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Full text of "Jean Paul. Sämtliche Werke II/1"

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JEAN PAUL 
SAMTLICHE VVERKE 

Abteilung II 

Jugendwerke 

tind vermischte Schriften 

Band 1 



JEAN PAUL 
Jugendwerke I 



ZWEITAUSENDEINS 



Herausgegeben von Norbert Miller 

unter Mitwirkung von 

Wilhelm Schmidt-Biggemann 



l.Auflage, Marz 1996. 
2.Auflage, Marz 1996.' 

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung 

des Carl Hanser Verlages. 

© 1974 CarL Hanser Verlag Mrinchen. 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der . 

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der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, 

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Zweitausendeins-Produktion bediirfen in jedem Fall der schriftlichen 

Genehmigung durch die Geschaftsleitung vom 

Zweitausendeins Versand in Frankfurt. ■ 

H erst el lung der Lizenzausgabe: 

Dieter Kohler & Bernd Leberfinger, Nordlingen. 

Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg. 

Umschlag: Angelo Marabese. 

Diese Ausgabe gibt es nur bei Zweitausendeins 

im Versand (Postfach, D-60381 Frankfurt am Main) oder 

in den Zweitausendeins- Laden in Berlin, Essen, Frankfurt, Freiburg, 

Hamburg, Koln, Munchen, Nurnberg„Saarbrticken, Stuttgart. 

In der Schweiz uber buch 2000, 
Postfach 89, CH-8910 Affoltern a. A. 

ISBN 3-86150-152-X 



INHALTSOBERSICHT 



Erste Abteilung 
Erste schriftstellerische Versuche 1779^-1782 

7 

Zweite Abteilung 

Gronlandische Prozesse 1783-1784 

369 

Dritte Abteilung 

Satirische Schriften 1783-1788 

583 

Nachbemerkung 
1175 

Inhaltsverzeichnis 



ERSTE ABTEILUNG 



Erste schriftstellerische Versuche 1779-1782 



SCHULREDEN 



I. 

[UBER DEN NUTZEN 0ES FRUHEN STUDIUMS 
DER PhILOSOPHIE] 



Nach Stand und Wurden allerseits hochst, hoch und werthge- 
schazte Anwesende! 

Es ist der Wahrheit nicht zuwider, wenn man behauptet, 
daB es nicht selten Studirende gebe, die von der Meinung 
eingenommen sind, daB die Philosophic einem Jtingling, 
der sie schon friih zu treiben anfangt, schadlich, oder zum 
wenigsten unniiz sei. Damit sie doch von ihrer Meinung 10 
einen Grund angeben konnen, bringen sie vor, deswegen 
sei die Philosophic schadlich, weil sie vom Lernen der 
Sprachen abhalte, den Kopf mit unnothigen Griibeleien an- 
fiille, und die Krafte des Korpers durch Nachdenken 
schwache. Diese und andere, zum Theil scheinbare, zum 
Theil vollig unrichtige Griinde, sind im Stande, manchen 
zu verfiihren, daB er die Philosophic auf Schulen hintenan- 
sezzet und sie bis auf seine akademischen Jahre, in welche 
er sie gleichsam hinverbannet hat, aufschiebt. Es ist aber, 
wenn ich urtheilen darf, nicht schwer zu begreifen, daB 20 
dieses ein sehr schadliches und gefahrliches Vorurtheil sei. 
Die Philosophic ist eine Wissenschaft, die in nicht so gerin- 
ger Zeit erlernet werden kan, ia! ich glaube, sie sei eine 
Wissenschaft, worzu unser ganzes Dasein kaum hinreicht, 
um ihre Tiefen und Abgriinde auszumessen, und der man 
sich nicht friih genug widmen konne, um in ihr einige 
Starke zu erlangen. Kommen nun Junglinge auf die Akade- 
mie, die sie entweder gar nicht, oder doch bios dem Namen 
nach kennen, so ist vielcr Schade fur sie unvermeidlich. 
Weil sie sich noch nicht an philosophische Begriffe ge- 30 



SCHULREDEN 



wohnt haben, so werden sie in ein noch ganz unbekanntes 
Feld versezt. Wollen sie demnach nicht zuriikbleiben, so 
miissen sie entweder ihre Universitats Zeit um ein Grosses 
vcrlangern, oder sich besonders anstrengen und andere 
Theile der Wissenschaften verabsaumen. Da nun aber we- 
nige lange auf der Universitat bleiben konnen, urid doch 
keiner seine Hauptwissenschaft, von der er einmal den Na- 
men fuhren will, bei Seite legen kan, so komt er nur weit 
in derselben und auch nicht weit genug in den iibrigen 

io Theilen. Dann kan er also wohl sagen, daB er Philosophic 
getrieben habe, aber nicht sagen, daB der Nuzzen fur ihn 
daraus gros gewesen sei. Ich hielt' es daher fur nicht un- 
schiklich, wenn ich es unternahme, dieser Meinung zuwi- 
der, gerade das Gegentheil zu beweisen, und diese Gedan- 
ken waren denn also die Veranlassung, um welcher willen 
ich iezt, so vie! das geringe Maas meiner Krafte zulasset, 
darzuthun suchen werde, dap derienige, welcher die Philoso- 
phie schon friih , aberrecht,treibt, in seinen andern Wissenschaften 
einen grossern Fortgang- habe. 

20 Nie wiird ich mich, hochst, hoch und werthgeschazte 
Anwesendel vor einer so vornehmen Versammlung zu spre- 
chen erkuhnet haben, wenn mir nicht die Nachsicht, wel- 
che Sie, wie ich bemerkt habe, gegen Anfanger sehr giitig 
hegen, das Vertrauen eingeflosset hatte, daB Sie auch meine 
Fehler mit Grosmuth (ibersehen und bei meiner Rede den- 
ken werden, daB es nur geringe Krafte sind, welche sich 
an diesen Gegenstand gewagt haben. 

Soil die Philosophic fur einen Jungling eineri gluklichen i.Theii. 
Fortgang in seinem iibrigen Studiren zu wege bringen, so 

30 wird es freilich nicht iede Art und Weise sie zu treiben, 
bewirken. Ich will daher zuerst da mit mich beschaftigen, 
wie ein Schuler nach meinem Urtheil die Philosophic zwar 
friih aber recht treiben soil. 

Die erste Einschrankung ist diese. Wenn man behauptet, 
ein Schuler soil sich derselben friih widmen, so meinet man 
hiedurch keinesweges, daB er die Sprachen und andere Wis- 



JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

senschaften verabsaumen, oder nur als Nebenwerk ansehen 
diirfe. Dies wiirde weit gefehlet sein. Die Sprachen ver- 
nachlassigen, und sich bios mit der Philosophic abgeben, 
hiesse wider die Ordnung der Natur handeln, wider den 
Strom schwimmen und sein Hauptwerk auf die Seite sez- 
zen. Es ist nicht zu leugnen, daB das Gedachtnis eher seine 
Kraft aussert und sich ehe[r] gebrauchen lasset, als die Be- 
urtheilungskraft angewendet werden kan. 

Daher sind ohne Zweifel, wenn auch keine andern 
Griinde da waren, die iungen Jahre der Studirenden von i 
ie her zur Erlernung der Sprachen mit allem Rechte bestimt 
gewesen. Die Sprachen also soil er keinesweges verabsau- 
men, sonst wiirde er das Schiksal derienigen haben, die 
eben diesen Weg schon in den verflossenen Zeiten gegan- 
gen sind, sich bios der Philosophic gewidmet und wegen 
Vernachlassigung der Sprachen allerlei Irthiimer ausge- 
breitet und bittere Streitigkeiten dadurch veranksset ha- 
ben. Von andern Wissenschaften gilt eben das, was von 
den Sprachen gilt. Namlich sie nicht bei Seite zu sezzen. 
Die Natur selbst belehrt ihn, dieses nicht zu thun. Er kan 20 
ia nicht unaufhorlich mit einerlei Gegenstand beschaftiget 
sein. Sein Geist wiirde eben so ermatten und am Ende iiber- 
driissig werden, wie der, welcher, ohne auszusezzen, eine 
Handarbeit thun sollte. Wie unvollkommen wiirde hernach 
selbst der Anfang seines Studirens sein, wenn er so viele 
andere niizliche Kenntnisse, die entweder bei der Philoso- 
phic zum Grunde mit gelegt werden sollen, oder die ihr 
zur Grosse gereichen, ia ohne welche ein Mensch nie recht 
brauchbar sein wiirde, verabsaumen wollte. Philosophic 
ist ia an und fur sich selbst nicht zureichend, die Dinge 30 
in der Welt, wozu wir erzogen werden, zu verrichten. 

Ferner, wenn man sagt, friih miisse die Philosophic stu- 
diret werden; so verstehts sich von selbst, daB nicht die 
Zeit der gar zu grossen Jugend gemeinet sei, wo ein Mensch 
ganz unfahig ist, abstrakte Begriffe zu fassen und zu bilden. 
Diese Zeit und Miihe wiirde vergeblich auf die Philosophic 



SCHULRJEDEN 13 

gewendet sein. Denn, wo wollte er die Denkkraft herneh- 
men, die erst in den kiinftigen Jahren die Starke erlangt, 
die sie dazu haben muB? Woher das Anhalten, die Gedult, 
einer Wahrheit lange nachzuspiiren? eine Wahrheit auf vie- 
len Seiten mit Anstrengung der Geisteskrafte zu betrach- 
ten? Und wenn er auch durch seine viele Muhe etwas davon 
begriffe, so wiirde es doch mehr schwankend und unrichtig 
als wahr und zuverlassig sein; und iiberall wiirde er auf 
Hindernisse stossen, die ihn belehrten, daB er zu fruh, ohne 

io das nothige vorausgesezt zu haben, in ihr Gebiet gekom- 
men sei. Er verstiinde ia, wenn ich seine Jugend voraus- 
sezze, die Sprache und Kunstworter in der Philosophic 
nicht. Sie hat ihre eigne Technologie, die ein Ungeubter 
so leicht nicht verstehen kan. Und, wenn er noch in den 
Sprachen ungeubt ist, so wird er viele philosophische 
Schriftsteller, die er zu seinem Anfang und Fortgang in 
der Philosophic recht gut wiirde brauchen kdnnen, entbeh- 
ren miissen. Sein Korper selbst wiirde eine so grosse An- 
strengung des Geistes nicht ertragen kofinen. Das noch 

20 zarte Gehirn wiirde nicht vermogend sein, die heftige Wir- 
kung der Seele bei diesen Arbeiten auszuhalten. Gewis er 
wiirde sich Krankheiten und Zerriittung des Korpers, die 
sich vielleicht durch sein ganzes Leben hindurch nicht wie- 
der heben liesse, zuziehen. 

Hingegen wird man diese Einwendung gegen dasienige 
Alter nicht machen konnen, in welchem dieienigen sich 
befinden, wenn wir auf die Verfassung unsers Gymnasiums 
sehen wollen, welche schon in die oberste Klasse gekom- 
men sind. Dergleichen Jiinglinge sind schon fahig, in das 

30 Gebiet der Philosophic einzutreten, zu iiberlegen, zu ver- 
gleichen, und zu schliessen. 

Um gut darinnen fortzukommen, halt' ich es fur nothig, 
daB sie so verfahren. Zuerst miissen sie sich um eine Ency- 
klopadie der Philosophic bekummern; ich meine, sie miis- 
sen Sorge tragen, daB sie die vorziiglichsten Grundsazze 
aus alien Theilen der Philosophic sich bekant machen und 



JUGENDWERKE ■ 1. ABTEILUNG 

ihrem Gedachtnisse nicht nur, sondern durch gehoriges 
Nachdenken ihrem Verstande auch einverleiben. Ohne 
dieses zu beobachten, werden sie nicht darinnen gliiklich 
fortschreiten. Zu diesem werden sie aber also gelangen, 
wenn sie erstlich die, in der Schule dazu ausgesezten Stun- 
den, mit aller Genauigkeit besuchen, und alles dasienige 
beobachten, welches erforderlich ist, wenn sie recht viel 
Nuzzen daraus schopfen wollen. Niemals miissen sie in 
dieselbe kommen, ohne sich recht fleissig zubereitet zu ha- 
ben. Ist in irgend einer Sache die Zubereitung nothig, so 10 
ist sie es in dieser. Die philosophischen Biicher sind nicht 
i miner so leicht wie ein anderes historisches geschrieben. 
Die genaue Bestimmung der Begriffe, die Ernsthaftigkeit 
der Sachen, und die Art des Vortrags, welcher nicht ieder- 
zeit bei den Philosophen so geschmukt ist, tragen alle etwas 
dazu bei, daB man sich mehr Mime geben muB, als bei 
einem andern Buche. Komt man nun unbereitet dazu, so 
rauschet das gesagte vor dem Ohre vorbei und wird nur 
halb verstanden; da hingegen eine gehorige Zubereitung 
dem Schiller dieienigen Dinge schon zum voraus bekant 20 
macht, die ihm schwer vorkommen werden, und ihm also 
die Ermahnung giebt, bei dem offentlichen Vortrage etwas 
aufmerksamer zu sein. In den offentlichen Lektionen selbst 
mufi er alle Aufmerksamkeit anwenden, theils um den zu- 
sammenhangenden Vortrag zu fassen, theils auch um etwas 
iiber dieienigen Punkte, woriiber er zweifelhaft geworden 
war, zu erfahren. Ist sie vorbei und er in seine Wohnung 
wieder zurukgekommen, so ist es ihm sehr nothig, eine 
Wiederhohlung desselben anzustellen und nicht nur in der- 
selben das durchgegangene Stiik noch einmal sich vorzu- 30 
halten, sondern auch die vorhergehenden sich noch einmal 
in das Gedachtnis zu bringen. Denn dadurch wird er fahig 
werden, das Ganze zu iibersehen und sich nicht bios einzel- 
ner Theile bewust zu sein. Wenn er auf diese Weise fort- 
fahrt, so wird er endlich sehr wol eine Encyklopadie der 
Philosophic bekommen, die er zur Grundlage in der zu- 



SCHULREDEN 1 5 

kiinftigen Zeit gebrauchen kan. Nun muB er aber auch 
sein Gemiith an gewisse philosophische Eigenschaften ge- 
wohnen; durch welche er gerade zu der Zeit, wo er es am 
wenigsten denkt, zu philosophiren im Stande sein wird. 
Er mufl sich also an eine bestandig muntere Aufmerksam- 
keit gewohnen und alles, was ihm vorkomt, gleichsam von 
neuen betrachten und es mit philosophischen Augen anse- 
hen. Des Philosophen Art ist diese, daB er in alien Dingen 
auf deutliche Begriffe, grundliche Beweise und tiichtige 

to Schliisse siehet, daB er das ausserliche, das nicht wesentliche 
absondert und nun [!] auf das Acht hat, was zunachst zu 
"der Sache gehort. Dieses muB er auch in solchen Sachen 
nachahmen, die nicht unmittelbar zu der Philosophic geho- 
ren, und [er] wird auf eine philosophische Art bei Dingen 
verfahren, die es dem Anscheine nach nicht zuzulassen 
scheinen; und dadurch immer mehr seinen Geist ausbilden. 
Selbst bei Biichern, die nur der Sprache wegen in den Schu- 
len gelesen werden, wird er dieses anwenden. Er wird nicht 
nur iiber die Sprache Regeln abstrahiren, sondern, indem 

20 er den Worten nach weiB, was da stent, bald die Grunde 
des Schriftstellers, bald die Art und Weise zu schliessen 
betrachten und sich die Sache im Zusammenhange vorstel- 
len. Oberdies muB er sich mit dem grosten Eifer bemuhen, 
unpartheiisch zu sein; sich gerne von Jedermann belehren 
lassen, immer nur auf die Grunde sehen, sich aber sehr 
hiiten, daB er nicht in den Fehler verfalle, daB er zu zeitig 
selbst Ausspriiche iiber Dinge thun will, da er doch kaum 
angefangen hat, mit philosophischen Dingen umzugehen. 
Keiner Parthei, sage ich, muB er blindlings folgen. Wahr- 

30 heit muB ihm iiber alles gehen und deswegen sich so ge- 
wohnen, daB wenn er auch etwas eine Zeitlang sich auf 
eine unrechte Art vorgestellet hatte und nun bessere 
Grunde vorkommen, die ein anders beweisen, er nicht 
hartnakkig bei seiner Meinung bleibe, sondern die Un- 
wahrheit gerne fahren lasse und dem danke, der ihm etwas 
besseres gezeigt hat. Vor dem Stolz aber muB er sich wie 



JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

vor einer Schlange hiiten. Junge Leute fallen gar leicht in 
diesen Fehler. Wenn sie etwas einmal iiberdacht haben und 
nun fiihlen, daB sie es so ziemlich gefast haben, was der 
Autor habe sagen wollen, so glauben sie auch nun mehr, 
daB nichts anders mehr moglich sei; ist es noch dazu etwas 
neues, was von dem gewohnlichen abweichender ist, so 
nehmen sie es urn so viel lieber an und erkiihnen sich als- 
denn gar leicht mit einer Dreistigkeit einen Ausspruch thun 
zu wollen. Hiermit machen sie es eben so, als wie ein iunger 
Mensch, der auf ein Handwerk gegeben wird. Er ist noch 10 
in der Lehre begriffen und sollte weiter nichts thun als daB 
er fleissig acht hatte und zusahe, und merkte, was ihm sein 
Lehrmeister vorsagte: allein er fangt schon selbst an, die 
Sache besser machen zu wollen, ehe er noch weiB, welches 
nur die Theile sind, die er noch zu lernen hat. So lacherlich 
und schadlich dieses ist, eben so verderblich ist es auch 
in der Philosophie. Ich will nun aber annehmen, er sei so- 
weit gekommen, daB er die vorziiglichsten Grundsazze ge- 
fast habe, so kan er allerdings sodann seine Kenntnis durch 
das Lesen zu erweitern suchen. Hier aber ist wieder nothig, 20 
daB er vorsichtig verfahre und meist solche Schriften lese, 
die nicht einzelne Materien behandeln, sondern immer 
noch das Ganze, obgleich etwas vollstandiger, vortragen. 
Denn so ist es glaublich, daB er den meisten Nuzzen aus 
seinem Studiren ziehen werde. Last er sich aber auf einzelne 
Materien ein, so thut er nichts anders als der, welcher grie- 
chisch lernen will, und zwar die Deklinationen und Kon- 
iugationen gefast hat, auch einige Verse vielleicht aus dem 
N. T. exponiren kan, aber nun schon anfangt, die Vari- 
anten in den alten Autoren zu sammlen und zu beurtheilen. 30 
Unter dieser Beschaftigung wird wahrscheinlich seine Zeit 
auf Schulen verstreichen. Sollte er aber auch dieses noch 
zu Ende bringen, dann mag er sich an grossere Werke wa- 
gen und dann die Akademie zur Erweiterung seiner Ein- 
sichten dazu nehmen. Mich diinkt, es sei nicht mehr zu 
zweifeln, daB ein iunger Mensch, der so verfahrt, die Philo- 



SCHULREDEN 1 7 

sophie nicht auf die unrechte Art treibe, und wenn also 
dieses friihzeitig geschieht, daB er darauf gliiklicher in sei- 
nem Studiren fortkommen werde. 

Dies wird auch, wie ich glaube, nicht schwer zu beweisen Then n. 
sein. Seine Denkkrafte werden durch die Philosophie sehr 
geiibt und verstarkt. DaB die Philosophie die Krafte der 
Seele bilde und verfeinere, wird Niemand laugnen konnen. 
Die meisten, in der Philosophie vorkommenden, Materien 
wollen uberdacht und iiberlegt sein. Derienige nun, der 

io sich mit derselbigen beschaftigt, muB nothwendig alle 
Krafte seines Geistes anwenden; und mannigmal solches 
Nachdenken anwenden, daB der Geist die Schranken fuh- 
let, iiber die er nicht hinaus kan. Durch diese Anstrengung 
miissen die Seelenkrafte nach den psychologischen Gesez- 
zen erhohet werden. Denn iede Ausserung einer Kraft der 
Seele in der Hervorbringung einer Vorstellung macht diese 
Kraft zu neuen Ausserungen geschikt, ia geschikter, als 
sie vorher war. Eben so wie, wenn ein Korper, der einen 
Stos oder Schlag bekommen hat und dadurch zur Bewe- 

20 gung gebracht worden ist, noch geschwinder sich bewegt, 
wenn er auf seinem Weg noch einen Schlag dazu bekommt. 
Weil nun die Gabe, etwas leicht zu begreifen, das vorziig- 
lichste bei der Erlernung der Wissenschaften ausmacht, so 
muB ganz deutlich folgen, daB der, der hierinnen seine 
Krafte schon geiibt hat, am besten in deren Erlernung fort- 
kommen musse. 

Derienige, so sich fruh mit philosophischen Wissen- 
schaften abgiebt, lernt eine gewisse Gedult und Anhalt- 
samkeit, eine und ebendieselbe Sache auf verschicdnen 

30 Seiten zu betrachten. Wer z.B. eine Sache definiren will, 
auf wie vielen Seiten muB er sie nicht betrachten? Das ihr 
eigne muB er von dem unterscheiden, was sie mit andern 
Dingen gemein hat. Welche Vorsicht muB er anwenden, 
damit er seine Definition weder zu eng mache, das heist, 
Hauptmerkmale der Sache vergesse, noch zu weit, d. i. 
allgemeine Merkmale, die auch andern Dingen zukom- 



JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

men, angebe. Diese Gedult muB nun aber in Erlernung 
anderer Wissenschaften auf vielfache Weise niizzen. Tau- 
send Dinge sind in den Wissenschaften, die nicht anders 
als mit Gedult, Miine und Aufmerksamkeit aus ihrer Dun- 
kelheit hervorgegraben werden konnen und wenn es auch 
nicht Dunkelheit ist, aus der sie in das Licht hervorgegraben 
sein wollen, so erfordern schon dieienigen Theile, welche 
als ausgemacht angenommen werden, Gedult, Miine und 
Aufmerksamkeit, wenn man namlich selbst iiberzeugt sein 
wilL Hierzu wird sich Niemand aber besser schikken, als 10 
derienige, der sich an solche Anhaltsamkeit im Denken 
schon durch friihes Philosophiren gewohnt hat. Also lasset 
sich aus diesen angegebnen Stiikken leicht der Schlus ma- 
chen, daB die Philosophic dem Jiingling sehr niizlich sei. 
- Noch mehr. - Durch dieselbe bekomt er bald eine gros- 
sere Fertigkeit, das Wahre von dem Falschen zu unterschei- 
den. Hierdurch wird endlich eine Fertigkeit und Ange- 
wohnung entstehen, in alien Dingen auf den Grund zu 
gehen und sich nur dann zu beruhigen, wenn die Beweisse 
klar vor Augen liegen. Nicht alles, was er horet oder lieset, 20 
wird er ungepriift annehmen: ich sezze aber voraus, wenn 
ers Vermogen zum Prufen sich schon erworben hat. Wie 
sicher wird er nicht auf dem Pfade der Wahrheit, von wah- 
rer Philosophic geleitet, einhergehen? Er wird leicht die 
zwei Irrwege des menschlichen Verstandes vermeiden, 
namlich den Aberglauben und die Anhanglichkeit an ge- 
wisse angenommene Meinungen, und den Unglauben oder 
das Zweifeln an alien Dingen. Auf solche Weise muB er 
nothwendig gliiklich in seinem Studiren durch die Philoso- 
phic werden. 30 

Auch darinnen wird er in seinen Studien auf Schulen 
fortkommen. Die Schriftsteller, die man daselbst liest, wird 
er, sie mogen aus einer Klasse sein, aus welcher sie wollen, 
ohne Muhe verstehen, das Ganze eines Buchs leicht fassen, 
und sich einen Begrif von des Schriftstellers Absicht, Plan 
und Giite machen konnen. Ein solcher, der die Philosophic 



SCHULREDEN 19 

wenig kennt, wird audi philosophische Schriften eines Ci- 
cero's, Plato's und Aristoteles, davon doch hie und da Bii- 
cher erklart werden, nicht verstehen. Wenn ein Studirender 
nicht bei den blossen Worten dieser Schriftsteller stehen 
bleiben und zufrieden sein will, wenn er nur einen durftigen 
Wortverstand herausgebracht hat; so ist fur ihn kein frucht- 
bareres Mittel sie zu verstehen, als die Kenntnis der Philo- 
sophic Dieselbe wird ihm auch in andern Schularbeiten 
sehr behulflich sein. In den Thematen, die [er] ausarbeiten 

io mufi, wird er sich einer grossern Bestimmtheit, wenn ich 
so sagen darf, und Auswahl bedienen. Er wird leicht einse- 
hen, ob etwas zur Sache gehore oder nicht - watir sei oder 
nicht. Der Ausdruk wird der Sache angemessen sein. Diese 
und viele andere Vortheile hat der, so die Philosophic bald 
treibt, zu geniessen. Aber sollte sich nicht dieser Nuzzen 
vergrossern, wenn er sich auf hohere Schulen begiebt? Al- 
lerdings. - In alien Wissenschaften ist er schon durch sie 
urn einen Schritt weiter gekommen, weil sie mit alien zu- 
sammenhangt. Wenn wir einige durchgehen und genauer 

20 betrachten wollen, so wird sich leicht ergeben, dafi sie in 
alien Wissenschaften sehr nuzlich sei. 

Der Theolog, der sich schon friih der Philosophic ge- 
widmet hat, kan iiber alle Gegenstande der Theologie 
leichter nachdenken, mit Genauigkeit und Scharfe nach- 
denken. Er wird das Bibelbuch leichter erklaren und den 
Sinn gewisser Schriftstellen mit Hiilfe gesunder Exegese 
bestimmen konnen. Was das theologische System anbe- 
langt, so wird er nicht sogleich weder dem Orthodoxen 
noch Heterodoxen Beifall geben, wo er nicht die Grunde 

30 beider iiberlegt und abgewogen hat. Er wird nicht zu viel 
verbessern und reformiren wollen, noch auch alles anneh- 
men, was die Alten behauptet haben, noch glauben, daB 
man, bios weil es andre auch so gesagt und vorgetragen 
haben, in der Theologie kein Jota verandern und das Sy- 
stem immer in dem Zustande, wo es vor ioo Jahren war, 
bleiben musse. - Bei einigen Theilen derselben ist Philoso- 



JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

phie nothwendig. Wer wollte sich mit der natiirlichen Got- 
tesgelahr[t]heit abgeben, ohne Philosophic zu verstehen. 
Einen Deisten oder Zweifler wird niemand ohne Philoso- 
phic widerlegen und sein Glaubenssystem wird niemand 
wider die kiinstlichen und philosophischen Einwiirfe der 
Gegner besser retten und nachdruklicher vertheidigen kon- 
nen, als ein Philosoph. Und so ist, nach meinem Urtheile, 
schon aus diesen wenigen klar, daB derienige, der sie bald 
zu treiben anfangt, einen sehr grossen Fortgang in der 
Theologie haben werde. 10 

Die Philosophie ist auch dem niizlich, der sich der Juris- 
prudenz widmet. Der philosophische Rechtsgelehrte wird 
akkurater das Recht sprechen, die verwirrtesten Falle gliik- 
licher auseinander sezzen, die Kunstgriffe der Bosheit leich- 
ter entdekken, die Wege sie in ihrem Laufe aufzuhalten 
mehr wissen, und die Unschuld zu vertheidigen und zu 
retten, weit tuchtiger sein. Gewisse Theile der Philosophie 
sind auch in der Rechtsgelehrsamkeit enthalten. Ein sehr 
wichtiger Theil fur den Rechtsgelehrten ist das Recht der 
Natur. Je aufgeklarter darinnen seine Einsichten sind, desto 20 
mehr wird auch von dieser Seite die Gerechtigkeit von ihm 
gehandhabet werden. Dieses Naturrecht ist aber ein Theil 
der Philosophie und wer diese treibt, hat schon einen Theil 
der Rechtsgelehrsamkeit gleichsam voraus erlernet oder 
geendigt. 

Wer sich mit der Arzneikunde beschaftigt, der wird mit 
Hulfe der Philosophie besser fortkommen. Der Philosoph 
breitet sich schon iiber den menschlichen Korper und des- 
sen Kenntnis aus; er redet von dem Baue desselben und 
den Ursachen des Lebens, dem Triebwerke, wodurch er 30 
erhalten wird, den Ursachen (der Absonderung) des wech- 
selseitigen Einflusses des Korpers auf die Seele und der 
Seele auf den Korper. Eben diese Lehren kommen wieder 
in der Arzneigelehrsamkeit vor. Also hat einer schon einen 
Theil von dieser erlernt, wenn er iene getrieben hat. Es 
sind ferner Theile derselben, die ganz philosophisch behan- 



SCHULREDEN 21 

delt sein wollen, und die em ewiges Gewebe von unniizzen 
Hypothesen und ungegriindeten Meinungen blieben, wenn 
sie nicht durch die Einsicht der Philosophic entwikkelt 
wiirden. Die Physiologie gehort hieher. Derienige Arzt 
wird endlich die Krankheiten gluklicher heilen, weniger 
Fehlschliisse in Entdekkung der Ursachen der Krankheiten 
machen und scharfsinniger die Mittel, sie zu heilen, aufzu- 
suchen und anzuwenden wissen, dessen Kopf durch Philo- 
sophic licht geworden ist. So wenig dieses ist, welches die- 

io sen Gegenstand angehet, so wahr, glaube ich, ist es, daB, 
wer bald Philosophise bald auch cingutcr Arzt werdcn wird. 
Und sollte nicht derienige, der sich den schonen Wissen- 
schaften und Kiinsten widmet, auch durch die Erlernung 
der Philosophic sich eine grosse Erleichterung und Hulfe 
verschaffen? Ja wol! - Wer das Eigentliche der schonen 
Wissenschaften ausdriikken und den Zwek derselben nicht 
verfehlen will, der wirds gewis mit Htilfe der Philosophic 
leicht thun konnen. Das Schone, das Reizende, das Naive 
und Proporzionirtekan gewis der, der Gefuhl und Philoso- 

20 phie hat, am besten treffen. Und eine Theorie von diesen 
geben? - kan niemand als der Philosoph. Dies beweisen 
die Schriftsteller, die diese Gegenstande bearbeitet haben 
- ein Longin, Home, Sulzer, Moses Mendelssohn und noch 
m. d. — Aus diesen wenigen lasset sich also schon einse- 
hen, daB die Philosophic, wo nicht in alien, doch in den 
meisten Wissenschaften nothwendig und niizlich sei, und 
daB derienige Studirende sich viele Zeit ersparen und in 
andern Wissenschaften sehr viel gluklicher sein muB, der 
sich bald mit philosophischen Materien abgeben wird. 

30 Ein so grosser Nuzzen sollte demnach ieden Jiingling Konkius. 
reizen und die Philosophic ihm wichtig machen. Wer be- 
denket, welcheunerschopfliche Quelle des Vergntigens die 
Philosophic dem Wahrheitsfreund reicht - wer bedenket, 
wie vollkommen er sich durch sie macht - wie alle Krafte 
des Geistes durch sie erhoht, veredelt und verfeinert wer- 
den, um wie viel Schritte er durch sie schon weiter ist, 



JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

wenn er sich andern Wissenschaften nahert - wenn er be- 
denket, wie viel hurtiger er dann in denselben fortgehen 

konne wer dieses bedenket, und dennoch sie fliehen 

wiirde, der miiste sich den Vorwurf machen, sehr unweise 
zu handeln. Und gesezt, es gabe einen, dem das Erkennen 
der Wahrheit kein Ergozzen verschafte, in dessen ubereifi- 
tem Herzen kein Funke Wahrheitsliebe mehr glimmte - 
gesezt, er ware gegen dieses alles unempfindlich; so wird 
ihn doch sein eigner Vortheil und seine Eigenliebe bewe- 
gen ? die Philosophic, die verehrungswiirdigste der Wissen- 
schaften, zu treiben. 



II. 

[Uber den Nutzen und Schaden der Erfindung 

neuer wahrheiten] 

Nach Stand und Wiirden aller setts hochst- hack- und wertge- 
schazte Anwesende! 

Der Mensch strebt unaufhorlich, die Ideensphare seines 
Geistes zu erweitern; alle seine Begierden und Leidenschaf- 
ten sind Ausserungen dieses Grundtriebs; iede Unterneh- 
mung ist eine Art von Aufgabe, deren Auflosung ihn inter- 20 
essirt; und alle verschiedne Lebensarten sind eben so viele 
Wissenschaften, die sich endlich all' auf die Erkent[ni]sfa- 
higkeit seines Geistes beziehen. Dies ist der Trieb nach Vol- 
kommenheit, der unaufhorlich den Menschen zur Thatig- 
keit anspornt. Wenn nun dieser Geist bios nach 
Erweiterung und Entwiklung seiner Ideen strebt; konte 
wol eine Modifikazion dieses Triebes naturlicher sein, als 
die Begierde nach Neuem? - In Jedem aussert sich in gewis- 
sein Grade diese Begierde; und man hat wahrgenommen, 
daB ie mehr ein Mensch nach hoherer Volkommenheit 30 
strebt, ie mehr er umfast, ie mehr er Genie ist: desto mehr 



SCHULREDEN 23 

liebt er's Neue. Jede Begierde und Neigung ist in ihren 
Schranken etwas Gutes und Geschenk der Gotheit. Eben 
so auch diese Begierde, Aber wenn sie ihre Granzen iiber- 
schreiten und die Damme, die Vernunft und Religion sez- 
zen, durchbrechen: so sturzt iede Neigung den Menschen 
in's Verderben. Und sind nicht auch die Verwiistungen 
der Neuheitsbegierde deutlich? - Es ist also, vorziiglich 
in unsern Tagen, nothig, da man so viel vom Alten und 
Neuen spricht, da die Granzen, in welchen diese Begierde 

10 nach Neuem schadlich oder nuzlich ist, so fein gezeichnet 
sind - es ist nothig, sag' ich, sich hier die Schranken zu 
bestimmen, zwischen welchen diese Begierde niizt oder 
schadet. Meine Absicht ist's also iezt, darzuthun, daB nichts 
niizlicher, edler sei, als neue Wahrheiten zu erfinden; dap aber 
auch dieses eben so schadlich sei, wenn man die Granzen tiber- 
schreitet. 

Jedochwas wag' ich? dies ist eine Materie, die weit mehr Caput. Bene- 
Stof in sich enthalt, als daB sie diese geringe Rede fassen 
konte - eine Materie, die Kraft' erfordert, welche meine 

20 weit iibersteigen. Ich kan also nicht fortfahren, bevor ich 
mir nicht bei Denenselben, h.h, u.w. Anwesende! die Nach- 
sicht erbeten habe, womit sie den Anfanger beurtheilen, 
und die giitige Aufmerksamkeit, der Dieselben meine Vor- 
ganger wiirdigten. 

Nichts ist niizlicher und edler als die Erfindung neuer Abhandiung 
Wahrheiten - dieser Saz findet Widerspruch, aber er ist 
leicht zu beweisen. Der Mensch ist ein eingeschranktes 
Wesen, das seine Fahigkeiten stufenweis' entwikkelt, und 
die Volkommenheiten seines Daseins almahlig erreicht. 

30-Denn Gott nur ist alles, was er sein kan, auf einmal. Je 
mehr nun der Sterbliche fortschreitet, desto mehr erweitert 
sich sein Gesichtskreis; desto mehr Ideen umfast er, desto 
besser kan er ihre Verbindungen wahrnehmen und durch 
Vergleichungen und Schliisse Wahrheiten erfinden. Noth- 
wendiger Weise mus hernach der, der mehr kultivirt, mehr 
denkendist, Wahrheiten erfinden, die ienem, der lange vor 



24 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

ihm lebte, der weniger gedacht hatte, neu und unglaublich 
scheinen miisten, wenn er sie horte. Und ist alsdann diese 
Erfindung nicht gut, nicht edel? Oder sollen wir sie gar 
verwerfen, weil sie neu ist? Was hat denn dieses Neue fur 
ein Kenzeichen des Verwerflichen, des Falschen, an sich? 
keines. Ausser daB tausend Menschen nicht den Verstand, 
den Tiefsin gehabt haben, um dahin zu dringen, wie dieser 

- vielleicht auch nicht gekont haben. Gemeiniglich erfindet 
der grosse Geist, das Genie das Neue; iiber welches der 
Dumkopf schreit und das der Kluge untersucht. Jede Erfin- 10 
dung neuer Wahrheiten, die Griinde fur sich haben, mus 
uns demuthigen, zeigt unsre Eingeschranktheit an, unsern 
stumpfen Blik, der nicht scharfsichtig genug war, um 
schon langst eben dieses zu erfinden. Denn wenn z. B. ein 
Neuton eine ganz neue Theorie der Schwer' erfindet, so 
erfindet er iezt nicht die Sache selbst - denn vielleicht zog 
schon Millionen Jahre vor ihm ein Weltkorper den andern 
an - er legt auch nichts Neues hinein, sondern er entwikkelt 
nur unsre dunkeln Ideen davon, er macht nur das Unsicht- 
bare unsrer Vorstellungen sichtbar, er verbindet nur die 20 
Sazze, die vor uns lange da lagen, und macht die Konklu- 
sion daraus. Und eben dies ist's, was uns die Erfindung 
neuer Wahrheiten so schazbar macht. Alle Wissenschaften 
entstanden durch sie - Eine iede Wissenschaft war bei ihrem 
Ursprung' eine diirftige Samlung hie und da zusammen- 
hang[end]er Ideen, aber liberal waren Liikken, waren fal- 
sche Sazze. Diese Samlung kam auf die Nachkommen, die 
ein System d'raus machten, und liberal die Liikken auch 
durch falsche Sazze zu verbessern suchten. Bald nun kdmt 
ein Tieferdenkender, reist hie und da nieder - verwirft die 30 
falschen Sazze, baut auch wieder auf. Dieses wird dann 
weiter fortgepflanzt auf andre Nachkommen, und immer 
mehr wird's verbessert. Dieses ist der Gang, durch welchen 
alle Wissenschaften ein[i]gc Volkommenheit erlangt haben 

- anders kan der menschliche Geist nicht. Was sollen wir 
aber nun von dem halten, der alle diese Neuerungen ver- 



SCHULREDEN 25 

wirft, der glaubt, das ganze System, das er von seinen Vor- 
eltern empfieng, sei unverlezlich, unwiderleglich? Wenn 
nun alle so gedacht hatten, waren wir iezt noch auf dem 
Punkt, wo Noah und seine Sohn' in den Wissenschaften 
standen - wenn man so dachte, wiirde nicht aller Eifer 
im Menschen nach Wahrheit erstikt werden? und der Fort- 
schrit der Wissenschaften? dieser war' hin, ewig verloren. 
Man braucht nur ein wenig mit scharfen Blikken die Ge- 
schichte des Menschen, seiner Kultur, oder Barbarei, zu 

io betrachten, um wahrzunehmen, wie wenig iede Wissen- 
schaft bei ihrem Anfange war und sein konte, wie sie erst 
nur stufenweis' erhohet wurde, und was die Erfindung 
neuer Wahrheiten zu ihrem Wachsthume beigetragen hat! 
Wir wollen, um dies deutlicher zu erweisen, einige Wissen- 
schaften betrachten, und sehen, wie sehr sie Neuerungen 
vervolkomt haben. 

Unter die Wissenschaften, in welchen man sich gegen 
die Neuerungen am meisten sezt oder die man gar derselben 
unf ahig halt , kan man wol die Theologie rechnen . Nie wird 

20 man mehr d 'ruber schreien, als wenn in der Theologie eine 
alte Lehre verandert oder eine neue hineingebracht werden 
sol: und niemand kan sich mehr verhast machen, als eben 
der, der solche Neuerungen vorbringt. In gewissem Ver- 
stande kan man auch Recht dazu haben: wenn man namlich 
Religion und Theologie als Ding' einerlei Art betrachtet. 
Aberich mus erst sagen, daB zwischen Religion und Theo- 
logie ein Unterschied zu sein scheint. Diese besteht aus 
einem kiinstlich geordneten Vortrage der Religionslehren 
und ist besonders dem Lehrer nothig. Jene ist der Unter- 

30 richt, der iedem Menschen zur Gottesverehrung nothig ist, 
und besteht aus einem simpeln und praktischen Inbegrif 
der Religionslehren. Theologie hangt eben nicht so genau 
mit der Religion zusammen, sondern steht nur in so fern 
mit ihr [in] Verbindung, wiefern sie eine Anstalt genant 
werden kan, die Bildung der Lehrer der Religion zu er- 
leichtern. Die christliche Religion hat Jahrhundert' ohne 



26 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

Theologie bestanden - recht wol bestanden. 1st nun Theo- 
logie eine Wissenschaft, so ist sie Neuerungen fahig; und 
sie sind in ihr eben so nothig und nuzlich als in irgend 
einer. Oder soke diese Wissenschaft allein wenigstens in 
ihren Sazzen und Lehren des Weiterschreitens, oder, wie 
ieder Schrit vorwarts neu ist, der Neuerung unfahig sein? 
Oder ist sie nicht vielmehr, so lange Menschen sind, merk- 
lich weiter fortgeschritten? Stelle dir den Monch, der ein 
Jahrhundert vor Luther'n lebte, [vor] urid las ihn sein Reli- 
gionssystem vortragen, wie schwankend! wie widerspre- 10 
chend aller gesunden Vernunft und der Bibel! - Und dann 
einen Monch aus dem vergangnen Jahrzehend, und verhore 
sie- welcher auffallende Unterschied! Jener wird Sazze fur 
Kezzerei ausgeben, die dieser mit aller Zuversicht, ohne 
Bedenken annimt; iener wird ieden Redlichen, der seine 
Religion nicht hat, in die unterste Holle verdammen; dieser 
wird vom Schiksal des Heiden nach dem Tode mit Zuruk- 
haltung sprechen — ist das nicht Fortschrit der Theologie? 
Noch mehr mus dieses erhellen, wenn man einen prote- 
stantischen Priester gleich nach der Reformazion gegen ei- 20 
nen aus unsern Zeiten stelt. Jener wird mit aller Heftigkeit 
in Schriftstellen Beweise fur diese oder iene Lehre finden, 
wo dieser, durch bessere Kritik und Exegese belehrt, nichts 
sieht - iener intoleranter, dieser toleranter handeln. Wer 
wil hier den Fortschrit der Theologie, den grossen Fort- 
schrit, der in wenig Jahren geschah, verkennen? Und ist . 
sie dieses iezt nicht mehr fahig? Sind die Quellen, woraus 
der Theolog schopft, versiegt und ausgetroknet? Exegese 
- wer wird wol behaupten, daB diese zu Luther's Zeiten 
eben so bluhte wie iezt? Hatte man dazumals alle die Hulfs- 30 
mittel, die dazu erfordert werden - Kentnis von den Ge- 
brauchen der Morgenlander, des Genius der griechischen 
und hebraischen Sprache im A. und N. T.? Lebte zu iener 
Zeit ein Michaelis, Tychsen Semler, Teller, Griesbach? 
Und eben diese Manner gestehen aufrichtig, dafl noch vie- 
les dunkel ist - noch tausend Stellen mehr Berichtigung 



SCHULREDEN 27 

brauchen, die dem kiinftigen Kritiker bleiben - noch Stel- 
len, die sogar wichtige Artikel betreffen. Die zweite 
Quelle, die theologische Kentnis zu befordern, ist die Phi- 
losophic. O! wer wolt' es wagen, von dieser zu behaupten, 
sie sei, auch in dem, was die Theologie betrift, vollig zu 
ihrer Volkommenheit gebracht? Nie wird der menschliche 
Verstand die Tiefen der Philosophic, besonders wo sie mit 
der Theologie zusammengranzet, durchschauen konnen. 
Also die zwei Quellen fur den Theologen sind noch nicht 

to ausgeschopft, werden's auch so bald nicht werden. Sind 
also nicht die Neuerungen fiir die Theologie wichtig, no- 
thig und niizlich - so niizlich als es irgend bei einer Wissen- 
schaft sein kan? »Ja! antwortet man mir yielleicht, man 
soke doch nichts andern; denn wtirde wol Gott so viele 
Christen etliche Jahrhunderte lang in Irthum' haben hinge- 
hen lassen?« Einer der schwachsten Einwiirfe - der all' Un- 
tersuchung des Wahren verbant, der zuviel beweist. Konte 
nicht der Doktor Ek in seiner Disputazion eben dieses zu 
Luthcr'n sagcn, und mit Rechtc sagen? Hatte man nicht 

20 Jahrhunderte durch an ein Fegfeuer, einen Ablas, eine 
Messe und tausend andere Ungereimtheiten, die wirklich 
das Wesentliche der Religion betreffen, geglaubt? - Wenn 
die Menschen die Wahrheit nicht einsehen - und wenn's 
fur sie iezt gerade nicht zutraglich ware — wird Gott wol . 
da Wunder thun? Uberlast er nicht das der almahligen Auf- 
klarung des Menschen? Und wenn der Mensch durch die 
Lage, die Umstande, in denen er sich befand, nicht anders 
kont' und irren muste, wird er's zurechnen? — Also sind 
die Neuerungen nicht ubcrfliissig. Sie haben iiberdas noch 

30 einen zufalligen Nuzzen, der sich vorzuglich in unsern Ta- 
gen aussert. Eben die Neuerungen, die falsch waren, die 
Einwiirfe gegen die Religion haben sie nicht wankend ge- 
macht, noch sie umgestossen - nein, man hat sie widerlegt; 
das christliche Religionssystem fester, bestimter gemacht, 
und es vor den Blossen bewahrt, die's den Freigeistern bios 
stelten. All die Voltaire's, die Hume's, die Lamettrie's, und 



28 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

ihre ganze Reih' haben Anlas zu den vortreflichen Verthei- 
digungen der Religion von einem Jerusalem, Nosselt, Les 
u.s.w. gegeben. Welche Freude wiirde den edlen Luther 
erfiillen, wenn er iene Vertheid[ig]ungen lase, und das Ge- 
baude der Religion auf den Stiizzen fast aller Wissenschaf- 
ten ruhen sahe? Wiird' er nicht Gott danken, der in seiner 
besten Welt iedes Bose zum Vortheile des Ganzen ausschla- 
gen last? Getrost kan der Theologe mehrere Einwiirf er- 
warten: denn auch ein Lessing'scher Fragmentist hat seinen 
Widerleger gefunden. Aus diesem scheint mir der Nuzzen 10 
der Neuerungen in der Theologie unwidersprechlich zu 
erhellen. 

Eben dieses findet bei der Jurisprudenz und der Heil- 
kunde stat. Vorzuglich bei der leztern. Denn sie griindet 
sich meistens auf Erfahrungen - oder sol's wenigstens -; 
die Erfahrung ist nun nicht immer dieselbe. Sie erscheint 
in iedem Klima, ieder Zeit, iedem Volk, ia iedem Indivi- 
duum anders. Mussen dann nicht auch die Systeme, die 
auf Erfahrungen gebaut werden, veranderlich, folglich der 
Neuerung fahig sein? In dieser zeigt sich auch die Uner- 20 
griindlichkeit des Schopfers - hier sind vorzuglich dunkle, 
schwere Materien, wie z.B. die Lehre von den Nerven 
ist. Solten nicht diese Schwierigkeiten die Moglichkeit zu 
Neuerungen voraussezzen? Und ihr Fortschrit beweist 
auch, daB [man] neue Meinungen erfindet und annimt. 

Und die Philosophic? Bei dieser hat noch Niemand ge- 
zweifelt, ob sie auch der Neuerungen fahig ware - denn 
diese ist's vorzuglich, die dem Menschen seine Einge- 
schranktheit zu fiihlen giebt. Man darf auch rvur ein wenig 
mit der philosophischen Geschichte bekant sein, urn so- 30 
gleich zu sehen, wie gering ihr Anfang war, wie viel neue 
Meinungen zu ihrem Wachsthume beitrugen - aber wie 
viel, wie sehr viel immer daran zu verbessern ist. In Riik- 
sicht auf gewisse Theile derselben konte man sie ein Land 
der Hypothesen nennen. Hier wird eine neue Lehre vorge- 
bracht, da. wird sie widerlegt. Aber immer gewint sie dabei 



SCHULREDEN 29 

- immer wird untersucht, und doch endlich die Wahrheit, 
die zwischen beiden Extremen liegt, in der Mitte gefunden. 
Unsre Tage beweisen's satsam, wie sehr sie neue Meinun- 
gen vervolkomthaben. Die Erfahrung bestatigt, daB iedes 
Genie, das auf stent, an der Philosophie andert und sich 
ein neues System baut. Und dieses 1st so niizlich fur die 
Philosophie, daB sie ohne dieses eine der geringsten Wis- 
senschaften sein wiirde. All ein sind nun Neu'rungen ge- 
nug? ist sie derselben iezt nicht mehr fahig? kan sein - Allein 

io zu Kartesius Zeiten, da dieser sein System verbreitete, 
glaubte man nicht, daB ein zweiter kommen und diesen 
verbessern konte - aber sieh', es waren schon mehrere da! 
und noch mehrere werden koni[m]en. Wie mancher Lehr- 
saz, der iezt ungezweifelt angenommen wird, wird wan- 
kend gemacht werden, wie manches Land im Reiche der 
Wissenschaften, das der Philosoph iezt fur ein Feuerland, 
mit steilen Felsen bedekt, halt, wird die Nachwelt urbar 
machen und tausend neue Meinungen hervor bringen! Nie 
wird dies aufhoren; es muste denn der Mensch Gott, oder 

20 die Anzahl der Wahrheiten endlich werden. Aus diesem 
wenigen kan man sehen, wie niizlich und nothig die Neue- 
rungen in alien Wissenschaften sind! Wenn man nur so weit 
gienge, so wiirde die Granze, zwischen welcher Neuerun- 
gen niizlich, nie uberschritten werden - allein man geht 
weiter; anstat's Altezu verbessern, hinzuzusezzen, verwirft 
man's ganz, und macht sich's bios zur Absicht, dieses Alte 
zu verdrangen und Neues an seine Stelle zu sezzen. Dies 
ist der Punkt, wo die Begierde nach Neuem aufhort niizlich 
zu sein, und anfangt zu schaden. Dieses wird leicht zu be- 

30 weisen sein. 

Der, der's im Neuen iibertreibt, verfehlt ganzlich des iiTheii. 
Endzwekkes, warum ihm Gott den Verstand gegeben hat, 
warum er untersucht. Mit der Gabe zu urtheilen, hat Gott 
nur den Menschen beschenkt: die Thier' haben's nicht. 
Dieses ist der Grund des ewigen Fortwachsens des Men- 
schen. Sol er nun nicht diese Gabe des Schopfers so an wen- 



30 JXJGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

den, wie's sein Endzwek ist? Und was wil dieser? unsre 
Gliikseligkeit - diese besteht in Tugend, und Wahrheit; 
iene fur's Herz, diese fiir den Verstand, von dem wir iezt 
reden. Hat nun nicht der, der's in Neuem ubertreibt, seinen 
Verstand zum Spot? Er behauptet Wahrheit nicht, weil sie 
Wahrheit ist, sondern weil sie neu ist; und verwirft's Alte, 
weil's alt ist. Jedes Neue ist ihm wahr, iedes Alte falsch. 
Wird dieser wol ie zur Wahrheit gelangen? Er braucht die 
rechten Mittel nicht. Wer Wahrheit suchen wil, der komme 
mit kaltem Blute, ohne Partheisucht - nehme keine Riik- 10 
sicht weder auf das, was Alte, noch was Neue gesagt haben: 
denn beide konnen irren. Wenn er vorgiebt Wahrheit zu 
untersuchen, so wagt er nicht Grund' ab: er glaubt sie 
schon. Er sucht sie nicht mehr: er hat sie schon gefunden. 
Wenn du dann mit ihm die Griinde der beiden Partheien 
abwagen wilst: so hat er schon eine Parthei ergriffen, eh' 
er die Griinde der andern kent. Er sieht bios, was das neu- 
este, was fiir ihn das angenehmste ist. Handelt dieser nicht 
hochst unbillig? Wird der wol ie die Wahrheit erlangen? 
Seine Leidenschaft fur's Neue stelt ihm das Alte unter ei- 20 
nem ganz andern Gesichtspunkt dar. Jede Leidenschaft stelt 
uns nicht das Ding vor, wie's ist, sondern wie's ihr iezt 
scheint. Zum Beweise kan die Vorstellung einer und eben- 
derselben Sache bei zweien Menschen dienen, davon den 
ei-nen die Leidenschaft blendet, und den [andern] die Ver- 
nunft fiihrt. Man weis, was Leidenschaft fiir Wirkung auf 
den Verstand hat und wie leicht sie denselben irre fiihrt. 
Sie verandert, verfalscht, verdirbt, oder vergiitet die Sa- 
chen, der Verstand folgt dieser Empfindung; denn wer 
wird wol seine Empfindung fiir falsch halten? Mus nicht 30 
hernach der Verstand unrichtig urtheilen - so urtheilen, 
dan* sein Urtheil ihm so lange wahr ist, als eben diese Ge- 
miithsverfassung, diese Leidenschaft dauert? Der Verstand 
betrachtet die Sache, ohne Ruksicht zu nehmen, wie sie 
auf ihn wirken mochte: die Leidenschaft betrachtet nicht 
mehr, sie fuhlt schon die Wirkung - den Verstand interes- 



SCHULREDEN 3 1 

sirt die Beschaffenheit, die Leidenschaft die Wirkung der 
Sache. Und diese soke sich mit einschleichen in die Unter- 
suchung der Wahrheiten? Und ist's nicht bei dem, der bios 
das Neue affektirt, eben so? Er wird in einem immerwah- 
renden Wirbel von Meinungen herumgetrieben. Heute 
komt eine neue Meinung zum Vorschein. Er nimt sie an: 
denn sie ist neu, unerhort. Morgen sagt ein andrer das Ge- 
gentheil - sagt aber auch 'was Neues. Nun wem sol er 
glauben? dem, der am lezten geredet hat, und der doch 

io vielleicht der neueste ist? - So komt er nie zur Wahrheit: 
denn nach seinem Tode werden noch tausend neue Sachen 
hervorgebracht werden. Oder dem ersten? aus Griinden, 
oder nicht? - Ist's erste, so mus er auch Altes glauben: 
denn dieses hat auch viel Griinde fur sich. Ist's lezte; so 
betet er nach. Und von diesem lezten mus ich sagen, daB 
er vorziiglich des Tadels wiirdig ist - denn denienigen, 
der ganz Neuling, aber's bios aus Griinden ist, kan man 
mit Recht nicht tadeln - Dieser nun, der's Neue nachbetet, 
was hat der vor dem voraus, der's Alte nachbetet? - Nichts. 

20 Nur die Form ist verschieden. Dieses ist alt, ienes neu. 
Und hattc man's Neue nicht erfunden, so wiird' er eben 
so zuversichtiglich das Alte nachsagen, wie iezt das Neue. 
Bei diesem lezten trift's vorziiglich ein, daB er andre ver- 
achtet, daB er sich selbst genug ist, daB er sich iiber den 
Altglaubigen, wer weis wie weit erhoben fiihlt und ieden 
seinen Ausspruch fiir unwiderlegbar halt. Er diinkt sich 
schon eben so viel, wie iene Manner, der en Meinung er 
bestreitet: allein er bestreitet sie nicht, sondern andre 
thun's, er sagt's nur nach. Alle diese Griinde zeigen deutlich 

30 genug, daB ein solcher sich selbst den grosten Schaden thut 
- nie das Ziel seiner Wunsch' erreicht. Aber eben diese 
Griinde sind zu algemein, von zu vielen Wissenschaften 
abgezogen, als daB sie fiir iede gleich passend sein solten. 
Wir wollen sie also in Riiksicht auf etliche der vorziaglich- 
sten Wissenschaften betrachten. Der Neuling z.B. in der 
Theologie ist derienige, der nichts Altes annehmen wil - 



32 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

der nie Gninde sieht, wenn sie nicht fiir's Neue sind - der 
eine neue Meinung in gewissen Lehren der Theologie eben 
so unbetrachtlich ansieht, wie eine Hypothes' in der Natur- 
lehre, Chemie o. a. W. Von diesem last sich behaupten, 
daB all' der Schaden, den wir vorher angegeben haben, 
ihn in noch grosserm Grade treffe. Ein solcher verfehlt 
ganzlich des Zwekkes, warum er Theolog wird. Er unter- 
sucht nicht selbst, er glaubt auch's Alte nicht, er sieht, was 
Neues gesagt wird: und dies nimt er an. Dadurch verab- 
saumt er seine groste Pflicht, selbst zu untersuchen. - 10 

Ferner bei gewissen theologischen Materien ist's eben 
nicht gleichgultig, in Riicksicht auf die Ausiibung selbst, 
welche Meinung man annehme. Hier ist vor allem Behut- 
samkeit nothig - denn hier sind Meinungen nicht bios fur 
den Gelehrten - hier sind sie fur den Christen, den Men- 
schen. Eine Meinung in der Theologie geglaubt oder ver- 
worfen - hat den grosten Einflus auf s Leben, Hier ist auch 
Behutsamkeit nothig, in Absicht auf uns selbst. Es giebt 
gewisse Meinungen, bei den Orthodoxen und Heterodo- 
xen, die schmeicheln, und fiir gewisse Lieblingsneigungen 20 
Stuzzen sind. O Wahrheitsforscher! hier ist Aufmerksam- 
keit nothig! Wie leicht wird deine Begierde, der diese oder 
iene Meinung schmeichelt, den Verstand iibereilen, dich 
iiberreden, sie sei wahr, da sie's doch nicht ist - wie leicht 
kanst du einen Beweisgrund ubersehen, den die Leiden- 
schaft verdunkelt, einen Einwurf nicht achten, der deiner 
Neigung zuwider ist. Kan sich also der, der nicht behutsam 
verfahrt, nicht den grosten Schaden zuziehen? Ist also nicht 
der Neuling, der leichtsinnig, ohne Griinde verwirft, Ta- 
dels wiirdig? 30 

Alle Wahrheiten hier sind mehr wichtig, haben mehr 
Einflus auf unser Gluk oder Ungliik, als in andern Wissen- 
schaften. Die meisten beziehen sich auf Gott, unsern Geist, 
sein Gluk u.s.w. Sind diese nicht wichtig? Hier hast du 
mit deinem Schopfer zu thun: hier ist Ehrerbietung deine 
Pflicht und diese vernachlassigt der, der bios Neues 



SCHULREDEN 33 

liebt, verfahrt mit dem grosten Leichtsin mit Dingen, die 
ihm so wichtig sein sollen? Fiirwahr er konte sich nicht 
mehr schaden, als eben dadurch. - 

Und in der Philosophic? - hier wird er immer in Irthum 
herumirren, und nie Wahrheit erblikken, wenn er nicht 
untersucht; sondern das Neue alzeit vorzieht. Wie leicht 
sind hier Partheien moglich und gewohnlich, die selten, 
durch die Vertheidigungssucht verfuhrt, tief genug ein- 
dringen - wie leicht wird er dem Tros der Nachahmer 

io folgen, die alles, was ein Genie sagt, fur Wahrheit aus- 
schreien! - Eben so verhalt sich's mit andern Wissenschaf- 
ten. 

Dieses ist der Schaden, den die Neuerungssucht bringt, Konklus. 
und der Nuzzen, den die Begierde nach Neuem hat, wenn 
sie in ihren Schranken bleibt. Dieses sind die zwei Irwege, 
die der Jungling vorzuglich zu vermeiden hat, libertriebne 
Anhanglichkeit an's Alte, und alzugrosse Liebe. des Neuen. 
Dieses lezte ist der Weg, der den Jungling so leicht irre 
fiihrt. Leichtsin, Unbesorglichkeit, ob man dieses oder ie- 

20 nes annehme - Veranderungsliebe - Has gegen die Pedan- 
terei, die ihn oft auf Schulen driikt - eine gewisse Art Ehr- 
geiz, sich uber den andern zu erheben - und in Ruksicht 
auf die Theologie, oft die schwachen, falschen Grundsazze, 
die man ihm in seiner Jugend unter dem Namen der Religi- 
onslehren verkauft hat u. dergl. mogen die Quellen dieses 
Ubels sein. Dahingegen bei dem, der bios am Alten hangt, 
die Ursachen sein mogen: er ist nunmehr alt - es wird 
ihm schwer, Sazze, die er von Jugend fur heilig gehalten, 
im 40. 50. Jahr zu verwerfen - ein gewisser Eigennuz - 

30 eine Menschenfurcht, die sich die Wahrheit zu bekennen 
scheuet - Tragheit u.s. w. Beide Wege fiihren zum Verder- 
ben. Last uns derowegen behutsam den steilen Weg zur 
Wahrheit hinanklimmen und keine Gefahr scheuen, sie zu 
bekennen, wenn wir sie gefunden haben - last uns nie die 
Leidenschaft das Ziel verriikken, wornach wir streben - 
kurz, last uns [SchluB fehlt] 



UBUNGEN IM DENKEN 



Schon hienieden ist die Weisheit an himlischen Freu- 
den reich; und ware sie's nicht: warum sah'n wir aus 
ihrem Schosse so ruhig alien Eitelkeiten der Welt 



EngeVs Philosoph j. d. Welt. 



Erster Band 
November. 1780 



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Diese Versuche sind bios fur mich. Sie sind nicht gemacht, urn 
andre etwas Neues zu leren, Sie sollen mich bios iiben, urn's 
einmal zu konnen. Sie sind nicht Endzwek, sondern Mittel - 
nicht neue Warheiten selbst, sondern der Weg, sie zu erfinden. 

Ich werde mir hier oft widersprechen, manches da fur war, 
und dort fur falsch erklaren. Aber man ist ein Mensch - und 
nicht immer derselbe. 

Es wird oft gezweifelt werden - entweder weil die Einsichten 
mangeln - oder weil's iiberhaupt besser ist, gar nichts, als falsches 10 
zu glauben. Noch einmal also: es ist bios Ubung. 

Jedes Monat enthalt sechs Bogen und ieder Band drei Monate. 
- Am End' iedes Bandes folgen Zusazze, oder - wenn man's 
so nennen wil - Verbesserungen. In Hof den 29. November. 
1780. 



Johann P. F. Richter. 



I. Untersuchung 



Wie unser Begrif von Got beschaffen ist [a] 

Der Mensch kan sich Got in seiner Unendlichkeit nicht denken. 

- Jeden Begrif von einem Ding' erlangt er entweder von aussen, 
durch seine aussern Sinne, oder von innen, durch seine Seele 

- durch die sogenanten innern Sin[n]en. Beide Arten von Sinnen 
konnen ihm keinen anschauenden Begrif von Gottes Unend- 
lichkeit geben. Alle Kraft* und Wirkungen in der Welt, wo von 
er den Begrif der Unendlichkeit abstrahiren konte, sind endlich. 

10 Seine innern Sinnen konnen ihm auch keine Idee davon geben 

- denn sie sind endlich. Ferner, um sich Got in seiner Unendlich- 
keit vorstellen zu konnen, muste man unendliche Kraft' haben 
und dies hiesse selbsten unendlich sein. Eine iede Kraft mus 
zur Wirkung ihr bestimtes Verhaltnis haben - und diese kan 
nie grosser sein als iene, aber wol umgekehrt. Unsre Vorstel- 
lungskraftnun steht in einem Verhaltnis mit der Menge, Grosse 
der Dinge, die vorgestelt werden - ihr ist hier eine gewisse 
Granze gesezt. Eben dies findet bei'm Begriffe von Got stat. 
Wir konnen uns iiberhaupt nichts denken, was keine Schranken 

20 hat. Niemand kan sich die Ewigkeit vorstellen. Also sind 
Unendlichkeit Gottes, Ewigkeit p. bei uns mehr Wort als Ge- 
danke - »K6nnen wir uns aber Got gar nicht vorstellen?« Ja! 
wir konnen's. Namlich, um uns einen Begrif von ihm zu ma- 
chen, nehmen wir alle geistige Volkommenheiten, die wir nur 
an uns kennen, zusammen, und drangen sie in einem Bilde zu- 
sammen — und dies nennen wir den Begrif von Got. Es kan 
sein, daft das Wesen, das nach unsern Begriffen Got ist, cm 
eingeschranktes, aber hoheres Wesen ist, als wir. Und ie hoher 
ein Geist ist, ein desto grosseres, dem Urbild sich naherndes 

3o Bild (ich sage nicht »erreichendes«) kan er sich von ihm machen 

- aber erreicht wird's nie. Das Vermogen haben wir, uns gros- 



3» JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

sere Wesen als wir zu denken, weil wir eingeschrankt sind. Ein 
eingeschranktes Wesen kan sich ein hoheres und minder be- 
schranktes denken. Die Ursach' ist: es hat Mangel, Irthumer, 
Schranken, Unvolkommenheiten. Nun darf sich's bios diese 
Unvolkommenheiten wegdenken: so hat's das hohere Ideal. 
Dies ist unser Begrif von Got. Wir denken [uns ein Wesen], 
das nicht eingeschrankt ist, das alles kan, weis, was wir nicht 
konnen. Mehr brauchen wir nicht. Aber bei einem hohern We- 
sen als der Mensch wiird' eine solche Vorstellung Got entehren 
- ia 's wiird' Abgotterei begehen. Jedes Geschopf mus sich seinen i 
Schopfer in allem als das Oberste, Volkommenste denken. Al- 
lein nur eben dies Geschopf. Das Geschopf, das unter diesem 
ist, wird seine Gotheit mit weniger Vorziigen belegen: aber 's 
wird deswegen auch nicht siindigen. Das iiber beid' erhabne 
Geschopf wird seinen Schopfer grosser denken: aber eben, weil's 
kan. - Wenn wir sagen: Got kan alles, weis alles u.s.v/. sobeweist 
dies nicht, daB wir den Begrif von Got erschopfen. Denn dies 
»alles« ist nur ein dunkler Begrif. Losen wir ihn auf, so sehen 
wir, wir verstehen unter dem alles- dem Begreifen nach, nicht 
nach den Worten, denn viel Wort sind fur uns sinlos - nur das, 20 
was Wir nicht konnen, ob's gleich endliche Wesen noch konnen. 

Das Vergniigen, das uns das Denken an Gottes Unendlich- 

keit verschaft, entsteht daher, weil wir uns Volkommenheiten 
vorstellen pp. Und ie grossere Kraft ein Wesen zum Denken 
besizt, desto mehr Vergniigen mus ihm 's Vorstellen der 
Unendlichkeit Gottes Vergniigen erwekken, das in dem Masse 
das Vergniigen des andern davon iibertrift, in welchem er seine 
Denkkraft' iibertrift. Niemand kan sich daher Got unendlich 
vorstellen, als Er selbst. Und eben daher mus er auch unendli- 
ches Vergniigen schopfen. - Got kan sich auch kein grosseres 30 
Wesen als sich selbst denken. Denn er hat alle Volkommenheiten 
und keine Mangel, woraus er, wenn er sich diese Mangel weg- 

dachte, ein hoheres Ideal bilden konte. 

August 1779. 



UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. 1780 39 

II. Untersuchung 

Von der Harmonic zwischen unsern wahren und irrigen Sazzen 

Alle Wahrheiten stehen in einer unaufloslichen Verbindung mit 
einander. Laugnest du eine: so laugnest du tausende zugleich, 
so veranderst du alle im Reiche der Wahrheiten. Dies ist nie 
bezweifelt word en. Aber ist alles Wahrheit im Menschen - alles 
Harmonie derselben? Zwei Griinde verneinen dies. Erstlich lean 
er sich nicht alle Wahrheiten denken - denn er ist beschrankt. 
Einen kleinen Punkt im Lande der Wahrheit kent er - wie wil 

10 er nun seine Verkettung, und Harmonie mit alien (ibrigen wahr- 
nehmen, ftihlen? Ferner: irt er - er kan nicht nur nicht das ganze 
Wahrheitsgefilde (ibersehen: er sieht auch in dem Punkt, das 
[!] er iibersehen kan, falsch - er glaubt Falsches. Aber wenn 
Harmonie das Wesen der Wahrheit ist - wenn der Mensch alle 
seine Sazze als wahr fiihlt - wobei offenbar wahre mit irrigen 
vermengt sind - wie wil er Wahrheit und Nichtwahrheit ver- 
einigen. 

Obiektive genommen, lassen sich nie diese zwei Dinge in 
Harmonie bringen - hier hat man Recht. Aber in einem gewissen 

20 Subiekte konnen sie doch Harmonie sein. Doch nur in Bezie- 
hung auf dies namliche Subiekt. Ein ieder Mensch, er glaube 
was er wil, glaubt ein Ganzes - und eben das, was er in sich 
als Widerspruch findet, ist auch ein Ganzes. Er wird sich doch 
nicht selbsten bewust sein, daB er irt: sonsten must' er ja den 
Irthum fahren lassen. Ich kan so schliessen: weil ieder Mensch 
keinen Irthum als Irthum glaubt, und also sein ganzer Glaub' 
aus lauter ihm wahr scheinenden Sazzen besteht: so mus dieses 
Glauben eine Zusammenkettung haben, weil Wahrheit alzeit 
in Verbindung steht. Nun besteht des Menschen Ideensystem 

30 aus einem Gemische von wahren und falschen Sazzen. Er mus 
also die Liikke, die's Falsche unter dem Wahren macht, ausful- 
len: wenn er nicht gleich seinen Irthum fuhlen sol. Aber die Art 



40 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

und Weise, wie er's Wahre und Falsche verbindet diese weis 

ich noch nicht. Die Untersuchung ist aber nicht ganz unntiz. 
Denn es folgen diese wichtigen Sazze daraus: 

Da ieder Irrende seinen Irthum fiir Wahrheit halt: so ist's 
Pflicht fiir uns, dem Irrenden mit aller Nachsicht zu begegnen. 
Denn er ist ia eben so tugendhaft wie der, der wahr glaubt: 
nur die Form ist verschieden. - 

Wenn wir Irthumer bekampfen wollen: so miissen wir nicht 
etwan gegen einen einzigen Saz einige Griinde vorbringen; son- 
dern wir miissen mehrere angreifen, weil sie mit einander ver- 10 
bunden stehen- weil einer den andern schuzt. Daher sind Perso- 
nen, die ganz verschiednen Glauben haben, schwer von ihren 
Meinungen abzubringen. Denn man mus ihr ganzes Wahrheits- 
system, ihren ganzen Gedankenbau umstiirzen - denn sie ver- 
binden mit ieder wahren Idee eine falsche Nebenidee - sie modi- 
fiziren die wahren nach den falschen Sazzen. - 

August 1779. 



III. Untersuchung 

Ein Ding ohne Kraft ist nicht moglich 

Em Ding ohne Kraft ist unmoglich. Ich rede bios von der Mog- 20 
lichkeit - denn in der wirklichen Welt ist so kein Ding ohne 
Kraft. Ich glaub' es also beweisen zu konnen. Man sezze der 
kleinste Theil der Materie sei ohne Kraft, so mus er, wenn er 
zusammengesezt ist, sogleich zerfallen; denn eben die Kraft giebt 
den Grund und die Moglichkeit des Zusammengeseztsein an 
- wenn er einfach ist, so hat er mit keinem Ding' in der Welt 
Verbindung, noch Verhaltnis, kein Ding kan auf ihn wirken. 
Denn kont' es wirken, so must' er wenigstens Rezeptivitat ha- 
ben, (weil in ein Ding nur gewirkt werden kan, insofern's entge- 
genwirkt) und dies Entgegen wirken oder diese Rezeptivitat war' 30 
ia selbst Kraft und also der Voraussezzung zuwider. - Ferner. 



UBUNGEN IM DENKEN • NOV. I780 41 

Man sezze, ein Korper bewege sich auf dieses ohne Kraft sein 
sollendes [!] Ding, so mus der Korper entweder dessen Stell' 
einnehmen konnen, oder nicht. Findet's erste Stat, so mus er 
dieses Ding gleichsam wegwiirken konnen, aber dan hatt' es Re- 
zeptivitat und deswegen auch Kraft - oder er mus in seinen 
Ort sich hinbewegen konnen, ohne dan die Lage des andern 
verandert wird; und das ist Widerspruch: denn zwei Dinge kon- 
nen nicht in einem und ebendemselben Raume sein. Oder man 
sez's Lezte: namlich dieser Korper kan gar nicht des Dinges 
Ort einnehmen, wegen dessen Undurchdringlichkeit: (dafiir 
wolt* ich besser sagen »Entgegenwirken« , im Grund' ist's einerlei) 
aber dan hat's Ding auch Kraft. Man kan noch diesen Beweis 
hinzuthun, wenn er nicht zu gewagt scheint. Wenn's Got ver- 
nichten wolte, so miiste doch eine - uns unbekante - Kraft auf 
diese Substanz ohne Kraft angewendet [werden]. Sie kan aber 
nicht leiden, und derowegen kan auch die Vernichtungskraft 
nicht angewendet werden. Jedes Endliche aber ist vernichtbar 
- dieses Endliche aber ist unvernichtbar — und deswegen ist's 
gar nicht. - 

September 1780. 



HIT. Untersuchung 

Ist die Welt ein Perpetuum Mobile? 
Ein Fragment 

Ich habe zu wenig Kentniss' in der Mechanik, urn diesen Saz 
auseinandersezzen zu konnen. Ich wil aber doch nur die Grtind' 
angeben, die mich veranlassen, diese Frage zu beiahen. 

Got hat die Krafte der Bewegung erschaffen; und, wenn man 

wil, ihnen die erste Anreizung gegeben. Eben diesen Kraften 

nun braucht er iezt nicht mehr einen Stos zu geben - er braucht 

30 sie nur fortdauern zu lassen. Wer nun behauptet, da6 diese Kraft' 

endlich aufhoren oder nur abnehmen wiirden, wenn sie nicht 



42 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Got in gleicher Thatigkeit erhielte: der glaubt dies ohn' Ursache. 
Warum sollen sie abnehmen? Eine Kraft wird vermindert, wenn 
sie wirkt: dies beweist die Erfahrung. Allein dieses geschieht 
aus dem Grunde, weil die eine Kraft eben soviel durch die Ein- 
wirkung in die andre verliert, soviel diese leztere wieder starker 
wird. Die Kraft' in der Welt sind immer dieselben. Nur wenn 
die eine abnimt, nimt die andre zu. Im Ganzen ist immer eine 
Summe. Nur das Verhaltnis der Theile gegen einander wird 
geandert. Fur sichkan keine Kraft geringer werden. Das Gegen- 
theil zu behaupten, ware ganz wider den Grundsaz in der Me- 10 
chanik: Ein bewegter Korper bewegt sich ewig fort, wenn er 
nicht gehindert wird. Denn da muste die Bewegung auch einmal 
aufhoren, wenn die Krafte fur sich selbst abnehmen solten. 
» Aber sie werden durch die Wirkung auf andre verringert! « Gut! 
alsdan werden also die andern immer starker - und's bleibt doch 
dan Eine Summe. » Wie aber? wenn gleiche Kraft' aus entgegen- 
gesezten Richtungen auf einander wirken - miissen nicht diese 
zwei Kraft' einander schwachen, ohne da8 der einen ersezt wird, 
was der andern abgeht?« - Nein! Wir wollen sezzen, gleiche 
Krafte wirken auf einander aus entgegengesezten Richtungen: 20 
so miissen diese ewig so bleiben, ohnelm geringsten verringert 
zu werden. Denn was der einen abgehen sol, wird ihr durch 
die Wirkung der andern, die eben so sehr in sie wirkt und ihr 
soviel Kraft wieder ersezt, als die andre verliert, wieder ersezt 

- und so wechselsweise. Da aber ihr Zunehmen und Abnehmen 
auf beiden Seiten einander gleich bleibt, so miissen sie in Ewig- 
keit dieselben sein. »Aber warum hat man noch bisher kein 
Perpetuum Mobile erfinden konnen?« - Eben weil man in der 
Welt nichts isoliren kan - weil immer eine Kraft durch die Ge- 
genwirkung der aussern Dinge vermindert wird - und wenn 30 
all' entfernt, so ist doch noch wenigstens der Druk der Luft, 
oder gar eine noch feinere Materie da. Es ist nicht wahrscheinlich 

- aber wol moglich, daB ein Perp. Mob. kont' erfunden werden. 
Ein Einwurf ist noch zu widerlegen - sieh' BjornstahTs Briefe, 
des dritten Bandes erstes Heft'-: »Ein Perp. Mob. ist nicht mog- 
lich. Es miissen zwei Triebfedern dazu sein, welche einander 



UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. I780 43 

wechselsweise aufziehen. Die Elastizitat und Wirkungskraft ist 
nun entweder einander gleich oder nicht. Sind sie gleich, so 
entsteht kerne Wirkung, sondern sie bleiben im Gleichgewichte. 
Ist eine grosser: so konnen sie einander nicht wechselsweise auf- 
ziehen. Also ist die Unmoglichkeit eines Perp. Mob. erwiesen. « 
- Ja eines solchen, wie vorausgesezt wird. Aber alsdan auch 
in Ansehung der Welt? - Uberhaupt trift mich dieser Einwurf 
gar nicht. Denn ich sezze zum voraus, daB die Abnahme der 
einen Kraft durch die Einwirkung der andern wieder ersezt 
werde. Ja! ich diirfte nur eine unendliche Anzahl Triebfedern 
in der Welt annehmen - welches noch nicht ungereimt ist. Und 
eben der, der diesen Einwurf macht, hat die Moglichkeit eines 
andern P. M. gezeigt. Es ist also doch mein voriges System 
richtig - nur last's sich nicht auf alle, uns moglich scheinende, 
P. M. anwenden. 

Oktober 1780. 



V. Untersuchung 

Was algemeines uber's Physiognomiren 

Die Physiognomie ist ohne Zweifel eines der schwersten Stu- 
20 dien. Leicht last sich's wol a priori davon rasonniren; aber 
schwer ist's, selbst Erfahrungen anzustellen. Hier komt einem 
ein Gesicht vor, dort eines, wo man nicht weis, was man aus 
ihm machen sol, das uns gar nichts sagt; - oder man fiihlt wol 
einen gewissen Haupteindruk: aber's fehlen die Worte dazu. Uns 
fehlt die Benennung einer ieden Linie, Beugung, Niianzirung 
des Gesichts pp. Diese Wissenschaft, wie Lavater bearbeitet, 
ist vollig neu. Ware sie alter; so wiirde man mehr Worter dazu 
haben, und dan ware sie uberhaupt viel leichter zu vervolkom- 
nen. Alle Worter, die man dazu hat* werden andern Wissen- 
30 schaften abgeborgt. - Uberhaupt ist sie eine Wissenschaft, die 
Jarhundert' und Jartausende zu ihrer Vervolkomnung braucht. 



44 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Wie viel Beobachtungen miissen angestelt werden! Und doch 
sind alle diese Beobachtungen noch in kein System gebracht; 
da herausgerissen, dort hineingeflikt. Wie wenig sind die iezzi- 
gen Anfange! - Man soke den Menschen vom Anfange seines 
Lebens bephysiognomiren bis an sein Ende - und dan - dies 
ist doch nur Einer - welche Menge Menschen, Verschiedenheit 
ihrer Karaktere, ihrer Lagen, worinnen sie sind! Es giebt Lagen 
im menschlichen Leben, wo viel im Gesichte wurde gelesen 
werden konnen; aber diese Lagen sind dem Beobachter unzu- 
ganglich. Die Ziige des Wolliistlings im Taumel der viehischen 10 
Leidenschaft - und die Ziige des Gottesvererers, der eben diese 
Freude, nur unschuldig, geniest - wie verschieden miisten ihre 
Mienen sein. Die furchtsame Miene des Diebes - und der to% 
dendeBlik des Morders; miiste nicht den [!] leztern die schwarze 
Tat aus den Augen blikken? - Aber hier kan der Beobachter 

nicht selbst beobachten. Man solt' iezt, glaub' ich, da die 

Physiognomie noch nicht weit ist, mer aus den Handlungen 
auf s Gesicht schliessen, als umgekert. Das wil soviel sagen. 
Man sol beobachten, wie die Menschen handeln, und dan die 
Miene, die die Handlung begleitet, warnemen. Dieses oft tun, 20 
diese Mien' in ihren Abanderungen, Vermischungen mit andern 

- aber bios wenn eben diese Handlung anders getan wird - in 

ihrer Stark' und Schwache fleissig beobachten dieses dan 

vorausgesezt, konte man leicht, wo eben diese Miene sich wie- 
derfande, die Handlung daraus schliessen - die vergangene oder 
zukiinftige daraus schliessen. War' dan die Handlung nicht ganz, 
so wie sie diese Mien' angiebt:.so untersuche, ob diese Miene 
mit der Miene, mit der du die iezzige vergleichst, gleich ist 

- hier wirst du mehr entdekken. Allein, anstat dieses zu tun, 
handelt man umgekert. Ohne recht sich em Merkmal gemacht 30 
zu haben, das iede Handlung begleitet - wil man schon aus 
einem dunkeln Geful von der und iener Miene den Karakter her- 
ausphysiognomiren. - »Es trift aber zu« - Ja! eben dieses Zutref- 
fen zeugt fiir mich. Denn durch Gewonheit ist auch ein gewisses 
Merkmal von dieser und iener Handlung hangen geblieben: das 
iezt wirkt, aber one daB ihr euch desselben merklich erinnertet. 



UBUNGEN IM DENKEN • NOV. ljSo 45 

Aber trift's allemal zu? ist's allemal vollig richtig? und seid ihr's 
gewis, daft euch euer Gedachtnis, euer Gefiil nicht betriegt? 

Septemb. 1780. 



VI. Untersuchung 

Unsere Begriffe von Geistern, die anders ah wir sind 

Wenn wir unsre Begriffe von Geist und seinen Kraften auf andre 
Geister, die nicht Menschen sind, anwenden; so mussen wir 
notwendig irren. Alle Wirkungen unsers Geistes hangen in ge- 
wissem Grade - und die Erfarung scheint fur den grosten zu 
10 sein - von unserm Korper ab. Das Gedachtnis nimt ab und 
zu, ie nachdem die Gehirnfibern sich verandern, barter oder 
weicher werden. Es ist war, die Erwekkung anlicher Begriffe 
kan's verstarken - allein von wem hangt nun eben diese Mog- 
Iichkeit der Erwekkung ab? notwendig von den Gehirnfibern. 

- Die Einbildungskraft ist Knabe, Jungling, Man und Greis, 
wie's der Korper ist. Der Verstandige ist ein Nar, wenn sein 
Korper in Unordnung ist. Ein Neuton in seinem Alter versteht 
sich selbst nicht mer, und ein Linnaus vergist die Benennungen, 
die er selbst erfand. Die Sele wachst, wenn der Korper wachst 

20 - sie nimt ab, wenn er abnimt. Es ist war, es giebt Kinder am 
Korper, die Manner am Geist sind- Barattie's, die im Knabenal- 
ter Bucher schreiben. Aber ist ihr Gehirn denn noch Kind? Ihr 
Korper lauft in kurzer Zeit die Periode durch, die der gewonliche 
Mensch erst in vieleri Jaren zu vollenden hat. Ihre Gehirnfibern 
haben eben die Festigkeit, Feinheit und andre Eigenschaften, 
die die Fibern des Mannes haben. Ihr Korper ist nicht Kind 

- und ihr Geist Man; - sie sind beide schon ganz Man. Sie sind's 
aber nur friihe geworden. Denn die Menge der Teile, die den 
Korper ausmachen, bestimmen sein Verhaltnis zum Geiste nicht 

30 - sondern ihre Beschaffenheit. Dies alles wird dadurch bekraf- 
tigt, weil eben diese alzufruh' reife Genie's so bald vergehen. 



46 JUGENDWERKE - I.ABTEILUNG 

Worzu nun dies alles? um zu beweisen, daB unser Geist ganz 
vom Kdrper abhangt - zu ser abhangt, als daB die gewonliche 
Teorie von Geistern sich auf andre Wesen, die nicht Menschen 
sind, iibertragen Hesse. Hat der Engel eben den Begrif, den wir 
haben? Er ist ia nicht Mensch - sondern Engel. Dichten wir 
ihm einen solchen Begrif an, so machen wir ihn zum Menschen. 
Der Engel denkt, aber nicht wie wir; weil er einen andern oder 
gar keinen Korper hat. 

All' unsreBegriffe vom Tier bis zum Engel, bis zum Schopfer 
hinauf - ist der Begrif von einer Menschenreihe. Unter dem 10 
Tier stellen wir uns den Menschen auf seiner untersten Stufe 
vor - den Engel denken wir uns als einen veredelten, und Got 
als den volkommensten Menschen. 

Es ist war, in der Natur geschieht kein Sprung. Der Engel, 
der an mich angekettet ist, wird mir also auch in vielen anlich 
sein miissen. Aber die unterste Pflanz' ist auch an den Neuton 
angekettet. Sind sie aber deswegen nicht verschieden? Die Natur 
macht keinen Sprung; aber ist nicht die tausendste Stufe von 
der ersten verschieden? - Die Sele des Engels wird Fahigkeiten 
haben, wo von wir uns iezt keinen Begrif machen konnen, Er 20 
wird vielleicht manche unsrer Krafte nicht haben, nicht so, wie 
wir haben; - aber er wird bessere und merere haben. 

Man teilte sonst die ganze Schopfung in Geist und Materie 
ein. Leibniz hat erwiesen, daB es gar keine Materie giebt - daB 
alles Geist ist, nur durch Stufen von einander verschieden. Viel- 
leicht giebt's Wesen, die sich gegen uns verhalten, wie wir uns 
zur Materie - die uns so zu sagen fur Materie halten. Recht be- 
trachtet, ist dieser lezte Gedanke nicht iibertrieben - man mus 
aber ein Leibnizzianer sein. Es kan Arten von Wesen geben, 
die in unsern Augen, in den Augen noch hoherer Wesen, nicht Gei- 30 
ster sind; die's aber demohngcachtet in den Augen Gottes sind. 
Geht nicht durch die ganze Schopfung eine unermesliche Kette 
- wo die ersten und hintersten Glieder einander zum Erstau[n]en 
unanlich sehen, deren Anlichkeit und Verbindung aber nur der 
Vater aller Geister entdekken kan? - Aber was sollen wir vom 
unendlichen Geiste denken? Wir begreifen kein Wesen in der 



UBUNGEN IM DENKEN '• NOV. 1780 47 

Schopfung, der unterste fiilende Atom ist uns unerforschlich 
- der hohere Geist kan ihn mer begreifen, und wird desto mer 
staunen - wir kennen uns selbst nicht - und dich - o! den zu 
denken, des Seraphs tiefblikkender Verstand bebt - dessen Un- 
ergriindlichkeit der Stof des Forschens fur ganze Schopfungen 
Geister durch Ewigkeiten durch - unermesliche Ewigkeiten 
durch sein wird — und dich soke der schwache Menschenwurm 
zu denken, sich erkiinen? Nein - dich anbeten, dich lieben wird 
er; dies ist sein Vermogen und weiter keins. Got hat gewis Ei- 
10 genschaften, die wir nicht kennen - er zeigt sich uns auf dieser 
Erdenwelt nur von einer Seite, von welcher wird er sich in der 
kunftigen zeigen? - Wir geben ihm die Eigenschaften in unendli- 
chem Grade, die wir an uns finden - allein giebt's keine Wesen, 
die andre Eigenschaften als wir haben, und die Got auch in 

unendlichem Grade zugeschrieben werden konnen? 

Novemb. 1780 



VII. Untersuchung 

Wie sich der Mensch, das Tier, die Pflanz' 
und die noch geringern Wesen vervolkommen 

20 Alles ist Sele - aber eine Sel' ist nur besser als die andre. Vom 
Menschen bis zum unformlichen Kiesel herab herscht Vervol- 
komnung Seiner selbst. In ieder Minute seines Daseins leidet 
iedes Ding Veranderung - entweder es wirkt, oder es leidet. 
Durch beides wird's anders, als es vorher war - beides entfaltet 
seine Kraf te, strengt sie an - kurz vervolkomnet sie. Jedem Ding' 
ist in der Welt seine Dauer und eben deswegen auch der Grad 
von Volkommenheit bestimt, den's erlangen kan. Jedes Ding 
in der Welt entwikkelt sich anders, als das andre - weil iedes 
von iedem verschieden ist. Jedes fangt von unmerkbar Kleinen 

30 an: und steigt almalig entweder zum Menschen, oder zum Tier, 
oder zur Pflanz' u. s. w. hinauf - iedes steigt aber in Ewigkeit 



48 JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG 

fort. Herlich sind diese Aussichten! Sie sind wert, weiter verfolgt 
zu werden. Wir wollen die Art der Vervolkomnung bei iedem 
Wesen auf diesem Erdbal besonders betrachten. Wir wollen vom 
Menschen anfangen, und vom Bekanten auf s minder Bekant' 
und Unbekante schliessen. 

Der Mensch. Unmerklich und fur die Einbildungskraft fast 
unbestimlich ist der Anfang des Menschen. Er war schon mit 
dem Adam da. Er lebt' in ihm als ein Samentiergen - aber in 
tausend und aber tausend Verhiillungen verborgen. Ich lebt' 
auch im Adam schon - aber wie? wie klein? - ich begreif's nicht. 3 10 
Solt' ein Samentiergen aber eine so lange Zeit, bis der Punkt 
des Befruchtens kam, miissig zugebracht haben? nach einem 
Jarhundert' eben das gewesen sein, was es vorher war? Nein! 
Es wurd' auch als Samentiergen volkomner. Jede Entwiklung 
der Samentiergen aus einander, in dem's auch mit verhiilt war, 
trug zu seiner Vergrosserung, Vervolkomnung und endlichen 
Enthullung bei. Nun komt die wichtigste Periode fur dasselbe. 
Es wird befruchtet - es wachst und wird schon Embryon. Mit 
schnellen Schritten gehtiezt seine Verbesserung fort, bis es Kind 
wird. b Sein Fortschrit scheint zu fliegen - in kurzer Zeit wird's 20 
Knabe, Jiingling und Man! Hier ist das Meisterstuk der Schop- 
fung volendet! Vom Anfange seines Daseins, das vom Adam 
anfangt, bis auf iezt war ieder Zustand besser als der vorherge- 
hende - ieder die Folge vom andern - Aber nun scheint uns 
die Analogie zu verlassen, die uns so viel in der Betrachtung 
der Welt hilft. Der Mensch steht auf der Stufe seiner Volkom- 
menheit stille, ia er geht zuriik - wird ein Kind - wird alt. AHein 

a Wirbegreifennichts vom Anfange des Menschen, nichts vom Ende 
desselben. Nur sein mitlers Dasein kennen wir ein wenig. Seine Dauer 
von Jartausenden vorher und seine Dauer von Ewigkeiten nachher ken- 30 
nen wir nicht — nur ein en Augenblik kennen wir. 

b Aber wer kan behaupten, dafi seine Entwiklung von Anfang seiner 
Schopfung an bis auf diesen Zeitpunkt nicht eben so schnel gegangen 
sei? - Wer kan die Durchgange bestimmen, die's notwendig von Anfang 
seines Seins bis iezt durchgehen muste? Wer kan seine damalige Beschaf- 
fenheit bestimmen, um die Zeit zu berechnen, die's brauchte, zu der 
iezzigen [Beschaffenheit] zu gelangen? - 



UBUNGEN IM DENKEN • NOV. I780 49 

dies alles scheint's nur. Denn erstlich werden's nicht alle Men- 
schen. Es giebt Greise, die mit der Lebhaftigkeit, mit der Stark* 
ihres Geistes, den muntern und bliihenden Jiingling iibertreffen. 
Ferner. Wir wollen ihnen diese Abname der Geisteskrafte zuge- 
stehen. Was folgt dan? Ihre Krafte werden ia nicht geringer - 
sie werden nur durch den Korper verhindert, sich so wie sonst 
zu aussern - ihre Sele wachst immer fort. Aber die Schwachheit 
des Korpers macht, daft sie ruk warts zu gehen scheint. - Nemt 
den Widerstand weg - und sie wird nicht stille gestanden sein 
10 - sie wird weiter fortgeriikt sein. c Endlich komt der Tod. Auch 
hier wird die Fortschreitung nicht unterbrochen - denn 

»Ewig ist die Fortschreitung der Volkommenheit sich zu na- 

hern, 
Obwol am Grabe die Spur der Ban vor dem Auge verschwin- 

det.« - 

Nun steigt der Mensch von Stufe zu Stufe - komt auch auf 
die Stufe des Engels - aber er wird nicht Engel; denn er war 
vorher Mensch und bleibt's. Seine vorhergehende Zustand' ha- 
ben keinen Engelszustand gleichsam vorbereitet, sondern nur 
20 eine hohere Menschenstufe. Um Engel zu werden hatt' er andre 
Zustande durchgehen miissen. Der Mensch ist so zu sagen, 
Pflanzen Mensch, Tier Mensch, Engels Mensch und Sera[p]hs 
Mensch. d 

Das Tier. Es hat vieles mit dem Menschen gemein, ist aber 
auch in vielem von ihm verschieden. Hatten wir scharferen Ver- 
stand so wiirden wir der Verschiedenheiten und Anlichkeiten 
noch merere antreffen. - Wir miissen vorziiglich die Tier' unter- 

c Wenn eine Kraft A eine Wirkung = 3c, und eine andre Kraft B 
eine Wirkung = 2c hervorbringt, so ist die Ieztere Kraft B, wenn sie 
30 einen Widerstand = V2 B zu iiberwinden hatte, nicht kleiner als A, 
sondern sie ist = 1V3 A. Dies wende man auf's Alter an. 

Tausend Samentiergen gehen verloren. Ihre Korpergen werden 
zerriittet, eh' sie ganz Menschen sind. Und ihre Selen - wo sollen sie 
hinkommen? - Ich weis es nicht. Doch - wo kommen die Embryo's, 
die Kinder hin, die doch auch Selen haben? Giebt's nicht in ienem Leben 
auch Stufen? Sie sind dan nicht mer Samentiergen - 



50 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

scheiden, die an den Menschen granzen, dieklugern, z. E. Hund, 
Affe und die meisten der vierfiissigen; und dieienigen, die nicht 
so nah' an ihn angranzen, die Fische, Insekten u.s.w. - die 
Tier', die weniger, und dieienigen, die mer durch Instinkt ge- 
trieben werden. Vor ihfer Geburt konnen wir ihre Vervolkom- 
nung nicht wis sen, ob sie hier einander anlich oder unanlich 
sind. Bei ihrer Geburt unterscheiden sich beide Arten von einan- 
der. Die Kliigern also zuerst. - 

Die Tiere, die sich liber andre erheben und mehr Verstand 
und weniger Instinkt haben, sind bei ihrer Geburt nicht das, 10 
was sie bei'm Tode sind. Sie wachsen an Volkommenheit, an 
Geschiklichkeit, und an den Kraften der Sele, wie wir. Der iungc 
Hund, der's erste Mai Atem holt, ist ungeschikt - er kan noch 
nicht laufen wie seine Mutter - er lernt's erst durch wiederholte 
Versuche. Hingegen betrachtet iezt den altern Hund. Wie listig 
ist er nicht? wie weit (ibertrift er hierinnen den iungern? wie 
viel Leidenschaften aussern sich bei ihm, die der iunge gar nicht 
oder in minderm Grad' hat? - Ist das nicht Fortschreitung? Ein 
altes Tier ist wenig von einem erstgebornen Kinde zu unter- 
scheiden - es (ibertrift den menschlichen Embryon. Wie viele 20 
tausend Empfindungen stromen dem Tiere taglich zu? - und 
diese solten die Fahigkeiten seiner Sele nicht verbessern? ein 
Tier, das nur Eine Empfindung gehabt hat, solte dem gleich 
sein, das tausende gehabt hat? Sein Gedachtnis wird verstarkt, 
seine Einbildungskraft wird geiibt u.s.w. Wie werden nicht 
seine Begierden vergrossert? Das Tier kan sich etwas angewonen 
- ist das nicht Beweises genug, daB auch ein Tier volkomner 
werden kan? »Aber sie sind seit der Schopfung nicht weiter 
gekommen.« Dies beweist weiter nichts, als daB sie nicht Men- 
schen sind. Jeder Gattung von Tieren ist eine Granze gesezt, 30 
wo ihre Vervolkomnung aufhoret. Jedes Tier erreicht sie. Dem 
Menschen ist auch Eine gesezt; aber er hat sie noch nicht erreicht. 
Ich wil noch hinzusezzen: wir urteilen falsch, wenn wir die Ver- 
volkommung der Tiere nachder unsrigenschazzen.Dennworin 
besteht die Volkommenheit der Tiere? Kan ihre Sele nicht zune- 
men, one daB man's merket?- Und das meiste, was hier nicht 



UBUNGEN IM DENKEN ' NOV. I780 5 1 

beobachtet wird, ist die Sprache. Sezt, alle Menschen waren 
isolirt, konten sich einander nicht durch Sprache mitteilen - 
wiirden wir nicht auf dem Punkte stehen, wo Adam stand? Die 
Fortschritte, die die Menschen gemacht haben, sind nicht 's 
Werk eines einzigen: tausend' haben daran gearbeitet. »Aber 
die Biber, die Bienen leben in Verbindung und in Geselschaft?« 
- Sie sind zwar beisammen: aber 's ist eben so, als wenn sie 
nicht bei einander waren. Denn sie konnen einander nicht ver- 
bessern, weil sie nicht reden konnen. - Ich komm' auf eine andre 

10 Klasse der Tiere, dieienigen namlich, die bios aus Instinkt han- 
deln. »Die iunge Biene macht auf den ersten Versuch ihre Zell' 
eben so gut als die alte - der Seidenwurm macht sein Gewebe 
nur einmal und die Raupe wird nur einmal zum Schmetterling; 
wo bleibthier die Fortschreitung?« - Folgendes last sich antwor- 
ten, welches zusammengenommen den Einwurf hebt: Man ver- 
wirt hier manches mit einander. Der Instinkt ist nicht die Vol- 
kommenheit des Tiers selbst. Wenn dieser es ware, so wiirde 
freilich immer einerlei Volkommenheit bleiben, weil der In- 
stinkt immer derselbe ist. Der Instinkt tragt nur zur Volkom- 

20 menheit bei. - Der Mensch hat Vernunft, die ihn seiner Verbes- 
serung immer naher bringt. Das Tier, dem man die Vernunft, 
wenigstens in einem so hohen Grad' abspricht, wiird' on' In- 
stinkt elend sein und nie volkomner werden - denn's wiirde 
bald sterben. Wie wolt' ein Insekt, das zu wenig Selenkraft' 
hat, um mit diesen seine Schwachheit zu ersezzen, leben, und 
wie volkomner werden? - - Ferner , wenn man auch dies zugabe, 
so wiirde wenig daraus folgen. Das Tier macht seine Kunst- 
werke gleich auf's erstemal gut. Das geb* ich zu. Wie aber? 
wenn eben diese Verrichtung seine hochste Stufe ware? Macht's 

30 gleich nach seiner Geburt? »Ja! einige!« die namlich, die nur 
einen Tag leben - denen eine Minut' ein Monat, ein Jar ist. 
Andere konnen's nach ihrer Geburt noch nicht. Eine Biene lebt 
lange; bis sie endlich auch ihr Werk anfangt. Weist du die Fort- 
schritte, die's macht, ch' du's noch siehest, - die Fortschritte, 
eh' es geboren wird? Wir konnen's ihnen gar nicht absprechen, 
ia nicht einmal dariiber urteilen. Wir reden von der Volkom- 



52 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

menheit des Menschen, wenn wir von der Volkommenheit der 
Tiere reden wollen - wir sprechen ihnen nur die menschliche 
ab, wenn wir ihnen alle absprechen wollen. Endlich ist's ia von 
einigen Tieren erwiesen, daB sie fortschreiten - wenn nun alles 
in der Schopfung Eine Kett* ist - soke nur der Hund volkommen 
werden, der Wurm aber auf einer Stufe bleiben? 

Endlich zerfalt die tierische Maschine wie die menschliche. 
Das Tier stirbt - aber nicht auf immer. Der Mensch ist unsterb- 
lich, das Tier auch. Ich bin ser geneigt zu glauben, dafi das 
Tier an eben dem Orte nach seinem Tode fortexistiren werde, 10 
wo der Mensch fortdauert. Es war sein Begleiter in diesem Le- 
ben, warum solt' es im kunftigen nicht sein? Das Tier trit nun 
eine Stuf' hoher. Aber 's wird nicht Mensch - so wenig der 
Mensch nach seinem Tode Engel wird. Es bleibt Tier; aber 's 
erklimt nur eine hohere Stuf in der Tierheit. Wie verschieden 
mus also [das] Pferd, das nun um eine Stufe weiter geriikt ist, 
nun einen andern Korper bekommen hat, von dem Menschen 
sein? — Wie vil tausend Arten von Tieren giebt's! Jedes klimt 
hoher - aber ihr Verhaltnis gegen einander bleibt - das Schaf 
wird dem Fuchs nicht gleichkommen, und ein Wurm, den ich 20 
mit den Fiissen zertrete, wird das Pferd nicht erreichen, das 
mich stolz tragt. Welche reizende Aussicht - sich zu denken 
diese ganze Tiermenge, iedes veredelt - zu hohern Bestimmun- 

gen erhoben - mit bessern Kraften beschenkt! Nach Millio- 

nen Jaren - was wird der Hund sein, der mich iezt liebkoset 
- und mit was fur Augen werd' ich ihn ansehen? - 

Die Pflanze. Der Baum, unter dessen kulenden Schatten du 
dich iezt erquikkest, war noch als Samenstaub in einem der er- 
sten Baume verhiilt. Nach tausend und aber tausend Enthiillun- 
gen, wo immer ein Samenstaubchen im andern verborgen lag, 30 
kam endlich auch dieser Baum hervor. So ist's mit alien Ge- 
wachsen. -Von der Vervolkomnung der Pflanzenselen konnen 
wir wenig sagen. Denn wir konnen ihre Ausserungen nicht 
warnemen, weil sie sich nicht bewegen konnen. Wir miissen 
nur von der Volkommenheit der Pflanze, wie sie in die Sinne 
fait, auf den Geist schliessen, der in ihr ftilt. All' ihre Sinne 



UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. 1780 53 

scheinen sich auf ein ser schwaches Gefiil einzuschranken. Ihr 
Korper wachst. Wie volkommen ist nicht eine ausgewachsene 
Pflanze, wenn wir sie gegen ein Samenstaubchen vergleichen! 

- Die volkommene Pflanze kan vielleicht eben so sein, wie das 
geringste Insekt als ein Samentiergen. Sie stirbt - - zu entschei- 
den war' hie zuviel; mutmassen ist erlaubt. Der Mensch steigt, 
das Tier steigt, und die Pflanzensele solt' ihr Schopfer nicht 
eben so steigen lassen? Sie wird mer als Pflanze werden 

- aber kein Tier nicht: denn sie war's in diesem Leben nicht. 
10 O! wie mus ich mich freuen, wenn ich iene Blumen voile Gefilde 

betrachte - wenn ich glaube, daft sie auch ihr Dasein fulen - 
wenn ich mich so ganz im Kreis f Mender, sich freuender Wesen 
erblikke - wenn ich bedenke, daB auch diese Pflanzen in der 

Ewigkeit 

Die Wesen die unter den Pflanzen sind. Von diesen begreif ich 
nichts. Sie sind Monaden, sind Selen; wenn Leibniz Recht hat. 
Sie werden gewis auch ihre Kraft' entwikkeln. Millionen Mil- 
lionen sind ihrer - und diese solten in Absicht ihrer selbst um- 
sonst gewesen sein? Gewis nicht. Wer weis, was iede Verande- 

20 rung, iede Versezzung, die mit ihnen vorgenommen wird, zu 
ihrer Volkommenheit beitragt. In der Welt ist eins mit dem 
andern verbunden; in iedes wird gewirkt, oder wirkt selbst - 
und dies alles nicht umsonst. Wie viel kan der Mensch zu ihrer 
Volkommenheit beitragen, one daft er's selbst weis! O! der 
Wunder der Schopfung sind merere, als wir glauben. Wir wissen 
nur von uns - und staunen die Tiefen an, die unserm Aug' uner- 
reichbar sind. Wir kennen kein Tier nach seiner innerlichen Be- 
schaffenheit, keine Pflanze, kein andres Wesen recht. Dank nur 
dir, dafi du uns geschaffen hast, guter Vater! Wie freu' ich mich 

30 zu sein, kunftig noch zu sein, um zu betrachten diese ganze 
neue Welt, mit andern Tieren bevolkert, die Vernunft haben, 
mit Pflanzen besat, die den iezzigen Tieren gleichen und mit 
Wundern erfiilt, wo von ich mir iezt noch gar keinen Begrif 
machen kan. Welche Wesen werd' ich erblikken, iiber mir, ne- 
ben mir, unter mir! - Und ich? - ach! was werd' ich dan sein? 
Mit Freuden werd* ich mich der Stunden erinnern, wo ichkiinf- 



54 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

tige Wunder Gottes nur noch im Dunkeln mutmaste - da im 
Dunkeln mutmaste, wo ich iezt helles Licht habe. Welche neue 
Krafte werd' ich erhalten! wie werden die iezzigen verstarkt 
werden! Welche neue Sinne werd' ich bekommen, um nur me- 
rere, nur grossere Wunder zu entdekken! - Wie wird mein Kor- 
per beschaffen sein - dieser Korper, der dieses schreibt! O Got 
sei mir giitig! las mich dies geniessen, fur das ich dir nie genug 
Dank werde stammeln konnen -! Und? wie werd' ich dich lieben? 
meine Mitmenschen lieben? — 

Zu Ende des Novemb. 1780. 10 



Bemerkungen 
I. 

Welche Sinne liefern uns die meisten Empfindungen? 

Die Menge&tr Empfindungen, die wir durch einen Sin erlangen, 
verhalt. sich wie die Feinheit desselben. - Das Auge bietet uns 
eineerstaunendeMengevon Empfindungen dar, die dieienigen, 
die wir durch's Or erhalten, weit tibertreffen. Der Geruch 
scheint zwar unter dem Geschmak zu sein; aber er ist es nur, 
weil dieser vor diesem geiibt wird. Durch's Gefiil erlangen wir 
die wenigsten von einander verschiednen Empfindungen; weil 
er der grobste ist. 

II. 

Schwierigkeit in. Ansehung der Einfachheit der Sele 

Die Sel' ist einfach und mus es sein. Und doch kan sie in eben 
dem Augenblike [!] mer als einen Begrif haben - mer als eine 
Sach' empfinden - durch mer als einen Sin fiilen - ia in Einem 
Augenblik Vergniigen und Schmerz zugleich haben. Sie kan 
die Schmerzen von einer Wunde fiilen - und zu eben der Zeit 



UBUNGEN IM DENKEN ■ NOY. I780 55 

die Siissigkeit einer Frucht geniessen. Woher komt das? — Ich 
weis es nicht. 



III. 

Nicht irnmer wird eine Idee durch die Verbindung mit mererern klar 

Es ist falsch, wenn man sagt, um eine Idee klar zu machen, 
mus man merere dazu denken. Denn eine Idee, die sich oft in 
die andre dunkel mischt, macht uns den ganzen Begrif wider- 
sprechend und verwirt. 

IIII. 

10 Zweierlei Gedachtnis 

Gedachtnis ist zweierlei: tierisches - durch anliche Eindriikke - 
Mitwirkung der Nerven - fiir den Menschen mer zwingend 

— und geistiges - mit Bewustsein - durch Ideenassoziazion, die 
der Verstand, der eigne Wille veranlast. 

V. 
Grund der Einschrankung der Sele - Mutmassung 

Mir scheint air Einschrankung der Sele vom Korper abzuhan- 
gen. Je weiter sie denken wil, desto mer nimt der Korper ab, 
leidet - ie grosser die Bewegungen der Sele sind, desto starker 
20 die Bewegungen im Korper, die den Tod bereiten. Ist das nicht 
Wink des Schopfers? - Mus es nicht fur's Ganze zutraglich sein, 
daB du so weit und nicht weiter mit deinen Selenkraften wirkst? 

- Vielleicht ist ieder Korper fiir den Geist die Granze, so weit 
er sich zu einer gewissen Zeit entwikkeln darf - vielleicht ist 
wol unser zukunftiger Korper eben das Mittel, diesen Geist ein- 
zuschranken- vielleicht geht's immer so fort? und immer Tren- 
nung des Geistes und des Korpers Mittel zu grosserer Volkom- 
menheit? - 



56 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

VI. 

Man kan sich einen Gedanken nicht zweimal denken 

Jede Idee andert sich durch die Lange der Zeit, -durch ofters 
Vorstellen derselben. - Ich denke keinen Gedanken in meinem 
ganzen Leben, davon der eine wie der andre ware. Ich kan mir 
keinen Begrif zweimal vorstellen - weil der eine nicht wie der 
andre ist. Die SeF ist der Veranderung eben so wie andre Ding* 
unterworfen. In ieder Sekunde leidet oder wirkt die Sele - in 
ieder wird sie anders - und eben deswegen auch ihre Wirkung, 
das Vorstellen. 



VII. 

Ursache der Verdrangung der Lere von Erbsiinde 

Die Verdrangung der Lere von der Erbsiinde scheint mit dem 
Wachstume der Psychologie zuzunemen. 

VIII. 
Gedachtnis und Gewonheit 

Ist Gedachtnis wol nicht auch Quelle der Gewonheit? - 

Villi. 

Jede neue Meinung ist schazbar 

Jede neue Meinung, die falsch ist, bringt neue Warheiten zum 
Vorschein. Deswegen - i) sie wird widerlegt; und dan last sie 
sich nicht aus den gewonlichen Warheiten widerlegen. Denn 
sonst miiste der, der die neue Meinung zuerst hatte, sie sich 
selbst haben widerlegen konnen. 2) Zufalliger Weise - man 
denkt iiber den falschen Saz nach - und komt dan auf neue. 
Es ist gewonlich, daB die neuen Warheiten falsch sind - allein 
sie sind's nicht ganz: man trent nur's Falsche von dem Waren 
— und dan steht die Warheit in neuer Gestalt da. 



UBUNGEN IM DENKEN ' NOV. IjSo 57 

X. 

Vom Schmuk in schweren Schriften 

Der Kopf, der viel Gleichniss' anbringt, geschmiikt schreibt, 
scheint mir wenig tief eindringen zu konnen - wenigstens kon- 
nen ihm die Gleichnisse, und andre Figuren nicht einfallen, wenn 
er eben scharf nachdenkt; sondern nur alsdan, wenn's schon 
geschehen ist. Wer tief nachdenkt, der stelt sich die Sache, wor- 
iiber er denkt, ganz allein vor - alle seine Selenblikke sind darauf 
geheftet. - Hier finden keine andre Ideenverbindungen stat, als 
solche, die unmittelbar 's Ding betreffen. Hingegen wenn er 
seine Arbeit wieder iibersieht, kan er leicht mereres hinzuden- 
ken, und Figuren anbringen. Aber ist's nuzlich bei schweren 
Materien? - 



XI. 

Nicht ieder widerlegt sein sollende Einwurf ist widerlegt 

»Dieser Einwurf ist schon hundertmal aufgewarmt und wider- e 
legt worden: und iezt komt man wieder mit ihm. « Dies ist die 
Sprache mancher, die lieber nachbeten, als selbst untersuchen. 
Ein solcher Machtspruch sol sogleich einen ganzen Einwurf ent- 
20 kraften. Dieser Einwurf ist hundertmal aufgewarmt worden - 
kan sein. Aber dies zeigt an, er ist niemals widerlegt worden. 
Man hat so 'was gegen ihn gesagt: aber's reicht nicht zu. Daher 
komt ein andrer, tragt eben diesen Einwurf mit, in die Augen 
fallendern, Farben vor, um aufmerksam zu machen. Ich halte 
den Menschen fur zu gut, als daB ich glauben konte, er verteidig' 
eine Sache, von deren Falschheit er liberzeugt ist. Wenn iemand 
etwas widerlegt sein sollendes wieder aufwarmt; so zeigt dies 
an, die Sach' ist gar nicht oder wenigstens fur diesen nicht wider- 
legt worden. - 



58 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

XII. 

Vom System machen 

Es ist eben nicht leicht, ein System zu machen. Entweder viele 
zusammen - in langer Zeit - machen sich ein System; so wie 
's teologische entstand - oder ein Genie bildet sich selbst eins; 
wie die meisten philosophischen. Beide Falle geben die Schwie- 
rigkeit, die damit verbunden ist, deutlich an den Tag. Es ist 
allemal leichter, einen Saz zu verstehen, von ihm uberzeugt zu 
sein, auch ihn zu erfinden - als ihn in Verbindung mit andern 
zu bringen - ia ganze Ideenreihen miteinander zusammenzupas- 10 
sen. Dies leztere kan bios der, der viel (iberdenkt, dessen Einbil- 
dungskraft wirksam genugist, umihm sogleich die fernere Ver- 
bindung eines mit'm andern zu zeigen; aber auch eingeschrankt 
genug, um ihn in Uberdenkung vieler Sazze durch keine Ne- 
benideen zu storen. Das erste felt oft dem Kalten - dem Manne 
- und das lezte schadet dem Jungling. Beid' Eigenschaften ver- 
eint, geben den, der ein System machen kan. - Es ist mk'n 
Systemen eine eigne Sache. Nichts ist unsrer denkenden Natur 
mer gemas, als Warheiten im Zusammenhange zu denken - 
nichts freut uns mer, denn hier ist die groste Anstrengung des 20 
Geistes mit Vergniigen, das aus der vereinten Mannigfaltigkeit 
komt, verbunden — allein nichts kan uns auch mer irre fiiren, 
als eben dieses. Denn wir stellen uns dan die Dinge nicht so 
vor, wie sie sind, sondern wie wir sie in unser System hinein 
haben wollen - wir schnizzeln und formeln so lang' an dem 
Dinge, bis es in unsre Ideenreihen hineinpast. 



XIII. 

Vom Ausbessern der Schriften 

»Man mus seine Schriften ausbessern - sie nach Horazens Vor- 
schrift neun Jare verwaren, eh' man sie drukken last.« Diese 30 
Regel giebt man so gern den Genie's - aber der Pedant nur. 
Ausbessern sol's Genie seine Schriften? alles bekritteln? der, 
der's eben nicht kan, weil er Genie ist? Saft und Kraft heraussau- 



UBUNGEN IM DENKEN * NOV. 1780 59 

gen, damit ia nichts ungewonliches mer d'rinnen bleibt? - O 
Toren! bedenkt, daB das Alter des Menschen kurz ist - daB 
es besser ist, wenn uns das Genie merere neue Dinge giebt, 
als daB es mit dem Ausbessern des ersten Werks, die Verferti- 
gung des zweiten versaumt. Ihre Arbeiten konnen wir wol be- 
urteilen, aber nicht selber machen. Das erste gehort nicht fur 
sie, aber wol 's lezte. 



XIIII. 
Der grosse Man ist nicht allemal so gros, als er's scheint 

10 Wenn wir die Schriften eines grossen Genie's lesen, oder von f 
seinen ausserordentlichen [Taten] horen; so stellenwir sie uns 
ihr ganzes Leben durch in einer solchen Glorie, solchen Anstren- 
gung aller ihrer Krafte vor. Aber dies ist falsch. Die grossen 
Taten, die sie tun, die erhabnen, schweren Warheiten, die sie 
erfinden, sind nicht altagliche Ausserungen bei ihnen - es sind 
nur starke Anstrengungen, die sich zu gewissen Zeiten aussern. 
Ein ganzes Leben in einer solchen Anstrengung zu furen - was 
ware das fur ein Mensch! Der Dumkopf ist deswegen nicht mit 
dem Genie eins. Der erste bleibt alzeit Dumkopf, er ist solcher 

20 Ausserungen gar nicht fahig - das Genie ist zwar auch gewonli- 
cher Mensch, aber nicht alzeit. - Das Genie ist nicht immer 
dasselbe - der Dumkopf aber wol. 

XV. 

Demut Larve des Hochmuts 

Der Demiitigste ist oft der Hochmutigste - paradox, aber war. 
Dieser aussert seinen Hochmut dadurch, daB er ieden seine 
Grosse, seine Krafte fiilen last - iener aber dadurch, daB er seine 
Krafte zwar auch aussert, aber mit minderer Beleidigung des 
andern - ia daB er sogar durch eben diese Demut sich eine gute 
30 Eigenschaft mer erwirbt. Man nem' einem Demiitigen seine 
Demut - und seh' wie er entriistet wird. Eben das, womit der 
Demiitige pralt, ist die Demut. - Demut artet oft in Schmeiche- 



60 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

lei aus - vorziiglich gegen hohere. - Dieser ist demutig bei einem 
Grossern als er selbst - und pralt bei einem geringern. 



XVI. 
Weissagung Voltaire's 

»Wenn so viel wider die Bibel ware geschrieben worden, als 
fur dieselbe; so ware sie schon langst verdrangt. « Das sagte Vol- 
taire. Mit grosser Einschrankung scheint dies in unsern Tagen 
einzutreffen. 

XVII. 

Von Freundschaft gegen Kliigere 10 

Unsre Schwachheiten entdekken wir demienigen nicht, von 
dem wir glauben, er selbst habe keine. Daher hat's Genie die 
groste Freundschaft gegen dieienigen, die in Ansehung der Ver- 
standeskrafte weit unter ihm stehen. - Dumkopfe leben eher 
in vertraulicher Freundschaft mit einander, als Genies. 

XVIII. 

Von guten und schlechten Buchern 

Die besten Biicher werden oft mit geringer - und die schlechte- 
sten mit grosser Muhe verfertigt. Das Genie, das ein gutes Buch 
schreibt, schopft aus sich selbst, ist sich selbst Leiter und geht 20 
seinen eignen Gang. Stromweise fliessen ihm neue Gedanken 
zu, die es wenig Miih' hat, nur noch zu ordnen. Der Kompilator, 
der Nachbeter, der ein elendes Buch macht, mus nachschlagen, 
herunfsuchen, und mit Muh' und Not ein eignes Gedankchen 
herauspressen. Ich mochte fast sagen, der Kompilator braucht 
mer seines Korpers, und das Genie seines Geistes Krafte. Jenem 
hilft Gedachtnis, diesem Einbildungskraft und defer Verstand 
- ienem Nachbeterei, Nachsuchen, diesem eignes Denken - ie- 
ner arbeitet Jare lang daran, dieser macht sich seinen Plan in 
etlichen Minuten. — 30 



UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. IjSo 6 1 

Diese Bemerkungen, vorzuglich die leztern, miissen immer mit 
Einschrankung - und oft mit Ausnamen - verstanden werden. 
Ein Saz ist dan nicht mer Warheit, wenn man seine Algemeinheit 
iiber die Granzen ausdenet. Wir abstrahiren alzeit nur von vielen 
und nicht von alien Dingen. Wir sind zu eingeschrankt, um alles 
ubersehen zukonnen. Eine Ausnam' ist eigentlich nur eine Aus- 
name von der Sache, worunter wir sie rechnen. Eben diese Aus- 
name zeigt an, dafi sie nicht in diese Klasse der Dinge gezalt 
werden darf, wo sie Ausname scheint, sondern in dieienige, 
io wo sie keine ist. Die Anlichkeit verf urt uns oft, anlich scheinende 
Dinge zu dieser und iener Sache zu zalen; wenn uns nicht die 
Ausname lerte, daB eben diese Sache da eine Ungleichartigkeit 
verursacht, wo sie anlich schien. - Dies wende man auf obige 
Bemerkungen an - und bedenke, daB, wo eine Sach' eine Aus- 
name macht, ich diese nicht darunter gerechnet habe - oder 
konte. — 



DEZEMBER 1780 



VIII. UNTERSUCHUNG 



Uber die Religionen in der Welt 

Alzeit der wenigste Teil der Erdbewoner hatte die Religion, 
die nach der Christen Meiming die ware ist. Es ist nicht schwer, 
dies aus der Geschichte zu beweisen. Ich wil die Sprach' eines 
gewonlichen Ortodoxen reden. - Da die Oberschwemmung 
der Welt kam, waren achte, die in Riicksicht auf's Praktische 
die ware Religion hatten; und eine ganze Welt, so weit sie damals 
bewont war, trug Ateisten und verderbliche Sunder. - Ein Pa- 10 
triarch mit seiner Familie war Gottes Volk; und alle Nazionen 
der Erde verworfene Abgotter. 

Ein Judenvolk vererte Got recht: und die ganze Menschen- 
menge der Weltvolker kant' ihn gar nicht. Ja! eben dieses Volk 
ward auch abtriinnig - und nun eine ganze Reihe vernunftiger 
Geschopfe, die ihren Schopfer schandeten! 

Chris tus komt. - Eine neue Religion wird eingefurt. Anfangs 
hatte sie zwolf Anhanger, hernach siebzig, dan tausende. Aber 
was ist dies gegen die Millionen Mehschen, die dieser Erdbal 
ernart? Ein ganzes Amerika kent ihn viel' Jarhunderte durch 20 
nicht. In Afrika und Asia sind der Christen eben so wenig. Eu- 
ropa ist vol von Gozzendienern. Nur ein kleines Hauflein nent 
sich christlich. 

Die Zal der Christen vermert sich. Nun giebt's Parteien, die 
einander verdammen. Man weicht ab. Die Dunkelheit nimt zu. 
Die Christen werden zu Vernunftschandern. Kurz das - Pabst- 
tum ist da. Nun ist die Zal der waren Christen kaum mer merk- 
lich. Dieser Zustand dauert Jarhunderte. Noch nicht genug. So- 
gar eine ganz neue Religion wird aus dreien zusammenge- 



UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. 1780 63 

schmiedet. Muhammed breitet seine Leren durch Krieger aus; 
verwiistet Lander und zwingt zum Glauben. Er wachst; seine 
Anhanger vermeren sich und es entsteht die machtige Turken- 
nazion. 

Endlich veranlast Luther eine neue Reforme. Ein Teil wird 
erleuchtet, der andre bleibt bei seinen Leren. Kalvin geht wieder 
vom ersten ab: und wird das Haupt einer Kirche, die man die 
reformirte nent. - Sieh' nun drei Kirchen, da iede die andre 
verdamt. 
10 Diese drei Kirchen klaren sich auf. Vorzuglich die Lu- 
ther' sche. Es entstehen in ihr Parteien: es kommen die Freigei- 
ster, Naturalisten und Heterodoxen. 

Und nun du, der du ein Protestant bist, der du deine Anzal 

Sazze fur allein war und annemungswiirdig erklarst was 

wilst du mit der iibrigen Menge von Menschen anfangen, die 
das nicht fur war halten, was du glaubst, die deinen entgegenge- 
sezte Sazze behaupten? - Vielleicht bist du so wenig Mensch, 
ieden andern, der nicht mit dir dasselbe glaubt, zu ewiger H61- 
lenpein zu verdammen? Fast schaudert's mich, nur diese Be- 
20 hauptung herzuschreiben. 

Uberlege diese Warheit: Got herscht iiber die Welt - Got ist's, 
der das Gute hervorbringt, aber er ist's audi, one den das Bose 
nicht geschieht. Oder, wirkt liberal Gottes Vorsehung - hat 
sie Einflus auf das Elend, das Lander verwiistet - last sie Krieg' 
entstehen, wo Menschen einander wie Tyger morden - weis 
sie liberal aus parzial Ubeln iiberwiegendes Gute fur's Ganz' 
herauszubringen - - und nur die Religionen, die fur die Aufkla- 
rung des menschlichen Verstandes, fur die Erwarmung des Her- 
zens, so wichtig, fur unser ewiges Gliik so wichtig sind, die 
30 Religionen - diese solten ausgeschlossen sein? Es sol auf den 
ungefaren Zufal ankommen, ob hie eine neue Religion entste- 
hen, da eine alte vergehen sol? Die Regierung der Vorsehung 
hat das Gliik der empfindenden [Geschopfe] zur Absicht - und 
nur die verniinftigen solten ausgeschlossen sein - denn dieser 
ihr ganzes Gliik hangt von der Religion ab. Got wil uns zeitlich 
gluklich machen? nur ewig nicht? - 



64 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

Ein Muhammed ist der Stifter einer neuen Religion, die wir 
fur falsch erklaren. Tausend und aber tausend sind ihre An- 
hanger - ihre Anhanger Jarhunderte schon durch. - Von 
wem hieng's nun ab, daB diese Religion entstand? Konte nicht 
durch eine andre Bes chaff enheit der Sele Muhammed's, durch 
andre Umstande, die auf ihn wirkten, durch minderes Gluk, 
das ihn in seinem Unternemen begiinstigte, die Entstehung die- 
ser Religion verhindert werden?- Oder »hatt* er vielleicht Wun- 
der tun mussen, urn das Aufkommen dieser Religion zu verei- 
teln?« Wie falsch! Wer beweist mir, daB es one Wunder nicht 10 
hatte geschehen konnen. Mit dieser Zuflucht konte man noch 
tausend Obel in die Welt versezzen, und ihren Widerspruch mit 
der Giite Gottes dennoch rechtfertigen. In wessen Busen nur 
noch ein Funke Menschenliebe glimt - wer kan sich diese tau- 
sende seiner Mitbriider als elende Schlachtopfer zu ewigen Stra- 
fen verdamt denken — wer sich Got, den Giitigen, und die Men- 
schen, die Elenden, denken? - Doch ich wil abbrechen von einer 
Behauptung, die Got lastert: ich wil die Augen wegwenden von 
einer Szene, die uns alles so schwarz, so finster vorstelt. Wir 
wollen ein System verlassen, das nur heilige Eiferer, die nichts 20 
als sich selbst liebten, die sich Got so grausam wie sie selbst 
vorstellen, ausbriiteten. Wir wollen uns vor der Benennung In- 
differentisten nicht fiirchten, sondern frei behaupten: daB alle 
Religionen gut sind, dap keine verdamt, wenn wir uns nicht durch 
Bosheit des Herzens selbst ungluklich machen - daj] iede Religion 
an dem Orte, wo sie ist, die beste ist - und dafi die christliche Religion 
zwar fur sich betrachtet die beste sei, dap sie's aber nicht an iedem 
Ort, sondern nur da wo Gottes Vorsehung sie hinbestimte, bleibt. 
Einige Bemerkungen werden dazu dienen, die Saeh' in ein 
helleres Licht zu sezzen und sie uns warscheinlicher zu ma- 30 
chen. 

Die Religion ist der Weg, den die Vorsehung geht, den Men- 
schen zu vervolkomnen, seinen Verstand aufzuklaren und sein 
Herz zu bessern. Sie geht mit iedem Individuum einen andern; 
eben deswegen ist die Menge der Religionen so gros. Tausend 
verschiedne Volker tragt die Erde - und tausend verschiedne 



UBUNGEN IM DENKEN ' DEZ. IjSo 6$ 

Religionen giebt's. Jedes kleine Volk in Nordamerika hat fast 
erne andre Religion; und eigentlich betrachtet hat jedes Indivi- 
duum seine eigne, individuelle Religion. 

Sie andert sich mit dem Klima ab. Der Morgenlander hat 
nicht die Religion, die der Abendlander verert - wer an dem 
Nordpol wont, glaubt nicht eben das, was der behauptet, der 
am Siidpol ist. Es ist war, man kan ein Christ sein in Lapland, 
und einer in Indien. Aber man ist nicht der Christ im eisigten 
Lapland, der man im brennenden Indien ist. Die verschiedne 

io Warm' oder Kalte des Klima's, seine FeuchtKeit oder Trokken- 
heit haben verschiednen Einflus auf den Menschen, der dies 
Klima bewont - der Blutumlauf ist entweder geschwinder oder 
langsamer - die Gefasse sind mer oder weniger gespant - kurz 
der Korper ist in iedem Klima anders, die Sel' ist also auch 
verschieden - die Folg' ihrer Ideen, die Starke der Neigungen 
u.s.w. ist nicht in iedem Klima dieselbe. Sol die Religion die- 
selbe sein - dieselbe bei denen sein, deren Wilkiir 's iiberlassen 
ist, diese oder iene anzunemen? Ein wenig Kentnis der Ge- 
schichte last uns leicht diese Frage beanrAvorten. - 

20 Vielleicht konte man sagen: »Es ist war, dafi es tausend Reli- 
gionen giebt: aber sind diese Religionen fur die, welche ihnen 
anhangen, gleich gut? ist ein Turk eben so gut, als ein Christ?« 
- Diese Frage last sich so beantworten. Jede positive Religion 
giebt dem Verstande dessen, der sie hat, etwas zu denken. Jeder 
verfeinet, formt und verbessert die Anzal Sazze, die er fur Reli- 
gionswarheit halt - und eben durch dieses bildet er seinen Ver- 
stand. Die Erfarung eines gemeinen Menschen mit den Religi- 
onssazzen verbunden, die er glaubt, geben's Resultat seines 
ganzen Ideenkreises - bestimmen den Grad der Volkommen- 

30 heit, den sein Verstand iezt erreicht hat. Die Religion giebt ie- 
dem Stof zum Nachdenken - er wiirde nichts suchen, als was 
gerade vor ihm da lage, wenn die Religion ihn nicht spornte, 
nachhoheren zu trachten. Jede Religion, wenn man ihre Gebote 
befolgt, machtihre Vererervolkomner, machtsietugendhafter: 3 

a Bei'm Sparter ist's Tugend, zu stelen - bei uns bestraft man's mit 
dem Leben. Der Sparter, der dieses tut, siindigt nicht - aber der Christ, 



66 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

obgleich nicht iede auf einerlei Art. Und den Nuzzen, den eine 
iede Religion ihren Vererern verschaft, mist und kent niemand 
recht als eben diese (Vererer). Eine iede Nazion mist den Nuzzen 
von der Religion einer andern nach der ihrigen ab: und mist 
falsch. 

Wo icb eine Religion vereren sehe, die ich fur falsch erkenne, 
so denk' ich: eben diese Religion ist die beste zu dieser Zeit, an 
diesem Ort, bei diesen Umstanden. Eine andre dahin versezt, 
wiirde nicht diese Wirkung, diese dem Ganzen heilsame Wir- 
kung tun. Unser falsches Urteil iiber den Nuzzen oder Schaden 10 
eines Dinges entsteht daher, weil wir's Ganze nicht kennen. 
Wir sehen, eine Sache niizt in diesem Teile des Ganzen. Wir , 
schliessen, also mus es auch in einem andern nuzzen. Wir wiir- 
den Recht haben, wenn alle TeiF einerlei Beschaffenheit hatten 
und auf einerlei Art sich zum Ganzen verhielten. Eben so mit 
den Religionen. Es ist gut, daB es Juden in Palastina giebt - 
aber 's ware schadlich, wenn 's deren in Amerika gabe. - Die 
Vorsehung sol die Welt regieren, und ich - der ich so kurzsichtig 
bin, dessen Verstand viel kleiner gegen [den] Verstand des Al- 
weisen ist, als der einer Milbe gegen den eines Leibniz's - und 20 
ichkonte etwas bessers machen und an des iezzigen Stelle sezzen 
- und das must' es sein, wenn eine bessere Religion an die Stelle 
der vorhandnen konte gesezt werden? Heist das nicht die Vorse- 
hung verhonen? nicht, sie ganzlich weglaugnen? Soviele Reli- 
gionen es giebt, so viele sind war - aber fur iedes Individuum v 
ist's nur eine. Subiektiv war sind sie alle: obiektiv war sind sie 
auch alle, aber iede unterscheidet sich von der andern durch 
die Menge der waren Sazze - ganz obiektiv war ist keine, aber 
eben sowenig eine ganz falsch. 

Ich glaube, Got sieht mit mer Wolgefallen auf die Religionen 30 

der's tut, ist nicht from. Bei einem und eben demselben Individuum 
konten diese Falle nicht stat finden - aber wol bei merern. - Die Tugend 
ist nur dan Tugend, wenn sie unsern Geist vervolkomt - Aber ist die 
Art der Vervolkomnung bei iedem Geiste dieselbe? - also ist's auch 
die Tugend nicht. - Diese Gedanken sind fliichtig hingeworfen, aber 
vielleicht wert, naher untersucht zu werden. 



UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. 1780 67 

in der Welt herab, als es mancher Teolog vermuten mochte. 
Er sieht sich liberal verert: aber nicht in demselben Bilde. Jeder 
macht sich eins nach seinen schwachen Beg riff en: aber keiner 
erreicht's Urbild. Der Philosoph verert in Gott einen Geist, den 
er nach seinen Begriffen von Volkommenheit gebildet hat - 
der gemeine Christ einen guten und machtigen Menschen - der 
Griech' einen Zeuvs [!] - der Agypter einen Kneph - und die 
Afrikaner ihre Fetisso's. Der Algutige freut sich des Eifers 
ihres Herzens - und vergiebt die Schwachrieit ihres Verstan- 

10 des. - 

Es ist mer Weisheit Gottes in der so mannigfaltigen und ver- 
schiednen Austeilung der Religionen verstekt, als man glaubt. 
Man hat nur auf diesen Punkt noch nicht genug Ruksicht ge- 
nommen, um den Nuzzen einer ieden Religion, den eben diese 
und keine andre giebt, genau zu bestimmen. Wenn die christli- 
che Religion fur alle Volker alzeit die beste ware: wiirde sie 
nicht der Got, der alles tut, Glu.k iiber seine Geschopfe zu ver- 
breiten, nach Amerika, Asia und Afrika haben gelangen lassen? 
Felen etwa die Mittel? und konnen dem Alweisen diese felen? 

20 - Uber das, was in der Zukunft geschehen kan, wollen wir 
nicht entscheiden. Vielleicht werden noch alle Volker fdhig, 
Christen zu werden. 

Vielleicht sind manche von den heutigen nichtchristlichen 
Religionen die Vorbereitung zur Annemung der christlichen. 
Im Judentum lag 's Christentum schon als Keim vcrborgen. 
Waren die Juden nicht gewesen, so wiirden die Christen nicht 
das gewovden sein, was sie sind. Judentum ist Religion der Kin- 
der - Christentum der Manner. Man must' ein Kind sein, eh' 
man ein Man wurde. Auch wir mCissen 's alle noch sein. Man 

30 solt' uns deswegen als Kinder das Christentum nicht leren: son- 
dern den Verstand zu mererer Reife kommen lassen. Waren 
Kinder am Korper fahig, 'das Christentum zu fassen: so hatten 
auch ehmalige Kinder am Geist Christen sein konnen, one Juden 
gewesen zu sein. - So wie's Kinder giebt, die Vernunft haben, 
eh' sie alt genug sind: eben so findet man Christen unter nicht- 
christlichen Volkern, und es giebt der erstern merere als es uns 



68 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

diinkt. Sie miissen nicht gerade das N. T. haben: der Koran, 
Talmud, Vedam vertrit seine Stelle. 

»Aber wie lange dauern nicht schon gewisse Religionen, one 
daB ein Anschein ihrer Verbesserung vorhanden ware? -« Dau- 
erte nicht eine iudische Religion Jartausende, bis endlich Chri- 
stus kam? Was sind Jartausende dem Ewigen? Miissen wir Plane 
Gottes, die Ewigkeiten umfassen, nach unsrer Mtikkenexistenz 
abmessen? - In der Natur reift alles langsam: aber 's bringt her- 
nach desto herlichere Fruchte. 

Last uns noch dieses betrachten. Got beurteilt ieden, nicht 10 
nach dem, was andre glaubten, sondern was er glaubte. Seine 
Begriffe von Recht und Unrecht sind der Masstab, wornach 
seine Handlungen abgemessen werden. Und wenn eine Religion 
wirklich ware, die einer andern in alien Sazzen entgegengesezt 
ware; so wiirden zwei Anhanger von beiden Religionen ungleich 
gerichtet werden, wenn sie in alien Stiikken anlich gehandelt 
hatten. Der eine wiirde belont, der andre bestraft werden. 

Jedes Subiekt hat eine andre Art sich zu vervolkomnen, d. h. 
seine Verstandes und Willens Kraft' auszubilden - und eben des- 
wegen eine andre Religion. Got kan diesen nicht verdammen, 20 
der mit ienem nicht einerlei Weg geht. Beide kommen zu eben 
dem Ziel; nur durch verschiedne Wege. Und Got ist's, der beide 
diese Wege betreten last. 

Und was ist nun das Resultat von diesem alien? - Dies. Alle 
Religionen sind gut- und an dem Orte, wo sie sind, die besten. 
Sie sind verschiedne Mittel zu demselben Endzwek. Jede Reli- 
gion aber, der ich mit Uberzeugung anhange, ist fur mich die 
beste. Fur einen andern ist sie's nicht: weil er von ihr nicht 
(iberzeugt ist. - Das Christentum ist so wenig in der Welt ausge- 
breitet - eben weil 's Vortrefliche seltner ist, als das Mittelmas- 30 
sige. - Behonlachl' also keine Religion, die du fur falsch erklarst 
- du belachelst den, der eben diese Religion entstehen lies. Last 
uns tolerant gegen die sein, deren Verstand wir wol iibertreffen: 
deren Herz aber besser, menschenfreundlicher und liebevoller 
ist als unsers. Last uns nicht, wie sonst, Briider morden, um 
einem Erhalter des Lebens zu gefallen - nicht gegen die grausam 



UBUNGEN IM DENKEN ' DEZ. 1780 6$ 

sein, die der Hochste liebt. Wie herlich sind diese Aussichten! 
Air unsre Bruder- all' unsre Religionsverwandte - al zu einem 
Himmel berufen - von einem Vater geliebt! — 



Villi. Untersuchung 



Jeder Mensch ist sich selbst Masstab, 
wonach er alles aussere abmist 

Jeder glaubt, er sei unter alien der wichtigste, der beste. Er wil 
kein anderer sein - und wenn er gleich seine aussern Umstande 
mit einem andern vertauschen mochtc, so verwechselt er mit 

ro ihnen doch seine innerlichen nicht. Ob er schon an dem andern 
Volkommenheiten findet, die er nicht hat, so weis er doch solche 
an sich zu entdekken, die der andre nicht besizt und die ihm 
iener Stelle leicht ersezzen. Sich glaubt er am besten zu kennen; 
deswegen fangt alle seine Beurteilung andrer von seiner Selbst- 
kentnis an. Es braucht wenig Beobachtungsgeist, um diese Ge- 
wonheit in der Beurteilung der Meinungcn, Handlungen und 
aussern Umstand' anderer zu entdekken. Zuerst also die Meinun- 
gen anderer. 

Er weis, was er glaubt. Der andern Meinungen beurteilt er 

20 nach den seinigen. Findet er in ienen Widerspruche mit den 
seinigen: so sind sie ihm falsch. Er untersucht nicht, ob vielleicht 
die seinigen die falschen sind. Den Begrif , den er mit einer Sache 
verbindet, sol auch der andre damit verbinden. Er fast dieses 
ser dunkel; und spricht deswegen einem andern die Fahigkeit 
ab, es deutlicher denken zu konnen - oder, er sieht eine Sache 
deutlich ein, und wundert sich, wie sie dem andern Schwierig- 
keit verursachen konne. Wenige Menschen verstehen einander 
recht - sagt Gothe. Warum? weil wenige von etwas andern als 
von sich Begriff haben. - Zwei sprechen mit einander. Beide 

30 bedienen sich einerlei Worte - aber nicht beide verbinden diesel- 



70 JUGENDWERKE ' I.ABTEILUNG 

ben Begriffe damit. Jedes Wort ist nur Kleid, nur sinlicher Aus- 
druk, nur Korper des Gedankens: den Geist macht sich ieder 
dazu - und macht sich eben deswegen einen falschen. Daher 
kommen soviele gelerte Streitigkeiten. Man zankt sich Jare lang 
iiber eine Sache - zulezt kommen beide Parteien uberein, wenn 
sie einsehen, daB sie nicht denselben Begrif mit einerlei Worten 
verbunden haben. Sie waren beide einig - nur machten sie sich 
falsche Gegner. 

Der wiirde furwar! ser klug sein, der alle verstiinde, und der 
[der] diimste, der niemand als sein ander Selbst fassete. Der 10 
Grund von diesem alien liegt hierinnen: Jeder Mensch hat eine 
eigne Masse von Begriffen, die er durch Erfarung bekommen 
hat. Diese Begriffe hangen mit einander auf s genauste zusam- 
men. Einer modifizirt sich nach dem andern. Er begreift einen 
Begrif nur insofern, als er aus seinem eignen, individuellen Vor- 
rat von Sazzen Ideen nach dem Assoziazionsgesez herbeifiiren 
kan, die ihm diesen Begrif aufklaren, mit ihm zusammenhan- 
gen, und sich zu ihm als Teile zum Ganzen und umgekert, oder 
als Grund und Folg' und umgekert verhalten. Nun hat ieder 
Mensch ein System von Begriffen^ das vom System eines andern 20 
verschieden ist. Jeder hat einen andern Korper und eine andre 
Sele, andre Erziehung, befindet sich an andern Orten, hat andere 
aussere Umstande u.s.w. - und eben deswegen einen andern 
individuellen Vorrat von Begriffen: Miissen nun also nicht die 
Begriffe bei iedem verschieden sein, die er herbeifiirt, einen 
Ausdruk, oder eine Sache sich zu erlautern? Mus nun nicht ieder 
bei eben dem Wort' einen andern Begrif verbinden? - Ich gebe 
zu, daB das Assoziazionsgesez der Ideen bei alien Menschen 
gleich wirkt. Aber 's findet nicht bei iedem anlichen Stof. Oft 
sind tausend Verbindungen moglich. Nur die iedesmalige indi- 30 
viduelle Beschaffenheit des Subiekts giebt den Grund von der 
iezzigen Verbindung, die gerad' aus tausenden wirklich ward. 
- Leute, die einander in vielen anlich sind, verstehen einander 
am besten. Zwei Narren streiten selten lang' aus Ernst iiber 
eine Sache. Aber ein Dumkopf und ein Weiser sind einer dem 
andern vollig unverstandlich. Und dieser ienem mer, als umge- 



UBUNGEN IM DENKEN * DE2. 1780 71 

kert. Um einen Narren zu verstehen, mus man oft selbst einer 
sein. 

Ich komm' iezt zur Beurteilung fremder Handlungen. Wir 
schazzen die Handlungen der Menschen da noch am richtigsten, 
wo sie uns nichts angehen. Und nicht einmal dies tun wir oft. 
Wir sehen iemand handeln; und leihen ihm dan unsre Lage. 
Alsdan sehen wir freilich viel Ungereimtes, Lacherliches und 
Boses darinnen: es komt aber nur daher, weil wir dies hinein 
sezzen. Der Mensch, der iezt so handelt, handelt recht: eben 

io weil er nicht in unsrer Lag' ist. Er wiird' aber dan erst bose 
handeln, wenn er eben dies in unsrer Lage tate. 

Die Handlungen eines gewissen Menschen scheinen uns bose. 
Aber warum? - weil wir ihm unsre bosen Absichten leihen, 
und seine guten wegnemen, oder sie miskennen, Er handelt 
gut - weil er andre Absichten hat, als wir ihm iezt zuschreiben. 
Er wiird' aber bose handeln, wenn er die unsrigen hatte. Der 
Argwon wird durch diesen Selbstbetrug genart. Kein Mensch 
ist im Stande, die Handlung eines andern zu beurteilen, weil 
cr seine Lage nicht hat, seine Absichten nicht kent. - Ich glaube, 

20 niemand wird nach den Gesezzen recht gerichtet. Sie sind zu 
algemein; und Strafen selten den Verbrechen proporzionirt. 
Und man unterscheidet noch dazu nicht, ob das, was bei diesem 
Subiekt' ein Verbrechen ist, es auch bei einem andern ist. Got! 
wie viel sind schon unschuldig gemordet, wie noch merere un- 
schuldig gepeinigt worden! und wie wenigen ist ihr Recht wie- 
derfaren! - Ich glaube der Richter, der alzumenschenfreundlich 
ist, wird sich wenigern Ungerechtigkeiten aussezzen, als der, 
der alzu strenge richtet. Gelindigkeit ist eher verzeihlich als 
Grausamkeit Denn iene begehen offers Gute, diese meistens 

30 Bose - Man vergebe mir diese Ausschweifung. - 

Niemand wird deswegen mer Lasterhafte in der Welt anzu- 
treffen glauben, als der, der selbst recht bose ist, oder 's war. 
Tausend sieht er handeln, die gut handeln. Aber er dichtet ihnen 
bose Absichten an und verwandelt gute Taten in Laster: bios 
weil er in diesem Falle so handeln wiirde. Eben weil er so oft 
bose war, so ist er scharfsinnig genug, um andre als bose da 



72 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

zu erklaren, wo niemand als er so sein wiirde. »0! es giebt 
ia gottesfiirchtige Betschwestern, die tausend Schandtaten in 
der Welt erblikken - one selbst bose zu sein.« Ich glaub' es. 
Sie waren aber vorher eben den Lastern ergeben, auf die sie 
iezt schelten. Sie sind Huren gewesen, eh' sie Nonnen wurden. 
Der menschenfreundliche Lavater argwont nie Boses. Er sieht 
bios Tugenden in der Welt, und Engel, die sie bewonen. Dies 
ist mir Biirge, daB er selbst das ist, fur was er andre ansieht. 
Aus dem UrteiP eines Menschen iiber die Handlung eines an- 
dern, kan ich schliessen, wie er selbst ist. Das Urteil, das er 10 
iiber andre fait, fait er iiber sich selbst. Nur der, der ein Laster 
schon erfaren hat, mutmast seine Moglichkeit bei andern. 

Niemand ist daher leichter zu betriigen, als ein Unschuldiger, 
und Guter. - Aber ich wil lieber in unschuldigem Irtum hinwan- 
deln, und mit Engeln umzugehen glauben: ich werde gluklicher 
sein. Wie wil ich ruhig sein, wie mich unbesorgt dem andern 
in zartlichen Hinwallungen mitteilen - wenn ich bios schwarze 
Herzen sehe, die mir libels bereiten, lachelnde Feinde, die den 
Grund meines Gliiks untergraben, und menschliche Teufel, de- 
ren Grim auf ihrer Stirn mich schaudern macht! - 20 

Bisher hab' ich von dem Urteile der Menschen iiber andrer 
Taten geredet, in so fern diese uns nichts angehen. Ich komm' 
iezt auf die, welche einen guten oder bosen Einflus auf uns ha- 
ben. Auch hier nemen wir uns zum Masstab an, den andern 
zu beurteilen. - Hier entdekt man am besten den optischen Zau- 
bertrug, der uns so oft den Gesichtspunkt in Schazzung andrer 
verriikt. Wirsehenniemitblossen Augen. Das Verhalten andrer 
gegen uns ist das Glas, wodurch wir sie sehen. Durch dieses 
Glas erblikken wir des Freundes Laster als Flekken in einer herli- 
chen Sonne, und seine Tugenden, als Taten einer Gotheit wiir- 30 
dig. Durch dieses Glas erscheint uns das kleinste Vergehen un- 
sers Feindes als ein Verbrechen wider Got und Menschheit - 
und seine Tugend als ein Schimmer, mit [dem] der Schatten 
des Lasters nur noch mer kontrastirt.. Sturz driikt dieses alles 
vortreflich so aus: wir sehen die Laster im Sonnenmikroskop 
und die Tugenden im konischen Spiegel; oder umgekert. One 



UBUNGEN IM DENKEN ■ DE2. I780 73 

Allegoric - Jedes Unrecht, das man an uns ausiibt, wird doppelt 
bos, bios weil wir's fiilen; und iede Tugend doppelt vererungs- 
wiirdig, weil man sie zu unserm Nuzzen tut. Die Moralitat einer 
Handlung wird verdoppelt, wenn sie uns angeht. Wir werden 
beleidigt - Wir sezzen uns nicht in die Lag' unsers Beleidigers, 
urn die Bewegungsgriinde zu entdekken, die ihn vielleicht mit 
Recht zu dieser Handlung gereizt haben. Wir betrachten nur 
uns. Und nach der Grosse [des Eindruks], den dies Ubel auf 
uns macht, bestimmen wir die moralische Haslichkeit seines 

10 Urhebers. Unsre Empfindlichkeit, seine Unwissenheit, sein 
Recht dazu bringen wir hier nicht mit in Rechnung. Wir finden 
an uns so viel Volkommenheiten und Liebenswiirdigkeiten, wir 
lieben uns so ser, daB wir gar nicht einsehen konnen, wie ein 
andrer nicht eben dies an uns merken, nicht eben die Liebe gegen 
uns tragen konne. Je vortreflicher wir uns scheinen: fur desto 
lasterhafter halten wir den, der in Beleidigung unsrer keine Riik- 
sicht darauf nimt. Wir bedenken aber nicht, daB wir in andrer 
Augen nicht das sind, was wir in unsern sind. Daher ist die 
Tugend, seinen Beleidiger zu lieben, unter alien die schwerste, 

20 unter alien dieienige, die am wenigsten ausgeiibt wird. Wir 
wlirden die Ausubung dieser Tugend ser erleichtern, wenn wir 
uns als den Beleidiger, und nicht als den Beleidigten dachten. Wie 
viel Ursachen wtirden wir dan finden, die wichtig genug sind, 
das Verfaren unsers Feindes zu entschuldigen, oder wenigstens . 
die Haslichkeit desselben zu mindern! - Eben so verfaren wir 
bei'm Guten, das uns von andern zu Teil wird. Die Giite seines 
Herzens wird nach der Grosse des Guten geschazt, das er uns 
erwiesen hat. Von dem, was geschehen ist, schliessen wir auf 
das, was er hat tun wollen. Vielleicht macht dies der Menschheit 

30 Ere! Dieser Feler - wenn's einer ist - kan noch eher entschuldigt 
werden, als der vorhergehende: ich wil lieber ienen als diesen 
begehen. -Ich wil anders z. B. von den Leidenschaften, uberge- 
hen, das zu bekant ist, um hier angemerkt zu werden. - 

Einen bessern - heist, ihn nach uns formen, und einen loben, 
heist, unsre Volkommenheiten am andern bemerken und sie 
schazzen. Wir schazzen nur das an andern, dessen Vortreflichkeit 



74 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG 

wir bei uns selbst gefult haberi. »Derowegen ist ieder gegen 
das gleichgiiltig, was nicht das Stekkenpferd betrift, auf dem 
er reitet.« 

Nicht einmal uns selbst beurteilen wir recht. Um eine Hand- 
lung von uns zu beurteilen, nemen wir nicht die Lag' an, in 
der wir waren, da wir sie taten - wir schazzen sie nach unserer 
iezzigen Lage. Deswegen stimt der Mensch so wenig rnit sich 
selbst iiberein. 

Endlich begehen wir den Feler, in allem uns zum Masstab 
zu nemen, auch bei der Schazzung der Gliiksumstande des an- 10 
dern. Wir sehen einen andern und halten sein Gluk hoher als 
unsers. Die Ursach' ist: wirkennen seine Leiden nicht; und glau- 
ben er habe gar keine, weil er die unsrigen nicht hat. Man halt 
einen andern gliiklicher als sich, indem man zu seinen Freuden 
die unsrigen hinzusezt und ihn one Leiden sein last, da er nur 
die unsrigen nicht hat. Daher komt der gemeine Wan, Konige 
sein die gliiklichsten unter der Sonne. Man sieht ihre glanzenden 
Freuden, deren Genus der Pobel fur so viel ange[ne]mer halt, 
da ihr Anblik schon so viel reizendes hat, ihre Reichtumer, die 
ihnen die teuersten Wolliiste erkaufen, und ihre Macht, womit 20 

sie sich iedes Gute mit Gewalt rauben konnen alles dieses 

stelt das Konigsleben dem Kopfe des Pobels in einer solchen 
Glorie dar, daB es kein Wunder ist, wenn ieder machtig, ieder 
reich, ieder ein Konig werden wil. - Eben so beurteilt man's 
Leiden andrer. Wer immer gluklich ist, empfindet iedes Ungluk 
doppelt - Dieser glaubt also, iener Elende empfind' iedes Un- 
gliik auch doppelt und halt [ihn] dadurch fur so ungliiklich. 
Aber er bedenkt nicht, daB ienen immerwarender Kummer 
schon an's Elend gewont habe, und daB er also wenig bei dieser 
Reihe von ungluklichen Tagen fiile. - 30 

Diese Tauschung, alles nach uns zu schazzen, begleitet uns 
liberal. Sie verlast auch den Weisern nicht vollig. Sie ist ein 
Feler, den man nur bemerkt, wenn er schon lange begangen 
worden ist - ein Feler, der sich ablegen last, wenn man keine 
Ursach' hat, ihn zu begehen. Man wiirde weniger stolz, weniger 
feindselig sein, wenn man ihn nicht hatte: aber man wiirde dafiir 



UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. I780 75 

andre Vorteil' entberen mussen. Man wurde nichts beurteilen 
konnen; weil man keinen Masstab hatte, es darnach zu verglei- 
chen. 



X. [Untersuchung] 



tJher Narren und Weise - Altags Zeug! 

Der Nar kent seine Unwissenheit nicht; aber andre kennen sie. 

Er kent nur seine Wissenschaft, die andre an ihm nicht finden. 

Der Weise hingegen findet liberal Granzen seines Verstandes, 

die andre nicht bemerken; weil sie sie noch nicht erreicht haben. 

10 Er weis am besten, wie wenig er kan. Er kent am besten den 
granzenlosen Umfang des Reichs der Warheiten, urn sein kleines 
Terrain, das er darinnen in Besiz hat, fur nichts zu achten: wel- 
ches aber andre fur gros ausschreien, weil ihres unendlich kleiner 
ist. 

Der Dumkopf diinkt sich viel zu wissen, weil er das nicht 
kent, was er nicht weis - und der Weise glaubt wenig zu wissen, 
weil er das kent, was er nicht weis. Der Dumkopf giebt ungern 
oder gar nicht nach, weil er selbst wenig dachte, und deswegen 
selten zu irren glaubte. Der Weise hingegen nicht. - 

20 Wenn ein Dumkopf und ein Weiser zusammenkommen, se- 
hen beid' einander fur Narren an. Aber dieser bemitleidet ienen; 
und iener verhont diesen. Ein Nar ist eben so unerforschlich 
als das Genie - und das am meisten, weil iener sich nicht selbst 
beobachten kan. Die Ausserungen des Narren sind in Nacht 
verhiilt; man erklart zu viel oder zu wenig, oder gar falsches 
hinein. Oft ist dieser Nar nur ein verstimtes Genie - und dan 
scheinen die Narheiten am grosten zu sein. 

Der Dumkopf ist eben so vergniigt wie der Weise. Beide 
sind stolz; der erstere auf sein Vielwissen, der leztere auf sein 

30 Nichtswissen: und nur der lezte ist's mit Recht. Denn 's gehort 
viel dazu, einzusehen, daB man wenig weis. 



j6 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

Beide schreiten weiter - der eine in der Narheit, der andre 
in der Weisheit. Bleiben sie stille stehen; so vcrwandelt sich 
einer in den andern. Die Granzen der Narheit und Weisheit lau- 
fen ser in einander. Es braucht wenig, von einem zum andern 
iiberzugehen. Wir solten nur oft mit scharfern Augen sehen, 
urn in dem Narren ein (ibelangebrauchtes [!] Genie zu entdekken 

- und so umgekert. - Es ist viel, vom Klugen etwas zu lernen 

- aber 's ist noch schwerer, vom Narren zu lernen, Der ist ein 
grosser Nar, der glaubt, viele Narren in der Welt anzutreffen: 
und der ein Kluger, der alle zu verniinftigen analy siren kan. 

Man ist nicht immerfort ein Nar; man ist aber auch nicht 
immer ein Weiser. Narheit und Weisheit haben ihre periodischc 
Riikker wie's Fieber. 



' Bemerkungen 

X Villi. 

Was ist fiir ein Unterschied zwischen Temperamentstugend und 
Temperamentslaster? 

Ein kalter Stoiker, den Temperament und aussere Umstandc 
zum Weisen balden, iibertrit nie die Schranken, die unsre Be- 
gierden zamen. Ein feuriger Jiingling hingegen, der zu ser stro- 20 
mende Kraft in sich fiilt, als daB er sich derselben mit Masse 
bedienen konte, schweift aus - aber nur eine kurze Zeit. Wel- 
chem von beiden werd' ich den Vorzug geben, welchen fiir 
den volkomsten und besten halten? - Den leztern. Ich wiirde 
gewonnen haben, wenn man nur beid' in anliche Umstande 
versezte. 



UBUNGEN IM DENKEN • DEZ. I780 77 

XX. 

Der Schriftsteller mus nicht zu demiitig sein 

Es gefalt iedem, wenn ein Schriftsteller demiitig ist, wenn ein 
Genie sagt, daB es keines sei. Man preist diese Art, seinen Wert 
nicht in Augen zu haben, iedem Schriftsteller an. Aber ich 
glaube, mit Unrecht. Warum sol der Man, der's wol kan, seine 
Grosse nicht fulen lassen - warum sol der aufgeklarte Kopf mit 
den Biiklingen eines Dumkopfs vor's Publikum treten? Viel- 
leicht ist wol dies die Ursache. Wir leiden's noch, daB einer 
10 ein grosser Man ist: aber wir mogen's nicht von ihm selbst erfa- 
ren. Unsre Eigenliebe wird zu ser beleidigt. Wenn iemand von 
sich sagt, daB er gros sei: so ist's eben so viel, als wenn er sagte, 
daB wir klein sind. Man braucht also die gar zu grosse Demiiti- 
gung nicht zu empfelen. - Man kan bescheiden sein; man mus 
sich aber deswegen nicht selbst heruntersezzen. Man ist beschei- 
den, wenn man sich nicht mer zueignet, als sich gehort, und 
andern das nicht raubt, was ihnen gehort. 

XXI. 

Der grosse Geist liebt's Gross' auch an andern, der kleine hast's 

20 Ein kleiner Geist kan keinen, der ihm gleich ist, und noch weni- 
ger einen hohern neben sich leiden. Er hast das Grosse, weil 
er klein ist. Er beneidet's wol: aber nachahmen kan er's, mag 
er's nicht. Mancher kleine Geist scheint manches Grosse gar 
nicht zu bemerken, noch seinen Besizzer zu beneiden. Es komt 
aber daher, weil er das Grosse fur das nicht ansieht, was es 
ist. - Ein grosser Geist hingegen liebt und schazt andere Grosse 
neben sich; weil er selbst gros ist. Wer's nicht tut, zeigt an, 
daB er noch nicht gros genug ist, urn andere nicht zu beneiden 
- seine Grosse noch nicht genug fiile, urn sich one Has mit 

jo andern vergleichen zu konnen. 



78 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

XXII. 

Empfindungsassoziazion 

Eine Idee erwekt die andre, entweder als Grund und Folge, und 
umgekert - oder als Teil des Ganzen und umgekert - oder end- 
lich, weil beid' oft mit einander sind erwekt worden. Wie?kont' 
es nicht eine Empfindungsassoziazion geben, wie's eine Ideenas- 
soziaziongiebt?-Ichhabez. B. eine Person oft an einem gewis- 
sen Orte sizzen gesehen, die iezt tod ist. Wenn ich mich nun 
an eben diesem Orte (wieder) befinde - wenn alle Empfindun- 
gen wieder aufleben, die ich sonst da hatte, wenn iezt meine 10 
Phantasie mitwirkt; wird nicht diese Person als ein Teil dieser 
Empfindung gegenwartig zu sein scheinen? wird nicht das Feuer 
der Einbildungskraft mit den iezzigen Empfindungen vergesel- 
schaftet, die Empfindung selbst erregen? — Zum wenigsten 
last [sich] hieraus die Ursache von manchen Gespensterer- 
schein[ung]en angeben. Denn manche Personen wollen gewisse 
Erscheinungen gar zu klar empfunden haben, als daB sie solche 
fur Schrekbilder der Phantasie erklaren liessen. Wie? wenn man 
ihnen einraumte, daB es wirklich Empfindung gewesen sei - 
und nur in der Ursach' von ihnen abgienge, daB man sie namlich 20 
in die Sele versezte, da iene sie ausser derselben suchen? 



XXIII. 

Uber's Genie solte nur ein Genie schreiben 

Jeder rasonnirt ein wenig uber's Genie: ieder schwache Kopf 
wil von grossen Kopfen reden. Uber Genie solte niemand als 
ein Genie selbst schreiben. Es kent ein Genie am besten, wenn's 
nur sich kent; es hat die Krafte dazu, eben weil es ein Genie 
ist. Und sogar dieses selbst wird schlecht dariiber schreiben. 
Denn 's ist sich selbst ein Razel, welches es nicht entziffern kan, 
es wandelt in Nacht, und geht dunkle Gange. Es kent an sich 30 
nichts als seine Unergriindlichkeit, und es allein kent sie am 
besten. 



UBUNGEN IM DENKEN ■ DE2. 1780 79 



xxinr. 

Vom Gliiklichsein 

Niemandfiilt das Unangeneme so inniglich, als der, den's selten 
betrift. Je gluklicher man ist, desto mer ist man unangenemen 
Empfindungen ausgesezt. Die bestandige Freude, worin man 
schwebt, schliest ieden Miston aus - iedes Ubel macht mit dem 
bestandigen Guten einen doppelten Kontrast. - Man kan leichter 
einen Zustand ertragen, der immer derselbe bleibt, solt' er auch 
nicht ser wiinschenswert sein, als in einem gliiklichen leben, 
10 den immer unangeneme ZufalF unterbrechen. An ienen Zustand 
hat man sich schon gewont; diese fiilt man desto empfindlicher, 
ie mer man gluklich ist. 

XXV. 

Das Gut' und 's Bose, das uns betrift, modifizirt sich nach unsrer iedcs- 
maligen Empfanglichkeit 

Jedes Gute oder Bose, das uns betrift, modifizirt sich nach unsrer 
iedesmaligen Empfanglichkeit. Eben diese Freude schmelzt den 
einen in Wehmut, und treibt ihm Freudentranen aus dem Aug' 

- und begeistert den andern zur Iarmenden Froligkeit. Der vo- 
20 rige Zustand vermischt sich mit dem iezzigen auf eine bewun- 

dernswiirdige Art und schattirt ihn gleichsam. Dasselbe Ungluk 
stiirzt den einen in Verzweiflung - entflarnt den andern zur Wut 

- und last einen dritten in Starheit und Unbeweglichkeit hinsin- 
ken - oder einen andern heisse Tranen weinen. Wir fiilen eine 
Sache, wir geben den Ton, nach dem wir gestimt sind. Eine 
Metapher, die viel sagt! - 

XXVI. 
Oft ist's gut, niizliche Irtumer stehen zu lassen 

Manche teologische Sazze, die der aufgeklartere fiir falsch halt, 
30 haben ihren Nuzzen, ihren mannigfaltigen Nuzzen bei geringen 



80 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

und minder erleuchteten Leuten. Sie sind Sporn zu gewissen 
Handlungen, die nicht geschehen wurden, wenn man iene ver- 
miste. Sie haben fur sie Nuzzen, weil sie davon iiberzeugt sind; 
und sie sind davon iiberzeugt, weil sie nicht Krafte genug haben, 
sie zu untersuchen. Fur den Weisern fait der Nuzzen weg - 
denn er glaubt sie nicht, und kan's nicht, weil er zu aufgeklart 
ist. - In der Welt ist Warheit und Irtum eben so weise verteilt, 
als Sturm und Sonnenschein. Du verwirfst gewisse Sazze, die 
unwar sind: aber sieh* zu, ob du an ihre Stelle ware sezzen kanst, 
die eben den Nuzzen bringen, wie die falschen. Vielleicht bringt 10 
ein Irtum niizlichere Folgen hervor als eine Warheit an seiner 
Stelle. Es versteht sich bei solchen, die ihn glauben. Der Weise 
zieht Nuzzen aus Warheiten. - In Gottes bester Welt ist kein 
Irtum one niizliche Folgen - und wo ein Irtum ist, ist er's nicht 
umsonst, ist an dem Orte besser, als eine Warheit. 



XXVII. 

Dem Unwissenden sol man nicht allemal seinen Irtum benemen 

Las dem Unwissenden einen Irtum, von dem er sich zu iiberzeu- 
gen vermag; und dring' ihm keine Warheit auf , deren Beweis 
er nicht einsieht. Schenk' ihm einen leichten Irtum, und quaT 20 
ihn nicht mit schweren Warheiten. Si eh' alzeit, wo's deinem 
Bruder frommet! Er mist die Giite seiner geglaubten Sazze nicht 
nach den Beweisen derselben ab, sondern nach ihren guten oder 
bosen Folgen. Der Weise Hebt Warheit als Warheit, weil sie 
seinen Verstand ergozt, der Unweise, weil sie ihm gefalt und 
ihm niizt. Nimst du ihm's lezte weg, so hat er gar nichts. Denn 
das erstere last sich nicht an seine Stelle sezzen, weil er kein 
Weiser ist. 



XXVIII. 

Von den verschiednen Gedachtnissen \ 30 

Es ist falsch, wenn man glaubt, ein Philosoph brauche kein star- 
kes Gedachtnis zu haben. Wer selbst schon gedacht und bemerkt 



UBUNGEN IM DENKEN • DEZ. 1780 8 1 

hat, wie schwer es ist, die feinen Gedanken sich nicht entwischen 
zu lassen; wird sich wundern, wie dem Philosophen Gedanken 
nicht entgehen, die man schon Muh' hat zu fassen, die so fein 
sind, daB sie ein scharfsichtiges Auge kaum bemerkt. Der Philo- 
soph hat eben so gutes Gedachtnis, wie der Geschichtschreiber. 
Beide machen nur nicht gleiche Anwendung davon. Das Ge- 
dachtnis der Philosophen nimt nur solche Ding* auf, die Auf- 
merksamkeit und Nachdenken erwekken, kurz die den Verstand 
interessiren. Dinge, die wenig zu denken geben, z. B. Zeitrech- 

10 nungen, manche unbedeutende Geschichte des Vaterlands 
u.s.w. dies alles merkt es nicht: es hat wichtigere Sache[n] zu 
behalten. Eigentlich merkt man nur das, was man merken wih 
denn dies hat allemal den grosten Eindruk auf uns, und wird 
deswegen auch viel leichter behalten . Es giebt aber verschiednen 
Geschmak; und eben deswegen verschiednes Gedachtnis. Jeder 
benimt dem's Gedachtnis, der nicht das behalt, was er behalt. 
Aber er solte bedenken, daB wenn der andre nicht gerade das 
merkt, er doch was merke. Die Gedachtnisse sind iiberhaupt 
weniger im Grad, als vielmer der Art [nach] unterschieden. - 

20 Der hat also das groste Gedachtnis, der gegen alles am reizbar- 
sten ist - und der das geringste, der liberal unempfindlich ist. 
Daher komt's starke Gedachtnis der Jiinglinge - und's schwache 
der Greise. 



xxvnii. 

Malen Wort' unsern Selenzustand? 

Die Worte drukken nie das ganz aus, was man fiilt. Sie geben 
nur einen Umris. Wen hef tiger Affekt drangt, findet nie die 
Worte, die seinen Selenzustand hinmaleten. Sie sagen nur, daft 
etwas da sei; aber nicht, was, und wie es da sei. Nur der, der 
30 gleich mit ihm gestimt ist, fiilt das namliche dabei - aber er 
fiilt dan nicht bios das, was dasteht, er fiilt noch, was der andre 
nicht ausdriikken konte. Er malt's Gemald aus, das der andre 
nur durch schwache Umrisse gezeichnet hat. Ein par Worte 
sind oft genug, um seine Sei' in einen Zustand zu versezzen, 



82 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

den keine Worte malen konnen. - Aber ie besser der Umris 
ist, den du iezt von deiner affektvollen Sele machst, desto leich- 
ter wird's dem Leser, das Gemalde zu vollenden. Gothe ist ein 
solcher Zeichner. Er trift iede Saite des empfindenden Herzens 
- hat nicht gariz Deutschland ihm geweint? 

XXX. 

Vom Schwermiitigen 

Empfindliche Selen haben Muhe freudig zu werden, wenn sie 
traurig waren. Wem's von innen nagt, ofnet mit vieler Muhe 
sein Herz einer Freude. Er last nur denen Freuden den Eingang, 
die an seine Melancholie granzen - stille, sanfte Freuden, die 
ihn wehmutig machen, liebt er mer, als das Larmende bald be- 
reuter Vergniigen. Er senkt sich in stilles Trauren, nichts sol 
ihn storen. Er wil das Recht haben, traurig zu sein, welches 
ihm vielleicht eine Freude rauben konte. - Freude macht uns 
zu algemeinen Menschenfreunden; und Traurigkeit last uns alien 
gram sein, oder wenige ausschliessend lieben. 

XXXI. 

Warum sich kleine Geister so gern loben 

Grosse Manner loben sich selten: aber sie brauchen's auch nicht. 
Taglich sumset ihnen 's Gerucht von ihrer Vortreflichkeit in 
die Oren. Kleine Geister werden nicht mude, von sich Gutes 
und Schones zu sagen. Die Ursach' ist, weil niemand ie derglei- 
chen von ihnen gesagt hat. Sie wollen nun Lob. Eignes mus 
die Stelle des fremden ersezzen. 



XXXII. 
Gedachtnis und Einbildungskraft scheint einerlei zu sein 

Es ist schwer, Gedachtnis und Einbildungskraft zu unterschei- 
den. Die Granzlinien, wo's eine anfangt, oder's andre aufhort, 
sind zu fein gezeichnet. So viel ist gewis. Gedachtnis ist nie 30 



UBUNGEN IM DENKEN ■ DE2. 1780 83 

on' Einbildungskraft. Ich kan mich keiner Sach' erinnern, one 
zugleich 's Bild derselben wenigstens dunkel in meiner Sele zu 
haben. Und ist dies nicht Wirkung der Einbildungskraft? - Auch 
ist Einbildungskraft nie one Gedachtnis. Denn von alien mogli- 
chen Bildern, die iene zusammensezt, ist der Stof aus der Natur 
genommen, den das Gedachtnis an die Hand giebt. Es ist mog- 
lich, daB das Ganze dieses nie in der Natur existirt hat; aber 
seine Teile sind doch da gewesen. Einbildungskraft tut weiter 
nichts als zusammensezzen: nicht aber schaft sie. Sie ist ein Top- 

10 fer, der wol dem Ton allerlei Gestalten giebt, aber ihn nicht 
hervorbringt. Einbildungskraft wiirde also nicht sein, wenn Ge- 
dachtnis nicht ware. - Uberhaupt scheint's mir, daB alles Ge- 
dachtnis bios Einbildungskraft ist - und daB diese bios es sei, 
die ienes giebt. - Die Erinnerung ist nichts, als die Bemerkung 
der Anlichkeit oder Unanlichkeit der gegenwartigen Sache mit 
dem Bilde in der Sele. Und was ist die sogenante memoria localis 
anders, als die Vergegenwartigung dagewesener Bilder. Wenn 
das vermeinte Gedachtnis wirken sol, so miissen zwei Bilder 
von einer Sache in der Sele vorhanden sein, die man mit einander 

20 vergleicht, und aus deren Anlichkeit mit einander man schliest, 
daB eins schon da war. Also ist bei iedem Aktus des Gedachtnis- 
ses ein Urteil. Die Einbildungskraft hat nur allezeit Ein Bild 
vor sich. Ihre Absicht ist nicht, zu bemerken, daB es schon da 
war: sie nimt gar keine Riiksicht auf die Zeit. - Dieser hat viel 
Einbildungskraft, aber wenig Gedachtnis. Das ist kein Einwurf 
gegen mich. Ich kan eben dasselbe Vermogen der Sele bei dem 
einen Obiekt iiben, und bei'm andern ungebraucht lassen. So 
ist's bei'm Poeten. Eine Kraft aussert sich nicht bei alien Gegen- 
standen auf dieselbe Art: sie wirkt hier stark, da schwach. Es 

30 sind aber nicht zwei Krafte. 



XXXIII. 
Wider die Freiheit 

Wider den Freiheitslaugner wendet man dies ein: »wie? ich soke 
notwendig handeln? - Kan ich nicht tun, was ich wil?« Das 



84 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

gesteht man dir gerne zu; aber es folgt nichts wider uns daraus. 
Was du wilst, kanst du ausfuren. Hierinnen zwingt man dich 
nicht. Aber wo liegt denn der Grund, dafi du dieses wilst? Ent- 
weder er liegt in dir, oder in den aussern Dingen. In dir kan er 
nicht liegen; du giebst keinen Grund dazu an. Du wilst dies, 
weil du's wilst. Dies ist ein identischer Saz. Nun ist allemal 
noch die Frage, warum du dieses wollen wilst? Hier verschiebt 
man immer die Frage weiter; man komt aber nie zu Ende. Es 
ist also der Grund ausser dir zu suchen. Deine Sel' ist so gemacht, 
daB sie etwas wil; wenn gewisse aussere Ding' auf sie wirken. 10 
Es komt nun nicht auf sie an, diese Dinge wegzuschaffen. Sie 
mus, wenn sie da sind. Freilich kan sie's nicht fiilen, dafi sie 
gezwungen wird: weil sie alsdan eben die Sache wollen und 
nicht wollen muste. - Was wir nun sind, sind wir durch die 
Dinge geworden, die uns umgeben. Ich kan mich durch ernstli- 
ches Nachdenken bessern; aber von wem hangen diese Gedan- 
ken ab? nicht von aussern Dingen, die sie erregen? oder sind 
sie [eine] Kette von Vorstellungen, wo iede Grund und Folg' 
ist? Und hieng wol die erste von uns ab? — . 

XXXIIII. 20 

Wiewenig wir Geisternatur und uns selbst kennen 

Wir begreifen gar nichts von Geistern. Die Kraft' eines Geistes 
- ihre Entwikkelung - in was fur einem heiligen Dunkel ist 
dies noch verhiilt? Wir spielen immer mit leren Worten und 
glauben die Sach' erhascht zu haben, wenn's nur ihr Schatten 
ist. Was sind die Schranken eines Geistes? wie kommen einem 
Geist als Geist Schranken zu? — Ich bin mir ein unerforschlich 
Ding. Ich bin mir unbekanter, als alles was mich umgiebt. Ich 
schaudere, wie ich so ungewonte Dinge fiile, wenn ich mich 
einmal selbst erblikke. Sind wir denn immer bestimt, ausser 30 
uns selbst herum zu irren, urn zu suchen, was wir in uns schon 
haben?- Eben die aussern Dinge, die den Endzwek haben, uns 
uns selbst fiilen zu lassen, bewirken gerade das Entgegengesezte, 
werfen uns ausser uns selbst hinaus. Wir werden dadurch mer 



UBUNGEN IM DENKEN • DEZ. I780 85 

Neigung als Gedanke - man vergebe mir Dunkelheit, wo Licht 
nicht moglich ist - und eben dadurch ungeschikt gemacht, uns 
selbst zu betrachten. Es sind mir merkwiirdige Augenblikke, 
wenn ich mich selbst sehe. 



XXXV. 

Von verborgnen Leiden und Freuden 

Es giebt mer Freuden in der Welt, als man gewonlich glaubt; 
aber 's giebt auch mer Leiden, als sich einige einbilden. Wer 
uns bereden wil, das Leben sei eine Reih' angenemer Empfin- 

10 dungen, bringt iene Freuden vor, die uns einnemen, weil sie 
oft der Scharfsichtigkeit unsers Auges entgangen sind. Wer hy- 
pochondrisch genug ist, zu glauben, unser Los sei verzerender 
Gram und unsre Bestimmung immerwarende Leiden, der sucht 
alle verborgene Qualen zusammen und bringt unbekante Freu- 
den nicht mit in Rechnung. Beid' einzeln betrachtet irren: beide 
zusammengenommen geben's Bild des gewonlichen Men- 
schenlebens. Man kan zur Behauptung seiner Sachc Schilderun- 
gen von dem Leben einiger Menschen vorbringen, die entweder 
meistens gluklich oder ungliiklich waren. Aber man darf sich 

20 nur erinnern, daB es hier sowie bei allem in der Welt, Ausnamen 
giebt. Der gewonliche Mensch hat nicht soviele Freuden, als 
einige traumen; aber auch nicht soviele Leiden. 

XXXVI. 

Schonheit ein Mittel zur Menschenliebe 

Unser Schopfer hat alle Mittel angewandt, urn in uns die Liebe 
gegen andre zu erwekken, zu naren - die Liebe, die uns das 
Leben so siisse macht, die uns iedes Leiden mit verdoppelter 
Kraft ertragen last. Eine Flamme lodert unaufhorlich in unsern 
Busen, die uns zur Freud' entziindet, wenn wir andre frolich 
30 sehen, und die unser Herz in Unmut kochen last, wenn andre 
Tranen vergiessen - wir nennen sie Menschenliebe. Ein Mittel 
hierzuseh' ich in iener Anziehung der Gesichter, die man Schon- 



86 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

heit heist. Dieser Reiz im AnbJik, der unsre Sele so anlokt, dieses 
Schmelzende, das unsre Herzen in Wehmut zerfliessen und unsre 
Augen zartliche Tranen herausweinen last - dieses Gotliche in 
menschlichen Gesichtern kniipft das Band, das onehin ein im- 
mer reger Trieb bindet, noch fester, noch inniger zusammen. 
- O! ich mocht' eher vor dem Bilder alles Schonen und Volkom- 
nen nieder fallen, hinauf zu ihm weinen, wenn ich eine riirende 
Schonheit erblikke, als wolliistige Gedanken haben. 

XXXVII. 

Warum Schriften, wo der Verfasser uns denken last, gefallen 10 

Schriften, wo der Verfasser gedachthat, gefallen uns. Aber die- 
ienigen gefallen noch mer, wo er uns denken last. Wir eignen 
uns dan die Belonung fur das zu, was der andre erfindet; und 
schmeicheln uns das zu konnen, was andre fur uns tun. Darum 
liest man sogern wizzige Sachen. Darum giebt's so wenige, die 
abstrakte Schriften mit Vergniigen lesen - ausser dieienigen, 
die sogar in schweren Material, wo der Verfasser selbst alles 
gedacht hat, doch in Stande sind, mer hinzuzudenken. 

XXVIII. 

Zur Physiognomik 20 

Ich mochte das Bild eines Menschen in seiner Jugend, in seinem 
Jiinglings, Mans und Greisen Alter sehen. Wie verschieden mti- 
sten diese Bilder sein! Man wiirde die Geschichte seines Lebens 
darin eingegraben lesen; den abwechselnden Sieg zwischen Tu- 
gend und Laster beobachten, die Furchen, die Gewonheit immer 
tiefer pfliigt, entdekken und dieinnersten Falten der Sel' unver- 
hiilt, bemerken konnen. - Wenn wir aus der aussern Form der 
Sel' ihre innere Beschaffenheit warsagen, so haben wir bios den 
gegenwartigen Zustand derselben, on' ihren vor[her]gehenden 
und zukiinftigen vor Augen. Aber wer ist der grosse Physio- 30 
gnomist, dem Ziige, deren Verbindung mit dem Vorhergehen- 
den er nicht warnimt, isolirte Ziige sogleich die innersten Falten 



UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. 1780 87 

der Sel' entschleiern solten? - Kan ich den iezzigen Grad des 
Lasters bestimmen - gesezt, ich wiist' iiberhaupt, daB ein Laster 
daware - wenn ich keinen Masstab habe, einen Grad zu bestim- 
men? Und ieder Mensch mus mit seinem individuellen Masstab 
gemessen werden. Wiist' ich den Ausdruk von dem unmerk- 
lichsten Grad des Lasters bei diesem Menschen, so wiird' ich 
aus dem iezzigen Grade des Lasters Grosse bei diesem bestim- 
men konnen. 

XXXVIIII. 

io Von Vokalen 

Vokale sind nichts anders, als gewisse Stufen, die man bestimt 
hat, urn einen almalig sich abandernden Laut zu unterscheiden. 
Es giebt mer Vokale, als man in den gewonlichen Sprachen 
antrift. Unser Or ist nur zu ungeiibt, die feinern zu unterschei- 
den. Unser A verandert sich almalig zum ae und endlich zum 
e mit erweiterter Ofnung des Mundes; und klingt wie O und 
U, mit verminderter Ofnung desselben. Mit eben dem Rechte, 
mit welchem man einen Laut mit A bezeichnet, konte man ihn 
auch O nennen. Denn's last sich keine Granz' angeben, wo a 
20 aufhorte a zu sein, und anfienge O zu werden. Das tiefste A 
ist das helste O. In den Wortern einer Sprache sind die Vokale 
nicht mit der Genauigkeit angegeben, als es sein soke. Deswegen 
kan man auch die rechte Aussprach' einer Sprache nur mimdlich 
lernen. 

XL. 

Die Welt ist kein Jammertal 

Mancher denkt, recht gottesfurchtig zu sein, wenn er die Welt 
ein Jammertal nent. Aber ich glaube, er wiird' es eher sein, wenn 
er sie ein Freudental hiesse. Got wird mit dem eher zufrieden 
30 sein, dem alles in der Welt recht ist, als mit dem, dem gar nichts 
recht ist. Bei so vielen tausend Freuden in der Welt - ist's nicht 
schwarzer Undank, sie einen Ort des Kummers, und der Qual 
zu nennen??? — 



MAI. 1781 



XI. Untersuchung 



Man belont die Tugend zu wenig in der Welt, und bestraft's Laster 

zu ser 

Ich sehe mer Strafen als Belonungen in der Welt - dies komt 
nicht daher, weil's mer Bose als Gute giebt; sondern weil man 
mer Sorgetragt, das Laster zu bestrafen, als die Tugend zu belo- 
nen. Wer einen Menschen mordet, mus sterben; strenge Strafe! 
- Aber wer einen andern mit Lebensgefar dem Tod' entreist, 
wird entweder - unbelont gelassen, oder wenigstens nicht so 10 
ser belont als es sein Eifer zu verdienen scheint. Und ist dies 
nicht unbillig? Dem Morder raubt man's Leben, das groste, 
was man ihm nemen kan - den Erhalter desselben - lobt man 
ein wenig. Welche Ungleichheitzwischen Strafen und Belonun- 
gen! Es wiirden sicher weniger Verbrechen in der Welt sein, 
wenn man die guten Taten mer belonte. Tausend unedle Hand- 
lungen werden veriibt, weil uns der Reiz eines Vorteils zu ser 
anlokt, als daB wir dafiir nicht ein Laster begehen solten. Wie? 
wenn man iene Vorteile, die mit der Ausiibung gewisser Laster 
verbunden sind, von ihnen trente, und sie als einen Herold der 20 
Tugend ausstelte, der ihre Vortreflichkeit dem schwachen, vor- 
teilsbegierigen Menschen verkiindigte? — 

Sezt einen Man, der gezwungen ist, sein Weib und seine Kin- 
der vor Hunger tod niederfallen zu sehen, wenn er ihnen nicht 
schleunige Hiilfe verschaft. Was sol er iezt tun? Arbeiten? - Er 
hat nicht Krafte genug, allein fur so viele Narung zu erwerben. 
Die Zeit ist auch zu kurz. Unter der Bemuhung, ihnen Hiilfs- 
mittel zu verschaffen, werden sie sterben. Oder sol er betteln? 



UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 1 89 

betteln? - ein edles Herz wait lieber den Tod. Und warlich, 
war' er auch gut genug, seine Ere der Menschenlieb' aufzuop- 
fern, so wiird' es eine vergebliche Sache sein. Einige Pfennige, 
in einem ganzen Tage gesamlet, reichen nicht hin, fur eine ver- 
hungerte Familie Brod zu kaufen. Kurz, dieser Man ergreift 
das geschwindeste Mittel. Er wird, wenn er in Paris ist, auf 
die neue Briikke gehen, und sich nach einem reichen Kaufman 
umsehen, welchem er durch Vorhaltung der Pistole die Bors' 
abnotigen kan. Er wird ein Dieb, und wenn's die Umstand* 

io erfordern ein Morder werden. Wie! ihr Menschenfreunde, 
Menschenverbesserer, wenn ihr den Vorteil mit der Tugend 
verbandet, den sonst nur's Laster gewart. Es ist war, es ist nur 
scheinbarer Vorteil: aber dieser reizt so stark - warum gebt ihr 
ihn der Tugend nicht? Warum sezt ihr soviele der Gefar aus, 
lasterhaft zu werden? »Die Tugend belont sich selbst« aber auch 
das Laster bestraft sich selbst. Warum last ihr dieses nicht seiner 
eignen Bestrafung iiber; da ihr iene mit ihrer eignen Belonung 
begmigen wolt? - »Jene Straf ist fur den unkultivirten Menschen 
zu schwach, urn mit der Vorstellung derselben ihn gegen die 

20 Zaubergewalt des Vorteils wafnen zu konnen« - Ja! so ist auch 
die innerliche Schonheit der Tugend zu unmachtig, als dafi sie 
sich durch ihren eignen Reiz bei rohen Menschen Vererer schaf- 
fen soke. - Gewis es wiirden merere tugendhaft leben, wenn 
man mer Nuzzen hatte, es zu sein. »Aber so wird die Tugend 
eigenniizzig gemacht.« Eigenniizzige Tugend? Was wolt ihr 
sonst fur eine haben? Eine uneigenniizzige, ganz uneigenniizzige 
ist eine englische. Ihr zersprengt die Saite, weil ihr sie zu hoch 
spant. Ihr macht, dafi gar keine Tugend in der Welt ist, weil 
ihr die menschliche verschmaht. Eine menschliche, und mit 

30 Flekken verdunkelte, ist doch wol besser als gar keine. Last 
uns Menschen sein, ehe wir Engel werden wollen. - 

Ein armer Missetater mit al dem Pomp, al dem Schauer hin- 
gerichtet, den die Schar grimmiger Gerichtsdiener, der Zulauf 
des drangenden Volks, der feierliche Aufzug der Geistlichen, 
die fiirchterlichen Werkzeuge des Henkers,die grausame Todes- 
angst, die sich auf dem Gesichte des Armen mit schreklichen 



90 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG 

Ziigen malt, das Angsten der sterbenden Menschheit, der An- 
blik des scheidenden Geschdpfs, des rauchenden Bluts, erregt 
- mus vom Laster wegschrekken, und den Elenden, der schon 
mit verbundnen Augen hin an den Rand seines Ungliiks getau- 

melt ist, algewaltig zuriikreissen Aber sezt einen Woltater 

der Menschen, dessen Busen fur Briiderwol gliihet, einen Men- 
schenfreund, der hundert, der tausend Elende dem Ubermas 
ihres Kummers entrissen, und der leidenden Menschheit die 
Tranen vom Auge verwischt hat - den hie der Schweis, der 
seinem gluhenden Angesicht entdrang, nie die tausend Gefaren, 10 
denen er sich aussezte, abhielten, Menschen gliiklich zu machen 

sezt einen solchen; und denkt dan, wenn man diesen zur 

Belonung seines Eifers mit al den Erenbezeugungen iiberschiit- 
tete, die nur der Uberwinder erringt! Wenn ein Herold seine 
guten Taten unter der Menge des staunenden Volks verkiin- 
digte, und wenn die Freudentranen derer, denen er Vater war, 
laut ihm dankten, laut seine Verdienst' anzeigten - wenn der 
Regent, der iiber ihn herschte, ihm vor alien seinen Beifal zu- 
winkte und offentlich die Merkmale seines Wolgefallens zu er- 
kennen gabe, wenn dieser Man liberal geert wiirde, liberal den 20 
Vorzug vor vergotterten Dumkopfen und erhobnen Menschen- 
qualern hatte, wenn alles dies ware - sagt selbst, ob's nicht gros- 
sen Eindruk auf die Gemuter machen, sie vom Laster zuriikrufen 
und tief in der Sele dtn Trieb, Gutes zu tun, erregen wiirde. 
Und ware diese Art, den Menschen gut zu machen, uns nicht 
anstandiger, unsrer nicht wiirdiger? - Wirklich an Mannern, 
die eine solche Belonung verdienen, felt's nie. Aber wie verfart 
man mit ihnen? Ein Olavides z. B. in Spanien, der bios Men- 
schen gliiklich machte, und sie einer herlichen Aufklarung naher 
brachte, wird verdamt, bei unwissenden Monchen den aufge- 30 
klarten Verstand mit Unsin der Priester zu foltern, und alle Tag', 
in ein enges Gefangnis verschlossen, Rosenkranzz' abzubeten! 
O Schiksal, o Menschheit! 

Und wenn nicht die Verdienste des Menschen, den ihr belo- 
nen solt, so gros sind, als ich sie angegeben habe; so belont 
wenigstens die geringern in kleinerm Masse, und last nicht die 



UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 I 91 

unbemerkte, oft verkante Tugend in sich selbst verschlossen, 
bios mit dem eignen Beifal, gut gehandelt zu haben, vergniigt 
sein. 

Aber ist dies nicht vielleicht Schimare, unniizze Spekulazion? 
Nein, es ist's nicht, weil man iezt das auszuiiben anfangt, was 
vorher nur schones Traumbild war. Wem ist's Fest der guten 
Leut' unbekant? - oder die Rosiere d'Artois, welche die Kom- 
merzkammer zu Nantes stiftete, alle Jar' einem tugendhaften 
Madgen 500 Livres zu geben? a oder der Entschlus des Konigs 
von Preussen, Statiien der beriimtesten Manner aufrichten zu 
lassen - die eines Kleist's, Schwerin's pp? oder die wiirdige 
Grabschrift, womit Friedrich zu Baden die Verdienst' eines 
Landmans kronte? b Glukliches Jarhundert, das solche Aussich- 
ten verspricht. 



XII. Untersuchung 



Uber Narren und Weise, Dumkopf und Genie's 

Narren und Dumkopfe - diese Benennungen bezeichnen nicht 
ein und eben dieselbe Sache; obgleich man sie oft mit einander 
verwechselt. Ihre Verschiedenheit last sich leicht entdekken. 
20 Der Dumkopf ist das bedauernswiirdige Geschopf, dessen 
Geist nie mer als eine geringe Anzal Ideen fast, nie durch die 
Stralen der Warheit in vollem Mass' erleuchtet wird, der Dum- 

a Wekhrlin's Kronologen. II. Teil S. 94. 

b Eben daselbst wo's heist: »Auf Befel des Marggrafen zu Baden 
wurd' auf dem Damfeld, einem durch den Fleis eines Landmans aus 
einem oden Plaz in ein fruchtbares Feld verwandelten Bezirk, eine Eren- 
saul' errichtet, mit der Inschrift: 

Georg Adam Lang 
dem Burger in Langenheim, 
30 der Bienenvater genant, 

verdankt die Austroknung des Damfelds 
Karl Friedrich. « 



92 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

kopf ist der Polype zwischen Menschen und Tieren - Der Nar 
ist dies alles nicht - die meisten sind Narren, weil sie zuviel 
wusten, oder zu wissen glaubten, als ihnen zutraglich war. Sie 
verstehen viel; aber eben weil sie's libel anwenden, werden sie 
zu Narren. Der Dumkopf wird geboren; der Nar gemacht. Der 
Dumkopf kriecht wie die Schnekke so langsam, weit ist er auf 
dem Wege zur Warheit zuriik, und unfahig weiter zu kommen. 
Er hat wol den rechten Weg; aber ist's auch ein Wunder, daB 
der, der kaum einige Schritte vor's Tor hinaus ist, nicht irre 
geht? - Der Nar hingegen ist voraus; aber er hat den rechten 10 
Weg verlassen und irt one Leidfaden. Der Dumkopf ist nicht 
gleichzuerkennen: denn er hat's mitdemWeisen gem ein, wenig 
zu sagen und sich nicht leicht zu entdekken. Oft nimt er auch 
die Maske des Weisen an, wie der Esel die Lowenhaut - beiden 
steht ihr Anzug nicht - aber nur der Scharfsichtige entlarvt sie. 
Der Nar hingegen wird gleich sichtbar; er hat ein eignes Kenzei- 
chen an sich, das ihn von andern unterscheidet wie die Montur 
die Soldaten - namlich, er ist nicht wie andre Leute. Der Nar 
sagt alles, was er denkt; und eben das verrat ihn sogleich. Wir 
wiirden merere Narren in der Welt antreffen, wenn merere of- 20 
fenherzig genug waren, ihre Gedanken herauszusagen. - Der 
Dumkopf ist blodsichtig; ersieht nicht weiter als vor seine Fiisse 
hin - der Nar hat gute Augen; aber er sieht durch eine falsche 
Brille. - Der Dumkopf ist deswegen Dumkopf, weil er nicht 
unter den Tieren ist, wo er als ein Genie gelten wiirde - der 
Nar deswegen ein Nar, weil er nicht in einer andern Welt als 
der wirklichen ist - in der namlich, die in seinem Kopfe existirt, 
wo man ihn fur klug halten wiirde. Der Dumkopf kan nicht 
geheilt werden, weil er so geboren ist - er ist ein Schwacher, 
dessen Krafte nicht vermert werden konnen. Den Narren kan 30 
man bessern, eben weil er schlimmer werden konte. Er ist ein 
Starker, dessen Kraft' iibel gebraucht worden sind: es ist nichts 
notig, als sie auf eine andre Seite zu lenken. Raserei ist der hoch- 
ste Grad von Narheit - und diese heilt man in unsern Tagen. 
- Im Schlafe sind wir alle Narren - das macht, weil wir die 
Sinnen nicht zum Wegweiser haben. Der Dumkopf ist's im 



UBUNGEN IM DENKEN ■ MAI 1 78 1 93 

Schlafe nicht - da ist er Embryon, er denkt gar nichts. Das 
Ubel des Dumkopfs besteht darin, daB er zu wenig Einbil- 
dungskraft hat - das des Narren, daB er zuviel hat. Deswegen 
ist der Poet der Gefar nahe, ein Nar zu werden. Daher der so 
gelobte furor poeticus. - Leidenschaften machen uns zu Narren 

- aber nicht zu Dumkopfen. - Der Dumkopf hat sein Ebenbild 
unter den Tieren; der Nar nicht. Dies zeigt an, daB iener weniger 
mit den Menschen verwand ist, als dieser. - Alle Menschen 
haben zu gewissen Zeiten Narheiten an sich; und die grosten 

10 am meisten - aber dum ist nur eine kleine Anzal. Dum ist man 
bestandig - ein Nar oft nur auf eine kurze Zeit. - Das Herz 
des Dumkopfs ist wenig edler Bewegungen fahig; das des Nar- 
ren ist zu alien aufgelegt, welche nur die Grille nicht betreffen, 
die ihn zum Narren macht. - Die Narren spert man ein, oder 
hangt sie an Ketten. Aber die Dumkopfe last man laufen, sie 
sind geduldige Tiere wie die E -. Sie stehen oft auf Katederstii- 
len, auf Kanzeln-siesizzenauf demTrone. Oft braucht's nichts, 
um ein Amt zu bekommen, als ein Dumkopf zu sein. Denn 
der, der's zu vergeben hat, ist mitleidig gegen die, die sein Eben- 

20 bild sind - schazt an andern das, was er an sich selbst schazt. 

- Darin nur sind Dumkopf und Narren einander gleich, daB 
keiner glaubt das zu sein, was er ist. - 

Es ist iezt leicht zu erraten, daB ein Weiser und ein Genie 
nicht einerlei Dinge sind. Der Weise ist dem Narren, dem Dum- 
kopf das Genie entgegengesezt. Von allem, was ich gesagt habe, 
brauchtmannurdas Gegenteil abzuziehen, um die Verschieden- 
heit des Weisen und des Genies zu entdekken. Noch einige Be- 
rn erkungen! 

Wenn ein Dumkopf und ein Weiser zusammenkomt, so sieht 
30 ieder den andern fur einen Narren an. Aber dieser bemitleidet 
ienen; und iener verachtet diesen. - Ein Nar ist eben so uner- 
forschlich, als ein Genie - und das am meisten, weil iener sich 
nicht selbst beobachten kan. Die Ausserungen des Narren sind 
in Nacht verhiilt; man erklart zuviel oder zu wenig, oder gar 
falsches hinein. Oft ist dieser Nar nur ein verstimtes Genie, 
und dan scheinen die Narheiten am grosten zu sein. 



94 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG 

DaB die meisten Genie's eine kleine Dosis Narheit an sich 
haben, ist an sich nicht notwendig, Aber in dieser Welt ist nichts 
rein; alles ist mit Mangeln vermischt, so die Tugend, so die 
Weisheit. »Verschiedne Volkommenheiten fiiren ihre eigne 
Mangel mit sich, und machen, so wie in der Korperwelt, indem 
durch die Biegung nach der einen Seite die Konvexitat zunimt, 
auf der andern ein desto grosseres Leres.« Auf der einen Seite 
bewundern wir iene grosse Genie's, auf der andern bedauern 
wir sie. Karakter des Genie's ist's nicht, aber Los der Mensch- 
heit, daB der, welcher mit einer Eigenschaft sich unser Er- 10 
staunen erwirbt, mit der andern wieder unsre Hochachtung ver- 
liert. 

Aber auch oft, und das mus man zu ihrer Verteidigung sagen, 
sehen wir das mit schiefem Auge Kir Narheit an, was nur unge- 
wonlicher Weg des Genies ist. Wir kalte Weisen haben gewisse 
Granzen festgesezt, iiber die freilich das Altagsvolk nicht hin- 
auskriechen mag, nicht hinauskriechen kan. Aber diese achtet 
das hochfliegende, drangende Genie nicht - die emporstrebende 
Selenkraft last sich nicht einengen, noch sein kiiner Gedanken- 
flug durch Regeln fesseln. Einen Gothe, mit alien seinen Aus- 20 
schweifungen liest man doch hundertmal lieber, als seine kraft- 
losen Schreier, als das elende Gekreische seiner Antipoden. - 
Uberflus der Kraft drangt zum Guten - aber sie ist auch oft 
Gelegenheit, boser zu werden. - 

In unsern Tagen hielt man's fur Unterscheidungsmerkmal 
des Genie's, ausschweifend und ein Nar zu sein. Viele gaben 
sich daher Miihe, sich als Genie's zu zeigen, und das in noch 
grosserm Grade zu sein, was sie vorher in kleinem waren. 

Es ist viel, vom Klugen etwas zu lernen - aber es ist noch 
schwerer, vom Narren zu lernen. Niemand findet seines glei- 30 
chen mer in der Welt, als der Nar. Alle andre halt er fur Narren 
- bei sich selbst macht er eine Ausname. - Der ist ein Kluger 
und Scharfsichtiger, der alle zu Verminftigen analysiren kan. 

Man ist nicht immer fort ein Nar; man ist aber auch nicht 
immer ein Weiser. Narheit und Weisheit haben ihre periodische 
Riikker wie's Fieber. - Wer einen Menschen genau studirt, 



UBUNGEN IM DENKEN ■ MAI I781 95 

taglich mit ihm umgeht, nimt seine Natur endlich an. Ich mus 
also aufhoren vom Narren zu reden. - 



XIII. Untersuchung 



Die Warheit - ein Traum 

Ich wil meinen Traum sogleich erzalen. Ob er mer oder minder 
war ist, ob er mer oder minder gewis eintreffen wird - kan 
der Wachende am besten entscheiden. Mir traumte, ich gieng' 
an einem schonen Maiabend spazzieren. Stil gleitete der mur- 
melnde Bach zwischen den mondbeglanzten Kieseln hinweg - 

10 ruhig lispelte der sanfte Zephyr in den schwankenden Roren 
- hel iiberdammerte der liebe Mond die halbe schlafende Erden- 
welt - feierlich stil war Gottes Schopfung. Alles schien zu einer 
Ruhe des Herzens einzuladen, welche uns das Gewiil der Ge- 
schafte so oft versagt - alles eine Heiterkeit in den sorgenfreicn 
Geist auszugiessen, nach welcher man in rauschenden Vergnu- 
gen umsonst schmachtet. Ein Himmel, wo Welten Gottes an 
Welten Gottes funkelten, erinnerte die SeF an ihre grosse Be- 
.stimmung, die weiter als dies Erdenleben reicht - zog sie in 
Empfindungen, die den Geist iiber sich selbst erheben. — Aber 

20 nicht so war mir's diesmal. Ich betrachtet' alles dies - und one 
Riirung. Mein Geist schwarmt' one Leidfaden in einem Lande 
von Warheiten, Hypotesen, Warscheinlichkeiten herum. Ich 
dachte: was ist denn das eigentlich fur ein Ding, das man Warheit 
nent - welches in iedem Horsale, in iedem Tempel, in iedem 
Munde wiederschalt - urn welches sich tausende in Disputazio- 
nen, in Biichern und Unterredungen zanken, um welches sich 
tausende hassen und verfolgen, und um welches Millionen mit 

Tiegerwut sind niedergewiirgt worden?? Es ist ein Ding 

eigner Art - eine Sache, die ieder sucht, ieder zu finden glaubt 

30 - und die keiner gefunden hat, weil ieder etwas anders als der 



96 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

andre findet. Durstend eilt der Geist herum, die Wahrheit in 
ihrer gotlichen Gestalt zu umarmen, sich an ihrem Anblik zu 
laben - allein unbefriedigt geht er hinweg, er findet nicht, was 
er suchte- oder ein Wanbild, das man Hypotese, oft Demon- 
strazion nent, mus seine Wiinsche befriedigen. Wir wandeln 
in einem dunkeln Lande. Ein Sterblichefr] entdekt einen Schim- 
mer, der seine Tritt' auf dem schlu[p]frigen Pfade dieses Lebens 
sichern sol. Allein ein andrer trit naher, und findet, es ist ein 

- Irwisch, der im Sumpf leuchtet und vergeht. Hier, rufen tau- 
sende, hier ist sie, die Warheit, nach der ihr euch senet, Sterbliche 10 

- man komt - man freut sich iiber eine Sache, die ihre Giite 
nur der Kurzsichtigkeit unsrer Augen zu danken hat. Nach Jar- 
hunderten komt ein Tiefsehender - der entlarvt den angebeteten 
Got, und beweist, daB es nur ein Gozzenbild ist. Ich les' einen 
Zeno, Epikur, Moses, Spinoza, Paullus, Lamettrie, Leibniz, 
Baile, Luter, Voltaire und noch hunderte - und verirre mich 
in ein Labyrint on' Ausgang. Lauter Widerspriiche - und Wider- 
sprtichezwischen grossen Geistern! Der, der mit Adlersblik den 
Gang der Warheit bis in ihre geheimste Holen verfolgte, hat 
sich geirt, und ich Kurzsichtiger, der ich kaum im Stande bin, 20 
die nachsten Gegenstand' um mich herum zu erkennen, solt' 
entscheiden, welcher von beiden Scharfsichtigen recht gesehen 
habe? - Mein Herz war beklemt . Zu vol der innern Bewegungen 
sucht' es sich durch Klagen auszuschiitten. O Vater der Warheit, 
bist du's, der uns in einen solchen Zustand versezte? Sind wir 
durch deinen Willen bestimt, ewig von einem unaufhaltbaren 
Triebe zu einem Gute angespornt zu werden, welches wir nie 
finden? ewig eine Begierd' in uns zu ernaren, deren Sattigung 
nirgends vorhanden ist? - Giitiger! komt dieses Ubel aus deiner 
Hand? - bist du die Quelle dieser Leiden? - - Ich wolte fortf aren, 30 
neue Klagen zu den alten hinzuzusezzen - als die Dammerung 
des Mondes um mich her, sich in einen Sonnenglanz verwan- 
delte, herlicher als unsrer - einen Sonnenglanz, der nur in einer 
hohern Sphare leuchtet. Eine Gestalt schien sich mir zu nahern, 
die mich demiitigte, weil ich fulte, daB ich nur Mensch war. 
Ich wolt' entfliehen; allein eine Stimme rufte mich zuriik: bleib, 



UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 1 97 

Sterblicher, und las dich beleren. Ich kam naher - herliches We- 
sen, das vor mir war- ein Seraph in Menschengestalt verkleidet. 
» Armer Mensch, sagt' er, was ist's, das deine Stirne faltet, wel- 
che iezt die Verkunderin deiner Freuden sein soke - woher die 
Melancholie, diesichso fiirchterlich auf deinem Angesichte ma- 
let?« Ich beklage mich iiber ein tJbel, welches alle mit einander 
gemein haben - fur das aber noch keine Befreiung vorhanden 
ist. Ich beklage mich, daB ich wie andre Menschen geboren 
bin zu irren - ich, der ich Warheit suche, sie aber nie finde, 
10 sondern alzeit ihre Maske, den Irtum. »Aber hast du denn nie 
'was wares gefunden; ist alles, was du weist, Irtum?« Das nicht. 
Ich bin nur mismutig, daB der Warheit so wenig ist, daB immer 
ihr reines Gold mit den Schlakken des Irtums vermischt ist. 
»Bedenke deine Klage, Sterblicher! Wer giebt dir's Recht, mer 
zu fordern, als dir gegeben ist? Du weist Warheit, aber es ver- 
driest dich, daB deine Anzal warer Sazze, einen so kleinen Urn- 
fang begranzen, mit einem Worte, es verdriest dich, daB du 
nur Mensch, und nicht Engel bist. Wie weise sagt' einer deiner 
Weisen: 

20 O Eingebildeter, du wilst die Ursach finden 

Warum dich Got so schwach, so klein, so blind erschaffen? 
Errate, wenn du kanst, erst was noch harter ist, 
Warum du nur so schwach, so blind, so klein nur bist? 
Frag deine Mutter, Erd\ warum die Eichen hoher, 
Und starker als das Kraut, das sie beschatteh, wurden? 
Frag iiber deinem Haupt die silbernen Gefilde, 
Warum des Jupiter's Gefarten kleiner wurden, 
Als er 

Schau' dich einmal um, und betrachte die Erde, die du bewonst. 
30 Betrachte die Tiere, die dich in so grosser Anzal umgeben. In 
Dumpfheit des Sinnes wandeln sie dahin, wo ein blinder Instinkt 
sie hindrangt - tief in Finsternis verhult sich ihr Geist - er denkt 
noch keinen Gedanken, begreift noch keinen Saz, kent keinen 
Unterschied zwischen Warheit und Irtum. Und iezt seh' dich 
an. Mit einem Blik, der weit in Gotteswelt umherschaut, gehst 



98 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

du einher. Kein Instinkt reist dich von der Betracht[ung] ab. 
Deine Leidenschaften dauern nur kurze Zeit; und's steht bei dir, 
ob du ihr Her oder ihr Sklave sein solst. Du bist mit Sinnen 
begabt, die fein genug sind, iede unmerkbare Niianze der Kor- 
per zu empfinden, nicht so hinreissend wie bei den Tieren, um 
dadurch deine SeF in der ruhigen Betrachtung zu storen - ausge- 
breitet genug, um nicht die Blikke deiner Sel' auf einen Gegen- 
stand allein zu fesseln, und durch den zu starken Reiz des einen, 
die Vergleichung mit dem andern zu hindern - in eine Welt 
versezt, wo tausend Gegenstande deine Neugierde reizen, wol- 10 
tatige Bediirfnisse dich in Tatigkeit sezzen, Leiden dich wirksa- 
mer, und Freuden dich mutiger machen. Was verlangst du mer 
vom Schopfer? Du forderst, gar nicht zu irren? - so forderst 
du auch, daB er dich nicht hatte schaffen sollen. Entweder ein 
fulloser Atom - oder ein Got hattest du werden mussen, um 
nicht zu irren. Du beklagst dich, daB du nur Mensch bist; - 
so hat's Tier auch Recht sich zu [be]klagcn, daB es nur Tier 
ist, und ich, daB ich nur Seraph bin. Du beklagst dich iiber 
das, was [du] nicht hast, und vergist dariiber den Dank fur das, 
was du hast.« O! ich Kile, wie ser ich meinem Schopfer Dank 20 
schuldig bin, daB er mich nur zum Menschen geschaffen hat. 
Aber ich weis noch nicht deutlich genug, ob deine Antwort 
auf meine Klagen vollig befriedigend ist. Du beweist mir wol, 
daB der Mensch Irtumer haben mus - aber nicht, daB er gerade 
soviel haben mus. Konten wir nicht noch eine grosse[re] Anzal 
Warheiten fassen, one daran von den Schranken unsrer Endlich- 
keit gehindert werden? Und beweist deine Antwort nicht zuviel? 
Kontest du nicht auf diese Weise dem Menschen alle Wahrheit 
bis auf einen kleinen Schimmer nemen, und ihn immer mit der 
Berufung auf seine Endlichkeit zufrieden stellen wollen? - Und 30 
warum haben denn gerade die grosten Geister am meisten geirt? . 
Warum besteht unser Verdienst vor den Alten nur darinnen, 
daB wir sie widerlegen, und an die Stell' ihrer windigen System' 
neue sezzen, deren Umsturz die Ere der Nachwelt ausmacht? 
»Erwarte, sagte das uberirdische Wesen, Belerung. Die grosten 
Geister haben am meisten geirt, weil sie die meisten Warheiten 



UBUNGEN IM DENKEN • MAI I j8 I 99 

einsahen. Je mer der Mensch Krafte fiilt, auf dem Weg der War- 
heit fortzugehen, destomer ist [er] der Gefar ausgesezt, sich zu 
verirren. Es scheint ihm ein kleines Verdienst zu sein, auf dem 
Wege fortzuschlendern, den alle gehen - cr sucht neue Banen, 
er erklimt unersteigbare, aber auch desto gefarlichere Hohen. 
Der Sterbliche wurde seltner irren, wenn er mit dem zufrieden 
ware, was er gewis weis - aber well sein Geist in nichts Granzen 
kent, so wi] er mer wissen als er wissen kan - wo er Warheit 
nicht deutlich sehen kan, sezt er Hypotesen an ihre Stelle - er 

10 traumt. Daher eure Widerspriiche. Jeder traumt, und traumt 
anders, als der andre. Daher haben grosse Geister die meisten 
Hypotesen erdacht, weil ihr weitsehender Blik durch das kleine 
Land der Warheiten, was sie (ibersehen konten, zu ser einge- 
schrankt wurde - sie erweiterten dies Land, aber's felt' ihm 
nichts, als daB ein Teil davon nicht wirklich war. Daher irren 
eure kleinen Geister seltner: weil sie mit der kleinen Anzal War- 
heiten, die gewis sind, genug zu tun haben. Sie sinnen auf keine 
neue Aussichten - ihr kurzsichtiger Blik erreicht kaum die Gran- 
zen des bekanten Lands. Es ist notwendig, es ist niizlich, daB 

20 wir gerade soviel Irtumer, gerade soviel Warheiten haben. Wenn 
du eine Vorsehung glaubst, wenn du zugiebst, daB alles gut 
ist, und daB man nichts bessers an die Stelle des iezzigen sezzen 
konne - so wirst du keinen Augenblik zweifeln, daB es gut sei, 
wenn gerade soviel Irtumer in der Welt sind. Mit Nacht ist 
des Alwissenden Rat umhult - wir entdekken nur einzelne Spu- 
ren seines Plans, und diese sind so weise, so erhaben - sollen 
wir nicht denken, daB das, was wir nicht kennen, eben so weise, 
cben so erhaben sein werde? Glaube mir, Mitgeschopf! ieder 
Irtum, der in der Welt hervorgebracht wird, entsteht nicht one 

30 den Willen des Schopfers - er hat mannigfaltigen Nuzzen. Er 
ist mit in die unabsehlige, verwikkelte Kette der Weltbegeben- 
heiten einverwebt - seinen Nuzzen entdekt das blode Auge des 
Endlichen nie - nur der, der alles sieht, sieht auch ihn. 

