivste Tat sinnlicher Liebe in seinem Leben!). Er be- 
merkte noch, er könne nichts Bestimmtes sagen. Außerdem habe er 
allerhand Zeug im Kopf, vielleicht würde er bald überschnappen und 
erst wenn er über diese Fragen sicher sei, könne er sich entscheiden. 

Übrigens war seine Liebesflamme schon erloschen. Sie sah in 
ihrem Sonntagsputz, enggeschnürt, komisch aus und stieß ihn eher ab. 

An allen Liebeshändeln des Kranken fällt uns auf, wie wenig 
agressiv er ist, wie wenig die Liebe in Taten sich äußert. Um so aus- 
schweifender ıst der Patient in der Phantasie. | 

Immerhin sind Versuche zur normalen Objektliebe vor- 
handen. 

Zwischenhinein kehrt sich aber die psychische Tätigkeit ab- 
wechselnd wieder intensiv der Ausgestaltung von besonderen Phan- 
tasien und Tagträumereien zu, in welchen die in der Wirklichkeit 
vorhandenen Geliebten und die Objektliebe ganz zurücktreten. Es 
ist dies das Gebiet, wohin er sich vor den Eltern und vor der Liebe 
zu neuen Objekten rettet. 

Ich habe noch nachzutragen, daß Patient schon 1902 irgendeine 
kleine Entzündung der Harnröhrenmündung hatte. Er empfand den 


 kitzelnden Reiz an der Glans angenehm. 


Mitte Juli 1903, also noch vor dem Eintritte ins Konvikt, bekam 
er starkes Jucken in der Genitalsphäre; als er sich kratzte und zwickte, 
kam es auf einmal zu einer Ejakulation. Auf diese Ejakulationen war 
er auf der einen Seite sehr stolz, auf der andern knüpfte er Abwehr- 
handlungen daran. In der Abwehr liegt auch die Elternwirkung. 

In ähnlicher Weise ist er stolz auf eine andere Leistung, die 
Defäkation; es ist fast überflüssig, zu sagen, daß er an Verstopfung 
leidet. Manchmal führte die Reizung des Mastdarmes dabei zu gleich- 
zeitigem Samenerguß. 

Ähnliches geschah ihm bei anderen Gelegenheiten, wo die Si- 
tuation weit autoerotischer ist. Einmal geschah es beim Lesen von 
Rousseaus Bekenntnissen, an der Stelle wo erzählt wird, wie die bisher 
mütterliche Freundin seine Geliebte wird. 

Dann noch unter anderen Umständen: wenn er opfern soll. 
Einmal wollte er vor dem Verreisen einem Kinde Briefmarken ver- 
schenken, die er früher sehr geschätzt hatte; bei dieser Opferhandlung 

') „In die Wänglein kneifen“, ist ihm eine angenehme Vorstellung; er 


stellt es im Gespräch und im Traume dem Kneifen ins Gesäß gegenüber, eine 
Vorstellung, die ihm widerlich ist. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 267 


kam es zu einer Ejakulation. Ebenso, als er einmal versuchte, den 
Waschzwang, der weitgehend analysiert war, zu opfern, indem er 
ein zu Boden gefallenes Buch, statt es zuerst zu waschen, unter den Arm 
nahm und sogar an sich preßte. 

Er gestaltet das Opfern zur Lustquelle, zur Hingabe (vgl. die 
frühere Auseinandersetzung über Opfern und Masoehismus). 

Mit 15 bis 17 Jahren hatte er eine Zeitlang Angst, er sei eine Miß- 
geburt, oder die männliche Kraft sei verloren gegangen, er sei ein 
Eunüch geworden, die Hoden seien bei verschiedenen Gelegenheiten 
jedenfalls gequetscht worden. 

Die Befürchtung wich der Aufklärung durch einen Arzt, daß 
das Frenulum ein normales Gebilde sei. Die zweite verlor sich selbst 
wieder durch den tatsächlichen Gegenbeweis. Längere Zeit mußte 
er sich durch Innervation der willkürlichen Muskulatur des Penis 
den Beweis konstruieren, daß die Funktionen in Ordnung seien. 

Ähnliche Entmannungsmotive scheinen auch bei anderen Neuro- 
tikern vorzukommen und bei gewissen Kulten im Altertum zu Ehren 
der weiblichen Gottheit in die Tat umgesetzt worden zu sein. ®ie 
dürfen vielleicht als Strafen für die Inzestphantasien angesehen 
werden (Jung). 


Der Waschzwang, 


Patient teilt die Hauptgruppen seiner neurotischen Symptome 
in vier bis fünf „Krankheiten“ ein. | 
Die Neurose hat ihren Charakter als Leiden, als Qual erst mit 
Beginn und im Verlaufe der Pubertätszeit angenommen. Erst da 
setzen die Zwänge ein. Erst da wird das Leiden zur Qual, die er sogar 
als Ganzes wieder in sein masochistisches System aufnimmt; das ist 
selbst wieder ein Widerstand gegen die Heilung. 
Das eine dieser Leiden ist die „Grausopathie‘, die Qual des 
Grausens. | 
Der Patient beschreibt einMartyrium und dauert einem furchtbar. 
Aber es ist so komisch, nach der Analyse dieses Leidens gibt er seine 
Wascherei nicht auf, er kann die liebgewordene und wohldurchdachte 
Gewohnheit nicht aufgeben, und sagt schließlich: Ja, das ist auch 
gar nicht das Schlimmste, damit könnte man sich wohl abfinden, aber 
das Schlimme sind meine anderen Leiden, die Willensschwäche und 
namentlich das Ichrätsel! 
Das Leiden begann 1904 im Konvikte, wo er Externer war. 


268. F. Riklin. 


Die Mitschüler waren rechte Schweine, trieben ekelhafte Dinge und 
machten sich ein Vergnügen daraus, ihm allerhand Scheußlichkeiten 
anzutun. Sie fuhren ihm mit den Händen im Gesichte herum, und ihm 
grauste vor diesen schmutzigen Händen (NB. mit denen sie z. B. 
masturbiert hatten !). Einmal warf ihm einer zu Boden — er war ja der 
schwache Prügelknabe — und er kam mit dem Gesichte auf den Boden 
zu liegen, vor dem ihm grauste, denn es war gerade beim Abort. Oder 
in der Pause wurde ihm Nasensekret in ein Buch hineinpraktiziert 
oder hineingespuckt. Oder man entwendete ihm heimlich das Taschen- 
tuch, und als er es suchte, gab man es ihm zurück mit dem Bescheid, 
es sei beim Vetter so und so gewesen, was hieß, man habe es zu ekel- 
haften Manipulationen benutzt. Der Vetter X ist der Penis. 


Nun grauste ihm vor diesen Büchern, welche die schmutzigen 
Gesellen in der Hand gehabt hatten. Zu Hause trachtete er die ver- 
grausten Schulsachen von den anderen, den Lieblingsbüchern, ab- 
zusondern, sie zu isolieren. Mußte er sie benutzen, so arbeitete er wie 
ein Arzt mit infiziertem Material, stülpte die Rockärmel zurück und 
wusch sich nachher die Hände; vorher rührte er nichts anderes an. 

Vom Momente, wo er mit den vergrausten Schulbüchern von 
zu Hause fortging, bis er sie abends wieder an ihren Isolierplatz legen 
konnte, war er sich selbst ein Gegenstand des Ekels und zu Hause 
nahm er eine große Waschung vor, auch der Kleider, wo sie mit ver- 
ekeltem Material in Berührung gekommen waren. 


Die Eltern hatten kein Verständnis für seine Not, sagten paper- 
lapap, das sei gesund. 


Und das Dienstmädchen kümmerte sich gar nicht um seine 
Isoliermethode und stellte die infizierten Bücher in Reih und Glied 
zwischen die reinen, behandelte sie mit dem gleichen Staublappen 
und so wurde alles infiziert, bevor er mit peinlicher Genauigkeit alle 
vergrausten Blätter und Flächen mit medizinischer Gewissenhaftigkeit 
(er benutzte sogar eine Lysollösung) hatte abwaschen können. Das 
erfüllte ihn mit Entsetzen. Das infizierte Material stapelte sich auf, 
von Zeit zu Zeit gab es zeitraubende Generalwaschungen, aber er 
konnte dem Übelfgar nicht Meister werden. 


Das Studium in den vergrausten Büchern und in der vergrausten 
Schule konnte nicht gedeihen und über den schlechten Noten erhob 
sich zu Hause großer Lärm. Übrigens klagt Patient, daß man ihn 
überhaupt nie zu Gründlichkeit und Ausdauer angeleitet habe. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 269 


Er mußte beständig sorgen, daß ihm die reinen Sachen nicht 
vergraust wurden. 

Vom Hunde mit den Würmern her leitet sich eine zweite Quelle 
von Infektion und Waschprozeduren. Diese Wurzel haben wir schon 
kennen gelernt. Durch den Hund wurde ihm auch die Mutter, welche 
ülesen ins Bett nahm, vergraust; dann alles, was mit zu Hause zu- 
sammenhing. 

Patient konnte sich nicht mehr aufs Sofa setzen, weil der Hund 
dort zu liegen pflegte, weil sonst seine Hosen durch Wurmkeime infiziert 
wurden. Er hatte ein unangenehmes Gefühl, wie wenn er auf einer 
frischlackierten Bank gesessen wäre, nur daß der Lack keine Infektions- 
keime in sich birgt. Er mußte dann auch die Hosen waschen. 

So zog die angebliche Infektionsfurcht, mit Bakterienfurcht 
vergleichbar, immer größere Kreise. 

Der Ekel hatte sich, m. W. wie der Ekel vor dem Hunde, zeit- 
weise auch auf Käse u. dgl. ausgedehnt, wovon die Eltern gerne aßen; 
doch kam die Waschzwangabwehr erst von der Masturbation her 
auch auf dieses Gebiet herüber. 

Überhaupt sind die Phobien und Zwänge nicht konsequent durch- 
geführt. | 

Einzelne gab er selbst wieder auf; z. B. wollte er eine Zeitlang 
alles Geld, was er von Hause bekam, waschen; da sagte ihm eine ganz 
richtige Überlegung, das Geld, das er von andern Leuten bekomme, 
müsse mindestens ebenso unappetitlich und infektiös sein; und er 
dehnte diese Abwehrzeremonie nicht weiter aus. 

Der Geldwaschzwang deutet selbst wieder daraufhin, daß wır 
eine starke und alte Analerotikverdrängung vor uns haben; er hängt 
ja zusammen mit dem Hundemotiv. 

Der Kranke betonte mehrfach, wenn ihn der Arzt einmal rund- 
weg energisch für seinen Blödsinn ausschimpfen würde, könnte seine 
Grausopathie vergehen; auch wenn man ihn hypnotisieren würde. 
Beides wären Überwältigungsmethoden, die er in seiner masochi- 
stischen Bearbeitung verschiedener Gebiete wieder aufnimmt. 

Patient hatte ferner einem Freund Bücher geliehen, der später 
an Tuberkulose starb. Diese Bücher wurden nun auch ein Quell 
des Grausens, aber durch gründliche Waschung verschwand diese 
Einzelphobie. 

Aber in der letzten Zeit dehnte sich das Grausen noch weiter aus. 

Da ist einmal der Straßenboden und die Hausmauern. Nimmt 


270 F. Riklin. 


ihm der Wind den Hut vom Kopfe, so ist die Sache durch einfaches 
Putzen nicht erledigt, es muß eine große Waschprozedur folgen. 

Es schweben ihm alle die Sputa vor, die auf die Straße kommen ; 
es ist weniger Furcht als Ekel; besonders graust ihm vor den Sputa, 
welche mit Nasensekret vermischt sind, das durch den Rachen in 
die Mundhöhle aspiriert wird. 


Er denkt — welch ein widerlicher Gedanke! — an die vielen 
Bettleintücher, die in der Frühe aus den Fenstern ausgeschüttet 
werden, die schmierigen Leute, die darin gelegen sind, daß ihm das 
Ausgeschüttete auf den Kopf fallen könnte. Darum muß er in der Frühe 
ın der Mitte der Straßen gehen, und die engen alten Gassen zu durch- 
schreiten ist ihm besonders peinlich. Denn da wohnen nach seinem Sinn 
Prostituierte, die ihm der Gipfel alles Grausens sind. 


Geht er auf die Straße und jemand geht vor ihm her und spuckt 
aus, und der Wind zieht gegen ihn, so bemächtigt sich des Patienten 
das Daimonion, und sagtihm: „Vielleicht bist du doch getroffen worden“, 
wenn es auch unmöglich war. „Wer weiß, ob der Mensch nicht Sy- 
philis hatte oder Tuberkulose oder so etwas.‘ Und es zwingt ihn 
zu Hause zu einer Waschprozedur. 


Er hat einen Ekel vor Türklinken, weil da alle schmutzigen 
Hände daran kommen. Zur Verdeutlichung will ich sofort sagen, daß 
es die schmutzigen Hände sind, mit denen die Genitalien berührt 
worden sind, Hände welche masturbiert haben. 


Wir haben durch die Reihenfolge dieser Darstellung, die der 
Patient selbst in der Erzählung innegehalten hat, den Kreis um die 
Wurzel der Grausopathie immer enger gezogen. 

Zeitlich beginnt die Phobie mit dem Masturbieren. Der Ekel 
richtet sich zuerst gegen die Konviktskameraden, ihre schmutzigen 
Masturbantenhände und ihre Sekrete. 


An der Peripherie der Phobie stehen sozusagen die ansteckenden 
Krankheiten, z. B. Tuberkulose und Syphilis (Patient ist über die 
Naturgeschichte dieser Übel nur laienhaft orientiert). 

Aber die Nosophobie, welehe dem Waschzwange den Des- 
infektionscharakter verleiht, ist wieder nur Tünche. Dahinter steht 
der Ekel vor Sekreten, Sputum, Nasensekret, Urin und Kot und dem 

© Genitalsekret im Zentrum. 


Das Sputum ist auch nur mehr vorgeschoben; ihn ekelt vor 
den Sputa, die Nasensekret enthalten. Und zwischen Nasen- und 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 271 


' Genitalsekret, Sperma, bestehen enge Zusammenhänge, nicht nur bei 
unserem Falle, sondern genau gleich auch bei anderen. ; 

Beides sind Sekrete. Wir müssen auch an den Verlegungs- 
mechanismus denken. Unter den menschlichen Sekreten haben sie 
unter sich die größte Ähnlichkeit. 

Die Nase hat mit dem Sperma noch einen Zusammenhang 
durch den Geruchsinn. Ein Hysteriker z. B. bekam immer Nies- 
krämpfe; zuerst bei der Masturbation, dann bei seinen Exzessen 
mit Frauenzimmern. Die Nasenspezialisten mühten sich sehr um den 
eigentümlichen nervösen Katarrh. 

Ähnlich war es bei unserem Patienten und er sagte mir selbst, 
daß diese enge Assoziation zwischen Nasen- und Genitalsekretion 
sich bei ihm sofort gebildet hatte. 

In der Nosophobie wird die Syphilis erwähnt. Die Übertragung 
wird sowohl als Infektion durch Sputum respektive Nasensekret ge- 
dacht, als auch durch Ausschütteln der Leintücher der Prostituierten 
und anderer Leute. 

Die Syphilis ist „die geheime‘ Sexualkrankheit; genaue Kennt- 
nisse hatte der junge Mann ja darüber nicht, als der Abwehrzwang 
sich auf Grundlage der Phobie bildete (die Phobie ist das Primäre). 
Sie mischte sich mit den dunkeln Vorstellungen der entsetzlichen 
Krankheit, von der der Vater drohend sprach, als man Samenflecken 
in seinem Bette entdeckte. Hier liegt ein Grund, warum die Phobie 
eine Krankheit, Bakterien-, und Ansteckungsfurcht, entwickelte. 
Im Ansteckungsgedanken liegt der Ekel. Von den ausgebeutelten 
Leintüchern kamen nicht etwa bloß Syphiliskeime, sondern Patient 
dachte an Sperma; und hier berühren sich die beiden Bilder: Samen- 
flecken in seinem Leintuch — Masturbation — geheime Krankheit 
und ausgebeutelte Leintücher von syphilitischen Prostituierten (als 
konzentrierter Ausdruck von Leuten mit Sexualverkehr oder Sperma- 
produktion). 

Als ein Destillat der Phobie bleibt Sperma phobie zurück, die 
der Wurmeierphobie an der Seite steht. Deren vielsinnige Bedeutung 
haben wir schon teilweise kennen gelernt. 

Aber wie es für die Zwangsneurose charakteristisch ist: Auf der 
einen Seite ist er stolz auf die Mannbarkeit, empfindet Genuß in der 
Masturbation, hat Vaterphantasien, auf der andern Seite kommt 
aus einer alten Quelle und genährt von neueren Zuflüssen von Motiven 
die Verdrängung und überflutet die gleichen Gebiete. Alle Quellen 


212 F. Riklin. 


aber lassen sich von den Beziehungen zu den Eltern und Wirkung der 
Eltern herleiten. 

Patient will wie ein gewissenhafter Syphiliskranker nicht heiraten 
wegen des sogenannten „Ichproblems“,’mit dem er niemand infizieren 
will; er will es auch/nicht auf die Kinder vererben. Beides im Gegen- 
satze zum‘Wunsche, das zu tun, womit man die Übertragung”der 
Krankheit bewerkstelligt (wir haben nur die gleiche Verschiebung 
von Syphilis auf Sperma und Koitus vorzunehmen, welche Patient 
im Aufbaue der Phobie und des Waschzwanges verwendet) und a 
zu bekommen!). 


In der Phobie liegt auch die Verdrängung des Wunsches, selbst 
‚befruchtet zu werden (Furcht vor Befruchtung durch Sperma per os). 

Die Zwangshandlung wird teilweise zur Zeremonie. Das 
Waschen wird im Laufe der Zeit nicht mehr gründlich besorgt, es ist 
auch unmöglich, es wird zum Zeremoniell und Symbol, wie in den 
Kulten. 

Der Waschzwang ist ein symbolisches Reinmachen. 

Die mit der Masturbation befleckten Objekte müssen getrennt 
werden von den reinen. Die reinen sind z. B. seine Lieblingsbücher 
und alle Gegenstände, an die sich liebe Erinnerungen knüpfen. Die 
Waschung bringt das Infizierte mit dem Reinen wieder zusammen. 

In der Religionspsychologie geschieht die Entsündigung oft durch 
das Blut; das Blut Christi wäscht von den Sünden rein. Blut ist aber 
wieder ein Samensymbol (Goethes Schöne Seele). Blut macht ja Flecken. 
Als religiöses Heilmittel aber befleckt es nicht mehr wie die Sünde 
(die häufig mit der Masturbation identifiziert wird), sondern reinigt. 

Dadurch, daß die Masturbation und mit ihr die Zeugung mit 
Phobie und Zwang belegt wird, macht sich Patient zum Feind des 
Kinderzeugens. Dieses Motiv bildet einen Hauptinhalt seines Trak- 
tates: „De parentibus.‘‘ Damit verbindet er den Kampf gegen die 
Eltern, in welchem er sich durch diese Verdichtung der Motive selbst 
wieder trifft. 


!) Ein anderer Zwangsneurotiker konstruierte auf Grund eines einmaligen 
Bordellbesuches, bei dem er völlig impotent war, eine Ansteckungsphobie, wobei 
er aber fürchtete, er werde alle möglichen Menschen mit Syphilis oder anderen 
Krankheiten anstecken, oder, in Verschiebungen und Variationen dieser Idee, 
mit Mäusegiftweizen, der sich in seinen Taschen befinden könnte, oder mit Grün- 
span usw. vergiften. Wir dürfen dahinter den Wunsch vermuten, mit allen das 
zu tun, womit man gewöhnlich Syphilis überträgt. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 273 


Er verurteilt das an sich, was er, wie die Eltern, selbst tun 
möchte, und bisexuell an den Eltern tun möchte, wie er es in seinen 
infantilen Phantasien darstellt. 

Die ‚„Grausopathie“ und den Waschzwang möchte ich nach 
dieser theoretischen Abhandlung noch etwas illustrieren. 

2. B. fuhr er mit der Eisenbahn und wollte sich die Zeit durch 
interessante Lektüre vertreiben. Er geht durch den Wagen und muß 
die Klinke der Türe berühren, welche sich neben dem Abort befindet. 
Die Hand ist infiziert. Er kann nun das Buch, das rein und ihm lieb 
ist, nicht aus der Tasche nehmen, und die Freude auf die Lektüre 
ist verdorben. Beim nächsten Halt entdeckt er einen Brunnen und 
kann die Hände waschen. Aber eine Stunde lang hatte er infiziert 
dasitzen müssen und konnte nichts machen. 

Im Hause des Arztes ist glücklicherweise nichts infiziert, es ist 
rein, auch die Türklinken machen nichts. 

Der Zwang verekelt das Leben; es sei eine Komödie und oft 
habe er versucht, kopfüber in den Dreck zu springen, auf infizierte 
Bänke zu sitzen, unreine Bücher zu berühren. Aber es half nichts, 
und die Wascherei wurde ob dieser Unvorsichtigkeit nur komplizierter. 

Es ekelt ihn vor den Fliegen, die sich auf alles setzen, in der Stadt 
mehr als auf dem Lande; aber auch dort mußte er zu seinem Schreck 
gewahren, daß sie auf unappetitlichem Material herumspazieren können. 
Das verdirbt ihm die freie Natur, die Landschaft, an der er so gewaltig 
hängt, weil sich daran ‚reine‘ infantile Tagträume knüpfen. 

Einmal wusch er die Hände an einem Brünnlein auf der Alp; 
glaubte sich gereinigt und steckte die Hände in die reinzuhaltenden 
Rocktaschen. Da sah er, weiter oben, wie das Brünnlein aus einem 
unreinen Graben mit Abfällen herkam; nun waren auch die Taschen 
infiziert, und er hatte den ganzen Sonntagnachmittag mit Wasch- 
prozeduren zuzubringen. So geht unendlich viel Zeit verloren, die ihn 
an besseren Leistungen hindert. 

Die Außenseite der Kleider ist unrein; der Kopf ist unrein, die 
Strümpfe und Schuhe sind unrein, weil sie mit dem Boden in Berührung 
kommen. Das Bett ist unrein, weil die Wirtsleute die nötigen Vor- 
sichtsmaßregeln nicht anwenden. Also ist auch die Körperober- 
fläche durch Berührung mit der Bettwäsche unrein. So kommt es 
beim Ankleiden zum kompliziertesten Waschzeremoniell. 

Rein an ihm ist schließlich nur noch der virtuelle Raum zwischen 
Innenseite der Ober- und Außenseite der Unterkleider. Rein sind 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. I. 18 


274 F. Riklin. 


ferner alle Taschen, in denen er jene Gegenstände steckt, welche ihm 
lieb sind (z. B. Bücher, Notizen). Schließlich auch die Hände nach der 
Waschung. 

Wenn Patient auf der Reise übernachten muß, so wird die Innen- 

fläche des Bettes mit Packpapier ausgelegt, damit er nicht direkt 
mit dem Leintuche in Berührung kommt. Da muß einem einfallen, 
/ unwillkürlich auch an Bettunterlagen für kleine Kinder zu denken. 
3 Eine große intellektuelle Arbeit wird geleistet, um den fort- 
währenden Kampf zwischen rein und infiziert zu führen, auszuklügeln, 
Methoden auszuarbeiten. 
£ Die Zwangsneurose gleicht darin den paranoiden Fällen von 
' Dementia praecox, wo um die Halluzinationen herum scharfsinnige 
 Erklärungs-, Deutungs- und Abwehrsysteme aufgebaut werden. 
3 Natürlich nimmt das alles Zeit und Denkarbeit in Anspruch, 
wodurch ein großer Ausfall an zweckmäßiger Leistung und Arbeits- 
fähigkeit entsteht. Bei den Paranoiden entsteht durch diese Arbeit 
und Introversion, welche viel absoluter ist als bei der Zwangsneurose, 
der Eindruck der Verblödung. 

Das Grausen erstreckt sich auf alles, was mit der Analzone 
zusammenhängt, auch bei den von ihm geliebten Wesen, geht also 
gegen Kot und Urin; es ist ihm furchtbar peinlich, sich diese Dinge 
im Zusammenhange mit seinen Frauen denken zu müssen; auch die 
Vorstellung einer Popoexhibition ist ihm unangenehm, aber er hat sie. 

Diese Vorstellungen kommen dann als Inhalt von Zwangs- 
gedanken, die wir in einem besonderen Abschnitt erwähnen 
müssen (Fäzes einer Frau). 

Er findet es entsetzlich anzusehen, wenn jemand eine Kellnerin 
in die Hüfte kneift; aber er tut esz. B. in einem Traum: er geht hinter 
einem Mädchen her, und im Moment, wo er es einholt, schiebt sich 
ein anderer , der bekannte andere des Traumes, dazwischen und kneift 
das Mädchen in den Popo. 

Halten wir das zusammen mit seiner infantilen Verstopfung, 
der Lust an der Defäkation, der Behandlung des Hundes, die er nicht 
lassen kann, aber mit Waschzwang umgibt, dem Poperlkultus durch 
die Mutter, der sich aus der Säuglingszeit kontinuierlich bis in die 
Gegenwart erstreckt, so sehen wir, daß eine ausgesprochene und aus- 
gedehnte Analerotik vorhanden ist, mit dem Spiel von Wunsch oder 
Lust und Verdrängung, das bei der Zwangsneurose mit ihrer Un- 
sicherheit und ihrem Zweifel besonders charakteristisch ist. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 275 


In der Hauptsache geht die Analzonenverdrängung gegen das 
Erwachsene, erwachsenen Frauen gegenüber, während das Unbewußte 


— Zwangsgedanken, Traum — diese Analerotik beim Erwachsenen 
sucht. 


Vielleicht hängt das wieder mit der Mutterübertragung zu- 
sammen. 


Um das Kapitel Analerotik vorläufig zu erledigen, erwähne 
ich an dieser Stelle noch gewisse Reizempfindungen, die in die Anal- 
gegend verlegt werden: beim Schaukeln, beim Schwindelgefühl auf 
einem Berge, oder z. B. beim Stehen auf einer Platte oder einem Gitter, 
das irgendeine Tiefe oder Grube bedeckt, auch zum Schwindelkom- 
plexe gehörend. Dann beim Ansehen 'einer geschnürten erwachsenen 
Frau, z. B. seiner Hauswirtin oder jener verliebten Magd ım Sonntags- 
staat. Da bekommt er ein Gefühl von Kleben in der Analgegend, 
wie er es etwa beim Schwitzen hatte, mit Assoziationen von Fleisch- 
extrakt und Gewürz. Er fühlt sich in die im Mieder eingepreßte 
Frau ein. 


Diese Empfindungen alle gehen mehr oder weniger auch auf 
die Genitalzone über, sind auch assoziiert zum unangenehmen Gefühl, 
das er hat, wenn er, wie er sich ausdrückt, im Sperma liegt. Die Wurzel 
dieser Gefühle reicht wohl ganz tief in die erste Kindheit zurück. Diese 
Gefühle sind jetzt alle stark unlustbetont respektive enthalten ein 
Gemisch von Unlust und Lust, aber mit Vorwiegen der ersteren. 


Er unterscheidet dies Gefühl der Analfläche deutlich von sexueller 
\ Erregung der Genitalzone. Es ist etwas anderes. 


Es kommen ihm auch Gedanken an ein dickes Dienstmädchen 
in der eigenen Familie, bei deren Anblick er ähnliches fühlte; es kommen 
Gedanken an allerhand flüssige Ausscheidungen, auch an Krusten 
von Wunden, an das Schwarze unterm Nagelrand. Es verbindet sich 
mit diesem Gefühl ein Zusammenschaudern und er bekommt 
Gänsehaut, 


Zur Zeit, wo er im Konvikt war und die Gegenstände zu Hause 
in reine und unreine schied, entstanden die Pesthöhle und das Heilig- 
tum. Die Pesthöhle war der Ort für die unreinen Gegenstände, das 
Heiligtum enthielt die liebsten, die reinsten Dinge und Dokumente. 
Zwischenhinein bildete sich ein System von Abstufungen und ver- 
schiedenen Reinheitsgraden wie in Dantes Hölle oder im christlichen 


Himmel. Diese feineren Nuancen wurden später wieder fallen gelassen. 
18* 


976 F. Riklin. 


Das Heiligtum ist sozusagen die notwendige zwangsneurotische 
Ergänzung zum Waschzwangkomplex. 

Das Heiligtum oder Museum begann sich so zu bilden, daß er 
das Liebste besonders sorgfältig aufhob, Gegenstände, Zettelchen, 
Märchenbücher usw., an die sich Kindheitserinnerungen knüpften. 
Diese waren also besonders heilig. 

Dieses Aufsparen und Sammeln von Sächelchen und Zettelchen 
als das Kostbarste und Wertvollste ruft den Vergleich mit den 
Märchenkostbarkeiten, die auf einer Verschiebung von Analprodukt, 
dem Wertlosesten, auf Gold, das Wertvollste beruht und von dorther 
aus einer infantilen Quelle seinen Wert bezieht. 

Hier ist ein Ursprung des Sammeltriebes. Und bei unserem 
Zwangskranken mit der Analverdrängung ist die Sammlung infantiler 
Schätze ja vollständig am Platze. 

Zur Zeit als er nach Ozeanien flüchten wollte, konnte er sich 
von diesen liebsten Dingen nicht trennen und er sammelte sie in eine 
kleine Holztruhe, die er mitzunehmen dachte. Seither lagen sie da 
drin wohlverwahrt und als er die Universität bezog, nahm er die Kas- 
sette immer mit sich von einer Wohnung in die andere und hütete sie 
am sorgfältigsten. Er umgab das Heiligtum mit ganz besonders sorg- 
fältigen Waschzeremonien; er bestrebte sich, dieses kleine Mu- 
seum um keinen Preis besudeln zu lassen. Lieber wollte er 
das ganze Leben im Ekel und Dreck verbringen und die übrigen 
Reinigungsversuche fahren lassen, als das kleine Museum preisgeben! 

„Ekel und Dreck‘ haben wir nicht allein auf Verdrängung des 
Genitalen, sondern namentlich auch des Analen zu beziehen. 

Wir sehen, welch einen Affektbetrag er in dieses Museum lest. 

Vor Angst, daß etwas Unreines hineinkomme, wagte er es die 
letzten zwei bis drei Jahre überhaupt nicht mehr zu öffnen. 

Als er zum letztenmal ein Objekt hineinlegte, zog er zuvor sein 
Hemd aus, damit nicht mit einem Kleidungsstück etwas Unreines 
hineinkomme! 

Ich will meine Gedanken zu diesem heiligen Akte nicht äußern, 
um nicht von mir aus etwas hineinzulegen, was nicht darin ist. | 

Ich will nur auf den Zusammenhang der Nacktheit mit anderen 
autoerotischen Nacktkulten und Phantasien aufmerksam machen, 
deren Abschluß dieser Akt bildete. Damit war auch symbolisch die 
letzte Erinnerung aus dem Jugendparadies im Heilistume aufgehoben 
und begraben. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 277 


Wenn wir aus diesem Akte schließen, daß beim Patienten in 
der Nacktheit die größte Reinheit lag, und daß diese glückliche Periode 
nun definitiv abgeschlossen war, so gibt uns die weitere Analyse recht. 
Es war auch die intensivste Reinigung! 


Das Museum wurde angelegt, als ihm die Jugend, das Infantile, 
zu entschwinden drohte, die er nicht preisgeben wollte. 


Inhalt des Museums. Inselphantasien. 


Ich wagte anzudeuten, daß ich mich für den Inhalt des Heilig- 
tums außerordentlich interessiere und daß Patient bei mir ein pietät- 
volles Verständnis dafür erwarten dürfe. Er versprach mir das Heilig- 
tum zu bringen, was ich für eine außerordentliche Ehre halten mußte, 
denn kein Mensch außer mir hatte bis dahin einen Blick hineinwerfen 
dürfen. 

Nach mehrmaligem Vergessen brachte er es endlich mit. Vor 
der Eröffnung mußte ich ihm eine kleine feierliche Handwaschung 
gestatten und mit zurückgestülpten Rockärmeln und gewaschenen 
Händen, die sonst nichts berühren durften, wurde zuerst der Deckel 
gehoben, dann die Hand nochmals gewaschen und die Herausnahme 
der Objekte konnte beginnen. 

Ich mußte mir vorkommen wie ein trockener Staatsbeamter, 
der in der Sakristei eines säkularisierten Klosters eindringt, um die 
Inventarisation der geweihten kostbaren Kultgeräte vorzunehmen. 

Ich schicke voraus, daß die Kassette nun einige Zeit bei mir 
blieb, bis die Inventarisation erledigt war. In den folgenden Be- 
sprechungen wurden keine Zeremonien mehr vorgenommen. Wenn 
Patient auch bei jedem Gegenstande lange in liebendem Gedächtnisse 
verweilte, so gab es keine Waschschranken mehr, und die Gegenstände 
durften herumliegen und in die Hand genommen werden, wenigstens 
in meinem Hause, das ja immerhin nicht als unrein galt. 

So wurde das Heiligtum und sein Kult aufgehoben, Patient ge- 
dachte endgültig darauf zu verzichten — ich schlug ihm vor, diejenigen 
Objekte, die nicht an und für sich wertvoll waren, in den Flammen 
eines reinen Feuerleins aufgehen zu lassen. Was geschehen ist, weiß ich 
nicht ganz bestimmt; die Märchenbücher habe ich jetzt noch leihweise 
zur Lektüre; er wollte etwas bei mir zurücklassen. 

Die Aufhebung des Heiligtums war ein kleiner therapeutischer 
Fortschritt. 


278 F. Riklin. 


Der Inhalt des Kofferchens erinnerte ein wenig an die Samm- 
lungen, welche manchmal bei Patienten mit Dementia praecox zu finden 
sind. Es waren viele Zettelchen mit Notizen, gedruckte Ausschnitte, 
Bildchen u. dgl. darin, als fast armselige Dokumente für Ideen und 
Phantasien. 

Aber es besteht doch ein wichtiger Unterschied. Es ist keine 
Ideenarmut, die Bedeutung der Notizen und Dokumente ist leicht 
verständlich; die Sammlung hat einen richtig infantilen Charakter, 
aber die Zeugen der Vergangenheit sind noch lebendig und sprechen 
noch, es sind nicht öde, kalte Trümmer aus einer in die Tiefe versun- 
kenen Gedankenwelt. 

Man hat den Eindruck, jeder Knabe könnte einmal so etwas 
gesammelt haben — es ist uns nichts Unbekanntes, wir fühlen uns 
dieser Welt noch verwandt — während uns die Sammlungen von 
schizophrenen Patienten schon fremd sind; erst die Analyse kann ihnen 
wieder Sinn und Wärme einhauchen. 

Das Museum ist reich an Aufschlüssen über die ganze Kindheits- 
zeit bis in die Pubertät heinein. Dort schließt sie ab. 

In diesem Kästchen ist die Jugendzeit des Patienten verschlossen, 
begraben und verwahrt gewesen, alles Liebe aus dieser ganzen Epoche, 
alle lieben Erinnerungen, die ganze Auto- und Phantasieerotik. 

Von der konnte er sich nicht trennen und schleppte sie behutsam 
mit sich herum und doch brachte er es dazu, sie abzuschließen. Es 
wird der große Versuch gemacht, erwachsen zu werden. Aber er gelingt 
nur halb. | 

Die Sehnsucht geht, auch in den Zukunftsphantasien, immer 
wieder zurück ins Paradies der Jugend, auf die Insel der Seligkeit. 

Die Besprechung des Museumsinhaltes gibt uns Gelegenheit, 
die infantile Autoerotik der ersten Kindheit und die Inselphantasien 
der zweiten Kindheit und Pubertät durchzunehmen. 

Im Museum finden wir einmal Photographien der Eltern, be- 
sonders der Mutter und eine Photographie des Patienten selbst aus dem 
fünften Jahr. 

Er legte sie damals hinein — als er glaubte, es bei den Eltern 
nicht mehr aushalten zu können — und fliehen wollte! Es gibt keine 
bessere Symbolik fürdas Verhalten des Elternkomplexes der Neurotiker, 
vom mißlungenen Ablösungsversuche. 

Dann kommen mehrere Märchenbücher; beim Herausheben 
verweilt er nochmals mit großer Andacht bei ihnen. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 279 


Weiter ein Bilderbuch mit einem sogenannten ‚‚Goldenen ABC“, 
Beim Buchstaben € ist die Jagd nach dem Glück primitiv dargestellt, 
das Glück ein Zirkuswesen in engem Trikot, das wie ein Hermes dem 
nachjagenden Publikum enteilt. Diese Dame weckte bereits im fünf- 
jährigen Knaben erotische Lust, ebenso darauf Nixen und Najaden 
in den bekannten Bildern mit Märchenfiguren in früheren Jahrgängen 
der „Fliegenden Blätter‘. 

Diese Beschauungstendenz hatte er auch der Mutter gegenüber; 
wir erfahren, daß sie gerne ihre nackten Füße zeigte und daß er sie 
gerne im Neglig& sah und später liebte, Witze über ihre nackten Arme 
zu machen, wobei sie halb entrüstet tat und ihn mit dem Onkel Max 
verglich, der die Schwestern früher gern zum Erröten gebracht hatte. 

Jagd nach dem Glück, Najaden und Nixen und ähnliche Abbil- 
dungen liebte er aber schon lange vor der bewußten sexuellen Auf- 
klärung, die erotischen Phantasiebilder von nackten Mädchen fallen 
in die Zeit nach derselben. 

Wendepunkt war die Weihnacht 1902, in der Vorpubertät, im 
Beginne der Aufklärung, fast ein Jahr vor der Masturbation der 
Pubertät. 

Da sah er in einem geographischen Werk das Bild einer nackten 
Samoanerin, für das er in Glut geriet und die zum großen Wunsch- 
objekt seiner Inselphantasien wurde, die bereits seit einigen Monaten 
im Gang waren. 

Im Museum befinden sich noch eine Reihe von Frauenbildnissen. 
Ebenso trägt er noch solche herum in seiner Brieftasche, die im Grunde 
senöommen ein zweites Heiligtum ist, das ebenfalls mit viel Sorgfalt 
umgeben wird. Wir kommen darauf beim Abschnitte: ‚„Willens- 
schwäche und Ethik‘ zurück. 

Da sind Sachen wie ‚„Jeune fille laborieuse, La eruche casse® 
v. Creuze, Isadora Duncan, eine Plakatfigur von einer Ausstellung: 
ein reifes Weib mit entblößter Brust; eine Reihe Reproduktionen 
von Skulpturen, z. B. eine nackte Psyche usw. Ich möchte diese Bilder 
in zwei Gruppen bringen: die mit sanften, feinen, zarten Zügen, ohne 
Exhibition und die sinnlichen, reifen, unverhüllten Frauen, oder die 
wenigstens auf ihn diesen Eindruck machen. Diese Bilder stammen 
aus den Pubertätsjahren und reichen bis in seine Gegenwart hinein. 

Im ganzen hat er wie erwähnt keinen schlechten Geschmack; 
er ist entschieden ästhetisch, auch in seiner Sprache. 

Einmal (1903/04) fand man zu Hause solche erotische Bilder 


280 F. Riklin. 


‘ und Postkarten von ihm, und es gab ein großes Geschrei. Später 
kaufte er wieder einmal ähnliche Bilder zur Befriedigung seiner Schan- 
lust und trug sie mit schlechtem Gewissen im geheimen herum. Da 
ereignete sich ein merkwürdiger Vorfall: 


Eines Nachmittags blieb die Mutter sehr lange aus, es wurde 
ihm bange; vielleicht hatte sie Selbstmordgedanken, weil sie hie und 
da solche Äußerungen in der Erregung machte. Er geriet in eine furcht- 
bare Heulerei, die Mutter fand ihn am späten Abend in Tränen. 

In dieser Angst, die Mutter zu verlieren, sagte ihm eine Stimme: 
„Zintweder deine Mutter oder die Karten mit deinen Weibern mußt 
du opfern!“ Er opferte die Karten, warf sie in den Ofen und so wurde 
ihm die Mutter am Abend wieder geschenkt! 


Dies Ereignis gehört in den Zusammenhang von zwei Gruppen 
von Erscheinungen: Opferhandlungen mit stark masochistischem 
Einschlag und anderseits zu der Gruppe: Zwangsgedanken, Zwangs- 
impulse (inneren Stimmen, Schwüren). 

Beides muß noch besonders im Zusammenhange dargestellt 
werden. | 

Das Museum beherbergt eine Menge kleiner Landschafts- 
bilder; an den Richterschen Märchenbildern waren es die Land- 
schäftchen, welche ihn anzogen, die Figuren, die immerhin das Wesent- 
liche an der Richterschen Kunst sind, hätte er lieber weggewünscht. 
Er hatte da einige Lieblingsbildchen in Bechsteins Märchenbuch, die 
er sich durch Buchzeichen merkte. Die Vorliebe für Richter und Pocei 
mit ihrer Kindlichkeit ist ja ganz in Ordnung. Daneben sind Land- 
schaften auf Ansichtskarten vorhanden oder Ausschnitte aus illu- 
strierten Kalendern oder Zeitschriften. Die infantileren haben noch 
zum Teil silberumrandete Bäume, einen silbernen Mond u. dgl. Im 
ganzen ist aber die Auswahl ganz geschmackvoll. 

Wir finden im Museum drei Fläschchen mit Wasser, das aus drei 
verschiedenen Seen stammt, die er in verschiedenen Ferienaufent- 
halten landschaftlich genossen hatte. Er hebt sie mit Liebe heraus, 
denkt an alle die schönen Erinnerungen, denkt voll Sentimentalität, 
daß da drin auch ein Quantum jener frischduftenden Seeluft ein- 
geschlossen sei! 

Bei der Aufhebung des Museums will er das Wasser jedes Fläsch- 

chens wieder in den See ausgießen, aus dem er es entnommen hat. 
Nun fehlt bei einem Fläschchen die Etikette, und er weiß nicht mehr, 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 281 


in welchen See er es entleeren muß. Das ist für den Zwangsneurotiker 
ein Haken, an dem er Zweifel und Qual einhängen kann. 

Freud sagt, daß von den Zwangsneurotikern an allen Stellen 
der Ungewißheit Zweifel angesiedelt werde, und da gebe es natürliche 
Lücken in unserm Denken, wo wir nichts mehr Sicheres wissen, bei der 
Unsicherheit des Gedächtnisses, der Unsicherheit unserer Herkunft 
und der Unsicherheit des Jenseits, des Todes. 

Wir kommen darauf zurück beim Ichrätsel. 

Der Landschaftskult ist der Vorläufer der Inselphantasien. 
Er wirkt jetzt noch im Patienten nach. Er muß in Universitätsstädten 
studieren, die seinen landschaftlichen Idealen entsprechen. Er opferte 
dieser Idee sogar die Vollendung der Analyse, weil ihm Zürich im 
Winter nicht genügend entspricht, trotzdem die Behandlung durch 
die Analyse in seiner Überzeugung die einzige ist, zieht er den 
Landschaftskult vor. 

Im Landschaftskult hegt er seine seligen Kindheitserinnerungen, 
namentlich die Ferien, welche dem Stadtkind wie ein paradiesisches 
Sichausleben vorkamen. Das waren die Aufenthalte in der freien 
Natur, die er voll Wonne genoß, es waren die Ferien mit der 
Mutter! 

Nicht umsonst ist die Wunschinsel, die sich aus der Landschafts- 
liebe entwickelt, u. a. auch das Wunschland, wo er Ferien hat, nichts 
tun muß, und der Lektüre seiner Lieblingsbücher sich widmen kann. 
Es gibt dort eine Lieblingsbibliothek. 