Wenn ihr euch iiber Irtumer beklagt, so beklagt ihr euch iiber 
eure Endlichkeit. Das Wcsen der Ding' ist unerforschlich - 
steigt, Sterbliche, Jartausende die Leiter der Warheiten hinan 



IOO JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG 

- ihr durchblikt nicht das Innere der Dinge; und wenn ihr's 
nicht durchblikt, so must ihr irren, und dies wird ewig euer 
Los sein. Es ist auch meines. Euer Zustand nach Jartausenden 
wird von dem iezzigen nur dadurch unterschieden sein, daB 
ihr mer Warheiten wist, aber nicht, daB ihr weniger Irtumer 
glaubt. Reine Warheit sieht bios der Alleinsehende - aber er 
hat auch Kraft dazu, weil er unendlich ist. Wer nur eine endliche 
Anzal Warheiten begreift, mus irren. Eben weil Warheit an 
Warheit gekettet ist, weil das Dasein der einen Warheit uns von 
weitem die Wurklichkeit der andern mutmassen last, und weil 10 
wir sie nicht all* iibersehen konnen; so rmissen wir Hypotesen 
bauen, uns auf Warscheinlichkeiten verlassen, und mit Irtiimern 
begniigen. O fiile ganz, Mensch! die Wiirde, ein Geschopf zu 
sein, das Warheit erkent - versink' in Entziikken, wenn sich 
dein Geist den Weg vorstelt, welchen er in tausend tausend Jaren 
wird gegangen sein - welch ein unabsehliges Feld von Warheiten i 
wird dein wonnetrunkner Geist iiberschauen - welche weitent- 
legne Gefilde im Reiche des Waren werden sich deinen gierigen 
Blikken zeigen! Algiitiger! sind wir's wert, diese Wonne zu ge- 
niessen -konnen wir's deiner Giite verdanken, die immer und 20 
immer woltatige Stralen den verfinsterten Geist erleuchten 
last? - 

Eure Glukseligkeit, Sterbliche, besteht in der Erweiterung 
eurer Krafte. Ein Irtum schrankt sie nicht ein - er befordert 
ihren Wachstum. Denn es gehort schon viel Denkkraft dazu, 
nur irren zu konnen; das Tier irt nicht, aber dafiir ist's auch 
nicht Mensch. Und las dir sagen, Lieber! Ihr miskent all' eures 
Schopfers giitige Absicht. Hier, eure Welt, die ihr bewont, hat 
der Alvater nicht zum Orte bestimt, wo ihr Warheit finden solt 

- sondern hier wil er nur in euch den Trieb erwekken, sie zu 30 
suchen. Ihr irt tausendmal - aber eben diese Irtumer, die ihr 
bemerkt, erregen in euch den heissen Wunsch, einmal zur War- 
heit zu gelangen. Mit gliihender Stirne blikt ihr hin nach ienen 
Hohen, wo Warheit tront- und in eurem Busen wiiten Sturme, 
die euch von Welle zu Welle treiben. In tausend -Masken der 
Warheit vermumt sich der Irtum - euer Busen erweitert sich, 



UBUNGEN IM DENKEN ' MAI IjSl 101 

urn die Gotliche zu umarmen - aber ihr merkt euch betrogen, 
und zieht dem Gozzen die Larv' ab, womit er euer Vertrauen 
so schandlich gemisbrauchet hat. In euch schaudert ihr zuriik, 
lechzet nach Warheit, blikket zum Vater derselben. Und der, 
der sieht euer Senen nicht umsonst. Forscher auf dunkeln Pfa- 
den, last euch die Miihe nicht verdriessen, die ihr anwendet, 
die Warheit zu entdekken - der Alvater merket sie, er wird 
sie euch belonen. Euer diirstender Geist wird von Lebenswonne 
durchstromt werden, wenn ihn neue Gegenstand' im Reiche 

io der Warheit mit tausend Reizen fesseln. Und du, armer Zweif- 
ler! der du in dunkler, menschenloser Hole seufzest - ach nichts 
erkenst, an allem zweifelst-in dessen Sel' umsonst die Warheit 
aufstrebt gegen die Wellen der Zweifel - dein Got kent deine 
Leiden - er wird sie belonen, weil sie schwer zu ertragen sind, 
und weil nur Edle sie leiden. - Ihr verdamt manchen, dessen 
Schuld es nicht war, wenn er Warheit mit dem Irtum verwech- 
. selte- ach! seht nicht mit honischem Lacheln, stolzem Mitleid, 
verdammender Mien' auf einen Spinoza herab, der seinen Got 
mit der Welt vermischte. Vielleicht hat er droben bei ihm erkant, 

20 daB er ist, aber auch gefult, daB nur Liebe sein Wesen ausmacht. « 
Ich geriet in Entziikken, Wollust durchstromte mein ganzes 
Wesen. Ha! Vater, rief ich, wenn ist die Zeit, wo auch ich die 
Quelle deiner Liebe reiner trinken werde; wenn ist die Zeit, 
wo auch in meinen schmachtenden Busen unvermischtere 
Stralen deiner gotlichen Warheit werden gesenkt werden? ach 
wenn?? — Ich erwache. Die zu lebhaften Ideen erregten in mei- 
nem Korper harmonische Bewegungen der Wollust. Ich be- 
dauert' es, daB es nur Traumbild war; aber ich trostete mich 
wieder, wenn ich bedachte, nicht ieder Traum ist vergeb- 

30 lich. Vielleicht wird auch dieser erfult - vielleicht in dem Land' 

erfiilt, wo man nicht mer traumt, und sicher nicht mer 

um Traume zankt. — 



102 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG 

Bemerkungen 

XXXXI. 

Unsre Freuden werden nicht erhoht, aber wol verandert 

Unsre Gliikseligkeit ist der Intension nach immer dieselbe; nie 
wird [der] Grad derselben erhoht; aber wol die Art derselben 
verandert. Man wechselt mit den Dingen, die uns Vergniigen 
verschaffen. Grossere Vergniigungen erlangen wir nie: aber nur 
andre. Dem Kinde gefallen seine Puppen, dem Jiingling seine 
Geliebte, dem Manne seine Erenstellen. Und das Kind freut 
sich eben so innig uber seine Puppen, als der Man Vergniigen 10 
empfindet, wenn er eine hohere Stufe der Er' erklimt. - Unser 
ganzes Bestreben besteht daher nicht in Erhohung unsrer Freu- 
den, sondern in Abwechslung derselben. - Man verlangt aber 
deswegen andre Freuden, weil langer Genus eben derselben Sa- 
che, Ekel an die Stelle des Reizes sezt, und weil die Beschaffen- 
heit des Geists nicht immer dieselbe bleibt, urn an einem Dinge 
zu alien Zeiten gleichen Geschmak zu linden. - 

Vielleicht war's Vergniigen, das Neuton empfand, wenn ihm 
sein Kartenhaus wolgeriet, demienigen gleich, das er fulte, da 
er unter dem Apfelbaum ein neues Attrakzionssystem erfand. 20 
Aber wer biirgt dafiir, dafi nicht einmal eben dieser grosse Geist, 
wenn er Jartausende Gottes Werke durchforscht hat, seine Er- 
findung fur Puppenspiel, und sein System fur Kartenhaus des 
kurzsichtigen Kindes halten wird? - Wir wollen unserm Schop- 
fer danken, daft er uns Vergniigen geniessen last, one daruber 
mismutig zu werden, daB sich unser Geschmak an den Dingen, 
die uns vergniigen, so oft umwandelt. - Es ist Los der Mensch- 
heit, Los des Geschopfes, welches nicht immer an derselben 
Sache Vergniigen fiilen kan, weil sich seine Empfanglichkeit 
Mazu, vermoge der fortgehenden Vervolkomnung der Sel' um- 30 
andert. Nur Got ist's, der zu alien Zeiten eben dasselbe Vergnii- 
gen an einerlei Dingen geniest. 



UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 1 IO3 

XXXXII. 

Wie man den Narren verschlechtern und verbessern sol 

A. Wie sol ich einen Narren zu einem'noch grossern ma- 
chen? 

b. Das ist leicht- du darfst nur seine Narheiten loben: er wird 
sie dan verdoppeln. 

A. Aber wie ihn im Gegenteil wieder kuriren? denn's ist doch 
wol leichter, eine Wunde schlagen, als sie heilen? 

b. Du must ihm sagen, daB cr vortreflich ist, und daft nur 
kleine Flekken seine schone Gestalt verunzieren. Weil er gern 
ganz schon sein wil, so wird er sich bemuhen, die entdekten 
Feler abzulegen. Du wirst ihm derselben immer merere enthul- 
len; und er wird besser werden. Denn einen zu bessern, mus 
man ihm nicht sagen, daB er schlecht sei, sondern man mus 
ihm seine gute Meinung von sich lassen. Denn eben diese dient, 
ihn zu dem umzubilden, was er schon zu sein glaubt. 



XXXXIII. 

Lob hat mer gcschadct als Tadel 

Lob ist eine starke Speise. Sie ist nicht fur ieden. Der mus schon 
20 weit sein, und das Lob, das man ihm beilegt, ser verdienen, 
der sich loben horen kan, one schlechter zu werden oder wenig- 
stens stille zu stehen. Mancher wird auf der Ban aufgehalten, 
die ihn zum entfernten kostlichen Ziele furt, weil ihn der Zuruf , 
daB er gutlaufe, glauben machte, er habedas Ziel schon erreicht. 
Manche sind bios dadurch zu Narren geworden, weil man ihre 
Weisheit lobte. Und sicher wird man finden, daB grosses Lob 
mer geschadet hat als iibertriebner TadeL Dieser schlagt zwar 
nieder, aber er unterdriikt doch nicht ganz das Geful unsrer 
cignen Grosse. Er ist oft Sporn, der zu grosserer Tatigkeit an- 
30 reizt, Schrekbild, das vom Schlaf aufwekt. Aber alzugrosses 
Lob last uns glauben, ein Ziel schon erreicht zu haben, nach 
dem wir erst ringen, schmeichelt uns gros zu sein, da wir noch 
auf dem Wege dazu sind. Lob wirkt auch deswegen mer als 



104 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Tadel, weil man sich eher bereden last, daB man gros sei, als 
daB man klein sei. — 



XXXXIIII. 

Die alten Warheiten mus man nicht in altem Tone vortragen 

Es giebt Warheiten, die nicht oft genug konnen gesagt, konnen 
wiederholt werden. Allein eben deswegen weil man sie oft sagen 
mus, mus man sie nicht immer auf einerlei Art sagen. Nichts 
ermudet uns mer, als Einerleiheit, und eine Warheit uns verhas- 
sig zu machen, braucht man nur sie uns oft in einerlei Form 
zu wiederholen. Das neue Kleid, in dem eine Sach' erscheint, 
stelt sie uns in neuen Reizen dar; sie nimt uns ein, bios weil 10 
sie anders ist als vorher. Vor dem Menschen, der mit der Mod' 
aus dem vergangnen Jarhundert vor uns komt, hat man eine 
heimliche Abneigung; und der Warheit, die man im alten, 
lan[ge]wonlichen Ton' herleiert, verschliest man die Oren. Wer 
zu schwach ist, zu erfinden, der trage das Erfundene in besserer 
Gestalt vor; und wer uns nichts neues sagen kan, der sage das 
Alte mit andern Worten. Und vielleicht haben sich diese Regel 
manche neuere Schriftsteller fast zu ser zu Nuzze gemacht. Sie 
haben sich eine gewisse kraftvolle Sprach' erfunden, in der alles, 
was man darirmen vortragt, von einer andern Seit' erscheint. 20 
Sie scheinen Erfinder, Leibnizze zu sein, und sind nur — Mode- 
schneider. 

XXXXV. 
Der Dumkopf hochmiitig, das Genie demiitig 

Es ist doch paradox, daB man nie einen Dumkopf gesehen hat, 
der nicht hochmiitig gewesen ware; und nie einen grossen Geist, 
der nicht demiitig sich bezeigt hatte. Es ist war, manches Genie 
wil Alleinher im Reiche der Gelersamkeit sein, und briistet sich 
wie ein Despot, zu dessen Fiissen der Pobel wie Gewurm 
kriecht; aber es ist nur dies Ursache, weil man ihm das Recht 30 
so zu handeln von selbst abtrit. Man lobt die grossen Kopfe 



UBUNGEN IM DENKEN ' MAI ljSl IO5 

zu ser, und macht den Abstand zwischen ihnen und den Altags- 
menschen zu gros, als daB sie nicht glauben solten, was man 
sagt, und nicht sich so verhalten solten, wie man ihnen Anlas 
giebt. Ferner mancher Dumkopf scheint demiitig zu sein. Aber 
er scheint's nur; und ist's nicht. Er denkt gros von sich; aber 
er hiitet sich, es zu sagen, weil er befurchtet, ausgelacht zu wer- 
den. -Erglaubt, niemand konne seine Grosse gehorig schazzen, 
als er selbst. 



XXXXVI. 
10 Von der Unverschwiegenheit des schonen Geschlechts 

Man beschuldigt gemeiniglich das schone Geschlecht der Ge- 
schwazzigkeit, und ihrer Folge davon, der Unverschwiegenheit. 
Teh glaube, daB es war ist; aber ich glaube nicht, daB man ihm 
das als einen Feler anrechnen kan; ia ich bin vielmer iiberzeugt, 
daB eben diese Eigenschaft ihrem Herzen - obwol auf Kosten 
des Verstandes - Ere macht. Denn was ist eigentlich Unver- 
schwiegenheit? Nichts als die Geschwazzigkeit, zur unrechten 
Zeit angewand. Und was tut der Mensch der geschwazzig ist? 
Er teilt gerne mit, was er hat. Ihm schmekt nichts, was andre 

20 nicht auch kosten. Er wil nichts allein wissen; andre sollen auch 
davon unterrichtet sein. Er sagt also, was er verschweigen sol 
- one die Absicht zu haben, einem Andern dadurch Schaden 
zu verursachen. Er ist in gewissem Betrachte menschenfreund- 
lich; obgleich er nicht das rechte Mittel dazu wait. Daher sind 
Frauenzimmer so unverschwiegen, weil ihr Herz so offen, so 
aufschliessendist. Daher sind's Frauenzimmer mer als Mansper- 
sonen, weil sie mer Gute des Herzens besizzen, als Anteil am 
Verstand' haben. Daher sol man selten einem guten, ofnen 
Menschen ein Geheimnis anvertrauen. Wer gut gegen uns ist, 

30 wird Miih' haben, es bei andern nicht zu sein. Daher sind Bose- 
wichter am verschwiegensten. 



I06 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

XXXXVII. 
Das groste Obel 

Ein Obel ist dan das groste, wenn's uns hindert, an seine Heilung 
zu denken. 



XXXXVIII. 
Rache - stille Belonung der Tugend 

Sich an seinem Feinde rachen, heist die Vergehen andrer an sich 
selbst bestrafen, sagt ein beriimter Schriftsteller. Konte man 
nicht auch im Gegenteil sagen: belone die stille Tugend, die 
guten Taten, die unbemerkt geschehen - und du nimst Anteil 
an ihrer Ausubung. Eine edle Tat belonen, heist die Ursache 
sein, daB die geschehene eine andre erzeugt. - Segnet den Man, 
der verkante Tugend im Stillen kront — im Himmel wird ihm, 

und dem, den er belonte, tausend Freude dafur. 

Der Man, der liberal als der fromste ausgeschrien wird, ist 
eben nicht der tugendhafteste; weil er alle seine guten Taten 
mit grossem Prunk verrichtet, denn sonst wiirden sie nicht so 
bekant sein. Lieber ist mir der, der nicht so geriimt ist; weil 
er weniger Lerm von seiner Tugend macht - der gut ist, one 
die Absicht zu haben, es in hohem Grade zu scheinen - der 
woltatig ist, und seinen Namen verlaugnet, - die Tranen von 
des Elenden Wang' abtroknet, und nicht den Dank dafur an- 
nimt. O eine Tugend, der keine gleichet; eine Grosse, die iede 
andre iibertrift. So war Montesquieu; der eine ganze Familie 
aus elenden Umstanden herausries [!], und ihr dan das Vergnu- 
gen versagte, ihrem Woltater dafur danken zu konnen. Eine 
Tugend, die die Tugend des Martyrs weit iibertrift. Man Gottes! 
du solst mir der erste sein, den ich in ienem Leben umarmen 
werde! - 



UBUNGEN IM DENKEN ' MAI 1 78 I 107 

XXXXVIIII. 

Grund unsers Gluks, und seines Grads 

Man ist gliiklich, oder ungliiklich, wenn man glaubt, es zu sein. 
In dem geistigen Mechanism unsrer Sele Hegt die Ursache dies 
zu glauben - der Grad der Gliikseligkeit aber hangt von den 
aussern Umstanden ab, in die wir verflochten sind. Mein Gliik 
oder Ungluk Hegt in mir; die Begebenheiten aber, die den Lauf 
meines Lebens ausmachen, bestimmen den Grad des Gluks oder 
Ungliiks. 

10 L. 

Das Bose ist notig zur Freude 

Das Bose ist das Salz, welches das Gute wtirzt, und one welches 
es erst unschmakhaft sein wiirde. Wir klagen so oft iiber das 
Bose, das in der Welt vorhanden ist, und bedenken nicht, daB 
es notwendig ist, urn's Gute zu fulen. Die physischen Ubel in 
der Welt vermindern, heist eine grosse Anzal Freuden aus der- 
selben hinweg nemen. 

LI. 
Was heist's Wesen einer Idee analysiren? 

20 Was heist, das Wesen einer Idee analysiren? nichts anders, als 
mit seinem Auge den kunstlichen Mechanism des Sehens ent- 
ziffe[r]n wollen. Mit meinem Auge kan ich nicht sehen, wie 
die Lichtstralen auf mich wirken, und durch Erschiitterung der 
Sehenerven die Empfindung verursachen - eben so wenig kan 
ich durch Nachdenken herausbringen, workmen das Denken 
bestehe. 



IOS JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

LII. 

Gottes Absicht hier auf Erden mit uns, in Riiksicht der Erkennung der 

Warheit 

Gottes Absicht hier auf dieser Erd' ist nicht, uns durch's reine 
Licht der Warheit zu erleuchten - sondern nur durch einen 
Schimmer derselben den wissensbegierigen Geist nacfr einem 
Vergnugen anzulokken, das in iener Welt unsre groste Wollust 
ausmachen wird. Wir sollen hier nicht weise werden - wir sollen 
aber den Trieb bekommen, es einmal zu sein. Reine Wollust 
gebiert Ekkel - reine Warheit ist fur uns nicht, weil sie der Tatig- 10 
keit unsers rastlosen Geistes Granzen sezt. 

Ende des ersten Bandes 



ZUSAZZE, ODER VERBESSERUNGEN 



Zum Monat November 



Seit. i [37]. a 
Ich halte diese ganze Abhandlung iezt fur ser unvolkommen, 
sowol in Riiksicht der Sachen, als vorziiglich der Sprache. Das 
unpolirte, undeutsche sieht man ihr sogleich an. Auf der zehnten 
Zeile steht ein falscher Gedanke. Es wird gesagt, wir konten 
audi deswegen keinen erschopfenden Begrif von Gottes 
Unendlichkeit haben, weil unsre innern Sinnen nur endlich waxen. 

10 Erstlich ist's nicht genau, von v ielen innern Sinnen zu sprechen. 
Ferner: es solt' heissen: wir erlangen auch deswegen keine rechte 
Vorstellung von Got, weil unsre Sele selbst nicht unendliche 
Fahigkeiten oder Kraft' hat, und also durch's Anschauen ihrer 
Selbst nur einen ser eingeschrankten unvolkomnen Begrif bilden 
kan. - Got nur allein begreift, was Unendlichkeit ist - weil 
er selbst unendlich ist. - Got allein nur fiilt seine Grosse - alle 
Geister denken so schwach von ihm, daB ihre Vorstellung seiner 
Grosse auch nicht im geringsten nahe komt, weil sie sich verhalt 
wie endliches zum unendlichen. - Alles bei Got ist unendlich 

20 - ein unendlicher Gedanke - was ist das? Noch mer eine unendli- 
che Vorstellung von den endlichen Wesen? - O Got! wie tief 
must du uns durchblikken? 

Seit. 5 [39]. b 
Die Art, wie der Mensch das Ware mit dem Falschen verbindet, 
one ihre Mishelligkeit mit einander zu fulen, begreif ich iezt 
leicht. Erstlich denkt er selten eine lange Reihe von Warheiten 
mit einander durch, so daB er z.B. merken konte, der erste 
meiner Sazze widerspricht dem lezten; sondern gemeiniglich 



110 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

glaubt er den einen Saz, one sich's einf alien zu lassen, auch den 
entgegengesezten zu behaupten. Konten wir unser ganzes War- 
heitssystem auf einmal iibersehen; so wiirden wir all' unsre Wi- 
derspriiche mit leichter Miih' entdekken. Ferner, wir merken 
diese Widerspriich* auch deswegen nicht, weil wir die Vorstel- 
lung, die wir von einer Sache haben, nicht genau genug betrach- 
ten und in ihre Teil' auflosen. Vorziiglich viel tragt hiezu die 
Sprache bei. Wir denken oft mer Wort' als Ideen - diese Worte 
verbinden wir auf eine vage Weise mit andern widersprechenden 
Ideen, one den Widerspruch zu bemerken. Unser Irtum besteht 10 
also in der Meinung mer zu denken, als wir denken. 

iSeit. 8 [41]. c 
Dieser Beweis, den ich selbst dort nur wage, scheint mir iezt 
falsch. Denn erstlich kan man nicht so viel aus der Vemichtungs- 
kraft Gottes schliessen, weil wir keinen Begrif davon haben, 
und weil einige ihr gar die Wirklichkeit absprechen. Er taugt 
auch zweitens deswegen nichts, weil man nach eben diesem 
Beweis dartun konte, dafl nichts konte geschaffen werden. 
Namlich wen[n] Got etwas erschaffen wolte, so must' er doch 
eine uns unbekante Kraft auf das zu erschaffende Wesen anwen- 20 
den. Dies Wesen kan aber nicht leiden; und also kan auch die 
Erschaffungskraft nicht auf dasselbe angewand werden- also 
kan's gar nicht geschaffen werden. - Wie widersinnig diese Be- 
hauptung sei, leuchtet ein. Im Grund' ist iener Beweis nicht[s] 
als eine petitio principii. - 

Seit. 8 [42]. d 
Was heist denn eigentlich, eine Kraft wird vermindert, wenn 
sie wirkt? - So viel. Eine iede Wirkung sezt auch ein Leiden 
voraus: weil iedes Ding nur in so fern und so viel wirkt, insofern 
und soviel das andre Ding entgegenwirkt. Leiden und Wirken 30 
sind relative Begriffe. EinKorper vermindert seine Kraft durch 
Wirken, heist also seine Beschaffenheit wird durch das Entge- 
genwirken der andern Sache verandert, seine Bestandteile, die 
mit vereinigter Macht wirkten, bekommen ein anders Verhalt- 



UBUNGEN IM DENKEN ■ ZUSATZE 1 1 1 

nis zu einander. Die Elastizitat des Degens z.B. nimt ab, wenn 
er oft gebogen wird. Deswegen. Die Sache, gegen die der Degen 
gebogen wird, verandert den festen Zusammenhang seiner 
Teile. Die Kraft des Degens bleibt immer dieselbe: denn seine 
einfachen Teile konnen ihre Kraft nicht verlieren. Aber ihr Zu- 
sammenklang zu einer und eben derselben Wirkung, wodurch 
diese Elastizitat moglich ward, wird aufgehoben - sie wirken, 
aber nicht so stark: weil ieder Teil einen andern Wirkungskreis 
annimt. Uberhaupt scheint in der ganzen Lere von Wirkung, 

io Ursach, Grund, noch viel Verworrenheit zu sein - und die meiste 
Verworrenheit macht vielleicht der Physiker. Eine Kraft ein- 
schranken, heist, das Obiekt ihrer Wirkungen ver andern, und 
ihren Wirkungskreis erweitern. Weil nun dieselbe Kraft ihre 
Wirkung auf merere Dinge zugleich ausdenen mus; so scheint 
sie schwacher zu sein, wenn man den Grad ihrer Starke nach 
ihrer Wirkung auf eins von den vielen Obiekten, abmist - one 
Ruksicht auf das ganze Resultat zu nemen, das von dem Zusam- 
mcnnemen ihrer Ausserungen gegen all' Obiekte zu derselben 
Zeit, entsteht. Eine Kraft entwikkelt sich, heist nicht, ihre Grosse 

20 nimt zu; sondern nur sie wirkt iezt auf die rechten Gegenstande 

- auf dieienigen namlich, von deren Wirkung gegen sie, sie den 
Namen hatte: man nimt die fremden Gegenstande weg, die ihre 
Einwirkung auf die rechten verminderten. - Das Produkt der 
Ausserung einer Kraft bei einem Obiekte verhalt sich umgekert 
wie die Anzal der Obiekte, auf die sie zugleich mit wirkt. - 

- Wie verhalt sich die Kraft, die in mir denkt, zur Kraft, die 
meinen Arm bewegt? - Sind die Kraft' in den Geistern, und 
die in den Korpern nur dem Grad nach, oder der Art nach von 
einander verschieden? — Heiliges Dunkel. 

30 Seit. 35 [57]. e 

fch freute mich, da ich las, daB Lessing eben diese Bemerkung 
gemacht hatte. 

Seit. 38 [ 5 9].f 
Man sezze noch hinzu: Das Genie und der grosse Man hat oft 
dem Zufal mer zu danken als man glaubt. Sie wundern sich 



JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 



oft iiber sich selbst - oder mit andern Worten, sie begreifen 
nicht, wie der Zufal so ser ihr Freund geworden ist. 



ZUSAZZE ZUM MONAT DEZEMBER 

Seit. 41 [62]. g 
Nach dem Worte »beweisen« sezze man hinzu: Manches wird 
zwar iibertrieben scheinen; allein urn die Unwarscheinlichkeit 
gewisser Meinungen ins Licht zu sezzen, mus man sie in dem 
Tone vortragen, in welchem sie ihre Anhanger verteidigen. 

Seit. 43 [63J.I1 
Anstat der Sazze »Vielleicht« bis »herzuschreiben« sezze man: 10 
Vielleichtblikst du umher mit selbstzufriednem, grausamen La- 
cheln, siehst das Gewimmel der irrenden Menschen, die deine 
Unwissenheit fur Strafbare erklart, und dein gefulloses Herz 
zu ewigen Leiden verurteilt. Vielleicht bist du noch unaufgeklart 
genug, einer Meinung, deren Ungrund man in unsern Tagen 
auf's deutlichste gezeigt hat, noch anzuhangen. Aber nicht ge- 
nug, daB man dieses nicht tut - man mus auch weiter gehen. 
Oberlege pp. 

Seit. 45 [64]. i 
Anstat des Ausgestrichenen [13 In - 17 denken?] sezze man: 20 
Wer - der ein Herz hat, das bei den Leiden andrer sympatetisch 
schlagt - wer, der seinen Mitbruder nie one Tranen iammern, 
nie one Teilnemung klagen horen kan, wer kan sich die tausende 
seiner Mitbruder denken, die unbesorgt im leichten Irtumssin 
hinwallen, in deren Busen sich auch einTrieb nach Gliikseligkeit 
regt, wer kan sich diese denken, nach dem Leben hin in einen 
dunkeln Abgrund geschleudert, wo keine Hofnung dammert, 
iedes Gefiil erstikt, iede Freude vernichtet wird - wer kan sich 
diese so denken, deren Verbrechen in nichts anderm bestand, 
als daB sie von nichtchristlichen Eltern geboren wurden? - 30 



UBUNGEN IM DENKEN ■ ZUSATZE H3 

Seit. 47 [65]. k 
Man sezze hinzu: Oder solten wol die Meinungen des Verstan- 
des vom Einflusse des Klima's ausgeschlossen sein? Der Ver- 
stand folgt dem Willen, und wer bestimt wol die Kraftausserun- 
gen des Willens, seine Neigungen, seine Trieb' und Begierden 
mer, als der Korper? Man iiberzeugt sich meistens nur von dem, 
von welchem man sich uberzeugen wil - man hangt den Lersaz- 
zen an, die unsre Neigungen begiinstigen. 

Seit. 48 [65]. 1 

10 Anstat des Sazzes »Diese Frage« stehe dies: Dies ist leicht zu 
beantworten. Man darf nur einiges, was schon gesagt ist, hier 
wiederholen. Alles, was in der Welt vorhanden ist, mus recht 
sein, weil eine Vorsehung sie regiert - in unsern Augen zwar 
nicht, aber in den Augen des Alweisen. Jede Religion also, die 
da ist, ist besser als eine andre an ihre Stelle gesezt. Man mache 
mir hier keinen Einwurf, der von der Freiheit des Menschen 
hergenommen ist. Erstlich, steht auch der Mensch unter der 
Regierung Gottes - nie kan er etwas tun, dessen Folgen den 
Absichten Gottes zuwider liefen. Zweitens, 's ist onehin die 

20 gewonliche Teorie von der menschlichen Freiheit noch strittig, 
und immer die Frage noch' nicht ausgemacht, ob nicht unser 
Geist ein automatum spirituale ist, so wie unser Korper eine 
leibliche Maschine. Allein one sich an dieser algemeinen Ant- 
wort begniigen zu lassen, last sich auch noch einiges angeben, 
was minder algemein ist. 

Seit. 49 [66]. m 
Zu Ende der Anmerkung fiige man noch hinzu: Oberal in Gottes 
Schopfung ist unendliche Einheit und unendliche Mannigfaltig- 
keit vereint- eben so in der Geister Schopfung. Unendlich ver- 
30 schieden modifizirt sich derselbe Trieb, dieselbe Neigung, der- 
selbe Gedanke bei verschiednen Subiekten - in unzalige 
Niianzen andert sich das bei verschiednen Menschen ab, was 
man Tugend und Laster nent. Nur der kurzsichtige Moralist 



114 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

bestimt fur all' eine ewige Regel des Rechts, die er bios fiir sich 
allein bestimmen soke. - 

Seit. 49 [66]. n 
Nach »gabe« sezze man: Es versteht sich von selbst, daB man 
von der vergangnen Zeit redet- und nicht von der gegenwarti- 
gen; denn sonst wiirde man der Erfarung widersprechen. - Die 
Zeit hat viel Einflus auf die Giit' einer Sache. Was iezt gut ist, 
war's deswegen zu einer andern Zeit nicht; und so umgekert. 

Seit. 54 [69]. o 
Anstat des Ausgestrichenen [7 Jeder - 13 ersezzen] sezze man: ro 
Jeder Mensch glaubt, er sei unter alien der wichtigste, der beste; 
aber nur der Nar und der Dumkopf haben den Mut, es zu sagen. 
Einieder wil kein andrer sein - und wenn er gleich seine aussern 
Umstande mit den Umstanden eines andern vertauschen 
mochte, so hutet er sich doch, [mit ihnen] seine innerlichen 
zu verwechseln. Er findet zwar an andern Volkommenheiten, 
die er selbst nicht besizt- allein er ist in diesem Punkte scharf sin- 
nig genug, solche an sich zu entdekken, die dem andern man- 
geln, und die ihm die Stelle derienigen, welche er nicht hat, 
leicht ersezzen. Die schone Seite, die er an sich bemerkt, weis 20 
er liberal hervorzuzeigen - weis sie zu vergrossern, bis sie die 
weit wichtigern Vorziige des andern iiberwiegt, und seine eigne 
Schwachheiten durchihren Glanz unmerkbar macht. Diese Art 
der Eigenlieb* ist bei iedem anzutreffen - aber nicht bei iedem 
in derselben Gestalt. Auch dem Heiligen, auch dem Weisen 
hangt sie [an] - allein beide bemerken sie nicht, weil sie eine 
scheinheilige Maske vor sich hat. - Das woriiber ich einige Be- 
merkungen hersezzen wil, hangt mit diesem auf s genaueste zu- 
sammen, und verhalt sich wie Folg' und Grund. Es betrift die 
Art, wie die Menschen von den Dingen urteilen, die sie umge- 30 
ben. 



UBUNGEN IM DENKEN ■ ZUSATZE 115 

Seit. 55 [70]. p 
Nach dem Worte »falschen« mus es heissen: ieder hat, wenn 
ich so sagen darf, eine individuelle Sprache - so wie ieder eine 
andre Ideensphare. 

Seit. 56 [70]. q 
Anstat des Ausgestrichenen [5 wenn - 7 haben] sezze man: 
wenn sie einsehen, daft sie um Worte gestritten haben, denen 
ieder einen andern Sin beilegte: wenn sie gestehen, daft sie Nar- 
ren gewesen sind, um sich als Gelerte zu zeigen. 

10 Seit. 63 [74]. r 

Man sezz' hinzu: Deswegen begreift er nicht, warum er diese 
oder iene Handlung zu begehen fahig gewesen war. Urn's zu 
begreifen, braucht er nur wieder in die vorigen Umstande zu 
kommen. 

Seit. 65 [75]. s 
Von dieser kleinen Abhandlung mus ich sagen, daB sie zu unbe- 
stimt, zu unwar gewesen ist, als daB ich sie durch Zusazz' hatte 
verbessern konnen. Zum Beweis aber, daB ich nicht bios diese 
Feler nur bemerket habe, habe ich sie zu verbessern gesucht, in- 
20 dem ich die ganze Untersuchung von neuem anfieng. Siehe die- 
ses Monat Seit. 89 [91]. 

Seit. 74 [8i].t 
Man sezz* hinzu: wer lang eine Sache behalt, hat nicht starkes 
Gedachtnis - denn er hatte viele Miihe, sie zu fassen. Nur die 
lebhaften Kopfe vergessen bald; aber die Ursach' ist, weil sie 
bald begreifen. 

Seit. 76 [83]. u 
Nach dem Worte »Zeit« mus hinzugefugt werden: Deswegen 
sind's nicht zwei Krafte: nur komt bei der Ausserung einer und 
30 eben derselben Kraft eine Nebenbestimmung hinzu, welche die 
Mitwirkung der Urteilskraft verursacht. Wirkt die Kraft der 
Sele, sich etwas dagewesenes vorzustellen, on' Urteilskraft, so 



Il6 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

heist man sie Einbildung - aussert sie sich mit derselben, so 
nent man sie Gedachtnis. 

Seit. 80 [86]. v 
Man sezz' hinzu: Warum gefallen aber auch Schriften, wo alles 
auf 's deutlichste entfaltet ist? Deswegen - Je deutlicher man eine 
Sach' einsieht, desto grossern Eindruk macht sie auf uns - und 
ie grosser der Eindruk ist, desto leichter gesellen sich neue Ideen 
zu den alten, desto mer wird unsre Sel' in Feur gesezt. Und 
um uns zu gefallen, braucht man nur uns in Selbsttatigkeit zu 
sezzen. Wer sich bei uns beliebt machen wil, hat nichts notig, 10 
sagt La Bruy[e]re, als zu verursachen, daB wir uns selbst gefal- 
len. 

Seit. 80 [86]. x 
Man sezz' hinzu: Wen keine Schonheit riirt, ist entweder one 
Gefiil, one Leidenschaft, und dan ist er zu bedauren, er ist ein 
Instrument, dem die Saiten abgeschnitten sind - Oder er halt 
diese Zierde des menschlichen Antlizzes bios fur eine Lokspeise, 
die zu sinlichern Vergnugungen einladet, und dan ist er in Gefar, 

ein zu werden. Zwar der, der zu ser reizbar gegen eine 

schone Gestalt ist, kan auch versucht werden, eine unedle Tat 20 
zu begehen - Aber dies ist ein Feltrit, den die besten Manner 
oft nicht vermieden haben, ein Feltrit, dessen Folgen in der Sele 
nicht so schadlich sind, als die von einem andern Laster, weil 
der Grund im zu starken Reize sinlicher Begierden liegt. 

Seit. 82 [87]. y 
Man sezz 1 hinzu: Eher mocht' ich einen solchen Ausdruk dem 
Sone des Ungliiks vergeben, der in truben Stunden schwarzer 
Melancholie sein eingeengtes Herz in Klagen ausstromerj last. 
Aber von dem dikbauchigen Abt, der auf seinem weichen Sopha 
herliche Tage verlebt, der kein andres Obel kent, als eine rastlose 30 
Sele zu haben, die seine Ruhe durch's Gefiil der Langweil' unter- 
bricht - von diesem so einen Ausspruch auf heiliger Statte zu 
horen - ist unertraglich, heist des Schopfers spotten, und seine 
Woltaten mit Undank belonen. — 



ABELARD UND HELOISE 



Im Jenner 178 1 



Der Empfindsame ist zu gut fur diese Erde, wo kalte 
Spotter sind - in iener Welt nur, die mitweinende 
Engel tragt, findet er seiner Tranen Belonung. 



Abelard's Brief' an Wilhelm 



Den i. Mai. 
Kaum hast du mich verlassen, Lieber! so folgt schon ein Brief. 
Ach lang* nab* ich dir nachgesehen, weinend nachgesehen, da 
wir an ienem Hiigel uns schieden. Wie mir's so warm urn's 
Herz ward! - Die Trane quol, da ich an deiner Seite gieng und 
dich vielleicht zum leztenmal umarmte. Die Tautropfen blin- 
kerten hel, die Gegend lachelte hold, und die Sonne stralte sanft, 
da ich dir die Hand mit weggewandten Augen drukte - wehmu- 
tig dich ansah und schied. Ach Lieber! was ist ein Menschenleben 10 
one Freund! So kalt, so eng, so eigenniizzig! - Ich fiilt' es wol, 
daB ich dich verlor - Verstort gieng ich nach Hause - ich hatt* 
allerlei Empfindungeh und Gedanken durcheinander - und 
empfand und dachte gerade nichts. Oberal vermist' ich dich. 
Ich mochte mich ganz in dein Herz schutten, ganz an deiner 
Seite meine Leiden, und meine Freuden dir mitteilen - aber Wil- 
helm ist nicht, nicht mer bei mir. Dafiir schreib' ich dir immer; 

und immer viel Dies [?] war Prolog zu der Menge von 

Briefen, womit ich dich kiinftig uberschiitten wil. 



den 6. Mai. 20 
Die Phantasie wird oft unser Henker; aber auch oft zaubert sie 
uns Freuden, die nie wirklich sind, deren Genus aber alles iiber- 
trift. Ich bin ein Beispiel. Ich schweb' iezt in Entziikkung, atm' 
Himmelsluft und schliirfe mit vollen Ziigen den Becher der 
Wollust aus. Ich sperre mich nicht ein - sondern Gottes milde 
Natur ist mein Aufenthalt. Ich steh' friih auf; und meine erste 
Sorg' ist, dem Orte, wo ich wone, zu entfliehen. Hier empfang' 
ich die Natur mit ofnen Armen, mit heitern Sinnen. Alles belebt 
mich. Alles reist mich hin zum Dank gegen den Urheber meines 
Lebens. Wenn die Sonne langsam am roten Horizont herauf- 30 



ABELARD UND HELOISE 119 

steigt und ihre Erde zur Freude befeuert - wenn die Nachtigal 
mit traurigen Tonen die Sele in Wonne schmilzt, wenn tausend 
Bliimchen duften, tausend Vogel dem Giitigen singen, tausend 
und tausend Wiirmchen zur Freude geschaffen, unbemerkt hin- 
schleichen - wenn ieder Tautropfen eine blinkende Sonne, und 
iede Sonne ein Spiegel der gotlichen Lieb' ist - wenn ich Gottes 
Gegenwart, der sich im Graschen und Zeder, in der Milb' und 
dem Elephanten naht, so nahe, so lebhaft fiile — dan dan sink* 
ich, ich beuge die Knie und fake die Hande, und seh' hoch hinauf 

to zu ihm, zu diesem Guten, diesem Vater. Ich kan dan nicht reden; 
aber weinen, seufzen kan ich. Eine Trane drangt die andre. - 
Nichts erwekt mich hier aus meinen sussen Traumen. Kein 
Pedant - der mich mit unniizzen, kalten Wissenschaf ten folterte: 
kein Vater - dessen Streng' ich furchten diirfte. Ich liebe die 
Wissenschaf ten, aber nur einige sind fur mich, und ich dank's 
Got, daB sie's sind. Ich lerne das, was ich lernen wil; denn warum 
solt' ich in einer Sache weiter zu kommen suchen, deren Anden- 
ken meiner Sele schon verhast ist? - 

Ich gehe mit Menschen um, die mich nie beleidigen; - und 

20 wenn sie mich beleidigen, vergeb' ich. Ser leicht find' ich einen 
Grund, der ihr Verhalten gegen mich entschuldigt. Ist's nicht 
eine Freude, in so einer Welt zu leben! liberal bin ich warm, 
allem steht mein Herz offen! Die Welt scheint mir ein Elysium; 
und ich wundre mich, wie man hat ein Jammertal daraus machen 
konnen. Mocht' ich ewig so mein Leben vertraumen! Aber - 
aber - ach die Tauschung verliert sich einmal: ich zitre! 



den 20 Mai. 
O unbestandiges Herz! Heute last du mich lachen, und morgen 
weinen. Vergleich' meinen lezten und diesen Brief mit einander 
30 - und du wirst den Unbestandigen ganz darinnen entdekken. 
Bald seh' ich, vol Wonnegefiils, alles in Freude, alles im Junius; 
- bald faltet diistre Schwermut meine Stirne, und innerer Gram 
zernagt alle Keime der Freude. Ich bin iezt wehmutig - ein Wort, 
das mir soviel ausdriikt. Ich spazziere bis Abends; bis der Mond 



120 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

schimmert. Ach und dan fiil' ich ein so ungewontes Senen in 
meinem Herzen - einen so innern Drang, Tranen zu w einen. 
Ich bin so vol, und doch so ler. Bis an ienes melancholische 
Dunkel ienes Waldchen geh' ich abends. Die Baume sauseln 
Wehmut in mein Herz hinein - Amseln und Nachtigallen schla- 
gen laut - Landleute begeben sich, des Tages Last miide, nach 
Haus. Almalig stralet die Sonne roter; almalig entsteigt der graue 
Nebel der diirren Erde - almalig verdunkelt sich's um mich. 
Alles schweigt- Ich bin wie ein Traumender dan. Endlich blinken 
hie und da einzelne Stern' in iener blauen Tief und am grauen 10 
Hugel steigt der Mond so ruhig, dem Leidenden so mild, her- 
vor. Ich blikke zu ihm - und denke, wie oft wirst du, wenn 
dein Herz schlagende Wellen triiben, hinauf mit betranten Aug 
schauen. Und dan andet's mir so triib - so dumpf! Mein Busen 
schwelt! Ich irre nach Hause. Alles ist mir dan argerlich, was 
mir vorkomt, sie sollen alle gleiches mit mir fiilen, die, die nicht 
so gestimt sind. Ich schelte den einen Kalten, der nicht warm 
ist, wo ich's bin. Aber nicht lange dauert dieser Zustand . . . 
Mein Vater sumset mir taglich in die Oren, daB ich so nicht 
weit genug komme. Er lies mich so nach und nach wissen, 20 
daB er mich in's Gymnasium einer nahen Stadt tun woke. Das 
Ding ist mir schon verdriislich, wenn ich daran denke. Ich 
furcht' immer, man mochte mich aus meinem siissen Traum 
erwekken. Und was fur Kerl's werd' ich dort antreffen! Aber 
wenn sie fulten wie du, Lieber! wenn sie gut waren; dan - Gliik 
fur mich! 

den 28. Mai. 
Es ist richtig, guter Wilhelm! In vierzehn Tagen bin ich in der 
Stadt. Mir wird's iezt da ganz kurios urn's Herz. Ich denk' im- 
mer an's Scheiden, und dies stimt mich ganz zum Traurigen, 30 
zum Wehmutigen um. Alles erscheint mir anders - alles, als 
wenn ich's zum leztenmal sahe. Ach die Wiesen, die ich so oft 
an deiner Hand durchstrich, bliihen nicht mer fur mich wie 
sonst: sie scheinen ihren Liebling, der sie nun bald verlast, zu 
betrauern - iede weise Lilie, iede blasrote Rose ist mir heilig, 



ABELARD UND HELOISE 121 

derm sie erinnert mich meiner Hinfalligkeit. Der Mensch liebt 
die Veranderung: und doch hat er so viele Miihe, sie vorzune- 
men. Durch's Herz geht's mir, wenn man mir vom Zubereiten, 
vom Einpakken sagt. Und wenn nur keine Zeremonie mer unter 
uns war! Dies kalte Abschiednemen von solchen, die tins so 
wenig interessiren, ist Schuld an allem Gefiillosen, Unempfind- 
lichen, das so oft uns in unserm Leben aufstost. Eine iede Zere- 
monie war's erstemal warmer Herzehsausdruk. Das andremal 
war sie Spiel nachamender Affen, die nichts dabei empfanden 
io - und wurde zum drittenmal zur Mode; wobei zugleich die Sitt* 
aufkam, kalt zu sein bei warmen Worten. Und ich - kan nicht 
Lebewol sagen, one zu fiilen, was ich sage, - one mir Tranen 
in die Augen kommen zu lassen. Dies komt denn den kalten 
Narren so weibisch und schwarmerisch vor! - Wenn die ganze 
Sache vorbei ist, werd' ich dir erst wieder schreiben. 



den 16 Junius. 
Endlichnach vieler Miih' hab' ich Zeit, dir zu schreiben. liberal 
ist Gerausch um mich her - liberal Zerstreuung. Sol ich dir 
denn nun mem Ziehen der Lang' und der Breite nach, erzalen? 

20 - Vielleicht wurde wenig Interessantes darinnen sein: wenn du 
nicht der warest, der alles von mir mit fiilendem Herzen auf- 
name. Der Tag meines Abzugs kam. Als die Morgensonn* in 
mein Bette stralte, und ich die Augen ofnete - waren Tranen 
mein Gebet. Beklemt stund ich auf. Allerlei Dinge zerstreuten 
mich, bis um 7. Ur fruhe der Wagen vor die Tiire gerasselt 
kam, auf dem ich mit meinem Vater in die Stadt faren soke. 
Uber mein Aug' war schwarzer Flor - die Tranen versiegten 
nicht. Jeder Handedruk; iedes Lebewol durchdrang mir die be- 
bende Sele. O! es drangt' im Innern - o ich wiinschte, so zu 

30 sterben. Ach Freund, wenn du dieses liesest, du wirst mir nicht 
glauben, nicht mit mir sympatisiren konnen - aber erinnere 
dich, wenn du einmal deine Eltern, oder dein Weib, deine Kin- 
der, oder deine Freunde verlassen must, erinnere dich, dafi ich 
gesagt habe: Scheiden ist schwer. — 



122 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Ein herlicher Tag war's - die Sonne gos ihr Licht so sanft 
in meine rotgeweinte Augen - die Wiesen dufteten so balsamisch 
und ein Konzert von Gottes Sangern durchtrillerte so melodisch 
die Luft. Ich kam in die Stadt; one noch recht zu mir gekommen 
zu sein. Bald gewont' ich da ein: ob gleich ein inniges Senen 
mich weiter wegzog. Ich besuch' iezt die Schule. Die Lerer sind 
Leute so so! Sie naren sich von Duft und Wind; sie geben ihrem 
Verstande nichts bedeutende Narung - und lassen das Herz ver- 
welken. Denn man schimpft hier auf die neuen Empfindler. Kei- 
ner ist nach meinem Geschmak. Und die Schiiler! da weis ich 10 
dirnoch weniger zu sagen. Viel Gutes vermutet' ich von ihnen, 
aber meine gute Meinung sinkt. Sie sind Ebenbild ihrer Lerer. 
Wenn nun's Original schon schlecht ist; mus nicht die Kopic 
unertraglich sein? - Ach Kalte, Kalte! daB du liberal deine Vere- 
rer, deine Altar' hast! Wenn ich doch hier einenandern Wilhelm, 
Guter! antraffe - einen Freund, in den sich mein stromendes 
Herz ergiessen kont. Ich mache Versuche; aber bald schauder* 
ich zuriik, und werfe die vermeinten Freunde wie gluhende Ko- 
len aus der Hand. - Meine warmen Herzensausgiisse werden 
mit Spotteln in ihre Ufer zuriik getrieben: ich schame mich dan, 20 
(wie paradox!) gut gehandelt zu haben. Wilst du sie kennen 
lernen? Lies dieses Gesprach. 

ich. Wie freu' ich mich, daB es nun wieder Sommer ist! Herli- 
chers kan ich mir nichts gedenken, als alle Tage, fruh und 
abends, spazzieren gehen 

SCHULER. Ich auch - wenn ich gearbeitet habe! Man macht 
sich eine gute Mozion. 

ich. O dieses ist's wenigste. Dieses Vergnugen kan ich eben 
so gut in der Stube geniessen. Aber, lieber Freund! die milde 
Natur betrachten und sich von ihr riiren lassen 30 

SCHULER. Da miissen Sie noch wenig im Sommer spazzieren 
gegangen sein. Das erstemal, wenn ich im Frilling' mich im 
Felde befinde, da gefalt mir alles. Aber im Sommer da hort's 
Vergnugen schon auf - Man hat's ia alle Tage 

ich. So so! Ihnen mag's so sein - mir nicht. Ekstatisches Geful 
iiberwaltigt mich, und 



ABELARD UND HELOISE 123 

SCHuler. Sie verschmachten fur Hizze. (spottelnd.) 
Mit solchen Kerl's hat man umzugehen. Und dieser ist noch 
einer von der bessern Art. Denn er hat doch rasonniren gelernt. 
Aber hier ein Dummer, da ein Dummer. Man aft mich; denn 
ich bin fremd. Ich bin zu offenherzig, darum halt man mich 
fur einen Einfaltigen - darum werd' ich so oft betrogen. Nun 
so hab' ich dir denn nach Art der alten, und erenvesten Kronik- 
schreiber alles beschrieben - und es war' Zeit, ein Ende zu ma- 
chen. Nur dieses sol das Resultat von allem diesen sein: in dieser 
Stadt werd' ich wenig besser werden; viele Muhe wird's hinge- 
y;en kosten, nur das zu bleiben, was ich bin. 



den 29. Jun. 
Wenn ich doch Zeit genug hatte! Ich leb' unter den Leuten so 
mit hin. Ich befiirchte gar, ihnen anlich und mir unanlich zu 
werden. Selten phantasir' ich wie sonst - aber wenn ich's tue, 
dan bin ich ganz Abelard. Ich weine seltner als sonst, aber die 
Tranen sindinniger. Ich lache mer als sonst, aber iiber geringere 
Freuden, iiber nichts bedeutende Dinge. Unter alien hier scheint 
einer mir anlich zu sein. Wir empfinden fast schon unsre Gleich- 
heit - unsre Herzen Ziehen sich an wie der Magnet das Eisen 
- aber wenn nur aussere Verhaltnisse nicht hindern. Entweder 
wir werden's bald - oder nie. Lebe wol! 



den 12. Julius. 
Und wir sind's bald geworden! Ich habe gesucht, und fand, 
was ich suchte. Lieber Wilhelm, wenn du nicht noch lebtest, 
so wiird' ichPytagoras Selenwanderungannemen, und glauben, 
deine Sele war' in seinen Korper gefaren, so ganz anlich ist er 
dir. Aber Gluk fur mich! Ich habe zwei Freunde gefunden. Ein 
Gesprach iiber ein Buch fachte den Funken an, der schon in 
30 uns glimte - wir wurden ein ander dadurch naher gebracht. 
Wilst du's lesen? - hier. 

ich. Unfelbar haben Sie Selling's Jugendgeschichte gelesen? 



124 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG 

karl. Mit Freuden erinner* ich mich's. 

ich. Und ich auch - Gewis es mus Ihnen ser gefallen haben? 

karl. O wer's nur fiilte. Dies Buch ist ganz fur den Jungling 
geschrieben. Ein Stral von der so unbesorgt durchlebten Kind- 
heit umdammert so sanft die Sele - alle unschuldige Wonnen, 
in der Jugend genossen, leben in der Sele wieder auf - man 
senet, senet sich, einem Freund' an den Busen zu fallen und 
an ihm der Freudenerinnerungstranenf!] auszuweinen - 

ich. Guter! wieoftdacht' ich's, wiinscht'ich's-und umsonst. 

karl. Und ich - auch umsonst - umsonst (nachdenkend) 

ich. (ihn anblikkend) umsonst? - o wir fiilen, Guter - wir 
- wir 

karl. wollen's sein - ach Freunde sein, es bleiben - Freunde, 

Wehmtitig sari* ich meinen Freund an- die Tranen entdrangen 
den Augen. Ich entfernte mich. Denn sie ist nicht auszuhalten, 
die nahe Gegenwart des Weinenden. Alles wird in der Sele ge- 
spant. Alles engt uns ein! Leb wol, lieber Wilhelm! Du bist mir 
nun doppelt teuer, lieber. Denn ich kan dich taglich in deinem 
Ebenbilde lieben. Jedes Ungliik wil ich aushalten - denn ich 
habe zwei Freunde gefunden. - 



den 24. Jul. 
Du wiinschest meinen Freund naher kennen zu lernen? - Dies 
wird dir leicht sein; denn du brauchst nur dich zu kennen - 
er ist ganz dein ander Ich. Sein Vater ist Pfarrer in einem Dorfe, 
das eine halbe Meile von der Stadt entfernt ist. Er hat Geld 
genug, um woltatig zu sein: und nicht zu viel, damit in Laster 
zu verfallen. Fast taglich besuch' ich ihn. Hier geniess' ich Got- 
terworme. Abends, wenn der Mond sein Zimmer erleuchtet, 
phantasirt er mit wehmiitigen Tonen auf dem Klavier - die im- 
mer trauriger, dumpfer, selenschmelzender werden, die so sil- 30 
bern in die Sel' hinein tonen. - 

Wir sind ganz fur einander geschaffen. Aber unsre Freund- 
schaft wiirde dauerhafter, inniger sein, wenn unser Stand uns 
nicht von einander unterschied. Er ist ganz Freund, wenn wir 



ABELARD UND HELOISE 125 

allein sind; aber zunikhaltend und kalt, wenn er andre um sich 
hat. Eben die Gemiitsart, die uns zu Freunden vereinigt, macht 
uns oft zu Feinden. Wir sind beide hizzig, aufbrausend. Eben 
deswegen giebt's oft Zankereien zwischen uns beiden. Aber 
diese kleinen Uneinigkeiten sind nur da, um die erkaltende 
Freundschaft wieder anzufachen - wir lieben uns nie mer, als 
wenn wir vorher Feinde gewesen sind. Jeder wil sein Recht 
behaupten, sich zu rachen; und doch ist ieder geneigt, zu verzei- 
hen, wenn nur einer den Anfang machte. Wenn wir uns ent- 
10 zweien, so werden wir leicht wehmutig: hiiten uns aber, es ein- 
ander merken zu lassen. Dies ist getreues Gemalde der Natur! 
- Aus diesem allem schliess' ich: es ist ser schwer, einen Freund, 
den man vorher war liebte, zuhassen. Man hast nur zum Schein. 



den 28. Jul. 
Mein Freund wil mich iezt unter den Hundstagen mit zu seinen 
Eltern nemen. In ein par Tagen werden wir abreisen. Ich ver- 
spreche mir gliikliche Tage. O herlich ist Freundschaft! Guter! 
stelle dir die Welt in al ihrer Herlichkeit und Pracht vor, die 
sie haben wtirde, wenn alle einander liebten, wie ich, du, und 
20 Karl. Wir wiirden keinen Himmel verlangen; denn wir hatten 
ein Paradies schon auf der Erde. Und wir Menschen beklagen 
uns doch oft iiber die Vorsehung, und bedenken nicht, daB wir 
selbst unsre grosten Peiniger, Henker sind. - Lebe wol, Freund! 
bald werd' ich dir schreiben. 



den 1 August. 
Gestern kam ich mit meinem Freund in seiner Wohnung an. 
Eine der vergniigtesten Reisen, die ich ie getan habe! Abends 
um 6. Ur gieng ich mit ihm ab. Unter freundlichen Gesprachen 
erreichten wir's Dorf. Gerade gieng die Sonn' unter- o Freund! 
dies war ein Schauspiel! wiirdig des grossen Weltschopfers! - 
Eine Rote verbreitete sich iiber den halben Himmel, die kein 
Pinsel des Malers ie erreicht hat - so schon vermischten sich 



126 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

die weisen, duftigen Wolken mit dem goldnen, rotenden Son- 
nenstrale. Tausend goldne Fliegen, tausend kleine Tiergen spiel- 
ten unbesorgt im lezten Lichtstral - sie freu'ten sich der Warme, 
die ihnen so wol behagte. Und wir - wir Menschen nemen 
so selten die Woltaten, die aus unsers guten Gottes milder Hand 
fliessen, on' Argwon, one Rasonniren on - Wenn wir doch alles 
mit warmen Herzen, unbesorgt, genossen, was uns dazu gege- 
ben ist! — Durch eine lange Reihe von Baumen musten wir's 
Dorf erreichen. Das Schnurren der Kafer, das Quakken der 
Frosch' im nahen Teiche, das Sumsen der Miikken, das Lispeln 10 
der Baume — alles dieses fiel uns so warm auf's Herz! Endlich 
erblikten wir's Dorf, in Linden liegen, durch deren Laub das 
matte Licht des Mondes durchzitterte. An der Tiire der friedli- 
chen Hiitte stand meines Freundes Vater - ein erwiirdiger Greis. 
Ruhig schmaucht' er seinen Tabak. Mit al iener patriarchalischen 
Unbefangenheit, Offenherzigkeit, mit iener ungekiinstelten 
Biederheit und Deutschheit empfieng uns der Alte und seine 
Gattin - weiblicher Abdruk des alten Greises! - Sie freueten 
sich ihren Son zu sehen; sie namen liebreich uns auf, one iene 
Komplimente, diekalte Heuchler, affende Franzosen erdachten. 20 
Ein kleines Madchen von vier bis fiinf Jaren hiipfte lachend um 
ihren Bruder; und sah' auf die Hande, ob sie ihr was mitbringen 
wiirden. Freund! hier ist Natur! Ich leb' hier glCiklich: sei du's 
auch! 



am 4. August. 
Bald wird die Glokke 12 schlagen: und ich bin noch beschaftigt, 
dir zu schreiben. Alles schlaft schon; ich bios wache noch. Und 
warum? Ich komm' eben von einem Spazziergange zuriik, den 
ich auf dem Kirchhofe machte, welcher die Pfarwonung um- 
giebt. - Ich bin iezt so vol von Empfindungen, daft ich befiirch- 30 
tete, sie verrauchen zu lassen, wenn ich sie dir nicht gleich mit- 
teilte. Ich sah' unter Mondsblinkern al iene einsam zerstreute 
Kreuz' auf den Grabern der Redlichen, auf welchen ernstes Mos 
wuchs; iene flinkernde Todeskranze, auf denen das schim- 



ABELARD UND HELOISE 127 

mernde Mondenlicht so sanft abpralte. Ich dachte: »Sieh'! du 
lebst noch und tritst mit Fiissen den Staub der Briider, die eben 
das waren, was du bist - und bald wirst du ihnen auch gleich 
werden. Denn bald wird der Wurm die bliihende Wange zerna- 
gen - bald wird Moder und Verwesung deinen Anblik scheus- 

lich machen bald, bald wirst du hier liegen, schlummern.« 

Ich sezte mich auf einen neuen Grabeshiigel. Ich sah' die durch- 
locherten Menschenknochen - die Schadel, in denen ein 
menschlicher Geist eh'mals wonte. Es war mir, als wenn der 

io Verstorbnen Geister sanft mir die Wange belispelten, in mir 
iede Tiefe der Empfindung erschiitterten. Die Baume rauschten 
heilig, dumpf im Gottesakker - der silberne Mond gieng am 
blauen Himmel unter dem Sternenher weg — Alles dieses zu- 
sammen sturmte so in meine Sele, daft ich nieder fiel, laut betete: 
O guter Got! mein Schopfer! Hier bin ich unter denen, denen 
ich bald gleich sein, bald an ihrer Seite mitmodern werde. Vater! 
ich siindige! ach vergieb dem Schwachen! Hier auf diesem Grab' 
bet' ich zu dir! Las mich; las mich, wenn dieser Geist der Erd' 
entflohen, und dieser Korper mit ihr vermischt wird - dich 

20 schauen, ach las mich gliiklich sein! Und, o Jesus! der du auch 
des Todes stillen Schlummer schlummertest, wisch* die Tranen 
dem Leidenden ab! Ach guter Got! wenn ich doch bei dir schon 
ware, um zu trinken des Himmels Wonn' aus dem Becher deiner 
Liebe-umzuleben mitGuten, um nicht mer Tranen des Elends 

zu weinen, nicht mer gedrangt zu sein! 

Erschopft stand ich auf - floh' und schrieb eilig dieses Blat 
an dich. Es tobt in mir! Ich werde wenig schlafen konnen. Die 
Unordnung, die in diesem Brief herscht, wird dir die ganze 
Gestalt meiner Sele deutlich genug enthullen. 



30 am 6 August. 

Verwirrung! Ein Gedanke durchkreuzt den andern. Ich kenne 
mich kaum. Ich wil dir die Ursach' erzalen; aber unordentlich 
genug. Gestern abends spazziert' ich nach einem kleinen Wald- 
chen. Ich war eben auf dem Rukwege wieder, und in Gedanken 



1 28 JUGENDWERKE ■ I. AJBTEILUNG 

vertieft, als — du wirst iezt 'was ausserordentliches erwarten, 
und dich betriigen - als mir ein mittelmassig gekleideter Man 
begegnete - das ist aber das wenigste - der ein weibliches Ge- 
schopf am Arme fiirte, das - Aber hier, Freund, felen Worte. 
Die erste, die mir ganz Weib scheint - nein, nicht Weib, ganz 
EngeL Jedes Frauenzimmer gefiel mir nur bisher; aber diese riirte 
mich. Ach ich liebe sie - sie, die ich nicht kenne. Ich kenne 
nur ihre Bildung, die mir Unschuld und Tugend verspricht - 
ich sah nur ihr Auge, in dem gequalte Unschuld nach Mitleid 
herausschmachtete; - aber ihren Namen, ihren Stand, ihre Auf- 
furung weis ich nicht. O Herz! was bist du iezt! Ich bin nicht 
mer Abelard. Ich bin's mer oder weniger - ich weis es nicht. 
Jezt schmacht' ich bios, sene mich bios, weineblos. Tausendmal 
des Tages schwebt mir ihr Bild in einer solchen Glorie, solchen 
Reinheit, solchen Liebenswiirdigkeit vor, daB ich alles vergesse, 
was schon ist. Fast iedes andre Frauenzimmer hass' ich iezt - 
weil ich nur eine einzige liebe. Aber ich bin verdruslich dir Dinge 
zu beschreiben, wozu ich keine Worte finde. 

Ich wandte mich um, sah' nach ihr und erblikte, wie sie sich 
umsah. Und nach mir? - Todten hatt* ich den Man wollen, 
der sie begleitete, daB er mir ein Vergniigen raubte, welches 
alle meine Sinn' erfulte, meine ganze Sele begeisterte. Freund! 
hilf mir! Dies Weib raubt mir alle Besonnenheit - fesselt alle 
meine Tatigkeit, entnervt meinen Geist! Ich mag kaum's Maul 
auftun: ich mag nichts reden, als von ihr, und da mocht' ich 
nie aufhoren. - Mein Freund Karl scheint die Veranderung an 
mir bemerkt zu haben. Er fragte nach der Ursache, die ich ihm 
verbarg. Ein Liebender ist kalt gegen den Freund, dem er sich 
nicht entdekken darf - und der warmste gegen den, dem er 
all' Heimlichkeiten seines Herzens vertrauen kan - dies hab' 
ich iezt an mir gelernt. Der Liebe Macht kan ein Einziger Mensch 
nicht ertragen; andre miissen sie mit tragen, andern mus er sie 
entdekken. Darum hat ein solcher einen Freund so notig. Leb' 
wol! In mir wiiten Stiirme. 



ABELARD UND HELOISE 1 29 

am 12 August. 
Ach! umsonst hoft man, daB die Zeit die Flamme verloschen 
sol, die iede Nerve durchgliiht - sie facht sie vielmer an, die 
Liebe wachst. Die Einsamkeit vermert sie - und desto mer, 
ie weniger man den Gegenstand seiner Liebe nicht vor Augen 
hat. Unsre Einbildungskraft verschonert uns die Liebenswiir- 
digkeit der geliebten Person in's unendliche; da uns die Sinne 
sie nur in ihren naturlichen Reizen darstellen. Die Einbildung 
last iede Unvolkommenheit des Bildes weg; die Sinne verbergen 

10 sie nicht. Deswegen ist Einsamkeit der Liebe so gefarlich - nein! 

nicht gefarlich, so trostlich, so narend 

Mein Freund Karl wendet alle Mittel an, mich meinen 
Schwarmereien (wie er's nent) zu entreissen, wieder Freud in 
meine Sel* auszugiessen; aber er wird seines Endzweks verfelen. 
Mit vieler Miih'und Not hat er mich beredet, morgen mit ihm 
zu einem Kaufman in dem Stadchen K- zu reisen, und bei ihm 
eine Summe fiir seinen Vater auszuzalen. Er hat mir ihn schon 
geschildert - der Kaufman ist ein filziger Teufel auf diesex Welt. 
O kriechende Insekten! Ich mochte den Kerl priigeln, one daB 

20 ich [ihn] noch gesehen habe. Und doch gen' ich zu ihm! Freund, 
es ist ein wunderliches Ding darum, daB man mit dem oft gerne 
umgeht, den man doch von Herzen hast. Man hat eine Freude 

daran, daB man sie hassen kan. Es komt daher verdamt 

sei doch dies kalte Rasonniren. Ich liebe, ich fiile bios, und - 
verzeih' mir's, lieber Wilhelm. Kalt' und Warme des Herzens 
haben bei mir iezt ihre periodische Rtikker, wie's Fieber. — 
Adieu! 



am 13. August. 
Freund ich kan mich nicht mer halten, ich iiberlebe die Wonne 
30 nicht, mein Herz fast sie nicht, sie zerreist mir's Gehirn! Ich 
habe sie gefunden, die ich liebte, ich kenne sie und gliih' ihr. 
O tausend Dank meinem lieben Karl, der sie mir entdekken 
half; one dem ich einen Engel weniger auf der Erde wiirde ge- 
kant haben. Ich wil dir's erzalen, tausendmal erzalen: denn ich 



130 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

werd' es nie sat werden. Nachmittag reist' ich mit meinem 
Freund ab. Unter schonen Wetter kamen wir endlich im Stad- 
chen K- an. Ich gieng mit in's Haus des Kaufmans, den ich 
dir schon vorher als einen kargen Man geschildert habe. Mein 
Freund bezalt die Summe von seinem Vater an ihn. Wie lachelnd 
er's Geld einstrich! wie sorgfaltig er hinschielte, um zu sehen, 
ob richtig gezalt sei! Sein diirres, schwarzes Gesicht verzog sich 
zu einem Lacheln, aus dem des Geizigen Sele ganz durchschien. 
Er war so gastfrei, uns auf einen Kaffee dazubehalten. Man trug 
ihn auf - und wer? Meine, die Geliebte, die ich neulich im Wald 10 
sahe, die Gute! Ein weises Unschuldskleid mit blasroten Schlei- 
fen war ihr Gewand. Durch mein Inneres durchbebte mich ihr 
Anblik - fast alle Sinne vergiengen mir - ich muste vor Freuden 
weinen. Sie macht* ihr Kompliment so natiirlich, so unge- 
zwungen. Ich stottcrte. Star blikt' ich sie an, und woke mich 
weiden an ihrem Engelsblik - o Got, und ich kont' es nicht 
ertragen. - 

Sie ist geschwazzig. Der Geiz ihres Vaters scheint ihr manche 
Qual zu verursachen. Ich wandt' al meine Selenkraft an, mich 
mit ihr zu unterhalten - aber da bracht' ichkaum Ein gescheutes '20 
Wortheraus. Ich wolte mein Herz, das von Empfindung iiber- 
flos, gern ihr zeigen; aber wie kont' ich's! Jedes Wort sagte mir 
zu wenig, war mir zu weitschweifig - ich wolte viel sagen, 
und sagte gar nichts. Sie unterredete sich meistens mit meinem 
Freund'. Nur, wenn sie lachelte, sah' sie mich mit holder En- 
gelsanmut an. Ach! sieblikket nicht nach Liebe- sie schmachtet, 
senet darnach. - Durch alle Glieder zitterte mir der Schauer, 
der mich eiskalt iiberlief, wenn ich ihre Hand, oder ihren Fus 
beriirte. Wie uns doch Got so wunderlich geschaffen hat. Ein 
menschliches Geschopf wie wir - ist uns Gottin - ist uns Quel 30 
der Seligkeiten, in welchen wir taumelnd sinken. 

Es wurd' Abends: und ich glaubte, kaum eine Stunde da ge- 
wesen zu sein. Mein Freund brach auf; ich wuste nicht, wie 
mir geschah. Ich nam Abschied von ihr - so verwirt, so wild, 
so tobend! Ein unaufhaltbares Drangen entpreste mir die Worte: 
Vergessen Sie mich nicht. Sie antwortete darauf: wenn Sie bald 



ABELARD UND HELOISE 13I 

wiederkommen. Das wiederhol' ich mir so oft: es durchdrang 
al meine Sinne. Ich lief und eilte nach Hause. Mein Freund ent- 
dekte meinen Zustand. Es wurde mir unendlich leichter, nur 
mich ausschiitten zu konnen. Aber er sympatisirt mir nicht ge- 
nug. Es ist schwer, einen Freund zu finden, der an unsrer Lieb' 
Anteil, warmen Anteil nimt. Ihren Namen sagt' er mir. Sie 
heist Heloise. Drei Menschen in der Welt, die den Himmel ver- 
dienen, du, Heloise, und Karl. Freue dich mit mir: so wie du 
sonst mit mir geweint hast. 



10 am 16 August. 

Ich denk' nur sie - meine Heloise. Alle Tage mocht* ich zu 
ihr eilen. Mein Freund aber halt mich ab. Er sagt: es verbietet's 
der Wolstand. O so hoi der T- al den Wolstand, der mich hin- 
dert, gliiklich zu sein. Ist's nicht mit al unsern Gutern bios Kin- 
dertand, bios Puppenspiel? Sie sollen uns gliiklich machen; und 
wenn sie's einmal konnen, diirfen sie nicht. Dieser hat Geld 

- macht's ihn gliiklich? - es hindert ihn, es zu sein. Er ist reich, 
deswegen sol er immer reicher werden, deswegen sol er keine 
arme Geliebte heuraten. O verdamte Giiter! Last mich arm, last 

20 mich bios, und ich bin gliiklich, in meinem Geiste gliiklich. 
Oder - die Eltern dieses iungen Menschen haben nichts als einen 
beriimten adelichen Stambaum aufzuweisen. Macht ihn dieser 
hohe Stand gliiklich? Nein. Sein Herz begert's iezt zu sein, er 
findet unter tausenden eine, die seine Sele liebt - aber sie ist 
von niedrer Geburt - Nun, darf er die, die seines Herzens 
Won[n]e, sein alles ist, auf die sein ganzes Wesen alle Kraft' 
hinstrekt - diese darf er nicht lieben. Er sol ungluklich sein. 
O Bruder! wenn man sich so einengen lassen mus. Wenn uns 
die kalten Kerfs mit gelassenen Blut al unsre Won[n]e, unsre 

30 Seligkeiten wegrasonniren, wegrauben, aus den Handen reissen 

- wer wil sich halten? Mein ganzes Wesen strebt sich dagegen 
auf - ich knirsche. Ich mus - morgen mus ich zu ihr. Ich wil 
bei ihrem Vater mir Tuch zu einem hollandischen Tuch kaufen. 
Ich werd* allein zu ihr hingehen: und's meinem Freund nicht 



132 4 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

merken lassen. Denn ich bin fast eifersiichtig auf ihn. Das ist 
Torheit meines Herzens? - 



am 17 August. 
Unter dem Vorwande, spazzieren zu gehen, entfernt' ich mich 
von meinem Freunde. In einer Viertelstunde schon erreicht' ich's 
Stadchen. Der Kaufman hatte mich mich nicht vermutet. Fast 
macht' er schon eine gramische Miene; wenn ich nicht nach 
hollandischen Tuch gefragt hatte. Wir wurden eins: ich kauft' 
ihm's ab. Aber seine Tochter sah' ich nicht. Endlich nam ich 
mir's Herz, nach ihr zu fragen. Eben trat einer herein, der mit 10 
ihm handelte, als er mir sagte, daB sie im Garten ware. Ich 
ergrief diese Gelegenheit, antwortet' ihm, daB ich ihn nicht sto- 
ren wolle, und entfernte mich in den Garten. Er ist schon - 
der Garten, wenig Pracht - aber genug fiir einen, der Sin hat, 
die Natur zu lieben. Viele schattigte Lauben - duftende Nelken 
und andre Blumen, b[l]iihende, und fruchttragende Baume reiz-. 
ten mich noch einmal so stark, weil ich meine Geliebte darin 
suchte. Endlich sah' ich sie bei einer Rose stehen, welche erst 
vom Wind war entblattert und abgeknikt worden. Sie stand 
star - ihre Augen waren feucht. Ich uberraschte sie: kaum konte 20 
sie mir antworten. Wir fiengen em Gesprach von gleicngultigen 
Gartendingen an; sie arbeitet' immer dazu. Endlich notigt' uns 
ein kleiner Regen, in eine Laube zu gehen. Wir sassen neben 
einander. AchBruder! wenn du wiistest, welches Gluk dies fiir 
mich war! nur neben ihr zu sein! so nahe! Durch die fallenden 
Regentropfen blinkerte der gebrochne Sonnenstral so mild - 
Sie sagte: Eben so lachelt der Gute, ob ihm gleich Tranen entfallen. 
Freund! dies sagte sie genirt. Sie blikte weg. Ich antwortete, 
war! war! und konte nicht ertragen die Zauberkraft dieser Wort' 
an mir, die mich iiberwaltigten; sagte: der Giitige wischt sie 30 
einmal ab, die Tranen, die Bedrangte weinen. Bruder! ich muste 
schluchzen, weinen. Sie nam meine Hand, driikte sie bebend. 
Es durchschauerte mich Himmelswonne, iede Nerve, iedes 
Aderchen gluhte. Wir sahen einander an; und ich sah auf ihrem 



ABELARD UND HELOISE 133 

gliihendem Gesichte die Wonne, die der Gute fiilt, der nach 
langen verschlummerten Jaren sein Haupt aus des Grabes Lager 
empor hebt, und seiner Taten Lon sieht, und Ewigkeit dazu 

- die Augen standen gen Himmel, Gefiil, Gefii] war ieder Li- 
nienzug ihres Antlizzes - die Tranen entrolten den Augen. 
Kont's nicht aushalten, muste fliehen. Mit wilden Schritten 
gieng ich im Garten umher. Wuste nicht mer zu bleiben. Der 
Geist ist nicht fur iibermassige Wonne geschaffen. Er ertragt's 
nicht. Endlich verschnauft' ich ein wenig. Ein schoner Regen- 

io bogen glanzt' im Tal. Jedes Bliimchen duftete siis: ieder Regen- 
tropfen funkerte blizzend vom Sonnenblikke - alles lebte wie- 
der. Wir kamen wieder naher. Ich war erschopft und fieng 
folgendes gleichgiiltige Gesprach mit ihr an. 

ich. Komt Ihr Vater oft in Garten? Ich glaube doch nicht, 
daB es ihm verdriislich fallen wird, wenn ich mich hier so lang' 
aufhaltc. 

eloise. O kcinesweges. ManbrauchtseinemGeizenurgenug 

zu tun, um alle Gefalligkeit von ihm zu erhalten. Sie kauften 

hollandisches Tuch von ihm: nun wird er Ihnen alles erlauben. 

20 Der Geiz ist sein Laster - er ist die Ursache mancher bosen 

Handlung, die er schon veriibte - - o meine Mutter! 

ich. Wie? er wird doch 

eloise. Er bios ist schuld, daB sie nun modert. Sein hartes 
Verfaren mit ihr, das vom Geiz entstand, raubt' ihr iedes Ver- 
gniigen, verbittert' ihr iede Freude. Endlich zerte der Kummer 
in ihr alle Lebenskraft auf — und sie ist nicht mer, fur mich 
Ungliikliche nicht mer. (Sie blikt mit nassen Augen gen Him- 
mel) Und eben dieses Laster wird mich bald hinlief 

ich. Halten Sie innen! Er ist nicht bios Her! der Tyran! 
30 eloise. Ich bin ungluklich, so lang ich bei ihm bin. Ich werd* 
es weniger sein, wenn er mich zu meiner Tant' hintun wird 

- und hier, Lieber, wollen wir oft 

ich. Wont Ihre Tant' an dem Orte, wo mein Freund Karl 
sich befindet? Das war ein Gliik! 

eloise. Ja! und in vierzehn Tagen werd' ich ankommen. Des- 
wegen bitt' ich Sie, verschonen Sie mich wenigstens so lange 



134 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

mit Ihrcr Gegenwart - die mir.so lieb ist - bis ich an diesem 
Orte bin. Mein Vater mochte Verdacht schopfen. Dan aber 

wollen wir oft 

Sie wurd* unterbrochen. Denn ihr Vater kam gcrade zur Gar- 
tentiir herein. Wie unertraglich mir sein Anblik war! Der Teufel 
ware mir weniger hassenswert gewesen, als dieser Qualer der 
Unschuldigen. Nun mer glaubt' ich ihm wenig Verbindlichkeit 
mer schuldig zu sein, da ich das Gliik mit seiner Tochter zu 
sprechen, on' ihn zu befiirchten, haben konte. Ich nam deswc- 
gen kalt von ihm Abschied. Das hollandische Tuch versprach cr 
mir nachzuschikken. Lebewol! das war viel geschrieben. 



am 20 August. 
Eine Szene, wie sie oft unter Freunden vorgeht, wil ich dir iezt 
beschreiben. Du weist aus meinen vorigen Briefen schon, daB 
ich und mein Karl ein wenig uneins geworden sind. Ich kam 
Abends von meiner Heloise nach Haus. Auf die Frage meines 
Freundes, wo ich gewesen ware, gab ich fast ungestum zur Ant- 
wort, auf dem Felde. Mich verdros es schon, daft er darnach 
gefragt hatte. Den andern Tag schikte mir Heloisens Vater das 
hollandische Tuch. Ich muste nun meinem Freund die Luge 20 
gestehen. Es war mir unertraglich, nur um ihn zu sein. Aber 
Freund! ich traue dir zu viel Kentnis des menschlichen Herzens 
zu, als daB ich vermuten konte, du hieltest mein Betragen gegen 
meinen Freund fur Bosheit des Herzens. Es ist ein eigen Ding 
mit dem Menschen. Je mer zwei Freund* in eins zusammenflies- 
sen, ie warmer ihre Freundschaft ist; desto mer kontrastirt eine 
kleine Mishelligkeit mit der vorigen Liebe. Eben die Empfind- 
lichkeit des Herzens, die sie zur Liebe stimt, stimt sie auch bei 
veranderten Umstanden zum Hasse. - Ich hatte weinen mogen. 
Um mir Luft zu machen, gieng ich hinaus in's freie Feld. Es 30 
war eine Stunde vor dem Sonnenuntergang. Ich lagerte mich 
auf einem Hiigel, wo ich ein weites Korngefilde, blumigte Wie- 
sen, iibersehen konte. Ich dachte so iiber mich nach. Mein Geist 
rufte die dammernden Vorstellungen von den Tagen der Ju- 



ABELARD UND HELOISE 135 

gend, von ihren Freuden zuriik. Ich lag so dort - und sah' hinaus 
in die weite Welt- sente mich. Es wurde mir eng. Wie gliiklich 
warst du, dacht' ich, als du noch in unbesorgtem Kindheitssin 
alle Freude so. warm genossest - als du dich freuetest liber iede 
Kleinigkeit - als dir die Morgensonne behagte, weil ihr Stral 
dich warmte - als der Abendsonnenstral dir gefiel, weil er so 
rot schien - als der Mond dich freute, weil er so hel schimmerte 
- als noch in dir nicht Stiirme das Herz durchwiiteten - als 
du noch stil warst. Was ist der Mensch! Ich lag so da - ich 

10 iibersah' die weite Gegend, wo der untergehenden Sonne roter 
Glanz durch die wallende Kornsat durchbrach, als die Lerche 
dem Schopfer ihr Abendlied wirbelte, als ich im Dorf vom mos- 
bewachsenen Turn herab die dumpfe Gebetglokke schallen 
horte, als es dunkel wurd' im Tal, und dunkler und immer 
dunkler die Rote den Horizont umschattirte, als das kiile 
Abendliiftgen im hohen Grase, in den Buchen sauselte, als die 
Heuschrekk' in den Kornblumen ihren einformigen Gesang so 

fortsumsete da erinnert' ich mich, meinen Freund, Karl, 

so beleidigt zu haben - da ergrief mich's. Ich eilte, urn ihn um 

20 Vergebung zu bitten. Ich fand ihn endlich in seiner Studierstube, 
wo cr ein klagendes Adagio spielte, das so dumpf durch die 
bebende Sele tonte. Ich ergrief hastig seine Hand, sagte: verzeih, 
Freund! mir Bosewicht! Ach hier wandt' er sich um, sah mich 
an und weinte Vergebungstranen - er driikte mir die Hand, 
und zog mich an's Fenster, wo der Mond durch die Baum' her- 
durchschimmerte, und ein Bach sanft murmelnd im Mondsstral 
wiederglanzte - er zog mich an's Fenster, gen Himmel sehend, 
sagt' er: Freund, las uns hier gut sein, und vergeben dem Felen- 
den-- dort, dort, zeigt' er mit der Hand nach dem Sternvollen 

30 Himmel, dort bleiben wir ewig gut - dort beleidigt man nicht. 
Ich fiel ihm um den Hals - wir schluchzten. Er spielte wieder 
so trostend, so silbernschallend, daB ich ausser mir war, dich, 
und meine Heloise herwiinschte - und dan Himmelswonne, 
Seligkeitsgeful, Elysium! - 



I36 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

am 26 August. 
Die Hundstage sind vorbei; aber bewar mich Got, daB ich den 
Ort verlassen soke, wo ich so gliikliche Tag' habe. Zu Michaelis 
geh' ich auf die Akademie. Ich werde die Schule nun nicht mer 
besuchen. Meine Heloise kam heute bei ihrer Tant' an, eher, 
als ich's vermutete. Mein Freund sagte mir's. Jezt geh' ich den 
Tag wol sechsmal bei ihrem Hause vorbei, um sie zu sehen. 
Was man ein Kind ist! Ihre Tante ist die Frau des Amtmans 
an diesem Ort. Der Amtman ist so ein guter alter Deutscher, 
von wenig Empfindung fur Liebe, als bios fur ehlige Lieb' und 10 
fur Geld. Gesehen hab' ich sie bios - aber noch nicht mit ihr 
geredt. Morgen abend wollen wir im Garten des Amtmans 
zusammen kommen. Wie das Herz schlagt, entgegenpochend 
neuer Wollust! 



am 27 August. 
Es ist Mitternacht, und ich schreibe. Ich mus dir alles erzalen. 
Heut den ganzen Tag schon kont' ich nichts arbeiten. Jede Mi- 
nute wurde mir zur Stunde: ich hofte bios auf den Abend. Kaum 
hatt' ich gegessen: so fand' ich mich schon im Garten ein. Ich 
durchirte die langen, melancholischen Lauben. Es war einer der 20 
schonsten Sommerabende. Der Busen schwelte mir schon: eh' 
ich sie noch sah. Endlich flog sie zur Gartentiir' herein: und 
hu[p]fte die Lauben nach einander hindurch. Mit welcher Gra- 
zie, mit welcher Anmut bewilkomte sie mich! Mein Freund 
Karl kam endlich auch mit dem Amtman zur Gartentiir' herein. 
Alle viere sassen wir nun in einer Laube - und vergniigten uns, 
wie iene Altvater, mit vertraulichen Gesprachen. Aber ich hort' 
und sahe nicht - nur auf sie war meine Sele gerichtet. Das Ge- 
sprach geriet endlich durch eine wunderbare Wendung auf die 
neuen Gothesianer - Empfindler. Der Alte hatte so 'was davon 30 
gelesen und gehort - der sah das Ding ganz auf der schiefen 
Seit' an. Mich argert's, sagt' ich, daB man iiber die Empfindun- 
gen und Genii' andrer urteilen wil, on ihren Wert, ihre Beschaf- 
fenheitnochselbst empfundenzu haben. Wer lastert am meisten 



ABELARD UND HELOISE 137 

den Gothe? nur der, der ihm nicht nachfulen kan - nur der Kalte. 
Noch nie hab' ich einen Jiingling gekant, der Sinnes und Geful- 
kraft genug hatte, mit einem Gothe zu sympatisiren - welcher 
auf ihngeschimpft, ihn behonlachelt hatte. Aber wol ausgedorte 
Pedanten, alte Knasterbarte genug, die seinen Namen enterten. 
»Aber manche iibertreiben's im Empfinden.« Wo ist aber, ver- 
sezt' ich, die Granze gezeichnet, wie weit man empfinden sol. 
Ist nicht alles relativ? Der viel, der wenig - ieder nach seinen 
individuellen Kraften und Anlagen dazu. Und ich wiFs lieber 

io iibertreiben, lieber mich ganz hinreissen lassen von der Mensch- 
heit edlen Gefiilen, als kalt wie ein Stein sein, Mitleidstranen 
weglacheln, andre im qualenden Jammer mit holzernem Her- 
zen, durrem Gehirn, troknen Augen sehen. Jesus weinte manche 
menschenfreundliche Trane bei'm Grab' eines Lazarus - o 's 
regte sichinihm menschliches Gefiil, seine Saiten seines Herzens 
tonten den klagenden Tonen der Ungliiklichen in einem solchen 
Einklangzu, daB es Schande f ur uns ware — Ich wolte fortfaren, 
als der Alte so gleichgiiltig, so ungeriirt, von iezzigen Statssa- 
chen an zu schwazzen fieng, daB ich vor Unmut mich entfernen, 

20 und mir Luft machen muste. Ich und meine Heloise giengen 
mit einander weg, um im Garten zu spazzieren. Wir giengen 
bis in's hinterste Ende des Gartens. In einer Laube sezten wir 
uns nieder, wo wir den vorbeirauschenden Bach horen konten. 
Ach! eine Sommernacht vol Freuden, wie sie im Himmel nur 
sind. Wir hatten eine weite Aussicht - driiben dunkle Walder, 
wo die hohen Baume so prachtig in den blauen Himmel empor- 
sahen - da einen murmelnden Bach, der sich in den dunkeln 
Wald hinernschlangelte - oben uber uns einen Himmel, wo ein 
Stern am andern funkerte. Hinter uns fieng eine Nachtigal im 

30 Gebiisch' an zu schlagen. Wir lauschten. Schmetternd wirbelte 
sie die Ton' herab, und sank, tiefer und tiefer - endlich innig, 
riirend, senend. So silbern tont's nach in der stillen Nacht, so 
leise sang sie die melancholischen Tone. Ich konte mich kaum 
mer halten, Ich umschlang meine Geliebte! O ich wagt' es, 
meine Lipp' an die ihrige zu driikken. Ha! wie Lebensglut den 
Sterblichen durchstromte! Wie alle Welt um mich her vergieng! 



I38 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

- Wir weinten, und liessen unsre Tranen an unsre Busen fallen. 
Ich sank an sie hinan, verhiilte das Antliz - meine Sele begerte 
aufgelost zu werden - mit ihr - und dan hinzueilen, wo kein 
schwacher Korper mer den Geist entstalt [!] al die Wonnen zu 
fassen. Karl rufte mich - ich wachte wie vom Traum auf: redete 
kein Wort. Giengnach Hause. - Wie wenig werd' ich heut schla- 
fen konnen; denn die Bilder der eingesaugten Wollust gliihen 
zu tief in meinem Gehirn - nichts wird sie tilgen! - Let)' 
wol! 



am 1 Septemb. 
Ich mus fort zu meinem Vater. Ich mus auf die Akademie - 
o wie wird's mir! Von ihr - von ihr - sol ich. Und wie lange? 
Ich schwindle. Ich werde wieder mit meinem Freunde in die 
Stadt gehen, um da zu valediziren. Viel wird es mich kosten, 
nur von ihr Abschied zu nemen - auf einige Zeit. Denn eh' 
ich nach der Universitat O- reise, mus ich noch einmal mit 
ihr reden - und dan scheiden - scheiden. - 



am 16 Sept. 
Ich bin iezt zu Haus bei meinem Vater. Aber wie viel hat's 
mich gekostet, mich loszureissen von diesem EngeL Ich sagt' 20 
ihr nichts davon, von meiner Abreise - abends kam ich zu ihr 
und lud sie ein auf einen Spazziergang im nahen Waldchen. Sie 
tat's. Wir schlenderten so unbesorgt hin: und verweilten bis 
der Mond an zu leuchten fieng, der hinter dem Hiigel herauf- 
gieng. Wir wurden immer wehmutiger. Endlich sagte sie: 

Lieber Abelard! Wir lieben uns: aber diirfen wir auch? 

ich. Und wer wil's verbieten? Got im Himmel freut sich 
dariiber; und wer war' der Mensch? - 

heloise. Ach mein Vater! Ach! wir beide sind fur einander 
geschaffen - von Got bestimt. Und mein Vater wird ein Band 30 
zerreissen, uns ungliiklich machen. 

ich. Ich verstehe Sie nicht - ich zittere, was Sie sagen wollen. 



ABELARD UND HELOISE 1 39 

heloise. Dies - Er hat mich schon, mich Elende - einem 
Menschen bestimt, der eben so lasterhaft, eben so unempfindlich 
ist, wie mein Vater. 

Ich sank hin, vermocht' nichts. Denn al seine Hofnung so 
verwelken, al die Wonnen, denen der Geist entgegenschmach- 
tete, so entreissen sehen - in einen dunklen Abgrund, wo kein 
Abend der Hofnung dammert, hinabgeworfen werden - 
Freund! dazu ist's Menschenherz zu schwach, es auszuhalten. 
Lieber! wenn du meiner Qual nicht nachempfinden kanst, so 

io stelle dir [vor], du habest eine Geliebte, die dein Alles, deine 
Wonn' ist; stel dir vor, du wtirdest dan hinabgeschleudert in 
den Abgrund, wo kein Licht den Geist belebet, wo alles schwarz 
vor dir steht, wo dein kiinftiges Leiden dich wie ein Hollenge- 
spenst wiirget - und dan denke mich. Meine Geliebte trostete 
mich wieder. Sie erzalte mir genauer, wie er auf der Universitat 
ware, wo ich hinwolte, und wie er in etlichen Monaten zuriik- 
kommen wiirde, sie zu — Zitre Abelard! wie mich dies Wort 
ergrief so kalt - alles hin - hin, tont's in mir nach. Ach wir 
trosteten uns. Wir weinten. Wir redeten von Wiedersehen, vom 

20 Himmel. Wir kerten um. Vier Manner bringen eine Todenbar. 
Stil - giengen sie her. Meine Sele - war wie vernichtet. Meine 
Heloise fragte: was das ware? Dumpf fangt hin ten einer an zu 
reden: »Es ist, sagt' er, ein armes Bauernmensch. Diese war 
immer melancholisch. Sie hatt' einen Schaz gehabt, und der 
starb ihr im hizzigen Fieber. Seit der Zeit gieng sie immer mit 
nassen Augen herum. Sie redete mit keinem Menschen ein 
Wort. Endlich ersaufte sie sich. In diesem Waldchen, wo ihr 
Schaz liegt, wil sie auch neben ihn begraben sein.« Dumpfes 
Stilschweigen herscht* um uns her, heiliges Dunkel umfinsterte 

30 den furchterlichen Wald, graulich durchschimmerte des fliehen- 
den Mondes Stral durch die zakkigten, finstern Baurae - umfas- 
send durchschaurte das Bild der Selbstmorderin die bebende 
Sele - die still e Todesbare - das schwarze Leichentuch - ieder 
Schrit der Manner, die die Leiche trugen, durchhalte den 
schwindelnden Geist. - Ruf's im Geist zusammen al dies, Wil- 
helm! und drang's in ein Bild. Und dan — ich und meine Heloise 



I40 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

sezten uns auf einen Stok. Ich unschlang sie, und seufzete tief 
aus den Tiefen der Sel' heraus: »Du, gute Sel*! deren Korper 
iezt die nagenden Wiirmer nart, du, du kontest nicht ertragen, 
daB dein Geliebter hinschied vor dir, daB er dich verlies, und 
daB du einsam in der oden Schopfung hinwallen mustest? - 
Ach! dein Herz war den Qualen zu eng, die's bestiirmten! Du 
fandest al dem Kummer, al den Sturmen keinen Ausgang, als 
dich hinzuwerfen in des Todes kalten, eisernen Arm - als hinzu- 
eilen vor Got, der Schwacheri vergiebt, als hinzueilen zum Jesus, 
dem Menschenfreunde, um da ihn zu suchen, der dich liebte, 10 
urn da ihn zu umarmen vor dem ganzen Himmel, alien Guten 
und Seligen, den Einzigen - der fur dich auf keiner Erde zu 
finden war. « - 

Al dieses durchblizte die verkummerte Sele, wie der schlan- 
gelnde Blizstral die schwarze Wolke. Meine Heloise lag an mir, 
schwieg - innerer Schmerz durchwiilte die Empfindungstiefen, 
durchbebte die Nerven, durchschauerte Mark und Bein. Ich 
fieng an zu reden, zu meiner Geliebten: Ach du, die mir mein 
alles ist, du sagtest mir vor, ein Tyran wolle dich mir rauben 
- dich - und auch mich hinstiirzen in Stiirme, die die Sele dran- 20 
gen an des Todes Pforte - ach von dir! - schreklich! nichts, 
nichts, kerne Macht sol mich trennen von dir - o! dies Leben 
ist bald zu endigen, bald kan sich der arme Geist den Fesseln 
des Korpers entschwingen. O du! sieh' die Trane, die mir iezt 
im Auge bebt! Sieh' sie, Geliebte! ich werde weich. Wenn ich 
dich verlieren soke, und wenn du erfarest, daB dein armer 
Abclard, vom Kummer durchnagt, diese sterbliche Hiitte ver- 
lassen hat, dan erinnere dich des heutigen Abends, erinnere dich 

der Tranen, die ich an deinen Busen verweint habe Dan 

schau' hinauf mit einer Tran' im Aug' auf mein neuaufgeworfnes 30 
Grab, das den kalten Uberrest deines Ungliiklichen dekt, schau' 
hin, schau' dieBlumen vom Winde wanken, schau' die Veilgen, 
die meiner Grabstatt' entsprossen, deren Duft so schon duftet, 
weil sie vom Moder meines Fleisches ihre Narung ziehen, schau' 
hin, wenn du dein Abendgebet mit nassen Augen gen Himmel 
seufzest, wenn's Grab von des Mondes still en Stral iiberdam- 



ABELARD UND HELOISE I4I 

inert wird - sieh' mich schlafen, und folg' mir! Das Gefiil 

iiberwaltigte mich - ich verhulte mein Haupt - al meine Krafte 
waren gespant: ich war nicht mer Mensch. 

Endlich giengen die vier Manner wieder vor uns vorbei, die 
dieUngluklichebegrabenhatten. Stille Wehmut, und menschli- 
ches Bedauren blikten aus ihren Gesichtern. Ein iung aussehen- 
der Mensch von diesen verbarg seine Augen mit der Hand - 
er weinte. Meine Heloise sagt* endlich zu mir mit erstikter 
Stimme: Lassen Sie uns hingehen, und die Graber der beiden 

10 Redlichen - - Der Strom von Tranen, die sie mit ihrem 
Schnupftuch aufhielt, unterbrach das lezte Wort. Bald gelangten 
wir an die beiden Graber: nach dem wir vorher die Gebiische 
durchirren musten. 

Hart ragten ihre Graber neben einander hervor. Zwei 
schwarze Kreuze waren auf die Graber gestekt. Zwei Kranze, 
die bald verwelken wolten, hingen an den Kreuzen. Schon hatte 
des Sturms Brausen die gelben Blatter von den nahen Birken- 
baumen auf die Graber hingestiirmt, und die Grabeshugel wie 
ein gelberTeppichiiberzogen. Lieblichsauselt' cs in den finstern 

20 Baumen nahe Gegenwart der Verstorbnen - dumpf braust' es 
aus des Waldes Einoden ein Brausen des Herbstes und einsam 
krachzte die NachteuF ein Todtenlied im verfallenen Schlos. Wir 
sahen, wir horten, wir fiilten dies. Wir sahen gen Himmel, wo 
der Polstern gerad* Ciber uns funkelte, und der Mond weinend 
unter den weissen Wolkgen hineilte - Wir ergriefen die Hande, 
schauten hinauf, und den bebenden Lippen entzitterten diese 
Worte: Got! dort oben! der du uns siehst hier bei den Grabern, 
hier im Dunkeln - bei diesen Guten hier, die sich liebten bis 
zum Tode, bei diesen schworen wir, dafi die Liebe, die in unserm 

30 Busen flamt, nie erkalten sol - daB wir nie einander verlassen 
wollen, bis uns des Todes starker Arm einander entreist! Got! 
du siehst! wir lieben rein! o wie wollen wir dir danken, wenn 
wir hier gliiklich werden! Und wenn's auf der Erde nicht ge- 
schehen konte, wenn der Menschen Wut auch Geliebte zu tren- 
nen sich nicht scheut — o! so wollen wir dort, wo alles sich 
freut, und nichts weint, dort dir ewig danken, dort in ewiger 



14^ JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG 

Lieb' die Ewigkeiten verleben , die dem Edlen zur Freude bestimt 
sind. Vater der Lieb' hilf uns! — Ach das war eine Szene - 
wie ich nie eine dergleichen wieder haben werde. Ein Blik auf 
die Graber geworfen, und die Wort' herausgestossen: Ruhet 
sanft! ihr Kampfer! ihr Dulder! eilten wir nach Haus. Schon 
elf Ur war's, als wir durch's Dorf giengen. Keine Lampe des 
armen Landrnans schimmerte mer im einsamen Dorfe, alles 
ruhte schon. Nur hie und da belt' ein wachsamer Kettenhund. 
So schon lagen die schlechten Hauser vom Mond versilbert, 
nach einander hin. Ich furte meine Helois' am Arm. Das war \o 
ein Abend - vol von Wonnegefulen, und vol der Todesschauer. 

Erst als ich an der Turschwelle mit ihr stand, fiel's mir ein, 
daB ich Abschied von ihr auf eine Zeitlang nemen muste. Sie 
stand so liebend vor mir da, ganz in Engelsgestalt, aus der das 
Menschliche so sanft niianzirt, herausschmachtete. Ihr rotge- 
weintes Aug* hob sie so mild auf, mir in's Angesicht zu blikken. 

Ihre Hand brant' in meiner Endlich erofnet' ich ihr, daB 

ich nun nach Haus zu meinem Vater miiste - und daB ich bestimt 
sei,in wenig Wochenauf die Akademiemichzubegeben. Liebe! 
sagt' ich, nun werden wir uns eine Zeitlang nicht sehen - Leben 20 
Sie wol! Ein Kus versiegelte diese Worte. Aber ich konte mich 
von ihr nicht losreissen - Wir standen noch eine Zeitlang da 
- immer naher zog's mich hinan. Endlich tat ich mir Gewalt 
an - sie rief mir nach: Vergessen Sie den heutigen Abend nicht. 

Zu fruh' nam ich und mein Freund von den alten erwiirdigen 
Leuten Abschied. Die Tranen rolten mir die Bakken herunter, 
da mir der Alte so bieder Gliik wiinschte zu meinem Studieren. 
Noch einmal blikt' ich zum Fenster hinauf, wo meine Heloise 
heraussahe: Sie neigte sich- und wir beide wischten die Tranen 
ab. Hier nun bin ich bei meinem Vater. Mein Geist sent sich 30 
nach Veranderung, ist iiberdriissig des ewigen Einerlei's - alle 
Biicher stinken mich an. Taglich hoff ich auf den Tag, wo 
ich auf O- reisen kan. Adieu! Lieber! 



ABELARD UND HELOISE 1 43 

am 20 Septemb. 
Meine Phantasie malt mir iezt nichts anders als schwarze Bilder, 
Zerstorung, Ungliik. Taglich schwebt mir mein Scheiden von al 
den Bekanten, al den Liebenden, al den Guten vor. Und noch 
dazu gerade diese Jarszeit - Einsam geh' ich umher in meinem 
Gram. Wenn ich hore das heilige Brausen des Zerstorens von 
den Gipfeln der Ham' und das Gerassel welkender Blatter von 
den Asten herunter - wenn ich sehe das Vergehen der Natur 
so algemein um mich her - wenn ich iedes Geschopf der unbe- 

io lebten Natur ziikkend ersterben sehe - wenn die Wies' ihren 
Glanz verliert, die Blume mit al ihren Reizen zur algemeinen 
Grabstatt' hingeliefert wird - wenn ich liberal Tod rule, liberal 
Untergang merke — und dan in meinem Herzen al das Wiiten 
der Ungluksstiirme, die ich schon brausen hor' in dunkler Zu- 
kunft - in meinem Herzen der Gedanken, bald must du alles 
verlassen, bald must du gehen von denen, die dich lieben, und 
dich scheiden von der, die deiner Wonne Quel ist — und wenn 
dan der sinkende Geist, umdammert von einer so froh durchleb-, 
ten Vergangenheit mit al ihren Freuden, traurig einer schwarzen 

20 Zukunft entgegenzittert, die Unglukswolken iiber seinem 

Scheitel zusammentreibt ach! dan glaubt der arme Endliche 

vergehen zu mussen in dem Sturm des Todes um ihn her, dan 
glaub' ich zu fallen, wie das gelbe Blat, das vom Baum' herab- 
welkt, hin zu sein in herb[st]licher Verwiistung! 

am 30 September. 
Morgen geh' ich ab. Stum geh' ich den ganzen Tag herum. 
O! wie wird mir's, wenn ich an's Abschiednemen gedenke! 
Morgen werd' ich nur bis zum Dorfe reisen, wo meine Heloise 
wont; und bei meinem Freund ubernachten. Dan sol ich schei- 

30 den von meinem Karl - scheiden von meiner Heloise ich 

schaudere! Got! wenn's vorbei ware! - 

am 1 Oktober. 
Abend ist's. Ich bin im Hause meines Freundes. Ach sol ich 



144 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

dir den Abschied von meinen Eltern erzalen? Das ist mir schwer! 
Gestern Abends sas ich mit meinem Vater so vertraulich noch 
einmal beisammen; wie liebreich er mir die Regeln gab, mein 
kiinftiges Leben darnach einzurichten. Es wurde mir schwer 
als das leztemal »Gute Nacht!« zu sagen. Bald war die Nacht 
verschlummert, die ich mit wehmutigen Traumen vertraumte. 
Wehmutig schon stand ich auf. Unten im Hause hatte man ein 
Gelarme. Da hort' ich die Koffer's zumachen, die Schlagfasser 
zuschlagen - Endlich kam meine Mutter in mein Zimmer. - 
Lieber Son! sagte sie, hast ausgeschlafen - dies ist's leztemal 10 
in der Stube. Ach! mein Son! mein Son! du gehst iezt fort von 
mir - Wenn werd' ich dich wiedersehen - Sie weinte: ich weinte. 
Gieng hinunter in die Stube. Ich muste das Schnupftuch vor 
die Augen nemen, um die rollenden Tranen zu verbergen. Denn 
mir ist's argerlich, von andern sich in's weinende Auge sehen 
zu lassen. Als ich in die Stube trat, fiel mir mein Koffer und 
meine andern eingepakten Sachen in die Augen - auf s Herz 

- ich gieng an's Fenster. Sah' zum leztenmal den Birnbaum, 
unter dem ich so vertraulich mit meinen Spielkammeraden das 
iunge Leben verlebte - unter dem ich so senlich auf die Birn 20 
hofte, die mir der starke Wind abschiitteln soke. Ich sah al das 

- es wurde mir heilig - es drangt' in mir, al dies so verlassen 
zu miissen, so hinausgeworfen zu werden in die weite Welt. 
Oh! - Ich trank Kaffee. Aber immer mischteh sich die Tranen 
mit meinem Trank. Ach! wie mein guter Vater mir in die Augen 
sah, und wegblikte, weinte - wie die liebe Mutter mit nassen 
Augen den Kaffe einschenkte. Endlich kam das Pferd in den 
Hof angetrabt, mit welchem ich fortreiten soke. Ach! da flossen 
die Tranen. Da umklammerte mir mein kleines Briidergen die 
Knie! »Lieber Bruder! bleib da! kom bald wieder!« ach kleines 30 
Geschopf! wie innig, wie war hast du dies in deinem Kindessin 
gesagt! Got! ich kan dir's kaum hinaus erzalen. Da stand der 
Vater und weinte, da stand die Mutter und weinte, da war das 
Hausgesinde, und weinte - immer drehte sich eins urn's andre 
um, die Tranen zu verbergen. Ach sie sahen mich alle! und 
sahen nicht den Jammer, den meine Sele fiilte - nicht die Wellen, 



ABELARD UND HELOISE 145 

die in mir tobten. Endlich macht' ich's ein Ende: Nam meinen 
Vater bei der Hand, zerdriikt ihm sie, sagte tief heraus: Vater! 
Leben Sie wol! Dank fur Ihre Liebe gegen mich, fur Ihre Bemu- 
hung wegen mir - Dank Ihnen! o meine Mutter! leben Sie wol! 
Und auch du kleines Briidergen! und alle! Ach - - - ich 
schluchzte. Im Hof war unser alter Holzhakker, der sah auch 
nach mir, rief »Leben Sie wol, iunger Her!« auch ihr! sagt* ich 
mit erstikter Stimme. Ich schwang mich auf s Pferd, gallopirte 
durch's Dorf und hielt immer das Schnupftuch vor die Augen. 
Freund! das war ein Morgen! Und heut* abends - o was wird 
da's Herz fiilen. Morgen fruh urn 5 Ur geht's weiter. Heut 
abends Abschied von Heloise - morgen fruh von Karl - Ach! 
iezt schon stiirzen mir die Tranen auf s Papier! Lieber! ich wil 
aufhoren. 



am 2 Oktober. 
Noch einmal webt in mir auf, ihr Empfindungen! die ihr heute 
meine SeF erschuttertet, und fliesset noch einmal ihr Tranen, 
die ihr heut dem Freund* und der Freundin geflossen seid! - 
Hier bin ich allein in einem Stiibgen des Posthauses, wo ich 

20 logire. liberal neben mir Getose - in meiner Sel' heilige, tiefe 
Stille - Ach! ich wil mich mit dir unterhalten: denn ich hab* 
iezt auf der weiten Gotteswelt keinen andern, dem ich mich 
erofnen, dem ich meine Leiden erzalen konte. Also Erzalung, 
wie ich mich geschiedehhabe von meinem Karl, meiner Heloise. 
Auf dem ganzen Weg, bis an's Dorfgen war ich vol Empfin- 
dung - vol des Gedankens an meine Eltern, mein Briidergen, 
meine Bekanten. Ich kam an bei meinem Freunde. Es war uns 
heute nicht wie sonst; es war uns weher - Wir redeten wenig 
- wir sahen einander nur an; weinten nicht, ausser mir kam 

30 bei'm Tischgebet eine Tran' in's Auge. Abends beschlos ich 
zu meiner Heloise zu gehen, und von ihr Abschied zu nemen. 
Ich gieng mit schwerem Herzen in den Garten des Amtmfans], 
wo ich sie erwartete. Im Gartenhaus lag ein Buch aufgeschlagen, 
ich las, und dieses: 



I46 JUGENDWERKE ' I . ABTEILUNG 

Oft wird heut ein Sturm des Leides 
iiber dich ergeh'n: 
ach! dan werden triibe Tranen 
dir im Auge steh'n. 

Aber Morgen, frommer Knabe, 
Morgen, - freue dich! 
drangen Freudentranen wieder 
aus dem Auge sich. 

Es waren Krausenek's Gedichte. Ach wie das al auf mich paste 
- Armer! Tranen weinst du iezt genug - Tranen des Leides, 10 
des Kummers; aber wenn, ach wenn wird die Zeit kommen, wo 

du lachelst, wo die Tranen der Wollust im Auge zittern? 

Ich gieng an's Gartenfenster: schaut' hinaus, war beklemL Oh! 
wie die dumpfigen, schwarzlichen Wolken dahinschwammen, 
und den holden Mondstral vor den Augen verbargen - wie's 
so duftig mich umgab - wie der Nord in die welkenden Blatter 
hineinrauschte, sie in Wirbeln zerstreute - wie er sausete, der 
Nachtgeist, der alles mit Wehen durchnam - wie die herbstliche 
Liifte so kalt einem anschauerten - wie der Wind driiben auf 
dem Hiigel die knarrenden Baum' abschuttelte, und das Tal 20 
mit welken Blattern bestreute - wie der getriibte Bach hinwir- 
belnd so fiirchterlich fortklang und rolte - und wie der blinkende 
Abendstern droben die senende Sel' in al iene genossenen Won- 
nen im Sommer, hinwiegte, hinzauberte, hindammerte!! - Ha! 
da wait' es in mir - da ruft' es von innen tief heraus: ach! ist 
denn alles so nichtig - sind die Freuden so bald verraucht, denen 
sich der Geist immer und immer zusent - folgt denn so bald 
der triibe Herbst auf den lachenden Sommer? So dacht' ich; 
und endlich kam sie hinten herein mit schleichendem Tritte j - 
in ihrem weissen Gewande, in dem ich sie zum erstenmal sahe. 30 
Ganz das weibliche Geschopf, in dem sich Anmut und Schwer- 
mut, Schonheit und Riirung so herlich vereinigte. Sie sah zur 
Erde - sah die gewelkten Blatter, sah die herbstliche Verwii- 
stung, horte das Rauschen der Blatter unter ihrem Fus — und 



ABE LARD UND HELOISE 147 

sah mich endlich zum Fenster herausblikken - weinte. Ach! da 
fiefs mir auf's Herz! Ach! dacht' ich, was wil noch werden - 

- »Sind Sie schon da« sagte der weibliche Engel. Lange war 
stumme Szene. Endlich furte sie mich an's Fenster. Wir hielten 
uns bei der Hand. Ich sagte: sehen Sie dort den Mond, wie 
er sich verbirgt hinter's hinwallende Gewolk - wie er so weinend 
auf seine Erdenwelt herabschimmert - auch auf uns, die wir 
beangsteten Herzens sind, die wir weinen, weil wir scheiden 
miissen. In Heloise's Auge glanzt' eine Trane, vom Monde be- 

io silbert. - Ich sah' ihr star in's Auge, bebte dies heraus: Ach 
Geliebte! ich komme weg von dir - o Got! - Lassen Sie's, lassen 
Sie's, driikte sie mir die Hande, dies sagend - ach! sehen Sie 
dort hinauf, dort wont unser Vater, der uns nicht qualt, wie 
mein leiblichet - dort wont der, der fur die Guten sorgt. Ach! 
der wird Sie nicht verlassen, mich nicht verlassen - er wird 
unsre Liebe begiinstigen - diese innige, diese reine. Gutes Ge- 
schopf! Engel! fiel ich ihr urn den Hals - dich verlassen, hin 

- hin von dir - oh! »Freund! redete sie mich an mit mutiger 
Stimme, was verlieren wir, wenn wir getrent werden? wie lange 

20 dauert's? Kurz ist die Zeit unsers Wallens hier - und Lieber! 
wenn ein Ungluk hier im Erdental unsre Vereinigung verhin- 
derte; giebt's denn keinen Ort mer, wo Menschen weiter leben? 
Sehen Sie an dies Herz da, das so mutig pocht, sehen Sie's, 
dies wird einmal stille stehen - aber 's wird's nicht ewig bleiben. 
Ein Heifer, ein Menschenfreund, ein Gottesmensch steigt ein- 
mal von seinem Himmel herab, und wekt alle aus bemosten 
Grabern mit Gottesstimm' hervor - ach! dan wird er uns auch 
hervorwinken - dan erwachen die Schlummernden einer Mor- 
genrote, die ewigen Tag verkiindet - dan stehen wir da, be- 

30 schauen die Grabesholen, in denen wir so viel* hundert Jare ver- 
schlummert haben - dan umstromt neue Lebenskraft die 
Erwekten-dan, dan sehen wir beid' auch einander, mit Entziik- 
ken eilen wir einander in die Arme - sinken hin, trinken Wollust 

- und dan geht's in einen Himmel, wo Gute sich wiedersehen, 
ewig wiedersehen, eine ewige Sonne uns glanzt, ein ewiger 
Mond uns dammert - Freund! Lieber! ach ich werde weich! 



I48 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

wir werden wiedersehen, wiedersehen! Geh' hin, Geliebter! er- 
trage die Leiden mit Geduld, erinnere dich deiner Heloise, die 
oft urn dich, dich Edlen, weinen wird - ach Guter! leb' in Frie- 
den! - -« Ich sank zu ihren Fiissen - Himmel und Erd' vergien- 
gen um mich - ich sprang auf - umhalste sie - fulte mich Engel 

- dachte Wiedersehn - ris mich- sagte Leb' wol - schied! Freund! 
das waren Worte, die sie zu mir sagte. Ein Trost fur ieden, 
der liebt. Lieber Wilhelm! wenn auch du einmal liebst — oder 
wenn du Liebende kenst, deren Liebe rein ist, die aber dulten 
Jammer hier - die sich senen nach Vereinigung, und getrent 10 

werden von Tyrannen wenn du sie kenst, so sag' ihnen: 

Edle Menschen! gramt euch nicht. Bleibt hier geschieden! Er- 
wartet die Auferstehung dort! dort seht ihr einander wieder, 
wo euch kein Menschenfeind mer drangt - dort liebt ihr einander 
ewig. — Ach! al' ihr Liebende! hier im Sterbtal! die ihr duldet 
Leiden hier, weil ihr gut seid, weil ihr Tugend, Reinheit liebet, 
und nicht Geld, nicht Stand, nicht hohe Wurden - last's sein, 
dns oft Kummertranen eure Augen benezzen, blikt hin in's bes- 
serc Leben! in iene Hohe, wo ein Werther mit seiner Lotte, ein 
Siegwart mit seiner Marianna - und al die guten Selen, lachelnd 20 
auf euch herabwinken - wo sie, nachdem die Tranen des Kum- 
mers vom Auge verwischt sind, euch die Zauber iener Welt 
nur in dammerndem Lichte zeigen - seid Manner, duldet! und 

erndtet dan! Ich weine, Freund! und sol ich's nicht? 

Jezt weiter. 

Ich lief nach Hause, blikte mit tranenvollem Auge noch ein- 
mal nach dem Garten, wo ich soviele Seligkeiten genossen hatte. 
Zum leztenmal siehst du ihn, siehst du dies Haus, siehst du 
dies alles - klang's in der trauernden Sele. Mein Freund war 
noch auf, als ich kam. Wir redeten wenig - mein Busen schwol 30 

- alles war gespant. Mein Freund war sanfter. Nicht so ser er- 
schiktert' ihn der Gedanke des Scheidens. Ruhig hob sich sein 
Busen - ruhig ran die Trane - er war wie's stille Mer, auf dem 
die fachelnden Zephyr's nur schwache Welgen erregen. Zu fruh 
um fiinf Ur standen wir auf; weil ich um sechse schon abgehen 
wolte. Stil giengen wir beide herum. Wenige Wort' entbebten 



ABELARD UND HELOISE 149 

den Lippen. Jeder flilte die Liikke, die bald in ihm soke gemacht 
werden. Ach! immer durchflog mich der Gedanke - wie der 
Bliz das Dunkel - naher komt die Stunde, wo du von ihm must. 
Schon schlug's dreiviertel auf Sechse. Ha! da rolten die Tranen 
die Wangen herab -Da stand er am einen, und ich am andern 
Fenster; und ieder verbarg die weinenden Augen. Wir sahen 
so hinaus als es sechse schlug. - Stumme Szene! - Wir kerten 
uns vom Fenster ab, eilten an einander, umarmten uns - Weinten 
die Tranen, die Scheidende weinen, mit einander - vermischten 
sie - die Sinne vergiengen - es wurde finster in den bebenden 
Selen - ieder fiiltenur den andern - genos Wonne, fulte Schmer- 
zen. Ach! und dan! zerreissender Schmerz! »Lebe wol« zu sagen, 
und fort - weit von ihm. Ich weine. Ach Wilhelm! erinnere 
dich noch einmal der Szene, da wir am dammernden Morgen, 
am langsamen Heraufsteigen der rotlichen Sonne, in Gottes 
freier Luft uns trenten. Ach! wie's so schwer gieng! Und wer 
solt's nicht gefiilt haben, wer - der einmal einen Freund hatte, 
und sich trennen must' auf etliche Wochen, Monate, Jare, auf 
immer? Got! wie's im Busen wait, und Feuersglut in Adern 
rolt! wie's Herz zerprest, wie sich's sent, wie die Augen 
weinen, die Hande gluhen, die Lippen beben, und der ganze 
Mensch in alumfassende Gefule versenkt wird, und Engel sich 
fiilt! - 



am 12 Oktober. 
Da bin ich nun da, auf der Universitat! und zu was Ende? dafi 
ich Geld verzere, das ichbesserhatt' anwenden konnen, Sachen 
vergesse, die ich gewust habe, und Dinge lerne, die mir nichts 
niizzen. Wirklich das ganze Universities Leben ist weiter nichts 
- Sol's mer sein? - So bin ich auf keiner Universitat; so bin 
30 ich zu Hause, wo ich das Gute eben so gut lernen kan. Was 
mir al die Professoren sagen wollen, kan ich aus den Buchern 
besser - griindlicher - und mit weniger Zeit und Geldverlust 
lernen. Aber das Ding hat man einmal in finstern Zeiten ange- 
fangen, wo man wenig Bucher schrieb, und wo man, um klug 



150 JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG 

zu werden, die Leute selbst horen muste. Jezt nun, da's einmal 
Mod' ist, halt man's fur Siinde, diese Sitt' abzuandern - man 
hat Bikher, hort die Professoren und der Diimling bleibt doch 
allemal derselbe. Wegen der Studenten - da ist weniges zu sagen. 
Der halbe Teil geht hin in seinem Altagssin - bleibt Dumkopf 

- verzert's Geld - verludert die Zeit - unedel genug! Ein Teil 
ist ein wenig kliiger: schlendert den betretenen Weg seiner Vor- 
faren dahin - tut, was andre tun - betet nach. Dieser ganzes 
Dichten und Trachten zwekt dahin, einmal ein eintragliches 
Dienstgen zu bekommen - dan so hinzuleben und selig zu ster- 10 
ben. Dieses nun konte man ihnen nicht verargen. Denn wer 
wil von dem, der kaum Sinneskraft genug hat, auf dem ge- 
wonlichen Weg fortzukommen, wer wil von dem fordern, 
sich neue Wege zu banen? Aber nicht genug, daB sie die alten 
nicht verlassen - sie hassen, beleidigen und belacheln auch den, 
der ihre verlast, ungebante banet, noch nie erklimte erklimmet. 
Wenige giebt's, die mer Drang des Geistes in sich fulen. Diese 
wollen nicht bios studiren, um einmal ihren Korper dadurch 
zu erhalten - sie lernen, ihren Geist zu naren. Mit algewaltiger 
Geniekraft fallen sie iiber die Wissenschaften her - blikken tief 20 
in's Innerste- fliegen Adlersflug - leuchten Sonnenglanz. Aber 
diese kent man so selten, mag sie nicht kennen. Denn sie schaden 
den Altagsweggangern erstaunlich - verderben ihnen den be- 
pflasterten Weg - und machen ihnen viel Not und Plage. Er- 
staunlich gering ist die Anzal derer, die in Riiksicht auf's bessere 
Herz die genanten iibertreffen. Ich finde noch liberal mer den 
Verstand kultivirt und Riiksicht auf ihn genommen, als das Herz 
verbessert - zu feinern Regungen gemildert. Wirklich ein ge- 
scheuter Kerl wird tausendmal mer geschazt, als ein empfindsa- 
mer Jiingling. Diesen Bosewicht da, der sich nichts rumen kan, 30 
als libel angewandter Verstandesgaben - sezt man iiber ienen 
zartlichen, liebevollen Menschen hinauf, dessen Verstand zwar 
weniger gros ist, der aber besser angewandt, dessen Herz milder 
gewont wird, und dessen Sitten menschenfreundlicher geformt 
sind. - Es giebt wenige Leibniz's, Neuton's, Wolfs, in der Welt 

- aber noch weniger Gothe's. Aus diesem kanst Lieber! 



ABELARD UND HELOISE 151 

schliessen, wie wenig Vergniigen ich mir versprechen 
kan! 

Freund! ich bin so im Gerausch darinnen, daB ich nicht so 
oft wie sonst an meine Heloise denke. Aber wenn man dem 
Gewiil nichtsbedeutender, die Sele verhungern lassender Dinge, 
entgangen ist, wenn man einsam in sich selbst sich versenkt 

- ach! dan webt's schon wieder in einem auf - dan braust's, 
wie die unterirdischen Feuer, die nur desto heftiger sind, ie lan- 
ger ihnen der Ausgang verschlossen war. Wenn ich mit meinen 

10 Arbeiten fertig bin, und fur mich auf dem Klavier phantasire 

- dan erscheint dem lechzenden Geist Heloise's Bild, dan sieht's 
nasse Auge zum mondbeglanzten Fenster hinaus, und sent sich 

- hiniiber - uber alle Tal und Hiigel zu schauen, sie zu finden 

- Wonn* aus ihrem Anblik zu saugen. Mcin Karl wil mir alle 
Vorfallenheiten mit Heloise schreiben! 



am 28 Oktober. 
Es ist ein elend Leben so! Da sizz' ich - habc wenige Freunde, 
und keinen wie du und Karl - da stiirmt's draussen, da wiitet 
der Winter, und last einem nicht einmal die Wonne geniessen, 
20 unter Gottes freiem Himmel zu sein. Sol ich etwas lernen? Wenn 
dem Geiste die Krafte felen, wenn er in sich selbst nicht einig, 
wenn alles abgespant ist? Ach! hatte mich mein Vater und meine 
Mutter zu Hausse gelassen, mir alle Tag' meine Heloise erlaubt, 
und Bucher gegeben - ich ware weiter gekommen, und hatt' 
al des Kummers, al des Nagens weniger gehabt. Schon lange 
schreibt mir mein Karl nicht: Ich schrieb ihm neulich, daB er 
mir den Namen vom verhasten Kerl sagen solte, der Heloise 

du weist's schon. Ich mocht' ihn kennenlernen, um ihn 

zu hassen. 

30 am 4 Novemb. 

Karl hat mir geschrieben. Von Heloise - sie ist schwermiitig, 
seit der Zeit, als ich von ihr weggekommen bin. Mit innerlichen 
Kummer geht sie herum, und seufzet nach dem, der weit von 



152 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

ihr lebt - ihr Herz verlangt nach ihm, findet ihn nicht. Dagegen 
komt sie oft zu meinem Freund Karl, mit ihm unterhalt sie 
sich von mir - wie er schreibt - dan weinen beide - er um 
den verlornen Freund, sie um den entfernten Geliebten - Ihr 
Vater, das niedrige Geschopf , sol Anstalt machen, sie dem Kerl, 
der Fischer heist, zu iiberliefern - »Uberliefern« sag' ich. Denn 
einen gelindern Ausdruk weis ich nicht, wenn man eine dem 
iibergiebt, gegen den iede Fiber ihres Wesens bebend aufstrebt 
- dessen Gegenwart ihr Todesqual, und dessen Anblik Hollen- 
nah' ist. Freund! fast - ob's gleich das Herz ser leise sagt, so 10 
merk' ich's doch - fast komt mir der Gedank' in den Kopf, 
diesen Bosewicht, diesen Rauber unsrer Gliikseligkeit zu m- 
Wie schwach ist der Mensch! der beste Mensch! wenn er nur 
von der Seit' angegriffen wird, wo's ihm am schwersten wird, 
gut zu bleiben! 



am 10 Novemb. 
Drei Jar' hier zu bleiben? - Ich halt's nicht aus. Las den Verstand 
hinfaren, und weniger aufgeklart werden - sol mein Herz immer 
so verschmachten, so verlechzen? Ich kan's kaum ertragen, dies 
ewige Senen, da ich nun ein Monat wegbin - und nun drei 20 
Jare - ich bebe. Gestern Abends kont' ich nicht mer; da must' 
ich hinaus. Es war tiefer Schne und acht Ur'schon. Da ist ein 
Hiigel, wo ich hiniiberschauen kan in's gelobte Land, wo Helo- 
ise atmet. Ich stand dort, iibersah* die ganze Gegend, wo der 
Schne so schon vom Monde zuriikblinkerte und der ganze Bo- 
den, wo ich stand, wie Feuer glimte. Uber mir war eine helle 
Sternennacht - und der liebe Mond, der einem Leidenden iiber 
allesist, denn er hat so 'was trostendes, mitweinendes fur Elende 
- der liebe Mond gieng seinen blauen Weg am hellen Himmel 
hin - kalter Wind saust' um mich - wild stiirmten die eisschwan- 30 
gern Wolken im Ater dahin - furchterlich knasterte das Eis im 

nahen Flus nacheinander hinauf Ach! ich stand so da, schaut' 

hin, iiber iene Gebirg' hinweg, wo sie ist - die Sele sente sich, 
die Geliebte zu sehen, dachte: Ach! Geliebte! du denkst iezt nicht 



ABELARD UND HELOISE 1 53 

an deinen elenden Abelard, der von kalten Nordwinden um- 
stiirmt, da friert, der da weinend zu dir hiniiber schmachtet, 
den die Qual von dir zu sein, im Herzen engt - der da steht, 
die Arm* ausstrekt und - kalte Luft erfasset! Ach! da schwol 
mir der Busen! must' hinweg, so unbefriedigt, so durstend wie 
zuvor - da dreht' ich die Augen vol Tranen himmelan, blikt' 
unterwarts, schlug mich an die gliihende Stirn, eilte nach 
Hausse! - Ach! so ein Zustand! Aber nun, wenn die Geliebte 
meiner Sele, denk' ich, hier fur mich auf dieser Welt nicht mer 

10 ware - was dan? Wie wolt' ich's aushalten, die langen Lebensiare 
vol zerenden Kummers? Fiirwar! nicht lange wtird* ich mich 
qualen - dies Gehirn ist bald zerriittet, und das schlagende Herz 
bald zum Stillesteh'n gebracht - - Wo gerat' ich hin? - Ich bin 
iezt ganz anders wie sonst. Mannichmal (ibereist eine Kalte den, 
sonst so warmen, Jungling, daB mich sogar ein mittelmassigefr] 
Menschenkenner fur einen Gefullosen, Unempfindlichen schel- 
ten wiirde - eine Kalte, wo mich eine noch so riirende Sache 
nicht zum Weinen bringen konte. Ich bin zu ungliiklich; darum 
riiren mich andrer Leiden iezt so wenig. Und oft - da steigen 

20 die Tranen von selbst.in die Augen - bei den freudigsten Bege- 
benheiten. Denn eben diese lassen mich mein Leiden vermoge 
des Kontrastes noch einmal so stark empfinden. - 



am 16. Nov. 
Nichts mer braucht' es, mein Ungliik volkommen zu machen, 
als den Kerl kennen zu lernen, den ich dir schon in den vorigen 
Briefen als einen Nichtswurdigen geschildert habe - den nam- 
lich, der meine Heloise bekommen sol. Ich sah ihn, und sein 
Anblik erschiittertedie, schon sinkende, Sele- der arme Nieder- 
gedriikte wurde gar in die Tiefen des hochsten menschlichen 
30 Elends versenkt. Er kent mich schon, er weis die ganze Verbin- 
dung, in der ich mit Heloisen stehe. Er meidet meinen Anblik 
-tief kocht Has aus dem beengten Herzen herauf, flistert, heim- 
lich mir zu: Beleidig' ihn - schad' ihn[!]. Tagtaglich mus ich 
ihn sehen. Wiist' ich doch seinen Namen nicht, urn mich ieden 



154 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Augenblik an den Quel meiner Plagen zu erinnern! Und hore 
noch Lieber! bald, bald geht er hin - mich ganz ungliiklich zu 
machen. Denn bald wird er meine Heloise heuraten. Ach! mit 
diesem Wort' alles hin - mit diesem Worte meine Freud' auf 
, ein ganzes Leben geraubt - mit diesem Wort ich elend! Freund! 
wenn mich doch eine Krankheit hinrisse, um al den Jammer 
nicht zu erleben! Wie gern wolt' ich an dem Heuratstag Heloise' s 
hinscheiden von dieser Welt! Wenfn] doch des Todes kalter Arm 
den Lechzenden, Ungliiklichen umfaste-undhinin's stille Grab 
ihn senkte! Ach! wie wol war mir's in der kiilen Erde, wo die 
Brust, vom Jammer gedrangt, hinwesete, al die Glut, die im 
Herzen flamt, abgekiilt wurde, und der arme Abelard ruhig 
al seine Qualen verschlummerte - Vielleicht! ach! mus ich ihn 
wol selbst rufen - Selbst! - oh!! 



am 12 Dezemb. 
Warum ich dir seltner als sonst schreibe? Keine andre Ursache, 
als weil ich nichts zu schreiben habe. Alle meine Briefe sind 
vol von Klagen iiber mein Elend - sind Zeugen meines Ungliiks 
- und davon wilst du viele lesen? - - Doch heut' einmal, Dank 
Got! kan ich mit unbedrangterm Herzen schreiben. Ein wenig 20 
Hofnung dammert im schwarzen Gewolk meiner kiinftigen 
Leiden herauf - Wie's so wol tut! Aber wie? ich freue mich, 

daft eine Mordtat mer in der Welt geschehen ist? Paradox! 

Ich wil dir's entratseln. Fischer ist fort von hier; aber vorher 
hat er einen Menschen im Duel ermordet. Man sezt ihm nach. 
Nun ist keine Hofnung fur ihn, Heloisen zu bekommen. Weit 
wird der Bedauernswiirdige in der Welt umherschweifen. Ach! 

wenn's ware - wenn ich Heloise einmal Got! wie gliiklich! 

Aber mir andet's - Den ganzen Vorfal hab' ich dem Karl schon 
geschrieben. 30 

am 20 Dezemb. 
Wtitet nur immer, ihr Qualen! die ihr's arme Herz zerprest - 
lekt nur immer, gliihende Schmerzen! das bisgen Freuden- 



ABELARD UND HELOISE 155 

und Lebenskraft im Elenden auf - giesset neuen Jammer in die 
gedrangte Brust, damit sie bald zerspringe — verzert den armen 
Abelard! Vorher must' ein ziikkender Stral der Hofnung ein 
wenig dammern, damit ewiges Dunkel desto fiirchterlicher dem 
Erdenson alle Freuden verfinstern, schwarzes Gewolk desto 
graulicher iiber seinen Scheitel wiiten konne. Ha! eile! entflieh' 
der oden Erde! wo keine Freude mer fur den Verlasnen keimt 
- wo Jammer, Ungliik nur sich veretnigen, d'en Guten zu foltern, 
den Bosen durchzulassen. Lies! Wilhelm! dies aus Karl's Brief; 

io und zittre fur deinen Freund. »Den 17 Dezemb. kam Fischer 
an. Er kerte bei'm Amtman ein, wo, wie du weist, Heloise 
logirt. Er tat ganz friedlich. Niemand wuste die schwarze Tat, 
die er veriibt hatte; aber niemand mutmaste noch weniger die, 
die er im Sinn' hatte. Er wuste, dafi er sich auf Heloise keine 
Rechnung machen konte. Was tut er? Ach! Freund! fast trau' 
ich nicht, dir's zu schreiben. Er beredet Heloise abend mit ihm 
im Garten spazzieren zu gehen. Wie eine Schlange so bos, so 
lisdg, flirt er sie bis an's hinterste Ek des Gartens. Er wirft sie 
zur Erde - sezt ihr's Pistol auf die Brust - wil sie enteren. Sie 

20 schreiet. Es kommen Leute. Er schiest los. Der Schus geht durch 
den Arm. Sie fait in Unmacht. Der Bosewicht entflieht. Nun 
liegt sie schon etliche Tage todkrank. Man zweifelt an ihrem 
Aufkommen. Sie seufzet nach dir; und begert dich noch einmal 
vor ihrem Ende zu sehen. -« Ach! armer, elender, bedauerns- 
wiirdiger Abelard! hin ist alles mit ihr! Got! ach! Heloise! Ge- 
liebte! dieser Menschenmorder muste dich auch gar morden. 
Ha! wie die grauenvolle Zukunft mit schrekkenden Blizzen iiber 
den Zitternden daher leuchtet! Freund! schaffe mir Hulfe! Errette 
den Elenden, der am Rande seines Ungluks wankt, dem alles 

30 entraubt, der bios, verlassen ist, allein, traurig in Gottes Schop- 
fung hinwallet. - Ach! wie sie schmachten wird nach mir auf 
dem bangen Todesbette - wie seufzen wird die gute Sele nach 
dem Ungluklichen! Ich mus sie sehen, eh' sie hinstirbt, mus 
sie umfangen, eh' sie erkaltet, und den lezten Hauch ihres Atems 
verschlukken, eh' er verduftet - So weit komt's mit mir, mit 
meiner ungluklichen Liebe! Dan, dan wird Abelard eilen, ihr 



I56 * JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

nachzufolgen, und — sterben. In etlichen Stunden reis' ich ab. 
Got! wie die Gedanken in mir sich verwirren, die Empfindungen 
abwechseln! - 



am 24 Dezemb. 
Ich bin bei Heloise. Sie schlummert - bald wird sie auf immer 
schlummern. Hu! wie's rauscht urn mich! wie der Todesengel 
urn's arme Opfer mit geziiktem Schwerdte schleicht - wie ich 
sie schon klagen und singen hore, die Leichleute, mit schwarzem 
Flor angetan - wie dort die Bare, die meine Geliebte einschliest, 
mit den fliegenden Todenkranzen oben, hin in der Luft schwebt 10 
- wie driiben der Priester an des Grabes Rande von Eitelkeit 
und Tod predigt; und wie sie, sie^- hin in die Erde versenkt 
wird, die Erdschollern [!] den graugemalten Sarg erschiittern, 
und wie's dumpfen Todeston wiederholt aus des Grabes H6F 
heraus!!! 

Abends kam ich zu meiner bald scheidenden Heloise; sturmte 
die Stieg' hinauf; achteteniemand. ZurTiir des Zimmers hinein! 
Undach! ach!-blas, diebliihendeBlume-todengelb, die weisse 
Lilie - tief in der Stim' Hole, das sanfte, blaue Auge - eingefallen, 
das voile Antliz — Sie blikte zum Fenster hinaus. Sie sah mich 20 
mit senendem Auge, das Auflosung wiinscht - neue Wonne 
belebte die fast schon verwesende Leiche - al die Frcuden, sonst 
in Gliikstagen eingesaugt, umdammerten bei meinem Anblik 
den schon hinwegeilenden Geist, gliihten tief aus dem schon 
erkalteten Herzen wieder auf. So traf ich sie an. Hin war ich, 
fiel auf 's Bette, wo sie sterben soke, umfaste die vorige Geliebte, 
benezte das liebreiche Angesicht mit heissen Tranen, driikte sie 
hastig an mich — »Abelard« keuchte sie tief aus dem bald mo- 
dernden Herzen heraus - ich zerflos in Tranen. Ach Got! guter 
Vater! kontest du mich so leiden sehen, und nicht in die ewigen 30 
Wonungen aufnemen den Leidenden da? - Ich sazte mich nieder, 
sie strekte die schwache Hand nach meiner aus - driikte sie, 
scufzte dies mit leiser Stimme: Lieber Abelard! Sie — sehen 
daB ich bald diese Welt — verlassen — werde 



ABELARD UND HELOISE I 57 

dafi nun - bald geschehcn wird was ich 

schon — lange — wiinschte Ich - - danke - Got! Wie 

— wol — werd' — ich — ruhen Ich glaubte Sie 

— in - dieser Welt nicht — mer - anzutreffen - hier 

ist der Abschiedsbrief an - Sie Betriiben 

Sie - Sich - nicht — wir - werdcn — einander - wiedersehen 

Hier blikte sie mich an mit bedeutungsvollem Blikke; 

und ach! ihre Augen weinten Tranen - vielleicht die lezten in 
ihrem Leben. Sie zeigte mit ihrer Hand nach oben hin. Freund! 

io dies Geschopf mus ich verlieren? und so zusehen, wie's da liegt 
im maligen Ermatten ihrer Krafte, im Verzeren al ihrer Lebens- 
geister - zusehen, wie's bange Herz immer matter im kalten 
Busen schlagt, wie die Leidende mit senendem Blikk' herumirt, 
urn Hulfe zu suchen, sie nicht findet - und trostlos in sich kert, 
den Tod schon fiilt. — Ach! Ach! wem solten hier nicht die 
Augen von Tranen iiberfliessen? wem, der nur Mensch ist? und 
mir, der ich ihr Geliebter bin, der ich in ihr alle Befriedigung 

meiner Wiinsche suche? ich?? 

O Tod! wilkomner Gast! wenn du doch Abelard's weinende 

20 Augen schlossest und cliese Quellen von Tranen den nagenden 
Wurmern iibergabest! - Verwcsung! angenemer Freund! wenn 
du doch diese iiberfulte drangende Brust, wie ein liebes Kind, 
aussaugtest und dieses rebellische Herz dem Spiel der Winde, 
in Staub verweset, hinliefertest! - Und kiile Erde! Stof meines 
Korpers! wenn du doch diescn gliihenden, al seine Krafte selbst 
verzerenden, Jiingling bedektest, neben ihr mich aufbewaretest, 

neben ihr mich in Moder auflostest und dan! o Got! du 

mich wieder mit ihr auferwektest! 

Ich wurd' unterbrochen; ihr Beichtvater kam. Ich stelte mich 

30 an ein Ek des Fensters. Alles war mir Traum, was man mit 
ihr tat. Fast eine Stunde sagt' ihr der Geistliche vor. Ich wurd' 
es iiberdrussig, mir die lezte Stunde, die ich mit diesem Geschopf 
noch zu verleben hatte, so entreissen zu sehen - und sagte dero- 
wegen zu ihm: Lassen Sie's gut sein. Sie hat from gelebt. Sie 
braucht nicht, sich erst auf ihrem Todenbette zu bekeren. Ich 
wil Ihre Stelle bei ihr vertreten. Ich fertigte so den Geistlichen 



I58 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

ab. Man woke iemand her zu ihr tun, der sie die Nacht bewachen 
soke. Ich bot mich selbst dazu an. Niemand als ich sol bei ihr 
sein, und sie sterben sehen - denn ich vermut' ihren Tod heute 
nacht. - Got! wenn sie doch genesete! - 



Um 10 Ur zu Nachts. 
Da sizz' ich allein; neben mir die schlummernde, todkranke, 
bald hinscheidende Heloise. Wie himlische Klarheit ihr Antliz 
umleuchtet - o! sie fult sich schon in iene seligen Gegenden 
versezt, von Himmels Engeln umgeben, von Got fur die Leiden 
mit gtitigem Blikke belonet. Ach! nicht mer wie vorher tobt 10 
der Schmerz in mir; die Krafte sind erschopft. Stil iiberflies ich 
von Tranen. Sie hat mich getrostet; mir vom Wiedersehen ge- 
sagt. Sie scheint immer schwacher zu werden. Freund! wenn 
sie hinsturbe, die, nach der Abelard's ganzes Wesen alle Krafte 
strekt - wenn der arme, verlassene,, one Geliebte, hier auf der 
weiten Welt herumirren miiste - wenn Todestaler die zwei Lie- 
benden so schreklich trenten — Wenn dan mit ihr iede Schonheit 
der Natur erstiirbe, iede Blum* ihren Qlanz verlore, des Vo- 
gels-Gesang [!] one Reiz dem Elenden tonte, wenn mit ihr die 

ganze Schopfung fiir ihn tod, ungeheur vor ihm lage ach! 20 

dan werden bittre Tranen die Wangen des Ungluklichen benez- 
zen, immernagende Schmerzen das Herz des Armen durchgra- 

ben dan werden die Augen des Untrostbaren hin in die 

dunkle Wiiste des Elends starren, er wird leiden - aber nicht 
lange - Freund! wenn sie stirbt; sterb' ich audi! Ich bin ganz 
des leztern Gedankens vol. 

One dich dies Leben durchzuwallen, 

Heloise! kan ich nicht - 

Wie die welke Blume werd' ich fallen, 

die die Wut des Sturmqs bricht, 30 

wenn du vor mir hin in ienes Leben eilest, 

und der Leiden sat - in Jesu Arm verweilest. 



ABELARD UND HELOISE 159 

Um 12 Ur zu Nachts. 
Endlich hat sie ausgekampfet; sie ist verschieden. Ich aber bin 
noch da, atme noch; werde noch gefoltert. Engel droben bist 
du, schaust auf den Leidenden mit tranenleren Aug' herab. — 
Ich sas bei ihr am Bette, als sie erwachte. Star blikt sie mich 
an, sammelt alle Sehkraft, ihren Abelard noch einmal ganz in's 
Auge zu fassen und sein Bild mit in iene Ewigkeit zu nemen 

- sie reicht mir die Hand, rochelt tief aus der beklemten Brust 
mit Todesstimm' heraus: »ich — werde — bald - verloschen 

io — Leb — wol - Abelard! wir - sehen uns wie « 

die Stimme stokt, sie schliest die Augen - die Wangen erbleichen 

- die Fuss' erkalten - die Hande starren — der Todesschweis 
kocht aus der welken Stirne - die Lippen zittern - iedes Adergen , 
und Nervgen zukket zum leztenmal - das Blut stromt steter 

- das Herz treibt's nicht mer - das Geschopf ist im Todeskampf 

- noch einmal - alle Krafte der sterbenden, geangsteten Mensch- 
heit gesamlet - blikken mich die sterbenden Augen wild an - 
verloschen - innen pocht's - iede Fiber strebt gegen den Tod 
auf, streitet die lezte Kraft weg ich fal auf ihr Todenbette 

20 - umfasse die Scheidende - driikke wiitend ihr pochendes Herz 
an meines, ihre Todenfarbigen Lippen an die meinigen - lasse 
sie nicht faren, begere mit ihr zu sterben - endlich durcheist 
die Todeskalte die Erblaste - sie ist nicht mer Heloise - ich 
lasse sie. Eine Viertelstund sink' ich hin in Betaubtheit, fiile 
nichts. Bios mein Geist entschwebt der Erden Tiefen - fliegt 
mit der Verklarten gen Himmel - sieht sie im Unschuldsge- 
wand, mit der lezten Tran' uber Leiden im Aug, vor dem [!] 
Alvater treten und knien - sieht die weinenden Engel ihr des 
Elendstranen [!] abwischen — sieht den Himmel vergniigt, eine 

30 neue Dulderin einzunemen. Liebreich tont das Gold himlischer 
Saiten auf den Engelsharfen herab - lieblich sauselt es Kiilung 
von den wehenden Palmen herunter - Und ach! sie sieht, in 
Himmelsglorie drunten auf die Erde blikkend, den armen Abe- 
lard vom Schmerz gebeugt, vom Kummer durchnagt, knien, 
weinen, flehen - sie winkt, sie gebeut zu folgen - ich wil und 
fiile der Erde Fesseln und erwache. 



l6o JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG 

Ich bin meiner nicht mer machtig; alles ist in mir verhiilt. 
Ich seh' zum Fenster hinaus, auf zu dem sternvollen Himme] 

- erblikke den blassen Mond, mit graulichdurchschimmerten 
Wolkgen, verschleirt, hineilen, seh wie er iiber die Ungliiklichen. 
des Erdentals weint. Freund! es wird ruhiger in meiner Sele 

- es wiitet nicht mer so in derselben. Der Got, der alles liebt, 
hat auch sie mir entrissen - er wird wiedergeben, was er genom- 
men hat; er wird verzeihen, wenn ich selbst ihr nacheile. Ich 
wil beten, dafl er mich bald hinrufe zu meiner Entschlummerten 

- Wie sie iezt iube[l]n wird bei den Koren der Verklarten - 10 
wie sie sich freuen wird, al dem Jammer so hurtig entgangen 
zu sein. Da liegt sie, auf dem Bett' ihrer Ausdultung - so schon! 

so himlisch! Welche veredelte Physiognomie! Wie die Augen 
so sanft geschlossen sind - der Mund so ruhig — dieser tode 
Engel! - Abelard! lagst du doch neben ihr so! - Der Schmerz 
wait wieder auf — Ich wil Lerm machen, und ihren Tod ansa- 
gen! Leb' wol Lieber! du wirst wenig Brief e mer empfangen! 
Ach! Ach! - 

am 26. Dezemb. 
Heut' hab' ich den Brief von meiner verstorbnen Heloise gelesen 20 

- den Brief, wo sie Abschied von mir nimt. Ich wil dir ihn 
abschreiben: du wirst weinen. 

»EdIer, betriibter Abelard! 

Du wirst dieses Blat in die Hande nemen, wenn ich schon 
modere. Du vermutetest meinen Tod nicht, du glaubtest nicht, 
neulich mich zum leztenmal zu sehen; aber F. - Got verzeih's 
ihm - hat alle deine Hofnung vernichtet. Geliebter! wir waren 
einst gluklich, wir hoften, es in Zukunft noch mer zu sein - 
aber nun sind wir getrent, weit, weit getrent, bis ein woltatiger 
Tod dich wieder zu mir fiirt. Bald schauder' ich, den bittern 30 
Kelch des Todes zu trinken - bald hoff ich auf seine Ankunft, 
sene mich, ihn zu umfangen. Got! hilf mir! - Und du, edler 
Jiingling, lebe wol. Du wirst viel dulden muss en. Mein Tod 
wird dein Innerstes zerreissen. Oben in ienen seligen Hohen 



ABELARD UND HELOISE l6l 

werd' ich wandeln, und du wirst unten im Tranental seufzen 
-ich werd' Himmelsfreuden geniessen, und du wirst deine Tag' 
in Tranen verleben. Wenn nach diesem Leben noch Erinnerung 
des vorhergenossenen Daseins stat findet, ach! dan wird oft 
deine Heloise, mitten unter der zaubernden Musik hoherer Gei- 
ster, unter den Koren der mitweinenden, edlen Engel - mitten 
in der Geselschaft des Menschenfreundes, den ich bald anbeten 
werde - mitten unter diesem allem wird sich der Gedank* an 
den Abelard, der traurig auf Erden wandelt, in alle meine Freu- 
io den mischen, mitten unter den Tranen, die die Entziikkung der 
Liebe Gottes weint, wird eine triibe fur dich, Herlicher! herab- 
rollen - im Himmel werd' ich an dich denken, dich zu mir 
wimschen. Geliebter! mir bricht's Herz, dich lassen zu miissen. 
Aber las es sein. Bald werd' ich dich umfangen in der Ewigkeit 

- bald werd' ich dir die Tranen vom Aug' abwischen vor Got, 
vor Jesu, vor den Engeln. Besuch' abend bei'm Mondenlicht 
meine Grabstatte, schopfe Trost, nahe bei meiner eh'maligen 
Hiittezu sein, und hoffe, den Bewoner derselben bald zu umar- 
men. Blikke dan gen Himmel, und wenn's den Seligen vergont 

20 ist, ihre Geliebten und Freunde von oben zu betrachten, o! so 
wird deine ehmalige Geliebte oft in den weissen Wolkgen im 
Lichtgewand erscheinen, Trostung dir zuwinken. Dan wird's 
in des Kirchhofs Baumen todenleise rauschen, dan werd en die 
Blumgen, die auf meinem Grabe bliihen, im Mondenschimmer 
durch kule Liifte geschwankt werden, und ein sanftes Schauern 
wird deine Wange belispeln; dan denke: hier ist der Geist Helo- 
ise's. Ach! dan werd' ich vor Got niederf alien, fur dich beten, 
um deinen Tod flehen. Kom bald! Abelard! o mit Freuden wil 
ich dich umfangen - dan wird dies beangstete Herz nicht mer 

30 in einem kummervollen Busen schlagen - ich werde mich f reuen 

- freuen - Dulde! weine; aber tobe nicht! Bald wird dein Leben 
verrauschen! Lebewol! ich weine! zum leztenmal! sei gluklich. 
Dich erwartet 

Deine 

sterbende 

Heloise. « 



1 62 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Wol zwanzigmal hab' ich diesen Brief schon durchgelesen: 
ich werde des himlischen Trostes darinnen nicht sat. Ach! 
Freundin! dich must' ich verlieren! eine so edle, so herliche Sele! 
Nun bist du da, wo du dich hinwiinschtest; droben wandelst 
du unter Engeln, mit unbetrantem Angesicht - du blikkest freier 

- und dein Abelard leidet noch hier. Ach! der seufzet - schwer 
heraus, aus der beklommenen Brust. Lieber Got! wenn ich doch 
schon bei ihr ware! Was bin ich der ganzen Welt mer niizze? 
oder sie mir? Zu ieder Arbeit bin ich verdorben: ich habe gelebt, 
und nur fur Heloise; sie ist tod, ich lebe nicht mer, fur nichts 10 
auf der Welt. Einsam werd' ich in meinem Gram herumgehen; 
nichts wird ihn lindern, als der Tod. Und der verzieht noch? 

In der Nebenkammer liegt ihr erblaster Korper. Dumpf 
klingt's iezt aus dem mosigen Kirchturm zwolf Ur heraus. Hu! 
wie furchterlich! ach! klange die Glokke Todesklang, schallete 
sie, mich zu Grabe zu lauten!!! Vor sah' ich die Anstalten, die 
man machte, sie auf morgen zu begraben: Es war abends. Da 
ergrief mich wieder der Jammer. Ich eilt' auf diese Stube, ver- 
barg das weinende Antliz - wolte gar nichts mer denken und 20 
empfinden, al meine Geisteskraft* in Nacht umhiillen. Endlich 
fiel mir's ein, die tode Heloise noch einmal zu sehen. Allein 
geh' ich leise in's Zimmer, wo die Geliebte liegt. Sie war schon 
eingesargt. Das ganze Zimmer war vom Mond' erleuchtet. Ich 
hob den Dekkel vom Sarg ab. In ein weisses Sterbkleid einge- 
hult, lag sie drinnen. Jezt Lieber! wenn ich al das dir ausdriikken, 
malen konte, was so lebendig, so alumfassend meine Sel' er- 
schiitterte, als ich die Geliebte star, kalt, one Sel' und Empfin- 
dung, mit Moder und Verwesung erfiilt, vor mir liegen sah 

- als es drangt' in mir, zu ihr zu reden, und sie nicht horte 30 
meine Stimme, nicht sahe mein Weinen - als ich so dachte, 
diese, mit der du so oft beisammen sassest, deren Gegenwart 
Wonnegefiil in dein krankes Herz gos - ach! diese, nach der 
sich deine ganze Sele sente, diese schlummcrt hier, schlummert 
Todesschlaf - da liegt die Edle, nach viel tausend Kummer hat 
sie ausgerungen - hat sich hin in's Wonneleben gekampft - Gute! 



ABELARD UND HELOISE 1 63 

wie oft blikte dein triibes Auge tranenvol gen Himmel - hier 
ist's geschlossen, tief in die Nacht verhiilt - Wiirmer werden's 
bald durchfressen — ach! dieser blasrote Mund, wie oft erofnet' 
er sich, entziikkende Wortezu sprechen, iezt ist [er] stum, stum, 

bis Got ihn zum Lobgesang gegen ihn wieder ofnet und 

diese Hand, die so kalt iezt in der meinigen ruht, ach! wie oft 
driikt' ich sie, fulte WonnegefuF an derselben die schone Natur 
zu betrachten - ach! diese ist erstart, stil steht der Puis in dersel- 
ben - und dieser Busen, an dem ich so oft Tranen des Kummers 

10 verweinte, so oft an ihn hinsank - wird Wonung von Gewimmel 
nagender Wiirmgen! Und dieses edle Herz - bald wird's hin- 
stauben, und bald wird der Wind im Sturme seine Teil' her- 
umiagen, oder die leisen Liifte werden es als Sonnenstaub in 
der untergehenden Abendsonne bewegen — ach! ach! alles so 
hin! dieses edle Geschopf so zerstort - Und Abelard noch nicht? 

der ist so verlassen? so allein in der Welt? nichts ist mer 

fur ihn, dem er sein hinwallendes Herz naher bringen, mitteilen 
konte? - allein wiiten in ihm die Sturme des Ungliiks? drangen 
ihn? Da steht er, in al seiner Eingeschrank[t]heit, Nichtsvermo- 

20 genheit - seufzet, haschet zu erfassen, was weit von ihm ist 
- er mochte gerne mit ihr reden, ach! sie horts nicht - gerne 
sie kiissen; ach! er schaueret, die bald erdewerdende Lippen an 
die seinigen zu drukken — Ach! mus ich denn so? Stent's nicht 
bei mir, al diese Qualen zu enden, mich hin in die stille Todes- 
nacht zu stiirzen? - Ein Strom von Tranen entdrang meinen 
Augen. Eine Minute - ein Zufal - ein Punkt - so war' ich hin 
gewesen; so hatt' ich sie dort erblikt, so war' ich al meinem 
Jammer auf einmal entgangen. Aber, Freund! es gehort Mut, 
Starke, Kraft dazu, selbst dem grauenvollen Tod in die Augen 

30 zu treten. Man schauert, wenn man ihn naher erblikt. Was wird 
aus mir werden? - Leb wol! 



am 27 Dezemb. 
Gotlob! daB al das Gerausch, al mein Jammern ein wenig vorbei 
ist. Heute wurde sie begraben; wie stil wird sie ruhen! Ich wil 



164 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

dir al meine Empfindungen bei ihrem Begrabnisse mitteilen. 
Um die Zeremonie mitzumachen, must' ich mich schwarz an- 
kleiden, und in Flor verhullen! Ach! lieber ein weisses Un- 
schuldsgewand, um einen Engel zu betrauren! - Ich must' al 
das leidige Kondoliren mit anhoren - Kondoliren - mit lachen- 
dem Munde - schoner Kontrast! Fischer, ihr Morder, hatte wol 
selbst mit kondolirt. Aber ich nam mir vor, mich al der lastigen 
Gebrauche zu begeben. Ich war stum - Nur meinen Schmerz 
dacht' ich - an keinen Wolstand! Got! wenn's Innerste zerrissen 
ist, sol man komplimentiren, Strom* nicht[s]sagender Worte 10 
fliessen lassen, und heucheln? - Als ich so da stand, und man 
vor dem Hause die Leichenarien zu singen anfieng, wo iedes 
Wort den Armen mit Dolchstichen verwundete, iedes Wort so 
dumpf in den sinkenden Geist tonte, als die Sele bei den ziehen- 
den Klagtonen der Sanger so innig fortiammerte, tief im zerris- 
senen Busen das blanke Schwerd fulte — als dan der Leichenzug 
angieng, als ich sah al meine Wonn' in ein holzernes Gehaus 
verengt - mit schwarzem Leichtuch umhult - hin, hintragen, 
und ich hinterdrein schlich mit verstortem Blik, zeriammerter 
Sele - als die Flore vom Wind' in die Hohe geiagt wurden, 20 
und schwebten — und als es bei dem Garten vorbeigieng, wo 
ich etliche Monate vorher mit der Verstorbenen Hand in Hand, 
weinte, und ich mich dan der Red' erinnerte, die sie an mich 
hielt, da ich auf Universitaten gieng, da sie sagte, weinend, vol 

edlen Gefiils sagte: wir werden wiedersehen, wiedersehen 

als das al mich umfaste, ha! da stiirzt' ich hin in Nacht des 
Schmerzens - kein Sin empfand - die Sele war umfinstert - 
im grauen Nachtdunkel brausten des Sturmes Wogen - ach! 
da hatt' ich mich, wenn ich gekont hatte, hin in den stromenden 
Flus gestiirzt, al meine Qualen geendet — Und als man weiter 30 
in den Gottesakker kam, und ich al die beschneiten Hugel der 
Graber erblikte, und droben neben kalen, beeisten Lindenbau- 
men die frische Erde des neuaufgeworfenen Grabes sah, und 
als ich naher kam, wo ihre Grabstatte sein soke, und hin an 
seinen Rand schritte, und hinunter sah, und hinein starte mit 
wildem Blik, und dies kalte Haus schauete, und dachte: kiil! 



ABELARD UND HELOISE 1 65 

eng! bist du! da verwesen al meine Wunsche? hier? . . . hier 
modert, schlummert, verstaubt sie? — und als der Geistliche 
sich vor die Bare stelte, unter dem freiem Himmel mit lauter 
Stimm' iiber den Gottesakker hin von Eitelkeit predigte, und's 
tief in mir rufte: eitel! eitel ist alles! Lieben und Hassen! Freud' 
und Weinen! eitel! vor etlichen Monaten war al dies anders - 

- und als das Gewimmel der Schneflokken vom Himmel herab 
die schwarze Bar* iiberschneite, und man den Sarg von der Bar' 
herunterhob, die Seil* uber's Grab breitete, die den Sarg hinun- 

10 terlassen solten, und als der Dekkel abgehoben wurde, urn die 
Erblaste im Grabschmuk den Leuten zu zeigen, und ich durch's 
tranengetriibte, blode Aug* ihre weisse Hand erschaute, die so 
oft in meiner ruhte, die ich so oft dnikte, und diese Hand in 
den veriammerten Geist al die genossene Freuden wiederhin- 
dammerte, und sie schmerzlich aufgliihten im Verlassenen, - 

- als ich dan hinunter in's enge Haus, in's kiile Grab meine 
Heloise — Heloise - ach! — sinken sah und in die Tiefe so 
schnel der Sarg fiel, und die Seil' unter ihm wieder hervor gerolt 
wurden, und die Todengraber mit Schaufeln die gefrorne Erd' 

20 hinunter schollerten, und die Erdklumpen auf dem holen Sarg 
wiedertonen, und's graulich aus der Gruft herausdumpfete, und 
der Schal mir wie Abschiedsstimme der Geliebten vorkam, und 
das Grab gefiilt ward, und der Graber mit Fiissen den Boden 
zustampfte, und ich sie dachte, hart unter der Last der Erde, 
eng, verschlossen — weg von mir - als - als - als - dan, dan 
hiilt' ich mich in den Todenmantel, verbarg Kopf und Brust, 
lies wiiten die UngKiksgewitter, schrit hinunter in's Todestal 

- sente mich - drang - - - aber aber ich durfte, konte nicht 
Noch atm' ich! 



am 29 Dezemb. 
Ein wenig bin ich wieder ruhiger. Aber oft hab' ich Anfalle 
des Schmerzens; dan bin [ich] im Stande, mir das Pistol an die 
Stirne zu driikken - Aber wenn ich wieder kalter bin, und mein 
Vorhaben iiberdenke, so schauder' ich. Ich habe nicht Krafte 



l66 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG 

genug, dies auszufiiren; oder vielmer, mein Jammer ist noch 
nicht gros genug, mich zu dieser Tat zu drangen. Der erste 

Anfal wird mich Was wird aus mir werden? Sieht Got 

nicht meinen Jammer? ist's Siinde, empfindlich und trostlos bei 
Beraubung der Freuden zu sein? Wenn nicht - so ist mein Zu- 
stand nicht zu verdammen; aber wol zu bedauern. Von Woge 
zu Woge werd' ich getrieben - und endlich scheitern. 



am 30 Dez. 
Wenig hat gefelt, so ware mein voriger Brief an dich mein lezter 
gewesen - wenig, so schlummerte dein Freund schon in der 10 
kulen Erde. - Ich war wieder in Gefar - in Sturm. Alles macht 
sich auf, mein Herz in den grosten Jammer zu versenken. Ich 
habe sogar das lezte nicht, was nie einem Ungliiklichen versagt 
war - den Tod. Ich kan ihn nicht erbeten - er flieht mich - 
Ich flehe - er achtet mein nicht - ich brauche Gewalt - er verlacht 
mich. Gestern war ich unbeklemter; heute fieng's wieder an 
auf zu wall en, tief braust' es ein Brausen des Sturms, der Wut 
in mir - wie Atna's Lavaglut kocht' es aus dem eingeengten 
Herzen herauf. Den ganzen Tag heut war ich einsam. Nur 
abends gieng ich spazzieren, mer meinem Kummer neue Na- 20 
rung zu verschaffen, als ihn zu lindern. Spat kam ich zuriik. 
Es war schauernde Kalte. Der Mond schien hel. Ich erblikte 
von ungefar den Gottesakker. Mit unaufhaltbarer Gewalt ris 
es mich hin zu demselben. Hinein. - Ich erinnerte mich al dessen, 
was die Verstorbene mir in ihrem lezten Brief geschrieben hatte. 
Hin zum Grabe. Ich stand in stiller Einsamkeit zwischen den 
einsamen, dampfenden Grabern, als ich mich erinnert' ihrer 
Wort' im Brief, vom Himmel herab auf ihren Abelard zu 
schauen, mir in glorienvoller Gestalt zu erscheinen, als ich mich 
aller meiner Freuden mit ihr, erinnerte, meiner Heloise mich 30 
erinnerte, die stil unter mir staubte, nicht horte Lerchengesang 
und Nachtigallenlied, nicht sahe Sonnenglanz und Mondsdam- 
merung — als ich um mich her in meiner Sel' al dies wie in 
Reihen gestelt, versamlet hatte — und ein ungefarer Wind durch 



ABELARD UND HELOISE 1 67 

die nakten Gipfel der Baume wisperte, und meine gliihende 
Wang' anschauerte, und die erhizte Phantasie aus den schwim- 
menden, weissen Wolkgen sich die erblaste Heloise in duftiger, 
glanzender Luftgestalt webte, und sie mir zu winken schien - 
wie al dies so in mich drang — da fiel ich zur Erde, auf ihr 
Grab - erwog - beschlos, zu sterben, und mich durch die Kalte 
des Nachtgeistes tod en zu lass en. Ich warf mich hin in den 
Schne. Hu! wie war's aussen so kill! und in mir so brennend! 
Ich wolte langsam einschlafen und so erfrieren. Aber die Einbil- 

10 dung, vol der lebendigsten, gliihendsten Bilder, lies keinen 
Schlummer die matten Augen schliessen. Endlich war ich fast 
schon on' Empfindung. Der Schlaf driikte mir endlich die 
Augen zu. Lang lag ich so da; eine Stund' ungefar. Ach! nun 
schlug ich die Augen wieder auf. Der Mondsstral fur in diesel- 
ben. Ich war erstart, hike nichts mer. Das Sturmen meines Her- 
zens hatte nachgelassen, und die Bilder der gliihenden Phantasie 
waren ausgeloscht. Ich wuste nicht, wo ich war. Ha! sagt* ich 
endlich mit erfrorner Lippe, lebst du noch? ist dies um mich 
her, Erde, oder Himmel, oder Holle? - Ach Ungluklicher! der 

20 Tod komt nicht. Du must ihn oft rufen. Er last dich wieder 
erwachen, damit er's Vergnugenhabe, dichzwei [mal] zu toden. 
- Nun gieng ich wieder so durstend, so unbefriedigt nach Haus, 
wie ich gekommen war. Ach! Got, du must es wollen, dafi 
ich noch atme - meine Ur mus noch nicht ausgelaufen sein. 
Ich wil warten — Obermorgen ist das neue Jar. Das alte ist 
herlich angefangen, elend verlebt, und erbarmlich geschlossen 
worden. Mut-- dieser felt; ach! wenn's vorbei ware. Leb* wol! 
Die Griinde wider den Selbstmord, die du mir unfelbar entge- 
gensezzen wirst, kanst du bei dir behalten. Ich weis sie alle; 

30 sie helfen mir aber zu nichts. Sie martern mich bios, machen 
mir meinen Tod schwerer. Begeh' ich den Selbstmord nicht; 
so werd' ich grossere Feler begehen. Ich wil also lieber den klei- 
nern 



168 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

am 31 Dezemb. 
Dank Got! es ist beschlossen. Ich wil sterben. Lieber Wilhelm! 
es ist nicht mer Wut des iibermassigen Schmerzens, die dazu 
mich drangt; es ist kalter Entschlus - On' Uberspannung sol 
ein Schus durch's Gehirn den iammernden Geist von seiner 
Hiitte trennen. Und der Grund dieser ialingen Veranderung? 
ist dieser. Heut' abend, da ich nichts wuste zu tun, zu denken, 
zu empfinden - so ser hatte der immerwarende Gedank' an die 
Verewigte alle Kraft* abgespant - abend geh' ich wieder hinaus 
in's freie Feld, und hinein in's Waldgen, wo ich vor meiner 10 
Abreise mit Heloise war. Ein Gliik oder Ungluk fiirte mich 
an den Ort, wo die zwei Liebende begraben lagen, davon ich 
dir in einem meiner Briefe geschrieben habe. Es war der Ort, 
wo dieienige schlummerte, die den Tod fur ihren erblasten Schaz 
auf sich zu nemen nicht scheuete. Weiter braucht' es nichts, 
in mir den glimmenden Funk en zur lodernden Flamm' anzufa- 
chen. Ich erblikte sie, die Graber der beiden Edlen. Die ganze 
Szene stelte sich meiner SeF in al ihrer Lebhaftigkeit wieder 
vor. Ich erinnerte mich, wie ich mit Heloise an diesen Grabern 
stand, wie wir der Liebe schwuren - Ach! da fiel mir's auf s 20 
Herz. Schwacher, Entnervter, sagt' ich zu mir, ein weibliches 
Geschopf, unter den Landleuten erzogen, wenig fur die feinern 
Regungen des Herzens gestimt - scheut sich nicht, den Tod 
iiber sich zu nemen we gen ihres Geliebten - und du, der du 
so vol Gefiils bist, den iede entnommene Freude tausendfach 
verwundet; du bebst, dem Tod unter die Augen zu treten? Dein 
Herz wird von immerwarendem Jammer durchbort, und du 
zitterst, diesem Jammer ein Ende zu machen? Ich schwur, nicht 
langer mich zu qualen - ich eilte nach Haus; war viel freier 
und unbeklommener urn's Herz. Eben iezt um n Ur schreib 3° 
ich dies; und bald werd' ich meinem Schwur ein Gemige leisten. 
Ha! Lieber! dieses ist der lezte Brief, den du von deinem ehma- 
ligen Freund liesest. Du wirst ihn lesen, wenn er schon lange 
verschieden ist. Morgen ist neues Jar. Morgen feier* ich's im 
Himmel. O Freund! morgen bin ich bei Heloise. Mit Wonne, 
und mit Schauer blikk* ich hin in's vergangene Jar. Sehe Freu- 



ABELARD UND HELOISE 169 

den, und Qualen - Got Dank! daB sich der lezte Tag desselben 
soherlichendet. Leb' wol! Wilhelm! Jezt todet sich dein Freund, 
das gespante Pistol liegt neben mir. Zum leztenmal blikk' ich 
zum Fenster hinaus nach dem gestirnten Himmel - zum lezten- 
mal hab' ich diese Erde lebendig betreten und betrachtet - zum 
leztenmal dammert mir der Mondstral. Ach Freund! ich weine! 
vorher war ich kalt; iezt wird's Gefiil der Menschheit wieder 
in mir rege. Alles zum leztenmal - Meine Eltern nicht mer sehen, 
dich nicht mer sehen, Karl 1 nicht mer sehen? - Ach! troste meine 

10 Eltern, wenn sie meinen Tod erfaren, sag' ihnen, daB ihr un- 
gliiklicher Son eher zu bemitleiden, als zu verdammen ist. Tro- 
ste den alten grauen Vater. Sag' ihm, bald werd' ich ihn in ienen 
seligen Hohen umarmen. Kusse mein kleines Brtidergen an 
meiner Stat. Troste meine liebe Mutter, mein Freund! Lebt alle 
wol! die ihr mich liebtet! euch alle seh' ich wieder! auch dich, 
geliebter, guter, edler Freund! unter tausenden wil ich bei der 
Auferstehung dich suchen, vor alien andern dich umarmen, und 
Tranen an dich hinweinen. Lebt wol! al ihr Menschen im Sterb- 
tal! Seid gliiklicher als euer Bruder! DaB dessen Jammer keiner 

20 von euch trage, keiner so sterbe wie er! Und o! ihr Liebende! 
die ihr naher am Herzen mir liegt, die ihr gleichen Kummer 
mit mir fiilet, seid geduldig! last al die Tranen, die eure Augen 
triiben, mit ruhigem Gemiit die Wangen herabrinnen, last hoch 
iiber euch heulen den kaltenden Nord, last unter euren Fus iede 
Freudenblum' entbliitet und entblattert werden - ach! last das 
al! Erinnert euch des ungliiklichen Abelard, wenn ihr seinen 
Namen gekant habt, der mer duldete, als ihr - erinnert euch 
desselben, wie er in seiner Todesstund' an euch alle dachte, und 
Trostung fur alle Mitleidende vom Alvater herunterstonte! - 

30 — Leb auch du wol, Rauber meiner Freuden! Morder meiner 
Geliebten! vergeben sei dir von mir - auch du, o Got! vergieb 
ihm. - Lebt alle wol Mitbriider! Mitmenschen! - Und du auch! 
Wilhelm! teuerer Wilhelm! Wein' eine Trane des Mitleidens dem 
ungliiklichen Jungling, der so - so seine Qualen enden mus. 
Weine, wenn du meinen Tod horst. Meinen modernden Korper 
begrabe du und Karl neben Heloise. Leb edel! Vor Jesu seh' 



170 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG 

ich dich, umarme dich Leb wol! Es schlagt zwolF aus! 

Lebwol! Oh Mordgewer! zerspalte dieses Gehirn Got! 

im Himmel steh' dem leidenden Geschopf bei! Jesu! erbarme 
dich bald des Elenden, nim seine Sel' in deine Hande! Und du, 
o Geist Heloise's! steh mir bei! Bald seh' ich! Hilf Vater! mein 
Got! oh! - oh! 



Der Schus geschieht, und befreiet den Ungliiklichen von der 
langsam todenden Qual. Man hort den Knal, lauft herzu, und 
findet Abelard todkampfend. Alle Mittel werden umsonst ange- 
wand. In etlichen Minuten verscheidet er. Eine Trane noch ent- 10 
quilt dem Auge, indem sein Geist sich vom Korper trent. Alles 
ist in Besttirzung, da man den ofnen Brief an Wilhelm liest. 
Man schikt ihn an denselben; und schreibt einen an Karl. Zu 
Mittag am Neuiarstage kommen die beiden Freunde. Sinlos fal- 
len sie auf ihren erblasten Freund. Ihren Jammer mag ich nicht 
beschreiben. Auf abend sol er begraben werden. Vier Anver- 
wande vom Abelard tragen ihn. Stil, betriibt gehen die beiden 
Freunde der Bare nach. Bei'm Mondschein senken sie den Er- 
blasten in die kule Erde, nach der er sich schon lange gesent 
hatte. Weinend driikken Wilhelm und Karl sich die Hande; und 20 
seufzen: Hilf Got! daB unser Leben sei, wie's Leben dieses Edlen! 
Aber bewar uns vor seinem Ende. Und las uns ihn wieder im 
Himmel antreffen. - - Oft erinnerten sie sich an denselben; und 
weihten seiner Asch' eine stille Trane. 



Dies ist die Geschichte des Jiinglings, den wir aus seinen Briefen 
kennen gelernt haben. Ruhig rinn' ihm von des Edlen Wangen 
eine Trane des Mitleids! - Liebt den Ungliiklichen; er verdient 
warlich eure Liebe; amt ihn aber nicht nach! Und o! ihr Liebende! 



ABELARD UND HELOISE 171 

die ihr die gleiche Qual mit ihm duldet, last euch seine Ge- 
schichte zum Trost dienen. Verzaget nicht, wenn euch Leiden 
drangen! Und wenn eures Kummers zu viel ist, so blikket hin 
in ienes Leben - und wenn eure liebende Herzen hier geschieden 
sind,* so erwartet das Wiedersehen in Gottes seligem Hirnmel 
- Wo alle sich wieder erkennen Freund und Freundin, Werther 
und Lotte, Siegwart und Marianna - und alle - und auch du 
und ich! — 

J. P. F. R. 



172 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG 



MEIN EIGEN URTEIL UBER DEN AbELARD, 

den 9. August 178 1 



Feler. Dieses ganze Romangen ist one Plan gemacht, die Ver- 
wiklung felt ganzlich und ist altaglich und uninteressant. Die 
Karaktere sind nicht so wol libel geschildert, als gar nicht ge- 
schildert. Man sieht von Abelard und von der Heloise nichts 
als das Herz: man weis nichts von ihrem Verstande; es ist keine 
ihrer Neigungen ausgemalt; nicht einmal die Empfindung der 
Liebe ist war dargestelt. Oberdies ist alles iiberspant; bei vielem 
empfindet man nichts, eben weil es ser - empfindelnd sein soke. 10 
Es ist auch wider die Warscheinlichkeit gefelt. Es ist ser fade, 
die eine Person der Gefar der Enterung auszusezzen, und sie 
aus Furcht sterben zu lassen - und noch fader ist's, die andre 
Person zum Selbstmorder zu machen. Die Sprache ist nicht gote- 
sianisch; aber sie ist schlechte Nachamung der gotesiantschen. 

Schonheiten. Es ist nicht liberal die Sprache des Herzens verfelt; 
die Schilderungen von Szenen aus der Natur sind nicht ganzlich 
misgeraten. Das Deutsche ist nicht ganz elend; es ist wenigstens 
nicht dem Deutschen ganzanlich, welches die heutigen Kraftge- 
nie's schreiben. Auch findet man einzelne gute Bemerkungen 20 
hierinnen; und ich wiirde mer bemerkt haben, wenn ich hatte 
weniger empfindeln wollen. Endlich fur mich hat dieses Biichel- 
gen die Schonheit, daB es einen meiner besondern Zustande 
meines Herzens zu einer gewissen Zeit darstelt, den ich iezt fur 
Torheit halte, weil ich das Gliik nicht habe, noch derselbe Tor 
zu sein. - 

Leipzig. J. P. F. Richter. 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 

Im Jare 178 1 
Mai bis August 



Wir sind nie bei uns selbst, nie in unserm eignen Hause, sondern 
allezeit bei dem andern, in dein Hause des Nachbarn - Sobald 
sich unsre Sinne omen, so reist ieder Gegenstand uns aus uns 
selbst heraus; wir verlassen uns, und keren nicht eher wieder 
zuruk, als bis ein starker Schlag unser ganzes Wesen erschiittert, 
oder bis sich unsre Sinne schliessen, um auf immer nichts mer 
zu empfinden — das heist unbildlich, wir beschaftigen uns mit 
alien Dingen, nur mit uns selbst nicht. In alien Wissenschaften 
giebt's Gelerte; allein die Menschenkentnis hat keine. Wir erspa- 
hen den Weg, den der Komet nimt, welcher in tausend Jaren 10 
einmal sichtbar wird; aber wir kennen die geheimen Gange 
nicht, wodurch die Leidenschaft den Sieg uber unsre Vernunft 
erhalt - wir lernen den Unsin auswendig, den ein moderndes 
Blat der Vergessenheit entrissen hat, um der Notwendigkeit 
aus[zu]weichen, mit unsern eignen Vorstellungen bekanter zu 
werden - wir halten ein Insekt, eine Jarszal, eine Sylbe fur wur- 
digere Gegcnstande unsrer Betrachtung, als uns selbst, und 
schazen es fur notiger, Fremdlinge in uns, als ausser uns zu 
sein. Vielleicht driikt uns die Eigenliebe die Augen zu, um uns 
nicht zu sehen, wie wir sind - vielleicht halt man das fur eine 20 
unnotige Sache, was weder Rum noch Geld eintragt - vielleicht 
besizen wir wol deswegen so wenig Menschenkentnis, weil wir 
schon so viele zu haben glauben. Unsre eigne Unbegreiflichkeit 
wiird' unsre Neugierde reizen, die Wunder in uns wiirden unser 
Erstaunen erwekken, wenn wir nicht Worter fur Wissenschaft 
hielten, nicht das, wasim System steht, mit dem verwechselten, 
was in der Natur wirklich ist, und dem Gelerten das zuschrieben, 
was nur dem Weisen gehort. Ich werd' iezt nur dieses lezte Hin- 
dernis der Menschenkentnis wegnemen, und vom Menschen 
nichts angeben, als das, was ihn uns unverstandlich und ratsel- 30 
haft macht. 

Der Mensch hat zwei Seiten, welche immer getrent erschei- 
nen, und die doch nur zusammengenommen seine Gestalt aus- 
machen. Daher fallen unsre Urteile iiber ihn so verschieden, 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 175 

so widersprechend aus, weil ieder sich tauschen last, dieienige 
Seite des Menschen, die er iezt im helsten Lichte sieht, fur das 
ganzeBild desselben auszugeben. Daher scheinen uns alle Schil- 
derungen, die man von der menschlichen Natur macht, war 
zu sein, weil sich iede durch die Erfarung bestatigen last - daher 
(iberredet uns der eben so ser von seinem Saze, welcher sagt, 
der Mensch ist gut, als ein andrer, der behauptet, er ist bos 
- daher war noch kein empfindsamer Mensch, kein aufgeklarter 
Kopf , welcher nicht in seinem Leben beide Systeme einmal als 

io war gefiilt hatte. Ich wil die gute und bose Seite des Menschen 
iezt schildern - man hike sich aber, das, was vielleicht Unver- 
mogenheit des Malers ist, auf die Rechnung des Originals zu 
schreiben. Also die Vortreflichkeit des Menschen! 

»Wir sind Engel in Menschengestalt verkleidet. Unser Korper 
kiindigt eben so wol unsre Hoheit an, als unser Geist. Dieser 
fult seine Verwandschaft mit dem Himmel; und iener beweist 
unsern Vorzug vor den Tieren. - Unsrer Grosse felt nichts, 
als die Kentnis derselben. Sterblicher! du bist noch nicht weise 
genug, um die Vortreflichkeit deines Verstandes, und noch nicht 

20 gut genug, um die verkante Reinheit deiner Tugenden zu scha- 
zen. Der Himmel erst wird dich leren, dich selbst zu bewundern. 
Ich weis nicht, sol ich mer deine bewundernswurdigen oder 
deine liebenswiirdigen Eigenschaften, mer deinen Verstand oder 
dein Herz schildern. 

Warum die grossen Geheimnisse, die in iedem Werke der 
Natur so auffallend, so unverkentbar sind, warum das Uner- 
forschliche, wo mit des Schopfers Hand alle Wesen, vom ver- 
minftigen Geist bis zum materiellen Atom herunter, gestempelt 
hat? deswegen, weil ein Mensch gebildet wurde, der Verstand 

30 genug bekam, diese Geheimnisse zu entratseln, dieses Uner- 
forschliche zu durchdringen. Sezt einen Menschen mit weniger 
Verstand - so braucht diese Welt ihre Schonheit, ihre Mannig- 
faltigkeit, ihren Plan nicht mer. Er benimt den Geheimnissen 
der Natur ihre Dunkelheit, er dekt den Schleier auf, welcher 
seiner Neugierde die Gestalt der Dinge verbirgt, er durchdringt 
alles mit seinem Blikke, entziffert alles mit seinem Verstande. 



I76 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Wir klagen iiber die Schwach' unsers Verstandes bei den Din- 
gen, die wir nicht fassen kormen; allein wir miissen erst bewei- 
sen, ob auch das Auge des Engels da klarer sieht, wo wir dunkel 
sehen? - Nicht genug, daft der Mensch die Welt kent - er kan 
noch mer, er kent sich selbst. Er widersteht der Kraft, die ihn 
immer ausser sich heraus zu den aussern Dingen schleudert; 
er verlast diese Welt, und begiebt sich in seine eigene. In seinem 
unteilbaren Ich findet er Wunder, die er durch kein Bild aus- 
driikken kan, die er bios fulen mus. Er zerlegt das Wesen der 
Empfindung, indem er empfindet, bemerkt die Geseze des Den- 10 
kens, indem er denkt, betrachtet den Willen, indem er begert. 
Er versenkt sich in sich selbst - eine Metapher, die so leicht 
gemacht, so schwer verstanden ist! Er weis durch die Sprache 
sein betrachtend Ich von seiner Sele zu trennen, und sie seinem 
Geistesaug' in einer gewissen Entfernung darzustellen: dadurch 
sieht er sich selbst wirken, denken, empfinden, wollen; dadurch 
erblikt er sich selbst. - Er kent das Haus, das er bewont; er 
hat seinen Korper in al seine Teile aufgelost, iede Muskel be- 
merkt, die Grosse der Blutkiigelgen bestimt, und selbst die un- 
sichtbaren Gange der Nerven verfolgt. Er lacht der Krankheiten, 20 
die ihm seinen Untergang drohen, weil er Borhave's, Haen's, 
Tissot's hat. Er wagt das Feur, zerlegt den Lichtstral, ruft den 
Donner vom Himmel herab, analysirt das Wesen der Metalle 
und erforscht iede Zusammensezung der Korper. - Ungeachtet 
diese tausend verschiedne Gestalten, Gewachse, Tiere mit ihrer . 
Mannigfaltigkeit sein Auge verwirren; so weis er doch dieses 
Kaos in seinem Kopfe zu ordnen, und fur ieden Erdstrich seine 
Pflanzen, seine Tiere, seine Produkte, fur iedes Geschopf seine 
Lebensart, und fur iede Blume ihre Staubfaden zu bestimmen. 
Alles behalt er mit seinem Gedachtnis, bef asset es mit seiner 30 
Einbildung; in seinem Geiste bildet sich die Welt im Kleinen 
ab, er ist der Spiegel der Wunder Gottes. 

Aber diese Erde schliest seine Wisbegierde in zu enge Granzen 
ein: er wil auch die Wonungen grosserer Wesen kennen lernen. 
Er entschwingt sich dieser Welt, fliegt auf zu weitern Erden, 
nahert sich dem Glanz herlicherer Sonnen, wandelt mit Bewo- 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 77 

nern fernerer Welten. Seine kurzsichtigen Augen hindern ihn 
wenig. Er mist die Grosse dessen, was [er] nicht sieht, und be- 
stimt die Entfernung fiir Korper, die er erst durch Glaser ent- 
dekt. Eben so leicht sieht er das Unsichtbare in der Nahe. Er 
zalt die Muskelfn] an dem Wurme, kent die Bewoner des Was- 
sertropfens, entdekt den Lebenslauf des Tiergens auf dem Son- 
nenstaubgen. - Der Mensch ist gros, weil er diese Welt kent; 
er ist noch grosser, weil er ihren Schopfer kent. Was die Sonne 
der Erde ist, die sich um sie dreht; das ist der Schopfer dem 

io Menschen, der ihn anbetet. Die Algiite des Unendlichen erfult 
ihn mit sanfter Warme: seine Weisheit erleuchtet ihn mit hellem 
Lichte. So lang' er keinen Schopfer kent, so ist er noch dem 
Tier' anlich, das neben ihm dieselbe Erde bewont - aber las 
ihn diese Schopfung verlassen, und zu ihrem Urheber steigen; 
dan ist der Mensch gros, der verwechselt sich nicht mer mit 
den Dingen, die ihn umgeben, alle kennen ihren Urheber nicht, 
er kent ihn und ist gros, ist gliiklich, ist unsterblich. 

Der Mensch ruft die vergangene Welt wieder zum Dasein 
hervor; er veriindert die Gestalten der gegenwartigen, und giebt 

20 der zukiinftigen Wirklichkeit. Seine Einbildung fliegt in die ur- 
graueEwigkeitzuriik, wo noch Nacht die Embryonen der wer- 
denden Wesen dekte - sie durchwandelt die Gegenden, die er 
erst nach Jartausenden kennen lernt, durchlebet die Zeiten, die 
einen Teil der kiinftigen Ewigkeit ausmachen. Sie leiht iedem 
Gegenstande glanzende Farben, sie erhebt alles, verschonert al- 
les; sie findet Narung fur's Herz im Rauschen des Eichenwalds, 
und im Wanken der Blumen, bei'm Anblikke der aufsteigenden 
Sonne, und bei'm Schimmer des blassen Mondes. 

Allein er ist nicht bios Zuschauer, sondern auch Nachamer 

30 der Wunder Gottes. Seine Schwache leiht der Schopfung neue 
Grosse: seine Feler vermeren ihre Anmut. Er schaft mit Ra- 
phael's und Korregio's Pinsel lebende Korper auf Leinwand und 
last mit Huysum Rosen auf Teppichen bliihen. Mit Pygmalion's 
Zauberkraft belebt er den toden Stein, giest Blut durch den har- 
ten Marmor aus, und driikt in den formlosen Kloz die himli- 
schen Ziige der Tugend. - Sogar dieses unsichtbare Gewebe 



178 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

der Luft mus seine Wollust vermeren und von der Grosse seiner 
Erfindungen zeugen. Dieses ist's, wo er mit harmonischen T6- 
nen das Herz in angeneme Gefiile auflost, wo leise Bebungen 
den Geist in kiinftige Welten versezen, und ihm durch die Wol- 
lust des Ors von den Freuden des Himmels einen Vorschmak 
geben. Doch - wenn wolt' ich aufhoren, die Vortreflichkeit 
des menschlichen Verstandes zu beweisen. Ich muste mer als 
Mensch sein, um dies leisten zu konnen: ein Engel muste mir 
Beredsamkeit, ein Seraph Scharfsin dazu leihen. 

Wir haben ihn iezt bewundern gelernt, wir wollen ihn auch 10 
lieben lernen. Er wird geboren one Keim zum Laster, begabt 
mit guten Trieben. Seine ganze Sele ist bios gebauet, um tu- 
gendhaft zu sein - iedes Laster ist Miston in seiner Natur. Sein 
Antliz ist nur fur den Ausdruck der Tugend gebildet, wird nur 
durch gute Taten verschonert; iedes Laster verzert die himli- 
schen Ziige, und kiindigt durch aussere Verwiistung das innere 
Ubel der Sele an. Oder vielleicht ist unsre ganze Anlage gut, 
bios damit der Misbrauch derselben unsre Schuld verdoppeln 
konne; vielleicht hat uns die Natur diese Giiter gegeben, aber 
vergessen, uns den Gebrauch derselben zu leren? Nein - sieh' 20 
den Menschen, wie er vertraulich mit seinem Mitbiirger den 
Schatten Eines Baums, die Giiter Eines Gottes, die Beschuzung 
eines Regenten geniest - wie er die sanften Gefiile der Lieb' 
als unverdorbner Jungling, die noch sanftern Regungen der Zu- 
neigung als Vater gegen seine Kinder, als Gatte gegen sein Weib 
fillet - wie das Elend seiner Briider sein Herz erweicht, die Not 
des Bedrangten seine Hiilf auffordert, und die Klagen der Un- 
schuld seinen Mut entflammen - sieh' ihn als warmen Freund, 
als Beschiizer des Vaterlands, als Verteidiger der Warheit, als 
Christ, als Paullus, als Sokrat, als Antonin - o! warlich du wirst 30 
dich selbst liebgewinnen, du wirst dem Schopfer danken, ein 
Mensch zu sein. Sogar keines deiner Laster ist one Tugend, 
keiner deiner Triebe ganz verdorben. Auch den Bosewicht er- 
weicht noch das Leiden der Unschuld, auch im Busen des Mor- 
ders regen sich noch sanfte Gefiile, und selbst aus den Augen 
des Tyrannen fliessen noch menschliche Tranen. Der Mensch 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 179 

ist also gut, wenn ihn nicht traurige Notwendigkeit in Laster 
stiirzt, oder unvermeidliche Verblendung zu unrechten Mitteln 
verleitet. Das ist das Geschopf, der Got auf Erden, das gros 
ist als Konig auf dem Tron, und als Sklav in Ketten - gleich 
gros als Krosus oder Betler - als Epiktet wie ein Engel glanzt, 
aber auch als elender Bosewicht Zeichen seiner Hoheit tragt 
- das alles war, was man gros hier nennen kan, alles werden 
wird, was sich nie ein Sterblicher vorgestelt hat.« 

Dies ist das schmeichelhafte Gemalde vom Menschen. Ein 

10 triibsinniger Menschenfeind wiirde die menschliche Natur mit 
folgenden traurigen Farben abschildern: 

»A11' unsre Grosse ist vermumtes Elend; wir scheinen uns 
gros, weil wir uns nicht kennen; wir haben unsre Hoheit den 
Verblendungen der Eigenliebe zu danken. Wirf die Dekke ab, 
Sterblicher, die deinem Auge den Anblik deiner Niedrigkeit 
verbirgt, zerstore die Phantomen von Gliikseligkeit, die sich 
nur der Nar oder der Traumer als wirklich vorstellen kan. Habe 
scharfere Augen und du wirst sehen, dafi das wenige Grosse, 
das wenige Gute, das du bei dir warnimst, von dem Schwachen 

20 und Bosen in dir bei weitem iibertroffen werde - daB du nur 
ein wenig gros bist, um die Schwache, die deinen Verstand be- 
schrankt, ein wenig gut bist, um die Bosartigkeit, die in deinem 
Herzen lebt, in doppeltem Kontraste zu fulen. Dein Verstand 
erhebt die Dumheit zum gelerten Galimatias; deine guten Re- 
gungen vergrossern den Triumph des Lasters. 

Immer dar trompetest du die Wichtigkeit deines Verstandes 
aus, immer bist du der erste Herold von der Grosse deiner Erfin- 
dungen. Was weist du denn eigentlich? soviel als man notig 
hat, um ein Nar zu werden, um Stolz zu bekommen, um die 

30 Unwissenheit durch gelerte Worter in die Larve der Einsicht 
zu vermummen. >Ich kan Philosophic, Teologie< Ja, ich glaub* 
es; du weist nur von dem notigsten nichts; du kenst dich selbst 
nicht - du bist nicht gewis, besteht deine Natur aus einem Teil, 
oder aus zweien, nicht gewis, ob du eine Sele, oder einen Korper 
hast - du bist zweifelhaft, wohin du dich rechnen solst, ob du 
das Tier oder den Engel fur deinen Verwanden erkennen solst. 



l8o JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

Elende Wissenschaft! wo man von der Sele alles weis, nur nicht, 
wie sie denkt, wie empfindet, wie sie wirkt — wo man den 
ganzen Korper kennt, nur nicht das, was sein Herz im bestandi- 
gen Mechanism erhalt, was seine Narung in Blut verwandelt, 
und aus den rohen Speisen den Geist der Nerven distillirt. 
Prachtige Systeme! die iede Kleinigkeit leren, und iedes Wich- 
tige voriibergehen. Wir wissen viel, aber wenn nur diese Wis- 
senschaft nicht Erfindung von neuen Irtumern, oder Nachbete- 
rin von altem Unsin ware. Niemand weis mer als ein Gelerter; 
allein niemand weis auch mer Liigen als er. Der Mensch hat 10 
also seine Weisheit b[l]os seiner Kiinheit, zu erdichten, und sein 
Viel wissen seiner Unverschamtheit, es zu sagen, zu danken. 
Was sind diese hochgepriesene Entdekkungen anders, als Stek- 
kenpferde, worauf das Kind eine Zeitlang reitet, bis es sie mit 
neuen vertauscht, wenn es kliiger geworden ist? - Diese War- 
heit, die ieder Professor zu seinem Got auf dem Kateder macht, 
die in ieder Disputazion die Hauptrolle spielt, die euch Liigen 
durch den Druk verewigen, und fur einander wechselsweise 
Scheiterhaufen anziinden lert, was ist sie anders, als ein Goze, 
den ihr euch geschnizt habt, um den dummen Pobel zu betrii- 20 
gen, als eine Puppe, mit der ihr spielet, um die Langweile zu 
vertreiben? - Es ist nicht die Warheit, um die ihr euch in Horsa- 
len, in Buchern und auf den Kanzeln zankt, sonde rn das Geld, 
das sie euch einbringt, der Rum, den sie euch verschaft. Der 
Philosoph verteidigt mer seinen Verstand als sein System; der 
Ortodoxe schwort mer auf seine Einname, als auf die symboli- 
schen Biicher. Die Warheit andert sich wie die Moden — natiir- 
lich deswegen, weil Modewaren das meiste - Geld eintragen. 

Wolte man mir die Teologie entgegensezen, so wiird' ich an- 
raten, die Kirchengeschichte zu lesen - die Annalen der mensch- 30 
lichen Dumheit — , und sich an die zwei Hauptgebote dieser Wis- 
senschaft [zu] erinnern, namlich: >sei dum auf Erden, im 
Himmel wirst du schon kliiger werden< und >sage lieber Liigen, 
als die Warheit, die dein Grosvater nicht geglaubt hat<. Dan 
wird man den menschlichen Verstand beklagen, und seine Exi- 
stenz uberhaupt in Zweifel ziehen. 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 8 1 

Ich verlache die Krankheiten - hoV ich den Arzt sprechen. 
Er hat Recht, so zu sagen, weil er gesund ist. Aber der, der 
unter seiner Kur seufzet, wird ihm nicht nachsprechen. Die 
Krankheit wird ihm ihre Wirklichkeit durch Schmerzen, und 
die Nichtigkeit der Arzneien durch den Tod fiilen lassen. Weil 
man in nichts die Natur liebet, so hat man auch die Kunst erlernt, 
kunstlich zu sterben. Die Gifte der Arzte sind noch wirksamer 
als ihre Arzneien; wenn nicht beide - Synonymen sind. Sie retten 
vom Tod nur durch den Zufal, und das beste, was sie noch 

io tun, ist, daB sie geschwinder sterben machen. 

Der Schwung der Einbildungskraft ist auch so hoch nicht 
als man sagt; sie fliegt noch nahe an der Erde, und ist noch 
nie hoch gestiegen, one zugleich einen Beweis gegeben zu ha- 
ben, wie tief sie wieder gef alien ist. Wo sind die Bilder herge- 
nommen, dieihrgliihendnent, woraus sind die Wesen geformt, 
fur deren Schopfer ihr euch ausgebt? nicht aus eurer Einbil- 
dungskraft; sie sind blosse Kopie der Natur. Ihr sagt uns nur 
das, was ihr empfunden habt, und seid noch armselig genug, 
dies selten sagen zu konnen. Die Bilder, die ihr Original in der 

20 Natur nicht haben, sind auch so bewundernswert nicht, weil 
sie ser dem Horazischen Humano capiti cervicem pictor equi- 
nam etc. gleichen. Aber ihr solt die Ere haben, Schopfer der 
Ungeheure, und Hirngespinste zu sein. 

Ihr malt die Freuden des kiinftigen Elysiums - ihr betriigt 
euch, es sind die Freuden des gegenwartigen Lebens: ihr sezt 
euren Himmel nur aus Bruchstiikken von dieser Welt zusam- 
men. - Ihr fliegt bis an die urgraue Schopfung zuriik, um da 
ein — unendliches Nichts zu sehen - ser viel! Ihr seht das Zu- 
kiinftige? deswegen, um das Gegenwartige schlechter zu sehen 

30 - ihr hebt eure Augen gen Himmel, um besser auf der Erde 
zu stolpern. 

Und die Naturkentnis? - man soke fast zweifeln, ob es wirk- 
lich eine gabe; denn nie ist sie gegenwartig, sie ist immer schon 
dagewesen. Mit iedem Jarhundert, oft mit iedem Jarzehend, be- 
komt sie eine andre Form. Wir haben soviel Physiker, als es 
kluge Kopfe gab; allein von Aristot an bis zum Euler war die 



1 82 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Natur immer dieselbe. Im Grund' ist also ein Naturforscher 
nicht der, welcher die Wirkungen der Natur zu erklaren weis, 
sondern der, welcher weis, was alle von diesen Wirkungen ge- 
glaubt, d. h. fur Liigen gesagt haben. Selten vermert er den 
alten Schaz mit eigner Dumheit. Es ist freilich leicht Hypotesen 
zu machen; allein wirklich kein Verdienst zu traumen: >aber zu 
beweisen?< auch keines, wenn das, was man beweist, in hundert 
Jaren widerlegt wird. Man lacht iezt iiber die Dumheit der alten 
Naturforscher; wer wird einmal iiber unsern Verstand la- 
chen? - io 

Andre Wissenschaf ten erlangen ihre Wichtigkeit nur von dem 
Namen, womit man sie benent, z.B. >wir bringen alle Tiere 
in ein Geschlechtsregister, alle Pflanzen in eine Nomenklatun 
heist mit andern Worten, wir konnen sehen und zalen; oder 
>wir zerteilen den Lichtstrah ist eben so viel, als: wir erfinden 
als Manner, was wir im Knabenalter schon an der Seifenblase 
sahen - ferner, >wir sind Redner, wir haben die Gemiiter in 
Handen< ist eine Umschreibung des Worts Betriiger, und heist, 
wir haben die Gabe blind zu machen. 

Ferner, al das Leben, das wir dem toden Stein andichten, zeugt 20 
nicht von der Grosse der Meisterhand, die ihn gebildet hat; son- 
dern von der Feinheit des Kiinstlers, uns durch unsre eigne Ein- 
bildung zu tauschen. Wir sehen weniger das, was da ist, als 
was es vorstellen sol; das Kunstwerk ist mer Zeichen fur uns, 
als Bild. Und (iberdies beweist die Fertigkeit der Hand noch 
nicht die Grosse des Verstandes. - Wir finden so viel Vergniigen 
an der Harmonie der Musik; weil uns bessere Oren felen, um 
ihre Einformigkeit zu emp finden. 