Und nicht umsonst empfand er, als er einmal die Zwangsvor- 
stellung hatte, die Eltern seien gestorben — weil die übliche ‚‚Brief- 
sekretion‘, wie er esnennt, 14 Tage lang ausblieb (man sieht den starken 
Zusammenhang mit den Eltern in diesem häufigen Briefwechsel) 
eine Mischung von Angst und Befriedigung, letztere im Gedanken, 
mit dem ererbten Gelde auf die Wunschinsel ziehen zu können, um 
seinen Liebhabereien zu leben. Diese Gedanken kamen besonders, 
wenn er sich für eine bestimmte Berufstätigkeit entscheiden sollte. 
Da hätte er lieber Ferien mit Versenkung in die Jugendphantasien. 

In den bildlichen und wirklichen Landschaften äußert sich eine 
Vorliebe für Pfützen und Sümpfe. Sie geht ebenfalls in die frühe 
Kindheit zurück, hauptsächlich spielte es im Jahre 1898/99 (im 9. bis 
10. Jahr). Es fesselte ihn das geheimnisvolle Wunder, wo das Wasser 
sich mit der Erde vermischt! 

Es dürfen auch Jauchepfützen sein. Halten wir das zusanımen 


282 F. Riklin. 


mit unseren Kenntnissen über die Analerotik des Patienten, so dürfen 
wir dieser Lust ein sehr hohes Alter geben. 

In der Landschaftsliebe spricht sich der Gegensatz aus zwischen 
freier Natur und Kultur, zwischen Freiheit der natürlichen Triebe 
und Verdrängung. Ich habe diese Symbolik, die im Grunde uns allen 
geläufig ist, in den Phantasien von Neurotikern mehrmals in der 
feinsten Ausarbeitung kennen gelernt. 

So ist es bei unserem Patienten. Die Bedeutung der Sumpf- 
vorliebe scheint mir leicht zu verstehen. 

Eine weitere Aufklärung dafür erhalten wir aus dem Bericht, 
daß er als kleiner Bub — er konnte zwar schon lesen — von Moor- und 
Schlammbädern hörte. Die Empfindung, die er beim Sumpfkultus 
hatte, war zwar nicht ganz gleich. Der Gedanke, ganz in weichem 
Schlamm liegen zu müssen, erfüllte ihn mit Wollust, mit der gleichen 
masochistischen Wollust, welche die Vorstellung vom wehrlos Ein- 
gegrabensein, wehrlos Gebundensein auslöste. Man ist versucht, 
die Anfänge aller dieser Lüste beim Wickelkinde zu suchen. 

Die Moorbadphantasie war so mächtig, daßer aus einem Kalender 
ein Inserat herausschnitt, welches Reklame für Moorbäder machte 
und die Adresse einer Drogerie angab, die Schlamm für solche Bäder 
lieferte! Dieses Papierchen aber wurde als Dokument dem Museum 
einverleibt. 

Bedeutungsvoll als Vorläufer für die Inselphantasie, scheint 
mir, ist eine Landschaftsvorstellung, die meines Wissens zuerst als 
Traum auftrat und nachher eine Lieblingsvorstelllung wurde. Das 
war ım Herbste 1901 und Frühjahr 1902, also ein Jahr vor dem Aus- 
bruche der eigentlichen Inselphantasien: 

Da war ein Schloß, mit unterirdischem Ausgang in einen langen 
Kanal, mit Mündung im Ufer eines Gewässers; man kann mit einem 
Boote hineinfahren in diesen dunklen Gang. An der Mündung steht 
Gebüsch. 

Als Vorläufer für die Inselphantasie ist dieses sexualsymbolische 
Bild so wichtig wie jener Traum vom kleinen Mädchen, der ihn plötz- 
lich zum Verliebten machte. Der letztere Traum fällt in den Winter 
1901/02, wird also von dieser Symbolphantasie zeitlich umrahmt. 

In den Inselphantasien und in den Bildchen, welche er als Do- 
kumente zu denselben aus Kalendern und Zeitschriften herausschnitt 
und dem Museum einverleibte, kehrt dieses Bild in zahlreichen Vari- 
anten wieder. Fast immer eine Bucht mit einer Hütte, einem Schlosse 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 233 


oder ähnliches im Hintergrund, und ein Boot oder Schifflein. Er hat 
auch eine Menge Abbildungen von Häuschen, Hütten und Schlössern 
gesammelt, die nach seinem Sinne waren. 

Im Herbste 1902 sah er das Buch, das der äußere Ausgangs- 
punkt zu den Inselphantasien abgab. Es beschrieb die Weltumseglung 
eines Engländers und enthielt viele Abbildungen von Koralleninseln, 
einsamen Atollen im Stillen Ozean. Patient beschäftigte sich sehr 
mit diesen Inseln, namentlich mit den Bildehen und wählte sich seine 
Leibinseln aus, die nach seinem Sinne waren. Die Hauptleibinsel 
hieß Rotuma. 

In diesen Anfangsphantasien und in den späteren spielt natürlich 
der Reisetrieb, der Wunsch nach Abenteuern und der Knabenehrgeiz 
eine wichtige Rolle, und je schlechter es in der Schule ging, um 
so schöner wurden die Pläne. Er dachte sich zuerst als Staatsmann, 
als Revolutionär (gegen den*Absolutismus des Vaters!), der seine 
Monarchie umwälzte, neu einteilte und den Provinzen schöne Namen 
gab. Mit seinem Freunde schrieb er ein Bardeigesetz (sie!). Dann 
wurde er ein Garibaldi des Meeres. Daraus wurde später der Wunsch 
Seeoffizier zu werden, darum der Übertritt aus dem Gymnasium 
usw., dessen weitere Motive wir erwähnten. Die übertriebenen kör- 
perlichen Übungen vor der geplanten Flucht hängen auch damit 
zusammen. Er genoß dabei masochistisch die Erschöpfung. Der 
Wunschheld unterlag; aber in den Inselphantasien hat er sich noch 
vielfach ausgelebt. Ä 

Dann dachte er sich wieder als großen Weltweisen mit Lieblings- 
büchern, auch auf der Insel, und sein Philosophiestudium wird wohl 
hier einen Vorläufer haben. 

Vergegenwärtigen wir uns aber, daß sein philosophisches Haupt- 
werk, das ‚„Traktat‘‘, das er mit großem Aufwande an Zeit und unter 
Hintansetzung der Studien immer weiter ausarbeitet, vom Kinder- 
problem handelt, sich gegen die Kinderproduktion wendet, so dürfen 
wir die Quelle aller philosophischen Bestrebungen dort suchen, wo 
dieses Problem zum erstemal auftaucht, in den ersten Kinderjahren. 

Zu Weihnachten 1902 kam dann das Bild der Samoanerin, 
einer Tänzerin des Königs X., in einem Buche über Länderkunde, mit 
genaueren Inselbeschreibungen. 

„Dieses Weib machte mich ganz verrückt; ich machte mir para- 
disiesche Phantasien, wo ich mit diesem Weib allein war. Ich 
umarmte sie wohl in Gedanken, umschlang und küßte sie. Ich 


284 F. Riklin. 


glaube nicht, daß deutliche Vorstellungen von sexuellem Verkehr 
da waren. 

Wenn nun die Eltern fort waren, habe ich mich auch nackt 
entkleidet. Es war da ein Turnapparat, der baumelte an einer Tür 
herum, da machte ich meine Kunststücke. Es ist mir etwas unange- 
nehm, darüber zu erzählen —; es fiel mir erst dieser Tage wieder alles 
ein —; ich hatte auch Hanteln, und eben diese Ermüdung — da war 
die Sache die, ich war nackt, turnie mit den Hanteln, dachte mir, 
wie schön es wäre, das auf einer einsamen Insel in der freien Natur 
zu machen, wo niemand dich sieht; aber es war ein deutlich maso- 
chistischer Einschlag dabei, in diesem Gefühle der Erschöpfung, der 
Ermüdung. Richtig, da fällt mir noch was ein — es ist so entfernt — 
möglicherweise ist es auch gar nicht der Fall gewesen, 
ich kann es nicht beschwören, aber doch bin ich überzeugt, daß es 
sich so verhalten hat: Eines Abends, als die Eltern fort waren, glaube 
ich in ein anderes Zimmer gegangen zu sein, unbekleidet, aufs Sofa, 
band mir die Füße zusammen, machte kunstvolle Knoten in der Er- 
wartung, wenn vielleicht die Eltern kämen....! Ich wollte nicht 
erwischt werden; aber an der Lust war das Gefühl der Gefahr be- 
teiligt, das Gefühl des Wehrlosseinwollens.‘ 


„Das allererste war das Bedürfnis, barfuß herumzugehen. Abends, 
wenn die Eltern fort waren, spazierte ich so herum. Ich stellte mich 
auch vor den Spiegel. Ich legte eine Tabelle an, auf der ich die Daten 
dieser Exkursionen, dieser Spaziergänge aufnotierte. Das ganze geht 
in dieser Form frühestens auf den Herbst 1899 zurück.‘ (10 Jahre 
alt.) Auf der Tabelle, die im Museum aufbewahrt wurde, notierte 
er: Nudis pedibus ambulavi: darunter die Daten, an welchen es 
geschehen war. 


Er sah auch, wie die Heiligenstatuen und Bilder in der Kirche, 
z. B. Maria, mit wallenden Gewändern dargestellt wurden, welche 
auf die bloßen Füße fallen und diese halb bedecken. Das ahmte er nach, 
mit irgendwelchen Kleidungsstücken, und hatte ein Wohlgefallen 
daran, wie die Füße hervorsahen. 


Diese Dinge alle kamen in der Inselzeit ebenfalls zur vollen 
Entfaltung. 


Er machte gern Spaziergänge zu einem kleinen Föhrenhain mit 
etwas Buschwerk. Der Hain hatte etwas Atollartiges, war ringförmig, 
mıt einer kleinen Wiese in der Mitte. ‚Wenn der Wind durch die Bäume 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 285 


rauschte, hat es mich ganz bezaubert; da habe ich mich dort besonders 
gern den Inselphantasien hingegeben.“ 


Nun ging es los, lichterloh. Er dachte Sch mit der nackten 
Samoanerin auf einer polynesischen Leibinsel. Die Phantasien nahmen 
schwer überhand, erstickten die Schulinteressen, namentlich später 
im Konvikt. 


Das war aber noch fast ein Jahr vorher, und vor der Mastur- 
bation. 

Es entwickelte sich eine ganz auffallende Sublimierung in 
Geographie. 

Er schaffte Landkarten und geographische Bücher an, suchte 
sich Leibinseln heraus, kaufte eine stumme Karte und zeichnete die 
Leibinseln ein. 


Immer mehr Inseln lernte er kennen, ihre Form, Lage, Größe, 
Vegetation, Kultur. Er sammelt eine Unmenge geographischer Ab- 
bildungen, hauptsächlich von Inseln oder dann Festlandsbuchten. 
Alles kommt später ins Heiligtum. 


Die Insel ist der Schauplatz, auf dem sich alle Wünsche und 
Pläne des Knaben in der Phantasie verwirklichen. Sie ist das Paradies.!) 
Da erfüllt sich alles: er kann entsprechend seinen infantilerotischen 
Phantasien nackt herumgehen, entsprechend seinen masochistischen 
Gelüsten sich von einem Diener bis zum Halse eingraben lassen. Er 
verwirklicht seine ehrgeizigen, männlichen Pläne: bald lebt er alsWilder, 
körperlich kräftig, einsam, fern von allem Zwang und Kultur, bald 
ist er ein Fürst, ein Zivilisator, verbreitet Kultur nach seinem Sinne, 
führt die Post ein, baut Eisenbahnen, bald wohnt er in der Hütte 
nach Art der Eingeborenen, bald läßt er ein Landhaus oder Schloß 
am Ende der Bucht aufbauen. Die Phantasie, als Lokomotivführer 
zu fahren, kollidierte einmal mit der Fürstenidee; er überlegte, daß er 
nicht wohl Fürst und Lokomotivführer zusammen sein konnte. Bei 
der Einrichtung der Post wäre den Briefmarken die größte Aufmerk- 
samkeit zuteil geworden. Das Museum enthielt Lieblingsmarken, die 
als Vorbilder dienen sollten. Wir finden da entweder Marken mit 
hübschen Landschaften oder Frauenbildnisse: eine junge Königin 
Viktoria von England und die Königin Wilhelmine als Mädchen! 
Das war die Hauptsache an der Postphantasie. Zahllos sind die kleinen 


!) Ein junger Masturbant phantasierte sich mit einem hoaienes Mädchen 
auf eine fruchtbare Oase in der Wüste. 


286 F. Riklin. 


Zettelehen im ‚„‚Museum“, welche alle diesePhantasien dokumentieren, 
Sammlungen von Häusern samt Ausstattungen. 

Ich erinnere an den Angstgedanken, den Eltern sei etwas zu- 
gestoßen, als er länger als gewöhnlich keine Nachricht erhielt, ver- 
bunden mit dem anderen Gedanken: Dann kann ich erben, muß keinen 
Beruf wählen, sondern kann auf die Insel fahren und in meiner Biblio- 
thek sitzen. 

Auf der Insel gab es auch eine Art Kirche, mit Mittag- und 
Abendgeläute. Das gehörte zu den Fürstenphantasien. 

Er dachte sich auch einen Kult der Freiheitsgöttin; die Brief- 
marke mit der Königin Viktoria als Mädchen hätte als Vorbild für 
eine Statue dieser Göttin dienen sollen. 

Verschiedene von seinen Flammen dachte er sich auch etwa 
auf der Insel als Geliebte. Andermal war er einsam, allein; manchmal 
waren nur Eingeborene um ihn, manchmal ein bis zwei Freunde. 

Aus einem botanischen Buche machte er pflanzengeographische 
Notizen. Es fehlt auch nicht ein Verzeichnis der zu pflanzenden Bäume. 
Auf Zettelchen standen alle nötigen Details für die Ausrüstung, mit 
Hinweis auf Kataloge von Spezialgeschäften. Ein Proviantverzeichnis. 
Eine Hausapotheke sollte auch da sein; er machte ein Verzeichnis 
der Mittel, die ihm aus eigener Anschauung bekannt waren. 

Ein Verzeichnis von Büchern, eine Art Testament über die Ver- 
wertung derselben nach seiner Flucht. 

Eine Variation der Inselphantasie in der zweiten Blütezeit be- 
stand darin, daß er auch an eine Flucht in eine einsame Gegend im 
Gebirge dachte; dahin hätte er sich wenigstens doch Zeitungen kommen 
lassen können; er macht da in der späteren Zeit bereits wieder Kom- 
promisse mit der Kultur. Von zu abonnierenden Blättern ist ebenfalls 
ein Verzeichnis da. 

Er dachte auch zeitweise, in der späteren Zeit, daß er bei der 
Flucht von zu Hause nicht auf die Wunschinsel fliehen, sondern als 
Bauernknecht untergehen würde. Es gäbe auf dem Totenbett eine 
Wiedererkennungsszene mit einem alten Freunde— oder mit den Eltern. 

Im ersten Teile dieser tragischen Phantasievariante entdecken 
wir ein Motiv, das wir aus den Märchen kennen. 

Die ganze Variante stammt aus einer Erzählung von Adalbert 
Stifter. #% 
| Gewöhnlich ist der Abschluß der Phantasie beim Patienten 
ein anderer: Er wird ein reicher Mann auf der Insel, kehrt einmal 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 287 
zurück und gibt sich der ersten Geliebten beim Tanze plötzlich zu 
erkennen. | 

Oder er kehrt mit der Samoanerin heim. 

Die Verzeichnisse sind möglichst vollständig. Patient hat Angst, 
irgend etwas zu vergessen. Dieses Ausassoziieren bis in die letzten 
Glieder der Kette, bis in alle Winkel, bis in alle Zweiglein ist sehr 
bedeutsam. Darum die vielen Zettelchen und Verzeichnisse. 


Es wird dies nicht bloß bei den Komplexphantasien der Zwangs- 
neurotiker so sein, sondern auch bei denen der Gesunden. 


Im Museum liegt auch ein Verzeichnis von Ortschaftsnamen, für 
die zu gründenden Städte und Dörfer. Die Namen waren zum Teil 
vom Patienten selbst gemacht, mit spanischem und italienischem 
Klang; teils kannte er sie von seinem Aufenthalte am Gardasee her 
(Sommer 1902). Da hatte er ja die schönen langen Ferien gehabt. 

Er hat ja überhaupt einen Namenkultus ausgebildet; er hat als 
Garibaldi von Österreich, als Revolutionär, das Land neu eingeteilt 
und den Provinzen wohlklingende Namen verliehen, ähnlich wie es der 
andere Eroberer, Napoleon, gemacht hat. Hier werden die Namen 
aus der Sprache des schönen Landes genommen, wo sich Patient wie 
in einem Paradies hatte enthalten können, bei den Franzosen stammen 
sie aus dem römischen Altertum; indem die Revolution auf die Zeit 
der Republik als Vorbild zurückgriff, Napoleon in seiner Weiterent- 
wicklung das römische Weltreich wiederaufleben ließ. 

Der Namenkultus schaffte auch die Namen für die Kinder in den 
Vaterphantasien. 

Früher waren die Namen: Stephan, Konstantin beliebt, später 
kamen sie ihm plump vor. An ihrer Stelle wurden die Namen: Adrian, 
Balduin, Marius gewürdigt. Das ging noch weiter bis in die letzte Zeit, 
wo unter anderen Nicander besonders beliebt war. Obwohl ihm jetzt 
das ganze komisch vorkommt. Von Mädchennamen galten vor allem 
Mathilde, auch Dorothea. 

„Ich wußte nicht, wie es anstellen, um alle Namen anzubringen; 
ich mußte einfach soviele Kinder haben.‘ Der Kultus mit den Eigen- 
namen ist nach dem eigenen Vergleiche des Patienten genau dasselbe, 
wie wenn Kinder mit Puppen spielen. 

Die Anfänge gehen bei ihm in die frühe Knabenzeit zurück. 

1903 kam ein besonderer Datenkultus, ein Komplexkalender, 
dazu; er begann im Jänner und Februar, als die Inselphantasie im 


288 F. Riklin. 


üppigsten Saft war. Etwas haben wir schon gesehen beim ‚„Nudis 
pedibus ambulavı‘. 

Er wollte gewisse Festtage im Kalender auf der Insel einführen: 
Die ganze Inselphantasie mahnt uns ja oft an die Geschichte von 
Robinson, ohne daß diese als Vorbild diente. Aber wir wissen ja, warum 
jene Kulturgeschichte des Menschen bei den Knaben so beliebt 
ist. Nur hat unser Patient die Erotik nicht vergessen, wie Daniel 
Defoe. 

„Ich griff zuerst nach beliebigen Daten, die ich zusammenstellte, 
z. B. 20. Jänner, 12. Februar, 5. August. Aber die Auswahl war doch 
nicht beliebig, es war ein ästhetisches Interesse an ihrer Zusammen- 
stellung beteiligt. Es ging nach gewissen Regeln; genau weiß ich sie 
nicht mehr. Mir erschienen, offenbar aus der frühesten Kindheit her, 
die Zahlen und Buchstaben in bestimmten Farben, z. B. auch die 
Wochentage. 

Ebenso haben die Monatsnamen Farbenassoziationen. Manches 
mag vom mehrfarbigen Blockkalender stammen. Die dunkle Farbe 
des Montags mag damit zusammenhängen, daß er mir sehr unsym- 
pathisch war, weil man wieder in die Schule gehen mußte. 

Übrigens war auch der Sonntag unsympathisch; da mußte man 
in einem lächerlichen Aufzug mit den Eltern spazieren gehen.“ 

Ein Einfluß kommt auch aus dem goldenen ABC-Buch der Kind- 
heit, wo die Buchstaben als Wesen, als Individuen erscheinen. 

Bei den Zahlen tritt ebenfalls eine gewisse Personifikation ein, 
es gibt Arme, Beine usw. 

Der Datenkultus ging also in der Inselzeit zuerst nach gewissen 
Farbenharmonien der Monats- und Tagesziffern ‚Schließlich fiel mir 
ein, daß ich ja verschiedene wirkliche Daten hatte, die sich großartig 
verwenden ließen, Daten von meinen Spaziergängen, Ausflügen, 
Begebenheiten. Viele dieser Daten konnte ich so noch erforschen, aus 
den Ausgabebüchern Papas und ähnlichen Urkunden. 

So gab es im Frühjahre 1903 schon Andachten, fast jede 
Woche, manchmal fielen auf einen Tag mehrere Erinnerungsfeiern 
zusammen aus verschiedenen Jahren. Der eigentliche Kultus war in 
vollem Gange 1904, und da kam fortwährend Neuerlebtes dazu. Das 
wurde sofort in den neuen Kalender aufgenommen, um im nächsten 
Jahre seine erste Erinnerungsfeier zu bekommen. Die Feier bestand 
in einem Darandenken, in der andachtsvollen Wiedervergegenwärtigung 
dieser Begebenheiten in allen einzelnen Punkten. Jeder Augenblick 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 289 


davon wurde wieder erinnert, alles was an jenem Tage zur gleichen 
Zeit geschehen war. 

Hatte ich einen solchen Festtag aber vergessen, so war große 
Verzweiflung; es gab etwas, das fast ein Gebet an den lieben Gott 
war, er möchte die Zeit etwas zurückdrehen, oder es gab eine Abwehr- 
bewegung: „hm, hm.“ i 

Diese Abwehrbewegung ist sehr bedeutsam, wir werden bei 
der Schilderung der Zwangseinfälle darauf zurückkommen. 

Hier erscheinen sie beim Vergessen, dort bei Zwangsein- 
fällen. 

Diese Kalenderphantasien sind etwas Großartiges. Wohl kennen 
wir ja die Erinnerungsfeier Hysterischer; was sind sie aber gegen 
diese mit der höchsten Liebe, mit der größten Libidobesetzung ins 
Feinste ausgearbeiteten Gebilde der Zwangsneurose! 

Da liegt wohl gerade ein Hauptunterschied. Meines Wissens 
feiert die Hysterie hauptsächlich die Unglückstage ihrer Liebe 
und sucht nach etwas Besserem; die Zwangsneurose feiert die Fest- 
tage, ganz autoerotisch; aber sie ist nicht so geizig wie die Dementia 
praecox, welche ihre Mysterien in die Tiefen des Unbewußten verlegt, 
aus denen wir nur ab und zu ein grelles Fortissimo heraushören, sondern 
sie gibt uns ein wohlorganisiertes, gut und liebevoll ausgestattetes 
Festspiel, eine, allerdings autoerotische, Symphonie. Es wird etwas 
aufgeführt für sich und zuhanden des Zuschauers oder Zuhörers, wohl 
durchdacht, stark intellektualisiert. Er bringt ein Produkt an die 
Oberfläche, stellt es am Schaufenster aus; aber es ist nicht verkäuflich 
und nicht zum Verkaufe bestimmt, oder nur schwer. 

Der Datenkult lehrt uns aber noch mehr. Vergleichen wir einmal 
diesen Kalender, diesen individualistischen, autoerotischen, mit 
unserem allgemein gültigen. Da ist ein großer Unterschied. Unser 
Patient hat den Kalender des Mikrokosmos, unser Kalender ist der 
des Makrokosmos. Beide sind historische Kalender. Aber beide grün- 
den sich auf die Natur. Im Mikrokosmischen wird die Wiederkehr 
der autoerotischen und infantilen Naturereignisse gefeiert, im Makro- 
kosmischen die Wiederkehr des Tages und der Sonne. Dort werden 
stille Andachten verrichtet, hier heidnische Feste gefeiert. 

In der Phantasie gelingt ihm die Ablösung von den Eltern, in 
der Wirklichkeit nur sehr unvollkommen; in der Phantasie gelingt 
ihm die Übertragung auf andere Frauen, sogar in üppigster Weise, 
in der Wirklichkeit bleibt sie ganz rudimentär. 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen, II. 19 


290 F. Riklin. 


Die Inselphantasie ist ein einziges, großes, schönes und nament- 
lich darstellbares autoerotisches Gebilde. | 

Die Produktivität war Schwankungen unterworfen. So ist ein 
Zurückfluten etwa im Jahre 1904 zu konstatieren. 1905/06, als er zu 
fliehen dachte, trat sie wieder in den Vordergrund. Der Rückgang 
1904 fällt zusammen mit Masturbation und der zweiten Liebe. Das 
zweite Aufleben fällt in die Zeit nach der totalen Aufklärung (respek- 
tive Wiederaufklärung). Sie trat mehr oder weniger zurück, wenn 
eine neue Flamme auf dem Plan erschien, und dauerte im wesentlichen 
bis zur Zeit, wo er das letzte Dokument dem Museum einverleibte, 
wo er, bildlich gesprochen, mit der Jugend, der infantilen Erotik ab- 
zuschließen sucht, bis zur Zeit, wo er einen ernsthaften Fluchtplan 
macht, den er durch hysteriforme Gegenerscheinungen vereitelt, 
um sich wieder mit den Eltern abzufinden. Er kommt dann ins Sana- 
torium, lernt die Jüdin kennen: wieder ein Übertragungsversuch nach 
außen. Aber auf diesem neuen Boden gedeiht nun wieder eine neue 
Phantasiepflanze, das Traktat ‚De parentibus“; in den darin aus- 
gesprochenen Ideen stimmen die Jüdin und er überein. Das Traktat 
ist nicht mehr infantil, es ist etwas reifer, scheinbar philosophischer, 
Patient ist vom Revolutionär, Krieger, Wilden und Fürst zum Philo- 
sophen durchgedrungen, 

Es ist ihm wichtiger als seine Studien. Er hält große Stücke 
darauf. Es ist sein philosophisches Werk; er forderte mich auf, logische 
Lücken daran zu suchen; wenn ich sie nachweisen könne, dann wolle 
er mir glauben, daß er auf dem Holzwege sei. Der Versuch, das ganze 
als ein Symptomprodukt hinzustellen, dem ein großer philosophischer 
Wert abgehe, verursachte einen bedeutenden Widerstand gegen mich, 
verstärkt durch die Tatsache, daß ich Vater sei und daher sowieso in 
der Frage keinen objektiven Standpunkt mehr einnehmen‘ könne. 
Wenn er aber meine kleine Tochter sah, meinte er: Ja, da seien 
allerdings alle seine Gedanken entwaffnet, am Ende könnte doch 
er unrecht haben! 

Er gab das Traktat, wie das Museum, ungern frei. Er hegte und 
pflegte es innig, verschwendete seine Zeit daran statt zu studieren, 
änderte und feilte daran herum, schrieb es ab, machte Kopien davon, 
und dachte im geheimen an Publikation, Verbreitung desselben, an 
eine Propaganda. Er fürchtete, ich als Vater könnte bei der Lektüre 
und dessen Richtigkeit vielleicht erkennen müssen und würde, da ich 
schon Vater sei, unglücklich werden. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 291 


Das Traktat lautet in der Fassung von 1909: 


Über Elterngötzendienst und Kindergeneration. 


Je wichtiger das Amt eines Menschen, je verantwortungsvoller 
sein Beruf, desto strenger sind die Forderungen, die an seine Vor- 
bildung hiezu gestellt werden; allein beim Elternberuf ist es anders: 
Da ist gar keine Vorbereitung nötig; jeder Tropf und Trottel, jede Gans 
und Trine können ihn ausüben. 

Zwei Individuen, Mann und Weib, mögen noch so beschränkt, 
unwissend, willensschwach, charakterlos usw. sein, deren Trauschein 
betrachtet die Gesellschaft als genügenden Befähigungsausweis zur 
Kindererziehung. Dazu werden sie Pächter des Niesichirrenkönnens 
und Immerrechthabens ihren Kindern gegenüber, welches Rechts- 
bewußtsein in der stereotypen Formel: ‚Ich dulde keinen le 
seinen schönsten Ausdruck findet. 


Das Kind wird ohne seinen Wunsch und Willen ins Leben ge- 
stoßen. Hat es nun irgendeine Verpflichtung den Individuen gegen- 
über, die es in die Welt hinein gezerrt haben, wo seiner tausendfältiges 
Leid wartet, wo seiner auf Schritt und Tritt Kampf, Unfreiheit und 
Zwang harren, trotzdem es hier nichts weniger als ein zudringlicher 
Eindringling ist? Nein, es hat im Gegenteil einen durch nichts zu 
verwirkenden Anspruch auf unbegrenzte Entschädigung ihrerseits, 
wenn ihm das aufgenötigte Dasein mißfällt, in welches einzutreten es 
sich oft gar gründlich überlegen würde, wäre es vor seiner Mensch- 
werdung mit Voraussicht und Vernunft begabt und ihm freigestellt, 
sich um den Scharen der Sterblichen beizugesellen oder nicht. 
Durch sein unfreiwilliges Eintreten ins Dasein erwirbt 
sich das Kind geradezu ein Recht auf Glück. 


Sich gerne in eine Art von halbgöttlichem Nimbus hüllend, 
haben es die Eltern verstanden, bisweilen ihren Kindern mit nicht 
wenig Würde und Feierlichkeit die Tatsache ihrer Urheberschaft 
an ihnen in Erinnerung zu bringen, mit Worten wie „Wir haben dir 
das Leben geschenkt‘ u. dgl. Die Eltern erheischen also Dankbarkeit 
für ein gar nicht erbetenes, für ein aufgenötigtes Geschenk. Statt 
einzusehen, daß sie selbst keineswegs Schöpfer, sondern nur Werkzeuge 
der Schöpfung, der Natur sind, die sich bei ihrer Verwendung, eben- 
so wie das Tier, nicht der mindesten geistigen Anstrengung zu unter- 


ziehen brauchen, geschweige Scharfsinn an den Tag zu legen hatten, 
| 19* 


292 F. Riklin. 


tun sie, als ob sie Erzeuger im eigentlichen Sinne des Wortes wären, 
und geberden sich wie Erfinder, die sich ihres Werkes rühmen. 

Was, im doppelten Sinne des Wortes, jeder Hund und jeder 
Esel fertig bringt, das an sich soll Grund zu Respekt und Ehr- 
furcht sein! 

Ähnlicher Bedeutung sind die häufigen ausdrücklichen Auffor- 
derungen zur Dankbarkeit, besonders für Auf- und Erziehung. Es ist 
nur ihre natürliche Pflicht und Schuldigkeit, dem so unschuldig ins 
Leben Gestoßenen schwimmen zu helfen wohin es will, und wenn es 
einmal seine Vernunft brauchen kann, mit allem zu versehen, was dazu 
nötig ist. Sie können dadurch überhaupt nur einen Bruchteil ihrer 
Schuld an das Kind abzahlen; an das Kind, das in das Leben hinein- 
gestoßen wurde und schon das Angebinde des Endlichsterbenmüssens 
empfangen hat. 

Er führt weiter aus: Die Eltern haben eine unendliche Schuld. 
Es ist ein großer Egoismus von ihnen; sie wollen die Vater- und Mutter- 
freuden genießen, darum die Kindermacherei. 

Zu den Gründen des Kindermachens gehört auch die unbe- 
wußte Freude am Monarch- und Untertanenspiel, dummes Selbst- 
gefühl, Fortpflanzung des eigenen Namens, die Idee, ein Scherflein 
an den Militarismus beizutragen. Es ist kein Anlaß, ihnen zu danken. 
Es ist ein Größenwahn und Leichtsinn von ihnen. 

Die Beteiligten stehen gewöhnlich unter dem Tiere, da letzteres 
sich über die Fortpflanzung keine Gedanken machen kann, wohl aber 
der Mensch. Es ist, wie wenn man ein Sekret, einen Kaktus ge- 
macht?!) hätte und sich dessen rühmte! Nicht nur Dumme, sondern 
auch geistig Höherstehende stellen sich ohne weiteres dem Perpe- 
tuum mobile?) der Kinderfabrikation und als Gebärmaschinen zur 
Verfügung. 

Er schließt seine Betrachtung damit, daß zwar alle diese Über- 
legungen nicht beachtet würden, die Losung sei: „Frisch, froh, frei an 
die Kindermacherei“, und die Natur lache sich ins Fäustchen dazu. 

Es ist Schopenhauersche Philosophie im Traktat. 

Patient ist stolz darauf, daß man ihm keine logischen Fehler 
im Traktat nachweisen könne und trachtet es so zu verbessern, daß 
dessen Logik absolut zwingend und beweisend sei. 


RL Das Bild entspricht einer infantilen Gebärtheorie. 
) Die Geisteskranken beschäftigen sich oft mit dem Perpetuum-mobile- 
Problem; es leitet sich meist vom gleichen Gedanken her. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. | 293 


Dadurch will er beweisen, daß die Natur, d. h. der Sexualtrieb, 
Unrecht hat. Diesen Gedanken habe ich bei einem andern Zwangs- 
neurotiker auch getroffen, der ihn ebenfalls logisch zu entwickeln 
suchte und dabei einen Triumph über die Natur errungen zu haben 
glaubte. 

Leider hat die Logik nicht recht; ‚die Natur lacht sich ins 
Fäustchen‘, und den, der sich gegen sie auflehnt, straft sie; sie macht 
ıhn zum Einsamen, und uns ist in der Einsamkeit nicht wohl, auch 
wenn wir zehnmal recht hätten und die Gescheitern wären. 

Die Zwangsneurotiker suchen ihre Probleme, wie hier Patient 
im Traktat, zu intellektualisieren, auf ein Gebiet zu locken, wo es 
schwerer ist, den Irrtum nachzuweisen. Da suchen sie ihre Unsicher- 
heit zu sichern. 

Wir sehen im ‚„Traktat‘‘ den Kampf gegen die Eltern und die 
Autorität; sie sind in ihm übermächtig, verhindern die genügende 
Übertragung auf neue Objekte, auf die Gegenwart. Die Thesen sind 
revolutionär, lehnen sich gegen die Autorität auf. Der Erfolg ist auf 
der einen Seite ungenügend, die Ablösung gelingt doch nicht recht; 
sie gelingt aber besser als z. B. bei der Dementia praecox. 

Das Traktat geht in seiner Revolution zu weit. Sie bekämpft 
den Naturtrieb, ein ohnmächtiges Beginnen. Es geht gegen die All- 
macht und Autorität der Natur, die ja auch wieder in den Eltern 
sichtbar waltet; der Kranke fühlt sich von ihr schlecht behandelt, 
verlangt unbegrenzte Entschädigung, macht maßlose Genuß- 
ansprüche. | 

Der Kampf, die Verdrängung, geht gegen die Arterhaltung, 
gegen die Kindererzeugung, damit auch wieder gegen die Eltern. 
Damit geht er auch gegen seine Inzestgedanken, verdrängt sie. Und 
eine weitere Unterströmung geht gegen den eigenen Fortpflanzungs- 
trieb. Und damit ist er gerade wieder eine Waffe gegen die Ablösung 
von den Eltern geworden; denn diese bestände gerade darin, daß er 
auf ein neues Objekt der Liebe übertragen würde, daß er Kinder be- 
kommen möchte. 

In dieser Unterströmung entdecken wir auch den Kampf gegen 
die Masturbation; er faßt sie ja als eine große Kinderproduktion auf, 
wie wir gesehen haben. 

„Ich hatte tatsächlich auch Kindergedanken ; der Namenkultus — 
— aus der Inselzeit — spielte da mit. Ich hatte 6 Knaben- und 6 Mäd- 
chennamen zu besetzen. Wie das Geld haben für gar so viele Kinder? 


294 F. Riklin. 


Denn ich wollte keinen Namen unbesetzt lassen. Noch 1907 sah ich 
mich als Vater; hatte Gedanken, wie man es anstellen könnte, einen 
Buben zu bekommen statt eines Mädels. Ganz ernsthaft sind die 
Gedanken gegen die Kinder erst vor einem Jahre aufgetreten, weil 
mich das Ichrätsel so stark packte, wie noch nie. | 

Neben den Mädchenbildnissen im Museum, die früheren 
kindlich, die späteren sinnlich, findet sich auch eins mit einem Mann 
und einem Knäblein, entsprechend den Vaterphantasien, die bis 
Frühjahr 1908 dauerten und dann mit Entschiedenheit aufhörten. 

Auf der Insel dachte er sich oft als Vater mit einem Knäblein 
zu dieser Zeit nur einem einzigen — offenbar wie es bei ihm zu Hause 
war — und da wußte er eben nicht recht, wie es anfangen, daß es nur 
eins gäbe. 

Wir entdecken somit im Traktat das ganze tolle Spiel der Gegen- 
sätze, wie es fast nur bei der Zwangsneurose sich äußert, und das ganze 
Gebäude droht beim Anblick eines Kindes zusammenzustürzen ! 

In der Masturbation und in den Phantasien, im Autoerotismus, 
gestattet er sich aber alles, was er im Traktat verbietet. 

Durch die mehr oder weniger gut angestellte Propaganda des 
Traktates sucht er sich zu verallgemeinern. 

Wie es bei einem Zwangsneurotiker nicht anders geht, hat unser 
Patient ein System von Geboten, und als Gegensatz dazu eine soge- 
nannte Willensschwäche. 

Aus den Klagen über Willensschwäche greifen wir eine besonders 
heraus, die Klage, daß er immer vergesse, die Uhr aufzuziehen. 

Ich glaube es steht in der ‚„Psychopathologie des Alltagslebens“, 
daß diese Symptombehandlung manchmal in der Bedeutung vorkomme, 
es lohne sich nicht, den neuen Tag zu erleben.!) 

Bei unserem Kranken drückt es vielleicht den ersten dieser 
Gedanken aus, ohne daß ich danach besonders geforscht hätte. Aber 
er äußerte oft, daß seine Willensschwäche u. a. der Lebensunlust ent- 
springe. Jeder neue Tag komme unerwünscht, bringe ja nur neue 
Qualen. Darum möge er auch morgens nicht aufstehen. Der Jammer 
über diese Schwäche nimmt einen breiten Raum ein. 

Aber das Vergessen, die Uhr aufzuziehen, birgt noch einen 
andern Gedanken: Er sagte mir, als wir auf den Inhalt seiner Brief- 
tasche zu sprechen kamen: 





; 2) In den „Bemerkungen“ erwäht Freud, daß manche Zwangsneu- 
rotiker die Uhr nicht aufziehen, um die neurotische Unsicherheit zu pflegen. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 295 


Gleichwie ich immer vergesse, die Taschenuhr aufzuziehen, 
genau so vergesse ich immer die ethischen Gebote zu lesen, welche 
ich in meiner Brieftasche aufbewahre! Brieftasche und Uhr befinden 
sich, um eine Vorstellung aus der topographischen Anatomie herüber- 
zunehmen, in der gleichen Schicht, im Raume zwischen der äußersten 
und zweitäußersten Kleiderschicht (ich verweise auf die Wichtigkeit 
dieser Vorstellung bei unserem Kranken), beide links, beide in einer 
Tasche. Der Impuls, die Brieftasche oder die Uhr herauszunehmen, 
löst in beiden Fällen einen ganz ähnlichen Komplex von Bewegungen 
des rechten Armes und der Hand aus. Es findet nur eine kleine Ver- 
schiebung vom Brieftaschen- auf den Uhrenkomplex statt. 

Die Brieftasche ist ein weiteres kleines Heiligtum. Die Rock- 
taschen müssen rein gehalten werden, weil man darin reine Sachen, 
Bücher fu. dgl. herumträgt. Die Brieftasche nun wird wie das Mu- 
seum mit einem besonderen Waschzauber umgeben. Denn was sie 
enthält, ist ebenso heilig, wie der Inhalt des Museums. Lange Zeit z. B. 
trug und trägt er darin gewisse Mädchenbildnisse herum. 

Ebenso also ein Extrakt von ethischen Geboten und die vergißt, 
er, auzusehen, wie es nach seiner Meinung nötig wäre. Ich wunderte 
mich über diese infantile Art der Selbsterziehung. Und doch finden 
wir diesen Sport gar oft beim Kinde, und viele Asketiker empfehlen 
sie ja und nehmen sie ernst. Ich erwähne, daß Patient Ethik als ‚‚Sym- 
ptomkolleg‘“ gehört hat. | 

Den letzten Anlaß zur Sammlung ethischer Grundsätze gab ein 
Sprüchlein, daß sich als Zwangsgedanke festsetzte, jetzt aber ganz 
überwunden ist. 

„Zwei Elemente bilden die Welt, Dummheit und Schlechtigkeit 
innig gesellt.“ 

„Es war natürlich eine Reaktion gegen den Vater‘ bemerkt 
Patient ausdrücklich. Die nähere Analyse fehlt noch und somit die 
tiefere Begründung der ganzen Sammlung. Ein Gebot heißt: ‚„Erkenne 
dich, beherrsche dich, veredle dich.“ Das Beherrschen ist im 
Försterschen Sinne gedacht. ‚Man macht sich was vor, man macht 
anderen etwas vor, man läßt sich von anderen was vormachen.“ 

Das geht wiederum gegen die Eltern; wir finden den Eltern- 
komplex also auch in den ethischen Sprüchen vertreten und die Eltern 
bekämpft. 

Ein anderes Postulat heißt: „Wahres, Gutes, Schönes.‘‘ Bei 
der Auswahl der Gebote und ethischen Forderungen ist wichtig, daß 


296 F. Riklin. 


Patient teils den Standpunkt des Vaters aus Bequemlichkeit ein- 
nimmt, teils unter den Nachwirkungen der Vorwürfe seiner Mutter 
steht. 

Zum Teil stammen die in der Brieftasche geborgenen Grundsätze 
aus Schopenhauers Grazian (Balthasar Grazians Handorakel 
der Weltklugheit, übersetzt von Schopenhauer). 

„Nicht leicht glauben und nicht leicht lieben.‘ 

„Sich nicht in den Personen täuschen.“ 

„Aufmerksamkeit auf sich im Reden.‘ 

„Ohne zu lügen nicht alle Wahrheit sagen.“ 

„Nie dem Rechenschaft geben, der sie nicht gefordert hat.“ 

„Über den Feind gut reden.“ 

„Zu widersprechen verstehen.‘ 

„Nicht dem ersten Eindruck angehören.“ 

„Das Letzte behalte bei uns nicht allemal recht.“ 

„Die Gemütsart derer, mit denen man zu tun hat, begreifen‘ usw. 

„Diese Prinzipien machten mir zwar keine großen Beschwerden. 
Ich spielte gerne den einzig Gescheiten mit dieser Weisheit. Es war 
Eitelkeit, wie die Freude an schönem Stehkragen und Handschuhen, 
weil ich noch mit Mädchen zu tun hatte. Es ist eine Spielerei, eine 
Phantasie des Jünglings, der Feldherr, Staatsmann und zuletzt Ge- 
lehrter sein will.“ Es handelt sich'also noch nicht um typische 
Zwangsneurosengebote. 

Hingegen traten Zwangsgedanken bei ihm auf, am meisten in 
der Konviktszeit; sie setzten aber schon früher ein, traten aber später 
wieder in den Hintergrund. 

Seine religiöse Erziehung war sehr lax und erlaubte ihm, die 
Dogmatik frühzeitig abzustreifen. 

Nebenbei erzählt er, daß die erste Kommunion von ihm in be- 
merkenswerter Weise empfunden wurde: „Ich war wie verrückt; 
es war mir zumute wie einer Frau zur Zeit der Empfängnis.“ 

Bald nachher entledigte er sich allmählich des Glaubens, den 
er kennen gelernt hatte; aber es blieb noch ein großer Glaube an die 
Autorität, welche er in den folgenden Jahren — im Kampfe gegen 
die Eltern und revolutionären Heldenphantasien — ebenfalls ab- 
zustreifen versuchte. Zur Zeit, wo er vor der Autorität noch so große 
Ehrfurcht hatte, war ihm z. B. der Eid etwas Großes und Furchtbares. 