Aber vielleicht ist nur der Verstand die schwache Seite des 
Menschengeschopfs, vielleicht wird sein Mangel durch gute 30 
Trieb' ersezt, und wir sind weniger weise, um mer gut zu sein? 
Wenn es ware! allein der Mensch ist nicht bios ein schwaches, 
sondern auch ein bosartiges Geschopf; er verdient nicht bios 
Verachtung, auch Has. Sein ganzes Leben ist eine Kette von 
Felern, da von die aussern Gegenstande sie erzeugen, das Herz 
sie gebiert, der Irtum ihnen Narung giebt, und der Verstand 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 83 

sie zur Reife bringt. Sei nicht froh so viel Verstand zu haben: 
es wurde besser sein, wenn du diimmer warest, deine Laster 
wiirden geringer, dein Ungluk wiirde kleiner sein. Was ist diese 
Reue anders, als ein Richter, der zwar deine Torheiten bestraft, 
aber ihre Folgen nicht mindert - als ein Pfeil, der doppelt 
schmerzt, wenn du die bereute Tat zum zweitenmal begehest? 
Unsre groste Tugend besteht in dem Schein derselben; oder 
wenn wir sie haben, so ist's Laster ihr Begleiter, und fast eben 
so oft ihre Mutter. - Man rechnet ihm die geselschaftliche Ver- 
io bindung zu einem so grossen Verdienst an. Aber ich sehe wenig 
Tugend, wenn man da gut ist, wo man keinen Nuzen hat, laster- 
haft zii sein. Die vielen Vorteile, die ihm die Geselschaft zuwege 
bringt, halt ihn vollig schadlos fur den Zwang, den er seinen 
Begierden antun mus. Er ist da weniger offentlich Morder und 
Rauber; aber er ist's dafiir in geheim, und ist's desto arger, weil 
er's ungestraft, weil er's mit mer Nuzen sein kan. Dieser Zwang 
hat seinen Verstand erhoht, um feinere Laster auszudenken, hat 
ihn die Gewonheit gelert, mer Maske zu sein, und fur's verlarvte 
Laster noch die Belonung der Tugend zu fordern. Diese so hoch 
20 gepriesene Menschenliebe ist nichts als verkleideter Eigennuz. 
Wir sind nur menschenfreundlich, weil wir vorteilsbegierig, 
rumsuchtig und argwonisch sind. Last dies alles felen, so wird 
die Rache schon das Antliz des Kindes verunstalten, der Grim 
des Morders die Stirn des Jiinglings scheuslich machen. Ist das 
Geschlecht wol gesellig, wo man den lobt, der grausamere To- 
deswerkzeuge erfindet, den belont, der geschwindere Mittel 
zum Toden aussint? Die Scharfrichter des menschlichen Ge- 
schlechts, die Eroberer, glanzen mit goldnen Buchstaben in den 
Jarbuchern der Welt - den Morder des einzelnen Menschen 
30 hangt man an den Galgen, den Morder der vielen beert man 
mit der Krone. Wo sind die milden Triebe, wenn elendes Gold 
zu iedem Verbrechen gegen Vater, Weib, Kinder iiberredet? 

Man fiirt die Freundschaft an; allein man ist ia nicht unser 
Freund, sondern der Freund des Geldes, das man hat, der Ere, 
die wir geniessen, der Bequemlichkeiten, der Vorteile, die wir 
verschaffen. Verliere dies alles, und deine Freunde werden dich 



1 84 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

wie die Pest fliehen; sie werden dich nicht mer lieben, weil du 
das verloren hast, was dich ihnen liebenswurdig machte. - Es 
regen sich noch gute Triebe im Herzen des Bosewichts; aber 
wie schandlich, wenn er dan noch Bosewicht bleibt, und die 
Stimme der sterbenden Tugend unterdriikt, um die Schwarze 
des Lasters zu vermeren, das iiber sie triumphirt hat. 

Und die Erhebungen zum Himmel? diese sind so gewonlich 
nicht bei dem, der immer auf der Erde kriecht. Es ware besser 
fur ihn, wenn er seinen Wonplaz gar nicht verliesse; er wird 
nur desto defer fallen, ie hoher er gestiegen war, er wird die 10 
Strafe seiner Laster vergrossern, weil er einen Himmel kante. 
- Endlich die stoischen Weisen, die ihr uns immer mit so vieler 
Pralerei entgegensezt, was sind sie anders, als Menschen, die 
nicht bose sind, weil ihnen die Krafte dazu felen, die Ver- 
schwendung fliehen, weil sie kein Geld haben, die nicht nach 
Ere streben, weil sie keine zu verdienen glauben? Sie opferten 
all' ihre Krafte dem Laster auf; die Mattigkeit, die auf diesen 
Dienst folgt, wollen sie fur Tugend ausgeben. Und war' es auch 
wol zu bewundern, wenn sie nach unzaligen Niederlagen einen 
Sieg errangen, den sie mer der Schwache ihres Gegners als der 20 
Kraft des Siegers zu danken haben? oder war' es bemerkenswert, 
daB sie from wiirden, wenn sie's nicht lange mer sein kon- 
nen? - 

Siehe Mensch, das bist du; nicht das, was dich deine Eigen- 
liebe zu sein beredete - du bist nicht der Halbgot, nicht der 
Engel, fur den man dich ausgab; und deine Krafte sind nicht 
so gros, deine Triebe nicht so rein, noch deine Tugend so vol- 
kommen, als du sie durch das Mikroskop deines Stolzes sahest. 
Wenn du nichts sein kanst, so sei demutig, und vermere deine 
Torheiten nicht mit der grosten derselben, daB du glaubest, 30 
keine zu haben. Freu' dich kein Tier zu sein; aber rume dich 
nicht zu ser, daB du ein Mensch bist, und erwage, daB du noch 
weit vom Engel abstehest. Geschopf, vol Laster, vol Irtumer, 
vol Feler, unfahig etwas ganz zu sein als ein Tor oder ein Bose- 
wicht - entf erne dich von meinen Augen, damit ich mich nicht 
selbst an deinem Bilde bedauere; falle mir aus den Handen, Pin- 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 185 

sel, damit ich mein eigen Elend nicht mit zu glanzenden Farben 
abmale, und du, o Tod, tode mich, da6 ich etwas anders oder 
was einerlei ist etwas bessers als ein Mensch werde!« — 

So weit dieses melancholische Gemalde! Jeder Mensch komt 
in seinem Leben in Umstande, wo er die erste Schilderung fur 
war halt, aber er wird auch in Lagen versezt, die traurig genug 
sind, ihm die andre warscheinlich zu machen. Ich glaube dem 
Pope, oder Antipope, ie nachdem ich das Original von ihren 
Gemalden wechselsweise abgebe, und nur von den aussern Um- 
standen hangt's ab, welcher Meinung ich beitreten soL Aber 
in welcher ist Warheit? Beide Gemalde zeichnen eine ware Seite 
vom Menschen; allein sie felen beide darinnen, dafi" sie iede dieser 
Seiten getrent von der andern vorstellen, und iede fur die ganze 
Gestalt des Menschen ausgeben. Wir sind weder Engel, noch 
Teufel, wir sind Menschen; aber dies sind wir nur deswegen, 
weil wir das ratselhaf teste, das veranderlichste, das widerspre- 
chende Geschopf sind. Wir bemerken dieses weniger an uns, 
weil wir unser Auge zuser auf den gegenwartigen Zustand hef- 
ten, und dadurch unfahig werden, uns ganz in den vorhergehen- 
den zu versezen, um den Kontrast beider Zustande durch ihre 
Vergleichung zu fulen. Nur dan gelingt uns dieses, wenn die 
vorigen Lagen starke Eindriikke zuriiklassen, oder wenn entge- 
gengesezte Zustande durch ihre geschwinde Abwechselung 
unsre Aufmerksamkeit erregen. - Ich wil einige Anmerkungen 
iiber die Widerspruche, und iiberhaupt uber die Natur des Men- 
schen, als Folgen aus dem Vor[her]gehenden hinzusezen - nur 
erinnere man sich, daB gewisse Warheiten mer von uns empfun- 
den, als von andern gelernt sein wollen, und daB fast alle von 
ihrer Evidenz verlieren, wenn sie nicht die Erfarung des gegen- 
wartigen Augenbliks sind. - 

Der Mensch ist das Geschopf, das die Fahigkeit besizt, das 
Unvereinbare zu vereinigen - das Geschopf, welches Nar und 
Weiser, Bosewicht und Heiliger zugleich ist. Wir sind im 
Stande, alles zu werden, aber nicht, etwas ganz und lange zu 
sein; wir leben nur von der Veranderung. - Wir sind gemacht, 
unvolkommen und doch gros zu sein, uns Lieb' und Has, Be- 



1 86 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

wunderung und Verachtung in demselben Augenblikke zu er- 
werben. Unsere Tugenden beweisen unsre Grosse; aber auch 
noch im Laster sieht man das Geprage unsrer Hoheit. Wir kon- 
nen uns keine grosse Eigenschaft erwerben, one zugleich eine 
andre wieder zu verlieren, wir konnen nicht gros werden, on' 
unsre vorige Niedrigkeit nicht zum Begleiter zu haben. Der 
groste Mensch ist nicht der, der one Feler ist, sondern der, dessen 
Grosse uns seine Schwachheiten ubersehen last. Jede Volkom- 
menheit hat die Unvolkommenheit nach sich, wie der Korper 
den Schatten, und es scheint als wenn wir durch diesen Kontrast 10 
nur liebenswiirdiger, nur menschlicher wiirden, weil oft unsre 
Volkommenheiten ihre Reize den Felern zu danken haben, die 
sie begleiten. Der Himmel hat sich ein Vergniigen gemacht, 
ein Geschopf zu bilden, das alle Volkommenheiten an sich verei- 
nigt, welche in andern Wesen einzeln anzutreffen sind, und das 
alle die Unvolkommenheiten bei sich warnimt, welche die Kol- 
lision so verschiedner Fahigkeiten hervorbringt. Unsre Obel 
kommen nicht daher, weil wir keine Volkommenheiten haben, 
sondern weil wir so verschiedne, so grosse haben. Unsre Feler 
werden uns iiber die Engel erheben, und wir werden vielleicht 20 
einst dem Schopfer fur das danken, was uns iezt einen Einwurf 
gegen seine Vorsehung abgiebt. — 

Wir mogen den Menschen ansehen, von welcher Seite wir 
wollen, so sehen wir nicht immer denselben, sondern alzeit ver- 
andert, alzeit sich widersprechend, alzeit verschieden: und dies 
scheint in hoherm Grade bei seinem Herzen, als bei seinem Ver- 
stand' einzutreffen. Wir wollen beides betrachten. 

Sein ganzes Leben ist eine bestandige Reue, ein bestandiges 
Klugerwerden. Er wird alter, um die Zal seiner Feler vermert 
zu sehen, weiser, um zu wissen, wie oft er ein Nar war. Jeder 30 
Tag lert ihn, den vorhergehenden fur schlechter zu halten; allein 
nie lernt er dadurch, von dem gegenwartigen eben das zu ver- 
muten, was bei dem vergangenen eingetroffen war. Er last sich 
bereden, zuglauben, daB erzwanzigjarekeinen Verstand gehabt 
hat; aber nie wird man ihn iiberzeugen, daB er ihm in der gegen- 
wartigen Minute fele. Er bemerkt meistens seine Feler, wenn 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 87 

er sie nimmer brauchen kan, wenn sie alt sind, und seine Irtu- 
mer, wenn er sie lang' abgelegt hat. Nichts last sich denken, 
wovon nicht einmal ein Nar war' iiberzeugt gewesen; aber es 
last sich auch nichts behaupten, welches nicht irgend ein Weiser 
gelaugnet hatte. - Der Mensch hat die albernsten Torheiten ge- 
glaubt, und die erhabensten Warheiten erfunden. Jeder Schrit 
im Reiche der Warheiten sezt seinen Geist in Entzukken, erwekt 
in ihm das Gefiil seiner Vortreflichkeit; aber endlich, wenn er 
am Ende der Ban ist, so erfart er, dafi sein Verstand einge- 

10 schrankt und sein Wissen klein ist . Die gute Meinung von seinen 
Einsichten verliert er nur durch die Vervolkomnung derselben 
- bios durch die Dumheit vergrossert sich das Vertrauen auf 
seine Verstandeskrafte mit den Jaren. Allein eben diese Zweifel, 
eben dieses Unerklarbare, womit der Weise bei iedem Schritt' 
aufgehalten wird, ist ein deutlicher Beweis seines Scharfsins. 
Dieses zeigt, da8 er iiber die Sphare der gewonlichen Kentnisse 
wegfliegt, und neue Lander entdekt, die noch nicht fur ihn sind. 
Der ist der Weiseste, welcher das kent, was er nicht begreifen 
kan; denn er sieht dan schon, wie Mose auf dem Berge, das 

20 Land, welches er in der Ewigkeit zu erobern hat, er bemerkt 
schon die Dammerung, die die Morgenrote eines ewigen Tages 
verkundigt. Wunderbares Geschopf! das mit dem andern Leben 
bekant ist, eh' es das iezzige geendet hat. 

Wir haben eine Einbildungskraft, die das Unendliche nicht 
vorbildenkan, die aber eben so wenig bei dem Endlichen stehen 
bleibt. Wir konnen uns die Ewigkeit nicht denken, aber wer 
kan sich die Zeit begrenzt vorstellen? - Wir wissen vom innern 
Wesen der Dinge gar nichts, nicht einmal das, was ihre Existenz 
ausmacht. Im Menschen ist ein wunderbares Kaos von Warhei- 

30 ten und Irtiimern. Er erhebt sich oft nur zu erhabnern Warhei- 
ten, um in grossere Irtiimer zu fallen; sein Bemiihen sich von 
den Irtiimern loszureissen, ist vergeblich, er walzt den Stein 
des Sisiphus. Die Unwarheiten, die er glaubt, haben ein richtiges 
Verhaltnis mit seinem Verstande. Aber eben so wenig wird er 
gar nichts Wares glauben konnen. Selbst in den abgeschmakte- 
stenTeorien der Morgenlander verkent man die Richtigkeit sei- 



188 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

nes Verstandes nicht, und immer haben seine Verirrungen den 
Weg zur Warheit durchkreuzet. 

Seine herlichsten Krafte hangen mit seinen tierischen zusam- 
men. Wenn sein Verstand bald eine Sonne ist, die ieden Gegen- 
stand mit blendenden Farben erleuchtet, bald eine Sonne, dereri 
Stral ein dunkler Nebel verhiilt, was kan man anders denken, 
als daB dieser Verstand, der alles betrachtet, alles durchdringt, 
der Got kent, der Macht eines elenden Erdenteilgen unterworfen 
ist, das iezt eben Unruh' im Korper anrichtet? Diese Einbildung, 
die den Granzen der Erde entflieht, die der Flug zu ungesehenen 10 
Sonnen nicht ermiidet, und fiir die der Raum einer unermesli- 
chen Welt nicht zu gros ist, diese halt ein elender Teil Speise, 
eine geringe Veranderung im Gehirn, ein Dunst im Unterleibe, 
in ihrem Lauf auf? Ist's nicht wunderbar, die Fahigkeiten eines 
Engels mit dem Korper eines Tiers vereint zu sehen; aber 
ist's nicht noch wunderbarer zu bemerken, daB eben dieser 
Korper den Glanz des Engels vermert, daB eben diese kleine 
Erde ihre Himmelsburger mit neuen Volkommenheiten ausrii- 
stet? - 

Unsre Fahigkeiten glanzen weit umher; aber sie miissen erst, 20 
wie die Sonne, den dikken Nebel durchbrechen, mit dem sie 
ihr Korper umhult. Wir sehen eigentlich hier nicht den mensch- 
lichen Geist in seiner waren Beschaffenheit - er bildet sich nur 
im Kleinen in seinem Korper ab, wie die Sonne im triiben Was- 
sertropfen. Der Tod wird uns erst das durchsichtige Gewand 
geben, das die Entfaltung keiner unsrer Reize weder verhindert 
noch verbirgt. 

Der Mensch verteidigt seine Saze mit seinem Tode, er wird 
der Martyrer fiir sein System. Griinde andern seine Begriffe 
weniger, als es der Zufal tun kan. Dem Vernunftler, dem keine 30 
Griinde die Existenz Gottes dartun konnen, beweist das Rau- 
schen eines Blats die Wirklichkeit der Gespenster, die Nacht 
macht aus dem Spotter den Andachtigen, und die Annaheruhg 
des Todes last einen Voltare sein Glaubensbekentnis ablegen. 
- Er last oft sein Herz reden, wo nur der Verstand die Stimme 
haben soke. Sein Wille beredet ihn oft mer zur Annemung einer 



ETWAS USER DEN MENSCHEN 1 89 

Warheit, als sein Verstand, und seine Neigungen ersezen nicht 
selten den Beweis, der seinen Sazen felt. Er hat eine brennende 
Begierde, iede der Geburten seines Gehirns dem andern zu ver- 
kaufen. Er wil nicht allein weise sein; aber auch oft wil er nicht 
allein dum sein. Gewalt, Waffen miissen dan die Stelle der Be- 
weise vertreten, und wo ihrh die Logik ihre Dienste versagt, 
verrichtet sie der Scheiterhaufen. - Er verert eine Religion, die 
die Liebe gebietet; dies hindert ihn nicht, ihre Vortreflichkeit 
durch Morden zu beweisen, und den Opfern seines Fanatizism 

10 die Menschlichkeit seiner Glaubenslerenvorzupredigen. - »Dies 
sind ia alles nur Torheiten« ia aber eben deswegen sind's Wider- 
spriiche im Menschen. Eine Torheit ist eine Handlung, die an- 
dern gewonlichen widerspricht; man kan kein Tor sein, und 
sich selbst gleich bleiben. 

Der Mensch verdient unsre Verachtung, wenn er eitel ist; 
aber er kan auch zugleich auf unsre Bewunderung Anspruch 
machen, wenn er bei seiner Eitelkeit Verstand zeigt. Ich sehe 
hier vorziiglich auf die Eitelkeit in der Kleidung, auf die Ab- 
wechselung der Moden. Hier giebt er deutliche Beweise seiner 

20 Erfindsamkeit, aber nur bios urn die Zal seiner Torheiten zu 
vergrossern; hier zeigt er, daB er gute Augen habe, um besser 
durch eine - falsche Brille zu sehen. Wir Iernen aus der Ab- 
wechselung der Moden, daB es nur Gewonheit braucht, um 
seinem Geschmakke alle Torheiten annemlich zu machen, daB 
bios diese felen darf , um ihn mit Tadel gegen alle Abweichungen 
vom Gewonlichen bewafnet zu sehen. Vielleicht sind uns ge- 
wisse Torheiten eben so notig zu unserm Leben, als Brod zu 
unsrer Speise, und wir konnen gewissen Trieben nicht genug- 
tun, on' auf Extreme zu springen. Die Notwendigkeit unsrer 

30 Irtiimer last sich a priori, und die unsrer Torheiten a posteriori 
beweisen. - Man kan Ciberhaupt wenig von den Moden sagen, 
aber ser viel davon denken. 

Wir beschaftigen uns mit den Geringfiigigkeiten dieses Le- 
bens; aber nur wie's Gotter tun; wir beweisen dadurch nicht 
daB wir keinen Verstand haben, sondern nur daB wir ihn libel 
anwenden. Wir behandeln das Grosse, um zu zeigen, daB wir 



igo JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

nur Menschen sind. Fur viele Dinge in der Welt sind wir zu 
klein, fiir viele zu gros. 

Wenn die Meinungen und Urteile des Menschen veranderlich 
sind, so sind seine Neigungen, seine Ausserungen des Willens 
widersprechend. Die moralische Natur des Menschen ist iiber- 
haupt eine so wunderbare Mischung von korperlichen und 
geistigen Wirkungen, eine so unerklarbare Vermengung von 
guten und bosen Trieben, und eine so dunkle Werkstat von 
verborgnen Kraften, daB unsre Untersuchungen dariiber wol 
nie ein End' erreichen werden - und vielleicht in dieser subluna- 10 
rischen Welt keines erreichen sollen. Uns felt noch ein Neuton, 
der das Prisma entdekte, welches die guten und bosen Bestand- 
teile unsrer Handlungen genauer von einander trente. - Woher 
entstehen all' unsre bosen Handlungen? aus unsern guten Trie- 
ben. Die Natur legt' in uns die Begierde, glukhch zu sein: wir 
befolgen ihre Befele, urn's Gegenteil zu werden. Wenn wir we- 
niger bos sein wolten, so must' uns der Schopfer mit weniger 
Anlage zur Tugend geschaffen haben. Wir konten nicht unter 
das Vieh herabsinken, wenn wir nicht die Fahigkeit hatten, uns 
uber den Engel zu erheben: denn nur der ist der groste Bosewicht 20 
geworden, der Anlage zum Heiligen hatte. Aber durch welche 
Gange triibt sich diese reine Quelle zu einem so unreinen Strom? 
und welches ist der Unterschied zwischen dem Bosewicht und 
dem Heiligen, die beide dieselbe Anlage hatten? Ich weis es 
nicht; nur der, der's nicht recht weis, glaubt es zu wissen. - 

Ich mochte die Sele des tiefsinnigen Leibniz's genauer kennen; 
aber ich ware noch begieriger, das Herz des Bosewichts enthult 
vor mir zu sehen, alle Triebfedern desselben zu entdekken, ieden 
geheimen Winkel seiner Begierden, iede Tiefe seiner Empfin- 
dungen zu durchschauen. Er wiirde vielleicht dan mer unser 30 
Mitleiden, als unsern Has erregen, wir wiirden mer sein Gluk 
durch abgemesne Strafen, als sein Ungluk durch wilkiirliche 
Qualen zu vermeren suchen, wir wiirden dan sein, was der ge- 
gen uns ist, der uns alle - durchschaut. 

Was ist doch diese unsre .Unbestandigkeit in unsern Handlun- 
gen? Heute sind wir ganz Tugend, iede Uberwindung ist so 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN It) I 

leicht, iede gute Tat so schon, der Weg zum Himmel so eben 

- und morgen bist du das nicht mer, dein Herz fiilt weniger 
Gute, deine Begierden sind schwerer zu iiberwinden, die bosen 
Handlungen mit mererem Reiz verguldet, und den [!] Weg zum 
Ungliik mit schonern Blumen bestreuet. - Unser Herz ist vol 
menschenfreundlicher Triebe; und demungeachtet haben wir 
die Kunst erfunden, mit leichter Miihe merere ungluklich zu 
machen? Mit Tranen scheidet der Held von seiner Familie, um 
mit doppelter Wut den Feind zu durchboren? Ist das derselbe 

10 Rauber, welchen iede Beute zum Mord iiberredet, und den iezt 
die Trane der Unschuld erweicht? sind das dieselbe[n] Diebe, 
die die Rechte des Eigentums an andern verlezen, und unter 
sich selbst heilig halten? - ia es sind dieselben, weil sie - Men- 
schen sind. Wunderbares Geschopf, das das Laster begeht, und 
in seiner Umarmung seine Abscheulichkeit fiilt; das die Tugend 
verlast, und sich noch einmal umwendet, um ihr holdes Antliz 
noch einmal zu betrachten. 

Wem gehoren unsre Handlungen an; sind sie ganz unser? Ich 
glaube, mancher Fromme hat einen Teil seiner Tugend dem 

20 Korper zu danken, den er so gern zum Lasttrager seiner morali- 
schen Feler macht; und man wird es dan unsern katolischen 
Briidern vergeben konnen, wenn sie mer Hochachtung vor den 
korperlichen Reliquien eines Heiligen als vor dem abgeschied- 
nen Bewoner derselben haben. Und was tragen die aussern Um- 
stande zu unsrer Tugend bei? o! da ist eine Tiefe der Metaphysik 

- mir schwindelt hinabzuschauen: ich wil mich beruhigen zu 
glauben, daft der Mensch ein Ratsel ist. 

Sol ich noch etwas von unsern Leidenschaften sagen, die wir 
so wenig kennen; weil wir bei ihren Ausserungen am wenigsten 
30 Verstandbesizen, siezuuntersuchenPDiesesind's, diedenMen- 
schen zu einer Hohe bringen, die alzeit schauderhaft fur ihn 
ist, die ihn in entgegengesezten Dingen gros machen und in 
Widerspruch mit sich selbst sezen. Last diesen Man von dem 
Freunde, den er iezt so warm umarmet, heimtukkisch beleidigt 
werden. Nun ist die Harmonie, in der er vorher war, gestoret; 
er strengt sich an, das Gegenteil von dem zu werden, was er 



192 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

gewesen ist. Es komt iezt wenig darauf an, ob er vorher tugend- 
haft war; es komt darauf an, zu was ihn der aussere Eindruk 
macht. Nun wiinscht er das Herz durchboren zu konnen, das 
nicht lange vorher an seinem Busen schlug - er sieht in dem 
Gesichte die Mienen des Todfeindes, wo er vorher nur Ziige 
der Zuneigung bemerkte, er sieht auf demselben die hamische 
Verachtung, das Drohen des Morders, er sieht das Bild des Teu- 
fels. Wer gab ihm die Augen, denselben Menschen in kurzer 
Zeit in zwei so verschiednen Gestalten zu erblikken? die Leiden- 
schaft - diese Leidenschaft, die alles verandert, die den Menschen 10 
sich selbst unanlich macht, die unerklarbar wirkt und unwider- 
stehlich hinreist. 

Alle haben den Stolz von der Natur zur Mitgabe bekommen; 
ieder sezt sich liber den andern hinauf , und last ihm nur in einem 
Stiikke den Vorzug, um ihn desto besser in einem andern iiber- 
treffen zu konnen - ieder pralt entweder mit goldbordirten Klei- 
dern, oder mit Diogenes Mantel, mit Gelersamkeit oder Dum- 
heit. Dieser begleitet uns in den niedrigsten Lagen, in die wir 
versezt werden, verlast uns nicht bei dem Anblikke der Verwe- 
sung und macht uns selbst in der Farbe des Todes noch rang- 20 
siichtig. »Das ist kein Widerpsruch« es ist einer, wenn uns das 
Geful der Grosse da nicht verlast, wo wir nur klein sind. 

Wir sind nie so gluklich oder ungliiklich, als uns unsre aussere 
Umstande Anlas geben: wir sind's alzeit mer oder weniger. Aus 
der mit Wolken bedekten Zukunft webt sich der Mensch Duft- 
bilder, die eine schone oder schrekliche Gestalt fur ihn haben. 
Diese vermengen sich mit seinen gegenwartigen Umstanden, 
und vermeren durch ihr Dasein sein GKik oder Ungltik. 

Wir iagen nach den Vergniigungen, und sind mismutig sie 
gefunden zu haben, wenn ihr Genus voriiber ist. Wir werden 
nie gesattigt, unser Hunger vermert sich, ie mer wir ihn stillen, 
wir diirsten nach Wasser bei der Quelle. Unsere Begierden sind 
zu heftig, ihr[e] Dauer zu lange, ihre Quelle zu rein, als daft 
dieselben Dinge den Menschen und das Vieh auf gleiche Art 
befriedigen solten. Er halt, wie wenig ihm das genug tut, was 
ihn umgiebt; deswegen ersezt seine Einbildungskraft, was ihm 



ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 93 

seine Macht nicht geben kan; er stilt seine Wiinsche durch sich 
selbst. Wenn er gliiklich ist, so hat [er] den Grund seines Him- 
mels mer in sich, als in der Welt zu suchen - diese aussere Welt 
giebt ihm nur Materi alien zu derienigen, die er in sich schaft. 
Ein besondrer Zusammenhang zwischen dem Menschen und 
der Welt! - 

Seine Organisazion, sein Korper ist fur diese Erde gemacht; 
aber demungeachtet ist's so deutlich, so unverkenbar, daB. er 
nur ein unreifer Himmelsbewoner ist. Im Kinde verhiilt noch 

to ein dichter Schleier die aufkeimende Grosse - aber er vervol- 
komt Fahigkeiten, die nicht fur diese Welt gehoren. Es entwik- 
keln sich verborgne Krafte, die den Ort seiner Bestimmung 
naher anzeigen, es keimen Tugenden, fur die diese Erde ein 
zu elender Aufenthalt ist. Demungeachtet zieht ihn eine unsicht- 
bare Gewalt weit unter seine Wiirde herunter. Er ist weder fur 
diese Erde; denn er hat Augenblikke, wo er den Himmel in 
sich fiilt - er ist auch nicht fur die andre Welt, weil er oft fur 
diese zu gering ist. Kurz, er ist ein wunderbares Mittelgeschopf, 
das sich ein Ratsel bleibt, von dem er nicht mer weis, als das: 

20 daB es unaufloslich ist. Er vervolkomt sich von seiner Geburt 
. an, mit einer besondern Schnelligkeit, er erhebt iede seiner 
Krafte zu einer doppelten Hohe, er iiberwachst sich selbst, um 
das zu werden, was er - am Anfange war. Er wird als ein Kind 
geboren; er stirbt wieder als eines. Er weis nichts von seinem 
Ursprung, und eben so wenig von seinem Ende. Von seiner 
Existenz kent er nur den gegenwartigen Augenblik - er weis 
nicht was er vor Jartausenden war, und was er nach Ewigkeiten 
sein wird. Ihr dichtet, herauszubringen, was ihr gewesen seid, 
und sein werdet - ich wil anbeten fur das, was ich bin. Ich 

30 bin zuviel, als daB ich nicht nach dieser Welt mer sein solte. - 
Jeder Mensch ist verschieden, schon in Riiksicht auf sich allein 
- er wird noch verschiedner, wenn wir das ganze Menschenge- 
schlecht zusammen betrachten. Die Menschheit ist sich so unan- 
lich als es Menschen giebt. Hier rast sie an der Kette, und kent 
ihr eigen Ich nicht- dort verliert sie sich mit Neuton in algebrai- 
sche Erfindungen - ist dum im Huron, scharfsinnig im Leibniz 



194 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

- ist hier Skeptiker, dort Nachbeter - glanzt hier am Sklaven 
an der Kette, und ist dort Scheusal im Konig auf dem Trone 

- hier betet sie Got, dort den Teu£el an - hier beglukt, dort 
mordet sie - verdient hier den Himmel, dort die Holle - ist 
sich hier Harmonie, dort Widerspruch — O nein, ich betriige 
mich; es ist liberal dieselbe liebenswiirdige Menschheit, nur 
nicht liberal derselbe Teil ihrer Gestalt. Ich sehe da nur den 
Schatten, der dort das Licht erheben sol - da die Feler, die dort 
den Reiz ihrer Volkommenheiten vermeren. Sie muste einen 
Nero haben, um desto mer im Seneka zu glanzen. Wir sehen 10 
iezt nichts von ihr als ihre einzelne Teile; die andre Welt erst 
mus uns besser, mus uns weiser machen, um al die widerspre- 
chende Ziige in Ein Gemalde vereinigt zu sehen, um die vermiste 
GCite am Menschen zu entdekken, und die Menschheit von dem 
Widerspruch mit sich selbst zu rechtfertigen. Dan wird unsre 
Seligkeit sein, uns selbst besser zu kennen, unsre Tugend darin 
bestehen, daB wir nicht gegen unsre Wiirde handeln, und wir 
werden Got reiner anbeten, weil wir uns ihm anlicher fiilen, 
und Jesum warmer lieben, weil wir mer Menschen sind. - 

Joh. Paullus Fried. Richter. 20 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN 



AUF DAS AUGUSTMONAT. 1 78 I 

Leipzig 



Am Frettag den 10 August. 

Von dem, wovon wir am meisten wissen solten, wissen wir 
am wenigsten; aber bios deswegen, weil wir schon soviel davon 
zu wissen glauben. Ich rede von der Menschenkentnis. Ich wil 
nur einige Liikken unsrer Kentnis der menschlichen Natur rii- 
gen. Alle unsre Bemerkungen iiber unsre Natur haben wir den 
Gelertenzu danken, die sie von sich abstrahirt haben. Alle unsre 
Menschenkentnis lauft also da hinaus, daB wir etwas die Be- 10 
schaffenheit eines schon polizirten, verfeinten Menschen wissen. 
Allein wir wissen vomWilden, vom Rohen, vom Unkultivirten 
nichts, der solche Betrachtungen nicht iiber sich anstellen kan. 
Wir lernen dan nicht den Menschen, sondern den Gelerten ken- 
nen - wir werden nicht von der eigentlichen Beschaffenheit der 
menschlichen Neigungen iiberhaupt,- sondern von ihrer Be- 
schaffenheit beim Gelerten, unterrichtet, wir haben nur den 
Menschen studirt, der einen gewissen Grad der Kultur hat, nicht 
den, dessen Kraft* alle noch unausgebildet, dessen Triebe nicht 
geschwacht, nicht falsch gelenkt sind, dessen Natur in ihrer Un- 20 
vermischtheit von fremden Zusaz noch erhalten worden ist. 
Also fiilt unsre Menschenkentnis noch einen ser kleinen Raum 
aus - wir kennen also unter den tausend Menschengesichtern 
nur das gelerte; und man mochte fast sagen, daB es am leichtesten 
zu kennen ist, weil es - nur Tor en gewonlich ist - wir kennen 
keine andern Menschengesichter, als die lateinisch reden. »Aber 
eben diese Gelerten beobachten auch andre Menschen, nicht bios 
sich selbst - ferner sie brauchen sich ia nur in die Umstande 
zuriikzusezzen, in welchen sie das noch nicht waren, was sie 
iezt sind, urn durch die Vergleichung beider Umstand' ihre Be- 30 
schaffenheit und ihren Unterschied heraus[zu]bringen.« Es ist 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN " AUG. 1 78 1 197 

alles schon gesagt; aber es ist nicht so gut getan. Von beiden 
Dingen wil ich zeigen, daB keines in unserer Wilkiir steht. - 
Was beobachtet denn der Gelerte, und wenn man wil der Scharf- 
sinnige an dem rohen Naturmenschen? - Sich selbst - Er sieht 
ihn handeln; und leiht ihm Ursachen, die nur ihn selbst zu dieser 
Handlung bestimt hatten. Er kan sich nicht in des andern Um- 
stande sezzen; deswegen sezt er diesen in die seinigen. Er formt, 
und schnizzelt so lang' am andern, bis er ein Abdruk von ihm 
selbst ist. Der Mensch ist gemacht, in alien andern nur sein 

10 vielfaches Selbst zu sehen - er giebt iedem die Begriffe, die er 
hat, die Triebe, die Neigungen, die ihn beherschen, kurz er 
beschenkt ieden mit al dem was sein eigen ist; und was denkt 
er von alien, die er nach seinem Masstab mist? was er von sich 
denkt; der Kreis seiner Erfarungen iiber sich selbst enthalt schon 
die Erfarungen iiber die andern in sich. Es aussern sich Triebe 
im Naturmenschen, die wir unmoglich beobachten konnen, 
weil wir sie nicht gefult haben. Wir sehen an ihm Handlungen, 
deren Grund uns verborgen liegt, weil das Erkentnissystem des 
andern nicht das unsrige ist. - Ferner das, was man sagt, von 

20 dem Zuriiksezzen in unsre vorigen Umstande, zeigt an, daB 
man nie einen Versuch dariiber gemacht hat, weil man die Un- 
moglichkeit dieser Sache nicht eingesehen hat. Ich wil z. B. wis- 
sen, wie ich vor 10 Jaren unter gewissen Umstanden, deren ich 
mich noch erinnere, gehandelt habe. Was tu* ich? Nichts als 
das: ich stelle mir die Einwirkung dieser vergangnen Umstande 
als gegenwartig vor, und gebe die Wirkung, die sie iezt auf 
mich zu machen scheinen, £tir dieienige aus, die sie damals auf 
mich gemacht haben. Wie blind sind wir doch, uns selbst zu 
betriigen. Zu iener Zeit war ich ia noch nicht dies Wesen, was 

30 ich iezt bin. Meine Denkungsart hat sich geandert; die Wirkung 
derselben Ding' auf mich mus sich also auch andern, weil meine 
Empfanglichkeit nicht mer dieselbe ist. Man sagt: ich kan mir 
ia leicht meine vorige Denkart vorstellen. Aber man irt sich. 
Unsre Denkungsart wird nicht bios durch etliche Begriffe be- 
granzt, die wir damals gehabt haben, und die deutlich genug 
waren, noch iezt nicht verloschen zu sein - sie ist das Resultat 



I98 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

von den dunklen Ideen, die wir nicht einmal damals bemerkten, 
von Trieben, deren Beschaffenheit iezt nicht mer dieselbe ist, 
deren Grad, deren Art von den iezzigen ganz verschieden, und 
endlich von der Einwirkung des Korpers, die iezt wegfalt, weil 
unserer sich geandert hat. Also soviel konnen wir iiber uns in 
verschiednen Zustanden, und iiber andre urteilen! Das ware ein 
Wink fur die lieben Moralisten, die alle Menschen auf Gottes 
Erdboden ganz gemachlich unter eine Regel bringen, die nur 
einen Menschen handeln zu sehen brauchen, urn von seinem 
Beweggrunde und seiner Moralitat harklein rasonniren zu kon- 10 
nen, die fur den Jiingling, den Man, den Greisen, das Weib, 
den Gesunden, den Kranken, den Neger, den Weissen, den 
Dummen, den Klugen - die fur alle dieselbe Moral haben. Mein 
Lieber! der Mensch hat in seinen verschiednen Altern und Zu- 
standen eine andre Moral - und so vielfach die Gesichter sind, 
so verschieden sind die Tugenden und Laster. Das schwarze 
Negermadgen ist auch schon; aber ihre Schonheit ist von andrer 
Art, als die einer pariser Koquette. Darum suchfe] an den Kiisten 
Guinea's nicht denselben Dekalog, den d[er] in Paris Studirende 
[?] findet. In Sparta wiirde das 7., Gebot ein wenig anders gelau- 20 
tet haben als bei den Juden, und iedes andre Gebot wiirde fur 
ein andres Land eine andre Form bekommen. 



Am Sonabend den 11 August. 

Der Heuchler kan ieden Karakter vorstellen, sein Gesicht zum 
Heiligen und Bosewicht drehen, er kan alle Masken annemen, 
aber nur die nicht, on' eine zu sein, d. h. er kan nicht aufrichtig 
sich stellen. Auf unserm Antliz malt sich die Gestalt unsrer Sele 
nur zu deutlich, als daB nicht mannigmal ungeachtet der Larve, 
die des Heuchlers ware Miene verbirgt, ein unbemerktes Merk- 
mal seiner Furcht uns seine Verstellung verriete. Der Aufrichtige 30 
sieht dir frei in's Gesicht; er denkt nicht, seine Gedanken und 
Reden widersprechen zu lassen. Und eben diesen Mut, diese 
Unbesorgtheit, diese Offenheit mus der Heuchler entberen. 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. I781 199 

Denn wenn sein Gesicht nichtfs] verrat, so verrat es doch wenig- 
stens die Miihe, die er aufwendet, nichts zu verraten. — Man 
hat allerlei iiber die Gesichter geschrieben; aber die Gesichter 
der Schauspieler hat man noch nicht genug beobachtet. Der 
Schauspieler, dessen Gesicht in seinem Leben nie dasselbe ist, 
der auf demselben wildeste Leidenschaft, und Gesinnung ab- 
wechselnlast, dieser muste sich sicher von andern Menschenge- 
sichtern durch irgend etwas auszeichnen: und zwar deswegen 
must' er ein besonderes Gesicht haben, weil er alzeit ein andres 
10 hat. Denn man glaube nicht, daB die Rollen, die er spielt, gar 
keine Eindriikke lassen solten, wenn er sie oft wiederholt. Last 
ihn [nie] eine andre Person vorstellen, als Lessings Norton - ich 
wette, er wird endlich - Norton werden, Denn man spielt keine 
Person gut, in deren Lage und Denkungsart man sich nicht ver- 
sezzen kan. Und sich oft in diese versezzen, es oft konnen [?], 
heist ihr anlich werden. Hamlet und Garrik waren unfelbar, 
wenn sie zu einer Zeit gelebt hatten, Freunde gewesen - denn 
sonst hatte Garrik nicht so Hamlet sein konnen. — 

Du wilst deine Feler von deinen Freunden erfaren. Du irst 
20 dich ser. Ihre Aufrichtigkeit geht wol so weit, daB sie dir unbe- 
trachtliche Flekken deines Karakters entdekken, und die eben 
weil sieunbetrachtlichsind, mer deiner Eigenliebe schmeicheln, 
als deine Besserung befordern - allein ihre Aufrichtigkeit geht 
nicht so weit, dir Feler zu sagen, die du selbst bei dir nicht 
entschuldigen kanst, die deiner Eigenliebe wehe tun und viel- 
leicht die Freundschaft gegen ihren Entdekker geringfer] ma- 
chen. Das beste Mittel, unsre Feler kennen zu lernen, ist, andern 
ihre eignen Feler zu entdekken. Dan werden sie stolz genug 
sein, nicht allein Mangel zu haben; und sie werden solche auch 
30 bei dir suchen, sie finden, und sie dir auch - sagen. Im Freunde 
kan man sich nicht leicht sehen; er ist wie ein Spiegel, dem 
unser Atem seinen Glanz [?] benimt. Wir miissen weiter von 
Menschen entfernt [sein], um keinen Einflus auf ihr Urteil zu 
haben - der Feind ist oft der treueste Kundschafter unsrer. Feler. 
Unsre Tugenden sagt uns der Busenfreund, der uns liebt - unsre 



200 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Feler der heimlich, der uns hast. Beide sagen oft zuviel - aber 
dan ist das Auge seharfsichtig genug, die Warheit herauszubrin- 
gen. 

Am Sontag den 12 August. 

Wir sprechen soviel von dem Nuzzen, den die eignen Lebensbe- 
schreibungen grosser Manner haben. Die Entdekkung ihrer 
Schwachen des Verstandes macht unsre Psychologie an Bemer- 
kungen reicher, das Bekentnis ihrer Feler und Torheiten dient 
zur Erweiterung unsrer Moral. Man hat Recht; wenn man diese 
Behauptung einschrankt. Die grossen Manner solten eigentlich 10 
ihre Mangel nur grossen Mannern zeigen - sie in ihrer waren 
Gestalt zu sehen, wiirde den Kopf des Schwachen verrukken. 
Er, der sogar seinen Felern die Larve der Schonheit giebt, 
braucht nur das Beispiel eines grossen Mamies, um sich diese 
Feler zu einem Verdienste anzurechnen. Er wird sie nicht mer 
bessern; er halt sie zu seiner Grosse notwendig. Er schazt also 
sich [?] dem Genie gleich, weil er so . . . ist, dessen Mangel 
zu haben. Und wenn er sie nicht hat, so wird er sich sie zu 
erwerben suchen. Er wird sie endlich an Torheit iibertreffen. 
Ferner [?] manche Dinge sind zu ser der Misdeutung des schwa- 20 
chen Kopfs ausgesezt, als daB man sie ihm sagen konte. Er glaubt 
nur den gros, der keine kleine Eigenschaft hat; er kan es nicht 
zusammenreimen, Torheiten und Grosse zugleich zu haben. - 
Es gehort schon ein grosser Geist dazu, sich einen grossen den- 
ken zu konnen; wer klein ist, kan es nicht. Darum solten auch 
die grossen Geister nur wieder von grossen in ihrer waren Ge- 
stalt gesehen werden. Ach! mir ist bange, wenn ich daran denke, 
was Rousseau's eigne Lebensbeschreibung einmal ftir Urteile 
[?] iiber diesen Man erwekken wird. Grosser, verkanter [?] Man! 
(dessen Tugend bios die Ursache seiner Leiden war. War' er 30 
nicht Sokrat gewesen, ein Epikur hatt' er immer sein [konnen].) 
ach wie werden die oden [?] Kopfe iiber dein Buch herf alien. 
Wie wird der gelbsiichtige Ortodoxe deine schone Gestalt zum 
Teufelsangesicht brandmarken weil du zu gut warst, nicht one 



TAGBUCH MEINER ARBETTEN ■ AUG. 1781 201 

Feler zu sein. Das Gestandnis deiner Feler wird seiner Rache 
die Narung geben, die er braucht, urn [den] Schein eines heiligen 
Zeloten zu haben. Der einaugige Moralist wird fur dich eine 
Holle bauen, weil du nur Mensch warst, weil du aufrichtig ge- 
nug warst, dein Herz dem Mitbruder [?] zu zeigen, wie's einmal 
[?] der Richter alien [?] zeigen wird. Der Spotter wird lachen, 
wo er deine Torheiten sieht, die dich mit den Menschen ver- 
schwistern; und der harte Bose [?] wird Gift aus den Blumen 
saugen, er wird [mit] deinen Felern seine Bosheit entschuldigen. 
10 Ach bios du! herlicher [?] Geist, der du iiber den eingeschlosse- 
nen Kreis dieser elenden [?] Geschopfe wegsiehst! du wirst den 
Man liebgewinnen, weil sein Herz ihn dir nahert, da sein Ver- 
stand ihn iiber alles erhob - du wirst al seine Feler verschwinden 
sehen, weil sie der Mantel der Aufrichtigkeit verdekt - du wirst 
deine eigne Schwache fiilen, und deine Meinung von deiner 
Grosse sinken lassen, weil auch die Engel ihre Feler haben. - 

Wir haben grosse Geister gehabt; aber noch keine grosse 
Menschen. All' unsre Genies schwingen sich durch ihren Ver- 
stand iiber diese Erde weg - wir sehen traurig ihrem Flug nach 
20 und bedauern nur Menschen zu sein; wir vereren sie, aber wir 
liebensienicht ser. Allein eine Ausname ist da: Rousseau - Seine 
Fahigkeiten machten ihn zum grossen Man - sein Herz zum 
grossen Menschen. Wir lieben ihn mer, weil er seine Feler ent- 
dekt, und sich nicht schamt, unser Mitgeschopf zu sein. Auch 
den Montaigne kan ich her[nemen?]. - 

Der ist unfelbar der groste Menschenfreund, der mit wenigen 
Menschen umgeht, deren Herz aber seine Liebe fordert, deren 
Ungliik sein Mitleid erregt. Man wird nur gegen den Menschen 
gleich[giiltig], wenn man ihn oft und nicht recht sieht, wenn 
30 man mit vielen umgeht, one mit keinem recht bekant zu sein 
- man erstikt das Mitleid, wenn man taglich Gelegenheit hat, 
es [zu] aussern, und nicht Krafte genug, es zu befriedigen. Jede 
Neigung wird befriedigt, wenn ihr Gegenstand oft ist - das 
Mitleid wird endlich abgehartet, wenn's immer Unglukliche 



202 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

sieht. Darum glaub' ich hat der Man in der grossen Stad nicht 
die Menschenliebe, die der Bewoner des einsamen Dorfes fiilt. 
Und vielleicht haben aus eben der Ursache die Konige weniger 
Mitleid, weil sie immer ein Haufe von Menschen umgiebt, die 
sie nicht interessiren, ia die ihren Begrif von der Wiirde des 
Menschen durch ihr eignes Herumkriechen von seiner Hohe 
herabstimmen. Vielleicht ware das auch wol ein Grund, warum 
die Frauenspersonen mer Menschenliebe haben, als die Manner. 
Sie kennen weniger Menschen; aber sie kennen die wenigen 
recht. - io 

Warum hat doch [der] Jiingling im Umgang mit dem Manne 
so viel Langweile, und dieser wieder mit ienem? Daher. Uns 
amusirt nichts, was sich nicht auf uns bezieht, uns gefallen nur 
die Geselschaften, wo andre uns uns selbst gefallen machen. 
Aber der Jiingling kan nicht mit dem Manne, dem er Erfurcht 
schuldig, von sich selbst reden. Ja! wenn er's tut, so mus er 
meistens seine Feler gestehen, oder doch wol Ermanungen d[es] 
Altern crwartcn. Uns aber ermanen, heist von uns erwarten, 
daB wir einmal schlecht handeln werden - dies aber beleidigt 
unsre Eigenliebe. Ferner. Dieienige Geselschaft misfalt uns, wo 20 
man nicht unserFreund, oder wol unser Vorgfesezter] ist. Denn 
niemals ist ein Man ein Freund eines Jiinglings gewesen: sein 
Lerer kont' er wol sein. Wir sind nur mit dem Freund, bei dem 
wir eine Anlichkeit mit unsern Begriffen, Neigungen p. bemer- 
ken. Wir konnen den nicht lieben, der Eigenschaften an sich 
an hat, die sich mit den unsrigen nicht vertragen. Wenn die 
Ehe die korperliche Vereinigung zweier Menschen ist - so ist 
die Freundschaft die Vereinigung zweier Selen. Wer wird aber 
ie die Gestalt erwalen, die unsre Empfindung fur haslich erklart. 

Also auch, wie kan 30 

Wer ein Tor ist, mus einen Toren zum Freunde haben. Ein 
Weiser ware fur ihn das, was fur ein pariser Modehergen ein 
ekelhafter Hottentotte ware. Jeder Mensch hat seine Torheitcn; 
deswegen sucht er den Freund, der gleiche mit ihm hat. Urn 
des Jiinglings Freund zu sein, miiste der Man Jiingling werden: 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 203 

oder iener miiste Philosoph sein, one Feltritte begangen [?] zu 
haben. Die Herzen werden nur warm gegen einander, die einer- 
lei Warme erhizt - wenn sie aber verschiedene Tugenden haben, 
so stossen sie einander weg wie der Nordpol des Magneten den 
Siidpol. Noch eine andre Ursache, wenn Manner und Jiinglinge 
einander Langweile verursachen. Jener hat [?] so wenig Gele- 
genheit, viel von sich reden zu horen. Dem Jiingling sind die 
Sachen noch unbekant, noch uninteressant, die den Man betref- 
fen. Er kan auch nicht bewirken [?], daft der Man sich selbst 
10 gefalt: weil man iede Lobeserhebung dessen, der unter uns [?] 
ist, fur Schmeichelei ansieht; und ieder Beifal dessen, den wir 
unwissend halten, nur unsre Oberflache beriirt. — 

Warum kent man doch's Genie eines iungen Menschen nicht 
so leicht? Weil keine Genies ihn beobachten. Oder noch ein 
Feler. Er mus seine Fahigkeiten in den Dingen zeigen, wo er 
die wenigsten hat - er wird oft in Sachen schlechte Fortgange 
machen, weil er in entgegengesezten die grosten macht. Man 
beurteilt ihn aus dem was er merkt, und nicht, was er denkt. 
Man gewont [ihn] an ein Joch, unter das er sich beugen mus: 

20 und eben dieser Zwang erniedrigt ihn in den Augen des blod- 
sichtigen Lermeisters sogar unter die mittelmassigen Kopfe. 
Man verbietet das Ungewonliche, und erklart iede Abweichung 
von der alten Ban fur Verirrung. Der gute Kopf, dessen ganze 
Absicht Rum ist, sucht also da Lorbern einzuernden, wozu er 
keine Fahigkeit hat; er sucht sein Genie zu zeigen, indem er 
sich gewont, die besten Ausserungen desselben im Zaume zu 
halten. Und iiberdies, nichts ist unbedachter, als den Jiingling 
aus seinen Schularbeiten kennen lernen zu wollen. Habt mit 
ihm Umgang; hort seine Urteile. Aber dan mus nicht ein feierli- 

30 cher Ernst auf eurer Stirne seine Offenheit in kalte Erfurcht 
verwandeln - um ihn kennen zu lernen, must ihr das Schulge- 
sicht ablegen, und auf eurem Gesichte den manlichen Ernst mit 
der iugendlichen Freimiitigkeit [?] vertauschen. Er wird dan be- 
gierig, durch seine Offenheit euren Beifal zu verdienen. Seine 
Stralen des Genies wird er nicht mit dem Schleier der Gewon- 



204 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

heit [?] verdekken; im entgegengesezten Fal, seht ihr ihn nicht, 
wie er ist, sondern wie ihr ihn vermutet: er sagt euch dan nicht 
seine Gedanken, sondern die, von denen er glaubt, daB ihr sie 
erwarten werdet. - 

Vielleicht ist unser Jarhundert tolerant gegen Meinungen 
[usw. wie S. 296,21 - 29] Ich mochte heutzutage lieber Epikur, 
als Diogenes, oder lieber Ateist, als Schwarmer sein. Zum Be- 
weis leset das Leben eines Vokaires, und das eines Rousse- 
aus. — 

Man redet soviel von unsrer Gewonheit, von unsern Sazzen 10 
uberzeugt zu sein, und ihnen doch entgegen[zu]handeln: von 
dem Widerspruch zwischen unsrer Teorie und Praxis. Was man 
von der Gewalt der dunkeln Vorstellungen, der Einwirkung 
des Korpers u. s. w. zur Ursach angegeben hat, ist scharfsinnig 
und war. Aber ich glaube noch eine Ursache beifugen zu kon- 
nen. Alle unsre Gemeinsazze sind von Erfarungen abstrahirt: 
unsre Teorie ist das Resultat algemeiner Begriffe, die wir bei 
gewissen Begebenheiten gebildet haben. Wir machen in uns das 
Gesez, so und so handeln zu miissen. Wir handeln auch wirklich 
darnach, wenn die Umstande, wovon wir ienes algemeine Gesez 20 
abgezogen haben, wieder dieselben sind. Wir handeln aber nicht 
darnach, wenn sie nicht dieselben sind. Vielleicht enthalt unser 
Gemeinsaz dem Ausdruk nach sie mit darunter; aber weil wir 
ihn nicht davon abstrahirt haben, so glauben wir nicht nach 
ihm handeln zu diirfen. Wir handeln nie wider unsre Uberzeu- 
gung; wir schranken nur ihre Algemeinheit ein; wir erlauben 
uns Ausnamen von der Regel. Unsre Sazze sind oft auf Schrau- 
ben gestelt; wir folgen ihnen oder nicht, ie nachdem unsre Not- 
durft erfordert. Deswegen ist's schwer, in vielen Lagen immer 
tugendhaft zu bleiben. Jede andere Lage, in der wir uns befinden, 30 
erfordert andere Grundsazze, nach denen wir handeln miissen: 
fast jeden andern Tag sind wir gezwungen, andere Tugenden 
auszuiiben. Deswegen hat Hermes Recht, wenn er sagt, die Tu- 
gend ist wie ein Pflanzgen, das immer dieselbe Seite nach der 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1781 205 

Sonne zu gekert haben wil. Unsre Umstande oft verandern, 
heist uns der Gefar aussezzen, nicht in alien tugendhaft zu sein. 
Deswegenistnichts schwerer, als in vielen geselligen[?] Verbin- 
dungen, in vielen Abwechslungen des Schiksals immer derselbe 
Tugendfreund zu bleiben - aber auch nichts leichters, als ein 
Heiliger sein - in der Zelle. Deswegen haben die lebhaften Kopfe 
am meisten Feler begangen, weil ihre innere Beschaffenheit des 
Geists taglich Umwalzungen leidet; weil iede geringe Begeben- 
heitihren ganzen gegenwartigen Zustand zu verandern vermag: 
10 sie sind so oft bose, weil sie zuviel Lagen haben, als daB sie 
in alien gut sein konten; sie haben so oft geirt, weil das Laster 
zu vielfaltige Masken annam, als daB sie's nicht einmal hatten 
mit der Tugend verwechseln sollen. Ich glaube die Feler man- 
cher lebhaften Menschen haben oft mer Gutes an sich als die 
Tugenden des Unempfindlichen, die keine Miihe kosten. Die 
Niederlage dessen ist mir lieber, der mit einem starken Feinde 
kampft, als der Sieg von demienigen, der mit einer Miikke 
focht.~ 

Am Montag den 13 August. 

20 Unser zukiinftiges Leben ist eine Fortsezzung des iezzigen: dies 
kan nicht soviel heissen: unser gegenwartige[r] Zustand enthalt 
ganz den Grund des zukiinftigen in sich, so daB wir, urn unsern 
Zustand nach dem Tode zu kennen, nur den vor dem Tode 
genau zu kennen brauchen, um den ersteren, wie die Folg' im 
Grund, im lezteren zu sehen. Vielmer wird unsre ganze Beschaf- 
fenheit geandert, weil wir unsern Korper entweder ablegen, 
oder umtauschen p. 

Es giebt Menschen, denen man wenige Einsichten zuschreibt, 
weil sie zu viele haben, um sie sagen zu wollen oder zu konnen. 
30 Es giebt wiederum solche, die man fiir gelerte Kopfe halt, weil 
sie alles, was sie wissen, sagen; und weil wir geneigt sind, von 
ihnen noch mer zu vermuten, was sie nicht gesagt haben. Jene 
halt man fiir schlecht, und diese fiir gut; und man irt sich bei 



206 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

beiden. Die Grdsse des einen kan man nur nach seinen Gedan- 
ken, die Grosse des andern nach seinen Worten bestimmen. 
Wenn beide gleichviel sagen, so ist der erste der gelerteste; denn 
er denkt noch vielmer, was er nicht gesagt hat. Jener ist ein 
Geiziger, der aus seinem vollen Kasten ein par Groschen nimt; 
dieser ein Praler, der einen Beutel vol Luisd'or bei sich furt. 
Jener hat mer als diese Groschen; dieser hat nur diese Luisd'or. - 



Am Dienstag den 14 August. 

Gestern nab' ich schlecht gedacht, weil mein Korper nicht - 
mit gedacht hat. Wenn die Sele wachen wil, da der Korper 10 
schlaft, so - traumt sie. Die Schwache des Korpers hat viele 
Philosophen zu Traumern gemacht. Aber heut zu tage ist alles 
mit histerischen Zuf alien, mit Nervenkrankheiten u. s. w. be- 
haftet, und doch sah man das nicht, was du als Folge daraus 
behauptest - aber man hat empfindsame Romane geschrieben. - 

A. Aber Her Fip ist ein grundgeschikter Man. Er redet 2 Stun- 
den in Einem fort, on* anzustossen. 

B. Es komt ihm auch kein - Gedank' in den Weg. 

Ein Nar ist am meisten ein Nar, wenn er unter den Klugen 
ist: denn ihre Verachtung befeuert seinen Stolz, den Dumheiten, 20 
die er auskramt, das Kleid der Gelersamkeit zu geben. Und 
wirklich, gebt mir lieber eine braune Negerin als eine parisische 
Dratpuppe - lieber die Dumheit im Gewand der Natur, als in 
der Perriikke der Gelersamkeit. - 

Wie sich die Moden andern! Sonst trug der Nar seine Kappe, 
seine Schellen und sein Narrenhabit - iezt hat er dafiir Perriikke, 
Stern, und Stuzzerkleid. - 

Diogenes suchte Menschen mit der Laterne, und fand keine. 
Jezt wiird' er menschliche - Masken finden. - 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ' AUG. I J% I 207 

Die Physiognomik ist ein par Jarhunderte zu spat oder zu 
friih gekommen. Das gewonliche Altagsgesicht ist altmodisch. 
Man hat fremde Farben, fremde Adern, fremde Zane auf dem 
Nachttisch; was noch mer ist, man hat ein fremdes Gesicht. 
Guter Lavater, du hattest warten sollen, bis die alte Mode auf- 
kame, unverlarvt zu sein. Was helfen mich deine 4 Bande 
Ph[ysiognomik] auf dem Redoutensale. - 

a. Sie werden mir nach vielen Jaren einmal recht geben. - 

b. Da must' ich ser, ser alt werden. 

10 Im Alter werden wir Embry[onen] der kiinftigen Welt. Der 
Tod gebiert uns. Dan werden wir Kinder, und Junglinge in 
der Ewigkeit. - 

Um heut zu tage ein Buch zu schreiben, braucht man nur 
zu lesen und zu - kombiniren. Um zu rezensiren, braucht man 
nur Mut. 

bav. 's is Pfaffengeschwaz! wie solt' ich nach dem Tod denken 
konnen. 

tim[?]. Ja wol, da Sie hier niemals gedacht haben. - 

Rousseau's Grosse war andern niizlich, denn er war wizzig 
20 und bered - sie war ihm niizlich, denn er war tugendhaft. Be- 
dauert Voltaire, der alle Fahigkeiten hatte, und von ihnen nicht 
die Friichte genos, weil er nicht tugendhaft war. Uns bios [?] 
ntizt er, *wie die Seide des Seidenwurms, dem sein eigen Gewebe 
zum Grabe geworden ist. Die Statue, die man ihm sezte, must' 
ihm wenig Vergmigen schaffen, weil er wuste, wie bald er ihr 
gleichjen] werde; und die griinen Lorbern verwelkten auf sei- 
nem diirren Todenkopfe. 

Der Mensch gehort unter die Amphibien, bald ist er im Him- 

mel, bald auf der Erde, bald Weiser, bald Tor, Epikur wolt' 

30 uns zu Wasser-, der Stoiker zu Erdgeschopfen machen. Dem 



208 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

einen felte die Sele, dem andern der Korper, da er schrieb. - 
Last uns doch so lange Menschen bleiben, so lange wir noch 
Leib und Sele haben. 

Wiz ist eine besondre Pflanze. Sie wachst nicht liberal; mei- 
stens nur im warmen Klima. Sie wil auch begossen sein - und 
lieber fast mit Wein, als Wasser. - Darum bringt eine gute Wein- 
ernde alzeit etliche [?] wizzige Kopf hervor. - Manchem Genie 
[?] felt's oft nur am fruchtbaren Regen, um gute Fruchte zu 
bringen. 

»In Ewigkeit werd' ich iene Hohe nicht erlangen, nach der 10 
ichfliege;« sagte der iunge Vogel. »Du solst sie auch nicht errei- 
chen: das kan nur der Adler. Du solst nur fliegen lernen.« Nie- 
mals werden die Sterblichen [?] Warheit erkennen, wirft mir 
[?] der Skeptiker ein - las es [sein], sagt Lessing, sie ist d[es] 
Unendlichen: wir wollen nur sie mer lieben lernen und volkom- 
ner werden. Es ist doch schon schon, von weitem darnach zu 
sehen. 

Plato's Definizion vom Menschen past nicht, weil sie auf den 
unbefiederten [?] Han past. Allein bei manchem eitlen Doktor 
mocht' ich einen krahenden Han in's Auditorium laufen lassen, 20 
und schreien: ecce hominem ad doctorem creatum. - Man ver- 
zeihe mir dies unromische Latein; in den Auditorien ist's so 
gewonlich. 

Wer Wiz hat, durchwandelt blumenvolle Gefilde. Er bricht 
hier ein Blumgen, da ein Blumgen, um einen schonen Straus 
zu binden. 

(Der Wiz macht lauter . . . und Ehescheidungen. Er kopulirt 
den Edelman und die Bauerstochter - er trent die besten Ehe- 
leute. Alle Leute verwundern [?] sich iiber die wundferlichen] 
Verbindungen oder Trennungen.) 30 

Auch im Alter kan man noch wizzig sein. Denn wenn die 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 1 209 

Schwachheit des Greisen von seinen ungewonlich harten [?] und 
weichen Gehirnfibern abhangt, so schadet dies dem Wiz wenig. 
Seine Ideen haben mit einander die sonderbarsten Ehen und 
Trennungenzu machen. Diese bewfeglichen?] Fibern befordern 
ihn vielmer. Sie sind eine Anlage zur Narheit; und wer ist wol 
naher verwand als Wiz und Narheit? - 



Am Mittwoch den i$. August. 

Beaucoup d'hommes ont d'esprit, qui ne sont point de sages; 
et qui en ont asses, pour etre fous. - 

10 Tout l'homme, qui n'a jamais senti d'avoir ete une fois un 
fou, n'a pas encore cesse de l'etre. 

Mon ami, vous aves peur de perdre votre raison - ne soies 
pas inquiet. Vous ne perderes jamais ce que vous - n'aves jamais 
eu. 

Tout le sage a ses folies; tout le fou est souvent sage. Ainsi 
quelle difference est entre le sage et le fou? celle: le premier 
se croit tel, qu'il est; le derniere n'a jamais cru d' avoir une folie; 
le premier se corrige puisqu'il sent ce que lui manque; mais 
le dernier n'a jamais trouve en soi-meme une faute; c'est pour- 
20 quoi il n'a jamais pris peine de la corriger. - 

Trois lettres francoises 

I. 
Mon ami! venes une fois, je vous attends. Pourquoi tardes vous 
d'etre le temoin de mon bonheur? Vous aves pris part a mon 
malheur; il est terns que vous voies, que la providence n'est 
pas indifferente a celui, qui adore la vertu, que la probite souff- 
rante recoit enfin sa couronne et que je suis heureux! Hates done 
de venir! et ne perdes les heures de la joie, qui courent si vite- 



2IO JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

ment, qui appartient si rarement et ne reviennent jamais. Ne 
me gates la jouissance d'etre heureux, en vous refusant d'en 
prendre part. Ou otes moi le plaisir, dont je vous suis oblige, 
ou ajoutes aux bienfaits, dont vous m'aves accable, le plus grand, 
c'est-a dire, d'en jouir avec moi. 

II. 

Je suis foible, vous etes fort; et il depend de vous ce que je 
doit souffrir. Vous aimes le vice, c'est asses pour me rendre 
malheureux. Bien done! Continues de me faire sentir et votre 
force et votre impiete; mais saves, que je m'estime plus heureux 10 
d'etre perdu de vous, que d'etre sauve, et que je ne vois rien 
dans tous vos cruautes que l'envie, qui vous pique, de me rendre 
semblable a vous-meme. Mais pour en reiiissir, il faut que vous 
corrempes mon ame, que vous m'inspires vos vices; il faut, 
que vous devenes plus fort, plus sage et plus mal que le diable 
meme. Tous les peines nouvelles, que vous ajouteres aux an- 
ciennes, ne serveront que d'exercer ma vertu, de doubler son 
prix et d'augmenter mon bonheur dans le monde futur. Mais 
soies assure, que je ne vous hais pas; je suis encore trop heureux, 
pour souhaiter votre malheur. Au contraire je serai ravi, si vous 20 
deviendres un homme, et cesseres rassembler au diable. 

III. 

Je t'aime, fille adorable! e'est tout ce que ma langage peut dire, 
mais ce n'est pas tout ce que mon coeur sent. O dieu, que tu 
aurois aussi ajoute au coeur, qui sait aimer, la langage, qui le 
pouvoit exprimer. Je n'ecrive pour parler a toi, mais pour me 
souvenir de toi: nos coeurs parlerons un jour plus veritablement, 
plus haut, plus distinctement, quand ils seront unis pour jamais, 
que le peut cette morte plume. O esperance, que tu rendes les ' 
heures si tardes, et pretes au moment la duree d'une annee! 30 
Qu'un sommeil bienfaisant berceroit mon ame en songes dou- 
ces, et me faisoit oublier tout mon bonheur jusqu'a le matin, 
ou je m'eveille, de le posseder pour jamais. Sois heureuse, done 
je le serai aussi: aime moi, moi qui je suis prete a mourir pour 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 211 

un ange, lequel le del me renderoit en habit plus coeleste ct 
plus digne de son ame. 



Am Donnerstag den 16 August. 

Das Mittelmassige ist der Polype zwischen dem Guten und 
Schlechten. -Keinschwerers Geschafte ist fur den Kunstrichter, 
als ein mittelmassiges Buch zu rezensiren: er weis nicht wo er's 
hinsezzen sol; es geht ihm wie dem Naturkundiger, dcr stille- 
schweigt, wenn er Polypen oder Korallen sieht. - 



Am Sontag den ip August. 

10 Warlich, es gehort weniger dazu, gluklich zu sein, als man 
glaubt. AH* unser Ungliik komt daher, weil wir das ware Gluk 
nicht kennen, und, indem wiruns nach einem zu grossen bestre- 
ben, uns einbilden, gar keines erreicht zu haben. Wir halten 
es nicht fur Gluk zufrieden zu sein, darum gefalt uns keiner 
unsrer Zustande; wir wollen nicht allein gluklich sein, wir wol- 
len es auch andern zeigen; deswegen so viel Pomp, so viel Auf- 
wand, der uns nichts als den Neid des andern erwirbt, unser 
Vergniigen durch einen wilkurlichen Zwang einschrankt und 
unsre Glukseligkeit unsrer Eigenliebe aufopfert. Ober d[em] 

20 Schein des Gliiks vergessen wir seinen Genus. Ich weis nicht 
ob der Furst, der eine offentliche Tafel vor den Augen vieler 
tausende halt, so frolich wird essen, wie der Arme, der von 
seiner Arbeit ermiidet, hungrig unter dem Angesicht seines 
Weibs und seiner Kinder sein' Abendbrod aufist. Dieses Behagli- 
che, dieses innige Fiilen der Freude, wird von der Begierd' auf- 
gezert, seine Macht zu zeigen. O! ich sah' oft an dem Goldbe- 
dekten Manne nichts, als die Traurigkeit in einer schonen 
Maske, die nur den Zuschauer hintergeht, aber ihren Besizzer 
desto arger foltert 

30 Ein trauriges Gesicht steht nicht zu einem frolichen Kleide; aber 



212 JUGENDWERKE " I. ABTEILUNG 

wol kontrastirt angenem eine offene Miene mit den Lumpen 
des Betlers. Die grossen Palaste sind immer die Wonungen des 
Kummers, indem die Freude in den Hiitten der Armen einkert, 
und der, den die Wolgeriiche des Lobes umduften, bekomt end- 
lich Kopfschmerzen von den starken Geruchen. Gesunder ist 
der, der auf dem Lande Gottes freie Luft geniest - das Lob der 
andern macht Kopfschmerzen; aber der innere Beifal belont her- 
licher, er reinigt die Sele, und er verlast sie nie und ist selbst 
ihr Geselschaft[er] auf dem Todenbette, ihr Begleiter, wenn sie 
den Korper verlast. Die Ungleichheit, die Got unter den Men- 10 
schen gemacht hat, scheint grosser zu sein, als sie ist. Die Rei- 
chen haben nur den Schein des Gliiks; da die Armen sich seines 
Genusses freuen, und in dem Masse, in dem wir den andern 
gliiklich scheinen, scheinen wir uns ungliiklicher. - 

Unter alien Ubeln, die die Armut verursacht, ist das das gros- 
seste, daft man unfahig ist andern seine Menschenfreundlichkeit 
genug zu zeigen. O! woltatig sein, diese reinste Quelle des 
menschlichen Vergniigens, diese mus der Arme so oft entberen. 
Zwar sein Wille wird die Grosmut des Reichen iibertreffen, 
d[em] es nicht viel kostet, wolzutun; aber rechnet ihr den innern 20 
Unwillen, seine B ruder leiden zu sehen, und ihnen keine Hiilfe 
erzeigen zu konnen, fur nichts?- 

Tranen sind der Regen, der alle Tugenden befruchtet, und 
sie milde macht. Der Hartherzige kan auch Tugenden verrich- 
ten; allein sie haben das Ansehen des Heroischen, sie erregen 
mer unsre Bewunderung als unsre Liebe, sie sind nicht mensch- 
lich genug. Das weiche Herz giebt alien Handlungen etwas an- 
genemes, etwas riirendes. Ich werde dem danken, der mir aus 
kalten Beweggriinden angetrieben mein Elend mildert; aber den 
wcrd' ich umarmen, der seine Tranen mit meinen vermischt 30 
und mein Heifer wird. Bei ienem tut's weh, seine Hiilfe zu brau- 
chen; bei diesem verschmilzt sich eignes Elend und f rem des 
Teilnemen in eine so angeneme Empfindung zusammen, daB 
wir diese Empfindung [?] in der allergluklichsten nicht hingeben 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 21 3 

wiirden. Die Tranen des Mitleidfigen] sind heilender Balsam 
in die Wunden des Ungluklichen gegossen. Seine Leiden ver- 
mindern sich, weil er sie nicht allein leidet. — 

Lezte Wort' eines Ungluklichen an seine Mitbriider! 
anstat einer Grabschrift 
Wer du bist, der du hicr weilest, ein Gluklicher oder Unglukli- 
cher, wenn du nur ein Mensch bist, bleib hier stehen, und lies. 
Hier rcdet ein Ungliiklicher, der unter deinen Fiissen iezt von 
seinen Leiden ausruht. Ich war geboren mit alien Anlagen zur 
10 Freude. Ich hatt' ein empfindliches Herz, reizbare Sinnen, einen 
guten Verstand. IchhatteEltern, die mich gut erzogen, die nicht 
ganz arm waren und deren Fleis mir hinreichende Versorgung 
bis zu meinen Jtinglingsiaren versprach. Ach! ich hatt' alles bei 
mir, was gliiklich macht [?]; aber ausser mir fand' ich alles, 
was mich ungluklich machte. Mein Herz hatt' einen Himmel 
in sich, und wurd' ausser sich in eine schwarze Holle versezt. 
Ach! du empfindliches Herz, was warst du anders, als eine 
leichte Feder, die die Sturmwinde der Leidenschaftfen] in den 
Luften [bewegten?] 



20 Am Montag den 20 August. 

Got sieht in iedem gegenwartigen Zustande den zukiinftigen 
als Folge desselben verhiilt. Und dies ist das, was man seine 
Alwissenheit nent. Man macht sich von dieser Eigenschaft einen 
sonderbaren, und falschen Begrif, da man glaubt, Got sehe das 
Zukunftige zum voraus, one Ruksicht auf die Beschaffenheit 
des Gegenwartigen, one Ruksicht auf das Verhaltnis der wir- 
kenden Dinge zu einander. Deswegen schlos man: mus zu ieder 
Weissagung ein unendlicher Verstand erfordert werden. Man 
bedachte nicht, daB in einer Welt, wo alles durch Ursach und 
30 Wirkung verkniipft ist, zum Weiss agen nichts erfordert wird, 
als den gegenwartigen Zustand aller unzaligen wirkenden Dinge 
genau zu kennen, und ihm auf seiner Entwiklung durch Aban- 



214 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

derung der Wirkungen bis zu dem Zeitpunkte zu folgen, den 
man voraus bestimmen woke. Ein Engel also kan fahig sein, 
Begebenheiten, die erst nach tausend Jaren wirklich werden, 
genau vorherzubestimmen. Denn es wird nichts erfordert als 
die Kentnis der Beschaffenheit aller wirkenden Ursachen. So- 
bald ich die Ursache kenne, kenn' ich die Wirkung; und dan 
kenn' ich alle die Zustande, welche Reihen dieser Wirkungen 
sind. Sobald wir also sezzen, daB die Kentnis des gegenwartigen 
Zustandes aller wirkenden Dinge die Krafte des Engels nicht 
iibersteigt, so kan man ihm auch die Kentnis aller zukiinftigen 10 
nicht absprechen. Wir sehen nur deswegen das Zukunftige so 
schlecht, weil wir das Gegenwartige nicht besser sehen. — 

Ich begreife, wie Got den gegenwartigen Zustand der Ding' 
erkent. Allein ich begreife nicht, wie er den zukiinftigen erken- 
nen mag. Er sieht das Zukunftige als Folg' im Gegenwartigen; 
ganz recht! Allein was ist fur ein Unterschied unter seinem Er- 
kennen einer Folg' im gegenwartigen Ding, und unter dem Er- 
kennen, daB die Folge wirklich, selbst gegenwartig ist? Man 
tauscht sich, es begreifen zu konnen, weil wir Gottesvorherse- 
hung [!] nach der unsrigen abmessen. Allein alle unsre Vorausse- 20 
hung der Zukunft besteht ia nur in Mutmassungen, in Erwar- 
tungen, in Moglichkeiten - bei Got ist gerade das Gegenteil, 
er sieht das Zukunftige eben so notwendig wirklich, als das 
Gegenwartige, er sieht's auch anschauend! das ist eben das Ratsel! 
Wie verhalt sich die Vorstellung Gottes vom heutigen Tag, die 
er iezt hat, zu der, die er gestern, daB ich so rede, hatte? - - 
Was noch mer ist, wie stelt sich Got das Vergangene vor? Gabe 
das nicht einen Einwurf gegen die Behauptung ab, daB eine 
iede Idee Gottes ausser ihm wirklich sein mus? Got sieht's Zu- 
kunftige; hier zwar konte man sich mit Spizfiindigkeiten heraus- 30 
helfen; aber er sieht auch das Vergangene? Hier ist Dunkelheit, 
iiber Dunkelheit! - Und er sol unveranderlich sein? ia er mus 
es sein; ich verstehe nur nicht, wie er's mit der Kentnis des 
Zukiinftigen und Gegenwartigen sein kan. — 



TAGBUCH MEINER ARBETTEN • AUG. 1781 21$ 

Da fait mir ein kurioser Gedank' ein: Solten nicht die Jarszeiten 
eine Abanderung in den Werken des Geists machen? - Solt' 
es gleichviel sein, ein Buch im Sommer oder Winter, oder 
Herbst, oder Frilling zu schreiben? - Solten manche Biicher von 
der Ostermesse, und von der Michaelismesse nicht eine kleine 
Verschiedenheit haben? Es versteht sich von selbst, daB sie miis- 
sen in einem halben Jare gemacht sein. 



Am Dienstag den 21 August. 

Jeder halt den fur weise, der weit in der Wissenschaft gekommen 
10 ist, die er selbst liebt; allein den halt er nur fur gelert, der da 
viel weis, wo wir nichts wissen. Jeder erteilt der Wissenschaft, 
die er vorziiglich betreibt, einen Wert vor alien andern - ieder 
halt seine Art von Kentnissen fur unentberlich, fiir unschazbar. 
Deswegen findet ieder viel Gelerte in der Welt; allein nicht viel 
Weise: weil die Anzal der Menschen, die sich mit unsrer Lieb- 
lingswissenschaft abgeben, geringer ist als die, welche die iibri- 
gen Kentnisse bearbeiten. - 

Ere den Alten, du erest nicht bios den Menschen in ihm, 
du erest in ihm schon den kunftigen Himmelsburger. - Wir 
20 lieben den Freund noch einmal so innig, der bald uns verlast; 
wilst du gegen den Greisen kalt sein, dessen Alter die Krankheit 
ist, welche almalig . . . Schon deswegen, weil ich den Alten 
nicht lange mer sehe, seh' ich ihn desto lieber. - 



Am Mittwoch den 22 August. 

Dankbarkeit ist nicht die leichteste, nicht die angenemste Pflicht; 
dies haben nur die nicht gefiilt, die sie nie gekant, und alzeit 
mit der Schmeichelei verwechselt haben. Niemand kan leichter 
seinen Dank durch Worte ausdriikken, den(n) von dieser Art 
der Dankbarkeit red' ich, als der, welchem seine Kleinheit iede 



216 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG 

Abhangigkeit unbedeutend, iede Erniedrung ertraglich macht. 
Jeder, der dankt, ist in einer gewissen Verwirrung; wenn er 
eine hohe Sel' hat, so wird das Wanken, wie er des andern Wol- 
taten erkennen sol, ihre Grosse an den Tag legen sol, und wie 
er seine eignen ... die Ursache dieser Verwirrung sein; er fult 
sich der Woltaten zu wiirdig, als daB er dafiir one . . . danken 
konte. Bei der kleinen Sel' ist gerade das Gegenteil; ihre eigne 
Unwiirdigkeit der Woltat macht in ihren Augen mit der guten 
Gesinnung des Gebers einen sonderbaren Kontrast; sie weis 
nicht die Grosse der Woltat zu schazzen, weil sie sie nicht ver- 10 
dient, deswegen ergiest sie sich in lange Danksagungen: sie er- 
niedrigt sich zu Schmeicheleien, weil sie nichts dabei verliert, 
das zu sagen, was sie nicht fult. Der Verfasser der Lebenslaufe 
sagt: ich wolt' einen Menschen schon ganz aus seiner Art Ge- 
schenke zu geben, erraten; allein ich sezze noch hinzu, ich wil 
den Karakter noch besser aus der Art erlernen, wie er Geschenke 
annimt. Es giebt Menschen, die sich durch ihre Danksagung 
der Woltat, worum [?] sie danken, unwurdig machen. Es giebt 
Leute, die durch iedes Danken eine neue Woltat verdienen. 
Wenn man recht dankt, redet man wenig; aber man halt viel. 20 
Der Mund schweigt; aber das ganze Gesicht verrat den Dank, 
der auf den Lippen blieb; wolliistige Tranen, die von den Wan- 
gen des Geretteten herabfliessen, o! diese belonen reichlich den 
Menschenfreund fur seine Muhen. Er fiilt in sich eine Ruhe, 
die nur das Andenken einer guten Tat giebt, eine harmonische 
Zustimmung, die nur die Saiten der Freude, die er bei dem 
andern bebend gemacht hat, in seinem weichen Herzen hervor- 
bringen. - Es ist schoner Woltaten zu geben, als zu empfangen; 
denn 's ist angenemer sich bei'm Guten tatig, als leidend zu 
verhalten, und behaglicher, Macht zu haben, als abhangig zu 30 
sein. 

Man mochte fast sagen, die Sele des Dankenden verliess' ihre 
innere Wonung, sie schwebe nur um den Korper, sie bilde sich 
auf ihm ab, sie sprach' auf den stummen Lippen, in den zartli- 
chen Augen, in den sanften Ziigen des ganzen Antlizzes. Es 
giebt gewisse Zeiten, wo die Sele sichtbar wird, wo sie ihre 



TAGBUCH METNER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 217 

Gestalt entschleiert, und ihre Larve ablegt: unter diese Zeiten 
gehort gewis der Augenblik des Dankes. Da nur kan man sehen, 
ob einer eine Sel' hat, ob er eine schone hat, um sie one die 
Maske der Schmeichelei zeigen zu diirfen. - Gewissen Menschen 
dankt man nicht gern; von dem, der uns Boses erwarten lies, 
empfangen wir ser ungern das Gute; eben so wenig vom Hoch- 
mutigen: man fiilt sich zu tief erniedrigt, wenn der andre unser 
Elend zu einer Staffel gebraucht, worauf er zu hoherer Ere stei- 
gen kan, man findet es unertraglich, zugleich Gut' und Bosartig- 
10 keit in der Handlung zu erkennen, und durch unsre Pflicht der 
Dankbarkeit dem Laster des Hochmuts noch Narung verschaf- 
fen zu miissen. Und endlich, - o Got! wenn ich alles dulden 
soke, nur dies nicht - dem dummen und zugleich bosen Men- 
schen zu danken, der durch einen Zufal auf unsre Erkentlichkeit 
Anspruch machen kan. O! wer eine hohe Sele hat, wer ein scho- 
nes Herz in sich fiilt, oder einen scharfsinnigen Verstand bei 
sichbemerkt, o! der lasse sich lieber vom Sturz seines vormali- 
gen Glukkes zcrtriimmern, als einem elcnden Bosewicht oder 
Dumkopf 



20 Am Donnerstag den 23 August. 

Es giebt Menschen, die ihre Feler nicht anders, als mit ihren 
eignen Augen sehen wollen. Bei diesen mus man sich hiiten, 
ihnen ihre Torheiten zu entdekken, denn dies ist gerade das 
Mittel, sie in dieselben verliebt und anhanglich zu machen - 
man mus aber suchen, ihre Augen zu verbessern, dafi sie sie 
selbst sehen, man mus selbst solche Torheiten begehen, um sie 
ihnen auffallend zu machen, und sie zu gewonen, sich selbst 
in uns zu tadeln. So sind am meisten die Konige. Darum haben 
viele kluge Manner ihre gute Absicht nicht erreicht, weil sie 
30 dieses Mittel nicht gebraucht haben; was noch mer ist, sie haben 
gerade dadurch ihrcm Endzwek entgegengearbeitet. Mancher 



21 8 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG 

begeht einen getadelten Feler desto ofter, um dadurch unsern 
Tadcl zu widerlegen und zu beweisen, daft er sich nicht geirt 
habe. - Es ist (iberdas nichts unbesonnener, als einen bestrafen 
in dem Augenblik da er kaum die Torheit begangen hat. Das 
heist nicht sein Urteil verbessern, das heist ihm Gelegenheit 
geben, es zu verteidigen, es fester einzupragen, es durch Schein- 
griinde gegen die Anfalle der aufwachenden Vernunft zu si- 
chern. Hat man wol so wenig Menschenkentnis, daft man 
glaubt, ein Mensch werd' eine Torheit begehen, die er als Tor- 
heit erkent? Ist nicht iede Tat in dem Aug' ihres Urhebers gut? 
Und mus man nicht eher die Zeit erwarten, wo andre Umstande . 
ihm eine andre Lage, ein andres Urteil gegeben haben, wo er 
genotigt ist, bei sich selbst den Widerspruch seiner Handlungen 
zu fulen? - Ich wiiste kein besseres Mittel, einen Hochmiitigen 
zu alien Arten von Lastern anzugewonen, als ihn augenbliklich 
nach ieder Unschiklichkeit zu bestrafen. Er wird gewis nie eine 
Torheit ablegen, weil er zu stolz zu dem Bekentnis des Irtums 
ist. Er bessert sich nur da, wo er glaubt, daB meinem Auge 
die Verschiedenheit seiner Urteile und Handlungen entgangen 
sei. - Und die neuen Ideen eines Schriftstellers widerlegen, 
nachdem er das Buch in der lezten Messe herausgegeben, heist 
die Ursache sein, daB er seinen Irtum nie wiederruft. Aber dis- 
putire mit ihm nach 10 Jaren dariiber; dan wird er selbst . . . 
Gewisse Bestrafungen der Torheit sind nichts anders als Waff en, 
die man ihrem Urheber in die Hand giebt, seine eigne Schwache 
zu verteidigen. - Es sind viele gferade] Narren geworden, weil 
man zu bald die eigne [?] Torheit an ihnen bestrafte; und manche 
zu B6sewicht[ern] ausgeartet, weil man an ihnen nie etwas an- 
ders als ihre Mangel bemerken woke. 



Am Freitag 'den 24 August. 30 

Eine iede unsrer lebhaften Ideen ist das Glas, wodurch wir alle 
andern erblikken. Deswegen nemen unsre Begriffe eine andre 
Farb' an, nach den Augen womit wir sie sehen: oder eigentlich 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 219 

iede lebhafte Ideenreihe, die wir iezt denken, zeigt uns von alien 
andern Ideen nur das anliche, das sie mit einander gemein haben; 
wir sehen dan die alten Begriffe anders, weil wir sie mit andern 
Nebenideen sehen, wir bemerken neue Seiten an ihnen, welche 
uns durch die Lebhaftigkeit der gegenwartigen [?] Ideen, die 
mit gewissen unbedeutenden Seiten im Verhaltnis der Anlich- 
keit, Gleichzeitigkeit u.fs.w.] stehen, sichtbar werden. Unser 
Glaube ist also in einem unhaltbaren Flus; wir denken nie die- 
selbe Idee wieder; alle unsre Begriffe verandern [sich] im Grad 
und in der Art. Wie wir uns selbst sehen, so sehen wir auch 
die aussern Dinge. Kein Ding macht dieselbe Empfindung zu 
verschiednen Zeiten auf uns; weil unsre Empfindung alzeit um- 
geandert [?] ist. Alles ausser uns verandert seine Beschaffenheit, 
seine Gestalt, wie sich in uns die Selenzustande andern. Der 
Trubsinnigeleihtiedem Gegenstand die schwarze Farbe, welche 
in seinem Kopf das Kleid seiner Gedanken [?] ist: in iedem Ver- 
gniigen sieht er das Elend, das es giebt [?], in ieder Freudenblume 
den Wurm, der ihren Keim zernagen wird, und die Wollust 
umschl[eiert] er mit dem Flor der Schwermut. Auf den Gesich- 
tern, die laut[er] Frolichkeit verkiinden, sieht er schon die 
schwellenden [?] Zuge des Grams und des Kummers; und das 
Lacheln des Sauglings erwekt [?] in ihm die Vorstellung [der 
Tranen], die er noch weinen wird. Den Bewonern der Pallaste 
giebt [?] er das Haus, das uns alle verschliest, in dem Sauseln 
des Waldes hort er schon das Rauschen der welken Blatter, und 
er sieht nicht die anmutigen Szenen des Sommers, one an die 
Verwiistungen des Winters zu denken. 
(wird fortgesezt.) 



Am Sonnabend den 25 August. 

Lett re. 
Vous ne tendes qu'a la gloire; vos actions ne se rapportent qu'a 
la louange, que vous en regeves; vos vertus ont une grande appa- 
rence, pour etre vues et applaudies, et vos lumieres memes ser- 



220 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

vent plus a nourrir votre faste, que votre ame. Voila le cote, 
qui vous rend et louable et coupable, selon les positions, dans 
lesquelles vous vous trouves, selon les homines, qui presentent 
vos juges. Vous pouves devenir tout, un fripon et un honnete 
homme, un sage et un sot, si vous en croies avoir quelque 
louange. Ainsi tout ce que vous etes, n'est pas votre ouvrage, 
mais celui des autres, pour lesquels vous 1'etes devenu. Entendes 
done la voix d'un ami, qui ne cherche d'eteindre vos desirs les 
plus vifs, mais de les bonier utilement. La gloire ne doit pas 
etre le fin, auquel se rapportent vos actions; mais elle doit devenir 10 
un motif nouvel, pour aimer la vertu et la sagesse. Adores la 
vertu sans en faire de bruit; seches les larmes du malheureux 
sous le'nom d'autrui, et oublies vous meme en faisant le bien; 
done vous deviendres louable et fameux, sans avoir cherche de 
1'etre. Votre gloire ne depend seulement du jugement des hom- 
ines, qui se trompent si souvent; elle depend du jugement de 
celui, qui ne s'est jamais trompe, qui voit tout, et n'oublie rien 
de recompenses Et enfin qu'est ce que la gloire? Une chose, 
qui n'existe que dans le bouche d'autrui, qu'on n'achete qu'aux 
depens de son repos, de sa fortune, et dont les fruits ne recom- 20 
pensent la peine, qu'on a met de I'acquerir. - Outre cela vous 
cherches votre immortalite dans le present - e'est le moyen, 
d'etre oubli a 1'avenir. Presque tous les gran[d]s hommes de 
I'antiquite sont devenus celebres apres leur mort. Leurs contem- 
porains n'ont vu dans eux que les objets de leur envie, ils les 
ont hais, persecutes, tues; mais ce fut le moyen de les illustrer. 
La posterite a supple la gloire apres leur mort, que les contempo- 
rains ont refusee; la haine de leur nation a double leur grandeur 
et ils sont devenus plus fameux, parcequ'ils ont ete plus envies. 
L'envie croit deminuer le merit; elle se trompe, elle l'annonce, 30 
elle Taggrandit, elle le rend immortelle. II faut des esclaves pour 
triompher; il faut des envieux pour devenir grand. - Qui est 
bientot loue, n'est pas long terns loue. Toujours on prefere 
Fhomme mechant, qui s'accommode aux prejuges et aux vices 
des autres, au celui, qui marche son route, sans entendre le bruit 
des mediants, les calomnies des fripons. Mais la posterite a d'au- 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 221 

tres yeuxa voir; elle n'a point deraison demeconnoitrele merite, 
et d'honnorer le vice; elle oubl[i]e le mechant, mais la memoire 
du vertueux fleurit aux coeurs de tous les vertueux, elle ne se 
■ fane jamais, elle repand son ombre agreable jusqu' a l'aeternite 
meme. - Vouloir qu'on soit loue de tous, c'est vouloir qu'on 
plaise aux mediants, c'est aimer le vice. Cesses done d'etre ce 
que vous aves ete. Soies plutot un amant de la vertu, de la verite, 
soies un bienfaiteur de 1'humanite, ajoutes a l'excellence de vos 
talens celle de leur usage; done vous attireres le respect de tout 
10 le monde, et de vous meme. Vous pouves perdre lc premier, 
mais ne pas le dernier, et ce n'est que le dernier, qui procure 
le premier. J'acheve, et vous laisse faire ce que j'ai dit. S'il fau- 
droit encore, que je dirois plus, j'avois vainement dit tout. 

Lessing sagt irgend wo: man redet am meisten von der Tu- 
gend, die man nicht hat. Wie war! Wer predigt mer von der 
christlichen Liebe als der blinde Fanatiker, der ieden anders den- 
kenden verfolgt? wer erhebt mer die unparteiische Gerechtigkeit 
als der bestochene Richter, und wer ist ein eifrigerer Lobredner 
der Demut, als der Hochmutige? - Wir ersezzen das durch 
20 Worte, was wir nicht durch die Tat beweisen korinen, wir wol- 
len, dafi der andre aus unsrer Teorie einen Schlus auf unsre Praxis 
mache. Was man hat, erwant man nicht oft; denn man kan's 
ia sehen. Hingegen da, wo wir befiirchten, daB uns der andre 
eben so gut wie wir selbst kenne, begehen wir den Widerspruch 
zwischen unsrer Zung' und unserm Herzen. - Warum ist wol 
der Man, der ein Greis ist, on* alt zu sein, allemal der galanteste? 
Deswegen weil er seine Manheit, die er einem tierischen Laster 
aufgeopfert hat, durch verliebte Versicherungen ihres Daseins 
ersezzen wil. - 

30 a. Mein Her! Sie hatten besser getan, wenn Sie Ihre Dumheit 
bios gedacht hatten [usw. wie S. 295,25-296,5] 

Man lobt oft andre bios, um selbst gelobt zu werden. Wir 
streichen gewisse Eigenschaften bei ihnen heraus, die wir selbst 



222 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

besizzen - dadurch wird der andre gezwungen, uns einen glei- 
chen Dienst zu erwiedern. 

Nichts macht mer zum Freunde, als gemeinschaftliches Lei- 
den. Das Ungliik erweicht das Herz; last den andern dasselbe 
Ungliik fulen - o dann fliessen ihre Herzen zusammen, wie 
eili Tautropfen in den andern, alles zerschmilzt sich in eine Emp- 
findung. - Die Menschenliebe ist eine Blume, die nur im wei- 
chen und feuchten Erdboden wachst; Tranen sind der Tau, der 
ihren Wachstum befordert. Wer nie iiber sein eigen Elend ge- 
weint hat, wird eben so wenig iiber das des andern weinen; 
wer nie gelitten hat, wird mit dem Leidenden nicht sympatisi- 
ren. - 



Am Sontag den 26 August. 

Es ist bekant, daB die Handlungen des Menschen so oft wider- 
sprechend sind; aber es ist vielleicht weniger bekant, daB seine 
Meinungen es eben so oft sind. Der nur leugnet [es], der bios 
nach seinem System denkt; und d. h. mit andern Worten, der 
gar nicht denkt. Es giebt Menschen, die an ieder Sache nur das 
aufsuchen, was siefahig macht, in ihrem System einen gewissen 
Plaz einzunemen. Sie haben fur nichts einen Sin, was nicht in 
einen Paragraphen gehort; sie empfinden nie die ware Wirkung 
der Dinge auf sie, weil sie allemal daran formen, um sie ihrem 
System anzupassen. Diese widersprechen sich nicht oft, weil 
sie nicht selbst denken. Hingegen der, der alle Ding' in einem 
lebhaften Lichte sieht, der ihre Verhaltnisse also mit grosserer 
Deutlichkeit bemerkt, und der nie daran denkt, wie die Dinge 
sein sollen, sondern nur achthat, was [sie] sind, dieser ist oft 
der Gefar ausgesezt, in Widerspruche zu fallen. Er beurteilt alzeit 
die Dinge nach den Lagen, in welchen er sie sieht; er sieht sie 
also lebhaft. Dies bewegtihn, dem Sazze, den er von . . . abstra- 
hirt, eine grossere Ausdenung zu geben, und die Seite, die iezt 
so glanzend in sein Auge fait, verhindert ihn, eine andre als 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 223 

moglich zu denken oder sie zu mutmassen. Allein last eben die- 
sen Menschen in entgegengesezte Umstande kommen, so wird 
er ein Urteil nach seiner gegenwartigen Lage fallen, er wird 
die andre Seite des Dings lebhaft sehen - und diese beiden Resul- 
tate der Urteile von diesen Dingen werden ein Widerspruch 
werden. Das bemerkt man an alien Schriftstellern, die nicht Sy- 
stematiker sind; an solchen die mer den Eindrukken ihres Her- 
zens folgen, wie Rousseau pp., und an wizzigen, die allemal 
die verborgenste Seite der Dinge aufsuchen. - 

10 Derienige Mensch begeht nicht die meisten Torheiten, der 
wenig Verstand, und wenig Empfindung hat. Denn das sind 
gerade die Gaben, welche ihn unfahig machen, einen andern 
als den betretnen Weg zu gehen. Aber der, dessen Bewegungen 
des Herzens die Starke seiner Ideen iiberwaltigen, ist oft der 
Gefar ausgesezt, dem andern nicht klug zu scheinen. Jede starke 
Leidenschaft treibt zu etwas ungewonlichem; felt nun der Ver- 
stand demienigen, der sie hat, so wird dieses Ungewonliche 

toricht sein 

Uberhaupt halten wir vicle Handlungen fur Torheiten, weil sie 

20 ungewonlich sind. Mancher Tor wiirdc den JSFamen eines Wei- 
sen erhalten, wenn er merfere] hatte, die ihm gleich waren, und 
wenn er Schwache genug hatte, seine eignen Torheiten gegen 
die kanonisirten [?] Torheiten der andern zu verwechseln. 

Niemand flilt mer die Beschwerlichkeit, dum zu sein, als der 
Selbstdenker. Nur er ist der Qual ausgesezt, seine Schwachen 
zu kennen, und ihre Wirkung durch das Bewustsein seines . . . 
vermert zu empfinden. Kein Dumkopf hat ie gesagt: Es giebt 
Zeiten, wo ich schlecht denke. Allein kein Weiser hat ie gelebt, 
one das Gestandnis zu tun: »oft bin ich ganz unfahig, zu denken; 
30 oft sind alle meine Krafte abgespant, alle Bilder erscheinen der 
Sele im Dunkeln p.« Also kent niemand das Obel der Dum- 
heit besser als der Weise; und sicher kan man sagen, daB 
ieder, der's nicht kent, noch nicht davon befreiet ist. Man mus 
gut gedacht haben, um zu fiilen, daB man iezt schlechter denke, 



224 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

und man mus zu gewissen Zeiten eine ser betrachtliche Hoh' 
erstiegen haben, urn zu andern Zeiten zu wissen, daB die iezzige 
nicht dieselbe ist. 

Am Dienstag den 28 August. 

Der abstrakte Denker, als solcher, ist am wenigsten geschikt, 
andre Menschen zu beobachten; obgleich er am meisten geschikt 
ist, sich selbst zu beobachten. Wer sich immer mer mit seinen 
Ideen beschaftigt, als sich seinen Empfindungen iiberlast, mer 
an ieder Sache, daB ich mich so ausdriikke, das geistige sieht, 
und immer den Eindruk der aussern Dinge durch die Ideen 10 
schwacht, die er sich davon abzieht, dieser wird unrichtig, 
schwach empfinden, und also auch so beobachten. Daher die 
Zerstreuung bei grossen Geistern, welche nichts anders ist als 
Beschaftigung mit andern Ideen, als es iezt das Verhaltnis der 
Zeit, des Orts pp. erforderte. »Aber dennoch haben eben solche 
Manner Selenfleren] geschrieben, die doch nichts als Resultate 
von Beobachtungen iiber andre sind?« Man irt sich. Diese Beob- 
achtungen haben sie nicht an andern gemacht; sie haben von 
sich selbst abstrahirt. Ihre Psychologie ist nichts als die Ge- 
schicht' ihrer eignen Sele, und iede Beobachtung, die sie an an- 20 
dern machen, miissen sie schon bei sich gemacht haben - sie 
miissen wenigstens die Moglichkeit ihres Daseins schon aus sich 
selbst kennen. Sie taugen gut die Ursachen von einem Dinge 
zu ergriinden, aber nicht die Beschaffenheit des Dinges selbst 
zu entdekken. Hingegen ganz verschieden von diesen sind dieie- 
nigen, die mit einem Blik eine unendliche Menge von Gegen- 
standeniibersehen, ihre Beschaffenheit bemerken, ihre kleinsten 
Abanderungen entdekken p. Ihre ganze Sele schwebt um die 
Gegenstande, welche sie umgeben, alle Ideen, die sie hat, wei- 
chen zuriik, um die Empfindung nicht zu verfalschen, oder sie 30 
dienen der gegenwartigen . . . zu Narung. Sie haben ihren Blik 
nicht gewont, die kleinsten Teile der Dinge zu betrachten; des- 
wegen sind siedesto fahiger, viel auf einmal zu iibersehen. Diese 
wissen besser die Dinge zu sehen; iene besser sie zu denken 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 225 

- diese schaffen die Baumaterialien her, iene machen daraus das 
Haus - diese sehen gut in d[er] Feme, iene in d[er] Nahe, 
iene . . ., diese mikroskopisch. Diese beschaftigen sich mer mit 
der Welt ausser ihnen, iene sind bekanter mit der Welt in ihnen; 
diese schauen immer was fremdes an, iene alzeit ein Bild ihrer 
Ideen; diese wissen vie! von den Dingen zu erzalen, und wenig 
zu rasonniren, iene sagen ser wenig von ihnen, um mer von 
ihnen zu denken. Diese irren selten, allein sie entdekken auch 
nicht viel; iene irren ser oft, ser gefarlich, aber die Lander, die 

10 sie entdekken, belonen [?] auch reichlich die Gefar, der man 
sich ausgesezt hat. 

Warum wil uns doch ieder Lerer der Philosophic das System 
aufdringen, welches er fur's ware halt; warum wil ieder Profes- 
sor aus seinen Schulern Anhanger der Sekte machen, welche 
ihm die beste scheint? - DaB doch ieder Mensch der Despot 
iiber unsre Sele sein wil, der er iiber den Korper werden wil. 
Jeder verfelt seines Zweks, der uns denken wil leren, indem 
er uns an sein System ankettet - das heist nicht unsern Verstand, 
sondern unser Gedachtnis (iben. Werd' ich dadurch kliiger, daft 
20 ich weis was ein andrer gesagt hat, wenn diesjer] mir die 
Gele[genheit] abschneidet, zu wissen, was andre [?] gesagt ha- 
ben, wenn er mir verbietet, einen andern Weg in meinem Den- 
ken zu gehen, als den, den er in meinem Gedachtnis bepflasterte? 
Man soke uns nicht Philosophie, sondern philosophiren leren 

- uns nicht gewonen Warheiten anzuschauen [?], sondern sie 
zu erfinden, man soke iiberhaupt mer die Geschichte der Philo- 
sophie als sie selbst vortragen. Nichts ist notiger als Selbstden- 
ken, nichts ist schazbarer, und vielleicht auch nicht[s] schw[erer] 
zu erwerben. Der Mensch ist geboren Liigen zu sagen und zu 

30 glauben; er ist geboren, sich den Wellen der Mode und des 
Schiksals zu iiberlassen, eh' er sein eig[nes] Ruder ergreift, kurz 
wir sind ewig Kinder, ewig Schiiler. Es kostet Miihe, diese ge- 
wonliche Tragheit, diese Selbstverlaugnung [?], diesen Despo- 
tism iiber andre zu liberwinden. Man erschwert diese Arbeit 
doppelt, weil man diese Tragheit nicht nur nicht unterdriikt, 



226 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

sondern sie noch verstarkt. In unsrer Jugend sollen wir die Be- 
haltnisse des Aberglaubens, der Luge werden, womit ein Ge- 
schlecht das andere beschenkt; man banet in der Sele die Irwege 
zu tief, als daB sie einmal, wenn sie starker geworden, nur die 
Moglichkeit eines andern Wegs mutmassen, noch weniger den 
Mut, einen andern zu betreten, . . . konte, man macht aus uns 
Maschinen. Der Teologe macht den Anfang, der Philosoph 
sezt's fort, und unsre eigne Tragheit 

Ich fiile meinen Geist urn nichts starker, wenn ich den andern 10 
sein System vortragen hore; aber dan f[iile] ich [ihn], wenn ich's 
beurteile, wenn ich mir selbst eins mache. Das Systemmachen 
ist dem Menschen angeboren; aber wir solten nur [?] ieden sein 
eignes machen lassen, und ihm nicht uns[ers] anpeinigen; wir 
solten iedem seine eigne Art zu sehen lassen, weil er andere 
Augen hat, und ihm nicht eine Brill' aufsezzen, durch die er 
wie wir sieht. Unter den Geistlichen ist's eingefurt, einerlei zu 
denken, und alien Ideen dasselbe Kleid zu geben, das der ganze 
Orden tragt, das schwarze. Der Philosoph ist eben so. Er hat 
den Banstral nicht; allein er kan uns mit [?] dem Namen der 20 
Dumkopfe, der Fr. [?] brandmarken, wenn wir nicht seinen 
Weg gehen; er spricht iedem die Vernunft ab, der nicht seine 
hat, und halt ieden fur einen Abgot[ter], der nicht seinen Jupiter 
anbetet. Der Jurist kan nicht selbst denken, weil er sich nach 
d[en] Vorschrift[en] dferer] richten mus, diezueiner Zeit lebten, 
wo man Denken fur - Todsiinde hielt. Also [?] auch hier Des- 
potism]. Und der Arzt? der denkt - iiberhaupt [?] gar nicht. 
Er hat wenig Nuzzen davon, und aus seiner Kunst selbst hat 
er eingesehen [!] gelernt, daB das Denken dem Korper und oft 
dem Gliik schade. Bei diesem ist der Desp[otism] der Rezepte, 30 
. . . Also seid ihr dazu gemacht ihr Menschen euch fiiren zu 
lassen, und entweder selbst die andern im Sumpf zu fiiren, oder 
ihnen darein [?] zu folgen. 

Gewisse erhabne Gedanken von grossen Geistern sind bios 
nur erfunden, um wieder von grossen Geistern geglaubt und 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. I jS I 227 

gesagt zu werden. Eine erhabne Warheit im Munde des kleinen 
Geists, das heisset den Harnisch Sauls cinem David anziehen; 
sic wird lacherlich, wenn sie sie sagen, und die Warheit selbst 
verliert etwas von ihrer Grosse, wenn sie im Insektenkopf ge- 
wisser Menschen sich mus einkerkern lassen. Mer Er' ist's fur 
solche Warheiten, wenn sie von solchen Geistern angegriffen 
und gelaugnet werden. Es ist rumlicher, manche Menschen zu 
Feinden zu haben, als ihr Freund zu sein. Die Geselschaft, mit ' 
der wir umgehen, verkund[igt] von weit[em] unsere eigne Be- 

io schaffenheit. Eine grosse Warheit in Geselschaft der kleinen 
niedrigen Gedanken verliert ihre Erhabenheit; sie nimt die Farbe 
von denen an, mit denen sie gedacht wurde, und wird entert 
durch das Lob, das ihr ein Unmundiger bringt. Aus dieser Ursa- 
che kan man es in unsern Tagen vielen [?] vergeben, wenn sie 
[?] Leibnizzens Monadenler' ungereimt und lacherlich finden. 
Wenn ie ein Sterblicher den Schleier, der die Natur der Dinge 
dem Auge verhult, weit aufdekte, wenn ie ein Erdcnson die 
Granzen iiberflog, die ihm die Menschheit [?] sezte, und eines 
Sterblichen Auge ie den brennenden Sonnenstral der Warheit 

20 mit mer Stark' hat ertragen konnen, o! gewis so war es Leibniz! 
All' seine Entdekkungen machen ihn fur diese Menschheit [?] 
unsterblich; aber seine M[onadologie] macht ihn mer als uner- 
sterblich; sie giebt ihm einen Rum, der auf unsern Lippen zu 
wenig sich ausdriikken last, sie macht ihn nicht zum grossen 
Menschen, sie macht ihn zu mer, zum Engel. Aber auch nur 
Leibniz dachte diese Warheit - tausende sagen sie iezt nur, und 
die hadern [?], wenn sie sie [nicht] g[ar] verspotten. Wenn ich 
einen Schulpedanten das System dieses Mannes vortragen hore, 
so find' ich es lacherlich, weil diese Warheiten mit den kleinen 

30 Ideen des Lerers einen sonderbaren Kontrast machen, weil ich 
da den von Farben schfwazzen] hore, der nie gesehen hat, und 
der bios ein par Benennungen [?] von Farben vorbringt, die 
der Sehjende] ihm hat horen lassen. Solche Leute solten erwar- 
ten, bis sie mer Fruchtbarkeit bekamen, urn die Friichte eines 
solchen Mannes in ihren diirren Kopfen zu naren - sie solten 
den Tod erwarten, der sie diesem Manne zufiirte - gewis als 



228 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Unsterblicher wiirde der Man noch Lerer der Dinge ihnen sein 
konnen, die sie sch[on] selbst and [ere] leren woken. Verziehen 
[?] [sei] es also, gewisse Geister dieses Jarhunderts, wenn ihr 
diesen Man mit seinem System dem Lacheln des Spottes und 
des Kurzsins Preis gebt. Warlich war' er da, er wiirde euch audi 
verzeihen; er wiirde vielleicht sein System nicht gesagt [?] haben, 
wenn er nicht eine bessere Nachwelt erwartet hatte. - Gewis, 
wenn dieses System nicht war ist; so kenn' ich keinen schonern, 
keinen erhabnern Irtum - so kenn* ich keine Warheit, die so 
schon glanzte, wie diese Luge, die so natiirlich sich durch ihre 10 
Einfalt empfale, wie dieser Unsin. Leibniz! Leibniz! du wirst 
unter den Engeln mer Bewunderer gefunden haben, als unter 
deinenMitbrudern, und wirst Lobeserhebungen der Sterblichen 
nicht eher einernden konnen, als bis sie unsterblich sind. - 

Bild eines Tugendhaften - und Gluklichen 
Sein Leben wallete so sanft iiber die hok[rig]ten Wege der Men- 
schen, wie der Zephyr iiber die lieblichen Wiesengefilde. Oft 
verlezten Ddrnen seine Hand, aber bios um die Rose zu brechen, 
auf denen [?] sie gepfl[anzt] war. Er umkranzte mit den Blumen 
der Freude sein graues Haupt, und wankte zum Grabe mit der 20 
Krone siis [?] durchl[ebter] Jugend. Endlich brach die Damme- 
rung des schonen Tags an, und er verhauchte den begliikten 
Geist in ienes Leben, und verschied unbemerkt [?], wie der 
klfagende] Ton des Klaviers in d[er] Luft verfliest. - 

Gewisse Leiden, die auf Vergniigen folgen, sind notwendig, 
um uns vor den schadlichen Folgen der alzugrossen [?] Freude 
zu sichern. Auf heitere Tag* unsers Lebens folgen schw[ere] 
Gewitter; allein was tutY Der Donner sol nur die schfadlichen] 
Diinste zerstreuen, welche der Sonnenstral aufgezogen hat, er 
sol die Liifte reinigen, und der Vorbote des schonen Morgens 30 
[sein], der auf diese Nacht folgt. Eben so mussen auch Leiden 
die Ubel wegs[chaffen], welche uns der Genus der Freude er- 
wekt, sie mussen unsre Sele reinigen, und die Ankiindigung 
der neuen Freuden sein; welche uns erwarten. Ach! nach Leiden 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 229 

ist's schon sich freuen; und bei der Trauer Freudentranen - o! 
ist's nicht ein schoner Regenbogen? - 

Viele leben so elend, weil sie nicht wissen, daB Erdenleben 
und Himmelsleben einerlei ist, und viele machen sich ungliik- 
lich, weil sie den Himmel auf der Erde von dem im andern 
Leben unterschieden halten. 

Brief an einen Freund iiber die Liebe! 
Ich schreibe dir Dinge, mein Lieber, die du iezt fur dum, und 
fur unwar halten wirst. Das wil ich auch haben; aber ich wil 

10 zum voraus sagen, daB du eben diese Sachelgen nach kurzer 
Zeit fur eben so war halten wirst. Ich wil dir von der Liebe 
schreiben; du fulst sie; ich denke sie - aber man mus sie vorher 
gefiilt [haben], um iiber sie denken zu konnen. Sie ist eine der 
liebenswiirdigsten, angenemsten, unwiderstehlichsten Leiden- 
schaften. Wenn wir lieben, so ersch einen wir uns selbst in En- 
gelsgestalt, und unsre Liebe gegen uns selbst wachst mit der 
Liebe gegen unsre Geliebte - wenn wir lieben, so glauben wir 
[uns] in dem Besiz aller Tugenden, und keine schwarze 
Reg[ung] des Lasters bewegt mer die liebenden Herzen - die 

20 Liebe reist uns hin mit unsichtbarer Gewalt, sie bindet uns mit 
Rosenfesseln, die wir gern tragen, weil sie angenem sind - die 
Liebe entflamt uns zu allem, sie dreht unser weiches Herz wie 
Wachs in den Handen herum, die Liebe macht den Klugen zum 
Narren, und giebt Dummen Verstand. Von all[em] die[sem] 
wil [ich] iezt mer sagen. 

Einen andern lieben, und sich nicht lieben, oder fur liebens- 
wiirdig halten, ist ein Widerspruch. [Der] Liebende schwebt 
iiber alle Menschen hinweg, er-sieht sie alle von weit[em], alle 
im Tal, er und seine Geliebte stehen auf dem Berge und atmen 

30 Ater. Die Volkommenheiten, die wir am geliebten Gegenstand 
bemerkten, eignen wir uns mit zu, und die Vereinigung der 
Herzen vereinigt ihre Tugenden, eins fliest in das andre iiber, 
und wir schmiikken uns mit des andern Volkommenheit, wie 
mit einer Beute. Sie macht uns auch andre angenemer. Wir lie- 



230 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

ben in iedem Menschen unsre Geliebte; unser Herz ist zu vol; 
deswegen sinnen wir nicht auf die Ranke des feinen Betriigers 
- iedes Menschengesicht erregt in [uns] die Ziige unsres Gegen- 
standes, in ieder Handlung d[es] andern mutmassen wir nichts 
boses; deswegen ist niemand leichter zu betriigen als ein Lieben- 
der. Er hat fur nichts mer Sin auf der Welt als fur Liebe - er 
sieht alles schief, was nicht seiner Geliebten Bild ist, und ist 
nirgend zu Hause, ausser wo sein Engel ist. Jeder Liebende mus 
dem Kalten lacherlich vorkommen; aber er wird ihm nicht bos 
vorkommen. Wen die Liebe nicht gut macht, der ist ser verdor- 10 
ben. Der Morder wird mit mer Riirung auf den Raub ausgehen; 
er wird in iedem Menschen einen Verwandten seiner Geliebte 
berauben - Der Neidische wird iiber das Gluk, das er iezt fiilt, 
vergessen, andfrer] Gliik zu beneiden; der Todfeind wird die 
Flam men der Lieb\und des H asses nicht zugleich in sich konnen 
brennen lassen, und sein Herz wird zu weich werden, um gegen 
den andern . . .; der Stolze wird den Schein des Gluks verwi- 
schen, da er iezt es selbst geniest, er wird sich nicht iiber die 
Menschen mer erheben, weilihn ieder [?] Menschnaher anzieht, 
er wird Rum und Glanz veracrjten, und seine Unsterblichkeit 20 
[?] an dem Busen seiner Minne suchen. Kurz alle Lasterhafte 
verbessert die Liebe; sie giebt wenigstens ihrem Laster eine er- 
tragliche Farbe, und verwandelt teuflische Verbrechen in 
menschliche Siinden. Die Starke, die sie dem Laster nimt, giebt 
sie der Tugend. Wenn der Tugendhafte liebet, so wird er nicht 
boser, er wird reiner, starker, frommer. Seine kalten Tugenden 
werden mit mer Warme belebt, seine Taten nemen iezt mer 
ihren Ursprung aus seinem Herzen, als aus seinem Kopfe, und 
er fiilt iezt das Gluk feurig [?], d[a] er vorher nur davon iiber- 
zeugt [?] war. Jede Uberwindung scheint ihm leicht, er fiilt sich 30 
Held in der Tugend. Ferner die Gewalt der Liebe iiber unser 
Herz ist hinreissend. Wir konnen H[er] fast iiber alle Leiden- 
schaften werden; aber iiber die [Liebe] konnen wir's nicht, bis 
uns das Alter dazu d[en] Schild giebt, die Pfeile derselben abzu- 
treiben. Und angenem? O ich sol das Angeneme der Liebe schil- 
dern: nein dies wiirde mich dem Vorwurf aussezzen, sie nicht 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ' AUG. 1781 23 I 

gefult zu haben. Alles wiirde zu kalt, man kan das Feuer dem 
Papier nicht einhauchen, das in dem Herzen lodert, und das 
nicht schildern [?], wozu die Zunge felt. Die siissen Entziikkun- 
gen der Liebe sind zu heftig, zu iibergros, um mit Bedacht [?] 
und lange genossen zu werden. Sie verfliegen wie Feuer [?], 
im Augenblik; aber sie Iassen holde [?] Erinnerungen nach sich. 
Wir sind uns unsferer] nur vor und nach ihrem Genus bewust; 
unter demselben [?] wird unser Geist zu ser hingerissen - er 
weis nichts von sich; aber herlich [?] sind die Stunden sie [zu] 

10 uberdenken, sie zu hoffen, und sich ihrer zu erinnern. - Aber 
viel von dies[em] last sich sagen, wenn man . . . Die Lieb' ist 
eineTorheit, sie verleitet w[enigstens]zuvielen, undes ist keine, 
die sie uns nicht begehen konte Iassen. Wer liebt, der hat nur 
cine Person in der Welt vor Augen; auf [?] alle andern achtet 
er nicht; er handelt ungewonlich, oft toricht. Gewis es hat noch 
keinergeliebt, one sich darnach[?] zu erinnern, dafi erTorheiten 
begangen hat. Aber sie sind so siis, und selbst das Andenken 
an sie schmerzt mer durch das Gefiil, sie nicht mer begehen 
zu diirfen, als sie begangen zu haben. Wir Menschen sind ia 

20 onehin nur geschaffen fur Torheiten - den meisten Teil unsrer 
Freuden haben wir unsern Verirrungen, unsern Torheiten zu 
danken. Und wer nie ein Tor sein wil, wil kein Mensch sein; 
oder noch besser, wil der allergroste Tor sein. Unser Kliiger- 
werden besteht nur in Verwechsjeln] unsrer Torheiten, wir hal- 
ten nur immer den geg[enwartigen] Augenblik fiir klug, und 
manche Beschaftigung des ernsthaften Mannes wiirde uns eben 
so viel Narheit zu sein diinken, wenn wir langer lebten, um 
sie mit andern zu vertauschen. Wir sehen meistens nur unsre 
Torheit in der Feme. Ihre Nahe verwirt unser Auge, wir driik- 

30 ken lieber die Augen ganz zu, weil ihr Stral wegen seiner Nahe 
alzuser blendet. - Darum Freund freue dich, so lange du noch 
gluklich genug bist, die ware Beschaffenheit deiner Freuden 
nicht zu kennen. Befreie dich nicht von einem Irtum, der so 
angenem begliikt; und flieh' eine Warheit, deren Entdekkung 
nur Verlust eines Guts sein wiirde. Aber halt' auch diesen Zu- 
stand nicht fiir ewig, und die nicht fiir Narren, die solche Narren 



232 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

vor langer Zeit schon waren. Ach! dies gotliche Feuer verlischt, 
wie Rote auf den Wangen, die Liebe wird alt wie der Korper, 
grau wie das Haupt - und das Herz, das in dir mat schlagt, 
wird eben so mat [?] fur deine Geliebte schlagen, deine Neigun- 
gen werden die Kalte annemen, die dein Blut iibereist, und alle 
Menschen werden dir haslicher scheinen, indem dein Gesicht 
Runzeln bekomt, und du wirst mit dem kleinsten Funken Liebe 
noch dein eigen Ich erwarmen, bis die kalte Erd' auch den aus- 
loscht, und lieben und geliebt werden von dem Sarg verschlos- 
sen wird, der unsre Gegenjwart] den Augen der Mitmenschen 10 
entreist. Denke oft daran, wenn du liebst, daB du einmal aufho- 
ren wirst zu lieben; da wird deine Liebe eifrig, ia sie wird heilig 
sein. Tranen werden ihr Feuer in sanfte Warme verwandeln, 
siisse Schwermut ihre Entziikkungen umschleiern, und deine 
Lieb' auf der Erde wird durch den Gedanken [?] des Grabs gelau- 
tert werden, einmal Lieb' in dem Himmel zu werden. 1st auf 
Erden die Liebe so schon; wie wird sie im Himmel sein? - Lebe 
wol! - 

Hinweg ihr Sorgen; euch alle begrabt mein Grab; hinweg 
Torheiten, ihr seid nur Narung fur die Menschenraupe, und 20 
hinweg ihr Laster, wenn das Grab den Schmetterling entwik- 
kelt, ach! dan dan kriechen wir nicht mer. Fromme, heilige Tu- 
gend begeistere du meine Brust, one dich verweset sie schand- 
lich, iedes Adergen [?] gliihe so lange der Gotheit [?], so lang' 
es der Wurm nicht zernagt, und du o! Sele, o Geist hoherer 
Abkunft sei deines Ursprungs, sei deines Erbes [?], sei des Grabs, 
sei des Himmels eingedenk! O! dann sterb' ich so sanft, veratme 
den Geist in's Elysium, vermodre die Flekken im Grabe, steh' 
auf in reinem Engelsein [?], und eil' in die Himmel, danke dem 
Schopfer, liebe Jesum, leb ewig, lebe begliikt, steige von Him- 30 
mel zu Himmel, von Sonne zu Sonne, von Sphare zu Sphare, 
vom Menschen zum Engel, zum Seraph, ach! gar zu allem. - 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 I 233 



Auf das Septembermonat. 1781 
Leipzig 



Am Sonabend den i September. 

Es hat noch kein Weiser gelebt, der nicht in irgend einer Sache 
von einem Dumkopf war' iibertroffen worden. - 

DerTermometer unsrer Begierden ist im Blut, »der Barome- 
ter unsrer Denkungsart im Unterleibe«, der Zeiger 6b unser 
Verstand richtig geht, ist [?] im Gehirn, und das Register unsrer 
Tugenden und Laster auf dem Gesichte. Vielleicht wiirden wir 
io unsre Sele besser kennen, wenn wir unsern Korper besser ken- 
ten, und unsre Psychologie wiirde Zuwachs erhalten, wenn der 
Philosoph und der Arzt bessere Freunde miteinander wiir- 
den. - 

Wer eine schlechte Physiognomie hat, ist durch sein ganzes 
Lebenhindurchauf den Pranger gestelt; ieder liest das Verzeich- 
nis seiner Feler auf seinem Gesichte; er wird unaufhorlich fur 
einen Bosewicht erklart; man sieht seine bosen Handlungen, 
eh' er sie tut, man liest seine Gedanken, eh' er sie ausfiirt. - 

Alle Miihseligkeiten dieses Lebens sind noch ertraglich; nur 
20 die nicht, lasterhaft gewesen zu sein. Jedes Ubel schmerzt, aber 
das Ubel, das vom Laster herkomt, schmerzt nicht bios, es pei- 
nigt, es brent, es nagt. All' andre Leiden gehen eigentlich nur 
unsre Wonung an, sie nahern sich uns nur von weitem, erregen 
nur Schmerz auf der Oberflache der Sele, und verlieren sich 
in kurzer Zeit mit der Ursache, die sie hervorgebracht hat. Allein 
so ganz anders sind die Qualen, womit das Laster seine Diener 
staupt. Sie sind nicht um unser Wesen herum, sie gliihen im 
Innern des Geistes, sie sind immer unsre Begleiter, wurzeln in 



234 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

unser Wesen ein, und verlassen uns nur dan, wenn wir die alten 
Sunden mit neuen vermeren wollen, und weichen von uns, da- 
mit sie in grosserer Geselschaft wieder zuriikkommen konnen. 
Umsonst sucht er die Pfeile heraus[zu]reissen, womit ihn das 
Laster verwundet; er vermert nur seine Qualen und wiitet gegen 
sein eigen Fleisch. Eigentlich kent nur der Lasterhafte die Ab- 
scheulichkeit des Lasters; der Tugendhafte hat sich bios davon 
(iberzeugt, allein es nicht gefult. Zwar die erste[n] Umar- 
mungfen] desselben sind siisse; allein die Kinder, die daraus ge- 
zeugt werden, sind die Geisseln des Vaters. Es gefalt uns nur 10 
vor der Verbindung mit demselben wie die Braut vor der Hoch- 
zeit; aber wenn wir nach den ersten Berauschungen des Vergnii- 
gens hellere Augen bekommen, dan erblikken wir das Ungeheur 
wie's ist, dan schwilt ieder Reiz zur Haslichkeit auf , und es nimt, 
um das Mas unsers Elends zu verdoppeln, iezt die Maske der 
Abscheulichkeit an, so wie's vorher die Larve der Schonheit 
trug. Got brauchte fur den Lasterhaften keine Holle zu schaffen; 
er schaft sie sich schon selbst; er fult in der andern Welt nur 
die Holle, die er von dieser Erde mitbringt, ihn brent nur das 
Feur, was [?] er hier in seinem Busen narte, und nur die Kinder, 20 
die er mit dem Laster gezeugt hat, sind die.Teufel nach seinem 
Tode. - Was wiird' ihm also ein Himmel anders sein, als der 
Ort, wo man seines Jammers durch den Anblik der Gliiklichen 
[?] noch spottete, wo man durch die Gelegenheiten zu neuen 
Siinden den alten Qualen nur einfen] grosseren Stachel ver- 
schafte, und ihn durch den Anblik der Freuden, deren er unfahig 
ist, den tausendfachen Tod des Tantalus sterben lasset? - Der 
Glanz der Heiligen wurd' ihm leuchten seine eigne Haslichkeit 

zu sehen 

Aber vielleicht sind die Leiden, die man dem Bosewicht an- 30 
dichtet, nurTraum' eines gutherzigen und schwachen Kopf[es]? 
- O nein, diese Tranen kont ihr tagtaglich auf den Gesichtern 
der Elenden lesen, deren Blik das Laster zur Erde geheftet hat, 
deren Herz ode wie eine weite Wiiste, zu ieder Freud' erstorben 
ist, in denen kein Bliimgen der Freude mer Narung findet, weil 
das Laster alle Kraft weggesaugt hat. Las dich vom Morder 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 1 235 

unterrichten, wie er sein Leben verlebt, der in iedem Menschen 
den Henker sieht, welcher seine Taten bestraft, den das Bild 
des Ungliiklichen, den er getodet, bis in die Gemacher der lauten 
Freude begleitet, der auf iedem Gegenstand das Menschenblut 
erblikt, welches er verspriizt, den im Traume der Geist des Ab- 
geschiednen in bleicher Todesgestalt erschrekt und seine Sele 
zum Gerichte des Rachers abfordert, der in sich verschlossen 
alle seine Qualen leidet on' einen Freund, dem er klagen konte, 
on' einen andern Trost, als Hofnung des Todes, der auf der 

10 weiten Welt keinen angenemen Aufenthalt fiir sich sieht, als 
das Grab, welches mit ihm das Andenken seiner Tat bedekt. 
Oder wolt ihr die Pein[en] leugnen, die tief im Mark des Wollii- 
stigen seine Ruhe, sein Blut, seine Gesundheit, sein Gliik wegze- 
ren, das Feur der Reue, welches sein Herz in eine durre Sandwii- 
ste verwandelt, wo iede [?] Freude verwelket, die Traurigkeit, 
die sich in seinem zus[ammen]welk[enden] Gesichte mit tiefen 
Spuren eingrabt, und den schreklichen Kontrast, den das Geful 
der Reue und das Geful der Anreizung [?] zu neuen Sunden, 
in ihm verursachen, und endlich die schrekliche Katastrophe, 

20 wenn unter der halb angef angnen Wollust der Geist *lem Korper 
das Ende [?] des . . . Verbrechens iiberlast und hin in die andre 
Welt mit dem Flekken der lezten Siinde besudelt eilt? — 



Am Montag den 3 September. 

Wir alle betrachten einen Ungliiklichen mit mitleidsvollen 
Augen, wir suchen ihm eine Linderung in seinen Qualen zu 
verschaffen und halten den fiir unmenschlich, der den Elenden 
zum Gegenstand seines Spottes, seines Hasses und wol gar seiner 
Verfolgung macht. Allein, wenn wir gegen [den] so mitleidig 
gesint sind, den das Schiksal elend gemacht hat; warum sind 
30 wir's weniger gegen die, die sich selbst elend gemacht haben? 
Warum versagen wir dem verworfnen Bosewicht unser Bedau- 
ren? Verdient der's etwa nicht, der in seinem Ungliik die Strafe 
seiner Verbrechen sieht, der keinen Trost hat, als den, verzwei- 



236 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG 

feln zu konnen, und der auf einmal von den Qualen in und 
ausser sich bestiirmt wird? - Ich weis nicht, warum ich den 
Morder hassen sol; obwol ich [weis], daB ich seine Tat verab- 
scheuen sol. Der Grund unsers Verhaltens mag wol in unsrer 
Selbstliebe liegen. Wir hassen ihn nicht, weil er bos ist, sondern 
weil wir befiirchten, daS er's gegen uns sein konte. Wir sehen 
uns fur beleidigt an, und werden seine Feinde. Darum hat man 
einen grossern Has gegen einen Morder, als gegen einen Unkeu- 
schen, darum wiinscht ieder Geizhals den Dieb an den Galgen. 
Ich mochte sagen: wer den Rechtschaffenen liebt, ist ser tugend- 10 
haft; allein wer den Bosen liebt, ist noch tugendhafter, und von 
zwei Menschen, da von [der eine] einen Armen, und der andre 
einen Lasterhaften bemitleidet, geb' ich alzeit dem Lezt[ern] den 
Vorzug. Man mus sich schon iiber die Sphare der gewonlichen 
Denkart hinweggeschwungen, man mus schon das ganze Welt- 
geweb' aus einem hohern Standpunkt betrachtet und seinen 
Kopf und sein Herz von den gewonlichen Schiksalen des 
menschlichen Lebens unabhangig gemacht haben, um dasselbe 
Mitleid gegen den Gemordeten und seinen Morder, dicsclbc 
Regung gegen das verfiirte Madgen und ihren Verfiirer fiilen 20 
zu konnen . Vielleicht ist auch des wegen die Tugend dem Feinde 
zu vergeben so schwer und so selten. Wir glauben ihn hassen 
zu diirfen, weil er Iasterhaft ist, und suchen unsre Rache durch 
den Vorwand seines bosen Herzens zu entschuldigen. - 

Die Lei dens chaf ten sind die Winde, die uns durch das weite 
Mer des Lebens treiben; ie starker sie sind, desto geschwinder 
die Fart, desto leichter sind alle Hindernisse iiberwunden, desto 
friiher neue Lander entdekt. Allein sie konnen uns eben so leicht 
gegen Steinklippen treiben, in Mersstrudel stiirzen und der gro- 
sten Verirrung aussezzen. Die Vernunft bios ist unser Steuer- 30 
man; sie kan uns nicht forttreiben, allein sie kan den rechten 
Weg zeigen. Wer one Leidenschaft sein wil, der wil nichts sein; 
diesem ist dan seine Vernunft so wenig niizze als ein Wegweiser 
dem Lamen, der nicht gehen kan. - 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1781 237 

Man ist zu nichts mer geneigt, als die Sele nach dem ausserli- 
chen Ansehen des Korpers zu beurteilen, den Scharfsinnigen 
aus seinen Bewegungen der Hande und Fiisse, aus seinen Kom- 
plimenten und aus seinen kurzen Antworten zu warsagen. Man 
wil die Grosse der Sele aus den Torheiten schliessen, die man 
in ihrem Korper warnimt, und durch das Fenster den Man er- 
kennen, der das Haus bewont. Man hat sich oft und fast alzeit 
betrogen; allein man liebt diesen Betrug mer als eine Warheit, 
die unserer Eigenliebe nicht ser schmeichelt. Ich wil das sagen. 

10 Wir suchen bei iedem grossen Manne mit Sorgfalt einen Feler 
auf , der uns zur Wolke dient, daB uns der Glanz seiner Grosse 
nicht blendet. Wie leicht nun findet man nicht das was man 
suchet, oder vielmer wie leicht beredet man sich nicht, es gefun- 
den zu haben? Der Man erscheint, der uns iiberdunkeln sol, 
der von iedem gelobt wird und von dem wir uns ein glanzendes 
Bild schon von selbst entworfen haben a . Wir beobachten seine 
Miene, sein Betragen, seine Kleidung, kurz alles das, was der 
vernachlassigt, der nicht klein sein wil. Nun ist unsrer Eigen- 
liebe genug getan; wir haben die Seite an ihm gefunden, welche 

20 wir wiinschen, nun ist das Bild von diesem Manne entworfen; 
ein solches namlich, welches notig ist, um von einem kleinen 
Geiste fur noch kleiner gehalten zu werden. - Ja selbst der 
Scharfsichtige, selbst der, der Verdi enste genug hat, um nicht 
Neid zu haben, selbst der Philosoph lasset sich oft verfiiren, 
vom Ausserlichen aufs Innerliche des ungewonlichen Menschen 
zu schliessen. - Es ist eine gewisse Schadloshaltung fiir die klei- 
nen Geister, daB sie die grossen in gewissen Dingen (ibertreffen 
konnen, es ist eine Starkung fiir ihr Auge, daB es nicht vom 

a Obschon die Eigenliebe nicht gern vom andern am grosten denkt, 
30 so bildet sich schon in unsrer Einbildung von iedem berumten Mann' 
ein IdeaLab. Allein wir konnen uns die Grosse eines Mannes lcichter 
auf seinem Korper und seincm Betragen abgedriikt vorstellen, als uns 
seine Geistesfahigkeiten abstrakt denken. Deswegen stelt sich ieder 
kleine Geist vorziiglich seine Grosse in den Dingen vor, die er fiir gros 
halt- d. h. er erwartet das Auszeich[nende] des Genies in Kleinigkeiten. 
Er betrugt sich alzeit, allein er betriigt sich gern. 



238 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

zu hellen Stra] der Sonne blind wird. - Uberdies entdekt nur 
der grosse den grossen Man; und er zeigt seine Schonheit nicht 
dem kalten Eunuchen, sondern dem warmliebenden [Herzen] 
iedes Guten. Man lernt ihn erst geniessen, wenn man ihn lange 
genossen hat, nur erst durch die Warme der Freundschaft reifen 
die Friichte, die so siis zu kosten sind, und die Vortreflichkeit 
des Baums beweisen; ein grosser Man ist am grosten in seiner 
Stube, und noch grosser in sich selbst. Draussen in der Welt 
blendet.er nur, und verschiest feurige Stralen; man mus naher 
bei ihm sein, um Warme von ihm zu empfangen. - 10 

Die Neider sind nichts als die Wolken, die den Wiederschein 
der glanzenden Sonn' auffassen; der Stral pralt von ihnen ab; 
allein man sieht nicht, wo er hergekommen ist. 

Der Man, der auf dem Atna steht [usw. wie S. 278,5-10 
brent.] 

Auch am triiben Tage scheint die Sonne, wir sehen nur ihren 
Stral nicht. Auch in den barbarischen Zeiten glanzte des Genies 
Glanz; allein die Nebel der Dumheit, die Wolken der Intoleranz, 
die aufsteigenden Diinste des Neides verhulten seine Stralen. 
Es gieng wieder unter, one iemand anders als sich geleuchtet 20 
zu haben. - 

So wie's Sonnenfinsternisse giebt, so giebt's Verdunklungen 
des grossen Mannes. Immer trit ein andrer Korper zwischen 
ihn und uns; und wir sind so toricht, diese Verfinsterungen ihm 
selbst zuzuschreiben. Jede Sonne wird so von einem kleinen 
Mond in ihrem Leuchten verhindert. Deswegen sieht der Furst 
die verdienten und grossen Manner nicht, weil ihn immer die 
dunklen Korper der Neidischen umkreisen, und immer fort eine 
Sonnenfinsternis zuwege bringen. - 

Manche Menschen haben ihre Volkommenheiten ihrer Klein- 30 
heit zu danken. Man sieht sie kaum mit blossem Auge; nur 
bios durch ein Vergrosserungsglas - 



TAGBUCH MEIN.ER ARBEITEN * SEPT. 1 78 1 239 

Am Dienstag den 4. September. 

Von dem Frauenzimmer, das sich schminkt, vermut' ich, daB 
es mer als sein Gesicht schminken werde. Wer uns einmal betro- 
genhat, dem trautman weniger. Und wirklich wenn die Wange 
schon liigt, so darf man nicht viel Warheit von der Zung* erwar- 
ten. Beide werden mit dem pralen, was sie nicht haben. — 

Wenn oft die kleinen Dunsen, und die gelbsiichtigen Neider- 
linge einem aufgeklarten Manne nichts tun konnen; so tun sie 
doch dies, daB ihre Menge seine Gegenwart verbirgt. Sie um- 
10 summen ihn, in so grosser Anzal, daB man ihn nicht mer sieht. 

Wir verkiirzen oder verlangern die Zeit nach unserm Gef alien. 
Im Gliikke, in der Liebe, gehen uns re Uren zu geschwinde. 
Hofnung und Furcht lassen sie langsamer gehen, und die Lang- 
weile hindert gar ihren Lauf. Der wer recht viele Langweile 
gehabt hat, wird glauben am langsten gelebt zu haben. Einen 
Dumkopf in eine Einsamkeit verbannen, ware das Mittel, ihn 
in kurzer Zeit glauben zu machen, daB er ein Greis geworden 
sei. Und ein grosser Man hort bei schalen Kopfen nie die Ur 
schlagen; es verfliest ihm keine Zeit, weil er nicht denken kan, 
20 und er wiirde seine Unsterblichkeit verwiinschen, wenn er unter 
diesen ewig leben soke. - LangweiF ist Hunger der Sele, die 
nichts als ekelhafte Gerichte sieht - der Geist ist in einer Wiiste, 
wo er keine Quelle fiir seinen Durst findet - Langweil' ist die 
Auszerung des Menschen. - 



Am Donnerstag den 6 September. 

Die Jugend ist eigentlich die Zeit unsrer Erfarung; das Alter 
die Zeit der Meditazion. Wer dies verandert, wird nie weder 
recht erfaren, noch recht denken; er wird kein Philosoph wer- 
den, weil er ziibald einer sein wolte. Die Jugend ist das Alter 
30 unsrer Leidenschaften, unsrer Verirrungen, unsrer Feler. Hier 



24O JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

lernen wir uns kennen, indem wir Feltritte begehen, wir lernen 
den andern kennen, weil wir die Geselschafter seiner Feler sind. 
In der Ruhe des bedachtigen Alters, in der Merstille aller Leiden- 
schaften, und in der Kalte, die der Winter des Alters gebart, 
konnen wir die verflossenen Tage in Reihen vor uns vorbeige- 
hen lassen, wir konnen die Gestalt ieder Leidenschaft genau be- 
trachten, weil wir sie lange nicht gefult haben, wir konnen den 
Bau unsers ganzen Herzens analysiren, weil es durch seine man- 
nigfaltigen Bewegungen unser Auge nicht mer verwirt, und 
es iezt anatomiren, da es tod fur uns ist. Jeder Man ist fester 10 
in seinen Entschlussen, wekaussehender in seinen Urteilen, be- 
kanter mit sich selbst, wenn er alles dies noch nicht in der Jugend 
war. - 

Was ist das Leben? nichts als eine Reis' um die Welt; erst 
schones Morgenland, dan brennender Mittag, dan kaltender 
Abend, und endlich rauher Nord - Kind, Jiingling, Man, Greis. 
Immer findet man den iezzigen Ort schlechter, als die vorherge- 
henden. O! am schonsten unter alien ist die so froh verlebte 
Kindheit - der Morgensonne Stral, nicht Glut der Linie, warmt 
hier. Man geniest hier die Freude, so lange sie dauert, man ver- 20 
langert sie nicht durch den Nachtisch der Hofnung; allein dafur 
hat man auch die Qualen der Furcht nicht, und ist befreiet vom 
Stachel der felgeschlagnen Hofnung, man fiilt nur den gegen- 
wartigen Schmerz, und verlangert seine Dauer nicht durch 
ein . . . Die Kindheit ist der Frilling des Lebens, der Mai im 
Jar, das Eden in einer wiisten Welt, der Vorschmak des Him- 
mels. O! zu bald verflossene Tage, ach! wie oft saugt der lech- 
zende Geist in der diirren Wiiste des Lebens nur aus euch allein 
noch Narung, euer Schatten wandelt noch um uns herum, wir 
ergozzen uns wenigstens an eurem Bilde, da ihr Iang' uns verlas- 30 
sen habt, und schauen noch einmal senend mit ausgestrekten 
Armen hin in das Land, wovon uns eine ewige Kluft trennet. 
Meine Jugend vermischt sich in alle meine Leiden, sie benimt 
ihnen ihr Schmerzhaftes und umwandelt [?] sie in siisse Melan- 
cholic - 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1 78 I 24I 

Am Sonnabend den 8 September. 

Beim Tod' eines iungen Freundes 
Ach! hin bist du also, Geliebter! Dein iunges Leben so bald ver- 
bliiht, deine Wange schon bleich, dein Herz schon kalt! Da ich 
von dir mich trente, o! dacht' ich, daB ich mich auf immer tren- 
nen wiirde? Leben, Leben was bist du? mer, als ein Traum? 
Die schonen Tage der Jugend verfliessen, die Freunde, die Ge- 
selschaft[er] unsrer ersten Freuden, verschwinden, verstreuen 
sich in die weite Welt, oder modern im Grabe? Sie verlassen 

io uns alle; wir bleiben iibrig, und saugen nur noch an dem Anden- 
ken der vergangnen Freuden. Auch du? du bist hingeschieden, 
hast die Leiden des Lebens gelitten, und den Kampf des Todes 
ausgekampft? - Ach hatte mir irgend ein Geist den Tod leise 
zugelispelt, da ich das leztemal dich sahe, so hatt' ich doch einmal 
deinen Busen an den meinigen gedriikt, noch einmal das warme 
[?] Herz an dem meinigen gliihen lassen, und hatten wilde [?] 
feurige Tranen des Abschieds auf immer deine Wangen benezt! 
- Nun ist's aus, nun schlaft dein Leib im kiilen Grabe, dein 
Herz verweset und kent den Freund nicht mer, der's iezt betrau- 

20 ert, im furchtbar stillen Reich der Toden schlummerst du, iiber 
dir hin eilen die Jare,' es verbliihen die Wangen der iezzigen 
Jiinglinge, die Greise wanken in die Gruft, es veralten die Tor- 
heiten, es dreht sich alles herum, und larmt ausser dir - nur 
in deinem Grab' ist heilige Stille. Geist des Verstorbnen! was 
bist du? waren [?] w[ir] [nicht] sonst einander so anlich?vund 
iezt? -ach! iezt hast du den dichten Vorhang der Zukunft durch- 
drungen, hast ein[ge]sehen die Rathsel der Ewigkeit; iener fin- 
stere Abgrund zwischen Tod und Leben ist dir [hel] - mir noch 
dunkel, der [?] ich noch wall' iiber die Erde. Wie weit bist du 

30 von mir? Eine Kluft, die schaudernd ist, Leben und Tod! - Ach! 
vielleicht gliihen in deinem Busen schon heilige Flammen, mein 
Herz warmt sich nur noch von Funken, vielleicht trinkt dein 
Geist schon in grossern [Ziigen] den Strom der Freude, und 
ich labe mich noch an den Tropfen, die in der Wiiste [?] des 
Lebens ... So ruhe denn sanft, geliebter, hingeschiedener 



242 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG 

Freund! Leicht miisse der Rasen deine Brust bedekken, unbe- 
merkt dein Korper sich in Staub auflosen, deine Leiden mit dei- 
nem Herzjen] begraben werden, und deine Feler mit deinem 
Korper vermodern! Und wenn nach den Tagen dieser Welt, 
wenn eine holdfere] Sonne strait, die auch deinen Staub er- 
warmt, du frisch veriiingt deine Wonung verlassest, ach! dan 
urn [arm'] ich auch dich, dan blikken Freudentranen uns aus den 
Augen! wie schon! wie herlich du grosser Morgen der Auferste- 
hung wirst du ihn mir wiederzufuren! Und wenn ich einmal 
nach vielen Jaren an dein Grab komme, so sol eine Trane die 10 
Bliimgen betauen, die deiner Grabstatt' entsprossen sind. Und 
wenn der Staub deines vermoderten Korpers im Sonnenstral 
spielet, so wil [ich] hinaufsehen zur Sonne mit nassen, mit feuri- 
gen Blikken, und denken: ach war' ich auch da droben, wo 
eine schonfere] Sonne leuchtet. Dan werd' ich hin[auf] in ienes 
blaue Himmelsgewolbe blikken, und meine Augen werden dei- 
nen Aufenthalt in den weiten Wonungen des Weltvaters suchen. 
Ruhe sanft, noch einmal., ruhe, Geliebter! - 



Am Mitwoch den 12 September. 
Aphorismen iiber die Dumheit 

Der Himmel benam wol dem Dummen den Verstand, aber 
nicht die Meinung, ihn zu haben. Fiirwar! es muste kein elende- 
res Geschopf sein, als [ein] Dumkopf, der sich selbst von der 
Wirklichkeit seiner Dumheit-uberzeugt hatte. Last also dem Ar- 
men den einzigen Trost, den er noch hat; stort ihn aus den Trau- 
men nicht, die sein einziges Vergniigen noch ausmachen; nemt 
ihm die Binde nicht ab, damit er nicht sein Ungliik sehe. Der 
Mangel des Verstandes wird reichlich mit Stolz ersezt; und die 
Unwissenheit hat das Pralen zum Apanage. 

»Der Dumkopf fart mit Sechsen [usw. wie S. 274,21-275,17] 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1781 243 

Man kan sich die Antipatie, die unter den guten und schlech- 
ten Kopfen herscht, weniger vorstellen, wenn man nicht zu 
einjen] von beiden gehort. - Manche Schriftsteller, die iiber 
die Dumheit schrien, haben ihr - eigen Fleisch gehast. - Es 
ist nicht leicht viel von ihr zu sagen, wenn man nicht eins von 
beiden ist. Siehe Forts. 



Am Donnerstag den 13 September. 

Das Gedachtnis bios ist das, was den dummen Menschen vom 
klugen Tier unterscheidet. Er ist nicht fahig [usw. wie 
10 S. 267,2-268,13] 

Er ist unveranderlich; er vertauscht [usw. wie S. 269, 1-269,20 
namen;] die er fur unverlezbar halt, weil er sie von seinem 
Vater erbte, und weil er iede Klugheit als eine Abartung vom 
dummen Geschlecht ansieht. - Wer hie was grosses gedacht, 
hat nie was grosses gewolt, wer einen kleinen Kopf hat, 
hat auch ein kleines Herz, wer wenig denkt, empfindet we- 
nig. - 

Er beneidet den andern nicht um seinen Verstand, denn er 
hat sich zu gewis iiberzeugt, ihn darinnen zu iibertreffen; er 

20 beneidet ihn um die Ere, die man seinen Einsichten wiederfaren 
last, dieBequemlichkeitpp. Deswegenhalt er iezt ein Ideenkon- 
zilium bei sich, wo er gerade so lange wait, bis er's schlechte 
gefunden hat. Dan kriecht er im Finstern, weil er das Licht der 
Warheit scheut, er verwundet den erlichen Man, wie gewisse 
[?] Fledermausse, im Schlafe; er zieht seine Fahigkeiten mit 
heimlichem Lacheln in Zweifel, verlaumdet durch sein Stil- 
schweigen, und verlast nie einen Grossen, one wie die Harpyen, 
den Unrat des Anschwarzens dagelassen zu haben. Der Dumme 
wiirde nie bos sein, wenn cs keine Weise gabe: diese sind gleich- 

30 sam Wegweiser, die ihm den Weg zur Holle zeigen. - Selten 
werden grosse Manner durch grossere Manner gesturzt; [usw. 



244 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

wie S. 270,25-35 niederstiirzt.] Nicht ein Grand[e] in Spanien 
allein stiirzte den weisen Olavides; sondern die ganze heilige 
Inquisizion . . . Wie der Baum die kleinen Krauter unaufhorlich 
bedimstet, die unter seinem Schatten wachsen; so erhalt das ode 
Geschlecht taglich Narung von ihrem Regenten, sie vermeren 
[sich], undbringen Friichte, die Antipoden der Vernunft. Siehe 
Forts. S. 35 [249,5]. 

Der Glanz des Rechts chaff enen leuchtet dem Bosen [usw. wie 
S. 298,4-6] 

Grosse Manner sind oft am angenemsten, am niizlichsten, 10 
wenn sie durch die Jare ihre Feler abgelegt haben, und gef alien 
erst am Abend ihres Lebens, wie die Sonne bei'm Untergange 
schoner ist als am Mittage. Sie sind gros, one gefarlich zu sein; 
sie warmen, aber sie brennen nicht; sie senken ihre Stralen sanft 
in's Auge, und blenden den Zuschauer nicht. 

Derienige, der iiber das Laster zu ser nachdenkt, wird gleich- 
giiltig gegen dasselbe. Die Haslichkeit desselben last sich eher 
fiilen, als vorstellen und sie verschwindet, wenn man sie durch 
das Glas der Metaphysik betrachtet. Dieses benimt der Tugend 
einen Teil der Schonheit, dem Laster einen Teil der Haslichkeit; 20 
es macht alles gleich und entdekt Bestandteile, die dem Ganzen 
nicht anlich sind. 

Am Freitag den 14 September. 

Unterschied zwischen dem Weisen und Gelerten 

Den Weisen schaft die Natur; der Gelerte hat seine Existenz 

den Kleinigkeiten zu danken, die seinem Gehirn Narung geben: 

ein Wesen, das aus dem Staub der Folianten zusammengeklei- 

stert ist. Ein Gelerter kan ieder werden; er kan seine Dumheit 

vor und nach 

ein Weiser kan nicht ieder werden; nur dan und wan keimt einer 30 
hervor aus der diirren Wiiste der menschlichen Blindheit. - 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1781 245 

Der Weise denkt, und ist bios ein Weiser, weil er denkt; der 
Gelerte befreiet sich von dieser Miihe; er iiberlast sie andern 
und sucht seinen Vorzug darinnen, daB er sich mit den Worten 
bekanter [macht], in die andere ihre Gedanken einhulten. Ein 
Gelerter hat viel gelernt, viel gemerkt; allein er kan nicht viel 
leren. Er kan nichts verdauen, darum bleibt seine Sel' immer 
diirre. Der Weise weis vielleicht weniger, aber von diesem we- 
nigen macht er mer Gebrauch; bei ihm verwandelt sich alles 
in Narung; er liest des andern Gedanken, um sie zu eignen zu 
10 machen. Der Gelerte webt bios in der Studierstube; er glanzt 
am meisten, wenn er allein ist, er ist ein Licht, das unter dem 
Scheffel leuchtet; draussen in der Welt verblasset sein Schein. 
Der Weise ist Liberal niizlich, er warmt in der Nahe und leuchtet 
in d[er] Feme. Siehe Fortsez. [S. 250,7] 



Am Sonnabend den 1$ September. 

Das Ungliik macht mitleidig - dies ist nur mit gewisser Ein- 
schrankung war. Man ist gegen dieienigen nicht mitleidig, die 
vorher unsern Neid, und iezt unser Bedauern erregen; wer tief 
im Elend klagt, lachelt mit einer gewissen Zufriedenheit iiber 
20 den Sturz desienigen, dessen Hoh' ihm beneidenswert schien. 
Der Ungliikliche ist nur mitleidig gegen Elende, deren Gliik 
nicht weit von seinem Ungliik abstand, deren Fal den seinen 
weit iibertrift. Man findet eine Erholung darinnen, einen Un- 
gliiklichern als sich selbst zu kennen und d[er] Kolos v[on] Lei- 
den des andern verbirgt das kleine Haufgen unsrer Schmerzen. 

- Fur eine grosse Sel' ist das Gliik gefarlicher als das Ungliik 

- ienes stiirzt sie eher in grosse Laster, als dieses, und die Feler, 
die sie im Elend begeht, sind verzeihliger, erhabner, als die La- 
ster, wozu sie das Gliik verleitet. - Das Gliik gebiert oft die 

30 Feler, und Laster, welche der kleine Geist in seiner Niedrigkeit 
vorher erst bei sich gedacht hatte; so wie die Sonnenwarme 
die Insekten ausbriitet, welche der Frost noch unbelebt und ver- 
borgen hielt. - 



246 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Fiir einen kleinen Geist ist eine hohe Stufe der Ere eine ver- 
diente Schande. Man tadelte vorher seine Kleinheit nicht; aber 
iezt macht man sie lacherlich, da sie sich mit dem Grossen verei- 
nigt. Sein Verdienst sizt auf seiner Erenstelle, wie ein Pygmae 
auf dem Berge Piko; ein seltsamer Kontrast macht ihn lacherlich, 
und der kleinste Wind des Neides , der Klugheit blast das Tiergen 
von seinem Trone herunter. 3 



Am Sontag den 16 Sept. 

Der grosse Ruf der immer um die Oren eines Mannes summet, 
macht ihn taub, die Stimme seiner Schwachheit zu horen, die 10 
ihm seine Kleinheit entdekt. - Man glaubt andern mer als sich 
selbst; und sogar wenn die Eigenliebe widerspricht, sezt man 
seinem Geful die Meinung der andern vor. Paskal sagt: 

Die Erentitel, womit [usw. wie S. 298,27-29 machen. 
S. 299,3-10] - Wer trachtet ein Amt zu erhalten, das ihm viel 
Ere verschaft, der wird nie in Gefar geraten, verachtlich zu wer- 
den. 

Tugend ist fiir sich schon; so wie das Gold auch im Finstern 
one den Glanz seine Giite behalt. Allein Got mus erst, wie die 
Sonne dem Gold, unsrer Tugend den Wert geben, der sie in 20 
unsern kurzsichtigen Augen glanzend macht. - 



Am Dienstag den 18 Septemb. 

Es giebt hochmiitige Menschen, die so lange demiitig scheinen, 
als sie Rum haben, es zu scheinen; und als man ihnen durch 

a Allein die kleinsten Geschopfe kommen am besten weg bei Sturm- 
winden; die Eiche bricht zusammen und das Mos unter ihr bleibt unbe- 
riirt. Grosse Dingc konnen kleinen am wenigsten beikommen. Welcher 
grosse Geist hat ie einfen] mit Gold und Ere beladenen Dumling . . .? - 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 1 247 

Lobreden die Miihe erspart, ihre eignen Lobredner zu werden. 
Diese legen ihre Demut ab, wenn man sie fur das halt, was 
sie zu sein affektiren: diese pralen, wenn man ihnen wider- 
spricht. Das ist das ware Unterscheidungsmerkmal [?] vom 

w[aren] Bescheidenen und scheinbaren 

Wer so demiitig scheinen wil, daB er vorgiebt das nicht zu haben 
was er hat, von dem ist zu vermuten, dafi er sich selbst mer 
zuschreibt als er hat - aus dessen scheinbarer Demut kan man 
seinen Hochmut schliessen. 



10 Am Freitag den 21 Sept. 

Das Ungliik schadet dem grossen Manne wenig; er steigt auf 
den Triimmern seines vormaligen Gliiks zu einer betrachtlichern 
Hohe hinauf. Oder wenn's ihm schadet, so geht er, wie die 
Sonn', unter bei seinen Zeitgenossen, vergoldet noch am lezten 
Tage seines Laufs die Wolken des Ungliiks, und entzieht sich 
den Augen der Zuschauer; allein er geht eben [so] wie die Sonne 
wieder in einem andern Lande mit morgenrotlichen Stralen auf, 
und senkt sein unvermischtes Licht in die rein[eren] Augen - 
der Nachwelt. - Die Grosse des Menschen zerschmilzt am 
20 Schein des Gliiks wie Schne [?]; die Grosse fliegt mit wachsernen 
Fliigeln, die die Glut der guten Tage zerschmilzt, und das Gc- 
schopf fait zur Erde nieder, und kriecht im Schlam. 

Erentitel, Ordenskreuzbander, und dfergl] Zierraten hangen 
um den grossen Man herum, daB man fast nie den Menschen 
sieht. Ausser seinem Hausse hiilt er sich in diesen Schleier der 
menschlichen Schwachheit ein, und zeigt uns von sich nichts 
als seine Kleidung. Zu Hausse sieht man den Menschen, wenn 
er sich auszieht. Allein alle seine Biographen sahen ihn nur da, 
wo ihn alle Menschen sahen; beobachteten die Handlungen, die 
30 er vor alljer] Augen tat, und massen an seiner Kleidung, die 
er in offentlichen Zusammenkunften [trug], das Mas zu der 
Grosse seiner Sel' ab; daher sind alle Biographfien] so schal, 



248 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

so einformig, so ermiidend. Daher sind alle ihre Helden one 
Feler; weil sfe sie da nicht sahen, wo sie sich eine Torheit zur 
Erholung erlaubtfen] und die Unformlichkeit ihres Korpers nur 
mit dem Schlafrokke bedekt[en]. Wir kennen noch mer den 
Kopf der beriimten Menschen, als ihr Herz; ienen haben sie 
selbst durch ihre Werke gezeichnet, dieses in ihren geheimen 
Handlungen abgebildet; sie hatten uns einen eben so grossen 
Gef alien [getan], wenn sie uns auch ihre Gedanken, Meinungen, 
ihre Empfindungen, Gefiile dargestelt hatten; und wenn der 
Verstand, der in Rousseau's W[erken] glanzt, noch nicht das 10 
Monument seiner Grosse geendigt hat, so wird sein Herz, dessen 
Beschaffenheit er der Nachwelt beschrieben hat, den Grund sei- 
ner Grosse tiefjer] graben. 

Wie mager sind unsere Psycholfogien] noch: tiefsinnig genug, 
aber nicht ausgebreitet genug; sie wissen von alien Dingen den 
Grund anzugeben, allein sie kennen nur wenige Dinge, um von 
ihnen [den] Grund angeben zu konnen. Sie bringen alles in Para- 
graphen, diese Mauern [?] d[er] Freiheit [?], zwingen [alles] in 
em System. Wisse, dafi, wenn du die Geschichte eines Tages 
oft in dem Herz [en] eines Menschen lesen kontest, so wiirdest 20 
du deine ganze Psfychologie] da antreffen, auf [?] ein Blat 
gedrfangt]; und nun rechne [?] das Buch, das die Zeit volendet, 
und sezze, du kontest alle mit unsichtbarer aber unausloschlicher 
Schrift in die Sele eines Menschen geschriebnen Geschichten 
lesen- wolan [?] das ware dan [?] das System eines menschlichen 
[?] Psychol [ogen]; aber [?] bios das Abcbuch d[er] alg[emeinen] 
Ps[ychologie] d[er] Geist[er]. Gewis, die Beschaftigung, die der 
Sternkundige einmal in iener hohern Gegend fur seinen Geist 
an der Menge der Welten finden wird, diese wird der Psycholog 
an der Menge der Karaktere finden, die er dort kennen lernen 30 
wird. Er weis von alien menschlichen Karakteren soviel wie 
der Mesfkiinstler] von andern Welten; er kent nur seinen eignen 
ein wenig; wie der Astronom diese Erde. Wenn ein Kepler die 
entziikte Harmonie des mannigfaltigen Weltsystems mit trok- 
nen Blikken anstaunen wird, so wird ein Leibniz tief anbeten [?], 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1 78 I 249 

wenn er im unendlichen Gewirre der menschlichen Hand- 
lungen, Gedanken, Leiden, Verirrungen, Warheiten endlich alle 
verschiednen [?] Dissonanzen sich [in] den einz[igen] Wollaut 
der algemeinen Gliikseligkeit auflosen sieht. - 



Am Sonabend den 22 Sept. 

Wenn die Dumheit Monarch ist, dan macht sie ieden Weisen 
zum Sklaven. Dan mag sich ieder Kluge den Mantel eines Ein- 
faltigenborgen, und sich einhullen, vor sein Gesicht eine Maske 
ziehen, und ein Schlos an seinen Mund legen, damit nicht der 
io trage und schwere [?] Arm des Unverstjandes] seine Weisheit 
mit Spot bespfriizze], sie Unmiindigen zum Spiel aussezze, ihm 
Beifal gegen [?] die Torheit mit Gewalt abzwinge, und die er- 
wiirdige Stimme des aufgeklarten Mannes durch das Geschrei 
d[er] Dunsfen] unterdriikt werde. - 

Jeder grosse Man ist stolz: denn er miiste die Volkommenhei- 
ten nicht haben, die er hat, wenn er ihren Wert nicht einsahe, 
nicht seinen eignen Vorzug, der daraus [?] entstehet [?], fulte. 
Allein eben weil er ware Vorziige besizt, weil seine Vortreflich- 
keit ihm so seinen eignen Beifal, und oft seine Bewunderung 

20 abzwingt, so halt er's fur unnotig, das elende Lob des Narren 
zu erbetteln, sich durch Krummen eine Unsterblichkeit aus des 
andern Atem zu erkaufen, und seine Grosse erst durch vorher- 
gegangene Erniedrigungen zu verdienen. Er ist gegen das Lob 
andrer gleichgiiltig; sein eignes ersezt ihm alles andre. Deswegen 
scheint er demiitig zu sein: und ist gerade das Gegenteil; er ist 
nur bescheiden, und sucht sein Verdienst nicht darin, zu sagen, 
daB er gros ist, sondern es zu beweisen: er pralt nicht mit seiner 
Einsicht in der Vorrede; allein in dem Buche selbst zeichnet 
er sein Bild mit glanzenden Farben. - Und wenn er oft von 

30 seinen Schwachen, seiner Unvolkommenheit spricht, so sagt 
er nicht, daB der andre iiber ihm sei, daB dieser die Vfolkom- 
menheit] habe, die ihm mangelt: sondern weil er gros ist, so 



25O JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

erkent er eb>en, wie viel es noch brauche, um der groste zu sein: 
er"bildet sich ein Ideal von Volkommenheit, das er in sich nicht 
findet, und dessen Glanz seinen Schimmer verdunkelt. Desfwe- 
gen] sagt er aber nicht, daB der andre volkommen ist; die andern 
sind ihm [?] nur Einfaltige [?] genug, das Ideal, das er nicht 
zu erreichen vorgiebt, bei sich selbst anzutreffen. - 

Der Gelerte ist nur dem Gelerten brauchbar; allein der Weise 
ist dem Unweisen und Weisen gleich niizlich. Ein Gelerter hat 
seinen Geist nicht iiber andre erhoben, seine Urteile sind nicht 
scharfer, seine Bemerkungen nicht feiner und seine Handlungen 
nicht schoner, als die eines andern; er treibt bios ein andres 
Handwerk als sie, seine Hande haben nur eine andre Beschafti- 
gung, davon er den grosten Teil one Kopf verrichten kan. Allein 
so ganz anders ist der Weise. Er ragt mit seinem Geist [?] weit 
iiber den Altagshaufen hervor, er betrachtet alles aus einem be- 
sondern Gesichtspunkt, in seiner Beschaftigung ist mer End- 
zwek, in seinen Ideen mer Feinheit und alles ist bei ihm mer 
als gewonlich. 

Der Neid ist ein Kind des Mangels; und nicht selten der Ba- 
start eines unsrer heiligsten Triebe. Er ist die Narung einer aus- 
gezerten Sele, und wachst nur auf den Ruinen des menschlichen 
Geists wie Mos auf den verfalnen Pallasten. Er nart sich von 
den Felern des andern, wiederRabevon As.-Es ist so unredlich 
[?], neidisch sein, und doch so schwer, es nicht sein; daB wir, 
wenn alle Laster so viel Zusammenhang mit unsrer Natur hatten, 
auf die Giite unsrer Natur Verzicht tun musten. - 



Am Sontag den 23 Sept. 

Er erscheint in so mannigfaltigen Gestalten, in so scheinheiligen 
Larven, daB er sogar der Liebling des grossen Mannes nicht 
selten ist. - 30 

Helvezius macht die gute Bemerkung, daB der Neid bei iun- 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 1 . 25 1 

gen Personen weniger stat finde als bei alten. Diese Erscheinung 
erklart er'pp. Er hat Recht; allein er hat diese Ursache hinzuzu- 
sezzen vergessen. In der Jugend beneiden wir grosse Manner 
nicht, weil wir gliiklich sind, und weil sie uns nicht in den Din- 
gen iibertreffen, die wir vorziiglich lieben. Unsre Jugend ist 
die Zeit unsrer Freude, sie ist der Foiling im Jar. Unser iunges 
feuriges Blut wiegt die Sele in siisse Traume zukiinftigen Gliiks, 
die bliihende Wange veriagt das ganze Gefolge von blassen 
Schrekken, Schwermut, und Qualen, die Gesundheit des Kor- 

10 pers stalt die Gesundheit der Sele, unsre Unerfarenheit der Lei- 
den, die so oft im menschlichen [?] Leben aufstossen, der Mut, 
der noch nicht durch misgegliikte Versuche entnervt ist, die 
Einbildung, daB lauter Engel [?] die Welt bewonen, und der 
Schlus von der gegenwartigen Freude auf die zukunftige, alles 
dieses macht die glukliche Zeit unsers Lebens, die so bald ver- 
fliest, so oft beklagt, und nie zuriikgeruffen [?] wird. Dieses 
Wolbehagen sichert uns vor dem Neide, der aus unserm Un- 
gluk, wie Ungeziefer aus verfaulten Korpern, wachst. Wenn 
man gliiklich ist, wil man andre auch dazu machen; da man 

20 weis, wie ser ihr Gliik zu unserm beitragt. Eine Hauptursache 
der Abwesenheit [?] des Neids mag sein. In unsrer Jugend ken- 
nen wir noch nicht den schandlichen [?] Misbrauch, den der 
Reiche von seinem Reichtum, der Machtige von seiner Macht 
macht, wir haben noch nicht erfaren, wie der Fus der Gewalt 
nur die Freude d[es] Armfen] zertrit und wie die Hand [?] der 
Grossen ihre Starke zu unserm Ungliik gebraucht. [Fortsetzung 
s. S. 252, 11] 

- Der grosse Man hat meistens nur Eine starke Leidenschaft. 
Sich dieser entgegensezzen wollen, heist der Hydra einen Kopf 
30 abhauen; man vermert sie, ie mer man abschlagt. So beim gros- 
sen Man. Man dampft seine grosse Leidenschaft [nicht], sondern 
man verteilt sie in merere, die endlich alle zu der gewonten 
Leidenschaft, wie die Fliisse in den Hauptstrom wieder zuriik^ 
kommen. - 



252 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Die Einsamkeit vermert den Stolz; mit ie weniger Menschen 
man umgeht, iiber desto merere sezt man sich hinauf. Daher 
wird allezeit der auf dem Dorfe sich mer diinken als der in der 
Stad; daher lebt der Schwarmer [in] der Einsamkeit, weil er 
am meisten den Stolz liebt. Die Gelersamkeit, die man von Bii- 
chern einsamlet, macht stolz, die man von andern Menschen 
hort, macht bescheiden: denn man glaubt das schreiben zu kon- 
nen, was manliest, allein man glaubt nicht das sagen zu konnen, 
was uns oft der andere sagt. - 

Am Montqg den 24 Septemb. 10 

Wir kennen vom Reichtum noch nichts als seine gute Seite, 
die uns in unsrer Jugend unsre Freude verschaft; wir schliessen, 
dafi alle Menschen ihre Macht und ih're Gute so zu unserm Nuz- 
zen gebrauchen werden, wie unsre Eltern sie dazu gebraucht 
haben. Das ist die Ursache warum wir sie ihnen nicht misgon- 
nen; wir haben unsern eignen Nuzzen dabei. Sezzen wir noch 
hinzu, daB unser Gliik in unsrer Jugend in Dingen [besteht], 
die wir nurbei unsern . . . antreffen, so werden wir uns erklaren, 
warum man gegen die Ere des andern nicht neidisch ist. Man 
hat andre Vergniigen zum Endzwek, als die Vergniigen einer 20 
eitlen Ere; man ist noch gliiklich genug, sein Gliik in sich zu 
finden; darum bettelt man's nicht aus dem Atem des andern; 
man geniest iezt mit andern Sinnen, als dem Or. Deswegen 
ist die Jugend gegen den Rum des grossen Mannes gleichgiiltig; 
weil man gegen die Giiter gleichgiiltig ist, deren Besiz unsre 
Freuden nicht vermert. Die Lorbern, mit denen man unsere 
Verdienste kront, sind die Narung fur die Schlange, den Neid, 
die ieder Sterbliche in seinem Busen nart. Man hast ieden, der 
mit uns nach demselben Ziel der Grosse strebt. - Der Neid 
ist allerdings von keiner schonen Gestalt; aber er ist nicht so 30 
scheuslich, als man ihn abmalt. Er ist bei zweien Arten von 
Menschen anzutreffen, bei solchen, die das an andern beneiden, 
was sie haben, und bei solchen, die das an andern beneiden [?], 
was sie selbst nicht haben. 



TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1781 2$3 

Am Dienstag den 25 Sept. 

Der Neid schadet weniger dem, der Verdienst hat, als denen 
die dieses Verdienst geniessen wollen; er ist der Wurm, der die 
Friichte eines guten Baumes verdirbt. Der Baum ist vortreflich, 
allein seine Friichte niizzen niemand. - Der Neid ist wie der 
Hochmut eines von den Lastern, welches man am andern hast, 
wenn man auch es pp. Der Neidische liebt den Neid am andern 
nicht; er mus ihn auf s . . . hassen. - 

Die Aufmerksamkeit ist das Or der Sele. - 

10 -Der Trieb, dem andern zu gefallen, begleitet den Menschen 
bei ieder seiner Handlungen und die Rumbegierde ist eine von 
den Haupttriebfedern, die uns in Tatigkeit sezt. Man wil also 
vom andern geschazt sein. Aber nicht genug; der andre sol uns 
nicht nur so hoch schazzen, als wir uns selbst; sondern er sol 
auch eine noch grossere Meinung von uns bekommen. Wir ver- 
bergen unsre Feler vor dem andern; ia was noch mer ist, wir 
horen nicht einmal gern dieienigen Mangel aus seinem Munde, 
die wir selbst eingestehen. Man wiirde dem, der aus Beschei- 
denheit einige seiner waren Feler selbst erzalte, einen unangene- 

20 men Dienst erweisen, wenn man ihm die Wiirklichkeit dieser 
Feler zugabe. - 



[RHAPSODIEN] 



I. 

Uber die Religionen in der Welt 



Unsre Pflichten sind nicht wilkiirliche Anordnungen Gottes, 
sondern notwendige Bestimmungen zur Gliikseligkeit der 
menschlichen Natur; Tugend ist verhaltnismassige Ausbildung 
aller Selenkrafte; Vererung Gottes hat bios das Gliik der empfin- 
denden Wesen zur Absicht, und ist in keinem unbestimten Re- 
gentenrechte des Schopfers gegriindet - Religion ist also der 
Weg zu unsrer Selbstvervolkomnung. Dieses hat man lange zu- 
gegeben; aber warum wil man nicht die daraus fliessende Not- 10 
wendigkeit der mannigfaltigen Religionen zugeben? Wenn die 
Anlagen der Menschen so verschieden sind, wenn diese Anlagen 
durch Erziehung, Klima, und Zufal so mannigfaltig abgeandert 
werden, wenn also die Vervolkomnung des Menschen nicht 
liberal dieselbe sein kan; warum straubt man sich so ser, in den 
mannigfaltigen Religionen den Gang einer weisen Giite zu se- 
hen, und in dem Gewirre von verschiednen Meinungen nichts 
als die verschiedne Ausbildung verschiedner Selenkrafte zu er- 
blikken? - Wir verraten Scharfsin, wenn wir die niizlichen Fol- 
gen iedes anscheinenden Ubels entdekken, allein wir verraten 20 
nicht bios Stumpfsinnigkeit, auch Harte, wenn wir den Nuzzen 
der vielen Religionen verkennen, sie fur Strafen Gottes erklaren, 
und ihre Vererer mit lieblosen Benennungen brandmarken. Der 
Indianer ist ganz fur seinen Erdstrich geschaffen; warum sol 
es die Religion desselben weniger sein? Der arme Gronlander 
sieht nur selten die woltatige Sonne; er mus sich mit Lichte 
begniigen, das ihm Nordscheine geben: und sein Geistesauge 
sieht nur selten einige Stralen der Warheit; er wandelt bei dem 
Schimmer, den er einem angenemen Irtum zu verdanken hat. 
Man mus weise sein, um in iener Einrichtung Gottes Weisheit 30 
zu bemerken; allein man mus noch weiser sein, um sie in dieser 
nicht zu verkennen. - 

Die anscheinende Verschiedenheit der Religionen ist nichts 



RHAPSODIEN 257 

als Verschiedenheit des Grades ihrer Geistigkeit. Die Leren in 
alien sind fast dieselben; nur bald sinlicher, bald abstrakter ge- 
dacht, bald in diesen, bald in ienen Bildern ausgedrukt. Daher 
kam es, daB man sie alle fur Abartungen einer und derselben 
alten Tradizion ansehen wolte. Der Grieche, der seinen Zeuvs, 
der Mexikaner, der seinen Vizlipuzli, der Gronlander, der seinen 
Porngarsuk, der Afrikaner, der seine Fetissen, und der Jude, 
der seinen Jehova anbetet, alle haben denselben Gott, alle lieben 
ihn mit derselben Liebe, erweisen ihm dieselbe Erfurcht. Allein 

10 ihre Begriffe vom hochsten Wesen andern sich nach dem Grad 
ihrer Ausbildung ab; sie denken sich alle dasselbe als das hochste, 
sie legen ihm alle die grosten Volkommenheiten bei; aber ihre 
Ideale von Hoheit, von Volkommenheit sind nach dem Mas 
ihrer Denkkrafte verschieden. Der Indianer sieht seinen Gott 
aus der Sonne leuchten, aus dem Mond und aus den Sternen 
schimmern; der Philosoph denkt ihn von alien Welten verschie- 
den, als Inbegrif der reinsten Volkommenheiten, als Quelle aller 
Wesen. Ich wundre mich nicht, daB der Rohe diesen geistigen 
Begrif nicht hat; ich wundre mich vielmer, daB er (iberhaupt 

20 einen hat, und daB iedes Geschopf den Weltvater von der Seite 
sieht, die ihm die begreiflichste ist , die sich fur seine Lage schikt , 
die auf dasselbe den heilsamsten Einflus hat. Wenn also die Reli- 
gion Vervolkomnung unsrer Fahigkeiten abzwekket; so errei- 
chen alle diese Absicht; so sind sie alle gut, und unterscheiden 
sich nur durch das Mer oder Weniger. Sokrates stirbt fur den 
Himmel, in welchem er Tugend und Weisheit erwartet, der 
Muhammedaner fur das Paradies, das ihm die grosten Wolliiste 
der Sinne verspricht, und der Negersklave fur das Land, das 
ihm seinen Hund, seine Bekanten und seine alten Freuden wie- 

30 dergiebt. Bei alien diesen hat die Religion gleiche Wirkung; die 
Beweggriinde bios sind verschieden, weil die Ausbildung der 
Krafte verschieden ist. - Das Judentum sogar stieg von einer 
Stufe der Geistigkeit zur andern; und die christliche Religion 
selbst blieb nicht immer dieselbe. Diese leztere glanzte in Christo 
nur schwach aus den Ruinen des Judentums hervor; Johannes 
sah ihr Licht ungehinderter sich ausbreiten; und noch iezt klimt 



258 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

sie, nach der Mutmassung eines grossen Mannes, zu der Reinheit 
der natiirlichen Religion empor, und macht uns gewis, daB wir 
im Himmel zu viel sein werden, um noch Christen zu 
sein. - 

Man kent den Nuzzen wenig, den alle Religionen ihren Vere- 
rern verschaffen; man schliest die Augen zu, um ihn nicht zu 
sehen, oder giebt sich keine Muhe, ihn zu entdekken; man halt's 
fiir besser, die Liebe Gottes gegen tausend Volker, unmerkbar 
zu machen, um sie bei einem einzigen ohh' alle Granzen zu 
finden. Die Vorteile, die iede Religion verschaft, sind ganz und 10 
gar nicht zu verkennen. Was tut der Wilde, der nichts von Reli- 
gion weis? Er fischt, er iagt, er nart sich, er kriegt, befriedigt 
seine tierischen Begierden und tut einigen Torheiten Geniige. 
Er tut gerade soviel, als ndtig ist, um sich nur ein wenig vom 
Tier zu unterscheiden. Hier ist keine Anreizung zum Nachden- 
ken, keine Begierde, die etwas mer als kdrperliche Lust zum 
Endzwek hatte, keine Regung, die menschlich ware, nichts, das 
ihn weit uber das Tier erhobe. Aber wir wollen ihn einen Gott 
in der Sonne sehen, und einen Himmel hinter den Wolken er- 
warten lassen. Nun hat er sich sichtbar verbessert - er betet 20 
an. Er wil sich die Liebe seines Gottes erwerben, er schreibt 
sich gewisse Pflichten vor, er legt in seine Handlungen mer 
Endzwek, giebt seinen Begierden mer Ausdenung und richtet 
seine Wirksamkeit starker auf die Zukunft. Das Gefiil der Ab- 
hangigkeit macht ihn behutsamer und ererbietiger; er ftilt ge- 
wisse Regungen der Lieb' und des Danks, und zu den Bediirfnis- , 
sen der Narung, welche ihn sonst mit seinen Mitmenschen 
vereinigten, komt noch die Einheit ihres Glaubens, ihrer Pflich- 
ten, ihrer Hofnung hinzu. Daher findet man desto mer Tugend 
bei einem Volke, ie mer Gottesvererung man bei ihm antrift 30 
- daher hat der Verstand seine erste Kultur von der Religion 
erhalten, weil bei alien Volkern die Teologie fast die erste Wis- 
senschaft war - daher sind scheme Kunste und Wissenschaften 
liberal eherentstanden, als Philosophic, weil iene eine nahe Ver- 
bindung mit den Religionen hatten - daher war die Astronomie 
unter alien Kentnissen dieienige, die am friihesten zu einiger 



RHAPSODIEN 259 

Volkommenheit kam, weil man den Himmel kennen wolte, 
den man anbetete. Vielleicht ist dies zn algemein, um unsere 
Wisbegierde zu befriedigen; aber es ist genug, gewissen Irtu- 
mern vorzubeugen. Also: alle Grade und Arten von Volkom- 
menheit solten in der Schopfung sein, alle Wesen unterscheiden 
sich nur mer oder weniger in dem Grade ihrer Krafte, und der 
Ausbildung derselben; alle Religionen befordern mer oder we- 
niger die Vervolkomnung des Menschen; alle sind also gut, und 
an dem Orte, wo sie sind, die besten. 

10 Wenn wir die rohen, oft falschen Begriffe, den Anthropo- 
morphism, den wir in den Schriften des A. T. finden, rechtferti- 
gen und mit Gottes Weisheit vereinbaren konnen; so konnen 
wir die noch niedrigern Begriffe, die noch sinlicher ausgedriikte 
Meinungen der nichtchristlichen Volker eben so gut rechtferti- 
gen; was noch mer ist, wir mussen sie billigen. Und was zwingt 
uns, die Roheit, die Unaufgeklartheit gewisser Volker bis an's 
Ende der Welt fortdauern zu lassen, und von dem Gegenwarti- 
gen den Masstab zu dem Zukiinftigen zu nemen? Vielleicht sind 
manche von den heutigen nichtchristlichen Religionen die Vor- 

20 bereitung zur Annemung der christlichen, oder naturlichen. Im 
Judentum lag das Christentum schon als Keim verborgen. Wa- 
ren die Juden nicht ge wesen, so wiirden die Christen nicht das 
geworden sein, was sie sind. Judentum ist Religion der Kinder 
- Christentum, der Manner. Ich sehe nichts kezzerisches darin- 
nen, manche heutige Religionen in das Verhaltnis zu der christli- 
chen zu sezzen, in welchem die iiidische war. Vielleicht komt 
uns dies paradox vor, weil wir das Judentum noch zu ser mit 
den Augen eines Juden ansehen- wir solten einen Paullus nacha- 
men, und es als - Christen betrachten. »Aber wie lange dauern 

30 nicht schon gewisse Religionen, ohne daB ein Anschein ihrer 
Verbesserung vorhanden ware?« Dauerte nicht die iiidische Jar- 
tausende, bis endlich Christus kam? Was sind Jartausende dem 
Ewigen? Mussen wir Plane Gottes, die Ewigkeiten umfassen, 
nach unserer Ephemerenexistenz abmessen? In der Natur reift 
alles langsam; aber es bringt hernach desto dauerhaftere, desto 
herlichere Fruchte. 



260 JUGENDWERKE : I. ABTEILUNG 

Wir sehen alles schief, weil wir uns in allem als den Mittel- 
punkt sehen. Alles, was wir haben, was wir sind, scheint uns 
das beste zu sein. Unsre Fahigkeiten, unsre Tugenden, unsre 
Meinungen, halten wir fur unverbesserlich; daher verwerfen wir 
auch iede Reforme in der Religion. Wir finden es ungereimt 
zu sagen, dafi Christus und die Apostel nur den Grund zu einem 
Gebaude gelegt haben, welches wir zu einer betrachtlichern 
Hohe auffuren sollen; wir sind Juden gegen die, die bessere 
Christen werden wollen, und gleichen ihnen nur darinnen nicht, 
daB wir nicht mer - kreuzigen durfen. Doch die herliche Mor- 
genrote, die iiber das Gebiet unsrer Religionsleren heruberdam- 
mert, verkiindigt einen noch herlichern Tag, und ist ein schwa- 
ches Bild von der Sonne, die unsern Nachkommen glanzen 
wird. — - 



II. 

UNTERSCHIED ZWISCHEN DEM NARREN UND DEM DUMMEN 



Narren findet man liberal; Dumkopfe eben so haufig - in dem 
Reiche der kleinen Geister haben beide ihre Wonung, und in 
das Landgen der grossen Geister kommen sie nicht selten zum 
Besuch. Weil man sie so oft sieht, so giebt man sich keine Muhe, 20 
sie recht zu sehen: und dies mag die Ursache sein, warum man 
beide miteinander verwechselt. Ihre Verschiedenheit fait in die 
Augen. 

Der.Dumkopf ist das bedauernswiirdige Geschopf, dessen 
Geist nie mer als eine geringe Anzal Ideen fast, das die reine 
Warheit nur durch kleine Rizzen seiner Organisazion hindurch- 
schimmern sieht, und das, gleich weit entfernt von erhabnen 
Irtumern und grossen Warheiten, in einer behaglichen Mitte 
von Sinnenschein und Altagswarheiten dahinschwebt - der 
Dumkopf ist der Polype zwischen Menschen und Tieren. Der 30 
Nar als solcher ist dies alles nicht. Er war nicht blind geboren, 



RHAPSODIEN 26l 

sondern er hatt' ein empfindliches Auge bekommen, das iezt 
durch das Licht geblendet ist. Dieses Auge tragt er liberal mit 
sich herum, und sieht alle Gegenstande in einer und derselben 
falschen Farbe. Dieselbe feine Organisazion, die ihn vom Dum- 
men unterschied, macht ihn i[e]zt zum Narren. Durch physische 
Zufalle behielt er von alien Sinnen einen Einzigen iibrig. Alles, 
was mit diesem Sin empfunden wird, sieht er durchdringend; 
was man durch andre Sinne empfindet, sieht er schwach und 
unrichtig; er hort, riecht, schmekt und fiilt mit dem Auge. - 

io Der Dumkopf wird geboren, der Nar gemacht. Jener verirt sich 
selten; allein er kriecht auch in alien seinen Handlungen wie 
eine Schnekke, und es ist kein Wunder, wenn der, welcher einige 
Schritte vor das Tor hinausist, noch auf dem rechten Weg sich 
befindet. Dieser ist liberal ausschweifend, liberal ungewonlich; 
er hat Kraft zu gehen; aber ihm felt Vernunft, um auf dem rech- 
ten Weg zu gehen. - Der Dumme ist nicht leicht zu erkennen: 
denn er hat's mit dem Weisen gemein, wenig zu sagen und 
sich nicht leicht zu entdekken. Oft nimt er auch die Maske des 
Weisen an, wie der Esel die Lowenhaut - beiden steht ihr Anzug 

20 nicht - aber nur der Scharfsichtige entlarvt sie. Der Duns ist 
erst ganz Duns bei Dunsen; er predigt da seine Weisheit, wo 
man sie nicht widerlegt, und leuchtet mit seiner schwachen 
Lampe nur den Augen, die kein Sonnenlicht vertragen konnen. 
Daher stirbt er unbekant, und unverspottet von den Weisen. 
DerNarhingegen wird gleich sichtbar; er hat ein eignes Kenzei- 
chen an sich, das ihn von andern unterscheidet wie die Montur 
die Soldaten, namlich, er ist nicht wie andre Leute. Er sagt alles, 
was er denkt; und eben das verrat ihn sogleich. Wir wiirden 
merere Narren in der Welt antreffen, wenn merere offenherzig 

30 genug waren, ihre Gedanken herauszusagen; aber die Zal dersel- 
ben wiird' auch kleiner werden, wenn sie nur von Klugen beur- 
teilt wiirden. - Die Narheit ist die Geburt der starken Leiden- 
schaft; ieder grosse Man tragt zu gewissen Zeiten ihre Livre. 
Dieses komt daher. Heftige Leidenschaften haben Stunden, wo 
sie zu einer gewissen Schwache herabsinken, um durch Erho- 
Iung neue Krafte zu samlen: allein diese Leidenschaften sind 



262 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

liberal gleich ungewonlich. Verraten ihre ungewonliche Ausse- 
rungen viel Starke, so bewundert, so bestaunt man sie: verraten 
sie Schwache, so belacht und bespottet man sie und erklart sie 
fur Torheiten. Narheiten sind also Lieblinge der grossen Man- 
ner; sie dienen ihnen zur Erholung wie ihre Frauen. Die Dumheit 
aber ist die abgesagteste Feindin des grossen Kopfs; sie ist nicht 
in seinem Gefolge; und niemand begert sie zur Freundin, als 
die, welche sie schon von ihrer Geburt an dazu bekommen haben 
und welche ohne sie nicht leben konnen. - 

Es giebt wenig originelle Toren, und unzaligfe] Dumrae. Jene 10 
wolleneinbesonderesErdreich haben, siewachsen nurim fetten 
wie das Unkraut; diese keimen liberal hervor, und finden an 
iedem Orte Narung genug, weil sie wenig Narung brauchen. 
- Torheiten sind uns so notwendig, wie Luft zum Atmen, sie 
begleiten iede starke Einbildungskraft und kiindigen oft den 
seltnen Man an, wie Insekten den Honig. Narheit ist das Unge- 
wonliche in Gedanken, Worten und Werken; und wer wil dies 
vermeiden? - Nur der, den Anhanglichkeit an Modemeinungen 
in Fesseln legt, und den sein Salarium zwingt, im algemeinen 
Konzert der menschlichen Torheit den Takt zu halten und mit 20 
seinem Nachbar im unisono zu singen. Das Landgen der Ver- 
nunft ist fur die unruhige Phantasie zu klein; sie schwarmt in 
das nahe und weite Reich der Feenmargen, Luftgebaude und 
Abenteuer hiniiber; sie tut es wenigstens zu Nachts, wenn die 
Vernunft ihre Augen mit den korperlichen schliest. 1 Aber dum 
mus kein Mensch sein; unwissend ist oft ieder weise Man, bios 
weil er manches nicht lernen wil } dum ist nur der, welcher vieles 
nicht lernen kan. Wenn wir einen gewissen Grad des Verstandes 
fur Weisheit ausgeben; so liegt's nicht in der Natur des Men- 
schen, daB er einen geringern Grad habe. Narheit hat also ihren 30 
Grund in schazbaren Eigenschaften; Dumheit entspringt aus ei- 
ner schlechten Anlage unsrer Krafte. - 

Der Dumme ist blodsichtig, er erkent kaum die nachsten Ge- 
genstande. Der Nar hat gute Augen; allein er sieht durch eine 

1 Sogar vor dem Einschlafen geht, wie Haller sagt, ein gewisses Deli- 
rium vorher. 



RHAPSODIEN 263 

falsche Brille. Dieser hat vorher gut gesehen, und eben dadurch 
das Gesicht verderbt; iener hat seine guten Augen schon vor 
der Geburt verloren. Der Dumkopf kan nicht geheilt werden, 
weil er so geboren ist - er ist ein Schwacher, dessen Krafte 
niemand vermeren kan. Den Narren kan man bessern, eben 
weil er schlimmer werden konte. Er gleicht einem Starken, des- 
sen Krafte tibel gebraucht sind; es ist nichts notig, als sie auf 
eine andre Seite zu lenken. Raserei ist der hochste Grad von 
Narheit; und diese heilt man in unsern Tagen. Aber der Dumme 

10 hat noch keinen Arzt gefunden: vielleicht wol auch deswegen, 
weil er nie glaubt krank zu sein, und weil man ihn mit zuviel 
Erentitel und Amtern behangen hat, als daB man die - hokke- 
richte Gestalt seiner Sele sehen konte. 

Der Dumkopf ist deswegen Dumkopf, weil er nicht unter 
denTierenist, wo er als ein Genie gelten.wiirde; der Nar deswe- 
gen ein Nar, weil er nicht in einer andern Welt als der wirklichen 
ist; in der namlich, die in seinem Kopfe existirt, wo er der Kliig- 
ste sein wiirde. - Das Ubel des Dumkopf s besteht darin, daB 
er zu wenig Einbildungskraft hat; das des Narren, daB er zuviel 

20 hat. Deswegen kan sich oft der Poet urn den Verstand dichten 
- daher der gelobte furor poeticus. - Der Dumme hat sein Eben- 
bild unter den Tieren; der Tor nicht. Dies zeigt an, daB iener 
naher mit den Tieren verwand ist, als dieser. - 

Das Herz des Dumkopfs ist wenig edler Bewegungen fahig; 
das des Narren ist zu alien aufgelegt, welche die Grille nicht 
betreffen, die ihm seinen Verstand benimt. Die Schwache des 
Verstandes gebiert den Neid, wie ein verfaulter Korper das Un- 
geziefer 2 , und die Lere des Kopfs nimt ein windiger Hochmut 
ein. Der Nar ist nicht neidisch; er glaubt zu viel zu haben, um 

30 dem andern das Seinige zu misgonnen; er ist eben so wenig 
hochmutig, aber er ist auf eine edle Art stolz, und meistens 
gleichgiiltig. - 

Die Ausserungen des Narren sind in Nacht verhult; man er- 

2 Man konte noch sagen: so wie andre Tiere ihre Eier in todte Korper 
legen; so legt auch das Verdienst den Neid in einen schlechten und 
todten Kopf. 



264 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

klart zu viel oder zu wenig hinein. Der Gang seiner Ideen ist 
zu unstat, er macht zu viel Spriinge, als daft sich der ware Weg 
seiner Begriffe zeichnen liesse. Oft ist er ein verstimtes Genie; 
dan scheinen seine Torheiten am grosten zu sein, dan wird er 
durch den sonderbaren Kontrast von Vernunft und Unvernunft, 
Stark' und Schwachheit vollig unerkliirbar. Bei dem Dummen 
findet das Gegenteil stat. Alle Ausserungen seines Verstandes 
verraten ihren Ursprung; seine Ideen springen nicht; sie bewe- 
gen sicb kaum. Der Psycholog geht so ler von ihm weg, als 
der ist, den er beobachten wolte. Er wird in Bedlam mer lernen, 10 
als in einer - Professorenversamlung. 

Der Weise lernt bei'm Narren, wie wenig alle Weisheit ist; 
er lernt bei'm Dummen, wie viel sie ist. Jener macht ihn demii- 
tig; dieser hochmutig. 

Torheit, Traumen und Raserei sind nur im Grade verschie- 
den. Wenn man anders handelt, als es das Verhaltnis der Zeit, 
des Orts u. s. w. erfordert, so ist man ein Tor, oder ein Trimmer, 
oder ein Rasender. Der Tor handelt einige Augenblikke so, der 
Trimmer, so lang er schlaft, der Rasende immer. Davon unter- 
scheidet sich die Dumheit auffallend. - 20 

Der Dumme kan ein Priester sein, wenn er nur Verstand ge- 
nug hat, um Oftgesagtes noch einmal zu sagen, und das Echo 
der symbolischen Bucher zu werden. In Gerichtshofen wird er 
iibel wegkommen, wenn er nicht selbst - Richter ist. Als Arzt 
wird er gluklich sein; die, die seine Kur noch nicht erfaren haben, 
werden ihn loben, und die, die er heilen wolte, werden ihn 
nicht mer tadeln konnen. Weltweiser wird er nicht sein konnen, 
aber Schulphilosoph; er wird so wenig Verstand und soviel : 
Dumheit besizzen, um dem Galimathias das Kleid lateinischer 
und griechischer Phrasen und Termen anhangen zu konnen. 30 
Er wird den gelerten Froschen gerade soviel Wind erteilen, als 
notig ist, daB sie sich zu Ochsen aufblasen konnen, und wird 
den Geist der Scholastiker in ein compendium philosophiae fur 
Liebhaber zusammendistilliren. Poesie - diese schikt sich ganz 
fur ihn; zurlicentia poetica gehort auch, nicht denken zu diirfen. 
Gereimter Unsin gefalt wie eine schone Luge; die Dissonanzen 



RHAPSODIEN 265 

in Begriffen losen sich in eine schone Harmonie der Wort' auf . 
Der Dumme kan also gelert sein; der Nar kan dies alles nicht 
so gut, nicht mit soviel Ere sein. Der Teolog wird zum Narren 
sagen: du wendest deine Vernunft libel an: wir wollen lieber 
keine haben, als sie iibel anwenden - Der Jurist: die Narren 
reden die Warheit, heist's sonst; dies muBt du dir erst abgewonen 
- Der Arzt: du wirst zwar andre so heilen konnen, daB du leben 
kanst; allein dir wird die Kunst felen, gelert davon zu reden; 
man mus lateinisch liigen konnen, um Luisd'or und Ere zugleich 

10 einzuerndten. Der Schulphilosoph: wir nemen keine Narren an; 
wir machen sie; du bist schon iezt, was du durch uns erst werden 
soltest - iiberdies, deine Porzion von gesundem Menschenver- 
stand ist noch zu gros. Bios der Poet wird sagen: zweiter Pindar! 
du wirst den Flug des Genies fliegen, entledigt von der Biirde 
der Vernunft - die Shakespeare sind nirgend als in Bedlam! — 
Der Dumme ist fur Gedachtnisarbeit; er ist das lastbare Tier, 
welches die Materialien zum Bau der menschlichen Weisheit 
herbeifiart: ihm ist's einerlei, Reliquien, oder Sakke zu tragen; 
ihm behagen Disteln: oder unhgiirlich, ihm sind des andern 

20 Gedanken gleichgiiltig, ob sie ein griechischer Philosoph oder 
ein alter Kirchenvater gesagt hat; er halt's mit den Worten. Der 
Nar ist fiir dies alles nicht; er baut oft kiin am Pallaste des 
menschlichen Wissens, aber er baut selten regelmassig. Jener 
kan nicht gut Her, aber gut Knecht sein, und hat weniger Ver- 
stand zu befelen, als Geduld, zu gehorchen. Dieser kan nicht 
dienen, weil er seinem eignen Kopf dient; dieselbe Lebhaftig- 
keit, die ihn oft tief sehen last, last ihm nicht Kalte genug, 
lange dasselbe zu sehen, es nach alien seinen Teilen zu sehen. 
Der Nar kan oft Auge; der Dumme solt' alzeit Arm sein. - 

30 Die Narren spert man ein, hangt sie an Ketten, oder man 
bewirft wenigstens iede ihrer Handlungen mit dem Kote des 
Spottes. Aber die Dumkopfe last- man laufen, sie sind geduldige 
Tiere wie die E -, man kan sie wenigstens zum Tragen brau- 
chen. Allein sie stehen auch oft auf Katederstiilen, auf Kanzeln, 
sie sizzen auf dem Trone. Oft braucht's nichts, um ein Amt 
zubekommen, als keinenVerstandzu haben. Denn der, welcher 



266 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

es zu vergeben hat, ist mitleidig gegen die, die sein Ebenbild 
sind; schazt an andern das, was er an sich selbst schazt. Gold 
und Silber war alzeit eher in den Handen der wilden, als aufge- 
klarten Volker; also auch in Europa, empfangt es der Weise 
erst als mildtatige Gabe von dem Dummen. Der Tor erhalt 
den Reichtum von dem ZufaL - Der Duns wird von vielen, 
der Nar von sich allein geert: die Ursache ist, weil es unzalige 
Dunsen giebt, und weil Stupiditat in iedem Kopfe dieselbe ist; 
- den Toren hingegen schazt niemand, weil niemand ihm anlich 
ist, und weil die, die seinen Namen tragen, so unendlich man- 10 
nigfaltig sind, daB kein Linnee sie klassifiziren konte. 

Das Reich der Dumheit wird nach und nach eingeschrankt; 
wir durfen fiir die Zukunft eine Sonne hoffen, die mit ihrem 
Licht auch in die fins tern Wonungen der schwachen Kopfe 
dringt. Die Torheiten werden nie weniger werden; aber man 
wird vielleicht noch lernen, sie zu vergeben. - Darin nur sind 
Narren und Dumkopfe einander gleich, daB beide nicht glauben 
das zu sein, was sie sind. — 



III. 
Von der Dumheit 1 



Es ist nicht leicht, viel vom Dummen zu sagen, wenn man zu 
wenig ist, ihn zum Feinde zu haben: man mus gros sein, um 
die Bosheit, die Ranke, die Schwache der Dunsen zu kennen. 
Demungeachtet hat ieder Schriftsteller Fehde mit diesem mach- 
tigen Volke gehabt; wenige sind Pope, Sterne, Zimmerman ge- 
wesen; die meisten haben ihr - eigen Fleisch gehast. 

1 Grosse Kopfe haben soviel Neues dariiber gesagt, daB nichts als 
das Alte davon zu sagen iibrig bleibt. Sie haben uns ein volkomnes 
Bild von dem Dumkopf gezeichnet; allein sie haben zu sanfte Farben 
aufgetragen, die nur das Auge des Kenners reizen. Man mus abstehen- 
dere gebrauchen, um dieienigen aufmerksam zu machen, deren Bild 



Rhapsodien 267 

Das Gedachtnis ist die einzige Fahigkeit, die der Dumme vor 
dem klugen Tier voraushat. Er ist nicht fahig, sich selbst Bilder 
zu schaffen, selbst zu denken; er fangt die Bilder und die Urteile 
des andern auf, und beflekt oft fremde Geburten mit eignem 
Wizze, damit man an dem Kote den Kanal sehe, durch den sie 
gegangen sind. Das Gedachtnis felt denenienigen selten, die kei- 
nen Verstand haben; allein dafiir felt ihnen der Geschmak an 
Dingen, die sie merken solten. Wer nicht selbst denkt, fast eben 
so wenig das, was andre denken; ihm ekkelt vor der losen Speise. 

10 Dafiir macht er sein Gedachtnis zu einem Behaltnis von unniiz- 
zen Dingen, zum Archiv der Dumheit, und ist der Wisch, auf 
den ieder Tor seine Einfalle schmiert. - Er behalt treu, weil 
ihm die Kraft felt, Neues hinzuzusezzen. Der Poet kan uns nichts 
von dieser Welt erzalen, ohne einen Teil seiner eignen Welt er- 
scheinen zu lassen; sein Gedachtnis und seine Einbildungskraft 
liegen mit einander in Streit und plundern sich unaufhorlich. 
Daher erzalt Voltaire so falsch, weil er so schon erzalt. Ein 
Dummer verandert leichter den Zusammenhang als die Be- 
schaffenheit einer Geschichte, und last uns eher aus seiner Erza- 

20 lung erraten, was etwas war, als warum es so war. - Ein Dum- 
mer behalt viel, allein er erinnert sich wenig; die [deen folgen 
bei ihm nur dem Gesezze der Gleichzeitigkeit - ein besserer 
Kopf merkt weniger auf einmal, aber eine einzige Sache erinnert 
ihn an tausend anliche. Bei dem Dummen ist iede Idee isolirt; 
alles ist bei ihm in Facher abgeteilt und zwischen entfernten 
Ideen ist eine Kluft, uber die er nicht hinuberkommen kan. Er. 
kent den Reichtum seines Gedachtnisses nicht; darum ist er im- 
mer arm. Aus derselben Ursache besizt er weder Wiz noch Tief- 
sin. Wiz ist Bemerkung des Verhaltnisses zwischen entfernten 

30 Ideen; Tiefsin Bemerkung des Verhaltnisses zwischen den nach- 
sten Ideen. Der Wizzige durchlauft gleichsam in der Lange, was 
der Nachdenkende in der Tiefe der Ideen durchlauft; der eine 
hateinteleskopisches Auge, der andre ein mikroskopisches. Ein 

sie vorstellen sollen. Ich mochte den Feler begehen, bios zu illuminircn, 
wenn ich mir das Verdienst erwerben konte, gewissen Menschen ihr 
Gesicht gezeigt zu haben. Es ist wenig; aber fur mich genug. - 



268 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

wizziger Einfal ist daher dem Dummen so fremd, als eine tief- 
sinnige Bemerkung. - Die Gedanken des andern interessiren 
ihn mer als seine eigne - eigentlich liebt er nur die Hulle dersel- 
ben, die Worte. Er sieht einen ganzen Tag einen Schriftsteller 
an, um herauszubringen, was er hat sagen wollen; allein er errat 
niemals den Sin eines denkenden Mannes - er giebt ihm selbst 
einen. Er beschaftigt sich, dem andern den Schriftsteller so zu 
geben, dafi er ihn geniessen kan; er hat keinen Nuzzen von den 
vortreflichen Gedanken, die er liest; er stirbt Hunger bei der 
Malzeit und ofnet die Schale, damit ein andrer den Kern esse. 
- Der Staub der.Folianten ist seine Narung, er grabt sich da 
ein, wie der Kafer in den Kot, und oft konte man sagen, daB 
er vom Rost lebe. 

Der Dumkopf hat sich am meisten liber den Mangel der Ein- 
bildungskraft zu beklagen..Die Blumen der Phantasie bliihen 
nicht in seinem Gehirn. Lebhafte, neue Bilder sind gleichsam 
die Blute von unsern Begriffen, welche im kiilern Herbst des 
Mannesalters geniesbare Friichte fur die Vernunft, tragen. Wer 
neue Bilder schaft, schaft die Keime zu neuen Gedanken. Allein 
eben deswegen weil der Dumme die Dinge nicht lebhaft sieht, 
so bemerkt er auch ihre unbekantern Verhaltnisse nicht; und 
hat deswegen keinen Verstand. Unsre Einsicht in die Dinge 
hiingt von der Lebhaftigkeit ab, mit der wir sie denken. 2 - Die 
Einbildungskraft eines Meskiinstlers und eines Dichters kan im 
Grade bei beiden dieselbe sein; sie unterscheidet sich bios in 
der Art. Eine feurige Einbildungskraft ist die erste Anlage zum 
Genie; eine untatige und tode das sicherste Kenzeichen der 
Dumheit. Denken ist daher dem Dummen beschwerlich, er be- 
gniigt sich mit dem Nachbeten. Man kan gut schliessen, wer 
nicht denkt, betet nach; aber nicht umgekert, wer nachbetet, 
der denkt nicht. Daher fliesset seine Hartnakkigkeit in seinen 

2 Auch in den tiefsinnigsten Untersuchungen verrichtet die Einbil- 
dung das Hauptgeschafte; bei dem gewonlichen Menschen stelt sie das 
Bild der Sache, bei dem tiefsinnigen die Teile der Sache, lebhaft dar. 
Leibniz hatt* eben so gut anstat der Teodizee, eine Jliade schreiben kon- 
nen; und Malebranche war Pindar in der Metaphysik. - - 



RHAPSODIEN 269 

Entschliissen; er vertauscht selten alte Torheiten mit neuen, 
noch weniger halt er's fur gut, weiser zu werden. Bios darinnen 
verandert er sich, dafi sein Stolz mit seinem Alter zunimt. Des- 
wegen sieht er mit hochmikigem Mitleid auf den herab, der 
zuviel denkt, um alzeit dasselbe zu denken, der seine Eitelkeit 
seiner Warheitsliebe aufopfert und das Gestandnis einer unange- 
nemen Warheit der Hegung eines erkanten Irtums vorzieht. 
Deswegen ficht er mit patriotischem Mut fur die Uberlieferun- 
gen seiner Voreltern, und sucht alle Waffen aus dem Riisthause 

10 der Bosheit und Dumheit hervor, um den riistigen Feind des 
Alten zu schlagen. Jede neue Entdekkung raubt ihm seine Ge- 
wisheit, seine Ruhe, seinen Stolz, zerstort das Gebaude seines 
Wissens und wafnet ihn mit Wut gegen ihren Urheber. Sein 
kleiner Geist nart sich von Kleinigkeiten; er verliert daher bei 
ieder Neuerung. Du glaubst gewisse Spinweben der Vorzeit 
zerstoren zu durfen; allein weist du nicht, dafi es Tiere giebt, 
die sich bios von diesen Geweben naren? - Sein Ideensystem 
beschrankt sich auf eine kleine Anzal Begriffe, die tief in ihm 
haften, weil sie in seiner Jugend ihren Weg durch den Rukken 

20 namen; die er fiir heilig halt, weil sie die Reliquien von dem 
Geiste seines Vaters sind und einen Teil seiner Erbschaft ausma- 
chen. Sein Kopf ist eingeschrankt, seine Einbildungskraft tod, 
sein Verstand klein; sein Herz ist eben so eingeschrankt, eben 
so tod, eben so klein. Der Verstand mus das Herz mit seinen 
Stralen erwarmen, und es ist ungereimt zu sagen, daB die groste 
Tugend nicht den grosten Verstand voraussezze. 

Der Dumme begeht niedrige, aber keine grosse Laster. Bei 
ienen vereinigen sich Bosheit und Schwachheit, bei diesen be- 
wundert man die Menschheit in ihren Ruinen; in iene versinkt 

30 man langsam, in diese stiirzt man auf einmal. Schwachheit, 
Langsamkeit, Blindheit bestimt den Dummen zu den erstern: 
die leztern wiird' er erst begehen konnen, wenn er eines hohern 
Grads von Tugend fahig ware. 

Neid- dieser ist das erste Unkraut, welches neben dem Hoch- 
mut in seinem Herzen keimt. Dieser Bastart unsers heiligsten 
Triebes, dieses Kind des Mangels, diese Narung einer ausgezer- 



270 JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG 

ten Sele, briitet in dem schwachen Kopfe ieden unmerkbaren 
bosen Vorsaz zur niedrigen Tat aus. Er beneidet den Weisen 
eigentlich nicht ura seinen Verstand: denn er hat sich zu gewis 
Ciberzeugt, ihn in diesem zu iibertreffen; sondern er beneidet 
ihn, um die Ere, die er sich erwirbt, um die Bequemlichkeiten, 
die er sich verschaft. Er sieht wol ein, dafi er seinen Schimmer 
nicht eher bemerkbar machen kan, als bis er den Glanz des an- 
dern verdunkelt, wie eine grobe Erde die Sonne, er begreift, 
dafi seine Grosse nur auf den Ruinen des aufgeklarten Mannes 
wachsen kann, wie Mos auf verfalnen Pallasten, und daB seine 10 
Dumheit so lange der Verachtung ausgesezt sein werde, so lange 
das Verdienst die meisten Vererer behalt - deswegen gewont 
er sein Auge, die Feler des grossen Marines zu entdekken, und 
in ieder Sonne die Flekken zu sehen, seinen Mund, durch Stil— 
schweigen zu verlaumden, durch versteltes Lob die unbemerk- 
ten Feler zu geiseln, und liberal mit dem Unrat der Verkleine- 
rung das Verdienst zu bespeien, und endlich sein Herz, das Bose 
mit dem Vergniigen eines Teufels zu lieben, alle menschen- 
feindliche Regungen mit einer geheimen Freude zu naren und 
sich in ein Kloak ieder niedrigen Begierde zu verwandeln. Der 20 
Dumme wiirde viele Laster nicht haben, wenn es keine Weisen 
gabe; diese sind gleichsam seine Fiirer zur Holle. Der Dumkopf 
ist meistens gluklich, wenn er den aufgeklarten Kopf angreift. 
Grosse Manner werden selten durch grosse Manner gestiirzt; 
sie kpnnen sich gegen sie verteidigen, sie fallen wenigstens mit 
Rume, und teilen die Ere mit ihrem Besieger. Desto ofter hinge- 
gen werden sie durch die Zwerge der geistigen Welt gestiirzt. 
Nie sind diese Geschopfe allein; sie halten sich zusammen wie 
die Zugvogel, und fulen ihre gegenseitige Anziehung am stark- 
sten im Kriege gegen den Klugen. Der grosse Man verachtet 30 
die Miikkenstiche der kleinen Geister; er betriigt sich. Sie haben 
zwar nicht die Starke des Elephanten, um seinen Tron zu er- 
schuttern; aber sie durchnagen im Geheim seine Feste wie Holz- 
wtirmer und zerlochern die Stiizze desselben, bis sie nieder- 
stiirzt. Fiel Olavides durch einen zweiten Olavides? - nein, 
durch die heilige Inquisizion. - 



RHAPSODIEN 27 1 

Der Neid kan dem Rechtschaffenen sein Verdienst nicht be- 
nemen; aber er kan die Wirkungen desselben verhindern; so 
wie gewisse Wurmer dem Obstbaum nicht schaden, aber seine 
Friichte dem Menschen ungeniesbar machen. 

Ein andrer Hauptzug in dem Bilde des Dumkopfs ist sein 
Stolz. »Was die Natur an Verdienst versagt hat, sagtPope, ersezt 
sie durch reichlichen Stolz: denn wir finden in der Sele, so wie 
im Korper, das vom Wind' aufgeblasen, dem Blut und Lebens- 
geisterfelen.« Der Himmel benam dem Dummen wol den Ver- 
io stand, aber nicht die Meinung, ihn zu haben: der Stolz ist ein 
angenemer Traum, der den schwachen Kopf dem aufgeklarten 
gleich macht, eine Blindheit, die ihm seine Mangel verbirgt, 
ein Praservazionsglas fur seine Eigenliebe bei dem Glanze des 
Genies. Wir wollen diesen Feler, der weiter nichts als lacherlich 
ist, naher kennen lernen. Stolz ist der grosse Man - aufgeblasen 
der Dumme bei'm Aufgeklarten, eitel bei seinesgleichen. Man 
mus vorher den erlaubten Stolz kennen lernen, um besser iiber 
den unerlaubten zu urteilen. 

Stolz ist wares Gefi.il unsrer Volkommenheiten; dieses hat 
20 ieder, welcher Vorziige vor andern besizt. Allein eben dieses 
Bewustsein des eignen Werts hindert den verdienstvollen Man, 
um das elende Lob des Narren zu betteln, sich durch Krummen 
eine Unsterblichkeit aus dem Atem des andern zu erkaufen und 
seine Grosse erst durch vorhergegangene Erniedrigungen zu 
verdienen. Er ist gegen das Lob des andern gleichgultig; sein 
eignes ersezt ihm iedes fremde. Deswegen scheint er demutig 
zu sein; und ist's nicht; er ist bescheiden. Er sucht sein Verdienst 
nicht darin, zu sagen, da8 er gros ist, sondern es durch Handlun- 
gen zu beweisen: er pralt nicht in der Vorrede mit seinen Ein- 
30 sichten; in dem Buche selbst zeichnet ef sein Bild mit glanzen- 
dern Farben. Und wenn dieser Man klein von sich denkt, so 
denkt er nur so, in Vergleichung mit dem Ideal von Grosse, 
das er sich gebildet hat, nicht in Vergleichung mit der Grosse 
derer, die ihn umgeben. - 

Der Hochmut erfiilt im Dummen den leren Raum, den sein 
Verstand iibrig last. Dieses Mikroskop, wodurch seine Eigen- 



272 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG • 

liebe seine Volkommenheiten betrachtet, vergrossert iede seiner 
guten Seiten in's Unendliche, schwelt Kleinigkeiten zu Tugen- 
den auf und last ihn in den Schlakken von nachgebetetem Unsin 
das Gold einer tiefgedachten Warheit sehen. Er heftet seinen 
Blik so lange auf seine Volkommenheiten, bis er seine Feler 
nicht mer sieht und, durch den Glanz des Lichts geblendet, auch 
an dunkeln Gegenstanden einen Schimmer bemerkt. - Deswe- 
gen mist er nach seinem Ich ieden Riesenkorper; schazt an dem 
andern nur die Anlichkeit mit sich und erteilt dem die meisten 
Lobspriiche, der gleiche - Oren mit ihm hat. Er ist der erste, 10 
der die Torheiten belacht, die nicht die seinigen sind, der die 
Feler bestrafet, welche man an ihm nicht abgelernt hat - aber 
er ist alzeit der lezte, Gutes von dem Verdienst zu sagen, welches 
ihm mangelt und dem berumten Manne die Lobspriiche zu er- 
teilen, die er sich selbst versagen mus. Jede Handlung, dazu 
er nicht das Muster gegeben hat, iede Meinung, die nicht aus 
seiner Werkstat kommt, iede Person, die nicht sein Freund ist, 
ieder Ort, den er nicht durch seine Gegenwart heiligt, iedes 
Land, das nicht das seinige ist, alles dies scheint ihm seine Ver- 
achtung zu verdienen; er betrachtet's mit Gleichgultigkeit, und 20 
bemerkt mit heimlichem Vergniigen die Giite alles dessen, was 
er ist, was ihm gehort. - Gegen die, die mer Verstand haben, 
als er, betragt er sich aufgeblasen; d. h., er aussert seinen Hoch- 
mut durch Verachtung des andern. Er flieht den Wei sen, wie 
der Affe den Spiegel, der ihm seine Misgestalt zeiget. In der 
Gesellschaft der aufgeklarten Manner ist er stum; wenn ihm 
nicht sein Rok oder sein Stern das Recht zu reden erkauft hat. 
Er vergiitet sich die Langweile, die ihm des andern Weisheit 
macht, durch die hohe Meinung von sich selbst, die er in dem 
Masse vergrossert, in welchem der Widerstand von aussen zu- 30 
nimt. Er verachtet das kleine Volkgen, welches nicht seinen 
Verstand hat; und denkt von demselben zu gering, als daB er 
ihm die Weisheit predigen solte, die nur fur - gewisse Oren 
gehort. Wir sind geneigt, die Lobspriiche derer fur unbedeutend 
zuhalten, die uns keine erteilen mogen; wir verachten, wie der 
Fuchs, die Traube, die wir nicht bekommen konnen; daher 



RHAPSODIEN 273 

scheint der Dumkopf die Ere entberen zu wollen, die ihm der 
Weise versagt; daher ist er gegen diesen aufgeblasen. Der Duns 
liebt die Geselschaft der Dunsen; hier sucht er dem Drang seiner 
Erbegierde einen Ausweg zu verschaffen und seine Einsichten 
mitunverwelkenden Lorbern zu bekronen. Er bult urn den Bei- 
fal seiner Mitbriider: deswegen erzalt er die Siege, die er iiber 
des andern Verstand erhalten hat, fiirt ieden klugen Gedanken 
zur Schau auf, den er und seine Mitgenossen mit dem Kote 
des Tadels. bewerfen, und stelt die Weisheit an den Pranger, 

10 um sie dem Lachen der Dumheit Preis zu geben. Hier kriechen 
die Dummen auf dem Kolos des Verdienstes wie Insekten 
herum, um an demselben die Hokker und Ungleichheiten zu 
sehen - Hier Ziehen sie mit dem Stachel der Verlaumdung aus 
ieder guten Handlung den Gift und wissen ieder ungewonlichen 
Tat die Farb' ihres Herzens zu leihen. Also bios im Lande der 
E- errichtet sich der Dumme seine Trophaen, seine Monu- 
ments, seine Unsterblichkeit - Hier bios ist er eitel. - Nie ist 
der schlechte Kopf demiitig; er scheint's oft; allein er verhelt 
nur seine gute Meinung von sich, aus Furcht ausgelacht zu wer- 

20 den. Er denkt zuviel Gutes von sich, als dafi er's sagen konte. 
Niemand kriecht aiich leichter als ein Aufgeblasener; er ernied- 
rigt sich unter die Wiirde des Menschen, weil er keinen waren 
Begrif von der Hohe desselben hat. 

Seine Tugend hat er seinem Korper, und, wenn man wil, 
seinem Aberglauben zu danken. Er ist ein Heiliger, weil er einen 
vertraglichen Unterleib, ein frommes Blut und ein ruhiges Ge- 
hirnhat. Das ubrige ist Aberglauben. Er unterwirft sein Bisgen 
Vernunft, das er noch hat, dem Glauben; er erfult die Welt mit 
Wunder, damit der gesunde Verstand keinen Plaz mer behalte; 

30 er liefert iede Woche einmal mit den Anfechtungen des Teufels 
einTreffen, welcher seine Einbildungskraft zu einem Gukkasten 
von Siinden und Lastern machen wil; er kreuzigt sich, so oft 
er an die Holle, und das ihr Anliche denkt; er denkt sich Himmel, 
Got, Welt und Religion nur mit solchen Worten, die er nicht 
versteht, und steigt auf Postillen und Gebetbiichern wie auf einer 
Leiter den Himmel hinan; ihm ekkelt der Geselschaft der Men- 



274 JUGENDWERKE " I . AfiTEILUNG 

schen, weil er die heil. Engelein besser findet; er begeht alle 
Laster der Menschenfeindschaft, der Verlaumdung und des 
Neids, weil er sie fur - Schwachheitssunden halt; er verbrent 
die Kezzer auf der Erde, weil er ohnehin weis, daB sie in der 
Holle ewig brennen werden, er bittet Got, er mochte ihn vor 
dem Verstand der Philosophen und dem Gift der Aufklarung 
bewaren und verhiilt sich in den Mantel des Aberglaubens, um 
sich in iedem Laster ohne Beflekkung herumwalzen zu durfen 
- das ist das Bild des dummen Heiligen. Vielleicht ist dieses 
Bild nicht ganz ausgemalt; allein wer wil den kopiren, der den 10 
grosten Teil seines Gesichts unter die Larve der Heuchelei und 
der Religion, und unter dem Schatten der Einsamkeit und Ab- 
sonderung verbirgt? - Die Dumheit ist die Mutter des Aber- 
glaubens, und ich glaube, sie hat sich bios das Kleid der Religion 
erborgt, um in einer gefalligern Gestalt zu erscheinen. Allein 
man lernet den Dummen am meisten kennen, wenn er heilig 
ist. - Ich hore auf von dem Volke zu reden, dessen Verstand 
es weniger der Verachtung Preis giebt, als es sein Herz dem 
Hasse ausgesezt hat: ich mus aber vorher von seinem Gliik in 
der Welt noch etwas sagen. 20 

»Der Dumkopf fart mit Sechsen, der aufgeklarte Man geht 
zu Fus hintennach; der Dumme glanzt in Gold, der Weise friert 
in Lumpen; man bekront des Einfaltigen Einsichten mit Geld, 
mit Ere, man verfolgt den Weisen, lafit ihn in der Jugend ver- 
hungernundhochstens, wenn er grau ist, ein Amtgen erbetteln. 
Warlich! die Dumheit ist so gliiklich, daB man's verwiinschen 
mochte, ein Weiser zu sein.« So knirscht erbittert der, welchen 
Dunsen drangen - welcher vor dem Tron des Toren kriechen 
sol, um erhohet zu werden. In iedem Lande hort man diese 
Sprache; ausser in England nicht, wq man die Verdienste belont, 30 
und in S-, wo es keine giebt. Aber ich wil ihm etwas sagen, 
das ihn vielleicht ruhiger machen wird, wenn sein Herz so gros 
ist als sein Verstand. Warum bist du mismutig, mocht' ich ihn 
anreden, wenn dein Nebenmensch nicht ganz ungliiklich, nicht 
ganz aller Giiter beraubt ist? Er hat keinen Verstand; sol er auch 
das nicht haben, was den Verstand ersezt? Er entbert die meisten 



RHAPSODIEN 275 

geistigen Vergniigungen; sol er auch einen Teil der korperlichen 
entberen? Du hist gegen den andern zu grausam; gegen dich 
zu eigenliebig, wenn du reich und klug zugleich sein wilst. Las 
den Himmel Armut und Dumheit in ein Geschopf vereinigen 
- es wird das elendeste unter der Sonne sein: es felt ihm alles, 
sein Gluk zu machen; es kan nicht einmal ein rechter Bosewicht 
sein. Und wenn ia die Armut einen Dummen zeugt, so ist schon 
auf eine andre Art fur ihn gesorgt. Oberal sind reiche und mach- 
tige Dunsen gepflanzt, die reichlichen Schatten iiber ihre Mit- 

10 briider verbreiten, die ihre eigne Verdienste an den Brudern 
ihres Geistes belonen. Sie ziehen sich an wie der Magnet das 
Eisen; sie fiilen ihre briiderliche Verwandschaft. In iedem Lande 
ist so ein Man, der lange Oren fur eine Zierde halt, und seinen 
Kopf schazt, weil er so dum ist. Dieser befordert die Vertrauten 
seiner Dumheit; beglukt ieden, der zum Orden der Dunsen ge- 
hort und verbant den Aufgeklarten als einen Rebel aus dem 
friedlichen Reiche der Esel. 

»Den Spiegel hat die Katoptrik noch nicht erfunden, darin 
der Dumme sich sehen konte« - Man irt sich - der Spiegel ist 

20 langst da - gebt dem Dummen nur erst Augen zum hineinsehen, 
d. h. macht ihn klug! ! - 



mi. 

Von dem unzeitigen Tadel der Feler des andern 



Es giebt Menschen, die ihre Feler nicht anders als mit ihren 
eignen Augen entdekken wollen. Bei diesen mus man sich hii- 
ten, ihnen ihre Torheiten zu sagen: denn dieses ist gerade das 
Mittel, sie in dieselben verliebt zu machen; man mus aber su- 
chen, ihr Auge zu verbessern, daB sie sie selbst sehen, man mus 
sie auf gleiche Feler andrer aufmerksam machen, und sie gewo- 
30 nen, ihre Flekken in andern parodirt zu erblikken. Einen Mach- 
tigen tadeln, heist nicht, sein Urteil verbessern - das heist, ihm 
Gelegenheit geben, es zu verteidigen, es fest einzupragen, es 



276 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

durch Scheingriinde gegen die Anfalle der aufwachenden Ver- 
nunft zu schiizzen. Der Mensch wil den Despotism, den ihm 
das Schiksal iiber die Handlungen des andern gegeben hat, auch 
iiber die Meinungen desselben ausdenen; er wird also nie, wenn 
er getadelt wird, seinen Irtum eingestehen, er wird den getadel- 
ten Feler desto ofter begehen, um uns dadurch zu widerlegen, 
und zu beweisen, daft er sich nicht geirt habe. Gebt einem feuri- 
gen Fiirsten einen pedantischen Moralisten an die Seite - er wird 
der groste Bosewicht werden, der ie den Tron verunert hat, 
er wird alle die Feler haben, die man an ihm getadelt hat, und 10 
man wird ihn nicht mer bessern konnen, weil man ihn zu bald 
bessern wolte. - Ferner: auch der Hochmutige wird durch un- 
vorsichtige Bestrafung seiner Feler zu ieder Art von Laster ange- 
wont. Er wird gewis nie eine Torheit ablegen, die man an ihm 
getadelt hat, weil er zu stolz ist, sich zum Bekentnis eines Irtums 
zu bequemen. Er bessert sich nur da, wo er glaubt, dafi unserm 
Auge der Widerspruch zwischen seinen Handlungen mog' ent- 
gangen sein. Eben so wird der Schriftsteller den Irtum nicht 
wiederrufen, den man widerlegte, da sein Buch erst die leztc 
Messe herausgekommen war. Endlich ist unzeitiger Tadel bei 20 
dem, der vol Leidenschaft ist, unnuzlich, schadlich, gefarlich. 
Grosse Leidenschaften werden durch Tadel verstarkt, kleine 
vermindert, so wie der Wind ein loderndes Feuer zu weit um 
sich greifenden Flammen anfacht, und ein kleines im ersten Auf- 
glimmen erstikt. Im leidenschaftlichen Zustand komt's nicht 
darauf an, was die Dinge sind; sondern was sie uns zu sein schei- 
nen: wenn mir da der andre sein Urteil saget, so verbessert er 
das meinige nicht; ich ziehe meine Empfindung seinem Aus- 
spruche vor. Die Leidenschaften verderben nicht bios das Auge, 
um die Dinge schief zu sehen; sie nemen uns auch das Or, die 30 
Meinung des andern dariiber zu horen. Was ist hierbei zu tun? 
wie sol ich die Feler des Machtigen, des Hochmutigen, des Lei- 
denschaftsvollen verbessern, ohne ihren Stolz zu beleidigen, 
ohne ihren Meinungen zu widersprechen, ohne ihnen Anlas zu 
neuen Verirrungen zu geben? - Man mus entweder den Vorsaz 
einer unschiklichen Handlung verhindern, die Gelegenheit dazu 



RHAPSODIEN 277 

abschneiden und. die ware Seite des Lasters in ihrer schreklichen 
Gestalt darstellen, ehe man durch die anscheinend gute desselben 
gewonnen ist, — oder man mus den Feler erst lange nach der 
Tat bestrafen. Das erste steht selten in unsrer Gewalt; das lezte 
fast alzeit. Jedes Laster gefalt eh' man's begeht; wir lieben es 
so lange, als wir es noch nicht begangen haben, wie die Braut 
vor der Hochzeit - allein nach der Verbindung mit demselben 
fait seine Schminke weg, es gebiert Kinder, die unsre Geiseln 
werden und uns die Beschaffenhek ihrer Mutter nur zu deutlich 
verraten. - Hier ist der Punkt, wo iede Warming, iede Bestra- 
fung niizlich wird; wir fiilen an uns selbst die Warheit, die man 
uns sagt, deswegen glauben wir ihr, handeln nach derselben 
und machen sie zu unsrer bestandigen Begleiterin. »Der Pedant 
und der Unterweiser, sagt Rousseau, sagen beide einerlei: der 
erste aber sagt's zu aller Zeit; der andre sagt's nur, wenn er 
der Wirkung seiner Reden gewis ist. « Der Pedant redet da, wo 
ihn die Umstande widerlegen; der Weise legt den Umstanden 
seine Reden gleichsam in den Mund; iener sagt zu alien Zeiten 
dasselbe, dieser sagtzuieder Zeit nur das, was sich hieher schikt; 
icner kan zur Not kleine, dieser auch grosse Selen bessern; iener 
schadet oft, dieser arbeitet selten umsonst. - Es ist noch ein 
Weg iibrig, um den andern zu verbessern, den man unter alien 
am wenigsten betrit. Ich wil ihn in diesem Gesprache zeichnen. 

A. Wie sol ich einen Narren zu einem noch grossern 
machen? [usw. wie oben S. 103, 5-16] - Manche sind Teu- 
fel geworden, weil man ihnen niemals sagte, daB sie Engel 
sein konten. — 



V. 
Abgerissene Gedanken uber den grossen Man 



30 Man lernt die grossen Manner erst recht geniessen, wenn man 
sie schon lange genossen hat; erst durch die Warme der Freund- 
schaft reifen die Fruchte, die so siis zu kosten sind, die die Vor- 



278 JUGENDWERKE ; I.ABTEILUNG 

treflichkeit des Baums beweisen. Draussen in der Welt blenden 
sie, und verschiessen feurige Stralen; man mus naher bei ihnen 
sein, urn Warme von ihnen zu empfangen. Ihr Schiiler sein, 
ist viel; ihr Freund sein, ist zenmal mer. — 

Der Man, der auf dem Atna steht, sieht eher die prachtige 
Sonne, als die untern Talbewoner. - So sieht der aufgeklarte 
Kopf friiher die Morgenrote eines Genies, als sie die stumpfen 
Augen der Dummen sehen. Er sieht das Genie am fruhen Mor- 
gen, er sieht es bis an seinen Untergang; iene sehen es nur, 
wenn es schon blendet, schon brent. - So wie wir den Wert 10 
gewisser Dinge nur durch ihren Besiz kennen, eben so scheint 
nur der die Grosse eines Andern richtig zu schazzen, [Liicke 
gelassen] 

So wie's Sonnenfinsternisse giebt, so giebt's auch Verdunk- 
lungen des grossen Mannes. Daher sieht der Machtige die ver- 
dienten Manner nicht, weil ihn immer die dunklen Korper des 
Neids und der Verlaumdung umkreisen, und durch ihr Dazwi- 
schentreten scheinbare Flekken in dem Glanze des Verdienstes 
verursachen. Allein man sieht eigentlich am beriimten Manne 
nicht seine eigne Flekken, sondern die Flekken seiner Neider. - 20 

Grosse Manner sind am niizlichsten, wenn sie durch die Jare 
ihre Feler abgelegt haben, und gefallen erst am Abend ihres 
Lebens, wie die Sonne bei ihrem Untergange. Sie sind gros, 
ohne gefarlich zu sein; sie warm en, aber sie brennen nicht; sie 
verbreiten sanfte Stralen, ohne blendenden Glanz. In ihrem Le- 
ben waren sie grosse Geister, bei ihrem Tod grosse Menschen: 
und verdienten dort unsre Bewunderung, hier unsre Liebe. 

Das Ungluk schadet dem grossen Manne wenig, welcher auf 
den Trummern seines vorigen Gliiks zu einer betrachtlichern 
Hohe hinaufsteigt. Und, wenn es ihn auch unterdriikt, so endigt 30 
er seinen Lauf wie eine Sonne, entzieht sich almalig den Augen 
seiner Zeitgenossen, und vergoldet noch durch ein schones Ende 
die triiben Wolken des verflossenen Lebens. Allein er geht auch, 
wie die Sonne, in einem andern Lande mit morgenrotlichen 
Stralen auf; er glanzt mit seinem Rum der Nachwelt. Das Gluk 
ist ihm gefarlicher; es kostet ihm mer Miihe, gros zu bleiben, 



RHAPSODIEN 279 

als gros zu werden, und die Warme der guten Tage scheint 
die wachsernen Fliigel zu zerschmelzen, mit welchen er sich 
in die Hohe schwingt. - 

Derienige soke den grossen Man nicht loben, der ihn nurloben 
lean, der nicht sich selbst einen Teil des Lobes zueignen darf 
- Herlicher klingt die Lobrede, die ein grosser Man auf den 
andern, ein Friederich auf einen Voltare macht: denn er allein 
kent das ware Grosse, er allein stelt es am besten in seinem 
naturlichen Glanze dar. Wir hingegen schweigen; wir lassen, 
10 wie Zasar, eine Trane der Nacheiferung fallen, unser stilles 
Staunen wird der Herold von der Grosse iener Manner, und 
unsre Liebe gegen sie das Monument ihrer Unsterblichkeit. - 



VI. 

Vom Menschen 



Der Mensch ist ganz vol Wunder und vol Ratsel; und das groste 
unter alien ist, daft er sie nicht kent, und sich keine Miihe giebt, 
um sie einmal zu kennen. Jeder gesteht zwar, daft sich im Men- 
schen Geheimnisse finden - allein dieses ist ein Komplimen fur 
seinen Scharfsin - kurz darauf erklart er diese Geheimnisse. Ich 

20 kan weder die alten besser erklaren, noch sie mit neuen verme- 
ren; ich wil bios versuchen das Langegesagte zu wiederholen, 
damit ein Andrer etwas Neues dariiber sage. 

Der Pedant in der Psychologie hat den Menschen, dieses voile, 
und aus verschiednem Stof gewebte Werk Gottes, in ein morali- 
sches Skelet verwandelt; er hat mit dem Messer der Abstrakzion 
und Distinkzion alles Fleisch weganatomirt, und ein Gerippe 
gemacht, dessen Gebeine in den Paragraphen der Kompendien 
zerstreuet sind. Diese Geschopfe sind keine Menschen, sie tau- 
gen nicht in die Welt; sie passen hochstens auf den Katheder, 

30 wo man die menschlichen Puppen durch Drat bewegt, um fur 
Geld eine behagliche Komodie zu geben. Der Mensch hat tau- 



280 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

send Seiten; aber man sieht alzeit nur Eine. Der Systematiker 
beurteilt ihn nach dieser einzigen, verschliest sein Auge gegen 
die andern und bemerkt in ihnen nichts als die Anlichkeit mit 
dieser. Der Skeptiker hat widersprechende Seiten gesehen; er 
weis genug, um sich die Brille des Systems nicht aufsezzen zu 
lassen; allein er weis zu wenig, um nicht Skeptiker zu sein. Wenn 
nur eine unendliche Hand den Menschen schaffen konte; so kan 
ihn vielleicht auch nur ein unendliches Auge durchschauen. Er 
ist das Geschopf, welches die Fahigkeit besizt, das Unvereinbare 
zu vereinigen - das Geschopf, welches Nar und Weiser, Gotloser 10 
und Heiliger zugleich ist. Er ist im Stande, alles zu werden, 
aber nicht, etwas ganz, etwas lange zu sein; er lebt von der 
Veranderung. Er ist so gros und so unvolkommen, so gut und 
so bose, so weise und so toricht, dafl wir ihn gleich ser bewun- 
dern und verachten, lieben und hassen miissen. Wenn seine La- 
ster in seine Tugenden, seine Torheit in seine Weisheit verwebt 
ist, wie Schatten und Licht, und wenn beide oft kampfen, wie 
Nacht und Tag - was sieht dan der Weise? - wenig, eine Dam- 
merung. Den Glanz seiner Tugend umschattet seine Schwach- 
heit; allein auch seine niedrigsten Laster tragen den Stempel sei- 20 
ner Grosse; er zeigt in seiner Tugend, wie wenig er ist, in seinem 
Laster, wie viel er sein konte; er erwirbt sich keine grosse Eigen- 
schaft, ohne wieder eine andre zu verlieren, und iede seiner Vol- 
kommenheiten zieht eine Unvolkommenheit nach sich, wie der 
Korper den Schatten. Der Himmel bildete den Menschen zum 
Geschopf, welches tausend Volkommenheiten an sich vereinigt, 
die in andern Wesen einzeln anzutreffen sind, und das alle die 
Unvolkommenheiten bei sich warnimt, welche die Kollision 
so verschiedner Fahigkeiten hervorbringt. Unsre Ubel kommen 
also nicht daher, weil wir keine Volkommenheiten haben, son- 30 
dern daher, weil wir so grosse, so verschiedne haben. Vielleicht 
werden uns einst die Feler, die wir iezt verdammen, iiber die 
Engel erheben; und vielleicht werden wir dem Schopfer fur das 
danken, was uns iezt einen Einwurf gegen seine Vorsehung ab- 
giebt. Was wissen wir aber eigentlich von der Giite oder Nicht- 
giite unsrer Natur? so viel, als ndtig ist, um das Ratselhafte 



RHAPSODIEN 28 1 

unsers Zustandes zu fiilen - der Vorhang der Ewigkeit verbirgj: 
uns noch neben tausend Dingen auch uns selbst, und wir werden 
nicht eher das kennen lernen, was wir sind, als bis wir es nicht 
mer sind. - 

Sinne und Verstand - siehe! zwei Feinde, die ewig mit einan- 
der im Streit liegen, und da ieder nur siegt, um in kurzem vom 
andern iiberwunden zu werden. Unsern Sinnen haben wir viel 
zu danken; wenigstens die Irtiimer, die uns auf die Warheit ge- 
bracht haben. Siebetrugenimmer; allein in diesem Betruge liegt 

10 auch der Same der Warheit. Wir losen das vermischte Licht 
der Sinne durch das Prisma der Vernunft in seine einfachen Far- 
ben auf; wir gehen weiter als uns der Schopfer die Macht gab; 
wir sehen durch das Sinnenlicht nicht bios andre Gegenstande; 
wir sehen durch dasselbe uns selbst. Ein Licht ziindet das andre 
an, und unsre Sinnen erleuchten unsern Verstand. Der Mensch 
ist ein Sklav seiner Sinne und zu ewigen Irtiimern verdamt; 
allein er mus eben so gut der Vernunft gehorchen; er mus zween 
Herren dienen. Er fiilt Irtiimer, die er glauben mus; Warheiten, 
die ihm sein Auge widerlegt. Dieses ist nun nicht wunderbar, 

20 daB er die Welt durch das gefarbte Glas seiner Sinne betrachtet, 
dieses ist nicht unerklarbar, daB der Alweise selbst diese Tau- 
schung zu seinem Nuzzen veranstaltet hat; allein dieses ist wun- 
derbarer, dafi er noch einen Blik neben diesem Glas hinaus auf 
die ware Gestalt der Dinge werfen kan,dieses ist unerklarbarer, 
daB er die Tauschung warnimt, in welcher er sich befindet, und 
einem Teil der Irtiimer widersteht, die man ihm aufdringen wil. 
Leibnizzens Monadologie hebt den Vorhang der Zukunft auf, 
und erofnet dem Lichte der Ewigkeit den Zugang in die sterbli- 
chen Augen; sie sagt den Menschen das , was sie als Engel erf aren 

30 solten; sie macht uns gros in der Hiille, und zu wunderbaren 
Mittelgeschopfen entfernter Welten. Man mus dariiber denken, 
um das wunderbare zu fiilen; es verliert, wenn ich mer davon 
sage. - r 

Wenn man die Meinungen des Menschen betrachtet; so wird 
er bald gros, bald klein, bald schazbar, bald verachtlich, d.h. 
er wird widersprechend. Die Krafte des menschlichen Verstan- 



282 JUGENDWERKE ' I.ABTEILUNG 

des verdienen unsre Bewunderung, ihre iible Anwendung erregt 
unser Bedauern. Die Meisterstiikke der grosten Geister sind 
meistens Gebaude von Irtiimern - auf ihren Irwegen errichten 
sie die Monumente ihrer Unsterblichkeit. Der Mensch klimt 
an den steilen Hohen der Untersuchung iiber die Wolken des 
Irtums hinaus und atmet die reine Atherluft erhabner Warheiten 
auf dem Gipfel des erstiegnen Berges; allein er sinkt eben so 
tief wieder herab, als er gestiegen war; ihn umhiilt der Nebel 
der Unwissenheit, und die Dunste des Aberglaubens; ihn nart 
der Schlam der verderblichsten Irtiimer. Er hat so erhabne War- 10 
heiten erfundenund.so nichtswiirdige Dumheiten geglaubt, daB 
man ihn nie genug loben und nie genug tadeln kan. Wir haben 
einen grossen Verstand; aber wir wissen ihn nicht zu gebrau- 
chen; er ist ein Diamant in den Handen der Kinder; er ziert 
uns erst in der Ewigkeit, wenn wir Manner geworden sind. 
- Im Menschen ist ein wunderbares Chaos von Warheiten und 
Irtumern. Er klimt oft nur zu hohern Warheiten hinauf, um 
in tiefere Irtiimer herabzusturzen; sein Bemiihen sich vom Irtum 
loszureissen, ist vergeblich; er walzt den Stein des Sisiphus; die 
Unwarheiten, die er glaubt, haben ein richtiges Verhaltnis mit 20 
seinem Verstande. Allein, eben so wenig wird er gar nichts wa- 
res glauben konnen. Selbst die Gebaude seiner Irtiimer sind aus 
Trummern iibelverstandner Warheiten zusammengesezt; selbst 
in den abgeschmaktesten Theorien der Morgenlander verkent 
man die Richtigkeit seines Verstandes nicht, und immer haben 
seine Verirrungen den Weg zur Warheit durchkreuzet. 

Seine Einbildungskraft baut aus Bruchstiikken dieser Welt 
eine neue zusammen; sie ist die Malerin von Meisterstiikken, 
dazu die Sinne bios die Farben geliehen haben - dieses ist nicht 
wunderbar; allein dieses ist's vielleicht mer, daB sie nicht das 30 
Endliche, sondern das Unendliche malt und in dem engen Be- 
zirk des menschlichen Gehirns gleichsam das verkleinerte Bild 
der Unermeslichkeit aufstelt. 1 Man hat Unrecht zu sagen, daB 
wir nur das Endliche denken konnen: im Gegenteil wir konnen 

1 Platner scheint der erste gewesen zu sein, der dieses bemerkt hat, 
siehe seine phihsoph. Aphorismen. Da man das nicht geben kan, was 



RHAPSODIEN 283 

uns bios vom Unendlichcn einen Begrif machen. Wir glauben 
etwas Endliches zu denken, wenn wir bios den Absaz, den Teil 
einer unendlichen Statigkeit denken. Dieses ist paradox und un- 
erklarbar, so wie iiberhaupt unsre Einbildungskraft eine dunkle 
Werkstat geheimer Krafte ist. Mensch! wenn wird man dich ken- 
nen lernen? vielleicht wenn man dich nicht mer aus den Schulen 
kennen lernt? 

Die Vereinigung unseres Korpers mit unsrer Sele bleibt das 
ewige Ratsel iedes Philosophen; wir wissen nicht, sol er unsre 

10 Weisheit oder Torheit, unser Gliik oder Ungliik befordern; uns 
ist unbekant, was wir ihm zu danken haben, wenig, viel oder 
alles. Man hat Recht, wenn man sagt, daft unsre Sele sich den 
meisten Stof zu Ideen nur vermittelst ihres Korpers verschaffe, 
und daB er das meiste zur Entwiklung ihrer Fahigkeiten beitrage; 
allein man hat Unrecht, wenn man laugnet, daB uns der Korper 
nur bis zu einem gewissen Grade der Grosse erhebe, und dan 
ieden Weg zu neuen Fortgangen mit unuberwindlichen Hinder- 
nissenverschliesse. Unsre Fahigkeiten glanzen weit umher; aber 
sie miissenerst, wie die Sonne, den dikken Nebel durchbrechen, 

20 in welchen sie unser Korper verhiilt. Wir sehen eigentlich nicht 
den menschlichen Geist in seiner waren Beschaffenheit - er bil- 
det sich nur im Kleinen in seinem Korper ab, wie die Sonne 
im triiben Wassertropfen. Der Tod wird uns erst das Gewand 
geben, das die Entfaltung keiner unsrer Reize weder verhindert 
noch verbirgt. - 

Torheit - ein wichtiger Artikel zur Menschenkentnis! Die 
Torheiten sind die Ramen, die iedes vortrefliche Menschenbild 
einfassen - sie sind die Schellen, welche durch ihr Gelaute uns 
von der Gegenwart eines Menschen benachrichtigen - sie sind 

30 das gewisseste Unterscheidungszeichen des Menschen vom 
Tiere. Und doch hat man iiber die Torheiten des Menschenge- 
schlechts noch wenig Weises gesagt. Sie zeigen eine besondre 
Seite der Sterblichen, die bios vom Systematiker nicht gesehen 
wird, weil ihm das Gewebe seines Systems iede freie Aussicht 

man nicht hat, so kan ich diesen vortreflichen Man nicht loben; allein 
ich kan ihn bewundern. 



284 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

unmoglich macht. Die Torheiten leren den Weisen, bescheiden 
und duldsam zu sein, und seine groste Kentnis vom Menschen 
darein zu sezzen, daft er die Unergrundlichkeit desselben kent. 
Torheit ist weder Laster, noch Dumheit; sie ist oft ein Mittelding 
zwischen beiden; sie scheint bios fur den Menschen zu gehoren, 
und mit iedem andern Geschopfe unvereinbar zu sein. Unser 
Herz hat ein Gefiil fur Moralitat, unser Verstand ein Gefiil fur 
Evidenz - fur die Torheiten haben wir das Gefiil des Lacherli- 
chen. Tugend und Laster, Warheit und Irtum erstrekken ihre 
Folgen bis in's andre Leben; die Torheiten nicht. Sie sind bios 10 
fur diese Welt, und fur die Kinder in derselben, die spielen, 
lachen und belacht werden. Ich weis nicht, in welchem Verhalt- 
nis sie mit den Mitteln zur Erreichung unsrer Bestimmung, ste- 
hen; allein sie scheinen nicht ganz unwichtig zu sein, weil sie 
so haufig sind. Sie sind die Federn auf dem Kleide des Weisen; 
er keret sie nie alle ab. Sie sind die Lappen auf dem aus alien 
menschlichen Torheiten zusammengesezten Harlekinskleid des 
Unweisern. Sie herschen iiber die ganze Welt; aber unter einem 
andern Namen. Weil sie dem Spotte ausweichen wolten, den 
audi ihre eifrigsten Vererer gegen sie ausspeien; so namen sie 20 
die schonere Benennung »Mode« an. Nun hat sich die Torheit 
emenTronerrichtet, denkeine Vernunfterschuttert, eine Macht 
verschaft, die selbst den Weisen bezwingt, und eine Gewalt 
zu[ge]eignet, die sich iiber die ganze Welt ausbreitet. Die Mode 
ist ein Beweis der Erfindsamkeit des Menschen in - Torheiten; 
sie zeigt, daB er gute Augen habe, um besser durch eine - falsche 
Brille zu sehen; daB er viel Vernunft besizze, um seine Narheiten 
damit zu naren; daB er seine Volkommenheiten gebrauche, um 
die Anzal seiner Mangel zu erhohen. Es ist widersprechend; 
aber es ist menschlich. Was sich ubrigens nicht von den Moden 30 
sagen last, das kan man von ihnen denken. - Wenn der Mensch 
am andern die Torheiten lacherlich findet, die er sich selbst ver- 
zeiht - wenn er seinen Vorzug in Dingen sucht, deren Nichts- 
wiirdigkeit er eingesteht - wenn er seine Meinungen nach seinen 
Lagen auf Chamaleonsart abwechseln last, und doch in dem 
andern iede Abweichung von seinem System fur toricht und 



RHAPSODIEN 285 

strafbar erklart- wenn er ausser seinem Hausse in dem Parade- 
kleid der Vernunft geht, und innerhalb desselben seine Torheit 
mit seinem Schlafrock anzieht - wenn sein Stolz sein Verdienst 
iiberwachst, wenn der Wind erkaufter Schmeichler den Zwerg 
zu einem lacherlichen Riesen aufblast, und ihm nur der Bukkel 
des andern, nie der seinige sichtbar wird - wenn er iede Geburt 
seines Gehirns fur eine Minerva halt und den andern zum Prose- 
lyten seiner Dumheit zu machen sucht - wenn er die Kinder 
seiner Vernunft mit dem Flitterstat gelerter Torheit bebramt, 

10 und die Narheit zum Herold seiner Grosse wait — urteilt selbst, 
wenn ihr namlich iezt nicht selbst das seid, was ich geschildert 
habe, was sol man vom Menschen denken, diesem erwiirdigen, 
und lacherlichen, diesem vernunftigen und torichten Geschopfe? 
Gewis nicht das, was so viele von ihm denken. — 

Die moralische Natur des Menschen war von ieher das Laby- 
rinth der Weisen; alle haben sich darinnen verirt; alien hat Ariad- 
nens Leidfaden gefelt. Noch iezt bewundern wir diese sonder- 
bare Mischung von geistigen und korperlichen Wirkungen, 
diese unauflosbare Vermengung von guten und bosen Regun- 

20 gen, dieses Gewebe von dunkeln Gefiilen - noch iezt felt der 
Neuton, der das Prisma entdekte, welches iede unsrer Handlun- 
gen in ihre einfachen Farben aufloste. Tugend und Laster sind 
gewis nicht das, was sie unserm Geful zu sein scheinen; sie sind 
das, was die Ewigkeit deutlicher zeigen wird, was einige Philo- 
sophen im Dunkeln vermuten, was einem der starksten Ein- 
wiirfe gegen die Vorsehung seine Macht benimt. Woher entste- 
hen alle unsre bosen Handlungen? aus dem Triebe nach 
Gliikseligkeit. Wir irren uns also in den Mitteln, diesen Trieb 
zu befriedigen; dieser Irtum entsteht aus der Einschrankung 

30 unsrer Natur; diese Einschrankung hangt nicht von uns ab. Man 
weis, wie viel sich fur die Lere von der Notwendigkeit sagen 
last; man weis auch, was sich gegen sie sagen last - beides zwingt 
uns zu dem Bekentnis, daB wir nicht viel vom Menschen wissen, 
und daB wir dieses Wenige selten sagen diirfen. 

Wenn wir weniger bos sein wolten, so must* uns der Schopfer 
mit weniger Anlage zur Tugend geschaffen haben. Es braucht 



286 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG 

gleich viel Kraft der Sele, um ein grosses Laster oder eine grosse 
Tugend zu beschliessen; diese Kraft aussert nur ihre Tatigkeit 
an verschiednen Gegenstanden. Wir konten uns nicht (iber den 
Engel erheben, wenn wir nicht unter das Tier herabsinken kon- 
ten: derm nur der ist der groste Bosewicht geworden, der Anlage 
zum Heiligen hatte. Aber durch welche Gange trubt sich diese 
reine Quelle zu einem so unreinen Strom und wie zeugen gleiche 
Anlagen einen Brutus und einen Katilina? und wie verhalt sich 
die Volkommenheit eines Bosewichts mil herlichen Anlagen zu der 
Volkommenheit desienigen, der from ist, weil er nicht ser sundigen 10 
kan? — Ich weis es nicht; bios der, der es unrichtig weis, glaubt 
es zu wissen. 

Die Bestimmung des Menschen nach dem Tode! warlich, wenn 
alles in unsern Lergebauden licht ist, hier ist noch Grabesdunkel. 
- Wir wissen zwar, daB wir sein werden; denn wir sind hier 
zuviel, um nicht nach dem Tode mer zu sein. Allein was werden 
wir sein? Ach! hier ist dikke Finsternis, Nacht des Grabes. Weder 
die Fakel der Religion noch der Vernunft leuchtet hier. Hier 
auf dem Erdbal,-wo ein Wirwar von tausend Meinungen die 
Sele trunken und ihren Blik auf die Warheit schief und triibe 20 
macht, wo wir uns betriigen, oder der andre uns betriigt, wo 
Geschichte und Philosophie oft gleich unsicher sind, wo iedes 
Jarhundert die Liigen vertilgt, die das vorhergehende geboren 
hat, oder neue an ihre Stelle sezt, um sie vom kiinftigen widerle- 
gen zu lassen, wo das, was man gewis weis, in Vergleichung 
mit dem, was man gar nicht, was man unsicher und was man 
falsch weis, zu einem Nichts verschwindet, und wo der Mensch 
so ratselhaft ist, wie die Welt, in der er sich befindet, und das 
Gegenwartige so unbekant wie das Zukimftige - auf diesem 
Erdbal, sag' ich, solten wir vom Leben ienseit des Grabes mer 30 
als Mutmassungen wissen, und unsrer Furcht vor dem unbe- 
kanten Lande etwas mer als Hofnung entgegensezzen konnen? 
Nein; traume wer wil Aussichten in ienes Leben; die Traume 
verlieren sich, wenn man erwacht. Warer sagt Pope: »Hoffe 
in Demut; erhebe dich auf zitternden Flugeln! Erwarte den gros- 
sen Lerer Tod, und bete Got an!« 



RHAPSODIEN 287 

VII. 
Etwas uber Leibnizzens Monadologie 

Etwas, das man schon lange wuste, und eben deswegen iezt vergessen 
zu haben schcint 



Gewisse erhabne Warheiten sind von grossen Gei stern erfunden 
worden, um wieder von grossen Geistern geglaubt und gesagt 
zu werden. Im Munde eines schwachen Kopfs verlieren sie etwas 
von ihrer Grosse und bekommen einen Anstrich von Lacher- 
lichkeit; sie passen fur die Sele eines kleinen Geistes, wie Saul's 

10 Harnisch fur den David, und die Erhabenheit derselben ver- 
schwindet, wenn sie in den Insektenkopf gewisser Menschen 
eingekerkert werden. So wie es fur das Verdienst eine Ere ist, 
von gewissen Menschen gehasset zu werden; so ist's fur erhabne 
Warheiten ein Gewin, von Dumkopfen belacht und gelaugnet 
zu werden. Diese Warheiten verlieren, wenn sie im Kopfe des 
Dunsen seine schwachen Begriffe zu Geselschaftern bekommen, 
und werden entert durch das Lob, welches ihnen ein Unmiindi- 
ger bringt. - Leibnizzen's Monadologie - man bewundert mer 
ihren Erfinder als sie selbst, weil ihre Wichtigkeit uns den Ent- 

20 dekker derselben vererenswert macht, da fur ihre Erhabenheit 
iede menschliche Bewunderung zu klein und zu unbedeutend 
ist - sie ist ein Stral vom himlischen Lichte, eine Warheit, die 
noch nicht fur diese Erde gehort, und ein Gedanke, den man 
erst ienseit des Grabes denkt. Jeder grosse Man begreift nur 
mit Muhe die Moglichkeit ihrer Entdekkung und halt einen 
Leibniz bei dem vorteilhaftesten Begriffe von seiner Grosse, 
doch noch fur zu klein, um von ihm ihre Erfindung zu vermu- 
ten. Allein der, der sie erfand, konte sie nur denken - tausende 
nach ihm sagen sie bios; sie bleibt auf ihren Lippen; sie ist zu 

30 gros fur ihren Kopf. Sie wird in alien Horsalen gelert; allein 
ich zweifle, ob sie in vielen recht gelert wird. Der Professor 
tragt sie vor - man findet sie lacherlich: ich selbst wiirde lachen, 
aber nicht uber diese Warheit, sondern iiber den, der sie sagt. 



288 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Sie gehort nicht auf den Kateder, und nicht in die Kompendien; 
bios deswegen weil gewisse andre Warheiten dahingehoren, da 
eine trefliche Figur machen. Tausend Kopfe sind zu diir, um 
die Fruchte eines solchen Mannes zu naren; sie finden da nicht 
Landes genug, und verdorren. - Ich weis nicht, ob nicht eben 
hierinnen auch die Ursache liegen mag, warum die Verachtung 
eines Leibnizze's in dem Geiste des vergangnen Jarzehends einen 
Hauptzug ausmachte. Gewisse Genies machten sich wachserne 
Fliigelein, um damit zur Unsterblichkeit aufzufliegen - sie flat- 
terten und gaukelten, und glaubten hoch genug geflogen zu 10 
sein, um iiber die Kleinheit dieses Riesen lachen und spotten 
zu konnen, Vielleicht sah' sie der grosse Man, und horte sie 
sumsen, wie Fliegengeschmeis vor der Sonne Untergang. Man 
vergiebt einem Verliebten seinen Entusiasm fur ein schones Ge- 
sicht; soke man einem Kleinen diesen Entusiasm fur einen gros- 
sen Geist nicht vergeben? Ich bin sein Schiiler nicht, aber ich 
hoff es in der andern Welt zu werden. Vielleicht hat er in dersel- 
ben mer Engel zu Bewunderern gehabt als Menschen in dieser; 
und vielleicht erndet er erst die Lobeserhebungen der 
Sterblichen ein, wenn sie selbst unsterblich sind. Genug von 20 
einem Manne, von dem ieder zu wenig sagen wird, weil 
er soviel sagen soke! - 



VIII. 
Von der Dankbarkeit 



Dankbarkeit ist nicht die leichteste, nicht die angenemste Pflicht; 
dieses haben nur die nicht gefiilt, die sie nie gekant und alzeit 
mit der Schmeichelei verwechselt haben. Es giebt zweierlei Ge- 
schenke, fur die man dankt; solche, die uns Giiter verschaffen, 
deren Erwerb in unsrer Wilkiir stand, und solche, die uns 
dasienige erteilen, was wir erst von der Hand des Schiksals 30 



RHAPSODIEN 289 

erwarten musten. Der Mensch ist liberal Tor; so auch hier. 
Er schamt sich nicht das zu mangeln, was er sich selbst verschaf- 
fen konte; er schamt sich nicht, unwissend und untugendhaft 
zu sein - allein er halt's fur eine Schande, das nicht zu haben, 
was er durch den Zufal, durch das Schiksal bekomt; er scheut 
sich seine Armut, seine geringe Herkunft, seine korperlichen 
Gebrechen zu bekennen. 1 HelP ich seinem Mangel an Dingen 
ab, die er durch eigne Schuld nicht besas, mach' ich ihn tugend- 
hafter und verstandiger; so dankt er mir mit ofner Miene, mit 

10 freiem Herzen, und ohn' eine Ausserung des Zwangs, welcher 
iedes Geful unsrer Abhangigkeit zu begleiten pflegt. Allein so 
ganz anders ist sein Dank, welchen er mir bezalt, wenn ich ihn 
reicher mache oder iiberhaupt mit Gutern beschenke, welche 
er sich selbst nicht erwerben konte. Der grossen Sele ist iede 
Erniedrigung unertraglich; sie druckt ihren Dank daher mit 
einiger Verwirrung, mit abgebrochnen Worten und selten mit 
Kraft aus, und das Geful, wie wiirdig sie dieser Woltat sei, 
scheint den Dank zu erschweren, den sie dafiir errichten wil. 
Es ist daher ein unsicheres Mittel, sich durch Geschenke einen 

20 grossen Man zum Freunde zu machen, welcher nur den liebt, 
den er umsonst liebt, dem er nichts schuldig ist. Allein es komt 
auch darauf an, wie man Geschenke giebt - Gewisse Menschen 
zeigen eine edle, nicht verachtliche, Miene bei ihrer Freigebig- 
keit; sie scheinen dem andern nichts zu schenken; sie scheinen 
nur seine Verdienste belonen zu wollen. Der Hochmutige han- 
delt gerade entgegengesezt. Man liebt ihn daher nicht, ob er 
gleich Gutes tut; man hast ihn dafiir und findet es unertraglich, 
dafj der andre auf unserm Elend, auf unsern Ruinen zu einer 
hohern Staffel der Ere steigt, daB er Giite und Bosartigkeit in 

30 derselben Handlung vereinigt und unsre Pflicht der Dankbarkeit 
gebraucht, um seinem Laster des Hochmuts reichlichere Narung 
zu verschaffen. Man dankt auch dem ungern fur sein Gutes, 
von dem man etwas Boses erwartete. - Zum obigen sezz' ich 

1 Eben so sind wir auf unsre Verstandesgaben mer als auf unsre 
Tugenden stolz; ob wir gleich mer Entschuldigung hatten, es auf diese 
als auf iene zu sein. - 



290 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

hinzu, daB der kleine Geist mit weniger Miihe, und vielleicht 
auch oft mit weniger Rechtschaffenheit danke. Dieser erniedri- 
get sich zu ieder kleinen Handlung, eben weil er einen falschen 
Begrif von seiner Grosse hat; er schazt die Woltaten zu gros, 
weil er sie nicht verdient - deswegen ergiest er sich in lange 
Danksagungen, die erst auf seinen Lippen geboren wurden, des- 
wegen sucht er Bewegungen des Herzens an den Tag zu legen, 
die er nie fiilte, und halt's fur keine Schande, dem andern 
Schmeicheleien zu sagen, welche beide, der, der sie empfangt, 
und der, der sie giebt, fur Liigen halten. Es giebt Menschen, 
die sich durch ihren Dank der empfangnen Woltat unwiirdig 
machen, so wie es solche giebt, die mit ihrem Dank fur ein 
altes Geschenk, ein neues verdienen. - Der Verf . der Lebensldufe 
sagt, er wolle aus der Art, Geschenke zu geben, den Karakter 
eines Menschen auf ein Har treffen. Ich sezze hinzu, man kan 
einen Menschen noch besser kennen lernen, aus der Art, wie 
er Geschenke annimt. Es ist der Augenblik, wo der Mensch ohne 
Larve ist. Wir haben Miihe, da unsre Bosheit zu verbergen, 
wo uns der andre geschwinde mit seiner Giite uberrascht - die 
Sonne beleuchtet unsre.Werke der Finsternis, eh' wir den Mantel 
der Verstellung dariiber geworfen haben. Weil dem Menschen 
die Verstellung nicht natiirlich ist, so vergist er sie oft in der 
Geschwindigkeit; dieses ist die Ursache, warum eine unerwar- 
tete Woltat uns den Zustand eines Menschen zu erkennen giebt. 
Allein eben so oft uberrascht sie den Tugendhaften; sie stelt 
uns die unbedekten Reize seines Herzens dar und zeiget die Aus- 
briiche seiner Aufrichtigkeit und seines Gefiils, ohne das Ge- 
wand des Wolstandes und des Zwanges. So wie die Morgenrote 
die schlummernde Schone in ihren ungeschminkten Reizen er- 
blikt, so sehen wir die Gestalt der unverhiilten Tugend. 



RHAPSODIEN 29 1 

Villi. 

VERGLEICHUNG DES ATEISM MIT DEM FANATIZISM 

Ateism und Aberglaube, beide erzeugen gleich schadliche Wir- 
kungen, und sind nur in ihrem Ursprunge verschieden. Sie sind 
Kinder des Irtums; aber dieser Irturn entsteht nicht immer aus 
derselben Quelle. Der Ateist irt, weil er selbst denkt; der Fanati- 
ker, weil er bios mit dem andern denkt - iener gelangt mit 
Miihe auf einen ungewonlichen Irweg, welcher einen Man for- 
dert, der auch die steilsten Hohen der Warheit erklimmen kan; 

io dieser hat seinen Irtum einer Schw'ache zu danken, welche halb 
die Wirkung seines Kopfs und halb die Wirkung seines Herzens 
ist. Neben dem Wege zur Warheit liegt auf der einen Seite die 
abschiissige Ban zum Fanatizism und auf der andern die steile 
Hohe zum Ateism; in iene darf man so zu sagen nur fallen, 
auf diese mus man steigen, allein es ist schwerer von iener zu- 
riikzukeren, als von dieser. Ein Ateist mus ein Philosoph sein; 
ein Fanatiker ein schlechter Teolog. Die Vervolkomnung der 
Philosophic wird den Ateism, die Vervolkomnung der Teologie 
den Fanatizism unmoglich machen - beide Ungeheuer werden 

20 nur von der Nacht geboren, und sind Feinde des Tages. Der 
Aberglaube hat nie einen grossen Man zum Anhanger gehabt, 
ausgenommen in dem Zeitpunkt, wo der Grosse anfangt klein 
zu werden - Der Ateism hat einen Spinosa gehabt. Man kan 
den Gotteslaugner durch Grtinde widerlegen; der Aberglaubige 
nimt keine an, und es ist ein grosseres Wunder einen vernunftig 
gemacht zu haben, der . keine Vernunft hat, als einen, der sie 
libel anwendet - man kan leichter ein schlechtsehendes Auge 
verbessern, als ein blindes heilen. - Der Ateist verert einen Got 
nicht, den er nicht glaubt; der Aberglaubige verert einen falsch, 

30 den er nicht kent; auf der einen Seite scheint's besser zu sein, 
sich keine als falsche Begriffe vom hochsten Wesen zu machen; 
auf der andern ist's mer Verdienst, einen Irtum hegen, der unsre 
anderweitigen Beweggriinde zur Tugend verstarkt, als einen, 
der die Ausiibung ieder guten Tat von dem Ausspruche unsers 
Eigennuzzes abhangig macht. Der Gotteslaugner begeht nie das 



292 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Laster, weil er's mit der Tugend verwechselt, sondern well er's 
zur Erreichung seiner Absichten tauglich findet - er verert bios 
die Tugenden, zu welchen ihn die Geselschaft zwingt, welche 
sein Eigennuz anrat, und die Giite seines Temperaments hervor- 
bringt. Der Aberglaubige wird viele Laster begehen, weil er 
sie fiir Tugenden halt; er wird aus Pflicht bose sein; er wird 
aus Heiligkeit Tugenden verabscheuen; aber er wird nicht das 
Bose tun, weil's die Larve der Nuzlichkeit tragt, noch das Gute 
verabsaumen, weil es seinen Neigungen widerstreitet. Der 
Ateist ist ein besserer Burger, als der Fanatiker; er ist vertragli- 10 
cher. Der Aberglaubische errichtet Auto-da-feen; der Ateist kan 
und mag's nicht; iener glaubt den Andersdenkenden hassen zu 
diirfen, weil er ihn der Holle wiirdig halt; dieser aussert mitleidi- 
gen Stolz gegen den, dessen Meinungen er fiir einen Beweis 
seiner Dumheit ansieht. Der Ateist sucht Proselyten zu machen, 
weil es seinem Stolze schmeichelt, den andern eines Irtums 
iiberfiirt zu haben; der Aberglaubige bekert aus heiligem Eifer, 
aus Menschenfreundlichkeit und aus Pflicht; dieser klagt liber 
das bose Herz des andern und bestraft ihn durch Verfolgung, 
iener klagt iiber den schwachen Verstand des andern und ziich- 20 
tigt denselben durch Spot und Verachtung. Der Fanatiker ist 
alzeit ein Schwarmer; der Ateist ist immer zu kalt; dieser hat 
weder grosse Laster, noch grosse Tugenden, iener zeichnet sich 
durch beide zugleich aus. Die Menschenliebe des Fanatikers ist 
eingeschrankt, aber feurig; die des Ateisten hat ihre Ausdenung 
ihrer Kalte zu danken. Der Mut des Ateisten entsteht, unabhan- 
gig von seinem System, bios aus der Starke seines Geistes; bei 
dem Fanatiker ersezt nicht selten die Uberzeugung von seinen 
Meinungen einen Teil des Muts, welchen ihm die Schwache 
seines Geistes versagt. Die Hofnung des Paradieses entflamt den 30 
Muhammedaner zu ieder kiinen Handlung, erfiilt ihn mit Blut- 
durst im Schlachtfeld, und verbirgt durch ihre schone Gestalt 
den Anblik der nahen Gefar vor seinen Augen - nur mit dem 
Aug' eines starken Geistes sieht der Ateist ohne Beben das erof- 
nete Grab, den schrekvollen Tod. Der Ateism entsteht aus 
Starke, der Fanatizism aus Schwache der Sele; allein die Wirkung 



RHAPSODIEN 293 

von diesem ist Verdoplung, von ienem Verminderung des 
Muts. Man kan eher den schadlichen Wirkungen eines Ateisten, 
als eines Fanatikers widerstehen; iener handelt aus einem Eigen- 
nuz, welcher zeitliche Vorteile zum Endzwek hat; er fiirchtet 
den Tod; er sucht ihn zu vermeiden, sogar durch die Aufopfe- 
rung seiner schazbarsten Vergnugungen; es giebt also eine 
Strafe, die ihn von iedem Verbrechen abhalten mus - allein wer 
wil den vom Laster abhalten, welcher sich durch einen Befel 
Gottes zu seiner Ausiibung berechtigt glaubt, wer wil durch 

10 Strafe das Verbrechen desienigen verhindern, welcher dafiir den 
Himmel zur Belonung erwartet, und wer wil dem Schranken 
sezzen, dessen Mut durch heitere Aussichten bis zur Kunheit 
erhoben, dessen Standhaftigkeit durch die Hofnung auf iiberna- 
tiirliche Einfliisse bis zur Unempfindlichkeit gestalt und in des- 
sen Plan der Tod selbst als das sicherste Mittel zur Erreichung 
seines Endzwekkes betrachtet wird? — Die Menschheit hat die 
Schlage des Fanatizism tief genug gefult, der im Gewande der 
Religion iedes Verbrechen des Ruchlosen begieng, der aus Be- 
gierde nach dem kiinftigen Himmel die gegenwartige Welt in 

20 eine Holle verwandelte, der seine Gestalt in den Jarbuchern der 
Welt mit blutigen Ziigen gezeichnet hat. Der Glanz der Aufkla- 
rung verscheucht dieses Geschopf der Finsternis; der Ateism 
entsteht mit dem Anfange der Erleuchtung des menschlichen 
Verstandes, er verschwindet bei dem Wachstume derselben; 
man kan erst bei der Morgenrote der Vernunft auf seinen ver- 
wirten Pfaden wandeln, und nur im Mittagsglanz den Ausweg 
aus diesem Labyrinte finden. Allein welches ist nun von diesen 
zweien Ubeln das groste? ist's Aberglaube, oder Ateism? Ich 
antworte mit Voltaire: L'ateisme et le fanatisme sont les deux 

30 poles d'un univers de confusion et d'horreur. La petite zone 
de la vertu est entre ces deux poles; marches d'un pas ferme 
dans ce sender, croies un Dieu bon, et soies bons. 1 

1 Der Ateism und der Fanatizism sind die zwei Pole einer Welt vol 
Verwirrung und Schrekken - Zwischen ihnen liegt die kleine Zone der 
Tugend; wandelt auf diesem Pfade mit festem Schritte, glaubt einen 
guten Got, und seid gut. 



294 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

X. 

Allerlei 



Niemand fult das Unangeneme so inniglich, als der, den es selten 
betrift. Die bestandige Freude, worinnen man schwebt, schliest 
ieden Miston aus und niemand furchtet mer den Anblik der 
Leiden, als der, welcher die schone Gestalt des Gliiks gewont 
hat. - Man kan leichter einen Zustand ertragen, der immer der- 
selbe bleibt, solt' er auch nicht ser wiinschenswert sein, als in 
einem gliiklichen leben, den immer unangeneme Zufalle unter- 10 
brechen. Jenen macht uns die Gewonheit ertraglich; diese ver- 
doppeln ihre Schlage nach ihrer Seltsamkeit. Gewis, es giebt 
Leidende, die deswegen ganz ungliiklich sind, weil ihnen noch 
etliche Leiden felen; sie konnen sich nicht unter den Ruinen 
ihres Gliiks verbergen, dessen stehende Halfte zu nichts als zum 
traurigen Andenken der gehabten Freuden dient. Sie leiden die 
Qualen des Prometheus; angeschmiedet an ihre Begierden, wer- 
den sie vom Unglukke gemartert, welches an ihrer immerwach- 
senden Hofnung frist. - 

2. 20 

Ein Obel ist dan am grosten, wenn es uns hindert, an seine 
Heilung zu denken. - Schmerz ist das Gegenmittel des Schmer- 
zens; er ist die Stimme der leidenden Natur, die um Hiilfe ruft 
- sie ist tod, die Hiilfe komt zu spat, wenn er zu schweigen 
anfangt. - Er lert uns gleichsam die Diat in unsern Freuden, 
und giebt die geschwindeste Nachricht vom Dasein unsrer 
Obel. 

3- 
Ein Schriftsteller sagt einmal: sich an seinem Feinde zu rachen, 
heist die Vergehen andrer an sich selbst bestrafen. Konte man 30 
nicht auch sagen: belone die stillen Tugenden, und die guten 
Taten, die unbemerkt geschehen - und du nimst Anteil an ihrer 



RHAPSODIEN 295 

Ausiibung. Eine edle Tat belonen, heist die Ursache sein, daB 
die geschehene eine andre erzeugt. Begiesse die Tugend, welche 
ungesehen in der sandigten Wiiste des Menschenlebens hervor- 
keimet; sie wird dir Schatten geben in der Hizze der Leiden, 
und Friichte in der andern Welt! - 

4- 

Vielleicht ist's Gottes Absicht nicht, uns hier auf dieser Erde 
durch das reine Licht der Warheit zu erleuchten; vielleicht wil 
er nur durch einen Schimmer derselben den wissensbegierigen 
10 Geist zu einem Gute anlokken, welches in iener Welt unsre gro- 
ste Wollust ausmachen wird. Das Bose macht uns erst das Gute 
fiilbar und der Irtum scheint oft der Weg zur Warheit zu sein. 
Das Tier ist unter uns, weil es nicht irt; der Mensch ist gros, 
wenn er die Warheit findet; allein er ist auch nicht klein, wenn 
er sie nur suchet. - Wir sollen hier nicht die Warheit finden; 
wir sollen sie hier nur lieben lernen. Die Begierde nach ihr erhalt 
unsre Krafte in grosserer Tatigkeit, als der Genus derselben; 
denn dieser erschlaft iede andre als eine unendliche Kraft. 

5- 

20 a. Herr *** mus ein gelerter Man sein. Er predigt eine Stunde 
ex tempore weg, ohn' anzustossen. 

B. Es komt ihm auch kein - Gedanke in den Weg. 

6. 

A. Mein Herr! Sie hatten vielleicht besser getan, wenn Sie 
IhreDumheitenblos gedacht hatten, ohne sie drukken zu lassen. 
Die Misgeburten gefallen nur dem Vater, der sie gezeugt hat. 

b. Man mus auch leben; man kan nicht umsonst arbeiten. 

A. Das heist wol, man kan nicht umsonst dum sein. - Es 
ist auch nicht notig. Hatten gewisse Personen Ihren Verstand 
30 kennen gelernt; gewis Sie waren zum Heiligen kanonisirt wor- 
den; Sie haben wenigstens die notigste Eigenschaft dazu. Oder 
noch besser - ein Patronus ecclesiae wiirde Ihre Verdienste mit 
einer Pfarre belonet haben, wenn - - 



296 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

b. Gut! ich kan es iezt noch eben so gut tun. Ich eigne meine 
Schrift de haereticis puniendis dem Hern *** zu. Adieu! 

A. Wunderbar! Must* ich gerade klug reden, urn diesen dum- 
mer zu machen! Nichts giebt doch der Dumheit mer Narung, 
als der Verstand des andern. — 

7- 
Diogenes suchte ehmals Menschen mit der Laterne, und fand 
keine. Der Diogenes unsers Jarhunderts 1 suchte sie audi, und 
fand - menschliche Masken. 



Fluchet dem Manne nicht, dem seine Talente sein Falstrik ge- 
worden sind! - Er ist gros gewesen, um euch aufzuklaren und 
zu ergozzen, um sich s,elbst in Irtiimer zu stiirzen und aus seinen 
Gaben seine Geiseln zu machen - er niizt euch, wie die Seide 
des Seidenwurms , dem sein eigen Gewebe zum Grabe geworden 
ist. Eret die Opfer fur die Menschheit! - Sie sind heilig, sie 
verdienen eine Trane, die, welche durch ihren Fal die Abgriinde 
des Irtums ausftillen musten, um fur die Nachkommen den Weg 
zur Warheit ebner und sicherer zu machen. — 

9. 20 

Vielleicht ist unser Jarhundert tolerant gegen Meinungen, und 
intolerant gegen Handlungen. Man darf iede Warheit frei sagen; 
allein man darf nicht iede Tugend unverspottet ausiiben. Man 
darf urteilen, ohne die Meinung des andern zum Wegweiser 
zu haben; aber man darf nicht handeln, ohne den andern zum 
Muster genommen zu haben - und wir haben das Joch der Sy- 
steme abgeschiittelt, um die Bande des Wolstandes mit doppel- 
ter Strenge zu kniipfen. Wir leiden alle Arten von Freigeister 
[!], nur nicht alle Arten von Heiligen. Rousseau ware gewis 
weniger verfolgt worden, wenn seine Handlungen nicht eben 30 

1 In einem andern Betracht scheint Rousseau dem Antisthenes mer 
als dem Diogenes zu gleichen. 



RHAPSODIEN 297 

so paradox wie seine Meinunge[n], und sein Herz nicht eben 
so gros wie sein Verstand gewesen ware. - 

10. 
Man wil seine Feler von seinen Freunden erfaren; man irt sich 
ser. Ihre Aufrichtigkeit geht wol so weit, daB sie uns die unbe- 
trachtlichen Flekken unsers Karakters entdekken, die eben, weil 
sie unbetrachtlich sind, mer unsrer Eigenliebe schmeicheln, als 
unsre Besserung befordern - allein sie hiiten sich, uns die Feler 
zu sagen, die wir nicht entschuldigen konnen, die ihren Entdek- 

10 ker in den Verdacht der Schadenfreude bringen, und die, nicht 
langst im Schosse des Stolzes gezeugt, von unsrer Eigenliebe 
noch ihre Narung bekommen. Das Mittel von unsern Freunden 
unsre Feler zu erfaren, ist, ihnen die ihrigen zu sagen; sie sind 
dan zu stolz, um sich nicht auf gleiche Art zu rachen. Wer un- 
serm Herzen zu nahe ist, der zeigt uns selten unsre ware Gestalt; 
er ist ein Spiegel, den unser warmer Atem dunkel macht. - 
Der Feind ist oft der treueste Kundschafter unsrer Mangel, und 
zeigt durch Bellen unsre gefarlichsten Feinde an. Unsre Tugend 
sagt uns der Busenfreund, der uns liebt; unsre Laster der Feind, 

20 der uns hast - beide sagen zuviel; allein dan ist es leicht, die 
Warheit zwischen entgegengesezten Liigen zu finden. - 

ii. 
Der Termometer unsrer Begierden ist im Blut, der Barometer 
unsrer Denkungsart im Unterleibe, der Zeiger, ob unser Ver- 
stand richtig geht, im Gehirn, und das Register unsrer Handlun- 
gen auf dem Gesichte. 

Ein wolgebildetes Gesicht ist der Lobredner unsers Herzens; 
es vertrit die Stelle unsrer Zunge, und last dem andern das sehen, 
30 was er eigentlichhoren soke. -Wer eineschlechtePhysiognomie 
hat, der ist durch sein ganzes Leben an den Pr anger gestelt - 
ieder liest das Verzeichnis seiner Feler, welches die Natur mit 
unverkentbaren Zugen auf sein Gesicht geschrieben hat. Die 



298 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

aussere Bildung ist nicht selten die Satyre auf die unsichtbare 
Sele. 

13. 
Der Glanz des Rechtschaffenen leuchtet dem Bosen, seine eigne 
Haslichkeit zu sehen. Darum flieht er ihn, sucht die Nacht, und 
fiirchtet kein Gespenst mer als sich selbst. 

14- 
Das Gliik zeigt uns meistens die Haslichkeit der kleinen Geister, 
da wir vorher nur ihre Niedrigkeit bemerkten. Die guten Tage 
bringen die Laster an das Licht, welche der schwache Kopf in 10 
seiner Niedrigkeit nur gedacht hatte; so wie die Sonnenwarme 
die Insekten ausbriitet, welche der Frost noch unbelebt und ver- 
borgen hielt. 

15- 
Einem schwachen Kopf ist eine hohe Stufe der Ere die groste 
Schande. Seine Kleinheit wird iezt lacherlich, weil sic sich mit 
dem Grossen vereinigt; und sein Verdienst sizt auf seiner Eren- 
stelle, wie ein Zwerg auf dem Berge Piko. Der kleinste Wind 
des Tadels und der Verlaumdung wurde das Tiergen von seinem 
Trone herunterblasen, wenn es nicht in unsrer sublunarischen 20 
Welt die Mode ware, daB sich das Kleine am besten in der Hohe 
erhalt. Der Grosse versucht umsonst seine Starke gegen den 
Kleinen; kein verdienstvoller Man hat noch einen mit Gold und 
Ere bedekten Dumhng gestiirzt - der Sturm kan nur die Zeder, 
aber nicht das Mos zusammenbrechen. - 

16. 
Die Erentitel, womit man die Menschen behangt, sind ein enges 
Gewand, welches unsre Torheit hindert, nach Gefallen Sprtinge 
zu machen. Die Biirde, die man tragt, drtikt zu ser, als daB 
man einige Schritte aus dem betretenen Weg des Wolstandes 30 
weichen konte, um ein Blumgen der Freude auch ausser der 
Herstrasse zu pfliikken. Der Mensch ist gluklicher, wenn er 



RHAPSODIEN 299 

die Torheiten tun darf , welche er selbst wil, als wenn man ihn 
zu solchen zwingt, die er nicht begert hat. - 

Wer viel Ere hat, der kan sie nicht leicht verlieren; sie ist 
zu schwer, als daB er sie abschutteln konte - allein ie weniger 
man Ere hat, desto ungehinderter ist der Weg zu ihrem Verlust. 
Im erstern Fal verliert man viel; ie weiter der Weg von unsrer 
Ere zu unsrer Schande ist, desto tiefer fallen wir vom vorigen 
Gipfel des Rums in den Schlam der Verachtung hinein. Im zwei- 
ten Fal hat man gerade so wenig Ere, als notig ist, um sie ohne 
10 Schande verlieren zu konnen. - 

17. 
Warum giebt's noch so wenig Philosophic? - deswegen, weil 
ieder nur die seinige geltend machen, nur der seinigen Ausbrei- 
tung verschaffen wil. Wer denkt und wer nicht denkt, beide 
hindern den andern, selbst zu denken; der eine wirft uns das 
Joch seiner Gedanken, der andre seiner Worte um den Hals; 
der eine wil uns mit seiner Weisheit, der andre mit seiner Dum- 
heit beherschen - beide pflastern in unserm Gedachtnisse nur 
Einen Weg zur Warheit, damit unser Verstand nie einen andern 

20 als den ihrigen gehe. - In unserer Kindheit macht uns ieder 
zu den Behaltnissen seiner Dumheit oder Weisheit; dadurch 
werden wirim reifern Alter genotigt, vorher die Gedanken and- 
rer herauszuwerfen, ehe wir die unsrigen einsamlen und aufbe- 
waren konnen. Warum versezt man uns aber in die grausame 
Notwendigkeit, an allem zweifeln zu mussen, da wir derselben 
iiberhobensein konten, wenn man uns weniger Gedanken, aber 
mer denken lerte, wenn man uns weniger mit Antworten befrie- 
digte, und mer zu Fragen reizte, und uberhaupt uns alzeit nur 
die Rechnung aufgabe, ohne das Fazit zu sagen? - Wir solten 

30 nicht die Kinder unterrichten, sondern sie gewonen, sich selbst 
zu unterrichten; wir solten nicht Philosophic, sondern philoso- 
phiren leren; wir solten uberhaupt die Kunst lernen, den andern 
erfinden zu leren. - Freilich ist's leichter, einen Blinden an der 
Hand fiiren, als ihn fahig machen, seinen Weg selbst zu finden, 
und es macht weniger Beschwerde, dem andern etwas Gutes 



30O JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

zu sagen, als zu verursachen, daB er es uns sage. Warum haben 
wir so wenig Originale? deswegen, weil ieder den andern zur 
Kopie von sich macht - warum denken so wenige? nicht deswe- 
gen, weil der Mensch nicht denken mag, sondern weil es ihm 
schwer fait, anders zu denken, als man ihn denken gelert hat 

- und warum erfinden so wenige? deswegen, weil man die alten 
Irwege so tief im Gehirne banet, daB dem Verstande, welchen 
man in denselben zu gehen zwingt, von alien Seiten iede freie 
Aussicht auf einen andern Weg unmoglich gemacht wird. So 
wie man uns in der Kindheit zu Christen macht, damit wir 10 
als Manner Heuchler sein konnen; so lert man uns eine Weisheit 

in der Jugend, die nichts als unsre Dumheit im Alter befordert. 

- Nur der Skeptiker ist der beste Lerer der Philosophic, allein 
nur fur die, welche Philosophen werden konnen, nicht fur die, 
welche sich bios so nennen wollen. Der philosophische Geist wird 
sich alsdan mer ausbreiten, wenn es weniger Pedanten, Demon- 
stratoren und Gelerte geben wird. - 

18. 
Erentitel, Ordenszeichen und dergl. Zierraten hangen in solcher 
Anzal urn den grossen Man herum, daB man an ihm fast nie 20 
den Menschen sieht. Dieser Flitters tat sol die dunkeln Flekken 
des Menschen liberglanzen und zum bunten Kleide seiner 
Schwachheit dienen - man erreicht auch dadurch den Endzwek, 
daB wir von iedem beriimten Manne nichts als seine Kleidung 
sehen. Sein Biograph sah ihn da, wo ihn alle Menschen sahen; 
beobachtete die Handlungen, die er vor Zuschauern ausiibte; 
malte sein Gesicht mit den Farben, die er seinem moralischen 
Puztische zu danken hatte, und nam von seiner Paradekleidung 
das Mas zur Grosse seiner Sele ab. Dies ist die Ursache, warum 
die meisten Biographen so einformig, so ler an psychologischen 30 
Bemerkungen sind. Nur der Freund eines beriimten Mannes 
ist fahig sein Biograph zu werden; denn er sah ihn da, wo er 
mer Mensch als Burger war, wo er sich eine Torheit zur Erho- 
lung erlaubte und wo er seine Mangel nur mit dem Schlafrokke 
bedekte. - Wir kennen mer den Kopf, als das Herz beriimter 



RHAPSODIEN 3OI 

Manner: denn ienen haben sie in ihren Werken gezeichnet, dieses 
nur in ihren geheimen Handlungen abgebildet. Rosseau wird 
diesen Mangel durch seine eigne Lebensbeschreibung ersezzen, 
deren Ausgabe man erwartet - vielleicht fiigt er seinen iibrigen 
Paradoxen noch das groste hinzu, sich durch Feler liebenswiir- 
dig gemacht zu haben. 

Die Freude ist eine Schdne, der man uberdriissig wird, wenn 
man immer ihr lachendes Angesicht sieht - hingegen werden 

10 ihre Reize ihre Annemlichkeit behalten, wenn sie zu gewissen 
Zeiten in den Flor einer siissen Schwermut verschleiert wer- 
den. - 

20. 
Fur Liebende 
Unsern Torheiten haben wir den grosten Teil unsrer Freuden 
zu danken - ist's nicht vielleicht mit der Liebe auch so, die den 
schonsten Teil unseres Lebens mit so vielen Reizen iiberstreuet? 
Man kan nicht iiber die Liebe urteilen, wenn man sie ftilt; weil 
man zu giinstig von ihr urteilt - allein der kan eben so wenig 

20 iiber den Wert einer Empfindung urteilen, der ihrer nicht mer 
fahigist, undder sich den Mangel dieses Guts durch die Verach- 
tung desselben ertraglich zu machen sucht. - Wenn alles die 
Grosse des Menschen beweist, so scheinen mir seine Freuden 
ein Beweis seiner Kleinheit zu sein - die meisten sind Torheiten, 
und nur ihr Genus verbirgt uns ihre Gestalt - in dieser Welt 
sind wir Kinder, und unsre Beschaftigung ist spielen. Allein 
wir sind gliiklich - dies ist genug, fur dieses Leben genug; wir 
wollen daher nicht durch Untersuchungen iiber die Freuden ih- 
ren Genus verabsaumen [usw. wie S. 304,18-305,15] 

30 21. 

Was ist das Leben? - Verzeiht, Freunde! wenn ich glaube, daB 
es wenig ist. Jenseits des Grabes ist das eigentliche Menschenle- 
ben - hier ist nur Traum. Wie weit kommen wir mit al unsrer 
Tugend, unsrer Weisheit, unsrer Selbstvervolkomnung? die be- 



302 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

sten Menschen riikken ein wenig fort, die andern bewegen sich 
unmerkbar. Wir sollen hier spielen, und uns durch Torheiten 
die Zeit unsrer Kindheit vertreiben - wir sollen einmal Gebaude 
unsers Wissens auffuren, aber hier vorher uns an Erbauung klei- 
ner Kartenhauser (iben - wir sollen einst die gotliche Tugend 
umarmen, allein sie hier vorher mit den Puppen unsrer Morali- 
sten, und unsers eignen Herzens verwechseln - diese schone 
Welt sol mer unsre Freude als unsre Kentnis befordern, und 
unser Got sol mer von uns als Vater, und weniger als unendlicher 
Geist gedacht werden - denn wir sind Kinder. Dieses macht 
den Gedanken des Grabes so angenem, diesen Gedanken, den 
weder der Aberglaubige, noch der Leichtsinnige, den weder 
der Philosoph, noch der Teolog, den bios der Mensch recht 
denkt. Shakesp ear schemtihn recht gedacht zu haben; er erschut- 
tert uns, wenn er davon spricht - man lernt den Tod kennen, 
wenn man seinen Monolog im Hamlet hort. Man iiberschaut 
nur auf dem Hiigel des Grabes dies unbedeutende Menschenle- 
ben ganz - die Leiden verschwinden, das Grab bedekt sie - die 
Torheiten sind ohne Wert, sie sterben mit dem Korper - die 
Gewebe unsrer Weisheit zerreist die Hand des Todes und al 
der Pomp der berumten Toren zerflattert wie ihre Asche, zum 
Sonnenstaub. Nur du, gute Tugend, begeistere meine Brust; 
ohne dich verweset sie schandlich - und verbreite deinen Glanz 
bis in [die] dikken Finsternisse des Todes! Und, wenn du iezt 
nur Schimmer bist, an deiner Hand geht doch das furchtsame 
Kind mit weniger. Zittern durch das Tal des Todes, welches 
so furchterlich ist, weil's so unbekant ist. - Verzeihet diese Aus- 
schweifung am Ende! ! 



User die Liebe 



Wenn alles die Grosse des Menschen beweist, so scheinen seine 
meisten Freuden seine Kleinheit zu beweisen. Die meisten sind 
Torheiten; allein ihr Genus verbirgt ihre Gestalt. Wir wandern 
von einem Spielzeug zum andern und der Man und der Knabe 
reiten beide auf Stekkenpferden, nur nicht auf denselben. Wir 
urteilen alzeit weise iiber das Vergangene, und alzeit schlecht 
iiber das Gegenwartige; eben so halt ieder mit Recht seine ver- 
gangnen Freuden fur Torheiten, und mit Unrecht seine gegen- 

10 wartigen fur verniinftig. Es komt nur darauf an, uns unsre Freu- 
den in einer gewissen Entfernung der Zeit zu zeigen - wir 
werden sie dan iibersehen, und ihre ware Gestalt fassen konnen, 
wenn sie uns der Abstand der Zeit kleiner vorstelt. - Entfernt 
die Freuden vorher von unsrer Zunge, und dan wird sie unser 
Auge sehen. Wozu dieses alles? um zu beweisen, daB es sich 
mit der Liebe vielleicht eben so verhalte - diese Liebe, die iiber 
unsre Leidenschaften eine grossere Gewalt als die Vernunft aus- 
iibt, die die ganze Welt zu ihrem Tempel, und ieden Menschen 
zu ihrem Anbeter macht, die dem Weisen seinen Verstand raubt, 

20 und dem Feigen seinen Mut wiedergiebt, die gefalt, wenn man 
sie verflucht, und deren Leiden so siis sind, wie ihre Freuden, 
die die Tugend in ein wollustigeres Gewand kleidet und das 
rauhe Laster mit mer Menschlichkeit umgiebt, die die Freuden 
des niedern Standes von dem Mangel, und die Vergniigungen 
des hohern von der Langweile befreit, und die den Menschen 
zum Engel, und die Welt zum Paradies verwandelt. Ja! meine 
Freunde! diese Liebe scheint auch eine Torheit zu sein - Aber 
fragt nicht den gliihenden Jiingling, was sie ist? Man kan iiber 
das nicht urteilen, was man geniest - der Jiingling hat seine 

30 Vernunft auf ihrem Posten eingeschlafert, um freier herumge- 
hen, und ungehinderter die Bliimgen der Freude auch im Lande 
der Torheit pfliikken zu diirfen. Fragt auch nicht den Greisen, 



304 . JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

dessen Empfindungen mit seinem Blute gefroren sind und des- 
sen Warme sich zu seinem Ich auf einen Punkt zusammengezo- 
gen hat, urn nicht, wie Feuer, den andern sanft zu warmen, 
sondern wie ein gliihender Funke, bios die Hand des andern 
zu verbrennen. Dieser kan nicht sagen, was die Liebe ist; er 
hat es lange vergessen, was sie war; er begreift ihre Moglichkeit 
nicht mer; er halt sie fur ein Laster, oder fur eine Dumheit. 
Aber fragt den Weisen, der gliiklich genug war, sie zu empfin- 
den, und weise genug, sie zu denken; der ihre gute Seite in 
ihrem Genus, und ihre schlechte nach demselben kennen lernte; 
der seine Vernunft in der Jugend, und in dem Alter seine Warme 
behielte - was wird der von der Liebe sagen? Dieses: sie ist eine 
Torheit; aber sie tnacht gluklich - o! schone Zeit, wo der Arm der 
Liebe noch die Vernunft zu angenemen Traumen einwiegtel — Und 
ist dieses nicht genug fur dieses Leben, wo der Mensch ein Kind 
ist, und seine Beschaftigung spielen? Last uns daher nicht durch 
Untersuchungen iiber die Freude ihren Genus verabsaumen, 
noch durch das Mikroskop der Vernunft an iedem schonen Ge- 
genstande die unsichtbare Haslichkeit entdekken - aber last uns 
auch denken, wenn wir nicht mer geniessen konnen, und die 
Torheiten untersuchen, die fur uns ihren Reiz verloren haben. 1 
Und du, Jungling, liebe, wenn dein Herz zur Liebe gebildet 
ist, und sei eine Zeitlang ein Tor, um gluklich zu sein. Freue 
dich so lange, als du die Beschaffenheit deiner Freude nicht kenst 

- heg' einen Irtum, der dich beglukt, und flieh' eine Warheit, 
deren Entdekkung der Verlust eines Gutes ist. Allein hike dich, 
die Lebhaftigkeit deiner Liebe fur ein Zeichen ihrer Dauer zu 
halten. Ach! dieses Feuer verlischt mit der Rote auf den Wangen 

- die Liebe wird alt wie der Korper, grau wie das Haupt - das 
Herz, welches mat fur dein Leben schlagen wird, wird noch 
matter fur deine Geliebte schlagen - deine Neigungen werden 
die Kalte annemen, die dein Blut iibereist, du wirst auf den 
andern die Haslichkeit iibertragen, die deine eigne Gestalt ver- 
unziert, und mit dem lezten Funken Liebe nur noch dein eigen 

1 Es ist unnotig zu sagen, da(5 man dieienigen Freuden fur keine Tor- 
heiten halten kan, die aus Tugend und warer Weisheit quellen. 



RHAPSODIEN 305 

Ich erwarmen, bis audi ihn die kalte Erde ausloscht und Liebe 
und Gegenliebe von dem Sarge verschlossen wird, der uns un- 
sern Freunden entreist. - Denk' an dies, so wirst du weniger 
toricht sein, und nie das ewig machen, was eher als dein Korper 
aufhort. - Wenn du liebst, so erinnere dich, daB du einmal nicht 
mer lieben wirst - alsdan wirst du am andern die Torheiten 
nicht darum verspotten, weil sie nicht die deinigen sind, noch 
ihn einen Kalten schelten, weil er fur keine Geliebte brent - 
alsdan wird deine Liebe eifrig sein one Ungestum, und nur die 
Opferfordern, dieihr [die] Vernunft nicht versagt. Tranen wer- 
den ihre Glut in sanfte Warme verwandeln, eine siisse Schwer- 
mut wird ihre Entziikkungen umschleiern, und eine heilige 
Freundschaft endlichihre Stelle einnemen. - Und dan wird nach 
diesem Leben deine Geliebte deine Freundin sein, und ihre 
schone Sele auch one den schonen Korper geliebt werden. — 



Bruchstuck aus einem Aufsatz user Leben und Tod 



[ ... In dieser Einsamkeit, wo unser Weiser den] unbegreifli- 
chen Schopfer in seinem ersten und schonsten Tempel anbetete, 
wo ieder Gegenstand seinen Geist zur Betrachtung oder sein 
20 Herzzum Empfinden reizte, wo ihn der Frilling an den Himmel 
und der Herbst an das Grab erinnerte, wo ihm der Vogel sein 
Grablied sang, und der Bach seine Seufzer wiedermurmelte - 
in dieser Einsamkeit schlich oft der Gedanke an das Leben, und 
an den Tod, durch seine Sele. Er hatte oft genug gedacht, um 
iiber gewisse Dinge nicht wie andre zu denken, und sich oft 
genug geirt, um selten zu entscheiden und oft zu zweifeln; des- 
wegen dacht' er das Grab weder wie ein Theolog, noch Philo- 
soph, weder als ein Aberglaubiger,. noch Leichtsinniger; er 
dacht' es wie ein Mensch. 1 An einem Abend, da der Gedanke 

3° * Dieses ist kein Wortspiel. Der gewonliche Theolog giebt dem Tode 
die furchterliche Gestalt, die er in der Bibel von ihm zu finden glaubt; 



306 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

an die Ungewisheit der menschlichen Bestimmung seine ganze 
Sele erfiilte, verlor er sich von seinem Weg. Er irte herum, aber 
er sezte seine Betrachtungen fort, denen die Stille der Nacht 
soviel Narung, und ihre Dunkelheit etwas Feierliches ver- 
schafte. Er sah etwas Weisses durch das Gebiische blinken. Er 
gieng hin. Es war ein Grabstein. Er las: Dieser Stein ist die Tur, 
die den Eingang in's Land der Finsternisse ofnet. Und unten am 
Steine stand: Der ist weise, der den Tod sieht eh' er ihn fiilt. - 
Diese Worte fielem dem Weisen auf s Herz; er sezte sich auf 
das Grab; Empfindungen und Gedanken wechselten ab; er hielte 
folgendes Selbstgesprach: »Leben! Tod! das eine hab' ich, den 
andern erwart' ich - ich kenn' aber keines. Finster wie diese 
Nacht ist meine Sele - Got! der du meinem Geist ein Augc 
gabst zum Sehen; warum schufest du nicht auch eine Sonne 
zum Leuchten? Es ist alles finster, in mir, neben mir - doch 
nein, es ist nur dammernd: denn ich seh' ia Gestalten von Syste- 
men und Meinungen vorbeigehen. Was ist das iezzige, was das 
zukiinftige. Leben? [abgebrochen] 



und der Aberglaubige dieienige, die ihm seine erhizte Phantasie malt 
- der schlechte Philosoph sieht den Tod schon, [Schluss fehlt] 

So Shakespear in seinem .bekanten Monolog. Wer da die Warheit 
dessen, was ich gesagt habe, nicht fiilt, der fiilt sie nie. - 



DAS LOB DER DUMHEIT 



VORREDE 



Ich, die Dumheit, neme bald diese bald iene erwiirdige Gestalt 
an, um mich alien Menschen in der besten zu zeigen; allein ich 
gefalle alzeit nur denen, die mich in der ihrigen sehen, weil 
ieder bios die Dumheit schazt, welche der seinigen am anlichsten 
ist. Bald glanz' ich in dem polirten Hofling, der, gleich einem 
Gemalde, alle seine Verdienste auf der Aussenseite tragt, der 
seinen Verstand durch seinen Rok bekomt, und durch die Erhe- 
bung der Feler des Machtigen Belonung fur die seinigen erhalt 
- Bald kriech' ich in das finstre Gehirn eines Schulphilosophen, 10 
mache Sekten durch meine Unverstandlichkeit, demonstrire 
den Unsin durch Schlusse und in Paragraphen, und ersezze 
durch den Tiefsin auf dem Gesichte den Mangel desselben im 
Gehirne - Bald borg' ich den schonen Korper eines Frauenzim- 
mers, lasse mich bewundern, anbeten und bedichten und mit 
alien den Geistesgaben versehen, die man ieder Schonen gegen 
den Genus ihrer Schonheit willig zuschreibt - Bald sing' ich 
aus der diirren Gestalt eines Poeten, der seinen Gonner an dem 
Geburtstag desselben mit alien den guten Eigenschaften iiber- 
schuttet, die er im vorigen Jar noch nicht gehabt hat - Bald 20 
bin ich der Gonner selbst, der dem Dummen das Lob der Dum- 
heit bezalt - Bald komm' ich von oben herab und senke mich 
in einen Geistlichen, dessen Gestalt ich aber nur am Sontage, 
wie andre Leute ihre Sontagskleider, anziehe. Allein alle diese 
Verwandlungen verschaffen mir immer nur andre, niemals me- 
rere Bewunderer. Um also diesem bestandigen Wechsel von 
Lob und Tadel auszuweichen, wil ich durch eine Rede beweisen, 
dar3 ich die Woltaterin der meisten Menschen bin, und daB es 
dieselbe Dumheit ist, die in der abgelebten Heiligin und im mo- 
dischen Dichter seufzet, die den Unsin im alten Theologen 30 
durch Sp niche, und im Schulpedanten durch Schlusse beweist, 
und die im Kandidaten die Amter bekomt, welche sie im Gonner 



DAS LOB DER DUMMHEIT 309 

verteilt. - Mochte doch ieder der Dumheit die nachste Bewun- 
derung und Liebe nach der seinigen schenken! so war' ich so 
gros, wie Themistokles, den ieder seiner Krieger fur den tapfer- 
sten nach sich hielt. - 

Man verwechsele meine Lobrede auf mich nicht mit Erasmus 
Lobrede auf die Narheit. Denn die Narheit ist von mir genau 
unterschieden, und wird erst durch die Vermischung der Weis- 
heit mit mir gezeugt, wie der Maulesel durch die Vereinigung 
des Pferdes mit dem Esel. Daher liebt ein Dummer einen Dum- 
io men mer, als einen Narren. Obrigens wiird' ich ienes Buchs, 
das lateinisch und sogar nicht einmal in diesem Jarhundert ge- 
schrieben ist, nicht gedacht haben; wenn es nicht durch [eine] 
neue Ubersezzung unter Gelerte und Ungelerte gekommen 
ware. - 

Ich habe mich ser gehutet, tiefsinnig zu scheinen, oder gar 
verminftig anstat galant zu sein, weil ich auch fur die Damen 
schreibe, bei denen man wol schone, aber keine scharfsichtigen 
Augen voraussezzen kan. 

Man wird sich wundern, dafi die Dumheit Schriftstellerin 
20 wird; allein man hatte mer Recht sich zu wundern, wenn die 
Weisheit Schriftstellerin wiirde. 

Ich mag diese Vorrede zu keinem demiitigen Busgebet an 
die litterarischen Richter machen - als Dumheit bin ich immer 
reich genug, mir bei den gelerten Ablaskramern Vergebung fur 
vergangne und zukunftige Siinden zu erkaufen. - 

Ich hatte noch Allerlei zu sagen, was nicht hieher gehort; allein 
ich wil nur das sagen, was wirklich hieher gehort, namlich daB 
sich der ganzen gelerten Republik empfielt die 

Dumheit. 



Das Lob der Dumheit 



Euch, ihr neun Musen, bei denen ieder Dichter um die Narheit 
bettelt, welche ihm sein Nervensaft, sein Wein oder seine Ge- 
liebte in zu kleinem Masse erteilt, euch ruff ich nicht an, mich 
zu meinem Lobe zu begeistern: denn ich hasse, wie ieder Gelerte 
von achter Antikheit, alles Schone und Deutliche, und schazze 
den Unsin am meisten, der auf gelerten Fiissen daherstolpert. 
Aber euch ruff ich an, geerte und machtige Dumkopfe von 
A bis Z herab, die ihr meine achten Sone, und nur darum Men- 
schen seid, um die andern von der Aufklarung zu erlosen; die 10 
ihr mich durch die Kunst, die Dumheit mit der Weisheit zu 
naren, noch (ibertreffet, und eure Ere bios deswegen mit einem 
Anschein von Vernunft beflekt, um die meinige zu erhalten; 
die ihr aus iedem Feinde der Dumheit cincn Fcind Gottes macht, 
und bald das Unverstandliche durch unverstandliche Worte de- 
monstrirt, bald das Widersprechende durch theologische Be- 
weise beweiset — Befeuert mich iezt zu meinem Lobe, wie 
ich euch oft zu dem eurigen befeuert habe, giest in mich alle 
den Stolz aus, der nirgends als in euren Verstandleren Kopfen 
Raum genug findet und lert mich eure Kunst, heilig und tiefsin- 20 
nig zu scheinen, one es mer als ihr zu sein! ! 

Wenn die Achtung, die uns andre erzeigen, uns mit einer 
noch grossern fur uns selbst erfiilt; wenn sich ieder Nar unter 
den Narren noch schazzenswerter findet und ieder Dumme 
durch seine Freunde desto mer sein eigner wird: wie ser mus 
ich mich vereren, wenn ich die Menge derer (iberschaue, die 
mich vereren, und wie leicht mus mich dieser Stolz fahig ma- 
chen, ihm noch merere Narung zu verschaffen! Meine vorige 
Anruffung gleicht also den gewonlichen in Gedichten nicht: 
denn sie ist nicht unnotig. Eben durch sie stelt' ich mir die 30 
Menge, die Macht und den Rum aller meiner Vererer vor, und 



DAS LOB DER DUMMHEIT 311 

sezte mich in das Feuer, das ich notig habe, um andre fiir mich 
warm zu machen. 

Da ich kein Gedicht verfertige, d. h. niemand grillenmassig 
in den Schlaf singen wil, und da ich so weit gekommen bin, 
daft ich anfangen kan, so wil ich anfangen - und wir wollen 
also, meine Freunde, mit einander, one fernere Weitlauftigkeit, 
dem Beweis unsrer Sache naher kommen und erstlich den Nuz- 
zen im Algemeinen betrachten, den ich den Mensche[n] ver- 
schaffe, und dan unsre Aufmerksamkeit auf die Vorteile richten, 

10 die ieder besondre Stand der Menschen mir zu danken hat; wo 
ich zugleich zur Vergrosserung meines Lobs der Ere, die mir 
durch den Zusammenhang mit sovielen gar beriimten, gelerten 
und frommen Leuten zu Teil wird, Meldung zu tun nicht er- 
mangeln werde. - 

Ich gebe das, was die Arzte selten geben, aber wol mit eigner 
Geschiklichkeit und besondrer Methode nemen konnen - die 
Gesundheit. Dieses kont' ich so demonstriren, wie man sonst 
zudemonstrirenpflegt. Ich konte namlich aus der Abhangigkeit 
des Korpers von der Sele, und umgekcrt, ser leicht dartun, wie 

20 ser das Denken schwache, und wie ser die Dumheit starke; wie 
die, mit ieder Tatigkeit der Sele verbundnen, Bewegungen im 
Gehirn, den Nervensaft von andern Teilen des Korpers nach 
dem Kopfe zu reizen, und wie eben dadurch vielerlei Ubel ent- 
stehen. Allein ich befurchte, des selenverderblichen Materia- 
lismi beschuldigt zu werden, wenn ich von dem Zusammen- 
hange zwischen der Sele und dem Korper mer als nichts denke. 
Ich wil aber auf eine andre Art zeigen, daB die Dumheit die 
langgesuchte Universalmedizin gegen alle Krankheiten sei. Be- 
trachtet den gliiklichen Sterblichen, dessen Magen nie durch 

30 den Kopf an der Verdauung ist gehindert worden, und der sei- 
nen Nervensaft nie zur Befruchtung irgend eines Gedanken ver- 
schwendet hat - sein Korper ist das Bild der Gesundheit. Man 
sieht zwar auf seinem Gesichtekein Verzeichnis von tiefsinnigen 
'Gedanken; allein eben darum auch keine Spuren der verwiisten- 
den Sele. Er versteht die Kunst, zu hungern, zu essen und zu 
verdauen: denn sie ist seine einzige, wenigstens die einzige, an 



312 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

welcher seine Sele Anteil nimt. Sein Kopf ist keine Werkstatte 
der Gedanken; aber eben darum auch keine der Schmerzen. Er 
kentienes Ubel, die Hypochondrie, nicht, welche den Gelerten 
aller der Freuden beraubt, die er vorher zu verachten schien. 
Die Reizbarkeit seiner Nerven ist weder so klein, daB sie ihn 
gegen den Genus der sinlichen Vergniigungen gleichgultig 
macht, noch so gros, daB sie iede lebhafte Wollust in empfindli- 
che Schmerzen verwandelt. Stellet neben dieses Bild das Bild 
des Weisen. Man sieht es ihm an, daB er eine Sele hat: denn 
es ist oft zweifelhaft, ob er einen Korper hat. Dieser Korper 10 
hat sich im bestandigen Dienste des Geistes aufgerieben und 
scheint durch seine Abname sich der Unkorperlichkeit des We- 
sens zunahern, das in ihm denkt. Das Gesicht wird von Runzeln 
durchschnitten, diesen Narben iedes Streiters gegen die Dum- 
heit, und der Kopf, gleichsam schwer von vielem Wissen und 
angefult von den geraubten Kraften der (ibrigen Glieder, neigt 
sich gegen die Erde. Wenn der Weise spricht, so hort man ihn 
so wenig, daB man ihn allemal misverstehen mus. Dieienige 
Malzeit, die bios eine fur seinen Korper ist, ist ihm die muhsam- 
ste Beschaftigung, und seinem Magen felt alles Feuer zum Ko- 20 
chen, weil es sich in seinem Kopfe befindet. Das Feuer seines 
Geistes, das, wie das Feuer der Vestalinnen, nie ausloscht, lekt 
nach und nach alle seine Safte auf, und seine Sele und sein Korper 
uberlebenendlich gleichsam das Leben, so daB iene die Weisheit 
einer abgestorbnen Sele, und dieser die Magerkeit eines abge- 
storbnen Korpers erhalt. - Man sieht nun ein, wie ser ich die 
Gesundheit befordere; aber man sieht auch, wie undankbar die- 
ienigen gegen mich sind, die meine Arbeit von dem Arzt zersto- 
ren lassen, oder ihm das danken, was er selbst mir danken 
mus. - 30 

Eine Ausschweifung, die eigentlich nur eine zu sein scheint, 
wird dem Vorigen neue Starke und meiner Gestalt neuen Glanz 
verschaffen. - Man streitet schon lange iiber die in iedem Be- 
trachte wichtige Frage: wie der Genus ienes bekanten Apfels* 
die physische Ursache von den Krankheiten des menschlichen 
Korpers sein konne. Da es weder moglich noch theologisch 



DAS LOB DER DUMMHEIT 313 

war, diese Sache durch Griinde auszumachen: so muste man 
sich auf das Traumen legen. Allein es wurde auch dadurch nichts 
bewiesen und als war festgesezt, weil nicht alle Traumer einerlei 
getraumt hatten. Mir bios ist die Auflosung dieser theologischen 
Frage aufbehalten worden. - Der Baum des Erkentnisses des 
Bosen und Guten ist, wie die Benennung selbst anzeigt, die 
Fahigkeit zu denken, oder die Wissenschaften. Wenn nun gesagt 
wird, daB Eva 1 von einem Apfel dieses Baums gegessen habe, 
so heist dies unfigiirlich also: sie fieng an iiber das summum 

10 bonum, den Zankapfel aller Philosophen, nachzudenken und 
also die heidnische Philosophey zu treiben. Die Schlange, wel- 
che Evam zum Denken verfurte, mag dieienige gewesen sein, 
welche nachher das Bild der Pallas Polias auf der Akropolis zu 
Athen beschiizte. Dieses wird warscheinlich, wenn man mit 
dem heil. Bernhardo annimt, daB der Luzifer, oder diese 
Schlange auf den Berg des Erkentnisses geflohen sei. Diesen 
Berg nanten die blinden Heiden den Parnassus. Also das Den- 
ken, zu welchem die Menschen durch den Apollo, oder Asmodi, 
durch die Musen oder Teufel - welches im Grunde einerlei ist 

20 - sind verfiirt worden, ist die Ursache von alien den Krankhei- 
ten, deren Anzal durch nichts als die Dumheit verringert wird. 
Diese Erfindungen liessen sich in einer Inauguraldisputazion 
zum Nuzzen aller lebenden Christen, mit aller iiblichen Weit- 
lauftigkeit ausfuren und mit alien den Zitazionen begleiten und 
verschonern, die ich hier auslasse, weil ich nicht gleich dieieni- 
gen finden kan, die sich nicht hieher schikken. - Folgendes wird 
den Einflus der Dumheit auf die Gesundheit noch deutlicher 
dartun. Warum sind die Tiere so gesund? weil sie noch weniger 

1 Sogar in der Geburt der Pallas find' ich einige Anlichkeit mit der 
30 Schopfung der Eva. Jene entsprang aus dem Haupte des Jupiters - diese 
aus der Seite des Adams, und wie diese den Adam, wider der Weiber 
Weise, zum Denken verfiiret hat, so wird iene, als die Gottin der Weis- 
heit, one Zweifel auch den Jupiter dazu verfiirt haben. Diese kleine 
Anlichkeit der heidnischen und heiligen Geschichte bestatigt gar deutlich 
dieMeinung einiger Theologorum, daB die alten Philosophi und Poetae 
ihre Weisheit aus den, in der ganzen Welt bekanten und gelesenen, 
Biichern der Juden geschopft haben. 



314 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

denken, als dieienigen Menschen, die sich am meisten mit ihnen 
beschaftigen. Warum die Wilden? weil sie noch im halben 
Stande der Unschuld leben, und, gleich andern heiligen Man- 
nern, die nach eben diesem Stande trachten, keine Gedanken 
haben. Warum die Mdnche? weil sie immer beten, Messe lesen, 
predigen und desgleichen. - Ein dikker Bauch ist bei vielen eine 
Wirkung meines giitigen Einflusses; daher ist er einem gewissen 
Stande vorziiglich eigen; daher hat Shakespear mit Recht gesagt: 
voile Wanste pflegen lere Kopfe zu haben. Dieses sieht man 
auch an den unberiimten Mannern, die in beriimten Amtern 10 
stehen. Ihr Korper nimt zu, weil sie aufgehort haben, ihres Amts 
wiirdig zu sein, seitdem sie es bekommen haben, und weil sie 
alle die Verdienste verloren haben, die man an ihnen belont 
hat. In ihrem Amt, in welchem sie um alle den Verstand kom- 
men, den sie in demselben brauchen, wird ihre Gehirnmasse 
so klein wie die eines Straussen, deren hundert erst eine Abend- 
malzeit fur den Heliogabalus ausmachten; allein rechnet ihr da- 
fur ihren Wachstum an - Fet nicht? Wer also in seinem Amte 
gleichsam auf Mastung stehen wil, der mus seiner Sele ieden 
Gedanken, ieden scharfen Blik verweren; eben so macht man 20 
die Vogel am fettesten, wenn man sie blendet. Wenn man noch 
nicht einsieht, daft das Nichtdenken mit zur Diat gehort: so 
frage man den Arzt; unter den vielen Diatsregeln, die er giebt, 
ist diese die einzige, die nicht erdichtet ist, die er selbst beobach- 
tet. - 

Ich erhalte nicht bios die Gesundheit des Korpers, ich erhalte 
auch die Gesundheit der Sele. Denn erstlich, ich mache den 
Menschen heilig, d.h. ich zeige ihm den leichtesten Weg", in 
den Himmel zu kommen, one ihn mer als ieder andre zu verdie- 
nen. Beides wil ich beweisen. Einige Menschen bilden sich 30 
falschlich ein, daft die Frommigkeit in einem aufrichtigen Nach- 
denken iiber die Religionswarheiten, und in einer fleissigen 
Ausiibung der erkanten Pflichten bestehe. Mein Heiliger macht 
es besser. Er untersucht niemals; aber er glaubt alzeit. Er hat 
keine Augen zum Sehen; allein wol Oren zum Horen. Sein Vater 
hinterlies ihm, bei seinem Ableben, nebst Haus, Hof, Akker, 



DAS LOB DER DUMMHEIT 315 

Ochsen, u. dgL, auchseinen Glauben. Diesen findet der christli- 
che Son in dem Gesang-Gebet-Predigt- und Evangelienbuch 
so wol verwart, wie die alten verschlagnen Miinzen in den ange- 
zeigten Beuteln. Er liest von Sontag zu Sontag die Meinungen 
der altesten und raresten Kerntheologen, um sie zu glauben; 
er driikt sie tief in's Gedachtnis, um seinen Verstand fest davon 
zu (iberzeugen. Er glaubt sie, one sie zu untersuchen: denn er 
weis gewis, da6 sie ihre Urheber erf an den, one zu denken. Den 
Teufel, der ihm zuweilen in der Gestalt der Vernunft zusezt, 

to treibt er mit Seufzern zuriik, und seine, in Schweinsleder einge- 
bundne, Postille brauchter zum undurchdringlichen Schilde ge- 
gen die Pfeile der Weisheit. Ferner, er ist so heilig, dafi er selten 
tugendhaft zu sein braucht. Beten ist seine Hauptsache: denn 
seine Zunge ist das einzige Glied, welches er mit der grosten 
Leichtigkeit und dem wenigsten VeVstand bewegen kan. Vor 
den glanzenden Lastern der Heiden hiitet er sich mer als vor 
ihren nichtglanzenden, und alle seine gottesfiirchtigen Hand- 
lungen quintessenzirt er in einen einzigen Seufzer. Er flieht die 
Arbeit, um besser den Miissigang [!] seiner Sele zu betrachten, 

20 und Wetterbeobachtungen iiber die aufsteigenden Diinste aus 
seinem Unterleibe anzustellen. Er kan niemals seinem Nachsten 
dienen: denn er mus immer Got dienen. Ja, er tut ihm oft aus 
christlicher Liebe einen kleinen Schaden an, um ihn zur Busse 
zu leiten, und wird zum Schein der Todfeind seines Nachbars, 
um keinen Anteil an seiner Vernunft zu nemen. Sein Has wird 
nicht selten durch die Erleuchtung von oben noch heftiger; so 
wie der Essig durch den Stral der Sonne noch scharfer wird. 
Allein gegen seine Selenschwester beweist er ware Bruderliebe; 
vermutlich, weil sie seine geistigen Entziikkungen durch andre 

30 unterhalt, und ihm ser oft besondre Belerung iiber wichtige 
Tropen in der Mystik erteilt. - Die unreinen Gedanken, die 
von unten herauf zu seinem Kopfe steigen, verwandeln sich 
oben in gesalbte Worter und heilige Seufzer - eben so werden 
die Diinste, die aus kotigten Ortern emporsteigen, in der Hohe 
zu Schnee. Allein die Liebe seiner Schwester loset iene Seufzer, 
so wie die Warme diesen Schnee, in ihre ersten Urstoffe auf. 



3l6 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

Wenn er weint, so ist er am meisten zu fiirchten; eben so klagt 
das Krokodil mit menschlicher Stimme, wenn es einen Men- 
schen beriikken und erwiirgen wil. Er hat die ganze Bibel im 
Kopfe; allein so, wie der Walfisch den Propheten im Bauch hatte 
- er nart weder seinen Verstand noch sein Herz mit derselben, 
und kent alle Tugenden, um keine auszuuben. Ist es aber nicht 
leicht, from zu sein, wenn man nur dieienigen Laster abzulegen 
braucht, die sich der Obrigkeit nicht verbergen lassen, nur dieie- 
nigen Tugenden anzunemen braucht, hinter welchen sich ein 
ganzes Her von Felern verstekken kan? Und mir bios hat man 10 
dies zu danken; nur auf die Dumheit last sich diese Heiligkeit 
pfropfen, und nur durch mich traben diese Heiligen in den Him- 
mel, wieMuhammed auf seinem Eselin's Paradies. Denn wenn 
der Schimmer der Vernunft eines Heiligen vor dem Glanz einer 
andern Erleuchtung verblatt; wenn alles, was er spricht, so heilig 
ist, daB es keinen Sin hat; wenn er sich mit seiner Phantasie 
tiber das Gebiet des gesunden Menschenverstandes erhebt, um 
naher bei'm Himmel zu sein; wenn er, um in seinem Fluge zu 
den atherischen Gegenden durch nichts Irdisches gehindert zu 
werden, die Vernunft, wie Elias seinen Mantel bei seiner Him- 20 
melfart, hinter sich wegwirft, und sich den Kindern gleich zu 
machen sucht, indem er seinen Verstand dem ihrigen gleich 
macht: - was kan anders daraus folgen, als daB ein so grosser 
Grad von Heiligkeit nur durch einen so grossen Grad von Dum- 
heit erworben wird? 

Und diese Menschen allein sind es, die sich meines Besizzes 
nicht schamen. Sol ich mer zu diesem Lobe hinzusezzen? - nur 
die konnen mer hinzusezzen, denen ich es schuldig bin. - 

Ich mache den Dummen durch seinen Kopf eben so gliiklich 
wie durch sein Herz. Ich gebe ihm zwar nicht die Weisheit; 30 
aber doch die Meinung, sie zu haben. Der Mangel der Weisheit 
schiizt ihn vor alien Gefaren, die den Denker in's zeitliche und 
ewige Verderben stiirzen. Er iiberlast sich nie dem Mere der 
Zweifel, um nach dem Lande der Warheit zu schiffen; er liest 
nie andre Biicher als solche, die seine Sele in Hofnung und seinen 
Korper in Schlaf wiegen. Daher ist er immer ruhig: denn er 



DAS LOB DER DUMMHEIT 317 

ist zu blind, etwas Furchterliches zu sehen; daher ist er immer 
sich selbst gleich in seinen Meinungen: denn er kent nur dieieni- 
gen, die er glaubt. Die Maschine seines Geistes geht ieden Tag 
gerade so, wie sie durch das Gewicht seines Korpers aufgezogen 
ist, und alle vier und zwanzig Stunden erneuert sie den vorigen 
Lauf. Allein alle diese Vorteile erhalten erst durch den Stolz 
ihren grosten Wert. Ich mache ieden Dummen stolz, und eben- 
deswegen auch gliiklich. Derienige mus sich alzeit iiber seinen 
Wert schazzen, demur einen kleinen hat. Da er von vielen iiber- 

10 troffen wird, so notigt ihn seine Eigenliebe, Vorziige an sich 
aufzusuchen, die andre nicht zu haben scheinen, sie zu vergros- 

' sern und endlich mit einem Glanze zu verschonern, der alle ubri- 
gen Feler unbemerkbar macht - und da er wenig zu schazzen 
weis, so bewegt ihn seine Dumheit, die Mangel zum Range 
auszeichnender Vorziige zu erheben. Dieser Stolz last sich ieden 
Tag an iedem Dummen bemerken. Jeder Tor im Amte, der 
seit vielen Jaren die Belonung seiner Dumheit geniest; ieder 
Geistliche, der neue Biicher aus Vorurteil und alte aus Tragheit 
nicht liest und ieden Sontag eine Probe seiner Unwissenheit 

20 und Faulheit ablegt; ieder Schullerer, den ein weiser Gonner 
wegen seiner Unwissenheit und seinen Lastern zu nichts anderm 
als einem Lerer der Weisheit und Tugend machen konte, und 
der seinen Eleven mit Miihe die Dumheit einpriigelt, die ihm 
eingeprtigelt worden ist; ieder Dumling, dessen Dumheit in der 
Jugend zu ser belont wurde, als daB sie nicht im Alter hatte 
wachsen sollen und der im Amte das vergist, was er als unwis- 
sender Jungling noch wuste — alle diese sind fast eben so stolz, 
als sie dum sind, alle diese hangen die wichtige Amtsmiene vor 
ihr einfaltiges Gesicht und machen ihre Zunge zum bestandigen 

30 Lobredner ihrer Feler. Aber dieser Stolz ist iedem unentberlich, 
der ihn hat; er ist die groste Woltat, die ich meinen Vererern 
erweisen kan. Das Lob, welches der selige Sancho Pansa dem 
Schlaf giebt, last sich eben so gut auf den Stolz anwenden. »Ge- 
segnet sei der Man, soke der zweite Sancho sagen, der den Stolz 
erfand (der bin ich). Der Stolz ist ein Mantel, der alle Grillen 
bedekt, eine (Selen-) Speise fur den, der hungert, ein (Selen-) 



3 18 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Trank fur den, der durstet, eine Wagschale, die den Schafer 
dem Konige, und den Dumkopf dem Klugen gleich macht, kurz 
eine algemeine Miinze, fiir die man alle Dinge kaufen kan.« 
Der Stolz ist eine Fee, die alle Wiinsche des Dummen erfiilt. 
Er braucht eine Volkommenheit nur am andern zu finden, um 
sie an sich zu finden, oder er braucht sie nur nicht zu haben, 
um sie zu verachten. Hat sich der Andre durch irgend ein Ver- 
dienst gros genug gemacht, um von den verkleinernden Augen 
des Dummen bemerkt zu werden: so schwingt sich dieser leztere 
auf den Fliigeln des Stolzes iiber den Verdienstvollen hinauf, 10 
und sieht dan von seiner Hohe mit Mitleid auf den vergotterten 
Pigmaen herab. - Durch den Stolz kan er ein Amt verwalten, 
das er durch Dumheit erhalten hat. Der Dumme wiirde eine 
Hohe verlassen, fiir die er nicht geboren ist, wenn er sich nicht 
auf seinem Tron aufblahte, so wie lere Blasen auf hohen Bergen 
aufschwellen; er wiirde sinken, wenn er sich nicht durch den 
Stolz in der H6h' erhielte, so wie der Schwimmer durch Blasen 
sein Sinken verhiitet. Wenn z.B. Ihro Hochwiirden einen Kan- 
didaten, der von seiner Orthodoxie noch keinen sinlichen Be- 
weis bei Ihrer Frau abgelegthat, als ein Schlachtopfer Ihres heili- 20 
gen Zorneifers in Ihre Hande bekommen - wenn denn der 
Arme, der noch Verstand genug hat, um nicht den Ihrigen zu 
haben, und Vernunft genug, um Ihnen ein Kezzer zu scheinen, 
wenn dieser kliiger antwortet als Sie fragen und anders antwor- 
tet als Sie aufgeschrieben haben - wenn er den hebraischen Text 
anders giebt, als Sie zwischen die Zeilen Ihres Kodex gekrizzelt 
haben, oder wenn er gar in der Dogmatik Griinde vorbringt 
und die Ihrigen verlangt, weil Sie die seinigen verwerfen — 
sagen Sie selbst, wer steht Ihnen iezt bei, damit Sie das scheinen, 
was Sie nicht sind? ist's nicht Ihr Stolz, den der Kluge unmoglich 30 
dem Dummen nachamen kan, welcher auf Ihrem Gesichte alle 
die Wichtigkeit verbreitet, die Sie sich durch Ihre Gelersamkeit 
nicht geben kdnnen; welcher dem Kandidaten den Mut benimt, 
der den Ihrigen schwacht, und ihn endlich beredet, mer Ihre 
Gewalt als Ihr Recht, mer Ihr Herz als Ihren Verstand zu fiirch- 
ten? - Auf diese Art siegt die Dumheit iiber die Weisheit; auf 



DAS LOB DER DUMMHEIT 3 19 

diese Art mach' ich den Genus meiner Woltaten durch die Uber- 
windung neuer Hindernisse noch fortdauernder, noch reizen- 
der, und verdiene noch mer Lob, als dieienigen, die durch mich 
siegen. - 

Dieses Lob wird durch die Erfarung vergrossert, daB man 
nichts notig hat, um ungluklich zu sein, als weise zu sein, und 
daB im Gegenteil die meisten ihre Amter nur durch mich erhal- 
ten. Diesen lezten Saz werden nur die nicht glauben, die ihn 
durch ihr eigen Beispiel beweisen: denn ieder glaubt sein Gliik 
10 einer andern Sache als seinen Felern schuldig zu sein. Ich wil 
iezt nichts vorbringen, als das, was sich alle Tage sehen last; 
daraus wird folgen, daB die Weisheit notwendig ungluklich, 
und die Dumheit notwendig gliiklich mache, und daB iene al 
dcs Lobs unwiirdig ist, welches bios ich verdiene. Da sich 
daruber nicht zu viel sagen last, so wil ich dariiber viel sagen. - 

An iedem Orte sind reiche und machtige Dumkopfe ge- 
pflanzt, die reichlichen Schatten iiber ihre Mitbriider verbreiten, 
und die rtahe Verwandschaft mit ihnen durch' einen gemein- 
schaftlichen Has gegen den Klugen beweisen; Leute, die lange 
20 Oren an sich und andern schazzen, die die Verlaumdung zum 
Ordenszeichen ihrer Bruderschaft walen und den Aufgeklarten 
als einen Rebellen aus dem friedlichen Reiche der Esel verban- 
nen. Allein es giebt zweierlei Arten von Dummen, welche die 
Dumheit befordern; einige sind zu reich, um sich durch das be- 
schafte des Denkens zu ermiiden, zu reich, um ausser dem Gelde 
noch den Verstand zu schazzen; andre sind zu alt und zu lang 
im Amte, um die Weisheit eines Jungern der Dumheit eines 
Altern vorzuziehen, und um die nicht zu hassen, die den Feler 
haben, geschazte und belonte Feler nicht zu haben. Von den 
30 Leztern zuerst! Man glaube aber nicht, daB ich meine geliebten 
Dumkopfe tadle, wenn ich von ihnen in der Sprache rede, in 
der man sie gemeiniglich tadelt: denn ich mus ia menschlicher- 
weise reden. - 

Alle dieienigen Dunsen, die in Amtern alt geworden sind, 
die sie so wenig verdient haben, wie ihre Gonner die ihrigen 
- der Priester, der unter der Perriikke seines Grosvaters den 



320 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG 

Verstand seines Grosvaters tragt, der die groste Heiligkeit zu 
besizzen glaubt, weil er sie seinen Zuhorern anempfielt, der alle 
Menschen fiir seine Schiiler halt, weil er lange Zeit der Lerer 
seiner Gemeinde ist, und der seinen theologischen Galimathias 
fiir ausgemachte Warheit ansieht, weil er ihn seit vielen Jaren 
seinen Schafen one Widerspruch predigt - der Rechtsgelerte, 
der entweder als Richter seine Stupiditat mit seinem Nuzzen 
vereinigt und ein dummes Urteil lieber wiederholt als es verbes- 
sert, oder der als Advokat den Verstand der Gesezze sucht und 
den seinigen verliert, wie der Hund in der Fabel sein Fleisch, 10 
der ieden Jiingern deswegen fiir ein[en] Esel halt, weil ihn der 
Aktenstaub noch zu keinem grauen macht, und der von dem 
wollobl. Rat seines Stadgens alle die Lobspriiche einsaugt, die 
Esel nur Eseln erteilen - der Arzt, der auf eine lange Praxis 
trozt, die nichts als die die Wiederholung seiner Feler beweist, 
der, gleich einem kriegerischen Wilden, seine medizinische 
Tapferkeit nach der Menge.der besiegten Pazienten abmist und 
lieber nach der medizinischen Halsgerichtsordnung seines Va- 
ters fortexekutirt, als die Schlachtopfer seiner Unwissenheit 
durch das Studium der Neuern vermindert - der Schulpedant, 20 
der immer mit dem Stokke seine unniizzen Leren in das Ge- 
dachtnis der Kinder eingrabt, der sich schon lang sein Leren 
sauer werden last, um andern das Lernen sauer zu machen, und 
sich Gliik wiinscht, ein strenger Lerer der Dumheit und kein 
angenemer Lerer der Weisheit zu sein - der Philosoph, der alter 
als seine steinalte Logik ist, der zu lang geschlossen hat, um 
noch zu denken, zu lang mit dem Terminus Medius gespielt 
hat, um ernsthafter als seine gravitatischen Spielkollegen zu sein, 
und der seine schwache Vernunft durch die drei Buchstaben 
q. e. d. 2 unter dem Gehorsam des Glaubens gefangen genom- 30 
men hat, um, gleich seinen Kollegen, zwar kein Denker, aber 

2 quod erat demonstrandum. Diese drei Worte stehen am Ende ieder 
Demonstrazion, und sind die Demonstrazion der Demonstrazion. - 
Diese Anmerkung sei bios fiir die hofnungsvollen Jiinglinge, die iene 
drei Worte zum erstenmale sehen, weil sie, wie bekant, eine modischere 
Dumheit als die pedantische lieben. - 



DAS LOB DER DUMMHEIT 321 

doch ein volkomner Metaphysiker zu sein - kurz iede Reliquie 
der alten Zeit, die die gegenwartige tadelt, und ieder abgenuzte 
Kopf, der in der Finsternis der aufgeklarten Welt, wie faules 
Holz in der Nacht, leuchten wil; allc diesc schazzen sich zu ser, 

- um den Weisen zu schazzen, sind zu ser von dem Geful ihrer 
Superioritat durchdrungen, um es nicht durch Verachtung und 
Has gegen iHre Feinde zu aussern. Sie miissen aber auch den 
Klugen verachten und verlaumden: denn die Achtung, die sie 
ihm erzeigten, wiirde ihre eigne schwachen, und die Anerken- 

io nung fremder Verdienste wiirde ihnen zum Vorwurfe des Man- 
gels an eignen gereichen. Sie musten sich nicht lieben, um den 
Aufgeklarten nicht zu hassen. Und wenn ich nun iezt zusam- 
menrechne, was alle diese Dumkopfe vermogen, durch ihre 
vereinigte Macht, durch den Zusammenhang mit den Machti- 
gern und mit der Menge, durch die Hiilfe der Religion, der 
Vorurteile, des Ansehens vermogen - wenn ich betrachte, wie 
ihr Eigennuz mit ihrer Eitelkeit vereint, sie zwinget, den Klugen 
nicht bios in Schande und Ungliik zu stiirzen, sondern auch 
ihr eigen Gliik seinem Ungliik, und seiner Schande ihre eigne 

20 Ere aufzuopfern; wie sie durch ihre Dumheit, die durch das 
Alter mer Zuwachs und durch die Belonung mer Mut erhalten 
hat, angetrieben werden, den kleinsten Verlust ihrer Achtung 
an denen zu rachen, die sie kaum als ihre Feinde anzusehen wiir- 
digen, und denen den Besiz gewisser Giiter unmoglich zu ma- 
chen, die ihn durch nichts als die Weisheit verdienen und durch 
nichts als eben diese entberen konnen - dan wundre ich mich, 
daB es Weise giebt, aber nicht, daB es unglukliche Weise 
giebt. - 

Allein nicht bios die Gelerten, sondern die Machtigen und 

30 Reichen sind es am meisten, welche die Ausbreitung der Dum- 
heit besorgen, und die Ausbreitung der Weisheit verhindern. 
Ein Reicher ist selten an etwas anderm als an Geld reich, und 
wenn er seine Dumheit nicht schon mit der Geburt erhalt, so 
erhalt er sie doch rriit seiner Erbschaft. Es ist leichter, daB ein 
Kamel durch ein Nadelor gehe, als daB ein Reicher in das Reich 
- der Weisheit komme. Wenn er nun keinen Verstand hat, wie 



322 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

sol er den Verstand des andern schazzen, und wie sol er in der 
Austeilung der Amter, der Belonungen u.s.w. mer Ruksicht 
auf die Weisen als auf die nemen, die er weder verachten noch 
beneiden kan? - Allein es sind noch andre Ursachen da, warum 
der Machtige und Reiche den Aufgeklarten hassen mus. Der 
Kluge komt bios durch den Glanz seiner Verdienste um die 
Belonung derselben, und sein Kopf scheint, wie der Kopf der 
Medusa, das Herz iedes Dummen in Stein gegen ihn zu verwan- 
deln. Die Sonne seines Verdienstes benimt alien den Sternen 
den Schein, hinter welchen die Herzen der Hoflinge ihrc ro 
Schwarze und ihre Schande verbergen, und verdunkelt die, die 
dem Glanze des Goldes alien ihren Glanz, und dem Werte des- 
selben alien ihren Wert zu danken haben. Er tadelt die, die sich 
Schmeichler durch Geschenke erkaufen und hungrige Dum- 
kopfe zu ihren Lobrednern besolden, und zeigt denen ihre 
Kleinheit, die das Gefiil ihrer Grosse der Verblendung ihrer Ei- 
genliebe schuldig sind. Den Reichen, der bios an Geld reich 
ist, halt [er] eben so wenig fur verstandig, als den Maulesel, 
der den Kardinal tragt; so wie er ihn, wenn er sich mit seinem 
goldnen Gewande in iedem Laster one ausserliche Beflekkung 20 
herumwalzt, eben so wenig fur rein erklart, als den Roskafer, 
an dessen schimmernder Beinhaut man kein Merkmal seines 
schmuzigen Aufenthalts entdekt. Er verachtet am meisten die 
Dumheit, deren Gestalt mit der Miene der Weisheit pralt, und 
die sich mit dem angenommenen Gesichte desienigen zu eren 
glaubt, den sie verfolgt und verachtet. - Daher ist der Lorber- 
kranz, den das Verdienst tragt, nichts als der Blumenkranz, der 
das Schlachtopfer des Neides bezeichnet. Daher miissen die 
Weisen Brosamen von denen betteln die die Belonung fremder 
Verdienste verschwenden, und dem Unwissenden mit der 30 
Zunge schmeicheln, mit welcher sie ihn leren konten. Daher 
dichtet man ihnen alle die Feler an, die man an ihnen bestrafen 
wil und die den Wert ihrer wirklichen Verdienste zu vernichten 
bestimt sind. Daher erhalten sie selten ein" Amt, ausser in dem 
Fal, wenn man sie mit einem bestrafen wil; sie kommen allemal 
zu spat, und sind iibrigens zu arm, um ihr Verdienst durch die 



DAS LOB DER DUMMHEIT 323 

Ubergoldung desselben sichtbar und schazbar zu machen, oder 
zu stolz, urn sich die Belonung ihrer Verdienste durch etwas 
anders als ihre Verdienste verschaffen zu wollen. Dies ist das 
Schiksal des Weisen. - Gewis, wenn die Dumheit gar keinen 
Nuzzen brachte, so soke man wenigstens dum sein, weil man 
nur mit vieler Gefar weise sein kan. 

Allein alle die Bequemlichkeiten, die der Stand des Weisen 
ausschliest, haufen sich zusammen, um den Dummen zu be- 
gliikken. Da das vorige ein Beweis dieses Sazzes ist, so brauch' 

10 ich nur noch etwas weniges hinzuzusezzen. Der Dumme hat 
keine Feinde: denn er hat keine Bewunderer, oder wenigstens 
nur solche, die an seiner Dumheit ihre eigne bewundern. Er 
ist gewont vor denen zu kriechen, die auf fremde Schande ihre 
Ere griinden und in den Erniedrigungen andrer die Beweise 
ihrer Grosse suchen. Wer wolte ihm nun das abschlagen, das 
er nicht verdient, oder auf eine unwiirdige Art verdient und 
wie soke man den nicht erheben, der so gut kriechen kan? Wie 
soke er das Herz seines Gonners nicht gewinnen, da er beweisen 
kan, daB er den Kopf desselben hat? - So erwirbt sich der 

20 Dumme dasienige one Verstand, was der Weise durch den Ver- 
stand verliert. - Da der Rok der Ere bios gemacht ist, um die 
Blosse des Niehtverdienstes und der Dumheit zu bedekken 3 : 
wem anders als dem Dummen felt genug Ere, um die groste 
zu verdienen? - und da der Lon der Verdienste nur fur die be- 
stimt ist, die keine Verdienste haben, und nur der regieren darf, 
der zu regieren am wenigsten Verstand zeigt: wer anders als 
der Dumme zeichnet sich durch den Mangel an beiden genug 
aus, um damit sein Gluk zu machen? - Jeder also, der ein Kloz 
ist, kan sich freuen, es zu sein: denn man wird ihn auf eine 

30 hohe Erenstelle sezzen, um ihn anzubeten; man wird ihm einen 
Altar bauen, um ihm auf demselben die Vernunft zu opfern 
und seinem Stolze durch die Vertilgung des Rums des Weisen 
einen wolriechenden Weihrauch anzuziinden. Die Welt liebt 

3 Allein auch hierinnen amt man die Schonen nach, die sich ankleiden, 
um ihre Naktheit zu zeigen. 



3^4 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

noch immer die Abgotterei (ich rede menschlicherweise,) und 
verlast noch immer einen lebendigen und weisen Got, um aus 
unbeselten Dingen die Gegenstande der algemeinen Vererung 
zu schnizzen. — Eine andre Ursache von dem Gliikke des 
Dummen find' ich in der Geneigtheit der Machtigen, machtig 
und giitig zu scheinen. So wie ieder Edelgeborne zu edel denkt, 
um dem gemeinen Pobel in etwas anderm als den Lastern gleich 
zu werden - oder vielmer, so wie ieder Edelman seiner Hure 
grosmutig das Geld schenkt, welches sein Schneider von ihm 
tagtaglich umsonst fordert; eben so finden die patroni ein grosses 10 
Vergnugen darinnen, dem Dummen das als eine Woltat zu ertei- 
len, was sie dem Weisen als einen Lon entziehen, und sich dem 
einen in der gutigen, dem andern in der machtigen Gestalt zu 
zeigen. Warum hat dieser Dumme soviel Titel, daB er seinen 
rechten vergist, soviel Amter, daB er sie alle versaumen darf, 
so viele Verdienste von aussen in mancherlei Gestalt, daB er in- 
wendig keine zu haben braucht? - deswegen, weil es einem ge- 
wissen Hern beliebt hat, die Schopfung aus Nichts nachzuamen 
und ihre Moglichkeit den Weisen zu demonstriren. - Wenn also 
der notige Grad von Dumheit fur iedes Amt bestimt ware, so 20 
Hesse sich das Gliik iedes Menschen schon in seiner Jugend war- 
sagen, und ein Schulmeister konte one Miihe den kiinftigen Ge- 
neralsuperintendent von dem heterodoxen Dorfpastor unter- 
scheiden. - 1st es iezt noch verkentbar, wie weit sich mein 
Einflus in das Gliik des Menschen erstrekke? wie gros meine 
Machtsei, daichieden vornemern Dummen so unwiderstehlich 
auf die Seite des geringern stimme, wie gros meine Giite, die 
keinen meiner Anbeter iibergeht, und wie gros das Lob, das 
mir deswegen gebiirt? - Mein Lob iibertrift noch dasienige, wel- 
ches die Vornemsten meiner Vererer nur durch mich geniessen, 30 
und ich verdiene einen Lobredner, der grosser ist, als die, welche 
den besten verdient haben. - 

Ich habe iezt viel zu meinem Lobe, allein.blos im Algemeinen 
gesagt. Nunsind noch da Weiber, Stuzzer, Machtige, Hoflinge, 
Edelleute, Theologen, Philosophen, Poeten, pp., welche alle 
ihre Vorziige und ihr Gliik einer andern Gotheit als der meinigen 



DAS LOB DER DUMMHEIT 325 

schuldig zu sein glauben, und welche nicht selten meine Wolta- 
ten zu Werkzeugen ihrer Undankbarkeit machen. 

Die Rangordnung iibt nirgends grossere Rechte aus als im 
Reiche der Dummen. Ich werde mich daher als Konigin vorziig- 
lich hiiten, sie zu verlezzen. Da die Schonen, wie die kleinen 
Kinder, immer vorauslaufen: so mogen sie auch bei mir voraus- 
laufen. Nur verzeihen sie, wenn ich nicht immer galant genug 
bin. Ich habe mich noch nicht so ser im Lugen, wie die Menschen 
geiibt, ob ich's wol aus den Assembleen, Zuschriften und Lob- 

10 reden mit einigem Fortgang zu erlernen gedenke. 

Eine Frau hat nicht notig, klug zu sein: denn, weil sie schon 
ist, so ist sie schon alles das, zu was sie kaum die feurigste Einbil- 
dungskraft ihres Anbeters machen kan; sie ist also ausserst ver- 
standig. Ein schones Weib ist klug, wenn sie auch dum ist: denn 
wer wolte eine dumme Rede im Munde eines schonen Frauen- 
zimmers fur eine dumme Rede halten, und wer wolte an einem 
weiblichen Geschopf die Schonheit loben, one zugleich iiber 
den Verstand in Entzukkurig zu geraten, ia one diesen, der nicht 
wirklichist, hoherzuschazzen, als iene, deren Wirklichkeit man 

20 empfindet? - Das vornemste Gebot fur die Schonen ist; trachtet 
am ersten nach der Schonheit, das iibrige wird euch alles zuf al- 
ien. Im Grunde ist also die Schonheit das Band, welches die 
Schonen mit mir verbindet. Allein es ist ihnen nicht bios unno- 
tig, klug zu sein; es ist ihnen auch unmoglich. Sie sind nicht 
geschaffen zu denken, sondern zu gef alien. Wenn Pope vom 
Menschen (eigentlich vom Manne) sagt: er trit auf, urn sich einmal 
umzusehen und zu sterben: so kan man von der Frau sagen: sie 
trit auf, urn sich einmal sehen zu lassen, und zu sterben. Daher hat 
sie ihre Sele, um ihren Korper zu vervolkomnen; daher hat die 

30 Natur bei dem Manne fiir den innern Bau des Kopfs, bei der 
Frau fiir den aussern Bau desselben gesorgt; daher hat iener seine 
Sele im Kopfe, diese die ihrige auf dem Gesichte. »Aber giebt 
es nicht Gelerte des andern Geschlechts?« ich weis es nicht; allein 
wenn es solche giebt, so konte man die Litanei mit einer neuen 
und notigen Bitte verstarken: denn es ist gewis, da8 die Dumheit 
auf dem Wege zur Weisheit am ersten die Narheit umarmt. 



326 JUGENDWERKE - I.ABTEILUNG 

- Es ist also Lob fur .mich, daB ich dieienigen behersche, die, 
sich ausgenommen, fast alles beherschen; allein es ware zu we- 
nig, wenn sie nicht auch Vorteile hatten, meine Untertanen zu 
sein. Ich mache sie geschikt, alle die Kleinigkeiten zu ihren im- 
merwarenden Beschaftigungen zu walen, durch welche sie zwar 
ihre natiirlichen Schonheiten verbergen, aber doch modischere 
an ihre Stelle sezzen. Wenn ich nicht in dem Geiste der Schonen 
lebte und webte, so wiirden sie wenigere Zeit an den Orten 
verschwenden, wo ovidische Verwandlungen vorgehen, wo 
verschiedne Schopfer sich zur Umschaffung ieder haslich- oder 10 
schongeschafnen Nymphe vereinigen und fremde Reize die 
Wangen mit einer liigenhaften Lokspeise bemalen - sie wiirden 
die groste Langweile fiilen, iene Spizzen- und Dratgebaude, die 
so kiinstlich und so zerstorbar, wie Systeme, gewebt sind, iiber 
ihren Hauptern aufzufiiren, iene durchsichtigen Gewebe zur Be- 
strikkung der schimmernden Miikken, die bald auf einer Blume , 
bald auf dem Kote sizzen, mit alien Vogelstellerskiinsten auszu- 
breiten, und durch Modekleider kiinstlich alle die Schonheiten 
zu verstekken, die ihre natiirlichen sind, oder wenigstens nur 
die sehen zu lassen, die die Erbarkeit nicht gerne sieht, oder 20 
die nicht die ihrigen sind - kurz, wenn ich nicht ware, so wiirde 
man an den Schonen alle die Zierraten vermissen, die nur dieie- 
nigen fur Torheit halten, die an keine andre als die ihrige gewont 
sind. Nur eine Sele, die noch kleiner als diese Kleinigkeiten ist, 
kan sich lang mit ihnen beschaftigen, und nur die, die selten 
denken, konnen gedankenlose Arbeiten lieben. Zwar wird sich 
die Narheit einen nicht kleinen Anteil von dieser Ere anmassen; 
allein ich glaube, es gehort mer als Narheit dazu, um langweilige 
Narheiten one Langweile zu treiben. Auch hier past, obwol mit 
einiger Veranderung, diese Bemerkung: I'exactitude dans les 30 
petites choses est la vertu des sots. Allein die Schonen haben 
noch andre Geschafte, die ihnen anstat des Vergniigens Lang- 
weile verursachen wiirden, wenn sie sich durch etwas anders 
als ernsthafte Dinge Langweile verursachen liessen. One Lang- 
weile sich etliche Stunden mit einem Hiindgen, oder mit einem 
seufzenden Liebhaber zu unterhalten- one Langweile ein ernst- 



DAS LOB DER DUMMHEIT 327 

haftes Buch durchzublattern und ein faselndes zu lesen, oder 
einen halben Morgen in der Kirche zu sizzen, oder am Fenster 
zu stehen - one Langweile einfaltige Komplimente zu horen 
und zu erwiedern, oder einen ganzen Abend mit der Zunge, 
die dem Stachel der Biene gleicht, den Namen einer Nachbarin 
wund zu stechen, oder in der Geduld sich zu (iben, den Lebens- 
lauf eines neuen Bandes anzuhoren - one Langweile Langweile 
zu machen und zu ertragen — dazu gehort eine ungewonliche 
Starke, dazu gehort eine weibliche Starke, die durch mich ver- 

10 schaft und erhalten wird. Mir also haben es die Schonen zu 
danken, wenn sie sich weder durch den Ekkel noch durch wich- 
tige Dinge abhalten lassen, kleine und unwichtige zu treiben. 
Kaum darf ich mir das, darausfliessende, Lob zueignen: denn 
es ist zu gros, als dafi es die Lobredner der Narheit nicht vermin- 
dern solten, und iibrigens ist die Dumheit selbst noch galant 
genug, um viele' dumme Handlungen fur galante zu erkla- 
ren. - 

Nun wil ich zeigen, wie ich den Schonen die Herschaft iiber 
die Manner verschaffe. Anfangs woke ich zuerst von den unver- 

20 heirateten und dan von den verheirateten Frauenzimmern spre- 
chen. Allein ich sahe bald ein, daft in diesem aufgeklarten Jar- 
hunderte zwischen beiden keine andre Distinkzion als hochstens 
eine theologische, d.h. eine unsichtbare und geistliche stat finde. 
Denn die unverheirateten und verheirateten Schonen haben ein- 
ander ihre unterscheidenden Feler mitgeteilt und um noch gros- 
serer Anlichkeit willen, die unterscheidenden Tugenden klug- 
lich abgelegt, so daB der Unterschied zwischen beiden nur dieser 
ist: die eine kauft ihre Narheiten mit dem Gelde ihres Vaters, 
die andre mit dem Geld ihres Mannes; die eine hat viele Liebha- 

30 ber, die andre viele Manner, die eine macht ihren Anbeter zum 
belachenswerten, die andre ihren Man zum beweinenswerten 
Narren. - Genug alle Schonen haben mir ihren Tron zu danken; 
sie regieren alle nur von der Dumheit Gnaden. Wenn sich die 
Jiinglinge den Weibern gleich machen, um ihre Sklaven zu sein, 
um Weiber gegen Weiber zu sein, und die Narrenmontur anle- 
gen, in welcher man der regierenden Torin dient - wenn sich 



328 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

ieder, gleich dem Pasquinn in Rom, von den Franzosen als die 
Statue gebrauchen last, an welche diese ihre Pasquille auf die 
Deutschen, hangen, und keiner Vernunft genug hat, mit andern 
als nachgeamten Torheiten zu pralen - wenn man den Verstand 
einer Schonen bewundert, weil er der Verstand einer Schonen 
ist, und das verstandige Geschlecht ernsthafte Urteile zuriik- 
halt, um die faselnden und torichten des flatterhaften Ge- 
schlechts zu beklatschen - wenn der, mit den Erfindungen der 
Narren behangte, Nar sich zum Sklaven eines weiblichen Blik- 
kes macht und mit hoflichem Verdrehen der Glieder ieden Befel 10 
seiner Gebieterin empfangt und befolgt - kurz wenn Manner 
eine Zusammensezzung von den Felern der zwei Geschlechter, 
eine Mischung von manlichen und weiblichen Torheiten wer- 
den — sagt selbst, ihr, die ihr diese Ere so schazt, daB ihr iede 
vernunftige verschmaht, ist nicht die Dumheit wenigstens der 
Grund, auf welchem sich so ausschweifende Torheiten bauen 
lassen? Ich verdiene von euch noch mer Vererung als eure 
Schuzgottin; diese giebt euch Schonheit, ich gebe eurer Schon- 
heit ihre groste Wirkung; diese hat euch zum Weib des Mannes, 
ich hab' euch zur Beherscherin desselben gemacht. Und solt' 20 
ich nun nicht von euch erwarten diirfen, daB ihr, als neue Ama- 
zpnen, meine Herschaft durch dieienige vermert, die ihr mir 
zu danken habt?- Dan mochten immerhin die Priester verminf- 
tig werden; ich wiirde Priesterinnen haben! ! - 

Wenn ich nicht ein Weib ware, so wurd' ich fast rmide wer- 
den, meine Verdienste um die Weiber zu erzalen. Ich mache 
den Eheman geschikt, sich unter das Joch der weiblichen Her- 
schaft zu beugen. Es ist war, die meisten Manner werden durch 
goldne Ketten und seidne Faden geleitet; allein es ist auch war, 
daB ihnen nur durch meine Veranstaltung die Fesseln unsichtbar 30 
bleiben, welche zu zerreissen sie machtig genug waren. Von 
diesen mannigfaltigen Kiinsten der Weiber, die durch mich ihren 
Endzwek erreichen, wil ich einige angeben. Der eine Man wird 
dem Hymen von dem Amor schon gebunden iiberliefert, und 
er verliert, gleich dem Simson, in dem Schosse seiner Deli[l]a 
seine manliche Starke. Ein andrer wird von seiner Frau mit Hiilfe 



DAS LOB DER DUMMHEIT 3*29 

seiner Feler beherscht und iede seiner Torheiten dient einer an- 
dern Torheit seiner Frau zur Ursache oder zur Entschuldigung: 
diese steht mit seinen Leidenschaften, durch die man den Men- 
schen, wie gewisse Tiere an den Oren, festhalt, in einem gehei- 
men Verstandnisse, und wenn, nach Plato's Allegorie, der 
menschliche Wagen durch die Leidenschaften, als die Pferde, 
gezogen wird, so sezt sich das Weib fast allemal auf den Kutsch- 
bok, urn spazieren zu faren. Eine andre Schone macht ihren 
Man zum Vorwurfe der Spottereien ihrer Verwandten und 

io Freundinnen, und bezwingt seinen manlichen Arm durch die 
Menge weiblicher Zungen - eben so treibt oft ein Schwarm 
stechender Bienen den Baren endlich vom Honig ab. Noch eine 
andre gehorcht einmal, um das zu erlangen, was sie hernach 
befelen wil; sie iiberwaltigt durch angenommene Schwachen 
und siegt durch eine scheinbare Flucht. Eine dritte lost ihren 
harten Man in erzwungnen Tranen auf, wie den Zukker im 
Thee, und die Schonheit verteidigt sich durch dasselbe Element, 
aus welchem sie geboren wurde. Und endlich, die Schlimste 
der Schlimmen beherscht ihren Man durch die wiederholte An- 

20 merkung, daB er sein Gliik, seine Ere, sein Amt denen Verdien- 
sten zu danken habe, die seine - Frau besizt. - Man verzeihe 
diese Ausschweifung, und bemerkenun, daB die meisten dieser 
Kunstgriffe dem Manne nur durch meine Hiilfe unsichtbar blei- 
ben, nur durch mich folgenden Endzwek erreichen. Es ist dieser, 
daB der Man seiner Frau eine Lebensart erlaube, die iezt die 
gewonlichste ist, und die ich, zur Darstellung der Dumheit des 
Mannes und zur Vergrosserung meines Lobes, kurz schildern 
mus. - Eine Frau, die nach der Mode lebt, lebt bios fur ihr 
Vergniigen, und ihre Vereinigung mit dem Manne verbindet 

30 sie zu keiner andern Pflicht, als die, die Vergniigungen mit ihm 
zu teilen, die man nur durch die Mitteilung geniest. Sie ist zu 
zart, zu arbeiten, und hat kaum. Krafte genug, den Miissiggang 
zu ertragen. Der Zustand des Hauswesens; wie wolte sie der 
bekummern, da sie nicht Magd, sondern Frau ist? Ihre Pflicht 
in ihrem Ehestande ist ia nicht, die Giiter ihres Mannes zu ver- 
meren oder zu erhalten, sondern sie zu geniessen; und wenn 



330 . JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

hatte sie Zeit, niizliche Dinge zu tun? Sie hat kaum Zeit genug, 
unniizliche zu tun; der halbe Teil des dem Schlafe entzognen 
Vormittags reicht kaum zu, die Sorge fur den Puz zu endigen, 
und die Zeit lauft soviel geschwinder als der Miissigang, daB 
die Schone, kaum noch vor dem Mittagsessen, die Folgen von 
der Unmassigkeit der vorigen Nacht mit einer fremden Scham- 
rote ubertiinchen kan. Ihren Kindern niizliche Leren zu geben 
- so weit last sie sich nicht herab; doch mus man gestehen, 
daB sie sich erniedrigen wird, ihnen andre als niizliche Leren 
zu geben, wenn das Madgen alt genug sein wird, um die Regeln 10 
zu fassen, wie man aus Mannern Narren, und mer als Narren, 
Weiber machen sol, oder ihr Songen verstandig genug, um kin- 
dische Torheiten gegen modische vertauschen, und ein Ge- 
schlecht vergottern zu lernen, das er bios zu lieben weis. t)bri- 
gens ist sie nur in so weit Mutter ihrer Kinder, als sie Vergniigen 
hat, es zu sein. Wenn sie nicht in Geselschaft miissig sein kan, 
so ist sie in der Einsamkeit miissig; sie liest. Sie lernt durch 
die Bucher nicht denken, aber doch reden; nicht das Niizliche 
schazzen, aber doch es verachten; nicht die Torheiten ablegen, 
aber doch mit ihnen pralen. Um den Nachmittag nicht one 20 
Miissiggang verstreichen zu lassen, begiebt sie sich in eine Ver- 
samlung, wo sie hochstens kleine Arbeiten verfertigt, um an 
ihnen die Lange der verschwendeten Zeit zu berechnen; wo sie, 
gleich der Bienenkonigin, Konigin und Geliebte zugleich ist, 
oder wo sie mit eignen Felern pralt und fremde sucht und mit 
ihrer Zunge die kleinsten Mangel aus ihren Winkeln hervor- 
zieht, wie der Ameisenbar die Ameisen mit der seinigen. Kurz, 
um eine Frau nach dem iezzigen Schlage zu sein, ist sie alles 
das, was eine Frau nicht sein sol. Wenn nun der Man alles dieses 
zugiebt, wenn er dieienigen, die ihn mit ihren Zetteln erinnern, 30 
daB er eine Frau hat, bezalt; wenn er seiner Frau, die er nur 
mit ihren naturlichen Reizen geniest, alle dieienigen kauft, mit 
welchen sie seine Freunde geniessen, und sich seine unverdiente 
Schande mer kosten last, als mancher seine unverdiente Ere; 
und wenn er endlich in ihr noch ihre Torheit und ihre Bosartig- 
keit anbetet, um dem Agypter zu gleichen, der den Affen und 



DAS LOB DER DUMMHEIT 331 

das Krokodil anbetete — sagt es selbst, ihr Schonen, ist das 
nicht ein Man, wie man sonst keinen fand, wie ich ihn erst 
in diesem Jarhundert gebildet habe? - Ich wil nun den lezten 
Vorteil anfiiren, den mir die Schonen schuldig sind. Ich werde 
aber nie von ihrer Schamhaftigkeit fordern, das zu gestehen, 
was sie bios den Mut haben, zu tun. Man wird sich aus einem 
alten, alten Historienbuch erinnern, daB die Weiber treu waren. 
Allein diese Treue existirt nur in den Gesezzen, die sie gebieten, 
und in den Geschichtsbuchern, die sie erdichten. Wer wil nun 
aber die Manner, die alte Wunder glauben und neue erwarten, 
dahinbringen, daB sie das nicht sehen, was die Weiber nicht 
tun sollen, und das hoffen, was diese zu galant sind, noch zu 
kennen? - bios ich. Da die Frau mit dem Manne den Ehekorper 
ausmacht, so halt sie's fur gut, wenn sie die Bibel befolgen und 
woltatig sein wil, daB die linke Hand - der Man geht bekantlich 
zur Linken - nicht wisse, was die rechte tut. Allein die Frau 
mus nicht nur listig genug sein, um betrugen zu konnen; der 
Man mus auchdum genug sein, um sich betriigenzu lassen. Alle 
die Frauen daher, wo die eine ihre Andacht mit dem Priester 
teilt, und sich von ihm das sinlich erklaren last, was er sonst 
nur in Hebraismen verbietet - wo die andre einen Dichter in 
ihrem Schos aufnimt, der, zwar nicht wie Jupiter in Gestalt eines 
goldnen Regens, aber doch in Gestalt eines durch den Mond 
versilberten Tranenregens ankomt - und wo die lezte gefarlich 
krank ist, weil sie sich von einem iungen Doktor heilen lassen, 
weil sie ihre Treue an ihrer Krankheit sterben lassen und das 
Krankenbette zum Todtenbette ihrer Ere machen wil - alle 
diese, sag' ich, konnen nur durch meine Hiilfe ihren Mannern 
die Liebe gegen einen andern verbergen, die sie one mich durch 
die Affektazion einer grossern gegen sie, umsonst zu verbergen 
suchen. - Konnen nun die Schonen von mir mer fordern, als 
ich ihnen leiste? und kan ich von irgend iemand mer Lob for- 
dern, als sie mir schuldig sind? Gewis, ich bin nachst ihnen 
selbst, nachst ihrem Schoshunde oder ihrer Schoskazze und 
nachst ihrem Puzze, der wiirdigste Gegenstand ihrer Achtung 
und ihres Lobes. 



332 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG 

Ausser den Weibern gehoren zu den Beherschern der Welt 
noch dieienigen, die eine Krone tragen. Von diesen kan ich nun 
nicht viel zu meinem Lobe anfiiren, weil ich im achtzenten Jar- 
hundert schreibe. Denn wenn die Dumheit, wie ich hoffe, noch 
nicht von den Kanzeln und Kathedern geiagt ist: so ist sie wenig- 
stens, zum Leidwesen aller Dunsen, vom Trone geiagt. Und 
wenn dies auch nicht ware, so wiird' ich doch deswegen schwei- 
gen, weil es eine Todsiinde ist, die Warheiten zu sagen, die 
kaum der lachende Nar sagen darf. Ich wil bios von den Vortei- 
len reden, die ich sonst den Fiirsten verschafte. - Derienige, 
der gesagt hat', daB das Leben eines Fiirsten nicht das angenemste 
ist, hat eine Warheit gesagt, die nur derienige glaubt, der sie 
selbst empfindet. Ein Fiirst hat zuviele Vergniigungen, um sie 
zu geniessen und gliiklich zu sein; er hat aber auch zuviele Ge- 
schafte, um sie zu Quellen seiner Freude machen zu konnen 
-iene verursachenihm Langweile, und diese Ermudung. Durch 
mich weicht er beiden aus. Er vertreibt die Langweile, die den 
Weisen am meisten im Uberflus der rauschenden Freuden fol- 
tert, dadurch, daB er mit den Ursachen derselben abwechselt. 
Er reihet Freuden an Freuden und todtet durch neue den Ekkel 
an den vorigen in seiner Geburt. Er drehet sich in einem Zirkel 
von Ergozlichkeiten one Schwindel herum; weil sein Geist zu 
klein ist, bessere zu mutmassen und die gegenwartigen zu ver- 
achten. - Durch mich iiberlast er seinen Ministern die Sorge, 
ungerecht zu sein, und teilt den Raub mit ihnen, one ihr Verbre- 
chen zu teilen. Durch mich begiebt er sich der schweren Arbeit, 
die Stimme des Schmeichlers durch ernsthafte Tugend wegzu- 
schrekken, und den unharmonischen Klagen des algemeinen 
Elends sein Or darzubieten; gegen die Vornemen gerecht zu 
sein, die gegen Geringere ungerecht sind; mit Scharfsin den Ver- 
dienstlosen hinter der Larve von der Ere und Reichtum, und 
den Verdienstvollen unter den Lumpen von Armut und den 
Anschwarzungen der Verlaumdung zu entdekken, und dem 
Dunsen seinen goldnen Rok auszuziehen, um damit das nakte 
Verdienst zu bekleiden. So geniest er dan das Gliik, welches 
Sultane nur durch mich geniessen, die kaum Verstand genug 



DAS LOB DER DUMMHEIT 333, 

haben, um den stranguliren zu lassen, der es riicht verdient, 
und oft zu wenig, um sich durch ihre Gewalt Sicherheit vor 
andern als den Furchtsamen verschaffen zu konnen. - 

Allein ich sage zu wenig zu meinem Lobe, wenn ich nicht 
auch sage, wie ser ein dummer Fiirst andern niizt. Hier last 
sich der giitige Einflus der Dumheit kaum von denen verkennen, 
die ihn empfinden. Der Verstand des Fiirsten ist die Sele des 
Stats. Sobald nun diese Sele den Korper verlast, so ist er ein 
Raub aller grossen und kleinen Rauber - Geier und Raben zer- 

10 stiikken den noch nicht faulenden Korper und lassen gerade das 
noch iibrig, aus dem nachher das Ungeziefer geboren wird, wel- 
ches das As von den Beinen abnagt und nichts als das Gerippe 
des zerstorten Riesen ubriglast. Dan tragt der Bukkel und die 
Zunge des Ministers, durch die Bewegungen nach der politi- 
schen Tanzkunst, etwas ein, und der Wert des Hoflings wird 
nach seiner Aussenseite, wie der Wert des Fuchses nach dem 
Pelz, bestimt - Dan bekomt man die Verdienste, wie die Kleider, 
um Geld, und der Mangel derselben wird durch ihr Zeichen 
ersezt - Dan adelt ein schwarzes Herz mit einem Tropfen adeli- 

20 chen Bluts, mer, als die Tugend dessen, der keine andre als 
seine eigne aufweisen kan - Dan bestielt die Gerechtigkeit die 
Diebe, und die Richter bekommen fur die Beschiizzung der Gii- 
ter der Untertanen doch wenigstens die Giiter der Untertanen 

- Dan wird kein, mit Eren grau gewordner, Beamter gezwun- 
gen, noch im Alter klug oder gar gerecht zu werden, und kein, 
im Reichtum geborner, Jungling angehalten, die Dumheit seines 
Vaters abzulegen - Dan erhalt man, zwar nicht wie Darius durch 
die Stimme eines Pferdes, doch aber durch die Stimme eines 
Esels die wichtigsten Erenstellen, und was das Laster einer geer- 

30 ten Hure nicht ausfiiren kan, endigt die Heiligkeit eines Priesters 

- und dan bliihet die Dumheit auf Kanzeln > auf Kathedern, auf 
Richterstulen, und auf iedem hirnlosen Kopf grunt der Lorber 
des Rums, wie das Mos auf dem Kopfe eines altenholzernen Esels 
vor einem Stadtore. - - Ich wolte in Riiksicht der Fiirsten wenig 
zu meinem Lobe sagen; iezt seh' ich, daB ich viel gesagt habe. 

Ich komme nun auf die Hoflinge, die ich vorziiglich begliikke; 



334 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG 

denen ich die yornemste Eigenschaft bin und die mich nur dan 
weniger besizzen miissen, wenn sie nicht unverschamt liigen 
wollen. - Ein weiser Hofman ist bei einem weisen und bei einem 
dummen Fiirsten gleich ser in Gefar; ein dummer macht sich 
bei beiden beliebt. - Ein weiser Fiirst wil oft allein weise sein; 
er wil iiber seine Untertanen durch seinen Verstand eben so 
erhaben sein, wie durch seine Macht, und sein Neid ist oft desto 
gefarlicher, da er den beneideten Gegenstand weniger zu iiber- 
treffen als zu unterdriikken sucht. Oft liebt er einen Weisen 
nur deswegen, weiJ er sich gern von dem bewundern last, der 10 
das Schazbare bewundert. Allein immer wird er die Kinder 
nachamen, die durch ihre Hande von dem Schmetterling alle 
den Schmuk abstreifen, mit dem er in seiner Freiheit schimmerte 
- er wird dem Weisen das nemen, was seinen Wert ausmacht, 
die Freiheit zu reden. Das Gold des Fiirsten macht die Zunge 
des Weisen schwer, wie Blei, und dieser leztere verliert in seinem 
goldnen Kafig, gleich den Vogeln, die nur in der freien Luft 
singen, mit der Freiheit zugleich seinen Wert, seine Gliikselig- 
keit, sein Alles. - Bei einem dummen Fiirsten ist's noch gefarli- 
cher, Verstand zu haben; er ist zu dum, ihn zu schazzen; zu 20 
stolz,' ihn nicht zu bestrafen. Er wil geschmeichelt sein, und 
von denen am meisten, die ihren Wert nicht in seiner Hochach- 
tung suchen. Wie wil nun der kriechen, der bios Fliigel zum 
Fliegen hat? - nur die vierfiissigen Tiere sind es, die mit ihrer 
Zunge die Fiisse ihres Hern lekken, und mit ihren Augen, die 
nie gegen die Sonne gesehen haben, aus den Augen ihrer Gebie- 
ter Befele zu neuen Erniedrigungen lesen. Ein dummer Fiirst 
duldet ausser dem Dummen niemand als den Narren; dieser 
ist der Affe, der auf dem Baren reitet. - Aber ein Dummer 
komt bei einem klugen und bei einem unklugen Fiirsten gleich 30 
gut weg. Jener findet ein Vergniigen darinnen, die an Verstand 
zu iibertreffen, die er in allem iibertrift. Ein Zimmer vol einfalti- 
ger Hoflinge, die mit ihren Schmeicheleien die Kleinheit ihres 
Verstandes und Herzens zugleich verraten, mus ihm eben da's 
sein, was dem Apollo die Hekatombe von Eseln war, die ihm 
die Hyperboraer opferten. Meistens hat der Fiirst seine Hof- 



DAS LOB DER DUMMHEIT 335 

linge, wie mancher Reiche seine Bucher, nur des schonen Ein- 
bands und des glanzenden Titels wegen; sie sind, gleich den 
geschnizten Engeln, die in manchen Kirchen um den Altar 
herum zum Schmukke desselben befestigt sind, nichts als Zier- 
raten des Trons, deren Gestalt ihren Wert ausmacht. - DaB fer- 
ner ein dummer Hofling die Gunst eines dummen Fiirsten er- 
halte, dieses braucht nur gesagt zu sein, um bewiesen zu scin. 
Wie soke dieser an ienem das hassen, was er an sich selbst liebt? 
Wie soke ein Oberer an einem Untern die Feler nicht belonen, 

io die die seinigen entschuldigen oder gar. vererenswert machen? 
Wenn ein Dummer nichts weiter als dum ist, so ist er am Hofe 
gluklich; freilich mus man audi gestehen, daB auf dem Tirone, 
wie iibcrhaupt auf hohen Ortern und Bergen, eine Kalte herscht, 
gegen die man sich durch die aussere Kleidung verwaren 
mus. - 

Da sich die Pflicht des Hofmannes auf das Gebot einschrankt, 
das achte zu ubertreten, und da es wenig Weisheit braucht, mit 
der Zunge Ja oder Nein zu schlagen, wenn des Fiirsten Miene 
auf Ja oder Nein hinweist, oder umgekert zu weisen, wenn es 

20 schon geschlagen hat: so ist mir ieder Hofman Dank schuldig, 
wenn ich ihn von der Biirde der Weisheit befreie, die ihm nicht 
bios unnotig, sondern auch schadlich ist. Ich iibergehe, daB er 
durch den Besiz der Weisheit die Augen und den Has des Neides 
auf sich richtet, und daB oft die Ursache seiner Erhohung die 
Ursache seines Falles werden kan; aber ich wil zeigen, daB er 
durch mich einer Langweile entgeht, die ieder fiilt, dessen Ver- 
stand nicht kleiner ist als seine Erenstelle und seine Vergnugun- 
gen. Von Freuden umringt sein, die mer glanzend als schmak- 
haft sind, mer begert als genossen werden, und mer den Neid 

30 des Zuschauers als die Zufriedenheit des Besizzers erzeugen; 
die durch unnatiirliche Reizungen unnatiirlichen Ekkel gebaren 
und die Langweile hervorbringen, wie die Warme die Maden 

- von Leuten umringt sein, die einander entweder verachten 
oder beneiden und beides durch Komplimente zu erkennen ge- 
ben, die mit Eitelkeit gesagt und mit Eitelkeit erwiedert werden 

- von diesen Leuten umringt sein, wenn ihre Verlaumdungen 



336 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

oder ihre Schmeicheleien erschopft sind und die Guten felen, 
die man tadeln konte, oder die Bosen, die man loben konte; 
wenn ihnen die Geschichte ihres miissigen Lebens keine Unter- 
haltung fur die iezzige miissige Stunde darbietet und wenn sie 
miide werden zu lugen oder zu tandeln - das ist das Leben eines 
Hofmans; ein Leben, welches er nur dan one Langweile verlebt, 
wenn ich den Durst seiner Sele nach Ideen auf kleine Ideen ein- 
schranke und ihm durch seine eigne Gedankenlosigkeit die Ge- 
dankenlosigkeit andrer ertraglich und angenem mache. Meine 
Gutigkeit gegen die Hofleute, und mein darausfliessendes Lob 10 
ist so gros, daB diese Vater der Liigen mich dan bios loben 
wurden, wenn sie mir zu schmeicheln gedachten, und daB sie 
mich anbeten wiirden, wenn ich - eines Fiirsten Gestalt an- 
name. — 

Nun komm' ich auf die Personen, von denen ieder mit der 
Achtung reden soke, mit der sie von sich reden - die Personen, 
deren lange Reihe von Verdiensten von Jarhunderten anfangt 
und sich nicht eher als bei ihrer Konzepzion oder bei ihrer Geburt 
endigt, die die Tugenden ihrer Voraltern in ihren Adern herum- 
laufen lassen und mit Verdiensten, wie manche mit Zanen, ge- 20 
boren werde[n] - ich meine die Edelleute. Diese Menschen 
iibertreffen ieden unadelichen unendlich weit; sie haben mir es 
also zu danken, wenn sie ieden auch an Dumheit iibertreffen. 
Daher erteil' ich ihnen einen Stolz, der bios ihnen eigen ist. 
Andre Menschen schazzen sich wegen der Verdienste, die sie 
zu haben glauben; aber diese schazzen sich wegen der Ver- 
dienste, die sie nicht zu haben glauben, die aber ihre Anen hatten. 
Sie verachten denienigen, welcher one edle Geburt die edeln 
Taten verrichtet, auf die sie pralen, weil sie sie nicht selbst, 
sondern andre sie verrichtet haben. Ihre Vorfaren wurden gebo- 30 
ren, rumwurdige Handlungen zu tun; sie werden geboren, dar- 
auf stolz zu sein. Sie fiilen ganz ihre Grosse, die Uberreste von 
beriimtem Blute tragen zu diirfen — gewis die Esel, welche 
ebenfals Reliquien tragen, wurden auch die ihrige fiilen, wenn 
sie eine vornemere Dumheit als ihre eigne besassen. Man sieht 
leicht ein, daB es die groste Dumheit ist, mit fremden Rume 



DAS LOB DER DUMMHEIT 337 

zu pralen; allein da nun einmal diese Dumheit die notigste Ei- 
genschaft eines Edelmans ist, wie ser verdien' ich Lob, daB ich 
sie ihm erteile! Wenn man noch weiter geht, so sieht man, daB 
bios ich ihm angehore, ihn gluklich mache. Er kan mich besiz- 
zen, und doch zugleich die Weisheit zu besizzen sich rumen: 
denn hat er nicht Anen gehabt, die sie besessen haben? Eben 
darum, weil er alle Verdienste hat, braucht er nur noch mich 
haben. Da ihm sein grosser Wert, d.h. sein Wappen, wie dem 
Todtenkopfvogel sein Todtenkopf, angeboren ist, und sich in 

10 der Heraldik die schmeichelhafteste Lobrede auf seine Ver- 
dienste findet - da an seinem Stambaum alle die Fruchte des 
Verdienstes hangen, die er selbst nicht zu tragen braucht, von 
denen er aber den Nuzzen geniest, und da er in seiner friihen 
Jugend die Heldentat getan hat, durch keinen andern Leib als 
den Leib seiner gnadigen Mama, triumphirend und mit erober- 
ten Verdiensten beladen, in die Welt einzuziehen - da seine ver- 
dienstlose Substanz durch einen Tropfen altes Blut in eine ver- 
dienstvolle ist verwandelt worden, so wie das Blei durch die 
Tinktur des Alchymisten in Gold verwandelt wird, und da der 

20 Rum seiner Vorfaren an ihm glanzt, wie das Bild der Sonne 
in der Mistpfuzze — was solt' ihm nun zu seiner Glukseligkeit 
in der Welt noch mer notig sein als die Dumheit? »Er hat aber 
einen Kopf?« allein er hat ihn nicht zum Denken; er hat ihn 
bios, seinen Federbusch darauf zu sezzen - eben so hat er seinen 
Degen, nicht um damit zu stechen, sondern urn ihn an der linken 
Seite zu tragen. Daher wird unter die geerbten adelichen Ver- 
dienste nur das Blut, nicht das Gehirn gerechnet - und iibrigens 
pralt ein Edelman nur mit fremder Tapferkeit, nicht aber mit 
einer andern als seiner eignen Dumheit. Dieser mein Zusam- 

30 menhang mit dem Adel erhebt mich weit iiber die Weisheit, 
welche nur mit dem gemeinen Pobel zusammenhangt. Ware 
diese grosse Ere nicht meine eigne, ich wiirde iezt - den Stolz 
des Adels annemen. 

Auch die Stuzzer sollen etwas weniges zu meinem Lobe bei- 
tragen. Zwar weis ich, daB sie Narren sind und also nicht in 
mein Gebiete gehoren; aber ich weis auch, daB sie zu ser Narren 



33o JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG 

sind, um nicht Dumme zu sein. Allein ihre Dumheit wird durch 
ihre modischen Narheiten schazbar gemacht. Ihre Bestimmung 
in der Welt ist, den Damen anstat der Merkazzen, die einige 
halten, zur Belustigung zu dienen und durch manliche Torheiten 
die weiblichen zu vereren und anzubeten; was ist ihnen daher 
unnotiger als der Verstand, oder notiger als die Dumheit? 
Darum tanzt ein Stuzzer iiber das ganze Mer der Wissenschaften 
mit franzosischem Hiipfen, wie die Mtikke iiber das Wasser; 
darum erhalt er sich mit seinem Stolze auf der Oberflache der 
menschlichen Kentnisse, wie der Fisch durch die Ausdenung J0 
seiner Blase auf der Flache des Wassers, und sinkt nie defer, 
um Perlen zu suchen. Jede seiner Ideen entsteht, hiipft und ver- 
geht in seinem Gehirn, wie ein Irlicht im Sumpfe; er liest, um 
in der nachsten Assemblee zu sagen, daB er gelesen habe, und 
azt, gleich den Taiiben, den andern mit unverdautem Futter; 
seine groste Wissenschaft besteht darinnen, alle zu verachten, 
und sein groster Stolz ist, Kleinigkeiten zu wissen; seine Sele 
ist schones und weises Postpapier, welches die Damen mit ihren 
Einfallen beschreiben, und sein Gedachtnis ist das Gefas der 
Uneren, welches die schmuzigen Galanterien von Geselschaft 20 
zu Geselschaft tragt. Auf diese Weise braucht er nichts zu den- 
ken, wenn er nur iiber alles reden kan; er kan unwissend sein, 
wenn er nur stolz ist; er kan dum sein, wenn er nur ein Nar 
dabei ist. Doch ich habe selbst zuviel Lob, um es von denen 
zu betteln, deren Rum geschwinder vergeht, als ihre Torheiten 
und ihre Jugend. - 

Jeder Stand hat mir von seinem Rume etwas mitgeteilt; nun 
komm' ich auf dieienigen Menschen, die, ausser ihren Mazenen, 
niemand als sich loben, auf die Gelerten. Ich weis zwar, daB 
sie Freunde der Weisheit sind; aber ich weis auch, dafi sie nie 30 
aufgehorthaben, die meinigenzu sein, und daB ihre Verbindung 
mit meiner Feindin nicht mer bedeutet als die Verlobung des 
Doge von Venedig mit der adriatischen See. Sie streiten nur 
deswegen gegen mich, um die Weisheit zu besiegen; alle ihre 
Fechtereien mit mir sind nur ein Schauspiel fur den Zuschauer, 
dessen Ausgang mich mit ihnen noch fester vereinigt - eben 



DAS LOB DER DUMMHEIT 339 

so schlagen sich in einem gewissen auto sacramentale Christus 
und der Teufel mit Fausten, und tanzen zulezt mit einander eine 
Sarabande. Sie gleichen den Mannern, die Hagestolze sind, um 
des Nachts besser das Gegenteil sein zu konnen. Freilich ist ihre 
Dumheit nicht die gewonliche - andre haben sie von der Natur, 
aber sie haben sie sich auf den Schulen und Universitaten mit 
vieler Miihe und vielen Kosten erworben; andre geben ihre 
Dumheit in ihrer Landessprache zu erkennen, aber sie driikken 
die ihrige durch zusammengesuchte Zizero'sphrasen aus; andre 

io besizzen noch einen Gran von gesundem Menschenverstande, 
allein sie schamen sich dessen, was die Bucher nicht leren. Kein 
andrer als der Dalai Lama kan sich der Ere rumen, daB seine 
Exkremente bis an den Hals der Konige gelangen und eben so 
begierig gesucht und fur eben so selten gehalten werden, wie 
der Herausgeber derselben - eben so diirfen nur die Gelerten 
die Exkremente ihres Geistes um vieles Geld verkaufen und ih- 
ren Unsin weit und breit verhandeln. Ich glaube daher, daB 
man einstens keine Gelerte in der Holle antreffen wird - etliche 
verminftige ausgenommen. So wie die Hollander den Japanern, 

20 die ihnen als Christen ein Begrabnis in ihrer heiligen Erde ver- 
sagten, vorstelligmachten, daB sie keine Christen, sondern Hol- 
lander waren; eben so konnen die Gelerten dem Petrus, wenn 
er ihnen wegen einiger Anlichkeit mit den heidnischen Weltwei- 
sen den Himmel verschliessen wil, kek und getrost die Nach- 
richt erteilen, daB sie keine vernunftigen, sondern gelerte Leute 
sind. - Wozu dies alles? bios um darzutun, daB mein Zusam- 
menhang mit den Gelerten nicht scheinbar, sondern wirklich 
und fest ist, und daB ich ein Lob verdiene, welches die Weisheit 
eben so ser erniedrigt, als es mich erhebt. Aber nun wil ich 

30 auch zeigen, daB die Gelerten Vorteile haben, meine Vererer 
zu sein. 

Das Bucherschreiben macht die Hauptbeschaftigung eines 
Gelerten aus, so wie das Weben der Nezze die der Spinnen; 
hier also mus ich vorziiglich meinen Einflus zeigen und meiner 
Ere Monumente errichten, die so lang als Papier und Drukker- 
schwarze dauern. - Die Gelerten haben verschiedne Bewe- 



340 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

gungsgriinde, warum sie Biicher schreiben; allein die meisten 
dieser Bewegungsgriinde lassen sich one Zwang aus den reizen- 
den Saften des Magens herleiten. Ich wil einige Bewegungs- 
griinde zur Autorschaft, die doch alle nah oder entfernt mit 
dem Hunger zusammenhangen, anfuren, um meine Einwir- 
kung auf die meisten Schriftsteller zu erweisen. Einige schrei- 
ben, weil sie zu ieder andern Arbeit als dem Bucherschreiben 
verdorben sind, und zu wenig wissen, um iemand anders als 
das ganze Publikum unterrichten zu konnen - andre, weil sie 
das drukken wollen lassen, was zwar unter dem Namen des 10 
Verfassers, aber noch nicht unter ihrem eignen Namen gedrukt 
ist, und weil sie lieber aus den Buchern als aus den Kasten des 
andern ihren Unterhalt mausen wollen - einige schreiben, um 
zu beweisen, daB sie iung sind und eine fruhzeitige Schande 
kluglich einem spaten Rume vorziehen - andre, weil sie ihre 
Feder so wenig als ihre Kriikke entberen konnen und die Menge 
ihrer Jare durch die Menge ihrer Schriften beweisen wollen, 
durch Schriften, die an ihnen, wie die Schwamme an faulen 
Baumen, herauswachsen und die, gleich den zulezt ausgebriite- 
ten Jungen des Zaunkonigs, noch schwacher als ihre Vater sind 20 
-einige schreiben, weil sie vermoge ihrer Amtspflicht alle halbe 
Jar ein Pasquil auf sich in lateinischen Worten verfertigen miissen 
- andre, weil sie sich durch das Schreiben alles Unrats ihrer 
Sele entledigen wollen, um von den Besichtigern der geistigen 
Exkremente den Zustand ihrer Krankheit zu erfaren - einige 
schreiben, um zu beweisen, daB sie Weiber, hochstens Herm- 
aphroditen sind, und durch ihr Singen (bekantlich lieben die 
Schonen die Verse) darzutun, daB die schonsten Vogel nicht 
am schonsten singen - andre schreiben, um von aller Geistesar- 
beit auszuruhen, oder um sich von einer Krankheit zu erholen, 30 
oder um einen Rausch zu - verschreiben, oder um miissig zu 
sein und miissige zu machen. - - Alle diese Schriftsteller mach' 
ich zu Schriftstellern und zu gluklichen Schriftstellern; ich zeige 
ihnen alien ihre gegenwartige Schande in Miniatiir, und ihren 
kiinftigen Rum in Riesengestalt; ich gebe ihnen Starke, die Un- 
bequemlichkeiten, die sie empfinden, fur die Vorteile zu ertra- 



DAS LOB DER DUMMHEIT 341 

gen, diesie hoffen, und mache sie so gliiklich, daft sie sich durch 
den gehoften Genus einer Ere betriigen, die nie wirklich wird, 
und daB sie ihren Verleger um ein Geld betriigen, dessen niizli- 
che Wirklichkeit sie mit Vergnugen empfinden. - 

Einige Arzte leiten aus dem Magen alle Krankheiten her; ich 
wolte noch leichter aus dem Magen den Ursprung der meisten 
Schriften erklaren. Der Magen sezt einen Gelerten, der seinen 
Korper nicht so wie seine Sele mit Luft und Wind naren kan, 
in ein gelertes Feuer, und die von unten aufgestiegnen Diinste 

10 erhellen durch ihre Entziindung das ganze Ideengebiete des Au- 
tors so ser, daB er Iauter neue Warheiten sieht und dem Drange 
endlich weicht, sieim Drukke mitzuteilen. Daher befordert eine 
Teurung die Erfindungen in der gelerten Republik ganz unge- 
mein, und ieder Miswachs an Getraide zeugt eine reichliche 
Erndte von Biichern. Daher gleichen die meisten Gelerten den 
Tieren, die ihre Stimme nicht eher horen lassen, als bis sie der 
Hunger reizt. Daher gleicht der Magen der Hole Aol's, aus wel- 
cher die vier Hauptwinde, theologischer, iuristischer, medizini- 
scher und philosophischer, hervorbrechen 4 . Da ich nun mit 

20 grosser Griindlichkeit bewiesen habe, daB der Magen die Finger 
anreizet, nach der Unsterblichkeit zur Verlangerung des Lebens 
zu greifen: so hab' ich zugleich schon halb bewiesen, daft ich 
die Mutter, wenigstens die Amme der, in Hunger empfangnen 
und gebornen, Geisteskinder bin. Wer giebt dem Autor die 
Hofnung, daB seine Schriften eben so hungrig werden gelesen 
werden, als er sie gemacht hat? nur ich. Ich bin seine Leiterin 

4 Ich kan nicht umhin, hier etwas in Riiksicht der wissenschaftlichen 
Winde, aus einem alten hundertiarigen Kalender anzufuren. Die Sache 
gehort zwar nicht hieher; aber eben darum steht sie in einer Note. 
30 »Theologischer Wind bedeutet Krieg und Blutvergiessen, erregt Staub 
und fiirt finstre Wolken und schrekliche PIazregenherbei« - »iuristischer 
nimt, gleich einem Wirbelwind, alles mit sich hinweg, dekt Dacher 
ab, reist die Kleider vom Leibe und raubt alle Geratschaften und sogar 
das Bette aus den zerstorten Hausern weg« - »medizinischer ist mit 
pestilenzialischen Diinsten angefiilt, verleiht einigen Gesunden die 
Krankheit, und alien Kranken den Tod« - » philosophischer bringt viel 
Kalte und Schneegestober, bei Nordscheinen und langen Nachten.« - 



342 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG 

auf dem Wege zum Brod - derm sonst wiirde er sich es einfallen 
lassen, zu denken, eh' er das Buch machte, und langer zu denken, 
als ihm seine Safte Kraft zum Denken verliehen. One mich 
wiirde sich bei seiner Arbeit sein Kopf mer als seine Hand be- 
schaftigen, und anstat viel zu schreiben, wiirde er gut schreiben; 
ia one mich wiirde er sogar das Schlechte verbessern und ein 
Lob one Gewinst hoherschazzen als einen Tadel mit Nuzzen 
begleitet. Allein alien diesen Ubeln helf ich ab, indem ich einem 
Autor zeige, daB Lobeserhebungen einer noch ungebornen Welt 
weit weniger sattigen als ein Gewinst in der gegenwartigen und 10 
daB das Verlangen des rebellischen Magens weit eher befriedigt 
werden miisse als die Begierde des wolliistigen Ores nach Rum; 
indem ich ihm anrate, zwar schlechte, aber doch viele Biicher 
zu schreiben und sich durch neue Schande neuen Unterhalt zu 
verdienen; mit den Worten weit verschwenderischer als mit den 
Gedanken umzugehen und einen guten Einfal vorbedachtlich 
mit einem Her schlechter zu begleiten, um den Leser durch das 
Korngen zu iiberraschen, das er auf dem Miste findet; indem 
ich ihn gewone, besser von sich als von iedem anderfn], und 
schlechter von dem Verniinftigen als von seinem Feinde zu re- 20 
den, ein erschlichenes Lob ewig zu wiederholen und einen emp- 
fangnen Tadel durch tadelhafte Schriften zu rachen, immer we-, 
niger selbst zu lernen, um merere Zeit auf die Belerung des 
Publikums verwenden zu konnen, und nur dan die Feder nieder- 
zulegen, wenn die Faulheit den Hunger besiegt, und die Schwa- 
che der Augen und Hande das fernere Stelen verbietet. - 

Manche werben durch ein Buch um ein Amt; auch bei diesen 
verricht' ich die Hauptsache: denn ich mache die Dedikazion, 
gegen welche sich das Buch als ein Anhangsel verhalt. Ich 
schmeichle dem Gonner mit alien den Liigen, die sein Stolz 30 
erwartet und oft kaum erwartet, und erweise ihm eine Erfurcht, 
die er sich selbst noch nicht erwiesen hat. Daher waT ich allemal 
einen solchen, der gerade soviel Feler hat, als ich ihm Tugenden 
beilegen wil - denn auf diese Weise wird er die Freigebigkeit 
des Autors in guten Eigenschaften, durch eine andre Freigebig- 
keit erwiedern, und wenigstens dem, der gelogen hat, beweisen 



DAS LOB DER DUMMHEIT 343 

mtissen, daB er nicht gelogen hat. Schriftsteller gleichen den 
Betlern, die die Woltatigkeit der Vorubergehenden erheben, urn 
die Wirkungen derselben zu erfaren. - 

Ferner helf ich denen Schriftstellern, die schlechte Bticher 
schreiben,. um gute zu verdrangen, und die in der Vertilgung 
eines fremden Rums ihren eignen suchen. Diese beflekken ent- 
weder die Ere ihres Gegners durch falsche Verlaumdungen, oder 
widerlegen seine Behauptungen durch scheinbare Einwiirfe; ie- 
nes verrichtet eine niedrige, dieses eine gelerte Dumheit - eben 

10 so besprizt entweder der nasse Kot die Kleider, oder verhindert 
als aufwallender Staub das Sehen. - Und endlich verlass' ich 
auch dieienigen nicht, die einen Rum darin suchen, bei der 
Nachwelt durch ihre Schande bekant zu sein, und die lieber 
verachtet als vergessen sein wollen. Durch den Verlust ihrer 
Ere erhalten sie dieselbe Ewigkeit, die andre durch den Glanz 
ihres Rums erhalten. Ich erteile ihnen meine Gaben in solchem 
Masse, daB sie den Anschein von seltnen Misgeburten bekom- 
men und deswegen von einem grossen Naturkenner durch den 
scharfen Spiritus seiner Satire den Nachkommen aufbehalten 

20 werden. Ein Jurieu, ein Dennis, ein Freron, etc. etc. etc. haben 
nur durch meine Hulfe iiber die Zeit gesiegt und einen Namen 
errungen, der langer dauert als ihre Schriften, die im Kramladen, 
ihrem Erbbegrabnisse, verwesen. - 

Nun komm' ich'auf einzelne Wissenschaften. Hier wird man 
vorziiglich bemerken, daB ich immer da den meisten Rum ein- 
samle, wo meine Vererer den Namen meiner Feinde tragen, 
und daB ich an den Orten am meisten hersche, wo der Name 
der vertriebnen Weisheit nur dadurch bekant ist, daB ich ihn 
fure. - Die ersten, die mir mit siegreichen Federn in der Hand 

30 oder hinter dem Or, und mit lateinischen Lobgesangen im 
Munde, entgegenkommen, sind dieienigen, die schwarze Klei- 
der zum Unterschied von denen tragen, die bunte tragen - viel- 
leicht um die Indianer nachzuamen, die ihre Zane schwarzen, 
um sich von den Tieren zu unterscheiden, die weisse haben. 
Doch ich habe vergessen, daB ich zu einer Zeit rede, wo fast 
der halbe Stam der Theologen von mir abgefallen ist, und wo 



344 JUGENDWERKE • I.ABTElLUNG 

.ich deswegen eine aufrichtigere Betnibnis fiile als die einer 
Witwe, die so hinter ihrem Flore trauert, wie ihre, ebenfals mit 
Flor bedekten Pferde. Ich wil einige Blikke zuruk in die ver- 
gangnen Jarhunderte tun, damit man meine vorige Macht be- 
wundern und meine iezzig'e nicht verachten lerne. Wie kurz war 
das goldne Alter der Dumheit, wo die Monche rnachtiger als 
die Vernunft, und noch furchterlicher als ihre Leren waren, die 
Monche, welche die Dumheit kanonisirten und das Denken zu 
einem Verbrechen machten; die das Licht der Weisheit mit dem 
Feuer der Holle verbanden, und den Himmel nur denen ofneten, 10 
die ihre Dumheit besassen oder belonten; die sich aus der Bibel 
und aus den alten Weltweisen Schazze von Unsin sammelten, 
und den Heiligen aus christlichen und den Gelerten aus heidni- 
schen Absurditaten zusammensezten; die durch Wolken von 
dunklen und sinlosen Worterfn] die Maiestat der theologischen 
Dumheit verkiindigten und durch die Sprache der alten Weisen 
ihrem Unsin das Ansehen gaben, das sich der Esel durch die 
Lowenhaut giebt; die zuviel Glauben hatten, um Vernunft zu 
haben, und Macht genug, ihre Meinungen one Beweise zu be- 
weisen; die von den Weisen, welche in den Klostern, wie Lam- 20 
pen in den Grabern, umsonst leuchteten, gefurchtet und vereret 
wurden, und von dem Dummen die Belonung fur die Dumheit 
erhielten, die sie selbst hatten und andern predigten; die Stadhal- 
ter in meinem Reiche waren und die Granzen desselben bis in 
eine unentdekte, ia bis in eine kiinftige Welt erweiterten! — 
Doch von ienem erwiirdigen Alter ist auch iezt noch mer ubrig 
als die Veranlassung zum Spot iiber dasselbe, und iene Streiter 
der Dumheit haben noch mer hinterlassen als ihre verrosteten 
Waff en gegen die Weisheit. Sie leben no'ch halb in ihren Nach- 
kommen, und mit ihnen mein Lob. Von denen nun, die die 30 
alte Dumheit mit neuen Waffen verteidigen und das Erbstuk 
von vaterlichem Unsin nicht one Miihe und one Vorteil an- 
bauen, wil ich iezt reden - und zeigen, daB ich einen eben so 
grossen Einflus in unbegreifbare Biicher habe, als in unverniinf- 
tige, und daB keinem Dummen seine Dumheit notiger sei als 
dem Theologen die theologische. - 



DAS LOB DER DUMMHEIT 345 

Die Polemik oder die Streittheologie ist das Zeughaus alles 
grossen und kleinen Gewers, das man zur Besiegung der Ver- 
nunft gebraucht. Man wird also voraus mutmassen konnen, 
daB ich, gleich den homerischen Gottern, meinen Helden am 
meisten in iedem gefarlichen Streite beistehe, und dafi die Starke 
der Dumheit am vorziiglichsten in ihrer Verteidigung glanzt. 
Ich wil daher einen theologischen Krieg kurz beschreiben. Man 
hat viele Arten zu widerlegen; die beste ist, nicht zu widerlegen, 
sondern zu schimpfen. Ein ieder achter Polemiker sezt es als 

to ein Postulatum voraus, daB ein aufgeklarter Kopf nur bei einem 
bosen Herzen stat finde. Daher iammert er iiber die, in Schafs- 
kleider vermumte, Wolfe, und glaubt sie durch sein Bellen ab- 
zutreiben. Daher schreiet dieser Wachter Zion's Feuer bei der 
Erblikkung eines Funken von Vernunft und sucht die christliche 
Kirche durch das Mittel zu retten, durch welches die Game das 
Kapitol retteten. Daher klagt er iiber seinen Gegner, daB er gar 
nichts glaube, weil er das Unglaubliche nicht glaubt, und daB 
er seine Vernunft so ungefesselt herumgehen lasse, da sie schon 
langst von dem Glauben eines Theologen hatte in Ketten und 

20 Banden gelegt sein sollen; daher macht er die wichtigen Mut- 
massungen, daB nun die garize Welt werde mit Blindheit ge- 
schlagen werden, weil man schon anfange, im Finstern nicht 
zu sehen, und daB sich die Tugend mit der Dumheit verlieren 
und der Verstand der Heiden die Laster derselben bewirken 
werde. Nicht selten wird ein Gegner durch dieses Verfaren so 
widerlegt, dafi er sich nicht mer zu antworten getraut, und mer 
vor der Stimme des Dummen als vor dem Kopfe desselben er- 
zittert - eben so sol der Elephant vor dem Grunzen des Schwei- 
nes erschrekken - allein nicht immer. Nachdem daher ein Theo- 

30 log die Schwachheitssunde begangen hat, seinem Gegner 
wirkliche Siinden anzudichten: so mus er auch wirkliche Dum- 
heit genug besizzen, um demselben eine untheologische zuzu- 
schreiben. Dieses ist leicht: denn ich tue hier fast mer als die 
Feder des Polemikers; er ist hier ganz Duns. Er sezt in seiner 
Streitschrift voraus, daB ein ieder andrer Irtum als ein neuer 
hochgeschazt und durch keine Widerlegung entheiligt werden 



34-6 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG 

musse, daB eine alte Liige den Wert einer alten Warheit habe 
und daB man einen sinlosen Saz, wo nicht zur Erleuchtung des 
Verstandes, doch zur Erwarmung des Herzens beibehalten 
miisse; er beweist griindlich, daB man der Vernunft der Alten 
mer als der iezzigen trauen konne, daB man weit sicherer mit 
den Alten als den Neuen irre und einen nachgebeteten Irtum 
mit besserm Gewissen hegen konne als einen aus Griinden ge- 
glaubten; er bedient sich hie und da der Philosophie, um besser 
das Verniinftige zu widerlegen, er sezt seine Worter nach den 
syllogistischen Regeln zusammen und beweist endlich aus dem 10 
Sazze vom Widerspruch die Warheit widersprechender Dog- 
men; er teilt das Einfache durch das Messer der theologischen 
Distinkzion in unsichtbare Teile und weis die Richtigkeit einer 
falschen Unterscheidung durch eine neue zu erharten; er ist 
scharfsichtig genug, alles das in der Bibel zu finden, was er 
darinnen sucht; ia sogar das nicht darinnen zu finden, was er 
nicht darinnen sucht; er versteht die Kunst, aus iedem Spruch 
die Grundlage zu einem System herauszuschneiden, wie iener 
aus einer Kuhhaut ein Karthago, und immer die Erklarung zu 
walen, die sich von der Vernunft am weitesten entfernt; kurz 20 
er ist geschikt, eine Sache zu verteidigen, die weniger wegen 
ihrer Warheit als ihrem Alter eine Verteidigung verdient. -- 
Auf diese Art beweist er seine Meinungen, oder, was einerlei 
ist, bestreitet die seines Gegners. 

Ist nun ein Saz so bose und kezzerisch, daB er sich nicht wider- 
legen last: so wird ein achter Polemiker den Urheber desselben 
ser leicht verhindern konnen, ihn zu verteidigen. Er wird einen 
Machtigen, der den Duramen, so wie den Kot an den Fiissen, 
hinauf zu seinem Trone bringt, leicht dahin zu bewegen wissen, 
daB er den hier ungluklich macht, der es dort sein wird, daB 30 
er einem Kezzer verweret zu denken, um ihn besser zu iiberzeu- 
gen, und ihn zwingt, dum unter Dummen zu reden und alge- 
meingeglaubte Lugen nicht zu widerlegen, sondern zu unter- 
stiizzen. Freilich ist hier eine grosse Liikke in der Streittheologie; 
man vermist eine der wichtigsten theologischen Beweisarten 
- ich meine den Scheiterhaufen. Wenn sonst ein hartnakkiger 



DAS LOB DER DUMMHEIT 347 

Gegner den Theologen den Sieg erschwerte, so kamen alle mit 
Fakkeln in der Hand auf ihn zu, nicht um ihn aufzuklaren, son- 
dern um ihn zu verbrennen - eben so besiegte Hannibal durch 
eine Herde Ochsen, mit brennenden Materien auf den Hornern, 
die Romer. Da nun die Theologen den Klugen nicht mer durch 
das Scheiterhaufenfeuer in das hollische Feuer schikken diirfen: 
so fangen sie freilich an, meiner Beihiilfe ungeachtet, nicht alle- 
mal Rechtzu haben und durch ihre Schlusse minder zu iiberzeu- 
gen, weil ihnen die Anwendung der theologischen Logik versagt 

10 ist. — Aus diesem alien sieht man deutlich, daB man nicht dum 
genug sein kan, um ein Polemiker zu sein, daB man nur durch 
meine Hiilfe den alten Unsin durch neuen verteidigt und sich 
da am meisten vor dem Denken hiitet, wo man nicht nachbe- 
tet. - 

Aus diesem folgt, daB ich auf die Dogmatik 5 eben so viel 
Einflus habe, als sie auf meine Ere. Wenn die Dogmatik, welche 
die ganze Theologie umgranzt, wie die sinesische Mauer Sina, 
weniger dazu dient, neue Einsichten zu verschaffen, als neue 
Einsichten zu verweren, und nur dazu geschikt ist, aus Dummen 

20 Kezzermacher, und aus Klugen die Schlachtopfer derselben zu 
machen; wenn sie sich wie ein verschlungenes und verwirtes 
Gewebe iiber die ganze Religion ausbreitet, um den Weisen zum 
Aussaugen fur den Unweisen zu fangen; wenn sie ein aus Wor- 
ten errichtetes Gebaude ist, in dem heidnischer Unsin den Ek- 
stein ausmacht, und ein von Monchshanden gemachter Tempel, 
in dem man die Dumheit verert; wenn sie gerade das enthalt, 
was kein andrer als ein Lerer brauchen kan, wenn er seine Zuho- 
rer betriigen wil, und gerade so viel Sin hat, um iiber das Dasein 

5 Ich mdchte den Schonen und den modischen Stuzzertheologen 
30 gerne begreiflich machen, was Dogmattkheist; allein der Name derselben 
ist eben so schwer zu verstehen, als die Sachen, die sie enthalt. Nur 
merke man das: ein Buch, das wolklingend und verstandlich geschrieben 
ist, ist schwerlich eine Dogmatik T ein Buch, das verniinftig geschrieben 
ist, ist sicherlich keine Dogmatik - ein Buch, das ubelklingend, unver- 
standlich und unverniinftig geschrieben ist, ia das ist unfelbar eine Dog- 
matik. - 



348 JUGENDWERKE * I.ABTEILUNG 

desselben ewiges Zanken zu naren; wenn sie, der Bibel eben 
so unanlich als widersprechend der Vernunft, beide zu Stiizzen 
ihres Luftgebaudes wait und durch beide einen Unsin erweist, 
den durch beide ein Kluger widerlegt - wenn die Dogmatik 
dieses alles ist und tut, so mus man gestehen, daB ieder ihrer 
Gegner, ihr zu Eren, verdiene, zur Erwarmung seines Herzens 
gebraten, und zur Erleuchtung seines Verstandes verbrent zu 
werden; allein man mus auch gestehen, dafi ich wegen meiner 
Gikigkeit besonders verdiene, ein Freudenfeuer zu erhalten, 
welches die Teile meiner geopferten Feinde, in Gestalt einer 10 
Weihrauchswolke, hin zu meinem Trone sendet und mir den 
heilsamen Einflus der Dogmatik auf das Gliik meiner Vererer 
und auf die Vergrosserung meiner Herschaft, in den Oberresten 
der verbrenten Weisen zeigt. Ich hore ungern auf, von der Dog- 
matik zu reden; aber ich fange gerne an, von den Predigten 
zu reden. Kein Jiingling kan seine erste Predigt hoher schazzen, 
als ich eine iede, die nicht philosophisch, sondern theologisch 
ist. Ja ich wiirde auch eben deswegen meiner Lobrede eine Pre- 
digt erteilt haben, wenn ich nicht besorgt hatte, man mdchte 
sie fur eine - Leichenpredigt ansehen und ihr daher noch weniger 20 
als einem Liigner glauben. Man wird sich sogleich liberreden, 
daB die Dumheit die meisten Predigten inspirire, wenn ich sage, 
daB eine Predigt ein Ding ist, das ser leicht im Schlafe gemacht, 
aber schwer one Schlaf angehort werden kan, und das nur der 
liest, der es tadeln, oder seine Sunden durch die Langweile ab- 
biissen wil; ein Ding, in welchem weder Warme noch Licht 
ist, und in welchem schlechte Gedanken in schlechter Sprache 
gesagt werden; ein Ding, welches eben soviel Geheimnisse als 
Hebraismen enthalt, die beide vom Prediger one Verstand vor- 
gebracht und vom Zuhorer one Verstand gehort werden; und 30 
endlich ein Ding, welches Einen Gedanken so weit ausdenet, 
wie die Niirnberger ein Pfund Messing, und mit Einem, in 
Worten aufgelosten, Gedanken einen Raum von acht Seiten an- 
ftilt, so wie man mit Einem, in Wasser aufgelosten, Gran Kar- 
min eine acht Ellen lange und hohe Wand befarben kan. DaB 
ich die meisten Predigten verfertige, dies folgt auch daraus, weil 



DAS LOB DER DUMMHEIT 349. 

so viele geschrieben werden, und noch mer, weil so wenige 
gelesen werden. Mer kan ich nicht zu meinem Lobe sagen; aber 
ein Leichenprediger konte wol noch mer. - 

Ich iibergehe die ubrigen theologischen Schriften, die Gebet- 
biicher, die aus ser riirenden Worten und morgenlandischen Re- 
densarten, zur Beforderung der Deutlichkeit, zusammengesezt 
sind und von dem Verfasser kurz vor dem Einschlafen oder 
ser kurz nach dem lezten Morgentraum verfertigt werden, urn 
das Schlafen und Traumen des Lesers und also seine Andacht, 

10 moglichst zu befordern - die Betrachtungsbiicher, die auf ieden 
Tag im Jar eine probate Anweisung geben, nichts zu denken, 
und die ubrigens anstat der starksten Opiate von preshaften Se- 
len nicht one Nuzzen gebraucht werden - die prophetischen 
Bucher, die in den Potentaten die Originale von den apokalypti- 
schen Tieren finden, wie der Astronom in einer Anzal von Ster- 
nen die Anlichkeit mit den Erdentieren, und die inspirirte 
Traume durch menschliche erklaren; die ihr Verfasser drukken 
last, weil er sich freut, sich selbst nicht verstanden zu haben, 
und weil er hoft, von seinen Lesern eben so wenig verstanden 

20 zu werden, oder vielmer weil er gedenkt, sich durch den Ge- 
winst von denselben die Ausgaben wegen der Nieswurz zu er- 
leichtern, u.s.w. Alle diese ser theologischen Schriften haben 
meiner Existenz die ihrige zu danken und sind bios durch meine 
Hiilfe aus Embryonen from mer Gedanken und Traume be- 
trachtliche Oktavbande geworden. - Ich habe genug von den 
theologischen Geisteskindern geredet; aber ich habe noch nichts 
von ihren Vatern gesagt. Es ist leicht zu zeigen, dafi ich mit 
den Geistlichen in einer nahern Bekantschaft stehe als die hebra- 
ische Sprache, und daB- sie durch mich eben so leicht in den 

30 Schafstal gelangen als durch eine - Schaferin. Bios durch mich 
bekommen und verwalten sie ihr Amt. Gewonlich fordert sonst 
nur der Gonner die Dumheit, wenn er das Amt erteilt; aber 
hier fordert sie auch der Examinator, wenn es erteilt ist. Die 
Weisheit ist in den heiligen Landern, wie in andern fremder 
Schnupftobak, Kontrebande; wer nicht reich genug ist, sich mit 
den Visitatoren abzufinden, oder listig genug, sie zu betriigen, 



350 JUGENDWERKE ' I.ABTEILUNG 

der verliert durch dieselbe Sache sein Gluk, die es zu befordern 
verhies. Dieienigen Geistlichen also haben mir schon viel zu 
danken, die durch die angenommene Larve der Dumheit den 
Lon der Weisheit erhalten; allein dieienigen noch unendlich mer, 
die durch den wirklichen Besiz derselben gluklich werden. 
Durch mich wird ferner ein Geistlicher sein Amt mit weniger 
Miihe verwalten, weil ihm die Aufklarung seiner Zuhorer eben 
so gleichgultig ist, als die seinige; er wird weniger dem Neide 
derer,ausgesezt sein, die wegen der Gkichheit des Standes die 
Gleichheit der Dumheit erwarten und zu faul und zu stolz sind, 10 
nach dem beneideten Gute zu trachten; er wird weniger den 
Has derer erfaren, deren vornemere Dumheit durch den Anblik 
der geringern Weisheit beleidigt wird, und die nur solchen befe- 
len wollen, die sie verachten konnen; er wird leichter Predigten 
machen, in denen sein Oberer nichts von Kezzerei und Vernunft 
wittert, in denen seine Kollegen den gestolnen Unsin aus zwan- 
zig Postillen, bewundern, in denen sein Schulmeister den Stem- 
pel seines eignen Genie's mit Neid bemerkt, und die in der abge- 
lebten Matrone die Tranen auspumpen, mit welchen sie in den 
alten Siinden das Unvermogen zu neuen beweint; kurz er wird 20 
durch mich leichter der Man werden, von dem man nach seinem 
Tode riimt, daB er erbaulich gepredigt, exemplarisch gelebt, 
und sogar niemals - gedacht hat. - Man sieht hieraus, daB ich 
eben so verdiente, kanonisirt zu werden, wie dieienigen, die es 
bios durch mich gewordensind. Zwar hab' ich noch keineWun- 
der getan; aber wie leicht konte man mich sie nicht tun lassen? - 

Nun kommen dieienigen erlichen Leute, die mer von der 
Dumheit andrer als von ihrer eignen leben, die durch die Ver- 
schwendung der Dinte, wie der Dintenfisch durch die Auslas- 
sung einer schwarzen Feuchtigkeit, eine Dunkelheit um sich 30 
verbreiten, durch welche sie ihren Raub beriikken, oder ihren 
Raubern entgehen, und die als Diebe gegen Diebe schuzzen, 
wie die Banditen in Italien gegen die Banditen - ieder wird so- 
gleich erraten, daB ich niemand anders als die Rechtsgelerten 
meine. Diese Leute verstehen die Kunst, iede Warheit zu wider- 
legen - eben deswegen mag ich ihnen diese nicht sagen, daB 



DAS LOB DER DUMMHEIT 35I 

sie oft ser dum verteidigen oder anklagen und noch dummer 
richten; aber diese wil ich ihnen weiter unten sagen, daB sie 
die Dumheit andrer ser zu benuzzen wissen. Dies einzige sezze 
ich hinzu, daB bei ihnen die Gesezze meine Stelle vertreten, und 
daB sie das von den Romern erhalten, was andre von ihren Va- 
tern erhalten. — 

Nicht viel mer kan ich von den Arzten sagen! Sie selbst kennen 
mich nur unter einer griechischen Gestalt oder glauben ihrer 
Praxis das schuldig zu sein, was sie mir schuldig sind. Es ist 

10 gewis, daB ihnen die Weisheit ser unnotig ist, wenn sie einen 
Kranken durch ein Todesurtel d. h. ein Rezept, vom Leben zum 
Tode bringen. Es ist warscheinlich, daB zum Hinrichten nicht 
viel Verstand gehore, da die Arzte so viele dumme Nebenbuler 
haben. In iedem Orte giebt's alte Weiber, die die Pazienten tod- 
ten, welche von rechtswegen bios der dasige Medikus todten 
soke - und der Unterschied zwischen ienen und diesem ist nur 
der: daB iene deutsch, dieser griechisch, iene nach den Grund- 
sazzen der Grosmutter, und dieser nach den Grundsazzen des 
Grosvaters oder auch des Hippokrates mordet. Doch die Arzte 

20 sollen mir fur ihre Dumheit kein Lob erteilen; sie sollen nur 
dafiir - alle Weisen heilen. 