Da hatte er Zwangseinfälle in Form eines Eides, z. B.: ‚‚Das 
erste Mädchen, welches dir begegnet, wirst du heiraten.‘ oder: „Ich 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose, 297 


schwöre, dieses Mädchen zu heiraten.‘ Er geriet darüber in große 
Aufregung: „Die gefällt mir ja gar nicht; jetzt hast du einen Schwur 
getan, und mußt den nun halten und diesem Mädchen nachlaufen; 
sonst wirst du meineidig!‘“ Die ersten Male ging er noch zur Beichte 
mit diesen Skrupeln und erhielt die erlösende Erklärung, daß diese 
Schwüre nicht alle Bedingungen und Merkmale eines richtigen Eides 
erfüllen und daher keine Pflicht nach sich ziehen, sie zu halten. 

Wir sehen diese Eide entstehen auf Grund der Unsicherheit 
der Objektwahl; in der Eidesformel drückt sich die Tendenz aus, die 
von der Mutter, der infantilen Liebe, sich befreien und ihn zwingen 
will, mit der Macht des Eides, der sichersten und kräftigsten Bestä- 
tigung, neue Ziele zu suchen. Aber im Grunde genommen weiß er, 
daß es doch kein Eid ist, und läßt sichs vom Beichtvater bestätigen, 
daß er ihn nicht halten muß. So ist er der Sache enthoben und kann 
in seinen infantilen Neigungen weiterleben. 

Unser Fall kennzeichnet sich dadurch, daß er der Mutter noch 
gar kein bestimmtes Objekt gegenüberstellen kann, sondern nur im 
allgemeinen zwischen Mutter (respektive Eltern) einerseits und einer 
ganzen Reihe von Mädchen respektive Frauen, d. h. anderen Sexual- 
objekten, dem Sexualziele des Erwachsenen, schwankt. 

Dazwischen liegen die großen Phantasien mit einem deutlichen 
Sublimierungsversuche. | 

Ein anderer Zweifel, welcher im „Ichprobleme‘‘ abgehandelt 
wird, ist der Zweifel an sich selbst, die Frage, warum er ‚ich‘ ist und 
nicht ein anderer. Wahrscheinlich ist es die große Unsicherheit sich 
und der Welt gegenüber, ein Ausfluß der Unsicherheit in der Liebe, 
welche zu folgender Zwangserscheinung Anlaß gab. 

Er mußte täglich mit der Eisenbahn eine kurze Strecke fahren, 
um ins Konvikt zu gelangen. Er kannte auf der Strecke jedes Brück- 
lein, jeden Baum und Bach ganz genau. Zu dieser Zeit, wo durch 
den Eintritt der Geschlechtsreife der Zweifel zwischen infantiler und 
erwachsener Sexualität am größten waren, wo alles anders wurde!), 
da fing er an, auf dem Wege sich zu denken und allmählich laut zu 

murmeln: „Jetzt kommt das Brücklein; jetzt kommt das Wässerlein !“ 


!) Man beobachtet oft bei Dementia praecox, daß den Kranken ‚alles 
anders‘‘, falsch, oder unsicher vorkommt; als unzweideutiger Ausdruck des Ge- 
dankens: Es ist alles anders, als es sein sollte, nämlich in meiner Liebe. 
Die ganze Welt ist dann anders, bei jedem Haus und Baum taucht die Frage 
auf: Ist denn das wirklich dieses Haus oder dieser Baum? 


293 F. Riklin. 


Diese zwangsweise Verifikation wurde immer lästiger, und er fing an, 
den lästigen Zwangsgedanken mit einem unwilligen Kopf- und Achsel- 
zucken und einem Räuspern ‚Mh, mh“ abzuschütteln. 

Eine Reihe von Zwangsgedanken haben den Inhalt: Wenn 
das und das eintritt, so stirbt dein Vater oder die Mutter. 

Deutlich ist der Sinn in dem schon erwähnten Falle, wo eine 
innere Stimme die Alternative stellt: Entweder opferst du deine 
Weiber, d.h. deine Frauenbildnisse, die du im geheimen bei dir trägst, 
oder deine Mutter kehrt nicht zurück. 

Und nachdem er die Bilder im Feuer geopfert hat, kehrt die 
Mutter, um die er sich geängstigt hat, gleichsam infolge seines Willens, 
die anderen zu opfern, zurück. 

Ein Beispiel von Aberglaube und ‚Allmacht der Gedanken“ 
des Zwangsneurotikers (vgl. Freud, Bemerkungen). Beizufügen ist, 
daß man früher einmal dergleichen erotische Bilder bei ihm entdeckt 
und ihn dafür geschmäht hatte. 

Solche Zwangsbefürchtungen traten mit Vorliebe ein, wenn er 
von den Eltern weg war. 

Zur Zeit der ersten Trennung von den Eltern, es war auf einer 
ziemlich weiten Reise, dachte er beim Einschlafen: ‚Wer weiß, ob 
jetzt nicht dein Vater gestorben ist.‘ Das Telegramm, das seinen Tod 
melden würde, könnte um 7 Uhr da sein. Große Angst. Alsum 7 Uhr 
kein Telegramm eintraf, quälte ihn der Gedanke weiter mit der An- 
nahme: ‚Aber er könnte auch erst eine Stunde später gestorben sein, 
und nur darum ist das fatale Telegramm noch nicht angekommen.“ 
Oder er machte einen Ausflug in eine Gegend, wo er selten hinkam. 
Da sagte z. B. eine innere Stimme: 

„Wenn du dieses Haus wiedersiehst, ist deine Mutter 
gestorben‘ oder ‚dann ist dein Vater gestorben.‘ Oder eine 
Stimme sagte: „Du wirst sterben am so und sovielten eines 
bestimmten Jahres“; z. B. hieß es eine Zeitlang ‚‚im Jahre 1947“. 

Leider fehlt noch die besondere Analyse dieser Beispiele. Es wird 
auch ein Zusammenhang mit dem Datenkult vorhanden sein, denn 
dort wehrte er, in gleicher Weise wie solche Zwangsgedanken, das 
Vergessen wichtiger Daten ab mit ‚„‚Mh, mh.“ 

Die Beispiele ließen sich um eine ganze Reihe vermehren. 

Es kamen noch andere Zwangsgedanken mit dem Charakter 
der Schwüre; in der ersten Zeit hatten diese Einfälle überhaupt den 
Wert von Eingebungen einer höheren oder dämonischen Macht. Da 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 299 


waren plötzliche, ekelhafte Einfälle, Patient kann sie angeblich nicht 
mehr genau erinnern und gibt ein, wie er sagt, als Typus gewähltes 
Beispiel: Wenn er eine Frau vorbeigehen sah oder am Haus einer 
Dame vorbeikam, mußte er sich plötzlich die Exkremente derselben 
vorstellen. 

Diese Einfälle wurden mit heftigem Abwehrhüsteln und Be- 
wegungen des Abschüttelns begleitet. 

Das Beispiel unterliegt, wie er selbst zugibt, einer Zensur, die 
uns vermutlich noch Schlimmeres verheimlicht; dieses Schlimmere 
besteht wahrscheinlich in analerotischen Inzestphantasien, wofür 
wir bereits eine Reihe von Anhaltspunkten haben. Denn hinter den 
Gestalten anderer Damen finden wir, wie Patient selbst sagt, fast 
immer die Mutter. 

Andere Male waren auch andere Vorstellungen der Inhalt dieser 
Einfälle: der Urin, die Genitalien von Frauen, die er liebte. Ich wieder- 
hole, daß, obwohl er in bestimmten Zusammenhängen mit Lust vom 
Sexualverkehr mit seinen geliebten Mädchen träumte, in anderen, 
wahrscheinlich in Verbindung mit Mutter- und Analphantasien, 
eine große Verdrängung dieser Vorstellungen vorhanden war. Nament- 
lich Verdrängung der Analvorstellungen: aus dieser alten Verdrängung 
brechen sie als Zwangsgedanken hervor. Der Gedanke ‚‚inter urinas 
et faeces‘, der Anblick von Frauen, die sich bückten, oder die ge- 
schnürt waren, war ihm ekelhaft. Beim Anblicke geschnürter Körper 
hatte er Empfindungen von Kleben an den Sitzteilen und Vorstellungen 
von Gerüchen, Suppenwürze u. dgl. 

Bezeichnenderweise bekam er bei der Schilderung grotesker 
oder ekelhafter Situationen zwangsartige Lachkrämpfe, über die 
er sich schämte und die er als Beweis seiner Blödheit anführte. 

Zur Zeit als er im Konvikt war und das Grausen schon im Tun 
war, etwa mit 14!/, Jahren, klärte ihn ein Kamerad auch über die 
Prostitution auf, die später ja fast ins Zentrum des Wanschzwanges 
rückte. 

Im Städtchen, wo sich das Konvikt befand, zeigte ihm der Ka- 
merad das Frauenzimmer, von dem es hieß, sie sei eine Hure. Er hatte 
eben seine Enthüllung gemacht, so kam sie an ihnen vorbei und streifte 
den Ärmel des Patienten. Großes Grausen. Und das ekelhafte Wort 
wollte ihm nicht aus dem Sinn. Z. B. sagte öfter einmal eine Stimme: 
Wenn du bei diesem Hause vorübergehst oder beim nächsten Schul- 
gottesdienst eben durch die Türe in die geweihte Kirche trittst, oder 


300 ! F. Riklin. 


wenn du der und der Dame begegnest so wirst du das Wort ‚‚Hure“ 
denken. („Das ist die Hure‘‘, hatte der Ausdruck des Kameraden 
gelautet.) Er war voller Angst, wenn er die genannten Orte passieren 
mußte, und es gab ein heftiges Abwehrhüsteln. 

Noch deutlicher offenbarte sich die zwanghafte Assoziation 
zwischen (sexuell) Heiligem und (sexuell) Verdrängtem, Ekelhaftem 
am nächsten Beispiele. 
| Einmal fuhr man in die Ferien aufs Land (ins Paradies, ins un- 

schuldige Gebiet der Infantilerotik). Die Stimme sagte: Im Momente, 
wo du wegfährst, wirst du jenes Wort aussprechen und im Momente, 
wo du zurückkommst, wirst du wieder ‚Hure‘ sagen. Der ganze 
schöne Sommer mit allen seinen Ausflügen wird da eingeklammert 
sein zwischen die ekelhaften Worte, wird dadurch entweiht, entheiligt, 
verunreinigt werden. 

Richtig, im Momente der Wegfahrt muß er sagen: Hure! Bei 
der Rückkehr vergaß er darauf, und erst nach dem Aussteigen fiel es 
ihm ein. Da war der entscheidende Moment glücklich verpaßt, und der 
böse Geist hatte das Nachsehen, denn die Bedingungen, unter denen 
die reinen Ferientage dem Ekel verfallen wären, waren nicht ein- 
gehalten worden. 

In der Gruppe von Zwangsgedanken, welche sich mit dem Tode 
der Eltern, beispielsweise der Mutter, befassen, kommen die Zweitel 
der Objektwahl zum Ausdruck. Das Haßmotiv gegen die Eltern, 
speziell die Mutter, verstärkt die Tendenz, neue Objekte zu suchen. 

Ein großer Gegensatz ergibt sich zwischen ihm und den Eltern 
dadurch, daß vom Eiternkomplexe aus eine große Verdrängung seiner 
Sexualität stattfindet. Als er ganz klein war, wurde ihm das Spielen 
mit dem Penis unter schweren Drohungen untersagt. Vielleicht war 
es die Inzestverdrängung, genährt durch die Behandlung durch die 
Eltern, welche ihn veranlaßten, in der Betätigung der maso- 
chistischen und sadistischen Triebkomponente einen Ausweg zu 
suchen. Die verständnislose Sexualverdrängung durch den Eltern- 
komplex half dazu auch, seine Sexualentwicklung vor ihnen zu 
verbergen. So kam er dazu, seine Phantasien ängstlich für sich zu 
behalten. 

Wenn er seine Spaziergänge mit nackten Füßen machte oder 
die Drohung der Eltern, wenn er nicht artig sei, werde er vollständig 
eingewickelt, eingebunden und wehrlos gemacht, in eine Wollust- 
phantasie verarbeitete und sich, nackt auf dem weichen Sofa liegend, 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 301 


die Füße kunstvoll zusammenband, so machte er das immer für sich 
im geheimen; der Gedanke, die Eltern könnten ihn ertappen, wurde in 
wohllüstiges Entsetzen verarbeitet. 

Einmal entdeckte man ein Zettelchen, auf welchem er eine solche 
Qualsituation inbrünstig beschrieben hatte — aus der Zeit vor der 
Pubertät. Es war ihm entsetzlich. Die Eltern schimpften ihn zwar 
nicht, da sie dem Phänomen ratlos und mitleidig gegenüberstanden. 
Sondern es plagte ihn furchtbar der Gedanke, die Eltern wissen nun 
seine Geheimnisse, diese werden überhaupt bekannt, und bis in die 
neueste Zeit war es ihm eine Qual, daß dieses Zettelchen sich nicht 
wiederfand. Der Affekt stammt wohl nicht allein vom Verrate dieses 
Geheimnisses her, sondern aus der Angst, die anderen, schlimmeren 
Geheimnisse könnten verraten werden. | 

(In den „Bemerkungen“ von Freud findet sich der Zwangs- 
glaube des Patienten, die Eltern wissen alles, was er denke.) Von den 
Eitern her findet ferner eine Verdrängung aller Masturbation statt. 
Die infantile wird zwar geleugnet, aber die Drohungen, an die sich 
Patient erinnert, sprechen doch dafür, daß sie da gewesen war. 

Die Dokumente für die Inselphantasien hatte er zu Hause immer 
sorgfältig verschlossen. 

Im Gegensatze zu den Eltern sind diese Dinge rein; auf der 
andern Seite werden ungefähr die gleichen Dinge zu unreinen, wenn 
sie unter der Wirkung des Elternkomplexes und im gleichen Sinne 
betrachtet werden. 


Aus diesem Verhältnisse zum Elternkomplex entsteht wieder 
ein Gegensatzpaar. 


Der Kampf mit dem Schlafe. 


„Die Schlafkrankheit‘‘ des Patienten ist nicht alt, datiert erst 
seit Winter 1908/09. Aber die Elemente, die sich früher zu einem an- 
genehmen Erlebnisse, jetzt zu einer unangenehmen Krankheit, einem 
Kampf gestaltet haben, sind alt. Nachdem das Leiden den Patienten 
aurch Wochen und Monate belästigt hatte, trat es wieder zurück, um 
einige Wochen vor dem Beginne der Analyse meuchlings sich wieder 
einzustellen. 

Die Wiederkehr geschah auf merkwürdige Weise. Wir sind zwar | 
mit dieser seltenen Art der Komplexe, ihren bevorstehenden Besuch 
oder ihre Rückkehr anzukünden, aus der Psychologie des Unbewußten 
bereits bekannt. 


302 F. Riklin. 


Es kam ihm eines Abends plötzlich der Gedanke: Nun, dieses 
Leiden, diese Angst vor dem Schlafe hast du jetzt, Gott sei Dank, 
schon lange verloren! Und durch diesen Einfall war er plötzlich wieder 
mitten in diesem unerwünschten Hexenzauber drin. 

Das Warum dieser ‚Wiederkehr ist mir noch unbekannt; vorläufig 
weiß ich auch noch nicht, wie das erste Auftreten motiviert ist. 

„Es bringt mich ganz herunter. Wenn ich mich also abends 
niedergelegt habe, so senkt sich der Schlaf auf mich hernieder, wie es 
sich gehört. Dann kommt aber ein Daimonion, das mir eine große 
Angst vor dem Moment des Einschlaiens einjagt. Also ringe ich ın 
entsetzlichem Kampfe mit einem Wesen, das ja mein guter Freund 
sein will, bis er mich schließlich übermannt, überwältigt (man beachte 
wohl diese bildlichen Ausdrücke), und ich dann bis spät in den Morgen 
hinein schlafe. 

Ich bekomme also Angst vor dem Einschlafen. Nun suche ich 
Gedanken, die mich gerade beschäftigen, zu verfolgen und auf diese 
Weise den Schlaf abzuwehren (also wie einen wüsten erotischen Ge- 
danken? Der Referent), damit er ja nicht kommt. Sobald ich zu unter- 
liegen scheine, wird schnell ein anderer Gedanke aufgegriffen und ver- 
folgt. So geht es in einer Wellenbewegung, bald bin ich wach, bald 
drohe ich zu unterliegen. 

Es ist nicht eine gewöhnliche Schlaflosigkeit; im Gegenteile, 
ich habe Überfluß an Schlafbedürfnis. Ich bin schlaftrunken von 
!/,9,Uhr an. Beim Abendessen oder beim Nachhausegehen taumle ich 
schon vor Schlaf. 

Wenn ich mich in diesem Dämmerzustande ohne weiteres auf 
das Sofa niedersinken lasse, schlafe ich sofort ein mit einem herr- 
lichen Schlafe, wenn ich keine Schlafvorbereitungen vornehme. Mache 
ich aber die üblichen Manipulationen, kleide ich mich aus und nehme 
die vielerlei Hantierungen vor, so wird dadurch der Schlaf vollkommen 
weggescheucht, und- wenn ich mich jetzt ins Bett lege, bin ich wach 
und es bemächtigt sich meiner das Daimonion und der geschilderte 
Kampf beginnt. 

Ich muß sagen, daß ich schon als kleiner J unge, aber selten aus 
Neugier, auf den Moment des Einschlafens lauerte ; der Versuch 
mißlang natürlich; es war aber dann nur die Angst, welche wohl auch 
der Gesunde bekommt vor diesem seltsamen Phänomen. 

Einige Zeit nachdem ich die Masturbation kennen gelernt hatte, 
da hatte ich jeweilen ein unglaubliches Schlafbedürfnis jeden Abend, 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 803 


etwa gegen 6 Uhr, Es war im Zusammenhange mit jenen Turnübungen, 
wo ıch die Ermüdung wollüstig genoß und wo ich mich nackt auf das 
Sofa legte, mit gebundenen Füßen. Ich fiel jeweilen einfach auf den 
Divan hin und hätte man mich nicht geweckt, so hätte ich dort bis 
zum Morgen weitergeschlafen. Man weckte mich dann, führte mich‘ 
halbschlafend zu Bette, und ich schlief gleich wieder ganz ein. Mit- 
unter aber, wenn es eine große Schelte gab wegen meiner Faulheit, 
wurde ich ganz wach und konnte zuerst nicht schlafen; aber es ging 
bald; ich hatte damals noch keine Angst vor dem Schlafe. Zu Hause 
wurde mir dies Verhalten nämlich als Faulheit ausgelegt: Du gerätest 
ganz dem Vater nach, sagte die Mama und lärmte, weil der Vater ein 
schläfriger Mensch ist und fast immer die Augen zu hatte. 

Dieses Einschlafen, d.h. der Zustand vor dem eigentlichen Schlafe 
Überwundenwerden war mir immer etwas Herrliches, Also gerade 
das Gegenteil von jetzt. Es war etwas wie Fieberschauer, aber sehr 
angenehm. 


Diese Müdigkeit ist im Prinzip auch heute da, wenn auch erst 
etwas später am Abend. Aber jetzt kommt das Daimonion und ich 
kann nicht mehr die Freuden von früher genießen. An und für sich 
ist sie mir immer noch wohlig, in ganz elementarer Weise. 


Zu Hause war es immer ein ganz weicher Diwan. Aber auch 
wenn ich jetzt aus Angst vor dem Kampfe das Zubettegehen aufschiebe 
und z. B. zur Kreuzkirche hinauf spazierte und mich auf einer Bank 
niederließ, so schlief ich ohne Kampf fest ein und wachte erst auf, 
wenn um 10, 11 oder 12 Uhr die Turmglocke mich durch ihre vielen 
Stundenschläge weckte. 


Es ist da auch eine gewisse Angst vorhanden vor dem Alleın, 
und im Dunkelnschlafen. Wenn ich früher etwa die Schlafangst 
hatte, so bat ich jeweilen Mama, an mein Bett zu sitzen, und wenn ich 
wußte, daß sie so lange dablieb, schlief ich ruhig und rasch ein. 


Der Schlafkampf ist erst aufgetreten, seitdem ich unter 
fremden Leuten bin; zwischenhinein verschwand er wie gesagt 
auch wieder; ich bekam heraus, daß es in der Zeit war, wo er energisch 
auf die Maturität hinarbeiten mußte.“ 


Es fehlt ihm jemand, der ihn lieb hat,-seit er von zu Hause 
fort ist! Zu Hause kam das Problem nur selten, und dann rief man 
eben die Mutter. 


Er ist also ein großes Kind geblieben. Er gesteht, daß er eben 


304 F. Riklin. 


doch gern daheim wäre, trotzdem er angeblich die Eltern nicht anders 
als den Hund liebt! Und auch den liebt er ja zu streicheln! 

Wäre die Mutter da am Bette oder statt ihr jemand anderer, 
um ihn zu liebkosen, dann wäre es gut. 

Er sucht also Heilung in der Übertragung auf die Mutter oder 
eine Nachfolgerin derselben; solange die Geliebte fehlt, ıst die Krank- 
heit da. 

Die Krankheit ist aber gerade eine Revolution, eine Ablehnung 
dieser infantilen Übertragung. 

Früher ließ er sich gerne vom Schlafe vergewaltigen, mit Wollust. 
Durch die Masturbation als etwas Aktives wurde anderseits die Wol- 
lust des Überwältigtwerdens, der Ermüdung als etwas Passives 
ausgelöst. 

Jetzt tritt der Gegensatz auf. Er kämpft gegen die Überwältigung, 
wie er gegen den Vater, die Elternvergewaltigung kämpft. Aber gerade 
durch den Kampf wird die Überwältigung ja noch vertieft, ausgebaut. 

Er ist das Weib in diesem Kampfe wie dann, wenn er sich die 
Füße bindet usw. 

Der Kampf gegen den Schlaf ist ein Kampf gegen einen Freund, 
den man doch lieb hat. 

Immer wieder sehen wir das Spiel der Gegensatzpaare im gleichen 
Objekte; wir haben es eben mit einer Zwangsneurose zu tun, wo es 
am tollsten zugeht, mit dem Zweifel an der Wurzel. 

Hinter dem Gedanken des Überwältigtwerdens vom Schlafe 
ist der Gedanke an dessen Bruder, den Tod. Er hat die Todesangst 
des neurotischen Weibes. 

Es ist Sexualangst, wenn auch das Problem durch eine gewisse 
Übertragung ins Abstrakte stark intellektualisiert ist. Es steckt auch 
die Angst des Kindes darin, das sich ohne Mutter fürchtet. 

Im Schlafkampfe nimmt er die früheren Scheltszenen der Eltern 
und dadurch den Kampf gegen dieselben wieder auf. Darum kommt der 
Kampf nicht, wenn er, wie damals, auf dem Sofa liest, sondern wenn 
er wieder aufstehen, wach werden, sich auskleiden und ins Bett 
legen muß. 

Das Sofa ist nicht ohne Bedeutung. Da kann er einschlafen, 
und zwar angekleidet. Früher lag erauch auf dem Sofa, zur Inselzeit, 
in den masochistischen Phantasien. Damals nackt! Jetzt kommt 
der Kampf, wenn er ausgezogen schlafen soll, aber im Bett! 

Beim Kampfe gegen das Einschlafen hat er Schmerzen im Kreuz 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 805 


und in den Knien — er hat genau die gleichen Empfindungen, wenn 
auch schwächer, bei oder nach der Masturbation. 

Wenn er masturbiert hat, klagt er am andern Tage über eine 
Schwäche, die in die Knie verlegt wird. Er fragt, ob er keine Ent- 
zündung bekomme! Er kümmert sich auch um sein Zyanometer. Das 
sind die blauen Ringe um die Augen, als Zeichen zunehmender Krank- 
heit. Man sieht zwar keine. Es steckt da noch ein Stück jenes Aus- 
spruches vom Vater darin, er leide an einer geheimen, verderblichen 
Krankheit. 

Also sehen wir wieder, wie der Schlafkampl erotisch aufgefaßt 
wird. Noch mehr: der Patient teilt uns mit, daß es ihm dann sei, wie 
wenn ihm eine entsetzliche Operation bevorstehen würde, eine Injektion 
oder ein Katheterismus!! 

Früher, zu Hause, wenn er auf dem Sofa einschlief, kam ein 
wohliges Zittern über ihn. Das hat er auch jetzt wieder, sofern er auf 
dem Sofa einschläft. Es kam im bekannten merkwürdigen Winter 
1903/04. 

Im Schlafbedürfnisse ahmt er dem Vater nach, er meint, es 
ererbt zu haben. Im Kampfe gegen das Einschlafen kämpft er gegen 
den Vater! 

Andere Vorstellungen beim Schlafproblem: 

Es ist das schreckliche Unbekannte, in das man hineingestoßen 
wird. Dies Gefühl kam stärker und sicherer erst im Winter 1907/08 
und hängt enge mit dem Ichproblem zusammen. 

An solchen Stellen wird, wie Freud sagt, bei der Zwangsneurose 
am meisten Zweifel angesiedelt. 

Das erotische Problem wird, in intellektualisierter Form, an 
solchen abstrakteren Objekten abgehandelt. 

Noch einige Angaben zum Schlafkampie. 

Beim Schlafkampfe kommen keine erotischen Phantasien. 
Wenn Träume und erotische Phantasien kommen, wache der 
Kranke gleich auf, weil er spüre, daß da der Schlaf eintreten wolle. 

Der Schlafkampf werde verschwinden, wenn er z. B. nach Hause, 
in die Ferien, auf den Fauteuill komme. Wenn er mit den Kleidern 
gleich aufs Bett liegen könnte, würde er ganz gut schlafen. Wenn er 
sich aber ausziehen müßte und aufs Sofa legen, würde der Schlaf- 

kampf auch da sein. 

„Der Schlaf ist der BruderdesTodes. Ich bin wie ein Dachdecker, 
der stürzt, sich noch anklammern kann, aber vergebens ruft. 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 20 


306 F. Riklin. 


Ich horchte auch mit Angst auf die Atemzüge des Vaters, in der 
Furcht, es könnte ihn der Schlag treffen. Wenn ich ihn nicht atmen 
hörte, mußte ich aufstehen und sehen, ob etwas los sei. 

Im Februar 1908 packte mich ein ganz eigenartiger Pessimismus, 
nachdem ich Nirwana gelesen hatte. Da kam die Wollust des Pessi- 
mismus über mich, die Freude, mich hineinzufühlen und zu leiden, 
und da konnte ich gut einschlafen; es war einige Wochen nach 
dem Beginn des Schlafkampfes. Schopenhauer sagt, der angenehmste 
Moment sei der des Einschlafens und der unangenehmste der des 
Erwachens.‘‘ 

Diese gute Reaktion dauerte leider nur ein Paar Wochen. 

Unser Patient beschreibt also in wunderbarer Weise die Be- 
ziehungen zwischen Schlaf, Tod und Sexualität. 


Das Ichrätsel. 


Das Ichrätsel steht ın naher Beziehung zum Schlafproblem. 
Aber es ist weniger leicht zu verstehen, weil es am unvollständigsten 
analysiert ist, und weil, nachdem die anderen Erscheinungen aufge- 
klärt waren, Patient dieses Hauptbollwerk seiner Neurose nicht 
aufgeben wollte, denn sonst hätte er am Ende diese selbst aufgeben 
müssen. Hier bildete er schließlich den Hauptwiderstand gegen die 
Analyse aus, natürlich auf dem philosophischen und metaphysischen 
Gebiete, wo es am schwersten ist, dem Zweifel beizukommen. 

Wir haben ein weiteres Beispiel vor uns, daß die Zwangsneuro- 
tiker es lieben, ihr erotisches Problem und ihre Gegensätze auf Fragen 
zu verschieben, welche allen Spitzfindigkeiten ausgesetzt sind, wo 
möglichst viel Unsicheres ist. Außer den metaphysischen werden z. B. 
gewisse schwierige Probleme der Physik und Chemie zum Tummel- 
platz der Gegensätze ausgewählt. Einiger Widerstand kam schon 
bei der Besprechung des Traktates; da wurde ich als Vater schon teil- 
weise. mit dem Vater identifiziert und es mußte also auch gegen mich 
gekämpft werden. Es reizte ihn zum Widerstand, als ich das Traktat 
nicht als vollwertig gelten lassen wollte. 

Beim Ichproblem rückte er immer sparsamer mit dem Material 
heraus, es wollte ihm nichts mehr einfallen, und er suchte sich aus dem 
Gefechte herauszuziehen, indem er immer anderes vorbrachte und die 
Besprechung des Ichproblems gegen den Schluß der Zeit hinschob, 


die ri für die Analyse bis zu seiner Abreise noch zur Verfügung 
stand. 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 307 


„Das andere mögen Sie meinetwegen alles auseinander lesen, 
dem Ichproblem werden Sie niemals ganz beikommen, das Ichrätsel 
werden wir nie lösen.‘‘ So redete er bald, nachdem ich ernsthaft ver- 
suchte, dieser Festung, die ja auch nicht außer der Welt war, sondern 
innert der Grenzen der menschlichen Psychologie lag und auf den 
assoziativen Zufahrtsstraßen erreicht werden mußte, näher zu 
kommen. | 

„Ich vergleiche meinen Geist mit einem Zimmer, darin ist eine 
Nische, von einem Vorhang bedeckt. Dahinter ist etwas ganz Schreck- 
liches, Furchtbares, das mich zur Verzweiflung bringt, wenn ich den 
Blick hinwende (meinem Vergleiche mit dem verschleierten Bild von 
Sais stimmt er sofort zu). 

Aber ich bin in diesem Zimmer eingesperrt, kann nicht heraus, 
und nun bin ich gewohnt, mit diesem unheimlichen Dinge zu leben; 
ich kann lange Zeit nicht hinschauen, aber täglich muß ich denken, 
daß dieses unheimliche Etwas da ist. Manchmal aber treibt es mich 
doch hin, und dann muß ich die entsetzlichsten Qualen ausstehen, 
und bin überzeugt, daß ich da wirklich am Überschnappen bin. 

Dieses Ichrätsel hat mich schon als kleiner Bub geplagt, 
aber lange nicht wie heute. Einmal, ich war sicher noch nicht 10 Jahre 
alt, wußte ich schon nicht wo aus und ein, war verzweifelt, suchte 
nach Aufklärung bei den Eltern. Aber sie glotzten mich verständnis- 
los an, als hätte ich chinesisch geredet, und sagten: Na ja, du wirst 
später mit denkenden Menschen reden, und die werden dich über alles 
aufklären können u. del. 

Die Frage kann ich nicht klären, weil ich sie unmöglich dar- 
stellen kann. 

Ein zweites Bild: Wenn ich noch an den lieben Gott"glauben 
würde, der jeden Menschen schafft und ihm die Seele einbläst, so müßte 
ich annehmen, er hätte sich bei meiner Erschaffung geirrt und aus 
Versehen ein Paar Tropfen falscher Substanz in die Masse fallen lassen, 
Substanz, die nicht für Menschen bestimmt war, sondern für 
Engel oder ähnliche Wesen!). 

Ich habe eine große Hemmung, anderen Menschen das Ichrätsel 
mitzuteilen, denn wenn sie es verstehen, müssen sie ja unglücklich 
werden. 


(Das Gleiche sagte er mir beim Vorlesen des Traktates.) 


!) Ein Größengedanke. Solche finden sich öfter bei Zwangskranken. 
20* 


308 F. Riklin. 


Der, dem ichs mitteile, wird von demselben Ungeheuer geplagt 
sein wie ich; lieber will ich es allein tragen und allein daran zugrunde 
gehen. Es ist das Rätsel aller Rätsel. 

Aber ich wäre beruhigt zu erfahren, daß andere Menschen dasselbe 
haben, daß ich nicht der einzige bin, der das hat. 

Ich versuche zu schildern, Sie werden lachen über den Blödsinn. 

Also, Sie sehen Ihren Körper, Bauch, Hände, Füße, Arme und 
Beine, aber die Anschauung ist beschränkt. Wenn Sie die Augen aus- 
renken, sehen Sie noch Nase, Schulter, Augenbrauen. Aber weiter 
gehts nicht.‘ (In einem kleinen Anfall von Verzweiflung): „Mir kommt 
es so fürchterlich, so komisch, so unheimlich, so schrecklich vor, das 
Verhältnis von mir zur Welt. Ich zur Welt, ich und die Weltmenschen, 
ich und die Geschöpfe, denen stehe ich gegenüber, ich, ich; ja ich 
komme einfach nicht weiter.‘ (Ist erregt.)') 

„Es müßte notwendig sein, um mich zu verstehen, daß jemand 
Ähnliches erlebt hätte, und das glaube ich nicht. 


!) Ich konnte dem Kranken an einem Beispiele aus meiner frühen Jugend 
zeigen, daß ich auch ein Ichproblem hatte. 


Als ich etwa 5 Jahre alt war — der Zeitpunkt läßt sich noch ziemlich genau 
bestimmen — packte mich, ich weiß leider nicht mehr in welchem Zusammen- 
hange, das Problem vom Ende der Welt. Ich stellte mir die Erde flächenhaft vor, 
umgeben von Wasser. Aber dies Wasser mußte doch ein Ende haben. Also stellte 
ich mir vor, es sei von einer undurchsichtigen Bretterwand umgeben. Da mußte 
ich mich aber weiter fragen, was hinter dieser Wand sei. Wieder Wasser? Ich 
fand keinen Ausweg und lief in großer Angst weinend zur Mutter und klammerte 
mich an sie, ohne ihr jedoch sagen zu können, was mich plage. 


Da war auch das Problem: Ich und die Welt. Das Weltproblem, die Unsicher- 
heit über die Welt, löst sich auf durch die Erklärung der Bretterwand; ich fand 
sie erst zur Zeit, als ich mich mit Psychoanalyse beschäftigte; das Bild, das ich mir 
als kleiner Knabe gemacht hatte, blieb mir immer in genauer Erinnerung, aber erst 
jetzt wurde mir plötzlich einmal klar, woher die Bretterwand stammt: In meiner 
Geburtsstadt war ein großer Weiher, der im Sommer als Badeanstalt diente. An 
seinem einen Ende war damals eine Mädchenbadeanstalt eingebaut, zu der ein 
Steg vom Ufer hinführte. Diese Mädehenbadeanstalt war umgeben von einer 
hohen, undurchsichtigen Bretterwand, mit der meine Bretterwand, welche die 
Grenze der Welt darstellte, identisch war. Das große Problem reduzierte sich 
zur wichtigen Frage: Was ist hinter jener Bretterwand? Darum die Angst 
und die Anklammerung an das Sichere, die geliebte Mutter! Auch eine kleine 
Regression! Seither habe ich noch andere Ichprobleme kennen gelernt. 

Ein Knabe hatte das Problem: Warum bin ich ich und nicht dieser Stein da? 


Der Stein lag da, wo der Knabe oft den Mädchen beim Baden zusah und dann 
weggeschickt wurde. (Beispiel von Jun 8.) 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose. 309 


Ich kann deswegen nicht heiraten, da immer dieser Daimon als 
dritter zwischen meiner Frau und mir wäre, und der Frau könnte 
ich es nicht mitteilen oder nicht klarmachen, da es mir auch nicht 
klar ist, oder sie würde unglücklich, oder die Kinder könnten es ja 
von mir erben! Also mache ich es wie ein gewissenhafter Syphilis- 
kranker, der sich vor dem Verkehr und der Liebe zu Mädchen 
hüten muß. 


Wenn ich am Ichrätsel überschnappe, so werden Sie mich als 
Geisteskranken mit der Idee finden, ich sei der Weltgeist, in mir 
manifestiere sich die Gottheit!). Als ich noch ein kleiner Knirps war, 
hatte ich ein Paar Kameraden, also A und B, und ich war der S. Ich 
konnte nicht begreifen, warum ich gerade der S war und nicht der 
A oder B. 


Im elften Jahre lehnte ich am Fenster bei Bekannten, ganz nahe 
bei mir stand ein Mädchen der Familie. Da war es mir entsetzlich, 
warum ich ich sei, nicht aus mir heraus könne, warum ich nicht das 
andere sei, sondern ich. 


Wenn es nicht bessert, muß ich doch auf die Insel, abgesondert 
für mich als einsamer Naturmensch !““ (Also: Wenn mein Sexualpro- 
blem sich nicht löst, muß ich zurück ins Infantile!) | 

„ich bin dadurch auch gehindert, mich ganz darüber auszu- 
sprechen, weil ich fürchte, daß Sie da etwas Irriges aufschnappen, 
z. B. aus der letzten Bemerkung. 


Es packt mich namentlich im Finstern,' im Bette, wenn ich 
allein bin. Wenn ich nur ein anderes Geschöpf hätte, an das ich mich 
halten könnte, das mich beruhigen würde. Es ist ähnlich wie beim 
Schlafproblem. 


Das Festhalten aller lieben Sächelchen aus der Kindheit 
im Museum hängt auch damit zusammen, daß sie aus einer Zeit stammen 
wo ich noch nicht besessen war vom bösen Geist, wo ich noch kein 
Ichrätsel hatte. 


Ich- und Schlafproblem kombinierten sich, wenn ich an das 
Hinübergestoßenwerden ins Unbekannte dachte. Das Ichrätsel konnte 
mich stärker quälen, das Dunkel im ganzen Weltall. Einmal 
wird ım Weltall doch alles Licht auslöschen. 


!) Im Gegensatz zur höchsten Vereinsamung des Introvertierten eine 
Identifikation mit dem Kosmos, ähnlich dem Paranoiden, über den Honegge 
am Kongreß in Nürnberg berichtet hat. 


310 F. Riklin. 


Gestern z. B. hat es mich gepackt, schrecklich, ich hatte weinen 
mögen, und gerade jetzt packt es mich wieder.‘ (Weint verzweifelt.) 

„Letzten Winter, als ich mich mehr und mehr mit Philosophie 
abgab, las ich Mach und Avenarius. Es ist ganz unheimlich. Es 
machte mir Angst und bange, wie wenn mir der Boden unter den 
Füßen weggezogen würde. Die Unendlichkeitsvorstellungen machten 
mir bange. 

Es ist eben das Unheimliche: Ich hatte niemand mehr: Zuerst 
der Zusammenbruch der Eltern, dann des lieben Gottes. Dieses 
Niemandenhaben, auch keinen Gott, bei dem man Trost finden könnte, 
dieses Trostlose ist schrecklich. Was tauscht man gegen den früheren 
Glauben ein? Das Ichrätsel ist verbunden mit dem Wachsen über 
die Eltern, welche die Autorität waren. Durch die sexuelle Aufklärung 
sanken sie zu Menschen herab, ja darunter. Und dann kam der liebe 
Gott an die Reihe. 

Genau wie es mit dem Ich ist, so läßt sich eine Erweiterung 
machen zum Wirrätsel. Es ist im Prinzip das gleiche. Das Wirrätsel 
wird zu einem Heimaträtsel. 

Ich versuchte mir Photographien zu verschaffen von mir, wo 
ich nicht allein war, sondern mit Schulkameraden. Dann wurde es mir 
etwas klarer, aber nicht ganz. Ich sah, daß ich doch unter den anderen 
als normaler Mensch figurierte. 

Ich dachte mir das Ichrätsel auch im Zusammenhange mit dem 
Tod, und das waren Gedanken, die mich beim Schlafengehen packten. 
Wenn es eine Unsterblichkeit gibt, würde ich vielleicht noch im Jen- 
seits mit meinem merkwürdigen Ich herumgehen; also wäre ich im 
Jenseits doch unglücklich. Anderseits wie unangenehm, wenn es 
keine Unsterblichkeit gibt, wenn alles fertig ist. 

Dann kam die geschilderte Nirwanazeit, wo es vorübergehend 
besser war. | 

Ich habe Angst vor der Lösung des Ichrätsels, Angst, ich könnte 
dann sterben oder verrückt werden. Wie beim verschleierten Bild 
von Sais. 

Es schnürt mir die Kehle zu, ich bin daran, in Tränen auszu- 
brechen. 

Es fiel mir als Kind ganz plötzlich ein; ich glaubte noch an den 
lieben Gott (mit 10 bis 11 Jahren). Zu jener Zeit erhörte er aber noch 


meine Gebete wie jene anderen, wo ich ihm in der Schule anflehte, daß 
ich nicht drankomme.“ 


Aus der Analyse einer Zwangsneurose, Sll 


Im ‚„Ichrätsel‘, an einem abstrakten Problem, kann der Zweitel 
am besten ‚„angesiedelt‘‘ werden, ist die Unsicherheit am größten. 
Der Kranke spricht damit aus, daß wir der Welt gegenüber nur sicher 
sind, wenn es auch in unserer Liebe der Fall ist. 

Zum Unterschiede von anderen Fällen konnte ich bei unserem 

Kranken keine zweite ‚Religion‘ finden, in welche er sich flüchten 
kann; er bedauert aber diesen Mangel und die Unsicherheit ist ihm 
um so beschwerlicher. 
' ©) Unser Fall ist in seinem ganzen Wesen bedeutend infantiler 
als der von Freud in den „Bemerkungen“ dargestellte. Wohl schwankt 
er auch zwischen den alten Objekten der Übertragung und neuen. 
Aber diese neuen haben sich noch gar nicht in einer Hauptperson 
kristallisiert; er hat noch gar keine ernsthaften Versuche gemacht; 
die Regression ist viel stärker. Gegenwärtig arbeitet er noch am 
„Traktat“ in neuer Auflage; der Inhalt ist wesentlich milder, er rechnet 
nicht mehr auf dessen große Macht und Wirkung, die ursprünglich 
auf ein Aufhören jeder Kinderzeugung zielte. Doch ist es immer 
mie sein philosophisches Hauptwerk. 

ı Er gibt sich durch seine Krankheit Mühe, die Wahl eines neuen 
Objektes und die Ablösung von den Eltern, aufzuschieben. Einmal 
sprach er davon, die ganze Krankheit zu opfern, wie er es mit anderen 
lieben Dingen auch tat oder zu tun versuchte. Er zeigt dadurch, 
daß er die Neurose mit ihrer reichen intellektuellen Ausarbeitung 
liebt, sie ist sein Lebenswerk. Er kostet auch ihre Vorteile, wählt 
sich schöne Aufenthalte, die seinen Phantasien entsprechen, schafft 
sich aus der Qual Lust usw. Aber eine Unsicherheit hindert ihn wieder 
an diesem Opfer; er wisse nicht, ob er dann das andere bekomme 
nämlich ein Weib, das er lieben könne. 

In diesem Zweifel gleicht seine Zwangsneurose der Dementia 
praecox, welche die Übertragung auf neue Objekte überhaupt kaum 
versucht und gänzlich ins Infantile zurückkehrt. Der Zwangsneurotiker 
hat aber mehr Rapport zur Wirklichkeit, mehr Objektliebe, indem seine 
Phantasieelaboration sorgfältiger, darstellbarer, verständlicher ist und 
durch ihre Intellektualisierung sich charakterisiert. 

Ich schließe meine Ausführungen ab mit der Bitte, man möge 
bei der Unvollkommenheit der Darstellung die Schwierigkeit des 
Problems und die Unfertigkeit der Analyse berücksichtigen. 


Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: 
Die sexuelle Not’). 


Von Dr. C. 6. Jung (Küsnach-Zürich). 





Das Buch ist mit ebenso viel Leidenschaft als Intelligenz ge- 
schrieben. Es spricht von der Frage der Fruchtabtreibung, der Sy- 
philis, der Familie, vom Kind, von Frauen und Frauenberuf. Sein 
Motto lautet: ‚‚Die Menschen müssen ihre Sexualität ausleben, sonst 
verkrüppeln sie.‘ Dem Sinne dieses Satzes entsprechend erhebt 
Wittels seine Stimme für die Befreiung der Sexualität in weitem 
Umfang. Er spricht eine Sprache, die man selten hört, die Sprache 
der schonungslosen, fast fanatischen Wahrhaftigkeit, die unerfreulich 
in den Ohren klingt, allen Scheinbarkeiten und Kulturlügen die Maske 
vom Gesichte reißen möchte. Es steht mir nicht an, die ethischen 
Tendenzen des Verfassers zu beurteilen; die Wissenschaft hat bloß 
diese Stimme zu hören und schweigend festzustellen, daß, wie immer, 
auch dieser Rufer nicht allein steht, sondern ein Führer ist für viele, 
die diesen Weg zu gehen sich anschicken, daß es sich um eine Bewegung 
handelt, deren Quellen unsichtbar fließen und deren Strömung fast 
mit jedem Tage höher schwillt. Die Wissenschaft hat den Wahrheits- 
gehalt des Beweismaterials zu prüfen und zuzuwägen und — zu ver- 
stehen. Das Buch ist Freud gewidmet und basiert in vielem auf der 
von Freud gegründeten Psychologie, welche in ihrem Kerne die wissen- 
schaftliche Rationalisierung eben dieser Bewegung unserer Zeit ist. 
Man verwechsle die beiden Dinge aber nicht miteinander: dem Sozial- 
psychologen ist und bleibt die Bewegung ein intellektuelles Problem, 
dem Sozialethiker aber ist sie eine Aufforderung, der Wittels in seiner 
Art nachkommt, andere versuchen es auf andere Weise. Man höre 


Verlag C. W. Stern. Wien und Leipzig, 1909, 207 Seiten. 


Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: Die sexuelle Not. 818 


sie alle. Nirgends ist so sehr wie hier die Ermahnung am Platze, sich 
des enthusiastischen Beifalles einerseits zu enthalten und anderseits 
nicht blindwütig dagegen anzurennen, sondern sich leidenschaftslos 
klar zu machen, daß das, worüber sich draußen die Menschen streiten, 
auch ein Kampf in unserm eigenen Innern ist. Denn man muß sich 
doch endlich die Erkenntnis zu eigen machen, daß die Menschheit nicht 
eine Anhäufung getrenntester Individualitäten ist, sondern einen so 
hohen Grad von psychologischer Gemeinschaftlichkeit besitzt, daß das 
Individuelle daneben bloß wie eine leise Variation erscheint. Wie sollen 
wir aber gerecht über diese Sache urteilen, wenn wir uns nicht ein- 
gestehen können, daß es auch unsere Frage ist? Wer dies sich selber 
bekennen kann, der wird auch bei sich zuerst die Lösung versuchen, 
und so bahnen sich überhaupt die großen Lösungen an. 

Es steckt noch ein zu großes Stück Zirkusschaulust inden Menschen, 
wenn sie so gar begierig sind, immer gleich wissen und entscheiden 
zu wollen, wer endgültig Recht oder Unrecht hat. Wenn man die Fun- 
damente und Hintergründe seines Denkens und Handelns untersuchen 
gelernt und einen recht tiefen und heilsamen Eindruck davon emp- 
fangen hat, wieviel unbewußte biologische Zweckdienlichkeit unsere 
Logik beugt, dann vergeht einem die Lust an Gladiatorenkampf und 
öffentlicher Disputation, man macht es in und mit sich selber aus. 
Dabei bewahrt man sich die Perspektive, die unserer Zeit, der ein 
Nietzsche als bedeutendes Omen voraufging, besonders von Nöten 
ist. Wittels wird gewiß nicht allein bleiben, er ist nur einer der 
ersten und einer von vielen, die aus den Schächten dieser wahrhaft 
biologischen Psychologie Freuds ‚‚ethische‘‘ Folgerungen herauf- 
bringen werden, vor denen das bisher ‚„‚Gute‘ bis ins Mark erschauern 
wird. Wie ein witziger Franzose einmal bemerkte, geht es den Moralisten 
am schlechtesten von allen Erfindern, denn ihre Neuigkeiten können 
stets nur Immoralitäten sein. Das ist lächerlich und traurig zugleich, 
denn es zeigt, wie unzeitgemäß unser Moralbegriff geworden ist: es 
mangelt ihm das Beste, was modernes Denken errungen hat, nämlich 
das biologische und das historische Bewußtsein. Dieser Mangel 
an Anpassung muß ihn über kurz oder lang zu Falle bringen, und nichts 
wird seinen Fall aufhalten. Ich muß hier an ein weises Wort von 
Anatole France erinnern: ‚Bien que le passe leur montre des droits 
et des devoirs sans cesse changeants et mouvants, ils se croiraient dupes 
s’ils prevoyaient que I’humanit£ future se ferait d’autres droits, d’autres 
devoirs et d’autres dieux. Enfin, ils ont peur de se d&shonorer aux yeux 


3l4 ©. @. Jung. 


de leurs contemporains en assumant cette horrible immoralite qu’est 
la morale future. Ce sont lä des empö&öchements ä rechercher 
Y’avenir.‘ Hier liegt der Schaden unseres altertümlichen Moralbegriffes: 
er trübt den Blick für Neuerungen, die, wenn noch so zweckmäßig, doch 
immer notwendigerweise das Odium der Immoralität mit sich führen. 
Aber gerade hier sollten unsere Augen hell und weitblickend sein: die 
Bewegung, von der wir oben sprachen, das Drängen nach Reformation 
der Sexualmoral, ist keine Erfindung einiger Nachtwandlergehirne, 
sondern eine Erscheinung, die mit den großen Allüren einer Naturmacht 
auftritt. Hier frommt kein Argumentieren und Tüfteln über moralische 
Existenzberechtigung, das Klügste ist immer anzuerkennen und das 
Beste daraus zu machen. Das fordert rauhe und schmutzige Arbeit. 
Das Buch von Wittels gibt einen Vorgeschmack von dem Kommenden, 

der viele erschrecken und abschrecken wird. Der lange Schatten dieses 
Schreckens wird natürlich auf die Freudsche Psychologie fallen, der 
man vorwerfen wird, der Nährboden für alle Unholde zu sein. Gegen 
diesen Vorwurf möchte ich sie jetzt schon in Schutz nehmen. Unsere 

Psychologie ist eine Wissenschaft, der man höchstens vorwerfen kann, 

daß sie das Dynamit erfunden hat, mit dem auch der Terrorist arbeitet. 

Was der Ethiker, der Praktiker überhaupt damit anfängt, geht uns 

nichts an, und wir mischen uns auch nicht darein. Es werden sich viele 

Unberufene herzudrängen und die größtmöglichen Tollheiten damit 
anstellen, auch das kann uns nicht berühren. Unser Ziel ist einzig und 
allein die wissenschaftliche Erkenntnis, die sich um das Getümmel, 
das sich um sie erhebt, nicht zu kümmern hat. Sollten dabei Religion 
und Moral in Stücke gehen, um so schlimmer für sie, wenn sie nicht 
mehr Haltbarkeit besitzen. Erkenntnis ist auch eine Natur- 
macht, die mit innerer und unaufhaltsamer Notwendigkeit ihres Weges 
geht. Auch da gibt es kein Vertuschen und Unterhandeln, sondern nur 
ein bedingungsloses Annehmen. 

Diese Erkenntnis identifiziert sich aber nicht mit den wechselnden 
Vorschlägen der Praktiker; daher kann sie auch nicht mit moralischem 
Maßstabe gemessen werden. Man muß dies merkwürdigerweise laut 
sagen, weil es heute noch Leute mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit 
gibt, die ihre moralischen Bedenklichkeiten sogar auf wissenschaftliche 
Erkenntnisse ausdehnen. Wie jede rechte Wissenschaft steht auch 
die Psychoanalyse jenseits aller Moral, sie rationalisiert das Unbewußte 
und fügt so die vorher autonomen und unbewußten Triebkräfte in die 
seelische Hierarchie. Der Unterschied von vor und nachher ist der, 


Randbemerkungen zu dem Buch von Wittels: Die sexuelle Not. 815 


daß der Mensch nun wirklich auch das sein will, was er ıst und nichts 
mehr der blinden Fügung des Unbewußten überläßt. Der sich sofort 
erhebende Gegengrund: der Unmöglichkeit, nämlich, daß dann die 
Welt aus ihren Fugen ginge, ist der Psychoanalyse in erster Linie zu 
überweisen; sie hat das Wort, aber nur unter vier Augen, denn diese 
Angst ist eine Individualangst. Genug, das ideale Ziel der Psycho- 
analyse ist ein Zustand der Seele, wo das Sollen und Müssen durch ein 
Wollen ersetzt ist, wo man, wie Nietzsche meint, nicht nur Herr 
über seine Laster, sondern auch über seine Tugenden ist. Insofern die 
Psychoanalyse also rein rational ist — und sie ist es ihrem ganzen 
Wesen nach —, ist sie weder moralisch noch antimoralisch .und gibt 
weder Präskriptionen noch sonstige ‚Du sollst“. Das ungeheure Füh- 
rungsbedürfnis der Masse wird allerdings viele dazu zwingen, den Stand- 
punkt des Psychoanalytikers aufzugeben und mit ‚„Verschreiben‘ an- 
zufangen. Der eine wird Moral, der andere „Ausleben‘‘ verschreiben. 
Beide dienen der Masse und gehorchen den Strömungen, welche die 
Masse umtreiben. Die Wissenschaft steht darüber und leiht die Macht 
ihrer Waffen dem Christen sowohl wie dem Antichristen. Wissenschaft 
ist bekanntlich nicht konfessionell, 

Ich habe noch kein Buch über die Sexualfrage gelesen, das mit 
solcher Härte und Unbarmherzigkeit die heutige Moral zerreißt und 
trotzdem in den Hauptstücken so wahr ist; eben deshalb verdient 
Wittels gelesen zu werden, aber auch viele der anderen, die über das- 


selbe schreiben, denn nicht das einzelne Buch ist das Wichtige, sondern 
ihr gemeinsames Problem. 


Bericht über die neuere englische und amerika- 
nische Literatur zur klinischen Psychologie und 
Psyecehopathologie. 


Von Ernest Jones. M. D. (London.) Demonstrator of Psychiatry, University 
of Toronto, Canada. 


(Übersetzt von Dr. W. Stoekmayer, Assistenzarzt der Kgl. Universitätsklinik 
für Gemüts- und Nervenkrankheiten, Tübingen.) 





I. Einführung. 
In der klinischen Psychologie und Psychopathologie gab es in den 


angelsächsischen Ländern vier getrennte Bewegungen. Die beiden, 
die ihren Anfang in England nahmen, sind, insofern man den weiteren 
Fortgang in Betracht zieht, soviel wie tot; die beiden amerikanischen 
sind auf der Höhe ihrer Wirksamkeit. An der Spitze dieser Bewegungen 
stehen die Namen von Braid beziehungsweise von F. W. H. Myers, 
von Morton Prince und von Adolf Meyer. In Verbindung mit 
Braid muß man die Namen seiner Vorgänger Elliotson und Es- 
daile besonders erwähnen, mit dem zweiten die von Gurney, Pod- 
more, William James und Hyslop, mit dem dritten Boris Sidis, 
Putnam, Coriat, Courtney, Linenthalund Taylor und mit dem 
vierten August Hoch und Macfie Campbell. 

Der ersten dieser Bewegungen, die von 1840 ab datiert werden 
kann, verdanken wir direkt das Meiste unserer modernen Kenntnisse 
des Hypnotismus. Braids Werk war die Inspiration für Azam, 
Broca und Velpeau und indirekt einigermaßen für Li&ba.ult, von 
dem die Schule von Nancy und sozusagen alle anderen heutigen Schulen 
desHypnotismusin Europaherstammen. Es ist jedoch wenig zu Braids 
Werk hinzugefügt worden. Der Hypnotismus wird in England vom 
Ärztestand noch scheel angesehen und mehr noch in Amerika, obwohl 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literaturusw. 817 


es viele Ärzte in ersterem Lande gibt, wie namentlich Milne Bram- 
well, Lloyd Tuckey, Woods und Kingsbury, und einige im 
letzteren, wie Quackenbos und andere, die sich seiner Ausübung 
widmen. 

Die zweite Bewegung, die am meisten in den achtziger Jahren 
zuerst in England und dann in Amerika blühte, brachte eine Menge 
wertvoller Experimentalarbeiten über posthypnotische Suggestion, 
Halluzinationen, automatisches Schreiben, Kristalloskopie usw. her- 
vor. Dies ist so ziemlich alles in den ‚‚Proceedings of the Societies for 
Psychical Research“ veröffentlicht. Von Anbeginn jedoch wandte 
man solchen Gegenständen wie Hellsehen, Telepathie, Tischklopfen usw. 
großes Interesse zu und in den letzten Jahren haben die spiritistischen 
Gesichtspunkte alle anderen beherrscht. Die ausgesprochene Tendenz 
der Mitglieder zum Spiritismus bewirkte zu einem großen Teil, daß 
Ihre Arbeiten über andere Gegenstände in Mißkredit kamen, und ist 
eine von vielen Ursachen, warum in England die klinische und prak- 
tische Psychologie noch kühl aufgenommen wird. 

Die dritte Bewegung wurde vor ungefähr zwanzig Jahren durch 
Morton Prince eingeleitet; die Mehrzahl der veröffentlichten Arbeiten 
ist jedoch weniger als ein halbes Dutzend Jahre alt und erst innerhalb 
dieser Zeit hat er einige beachtenswerte Anhänger erlangt. Obgleich 
diese Bewegung viele unabhängige Züge hat, verdankt sie viele ihrer 
Inspirationen einerseits der experimentellen, nichtspiritistischen Arbeit 
der zweiten, vorher erwähnten Bewegung und anderseits den Unter- 
suchungen der Pariser Schule, besonders denen von Pierre Janet. 

Die vierte Bewegung ist noch neueren Datums und weist direktere 
Beziehungen zum Kontinent, besonders zur Freudschen Schule auf. 
Sie befaßt sich hauptsächlich mit den psychopathologischen Problemen 
der Psychiatrie. 

Der vorliegende Bericht nimmt hauptsächlich auf die Ver- 
öffentlichungen der letzten drei Jahre Bezug. Eine große Anzahl von 
Arbeiten, häufig ohne jeden Wert, sind in dieser Zeit erschienen und 
in dem nachher gegebenen Verzeichnis findet nur ungefähr ein Zehntel 
der Veröffentlichungen Erwähnung; es ist zu hoffen, daß das Ver- 
zeichnis alle besseren Arbeiten über den Gegenstand in sich schließt. 
Viele ausgezeichnete Arbeiten wurden während dieser Zeit von fremden 
Autoren, insbesondere von Bechterew, Claparöde, Janet, Jung, 
Pick, Sollier und Soukhanoff, in angelsächsischen Zeitschriften 
veröffentlicht, jedoch sind diese hier nicht inbegriffen, da sie keiner 


318 Ernest Jones. 


angelsächsischen Schule entstammen. Arbeiten über den Gegenstand 
des Hypnotismus, der Sexuologie, der Religions- und der sozialen 
Psychologie sind ebenfalls ausgeschlossen, um Platz zu sparen. Viele 
der besten Arbeiten, die irgend über die beiden letzteren Gegenstände 
gemacht worden sind, waren amerikanisch; es kann auf einen Bericht 
über die neuesten amerikanischen Arbeiten über Religionspsychologie 
in der Zeitschrift für Religionspsychologie 1909, Bd. III, H. 3, ver- 
wiesen werden. Der führende angelsächsiche Autor in der Sexuologie 
ist Havelock Ellis, dessen Arbeiten in Deutschland besser als sonst 
irgendwo bekannt sind. 

Ein Wort mag über die Haltung gesagt werden, die in angel- 
sächsischen wissenschaftlichen Kreisen der klinischen Psychologie 
gegenüber vorherrscht. Dies ist in England und in Amerika ganz ver- 
schieden. Im ersteren Lande wird der Gegenstand mit kühler Anti- 
pathie betrachtet und soweit der Verfasser unterrichtet ist, wurde auch 
nicht eine wissenschaftliche Untersuchung darüber ausgeführt; weniger 
als ein Zehntel der Arbeiten, auf die hier Bezug genommen ist, wurden 
in englischen Zeitschriften veröffentlicht. In Amerika anderseits be- 
steht für diesen Gegenstand ein weitverbreitetes Interesse, obgleich 
dessen Wert durch die oberflächlichen und unkritischen Ansichten, 
die, ausgenommen in einem vergleichsweise kleinen Kreise, allgemein 
vorherrschen, bei weitem das Gleichgewicht gehalten wird. Im ame- 
rikanischen Ärztestande ist die Bereitwilligkeit, einen psychogenetischen 
Ursprung gewisser Krankheiten anzunehmen, viel ausgedehnter als im 
englischen und auch die Laien nehmen in diesem Lande sehr großes 
Interesse an den Problemen, wie aus der Popularität solcher Bücher 
wie Addington Bruces ‚The riddle of Personality“, Hudsons 
„Psychie Phenomena“ und Waldsteins ‚The Subeonscious Self“ usw. 
augenscheinlich wird. 

Wer die Absicht hat, die eine oder andere der Arbeiten, auf die 
hier verwiesen wird, persönlich zu studieren, sei ausdrücklich daran 
erinnert, daß, weil der in dieser Übersicht davon gegebene Bericht auf 
des Autors individuelle Beurteilung gegründet ist, er wohl kaum ganz 
unpartelisch ist, obwohl der Autor sich soviel wie möglich bestrebt, 
unparteiisch zu sein. Die Darstellungen werden ferner notwendig 
unvollständig und gekürzt sein, so daß die. Gefahr, die Ansichten 


der betreffenden Autoren zu entstellen, besonders schwer zu ver- 
meiden ist. 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 319 


II. Kasuistik, Symptomatologie, Diagnose und Therapie. 


In der Symptomatologie der Hysterie sind über den Gegenstand 
der Blindheit und anderer Abnormitäten des Sehens wertvolle Beiträge 
von Baird (5), Diller (40), Gradle (59), Onuf (114) und Parker 
(116) geliefert worden, über den hysterischer Aifektionen des Gehörs 
von Holmes (70) und Me. Bride (96), Fälle von hysterischem Mutismus 
sind von Hudson-Makuen (72), J.K. Mitchell (109) und Oettinger 
(113) verzeichnet worden und von Aphasie durch Le Kerr (9). Es 
wird festgestellt, daß Hemianopsie niemals bei Hysterie vorkommt, 
eine Ansicht, die von Mills (106) ebenfalls unterschrieben wird. Studien 
über den Ganserschen Symptomenkomplex wurden von Diller und 
Wright (41), Frost (54) und Ruggles (143) veröffentlicht; der erst- 
genannte (42) und Woodman (191) haben auch nützliche klinische 
Erörterungen über hysterische Geistesstörungen beigesteuert. Allge- 
mein besteht die Ansicht, daß der Gansersche Symptomenkomplex 
nicht pathognomonisch für Hysterie sei und daß die Hysterie bei Anstalts- 
fällen vergleichsweise selten gefunden wird. Detaillierte Untersuchungen 
über den Gegenstand der Hysterie bei Kindern mit vielen erläuternden 
Fällen wurden von Hecht (63) und Thomas (166) veröffentlicht; 
er ist von einem rein klinischen Gesichtspunkte behandelt. Hoovers 
(71) Kennzeichen der hysterischen Paraplegie besteht im Fehlen des 
normalen Abwärtsdrückens der Ferse, wenn der Kranke das andere 
Bein vom Bett erhebt. Ich habe einen Fall von Hysterie veröffentlicht 
(77), der in vier verschiedenen Stadien seiner Entwicklung wahre 
taktile Aphasie (in Claparödes Sinn), Asymbolie, Tastlähmung und 
Anästhesie zeigte. Ich habe auch gezeigt (81), daß die gangbare Ansicht, 
die hysterische Hemiplegie befalle vorzugsweise die linke Seite, allein 
auf Briquets Meinung gegründet ist; in den seit 1880 veröffentlichten 
Fällen sind die beiden Seiten mit gleicher Häufigkeit befallen. In den 
zwei weiteren Abhandlungen (78, 80) wird gezeigt, daß Allochirie ein 
pathognomonisches Symptom von Hysterie ist; früher ist es mit andern 

törungen, die in organischen Krankheiten vorkommen können, ver- 
mengt worden. Dyschirie ist eine Affektion des ‚„chirognostischen 
Sinnes“, wovon es drei Formen gibt: 1. Achirie, wobei der Kranke 
keine Kenntnis von der Seite eines Reizes hat, 2. Allochirie, wobei er 
ihn auf den genau entsprechenden Punkt auf der entgegengesetzten 
Seite bezieht, und 3. Synchirie, wobei er ihn auf beide Seiten bezieht. 

Deaver (36) und Williams (182) zeigen die Wichtigkeit der psy- 
chischen Faktoren in Fällen von Magenneurose und Cannon (16) 


320 Ernest Jones. 


befaßt sich mit dem selben Gegenstande vom Standpunkte des Phy- 
siologen,aus, indem er sich auf die Arbeiten Pawlows und anderer über 
psychische Einflüsse in Verbindung mit der Magensekretion bezieht. 

‚Weir Mitchell (111) hat einen Fall unter dem Titel ‚„‚Motorische 
Ataxie‘“ veröffentlicht und Sceripture (152) einen unter dem Titel 
„Schriftstottern‘‘, die augenscheinlich Beispiele von Angsthysterie 
sind. 

Janets Konzeption der Psychasthenie hat in Amerika großes 
Ansehen und der nosologische Status dieser Krankheit ist allgemein 
angenommen. ‚„‚Orthodoxe” Darlegungen über den Gegenstand sind 
von Blumer (7), Collins (22), Courtney (31) und Donley (49) 
gegeben worden; von diesen ist Courtneys Beschreibung die voll- 
ständigste und präziseste. Donley (43, 45) hat einige Fälle von dem 
veröffentlicht, was Prince 1891 unter dem Ausdruck ‚Assoziations- 
neurose‘ beschrieb. Damit ist ein Symptomenkomplex gemeint, der 
in verschiedenen Krankheiten vorkommen kann, wo das Symptom 
(z. B. Furcht) wieder hervorgerufen wird, so oft der Kranke eine Er- 
fahrung durchlebt, die mit der Gelegenheit, wobei das Symptom zuerst 
auftrat, assoziiert ist; zum Beispiel kann ein Kranker, der einmal auf 
einem Kirchhofe erschreckt worden ist, einen Schreck erleiden, so oft 
er irgend etwas begegnet, das mit einer Kirche assoziiert ist. Der Kranke 
ist gewöhnlich davon befreit, wenn er sich vollständig erinnert und über 
das ursprüngliche Erlebnis redet. 

Eine Versammlung der neurologischen Sektion der königlichen 
Gesellschaft für Medizin in London am 30. Januar 1908, bei der Buz- 
zard, Collier, Guthrie, Harris, Head und Ormerod sprachen, 
war einer Diskussion des Tic s gewidmet. Sie folgte den Richtlinien, die 
von Cruchet, Meige und Feindel gelegt sind und es wurde nichts 
neues vorgebracht. Prince (125) hat einen schweren Fall von mul- 
tiplen Tics beschrieben und äußert die Ansicht, daß das Symptom die 
Manifestation eines dissoziierten Automatismus sei, der der Wirk- 
samkeit einiger unterbewußter psychischer Vorgänge zuzuschreiben 
sei; deren Natur konnte er nicht bestimmen. 

Spiller (162) bringt einen interessanten Artikel über den Gegen- 
stand der psychasthenischen Anfälle von dem Typus, der be- 
sonders von Oppenheim beschrieben wurde, und erörtert die Diagnose 
zwischen diesen und ‚„narkoleptischen“ Anfällen. Mit Bezug darauf 
beschrieb ich einen Fall (79), bei dem es durch Erforschung der unter- 
bewußten, mit dem Anfalle verknüpften Erinnerungen möglich war, 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literaturusw. 321 


die Diagnose Hysterie zu stellen; er stellt die ‚massive‘ Zerlegung 
(Disaggregation) der Hysterie der ‚molekularen‘ Zerlegung der Psych- 
asthenie gegenüber. Putnam und Waterman (139) haben ebenfalls 
die Differentialdiagnose zwischen epileptischen und hysterischen An- 
fällen von einem psychologischen Standpunkt erörtert und Camp (16), 
Hecht (64) und Taylor (163) haben andere Bedingungen chronischer 
„Narkolepsie‘‘ beschrieben. Coriat (25, 27) konnte eine Verbindung 
zwischen „nächtlicher Lähmung“ (Weir Mitchells Symptomenkom- 
plex) und unterdrückten unbewußten Erinnerungen peinlicher Er- 
fahrungen verfolgen; er hat fünf Fälle davon beschrieben und bringt 
gute Gründe dafür vor, es als eine psychische Kundgebung, als einen 
„wiederauftauchenden psychischen Zustand“ (recurrent mental state) 
zu betrachten. 

Für den Gegenstand mehrfacher Persönlichkeiten wurde 
in Amerika durch Princes Untersuchung eines Falles dieser Art, der 
ım Jahre 1906 in sehr ausführlicher Darstellung veröffentlicht wurde 
(126), großes Interesse erweckt. Er ist einer der bestbeobachteten 
Fälle der Art, der aufgezeichnet wurde, und ist so wohl bekannt, daß 
eine Beschreibung davon hier nicht notwendig ist. Das Buch ist rein 
beschreibenden Charakters und wird im Jahre 1910 von einem andern 
Band gefolgt werden, worin die theoretischen Gesichtspunkte über 
den Gegenstand behandelt werden sollen. In einem Buche, auf das 
sogleich noch einmal hingewiesen werden wird (154), veröffentlichte 
Sıdis einen Fall von doppelter Persönlichkeit und seither ist eine An- 
zahl ähnlicher Fälle von Angell (63), Coriat (26), Dewey (39), Foy 
(63), @aver (56) Gordon (57), Hyslop (73) und anderen verzeichnet 
worden. Hyslops Fall zeigte eine unterbewußte Erfindung einer 
Marssprache, ähnlich der von Mlle. Helöne Smith erfundenen, die 
wahrscheinlich auf die Kenntnis von Flournoys Buch gegründet ist. 
Aufsätze über Fälle von ambulatorischem Automatismus sind von 
Courtney (30), Lloyd (95) und Patrick (117) veröffentlicht worden; 
in der erst erwähnten Arbeit erörtert Courtney die Differentialdiagnose 
zwischen den verschiedenen Krankheiten, bei denen BIeREL Zustand 
auftreten kann. 

Die Zahl von Arbeiten, die über Psychotherapie veröffentlicht 
wurden, ist sehr groß und die Qualität vieler davon ist sicherlich gering. 
Sozusagen alle europäischen Schulen sind in Amerika vertreten. So 
vertritt Barker (6) Dejerines Methode der Isolierung usw., Jelliffe 
(75, 76) die „Überredungsmethode“ von Dubois, Williams (176, 


Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 21 


322 Ernest Jones. 


187 usw.) die von Babinski usw., Prince und Coriat (132) halten 
dafür, daß es keinen Unterschied zwischen Überredung und Suggestion 
gebe. Sie stützen sich bei der Behandlung insbesondere darauf, daß 
sie den Ursprung des Symptoms, hauptsächlich in der Hypnose, soweit 
als möglich zurückverfolgen, es seiner unangenehmen Assoziationen 
entkleiden (Janets Erfindung) und eine neue Gruppe angenehmer 
Assoziationen substituieren. Der Hypnotismus wird im allgemeinen 
in Amerika nicht wohlwollend angesehen. Putnam (134, 135) vertritt, 
was er die ‚„‚Nebengeleise‘“-Methode nennt, vermittels derer das Interesse 
des Kranken für die Gesundheit und nutzvolle geistige Beschäftigung 
nachdrücklich erweckt wird. Er hat in dem Allgemeinen Hospital 
von Massachusetts eine interessante Abteilung für ‚soziale Arbeits- 

leistung‘ ins Leben gerufen, so daß die Kranken soweit als möglich 

in eine gesündere und anregendere Umgebung gebracht werden können. 

Von Putnam (137), Schwab (149) und anderen wird auf die Ver- 

bindung der psychotherapeutischen Behandlung mit dem ‚sozialen 
Bewußtsein‘ Nachdruck gelegt. Eine andere und originellere psycho- 
therapeutische Methode ist die von Sidis (159) ersonnene und von ıhm 
„Hypnoidisation‘“ genannte; sie ist von Donley (47) und anderen in 
umfassender Weise angewandt worden. Sie wird in Verbindung mit 
den anderen Arbeiten von Sidis im nächsten Abschnitt erörtert werden. 
Münsterberg (112) hat ein sehr interessantes und brauchbares Buch 
von allgemeinem Charakter veröffentlicht, erörtert aber im einzelnen 
keine besonderen Methoden. Am 6. Mai 1909 hielt die amerikanische 
therapeutische Gesellschaft ein ‚Symposion‘ über Psychotherapie. 
Die dort gehaltenen Vorträge sind unter dem Titel „Psychotherapie“ 
in Buchform veröffentlicht worden; dieses begreift neben den vorher 
aufgezählten Arbeiten 49, 84, 131, 159, 165, 172 eine von Gerrish 
in sich über den therapeutischen Wert der hypnotischen Suggestion 
und eine von Putnam über die Beziehung der Charakterbildung zur 
Psychotherapie. 

Die Emmanuel- und andere religiöse Bewegungen, die sich 
mit Psychotherapie beschäftigen, haben in ärztlichen Kreisen viel 
Erörterung hervorgerufen; gegen ihre ärztlichen Übergriffe wurde von 
Collins (23), Farrar (52) undWitmer (190) nachdrücklich Einspruch 
erhoben. Die Beziehung zwischen religiösen und ärztlichen Bestrebungen 
ist in dieser Hinsicht von Putnam (138) und anderen abgegrenzt 
worden. In diesem Zusammenhange mag eine interessante Abhandlung 
von Waddle (170) über Wunderheilungen erwähnt werden. 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 323 


III. Allgemeine Psychopathologie. 


Wir können mit einigen der Werke von Morton Prince beginnen, 
der unstreitig die führende angelsächsiche Autorität in der „abnormen 
Psychologie“ ist. Sein erstes Buch ‚Die Natur des Geistes und die 
Automatismen des Menschen“, das im Jahre 1885 veröffentlicht wurde, 
war dazu bestimmt, eine panpsychische Theorie zu entwickeln. Er hat 
sein Interesse für ähnliche Probleme beibehalten und sein letztes Werk 
(130) befaßt sich hauptsächlich mit der Beziehung der bewußten zur 
unterbewußten Seelentätigkeit und dieser beiden zur unbewußten 
Gehirntätigkeit. Wie vorher erwähnt wurde, hat er eine sehr große 
Zahl interessanter Beobachtungen über Fälle von mehrfacher Persön- 
lichkeit gemacht und er formuliert seine Schlüsse über unterbewußte 
Prozesse hauptsächlich im Lichte solcher Fälle. Für deren Studium 
benutzt er direkte Beobachtung, Hypnose, automatisches Schreiben, 
Kristalloskopie und verschiedene speziell ersonnene Experimental- 
methoden. 

Princes Arbeiten über das Unterbewußte mögen in Ver- 
bindung mit denen anderer Autoren betrachtet werden; seine An- 
sichten sind speziell in einer Reihe von Arbeiten über das Unbewußte 
(130) entwickelt und in einem Berichte über ein „Symposion“ zur 
Frage des Unterbewußten im Journ. of Abn. Psychol., April und 
Juni 1907, veröffentlicht. In der Einleitung zu diesem Symposion 
definiert er die sechs Hauptbedeutungen, in denen der Begriff des 
Unterbewußten zu verschiedenen Zeiten angewandt wurde: 1. Die 
Randzone verminderter Aufmerksamkeit, die in irgendeinem gegebenen 
Augenblicke außerhalb des Brennpunktes des Bewußtseins ist; 2. aktive, 
dissoziierte Vorstellungen, über diedas Subjekt gar nicht unterrichtet ist; 
3. zusammengesetzte Zustände mit Selbstbewußtsein, die vom Haupt- 
bewußtsein gesondert sind und einen beträchtlichen Teil jedes normalen 
und abnormen Geistes bilden; 4. alle möglichen Erinnerungen mit Ein- 
schluß sowohl der aktiven, dissoziierten, in der zweiten Definition er- 
wähnten Zustände und allerbewußt gewesenen Erfahrungen, die jetzt un- 
wirksam sind und in einem gegebenen Augenblicke der Wiedererweckung 
fähig sind odernicht; 5. ein „unter der Schwelle liegendes‘‘ Behältnis, das 
das Hauptbewußtsein einbegreift, aus dem das persönliche Bewußt- 
sein als Nebenstrom fließt; 6. die unbewußte Gehirntätigkeit. Die 
vierte Definition ist von Sidis, die fünfte von F. W. H. Myers an- 
genommen. In diesem Symposion nennt Münsterberg die dritte, 
zweite und sechste vorher gegebene Definition resp. die Definition des 


21* 


324 Ernest Jones. 


Laien, des Arztes und des Psychologen; er tritt für die letztgenannte 
ein und behauptet, daß all die Tatsachen, die zugunsten des Begriffes 
des Unterbewußten angerufen werden, angemessener und einfacher 
durch die physiologische Hypothese erklärt würden, Auch Ribot 
neigt, in einem kurzen Beitrag, zur selben Ansicht. Jastro w scheint, so- 
wohl in dieser Versammlung als in einem speziell dem Gegenstande ge- 
widmeten Buche (74), eine ähnliche Stellung einzunehmen, aber infolge 
der Dunkelheit der Sprache, in der es abgefaßt ist, ist Verfasser nicht 
in der Lage, seinen Standpunkt zu verstehen und somit darzustellen. 
Janet beschränkt den Begriff ‚‚Unterbewußt‘‘ auf die zweite vorhin 
gegebene Bedeutung und betrachtet jede Dissoziation als abnorm. 
Prince trennt die gewöhnlich ‚„‚unterbewußt“ genannten Erscheinungen, 
z. B. wie der Begriff von Sidis gebraucht wırd und auch die in Freuds 
Unbewußtem einbegriffenen, scharf in zwei fundamental verschiedene 
Gruppen, die er „Mitbewußt‘ und „Unbewußt“ nennt. Mitbewußte 
Vorstellungen sind gleichbedeutend mit Janets Unterbewußtem 
und sind psychische Zustände, die von der Hauptpersönlichkeit ab- 
getrennt sind. Das Subjekt ist oft von ihrer Gegenwart nicht unter- 
richtet, aber manchmal, wie in dem Fall einer Obsession, ist es dies. 
So ist für Prince nicht Mangel an Unterrichtetsein das wahre Kri- 
terium von Mitbewußtsein, sondern Unabhängigkeit und automatische 
Tätigkeit, die vom Subjekt nicht beherrscht werden kann. Und weiter: 
„Das Bewußtsein kann so rudimentär sein, daß es nichts von Gewahr- 
werden, von einem Selbst, von Intellekt oder Willen enthält.“ Er 
hält, namentlich gegen Münsterberg und Ribot, die psychische 
Natur dieser Zustände kräftig fest und stützt diese Ansicht durch eine 
Reihe meist überzeugender Argumente und geistreicher Experimente 
(129, 130, 133 und J. Ab. P. Juni 1907). Unbewußte Prozesse 
anderseits sind nicht psychisch, sondern physiologisch. Sie werden 
in zwei Untergruppen geteilt: a) zerebrale Nervenorganisationen und 
Rückstände der Funktionstätigkeit, die als Bewußtsein kund wird; 
b) spinale und Ganglienorganisationen und Rückstände der Funktions- 
tätigkeit, die als physiologisches Gedächtnis kund wird; es kann jedoch 
keine scharfe Linie zwischen diesen beiden gezogen werden. „Rein 
physiologische Prozesse können sich in Akten von ebenso intelligentem 
Charakter kundtun, wie ihn die bewußten Prozesse aufweisen.“ Prince 
gebraucht den Ausdruck ‚„Schlafendes Bewußtsein“ (Dormant con- 
Sclousness), um jene physiologischen Rückstände zu bezeichnen, in 
welche psychische Komplexe übergehen, wenn sie außerhalb der Seele 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur nsw. 929 


sind. „Das Unbewußte, mehr als das Bewußte, ist es, was der wichtige 
Faktor in der Persönlichkeit und der Intelligenz ist. Das Unbewußte 
ist der Speicher unserer Seele. Das Geheimnis unserer Stimmungen, 
unserer Antriebe, unserer Intelligenz, unserer Errungenschaften, unserer 
Haltungen, unserer Urteile und unserer Fähigkeiten muß in seinen 
Dispositionen, die es aufbewahrt hat, gefunden werden.“ Diese schlafen- 
den Erinnerungen können der willkürlichen Reproduktion fähig sein 
oder nicht; wenn nicht, können sie fähig sein, durch die Anwendung 
einer speziellen Technik (Hypnotismus usw.) zurückgerufen zu werden. 
Dagegen „können dissoziierte schlafende Komplexe, die durch keine 
Mittel zur bewußten Erinnerung erweckt werden können, als eine un- 
abhängige, mitbewußte Vorstellung zur Wirksamkeit erweckt werden.“ 
„Wenn der Begriff Unbewußt nicht auf Mitbewußt beschränkt wird, 
entsteht große Verwirrung und eben dieser Verwirrung unterliegt die 
Psychopathologie der Freudschen und der Zürcher Schule“. Prince 
kritisiert Freud und Jung lebhaft, daß sie den Unterschied zwischen 
mitbewußter und unbewußter Wirksamkeit so ‚unbestimmt‘ ließen: 
„Freuds Theorien werden durch Mängel sehr beeinträchtigt, die eine 
Folge seiner gänzlichen Vernachlässigung und Unvertrautheit mit den 
Methoden und den Ergebnissen der experimentellen Psychologie zu 
sein scheinen. Wenn wir gesunde Grundsätze aufstellen sollen, denen 
die Mechanismen der Psyche unterliegen, so müssen wir die Ergebnisse 
aller Untersuchungsmethoden, der experimentellen so gut wie der 
klinischen, in Wechselbeziehung bringen und die Resultate, die von 
allen kompetenten Forschern erhalten wurden, gehörig in Erwägung 
ziehen.‘ Seiner Kritik, in der er hauptsächlich Jung zitiert, ist nicht 
leicht zu folgen, besonders da er den Begriff „Komplex“ in einem spe- 
ziellen und ihm zugehörigen Sinne gebraucht. Die Hauptkritik scheint 
sich gegen Freuds Konzeption der Wirksamkeit des Unbewußten 
zu richten. Prince behauptet, daß Freuds Tatsachen ohne Anrufen 
dieser Konzeption auf zweierlei Weise erklärt werden können. Einer- 
seits kann die Reizung eines unbewußten Komplexes (z. B. im Asso- 
ziationsversuche) diesen veranlassen, als eine mitbewußte Vorstellung 
zu wirken, in welchem Falle keine unbewußte und rein physiologische 
Gehirntätigkeit vorliegt, wie er meint, daß Freud es glaube. Anderseits 
kann ein gegebener Komplex, der gereizt worden ist, zerspalten worden 
sein, so daß der Affekt sekundär an eine indifferente Vorstellung ange- 
heftetworden ist. So kann eingegebenesReizworteinen peinlichen Affekt 
wachrufen, nicht weil der zugrunde liegende Komplex zu wirksamer 


326 Ernest Jones. 


Tätigkeit gereizt wurde, sondern weil der Affekt, der ursprünglich mit 
dem Komplex verknüpft war, sekundär an eine assoziierte Vorstellung 
geheftet wurde, die durch das Reizwort dargestellt wird; in diesem 
Falle tritt der zugrunde liegende Komplex nicht in Wirksamkeit und ist 
an der Äußerung des Affektes nicht beteiligt, obgleich er historisch 
an dessen Genese beteiligt gewesen sein kann. 

Prince scheint die Tätigkeit mitbewußter Vorstellungen nur als 
bewiesen anzunehmen, wenn diese experimentell demonstriert werden 
können und er hat eine große Zahl von Beispielen veröffentlicht, bei 
denen er dies mit Hilfe des automatischen Schreibens, der Kristallo- 
skopie und anderer Methoden getan hat. Die Grundsätze der Disso- 
ziation und des Automatismus dissozüterter Vorstellungen sind die 
beiden Dinge, worauf er in der Psychopathologie (124) das meiste 
Gewicht legt. Er hat jedoch keinen der aktuellen Mechanismen erklärt, 
durch deren Vermittlung diese dissozilerten Vorstellungen zur Wirk- 
samkeit kommen. Über den Gegenstand der vielfachen Persönlichkeit 
hat er jüngst neben dem vorher erwähnten Buche (126) eine sehr 
interessante Abhandlung (128) geschrieben, die die gewöhnliche Hysterie 
mit diesem Zustande vergleicht. Er betrachtet alle Fälle von Hysterie 
als eine forme fruste der vielfachen Persönlichkeit und betont, daß 
in keinem der beiden Fälle irgendeine Amnesie notwendig vorliegt. 
Die Abhandlung enthält eine tabellarische Übersicht von zwanzig der 
best verzeichneten Fälle vielfacher Persönlichkeit und es wird gezeigt, 
daß man in einigen davon (z. B. Felida X) mit Unrecht von dem neu- 
auftretenden Zustand dachte, er bedeute die Entwicklung einer neuen, 
höheren Persönlichkeit, während er in Wirklichkeit die Synthese zweier 
Hälften der Persönlichkeit bedeutete, von denen die eine vorher seit 
der Kindheit im Zustande der Untätigkeit gewesen wart). 