Die Philosophen borgen von der Weisheit ihren Namen; allein 
die meisten derselben borgen von mir das, was sie unter diesem 
Namen verbergen. Sie sind nach den Theologen dieienigen, die 
am tapfersten fur meine Herschaft fechten, Sie sind die Erfinder 
des Unsins, den der Theologe kanonisirt; sie demonstriren das, 
was dieser predigt, und leihen ihm die Waffen der Vernunft 
zum Streite gegen die Vernunft. Mein Einflus auf sie ist noch 
viel gewisser als ihre Demonstrazionen, und one Paragraphen 

30 werd' ich be weisen konnen, daB ich die Urheberin des Unsins 
bin, den sie in Paragraphen zerstiikken. Zuerst von der Logik, 
die nur deswegen denken lert, damit niemand denken lerne! - 

Es ist kein Wortspiel, wenn ich sage, daB die Logik am besten 
one Logik geschrieben und die Kunst zu denken am besten durch 
Nichtdenken gelert wird: denn es ist eine Warheit, die aus dikken 
Logiken, one Syllogistik geschlossen werden kan. - Man wird 



352, JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG 

dieses sogleich einsehen, wenn ich die Entstehung einer gewon- 
lichen Logik bei ihrem Verfasser beschrieben habe. Wenn dieser, 
eh' er seine Gehirnfibern oder seine Feder in Bewegung sezt, 
durch die Vernunft eines andern 6 auf den unscholastischen Ge- 
danken gerat, daB die Logik nichts als eine Psychologie sei, daB 
sie nicht denken lere, sondern die Gesezze des Denkens und 
ihr Verhaltnis zur Warheit erforsche, und also weniger Termen 
und mer Erfarungen und keine Regeln enthalten musse, u. s. w.: 
- dan komm' icb zu ihm in feierlicher Gestalt, in Gestalt seines 
alten Schullerers, oder des Aristoteles. Logischer Ernst furchet 10 
auf meinem Gesichte philosophische Linien und grabt tiefsin- 
nige Runzeln; die Wichtigkeit meiner Miene verkiindigt die 
Wichtigkeit des Spielzeugs der Kinder auf dem Katheder. Ich 
lasse ihn zuriiksehen in iene Zeiten, wo der fette Monch in seiner 
Zelle iiber Distinkzionen und Term en briitete und seine Phanta- 
sie mit dem Unsin seiner Vorganger beschwangerte, um neuen 
zu gebaren: wo die scholastischen Esel die Disteln der Dialektik 
abgrasten, wo Okame und Skotusse zwei Here von exerzirten 
Dunsen gegen einander anfiirten, um Dumheit durch Dumheit 
zu besiegen. Ich zeige ihm den Aristoteles, wie an ihm nichts 20 
mer sichtbar ist als der Unsin seiner Kommentatoren, wie seine 
Vererer inihm das Geschopf ihrer christlichen Dumheit anbeten 
und diesem Vater der Vernunft die Vernunft zum Opfer dar- 
bringen, wie Abgotter dem Vater der Menschen die Menschen. 
Ich zeige ihm, wie untrugliche Theologen ihre heiligen Meinun- 
gen in heidnischen Schlusarten beweisen, oder wie man iene 
kezzerische Logiker, einen Ramus, Vanini u. s. w. zu ihrer Bele- 
rung hin in's hollische Feuer zum Aristoteles sendet. Dies alles 
zeig' ich meinem Logiker, obwol in einem Lichte, wie es die 
Gelerten und die Fledermause vertragen. »Ja, denkt er bei sich, 30 
ich wil eine Dumheit zu erhalten suchen, fur welche meine Vater 

6 Der Dumme erlaubt der Vernunft keinen nahern Zutrit als in das 
Gedachtnis. Das Gedachtnis ist gleichsam die Antichambre der Sele. 
Aber man weis wol, wer in derselben gewonlich am langsten warten 
mus und wer zulezt nach einem gleichgiiltigen Anschauen seinen 
Abschied erhalt. - 



DAS LOB DER DUMMHEIT 353 

soviel Dinte vergossen haben, welche durch das Alter so erwiir- 
dig und durch ihre Seltenheit so schazbar geworden 1st. Meine 
Logik sol nicht verniinftig, aber gelert sein. Ich wil den Aristote- 
les nicht lesen, noch weniger ihn verstehen lernen; aber ich wil 
ihn unaufhorlich zitiren. Ich wil dahin trachten, mich selbst nicht 
zu verstehen, noch mich von meinen Lesern verstehen zu lassen 
- und liberal sol man merken, daB ich iene Vater der Finsternis 
in succum et sanguinem vertirt habe. Ich wil keinen einzigen 
neuen Gedanken vorbringen; aber ich wil keinen einzigen alten 

10 Term auslassen und iedem unwichtigen Begrif durch eine bar- 
barische Benennung eine neue Wichtigkeit verschaffen. Ich wil 
mich anstrengen, das zu sagen, was man weis, und noch mer 
dasienige, was man zu wissen nicht notig hat. Ich wil alles Un- 
niizliche zum Nuzzen der Lerer zusammenbringen und endlich 
bei der Syllogistik alle Krafte der Dumheit aufbieten, um durch 
eine rumliche Hizze in meinem Gehirn ein elektrisches Glok- 
kenspiel von barbarischen Termen und Regeln und Partizionen 
zu erwekken.« — So macht man eine Logik; so macht sie die 
Dumheit. - Mit den vibrigen philosophischen Wissenschaften 

20 hat es dieselbe Bewandnis. Die Metaphysik ist eine Landkarte 
vom Reiche der Moglichkeiten; wer weis nun nicht, daB man 
bios mit der Phantasie eines Dunsen gegen dieses Land zu fliegeri 
kan, so wie, nach Swift's Erzalung, der Kapitain Brunt mit sei- 
nen gefliigelten Kaklogalliniern nach dem Monde flog? - Sezt 
man noch hinzu, daB man in der Metaphysik ser kliiglich Worter 
erfunden hat, die mer durch ihren Klang als ihren Sin die tiefsin- 
nigsten Abstrakzionen verraten und mer auf dem Trommelfel 
als in den Gehirnfibern philosophische Erzitterungen verursa- 
chen; daB man eine besondre Stellung der unverstandlichen 

30 Worter erdacht hat, die man das Metrum der metaphysischen 
Dichtereien nennen konte, und daB man ieden Beweis zu einer 
Demonstrazion umschaffen kan, wenn man die drei Worter 
»quod erat demonstrandum « hintenanflikt, wie die Verfertiger 
der Rezepte in den Kalendern ihr »probatum est«, oder wenn 
man den Beweis suchenden Leser von Paragraph zu Paragraph 
verweist und ihn endlich eine kleine Quelle von einem ganzen 



354 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Strome oder gar nur das entdekken last, was der neugierige 
Affe nach zwanzig aus einander gewikkelten Papieren entdekt 

— sezt man dieses alles zum vorigen hinzu, sag' ich, so folgt 
unwidersprechlich, daB die Wonung des Ergo's, wie Voltaire 
die Schule nent, auch die Wonung der Dumheit sein miisse. 
Ich bin also die Dulzinee der metaphysischen Don Quixotte; 

- wenn ich's nicht verstandlich und grimdlich erwiesen hatte, 
so wiird' ich sagen, ich hatt' es demonstrirt. - 

Ein Nar, den sein Salarium nicht zwingt, im Konzerte der 
menschlichen Torheiten den Takt zu halten und mit den Nach- 10 
barn im Unisono zu singen, der ist deswegen nicht weniger 
Nar: denn die Stelle der Torheiten, die er nicht nachamt, ersezt 
er durch dieienigen, die er erfindet. Eben so in den Wissenschaf- 
ten; wo eine alte Pedanterei sogar durch nichts anders als eine 
neue vertrieben werden kan. Wer soke daher den loblichen Eifer 
nicht schazzen, den einige Modephilosophen haben, in einer 
neuern Dumheit noch weitere Schritte zu tun als ihre Feinde 
in einer altern getan haben? und wer soke nicht meine Klugheit 
und meine Giitigkeit zugleich bewundern, da ich entgegenge- 
sezten Parteien gleiche Liebe erzeige, ihnen gleiche Waffen im 20 
Streite, und gleiche Hiilfe in der Gefar erteile? - Ich w'il mit 
etlichen Worten einen Stuzzerphilosophen beschreiben. Er 
denkt niemals oder selten; aber er fult von der Sonnen Aufgang 
an bis zum Untcrgange des Mondes, in Einem fort. Er hast 
den Beweis einer Sache eben so ser als die Demonstrazion der- 
selben und hat, gleich den Schnekken, sein geistiges Auge in 
seinen geistigen Fulhornern. Sein Unsin steigt und fait nach 
der Ebbe und Flut seines Nervensaftes, und sein Gehirn mus 
erst durch die heftige Bewegung des Bluts elektrisirt sein, eh* 
er einige Funken von Warheit erblikt. Er verabscheut ieden 30 
deutlichen Begrif; nur dunkle, in dunkle Worter gehiilt, erteilen 
seinem Geiste die Warme, die sein Korper von dunkeln Kleidern 
empfangt. Jeden narhaften Gedankeh umschaft er in seinen 
Schriften in eine schonfarbigte Blume; eben so verwandelten 
sich unter den Handen des Midas narende Speisen in glanzendes 
Gold. Er hast lere, abstrakte Termen, aber er liebt gefiilvolle 



DAS LOB DER DUMMHEIT 355 

widersinnige Ausdriikke, und zieht dem metaphysischen Unsin 
den poetischen, und der kalten Unvernunft die warme vor. Er 
diiftet von den, friihmorgens erhaltenen, philosophischen Ge- 
danken, wie von Pomade, und die Brille der Vernunft 7 verwan- 
delt er in ein modisches Augenglas. Zu friih giebt der Friseur 
seinen Haren, und ein Doudezbandgen seinen Gehirnfibern, eine 
modische Lage; nachmittags tragt er die leibliche und die geistli- 
che Frisur zur Schau herum und abends (iberlast er in den Armen 
einer Hure beide ihrem Schiksal. - So eine Philosophic ist fiir 

10 die Damen: denn auf diese Weise konnen die Damen Philoso- 
phen und Damen zugleich sein. Ich verdiene also Dank, nicht 
bios weilichinderErteilung meiner Gaben soviel Freigebigkeit, 
sondern auch weil ich soviel Abwechselung beobachte und we- 
nigstens die Trachten der Dumheit nach der Mode abandere, 
so wie die Geistlichen eben diesem weltlichen Tyrannen ihren 
heiligen Ornat zur Verstumlung darbieten. - 

Ich erteile meine Gaben nicht bios in Prose, sondern auch 
in Versen, und lasse Dumheit nicht nur predigen und demon- 
striren, sondern auch singen. Man sieht, dafi ich von den Dich- 

20 tern reden und mir von ihnen ein Lobgedicht erbetteln wil, das 
sie ihren Geliebten nicht ofter als mir erteilen solten, da wir 
beide ihnen gleich niizliche Dienste in der Veriagung des gesun- 
den Verstandes erweisen. Die Sanger unter den Menschen 
zeichnen sich, so wie die unter den Tieren, weniger durch ihr 
Gehirn, als ihre Zunge und ihre Kele aus - freilich giebt es unter 
beiden auch Papagaien, die das sagen, was andre denken. Der 
Beweis davon ist leichter als ein Reim zu finden. - Der Parnas- 
sus, auf dem, wie bekant, die Dichter ihre Herberge aufgeschla- 
gen haben, gleicht bald den feuerspeienden Bergen, bald den 

30 Spizbergen; wenigstens ist der eine Teil seiner Bewoner so siid- 
heis, wie die Lava, die er gliihen, und der andre Teil derselben 
so eiskalt, wie das Eis, das er gefrieren last. Zuerst von den 
Eisvogeln! - Diese werden Dichter, nicht weil sic Genie haben, 
sondern weil sie wissen, wie man das Genie anwenden musse, 

7 So nent ein Alter die Philosophic. 



356 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

und machen bios darum schlechte Verse, well ihnen die Regeln 
bekant sind, wie man gute machen rmisse. Ein solcher Dichter 
verfertigt Verse, die so kalt und angenem sind, wie die Regeln, 
nach denen er sie verfertigt; er ist unlesbar nach alien Vorschrif- 
ten der Kunst geschrieben, und weis schlecht zu sein, one Tadel 
zu verdienen. Derselbe Gedanke, so kalt und unsehmakhaft wie 
Wasser, schlangelt sich gleich einem Flus durch seine Ode hin- 
durch, und sein einformiges Gemurmel verandert sich nur nach 
der Verschiedenheit des Sylbenmasses, liber welches er hinflies- 
set. - Kiine Bilder hast er mer als der Priester die guten Werke, 
die nicht aus dem Glauben kommen. - In der Elegie macht 
er eine Ausname von der Zunft der weinenden Briider; er giebt 
derselben nichts als ein trauriges Kleid, d. h. traurige Worte - 
eben so findet man am vornemen Witwer keine andre Betriibnis, 
als die, mit welcher ihn sein Schneider versehen hat. - In Riik- 
sicht der drei Einheiten der Schauspiele ist er vollig orthodox, 
und der Verfal der poetischen Dreieinigkeit prest ihm herbere 
Klagen aus, als einem andern der Verfal der theologischen. Seine 
betriibten Personen auf dem Theater sprechen gerade so, wie 
betriibte Personen in der Welt denken; man mus daher bei ienen 
auf das Innerliche, bei diesen auf das Ausserliche sehen. - Ein 
solcher Dichter ist gliiklicher als seine andern Religionsver- 
wandten; er kan dichten, so oft sich seine Finger in ihrem natiir- 
lichen Zustande befinden; er braucht die poetische Flamme nie- 
mals durch kostbare Ole zu vergrossern oder zu naren und kan 
sich sogar in seinem grauen Alter rumen, daB seine Hand noch 
nichts von ihrem dichterischen Feuer verliere. - Ein solcher hat 
keine Einbildungskraft: allein wo kein Feuer ist, da ist auch kein 
Licht; er ist also dum. Er reitet daher nicht auf dem Pegasus, 
sondern auf einem viel langsamern Tiere - gewis, hier wiirden 
die Amerikaner Rechthaben, wenn sie den Reiter und sein Tier 
fiir Ein Ding hielten. - 

Andre Poeten lieben weder dichterische Warme, noch dichte- 
rische Kalte; aber sie lieben den Wolklang. Sie rechnen das 
Nichtdenken zur licentia poetica, und die Dissonanzen in Be- 
griffen losen sich ihnen in eine schone Harmonie der Worte 



DAS LOB DER DUMMHEIT 3 57 

auf. Selten schwimt auf ihrem Mere von Worten eine Blume. 
EinGedanke ist bei ihnen so klein, wie das kleinste Insekt; allein 
er hat eben so viele poetische Fiisse, als dasselbe natiirliche. Sie 
verstiimlen den Sin in einem kurzen Sylbe[n]mas; und denen 
ihn aus in einem langen - eben so verkiirzte Prokrustes die Beine 
langer Gaste in kurzen Betten, und verlangerte die Beine kurzer 
G'aste in langen Betten. - Diese Dichter haben mir das zu dan- 
ken, was sie zu Dichtern macht - ihren wolklingenden Unsin. 
Noch andre Poeten opfern ihre Vernunft nicht dem Wol- 

10 klange, sondern dem hohen Fluge auf. So bald sie die poetische 
Krankheit bekommen, so ist nichts vermogend, die Konvulsio- 
nen ihrer Narheit und die gewaltsamen Bewegungen ihres Un- 
sinszubandigen. Sie phantasieren von Unsterblichkeit, und ihre 
Schlaf miizze sehen sie fur die Lorberkrone an, die die Welt ihrem 
Verdienste aufsezt. Ihr Nervensaft, der ihr Gehirn iiber- 
schwemt, vertilgt ieden Gedanken, den er befruchten soke, und 
ihre entziindete Einbildungskraft giebt dem schweren Unsin 
dythrambischen Flug; so wie das entziindete Pulver schwere 
Kanonen forttreibt Mit ihrer Dumheit wachst auch ihre Krank- 

20 heit und ihr Genie, und nur dan dichten sie am schonsten in 
ihren poetischen Hainen, wenn die Dunkelheit derselben iedem 
Strale der Vernunft den Durchgang verwert. - Es ist schwer 
ausmachen, ob sie sich durch ihre Gedichte die Ere verschaffen, 
die sie im voraus geniessen; aber es ist gewis, dafi sie mir durch 
dieselben die Ere verschaffen, die ich von iedem Dunsen ge- 
niesse. 

Endlich komm' ich auf die Dichter, die von Tranen leben, 
wie der Fisch von Wasser; auf die Schneemangen, die, wider 
den Lauf der Natur, am Tage von dem aussern Frost erstarren, 

30 und zu Nachts im Mondenstral vor Hizze zerschmelzen. Ich 
kan sie in meiner Lobschrift nicht iibergehen, weil sie sich, in 
der neulichen Tranensundflut Deutschlands, durch ihre Stimme 
als Frosche, und durch ihre Flosfedern als Fische ser tatig bewie- 
sen haben; aber ich werde nicht viel von ihnen sagen, weil sie 
zugleich mit dem Wasser verschwunden sind. Ihre Dumheit 
last sich leichter mit Griinden dartun, als in ihren Versen ertra- 



358 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

gen. Welche Menschen weinen am leichtesten? solche, die, 
gleich den Wasserkopfen, Wasser anstat des Gehirns haben - 
vorziiglich dreierlei Kinder, die kleinen, welche aus natiirlichen, 
die schonen, welche aus galanten, die alien, welche aus physischen 
Ursachen weinen. DaB aber alle diese Kinder ser viel Vernunft 
haben, dies wird niemand glauben als diese Kinder selbst. Jeder 
Poet also, der mit seinem leren Kopf, wie mit einem Schwam, 
das Tranenwasser der Gedichte in sich saugt, und es durch einen 
Druk in einem Gedichte wieder von sich giebt, der kan sich 
nicht bei mir beklagen, da6 er zu wenig - Dumheit erhalten 10 
habe, ob er sich wol bei der Weisheit beklagen kan, daB sie 
ihm sogar den Schein von Verstand verweigert habe. Genug 
von den Uhuen, und von alien iibrigen Vogeln des Waldes! - 

Ich hatte mir anfangs vorgesezt, die Dumheit der Romanen- 
schreiber one Beihiilfe des Ergo's zu demonstriren; allein ich 
unterlies es, da ich in einem Meskatalog 200 Beweise von eben 
dieser Warheit fand. Ein Romanschreiber ist mir, die Zeichnun- 
gen ausgenommen, die meistens schoner als das Buch selbst 
sind, fast alles schuldig; ia noch mer, er ist mir die schuldig, 
die ihn lesen, oder oft rezensiren. 20 

Ich komme nun auf die eigentlichen Gelerten, d. h. auf die, 
welche sich mit Fleis auf das legen, was sie nicht brauchen kon- 
nen. Allein die Mannigfaltigkeit ihrer Arten ist zu gros, als daB 
ich hier iede besonders vornemen konte. Kein gelerter Duns 
wird mich also tadeln, wenn ich ihn bios in seinem Nachbar 
lobe und von seiner Dumheit einen unbestimtern Abris zeichne, 
als er gemeiniglich in seinen Vorreden zeichnet. - Da ein Geler- 
ter lieber redet als denkt, so ist's kein Wunder, wenn ieder 
in den Worten Schuz vor den Gedanken sucht und so lang 
fremde Sprachen erlernet, bis er unfahig ist, in seiner eignen 30 
zu denken. Wie er durch eine Sprache weiser werde, das ist 
seine Sorge nicht; aber wie er durch sie dummer werde, das . 
ist seine Sorge. Und hierinnen zieh' ich die lateinische Sprache 
ieder andern vor. Zizero hat mir durch seine Beredsamkeit mer 
Proselyten verschaft als fast alle meine Missionarien, geistlichen 
und weltlichen Standes, ie gekont haben. Ihm hab' ich's zu dan- 



DAS LOB DER DUMMHEIT 359 

ken, daB niemand verminftig wird und werden darf, als bis er 
lateinisch sprechen und schreiben kan, und daB man der Ver- 
nunft so lang den Anbau versagt, bis man sie durch Worterge- 
lersamkeit unmachtig und entberlich gemacht hat; ihm hab' ich's 
zu danken, daB man einen schlechten Gedanken weit geneigter 
als eine schlechte Redensart vergiebt, und dem Gelerten iede 
andre Siinde als eine gegen die heilige Grammatik, iede andre 
Dumheit als eine unlateinisch gegebne, verzeiht. Diesen Leuten 
bin ich noch unentberlichef als ihr Lexikon; undwenn sie mich 

10 nicht notig haben, um einen alten Schriftsteller zu verstehen, 
so brauchen sie mich doch, um ihn andern zu erklaren. Ein 
Kommentator ist noch viel schazbarer als das, was er kommen- 
tirt: denn er ist noch viel dunkler. Er erwirbt den Alten eine 
Bewunderung, die der Leser mer ihrer Dunkelheit als ihrer 
Schonheit zolt und die mer aus dem Geful einer eignen Schwache 
als aus dem Warnemen einer fremden Starke entspringt; er weis 
von ieder deutlichen Sache soviel Erklarungen zu geben, als 
notig sind, um sie undeutlich zu machen; er kan das Starke in's 
Schwache zerstukken und den Text durch Noten verdiinnen, 

20 wie der Weinschenke den Wein durch Wasser; er kan, zum Be- 
weis seiner Gelersamkeit, seinen Kommentar zu einem Katalog 
der Biicher machen, die er nicht gelesen, aber doch gesehen 
hat; er kan, zum Beweis seines Scharfsins, die Schonheiten und 
die Feler seines Autors in entgegengesezten Gestalten darstellen, 
um den Negern zu gleichen, die ihre Gotter schwarz und den 
Teufel weis malen, und kan bald von einem Feler beweisen, 
daB er sich in eine Schonheit, wie das Kupfer auf den Kirchtur- 
mern in Gold, durch das Alter verwandele, und bald eine Schon- 
heit durch seine kritische Dinte vertilgen, so wie man Gold in 

30 aqua regis, und Perlen in Essig aufloset. Die Gelersamkeit eines 
solchen Kommentators und iiberhaupt alles das, was ihm Hoch- 
achtung in seinen eignen Augen und Verachtung in fremden 
erwirbt, ist bios mein Werk - ein fernerer Beweis dieser klaren 
Sache ware unnotiger als seine Noten. - 

[ch ubergehe alle dieienigen Dummen, die sich in den Staub 
der Folianten, wie der Kafer in den Kot, oder der Geizige in 



36O JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

dem Goldkote, dem Exkremente des Gliiks, vergraben, und 
ihre Vernunft und ihre Freuden dem Gewerbe einer Dumheit 
aufopfern, die man nicht bewundert, nicht beneidet, nicht be- 
lont; - alle dieienigen, die in den Alten nicht das Schdne, sondern 
das Seltne, und nicht seltne Gedanken, sondern seltne Worte 
aufsuchen, um ihre eigne Schriften in ein Gewand von alten 
Lumpen zu kleiden; - alle dieienigen, die der Ursprung eines 
alten Worts mer interessirt als ihr eigner, und die zu wenig Ver- 
nunft haben, um liber andre als kleine Gegenstande gelerte 
Traume zu traumen; - alle dieienigen, die die Feler andrer tadeln, 10 
um ihre eignen zu entschuldigen, die, angereizt durch den Neid, 
und unterstiizt durch die Dumheit, aus Rezensionen Pasquille 
machen und von fremder Schande, wie die Raben von As, leben; 
und alle dieienigen, die durch affektirte Feler ihres Korpers 
wirkliche Tugenden ihres Geistes ausdriikken und durch gelerte 
Zerstreuung den Mangel der Gelersamkeit verbergen wollen, 
die die Weisheit nur in den Kopfen, die zerstorter als ihre zer- 
storten Perriikken sind, wonhaft glauben, so wie das ihr ge- 
weihte Tier, die Eule, in verfalnen Schlossern wont, und die 
ihre Stirn mit tiefen Falten durchpfliigen, als wenn sie darauf 20 
den Samen der Weisheit ausgesact hatten — alle diese iibergeh' ■ 
ich, denn ieder verert in ihnen meine Macht und Giitigkeit und 
erblikt in ihrem Rume den Glanz des meinigen; allein dieienigen 
kan ich nicht ubergehen, die von Zeit zu Zeit kleine Lobschriften 
auf mich drukken lassen und deren Name eine langere Ewigkeit 
zu leben verdiente, als die kurze eines Verliebten - ich meine 
die, welche Programme schreiben. Es ist hart, wenn man ge- 
zwungen wird, dumme Schriften zu schreiben; allein es ist noch 
barter, wenn man gezwungen wird, dumme Schriften zu lesen. 
Da aber bios dieses Leztere Geld und Rum eintragt: so mus 30 
ich vorziiglich denen helfen, die eine Arbeit unternemen, die 
weder durch die Hand noch die Zunge eines andern bezalt wird. 
Das Thema ist bei einem Program die Hauptsache und die Aus- 
furung das Nebenwerk; und wenn diese im tiefen Schlaf ge- 
macht werden kan, so wil ienes schon im Traume erfunden 
sein. Nichts ist daher natiirlicher, als daB ich dem Autor ein 



DAS LOB DER DUMMHEIT 361 

Thema verschaffe, iiber welches sich ser viel Dumheit one 
grosse Gelersamkeit auskramen last. Bald lass' ich ihn in elen- 
dem Latein den Verfal des Studiums der Alten beklagen und 
one Geschmak den Geschmak andrer tadeln - bald lass' ich ihn, 
zum Vergniigen seiner Obern, traurige Mutmassungen von 
dem kiinftigen Zustande des Christentums krachzen, und mer 
Nachrichten von theologischen Kriegen erschaffen, als die Zei- 
tungsschreiber von weltlichen erschaffen - bald lass' ich ihn die 
Jugend zur Dumheit anmanen und ihr alle die Kezzer in schrekli- 

10 cher Teufelsgestalt mit Hornern und Pferdefiissen vormalen, 
deren Name schon die Widerlegung derselben ist und deren 
Schriften man widerlegen kan, one sie gelesen oder verstanden 
zu haben - bald lass' ich ihn in seinem Program nichts als - 
lateinische Redensarten sagen und sogar am Ende den Zwitter 
von deutscher und lateinischer Prose mit einem Metrum vol 
poetischer Worte bekronen, welches man sonst nach einer har- 
ten Figur lateinische Verse nent. - Man wird nun einsehen, daB 
ich eben soviel Lob verdiene, wie die Fautores und Maecenates, 
die das Titelblat der Programme zieren und vielleicht nichts 

20 in der Welt als eben dieses zieren. - 

Ich komme nun von geringern Dunsen auf vornemere, auf 
die Doktoren - dieses ist zwar ein unnatiirlicher, aber doch ein 
solcher Sprung, durch welchen sich die meisten Doktoren ihren 
Doktorhut erspringen. Es ist gewis, daB ich eben soviele Dokto- 
ren mache als das Geld und die Weiber. Denn ich verleihe allemal 
den leren Kopf, der es verdient, daB man ihn mit dem Dekkel 
des Doktorhuts bedekke, um ihn vor aller Vernunft, vor iedem 
Verdienste und iedem Gedanken rein zu konserviren. Die Men- 
schen haben mir also nicht bios ihr Geld und ihr Gliik zu danken; 

30 sie sind mir auch meistenteils ihre Ere schuldig. - Ferner: ein 
Doktor weis durch mich nicht nur Nichts, sondern auch Alles, 
d. h. er ist nicht bios dum, er ist auch stolz. Daher ist folgender 
Vers war, wenn ihn auch kein Doktor gesagt hat, ia wenn ihn 
auch einer gesagt hatte: 

Convertir un docteur est une oeuvre impossible. 



362 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

Denn liesse sich ein Doktor bekeren, so folgte, daB er nicht 
allemal Recht hatte, welches aber klar wider den Saz des Wider- 
spruchs lauft - so folgte, daB er im ersten Augenblik seines 
Doktorlebens nicht alles das ware, was er bis an sein Ende ist, 
welches aber alle Doktoren durch ihr einmutiges Beispiel wider- 
legen - so folgte, daB er Griinde anhorte, Griinde tiberlegte, 
ia Griindennachgabe, welches aber alles gegen seine Ere streitet, 
und endlich folgte sogar, daB er - vernunftig ware, welches 
aber kaum eine Widerlegung verdient. Wie ser mus der semen 
Verstand schazzen, der mit demselben nie geirt und nie gedacht 10 
hat! Wie ser mus der seine Einsichten bewundern, der nie andre 
als die seinigen zu bewundern Gelegenheit gehabt hat! - Ich 
glaube, daB man dummer als ein Doktor sein kan; aber ich 
glaube nicht, daB man stolzer als er sein kan. - Ich unterstiizze 
ihn auch mit meiner ganzen Kraft in Disputazionen .- doch dies 
last sich nicht sagen, aber wol sehen und horen. Und endlich, 
wie ich ihm seinen Glauben an das tausendiarige Reich der 
Dumheit erhalte; wie ich seinem Stolze die Narung erteile, wel- 
che ihm die heutige bose Welt versagt, und seine Dumheit mit 
dem Rume bekrone, den er vergebens von den Dummen for- 20 
dert, vergebens von den Weisen bettelt; wie ich seiner neugieri- 
gen Hand verwere, den lateinischen Biichern untreu zu werden, 
und auf eine unkeusche Weise die deutschen zu beriiren, und 
ihn gegen die herschende Mode, vernunftig zu scheinen, durch 
Unbekantschaft mit den neuern Kentnissen und durch Stolz auf 
die seinigen, stale, u. s. w. alles dieses kan ich nur kurz anfiiren, 
denn mir felt das Latein eines Doktors, der Katheder eines Dok- 
tors, die Zuhorer eines Doktors. - Wenn ich nicht, gleich einem 
Doktor, ein Lob in Superlativen verdiene, so verdiene ich wenig- 
stens ein solches, wie es von ihm ieder Student erhalt, der die 30 
GCite seiner Disputazion durch etwas anders als die Disputazion 
darzutun weis. - 

Man wird immer bemerkt haben, daB ich denen am meisten 
niizze, die befelen, und denen weniger, die gehorchen, und daB 
der geringere Dumme mit meinen Gaben das Gliik desienigen 
befordere, der sich durch eben dieselben Ciber ihn emporgehoben 



DAS LOB DER DUMMHEIT 363 

hat. Ich wil nun diesen Nuzzen, den die Obern von der Dumheit 
des Volks ziehen, kurzlich naher betrachten. 

Wenn ertragt ein Volk die Ungerechtigkeiten seines Beher- 
schers mit der wenigsten Ungeduld, als wenn es unfahig ist, 
sie einzusehen? Wenn folgt es am liebsten unnuzzen Befelen, 
als wenn es ihnen blind folgt, und weder die Harte seines Zu- 
standes, noch die Harte dessen, der iene vermert, zu begreifen 
Verstand genug hat? Und wenn sind ihm die Grunde seines 
Hern am meisten genugtuend, als wenn es sie nicht durch das 

10 Auge, sondern durch das Gefiil erkent? - Seine Kurzsichtigkeit 
hindert es, zum Tron hinaufzublikken, und in seinem Beher- 
scher mer oder weniger als einen Beherscher zu sehen. Seine 
Blindheit sieht liberal Ubel, weil sie nirgends das Gegenteil se- 
hen kan, und die darausentstehende Furcht macht es zu Werk- 
zeugen und Schlachtopfern dieser Ubel zugleich. Sein Regierer 
darf daher nur das sein, was er scheint; und der Glanz seiner 
Macht bewirkt ihm ieden freien Gebrauch derselben. — Eben 
so iiben dieienigen an einem dummen Volke die meisten Unge- 
rechtigkeiten aus, die die Gerechtigkeit auszuiiben bestimt sind. 

20 Der Rechtsgelerte, der aus den Gesezzen nichts lernt als sie zu 
iibertreten, kan mit mererm Vorteile das an sich ziehen, was 
ungelerte Diebe an den Galgen bringt, mit mererm Gliikke das 
nach den Gesezzen nemen, was andre wider die Gesezze nemen, 
mit mererm guten Schein seine Feder anstat des Brecheisens 
gebrauchen, dessen sich der Rauber bedient, und weit leichter 
fur die Miihe, zu rauben, gesezmassige Bezalung verlangen, wie 
die Bassa's, die von den Bauern Zangeld fur die Abnuzzung 
ihres rauberischen Werkzeugs fordern - wenn seine Klienten 
eben so wenig Verstand haben, als er Gewissen, eben so.viel 

30 von ihm erwarten, als er verspricht, und niemals mistrauen, 
wenn er nicht halt. Man malt die Gerechtigkeit mit verbundnen 
Augen - man hatte vielleicht warer gemalt, wenn man sie vor- 
gestelt hatte, wie sie andern die Augen verbindet. So wie die 
Raben und Adler vorher die Augen aushakken, eh' sie die andern 
Teile des Korpers verzeren - eben so nemen die Rechtsgelerten 
vorher die Gabe zu sehen, eh' sie dem Blinden das Ubrige ne- 



364 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG 

men. Wie viel Lob verdien' ich von ihnen, daB ich ihnen durch 
meine Vorsorge den Aufwand und die Miihe erspare, dem an- 
dern seine gesunden Augen durch wolpraparirte Dinte zu ver- 
derben! - 

Dieienigen, welchedie Dumheit des Volks am meisten befor- 
dert und genaret haben, haben den meisten Nuzzen von dersel- 
ben gezogen. Es ist nicht gewis, daB die Dumheit den Himmel 
im andern Leben verschaft; aber es ist gewis, daB sie denen, 
die dieses gesagt haben, den Himmel in diesem Leben verschaft 
hat. Die Geistlichen sind mir mer schuldig als ihren Kopf; und 10 
wenn sie mir nicht ihr eigen Gliik schuldig sind, so sind sie 
mir doch das Gliik ihrer Vater schuldig. Nichts ist warer als 
dieses; und nie war der Klerus am gluklichsten, als da der Pobel 
am diimsten war. Damals, in ienen dummen Zeiten, bezalten 
die Dunsen dieienigen, die andern ihre eigne Dumheit mitteil- 
ten, und der Unsin, in lateinischen Worten gegeben, erzwang 
die Bewunderung von denen, die ihre natiirliche Dumheit in 
ihrer natiirlichen Sprache von sich gaben. Damals nuzten die 
Wissenschaften nur denen, die andern damit schaden wolten, 
und verschaften Vorteile, nicht wenn man sie lernte, sondern 20 
wenn man sie lerte. Damals konten die Monche, gleich den 
Vampyren, das Blut derer aussaugen, die in der algemeinen 
Nacht der Vernunft die Augen ihres Geistes gleichsam zum 
Schlafe zuschlossen, und die Theologen waren nur deswegen 
weniger blind, urn die Blindheit andrer zu verstarken und zu 
benuzzen, waren nur deswegen weniger dum, um boser, nicht 
um weiser zu sein; eben so sieht die Nachteule, die das Licht 
des Tages nicht vertragen kan, bios darum in der Finsternis 
besser, um sich von den schlafenden Vogeln zu naren. Damals 
konte man andern verweren, zu untersuchen, damit man der 30 
Miihe entgieng, selbst zu untersuchen, und iede Lere einer dum- 
men Zunge flog zu einem dummen Ore. Damals konte man 
mit den Schliisseln, die den Himmel aufsperten, die Geldkasten 
des Reichen, die Kabinete der Grossen und die Schlafzimmer 
der Weiber aufsperren. Damals konten dieienigen den andern 
in die Holle der kunftigen Welt verdammen, die seine Teufel 



DAS LOB DER DUMMHEIT , 365 

in der iezzigen sein woken, und die heiligen Manner konten 
one Weiber sein, weil die heiligen Weiber one Manner waren. 8 

- Doch ieder wird wissen, wie ser ein dummes Volk in den 
vorigen Zeitjen] dem Klerus geniizt hat, da er weis, wie ser 
ein aufgeklartes in der iezzigen dem Klerus schadet. Wenn man 
bedenkt, mit wie vielen niizlichen Kentnissen sich ieder Geistli- 
che iezt iiberladen mus; wie er gezwungen wird, nicht bios 

. Worte, sonde rn sogar Gedanken zu lernen; die Exegese mit 

Sprachkentnis, und, was das schreklichste ist, die Dogmatik 

10 mit einigem gesunden Menschenverstande zu bearbeiten; mer 

gelert als inspirirt, und mer verniinftig als theologisch zu sein 

- wenn man dieses bedenkt, so mus iedem Dummen die Haut 
vor den geanderten Zeiten schauern, und selbst ich wiirde die 
bemitleiden, die von mir abgefallen sind, wenn ich nicht wiiste, 
daB bios, der halbe Teil abgefallen ist. - 

Ich habe nun zu viele von meinen lobenswiirdigen Seiten ge- 
zeigt, als daft man die andern nicht erraten soke. Ich habe nicht 
notig, mer von mir zu reden; aber ich habe notig, zu meinen 
Vererern zu reden: denn diese konnen mir zu einer Ere behulflich 

20 sein, die grosser ist, als meine iezzige. Es war sonst fiir mich 
angenem, wenn mich meine Vererer baten; aber es ist iezt viel- 
leicht fiir mich niizlich, wenn ich meine Vererer bitte. Ihr also, 
die ihr mer Macht als Vernunft und mer Stolz als beides habt, 
nemt euch der Dumheit wie eurer eignen an; sezt die Amter 
als Preise aus, die man nicht durch den Flug des Musenpferds, 
sondern durch das Schleichen des langorichten Tieres gewint; 
macht den Man durch die Erenstelle, nicht aber die Erenstelle 
durch den Man beriimt, last das Geld alzeit den Mangel des 
Verstandes, niemals aber den Mangel der Dumheit ersezzen und 

30 verhindert das Dasein der Weisen eben so ser als das Gliik dersel- 

8 Das Zalibat der Monche war mit dem Zalibat der Nonnen unzer- 
trenlich verbunden. Ein Monch one Nonne mus notwendigerweise das 
Geliibde seiner Keuschheit brechen; und eben so eine Nonne one Monch 

- man miiste denn annemen, daB die Keuschheit eben so wolfeil ausser 
den Klostern, als in denselben ware, welches im iezzigen Jarhundert 
zuzutreffen scheint. - 



366 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG 

ben - Ihr Hoflinge, redet so selten klug als ihr war redet, bewei- 
set das Gliik der Dumheit durch das Lacheln eurer Miene, die 
Hoflichkeit derselben durch die Beweglichkeit eurer Zunge, die 
Geschmeidigkeit derselben durch die Beugungen eurer Glieder 
und die Galanterie derselben durch das Narrenhafte eurer Klei- 
dung; habt nur dieienigen Verdienste, die man beim Schlafenge- 
hen an den Nagel hangt, nur dieienigen Tugenden, mit welchen 
euch das Laster des Fiirsten beert; helft durch das Kriechen vor 
eurem Fiirsten dem Dummen, der vor euch kriecht, und unter- 
stiizt den Weisen durch Versprechungen - Ihr, die ihr, gleich 10 
den Gewachsen, welche ihre Fruchte in der Erde verbergen und 
bios einen unniizzen Stangel vorzeigen, alle eure Verdienste in 
euren Erbbegrabnissen verwesen und von eurer Grosse nichts 
als den Auswuchs derselben d. h. euch selbst sichtbar werden 
last, ihr Edelleute, erinnert euch unaufhorlich eurer Verdienste, 
damit ihr kerne erwerbet; last in den iezzigen Zeiten euren Stolz 
mer als eure Dumheit hervorleuchten und zeigt nur denen das 
Bild eurer Sele, die es, wie ein Spiegel, wiederzurtikgeben; seid 
Freigeister bei Unadelichen, Edelleute bei Edelleuten, Lerer des 
Stolzes und der Dumheit bei euren Kindern, und wizzige Spotter 20 
bei euren Untertanen - Ihr Stuzzer, die ihr von der Narheit 
nur eure Gestalt, von mir aber euer Innerliches erhalten habt, 
faret fort, an den Toiletten die Dumheit zu predigen, und an 
den Schonen sowol die wizzige Verbindung ihrer Hare, als ihrer 
Ideen, sowol ihre zarte Haut als ihr zartes Herz, sowol den Glanz 
ihrer Harnadeln als ihrer Tugenden, und sowol ihre kluge Wal 
in modischen Bandern als modischen Biichern zu bewundern; 
seid unwissend in den ernsthaften Kentnissen, um sie besser 
verachten zu konnen, und ziehet eure modische Dumheit der 
unmodischen Weisheit vor - Ihr Gelerten, die ihr mich so wenig 30 
als das Latein entberen kont, macht durch eure Belesenheit euren 
Verstand dem Verstande des Tieres gleich, welches euch die 
Ableiter eurer Gedanken leihet; leset die Alten so, wie ihr sie 
andre lesen lert, samlet aus denselben die raresten Worter, um 
euren Verstand aufzuklaren, und werfet alle unniizze Spreu von 
verniinftigen Gedanken weg, um euer Gedachtnis nicht zu iiber- 



DAS LOB DER DUMMHEIT 367 

laden; sucht in den klassischen Schriftstellern das Deutliche auf , 
um es zu kommentiren, und die Liikken, um sie auszufullen; 
last die stechenden Safte eures hungrigen Magens eure trage 
Dumhcit zum Schreiben anspornen, fiilt durch Htilfe cures lcrcn 
Kopfs euren leren Magen, und samlet Varianten, Bemerkungen 
p., um kein Almosen samlen zu diirfen; disputirt, um eure 
Sprachwerkzeuge in gelerten Anstrengungen und in der Erre- 
gung lateinischer Luftschwingungen zu iiben und um den ge- 
schwinden Gang eurer Ideenmaschine durch den geschwinden 

10 Gang ihres Perpendikels d. h. der Zunge darzutun - Ihr Geistli- 
chen, beweiset, daB ihr wiirdig seid, den Unsin zu verteidigen, 
den eure Vater erf unden haben; gebt, sobald ihr in euren Feldern 
die Spur irgend eines kezzerischen Tieres ausgewittert habt, 
durch euer Bellen das Zeichen zur Verfolgung und begleitet 
iedes verniinftige Buch durch hundert Widerlegungen, so wie 
die Maven die Fische begleiten; schreibt Predigten, um nicht 
zu denken, Gebetbucher, um wachend zu schlafen, und Erkla- 
rungen der Bibel, um wachend zu traumen; lasset die Fakkel 
der Vcrnunft nic in das Allerheiligste des Unsins dringen und 

20 beschiizzet, gleich den Kerubim, mit Ochsenkopfen die Bun- 
deslade der Dogmatik - - Ihr, die ihr die ersten Anfangsgriinde 
der Dumheit lert, erstikt das Feuer des Genies durch den Mist 
eurer Leren, verewigt in dem Riikken eurer Eleven eure Grau- 
samkeit, und in dem Gedachtnisse derselben euren Unsin - 
Kurz, ihr alle, die ihr mich in euch oder in andern, insgeheim 
oder offentlich, aus Grundsazzen oder Eitelkeit, aus natiirlicher 
Zuneigung oder Gewonheit, aus Heiligkeit oder Freigeisterei, 
anbetet, verdoppelt euren Eifer fur die Ausbreitung meines 
Reichs mit meinen Feinden und ersezt durch eure Tapferkeit 

30 die Schwache der Anzal; naret durch die Wissenschaften nichts 
als euren Stolz; leset, um nicht zu denken; schreibet, um nicht 
denken zu lassen; rezensirt in der Jugend, zensirt im Alter, und 
erwerbt euch den unsterblichen Rum, unter den Reformatoren der 
Weisheitdie Reformatoren der Dumheit gewesen zu sein!! - Vielleicht 
hab' ich mir durch mein Lob, nichts anders als den Tadel meiner 
Feinde zugezogen? vielleicht hab* ich mein vortrefliches Bild 



368 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG 

nur Blinden zur Betastung gezeigt und meine Gotheit bis zur 
sinlichen Darstellung derselben in der groben und verniinftigen 
Menschensprache, erniedrigt, one neue Anbeter zu machen? - 
Nein - ich denke zu viel Gutes von mir, um so viel Boses von 
den Menschen zu denken. - - 



1783: Arme Gottin! Pope lobte dich in Versen und ich nur in 
Prose; warum blieb doch deine schlechtere Lobrede ungedrukt? 
Nun macht sie weder deinen Feinden Vergniigen, noch deinen 
Freunden Mis vergniigen. 



ZWEITE ABTEILUNG 



Gronlandische Prozesse 178 3-1784 



grOnlAndische prozesse, 

oder 
SATIRISCHE SKIZZEN 



J'ai bien peur, que notre petit globe terraqueene 
soit les petites maisons de Tunivers. 

Memnon ou la sagesse humaine. 
Voltaire. 



I. 

Uber die Schriftstellerei 

Ein Opusculum posthumum a 



Eine Priesterin der Venus, die ihre lezten Reize auf den weichen 
Altaren ihrer Gottin geopfert, und deren Schonheit kein Kaufer 
der Wollust eines verstohlnen Wunsches mehr wiirdigt, ist 
darum noch nicht auf dem Wege, gegen die alte Schande den 
Ruhm der Besserung einzutauschen, und auf den sichtbaren 
Wink der neuen Haslichkeit den Dienst des Vergniigens zu ver- 
lassen. Vielmehr wiederholt ihr Geist die Rolle des Korpers: 10 
denn sie wird aus einer Schiilerin der Liebe die Lehrerin dersel- 
ben, aus einer Hure eine Kuplerin; sie nahrt sich von den Lastern, 
die sie nur lehren und nicht thun kan, sie beschaut ihr voriges 
Gliik in der gelehrigen Wollust ihrer Eleven, und erleichtert 
sich dadurch das schmerzliche Andenken ihres iezigen Un- 
werths. -Eben so ich. Das Misvergmigen, nicht mehr schreiben 
zu korinen, lindere ich mir durch das Vergniigen, es andere zu 
lehren. Namlich: ich widmete vor vielen Jahren meine rechte 
Hand mit alien ihren Muskeln dem weltberuhmten Apollo; und 
gewis ich konte ihm kein wichtigeres Glied meines Korpers 20 
widmen. Denn schon der lere Raum in meinem Kopfe und Ma- 
gen versprach der gelehrten Welt eine Feder, so unerschopflich 
an Dinte, als das Kriiglein iener Witwe an Ohl; und in einer 
lang anhaltenden Theurung war ich auf dem Wege, ein Polyhi- 

a Der Verfasser dieses Werkgens gab vor einem halben Jahre seincn 
unsterblichen Geist auf. Er war Famulus eines beriihmten Professors; 
daher er auch nichts lernte. Er wiirde eben darum Kollegien gelesen 
und Beifal gefunden haben; allein er hatte zu wenig Geld, um sich ein 
lateinisches M oder D zur Zierde seines Namens kaufen zu konnen. 
Was er aber hatte, fras eine langwierige Krankheit auf, deren er hier 30 
erwahnt, und die ihn bis ins Alter und in das Lazareth begleitete, wo 
er starb, doch nicht, ohne sich unsterblich gemacht zu haben. - 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 373 

stor, wenigstens ein Polygraph zu werden. Allein o die ver- 
wiinschte Gicht! die alle Muskeln des Genies lahmt, und die 
Schopfer der Unsterblichkeit, diese Werkzeuge der Begattung 
mit den Musen, diese fruchtbaren Staubfaden, ich meine die 
fiinf Finger, in einen schmerzlichen Krampf zusammenzieht! 
Denn kurz: an dieser Gicht starb meine Unsterblichkeit, weil 
keine neue Lorbern meinen erkampften Ruhm behaupteten, und 
ich wurde eher vergessen als geheilt. Allein ob mir nun gleich 
iezt das Alter die hergestellte Gesundheit verleidet; obgleich die 

io Uberreste des vorigen Ubels noch immer der gelehrten Repu- 
blik die Flechsen meines Arms entziehen; so will ich doch durch 
eine neue Anstrengung meine verloschenen Gedanken zu einem 
Buche anfachen, und mit meiner Hand, ehe sie verweset, mir 
Lorbern pflanzen. Der Invalide lehrt exerziren, und ich lehre 
in diesem Werkgen, wie gesagt, schreiben. Das heist, ich 
entwikle die Ursachen der Autorschaft, als da sind Hunger, 
(aber nicht Sattigung,) Trunkenheit, (aber nicht Durst,) Jugend, 
Liebe u.s.w. Das heist, ich abstrahire aus den vortreflichsten 
neuen Schriftstellern die Erfordernisse eines guten Buchs z. B. 

20 die Schwulst u. so ferner. Ich habe meistens die schonen Wissen- 
schaften im Auge, die Gemeinweide alles litterarischen Viehes, 
den Spielplaz der schriftstellerischen Jugend. - 

Dem leiblichen Hunger der Schriftsteller verdankt das Publi- 
kum seine geistliche Sattigung. Einige Arzte leiten aus dem Ma- 
gen alle Krankheiten her; ich wollte aus demselben nochleichter 
den Ursprung der meisten Schriften erklaren, und zeigen, da8 
weniger der Nervensaft des Gehirns als die unbefriedigte Galle 
des Magens an der Erzeugung eines Buchs arbeiten. Ein iiberful- 
ter Magen schikt dem Kopfe alle Folgen der Uberladung, nam- 

30 lich Faulheit und Dumheit zu; warum solte ein lerer nicht das 
Dachstubgen der Sele besser erleuchten, warum sie nicht mit 
der Heiterkeit und dem Verstande begeistern konnen, durch 
deren Hiilfe seinen Bediirfnissen abgeholfen wird? - Der Magen 
sezt einen Gelehrten, der seinen Korper nicht so wie seine Sele 
mit Luft und Wind nahren kan, in ein gelehrtes Feuer, und die 
von unten aufgestiegnen Diinste erhellen durch ihre Entziin- 



374 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG 

dung das ganze Ideengebiete des Autors so sehr, daB er lauter 
neue Wahrheiten sieht und dem Drange endlich weicht, sie 
durch die Presse mitzutheilen. Daher begiinstigt eine Theurung 
die Erfindungskraft der gelehrten Republik ganz ungemein und 
ein Miswachs des Getraides verspricht eine reichliche Ernte von 
Biichern. Daher gleichen diese Stuzen des menschlichen Wissens 
denThieren, bei denen nur der Hunger die Geschiklichkeit ihrer 
Kehle in Athem sezt; und die gepriesne Stimme der Wahrheit 
ist oft nichts als das verstarkte Knurren des unbefriedigten Un- 
terleibs. Gleich der Hole des Aolus beunruhigt der Magen die 10 
Welt mit vier bekanten Hauptwinden. Das gelehrte Handwerk 
scheint auch folgender Sitte zu ahnlichen. In Scandino (im Ge- 
biete des Herzogs von Modena) macht sich das Volk diese Lust- 
barkeit. Man behangt mit allerlei Eswaren den Gipfel eines Pap- 
pelbaums, den man von seiner Rinde und seinen Asten entblost. 
Nach den Lokspeisen seines Gipfels klettern die Bauernkerle, 
die erst nach vielen vergeblichen Versuchen ihr Ziel ersteigen 
und sich ihrer Belohnung bemachtigen. Eben so hangt an dem 
Lorberbaum nicht mehr der Reiz des Ruhms, sondern der Koder 
der Nahrung, nach welcher die schreiblustige Hand des Autors 20 
oft vergeblich hascht, und die sich endlich dem Besieger des 
schlupfrigen Stams und dem Ersteiger des Gipfels iiberliefert. 
Jedem, auch noch so philosophischen Magen ist der langst ver- 
spottete horror vacui eingepflanzt - obwohl nicht alien Kop- 
fen -; was Wunder, wenn die verlegne Sele stat Almosen zu 
samlen, Varianten, Lieder, Bemerkungen samlet, wenn sie von 
den Biichern, aber nicht von den Menschen bettelt, wenn sie, 
gleich verarmten Vatern, sich von dem Erwerbe ihrer geistli- 
chen Kinder nahrt, und wenn der Magen die Finger anreizet, 
nach der Unsterblichkeit zur Verlangerung des Lebens zu grei- 30 
fen? - Was Wunder frag ich: kein Wunder namlich ists. Und 
wie sollte es auch, da der Eigennuz alle Wesen beselet? Er kamp- 
fet in dem Heerfiihrer um die blutige Beute, mit welcher das 
menschenfreundliche Kriegsrecht den Uberwinder belohnet, 
und um den Ruhm, der erst durch ermordete Krieger athmet; 
er riistet den ungekronten Rauber mit Verachtung gegen die 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 375 

Drohung des Gesezes aus, und thut in ihm fiir den Strik, was 
er in andern fiir den Lorber thut. Er verlangert in der Feder 
des Advokaten Buchstaben, Perioden und Prozesse, und spielet 
durch die Kiinste des mit Aktenstaub bedekten Gewissens die 
rechtliche Uneinigkeit der Klienten auf ihre Enkel. Er angelt 
im Verliebten mit poetischen Schwiiren nach Wollust und Geld, 
und krachzet aus dem feisten Abte die Lobrede der himlischen 
Nahrung. Kurz, er fesselt den ganzen vielfarbigen Haufen von 
Absichten an Eine Kette. Und nur dem Schriftsteller wolte man 

10 eine grossere Uneigenniizigkeit ansinnen, als die, sich mit ihrer 
Larve zu verschonern; nur er solke sich an die prahlhaften Ver- 
sprechungen der Vorreden zu binden haben? O so wiirde die 
Welt arm an Bikhern und reich an Betlern sein; anstat der geist- 
lichen Kinder wiirden ihre Vater sterben und die Weitschweifig- 
keit nur christliche Predigten vergrossern, und dikke Quartan- 
ten und dikke Bauche seltner werden. Die vortreflichen heiligen 
Reden, die nun auf den Kanzeln, in den geheimen Gemachern 
und in den Kramladen ihre Bestimmung erfullen, waren gleich 
anderm Ungeziefer, unbekant unter der Peruke ihres Verfassers 

20 gestorben, dem leren Raume der kritischen Zeitungen hatten 
Muster zu seiner Ausfiillung gefehlet; und die geistreichen Ro- 
mane waren ungeboren geblieben, die nun den Geist der feinern 
Liebe durch modische Zoten bis zu der Kochin und dem Kut- 
scher verbreiten, die die Langeweile von dem Golde verscheu- 
chen, und die ermattete Wollust mit gedrukter Lokspeise anko- 
dern, die den deutschen Magen mit Eicheln und Konfituren 
blahen, ohne ihn zu nahren und die Dumheit aller lesenden 
Stande mit blumichtem Futter masten. Diesem Hunger verdan- 
ken wir die Anstrengung, mit welcher der Dichter seine poe- 

30 tische Pfeife auf Unkosten seiner Lunge blast, gleich gewissen 
Derwischen in Agypten, die mit einem Stos in ihr Horn ihr 
Almosen fordern, oder den stummen Betlern, die durch ein 
tonendes Glokgen die Freigebigkeit um eine Gabe ansprechen. 
Diesem Hunger verdanken wir die Geschiklichkeit, mit welcher 
der Philosoph auf metaphysischen Seilen tanzt, auf den Beutel 
der mildthatigen Bewunderung hoffend, und mit welcher seine 



37<5 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

Ideen, gleich dem Rauche, in die Hohe wirbeln, wo, so viel 
er weis, neben dem Korbe sokratischer Abstrakzionen auch der 
sinlichere Brodkorb hangt. Ja diesem Hunger verdanken wir 
die Wahrheits- und Menschenliebe des Schriftstellers: denn 
nichts ist natiirlicher, als daB die stechenden Safte des Magens, 
die Uneigenniizigkeit aus ihrem Schlafe aufspornen, und daB 
ein Herz vol siisser Menschenliebe zu einem Magen vol bitterer 
Galle sich schlage. Ich habe selbst einen vortreflichen Schriftstel- 
ler gekant, dessen uneigenniizige Fruchtbarkeit an riihrenden 
Bruchstiikken das Publikum einem Stokke nagender Wiirmer 10 
in seinem Unterleibe zu verdanken hatte, welche unaufhorlich 
Ideen an den Magen abluden, der sie darauf durch die Nerven 
an das Gehirn und endlich an die Sele verschikte. Auf diese 
Weise waren die Feinde der Musen seine Musen; auf diese Weise 
vertraten verachtete Thiere bei diesen Meisterstiiken des 
menschlichen Herzens die Stelle der Hebamme, eben so lokken 
in Arabien die Stiche eines gewissen Insekts aus der Esche das 
siisse Manna heraus, und eben so verbessern auf der Insel Malta 
gewisse Maden den Feigenbaum und zeitigen seine Fruchte. - 
Wie sehr iiberbietet das Werk seinen Schopfer; wie klein ist das 20 
Loch, woraus man oft Quartanten spinnt! - Allein eben dieses 
versohnet mich mit dem scheinbar ungerechten Schiksale der 
Schriftsteller, die durch gedrukte Liigen dem verdienstvollen 
Beutel eines dummen Gonners ein erzwungenes Almosen ab- 
schmeicheln miissen. Denn der weise Apollo wuste zu gut, daB 
nur hungrige Jagdhunde am besten iagen, nuchteme Laufer am 
geschwindesten laufen, daB ein zaundiirrer Pegasus langer als 
ein schweres Reitpferd bei Athem bleibe, daB man aus dem 
Kieselstein das Feuer herausschlagen, und aus dem gepolsterten 
Stuhle den Staub herausklopfen miisse - Darum stattete er seine 30 
Lieblinge mit Armuth aus, verbesserte ihre Sele auf Kosten ihres 
Korpers und gab ihnen wenig zu leben, damit sie ewig lebten. . 

Der Gedanke der Unsterblichkeit verzukkert also dem 
Schriftsteller sein ieziges bitteres Leben. Dies bringt mich auf 
die Betrachtung, daB Autoren nicht nur fur ihren Magen, son- 
dern auch fur ihre Ohren schreiben, und Lorbern brechen, nicht 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 377 

nur urn damit den Geschmak einer Rindfleischsuppe zu verbes- 
sern, sondern auch um sie um die Schlafe zu winden. Und dieser 
Endzwek ist auch erreichbarer als der vorige. Denti'das Publi- 
kum bezahlt weniger karg als der Verleger, weil dieser die Be- 
lohnung in Geld und ienes sie in Wind auszahlt. Ubrigens steht 
der kritische Ablas iedem fur Geld, kiinftige Gegendienste 
u. s.w. feil, wie ich weiter unten von den Rezensenten zeigen 
werde, ieder wunderliche Heilige wird zum Gegenstande der 
Anbeturig kanonisirt, und es giebt iezt der Unsterblichen eine 

io solche Menge, da3 man nur die neuesten kent und die Cibrigen 
schon vergessen hat. Die heutigen Journale, die Archive des 
schriftstellerischen Ruhms, sind daher nichts als eine Zusam- 
menhaufung von Abbildungen der besten, deutschen Kopf e und 
ihrerGaben, dieendlich vom Ruhme der Kritiker selbst gekront 
wird - eben so ist ein Thurm in Ispahan, der aus lauter Ziegen- 
kopfen, deren Horner auswarts stehen, gebauet ist, und dessen 
Spize der Kopf des Baumeisters macht. - Hat dich der Zirkel 
deiner Bekannten einmal mit Bewunderung umrauchert, ein 
Klubbbartloser Rezensenten zum Erben des Nachruhms erkoh- 

20 ren, oder gar ein Trup Nachahmer zum Fuhrer einer gehornten 
Herde ausgeblokt, und, was am meisten ist, ein Schok Weiber 
fur den Kizel ihrer Thranendriisen mit der Verewigung be- 
schenkt: so glaube fest, dein Name sei der Zeit gewachsen, so 
troze dem Tadel unbekanter Klugen, so verachte die sichtbaren 
Zeichen deiner nahen Sterblichkeit, so futtere durch deine 
Fruchtbarkeit die gefrassige Vergessenheit sat, damit sie wenig- 
stens etliche deiner Geburten verschone, und widerkaue in Ge- 
danken deinen Ruhm, das Urtheil einer klugern Nachwelt hof- 
fend, um deinen Muth in Verbreitung des Unsinns zu starken, 

30 gleich der pythischen Priesterin, die sich durch gekaute Lorbern 
zur Raserei in heiligen Versen, erhob. Zwar hindert der unachte 
Kritiker die Beruhigung deines Ehrgeizes, durch unniize Dro- 
hungen; allein im Grunde hindert er sie nur so lange, als das 
vonibergehende Gcfuhl deiner Schwache ihm beifalt, als dein 
Stolz ihn nicht widerlegt. Doch wil ich einige Perioden hin 
durch seine Sprache reden, um ihn hernach in der deinigen besser 



378 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

zu widerlegen. »Stolze Insekten, spricht dieser Herold der deut- 
schen Schande, die ihr euch im warmen Stral der Abendsonne 
ein ewiges Leben traumt, oder auf dem Kothe, eure Wiege und 
eure Nahrung, den spielenden Glanz eurer Fliegeldekken be- 
wundert, wie leicht kan euch der nachste Frost zerstohren! Die 
heutigen Gozen des Tags riechen nach dem Weihrauch ihrer 
Verehrer; aber wie die Hunde bei verandertem Wetter stinken, 
so wird die kleinste Verbesserung des Geschmaks sie in den 
Abscheu der deutschen Nase verwandeln, und gleich einem 
Lichte wird ihr Ruhm kleiner werden, ie langer er glanzet. An 
diesem Ruhme werden sich die Zahne kiinftiger Mause wezen, 
und die Wiirmer - der Nachtrab des Todes - werden die gepries- 
nen unsterblichen Produkte noch fruher als ihren sterblichen 
Schopfer verdauen. Die Behaltnisse des iezigen poetischen Feu- 
ers werden die Tobakspfeifen der Nachwelt anziinden, und den 
Pfeffer des Enkels umkleiden. Vorausgesezt, da6 noch ein so 
spater Tod sie verewigt, vorausgesezt, daB die Nachwelt sie 
durch die Spezereien der Rezensenten als Mumien, oder durch 
den scharfen Spiritus der Satire als seltne Misgeburten iiber- 
komt. Die Zeit wird dan die Flekken dieser Biicher, wie des 
Seehunds seine, vergrossern, und iedes Jahr ihnen in einer neuen 
Runzel das Zeichen seines vorigen Daseins zuriik lassen. Die 
iezt streichenden Almanachs und iibrigen Poetereien werden, 
gleich den streichenden Heringen, durch das Fortschwimmen 
im Flusse der Zeit immer magrer werden, die hinrauschenden 
Jahre den Kleister modischer Verschonerung abspiilen, und die 
Sense der Zeit die iezigen Blumgen wegmahen.« b So sagt der 
Kritiker; naturlich, daB ihm kein Autor glaubt, weil ieder bios 
sich glaubt. Wie leicht last sich das Zischen der Misbilligung, 
iiber die Stimme des eignen Beifals und iiber die Hofnung eines 
bessern Urtheils verschmerzen! Und diese Hofnung ist nicht 
ungegriindet. Denn die billigere Nachwelt wird unfehlbar dem 
Verdienste der heutigen Autoren die iezige Verachtung mit 
doppelter Bewunderung vergiiten, und diese vortreflichen 

b Doch wird man diese verwelkten Blumgen auch einmal fur kri- 
tische Ochsen, als Heu zura Wiederkauen brauchen konnen. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 379 

Schriftsteller werden erst unsterblich werden, wenn sie gestor- 
ben sind. So schwellen in Persien die todten Korper auf; so stinkt 
der Same des Korianders auf der Pflanze, und gewint nach der 
Trennung von derselben Wohlgeruch. Erst im Grabe werden sie 
dem Feuer ihres Genies freien Wirkungslauf lassen konnen, wie 
die Bomben erst in die Erde fallen, ehe sie die feurigen Werk- 
zeuge des Todes um sich schleudern; erst aus ihren modernden 
Kopfen wird der Lorber, gleich den Haren, hervorspriessen, 
eben so griinet das Mos auf den faulenden Kopfen der holzernen 

I0 Esel vor den Stadthoren. Wie der weisse Schleim, womit der 
Wurm in der Perlenmuschel die Ofnungen seiner Schale stopfet, 
nach und nach zur Perle reift, ebenso wird der Nervensaft der 
oftgedachten Schriftsteller, der fur schlechte Zwekke und oft 
bios fur die Verbesserung zerrissener Kleider verschwendet 
wird, mit der Zeit in den glanzenden Gegenstand der kiinftigen 
Bewunderung sich verwandeln und zu den aufgereihten Perlen 
der iibrigen Genies sich fugen. Denn vielleicht, dafi das Ge- 
schlecht der Kenner nicht ausstirbt, die nur Biicher, welche die 
Wurmer angefressen, schmakhaft finden - und so fehlt den Pro- 

20 dukten der heutigen Autoren zur Unsterblichkeit nichts als eine 
lange Vergefienheit und die Zahne der Wurmer; wie die Pro- 
dukte des Rindviehes, die Kase, sich durch Alter und Milben 
dem Gaumen empfehlen. Auch die Wilden finden faulende Fische 
am wohlschmekkendsten. Ja noch mehr, kiinftige Kritiker wer- 
den die Geburten der iezigen Kopfe zu Lehrern ihren Zeitver- 
wandten distilliren, wie der Chemiker aus verfaultem Urin leuch- 
tenden Phosphor schaft; und ihre Dinte wird die vermoderten 
Reliquien der Genieinsekten zum neuen Leben erwekken, wie 
aus einer mit Rindshlut besprizten Krebsasche neue Krebse aufer- 

30 stehen. c Von der Kunst solcher Kritiker hat also die heutige 
scheinbare Dumheit -nach ihrem Tode die Verwandlung in 

c Mit dieser Auferwekkungskraft ist der unschazbare Verfasser des 
Annulus Platonis begabt, welcher annulus 1781 schreib ein tausend sie- 
benhundert und ein und achzig herauskam, und in welchem annulus 
der alchymistische Unsin, wie der Papagei in dem Ringe seines Bauer s 
sich wieget. 



38O JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Weisheit zu gewarten - eben so schuf sich Virgil aus einem toden 
Ochsen einen ganzen Schwarm von Bienen, eben so macht man 
aus dem wasserichten Gehirn des Potfisches Lichter- Gesezt aber 
auch, euer Ruhm hinkte eurer Schande auf zu langsamen Stun- 
den nach; gesezt alle Eingange zum Tempel der Ehre waren 
verschlossen, so steht doch jedem noch diese Hinterthiire offen. 
Denn namlich, obgleich der Parnas durch die Umgrabung und 
Umwuhlung von tausend schriftstellerischen Handen, unend- 
lich an Fruchtbarkeit gewinnen mus; so ist doch ausgemacht, 
daB ihm durch die Verwesung aller dieser Glieder eine noch 10 
grossere zuwachsen miisse, wie man an einigen Orten die Wein- 
bergenicht ohne Nuzen mit Ochsenklauen diingt. Wenn nun der 
Tod des Schriftstellers der Literatur frommet, so komt er auch 
dem Ruhme desselben zu statten - und so nahrt die Verwesung 
seinen Lorber, so wurzelt auf seinem Grabe seine Unsterblich- 
keit. - Auf diese Weise ist jeder Schriftsteller seiner Verewigung 
versichert, und die Menge seiner Tadler beweist nur seine Unta- 
delhaftigkeit, und ihr Sieg iiber das Leben seines Ruhms seine 
Vorziige: denn je mehr Trager, des to vornehmer die Leiche. - 
Ja jede Schande sezt Ehre voraus; wer hangt, ist iiber die Erde 20 
erhaben. Und oft macht diese Schande beriihmt und gros; eben 
so lassen die Rezensenten das Tadelhafte einer Schrift mit grossern 
Buchstaben drukken, eben so wird eine Mutter durch eine Mis- 
geburt und ein Verbrecher durch den Pranger bekant. - Zu den 
obigen Griinden fur die Verewigung der heutigen Schriftsteller 
fait mir eben ein Beyspiel aus den neuern Zeiten ein. Namlich: 
wer hatte sich ie die Moglichkeit traumen lassen, daft Dichter 
des dreizehnten Jahrhunderts dem geschmakvollen Gaumen des 
achtzehnten behagen konnen, wer je den Minnesangern ihre 
jezige Auferstehung weissagen mogen? Und doch hat der Ge- 30 
schmak unter Friedrich und Joseph, die bestaubten Musen unter 
den schwabischen Kaisern gepliindert. Dieser lobenswiirdige 
Fleis nun, der in den Bibliotheken, den litterarischen Gottesak- 
kern, nach altem Unrath scharret, wird auch auf unsere Nach- 
kommen erben. Dann werden die kiinftigen Freunde des grauen 
Unsins, die jezigen Freunde desselben belohnen und zweite A-Z 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 381 

werden die poetischen Reliquien unserer Zeit fur den Geschmak 
ihres Publikums verbessern, und sie von den verstorbenen 
Schonheiten saubern, - eben so kamte D. Kunastrokius Esels- 
schwanzekhr, und rupfte die tauben Hare mit den Zahnen aus. d 

Allein nicbt alle schreiben, um Ehre zu erhalten; einige auch, 
um sie andern zu nehmen. Von diesen nun, die der Neid zu 
ungerechtem Tadel begeistert, deren Ehrgeize fremde Schande 
schmeichelt, und die man kurz unter den Namen der Rezensen- 
ten befasset, von diesen weiter unten! . - 

Das dichterische Feuer steht dem Schriftsteller nicht immer 
zu Gebote, und das Genie fallt eben so oft in Ohnmacht, als 
ein Frauenzimmer. - Dieser Ermattung nun helfen verschiedene 
kiinstliche Reizungen ab. Der Schopferkraft des Weins verdan- 
ken wir manchen gereimten Unsin, und dem Schaume desselben 
manche Venus. Die Poeten und die Hunde namlich verliehren 
ihren Verstand auf entgegengesezte Arten. Der Mangel an Ge- 
tranken macht die Hunde narrisch, wiitend oder dichterisch; 
allein nur der Uberflus daran spricht den Dichter von seinem 
Verstande los, und spornet ihn iiber die trage Vernunft hinweg. 
Diese Hize des Weins stort den Unsin der Phantasie aus seinem 
Winterschlafe, und wekt die buntschekkigte Brut der Traume 
aus ihrem Schlummer; - aus alien Winkeln des Gehirns kriechen 
verborgene Einfalle hervor, jede Ahnlichkeit, jede die Stam- 
mutter einer Familie von Metaphern, samlet ihre unahnlichen 
Kinder um sich, und gleich einer wandernden Mausefamilie, 
hangt sich ein Bild an den Schwanz des andern; - alle Saiten 
des hohlen Kopfes tonen zu einem gleichzeitigen Misklang, das 
Gedachtnis wirft seine gestohlnen Schaze aus, und wie Heu 
durch die Nasse, erhizt sich der zusammengeraubte Haufen von 
verwelkten Blumen durch das Getranke. Nur auf diese Weise 
kan der Parnas mit einem Bedlam weteifern, nur durch das Ein- 
saugen einer solchen Lauge kan der Unsin zu einer pindarischen 
Hohe aufschiessen. Darum waren auch alle geflekte Thiere dem 
Bacchus heilig; - wenn man namlich das buntaustapezierte Ge- 

d Siehe Tristram Shandi's Leben. i. Theil 7. Kapitel. 



382 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

hirn eines Musensohns mit einem vielfarbigen Thierfelle ver- 
gleichen darf. Daherist begreiflich, warum Bacchus seinen Hor- 
nerschmuk bald an- bald ablegte; vorausgesezt, daB durch das 
vorige die Ebbc und Fluth des dichterischen Unsins begreiflich 
geworden. - Daher verehre ich neben den huldreichen Mazenen, 
deren Verdienste der Magen dem Schriftsteller in die Feder sagt, 
niemand mehr als die Spinnen. Denn eben diese beschuzen mit 
ihren Geweben die Trauben vor den gefraBigen Mukken, und 
bewachen den Wein, den die Gonner an die Poeten verschenken. 
Auf diese Weise hangt an der Fruchtbarkeit des Hintern der 10 
Spinnen die Fruchtbarkeit genieartiger Kopfe; auf diese Weise 
nuzen dem Parnas unter alien Spinnen die naturlichen am mei- 
sten. - Daher verehre ich neben den huldreichen Mazenen auch 
die Eseh Denn die Nascherei eines Esels veranlaste die Beschnei- 
dung der Weinstokke. Dafiir errichteten ihm die Nauplier in 
Argien ein steinernes Ebenbild; und das holzerne Ebenbild des- 
selben von den Stadtthoren mocht' ich fast der Dankbarkeit 
der Dichter anempfehlen, da noch iiber dieses seine langen Beine 
ihr Atherleben fiiglich abbilden. - Allein der Wein ist ein zu 
kostbares Mittel der Begeisterung, er ist ofter der Endzwek als 20 
der Vater der Verse, und manches Weinlied hat der Durst ge- 
macht. Auch verraucht fur die vorgesezte Anstrengung des 
Vielschreibers sein Einflus zu bald, den oft iiberdies die darauf 
folgende Lerheit im Kopfe, auf dem Papiere und in der Borse 
verbittert. Mit Vorbeigehung des edlen Gerstensaftes, und der 
(ibrigen Getranke, deren Einflus auf den langsamen Nervensaft 
schon durch gedrukte Zeugnisse verewiget worden, komm' ich 
daher auf die aussere Hize, die das Blut reichlicher nach dem 
Kopfe treibt, und der geistigen Fischerin einen reichen Fischzug 
von Ideen verspricht. Die Sonnenhize wekt nicht bios schlaf ende 30 
Fliegen, sondern auch schlafende Ideen aus ihrer Erstarrung, 
und vereiniget in dem Kopfe wie in der Atmosphare Diinste 
zu Blizen. Ihre Warme zeitigt Fruchte und Bucher, und leitet 
den Nervengeist nach dem Kopfe, wie den Saft der Erde nach 
den Gipfel des Baums. Zu Rom sollen in den Monaten der gro- 
stenHize die meisten Mordthaten geschehen. Wenigstens aus 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 383 

den Lenden des Males rriag bei uns manches Almanachsgedicht 
entspringen. Dazu ist im Mai die Hochzeit der Natur; und die 
Jungferschaft der Musen wird doch nicht allein den Begierden 
des Dichters trozen und seine Verse iiberleben wollen? Der 
Hundsstern ists, unter dessen Wuth der Hund in gefahrlichen 
Geifer und der Dichter in nuzliche Verse ausbricht, und der 
beide an die Mcnschen hezt. Im Winter ist ein warmer Ofen 
der Vice-Apollo. Er schmelzet unahnliche Begriffe in einem 
Vers zusammen, und nahrt unbefiederte und dem Ei der dunkeln 

10 Idee kaum entschliipfte Himgeburten mit dem beschleunigten 
Zuflus gestohlner Ideen - so nistet die Schubuteule an den heisse- 
sten Orten, wo die Sonnenhize das Aas fur ihre Jungen in Brei 

aufloset. Aber o ihr Stuzen des deutschen Wizes, wendet 

nie an die Begeisterung zu viele Kosten, und schwizt und trinkt 
nie zu oft, oder zu sehr, damit ihr beides lange konnet; sonst 
wiirdetihr euer theures Leben der Verewigung aufopfern, sonst 
wiirde der Pegasus gleich dem gezahmten Krokodil, seinen Rei- 
ter verschlingen. - 

Wer soke wohl glauben, daB Krankheit zum Bucherschreiben 

20 cine Ursache, wenigstens eine Veranlassung werden konne? 
Oder vielmehr, wer soke es nicht glauben, da Apollo sowohl 
der Gott der Arzte als der Musen, und also auch der Krankheiten 
wie der Bucher ist? - Einem kranken Korper ist die Sele die 
groste Unthatigkeit schuldig, und sie mus inn aller der Anstren- 
gung (iberheben, die der rukkehrenden Gesundheit den Weg 
vertreten konte. Daher ist der Ruhe des Pazienten ausser dem 
Schlafe nichts bessers vorzuschlagen als das Bucherschreiben. 
Diese Arbeit entzieht den Geist alien Gedanken, ia sogar der 
Ermudung lebhafter Traume und schrankt seine ganze Anstren- 

30 gung auf die Handhabung einer leichten Feder ein. Diesem 
Nichtdenken sind wir daher manche Kunst zu denken schuldig: 
denn ohne Logik last sich nichts leichter schreiben als eine - 
Logik. Und das Krankenbet mag die Wiege von manchen vor- 
treflichen Betrachtungen gewesen sein, die Kranke fur andere 
Kranke in den Druk gegeben, und die darum auch nicht fur 
den gesunden Verstand geschrieben sind. Ja die Krankheit arbei- 



384 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

tet oft selbst an dem Buche. Der Druk etlicher geprester Winde 
im Unterleib vermag das ganze Gebaude des Optimismus um- 
zusturzen; ein verschleimter Magen tragt bliihende Deklamazio- 
nen gegen den Luxus, und gesalznes Blut wiirzt die Satire mit 
beissendem Wiz. Wie Gewachse zwischen Steinen besser gedei- 
hen, so wuchs mancher Lorber durch die Steine in der Harn- 
blase, urn einige Zolle hoher, und eine iibelabgelaufene Aderlas 
versah einmal alle Almanachs des deutschen Reichs mit riihren- 
den Elegien: so fliesset das Gummi aus den Baumen, nach ge- 
machten Einschnitten. Ich rechne zu meiner Gliikseligkeit die 10 
Nachbarschaft eines Musensohns, der auf der Spize eines Par- 
nasses von fiinf Stokwerken weilet, und den Bachus und Venus 
mit der Schwindsucht beschenket haben. Wie die Zugvogel, 
kehret seine Krankheit im Fruhlinge mit sichtbaren Ausserun- 
gen und mit ihr sein trauriger Gesang zuriik. Sobald das Blut 
seinen Speichel farbt, so wimmert seine genieartige Lunge in 
youngischer Melodie. So verkiindigen die blutigen Fleken im 
weissen Kothe der Stubennachtigal, die Ankunft ihres Gesangs. 
- Biicher sind oft nichts als Symptomen eines kranken Geistes. 
Predigten schreiben, heiss' ich, den Durchfall haben; dichten, 20 
das Fieber haben; epigrammatisiren, die Kraze haben, und re- 
zensiren, die Gelbsucht haben. Nur das einzige Chiragra ist die 
Feindin der Musen und bindet der Schopferin geistiger Meister- 
stiikke die Finger. Des vortreflichen furor poeticus, oder der 
Tolheit, der heutigen Melpomene, wird weiter unten gedacht 
werden. - 

Die ewige Jugend der Musen adelt die Jugend ihrer Sohne, 
junge Schriftsteller sind daher die besten. Dasselbe Vermogen, 
welches den Jungling bald zum Vater vaterloser Kinder macht, 
berechtigt ihn zur Erzeugung anonymischer Biicher, und die 30 
Akademie erlaubt ihm die erste Schandung der Musen und der 
Madgen. Seine Bedurfnisse, seine Fahigkeiten lokken ihn zum Ge- 
brauch der Feder. Seine Bediirfnisse - denn an dem Orte, wo 
die Gelehrsamkeit zu Hause und im Schlafrok ist, wo die Weis- 
heit mit Stok und Degen, in jeder Gasse ein Logis fur sich und 
ihre bezahlenden Freunde gemiethet und wo der Katheder bios 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 3^5 

das Echo klingender Goldstukke ist, an diesem Orte kauft sich 
der Jiingling den Verstand seiner Lehrer um einen Preis, den 
der Wert der Sache nicht immer unterschreibt, an diesem Orte 
mus man daher das Publikum zu lehren anfangen, damit man 
selbst lerne und Biicher schreiben, um welche kaufen zu konnen, 
wie einige Wilden gegen ihre Kinder Weiber einhandeln. Mit 
dem Lohn gedrukter Epigrammen befriedigt man den Har- 
krausler und die Arbeit der innern Seite des Kopfs bezahlt die 
Zierde seiner aussern; zusammengeflikte Verse flikken den Rok, 

io schmuziger Spas wascht die Hemden und mit einem verdorbnen 
Allerlei erschreibt man sich ein Schaltjahr von Braten. Man singt 
da die Liebe, um sie bezahlen zu konnen. Ubrigens hascht der 
Jiingling auch nach Luft, dem Elemente des Ruhms: daher lispelt 
er durch die Feder - das Sprachrohr der Fama - dem Ohre der 
Welt d. h. etlicher Bekannten seine Grosse zu. Sein Ehrgeiz wei- 
det sich an der Verwunderung seiner Freunde, und wuchert 
gierig die gefalligen Mienen ein, die sie an seine Grosse ver- 
schwenden. Man stelle sich vor, wenn er, dieser Weltschopfer 
in mice, nun sechs Monate im Schweisse seines Angesichts Bil- 

20 der, die ihm gleich sind, geschaffen und vom siebenten selige 
Ruhe erwartet; wenn alle Figuren seiner Gallerie in bunten Klek- 
sen schimmern, fur die er auf Kosten der Zukunft alle Muschel- 
schalen seines Farbekastgens ausgeleret; wenn er seinem Kinde 
einen Pathen und sich das Pathengeld erbettelt hat - man stelle 
sich vor, sag' ich, mit welcher Wollust er dann das schon ge- 
bundne Buch - die vergoldete Nus ohne Kern - seinem Vater 
iiberschikken mag, der aus Vergniigen, den ersten geistigen En- 
kel, die erste Kraft der Muskeln seines Sohnes, zwischen den 
Fingern zu halten, das fruchtbare Feld mit Goldkoth, dem Ex- 

30 kremente des Gliikkes, diingt. Freilich mus er in der Vorrede 
seinen Eigennuz mit einer menschenfreundlichen Larve zieren 
und seine Absichten mit etlichen Liigen beschonigen. Denn die 
Liebe zu den Menschen, nicht zu den Huren; der Erwerb etlicher 
von Edlen geweinten Thranen, nicht des Weins; das voile Herz, 
nicht der lere Magen; die Befriedigung seiner bittenden Freunde, 
nicht der ungeduldigen Glaubiger - gaben ihm seinen Kiel in 



386 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

die Hand. Auch die Wahrheitsliebe ist die Mutter seiner Biicher. 
Diese nothigt ihn zur muhsamen Unternehmung, der ganzen 
Welt den Star zu stechen, und bestraft sogar seine Zurukhaltung 
rnit empfindlichen Gewissensbissen; so biisset oft eine Frau die 
Zurukhaltung ihrer (iberfluBigen Milch mit gefahrlichen 
Krankheiten. Und da die Wahrheit sich mehr zu schwachen 
als starken Kopfen halt, wie ihr Thier, die Eule, nur in eingefal- 
nen Gebauden nistet, da sie gerne von der Menge zu einem 
Einzigen fluchtet, da sie troz dem amsigen Schweisse, den Mu- 
Bigen in den Kopf und in die Feder fliegt, warum soke der 10 
gliikliche Jiingling von seiner Vertraulichkeit mit derselben, 
nicht den besten Grbrauch machen? nicht den Denker durch 
die Resultate seines Nichtdenkens aufhelfen, nicht den Haufen 
irrender Kopfe vermittelst seiner Dinte mit Einsicht taufen und 
nicht mit den Geschenken des Zufals oder eines Augenbliks, 
der Armuth des vergeblichen Fleisses steuern? - Dies wohl er- 
wogen, wird man daher den Zorn jedes Schriftstellers rechtfer- 
tigen, dessenBehauptungen man bios mitEinwurfen empfangt, 
dessen Wahrheitsliebe man bios mit Wahrheitsliebe vergilt; wird 
seine Hartnakkigkeit gut heissen, gegen die blosse Griinde we- 20 
nig verfangen, und seine Antipathie gegen Belehrung seinem 
Eifer, zu belehren, anrechnen! - Aber auch die Fahigkeiten des 
Jiinglings schaffen ihn zum Schriftsteller. Er ist zu unwissend, 
um jemand anders als das ganze Publikum unterrichten zu kon- 
nen, und stolz genug dem Tadel Unverbesserlichkeit entgegen 
zu sezen, und fur den Ruhm der Originalitat jede Thorheit zu 
wagen. Zu dem Romane besizt er alle Anlagen und alien erfor- 
derlichen Mangel an Menschenkentnis, und sein hiziges Blut 
verspricht vortrefliche Tiraden im Trauerspiele. Unbekant mit 
der Kritik feilt er nie von seinen Werkeh den Stempel der 3c 
schlechten Natur hinweg, aber verbessert dafiir in Rezensionen 
fremde Produkte. Zu alien diesem komt noch das wichtigste, 
seine Liebe. Seine Hure ist seine Muse und wie die Propheten 
des alten Testaments zum Besten der israelitischen Kirche hur- 
ten, so hurt er zum Besten der gelehrten Republik. Die Liebe 
veranlast und begeistert ihn zum Gesange; der Vogel singt vor 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 3^7 

der Begattung, die Musik geht vor dem Schauspiele vorher und 
die bessern Theile des Holzes rauchen, ehe die schlechtern bren- 
nen. Nur der ideenlere Kopf des Jiinglings freilich fangt, gleich 
ungeschmiertenR'idern, am leichtesten Feuer: denn hohe Zimmer 
sind nicht gut zu heizen. Und eben dieser Vorzug bestimt ihn 
zum Autor. Ja da Reden und Thun sich wie Kopf und Fus ver- 
haJten, da das Pedal grober klingt als das Manual, da die Haut 
der Fussolen dikker als die der Hande ist, und man nicht den 
Fusboden, nur die Dekke des Zimmers mit Gemahlden ver- 
schonert, so kan er in der Schule der buffon'schen Liebe die 
platonische lernen, kan vermittelst seiner Verse, des gedampf- 
tern Wiederhalles der grobern Wollust, die Thranendriisen des 
Publikums mit dem weinerlichen Durchfal anstekken, und, 
gleich den Turk en, die nach Russel's Bericht, vor dem Gebet 
ihre Nothdurft verrichten, die Hurerei mit der Empfindsamkeit 
kronen. Auf diese Weise erscheint er, gleich einer gewissen 
Schwalbe, im Fluge grosser als in der Ruhe, und die vielfarbige 
Blume seines Wizes verdankt einer Wurzel, die sich vom Miste 
nahrt, ihren Ursprung und ihren Unterhalt. Bei jedem Anfluge 
von Studenten, die den Schos ihrer Vater verlassen haben, 
wunsch' ich daher der Litteratur zu ihrer kiinftigen Fruchtbar- 
keit Gluk - so weissaget der Bauer aus dem Absprunge der 
Zweige von den Tannen, die Fruchtbarkeit des kiinftigen Jahres. 
Zur Jugend geselt sich ein wiirdiger Kollege, das Alter. Nur 
der Name und die Gestalt veranlast die Unahnlichkeit beider. 
Denn dieses hat nur vergessen, was jene noch nicht gelernt, 
dieses steht an der Vorderthure, jene an der Hinterthure der 
Kindheit; die Hare dieses haben die Farbe der Zeit, und die Hare 
jener sind gepudert, die Feder ist bei diesem Kruke, bei jener 
Stekkenpferd. Ein alter Schriftsteller ist daher ein guter, er hat 
die zwo nothigsten Eigenschaften, Schwache und Stolz. Von 
der Bescheidenheit sprechen ihn seine Jahre los, und er hat das 
Recht, jeden fur einen Esel zu halten, der kein grauer ist. Darum 
darf auch das Alter zensiren, so wie die Jugend rezensirt. Da 
auf seiner Nase die Augen seiner Augen sizen, so kan die Wahr- 
heit diesen seinen vier Schlusarten - dem logischen Postzug 



388 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

- wohl nicht entgehen, und mit der Kriikke des Gesichts, wenn 
ich die Brille so nennen darf , kan er doch einen Protheus einho- 
len. Wenn daher aus seinem Kopfe, in welch en schon tausend 
Biicher eingegangen, und aus welchem keines ohne das Zol an 
das Gedachtnis, wieder herausgegangen, wenn aus diesem 
Kopfe ein eignes komt, so wird es natiirlich ein gutes sein, wird 
sich durch die gestohlnen Lappen andrer Biicher empfehlen und 
mit dem Reichthum des Gedachtnisses die Schwache des Ver- 
standes bemanteln - eben so schazt man in Norwegen die soge- 
nanten Kasekasten, in welchen man die Kase aufbewahret, nach 10 
ihrem Alter: denn je alter sie sind, desto zahlreicher sind die 
alten Brokken, die immer von den vorigen Kasen zuriikgeblie- 
ben, und die jeden neuen schmakhafter machen - Sezt man zu 
diesem alien, daB sich im Alter alle Thatigkeit vom ganzen K6r~ 
per in die Zunge zurukzieht, daB die Erweiterung des Mundes 
mit der Anriikkung des Ende des Lebens wachst, wie die Ge- 
darme imer weiter werden, je mehr sie sich dem Hintern nahern, 
daB die Geschwazigkeit mit der Dumheit weteifere, wie man 
das Maulweh aufreist, eh' sich die nikkenden Augen zum Schlafe 
zuschliessen, sezt man dieses zu dem vorigen hinzu, so ist aus 20 
den scheinbaren Gebrechen des Alters sein Recht an die Fiihrung 
derFeder, erwiesen. Denn durch eben diese schazbare Geschwa- 
zigkeit stopft man ganze Alphabete vol Buchstaben und Worte. 
Da die Jahre, so viel ich bemerkt, die Liebe grosser Genies zu 
den Musen nur noch mehr entflammen, wie das Alter die Brunst 
der Hengstesel vermehren sol, da Biicher aus alten Kopfen wie 
Schwamme aus faulen Baumen, entspringen, und es schwer ist 
aufhoren zu schreiben, wenn man lange geschrieben, so ist es 
auch billig, daB Dinte so lange aus der Feder des Schriftstellers 
fliesse, als der Sand in dem Stundenglase des Todes, und daB 3c 
er noch mit dem Ende seines Lebens seine Mitbriider geissele, 
wie man aus dem stachlichten Schweife der Roche eine Peitsche 
macht. - Das jugendliche Gesicht der Muse kan sich so gut 
mit seinen Runzeln vermahlen, als die Venus mit dem hinkenden 
Vulkan. - 

So nach'mus man wohl viel schreiben? Allerdings, da man 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 389 

von Aufgange bis zum Untergange des Lebens schreiben kan. 
Lieber Freund, wie die Katholiken schon Jahrhunderte lang mit 
der Milch der Maria schachern, so kanst du es mit deiner Dinte 
wenigstens etliche Jahrzehnte, oder kanst mit deinem Unsin, 
wie der Dalai Lama mit seinen Exkrementen, wol gar dein Lebe- 
lang handeln. Jedes Jahr miissen wo moglich alle neun Musen, 
der Schopfungskraft deiner herkulischen Lenden frohnen, und 
keines miisse ungetriibt von deiner Dinte das Meer der Ewigkeit 
erreichen! Wirft doch auch der Hirsch jahrlich die holzernen 

10 Geburten seines Kopfes ab, entledigt sich doch die Schlange 
jahrlich ihrer alten Haut! Doch in der Vielschreiberei nimt es 
unser Deutschland mit jedem Volke auf! Es besizt Kopfe, die 
an ihren errungenen Lorberkranzen ihre Jahre herrechnen, wie 
man das Alter der Ochsen aus der Anzahl der Ringe ihrer Horner 
bestimt. - Kopfe, die sich wie die Masern jahrlich, ja oft sechs- 
monatlich, beim Publikum einfinden - es besizt schriftstelleri- 
sche Finger, die an Buchstaben so fruchtbar wie an Nageln sind, 
und Autoren, die Feinde des leren Raumes, mit ihrer eignen 
Lerheit das Papier beflekken, und gleich den Sinesen schwarz 

20 fur die Freudenfarbe und weis fur die Trauerfarbe halten; Auto- 
ren, deren Werkstat angemessene, zugeschnittene und gemachte Bii- 
cher zugleich fullen. So vertragen sich an demselben Zitronen- 
baum Blute, halbreife und ganz reife Fruchte, so wirft nach 
dem Opptian die Hasin einen zeitigen Jungen, tragt zu gleicher 
Zeit im Uterus einen ohne Hare, und einen ungebildeten. - 
Aber zu was Ende diese Vielschreiberei? welche Frage! als wenn 
man sich nicht mit aufgethurmten Buchern den Thron des 
Ruhms erbauen muste! als wenn die Fruchtbarkeit auf dem Par- 
nas nicht eben so viel Ehre wie im alten Testamente brachte! 

30 als wenn nicht die Autoren, gleich den islandischen Weibern, 
am langsten lebten, die die meisten Kinder gebohren! Ubrigens 
kam die obige Frage gewis nicht aus dem Magen! - Der Viel- 
schreiberei redet auch folgendes Verfahren das Wort. Die Be- 
gierde des Buchhandlers, die Welt mit Wahrheit aufzuhellen, 
plundert die Studierstuben verstorbener grosser Schriftsteller, 
und durchstankert ihre Pulte, urn mit ihren zuriikgelassenen 



390 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

Exkrementen, die der Name ihres Verfassers in Konfekt ver- 
edelt, das hungrige Publikum abzuspeisen - so durchsucht man 
im Konigreiche Monsul oder Murfili, nach Marko Polo's Be- 
richt, e die Nester ausgeflogener Adler, um in dem Kothe derselben 
Diamantenzu finden; so glaubte man sonst, der Ham des scharf- 
sichtigen Luchses verwandle sich in Edelgestein. Warum soke 
nun nicht ein lebender Schrifts teller mit seinem eignen Unrathe 
diese Begierde nach Unrath sattigen? warum soke er seinen 
Uberflus der algemeinen Hungersnoth entziehen? warum soke 
er nicht mit seiner Fruchtbarkeit dem Magen des Publikums 10 
die Exkremente der Todten ersezen? 

Ein anders ist die Frage: wie schreibt man viel? Durch die 
Beantwortung derselben werd ich der genauern Bestimmung 
der schrifts teller is chen Eigenschaften immer naher kommen, 
wozu ich durch das Vorige fast bios ausgeholet habe. Wer seiner 
Faust die nothige Fruchtbarkeit erleichtern wil, mache es so! 
Alle Gedanken, die seine ersten Produkte verschonerten, lasse 
er in den lezten unter einer neuen Verkleidung eine neue Rolle 
spielen, und streiche ihnen, wie alten Hiiten, den Schein der 
Neuheit an. Alle Ideen, die ihm der Zufal ins Gehirn wirft, 20 
die dem ersten Augenblikke des Erwachens aufstossen, die den 
Vortrup der nachtlichen Traume machen, die in der Hize der 
Unterredung aufschiessen, dieer der geselschaftlichen Vertrau- 
lichkeit, oder der zufalligen Lesung eines halben Wisches ab- 
stiehlt, die der nothwendige MuBiggang auf dem geheimen Ge- 
mach, erzeugt, oder die endlich kaum aus der Dunkelheit 
entsprungen, das ergreifende Gedachtnis tauschen, wie die dem 
Ei entschliipften Rebhuner sogleich ihre Geburtsstelle verlassen 
- alle diese Ideen beschenk' er mit einem papiernen Korper, 
und belebe sie mit Dinte, scharre sie auf einem Haufen zusam- 30 
men, und schiebe sie auf irgend einem Karren zu Markte. Wird 
man so das leise Auftreten jedes Gedanken belauschen, so jeden 
in ein Buch zu seinen tibrigen Geselschaftern sperren, so vom 



e Siehe die berlinische Samlung der besten Reisebeschreibungen 3. 
Band S. 255-256. 



GR5NLANDISCHE PROZESSE ■ I.BANDCHEN 391 

Gehirn jeden Ansaz eines Einfals abkrazen, so durch Worte jeden 
Frosch zu einem Ochsen aufblasen: so wird aus jeder troknen 
Materie ein Oktavband, aus jedem Steine werden Kinder, her- 
vorspringen; so wird jeder Kopf der Stamvater einer verschwi- 
sterten Bibliothek werden, und mit seiner Fruchtbarkeit einen 
eignen Schrank ausfiillen, so wird der Zahn des Autors keine 
Feder mer verwiisten, und seine Hand die kleine Stirne nimmer 
reiben, wie die Fische ihren Bauch an dem Sande reiben, um 
ihre Eier leichter zu gebahren! - 

io Stehlen ist der Puis der Vielschreiberei. Die gelehrte Republik 
schazt, wie Sparta, die Vorziige der Diebe, die ihre langen Finger 
unter irgend einem Handschuh zu vcrstekken wissen, und die 
Journale winden um die Schlafe derselben schone Kranze, stat 
daB die peinliche Halsgerichtsordnung Karl's des funften ihren 
Hals mit einem Strik zuschniirt. - Einige Thiere haben in ihren 
Winterhausern zwo Kammern, deren eine die eingesamlete 
. Speise, und die andere ihren Auswurf aufbchalt. In der Studier- 
stube eines achten Gelehrten sind daher fremde und eigne Werke, 
Exzerpten oder Speisekammern, und eigne Papiere, die Behalt- 

20 nisse der verdauten Exzerpten oder geheime Gemacher. Der 
uneigenniizige Trieb dieser schopferischen Abschreiber, zum 
Besten der Menschheit, das unter ihrem Namen drukken zu 
lassen, was anfangs nur unter dem Namen des Verfassers ge- 
drukt wurde, die Billigkeit dieser Menschenfreunde, ihren Un- 
terhalt nicht aus fremden Kasten, sondern nur aus fremden Bii- 
chern zu mausen, schleicht nun auf verschiednen Wegen zu 
ihrem Zwekke, vermumt in verschiedne Gestalten ihr glanzen- 
des Verdienst. Der eine lothet die disiecta membra poetarum 
mit eignen Reimen in ein horazisches humano capiti cervicem 

30 pictor equinam etc. zusammen, schnizt sich aus Eichen ein hol- 
zernes Musen- und Stekkenpferdgen, wie man aus zertrummer- 
ten im Herkulan gefundenen Pferden von vergoldetem Erzt ei- 
nen neuen Gaul zusammengos, und opfert weiblichen Nasen 
die wohlriechenden Extrakte, die er, gleich dem Parazelsus f aus 

Parazelsus extrahirte aus Menschenkoth ein wohlriechendes 
Extrakt, welches er Zibetha occidentalis nannte. 



392 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

poetischen Auswiirfen distilliret, und zum Beweis der Wirklich- 
keit des deutschen Zibeths, der Welt mittheilt. Ein andrer, durch 
irgend einen grausamen Spiegel mit seiner Kleinheit bekant, 
flieht ein so miihseliges Handwerk, begniigt sich mit der Berau- 
bung eines einzigen, reitet durch seine Pymaenlenden bewogen, 
wie Gulliver auf den Brustwarzen eines jungen Madgen von 
Broebdignak, so auf denen einer einzigen Muse, oder schneidet 
hochstens einem fremden Pegasus den Schwanz ab, stekt ihn 
zwischen seine kindischen Beine, und rudert damit auf die 
Ewigkeit zu. »Der Eiche Splitter sind der Strauche Donner- 10 
keile.« Eben so reicht der Raub von etlichen ihrer Blatter zur 
Bekranzung seines zwergartigen Kopfes hin. - Der eine maskirt 
sich gleich den bei ihren Diebstalen vermumten Dieben in Eng- 
land, in Namenlosigkeit, und raubt fremden Honig, gegen die 
Stacheln seiner Besizer mit Bienenkappe und Handschuh verse- 
hen; ein anderer verhult seinen Eigennuz in Uneigenniizigkeit, 
stiehlt dem Schweisse seine Frucht, um sie dem Publikum mit- 
zutheilen, und bereichert sich aus siisser Menschenliebe durch 
anderer Verarmung, so bestreichen nach Pokokke's Bericht, die 
agyptischen Diebe ihren nakten Leib mit Ohle, um bei ihren 20 
nachtlichen Thaten nicht ergriffen zu werden. Einige mausen 
dem Autor nichts als das Buch, welches sie dafiir mit einer eig- 
nen Vorrede, und auch einem eignen Register ausstatten, d. h. 
mit einem bessern Kopfe und einem bessern Schwanze verscho- 
nern, eben so schaffet Scheuchzer das sogenante Einhorn, indem 
er dem Bilde des Pferdes einen Eselsschwanz und ein Horn auf 
der Stirne, anmahlet. Andere fischen im Zirkel freundschaftli- 
cher Vertraulichkeit, nach entfalnen Gedanken grosser Manner, 
schwazen mit der List des Fuchses in der Fabel, andern einen 
Kase ab, und verwahren im GedachtniB die aufgelesene Frucht 30 
eines fremden Mundes, fur ihre neueste Schrift, so verschlukt 
der Dieb Edelgesteine in der Hofnung, sie in seinen Exkrem en- 
ten wieder von sich zu geben. Ja oft bestiehlt der Schiiler den 
Lehrer, liigt der Welt seine erborgte Grosse vor, bis diese vor 
der grossern ihres eigentlichen Besitzers, wie vor der Sonne, 
der mit ihren Strahlen prangende Mond, erblast, oder verwahrt 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 393 

seinen Raub bis zum Tode des Eigenthiimers, um ihn hernach 
durch eigne Zusaze unkentlich zu machen: so saugte einmal eine 
Wolf in den Son eines Gottes, den Romulus. Einige unsterbliche 
Autoren verschlechtern ihren Diebstahl zu ihrem Eigenthum, 
und pragen auf Silber ihr langohrichtes Ebenbild; andere 
wollen den Zeugen ihrer Armuth mit unniizem Reichthum 
verdachtig machen, und verbramen den gestohlnen Kastor- 
hut mit eignen abgefiihrten Tressen. - Darum ist oft der Ver- 
fasser schlechter als sein Buch, und das Kind dem Vater so 

I0 unahnlich, darum verstummen oft in Gesellschaft die Un- 
terhalter einer ganzen Lesewelt - eben so geniest man nicht 
das Krokodil, sondern nur seine Eier. Daher schreibt sich das 
Buntfarbige mancher Schriften: denn eigentlich genommen, 
sind die Kazen, die Originale der gelehrten Diebe, nach dem 
Urtheile der neuesten Naturforscher, hochstens zweifar- 
big. - 

Viel zu schreiben, mus man wenig verbessern. Jeder achte 
Skribent wird mir beifallen und die Schadlichkeit der Kritik 
gestehen. Dieses Ungeheuer nahrt sich von den Schoskindern 

20 der Schriftsteller und fordert jede geistige Erstgeburt zum Opfer 
- doch ist, nebenher anzumerken, hiervon die Erstgeburt des 
Esels, wie im alten Testamente, zum Troste der heutigen Auto- 
ren ausgenommen. - Die Kritik polirt, aber auf Kosten der 
Grosse. Sie ist der Stimhammer der poetischen Instrumente; 
aber wer weis nicht, daB das Stimmen die meisten Saiten kostet? 
Der Kam kammet die Hare in Ordnung; aber er reisset ihrer 
auch genug aus. Und dazu wird sich wohl kein heutiger Autor 
verstehen; denn erstlich weis er ja, dafi sein Produkt fur die 
Verbesserung zu gut gelungen, und daB sein Kind fur eine nach- 

30 folgende Erziehung zu volkommen geboren ist. Spottend einer 
schadlichen Angstlichkeit, die sich in Kritik verstelt, schiizet 
so ein Meister die Werke des ersten Augenbliks gegen die Ver- 
besserung des Fleisses, und entzieht so gar sichtbare Unebenhei- 
ten der kritischen Feile. Je grosser er ist, das heist, je grosser 
er sich zu sein diinkt, destomehr verschmaht er die Vollendung, 
desto weniger verhunzt er die Fehler der ersten Hand durch 



394 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

die Arbeit der Iezten. Demi in der Unvolkommenheit seines 
Werks selbst verrath sich die Volkommenheit desselben; je 
sichtbarer die Flekken auf der Perlenmuschel; desto grosser die 
Perlen darinnen. Die Regeln fesseln nur Geistesarme, wie der 
Churfurst von der Pfalz Betler zu Leibeigenen machen kan; und 
durch die Befolgung derselben verliehrt sich der Anschein von 
Originalitat in kahle RegelmaBigkeit. Politur zeugt von Schwa- 
che, so widerspricht nach dem Talmud die glatte Haut eines 
Mannes dem Versprechen seines Geschlechts, und Rauheit ist 
Schonheit, wie die Mahler alle Engel manlichen Geschlechts mah- 10 
len. Da iibrigens die heutigen Skribenten so sehr nach dem Na- 
tiirlichen und Ungekiinstelten haschen, wie ich weiter unten 
bei Erwahnung ihres vortreflichsten Talentes, der Schwiilstig- 
keit, zeigen werde, da sie die Sichtbarkeit der angstlichen Kritik 
so viele Werke verstellen und meistens den Schorstein iiber das 
Haus hervorragen sehen, so ist ihnen der Has gegen jede Verbes- 
serung nicht zu veriibeln. Zwar behaupten einige, eben der 
Kunst verdanke man die Natur, und jene sei da am grosten, 
wo sie am verborgensten ist - nur klaren Saiten sahe man die 
Schwingung nicht an, und wer sich gewaschen, miisse sich frei- 20 
lich hernach abtroknen - und endlich die Kritik sei nie die Muse 
selbst, sondern nur ihre Hebamme, gehe nur als ein leuchtender 
aber kalter Mond nach dem Untergange der blendenden und 
heisen Sonne auf, und wie die Gothen sich zweimal, trunken 
und nuchtern, berathschlugen, so galte sie nur in Geselschaft des 
Enthusiasmus. Allein alles dieses trift die heutigen Autoren gar 
nicht. Denn der Gebrauch der Kritik wiirde ihre Werke nicht 
verbessern, sondern vernichten, welche, gleich dem Blei, nur in 
der Hize glanzen, und erkaltet sich mit einer widrigen Farbe 
uberziehen, ja da diese vortreflichen Kopfe sich nie zu Lesung 30 
einer aristotelischen Poetik herablassen, so mus ihre eigne unge- 
bildete Kritik ihre Arbeit nur noch mehr verschlechtern: so be- 
schmuzt der Gronlander sein Gesicht, indem er es mit seinem 
Speichel wascht - Auch weis jeder, daB grosse Schriftsteller sich 
durch die kurze Bearbeitung ihrer Werke von den kleinen aus- 
zeichnen, die einem einzigen Buche ein halbes Leben widmen, 



GRONLANDISCHE PROZESSE " I. BANDCHEN 395 

wie umgekehrt grosse Thiere langer als kleine briiten und tra- 
gen. - Zweitens - ich sagte oben erstlich - liebt jeder Vater . 
das Misgeschopf seiner Lenden, und stat eine Misgeburt gleich 
den Wilden zu toden, komt er schwachen Kindern durch vaterli- 
che Zartlichkeit zu Hiilfe wie die gronlandischen Mutter die 
ihrigen durch lekken zu starken vermeinen. Gegen einen solchen 
Kindermord straubt sich der erste Naturtrieb aller Wesen, ich 
meine der - Hunger im vaterlichen Magen, der Gedanke an 
die verminderte Bogenzahl. Sezt zu diesem noch die Kranklich- 

to keit der meisten schriftstellerischen Produkte und ihren baldigen 
Tod, wird man da noch den Dolch der Kritik zur Verstiimlung 
oder gar zur Ermordung derselben auffordern wollen? Sol der 
Vulkan den Wurmern die Nahrung vor den Zahnen wegneh- 
men? Sol der Vater den Henker seiner Kinder spielen? sol er 
dem Zahne der Zeit mit seinen eignen Zahnen vorkauen? Ach 
last doch dem Schriftsteller die Liebe gegen eine Schande, die 
so bald stirbt, und zwingt ihn nicht zur Ermordung eines so 
hinfalligen Ruhms! Nie wafne er die zartliche Hand gegen das 
Kind, das sie gezeugt; nie vergehe sein Kunstwerk unter dem 

20 Meisel, der es gebildet; und nie fliesse aus der Spize seiner Feder, 
wie aus dem Schwanze gewisser Schlangen, die giftige Dinte, 
die die neugebohrne Zeile hinrichtet! - 

Aber nicht nureignem, sondern auch fremdem Tadel, opfert 
der achte Skribent keine Zeile auf . Er billigt das Lob einer Re- 
zension, aber er kehrt sich an keine Misbilligung. Und wie solt 
er auch? Fait er das Urtheil iiber seinen eignen Werth doch allein 
mit der Unparteilichkeit, deren der Neid den Kunstrichter unfa- 
hig macht; hat er doch allein die Augen, seine geschafne Schon- 
heiten zu sehen; ist er doch allein der beste Leser, wie der beste 

30 Schriftsteller, allein der Pygmalion, der sich in sein steinernes 
Geschopf verliebt! Darum schmeichelt er seinen entdekten 
Mangeln, wie die Hunde ihre Gebrechen lekken; darum sumset 
er um die Ohren seines Tadlers die Strafe einer langweiligen 
Widerlegung, und sticht ihn mit Epigrammen in den Strumpf, 
eben so schossen die Thrazier Pfeile gegen den Donner; darum 
nahret Zurechtweisung seinen Zorn und sein beunruhigter Stolz 



396 JUGENDWRKE ■ 2. ABTEILUNG 

erscheint in verstdrkten Glanze, wie umgeriihrte Dinte schwarzer 
wird. Sehr billig ist er, wenn er den Tadel verzeiht, ohne ihn 
zu benuzen; wenn er den Fehler betastet und ihn sizen last, wie 
manche den Hut beruhren, ohne ihn abzunehmen. Auf gleiche 
Weise trozt seine Unverbesserlichkeit der Satire. Da er weis, 
daB das Kleid der Satire oft gerade dem Endzwekke entgegen- 
wirkt, den nur der Korper derselben erreicht, daB ihre Form 
Thorheiten veranlast und nur ihr Inneres Thorheiten verhindert, 
wie die Korner der gelben Distel (Argemona Mexicana) laxiren 
und die Blatter derselben ver stop fen; so freuet er sich ihres beis- 10 
senden Wizes und seiner Fehlerlosigkeit zugleich, dichtet dem 
andern die verlachten Fehler an, und das Kind geisselt mit der 
Ruthe des Vaters seine Spielkameraden. - 

So mus ein rechter Schriftsteller wohl stolz sein? Ja! das mus 
er. Auch ragt bios durch den Stolz der deutsche Parnas iiber 
den eiteln franzosischen hervor, und ihm verdanken wir die 
gehofte Bewunderung der Nachwelt. »Gesegnet sei der Man, 
der den Stolz erfand. Der Stolz ist der Mantel, der alle Grillen 
bedekt, eine Speise fur den Hungrigen, ein Trank fur den Dur- 
stigen, eine Wagschale, die den Schafer dem Konige, und den 20 
Dumkopf dem Klugen gleich macht, kurz eine algemeine 
Miinze, fur die man alle Dinge kaufen kan. « So kont' ein zweiter 
Sancho Pansa den Stolz loben, wie der erste so den Schlaf lobte. 
Und gewis mit Recht. Stolz ist die Mitgabe des Dichters; Warme 
dehnet die Luft aus. Gewohnlich fiirchtet sich jeder Esel vor 
dem Schatten seiner Ohren;% allein die Musensohne spiegeln mit 
inniger Wollust ihre Gehorwerkzeuge - die Friichte eines un- 
fruchtbaren Kopfes, die Pilzen auf dem Miste - in dem blinken- 
den Thaue und dem murmelnden Bache ab. Solche grosse Kopfe 
machen ihre Zunge zu ihrer eignen Schmeichlerin, wie das Rind- 30 
vieh sich gerne lekt ; aber nur das Rindvieh, nicht der Poet schadet 
dadurch seiner Mastung. Freilich, da das Rindvieh jenes Lekken 
unterlast, sobald man es mit seinem Kothe beschmiert, so soke 
man denken, daB kritische Peitschenhiebe jene Unsterbliche aus 

S Siehe den Artikel vom Esel, in Buffon's Naturgeschichte. 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 397 

dem Traum von eigner Grosse wekken, daB eignes Lob an frem- 
den Tadel scheitern und und Stolz an der Satire wie der Pfau 
an Brennesseln sterben musse, Allein weit gefehlt! Vielmehr be- 
fruchtet den Stolz satirische Galle; er gleicht gewissen Friichten, 
die von jeder unsanften Beriihrung aufschwellen. Zum Ersaz 
des verweigerten Weihrauchs, schmeichelt er seiner Nase mit 
dem Opferdufte seines Unterleibs, und freuet sich der wohlrie- 
chenden Blahung. Unicuique stercus suum bene olet. Einem 
jezigen Tadel sezt der Schriftsteller das Andenken eines vorigen 

io Lobes entgegen. Ich glaube daher, daB die litterarischen Gozen 
des vorigen Jahrzehends die Abgotterei des jezigen iiber die 
Erinnerung ihrer vergangenen Ehre leicht verschmerzen, daB 
sie jede Wunde von Geiselhieben mit wohlriechendem Balsam 
aus den Biichsen des vergangenen Jahrzehends leicht salben und 
so wie man Tabak gegen den Gestank nimt, sich den bittern 
Theil des Lebens mit seinem stissern leicht verzukkern konnen. 
Eben so riecht der Fuchs an den nelkenartigriechenden Flekken 
seines Schwanzes, seine Krankheit hinweg. Aus diesem alien 
erhellet, daB der Stolz friiher als der Lorber keime, oder ihn 

20 mit seiner Fiille erstikke, daB der Stolz den Schriftsteller zum 
Schriftsteller macheja daB er mit dem Verdienste in umgekehr- 
tem Verhaltnisse stehen miisse.Denn wer geschwinde fahrt, 
glaubt, daB ihm alles entgegenkomme und er nur stillestehe; 
dahingegen der Schwindelnde sich zu bewegen vermeinet, un- 
geachtet er auf einer Stelle bleibt. Daraus folgere ich, daB die 
Bescheidenheit wenige heutige Autoren, und der Stolz die mei- 
sten kleide; daraus folgere ich, daB wir den Gipfel der schriftstel- 
lerischen Volkommenheit erstiegen haben: denn nur auf hohen 
Bergen schwellen lere Blasen auf. 

30 Diesen Stolz rechtfertigt die Unwissenheit der iezigen Skri- 
benten, die der Nachwelt noch laute Bewunderung abnothigen 
wird. DaB ich hier von den Dichtern rede, wird man von selbst 
wissen. Durch Einzwangung des Bauches stumpfen einige den 
Stachel des Hungers - umgekehrt wissen grosse Kopfe ihren 
Trieb nach Ideen durch Aufgeblasenheit zufrieden zu stellen, 
und befestigen sich durch die Einbildung, alles zu wissen, in 



398 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

dem Vorsaze, nichts zu lernen. Daher erweitern sie ihre Kent- 
nisse durch die Lesung ihrer eignen Schriften, so trankt sich 
die Kamelziege mit ihrem eignen Speichel, so frist der Straus 
seine Exkremente. - Diese Unwissenheit vervolkomnen sie 
durch verschiedene Studien. Der eine bereichert seine Men- 
schenkentnis durch Umgang mit den Biichern, und bestiehlt, 
gleich den Richtern, die Diebe und die Armen. Ein andrer sam- 
melt Nachlese in Journalen, wie einige aus den Akten die Juris- 
prudent erlernen. Um die Alten in der Grundsprache zitiren 
zu konnen, liest er sie in Obersezungen, oder stiehlt, noch bes- 10 
ser, seine Zitazion aus einer fremden Zitazion. Ein andrer fiittert 
seine Unwissenheit mitDikzionaren, den Registern der Gelehr- 
samkeit; eben so fieng iene Klapperschlange eine Wasserraze 
bei dem Schwanze zu fressen an. h Einige speisen den Kopf mit 
dem Herzen ab, und befruchten die Dumheit mit Thranen, die, 
wie der Wiesenfuchsschwanz, in sumpfigen Ortern am besten 
gedeiht. Andern erlaubt die Schopfung eigner Werke die 
Durchlesung fremder nicht, und ihre Bestimmung das Publi- 
kum zu unterrichten, raubt ihnen die Zeit sich selbst zu unter- 
richten. Und wozu eine solche Unwissenheit? Dazu; daB man 20 
nicht natiirliche Fahigkeiten in eine unniize Spreu von vernunf- 
tigen Gedanken vergrabt. An der kalten Gelehrsamkeit stirbt 
das Genie; es wachst am besten durch Mangel an Nahrung, 
so wurden die Kinder der Sparter grosser, ie weniger ihre Eltern 
ihnen zu essen gaben. Darum verachten genielose Kopfe alle 
Gelehrsamkeit, auf die Ankunft ihres Genies laurend; eben so 
ziindet man an einigen Orten die nachtlichen Laternen nicht an, 
weil man auf das Aufgehen des Mondes harret, und darauf oft 
bis zum Aufgehen der Sonne harret. - Dazu; daB man nicht 
durch immerwahrendes Forschen die Quelle der Wahrheiten 30 
erschopfe. Unsere vortreflichen Kopfe mit eben so vortreflichen 
Herzen versehen, vernachlaBigen ihre Gabe, alles zu durchdrin- 
gen, zum Besten der Nachwelt, die ihnen iede (ibriggelassene 

Allerneueste Mannigfaltigkeiten. Erster Jahrgang. Erstes Quartal 
S. 80. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 399 

Endekkung Dank wissen wird. Darum zieh ich dem nichtmodi- 
schen Tiefsinne den neumodischen Seichtsin vor, und schaze 
an dem leztern die groBern Verdienste um den Parnas. So verbes- 
sert ein Ochs die Weide, indem sie ein Pferd verschlechtert. Denn 
dieses mahet sein Futter bis an die Wurzel hinweg, da iener, 
vermoge seines Mauls, nur die obersten Spizen des Grases f as- 
set. - Dazu; daG man dem Pobel nicht gleich wird . Dieser drangt 
sich zur Gelehrsamkeit, darum verlast sie der Adepte; die un- 
sterblichen Sonne der von Pope besungenen Gotheit erlosen die 

io Welt von der Gelehrsamkeit und predigen durch ihre Wunder 
die Unwissenheit. So verkleiden in Mexiko bei der Mitter- 
nachtsmesse zu Weihnachten, die Monche sich in Teufel und die 
Laien in Engel. Dafur haben sie, wie die Schnekken, ihr geistiges 
Auge in ihren geistigen Ftihlhornern, und ihr verfeinertes Gefiihl 
erleichtert ihnen die Aufspiirung der Wahrheit in dunkeln Or- 
tern; eben so sind die Schnabel der Kraniche mit Fiihlspizen 
begabt, damit sie ihre Nahrung im Schlamme leichter finden. 
Denken ist nicht mehr Mode, aber wohl fuhlen; und wie der 
korperliche Stuzer mit halbgeschlossenem Auge den Gegen- 

20 stand seiner Affektazion anblinzelt, so driikt der geistige die 
Augen zu, um besser zu sehen, und erzweifelt sich Gewisheit. 
Wie sehr unterscheidet er sich von dem dummen Haufen, der 
Zweifel mit Gelehrsamkeit und Tiefsin mit Gefiihl verbindet. 
Und endlich nuzet die Unwissenheit am meisten der Versema- 
cherei. In Japan sol ein Orden von Blinden sein, die sich auf 
die Musik vorziiglich legen, da sich die unsrigen auf harmoni- 
sche Verse legen. Den Nuzen der Dumheit predigen unzahlige 
Almanache, worinnen unzahlige Beispiele den Unsin durch 
Wohlklang schminken, wo Dissonanzen der Begriffe in Konso- 

30 nanzen der Worte zerfliessen, wo der kleinste Gedanke wie sonst 
die kleinsten Insekten, auf den meisten poetischen Fiissen fort- 
zappelt, wo den Sin kurzes Silbenmas verstiimlet oder langes 
ausdehnet, wie Prokrustes die Beine seiner Gaste fur kurze Bet- 
ten verkiirzte, und fur lange verlangerte. Diese Volkommenheit 
einer gedankenlosen Harmonie, war nur den neuesten Dichtern 
aufgehoben: denn nur Eselsknochen gaben sonst die tonendsten 



400 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Floten; da hingegen in Hallers und Withofs Versen der gedan- 
kenreiche Flus sich mit Miihe durch sein Bette windet, da in 
alten Dichtern die Knochen der (ibeln Versifikazion das Mark 
der Gedanken urns chlies sen. - Nur ein leres Fas klingt sonor. 
Freilich oft daB diese Nebenbuhler ihres vielstimmigen, vierftis- 
sigen Ebenbildes nur fur ihre eignen Ohren yanen. Ferner fliegt 
der grosse Dichter gleich den Fledermausen, am liebsten in der 
Finsternis. Je kleiner sein Kopf, desto grosser seine Fliigel, und 
ohne Kopf kan er noch mit den Musen Beilager halten, wie 
einige Insekten sich ohne Kopf begatten. In den dunkelsten Hai- m 
nen lauschet die groste Begeisterung, und eine entziindete Ein- 
bildung giebt dem schweren Unsin dythrambischen Flug, wie 
das entziindete Pulver schwere Kanonen forttreibt. Dunkle 
Korper werden am leichtesten warm, und ein Dichter gleicht 
dem Hofmeister Alexanders, der in der Sonne fror und im 
Schatten schwizte. Darum weissag* ich meiner geliebten Nazion 
ein kiinftiges Volk von Pindaren, wenn den Verstand Landes 
zu verweisen noch ieder so fortfahrt, sein Scherbgen zu ge- 
ben. — Der Ather ist das Vaterland des Dichters; darum ver- 
schmaht er die Kentnis einer schmuzigen Erde. Sein Flug geht 20 
iiber alle menschliche Kopfe hinweg, und er schwebt zu hoch, 
Menschen zu sehen, oder von ihnen gesehen zu werden. Wie 
die Geier hoch nisten, um nach einer alten Sage leichter von 
der Luft geschwangert zu werden, so ist Luft der Parnas und 
die Muse der Dichter. ^ Auch schaft Unwissenheit Originalitat, 
wie naturlich. Es gehen mehrere Wege zum Haslichen als zum 
Schonen; darum kan man, durch keinen Wegweiser des Schonen 
verdorben, zu ienem leichter unbetretene Wege entdekken als 
zu diesem. Ein Kopf, in welchem Fieberhize die Dunkelheit 
bebriitet, in welchem der schwerfallige Verstand am Fette der 30 
Einbildung erstikt, ein solcher verspricht eine unerhorte Origi- 
nalitat. Eben so sollen von dem Nelkensamen, den man in Son- 
und Mondfinsternissen saet, dunkle und wunderliche Farben 
fallen. Ich wundere mich daher alzeit, warum Deutschland noch 
so wenig Originale hat. - Da es das Amt eines Dichters mit 
sich bringt, seine Lesewelt grillenmasig in den Schlaf zu singen, 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 401 

so ist ihm auch darum Lerheit des Kopfes unentbehrlich; der 
Mohnkopf, dessen Korner den Schlummer ankodern, ist der 
lerste aller Kopfe, seine Nebenbuhler ausgenommen - Darum 
konte auch ein langsamers Thier die Stelle des Musenpferdes 
einnehmen, und dan hatten die Amerikaner Recht, die einmal 
den Reiter und sein Thier fur ein Ding hielten. 

Ha! nun komm' ich zu dir, langohrichte Muse des heutigen 
Affengeschlechts, buntfarbige Nachahmung! die du ieden leren , 
Kopf in das Echo des Genies und Deutschland in den Resonanz- 

io boden Europens verwandelst; die du die quakkenden Sanger 
des Schlams zu Nebenbuhlern grosserer Kehlen erhebst, und, 
wie die Agypter, in Pferdemist Hiinereier, tagtaglich in den 
warmen Geschenken vergotterter Magen dichterische Brut zum 
hungrigen Leben ausbriitest, um mit iugendlichen Zungen die 
Trommelfelle der deutschen Ohren zu riihren. Bald blasest du 
einen flekkigten Frosch zu einem Young auf - nun klappert 
der arme Poet in seinen Versen mit Todengebeinen, und ver- 
grabt wie ein Hund ieden Knochen in sein Lied, den ihm der 
Tod von seinem Tische zuwirft, nun schwarzt er sein Papier 

20 mit der Farbe einer aus Galapfel und Vitriol gemachten Traurig- 
keit, nun tragt er seine Wiinsche gen Himmel, allein um sie 
auf der Erde zu befriedigen, wie der Adler die Auster, die Be- 
wohnerin des Schlams hoch in die Liifte hebt, um ihre Wiege 
in ihr Grab zu verwandeln, und nun wiederhalt sein lerer Magen 
von der brittischen Schmahschrift auf die leibliche Nahrung. 
Bald foltern andre, durch dich erhizt, die Ohren mit Hexame- 
tern, und machen Golgatha zum Parnas; wie Mukken um den 
Kronenleuchter, so summen sie um den Kronenleuchter der 
Schopfung, um das Sternenheer herum, schikken in die flam- 

30 menden Nagel am Himmel, Kolonien von Gevattern und 
Freunden, und privilegiren die Venus zum Aufenthalte kiinfti- 
ger Huren und zum himlischen Bordel, und spielen durch den 
Silberklang ihrer Instrumente den Edeln Mitleiden fur ihre ver- 
stumten Beutel ins Herz - auf ihren Kopfen wachsen, wie auf 
den Hauptern gemahlter Heiligen, Lichtstralen stat der Hare, 
in ihren wasserichten Versen schwimmen lichthelle Engel so 



402 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

haufig, wie schimmernde Heringein der Nordsee, und verscho- 
nern das unfarbige Element, wie Heere von Insekten das nachtli- 
che Meer, mit zitterndem Glanze. Oft miide des Flugs, krahen 
sie auf ihrem Miste bios ihren Nazionalnamen den horchenden 
Kapaunen ins Ohr; nicht selten lobpreiset ihre schwindsuchtige 
Lunge die beharte Brust eines Barden, und die verwelkten, nicht 
ganzfleischernen Waden des Enkels trozen auf die unerschopfli- 
chen Lenden der Voraltern. Doch schaffen warme Abende aus 
schlechten Ausdiinstungen der Erde nicht bios Sternschnuppen, 
die in einer scheinbaren Ahnlichkeit mit den Sternen, schim- 10 
mern, und deren Glanz an seiner Vergrosserung stirbt, sondern 
auch Irlichter, die auf poetischen Fiissen nur im kotigen Sumpfe 
tanzen, mit ihrer Gegenwart nur ihren Geburtsort - das Grab 
von tausend Asern-beglanzen. Diese Gozen des Pobels buhlen 
mit ihrer Sakpfeife nur um den stampfenden Beifal baurischer 
Fiisse, stekken gleich der bekanten symbolischen Schlange, den 
Schwanz der Geselschaft in das Maul derselben, stehlen der Be- 
redsamkeit des unjeinigen Markts die Schonheiten ihres originel- 
len Verses, und schmucken, gleich dem Indianer, der seine Zim- 
mer mit Kuhmist tiinchet, das schone Papier modischer Biicher 20 
mit den Exkrementen eines pobelhaften Wizes. Zu solchen 
Zungenschlagensich weinerliche Augen. Daher grunzen Zoten 
in liebevollen Versen, daher fliest die Hefen der Natur in emp- 
findsamen Sylbenmaften, und ein par Reime vermahlen die pla- 
tonische Liebe mit der thierischen. Dieser Nachahmer ist ein 
aufgedunsenes Geschopf, aus Unsin zusammengeknatet, mit 
Thranen eingemacht und in Geniehize gebakken; ein Sanger des 
Monds, der wie Hunde gegen eben dieses Himmelslicht heulet, 
der in den Lorberkranz den geraubten iungfraulichen flicht, der 
die Hurerei zum Christenthum, und zum Altar das Wollustbet 30 
einweihet, der sein Gehirn in seinem feurigen Herzen pulveri- 
sirt, wie iener Tyran den Bauch eines gluhenden Ochsen mit 
Menschenopfern fiilte. Dort speien die geofneten Gefangnisse 
der Kritik zur Vergessenheit verdamte Missethater aus, und ge- 
ben den Parnas dem Tummeln einer ungefesselten Schwache 
Preis. Nun sperret der Wiz ungleiche Dinge in ein Gleichnis 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 403 

zusammen, umzaunet stossige Bilder mit Einem Komma, yanet 
aus dem Halse desselben Esels dissonirende Metaphern, schnei- 
det aus einer Ahnlichkeit eine lange Allegorie, wie iener aus 
einer Kiihhaut Karthagos Umris zu, und bemahlet Seifenblasen 
von Gedanken mit alien Farben des Regenbogens. Nun vervol- 
komt sich das Theater zum Tolhaus und die Raserei kront der 
Selbstmord. Nun gattet sich im Dialog des Trauerspiels Pobel- 
sprache mit Odenton, und auf derselben Zunge umarmen sich 
die Schwanke des Biergasts und der Gesang des Seraphs, wie 

io Taschenspieler aus demselben Fasse Wein und Wasser zapfen. 
Der Speichel der Dichtkunst loset der unberedten Leidenschaft 
die Zunge, und die poetische Feder impfet dem stummen 
Schmerze rhetorischen Auswuchs ein. Den griechischen Ko- 
thurn verdrangt der Pferdefus des Teufels, den man den FCissen 
des Bosewichts anschnallet, oder der Fliigel des Engels, der auf 
heiligen Riikken wachst. Der tragische Mord schreiet um die 
Gerechtigkeit der Melpomene, deren Arsenal ein einziger Abend 
erschopft, und das Schwerd der Auflosung des Knotens mahet 
das Leben derer hinweg, die fiinf Akte alt wurden. Dieses ist, 

20 dieses war dein Werk, himlische Nachahmung, die du auf Af- 
fengesichtern das Genie parodierst, die du die Kehle des Papagais 
zur menschlichen Rede und die Gurgel des Krokodils zur 
menschlichen Klage umstimmest, die du den Musensohn mit 
der Narheit begeisterst, um die er bei den Musen immer und 
bei dem Weine oft, vergeblich bettelt! Und mehr als dieses wird 
dein kiinftiges Werk sein! Doch ich erwache aus meiner Begei- 
sterung, um mit kaltern Blute iiber die heutige Nachahmungs- 
sucht zu reden. Die Gewohnheit der Nachahmer, bei der Er- 
scheinung eines Genies iede vorige Schonheit als etwas Hasliches 

30 zu verschreien, und seinem Ruhme den Ruhm der Vorganger 
aufzuopfern, wie die alten Mexikaner zur Ehre der neuen Sonne 
alle Gefasse zerschlugen und alles Feuer ausloschten, das die 
verstorbene Sonne beschienen. 1 Diese Gewohnheit verdienet 
unsern Beifal. Denn eben dadurch gerathen kaltere Zuschauer 

1 Diese Wilden glaubten namlich, alle 52 Sonneniahre endige die 
Sonne ihren Lauf und ihr Dasein, und eine neue trete an ihre Stelle. 



404 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

in Enthusiasmus fiir den neuen Got, eben dadurch macht man 
die Hande des Beifals wund, so da6 das iibertriebene Klatschen 
in Pochen iibergeht, so daB der kalte Winter des Tadels den 
im Sommer des Lebs gemasteten Abgot bis zur Magerkeit ab- 
zehrt. Freilich emport die aufwarmende Nachahmung unsern 
Eke] sogar fiir wahre Schonheiten; eben so ermiidet der Knabe 
unsere Augen, der uns vermittelst eines Spiegels unaufhorlich 
mit dem Sonnenlichte blendet. Doch mus ich zur Ehre der mei- 
sten Nachahmer gestehen, daB sie weniger Schonheiten als Feh- 
ler aufwarmen, daB sie, zu dum um nach ihrer eignen Melodic 10 
Thoren zu sein, daher mit f rem den Kalbern pfliigen^ Denn sie 
glauben durch Fehler grosser Kopfe ihre eignen Fehler zu 
schminken; eben so vertrieb man sonst mit dem Kothe des Lowen 
die Flekken im Gesichte. Aber wer weis nicht, daB man einige 
Augenblikke nicht mehr sieht, wenn man lange in die Sonne 
gesehen; daB die Ausdiinstung des Lichts ieden nahen Gegen- 
stand schwarze; daB schales Wasser durch die Vereinigung mit 
zischendem Spiritus triiber werde; daB das glanzende Silber des 
spanischen Rohres die Hand seines Besizers schwarze? Freilich 
weis dieses ieder; abe\r was schadet es dem Ruhme der Nachah- 20 
mer? Liebt doch das Publikum den Nebenbuhler schoner Fehler, 
und freuet sich der Frucht des diingenden Mistes, wie man das 
Schwein troz seiner schmuzigen Nahrung geniest; frozen doch 
diese Laquaien des Gerries mit dem prangenden Silber ihres Bor- 
denhuts dem verstektern Golde ihres Hern, dessen Glanz eine 
Borse verschleiert; last doch der Verlust der gestohlnen Schon- 
heiten den Nachahmern alzeit das Verdienst der eignen Wassrig- 
keit, wie der verflogene Geist des angeziindeten Brandteweins 
allemal seinen Korper, das schale Wasser, hinterlast; und schliip- 
fen sie doch endlich zwischen den Beinen ihres Originals zum 30 
Thore der Ewigkeit hinein, oder werden doch diese Buben 
einige Augenblikke von der Kutsche eines vornehmen Mannes 
gefahren, an die sie sich von hinten angehangt! - Und dies lezte 
auch darum, weil die meisten heutigen Nachahmer schon als 
eigne Originale gelten konnen. Da diese vortreflichen Kopfe 
bewiesen haben, daB das Genie nur mit dem Maule, hochstens 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 405 

auf einem Blatte pfeife, mitlerweile das Nichtgenie sich erst eine 
Flote kaufe; daB das Genie bios den Finger in den Hals stekke, 
um zu vomiren, mitlerweile das Nichtgenie sich erst ein Vomi- 
tiv bei dem Batteur hole, so kan man audi die ganze Sipschaft 
des Sterne zu den Originalen rechnen, die ohne Regeln schlecht 
sind, und ohne Pillen den Durchfal haben. Ja dieser Sucht die 
Neuern nachzuahmen, verdanken wir den Abscheu die Alten 
nachzuahmen. Wie man doch sonst harten Stahl an alter Eleganz 
scharf und glanzend schlif! Wie doch sonst das griechische Genie 

I0 das deutsche in Fesseln leitete, die Musen des rauhern Norden 
bci den Musen des Paradieses des Geschmaks in die Schule gien- 
gen, und die alten Genies Natur den neuern lehrten! Da man 
hingegen iezt nach brittischen Pfeifen tanzt, die neuen Ketten 
zu Ordensketten wahlt, und aus Liebe zur Natur die Simplizitat 
verbant! Welcher Fortschritt; wie wiirdig in einer Lobrede auf 
die Deutschen zu stehen! - 

Die griechische Natur ist von einer grobern verdrangt wor- 
den, der ich schon oben gedacht. Namlich weil die heutigen 
Autoren Freunde der Natur sind, so Ziehen sie die schlechte 

20 ieder andern vor, sezen ihre Schonheiten ihren Fehlern, und 
baurische Naivitat baurischen Zoten nach. Diese Skribenten ha- 
ben zwar die schonere Seite der Natur in ihrer Gewalt, aber 
sie gleichen den alten Gottern, die sich, nach einigen, den Men- 
schen nur von hinten zeigten. Vielleicht auch, daB alle ihre Vor- 
ziige sich in den Fokus desienigen Orts zusammen gedranget, 
wo das Bisamthier mit wohlriechenden Reizen pranget. Ihre 
kleinen Augen bemerken im Bade einer Pfuze folgende Vol- 
kommenheiten; erstlich, daB ihr Badegast sich durch diese Wie- 
dertaufe von den reinlichen Franzosen unterscheide, zweytens 

30 daB er dadurch ein empfindsames Herz an den Tag lege, und 
drittens in dem schmuzigen Elemente seine Mitgesellen Rein- 
lichkeit lehren konne. Das lezte zuerst. Denn freilich wie konnen 
die Gelehrten die Denkungsart des gemeinen Pobels anders ver- 
bessern, als daB sie die ihrige verschlechtern, anders ihn Ge- 
schmak lehren, als daB sie ihn den seinigen lehren, wie der Zorn 
des Vaters den Zorn an dem Sohne bestraft? Auf diese Weise 



406 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

ist der gelehrte Hals darum das gedampftere Echo des pobelhaf- 
ten Wizes, urn das Grunzen desselben zu einem sanftern Tone 
zu bilden. Zweitens verrath eine unsitliche Zunge ein ziichtiges 
empfindsames Herz. Bei den meisten Volkern waschen sich 
Leidtragende weiche Leute nicht, und nicht bios in Indien gehen 
Heilige und Begeisterte nakt. Und endlich unterscheidet diese 
Unsitlichkeit von den Franzosen, deren Ubersezer sogar die zu 
natiirlichen Stellen der Alten ihrem strengen Wohlstande aufop- 
fern; eben so last ein franzosischer Philosoph die Menschen ohne 
Hintern wieder auferstehen, Daher driikken unsere Diktatoren 
des Geschmaks ihre Gedanken in unreiner Sprache aus, wie man 
sonst vom Wiedehopf sagte, daB er fur seine Junge ein Nest 
in Menschenkoth baue, und zu gros fur hohen Flug iiben sie 
ihre Schwingfedern im Sinken; eben so kan das fliegende Eich- 
horn (sciurus volans L.) nur niederwarts fliegen. Auch sollen 
einige den schamlosen Ausdruk zu besserer Bekampfung der 
Kunstrichter anwenden, d. h. sie beschneiden sich die Nagel 
nicht, um ein feindliches Gesicht damit tiefer zu verwunden. 
- Nur Schade freilich, daB die Unverschamtheit der heutigen 
Autoren mehr affektirt als naturlich ist, daB sie sich mit Unver- 
scharntheit, wie die Weiber mit einer gekauften Schamrothe, 
nur schminken. Denn gewis sind wiUe Schweine besser als 
zahme. Doch hoff ich von der Zukunft, daB auch gelehrte Esel 
nicht mehr reinlich sein, und lange Ohren sich unter demselben 
Lorber mit einem langen Riissel gatten werden. 

Zu diesem Geschmak an der Natur gesellet sich die Schwiil- 
stigkeit, der Bastart des Erhabnen, deren ebenfals oben schon 
gedacht worden. - Im sechzehnten Jahrhunderte liebte man 
Zwerge; im achtzehnten Riesen - vor nicht langer Zeit trug 
man kleine und iezt tragt man grosse Hike; kurz die franzosi- 
schen Deutschen sind zu brittischen gereift. Alle Federn huldi- 
gen der Schwulst, das heist, man gallopirt Berg auf Berg ab, 
man schminkt wie die Wilden den ganzen Korper stat der 
Wange, und zieret gleich einigen Indianerinnen Finger und Fus- 
zahen mit Ringen; d. h. man schlagt unfahig zu gehen, gleich 
dem Paradiesvogel, seine Wohnung in den Liiften auf, und wei- 



GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BAND CHEN 407 

let, wie Simon Stylites, Jahrelang auf einer Saule; d. h. man 
treibt das Wasser zu einer Hohe, wo es sich in Regen zersplittert, 
und prangt wie ein Betler Son- und Werkeltage mit demselben 
Rokke; d. h, man berauscht sich vom Morgen an bis an den 
Abend, und singet ohne zu reden. Alles nun so mit gleichen 
Farben zu schmtikken, das Kleine eben so erhaben wie das 
Grosse zu schildern, die Wahrheit mit Zierathen wie ienes Mad- 
gen im Kapitol mit Schilden zu erdriikken und die Natur in 
die Kunst zu verschleiern, dieses ist freilich kein geringes Werk 

10 unsrer schongeisterischen Fauste. So ein grosser Glanz, so ein 
unregelmassiger Lauf steht nicht in den Kraften einer kranken 
Phantasie; eben so halt niemand als Bartholin die flammenden 
und regellosen Kometen fur Geschwure des Himmels. So eine 
Mannichfaltigkeitzeugt von Reichthum, wie ein banquerotirter 
Kaufmannin Schotland buntfarbigeKleidev zu tragen verurtheilt 
wird. Ein hiziges Genie gebiert zwar eben, wie ein kalter 
Schriftsteller, lauter kalte und wasserige Gedanken; allein stat 
sie mit diesem in einer simpeln Sprache aufzutischen, zwingt 
sie das Genie in verstummelte Perioden zusammen, und ballet 

20 gedankenlose Weitlauftigkeit in ein einziges undeutsches 
Komma - eben so hartet der Sommer wie der Winter das Wasser 
der Wolken zu Eis, aber dieser bildet die Diinste zu leichten 
Schnee und iener giest sie in Hagel - die Flintenkugeln der abfeu- 
ernden Atmosphare - um. Freilich schlagt der Hagel starker 
und vergeht geschwinder! - Da ferner unsere Nascherei nur 
nach iiberflussigen Wize hakt, so nahern wir uns zwar unserm 
Falle, erreichen aber auch unser ZieL Denn die Zeit fiihret den 
Geschmak erst auf den Gipfel des Parnasses, eh' sie ihn von 
da heruntersturzt, und Wizelei kiindigt den Uberflus und das 

30 Ende unsrer Krafte an, wie die vor den Augen herumfahrende 
Funken Zeichen der Volblutigkeit und des nahen Schlagflusses 
sind. 

Noch einiges von den Versemannern! Alle iunge wahlen die 
Almanachs zu den Prangern ihrer vortreflichen Ohren, und da 
die ersten Kinder die starksten, die ersten Kupferabdriikke die 
besten sind, wie auch die erste Schlange die kliigste und der 



408 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Teufel als Jiingling noch ein Engel war, so gestatten iene Alma- 
nachs, denen die Ausfiillung der bestimten Bogen den gering,- 
sten Kummer macht, mit Recht ieder unversuchten Kehle die 
Freiheit, sich zum Vergniigen des Publikums horen zu lassen. 
Dazu gewinnen sie dadurch an Mannigfaltigkeit, die ihnen so 
sehram Herzenliegen mus, angesehen in alien Kalendern Regen 
mit Schnee, Frost mit Hize, Nebel mit Thau, Donner mit Hagel 
abwechselt und Almanachs einer Waschstange gleichen, an wel- 
cher feine und grobe Hemde, Hosen und Unterrokke zugleich 
getroknet werden, oder einem Gasthofe, wo der Fuhrman Kas 10 
fur seinen Hunger und Stroh fur seinen Schlaf, und der ver- 
goldete Herr fur beides die Vorsorge des Luxus findet, und end- 
lich einem Findelhause, das die Schande vornehmer und 
schlechter Huren aufbewahret, und welches der Stuzer wie der 
Bediente durch fruchtbare Wollust bevolkert. Und wer weis 
(ibrigens nicht, dafi Almanachs Weihnachtsgeschenke fur grosse 
Leute sind, die damit wie die Kinder mit dem ihrigen nur eine 
kurze Zeit spielen? Darum fullet man auch die kleinen leren 
Plaze der Duodezblattergen mit Epigrammen, wie mit spizigen 
Steinen aus; mit Epigrammen, die in Reimen sumsen ohne Sta- 20 
chel wie die Bremsen, und deren Worte doppelter Sin belebt, 
aus welchen der Wiz wie aus Besessenen, die bosen Geister 
(schiklichere Bewohner der Schweine) austreibt; mit Epigram- 
men, deren wasserige Bestandtheile Mangel an Lebhaftigkeit 
zu einem wizigen Eiszapfen gehartet hat, dessen Spize die klein- 
ste Beriihrung aufthauet; mit Epigrammen, deren pralerischen 
Zorn der Flederwisch beschamet, den sie gleich ienem Knaben 
in einem Lustspiele des Kinderfreunds, aus der prachtigen Scheide 
Ziehen, und die mit schonem Titel, mittelmasiger Mitte und 
schlechtem Ende dem spanischen Rohre gleichen, dessen obern 30 
Theil Silber kronet, dessen Mitte ausgestorben, und das mit 
einem abgestumpften Stachel endet. Und ihre Anzahl macht 
der deutschen Fruchtbarkeit Ehre, und verspricht dem Wize die 
baldige Ankunft des goldnen Alters, auch troz dem Vorurtheil, 
daB es vibles Wetter bedeute, wenndie Flohe viel stechen. Ferner 
sinken auf den Fittigen des Neuiahr-Schnees schone Idyllen 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN . 409 

herab, die das Zwittergeschlecht zwischen Natur und Kunst 
ausmachen, in denen Dichter auf stadtische Pracht landliche 
Zierathen wie die Damen auf die Schopfung des Friseurs pa- 
pierne Blumen, pfropfeh. Auch diese Gewohnheit der Dichter 
wie vornehme Leute bald in der Stadt bald auf dem Lande zu 
wohnen ist niizlich; und wenn die Hunde auf dem Parnas Gras 
stat des Fleisches fressen, so bedeutet dieses nicht schlechtes, 
sondern schones Wetter. - Am meisten werden die Almanachs 
durch die Enkel des Anakreons - die Zukkerbekker des Parnas- 

10 ses- zu den Archiven des deutschen Genies erhoben. Die grosse 
Gabe, das Blut des einen Reimes nach der Liebesglut des andern 
zu stimmen und Damons Lust mit Daphnens Brust zu reimen, 
den Amor gesunde Herzen jagen und erlegen, aus schwarzer 
Dinte die Venus wiedergeboren werden und sie in einer zephyr- 
nen Sanfte ans Land tragen zu lassen, ohne ihre Kammerjung- 
fern, die Grazien, zu vergessen, kurz die Gabe die verwelkten 
Reize der Einbildungskraft vor dem Nachttische der Mytholo- 
gie aufzufrischen, ist nur den Mannern gegeben, die ihr Ge- 
schlechttroz ihrer Gestalt und ihres Namens ausgezogen haben. 

20 Denn nur Kastraten singen klar! Denn nur in den todten Lowen 
legten jene Bienen alten Testaments ihren Honig, und kleine Ein- 
bildungskraf t verrichtet dieDienste des fehlenden Verstandes, wie 
man auf einer Paste des Jupiter Muskarius den Bart desselben 
durch die Fliigel einer Fliege abgebildet sieht. Ein anakreon- 
tisches Gedicht ohne Gedanken heist eines ohne Fehler, ein 
Tropfen Verstand hingegen versauert die ganze SuBigkeit. Der 
beste Beweis der Achtheit eines solchen Gedichts ist, wenn es 
auf der Kapelle des Verstandes verfliegt; eben so erwies sonst 
dem Apotheker das Verfliegen des Bisams auf einem gliihenden 

30 Eisen, seine Giite. Daher auch grosse Dichter fur den Wohlklang 
erst den Sin zuschneiden, wie der Komponist den Text auf Ko- 
sten des Verstandes der Melodie anpasset, und durch kluge Wie- 
derholung der Reime, der Worte und ganzer Verse die zufallige 
Anhaufung der Gedanken vermeiden. Solche wasserige Verse 
dringen aber auch am leichtesten durch weibliche Hirnschalen, 
wie nur diinne Dinte durch Papier durchschlagt. Noch ist anzu- 



410 • JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

merken, daB sich in Almanachen die Leichensermonen auf ver- 
storbene Dichter finden; der Soldat schiest und der Dichter blast 
bei dem Tode seines Kameraden - Hab ich so viel Gutes von 
den Almanachen gesagt, so lasse man mich doch auch noch 
einiges Gute von den besten derselben, von dem Almanache 
der Belletristen sagen, dessen Titel auf die Ahnlichkeit mit einem 
schlechtern, urn Aufsehen bettelt. Mit welcher feiner Kritik ta- 
delt sein Herr Verfasser an Haller's Gedichten das Wasserige, 
worein der philosophische Geist des Dichters leicht verfallen 
konnte, und zahlet den Meister Klas zu Wezels Produkten und 10 
spricht dehkastnerischen Epigrarnmen alles poetische Verdienst 
ab, angesehen sie ihm nur das zu haben scheinen, was gute ha- 
ben; mit welcher Unpartheilichkeit entdekt er den Unwerth 
Herder's, den zu loben noch neulich ein Kunstrichter im gottin- 
gischen Magazin sich verleiten lies, und erzahlt die Geschichte 
des Streits zwischen Platnern und Wezeln, so daB er selbst 
Augenzeugen eines bessern belehret, und wie nachahmungs- 
wiirdig ergiest sich sein menschenfreundliches Herz in Beschul- 
digungen der Toden etc. etc. etc.! Solche Schonheiten verblen- 
den den Leser fur geringere; daher ich auch die Vortreflichkeit 20 
seiner spashaften Schreibart und die Feinheit seines scheinbar 
- pobelhaften Wizes nicht entdekken konnen. Ubrigens verlei- 
det einem schlechtes Fleisch die schlechte Bruhe. Niemand ver- 
misset im geheimen Gemache die Tapeten. Kein Kranker ist 
zur Beobachtung der Wohlanstandigkeit verbunden. Die 
Schwalbe bauet fur ihre Jungen, die sie mit Spinnen und Miikken 
aufzieht, nur ein Haus von Koth. - 

Die Zeichnung der Karaktere in Schauspielen und Romanen 
spricht die jezigen Schriftsteller zu Mei stern. Unerschopflich 
sind sie in der Mannichfaltigkeit derselben. Sie mahlen namlich 30 
nicht weniger als zwei Arten von Menschen, Heilige und Bose- 
wichter, die, wie man weis, nur in den Kopfen der Dichter 
existiren. So sind im Damenbretezweierlei Steine, schwarzeund 
weisse. Die Menge der Heiligen macht Romane und Kloster zu- 
gleich beriihmt, und jeder erstaunt iiber den Pinsel, der unsicht- 
baren Engeln ein Kleid von Luft anstreichen konte. Steigt aus 



GRONLANDISCHE PROZESSE * I. BANDCHEN 411 

dem Dintenfasse gar em Seraph hervor, wie aus dem Mere eine 
Venus, so ist das Buch unsterblich. Denn je mehrere Stralen 
ein Meerstern hat, desto theurer ist er. Doch sizt unsern Mahlern 
auch der Teufel, und stat ihn gleich Luthcrn mit der Dinte von 
der Wand zu verscheuchen, zeichnen sie ihn hurtig damit ab 
und schmukken Nachttische mit seinem Schattenris. Und sie 
treffen ihn auch. Mit so schonen Hornern, mit so schonem 
Schwanz, mit so schonen Pferdefiissen! - Uberhaupt verleiht 
sein schwarzes Ansehen der ganzen Dichtung Leben und holli- 

10 sche Warme, so schmiikt oft das schwarze Bild eines Mohren 
das Fuhrwerk des Winters und erwarmet uns im Grimme des 
Frosts durch die Erinnerung an das heisse Athiopien. Auch die 
Mahler aus der hollischen Schule schazt man nach Verdienst: denn 
die schwarze Farbe ist die Leibfarbe der jezigen Mode, wie alte 
Burger in alten Stadten an Festtagen schwarz gehen. Unsere 
ubrigen Pygmalione flikken ihre buntfarbigen Geschopfe aus 
schonen Redensarten und rhetorischen Figuren der Almanache 
zusammen, gleich den Leuten, die aus verschiedenen Schmet- 
tcrlingsfliigcln Mannergen zusammenpappen, oder den Mexi- 

20 kanern, die durch Zusammensezung verschiedenfarbiger Federn 
Gestalten erschaffen, die die Taiischung des Pinsels uberbieten 
und die Wahrheit der Natur erreichen. - Jemehr ferner ein Mu- 
sensohn die geschikte Grausamkeit eines Henkers in seiner Ge- 
wait hat, desto mehr bemachtigt er sich unserer Thranendriisen 
und unserer Bewunderung. Die heutigen Autoren dreschen 
durch die Schlage des Ungluks aus ihren Helden die vortreflich- 
sten Gesinnungen heraus, und wissen der Vernunft durch Elend 
endlich den Sieg iiber die Leidenschaft zuzuschanzen; wie die 
Tartarn die Pferdemilch so lange schlagen, bis die groben Theile 

30 zu Boden sinken und die feinern, die Bestandtheile der Butter, 
oben bleiben. Andere predigen in Deklamazionen die Grosse 
ihres Helden, die sie darauf durch Ungliik auf die Probe sezen, 
um sie in neuen Deklamazionen glanzen zu lassen; so schlagt 
man die aufgeblasene Schweinsblase mit den Handen und er- 
weitert sie dadurch zu Annehmung mehrerer Luft. - Sogar stah- 
lerne Herzen konnen unsere Dichter durch fremde Leiden heis 



412 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

klopfen. Freilich verstehen nur sie die Kunst, den Bedienten 
wie den Herrn in sanfte Empfindsamkeit aufzulosen, alles in 
die Liverei der Traurigkeit zu kleiden, und den Einflus des 
Standsunterschieds auf die Gesinnungen zu vernichten. Das 
Schachspiel der Islander hat so stat der Laufer Bischoffe. Nur 
unsere Dichter schneiden die Traurigkeit volkommen nach dem 
Ungliikke zu, und lassen bald um ein Wiirmgen den Degen, 
bald um einen Vater nur die Knopflocher trauern. Ferner in 
alten Meisterstiikken erinnert bios die Natur an das Genie des 
Dichters; aber unsre Dichter hiillen sich nie in eine Lowenhaut 10 
ein, ohne ihre grossen und daher hungrigen Gehorwerkzeuge 
um das Futter des Lobs betteln zu lassen. Unsere Dichter mahlen 
nie ihre Helden, sondern nur sich, blasen immer Leidenschaften 
zu Flammen an, die den Einflus ihrer Lunge voraussezen, und 
verrathen gleich gewissen Betriigern, die Menschheit des ver- 
kleideten Engels oder Teufels durch die menschliche Stimme. 
Wie vortreflich! Denn obgleich der Spiegel schlecht ist, der mehr 
sich oder seine Folie als die umgebenden Gegenstande sehn last, 
obgleich das Klavier schlecht ist, dessen Tasten sich mehr als 
die Saiten horen lassen, obgleich der Taschenspieler schlecht 20 
ist, dessen langsame Hande die Tauschung seiner Kunst ver- 
nichten: so thut doch dieses der Ehre unserer Dichter keinen 
Eintrag; sie gleichen vielmehr den Spinnen, deren fruchtbarer 
Hintere ihren Weg durch zuriikgelassene Faden bezeichnet; sie 
machen die Zunge ihres Helden zur Lobrednerin ihrer Frucht- 
barkeit. - Nichts ist unsern Scharfrichtern der Melpomene ge- 
laufiger als das Hinrichten und gleich der Feder der Arzte, mor- 
det die ihrige nach verschiedenen Methoden; als da sind, den 
Delinquenten an Seufzern sterben zu lassen, ihn durch Wehmuth 
auszumergeln, ihm durch einen Zufal das Lebenslicht auszubla- 30 
sen. Etliche last man erfrieren; ein anderer mus sich mit dem 
natiirlichen Tode begniigen. Die meisten last man am hizigen 
Fieber erbleichen, weil es den Pazienten auch ausserdem noch 
zu Rasereien veranlast, nach welchen das vernunftige Publikum 
sehr begierig ist und die man daher mit Gedankenstrichen bor- 
diert, durch diePresse verewigt. Freilich nur den Personen, de- 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I . BAND CHEN 413 

ren Name das Buch betittelt, erlaubt man den edeln Selbstmord; 
freilich nur diesen darf man die Selengrosse andichten, die bei 
den vielfaltigen Stichen der Grillen, wie der Hund bei den Sti- 
chen der Flohe gegen ihre eigne Haut ihre eignen Zahne kehrt, 
oder die mit der Sense des Todes den gordischen Knoten poeti- 
scher Zuschworung der Treue aufloset. Unsere heutigen Auto- 
ren, tiefsinnigeMenschenkenner, lassen ihre Selbstmorder vor- 
trefliche Oden vor der Spize des gezukten Dolchs singen, wie 
die singende Nachtigal ihre Brust gegen einen Dorn hinkehren 

10 sol und das Ende ihres Helden pranget mit den langsten und 
vortreflichsten Tiraden, wie der Schwanz des Paradiesvogels 
mit den schonsten und langsten Federn. Einige Selbstmorder 
tragen sich bios von Romanen, Liebesbriefen und Reliquien der 
vorigen Freuden ein Nest zusammen, in welchem sie wie der 
Phonix in seinem Neste von Spezereien und Weirauch, sanft 
und selig verscheiden. - Ich wiiste zur Abhelfung der Einfor- 
migkeit in den Hinrichtungen noch eine ungenuzte Todes art, 
die gewis alien Edlen Thranen genug abzapfen wiirde. Kupido 
schiest ganze Alphabete durch mit seinen Pfeilen; warum vergif- 

20 tet man aber nicht wie die Indier diese Pfeile? Freilich geben 
die meisten ihren Geist an der Liebe auf; aber warum nur an 
der figurlichen, warum nicht an der unfigiirlichen? Und sol im- 
mer nur Mangel an Liebesgenus, nie Uberflus daran hinrichten? 
Doch der Aufnahme dieser riihrenden Todesart schadet ihre 
Ahnlichkeit mit dem Namen eines verhaBten Volks. So nach 
miiste man zur Wiederholung des Todes bei derselben Person 
greifen und nach dem Beispiel der Wiedergeburt einen Wieder- 
tod erfinden. 

Noch etwas iiber das Schauspiel und nachher eben so viel 

30 iiber den Roman! - Je mehr Personen in einem Stukke, desto 
vortreflicher dasselbe. Denn je mehr Pferde am Wagen, desto 
vornehmer der Herr darinnen. Die Kunst des Theaterdichters 
frohnet nur dem Auge; und was last wohl prachtiger als die 
Abwechselung, die Menge der Schauspieler in demselben 
Stiikke? Wie denn iiberhaupt ein guter Theaterdichter alles Ver- 
dienst des Verstandes bios dem Schauspieler iiberlast, und dem 



414 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

Organisten gleicht, der nichts als die Melodie spielt, und den 
Sin dazu zu singen der Gemeinde frei stelt. - Uber die Einheit 
des Plans sind unsere guten Kopfe langst hinweg; sie lassen in 
der Hofnung verdoppelter Starke, ein Schauspiel zu dem andern 
stossen und gewinnen durch Verdoplung des Intresse die Tau- 
schung der Leser und der Zuschauer. So schiessen ungewisse 
Schuzen mit doppeltenKugeln nach dem Ziele. - Die groste Ver- 
wikkelung der Umstande wissen sie mit einem einzigen Streiche 
auszuwirren, und das Ungliik ihrer Helden durch eilige Ver- 
nichtung desselben zur gewissern Erzeugung des Erstaunens zu 10 
benuzen. Eine Flintenkugel geht desto besser, je fester sie im 
Laufe stekt. Freilich {ibertragen sie dem Deus ex machina, wie 
die kleinglaubigen Junger ihrem Meister, das ganze Wunder- 
werk. — Die Hollander vergotterten einmal Tulpen wie die 
Agypter Zwiebeln; unsere Mode vergottert Romane - die Ro- 
mane, die den Schwanz der Liebe zu ihrem Maule fugen; die 
zu Thrdnen und zu noch etwas mehr reizen, gleich gewissen Gif- 
ten, die zugleich vomiren und purgiren; deren Lesung das Mer 
der Wollust emport wie das Tabakrauchen den Speichel haufiger 
fliessen macht; die die Vernunft bekriegen, den Dunsen gefallen 20 
und Weibern zum Pflaster gegen die Wunden der Liebe dienen, 
gleich den Blattern der Tolbere, (Atropa Belladonna) die den 
Augen schaden, den Schafen behagen und die Geschwiire einer 
Weiberbrust heilen. Die besten Romane sind jezt diejenigen, 
worinnen die Fruchtbarkeit des Verfassers hundsartig jeden 
Winkel einer Materie beharnet, wo er wie ein Reife nur in krum- 
men Linien lauft, wo er wie ein Hund beim Spaziergange seines 
Herrn bald riik- bald vorwarts springt, und wie mancher Hund 
mit seinem Schwanze, mit dem muhsam erreichten Ende des 
Buchs noch spielet, kurz wo jeder Theil nach der Trennung 30 
vom Ganzen, wie ein ausgerissenes Bein einer Spinne, noch 
fortlebt. Der Tarantelstich der Original) tat hat namlich alle 
Fusse der phlegmatischen Deutschen zu einem ewigen Tanze 
begeistert. Und das zum Vortheile des Parnasses, obgleich im 
gemeinem Leben das Springen der Esel schlechtes Wetter be- 
deutet, obgleich sonst eine Kugel auf der Kegelbahn, die mit 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I . BANDCHEN 4*5 

Hiipfenzum Keile irret, nicht gut geschoben heist. Denn unsere 
scharfsinnigen Autoren verstekken hinter immerwahrende Di- 
greBionen ihre Unbekantschaft mit der Materie. So schiizt der 
schiefgeworfene Stein sich nur durch Hiipfen auf dem Wasser, 
gegen das Sinken. Uberhaupt schmiegen sich luftlere Gefasse 
jedem Gegenstande an, und leichte Sachen fallen in verschiede- 
nen Absazen. Was noch mehr ist, nur der grosse Kopf eines 
heutigen Autors ist der Schuzengel seiner kuhnen Fusse. Die 
Horner der Gemse bewahren ihre fehlspringende Fusse vor dem 

10 Abgleiten in den Abgrund. Die schlafenden Augen des Nacht- 
wandlers leiten ihn auf seinen gefahrlichen Spaziergangen und 
sein Leben hangt an seiner Blindheit. Die Gewohnheit Digre- 
flionen zu machen, gleicht der Gewohnheit gewisser Geizigen, 
die ihren Gast zu ihren Freunden um Bewirthung betteln schik- 
ken, und sich Dank mit fremden Wohlthaten erschleichen. - 
Die meisten jezigen Autoren schreiben aus Has gegen alle Weit- 
lauftigkeit, stat der Romanen Universalhistorien der Geburten 
in ihrem Gehirne und die vorigen Biographen eines Harlekins 
sind zu Biographen ganzer Familien von Narren gereift. Nun 

20 erlebt der erste Band in kurzer Zeit Urenkel, und der Sohn 
wirbt dem Vater Leser, wie der Sohn eines Professors dem Kol- 
legium des seinigen Ohren und Beutel - nun findet der Gast 
stat des blosen Rindfleisches, worauf er geladen wurde, den 
ganzen Ochsen theilweise aufgetischt - nun verkauft das Jus 
Patronatus die Pfarre nur mit der Zulage einer Witwe von fiinf 
Kindern - nun schwangert eine einzige Begattung mit dem 
Apollo die Autoren wie eine einzige die Blatlause mit mehrern 
Geschlechtern. Das heiss' ich Fruchtbarkeit! Das heiss* ich Len- 
den, die einen ganzen Haram von Musen befriedigen! - Einige 

30 Romanschreiber kodern die Neugierde der Leser durch lange 
Vorenthaltung der Hauptkaraktere an und verwahren den Hel- 
den der Geschichte als ein Samenthiergen in ihrem Dintehfasse, 
bis er endlich durch die Feder dem zweiten Alphabete - dem 
Schopfer seines Embryonenstands - anvertrauet wird, und so 
durch das Honorarium almahlig zum Manne aufwachst. Die 
stolzen Autoren gleichen namlich den stolzen Kutschern, die 



416 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG 

das vorderste Pferd am weitesten von Wagen entfernt einspan- 
nen. - Einige Freunde der Ruhrung erregen mit vieler Klugheit 
die Unzufriedenheit des Lesers, durch eine widrige Endigung 
der Geschichte und jeder weis ihnen fur den Unwillen Dank, 
den die geendigte Lektiire hinterlast, wenn der Held und die 
Heldin ihre Liebe viele Bande hindurch gegen das Schiksal ver- 
theidigen und zulezt ohne den Lohn ihres Elends, ohne Vereini- 
gung, sterben. So versieht mein Schneider meinen Rok mit 
Knopf en und Knopflochern, der en nahere Vereinigung aber der 
modische Schnit desselben verhindert. - Die Schreibart der Ro- ro 
mane ist bekant. Die eine gleicht ungesalzner Butter, so milde 
und so fade! Die andere ist das Gegentheil, und riecht nach 
Zwang und wizigem Schweis. Ein durchgeschwiztes Kleid ist 
im gemeinem Leben ungesund, allein nicht im litterarischen, 
welches das Widerspiel des gewohnlichen ist, wie die Turkei 
nach Bjornstahl's Bericht das umgekehrte Europa. 

Nun komm' ich auf die Scharfrichter des Ruhms, auf die Zol- 
bedienten des Neides, auf die Schweizergarde vor dem Tempel 
der Ehre, auf die vortreflichen Leute, die die Fehler des Parnas- 
ses, gleich gewissen andern Leuten, die die Stadt vom Kothe 20 
reinigen, auf einem Haufen zusammenscharren, deren Tadel der 
verwustenden Zeit vorgreift, deren Feder den keimenden Lor- 
ber mit fressender Dinte schwarzt, oder die den Got einer Mode 
mit versteltem Beifal schminken; die vor dem Hunger zur Ver- 
laumdung gefliichtet, oder die auf dem Riikken der Missethater 
ihren Unterhalt einernten, und die Schande mit dem Staubbesen 
zuchtigen, um ihn nicht verdienen zu mussen - kurz auf die 
Sipschaft des Zoilus, d. h. auf die Kunstrichter. Denn obschon 
die Barbarei untergegangen, so verwesten doch ihre Zahne 
nicht, sondern verwandelten sich in Kunstrichter, die nur zu 30 
oft einander durch eine uneinige Starke aufreiben; eben so gien- 
gen die gesaeten Zahne jenes erlegten bootischen Drachen in 
Krieger auf, die sich selbst besiegten. Ein unwissender Kunst- 
richter mag daher wohl der beste sein? Und so ist es auch. Die 
Priester eines gewissen Volks stechen sich die Augen aus, um 
von den Gottern einer nahern Vertraulichkeit gewtirdigt zu 



GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 417 

werden. Daher thut ein Priester des Apols, dem er die Gegen- 
stande seines Neids opfert, sehr wohl, wenn er sich mit Hulfe 
einer schamlosen Unwissenheit zur Zunge des Musengottes 
aufwirft. Nicht bios die biirgerliche Gerechtigkeit soke man 
mit verbundenen Augen mahlen - welches nebenher anzumer- 
ken noch dazu fehlerhaft ist, indem die bestochenen Hande der 
Gerechtigkeit vielmehr andern die Augen verbinden. - Denn 
auch die litterarische richtet ohne Augen mit den Handen, und 
man schazt das Gewicht des Kunstrichters bios nach der Schwere 

10 seiner Faust, wie das Gewicht des Ochsens nach der Schwere 
seiner Vorderpfote. Stat das Urtheil von den Augen abhangen 
zu lassen, braucht er ja nur dem Munde des Publikums seine 
Schmeichelei oder Verlaumdung abzustehlen, und nur die 
Trompete der Fama mit seiner Pfeife zu akkompagniren. Und 
zu was auch Augen, da man tadeln kan, was man nicht gelesen? 
Eine misverstandne Stelle schaft das ganze Urtheil, und nach 
der Vorrede schneidet man die Kritik des ganzen Buchs zu. 
Denn wie manche das Herz auf dem Gesichte sehen, und auf 
der Stirne den abbrevirten, durch die Hand der Natur aufge- 

20 driikten Galgen lesen konnen, den die Hand des Henkers noch 
nicht aufgedriikt, so konnen scharfsichtige Rezensenten aus der 
Stirne eines Buchs seinen innern Werth wahrsagen, und die 
Hohe des Baums an iedem seiner Schatten abmessen. Ja oft komt 
einem Kritiker die Rechtfertigung seines Urtheils zu theuer, fur 
die Lesung einer langen Vorrede zu stehen; daher mus ein ohn- 
gefahrer Blik in das Buch fur den Beweis seines Tadels sorgen; 
daher verdankt er oft dem Zufal seine Rache. Denn wie Lavater 
in dem Daumen den ganzen Menschen sah, gleich dem Gron- 
, lander,- der die Frau des ersten Menschen aus dessen Daumen 

30 entspringen last, so saugt ein liebenswiirdiger Kunstrichter aus 
der giftigen Blume eines siissen Gefildes seinen Tadel, so bestraft 
er an einer ganzen Familie die Siinde eines einzigen. - Zu was 
Augen, da er ferner seiner verschleimten Zunge das Urtheil 
iiberlast? Der veranderliche Korper entweder rezensirt die Sele 
eines andern. Denn der Thermometer unserer Begierden ist im 
Blute, »der Barometer der Denkungsart im Unterleibe«, und 



41 8 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG 

der Zeiger, ob der Verstand richtig geht, im Gehirne. Die Un- 
sterblichkeit eines Autors griindet sich daher bald auf die Ge- 
sundheit, bald auf die Kranklichkeit eines Kritikers, und sehr 
oft tadeln die Winde des Unterleibs, was die Winde der Lunge 
(die Schnupfen) loben, der Geschmak einer Krankheit wider- 
spricht dem Geschmak der andern, und die Dianste des Weins 
weisen die Diinste des Kaffees zu rechte. - Oder die veranderli- 
che Sele rezensirt. Wer weis nun aus seinem Linnaus nicht, daB 
verschiednen Thieren verschiednes Futter behagt? Der eine Re- 
zensent liebtnaiven, der andere stechenden Wiz; der Ochse Salz, 
der Esel Disteln. - Ja wenn auch der Rezensent ohne Unverstand 
rezensiren woke, darf er? »Mir fur einen Kreuzer Weihrauch« 
schreit ein Verleger in die kritische Bude; »und mir ein halb 
LothTeufelsdrek; mein Nachbar liegt in Todesnothen« ein and- 
rer. Sol da der Rezensent der Wahrheit um den Sold des Hungers 
dienen, und seinen Magen seiner Zunge aufopfern? Ochsengalle 
erregt den Appetit, warum sol sie nicht auch ihn zu stillen ver- 
braucht werden? Man kan auch wohl einem Autor einen Kopf 
anloben, wenn man dafiir silberne Kopfe zu gewarten hat, wie 
die Dankbarkeit in Italien mit silbernen Herzen die Altare derer 
Heiligen behangt, die menschliche Herzen von dem Tode erret- 
tet. Und oft endigen sich ia auch die Klopffechtereien der Kriti- 
ker und der Autoren mit gegenseitiger Freundschaft, so bald 
nur ihre Wahrheitsliebe ihre Beutel gefiittert; so tanzte in einem 
auto sacramentale der Teufel mit Christo eine Sarabande, nach- 
dem beide sich vorher mit Fausten geschlagen. Zu was Augen, 
da sie niemand von einem Kritiker zu fordern berechtigt ist? 
Von einem iungen namlich, welcher allein seinen Namen ver- 
dient. Nur die Hande, in denen noch die rothen Eindriikke des 
lehrmeisterlichen Stokkes brennen, klatschen iezt mit der kriti- 
schen Peitsche, und von diesen die sich nun kaum der empfindli- 
chen Anspornung zum Klugwerden entzogen haben, kan nie- 
mand billigerweise Verstand fordern, obwohl eben darum der 
Verleger Rezensionen; hochstens brauchen sie durch wieder- 
holte unsinnige Rezensionen das Denken zu erlernen, und durch 
Handeln den Kopf zu verbessern, wie die Fliegen ihre. Augen 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 4 19 

mit ihren Fiissen auspuzen. Auch wird kein ausgewachsener 
Bart sich an embryonischen Barten rachen - wozu nun Verstand 
in tadelfreiem Tadel? Ein iunger Rezensent freilicrr, gegen dessen 
Vervolkommung sich noch einige angebohrne Giite stemt, und 
dessen Blut noch in dem Bette der Scham lauft, thut sehr wohl, 
wenn er dem billigern Geriichte nicht so gerade entgegen- 
schwimt und sein Urtheil an das algemeine bindet; wenn er 
seiner Galle nur bei mittelmasigen Schriften wilfahret und nur 
an diesen seine Faust ihre Muskeln iiben last; so versuchen be- 

io riihmte Arzte die gefahrliche Kraft ihrer neuen Heilungsmittel 
an Missethatern, bis sie aus Vice-Henkern der Missethater end- 
lich Henker der Kranken werden. - Auch beruht auf der Unwis- 
senheit das Vermogen des Kritikers, Fehler aufzusuchen. Jedem 
andern als dem scharfsichtigen Auge des Gelbsiichtigen, entgeht 
die algemeine Farbe der Natur. Das Loschpapier ist grauer und 
schlechter als das Schreibpapier; allein eben vermoge seiner 
Schlechtheit saugt es die Dintenklekse auf diesem ein. »Aber 
>einsaugen< past dieses auf den Kritiker?« als wenn die Schlotfe- 
ger nicht selbst schwarz waren und die Farber nicht die Farbe 

20 hatten, die sie ihren Zeugen geben! als wenn Lichtpuzen (Puz- 
scheren) durch den schwarzen Docht, den sie von dem Lichte 
abnehmen und in sich zusammenhaufen, nicht auch selbst ge- 
schwarzt wurden! Und zu was auch endlich Augen, da sie zu 
den Hauptendzwekken des Kritikers zur Verlaumdung und 
Schmeichelei entbehrlich sind? Und hieruber wil ich einiges sa- 
gen. DenNeid, diesen Bastartunsersersten Triebes, dieses Kind 
des Mangels, diese Kost der Schwindsucht, erwarmet das Genie 
zum geiffernden Leben. Denn die Sonne schwarzt das Gesicht, 
und ie mehrere Lichter in einem Zimmer sind, desto mehrern 

30 Schatten wirft ein dunkler Korper. DaB aber gefiihlte Schwache 
leichtzum Neide reift und schwarze Dinte gelb wird, ist natiirlich. 
Journale nun sind die Magazine des Neides, und gleichen dem 
Pasquin in Rom, den die Rache in ihre Geburten kleidet und 
die Verlaumdung mit ihrem Geifer umspint; Rezensenten nun 
sind die Leute, die gleich gewissen Volkern zur Geburt eines 
Buchs weinen und zu seinem Tode lachen, die wie die Priester 



420 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

eine Leichenpredigt mehr als eine Taufe lieben, und mit ihren 
Kugeln um den Fal der meisten Kegel weteifern. Dazu mus 
der Kopf und das Herzzugleich helfen, und Scheingrunde miissen 
die Verlaumdungbeschomgen- so verblendet die Erde als aufwal- 
lender Stauh die Augen und beflecktzk nasser Koth die Fiisse. Wohl 
dan dem Rezensenten, wenn seine Dinte iede verhaste Schonheit 
wegfrist, wenn das Gold in seinem aqua regis und die Perle 
in seinem Essig zergeht! Wohl dan dem Rezensenten! Denn das 
Opfer seiner Feder unterliegt einer doppelten Schande, der eige- 
nen und der fremden, und der besiegte Riese errothet iiber die 10 
siegenden Zwerge, stat daB grosse Manner, durch grosse Man- 
ner fallend, wenigstens mit Ruhm fallen, die Ehre mit ihrem 
Besieger theilen, und durch einen schonen Untergang die triiben 
Wolken des verflossenen Lebens vergolden. Wohl dem Rezen- 
senten, wenn von dem Stich einer einzigen Feder fremder Ruhm 
verwelkt, wenn er mit einer einzigen Wizelei das Produkt eines 
Genies fur einen Haufen sinloser Buchstaben, deren Werth et- 
wan auf aussern Firnis beruht, erklaren kan; so verwandelt der 
Stich einer Schlupfwespe den Sodomsapfel in ein Behaltnis 
schwarzen Staubs, das die Nascherei noch durch eine schone 20 
Oberflache tauschet. Aber freilich grabt oft der harte Diamant 
in den feindlichen Hammer die Merkmale seines Widerstands; 
freilich gaukeln oft umsonst die luftigen Berggeister dem fleissi- 
gen Bergmanne die Veranlassung zu einer furchtsamen Verach- 
tung des goldnen Zieles, vor. Und doch, wenn auch! Nicht 
iedes Verdienst ist gegen die Feinde seines Werths gewafnet, 
deren Schwache der Fleis und die Anzahl verbessert. Tausend 
Wassertropfen holen auch den Scheitel einer Bildsaule aus; auch 
Wurmer konnen die Patente der Ewigkeit zernichten, und die 
Exkremente vieler Fliegen das schonste Papier beschmuzen; 30 
auch ohne die erschiitternden Waffen des Elephanten, durchna- 
gen freundschaftliche Holzwiirmer den Ruhm und zerlochern 
seine Feste. Zwar stirbt vielleicht innerer Werth nicht immer 
an der Kritik, aber doch sein ausserer Glanz; so schwarzt nach 
Drummond, der Bis einer Otter die Haut des Menschen, aber 
todtet ihn nicht. Darum spiiren einige Rezensenten am Grossen 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 42 1 

das Kleine auf, um dan dariiber zu lachen, und vergiften gleich 
den Schlangen, die gemachte Wunde. Andre, menschenfreund- 
licher, verlaumden bios durch Stilschweigen. Einige geiseln 
durch versteltes Lob die unbemerkten Fehler, ihre Arznei scha- 
det mehr als die Krankheit, und mehr als Gift vergiftet ihr Ge- 
gengift. Andere rauchern nur verwesten Nasen, (iberziehen wie 
die Perser, die Toden mit Honig, und bewerfen sie wie die Grie- 
chen mit Kranzen; loben als Alte Alte, und salben wie die Turken 
einander die Barte. Dafur brechen iunge hofnungsvolle Dichter 

10 und Rezensenten fiber grauen Ruhm den Stab, trennen von 
weissen Haren den freundschaftlichen Lorber, wie die Kohlmei- 
sen ihre altern Mitbriider todten, und ihr Gehirn fressen, diingen 
mit verwestem Ruhm ihren eignen, masten sich wie die Hyane 
von aufgegrabnen Todten, und gleichen ganz den stechenden 
Wespen, die das Mark verstorbener Pferde gebahren sol. Und 
einige endlich versuchen durch Unbilligkeit zur Erwiederung 
derselben zu reizen, und auch oft beist die Wuth des Hundes 
in einen Menschen Wuth. Und vorausgesezt, da(3 ein unbilliger 
Angrif den Autor nicht zu angenehmen und lehrreichen Ant- 

20 worten veranlasset, wie Affen auf Kokosbaumen sich mit Ko- 
kosnussen gegen die Steine der Indianer vertheidigen, vorausge- 
sezt, daB die voreilige Ungerechtigkeit des Kritikers den Autor 
nicht aus einer unvorhergesehenen Unbekantheit reisse, wie der 
Honigsucher (viverrra melivora) in die Baume, deren Honig- 
schaz ihm unerreichbar ist, das Merkmahl ihres Werths durch 
seine Zahne grabt, dies vorausgesezt, sind der Rache des Kunst- 
richters mehr grosse als, kleine Schriftsteller vorzuschlagen. 
Stechfliegen stechen leichter durch einen seidnen als einen wolle- 
nen Strumpf . Und welcher Beutelschneider wird Diogenes Pera 

30 bestehlen, welcher Rauber in Diogenes Fas einbrechen? welcher 
Kritiker nicht den Schlangen ahnlichen wollen, die nur Frosche 
fangen, die sich bewegenl - Allein ein achter Kritiker mahlt nicht 
nur wie der Neger, die Gotter schwarz, sondern auch den Teufel 
weis. Denn nichts ist billiger, als schwachen Kopfen durch Lob 
aufzuhelfen, und ihnen durch den Posaunenton des Beifals neue 
Produkte abzufordern, wie Postknechte durch gefalliges Pfeifen 



422 JU&ENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

ihren Pferden die Erleichterung der Harnblase abschmeicheln. 
Ein achter Kunstrichter iauchzet da Land! Land! wo die Entfer- 
nung dem Dunst und dem Nebel Gestalten leihet. Sein Mitleiden 
versusset dem Ruhme die Sterbensstunde durch Zusprache, und 
berauscht den Schriftsteller wie sonst die mitleidige Gerechtig- 
keit den Missethater, durch Weihrauch zu einer gliiklichen Fiihl- 
losigkeit fiir das Ende. Ja da man sonst die gehdrnten Opfer- 
thiere der Gotter mit Blumenkranzen kronte, warum sol er die 
Opfer der Kritik nicht mit Lorberkranzen zieren? - Derienige 
ist der vortreflichste Kunstrichter, der immer das Lob durch 10 
Tadel versalzet, der nie die Kralle darreicht, ohne cin wenig 
zu krazen, der gleich dem Schoshunde mit spizigen Zahnen seine 
gelinde Zunge verpallisadirt. Ist ia doch auch die Taube nicht 
ohne Galle. Bittere Magentropfen auf Zukker gegeben, lassen 
sich wohl einnehmen. Auch macht man die Prikken in Essig 
und Lorbern zugleich ein, und die Lappen gehen aus dem heissen 
Bad ins kalte. - Noch einige vermischte Anmerkungen iiber 
die Rezensenten! Die Menge derselben beweist, wie die Menge 
der Mause eine gesegnete Erndte. - Der Faust unserer tiefsinni- 
gen Kunstrichter verdanken wir die Entwiklung mancher 20 
Schonheiten; denn treten nicht auch die Klauen der Ochsen bei 
den Orientalern das Getraide aus den Garben heraus? Und auf 
der andern Seite mausen die Kazen so gut wie die Eulen, und 
verrichten nicht oft die Murmelthiere des Savoyarden die 
Dienste eines Schlotfegers? Ja die Rezensenten verrichten mehr; 
denn ihre Wuth hat manches Genie zur Satire begeistert, und 
Dunsen sind wir die Dunziade schuldig, so veranlaste das Zi- 
schen der Schlangen der Gorgone die Minerva zur Erfindung 
der Flote. - Kein Japaner darf einen Baum umhauen, ohne einen 
neuen zu pflanzen - dummer Gebrauch! Und wenn wir ihn 30 
annahmen, wer wiirde rezensiren? Ich lobte oben die Unwissen- 
,heit der kritischen Kopfe, aber ich hatte auch die Klugheit ihrer 
Handlungen und ihrer Ranke loben sollen, denn der Teufel 
prangt nicht bios mit Ochsenhornern, sondern auch mit Pferde- 
fiissen. Auf den Kritikern beruht das gute oder schlechte Schik- 
sal des Parnasses; dies sieht man auch daraus, weil die Kritik 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 423 

sich erst auf den Ruinen des Genies erhebt, und der Sieg der 
Rezensenten erst auf die Niederlage der schonen Geister folgt. 
Die Knochen im Gesichte ragen erst dann hervor, wann die 
schonen Wangen eingefallen. Im Winter steigt der Merkurius 
des Warmenmessers erst bei schlechtem Wetter. Doch lokt oft 
nicht der Regen, sondern nur die Ahndung desselben die Regen- 
wurmer aus der Erde hervor. - 

Endlich einige Kleinigkeiten! Das Titelblat ist das wichtigste 
Blat des ganzen Buchs, denn nach dem Gesichte wiirdigt man 

10 die unbekantern Theile eines Menschen. Daher mus ein Schrift- 
steller zur Erfindung eines prachtigen Titels, sein ganzes Gehirn 
aufbieten und der scheinbaren Geringfugigkeit desselben ist er 
alle mogliche Ausschmukkung schuldig. So tragt man in Japan 
nur Geflugel mit vergoldeten Schnabeln auf die Tafel. Darum 
aber braucht er nicht das zu leisten, was er auf den Titel ver- 
spricht - Jener Mahler schrieb unter seine Figuren nicht, was 
sie waren, (denn das sah man ia) sondern was sie sein solten. 
Und welcher vornehme Man ist nicht weniger als sein Titel? 
Da ferner die Schriftsteller ihre Verewigung nur von den Jour- 

20 nalen durch die Aufbewahrung ihrer sinreichen Titel zu gewar- 
ten haben, wie die Bauern in einigen Orten die Kopfe aufgeges- 
sener Heringe an einem Faden zusammenreihen und an die 
Stubendekke hangen, so ist es auch darum gut, alien Wiz in 
den Titel, wie in eine Urne, fur die Nachwelt zusammenzudran- 
gen. - Auch das Motto ist nicht zu vergessen. Wie schon glanzt 
der Name eines grossen Schriftstellers, der das Motto herleiht, 
auf einer modischen scharfsinnigen Schrift! Eben so glanzt das 
Bild der Sonne auf der Stirne des gotlichen Ochsen der Franken. 
Je weniger das Motto sich zum Buche schikt, desto mehr macht 

30 es dem Wize des Verfassers Ehre, dem auch die kleinste Ahn- 
lichkeit nicht entgangen. Vorzuglich dem Titelblatte ernsthafter 
Streitschriften last ein spash'aftes Motto, aus Registern gestoh- 
len, ungemein wohl. Eben so schimmern auf den Helmen der 
Held en Federn aus dem Schwanze des Pfauen. Ich wiirde auch 
zur Verschonerung eines Titelblattes das geistreiche Portrait des 
Verfassers selbst vorschlagen, wenn der kopierte Geist in seinen 



424 JUGENDWBRKE * 2. ABTEILUNG 

Gesichtszugen einen von dem Versuche nicht abschrekte, das 
Original desselben im Buche naher kennen zu lernen; so entzieht 
oft das ausgehangte Bild einer Misgeburt die Neugier der Zu- 
schauer, der Betrachtung des Originals. - 

Alle Schriften strozen iezt stat der Gedanken von Gedanken- 
strichen, die man auch Gedankenpausen nennen konte. Man 
durchstreicht iezt nicht mehr Worter, aber man durchstreicht 
doch dafur das lere Papier. Die Guayruer lassen neben dem be- 
grabnen Korper einen lerenPlaz fur den Geistxmd unsere grossen 
Kopfe neben den Worten einen fur die Gedanken, und deuten 10 
den Sin, wie Heraldiker das Silber, durch leren Raum an. Man 
vertheuert durch eine solche Verschwendung der Dinte seine 
Ware, wie die Kaufleute durch Benezung die ihrige. Gedanken- 
striche sind Furchen ohne Sam en - sind Linien, die der Chiro- 
mantist zu lesen gedenkt, und fur deren Bedeutung der Zufal 
nicht gesorgt - sind das algebraische Zeichen der Subtrakzion 
- sind die Gebeine verstorbener Gedanken - sind die Schleppen 
oder Schwanze der Perioden, welche Schwanze auch oft den 
Kopf der Perioden, wie die Schwanze bekanter Vogel den Kopf 
der Damen zieren - sind Briikken, iiber die Kliifte unahnlicher 20 
Materien geschlagen - sind Mittel, unsere Bewunderung vom 
Genus ihres Gegenstandes zu trennen, wie iener zwischen sich 
und seine schone Schlafgenossin einen Degen legte. - Aus die- 
sem wird ieder den verschiednen Gebrauch und die Nothwen- 
digkeit der Gedanken striche ersehen konnen, und meine Gedan- 
kenstriche werden sich auch selbst loben. - 

Schade, daB wir iezt nicht mehr so unsere Worter wie unsere 
Kleider verstumlen. Doch last es noch in Gedichten, wo jeder 
Vers gleich einem Gleichnis ubel zu Fus ist, sehr schon, wenn 
das holzerne Bein des Apostrophs das weggeschossene naturli- 30 
che ersezt, wenn man die Fiisse der Worter in enges Sylbenmas, 
wie die Sineser die weiblichen Fiisse in enge Schuhe, einzwangt. 
-Man verstiimlet die Worter nicht bios, wie die Wilden ihre 
Kinder, der Zierde, sondern auch der Erhabenheit wegen. Ein 
Wort mit den krummen Narben eines Federhiebs, wie marzia- 
lisch sieht es! - 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 4 2 5 

Da man oft zwei Uhren und auf Einer Seite zwei Lokken 
tragt, da man Monsieur oder Herr im Briefe aus Hoflichkeit 
ve'rdoppelt, so wird man leicht sehen, daB die Verdoppelung 
der Frag- und Ausruffungszeichen nicht bios modisch, sondern 
auch verniinftig ist. Manche Autoren konnen dadurch mehr 
ausdriikken, als sie im Sinne haben! 

Kaum brauch' ich zu erirmern, daB der Verfasser sein Buch 
mit schonen Kupferstichen zieren miisse, die seine schlechten 
Zeichnungen heben. Diese Mode errinnert mich an die Mode 

io einiger armen Agypter, die ihren Gozen stat der Schweine die 
Abbildungen der Schweine opferten. Oder daB er fur schones 
Papier sorgen miisse? Denn wer isset gern auf einem schmuzigen 
Tischtuche? Und endlich, daB er sein Kind in der moglichst 
kleinen Gestalt erscheinen lassen miisse. Grosoktav ist der Posi- 
tiv des Wizes, Kleinoktav sein Komparativ, und Duodez gar 
sein Superlativ. Das Gehirn verhalt sich zum Kopfe umgekehrt. 
Auch bemerkt Home in seiner Geschichte der Menschheit sehr 
gut, daB bei der Verfeinerung des Gaumens gross e Stiikke 
Fleisch aus der Mode kommen. Der rohe Angelsachse briet oft 

20 einen ganzen Ochsen, und der feine Siheser fiillet seine Schiisseln" 
mit kleingeschnittenem Fleische an. - Ich habe nichts dawider, 
wenn man stat der gothischen Lettern romische wahlet. Denn 
es beweist, daB die klassische Gelehrsamkeit unter uns noch 
nicht ausgestorben. - 

Nun bin ich fertig; das heist, ich habe durch das Gemalde 
eines heutigen Autors das Gemalde eines vortreflichen gegeben, 
und durch Schilderung der iezigen Schreiberei, schreiben ge- 
lehrt. Freilich ist nur das Beispiel unsers Parnasses Muster. - 
Aber das Dakapo meiner halbgeheilten Gicht verscheucht alle 

30 Musen aus m einen Fingern, und notigt mich zum Schlusse. 
Welcher gesattigte Magen liebt ubrigens auch ein langes Dank- 
gebet? Je mehr ein fallender Korper sich der Erde nahert, desto 
geschwinder fait er, und ich abbrevire wenigstens die Endsylben 
der Worter. Kurz, Amen! - 



426 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 



II. 

User die Theologen 

Ein Brief 



Theuerster Hen Konfrater! 

Ihr Stilschweigenhat so lange gedauert als meines, aber Sie wer- 
den das Ihrige nicht so gut entschuldigen kdnnen. So viel zu 
thun, wie ich, haben Sie wenigstens nicht gehabt! Denn Iesen 
Sie nur. Sie kennen den beriihmten Freigeist in meiner Diozes, 
dessen Schriften die ganze Welt kent. Er ist tod - aber er starb 
besser als er lebte. Es wiederfuhr ihm namlich das Schiksal ver- 10 
schiedener grosser Manner, deren Leben ihr Tod beschamte. 
Diese Lichter der Welt gleichen unsern gewohnlichen Talglich- 
tern, die, wennblos ihre Flamme verloschen, fortglimmen und 
stinken. 3 - Ein hiziges Fieber fras so alle Krafte meines Freigei- 
'stes auf, siegte so iiber seinen Verstand, lahmte so seinen Muth 
und widerlegte so seine Grundsaze, daB ich ihn nach einem eifri- 
gen Gebete vermittelst heisser Buspredigten und vermittelst des 
Arguments a tuto von acht bis zehn Geheimnissen iiberzeugte. 
Und schon hatte zu den librigen eine schadliche Aderlas ihn 
vorbereitet, und ich brauchte an sein Heil nur noch die lezte 20 
Hand zu legen, als der Tod meiner Bekehrung das ganze Spiel 
verdarb, und die Schere der Parzen mit seinem Leben zugleich 
meinen Sorites zerschnit. Freuen Sie sich der Macht der Ortho- 
doxie. Zwar war sein Korper seinem Geiste gewachsen, und 
seine Krankheit allein sorgte fur den Beweis meiner Saze; zwar 
vereinigte sich sein heisses Blut mit seinen schwachen Nerven 
und sein Kopf mit seinem Magen, die Sele dem Rachen des 
Teufels zu entreissen, und die Phantasie erwarmte den erstarten 

a Bios auf dem Korper beruht die ganze Standhaftigkeit im Tode. 
Freilich stinkt ein glimmendes Talglicht; allein ein glimmender Wachs- 30 
stok riecht gut. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 427 

Aberglauben der Kindheit zur Besiegung der Vernunft - allein 
dies alles verdunkelt den Triumph meiner Dogmatik nicht im 
geringsten. Denn es ist ein grosser Beweis fur die Wahrheit 
des Christenthums, wenn der, der Verstand besizt, dasselbe an- 
nimt, so bald er ihn verliert, und ohne ubernatiirlichen Einflus 
ist es unmoglich, eine kranke Sele in einem kranken Korper 
zu heilen. Fur vier Wande schimmert also mein Sieg zu prachtig; 
darum beschreib' ich ihn in einem Buche, das ich zum Besten 
der Christenheit fur ein ansehnliches Honorarium drukken las- 

I0 sen wiL Denn dem gewissen Spotte aller Klugen opfere ich die 
wahrscheinliche Erbauung etlicher Schwachen nicht auf. In die- 
sem Buche nun versichere ich die Welt, daft ich durch eine 
Menge Disputazionen iiber die natiirliche Theologie meinen 
Freigeist zum Christenthum vorbereitet, dessen Geheimnisse 
er alle vor seinem Tode, versichere ich, im Glauben angenom- 
men. Hiezu habe ich mir von dem hiesigen Bucherverleiher 
etliche Bucher entlehnet, um daraus die Beweise fur die Wahr- 
heit des Christenthums abzuschreiben, mit denen ich meinen 
kranken Proselyten bekehret. Zu diesen fremden Beweisen fug' 

20 ich einen eignen unwiderlegbaren hinzu, der mir neulich im 
geheimen Gemach beigefallen, und dessen Kraft auf Gedanken- 
strichen, ExklamazionenundFragezeichenberuht. Mein Gefuhl 
namlich widerlegt die Vernunft der Freigeister d. h. mein Un- 
terleib und meine Safte entwafnen den Kopf der Unglaubigen. 
Und ein ganzer Rumpf mus doch wohl einen Kopf iiberwiegen? 
Wie denn iiberhaupt mein Blut und meine Nerven dem Satan 
noch manchen Abbruch thun werden. Ja selbst mein kiinftiges 
Fet sol fur die Erleuchtung der Heterodoxen schmelzen - diesem 
Versprechen verdank' ich auch mein fetmachendes Amt. - Ich 

30 werde dem gedachten Buche auch allerhand Gebete fur Ver- 
stokte einverleiben, an deren Dasein mein Herz aber wenig An- 
theil hat. Denn wie die Katholiken Rosenkranze aus Ochsenhor- 
nern fabriziren, eben so miissen Protestanten die Gebete bios 
aus ihrem Kopfe herausspinnen. Endlich werd' ich allem diesen 
noch die Widerlegung eines Buchs meines Helden beifiigen, das 
schon neulich von einem Schok Programmen griindlich wider- 



428 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

legt worden. Um meinen Lesern, die ienes Buch nicht haben, 
die Kosten des Ankaufs und denen, die es haben, die Miihe 
des Nachschlagens zu ersparen, werd' ich meiner Widerlegung 
gegen iiber, alle Einwiirfe meines Gegners noch einmal abdruk- 
ken lassen. Ubrigens enthalt ia auch die ostliche Seite von der 
Wurzel des Eselsgallenbaums den Gift, gegen den die westliche 
Seite seiner Wurzel mit ihrem Gegengift verwahrt. - Ich werde 
noch etwas drukken lassen. Auf die Nachricht namlich, daB 
iemand aus der Bibel eine Quintessenz von lehrreichen Fragezei- 
chen distilliret habe, b habe ich eben dasselbe mit den Ausruf- 
fungszeichen versucht, worauf die Samlung bibJischer Kom- 
mate und Punkte folgen sol. Wiewohl das bestandige 
Nachschlagen in der lutherischen Ubersezung, meine Finger viel 
Nachdenken und vielen Fleis gekostet, so belohnet mich doch 
dafur die Hofnung, alle Gegner der Religion dadurch entwafnet 
zu haben. Daher ich diesem Auszuge noch (iberdies Anmerkun- 
gen beigefugt, die mehrentheils unwiderlegbare Fragzeichen, 
riahrende Exklamazionen, und niizliche Gedankenstriche iiber 
die exzerpirten Bibelspruche enthalten. - In der Vorrede sag' 
ich alien Heterodoxen ins Gesicht, daB sie Zahnarzte sind, die 
der runzlichten Theologie die hohlen Zahne ausreissen, und ihr 
durch diese Operazion den iiblen Athem rauben, an dem sich 
tausend exegetische Nasen weiden; ia ich werf ihnen ihre Unart 
vor, die Sprache der Bibel in die heutige zu kleiden und so auszu- 
legen, daB man es versteht - stat daB bessere Exegeten, wie 
die Elephanten, nie das Wasser trinken ohne es zu triiben. Auch 
thue ich darin einen kleinen Seufzer iiber mein Unvermogen, 
nicht die Nacht wie Jupiter bei der Alkmene.verlangern zu kon- 
nen. - Aber genug von meinen Biichern, und nun etwas von 
meinen Kollegen! 

Diese Mitarbeiter am christlichen Weinberge, die insgesamt 
das Bier lieben, versamlen sich von Zeit zu Zeit in die Wohnung 
unsers Hern Superintendenten, wo sie sich iiber das Beste der 
Kircheimmerberathschlagen, und selten zanken und oft betrin- 

b Siehe den Pontius Pilatus von Lavater. 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I . BANDCHEN 429 

ken. Wie ersprieslich dieses Institut fur das Beste der Kirche 
ausfalle, mogen Sie daraus urteilen! Jeder Pastor scharret sich 
ein Haufgen kasuistischer Zweifel zusammen, an denen sich un- 
ser gemeinschaftliche Scharfsin iibt. Zwar entstehen und leben - 
diese Zweifel von den Ausdiinstungen schaler Kopfe, allein sie 
kiizeln auch wieder dafiir die griibelnde Eitelkeit dieser Kopfe. 
So errichteten die alten Peruaner dem Vorsteher ieder Provinz 
einen Tribut von Bechern vol L-s-, die noch in andrer Riiksicht 
ienen Zweifeln ahnlichen. Der Herr Superintendent ferner - 

10 doch ich mus Sie erst ihn kertnen lehren. Er ist das Echo der 
Orthodoxie, und untersucht zwar nicht, glaubt aber doch dafiir; 
hat nicht Augen zum Sehen, sondern nur Ohren zum Horen. 
Einige meinen, er ziehe die Dumheit, wie andere Leute die Son- 
tagskleider, die Woche nur einmal an; aber ich bin seiner From- 
migkeit das Gestandnis schuldig, daB er unausgesezt ein treuer 
Freund des Nichtdenkens gewesen, welches er von seinem Vater 
seliger nebst alten Biichern und verschlagnen Munzen geerbet. 
Daher drukt er sich gewisse Meinungen fie/ ins Gedachtnis, um 
seinen Verstand fest davon zu iiberzeugen, und halt seine in 

20 Schweinsleder eingebundne Schilde den Pfeilen der Weisheit 
entgegen. Und mit einem solchen Verstande trabt er denn so 
in den Himmel, wie Muhammed auf seinem Esel ins Paradies. 
Er ist so heilig, daB er tugendhaft zu sein nicht nothig hat; daher 
er auch seltner in die glanzenden als nichtglanzenden Laster der 
Heiden verfalt. Mit den Seufzern, der Quintessenz seiner guten 
Handlungen, verbindet er nochhaufiges Beten, weil er sich sei- 
ner Zunge als des einzigen Glieds bewust ist, dessen Thatigkeit 
die wenigste Miihe und den kleinsten Verstand erfordert. Um 
doch auch zu arbeiten, beobachtet er den MiiBiggang seiner Sele, 

30 und stelt Wetterbeobachtungen iiber die aufsteigenden Wolken 
seines Unterleibes an. Seinem Nachsten kan er hochstselten die- 
nen, weil er immer Got dienen mus. Doch thut er demselben, 
um ihn zur Busse zu leiten, oft einen kleinen Schaden an, und 
hast ihn, weil ihn Got hassen wird. Diesen Has vergrossert nicht 
selten eine iibernaturliche Erleuchtung, die ihm etwas gewohn- 
liches ist - eben so vermehrt der Strahl der Sonne die Scharfe 



430 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

des EBigs. In seiner Jugend sol ihn nie die Menschenliebe verlas- 
sen haben, die die Lenden zeugen und todten. Daher er auch 
gelehrigen Selenschwestern nie bessere Belehrung iiber wichtige 
Tropen in der Mystik versagte. Freilich reiften die aufgestiegnen 
Gedanken seiner irdischen Glieder in dem himlischen Gliede, 
in dem Kopfe, zu gesalbten Seufzern, wie die Dunste kothigter 
Orter in der Hohe zu Schnee gefrieren. Sein Bruder (vergeben 
Sie mir diese Fortsezung meines Schilderns, in das ich nun ein- 
mal gerathen bin) hat sich durch seine Verdienste zu einem Kon- 
sistorialrath empor geschwungen. Denn er hat namlich mehr 10 
Kapitale als kluge Gedanken, und eben so viele Thorheiten als 
Schmeichler. Sein Kopf ist der Sklave seines Magens, und seine 
Orthodoxie nicht selten das Opfer seines Weins; er schazet aus- 
ser seinem Kochbuch auch seine Dogmatik, und ausser seinem 
Koche, auch seine Kollegen, aber Unruhen seines Unterleibs 
erf (ill en ihn mit Gleichgiiltigkeit gegen die Unruhen der Kirche. 
Zum Besten lehrbegieriger Wiirmer hat er sich auch eine Biblio- 
thek angeschaft, und seine Biicher nahren weniger ihn als nach- 
barliche Mause. Ausser diesen Verdiensten sol ihn auch eine 
Hure mit der Wiirde, ein so wichtiges Glied der geistlichen Braut 20 
zu sein, gestempelt, und eine Schaferin ihm den Schafstal erofnet 
haben. Darum vertheilt er auch dankbarlich Amter und Huren 
in Paren. - Ubrigens last seine Zunahme an Fet und Dumheit 
sich nur mit der Zunahme seiner Ehre vergleichen. - 

Der Herr Superintend ist also, um wieder aufs Obige zu kom- 
men, der Vorsteher der ganzen Versamlung. Er schlichtet jeden 
Zank durch seinen Ausspruch, der natiirlicher Weise alzeit rich- 
tig ist. Seine Nase weis jeden Embryon eines Zweifels in unsern 
Kopf en aufzuspiiren, und seine Zunge denselben zu vernichten. 
Ein gewisser Vogel, der Ochsenhakker, (Buphaga africana L.) 30 
sol mit seinem Schnabel so lange den Riakken des Rindviehes 
verwunden, bis er die Larven der Ochsenbremen unter der Haut 
desselben hervorlangen kan. Ein nuzlicher Vogel! - In dieser 
Geselschaft schlug man neulich verschiedene Mittel vor, die 
Ausbreitung der Heterodoxie zu hemmen. Zum Beispiel, um 
die Gegner zu widerlegen, miisse man nicht mehr widerlegen, 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 43 1 

sondern schimpfen. Das heiss' ich gut gerathen! Denn unsere 
Stimme ist iiberhaupt fCirchterlicher als unser Kopf. Sol doch 
nach dem Berichte der Alten ein Elephant vor dem Grunzen 
eines Schweines zittern. Und da die Welt mit einer solchen 
Blindheit gescjilagen ist, daB sie anfangt im Finstern nicht mehr 
zu sehen, so ist es sehr billig, ihren Augen durch Faustschlage 
Lichtzuverschaffen. AuchwirdjedeSeleden Ruhm jener Ganse 
des Kapitols verdienen wollen. - Ein anderes Mitglied meinte, 
Aufwieglung des Pobels oder der Obrigkeit wiirde der jezigen 

io Erleuchtung am besten abhelfen. So reizen die Wilden ihre 
Hunde, die Finsternis'des Mondes wegzubellen. Diesem Vor- 
schlage fiigte er noch eine riihrende Leichenpredigt auf die 
Dumheit bei. »Schade freilich sagt' er, dafi man nicht mehr 
durch die Asche verbranter Kezer die Kirche vor andern Kezern, 
wie der aberglaubige Schafer durch pulverisirtes Wolfsfleisch 
seine Schafe vor den Wolfen, schiizen kan! - Aber warum seid 
ihr verschwunden, ihr Zeiten, wo Dumheit sich mit Feuer am 
Lichte der Vernunft rachte, wo die Frommigkeit noch lange 
Ohren trug, und lange Strahlen warf, wo lateinisches Yanen 

20 noch der leisen und einfachen Stimme der Wahrheit gewachsen 
war - ihr Zeiten, wo priesterliche Gewalt sich auf das Elend 
des Klugen und des Pobels zugleich steifte, und wie der Tempel 
zu Ephesus, sich auf Kohlen der Eichen und auf Schaffelle mit 
Wolle, griindete, und wo die Uberbleibsel der Wissenschaften 
nur noch in dustern Kopfen schimmerten, wie man sonst, da 
es noch keine Laternen gab, das Licht in Ochsenhorner stekte. 
Freilich ist diese Finsternis unserer Zeit bios dem Fiirsten der 
Finsternis zuzuschreiben. « c - Aber es ist noch nicht so arg, warf 
mein Nachbar ein. Die meisten wiederkauen nur die Heterodo-. 