Das erste Buch von Sidis, Die Psychologie der Suggestion, 1897, 
befaßte sich ebenfalls mit der Frage des Unterbewußten, was er in 
dem vierten früher gegebenen Sinne definiert; es enthält viele originelle 
und interessante Gedanken, die jedoch hier nicht in Betracht gezogen 
werden können. Sein zweites Buch, Psychopathologische Unter- 
suchungen über psychische Dissoziation, 1902, ist ein Bericht über 
experimentelle Beobachtungen an Amnesien, Anästhesien, „rückläufige 
psychische Zustände“, „Disaggregation“, motorischen Automatismen 
usw.; es wird gezeigt, daß die Anfälle bei psychischer Epilepsie die 


‘) Vgl. Jung, Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter 
Phänomene. Mutze, Leipzig, 1902. 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 327 


Äußerung dissoziüerter psychischer Zustände sind. Sidis hat jüngst 
eine Reihe umfassender Aufsätze über die Gegenstände der Wahr- 
nehmung und Halluzination beigesteuert. In einem davon (157) 
behauptet er, daß Vorstellungs- und Wahrnehmungsprozesse in ihrer 
Natur von Grund aus verschieden seien; eine Wahrnehmung unter- 
scheidet sich von einem Bilde darin, daß sie Intensität hat, das Merk- 
mal der Gegenständlichkeit trägt, unmittelbare Erfahrung ist und 
darin, daß ihre Reproduktion unabhängig vom Willen ist. Er teilt die 
Elemente einer Wahrnehmung in zwei, primäre und sekundäre, Sinnes- 
elemente; die ersteren entstehen aus der direkten Reizung eines Sinnes- 
organs von der Außenseite her, die letzteren aus der Ausstrahlung 
dieses physiologischen Prozesses auf andere Sinnesflächen. So sieht 
man, wenn man einen Tisch anblickt, die Farbe, Form usw. (primäre 
Sinneselemente), aber man sieht auch die Festigkeit, das Gewicht usw. 
(sekundäre Sinneselemente). In dieser Arbeit und in einer vorher- 
gehenden (153) behauptet er, daß Halluzinationen rein sinnlich in 
ıhrer Natur seien und sich von normalen Wahrnehmungen darin unter- 
scheiden, daß die primären Sinneselemente dissozilert seien und so vom 
Bewußtsein nicht erfaßt würden, während die sekudären Sinnes- 
elemente die Halluzination bilden; alle Halluzinationen sind die Folge 
peripherer Reize, die mit der Tendenz zu psychischer Dissoziation auf 
ein Subjekt wirken. Die Halluzinationen, die in der Hypnose sug- 
geriert werden, sind anderseits nach Sidis (155) von echten Hallu- 
zinationen gänzlich verschieden; sie sind keine Wahrnehmungen, 
sondern Bilder und sollten richtiger Täuschungen genannt werden. 
In einer andern Reihe von Aufsätzen (158) handelt Sidis über den 
Gegenstand des Schlafes. Unter Einteilung der Erklärungen in phy- 
siologische, pathologische, histologische, psychologische und biologische 
tritt er nachdrücklich für die letztgenannte ein und stimmt in der Be- 
trachtung des Schlafes als eines aktiven Schutzinstinktes mit Cla pa- 
r&de überein. Er berichtet über eine Anzahl von Experimenten, die 
an niederen Tieren (Fröschen, Meerschweinchen und Hunden) und an 
Kindern mit Hilfe von monotoner Reizung, Bewegungsbeschränkung 
und Fernhaltung äußerer Eindrücke ausgeführt wurden. Er sieht in 
einem gewissen halbwachen Zustande, den er ‚„hypnoidal‘“ nennt, 
den anfänglichen biologischen Zustand, aus dem heraus sich beides, 
Schlaf und Hypnose, später entwickelt hat. Der Hypnoidalzustand, 
der von Bremauds Faszinationszustand und Forels Hypo- 
taxie nicht verschieden zu sein scheint, liegt zwischen dem wachen 


328 Ernest Jones. 


Zustand einerseits und der Hypnose anderseits in der Mitte. Er wird 
durch die Anwendung monotoner Reizung (z. B. den Schall eines 
Metronoms) herbeigeführt, während das Versuchsobjekt in einem 
Zustande der Erschlaffung ist und ist ein unstabiler, fließender 
Zustand. Im Hypnoidalzustand entscheidet es sich, ob Schlaf oder 
Hypnose folgen wird. Der Schlaf unterscheidet sich von der Hypnose 
wesentlich darin, daß die psychomotorischen Schwellen höher als 
im Normalzustande sind (d. h. psychomotorische Tätigkeiten sprechen 
auf Reize weniger an), während sie in der Hypnose niedriger 
sind; in dem Hypnoidalzustand tritt eine Wiederverteilung der 
Schwellen ein. 

Die jüngste Arbeit von Sidis über Psychopathologie ist in 
seinem dritten Buche (154) enthalten und in einer Reihe von Aufsätzen, 
die „Studien über Psychopathologie‘ (156) betitelt sind. Er gebraucht 
eine sehr spezielle Sprache in der Erklärung davon, wie „schwindende 
Momente‘, „rückläufige psychomotorische Zustände“, ,Moment- 
bewußtsein“ und bezieht sich auf mehrere verschiedene Zustände wie 
hypnoid, hypnoidisch, hypnoidal, hypnagogisch, hypnoleptisch, hypna- 
pagogisch, hypnonergisch usw. Das Buch enthält eine wertvolle Samm- 
lung von Beispielen mehrfacher Persönlichkeit und schließt neben an- 
deren, persönlich beobachteten einen Bericht des berühmten Falles 
Hanna ein. Dies war eine Kranke mit tiefer und totaler retrograder 
Amnesie, sogar für die Bedeutung alltäglicher Gegenstände wie Nah- 
rungsmittel und Kleidung, und Sidis gibt einen interessanten Bericht 
über die Ordnung, in der die wieder zum Leben erweckten Erinnerungen 
aufleuchteten und stufenweise zusammengefügt wurden. Dazu fügt 
er eine Anzahl von Betrachtungen über die theoretischen Ansichten 
über die Beschaffenheit und die verschiedenen Arten der abnormen 
psychischen Zustände. Sidis hat eine große Erfahrung im Studium 
psychischer Amnesien, Anästhesien, Synthesen und anderer Typen 
von Dissoziation. Dissozüerte psychische Tätigkeiten begreifen für ihn 
einen großen Teil der Psychopathologie in sich, aber in der Betrachtung 
der Genese davon gibt er sich mit solchen Faktoren wie psychisches 
Trauma, Affekt, Eindruck usw. zufrieden; die Wunschseite der Phäno- 
mene ist kaum in Betracht gezogen. In ähnlicher Weise hat er keinen 
der Mechanismen aufgedeckt, durch die diese dissoziierten Tätigkeiten 
sich äußern. Rückläufige motorische Zustände ist der Name, den er 
den Symptomen der Zwangsneurose und der psychischen Epilepsie 
gibt; diese führt er auf die Äußerungen unterbewußter Tätigkeiten 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 829 


zurück (er gebraucht ‚„unterbewußt‘“ ungefähr im selben Sinne wie 
Freuds Unbewußtes). 

Sıdis legt der Anwendung des Hypnoidalzustandes große thera- 
peutische Wichtigkeit bei (154, 156, 159). In diesem Zustand erhält 
der Kranke zu unterbewußten Erinnerungen Zugang, die auf andere 
Weise schwierig zu erreichen sind, aber Sidis behauptet, daß das bloße 
Bewußtmachen davon an sich unwirksam sei. Die Wirksamkeit des 
Hypnoidalzustandes liegt vielmehr in der dadurch ermöglichten Ent- 
bindung einer Fülle potentieller unterbewußter Energie; diese ent- 
bundene Energie bewerkstelligt eine Synthese der vorher dissoziierten 
psychischen Zustände, die nun an die Oberfläche kommen!). 

In einer Arbeit, die gemeinsam mit Prince und Linenthal 
geschrieben ist (161), behandelt Sidis die Pathologie der Hysterie 
ım Licht eines gegebenen Falles. Es wird, mit Janets Methoden, ge- 
zeigt, daß die hysterische Anästhesie in Wirklichkeit nur eine psychische 
Anästhesie ist und daß unterbewußt eine Hyperästhesie vorliegt. Halb 
epileptiforme Anfälle wurden in der Hypnose auf ihr erstes Auftreten 
bei Gelegenheit eines schweren Schrecks zurückverfolgt, obwohl keine 
Erklärung darüber gegeben wird, warum dieses besondere Symptom 
daraus gefolgt haben sollte. Wenn der Kranke sich zu erinnern fähig 
war, daß er in den Anfällen die schreckhafte Erfahrung wieder durch- 
lebte, hörten sie auf. Man kommt zum Schlusse, daß hysterische Sym- 
ptome die Äußerung der automatischen Tätigkeit einer unterbewußten 
Gedankengruppe sind, wobei in diesem Falle die Dissoziation durch den 
Schreck bewerkstelligt worden ist. „Dissoziation und Automatismus 
sind die zwei grundlegenden Vorgänge bei der Hysterie.“ 

Coriat (24, 28) berichtet über mehrere Fälle, bei denen er durch 
experimentelle Methoden imstande gewesen ist, die Erinnerungen, die 
beı alkoholischer Amnesie und unter anderen Bedingungen verloren 
gegangen waren, wieder zu bringen; bei der Erörterung des Mechanismus 
der Amnesie zieht er den Prozeß der Verdrängung nicht in Betracht. 
Verrall (169) hat einen ausgezeichneten Bericht über automatisches 
Schreiben, das sich in ihr selbst entwickelt hatte, gegeben. In einer 
Anzahl von Aufsätzen (80, 86, 89) erörtere ich die Pathologie der 
Dyschirie im allgemeinen und der Allochirie im besonderen. Bei der 
gewöhnlichen Form der hysterischen Anästhesie werden nur die neu 
eintreffenden Empfindungen dissoziert, bei der selteneren Form (De- 


!) Vgl. die Arbeit von Bezzola, die in diesem Bande des Jahrbuches 


referiert ist. 


330 Ernest Jones. 


personalisation) kommt eine Amnesie für die früheren Erinnerungen 
an den fraglichen Körperteil dazu. Wenn die letzteren und nicht die 
ersteren dissoziiert sind, ein seltenes Vorkommnis, das ich ‚„paradoxen 
Typus von Spaltung‘ nenne, so entsteht Dyschirie, zuerst in ihrer 
einfachsten Form, der Achirie. Empfindungen, die durch Reizung eines 
solchen Teiles wachgerufen werden, haben sechs charakteristische 
Merkmale, die ich unter den Begriff „‚phriktopathisch‘ gruppiere (83). 
Allochirie ist ein sekundäres Ergebnis; es wird eine teleologische Hypo- 
these aufgestellt, die ihr Vorkommen als eine irrtümliche Assoziation 
erklärt, die der Funktion dient, die verlorenen Körpererinnerungen 
wieder zu befähigen, vom Bewußtsein erfaßt zu werden. Es wird über 
eine detaillierte Untersuchung zweier Fälle berichtet (86), von der 
anzunehmen ist, daß sie Janets ‚„Bildhypothese“ der Allochirie 
widerlegt. 

Mehrere Autoren haben die Pathologie der Hysterie erörtert. 
Woodman (191) erklärt Janets Ansichten im Lichte von sechsund- 
zwandzig persönlich verzeichneten Fällen. Williams (175, 176, 179, 
180, 183, 184, 187, 189) ist ein eifriger Anhänger von Babinskis An- 
sichten und hat sie in einer Anzahl kurzer Aufsätze erklärt. Mills (108) 
tritt für viele von Babinskis Ansichten ein, die er als sehr fruchtbar 
betrachtet, denkt aber nicht, daß sie Janets Dissoziationstheorie wider- 
sprechen. Er hält dafür, daß physisches Trauma und Gemütserregung 
so gut wie Suggestion wirksam sind und glaubt, daß vasomotorische 
Symptome aus der Hysterie hervorgehen können, wie es Edgeworth 
tut (51). Dercum (37) bestreitet Babinskis Ansichten durchaus 
und erklärt die Hysterie auf seine eigene hier nicht näher zu behandelnde 
Weise. Dana (34) betrachtet die hysterischen Symptome als Anzeichen 
einer „Abnutzung der psychischen Maschinerie, eine Folge einiger 
Stoffwechselzelldegenerationen, die durch einen teratologischen Detekt 
hervorgebracht werden.‘ Savill (147), der in London die führende 
Autorität auf dem Gebiete der Psychoneurosen ist, hält daran fest, daß 
die Hysterie eine Krankheit des sympathischen Nervensystems sei(!}}). 

Zu einer neuen Klassifikation der Psychoneurosen sind 
mehrere Versuche gemacht worden. Dana (33) beschränkt den Aus- 
druck Hysterie auf die schweren Fälle mit ausgesprochenen körper- 
lichen Symptomen und teilt die Psychoneurosen ein in 1. Neurasthenie, 


2. abortive Fälle der größeren Psychosen (z. B. manisch-depressives 


Irresein), 3. Phrenasthenie, die einschließt a) die große Hysterie, 


!) Das Ausrufungszeichen ist Anmerkung der Redaktion. 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 3931 


b) hypochondrische Psychasthenie (gewöhnlich als Hysterie diagno- 
stiziert), c) obsessive Psychasthenie. Dercum (37) teilt sie in 1. Neur- 
asthenie, 2. neurasthenoide Zustände, 3. symptomatische Neur- 
asthenie, 4. Hysterie, 5. Hypochondrie. Walton (171) gruppiert 
alle Fälle von Tic, Hypochondrie, Neurasthenie, kleiner Hysterie, 
folie du doute und milden manisch-depressiven Richtungen unter den 
Begriff „obsessive Psychose‘, indem er das Obsessionsmerkmal als das 
zugrunde liegende auifaßt. 

Auf die psychische Seite der Neurasthenie wird ak ge- 
legt von Donley (44), Drummond (49), Lane (91), J. K. Mitchell 
(110) und anderen; Lane zieht in Betracht, daß irgendeine depressive 
Gemütsbewegung und nicht, Überarbeitung die Ursache der Neur- 
asthenie sei. Savill (145) schreibt die Neurasthenie Toxinen zu, die von 
den Zähnen und den Eingeweiden absorbiert wurden (!)!). Courtney 
(31) betrachtet die Psychasthenie als eine forme fruste von petit 
mal(!)!) nahe verwandt der Epilepsie. Es braucht kaum gesagt zu 
werden, daß auf die sexuelle Genese von keinem Autor Bezug genommen 
wird. Booth (8) behauptet, daß der Coitus interruptus eine wichtige 
Ursache der Psychoneurosen sei, aber er zeichnet kein klares Bild von 
den resultierenden Symptomen. 

Die erste von Adolf Meyers Arbeiten, auf die verwiesen ist (99), 
ist ein langes und sympathisch gehaltenes Referat über Bleulers 
Affektivität, Suggestibilität und Paranoia; er tritt einer irgend über- 
dogmatischen Trennung der affektiven und intellektuellen Funktionen 
entgegen. In dieser wie in seinen anderen Arbeiten benützt Meyer 
seinen Einfluß kräftig und nachhaltig zur Unterstützung der Wichtig- 
keit des psychogenetischen Gesichtspunktes. Zwei Umstände 
jedoch machen es schwierig, über seine Arbeiten zu referieren oder eine 
richtige Würdigung ihrer Bedeutung zu geben: erstens, weil er seinen 
Einfluß hauptsächlich im persönlichen Lehren oder in Diskussionen 
bei Versammlungen ausgeübt hat, und zweitens, weil seine Veröffent- 
liehungen über den Gegenstand keine Einzelarbeiten in sich begreifen, 
sondern entweder in Bemerkungen über verschiedene deutsche Arbeiten 
in der Form eines Referates zusammengefaßt sind oder in abgekürzten 
Berichten von Vorträgen, die er auf Versammlungen hielt. Seine 
Arbeiten sind in ihrem Charakter sehr allgemein und befassen sich nicht 
technisch mit konkreten Mechanismen der Psychogenese. Wer also 
nur von seinen Publikationen wüßte, wäre einer Unterschätzung der 
Wichtigkeit seines Einflusses ausgesetzt. Die Hauptsätze, die er ent- 


332 Ernest Jones. 


wickelt, sagen: daß es von größter Bedeutung ist, einen allgemein 
biologischen Standpunkt, besonders im Gegensatze zu 
dem histologischen, anzunehmen und abnormePhänomene 
als verschiedene Formen der Reaktion auf die Umgebung 
zu beurteilen. Indem er von der Dementia praecox spricht, 
sagt er: ‚„„Die Symptome erscheinen als vollkommen natürliche Folgen 
nicht von abstrakten und ganz unbewiesenen annehmbar gemachten 
Autointoxikationen oder nur durch Fragmente histologischer Kenntnis, 
sondern von Funktionsgewohnheiten und psychischer Tätigkeit, die 
zum Teil eine Aussicht auf Korrektur offenlassen. — Das allgemeine 
Prinzip ist, daß viele Individuen nicht imstande sind, auf unbegrenzte 
Elastizität im gewöhnlichen Gebrauche gewisser Gewohnheiten der 
Ausgleichung zu rechnen; diese Instinkte werden durch andauernde 
falsche Anwendung untergraben und die feine Balance der psychischen 
Ausgleichung und ihres materiellen Substrates muß in umfassender 
Weise von einer Aufrechterhaltung eines gesunden Instinktes und 
Reaktionstypus abhängen. — Zuerst besteht vielleicht nur ein Übermaß 
stellvertretender Reaktionen, wie sie auch beim Normalen vorkommen, 
ein Ausweichen, zerstreutes und verwirrtes Hinweggehen über die 
Schwierigkeiten, Geheimtuerei, anstatt einer freien Ventilation und 
Korrektur durch Anschluß an die Tätigkeiten des Normalen eine Ge- 
wohnheit von sich selbst entschuldigender Sorglosigkeit und Mangel 
an Bestimmtheit durch hypochondrische Klagen über oder Bekritteln 
an anderen, oder die Gewohnheit, über Schwierigkeiten durch phan- 
tastische Gedanken, oder bloßes Beten oder Nachsinnen oder andere 
Hilfsmittel hinwegzukommen, die in der Regel allmählich über ein 
individuelles Mißgeschick hinweghelfen, usw.‘ Er stimmt in den 
Schlüssen mit Bleuler überein (105), der sich, wie er sagt, in der Be- 
trachtung der Paralyse als des obligaten Paradigmas der Psychosen 
mit Kräpelin einverstanden erklärt; dieÄtiologie derDementia praecox 
faßt er als einen Konflikt der Instinkte und Gewohnheiten zusammen. 
Er legt in der Psychopathologie besonderes Gewicht auf ‚„abnorme 
Wege in der Befassung mit den Verhältnissen des Lebens und 
auf die Tendenz zu falschen Ausgleichungen‘“ und beschreibt (105) 
sechs Reaktionstypen von Störung: 1. Die Reaktionen organischer 
Störungen, 2. delirante Zustände mit traumähnlichen, phanta- 
stischen Erlebnissen, Halluzinationen, besonders des Gesichts, mit 
mangelhafter Orientierung, 3. die wesentlich affektiven Reaktionen, 
4. paranoische Entwicklungen, in sechs Graden, 5. substitutive 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 9939 


Störungen vom Typus der Hysterie und Psychasthenie, 6. Deiekt- 
und Entartungstypen. | 

Macfie Campbell, ein Assistent Meyers, hat Meyers An- 
sichten über die Dementia praecox in einer sehr klaren Arbeit (15) dar- 
gestellt und gibt einen Bericht über fünf Fälle; die Psychose ist ‚‚der 
Höhepunkt einer langanhaltenden Periode von ungesunden biologischen 
Ausgleichungen bei Individuen, die konstitutionell geneigt sind, ihren 
Schwierigkeiten in einer inadäquaten Weise zu begegnen.“ August 
Hoch (67, 68) legt ebenfalls großes Gewicht auf die Psychogenese in 
den Psychosen; zur Dementia praecox (69) teilt er mit, daß er in 50°), 
der Fälle ein klares Hervortreten einer besonderen ‚Abgesperrtheit‘ 
in den persönlichen Reaktionen vor dem Ausbruche der Krankheit 
gefunden habe. Ricksher (141) hat Sterns Aussagemethoden bei 
Dementia praecox angewandt und findet, daß die Fähigkeit, die Reize 
zu reproduzieren, direkt von der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu 
konzentrieren, abhängt. 

Campbell (15), Donley (46), Hart (62), Meyer (99, 103, 104, 
105) und Putnam (136) behandeln die Beziehung ‚philosophischer 
Konzeptionen zur Psychiatrie. Meyer (104) definiert die Seele 
als ‚ein zureichend organisiertes Leben, das in Tätigkeit ist“. Harts 
Arbeit ist besonders klar und eindringend. Er entwickelt den Standpunkt, 
der von Ostwald, Mach und besonders Karl Pearson vertreten 
wird, und unterscheidet klar zwischen den empirischen Konzeptionen 
des wissenschaftlichen Idealismus und den absoluten Ansichten ver- 
schiedener metaphysischer Schulen, Seine Bemerkungen über die 
praktische Anwendung dieser Prinzipien auf die Forschungsprobleme 
in der Psychiatrie und seine Kritik der materialistischen Ansichten, 
die in psychiatrischen Kreisen im Umlaufe sind, verdienen besonders 
gelesen zu werden, 


IV. Psychoanalyse. 


In der englischen Literatur habe ich nur eine Erwähnung von 
Freuds Arbeiten und keine von denen Jungs finden können; in 
Amerika anderseits ist eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten über den. 
Gegenstand erschienen. Die Psychoanalyse wird in den meisten Arbeiten 
über Psychotherapie erörtert, obwohl sie in zwei neuen, ausführlichen 
Referaten über den Gegenstand, von Mills (106) und Münsterberg 
(112), nicht erwähnt wird. Die Arbeiten können in drei Gruppen geteilt 
werden, je nachdem sie Freuds Ansichten unterstützen, oder bei der 


334 Ernest Jones. 


eingenommenen Haltung ihr Urteil aufschieben oder indifferent sind 
oder ihnen entgegenstehen. 

Zur ersten dieser Gruppen gehören A. A. Brill und Verfasser. 
Vier Arbeiten, die Freuds Ansichten erklären, sind veröffentlicht 
worden, eine von Brill (12) und drei vom Verfasser (84, 88, 90); sie 
enthalten nichts, was den Lesern des Jahrbuches nicht vertraut wäre. 
In einer Arbeit über die Psychopathologie des Alltagslebens (11) ver- 
zeichnet Brill eine interessante Sammlung von einigen zwanzig Bei- 
spielen, die Freudsche Prinzipien erläutern. Eines davon möge an- 
geführt sein: Während Brill an einen Kranken dachte, für den er sich 
sehr interessiert und auf dessen Fall er einen großen Teil seiner Zeit ver- 
wandt hatte, fand er sich nicht imstande, sich an des Kranken Namen 
zu erinnern und er beschloß, eine Selbstanalyse zu machen. Der Fall 
war ungewöhnlich und nachdem er sich sehr dabei angestrengt hatte, 
schrieb er für die Veröffentlichung einen Bericht davon. Gerade als 
dieser fertig war, teilte ihm sein Chef mit, daß er selbst den Fall bei 
einer Versammlung öffentlich bekannt zu machen wünsche, was er zu 
Brills großem Verdrusse tat; der Chef war jedoch im letzten Augen- 
blick verhindert, den Vortrag persönlich zu halten. In einer fünf- 
stündigen Analyse füllte Brill über zwei Dutzend Seiten mit der Auf- 
zeichnung der freien Assoziationen, die ihm, jedoch zuerst vergebens, 
kamen. Er bemerkte dann, daß zwei Gedanken, die anscheinend nicht 
mit dem Gegenstande verknüpft waren, ihm immer wiederkamen. 
Der erste, der ihm achtundzwanzigmal öfteralsirgendein anderer wieder- 
kam, war eine lebhafte Erinnerung einer aktuellen Szene, in der sein 
Chef auf ein Kaninchen (,‚rabbit‘‘) geschossen, es aber gefehlt hatte. 
Während er über diese Erinnerung nachdachte, tauchte der Namen 
des Kranken, der gesucht wurde, plötzlich auf; er war Lapin (Kanin- 
chen). Die Szene hatte das Mißlingen seines Chefs beim ‚‚Schießen 
des Kaninchens“ symbolisch ausgedrückt. Der andere Gedanke, der 
immer wiederkam, war der Name eines andern Kranken Appen- 
zeller, der an derselben Krankheit wie der erste litt und der erste Teil 
von dessen Namen phonetisch nahe an das französische Wort Lapin 
erinnert. In einem kurzen Vortrage (82), der auf dem Salzburger Kon- 
gresse (1908)!) gehalten wurde, gibt Verfasser einen Bericht über die 
Mechanismen der Rationalisierung und der ‚Ausflucht‘“‘, wodurch 
eine Person eine plausible Erklärung für eine gegebene Meinung oder 
Tätigkeit erfindet, die in Wirklichkeit durch irgendeinen unbewußten 


!) Private Zusammenkunft der Anhänger der Freudschen Lehre. 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 339 


Vorgang determiniert wurde. Über vier Fälle sind psychoanalytische 
Berichte veröffentlicht worden, zwei von Brill (9, 10) und zwei vom 
Verfasser (85, 87). Brills Fälle waren solche von Dementia praecox, 
die im Burghölzli untersucht worden waren; die anderen zwei waren 
resp. Hysterie mit vollständigem Verluste der persönlichen Erinnerungen 
und manisch-depressives Irresein. Aus einleuchtenden Gründen ist es 
unmöglich, sie hier zu beschreiben. 

_ In’die zweite Gruppe können fünf Arbeiten gerechnet werden. 
Diese begreifen einen kurzen Bericht von Collins (21) über psycho- 
analytische Behandlung in sich, worin keine Meinung über ihre Vor- 
züge ausgedrückt ist, einen allgemeinen Bericht über Komplexe von 
White (173), eine Arbeit von Peterson (122), worin eine Seite für 
die Beschreibung von Freuds Ansichten über Psychoanalyse, Träume, 
Geistesstörung und Alltagsleben gegeben ist, und zwei Arbeiten von 
Putnam (135) beziehungsweise von Linenthal und Taylor (94), 
worin ein Bericht über Versuche, die Psychoanalyse anzuwenden, ge- 
geben wird. Die letzteren zwei Arbeiten sympathisieren im ganzen und 
es werden mehrere Fälle verzeichnet, in denen jedoch die Psychoanalyse 
von einer sehr elementaren Art ist. 

Die dritte Gruppe ist die größte. Die Berichte, die über die Psycho- 
analyse gegeben werden, sind sehr kurz, nehmen gewöhnlich weniger 
als eine Seite ein und sind oft entstellt, wie z. B. in Collins Arbeit (21), 
wo gesagt wird, Freud (dort durchweg Freund genannt) stütze sich 
auf den Hypnotismus, oder in der Scotts (150), wo gesagt wird, daß ‚‚die 
normale Reaktion einer Gemütsbewegung in willkürliche Abwehr- 
bewegungen konvertiert sei, die dann noch als Ties vorhanden seien“, 
Die gegnerischen Kritiken sind selten in persönlichem Tone geschrieben 
und sind offensichtlich auf Unwissenheit über den Gegenstand ge- 
gründet. Princes Kritik der Ansichten Freuds über das Unbewußte 
sind früher erwähnt worden; er bestreitet (131), daß die therapeutischen 
Erfolge der Psychoanalyse dem Bewußtmachen unterdrückter psychi- 
scher Prozesse zu verdanken seien, denn ‚‚wenn auch nichts dazu 
getan wäre, würde der Kranke sie doch nicht ertragen und sie wieder 
ausstoßen“. Die Erfolge sind der allgemeinen Re-Edukation, der Ein- 
führung neuer Ideen und Gefühle in die Komplexe zu verdanken. 
Pierce Clark (19) sagt: „Freuds Methode ist von großem Vorteil 
bei Hysterischen, aber sie ist bei den allgemeinen Störungen der klei- 
neren Neurosen nicht ausgedehnt verwendbar, bis: die sexuelle Idee 
eliminiert ist.“ Allen (1) faßt in genau denselben Worten zusammen, 


336 Ernest Jones. 


die offensichtlich von Clark entlehnt sind; bei der Beschreibung der 
Methode erklärt er, ‚‚der Arzt sollte ein Mann von Moralität, gleichwohl 
(sic) ein Mann von Welt sein“. Courtney (32) sagt, Freud habe eine 
idee fixe über den Gegenstand der Sexualität; er fügt hinzu: ‚Die 
Theorie paßt nur auf einen gewissen ungesunden Typus, bei dem irgend- 
ein ungewöhnliches Ereignis in der Sexualsphäre zu Hysterie führen 
kann. Es gibt äußerst wenig Fälle, bei denen nicht Erziehung und 
Umgebung, verbunden mit des Individuums eigener Kraft der Hemmung, 
einen vor den Gefahren schützen, die die „Entäußerung‘“ des Instinktes 
in einigen seiner Formen begleiten können.‘ Edes (50) sagt: „Freuds 
Methode führe einen Zustand vertrauender Zuversicht herbei, der 
durch lange fortgesetztes und sorgfältiges Fragen hervorgerufen werde. 

Dieses weitläufige Fragen hat die fast sichere Folge, Vorstellungen 

von eben der Art einzupflanzen und lebendig zu machen, von denen es 

wünschenswert ist, sie los zu werden.‘ Schwab (149) sagt, die Freud- 

sche Behandlung sei nutzlos, weil es zweifelhaft sei, ob es so etwas wie 
unterbewußte Tätigkeit gebe. Die ungereimtesten Kritiken sind jedoch 
die von Dercum (38), Savill (147) und Scott (150). 

Jungs Arbeiten sind in Amerika weiterhin bekannt als die 
Freuds und allgemeiner akzeptiert; es findet sich sozusagen keine 
Gegenkritik. Unter den günstigen Referaten darüber mögen erwähnt 
sein die von Meyer (Psychol. Bull. 1905, p. 241; 1906, p. 275; 1907, 
p. 196; 1908, p. 273), Kirby (do. 1907, p. 197; 1908, p. 270), Hoch 
(J. Ab. P. Juni 1906, p. 95), Coriat (do. Juni 1908, p. 137), Karpas 
(do. Dez. 1908, p. 366), Hart (Journ. of Ment. Sc. 1908). Die Arbeiten 
von Bleuler, Riklin, Wehrlin und Binswanger sind hier ebenfalls 
inbegriffen. Demonstrationen und Erläuterungen seiner Assoziations- 
methode sind veröffentlicht worden von Bailey (4), Henke und Eddy 
(65), Seripture (151), Town (168) und Yerkes und Berry (191), die 
alle seine Resultate und Schlüsse bestätigen. Peterson (119, 120) 
hat, ın beiden unabhängig und in Verbindung mit Scripture (123) 
Erläuterungen zur psychogalvanischen Methode gegeben. Prince 
und Peterson (129, 133) haben diese Methode angewandt, um die 
Existenz mitbewußter Vorstellungen zu beweisen. Sidisund Kalmus 
(160) haben in zwei Arbeiten, die sich anfänglich nicht mit psycho- 
gischen Problemen befaßten, einen Bericht über Experimente gegeben, 
die nach ihrer Behauptung zeigen, daß der psycho-galvanische Reflex 
nicht die Folge irgendeiner Änderung im Körperwiderstand ist, sondern 

von unabhängigen Strömen, die durch die affektive Störung entstehen; 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 397 


Prince (130) akzeptiert ihre Resultate. Coriat (29) findet, daß die 
affektiven Störungen bei der Assoziationstätigkeit leichter durch ein 
Anwachsen der Pulsfrequenz entdeckt würden, dieam besten beobachtet 
würde, während der Kranke im Hypnoidalzustande sei. 


Im ganzen ist die Freudsche Bewegung in Amerika in einem 
hoffnungsvollen Stadium. Mehrere hervorragende Autoritäten haben 
Freuds Ansichten sozusagen in ihrer Gesamtheit akzeptiert, obwohl 
sie bis jetzt noch keine Arbeiten in diesem Sinne publiziert haben; 
unter diesen mögen erwähnt sein Stanley Hall (Präsident der Clark 
University), Hart (Long Grove Asylum, London), Adolf Meyer (Pro- 
fessor der Psychiatrie, Johns Hopkins University), Putnam (Professor 
der Neurologie, Harvard University) und August Hoch (Direktor 
des pathologischen Institutes, New York). Zwei Ereignisse des ver- 
sangenen Halbjahres werden in dieser Richtung hoffentlich beitragen, 
nämlich die Vorlesungen, die Freud und Jung an der Clark Uni- 
versity, Worcester, Mass., hielten und die Veröffentlichung einiger 
gesammelter Schriften Freuds und von Jungs Psychologie der 
Dementia praecox, in Übersetzungen von Brill. Es ist daher jetzt 
schon zu erwarten, daß das nächste Jahr einen beträchtlichen Fort- 
schritt in der Bewegung bringen wird. 


Bibliographie. 


1. Allen. Psychotherapy. Univ. of Penna. Med. Bull., May 1908. P. 76. 

2. Angell. Hypesthesia and Hypalgesia and their Significance in func- 
tional nervous Disturbances. Amer. Med. Assoc. June 1905. J. N. 
M. D. May 1906. P. 324. 

3. Ibid. A Case of double Consciousness — amnesic Type, with Fabri- 
cation of Memory. J. Ab. P. Oct. 1906. P. 155. 

4, Pearce Bailey. The practical Value of the Association Test. A. J. 
M. S. Sept. 1909. P. 402. 

5. Baird. The Contraction of the Color Zones in Hysteria and Neur- 
asthenia. Psychol. Bull. Aug. 1906. P. 249. 

6. Barker. Some Experience with the simpler Methods of Psycho- 
therapy and Re-education. A. J. M. 8. Oct. 1906. P. 499. 

7. Blumer. The Coming of Psychasthenia. Boston Soc. of Psychiatr. 
Dec. 2. 1905. J. N. M. D. May 1906. P. 356. 

8. Booth. Coitus interruptus and Coitus reservatus as (auses of pro- 
found Neuroses and Psychoses. Alienist and Neurologist. Nov. 1906. 
P. 397. 


Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 22 


338 


se 


10. 


11. 


12. 


13. 


14. 


15. 


16. 
17. 
18. 
19. 
20. 
21. 
22. 
23. 
24, 
25. 
26. 
27. 
28. 
29. 
30. 


31. 


Ernest Jones. 


A. A. Brill. Psychological Factors in Dementia praecox, an Analysis. 
J. Ab. P. Oct. 1908. P. 219. 

Ibid. A Case of Schizophrenia (Dementia praecox). A. J. I. July 
1909. P. 53. 

Ibid. A Contribution to the Psychopathology of Everyday Life. 
Psycho-therapy. 1909. Art. IX. | 

Ibid. Freud’s Conception of the Psycho-neuroses. N. Y. Academy of 
Med. (Section of Neurology and Psychiatry), Oct. 11, 1909. Med. 
Record. Dec. 4 or 11, 1909. | 

Burgess. A Case of Neurasthenia complicated with ‚„vaso-vagal 
Attacks“. L. Dec. 12, 1908. P. 1743. 

Camp. Morbid Sleepiness, with a Report of a Case of Narcolepsy 
and a Review of some recent Theories of Sleep. J. Ab. P. April 
1907. 2.9. | 

Macfie Campbell. A modern Conception of Dementia praecox, with 
five illustrative Cases. Rev. of Neur. and Psychiatr. Oct. 1909. 
P. 623. 

Cannon. The Influence of emotional States on the Functions of the 
alimentary Canal. A. J. M. S. April 1909. P. 480. 

Carr. Unusual Illusions oceurring in psycholeptic Attacks of hysteri- 
cal Origin. J. Ab. P. Feb. 1908. P. 260. 

Chamberlain. Notes on some Aspects of the Folk-psychology of 
Night. Amer. Journ. of Psychol. Jan. 1908. P. 19. 

Pierce Clark. Freud’s Method of Psychotherapy. N. Y. Neur. Soc. 
Jan. 7, 1908. Med. Rec. Mar. 21, P. 481. J. N.M.D. June. P. 391. 

Cleghorn. Notes on six thousand Cases of Neurasthenia. Med. 
Record. April 27, 1907. P. 681. 

Collins. Some fundamental Principles in the Treatment of functional 
nervous Diseases, with especial Reference to Psychotherapy. A. J. 
M. S., Feb. 1908. P. 168. 

Ibıd. Psychasthenia. N. Y. M. J. Feb. 15, 1908. P. 297. 

Ibıd. The General Practioner and functional nervous Diseases. J. A. 
M. A. Jan. 9, 1909. P. 87. 

Coriat. The experimental Synthesis of the dissociated Memories in 
alcoholic Amnesia. J. Ab. P. Aug. 1906. P. 109. 

Ibid. Nocturnal Paralysis. Bost. J. July 11, 1907. P. 47. 

Ibid. The Lowell Case of Amnesia. J. Ab. P. Aug. 1907. P. 93. 

Ibid. Some further Studies on nocturnal Paralysis. Dec. 5, 1907. 
P. 7018. 

ei The Mechanism of Amnesia. J. Ab. P. April 1909. P. 1. Aug. 

. 236. 

Ibid. Certain Pulse Reactions as aMeasure of the Emotions.’J. Ab. P. 
Oct. 1909. P. 261. 

Courtney. On the clinical Differentiation of the various Forms of 
ambulatory Automatism. J. Ab. P. Aug. 1906. P. 123. 

Ibid. Psychasthenia: its Semeiology and nosologie Status among 
mental Disorders. J. A. M. A. Feb. 29, 1908. P. 665. 


32. 


39. 


34. 


35. 
‚ Deaver. Gastric Neuroses. A. J. M. S. Feb. 1909. P. 157. 
an 
38. 
39. 


. Diller. Hysterical Blindness. J. A. M. A. April 24, 1909. P. 1307. 
41. 


42, 


43. 
44, 
45, 
46. 
47. 
48. 
49. 
. 50. 
51. 


52. 
53. 


54, 


55. 


\ 
Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw, 339 


Ibid. The Genesis and Nature of Hysteria. A Conflict of Theory. 
Bost. J. Mar. 12, 1908. P. 341. 

Dana. The Limitation of Hysteria. Amer. Neur. Assoc. June 1906. 
J. N. M. D. Nov. P. 717. 

Ibid. The Limitation of the Term Hysteria, with a Consideration of 
the Nature of Hysteria and certain allied Psychoses. J. Ab. P. Feb. 
1907. Pi 720% 

Ibid. Psychotherapy. J. N. M. D. June 1908. P. 389, 


Dercum. Hysteria, its Nature and its Position in Nosology. J. A. 
M. A. Nov. 23, 1907. P. 1729. 

Ibid. An Analysisof psychotherapeutic Methods. Therap. Gaz. May 15, 
1908. P. 305. 

Dewey. A Case of disordered Personality. J. Ab. P. Oct. 1907. P. 141. 


Diller and Wright. A Study of hysterical Insanity with an especial 
Consideration of Ganser’s Symptom-complex. — Report of eight 
Cases. Amer. Neur. Assoc. May 1908. J. N.M.D. Jan. 1909. P. 25. 

Ibid. The differential Diagnosis between hysterical Insanity and 
Dementia praecox; with Report of an illustrative Case of hysterical 
Insanity. A. J. I. Oct. 1909. P. 253. 

Donley. Three Cases of Association Neuroses, with Remarks on its 
Genesis. Bost. J. Nov. 3, 1904. P. 484. 

Ibid. On Neurasthenia as a Disintegration of Personality. J. Ab. P. 
June 1906. P. 55. 

Ibid. A further Study of association Neuroses. J. Ab. P. June 1907. 
P. 45. 

Ibid. Neurasthenia. Its Relation to Personality. N. Y. M. J. Dec. 28, 
IWTSDLUIIR, 

Ibid. The clinical Use of Hypnoidization in the Treatment of some 
functional Psychoses. J. Ab. P. Aug. 1908. P. 148. 

Ibid. Obsessions and associated Conditions in so-called Psychasthenia. 
J. Ab. P. June 1909. P. 171. 

Drummond. The mental Origin of Neurasthenia. B. M. J. Dec. 28, 
1907. P. 1813. 

Edes. The present Relations of Psychotherapy. J. A. M. A. Jan. 9, 
19. P. 32, 

Edgeworth. On hysterical paroxysmal Oedema. Quarterly Journ. 
of Med. Jan. 1909. P. 135. 

Farrar. Psychotherapy and the Church. J. N.M.D. Jan. 1909. P. 11. 

Fox. Report of a Case of dissociated Personality, characterized by 
the Presence of somnambulistic States and ambulatory Automatism. 
J. Ab. P. Aug. 1909. P. 201. 

Frost. Hysterical Insanity — Report of a Case presenting Ganser’s 
Symptom-complex. A. J. I. Jan. 1907. P. 301. 

Ibid. Neurasthenic and psychasthenic Psychoses. A. J. I. Oct. 1909. 
P. 259. 

22* 


340 


56. 


57. 
58, 
59. 
. Harris. Colored Thinking. J. Ab. P. June 1908. P. 97. 
61. 
62. 
63. 
. Ibid. Morbid Somnolence. A. J. M. S. Mar. 1908. P. 403. 
65. 
66. 


67. 


68. 
69. 
70. 
71. 
12. 
13. 


14. 
15. 


76. 
ir 
78. 
1% 


80. 


Ernest Jones. 


Gaver. A Case of alternating Personality characterized chiefly by 
ambulatory Automatism and Amnesia, with Results of hypnotie 
Experiments. J. A. M. A. July 4, 1908. P. 9. 

Gordon. On ‚Double Ego“: with Report of an unusual Case. A. J. 
M. S. Mar. 1906. P. 480. 

Ibid. Hysteria: Nature of the Malady. N.Y.M. J. Aug. 10, 1967. 


P. 250. 
Gradle. The Blindness of Hysteria. J. A.M. A. April 24, 1909. P. 1308. 


Bernard Hart. A Case of severe Head Injury in a Psychasthenic. 
B. 'M. J. Aug. 17, 1907. 9,1889. 
Ibid. A Philosophy of Psychiatry. Journ. of Ment. Sc. July 1908. 


P. 473. 
Hecht. Hysteria in Children. J. A. M. A. Feb. 23, 1907. P. 670. 


Henke and Eddy. Mental Diagnosis by the Association Reaction 
Method. Psychol. Rev. Nov. 1909. P. 399. 

Hinkle. Some Results of Psychotherapy. J. N. M. D. June 1908. 
P. 392. Disc. 

August Hoch. The psychogenetic Factors in some paranoic Con- 
ditions, with Suggestions for Prophylaxis and Treatment. N.Y. 
Psychiatrical Soc. Mar. 6, 1907..J. N. M. D. Oct. P. 668. Disc. 

Ibid. The psychogenie Factors in the Development of Psychoses. 
Psychol. Bull. June 1907. P. 161. 

Ibid. A Study of the mental Make-up in the functional Psychoses. 
N. Y. Psychiatrical Soc. Nov. 4, 1908. J. N. M. D. April 1909. 
P. 230. Disc. 

Holmes. Hysteria of the Ear. Laryngoscope. Sept. 1907. P. 581. 

Hoover. A new Sign for the Detection of malingering and functional 
Paresis of the lower Extremities. J. A. M. A. Aug. 29, 1908. P. 746. 

Hudson-Makuen. Hysterical Mutism. Internat. Clinies. 1907. 
Vol. I. P. 189. 

Hyslop. Apparent subconscious Fabrication. J. Ab. P. Dec. 1906. 
P. 201. 

Jastrow. The Subconscious. 1906. 

Jelliffe. Hysteria and the re-education Method of Dubois. N.Y. 
M. J. May 16, 1908. P. 926. 

Ibid. The Re-education Method of Dubois. J. N. M. D. June 1908. 
P. 389. 

Ernest Jones. True tactile Aphasia. Rev. neurol. Jan. 15, 1907. P. 3. 

Ibid. The clinical Significance of Allochiria. Trans. First Internat. 
en for Psychiatry and Neur. Sept. 5, 1907. P. 408. L. Sept. 21. 

. 850. 

Ibid. TheMechanism ofa severe Briquet Attack contrasted with that 
of psychasthenic Fits. J. Ab. P. Dec. 1907. P. 218. 

= Ei Precise Diagnostic Value of Allochiria. Brain. Vol. XXX. 


8. 


82. 
83. 


84. 


85. 
86. 
87. 
88. 
89. 
eh Ibid. Freud’s Dream Theory. Amer. Psychol. Assoc. Dec. 29, 1909. 
92. 


9. 


94. 


95. 


6. 


97. 


98. 


99. 


100. 


101. 


102. 


103. 


104, 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 341 


Ibid. The Side affected by hysterical Hemiplegia. Rev. neurol. Mar. 15, 
1908. P. 193. 

Ibid. Rationalisation in Everyday Lile. J. Ab. P. Aug. 1908. P. 161. 

Ibid. The Significance of Phrietopathie Sensation. J. N.M.D. July 
1908. P. 427. 

Ibid. Psycho-analysis in Psychotherapy. Annual Meeting of Amer. 
Therap. Soc. May 6, 1909. J. Ab. P. June, P. 140. Montreal Med. 
Journ. Aug. P. 495. 

Ibid. Remarks on a Case of complete Auto-psychic Amnesia. J. Ab.P. 
Aug. 1909. P. 218. 

Ibid. The Pathology of Dyschiria. Rev. of Neurol. and Psychiatry. 
Aug. 1909. P. 499, and Sept. P. 559. 

Ibid. Psycho-analytic Notes on a of Case Hypomania. A. J. 1. 
Oct. 1909. P. 203. 

Ibid. The Psycho-analytic Method of Treatment. Niagara District 
Med. Assoc. Nov. 24, 1909. 

Ibid. The Dyschirie Syndrome. J. Ab. P. Dec. 1909. 


Lane. The mental Element in the Etiology of Neurasthenia. Boston 
Soc. of Neur. Jan. 19, 1906, J. N.M.D. July, P. 463. 