30 xie, und sie ist bios im rechglaubigen Maule und noch nicht 
im Magen. Zwar geben wir viele unserer Waffen dem Roste 
Preis; allein von Messe zu Messe liefert doch die theologische 
Schmiede neue oder Wenigstens solche, an denen man die Merk- 

c Eben so biirdet der Sineser einem kampfenden Drachen die Verfin- 
sterung des Mondes auf, die er bios sich und seinem dunkeln Wohnplaze 
aufzuburden hatte. 



432 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

male ihres Gebrauchs und ihres Alters weggeschliffen, und ich 
mus zur Ehre verschiedener jeziger Theologen gestehen, da6 
sie auch da nicht denken, wo sie nicht nachbeten. »Aber das 
ist ja schon arger als arg, nicht mehr nachbeten«, sagte der Her 
Superintend. »Ew. Hochehrwiirden haben volkqmmen Recht« 
sagte mein Nachbar. - Ein andrer schob die Schuld der Ver- 
schlimmerung der priesterlichen Denkungsart auf unsern Man- 
gel an polemischen Kentnissen. Sonst scharfte jeder Student an 
den Kezern, die er aus der Vorlesung eines Doktors kennen 
lernte, seine polemischen Waffen, gleich dem Kinde, welches I0 
seinen Zahnen das Auskriechen vermittelst der Wolfszahne er- 
leichtert, mit denen es sein Zahnfleisch reibt. Aber wo ist jezt 
das Studium der Polemik? Oder vielmehr das Studium der Pa- 
tristik, rief ein dritter. In London ofnete man unter dem Karl 
dem II. die Graber, um iiber die Pest durch Gestank zu siegen, 
und gewis wiirde dem Unglauben das erneuerte Studium jener 
vortreflichen Kirchenvater, eines Laktanzius, Augustinsu. s. w. 
steuern, das nun durch Semlern ganz in Abnahme gediehen ist. 
Vorausgesezt nur, sagte ein Kandidat, daB man die Kinder besser 
erziehen lernt. Ichinformire schon dreissig Jahr, und meine Ehre 20 
ist schon eben so lange das.Opfer der eigensinnigen Eltern, die 
ihren Kindern stat dunkler Worte klare Ideen eingepragt haben 
wollen. Als wenn Schullehrer nicht eben so wie die Kirchenleh- 
rer den holzernen Armen gleichen musten, die an den Wegen 
den Wanderer zurechtweisen, als wenn Gedanken in jungen 
Kopfen nicht kiinftigen Unglauben vorherbedeuteten, wie nach 
der Weissagung des Bauers die durch Blatminirer entstandenen 
Krummungen auf den Baumblattern, Anzeichen kiinftiger 
Schlangen sind. Nachdem man endlich den »Anekdoten des 
Hrn. Tellers fur Prediger« die Lobrede gehalten hatte, daB ihre 30 
Gemeinniizigkeit alien Beifal des jezigen Publikums und alle 
die Bewunderung der Nachwelt verdiene, welche die algemeine 
deutsche Bibliothek, nach der Weissagung des Hern Verfassers, 
entbehren wird, daB ferner dieses vortrefliche Buch, welches 
nur den Verstandigen misfalle und dagegen jeden Orthodoxen 
fur den stechenden Wiz seiner Gegner schadlos halte, der weis- 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 433 

sen Nieswurz (veratrum album L.) gleiche, die fur die Pferde 
ein Gift, und fur die Geschwiire des Rindviehs eine Arznei ist, 
welche durch die Bremsen auf den Riikken desselben entstehen 
- nachdem man endlich die Bonsmots der Pfarhern in diesem 
Buche gelobt und auf Veranlassung des Wizes des Hern Tellers 
die Bemerkung gemacht hatte, daB modische Laune sich selbst 
zu finstern Kopfen paren konne, wie Herr Gachet von Beausort 
in der Leber der Hammel Schmetterltnge gefunden haben wil - 
so schlossen etliche Komplimente die ganze Unterredung. 

io Aber ich schliesse meinen Brief noch nicht, sondern liefere 
noch etwas aus einer zweiten Unterredung, solt' es auch auf 
Kosten ihrer Geduld geschehen. Nachdem uns der Herr Super- 
intend mit der neuen Bemerkung iiberrascht hatte, daB Geistli- 
che schwarze Kleider zum Unterschiede von denen tragen, die 
bunte tragen, wie die Indier ihre Zahne zum Unterscheide von 
den Thieren schwarzen, die weisse haben, so las ein Diakonus 
eine Abhandlung ab, deren Griindlichkeit mich berechtigt, Ih- 
ncn einige Stiikke daraus mitzutheilen. Sie demonstrirt die 
Schadlichkeit des Denkens so gut, daB ihr zu einer rechten De- 

20 monstration bios der Schlus quod erat demonstrandum fehlet, 
den ich nicht selten die Demonstrazion der Demonstrazion zu 
nennen pflege. »Der Apfel der Eva verursachte eben so viele 
Streitigkeiten als der Apfel der Eris. Und gewis ist der Streit 
uber die physische Moglichkeit der Zerriittung, die der Genus 
der bekanten Frucht im menschlichen Korper erzeugte, noch 
nicht ganz beigelegt. Und wie solt es auch, da jeder sich zur 
Beantwortung dieser Frage aufs Traumen legte, und kein Aus- 
spruch der Kirche auf irgend einen Traum, das Siegel der Wahr- 
heit driikte? Ich schmeichle mir am besten getraumt zu haben. 

30 - Der Baum des Erkentnisses des Guten und Bosen ist, wie 
der Name selbst an die Hand giebt, die Fahigkeit zu denken 
oder wenn man wil, die Wissenschaften. Davon essen heist 
nachdenken oder vielleicht uber das summum bonum, den 
Zankapfel aller Philosophen, nachdenken. Die Schlange, welche 
Evam zum -Denken verfuhrte, mag wohl die gewesen sein, die 
nachher das Bild der Pallas Polias auf der Akropolis zu Athen 



434 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

beschiizte. Dieses wird durch die Muthmassung des heiligen 
Bernhardus noch wahrscheinlicher, daB der Luzifer oder diese 
Schlange auf den Berg des Erkentnisses geflohen sei. Diesen 
Berg nanten die Heiden den Parnas. Kurzdem Apollo mit Horn, 
Schwanz und Pferdefus haben wir das Denken zuzuschreiben, 
das unsere Korper vergiftet. Denn man vergleiche auch nur die 
Opfer dieses Gifts mit den Gluklichen, welche seinem Einflusse 
durch Nichtdenken vorbauen. Der Nichtdenker, der seinen 
Magen nie seinem Kopfe aufgeopfert, seinen Nervensaft nie fur 
die Befruchtung eines tiefsinnigen Gedanken verschwendet, ist 10 
das leibhafte Bild der Gesundheit. Sein Gesicht ist kein Register 
des Gehirns, aber auch kein Beispiel seiner Verwiistung. Sein 
Kopf ist keine Werkstatte der Gedanken, und eben darum auch 
keine der Schmerzen. Keine Ruhe verdikt sein Blut oder macht 
den Kopf den Residenzstadten gleich, nach welchen die Krafte 
des ganzen Korpers streben. Nicht Hypochondrie, sondern Ge- 
machlichkeit schwellet seinen Unterleib. Aber stellet den Den- 
ker dagegen, dem man eine Sele ansieht und einen Korper 
wiinscht. Wenigstens einen bessern, als den, der sich im Dienste 
des Geistes aufgerieben und durch seine Abnahme der Unkor- 20 
perlichkeit seines Verwusters zu nahern scheint. Er gleicht den 
Lampen, die oben mit Ole und unten mit Wasser gefullet sind. 
- So vereinigen sich in seinem Kopfe alle Krafte des geschwach- 
ten Korpers. Die Stirne ist zum Behaltnis des Samens der Weis- 
heit gefurchet, und von Runzeln durchschnitten, diesen Narben 
eines jeden Streiters gegen die Dumheit. Das Feuer, welches 
seinem Magen fehlet, loscht, wie das vestalische, nie in seinem 
Kopfe aus, und lekt almahlig die Krafte hinweg. Kurz seine 
Sele und sein Korper iiberleben so gleichsam das Leben, daB 
fur diese Welt die eine zu weise und der andere zu mager wird. 30 
Woher (ibrigens die Gesundheit der Thiere? daher, weil sie noch 
weniger als ihre Besizer denken; oder der Wilden? weil sie im 
halben Stande der Unschuld leben; und der Monche? weil sie 
beten, Messe lesen und desgleichen. - Shakespear sagt, voile 
Wanste haben lere Kopfe. Wie gut last sich dieses fiir einen be- 
kanten Stand anwenden. Die Dumheit liebt fetten Boden; daher 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 435 

das verdienstvolle Fet derer unberiihmten Manner in beruhmten 
Amtern, die alle die Verdienste verlieren, die man an ihnen be- 
lohnet hat, und ihres Amts wiirdig zu sein aufhorten, nachdem 
sie es bekommen hatten. Daher manche, um in ihrem Amte 
auf Mastung zu stehen, das Denken verschworen, wie man die 
Vogel fetter macht, wenn man sie blendet. Daher ist die Dum- 
heit die langgesuchte Universalmedizin. Daher konnen Arzte 
nur sich selbst am besten heilen. etc. « Dieser bundigen Abhand- 
lung sezte unser Herr Vorsteher bios den wichtigen Einwurf 

io entgegen, daB der Geheimnisse und Wunder, deren Vermeh- 
rung jedem am Herzen liegen musse, durch jene Traumerei eines 
weniger wiirde. Ubrigens, sagt' er, ist es viel gefahrlicher, das 
erste Buch Mose als die Offenbarung Johannis auszulegen d. h. 
in den Potentaten die Originale zu den apokalyptischen Thieren 
zu finden, wie der Astronom in einer Anzahl von Sternen die 
Ahnlichkeit mit einem Erdenthier, und inspirirte Traume durch 
menschliche zu erklaren - angesehen das erste Buch Mose weit 
wichtiger fur das Heil der Menschen ist. Aber dem Argernis 
etlicher Kleinglaubigen nicht jede neue Wahrheit aufopfern, den 

20 Braminen nicht ahnlichen zu wollen, die fur das Heil einer 
Miikke besorgt, kein Licht anzunden, das heiss' ich Siinde. Ja 
und eben diesen Kleinglaubigen, sagt' ich, sind wir die Beibe- 
haltung eines jeden grauen Sazes schuldig. Und gewissen Geg- 
nern, die gewisse Lehren von der Kanzel verbannen wollen, 
weil sie ihnen schadlich vorkommen, braucht man bios entge- 
genzusezen, daB sie niizlich sind. Eben so vortreflich urtheilten 
einmal die Madritter Arzte. Den Einwohnern Madrits namlich 
wurde verboten, die Gassen zu Nachts in ein geheimes Gemach 
zuverwandeln, dessenGestankdieLuft infizirt. »Oder vielmehr 

30 reinigt, schrien jene Askulape, da der Koth die faulen Theilgen 
der Luft in sich saugt, und dadurch ihrem gefahrlichen Einflusse 
auf den Korper zuvorkomt.« Nicht zu gedenken, daB man da- 
durch Luthern die Ehre entzoge, das dem kirchlichen System 
zu sein, was die Buste des Klaudius der spanischen Kirchenuhr 
war, fur welche sie als ein Gewicht gebraucht wurde. d - Zulezt 
Der Kardinal Kolonna brachte diese Buste nach Spanien, deren 



436 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG 

vereinigten sich alle zur Verwerfung der neuen Gesangbiicher, 
weil die neue Politur den alten Liedern ihren vortreflichen Rost 
gekostet hatte. Mit dem Verlust ihres Rosts ist aber der Verlust 
ihres Werths verkniipft. Darum ware es christlich gewesen, sich 
diesem Unternehmen gleich dem tiefsinnigen berlinischen 
Kaufmanne entgegen zu sezen. Last man doch audi in Bremen 
den Dom nicht reinigen, weil man da von den Verlust seiner 
Kraft befurchtet. e Nun aber genug von diesen niizlichen Unter- 
redungen. 

Mein Herr Vetter, dies mus ich Ihnen nur melden, hat sich 10 
durch den Sprung in ein reiches Ehebette die Krone der Ver- 
niinft, den Doktorhut, ersprungen. Oder vielmehr umgekehrt. 
Denn seine Gattin schlug ihren Ring dem manlichen Finger ab, 
den kein Doktorring geziert. Auch enthiilte sein ofner Beutel 
die versperten Vorziige seines Kopfes in einem solchen Glanze, 
daB alle Dekanen, Professoren u. s. w. ihr lateinisches Unver- 
mogen beklagten, ihn nur in Superlativen loben zu konnen. 
Doch hat man nicht bios seinem Beutel, sondern auch seinem 
Schmause die guten Gesinnungen jener Herren zu verdanken. 
- Ubrigens wiirde mein Vetter, der seinen jungen Jahren nicht 20 
die Empfanglichkeit fur diese Wiirde zugetrauet, noch lange 
die Volendung seines Ruhms verzogert haben, hatte nicht ein 
Zufal iiber seine Schiichteniheit gesiegt. Er sah namlich einmal, 
daB ein Doktor aus einem Erdenklos ein Bild, das ihm gleich 
war, erschuf und daB die romischen Waffen in der Disputazion 
mehr klirten als trafen. Kurz diese Gelegenheit wekte das 
schlummernde Gefiihl seiner Wiirdigkeit; seine Meinung schlug 
sich zu seinen Wiinschen, und er grif an sich das Dasein der 
erforderlichen Eigenschaften mit Handen. Diese Waffen aber 
zu haben glauben, heist sie haben. Darum glich er hierinnen 30 
dem romischen Burger Zipus, auf dessen Stirne die aufmerk- 

dortiges Schiksal erst Lord Galloway im spanischen Sukzeftionskrieg 
erfuhr. So wenigstens entsinne ich mich es im ersten Theile von Home's 
Geschichte der Menschheit gelesen zu haben. 

e Siehe die berlinische Samlung der besten Reisebeschreibungen 
2 Theil Seite 92. 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 437 

same Betrachtung eines Stiergefechts die Waffen der kampfen- 
den Thiere pflanzte. f - Uberhaupt find' ich in solchen Dis- 
putazionen Ahnlichkeit mit einer Gewohnheit der Perser, 
die nicht Gelehrte sonde rn Ochsen disputiren lassen. Alle Jahre 
namlich mus der Kampf von zweien dieser Thiere den Vorzug 
erweisen, den ihre Religion iiber die turkische hat! Um daher 
ihrem Glauben den Sieg zu vergewissern, nennen sie den star- 
kern Ochsen Ali und den schwachern Osmanf - Gesegnet sein 
mir daher die niizlichen Ubungen der Sprachwerkzeuge in ge- 

io lehrten Anstrengungen, und die Disputazionen, die das Ohr 
mit lateinischen Luftschwingungen salben, und in denen der 
Gelehrte auch durch geschwinde Bewegung seines Perpendikels 
(der Zunge) den langsamen Gang seiner Ideenmaschine zu ver- 
rathen weis. Aber einiges hab ich an der Doktorschopfung zu 
tadeln, dessen Abanderung zu wiinschen ware. Namlich warum 
schlept sich doch ein Aktus, dessen Wichtigkeit fur Religion 
und Gelehrsamkeit auf seiner Stirne geschrieben steht, mit so 
wenigen Zeremonien? Warum wil man nicht durch Anhaufung 
derselben dem Spotter Mienen der Bewunderung abgewinnen? 

20 Warum erweitert man nicht die Schranken dieser Schopfungs- 
tage, um die Langeweile der Zuschauer zu befriedigen? Warum 
verschwendet man bios an einige Gliedmassen des embryoni- 
schen Doktors so bedeutsame Zierrathen? warum die meisten 
an seinen Kopf, sein geringstes Glied? Ich dachte doch, eine 
Handlung, in welcher jede Zunge die Talente mit lateinischen 
Superlativen des Lobs uberhaufet und wohlgeschriebene Blatter 
dem unerkanten Verdienst mit Weihrauch aus dem Lexikon, 
schmeicheln, eine solche Handlung verdiente ein Geprang, wel- 
ches alle Augen zum Gaffen aufbote. - Auch spant die Muskeln 

30 aller beisizenden Theologen eine Bescheidenheit, die zur jezigen 
Ausstellung ihrer Wiirde nicht wohl last und die die sichtbaren 
Verdienste der dikken Bauche Liigen strafen. Endlich rauchert 
man denen Vorziigen des neuen Doktors zu wenig Lob, die 
er nicht besizt, und unterhalt die Zuhorer bios mit der Vortref- 
lichkeit seiner Eltern, da man sie mit der Vortreflichkeit seiner 



Val. Max. L. V. c. 6. 



438 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

ganzen Sipschaft unterhalten konte. - Aber genug des Tadelns! 
Ungeachtet mein Vetter nur ein Monat vorher sich von seinem 
Gegner, seinem vertrauten Freunde, die Einwiirfe und die Wi- 
derlegung derselben ausgebeten hatte: so iibertraf doch sein Ge- 
dachtnis meine Hofnung. Aber die Verfertigung der Disputa- 
zion kostete meinen Vetter sehr viel Geld. Doch hatte sie der 
Verfasser auch mit schonen Noten bordirt, ja was noch mehr 
ist, die Hauptsache nur auf dem Titel mit wenigem beriihrt. - 

Aber ich schreibe ja ewig; und so lange werden Sie mich doch 
nicht Iesen wollen. Daher habe ich die Ehre zu sein etc. 



III. 
Uber den groben Ahnenstolz 

Ein Brief 



Hochwohlgeborner Herr, 

Gnadiger Hen, 

Hochstzuverehrender Gonner. 

Ew. Hochwohlgeb. Gnaden werden mir eine Kiihnheit zu gute 
halten, zu welcher meine eigne Noth und Dero gnadigen Ver- 
dienste michnothigen. Unsere nahrlosen Zeiten haben mir iiber 
Ihre Wohlthatigkeit die Augen geofnet und mein nCichterncr 20 
Unterleib murret mir taglich eine Lobrede auf Ihre Vorziige, 
in die Ohren - eine Lobrede, die der besten Zueignungsschrift 
Ehre machen wiirde, die des Stempels der Ewigkeit nur von 
der Presse bedarf, deren Warheit aber auf ihren Beutel ankomt. 
Doch ohne meine Diirftigkeit Ihren Verdiensten zum weitesten 
Spielraum ihrer Thatigkeit anbieten zu wollen, ohne von der 
Besezung der Pfarstelle zu reden, auf die mein Mangel an Geld, 
und mein Uberflus an guten Zeugnissen mir wohl einige An- 
sp niche verleihen mochten, und zu deren Verwaltung ich mich 



GRONLANDISCHE PROZESSE * I. BANDCHEN 439 

durch die vorlaufige Liebe fur Dero unpasliches Kammermadgen 
tuchtig fuhle, kurz ohne weiter von dem zu reden, was an den 
Endzwek meines Briefs nur anstreift, komm' ich sogleich auf 
Ew. Hochwohlgeb. Gnaden selbst, und fang' an, Ihre Beschei- 
denheit durch Ihre staubichten Verdienste zu beschamen. 

Ew. hochwohlgeb. Gnaden kennen den grossen Werth des 
alten Adels und alten Kases, zu welchem der eine durch viele 
Ahnen und der andere durch viele Maden erhoben wird. Also: 
schon da Sie noch ein hochadeliches Nichts waren, oder, nach 

io einem wahrscheinlichern Systeme, noch als der Keim eines Em- 
bryons in den vielfachen Lenden Ihrer Ahnen schliefen, (bis Sie 
sich aus diesen menschlichen Hull en zum Gegenstande meines 
Lobs entwikkclten, gleich der leren Nusschale, mit der zehn 
aus einander gewikkelte Papiere die amsige Neugier des Affen 
belohnen,) schon da schlug Ihr kleines Herz fur grossen Ruhm. 
Denn schon da lebten Sie in der Nachbarschaft der ritterlichen 
Waffen, die an den Lende,n Ihrer Ahnen hiengen. Denn schon 
ungetauft bekehrten Sie mit militarischer Polemik den Unglau- 
bigen zum Christen, und predigten feindlichen Herzen mit spi- 

20 zigen Degen die Liebe Gottes in Christo. Sie siegten in Jerusa- 
lem, eh' Sie noch Ihr Schlos bewohnten, und todeten Sarazenen, 
eh Sie lebten. Ihre Tapferkeit ist also alter als Sie selbst - daher 
sie auch vor der Ankunft Ihres jugendlichen Alters verstorben 
ist - und Ihre lange Kette yon Verdiensten misset ganze Jahrhun- 
derte, und reicht bis zu ihrer Konzepzion und vielleicht bis zu 
Ihrer Geburt. Aber Ihre lezte Heldenthat ist auch Ihre groste. 
Denn biet' ich auch alle Farben meiner Einbildung auf, so ver- 
schonert sie doch das Gemahlde einer Heldenthat nicht, als die 
Ihrige ist, da Sie Ihre Siege mit dem schonsten Triumphe kron- 

30 ten und, mit fremden Lorbern und eroberten Verdiensten bela- 
den, durch keinen andern Leib als den Leib Ihrer gnadigen Mama 
in die Welt einzogen. Auf dieser Heldenthat beruht die ganze 
Anerkennung Ihres Werths. Denn sezen Sie nur den Fal, Ihr 
Herr Vater hatte Sie vor Ihrer Zeugung an irgend eine unstate 
Schone bei irgend einem Anfal von warmer Wohlthatigkeit ver- 
schenkt; wo ware nun Ihr Ruhm? Vielleicht daB Ew. Hoch- 



440 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

wohlgeb. Gnaden dann Ihr hochadelichcs Haupt weniger mit 
Puder als Ideen geziert, und Ihrer Ahnen nicht eingedenk, zum 
gesunden Menschenverstand heraberniedrigt hatten; vielleicht 
daB sie dann durch die Tafeln Mosis zu Tugenden veranlast 
worden waren, die Sie nun Ihrer Ahnentafel aufopfern. Aber 
gewis, und nicht bios wahrscheinlich ist folgendes. Ihr Ruhm 
ware an Ihrem Schiksale gescheitert, Ihre Verdienste waren ohne 
die schmeichelhafte Lobrede der Heraldik geblieben und Sie in 
den Handen der genanten Schone aller angeerbten Grosse Hires 
grossen Vaters verlustig gegangen - so schlug nach Biiffon ein 10 
wandernder Komet von der glanzenden Sonne diese finstere Erde 
ab. Und dies ist auch so ungewohnlich nicht. Denn glauben 
Sie, die adeliche Wollust hat vielen Huten die Federn beschnit- 
ten, und in den Bordellen liegen viele Von's begraben. Die 
Schmeisfliege verwandelt die Wiege ihrer Brut in das Grab der- 
selben, wenn sie ihre Eier einer afrikanischen Blume (Fritillaria) 
anzuvertrauen, durch die Ahnlichkeit ihres Geruchs mit dem 
faulen Fleische, dem von der Natur bestimten Nahrungsort je- 
ner Brut, sich tauschen last. Und gewis todeten hundert adeliche 
Vater den Ruhm ihrer Kinder in ihrer Erzeugung, wenn sie 20 
die Schaze ihrer Lenden in den Schos einer unadelichen ausler- 
ten, welche einer Adelichen vorzuziehen, sie durch die adelich 
scheinende Fehler von jener verleitet wurden. - Ihren Ruhm 
vergrossert auch die Moglichkeit, daB Ew. Hochwolgeb. Gna- 
den durch die Warme von neun Monaten aus einem unadelichen 
Samenthiergen zu einem adelichen Embryon gereift waren, und 
durch die Nahrung von adelichem Blute aus einer unverdienst- 
vollen Substanz in eine verdienstvolle veredelt worden waren. 
Die Tinktur des Alchymisten schenkt dem Blei das Wesen des 
Goldes und, nach Bleskenius Bericht, sol ein See in Irland, gleich 30 
dem Leib einer ehebrecherischen Edelfrau, alles schlechte Holz, 
was seinen Boden beriihrt, in Eisen umschaffen. - Und da ein 
Stambaum bei Einpfropfung fremder Zweige seine Rechnung 
findet, und durch die angeblichen Werkzeuge seiner Zerstoh- 
rung, wie der Kokosbaum durch eingeschlagene Nagel, nur ho- 
lier zu treiben fahig wird, so mogen freilich viele Damen in 



GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 44 1 

der Erniedrigung zum Pobel die Vergrosserung ihrer Verdienste 
finden, und gleich dem Riesen Antaus, auf der Erde neue Krafte 
einsaugen. - Doch zuriik von einer DigreBion, zu der mich eine 
adeliche veranlaste. 

Wie sehr mus man ferner Ihre Klughek bewundern, mit der 
Sie einen Betrug verhinderten, der Sie zum angeblichen Sohne 
Ihrer Amme herabgewCirdigt, und Ihre Verdienste dem unver- 
dienten Gliikke eines Hurensohnes aufgeopfert hatte. Oder 
wenn umgekehrt Ihr Adel selbst die Frucht jenes Betrugs ware, 

io wie erstaunenswiirdig sind dan die Krafte, durch welche Sie 
sich zu einer solchen Ahnlichkeit mit dem achten Adel, empor- 
arbeiteten, daB Sie alien Tugenden des Pobels den Abschied 
gaben, und nur seine Laster beibehielten, daB Sie nun, gleich 
den Gewachsen, die ihre Friichte in der Erde verbergen und 
nichts als einen unnutzen Stengel vorzeigen, Ihre Verdienste 
wie andere Edelleute, in Ihre m Erbbegrabnisse verwesen, und 
von Ihrer Grosse, nichts als den Auswuchs derselben d. h. Sich 
selbst sichtbar werden lassen. - 

Ihr ganzes Leben iibrigens ist Ihre Lobrede und braucht also 

20 die meinige nicht. Denn schon im zwanzigsten Jahre schienen 
Sie einigen Verstand zu haben, und schon im dreiBigsten schie- 
nen Sie keinen mehr zu haben. Sie schiizten immer die Antikheit 
Ihres Betragens, gegen seine Verbesserung durch die feinere 
Welt, und harteten gegen jede Politur Ihre Rauheit ab. Sogar 
zum Echo gothischer Hoflichkeit umgeformt wusten Sie immer 
noch Ihre erborgte Lebensart durch die Uberreste Ihrer adeli- 
chen Sitten zu verschonern. Ew. Hochwohlgeb. Gnaden glei- 
chen hierinnen den Tonnen, in welchen das beste Bier durch 
ubrigen sauern Schleim versauert wird. - Mit welcher Tapfer- 

30 keit Hessen Sie nicht, da Sie zu ** den Frieden mit Ihren Waffen 
beschuzten, den geringern Soldaten Ihre Dienste thun, und wie 
schon stachen nicht immer Ihre galanten Griibgen gegen kriege- 
rische Narben ab? Hat wohl jemand damals mit mehr Achtung 
von Ihnen gesprochen als Sie? oder jemand tiefere Wunden ge- 
schlagen als Ihre Zunge fremder Ehre? Doch ja, Ihr Degen dem 
Muthlosen. Die ganze Welt weis ja, daB Sie mit der Zierde Ihrer 



44-2 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

Seite die Anfalle spiziger Zungen abgetrieben oder bestraft, wie 
das Rindvieh sich mit seinem Schwanze an den Zungen hungri- 
ger Insekten racht; und daB Sie mit erstaunlichem Muthe der 
Wehrlosigkeit so lange trozten, bis sie ihre gefahrliche Seite her- 
auskehrte. Freilich stieg nie feindlicher Pulverdampf in das zart- 
liche Kloak Ihres Kopfes oder in Ihre Nasenlocher; freilich kan- 
ten Sie den Werth Ihrer Tapferkeit zu gut, um das Leben ernes 
so seltnen und zerbrechlichen Vorzugs von dem ungefahren 
Fluge eines Stiikgen Bleies abhangen zu lassen; und Sie wusten 
ferner wohl, daB sogar der Schal einer Kanone Krieger in seid- 10 
nem Panzer zu heftig verwunde, wie dem Schmide jenes Pan- 
zers, dem Seidenwurme, Donnerschlage schaden; auch wissen 
andre wohl, daB die Anzeichen eines nahen Feldzuges den Muth 
Ihres adelichen Gebluts bis zu einem Fieber hinaufgeschraubt,, 
zu dessen Dauer Ihre Menschlichkeit Ihren Feinden Gliik 
wiinschte. Aber ich brauche ja kaum die Ursachen einer Grosse 
an Ihnen selbst zu suchen, die Ihr Grosvater auf Sie zuriikge- 
strahlt. Das war ein Mann; und ein Liebling des vorigen Fiirsten, 
wie er keinen hatte! Er allein war der Affe, der auf diesem Baren 
ritte, stat daB seine Nebenbuhler - zu Zeiten Krtikken des furst- 20 
lichen Stolzes - mit der Ehre zufrieden sein musten, ihrem Besi- 
zer wie die Biicher manchem Reichen, nur durch schonen Ein- 
band und glanzenden Titel zu niizen und gleich den geschnizten 
Engeln, die in manchen Kirchen durch ihre Gegenwart den Altar 
ausschmukken, sich nur durch Gestalt zu empfehlen und nur 
als Zierrathen des Throns zu gelten. Freilich war auch sein Ge- 
sicht der Spiegel der fiirstlichen Meinung, und seine Zunge 
schlug Ja oder Nein, sobald die Miene seines Gonners auf eines 
davon hinwies, oder seine Miene wies, sobald es schon geschla- 
gen hatte; freilich machte er seinen Absichten den Lieblingsfeh- 30 
ler desselben zinsbar, und band den Herrn eines Thrones wie 
einen Schoshund an das Bette einer Hure an; freilich schminkte 
er das algemeine Elend mit einer gekauften Frohlichkeit, und 
befriedigte die Menschlichkeit des Fiirsten mit glanzenden Freu- 
denfesten. Aber dafiir war ein Thron sein Sessel und sein Korper 
in Verdienste gekleidet, die man beim Schlafengehen an den 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 443 

Nagel hangt, und in Tugenden, mit denen ihn das geschmei- 
chelte Laster belohnte. Dafiir war er Vater des Vaterlands . Denn 
dieses kusset seine Gebeine fijr die jezigen Folgen seiner vorigen 
Huld. Damals da gait die politische Tanzkunst, nach der sich 
Zunge und Rukken bewegten, Hofthiere wurden nach der Aus- 
senseite, wie unesbare Raubthiere nach dem Pelze, geschazt und 
adeliches Blut adelte ein schwarzes Herz mehr, als die Tugend 
den, der keine andre als seine eigene aufweisen konte. - Da 
masteten sich mit Gold bedekte Wanste vom Hunger der Menge 

io und geraubte Hiitten waren die Quadersteine der Pallaste - da 
wurden die Amter zu Preisen ausgesezt, die nicht der Flug des 
Musenpferds, sondern das Schleichen seines langohrichten An- 
tipoden gewan, der Mangel der Verdienste prahlte mit den 
schonen Zeichen derselben, doch nicht bios fugten sich lange 
Hande zu langen Ohren und nicht bios gab die Stimme eines 
Esels jedem, wie die Stimme eines Pferds dem Darius, die ge- 
wunschte Wiirde, sondern die Dumheit muste ihren Werth, wie 
Griechen die Horner der fiir den Altar bestimten Ochsen, auch 
vergolden, muste die Geneigtheit mach tiger Hande auch um 

20 das Lekken machtiger Fiisse kaufen. - Da Iahmte iibrigens Gold 
die freimuthige Zunge mit bleierner Schwere und der Patriot 
verlernte, wie die Vogel, die nur in der freien Luft singen, im 
goldenen Kafige seine Vorziige und der Lorberkranz war der 
Blumenkranz, der dem Opfer des Neides zum schonen Zeichen 
seines Unterganges diente. - Da fliichtete man vor dem Donner 
des Gesezes hinter eine wohlthatige BetgenoBin, wie man mit 
ausgehangten Federbetten Kanonen trozt, oder Gold versohnte 
den Grossen mit der Ungerechtigkeit des Unterbedienten und 
der Paktolus that die Dienste des Lethe - Da forderte der billige 

30 Obere fiir die Beschiizung der Giiter der Unterthanen nichts 
als die Giiter der Unterthanen und sogar der Rauber wurde zum 
Raube der Gerechtigkeit. - Da endlich warfen die mizlichen 
Leute, die weniger von eigner als fremder Dumheit leben und, 
wie Geier und Raben, die Augen ihrer Klienten zum Vorschmak 
der iibrigen Mahlzeit aushakken, romischen Aktenstaub denen 
ins Gesicht, deren Taschen sie mit den diirren Handen der Ge- 



444 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

seze ausleren wolten, 2 und verbreiteten durch Verschwendung 
ihrer Dinte, wie der Dintenfisch durch Auslassung einer 
schwarzen Feuchtigkeit, eine Dunkelheit um sich, in welcher 
sie ihren Raub beriikten oder ihren Raubern entgiengen. — 
Aber vergeben Sie mir eine Ausschweifung, mit der Ihren Ruhm 
zu vermehren ich irrig glaubte. Derm wer errieth' ihn nicht 
schon aus Ihrem Federbusche, den ausser wenigen Thieren und 
Menschen, niemand weiter tragen darf? Fur diesen auch glaub' 
ich Ihr hochadeliches Haupt geschaffen, da es so wenig zum 
Denken, als Ihr Degen zum Verwunden gemacht sein kan, un- 10 
geachtet nur Ihr Blut und nicht Ihr Gehirn adelich ist. Welche 
Grdsse, die Sie nicht einmal kanten, die Ihren Stolz iibertrift. 
Die Reliquien von beriihmten Blut tragen diirfen! o damit ver- 
tragt sich kaum die Demuth des Priesters, und gewis der Esel, 
der Reliquien eines Heiligen tragt, wiirde durch seinen Stolz 
ihre Bescheidenheit verscheuchen, ware er nur mit einer vor- 
nehmern Dumheit als seiner eignen ausgestattet. Darum wiirdi- 
gen Sie ja den neu^n Adel kaum Ihres Speichels. Denn welcher 
Unterschied zwischen dem Ihrigen und diesem! Ein neuer Edel- 
mann erwirbt sich erst die Vorziige, die Ihnen, wie manchem 20 
die Zahne, schon angeboren; er prangt mit eigenen Friichten, 
da Sie hingegen auf die trozen konnen, die an Ihrem Stambaum 
hangen; er beglanzt mit seinem Ruhme nur .seine Vorfahren, 
wie die untergehende Sonne den Ort ihres Aufgangs mit dem 
zweiten Rothe verschonert, da Sie hingegen den Ruhm Ihrer 
Vorfahren, wie die Mistpfuze das Bild der Sonne, wiederstrah- 
len. Kurz die ausnehmende Tapferkeit Ihrer Ahnen berechtigt 
Sie, jeden zu verachten, der nur an Tapferkeit Ihren Ahnen und 
nicht an Ahnen Ihnen gleicht. - Ich schliesse mit dem Wunsche, 
daB Ew. Hochwohlg^b. Gnaden Ihren westphalischen Schinken 30 
nochlange sowohl zum Besten Ihrer Unterthanen als auch Ihrer 
Familie schmausen, mit christlichem Trunke noch lange das 

a Ein Rechtsgelehrter verdient sich sein Brod mit seinen und den ge- 
sezlichen Handen. Hiebei fait mir der Beutelschneider ein, der wahrend 
seine wachserne Hande beteten, mit seinen naturlichen unter dem Mantel 
Beutel einerntete. 



GRONLANDISCHE PROZESSE * I. BANDCHEN 445 

Beispiel Ihrer Nebenchristen sein, und mit Ihrer Tapferkeit, die 
in Ihrer Riistkammer aufgehangt rostet, noch lange den Ruhm 
Ihrer Nachkommen fester griinden mogen, bis Ihnen endlich 
ein ruhiges Alter die unruhige Jugend vergiitet. Ich wiirde Ew. 
Hochwohlgeb. noch mehr wiinschen, wenn ich durch Ihre 
Gnade zur Verwaltung des Orts beruffen ware, von welchem 
Sie am neuen Jahrstage eine bessere Weide fur Ihre Ohren, zu 
erwarten berechtigt sind. Bis ich aber da stehe, verharre ich 
einstweilen etc. 



mi. 

User Weiber und Stuzer 
Ein Brief 



Liebster Freund! 

Es giebt zweierlei Freunde. Das Herz der einen gleicht den wil- 
den verwachsenen Hohlen, in die man vor zufalligem Regen 
fluchtet, und das Herz der andern einem lachenden Sommer- 
haus, welches schone Tage zum Tempel der Freude einweihen. 
Sie verhalten sich zu einander, wie Regen- und Sonnenschirm, 
wie Winter- und Sommerkleid. Zu welcher Klasse ich Sie zahle, 

20 werden Sie bald erfahren, wenn Sie aus dem folgenden erfahren, 
welchen ich iezt brauche. - Ich habe mich in den Stand der 
heiligen Ehe begeben, das heist unlakonisch also: ich habe den 
Sodomsapfel, stat bios meine Hofnung an seiner schonen Ober- 
flache zu weiden, aus thierischem Hunger angebissen und zur 
Belohnung Staubin demselben, das Werk eines fruhen Wespen- 
stiches, angetroffen; das heist, ich habe die hungrige Voreiligkeit 
meines Magens die angenehme Tauschung meines Auges ver- 
nichten lassen, und wie ein Kind mit dem glanzenden Kleister 
einer Puppe, die mir bios zum Spiele gegeben war, meinen neu- 

30 gierigen Gaumen beleidigt, das heist, ich habe mir die Flugel 



446 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

des Amors mit dem Bande des Hymen fest zusammenbinden 
lassen, und bin nun schlafrig nach der Mahlzeit; das heist, ich 
bin aus einem Dichter em- Mensch geworden, oder figiirlich, 
eine widernaturliche Verwandlung verdamt den Schmetterling, 
den fluchtigen Gast der Blumen, zum Schiksal der tragen Raupe, 
die lebenslang an Einem Kraute nagt, oder die Schmerzen des 
Auges bezahlen das Vergniigen, das die Nase in dem kiinstlichen 
Rauche fand; das heist endlich, das hizige Fieber (so nenne ich 
den Enthusiasmus) ist von dem Wasser ausgeloscht, nach wel- 
chem es so lechzte! Und wenn es nur dies hiesse; aber bei mir 10 
heist es mehr! Mein neuer Stand lehrte mich Dinge kennen, 
deren Ungereimtheit selbst im Traume sich verriethe, und deren 
Moglichkeit man bios einer bittern Erfahrung einraumet, und 
die angenehme Bezauberung meiner Unwissenheit 36ste ein 
Unterricht auf, dessen Mittheilung meinen Brief fiillen sol. - 
Sie kennen meinen alten Vetter, der die iezige Welt, ungeach- 
tet sie nun meistens fur ihn abgestorben, doch durch seine Brille 
in keinem falschen Lichte sieht, und die menschlichen Thorhei- 
ten zu sehr verachtet, um die alten den neuen vorzuziehen. 
»Nichts ist einfaltiger, sagt er immer, als mit der alten Welt 20 
eitel sein, um es nicht mit der neuen zu sein, wie nichts unertrag- 
licher,*als mit der Demuth prahlen. Die Leute, die durch unmo- 
dische Narheiten tiber modische siegen, gleichen denen, die 
durch alte Schaden gegen den Anfal epidemischer Krankheiten si- 
cher gestelt sind.« Diesen alten Vetter fragt* ich, wie vornehm 
und wie alt meine zweites Selbst sein musse. »Wie alt? nicht 
sehr alt! Denn nur ein unreifes Weib ist zur Ehe, wie unreife 
Gurken zum Essen, reif. Zwar lassen beide sich durch Essig 
und Salz fur den Gaumen zubereiten; aber nicht ieder liebt das 
Eingemachte, nicht ieder giebt sich die Muhe der Zubereitung, 30 
und mancher verlangt seinen Sallat fruher als im Winter. - Die 
Parzen spinnen neben unserm Lebensfaden auch das Band der 
Freundschaft, das uns almahlig so gar mit den Gegenstanden 
unsres Hasses verbindet, und wir wiirden mit dem Teufel selbst 
Briiderschaft trinken, wenn er sich auf dieser Erde ofters und 
nicht bios im Finstern sehen Hesse. Was Wunder, wenn daher 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 447 

ein Madgen sich in den Proteus der Mode verliebt, gesezt er 
erschiene auch in der Gestalt eines Affen wie sonst, oder eines 
Schweines wie iezt? Was Wunder, wenn es mit seinem Puze, 
anfangs der Nahrung einer kleinen Eitelkeit und darauf einer 
unschuldigen Liebe, seinem Stolze und seiner Bulerei frohnet; 
wenn es durch den taglichen Genus der Schmeichelei zum Ekel 
gegen kaltere Achtung verwohnet, die wohlfeile Befriedigung 
einer stolzen Schwachheit in dem angenehmern Siege derer fin- 
det, deren Kompagnie Amor taglich mit neuen Rekruten ver- 

ro mehrt? Auf tugendhaften Widerstand rechne ich wenig, weil 
ihn die Zeit besiegt. Die Geburten stuzerischer Zungen machen 
cndlich das beste Herz, wie der Koth gewisser Vogel kahle Fel- 
sen, fur Unkraut urbar, und irgend ein Flek im Stundenglas 
der Zeit riimt doch endlich die Farbe des aufrollenden Sandes 
an. Wahlen Sie daher, wie ich schon gerathen; denn obgleich 
freilich iunge Herzen, vermdge ihrer Weichheit, gleich dem 
weichen Bernstein, am leichtesten modische Insekten aufneh- 
men, so hindert doch noch keine Verhartung, den winzigen 
Gast los zu werden. - Da iibrigens das erste Jahr der Ehe, wie 

20 mich diinkt, das lezte Jahr der Erziehung eines Weibes ist; da 
ferner die Schone, deren Mund wegen ihrer Jugend den Ziigel 
des vierten Gebots noch kent, einen angenehmern, seidnen Zii- 
gel weniger unleidlich finden wird, so erhelt die Richtigkeit 
meines Raths auch ohne den Zusaz, daB eine iunge Schone end- 
lich dem Mann manche Schamrothe iiber Thorheiten erspare, 
zu weichen das Ehebette - der Altar der Thorheit - und die 
Schlafmiize, die Schellenkappe des Weisen, veranlassen. DaB 
ich Ihnen das entgegengesezte Extrem nicht anpreisen werde, 
werden Sie schon aus dem Misklange vermuthen, den weibli- 

30 ches Alter und manliche Jugend mit einander formiren. Das 
heiss' ich, wie die Kaufleute und Fuhrmanner, die alte schmuzige 
Schlafmiize mit einem neuen schonen Hute bedekken, oder wie 
buhlerische Matronen, den durch die Kunst veriiingten Kopf 
auf einem alten, welken und krummen Rumpf herumtragen 
- Wie vornehm? fragen Sie; gar nicht vornehm, antwort' ich, 
vorausgesezt, daB Sie ausser den genanten Ubeln das vermeiden 



448 JUGIilMDWERKE ' 2. AJBTEILUNG 

wollen, der Sclave einer vormaligen Mannesrippe zu werden. 
Denn nur in den geringeren Standen sind die Manner Manner, 
aber in den hohern sind es die Weiber, und in Ruksicht der 
Raubvogelist es ohnedies ausgemacht, daB die Weibgen grosser 
als die Mangen sind. Auch bellet ein Schoshund ieden an, den 
ein Jagdhund in Frieden last; nicht zu gedenken, daB der eine 
seinen Miissiggang mit Konfekt bezahlet haben wil, und der 
andere die blossen Knochen seiner fetten Beute nicht verschma- 
het« - Sie werden selbst einsehen, daB mein kluger Vetter weni- 
ger weltklug als altklug gerathen, und daB zufolge seines ersten 10 
Raths, ein weibliches Kind mein zweites Selbst geworden ware. 
Sein zweiter veranlaste die Thorheit, daB ich in Madgen gerin- 
gern Standes die Erziehung ubersah, mit welcher stolze Mutter 
sie zu der kiinftigen Verbindung mit einem reichen Opfer ihrer 
Eitelkeit, ausriisten und zu einem Hunger nach Thorheiten rei- 
zen, den der Aufwand des Reichen kaum sattigt. Denn kurz, 
auf eine solche Tochter wirkte mein Geld und mein Rock so 
sehr, daB sie mir ewige Liebe schwur, nachdem ich sie nicht 
oft auf den Knien darum gebeten hatte, daB sie sie mit vielen 
Kiissen versiegelte, nachdem ich sie vorher mit Bezahlung vieler 20 
Galanteriewaren versiegelt hatte, und daB sie sie sogar in einigen 
lyrischen Gedichten besang, die sie in einer edlen Ergiessung 
des Herzens, aus sehr wenigen Blumenlesen zusammenstop- 
pelte. Aber naher zur Schilderung meines zweiten Selbsts, 
welches ich unter dem Namen seines Geschlechts schildern 
werde. 

Das Kind meines Pinsels mag mit dem Kopfe zuerst auf die 
Welt kommen. Man fangt vom unbedeutendsten gerne an, und 
wenn dem von Apelles gemahlten Kopfe der Venus noch kein 
Mahler einen eben so schonen Rumpf geben konte, so beweist 30 
dies nur, daB die Verschonerung des geringsten Gliedes der Got- 
tin die Kunst ausser Stand gesezt, ihren wichtigern Gliedern 
eine verhaltnismasige Vortreflichkeit zu geben. Eine schone 
Frau hat nicht nothig, klug zu sein: denn ihre Schonheit sezt 
sie in den Besiz aller der Volkommenheiten, die kaum ihr feu- 
rigster Anbeter an ihr findet; sie ist also ausserst verstandig. 



GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 449 

Wer woke auch eine dumme Rede im Munde eines schonen 
Frauenzimmers fiir eine dumme Rede halten, wer an einem 
weiblichen Geschopfe die Schonheit riihmen, ohne iiber den 
Verstand desselben in Entzukkung zu gerathen, ia ohne diesen, 
der nicht wirklich ist, hoher zu schazen, als iene, deren Wirk- 
lichkeit eben zur Luge verleitete? Trachtet, ihr Schonen, am 
ersten nach der Schonheit, das ubrige wird euch alles zuf alien. 
Zwar sind die Weiber geschaffen, zu gefallen, aber nicht zu den- 
ken; zwar kan man, wenn Pope vom Menschen (eigentlich vom 

io Manne) sagt: er trit auf, urn sich einmal umzusehen und zu sterben, 
von der Frau sagen: sie trit auf, urn sich einmal sehen zu lassen 
und zu sterben - allein eben deswegen. 

Ungeachtet dieses Uberflusses an Verstand nun, wird iedes 
schone Gesicht iezt der zweite Schopfer seines Gehirns. Die 
deutschen Schonen wollen namlich ihren Nachbarinnen nicht 
bios den Kopfpuz zu danken haben, sondern unter wizigen 
Koeffuren auch ein wiziges Gehirn tragen. Kurz, die Verbesse- 
rung der Oberflache des Kopfes ist nun zur Verbesserung seines 
Innern ausgeschlagen. Kartenblatter waren die Vorboten der 

20 ernsthaften Buchdrukkerei. Der buntschakigte Laufer kiindigt 
den gravitatischen Hern an. Der Kantor praludirt zu einem 
Buschoral ein hupfendes Scherzo. Sie wiirden schlecht rathen, 
wenn Sie diese Verbesserung der Venuskopfe auf die Rechnung 
niizlicher und nothiger Kentnisse schrieben. Weit gefehlt! Ro- 
mane sind die Schminktopfe weiblicher Selen, Romane niizen 
dem Kopfe und dem Herzen wie die Sonnenschirme, mit denen 
die Schone ihr Auge gegen das Licht, und ihre Fusse gegen das 
Anstossen auf einem ebenen Wege, verwahrt; und ich schlos sehr 
richtig von der Unbekantschaft meiner Frau mit der Okonomie, 

jo auf ihre Belesenheit in belletristischen Schriften. Vielmehr hat 
leichter Wiz den schwerfalligen Verstand aus ihren Kopfen ver- 
scheucht, wie der lebhafte Fuchs mit seinem Harne den schlafrigen 
Dachs aus seinem Baue veriagt. Ja modische Schleifsteine haben 
so gar ihren Wiz bis aufs Heft abgeschliffen, der aber freilich 
gegen seine Schneide vortreflichen Glanz eingetauscht. DaB ich 
bios der Frau Wiz einraume, die ihn aus ihrer schongebundnen 



45° JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Bibliothek zusammengeschart, die ieden diirren Gedanken, wie 
die Kinder ihre holzernen Puppen, in verschiedene gestohlne 
seidne Flekgen kleidet und von deren Zunge die Quintessenz 
der vormittagigen Lektiire, wie von mancher Nase das Geistige 
des verdauten Tabaks, abtropfelt, versteht sich von selbst. Und 
daraus last sich auch verstehen, daB ihre Sele wie ihre Toilette 
durch unordentliche Mannigfaltigkeit und reichen Vorrath an 
nothigen Reizen, verschonert wird, daB der Kopf so weit wie 
ihr Herz ist, und beide durch kurze Beherbergung der Bucher 
und Anbeter, und durch freundliche Aufnahme neuer Gaste, i C 
ihrem steinernen Ebenbilde gleichen. Aber noch mehr! Nun 
haben weibliche Kolonien den Musenberg eingenommen, und 
durch den Sturz der beneidenswerthen neun Koniginnen fur 
die Oligarchic eine Demokratie eingefuhrt. Nun loset die Feder 
die Nadel ab, die Leier des Orpheus entzieht die weiche Hand 
dem altvaterischen Spinrade, und unsere Weiber kochen bios 
fur das Publikum. Nun schwangern Stuzer sie stat der leiblichen, 
mit geistlichen Kindern, nun wachst der Lorber unter ewigem 
Puder, wie griine Baume unter dem ewigen Schnee der Alpen 
hervor, und verschonert die Architektur des Kams, und nun 2c 
endlich vereinigt sich die Taube der Venus und die Eule der 
Minerva 3 auf demselben Schosse und freuen sich in Geselschaft 
der Schoskaze, des unerwarteten Triumvirats. Denn nun be- 
nachrichtigt iede Schone das . Publikum vermittelst einiger 
Reime vom Dasein ihrer Vapeurs, und die gefangene Luft, die 
ohne den Faden einer Ariadne das Labyrinth der Gedarme 
durchirret, fahrt im Tone eines weinerlichen Adagio aus der 
dichterischen Pfeife in das Ohr des Publikums hinein. So blast 
der Blasebalg seinen Oberflus an Wind durch die Orgelpfeifen, 
in Gestalt der Andacht, dem Zuhorer ins Herz. Wenn sonst 3c 
ein Madgen zur verlohrnen Gesundheit wieder aufbluhte, und 
lebendig den Handen des Fiebers und Arztes entkam, so zog 

a Sonst war die Krahe der Lieblingsvogel der Minerva. Vielleicht 
hat sie ihren vorigen Rang der Eule wieder abgelaufen, und zum Besten 
der Damen iiber den Zorn der Minerva mit einer Zunge gesiegt, deren 
Beweglichkeit sie den Verlust der genanten Ehre kostete. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I . BANDCHEN 45 I 

die Endschaft dieses Ubels kein neues nach sich. Nun hingegen 
besingt iedes sein Fieber, und hinterlast der Nachwelt in einem 
Almanach entweder die dargestelte Empfindung des fieberi- 
schen Frostes, oder die gereimte Raserei der fiebrischen Hize. 
-' Denn nun wandelt die Dichtkunst an der Spize der Liebe; 
die Manbarkeit langt bei den Madgen in Gestalt des Genies an, 
und schlagt um ihre Schlafe in Lorbern aus, so wie sie bei den 
Junglingen ihre iiberflussigen Krafte an die Erzeugung der Bart- 
hare verwendet. Was Wunder auch? da der haufige Genus von 

io den Herzen der Stuzer, die Kehle der Poesie nothwendig begei- 
stern mus. So futtert man die Stubennachtigal mit Rinderherzen 
- Die Franzosen hassen eine Tragodie ohne Liebe; wir iezigen 
Deutschen eine Liebe ohne Tragodie. Wenn daher der funfte 
Akt die Liebe eines Madchen mit einem tragischen Ende kronet, 
so giest es seine Thranen in irgend ein Kloak des deutschen 
Parnasses aus. Meine Frau meint daher, wenn ich mich noch 
bei Lebzeiten ihrer Muse zu einem seligen Ende verstiinde, so 
wiirde sie mit vielem Vergniigen ein Stuk Zypresse um meine 
Urne winden, und so gar dieses Zweiglein einem der Biindel 

20 zusammengelesener poetischer Zweige einverleiben lassen. Al- 
lein ob ich gleich ihr Vergniigen nicht zur Poesie erhebe, so 
zersprengt doch iedes kleine Misgeschik ihr Herz, und ist die 
Hebammeder poetischen MdWidesselben. Naturlich hilft sie dem 
unformlichen und ungelektenKlumpen von Gefuhl dadurch auf 
die poetischen Beine, daB sie ihn eine zeitlang im Gangelband 
der Prose leitet. Und noch naturlicher, daB sie deswegen die 
iunge Geburt in einem Nahbeutel herumtragt, gleich gewissen 
Spinnen, die ihre Eier in einem seidnen Sakgen mit sich herum- 
fiihren, oder dem Beutelthier, dem die Natur eine eigne Tasche 

30 fiir seine Jungen gebildet. - Vielleicht glauben Sie, iedes Reiten, 
und also auch das Reiten auf dem Pegasus, stehe einem Weibe 
nicht, und dieser konne hochstens mit einem Vorreiter vor dem 
Wagen der Venus hertraben. Die Weiber konnen nur besungen 
werden, nicht singen. Aber Sie irren sich. Der Got der Verse 
ist bei uns generis foeminini, und die Sonne nebst ihrem Kam- 
mermadgen, der Venus, beherschen die weibliche Welt. O des 



452 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

elenden Rezensenten, der die weibliche Hand nicht kiiste, die 
von einem Duodezbandgen entbunden worden, der die Flakons 
des Lobs fur die Nase nicht ofnete, die sich von Wohlgeriichen 
grosgemastet, und der geschminkte Wangen mit seiner Dinte 
beschmuzte! Fiihren doch so gar in Zeilon weibliche Lastthiere 
ihre Ware ohne Verzollung ein! - Sie werden aus diesem alien 
sehen, daB meine Frau durch das, was sie weis, gehindert wird 
zu wissen was sie wissen soke. Wie last sich aber einer solchen 
Blindheit, der Frucht einer solchen Aufklarung, abhelfen? fragt* 
ich meinen Vetter. »Durch Zanken, durch Zanken! Nur das 10 
Ohr mit taglicher Satire ermudet! Streuen doch auch die islandi- 
schen Schafer denen Schafen Salz in die Ohren, die durch haufi- 
ges Sonnenlicht blind geworden!« Schoner als wahr! 

Aber weiter! Naher betrachtet, lebt iede modische Frau nur 
fur ihr Vergniigen und die Vereinigung mit ihrem Manne ver- 
bindet sie zu keiner andern Pflicht als der, die Freuden mit ihm 
zu theilen, die man nur durch Mitheilung geniest. Sie ist zu 
zart, zu arbeiten: denn sie hat kaum Krafte genug, den Miissig- 
gang zu ertragen. Sol ihr kleiner Fus durch etwas anders als 
den Tanz ermudet werden, und sich nicht bios in schonen Linien 20 
bewegen? Sol ihre weisse Hand, deren Reinigkeit so viele Hand- 
schuhe bewachten, ausser den Karten schmuzige Topfe beruh- 
ren, und ihre schone Farbe der Pflicht aufopfern? Und wozu? 
Urn die Giiter des Mannes zu vermehren? sie braucht sie ia nicht 
einmal zu erhalten, sondern nur zu geniessen. Und wenn hatte 
sie Zeit, nuzliche Dinge zu thun? Sie hat ia kaum Zeit genug 
unniizliche zu thun; der dem Schlafe halbentzogne Vormittag 
reicht mit Miine hin, die Sorge fur den Puz zu endigen, und 
oft hat sie den Tag nothig, um sich fur die Nacht anzukleiden. 
Die Pflichten des Ehebettes weichen billig den Pflichten des 30 
Nachttisches. wo sie sich in theure Thorheiten kleiden mus; 
wo ovidische Verwandlungen vorgehen; wo sie die bleichen 
Folgen der nachtlichen Wolluste mit neuen Verfiihrungen iiber- 
tiinchet, und sich mit dem Schweise des Mannes schminkt, um 
wenigstens am Tage schonzu sein, wie die Blume, deren Reize 
sich mit der Sonne verbergen; wo sie liber die ausgelegten Lok- 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 453 

speisen diinne Neze zur Bestrikkung der Augen ausbreitet, wo 
sie nur die Reize in den Puz verhiilt, die ihre naturlichen sind, 
und die hingegen sehen last, die die Ehrbarkeit nicht gerne sieht; 
und wo sie sich mit Wohlgeriichen salbt, weil sie durch ihre 
Schonheit weniger als durch die Ausdiinstung derselben zu ver- 
fuhren glaubt, wie die Pokken mehr durch Ausdiinstung als 
durch Inokulazion, d. h. durch sich selbst anstekken. Meine 
Frau (erlauben Sie diese scheinbare Unterbrechung meiner 
Schilderung) unterrichtete mich durch ihr eigen Beispiel von 

io alien ienen Erfindungen. Ich Thor wolte namlich nach den lezten 
Paroxysmen der Liebe mit ihr iiber die gewohnlichen Ausgaben 
einig werden, weil ich glaube, dafi fur die Hande des Zufals 
kein Beutel zu vol ist, und dafl selbst eine bestimte tagliche Ver- 
schwendung das Verm 6 gen, wie ofne Geschwure den Unterleib, 
vor dem Durchfalle bewahren. Allein wie wuste mein zweites 
Selbst meine Klugheit zu vernichten! Denn kurz, sie wolte sich 
der Welt durch unvermutheten Glanz ankiindigen, und lies ihre 
ersten Verschwendungen ihre grosten sein, wie man in alten 
Zeiten dieBiichermitgrossen, und goldnen Anfangsbuchstaben 

20 zierte; sie verwandelte mein Haus in den Sammelplaz aller mo- 
dischen Helfershelfer, wo der Schneider hinter dem Galanterie- 
handler wandelt, und beider Mienen mit dem Bewustsein ihrer 
Unentbehrlichkeit triumphiren, wo der Harkrausler einen mit 
seiner Gegenwart belagert und oft mit Ahndung des mittagli- 
chen Hungers auf die Endigung der morgendlichen Traume der 
Madame harret; wo die kleinen Bediirfnisse des Puzes die ge- 
schwinden Fiisse aller Bedienten beschaftigen, und der larmende 
Miissiggang den stillen Fleis verscheucht — 

Aber, um wieder aufs vorige zu kommen, Sie miissen nicht 

30 denken, daft bios die Jugend an ihrer scheinbaren Verschonerung 
arbeite. O die Thorheit iiberlebt die Schonheit, und nach dem 
Tode der Natur, wandelt in der Gestalt derselben das Gespenst 
der Kunst umher. Ich kenne eine altliche Matrone, deren Erin- 
nerung und Begierden weit jiinger als ihr Korper sind, obgleich 
jhren Reizen die Hand der Zeit den Scheidebrief troz allem Ge- 
schnorkel der Kunst noch allemal lesbar genug geschrieben, und 



454 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG 

ob sie gleich in einer agyptischen Geselschaft als eine lehrreiche 
Mumie gelten konte. Diese borgt von der Mode die Jugend, 
in welche sie ihr Alter kleidet, so wie LeBing dem Tode stat 
des diirren Skelets, welches ihm alle Mahler geben, die Gestalt 
eines jungen schonen Genius gab. Buntfarbige Seide umrauschet 
ihr Gerippe, wie der wizige Sargmacher das Haus des Todes 
mit bunter Mahlerei verschonert. Auf ihren welken Lippen 
schwebt eine ewige Leichenpredigt auf ihre verstorbenen Reize, 
und ihre verwelkte Schonheit, die immer mit haslicher Mine 
hinter der geborgten Verschonerung hervorwinkt, spielet allc 10 
Rollen der bliihenden; so sol, nach Montaigne, das eingesalzne 
Wildpret seine Zustande nach den Zustanden des lebendigen ab- 
wechseln lassen. b Ihre Wangen bliihen roth und weis zum zwei- 
ten mal. Der dumme Bauer nur weissagt aus dem Herbste, in 
welchem die Baume wie im Friihlinge bliihen, ein iibles Jahr. - 
Der Man nun, der alle diejenigen bezahlet, die ihn mit ihren 
Zetteln erinnern, daft er eine Frau hat, der wie der Agypter 
seinem vergotterten Affen oder Krokodil alle die Freuden op- 
fert, die er entbehret, und Papyrus im Munde und Magen, seinen 
Gozen mit Lekerbissen mastet, der gegen die verschwendete 20 
Frucht seines Schweisses kiinftige Armuth eintauschet, und mit 
dem wahrscheinlichen Elende seiner Kinder, ihrer Mutter mo- 
dische Spizen kaufet, ein solcher Man bleibt von seiner Frau 
nicht ganz unbelohnet. Denn sie last ihn die Schwere ihres Fa- 
chers weniger fuhlen, dessen Rechte er nun, zu lange der seini- 
gen entwohnet, und der Mode entgegenzuschwimmen, mit zu 
schwachen Flosfedern versehen, anerkennen mus. Das schwa- 
chere Geschlecht namlich hat sich unseres Kopfes, unserer 
Hande und Fiisse bemachtigt, zu stark fur die leichte Behaup- 
tung unseres Herzens, das vielleicht durch die neuen Eroberun- 30 
gen verlohren gegangen, urn ohne Zweifel die Gebrauche eines 
Landes nachzuahmen, wo die Frau nie den Namen eines Beher- 
schers, sondern nur seine Gewalt, nie eine Krone, sondern nur 
Unterthanen besessen. Man mus sich die Ehe nicht, wie ich mir 

b Montaigne L. I. chap. 3- 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 455 

sonst, als ein Stiikgen vorstellen, im welchem Diskant und Bas 
zusammenspielen, in welchem die rechte Hand (die Frau) den 
einen und die linke (der Man) den andern spielt; man mus nicht 
denken, daB das Herz sich unter den Kopf noch schmiege, und 
daB die Klugheit des leztern und die blinden aber guten Eigen- 
schaften des erstern in die Harmonie sich noch bringen lassen, 
in welche der geschikte Violinist die Hare des Pferdes und die 
Gedarme des Schafes bringt. Der Man ist der Kopf der Frau nicht 
mehr; sie hat ihren eignen aufgesezt. Und das war, das ist auch 

io so leicht! Die meisten Simsons verliehren im Schosse einer Delia 
ihre Hare und Amor bindet die Augen zu, urn dem Hymen 
das Binden der Hande zu erleichtern. - Oder man hat Thorhei- 
ten, und an diesen kan man jeden wie gewisse Thiere an ihren 
Ohren festhalten! Wenn nur einmal die Schellen der Frau die 
Schellen des Mannes akkompagniren! - Die Leidenschaften, 
sagt Plato, sind die Pferde am menschlichen Wagen; o und wie 
leicht schwingt sich ein Weib auf den Kutschbok um spazieren 
zu fahren! - Eine andre Frau gehorcht vielleicht einmahl, um 
zehnmal befehlen zu konnen, uberwaltigt durch angenommene 

20 Schwachen und siegt durch eine scheinbare Flucht. Eine dritte 
loset den harten Mann in Thranen auf, wie den Zukker im Thee, 
und die Schonheit vertheidigt sich durch dasselbe Element, aus 
welchem sie gebohren wurde. Viele Wassertropfen siegen end- 
lich uber den Widerstand des Steines. Freilich folgt der Regen 
erst auf den Donner, und wenn die Fliege ihren Riissel erst ver- 
geblich an der zahen Feuchtigkeit versucht hat, so verdunnet 
sie dieselbe durch ihren Speichel. Und man hat Beispiele, daB 
das Eis eine Briikke, die seinen Anfallen widerstand, dann nie- 
derris, wenn es in seine vorige FluBigkeit aufgelost, in machti- 

30 gen Flu ten dahersturmte. - Auch vermag ein Heer von Kehlen 
der Schwestern, Schwiegermutter und Freundinnen sehr viel, 
und der manliche Arm erliegt der Menge weiblicher Zungen, 
wie manchmal ein Schwarm stechender Bienen den Baren vom 
Honig abtreibt. Eine starke Stimme zerschreit ein Basglas. - 
Nichts zahmet den Man leichter als die oftere Wiederholung 
der Anmerkung, daB er sein Gliik, seine Ehre, sein Amt den 



456 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG 

Verdiensten schuldig ist, die seine - Ehehalfte besizt. Und dan 
gleicht (iberhaupt die ganze Ehe dem umgekehrten Traumbilde 
des Nebukadnezars d.h. das Haupt ist von Thon, und die Ftisse 
von Gold, oder dem Teufel, dessen Kopf vom Ochsen und dessen 
Fusse vom Pferde borgen. Und wenn endlich der Man zum 
Wachs herabgesunken, das jeder warmen Betastung nachgiebt, 
wenn er der Zeit die Selbstbeherschung abgetreten - und (iber- 
haupt der Festigkeit ermangelt, durch die irgend eine Beschaf- 
fenheit der Sele dauernde Farbe erhalt, so wie das Eisen im Blute 
die Farben der Volker verursachet, so ists um die Rechte seines 10 
Geschlechts gethan und er das Spiel eines weiblichen Reizes und 
der Sklave einer geschminkten Wange! - Die meisten Schonen 
regieren also von der Dumheit Gnaden und ihr lispelnder Befehl 
verstarkt sich nur in Midas Ohren so. - Doch hat sich meinc 
Muskeln- und Fie chsenmas chine noch nicht an die Beweglich- 
keit gewohnet, die fur die Veranderlichkeit der Befehle schoner 
Minen so nothwendig ist, und gleicht noch nicht einer Wind- 
mtihle, die jeder Wind einer weiblichen Lunge nach seiner Laune 
dreht. - 

Obgleich ferner eine modische Frau nur in so fern Mutter 20 
ihrer Kinder ist, als sie Vergniigen hat, es zu sein; obgleich der 
Miissiggang ihr keine Zeit fur die Verbesserung des Kopfes und 
Herzens derselben iibrig last: so stiehlt die miitterliche Pflicht, 
der Faulheit doch noch einige Minuten, worinnen sie das Mad- 
gen in die Geheimnisse der Lebensart einweihet, es die Geogra- 
phic der Reize lehrt und mit dem Facher exerziren last, worinnen 
sie den Riikken und das Knie des Jungen an das Komplimenten- 
joch und ihn an die Tugend gewohnet, unter sein Geschlecht 
zu fallen. Kaum brauch' ich noch zu erinnern, daB sie vor der 
Langenweile zu den Geselschaften fliichtet, in welche sie nicht 30 
seltenihren Arbeitsbeutel bringt, um entweder durch denselben 
an die Versaumung ihrer Pflicht erinnert zu werden, oder an 
kleinen Arbeiten die Lange der verschwendeten Zeit zu berech- 
nen - Geselschaften, wo sie gleich der Bienenkonigin, als K6- 
nigin und Geliebte gilt und wo die Schonen immer wie Kinder 
vorauslaufen diirfen; wo der Kopf des Mannes das Echo schoner 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 457 

Lippen ist, und die Langeweile sich von der luftigen Hoflichkeit 
nahret; wo halbe Komplimente den buntfarbigen Kreis durch- 
wandern, eh' man mit dem wichtigen Geschafte, sich an eine 
Tafel zu sezen, zu Ende kornt, wie der glanzende Kafer urn 
das runde Gericht, das ihm der Magen eines grossen Thieres, 
ein besserer Koch als ein franzosischer, aufgetischt, herumsum- 
set, eh' er sich in seine Speise vergrabt; wo Lust den Ekel, wie 
Warme die Maden ausbriitet, und die meisten Vergniigungen 
mehr glanzend als schmakhaft sind, mehr begehrt als genossen 

10 werden; wo die Verlaumdung, wenn die Geschichte eines muBi- 
gen Lebens keine Unterhaltung fur die miiBige Stunde mehr 
darbietet, bose Geriichte erntet und saet, und mit ihrer Zunge, 
wie die Schnake mit der ihrigen, zugleich saugt und sticht; wo 
unzwekmasige Satire iiber denjenigen Gegenstand des verbisse- 
nen Lachens siegt, der seine Starke nicht auf der Zunge, wie 
das Krokodil im Schwanze hat, wo man die Schamlosigkeit, 
die ihre Ohren an galanten Zoten weidet, hinter den Facher 
verbirgt, wo man den Stolz eines schonen Gesichts durch Lob 
zu diktatorischen Ausspriichen besticht, wie die Scythen ihre 

20 Stutten aufbliesen, um mehr Milch zu bekommen, und aus einer 
weissen Haut den Wiz, wie aus einem schwarzen Kazenfell die 
Funken, durch Streicheln herauslokket. 

Aber in diesen Geselschaften thut eine Frau noch mehr: denn 
ihr Man, der sie nur mit ihren natiirlichen Reizen geniest, kauft 
ihr die, mit denen sie seine Freunde geniessen sollen, und lasset 
sich seine unverdiente Schande mehr kosten als mancher sich 
seine unverdiente Ehre. Daher die lange Dauer jener Geselschaf- 
ten; die Fischer fischen zu Nachts am liebsten. Sie, mein Freund, 
miissen nicht an eine Treue glauben, die nur in den Gesezen 

30 existirt, die sie gebieten, und in den Geschichtsbuchern, die sie 
erdichten. Die Vorweltnahm vielleicht mit Einem Gerichte und 
einer Ehehalfte vorlieb; aber wer jezt mit sechs Schiisseln und 
Einem Gatten? Wem ekelt nicht wie den Kindern Israels vor 
dem alle Morgen aufgewarmten Manna? und wen liistet nicht 
nach Wachteln? Auch ists zu verzeihen, wenn der muntere Stu- 
zer dem schwerfalligen Manne den Rang ablauft, wenn das Herz 



458 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

einer Frau, gleich dem Herz der Fische, das Zwergfell zu seiner 
Basis macht, und nur seine Spize gegen den Kopf hinkehret. 
Denn eine solche Untreue reichte nur sonst hin - sonst, da bios 
eine Frau ihre Andacht mit dem Priester theilte, und sich von 
ihm das sinlich erklaren lies, was er i miner in Hebraismen ver- 
bietet; sonst, da sie bios krank wurde, um von einem jungen 
Doktor geheilt zu werden, um ihre Treue an ihrer Krankheit 
sterben zu lassen, um ihr Krankenbette zum Todenbette ihrer 
Ehre zu machen - und vielleicht auch noch jezt hier und da, 
wo ein Dichter durch einen im Monde versilberten Thranenre- 10 
gen, wie Jupiter durch einen goldnen Regen, widerspenstige 
Reize unterjocht. Aber mit so einer Untreue komt man jezt 
nicht weit genug. Warum das rauben, was man billig fordern 
kan? und wie iiberfluBig ist das Brecheisen des Diebs, der Feder 
des Rechtsgelehrten? Kurz die Mode rechnet die Horner eines 
Mannes zu seiner Frisur und hochstens verschleiert man eine 
Untreue so wie den Busen. Aber sie sollen die jezige Wollust 
durch folgendes Gemahlde einer Witwe, die ich kenne, kennen 
lernen. In ihrer Ehe, die nicht lange dauerte, war sie unfruchtbar, 
und hatte kein Kind ausser ihren Man. Doch zeigten sich nach 20 
seinem Tode die Pfander von der Starke seiner Lenden, und 
seine Witwe ehrte sein Gedachtnis durch die, denen er das Leben 
gab, da er keines mehr hatte - so treibt der Kokosbaum nach 
dem Verluste seines Gipfels mehrere Aste und Fruchte. Ich mus 
hiebei anmerken, daB bios der Zufal ihrer vorgeblichen Un- 
f ruchtbarkeit diesen Streich spielte. Denn sie liebt nur die Wollust 
und hasset die Fruchte derselbm. Wenn man die siisse Hulk der 
Pflaume genossen, speiet man den harten Kern heraus. DaB sie 
ihre Reize durch die Farbe des Todes schminkte, und durch 
den schwarzen Flor den Busen zum weissem Ziele zu machen 30 
wuste, das durch seine schwarzen Grenzen die Augen der Schu- 
zen auf sich zieht, ist naturlich. Immer roll en ferner ihre Augen 
nach manlichen Reizen herum, immer rothet ihr heisses Blut 
ihre Wangen mit Begierde, immer sucht sie Opfer ihrer Schande 
auszuwittern, und mit verborgenen schonen Strikken weis sie 
einen ausgespahten Raub in ihre Arme zu ziehen. Nicht selten 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 459 

opfert sie ihren Stand ihrer Lust auf , und kiihlet niedrige Begier- 
den in niedrigen Mitteln ab, wie man mit schlechten Regenwur- 

, mem entzundete Glieder heilt. Die Spottereien des Geriichts sind 
ihr Stiche gewisser Insekten, die mehr kizeln als schmerzen; 
auch verstekt sie hinter ihren Reichthum ihre Schande, wie die 
Madgen der Volker in Achem, die Beweise ihres Geschlechts 
mit einem silbernen Bleche verdekken. Jezt sattigt sie ihre Wiin- 
sche bios mit dem Anschauen derer Silhouetten ihrer verstorbe- 
nen Anbeter, die unter dem Spiegel ihrer Toilette hangen - so 

io reihet der Bauer die Kopfe getodeter Sperlinge ah einem Faden 
auf, und hanget sie an die Wand. 

Ein Hund oder auch eine Kaze, aber selten ein Vogel ist der 
Zizisbeo der meisten Frauen, und wenn die linke Hohle ihres 
Herzens noch dem Manne zugehort, so hat eines der genanten 
Thiere wenigstens die rechte Hohle desselben gemiethet, und 
nimt stat des Kindes den Schos ein. Ich besuchte neulich eine 
Dame, die mich sehr lange mit einer Lobrede auf ihren Schos- 
hund unterhielt. Nur Schade, daft die Fabel dem Thiere den 
Mund nicht geofnet: denn es hatte seiner Panegyristin ohne 

20 Zweifel eben die Vorziige beigelegt, die sie ihm beilegte. Sie 
liebt ihren Hund so zartlich wie ihre Kinder: daher sie auch 
beide nichts lernen last, und sie kan so wenig ohne dieses Thier 
als mit seinem Nebenbuhler, ihrem Manne, leben. Ja sie gewoh- 
net ihn sogar durch Sufiigkciten an eine vornehme Verderbung 
des Magens. Ein Zufal nothigte sie neulich, ihn durch Aufnahme 
unter ihre Arme, dem Hundspobel zu entziehen, der ihn freilich 
nicht wie der Herr der Schopfung geehret haben wiirde. So 
trug Aeneas seinen Vater durch das brennende Troja. Sonst nur 
war das Tragen der Hunde eine Strafe fur Rebellen. Und jezt 

30 tragt man mit Ehre einen Hund unter dem schonen Arm, unter 

- welchem ein Gesangbuch sehr iibel lassen wiirde. Unsere Dame 
erlaubt ihm alle Freuden, nur die Freuden der Liebe nicht. Der 
wahrscheinlichen Mesalliance nicht zu gedenken, ist ihr schon 
seine Schwangerschaft so argerlich als die ihrige; so argerlich 
als die Thiere, die ihren zottigten Gozen, wie die Mause den 
Kutka, den Got der Kamtschadalen, qualen. Vor etlichen Jahren 



46O JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

wurde ihr Man krank und, obgleich der Arzt, dem sie ihn liber- 
ties und der sie oft heilte, Rezepte und Mixturen verschwendete, 
wieder gesund. Sie war trostlos und noch trostloser machte sie 
das Ableben einer Schoskaze, die ohne ein Todesurtel d. h. ohne 
ein Rezept sich beim Charon einschifte. Ihr Hund verlor neulich 
ein Auge durch die Kaze einer Freundin, die ihr gegen iiber 
wohnt - nun lieben sich die beiden Freundinnen wie ihre Schos- 
thiere. 

Nichts ist natiirlicher, als daB die schonen Kinder wie die klei- 
nen, und die alten Kinder die hydraulische Kunst verstehen, mit 10 
den Augen Wasser zu speien. Diese Fruchtbarkeit an diesem 
Elemente schreibt sich namlich von der Giite ihres Kopfes her, 
der wie ein Schwam das Wasserige leicht einsaugt; diese iiber- 
maBige Warme entsteht namlich durch die Grundlichkeit ihrer 
Ideen: denn seichte Wasser werden am leichtesten warm, kurz 
dieses riihrt von den guten Eigenschaften her, durch die das 
andere Geschlecht seit einiger Zeit den Vorzug vor dem unsri- 
gen, billig behauptet. Auch meine Frau besizt ein Herz, das 
die neuliche Thranensundfluth aus dem Sand hervorgespuhlet. 
Zu weichherzig, um es gegen hartherzige zu sein, racht sie ihre 20 
Emp finds am keit an meiner Unempfindsamkeit durch unleidli- 
chen Stolz oder durch Thranen. Aussere Kalte und innere 
Warme machen von den Fenstern Wasser herabrinnen. Daraus 
last sich auch folgendes erklaren. Da sie lange genug Jiinglinge 
geliebt hatte, die existirten, fiel sie einmal zur Abwechselung 
auf einen, der nicht existirte. Doch war dieser J tingling in Minia- 
tur von Hrn. Chodowiecki gezeichnet, und von Hrn. Geiser 
gestochen, und in Riesengestalt vom Herrn Autor gemahlet. 
So betete der Agypter den Vogel Phonix an, den er nie gesehen, 
aber doch im Gemahlde hatte. All ein zulezt wurde ihr das Nichts 30 
untreu und sie selbst wurde miide, ein Ding, das im Gehirn % 
lebte, einem Dinge vorzuziehen, das auch auf der Stube lebte. 
Daher blieb ihr weiches Herz an meinem Antezessor kleben. 
Oft zu Nachts schlug sie ihr Klavier so wehmuthig, daB ihre 
halbwachenden Eltern daraus ihren Tod weissagten; allein unten 
am Fenster harte der folgsame Liebhaber und erfuhr durch die 



GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 4^1 

verabredete musikalische Sprache, dafi er nicht umsonst harre. 
So hort der gemeine Man die Stimme des Todes in dem Schla- 
gen, mit welchem die Biicherlaus in ihrem Wurmloch das Man- 
gen zur Begattung einladet. 

Nur noch die Dinte, die ich sonst aussprize, fur ein par Ziige 
meiner Frau. Ich mus ihre Gaben fur Ohnmachten ruhmen und 
sie hat zu gut leben gelernt, um nicht ofters tod zu scheinen. 
Und wenn ein kleiner Unfal neben sie anstreift, warum soke 
sie auch nicht den Spekkafer nachahmen, der sich bei der klein- 

10 sten Beriihrung tod stelt? Die Kunst zu sterben ist der Probier- 
stein eines Schauspielers; warum soke sie nicht der einer Frau 
sein? - Doch stehen ihre feiernden Lebensgeister allemal unter 
dem Geseze des Wohlstandes; sie weis sich selbst zu rechter 
Zeit von den Toden aufzuerwekken, und das Leben verlangert 
seinen Urlaub nicht iiber die bestimte Minute. 

An ihrer Laune hangt meine Ruhe, und ihre Laune hangt an 
dem Zufal. Aus dem Mittagsessen weissag* ich mehr als der 
Augur aus dem Fressen der heiligen Hiiner weissagte; und vor 
schlechtem Wetter sichern mich meine Wande nicht. Oft wird 

20 man unbillig bestraft, damit man billig bestraft werden konne; 
und man last den andern das Holz zu seinem Galgen stehlen. 
- Ich furchte nichts mehr als die Schmeichelein der Frau. Der 
Fuchs stuzt vor einem unerwarteten Lekerbissen und vermuthet 
richtig die verstekte Falle. Eh' man die Schafe schiert, wascht 
man sie weis. - Tandeln kan man noch, eh' der Priester mit 
dem heissen Lak aus dem ersten Buch Mosis die Vereinigung 
versiegelt, und das Orchester spielet auch oft ein lustiges Allegro 
vor dem Trauerspiel; aber in das Ehebette mus man die Puppen 
der Wiege nicht bringen, sonst tragt ein Kind den Namen eines 

30 Konigs, und seine Anverwandten regieren. - Auch Kiisse satti- 
gen und die Lippen verwunden eben so gut als die Zahne, so 
wie der Pelikan seine Jungen durch das Reiben mit dem Schnabel 
todet. »Ich kiisse den halben Tadel von der schonen Lippe weg« 
das heist, du lekst den Loffel aus, woraus du bittere Magentrop- 
fen eingenommen. - Aber wer widersteht auch oft dem Reize 
des Geldes, obgleich silberne Spornen eben so wie stahlerne 



462 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

das Pferd verwunden; oder dem Reize der Ehre, obgleich der 
Maulesel durch einen prachtigen Reiter, einen Kardinal, nichts 
gewint; und endlich dem Reize der Schonheit, obgleich versil- 
berte Pillen eben so bitter wie andre schmekken? Aber dies ge- 
hort nicht in diesen Brief, und ich mus aus der blumenvollen 
Wiese, in der man nicht reiten darf, wieder in den alten Steig 
zuriikkehren. 

Sie wollen die Stuzer naher kennen lernen? Wenn Sie unter 
dieser Benennung alle die Leute verstehen, die an der Toilette 
und am Pulte f aseln, die mit brittischen und f ranzosischen Thor- 10 
heiten prahlen, die von der Narheit nur die Gestalt und von 
der Dumheit das Innere entlehnen, so werden Sie in meinem 
Brief e vielleicht das finden, was Sie suchen. Ein Stuzer in der 
weitern Bedeutung des Worts ist erstlich ein Philosoph. Jezt 
namlich ist die Metaphysik nicht mehr eine Landkarte vom 
Reiche der Moglichkeit, nach welchem man auf den matten 
Schwingen der Dumheit, wie nach Swift's Erzahlung, der Kapi- 
tain Brunt durch seine gefliigelten Kaklogallinier nach dem 
Monde, zuflog; jezt briistet man sich nicht mehr auf Abstrakzio- 
nen, die weniger in den Gehirnfibern als auf dem Trommelfelle 20 
philosophische Erzitterungen verursachen und verwandelt lere 
Worter nicht mehr in Demonstrazion durch eine Stellung, die 
man das Metrum der metaphysischen Dichtereien nennen konte 
- Sondern man ist viel modischer ein Nar. Wer durch sein Sal- 
arium nicht gezwungen ist, im Konzerte der menschlichen 
Thorheiten den Takt zu halten, und mit den Nachbarn im Uni- 
sono zu singen, der ersezt die Stelle der Thorheiten, die er nicht 
nachahmet, durch die, die er erfindet. Man erf and daher eine 
Philosophie, die sich durch eine trubsinnige, schwarze Gestalt 
empfiehlet und gleich einem Weibe, stat scharfsichtiger, schone 30 
Augen, stat der Beweise Blumen hat; sie gleicht dem indiani- 
schen Gozen in der Stadt Multan, dessen Gesicht schwarz ist, 
und in dessen Augenhohlen stat der Augen, zwo Perlen glanzen. 
Unser Stuzer nun hast lere, abstrakte Termen, liebt aber gefuhl- 
volle, widersinnige Ausdriikke und zieht dem metaphysischen 
Unsin den poetischen, der kalten Unvernunft die warme vor. 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 463 

Nach der Ebbe und Fluth seines Nervensafts fait und steigt seine 
Uberzeugung und sein Gehirn mus erst durch die heftige Bewe- 
gung des Bluts elektrisirt sein, wenn die Bewohnerin der glan- 
dula pinealis einige Funken Wahrheit aus demselben herauslok- 
ken sol. Sein Geist, ein Feind deutlicher Begriffe, erhalt nur 
von dunkeln die Warme, die sein Korper von dunkeln Kleidern 
empfangt. Der Anblik der nakten Wahrheit wiirde seinen Augen 
schaden, wie der Anblik der nakten Minerva den Augen des 
Tiresias. Daher umschaft er Gedanken in Blumen, wie unter 

10 den Handen des Midas nahrende Speisen sich in glanzendes Gold 
verwandelten. So vergoldet man zu Weinachten fur die Freude 
der Kinder die Niisse; aber wer weis nicht, dafi ihnen das Flitter- 
gold zwischen den aufknakkenden Zahnen hangen bleibt? Er 
duftet von Philosophie wie von Pomade, und macht die Brille 
der Vernunft zu einem modischcn Augenglas. Am Morgen 
giebt der Friseur seinen Haren, und ein Duodezbandgen seinen 
Gehirnfibern eine modische Lage; nachmittags tragt er die leibli- 
che und geistliche Frisur zur Schau herum, und abends zerstoh- 
ret er beide in den Armen einer Hure. Doch oft zu stolz fur 

20 cine solche Unbestandigkeit, sezt er sich durch einen nachge- 
sprochenen Skeptizismus uber das Denken hinweg und machet 
die Schwache seines Kopfes zur Schwache aller Kopfe. Nun 
ofnet sich seiner streitbaren Zunge das Feld der Zweifel, nun 
steht seine Behauptung jedem Anfal, und jede fremde weicht 
dem seinigen; nun schimmert die besiegte Vernunft fur den Tri- 
umph seines Stolzes, eben so funkeln im Schwanze des Pfauen 
die verwandelten Augen des bestraften Argus. - Er hat ferner 
zwar keine Gelehrsamkeit, aber er weis sie doch zu verachten, 
und sein Stolz ist der hulfreiche Nachbar seiner Unwissenheit. 

30 Audi erhalt er sich vermittelst desselben auf der Oberflache aller 
Kentnisse wie der Fisch sich durch Ausdehnung seiner Blase 
auf der Flache des Wassers, und sinkt nie defer, um Perlen zu 
suchen. Doch ungeachtet seiner Abneigung gegen ernsthafte 
Kentnisse, erhebt er sich zu unwichtigen; ungeachtet er bios 

c So nante ich weis nicht wer die Philosophie. 



464 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

lieset, um in der nachsten Assemblee zu sagen, daB er gelesen, 
so macht er doch durch Belesenheit seinen Verstand dem Ver- 
stande des Thieres ahnlich, welches den Gelehrten die Ableiter 
ihrer Gedanken leihet. Der Titel eines Buches ist ihm wichtiger 
als sein Inhalt und nicht so wichtig als seine Rezension. Er ver- 
bessert auch selbst gelehrte Urtheile und brandmahlet manchen 
Ruhm mit den stummen Zeichen einer zweideutigen Achtung 
oder bekranzet die Ohren, welche an einem Pranger schon ge- 
kreuzigt worden. Aber immer betet er den Autor an, von dem 
er die meisten Schriften gelesen; so vergotterte man in jeder 10 
Provinz des alten Peru die Art Fische, von welcher man die 
meisten ring. Da er wenig denket, so ists natiirlich, dafi er viel 
redet. Und wie solt' er nicht, da die Geschwazigkeit die Jugend 
am besten kleidet? Auch macht junges Holz mehr Geprassel als 
Licht und Warme, und Wagen mit neuenR'idem knarren am mei- 
sten. - Zwar ist sein Gedachtnis das Gefas der Unehren, welches 
schmuzige Galanterien von Geselschaft zu Geselschaft tragt; 
aber doch ist seine Sele reines, feines Postpapier, welches die 
Dam en mit ihren Einf alien beschreiben. Oberhaupt starkt die 
Weisheit der Damen seine schwindstichtige Sele, und die Milch 20 
einer Eselin seinen schwindsiichtigen Korper. Wenigstens tragt 
das schone Geschlecht in die leren Zellen seines Gehirns, zum 
Ersaz der verlohrnen Gedanken, den Honigsaft aus den neusten 
Almanachen. So zog der Agypter'aus dem Kopfe eines Leich- 
nams das Gehirn heraus, dessen Plaz er mit Spezereien ausfulte. 
-Erist auch Kenner von Kunstwerken, das heist, er weis etliche 
Kunstworter ohne ihren Sin. Haben doch auch die meisten Kon- 
chyliensamler blosse schimmernde Gehause ohne die Bewohner 
derselben! Sein Wiz ist unerschopflich, wenigstens ist es der 
Wiz seiner Buchersamlung; er fuhret eine fremde Dumheit nie 30 
ohne beissende Laune an, und giebt zum Rindfleisch allezeit 
Meerrettig. Vorjezt macht er aus Himberen Efiig d. h. er satiri- 
sirt iiber die Empfindsamkeit. Sonst trug er mit vielem Vergnii- 
gen jeden Logogryph des Merkurs, den er selbst aufgelost, in 
seiner Bekantschaft herum. So legte man die tode Sphynx auf 
einen Esel. Nur selten oder wenn er in einer Uniform ist, ver- 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 465 

kiirzt er die Zeit durch wizige Blasphemien. Doch sobald er 
sich in einer vornehmen Geselschaft befindet, so versteht es sich, 
daB er sein Herz beflekt, urn seine Ehre nicht zu beflekken, 
gleich den Morlakken, die mit blossen Fiissen durch eine Pfuze 
gehen, um die neuen Schuhe nicht zu besudeln - Schmeicheln 
und verlaumden hat er in seiner Gewalt, er macht, wie Wernike 
sagt, den Anwesenden roth und den Abwesenden schwarz, und 
gleicht, wie mein Vetter sagt, den Bleistiften, deren eines Ende 
roth und deren andres schwarz schreibet, oder den Fernglasern, 

10 die aus einem vergrossernden und einem verkleinernden Glase 
zusammengesezt sind. - Um frei zu sein, ist er weniger Nachah- 
mer des Franzosen als des Britten, und er wiinscht iiberhaupt 
unsern Narrenkappen deutschen Schnit, und unsern Schellen 
deutsche Form. Daher raubt er bios niizlichen Geschaften die 
Zeit, in welcher er die Arbeit des Friseurs revidirt, in welcher 
er den Hut von etlichen grauen Atomen reinigt, in welcher er 
sich vor dem Spiegel mit seinem stummen Ebenbilde iiber die 
Lage seiner Reize berathschlagt u. s. w. Er tragt auch einen De- 
gen; aber Linnaus irt sich, wenn er alle Thiere zu den Hunden 

20 rechnet, die den Schwanz nach der linken Seite tragen. Er hat 
ferner alle die Konvulsionen in seiner Ubung, die zur Hoflich- 
keit erfordert werden; wenn er redet, so weis er sich der Erde 
gehorig zu nahern, gleich dem Rohrdommel, der eh' er schreiet, 
seinen Schnabel in die Erde stekt, und ihm sind die Grade des 
Bogens bekant, in den der Riikken sich nach Masgabe des Ge- 
genstandes seiner Verehrung zu krummen hat. Seine lebhaften 
Fusse erfullen oft das ganze Zimmer mit seiner Person, und 
er vertheilt unpartheisch unter alle Anwesende den Genus seiner 
Gegen wart. Bald fiittert er aus einem glanzenden Gefas eine 

30 schone Nase mit wohlriechendem Staub, und iiberreicht das 
kizelnde Opfer mit den erforderlichen Gliederverdrehungen, 
bald sezt eine fremde Dose seine Zunge und seinen Riikken 
in dankbare Bewegungen. Hier treibt er den Schweis eines nak- 
ten Busen in die ofnen Poren, um durch eine schadliche Abkuh- 
Iung einer unschadlichen Erhizung zuvorzukommen, und dort 
eilt er dem Facher entgegen, der ihn zu einem galanten Narren 



466 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

schlagen oder fiir eine Thorheit bestrafen wird, zu deren Wie- 
derholung er seinen Wiz auf eine schmeichelnde Art aufgefor- 
dert glaubt. Mit welcher Wollust driikt er endlich dort am Fen- 
ster seine Lippen an junge Hande. So beschnuppern die Lippen 
der Ziegen junge Baumzweige. Mit Kiissen ist er iibrigens frei- 
gebig; jeden bewirft er mit denselben von seinem Fenster, wie 
die Affen den Vorbeigehenden mit ihren Exkrementen von dem 
Baum herunter. Endlich weis ich nicht, ob er ofter hurt oder 
ehebricht. Denn er ruhmt sich zu zeiten des einen und des an- 
dern; obgleich mehr seine Oberflache und sein Schein als sein 10 
Wesen und sein Inneres manliche Starke verspricht, wie der Ge- 
ruch des Bokkes nur von seinem Felle, nicht von seinem Fleisch' 
entstehen sol. Niemand beschmuzt besser als er mit zweideuti- 
gem Wiz reine Ohren. Doch stehen auch poetische Bilder seiner 
Artigkeit zu Diensten. Nur neulich sagte einer zu meiner Frau, 
er tranke Wollust aus ihren Augen. »Wie Gulliver, sagte mein 
Vetter, der es horte, englisches Bier aus den Huneraugen eines 
brobdignakischen Frauleins trank.« 

Wollen Sie bei mir selbst die Richtigkeit dieses Gemahldes 
untersuchen, so lassen Sie ihre Tabakspfeife zu Hause, deren 20 
Rauch meiner Frau wenigstens etliche Anbeter kosten wiirde. 
Vertreiben Sie lieber mit dem Tabaksrauche die hause von Ihrem 
Nelkenstokke. Die genauern Schilderungen verspahre ich auf den 
kunftigen Brief, und die Antwort auf diesen erwarte ich aus 
Ihrem Munde selbst. etc. 



V. 
Fragment aus einem zweiten Lobe der Narheit 



Die Sterne auf den Rokken schimmern nur zu Nachts; aber 
wehe der Sonne, vor der sie erblassen! Wehe den Knien, die 
nicht dem Kloze huldigen, aus welchen man den Gegenstand 30 
der algemeinen Verehrung geschnizt! Blize treffen zwar den 
Lorber nicht; aber doch den, der ihn tragt, und nichts ist ge- 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 467 

wohnlicher als Thranen in scharfsichtigen Augen! Der grosse 
Man mus also entweder durch niedrige Buklinge unter dem 
Neide hindurch kriechen, und den langen Fischen gleichen, die 
sich kriimmen, ufn durch das widerstehende Wasser schwim- 
men zu konnen, oder er mus gleich den Palmbaumen durch 
Stacheln seine Friichte gegen die Schweine beschiizen. Welches 
von beiden er nie wollen, und welches er selten konnen wird, 
weis man von selbst. Was bleibt ihm nun iibrig? Genug! der 
Rath, er werde wie der Narren einer. Die Arzte des Volks haben 

10 Harlekine bei sich; und sein Korper wenigstens spiele, wahrend 
seine Sele Pillen austheilet, den buntschekkigen Diener. Um 
die Nattern zu verscheuchen, tragen die Mohren in Zypern 
Schellen an den Stiefeln. Scherz ist daher nicht zu verachten; 
denn ausserdem, was Sturz von dem Einflusse der lustigen 
Laune Voltairens auf die Duldung dieses Mannes, sagt, ausser- 
dem, daB alles dumme Vieh vom Schafe bis zum Stier das Salz 
llebet, so ist auch gewis, daB das Lachen ein par Stufen von 
Grosse heruntersezt. Ernsthaftigkeit ist das Wappen des grossen 
Verdienstes; daher ist es in Abdera besser Demokrit als Heraklit 

20 zu sein. - DaB ich mit diesem alien dem Weisen bios angerathen 
haben wil, seine Thorheiten weniger zu verbergen, auf Som- 
merflekken nicht Schminkpflastergen zu legen und diinne Wa- 
den nicht durch allerlei Materialien zu vergrossern, versteht sich 
von selbst: denn Thorheiten hat jeder, und von keinem Kleide 
lassen sich alle Federn und alle Staubgen abbursten. - Allein 
weiter! Narheit komt auch der Dumheit zu statten. Diese beiden 
Benennungen sind nicht gleichbedeutend. Denn die Narheit ist 
der Maulesel, der aus der Vereinigung des Pferds mit dem Esel 
(der Weisheit mit der Dumheit) entspringt. Zwar sind beide 

30 wie Frau und Man immer ein Leib, zwar ist immer neben dem 
gothischen Rathhause, wo man sich berathschlagt, der Raths- 
keller, wo man sich betrinkt; zwar sind beide Schwestern und 
beide Antimusen, aber jede bewohnet doch einen besondern 
Gipfel auf dem Parnas, der der Antipode des griechischen, und 
oft der deutsche ist, und wenn dieser Erdbal das Bedlam des 
Universums ist, so wohnet die Dumheit, gleich den Bedienten, 



468 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

parterre, und die Narheit, gleich der Herschaft, in den obern 
Stokwerken, des Gelehrten, des Polypen zwischen beiden, nicht 
zu vergessen, der unter dem Dache logirt. - Die Narheit komt 
nun der Dumheit zu statten. Hiemit, um noch einem Misver- 
standnis vorzubeugen, sag' ich nicht, daft die Dumheit nicht 
die Mutter des Gliiks ist; daB auf ihrem faulen Riikken nicht 
mehr die Mehlsakke liegen; daB der nicht erhoben werde, der 
kriechen kan und der gluklich ist, der es verdient. Ich weis, 
daB der Rok der Ehre bios gemacht ist, um die Blosse des Un- 
verdienstes zu bedekken, wiewohl man oft die Schonen nachah- 10 
met, die sich ankleiden, um ihre Naktheit zu zeigen, ja daB 
die Ehrentitel, womit man die Menschen behangt, ein enges 
Gewand sind, welches die Thorheit hindert, nach Gefallen 
Spriinge zu machen. Aber was wil ich denn sagen? Dieses. Man 
nehmeerstlichnur die Mode. Denn die Narheit ist der Schneider 
Europens. Ein kleines Gehirn hat seinen Werth; aber was fur 
einen grossen bekomt es nicht unter einem grossen Huthe? Jeder 
schazt einen Esel; aber einer, den sonst die Fabel und jezt die 
Mode grun anstreicht, ist zum Anbeten, und wenn ich ein Frau- 
enzimmer ware, wiird' ich sagen, zum Kiissen. Selbst die stolze 20 
Philosophie im zynischen Mantel, mus dem seidnen Mantelgen 
weichen, welches um ein lebendiges Skelet flattert, das man 
mit einem lateinischen M gekronet. Grosse Schuhschnallen lei- 
hen nicht bios kleinen Fiissen, sondern auch kleinen Kopfen 
ihre Strahlen. Zu langen Ohren stehen grosse Lokken schon 
und noch schoner goldne Schellen. Da ich nur von manlichen 
rede, wird man wohl errathen, daB an weibliche das gehangt 
werden mus, um was man dem Galanteriehandler das halbe 
Vermogen verpfandet. »Der Man hat glanzende Gaben« heist 
nicht, er hat einen glanzenden Kopf, sondern einen glanzenden 30 
Bauch, wie der Feuerkafer; er hat namlich eine goldgestikte 
Weste. Der Gehalt der meisten Idolen guter Geselschaften woh- 
net auf ihrer Oberflache und ihre aussere Seite ist ihre beste. 
Die Pflanzen niizen dem Apotheker mit ihrer Rinde am meisten, 
und die Rinde ist der schmakhafteste Theil des Brods. Schalet 
die Rinde von jenen Lorberbaumen ab, und sie verdorren; dieses 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 469 

siehet man, wenn solche gute Kopfe ihre Talente fur die Befrie- 
digung des Magens verpfanden, und ihren Wiz zur Trodelbude, 
in die Geselschaft der durchlocherten Dumheit, wandern lassen. 
- Von der Bestatigung meines Sazes war ich neulich Augenzeuge 
bei einer Kaufmansfrau, die fur ein unmiindiges Kind einen 
Hauslehrer unter zweien Studenten auswahlte, die man ihr we- 
gen ihrer gleichen Dumheit vorgeschlagen hatte. Natiirlich 
wurde der eine, der so wenig besas, daB er seine rothen Hare 
nicht mit Puder schminkte, und das alte rothliche Brautigams- 
[o kleid seines dikken Vetters trug, und also bios dum war, dem 
nachgesezt, der seinen Magen seiner weissen Frisur aufopferte, 
der mit einem schwarzen Rokke und weissen seidenen Striimp- 
fen prangte, und also auch ein Nar war. So war in Agypten 
der Esel wegen seiner rothen Hare der Teufel der Nazion, und 
der gehornte Apis wegen seiner weissen und schwarzen Flekken 
der Got derselben. Aber noch mehr! etc. 



VI. 
Ober die Konfiskazion der Bucher 

Ein Brief 



20 Mem Herri 

Hier haben Sie Ihr Manuskript wieder, von dessen Giite mich 
Ihr Ruhm schon zum voraus iiberzeugte. Sie haben in demselben 
fastzu viel Griinde angeworben, und konten also einige abdanken. 
Kurz Ihr Buch stelt die Schadlichkeit der Biicherkonfiskazion 
in ein solches Licht, daB ich dasselbe nach seiner Herausgabe 
so schleunig als moglich konfisziren wil. Ich bin diese kleine 
Gefalligkeit unserer Freundschaft schuldig. Damit es namlich 
gelesen werde, wil ich verbiethen, es zu lesen und diesen Gift 
durch Bekantmachung seines Daseins in den Mund vieler Kaufer 
30 spielen; dieses sol den Nuzen eines Privilegiums vertreten. Denn 



470 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

eine Schrift gewinnet durch die Verbannung in den Buchladen 
des Verlegers, in kurzer Zeit weit mehr Ruhm als in einer lan- 
gern durch den Zulas seines freien Umlaufs. So sol ein junges 
Fohlen durch Einsperrung in den Stal in einem Jahre mehr Luder 
auf den Leib bekommen, als in zweien durch die Weide auf 
der Wiese. Aber zu diesem Verfahren verbindet mich auch 
das Wohl der Kirche. Das Wachen iiber die reine Lehre, die 
vor etlichen Jahrhunderten auf einmal rein wurde, ist die 
Pflicht eines jeden, der mehr fur den Himmel als fur seine Ver- 
nunft besorgt ist, und das groste Verdienst dessen, der dafur IC 
besoldet wird. Die Reinigung der Glaubenslehren von neuem 
anfangen, ist nun unerlaubt, weil sie bios vom Jahre 1483 an 
bis 1546 erlaubt war; und vollig unnuz, da man damals durch 
Hiilfe weniger Marnier, durch Mangel einer gesunden Exe- 
gese und einer richtigen Philosophic mehr sehen, mehr aus- 
puzen und festsezen konte, als jezt bei der Vereinigung vieler 
Gelehrten, beim Lichte einer bessern Exegese und bei der Anlei- 
tung einer freiern Philosophie. Darum verehr' ich gleich den 
Agyptern, die die altenKazen anbeteten und die jungen ersauften, 
jeden alten Reformator, und schade, daB ich die jungen nicht 2c 
verbrennen wenigstens ersaufen kan. Gold darf nicht zu wenig, 
ein Buch nicht zu viel wagen. Auf der Rathswage namlich, wie 
naturlich. Wie sonst bei den Hexen, so wird jezt bei den Buchern 
das zweifelhafte Dasein des Teufels erforscht. Das Sinken im 
Wasserrettetejenendas Lebenund das Schwimmen auf demsel- 
ben, verurtheilte sie zum Scheiterhaufen. - Eben so wird umge- 
kehrt ein Buch durch seine Leichtigkeit einer offentlichen Bi- 
bliothek und durch seine Schwere des hollischen Feuers werth. 
So weissagen die Angekoks der Gronlander aus der Schwere 
des Kopfes eines Kranken seinen Tod und aus der Leichtigkeit 3c 
desselben seine Wiederherstellung. Die Aufseher des Parnasses 
erlauben den Arm en, gleich den Aufsehern der Walder, nur die 
Fallung kleiner, verwachsener, untauglicher Baumgen; aber 
grosse und schone zu fallen, wird billig durch gesezliche Dro- 
hungen verboten und durch die Erfiillung derselben bestraft. 
Zwar gleicht ein boses Buch dem Stinkholz; es aussert seinen 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 471 

kezerischen Geruch am meisten, wenn man es verbrent; allein 
iiber diesen kleinen Nachtheil sieht ein heiliger Eifer hinweg. 
- Mein Enkel der Kandidat Z. brachte mir neulich eine Piece, 
in welcher er eine neue Lesart ernes dictum probans, und in 
deren Zuschrift an den Hrn. Superintend, er eine verstekte Bitte 
um ein Amt und eine Frau (namlich um dessen Tochter) wagte. 
Zu seinem Gliikke iiberredete ich ihn, daB die Erhaltung des 
Amtes auf der alten Lesart beruhe, und das Ja der bezielten 
Tochter nur von dem [XT] in Rom. V, 14. abhange. Kurz er 
schrieb eine Widerlegung seiner eignen Behauptung, und 
machte durch Rechtglaubigkeit sein Gluk. Nun last er die Musen 
Musen sein, und macht bios seine Frau fruchtbar; nun fiillet 
er bios die Wiege, aber nicht das Schreibepult. Bei Ihnen ists 
umgekehrt. Ihre Kezerei macht Ihr Gliik, und sie wird es am 
meisten machen, wenn Sie diesen Brief Ihrem Verleger, des 
Honorariums wegen, zeigen. Ich bin ungeachtet Ihres zukiinfti- 
gen Ungliiks in der andern Welt, und Ihres Gltiks in der jezigen, 

Ihr 

Freund etc. 



Beschlus 



20 Nicht Adieu, sondern Got griis dich, lieber Leser! Ich hatte nam- 
lich Vorrede stat Beschlus schreiben sollen, hatt' es nicht zu affek- 
tirt gelassen. Warum aber die Leibwache nicht vor die Thiire? 
darum. Die meisten Vorreden sind Kiichenzettel, die der Wirth 
einem hungrigen Reisenden von den guten Speisen macht, die 
er gehabt hat, haben wird und nicht hat; die meisten sind lobende 
und liigende Leichenpredigten auf das in Vergessenheit be- 
grabne Geistesknablein, d. h. die heuchlerische Demuth des 
Schriftstellers wird die Prophetin seines Schiksals, wie Moliere 
an dem eingebildeten Kranken starb, den er troz seiner eignen 

30 Kfankheit spielte; wenige sind Henkel des Buchs. Dies alles soke 
die meinige nicht sein; sondern bios eine freundschaftliche Un- 



472 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

terredung mit dem Leser meiner Satiren. Wir haben uns wie 
ein par Eheleute den ganzen Tag miteinander gezankt; aber 
schlafen diese darum nicht zu Nacht in Einem Bette? Eilt doch 
auch der Respondens mit dem Opponens nach der lateinischen 
Heze zum gemeinschaftlichen Schmause und man giebt dem 
Barbier, der Ader gelassen, gerne eine Schale Kaffee, wenn man 
in der Stadt, und ein Glas Brandewein, wenn man auf dem 
Lande wohnet. Wer weis nun nicht (dieses ist das Darum aufs 
obige Warum) daB man unter der Thure am liebsten und ver- 
traulichsten mit dem Freunde redet, bei dessen Ankunft man 10 
unter vielen Komplimenten den verlohrnen Schlussel zum Her- 
zen suchte? 

Man seze noch hinzu, daB gewisse Pferde in der ersten Vier- 
telstunde am meisten schwizen und freilich dan nimmer. Der 
Schweis verunstaltet ein geschminktes Gesicht. Und wer ist 
daran Schuld? Hauptsachlich die Rezensenten, die in ihren Ur- 
theilen die Figur pars pro toto lieben, die aus dem Anklopfen 
nicht nur auf den Werth des Zeigefingers, sondern auch des 
ganzen Menschen schliessen, und nach diesem Schlusse sanft 
oder wild herein sagen, die aus dem Komplimente des Fusses 20 
den Werth des Kopfes weissagen u. s. w. Wer kan da essen, 
trinken, und frolich sein, wenn ein Har den Dolch der Kritik 
tragt, der iiber einen, wie iiber das Haupt jenes Schmeichlers, 
hangt? nicht zu gedenken, daB aus dieser (ibeln Gewohnheit 
der Rezensenten die iible Gewohnheit der Schriftsteller ent- 
springt, gleich dem Monde gros aufzugehen, und die Mitte der 
Laufbahn durch Abnahme der Grosse zu schimpfen und das 
Horn, gleich der Schildkrote, am Schwanze zu tragen. 

Der Verfasser des Buchs iiber die Ehe hat also in dieser Riik- 
sicht Unrecht, wenn er von der Vorrede, vom Hute, riihmet, 30 
daB man sich damit dekke. Darum geh' ich Chapeaubas, und 
mag gewissen Richtern mein Todesurtheil nicht in die Feder 
sagen. »Aber dies alles ist ja eine Vorrede zu einer Vorrede; 
und die deinige ist so unbedeutend, so ler!« Sie sol aber auch 
nichts anders sein, da sie bios, wie gesagt, ein Freundschaftsge- 
sprach oder bildlich eine Schiissel Krebse ist, die man nach der 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 473 

Mahlzeit giebt und die wenig Fleisch und viel, auch wohl schone 
Schale haben. 

»Aber zum Verhor selbst! Denn was woltest du sonst mit 
unser einem reden wollen? Also die ungleiche Schreibart?« ist 
freilich sichtbar; aber auch verzeihlich. Ihr Puis namlich schlagt 
bald heftig bald mat, wie es die Umstande mit sich bringen. 
Die Welt im Kleinen mus naturlich mit der Welt im Grossen, 
und die Sakuhr mit der Sonnenuhr ubereingehen. So fait man 
aus der Ironie in die Deklamazion, wenn auffallende Thorheiten 

io fur kalten Spot zu warm machen. Fur Thoren Horaz oder Vol- 
taire, fur Bosewichter Persius und Pope. Freilich sind die Satiri- 
ker die besten, welche mit ihrer Peitsche mehr zuschlagen als 
klatschen. Und endlich ist der Mensch so ein nachahmendes 
Thier! Was Wunder wenn derjenige, der heute aus dem gestagen 
Stiikke unaufhorlich »Als ich auf meiner Bleiche« wiederholt, 
morgends eine Arie aus der Alzeste wiederkauet. Der Gelehrte 
ist das Echo seiner Bibliothek, und mancher der Spiegel eines 
Spiegels. Selbst der Korper ist der Resonanzboden der Sele, ich 
sage nicht ihr Echo. Denn etc. 

20 »Und die unzusammenhangende Schreibart?« ist vielleicht 
zusammenhangend. Es ware unfein, dem Leser das zu sagen, 
was er sich selbst sagen kan, ihm wie einem Kinde das Buchsta- 
biren zu lehren, und mit dem Stokke oder dem Griffel auf ieden 
Buchstaben aufmerksam zu machen. Der Rok ist abgenuzt und 
unbrauchbar, auf dem man alle Faden zahlen kan, und nichts 
ist gothischer als die modischgrossen Schuhschnallen, um ein 
par kleine Riemen mit einander zu verbinden. Manche Fliisse 
stromen unter der Erde fort; aber dan, sobald sie wieder sichtbar 
werden, gebiihret ihnen noch der Name ihres Ursprungs. Die 

30 Biicher sind die angenehmsten, deren Verfertigung der Autor 
dem Leser zum Theil iiberlast. Wer uns gefallen wil, sagt la 
Bruyere, mus verursachen, daB wir uns selbst gefallen, und 
mancher Schriftsteller ist seine Bewunderung weniger seinen 
Talenten als der geschmeichelten Eigenliebe seiner Leser schul- 
dig. Daher verwandelt man so gern nahe Vergleichungen in 
Allegorien - ich sage nahe Vergleichungen, weil man nur das 



474 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

leichtere zu errathen geben mus und Kinder nur die Ahren auf- 
zulesen haben, die der Schnitter nicht mit in seine Garben ge- 
bracht, und weil der Autor seinem Wize da, wo er klein ist, 
einen Schein von Lebhaftigkeit in der Meinung des Lesers er- 
theilen mus, der das Vergniigen an eigner Thatigkeit auf die 
Rechnung f rem der Talente schreibt. Daher der Geschmak am 
sternischen Wize. 

»Die gezierte, mit Gleichnissen iiberladene?« So ein Tadel 
ware nun wohl leichter vermieden als verdient, wenn es namlich 
einer ist. Und daran zweifle ich. Ich rede jezt obne Beziehung ic 
auf mich. Warum sollen gewisse Schonheiten nur einzeln etwas 
werth sein und in Herden verliehren, und den Elephanten glei- 
chen, die einzeln ihre Starke gebrauchen, und in Geselschaft 
ihre Krafte und ihre Wildheit vergessen? »Aber sie ermiiden 
den Leser« und was ermiidet ihn nicht? Mus er so lange lesen, 
bis er zu viel gelesen? Die Arzte rathen, daB man zu essen aufho- 
ren sol, wenn es am besten schmekt. Freilich wird der Genus 
des Brodes nie zum Ekel; aber ich denke Brod schmekt auch 
nicht so gut als eine Torte. »Seneka« ich weis es; aber ich weis 
auch, daB sein Wiz oft ein Kastrat ist und nur eine schone Stimme 20 
hat, daB derselbe ofter Worte mit Worten als Gedanken mit 
Gedanken Ringe wechseln last, und daB seine Geburten oft den 
Blumen gleichen, die der Zufal durch Kalte an den Fenstern 
bildet. Solcher Wiz ist nur Zuker, den die Kinder lieben und 
den eine altere Zunge freilich nicht vergottern kan. Auch sind 
Anthithesen leichter als Vergleichungen gemacht, und seinem 
Wize fehlet oft die Lebhaftigkeit, ob man es gleich dem guten 
Stoiker ansieht, daB er sich pudert, eh' er die Hare ausgekamt 
und gekrauselt, und den Vogelbauer von altem Kothe reinigt, 
eh' er den Vogel gefangen. - Uberhaupt, nebenher anzumerken, 30 
trit ieder dem Wize das Gras ein, und jeder riikt den Granzstein 
des Verstandes weiter. Als wenn der Kantor, der orgelt und 
singt, nicht eben so gut sein muste, wie der Pfarrer, der predigt! 
Ja, Wiz und Verstand sind Blutsverwandte. Zwar sezt der eine 
uber den Graben und der andere macht einen Umweg; der eine 
ist fur Mesalliance, und der andere zahlt erst die Ahnen; der 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 475 

eine stampft wie das Pferd aus jeder gepf lasterten Strasse Funken 
und der andre braucht ein Feuerzeug, um ein Licht aufzustekken; 
der eine hat ein teleskopisches und der andere ein mikroskopi- 
sches Auge. Aber eine Henne sieht den unsichtbaren Raubvogel 
in der Hohe und das unsichtbare Wiirmgen unter ihren Fiissen 
zugleich, und der Wiz ist ofter mit Verstand als' der Verstand 
mit Wiz verbunden. Freilich spielt der Wiz bios aus der Tasche 
und scheint bios dem gekopften Vogel den Kopf aufzusezen, 
oder einen ungekopften zu kopfen; aber er vergniigt doch. Und 

io was thut, was kan der Verstand mehr, wenn er verlobte Ideen 
kopulirt? Die angenehme Empfindung unserer Thatigkeit ist 
doch am Ende der einzige Lohn fiir jede geistige Anstrengung. 
— Aber um wieder auf den obigen Leser zu kommen, so glaube 
ich, daB bunte Tapeten, wenn man sie sich anschaffen kan, die 
Nuzung der Wand keinesweges erschweren, und daB selbst die 
Blatter der Baume nicht zweklos sind. Wenigstens litten, nach 
Sander, die Trauben der Weinstokke, von denen man alles Laub 
abgebrochen, in heissen Monaten vielen Schaden. Die Schle- 
henbluthe riecht zwar sus, aber sie schmekt bitter, und der Dia- 

20 mant, der glanzt, schneidet Glas. Auch mus eine Reitpeitsche 
schoner gearbeitet sein als die Peitsche eines Postillions. Freilich 
verfiihret oft ein Bild zu einem andern, wie aus dem. Blatte der 
Prikkelbere ein andres wachst, und ein Gedanke hiilt sich in 
mehrere Ausdriikke, wie Weiber in mehrere Rokke; allein 
warum sol man auch den Kamtschadalen gleichen, die von ihren 
Zwillingen alzeit ein Kind umbringen, oder dem Ephor Emere- 
pes, der, ein Freund des Alten, die zwo neuen Saiten zer- 
schnit, womit Phrinys die Musik zu vervolkomnen ge- 
dachte? - 

30 »Weithergeholte Vergleichungen, welche zu verstehen man 
erst eine Reise um sein Gehirn machen mus.« Die Richtigkeit 
eines Gleichnisses griindet sich auf die Richtigkeit seiner Ahn- 
lichkeit. Wie unvermeidlich aber ist die Tauschung, das in der 
Hize der Arbeit fiir ahnlich zu halten, was erst durch Zwischen- 
ideen, die man bei dem Leser unrichtig voraussezt, ahnlich wird? 
Schreiben ist empfangen, empfangen geniessen; aber im Ge- 



47 6 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

nusse gleichen wir alle dem Papagei, der wahrend seines Fressens 
auf Einem Beine stent. Die Gegenwart ist eine falsche Brille 
und oft scheint die Fliege, die zu nahe vor dem Auge vorbei 
fliegt, ein Adler, und der Adler, den die Entfernung in einen 
schwarzen Punkt verwandelt, eine Fliege zu sein. Daher geht's 
mit den Buchern wie mit den Kindern; in den ersten Jahren 
mogte man sie, wie man sagt, vor Liebe fressen, im zehnten 
Jahre verwandeln sich ihre schonen Einfalle in Kindereien, und 
der Rektor des Gymnasiums spricht dem Jungen die Talente 
ab, die sein Schulmeister an ihm fand. Ferner eine angstliche 10 
Selbstkritik kuhlet nicht nur den Enthusiasmus zu sehr ab, wie 
eine Schnuppe (oder ein Rauber) das Licht geschwinder ver- 
brennen macht; sondern zu viele Fasttage entnerven auch, ein 
zu sehr gepuztes Licht brent triibe, und ein oft gewaschnes 
Hemde wird feiner und diinner zugleich. Endlich ist gewis, dafi 
diejenigen Weiber die wenigsten Kinder gebaren, die sie am 
langsten saugen, wie naturlich. 

»Schmuzige Gleichnisse« nicht bios um noch schmuzigere 
Thorheiten zu bedekken, sondern auch darum. Unsre Verfeine- 
rungist zur unverschamtern Annahme ziemlich schmuziger La- 20 
ster gediehen; warum sol die Verfeinerung nicht gar bis zur 
freien Anfuhrung ihrer Benennungen gehen? Ist es eine Ehre 
eine Hure zu sein; warum ist es eine Schande sie bei ihrem Na- 
men zu nennen? Dort sag ich salvo titulo; warum sol ich hier 
sagen salva venia? Warum wollen wir den Schweinsstal tiber- 
tunchen; und warum iiber einem gekronten Wurm, der sich 
nun in mehrere Wurmer aufloset, eine prachtige Pyramide 
bauen? DaB doch die Zunge so gerne den Antipoden des Herzens 
spielt! Noch mehr. Nakte Volker sind nicht so wolliistig als 
gekleidete, und die nakten Namen gewisser Dinge schmeicheln 30 
der Begierde weniger als die, welche gefahrlichen Reizen zum 
Negligee dienen. Die Gewohnheit nur macht die Sele zum Ka- 
straten, troz eines herkulischen Korpers. »Die Einbildungskraft 
geht gern im Schatten spazieren« sagt zwar ein franzosischer 
Schriftsteller. Aber eben in den schattichten Alleen sind die. mei- 
sten Huren, und die Nacht, die nach den Philosophen die Mutter 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I . BANDCHEN 477 

aller Dinge ist, ist auch die Mutter der Bastarte. - Freilich mus 
man hierinnen die Ausschweifung der Autoren vermeiden, die 
ihren Nachttopf iiber den Vorbeigehenden ausschiitten, die ein 
schones Zimmer mit den kothigen Stiefeln beschmuzen, zu de- 
ren Reinigung ein Teppich vor der Thiire ermahnte und diente. 
Aber meine Leser mogen selbst kauen; so wie sie in Riiksicht 
der schmuzigen Gleichnisse selbst fiir eine Serviette sorgen mo- 
gen! 

»Warum die Biicher nicht zitirt, woraus naturhistorische Be- 

io merkungen u. s. w. genommen worden?« weil ich derselben 
zu viele zu zitiren gehabt hatte, und iiberhaupt den Schonen 
nicht gleichen mag, die ihre Bibliothek mit dem Riikken an 
das Fenster stellen, um ihre Belesenheit bewundern zu lassen. 
Aber die Richtigkeit mancher naturhistorischen Bemerkung 
oder mancher Nachricht eines Reisebeschreibers, die zu einem 
Gleichnisse gedienet, bleibt dahingestelt; und wozu ware sie 
auchnothigPDaher ich oft den Volksaberglauben und aberglau- 
bige Biicher geniizt. Nur eines anzufuhren »Das in der Medizin 
gebrauchliche Regnum animale oder Thierbuch etc. von Krautermann. 

20 Arnstadt und Leipzig. In Verlegung Ernst Ludewig Niedtens 1728. « 
Es komt hier nur auf die Verdauung an; von einem schlechten 
Buche last sich ein guter Gebrauch machen, aus schmuzigen 
Lumpen verfertigt man ja schones weisses Papier und wer weis 
nicht, daG der Flus Paktolus sein Gold dem Bade des langohrig- 
ten Midas verdankt? Uberhaupt niizet dem Wize Gelehrsamkeit 
so wie sie dem Verstande schadet, der nur im finstern Brunnen 
die Sterne sieht. Der eine gleicht den Insekten, die viele Augen 
haben, der andre dem Riesen Polyphem, der nur eines hatte. 
Der eine ist ein Vielfras und macht vor dem Essen keinen Tanz, 

30 der andre singt wie die Vogel am schonsten ungefuttert. Der 
eine ist ein Wechsler, der viele und vielerlei Miinzen im Vorrathe 
hat, und der andre ein Okonom, dessen Vermogen in liegenden 
Griinden besteht. Die Amtspflicht des Wizes ist wie bekant ent- 
fernte Ideen gleichsam durch Kanale zu verbinden; aber Entfer- 
nung findet in einem spannenlangen Gebiete nicht stat; und in 
Riiksicht des Verstandes ist ohnehin ausgemacht, daB er sich 



47° JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG 

im Gegentheil durch ein Fernglas die Augen verdirbt Manche 
Gelehrte dachten selbst nicht, weil sie sich zu sehr mit dem 
beschaftigten, was andre dachten. 

Aber ich wil meine Leser des angefangenen Kritisirens iiber- 
heben. Nihil est perniciosius quam immatura medicina, sagte 
Seneka, auch riigt man am Mohren keine Sommerflekken. We- 
nigstens gleicht jede Selbstvertheidigung dem Stokke, den man 
mehr zur Zierde als zur Wehre bei sich fiihret, solt' es auch 
ein knotichter Geniepriigel sein. - Allein nur noch einige An- 
merkungen zu etlichen Satiren in diesem Buche. Mogen sie auch 10 
ein wenig unordentlich unter einander stehen; wer wird wie 
der Kaiser Geta, nach dem Alphabethe essen wollen? - Dies 
heiss' ich die iibrigen Brokken samlen. 

Zu No. I. Der Spot iiber die Geniesucht, die nun mit dem 
Tode ringt, scheint nicht so ganz unnothig zu sein. Denn ihr 
Abfahren so gar zugegeben, erwachen nicht manche Menschen 
im Grabe zum Dakapo ihres Lebens auf? Ferner auch tode Kor- 
perstekken an, und Stiikke Aal entspringen oft dem hollischen 
Feuer, zu dem sie die Kochin schon verdamt hatte. Ein einziges 
Genie vermag unsern Gaumen zu verpesten, und ein neuer Got 20 
uns in die vorigen Gozendiener zu verwandeln. Ja die Zahne 
einer Wasserratte bios waren zur Uberschwemmung etlicher 
hollandischerProvinzennothig. Dochgeseztes bliebe bei diesen 
Thorheiten bei der ersten Auflage, gesezt wir wiederkauten 
unsre Schande nicht, und waren klug genug, um nur zehn Jahre 
lang thoricht gewesen sein zu wollen; warum wolte man die 
vorigen Narheiten nicht durch nachfolgenden Spot bei der 
Nachwelt entschuldigen? Der verschmizte Knabe spielt bei der 
Ankunft des Vaters den zankenden-Moralisten, um dadurch sei- 
nen Antheil an der Strafe derer, in deren Geselschaft man ihn 30 
iiberraschte, von sich abzulehnen. Mit Nesseln vertreibt man 
den Gestank eines Leichnams aus dem Hause. Den im Gefangnis 
gestorbenen Missethater flicht man aufs Rad; der Japaner kaum 
zu gedenkeri, die den unbestraften Leichnam durch Einpokelung 
fur seine Strafe aufbewahren. 

Aber vielleicht sind gewisse Autoren so gliiklich in ihren Erb- 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 479 

begrabnissen den Kramladen zu verwesen, ohne als unverfaulte 
Knochen der Nachwelt in die Hande zu gerathen; vielleicht um- 
kleiden diese vortreflicben Bucher, die Behaltnisse origineller 
Exkremente, nie kiinftige Bucher, die Behaltnisse von blossem 
Verstande, wie der Apotheker die Buchse vol wohlriechender und 
gesunder Essenzen mit der Harnblase des Rindviehes zubindet. - 
Ich glaube iibrigens, da8 die schongeisterische Tolheit nicht un- 
heilbar, sondern bios nachgeahmet ist. Jene Kinder im Waisen- 
, hause waren bios der Wiederhal der Konvulsionen eines einzi- 

10 gen, und selten wird ein Mensch tol gebohren. Verbessert den 
Geschmak der Leser, so verbessert ihr den Geschmak der Skri- 
benten. Die alten Mexikaner machten ihre gesunden Kinder zu 
Kriipeln, weil ihr Kaiser Zwerge, Buklichte und Blinde zu Hof- 
narren erhob; und die Autoren musizirten mit ihren Schellen- 
kappen, weil dielangen Ohren des Publikums nur solchen Kon- 
zerten Beifal zunikten. Das Elendthier heilt sich von der 
fallenden Sucht, indem es sich mit seinem Fusse hinter dem 
Ohre krazt; lasset einmal unsere schonen Geister sich hinter den 
Ohren krazen, so sind sie ohne Mixturen kurirt! — Vielleicht 

20 verdienet niemand mehr eine Satire als gewisse Satiriker, die 
wie Broome sagt, iiber alles spotten, um nur ihren Wiz zu zei- 
gen, gleich gewissen Schonen, die alles belachen, um ihre weis- 
sen Zahne zu verrathen. Und wenn sie nur weisse Zahne hatten, 
wenn diese Zahne nur nicht hoi waren, nur nicht durch Aufbe- 
wahrung zurtikgebliebener Speisen den Mund in ein lebendiges 
Grab verwandelten! Eine Satire iiber die Satire ist ein Zahnsto- 
cher, und gewis hatte manche nothig, sich wie der Monch selbst 
zu geiseln. An manchen Orten hat eine Gerichtsperson das 
Recht, den Scharfrichter, der iibel exekutirt, vor den Kopf zu 

3° schiessen; und warlich jeder rechtschafne Man mus den harter 
als mit Spot bestraft wiinschen, der iiber Thorheiten nicht spot- 
tet, sondern spaset, dem fremde Verbesserung so gleichgiiltig 
wie seine eigne ist, der mit gichterischer Hand ein Rezept gegen 
die Gicht zusammensezt, der der Kaze gleicht, die fur die Aus- 
rottung der Mause, welche an einer Rinde ein wenig nagen, 
sich durch Topfe vol Milch belohnet, die sie insgeheim aussauft, 



480 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

oder den Richtern, die oft mehr stehlen als die Diebe, die sie 
bestrafen, der ferner das Gedeihen der Thorheiten fiir die bessere 
Erndte seiner Satire wunscht, gleich dem Todengraber, der fiir 
die Fortdauer der Pest betet, um mehrere Toden begraben zu 
konnen, und der endlich wohl gar zur Geburt der Thorheiten, 
die er zeichnen wil, eine freiwillige Ursache wird, wie der Mah- 
ler Parrhasius einen abgelebten Man zu Tode quake, um von 
seinem Schmerze die Ziige fiir ein Gemahlde des gepeinigten 
Prometheus zu borgen. - Freilich mahlt der Heide den Satir 
eben so, wie der Christ den Teufel mahlt; aber das Gebetbuch 
giebt auch dem Teufel den schonen Namen Lucifer, den Zizero 
dem Morgenstern giebt. 

Zu No. II. Die Aufklarung des geistlichen Standes ist weniger 
ausgebreitet als sie scheint; sie ist mehr in den Biichern als in 
den Kopfen. Der gemeine Mann glaubt, die ganze Welt geniesse 
mit ihm um 12 Uhr der Mittagssonne und gewisse menschen- 
freundliche Schriftsteller urtheilen wie der Pastor des Montaig- 
ne. 3 Aber Intoleranz spint noch ihre Gewebe in den Wink ein 
der Konsistorien, und das grosse Agypten beherbergt noch 
dikke Finsternis neben dem lichten Gosen. Alte Kirchen sind 
dunkel und die meisten Rathshauser in unertraglichem Ge- 
schmak gebauet. Ichkenne viele Theologen, die die Orthodoxie 
fiir ihren Magen und die Heterodoxie fiir ihren Kopf lernen; 
»um gut in dem Exam en zu bestehen« sagen sie. So heurathet 
man oft ein runzlichtes Gesicht des Geldes wegen, und entscha- 
digt dafiir das angeborne Gefiihl des Schonen durch eine Kon- 
kubine, die Extrapost der Ehe. So kleidet sich ein armenischer 
Kaufmann zu Konstantinopel offentlich desto schlechter, je rei- 
cher er zu Hause ist. So tauscht die Raupe durch die Ahnlichkeit 
ihrer Farbe mit ihrem Nahrungsblatte, die Raubbegier des Vo- 
gels. So spielte David den Narrischen vor jenem Konige. DaB 
die Freiheit im Denken weniger in den hohern als in den niedern 
Standen wohnet, dafl es nach Verhaltnis mehr heterodoxe Land- 

3 Quand les vignes gelent en mon village, mon prestre en argumente 
Tire de Dieu sur la race humaine, et. iuge que la pepie en tieiine defia 
les Cannibales. Montaigne L. I. ch. XXV. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 48 1 

geistliche als heterodoxe Superindenten giebt, hab ich oft be- 
merkt. Der vornehme Man isset was dem gemeinen Man ekelt, 
z. B. Frosche. Die obersten Facher des Repositoriums sind die 
engsten und nur kurze Saiten klingen am klarsten. Meine Satire 
scheint also weder unbillig nocb unnothig zu sein, und auf ver- 
wiistete Orter streuet man ja Salz, der Einpokelung des Rind- 
viehes kaum zu gedenken; die Wahrheit der zweif elhaften Sage 
nemlich noch vorausgesezt, daB das Kupfer auf den Kirch- 
thiirmen sicb mit der Zeit in Gold verwandle. 

10 Zu No. III. Ein verdienstloser Edelman verdienet mehr Ver- 
achtung als jeder andre Verdienstlose, den keine angeborne Ehre 
zu Verdiensten aufforderte; ein verdienstvoller aber mehr Ach- 
tung als der, der sich sein Verdienst nicht auf Kosten eines tragen 
Stolzes erwerben durfte. Ein Wappen schandet und ehret mehr 
als keines. Also ein Spot iiber den Adelstolz, der noch jezt dem 
Adel mehr als Verdienste angeboren zu sein scheint, schmalert 
die Verdienste dessen nicht, der sich durch eigne der fremden 
wiirdig macht, schmeichelt aber auch der Einbildung dessen 
nicht, der wie der Mond mit geborgtem Lichte glanzet, und 

20 eben so oft wie er Sonnenfinsternisse verursacht; der auf den 
Besiz einer Praposizion prahlet und den man wie die Romer 
den Dieb, homo trium litterarum nennen konte. Man klagt jezt 
iiber die Geringschazung des Adels; aber man solte nicht klagen, 
sondern bedenken, daB alle Menschen den Wilden gleichen, die 
ihren Gottern Beute und Anbetung so lange opfern, als die Got- 
ter als Gotter helfen. Ein jeziger Edelman verhalt sich zu einem 
vorigen wie die Kaze zum Lowen; indessen findet der Heraldiker 
jene und Linnaus diese als Skelete betrachtet, vollig ahnlich, 
den Unterschied der Grosse und der Eigenschaften ausgenom- 

30 men. Die Verfeinerung macht (iberhaupt alles gleich, was sich 
nicht durch den Kopf unterscheidet. In diesem leztern unter- 
scheidet sich nun der Adel nicht immer von dem Pobel, und 
Minerva schreibt lieber mit simpeln Gansefedern, als mit silber- 
nen, glasernen oder mit Federn von welschen Hiihnern. Aus 
dem obigen last sich auch die Ehre erklaren, mit der man jezt 
dem andern Geschlechte begegnet;.daher ist jezt eine Edelfrau 



482 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

stolzer als ein Edelman. Selbst das Verfahren der Griechen macht 
hier keinen Einwand: denn sie waren erstlich so tapfer als fein, 
stat daB wir jezt mehr das lezte sind, und wer kent zweitens 
die Schonen nicht, die nicht nur durch Schonheit, sondern auch 
durch die Kunst, die korperliche Schwache des Geschlechts 
durch geistige Starke zu heben, iiber griechische Weisheit und 
griechische Tapferkeit siegten? - 

Zu No. IV. Wer in dieser Satire bios altagliche Sachen mit 
neuen Ausdrukken aufgestuzt findet, hat Recht; wer sie darum 
tadelt, hat Unrecht. Ich glaube, was schon oft gesagt worden, 10 
miisse immer schon gesagt werden, und nur neue Gedanken 
konnen marktschreierischen Puz entbehren. Das lezte zuerst! 
Ein neuer Gedanke wird von selbst der Gunstling des Verstan- 
des, ohne das Vorgespan des Kammermadgen oder der Frau, 
ich meine der Einbildungskraft, nothig zu haben, und eine 
schdne Schone gewint durch das Negligee, was eine minder- 
schone erst durch den Puz gewint, und ein gutes Buch braucht 
keinen Rezensenten zum Herold, zum Laufer. Das Grosse ist 
wie unsere ersten Eltern gerne nakt; der Konig von Preussen 
kleidet sich simpel, und Herkules hatte keinen Tempel, sondern 20 
wurde in der freien Luft verehret. Worte folgen den Ideen wie 
der Schatten dem Lichte; aber in der Mittagssonne ist der Schat- 
ten am kleinsten. Aber warum sol man im Gegentheil das Ge- 
meine gemein sagen? warum sol Schale und Kern wie bei dem 
Koriander gleich hart sein? Ich dachte, die siisse Hulle des Pfer- 
sichs entschadigte fur den ungeniesbaren Kern. Schmekken 
doch auch die Nester gewisser Vogel angenehmer als sie selbst; 
der unniize Hofling kan allerdings mit dem Werthe seiner kost- 
baren Kleider prahlen, und die Federn des Pfauen kommen der 
Schlechtheit seines Fleisches zu Hiilfe, und machen ihn zum 30 
Stuzer der Dacher. Die meisten Toden werden in einer neuen 
und schonen Kleidungbegraben. Nicht zu gedenken, daB ferner 
die Worte die Gedanken, der Leib die Sele, unterstiizen und 
sie entweder der Priifung unter das Glas bringen oder der Ober- 
zeugung besser anempfehlen. Nicht zu gedenken, daB dieses 
alles-die Fuhrwege pflastern heist, die am kothigsten sind, weil 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 483 

am meisten darauf gefahren wird; so ist auch gewis, daB die 
loci communes sich nicht so leicht verschonern lassen als man 
denkt, und daB auf den Fussteigen kein Gras wachst. Die Philo- 
sophic erfindet, die Poesie verschonert die Erfindung; die eine 
ist Kolumb, der Amerika entdekt, die andere Vespuzius Ameri- 
kus, der es benent; die eine Tuchmacher, die andre Schneider; 
die eine Bergman, die andre Miinzer; die eine schuttelt die Apfel, 
die andere samlet sie in Korbe, und bereitet sie fur den Gaumen; 
die eine ist das Uhrwerk, die andre die Glokke, welche den 

10 Kindern desselben, den Stunden, den Namen giebt; die eine 
ist Fechtmeister, die andre Tanzmeister, die eine Mutter, die 
andre die Frau Gevatterin. Dieses alles mag die Antwort fur 
den sein, der nach der Durchlesung von No. IV. mit dem Male- 
branche fragt, was ist denn damit bewiesen? — Wer glaubt, 
man habe in No. IV. dem schonen Geschlechte nicht die geho- 
rige captatio benevolentiae gemacht, nicht die Hand desselben 
in effigie, namlich den Handschuh, in den sie sich oft verschlei- 
ert, gekiist, wie Konige sonst dem Knechte der Knechte den 
Fus, dem sie kund und zu wissen gethan, daB nicht jede Zunge 

20 die gehorigen Gaben fur die Schmeichelei besize und manche 
selbst zu rauh sei, urn nicht durch gutgemeintes Lekken zu ver- 
lezen. Die Schmeichelei gleicht dem Feigenbaum, dessen Saft 
giftig und dessen Friichte siisse sind, oder den Vampyren, die 
das Blut aus dem Schlafenden herauslekken, und dem Opfer 
ihrer Zunge noch kiihle Liiftgen zuwehen, urn es in seinem 
Schlummer zu erhalten. Manner wie schandlich opfert ihr der 
Schmeichelei die Ehre eures Geschlechts auf. Doch nicht nur 
dieses Nam ens unwurdig, verdienet ihr nicht einmal den Namen 
des Geschlechts, das iiber eure Rechte triumphirt und bald von 

30 euch zu schlecht denken wird, urn euch unter seine Sklaven 
zuzahlen. Denn bald werden sich eure Schmeicheleien in Wahr- 
heit verwandeln, ihr werdet so lange liigen, bis ihr wahr redet, 
und so lange fallen, bis ihr unter das zweite Geschlecht failed 
Aber um Vergebung, ich traumte jezt und vergas, daB ich in 
Deutschland traumte. Was nicht ein Nachtwandler fur gefahrli- 
che Reisen unternimt! Allein eine blinde Henne findet doch wohl 



4©4 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG 

auch ein Korn, und der obige Traum mag wohl nur dies bedeu- 
ten, daB das erste Geschlecht seine Weiblichkeit dem zweiten 
zu verdankenhabe. Ubrigens weis jeder, daB erne Frau (namlich 
Semiramis) dem Manne am ersten das raubte, was ihn von ihr 
unterscheidet. Allein ich soke nicht bios fur obigen Traum, son- 
dern auch fur No. IV. und fur andre Nummern auch darum 
urn Vergebung bitten, weil jeder und das schone Geschlecht 
am meisten dem Spot Unempfindlichkeit andichtet, und bei 
dem Satiriker mit der Gewisheit ein hartes Herz vermuthet, 
mit welcher es sich bei gewissen Leuten vermuthen last, die 10 
durch Volstrekkung anbefohlner Strafen ihr Gefuhl gegen den 
Eindruk fremder Leiden abharten. Gerade als wenn Lachen und 
Weinen zweierlei Jahrszeiten waren! als wenn das Lachen oft 
nicht mit Thranen geboren wiirde! als. wenn Heraklit der Anti- 
pode des Demokrits ware! Und wer weis ubrigens nicht, daB 
der gemeine Man oft den Scharfrichter stat eines Arztes braucht! 
Zur Vermeidung jenes Verdachts daher wil ich folgenden Einfal 
meines Vetters, der gestern die dritte Frau betrauerte und be- 
klagte, nicht gebilligt haben. »Beim Vogelschiessen, sagt' er 
heute, wird nur der Schiize Konig, der den Rumpf herunter- 20 
schiest, aber nicht der, der etwa den Kopf oder den Fliigel, oder 
den Fus u. s. w. gewint. Mit dieser Bemerkung getraue ich mir 
heute in der Halbtrauer das vierte weibliche Element meiner 
Ehe zu erhalten.« Mein Vetter, der sonst hubsch aussieht, hat 
nun manchmal solche dumme Einfalle, wie jeder kluge Man! 
Um diesen Einfal zu verstehen, mus man wissen, daB jezt 
Schonheit, wie sonst Geld, das Band der Ehe ist. Die alte Mode 
verbindet die zwei Riemen des Schuhes mit silbernen Schnallen, 
die neueste verbindet sie mit schonen seidnen Bandern. 

Zu No. V. und VI. Vacat. 30 

Ein zweiter Band diirfte auf diesen folgen, den ich darum 
nicht den ersten nante, weil erst das Urtheil des Publikums ent- 
scheiden mus, ob er einen Bruder haben sol. - Die Vortreflich- 
keit des Titels von meinem Buche wird mich fur meine lange 
Wahl belohnen; ich hake ihn wenigstens alzeit Kir nichtpassend 



GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 485 

genug, um ihn fiir gut zu halten. Der Wiz unserer Schrifts teller 
namlich glanzt auf der ersten Seite der Bucher in vollem Lichte, 
so wie er auf den lezten Seiten im lezten Viertel ist. So prangt 
in England vor den Wirthshausern auf dem Lande, ein Galgen 
mit einem Schilde, in dessen Ausschmukkung sich der Beutel 
des Besizers auf Kosten des Gasthofs erschopft. a Kein Autor 
schandet sein Buch mit einem christlichen Taufnamen; fast jeder 
Bauer schreibt sich ja Hans, Christian etc. Man wahlt daher 
lieber, gleich den Independenten zu Karls I. Zeiten, Namen aus 

10 dem A. T. Oder man bittet Griechen und Romer zu Gevattern. 
Einige Erdsohne schreiben auch den Gottern des heidnischen 
Himmels einen Gevatterbrief, gleich den Unterthanen, die den 
adelichen Hernihres Dorfs in den Pathen desselben verwandeln. 
- Ich nun habe mir den Titel meines Kindes der Raritat wegen 
aus Gronland verschrieben. Man wird namlich aus Kranz und 
andern wissen, daB die Partheien daselbst ihre Streitigkeiten in 
getanzten und gesungenen Satiren abthun und sich mit einander, 
ohne das Sprachrohr der Advokaten, schimpfen'. Ergo betitle 
ich mein Buch: gronlandische Prozesse, q. d. e. Bis hieher hab 

20 ich etwas zu sagen verschoben, was vielleicht jeder Leser schon 
auf der ersten Seite errathen, namlich dies: daB der Verfasser 
dieser Skizen noch jiinger ist, als die, die ihn rezensiren werden. 
Das ist viel gesagt! Allein nicht zwar darum, um auf meine 
Jugend unbillige Nachsicht zu betteln, sondern um wegen der- 
selben keine unbillige Strenge zu erfahren. Doch ware der erstere 
Endzwek nicht eben ganz verwerflich, und gewisse geile Aus- 
wiichse des Wizes lies sen sich wohl mit jenem Gestandnisse ent- 
schuldigen. Junge Federn haben Blut. Die Einbildungskraft fiir 
die warme Jugend, den Scharfsin fiir das kalte Alter! In kalten 

30 Landern ergozen die Vogel mit einer schonen Stimme, in war- 
men nur mit schonem Gefieder; in kalten giebts mehr Eisen, 
in warmen mehr Edelgesteine. Wer kan wissen, wie oft er fehlet! 
Eben seh' ich, daB meine Vertheidigung selbst einer Vertheidi- 
gung nothighat. Wenigstens darf ich hoffen, daB man von dem, 
der weniger ist, als er werden kan, nicht die Vorziige dessen 
a Museum 1776 Jul S. 632. 



486 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG 

fordern werde, der das ist, was er werden konte. Dieses aber 
darf ich nicht hoffen, wenn die Kritiker noch den Insekten zu 
gleichen fortfahren, die mehr die Bluthe als die Friichte eines 
Baumes umschwarmen und mit ihrem Stachel aussaugen. Doch 
die Ungeduld meiner Leser diirstet vielleicht zu sehr nach einem 
wohlthatigen Dixi, und ich schliesse, um diese Vorrede oder 
diesen Beschlus nicht durch unmaBige Vergrosserung, dem ho- 
hen Kopfpuze oder den hohen Schuhabsazen der Weiber gleich 
zu machen. 



R. 



ZWEITES BANDGEN 



VORREDE 



Es ist ein alter und in mancher Riiksicht loblicher Gebrauch 
der Autoren, dem Buche eine Vorrede vorauszuschikken, die 
man nach dem Titelblat zu lesen pflegt. Um diesem Gebrauche 
nachzuleben, hab' ich daher folgende Vorrede ausgearbeitet: 

Junge Schriftsteller, merkt irgend ein alter an, stellen in ihren 
Vorreden bogenlange Selbstvertheidigungen auf. Dieser Be- 
merkung fehlet zur Algemeinheit noch der Zusatz: »und wenn 

io sie die Stirne ihres Buchs mit diesem Galgen verschonen, so 
loben sie ihre Fehler wenigstens in einem langen Beschlusse, 
und verhangen den Hintern mit dem zierlichgeflochtenen 
Schwanze. « Da ich zur Bestatigung dieses Sazes schon im ersten 
Bandgen mehr als einen Bogen geschrieben, so werd' ich ihrer 
Fortsetzung im zweiten nur Einen widmen. Auch wurde die 
Schurze mit der Lange einer Schleppe das Fortschreiten unterbre- 
chen, und in die Vorrede, iiber welche der Leser noch mit dem 
ersten Hunger herfalt, schikt sich keine so lange Abhandlung 
von Nichts als in den Schlus, woran der gespeiste Gast sich 

20 fur etwas andres hungrig lesen wiL 

Lange Ohren sind die Erbsunde, fur welche kein Esel etwas 
kan, und welche auch der billigere Theolog keiner ewigen Hol- 
lenpein wiirdig achtet; aber wenn der Esel yanet, so begeht er 
eine wirkliche Siinde. Denn er hatte auch schweigen konnen; 
zum Wetterpropheten iibrigens verlangt man nicht einmal den 
Saul, geschweige seine Eselin, sondern die Prophetenkinder 
selbst. Dafl ich unter dem Esel einen Autor verstanden wissen 
wil, brauch' ich nicht zu sagen. Dieser bittet nun in der Vorrede, 
mit seiner Dumheit vorlieb zu nehmen, weil er dafiir nichts 



488 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

kortne; allein iedes gute Journal antwortet darauf mit Recht, 
dafiir aber konne er etwas, daB seine Dumheit gedrukt worden. 
Allein diesem widersprech' ich nun in dem Verfolge meiner 
Rede; allein ich hoffe, den Leser fur den Widerspruch meiner 
Ideen durch ihre Schonheit zu entschadigen und seine beleidig- 
ten Augen wieder durch die Vorsprache seines bestochenen 
Gaumens zu gewinnen. Denn er wird gewis nicht die Unhof- 
lichkeit ienes Gasts nachahmen, der iiber eine sparsam erleuch- 
tete Tafel hinrief: »Gebt mir ein Licht mehr und ein Gericht 
weniger!<< — Dieser ansehnliche Gedankenstrich sol weder die 10 
Sizstange eines ausgeflogenen Gedankens sein, noch der Fuhlfa- 
den eines an sich unempfindsamen Perioden, noch der Staubfa- 
den eines poetischen Bliimgens, auch nicht eine Spiknadel, wel- 
che die Stelle des Speks zu vertreten pflegt, noch viel weniger 
der bout rime eines Sinnes, dessen Erganzung der Autor dem 
Leser ansint, am allerwenigsten das Seitengewehr oder der Sta- 
chel eines Epigrams, und endlich weder der Fetschwanz eines 
Perioden mit schlechter Wolle noch die geradgespante Schon- 
heitslinie von Hogarth . . . Hatte nicht iezt der Leser mich ge- 
fragt, »nun was denn?« so wuste er schon folgendes Ende des 20 
vorigen Perioden: sondern bios ein Markstein sol er sein, der, 
gleich einem Absaze, unahnliche Materien von einander son- 
dert, wie es im gegenwartigen Beispiel das Geschwaz iiber Ge- 
dankenlosigkeit und das iiber Gedankenstriche ist. - Die erste 
Satire, zu welcher diese Vorrede dich begleiten wird, ist die 
schlechteste in diesem Buche. Dieses sag' ich deswegen, damit 
du nicht Messer und Gabel bey dem Gerichte weglegst, das 
seinen bessern Nachfolgern nur den Weg bahnen sollen. Der 
Rath, den man in den alten Rednerschulen den Rednern gab, 
die Rede mit einer schwachen Stimme anzufangen und mit einer 30 
verstarkten fortzusezen, verdient noch iezt Befolgung. Bei mir 
und bei dem Seidenwurm, dessen Kopf anfanglich nur Floret- 
seide zu spinnen vermag, scheint die Natur ienen Rath in einen 
Befehl verwandelt zu haben. Ist der »Erweis von der iezigen 
Seltenheit der Thorheiten« keinen Dreier werth, so thue ich 
wohl, wenn ich eine Satire iiber die Kunstrichter edire, und 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 489 

darauf mich an meiner satirischen Peitsche aufkniipfe oder im 
Flus Lethe ersaufe, um in einer bessern Welt, mit Abraham, 
Isaak und Jakob gratis zu essen. - Fast bios schriftstellerische 
Schellen werden im gegenwartigen Bandgen auf die Kapelle 
gebracht; und ich argere mich, daB es nicht auch im vorigen 
geschehen. Unser einer, der von alien Gemachern Bedlams 
keine besser kent als die Studierstuben, weil er darinnen geboh- 
ren und erzogen worden, soke erst an vergoldeten Bucherriik- 
ken, die ihm ieder Bibliothekar gern zeigen wird, seine Geisel 

10 iiben, eh' er sie iiber die mit hollandischem Tuche bekleidete 
Menschenrukken zu schwingen wagte. Denn belacht er Narren, 
die er nicht kent, so ahnlicht er den Hexen, welche den Gegen- 
stand ihres Zorns verwunden wollen, indem sie nur sein Bild 
aus Wachs verwunden; oder der Obrigkeit, welche stat des Die- 
bes sein Bild aufhangt. Ich rezensire mich hier, aber ich lobe 
mich nicht, und was iezt so arg stinkt, ist nicht Eigenlob, son- 
dern Eigentadel. Ferner: die satirische Geisel scheint (in 
Deutschland namlich) mit dem Staubbesen das gemein zu ha- 
ben, daB sie die Riikken der Nichtgelehrten umsonst schlagt. 

20 Hieraus wiirde nun gegen die Nothwendigkeit der Satire wenig 
zu folgern sein. Denn nach der Meinung der Theologen, die 
schon langst im Himmel sind, dauern die Hollenstrafen, unge- 
achtet sie die Verdamten nicht bessern, dennoch ewig fort; allein 
eine Satire, welche bekehrt, ist mir alzeit lieber. Dieses Lob 
gebiihrt nun den Satiren iiber die Fehler der Autoren; vielleicht 
darum, weil keine bitterer sind, und weil sie vor andern Satiren 
das Gliick haben, eben von denen, fur die sie geschrieben wor- 
den, gelesen zu werden. Keine Dame wird eine Nessel brechen, 
um daran zu riechen; aber wohl der Botaniker, um sie zu skeleti- 

30 ren. - Der englische Juvenal, Pope, reitet einen satirischen Pega- 
sus, welcher sowohl beiset als fliegt, und er ahnlicht dem Ka- 
suar, dessen Flugel mit Stacheln bewafnet sind. Eine starke 
Einbildungskraft spornet immer so sein Lachen an, daB er ihm 
nie den Ziigel zu halten vermag; daher in seiner vortreflichen 
Dunziade ihm die Ironie unmoglich gelingen konnen. Der eng- 
lische Luzian, Swift, dessen satirische Dornen unter Weihrauch 



49° JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

duftenden Rosen lauern, iibertraf Popen in der Ironie zu sehr, 
um ihn in der Starke -des Ausdruks zu erreichen, und wenn 
die Ironie seines Busenfreunds in vorbrennende Schusse ausartet, 
so scheint er hingegen die Sicherheitsflinte des H. Regnier zu 
fiihren. Oberzeugt, daB der Zufal sie ihm nicht losschiesscn 
konne, geht er mit derselben den Winkelziigen des Schwa rz- 
wildprets so lange nach, bis sie die Hofnung zu treffen, los- 
driikt. Nur mus er freilich zu einem einzigen satirischen Hieb 
oft in ganzen Seiten aushohlen. Die Satiren dieser beiden Genies 
wtirde nur die iibertreffen, welche ihre ausschliessenden Vor- i 
ziige in einem gewissen Grade zu vereinigen ubernahme. Die 
Vereinigung ist nicht unmoglich; allein zu ihrer Wirklichkeit 
miisten vorher viele erbarmliche Versuche den Weg gebahnet 
haben. Fiir einen solchen erbarmlichen Versuch bitt* ich nun 
den Aufsaz iiber die Seltenheit der Thorheiten anzusehen; iibri- 
gens hat einer, welcher Popen und Swiften elend nachahmet, 
nicht nothig, um Verzeihung zu bitten, daB er beide noch elen- 
der vereinigt. - Die Kiinstler verkaufen den wohlriechenden 
Staub, den das Holz unter der Bearbeitung abgeworfen, zum 
Rauchern. Gerade so mogen die Epigrammen, welche diesen 20 
Band beschliessen, als Abfalle von den vorhergehenden Satiren, 
als Staub, der aber freilich nach Weihrauch nicht riecht, oder 
wenn ihr wolt als Feilstaub, den die kritische Feile den satirischen 
Waffen zum Besten ihrer Scharfe abgenommen, mit unterlau- 
fen. Ich weis nicht, ob ihre Klingen spizig sind; klingend sind 
sie wenigstens nicht d. h. sie sind prosaisch. Warum es freilich 
iezt noch Mode ist, das Singedicht mit Fiissen und mit Reimen 
zu belastigen, mag Apollo wissen. Die Kiirze, zu welcher man 
ihm dadurch zu verhelfen glaubt, wird nicht seiten eben dem 
Reime und dem Metrum aufgeopfert: denn nur an Wernike's 30 
Versen sind wie am Merigel die Fiisse zugleich Stacheln; und 
wenn ihr denn auch endlich durch eine lange Allee von vielen 
Versen den Witz des lezten eingehohlet, so habt ihr doch nichts 
als ein Epigram, welches gleich den Ochsenhornern, zwar am 
Ende spizig, aber auch bis dahin hohl ist. Ja nicht seiten ver- 
schwindet noch dazu die Spize der Allee, wenn ihr an das Ende 



GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 491 

derselben gekommen. Vielleicht ist ein prosaisches Epigram 
auch darum besser, als ein versifizirtes, weil ich nur das erstere 
machen kan. Man hat den Fuchs so oft getadelt, daB er die Trau- 
ben, welche er entbehren mus, sauer schilt; ich dachte, man 
lobte ihn doch einmahl dafiir, daB er die Trauben, die er er- 
sprungen, fur siis ausgiebt. - Die Ahnlichkeit meines Buchs 
mit einer Polyglottenbibel, d. h. die Ungleichheit der Schreibart 
hab' ich schon einmahl entschuldigt; aber wird die Wiederhoh- 
lung des Fehlers nicht die Wiederhohlung der Entschuldigung 

io nothig machen? Miiste man also nicht denen, die wie Moses 
verbieten, das Feld mit mancherlei Samen zu besaen, noch ein- 
mal sagen, daB nicht bios der Ekel nothige, im Genus der Schon- 
heiten und also in der Nachahmung derselben den Unbestandi- 
gen zu machen, sondern daB auch die Unahnlichkeit der Lagen 
die Unahnlichkeit der Schreibart diktire? Die Philosophie kan 
wohl eine algemeine Sprache erfinden; auch bietet Herr C. G. 
Berger ihr hiezu die Hand, wenigstens die drei Schreibfinger; 
allein dem Montaigne und auch manchem schlechten Kopf ist 
es unmoglich, immer dieselbe Sprache zu reden und dem Felle 

20 der Gedanken dieienige Bestandigkeit in der Farbe abzugewin- 
nen, welche nach den neuern Versuchen, das Fel des Chamale- 
ons beobachtet. - Der Fetflekken giebt es in diesem Theile weni- 
ger als im vorigen, wo Gleichnisse die Prozesse anfiengen und 
endigten, und die Hutschnalle und die Schuhschnalle schim- 
merte; allein selbst diese Vorrede, der als dem Hute des Buchs 
die Tressen doch so wenig stehen, daB iezt bios der Bediente, 
aber nicht der Her Gold auf dem Kopfe tragt, hat der Tressen 
so viele, daB sich vermuthen lasset, das Kleid werde deren we- 
nigstens eben so viele haben. Ob sich (ibrigens die Wasche leich- 

30 ter von einem Fetflek oder von einem Stokflek reinigen lasset, 
werden die Wascherinnen am besten wissen. Nur ich lasse mir 
es nicht ausreden, daB die Krafte der Sele wohlfeiler beschnitten 
als gediingt werden, und daB zwei silberne Sporen theurer sind, 
als ein Iederner Zaum. »Alsdan sind aber deine Satiren nichts 
als Samlungen von Epigrammen!« Meinetwegen! Findet ihr an 
demienigen Gliede meines geistigen Kindes, welches wie Kaiser 



492 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

und Konige unter einem fremden Namen reiset, allein demun- 
geachtet wie sie mit seinem eignen iedem bekant ist, zu viele 
Verschonerung; so bin ich zufrieden, wenn ihr alle seine Glieder 
tadelt, aber doch den Hintern lobet. Ist ia auch eine gewisse 
Statue unter dem Namen der Venus mit dem schonen Hintern 
beruhmt! Den Griechen Peron verewigten blosse Salben und 
am Demetrius Phalereuslobteman stat schoner Augen die scho- 
nen Augenlieder; daher er den Beinamen xa^iTofJtaKpaQoc; be- 
kommen. Beilaufig! Dieser Demetrius konte mit seinen Augen- 
liedern auch denen zu Passe kommen, die uns stat der 10 
tiefsinnigen Gedanken eine schonere Einkleidung der abgenuz- 
ten liefern. Dies alles ist wiederum Selbstrezension, aber wie- 
derum kein Selbstlob; und ich mag niemanden weniger ahnli- 
chen, als den Stuzern, die ihren durftigen Lenden herkulische 
Verschwendung schuldgeben. Vielmehr verrath Oberflus an 
Zierrathen Armuth an Wiz; und nur ein Wirth, bey welchem 
selten vornehme Leute einkehren, nimt Betler und Spizbuben 
auf, und bestiehlt in Ermanglung reicher Diebe, arme Diebe. 
Mr. le Camus Bischof von Bellay sagte einmal, eh' er seine 
Rede anfieng: Messieurs, on recommande a vos charites une 20 
jeune Demoiselle, qui n'a pas asses de bien pour faire voeu 
de pauvrete. D. h. ins Deutsche iibersezt also: lieben Herren, 
habt Mitleid mit einem Autor, der zum Geliibde der geistigen 
Armuth zu arm befunden worden, und zu wenig Wiz hat, um 
ihn nicht zu verschwenden. 

Bis auf die Mode, nichts kluges zu sagen, blieb meine Vorrede 
den (ibrigen treu; allein iezt verlast sie ihre Vorganger und 
schimpft nicht ein einzigesmal auf die Rezensenten. Denn ich 
sehe auch wenig Billigkeit in dem Verfahren, auf den gutge- 
meinten Tadel der Kunstrichter mit Schmahungen zu pranume- 30 
riren. Ich, meines Orts, dank ihnen vielmehr im voraus fur das 
Razenpulver, das sie mir streuen werden, und verspreche, das- 
selbeihrer Absicht gemas, als Zahnpulverzu verbrauchen. Denn 
man musnamlich nicht denken, daB sie mit dem kritischen Dol- 
che, den sie z. B. auf mich ziikken werden, mich toden wollen; 
vielmehr wollen sie mich damit bessern. Nur daB sie einen 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 493 

Dolch zum Zahnstocher nehmen. Der leztere ubrigens hat noch 
niemand getodet; wenn ich den Agathokles ausnehme, dessen 
Zahnstocher aber sein Vetter iiberdies vergiftet hatte. Spiihret 
man den Absichten der Rezensenten etwas genauer nach, so 
findet man, dafi sie den Autor fast alzeit darum nur verwunden, 
um ihn anzuspornen. Ihnen fluch' ich also nicht; und ihren Got, 
den Momus, bet' ich gar an. Mein Gebet zu diesem Got hab' 
ich von gewissen Tatarn in Siberien entlehnet, die es als das 
einzige an den ihrigen abschikken. »Schlag mich nicht tod!« 
io bet' ich namlich. 



R. 



I. 

Unpartheiische Entscheidung 

des Streits iiber das Verhaltnis zwischen dem Genie und den Regeln; 

als eine Probe von der kiirzlich entdekten Tauglichkeit des Wizes, 

die Stelle des Verstandes, in Aufsuchung 

der Wahrheit zu vertreten 



Man hat iiber den gegenseitigen Werth des Genies und der Kritik 
nie so viel gestritten als in unsern Tagen; aber audi nie gab 

20 es mehr Genies, gegen deren Ruhm die Kritik so viel einzuwen- 
den hatte. Kein Sieg, sondern nur ein Waffenstilstand endigte 
diesen Streit, den ich erneuern wil, um ihn auf immer zum Er- 
staunen derer zu schliessen, welche dem Wize nicht einmahl 
die mittelmassigen Augen des Verstandes zutrauen. Aus Liebe 
zur Wahrheit werd' ich fur beide Partheien neue Waffen Schmie- 
den, und kein Gleichnis und keine Anspielung verschweigen, 
deren Schonheit einigen Einflus auf den Ausschlag fur irgend 
eine Seite verspricht. Zulezt, wenn ich Gleichnisse von Gleich- 
nissen werde subtrahirt und zum Fazit die Wahrheit gefunden 

30 haben, werd' ich einen langen Schlus beifiigen, um den Wiz 
und mein Meisterstuk d. h. mich selbst zu loben. 



494 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

Grunde fur die Wichtigkeit der Regeln 

I. Die Leute, welche figiirlich auf dem Pegasus reiten, scheinen 
iezt dieienigen nachzuahmen, welche unfigiirlich auf prosai- 
schen Pferden reiten; beide tragen lange Sporen. Liebhaber der 
Allegorie wiirden noch hinzufiigen; beide bringen die langen 
Sporen seltner auf die Pferde als in die Kollegien, und beiden 
fehlet zum geschwindesten Gallop nichts als ein Pferd. 

2. Diese Mode kan,man diesen Genies in so fern nicht ver- 
iibeln, als sie den Genus von der angebohrnen Freiheit der 
Sprachwerkzeuge durch das Gleichnis rechtfertigen konnen, daB i 
der despotische Zaum nur fur das Maul der Pferde, aber nie 
der Esel schiklich sei. O Homer, o Homer, rufen sie hier aus, 
warum fandest du doch in England keinen Esel zum Ubersezer! 
sondern hochstens einen Maulesel, so wie in Frankreich gar nur 
eine Stutte! Nach diesem Gleichnisse hatten die Deutschen frei- 
lich Recht, ihren Pegasus mit einem gefliigelten Riikken und 
einem Eselskopfe zu mahlen. 

3. Allein bei einem geringen Nachdenken wird ieder auf das 
Gleichnis fallen, daB die Reinlichkeit den vogelfreien Bewoh- 
nern des Mikrokosmus allenfalls zwar den Kopf, aber nicht die 20 
iibrigen Glieder zum Wohnplaz einraume d. h. das Genie kan 
zwar auf einige Nachsicht gegen seine Fehler rechnen, allein 
an seinen Nachahmern, deren Haupt es ist, duldet man keine 
Lause. 

4. DaB die Affen sich den Menschen bis zur Annahme der 
Blattem, aber nicht der Sprache genahert, ist weit weniger be- 
kant, als daB die Herren Xdem Hern a ausser den Apostrophen, 
wenig Dichtergeschiklichkeiten abgeborgt, und daB die Schrif- 
ten der Herren ywohl das pokkengrubichte Gesicht, aber nicht die 
starke Zunge der Schriften des Hern b sich angeschaft. 30 

5. Ohne mich mit fernern Ausnahmen von der Regel herum- 
zubalgen, sez' ich fest: Genie und Kritik miissen Hand in Hand 
schreiben. Denn der Vogel fliegt sowohl mit Schwungfedern 
als mit Regierfedern und sein Schwanz lenkt seine Flugel. 

6. Denn die Schiffe niizen die Segel erst durch das Steuerruder 



G RON LAND ISCHE PROZESSE * 2. BANDCHEN 495 

- hievon machen selbst die Schiffe keine Ausnahme, auf denen, 
sobald sie flot sein werden, kiinftige Alexanders ihre Landmacht 
und ihre vier und zwanzig Plunder zur Einnahme des silbernen 
Monds abschikken werden. 

7. Ichkan meinen Gegnern die Freiheit, schimmernde Politur 
zur einzigen Wirkung der Regeln zu machen, ohne die Besorgnis 
gestatten, mein Wiz mochte dadurch in einen kleinern Kreis 
von Ahnlichkeiten eingezaunet werden. Denn der Polirung lit— 
terarischer Produkte halt nichts eine schonere Lobrede, als der 

10 Offizier, der seine Kinder wund priigelt, weil der Hahn an der 
Flinte und zwei Knopfe am Rokke nicht blank waren. - 

8. Oder als meine alte Base, die den hokkerichten Brei, eh' 
sie ihn auftragt, mit dem Loffel glattet. - 

9. Endlich als der Hollander, welcher den Stahl mit einer E3e- 
ganz und einer gleissenden Reinlichkeit austapeziert, um derent- 
willen das Rindvieh seine Wohnung mit dem reinlichen Besizer 
theilen mus und mit den reinlichen Eseln theilen konte. 

10. Den Neuern, die zur Nachahmung unsrer Damen herab- 
gesunken, ihre Biicher tragen und gebaren, aber nicht saugen 

20 - sie mit ihrem Blute, aber nicht mit ihrer Milch nahren; (und 
deren Briiste die Wohlthatigkeit des Bauchs nicht fortsezen - 
kont' ich der Scharfe des Beweises wegen noch hinzufugen.) 

1 1 . Die das Lob mit stinkenden Fehlern ankodern und gleich 
den Seiltanzern, nicht durch zierliche Pas um den Beifal des 
Kenners, sondern durch gefahrliche Sprunge um das Erstaunen 
der Menge buhlen; 

12. Die so wie die Bedienten den berauschten Kameraden bei 
der Herschaft fiir krank ausgeben, umgekehrt ihre kranke Phan- 
tasie fiir berauscht ausgeben und Armuth in Verschwendung 

30 verlarven; 

13 . Die sich die Schopfung schoner Engel ohne die Schopfung 
haslicher Tetifel nicht denken konnen. 

14. Und die auch bei der Sele die gotlichen Kinder und den 
Urin aus demselben Kanal abzapfen wollen; 

15. Diesen Neuern konte ich auf den Einwurf, daB die Kalte 
der Kritik zwar das Unkraut, aber auch zugleich die Blumen 



496 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

hinrichte, mit dem Beispiele Popen's antworten, dessen Feile 
immer auf die Stelle ausgerotteter Fehler Schonheiten pflanzte. 

16. Allein meine Liebe zur Wahrheit untersaget mir diese so 
wenig griindliche Antwort und leitet mich dafiir auf die seltnen 
Bemerkungen, daft sich den Regeln die Ahnlichkeit mit einem 
Kamme nicht absprechen lasse, der die Hare so wohl von altem 
Unrath saubert, als in neue Reize krauselt. - 

17. Und selbst auch nicht die Ahnlichkeit mit einem gewissen 
Streusand, der nicht nur die schmuzige Dinte in sich saugt, son- 
dern auch manigfaltigen Schimmer iiber das Papier, aussaet. 

18. Ich wil des theologischen Spruchs gar nicht gedenken: 
Conservatio (&. h. die Kritik) est altera creatio; sonde rn nur des 
voltairischen: Nous eumes longtems neuf muses, la saine critique est 
la dixieme qui est venue bien tard; ia sie gleicht der Margaretha 
de Valois, Konigin von Navarra, auch darin, daB sie die vierte 
Grazie ist. 

19. Daher ist sie nicht bios die Zierde, sondern auch oft der 
Keim grosser Schonheiten, so wie auf den Fliigeln des Windes 
neben den wohlriechenden Diiften der B lumen auch der frucht- 
bare Samenstaub derselben liegt. 

20. Sie verbessert den Autor, indem sie sein Kind verbessert, 
und macht das erste Buch zur Hebamme des andern: so wie 
die neugebohrne Diane (d. h, der leuchtende Mond) ihrer Mut- 
ter der Latona, (der Nacht) die Geburt ihres Zwillingsbruders, 
des Apols erleichterte. Ein an den Zaum gewohntes Pferd lasset 
zulezt ohne Zaum sich bandigen. 

21. Man schmalert die Wichtigkeit der Regeln wenig, wenn 
man sagt, das Genie grabe seinen Reichthum aus seinen eignen 
Eingeweiden: denn ich sage, die Regeln sind das Eisen, womit 
man das Gold hervorhebt. 

22. Behauptet man, die Kritik zerstohre den Enthusiasmus 
des ersten Empfangnisses des Buches; so sez' ich hinzu, aber 
sie arbeitet an der Ausbildung desselben; die Kalte vergiitet ihre 
Feindseligkeit gegen die Bluthe, durch die Zeitigung und Erwei- 
chung der herben Frucht. 

23. Und wenn das Genie den Aufflug der Phantasie wirkt: 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 497 

so empfangt die Kritik sie bei dem Zuriikflug. Das leztere ist 
das schwerste: derm der Knabe wirft den Bal mit weniger Kunst 
in die Hohe als er ihn auffangt. 

24. Wolte man mich noch weiter verfolgen, und das Genie 
eine Venus und die Kritik einen Vulkan nennen; so wiirde ich 
diesem Einwurfe nicht bios mit der Ehe der Venus und des 
Vulkans begegnen, sondern auch aus dem Seneka einen Ge- 
burtsscheinanfuhren, der den Amor fur eine Frucht des Ehebet- 
tes besagter Venus und ihres Marines erklart. 

10 25. Schluslich wachst auf dem Kin des Genies meistens nur 
iugendliches Milchhar, aber von dem Kin der Kritik hangt ein 
manlicher Bart herunter - den unbiegsamen Schnurbart noch 
ungerechnet. Der Jungling fliegt Gedichte, der Man pfeift Re- 
zensionen. Daher giebt die Mythologie den Pferden der Aurora 
Fliigel, und den Pferden des Gottes des Tages keine. 

Summa Summarum 25. Griinde oder Gleichnisse fur die Wich- 
tigkeit der Regeln. 

Hier ruhe, Leser, ein par Zeilen mit mir aus, und uberdenke 
noch einmal vorher diese Griinde, eh* du mich zu den Gegen- 

20 griinden begleitest. Lasse dich nie durch den Schimmer dem 
Lichte untreu machen; priife die Farbe ieder Behauptung und 
wische von der Luge die Schminke. Aber die gesunde Wahrheit 
verachtet gekauftes Roth; darum hah' ich meine Saze ohne Puz 
aufgestellt, und das Dintenfas nicht zum Schminktopf ernied- 
rigt. Manche Personen sollen ihre natiirliche Augen durch gla- 
serne ersezen. Allein fern sei von meinem Gansekiel auch dieser 
Betrug! So wenig ich den Wangen der Wahrheit Schminke lieh', 
so wenig lieh' ich ihren Augenhohlen Augen. Sie ist blind, lieber 
Leser! darum ziehe sie der philosophischen Luge vor, die nicht 

30 blind ist! - 



Griinde gegen die Wichtigkeit der Regeln 

1. Selten sol der Adler die Eule seiner Grausamkeit wiirdigen; 
o! wie beschamt uns das Beispiel dieses Genies, uns, die wir 



49§ JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG 

so oft finstre Schulgelehrte mit unsern Schmahungen geehret! 
Aber iezt sol es uns zu beschamen nicht mehr nothig haben. 

2. Also Friede mit dem Man; aber Fehde mit seiner Meinung! 
Und da lasset uns denn sagen, daB der Dolch des Fanatismus 
der Vernunffc nicht mehr geschadet haben kan, als der Dolch 
der Kritik dem Genie; 

3. DaB nicht mehrere Wilden den eingeazten Farbenschmuk 
ihres Korpers mit Krankheit und Tod bezahlt haben konnen, 
als Werke des Genies mit Kranklichkeit die Schminke der zierli- 
chen Regeln; ... 10 

4. Auf Kosten der Konstrukzion macht sich unser Eifer mit 
dem Gleichnis Luft, daB die Produkte des kritischen Gewurms 
den Schlangen zwar an Geschmeidigkeit, aber auch an Kalte 
ahnlichen; zur Schande unsrer Zeiten miissen wir noch hinzu- 
seufzen, auch an langem Leben. 

5. Und daB - fahrt die obige Konstrukzion wiederum fort 

— das neue Joch der Regeln, das nie auf dem Nakken eines Barden 
lag, uns fur die Abgotterei bestraft, die wir mit den franzosi- 
schen, in Flitterschmuk verlarvten Gozenbildergen getrieben: 

so beweiset Coceius sehr wahrscheinlich, daB sich die Juden 20 
das Zeremonialgesez durch nichts als die Verehrung des goldnen 

- besser (ibergoldeten - Kalbs auf den Hals gezogen. 

6. O ihr Franzosen! ihr seid, bei unsrer Sele! Hufschmiede, 
die schiizende Eisen auf den Huf des Pegasus nageln wollen. 
Zu was sollen sie ihm, der auf der Erde nicht geht, der im Ather 
gallopirt. Beschenkt doch den Ochsen damit, dessen ausge- 
spreizte Klauen auf dem schliipfrigen Eise gleiten. 

7. Hochstens seid ihr Bartscherer, die von dem Kin das ehr- 
wiirdige Moos der Manlichkeit abmahen. Da stehen sie, die 
kahlen Unterkinbakken, und gleissen in ihrer Unfruchtbarkeit, 30 
so gar der Stoppeln beraubt, weil diese den weiblichen Kus ste- 
chen konten. Schenke unserm vollen Herzen, guter Leser, die 
Beklagung der Schnurbarte! . . . Die Menschheit ist gesun- 
ken! . . . sie lacht der Schnurbarte! ... sie rasirt sich! ... sie 
frisirt sich! . . . 

8. O ihr Deutschen! dieihriiber Schonheiten, die ausser dem 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 499 

Bezirke der Theorie aufgeschossen, deri Stab brecht, wie die 
Theologen iiber gute Werke, die nicht aus dem Glauben kom- 
men, . . . doch der Adler wil uns beschamen. 

9. Kuhnlich diirfen wir voraussezen, daB das Knarren der 
Feile, die man schiklich mit der Kritik vergleicht, die Hande 
eines ieden, der kein Schlosser ist, zum Verschliessen der belei- 
digten Ohren auffordern. 

■ io. Nach dieser Voraussezung erzieht die figiirliche Feile wohl 
Schonheiten, aber sie erzeugt keine. 
10 11. Wie viel aber an ieder Erzeugung gelegen ist, kan ieder 
aus dem ersten Kapitel des Tristram Shandy lernen. 

12. Nicht bios der Dichter, auch sein Gedicht wird gebohren, 
und nicht gemacht. 

13. Nichts ist also ausgemachter, als daB die Kritik nicht die 
Mutter, sondern nur die Amme grosser Schonheiten abgebe, vor- 
ziiglich da sie dem faulen Fleische ahnlicht, das die neuen Natur- 
kiindiger nicht fiir die Mutter, aber fur die Amme der Maden 
halten. Die Laugnung dieser zwo Wahrheiten kan man nur ei- 
nem Aristoteles ungeahndet hingehen lassen. 

20 14. Hiezu komt noch, daB die Kritik, gleich der Chemie, das 
Gold wohl reinigen, aber nicht machen kan. Zum leztern gehort 
ein Alchymist, wie W. Shakespear oder wie der langorichte Mi- 
das, den die Alchymisten fiir einen Alchymisten halten. - . 

15. Und die Regeln, hiemit driikken wir das Siegel auf alle 
iibrigen Griinde, konnen vielleicht fiir eine diirre Stange gelten, 
an der sich Schonheiten hinaufwinden, aber nicht fiir einen kul- 
tivirten Baum, worauf man sie wegen ihrer Wildheit impfen 
muste. 

16. Allein wir konnen der Kritik nicht einmal den Werth einer 
30 diirren Stange einraumen, und kiinftige Gleichnisse zwingen 

uns die Behauptung ab, daB keine Fehler des Genies die Strenge 
der Regeln zu fiirchten haben. Die iibrigen Schonheiten bieten 
sich ihnen zu Advokaten an - fast konte man diese Schonheiten 
mit den schonen Weibern vergleichen, mit deren Reizen die 
Manner die Blossen ihrer Sachen gegen das Recht verwahren. 

17. Oder: in genievollen Werken kampfen Schonheiten mit 



500 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Fehlern um das Ubergewicht, wie in Milton's Gedicht die Engel 
mit den Teufeln; allein die Engel siegen, so wie die Schonheiten 
in Milton's Gedicht. 

18. Mit den Regeln schreibt man dem Genie im Grunde psy- 
chologische Selbstkentnis vor. Aber lieber Himmel! denkt denn 
niemand an den ungliicklichen Narzis, dessen Tod eine Weissa- 
gung des Tiresias zur Wirkung der ersten Selbstbeschauung 
macht! 

19. Wie der Spiegel den Basilisken durch sein Bild todet, so 
halt die kalte Psychologie dem Genie zwar seine Gestalt, aber 10 
auch seinen Morder vor. Denn nimt die Feuerglut Adieu; »ich 
empfehle mich Ihnen« sagt die Unsterblichkeit. 

20. So bald das Genie vom Baum des Erkentnisses isset, so 
bald darf es nicht mehr vom Baum des Lebens essen; fals man 
den ersten Kapiteln des ersten Buchs Mosis nicht iede Glaub- 
wiirdigkeit abzwakken wil. 

21. Gleich dem Amor, ist das Genie zwar gefliigelt, aber auch 
blind. 

22. Gleich gewissen Konigen, kan es Reiche erobern, und 
nicht regieren. Allein zum Ruhme eines Alexanders gehort si- 20 
cher mehr als die gute Beherschung eines unbetrachtlichen Ma- 
zed oni ens. 

23 . Jedem mus schliislich die Feindschaft zwischen der Phan- 
tasie und dem Verstande, (und also zwischen dem Genie und 
den Regeln) aus den entgegengesezten Wirkungen einleuchten, 
die das Alter auf beide aussert und ieder wird zugeben, daB 
die Menge der Jahre nicht nur die weichen Theile eines alten 
Korpers zur Ahnlichkeit mit den Knochen eines Jiinglings, son- 
dern auch graue Gedichte zur Ahnlichkeit mit dem Gerippe (des 
Plans) iugendlicher Gedichte verharte. 30 

24. Weiter. Das Publikum lieset ein Buch mit Fehlern, die 
sich den Schonheiten hinten aufgestelt, lieber, als eines, in wel- 
chem die Kritik den Leser immer mit ihrer Scharfsichtigkeit 
an den Schweis des Verfassers erinnert: so tragt man den 
Schnepfen wohl mit seinem kothigen Eingeweide, aber nicht mit 
seinen Augen auf die Tafel. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 501 

25. Da schon der Apotheker zwar das Fet und den Koth, aber 
nichtdas Fleischvom Hundebrauchbarfindet, so mus das Publi- 
kum noch vielmehr zwar Vortreflichkeit .und Schlechtheit, aber 
nicht Mittelmdfligkeit am Autor schazen, und dem schalen Was- 
ser, nicht bios den Wein, sondern auch eine Pftitze vorziehen. 

26. So eine MittelmaCigkeit lauft im Grunde nur auf Bedek- 
kung, nicht auf Hinwegnehmung der Fehler hinaus; dieses lehret 
ieden schon der Besen, welchen die Magd auf das Auskehricht 
lehnet. Die Kritik ist also ein Besen. 

10 27. Wenigstens ist sie (oder bestimter: die Regeln) ein grosser 
Bas, nach dem man zwar tanzt, allein iiber welchen man auch 
oft fait. Ohne Bas tanzt man vielleicht weniger taktmassiger, 
aber man fait auch seltner. 

28. Endlich was ware thorichter als werm Pygmalion seinen 
Meissel auf die weiche Brust seiner doppeltbelebten Statue sezte, 
um die Brustwarze zuder Kleinheit zuzuspitzen, die Winkelman 
im ersten Theile seiner Geschichte der Kunst, als die erste Bedin- 
gung eines schonen griechischen Busens den Bildhauern ange- 
priesen? Nein, stat seinen Meissel einer so kalten Kritik zu lei- 

20 hen, wird der entziickte Kiinstler sich an den schwellenden Siz 
des verkanten Fehlers schmiegen und iiber die Kunst die Liebe 
vergessen ... 

29. Kurz, ihr guten Kopfe Deutschlands, singt in eurer Lita- 
nei: behiite uns lieber Herre Got der Musen, nicht nur vor dem 
Morden der Kritiker, sondern auch der Kritik Tyrannei. Ver- 
gesset im Busgesang nicht, die kritische Feile mit einem eisernen 
Szepter zu vergleichen. Erhort euch, wie fast zu vermuthen, 
Apollo nicht, so nehmt euren Lorberkranz und erhangt euch 
daran. Wer keinen Lorberkranz hat, ersteche sich mit dem Fe- 

30 dermesser, oder schneide damit keine Federn mehr, um den 
edlen Tod des Attikus zu verwelken. Durft ihr wegen der Niko- 
laiten, nicht so schreiben wie der Werther; so sterbt wenigstens 
wie der Werther! - 

Summa Summarum 29 Grunde oder Gleichnisse gegen die Wichtig- 
keit der Regeln. 

Man subtrahire von dieseh 29 Griinden die obigen 25 Gegen- 



502. JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

griinde, so wird man finden, daB die Schadlichkeit der Regeln 
gerade um 4 Griinde wahrer ist als die Niizlichkeit derselben. 
Kein Wunder, daB die Entscheidungen hieruber so oft zeither 
wankend waren; da der Ausschlag von einem so unmerkbaren 
Staubgen bestimmt wurde. Sollte man gegen diesen Beweis 
neue Gleichnisse einwenden, so werd' ich sie mit andern schon 
wieder beantworten. 

Mit aller der Unpartheilichkeit, der man in solchen Streitig- 
keiten fahig ist, hab' ich Griinde und Gegengriinde vor deinen 
Augen, denkender Leser, die Revue passiren lassen; und wenn 10 
du mit derselben Unpartheilichkeit entscheidest, wenn dein 
Verstand, seiner grossen Bestimmung getreu, nicht fur Schlin- 
gen der Dialektik den seidnen Faden der Ariadne fallen last und 
gleich dem Paris, den Apfel nicht der Minerva, sondern der 
schonsten, der Venus zuerkent; so wirst du meine Muhe mit 
Uberzeugung lohnen und den 4 Gleichnissen, die der lezten 
Parthei den Ausschlag geben, deine Verehrung der Regeln auf- 
opfern und, fals du mich rezensirst, meine geringen Talente 
die Wirkung deiner neuen Hochachtung fur regellose Genies 
am ersten empfinden lassen. Denn ich habe meinem Wize alle 20 
die Unregelmassigkeit gestattet, die er vertheidigte, und meine 
Uberzeugung und meinen Ruhm auf demselben Boden gebauet. 
Freilich verliert dieser Ruhm durch die zufallige Jugend dieser 
Erfindung ziemlich viel. Ich entwarf namlich die ersten Ziige 
von der Kunst, den Verstand durch Wiz zu ersezen, neulich 
an einem Abend, da ich durch einen Weinrausch nicht nur mei- 
nen Verstand verlohren hatte, sondern auch besonders zum 
Wize aufgelegt war. Die Halfte der vaterlichen Entziikkung iiber 
die neugebohrne Erfindung schlief ich mit dem Rausche aus. 
Noch ein Viertheil verflog am Morgen, da ich in meiner Biblio- 30 
thek die mannigfaltigen Verdienste der deutschen Litteratur 
iiberlief , um zu erfahren, ob ich nicht die Ehre der ersten Erfin- 
dung mit einem Vor ganger zu theilen hatte. Meine erste Unter- 
suchung mit den Lehrgedichten fiel gliicklich aus; in diesen 
sollte, nach der Vorschrift der Kritik, die Phantasie die Vernunft 
spielen, allein das Genie lies darin die Vernunft die Phantasie 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN S°3 

spielen; ich fand versifizirte Kompendien, in denen man den 
Beweisen stat des q. e. d. Reime als Schwanze angeleimt. Mit 
voreiliger Beruhigung schlag' ich die Biicher der abstraktesten 
deutschen Philosophen auf - und hin war mein patriotisches 
Vergniigen iiber meine Erfindung! Ich fand, daB denkende 
Kopfe schon langst mit dem Denken gehadert und ihrer Ehegat- 
tin, der Minerva, aus abmattender Gefalligkeit gegen ihre Ma- 
tressen, die Musen, schon langst die ehlige Pflicht verweigert 
hatten, kurz daB sie die Leser nicht mehr mit kahlen Griinden, 

10 sondern mit frisirten Gleichnissen unterrichteten, und armselige 
Rasonnements hiezu nur darum anbrachten, um dem Glanze 
ihres Wizes durch den Kontrast neue Strahlen zu leihen. Wie 
rette ich nun das lezte Viertel meiner Entziikkung? durch nichts, 
billiger Leser, als die heiligste Versicherung, daB ich meine Er- 
findung nicht gestohlen, sondern selbst erfunden und daB mein 
Kopf nur durch einen gewohnlichen Autorzufal mit meinen Bii- 
chern, die mich nichts als die Rezension derselben zu stehen 
gekommen, auf demselben Resultate zusammen getroffen. Ub- 
rigens wird mir dein Unglaube an eine Wahrhaftigkeit, die dem 

20 Parnasse so fremd ist, doch das Verdienst lassen mussen, durch 
einen eignen Versuch die neuen Rechte des Wizes nicht bios 
bestatigt, sondern erweitert zu haben; und ich mus mir selbst 
schmeicheln, an Mangel der Gedanken so gar den Philoso- 
phen X. iibertroffen zu haben. Den Anschein von Vernunft in 
meinem Aufsaze mag der Leser mit der Unmoglichkeit, Gleich- 
nisse ohne Gedanken zu machen, entschuldigen. Und diese Un- 
moglichkeit zu tibersteigen war vielleicht auch nur dem Hern Y 
moglich, der zum Erstaunen aller Rezensenten seine Widerle- 
gung des Leibniz aus lauter Bildern ohne Gegenbilder d. h. ohne 

30 Gedanken webte. Nent die Bilder Konsonanten und die Gegen- 
bilder Vokale, so kont' ihr dieses Buch mit der unpunktirten he- 
braischen Bibel vergleichen, die mir R. Isaschar neulich fiir 
komplet verkaufte. So eine Bibel ist aber schwer zu lesen; so 
wie ienes Buch nur dem Nichtdenker, aber nicht dem Denker 
verstandlich ist. Fiir ein wenig minder vortreflich und unver- 
standlicherklareich dieienigen philosophischen Abhandlungen, 



504 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

die aus Metaphern zusammengenahet sind, aus welchen leztern 
das eingehiillte Gegenbild, oder der Gedanke noch halb hervor- 
gukt. Metaphern gleichen namlich den zugeschlossenen Wasch- 
kasten, iiber deren Bord das eingeschlossene Hemd zum Theil 
heraus hangt. Kurz, ihr Deutschen, wenn ihr nicht das Bild 
dem Gegenbilde vorzuziehen lernt, wie der Mahler, der die Na- 
tur ihrem Bilde auf der Leinwand, und die Aspasia ihrem be- 
ruhmten Portrat nachsezt, oder wie die Juden, von denen Pope 
eine freilich nicht durch das athanasische Symbolum, sondern 
durch die Juwelen erzeugte Anbetung des Kruzifixes am Halse ic 
seiner Belinde vermuthet; und wenn ihr das Licht des Verstandes 
nicht auspuzt, so werdet ihr nie einen Schimmer an dem faulen 
Holze des Wizes erleben. Dieses rechtfertigt auch den Ekel des 
Publikums an den Gedanken gewisser Philosophen, und seinen 
Wohlgef alien an ihrer vortref lichen Sprache; so wie Rezensenten 
der Koche ebenfals die Zunge, aber nicht das Gehirn des Ochsen 
schmakhaft finden. - Der Leser verzeihe mir einige Zusaze, ohne 
die ich mich von dieser angenehmen Materie nicht loswinden 
konnen. 

So bald man, meinem Vorschlage zufolge, fur die hinkenden 20 
Schliisse hinkende Gleichnisse, fur iene, die oft zu viel Beine 
haben, diese, die selten viele Beine haben, einfiihrt, so kan der 
Antiskeptiker sein Te deum mit vollem Rechte singen, denn nun 
schiest er mit epigrammatischen Pfeilen, wie Konige seit dem 
Abkommen der Pfeile mit Kanonen, nach dem Ziele der Wahr- 
heit, welches beide mit den leichten Federn so oft verfehlen 
miissen und aus der Unentschliissigkeit, in der ihn seither 
Griinde und Gegengrimde durch gleiches Gewicht erhielten, 
reisset ihn nun das Fazit, um welches die subtrahirten Gleich- 
nisse der Wahrheit naher sind als die subtrahirenden. Wie die 3c 
Schriftsteller mit dem scharfen Wize gordische Knoten losen; 
ohne ihre Gleichnisse einer in Ziffern ausgedriickten Subtrak- 
zion zu unterwerfen, sehe man an folgendem Bei spiel, das ich 
stat aller andern mache. »Man konte zwar sagen, die Gleichnisse 
gleichen den Lichtern der Sale, die weniger leuchten als verzie- 
ren; allein dieses Gleichnis beweist nichts und es ist gewis, daB 



GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 505 

die rhetorischen Blumen, gleich den natiirlichen in Blumen- 
scherben, dem Fenster so wohl kein Licht rauben als eine wohl- 
riechende Atmosphare zuhauchen, und daB das Salz, womit man 
Bucher und Speisen wurzet, so wohl die Verdauung als den 
Wohlgeschmack verbessere. An Abhandlungen vol Zierrathen 
bewundert man, wie an Wachslichtern, nicht bios die schonere 
Farbe, sondern auch das hellere Licht; an figtirlichen und unfi- 
giirlichenTalglichternvermisset man nicht nur das erstere, son- 
dern auch das andre.« - Zum Nebenbeweis fiihr* ich noch mei- 

10 nen Beichtvater an, der, nachdem er mich vorher verdamt hatte, 
meinen Unglauben an die Genugthuung, den er seinen philoso- 
phischen Beweisgriinden fur dieselbe aufzubiirden hatte, durch 
GleichnisseundBilderkurirte, dieer meistens dem biirgerlichen 
und dem peinlichen Rechte abborgte. Meine Dankbarkeit emp- 
fiehlt Se. Hochehrwtirden, meinen Beichtvater alien Juristen, 
die des Reims wegen Christen zu werden wunschen und deren 
Rettung die Slinde gegen den h. Geist nicht unmoglich gemacht. 
- Ich kan diesen Aufsaz nicht ohne die Ankiindigung einer neuen 
Logik schliessen, in der ich die Worter Axiom, Postulatum etc. 

20 auf eine neue Art definiren und mit dem gleichgeltenden Gleich- 
nis Metapher etc. vertauschen werde. Zur Probe eine Definizion 
des Sorites! 

§• 173. • 
»Ein Sorites ist eine Reihe von solchen Ahnlichkeiten, mit deren 
Anzahl man fiiglich ihre Entfernung wachsen last. Eine solche 
Allegorie - so hatten die Alten den Sorites nennen sollen - gleicht 
einem sogenanten trojanischen und nur auf die romischen Tafeln 
ganz aufgetragnen, wilden Schwein, in welches man kleinere 
Thiere verbarg, in die man noch kleinere verbarg, bis endlich 
30 eine Nachtigal die Konklusion des wolschmekkenden Sorites 
machte.« 



506 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

II. 

Beweis, 

dap man den Korper nicht bios fiir den Vater der Kinder, sondern 

audi der Biicher anzusehen habe, und dap vorzuglich die grosten Gei~ 

stesgaben die rechte Hand zur glandula pinealis gewahlet 

Ein Beitrag zur Physiologie 

Obwohl der paradoxe Titel dieser Abhandlung sich dem Leser 
durch ein Versprechen empfiehlt, dessen Grosse mich der Erful- 
lung desselben iiberheben konnte, und obgleich der ausgehan- 
gene Schild mit zu viel Zierrathen prangt, um nicht das sauerste 10 
Bier zu entschuldigen: so wil ich doch das schriftstellerische 
Recht, zu liigen, erst auf ein andersmal und vielleicht in der 
nachsten Ankiindigung meiner Werke niizen und iezt das Publi- 
kum durch meine Wahrhaftigkeit eben so sehr als durch mein 
Versprechen in Erstaunen sezen. Um aber doch der Mode nicht 
ganz ungetreu zu werden, wil ich nur einiges vorausschikken, 
was nicht zur Sache gehort. Dieser Beitrag zur Physiologie mag 
sich mit einer Abhandlung iiber die Buchertitel anfangen! , 

Die iezigen schriftstellerischen Produkte sind, wie bekant, die 
Geschopfe und darum auch die Schopfer guter Regeln, und ieder 20 
neue Roman ist ein andrer »Versuch iiber den Roman. Leipzig 
und Liegniz, bei David Siegerts Witwe 1774. « Was wunder, 
wenn man daher auch meine Regeln von dem Titelmachen auf 
den meisten Titelblattern realisirt finden wird! - Ein achter Skri- 
bent mus iiber den Titel, zu welchem sich nachher allemal ein 
Buch findet, die ersten und meisten Federn zerkauen: und das 
Versprechen mus friiher aus dem Kiel fliessen, als die Verlezung 
desselben. Der Titel ist der Kopf des Buchs; das Kind deiner 
Feder mus daher mit dem Kopfe zuerst in die Welt sinken, wie 
das Gipfelgen des kiinftigen Baums am ersten durch die Erde 30 
keimt. Der Titel ist die Krone des Buchs; allein in Niirnberg 
ist die Krone schon vorhanden, wenn die Reichsfiirsten noch 
in der Wahl des Haupts wanken, auf dem sie schimmern sol. 
Der Titel ist die Frisur des Buches; allein die Madam reicht 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 507 

dem Kamme ihren Kopf friiher dar als ihren Rumpf den Handen 
des Puzes und die Verschonerung steigt almahlich von der 
Nachthaube zum Nachtkleide herunter, wie die morgendlichen 
Sonnenstrahlen vom kahlen Scheitel des Berges zum schattigten 
Fusse desselben. Dieses Recht des Titels, am ersten Tage der 
Schopfung des Buchs geschaffen zu werden, fliest aus dem an- 
dern Rechte desselben, durch Schmuck weit liber die iibrigen 
Theile der Schrift erhoben zu werden - darum vergleiche ich 
ihn mit dem Kopfe eines Kindes: denn am Kinde ist der Kopf 

10 verhaltnismassig grosser als die iibrigen Glieder, als am Jiing- 
linge - und ferner mit einer Krone: denn ihr Werth und ihre 
Edelgesteine iiberstrahlen weit alle iibrigen Insignien der hoch- 
sten Wiirde und selbst den Szepter - und endlich mit einer Frisur: 
denn unter der aufgeschwollensten Vergette wohnt das kleinste 
Gehirn, namlich das eines Stuzers. Und dieses zweite Recht quilt 
wiederum aus verschiedenen Ursachen. Fur einen wizigen Titel 
schenkt die Lesewelt das Privilegium, ihn mit einem unwizigen 
Buche zu begleiten. Wenn der Wiz sein Blendlaterngen nur auf 
der ersten Seite leuchten last! dan mag er es immer ausloschen! 

20 Wenn ein Buch nur dem Insekt (der Laternentrager) gleicht, 
an dem zu Nachts bios der Kopf einigen Schimmer wirft! Je 
weniger Kopf daher ein Autor auf sich fuhlt, desto mehr mus 
er den seines Kindes vergrossern; und einen guten Titel zum 
Herolde eines schlechten Buchs machen; so last sich nach einigen 
alten Naturktindigern, aus der Grosse der obern Glieder des 
Korpers die Grosse der unehrbarn weissagen. Der Titel ist also 
der Lorberkranz, unter dessen Schatten sich das kahle Haupt 
verborgenhalt. Ferner, mancher Achilles im Lesen, bleibt mei- 
stens bey dem Titelblatte stehen, stat daB ein Rezensent bis zur 

30 Vorrede geht - gleich einem gewissen indischen Fuchs (Izque- 
polt) der bios die Kopfe der Insekten frist. Was wunder, wenn 
daher ein Autor alle seine Talente zur Ausschmiikkung des Blat- 
tes vereinigt, in dessen enge Grenzen die Seltenheit kauflustiger 
sein Vermogen, durch Aufklarung und Erwarmung der Welt 
seine Menschenliebe zu befriedigen, eingezaunet - und wenn 
er das Buch nur als ein Anhangsel zum Titel schreibt. An dieser 



508 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

Menschenliebe nimt auch der Verleger Theil: denn er stikt die 
Thiire seines Buchladens mit schonen Biicherkopfen, so verziert 
der Landedelman in England seine Stalthure mit den angenagel- 
ten Schnauzen der erlegten Fiichse. Und endlich sind auch die 
Rezensenten an der Menge affektirter Titel Schuld. Denn ehe 
sie durch scharfe Kritik das Buch genauer anatomiren, iibt vor- 
her ihr Wiz seine Stumpfheit an dem Titel, gleich dem Mezger, 
der mit dem stumpfen Ende seines Beils die Stirne des Ochsen 
zerschmettert und mit dem scharfen Ende das tode Thier zer- 
hakt. Nun trift Wiz auf Wiz, und ein Wetterstrahl erstikt die 10 
Wirkung des andern. Da endlich der Autor das Leben seines 
welken und wurzellosen Namens durch Einimpfung den Jour- 
nalen anvertrauen mus, die leider! gleich den Addreskalendern, 
nichts als Titel aufnehmen oder figurlich, die die toden Bucher 
bios skalpiren 2 und selten andre Seiten als die erste zu Zeugen 
ihres Siegs auffiihren, wie etwan David die Vorhdute der erlegten 
Philister: so ists naturlich, dafi der Schriftsteller alle seine Einfalle 
auf einen Haufen, auf das Titelblatt zusammentreibt, um die 
Nachwelt durch die Vortreflichkeit des ewigen Theils iiber den 
Verlust des zeitlichen untrostlich zu machen, daB er den Alexan- 20 
der nachahmet, der auf seinem indischen Feldzuge durch Ver- 
grabung grosser Helme bey der Nachwelt den Ruhm eines Ge- 
nerals von Riesen zu erschleichen dachte. - Einige zieren ihr 
Buch mit einer pabstlichen Krone d. h. mit einem dreifachen 
Titelblatte, weil sie zu uneigenniizig sind, demselben ein sechs- 
faches zu geben. Den ganzen Prunk volendet noch das Motto, 
welches, wiewohl als geborgtes Gut, den Kopfputz des Kindes, 
wie Hare von Pferden und Missethatern den Kopfputz der Da- 
men vergrossert; rothe Buchstaben mogen fur Schminke, und 
eine Vignette fur ein Schonpflastergen gelten. Ubrigens konnte 30 

a d. h. so wie der Wilde von seinem toden Feinde bios die Haut der 
Stirne abzieht, also der Rezensent u. s. w. Die Fehler des Buchs werden 
in der folgenden Zeile mit den Vorhauten der Philister verglichen etc. 
Diese Note hatte ich mir durch Weitschweifigkeit, die mich dem 
schlechtern Leser verstandlich und dem bessern ekelhaft gemacht hatte, 
ersparen konnen. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5O9 

(nebenher anzumerken und die lange Ausschweifung mit einer 
neuen zu beschliessen) der Verleger seinen Namen auf dem Ti- 
telblatte schon uber den des Autors hinwegriikken: denn der 
Autor ist ohnehin nur ein Konsonans, den man ohne seinen 
Verleger nicht aussprechen kan, und wir diirfen nicht den Juden 
gleichen, in deren Buchern die meisten Vokale den Konsonanten 
wie Staub an den Fiissen kleben! - Ich hoffe nun den Leser zu 
meiner physiologischen Entdekkung durch dieses Praludium 
vorbereitet zu haben, das ich gleich andern geschickten Organi- 

10 sten und Autoren, durch einen Umweg von etlichen Akkorden 
leicht von seinem Moltone zum Durtone des Liedes hatte zu- 
riickbringen konnen. 

Ein Autor braucht keine Sele; denn sein Korper ist seine Sele 
- so wie auf einem Kunstwerke des Parrhasius kein Gemahlde 
hinter dem Vorhange verborgen stekte; denn der Vorhang war 
das Gemahlde selbst. Sein Korper schenkt gewissen scheinbar- 
geistigen Handlungen nicht bios den Namen, b sondern auch 
den Ursprung; und nichts ist thorichter, als einen solchen deum 
ex machina wie die Sele ist zur Verfertigung einer solchen kor- 

20 perlichen Sache wie ein Buch ist herabzuzaubern. Die Anatomie 
(dies wird alles aus dem folgenden erhellen) ist. der wichtigste 
Zweig der Experi mentals elenlehre und ein junger Rezensent 
wird wohl thun, das. Kollegium uber die Asthetik mit einem 
Kollegium iiber die Eingeweide zu verbinden. Die verschiede- 
nen Glieder sind nichts als verschiedene Selenkrafte; und jedes 
Glied steht unter der Herschaft einer besondern Muse, so wie 
sonst jedes Glied von einem gewissen Stern beherscht wurde 
oder wie iedes nach dem Galen, seine eigne Sele besizt. Ich 
furchte (ibrigens nicht durch den Beweis, daB Korper die mei- 

30 sten geistigen Kinder ediren, den Schimpfnamen eines Materia- 
listen zu verschulden: denn behaupten, daB man ohne Kopf Holz 
spalten konne, heist darum nicht behaupten, daB man mit den 
Handen denken konne, und wenn ich den Materialisten das 

b Begreifen, einsehen etc. lauter Namen, die der Korper den geistigen 
Thatigkeiten leiht. Solche bildliche Benennungen gleichen den hebra- 
ischen Buchstaben, welche zugleich Gemaldeund Name einer Sache sind. 



5IO JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG 

Nichtsein ihrer Sele zugestehe, so mus ich darum nicht ihren 

... j 

Gegnern das Dasein der ihrigen absprechen. 

Montaigne widmete einen seiner Versuche dem Daumen; auf 
dieses beruhmte Beispiel wage ich es, nicht nur dem Lobe des 
Daumens, sondern auch der Hand den grosten Plaz in dieser 
Untersuchung anzuweisen. Jeden Wahrheitsfreund mus es 
schmerzen, die gotlichen Hande der Schriftsteller zu blossen 
Nachtretern ihrer Kopfe herabgewiirdigt zu sehen. Man ver- 
gleiche die Verdienste ihrer Hande mit denen ihrer Kopfe, und 
enthalte sich dan des Unwillens iiber eine so alte Ungerechtig- 
keit! Das Buch verdankt der Hand seines Vaters den dikken 
Inhalt, und dem Kopfe desselben nichts als sein Bildnis von 
N. gestochen; das Buch verdankt der Hand Worte und Ortho- 
graphic, deren Neuheit den Leser bezaubert, und dem Kopfe 
Gedanken, deren Alter ihm Ekel erregt; ohne Hand kan der 
Dichter so wenig als der Mahler mahlen; ohne Hand kan der 
Autor das Buch so wenig schreiben als der Sezer sezen, aber 
ohne Kopf es zu thun, hat der erste dem andern abgelernet c 
und beide brauchen ihn nun zu nichts als zum Genus der Friichte 
ihrer Hande. Ja noch mehr, seitdem der Kopf den neuern 
Schriftstellern seine Schaze entzog, that die Hand sich zur Frei- 
gebigkeit auf, und sie haben es nur der Giite der leztern zu dan- 
ken, dan ihnen die Feindschaft des erstern weniger empfindli- 
cher fait; sie konnen nun zwar weniger denken, aber dafiir mehr 
schreiben, fur die Sele. ihrer geistigen Kinder ist zwar ein Sedez- 
format zu weit, aber fur den Korper derselben auch ein Oktav- 
band zu eng, und stat des Nervengeistes verschwenden sie 
Dinte. Sie gleichen zwar dem Baren in der Schwache des 
Haupts, die Plinius ihm zuschreibt, allein auch in der Starke 
der vordern Tazen - eben so stekt in den Scheren des Krebses 
das Fleisch, das seinem Kopfe mangelt. Und da der Raubvogel 
weniger mit dem Schnabel als den Klauen die Beute zerfleischt: 
so ist klar, warum mancher Satiriker besser mit seiner Hand 

c Wem fait hier nicht die Hand ein, die am Rande alter Bucher stehet 
und dem Leser die Schonheiten derselben, wie ganze Arme den Furleu- 
ten den Weg, zeigen soil. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 511 

schreibt als mit seinem Munde spricht und die Lesewelt besser 
als seine Freunde unterhalt. — Nichts ist daher undankbarer, als 
den Handen den Kopf , und der Lea, fur deren Gesicht ihr Bauch 
Lobredner gebiert, die Rahel vorzuziehen, die ihre Schonheit 
nicht durch Fruchtbarkeit bestatigt; und nichts ist mir unertrag- 
licher, als wenn Journale stat der langen Finger die langen Ohren 
loben, d und den Handen den Weihrauch stehlen, um ihn dem 
Kopfe zu schenken. Eben so mussen oft die Hande des klugen 
Schreibers den Kopf des dummen Amtmans spielen und das 

10 machen, was sie bios mundiren solten - und doch lobt man 
nicht den Schreiber, sondern den Prinzipal fiir den wohlgerathe- 
nen Aufsaz. So dampft um den frisirten Kopf des Generals der 
Ruhm, den bios die kriegerischen Fauste seines Heres erkampft 
und verdient haben, und tausend Muskeln verliehren den Lohn 
ihres Sieges durch das einzige Gehirn, ohne welches sie siegten. 
Ich schranke hiemit die Verdienste der Hand nicht auf den 
Schriftsteller ein. Ich verehre alle die Vorziige, die man an der 
orthodoxen Hand durch einen Ring belohnt, der einen Finger 
mit dem Denken kopulirt, und durch ein D, mit welchem die 

20 andern ihren Namen kronen diirfen; alle die Vorziige, welche 
einem Arzte die Definizion, »daB er ein Wesen sei, in des sen 
Fingern die Fahigkeit lieget, an den Puis zu greifen und ein Urin- 
glas zu halten« billig zuschreibt; alle die Vorziige, welche die 
Hand eines Gasners seinem christlichglaubigen Gehirn ver- 
dankte, und durch deren Hiilfe seine Finger den Glauben mit 
Wundern diingten; alle die Vorziige, die wir auf schonen Han- 
den kiissen; alle die Vorziige, die die Finger eines Konigs, dessen 
Krone auf keinem Kopf ruhet,um seinen Szepter biegen. - Aber 
an einem Autor schaze ich die Hand am meisten; und an der 

30 Hand den Daumen. Mit Recht entziffert Lavater aus der Inskrip- 
tion des Daumens den Werth seines Besizers und ein noch unge- 
drukter Traktat von mir erhebt ihn zum Mikrokosmus in nuce. 
Daher belegte man nach einem alten Schriftsteller den Daumen 

d Lange Finger haben heist - ich weis nicht ob liberal - stehlen. Ein 
rauberischer Autor arbeitet mit den Handen, ein dummer mit dem 
Kopfe. 



512 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

darum mit dem Namenpollex, weil er von pollere abstamt; daher 
nanten ihn die Griechen ovuxeiQ d. h. die Vice-Hand. Wenn 
das Denken einen Gleis auf der Stirne fahrt; so hinterlast das 
Schreiben eben dasselbe Zeichen der Geistesanstrengung auf den 
Daumen, und Bayle erzahlt von Sebastian Maccius, einem Poe- 
ten des siebzehnten Jahrhunderts, daB sein Kiel, den er nie ruhen 
lies, tiefe Furchen in seinen Daumen und seine Schreibefinger 
gezogen. Eine Rezensent tragt auf dem Daumen sein vornehm- 
stes Gewehr-ich meine den Nagel, mit welchem er die raudigen 
Schafe des kritisirten Buchs fur die Schlachtbank bezeichnet. 
Converso pollice - 
quemlibet occidunt e 
So bald daher irgend ein Unfal, z. B. ein Duel die Selenkrafte 
dieses Glieds zerstort, so ists um den Ruhm des Autors gethan 
- umsonst blieb ihm der Kopf, Lorbern zu tragen, wenn er 
die Hand verlohr, sie zu brechen; er hat sich nun seine Kiele 
und seine Biicher vergebens angeschaft und seinem Ehrgeize 
bleibt zur Beruhigung nichts iibrig, als die Leichenrede einer 
Zeitung, auf deren leztes Blat irgend eine mitleidige Feder einen 
Tropfen Dinte iiber den Verlust eines so jungen Genies hinwei- 
net. Eben so gaben die Romer alien Soldaten den Abschied, 
deren Daumen durch Wunden zu Invaliden geworden. Vor die- 
sem Ubel wiirde uns die Erfindung einer Schreibmaschine am 
besten schiizen, welche dem Autor die Zusammensezung der 
Buchstaben eben so sehr erleichterte, wie die Rechenm as chine 
die Zusammensezung der Zahlen, und welche die Biicher so 
mechanisch schrieb, als sie die Presse drukt. Auch ists wunder- 
bar, daB die neuen Erzieher, die iede tabula rasa zu einem diction- 
naire encyclopedique beschreiben, und die die Wissenschaften in 
dem weichen Gehirn nicht aussaen, sondern aufschutten, die 
Vermehrung der Kentnisse ihrer Zoglinge nicht durch Vermeh- 
rung der Mittel, sie dem Publikum zu iiberliefern, gemeinniizi- 
ger machen. Man soke mich nachahmen. Ich lehre namlich mei- 

e Iuv. Sat. III. v. 36 - Auch passet hieher, wiewol ebenfals nur im 
figiirlichen Sinne, was Statius irgendwo vom Tode dichtet, daB er lange 
und schwarze Nagel habe. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5 13 

nen kleinen Eleven, von dessen Informazion ich mich durch 
Ausarbeitung kleiner Erziehungsschriften erhohle, mit beiden 
Handen schreiben; meinem unbelohnten Fleis wird ers daher 
einmahl noch danken, wenn er die Welt iede Messe mit Zwillin- 
gen erfreuen und mit der linken Hand seine rechte widerlegen 
kan. Audi solten unsre Autoren die vierhandigen Affen, deren 
Nachahmungssucht sie sonst so tauschend nachahmen, dadurch 
zu erreichen suchen, daB sie ihre zwo untern Hande nicht bios 
zum Gehen, sondern auch wie die obern zu etwas Bessern be- 

io niizten, so wie der Organist mit den Fiissen spielt. Doch meldet 
Sturz, daB Wilton in Celsea seit dem Verluste seiner Arme wirk- 
lich mit den Fiissen zu schreiben angefangen. - Zu allem diesem 
fug' ich noch hinzu, daB der Hutmacher kunftighin nur zur 
linken Hand des Handschuhmachers gehen durfe - daB das Chi- 
ragra keine Idee im Gehirne auf der andern lasse, und wenigstens 
die Hande nur fruher als den Kopf verwiiste, wie der Henker 
iene nur fruher als diesen abhauet - daB der Rezensent wie der 
Zigeuner, seine Wahrsagungsgabe ausser den Anekdoten auch 
durch Chiromantie unterstiizen konne - daB die Autoren (doch 

20 nicht mein Verleger) mich fur diese Erfindungen nicht besser 
belohnen konnen, als wenn sie in Zukunft stat ihres Kopfes 
ihre rechte Hand vor ihre Werke in Kupfer stechen lassen; wozu 
bei den Autoren noch der Umstand komt, daB ihr BildniB ihre 
Kinder meistens iiberlebt, so wie noch Abzeichnungen, aber 
keine Nachkommen des Einhorns vorhanden sind, und bei den 
Rezensenten, daB schon der Anblik dieses Glieds ein Dichter- 
haufgen in zitternder Ehrfurcht halten kan, so wie (nach dem 
Berichte des Schafers) eine im Schafstalle aufgehangene Wolfs- 
klaue die ganze wollichte Herde in Schrekken sezt - endlich 

30 fug' ich noch hinzu, daB ich nichts mehr hinzuzufugen habe. - 
Ich wende mich zu einem andern Gliede, dessen Lob ich zwar 
verkikzen, aber nicht vergessen darf. Die Hand, die ausfuhrt, 
komt schwerlich dem Magen gleich, der erfindet, und der Vater 
der Biicher theilt seine Unsterblichkeit nur halb mit der Heb- 
amme derselben. Aber ie langer meine Feder sich bei der Be- 
trachtung dieses Glieds verweilet, desto mehr nahert sich ihr 



514 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

prosaischer Schrit dem poetischen Trabe. Ja mein Enthusiasmus 
wird schon so stark als mein Hunger. Ich lobte die Hand; aber 
den Magen besing' ich. - Wer trankt mich mit Begeisterung? 
welche Muse sez' ich in die erste Zeile meines ohnfussigen Lie- 
des, um in den andern mit dem Schwunge zu fliegen, wodurch 
sich die singende Hand zum besungenen Magen erhebt? und 
bei welchem erdichteten Got betle ich in schlechten Versen um 
gute? . . . bei keinem! Der Magen sei zugleich mein Apollo und 
mein Mazen! Du also hungriges Glied, o! Allerheiligstes des 
korperlichen Autors, o! Lexicon des Obersezzers, o! alter Orbis 10 
pictus des Romanenschreibers f und o! Gradus ad parnassum des 
Poeten, so wie formula concordiae des Priesters! WiegederBucher, 
die kritische Galle, so wie der Wurmer, die Ochsengalle todet; 
in wenigen Thieren viermahl, und in denen nur einmahl vor- 
handen, die ihre Gedanken wiederkauen, und von dem Krebse, 
wie die neugebohrne Minerva von dem Jupiter, in dem Kopf 
getragen; fleischicht bei unsern Sangvogeln und hautig bei den 
Raubvogeln, die sie rezensiren — schenke meinem Kiele die 
Feinheit, die du seinem Lobe der Schonen, die Wahrhaftigkeit, 
die du seinem Lobe der Gonner, und die Menschenliebe, die 20 
du seiner Satire auf die iibrigen mittheiltest! Lasse mich meine 
Feder in die Quintessenz dieser vereinigten Geschenke tauchen, 
und lobe dich noch mehr als deinen Mazen und deine Demuth. 

- Oft halfst du mir so singen: Das Haupt des Parnasses und 
des Dichters kranzen Lorbern, aber weder in dem Eingeweide 
des ersten, noch in der Hosentasche des andern schimmert Gold; 
Apollo zeitigt den gelben Reichthum, aber Pluto arntet ihn; dem 
Phobus vergolden seine Sonne den Kopf, allein er ihnen nicht 
einmahl den Hut; der Permessus trankt keine Aussat von gold- 
nen Kornern, und eine Muse ist kein reiches Burgermadgen; 30 

- helf es mir iezt laugnen. Oft halfst du mir in einer Vorrede 
dich tadeln; helf mir iezt in einer Abhandlung dich loben: so 
schrieb iener unpartheiische Englander am Montage wider den 

i Eine Anspielung auf den neuen orbis pictus, den H. Lichtenberg 
im gottingischen Magazin den schonen Geistern vorgeschlagen und 
schon zu liefern angefangen. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5 1 5 

Walpole, und am Mitwoch wider den Pultney. Oft uberschrie 
dein hungriges Murren in meinen Ohren die zwote Trompete 
der Fama; es verstarke sich iezt in der ersten! Doch halt! ich 
kan nun deine poetische Hulfe entbehren; mir fehlten nur ein 
par Seiten, die nun meine Bitte ausgefult hat. - Deine Anrufung 
ist ia auch dein Lob, welches du ohnehin in einer Rezension 
derselben fortsezen kanst. 

Ich habe wenig mehr (iber dieses Glied zu sagen, vorzuglich 
da schon der Verfasser das Specimen novi medicinae conspectus 175 1 

10 bei Guerin in Paris den Magen fur das zweite Gehirn ausgege- 
ben. Doch wag' ich noch einen neuen Schrit und halte ihn fur 
das erste. Die kurze Beantwortung einiger Einwiirfe sol diesen 
halbpoetischen Theil meiner physiologischen Abhandlung be- 
schliessen. 

Objectio. Nein! Die Ausdehnung dieser Hypothese iiber- 
schreitet die Granzen der Billigkeit. Das Wahre derselben war 
langst bekant; nur das Falsche derselben ist neu. Jeder kent die 
unversiegende Quelle, aus der halbiahrlich eine Siindfluth von 
Obersezungen stromt; aber die hochadeliche Dichtkunst zu ei- 

20 ner solchen pobelhaften Abstammung herunter zu wiirdigen, 
aber stat der Hippokrene eine Mistlache fur die Nahrung auszu- 
geben, aus welcher die poetischen Blumen ihren Duft scheiden 
und ihren Schmelz saugen, heist die Sache iibertreiben. Das Lied 
eines neuen Barden entspringt aus seiner Luftrore, nicht aus 
seiner Speiserore. - 

Responsio. Eben so dacht* ich vor zehn Jahren bei der Heraus- 
gabe meiner Bardengesange. Dieser Meinung war ich noch bey 
meiner Rezension derselben, siehe die **Zeitung, und die*** 
und die** und das **Journal etc. Allein da Petrum Kamper's 

30 Nachrichten (iber die Hornviehseuche (im d. Museum) mich 
lehrten, daB dem verstorbenen Vieh das Obel seiten im Gehirn, 
und meistens im Magen gesessen, ja da mir iiber die Moglich- 
keit, dafi man zum Unsin nur durch den Trieb der Nachah- 
mung, nicht des Hungers iiberredet werden konte, aus eigner 
Erfahrung Zweifel aufstiegen: so sank ich almahlig von meiner 
Tauschung zur Wahrheit d. h. zur Behauptung herab, daft nicht 



5l6 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

nur die glanzenden Schuppen der Fische, das sinesische Gold- 
fischgen nicht ausgenommen, ihre Nahrung aus dem Magen 
hohlen, sondern daB auch die Gewohnheit der Kochinnen, in 
die Fliigel des aufgetragenen Vogels den Magen zierlich einzu- 
klemmen, auf die verstekte Verwandschaft der Schwingen un- 
sers genievollen Gefliigels anspiele. Ein Mehreres davon weiter 
unten! 

Objectio. Wenigstens ist gewis, daB dieses die liebevolle Ro- 
manen nicht trift, die wiewohl nicht aus dem Gehirn, doch aus 
den Thranendrusen geflossen. Und wer solte ihren Verfassern 10 
die Uneigennuzigkeit absprechen, der sie die Beutel ihrer Hel- 
den so gerne Preis geben? 

Resp. Eben darum. Ein Autor verschenkt auf seiner empfind- 
samen Reise tausend Thaler, um dafur von seinem Verleger 
hundert zu bekommen; seiner Feder, aber nicht seiner Hand 
gehort das Lob der Freygebigkeit; der geizige Schriftsteller 
zeugt, gleich geizigen Vatern, verschwenderische Kinder, und 
er bestiehlt einen iungen Buchhandler durch dasselbe Buch, in 
welchem er dem Publikum Wohlthun prediget. - Obrigens ist 
das Buch eines sogenanten liebevollen Autors seltener die Kopie, 20 
als die Larve seines Herzens; wenigstens gleicht das Original 
oft dem Gemahlde so wenig, als das Herz, welches der Anato- 
miker studirt, demjenigen, welches der Zukkerbekker aus Sii- 
Bigkeiten, oder der Friseur aus den Haren des p Vorderkopfes 
formt. Diese Meinung erhalt ein neues Gewicht von der Ent- 
dekkung des H. Blumenbachs, daB der dunkle Korper im Leibe 
des Raderthiers nicht das Herz desselben, wie einige glauben, 
sondern sein Magen ist. g Allein bekanter ist, daB dem Gewiirm, 
das der Regen, die Tranen des empfindsamen Himmels, aus der 
Erde lokt, das Herz so wie das Gehirn von der Natur versagt 30 
worden, obwohl nicht ein langer Darmkanal. Hieher passet 
vortreflich ein Traum des bekanten Schwedenborgs: die Mond- 
geister, sagt er in seiner geographischen und topographischen 
Beschreibung der Weltkorper, sind nicht grosser wie Knaben 

s Siehe dessen Handbuch der Naturgeschichte. Zweite Auflage 1782. 
Seit. 32. 



GRONLANDISCHE PROZESSE * 2. BAND CHEN 517 

von sieben Jahren; allein ihre Stimme, die, wie ein Riilpsen, 
aus dem Bauche herausgestossen wird, schallet fiirchterlicher als 
der Donner. Um doch auch dem Schwedenborg (so wie Theo- 
logen dem Verfasser der Apokalypsis) eine Weissagung zu lei- 
hen, sez' ich hinzu, dafi er unter den Bewohnern des Mondes 
die Anbeter desselben verstehet. - 

Von einer solchen Quelle sprech' ich aus Galanterie die Pro- 
dukte des schonen Geschlechts frei; zu ihrer Entstehung reichet 
schon das Glied hin, das man so oft kiisset, und dessen vor 

10 dem gegenwartigen gedacht worden. Ja ich treibe meine Hof- 
lichkeit so weit, dafi ich auf die Schonen, die Biicher nahen 
und strikken, den Anspruch des Titus Flaminimus von dem 
inagern Philopomen anwende. »Du hast schone Hande, aber 
keinen Bauch.« 

Obj. Den Richter mus man auch richten. Aus Hunger kizelt 
der Dichter das Trommelfel und der Satiriker das Zwergfel sei- 
ner Leser; derselbe Mangel reicht dem einen die Flote, und dem 
andern die Geissel, und die Thorheit und der Spot wachsen, 
wie die Thora und die Antithora, auf einem gemeinschaftlichen 

20 Boden. Der Magen trankt eure satirische Feder, die gleich ihm 
und durch ihn zu einem Perpetuum mobile geworden, mit seinen 
miissigen aber darum scharfern Verdauungssaften, und ihr er- 
lacht euch Sattigung auf Kosten derer, denen ihr gleicht. 

Resp. Rechnet Opponent mich nicht unter solche Satiriker, 
so geb' ich es aus Liebe zur Wahrheit von alien zu; zahlet er 
auch mich darunter, so raume ich es bios vom Verfasser der 
Raritaten ein. 

Eine unnaturliche Ideenverbindung fiihret mich von der Satire 
auf die Galle, deren eingestandner Nuzen eine lange Lobrede 

30 entbehrlich macht. Sie ersezt bey dem Satiriker den Nervensaft 
d. h. das Genie, bei dem Polemiker die Wahrheit und bey dem 
Rezensenten die Einsicht. Der leztere kan zwar wie der Areopa- 
gus im Finstern richten; allein den Genus dieser Erlaubnis 
mocht' ich ihm bios bei dem Lossprechen zugestehen; das Herz 
eines Autors hochstens kan er ohne den Gebrauch des Gesichts 
verwunden, wie der Amor mit verbundnen Augen seine Pfeile 



518 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

auf das Herz abschiest; aber die Verdammung des Kopfes ist 
ohne den Beistand der Galle unthulich, die, wie sonst die Galle 
einiger Fische die Scharfe der Augen auf einige Zeit wieder giebt. 
Und so hat sie einen doppelten Nuzen; denn sie lehrt die Biicher 
nicht bios verldumden y sondern auch verstehen - so last die 
Schlange ihren Gift in ihren Feind und in ihre Speise h fliessen, 
und todet und verdauet damit; so ist ein iunger Kalbermagen so- 
wohl zur Versauerung 1 als Verdauung der Milch geschikt. Ohne 
Galle kan man ferner seinen gelehrten Feind eben so wenig wi- 
derlegen als hassen; ohne sie last sich kaum der Titel einer Streit- i 
schrift machen und in der Vorrede und dem Inhalte spielet sie 
eine eben so wichtige Rolle wie die personifizirte Zwietracht in 
Voltaires Henriade. Mein Freund Y wiirde der Menschenfeind- 
lichkeit der Philanthropinen die schone Larve des griechischen 
Namen nicht mit so vielem Glukke abgezogen haben, hatte er 
die hulfreiche Galle vorher entweder durch ein Vomitiv aus der 
einen oder durch eine Purganz aus der andern Thiire des ofnen 
Tempels des Janus gejagt. Rezensentcn und Satiriker folgt die- 
sem gliiklichen Beispiel, und vomirt und laxirt niemals - oder 
hochstens am Neuiahrstage, urn nichts wiinschen zu diirfen! 20 
- Zur Vermehrung derselben empfehF ich euch den Genus von 
sussen Sachen, die der Magen nach und nach zu Galle kocht, 
so wie es die Pflicht des Romanenschreibers mit sich bringt, 
die siisse Menschenfreundlichkeit, die sein Held vom ersten 
Bande empfieng, durch den vorlezten in Misanthropie versauern 
zu lassen. Unter den sussen Sachen versteh' ich die Almanache, 
stat des Marzipans zu Weihnachten und vor dem Neuiahr - und 
die iibrigen Produkte unsrer Zukkersiedereien. - Obrigens ist 
die Galle in alien Wissenschaften zu gebrauchen und gleicht dem 
Arsenik, der sich mit alien Metallen vermischt und alle ver- 30 
dirbt. 

»Der Monarch sizt doch nur mit dem Hintern auf dem 

h Stat des Speichels, der die Verdauung erleichtert oder eigentlich 
anfangt. 

1 Man macht an den meisten Orten die Milch durch sogenantes Lab 
d. h. ein Stiikgen Kalbermagen gerinnen. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 519 

Throne « sagt Montaigne, und der Dichter sizt doch nur mit 
eben diesem Gliede auf dem Pegasus, sag* ich, und seine Gesange 
sind doch nur Werke der untern Selenkrafte, sagt endlich ein 
Philosoph. Ungeachtet meine Materie mir iezt die gliiklichste 
Gelegenheit in die Feder spielt, die Rothe der deutschen Scham- 
haftigkeit durch schmuzige Zweideutigkeiten zu priifen; so wil 
ich doch der Sitlichkeit den Vorzug vor der Mode lassen, und 
ungeachtet ich (wie alle deutsche Schrifts teller) fur schone Augen 
schreibe, so will ich doch der keuschen Ohren schonen. Nur 
erlaube man dem Kunstler, das fur ein anatomisches Lehrbuch 
in Kupfer zu stechen, was der Mahler fur das Kabinet eines 
Reichen freilich nicht mahlen soke. - Wenn der Pfau reden 
konte, sagt Voltaire, k so wiirde er seine Sele in den Schwanz 
sezen; ich glaube es nicht, denn der Dichter, welcher ebenfals 
auch nur mit seinen untern Selenkraften bunte und prachtige 
Farben schlagen kan, sezt die seinige in den Kopf. So wie man 
fast das Gehirn des Potfisches Sperma ceti nante; so getraue ich 
mir zu erweisen, daft die Musen nicht auf dem Gipfel des Parnas- 
ses, mit dem ich den Dichter iezt vergleiche, sondern im Thale 
desselben wohnen und daft man dem Poeten durch dieselbe 
Grausamkeit den Gesang rauben konne, durch die man ihn den 
Farinelli's giebt. Wenigstens wiirde er nachher den Kapaunen 
gleichen, die Eier ausbriiten, aber nicht bef ruchten konnen; d. h. 
er wiirde Verse ediren, aber nicht macheh, oder von einem Ori- 
ginal zu einem Nachahmer herunter sinken. Die Ursache ver- 
larvt sich oft so unkentbar in ihre Wirkung, daft ich iedem den 
Unwillen iiber mein schandliches Paradoxon verzeihe. Nicht 
immer ist man der Lerche, die man hort, so nahe, daft man 
siesiehet. Alleinin wem steigt nicht oft die dunkle Vermuthung 
auf, daft die Verse und die Siinden des Dichters, wie die Weissen 
und die Schwarzen aus den Lenden desselben alten Adams her- 
stammen. Oberhaupt f ragen die Bewohner von dem Berge Par- 
nas wenig nach den Gesezen des Berges Sinai: sie sind alle hete- 

k Les oreilles du Comte de Chesterfield. Mit diesem Einfalle wil Vol- 
taire der Philosophen spotten, die den Siz der Sele dahin verlegen, wo 
sie ihre schazbarsten Wirkungen zu aussern scheinet. 



520 JUGENDWERKE " 2. ABTEILUNG 

rodox und sie schiessen nur so lange keine Epigrammen auf 
den alten Glauben, als eine Klopfstokkische Harfe ihre Finger 
unterhalt; sie lieben in dem Prediger ihres Orts nichts als seine 
Tochter; sie machen ihre Verse meist am Sonntage, nicht bios 
weil sie da keine Kollegien besuchen, sondern auch weil da ieder 
Unpoet eine Predigt hort oder liest; ihre Epigrammen iibertreten 
das achte, ihre andern Gedichte das sechste Gebot; die Polizei 
hassen sie beinah so innig als die Kritik; sie kleiden nicht bios 
ihre geistigen Kinder, sondern auch sich selbst nach englischer 
Mode und ihr Busen ist so offen wie ihr Herz; sie mischen in 10 
ihre Hippokrene so viel Wein, daB ihr pindarischer Unsin zum 
prosaischen Unsin derer herniedersteigt, die ihnen einschenken; 
wie sonst Missethater zu den Statiien, so fliehen sie zu den Na- 
men heidnischer Gotter, um sich vor einer christlichen Andung 
ihrer Fehler zu retten, die Siinden des alten Adams burden sie 
dem kleinen Amor auf, und beten den Teufel unter der Gestalt 
eines Fauns an. - DaB der.poetische Sin mit dem sechsten Sin 
in demselben Stokwerke namlich parterre logirt, erhelt aus der 
Starke, die sie einander mittheilen. Die Venus ist nicht bios am 
astronomischen, sondern auch am mythologischen Himmel die 20 
Gespielin des Phobus; Ehe dieser Brautigam seine Kammer ver- 
last, hat sie schon ausgeschlafen, und wenn er in dieselbe wieder 
eingegangen, ist sie noch munter. Die dritte und lezte Rolle 
spielt nicht selten der Merkur. 1 - Daher dieienigen, welche die 
Dichtkunst nicht gern herabsezen mochten, die Liebe desto 
mehr erhohen; so schuttet z. B. Hippokrates das Satgetraide 
der Menschheit unter dem Dache auf d. h. er sezt die Samenge- 
fasse in die Ohren. - Daher findet man beide durch ahnliche 
Symptomen verschwistert; und zu dem Ausspruche 

Homines homines fatiunt in Paralysi 3<= 

kan man hinzufiigen, auch die Dichter die Gedichte: denn das 
Dichten ist, wie der Zorn, eine kurze Wuth. - Daher wachst 
der Lorber auf dem Boden, dessen Krafte er nicht mit der Myr- 
the zu theilen braucht, mit frischern Zweigen der Zeit entgegen. 
Der Kritiker verzeihe mir, dafi er hier an den Merkur des Astrono- 
men und Chemisten zugleich denken mus. 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 521 

So nahrt, nach Bako, der zuriickgehaltene Harn der Vogel ihr 
Gefieder und der Unrath diingt den schimmernden Feder- 
schmuck; woraus folgt, daB der Pfau den Stolz auf seinen 
Schwanz nicht bios durch das Andenken an seine Fiisse, sondern 
auch an die Nahrung und Nachbarschaft des ersten iiberwinden 
konne, so wie den Poeten ins kiinftige nicht bios seine zerlocher- 
ten schwarzen Striimpfe, sondern auch seine pluschenen Hosen 
das yvco'&i aeoruTOv buchstabiren lehren werden. - Ich wil iibri- 
gens durch meine Behauptung dem Kopfe nicht ganzliche Un- 

io thatigkeit beim Dichten zugemuthet haben; dieses Glied ent- 
wirft den Plan, dessen Ausfuhrung das Genie ubernimt »die 
Speise komt oft aus einem Lande, und die Briihe aus einem 
andern« sagt Addison, aber in einem andern Sinne. Nur hab' 
ich den Kopf der Erwahnung unwerth geachtet, weil ich das 
Kolorit der Zeichnung weit vorziehe. Der diirre Plan eines Ge- 
dichts komt vielleicht dem gesunden Verstande nahe, aber nur 
die Belebung desselben durch Worte und Metaphern verrath 
das Poetische. So ahnlicht dem Pferde nichts mehr als das Ge- 
rippe eines Esels, m aber iiberzieht das kluge Skelet mit Fleisch, 

20 und vergesset die Kehle und die Ohren nicht, so steht das leib- 
hafte.Thier da, auf dem alle GleichniBmacher, wie sonst die 
Konige, so statlich reiten. - Noch widerbellet der Uberzeugung , 
meines Lesers ein Einwurf , dessen Ausrottung vielleicht zu einer 
kleinen Ausschweifung gerathen wird. Der Leser namlich ist 
vielleicht an die spanische Scheidewand zwischen unserm Kopf 
und unserm Herzen zu wenig gewohnt, um einen Sanger der 
platonischen Liebe, der antiplatonischen fahig zu halten. Er ver- 
gist vielleicht ferner den Antheil des Korpers an unsrer Moralitat 
und kleidet die bessern Kinder desselben in so schimmernde 

30 Namen, daB sie sich ihres Vaters schamen. Das leztere ist der 
Inhalt des folgenden Absazes; und das erstere des nachsten. 
Her A. verdankt nicht seinem Beichtvater, sondern seinem 
Arzte die Wiederherstellung seiner Frommigkeit: sein Herz bes- 

m Man sehe die Abbildungen von Pferde und Eselgerippen in Buffons 
Naturgeschichte. Aus dieser Ahnlichkeit entsteht auch die Geneigtheit 
einiger Naturkiindiger, den Esel fiir ein ausgeartetes Pferd zu halten. 



522 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

serte sich mit seinem Unterleibe und ein Tobaksklystier ofnete 
den leztern dem Nachtstuhl und das erstere den Freunden. 
Her B. fuhrt die Menschenfeindlichkeit mit Purganzen ab und 
leitet Mixturen in den Stal des Augias, um besser verdauen und 
lieben zu lernen. Der volbliitige Her C. schreibt das Aufhoren 
seiner Gewissenbisse nicht den Bissen hungriger Blutigel, son- 
dern dem h. Geiste zu; allein selbst die Lanzette des Barbiers 
ofnet ihm vergebens die Thiir des Himmelreichs, wenn er nicht 
anfangt, den unter der Gestalt von Lagerbier versuchenden Teu- 
fel zu fliehen und das Wasser zum Heil seiner Gesundheit und 10 
Seligkeit zu trinken, so wie man in der christlichen Kirche (zu 
verschiednen Zeiten) die Kranken mit 01 gesund und selig salbte, 
und gleich den koptischen Christen die Taufe zur blutigen Be- 
schneidunghinzuzufiigen. Aus dem Bruder des Hern L. exorzi- 
siren Prugel die Raserei und sein wunder Riikken liest dem Ge- 
hirn ein Privatissimum iiber die Logik. Warum sezen doch bei 
dem wilden Hern D. die Anfalle der Giite so lange aus? - ein 
Flus ist ihm vors Ohr gefallen; daher predigen funf Schafdarmer 
und viele Hare eines Pferdeschwanzes ihm die Menschlichkeit 
umsonst. Warum schrieb ich gestern mit so weniger Begiinsti- 20 
gung der Phantasie, unsrer herlichsten Selenkraft? meine Auf- 
warterin that mehr Wasser in den Kaffe als gewohnlich; heute 
stahl sie mir von einem Lothe nur ein halbes, daher ich denn 
bei diesem halben Bogen auf den Beifal aller Kunstrichter rech- 
nen kan . . . Und nun nehmet die Liebe, die den Menschen zum 
Got und diesen Got, wie der Got Jupiter, zum Thier macht. 
Deine himlische Venus, lieber Jiingling, die sich, nach deiner 
gestrigen Schilderung, nicht nur mit Morgenrothe schmiikte, 
auf deren Frisur nicht nur die goldnen Nagel des Himmels stat 
der Harnadeln glanzten, deren Reize nicht nur ein aus Sonnen- 30 
strahlen verfertigtes Neglige umhulte, deren Kehle nicht nur 
in seraphischen Trillern zitterte, deren Korper nicht nur schoner 
als eine Gottin; sondern auch deren Sele heiliger als ein Engel 
war - diese Venus kanst du heute nicht mehr lieben, ihre Tu- 
gend, die selbst ihren Reizen die Bewunderung halb entzog, 
hat heute ihre Almacht iiber dich verlohren? »Ja! denn nicht 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 5 2 3 

zu gedenken des Fontanels am rechten Beine etc.« ich verstehe 
dich, ihr ganzer Korper ist tugendhaft, aber das rechte Bein 
ist lasterhaft. Und die Stoiker sagen ia, daB Eine lasterhafte Fus- 
zahe nicht nur die Tugenden der neun andern, sondern auch 
der iibrigen Glieder unwirklich mache. - Die Eidschwiire einer 
ewigen Treue zerschneidet vielleicht die Sense des Todes nicht, 
aber wohl ein scharfes Messer, und derienige hort gewis auf 
zu werthern, den man kombabusirt. 

Meine Ausserung iiber das moralische Verhalten der Gelehr- 

io ten mus man nicht fur einen Tadel derselben auslegen; sie ist 
vielmehr der Schleier einer Lobrede auf sie. Denn ihr Herz, 
welches Laster begeht, entschuldigt ihr Kopf dadurch, daB er 
sie verbietet. Bei einem heidnischen Philosophen muste viel- 
leicht das Herz den Kopf akkompagniren; aber einem christli- 
chen kan man unmoglich zumuthen, an die Tugend, die er unter 
die Hirnschale logirt, auch noch die zwo Kammern des Herzens 
zu vermiethen; so taufte man sonst den ganzen Korper, aber 
iezt nur den Kopf des Kindes zum Christen: Was half es dem 
Gelehrten, die Laster verschreien, wenn er sie nicht lieben darf , 

20 und wer kan seine Treue gegen die keuschen Musen besser be- 
lohnen als eine Hure? Wenn seine linke Hand dem Nachbar 
im Schauspielhause das Schnupftuch maust, so bedenkt auch, 
daB seine rechte eine Tragodie gezeugt, die aus alien hundert 
Augen eines Argus Thranen lokken wiirde, und ein Manuskript, 
in dem man die Nachdrukker Diebe schilt, kan man mit gutem 
Gewissen an drei Verleger auf einmal verkaufen. Ein Theolog 
darf die zehn Gebote ungestrafter iibertreten, fals er sie nur aus 
dem Hebraischen ins Deutsche vertiren kan, und wenn er der 
Freundin des Herkules seinen gelehrten Magen weihet, so wird 

30- sie auf die Feindin desselben keinen schelen Blik werfen, die 
nur das Herz bekommen. 

Was von denen gilt, die die Tugend in Prose loben, gilt noch 
mehr von denen, die es in Versen thun. Diese leztern gehen 
mit dieser Gottin wie die Katholiken (nach der Versicherung 
kluger Katholiken) mit den Bildern gewisser Heiligen um; sie 
behangen sie mit goldnem Schmuk, allein sie beten sie nicht 



524 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

an. Auf dem Kopfe eines Poeten liegt Puder und Pomade; an 
seinen Fiissen klebt Staub und Koth; nur der Flug entfaltet an 
ihm, so wie an den Vogeln, den beweglichen Schimmer seines 
Gefieders, und er gleicht dem Vogel Greif durch die Adlersflii- 
gel, die ihn fur den Bewohner der Liifte erklaren, und durch 
die vier Fiisse, die ihn mit den Thieren der Erde verbriidern. 
Das kleinste Nachdenken giebt uns die Entschuldigung dessel- 
ben an die Hand. Er mus Menschen kennen lernen; allein das 
Studium derselben versiiBt er sich oft durch die Nachahmung 
derselben: - Ferner racht sich die Natur an einer ubermenschli- 10 
chen Erhohung immer durch eine thierische Erniedrigung und 
die Arbeit und die Erhohlung schweifen immer uber entgegen- 
gesezte Grarizen aus. Daher bricht die Tugend des Dichters auf 
seinem Pegasus den Hals, und wenn das Pferd sich in die Hohe 
baumt, sinkt der Reiter. Ich kenne selbst einen grossen Dichter, 
der sich von der Besingung der platonischen Liebe durch die 
Freuden des sechsten Sins erholte. Nie werd' ich den Flug und 
das Gotliche der Ode vergessen, die sein trunkner Enthusiasmus 
am Abend seines Hochzeittages sang; kaum steigt die Lerche 
hoher, wenn sie sich begatten wil. - Ja oft unterbricht das Mur- 20 
ren der ungeduldigen Natur die Harmonie der Spharen und das 
wilde Schwein erschiittert unten durch das Reiben seines geilen 
Rukken den Baum, auf dessen Gipfel ein Vogel nistet und singt; 
verzeihet daher, liebe Mitchristen, dem armen Musensohn, der 
wie die Monche den fastenden Tag auf die prassende Nacht 
grundet und den alten Adam anzieht, wenn er die Hosen ausge- 
zogen. Kaum hab' ich iezt z. B. meinen Satir auf einige Zeit 
entlassen, so komt der Teufel in der Gestalt eines Pavians (diese 
zwei gleichen meinem gehornten Schosthier ziemlich) und wil 
mich versuchen. Allein ich veriagte ihn gleich mit Dinte, wie 30 
der sel. Doktor Luther, d. h. ich fahre fort, die Sinlichkeit mei- 
ner Kollegen zu entschuldigen. An der Ebbe und Fluth ihrer 
Siinden hat die Ebbe und Fluth ihres Reichthums den meisten 
Antheil. Die Wilden in Brasilien erzahlen von der Schlange Cu- 
rururyyva, daB sieihrenLeib,sobald sieihnmitSpeisenangefiilt, 
den fleischfressenden Vogeln iiberlasse, die ihn bis zum Skelet 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 525 

abnagen, welches darauf ihr Lebensgeist, der sich sonst in ihrem 
Kopfe und iezt im Kothe aufhalt, zur vorigen Schonheit, Gestalt 
und Grosse belebe. n Kaum traute ich bey der ersten Durchlesung 
dieses Mahrgens meinen Augen; ich sah' in der aberglaubigen 
Liige eine schone Allegorie verstekt, und vergas iiber den Genus 
des Wizes beinahe, daB die Wilden in Brasilien weder den Dich- 
ter A. noch B. ia vielleicht auch nicht den Hern C. kennen, 
der zum Besten seiner Nase in der Welt umherstreift. - »Aber 
der lasterhafte Autor reist ia so das Werk seines tugendhaften 

10 Kindes wieder nieder.« Warum folgt man denn dem Beispiel 
mehr als den Lehren? Der Baum, iiber dessen Wurzel du stol- 
perst, tragt ia auch die Zweige, woraus du einen Stab zum 
Schuze deiner Fusse schnizen kanst. - Aber ich entschuldige 
ia Gelehrte und Dichter gar zu gut; sie opfern der Tugend doch 
nichts als Verstand oder Einbildungskraft und gleichen den Kamt- 
schadalen, die ihrem Got verdorbne Kopfe und Schwanze von 
Fischen darbringen. 

Es bleibt also dabei, vortrefliche Musensohne, (um wieder 
zum Eingange des Labyrinths zuriikzukehren) herkulische Len- 

20 den sind immer mit einer herkulischen Kehle gepart; wenigstens 
fliegen die Vogel nicht nur mit den Fliigeln, sondern auch mit 
dem Schwanze. 

Beinahe hatte ich meine Abhandlung ohne die Erwahnung 
des Kopfes beschlossen, dessen Besiz der korperliche Autor al- 
lerdings mit dem Zeugnis des Friseurs belegen kan. Ich wil also 
iezt den Fleischer nachahmen; dieser giebt den ungeniesbaren 
Kopf als Zulagehin, und macht ihn durch das fette Hinterviertel 
verkauflich. Soke mir iemand vorwerfen, meine Abhandlung 
verfalle durch den zweiten Kopf, der ihren Schwanz macht, 

30 in eine zu sichtbare Ahnlichkeit mit iener Schlange mit zwei 
Kopfen und keinem Schwanze; so vergist er offenbar, daB der 
Bericht der neuesten Reisebeschreiber den angeblichen zweiten 
Kopf des Thiers zu einem wahren Schwanz herabsezze. Der 
Kopf eines Gelehrten verschaft ausser den kleinen Vortheil, daB 

n Onomatologia historiae naturalis etc. 3. Band. S. 538. 



526 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

er fiir den Doktor- und Magisterhut einen Trager, und fur den 
Physiognomisten einen genievollen Schedel abgeben kan, kei- 
nen andern, als diesen, daB er die langen Ohren tragt und nahrt. 
Sobald das Publikum diese leztern Gliedmassen gehorig mit Lob 
und Wind fiittert, so entsprechen sie der freigebigen Hand durch 
einen erstaunenswiirdigen Wachsthum, den iiberdies das Alter 
nicht unterbricht. So tragt z. B. mein Gefatter Smerdis ein Par 
Ohren, die beinahe noch langer sind als der Oktavband, den 
er wider die langen Barte der Alten auf Pranumerazion heraus- 
gegeben. Doch dieses alles werd' ich in Gesners Traktat de artti- 10 
qua asinorum honestate nachstens besser entwikkeln, welches ich 
fiir mein eignes Werk ausgeben und durch den Zusaz der entge- 
gengesezten Lesart von antiqua fiir unsre aufgeklarten Zeiten 
nuzbarer machen werde. Dieses Werk werden unzahlbare 
Zeichnungen langer und meist origineller Ohren schmukken, 
deren Beschaffenheit ich den Kopfen beriihmter Gelehrten bei 
Uberreichung meines Stambuchs, soviel es Lorberkranz und 
Schlafmiize gestatteten, abgesehen. Ich bitte daher ieden Burger 
der gelehrten Republik, dem es um den Wachsthum der Akustik 
zu thun ist, mir einen Schattenris von seinem Ohr gegen kiinfti- 20 
ges Ohrenfutter zukommen zu lassen. Die Tolhauser werden 
freilich wenige Zeichnungen liefern; aber die Akademien desto 
mehrere. - Von den schriftstellerischen Augen nab' ich nichts 
zu sagen; man weis ia, daB die Nachteule, die gut hort, schlecht 
sieht; - Vom Gehirn noch weniger; denn ich zweifle an seiner 
Existenz eben so sehr als mancher Anatomiker (und ieder Ehe- 
man) an der Existenz des Hymen. Der Mangel desselben ver- 
tragt sich so gut am Gelehrten mit der Menge der Kentnissen 
als an den Insekten mit der Menge der Augen. Aus dem alien 
folgt, daB man der Redensart »der Mensch hat Kopf « kiinftighin 30 
die Wendung geben konne »er hat Magen.« 

So hab' ich denn die Philosophic vom Himmel gerufen und 
den Korper in seine alten Rechte eingesezt. Nun verdankt der 
Autor ihm nicht bios die Gesundheit, sondern auch die Unsterb- 
lichkeit; so wie die Schlange sonst von beiden das Sinbild war. 

Ich wiirde dieser Abhandlung ein dreifaches Register beige- 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5^7 

fugt haben, wenn ihr gedanken voile r Inhalt nicht iedes entbehr- 
lich machte. Denn ein Inventarium darf nur die Biicher vergros- 
sern, die ausser den gestohlnen Schazen keine enthalten und 
nur ein gehirnloses Riikgrad sol sich in einen zierlichen Schwanz 
verlangern. So wie die franzosischen Schonen unter dem Fran- 
ziskus II. zwar ihren Hintern mit Kleidern vergrosserten, aber 
doch auch zugleich ihr Gesicht verlarvten: so kan man den rie- 
senmassigen Hintern eines Buchs, d. h. das Register mit nichts 
als der Kleinheit seines zusammengeplunderten Vordertheils 

io entschuldigen. - Soke (ibrigens, in den Augen der Kenner, mei- 
nem physiologischen Beitrag dichterischer Flug zu haufig man- 
geln: so schreibe man das Prosaische auf die Rechnung meiner 
Tauschung, noch ein Barde zu seyn. Man wird namlich wissen, 
daB Zierrathen der Philosophic weit besser als der Dichtkunst 
passen, und so wie die Deutschen ihre Schilde mit Verschone- 
rung iiberluden, ihrer Kleidung hingegen alle Verzierung mit 
der Wuth des Martin im Mahrgen von der Tonne versagten, 
eben so schikt sich fiir das philosophische Schild der Minerva 
wohl rednerischer Bombast, aber weder fur ihren Kopfpuz noch 

20 die andern Dekken ihrer Reize. Aber ich habe beinahe mein 
obiges Versprechen, die Abhandlung zu schliessen, vergessen. 



III. 
Epigrammatischaphoristische Klagen 

eines Rezensenten an und uber die Autoren, welche die Rezensionen 

ihrer Werke entweder selbst verfertigen, oder doch mit nichts ah einem 

Exemplar bezahlen 



Viri praenobilissimi atque doctissimi, Auditores spectatissimi! 

Von meiner friihen Jugend an rezensirte ich schon; aber da waren 

bessere Zeiten. Die damahligen Autoren tibertrafen fast mei- 

30 stens ihre Kinder noch an Kopf und an Herz. In meinem Alter, 



528 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

wo ich ofter zensire als rezensire, sind die Zeiten schlechter und 
Sie, meine Herren taugennicht einmahl so viel wie ihre Biicher. 
Aus tausend Beweisen wil ich fur heute nur zween ausheben. 

Sieschenken mir Ihr Buch, um es nicht zu tadeln. Aber meine 
Herren eine Lobrede auf lange Ohren wird durch ein par lange 
Ohren sehr schlecht bezahlt, die man mir vielleicht wohl noch 
unfrankirt, zuschikt. Wenn der Teufel, Got sei bei denen, die 
ihn glauben! an seinen Portraitmahler Kallot, dem er oft geses- 
sen, folgende Anrede gehalten hatte, die ich aus dem Franzosi- 
schenins Deutsche vertiren wil: »Monsieur Kallot! mahlet mich 
doch nicht mehr so kohlschwarz als ich euch erscheine, sondern 
kreidenweis, wenigstens weis! Seht! dafur lass' ich euch mein 
schwarzes Fel zu Beinkleidern. Haltbar ist es und in der Holle 
kont ihr es noch tragen.« - Wiirde nicht Mons. Kallot dem 
Teufel geantwortet haben: »aber es ist nicht schon! zu einem 
Par modischen Hosen fehlt ihm eben die Farbe, womit ich es 
schminken sol. Ich mahl' dich also noch ferner schwarz.« Der 
Teufel zwar wird darauf verstummen urid stat des Felles nur 
seinen ordinaren Gestank zuruklassen; aber Sie bitte ich, meine 
Herren, an mir die Zuriiksendung Ihrer Biicher nicht mit epi- 
grammatischem Gestank zu rachen. 

Ihre Biicher verdienen das Lob zu wenig, als daB sie dasselbe 
bezahlen kdnten; sie bezahlen hochstens den Tadel; mortis suae 
merces sagt Velleius Paterkulus vom Reichen, der seinen Fa] 
durch Reichthum verschuldet: den Mord ihres geistigen Kindes 
kan sein Kleid (so nenne ich des folgenden Gleichnisses wegen 
das Papier des geschenkten Exemplars) nicht abwenden; son- 
dern nur bezahlen; so wie der Henker in England sich die Klei- 
dung des arm en Sunders zueignet. 

Kurz, meine Herren, Sie miissen es wie die Philister machen, 
die von der Unpaslichkeit ihrer Hintern die Israeliten durch 
goldne unterrichteten; schikken Sie mir etliche goldne Kopfe, 
so kenne ich den Zustand, ihres eignen und nenne sie daher 
vor der ganzen Gelehrtenrepublik Schrifts teller aureae aetatts. 
Woken Sie mir aber, in Ermanglung des Geldes, zwar Exem- 
plare aber im Preise der Makulatur zuschikken, so werd' ich 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BAND CHEN '. 529 

vor der Welt, nachdem ich meine zwei Schreibefinger auf irgend 
eine Asthetik gelegt, mit schreklichen Eidschwiiren versichern, 
daB Ihre Makulatur nie Makulatur werden konne. 

Aber Sie, meine Herren zur linken Seiten, mocht* ich mit 
meiner Dinte vergiften, und nicht bios anschwarzen. Sie rezen- 
siren sich selbst? was sollen denn die Rezensenten rezensiren? 
doch nicht Rezensionen. Oder sollen wir verhungern? Die Au- 
toren miissen wenigstens vorher verhungern, und dan nur erst 
die Rezensenten. Wenn alle Diebe sich im Gefangnisse selber 
10 hiengen, so miisten die Henker, aus Hungersnoth, entweder 
auch stehlen, oder sich auch aufhenken. Oder wenn die Gotter 
ihre Nase an ihrem eignen wohlriechenden Athem sattigen wol- 
ten: wozu dienten denn die Pries ter mit Rauchfassern? 

Sie, mein Herr, z. B. sind Verfasser und Rezensent, vielleicht 
auch Leser des gegenwartigen Buchs. Sie wollen vielleicht ein 
ganzes Alphabet von Bogen durch ein einziges Blat, durch ein 
kleines Rezept, unsterblich machen; aber 

Pallida mors aequo pulsat pede pauperum tabernas 
Regumque turres. 

20 d. h. Bande in folio und in sedecimo, dikke Biicher und ihre 
dunnen Rezensionen stossen im Kramladen aufeinander und der 
Tod schneidet ihre ungleichen Blatter fur dasselbe Gewiirz zu 
Pyramiden. Die eine Seite der Diitte sagt zwar: »die andre Seite 
wird nie eine Diitte; sondern sie lebt ewig« allein welcher Kaufer 
sieht der halben Diitte die Unsterblichkeit und eine Gleichheit 
mit dem Herkules an, dessen eine Halfte sterblich und dessen 
andre unsterblich gewesen? 

Auch ist Ihr eignes Lob zu schlecht, um wahr zu sein. Nicht 
bios Ihr Kopf ist unfahig, Lorbern zu tragen; sondern auch Ihre 

30 rechte Hand ist unfahig, sie zu brechen; dieses wird Ihnen deutli- 
cher werden, wenn Sie nicht bios, wie Sie bisher that en, Ihren 
Kopf mit dem Kopfe des Esels vergleichen, dem seine zween 
langen Ohren dem doppelgipflichten Parnas ahnlich machen, 
sondern auch wenn Sie ihre Hand mit dem ungeschmeidigen 
Huf desselben vergleichen. Kan wohl die Ofnung, die iibelrie- 



530 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

chende Excremente liefert, besserriechenden Wind oder Weih- 
rauch liefern? Und mus nicht die Rezension so arg stinken wie 
das Buch? 

Doch diesem widersprech ich durch folgendes: Sie wollen 
das Lob nur besizen, aber nicht verdienen; daher blasen Sie die 
erste Trompete der Fama mit dem Munde, und die dichterische 
Flote nur mit dem entgegengesezten Orte und ihre laute Kehle 
akkompagnirt und uberschreit den Mastdarm; stat daB Sie es 
umkehren und mit der zwoten Trompete der Fama iiber die 
Flote richten solten? 3 

Allein, meine Herren, scheint Ihnen auch das Publikum durch 
das Vergessen des Urtheils kein Urtheil zu fallen; halt Sie auch 
vor der Verewigung Ihrer Schande der Seraph nicht zuriik, der 
mit flammendem Schwerd den Baum des Lebens vor den ersten 
Eltern bewachte, damit sie nicht davon essen und leben ewiglich: 
so wir Ihnen doch die Unmoglichkeit, mit eignen Kraften die 
Einbalsamirung Ihrer Ohren und die Einrostung Ihrer Schellen 
zu bewerkstelligen, das Selbstrezensiren verleiden. Oberlassen 
Sie es daher einem Rezensenten, der Sie nicht nur tod, sondern 
auch eben darum unverweslich machen kan; und dessen kri- 
tische Dinte Sie, wie scharfer Spiritus kleinere Insekten zu toden 
und zu konserviren zugleich im Stande ist. 

Ich konte Ihnen die epigrammatischen Widerspriiche Ihres 
Betragens vorhalten und sagen: Sie gleichen einem heidnischen 
Bildhauer, der dem gotlichen Kinde seines eignen Meisels 
Weihrauch bringt und sein Geschopf zu seinem Schopfer er- 
hebt. 

Ferner: Ihre prahlerische Rezension widerspricht Ihrer de- 
muthigen Vorrede, und sie loben das Buch, worin Sie sich 
tadeln. 

Endlich kont' ich noch die Weissagung beifugen, daB der 
Knabe, den der vortrefliche Verfasser der unnachahmlichen Sa- 
tire »Beweis, daB man den Korper sowohl fur den Vater der 

a Die Fama hat namlich, nach Buttler, zwo Trompeten; mit der einen 
blast ihr Mund Lob und Ehre, mit der andern ihr Hintrer Tadel und 
Schande aus. 



GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 53 I 

Biicher als der Kinder anzusehen hab« b mit beiden Handen 
schreiben lehrt, vielleicht mit der linken die rechte rezensiren 
wird, Ihres Beispiels und des Sprichworts wegen manus manum 
\avat. 

Allein die Figur der Praterizion, nach der Zeno unter dem 
Spaziergehen in seiner Stoa die Bewegung laugnete, wird Sie 
eben so wenig riihren als andre rhetorische Figuren. Ihr originel- 
ler Magen knurret mir eine laute Widerlegung vor, und seine 
Lerheit macht ihn, wie die Lehrheit Kopfe, zum Disputiren nur 

to desto fahiger. Aus Ihren Minen entziffere ich noch folgenden 
Ausruf : »Her Rezensent! wir loben uns nur, um uns zu sattigen; 
wir hangen unsre toden Geburten in wohlriechenden Rauch auf , 
nicht um ihre Dauer, sondern um ihren Preis zu vermehren. 
Ach! wenn uns das phlegmatische Publikum nur nicht bios das 
gabe, was wir uns selbst geben konnen, nur nicht dem Verleger 
das gabe, was er uns nicht giebt, nur nicht unsern Magen bei 
der Schwelgerei der Nase darben liesse! So wie vom Opfer die 
Gotter nur den Wohlgeruch, ihre Priester aber das Solide genos- 
sen, so riecht der Autor das Lob und der Verleger verzeret den 

2° Gewinst des Buchs! Ach daB man so oft fur eine Juno eine Weih- 
rauchswolke, fur eine Daphne einen Lorberbaum in die diirren 
Arme schliest! Glukliches Sina oder China, oder Schina, bei 
dir kan der Arme vom Verkaufe seiner korperlichen Excremente 
leben; nur im elenden Deutschland kan er es nicht einmahl von 
seinen geistigen, sondern mus vielleicht an der Dyssenterie und 
am Hunger zugleich sterben.« Hierinnen, meine Herren, haben 
Ihre Minen Recht; ich wil daher schluslich Ihrentwegen auf 
meine Kniee fallen, und so zum Apollo beten: » Apollo, Adam 
deiner schwarzen und weissen Musensohne, du begabtest die 

3° Herren da! mit dem Kopf eines Strausses und mit dem Magen 
eines Strausses; fiille ihnen doch wenigstens den leztern, wie 
es auch deine Sch wester von anno 1770 bis 1780 that und gieb 
ihnen Brod, da du ihnen keine Verse giebst. Ich flehe dich 
darum, Amen!« Und hiemit meine Herren ist mein heutiges 
b Von dieser Satire ist der Verfasser der satirischen Skizzen sowohl 
Verfasser als Rezensent. 



532 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

Autorenverhor geendigt, wie die vossischen Rezensentenver- 
hore insgesamt. 



IIII. 

BlTSCHRIFT ALLER DEUTSCHEN SATIRIKER 

an das deutsche Publikum, enthaltend einen bescheidnen Erweis von 

dessen ieziger Armuth an Thorheiten, nebst Bitten und Vorschlagen, 

derselben zum Besten der deutschen Satire abzuhelfen 



Vorrede 
zum nachstehenden Aufsaze 

Du liest, lieber Leser, nicht gern eine Vorrede; wie viel weniger 10 
zwo Vorreden. Allein vielleicht eben, weil du meine erste iiber- 
schlagen hast, wirst du mir verzeihen, das in der andern lesen 
zu mussen, was ich in der (iberschlagnen zu sagen vergessen. 
Ich vergas namlich, den folgenden Aufsaz mit einer Entschuldi- 
gung zu versehen, ohne die er sich nicht vor deine Augen ge- 
traut. Den Titel meines Buchs, welcher dich zu Satiren einladet, 
straf ich iezt Liigen, da ich einem Aufsaze, der in keiner Riiksicht 
mit der Satire in Verbindung stent, sondern vielmehr stat spas- 
hafter Einfalle, ernstliche Klagen und Bitten und Vorschlage 
enthalt, viele Bogen widme. Vielleicht dafi der ernsthafte Leser 20 
den Ernst unter dem Scherz nur desto wilkomner heist; aber 
der lustige wird die Beleidigung seiner Schosneigung wenig- 
stens nicht eher vergeben, als bis sie entschuldigt worden. Auf 
meine Entschuldigung konte ieder von selbst fallen. Wenn der 
Satiriker aufhort zu lachen, so last sich voraussezen, daB andere 
aufgehoret, lacherlich zu sein: denn seine Kunst kan die Thorheit 
nicht iiberleben. Zwar auch alter und abgelegter Narheiten kan 
er im Nothfal spotten, so wie ich zum Beispiel that. (Denn 
was ist alter, allein eben darum iezt seltner, als die Schrifts teller, 
die schlecht schreiben; als Theologen, welche die Vernunft kon- 30 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 533 

fisziren, als Philosophen, die keine sind? auch die Thorheit der 
Weiber, das Echo ieder Mode abzugeben, ist eben so alt als 
unmodisch, und der adeliche Stolz ist so alt, daft ihn alle Edel- 
leute besassen, die Ahnen und Verdienste hatten, nur die Edel- 
leute ausgenommen, die stat der Ahnen Verdienste hatten und 
eben deswegen iezt so selten, daB ihn wenigstens die nicht besi- 
zen, die stat der Verdienste Ahnen haben.) Nur gefallen solche 
Satiren gar mit den Vorziigen nicht, die meinen fehlen. Der 
Mangel am Narrenrukken ware denn die eine Ursache, warum 

io ich die satirische Peitsche an die Wand gehangen; die andere 
ist der Vorsaz meiner bessern Kollegen, diesem Mangel abzu- 
helfen. Sie glaubten der iezigen Verniinftigkeit am besten durch 
einen Aufsaz steuren zu konnen, welcher das Publikum mit sei- 
■ ner Armuth an Thorheiten und mit den daraus fliessenden 
schadlichen Folgen fur die deutsche Satire bekanter machte. 
Vielleicht daB die Wahl des Mittels besser ausgefallen, als die 
Wahl dessen, der es ausfiihren muss en. Denn zum leztern wahl- 
ten sie mich. Ich vermuthe darum, weil sie aus meinen Satiren 
liber lauter veraltete Thorheiten schlossen, daB ich dem Mangel 

20 an auffallendneuen Thorheiten, fur die keine eigne Scharfsich- 
tigkeit mich durch verborgne entschadigt, eifriger entgegen ar- 
beiten wiirde, als andre Satiriker, welche die iezige Theurung 
an Narren gar nicht empfinden, weil sie ihre Augen zu Spiirhun- 
den ihrer Zahne machen konnen, und weil ihr Gesicht, wie bei 
den Raubvogeln, so scharf \yie ihr Schnabel ist. Eine andere 
Ursache, warum sie den Propheten gerade den Saul und mich 
bessern Satirikern vorgezogen, ist, weil ich eben ein schlechter 
bin und daher ein Werk, worin das kleinste Lacheln beleidigend 
ware und das angebohrnen Ernst verlangt, gliiklicher zu Stande 

30 zu bringen die Hofnung gebe, als andre, in deren ernsthaftesten 
Minen sich immer unwilkuhrliche Ausserungen ihres satirischen 
Talents einschleichen wiirden. Diese zwei Perioden wiird' ich 
aus Has gegen den Egoismus wieder ausstreichen, miist' ich 
nicht durch die Angabe der gedachten zwo Ursachen die Ver- 
muthungeiner dritten (der bessern Tauglichkeit) abwenden, die 
mir, fals sie auch wahr ware, schadlich sein wiirde: Denn es 



534 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

sagt Zizero: Nihil est his, qui placere volunt, tarn adversarium, 
quam exspectatio. Allein der Erweis, daB das Publikum ver- 
niinftig ist, ist noch iiberdies eine Arbeit iiber meine Krafte; 
weil die Stiizen, worauf er ruhet, gleich andern Stiizen ihren 
Fus in die Erde verbergen, und weil die Anzahl derselben, fals 
man keine sophistischen mit unterlaufen lassen wil, kleiner ist 
als man glaubt. Ferner giebt sich das Publikum, da es keine 
Thorheiten hat, so viele Miihe, um den Schein, einige zu haben, 
daB es so gar einer geiibtern Feder nicht leicht sein wiirde zu 
zeigen, daB es keine hat; ia der ganze Beweis hat nach dem 10 
ersten Anblik so wenig Wahrscheinlichkeit fur sich, daB viel- 
leicht selbst mancher scharfsichtige Leser die Klage iiber 'den 
Mangel an Thorheiten fur eine Ironie aufnehmen wird. In der 
Hofnung, daB der Zuschauer die Holprichkeit der Bahn so gut 
sieht, als sie der Wetlaufer empfindet, und in der andern aus 
der ersten entstehenden Hofnung, daB man den nachfolgenden 
Aufsaz nicht so ganz umsonst zur Empfehlung der Thorheiten 
werde geschrieben sein lassen, kan ich mit dem Versprechen 
schliessen, kunftighin keine ernsthaften Aufsaze mehr in die sa- 
tirischen Skizzen aufzunehmen und uberhaupt meine Feder 2c 
nimmer zu einem Vorlegeloffel einer fremden Dinte herzulei- 
hen. 



IIII. 

Bitschrift alley deutschen Satiriker 

an das deutsche Publikum; enthakend einen bescheidnen Erweis von 

dessen ieziger Armuth an Thorheiten, nebst Bitten und Vorschlagen 

derselben zum Besten der deutschen Satire abzuhelfen 

Weises Publikum! 

Die Titelblatter wiederhallen noch immer die alte Behauptung: 
difficile est, satiram non scribere. Und zu den Zeiten dessen, 3c 
der sie schrieb, war sie auch vollig rich tig. Aber einige Blikke 
in unsre Bitschrift werden doch lehren, daB sie es in unsern 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BAND CHEN 535 

nicht mehr ist; daB das goldne Alter der Satire, wo'es Juvenale 
und Narren gab, langst verflossen und daB also die Liebhaber 
ienes Motto, fals sie nicht die erste Luge ihres Buchs auf das 
erste Blat desselben sezen wollen, kiinftig der Wahrheit das non 
in dem obigen Verse aufopfern werden miissen. Nicht bios unfi- 
gurliche Narrenschellen sieht man iezt selten; auch die figiirli- 
chen und unsichtbaren erscheinen nicht haufiger. Und daB man 
den theuren Hanswurst vom Theater verwiesen, Hesse sich auch 
noch verschmerzen; aber daB er aus dem Parterre und so gar 

to aus den Logen fliehen miissen, das kostet den Deutschen ihre 
ohnehin geringzahligen Satiriker und nothiget uns das gegen- 
wartige wirksame Mittel ab, mit dem buntschekkigten Gegcn- 
stand der Satire zugleich sie selbst dem Untergange zu entreissen . 
Ehe wir aber das Publikum von seiner Armuth an Thorheiten 
zu uberfuhren anfangen; miissen wir doch denienigen Theil des- 
selben, der sich auf die Rechte der Satire nicht vollig versteht, 
iiber das Recht der Satiriker, vom Publikum Thorheiten zu ver- 
langen, in der Kiirze belehren. Die bessern Leser werden die 
Belehrung iiber eine schon bekante Sache giitig iiberschlagen. 

20 Die Unentbehrlichkeit unsers Ordens, der zum Wehrstand ge- 
hort, sezen wir als eingestanden voraus; vorzuglich da der Na- 
turkiindiger Phanias unsre Lobrede, die in unserm Munde sun- 
ken wiirde, mit einer Geschiklichkeit unternommen, die Plinius 
des folgenden Lobes wiirdigt: Urtica quid esse inutilius potest? 
condidit tamen laudes eius Phanias Physicus. Unsre unentbehr- 
lichen Talente nun tragen stat der Friichte, die andre Autoren 
dem Gaumen des Lesers anbieten, Blatter, die seine Hande ste- 
chen; die Gallenblase ist unsre Hippokrene und gleich den Theo- 
logen konnen wir nur die Holle, aber nicht den Himmel schil- 

30 dern. Die Gegenstande des Spottes aber theilen wir in unsern 
Kompendien wie natiirlich in ehrwiirdige und lacherliche, oder 
in Tugenden und Laster ein, so wie die Richter bald Unschuldige 
bald Schuldige verdammen, und die Konsistorien bald hetero- 
doxe bald orthodoxe Kandidaten mit einem ubeln Testimonium 
bestrafen. Jedoch miissen wir anmerken, daB wir nur dan ehr- 
wiirdige Dinge verspotten, wenn es uns an lacherlichen fehlet; 



53 6 JUGENDWERKE • 2. ABTEILU^G 

und nur ausserster Mangel an Missethatern und Barnabas zwingt 
uns zur Geiselung eines gotmenschlichen Riikkens und zur Dor- 
nenkronung eines heiligen Haupts. Die Ursache dieser Weige- 
rung last sich leicht errathen. Denn wem ist unbekant, daB die 
Muskeln der Leser das Belachen der Tugend nicht so willig 
akkompagniren als ihre Vernachlassigung derselben vermuthen 
liesse, ia daB sie nicht selten diese Gottin durch das Klatschen 
der Hande fur die Unfolgsamkeit der Fusse zu entschadigen 
suchen? Aller dieser Schwierigkeiten ungeachtet gossen wir 
neulich auf die heiligsten Gegenstande, auf Religion, Keuschheit 10 
und Bibel unsre Galle; woraus das weise Publikum auf den Grad 
einer Theurung an Thorheiten vorlaufig schliessen kan, die uns 
zur Nahrung unserer Galle so wie den Juden im belagerten Jeru- 
salem, nichts als die Beraubung der Altare iibrig gelassen. Ei- 
gentlich stehet die Verspottung des Ehrwiirdigen einzig und 
allein den Invaliden des Wizes, kraft eines alten Privilegiums 
zu. Der Kontrast zwischen dem Grossen und Kleinen, der eben 
zum Lachen kizelt, last sich namlich bei an sich grossen Gegen- 
standen am leichtesten verstarken; (daher alle Parodien ohne 
Miihe gemacht und mit Vergniigen gelesen werden) warum 20 
soke man nun einem erschopften Satiriker seiner Arbeit einige 
Erleichterung, die er sich durch die Wahl des Gegenstandes zu 
verschaffen sucht, noch misgonnen? warum seiner Schwache 
Angriffe auf unbewafnete und edlere Gegenstande verdenken, 
da doch selbst der alte Lowe, nach Plinius, mit seinen abgenuz- 
ten Waff en stat der wilden Thiere Menschen zu wiirgen anfangt? 
Daher dieienigen, welchedem ehrwiirdigen Verfasser der Char- 
latanerien die Bibelspotterey veriibeln, entweder eine schlechte 
Kentnis der satirischen Regeln oder eine fliichtige Lesung seiner 
Satiren verrathen: denn es hatte sie nur einen kritischen Blik 30 
in die Charlatanerien gekostet, und sie wiirden darinnen einen 
Wiz entdekt haben, der weiter keinen als heiligen Gegenstanden 
mehr gewachsen ist. Und wenn sie Leute loben, welche dem 
Himmel doch wenigstens die Hefen von den Kraften, die ihnen 
der Dienst des Teufels abgezapft, mit zitternden Handen iiber- 
reichen; warum wollen sie denjenigen tadeln, der den Bodensaz 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 537 

einer Gallenblase, die der Spot auf den Teufel langst erschopfte, 
heiligen Gegenstanden weihet und die Bibel mit derselben 
Schwache verspottet, womit sie der gedachte Christ befolgt? 
Doch wir spotten nicht bios uber ehrwiirdige Gegenstande, 
sondern auch iiber Thorheiten; und dariiber eben so oft, und 
eben so gern. Hasen sind unser Ziel und unsre Nahrung und 
so bald uns hungert, so rufen wir aus dem Bauer zu unserm 
reichgekleideten Hern: Spizbube und zu seiner treuen Gemahlin: 
Hure. Nichts konnen wir daher sehnlicher wunschen, als die 

io Vermehrung der Narren. Ein Gesuch an das Publikum, seine 
Narheiten zu verdoppeln, ist also nicht bios andern Mitgliedern 
desselben, sondern auch uns Satirikern erlaubt und so bald wir 
nur erwiesen, daB es uns die von ieher gewohnliche Anzahl 
Narren nicht mehr liefert, so ist es verbunden, dieser Armuth 
abzuhelfen. Freilich da wir diesen 'Erweis zu fiihren niemahls 
nothig halten und immer mit der Anzahl der Narheiten der Welt 
zufrieden sein konten, so zufrieden, daB Swift so gar eine Lob- 
rede auf die ganze Welt versprach: so findet man unsern Gesuch 
ein wenig auffallend und griibelt deshalb nach gezwungnem 

20 Tadel desselben. Daher wendet man denn gegen die Billigkeit 
unsrer Bitschrift ferner ein: dieienigen, die die Thorheiten ver- 
mindern sollen, diirfen sie nicht zu vermehren suchen. Die erste 
Halfte liesse sich zugeben, ohne daB es darum von der andern 
nothig ware. Denn schon das Beispiel der Richter wiirde fur 
uns antworten, die die Lasterhaften, haufiger wiinschen, weil 
sie von der Bestrafung derselben leben und die nicht selten dem 
unerfahrnen Landman ihre Kunstgriffe fur seine Fehler unter- 
schieben, um sie an ihm ahnden zu konnen. Allein es ist gar 
nicht einmahl wahr, daB die Satire die Thoren bessern wolle; 

30 sie wil sie ia nur vergniigen. Dieses wissen selbst die Thoren 
so gut, daB sie in ieder satirischen Schilderung das Bild ihres 
Nachbars, aber nie ihr eignes such en und darum auch finden: 
denn geschahe das leztere, so wurden sie Vergniigen gegen Bes- 
serung vertauschen, stat daB sie iezt so wohl nicht gebessert 
als nicht betriibt werden. In einer Lobrede sucht man, wie im 
Spiegel, nie fremde Gegenstande, sondern nur sich selbst zu- 



538 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

ruckgestrahlet; allein bei der Satire ist es umgekehrt. Daher wir 
bei alien Besizern satirischer Bilderkabinetter umsonst nach ih- 
rem eignen Portrait gefraget, ungeachtet es der nachste Nachbar 
in duplo besas; so berichtet Moore, daB die meisten Italiener, 
welche die Gemahlde von alien Dingen besizen, ihr eignes nicht 
besizen. Ist aber einem Satiriker an der Ausrottung der Thorhei- 
ten ia etwas gelegen, so tadelt er sie nicht, sondern lobt sie, 
welches man die Figur der Ironie betitelt; wic die Zauberer nach 
einem uralten Aberglauben, die Kinder durch Loben toden. Ub~ 
rigens mag iene f alsche Meinung vom Endzwek der Satire durch 10 
unsre Vorreden entstanden sein, die man wortlich auslegte, stat 
sie mit bessern Lesern wie Traume und Dedikationen durch 
das Gegentheil auszulegen. 

Diesc algemeinen Griinde wollen wir nur noch durch einige 
besondre verstarken. Um Thorheiten kan vorziiglich das trau- 
rige Schiksal unsrer Schriften betteln, deren Gestank beinahe 
noch geschwinder verstaubt, als die Nasen, die er ziichtigen 
sollen. Kein Papier reift eiliger zur Hiille des Pfeffers, als das, 
was schon vorher Hiille von satirischen Pfeffer gewesen; und 
gegen den Zahn der Zeit verpanzert unsre satirische Zahne die 20 
Harte umsonst, die sie mit den langerlebenden Knochen der 
Esel theilen. Wir sterben nur wenig spater als die Thorheiten, 
die wir toden und gleichen den Pillen, welche mit dem Unrathe, 
den sie exuliret, fortgehen. Wer liest unsern Rabner noch? nie- 
mand vielleicht als sein Verleger in Leipzig. Wer liest unsern 
noch viel grossern Liskov? nicht einmahl sein Verleger, denn 
der ist tod. Wenn daher unsre Zahne unsern Magen iiberleben 
sollen, oder wenn dein Gedachtnis unsre Geburten nicht durch 
seine vielen Locher fallen lassen sol, so mtissen wir in dasselbe 
Vielschreiberei aufschiitten, so wie sich in dem locherichten 30 
Siebe die Korner nur durch ihre Menge erhalten, und sonach 
unsre Fruchtbarkeit mit deiner Vergessenheit weteifern lassen, 
und mit der Starke unsrer Phantasie die Schwache deines Ge- 
dachtnisses verbessern. Ein neuer Grund also, warum du deine 
Thorheiten vermehren must, ist der, damit wir unsre Satiren 
vermehren konnen. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 539 

Weiter. Der Satiriker sind in kurzem so viele geworden, dafi 
wir, fals nicht bald der Narren eben so viele werden, gegen 
einander unsre eignen Geiseln kehren und gleich Offiziren, mit 
unsern Waff en stat zu kriegen duelliren, und wie die Schafe in 
Island, mit den Zahnen, denen das Gras mangelt, die Wolle 
der Mitbriider abscheren werden miissen. An dieser ungluckli- 
chen Vermehrung ist bios Sterne schuld, bei dessen Erscheinung 
auf einmahl alle Kinder unsrer schonen Geister zu zahnen anfien- 
gen und von dessen Augen und Lippen zu gleicher Zeit ein 

io algemeines Weinen und Lachen auf die deutschen Gesichter flos, 
welche darauf nicht selten zu gleicher Zeit Zwiebeln fur ihre 
Augen und Risifolium fur ihre Lippen, und keine Nieswurz 
fur ihre Nase brauchten. Sonderbar beilaufig! dafi zu Einer Zeit 
in Deutschland alles ubertrieben lachen und ubertrieben weinen 
wolte als sonst geschah; so wie in demselben vierzehnten Jahr- 
hundert auf einmal die Sekte der Geiselnden und die Sekte der 
Tanzenden aufstand. Doch mag auch Paris nicht von aller Ver- 
anlassung zu der sternischen Spotsucht rein sein: denn seine Stu- 
zer, die vor etlichen Jahren Dornstokke mit unbeschnittenen 

20 Stacheln trugen, haben vielleicht unsre geistigen Stuzer in der 
alten Nachahmung wenigstens bestarkt, in ihren Schriften mit 
dem Stokke nicht bios zu gehen, sondern zu stechen. Vielleicht 
glaubst du iezt, aus der Menge der Satiriker einen Schlus auf 
die Menge der Thoren erschleichen zu konnen, allein du irrest 
dich, weil die sternischen Nachahmer ihre Spashaftigkeit nicht 
erst an Thorheiten, sondern an verehrungswiirdigen Dingen 
iibten und daher mit dem Lachen gar nicht auf deine Freigebig- 
keit in Thorheiten zu warten brauchten. Auch rechnen wir diese 
launichten Leute, die bios spasen, nur aus Mitleiden zu unsrer 

30 Zunft, die eigentlich spottet. Ferner unterschieden sie sich von 
uns, die wir gleich den Mahlern seltner uns als fremde Gegen- 
stande mahlen, dadurch, daB sie mehr sich als ihre Leser lacher- 
lich machten. Dieses Verdienst ubrigens, das ihnen mit Recht 
die meiste Achtung und Lesung erwarb, muste ihnen zwar bei 
ihren Fahigkeiten sehr leicht zu erreichen sein: denn allemal war 
die schlechtste Satire auf andre die beissendste auf sie, so wie 



540 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

eine iibelgemachte oder iibelgeladene Flinte in demselben Ver- 
haltnis den Schiizen stat des Zieles trift; allein die Hohe, zu wel- 
cher sie dieses Verdienst hintrieben und bei der nicht selten das 
Lachen des Lesers in Mitleiden zerschmolz, war immer eine 
Seltenheit und rechtfertigt die Leser, die lieber den Lacher als 
sich belachen, und auch die Schonen, fals man noch das kleine 
Verdienst der unziichtigen Reden beifuget, wegen der Wieder- 
hohlung der Auflagen. Auch der Liebling des Publikums, der 
Verfasser der Raritaten des Kiisters von Rummelsburg, bleibt 
dieser Selbstbelachung troz dem Anschein des Gegentheils ge- 10 
treu: denn wenn er z. B. in irgend einer Stelle seines Buchs 
einen Dumkopf lobet, so wil er sich doch damit nicht loben 

- das that er schon in der Vorrede beim Tadel seiner Rezensenten 

- sondern er wil sich wirklich belachen, nur hat er die Ironie 
so wenig in seiner Gewalt, daB sein Lob kein verstekter Tadel 
hebt, und er sich nicht einmal belachen, sondern nur loben kan. 
Und hierin ubertrift ihn der Herausgeber von Holty's Gedich- 
ten, H. GeiBler der iiingere (der nun iezt nicht mehr so unbekant 
wie H. GeiBler der altere ist) in einem hohen Grade. Denn die 
Satire auf sich selbst, die er in Holty's Lob einflochte, ist ihm 20 
so gut gelungen, daB wir sie vielleicht der iuvenalischen entge- 
gen stellen, ia in der Bitterkeit nicht selten vorziehen konnen. 
Stat sich einen Affen zu nennen, macht er ihn vielmehr so gleich 
und zeigt dadurch, daB er das Tadeln besser als die Rezensenten 
verstehe, die dem Autor nicht beweisen, sondern nur vorwer- 
fen, daB er ein Esel sei. Er tadelt seinen Stil nicht, aber er last 
ihn dafur drukken und erwartet von seinen kritischen Lesern, 
daB sie eine Schreibart, welche die Fehler der Prose mit den 
Fehlern der Dichtkunst paret, welche harte und iibelgebaute Pe- 
rioden, lange Allegorien und kiihne Metaphern, neue Worter 30 
und einige dem Lessing unglucklich nachgeahmte Idiotismen 
sucht, zugleich enthalt, ohne sein Erinnern von selbst lacherlich 
finden werden; diese Erwartung driickt er zu Ende der Satire 
immer noch in demselben Stile so aus: »Ober alle Belohnung 
wiirde die aus der Feme flusternde Ahndung des sanftesten Ge- 
fuhls fahiger Seelen gehen dem Herausgeber« - Soke iibrigens 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 541 

unsre Vermuthung, dafi nicht alle diese Fehler die Fehler seiner 
eigenen Schreibart sein, sondern dafi er einige aus Satiren und 
Rezensionen iiber den iezigen affektirten Stil genommen und 
nur fiir eigne ausgegeben, gegriindet sein: so hatte seine Hand 
stat einer Satire gar ein Pasquil auf seinen Kopf gemacht und 
die Selbsterniedrigung bis zu einer Tiefe getrieben, die er vor 
dem Richterstuhl der Selbstliebe mit der Hofnung des Gewins 
aus der voreiligen Zusammenstoppelung fremder Gedichte 
kaum entschuldigen konte. Um die Verschiedenheit des Gan- 

io ges, den dieselbe Laune in verschiednen Kopfen nimt, bestimter 
zu zeichnen, fugen wir den Kunstgriffen der gedachten zween 
Kopfe noch den eines dritten bei, namlich des Verf. der Charla- 
tanerien, welcher um nicht bios sich, sondern auch seine Leser 
lacherlich zu machen, in der Vorrede sein ironisches Lob auf 
sich selbst, mit der geschwinden Vergreifung seines Buchs zu 
rechtfertigen, die Mine annimt. Er wil namlich das Herz und 
den Kopf des Publikum auf eine feine Weise ziichtigen, das seine 
Schriften, welche doch fiir beides wenig enthalten, so haufig 
gelesen; daher thut er, als wenn er den Beifal desselben billigte, 

20 indem er auf ihn stolz zu sein vorgiebt. - Wir sind aus unserer 
Bahn gekommen, die iedoch unsre Verirrungen immer durch- 
kreuzet haben. 

Endlich haben dir deine Komodien und Romanenschreiber 
schon langst deinen Mangel an originellen Thoren vorgeworfen, 
bei dem auch unsre Zunft kunftighin unmoglich mehr bestehen 
kan. Alle deine Narhejten verschreibst du dir aus Paris und Lon- 
don; und doch zankst du mit uns, den Spot auf diese Thorheiten 
auch aus London und Paris verschreiben zu mtissen. Allein aus- 
wartige Thorheiten konnen wir so wenig belachen, wiedu, weil 

30 wir sie ebenfals wie du bewundern; wenigstens mus die auslan- 
dische Narheit erst in eine deutsche verdolmetschet worden sein, 
eh' unsre Bewundrung in Belachung ubergehen kan. Der Man- 
gel an Satire vergrossert iiberdies wiederum deine Empfanglich- 
keit fiir f remde Narheiten: Denn die Okonomen haben bemerkt, 
dafi nur Vieh, welches man mit Nesseln gefiittert, unter epidemi- 
schen Krankheiten ohne Anstekkung lebe. - Wir glauben nun 



54 2 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

in diesem Praludium unser Recht, dich um Thorheiten zu bitten, 
ausser Zweifel gesezt zu haben; und gehen daher mit der Hof- 
nung, du werdest sie vermehren, so bald du von der Wenigkeit 
derselben nur genugsam (iberzeuget worden, zur Bewerkstelli- 
gung des leztern iiber. Vielleicht mochtest du uns den Erweis 
deiner Verniinftigkeit schenken; vielleicht warst du wohl schon 
langst von deiner Armuth an den Thorheiten iiberzeugt; allein 
die Richter zwischen uns und dir, die Auslander, welche dich 
bios nach deinen bessern Gliedern, nach den reisenden Edelleu- 
ten namlich schazen, sind von dieser Armuth weniger iiber- 10 
zeugt. Diese davon zu iiberzeugen, mochte vielleicht auch 
schwerer sein, als dich zu uberzeugen, der du die Leichtheit 
unsrer Griinde mit deiner noch allein iibrigen Thorheit, namlich 
dem Stolze volwichtig zu machen die Giite hast. Fiirchte endlich 
nicht, da8 wir, gleich den Selensorgern, deine Verniinftigkeit 
iiber die Granzen der Wahrheit schildern werden. Vielmehr 
werden wir gerecht genug sein, fur iede Handlung, welche du 
aus Liebe fiir die deutsche Satire und aus Has gegen die Vernunft 
gethan, das gehorige Lob dir abzutragen. Denn unser eigner 
Vortheil gebietet es, jede Gelegenheit, durch gerechte Lobsprii- 20 
che dich zur haufigern Verdienung derselben, auffodern zu kon- 
nen, nach unsern Kraften zu beniizen, und die Vernunft fordert 
es, unsre Bitschrift nicht durch eine partheiische Algemeinheit 
im Tadeln, als die sein wiirde, wenn wir deine besten Handlun- 
gen, auf welche dein Stolz am meisten trozt, (z. B. das neuliche 
Genie wesen) zu verniinftigen heruntersezen woken, verdachtig 
zu machen. Wiirden wir schluslich unserm eignen Ziele nicht 
den Riikken zukehren, wenn wir die Einwurzelung des gesun- 
den Menschenverstandes in derselben Schrift vergrosserten, die 
zur Ausrottung desselben aufmuntern sollen? Wiirden wir euch 30 
die Besiegung eines Feinds zumuthen, den wir fiir sehr machtig 
hielten oder zu halten vorgaben? Leider! dar] wir zu den ersten 
Gegenstanden unsrer Klagen dieienigen machen miissen, die uns 
durch ihr Beispiel so viel niizen konten. Denn ihre eigne Thor- 
heiten diirfen wir hochstens nur an ihren Nachahmern verspot- 
ten; eine konigliche Narheit halt durch Krone und Szepter, aber 



GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 543 

nicht ihre Kinder durch Stern und Kommandostab, die Satire 
von sich ab und stat, daB (nach Pope's Bemerkung) der Reiche 
seinen giildnen Schenktisch nur im Spiegel zu bewundern wagt, 
bewundern wir umgekehrt die goldnen Schellen einer Krone 
selbst, und belachen erst ihre zuriickgeworfne Abspiegelung an 
den Hofleuten. Spot also zwar nicht, aber doch Klagen iiber 
grosse Haupter gestattet man ihren Unterthanen; und den 
Schriftstellern sind die Fiirsten, wie den Kaldaern die Sterne, 
nicht bios Gegenstande der Anbetung, sondern auch der astro- 

10 nomischen Beobachtung, wiewohl beides in einer knieenden 
Stellung geschehen mus. Auf dieses alte Recht wagen wir denn 
das freimiithige Gestandnis, daB wir fast ein wenig bestiirzt, 
auf den Thronen eben so viele Kopfe als Diademe und mehrere 
Szepter als gnadige Tazen zahlen, Freimiithig allerdings mus 
dieses Gestandnis dem vorkommen, der mit den Pflichten der 
Konige vertrauter ist: denn es schimmert durch dasselbe der 
Vorwurf hindurch, daB sie ihre Pflichten nicht so gut wie ihre 
Minister, ia nicht einmal so wie die Konige der vierfiissigen 
Thiere so wohl als der befiederten erf ii lien, welche alle drei (Mi- 

20 nister und Lowe und Adler) nie vergessen, daB sie Raubthiere 
sind. Sonst gab es noch Hofe, wo niemand klug war, als der , 
Hofnar und wo die Schatze Amerika's noch mit gekronten 
Thorheiten und Kopfen gestempelt von den Thronen auf die 
Unterthanen herunterrolten; allein iezt scheinen die koniglichen 
Schatzkammern erschopft, wenigstens verschlossen zu sein. Die 
Satire kan mit keinen gemiinzten Schellen mehr prahlen; und 
ihr Nachtrab, das Pasquil, stiehlet nur noch den Goldsaikken 
die Rander, um daraus mit lugenden Handen falsche Munzen 
zu pragen. Wer uns die iezige Seltenheit furstlicher Thorheiten 

30 nicht glaubt, der frage Leute, die ihm unpartheiischer und gros- 
ser scheinen z. B. die Favoriten, Hofprediger und Hoftanzer 
iedes Fiirsten. Alle werden ihm die Vernunftigkeit des ihrigen 
nicht genugsam schildern konnen. So gar iede gedruckte und 
gepredigte Lobrede auf einen Fiirsten treten auf unsre Seite und 
gehen nur darin von uns ab, daB sie dem Gegenstande ihres 
Lobs, nicht nur viele, sondern auch alle Thorheiten absprechen. 



. 544 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Selbst der Sprachgebrauch spricht fur uns und vervielfaltigt die 
verniinftigen Handlungen der Potentaten. Denn werm ein Fiirst 
die Vorschlage seiner Minister unterschreibt, so hat er sie, fals 
man den Sprachgebrauch nicht ganzlich Lugen strafen wil, er- 
funden; wenn er den Akkerbau durch nichts, als die Jagd erschwe- 
ret, so behaupten so gar die Landleute, daft er ihn unterstiize; 
und iedes Getraide, das er ihnen nicht wegerntet, verdanken sie 
ihm als gesaet, wenn er am Tage stat zu donnern schldft, so riih- 
men nicht bios iibertreibende Dichter, sondern auch ernsthafte 
rectores magnifici, daB er die Nacht fur das Wohl des schlum- 10 
mernden Stats durchwache; kurz wenn er kein Henker, sondern 
ein Stiefvater des Vaterlands ist, so ist er, nach der Versicherung 
eines ieden klugen Mannes, ein Vater desselben.Daher auch die 
Erde gekronte Tyrannen zwar oft bedekt, aber nie getragen hat; 
und fals auch ein Henker eine konigliche Gruft zu erben gluklich 
genug war, so hatte doch noch keiner das Gliik einen konigli- 
chen Thron zu erben. Die wenigen Fehler, die mancher Fiirst 
etwan noch hat, kan man, sobald er sie nicht uber den Zaun 
der Klugheit hinauswachsen lasset, sehr gut fur ausgerottet erkla- 
ren; so wie selbst Christus die Bezdhmung siindiger Gliedmassen 20 
der Ausrottung derselben gleichschazt, und die eine unter der 
andern versteht. Was haben wir nun zu thun? alle Potentaten 
um Thorheiten zu bitten? Nein! einige zwar, aber nicht alle; 
aber nicht die, welche die Bitte um Vermehrung ihrer Thorhei- 
ten ihren beredten Hofleuten schon zu oft abgeschlagen haben, 
als daB wir sie mit grosserm Gliikke zu wiederhohlen hoffen 
diirften. Sondern diese bitten wir bios um die Erlaubnis, auf 
sie, da sie die Satire mit keinem Stof begnadigen, wenigstens 
Pasquille schreiben zu diirfen. Auch waren schon Friedrich und 
Joseph so gnadig, ungebeten uns durch diese Erlaubnis fur ihre 30 
Tugenden zu entschadigen. Nur die iibrigen hohen Haupter, 
welche keine Satire, geschweige einPasquil auf sich dulden kon- 
nen, fiehen wir mit der unterthanigen Knechtschaft, die uns 
geziemt, um die gnadige Erlaubnis an, auf sie zwar keine Pas- 
quille, aber doch Satiren machen zu diirfen, ohne iedoch wie 
zeither besorgen zu miissen, ihr goldhartes Szepter werde an 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 545 

unsern harichten Riikken die ungekronten Opfer unserer Gei- 
seln hart zu rachen belieben. Solten sie aber auf diese Bitte in 
einem gnadigsten Reskript antworten, daB fiirstlicheThorheiten 
gleich den romischen Biirgern, das Recht haben, nicht gegeiselt 
zu werden: so wenden wir uns an ihre Kronerben und tragen 
denselben in aller Unterthanigkeit vor, uns ein Privilegium zu 
verleihen, kraft dessen ausser dem Leibarzt niemand als wir ihre 
glorwurdigsten noch iezt lebenden Vorfahren nacli ihrem Tode 
anatomiren darf. 

io Da wir gezeigt, daB die Fiirsten, gleich ihren Unterthanen, 
arm an Thorheiten sind, so haben wir zugleich erwiesen, daB 
ihre Hofleute es auch sind. Denn alle Lacherlichkeiten, die iene 
abgelegt, verbergen diese und verlarven alle die schazbaren Fehler, 
denen sie treu bleiben, in die Tugenden der erstern wenigstens. 
Sonach konnen wir ihnen freilich nicht vorwerfen, daB sie keine 
Thoren sind, allein doch dies, daB sie keine mehr zu sein schei- 
nen. Ein Unterschied, der uns wenig nuzt! Weit besser war es 
sonst, als es noch keinen Montesquieu und keinen Voltaire und 
folglich keine Fiirsten gab, die von Ihnen verfiihrt waren; als 

20 noch der Hofman von seinem Oberhaupte die Schellen geliehen 
bekam, die er uns auszahlte, als noch die Krone fur Sterne und 
Bander, wie das Genie fur Nachahmer, verschonernde Flekken 
crfand, und die Gunst des Fiirsten noch fur Weteifer in seiner 
Lieblingsschwachheit feil stund. Jezt stellen sich die Hofleute 
nicht wie sonst lasterhaft, sondern tugendhaft, und gleichen dem 
Chamaleon, das (nach Linnee) alle Farbennachaffet, die schwarze 
ausgenommen. Zwar ahnlichen sie hierin gewissen Wilden, 
welche ihre unehrbaren und empfindlichen Glieder nicht aus 
Liebe zur Tugend, sondern aus Furcht, sie zu verlezen, verhiil- 

30 len; allein die Wirkung bleibt fur den, der gern einen Priapus 
abzeichnen mochte, immer gleich verdriislich. Ja die Schadlich- 
keit dieser Larven nimt noch durch den Umstand zu, daB wir 
alle deutsche Hofe, ohne daB sie uns ie gesessen haben, mit 
unsrer Galle, (wie der Mahler mit Fischgalle,) abmahlen, und 
Riikken, die wir selbst geschnizt, mit unsern lauten Peitschen 
rothen miissen. Denn nur selten sind wir so gliiklich, mit unsern 



54-6 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

eignen Augen den Hofman, wie der Geizige den Affen und den 
Baren aus der nassen Fensterscheibe der Dachstube auf der Gasse 
beobachten zu konnen; am seltensten gerathen uns Biicher in 
die Hande, in denen wir stat der Hofe die Gemahlde derselben 
studieren konten, so wie Delaporte nicht in den Landern, son- 
de rn nur auf ihren Karten zum Behuf seiner Reisen durch die 
Welt, herumzureisen pflegte. Denn der Romane, die den Hof- 
ling mit wahren Farben schildern, haben die Deutschen ia nur 
wenige, vielleicht nur einen , den vom phlegmatischen Publi- , 
kum seit vier Wochen schon vergessenen Roman namlich, der ro 
uns von den Hoflingen freilich nebst vielen falschen und alten 
Ziigen doch den neuen und wahren liefert, daB ein Hofman, 
zufolge einer etwas scharfern Beobachtung, sich nicht selten 
- verstelle. Eines solchen Blick in das hofmannische Herz hatte 
man sich vom Verfasser dieses Romans, der als Kandidat der 
Gottesgelahrheit noch keinen Hofman kennen zu lernen Gele- 
genheit gehabt als den Haman, der zu den Zeiten der apokryphi- 
schen Autoren gehangen worden, am wenigsten versehen sol- 
len. Allein nur desto mehr last sich von ihm versprechen, nur 
desto grossere Talente sagen uns die Hofnung zu, er werde Lich- 2c 
tenberg's Klagen iiber den Mangel an Menschenkentnis kiinftig 
stillen und zum Besten des noch blinden Beobachtungsgeistes, 
seine Feder zu einer Starnadel zuspizen. Dem Mangel einer sol- 
chen Bekantschaft mit euch ihr Hoflinge, miisset ihr es freilich 
auch anrechnen, wenn wir in der Unzufriedenheit mit der An- 
zahl eurer Schellen zu weit gehen; und vielleicht ist bios bald 
Mangel des Lichts schuld, daB wir manche eurer Thorheiten 
iibersehen, bald falsches Licht, daB wir noch mehrere entschul- 
digen. Ganzlicher Mangel des Lichts und vollige Unwissenheit 
der Hofe mag vielleicht schuld sein, daB wir noch bis iezt glau- 3c 
ben, daB ihr einen Gott, dessen Nichtsein schon die ersten 
Grundsaze der Vernunft euch lehren, darum noch annehmet, 
weil der Wiz und Voltaire und euer Herz fur dessen Dasein 
sprechen; von iener Unwissenheit riihrt vielleicht auch unsre 
Oberzeugung her, daB ihr em Herz habt; daB ihr nur dan eine 
wichtige Mine machet, wenn ihr einen wichtigen Gedanken auf 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 547 

euer Gesicht iibertragen wollet; daB ihr euren schonen Gebiete- 
rinnen beynahe eben so wenig schmeichelt wie eurem Gebieter 
und die Weyhrauchswolken nur darum aufsteigen lasset, um 
dadurch fur den Kopf des Fiirsten das Licht dioptrisch zu ver- 
vielfaltigen und von den Herzen der Damen die Erwarmung 
abzuhalten; daB ihr bei andern euren Fiirsten mehr aus Liebe 
zuihm als zu euch so lobet; daB ihr eure Freundschaft mit andern 
Zeichen ausdriikket als eure Feindschaft und den Feind nur 
darum umarmet, um ihn zu erwiirgen, aber nicht um ihn zu 

io liebkosen; und endlich erzeugte wohl bios die Unbekantschaft 
mit eurem Werth unsern alten Wahn, daB die Halfte von euch 
nicht, wie man gewohnlich glaubt, verdiene gehangen zu wer- 
den, sondern vielmehr Ordensbander anstat des Striks zu erhal- 
ten werth sei. Ein falsches Licht aber ists vielleicht, das einer 
noch grossern Anzahl eurer Thorheiten glanzende Seiten in un- 
sern Augen leihet. So verliehrt z. B. eurelacherliche Ahnlichkeit 
mit den Schlangen, welche kriechen, alien Nuzen fiir uns, so 
bald der Verfolg der Ahnlichkeit uns zu dem Umstand leitet, 
daB die Schlangen auch springen, um sich der nahen Beute zu 

20 bemeistern. Denn so feig die Gewohnheit ist, im Frieden mit 
stummen Windbiichsen auf den Feind zu schiessen, so muthvol 
ist die, womit sie gut gemacht wird, namlich auf ihn im Kriege 
mit lauten Kanonen zu feuern. So kame uns ferner eure Satire, 
womit ihr in Geselschaf ten gewohnlich fechtet, wirklich stumpf 
und daher lacherlich vor, wenn nur uns nie einfiele, daB ihr 
sie an eurem harten Herzen schleift. Denn so lacherlich das Un- 
ternehmen ist, wie die Schlangen mit lokkern Zahnen zu beissen; 
so verniinftig wird es durch den Umstand, daB ihr und die 
Schlangen den Vorwurf der Unmacht schon durch den Gift 

30 vermeidet, dem die lokkern Zahne den Weg nur haben bahnen 
sollen. Eure schltipfrigen Erzahlungen entschuldigen wir immer 
mit dem Zustande derer, die ihr damit unterhalten wollet. Um 
ihnen das Vergniigen an solchen Erzahlungen abzugewohnen, 
denken wir, freilich vielleicht eben aus Unbekantschaft mit eu- 
ren Zuhorern, muste man das Vermogen zu den Lastern, deren 
schwaches Echo iezt nur die Ohren sind, ihren Lenden erst wie- 



548 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

der eingiessen. Ihr redet viel; allein da wir uns einbilden, dafi 
ihr eben darum viel redet, warum die Wilden sich einbilden, 
dafi die Affen nichts reden, um namlich nicht arbeiten zu diirfen; 
so konnen wir euch nicht im geringsten mehr lacherlich finden. 
Euer Hang, Neuigkeiten zu horen und zu erzahlen, scheint, un- 
sers Bediinkens, euch als Priestern der Fama zu geziemen: denn 
diese ist auch gleich den Harpyen, mit einem ewigen Hunger 
und ewigen Durchfal behaftet, und hat eben so viele und eben 
so unermudliche Ohren als Zungen. Da wir weiter aus Unkent- 
nis der Hofe glauben, dafi man daselbst am Hofman, wie am lo 
Biere, die Gestalt friiher als den Geschmak priife, so konnen 
wir natiirlich nichts als Spuren der Vernunft in eurer Sitte ent- 
dekken, zum wizigen Kopfe ein wiziges Kleid zu paren, so wie 
an den schwarzen Kazen die Augen und das Fel im Finstern leuch- 
ten. Vielleicht, dafi wir auch den Gehalt eures Verstandes in 
einem falschen Lichte sehen: denn sonst wiirden wir eure Sucht 
nach Wiz weniger verniinftig finden, und nicht mit dem Bei- 
spiele der klugen Wirthe entschuldigen, die das triibe Bier gern 
in Schaum verlarven. Wenn wir vermuthen, dafi ihr darum in 
Bildergallerien mit artistischen Termen um euch werft, um die 20 
Unbekantschaft mit ihrem Gegenstande selbst euch nicht mer- 
ken zu lassen; so verfallen wir vielleicht in die gewonliche Tau- 
schung, von sich auf andre zu schliessen: denn gerade so machen 
wir es, wenn wir die Namen von Grossen, die wir nicht kennen, 
hersagen, um die Voraussezung ihrer Bekantschaft bei andern 
zu erschleichen. Wahrscheinlich verleitet uns die Entbehrung 
eurer Gesellschaft auch vom Vorwurfe lacherlicher Schmeiche- 
leien euch loszusprechen: denn wir sind der Meinung, dafi ihr 
in euren schmeichelhaften Gefalligkeiten Masse zu halten wisset, 
dafi ihr andern zwar schonePas, aber nicht saure Schritteopfert, 3c 
zwar die Hoflichkeit, aber nie eine fremde Biirde euren Rukken 
krummen lasset, und zwar mit Versprechungen, aber doch nicht 
gar mit Erfullungen, nicht mit Handlungen, sondern nur mit 
ihren Bildern, den Worten, wie die arm en Agypter ihren Got- 
tern stat der Schweine die Bilder derselben opferten, schmei- 
chelt. Zwar lasset ihr oft andre an euch sich anhalten, und reichet 



GRONLANDISCHE PROZESSE * 2. BANDCHEN 549 

auf eurer Hohe denen, deren kiinftige Undankbarkeit euch we- 
nig verschlagen kan, die Hand zum Nachsteigen; allein dafur 
scheint ihr tins den Grundsaz zu befolgen, daB es gleich ungerecht 
und gefahrlich ist, eines fallenden Favoriten oder eine fallende 
Bundeslade zu halten. Wenn ihr einer H- die Entmannung des 
Fiirsten iibertraget, so scheint ihr fiir die Satire zu sorgen: denn 
was ist lacherlicher als ein gekronter Kastrat? Aber wenn uns 
das gemeine Geriicht sagt, das ihr ihm auch das Ruder des Stats 
entreisset, so wie Jupiter dem Saturn nicht bios die Hoden, son- 

io dern auch den Szepter nahm, so wie man den Kapaunen auf 
einmal Kam und Hoden raubet, so verschwindet die lacherliche 
Farbe dieses Verhaltens auf den ersten Blik, und wir mussen 
das angefangene Lacheln wieder aufgeben. So leiht unsre Un- 
wissenheit selbst eurer neuen Thorheit, der Verstellung nam- 
lich, welche der obige Kandidat zuerst bemerkte, und dem 
Spotte Preis gab, ein Gegengift gegen die Satire. Dieser Men- 
schenkenner behauptet zwar deutlich, daB Hofleute, gleich dem 
beruhmten Marchiali, eiserne Larven, die sie niemahls ablegen, 
tragen, stat daB andre nur wachserne und diese nur auf Redouten 

20 gebrauchen. Allein auch dieser neue Zuflus hilft unsrer Galle 
wenig oder nichts: denn wir konnen uns nicht erwehren, die 
immerwahrende Fortdauer eurer Verstellung zu bezweifeln, 
weil wir uns Falle moglich denken, worinnen eine glaserne 
Maske, welche das Gesicht so wohl zeigt als beschuzt, unent- 
behrlich ist. Ja wir traumen uns Gonner, welche alien Schein 
des Verstandes so beneiden und fiirchten, daB ihr die Gunst 
derselben nur durch eure Entlarvung, nur durch den Kunstgrif , 
nichts anders zu scheinen als was ihr seid, erringen zu konnen 
scheint. Und unbekant mit eurer Starke, trauen wir eurem Her- 

{o zen zwar, aber nicht eurem Kopf das Vermogen zu, die bestan- 
digen Rezidive der Naturzu verheimlichen. So gar den Thieren 
fait dieses unmoglich. Das Thier z. B. das, wie Plinius von ihm 
ruhmt, a als ein lebendiges Farbenklavier, auf seiner Oberflache 
alle Noten der Farbenleiter zu geben weis, sol doch haufig zu 
seiner natiirlichen, d. h. zur Eselsfarbe zuriikzukommen die 
a Hist. N. L. 8. c. 34. 



550 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG 

Schwachheit haben. So weit unser langer Beweis, daB ihr die 
Satire mit keinen Narheiten beschenket, wenigstens nur unter 
der dritten Hand damit beschenket. Da wir zu hoflich sind, 
um nicht der leztern Vermuthung beizupflichten, so enthalten 
wir uns unsrer gewohnlichen Bitte um Narheiten und hoffen, 
von der Unnothigkeit derselben durch die Erfullung der fol gen- 
den noch fester iiberzeugt zu werden. Um fur eure unbekanten 
Gef alii gkei ten gegen die Satire Dank uns kiinftig abzugewinnen, 
so kronet sie mit einer neuen; leget namlich euren alten Kaltsin 
gegen deutsche Gelehrte einmal ab, und widerlegt durch eure k 
Geselschaft die Klagen unsrer Bitschrift. Zwar lauft schon iezt 
das Geriicht auf gelehrten Zungen herum, daB man an deutschen 
Hofen deutsche Gelehrte zu dulden anfienge und ihr eure Mut- 
tersprache zu erlernen versuchtet; allein solche Geruchte glaubt 
man nur einer wiederhohlten Bestatigung, die aber zu beschleu- 
nigen unsre Bitte vielleicht wirksam genug ist. Soke auch unser 
Umgang den eurigen nicht verdienen, so hat doch der Niedrige 
vielleicht noch einige Tugenden, wo mit er fur die Thorheiten 
des Grossen dankbar sein kan, und beide konnen einander mit 
ihren entgegengesezten Eigenschaften wechselseitigen Stof zum 2c 
Spot anbieten. 

Bei den Menschen %ax* e|oxtiv d. h. bei den Edelleuten mus 
sich unsre Klage zu einer andern Wendung bequemen. Denn 
ohne gegen sie ungerecht zu sein, konnen wir ihnen nicht eben 
das vorwerfen, dessen sich alle die andern Gegenstande unsrer 
Klagen schuldig gemacht. Vielmehr miissen wir gestehen, daB 
die meisten von ihnen auf manchen Thorheiten troz des aussern 
Widerstands beharren, denn von ihrem Stolze z. B. konnen sie 
darthun, daB er wenigstens eben so viele Ahnen wie ihr Blut 
alt sei. Allein eben diese Einformigkeit ihrer Schellen ist der 3c 
Satire nachtheilig und nicht viel weniger nachtheilig als ganzli- 
cher Mangel derselben. Wen ekelt nicht ein uraltes Lachen zu 
wiederhallen; wen ekelt nicht eine Satire, deren Vergeblichkeit 
alle ihre Vorganger zusichern? und wir fragen die Adelichen 
selbst, ob sie an der Satire uber den Ahnenstolz in den gronldndi- 
schen Prozessen nur wohl so viel Geschmak gefunden haben, 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 551 

wie an einem Vomitiv oder gar so viel wie an einer adeliches 
Blut reinigenden Arzenei? Wir zweifeln sehr; und doch, wenn 
auch ihr Lachen kein Aufstossen des Ekels verbittert hatte, blieb 
darum das Lachen der iibrigen vom Nachgeschmak des Unwil- 
lens verschont? Unter die iibrigen, welche den Ahnenstolz billi- 
gen und daher den Spot dariiber fur unbillig erklaren, gehoren 
so gar einige von uns; von denen auch daher der V. der obenge- 
dachten Satire sich einige Vorwurfe zugezogen. An ihrer Spize 
stehct so gar der grosse Swift, der in seinen unsterblichen Satiren 

io den Ahnenstolz (den groben sowohl als den feinen) soviel wir 
wissen niemahls belacht, sondern alzeit lobt und billigt. Noch 
deutlicher ausserte er seine Gedanken hieruber in einem noch 
ungedrukten Aufsaze. »Einige Kautelen^ die angehende Satiri- 
ker zu beobachten haben« betitelt. Dieser ernsthafte Aufsaz, der 
zwar wie alle seine ernsthaften Aufsaze, (wie schon der Graf 
Orrery bemerkt) tief unter seinen satirischen bleibt, scheint uns 
doch wegen manches guten Raths seine Unbekantheit (denn 
selbst der genaue Johnson gedenket desselben in der swiftischen 
Lebensbeschreibung mitkeinem Wort) nicht zu verdienen. Da- 

20 her wir nicht iibel zu thun glauben, wenn wir den Anfang der 
gedachten Vertheidigung des Ahnenstolzes iibersezzen und hier 
einriikken. In der Mitte der 37 Seite seines Manuskripts fahret 
er denn so fort: »So unbillig ein Spot iiber unehlige Geburt 
iedem Verniinftigen vorkommen mus; eben so unbillig, ia noch 
unbilliger mus einer iiber den Stolz auf adeliche Geburt ihm 
diinken, und es wird mir leicht sein, die Ungerechtigkeit des 
leztern wenigstens so gut zu erweisen, als ich eben vom erstern 
erwiesen. Der Stolz macht lacherlich, wenn er sich nicht auf 
Dinge, die Werth haben, griindet, sondern bios von luftiger 

30 Nahrung aufschwillet; gar nicht Lachen aber, sondern neidische 
Ehrfurcht vielmehr mus der Stolz erwekken, der aus dem Be- 
wustsein schazbarer Vorziige erwachst. Hatte nun der Adel die 
erste Art des Stolzes, briistete er sich auf den Besiz einer Feder 
oder eines Stiiks Pergaments: so berechtigte er die Satire freilich 
zum Lachen, und ieder rechtschaffene Edelmann wiirde mit mir 
ihn der Geisel willig Preis gegeben sehen. Allein eines solchen 



552 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

dummen Stolzes habt ihr ia selbst, ihr lustigen Leute, weder 
den hohen noch den niedrigen Adel iemahls noch beschuldigt; 
sondern ihm vielmehr den edlern Stolz alzeit beigemessen, den 
Stolz nicht auf ein Wappen, sondern auf das, wovon es Zeichen 
ist, auf Verdienste der Vorfahren. Auch wird ihn ieder Edelman 
zu aussern sich nicht schamen: denn ist Tapferkeit keine Eigen- 
schaft, worauf man stolz sein darf? Kan nicht also ieder 
Edelman, soviel es die Granzen der Moral erlauben, sich selbst 
sehr hochschazen, da ieder die Tapferkeit von wenigstens eini- 
gen seiner Ahnen durch heraldische Belege ausser Zweifel sezen I0 
kan? Warum habt ihr aber dennoch zeither lachen konnen? Ich 
wenigstens kan es hier, so sehr ich es sonst liebe, nicht; denn 
auch noch folgendes halt mich davon ab. Man kan die schazba- 
ren Dinge, oder mit einem Wort die Verdienste, auf die ein 
edler Stolz sich griinden last, fuglich in eigne und fremde, und 
also in solche eintheilen, die man hat, und in solche, die man 
nicht hat. Nur alter Adel besizt die leztern, nur die erstern trift 
man bei neuem an. Fals nun beide die Gegenstande ihres Stolzes 
gegen einander zu vertauschen nicht thoricht genug sind, so 
darf die Satire beide nicht anfeinden; den Stolz des neuen Adels 2 o 
auf eigne Verdienste zwar auch nicht, noch weit weniger den 
des alten auf fremde. Denn wessen Verdienste sind ungezweifel- 
ter, des Lord G-s seine, dessen Tapferkeit wir erst auf das Wort 
der Zeitungen glauben miissen, oder des Lord L-th seine, dessen 
Vorfahren sich durch ihren Werth das verdienten, was man 
nachher erst unter dem Konig Jakob I. fur Geld sich kaufen 
konte? oder wessen Werth ist unverganglicher, der des Herzog's 
F-b-d, dessen Statseinsichten troz ihrer Grosse der Raub einer 
einzigen Krankheit, einer aussern Verlezung und ieder Gering- 
fugigkeit werden konnen, oder der des Grafen B-ld, dessen Ur- 3c 
urahn seinen Scharfsin durch das bekante noch bis iezt uniiber- 
troffene und von den grosten Statsmannern noch bewunderte 
Statssystem der etc. verewigt hat? Ich denke immer des leztern 
Verdienste sind am gewissesten, und des leztern Werth am dau- 
erhaftesten. Da(3 er aber diese fremden Verdienste nicht mit eig- 
nen vermehrt, ist vielleicht selbst sein einziges eignes Verdienst 



GRONLANDISCHE PR02ESSE ■ 2. BANDCHEN 553 

und zeugt von vieler Klugheit. Denn den Ruhm, welchen man 
geerbt, nicht vergrossern, sondern geniessen, heist wie ein Man 
handeln, der die Thorheiten des Geizes in geistlichen und leibli- 
chen Gutern zu vermeiden weis, der die Erbschaft nicht wieder 
vererbt, und fur zweite Erben aufspart, sondern selbst zu ver- 
brauchen und unter seine Glaubiger zu vertheilen klug genug 
ist. Uberdies vertragt ein altes Wappen nicht iede beliebige Ein- 
schaltung neuer Figuren; ein Pegasus z. B. wiirde einem redenden 
Wappen geradezu widersprechen, und ich hab' es aus dem 

io Munde angesehener Edelleute, daB auf einen Stambaum sich 
keine Lorberzweige pfropfen lassen. Daher so wie ein Christ 
seiner Unfahigkeit zu eignen guten Werken durch Zueignung 
der guten Werke seines Erlosers abhilft, eben so kan ein Edelman 
die Verdienste seiner Vorfahren zu seinen eignen machen, wenn 
er sie sich zueignet, unfahig sie sich zu erwerben. Daraus folgt 
aber auch, daB der Satiriker den Ahnenstolz, welchen die Ver- 
nunft so dekt, nicht fur unverniinftig und lacherlich erklaren 
diirfe; sondern vielmehr an einem Adelichen das alte Blut, das 
in dessen Ahnen fur grosse Thaten schlug, wenigstens eben so 

20 ehren musse, als man in Madure an den Eseln die Selen ehret, 
die vorher in verstorbnen Edlen wohnten; kurz, daB adeliche 
Verdienste darum, weil sie angeboren sind, nicht weniger Ach- 
tung verdienen, als Ideen, Siinde, und Krankheiten, die alle 
gleichfals angeboren sind.« So weit Swift; und so weit auch 
unser Beweis von der Verminftigkeit des Adels, dessen Stolz 
nicht einmal, fur eine Thorheit gelten kan. Ja auch diesen sogar 
haben einige schon fahren lassen; wir bemerken an verschiednen 
Edelleuten, welche die Akademie bezogen, um da einige Ro- 
mane zu lesen, daB sie den Adelichen so lange nicht spielen, 

30 als sie einen Unadelichen zeugen und verschiedne Barons haben 
den Federhut vorher auf den Tisch gelegt. Ja auch im Umgange 
mit Manspersonen vergist der iezige Edelman sein Erbbegrab- 
nis, und erst ein zweites von mus ihn an das seinige erinnern 
und ein andrer bescheidne Edelman seine Bescheidenheit ver- 
scheuchen, so wie die lateinischen Negazionen durch Verdop- 
lung eine entgegengesezte Bedeutung annehmen, und ein Fe- 



554 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG 

derbusch mus dem andern <£iXutJtE avdocDjtog ei zuwinken. - 
Zwar woken einige Edelleute dieser empfundnen Armuth an 
Thorheiten durch Reisen entfliehen und sich mit auslandischen 
bereichern; allein so viel sie auch damit franzosischen und engli- 
schen Satirikern mogen geniizet haben, so wenig niizten sie doch 
damit den Deutschen. Denn das falsche Mittel machte sie ihren 
Endzwek ganz verfehlen; urn Hoflichkeit zu lernen, hatten sie 
nicht nach Frankreich, sondern nach Sina reisen miissen, und 
Grobheit lehren die Hollander weit besser als die Englander. 
Um iiber Gemahlde zu reden, hatten sie eben so wenig nothig 10 
Italien als die Gemahlde zu sehen, und um zu liigen, brauchten 
sie nur die sieben Wunderwerke der Welt in Augenschein ge- 
nommen zu haben. Sollen daher ihre Reisen zu ihrer Bildung 
ausschlagen, so miissen sie kiinftig, soviel wir einsehen, sich 
der Unbequemlichkeit unterziehen, zu den Wilden selbst zu rei- 
sen, weil uns diese Volker doch nicht, wie die Franzosen, Mis- 
sionaren schikken. Denn weit besser und viel wohlfeiler als von 
den Franzosen wiirde alsden ein bliihender Graf nebst seinem 
Hofmeister, von den Gronlandern iiber seinen Nachbar, und 
von den Kamtschadalen iiber Got spas sen lernen. Ein Kannibale 20 
wiirde ihndie Unterthanen nicht, wie der Finanzpachter, nur 
aussaugen, sondern f res sen lehren. Wie viele Gelegenheit zu hu- 
ren wiirden ihm die Hottentoten anbieten, ohne dafiir mehr 
zu fordern als etwas Rauchtobak; und fur die Mittheilung der 
Franzosen wiirde er nur bunte Glaser zahlen diirfen und die 
Krankheit so wohlfeil kaufen, daB er sie heilen lassen konte: 
denn unter den Wilden kosten die Huren noch nicht soviel wie 
die Arzte und der Gift nicht soviel wie der Gegengift. Wir bitten 
daher alle adeliche Eltern, denen Bildung ihrer Kinder nicht 
ganz gleichgiiltig ist, diesen Vorschlag naher zu beherzigen und, 30 
nach einer giinstigen Beherzigung, auszufiihren, um dadurch 
auf einmahl den Klagen iiber die Vergeblichkeit der Reisen ein 
Ende zu machen, so wie den unsrigen iiber den Mangel an Thor- 
heiten. 

Geschmiikt mit grossen Schnallen, einem grossen Hute und 
grossen Stokke, mit einem kleinen Harbeutel, kleinen Rokgen 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 555 

und kleinen Westgen, nicht ohne Wohlgeruch und ohne Puder, 
die Geisel in der Tasche, das Schnupftuch oder halb ausser der- 
selben, trit unser satirisches Kor dem schonen Geschlechte na- 
her, macht mit seinen beschuhten Boksfussen die gewohnlichen 
Spriinge der Hoflichkeit, und greift mit gebognem Rukken nach 
den schonen Handen, um die noch schonern Hands chuhe zu 
kiissen. Schones Geschlecht! das uns hasset und doch auch nach- 
ahmet; das den Satyrn den angebohrnen Ungehorsam gegen 
zwei Gebote der andern Geseztaf el nur halb vergibt, den Unge- 

10 horsam gegen das achte Gebot namlich nicht vergiebt - womit 
haben wir eine so heftige Rache deines Pinsels verschuldet, dan 
er uns aus Satyren zu Teufeln umwandelt und seine ungerechten 
Zeichnungen noch in giftige Farben kleidet? Wir haben nur 
Boksfusse; und du leihest uns Pferdefiisse. Wir tragen nur kleine 
und gerade Horngen; aber du kronest uns mit so grossen und 
so krummen Hornern, wie sie der Teufel vom Ochsen und dein 
Her vom Aktaon entlehnet. Wir haben gewis keinen sonderli- 
chen Schwanz; aber du verlangerst unser Steisbein so sehr wie 
deine Schleppen. Zwar so weis, wie du dich, konnen wir uns 

20 nicht mahlen; aber du mahlst uns doch so schwarz wie den bosen 
Feind. Noch einmal also: wodurch haben wir diese Schilderung 
verdient? Durch unsern haufigen Spot vermuthlich? Aber wir 
haben doch iiber dich nicht mehr gespottet, als iiber die, die 
dich anbeten; und immer zehn Satiren iiber unser eignes Ge- 
schlecht gegen Eine iiber dich geschrieben. Oder durch unsern 
bittern vielleicht? Aber so zanke dich mit den Rezensenten, die 
uns dazuzwingen. Gleichden Offizieren, deren spanisches Rohr 
an dem Soldaten die Menschlichkeit bestraft, womit er die 
Spiesruthe iiber die Wunden seines Kameraden geschwungen, 

30 geben sie uns mit dem Dolche oder dem Degen der Kritik alle 
die Streiche wieder, die dir unsre galante Geisel schenken wol- 
len; dafi wir aber deinen schonen Rukken auf Kosten des unsri- 
gen schonen sollen, kanst du wenigstens, so lange in der gelehr- 
ten Republik das salische Gesez noch gilt, nicht fordern. Pope's 
Bitterkeit entschuldige zwar nicht mit der Empfindung von 
Riikkenschmerzen, aber doch von Kopfschmerzen; Boileau's 



$$6 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Bisse rechne dem Schnabel eines indianischen Hahnes an a und 
eh* du Voltairens Spot auf dich verdammest, so verdamme auch 
vorher seine Lobreden auf dich. Oder hassest du iede Satire 
iiberhaupt? Aber du liebst sie doch an dir so sehr! Denn lieben 
must du sie, weil du auf die Schmeicheleien der Manner immer 
mit Spot antwortest, deine Lippen eben so gern, wie deine Wan- 
gen mit Eflig schminkest; und als Gottin Europens mit deinem 
Gesicht, auf welches die Natur bunte Reize pflanzte, und mit 
deinem Munde, in welchen die Mode satirische Nesseln saete, 
den Gottinnen der Agypter, den Zwiebeln namlich zu gleichen i 
kein Bedenken tragst, deren schone Blumen auf einer scharfen 
Wurzel bliihen und die zugleich beissen und gefallen. Dieser 
ungerechte Zorn aber ist es dennoch, der die Satire um deine 
bisherige Wohlthatigkeit brachte, der die Rache dir eingab, ver- 
minftig zu werden, um unserm Lachen die Nahrung zu entzie- 
hen. Da, wie wir eben erwiesen, dein Zorn ungerecht ist; so 
mus es auch deine Rache sein. Wie hart du dich aber an uns 
geracht, wollen wir iezt darthun. Wir konnen auf dein geneigtes 
Gehor um desto gewisser rechnen, da wir in unserm Erweis 
vor iedem satirischen Zuge uns hiiten, und deine Thorheiten 20 
iezt nicht belachen, sondern nur die Verminderung derselben 
erweisen und ihre Vermehrung erbitten werden, kurz da wir 
unsre Satirn weniger den Teufeln als den Affen d. h. den Stu- 
zern, welche ebenfals deine Unfruchtbarkeit an Thorheiten tag- 
lich dir kniend vorwerfen, ahnlich machen werden. - 

Wir musten aufhoren zu lachen; weil unsre Schonen aufhor- 
ten, zu weinen. Wer nur vor zehn Jahren der deutschen Satire 
auf den Zahn fuhlte, der gestand die Nothwendigkeit, ihr Gebis 
durch verbessertes Futter zu scharfen; wer kurz darauf noch 
einmahl fuhlte, der fand eine neue Scharfe, und rieth auf die 30 
Wirksamkeit des Empfindungswesen. Daher gab der Unter- 



3 Nach dem 1' annee litteraire wurde Boileau in seiner Kindheit von 
diesem Thiere an einem empfindlichen Orte verwundet; nach Helvezius 
last sich aus dieser Verwundung seine Bitterkeit gegen Weiber u. s. w. 
erklaren. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 557 

gang des lezten der Satire einen unheilbaren Stos und das Mittel, 
das Sterne in seiner Empfindsamkeit den Deutschen anbot, die 
Englander in der Satire zu erreichen, gefiel den deutschen Scho- 
nen zu unserm unersezlichen Schaden nur auf eine kurze Zeit. 
Nicht zwar als ob man der Empfindsamkeit das ganze Bedlam 
aufgekiindigt hatte; allein sie logirt doch nur noch parterre, 
schwellet stat der Herzen unter unbedekten Busen, doch nur 
noch Herzen unter groben Halstuchern , klagt nur in der weichen 
Kochin iiber die harte Madame und quillet nur aus aufrichtigen 

io Thranendriisen. Was bleibt uns sonach iibrig? nichts als die 
Fortsezung unsrer Satiren. Ungeachtet das Miserere der Augen 
nachgelassen, so miissen wir doch mit unsern Purganzen noch 
hausiren gehen. So wie der Teufel in dem Korper des Studenten, 
den er getodet hatte, auf Befehl des Magikers Agrippa einige 
Zeit die Stelle der Sele vertrat, und mit den fremden Fiissen 
einen Tag spazieren gieng; eben so schenkt unsre Ironie der 
Empfindsamkeit, die sie hingerichtet, verlangertes Leben, und 
redet die tode Sprache der weinerlichen Makulatur. Ja die Ver- 
minderung des satirischen Stofs hat noch iiberdies eine ungliikli- 

20 che Vermehrung der Satiriker nach sich gezogen. Ein guter 
Theil der Autoren namlich, welche sich vom Schimpfen auf 
uns langer nicht ernahren konten, schlugen sich zu uns, um 
ihre Ebenbilder zu geiseln; die Armuth hatte ihre Gallenblase 
gegen ihr Herz aufgewiegelt und dem Kiele stat der Thranen, 
die weniger Goldkorner als bisher aus dem Beutel der Verleger 
herauszuspiihlen anfingen, nahrhafte Galle eingeflosset; und 
derselbe Hunger weinte im zwanzigsten Jahre mit den Weinen- 
den und lachte im dreissigsten mit den Lachenden. So diente 
iener Eselskinbakken dem Simson sowohl zur verwundenden 

30 Waffe als zur wasserreichen Quelle. Auch die Schonen lachen 
iezt iiber ihre vorigen Thranen, belohnen die »physiognomi- 
schen Reisen« mit lachenden Zahren, satirisiren iiber ihre Nach- 
ahmerinnen, und lassen den Pankrazius Selmar den Siegwart 
von der Toilette schieben. So weinen die Reben Wasser, bevor 
sie die Trauben liefern, die unser Gleichnis versauert, oder den 
Wein, den es zu Ess^kocht. So versteht das Kind sogleich nach 



558 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

seiner Geburt zu weinen, aber das Lachen lernt es erst spater 
fremden Gesichtern ab. Von dieser scheinbaren Ausschweifung 
kommen wir auf den Versuch zuriik, die zu sehr verschriene 
Empfindsamkeit von ihrjer] verkanten Seite darzustellen; und 
das schone Geschlecht zu iiberreden, daB es auch sein eigner 
Vortheil sei, so viel wie sonst zu weinen. Das starkste, womit 
man die Empfindsamkeit angepriesen und was wir iezt wieder- 
hohlen, ist unstreitig dies, daB sie die Bevolkerung, auf welcher 
das Wohl eines ieden States ruhet, nicht wenig befordere. Wie 
bei der Beschneidung, so ist es bei ihr nur das kleinere Verdienst, 10 
die Sele geheiligt zu haben; wenn man es mit dem zweiten ver- 
gleichet, die Fruchtbarkeit des Korpers vermehret zu haben; we- 
nigstens niizen beide der Erde eben soviel wie dem Himmel. 
Die arithmetische Fortsezung unsers Beweises (iberlassen wir 
einem zweiten SuBmilch, auf den wir uns hier im voraus bezie- 
hen. Wahrscheinlich blieb dieser Vortheil der Empfindsamkeit, 
der alle ihre (ibrigen Unbequemlichkeiten aufwiegt, manchen 
harten Schonen unbekant; und vielleicht ware dieselbe ohne den 
Widerstand des Vorurtheils noch allgemeiner geworden, daB 
man den Mond anbete, ohne seine schone Anbeterin mit anzu- 20 
beten, und daB die Diana keine andern Bitten gewahre als die 
Bitte um ewige Jungferschaft. Erhoret ia doch diese Schwester 
Apollo's schon auch die, die um Hebammenhulfe flehen, um 
Makulatur zu gebahren. 3 Zwar miissen wir gestehen, daB unsre 
Zeiten dem schonen Geschlecht willig den nonnenartigen 
Schleier erlassen, den es sonst iiber die Mittheilung seiner Reize 
werfen miissen, daB in unsern Tagen die Liebe iede Larve und 
folglich auch jdie Empfindsamkeit entbehren konne; allein wir 
glauben unsern schonen Leserinnen eine keusche Verachtung 
solcher Freiheiten und eine Erhebung iiber die Ziigellosigkeit 30 
ihrer Zeitgenossen, zutrauen zu diirfen, und wir hoffen, daB 
wenigstens die meisten von ihnen zu edel denken werden, ihre 
hochsten Freuden nicht mit dem Schleier von Religionsempfin- 
dungen zu heiligen, da selbst heidnische Madgen nur dem Pric- 

a Nach der Mythologie ist die Diana oder Luna Hebamme und ewige 
Jungfer. 



GRONLANDISCHE PROZESSE * 2. BANDCHEN 559 

ster, der sich fur den Got ausgab, die Umarmung erlaubten; 
die Tugend zu sehr lieben werden, ihr ein schones Sterbekleid 
von weissem Atlas und von rothen Bandern zu versagen, und 
die biiffonsche Liebe zu innig hassen werden, als daft sie nicht 
iiber dieselbe, um sich ihren widrigen Anblick zu erspahren, 
die Larve der platonschen hangen solten. Jedes Glied des Weibes 
ist zu schon fur eine Enthiillung; aber vorzuglich wird das Herz 
desselben durch Naktheit entstellet, und solte eine Schone den 
Busen unbekleidet tragen diirfen, so darf sie doch das Herz, 

io zu dessen schoner Larve ihn die Natur geschaffen, nicht alien 
Augen Preis geben. Kehret also, ihr deutschen Madgen, die ihr 
euch iiber die grossere Anzahl erheben wolt, wieder zur ver- 
nachlassigten Diana zuruk und zaubert, gleich andern Zauberin- 
nen, kiinftig wieder nur zu Nachts. Verrathet eure Geschiklich- 
keiten nicht mehr dem geschwazigen Phobus und lasset ihn 
kiinftig bei euch, zur Stillung seiner Neugierde nach euren Rei- 
zen, hochstens nur eine spate Morgenvisitte im Bette abstatten; 
aber nur die Luna freue sich der Vertraulichkeit derer, rnit denen 
sie das Geschlecht theilet, nur ihren matten Schimmer lasset 

20 dem Haus Zeuge dessen sein, was er zu keusch und zu kalt 
ist zu verrathen und niemand als nur die Liebhaberin des Endy- 
mions wisse von euch, daB ihr sie nachahmet. - Wir wiederhoh- 
len noch einmahl die obige Versicherung, daB nicht Eigennutz 
uns diesen Rath diktire. Gerade das Gegentheil wiirde uns die- 
ser diktiren; er wiirde alien Schonen die Keuschheit anzupreisen 
versuchen, iiber die man in unsern Tagen, ungeachtet sie unter 
die abgelegten Thorheiten gehort, dennoch mit grosserm Beifal 
zu spotten hoffen darf als iiber die Hurerei, deren Riikken der 
Schmuk verpanzert und die Mode bewacht. Eine Hure niizet 

30 uns warlich wenig: derm lacherlich ist sie hochstens nur dan 
uns, so wie der ganzen Stad, wenn sie so ungliiklich ist, keine 
mehr zu sein, wenn entweder ein kleiner Engel diese Gotheit, 
ein kleiner Amor diese Venus entgottert und der gereifte Samen 
den Sallat um die Gunst eines ieden Gaumens gebracht hat, oder 
wenn die Meisterin der Schulerin das Laster abtreten miissen, 
oder wenn die Zeit die Schonheit skelettirt hat. Indes kan dem- 



56O JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG 

ungeachtet eine Person, fur deren Tugend ihre Juwelen und 
vergoldete Wagen Burgschaft leisten, dem gemeinen Wesen 
niizlich sein. Denn stat dafi man sonst die Gunst eines Ministers 
erst aus der Hand seiner Gemahlin kaufen muste, kan man iezt 
dieses Umwegs entubrigt sein, wenn man sich sogleich an seine 
H- wendet. Den H- der Konige, die zu Priamus Zeiten regier- 
ten, kan man ein solches Lob nicht zugestehen; denn nach den 
Berichten der damahligen Schriftsteller war selten eine Konigin, 
sondern immer eine H-, die der Staub gebohren hatte, schuld, 
daB ein Konig sein Land vernachlassigte und sich ihm entzog; i 
so wie der Erde der Mond (Weib) seltner als ihre eignen Dtinste 
die Sonne (Man) verschatten und triibe Tage haufiger als Son- 
nenfinsternisse sind. Gliiklicher sind unsre Zeiten, wo die 
Keuschheit auf die Thronen und die Astraa zu den Sternen geflo- 
hen! -Man wird sich freilich wundern, da6 die Schonen, welche 
dem deutschen Parnasse die griechischen Musen so gut zeither 
ersezten, indem sie mit ihren Reizen sowohl den Pinsel unserer 
Anakreons als auch den Pinsel Rabners bereicherten, der Satire 
zu sizen und derselben mit ihren entkleideten Schonheiten zu 
Modellen zu dienen sich almahlig zu weigern anfangen. Die 20 
Verwunderung mus bei dem noch hoher steigen, der die deut- 
schen Schonen schon vor dem Zeitpunkte ihrer Verfeinerung 
und ihrer Verniinftigkeit zu kennen das Gliik hatte. Denn von 
alien Thorheiten der vorigen Schonen, z. B. des Tages sich nur 
einmahl anzukleiden, alle die Reize, welche fur mehrere bluhen, 
von einem einzigen brechen zu lassen, und -die Schonheit, die 
zur Untreue bestimt ist, durch hausliche Geschafte fur den Man 
abzunuzen, das feine Gefiihl der Sele und der Hande durch ar- 
beitsamen Geiz abzuharten, nicht bios gemeinen Menschenver- 
stand, sondern auch eine unpolirte Sprache zu haben, an Gedich- 30 
ten so wenig Geschmak zu finden wie an Dichtern, und in der 
Litteratur und den Moden gleich unwissend zu sein, u. s. w. 
von alien diesen und noch andern Thorheiten, sagen wir, wird 
man iezt in der schonen Welt mit Erstaunen wenig oder keine 
Spuhren finden. Noch mehr: an die Stelle dieser abgelegten 
Thorheiten hat man nicht einmahl neue treten lassen und die 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 56 1 

inwendige Seite der vorigen Weiber haben die iezigen uns nicht 
einmahl durch die aussere ersezt: denn was den Puz oder die 
aussere Seite anbelangt, so konnen wir gegen die gemeine Mei- 
nung erweisen, daB er im hochsten Grad verniinftig und zum 
Belachen daher nicht tauglich sei. Wir wiinschten freilich selbst 
lieber, denen beipflichten zu konnen, die den Chamaleontismus 
der weiblichen Moden fur die lacherlichste Narheit erklaren; 
allein folgende Betrachtung zwingt uns, hierin andrer Meinung 
zu sein und der algemeinen Uberzeugung von der Lacherlichkeit 

10 der Moden unsre unbedeutende Stimme zu versagen. Den gan- 
zen Irthum hatte man durch eine genauere Entwiklung der Ver- 
schiedenheit, die zwischen den Bestimmungen der zwei Ge- 
schlechter vorwaltet, ohne Miihe abwenden konnen. Allein man 
vergas iiber die Wahrheit, der Man ist fur seinen Geist geschaf- 
fen, die eben so gewisse Wahrheit, die Frau ist fur ihren Korper 
geschaffen; und wiewohl einige franzosische Dichter den lezten 
Saz wenigstens den Weibern, in Madrigalen einzusingen such- 
ten, so glaubte man ihn dennoch nicht und sezte ihn bios zu 
einer franzosischen Schmeichelei herab. Eine Schmeichelei zwar 

20 ist er, ja, aber keine franzosische, sondern eine wahre. Von dieser 
Meinung nun irre gefiihrt, kont' es freilich nicht anders kom- 
men, als daft man am schonen Geschlechte eben das tadelte, 
was man hatte loben sollen und die Bestimmung desselben in 
etwas anderm als in der Verschonerung des Korpers suchte. 
Zu einer langen Widerlegung fehlet uns hier der Raum; auch 
ist unser Saz, daB die weibliche Sele von dem weiblichen Korper 
sichtbar iibertroffen werde, und sie folglich, so grosse Ansprii- 
che sie auch auf Ausbildung und Hochschazung machen konne, 
dem leztern doch noch grosser.e zugestehen mtisse, eine von 

30 den Wahrheiten, die sich selbst beweisen. Zu anstossige Liikken 
indessen in unserm Erweise dieser Wahrheit werden die Scho- 
nen, wennsiein Geselschaften unsre Bitschrift rezensiren, selbst 
zu erganzen so gutig sein; und die bekante Beredsamkeit ihrer 
Reize sichert uns schon im voraus eine so algemeine Annahme 
unsrer Meinung zu als sie verdient. Alle Rektoren bekennen 
einmuthig, daB man einen Knaben so erziehen miisse, als ob 



562 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

erkeinen Korper hatte, und alleGouvernantenfiigen nochhinzu, 
daB man umgekehrt ein Madgen so erziehen musse, als wenn 
ihm die Sele fehlte; und von diesen alten Grundsazen entfernen 
sich denn beide auch nur selten. Hatte also auch nicht die Natur 
dem weiblichen Korper die iiberwiegende Vortreflichkeit gege- 
ben,' die wir ihm zusprechen, so wiirde er sie doch durch die 
Erziehung erhalten haben, die iiber die bessere Verschonerung 
desselben lieber seine Sele ganz vergessen wil. Auch die ersten 
Christen, die uns in keinen Hoflichkeiten gegen das andre Ge- 
schlecht nachstehen als in den geringfiigigern, waren so galant, 10 
dem herlichen Korper des Weibs die schuldige Achtung zu ent- 
richten und ihm den Vorrang vor der Sele sogar in Religionssa- 
chen, wo man sonst nur auf den Werth der leztern sieht, zuzuge- 
stehen. Sie nanten namlich, schmeichelhaft genug, die 
weiblichen Martyrer Callimartyres, schone Matyrer. An man- 
chen Orten heist man einen schlechten Portratmahler einen Se- 
lenmahler. Diese Benennung, die Sulzer nicht zu rechtfertigen 
wuste, last sich ungezwungen durch das Ubergewicht des weib- 
lichen Antlizes iiber das weibliche Gehirn, der sichtbaren Reize 
iiber die unsichtbaren, veranlast denken: denn der Mahler mah- 20 
let namlich allerdings das Angesicht einer Schonen schlecht, 
welcher durch dasselbe den Geist, den es eben verlarven sollen, 
durchschimmern und die geistigen Reize die korperlichen 
schwachen last; seinen Endzwek der Verschonerung sezt er bei 
einer solchen Verratherei ganzlich aus den Augen. Beilaufig! 
wie sehr beschamt auch hier die Natur die Kunst! Kaum daB 
dieser das Gehirn mit einer Aussenseite nur zu bedekken gelingt, 
so kan iene es damit sogar verschonern, kan den Kopf mit liigen- 
den Reizen tapezieren, kan zwischen die Lippen die schlangen- 
formige Schonheitslinie eines schlangenartigen Wizes wallen 30 
heissen, der, gleich den mit Queksilber angefulten Nachtschlan- 
gen aus Glas, glanzet und drohet und nicht beisset, urid kan 
Augen, denen kein Gehirn entspricht, zu blinden Fenstern aus- 
mahlen, welche den innern Bewohner nicht erleuchten, und 
doch zu erleuchten scheinen. Aus unsrer Behauptung last sich 
auch f erner die Haslichkeit der gelehrten Schonen begreiflich ma- 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN $63 

chen, der Sappho z. B., deren Sele ihre Gestalt so weit hinter 
sich gelassen; wie nicht minder die Gehirnlosigkeit der Stuzer, 
welche sich nach der aussern Gestalt des andern Geschlechts 
so gliiklich bilden. Daraus folgt weiter, daft den Werth ieder 
Schonen schon der erste Anblik entscheidet und daft die, welche 
am Nachttisch die Geliebte stat zu loben, erforschen wollen, 
ziemlich unschiklich die Heroldskanzlei in eine Entzifferungs- 
kanzlei verwandeln. Daraus folgt endlich das, um was uns hier 
am meisten zu thun gewesen, die Rechtfertigung des Puzes 

10 namlich: denn sobald die sichtbaren Reize des Meisterstiiks der 
Schopfung einen so erwiesnen und so betrachtlichen Vorzug 
vor seinen unsichtbaren haben, so ist audi seine Verbindlichkeit 
zur Verschonerung seines edlern Theils ins alte Licht gesezt. 
DaB aber der Korper keine andre Verschonerung als die des 
Puzes annehme, wird man uns gern zugeben. Folglich fordert 
es die von der Natur so gewahlte Bestimmung einer Schonen, 
daft sie auf die Bekleidung alle ihre Neigungen zu richten suche, 
und derselben wenigstens die meisten Stunden und die besten 
Krafte widme, dafi sie iiber geringere Arbeiten nie die edlere 

20 und ihren Fahigkeiten mehr angemessene Beschaftigung, sich 
zu puzen, vergesse, und Langweile, Verdrus und Ausgaben, 
die die Vervolkomnung des Korpers so oft erschweren, lieber 
mit Gedult ertrage, als dadurch in der Erfiillung ihrer Pflichten 
lasser werde. Wir wollen iezt, um die vielen Pasquille auf den 
weiblichen Puz in alien ihren ungerechten Seiten bloszustellen, 
und auf eine gewisse Art unsern Spot, den uns die Schonen 
so oft vorgeworfen, durch ihre Vertheidigung gut zu machen, 
die Schritte, welche das weibliche Geschlecht in der Ausbildung 
seines Korpers thut, mit den ahnlichen, welche das manliche 

30 in der Ausbildung seiner Sele thut, vergleichen und rechtferti- 
gen. Kleider sind dem schonen Geschlecht, was dem unsrigen 
Gedanken sind; der Kleiderschrank ist die Bibliothek, das An- 
kleidezimmer die Studierstube desselben. Schazen wir einen 
Leibniz wegen seiner Erfindungen; so schazt die Frau eine Puz- 
handlerin nicht weniger wegen der ihrigen und der Volkom- 
menheit wird sie von dieser vielleicht noch naher als wir von 



564 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

ienem gebracht. Es gereicht dem Mann nicht zur Schande, daB 
er den Autoren Frankreichs die wizigste Einkleidung seiner Ge- 
danken ablernt; es kan daher der Frau zu nichts anders als zur 
Ehre gereichen, wenn sie, ihrerseits, die Puppen Frankreichs, 
wie Antiken studirt, sie zum Muster sich wahlet und mit der 
geschmakvollen Kleidung derselben auch ihren Korper zu ver- 
schonern strebt. Fast alle unsre Autoren lassen sich von den 
Franzosen zu einer glanzenden Verschwendung des Wizes hin- 
reissen; dieser Fehler ist ihr einziger und ein liebenswurdiger. 
Soke man es nun den deutschen Schonen weniger zu gute halten, 10 
daB sie die Schminke, die iezt in Paris fur antiken Firnis gilt, 
nicht als eine uberfliissige Verschonerung von ihren Wangen 
abgewiesen? weniger zu gute halten, da sie vor den Autoren 
einige Entschuldigungen noch voraus haben? Diese namlich, 
daB sie nur an die Stelle der Rosen, welche die Sense der Zeit 
von den Wangen abgemahet, Vorstekrosen kleben, oder daB 
die Schamhaftigkeit manchem Gesichte zu schon lasse, als daB 
es von derselben nicht iahrlich ein Par Topfgen verbrauchen 
diirfe, und endlich, daB man nur aus Liebe zu den schonen Kun- 
sten dem Zeuxis den Pinsel entwende, urn hungrige Vogel mit 20 
gemahlten Trauben anzukodern. Ein guter Kopf lasset nicht 
selten die Worte die Gedanken spielen und den Schmuk an die 
Stelle des gesunden Verstandes treten; warum soke eine Schone 
mit minderm Beifal ihren Kopfpuz, wie hohe Haupter ihre 
Krone, den Kopf ersezen lassen? Ein Dichter, der gleich einem 
musivischen oder musaischen Mahler nach und nach aus gefarb- 
ten Steingen und bunten Glasscherben d. h. aus entlehnten Me- 
taphern ein Gemahlde zusammenklebt, wird in unsern Zeiten 
der verbesserten Kritik dem weit vorgezogen, der sein Ge- 
mahlde nur - mahlt, dessen Schopfung nur auf einmal von dem 30 
Pinsel fliest. Um derselben Ursache willen kan eine Schone, 
deren Reize nicht weit her sind, nicht den Ruhm einer andern 
fordern, die an jedes Glied eine besondre auslandische Schonheit 
anzieht, die vom Schwanze des Pferdes und des StrauBes den 
Schmuk des Kopfs entlehnet, die gleich dem Spiritus einsprizen- 
den Anatomiker, den unsichtbaren Adern eine blaue Farbe und 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 565 

der leren Zahnlade stat des beinernen einen goldnen Zahn zu 
schenken weis und die den Seidenwurm die Seite des Walfisches 
mit seinem Gespinst zu schliessen heist. 3 Fur die meisten geisti- 
gen Thatigkeiten leihen korperliche Dinge figiirliche Namen 
her; umgekehrt fiihren die modischen Puzarten Benennungen, 
die geistigen Eigenschaften gehoren; ein neuer Beweis, daB bei 
der Frau der Korper die Sele spiele. b Die wizige Schalkheit hat 
der Man, wenn er sie hat, im Gehirn; die Frau in einer bekanten 
Koeffure. Die Melancholie, die beim Manne nur das Herz auf- 

10 schwelt, ist bei der Schdne in den Kopfpuz genahet und in die 
Frisur gebauet. Der Geist jenes Kammerhern, und der Hut seiner 
Matresse haben beide etwas Erhabenes und es ist zweifelhaft, 
ob das Herz dieses Jiinglings oder die Robbe seiner Geliebte 
die meiste verliebte Standhaftigkeit besizt. Auch hat von der 
Minerva dieser manliche Kopf und dieser weibliche Kopfpuz 
viel Ahnlichkeiten geschenkt bekommen; die Orthodoxie hat 
endlich Gehirne gegen Koeffuren vertauscht und orthodoxe 
Nadeln stechen anstat orthodoxer Federn. - Wir miissen die 
Vergleichung der verschiednen Ausbildung der beiden Ge- 

20 schlechter noch etliche Schritte weiter begleiten: denn so unwi- 
dersprechlich, wie wir hoffen, wir auch die VernunftmaBigkeit 
des weiblichen Puzes dargethan, so ist doch noch die Verander- 
lichkeit desselben zu rechtfertigen iibrig. Und eben urn die 
Wechsel der Moden dreht sich gemeiniglich der ungerechte Spot 
auf das schone Geschlecht. Allein wenn Verschonerung des 
Korpers so sehr Bestimmung der Frau ist, als des Marines Aus- 
bildung der Sele: so mus iener eine neue Mode, diesem eine 
neue Meinung ihre unahnlichen Bestimmung gleich sehr erfiil- 
len helfen und ein hoherer Schuhabsatz hebt die eine auf keine 

30 niedrigere Staffel von menschlichen Werth als den andern eine 
vermehrte Auflageeinesguten Buchs. Die Schonen konnen sich 

a Eine Anspielung auf den Ausdruk, er schlofl die Statte zu mit 
Fleisch.« Dafi man hier von den Posche, seiner Nachahmung der man- 
lichen Pumphosen rede, werden die meisten von selbst sehen. 

b Alles, was iezt folgt, spielt auf die sonderbaren Benennungen der 
weiblichen Moden an. 



566 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

eben so wenig als andre Menschen iiber das Lob der endlichen 
Wesen, zu grossern Volkommenheiten erst von kleinern aufzu- 
steigen, hinwegsezen und die Moden vom Jahre 1782. konten 
unmoglich das Reizende, das Geschmakvolle und Natiirliche 
schon haben, das erst das I783ste Jahr den seinigen gegeben. 
So sind z. B. die Bander der erstern wiirklich schon; aber der 
letzern ihre haben freilich eine sanftere Farbe: die erstern frisirten 
(besonders gewisse Arten von Schiirzen) immer gut genug, aber 
uns diinkt ein wenig zu schmal, welches erst die leztern gliiklich 
vermieden; auch gaben manche von den erstern den Seitenlok- 10 
ken reizende Lagen; allein wir fragen jeden Perukkenmachers- 
Jungen, ob sie von den iezigen nicht in falschen Touren iiber- 
troffen werde? Oder wil man auch von den iezigen schon die 
Volkommenheitfordern, zu der erst sie den Weg gebahnet, und 
die freilich die Moden, welche der auerbachische Hof in der 
kiinftigen Michaelismesse gebahren wird, unsern schonen Lese- 
rinnen (dies konnen wir ihnen im voraus versprechen) so unwi- 
derstehlich aufdringen mus, daB sie die briinstigste Liebe gegen 
die iezigen Moden werden fahren lassen miissen? Das obige for- 
dern hiesse von den Autoren der vergangenen Ostermesse den- 20 
selben Scharfsin und denselben Wiz schon fordern, den wir erst 
an den Autoren der kiinftigen Michaelismesse bewundern wer- 
den; hiesse dem ersten Theil eines Buchs die kunftige Volkom- 
menheit seines zweiten zumuthen. Nur das Thier erhalt sich 
immer auf derselben Stuffe; aber darum auch auf einer so niedri- 
gen. Denn was hebt den Man iiber den klugen Urangutang 
anders hinaus als die unaufhorliche Erweiterung seiner Ideen? 
Eben so; wodurch wiirde sich die Frau, die fur die Bekleidung 
ihres Korpers gebohren wurde, von der Motte, die ebenfals da- 
fiir gebohren wurde, unterscheiden, wenn es nicht durch den 30 
Wechsel der Moden ware? Aber eben dieser Wechsel riikt sie 
hoch iiber die in ihre abgelegten Kleider gekleidete Motte hin- 
aus, die Son- und Werkeltage und lebenslang denselben Rok, 
dessen Zuschnit zuerst im Paradies erschien, zu tragen vom In- 
stinkt gezwungen wird. Neue Meinungen zu konfisziren steht 
dem Fortgange der Menschheit also nicht mehr entgegen als 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 567 

neue Moden zu konfisziren und nur wer das manliche Ge- 
schlecht auf symbolische Bikher schworen zu lassen sich unter- 
stiinde, konte auch das weibliche in eine Nazionalkleidung ge- 
fangen zu nehmen sich unterstehen. Folglich sind die Moden 
so lacherlich gar nicht als sie einige fanden, und eine groBere 
Abwechselung derselben ist vielmehr ein Wunsch, den jeder 
Gutgesinte mit uns, aber so lange umsonst, thun wird, als man 
die Erfinder von Dingen, worauf die Vervolkomnung der hal- 
ben Menschheit beruht, nicht besser zu belohnen und zu unter- 

10 stiizen anfangt. Und so lange gehort denn auch der Wunsch 
einiger Stadte, Paris einzuhohlen, das im Jahre 1782. zweihun- 
dert Arten von Modehauben und zwei und funzig Manieren 
von Kleiderbesazungen zahlte, noch unter die Neuiahrswun- 
sche, die so wenig als Fliiche in Erfiillung gehen. DaB iede neue 
Mode ein neuer Schrit in der weiblichen Vervolkomnung sei, 
vergassen wir doch oben gegen einige Einwiirfe, die unverdien- 
tes Gewicht bey manchen haben konnten, zu erweisen. Man 
stost sich erstlich an die Auferstehung veralteter Moden. Allein 
ist eine Mode, die schon einmal getragen worden, darum weni- 

20 ger werth, iezt getragen zu werden? So mtiste auch ein Saz, 
weil ihn Jacob Bohme geglaubt, darum unwerth sein, von heu- 
tigen Kopfen geglaubt zu werden. Verdienen aber Jacob 
Bohme' s Meinungen den neuen Beifal unserer Autoren, so ver- 
dienen auch alte Moden den Beifal der iezigen Weiber. Sollen 
die Poschen z. B. ihre algemeine Hochschazung etwan deshalb 
nicht verdienen, weil sie schon zu den Zeiten der Kreuzziige, 
wo man sie den Morgenlandern abgesehen, Mode gewesen? 
und sol man iiber ihr Alter ihre schazbare Tauglichkeit verges- 
sen, selbst ungestalte Hiiften zu verschonern, selbst die magerste 

30 Taille zu heben und an den weiblichen Korpern die schone Fet- 
tigkeit, die die genanten Morgenlander so lieben, wenigstens 
scheinbar zu ersezen? Sol man das? so mus man auch, um sich 
in thorichten Urtheilen gleich zu bleiben, den Autoren die Auf- 
nahme einer andern alten Mode, die figurlich der obigen in allem 
gleicht, venibeln: d. h. in seine geschmaklose Verurtheilung 
auch alle die vortreflichen Manner mit einschliessen, welche die 



568 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Schwiilstigkeit der Morgenlander aus ihrer unverdienten Ver- 
achtung zu reissen so viele Miihe sich gegeben uiid es wenigstens 
dahin zu bringen gesucht, da6 der Deutsche durch prachtige 
Worte die morgenlandigen Gedanken (wie die Schonen durch 
Kleider die morgenlandische Fettigkeit) erseze. - Neue Moden 
von niedern Standen entlehnen kan man, ohne den Endzwek 
der Mode zu vernachlassigen, ebenfals: Denn diese Stande hatten 
sie selbst erst von den hohern bekommen. So senken sich die 
Gipfel mancher Baume auf die Erde herunter, wurzeln in dem 
niedrigen Boden ein, und wachsen dan aus demselben zur alten 10 
Hohe wieder hervor. Doch sind die Schranken, die sich unsre 
Schriftsteller in der Nachahmung der bauerischen Sprache ei- 
genhandig sezen, auch in der Nachahmung des baurischen Puzes 
anzuempfehlen und wir bemerken mit Vergniigen, daB doch 
die meisten Schonen sich weniger die Landleute als die Wilden 
zum Muster ihres Anzugs wahlen, welche es auch in der Ver- 
schonerung der obern Theile des Korpers am weitesten ge- 
bracht. Nur miissen die Schonen, ihren wilden Lehrmeisterin- 
nen schon alles abgelernt zu haben, sich noch nicht schmeicheln 
und es fehlen ihrien zur volkomnen Ahnlichkeit mit einer gepuz- 20 
ten Wilden zwar nicht viele, aber doch noch einige Zierrathen; 
daher der noch ungedrukte und viele Kupfer fodernde Aufsaz 
unsers Mitbruders * * betittelt: »Beschreibung und Abbildung 
derienigen Theile des Puzes der Wilden, die von unsern Damen 
noch nicht nachgeah met worden,« alle Unterstiizung des scho- 
nen Geschlechts verdient und neben den Kalendern mit den Ab- 
bildungen der neuesten Damenmoden, vielleicht das niizlichste 
Geschenk ist, das ein Man seiner Frau am kiinftigen Neuiahrstag 
machen kan. - Diese Griinde, die einer noch grosseren Scharfe 
fahig sind, reichen, wie uns diinkt, zur Rechtfertigung der Mo- 30 
den vollig zu. Die Ausbildung des Korpers ist folglich das Ver- 
niinftigste, was die Schonen nur vornehmen konnen; und sich 
lacherlich zu machen, bleibt ihnen sonach nichts iibrig als die 
Ausbildung der Sele, indem sie namlich Journale lesen und die 
Theaterzeitung in Berlin, indem sie poetische Bliimgen pfliik- 
ken und zusammenbinden, und den neuesten Almanach nicht 



GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 569 

sogleich vergessen und den Versen Reime geben oder auch 
kerne. Um alles dieses werden wir sie weiter unten bitten, wo 
wir zugleich Grunde beizubringen hoffen, die sie vielleicht 
liberreden werden. Nun solten wir noch von ihrem Eigensin, 
von ihrer Veranderlichkeit, von ihrem Stolze iiber Schonheit, 
und von ihrer Eitelkeit aus Haslichkeit, von ihrer Verstellungs- 
sucht, von ihrem Hasse gegen das Ernsthafte u. s. w. beweisen, 
daB alle diese Eigenschaften sehr leicht mit der Vernunft sich 
aussohnen lassen. Allein fodern auch wohl die Schonen oder 

10 ihre Anbeter diesen Beweis? sind die erstern nicht selbst iiber- 
zeugt, daB jene Dinge keine Thorheiten sind? und haben nicht 
die andern sie sogar zu ihren Reizen gezahlet? Unsre gewohnli- 
che Bitte werden sie errathen und auch, da sie so gerecht ist, 
erfiillen. Wir haben iiberdies, weil wir die Almacht des Lobs 
iiber die Schonen sehr gut kennen, uns des Tadelns ganz enthal- 
ten, und wenn iener Wundarzt die Leute verwundete, um sie 
salben zu konnen, so hoffen wir das umgekehrte Verfahren ge- 
gen sie beobachtet zu haben. Wir verlassen sie, bis wir sie unten 
wieder sehen, beugen nicht nur unsern Riikken und kiissen ihrc 

20 Hande, wie oben, sondern schworen auch, daB wir sie anbeten, 
und gehen mit dem schmeichelhaften Gedanken fort, sie zu ihrer 
Bereicherung an Thorheiten vielleicht bald durch das freimii- 
thige Gestandnis ihrer Armuth daran wenigstens die ersten 
Schritte machen zu sehen.* 



* Die Fortsezung dieser Bitschrift wird im dritten Bandgen folgen 
und es vielleicht wol fullen. Soke man das Versprechen in der Vorrede, 
in der Vereinigung der starken Schreibart mit der ironischen einen er~ 
barmlichen Versuch zu machen, noch zu wenig gehalten finden, so wisse 
man, daB wir erst im kiinftigen Theile der Bitschrift zu den Materien 
30 kommen werden, die eine bessere Erfiillung ienes Versprechens erlau- 
ben. Noch steht es bei den Kunstrichtern, uns durch eine gute Rezension 
dieses Theils der Bitschrift die kiinftige Bitte um Vermehrung ihrer 
Thorheiten zu ersparen. 



570 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

V. 
Epigrammen 



Auf einen Garten ohne Statuen 
Die Oberschrift dieses Epigrams ist falsch; auf einen Garten mit 
Statuen, mus es besser heissen: Denn die schonen Tochter des 
Eigenthiimers, die stiindlich darin spazieren gehen, ersezen iede 
Statue, sowohl die nakten von Gottinnen als die wandelnden 
des Vulkans auf eine tauschende und angenehme Weise. 

Uber silberne Esgeschirre und silbeme Sarge 
Der Mensch isset die Thiere, und die Thiere nicht selten ihn 10 
von Silber. Und doch sind die Wurmer, die ihren Wurm aus 
einem silbernen Geschir aufspeisen, nicht mehr als die werth, 
die den ihrigen auf einem holzernen verzehren. 

Uber Passionspredigten 
Die Katholiken haben Fastenspeisen und die Protestanten dafiir 
Fastenpredigten; durch Lerheit heiligen iene ihren Magen und 
diese ihren Kopf, und beide machen des iahrlichen Andenkens 
wegen, die Passionszeit Christi zur Passionszeit der Vernunft. 

Jeder schazt nur nach der Ahnlichkeit mit sich den andern 
Daher schliest der Tanzmeister bey den Menschen, wie mancher 20 
heutige Dichter bei Withof's Versen, von den Fiissen auf den 
Kopf; daher halt der Musikus dicke Ohren fur lange Ohren. 

Von der dunkeln Schreibart 
Wer die Gebrechen seiner Gedanken in eine dunkle Sprache ein- 
kleidet und verhult, ahmet kliiglich die Wirthe nach, die gerne 
trubes Bier in einem undurchsichtigen Gefas auftragen. 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 571 

Unterschied zwischen einem Rauber und einem gewissen vornehmen 

Mann 
Der Rauber ist ein Falke, der nur fur seinen eignen Magen stost 
und der ebendeswegen vogelfrei ist; allein unser vornehme Man 
ist schon ein zur Jagd abgerichteter Falke, der auf Geheis des 
Fiirsten in die Hohe steigt, um fur den gnadigen Hern, der ihn 
futtert, auf jede Beute nicht unbelohnt herabzuschiessen. 

Ein anders ist, wenn der Esel, ein anders, wenn der Herkules 
cine Lowenhaut um sich wirft, bey ienem ist sie nur Larve, 
^ bei diesem aber Kleid; der leztere hatte den (iberwunden, dessen 
Haut er sich zugeeignet, aber der erstere kam zu seiner fremden 
Montur gewiB nicht durch eigne Tapferkeit. 

Aufeinen seltnen Dichter, der die Zuhorer seiner Lieder auf den Wein 

mit Wein entschadigte 
Dein Gesang mildert in uns das Feuer seines Gegenstandes, und 
beschiizt unsre Vernunft gegen den Feind, den er lobet; Deine 
Hippokrene ist unser Wasser in dem Wein und dein Lorberkranz 
unser Epheukranz.* 

Der verliebte Richter 
20 Der Gerechtigkeit und dem Amor sind die Augen verbunden; 
wenn aber ein Blinder dem andern den Weg weiset, werden 
sie nicht alle beide in die Grube fallen? 

Die so leicht durch Worte geargert werden, haben meistens 
schon durch Thaten selbst geargert, und manche Schonen glei- 
chen dem Zunder in der Empfanglichkeit fur iedes Fiinkgen 
nur darum so sehr, weil sie ihm auch in dem Umstand, schon 
einmahl gebrant zu haben, gleichen. 



* Mit Epheu kranzten sich die Alten, um sich durch seine kiihlende 
Eigenschaft vor der Berauschung zu verwahren. 



572 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

An die blumichten Philosophen 
Warum verbergt ihr, wie die Biene, euren Kopf in poetische 
Blumen? warum umhult ihr den Gedanken in liberfliissige Ver- 
schonerung, und sezt den Leser der Nothwendigkeit aus, vom 
Bier, bevor er's trinken kan, den blinkenden Schaum erst weg- 
zublasen. - Zwar ist Schaum auch Bier, aber nur weniger Bier. 

Auf eine Schauspielerin, welche den Schauspieler, gegen den sie die 

Rolle einer Liebhaberin spielte, wirklich liebte 
Gleich alten Lugnern, haltst du deine eigne Lugen fur Wahrheit, 
und bist das, was du scheinest; dein Gesicht sieht wie deine 
Maske aus, und du gehorchest der Natur und der Kunst zu- 
gleich. So ist das Essen auf dem Theater Dekorazion und Wirk- 
lichkeit auf einmal, und lasset nur die ungesattigt, die es bezahlet 
haben. Der niedergelassene Vorhang endigt dein Spiel nicht, 
sondern verbirgt es nur; aber deine Rolle wirst du in deinem 
Hause nicht lange ohne das Zischen derer fortsezen, die den 
Anfang derselben auf dem Theater beklatschten. 

Ober den Rath des Marquis de Poncis, den Feind dutch Soldaten, 

die man aus Papier geschnitten, zu tduschen 
Vollig unnothig war' es, aus Papier mit der Schere scheinbare 
Helden zuzuschneiden, so lange man noch Schneider hatte, die 
aus Tuch mit der Schere wirkliche Helden zuzuschneiden im 
Stande sind. Aber unsichtbar wohl, wie die Engel dem Elias, 
und in kleinerm Format kan das Papier, mit goldnen Waffen 
ausgeriistet und wie die Wilden mit Tapferkeit bemahlet, dem 
Tuche beistehen, und in Brief en konnen nicht nur Kaufleute 
die Here ihres Schachbrets, sondern auch Generale ihre stehende 
Armeen gegen einander anfiihren. 

Kleider sind die Waffen, womit die Schonen streiten, und die 
sie gleich den Soldaten, dan nur von sich werfen, wenn sie iiber- 
wunden sind. 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 573 

Vertheidigung des Max, der BUcher liest, nicht um sie zu verstehen, 

sondern um sie gelesen zu haben, behaupten zu konnen 
Ungeachtet Max Bucher nicht verdauet, sondern nur kauet, so 
hat er doch Recht auf seine Lektiire stolz zu sein: derm das ist 
schon ein Wunder und eine Ehre, daB so gar Max Bucher liest. 
So frisset die holzerne Ente des Vaukansons die vorgeworfnen 
Korner ohne Ernahrung und ohne Verdauung; allein an ihr als 
einer Maschine ist schon das genug Werth, daB sie die Korner 
wenigstens verschlukt. Dieses kunstliche Verschlukken bringt 
iW der Kiinstler in der Ente durch einen verstekten Blasebalg, und 
die Natur in dem Max durch Begierde nach Ruhm oder Luft 
zuwege, und beide Ziehen Korner in sich, weil sie Luft in sich 
ziehen wollen. 

Dunsen konnen einen beruhmten Man nicht loben; sie konnen 
mit ihren entgegengesetzten Ofnungen durch die zwo Trompe- 
ten der Fama nichts als stinkende Lufte hauchen, die zwar die 
Nase des Nahen, aber nicht einmahl die Ohren des Entfernten 
erreichen. Tadeln konnen sie eben so wenig: denn ein stinkender 
Athem, der nicht rauchern kan, weht immer iiber hohle Zahne, 
20 die nicht beissen konnen. Indes konte der Duns beruhmte Man- 
ner, wenn ihr so wolt, doch tadeln - durch sein Lob namlich; 
und auch loben - durch seinen Tadel namlich. 

Uber den misanthropischen Swift 
Das Talent zur Satire, das den Narren verwundet, verwundet, 
zu sehr genahrt, zulezt seinen eigenen Besizer. So wie der Nagel, 
der in Feinde Wunden schneidet, den selbst, der ihn tragt, durch 
uberfliissigen Wachsthum verwundet, und von seiner neuen 
Lange in sein eignes Fleisch zuriikgebogen wird; oder so wie 
der Zahn, womit das Thier andre verlezt, seinen eignen Gaumen 
30 verlezt und ihm das Kauen verleidet, wenn iiberflussige Lange 
und Spize ihn zum sogenanten Wolfszahn umgewandelt. 



574 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

An die Gerechtigkeit 
Warum bestrafest du mit Ketten den so lange, den du nur mit 
dem Strik bestrafen soltest? warum raubst du deinen Opfern 
das Leben erst nach der Gesundheit; warum lahmest du, gleich 
gewissen Schlangen, sie mit Unbeweglichkeit, eh' du sie todest, 
und giebst den Missethatern in dem Kerkermeister den zweiten 
Henker? Zwar hierin must du die Spinnen nachahmen, die, von 
altenBeuten sat, die neue mit den Faden, die sie fiengen, umfes- 
seln, und an ihrem Gespinst fur den kunftigen Tod aufhangen. 
Allein, warum sperrest du die Unschuld ein; - dan namlich auch 10 
ein, wenn du sie nicht toden magst? Oder glaubst du, die, welche 
du nicht in freier Luft zu toden berechtigt bist, doch im Gefang- 
nis toden, und die, welche du dem Tode nicht durch Verurthei- 
lung iiberliefern darfst, demselben wenigstens durch Verzoge-- 
rung der Lossprechung iiberliefern zu diirfen? Gewis! auf diese 
Fragen kanst du nur mit dem Beispiel des Faulthiers antworten, 
welches die Thiere, die in seine unmachtigen Klauen kommen, 
damit zwar nicht zerreissen kan, aber doch so lange festhalt, 
bis sie von sich selbst verrekken. 

Nur die Abwesenheit des Geniessens gestattet unserm Antliz 20 
seine Richtung gen Himmel: denn gleich dem Vieh, senken wir 
das Haupt, sobald wir weiden, und nahern es der Erde, auf 
der die Freude blunt. 

Das Epigram 
Das Epigram ist gleich den vergifteten Pfeilen, nur an der Spize 
vergiftet, oder gleich dem Rettich, nur am Ende des Schwanzes 
am scharfsten. 



Von der Bestrafung der elendesten Schriftsteller 
Das Gewehr des Rezensenten ist der Nagel des Daumen; das 
Gewehr des Satirikers sind die Zahne. Daher steht die Hinrich- 
tung litterarischer Insekten den Rezensenten, aber nicht den Sa- 
tirikern zu. Denn es umkehren, hiesse den Hottentotinnen glei- 



GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 575 

chen, die gewisse Insekten, die sie mit dem Nagel toden sollen, 
mit den Zahnen toden. Oder wenn ihr die Geisel fur das Gewehr 
der Satire erkent, so frag* ich, sol man das Ungeziefer geiseln 
oder toden? 



Das Gratuliren am Geburtstage eines Vornehmen 
Die ersten Christen nanten den Tag, wo der Martyrer gelitten 
hatte, den Geburtstag desselben; so ist umgekehrt der Geburts- 
tag des Vornehmen der Passionstag desselben, und was er sich 
an demselben zu wunschen hatte, ware dies, dafi andre ihm 
nichts wunschten. 



Warum der Dichter A. schon seit acht Tagen sich nicht uber 
die Granzen der Menschheit hinausgeschwungen, wenigstens 
nicht hoher gestiegen als die funf Treppen zu seiner Behausung; 
komt daher, weil sein Wirth ihm keinen Wein mehr borgen 
wil. Ohne mit diesem aber seine Sele gesalbt zu haben, kan 
er eben so wenig fliegen, als es die Hexe, ohne ihren Leib mit 
Ol gesalbt zu haben, kan. Und vielleicht ist dieses Vermogen 
des Menschen, durch den Magen den Kopf zu erleuchten, durch 
Doppelbier seine Ideen zu verdoppeln, und auf den Schwingen 

20 des Pulses einen Wetflug mit den gefliigelten Engeln einzuge- 
hen,.kein kleiner Beweis seiner Grosse; es ist kein kleiner, mein' 
ich, daB er die Mittel seiner Vergrosserung zu seinen Fiissen 
findet, daB die Erde, welche dem Himmel in fetten Diinsten 
neue Sterne leiht, auch demselben an den Menschen neue Engel 
leiht, und daB Dinge, die klem sind, uns gros ma chen. Zwar 
ist die Leiter kothig, deren Staffeln uns erheben; allein athmet 
darum, weil unser Fus, gleich dem Fus der Leiter, in Koth stehet, 
unser Kopf weniger den Ather. Zwar komt aus dem Magen, 
der Kiiche des Geistes, unsern Sinnen Ekel, Verwiistung und 

30 Schmuz entgegen; allein ist das hohere Stokwerk, fiir das die 
Kiiche arbeitet, darum minder mit reizenden Gerichten, mit 
Zierrathen und mit Pracht geschmiikt? und sol der schmuzige 
Koch die glanzenden Gaste beschamen? Unter dem blossen 



576 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

Brod und Wein im Abendmahle empfangt die Sele dennoch 
die herlichste Nahrung. -* 

So wie zur Anzeige des schlechten Wetters Blumen und Sekrete 
ihre unahnlichen Ausdiinstungen verdoppeln, so kiindigen gute 
und schlechte Autoren durch hochste Anstrengung ihrer wider- 
sprechenden Talente den Sturz vom erstiegnen Gipfel des Ge- 
schmaks an, und beide treiben Schonheiten und Fehler auf ihre 
entgegengesezten aussersten Granzen, die das nachste Zeitalter 
sie gegen einen Mittelpunkt vertauschen heist, wo sie einander 
wechselseitig durch ihre Nahe schwachen. Frankreich hat zu 10 
gute und zu schlechte Schriftsteller, um nicht zu sinken; aber 
England sinkt noch nicht, denn es hat nur die erstern; und auch 
Deutschland nicht, denn es hat Gotlob! nur die leztern.** 

Auf einen Arzt, der seine Kranken mit strenger 
Diatetik qualte 
Warum lassest du den Hunger die Wirkung deiner Arzneien 
beschleunigen? warum bist du nicht einmal so mitleidig, wie 
dieRichter, die dem armen Sunder vor seiner Hinrichtung doch 
noch die Henkersmahlzeit gonnen? 

Auf Balbus, der zugleich dichtet und rezensirt 20 

Bald sizt er auf dem Pegasus, um zu fliegen, bald auf dem Buze- 
phal, um zu morden; er singt und beisset mit demselben Schna- 
bel, und schlagt mit den Fliigeln, womit er flattert. Gleich dem 

* Auch Epigrammen (und folglich auch dieses) diirfen vom Tadein 
im Loben ausruhen, und der Hintere derselben kan stat immer gleich 
dem Hintern des Stinkthier, die Nase mit Gestank zu beleidigen, schon 
mannigmahl gleich dem Hintern des Bisamthiers, ihr mit Wohlgeruch 
rauchern; wodurch sie denn auch freilich so lang, wie manche des Wer- 
nikke und wie dieses werden. 

** Dieses ganze Epigram hab* ich aus dem Munde eines beruhmten 30 
Kunstrichters, der wie mehrere beruhmte Manner die sonderbare 
Gewohnheit liebt, im Umgange und in seinen anonymen Schriften ge- 
rade das Gegentheil dessen zu sagen, was er in Schriften mit seinen 
Nahmen sagt. 



. GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 577 

Kantor mischet er die Bestrafung der unmundigen Sanger in 
seinen Gesang, und seine Hand loset seine Kehle ab. Er stiehlt 
Fehler, und tadelt Schonheiten; er raubt, wie die Harpyen, was 
er nicht besudelt, und lasset nur den, den er plundern wil, unver- 
wundet, wie iener Husar in seinem Feind nur seinen Diebstahl 
schonte. 

Das Obel bios ertragen konnen, ist nicht genug; man mus es 
auch abwerfen wollen. Gleiche dem Salamander, der das Feuer 
nicht nur aushalt, sondern auch ausloscht; und gleiche nicht dem 
io Tiirken, der genug Philosoph ist, sein Haus ohne Verzweiflung 
brennen zu sehen, aber es zu wenig ist, sich um dessen Rettung 
zu bekummern. 

Den Weg zum Himmel zu gehen haben die am wenigsten Zeit, 
die ihn repariren, und wer die Laterne tragt, stolpert leichter, 
als wer ihr folgt. 

Ein alter Kritikus kan sich schwerlich von Fehlern an Schonhei- 
ten erhohlen, immer mischet er in den Genus der leztern den 
Nachgeschmak der erstern, und immer schneidet er gleich ie- 
nem Anatomiker, mit demselben Messer den Kadaver und die 
20 Speise, oder auch gleich einem faulen Bedienten, die Zwiebel 
und die Apfel. 

Der Philosoph beweist oft, ohne zu verschonern; der Poet thut 
das leztere oft ohne das erstere, und der Theolog thut oft keines 
von beiden. Um dem Lehrsaz des Leztern von der Auferstehung 
der Toden wenigstens eine kleine Verschonerung zu leihen, 
konte man so sagen: gleich den meisten Raupen, kriecht der 
Mensch eine Zeitlang auf der Erde umher, wird dan von der 
Erde in der holzernen Verpuppung des Sarges aufgenommen, 
ruhet da einen Winter, durchbricht endlich am Friihling die 
30 Puppe, und flatten aus der harten Erde mit neuen und unverletz- 
ten Schonheiten hervor. 



57 8 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG 

Vertheidigung der Autoren, die ihre Werke dem schonen Geschlecht 

zueignen 
Warum solten sie es nicht diirfen? machten ia schon die Romer 
die Venus zur Aufseherin iiber die - Leichen. 

Uber die Anonymitdt der Rezensenten 
Ausser ihnen und den Scharfrichtern in England, exekutirt, 
meines Wissens, wohl niemand weiter verlarvt. 

Man beurtheile dochgrosse Theologen nicht bios nach ihren Schriften, 

sondern auch nach ihren Handlungen 
Denn selbst die Jager beurtheilen das Wild nicht bios nach seiner 10 
Lohsung, sondern auch nach seiner Fahrte. 

Liebe der Schonen zu den Dichtern 
Sonderbar! daB ihr immer in der Nachbarschaft der Dichtkunst 
Liebe vermuthet, und gleich dem Geheimenrath KIoz,* ieden 
geflugelten Knaben fur einen Amor halted Aber glaubt mir, 
dieses geflugelte Ding ist nicht selten der Tod, wenigstens im- 
mer der Schlaf. 

Roms Schicksal konte man sonst aus dem Gesange der Vogel 
weit unsichrer weissagen, als man es heutzutage aus dem Ge- 
sange der Operistinnen und Kastraten kan. 20 

Die Zoten der kaum zweimahl aufgelegten Raritaten des Kiisters 
von Rummelsburg sind das Ohrenschmalz aus langen Ohren. 

Auch der grosse Mann bleibt oft von den Angriffen des Neides 
verschont; dan namlich, wenn ihn niemand sonderlich ehret. 
So nahmen die Christen von den Kunstwerken, die ihre fromme 



* wie ihm Lessing in seiner Untersuchung: »wie die Alten den Tod 
abgebildet«, vorwirft. Zur Verstandlichkeit des Folgenden wird man 
sich erinnern, daB die Alten den Tod und Schlaf als Jiinglinge mit Fliigeln 
gestalteten. 



GRONIANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 579 

Wuthzerstohrte, wenigstens die Statiien aus, welche die Heiden 
nicht angebetet hatten. 

Phax lieset den Roman von W. , nicht urn seine Wisbegierde, 
sondern um andre Begierden zu sattigen, und in der entblosten 
Heldin des Buchs wil er nicht den Menschen, sondern das Ge- 
schlecht kennen lernen. So besucht eben dieser Phar, der kein 
Arzt werden mag, ein anatomisches Kollegium, um mit seinen 
Augen nicht die Zerschneidung, sondern die Entblossung eines 
schonen weiblichen Kadavers zu niizen. Und alsdan beklagt er 
io sich, daB man seine keuschen Augen mit nakten Reizen geargert; 
stat daB der Schiiler der Anatomie uber die Zerstohrung der 
Schonheit die Almacht derselben vergist. 

Hr. A. wil seine Gattin, wie arme Katholiken die h. Jungfrau 
Maria, lieber anbeten, als aufpuzen. 

Die ahnliche und seltne Statue 
Einstzerbracheine Statue aus Marmor, die die hoflichen Unter- 
thanen ihrem Fiirsten hatten sezen lassen, und aus ihrem zer- 
triimmerten Kopfe kroch eine - Krote hervor.* Woraus ieder- 
man deutlich sah, daB diese Statue, (welches einem Kunstwerk 
20 sonst nur selten gelingt,) nicht bios den Korper, sondern auch 
die Sele ihres gekronten Urbilds kentbar vorstelte. 

Kein dummer Leser braucht sich vor einer guten Satire zu fiirch- 
ten. Vor den Stacheln des Spots, wie der Nesseln, sichert ihre 
tolpische Betastung ihre Fauste; denn beide stechen nur die 
Hande, welche sie leise benihren. Folglich liegt es bei den mei- 
sten Lesern gar nicht an ihrem Herzen, wenn Satiren sie nicht 
bessern, und sie konnen fiir ihre so oft getadelte Beharlichkeit 
in Fehlern wenig oder nichts. 



* Es ist nichts seltnes, daB man Kroten in Marmorblokken, Baumen 
30 u. s. w. findet. 



580 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG 

Der Nuzen des gelehrten Schimpfens 
Manche Autoren wiirden iiber ihre gelehrten Gegner das Feld 
behalten haben, wenn sie sich auf das Schimpfen etwas mehr 
verstanden hatten. Daher wiist' ich nichts, wovor ein polemi- 
scher Gelehrte sich mehr zu hiiten hatte^als vor dem Geiz in 
Schimpfwortern, und man kan ihm nicht genug einscharfen, 
daB er seinen Gegner, gleich den Talglichtern, nicht bios er- 
leuchten, sondern auch anschwarzen miisse. Es ist vielleicht 
nicht iiberflussig, diese Behauptung durch ein Gleichnis, wo 
nicht zu erweisen, wenigstens zu erlautern. Das Stinkthier ersezt 10 
durch Gestank die Kraft und durch Harn die Zahne; es beschiizt 
den unbewafneten Kopf mit dem bewafneten Hintern, und 
schlagt seinen Feind, indem es ihn besudelt. Mochte das Stink- 
thier doch bald unter unsern Gelehrten mehrere Nachahmer er- 
wekken! 

Die Gemahlde von den alten deutschen Sitten gefallenuns; Reli- 
quien davon, d.h. Manner, die etwas von ienen Sitten noch 
an sich tragen, gef alien uns nicht, und wir ahnlichen den Katho- 
liken nur darin, daB wir die Bilder, nicht aber, daB wir die Reli- 
quien der Heiligen verehren. 20 

Die Macht der Alchymie 
Schon das ist viel, daB sie den dumsten Kopf zum aufgeklarte- 
sten machen kan,* so wie sie auch unedle Metalle in edle ver- 
wandelt; aber das, denk' ich, ist doch noch mehr, daB sie den 
besten Kopf in einen schlechten umschaffen kan, so wie Boyle 
stat der grossen Kunst Gold zu machen, die noch grossere, Gold 
zu degradiren, versteht. 



* Wer mir es nicht glaubt, beliebe nur sich bei einem solchen Kopfe 
zu erkundigen, ob er nicht seit seiner Einweihung in die Alchymie leb- 
haft empfinde, daB er alle die grossen Manner ubertreffe, die sonst ihn 30 
(ibertroffen. Fals er ein achter Goldmacher ist, wird er die Frage zu 
bei alien gewis nicht anstehen. 



GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 58 1 

Nicht iede Unsterblichkeit ist wiinschenswerth; auch die Ver- 
damten sind unsterblich. Der Ruf mus den Nahmen, wie die 
Agypter toden Korpern, nicht bios Unverweslichkeit, sondern 
auch Wohlgeruch schcnken. 

Wer misset nicht willig in den Meinungen ienes Denkers eine 
Deutlichkeit, dienurden Nichtdenkern die Verkezerung dersel- 
ben erleichtern wiirde? Wer verschmerzt nicht gerne die Ver- 
dunklung, womit die Laterne das Licht umgiebt, iiber den 
Schuz, den sie ihm gegen das Blasen der Winde verleiht? 

10 Uberdie Zensoren, deren es, wenn ich mich nicht irre, noch vor achtzig 
oder neunzig Jahren einige gab 
Ehe das damahlige Publikum ein gutes Buch zu lesen bekam, 
musten es schon vorher unwissende und partheiische Zensoren 
gelesen gehabt haben. So liessen die Ophiten (Schlangenbruder) 
im zweiten Jahrhundert das Brod des h. Abendmahls (das so 
gut wie die Bucher Selenspeise ist) von den Zungen der Schlan- 
gen belekken, eh' es auf die Zungen der Kommunikanten kom- 
men durfte.* 

Wink fur einige deutsche Satiriker und Nachahmer des Sterne 

20 Ich fragte bei meinem neulichen Aufenthalt in Berlin meinen 

beriihmten Freund, den H. Verfasser der Charlatanerien, wie 

er es angefangen, daB er bei seinen Talenten, welche das Talent 

zur Satire ganzlich ausschliessen, sich doch einen so grosen Na- 

* Da ich fiirchten mus, daB man das Dasein der Zensoren bezweifeln 
und mir vorwerfen mochte, ich hatte sie bios zum Behuf des Gleichnisses 
geschaffen: so berufe ich mich auf den 1. Band der »Beitrage zur 
Geschichte der Erfindungen«, wo H. Bekman Seit. ioo unwidersprech- 
lich erweist, daB schon 1479 Zensoren gelebt. Denn daraus, daB es iezt 
keine mehr giebt, last sich auch nicht folgern, daB es nie welche gegeben. 
30 Die Rezensenten selbst scheinen mir nichts als eine Spielart dieser alten 
Zensoren zu sein. Indes ersezen die Rezensenten ihre Stelle nicht so 
ganz, und es ware, besonders zur Unterstuzung der sinkenden Ortho- 
doxie, sehr zu wiinschen, daB man diese Art von Leuten, welche sonst, 
gleich den romischen Zensoren, dem Luxus des Verstandes so gut ge- 
wehret, wieder aufbrachte. 



582 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG 

men unter den Satirikern erworben. Er sah mich schalkhaft an, 
und antwortete: ich schrieb Pasquille. Ich lass' unentschieden, 
ob mein Freund dieses in Scherz oder in Ernst gemeint; genug, 
daB diese Antwort einen heilsamen Rath fur die deutschen Spot- 
ter enthalt. Oft bedauerte ich es, daB mancher seine Talente, 
mit denen er im Pasquil wirklich viel leisten wtirde, ihrer Be- 
stimmung zuwider in der Satire abnuzt, fur die sie doch nicht 
geschaffen worden, und in der er gleich dem Stachelschwein, 
mit seinen Pfeilen doch nur rasselt und nicht schiest. Wolte man 
also mir und dem H. Kranz folgen, so schrieben die, welche 
zeither Satiren geschrieben, kiinftig Pasquille. Eine ahnliche 
Klugheit hat schon Pauw an den Volkern bemerkt, die kein 
Eisen haben, und folglich Holz zu ihren Waff en nehmen miissen. 
Um namlich auch mit schlechtern Werkzeugen nicht weniger 
Feinde zu morden, vergijten sie die holzernen Waffen, weil sie 
nicht wie eiserne sich scharfen lassen. 

Wem gleicht ein Dichter, der schmuzige Gedanken in harmonische 

Verse kleidet? 
Einem Sanger, der seinem stinkenden Athem Wohlklang abno- 
thigt, der die Luft mit Gestank und Harmonie zugleich beladt, 
und unsere Ohren auf Kosten unsrer Nase unterhalt. 

Auf einen, der ein freigeschriebnes Buck nicht der Gedanken, sondern 

der wizigen Einkleidung wegen las 
Du suchest von diesem Buche nicht erleuchtet, sondern bios 
ergozt zu werden. Aber behandelst du sonach das Licht der 
Wahrheit anders als die Fledermaus das Talglicht, die ebenfals 
den Schein desselben flieht und nur sein Fet abnagt; die ebenfals 
den Abscheu ihrer Augen zum Vergniigen ihres Gaumen macht? 



3. ABTEILUNG 
Satirische Schriften 1783-1788 



GESPRACHE 



A. Das ist mem Buch? 

B. Ja! ich habs gelesen. 

A. Aber so geschwind? 

B. Weil ich genug Zeit dazu hatte, und weil es durchzulesen, 
es wenige braucht. 

A. Aber es durchzudenken mochte mer brauchen. Vielleicht 
bei Ihnen nicht. Was haben Sie daher iiber Skeptiz[ismus] ge- 
dacht? 
io b. was sich daruber denken last. Und (iberdas hat der Verfas- 
ser soviel daruber gedacht! 

A. Eben darum. Aber hat er Sie iiberzeugt, Sie von Ihrem 
Zweifel geheilt und auf die Ban des schlichten geraden Men- 
schenverstands von den Irwegen der Spizfindigkeit zuriikge- 
bracht? 

B. Er hat mich nicht davon zuriikgebracht - ich meine nicht 
die Irwege, die ich nie betreten; von der vernunftigen Zuriikhal- 
tung unsrer Urteile meine [ich]; da hat er mich nicht zu- 
ruk[ge]bracht. Es kan es aber auch niemand. 

20 A. Mit alien Griinden niemand? 

b. Niemand, ia, derm dieser Griinde sind wenige, und recht 
beleuchtet sind sie Scheingrunde. 

a. Zum Beispiel? 

b. Der, daB die Behauptung des Skeptfizismus] dem deutli- 
chen Ausspruch der Sinne zuwiderliefe, daB das Gefiil der Evi- 
denz derselben alien Kiinsteleien der Sophistik ungeachtetf?] 
nicht wiche. 

A. Nun ia! 

b. Als wenn die Sinne da nicht eben so stark sprachen, wo 
30 sie lugen, als wo sie nicht; als wenn der ewige [?] Betrug dersel- 
ben sich unsrer Uberzeugung nicht eben so stark auf d range, 



586 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

als ihr wfares] Licht. Und alle unsre Unvermogenheit gegen 
den Betrug der Sinne beweist weiter nichts [als] dafi wir geborne 
Sklaven des Irtums sind. 

a. Das Geful der Warheit gilt hier nichts? - 

B. Es mag gelten, dieses Geful, insofern es unsre Oberzeu- 
gung an diese oder iene Meinung fesselt, insofern es uns zu 
glauben verleitet; aber ob es unsre Uberzeugung mit Recht so 
oder so fesselt, mit Recht dies oder ienes zu glauben verleite - 

A. Daruber entscheiden die Griinde, welche unsern Beifal auf 
diese oder iene Seite lenkten. ic 

b. Ja wol die Griinde. Aber doch miissen sie erst auf das Geful 
wirken; und dies Geftil sol uns sagen, ob es nicht lugt, der Rich- 
ter sich selbst richten? 

A. Das behauptet man nicht. 

B. Nicht deutlich; aber schlusweise. 

A. Und wenn auch. Fur was sol denn der Mensch sein ganzes 
Leben durch gegen sein eignes Geful kampfen? Ja noch mer 
- sagten Sie also, das Gefiil konne nicht uber sich sfelbst] richten? 

B. Nun ia. Und daraus folgt? 

a. Daft es auch nicht uber seine Falschheit richten kan. Es 2c 
kan da nicht schwach sein, wo es fiir sich spricht, wenn [es] 
da stark sein sol, wo es gegen sich [spricht]. Der Skeptiker glaubt 
wenigstens, daB er nichts glaubt. 

B. Freilich ware dies auch ein Glauben. Allein ein Skeptiker, 
der entscheidet gar nichts. 

A. Und das doch wol aus Griinden. Er glaubt also eben [so] 
gut wie andre Menschen; freilich [?] daB er nur [?] wenig glaubt. 

B. Auch ware noch vieles auszumachen: aber auf ein ander- 
mal. 

a. Und das sind sie alle, die Biicher? Wo sind denn die andern? 30 
B. Wie »wo«?- 

A. Wer mem' ich, hat sie? als wenn ich nicht deutlich redete. 

B. Wer sie hat? Das weis ich nicht; aber Sie konnen sie nicht 
haben. 

A. Nicht? warum? 



GESPRACHE 587 

B. Sie konnen sie nicht haben - Ja so - warum? - Der - der 
Biicherhandler 

A. Hat sie schon weggegeben? So sol ihn 

B. Nein - er hat sie nicht gehabt. Und zwar nicht gehabt, 
weil er sie nicht haben darf. 

a. Hm! Hm! 

b. Ja! und wissen Sie warum? 

a. Nun? 

b. Weil es dem Magistrat in den Kopf gekommen ist, es rein 
10 weg zu konfisziren — 

A. vermutli ch, weil viel Warheiten gegen ihn darin stehen - 
b. Ja! und weil viel Lugen von ihm audi darin stehen. Und 
das kan man ihm weiter nicht verargen. 

A. Vorausgesezt, daB sie darin sind, und nicht bios darin zu 
sein scheinen; vorausgesezt, daB sie die Feder des Autors, und 
nicht das Auge des Lesers hineingetragen hat. 

B. Als wenn es darauf ankame! Scheinen oder Sein gilt hier 
gleich viel und es wirkt gleich viel. 

a. Wie so! 
20 B. Wie so? Das ist ia natiirlich. Die Unschuld des Verfassers 
macht wol nicht die Folgen einer schlechten Auslegung seines 
Buchs gut; und was hilft seine Unschuld one Klugheit. Ja! und 
wie schadet sie andern! Natiirlich daB es einerlei ist, ob ich Be- 
schuldigjungen] darin zu sehen vom Autor gezwungen oder 
von mir veranlast werde! 

A. Das wol! Aber- 

B. Aber? 

a. Aber der Verfasser kan nicht die Blindheit andrer bussen? 
oder sol er sie? 
30 b. Er darf sie nicht; aber er nuzt sie. 

a. Ernsthaft? 

b. Ja! er nuzt sie. Wie lange wiirde sein Buch liegen geblieben 
sein. - 

A. anstat daB es' iezt liegen bleiben mus. - 

B. anstat daB es eben darum liegen bleiben nicht kan. Es wird 
weggehen, 



588 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG 

A. wenn es kan. 

b. wie warme Semmel. Kan? Es mus wol. Wer macht ein 
Buch so bekant als ein ... . Befel? 

A. Aber auch zu seinem Nuzen? 

B. Wie anders - denn bekants[ein] heist gelesen werden. - 



A. Nun! das heiss' ich einen Redner. \ 

B. so? 

a. Denn so ein Ausdruk, so ein Wolklang, ia so eine Zierlich- 
keit- 

b. Das ich nicht wuste! 10 
A. Freilich hat er auch seine Feler. Aber wer hat sie nicht? 

Und doch kan er auch die wegpuzen! 

b. Ob ers kan, das weis ich nicht; haben tut er sie, und soviel 
daB er seine Eigenschaften so ziemlich wegpuzen wiirde, wenn 
er seine Feler wegpuzte: denn mit seinen Schonheiten mochte 
es wol nicht weit her sein - die sind alle . . . 

A. Nun was denn? wol auch Feler? - Das ist war, auf diese 
Weise bleibt er nur aus Felern zusammengesezt? O aus Vorzii- 
gen, wird aber ieder sagen; nur freilich, solche Vorziige ertragt 
bios ein neidloser Zuschauer, 20 

b. und solche sieht bios ein blinder. 

a. Schwachheit ist besser als Bosheit! Aber nein! seine Vor- 
ziige sieht nur der Blinde nicht, ertragt nur der neidische nicht. 
Manchen Grossen schazen zu konnenf?] gehort sjelbst] viel 
Grdsse dazu; was wunder, daB es der kleine nicht kan? was 
wunder, daB ers nicht wil, da einen grossen rechtf?] vereren 
zu wollen, eben so viel Grosse gehort - 

b. die ich naturlicher weise nicht habe. Meinetwegen, aber 
andre haben sie und diese andern denken eben so von ihm, diese 
andern bewunderh eben so ser die Kleinheit seiner Bewunderer, 30 
als diese seine Grosse. Zugegeben, daB er freilich nicht ganz 
schlecht ist; aber ob ganz gut? 

A . Das glaub' ich auch nicht; so wie ienes Sie. Denn ich denke, 
daB Sie von ihm schlechter denken, als ich gut. 



GESPRACHE 589 

B. Etwan weil vorhin - 

A. ia weil Sie vorhin seine Feler seine Eigenschaften sein lies- 
sen, weil Sie seine Schonheiten nicht weit her sein liessen. 

B. Und daraus folgt?- 

A. natiirlich, daB Sie schlechter von ihm denken als ich gut. 

B. Ja! das folgt aus meiner Rede. Und aus der Ihrigen, daB 
ich minder schlecht von ihm denke als Sie gut. 

A. Ich? 

B. Sie, weil Sie ihn vorfhin] aus lauter Vorziigen zusammen- 
10 gesezt sein liessen. 

A. Sie ihn aus lauter Felern; ich aus lauter Vorziigen. 

B. Das waren 2 Irtumer; und den meinigen hab' ich einge- 
standen. 

A. Ond ich tue meinen iezt. 
b. Nun sind wir einig, 

A. daB wir uns geirt haben? oder daB wir auf einander [?] 
zurukken? 

B. Das lezte wol nicbt; freilich das erste. Aber was liegt auch 
an dem Lezten? 

20 a. Ja! da an dem ersten so viel liegt, als an Liebe liegt. 

B. Die doch wol unsre Meinungen endlich vereinigen 
mochte, indem sie die Vereinigung derselben durch gewiirkte 
[?] Kaltbliitigkeit urn ein merkliches erleichtert. 

a. Vielleicht! 

A. Eben fang* ich an zu schreiben. 

B. Von was denn? 

a. Das weis ich erst, wenn es geschrieben ist. Die Gedanken 
fliegen Einem in die Feder wie - 

B. ich schenke dir deine Vergleichung. Aber wenn es nur 
30 erst war ist! Oder vielleicht meinst du schlechte Gedanken? ia 
dan. 

a. Die sind der Erwanung nicht wert. Da man Gedanken 
haben mus, so ists freilich kein Wunder, daB man schlechte hat, 
aber [?] eins ist, wenn man gute hat. 

B. Und diese hat man, wie? 



590 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

A. Bekomt man wilst du sagen: unter dem schreiben. Freilich 
liefert der Zufal nicht zu ieder Materie Gedanken. 

B. Das ist so natiirlich. Zu leichten namlich, wenn er sie ia 
liefert - 

A. Und nicht einmal zu diesen, alien Kopfen. - 

B. kurz: er liefert sie aber doch einigen. Doch wenn und wem 
er sie liefert, ist ia die Frage nicht, sondern ob? 

A. Dieses Ob beantwortet die tagliche Erfarung, die ieder 
mit seinem Kopf anstellen kan. 

B. Der namlich einen Kopf hat, last du aus. 

A. und von deren Moglichkeit das geringste Nachdenken 
(iberzeugt. Denn - 

B. Das wollen wir sehen - riikke also das Resultat deines 
Nachdenkens heraus. Denn - 

A. Denn da hier bios die Giite der Gedanken in Betrachtung 
komt; ia eigentlich nicht einmal diese, 

B. Diese nicht? 

a. Sondern bios die geschwinde Erfindung guter Gedanken 
gemeint wird. 

B. Es ist auch war - die geschwinde Erfindung. - 

A. Da man auch leicht durch die Gewonheit, d. h. durch die 
oftere Vervolkomnung des Kopfs, zu dieser Geschiklichkeit ge- 
langt - 

B. Freilich, so ists natiirlich, wenns daraus folgt. 
a. Noch natiirlicher bei andern Umstanden. 

B. Bei welchen z. B.? 

A. Bei Gelegenheit des Dialogs, wo sich oft die Gedanken 
mer nach Worten als diese nach ienen richten, wo wenigstens 
der Ubergang von einem [?] zum andern die Gedanken schon 
mit einschliest. 

B. Daher mag auch wol die schdne Verbindung der Perioden 
in Lessings Schriften kommen. 

A. Nicht anders. 

B. Denn er legte sich mer auf den Dialog als die gemeine 
[?] Prose. Und die Geschiklichkeit in ienem schlagt auch bei 
dieser liberal durch. 



GESPRACHE 59 1 

a. Aber angenem ist so eine Schreib[art] mer als eine andre. 

b. Ja! recht angenem. 



A. DaB man doch mannigma] mit der Behandlung gewisser 
Materien gar nicht fort kan! 

B. Es ist argerlich; es ist war. Bei mir ist dies der Fal selten. 

A. Und bei mir desto ofterer. Vielleicht dafi deine weniger 
Zeit hindurch [?] dauern; da meine oft ganze halbe Tage hin- 
durch waren. 

B. Meine sind auch nicht allemal sogleich volendet. Aber da- 
fur hiit ich mich wol, dabei zu ermatten und der Ermattung 
dan nachgeben zu mussen. 

a. Wie denn hiiten? 

B. Ich meine - ich arbeite ruhiger, und daher auch langer. 
Meine Flamme verlodert nicht im ersten Aufbrennen; freilich 
steigt sie nicht himmelan. 

A. Ja, wer es haben kan, wessen Amt ihn nicht zu heftigen 
Anstrengungen notigt, 

b. Das Amt nun wol niemals. Aber andere Umstande; die 
Begierde, sich hervorzutun- 

a. freilich durch Werke namlich, die bios die Kraft seltner 
Augenblikke zu wege bringt. 



a. Ich wiinsch' dir gliikliche Feiertage. 

b. Also wenigstens warme. 



A. Sie stal mir die Ur ia. 

b. Aber wie du so etwas nicht merken kontest! Das begreif 
ich nicht. 

A. Ich wol! Man vergist iiber die Liebe die Zeit; wie viel mer 
ihren Herold. 



592 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

a. Hast du die Puppen auf dem Markte auch gesehen? 
B. Das glaub' ich! und von alien, die gekauft wurden, gefiel 
mir nicht eine. 

A. und mir nur wenige von den Puppen, die einkauften. 

B. Die Puppen sind die Statuen der Weiber. 

A. und folglich auch Gotter der Manner. Ich meine iezt die 
franzosischen grossen Puppen, die sich, wie die Saule des Pyg- 
malions, in unsre Weiber verwandeln. 



A. Sie war so stum, so steif, so kalt wie eine Statue; meine 
Liebe hat sie belebt, erwarmt, entstumt, wie man iezt sagt. 

B. Du bist der zweite Pygmalion; aber nicht der zweite Lieb- 
haber einer Statue. Dennin Statuen, figurliche und unfigurliche, 
haben sich schon mer Leute verliebt. O was hat die Schonheit 
nicht schon alles ersezt? 

A. wenigstens geschminkt. 



A. So weit schon? 

B. Besser: erst. Denn ich began die Lesung hiziger als ich 
sie fortseze. 

A. Aber so geschwind gesattigt zu sein? 

b. War' freilich ein Wunder: aber ich bin auch eigentlich wie- 
der hungrig: ich amte nur d[en] Dichter nach, der auch die ersten 
Schritte geschwinder tat als die folgenden. 

A. Ja denn freilich verzeiht man ihm die Langsamkeit nicht, 
welche der Geschwindigkeit nur vorangehen, aber nicht folgen 
darf. 



a. Der Seidenwurm spint Seide, die Spinne ihr Gewebe - 
B. Der Beobachter Gedanken, und der Systemmacher 
Worte - 

A. Erst aus vielen Spinnenfaden last sich ein seidner f lech- 
ten. 



GESPRACHE 



593 



' b. So kan man auch aus Quartanten vol Worte einige Gedan- 
ken distilliren. 

A. Die Spinne hasset den Seidenwurm. 
b. Und Herr X. den Hern Z. 



A. Aber daB der Man so gros denkt und so klein handelt, 
daB sein Herz so unter seinem Kopfe bleibt! - 

b. Eben deswegen! Denn welche Tiere haben die meisten 
Augen? 

A. Nun! die kleinsten, die Insekten! 

b. Und der Riese Polyphem hatte nur eines. 



EPIGRAMMEN 



i. 
Die nur konnen verfiirt werden, die es schon sind, und ieder 
Fal ist kleiner als der erste. Man giebt nur denen Argernis, die 
sfelbst] schon welches gegeben. Die Leinwand, die kein Funken 
anzundet, mus erst durch Verbrennen zum Zunder werden, den 
ieder anzundet. Docendo discimus. 

2. 
Fabel 
Wenn einmal die Tiere reden konten, so konten sie auch schrei- 10 
ben. Ein Adler wolte die Nichtadler doch auch fliegen leren; 
er gab also eine Anweisung zum Fliegen in etlichen Quartanten. 
Sein Manuskript war mit den Federn seiner Flugel geschrieben. 
Zulezt woke er seinen Flug nach der Sonne wieder machen, 
und siehe! seine ohnmachtigen Schwingen verhiiten nur seinen 
Fal und bewirken nicht sein Steigen. »Sol diese Fabel sich wol 
mit der Lere endigen, sagt[e] ein Kunstrichter, dafi man oft auf- 
hort das Beispiel der Tugend zu sein, wenn man der Lerer der- 
selben ist, dafi das Herz ser oft unter dem Kopfe bleibt? Die 
Fabel ist dum, ich wolte gewis eine bessere machen, Hesse mir 20 
nur die Rezension derselben Zeit dazu!« Ich ziehe die Lere p., 
sagte der Verf. einer Schrift iiber das Eigentum, die er an drei 
Verleger verkaufte. 

3- 
»Ich schreie doch viel starker als das Pferd« sagte einmal ein 
Esel. »Und wie unausstehlich meinem Kennerore erst dieses 
Pferdgeschrei ist!« sagte ein andrer Esel, der Rezensent des er- 
sten. 



EPIGRAMMEN 595 

4- 
Eine Herde Esel giengen zur Miile mit Sakken heraus, und sahen 
von weitem die Studenten mit Schreibbikhern unter dem Arm 
aus dem Kollegio kommen. »Jezt kommen die Esel des Profes- 
sors auch!« Da ich gestern Disteln fras, sagte einer, daB sie das 
zu Hause nicht brauchen konten! 

5- 
Die Warheit unterrichtet anonym, unter dem Namen der Fabel. 

6. 
Die Blatter der Eiche kronen das Verdienst und ihre Friichte 
masten das Schwein. So die Henriade, und die Pucelle d' Orle- 
ans. 

7- 
» Von wem hast du dein Trinken gelernt?« sagte ein andres Insekt 
zur Grille. »Von einem unsterblichen Poeten.« Umsonst? 
»Nein, ich lerte ihn das Singen.« 



Ein Arzt gieng einmal fr-iih auf dem Gottesakker spazieren und 
betrachtete die Werke seiner Hande, als ihn der Tod antraf . Nach 
zo gegenseitiger Umarmung und Begriissung sagte der Tod: »hier 
hast du eine Universalarznei; es ist ein Magenelixir, das ich aus 
dem Flusse Styx geschopft. « Aber macht diese Arznei derm tod? 
»0 sie macht auch krank.« Lieber Freund, bald mer - mein 
Apoteker verfertigt sonst sjelbst] Wasser aus dem Styx. - 

9- 
Es ist kein Beweis fur die Arzneikunst, wenn ein Arzt lange 
lebt. Lebt doch der Tod noch langer! - Der Arzt hat stat der 
Sense, den Degen. 

10. 

jo Ein ungelerter Falke sagte zum gelerten: »Wie komt es denn, 
daB dich die Menschen als ein Raubtier dulden, da sie andre 



596 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

nicht dulden?« Daher, ich raube fur meinen Furs ten, ihr nur 
fur euch. - 

11. 