La Roque. Hysterical Affections of the Abdomen. A. J. M. 8. 
June 1907. P. 912. 

Le Kerr. Report of a Case of hysterical Aphasia and Paralysis. 
Brooklyn Med. Journ. 1905. P. 155. 

Linenthal and Taylor. The analytic Method in Psychothera- 
peutics. Tilustrative Cases. Bost. J. Nov. 8, 1906. P. 541. 

Lloyd. Notes on a Case of spontaneous Somnambulism. J. Ab. P. 
Feb. 1908. P. 239. 

Mc Bride. Deafness due to Hysteria and allied Conditions: seven 
Cases. Edinburgh: Med. Journ. May 1906. P. 391. 

Mc Dougall. State of the Brain during Hypnosis. Brain. 1908, 
Pt. 122. P. 242. 

lbid. The physical Basis of mental Dissociation. B. M. J. Oct. 24, 
1908. P. 1315. 

Adolf Meyer. The Relation of emotional and intellectual Functions 
in Paranoia and in Obsessions. Psychol. Bull. Aug. 1906. P. 255. 
{bıd. Fundamental Conceptions of Dementia praecox. B. M. J. 

Sept. 29, 1906. P. 757. 

Ibıd. Fundamental Conceptions of Dementia praecox. N.Y. Neur. 
Soc. Oct. 2, 1906. J. N. M. D. May 1907. P. 331. Dise. 

Ibıid. The Relation of psychogenic Disorders to Deterioration. Boston 
Soc. of Psychiatry. Nov. 15. 1906. J. N. M. D. June 1907. P. 401. 
Disc. 

Ibid. Misconceptions at the Bottom of „‚Hopelessness of all Psycho- 
logy“. Psychol. Bull. June 1907. P. 170. 

Ibid. The Röle of the mental Factors ın Psychiatry. A. J. I. July 
1908. P. 39. Dise. 


942 


105. 
106. 


107. 


108. 
109. 


110. 
111. 
112. 
113. 
114. 
115. 
116. 
117. 
18, 
119. 
120. 
121. 
122. 


123. 


124. 


125. 


126. 


Ernest Jones. 


Ibid. The Problems of mental Reaction-types, mental Causes, and 
Diseases. Psychol. Bull. Aug. 1908. P. 245. 

Mills. Psycho-therapy: its Scope and Limitations. Monthly Oyclo- 
paedia and Med. Bull. July 1908. 

Ibid. The differential Diagnosis of grave Hysteria and organic 
Disease of the Brain and spinal Cord, especially Disease of the pa- 
rietal Lobe. Philad. Neur. Soc. Dec. 18, 1908. J. N.M.D. July 1909. 
P. 407. 

Ibid. Hysteria, whatitisand what it is not. A. J. I. Oct. 1909. P. 231. 

J. K. Mitchell. Report on a Case of hysterical Mutism. Amer. Neur. 
Assoc. June 1906. J. N. M. D. April 1907. P. 253. 

Ibid. Diagnosis and Treatment of Neurasthenia. Bull. of the Johns 
Hopkins Hospital. Feb. 1908. P. 41. | 

Weir Mitchell. Motor Ataxy from Emotion. Philad. Neur. Soc. 
Feb. 26, 1909. J. N. M. D. May, P. 257. | 

Münsterberg. Psychotherapy. 1909. 

Oettinger. A Case of recurrent autohypnotic Sleep, hysterical 
Mutism and simulated Deafness; symptomatic Recovery with De- 
velopment of Hypomania. J. N. M. D. Mar. 1908. P. 129. 

Onuf. Spasm of the Apparatus of binocular Fixation and super- 
induced Blepharospasm in a hysterical Patient with a Theory of 
their Pathogenesis. J. Ab. P. Oct. 1907. P. 155. 

Packard. The Feeling of Unreality. J. Ab. P. June 1906. P. 69. 

Parker. The visual Fields in Hysteria, illustrated by a Study of 50 
Cases. J. A. M. A. July 10, 1909. P. 91. 

Patrick. Ambulatory Automatism. Amer. Neur. Assoc. May 7, 1907. 
3: N4M. D.:June, .P:,353, 

Pershing. The Cure of hysterical Paralysis by Re-education of 
kinesthetic centers. J. A. M. A. May 11, 1907. P. 1569. 

Peterson. The Galvanometer as a Measurer of Emotions. B. M. J. 
Sept. 28, 1907. P. 804. 

Ibid. The Galvanometer in Psychology. N. Y. Neur. Soc. Nov. 12, 
1907. J. N. M. D. April 1908. P. 273. J. Ab. P. April 1908. P. 43. 
Ibid. The Seat of Consciousness. N.Y. Neur. Soc. Oct. 6, 1908. 
J. Ab. P. Dec. 1908. P. 307. J. N. M. D. Feb. 1909. P. 97. 
Ibid. Some new. Fields and Methods in Psychology. N.Y. M. J. 

Nov. 13, 1909. P. 945. 

Peterson and Scripture. Psycho-physical Investigations with the 
Galvanometer. N. Y. Neur. Soc. Mar. 2, 1909. J. N. M. D. July, 
P. 426. 

Morton Prince. Some of the present Problems of abnormal Psycho- 
y cs Louis Congress. Sept. 24, 1904. Psychol. Rev. March 1905. 

Ibid. Case of multiform Tie including automatic Speech and pur- 
posive Movements. Boston Soc. of Neur. Mar. 16, 1905. J.N.M.D. 
Jan. 1906. P. 29. 

Ibid. The Dissociation of a Personality. 1906. 


127. 


128. 


129. 


135. 


136. 


137. 


138. 


139. 


140. 


141. 


143. 


144. 


145. 
146. 


147. 


148. 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw. 348 


Ibid. The Psychology of sudden religious Conversion. J. Ab. P. 
Aprıl 1906. P. 42. 

Ibid. Hysteria from the Point of View of dissociated Personality. 
J. Ab. P. Oct. 1906. P. 170, and Bost. J. Oct. 4 and 11, 1906. Pp. 372 
and 407. 

Ibid. Experiment to determine co-conscious (Subconscious) Ideation. 


J. Ab. P. April 1908. P. 33. 


. Ibid. The Unconscious. J. Ab. P. Oct. 1908. P. 261. Dec. 1908. 


P. 335. Feb. 1909. P. 391. April 1909. P. 36. 


. Ibid. The psychological Principles and Field of Psychotherapy. 


J. Ab. P. June 1909. P. 72. 


. Prince and Coriat. Cases illustrating the educational Treatment 


of the Psycho-neuroses. J. Ab. P. Oct. 1907. P. 166. 


. Prince and Peterson. Experiments in psycho-galvanie Reactions 


from co-conscious (subeonscious) Ideas in a Case of multiple Perso- 
nality. J. Ab. P. June 1908. P. 114. 


. Putnam. A Consideration of mental Therapeutics as employed 


by special Students of the Subjects. Bost. J. 1904. P. 179. 

Ibid. Recent Experiments in the Study and Treatment of Hysteria 
at the Massachusetts General Hospital with Remarks on Freuds. 
Method of Treatment by ‚„Psycho-analysis“. J. Ab. P. April 1906. 
P. 26. | 

Ibid. The Bearing of Philosophy on Psychiatry, with special Refe- 
rence to the Treatment of Psychasthenia. B. M. J. Oct. 20, 1906. 
P. 1021. 

Ibid. The Treatment of Psychasthenia from the Standpoint of social 
Conseiousness. A. J. M. S. Jan. 1908. P. 77. 

Ibid. The Service to nervous Invalids of the Physieian and the Mi- 
nister. Harvard Theolog. Rev. April 1909. 

Putnam and Waterman. Certain Aspects of the differential 
Diagnosis between Epilepsy and Hysteria. Bost. J. May 4, 1905. 
P. 509. | 

Raines. Report of aUaseofPsychochromesthesia. J. Ab.P. 0ct.1909. 
P. 249. 

Ricksher. Impressibility in Dementia praecox. A. J. I. Oct. 1909. 
P.'2318. 


. Ring. The association Test and Psycho-analysis. Bost. J. Jan. 7, 


1909. P. 16. 

Ruggles. Observations on Ganser’s Symptom. A. J. I. Oct. 1905. 
P. 307. 

J. W. Russell. Hysterical Somnambulism showing abnormal Acuity 
of Vision in the somnambulic State. B. M. J. Mar. 14, 1908. P. 618. 

Savill. Lectures on Neurasthenia. 3rd ed. 1908. 

Ibıd. Lectures on Hysteria. 1909. 

Ibid. The Psychology and Psychogenesis of Hysteria, and the Röle 
of the sympathetic System. L. Feb. 13, 1909. P. 443. 

Schofield. Functional Nerve Diseases. 1908. 


344 


149. 
150. 


151. 


152. 
153. 


154. 
155. 


156. 
157. 
158. 
159. 


160. 


161. 


162. 
163. 
164. 
165. 
166. 


167. 
168. 


169. 


170. 


Ernest J ones. 


Schwab. The Use of social Intercourse as a therapeutic Agent in the 
Psychoneuroses, a Contribution to the Art of Psychotherapy. Amer. 
Neur. Assoc. May 1907. J. N. M. D. Aug. P. 497. 

Scott. An Interpretation of the psycho-analytic Method in psycho- 
therapy with a Report of a Case so treated. J. Ab. P. Feb. 1909. 
P./3718 

Seripture. Experiments on subconscious Ideas. N. Y. Neur. Soc. 
Oct. 8, 1907. J. N. M. D. March 1908. P. 181. 

Ibid. Penmanship stuttering. J. A. M. A. May 8, 1909. P. 1480. 

Boris Sıdis. An Inquiry into the Nature of Hallucinations. Psy- 
chol. Rev. Jan. 1904. P. 15. March, P. 104. f 

Ibid. Multiple Personality. 1905. 

Ibid. Are there hypnotic Hallucinations? Psychol. Rev. July 1906. 
P. 239. J. Ab. P. Oct. 1906. P. 188. 

Ibid. Studies in Psychopathology. Bost. J. Mar. 14, 1907. P. 317. 
Mar. 21, P. 357. Mar. 28, P. 394. April 4, P. 432. April 11, P. 472. 
Ibid. The Doctrine of primary and secondary sensory Elements. 

Psychol. Rev. Jan. 1908. P. 44, and March. P. 106. 

Ibid. An experimental Study of Sleep. J. Ab. P. April 1908. P. 1. 
June. P. 63. Aug. P. 170. 

Ibid. The psychotherapeutic Value of the hypnoidal State. J. Ab. P. 
June 1909. P. 151. 

Boris Sidis and Kalmus. A Study of galvanometric Deflections 
due to psycho-physiological Processes. Psychol. Rev. Sept. 1908. 
P. 391. and Jan. 1909. P. 1. 

Sıdis, Prince and Linenthal. Contribution to the Pathology of 
Hysteria based upon an experimental Study of a Case of Hemi- 
anesthesia, with clonic convulsive Attacks simulating Jacksonian 
Epilepsy. Trans. Assoc. Amer, Phys. 1904. P. 446. Bost. J. June 23, 
1904. P. 674. 

Spiller. Psychasthenie Attacks simulating Epilepsy. J. Ab. P. Feb. 
1907. P. 256. J. N. M. D. June 1907. P. 411. Disc. 

E. W. Taylor. A Case of Somnolentia. Bost. J. 1905. P. 398. 

Ibid. Attitude of the medical Profession toward the psychothera- 
peutic Movement. Bost. J. Dec. 19, 1907. P. 843. J. N. M.D. June 
1908. P. 401. 

Ibid. Simple Explanation and Re-education as a therapeutic Method. 
J. Ab. P. June 1909. P. 120. 

J. J. Thomas. Hysteria in Children. Amer. Neur. Assoc. May 1907. 
J. N. M. D. April 1908. P. 209. 

Ibid. Some Aspects of Psychotherapy. Bost. J. Jan. 7, 1909. P. 7. 

Town. Association Tests in practical work for the Insane. The 
Psychol. Clinie. Feb. 1909. P. 276. 

Verrall. On a Series of automatic Writings. Proc. of the Soc. for 
Psychical Research. Oct. 1906. P. 432, 


ee Miracles of Healing. Amer. Journ. of Psychol. April 1909. 
219, 


171. 


172. 


173. 


174. 


175. 


176. 


177. 


178. 


179. 


180. 
181. 


182. 


183. 


184. 


185. 


186. 


187. 


188. 


189. 
190. 


191. 


Bericht über die neuere englische und amerikanische Literatur usw, 848 


Walton. The Classification of Psycho-neurotics, and the obsessinal 
Element in their Symptoms. Amer. Neur. Assoc. May 1907. J. N. 
M. D. Aug. P. 489. 


Waterman. The Treatment of fatigue States. J. Ab. P. June 1909. 
P. 128. 


White. The Theory of the Complex. RR Med. Journ. April 
1909. P. 243. 

Tom Williams. A few Hints from personal Experience in Psycho- 
therapy. Monthly Cyclop. and Med. Bull. July 1908. 

Ibid. The Role of the Physician in producing or maintaining Mala- 
dies produced by the Imagnination. Amer. Med. Aug. 1908. P. 367. 

Ibid. Considerations as to the Nature of Hysteria, with their appli- 
cation to the Treatment of a Case. Internat. Clinics. Oct. 1908. 
P. 44. 

Ibid. The differential Diagnosis of functional from organic Palsies. 
Arch. of Diagnosis. Oct. 1908. 

Ibid. The Elements of Diagnosis between spasmodic Movements of 
the Face and Neck. Virginia Med. Semi-Monthly. Oct. 9, 1908. 
Ibid. Recent Advances regarding Hysteria in Relation to traumatic 

Neurosis. Monthly Cyclopaedia and Med. Bull. Nov. 1908. 

Ibid. The present Status of Hysteria. N. Y. M. J. Jan. 9, 1909. P. 53. 

Ibid. The differential Diagnosis between Neurasthenia and some 
Affections of the nervous System for which it is often mistaken. 
Arch. of Diagnosis. Jan. 1909. 

Ibid. Mental Causes in bodily Disease: the most frequent Cause of 
the Origin of ‚„‚nervous Indigestion“. J. Ab. P. Feb. 1909. P. 386. 
Ibid. TheTrend of the clinicalConcept of Hysteria. Bost. J. March 25, 

1909. B. 364. 

Ibid. The Clarification of our Concepts concerning Hysteria. Monthly 
Cyclopaedia and Med Bull. Mar. 1909. Canadian Journ. of Med, and 
Surg. May 1909. P. 278. 

Ibid. The Importance for Research and Treatment of distinguishing 
clinical Types among psycho-neurosis. J. Ab. P. April 1909. P. 32. 

Ibid. The psychological Bases of Inebriety. N.Y. M. J. April 24, 
1909. P, 833. 

Ibid. The Difference between Suggestion and Persuasion — the 
Importance of the Distinetion. Alienist and Neurologist. May 1909. 
P. 158. 

Ibid. Psychoprophylaxis in Childhood. J. Ab. P. 1909. P. June 181. 

Ibid. The traumatic Neurosis and Babinski’s Conception of Hysteria. 
Med. Rec. Oct. 2, 1909. P. 557. 

Witmer. Mental Healing and the Emmanuel Movement. The 
Psychol. Clinic. Dec. 1908. P. 212. Jan. 1909. P. 239. Feb. P. 282. 

Woodman. General Considerations as to the Nature and Relation- 


ships of Hysteria. J. N. M. D. Jan. 1908. P. 23. Feb. P. 77. March. 
P. 153. 


346 Ernest Jones. 


192. Yerkes and Barry. The association reaction Method of mental 
Diagnosis. Amer. Journ. of Psychol. Jan. 1909. P. 22. 

Wegen des Raumes ist von folgenden Abkürzungen Gebrauch ge- 
macht worden: 
'£5 A. J. I. = American Journal of Insanity. A. J.M. $.—= The American 
Journal ofthe Medical Sciences. Bost. J.= The Boston Medical and Surgical 
. Journal. B. M. J. = British Medical Journal. Disc. = Discussion. J. A. 
M. A. = The Journal of the American Medical Association. J. Ab. P. = 
Journal of Abnormal Psychology. J. N. M. D. = Journal of Nervous and 
Mental Disease. L. = Lancet. N.Y.M. J. = New York Medical Journal. 


Über den gegenwärtigen Stand der Freudschen 
Psychologie in Rußland. 


Von J. Neiditsch (Berlin). 





Die russische Fachliteratur hat sich bis vor kurzem mit der von 
Freud inaugurierten Psychologie gar nicht beschäftigt. Erst 1908 
fing man an, das Interesse diesen neuen Forschungen zuzuwenden. 
Schon vor einiger Zeit ist die kleine Ausgabe der Traumdeutung, die 
Freudsche Schrift über den ‚Traum‘, ins Russische übersetzt worden. 
Als einer der ersten hat Dr. Ossipow von der Moskauer psychiatrischen 
Universitätsklinik eine ausführliche Berichterstattung über die Freud- 
schen Forschungen veröffentlicht unter dem Titel: ‚Die psychologischen 
und psychopathologischen Anschauungen von $. Freud in der deutschen 
Literatur des Jahres 1907.“ Darin finden sich Referate über die wich- 
tigsten Arbeiten Freuds mit Randbemerkungen versehen. Mehreres 
davon ist in sehr zustimmendem Tone gehalten. Aus dem kritischen Teile 
und aus den Schlußfolgerungen gewinnt man aber den Eindruck, daß 
der Autor einigen fundamentalen Punkten der Freudschen Lehre 
noch nicht voll beistimmen kann, so äußert er sich z. B. folgendermaßen: 
„F. hat auch eine besondere Theorie des Sexualgefühles aufgestellt. . 
Ich habe dieser Theorie nicht soviel Aufmerksamkeit geschenkt, weil 
die Freudschen Ansichten nicht viel verlieren, auch wenn man seine 
Überzeugung über die Allmächtigkeit der Sexualität nicht teilt.“ 

In einem sehr ausführlich und anerkennend gehaltenen Artikel 
über ‚Die Psychologie der Komplexe und des Assoziationsexperimentes 
in den Arbeiten der Züricher Klinik“ kommt Dr. Ossipo w zum Schlusse, 
daß die von Freud beeinflußte, rein psychologische Richtung der Zü- 
richer Schule eine notwendige Ergänzung bilde zu den Hauptmethoden 
psychiatrischer Forschung, der anatomischen und klinisch-nosologischen. 

Selbstverständlich macht ein Kritiker auch energische Opposition 
gegen die Freudsche Sexualtheorie, indem er dieselben Einwände 


348 J. Neiditsch. 


vorbringt, die in der deutschen Literatur schon reichlich niedergelegt 
sind. Auch der Ton der Kritik ist der übliche. 

Eine Rezension über ‚Die diagnostischen Assoziationsstudien 
von Jung‘ veranlaßte Dr. A. Bernstein, Privatdozent der Psychiatrie 
in Moskau, sich über seine Stellung zu Freud zu äußern: ‚‚Durch seine 
Assoziationsstudien hat Jung die Frage des unbewußten Seelenlebens 
auf experimentellen Boden gestellt. Ich muß hinzufügen, daß die Ex- 
perimente der Züricher Schule der Lehre Freuds über Hysterie und 
Zwangsneurose noch mehr Überzeugung verleihen, jener Lehre, welche 
noch immer mit dem Skeptizismus der meisten Psychiater zu kämpfen 
hat. Jung ist ein feuriger Anhänger Freuds, und ich glaube, daß seine 
Experimente und Beobachtungen ihm dazu auch das volle Recht geben.“ 

In einem andern Artikel „Über Form und Inhalt psychischer 
Störungen“ kommt Bernstein wieder auf Freud zu sprechen: ‚Es 
ist das Verdienst von Freud, uns den Weg gezeigt zu haben zum Ver- 
ständnisse der menschlichen Psyche. Die Psychoanalyse deckt die 
Ursache verschiedener psychopathologischer Symptome auf und er- 
öffnet so den Weg zu einer rationellen symptomatischen Psychotherapie, 
welche die Stelle solcher empirischer Panazeen wie die Hypnose, die 
Suggestion einnehmen wird. Die Erfolge der psychoanalytischen Therapie 
bei Hysterie, Phobie und Zwangsneurose sind ja zur Genüge bekannt.“ 

In zustimmender Weise äußert sich Dr. Pownizki (Petersburg) 
über Stekels Buch ‚Nervöse Angstzustände“. Er sagt: „St.s 
Buch ist eine sehr schöne Demonstration von klinischen Fällen, die nach 
der Methode Breuer-Freud behandelt worden sind. St.s Erfahrungen 
stimmen mit den unsrigen überein und verdienen die größte Aufmerk- 
samkeit der Psychopathologie.“ Pownizki selbst hat sechs Fälle von 
Hysterie und Zwangsneurose mit Erfolg behandelt. Die Fälle sind bis 
jetzt aber nur in einer vorläufigen Mitteilung kurz dargestellt worden 
und sollen später ausführlich veröffentlicht werden. 

Die obigen Mitteilungen erwähnen so ziemlich alles, was bis 
dahin (Mitte 1909) über Freudsche Psychologie in Rußland publiziert 
wurde. Im allgemeinen steht die russische Fachliteratur der Sache 
noch recht teilnahmslos und fremd gegenüber, wenn schon vielerorts 
von Einzelnen viel darüber diskutiert wird. Daß aber das Interesse 
mächtig zu wachsen beginnt, zeigt die von der Moskauer Neuropatho- 
logisch-psychiatrischen Gesellschaft gestellte Preisa ufgabe: ‚Die 
Psychoanalyse und ihre Bedeutung für die Nervenkrankheiten.“ 


Die Freudsehen Lehren in Italien. 
Von Dr. Roberto 6. Assagioli (Florenz). 





Merkwürdigerweise haben die Freudschen Lehren in Italien 
noch kein großes Interesse erregt, obgleich meines Erachtens der 
italienische Geist, dank seiner Lebhaftigkeit und Feinheit, den scharf- 
sinnigen Denkoperationen der Psychoanalyse zugänglich sein sollte. 
Die Ursachen solcher Vernachlässigung lassen sich jedoch aus der gegen- 
wärtigen Lage der psychiatrischen Forschungsweise in Italien begreifen. 

Man kann sagen, daß im großen und ganzen die italienischen 
Forscher auf diesem Gebiete in zwei Hauptgruppen zerfallen. Die 
erste folgt einer Richtung, welche man als klinische bezeichnen kann 
und die sich mit der Symptomatologie und Klassifikation der Psy- 
chosen befaßt. Die andere verfolgt im Gegenteile die anatomische 
Richtung und beschäftigt sich hauptsächlich mit histologischen und 
biochemischen Fragen. So kommt es, daß die eigentliche psycho- 
pathologische Forschung einer ziemlichen Vernachlässigung anheim- 
gefallen ist, bis auf einige spezielle Gebiete, wie die Mediumnität und 
geistige Abnormitäten bei Kindern; letzteres wegen seines besonderen 
praktischen Interesses. 

In den letzten drei Jahren jedoch sind zwei ziemlich eingehende 
Studien über die Freudschen Lehren erschienen, welche hoffen lassen, 
daß diese Forschungen in Italien einer ernsten und unpartelischen Be- 
urteilung unterzogen werden, so daß man ihre Ergebnisse benutzen 
kann, ohne deshalb sich einer voreiligen und gefährlichen Begeisterung 
hinzugeben und auch ohne ihnen die Feindseligkeit, das Vorurteil und 
die leidenschaftlichen, verständnislosen Kritiken entgegenzubringen, 
welche, besonders in Deutschland, dem Ernste und dem Fortschritte 
der psychopathologischen Forschung Abbruch getan haben. 


390 Roberto G. Assagioli. 


Der erste italienische Versuch über die Freudsche Lehre wurde 
von Dr. Luigi Baronecini veröffentlicht in der Rivista di psico- 
logia applicata (B. IV, 1908. Nr. 3), unter dem Titel: „Il fonda- 
mento e ilmeccanesimo della psico-analisi“ (Grundlage und Mechanismus 
der Psychoanalyse). Baroncini gibt in erster Linie eine Übersicht 
über die Hauptpunkte der Freudschen Ideen, wobei er jedoch haupt- 
sächlich jene der ersten Periode in Betracht zieht. Dann folgt eine 
Zusammenstellung der von Jung in seiner ‚„‚Psychologie der Dementia 
praecox“ geäußerten Ansichten und zum Schluß einige Notizen über 
die Technik der Psychoanalyse. Die angefügten kritischen Betrach- 
tungen Baroncinis sind zwar kurz, aber treffend und den besprochenen 
Lehren entschieden zustimmend, wie aus folgender Stelle erhellt: 
„Eine Kritik dieser verschiedenen wichtigen psychologischen Auf- 
fassungen zu liefern bietet keine Schwierigkeit, wenn man sich gegen 
den einen oder anderen einzeln genommenen Punkt wendet, wenn 
man die geringfügigen Widersprüche in den Details, welche nicht zu 
leugnen sind, hervorhebt, und damit die ganze Theorie über den Haufen 
zu werfen glaubt. Aber dergleichen Kritiken kommen den Erfindern 
selbst nicht unerwartet; sie wissen, daß sie nichts Definitives hervor- 
gebracht haben, sie glauben nicht, das ganze Gebiet erschöpft, alle 
Zweifel und alle Schwierigkeiten beseitigt zu haben.“ 

„Der eigentliche Hauptpunkt der Freudschen Untersuchungen 
besteht inder neuen Methode, welche Freud für das Studium der psy- 
chischen Phänomene ausgedacht hat, und welche in seinen Händen und 
denen Jungs eine reiche Ernte glänzender Erfolge ergeben hat. Willman 
also diese psychologische Auffassung vernichten, so muß erst der Beweis 
erbracht werden, daß die psychoanalytische Methode auf falscher 
Grundlage ruht und deshalb kein Zutrauen verdient, oder aber daß 
die von ihr gelieferten Ergebnisse in keinerlei Weise mit den bisherigen 
Erfahrungen der Psychopathologie in Einklang zu bringen sind. In 
jedem Falle soll man”selbst prüfen, beobachten und experimentieren 
in der von Freud angegebenen Richtung und mit seinen Mitteln. 
Aber den verdrängten Komplexen ihren Wert abzusprechen, nur weil 
sie zu anthropomorph aufgefaßt werden, oder weil sie zu mechanisch 
wirken, oder weil man die Methode ihrer Auffindung für nicht beweis- 
kräftig (insofern alle von ihr ans Licht geförderten Phänomene nur 
ein Produkt der Suggestion und der Erwartung sein sollen) und über- 
dies für unmoralisch hält — dies alles behaupten wollen ohne vorher 
experimentell geprüft zu haben, scheint uns mit wissenschaftlicher 





Die Freudschen Lehren in Italien. 351 


Strenge unvereinbar und ungerecht gegen die Urheber jener kühnen 
Auffassung, der sie seit so viel Jahren all ihren Scharfsinn und ihre 
Arbeit weihen.“ 

Ein weiterer Autor, der sich mit der Freudschen Theorie be- 
schäftigt hat, ist Dr. Gustavo Modena. Er hat zuerst eine kurze 
Übersicht derselben im Giornale di psichiatria elinica etecnica 
manicomiale (1907, Nr. 4, S. 759) und dann später in der Rivista 
sperimentale di freniatria (B. XXXIV, 1908, Nr. 3—4) eine 
Abhandlung veröffentlicht unter dem Titel: ‚„Psicopatologia ed etio- 
logia dei fenomeni psiconeurotici (Contributo alla dottrina di S. Freud)“. 

Der Verfasser hebt die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit 
der Freudschen Untersuchungenhervor. Er teiltdie Arbeiten derFr eud- 
schen Psychologie in drei Hauptgruppen: In der ersten behandelt er 
„Die Arten und Erscheinungen der Hysterie im Lichte der Ergebnisse 
der Psychoanalyse“. In der zweiten ‚Die sexuelle Frage und der Einfluß 
der Sexualität in der Ätiologie der psychoneurotischen Erscheinungen“, 
wobei er eine weitläufige Zusammenfassung der ‚Drei Abhandlungen 
zur Sexualtheorie“ gibt. In der dritten beschreibt er ‚Die psycho- 
analytische Methode und Therapie.“ Darauf folgt eine Zusammen- 
stellung der verschiedenen Ansichten über die Freudschen Ideen, der 
zustimmenden sowohl als absprechenden, wobei er sich mißbilligend 
über die Weise äußert, in welcher die Diskussion geführt wurde. „Wenn 
wir die ausgedehnte Literatur über diesen Gegenstand überblicken, 
(schreibt er), so finden wir, daß sich die heftige Polemik zwischen einer 
hartnäckigen Opposition und einer blinden Hingebung an die Lehren 
hin und her bewegt. Für die letztere ist jeder Ausspruch ein Dogma, 
für die erstere ist jeder Schluß falsch und unhaltbar. Einen Mittelweg 
scheint es nicht zu geben. Aber eine Lehre wird nicht von der Kritik 
und der Antikritik gestürzt oder bewiesen; nur fortgesetzte Beobach- 
tungen und der unparteiische Austausch von Erfahrungen und Ideen 
können die Meinungsunterschiede beseitigen, Zweifel und Unsicher- 
heiten tilgen und Fehler und falsche Schlüsse aufdecken.“ 

Modena fügt eine Reihe von kritischen Bemerkungen bei und 
liefert auch einige bestätigende Beiträge. 

Was die bekanntlich so oft beanstandete libidinöse Bedeutung 
des „Ludelns“ (Lullen) betrifft, bemerkt er: „Es unterliegt keinem 
Zweifel, daß diese Gewohnheit mit angenehmen Empfindungen verbun- 
den ist, weil sie zu den Mitteln gehört, die von den Ammen angewandt 
werden, um die Kinder zu beruhigen. Daß sie mit erotischen Empfin- 


992 Roberto @. Assagioli. 


dungen zusammenhängt, wird von der Tatsache bestätigt, daß viele 
Kinder gleichzeitig mit dem Ludeln am Finger oder am Arme die 
Sexualorgane berühren. Ich selbst habe zwei solche. Fälle beobachtet, 
und einer meiner Kollegen, ein tüchtiger Kinderarzt, teilte mir mit, 
daß er in seiner langen Erfahrung mehrere Male Gelegenheit hatte, 
dieses Phänomen zu beobachten.“ | 


Modena stimmt auch dem Begriffe der Verdrängung bei: „Eine 
genaue psychologische Analyse der Kranken, auch wenn sie den von 
Freud gegebenen Vorschriften der Psychoanalyse nicht folgt, genügt 
oft, um im Hintergrunde des neurotischen Zustandes die Abwehr- 
tendenz eines Komplexes bloßzulegen, welcher als Trauma gewirkt hat 
und zu einem augenscheinlichen psychischen Konflikte Anlaß gibt. 
Letzterer offenbart sich in psychischen Erscheinungen bei der Zwangs- 
neurose oder mittels der Konversion in körperlichen Symptomen, 
wie zum Beispiel in der Hysterie.‘ 


Was die zwei Krankheitsgruppen anbelangt, welche Freud als 
Angstneurosen und Psychoneurosen unterscheidet, sagt Modena, daß 
das von Freud für diese Klassifikation gewählte ätiologische Kriterium 
noch nicht hinreichend sicher ist, aber fügt hinzu: ‚Die Erfahrung 
bestätigt, daß diese von Freud beschriebenen Formen der Angstneu- 
rosen bestehen ; und die Literatur über dieselben liefert viele und wichtige 
Beiträge. Bei der Untersuchung der Psychoneurosen vom klinischen 
Standpunkte aus werden gleichfalls viele Berührungspunkte und 
Analogien zwischen Hysterie und Zwangsvorstellungen bemerkbar, 
welche Freuds Ideen teilweise rechtfertigen.‘“. Weitere Auseinander- 
setzungen widmet Modena dem Problem der biochemischen Grundlage 
der Sexualität, anschließend an Freuds Äußerungen über den Sexual- 
stoffwechsel. In Anbetracht der Tatsache, daß hierüber (d. h. über 
die „„Neurosenchemie‘‘) faktisch so gut wie nichts bekannt ist, ver- 
zichten wir auf ein ausführliches Referat der Modenaschen Ansichten. 
Wir verweisen dafür auf das Original. 


Wir wollen hinzufügen, daß Modena die italienische Über- 
setzung der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ und 
verschiedene kleine Berichte für die Rivista sperimentale 
dı Freniatria vorbereitet. 


Professor Sancte de Sanetis (Rom) hat in den Folia Neuro- 
bologioa; (B. II. 6. 8. 673) ein Referat in deutscher Sprache über 
Baroneinis Schrift gebracht, in welchem er die Gelegenheit benutzte, 


Die Freudschen Lehren in Italien. 353 


seine eigene Meinung über die Freudsche Lehre folgendermaßen zu 
äußern: 

„Meinerseits schätze ich seit langem das Talent Sigmund 
Freuds, mit dem ich öfter Briefwechsel pflog, und von Jung, den 
ich persönlich kenne, kann ich sagen, daß er äußerst gewissenhaft ist 
und mit bewundernswürdigem Enthusiasmus arbeitet. Man kann daher 
nicht ironisch oder gleichgültig dem gegenüberstehen, was Freud mit 
Jung auf dem Gebiete der auf die Geistespathologie angewandten 
Psychologie geschaffen haben und schaffen. Die Neigung, dem Ur- 
sprunge der psychopathologischen Erscheinungen näher zu treten, 
zeugt sicher von einem großen Scharfsinne. Ziehe ich ferner meine 
persönliche Erfahrung heran, so kann ich behaupten, daß, richtig ge- 
handhabt, die angeführten Methoden große Vorteile für die Erkenntnis 
der Psyche des Individuums und für die Ermittlung des Ursprungs 
der psychopathologischen Erscheinungen und der anormalen Merk- 
male bieten. Nur muß man sich an die Tatsachen halten und in einen 
unnützen Teleologismus zu verfallen vermeiden. Es scheint mir außer 
allem Zweifel zu stehen, daß viele psychopathologische Erscheinungen 
ihren logischen und psychologischen Ursprung nicht unter der Schwelle 
des Bewußtseins haben, sondern daß sie einfach auf physiologischer 
Grundlage stehen, indem sie plötzlich durch Unterbrechung von inter- 
zerebralen Beziehungen und durch Entstehung von automatischen 
Bewegungen oder Taten verursacht werden, die mit dem früheren 
Seelenleben der betreffenden Individuen gar nichts zu tun haben. 

Was die Methode der Psychoanalyse und der Assoziationen 
betrifft, so hat mich die persönliche Erfahrung folgendes gelehrt: 

1. Bei der Untersuchung der Individuen mit den genannten 
Methoden kann man in ihnen nichts Neues, nicht schon im Bewußtsein 
Vorhandenes [und somit durch das freiwillige Geständnis der Indi- 
viduen zu Erfahrendes] auffinden. 

2. Zuweilen findet man tatsächlich unter der Schwelle des Be- 
wußtseins Vorstellungsgruppen und Gefühle, die dem Bewußtseinsinhalt 
fremd sind; aber die Gegenwart dieser Vorstellungen und Gefühle kann 
meistens durchaus nicht die krankhaften oder anormalen Erscheinungen 
der Untersuchten erklären, und es führt nur in einer kleinen Minderzahl 
der Fälle die Erforschung des Unterbewußtseins zu der Auffindung der 
Ursache der psychopathologischen Erscheinung. 

Es folgt daraus, daß es unzulässig wäre, eine Lehre der Hysterie 
einzig auf die Ergebnisse der Psychoanalyse und der Assoziations- 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. II, 23 


354 Roberto G. Assagioli. 


methode zu gründen. In der Tat hat Freud nach Beobachtung einer 
größeren Zahl von Patienten seine Schlüsse allmählich verändern müssen. 
Und so ist der Umstand beachtenswert, daß diese Veränderung der 
Freudschen Lehre in einer immer weniger restriktiven Deutung der 
Erscheinungen besteht. Vorläufig bleibt in der Freudschen Lehre 
die Bedeutung der Sexualität bei der Entstehung der Hysterie 
und die Tatsache, daß diese im präpuberalen Leben ihren Ursprung 
hat. Diese zwei ätiologischen Tatsachen können im allgemeinen 
angenommen werden. Es bleibt aber meiner Ansicht nach noch die 
Art und Weise unaufgeklärt, wie die hysterischen Erscheinungen 
ausbrechen.““ 

Ohne die Behauptungen de Sanctis im einzelnen bestreiten 
zu wollen, erlaube ich mir zu bemerken, daß aller Wahrscheinlichkeit 
nach der Grund seiner so wenig befriedigenden Resultate mit der psy- 
choanalytischen Methode in dem Mangel an Geduld und Ausdauer 
gesucht werden muß. Überhäuft mit vielerlei Arbeiten und Interessen 
hat de Sanctis sich die speziellen Anforderungen nicht vergegen- 
wärtigt, welche die Technik der Psychoanalyse stellt, und hat die mühe- 
volle Arbeit zu bald aufgegeben, um positive Ergebnisse verzeichnen 
zu können. 

Diese Bemerkung soll die Verdienste, die sich de Sanctis 
um die Förderung der psychologischen Forschung in Italien erworben 
hat, nicht bemängeln. 

Prof. Bianchi (Neapel) hat sich, meines Wissens, in seinen 
Schriften nur ein einziges Mal über die Freudschen Ideen geäußert, 
dann aber in höchst bestimmter Weise. Denn in seinem Lehrbuch 
der Psychiatrie (S. 532) bespricht er das Verhältnis zwischen 
Sexualität und Hysterie und fügt hinzu: ‚„... in dieser Beziehung 
bin ich nicht nur geneigt den Ideen Freuds über die Wichtigkeit 
der ins Unbewußte übergegangenen sexuellen Bilder für die Ent- 
stehung der Hysterie beizupflichten, sondern ich hege gar 
keinen Zweifel darüber.“ 

Der Verfasser dieses Referates hat bis jetzt nur eine Schrift 
veröffentlicht, in welcher die in den „Drei Abhandlungen zur 
Sexualtheorie‘“ enthaltenen Ideen zusammengefaßt und einer 
kurzen Kritik unterzogen worden sind, und weiter einen Bericht 
über die II. Psychoanalytische Vereinigung in Nürnberg. Seine 
ausführliche Doktordissertation über die Psychoanalyse ist noch 
nicht erschienen. 


Die Freudschen Lehren in Italien, 355 


Der Umstand, daß eine derartige Dissertation ihm aus eigenem 
Antrieb von einem Professor vorgeschlagen wurde, der zu den 
entschiedenen Anhängern der anatomischen Richtung gehört, ist ein 
Zeichen dafür, daß die Psychoanalyse sich in Italien vielleicht wird 
verbreiten können, ohne in den offiziellen Kreisen der systematischen 
„Zensur‘‘ zu begegnen, welche anderwärts, obwohl vergeblich, die 
Psychoanalyse aus dem ihr zukommenden Platz im wissenschaftlichen 
Bewußtsein zu verdrängen versucht hat. 


23* 


Referate über psychologische Arbeiten 
schweizerischer Autoren (bis Ende 1909). 


Zusammengestellt von Dr. C. 6. Jung, Privatdozent der Psychiatrie 
an der Universität Zürich. 





Diese Sammlung enthält unter anderem alle diejenigen Arbeiten 
der Züricher Schule, welche sich entweder direkt mit Psychoanalyse 
befassen oder dieselbe wesentlich berühren. Arbeiten sonstigen klini- 
schen oder psychologischen Inhaltes der genannten Schule sind weg- 
gelassen. Die Arbeiten Abrahams, auch die, die in Zürich entstanden 
sind, finden sich referiert im Jahrbuche 1909. Einige Arbeiten deutscher 
Autoren, welche sich den Ergebnissen der ‚„Diagnostischen Assoziations- 
studien‘ annähern, sind parenthetisch angemerkt. Die Berücksichti- 
gung der kritischen und oppositionellen Literatur ist leider unmöglich, 
solange die Wissenschaftlichkeit unserer Forschungsprinzipien von der 
Kritik in Frage gestellt wird. 


Bezzola (Schloß Hard, Ermatingen)!): Zur Analyse psychotraumatischer 
Symptome. 


Journ. f. Psychol. und Neurol, Band VIII, 1907. 


Verfasser steht noch ganz auf dem Boden der Traumatheorie. 
Sein Verfahren entspricht bis ins einzelne der Breuer-Freudschen 
Methode, die als „„Kathartische‘“ bezeichnet wurde. {Von der späteren 
Methodik hat Verfasser noch keine richtige Vorstellung. Er empfiehlt 
eine Modifikation, die er Psychosynthese nennt. Er geht dabei 
von folgender Basis aus: ‚‚Jedes psychisch wirksame Erlebnis gelangt 
ın Form von dissoziierten Erregungen der Sinnessphäre zu unserem 
Bewußtsein. Um zum Begriffe zu werden, müssen diese Erregungen 





1) Vormals. 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 397 


unter sich und mit dem Bewußtsein assoziiert werden. Infolge der 
Bewußtseinsenge aber kann dieser Prozeß nicht völlig stattfinden, ge- 
wisse Komponenten bleiben im Unbewußten oder werden falsch asso- 
ziiert bewußt. Die Psychosynthese besteht nun darin, daß diese ver- 
einzelten bewußten Bestandteile durch Nachempfindung so lange 
verstärkt werden, daß die damit unterbewußt assoziierten Kompo- 
nenten sich neu beleben, wodurch die nachträgliche Entwicklung des 
ganzen Ereignisses zum Bewußtsein stattfindet und die Lösung der 
psychotraumatischen Symptome erfolgt.‘ Eine Reihe von Fällen stützen 
diese Theorie. Natürlich sind sie mit totaler Blindheit für den eigent- 
lichen psychosexuellen Untergrund dargestellt. Das Schlußwort enthält 
einen Angriff auf die Freudsche Sexualtheorie mit dem üblichen 
nervösen Ton und den entsprechenden Argumenten. 


Binswanger siehe Jung: Diagnost. Assoc. stud., XI. Beitrag. 


Bieuler (Zürich): Freudsehe Mechanismen in der Symptomatologie von 
Psychosen. 


Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift, 1906. 


Sammlung von Auflösungen von Symptomen und Zusammen- 
hängen in verschiedenen psychotischen Zuständen. 


Bieuler und Jung: Kompiexe und Krankheitsursache bei Dementia 
praecox. 


Zentralbl. £. Nervenheilkunde u. Psychiatrie, XXXI.Jahrg., 
1908, 8. 220. 


Die Autoren versuchen gegenüber der Meyerschen Kritik der 
Jungschen Dementia-praecox-Lehre ihren Standpunkt in der Frage 
der Ätiologie klarzulegen. Zunächst wird festgestellt, daß die neue 
Auffassung keine ätiologische, sondern eine symptomatologische ist. 
Die Fragen der Ätiologie sind verwickelt und kommen in zweiter Linie. 
Bleuler unterscheidet streng zwischen dem physischen Krankheits- 
prozesse und der psychologischen Determination der Symptome, welch 
letzterer er keine ätiologische Bedeutung in Ansehung des Krankheits- 
prozesses beimißt. Demgegenüber hält Jung sich die Frage der ideo- 
genen Ätiologie offen, indem bei physischen Krankheitsprozessen 
dem physischen Affektkorrelat eine ätiologisch bedeutsame Rolle zu- 
fallen kann. 


358 C. G. Jung. 


Bleuler: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. 
Halle, Carl Marhold, 1906. 


Das Buch Bleulers über die Affektivität bedeutet einen groß- 
zügigen Versuch einer allgemeinen psychologischen Beschreibung und 
Definition der affektiven Vorgänge, in die er die Feststellungen der 
Freudschen Psychologie in Umrissen einzureihen sucht. Die Auf- 
fassung der Aufmerksamkeit und der Suggestibilität als Spezialfälle 
oder Teilerscheinungen der Affektivität ist eine wohltuende Verein- 
fachung in der babylonischen Sprachen- und Begriffsverwirrung der 
heutigen Psychologie und Psychiatrie. Wenn auch nichts Endgültiges 
damit geschaffen sein wird, so ermöglicht uns hier Bleuler doch eine 
einfache und der Erfahrung entsprechende Art der Auffassung kom- 
plizierter Seelenvorgänge. Das hat die Psychiatrie dringend nötig, denn 
der Seelenarzt ist gezwungen mit komplizierten psychischen Größen 
zu denken und umzugehen. Bis wir solches aber einmal von der ex- 
perimentellen Laboratoriumspsychologie bekämen, könnten wir ruhig 
noch 100 Jahre warten. Auf den gleichen Boden der Affektivität 
stellt Bleuler ein ungemein wichtiges Kapitel der Psychiatrie, nämlich 
die Einsetzung der paranoischen Idee; indem er nämlich in vier Fällen 
nachweist, daß ein affektbetonter Vorstellungskomplex die Wurzel 
der Wahnidee ist. 

Der Referent begnügt sich mit dieser allgemeinen Skizzierung 
des Inhaltes und seiner Tendenz. Das reichhaltige Detail des Buches 
eignet sich nicht für ein kurzes Referat. Man kann sagen, daß Bleulers 
Buch’das Beste ist, was wir dato an allgemeiner Beschreibung elemen- 
tarer Affektpsychologie besitzen. Die Lektüre ist darum jedermann, 
ganz besonders dem Anfänger warm zu empfehlen. 


Derselbe: Sexuelle Abnormitäten der Kinder. 


Jahrbuch der schweiz. Gesellschaft für Schulgesundheits- 
pflege, IX. Jahrg., 1908, p. 623. 


Verfasser schildert in allgemein verständlicher Weise die sexuellen 
Perversionen, die bei Kindern in Betracht kommen. Es wird vielfach 
auf die Freudsche Psychologie Bezug genommen. Verfasser befür- 
wortet die sexuelle Aufklärung der Kinder, jedoch nicht in der Form 
der Massenaufklärung in der Schule, sondern zu Hause unter takt- 
voller Auswahl des Momentes durch die Eltern. 


Derselbe siehe Jung: Diagnost. Assoc. stud., V. Beitrag. 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8399 


Bolte (Bremen): Assoziationsversuche als diagnostisches Hilfsmittel. 
Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 64, 1907. 


Verfasser weist die Verwendbarkeit des Assoziationsexperimentes 
zu diagnostischen Zwecken. nach. Eristinder Lage, den Grundanschauungen 
der „Diagnostischen Assoziationsstudien‘“ im wesentlichen beipflichten zu 


können. Einige interessante Beispiele machen die Gedanken seiner Arbeit 
recht anschaulich. 


Chalewsky (Zürich): Heilung eines hysterischen Bellens durch Psycho- 
analyse. 


Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, XX.Band, 
1909. 


Eine kurze und durchsichtige Symptomanalyse bei einem 13jähr. 
Mädchen, die an hysterischem Husten (,,Bellen“) litt. Nachts vor dem 
Tage der Erkrankung Traum: ‚sie wird mit ihrer Schwester Bella 
im Walde überfallen, ihrer Schwester wird der Bauch aufgeschnitten, 
sie selber bösen Hunden vorgeworfen.‘ Sie hat schon längst Hunde- 
phobie. Folgenden Tags erschricekt sie über eine Blutlache und be- 
kommt sofort das ‚Bellen‘, das mit der Analyse verschwindet. Maeder. 


Ciaparede (Genf): Quelques mots sur la definition de I’hysterie. 
Archives de Psychologie, Tome VII, 1908, p. 169. 


Verfasser kritisiert mit großem Geschicke die von Babinski 
inaugurierte neuere Hysterieauffassung. Im Schlußkapitel gibt C. 
seine eigene Auffassung respektive Grundlagen zu einer Auffassung, 
die aber selber noch in einer Reihe von Fragezeichen besteht. Er an- 
erkennt die Wichtigkeit der Freudschen Verdrängung und mißt ıhr 
eine biologische Bedeutung bei. Den psychoanalytischen Widerstand, 
den er durch eigene Erfahrung kennen gelernt hat, nennt er eine Abwehr- 
reaktion. Ähnlich faßt er den Globus, Erbrechen, Ösophagusspasmen, 
Lüge und Simulation usw. auf. In den körperlichen Symptomen er- 
blickt er eine Wiederbelebung anzestraler Reaktionen, die ehemals 
nützlich waren. So faßt C. den hysterogenen Mechanismus als eine 
Tendance ä& la reversion, zum Atavismus in der Reaktionsweise. Dafür 
scheinen ihm der Infantilecharakter und die „Disposition ludique“ 
die Spieltendenz zu sprechen. Seinen Erörterungen fehlt der 
nötige empirische Boden, den man sich eben nur mit Psychoanalyse 
erwirbt. 


360 °C. 6. Jung. 


Ebersehweiler (Zürich): Untersuchungen über die sprachliche Kom- 
ponente der Assoziation. 
Züricher Dissertation, 1908. 
Erschienen in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychia- 

trie, 1908. 

Es handelt sich um eine ebenso mühsame wie sorgfältige Unter- 
suchung, die Verfasser auf Veranlassung des Referenten unternommen 
hat. Für die Komplexpsychologie ist ein Ergebnis von besonderem 
Interesse: Es zeigte sich, daß im Assoziationsexperimente sogenannte 
Vokalsequenzen vorkommen, d. h. daß einige aufeinanderfolgende 
Reaktionen denselben Akzentvokal besitzen. Untersucht man nun 
diese ‚‚Perseverationen” auf das Zusammentreffen mit Komplex- 
merkmalen, so zeigt es sich, daß, bei einem durchschnittlichen Total- 
gehalte von 036 Komplexmerkmalen pro Reaktion, auf ein Wort der 
Vokalsequenz 065 Komplexmerkmale fallen. Nehmen wir die den 
Vokalsequenzen vorausgehenden zwei Assoziationen ohne Klang- 
verwandtschaft, so ergibt sich folgende Reihe: 

a) Assoziation ohne Vokalsequenz 0:10 Komplexmerkmale. 

b) Assoziation ohne Vokalsequenz 0:58 Komplexmerkmale. 

I. Beginn der Vokalsequenz (Assoziation, deren Akzentvokal in 
der folgenden Reihe perseveriert) 0'91 Komplexmerkmale. 

Il. Glied der Vokalsequenz 0:68 u 

Ill. Glied der Vokalsequenz 0'10 53 

IV. Glied der Vokalsequenz 0'05 en 

2. Assoziation mit neuem Akzentvokale 0'42 Komplexmerkmale. 

Man sieht also, daß nach Komplexstörungen eine entschiedene 
Neigung zu Klangperseverationen vorhanden ist, eine für den Me- 
chanismus des Klangwitzes und des Reimens wichtige Fest- 
stellung. 


Flournoy (Genf): Des Indes ä la Plan&te Mars. Etude sur un cas de 
somnambulisme avec glossolalie. 
III. Edition. Paris, F. Alcan et Gendve, Ch. Eggimann et 
Cie., 1900. 
Derselbe: Nouvelles observations sur un eas de somnambulisme avee 
glossolalie. 
Archives de Psychologie, Tome I., 1901. 
Die großzügigen und überaus bedeutsamen Arbeiten Flourno ys 
über einen Fall von hysterischem Somnambulismus bringen ein auch 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 961 


für die Psychoanalyse wertvolles Beobachtungsmaterial über Phantasie- 
systeme, das allgemeine Beachtung verdient. Bei der Darstellung des 
Falles nähert sich F. auch explizite gewissen Freudschen Auffassungen, 
wenn schon die neueren Gesichtspunkte Freuds auf das Werk keine 
Anwendung mehr finden konnten. 


Frank (Zürich): Zur Psychoanalyse. 


Festschrift für Forel. Journal für Psychologie und Neurologie, 
Band XIII, 1908. 


Nach einer kurzen historischen Einleitung basiert auf die Breuer- 
Freudschen Studien, drückt Verfasser sein Bedauern aus, daß Freud 
ohne Angabe seiner Gründe die ursprüngliche Methode verlassen habe. 
(Eine aufmerksame Lektüre der folgenden Schriften Freuds findet 
bald heraus, warum die vollkommene Technik der unvollkommenen 
ursprünglichen vorgezogen wird. Referent.) Verfasser selbst beschränkt 
sich auf das ursprüngliche kathartische Verfahren verbunden mit 
Hypnose, und seine kasuistischen Mitteilungen zeigen, daß er mit einer 
praktisch anwendbaren und wertvollen Methode arbeitet, welche ent- 
schieden lohnende Erfolge aufzuweisen hat. Dadurch wird der unver- 
meidliche Angriff auf die Freudsche Sexualitätslehre auf mildere 
Töne gestimmt; Verfasser fragt: „Warum sollten von den vielen 
Affekten, mit denen die Psyche ausgestattet ist, nur die sexuellen zu 
Störungen Veranlassung geben, oder sollte gar der Sexualaffekt die 
Wurzel aller anderen Affekte sein?‘ (Die Sexualität in den Neurosen 
wurde nicht a priori erfunden, sondern empirisch gefunden, und zwar 
durch Anwendung der Psychoanalyse, was etwas anderes ist als das 
kathartische Verfahren. Der Referent.) Verfasser wendet die Psycho- 
analyse nicht an, weil „dem Praktiker nicht die Pflicht überbunden 
werden kann, in jedem Falle lediglich aus theoretischen Gründen die 
Psychoanalyse bis zum letzten Ende aller Enden durchzuführen“. 
(Diese Pflicht existiert nirgends, wohl aber muß man aus praktischen 
Gründen weiter als 1895 gehen, denn wenn die damalige Methode alles 
geleistet hätte, so hätte man keine Nötigung gehabt, weiter zu gehen.) 
Verfasser gewann den Eindruck, daß Freud die Hypnose und die Sug- 
gestion wohl theoretisch, keineswegs aber praktisch völlig beherrscht 
hat. „Ich kann mir sein stetes Wechseln der Methoden nur daraus 
erklären, daß er als Theoretiker durch seine nicht genügend ein- 
gehenden Behandlungen!) in Hypnose und unbefriedigenden 


1) Vom Referenten gesperrt. 


362 C. G. Jung. 


Resultate!) immer wieder nach neuen Methoden ausging“ usw. 
„Freud hat diese Methoden trotz seiner Erfolge?) verlassen“ 
sagt der Verfasser etwas weiter oben. Bei diesem Widerspruche ist zu 
erwähnen, daß Frank sowohl Freuds spätere Werke als auch die Ar- 
beiten anderer Autoren und der Züricher Klinik völlig übergeht, 
sonst könnte er nicht behaupten, und zwar 1908, daß die kathartische 
Methode und ihre’Resultate ‚„‚unbeachtet‘ blieben und nur „vereinzelte 
Nachprüfungen‘“ stattfanden. 

(Ref. kann sich nicht enthalten, darauf hinzuweisen, wie einfach 
man sich über diese anscheinend schwierigen Fragen orientieren kann. 
Wenn also z. B. ein Autor vor dem Probleme steht,’ warum Freud 
wohl die Hypnose aufgegeben habe, dann setze er einen Brief auf an 
Herrn Prof. Freud und erkundige sich. Ref. insistiert auf diesen Punkt, 
weil es überhaupt das Grundübel der deutschen Psychiatrie ist, daß 
man sich nie verstehen, sondern nur mißverstehen will. In diesen 
Dingen muß man sich persönlich auseinandersetzen zur Ab- 
kürzung aller unnötigen Schwierigkeiten und Mißverständnisse. 

Würde dieser Grundsatz, der z. B. in Amerika volle Geltung hat, 
einmal in unseren Landen anerkannt, so müßten sich nicht so viele 
sonst hochverdiente Autoren mit Kritiken blamieren, die dazu noch 
gelegentlich in einem Tone gehalten sind, der von vornherein jede Er- 
widerung unmöglich macht.) | 


Fürst siehe Jung: Diagnost. Assoc. stud., X. Beitrag. 


Hermann (Galkhausen): Gefühlsbetonte Komplexe im Seelenleben des 
Kindes, im Alltagsleben und im Wahnsinn. 


Zeitschrift für Kinderforschung, XIII. Jahrg., p. 129—143. 


Allgemein verständliche Einführung in die Komplexlehre und ihre An- 
wendung auf die verschiedenen normalen und pathologischen Seelen- 
zustände. 


Isserlin (München): Die diagnostische Bedeutung der Assoziations- 
versuche. 


Münchner Medizinische Wochenschrift, Nr. 27, 1907. 


Mehrere wesentliche Ergebnisse der Züricher Assoziationsstudien 
werden in dieser kritischen Darstellung als bestehend anerkannt. Wo die 
Freudsche Psychologie aber anfängt, hört die Billigung des Verfassers auf. 


1) Idem. 
2) Idem, 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 3683 


Jung (Zürich): Zur Psyehologie und Pathologie sogenannter okkulter 
Phänomene. Eine psychiatrische Studie. 


Verlag Oswald Mutze, Leipzig, 1902. 


Neben vielen klinischen und psychologischen Erörterungen über 
das Wesen des hysterischen Somnambulismus enthält die Schrift die 
ausführlichen Betrachtungen über einen Fall spiritistischer Mediumnität. 
Die Persönlichkeitsspaltung wird aus den Tendenzen der infantilen 
Persönlichkeit abgeleitet und als Wurzeln der Phantasiesysteme werden 
sexuelle Wunschdelirien aufgedeckt. Unter den Beispielen neurotischer 
Automatismen findet sich ein Fall von Kryptomnesie, den Verfasser 
in Nietzsches Zarathustra entdeckt hat. 


Derselbe: Ein Fall von hysterischem Stupor bei einer Untersuchungs- 
gefangenen. 


Journal für Psychologie und Neurologie, Bd. I, 1902. 


In einem Falle von sogenanntem Ganser - Raeckeschem Däm- 
merzustande weist Verfasser die pathologische Absicht, den Krank- 
heitswillen, die Freudsche Verdrängung des Unlustbetonten und das 
Wunscherfüllungsdelir nach. 


Derselbe: Die psychopathologische Bedeutung des Assoziationsex- 
perimentes. 


Archiv für Kriminalantrophologie, 22. Bd., p. 145. 


Allgemeine Einleitung in das Assoziationsexperiment und die 
Komplexlehre. 


Derselbe: Experimentelle Beobachtungen über das Erinnerungsver- 
mögen. 


Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatrie, XX VIII. Jahrg, 
1905, p. 653. 


Verfasser teilt hier das von ihm eingeführte Reproduktions- 
verfahren mit. Wenn man nach Vollendung eines Assoziations- 
experimentes die Versuchsperson prüft, ob sie sich bei jedem einzelnen 
Reizworte der früher gegebenen Reaktion richtig entsinnt, so stellt sich 
heraus, daß das Vergessen in der Regel bei oder unmittelbar nach 
Komplexstörungen stattfindet. Es ist also ein ‚„Freudsches Vergessen“. 
Das Verfahren ergibt praktisch wertvolle Komplexmerkmale. 


364 C. G. Jung. 


Derselbe: Die Hysterielehre Freuds. Eine Erwiderung auf die Aschaffen- 
burgsehe Kritik. 
Münchner Medizinische Wochenschrift, Nr. 47, 1906. 

Wie der Titel andeutet, eine polemische Schrift, welche versucht, 
es dem Gegner nahe zu legen, sich einmal mit psychoanalytischer 
Methode näher zu beschäftigen und dann zu urteilen. Die Schrift hat 
heute nur mehr historischen Wert, als sie den Ausgangspunkt der, 
wir können sagen, nunmehr blühenden Bewegung der Freudschen 
Psychologie markiert. 


Derselbe: Die Freudsche Hysterietheorie. 

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XXIII, 
Heft 4, p. 310. 

Es handelt sich um ein Referat, zu dem Verfasser vom Vorstande 
des internationalen Kongresses für Psychiatrie in Amsterdam 1907 
aufgefordert worden ist. Die auf das Elementarste sich beschränkenden 
Ausführungen entsprechen dem damaligen Erkenntnisniveau des 
Verfassers, das sich seither natürlich durch wachsende Erfahrung 
wesentlich verändert hat. Die Freudsche Lehre wird historisch ent- 
wickelt in ihrer Wandlung von der kathartischen Methode zur 
Psychoanalyse. Dabei wird versucht, die Denkmöglichkeit der psycho- 
analytischen Prinzipien darzustellen in möglichster Annäherung an das 
in der Wissenschaft bereits Bekannte. Als Illustration der psychoanaly- 
tischen Hysterieauffassung wird ein schematisch reduzierter Fall von 
Hysterie demonstriert. Die Schlußformulierungen lauten (abgekürzt): 
Auf konstitutionellem Boden erwachsen gewisse vorzeitige Sexual- 
betätigungen von mehr oder weniger perverser Natur. Zur Pubertäts- 
zeit erhält die Phantasie eine durch die infantile Sexualbetätigung 
konstellierte Richtung. Die Phantasie führt zur Bildung von Vor- 
stellungskomplexen, die mit dem übrigen Bewußtseinsinhalte unver- 
einbar sind und darum der Verdrängung unterliegen. In diese Ver- 
drängung wird die Übertragung der Libido auf eine geliebte Person 
mit hineingezogen, woraus der große Gefühlskonflikt entsteht, der 
dann die Veranlassung zum Ausbruche der eigentlichen Krankheit gibt. 


Derselbe: Assoeiations d’idses familiales. (Avec 5 graphiques.) 


Archives de Psychologie, Tome VII, 1907. 


Verfasser hat am Fürstschen Materiale (siehe unter ‚Dia- 
gnostische Assoziationsstudien‘“‘) Berechnungen über die durchschnitt- 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 369 


liche Differenz der Assoziationstypen angestellt. Die Ergebnisse werden 
hier rechnerisch und graphisch dargestellt. 


Derselbe: L’analyse des Reves. 


Annee psychologique, publiee par Alfred Binet. Tome XV, 
1909. p. 160. 


Verfasser versucht in kurzen Zügen die Grundlagen der Freud- 
schen Traumdeutung darzustellen. Als Material dienen eine Reihe von 
Beispielen eigener Erfahrung. 


Derselbe: Über die Psychologie der Dementia praecox. Ein Versuch. 
Verlag Karl Marhold, Halle 1907. 


Die Schrift zerfällt in fünf Kapitel: 

I. Kritische Darstellung theoretischer Ansichten über die Psycho- 
logie der Dementia praecox, die bis zum Jahre 1906 in der Literatur 
sich vorfanden, besprochen. Es ergibt sich daraus, daß allgemein eine 
ganz zentrale Störung angenommen wird, die bei den verschiedenen 
Autoren mit ganz verschiedenen Namen belegt wird, außerdem er- 
wähnen einige Autoren die „Fixierung“ und die „Abspaltung von 
Vorstellungsreihen“. Freud hat zum ersten Male den psychogenen 
Mechanismus einer paranoiden Demenz klargelegt. 


II. Der gefühlsbetonte Komplex und seine allgemeinen Wirkungen 
auf die Psyche. Es wird eine akute und eine chronische Komplex- 
wirkung unterschieden, worunter die unmittelbare und langanhaltende 
Bearbeitung der Komplexinhalte verstanden ist. 


III. Der Einfluß des gefühlsbetonten Komplexes auf die Wertig- 
keit der Assoziation. 


Hier wird in detaillierter Weise der Einfluß des Komplexes auf 
die Assoziation geschildert, wobei ein Hauptakzent auf das biologische 
Problem der Komplexbearbeitung in ihrer Beziehung zur psycho- 
logischen Anpassung an die Umgebung gelegt wird. 

IV. Dementia praecox und Hysterie. Eine Parallele. 

In diesem Kapitel wird eine möglichst eingehende Schilderung 
der Ähnlichkeiten und der Unterschiede der beiden Krankheiten gegeben. 
Die Schlußformulierung ergibt: 

Die Hysterie enthält in ihrem innersten Wesen einen Komplex, 
der nie ganz überwunden werden konnte. Potentia ist aber die Über- 
windungsmöglichkeit vorhanden. 


366 C. @. Jung. 


Die Dementia praecox aber enthält einen Komplex, der nie über- 
wunden werden kann, und der sich deshalb dauernd fixiert. 

V. Analyse eines Falles von paranoider Demenz als Paradigma. 

Es handelt sich um einen sogenannten verblödeten alten und 
absolut typischen Fall mit massenhaften Neologismen, die sich ana- 
lytısch befriedigend erklären ließen und den Inhalt der vorausgehenden 
Kapitel bestätigen. 

Das Buch ist ins Englische übersetzt von Peterson und Brillmit 
einer längeren Einleitung der Übersetzer. Der Titel der englischen Aus- 
gabe ist: 


C. G. Jung: The Psychology of Dementia praecox. 
Nervous and mental disease series No. 3. 


Authorized Translation with an introduction by Frederick Peter- 
son M. D. and A. A. Brill Ph. B.,M.D. New York, 1909. 


Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. Beiträge zur experimentellen 
Psychopathologie, 
Herausgegeben von Dr. C. G. Jung. I. Bd. hen von 
J. A. Barth, Leipzig, 1906. 


Dieser Band enthält eine Auswahl von Arbeiten aus der Züricher 
Klinik über Assoziation und Assoziationsexperiment, die zuvor einzeln 
im Journal für Psychologie und Neurologie erschienen sind. 
Abgesehen vom psychologischen Standpunkte kommt diesen Arbeiten 
auch ein praktisch-ärztliches Interesse zu, indem sich aus diesen Unter- 
suchungen das diagnostische Assoziationsexperimententwickelt 
hat, ein Experiment, das uns rasch und sicher über die jeweiligen wich- 
tigsten Komplexe aufklärt. Diese diagnostische Anwendung kommt 
in allererster Linie; von sekundärer und für sehr viele Fälle noch 
unsicherer diagnostischer Bedeutung ist das Experiment in seiner 
Anwendung als klinisch-differentialdiagnostisches Hilfsmittel. 


Vorwort: von Prof. Bleuler: Über die Bedeutung von Asso- 
ziationsversuchen, p. 1—6. 


Die sprachliche Assoziation ist eines der wenigen experimentell 
faßbaren Gebilde. Die Ausbeute derartiger Versuche läßt viel erwarten, 
denn in der Assoziationstätigkeit spiegelt sich das ganze psychische 
Sein der Vergangenheit und der Gegenwart mit allen seinen Erfahrungen 
und Strebungen. Sie ist ein ‚Index für alle psychischen Vorgänge, 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8367 


den wir nur zu entziffern brauchen, um den ganzen Menschen zu 
kennen.“ 


I. Beitrag. C. G, Jung und Fr, Riklin (Zürich): Experimentelle 
Untersuehungen über Assoziationen Gesunder, p. 7—145. 


Dieser Arbeit liegt das Bestreben zugrunde, ein großes Material 
von Assoziationen geistig Gesunder zu sammeln und darzustellen. 
Die Arbeit soll über die in der Breite des Normalen vorkommenden 
Möglichkeiten unterrichten. Um das umfangreiche Material zahlen- 
mäßig darzustellen, bedurfte es eines Einteilungsschemas respektive 
der Erweiterung und Verbesserung des bereits vorhandenen Kraepelin- 
Aschaffenburgschen Schemas. Das von den beiden Autoren adoptierte 
System ist nach logisch-sprachlichen Gesichtspunkten gegliedert und 
vermittelt einen wenn auch unvollkommenen, so doch für die vor- 
liegenden Zwecke genügenden, zahlenmäßigen Ausdruck. Zunächst 
wurde die Frage bearbeitet, ob und was für Typen der Reaktionsweise 
im normalen Zustande vorkommen. Es ergab sich, daß gebildete Ver- 
suchspersonen durchschnittlich einen flacheren Reaktionstypus auf- 
weisen als die Ungebildeten; sodann ergaben sich zwei gesonderte 
Haupttypen, die indessen mit allen Graden der Abstufung ineinander 
übergehen: ein sachlicher und ein egozentrischer Typus. Ersterer 
reagiert mit wenig Anzeichen von Gefühlen, letzterer mit vielen Ge- 
fühlsanzeichen. Vom praktischen Standpunkte aus ist namentlich 
letzterer Typus interessant; er zerfällt in zwei weitere Unterabteilungen: 
in den sogenannten Konstellations- respektive Komplexkonstel- 
lationstypus und in den Prädikattypus. Ersterer Typus sucht 
starke Gefühle zu verdrängen, letzterer sucht sie zu zeigen. 

Ermüdung, Schläfrigkeit, Alkoholintoxikation, Manie verflachen 
den Reaktionstypus. Diese Verflachung beruht in erster Linie auf der 
Störung der Aufmerksamkeit in diesen Zuständen. 

Dieses läßt sich dadurch erweisen, daß man durch eine besondere 
Versuchsanordnung die Aufmerksamkeit spaltet und unter dieser Be- 
dingung dann das Assoziationsexperiment vornimmt. Diese Ex- 
perimente ergaben bestätigende Resultate. 


II. Beitrag. K. Wehrlin (Zürich): Über die Assoziationen von Im- 
bezillen und Idioten, pag. 146—174. 


Verfasser referiert über die Ergebnisse seiner Assoziationsver- 
suche an 13 Imbezillen. Die Assoziationen der meisten Schwach- 


368 ©. G. Jung. 


sinnigen zeigen einen bestimmten Typus, den sogenannten Defini- 
tionstypus. Charakteristische Reaktionen dieser Art sind: 

Winter: besteht aus Schnee. 

Singen: besteht aus Noten und Gesangbüchern. 

Vater: Mitglied neben der Mutter. 

Kirsche: Eine Gartensache. Usw. 
; Die Imbezillen zeigen somit eine bis aufs äußerste gesteigerte 

Einstellung auf die intellektuelle Bedeutung des Reizwortes. Daß 

dieser Typus gerade bei intellektuell Schwachen vorkommt, ist cha- 
rakteristisch. (Vgl. unten die Arbeit von Frl. Dr. Fürst.) 


III. Beitrag. C. G. Jung: Analyse der Assoziationen eines Epilep- 

tikers, p. 175—192. 

Die Assoziationen dieses Epileptikers zeigen deutlichen Defini- 
tionstypus von schwerfälligem, umständlichem Charakter, der sich 
besonders in Bestätigung und Ergänzung der eigenen Reaktion 
äußert. 

Z. B. Obst: das ist eine Frucht, eine Obstfrucht; 

stark: bin kräftig, das ist stark; 
lustig: ich bin lustig, ich bin fröhlich. 

Außerdem findet sich eine außerordentliche Menge gefühlsbetonter 
egozentrischer Beziehungen, die unverhüllt ausgesprochen werden. 
Im übrigen ergeben sich einige Anzeichen, die vermuten lassen, daß 
dem epileptischen Gefühlston ein besonders perseverierender Charakter 
zukommt. 

IV. Beitrag. C. G. Jung: Über das Verhalten der Reaktionszeit beim 

Assoziationsexperiment, p. 193—228. 

Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Erforschung der bisher 
unbekannten Gründe für die abnorme Verlängerung gewisser Reak- 
tionszeiten. 

Die Ergebnisse sind folgende: 

Gebildete reagieren durchschnittlich rascher als Ungebildete. 
Die Reaktionszeit der weiblichen Versuchspersonen ist durchschnittlich 
beträchtlich länger als die der männlichen. Die grammatische Qualität 
des Reizwortes hat einen bestimmten Einfluß auf die Reaktionszeit, 
ebenso die logisch sprachliche Qualität der Assoziation. Die über 
dem wahrscheinlichen Mittel liegenden Reaktionszeiten 
sind zum größeren Teile verursacht durch Interferenz 
eınes sehr oft nicht bewußten (verdrängten) Komplexes. 








Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8369 


Sie sind daher ein wichtiges Hilfsmittel zur Auffindung eines verdrängten 
Komplexes. Diese Tatsache ist belegt durch zahlreiche Beispiele von 
Analysen derartig konstellierter Assoziationen. 


V. Beitrag. E. Bleuler: Bewußtsein und Assoziation, p. 229—257. 


Die Arbeit befaßt sich mit literarischen und kasuistischen Nach- 
weisen zu der Tatsache, daß sich ‚in der Beobachtung keine Grenze 
zwischen bewußt und unbewußt ziehen‘ lasse und daß die gleichen 
funktionellen Gebilde und Mechanismen, die wir im Bewußtsein finden, 
auch außerhalb desselben nachzuweisen sind, und von da aus unsere 
Psyche ebensowohl beeinflussen wie die analogen bewußten Vorgänge. 
„Es gibt in diesem Sinne unbewußte Empfindungen, Wahrnehmungen, 
Schlüsse, Gefühle, Befürchtungen und Hoffnungen, die sich von den 
gleichbezeichneten bewußten Phänomenen einzig und allein durch das 
Fehlen der Bewußtheitsqualität unterscheiden.“ B. weist besonders 
auf die Fälle mehrfacher Persönlichkeit hin und bemerkt, daß man nicht 
bloß von einem Unbewußten reden könne, sondern daß vielmehr eine 
nahezu unendliche Anzahl von verschiedenen unbewußten Gruppie- 
rungen möglich sei, Die Gruppierung der Erinnerungselemente zu den 
verschiedenen Persönlichkeiten geschieht ausnahmslos unter dem 
maßgebenden Einflusse von Affekten. 

B. betrachtet die Bewußtheitsqualität als etwas Nebensächliches, 
indem psychische Vorgänge nur unter gewissen Bedingungen bewußt 
zu sein brauchen, nämlich nur dann, wenn sie eine Assoziation eingehen 
„mit denjenigen Vorstellungen, Empfindungen, Strebungen, die im 
gegebenen Momente unsere Persönlichkeit ausmachen“. 


VI. Beitrag. Jung: Psychoanalyse und Assoziationsexperiment. 
p. 258—281. 


Die Arbeit steht noch stark unter dem Einflusse der ursprüng- 
lichen Breuer-Freudschen Neurosenlehre, also der Lehre vom psy- 
chischen Trauma. Das neurotische Symptom ist im wesentlichen ein 
Symbol für verdrängte Vorstellungskomplexe. Das Assoziations- 
experiment enthüllt uns in seinen gestörten Reaktionen diejenigen 
Worte und Dinge, welche direkt auf den unbekannten Komplex führen. 
Insofern kann das Experiment eine wertvolle Hilfe bei der Analyse sein. 
Diese Möglichkeit wird an einem praktischen Beispiele, einem Falle von 
Zwangsneurose, erörtert. Die Zusammenstellung der gestörten Reak- 
tionen zu einer Legende ergibt das Vorhandensein eines ausgedehnten 
erotischen Komplexes, der eine Reihe von individuellen Bestimmungen 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. I. 24 


370 ©. G. Jung. 


enthält. Auf diese Weise ist ein tiefer Einblick in die aktuelle Persön- 
lichkeit ermöglicht; die nachfolgende Psychoanalyse erwies die Be- 
rechtigung der durch das Assoziationsexperiment geweckten Erwar- 
tungen, so daß der Schluß sich rechtfertigt, daß nämlich das Asso- 
ziationsexperiment den Komplex, der zunächst hinter den neurotischen 
Symptomen liegt, der Erforschung zugänglich macht. Jede Neurose 
enthält einen das Assoziationsexperiment wesentlich beeinflussenden 
Komplex, dem man auf Grund zahlreicher Erfahrungen eine kausale 
Bedeutung einräumen muß. 

Die Beiträge VII bis XII sind jetzt im II. Bande der 
Diagnostischen Assoziationsstudien gesammelt erschienen. 


Vill. Beitrag. Riklin Franz (Zürich): Kasuistische Beiträge zur 
Kenntnis hysterischer Assoziationsphänomene. 


p. 1-30. 


Verfasser untersucht die Assoziationsphänomene bei acht Hy- 
sterischen und kommt zu folgenden Ergebnissen: 

Im Vorgerdrunde des hysterischen Reaktionstypus stehen mehr 
oder weniger selbständig wirkende Vorstellungskomplexe von großem 
Affektwerte, deren Entfaltung weit mächtiger zu sein scheint, als bei 
Gesunden. Der oder die Komplexe beherrschen den Reaktionstypus 
fast ausschließlich, so daß die Assoziationsversuche von Komplex- 
störungen ganz durchsetzt sind. Die Domination durch einen Komplex 
ist die Hauptsache hysterischer Psychologie, und wohl alle Symptome 
lassen sich aus dem Komplex direkt ableiten. 


VIil. Beitrag. Jung: Assoziation, Traum und hysterisches Symptom. 
p. 31—66. 


Die Arbeit unternimmt es, an einem Falle von Hysterie den ero- 
tischen Komplex in seinen verschiedenen Erscheinungsweisen zu be- 
schreiben und zu determinieren. Zuerst wird durch die Analyse der 
Assoziationen die Konstellation durch den erotischen Komplex er- 
wiesen, dann werden die Wandlungen des Komplexes in einer Traum- 
serie analysiert und schließlich wird der Komplex auch als Grundlage 
der Neurose dargestellt. Der Komplex hat bei der Hysterie eine ab- 
norme »elbständigkeit und neigt zu einer aktiven Sonderexistenz, 
welche die konstellierende Kraft des Ichkomplexes progressiv herab- 
setzt und vertritt. Dadurch wird allmählich eine neue Krankheits- 
persönlichkeit geschaffen, deren N eigungen, Urteile und Entschlüsse nur 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. tl 


in der Riehtung des Krankheitswillens gehen. Durch die zweite Per- 
sönlichkeit wird der normale Ichrest aufgezehrt und in die Rolle eines 
sekundären (beherrschten) Komplexes gedrängt. 


IX. Beitrag. C. G. Jung: Über die Reproduktionsstörungen beim 
Assoziationsexperiment. 
p. 67—76. 


Die Arbeit beschäftigt sich mit der oben besprochenen Repro- 
duktionsmethode. An Hand eines größeren pathologischen Materials 
wird nachgewiesen, daß in der Hauptsache die mangelhaft reprodu- 
zierte Assoziation eine Reaktionszeit besitzt, die über dem Mittel des 
ganzen Versuches liegt, auch zeigt sie durchschnittlich mehr als doppelt 
soviel Komplexmerkmale als eine richtig reproduzierte Assoziation. 
Woraus hervorgeht, daß die Reproduktionsstörung auch ein Merkmal 
ıst für die Interferenz eines Komplexes. 


X. Beitrag. Fürst Emma (Schaffhausen): Statistische Untersuchungen 
über Wortassoziationen und über familiäre Übereinstimmung im 
Reaktionstiypus bei Ungebildeten. 

p. 77—112. 


Es wurden bei 24 Familien mit zusammen 100 Versuchspersonen 
Assoziationsversuche aufgenommen. In dieser Arbeit werden vorder- 
hand bloß die Resultate der Bearbeitung von 9 ungebildeten Familien 
mit 37 Versuchspersonen dargestellt. Die mühsame Bearbeitung des 
übrigen Materials ıst noch nicht beendigt. Es ergibt sich folgendes: 

Die Männer neigen etwas mehr zu äußeren Assoziationen als ihre 
Frauen, ebenso die Söhne etwas mehr als ihre Schwestern. 54°/, der 
Versuchspersonen weisen ausgesprochene prädikative Einstellung auf, 
und zwar überwiegen die Frauen. Die Tendenz zur Bildung von Wert- 
prädikaten ist im Alter größer als in der Jugend; bei Frauen beginnt 
die entsprechende Tendenz vom 40. Jahre und bei Männern vom 60. an. 
Verwandte haben eine Tendenz zur Übereinstimmung im Reaktions- 
typus, zur Assoziationskonkordanz. Die beste und gleichmäßigste 
Übereinstimmung findet zwischen den Eltern und ihren gleichgeschlech- 
tigen Kindern statt. 


XI. Beitrag. Binswanger L. en. Über das Verhalten des 
psychogalvanischen Phänomens beim Assoziationsexperiment. 
p. 113—195. | 
Der aus dem psychologischen Laboratorium des Burghölzli her- 


vorgegangenen Arbeit liegen 30 Assoziationsversuche an 23 gebildeten 
24* 


312 C. G. Jung. 


und ungebildeten gesunden Versuchspersonen zugrunde, die während 
des Experimentes in einen elektrischen Stromkreis von sehr geringer 
Intensität eingeschaltet waren. Der I. Teil bringt zunächst einen histo- 
rischen Überblick über die Literatur des p. g. Ph. bis 1906, behandelt 
sodann eingehend die Versuchsanordnung, Technik und Registrier- 
methode der eigenen Versuche. Auf die Entstehungsbedingungen des 
p. g. Ph. wird nur kurz eingegangen. Verfasser weist dabei dem Schweiß- 
drüsensystem eine hervorragende Rolle zu, äußert sich aber sehr reser- 
viert über die näheren physiologischen und physikalischen Vorgänge. 
So viel scheint ihm aber aus seinen Versuchen hervorzugehen, daß es 
sich um sehr feine physikalische Vorgänge handeln muß und um solche, 
„deren Ablauf fortwährend von Zentralorgan beherrscht, gefördert 
oder gehemmt werden kann“. Von psychischen Vorgängen sah Verfasser 
nur affektive Vorgänge auf das p. g. Ph. einwirken. Hierauf gründet 
sich die Brauchbarkeit des Phänomens beim Assoziationsexperiment. 
Im II. Teile sind vier Versuche in extenso wiedergegeben. Im 
Anhange befinden sich die zugehörigen instruktiven Kurven mit den 
in Stäbchenform registrierten Galvanometerausschlägen, unter denen 
auf einer Horizontalen die Reaktionszeiten markiert sind. Die Analyse 
der einzelnen Reaktionen wird eingehend und mit Hilfe der Freudschen 
Technik durchgeführt. Das Hauptergebnis dieser Versuche ist der 
Nachweis, daß den Komplexreaktionen in den meisten Fällen ‚‚zu lange“, 
d. h. über dem wahrscheinlichen Mittel des Gesamtversuches liegende 
Ausschläge entsprechen, wodurch der zu lange Ausschlag als 
wertvolles neues Glied in die Reihe der Komplexmerkmale 
eintritt. Wichtig ist ferner die Unterscheidung zwischen der Asso- 
ziationskurve (Veraguth) und den Komplexkurven, d. h. solchen 
Abschnitten der Assoziationskurve, die sich auf deren Gesamtverlauf 
als sekundäre Wellen abheben. Das Studium des Verhaltens der Kom- 
plexkurven ist dem Verfasser wertvoll zur Beurteilung des affektiven 
Typus der Versuchspersonen. Verfasser bespricht eingehend den ab- 
fallenden Schenkel der Komplexkurve und dessen Beziehungen zu der 
abfallenden Kurve, die man erhält bei einem unabhängig vom Ex- 
perimente bestehenden starken Affekt sowie bei innerer und äußerer 
Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Experimente (die beigegebenen 
Tafeln illustrieren diese Verhältnisse). Durch hier nicht näher wieder- 
zugebende Überlegungen kommt er zu folgendem Resultate: ‚Ein 
bestehender Komplex (Daueraffekt, Dauerkonzentration auf etwas 
anderes als die Experimentreize) hemmt die psychische Verarbeitung 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 979 


des Reizes. Er bleibt assoziations- und gefühlsarm. Aus dem Mangel 
an neuen Affekten ergibt sich der Mangel an neuen Innervationen und 
daher auch das Verschwinden der Ausschläge. Daß die Kurve all- 
mählich absinkt, erklärt sich daraus, daß der akute Affekt allmählich 
erlischt, wohingegen die durch den Affekt geschaffene Hemmungs- 
einstellung noch längere Zeit anhält.“ Da das Absinken der Galvano- 
meterkurve der Ausdruck der Zunahme des elektrischen Leitungs- 
widerstandes der Versuchsperson (im wesentlichen der Haut) ist, 
lassen sich diese Verhältnisse auch so ausdrücken: Der el. L. w. der 
Versuchsperson nimmt überall da ab, wo es zu einem Zuwachs an 
Innervationen kommt, hingegen zu, wo eine Hemmung oder ein Wegfall 
an Innervationen eintritt (in der Ruhe, im Schlafe, bei rein intellektueller 
geistiger Arbeit, bei dauernder Ablenkung der Aufmerksamkeit). 

Im III. Teile werden die Beziehungen zwischen Ausschlag und 
Reaktionszeit eingehend gewürdigt und die Ursachen erläutert, die zu 
einer auffallenden Diskrepanz in dem Verhalten der beiden Komplex- 
merkmale führen können. Intellektuelle und sprachliche Gründe wirken 
hier mit, vor allem aber die Perseveration, deren große Rolle beim 
Assoziationsexperimente überhaupt in der Arbeit klar zutage tritt. 
Ein besonderes Augenmerk richtet Verfasser auf das sehr interessante 
Verhalten der Ausschläge bei den Klangassoziationen, wobei er zu dem 
Ergebnis gelangt, daß ein bei einer Klangreaktion auftretender zu langer 
Ausschlag auf eine tiefere inhaltliche Verknüpfung der beiden Klang- 
assoziationen hinweist, die aber öft im Unbewußten liegt und durch 
Psychoanalyse aufgedeckt werden muß. Daß verdrängte Komplexe 
auf das p. g. Ph. einzuwirken vermögen, wird an einigen Beispielen 
klar zu machen versucht. 

Der IV. Teil enthält umfassende und in fünf Tabellen nieder- 
gelegte Berechnungen über Ausschläge und Reaktionszeiten bei den 
vier Gruppen der gebildeten und ungebildeten Männer und Frauen. 
Hauptergebnisse: ‚Die Differenz zwischen dem wahrscheinlichen 
und dem arithmetischen Mittel der Ausschläge ist ein sichereres Kri- 
terium für die Emotivität der V.P. als die Differenz zwischen beiden 
Mitteln der Reaktionszeiten.“ „In allen vier Gruppen von Ver- 
suchspersonen entsprechen den zu langen Reaktionszeiten 
auch zu lange Ausschläge. In allen vier Gruppen nimmt 
die Größe des Ausschlages mit der Zahl der Komplexmerk- 
male zu. Nur die Komplexlehre, die aus dem Auftreten 
der Komplexmerkmale auf das Vorhandensein einer ge- 


374 C. G. Jung. 


fühlsbetonten Vorstellungsmasse schließt, gibt uns das 
Verständnis für diese Beobachtung.“ Binswanger. 


* 
”* * 


Mit der tatbestandsdiagnostischen Anwendung des Asso- 
ziationsexperimentes befassen sich folgende Arbeiten der Züricher 
Klinik: | 
Jung: Die psychologische Diagnose des Tatbestandes. 

Verlag von Karl Marhold, Halle, 1906. 


Allgemeine Darstellung und Auffassung des Experimentes. Praktische 
Anwendung bei einem Diebstahl. 


Derselbe: Le nuove vedute della Psicologia eriminale. Contributo al 
metodo della „Diagnosi della conoscenza del fatto”. | 


Rivista di Psicologia applicata. Anno IV, p. 287—304. = 


Praktische Anwendung bei einem konkreten Diebstahle mit mehreren 
Verdächtigen. 


Stein Philipp (Budapest): Tatbestandsdiagnostische Versuche bei Unter- 
. suehungsgefangenen. 
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 

1909. 

Die Arbeit beschäftigt sich mit Untersuchungen über konkrete Tat- 
bestände bei Schuldigen, Verdächtigen und Unwissenden. Das Material 
wurde teils in der psychiatrischen Klinik, teils im Untersuchungsgefängnisse 
in Zürich gewonnen und hat, weil es aus der lebendigen Wirklichkeit der 
Kriminalpraxis hervorgeht, ein besonderes Interesse. 


* 
> * 


Jung: Der Inhalt der Psychose. 


Freuds Schriften zur angewandten Seelenkunde. III. Heft, 
1908. Franz Deuticke, Leipzig und Wien. 


Die Arbeit, ein akademischer Vortrag, beschäftigt sich mit der 
großen Veränderung in der psychologischen Auffassung der Psychosen, 
welche die Einführung der Freudschen Psychologie gebracht hat. In 
allgemein verständlicher Weise wird zuerst die Schwenkung von der 
anatomischen Betrachtungsweise zu der psychologischen dargestellt; 
sodann wird an Hand einer Reihe von konkreten Fällen der psycho- 
logische Aufbau der sogenannten Dementia praecox in Umrissen wenig- 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8375 


stens geschildert. Die Schrift will nichts als eine orientierende Einleitung 
in die modernen Probleme der psychologischen Psychiatrie sein. 


1909 ist die Schrift auch in russischer und polnischer Sprache 
erschienen. 


Jung: siehe Bleuler und Jung. 


Ladame (Genf): L’assoeiation des id6es et son utilisation comme möthode 
d’examen dans les maladies mentales. 


L’encephale, journal mensuel de Neurologie et de Psy- 
chiatrie, Nr. 8, 1908. 


Möglichst objektive Darstellung der Ergebnisse der Assoziations- 
studien. 


Derselbe: Archives de Psyehologie, Tome IX. 1909, p. 76. 
Referat über Jungs Psychologie der Dementia praecox. 

L. stellt mit ziemlicher Ausführlichkeit den Inhalt dar, enthält 
sich der Kritik und fügt nur am Ende folgenden Passus bei: ‚„Bemerken 
wir zum Schlusse, wie fruchtbar Versuche dieser Art — — sind. Nach 
ihrer Lektüre ist es unmöglich, sich geistig wieder aufs Ohr zu legen 
und gelassen oder flüchtig die zahlreichen Dementia-praecox-Kranken, 
die unsere Asyle bevölkern, zu betrachten. Man fühlt sich unwider- 
stehlich gedrängt, etwas anderes hinter den banalen Symptomen der 
Psychosen zu suchen, das Individuum zu entdecken und seine normale 
und abnorme psychische Persönlichkeit.“ 


Alph. Maeder (Zürich): I. Contributions a la psychopathologie de la 
vie quotidienne. 


(Archives de Psychologie Tome VI.) 


Derselbe: II. Nouvelles eontributions a la psychopathologie. 
(Archives de Psychologie Tome VII.) 


I. Eine Anzahl von einfachen Analysen von Versprechen, Ver- 
gessen, Vergreifen, nach Freud, bei welchen eine verdrängte, negativ 
gefühlsbetonte Vorstellung nachweisbar ıst. | 

II. Verfasser zeigt an der Hand von Beispielen die Arten des Ver- _ 
sessens durch ‚Isolation‘, ‚„Derivation‘; er bespricht das „‚Abreagieren 
(decharge &motionnelle) unter Benutzung des Begriffes des Kom- 
plexes, Andeutungen von „Dissoziation“ werden beim Normalen 
nachgewiesen, wie die Mechanismen der „Verlegung der affektiven 
„Irradiation und der ‚‚Identifikation“. Verfasser macht auf die 


376 C. G. Jung. 


„Automatismes musicaux‘ aufmerksam, auf die indirekten Aus- 
drucksmittel des Unbewußten; er betont dann die Fruchtbarkeit 
dieses Grenzgebietes der Psychopathologie. 


Derselbe: Essai d’interpretation de quelques r&ves. 
(Archives de Psychologie, Tome VI.) 


Einleitend eine kurze Darstellung der Freudschen Theorie der 
Traumdeutung und der Psychoanalyse Es folgen vier 
eigene Traumanalysen als Illustration. Verfasser zeigt mit Beispielen, 
daß die gleichen Symbole in Träumen, Legenden, in der Mytho- 
logie im gleichen Sinne häufig angewandt werden. (Speziell: Notice 
sur le serpent, le chien, l’oiseau, le jardin, la maison, la boite.) 


Derselbe: Die Symbolik in den Legenden, Märchen, Gebräuchen und 
Träumen. 


(Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, X. Jahrg.) 


Das Denken in Symbolen ist eine niedrige Stufe der Asso- 
ziation (die Ähnlichkeit zur Gleichheit erhöht), es ist ein häufiger Prozeß 
der unbewußten Tätigkeit (deswegen die Rolle in Träumen, Hallu- 
zinationen, Wahnideen, auch in den Gedichten): Beispiele von epilepti- 
schen Dämmerzuständen. Die Assimilationstendenz des Sexualkomplexes 
und die Entstehung der Symbole. Deutung des Fisches als Sexual- 
symbol gibt den Schlüssel zur Erklärung vieler Gebräuche, Volks- 
glauben (Fisch am Freitag, der Aprilfisch — Aprilscherz, das Spiel 
am Aschermittwoch ...), Legenden und Märchen (Grimm: Die goldenen 
Fische). 


Derselbe: Une voie nouvelle en psychologie. 
(Freud et son &cole) Coenobium Lugano-Milano, 1909. 


Allgemein orientierender Aufsatz über die Freudsche Psychologie 
(mit Ausschluß der Psychopathologie). Die Psychoanalyse ermöglicht 
durch Aufdeckung der unbewußten Motivierung eine einheitliche Auf- 
fassung des Denkens und Wirkens eines Menschen. 

Zuerst werden die Störungen der unbewußten Tätigkeit 
beim Gesunden an Hand eigener Analysen besprochen. Die Störungen 
sind aufzufassen als Ausdrucksmittel des Unbewußten, als Verrat von 
uneingestandenen Tendenzen. Der allmähliche Übergang ins Patho- 
logische wird überall betont. Der Traum steht im innigen Zusammen- 
hange mit den aktuellen Konflikten des Individuums, er gibt eine 
Lösung des Unbewußten, welche später häufig angenommen wird 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 377 


und zur Verwirklichung gelangt. Die Konflikte entstehen zum Teil 
unter dem Drucke des Kulturlebens. Folgt eine ausführliche Traum- 
analyse. 

Im Ill. Abschnitte werden die Symbole im Traume, in den 
Halluzinationen, Erzählungen und Legenden und in der Sprachefbe- 
handelt. Das Symbol ist eine besondere Form der Gedankenassoziation, 
welche durch das unscharfe charakterisiert ist; vage Analogien wurden 
als Gleichheit betrachtet. Es ist wahrscheinlich für das Unbewußte 
typisch; es hat etwas Infantiles und Primitives. Symbolik in der Volks- 
sprache (Rabelais, Folklore), in den Legenden, in der Sprache der 
Wilden — Form der Assoziationen bei der Ermüdung, im Abaissement 
du niveau mental, in den Symptomhandlungen bei abgelenkter Auf- 
merksamkeit, im Traume und in den Psychosen und Neurosen. 


Derselbe: A propos des Symboles. 


Journal de Psychol. normale et pathologique, Paris, 1909. 
Der Aufsatz enthält im wesentlichen das gleiche wie der III. Ab- 
schnitt der Broschüre: Une voie nouvelle en psychologie. Er ist eine 


polemische Schrift gegen Leroy (Paris). Die Symbole müssen das 
Objekt des wissenschaftlichen Studiums sein. # © . 1, ,"Maeder. 


Müller Hermann E. (Zürich): Beiträge zur Kenntnis der Hyperemesis 
Gravidarum. 


Dissertation aus der Universitätsfrauenklinik in Zürich. 

Gedruckt im X. Jahrg. der Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift. 

Auf Grund einer aufmerksamen klinischen Beobachtung einer 

Reihe von Hyperemesisfällen kommt Verfasser zu folgenden Schlüssen: 

1. Der Vomitus matutinus gravidarum ist ein psychogenes 
Symptom. 

2. Die Hyperemesis ist in der Mehrzahl der Fälle psychogen. 

Obschon Verfasser keine vollständige Analyse beibringt, so hat 

er doch in mehreren von seinen Fällen einen psychologischen Einblick 


ermöglicht. Überall nimmt Verfasser Rücksicht auf die Ansichten 
der Freudschen Schule. 


Derselbe: Ein Fall von induziertem Irresein nebst anschließenden Er- 
örterungen,. 
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, XI. Jahrg. 


Ein Fall von abergläubischer Exaltation bei einem religiös über- 
spannten Frauenzimmer führte bei einer Hysterika, die mit derKranken 


378 C. @. Jung. 


zusammen lebte, auf Grund des ‚gleichen ätiologischen Anspruches“ 
zu einer Induktion der Psychose. 

Die Heranziehung der Freudschen Analytik gestaltet die Fälle 
recht hübsch und durchsichtig. 


Pfister Oskar, Dr., Pfarrer (Zürich): Wahnvorstellung und Schüler- 
selbstmord. Auf Grund einer Traumanalyse beleuchtet. 
Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspilege (Expe- 
dition: Orell Füßh in Zürich), 1909, Nr. 1. 


Derselbe: Psyehoanalytische Seelsorge {und experimentelle Moral- 


pädagogik. 
Protestantische Monatshefte (Leipzig, Heinsius Nachf.), 
1909, Nr. 1. 
Derselbe: Ein Fall von psychoanalytischer Seelsorge und Seelen- 
heilung. 


Evangelische Freiheit, Monatsschrift für die kirchliche 
Praxis in der gegenwärtigen Kultur (Mohr, Tübingen), 1909, 
Nr. 3—5. 


Die drei Arbeiten schildern einige Erstlingsversuche, die Psycho- 
analyse im Dienste der Pädagogik und Theologie, speziell der Seelsorge, 
zu verwerten. 

Der erstgenannte kleine Aufsatz berichtet von einem 13!/,jährigen 
Knaben, der infolge eines Traumes sechs Monate lang der Verzweiflung 
und schließlich dem Suizidium nahe war. Die heftigen Erregungen, 
welche ihm die Besprechung sexueller Gegenstände mit der Schwester 
verursachte, verdichteten sich nämlich in dem kurz zuvor von Mastur- 
bation geheilten Burschen zum Traume, er habe mit ihr Inzest be- 
gangen, und zur Zwangsvorstellung, dem Traume müsse Wirklichkeit 
zugrunde liegen. Selbst offene Aussprache mit der durchaus ehrbaren 
Schwester vermochte keine völlige Beruhigung zu schaffen, bis drei 
Jahre später die Analyse den Wahn vertrieb. 

In der zweiten Arbeit sucht der Verfasser den Nachweis zu liefern, 
daß viele ethische und religiöse Defekte vollständig konform den hy- 
sterischen Leiden entstanden sind und überwunden werden können. 
Um ein anschauliches und übersichtliches Beweismaterial zu erhalten, 
bedient er sich des Assoziationsexperimentes von Jung, wobei er jedoch 
nach jeder Reaktion sogleich die Analyse vornimmt. Das Verfahren 
entbehrt der künstlerischen Feinheit, welche der freien, individuell 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 979 


angepaßten Psychoanalyse einen so hohen ästhetischen Reiz verleiht. 
Allein die Assoziationsmethode empfahl sich trotz ihres etwas plumpen 
und mechanischen Charakters durch zwei Vorzüge: 1. Sie kann in 
primitiver Form von jedem Beliebigen angewandt werden, wenn auch 
das tiefere Verständnis der gewonnenen Reaktionen ein gründliches 
Studium der Jungschen Assoziationsforschung und genaue Kenntnis 
der Traumsymbole wünschbar erscheinen läßt. 2. Sie ermöglicht 
eine statistische Kontrolle der Komplexvorgänge. 

Bewegen sich die beiden beleuchteten Arbeiten vorwiegend auf 
dem Gebiete der Pädagogik, so führt der dritte Aufsatz auf das der 
Pastoration. Geschildert wird die Heilung eines 19!/,jährigen Jüng- 
lings, der seit beinahe vier Jahren an der Zwangsvorstellung litt, er 
müsse nach einem nutzlosen, moralisch verwerflichen Leben im 
Irrenhaus enden. Seit einem Jahre waren die Impulse zum Selbst- 
mord bis zum Entschluß vorgedrungen. Reichliches hypochondrisches 
Brüten rief regelmäßig Kopfschmerzen hervor. In die Domäne des 
Pfarrers gehörte der Fall darum, weil der im Geist des freien 
Protestantismus erzogene Jüngling sich trotz der‘ energischen Ein- 
sprüche seiner kritischen Vernunft mächtig zum Katholizismus hin- 
gezogen fühlte und einen förmlichen Madonnenkultus trieb. Die 
abnormen Erscheinungen lagen begründet in häuslichen Verhältnissen 
und Szenen, die eine innere Ablösung von Vater und Mutter be- 
wirkten. Die Zwangsbefüchtungen um die eigene Zukunft gingen, um 
nur die wichtigste der vielen Bedingungen zu nennen, aus Drohungen 
des Vaters hervor. In Madonna und der ehrwürdigen Gestalt eines 
Bischofs fand der Kranke Surrogate für Mutter und Vater. Die 
Heilung gelang in wenig Besprechungen und hielt bis jetzt (Juni) an. 

Die besprochenen Studien wollen andeuten, welche enorme 
Bedeutung die Psychoanalyse für den Lehrer und Pfarrer besitzt. Sie 
möchten zeigen, daß nicht nur die erzieherische Behandlung des 
kranken, sondern auch die des gesunden Menschen infolge der Freud- 
schen Neurosenlehre eine gründliche Umgestaltung erfahren muß. 
Es ist aber auch höchste Zeit, daß das grausame und oft verderbliche 
Herumknien auf der Kindesseele, das Würgen und Pressen des Ge- 
mütes der Erwachsenen ein Ende nehme und die Einsicht erwache, 
daß nicht die Knebelung, sondern die Befreiung des Erziehers edelste 
Aufgabe bildet, wenn auch selbstverständlich die ernste Zumutung, 
die Verdrängung am richtigen Orte das notwendige Komplement der 
Analyse bildet. Diese Erkenntnis wird um so gewisser zum Siege ge- 


380 C. G. Jung. 


langen, je überzeugender der Nachweis gelingt — und er gelingt heute 
schon in Hunderten von Fällen! — daß die Analyse milde und schnell 
die schönsten erzieherischen Ziele erreicht, wo die Askese und Dressur 
mit ihrer Quälerei und Selbstquälerei nur Not und Verzweiflung hervor- 
rufen, daß die Analyse das Gemüt sittlich kräftigt, reinigt, heiligt, wo 
die kirchliche Autorität nur zermalmt und die herkömmliche Praxis 
im Geiste des freien Protestantismus wirkungslos abprallt. Pfister. 


Pototzky (Berlin): Die Verwertbarkeit des Assoziationsversuches für 
die Beurteilung der traumatischen Neurosen. IR 


Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XXV, p. 521. 


Verfasser machte bei zwei Fällen von Unfallneurose das Assoziations- 
experiment. Bei dem einen Falle ergab sich ein überwiegendes Vortreten 
des Rentenkomplexes, bei dem andern ein auffallendes Nichthervortreten 
des gleichen Komplexes, woraus prognostische Folgerungen abgeleitet werden. 


Riklin (Zürich): Hebung epileptischer Amnesien durch Hypnose. 


Journal für Psychologie und Neurologie, I. Bd., Heft 5 
und 6, 1903. 


Die Verwandtschaft epileptischer und hysterischer Amnesien 
wird dadurch erwiesen, daß Verfasser imstande war, durch Hypnose 
die Amnesien Epileptischer aufzuheben. In der Arbeit sind auch Asso- 
ziationsexperimente von klinisch-diagnostischem Interesse berichtet. 


Derselbe: Zur Anwendung der Hypnose bei epileptischen Amnesien. 
Journal für Psychologie und Neurologie, II. Bd., 1903. 

J. A. Barth, Leipzig. 

Enthält die Darstellung eines weiteren Falles mit epileptischen 
Absenzen, mit Aufklärung der Amnesie, wobei wir jetzt natürlich 
den Mangel einer Analyse des Absenzeninhaltes bedauern. Patient 
streichelte in den Absenzen liebevoll] eine Katze, manchmal auch 
eine Ziege. Seither wurde m. W. in Erfahrung gebracht, daß diese 
im Anfalle dargestellte Szene ein Bruchstück eines infantilerotischen 
Erlebnisses ist. 


Jung und Riklin: Untersuchungen über die Assoziationen Gesunder. 
Siehe Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. I. Beitrag. 


Riklin: Zur Psychologie hysterischer Dämmerzustände und des Ganser- 
schen Symptoms, 


Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Jahrg. 1904, 
Nr. 22. 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 381 


Ganser hat das Symptom des Vorbeiredens bei hysterischen 
Dämmerzuständen klinisch beschrieben. In der Folge wurde der Be- 
griff des Ganserschen Symptoms von den Autoren (namentlich Raecke) 
bald enger, bald weiter verstanden. Ferner bildete sich die Ansicht aus, 
es knüpfe sich ausschließlich an den Ausbruch hysterischer Dämmer- 
zustände bei Untersuchungsgefangenen. Die psychologische Verwandt- 
schaft des hysterischen, Ganserschen Vorbeiredens mit dem Mecha- 
nismus der Simulation drängte sich gerade aus diesem Umstande den 
verschiedenen Autoren auf; erst Jung (Ein Fall von hysterischem 
Stupor bei einer Untersuchungsgefangenen; Journal für Psychologie 
und Neurologie, Bd. I, 1902) verpflanzte das Problem auf den Boden 
Freudscher Psychologie, von dem aus die richtige Wertung und 
Deutung des Symptoms und des Zustandes möglich war. 

Die vorliegende Arbeit berichtet über vier Fälle von hysterischem 
Dämmerzustande mit dem Ganserschen Symptom. Davon ist nur einer 
in der Untersuchungshaft aufgetreten, die drei andern nicht. Die psy- 
chische Lage des Untersuchungsgefangenen, der in die Enge getrieben 
wird, falsche Antworten gibt, leugnet, und in der höchsten Bedrängnis 
in einen Dämmerzustand gerät, undin den Symptomen dieses Zustandes 
erst noch die „automatisierte Simulation‘, das Nichtwissen und Nicht- 
verstehen, nachdrücklich hervorkehrt, wird damit nur zu einem Spezial- 
falle. Die allgemeine Situation beim Ausbruch eines Ganserschen 
Dämmerzustandes ist die, daß ein peinliches Ereignis bei seinem Eintreten 
durch Verdrängung ins Vergessen gestoßen wird, wegen seiner In- 
kompatibilität mit dem übrigen Bewußtseinsinhalte. Das Motiv des 
Nichtwissens oder Nichtwissenwollens produziert das Symptom des 
Vorbeiredens. Die Orientierungsstörung erweist sich als Wunsch, 
nicht über die gegenwärtige Lage orientiert zu sein. Im Dämmer- 
zustande wird das Nichtwissen auch durch kompensatorische Wunsch- 
phantasien ersetzt. Die auffallende „Einengung des Bewußtseins“ 
dient dazu, die unerträgliche Vorstellung abzuspalten und einzelne 
zensurierte, wunschhafte Situationen aufkommen zu lassen. 


Derselbe: Analytische Untersuchungen der Symptome und Assozia- 
tionen eines Falles von Hysterie. (Lina H.) 
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 1905, Nr. 46. 
Die Analyse stammt in der Hauptsache aus dem Jahre 1902/03 
und betrifft eine typische, schwere Konversionshysterie. Als theo- 
retisches und technisches Vorbild dienten damals noch die ‚Studien 
über Hysterie“. Das therapeutische Resultat muß als recht gut be- 


382 C. @. Jung. 


trachtet werden; denn die Patientin ist auf ihre körperlichen Symptome 
seither, also in 6—-7 Jahren, nur noch ausnahmsweise zurückgekommen ; 
wohl aber hat sich eine ethisch mangelhafte Persönlichkeit enthüllt. 
Heutzutage hätte man vielleicht nicht mehr den Mut und die Lust, 
eine Persönlichkeit von so wenig Wert und Entwicklung und mit so 
wenig Zukunftshoffnungen zu analysieren. Der Erfolg ist darum um so 
höher anzuschlagen. Das Hauptmoment des Erfolges war die Über- 
tragung auf den Arzt. Während der Verfasser das Abreagieren für 
nicht genügend fand, um den therapeutischen Erfolg zu erklären, ging 
ihm die Kenntnis des Wesens der Übertragung noch ab. 

Zur Zeit der Analyse war der Verfasser auch mit der Traum- 
deutung noch zu wenig bekannt, als daß er daraus hätte Nutzen für die 
Analyse ziehen können. 

Es wurden die Symptome in ihrem Aufbaue analysiert und eine 
Reihe von psychischen Traumata entziffert; die frühe Kindheit kommt 
noch zu kurz; hingegen wird an Hand der Analyse der Entstehungs- 
. mechanismus körperlich hysterischer Beschwerden vielfach nachgewiesen. 

In einem experimentellen Teile werden die Assoziations- 
versuche mitgeteilt. Es war damals noch von großer Bedeutung, 
nachzuweisen, daß im Assoziationsexperimente die gleichen Mechanis- 
men arbeiten wie bei der Herstellung hysterischer Erscheinungen, und 
dıe Gesetze der Komplexwirkungen im Experiment die gleichen sind 
wie bei Gesunden, nur daß sie in verstärkter Deutlichkeit auftreten. 

Eın Abschnitt beschäftigt sich mit dem Assoziationsmechanismus 
beim Zustandekommen der Konversion und der Theorie des Abrea- 
gierens. Der Verfasser empfand damals Lücken zwischen Theorie und 
tatsächlichen Erscheinungen, welche seither durch die Einschaltung 
der Begriffe Übertragung, Libido und der Kenntnis der infantilen 
Sexualität reichlich ausgefüllt worden sind. 


Derselbe: Die diagnostische Bedeutung von Assoziationsversuchen bei 
Hysterischen. 


Vortrag an der 35. Versammlung des Vereines schweizerischer 
Psychiater 1904 in St. Urban. Referate im Jahresberichte des 
Vereines und in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, 
Jahrg. 1904, Nr. 29. 


Derselbe: Kasuistische Beiträge zur Kenntnis hysterischer Assoziations- 
Phänomene. 


Siehe Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. VII. Beitrag. 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 383 


Derselbe: Über Versetzungsbesserungen. 


Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Jahrg. 1905, 
Nr. 16—18. 


Die Eröffnung der Neubauten der züricherischen Pflegeanstalt 
Rheinau gab Gelegenheit zu beobachten, in welcher Weise die Ver- 
setzung Geisteskranker von einer Anstalt in eine neue einwirkt. Die 
Beobachtungen beziehen sich in der Hauptsache auf 85 Patienten, 
welche der Verfasser vorher im Burghölzli bereits kennen gelernt hatte. 
Die Besserung wurde bei mehr als der Hälfte der Fälle beobachtet. 

Zur Anpassung an die Wirklichkeit hilft die größere Bewegungs- 
freiheit. Dann vor allem die Arbeitstherapie. Sie bedeutet, 
namentlich bei der häufigsten Krankheit, der „Dementia praecox‘, 
ein Herausziehen aus der Introversion, eine Übertragung auf die Wirk- 
lichkeit. Um die Verarbeitung des neuen Milieus durch diese Kranken 
zu demonstrieren, setzt der Verfasser in Kürze die psychologische Be- 
deutung einer Reihe der wichtigsten Erscheinungen bei der genannten 
Krankheit auseinander (Negativismus; Sperrungen; Wunscher- 
füllung in den Wahnideen: Dienstmädchenpsychosen; Fruchtbar- 
keitsideen, Fruchtbarkeitssymbole; Personenverkennung im Sinne der 
Komplexe; religiöse Wahnideen als Übersetzung erotischer; Wunsch- 
phantasien in den paranoiden Ideen; ihre Ausarbeitung, Verdichtung, 
Stereotypisierung, Besetzung des motorischen Apparates durch Kom- 
plexautomatismen). 

Am besten wirkt die Übung und Beschäftigung normal gebliebener 
Vorstellungskomplexe und Funktionen. In diesem Sinne wirken auch 
die frühe Entlassung, möglichster Ersatz der Bettbehandlung, welche 
die Introversion und das ‚Träumen‘ der Dementia praecox begünstigt, 
durch Arbeitstherapie, welche sie nach außen hın zieht. 


An zwei Krankengeschichten wird kurz nachgewiesen, wie 
die Introversion zustande kommt, wo die Übertragung nach außen 
nicht gelingt, und wie da der Prozeß viel weiter geht als eine einfache 
reparatorische Wunscherfüllung in der Phantasie nötig machen würde. 
Im zweiten Falle konnte auch die versuchte wirkliche Wunscherfüllung 
die Introversion nicht mehr aufhalten, aus dem Unbewußten meldeten 
sich Selbstvernichtungsideen, denen der Kranke durch Suizid erlag. 

In etwa der Hälfte der Fälle hatte die Versetzung keinen wahr- 
nehmbaren Einfluß. 

Eine Reihe von kurzen Krankengeschichtsauszügen, nach ana- 


384 C. G. Jung. 


Iytischen Gesichtspunkten wiedergegeben, dient zur Illustrierung 
der Versetzungserscheinungen. | 


Derselbe: Beitrag zur Psychologie der kataleptischen Zustände bei 
Katatonie. 


Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 1906, Nr.32—33. 


Es gelang, mit einem Katatoniker mitten in einem schweren 
„kataleptischen Zustand in Kontakt zu kommen und einiges von dem 
zu erfahren, was in diesem Zustande in ihm vorging. Aus der Anamnese 
erwähnen wir, daß der Zustand nach vierjährigem Bestande der Psy- 
chose einsetzte. Diese äußerte sich zuerst in autoerotischer Selbst- 
vergrößerung seit dem 18. Jahre. Er suchte die reiche Tochter eines 
Verwandten zu erobern, in vollständiger Verkennung der Möglichkeit, 
sie zu gewinnen. Trotz einer Abweisung wiederholte er unbeirrt seine 
Anträge. Zur Zeit der Aufnahme in die Anstalt waren schon katalep- 
tische Symptome da; daneben ein beharrliches, uneinsichtiges zur Türe 
Hinausdrängen, um zur Cousine zu kommen. 

Der Zustand des Kranken ist etwa folgendermaßen zu skizzieren: 
Der Katalepsie liegt geradezu eine Tendenz zu schlafen, ‚ein Toter 
zu sein“, zugrunde; das mußte aus den Äußerungen der Patienten ent- 
nommen werden. Der Erfolg dieser Tendenz ist ein ähnlicher wie beim 
natürlichen Schlafe, gleicht aber noch mehr dem hypnotischen Schlafe. 
Die Tendenz entspringt einem Motive, nämlich der Verdrängung eines 
Komplexes, einem Vergessenswunsche. 

Im vorliegenden Falle gelang das Durchbrechen dieser Schlaf- 
tendenz, aber nicht vollständig, so daß während einer im Grunde ge- 
nommen sehr adäquaten Affektäußerung, z. B. Weinen über die ab- 
solute Hoffnungslosigkeit, die Geliebte zu erreichen, in Mimik und 
Haltung eine sonderbare Resultante zwischen Affektäußerung und 
Schlaftendenz zu bemerken ist. Die beiden Komponenten teilen sich 
manchmal auch in die Gesichtshälften: einseitiges Weinen; einseitiges 
Offenhalten der Augen: Offenhalten der Augen bedeutet Rapport mit 
dem Untersucher, Schließen der Augen: Abbruch des Rapportes, Ob- 
siegen der Schlaf- respektive Vergessenstendenz. 

Durch die ganze Exploration hindurch perseveriert der Gedanke: 
Ich heirate Emma C., oder: Ich liebe Emma C., und der andere, der 
die Schlaftendenz als Schutzfaktor unterhält, der in der Antwort der 
Cousine besteht: ‚‚Von der Zukunft sollst du nichts erwarten.“ | 

Leicht geschieht es, daß Patient wunscherfüllende Situationen 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 8385 


gestaltet, die Geliebte vor sich glaubt, ihr entgegengeht, sie umarmen 
will, die Geliebte durch anwesende Personen (Arzt, Wärter) sub- 
stituiert (Personenverkennung), alles immerhin durch den Schleier 
des kataleptischen Schlafes hindurch. 

Durch diesen Schleier hindurch nimmt man ganz 
adäquate, tiefe Affektäußerungen wahr. 

Die Verwertung der Fragen und die Reaktionsweise gehen nach 
den Gesetzen der Komplexreaktionen in Assoziationsversuch. 

Die Beobachtung legt es nahe, den katatonen Erscheinungen 
bei Dementia praecox im allgemeinen eine analoge Bedeutung zu 
unterschieben, wie sie im beschriebenen Falle besteht. 


Derselbe: Über Gefängnispsychosen. 


Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift, XI. Jahrg., 
Nr. 30—37. 


Ein Versuch, die Bilder der Haftpsychosen nach den Ergebnissen 
der Psychoanalyse zu erklären und zu gruppieren. Die Haft ist eine 
psychologische Situation, welche bei verschiedener Anlage im dia- 
gnostischen Sinne doch mehr oder weniger einheitliche psychologische 
und pathologische Reaktionen auslöst. 


Derselbe: Psyehologie und Sexualsymbolik der Märchen. 


Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift, IX. Jahrg., 
Nr. 22-24, 


Einige Beispiele aus der größeren Arbeit: ‚„Wunscherfüllung 
und Symbolik im Märchen.“ 


Derselbe: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. 


Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben 
von Freud, 2. Heft. Leipzig und Wien, F. Deuticke, 1908. 


Die Märchenanalyse ergibt meistens eine Verdichtung mehrerer 
Sagen, das Ganze präsentiert sich in einem infantilisierten Gewande 
und enthält meistens eine offen zutage liegende Wunscherfüllung. 
Im Märchen werden die gleichen sexual-psychologischen Grundfragen 
abgehandelt, wie in der Neurose, und die analytische Technik zu ihrer 
Erschließung ist dieselbe. 

Die Philologen sagen uns, daß die Sagen und Märchen überall 
entstehen können, und daß das Auftreten eines ähnlichen Motivs an 
verschiedenen Orten nicht ohne weiteres eine Wanderung des Märchens 
von einen Ort zum andern beweist. Vielmehr haben wir überall die 

Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. II. 25 


386 C. G. Jung. 


gleiche Psychologie, also auch die gleichen Motive für Sagen und 
Märchen. 

Der Verfasser durchgeht zuerst eine Reihe von Formen, in welche 
sich die Wunschgebilde kleiden: Wunschtraum, Wunschgestalten der 
Dichter, Wunschgebilde in Kulten und Bräuchen und in den Psychosen. 
Wunschbildungen sind die Zaubergaben, welche die menschliche Un- 
zulänglichkeit vervollkommnen. Zugleich sind sie Verkörperungen 
oder Sinnbilder von psychischen Kräften, die der Sexualität entspringen. 

Im Sinne des Wunsches sind die Handelnden Könige und Königs- 
kinder, Helden oder andere gewaltige Wesen; es ist eine Übertragung 
der Menschenschicksale ins Königliche und ins Heldenhafte. 

Der Ursprung vieler Märchenfiguren bedarf übrigens einer weiteren 
Forschung und Analyse. 

Typische Wunscherfüllungsmärchen sind Stiefmuttermärchen 
und die, wo sogenannte „Ellbogenkinder“, Schwächlinge, die Helden 
sind. Die körperliche oder geistige Schwäche ist manchmal nur ein 
 Verwandlungsstadium des Helden. 

Die Stiefmuttermärchen sind ein Spezialfall der Märchen mit 
erotischer Wunscherfüllung, die Stiefmutter eine spezielle Figur der 
Nebenbuhlerin, besonders der Mutter der Heldin. 

Ein Kapitel ist der Symbolik im allgemeinen gewidmet. Es 
werden die Merkmale und das Zustandekommen von Symbolen er- 
läutert, das Vorkommen der Symbole in den verschiedensten Gebieten 
besprochen. Im Märchen werden ausgiebig Symbole verwendet; 
um sie richtig zu deuten, müssen wir sie mit denen des Traumes und 
der Neurosen vergleichen; manchmal ist auch eine Analyse möglich 
durch Vergleichung möglichst vieler Märchen, Mythen, in denen es in 
bestimmten Zusammenhängen erscheint. So ist eine richtige Deutung 
möglich. Eine weite Ausdehnung auf allen Gebieten hat die Sexual- 
symbolik; ausgiebig verwertet wird die Schlange als phallisches 
Symbol. Verschiedene Sexualsymbole können promisceue in ähnlicher 
oder gleicher Bedeutung vorkommen: Schlange, Drache, Dämon, 
Teufel, Riese, Ungeheuer. Es erklärt sich diese Möglichkeit aus dem 
Wesen der Sexualverdrängung. Die verdrängte Sexualität kann in 
verschiedenen Gewandungen dargestellt werden. Die Märchen ‚„Oda 
und die Schlange“ und ‚Der Froschkönig und der eiserne Heinrich“ 
erhalten durch die Substitution der Sexualsymbole eine klare Deutung. 
Der Frosch, Zweige von fruchtbringenden Bäumen, große Tiere wie: 
Bär, Löwe, Stiere, Böcke, Hunde, Vögel werden als männliche Sexual- 


Referate über psycholog. Arbeiten schweizerischer Autoren usw. 387 


symbole verwendet. Ihre Verwandlung durch die Erlösung in der Liebe 
bevreist dies deutlich. 

Eine Reihe von Märchen stellen die individuelle Sexualentwick- 
lung dar, wenn die Deutung vollkommen ist: Die Übertragung auf 
Vater und Mutter (Ödipusproblem), die Nachwirkung des Vater- und 
Mutterkomplexes, den Ablösungskampf, der endlich zum Ziele führt. 

Ausgiebig verwertet wird der Versuchsmechanismus, besonders 
die „Verlegung nach oben”, die Substitution der Genitalzone 
durch die Mundzone, namentlich in den infantilen Befruchtungs- 
theorien. Die Befruchtung durch Essen oder Verschlucken von Tieren 
und Gegenständen, welche den Phallus oder Sperma symbolisieren: 
Fisch, Schlange, Rübe, Kerne von Früchten kommen in vielen Märchen 
vor; aus dieser Zeugung geht ein Held hervor; fast immer war die 
Mutter der Helden vorher unfruchtbar, die Befruchtung wird zum 
Wunder; die Zeugung durch Götter und Dämonen in verschiedener 
— sexualsymbolischer — Gestalt ist eine weitere Form der Mensch- 
werdung des Helden. Die Schwangerschaft wird im Märchen vom 
„Bärchen und die drei Ritter“ dargestellt durch die Inkubation einer 
Rübe im Ofen. 

Das Inzestmotiv (Ödipusmotiv) wird in verschiedenen Mär- 
chen ausführlich behandelt. 

In der Geschichte des jungen Tobias ist ein Märchenbeispiel, 
wo das sadistische Motiv: das grausame Umbringen aller Männer, 
die nicht einen bestimmten Zauber durchbrechen, in Verbindung ge- 
bracht ist mit dem Vaterkomplex. Die Verfolgung im Märchen 
(Stiefmutter, Drache usw.) ist gewöhnlich das Bild des Kampfes gegen 
Vater- und Mutterkomplex; die Stiefmutter ist die eigene Mutter, 
die durch die Zensur so dargestellt wird. 

Die Arbeit wird dokumentiert durch eine Reihe von Beispielen 
aus verschiedenen Märchensammlungen und anderen Quellen. Riklin. 


Schnyder (Bern): Definition et Nature de P’Hysterie. 


Congres des medecins alienistes et Neurologistes de France 
et des pays de Langue Francaise. 


XVIIme Session. Gen&ve-Lausanne, 1907. Gendve 1907. 

Die Arbeit berücksichtigt die Lehrmeinungen einer umfangreichen 

Literatur. Unter den Referaten findet sich auch eine objektive Dar- 

stellung des Breuer - Freudschen Standpunktes, sowie der Komplex- 

lehre. Die modernen Gesichtspunkte lehnt Schnyder ab. ‚‚Les idöes 
25* 


388 C. G. Jung. 


de Freud et de ses partisans representent certainement une contri- 
bution importante ä la solution du problöme de l’hysterie. Ou peut 
reprocher au savant viennois d’introduire dans la conception psycho- 
logique de l’'hysterie une me&canisation arbitraire, de s’appuyer sur des 
hypothöses assur&ment ingenieuses, mais d’un caractere trop subjectif 
pour pouvoir pretendre ä une valeur scientifigue incontestable.‘ 


Schwarzwald (Lausanne): Beitrag zur Psychopathologie der hysterischen 
Dämmerzustände und Automatismen. 
Journal für Psychologie und Neurologie, Bd. XV, 1909. 


Es handelt sich um einen Fall von psychogenem Dämmerzustand, 
in welchem der Kranke Feuer an sein Haus legte. Das Material ge- 
stattet mehrere psychologische Einblicke in den Mechanismus der Tat 
und des Falles überhaupt. Die Infantilgeschichte ıst leider unvoll- 
ständig; Verfasser tut aber Unrecht daran, auf die Geschichte der 
Infantilentwicklung ganz zu verzichten. Die Kindheit des Patienten 
ist für die Entstehung einer späteren Neurose von größter Bedeutung, 
zum mindesten von ebenso großer Bedeutung wie die Aktualmomente, 
wenn nicht von viel größerer. 

Eine weitere Vertiefung seiner psychoanalytischen Technik wird 
den Autor von der Richtigkeit dieser Anschauung überzeugen. Der 
Traum vom ‚‚kleinen Däumling“, den der Kranke einige Tage vor der 
Brandstiftung hatte, ist sehr bedeutsam und weist schon durch sein 
Material auf eine energische Determinierung der Tat durch Kindheits- 
erinnerungen hin. Das ist der Aufmerksamkeit des Autors entgangen. 
Die Kindheitsanalyse und die richtige Bewertung ihrer Resultate ist 
allerdings eines der schwersten Stücke der psychoanalytischen Technik, 
deren Erwerbung jedem Anfänger recht schwer fallen muß. 


+ 
F = 


Am 30. und 31. März 1910 fand in Nürnberg die II. Psychoana- 
Iytische Vereinigung statt, welche eine private Zusammenkunft der 
Psychoanalytiker verschiedener Länder darstellt. Bei diesem Anlaß 
wurde die ‚Internationale psychoanalytische Vereinigung“ gegründet. 
Als Vorsitzender wurde Dr. C.G. Jung und als Sekretär Dr. Fr. Riklin 
gewählt. | 

Anfragen sind an Herrn Dr. Fr. Riklin, Neumünsterstra ße 34, 
Zürich V., zu richten, - 








VERLAG VON FRANZ DEUTICKE IN LEIPZIG UND WIEN. 








Schriften zur angewandten Seelenkunde. 


1. Heft: 
1I. Heft: 


h III. Heft: 
IV. Heft: 
V. Heft: 
‘VI. Heft: 
k VII. Heft: 


Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud in Wien. 


Der Wahn und die Träume in W. Jensens „&radiva“. Von Prof. 
Dr. Sigm. Freud in Wien. — Preis M 250 = K 3—. 
Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Eine Studie von 
Dr. Franz Riklin, Sekundararzt in Rheinau (Schweiz). 

Preis M3>— = E 360. 

Der Inhalt der Psychose. Von Dr. C. 6. Jung, Privatdozent der 
Psychiatrie in Zürich. — Preis M 1:25 = K 1:50. 

Traum und Mythus. Eine Studie zur Völkerpsychologie. Von Dr. Karl 
Abraham, Arzt in Berlin. — Preis M 250 = K3—. 

Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psycho- 
logischen Mythendeutung. Von Otto Rank. — Preis M 3:— = K 3:60. 
Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. Von Dr. J. Sadger, 
Nervenarzt in Wien. — Preis M 3— = K 3:60. 

Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Von Prof. 
Dr. Sigm. Freud in Wien. — Preis M 250 = K3—. 


pathologische Forschungen. 


Herausgegeben von Prof. Dr.F. Bleuler in Zürich u. Prof. Dr. S. Freud in Wien. 


Redigiert von Dr. C. 6. Jung, 
Privatdozenten der Psychiatrie in Zürich. 
I. Band: 1. und 2. Hälfte, Preis a MT— =K 340. 








Von Dr. H. Daran) 
Professor an der Faculte de mödecine in Naney. 
Autorisierte deutsche Ausgabe von 


‘Dr. Sigm. Freud, 
Dozent für Nervenkrankheiten an der Universität in “Wien, 


h BL Zweite, umgearbeitete Auflage, besorgt von Dr. Max Kahane. 


Preis M5—=K6-—. 


[L Sindien über Iypnolismis, ouugesion un yehoheai 


Von Dr. H. Bernheim, 
Professor an der Facult& de me&decine in Nancy, 
Übersetzt von Dr. Sigm. Freud, 

- Privatdozent an der Universität in Wien. _ 


Preis MSs— = = K 9:60. 


M Vorlesungen über di Krankheilen des ee insbes über Ayserie, 


Von J. M. Charcot. 
Autorisierte deutsche Ausgabe von 
Dr. Sigm. Freud, 


Dozent für Nervenkrankheiten an der Universität in Wien. 


- Preis M $— = K 10:80. 


Be ae Fe ZEN TATEN Dei Fin 
BE EN Te A a N An TEN 
ve ” 2 ’ + I ” u 








VERLAG VON FRANZ DEUTICKE IN LEIPZIG UND WIRN. 











Poliklinische Vortr äge © ii 
von Professor J. M. Charcot. | | 
I. Band. Schuljahr 1887—1888. | H. Band. Schuljahr 1898-1889. PR; 
Übersetzt von Dr. Sigm. Freud, - Übersetzt von Dr. Max Kahane Mn 
Privatdozent an der Universität in Wien. > in Wien. 


Preis pro Band M 12>:— = K 14.40. 


Introjektion und Übertragu: ng. 
Eine psychoanalytische Studie ! 
‘von Dr. S. Ferenezi, - 
Nervenarzt, Sachverständiger des Kön. Gerichtshofes in Budapest. 
Preis M'1-— = K 1:20. | 
Der Ablauf des Lebens. 
| Grundlegung zur exakten Biologie. Are 
Von Wilhelm Flies. ar . EN 
‚Preis M 18 — — K 2160. re 
Über Konflikte der Eindliöhen Seele. | 
Von Dr. med. et iur. €. 6. Jung, 1 
Privatdozent der Psychiatrie an der Universität in Zürich. j 
Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des ”“ 
Einzelnen. | : 
‚Von Dr. C. 6. Jung, | | 4 


| Privatdozent der Psychiatrie an der Universität in Zürich. | 
Sonderabdruck aus dem Jahrbuch für psychoanalytische und niyehonatlolasenne RR 
Forschungen. Band I. er 


Binden zur Grundlegung der Psychologie. | 
| I. Psychologie und Leben. ee, 
II. Assoziationen und Perioden. II. Leib und Boote. 2 


4 
Von‘Dr. Hermann Swoboda.. N 
Preis MI = K3— EN Be 


‚Die Eldechen: Tage des Menschen und ihre De a 
rechnung mit dem Periodenschieber. ER. 








f Kin 
> u) nf EL E, de; 
Von Dr. Hermann: Swohoda, ER = RN 
Bi; Privatdozent der Universität in. Wien. BR a ne 2 Et Ku 
Preis M 4— = K 480. FH HER A OR 
2 BET Ne RR WED ÄEN ESP IHTRERN 15 NL, 
Ho ee.) 
armonia -anima er 
PER Von Dr. Hermann ‚Swoboda, a N Si: 
er Yan al, SE RN DR RL N 2 
er Privatdozent es ae an der. ‚Universität. in Wien, TEE Se ANe 
Drück von 1 done Mr = Boat in Brban. EEE Ru 2 
$* x sr > = — j El ee TE 
DE 5 LEN BT ir ; 
ERSIN | PETERS a 
/ g he . = ;Ü ; | b ö » 1 A| 
= Kae 5 
nr „a 3 I eı Inn de 4 
De u =} hf N RL 
EEE SIE TR ER | 
Ze, u Is br N Dh 5 _ 
We AuiEr r u u an . ”