An einen, 
der viele Biicher hat, und wenige liest 
Du gleichst den Zukkerbekkern, die das nicht geniessen, was 
sie andern iibergeben. Du kaufst Biicher nicht urn daraus klug 
zu werden, sondern um andere zu iiberreden, daft du es bist, 
und speisest gelerte Magen umsonst. Vielleicht kaufst du auch 
mit soviel Geld den Rum dum zu sein, durch soviel Veranlas- k 
sung klug zu sein. 

12. 

An einen, 
der Epigrammen von Kindern machen lies 
Die Uberschrift meines Epigrams ist schon ein Epigram auf 
dich; und meines sol doch nur eine Dedikazion sein. Antworte 
mir durch deine Schuler wieder. Du kultivirst Wiz vor dem 
Verstand. Du bestrafst den, der nicht gut gelacht hat; du lerst 
eher tanzen, als gehen; doch braucht der Knabe nicht soviel 
Verstand, sie zu machen, *als du Dumheit, sie aufzugeben. Ler' 2c 
sie nicht etwas, was sie einmal wider dich gebrauchen konnen. 
Denke nicht, daB ich dein Schuler war - meine Epigrammen 
wiirden dir sonst gef alien, und Kennern noch mer misf alien, 
wenn es moglich ist. - Wilst du mich tadeln, so lobe mich. 

13. 
Es giebt Schmetterlinge fur den Tag, und fur die Nacht. Ich 
wtirde also auch die Existenz zweierlei Stuzer behaupten, wenn 
man in der grossen Welt nicht Nacht in Tag und Tag in Nacht 
verwandelte. 

14- 3c 

An einen medizinischen Stuzer 
Du gleichst dem Todenkopfvogel: er ist ein Schmetterling wie 
du; das Bild des Todes ist sein Wappen; gemeine [?] Leute furch- 
ten und grosse schazen ihn, wie dich umgekert. 



EPIGRAMMEN 597 

15- 

Die Autoren sind Konsonanten, die sich one einen Verleger 
nicht aussprechen lassen. Und doch steht dieses Name auf dem 
Titelblat unter dem ienes, wie die Vokalen bei den Hebraern. 
Beide lassen sich one Vokalen nicht gut lesen. 

16. 

Zimon nakte Perser [?] und ihre Kleider; nur das, was nicht 

ihnen gehorte, fand Kaufer. So ists, wenn man die Moral und 

die Fabel von einander trent; ieder liest diese one iene - zieht 

10 die Warheit nicht nakt aus. - 

17. 
Demokrit verdarb sich das Gesicht, um besser zu philosophiren; 
ienfer] philosophirt, um blind zu werden; ienes sol noch bezwei- 
felt werden, dieses ist gewis. 

18. 
Derselbe Baum, mit dessen Zweige wir uns gegen das Fallen 
sichern, macht uns mit seinen Wurzeln fallen - der Man, dessen 
Schriften Tugend leren, lert mit seinem Leben das Laster. 

19- 
20 Dieser Arzt hatte keine Erben; weil sie sich stellen musten, seine 
Pazienten zu sein. 

20. 

A. Warum klatschen Sie denn nicht, und pochen nur? 

B. Ich mus den Stok in den Handen halten, womit ich po- 

che. - 



Nichts ist gemeiner in alien Epigrammen [als] die Horner der 
Hanreihen; wenn es nicht die Horner der Epigrammatisten sind. 



598 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

22. 

Bin Wortspiel 
Der Jude beschneidet seinen Son und Gold; aber weder Madgen 
noch Silber. - 

23. 
Herr G. wischt sich bei Vorstellung eines Trauerspiels die Tra- 
nen mit dem Schnupftuch ab, das er eben gestolen. - 

24. 
Die romischen Feldhern schminkten sich bei ihrem Triumphe; 
du vor dem Siege. 10 

25. 
Er djchtet und siegt zugleich; er hat den Pegasus und Buzephal. 

26. 

[An einen] 

Vorleser seiner Weinlieder 

Nicht dein Gesang, sondern der Gegenstand desselben berauscht 

uns; ia deine Weinlieder sind Wasser in den Wein und dein Lor- 

berkranz ist unser Epheukranz. - 

' 27. 
Dein Kopf glanzet nur in der Entfernung; die Sorgen und die 20 
Laster erfullen ihn - so scheinet die Sonne von weitem, und 
ist nach einigen der Aufenthalt der Verdamten. 

28. 
Auf ein Allerlei 
Dein Buch ist durch Mannigfaltigkeit an Felern angenem; urn 
nicht schlecht zu sein, bist du es in alien Fachern; gleich den 
Insekten, die viele Augen, und wenig Gehirn haben, Teau de 
milles fleurs. 



EPIGRAMMEN 599 

29- 

Ich erhize meinem Vetter den Kopf durchs Herz. Wenn er nichts 
mer zu schreiben weis und gelerte Verstopfung hat, so les' ich 
ihm mit gutem Erfolg Schriften [defekt] iiberfliessen: so klystirt 
[defekt] 

30. 

[Man] vergleicht eine Schone mit der Sonne; schon seit der Zeit 

da Phobus Verse eingab. Ich vergleiche [sie] mit der Erde; ich 

weis aber nicht, welches System war sein wird, das kopernika- 

10 nische oder [das ptolemaische]. 

3i- 
Die Rote auf iungen Wangen ist gut - denn sie ist warscheinlich 

die Farbe der Scham - die Rote auf alten Wangen taugt nichts 
- denn [sie] ist aus einer Biichse genommen. So bedeutet umge- 
kert Abendfote und Morgenrote p. 

32. 
Die Sonne macht die Wolken und meine Fr[au] rot, die Nachts 
beide weis waren. 

[33.] 

20 Doch must du mir erlauben, meine Rechte iiber dein Werk gel- 
tend zu machen. Zwar sol mich der Korper deines geistigen 
[?] Kindes von der Hinrichtung desselben abhalten; allein in 
England und andern Orten gehoren onehin die Kleider des Ver- 
urteilten dem Henker. 

[34.] 

Die Schriftsteller begeren so die Musen, wie die Affen die Wei- 
ber. 

[35.] 

Wie derselbe Wind die grossen und kleinen Orgelpfeifen be- 
30 wegt, so dieselbe Begeisterung die grossen und kleinen Dichter. 



6oO JUGENDWERKE - 3.ABTEHUNG 

. [36.] 

Dieser Poet singt nur in Kreuz und Leiden; [man mus ihn] mit 
Fiissen treten, eh' er klingt, wie's Pedal; Satiren. 

[37.] 

Die Pfoeten?] haben lange Nagel, um ihre Harpfe besser zu spie- 
len und ihren Feind zu verwunden. 

[38.] 

Er singt from und redet bos - neben der keuschen Muse hat 
er eine Hure zur Beischlaferin; ein Heiliger auf dem Parnas, 
und ein Bosewicht auf Sinai; ihm felen alle die Tugenden, die 10 
er mit seinen Versen einflost - und seine einzige Tugend ist, 
daB er alle die lert, die er nicht hat, und daB er das Laster tut 
aber nicht besingt; sein Buch ist besser als er und das Kind der 
Antipode des Vaters. Um ihn zu bewundern, mus man ihn nicht 
kennen. Er gleicht dem, dessen schone Stimme uns entziikt und 
dessen ubler Odem uns ekkelt. Um sich im Genusse seiner Ge- 
schiklichkeit nicht storen zu lassen, mus man entfernt sein. Auf 
seinem Kopf ist Puder, an seinen Fiissen Kot - 

[39.] 

Je weniger man lernt, desto mer lert man; ie unverdauender 20 
der Magen, desto ofner der Leib, und s[elbst] das docendo 
dis[cimus] gilt nicht von ihfnen], aber das discendo doce; sie 
stellen sich auf die Abcbank, und machen sie zu ihrem Kateder. 

[40.] 

Fur den Baston ist unser Gehor zu klein - 

. [41.] 

Die Kunstrichter tadeln das Schlechte, um das Gute tadeln zu 
konnen; [gleich] dem Herodes, der Christus zu toden, alle Kin- 
der toden lies. - 



EPIGRAMMEN 601 

[42.] 

Selbstrez[ension]. So zankt sich der Doktor mit seinem Harle- 
kin, nicht urn zu zanken, sondern seine Pillen anzupreisen, halt 
sich seine eigne Leichenrede, wie Karl sein eignes Leichen- 
begfangnis]. 

[43.] 

Aus Ubersezungen das Gute kennen lernen; den Harn der 
Schwamme trinken. - 

[44.] 

10 Je mer wir gewisse Warheiten durchdenken, desto mer verlieren 
sie von ihrer Urschonheit, oder so weit ein Rezensent liest, so 
weit tadelt er - gleich dem Kinde, das das Buch beschmuzt, 
so weit es gekommen; er ist aber erst bei Uber. 

[45.] 

Er weis alles zu benuzen; und seinen Raub in sein Eigentum 
zu verwandcln; cr macht den Zukker und Klos. 

[46.] 

Gewisse feurige Schriften tun auf Schriftsteller die Wirkung des 
Weins - sie treiben den Harn [defekt] 



BITSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 
AN DAS PUBLIKUM 



Weises Publikum! 

Alle Titelblatter wiederhallen die alte Behauptung, difficile est 
satiram non scribere. Diese Unwarheit, deren Verzeihung man 
dem grauen Herkommen der BCicher, auf dem ersten Blatte 
die erste Luge zu sagen, nicht verweigern kan, sol durch unsre 
Bitschrift von aller ihrer Warscheinlichkeit entkleidet werden 
und unsere Griinde fur die iezige Teurung an Narheiten werden 
dir den mitleidigen Ausruf abdringen, difficile est satiram scri- 
bere! Mit diesen Griinden werden uns die meisten Stande aus- 
helfen und man wird iiber die Seltenheit erstaunen, die die figiir- 
lichen Narrenkappen mit den unfigurlichen iezt gemein haben. 
Guter, teurer Hanswurst! vom Teater hat man dich nicht bios 
verwiesen, auch aus dem Parterre? - ach! sogar aus den Logen! 

Da man bei einem guten neuen Autor, ausser den Narheiten, 
nichts seltner findet als eine Ordnung derselben, so haben auch 
wir bei unserm Aufsaz fur den Reiz der Verwirrung gesorgt, 
one durch die Furcht abgeschrekt zu werden, man moge diese 
Bitschrift fur das Kind einer iuristischen Feder ausgeben. Doch 
ieder sieht ia, daB sie - deutsch ist. Ubrigens werden wir immer 
die Griinde fur die Seltenheit des Narren mit ihren schadlichen 
Folgen fur den Satiriker abwechseln lassen. 

Die Fiirsten sind den Schriftstellern das, was die Sterne den 
Kaldaern waren - nicht bios Gegenstande der Anbetung, son- 
dern auch der astronomischen Beobachtung; doch verrichtet 
man beides auf den Knien und das eine am Tage und das andre 
zu Nachts. Auf dieses alte Recht wagen wir denn die freimiitige 
Klage, daB wir mit Erstaunen auf den deutschen Tronen fast 
eben soviele Kopfe als Diademe zalen und eine grossere Anzal 
von Zeptern als von gnadigen Klauen antreffen, ungeachtet wir 
zu Einem Tron zwo Klauen und nur Einen Zepter rechnen. 
Kurz die Schazkammer der mit gekronten Hauptern gestempel- 
ten Torheiten hat sich fur uns erschopft; kaum daB noch der 
Nachtrab der Satire, das Pasquil, mit unprivilegirten Handen 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 605 

eine falsche Miinze schmiedet. Doch mildert diese Klage der 
Sprachgebrauch, welcher einem gekronten Haupte alle die Tu- 
gendenzuschreibt, deren Mangel es durch Vermeidung der ent- 
gegengesezten Feler vergiitet, und nach welchem ein nichtboser 
Fiirst, gleich diesem philosophischen Erdbal, der beste ist. Wenn 
daher ein Fiirst die Vorschlage seiner Minister unterschreibt, 
so erfindet er sie; wenn er den Akkerbau durch nichts als die 
Jagd verhindert, so unterstiizt er ihn, und das Getraide, das er 
nicht wegerntet, saet er; wenn er am Tage gar nur schlaft, so 
, durchwacht er die Nacht fur das Wol des schlummernden Stats; 
kurz ein Stiefvater des Vaterlands ist ein Vater desselben. Die 
Erde bedekte wol, aber trugnie gekronte Henker, und ein Tyran 
erbte nie einen koniglichen Tron, sondern nur eine konigliche 
Gruft. Ja selbst konigliche Laster nent man ausgerottet, wenn 
sie nicht iiber den Zaun der Klugheit hinauswachsen: so nent 
das neue Testament die Beherschung verfurbarer Gliedmassen 
das anatomiren derselben. Diese Teurung an fiirstlichen Torhei- 
ten verursacht, daB wir weniger Satiren und mer Pasquille raa- 
chen. Doch da der Tron der Grundpfeiler des Stats ist, da an 
I 20 der kleinsten Bewegung eines Konigs das Schiksal eines ganzen 
Volks hangt, so wollen wir Satiriker die Narung unsrer Galle 
willig dem algemeinen Wol aufopfern, so bald uns die meisten 
deutschen Potentaten durch ein Privilegium erlauben, auf sie 
Pasquille zu schreiben und durch den Verkauf derselben dem 
Hungertode zuvorzukommen. Die Erlaubnis, Pasquille zu ma- 
chen, werden uns diese meisten lieber erteilen, als die iibrigen 
die Erlaubnis, auf sie Satiren zu machen. Wenigstens hat der 
goldharte Zepter der leztern ser oft an unsern harichten Rukken 
die Opfer unsrer Geiseln geracht; f reilich vergassen wir mannig- 
| 30 mal, daB manche furstliche Torheit das Vorrecht des romischen 
Burgers geniesse, den man toden, aber nicht geiseln durfte. Wir 
taten das leztere, weil den Premier minister an dem ersten Frau 
und Hure und Kammerdiener ppp. verhinderte. 

Wenn der Fiirst seine Torheiten abdankt, so folgt, daB seine 
Hoflinge die ihrigen verstekken, wenn iener sein eignes Har 
in zierliche Gestalten krauselt, so tragen diese den kalen oder 



606 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

borstigen Kopf unter einer gekauften aber lokkichten Periikke 
und in die Tugenden des einen verlarven sich die entgegengesez- 
ten Laster der andern. Ungeachtet nun der Hofman durch diese 
Mummerei gewisse Wilden nachamt, welche zur Verhiillung 
ihrer unerbarcn Glieder nicht die Furcht iiberredet, durch die 
Anstossigkeit der leztern zu beleidigen, sondern die Besorgnis, 
die Verlezbarkeit derselben dem Zufalle auszusezen; so richtet 
dennoch diese Gewonheit in unsrer satirischen Republik er- 
staunlichen Schaden an - Und dieses um desto mer, da wir 
Satiriker die Hofe mit wizigen Farben abmalen, one daft sie 
uns ie gesessen haben, und unsre lauten Peitschen an den Riikken 
roten, die wir selbst geschnizt. Selten daB 4 wir den Hofman, 
wie der Geizige den Affen und Baren, durch die nasse Fenster- 
scheibe unsrer Dachstube auf der Gasse mit eignen Augen beob- 
achten konnen; noch seltner daB Biicher, in denen wir stat der 
Hofe die Gemalde derselben studiren, so wie Delaporte nicht 
in den Landern, sondern nur auf ihren Karten herumreiste, die 
Geschopfe unsers Pinsels mit neuen wie wol unwaren Ziigen 
bereichern. Diese Ursachen zusammengenommen verunstalte- 
ten denn auch unsre Satiren mit sovielen'Liigen. Wir behaupte- 
ten, daB das Chameleon seine Gestalt zum Spiegel der nachbarli- 
chen Gegenstande mache und stat aller Speise nur Luft zu sich 
neme; allein die neuen Naturkiindiger leren uns, daB das Tier 
seine originelle Grundfarbe selten und nur im Zorne andert und 
mit der geschwinden Zunge Insekten haschet. Wir fanden den 
Hofling der Schlange anlich, welcher die Geschmeidigkeit des 
Korpers das Kriechen erleichtert; und vergassen ganz, daB die 
kriechende Schlange auch springt, um die nahe Beute zu iiberra- 
schen, oder in einer andern Figur, wir liessen uber die Wind- 
buchsen, aus denen hinter dem rauberischen Busche eine 
stumme Luft den Tod hervorblast, die Kanonen aus der Acht, 
deren Schlund dem Feinde ein Kollegium uber das Jus gentium 
liest. Wir hatten nicht bios an der Sele des Hoflings, sondern 
auch an seinem schimmernden Kleide franzosischen Wiz rumen 
sollen; so wie nicht bios die Augen, sondern auch das Fel der 
schwarzen Kazen im Finstern leuchtet, vorziiglich da man an 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 607 

dem Hofman, wie an dem Biere, erst die Gestalt und darauf 
den Geschmak priifet. Wir geiselten in den Hoflingen unsre Ne- 
benbuler und waren ungerecht gegen ihr Herz, an welchem ihre 
stumpfe Satire sich merklich scharft - Die Schlange beisset auch 
nur mit beweglichen Zanen, allein durch sie fliest dan der Speichel, 
der die Wunde vergiftet. Wir predigten gegen ihre schlupfrigen 
Erzalungen; allein dan hatten wir auch den Lenden ihrer Zuhorer 
das Vermogen zu den Lastern wieder eingiessen sollen, deren 
schwaches Echo nun die Oren geworden. Die Fama ist gleich 

10 den Harpyien, mit einem ewigen Hunger und einer ewigen Dis- 
senterie behaftet und ihre Oren weteifern mit ihren Zungen in 
der Unermudlichkeit - daraus ergiebt sich die Pflicht eines Prie- 
sters der Fama, dessen tatige Zunge die (ibrigen miissigen Glie- 
der erhalten mus. Wenn daher die Wilden meinen, die Affen 
reden nicht, um nicht arbeiten zu diirfen; so irren sie sich: denn 
bei uns reden sie eben deswegen. Auch schmeichelt der Hofman 
seinem Nachbar oder Obern nicht so gar ser als wir sonst glaub- 
ten: seinen Riikken kriimt wol die Hoflichkeit, aber nie die 
Ubernemung einer fremden Last, er weihet seinem Freunde 

20 schone Pas, aber nie saure Schritte, und opfert ihm Worte, aber 
nicht die Erfullung derselben, wie die armen Agypter stat der 
Schweine die Bilder derselben. Selbst von seinem Verhalten ge- 
gen den Fiirsten waren wir iibel unterrichtet. Er schmeichelt 
ihm nicht bios, sondern er affektirt auch Unverschamtheit und 
flieht zur Kiinheit, um darauf mit mer Ere und Tauschung krie- 
chen zu konnen. - Da ein gekronter Kastrat seiner Liebe zum 
gemeinen Wol unleidlich vorkomt, so wird er einem Fiirsten, 
dessen Entmannung er einer H- anvertrauet hat, gewis das so 
wichtige Ruder des Stats entreissen und den Jupiter nachamen, 

30 der seinem Vater Saturn nicht bios die Hoden, sondern auch 
den Zepter raubte. - Vielleicht reicht er die erhebende Hand 
denen zur riimlichen Annaherung, deren mogliche Undankbar- 
keit ihm kunftig wenig schaden kan; allein selten wird er die 
Rache seines Oberhaupts zu zaumen suchen und halt es fur gleich 
ungerecht und gefarlich, einen fallenden Favoriten oder eine fal- 
lende Bundeslade zu unterstiizen. — Aus diesem alien wirst 



608 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

du, liebes Publikum, einen Schlus auf die notwendige Liigen- 
haftigkeit und Armut unsrer Satire ziehen konnen. Doch miissen 
wir auch den Hofleuten fur etliche neue Torheiten aufrichtig 
danken. Mit Vergniigen schleichen wir ihren Urteilen in Bilder- 
gallerien nach und fangen die gelispelten Kunstworter zur Na- 
rung unsers Zwergfels auf. Uns gefalt ausser ihrer Unwissenheit 
nichts so ser als das wizige Kleid derselben; und wir bewundern 
an ihnen die gliikliche Nachamung der Wirte, die das trube Bier 
in Schaum verlarven. Auch sollen iezt, wie man sagt, einige 
Hofleute ihre Muttersprache erlernen; man sezt noch hinzu, daB 10 
selbst an deutschen Hofen deutsche Gelerte geduldet wiirden 
- allein diese Nachricht glauben wir erst einer kiinftigen Bestati- 
gung. Wenn doch die Hofmanner der Torheit, patriotisch zu 
scheinen, noch die nagelneue, tiefsinnig zu scheinen, beifCigten! 
Doch eine solche Tauschung trauen wir ihrer Verstellungskunst 
voriezt noch nicht zu, ungeachtet dieselbe oft einen eifersikhti- 
gen Gonner mit der entgegen[ge]sezten Larve betrogen hat. 
Man kan auf dem Redoutensal alle Glieder vermummen; allein 
schwerlich die Augen ganz, fals man nicht den blinden Betler 
machen wil. 20 

Der Stolz und der Name eines Edelmans haben fast gleich 
viel Anen; und seine Torheiten sind noch unsterblicher (mit 
Erlaubnis des metaphysischen Donats) als unsre Satiren dariiber. 
Allein der Ekel einer unaufhorlichen Wiederholung verleidet 
uns alles fernere Lachen; und vielleicht bewerkstelligt noch die 
Gewonheit, daB wir den Edelman mit den Augen eines Edel- 
mans ansehen. Auch schazen wir einen Federbusch und ein Stiik 
altes Pergament viel zu ser, um die nicht zu schazen, die den 
Federbusch und das Stiik alte Pergament nicht verdienen. Von 
unsrer Behauptung machen dieienigen Edelleute eine unbe- 30 
trachtliche Ausname, die noch auf Akademien leben, um etliche 
Romanezu lesen. An diesen mus man rumen, daB sie den Adeli- 
chen solange nicht spielen, als sie einen Unadelichen zeugen; 
und einer von uns war einmal Augenzeuge, daB ein iunger Baron 
den Federhutvorher auf den Tisch legte; (einen Degen trug dieser 
iunge Mars wegen seiner militarischen Erentitel, dazumal nicht, 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 609 

wie denn auch die Dronen die Stachellosigkeit mit der Frucht- 
barkeit verbinden.) Selbst die Mode der iezigen Denkungsart, 
die alle Stande almalig zu ebnen scheint, driikt den Stolz des 
alten Blutes nur so lange nieder als kein andres altes Blut den 
Zeugen dieser schimpflichen Bescheidenheit abgiebt. Spreche 
mit Einem Edelmanne, so ist er vielleicht bescheiden; seze einen 
zweiten bescheidnen hinzu, so werden sie den lateinischen Ne- 
gazionen gleichen, die durch Verdoplung eine entgegengesezte 
Eigenschaft bekommen; und ieder Federbusch winkt dem an- 

10 dern zu <MXutJie avftocojtog el. Vielleichtist auch unser Spotiiber 
diesen Gegenstand nicht bios zu alt, sondern auch zu ungerecht. 
Auf welche Verdienstesol der Edelman stolz sein, wenn es nicht 
fremde sein sollen? Die Gegenwart hat bei ihm den Rum von 
der Vergangenheit geerbt; lasset ihm daher ein Erbteil, das er 
schon unter so viele Schulden verteilen mus. Er wird auf seinen 
Stambaum nie Lorberzweige propfen; gut genug, wenn er auf 
demselben Eichen propfet, die Fruchte und keine Blatter tragen. 
O ihr Esel von Madure, euch verert man, weil euch die Selen 
verstorbner Edeln beleben, nicht einmal dem arabischen Pferde 

20 gleich, dessen Korper ein Stambaum von zwei und dreissig 
Quartiren veredelt; und dem Edelmanne solten wir eine Ach- 
tung entziehen, die seinem alten Blute gehort, das er aus neuen 
Speisen distillirt? Diese Achtung diktirt uns die untertanige Bitte 
an den Adel nicht um Vermerung, sondern um Veranderung 
seiner Torheiten. 

Geschmtikt mit grossen Schnallen, einem grossen Hute und 
grossen Stokke, mit einem kleinen Harbeutel, und kleinen Rok- 
gen und kurzen Westgen, nicht one Wolgeruch und one Puder, 
die Geisel in der Tasche aber das Schnupftuch halb ausser dersel- 

30 ben, trit unser satirisches Kor dem schonen Geschlechte naher, 
macht mit seinen beschuhten Boksfussen die gewonlichen 
Spriinge der Hoflichkeit und greift mit gebognem Rukken nach 
den schonen Handen, um die schonern Handschuhe zu kiissen. 
Schones Geschlecht! das uns hasset und auch nachamet, das den 
armen Satirn den angebornen Ungehorsam gegen zwei Gebote 
der andern Geseztafel nur halb vergiebt, namlich den Ungehor- 



6lO JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

sam gegen das achte Gebot nicht vergiebt - womit haben wir 
die Rache deines Pinsels so ser verschuldet, daB er unsre Satiren- 
gestalt zur Teufelsgestalt verhaslicht? Wir haben nur Boksfiisse; 
und du giebst uns teuflische Pferdefiisse - wir tragen nur kleine, 
gerade, unreife Horner; und du sezest uns so krumme und grosse 
Horner auf, wie sie der Teufel vom Ochsen und dein Herr vom 
Aktaon borgt - wir haben keinen Schwanz; und du machst unser 
Steisbein so lang, wie deine Schleppen - wir konnen uns zwar 
nicht so weis wie du dich malen, aber du malst uns so schwarz 
wie den Teufel. Das soltest du nicht tun. Wir haben ia uber 10 
dich nicht mer gespottet als (iber die, die dich anbeten. Rechne 
alle unsre Harte den bitterbosen Rezensenten an. Gleich den 
Offizieren, deren spanisches Ror an dem Soldaten die Mensch- 
lichkeit bestraft, mit welcher er die Spiesrute (iber die Wunden 
seines Kameraden geschwungen, wiirde uns dieses militarische 
Volk alle die Streiche aufzalen, die dir unsre galante Geisel ge- 
schenkt hatte und wir wiirden schone Riikken auf Kosten des 
unsrigen geschonet haben. Auch tadelt ihr, lieben Kinder, an 
uns eure eignen Feler; ihr vergeltet ia selbst die Schmeicheleien 
der Manner mit Satiren und verunstaltet eure Lippen, wie eure 20 
Wangen, durch Essig. Mit eurem Gesicht, auf welches die Natur 
bunte Reize pflanzte, und mit eurem Munde, in welchen die 
Mode Nesseln saete, gleicht ihr Gottinnen Europens den Got- 
tinnen der Agypter, namlich den Zwiebeln, die die Augen durch 
die aussere Blume ergozen und durch die beissende Wurzel be- 
leidigen. - Um euch aber doch besser zu gefallen, wurden wir 
aus Satirn zu Stuzern, und anlichen nun nicht mer den Teufeln, 
sondern den Affen und werfen euch eure Unfruchtbarkeit an 
Torheiten vor, obwol nicht wie der Stuzer auf den Knien. Allein 
diesem Vorwurfe wollen wir eine kleine Schilderung einer Tor- 30 
heit vorausschikken, mit welcher ihr das vergangne Jarzehend 
verschonertet, die ihr aber leider! dem iezigen und uns lebenden 
Satirikern entziehet. Nie entwolkte unsre harichten Gesichter 
ein schallenders Gelachter, als da wir auf dem Antlize des weibli- 
chen Deutschlands die nun verschwundne Ebbe und Flut der 
Tranen gewar wurden, die seltner zur Befeuchtung des Lorbers 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 6ll 

oder der Palmen als der Myrthe flossen, als wir in iedem Auge 
Wolken sahen, die Wasser regneten und das Licht aufhielten. 
Ja einer von uns lachte beim Anblik einer Schonen, die einer 
getodeten Fliege durch einen seidnen Sarg die Grausamkeit einer 
Spinne vergiitete, zu deren Henker sie ihren kleinen Bruder 
machte, so laut, daB die Schone ihn mit dem Sonnenschirm 
an dem rechten Horngen gefarlich verwundete. Und wirklich 
wir hatten auch nicht so lachen sollen; man hatte langer geweint! 
Nun ist die Empfindsamkeit aus Herzen unter unbedekten Bu- 

io sen in solche verwiesen, die unter einem groben Halstuche un- 
gesehen klopfen, und die Kochin erbaut sich, in Geselschaft der 
zwolfiarigen Mamsel, Sontags an dem geborgten Roman, iiber 
den ihre Madam satirisirt. Was bleibt uns armen Teufeln nun 
ubrig? nichts als die Fortsezung unsrer Satiren. Die Dissenterie 
der Augen hat nachgelassen; aber wir gehen demungeachtet 
noch mit unsern Vomitiven hausiren. So wie der Teufel in dem 
Korper des Studenten, den er getodet, (auf Befel des berumten 
Magikers, Heinrich Kornelius Agrippa,) die Stelle der Sele ver- 
trat und seine Fusse zu einem tagelangen Spaziergang belebte; 

20 eben so schenkt unsre Ironie der Empfindsamkeit, die sie hinge- 
richtet, verlangertes Leben und redet die tode Sprache der wei- 
nerlichen Makulatur. Hierin tut sich vorziiglich einer unserer 
Mitbruder hervor, der das Ableben der Empfindsamkeit fur ei- 
nen Wink aufgenommen, ihren modernden Riikken mit einem 
dikken Roman unbarmherzig zu ziichtigen. Dieser zweite Swift 
wird die Welt nachstens mit einem Band Satiren beschenken, 
worin er der Torheiten vor der Sundflut nicht im geringsten 
schonet. Was der Hunger nicht tut! Er ist es, der durch denselben 
Kiel Tranen und Galle ausgiesset, der im zwanzigsten Jare mit 

30 den Weinenden weint und im dreissigsten mit dem Lachenden 
lacht. So diente umgekert iener Eselskinbakken dem Simson 
sowol zur todenden Waffe als zur wasserreichen Quelle! Ein 
Dichter wiirde dieses so ausgedriikt haben: der Eselskinbakke 
weinte Freudenzaren iiber seine Bcsicgung der Philister. Solten 
wir durch Vorstellung dieser Unbequemlichkeit das schone Ge- 
schlecht nicht zur Auferwekkung der genanten Torheit uberre- 



6l2 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

den konnen, so wird es sein eigner Vorteil tun. An deiner Seite, 
liebes Madgen, betet man den Mond nur an, um dich anzubeten. 
Und du selbst, urn was kontest du die Diane bitten? hochstens 
um eine ewige Jungferschaft, die sie dir (nach der Mytologie) 
auch geben wird; so wie dein Anbeter hochstens um die kiinftige 
Verrichtung des Hebammendiensts, wozu sie sich gleichfals 
(nach den Vorschriften der Mytologie) willig finden lassen wird. 
Man sagt, daB die Zauberinnen meistens zu Nachts ihre uber- 
menschlichen Geschiklichkeiten iiben; o ihr schonern Zauberin- 
nen, die niemand verbrent, warum verratet ihr dem geschwa- 10 
zige[n] Tage eure Kiinste, warum entreist der Apollo seiner 
Schwester eure Vertraulichkeit, warum verratet ihr beim An- 
kleiden vor der Toilette den Stralen eines Jiinglings die Geheim- 
nisse, die nur das Auskleiden dem keuschen Schimmer der ewi- 
gen Jungfer verraten soke? - Wir konten die Empfindsamkeit 
noch beredter loben, hatten wir SuBmilch's Augen, um ihre 
Folgen zalenzu konnen. Kenner der orientalischen Welt rumen 
von der Beschneidung, daB sie den Judenselen Heiligkeit fur 
den Himmel und den Judenkorpern Fruchtbarkeit fur die Erde 
mitgeteilt - der Kontext mag das Gleichnis volenden und dem 20 
Leser den Affen nennen, der den Menschen mit dem Tier, den 
Engel mit dem Amor und die Religion mit der Liebe verbindet. 
O ihr heidnischen Madgen, die ihr den Got in seinem Priester 
zu lieben glaubtet! o ihr deutschen Madgen, die . . . abermals 
nimt uns der Kontext die halbe Vergleichung aus dem Munde. 
Ihr Schdnen, leiht uns eure Schamhaftigkeit! Wir werden dan 
unsre Bitte mit eben so roten Wangen vorbringen konnen als 
ihr sie erfiillen werdet! . . . Allein weiter! An eurer erstaunlichen 
Verbesserung ist freilich die Verschlimmerung der Manner am 
meisten Schuld. Ihr belontet namlich mit iener diese, welche 3° 
in euren Augen eine entgegengesezte Benennung gewint. Die 
Enterung des ersten Geschlechts zog die Verherlichung des 
zweiten nach sich, und ihr habt angefangen Weiber zu sein, 
weil wir aufhorten Manner zu sein. Seitdem die Manner ihre 
Beutel der Kunst naturliche Haslichkeit in kiinstliche Schonheit 
umzuwandeln, geofnet; habt ihr eure Torheiten in Vernunft 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 613 

umgewandelt - ihr verschwendet eure Zeit nicht mer, seitdem 
ihr sie dem Puze widmen durft, eure Hande kochen nun fur 
den Kus dem Mund bessere Speisen. Daft ihr euch bis zu alien 
Geschaften deutscher Hausmiitter herablasset, komt bios dahcr, 
weil eure seidnen Blumen, eure Schwanzfedern und euer Har- 
gebaude euch unaufhorlich durch den Spiegel eure Pflicht ein- 
scharfen und der Tanzmeister hat eure Fusse hausliche Tatigkeit 
und Eingezogenheit gelert. Fast konte man auch der haufigen 
Einfur der holzernen Modepuppen Frankreichs eure Ungleich- 

10 heit mit diesen Puppen zuschreiben. Frau A. hat ihrem Manne 
ein ansehnliches Nadelgeld abgetrozt; allein sie entspricht dieser 
Freigebigkeit durch eine seltnere Abnuzung der Nadeln. Frau 
B. tragt unter einem entblostern Busen ein keuscheres Herz und 
ihr felt zur Tugend des Engels nur die Naktheit desselben; auch 
nimt sie zeither in ihrem Ehebette Morgenbesuche an, weil sie 
die Reinigkeit desselben nicht anders gegen ihre Anbeter zu ver- 
teidigen weis. . . . Freilich hat die Mode fur unsre Galleimmer 
noch durch einen Feler gesorgt; ware dieser Feler nur des La- 
cherlichen noch fahig. Eine Verspottung der strengen Keusch- 

20 heit wurde unser Zeitalter gewis mit beifalligem Lacheln aufne- 
men; allein die Verspottung der Unkeuschheit mochten wir um 
wieviel nicht wagen. Was helfen unsrer Geisel die H-; ihre Riik- 
ken beschuzt die Mode undheiligt der Schmuk. Vielmer miissen 
wir den unsrigen zu einem Fidelbogen kriimmen, um ihnen 
ein eintragliches Amt abzuschmeicheln; unsre Minen machen 
die Lobrede ihrer Reize, wir geraten iiber ihren Wiz in selbstver- 
gessende Entziikkung und weihen ihrer Tugend eine Trane des 
Danks, um nicht Hungers zu sterben. Wer an den Minister A. 
ein Gesuch hat, mus sich an seine H-, aber nicht an seine Gema- 
1 30 lin wenden. Auch hat man an den gekronten Hauptern zu Pria- 
mus Zeitenbemerkt, dafi sich ihre Vernachlassigung der Lander 
seltner aus dem Einflusse einer Gemalin, und meistens aus dem 
Einflusse einer aus dem Staub erhobnen Sklavin erklaren lassen; 
so wie der Erde ihre verdikten Diinste ofterer als die Luna die 
Stralen des Phobus stehlen und triibe Tage haufiger als Sonnen- 
finsternisse sind. Wie gluklich sind unsre Zeiten, wo die Astraa 



614 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

zu den Sternen und die Keuschheit auf die Tronen geflohen! 
Nach dem iezigen Sprachgebrauch ist eine -, die mit ihrer Tu- 
gend Juwelen und goldne Wagen einwu chert, keine H-, und 
man kan die Priesterinnen vor wolfeilen Altaren fuglich auf ihr 
Beispiel verweisen; iibrigens verabscheut man wie billig dieieni- 
gen Huren am meisten, die keine mer sind. Eine weibliche Got- 
heit entgottert nichts gesch winder als ein kleiner Engel: denn 
der Sallat, auf dem schon Samen gereift, ist iedem Gaumen an- 
stossig. - Zur Massigung unsrer Klage gestehen wir aufrichtig, 
daB viele Schonen ihre ersten und kleinsten Gefalligkeiten wirk- 10 
lich mit viel Schwierigkeiten verpanzern und nur die lezte one 
verhaltnismassigen Widerstand dahingeben und daB sie sich 
eben so schwer kiissen als enteren lassen! So wafnet die Rose 
ihren untern Stiel mit spizen Dornen, aber den obern, mit wel- 
chem allein man sie der Nase nahert, iiberlast sie der beriirenden 
Hand one eine bessere Verteidigung als die kleinen umgekerten 
Dornen, die nicht stechen. - Sonach miistest du, schones Ge- 
schlecht, auf eine Woltatigkeit, die unsre Knie sonst mit soviel 
Schmerzen bezalen, in Ruksicht unsrer Verzicht tun; den Anfang 
zur Bereicherung an Torheiten kontest du am fuglichsten mit 20 
dem Gestandnis deiner Armut an denselben machen. Erroris 
agnitio est dimidia emendatio, steht im ersten Kolloquio der 
langischen Grammatik. - Nur deine Zunge konte die Erzalung 
von alien schadlichen Folgen deiner Weisheit one Ermiidung 
aushalten; verzeihe daher unserm Kiele die Kiirze. Vorher miis- 
sen wir anmerken, daB wir in der gelerten Welt alle Rollen, 
aber nur so lange spielen, als wir sie in der unsrigen nicht ver- 
spotten und daB wir dem Affen, nicht bios an Lustigkeit und 
an Haslichkeit, sondern auch an Nachamungssucht gleichen. 
Seitdem deine Verschlimmerung unserm Tadel ein Ende 3c 
machte, legten wir uns auf dein Lob; wir schrieben lange Dedi- 
kazionen zu deiner Verherlichung, und siisse Romane zu deiner 
Erbauung. In Materien, zu welchen man den Zukker bios zu 
beissen pflegt, warfen wir ganze Klumpen von dieser Siissigkeit, 
bios urn deinem Gaumen zu fronen; und mit Vergmigen mach- 
ten wir die Vernunft zum Opfer deines Geschmaks. In Buchern, 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 615 

wo wir nicht dachten, schrieen wir der ganzen Welt ins Or, 
daft du dachtest; in unsern Lobreden auf dich bewiesen wir, 
dafl dich das erste Geschlecht in gar nichts als in Lobreden auf 
dich, iibertrafe; wir verwarfen laut die Entfernung vom State, 
die dir ieden andern als einen iibeln Einflus unmoglich macht 
und die du nur mit Aufopferung deiner Haupttugend hinweg- 
nemen kanst; ia einige von uns wagten sogar eine Lobpreisung 
der Vernunft in deinen Moden. Doch von diesem leztern konten 
wir nicht einmal dich iiberzeugen, zum Nuzen aller Puzhandle- 

10 rinnenund Frauenschneider nicht iiberzeugen: denn gewis wiir- 
dest du deine ungeheuren Poschen z. B., auf immer in den Klei- 
derschrank verweisen, sobald sie mit der Vernunft ausgesonet 
werden konten. - Aber sieh' unsre Bosheit; und verzeih' sie 
auch zum Lon unsrer Aufrichtigkeit! Der Weihrauch, den wir 
deiner gierigen Nase zubliesen, soke deinen schonen Augen zum 
undurchsichtigen Nebel werden, und hinter den wolriechenden 
Blumen lauerten satirische Dornen und erwarteten die Entblat- 
terung unter gescharftern Spizen. Deine Aufklarung, womit uns 
dieses Jarhundert droht, suchten wir durch Lob zu hintertreiben. 

20 - Unsre Zuschriften baten zu deinen Fiissen um Beschiizung 
der Anhangsel, namlich der Biicher, und wir pragten dich als 
Schuzengel auf die Grabsteine unsrer Makulatur: so (ibertrugen 
die galanten Romer der Venus die Aufsicht iiber die Leichen. 
Allein du priiftest die Ingredienzien dieser silbernen Schmeiche- 
3ei zu wenig. Du gewanst Eine Anlichkeit mit dem Plutus, die 
wir eingestanden, namlich in der Herschaft iiber die Toden; 
allein du gewanst noch eine, die wir verschwiegen, namlich 
in der Blindheit. - Jede Lobrede auf deinen Geschmak untergru- 
ben wir durch den boshaften Zusaz, dafi dir unsre Produkte 

30 gefielen, und die Biicher, die wir von weinerlichem Unsin fast 
iiberlaufen liessen, liessen wir dich in untergeschobnen Briefen 
loben. - Zur Bildung deines Geschmaks schrieben wir - unles- 
bares Zeug; und forderten fur uns die Achtung, die du dem 
Potfisch erweisest, dessen wasserichtes Gehirn deine Wangen 
zu schminken die Ere hat. - Jener Wundarzt priigelte die Leute 
wund, um sie hernach heilen zu konnen; wende dieses auf unser 



6l6 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

umgekertes Verfaren an und du wirst die Feindschaft unsers 
Balsams mit unsrer Geisel ser unmerklich finden. - Dir bleibt 
nun nichts iibrig als die Wal zwischen den Torheiten, die du 
vergessen, und den Torheiten, die wir dich leren; sei klug und 
erspare unsrer Satire, Torheiten zu saen, die sie bios ernten soke. 
Widerstehst du aber unsern Bitten, so wirst [du] gewis unserm 
Lobenicht widerstehen. Wir keren wieder um, und beugen uns, 
wie oben, aber kussen die Hande nicht, die wir furchten, son- 
dern schworen bios, daB wir deine Diener und Knechte und 
dan und wan deine Anbeter sind. 10 

Um das Obst lagern sich immer die summenden, flekkichten 
und bewafneten Wespen; diese Dinger unterbrachen unsre vo- 
rige Anrede immer mit Widerlegungen und f reuen sich iezt viel- 
leicht auf unsre Bitte um lange Oren, um sich an uns durch 
harte taube zu rachen. Doch die Stuzer waren unsern Bitten 
mit Erhorung zuvorgekommen - allein nur schade daB ihrer 
so wenig sind als ihrer Ideen. Bald werdet ihr verschwunden 
sein als waret ihr verliebte Schwiire; die Teufel starben in unsern 
Tagen und auch ihr! O mocht' euch beide Exegese und Frank- 
reich fur bessere Teologen und fur bessere Schonen auferwek- 20 
ken! Lasset uns wenigstens aus Riirung einige Nesseln auf euer 
Grab pflanzen, die Yorik selbst begossen hatte! Wir reden iezt 
nicht mer von den hollischen Geistern - von denen mogen die 
Teologen reden - nur von euch! Euer Bild wird uns den Verlust 
und den Ersaz zugleich sagen, und sich mit euren Nachkommen 
in unsre Vererung teilen, die wir gleich den Katoliken, den Bil- 
dern der Heiligen sowol als ihren Reliquien opfern! Eure Po- 
made gab euch nur den Wolgeruch der Mumien; mochte unser 
Kot euch die Unverweslichkeit derselben geben! Sollen wir 
gleich dem Koch, den Hasen one Kopf auf die Tafel sezen? Wo 30 
bliebe die Frisur, zu welcher der Kam des Kiinstlers nur den 
Grund legt und in deren Volendung der Spiegel die Hand des 
Tragers leitet? Miihsamer erbauet als ein System und doch so 
kurz daurend als ein System; zu Nachts niedergerissen wie das 
am Tage erbaute Jerusalem! nur vom Hute, nicht von der 
Schlafmiize geachtet! In den Augen zeichnet sich vorziiglich die 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 617 

Gedankenlosigkeit des Gehirns und die Beweglichkeit der 
Zunge aus; doch lassen [sie] sich leichter entberen als das Fern- 
glas; sie sehen nur, aber durch dieses wird man gesehen. Gestern 
wonte auf der Stirne viel Wiz; allein heute sizt die Musche neben 
den Lippen, die mit ieder Ofnung sowol satirische als weisse 
Zane sichtbar machen. An den Namen der Kleider wird uns 
eine kiinftige Mode erinnern. Essig wirkt in dem Korper galante 
Magerheit; Stissigkeiten in der Sele. Last uns daher zur Trepana- 
zion schreiten, iedoch one die frisirten Hare abzuscheren. Was 

10 finden wir? den Zustand vor der Schopfung; leren Raum, Fin- 
sternis und Chaos. Hinten im Winkel zwischen dem rechten 
Auge und Ore verweset eine lateinische Deklinazion, wovon 
iedoch der Dativ und Ablativ des Pluralis beim Anriiren in Asche 
zerfallen, viele Phrases ungerechnet; hart daneben ein Gebein- 
haus von lateinischen Spriichwortern, die den unverserten deut- 
schen gar nicht mer anlich sahen, ferner etliche Regeln zu ihren 
Exzepzionen verkleinert, und sechs beriimte und unkentliche 
nqmina propria, von denen sich vorne ganz frische neue Ab- 
driikke iedoch one Schwanze fanden; in die steinerne Hirnschale 

20 sind die zehn Gebote one Luthers Auslegung gegraben und das 
Vaterunser und eine Beicht; die Scherze liber diese Dinge zu- 
sammen liegen, dieser Schrift gegeniiber, auf der Oberflache 
des Gehirns eingedriikt. Im Allerheiligsten desselben sind Titel 
und Bande von Biichern und Reichen, und iede Bibliotek 
schimmert auf einer Toilette; artistische Termen one Gemalde, 
und Schone one Namen; Hefte von Epigrammen, so wie in 
kriegerischen Kopfen Spizen von Degen zuriikbleiben; iede 
Meinung auf der einen Halbkugel hat auf der andern eine unbe- 
kante Antipodin und A und Nicht-A werden von einander durch 

30 zuviele Nachbarn entfernt, um den Saz des Widerspruchs durch 
ihre Zerstorung zu bestatigen. Ausser einigem vorausverfertig- 
ten galantem Unsin ist nichts weiter in diesem orbis pictus anzu- 
treffen, weil sein Reichtum nur einige Augenblikke nach der 
lezten Assemblee noch unzerstort zu iiberraschen ist, bis er 
neuem Plaz macht; so lebt der nachgeschriebne Verstand des 
Professors auf der Schreibtafel des Studenten nur eine kurze 



6l8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Zeit bis man ihn fur neue Schaze mit Inselt wegwischt. - Wir 
legen auf die Wunde das Emplastrum de Betonica und die grosse 
Hauptbinde und fiigen zur Abbildung der Stubendekke, in deren 
Winkeln Spinnengewebe hangen, noch die Abbildung des Fus- 
boden hinzu, den unreine Schuhe mit Kot gepflastert. Auf den 
Lippen des Seligen wechselt Schaum mit Gift und das schlechte 
Gehirn mit dem schlechten Herzen in der Befriedigung der 
schonen Zuhorerin ab: so sprachen im alten Testamente nur 
zwei Tiere, die Schlange und der Esel. Seine fiinf Sinnen dienen 
dem sechsten, und er wird durch das ein Nar, durch dessen 10 
Mangel Farinelli ein Herzog wurde. Seine Bosheit fangt sich 
am liebsten mit Narheit an, und gleich dem iungen Wolfe lernt 
er sein Spielzeug almalig in seinen Raub verwandeln, bis er mit 
der Zeit seine Bosheit in Narheit endigt . . . Hier legen wir den 
Pinsel weg und wiinschen nur noch den Entschlafnen eine bal- 
dige Auferstehung. Allein wer hat denn, ruft man hier, die fran- 
zosischen Deutschen vertilgt und iiberlebt? dieienigen, die sie 
am meisten tadeln, die brittischen; der englische Lowe hat die 
gallischen Lilien zertreten. Ungeachtet beide in der Bestim- 
mung, unaufhorlich zur Fortpflanzung wenigstens zu praludi- 20 
ren, iibereinkommen; ungeachtet beide zu den Schmetterlingen 
zu rechnen sind, so unterscheiden sie sich doch durch die Zeit, 
wo sie herumflattern. Gleich dem Naturforscher, kennen wir 
Tagschmetterlinge, von denen wir oben geredet, und Nacht- 
schmetterlinge, an die wir unsre Bitte iezt richten wollen. Nur 
Kinder oder Gelerte wiirdigen Schmetterlinge ihrer Aufmerk- 
samkeit; iene reizt ihr Schmuk zur Begaffung, diese zur Anpfa- 
lung derselben. Diese Unbekantschaft nun, in die unser Gleich- 
nis diese Tiere mit andern Leuten, als den Schonen und 
Beobachtern sezt, mochten wir durch unsre Schilderung aufhe- 30 
ben, die sich zulezt mit einer Bitte an diese Insekten endigt. 
Man denke sich ienen teuren Nachtvogel, den Todenkopf, der 
auf seinem Rukken ein buntes Memento mori zum Wappen 
tragt, und mit seinem Riissel Klagtone zum Schrekken des 
Landmans schwirret, so hat man das halbe Bild des warmen 
Liebhabers, den seine Freundin mit dem Freund Hain vertraut 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 619 

gemacht, der seinen nachtlichen Tranentau durch hexametrische 
Sylbenmasse hervorfliessen last und den Grabern klagt, dafi man 
ihn so wenig Kinder machen lasse; der niedrige Triebe fur 
fromme und den Venusstern fur die keusche Diane und seine 
Freundin fur den Freund Hain ansieht, so wie Lessing, wiewol 
mit Recht, eine Figur zum Tod macht, die Bellori zum Amor 
verniedlichet; dessen voile Lenden das voile Herz so lange spie- 
len, bis die Hize eines giinstigen Augenbliks diese vollen Ge- 
fasse . . . nein, diese Allegorie volendet und bei dem, wie bei 

10 dem Moren, Warme Schwarze nach sich zieht; der dem Britten 
zwar nicht im Denken, aber doch im Bekleiden nacheifert und 
ausser dem englischen Tiefsin, nichts so ser hasset als franzosi- 
sche Harbeutel; so wie er nichts so ser liebt als einen galanten 
Besuch in Reuterstiefeln und im Uberrok und Unverschamtheit 
im Ausdruk. Dieses ist die Sillhouette eures Herzens, die wir 
in keinem Bande des lavaterischen Werks angetroffen; die Sill- 
houette eures Kopfs, die ihr ienem Opus, urn euer Gesicht ge- 
wisser als euer Gehirn zu verewigen, unter dem Namen iunger 
Genies und, wie wir mutmassen, oft unter der Gestalt ver- 

20 schiedner Tierkopfe einverleibt habt, wollen wir sogleich nach 
folgender Bitte einrukken. Es ware Undankbarkeit gegen cure 
Schellenkappe, ihr eine grossere Anzal Schellen zuzumuten. Wir 
erkennen es mit Dank, daft eure Narheiten keiner Addizion mer 
fahig sind; merere anzunemen, ist unter den Kraften eines Men- 
schen und iiber den Kraften eines Affen; aber lei der! sind eure 
Torheiten einer Subtrakzion fahig und die Moglichkeit, euch 
klug zu machen, verbittert noch unsern Dank. Die einzige Ver- 
merung, die eure Schellen noch leiden, ist bestandige Beibehal- 
tung derselben. Dahin geht unsre Bitte, der en Erfiillung uns 

30 durch eine traurige Erfarung fast zweifelhaft, so wie notwendig, 
wird. Eure Brtider, die Barden, auf die sich noch einige Kauf- 
leute des vergangnen Jarzehends besinnen, liessen in alle Mo- 
natsschriften die Nachricht einrukken, daB sie mitneuen Kraften 
zu neuen Torheiten ausgeriistet waren; und doch felte ihrer 
Warhaftigkeit die Dauer; wie warscheinlicher ist daher eure Un- 
bestandigkeit, da euch, als Stuzern die Krafte zu gewonlichen 



620 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

Torheiten mangeln und ihr zulezt gezwungen werdet, den Teu- 
fel durch die Siinden eurer Zunge mit der Tugend eurer Lenden 
auszusonen und das sechste Gebot mit andern Sinnen als dem 
sechsten zu iibertreten, »Man kan, was man wil« schriet ihr 
Barden unaufhorlich; und doch kontet ihr der Gottin, die Eras- 
mus lobte, nichts als euren guten Willen schenken! euer Geist 
war so willig, und euer Fleisch doch so schwach! Gesezt ihr 
kontet dieser Gottin mit nichts als einem lugenhaften Verspre- 
chen dienen, aber sogar aufhoren, dieses Versprechen zu wie- 
derholen; da mus grosse Schwache vorwalten: denn die Uber- 10 
bleibsel der alten deutschen Warhaftigkeit in eurer harichten 
Brust wiirden uns beinahe fur die Erfullung eines Versprechens, 
klug zu werden, Biirge gewesen sein. Wir samtliche Satiriker 
konnen an euer Absterben nicht one Weinen denken; euer Leben 
machte uns soviel zu lachen! Nein! nie finden wir so seltne Nar- 
ren wieder als wir in euch verloren! Nie konte sich die Prose 
eines grossern Unsins rumen, sie muste denn zugleich einen 
Gottesgelerten zum Vater und eine dichterische Muse zur Mut- 
ter haben und nur Palmenblatter zu Lorberblattern hinzugetan 
geben eine bessere Anti-Nieswurz, als eure Eichenblatter gaben! 20 
Nie entflog dem Verstande die Phantasie weiter, nie hiilte sich 
der Widersin besser in Unsin, nie verbarg sich ein gefiederter 
Kopf unter grossere Fliigel oder ein beharter (caput inter nubila 
condit -) unter so dichte Wolken d. h. unter eine so grosse L6- 
wenhaut. Nie stolperten Verse mit grossererTanzkunst als eure, 
die, gleich holzernen Eseln vor den Toren, mit sechs steifen 
Fiissen versehen waren. Nie wurde pobelhaftes Schimpfen so 
innig mit Engelgesang verbriide[r]t und nur Pseudoklopstokki- 
sche Harfenspieler auf silbernen Saiten anlichten so ser denen 
unfigiirlichen Harfenspielern auf metalnen Saiten, deren Finger 30 
soviel Entzukkung ins Or spielen und so lange Nagel tragen; 
welche Nagel dieienigen, die sowol figurlich als unfigurlich auf 
Saiten von Schafsdarmern spielen, entberen konnen. Nie iiber- 
sezte Frankreich derbere Schmahreden auf Frankreich und er- 
habnere Lobreden auf Deutschland als die damalige Makulatur; 
nie standen soviel alte deutsche Rauber von den Toden auf und 



BITrSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 621 

nie waren die Manner der vergangnen Jarhunderte merere Zolle 
hoher als die Mannergen des achtzehnten wie damals; nie wurde 
der griechische Olymp heftiger bekriegt als damals durch die 
zweiten Titanen, durch die altdeutschen Gotter, und der Apollo 
weiter von den Poeten weggebant als damals durch Hiilfe 
des . . . Nie erstaunte das Publikum iiber ein grosseres Trom- 
melgelerm als da auf dem Trommelfel seiner beschnitnen Oren 
Flohe in poetischen Tanz tanzten. Nie — aber was 

helfen uns armen Satirikern alle Nie's; das goldne Kalb ist nun 

io pulverisirt. »Unmoglich! schreiet Voltaire; Gold last sich nicht 
pulverisiren« - » Aber doch Holz! schreien Theologen. Das Kalb 
hatte nur ein giildnes Jasons Fel und weiter nichts. « Die Theolo- 
gen haben Recht; und wir schweigen. Gotliche Barden Deutsch- 
lands! eure Kreuzigung und eu[e]r Tod ist ein grosses Wunder; 
eure Auferstehung ware ein noch grosseres! Tut dasselbe, wir 
bitten euch; und ihr Stuzer, ihre Jiinger, lebt ewig, um es zu 
erwarten. 

Diese Anrede an die Barden ist keine Ausschweifung, lesendes 
Publikum, sondern nur eine Versezung; sie gleicht einer Herm- 

20 aphroditin, die kein neues Geschlechtsglied, sondern nur die 
clitoris am unrechten Orte hat, namlich extra vaginam. 

Wir sind schon zu nahe an die Granzen der gelerten Republik 
geraten, um nicht mit unsrer Bitschrift defer ins Land zu drin- 
gen. Wenn wir uns darin etwan zu lange zu verweilen scheinen, 
so erinnere man sich, daB wir in diesem demokratischen State 
geboren und erzogen, immer auf Vettern und Bekante stossen, 
die aus Freundschaft unsre Bitschrift um Vermerung der Tor- 
heiten weit giinstiger und mit mer Geneigtheit zur Gewar anne- 
men, als der uns unbekante Minister, der aus seiner goldnen 

30 Kutsche einen stolzen Komplimentenblik auf unsre Verbeugung 
werfend, die Abziehung des Huts kaum mit der Berurung seiner 
goldbordirten Schellenkappe erwiedert, gleich als wenn wir 
verdienstvolle Manner waren, und seinem Affen nicht gleich 
sahen, und der unser eingereichtes Memorial, in welchem wir 
doch nicht um Gerechtigkeit gegen die Unschuld, sondern nur 
um merere Narheiten flehen, dem Sekretair ungelesen iiber- 



622 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

giebt. Der arme Minister! der die Sunde nicht mit der Torheit 
vertauschen, am Halse lieber, gleich dem Schafershund, ein 
stachlichtes Halsband, als gleich dummern Tieren, ein Halsband 
mit Schellen, und am Leibe ein blut- und schweisbeflektes Kleid 
lieber als ein buntschekkiges tragen wil! Der bose Minister! . . . 
Doch wir vergessen ia unser Vaterland! In dieser Republik giebt 
es, wie in Sparta, Heloten, die die Erde bauen d. h. Schriftsteller, 
und eigentliche Burger, die die Fnichte der gebauten Erde ver- 
zeren d. h. gelerte Leser, als da sind Professores, Priester p., 
die iedoch nicht selten ihr Feld selbst bauen. Von den Heloten 10 
zuerst, unsernBlutsverwandten! Waserblikken wir? . . . welche 
Verwiistung spert auf unsrer vaterlichen Erde den ungesattigten 
und leren Rachen auf? Aus welchen neuen Holen stiirzten sich 
diese Fuchse iiber die veriagten Affen her? O Vaterland, o Vater- 
land, die Liebe zu dir p. so wiirden wir schreien, fals wir 

uns wie Dichter ausdriikken woken, allein dafiir rufen wir bios 
wie Verniinftige folgender massen aus: Vaterland, aus Liebe 
zum Magen wollen wir die Seltenheit deiner Narren erweisen 
und dadurch abstellen. Und wir versprechen dir, Vaterland, 
die Heilung aller deiner weisen Bewoner, die ausgenommen, 20 
welche Chapeaubas gehen und die Narrenkappe unter dem lin- 
ken Arm verstekken, um sowol ihre Frisur bewundern als auch 
dieheissen Stralen des Apollo den Verstand leichter entflammen 
d. h. verbrennen zu lassen. 

Wir konnen als zugestanden voraussezen, dafl alle Landereien 
der gelerten Republik nach dem Rechte der Veriarung den Af- 
fen, oder um nicht mit dem Linne zu reden, den Narren angeho- 
ren, deren Verdrangung Deutschland seit 1760 unternommen 
und anno 1783 ganzlich volendet hat. Im Falle der Nichtzugeste- 
hung verweisen wir auf die grossen Reichsarchive, in welche 30 
die Urkunden in Folio, die die Affen , von dem 

wolweisen Rate reicher Stadte gekauft worden sind. Und wir 
bitten hier ieden unwissenden Bibliothekar, den Zweifler gegen 
ein douceur und one merkliche Geduld vor die offentlichen Bii- 
cherschranke hinzufiiren und ihm die Riikken der Biicher wo 
nicht in den obern doch in den untern Fachern lesen zu lassen; 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 623 

angesehen man ia fur eine offentliche Bibliotek eben darum teure 
Werke bestimt, urn sie den armen Gelerten, die sie sich nicht 
zum Lesen kaufen konnen, wochentlich einparmal zu zeigen. 
Ja die Natur selbst pflanzte um die Affenrepublik den Parnas, 
wie um die schweizerische andre Berge, zur Leibwache. Dem- 
ungeachtet sanken die oftgedachten Affen zu menschlichern 
Ourangoutangs, wie die Jesuiten zu Exiesuiten herunter, ia man 
schuf oder entdekte wenigstens eine neue Welt, der gleich der 
neuen Welt des Amerikus, Affen felten. An den Pedanten oder 

10 Schulgelerten verlor die Gottin der Narheit ihre besten Priester 
und die Satire ihre besten Opfer. Soil en uns die wenigen Spat- 
linge, die noch hie und da ihre Wurzeln unter dem Schulstaub 
ausstrekken, an der Seltenheit derer Narren unglaubig machen, 
die, in schmuzige Kleidung und in ein zynisches Fas verstekt, 
die Musen nicht umarmten, sondern anatomirten und die blas- 
roten Wangen derselben nicht kiisten, sondern mit kritischer 
Dinte ausspnizten, nachdem sie namlich die griechischen Mad- 
gen durch eine gefiillose Zergliederung vorher gemordet hatten, 
und diediese Praparate unter dem Titel von Kommentaren iiber 

20 klassische Autoren, in Kupfer gestochen edirten, um in iungen 
Musensonen durch das Gerippe Liebe gegen das weggeschundne 
Fleisch desselben zu entziinden; die, ewige Schiller der alten, 
und ewige Lerer ihrer lebenden Welt, weder dachten noch han- 
delten, ihren geistlichen Augen durch Lesen Blindheit und ihren 
geistlichen Fussen durch Unbeweglichkeit Geschwulst zuzogen; 
die das Teater der Welt fur blosse Kulisse, aber die Studierstube, 
ihre Kulisse, fur eigentliches Teater ansahen; die den drei gotli- 
chen Personen und der Einzigen gotlichen Substanz den Abend- 
und Morgensegen, aber den mythologischen Gottern Wachen 

30 und Traumen widmeten und das Gluk, mit dem Zizero in Rom 
gewesen zu sein, gerne mit dem Ungliik, mit dem Zizero in 
der Holle zu leiden, bezalt haben wiirden; die die Alten iedem 
Neuern, sie selbst ausgenommen, und neue Scheidemiinze, die 
gestolner Rost schminkte, neuen Goldstiikken, die mit eignem 
Jugendrote glanzten, vorzogen; die gleich gewissen Raupen, 
nicht an der Frucht, sondern an den Blattern des Baums nagten 



624 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

und viele Sprachen lernten, um keine Gedanken, sondern um 
Franzen von Kleidern der Gedanken zu erbeuten; die tode Spra- 
chen be.sser als lebendige rede ten und fanden, so wie das lebendige 
Schaf nur blokt aber das tode Wolklang schaft* und die Kunst 
seiner Darme seine Kele iibertreffen lert. Die Lebensgrosse die- 
ses Bildes mag der Leser unsrer Absicht anrechnen, in der Grosse 
dieser Torheiten den Verlust zu malen, den alle Satiriker von 
der Aufklarung der Gelerten erfaren. In der Zeichnung dieser 
lezten wird uns der Schmerz oft unterbrechen: denn wir sind 
mitleidig, und lachen iiber den Narren, aber weinen iiber den 10 
Weisen. Stat der von Gelersamkeit strozenden Pedanten, in de- 
nen Unmassigkeit in der Gelersamkeit iible Verdauung wirkte, 
haben wir iezt bios Weise, die alle Gelersamkeit verabscheuen 
und in der Anpreisung der ganzlichen Unwissenheit ihr Beispiel 
mit ihrer Beredsamkeit weteifern lassen. Ein Gelerter ist iezt 
ein Man, der nichts gelernt hat; ein grosser Gelerter ist einer, 
der einen guten deutschen Stil schreibt, und daher weder die 
Griechen noch die Romer liest und nur ihre Ubersezungen re- 
zensirt. Denn er ist klug genug, um seine deutsche Schreibart 
nicht dem feindseligen Einflusse der klassischen Lektiire bloszu- 20 
stellen und dem Kardinal Bembo nachzuamen, der seinen Stil 
an Paul's Brief en zu verderben befurchte und vermied. Zur Be- 
forderung der Unwissenheit besoldet man sogar schon auf 
Gymnasien stat der vorigen Philologen dichtende Rektoren, die, 
gleich den erhabnen Engeln, mit der Schuliugend zu spielen 
sich herablassen, und die Stelle der marchenreiche[n] Amme 
vertreten; die ihre Lerlinge aus dem Zizero nicht das Latein son- 
dern die Beredsamkeit lernen lassen. Ja ein gewisser Subrektor 
lies aus Has gegen den Unterricht, seine zwolfiarigen Eleven 
Epigrammen schleifen eh' sie Gedanken Schmieden konten; und 30 
so wie man aneinigen Orten nur die iungen Ganse mit Nesseln 
oder andre iunge Tiere mit Salz fiittert, so unterrichtete er mit 
eignem stachlichten Wize seine Untergebne und schnit ihre 
Singedichte so spizig, wie ihre Federn. Ein grosser Teil der iezt 

* Der Leser denke an die Saiten der Geige. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 625 

lebenden Satiriker verdanken ihm hier offentlich ihren bekanten 
Mangel an Wiz und Ziehen daraus die Bemerkung, daB wiziges 
Geschnorkel der friihern Jare dem schlichten Menschenver- 
stande der reifern Plaz machen miisse, so wie der Schulknabe 
seinen Pinsel in grossen Frakturbuchstaben herumfiiren und die 
leren Raume derselben mit schonem Linien Wirwar fiillen kan, 
stat daB der Man nur kurrent zu schreiben weis. - Solten sich 
ia einige Kentnisse in den Kopf des Schulers verlaufen haben, 
so heilt man ihn sogar von den ersten Symptomen der Pedanterei 

10 und schikt ihn schon im 16. Jare auf die Akademie, damit er 
das Wenige Latein bald vergessen und in der Unwissenheit wei- 
tere Schritte machen konne. Hierin bietet ihm eine Akademie 
die hulfreichste Hand; sie besizt etliche Bucherverleiher, die ihm 
gegen ein Weniges die neusten Stulgange der Romanschreiber 
mitteilen und vielleicht auch das visum repertum, das Rezensen- 
ten uber die gekosteten Exkremente ausstellen, welche ihm bes- 
ser als das, was der Professor von oben von sich giebt, behagen; 
- die Akademie besizt auch Lerer, die nur den reichen Schiiler 
Unwissenheit leren und nicht den Vorzeiger eines beschmuzten 

20 testimonium paupertatis; - die Akademie besizt endlich iunge 
Verleger, die alle Raupgen aufheben und in Schachtelgen futtern 
und iedem Schmetterlinge mit dem Garngen nachsezen, um 
zum Neuiar ein illuminirtes Insektenwerk in Sedez d. h. einen 
Musenalmanach verlegen zu konnen; - wir wiirden noch hinzu- 
fiigen, die Akademie besizt endlich Madgen, mit denen der 
Jungling Verse zeugt, wenn man es nicht schon von einem gesit- 
teten Primaner forderte, fur sein Madgen nicht nur mit dem 
Primanerdegen sich zu erstechen sondern auch in etlichen Rei- 
men unsinnig zu gebarden. - Daher grabt der Theolog aus sei- 

30 nem Kodex nicht mer hebraische Wurzeln, sondern pfliikt in 
demselben Blumen, um damit die kiinftige Predigt zu bestekken; 
er reformirt die dikke Dogmatik, um sie nicht merken zu diirfen, 
er (ibertragt. seinem Verstande die Ausfiillung des leren Ge- 
d'achtnisses und die Dikke der rechtglaubigen Quartanten macht 
ihn zum Proselyten der heterodoxen Oktavbande. Daher wiir- 
digt der Jurist in der ganzen Rechtsgelersamkeit nichts seines 



626 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Fleises als deutsche Termen und kent von Karls des funften 
Halsgerichtsordnung nichts als die Widerlegung derselben, die 
er in den **Almanach einriikken lassen, und bewundert an sei- 
nem Stil nichts so ser als die Unanlichkeit mit dem KanzleistiL 
Daher schopft der Philosoph liberal bios die Konklusion ab und 
geniest die Begriffe, wie den Sallat, one die weggeschnittenen 
Wurzeln, fait one den ontologischen Panzer vor dem Goliath 
des Skeptizisrrius, bricht das Denken durch Zweifeln ab und 
tragt, gleich den meisten Bedienten lauter zerbrochne Lichter 
mit sich herum; doch davon weiter unten. Den Arzt haben wir 10 
gar vergessen. Dem Dichter hauchen die griechischen Musefn] 
vergebens Begeisterung ins ungriechische Or; er weis die grie- 
chischen Verse nicht in deutsche zu iibersezen, und borgt daher 
von den Musen der alten Barden um ein deutsches Gedicht. 
Selten schopft seine hole Hand aus der griechischen Hippokrene, 
um sie in Gestalt des Urins von sich zu geben; deutscher herber 
Rheinwein treibt die Verse und den Harn viel geschwinder und 
reichlicher. Hierlegt sich der Schmerz in die Spalte unsrer Feder 
und hemt die Dinte, zur Abschilderung der iezigen Unwissen- 
heit zu fliessen! Hingesunkne Pedanterei! vermag denn weder 20 
der Gestank von verbrenten Federn noch der Wolgeruch von 
Riechflaschgen (d. i. weder Tad el noch Lob) deine Onmacht 
wegzukizeln? Sol denn unser Lachen durch die iezige Weisheit 
einen ganzlichen Bankerut machen? Sind denn deine Torheiten 
der Auferwekkung so ganz abgestorben, daB wir umsonst be- 
merken: der Schulgelerte kroch zwar wie der Seidenwurm in 
seinem Raupenstande auf Schulstaub, aber er span Seide; iezt 
durchbeist er die seidne Puppe und verlast das niedrige Vater- 
land, alleinblos um mit unniizen Schonheiten durch eine hohere 
Sphare zu flattern! Werden denn die Seidenwurmer nicht einmal 30 
durch Spinnen ersezt, von denen doch neunzig Faden einen seid- 
nen und viele Gewebe ein konigliches Par Strumpfe geben? 
Nicht einmal dies! Denn der gelerten Verschonerung, die der 
unwissende Modeskribent fur sein Buch dem gelerten Pedanten 
wegpliindert, miissen wir den Namen der Pedanterei zur Zeit 
noch abschlagen, so wie die Krahen, welche den am Tage her- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 627 

vorkriechenden Eulen die Federn stelen, darum noch nicht fur 
Eulen gelten konnen! Zu desto grosserer Dankbarkeit gegen 
dich, J. H. Steffens! sind unsre hamburgischen Kiele verpflichtet 
--Lessingii Emilia Galotti. Progymnasmatis loco latine reddita 
et publice acta moderante J. H. Steffens. Cellis. 1778!! - Wie 
ser mus es uns freuen, unter so vielen Weisen einen Narren 
anzutreffen; wie ser mus es dich freuen, an sovielen mit Medail- 
len behangnen Narrenkappen nur an der deinigen Schellen zu 
sehen, auf die ein achter rostiger Zizero 's Kopf gepragt ist! Fare 

10 fort und iiberseze das Abcbuch zum Besten der Schuliugend 
ins Lateinische! 

Wir gehen in dem Erweise der iezigen NichtPedanterei d. h. 
der Unwissenheit weiter. Die Reformazion der Kompendien 
zog die Reformazion der Abcbiicher nach sich und der Ostrazis- 
mus der Skeptiker verfolgt nun stat der Gedanken die Buchsta- 
ben. Plus ultra ist nicht bios die Devise der Krebse, sondern 
auch der Gelerten; der Pegasus muste anfangs die Hare seines 
Kopfes, und darauf die Hare seines Schwanzes in schone Zopfe 
flechten lassen. Kurz der Has gegen die Pedanterei und Geler- 

20 samkeit ist so hoch gestiegen, daB kein Gelerter mer ortogra- 
phisch schreiben wil. Mit dem Spriichwort Docti male pingunt 
wird man kunftighin auch die Heterographie unleserlicher 
Hande rechtfertigen und nur dem Ungelerten wird man eine 
ortographische Hand aus Nachsicht gegen seine heterographi- 
sche Zunge vergeben. Diese Buchstabensturmerei fieng ein 
Feind der Bildersturmer an; mit den Federn seiner Fliigel schrieb 
er eine Epopoe, und mit den Federn seines Schwanzes (die sich 
eigentlich nicht in hamburgische Kiele umbilden lassen) ein 
Abcbuch. So schikt der sinesische Kaiser seinen Vasallen ausser 

30 den kaiserlichen Mandaten auch Kalender. So begint ein grosser 
und endigt ein kleiner Buchstzbc Bticher, Perioden und Worter. 
An ihn schlossen sich andre Feinde der Pedanten, deren Hande 
und Halse sich die Gerichtsbarkeit uber Hand und Hals der Buch- 
staben anmassen und die, gleich dem Belzebub zu Christi Zei- 
ten, zwar Konige der Fliegen, aber auch Peiniger der Menschen 
sind. Zu dieser Reparirung des Alphabets brachte sie wie gesagt 



628 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

die Ungeduld, ihre orthographischen Feler immer auf die Redl- 
ining des Sezers schreiben zu mussen, da sie doch die Unwissen- 
heit aller Kentnisse auch zur Unwissenheit der Orthographie 
berechtigte. Und da die gelerten Hande nach ungelerten Zungen 
tanzen (d. h. nach der Aussprache des Pobels schreiben) und 
da an dem deutschen Reich, wie an der Fama des Virgils, eben 
soviele Zungen (Dialekte) sprechen als am gelerten, wie am 
Briareus, Hande schreiben: so kan der Autor fur ieden falschen 
Pas eine besondre Pfeife erfinden und das Abcbuch geht wie 
die Bibel, den vielen Sekten mit vielen Lesarten an die Hand. 10 
Daher schminken sie ihre Neuerung mit folgenden Griinden: 
seit einiger Zeit, sagen sie, dient der Fischmarkt unserm Stil 
zur Academie francaise; warum nicht auch unsrer Orthogra- 
phie? Der Pobel giebt zu den Kleiderjn] unsrer Gedanken den 
Zeug her; warum nicht auch den Schnit? nur zu franzosischem 
Tuche gehort ein franzosischer Schneider. Ein adelicher Stil mag 
seine beiden Hiiften mit Poschen, seinen Hintern mit einer 
Schleppe, und seinen Kopf mit einer hohen Frisur belastigen; 
allein ein bauerischer geht in kurzem Rokgen und barfus und 
barhaupt. Und wenn wir, sagen sie endlich, auswartige Hulfs- 20 
buchstaben abdanken; so riisten wir uns dadurch nur zu einer 
gleichen Abdankung der griechischen Sprache, deren Tapferkeit 
auf unserm Rukken ewig lebt. So mordete Domizian anfanglich 
Fliegen und dan Untertanen. So folgt meistens auf Viehseuche 
Menschenseuche. Und wenn wir den Vers des Boileau Tant 
de chretiens furent martyrs d'une diphtongue angefiirt, so 
schliessen wir mit der Antithese: die Christen sind endlich aus 
Martyrern griechischer Buchstaben zu Henkern derselben ge- 
worden. - Ungeachtet wir Satiriker uns in diese Rechtfertigung 
des Buchstabenauto-da-fee*s aus einem weiter unten angegeb- 30 
nen Grunde fiigen, und in der Verminderung des Alphabets 
nur zum Besten derer Schranken wunschen, die ihren Zorn zeit- 
' her mit vier und zwanzig Griinden ausgeloscht, so konnen wir 
doch einer noch ungedrukten Bitschrift der apokryphischen 
Buchstaben an das Publikum eine Stelle in der unsrigen nicht 
abschlagen. Doch wir besinnen uns in diesem Perioden anders 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 629 

und werden bios einige Stellen aus derselben herausheben. Die 
Diphtongen wollen wir gar vergessen, iedoch nicht one sie vor- 
her nicht nur Semitonien, sondern auch Amphibien und Herm- 
aphroditen genant zu haben. 

Die Vokalen sagen: Wir Vokalen insgesamt und namentlich, 
deutsches obwol mit einem lateinischen Adiektivum benantes 
Publikum! appellirten vor einigen Jaren an dich, da man auf 
unsre Graber, woraus wir wieder auferstanden, Hakgen, wie 
auf die Graber der Gedanken Striche, stat der Kreuze der Stam- 

10 biicher pflanzte; welches Verfaren, nebenher anzumerken, wol 
der Poesie ansteht, die uns eben so oft zeuget als todet, aber 
nicht der Prose. Jezt appelliren wir abermals an dich: denn man 
macht uns unsre Verdoplung in den Sylben mancher Worter 
streitig, wie sonst andre den Dualis der griechischen Sprache; 
und man veriibelt den Sonnen der Konsonanten die anlichen 
Nebensonnen, ungeachtet wir, stat des H, durch unsre Verdop- 
pelung zur Aussprache den Takt schlagen und uberhaupt die 
Sprache zur Weichheit reifen machen, wenn uns nur nicht der 
Mund so oft in der Geburt todete und wie manche den Tabaks- 

20 rauch, verschlukte stat [uns] herauszugeben. 
Das C sagt: 

Wir steigen von den Buchstaben zu den Wortern auf. Die Sylben 
iiberspringen wir und gehen die Verstiimlung alter Namen mit 
Stilschweigen vorbei z. B. Tyr stat Tyrus, Polyb stat Polybius, 
Aristot stat Aristoteles p. Ausser einer originellen Raserei furt 
in unsern Tagen auch wol nichts geschwinder zum Rume als 
eben diese Abhakkung der Schwanze vortreflicher alter Kopfe; 
so wie auch Alzibiades mit dem abgeschnittenen Schwanze sei- 
nes schonen Hundes nach der Aufmerksamkeit der Griechen 
30 angelte; nur sorgen diese Reformatoren der Posteriora von Na- 
men fur die Bekantmachung ihrer Verdienste zu wenig und noch 
keiner hat in einer Vorrede oder auf dem Titel die erbeuteten 
Schweife als Trophaen vordrukken lassen, worin doch der 
Turke mit seinen Rosschweifen und David mit den Vorhauten 
der Philister ein Beispiel, wenigstens ein Gleichnis giebt. Aber 



630 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG 

wie gesagt wir wollen diese modische Ausserung der Anti-Pe- 
danterei mit Stilschweigen vorubergehen und daher folgende' 
Rede, welche die belorberten und eisgrauen nomina prop[r]ia 
an ihre Henker (den Verfasser der Chronologen mit eingeschlos- 
sen) halten, gar nicht einriikken: »Was berechtigt euere Feder- 
messer, uns den griechischen oder romischen Bart wegzurasi- 
ren? verunstalten wir etwan cure Duodezblatter mit unsrer 
Erwiirdigkeit? Oder, fals eure Hornhaut mit uns zufrieden ist, 
ist es etwan euer Trommelfel nicht und haben wir euren langen 
Oren* unsre Abkurzung aufzubiirden? Ihr schneidet uns also die 10 
ganze Manlichkeit weg, um uns eine Kastratenkele zu geben? 
O so sind eure Oren zwar lang, aber nicht fein! Zwar auch 
die, welche auf den Grabern derer, die uns trugen, wonen, kast- 
riren uns, aber sie nemen uns wie die Hottentotten ihren Kin- 
dern, doch nur Eine Hode d. h. sie verwandeln us in i und den 
rauhen Romer in einen harmonischen Abbe, und nur ihr glaubt 
der Sake durch Verkiirzung Wollaut zu zudmkken? Bedenkt 
uberdies den rezensentenartigen Raub, den ihr dadurch an 
grauer Unsterblichkeit veriibt. Namlich das Leben eines Autors 
zieht sich nach seinem Tod nicht in sein Kind, sondern in seinen 20 
Namen, die Urne seines Rums, hinein. Nent ihr nun den Stazius 
Staz, so schneidet ihr seinen Lorberkranz entzwei und raubt 
die eine Halfte, wie es schon aber in einem andern 

Sinne getan. Oder sind wir heidnischen Namen weniger heilig, 
weil man uns nicht von Paten abgeborgt, und Zizero's Namen, 
weil seine eigne Nase Gevatter stund? Diirft ihr uns beschneiden 
(im obigen Sinne), weil man uns nicht getauft? Oder vielleicht 
macht ihr uns zu Juden, um uns zu Christen zu machen d. h. 
ihr schneidet unsre lateinischen Schwanze weg, um unsre Kopfe 
ins Deutsche zu iibersezen. Allein seid doch so gut und lernt 30 
bei dem H. Rat Johann Christoph Adelung, was an uns Bie- 
gungssylbz und was Ableitungssylbt eigentlich ist. Schneidet die 
erste weg, denn sie ist nur Har am Schwanz; aber schneidet 
die leztere nicht weg, ob sie gleich Schwanz ist, denn der 

* Tiere mit langen Oren horen meistens fein; und nur darauf spielt 
das obige an. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 63 I 

Schwanz ist ein verlangertes Riikgrad. So zankten« - Du siehst, 
weises Publikum, wie klug wir gehandelt, daB wir diese lange 
Rede nicht in unsre Bitschrift eingeriikt, und wie noch kliiger, 
daB wir, taub gegen die Bitten der herlichen Figur der Prateri- 
zion, auch folgende Fortsezung unterdriikken - »So zankten 
sich, sagen wir, Biiffon und Leeuwenhoek iiber die Schwanzgen 
der menschlichen Samentiergen. Der Franzos erklarte sie fur 
klebrichtige Anhangsel derselben; aber der andre bewies, daB 
das Schwanzgen fur ein Riickgradgen zu halten. Ein herliches 

10 Gleichnis! das durch die zeugende Feder mit eben soviel Kizel 
lauft, als die geschwanzten Sedezmenschen durch Oktavmen- 
schen. - Vielleicht schneidet ihr uns auch die Schleppe ab, um 
sie nicht tragen zu diirfen und nent den Kornelius Kornel, weil 
der Vokativus der andern Deklinazion mit Ausnamen belastet 
ist: denn nicht ieder kan, wie die Mutter des Verf. der Lebens- 
laufe, seinen casum sezen. Schluslich hasset ihr die Pedanterei 
so ser! Euer Grosvater nante den Homer Homerum; daher tauft 
ihr den Aristoteles Aristot. Nicht bios iiber die Kopfe der Alten, 
sondern auch iiber den Schwanz ihres Pegasus, d. h. ihrer Spra- 

20 che, brecht ihr den Stab gleich den 

- barbares Anglais dont les sanglans couteaux 

wie ein franzosischer Ditfhter anfangt 

coupent les tetes aux rois et les queues aux chevaux 

wie H. Wilkes aus dem Stegreif fortfart. 

Verzeiht iibrigens den haufigen Gebrauch des Worts 
>Schwanz<: gern hatten wir unsre Gleichnisse aus der Botanik 
entlenet, wiisten wir nur, was an uns Gipfel oder Wurzel ist. 
Erhalten wir Verzeihung, so sezen wir noch hinzu: durch den 
Verlust unsers Schwanzes gleichen wir dem ungeschwanzten 
30 Korneten, den H. Herschel neulich entdekte und der an Erwiir- 
digkeit alien wol beschweiften weit nachsteht; oder auch den 
Biisten der grossen Manner, denen wir angehorten, und endlich 
dem einen Vaterunser, welches die Bibel, und Luther als Monch, 
one Doxologie und Amen gelassen. Amen! -« 



632 JUGENDWERKE * 3. ABTEILU'NG 

Wir steigen von den Buchstaben zu den Wortern auf, sagten 
wir oben, und wir verweilen beinahe so lange auf der Stiege, 
wie der Vater des Tristram Shandy im Roman desselben Na- 
mens. Da wir gesonnen sind, eine deutsche Grammatik zum 
Besten derer, die undeutsch schreiben lernen mochten, heraus- 
zugeben, so wird man die folgende Kiirze nicht auf die Rech- 
nung unsrer Faulheit schreiben. Nur etwas von der Erfindung 
neuer Worter, worauf wir unten bei der Dichtkunst wiederzu- 
riikkommen werden! Die Entfernung, in welcher die Neuern 
mit der Pedanterei und folglich der Torheit stehen, fait durch 10 
die Verschiedenheit des Alters, welches man sonst und iezt an 
den Wortern schazt, am besten in die Augen. »Gold ist zwar 
nicht zu verachten, lachelt der Alte, aber wenn ich es gestehen 
sol, so erhalt es doch seinen Wert erst durch den Rost - den 
man den Weinstein vom Zan der Zeit nennen konte. Eine Spra- 
che, die vor tausend Jaren starb, verdient Kanonisazion; allein 
ein Wort in derselben, das tausend Jare friiher starb als sie, ver- 
dient Apotheose und eine Mumie - so kan ich eine tode Sprache 
nennen - liebe ich zwar tausendmal mer als ein furchtsamer 
Matrose, aber die einbalsamirte Nachgeburt derselben - so 20 
nenne ich ein altes Wort einer alten Sprache - ist fur mich ein 
Lekkerbissen, ungeachtet ich kein Jakute* bin. Daher auch der 
Fleis, mit dem ich meine klebrichte Zunge in alien von Motten 
gegrabnen Lochern alter Skribenten nach Insekten haschen 
lasse. « Solche Torheiten konten die Lunge eines Demokrits zer- 
sprengen und das gravitatische Zwergfel eines Heraklits aus sei- 
ner gemachlichen Ebbe und Flut storen; allein eben darum kon- 
nen wir das entgegengesezte weise Verfaren des Neuern nicht 
verschmerzen, der iede Messe frische Worter bakt, alte Matro- 
nen von Gedanken mit neuen und modischen Seidenkleidern 30 
behangt und, alzeit Merer der deutschen Sprache, mit Wortern, 
denen die Musen an Jugend nachstehen, sich fur die Sprodigkeit 
dieser Madgen schadlos halt. So lacherlich der Alte handelte, 



* Der Jakute isset, nach Gmelins Bericht, die Nachgeburt und den 
Mutterkuchen. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 633 

so verniinftig handelt der Neue. Und hier wollen wir nur dem 
weisen Publikum einen Kunstgrif ins Or sagen, womit wir diese 
Vernunft zu untergraben, diese Fruchtbarkeit an Vpkabeln zu 
unterbrechen suchten. Wir sezten namlich der neologischen 
Sprache eine palaologische entgegen; wir Satiriker insgesamt 
sprachen so wie unsre Grosvater, wiewol wir nicht so wie sie 
spasten, weil uns nicht an Belustigung, sondern an Nachamung 
gelegen war - unsre schleppenden Perioden giengen auf Kriiken 
und husteten alten Unrat von Worten heraus - wir brachen eis- 

10 grauen Biichern die holen, gelben und achtzigiarigen Zane aus, 
wir reiheten sie an einen Faden auf, wir hiengen das satirische 
Ordensband iiber unsern Riikken, wir schrien auf unserm Tea- 
ten meine Herren, so konte Swift nicht spassen! Der arme Man hatte 
die Zane nur im Maul! Und wirklich ris auch die Leichtigkeit 
eines Spasses, der, gleich pobelhaftenHarlekinen, auf die damals 
lebenden Zwergfelle nicht durch den Wiz, sondern durch die 
altvaterische Kleidung wirkte und den eine um vierzig Jare frii- 
here oder spatere Geburt alles Belacheln gekostet hatte, alle lau- 
nichte Gansespulen zu schnatternder Nachamung hin; aber - 

20 o Leibniz! streiche doch aus deinem System des Optimismus 
diese Aber, diese Drukfeler aus! - aber man nahte nur alte Lap- 
pen auf neues Tuch und parte, gleich gewissen Volkern am Oro- 
noko Flus, das Madgen mit dem Greise. So wie sonst franzosi- 
sche Worter unter den deutschen Wortern herumhupften, gleich 
den leichten Petitmait[res], die sich nicht selten unter die 
schwerfallig tanzenden Bauren mischen, so gieng nun die Spra- 
che Luthers mit der Geniesprache Hand in Hand, dasselbe Blat 
hatte, gleich dem Saturn, auf der einen Seite die Kalheit des 
Alters und auf der andern die Harigkeit der Jugend, dasselbe 

30 Komma sprach mit entgegengesezten Zungen und dasselbe 
Wort schtittelte den eisgrauen Kopf iiber den blutiungen 
Schwanz. Kurz unsre Nachamer trieben ihre Weisheit und un- 
sern Unwillen dariiber auf eine solche Hohe, daft nicht nur ieder 
von uns seinen schreklichsten Leibfluch fluchte, sondern auch 
dem Konzipienten dieses einen Dreier mer versprach, fals er 
die Bitschrift um Torheiten riirend genug einrichtete. »Ich bitte 



634 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Sie um Gotteswillen, meine Herren, lachen Sie doch!« rief iener 
Hanswurst auf seinen Knien an seinem Kronungstage, und wir 
rufen: »Wir bitten Sie um Gotteswillen, unsre Herren, machen 
Sie uns doch lachen!« Ach hatten wir nur Hanswiirste, das Par- 
terre dazu wiirde sich schon finden! 

Nun zu den Gedanken! Der Pedant glaubte alles one Untersu- 
chung; daher laugnet der Antipedant alles one Untersuchung: 
Sonst bot sich die Nachsprecherei unserm Spotte dar; allein iezt 
trat unwissender Skeptizismus, der unsrer miissigen Geissel 
lacht, anihre Stelle. Immerdieselbe Unwissenheit; die der iezige 10 
Geschmak uns schon langst aus den satirischen Zanen geriikt; 
nur tragt sie noch (iberdies die privilegirte Montur der Zweifel- 
sucht- immer dieselbe Entberung der Trauben; nur komt noch 
die Herabsezung derselben hinzu und die Armut des Kopfes 
geht auf die verstelte Lamheit desselben betteln. Unsre Uber- 
zeugung von der besondern Geschiklichkeit der heutigen iungen 
Philosophen, die hundert Augen des metaphysischen Argus mit 
ihrer Feder zuzuschliessen oder zu verderben, schlagt unsre 
Hofnung zur Abstellung dieser Weisheit vollig nieder. Denn 
wenn man bedenkt, daB schon in den alten Zeiten die Esel dem 20 
Mars gewidmet waren, so sind alle Zweifel iiber die Tauglich- 
keit der Neuern zum kriegerischen Widersprechen aufgelost und 
eine Stirne mit Hornern ist eben darum nur desto fahiger, ihre 
Dumheit durch Sieg an ungehornten Kreaturen zu rachen. Zwar 
ist der Baron Wolf ein starker und untersezter Man und selbst 
unter den konkavgeschlifnen Augen einer iungen Witwe er- 
scheinen seine Waden immer gros genug; allein demungeachtet 
schlagt ihn, fals er in metaphysischer Finsternis wandelt, der 
kru[m]me und lame Nachtwachter nieder. Auch mus man be- 
denken, daB zu den skeptischen Pillen, die die Metaphysik abfu- 30 
ren sollen, eigentlich England die Ingredienzien und Frankreich 
das Silber, Deutschland aber nur die Pflaume, in der man sie 
einnimt, oder das Getrank, das man auf ihre Bitterkeit trinkt, 
geliefert haben - oder, - um ein mer deutliches und angemesse- 
nes Gleichnis zu machen - unsre iungen Zweifler anlichen nur 
den wilden Eseln, die die Indianer, nach Herodots Bericht, vor 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 63 $ 

ihre mit Sicheln bewafneten Kriegeswagen spanten. Die Wagen 
verwundeten, aber nicht die Esel; diese zogen nur, wiewol wir 
nicht laugnen, daB sie vielleicht demungeacbtet ein Te deum 
geyanet. - Auch von der Menge dieser Zweifler last sich auf 
ihre leider! grosse Weisheit zuriikschliessen; und wiewol sonst 
die Warheit, gleich den Gespenstern, nur einzelnen Personen 
erscheint, so zeigt sich doch iezt das Gespenst, wie in der Semi- 
ramis des Voltaire, einer ganzen Versamlung und die Minerva 
fait, gleich ienem Engel in dem Holwege,dem Esel friiher in 

10 die Augen als dem Propheten. Der Esel bekomt alsdan die Spra- 
che, und darauf endlich der Prophet das Gesicht. Doch haben 
wir auch bei verschiednen langorichten Saundersons Kollegien 
iiber die Selenoptik gratis gehort. Schliislich merken wir an, 
daB das zweifelnde Denken, gleich den Laxanzen, die vorher 
die unverdauten Speisen und dan erst den alten Sauerteig von 
Schleim und Galle aus dem Unterleibe treiben, gewisse halbver- 
standne Warheiten friiher aus dem Kopfe exulirt als alte Irtiimer, 
und daB mancher den Teufel langer, wenigstens ofter glaubt 
als Got; derbose Feind hat von ihnen, wie ihre Weiber, wenig- 

20 stens die Nacht: denn die Finsternis erinnert nachdruklicher an 
den Vater der Finsternis als das Licht an den Vater des Lichts. 
Allein dem alien ungeachtet durfen wir - zu einer solchen Ge- 
migsamkeit an Torheiten sind wir iezt verdamt! - das Ableben 
des Skeptizismus nicht in unser Gebet einschliessen: denn da 

incendia lumen praebent, (Ovid sagt praebebant) 

d. h. die Begierde, die Metaphysik zu vertilgen, ist mit einem 
fliichtigen Studium derselben nicht selten verbunden, wie doch 
auch der Vorsaz, den goldnen Kelch - freilich nicht zu trinken 
- sondern zu maussen, den Dieb in die Kirche und an den Altar 
30 hin treibet; so konnen wir allemal unser Belachen der modischen 
Unwissenheit auf ihre Larve der Weisheit schieben und wenn 
der getrofne Esel die Lowenhaut zurijkwirft, so sagen wir, 
nachdem wir mit Erstau[n]en zuriikgesprungen: »Ach! Sie 
sind's, Her Esel? um Verzeihung! wir hielten Sie fur den L6- 
wen.« Sezt aber in unsern Tagen, wo ein Eselskopf, wie in Sa- 



636 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

maria, seine achtzig Silberlinge unter den Briidern gilt, die Ab- 
schaffung der gelerten Maskeraden, so ists um unsern Spot 
getan. Daher bitten wir alle iunge Skeptiker, sich auch noch 
kiinftighin zu stellen, als wenn sie dachten. - 

Eben darum diirfen wir auch eine andre Verlarvung der Ge- 
hirnlosigkeit nicht antasten, die dunkle Schreibart namlich: denn 
sobald der Freund der Dunkelheit deutlich schriebe, so wiirde 
ieder wissen, daB er nicht denke, allein dan trate an die Stelle 
der weisen Maske, an die sich unsre Geisel wagte, das dumme 
Gesicht, von dem die Mode iede Verlezung abweiset. Vielmer 10 
dringen wir bei solchen Meistern der schwarzen Kunst auf Bei- 
behaltung ihrer Manier in folgender Anrede: »Schriften eurer 
Art schazt man, wie das Pelzwerk in Rusland, nur nach der 
Dunkelheit der Farbe; hutet euch daher, eure Unsterblichkeit 
durch Deutlichkeit zu verwirken und denkt an den Lorberbaum, 
der, nach den Alten, am besten im Schatten griinet. Verfinstert 
euer Zimmer durch Vorhange und Fensterladen, um die Armut 
an Moblen hinter die sichtbare Finsternis zu verstekken und 
starkt in euren Wehen den Has gegen das Licht durch das Bei- 
spiel der Eselinnen, die ebenfals (nach Aristoteles und Plinius 20 
Bericht) ihre Geburten der Finsternis anvertrauen. Fertigt iibri- 
gens alien Tadel durch die Bemerkung ab, daB man dem Scharf- 
sin des Lesers nicht durch Verstandlichkeit vorgreifen miisse; 
vielmer sol der Leser den Autor spielen und mit seiner geistigen 
Zunge fremde Gedanken, wie gewisse Tiere mit der ihrigen 
Insekten, nicht bios schmekken sondern auch erst fangen.« 
Andre Nichtdenker dekken den gehirnlosen Kopf durch Kranze 
von poetischen Blumen, und auch diese treiben unser Vergnu- 
gen an ihrer Einbildungskraft oft bis zum Glauben an das Dasein 
ihres Verstandes; allein den erstern komt es mer auf Verhiillung, 30 
und diesen mer auf Verschonerung der Unwissenheit an. Daher 
verpflanzen sie dieSchonheiten, welche die Poesie tragt, in die 
Philosophic und gleich dem Frauenzimmer, stekken sie rhetori- 
sche Blumen nicht bios an das Herz, sondern auch auf den Kopf. 
Daher binden sie AbcGedanken in franzosische oder englische 
Bande und ihre Ideen maussen sich iarlich zur Oster- und Micha- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 637 

elismesse. Kleider, sagen sie, machen nicht nur Leute, sondern 
auch Gedanken; wenn nun ein Gedanke seinen Ausdruk bis auf 
den Faden abgetragen hat, warum sol man fur ihn keinen neuen 
bestellen? Das abgenuzte Kleid, versteht sich, schenkt nachher 
der Her dem Bedienten d. h. das Tausendmalgesagte erbt vom 
Hundertmalgesagten die Einkleidung. Ihre Schriften gleichen 
den Baumen, mit deren Verschonerung der heilige Christ die 
frommen Kinder belont; die kleinen Wachslichter auf den Asten 
beider, leuchten bios, um die mit Wiz vergoldeten Apfel und 
1 10 Niisse und die gebaknen Siissigkeiten sichtbar zu machen d. h. 
erst die Einkleidung ertapt den Gedanken, zu dessen Festhaltung 
sie ihr eignes unsubstanzielles Wesen notigt. Diese List, womit 
man iezt Deutschland dem Denken untreu macht, ist den Miit- 
tern abgeborgt, welche ihre zu entwonenden Kinder die Mut- 
terbrust durch Zukker enthaltende und wie die versagten War- 
zen gestaltete Leinwand Flekgen entberen leren; und die List 
hat den Mund der Lesewelt an das Papier, woraus er nichts als 
Fasern oder eignen Speichel saugt, so ser gewont und die alge- 
meine Verhungerung so gut angelegt, daB die Hintertreibung 
1 20 derselben vorzCiglich in unsre Bitschrift gehoret, war' uns nicht 
eine weitlauftige Satire hierin zuvorgekommen. 

Diese Reihe Nichtdenker schliessen die, die sich nicht einmal 
stellen, als wenn sie dachten. Unsre Augen, sagen sie, mogen 
wol gerne weinen, aber sie mogen nicht sehen. Diese Leute, die, 
wie die Esel, nichts so hassen als die Kalte - woraus Aristoteles 
die Erzeugung der Esel in kalten Klimaten hochst irrig laugnen 
wil -; und die, gleich den Tiirken, den Mond auf ihre Fanen 
malen, diese Leute haben uns schon zuviele Bitten gewaret, um 
noch mit der Bitte, sich zu stellen als wenn sie dachten, belastigt 
zu werden. 

Diese algemeine Unwissenheit konte unsre Klagen liber sie, 
womit wir schon etliche Bogen gefiilt, durch eine nuzliche Wir- 
kung stillen! Namlich: wer soke nicht vermuten, daB man in 
unsern Tagen desto mer schriebe, da man so wenig weis und 
daB Schriftstellerihre Unwissenheit durch Vielschreiberei niizen 
werden? Und doch ist die Erfarung gegen diese Vermutung 



638 , JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

und man schreibt iezt ungelerte Biicher beinahe eben so selten 
als gelerte. Ein neues Beispiel der Feindschaft zwischen den Be- 
weise[n] a priori und a posteriori. DaB doch immer der Warheit, 
sowie der Gelegenheit, die Hare, womit man sie von vornen hal- 
ten kan, von hinten felen! Alle neun Musen der Griechen versagen 
den Genus ihrer Reize dem sechsten Sinne der Autoren; und 
doch ist eine zehnte aber romische Muse, die sich Musa tacita 
schreibt, ihre Ehefrau und stat der neun Juden dankt der Samari- 
ter. Sie haben die Manlichkeit ihrer schriftstellerischen Lenden 
ganz erschopft; und doch bleibt das Symptom dieser Erschop- 10 
fung, namlich der Priapismus in Riiksicht der Musen aussen. 
Ihr Magen verdaut fremde Biicher so schlecht; und doch ist 
ihr Unterleib (wider alle Bemerkungen der Arzte) nicht offen 
und last iedes Manuskript erst durch susses Lob aus sich heraus- 
klystiren. Sie sizen auf der Abcbank der Wissenschaften; und 
doch steigt keiner auf seine Abcbank, urn auf diesem Katheder 
den iibrigen Abcbanken ein Kollegium zu lesen. Polygamic, 
sagt man, hindert die Bevolkerung; und doch erzeugt gelerte 
Monogamie nicht Polygraphie und die Unfruchtbarkeit des 
Kopfs aussert sich nicht durch Fruchtbarkeit der Hande. Es giebt 20 
so wenig philosophische Kopfe; und doch giebt es so wenig 
philosophische Biicher und ungeachtet man keine Menschen- 
.kentnis besizt, so schreibt man doch wenig Romane und Folio 
Unwissenheit zeugt Duodezgeburten; so finden einige an ienem 
Meisterstiik der Bildhauerei den Laokoon wie einen Riesen und 
seine Kinder wie Zwerge. Zu dieser Unfruchtbarkeit wissen 
wir die Ursache nicht zu entdekken. Umgang mit den alten 
Musen, die die ehlige Pflicht nicht mit Buchern belonen, last 
sich mit ihrem Hasse gegen die alte Gelersamkeit nicht reimen; 
wiewol im unfigiirlichen Sinne iener alte Huren hielt, um nicht 30 
Bastarte zu zeugen. Und da sie wenig denken, so kan man 
ebenso wenig einer Fruchtbarkeit an Gedanken die Unfruchtbar- 
keit an Buchern (den Korpern derselben) anschuldigen und auf 
sie folgendes Urteil einer Frau iiber ihren Man, der ofter drukken 
als taufen lies, anwenden: il ne sait faire que des esprits. An 
leiblichen Reichtum ist auch so wenig zu gedenken als an geistli- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 639 

chen. Sie verachten endlich die Bemerkung, die meisten Biicher 
anlichen den sybillinischen, den Preis derer, die verbrennen, 
erbendie, welcheiibrigbleiben, viel zu ser, als daft wir den Altar 
der Kritik als das Grab ungesehner Werke mutmassen diirften. 
Die Verbrennung so vieler Kinder liesse sich hochstens aus der 
Meinung aller Autoren erklaren, daB ihnen das Publikum wol 
die Untauglichkeit, aber nicht die Fruchtbarkeit der Insekten 
verzeihe, und daB man demselben stinkende Speisen, ungeachtet 
die Aufbewarung den Gestank vergrossert, solange vorenthal- 
10 ten miisse, bis sie das Spriichwort einbalsamirt »Hunger ist der 
beste Koch«. Diese Bucherseltenheit - dies siehst [du] leicht 
ein, weises Publikum! - wiirde endlich unser Gesicht zu einem 
Ernst hinaufstimmen, den unsre demokratischen Muskeln nie 
aushalten werden; die Hauptquelle der Torheiten ware fiir uns 
versiegt: denn konnen wir wol bei andern als Schriftstellern auf 
grosse Narheiten rechnen und kan wol der Verfasser des Buchs 
dem Leser desselben iede seiner Lacherlichkeiten einimpfen? Wir 
werden daher nicht nur die neuliche Preisfrage: »welches sind 
die besten Mittel, dem Kindermorde Einhalt zu tun« in einem 

I 20 andern Sinne und in Hofnung besserer Beantwortung nachstens 
von neuem aufwerfen; sondern auch iezt diese neuen Herodes 
der unschuldigen Kindlein mit Griinden zu bekeren suchen. 
Vielleicht sieht man ein, daB Biichern die Verwandlung nicht 
in Asche, sondern in Makulatur anstehe; und vielleicht sagt die 
Nachwelt in besserm Deutsche so: » Vor dem Jare 1783 verbrante 
ieder Auktor, oder wie man damals sagte Autor, sein todgebor- 
nes Knablein auf einem rogus, und begrub es nicht; aber nach 
dem genanten Jare, wo VoB in Berlin die Bitschrift der Satiriker 
drukken lies, verbrante keiner seines, sondern sargte es in weis- 

1 30 ses Drukpapier ein und sezte es in die Buch- und Kramladen 
bei. « So giebts auch in der schwedischen Geschichte zwo grosse 
Epochen; die eine heist Brena-Old d. h. die Zeit, wo man die 
Toden verbrante; und [die andre] Hauga-Old d. h. die Zeit, 
wo man sie begrub. Jenes tat der Heide, .dieses der 
Christ. 

Sobald einer weis, daB unsre Autoren sich sterblich in die 



64O JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

Unsterblichkeit verliebt, und daB ihrer Begierde nach Lorber 
nichts gleichet als die Begierde der Kazen nach Marum Verum, 
sowie ihrer Zuneigung gegen die Musen nichts als die Zunei- 
gung der Affen gegen die Madgen, so wird er die gewissere 
Verewigung als die erste Wirkung erwarten, die wir von der 
Polygraphie rumen. Und wirklich wiisten wir auch ftir die, wel- 
che auf den Fliigeln einer toden Gans, die merit das Schiksal 
der wachsernen des Ikarus zu furchten haben, einen Wetflug 
mit der unermudlichgeschwinden Zeit eingehen und noch iiber- 
dies auf dem Wege zum Rum dem Unterhalt entgegenfliegen 10 
wollen, nichts wirksamers auszusinnen als Vervielfaltigung der 
Gansekiele ihrer Schwingen, als Vielschreiberei. Nichts ist na- 
tiirlicher als daB das Publikum euch vergist, wenn ihr es erst 
alle fiinf Jare an euren unsterblichen Namen erinnert; aber so 
schlecht ist sein Gedachtnis nicht, den Namen zu vergessen, 
der alle sechs Monate im Munde eines Soufleurs wiedergeboren 
wird. Warum bliihen auf so wenigen alten Grabern Vergismein- 
nicht; warum sank die Halfte der vortreflichen Alten in ewige 
Vergessenheit hinunter? weil man dazumals seltner opera als 
ein opus schrieb. Der Meskatalogus vom Jar 1620 enthielt 224 20 
belletristische Schriften; ihre Menge rettete daher einige vom 
Tode. Der Meskatalogus vom Jar 1780 enthielt 1 1 belletristische 
Bucher; und wer glaubt wol von Einem dieser elf en, daB es 
nicht den Sold der Stinde bezalen werde? Lieber Got! was sollen 
denn die hundert Zungen der Fama mit elf Brosamen? Und 
noch gar der Vielfras, der Tod? ach dieser frist die iezige[n] 
Bucher, und ihre Vater und ihre Paten auf einen Bissen. Ein 
Elephant mag immerhin erst alle vier Messen ein Junges geba- 
ren: das lange Leben des leztern verhutet alle Folgen dieser Un- 
fruchtbarkeit; aber sezt einmal, daB die Milbe nicht in einigen 30 
Tagen etliche Tausend Milbgen zeuge, so werden die Milben 
so selten als der Vogel Phonix werden und wenn der dumme 
Stokfisch seine neun Millionen Eier im Pult verwesen lies, so 
machten die Kaufleute einen Universalbankerut und die Hollan- 
der wtirden sogar Christen werden. Allein nemet auch an, daB 
der Name des Vielschreibers den Magen desselben nicht iiber- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 64 1 

lebt, so bleibt ihm doch die Ere, auf seinen Rum den Ausspruch 
ienes Dichters vom Menschen deuten zu konnen: 

. Mors non una fuit, sed quae rapuit, ultima mors est. 

Wir Satiriker machen ihm also folgende Grabschrift: »Hier liegt 
der Vielschreiber A, den das Publikum iarlich zweimal vergas 
aber fernerhin zu vergessen vergessen wird. Nachdem er in 
funfzig Messen gestorben, aber alzeit wieder auferstanden war, 
so starb er auch in der ein und funfzigsten sanft und selig, wird 
aber nicht eher auferstehen als am iiingsten Tage.« Einen noch 

10 kiirzern Leichensermon auf einen Polygraph gabe folgende Be- 
nennung des Todes eines Alten ab: »Es ist ein Toder gestorben. « 
In den Armen der Nacht liegt neben dem Tode auch der 
Schlaf*; dieses bringt uns auf eine andre Anpreisung des Viel- 
schreibens. Namlich da Biichern iiberhaupt die Einschlaferung 
des Lesers selten felschlagt, so ist sie dem Vielschreiber noch 
viel gewisser. Daher gaben die Alten der Gottin der Fruchtbarkeit 
einen Monsamenkopf in die Hand; daher gilt das Horn fur ein 
Abzeichen des Schlafs und der Fulle - auch der Dumheit, sezen 
neuere Gleichnismacher hinzu. Auch mus eine Bibliotek viele 

20 Rekruten von den Messen erhalten haben, bis sie ihre mit gold- 
nen Achselbandern versehnen und gelbmontirten Glieder in der 
Erregung des Schlummers gehorig abwechseln lassen kan. 
Wenn auch Melpomene das belesene Kind in den nachtlichen 
Schlaf gesungen, so ist doch noch erst Thalia notig, um den 
nachmittagigen herbeizuschakern. Die Federn von zweihundert 
Gansen fur ein einschlaf riges Bet - ist daher nicht zuviel gerech- 
net. » Allein mein einziger Band Gedichte kan ia alle Tage gegen 
das Wachen genommen werden« - recht! aber one Ekel? und 
diesen verhiitet nur Abwechslung und ihr miisset also gleich 

30 den Geschopfen, auf deren kleinern Federn wir den Schlummer 
abwarten, den ihr durch ihre grossern ausgegossen, mit sanftem 
Gefieder und angenemen Fleische zugleich niizen und nicht bios 

* So werden beide als Knaben auf einer Kiste von Zedernholz im 
Tempel der Juno zu Elis abgebildet. 



642 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Eine dichterische Flote mus die hundert Augenlieder des Argus 
von Publikum zuziehen. Nur - das bitten wir euch, Hebe 
Deutsche! - nur veriagt nicht durch euren modischen Unsin, 
bei dem man sich in vergebliche Anstrengung verliert, den al- 
zeitfertigen Schlaf, dem eure Mittelmassigkeit schon den Mund 
geofnet, und traumt weniger, damit der Leser mer schlafen kan. 
Oder wollen eure BCicher, gleich dem Opium, die Raserei vor 
dem Schlummer vorausschikken? Gotsched iibersezt den Addi- 
son: nun machen deutsche Wochenschriften den Parnas zur Kir- 
che; Eschenburg iibersezt den Shakespear: nun machen deutsche 
Tragodien den Parnas zum Tolhaus. Addison kronte die Deut- 
schen mit Schlafmiizen; Shakespear mit Schellenkappen. 

Um Vielschreiberei bittet ferner die ganze Handelsschaft, die 
das Gewiirz mit keinem wolfeilern Papier zu bekleiden weis 
als mit volgedruktem. Und die Bitte derselben kan um desto 
mer bei den Schriftstellern auf giinstige Oren rechnen, da, nach 
der Mythologie, der Merkur beide durch gleiche Beschuzurig 
zu Glaubensgenossen macht und den gelerten Kopfen geistige 
Kinder darum giebt, um dem Kramer Makulatur zu geben. 
Sonst beschenkte Merkur den Apollo mit der Laute; daher auch 
in unsern Tag en Apollo seine Laute haufig an den Merkur ver- 
kauft. Heben wir unsre Augen gen Himmel, so glanzt uns eben- 
fals die Verwandschaft der Handlung und der Litteratur entge- 
gen. Der Premierminister des Foibos ist der Merkur: nur mus 
die astronomische Bemerkung, nach welcher die Sonne oft den 
Merkur unsichtbar macht, zu unsern Zeiten der Wenigschreibe- 
rei gerade umgekert werden. 

Verlacht ihr die Bitten der Kaufleute, so werdet ihr doch die 
Bitten der Grossenhoren, die auf eure Geburten desto begieriger 
sind, ie weniger sie durch eure Untauglichkeit zum Umgange 
verlieren, und die das Buch dem Vater vorziehen: so wie man 
wol einen Kalbskopf, aber nie einen Ochsenkopf auf die Tafel 
sezt; so wie die Dame mit dem Bauerknaben, aber nicht mit 
dem Bauerkerl tandelt. 

Auch bitten euch alle Reichen, deren Buchersale zu gros ange- 
legt worden, um eure Fruchtbarkeit zu entberen. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 643 

Und selbst der wolweise Rat zu X wird nachstens euch in 
unverstandlichem Deutsche bitten, die offentliche Bibliotek zu 
X mit untauglichen Biichern zu fiillen. 

Schluslich bittet euch urn eure Schriften die Frau, urn damit 
ihr Herz, und der Man, um damit seinen H- zu reinigen; der 
Pobel, um sie zu lesen, der Rezensent, um sie zu loben, und 
der Satiriker, um sie zu geiseln. 

An die Buttel des Apollo getrauen wir uns mit keiner Bitte 
um Torheiten; sie spielen den Teufel zu ser, um den Affen spie- 
len zu wollen. Auch wiirde ihr holzernes Schwerd des Harlekins 
iede Verspottung ihrer Harlekinschen Jakke zurukschrekken; 
wir konnen bios geiseln, aber sie konnen uns toden und ihre 
Riikken an unserm Kopfe rachen. Auch haben einige Rezensen- 
ten ihren Tribut von Schellen uns schon in ihrer Jugend gelief ert, 
da sie die Siinden begiengen, die sie an andern iezt vergeben 
oder verdammen. Denn sie waren Homere, eh' sie Zoilus wur- 
den; so wie das Alter den Zukker in Gift, und den berauschenden 
Wein in scharfen Essig verwandelt. Eben so gos Peter der grosse 
die Glokken, die gleich Dichtern, zu Leid und Freude summen, 
20 in Kanonen um, die wie Rezensenten morden; eben so giebt 
die Verwandlung dem surinamischen Insekte, das man als grune 
Mukke wegen seines Gesumse den Leierspieler zu deutsch den 
Dichter nante, eine zu Nachts leuchtende Blase an den Kopf, 
daher man es den Laternentrager zu deutsch den regelgebenden 
Kritiker nante. Auch bei ganzen Volkern hat die Poesie weit 
fruher gebluhet als die Prose und der Vogel lernt eher fliegen 
als pfeifen. Solte iibrigens iemand die Grausamkeit eines alten 
Zoilus gegen die Poeten mit der Nachbarschaft, in der er als 
Jiingling mit ihnen stand, nicht reimen konnen, so erinnern wir 
30 diesen Jemand an die Bremsen, die denselben Ochsenriikken 
stechen, der sie erzogen. Freilich- waren nicht alle Rezensenten 
m ihrer Jugend Narren; manche waren da schon Rezensenten 
und wurden, gleich einigen Kindern, mit Zanen geboren. Denn 
die kritische Kalte vertragt sich bei den entgegengesezten Polen 
des menschlichen Lebens am besten ia die Geographen finden 
den Siidpol noch kalte r als den Nordpol. Gleich wolriechenden 



644 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

und stinkenden Blumen, hauchen die Kritiker am Morgen und 
Abend ihren Tadel oder ihr Lob am haufigsten aus; eben so 
sind neugeborne und alte Wolfe grau und die Hare von beiden 
rechnen auf unsre Erfurcht. - Also, wie gesagt, die Rezensenten 
sollen uns keine Narheiten zollen; wir diirfen sie nie zum Ziel 
unsrer Geisel walen und ein guter Genius lamet uns sogar den 
aufgehobnen Arm. Vielmer wollen wir sie uns durch einige 
gute Ratschlage verbindlich machen, deren Befolgung in unsern 
Tagen, wo ieder Dieb ein Pasquil auf den Henker schmiert, 
ihre Ere und unsre gute Absicht ins Licht stellen wiirde. Seit 10 
Sterne die gelerten Richter in Allegorien geisel te, wie Hexen 
ihren Feind im wachsernen Bilde desselben mit Nadeln stechen, 
so sagte ihnen die deutsche Jugend, so wie dem Teufel, alle 
Erfurcht auf, ieder Satyr rante ihnen nicht mit seinen kleinen, 
sondern mit Ochsenhornern entgegen und iede Vorrede warf 
ihnen ein Gleichnis an den Kopf . Das Sonderbarste ist, daB gute 
Schriftsteller ihnen noch die Erfurchtsbeugungen abtrugen, zu 
denen sich schlechte nicht mer verstunden; so wie auch die 
Schonen, aber nicht die Fliegen, sich vor den Spinnen furchten. 
Denn eigentlich soke man den Zanen solcher Skribenten, fur 20 
die ein Tropfen aus dem Flus Lethe eine Welt ist, mer Behutsam- 
keit gegen die Hern liber ihr Leben und ihren Tod zutrauen: 
denn selbst die Insekten handeln hierin kliiger und H. Bomare 
riimt von ihnen, daB sie seinen ausgestopften Wolf die neun 
Jare, warend sie alle (ibrige vierfiissige Tiere angegriffen, ge- 
schonet haben. Auch die Flohe konnen ein Wolfs f el nicht einmal 
riechen; stat daB die unsrigen dasselbe zum Tanzboden ihrer 
hiipfenden Laune und zum Gegenstand ihres stechenden Wizes 
heraberniedrigen. Vielleicht verschulden die Richter durch un- 
erbitliche Unparteilichkeit diese Nachlassigkeit der Autoren, so 30 
wie auch den Tod seine Unerbitlichkeit um alle Altare der Alten 
brachte; vielleicht sucht man die Lichter der Kritik darum auszu- 
blasen, um hinter die Finsternis den abwechselnden Genus aller 
Musen zu verstekken; vielleicht verweigert mancher Pegasus 
sein Maul dem Zaum, weil der leztere gewonlich aus einer Och- 
senhaut gearbeitet ist - allein mit alien diesen Vielleichts ist den 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 645 

verschmahten Kunstrichtern wenig gedienet, sondern wir wer- 
den nur dan die Wurzeln dieser Verachtung aufdekken und da- 
durch unser obiges Wort halten, wenn wir ihren Verfal ihrer 
zuhauhgen Nachsicht anrechnen. Ihr handelt ganzlich, sanfte 
Kritiker, gegen eure Kunst, die sonst den Biichern nach der 
Unsterblichkeit stand, seitdem ihr gegen alle Nasen eine Atmo- 
sphare von Wolgeriichen hauchet, und mit eurem stinkenden 
Atem hochstens nur griechische und romische Nasen verfolgt. 
Gleich wolriechender Seife, befriedigt ihr die ergeizige schneide- 

10 rische Haut, warend ihr die Feler abwaschet, und soke ia ein 
strafbarer Riikken durch eure Federn Spiesruten laufen miissen, 
so stilt ihr doch die Schmerzen durch musikalische Ergozung 
der Oren, . Selbst zum bittersten Tadel holt ihr 

erst durch Entschuldigungen aus und todet das Buch unter so- 
vielen Komplimenten, in so feinem Weltton, mit so wenig 
Grobheit, daB ihr beinahe den parisischen Henkern gleichsehet, 
die, nach Mercier, gepudert und frisirt und galonnirt und in 
seidnen Striimpfen und in Tanzschuhen den armen Sunder ra- 
dern. Freilich liebt man so einen Henker mer als einen Arzt 

20 in der Knotenperiikke und mit langer Weste; allein eben darum 
zittert man weder vor seinem noch vor eurem Schwerde. Unser 
Rat ist also der. Stellet euch kunftighin neidisch, um mit der 
Farbe und der Scharfe eures Gebisses zugleich zu verlezen, merkt 
aber dabei an, daB die Livre des Neides nur grosse Verdienste 
kleidet, so wie sich in Sina nur der Kaiser gelb tragt. Daher stellet 
euch ferner so viel es euch moglich ist scharfsichtig und schleift 
das eine Auge eurer Brille konkav, um Schonheiten zu sehen, 
und das andre konvex, um Feler zu sehen. Die leztern werden 
sich eurer kritischen Gerechtigkeit in Menge anbieten, ia die 

30 Begierde, sie zu finden, wird euch sogar Gelegenheit geben, 
sie zu machen, so wie die Tiirhuter des Stats den Inhalt des 
Koffers durch Aufsuchung der Konterbande oft beschadigen, 
wenigstens in Unordnung bringen. Stellet euch strenge, nicht 
nur gegen angehende Autoren, sondern auch gegen angehende 
Verleger; verschonet die Buchladen derselben selten mit eurer 
Grausamkeit, so wie der Bliz immer in Viehstalle herabschlagt. 



646 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Auch hemt das Todschlagen der kranken Biicher und Kinder 
die Viehseuche; doch mus euch hieran weniger als an der Herab- 
sezung guter Autoren gelegen sein, die euch, wie wir schon 
oben bemerkt, die Ungerechtigkeit mit Achtung lonen. Und 
fals ihr die zwote Auflage loben musset, so tadelt wenigstens 
die erste. Besorgt aber nicht, daB der Rum an eurem Gestank 
sterbe. De cent pendus il n' y a pas un de perdu sagt das franzosi- 
sche Sprichwort und die Leiter zum Himmel last sich ser gut 
fur eine unsichtbare Fortsezung der Leiter zum Galgen ansehen. 
Allein der Tod eines schlechten Autors sei das Signal, mit der 10 
Trompete des Lobs das Grablied zu blasen; vergrossert, wie 
die Kochin, mit eurem Atem das tode Gefliigel; bekranzt, wie 
einige Mezger, mit Lorbern den toden Ochsen. Stellet euch ein 
wenig wizig; schneidet daher, wie die Tiirken, die geschlagnen 
Fussolen auf, und saet beissende Einfalle auf die Wunde. Die 
Leute, bei denen ihr eine wizige Larve am wolfeilsten kaufen 
kont, sind, unsers Bediinkens und unsrer eignen Erfarung nach, 
dieienigen, die auch Heringe und Fische und Obst verkaufen. 
Fangt ihr ieden Markttag die Ausbrtiche ihres Zorns in eure 
Schreibtafel auf, so werdet ihr auf iede Messe seinen Spot vorra- 20 
tig haben. Soke aber die Menge guter Autoren eure beissende 
Heringslache doch erschopfen, so haltet euch an gehassige An- 
spielungen auf besondre Anekdoten und an die geheime Chro- 
nique scandalique des Parnasses; wodurch ihr noch (iberdies die 
Rezension dem Pasquille immer mer und mer naher bringt. 
Stellet euch endlich ein wenig mer partei[i]sch. Unparteilichkeit 
wiirde euch nur das Lob derer eingeben, die von eurer Bileams 
Zunge es ausschlagen, und den Tadel derer, die keinen recht- 
massigen vergeben; allein keret ihr die Sache um, so beleidigt 
ihr nur solche, die sich nicht rachen, und verbindet euch solche, 3c 
die euch nicht verachten. Luzian berichtet, daB die Esel bei dem 
Treffen zwischen den Bewonern der Sonne und des Mondes ' 
Trompeter abgaben; wir wundern uns daher, warum ihr eure 
lobenden und tadelnden Trompeten nicht auch neulich blieset, 
da die Sone des Apoh und der Luna ihren eingeschlummerten 
Streit wieder erwekten. Dies sind die Ratschlage, durch deren 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 647 

Beobachtung ihr eure alte Ere wiederum erobern kont. Allein 
die Verwandschaft unsrer Zane mit den eurigen, die vor den 
satirischen nur den Vorzug der Dauer haben, so wie auch Wolfs- 
zane gegen die Natur andrer Zane, in der Erde nicht kalziniren, 
macht uns euren Rum so wichtig, daB wir euch, fals die vorge- 
schlagne Strenge one Wirkung bliebe, noch folgende Vergros- 
serung eures Tadels vorschlagen. Namlich, so wie einige 
schlechte Biicher schreiben, um sie zu loben, so schreibt 
schlechte, um sie zu tadeln. One Besorgnis der Feindschaft oder 

[o der Ungerechtigkeit kontet ihr alsdan unter fremden Namen 
eure Kinder mit einer Strenge ziichtigen, deren Befurchtung 
euer Ansehen wiederherstelte. Wir hatten, um euch den Tadel 
zu erleichtern, wol zu guten Biichern raten konnen; allein aus 
einem Rezensenten last sich nicht wol ein Autor bakken. Jenem 
felet, was dieser hat; eben so giest die Hausmutter ihre Lichter 
aus reinem Ochsenfet zusammen, allein zur Seife, die bios den 
Schmuz wegnimt, samlet sie alles fur Lichter untaugliche oder 
vom Leuchter herabgeflossene Fet, alle Spekschwarten und ie- 
den olichten Unrat auf. Und so konten dieienigen von euch, 

io die die Musen visitiren, bald auf dem Pegasus sizen, um zu 
fliegen,baldauf dem Buzephal, umzumorden; und mit demsel- 
ben Schnabel singen und hakken, oder wie ein Kantor singen 
und die iungen Sanger prugeln, oder wie ein Richter eine hu- 
rende Muse notziichtigen und verdammen; ia sie hatten dan 
Gelegenheit, die Speise der Biicher, wie die Harpyien, so wol 
zu rauben als zu besudeln, Schonheiten zu tadeln und Feler zu 
stelen und das feindliche Land mit Beraubung und Verherung 
zugleich zu geiseln. Der moglichen Unwirksamkeit dieses lezten 
Rats kommen wir durch folgende Bitte an die Autoren zuvor: 

]o eret eure Obrigkeit, die aus unversorgten Kandidaten, miissigen 
Studenten und Londienern der Verleger besteht, aber spaset nie 
mit eurer Obrigkeit weder in sternischen Romanen, noch in 
Vorreden. Sie weis zwar so wenig, wie ihr; allein wie sol sie 
etwas lernen, da sie bios euch lieset? Im Gegenteil ist warschein- 
lich, daB ihre Rezensionen sich zu einem grossern Wert erheben 
wiirden, wenn sie bios Biicher vol Wert verdamte und also lase. 



648 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

So glaubte ein Proiektmacher in Balnibarbi*, daB Spinnen, die 
man bios mit schonfarbigen Fliegen genaret hatte, Gewebe zeu- . 
gen wiirden, an deren seidnen Faden alle bunten Farben ihrer 
schonen Narung spielten. Glaubt also nicht kiinftighin mit dem 
gemeinen Man, daB fiinf Gulden die Ermordung eines Henkers 
biissen; abstrahirt vielmer von euch die Notwendigkeit dersel- 
ben und uberzeugt euch von der Miihseligkeit eines Studiums, 
bei dem man sich wegen der Gewonheit, den Kadaver und die 
Speise, wie iener anatomische Professor, mit demselben Messer 
zu schneiden, nicht an Schonheiten von Felern erholen kan. ic 
Schliislich lenet euch nicht mit Epigrammen gegen die kiinftige 
Verdoplung derltritischen Strenge auf : denn unserm Rat zufolge 
wird spates Lob den Tadel schon versussen und eben dieses 
Verfaren biirgt euch fur gleiche Unsterblichkeit mit den Mu- 
mien, die die monatliche Einbeizung in scharfes Salz zur wolrie- 
chenden Einbalsamirung vorbereitete**. Der Kritiker wird iib- 
rigens gebeten, erenrurige Gleichnisse in der Erwanung seiner 
Person zu iibersehen und wenigstens die Armut unsers Wizes 
nicht Kir stolze Verachtung auszuschreien: denn von der leztern 
entfernt uns die * * * Zeitung so ser, daB wir den Ausspruch 2c 
Zizero's cedat stylus gladio so libersezen: der Satiriker sticht 
zwar, allein der Rezensent todet. 

Wie erquikkend ist's, von dem finstern Rezensenten der To- 
den, dem Pluto, zu dem heitern Begeisterer der Lebendigen, 
dem Apollo, aufzusteigen; wie angenem, von den Dichtern zu 
reden, nachdem man von den Kritikern geredet, und wie ver- 
gniigt einen Satiriker der Ubergang von denen, die. Torheiten 
bestraf en, zu denen, die sie begehen! Tretet naher, leibliche Sone 
der Musen, nur durch Armut entbloster gekleidet als eure 
schamhaften Mutter, und lasset uns eure harichte Bardenbriiste 3* 
an unsre harichte Satyrenbriiste driikken, und euch durch eine 
aufrichtige Umarmung fiir eure Verschwendung in Torheiten 
zu belonen, die von ieher unser Zwergfel erschiittert und unsern 

* S. Gullivers Reisen. 

** Solten mir die Rezensenten vorrukken, daB sie noch merere Feler 
als die hier belachten an sich haben, [abgebrochen] 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 649 

Magen gefiillet. - Aber ihr nahert euch nicht! Ach ihr fiirchtet, 
keine Narren mer zu sein! Bleibt zuriik! umsonst hascht euer 
Gesicht nach einer unsinnigen Larve; die langen Oren verraten 
eure Vernunft troz der geborgten Haut des Lowen, den der 
Britte im Wappen fiirt. Ach! ihr seid nicht einmal Affen; 
deutsche Esel seid ihr! Selbst euer Springen widerlegt das beia- 
hende Nikken eurer Oren nicht. Apollo! was hat dir Bedlam 
getan, daB ihm dein Stral keine andre Rekruten als Hunde an- 
wirbt, daB er bios das Gesicht, und nicht das Gehirn verunstal- 

10 tet? — Doch unsre Begeisterung konte dem Apollo mit Recht 
den Argwon abnotigen, daB die Advokaten Bedlams auch Be- 
woner desselben sind. Denn an der Unwirksamkeit seiner Stra- 
len ist ia die Lerheit der bestralten Kopfe schuld; die Affen, 
welche ein grosses Gehirn in das Krankenhaus der menschlichen 
Kopfe bringt, werden geboren, und nicht gemacht. Doch wir 
miissen unsre Phantasie zur Vernunft herunterstimmen und 
unsrer Bitte prosaische Kalte gebieten. Bios die leztere kan un- 
sern Verdrus uber die neuern Versuche, die Narheit durch 
Dumheit zu veriagen, zur Erwanung besserer Versuche, beide 

20 zu vereinigen, zwingen. 

Zur Beschonigung der Neuerung, der Narheit, nach welcher 
man alle zum Vergniigen geschafnen Bucher schazte, die Dum- 
heit zu unterschieben, schlug man allerlei Wege ein. Man ver- 
larvte z. B. den Kopf in das Herz und der Honig, der dem Gau- 
men schmeichelt, muste das Wachs ersezen, das dem Auge 
leuchtet. Honigfaktoren vom Berg Hymettus bewonen iezt die 
Graber der scharfsinnigen Athener; gerade so fieng im Lande 
der Philosophic Milch und Honig an zu fliessen. Es gab gewisse 
Winkel im Reiche der Moral, in die ieder Autor und ieder Leser 

30 seine Tranendriisen pissen lies. »Meine Kinder, wer am meisten 
pisset, erhalt den Nachttopf « sagte die Gottin Dumheit in der 
Dunziade; allein die deutschen Vererer derselben sagten iezt: 
»wer am meisten pisset, erhalt das Himmelreich.« Man sezte 
hinzu: »argert dich dein Auge, so reis es aus, deine Tranendriise 
macht dich schon selig, fals du nur Romane stat der Zwiebeln 
brauchst. In Ermanglung beider darfst du nur durch einige Tor- 



65O JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

heiten dir Leiden zuziehen, gegen deren Angrif du dich wie 
einige Kafer gegen iede Beriirung, verhalst; du lassest namlich 
deinen gewonlichen Saft faren.« Solche Biicher machen war 
leichter a'ls sie lesen; und mir dieses, aber nicht ienes erschopfte 
das Wasser des Lebens - Leben wird beim Autor im leiblichen, 
beim Leser im theologischen Sinne genommen. Der erstere 
saugt sein Kind mit Dinte, aber nicht mit Tranen, und das Was- 
ser, das er so haufig in dieselbe mischt, gehort nicht seinen 
Augen, sondern dem Brunnen an, woraus er auch trinkt. Frei- 
lich nimt das Publikum die Exkremente des Kopfes fur Ergies- 10 
sungen des Herzens, und gleicht dem Kamtschadalen nicht, der 
gerade umgekert den Regen fur das Pissen seines Gottes halt. 
EinBuch, das alle Leser weinen macht, ist eigentlicheinsolches, 
wo der Autor zwar seine Augen schonet, aber sagt, ich weine; 
so zittert ieder Zuschauer fiir den alten Lear, iiber dessen Haupt 
der Regen bios rauscht, den die Bewegung alter im Nordwind 
gesaeter Erbsen hervorbringt. Die Liebe gegen Esel stieg so 
hoch, daB man seinen Oren sogar eine Elle zuzusezen wunschte; 
»war' ich doch noch ein Kind« rief namlich ieder, und einige 
wurden auch von der Diana, der Hebamme der Kinder, so gut 20 
erhort, daB zwar nicht ihr Herz, aber doch ihr Gehirn seine 
Jarszal wie ein Jude riikwarts las, und daB der Kopf iung wurde, 
eh' das Har grau wurde. »Wer dum ist, wird selig« riefen Ro- 
mane stat der Dogmatiken; Heiligkeit wurde mit Dumheit ge- 
kronet, sowie, nach Voltaire's Luge, die geschnizten Engel vor 
der Bundeslade mit Eselskopfen ausgeriistet waren; die Heiligen 
trugen, gleich gekopften Martyrern, die Kopfe Chapeaubas, die 
lebhaften Rumpfe kegelten mit ihren runden Hauptern nach den 
Fiissen ihrer Gegner. Die Engel trugen in ihren Sanften lauter 
geistliche Stuzer gen Himmel und der enthirnte Agypter driikte 30 
dem enthirnten Deutschen die Hand; bios in der Holle war Licht 
und das groste Gehirn hatte der Teufel, der demungeachtet sei- 
nem Ochsenkopf die Beherschung der vielen Pferdekopfe, die 
ihm die Erde zuschikte, nicht zutraute, sondern wunschte, den 
Rossen Elias mit andern Gliedern als den Fiissen zu anlichen. 
Der arme Teufel wiederholte durch diesen frechen Wunsch sei- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 65 I 

nen Fal, und die Theologen wollen aus dem zweiten Brief Juda 
die Nachrichthaben, daB ihm zur Strafe die Pferdefiisse abgesagt 
und dafiir Ochsenfiisse angesezt worden. — Doch miissen wir 
einigen Schriftstellern die chemische Geschiklichkeit einrau- 
men, Blei mit Queksilber, d. h. die Dumheit mit Narheit zu 
amalgamiren und wie schlechter Met, siisse und berauschend 
zu sein. Vor einem aufgeklarten Kopfe giengen onehin die sus- 
sen Geburten des Herzens in Misgeburten der Phantasie uber 
und er wtirkte in ifrnen, wie die Sonne in den von Glasern aufbe- 

10 warten Konfituren, uneinige Garung. Allein selbst diese 
Freunde der Dumheit machten sich um uns durch einige Nar- 
heiten verdient und unterzogen sich willig den Widerspruchen 
mit sich selbst, die diese Gefalligkeit ausbriitete. Z. B. Sie um- 
armten vor ihrem Puke alle ihre Leser mit anarchischer Men- 
schenliebe und freuten sich vorzuglich auf den iiingsten Tag, 
wo ihre Makulatur und die Leser derselben zugleich aufleben 
und das lesende Schaf dem schreibenden Schops lauten Dank 
fur den bekanten Roman im **Verlage zublaken sol; allein dem- 
ungeachtet vergassen die Schopse ihr gutes Herz und visirten 

20 mit ihren Hornern nach den Stirnen kritischer Bokke, die ihnen 
auch am iiingsten Tag gewis zur Linken stehen werden. Ihr 
Herz stand der Erde und dem Mond, den Huren und den Teu- 
feln, aber nicht den Rezensenten offen und ungeachtet sie sogar 
die Insekten liebten, die sie stachen, so hasten sie doch die Rich- 
ter, die sie tadelten. Auf diese Weise residirten sie gleich dem 
Merkur, bald im Himmel, um den Engeln den Gesang, bald 
in der Holle, um den Teufeln das Pasquil abzulernen und wie 
Schwalben sanken sie aus der pindarischen Sphare in die epi- 
grammatische nieder, um Bienen zu toden, weil sie ihren Reich- 

30 turn mit einem Stachel bewachen. Freilich leiht auch die ange- 
borne Liebe fiir die Jungen dem sanftesten Tiere Wut zur 
Verteidigung; und die Esel spielten die Affen nur gegen den, 
der sie fiir keine Pferde erkante. 

Andre, die ihren Kopf zu poetischer Raserei nicht fahig fan- 
den, bestimten ihre gereimten Dumheiten fiir die Kinder, wel- 
che man von ieher mit Eselsmilch saugte. Nam ein Rezensent 



652 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

es ihrem langorichten Pegasus iibel, daS er stat zu fliegen nur 
in Reimen wieherte oder yanete: so erschien in der Vorrede 
des andern Teils der Gedichte folgende Widerlegung: »aber Kin- 
der sizen ia nicht sattelfest; an dies dachte wol mein Kritikus 
gar nicht. Ihr Pegasus mus ihrem Stekkenpferde gleichen; das 
sichnur so viel bewegt, als der Reiter es bewegt d. h. den Unsin 
in Kindergedichte zu bringen (iberlassen wir unsern kleinen Le- 
ser[n], die bios auch unsre Richter sein solten; unsre Sorge ist 
bios Wasserigkeit. Und wenn gereimte Verse die Kinder dum 
gemacht, so werden nichtgereimte sie schon narrisch machen. 10 
Wie klein ist iibrigens der Unterschied zwischen den Oren eines 
Esels und eines Hasen! beide sind lang; nur nennet man die Oren 
des leztern Loffel, und einen faselnden Dummen einen Gekken. « 
Diese Dichtungsart schielet auch noch ausserdem nach einem 
andern Ziele. Da mannamlichden Kindern sogar die Lermeister 
zu Spielkamaraden aufgedrungen, bios um von ihnen die 
Krankheit und dadurch die Arznei d. h. die Langweile und da- 
durch die Bucher wenigstens auf einige Jare abzuhalten; so mus 
das poetische Flugelwerk alien Eltern schon darum wilkommen 
heissen. Denn Vogel sind das liebste Spielzeug der Jugend; stat 20 
dafi der Man die Vogel mit weniger Vergnugen hotel und lieset\ 
er miiste denn spazieren gehen. Auch ist von dem Gesange kein 
Unterricht zu besorgen: denn Kinder verstehen nicht die Spra- 
che der Vogel, wie einige Magi; auch komt aus den Kelen dersel- 
ben nichts als einin Harmonie quintessenzirtes Yanen. Zu einem 
Predigtbuch gehort eine Kele in Quart; zu einem Musenal- 
manach eine in Duodez; allein im Grunde ists einerlei ob man 
Dumheiten schreiet oder singt. 

Einige Pegasusse wunschen ausser den Kindern auch den 
Heiland noch einmal zu tragen d. h. sie reimen nicht mer fur 30 
die Litteratur, sondern fiir die Religion, sie steigen vom hohen 
Parnas auf den niedrigen Sinai hernieder und pfeifen Lieder, 
die man nicht liest aber singt. Die Esel, deren Fleisch das alte 
Testament vom Altar verbante, opfern im neuen ihre Stimme 
auf demselben, und Got, den unter den Heiden das Genie pries, 
preist unter den Christen der Dumkopf. An den Dichtern fiir 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 653 

das Gesangbuch ist nun die Dumheit am meisten vor Tadel 
geheiligt. Die poetische Orgel akkompagnirt ia die prosaische 
Kanzel, und wenn diese den Segen spricht, so antwortet iene 
mit Amen. Man erinnere sich zur Erlauterung an das beriimte 
zu Eren der Maria gefeierte Eselsfest, wo unter andern Gebrau- 
chen der Priester den Segen mit Hinham beschlos und das Kor 
mit Hinham beantwortefte]. Hatte man dazumals dem leztern 
stat des Hinhams das Amen zugemutet, so hatte man den Prie- 
ster zum heiligsten Eifer gereizt: denn, konte er sagen, wenn 

IO ich das Halleluia yane, so mus auch das Amen geyanet werden 
und die ganze Komodie ist mangelhaft, wenn der Priester allein 
den Esel machen sol. - Von dieser Seite sind diese Freunde der 
gesungnen Dumheit geborgen; von andern Seiten bieten sich 
ihnen noch (iberdies schmeichelhafte Aufmunterungen dar. 
Man gestattet ihnen die Vernachlassigung aller zehn Gebote der 
Kritik. Sie sollen nur unterrichten, andre Dichter miissen auch 
ergozen; die leztern sind Flotenuren, die den troknen Unterricht 
in der Elementarchronologie mit den Reizen der Harmonic ver- 
schonern, die erstern sind Nachtwachter, die mit einem dissoni- 

20 renden Home den unnotigen Unterricht und die unnotige Er- 
manung tauber Oren verschlechtern. Die christliche Kirche 
fordert vom Gedicht nicht Schonheiten zur Bewunderung, son- 
dern Unterricht zum sontagigen Genus; allein wenn man wie 
Kleopatra die Perle trinkt, stat anzusehen, so braucht man wenig 
auf ihren Wert zu achten und der Weisfisch kan die Stelle der 
Muschel vertreten. Daher mag immer der Poet sinken, wenn 
nur der Christ steigt, und das Herz erreicht den Himmel nicht 
viel spater als der Kopf die Holle. Seiten ist die Sache umgekert; 
. und dan wird vom ganzen Dichter nichts als die Kele selig und 

30 der Rest fait dem Teufel anheim: so kam, nach dem Sadder, 
nur der Fus eines gewissen Tyrannen in den Himmel und der 
hinkende Rumpf in die Holle. Oder fals das Gedarm die Stelle 
der Kele vertrit, so werden nur die Darmer nicht verdamt. Als- 
danbeziehendie Seraphim und Cherubim mit diesen Schafsdar- 
mern ihre Harfen, deren Silberklang die Nachamer Klopstoks 
noch deutlicher vernommen als Plato den Klang der Spharen. 



654 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

- Ein Kirchenpoet braucht ferner nicht auf dem Parnas herum- 
zuklettern und nach buntem Unkraut botanisiren zu gehen. Er 
zieht die orientalischen Redefiguren den okzidentalischen vor, 
so wie man es mit den Perlen tut; und futtert christliche Schafe 
mit Heu verwelkter Bliimgen, die auf iiidischem Grund und 
Boden gewachsen. Nur selten bittet er den Apollo um ein Bus- 
lied und nur selten zeugt er seine christlichen Kinder mit heidni- 
schen Musen. Schluslich steht ihm iede beliebige Verstumlung 
des Versebaues frei; er kan seinem Verse, wie die Kinder den 
Fliegen, hier und da Fiisse ausreissen. Oder liebt er die Grosse IO 
der leztern und den Misklang, so anlichet er nur desto mer den 
langbeinigten und verdriislich zwitschernden Heuschrekken, 
die, in Kafige gespert, in Spanien ebenfals die Altare aus- 
schmiikken. Auch leiht die wolgespielte Orgel seinem Liede 
Wolklang, wie die busfertige Gemeinde Andacht. - Soviele poe- 
tische Freiheiten miissen nur die theologische, nicht zu denken, 
desto anziehender machen. Und wirklich bnitete diese Anarchie 
eine solche Menge geistlicher Lieder aus, daB man die Reforma- 
zion der Gesangbiicher fiir die erwiinschteste und notigste Gele- 
genheit zu halten hat, nur einige derselben vom Tode zu erretten 20 
oder wenigstens in die Kirche zu begraben. 

Wir wollen die iibrigen Beschonigungen der poetischen 
Dumheit etwas abkiirzen. Die Namen derer Gedichte, die sich, 
gleich vornemen Leuten, durch Titel den Anspruch an Kraftlo- 
sigkeit anschaffen, sind noch folgende: Lergedicht - die Pfeifen 
von diesem Register in dem dichterischen Orgelwerk brummen 
ihr Lied one sonderliche Beleidigung der Oren heraus. Die Lerer 
des Publikums in Versen haben viele Anlichkeit mit ihren Lerern 
in Prose, so wie die Natur die Schnabel der Vogel und die Hor- 
ner der Ochsen aus anlicher Materie gedrehet. Indessen haben 30 
die langen Oren der leztern ihre Verkurzung dem Friseur zu 
danken, der die amtsmassige Perriikke auf eine andre Art nicht 
sizen machen konte; stat daB der Poet die seinigen durch den 
Lorberkranz hinausstekt und mit ihnen um die Belonung der 
reimenden Kele winket. - Allein ungeachtet das Lergedicht der 
Phantasie lauter Feiertage gestattet und nur genugsame Kalte 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 655 

heischet, die an den Fenstern, durch welche die Philosophic 
Aufklarung schiesset, die wasserigen Diinste zu verschonernden 
(und verdunkelnden) Blumen reif et , aber nicht leuchtende 
Warme, die die Erde von wolriechenden Kindern Florens ent- 
bindet: so felet es doch unserm iezige[n] Parnasse an Lergedich- 
ten. Woher mag das in unserm Norden wol kommen? Daher: 
die neusten Dichter sind wol mit genugsamer Dumheit zur poe- 
tischen Verschonerung der Philosophic, aber nicht mit genugsa- 
men Verstand zur Erlernung derselben ausgestattet; und manche 

10 wollen lieber nicht singen, als vorher denken, lieber stum als 
sehend sein. 

Anakreontisches Gedicht - Versen, die dieser Name kronet, 
wiirde der Verstand so iibel lassen wie einem Liebhaber. Selbst 
der Wiz, den man aus dem unerschopf lichen Salzbergwerke der 
alten Gottergeschichte grabt, biisset seine Verwandschaft mit 
dem Scharfsin, durch den Vorzug, den man einer dummachen- 
den Siissigkeit vor ihm giebt; so braucht man, nach Kartheuser, 
an verschiednen Orten Indiens Zukker stat des Salzes. Dem 
Apollo dieser Gedichte, dem Amor, der an seinem Korpcr nichts 

20 als die Augen verhiillet, ist Scharfsin sowenig zuzumuten, wenn 
er fliegt, als wenn er schiest und die Vernunft vertragt sich so- 
wenig mit anakreontischen Liedern als anakreontischen Hand- 
lungen. Der Liebende anlicht ienem Blinden, der vor seiner Hei- 
lung den Gegenstand seiner Liebe lieber mit dem Geftil geniessen 
als mit dem verbesserten Gesicht weniger lieben wolte. - Da 
alle diese singende Zungen meistens die kleinen Fiisse des scho- 
nen Geschlechts lekken, so glaubt das leztere, daB ihre Zungen 
angenem singen, weil sie angenem lekken und die geschmei- 
chelten Leserinnen konnen ihr Lob nicht anders als loben. Man 

30 wirft daher ebenfals stat des Gummi den Zukker der Schmeiche- 
lei in das Dintenfas und macht die Dinte glanzend, indem man 
sie siisse macht. Ungeachtet soviel Mangel des Verstandes zu 
diesen Tandeleien gehort, so belauft sich doch die Zal der 
Anakreontinncn nicht ser hoch und die Schonen tandeln hoch- 
stens nur mit tandelnden Dichtern, aber bios in poetischer Prose, 
die dem Publikum noch kein einziges geistliches Kind geliefert. 



656 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

Nichts ist naturlicher. In solchen Liedern lobt man nur die Scho- 
nen; wen sollen diese in denselben loben? Ja, wenn Eigenlob 
seinen Gestank durch wolriechende Wasser verlore! Und an ih- 
ren Lobrednern konnen sie nichts als den Verstand loben, so 
wie iene an ihnen nur die Schonheit. Allein das zweite Ge- 
schlecht lobt das nicht, was es beneidet, so wie auch das erste 
nur das lobet, was es nicht beneidet. 

Endlich gereimte Gedichte (iberhaupt - das Publikum ist an 
die Kraftlosigkeit derselben zu ser verwont, um sich darin irgend 
einen narrischen Sprung gef alien zu lassen. Es sagt: »wil ich 10 
Raserei lesen, so nem' ich Verse one Reime; aber Dumheit for- 
dere ich von solchen, deren Ende in Unisono klingen.« Zwar 
versuchten auch einige eine nahere Vereinigung der Schellen 
am Schwanze des Verses und der Schellen am Kopfe desselben; 
allein die Einfurung dieser neuen Mode hatte die Leichtigkeit 
der alten gegen sich. Der Pegasus eines Reimers anlicht volkom- 
men den kleinen Niirnberger Pferdgen, an deren Bauche unge- 
stalte Blumen bliihen und in deren Hintern ein eintoniges Pfeif- 
gen stekt. Um ein ieziger Dichter zu heissen, legt man also 
seinen weissen Bogen, sein Musenpferd, vor sich hin, malet 20 
allerlei poetische Bliimgen auf dasselbe, stekt in die Ofnungen 
des Bauchs prosodische Beine und befestigt im Hintern stat des 
Schwanzes ein Pfeifgen, auf dessen Schal die Harmonie des 
Reims und des ganzen Verses ankomt. - Unsre Klage iiber die 
Dumheit der iezigen Dichter wollen wir durch den Dank gegen 
einige Narheiten derselben mildern. Man sucht in unsern Tagen 
auf verschiedne Arten seinen Verstand zu verlieren. Es giebt 
nur Eine Nieswurz, nur Einen Arzt der Vernunft; aber der Hen- 
ker derselben, (oft Arzte genant) der berauschenden Krauter 
giebt es unzalige; des Lorbers nicht einmal zu gedenken, der 30 
die Pythia rasen und dichten machte. 

Wer von unsern Dichtern Anspruch auf erneuerte Wiederher- 
stellung der poetischen Narheit machen kan, der trate nun naher 
und zeige seine Kappe und klingle mit seinen Schellen! - 

Es zeigen ihre Kappen und klingeln mit ihren Schellen zwar 
wiederum Esel, aber sie sind nicht wie andre Leute, sondern 



bittschrift der deutschen satiriker 657 

wie Affen; die obigen waren dum, aber diese sind tol; iene san- 
gen, diese springen: denn das iezige Deutschland halt sich Esel 
wie iener Taube Vogel, nicht des Singens, sondern des Sprin- 
gens wegen. - »Diirfen wir uns, sagen sie, einige Verriikkung 
des Gehirns anmassen, so verdanken wir sie lediglich folgendem 
Verfaren: erstlich; wir namen alle gewonliche Metaphern, und 
taten sie in unser Dintenfas, und riirten sie mit der umgekerten 
Feder wol durcheinander und schrieben mit dieser bunten Hip- 
pokrene den Adelsbrief unsrer Unsterblichkeit« - Dank, war- 

10 men Dank lachen wir euch - ihr weint ihn! - fur die Verbesse- 
rung eures Futters. Sonst iibtet ihr euren Gaumen an den 
stachlichten Disteln der Scholastiker; aber iezt graset ihr an nied- 
rigern Orten die Blumen des Parnasses ab. Ja ihr treibt eure 
Verbesserung so weit, daB ihr stat der vorigen Verse, worin 
ein einziges Bliimgen seine Fiisse durch die ganze Strophe strekte 
oder dafur Seegras auf einem Mer von Worten schwam, dikke 
Strausse von poetischen Blumen liefert, deren Nachbarschaft 
nichts als ein seidner Faden kniipft. Aber die Feinheit dieses 
Betragens verrat sich nur einer genauern Nachspiirung. Nam- 

20 lich: in den apollinischen Mysterien schranjct man die ganze Poe- 
sie auf die Fahigkeit ein, zwischen einem unadelichen Substan- 
tivum und einem adelichen Adiektivum eine Misheirat zu 
stiften. Z. B. der murmelnde Bach - das ist prosaisch geredet; 
aber der zankende, oder brummende Bach - das ist poetisch und 
gefalt iedem Leser: denn das Beiwort passet nicht im geringsten 
zum Bache, der nie unwillig wird, selbst iiber seine Sanger nicht. 
Der erste Grad der Poesie ist also Dumheit; allein einige Neuere 
erfanden den hochsten, namlich Narheit d. h. sie kuppelten fal- 
sche Metaphern zu einer Allegorie zusammen und die Kombi- 

3° nazion des alten Unsins zweier Kiele erwarb dem dritten die 
Ere der neuen Erfindung von neuem. Man pflanze auf einen 
Kopf zwei Horner, so hat man ein Tier zum Ochsen gekront 
und der Vers empfielt sich durch nichts als Dumheit; aber man 
pfropfe, gleich dem Prinzen von Palagonia*, die verschiednen 
Horner aller Tiere auf denselben Schedel, so komt eine narrische 
* S. Brydone's Reisen. 



658 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG 

Misgeburt heraus und den Vers beneidet der Britte. Freilich 
lassen sich solche Schonheiten erst aus dem Wirwar der Ideen 
herauswikkeln und zu diesen Blumen dringt man durch das 
dikke Gestrauch der Ideen und der Verstand mus untergegangen 
sein, wenn die Phantasie aufgehen sol. So bauet der Friseur aus 
der Verwirrung der Hare die Yerschonerung derselben. Allein 
fur diesen Verlust ihres kleinen Verstandes halt sie der Rum 
schadlos. Die Rhetoriker mussen sie so hoch achten als die Blu- 
misten den Kohlreuter aus Wiirtenberg; denn so wie dieser am 
ersten Bastarte durch Kopulazion unanlicher Blumen schuf, 10 
eben so saen die neuern Poeten den Staub der einen poetischen 
Blume in die Narbe der andern und die unnatiirliche Ehe be- 
reichert die Deutschen mit originellen Misgeburten. Doch 
schimmert ein kleiner Eigennuz durch diese Giitigkeit fur die 
Satire hindurch. Man wuste zu gut, daB die Armen an Geist 
das Strafamt der kritischen Richter am volstandigsten fulen, und 
daB die leztern dem reichen Genie durch die Finger sehen; was 
war also natiirlicher als durch freiwillige Nachamung vornemer 
Siinden der Andung der angeerbten auszuweichen suchen und 
sich vor den Rezensenten, wie David vor ienem Konige, der 20 
eignen Sicherheit wegen unsinnig zu stellen. So lasset man in 
LissabondieKornraderone Wagenschmiere , um mit dem Knarren 
derselben den Teufel von der Beschadigung der vorgespanten 
Ochsen abzuschrekken. Auch behauptet schon Muhammed, daB 
man die Narheit fur ein Geschenk der Gotheit anzusehen habe, 
weil sie den siindigen Menschen iiber oder unter die Begehung 
der Siinden wegsezet. Klopft ein Kritiker, um Strafgelder einzu- 
kassiren, an den Schadel des Poeten fragend »ist der Verstand 
nicht zu Hause?« so erschalt vom Fenster herab die nachgebetete 
Luge »da hatten Sie eher kommen mussen; der ist schon vor 30 
einigen Wochen nach * abgereiset«. Nebenher anzumerken, so 
ist bios das Gleichnis Schuld, daB wir die Abreise des Verstandes 
in Zweifel zogen. Denn wenn der vorneme Man behauptet, 
ich bin nicht zu Hause, so ist er zu Hause; allein der gemeine 
ist so ser nicht zu Hause, daB er es nicht einmal behaupten kan. 
Eben so erdichtet das Genie nicht selten die Herschaft seiner 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 659 

Phantasie iiber seine Vernunft; allein wenn der Esel einmal die 
Behauptung yante, daB er yane, wer wolte an dem doppelten 
Zeugnis zweifeln und sich und den Esel Liigen strafen? Schliis- 
lich konnen wir die Besorgung nicht verschweigen, daB war- 
scheinlich kiinftige Kommentatoren aus dem dichterischen Ge- 
hause den Unsin herauskrazen und gleich den Jungen in 
England, aus dem Eselskopf das dumme Gehirn durch ein Licht 
verdrangen werden. 
Die obigen Esel konnen nun in ihrer eig[n] en Lobrede fortfa- 

to ren: »Und dennoch wiirde angeborne Dumheit uns den Sieg 
iiber den gesunden Menschenverstand noch immer ser erschwe- 
ret haben, hatten wir nicht erworbne Unwissenheit zu Hiilfe 
geruffen; und one verwegen zu pralen, konnen wir kun die Ge- 
schichte aller Zeiten auffordern, uns einen Nebenbuler der Igno- 
ranzin irgend einem Dichtergenie vorzuweisen. « Wir unterbre- 
chen die Schilderung dieser Woltat, um in ihre Fortsezung 
unsern Dank zu weben. Unser voiles Herz fangt sie mit einer 
warmen Ergiessung in zwo Ausruffungen an, gegen deren fort- 
stromende Kraft wir das Ende des Perioden mit drei Ausruf- 

20 fungszeichen verdammen: Wie wert sind eure Kopfe, nicht bios 
von Juden*, sondern auch von Christen angebetet zu werden 
und wie ser verdienen eure Gerippe, daB sie kiinftige Veroneser 
zu heiligen Reliquien kanonisiren!!! 

Allerdings tragt die Armut der Ideen am meisten zu unnatiir- 
lichen Verbindungen derselben bei, und das Neue, das man aus 
wenigen Gedanken herausprest, schmekt nach Unnaturlichkeit. 
Stehen der Tiere zu wenig im Kopfe, so part sich der Esel mit 
dem Pferde, der Wolf mit dem Hunde und der Affe mit dem 
Menschen. Daher steigt mit dem Enthusiasmus des Nichtgenies 

30 der Unsin, stat daB bei dem Genie iener sich mit diesem bios 
anfangt und die Phantasie auf der hochsten Stufe der Begeiste- 
rung am Ideenhorizont eine Sonne sich hervorheben sieht, die 

* Man wird wissen, daB den Juden die Anbetung eines Eselskopfes 
angedichtet worden. Diesen Vorwurf laden sich aber die Einwoner von 
Verona nicht auf; denn sie vereren nur das Gerippe des h. Esels und 
das Geh [abgebrochen] 



660 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

nicht mer mit Einer Farbe verschonert, sondern mit alien sieben 
erleuchtet. Diese Verfinsterung des Kopfes erleichtert dem Dich- 
ter das Dichten so gut wie das Blenden der Augen den Finken 
das Singen. Schon die Mythologie eret die Lerheit in der sinrei- 
chen Erdichtung, daB Ixion mit einer Wolke die Chimara gezeu- 
get; und ieder wird aus der Neuiarslekture bemerkt haben, daB 
die Starke der Gedanken alzeit mit der Schwache des Dichters 
in einem wunderbaren Verhaltnisse steht und daB der, der wie 
ein Britte dichtet, nicht wie (ein] Britte denkt; sogar der grosse 
Jupiter konte den starken Herkules nur in einer verdoppelten 10 
Nacht erzeugen. Man gebe in Gedanken den iezigen Dichtern 
nur einige Kentnisse und sehe dan die Verwiistung, die die lez- 
tern in ihren Gedichten verbreiten. 

Durch diese Erleuchtung wiirde unsers Bediinkens das Er- 
habne und das Blumichte unsrer Gedichte am meisten verlieren. 
Die Ode wiirde wie der Teufel die vorwiz[ig]e Sucht nach Kent- 
nis mit dem Fal vom Himmel auf die Erde biissen. Und wenn 
denn der Flug der Neuern auf einmal kroche, so wiirde der 
Naturkiindiger die lame Dichtkunst nur durch das Gleichnis 
befliigeln konnen, daB die Vogel zum Fluge kleine Kopfe brau- 20 
chen, die den Fliigeln den Weg banen. Auch konte dan der My- 
thologist erinnern, d-aB die Nacht von gefliigelten Pferden, und 
nur der Tag von ungefliigelten gezogen werde; daher merkt auch 
Kant in seiner Untersuchung tiber das Gefiil des Erhabnen und 
Schonen ser richtig an, daB die Nacht erhaben und der Tag nur 
schon sei. Der Blumen nicht einmal zu gedenken, die vor dem 
Strale desselben Phbbus iezt verwelken, der sie sonst auf griechi- 
schem Boden reifte. Sie halten das Auge der Kritik nicht aus 
und die geringste Betastung rupft aus dem Schmetterlingsflugel 
die schimmernde Larve. Glichen iibrigens die poetischen Zier- 30 
raten dem traurigen Baum zu Goa nicht mer, dessen Bliiten- 
schmuk die Nacht entwikkelt und der Tag abpfliikket, so konte 
ia ein ieder das Dichterhandwerk lernen, da iedem Kopf und 
Hande angeboren werden und tausend wiirden aus der Zunft 
gestossen werden, die ihren Kopf ihren Flugeljn] aufgeopfert. 
- Wie unentberlich die Unwissenheit zu der Dichtkunst ist, er- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 66 1 

helt ferner aus dem Alter, in dem die Gedichte am besten wach- 
sen. Das Denken macht das manliche Alter zur Poesie vollig 
untauglich und die weichen Musen fliehen die Liebkosungen 
des stachlichten Barts. Aus dem Kopfe sprost der Lorber friiher 
als der Bart; und die Zeit, wo man am schlechtesten denkt, 
hielt man von ieher fur die, wo man am besten dichtet. Daher 
ist dem Kunstrichter die Jugend so notig: denn nur ein Esel 
kan das Yanen eines andern Esels rezensiren; das Pferd versteht 
sich bios aufs Wiehern und wurde daher fur seine eigne Vol- 

io kommenheit parteiisch sein . . . Soke iibrigens iemand aus der 
Almahligkeit, mit der die ubrigen menschlichen Volkommen- 
heiten sich zu ihrem Ziele drehen, die Verkleinerung der Dicht- 
kunst, in der man, wie in der Liebe, one Ubung am grosten 
ist, folgern wollen, so vergist er sicherlich die Rechtfertigung, 
die die unfigiirlichen Vogel den figiirlichen anbieten. Schon Op- 
pian behauptet, daB die Jungen eines gewissen Vogels, Katarakta 
genant, mit vollig ausgebildeten Fliigeln das Ei durchbrechen; 
und schon der Landman weis, daB nur Staren, die noch nicht 
fliigge sind, sich essen lassen. Allein ein alter Star schmekt so 

20 schlecht als er singt; daher auch sicherlich der Poet das Dichten 
in den Jaren, die der Vernunft angehoren, aufgeben wurde, ver- 
hinderte die Dichtkunst diese Untreue nicht durch eine neue 
Woltat. Sie unterhalt namlich den Wachstum der langen Oren 
eben so ser wie der Lorbern, die sich an ihnen hinaufwinden 
und das fortgesezte Blasen auf der harmonischen Pfeife der 
Phantasie endigt sich mit unheilbarer Schwindsucht des Kopfes, 
der sich an Wind erschopft. Dumheit und Poesie befruchten 
einander wechselseitig - besser konten wir die Poesie und ihre 
neuen Vererer nicht loben. Fur die Warheit dieses Lobs wird 

30 ihr eignes Beispiel schon noch sorgen; es braucht nur eine kleine 
Bestandigkeit, so hat ihre lebhafte Phantasie ihren podagristi- 
schen Verstand zu Boden und zu Tode getanzt und wir hoffen 
noch an den langen Oren eine Verlangerung zu erleben, deren 
sich kaum die Siamer rumen diirfen, ungeachtet der Deutsche 
und der Siamer sie durch dasselbe Mittel verlangern - namlich 
durch plumpe Zierraten. Sonderbar! Der Poet begint mit Narheit 



662 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

und endigt mit Dumheit. Man wird in unserm rousseauischen 
Erweis der Schadlichkeit der Wissenschaften fur die Dichter die 
Weitlauftigkeit iibersehen, die uns immer im Lobe unsrer 
Freunde gewonlich ist, Ausser ihrem Talent, unwissend zu sein, 
verdient wol nichts einen grossern Beifal als ihr Stolz darauf; 
denn eben dieser kleidet die Ignoranz in das Lacherliche, um 
das es uns hauptsachlich zu tun ist. 

Beinahe hatten wir in der Billigung der iezigen Unwissenheit 
die brittische Larve vergessen, in die man seine langen Oren 
einpresset - namlich die Sucht, kurz und gedrangt zu schreiben. 10 
Und wirklich nemen sich weitlauftige Gedanken am besten in 
kurzen Worten aus. Leser, die neue Warheiten nicht tragen kon- 
nen, finden die Vergiitung dieser Schwache in Biichern, die ver- 
mittelst der Kiirze in alten die Verstandlichkeit mit angenemer 
Anstrengung vereinigen. Pumpt man den Wind des grossen 
Kopfs in eine kleine metallene Kugel zusammen: so erreicht 
das nachgiebige Element die Elastizitat des brittischen Schies-, 
pulvers, das, geziindet durch den Verstand des Lesers, den engcn 
Raum durchbricht, und mit der neuen Grosse brennet und 
leuchtet. Oft scheint auf ein Duzend Bilder immer derselbe Ge- 20 
danke; allein vereinigt man, wie Buffon und Pater Kircher, die 
kalten Zuriikstralungen in dasselbe Ziel, so brennen die Spiegel 
starker als die Sonne, die sie silhouettiren. Selbst das diinne Bier 
last sich durch ein enges Gefas zu einer Garung und Starke ver- 
volkommen, die das gute aussert. Freilich komt dabei nicht sel- 
ten Unsin heraus; allein der Wirkung desselben hat man schon 
dadurch vorgebauet, daB man Unsin Tiefsin nennet. - Doch 
wird diese Mode, stuzerartige Gedanken in kleine, kurze Rok- 
gen zu kleiden, mit der Mode, die uns die vorhergehende Alle- 
gorie geliehen, sich verlieren. Die Freunde des Nichtdenkens 30 
verschieben ihre Entlarvung nur bis zur Zeitigung unsers Publi- 
kums und sobald die Leser nach langen Oren rufen werden, 
so werden die elastischen Gehorwerkzeuge der Autoren die enge 
Larve von sich schnellen und die neue Lange priifen. Glukliche 
Zeit! wo die Worte Tavtologie, wie die Menschen Freundschaft, 
naher kniipfen wird - denn bei der Tavtologie ist wie bei der 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 663 

Freundschaft, Eine Sele in mererern Korpern - wo der Poet 
nicht mer den gewonlichen Echo's, die ein Wort einmal, son- 
dern den seltnern anlichen wird,diees vielmal wiederhallen. - 
Die Esel wollen reden und ihre tibrigen Versuche, narrisch 
zu werden, gar erzalen. Wir werden ihnen gewis nimmer mit 
Dank in die Erzalung ihrer Woltaten fallen: »Um einen Verriik- 
ten in den Augen der Vernunftigen zu spielen, hat man nichts 
notig als das Gegenteil von dem zu tun, was die meisten tun. 
Wir schopften daher aus der Lektiire berumter Dichter z. B. 

10 des neulich herausgekommenen Homers oder des Miltons oder 
des Klopstoks die meisten Schonheiten unsrer Werke, die dem- 
ungeachtet immer fiir originel gelten konnen: denn es gehort 
erst ein Stachel wie der unsrige dazu, aus ihren siissen Blumen 
entgegengesezte Schonheiten zu saugen und Homer kan nicht 
aus iedem einen Antihomer schnizen. Longin's Abhandlung 
Liber das Erhabne hat uns vielleicht zum Niedrigen etwas tiefer 
herabgezogen; allein unser Sinken last sich doch besser aus einem 
angebornen Gewicht erklaren, wodurch uns iedoch die Schwul- 
stigkeit d. h. die Erhabenheit nicht erschwert wurde: denn beim 

20 Steigen schikten wir, gleich dem Vogel Merops, den Schwanz 
voraus und richteten den Kopf auf der Ban zum Himmel, noch 
hin nach seiner Heimat, d. h. nach den Siimpfen hin. Obrigens 
schlagen auch die Vogel ihre auffliegenden Schwingen unterwarts 
und holen zum Steigen durch das Sinken aus. Man gestand uns 
auch, wider Vermuten, einige Verstandesverwirrung zu, da wir 
die grosten Gegenstande des menschlichen Denkens durch be- 
sondre (oft launigte, oft schwiilstige) Ziige zu verkleinern und 
die grosten Gemalde unsrer schongedachten Muster vermittelst 
unsers Storchschnabeh in Mini atiirbild gen brachten. Allein wir 

30 konten nicht nur wie der Hochmiitige in die Hohe kriechen, 
sondern auch wie der Stolze, in die Tiefe steigen. Man muste 
seine Verwunderung zwischen unsre Niedrigkeit und zwischen 
unsre Erhabenheit zerteilen; es braucht gleich viel Kunst, sagte 
man in verschiednen Zeitungen, einen Cherubim schwarz anzu- 
farben als den Belzebub weiszuwaschen und man war eben so 
neugierig, einen Riesen als einen Zwerg zu sehen. Swift's Kunst 



664 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

zu sinken lerte lins zwar einigermassen steigen; allein der Poet 
wird geboren aber nicht gemacht, und die Britten sind nicht 
die einzigen Meister des Schwiilstigen. Wer leret wol den Rauch 
das Steigen? Obrigens fordert die Schwulstigkeit nicht gerade 
ungeheure Krafte. Sie mus zwar ihrem Gegenstande die groste 
Verschonerung leihen; allein es komt nur darauf an, solche Ge- 
genstande zu walen, denen keine gehort. Wagt sich freilich der 
Pinsel an erhabne, so halt ihn die Schwierigkeit der Zeichnung 
vom Verdienste der Verschonerung zuruk - aber erhabne Gegen- 
stande sind der Verkleinerung besser fahig und nur niedrige 10 
nemen vom Pinsel die Apotheose an und die lere Schweinsblase 
denet sich auf einem hohen Orte aus. - Manche Kunstrichter 
haben unsre Absicht, den Antipoden der Vernunft zu machen, 
so ser verkant, daB sie uns die Vernachlassigung dessen, was 
zur Sache gehorte, und die Auszierung der Nebensachen als 
eine Verlezung unsers Zwekkes vorgeriikt. Sie waren zu blind, 
urn in diesem Verfaren die Vernunftwidrigkeit zu entdekken, 
die wir zur Absicht hatten . . . Mit welcher Mutterliebe wir 
fur den Rum der Narheit sorgten, konnen wir nicht nachdriikli- 
cher als durch die ungeschminkte Bemerkung anzeigen, daB 20 
wir der Narheit die erenvolle Benennung >Genie< auswiirkten. 
Dieser Kunstgrif vergrosserte nicht nur die Zal unsrer Anhan- 
ger, die fur diesen Namen gern ihren unbedeutenden Verstand 
bezalten; sondern er sezte auch dem Tadel des kaltern Publikums 
die gehorigen Schranken und notigte den Kunstrichter, die 
Friichte einer offenbaren Narheit unter der schmeichelhaften 
Benennung von Auswuchsen des Genies zu verwerfen. - Die 
Nichtalgemeinheit der Narheit liegt also nicht an der Faulheit 
der Esel; sondern am Mangel der Affen.« 

Lesser mizet zur Einteilung der Insekten sowol ihre Ftisse als 30 
ihre Flugel; eben so werden wir nicht bios an dem Flug, sondern 
auch an den Fiissen einiger Gedichte die Verdienste um die Nar- 
heit rumen. Die Versifikazion des Verses kan den Unsin wenig- 
stens resoniren, wo nicht gar wiederhallen. Schon an einigen In- 
sekten bilden die Flugel den harmonischen Schal, den man 
gewonlich ihrer Kele zuschreibt; auch tragen einige Neuern die 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 665 

Stimme der Hunde, Esel, Pferde und den Schal lebloser Dinge 
nicht one Gluk in ihren Versbau iiber - warum solten sie, die 
Verstiimlung des Kopfes der Verse durch die Verstiimlung sei- 
ner Fiisse abzubilden, mit weniger Gluk wagen, da onehin die 
Arzte zwischen den Fussolen und dem Kopfe eine innige 
Freundschaft und eine wechselseitige Mitteilung der Krankhei- 
ten warnemen? Niizte doch auch den alten romischen Weissa- 
gern das Geschrei der Vogel eben so gut als der Flug derselben. 
Man schmiikke ubrigens ein gellertischversifizirtes Gedicht mit 

10 der grosten Tolheit aus, so konnen wir uns doch der Anwen- 
dung des Tadels »die Fiisse sind niichtern« nicht erweren, den 
Garrik dem Preville zurief, ungeachtet dieser den Betrunknen 
ebenfals volkommen spielte. Ex pede Herculem d. h. die Fiisse 
des Laufers sagen an, was fur ein grosser Kopf ankommen wird 
und das Pedal mus die Melodie des finstern Gesanges brum [m Jen. 
Diesem zufolge suchten auch einige Neuere den Vers zu einem 
Bedlam zu bauen, das seiner Bewoner wiirdig ware und durch 
die Abwechslung der Disharmonie das Or so gut zu unterhalten 
wie durch Disharmonie in Begriffen den Geist. Nicht one Ver- 

20 gniigen bemerkten wir den Unsin, dem Leser die Harte des Ge- 
dichts fur eine Mutter seines Wizes aufdringen zu wollen, so 
wie die hartesten Diamanten am meisten glanzen, so wie die 
Entstummung der grobsten Orgelpfeifen dem Blasebalg den mei- 
sten Wind kostet. In dieser Herabstimmung des deutschen 
Wolklangs gieng vielleicht nicht bios Klopstok, sondern auch 
die Dorfkantoren vor, die miteinander um den grobsten Bas 
weteifern und nicht selten mit dem Finger die Kele etliche Noten 
defer stimmen - oder vielleicht auch La Motte Le Vayer, dessen 
Oren die sanfte Musik ekelte und der harte Dormer freute - 

30 oder wol gar der Doktor Maior in Kiel, der die Trommel iiber 
alle Instrumente erhob und fur die Basis der ganzen Tonkunst 
erklarte. Ungeachtet alle zu einem gothischen Versbau die Be- 
schneidung manlicher Worter und die Kopulazion der beschnit- 
tenen zu rechnen, einig waren: so trente man sich doch iiber 
die Frage, ob man dem Unsin die Flugel oder die Fiisse zuerst 
anleimen musse. Einige begannen aus Liebe zum Unsin die 



666 JUGENDWERKE " 3. ABTEILUNG 

Schopfung mit der Abmessung der holperichten Sylben und 
ungeachtet bei den Poeten, wie bei den Weibern, die Geburt 
der Kinder, von denen die Fiisse anstat des Kopfes am ersten 
in die Welt eintreten, die grosten Schwierigkeiten macht, so 
iibernamen sie diese Miihe doch fur die Erfrischung, die ihnen 
die Friichte ihres Schweisses versprachen. Die poetische Ver- 
wirrung der Gedanken, schlossen sie, gelingt dem Zufalle gewis 
besser als die Abhartung des Verses; und wir konnen ia, sobald 
wir mit der leztern zu Stande gekommen, das Kind des Zufals 
in der Poesie noch unterrichten und den Unsin ins Metrum hin- 10 
eindriikken. Dem Sylbenmas den Sin anzumessen und gleich 
faulen Bedienten, die dikke Kerze fur den engen Leuchter klein 
zu schmelzen oder gleich ienem Reichen, die Folianten nach 
den Biicherschranken, die der Schreiner fur lauter Duodezbii- 
cher gearbeitet, zuzuschneiden, ist vielleicht das beste Mittel, 
die in Narheit zu ubertreffen, die man in Harte iibertrift. Auch 
kan man den Huf allemal mit noch mer Eisen beschlagen, wenn 
man das Gehirn aus dem Kopf heraustrepanirt. Wir miissen zwar 
zu alien diesen noch hinzusezen, daB gleichfals bei den Vogeln 
die Fiisse friiher als die Fltigel reifen; allein auch die andre Partei, 20 
die dem Gedanken den Hals friiher als die Beine bricht, verdient 
unsre Aufmunterung, wenn sie der erstern eine zu grosse An- 
lichkeit mit den dummen Reimern vorriikken, die dem Verse 
den Schwanz eher als die langen Oren anschaffen. Sie messen, 
sagen sie, ihr geistiges Kind, gleich kalten Handwerkern nach 
dem pied royal, aber wir messen das unsrige, wie die Maler, 
nach Gesichts oder Kopfslangen. Eine feurige Einbildungskraft 
tut es dem Zufal im Unsinne noch zuvor; und der leztere ent- 
schuldigt sogar freiwillige Siinden gegen die Prosodie: denn, 
sagen sie alsdenn zu ihrem Rezensenten in der A. D. Bibliotek, 30 
verweret ihr uns die stolpernde Versifikazion, so entziehen wir 
euch auch den fliegenden Unsin; entweder Eisen an den Fiissen, 
oder keine Narrenschellen am Kopfe; diirfen unsre Verse dem 
Paradiesvogel nicht mer an (natiirlichen oder verursachten) 
Mangel der Fiisse gleichen, so sollen sie ihm auch nimmer an 
Kleinheit des Kopfes anlichen und vergas den[n] der neidische 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 667 

Kritikus unser von ganz Deutschland gerCimtes Muster, dessen 
Gedichte, gleich dem Saturnus, Fliigel auf dem Riikken und 
Fesseln an den Fiissen tragen? Hierauf fragt zwar der Rezensent 
in der Rezension der zweiten Auflage: »aber kont ihr denn so 
fliegen wie diescr grosse Man?«; allein sie antworten bei Gele- 
genheit: )>natiirlich, denn wir konnen ia so hinken.« Gliiklich 
ist iibrigens der Pegasus, auf dessen iedem Gliede die Schellen 
der Narheit hiipfen, vom Kopfe an bis zum abgestuzten 
Schwanze! 

10 Sieh! Deutschland, dies sind deine Dichter, die ins Tolhaus 
taugen! freilich hoftest du, einen grossern Schaz von Narren 
zu besizen; aber nun sagen wir dir es, dafi dein ganzer Reichtum 
in Eseln besteht; allenfals noch in theologischpoetischem Horn- 
vieh, womit dir die blumenreiche Schweiz aushilft. Die Affen 
erfrieren in deinem kalten Klima alle; der noch bessern Orang- 
utang gar nicht zu erwanen, die schon auf dem Schiffe durch 
Frost umkommen. 

Wer sind denn die driiben, die sich gleichfals narrisch stellen? 
sie tragen ia, wie der Merkur oder wie ein gewisses Hun, die 

20 Fliigel der Dichtkunst auf den Kopfen? ach! es sind dumme Pro- 
saisten, die, um Narren zu heissen, ihre lange Oren in Fliigelgen 
auskerben; sie schreiben in poetischer Prose. Dieser seltnen Ge- 
burt versahen wir uns nicht: denn die Begattung der Vogel mit 
den Saugtieren gehort sonst unter die Drukfeler im Buche der 
Natur und der Prosaist heget gegen den Poeten einen Has, dem 
nur der Has des vierfussigen Maulwurfs gegen den gefliigelten 
nahe komt. Selbst die Natur baute fur beide Tiere verschiedne 
Stalle; dieienigen, die gut in Versen schreiben, konnen es weni- 
ger in Prose und noch mer umgekert, so wie die Vogel, die 

30 gut reden lernen, schlechter singen und umgekert der Nachtigal 
dieTalentedes Papagaies mangeln. Auch lassen die entgegenge- 
sezten Bestimmungen der Poesie und Prose beim ersten Anb[l]ik 
keine nahen Verbindungen zu; in der Prose visitirt man die Be- 
griffe, nimt ihren geheimen Gebrechen die vielfaltigen Hiillen 
und fals die Entkleidung nicht hinreichet, so schindet man und 
anatomirt zulezt; in der Prose drehet man den weissen Stral 



668 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

des Apollo in seine sieben Farben zuriik; die Prose ist die Zunge 
der Philosophie - allein die Dichtkunst praget auf die Hornhaute 
der Leser durch uberflussiges Licht Bilder, die die Erleuchtung 
iiberleben und zwischen die Warnemung andrer Gegenstande 
treten; die Poesie wiegelt alle Nervengeister gegen den Verstand 
auf, die gleich den Janitscharen, ihren Sultan, den sie selbst ge- 
kronet, am besten auf dem Tron erhalten und am gewon- 
lich[st]en von demselben herunterstranguliren; kurz die Poesie 
gehet auf Verriikkung unsrer armseligen Kopfe urn, denen die 
Philosophie onehin nicht genug Nieswurz verschreiben kan. Fur 10 
solche entgegengesezte Ziele konte daher die Natur den Augen 
desselben Kopfes selten Richtung geben und nur ein Chameleon 
dreht zu gleicherzeit seine Augen nach oben und nach unten; 
die Erleuchtung des Publikums durch Verstand und die Verfin- 
sterung desselben durch Phantasie steht so selten vereinigt in 
den Kraften Eines Mannes, daf] uns die anliche Seltenheit derie- 
nigen Pariser einfalt, die zu Mittag und zu Abends traktiren kon- 
nen. Nach Mercier, pflegt der Magistrat bios zu diniren, und 
der Financier zu soupiren. Unsre Weitlauftigkeit iiber die grosse 
Kluft zwischen gebundner und ungebundner Schreibart, wird 20 
der geneigte Leser durch die grossere Verwunderung rechtferti- 
gen, in die ihn die neuere Briikke dariiber sezen wird, so wie 
die Narheiten, die die poetischprosaischen Esel damit gewon- 
nen, die Ubersteigung sovieler Schwierigkeiten rechtfertigen 
und belonen. Die volwichtigste Narheitsschelle, die die Neuern 
durch diesen Kunstgrif einwuchern und fur die sie ser viel Weih- 
rauchkaufenkonnen, ist one Zweifel dieses: daB sie der Philoso- 
phie den Kopf abdrehen und der Dichtkunst die Fliigel ausreis- 
sen oder wenigstens iene enthirnen und diese entfiedern, worauf 
alsdenn die erste durch ihre Lerheit steiget und die andre durch 30 
ihre Fleischigkeit sinket. Oder unfigurlicher: die Poesie komt 
durch diese Untereinandermischung um ihre glanzende Lebhaf- 
tigkeit und die Philosophie um ihre leuchtende Prazision; gerade 
so gehet es den bunten und weissen Zeugen, wenn sie eine dum- 
me Magd in derselben Wanne wascht, in welcher das bunte auf 
Kosten seines Farbenglanzes, das weisse mit buntem Schmuz [?] 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 669 

anfarbt. Mit belonendem Vergniigen werden daher die ge- 
nanten Esel bemerken, daB iezt die Philosophie, gleich den op- 
fernden R6mer[n], ieden Ochsenkopf von Gedanken mit poeti- 
schen Blumcn umwindet, daB die Warheiten schwachcrn 
Geschlechts ein Amazonenkleid anlegen, daB die Dikheit der 
Schale mit der Diinnigkeit des Kerns zunimt und die Verschone- 
rung mit der Unwichtigkeit der Sache steigt, so wie man Duo- 
dezbande in die groste Ausschmiikkung einbindet. Hungert, 
lieber Professor der Philosophie, dein Magen nach Griinden und 

10 Friichten, so reicht man deiner Nase eine wolriechende Blume 
dar, deren Zerkauung deinen Gaumen beleidigen wiirde oder 
die, um der Allegorie einen andern Schwanz anzuheften, mit 
einem bunten Gipfel pralet, den die unschmakhafte und friichte- 
lose Wurzel Liigen straft. Auf diese Weise hatten denn die Neu- 
ern die Philosophie zu einer grossen Anlichkeit mit der Poesie 
getrieben: denn diese leztere ist wie bekant dem Denken so we- 
nig giinstig wie die Dogmatik, die auch manchen Unsin aus 
zu grossen Blumen heiliger Poesie zusammengeflikket, und die 
Flugel der Dichtkunst stehen auch darin den Flugeln der Vogel 

20 gar nicht nach, die wenig Fleisch und viel Bein und Federn ha- 
ben. Zur Erfindung einer solchen Torheit muste man sich noch 
iiberdies erst den Weg durch das entgegengesezte Beispiel der 
Alten banen, die ser iiber die Granzsteine der Poesie und Prose 
hielten und von keinen poetischprosaischen Polypen wusten; 
. die aber vorzuglich die Verwirrung hasten, welche poetischer 
Schmuk unter philosophischen Begriffen anrichtet, so wie auch 
ihre Kiinstler zu ihren Aufschriften immer weissen, aber keinen 
bunten Marmor waken, weil die Farben des leztern die Lesbar- 
keit der Buchstaben schwachten. Allein die poetische Prose zog 

30 auch die prosaische Poesie nach sich; und das ist die andre Nar- 
heit, auf deren Erfindung die Neuern sich etwas zu gute tun 
konnen. Denn so wie die Neuseelander bunte Reize auf den 
Hintern malen, dem sie nicht gehoren, und dafur das Gesicht 
one die Schminke lassen, die ihm gehort, eben so iibet sich der 
neuere Pinsel an dem Hinterteil der Wissenschaften, auf dem 
sie sizen sollen, der aber nicht zum Gefallen geschaffen ist, und 



67O JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

gehet hingegen das Gesicht derselben, auf dem man natiirliche 
und kiinstriche Schonheiten sucht, one Verschonerung vorbei. 
Solte man unsern Eseln die unsinnige Einfiirung der Kraftlosig- 
keit der Dichtkunst durch die Bemerkung etwan streitig machen 
wollen, daB die Erschopfung an poetischen Zierraten nicht zur 
Kraftlosigkeit sondern zur Schwulst gefuret, so bedenkt man 
nicht, daB dieleztere eben aus der ersteren entsteht: denn Korper 
one Blut und Lebensgeister sind der Geschwulst am meisten 
fahig und Poeten, deren kurze Beine auf dem Pegasus nicht 
schliessen konnen, und die iiberhaupt nicht festsizen, machen 10 
es wie kleine Knaben auf den Pferden; beide Ziehen dem Trabe, 
unter dem die oftere Berurung der Erde sie aus dem Gleichge- 
wicht stost, den Galop vor, in dem man one Empfindung des 
erschiitternden Widerstands des Wegs durch die Luft hinfliegt. 
Und hier sind die Neuern wiederum so gliiklich, den verniinfti- 
gen Alten nicht zu gleichen. Denn bei diesen waren alle TeiJe 
der Wissenschaften wie an Amor, nakt und nur die Fliigel befie- 
dert; allein den Zustand unsrer Litteratur konnen gewisse Vogel 
(Penguins) am schmeichelhaftesten abbilden, deren Korper 
nicht nur schimmerndes Gefieder bekleidet, sondern deren Flii- 20 
gel sich auch durch Kleinheit und Naktheit hervortun. Ja wir 
gleichen den Alten sowenig, daB wir sie in der Narheit (ibertref- 
fen: denn wir konnen ihrem Zizero und ihrem Virgil Leute ent- 
gegensezen, die die Talente von beiden vereinen und zugleich 
mit dem Zizero in der Dichtkunst, und mit dem Virgil in der 
Prose weteifern. - Die poetische Prose liefert aus ihrer Miinz- 
statte auch noch andre Schellen. Die Neuern wissen sie an Orte 
zu verpflanzen, wo sie niemals gewesen war und wo der Boden 
sich noch nicht an Narheiten erschopfet hatte. So brachte man 
sie z. B. in die Romane, wohin sie nicht gehorte und tausend 30 
Ungereimtheiten belonten diese Versezung. Unnaturliche Ka- 
raktere musten die matte Phantasie in die Hohe wehen, und 
der Romanenschreiber spielte den Reisebeschreiber Gulliver, 
der Menschen aus Lilliput und aus Brobdignak gemalet. Bald 
schwarzte die Hize ihrer Phantasie den Helden zum geistigen 
Moren, die Zeichnungen der Kopfe glichen nicht den Portraits, 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 671 

sondern den Silhou[e]tten, wo schwarze Farbe fiir die Airma- 
iling der Zuge gilt und die graslichen Misgeburten des Gehirns 
schienen stat des Apollo den Teufel zum Vater zu haben, auf 
den man sonst nur leibliche Wechselgeburten taufte. Bald en- 
digte man die Hollenfart mit der Himmelfart; menschliche 
Kopfe gebaren, gleich der Maria, gotliche Sone und man span 
aus dem unerschopf lichen Hintern luftige Engel heraus und die 
Nachamungen der Natur in Dinte glichen denen in Zukker, 
sowol an Sussigkeit als Unanlichkeit. Die poetische Prose be- 
10 reicherte auch das Trauerspiel mit einigen Ungereimtheiten. 
Denn wer wird wol den Rum der Verstandesverwirrung einem 
Dichter aus den Handen winden konnen, der seine dialogisiren- 
den Personen einander mit Blumen werfen und sie, gleich Kin- 
dern, buntgeflekteBalle schlagenlast, der. alle Geister unter dem 
Himmel zu schonen Geistern zu kastriren und gleich dem AI- 
chymisten, den kaufmannischen Merkur, den tragen Saturn, 
die kalte Luna in den Apollo zu veredeln unternimt; der das 
gesunde und schone Rot von den Wangen des geschilderten 
Helden wegschindet [?], um durch die Einspriizung einer bunten 

I 20 Verschonerung dem Parterre die toden Adern sichtbarer zu ma- 
chen; der den Karakter, gleich Sonne und Mond, mit Vergrosse- 
rung auf und untergehen und in der Mitte der Ban aus Mangel 
an vergrossernden Diinsten in die natiirliche Grosse zuriikfallen 
last; der den Pluto zum zweitenmal beredet, die christlichen 
Proserpinen unter dem Pfliikken poetischer Blumen in das Reich 
der Toden zu entfiiren; der wenigstens seine Schlachtopfer das 
Leben fruher als die Allegorie zu endigen zwingt und seinen 
Maschinen zur Endigung des erbaulichen Lieds den Balg zu tre- 
ten vergist, so wie oft die Lunge der Orgel den Atem durch 

30 fremde Nachlassigkeit vor dem Ende ihres Gesangs verliert.* 
Was ist ungereimter als ein solches Trauerspiel? was ist aber 
auch rumlicher? - Die poetische Prose lauft endlich mit ihrem 

* Der Leser wird, zu seinem und unserm Vergniigen den Wiz in 
der obigen Redefigur nicht zu iibersehen, hier in der Note hofKchst 
ersucht. Es miiste ihm schon ser gefallen haben, fals wir bios die Lunge 
des Menschen in einen Bias [defekt] 



672 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Gestrauch auch an den Kirchmauern hinauf . Die Theologie hatte 
schon von ieher ein Aug auf lange Gehorwerkzeuge und ihre 
Feinde miissen ihr wenigstens den riimlichen Has gegen be- 
schnittene oder kurze eingestehen; so wie gekronte Haupter 
lange Soldaten kurzen vorziehen. Und beide aus demselben ver- 
niinftigen Grunde: »inKriegen der Kopje sind lange Oxen immer 
tapferer gewesen als kurze« sagt der Theolog; »gerade so waren 
in Kriegen der Hande lange Korper immer tapferer als kurze « 
sagt das gekronte Haupt, wiewol das belorberte des Generals 
dieses nicht sagt. Daher tut der theologische Examinator und 10 
der kriegerische ser wol, die Tapferkeit eines neuen 

Rekruten genau zu messen. So ist zum Beispiel die Tapferkeit 
des Polemikers A. eben soviel Fus und Zolle lang wie des bekan- 
ten Dragoners B. seine; doch ist der Dragoner noch einige Stri- 
che tapferer. Tut man nun zu viel Theologie ein wenig Poesie, 
so erhalt man einen Maulesel, den wir wegen seiner Anlichkeit 
mit dem Pegasus und dem Midas, fast dem Esel gleichschazen. 
Wir verrieten ein ser unhofliches Mistrauen gegen deine 
Augen, weises Publikum, wenn wir noch weitlauf tiger zu er- 
weisen fortfiiren, daB die meisten Dichter dich um deine Be- 20 
wunderung betrogen, und daB der Beifal, den du eigentlich fur 
Affen aufgehoben, den Eseln zu Teil wurde, die dich mit einer 
bunts chekkichten Verlarvung hintergiengen. Unsre satirische 
Zunft leidet dabei am meisten; iiber was sol sie lachen? iiber 
einen Esel lacht man wenig, fals er nicht scherzt. Auch wurde 
sein Riikken,der das harte Ziel iedes plumpenPrugels ist, unsere 
Geisel enteren. Nachstdem schuzt ihn seine dikke Haut vor dem 
Gefiil der Strafe und die brittische Lowenhaut, mit welcher er 
nicht selten sein schwarzes Ordenskreuz bedekt, verdoppelt gar 
die Unempfindlichkeit - stat daB im Gegenteil der Affe weicher 30 
fiilt, den die Drohung schon verwundet, und unter der Ziichti- 
gung schreiet, springet, und grinzet; stat daB ihm, wie dem 
Einwoner Bedlams, medizinsche Schlage nicht selten von der 
Narheit helfen. Was bleibt uns nun ubrig? nicht die Bitte an 
die deutschen Dichter, sich narrisch zu stellen. Die Verriikkung 
des Kopfes komt nicht auf ihren guten Willen an: sonst ware 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 673 

keiner mer bei Sinnen. Auch der Nar wird geboren, und nur 
der Dumme weniger selten gemacht. Allein iener fordert einen 
fetten Boden, dieser komt auf Kirchendachern fort; der Nar 
Donquichot reitet das edlere Pferd, der Duns Sancho den 
schlechten Esel und ienen bakt die Natur im Traum, und diesen 
bios im Schlaf - daher schenkt sie uns den erstern seltner als 
den andern, und wenn sie Grosbrittanien mit Einem Affen be- 
gliikket, so fallen doch dem lieben Deutschland nichts als Esel 
anheim, die den Affen zu spielen suchen. Eine Bitte wiirde uns 

t0 also wenig helfen; aber ein Vorschlag der Mittel, sie zu erfiillen, 
desto mer. In Hofnung eines dankbaren Gehorsams wollen wir 
den deutschen Musensonen folgende Mittel, narrischer zu wer- 
den y angepriesen haben. 

Manchen Dichtern felet zum Besiz der Narheit nichts als ein 
iiingeres Alter. Die meisten fangen erst im sechzenten oder gar 
im zwanzigsten Jar zu dichten an d. h. sie beginnen zu schreiben, 
wenn sie nicht mer huren konnen, und nemen aus dem peinli- 
chen Gefiil der angehurten Dumheit eine Muse zur Frau, um 
sich Narheit zu erheiraten. Aber diese Mode macht eben die 

10 Verrukkung des Gehirns unter uns so selten. Das Laster hat 
die Hippokrene der Narheit schon ausgepumpt, eh' noch die 
-Dichtkunst angelangt, fur deren Begeisterung alsdan nichts als 
der Schlam des Bodens iibrig ist. Da die Sele ihre Manbarkeit 
fruher als der Korper erreicht - denn auf Schulen zeugt man 
specimina, Exercitationes styli u. a. Geburten, allein meistens 
erst auf Akademien Bastarte- so beschleunigt die iezige Verfei- 
nerung die Reife nicht bios des leiblichen sondern auch des geist- 
lichen Zeugungsvermogen und redliche Rezensenten hatten da- 
her die Jarszeit, wo der Pegasus, gleich dem Moses, das 

;o berauschende Dichterwasser aus dem Felsen schlagt, weit fruher 
angeben sollen. Sie sahen, daB man iezt im 16. Jare die Liebe 
schon iaben kan; warum schlossen sie nicht daraus, daB man 
sie also im 12. schon besingen kan? Sezt man zu diesem alien 
noch hinzu, daB die Manbarkeit die zum figiirlichen und unfi- 
gurlichen Singen klare Kele oft in einer Nacht eine ganze Oktave 
herunterstimme: so wird man gewis unserm ersten Rat, namlich 



674 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

die iungen Leute schon auf Schulen zur Herausgabe narrischer 
Gedichte anzuhalten, die Beforderung der Narheit nicht abspre- 
chen. Daher die Rektoren, die die Arbeiten ihrer Schiiler ediren, 
unendlichen Dank verdienen; nur mussen sie ihre eignen Vorre- 
den, deren prosaische Dumheit dem Leser immer die 
versi[fi]zirte Narheit verleidet, kunftig unterdriikken. Schritte 
ferner die Manbarkeit mit dem Gange der Aufklarung weiter 
fort d. h. der Kindheit naher und kame endlich die Zeit, wo 
man huren und lesen zugleich lernte, und folglich zum Dichten 
noch fruher als zu beiden fahig ware; so miiste man die Jarszeit ic 
der Autorschaft noch weiter zuriiksezen und die Gedichte von 
Kindern, die alsdann, gleich denen in der persischen Provinz 
Chouvatisam, eine musikalische Stimme aus Mutterleibe brach- 
ten und in melodischen Trillern iiber Bauchgrimmen schrieen, 
beileibe nicht unterdriikken, sondern vielmer frankirt in die 
Dessauische Buchhandlung der Gelerten zum Verlage senden. 
Unsern Klagen iiber die Hurerei, deren Nuzen in Ruksicht vieler 
andrer Dinge wir gar nicht laugnen wollen, lasset sich mit nichts 
als hochsten[s] mit den Beispielen einiger Dichter begegnen, 
denen ihre antiplatonischen Jungemagde zur Abzeichnung pla- 2c 
tonischer Heiliginnen gesessen, wie die griechischen Maler oft 
die Ziige zu Gottinnen von Huren entlenet. Allein ein Dichter 
tut zur Schilderung vortreflicher weiblichen Karaktere besser 
den Pinsel als die Augen herumschweifen und seine Phantasie 
als seinen Beobachtungsgeist wirken zu lassen; kurz er mus den 
ganze[n] weiblichen Engel aus der Luft greifen: denn auf der 
Erde sind weibliche Engel so selten, daB wir uns bios mit weibli- 
chen Gottinnen begniigen mussen. Die antiplatonische Liebe 
soke eigentlich eine Nachgeburt der platonischen sein; lauft ruin 
die Nachgeburt dem Kinde voraus, so wird die Geburt erschwe- 3< 
ret, sagen die Hebammen. Wenigstens gleicht die Wollust in 
Ruksicht ihres Verhaltnisses zur Poesie, den Sirenen; beide sind 
nur in ihrer Jugend geflugelt. Uberhaupt wird ieder Freund der 
Litteratur mit uns eine nahere Untersuchung iiber das Verhaltnis 
zwischen Dichtkunst und Hurerei, von einem scharfsinnigen 
Physiologen angestellet wunschen, und wir waren selbst neu- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 675 

gierig zu wissen, wie oft des Jars ein Barde, wie oft des Monats 
ein geistlicher Liederdichter das Bordel one merklichen Schaden 
des Kopfes besuchen diirfe. 

Wir raten fernerzu einem neuen BegeisterungsmitteL Apollo, 
der sonst dem Griechen die Verse in den Kopf , und der Griechin 
(der Pythia) in den Hintern diktirte, begeistert unsre Dichter 
nicht zu einer einzigen Narheit. Vielleicht kan er kein Deutsch, 
so wie der Dichter kein Griechisch - und dieser kan eine griechi- 
sche Begeisterung nicht so leicht in eine deutsche iibersezen, 

10 wiewol er griechische Dichter in deutsche iibersezt - Vielleicht 
ist dem guten Jungling die Wiedergeburt des alten Germaniens 
unbekant, dessen Siimpfe sich zu Hippokrenen gelautert, dessen 
finstre Eichenwalder zu poetischen Hainen eingegangen - Viel- 
leicht hat ihm derneuliche Phalanx weiter Bardenkelen das feine 
Gehor verschrien, worin nur Musik der Spharen resonirt. Kurz 
Phobus hort nicht mer, soke man ihn auch Foibos wiedertaufen. 
Bacchus begeistert zwar noch, aber selten und nicht umsonst. 
Durch gutes Bier den Nervensaft zu sturmischen Bewegungen 
aufkochen machen, heisset wie die Schiffer handeln, die durch 

20 saures das Mer zum Sturm aufreizen. Und iiberdies verlont die 
Dauer des Ungewitters den Aufwand nicht; in kleinen Kopfen 
brechen sich, wie in kleinen Wassern, die niedrigen Wellen ge- 
schwind und der Sturm auf einem Teiche gleicht der Stille des 
Ozeans. Unsre dummen Poeten gleichen den fliegenden 
Fische[n]; ihre Fliigel erhalten sie so lange in der Erhebung als 
sie nas sind, stat daB der Adler mit troknen Schwingen am be- 
sten, und mit gebadeten am schwersten fliegt. Was ist zu tun? 
unsre Dichter wollen nun einmal durch Begeisterung ihrer an- 
gebornen Schwerfalligkeit entgegenarbeiten: denn sie haben in 

jo Reisebeschreibungen gesehen, daB die Warme Esel schon und 
lebhaft mache und im heissen Italien sind die Esel, die Sanften 
tragen, kliiger als im kalten Deutschland die Esel, die sich tragen 
lassen. Nimt man noch dazu, daB dem verfeinertern Gaumen 
des Publikums nach grossern Narheiten liiste als die gangbaren 
Begeisterungsmittel hervorzubringen im Stande sind, daB es 
nicht mer Lerheit des Kopfes fur Lerheit der Fliigel und kleine 



676 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Schwungfibern fur grosse Schwungfedern, sondern eine Ver- 
riikkung des Kopfes fordert, die in einen einzigen Vers feindse- 
lige Produkte aus alien vier Weltteilen des runden Gehirnes 
stopfet und den Menschen, den Affen und den Han in demselben 
Sak ersauft, die zu einem Bilde, wie die Agypter zu einem G6- 
zenbilde, die Gliedmassen verschiedner Tiere pltmdert, und un- 
ter deren Kunst eine kleine Anlichkeit, gleich den Polypen, 
durch Zerstiikkung wachst und iede Strophe des Gedichts mit 
einem maiorennen Gliede ihres Korpers bevolkert, oder die frei- 
gebiger eine Metapher in die andre verlarvt, ein Bild zum Vor- 10 
hange des andern macht und die Farben stat glanzend dik und 
uneben auftragt; deren dichterisches Feuerwerk nicht leuchtet 
oder warmt, sondern in bunten Flammen zittert, dauernde Ge- 
genstande in zitternden und bunten Flammen darstelt bis die 
unbestandige Kopie verlischt und unformliche Feuerklumpen 
das aufgebrante Kunstwerk beschliessen — nimt man also zu 
dem obigen die vermerten Forderungen des Publikums hinzu, 
so wird man mit uns uber die Notwendigkeit einer neuen Hip- 
pokrene, die mer den Verstand umnebelt als die Phantasie er- 
hebt, einig sein. Mit dieser Wirkung ist nun wol der Rauchtabak 2c 
begabt, den wir hiemit alien Dichtern anpreisen. Da seine dunl- 
in achende Krafte sich vorziiglich bei einer gewissen fremden 
Volkern bekantern Art, ihn zu rauchen, aussern, so konnen wir 
auf den Unterricht der Reisebeschreiber verweisen. Um diesen 
guten Rat zu schminken, solten wir noch verschiedne richtige 
Anlichkeiten zwischen Dicbten und Rauchen anbringen; allein 
diese Pflanze unsern Dichtern zu empfelen braucht es keinen 
Wiz, sondern nur die platte Anfiirung ihrer schazbaren Eigen- 
schaft, dumnarrisch zu machen. Da man inskiinftige aus Tobaks- 
pfeifen die platonischen Fliigelknochen, die den Dichter iiber 3< 
die iezige niedrige Heimat erhohen, schnizen kan, wie man auch 
umgekert schon lange aus den Fliigelknochen verschiedner Vo- 
gel Tobakspfeifen gemacht, so hoffen wir mit Grunde die ganz- 
liche Abstellung des Gebrauchs, sich, gleich den Weiberjn], 
schwere Geburten durch den Genus hiziger Sachen zu erleich- 
tern; dieses Vorurteil hat schon eben soviele geistliche Vater 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 677 

als leibliche Mutter getodet. Wir hoffen ferner, daB die deut- 
schen Gedichte den Tobak kiinftig seltner werden anziinden 
diirfen, weil er sie zeuget; es rniiste denn der Autor selbst mit 
dem ersten Teil seiner gesammelten Gedichte die Pfeifen, die 
den zweiten eingeben, entziinden wollen; und sonach kame wi- 
der d[ie] Regel des Horaz ex f[umo] ffulgor]. - Noch eins! Jener 
Alchymist sol seine Pf eife mit dem astronomischen Zeichen des 
Phobus gestopfet haben; wie rniiste das den Apollo argern, die 
Begeisterung nur einstopfen, nicht mer geben zu diirfen. Doch 

I0 tragt dieser Spas weiter nichts zur Verstandesverwirrung bei 
und ist also nur Nebensache! 

Deutschland wird so lange keine Narren haben, als es Rezen- 
senten hat. Kaum stent irgend ein toller Dichter auf, so binden 
sie seine deutsche Manheit mit den Ketten der Regeln und arz- 
neien und priigeln das Genie so lange, bis er wiederum zum 
vorigen Esel niedersinkt. Und doch klagt man in alien Journalen 
iiber Mangel an Originalitat, den man selbst veranlasset! Kurz 
zur bessern Hegung der poetischen Narheit miissen wir auf eine 
Rezensentenklopfiagd dringen und wir sagen es gerade heraus, 

20 daB Deutschland die Verriikkung Englands one Wirkung 
nachamet, bevor es nicht seine Ausrottung der Wolfe nachgea- 
met. Wiirde man aber die litterarischen Henker entwafnen, so 
wie die neuere Jurisprudenz es mit den burgerlichen tat, so wiir- 
den die gelerten Diebe, die dem Reichen seinen Reichtum stelen, 
weniger, der Originale merere und die Vernunft mit den Rezen- 
senten seltner werden. Ein einziges Genie konte alsdan mit sei- 
nem scharfen Wize den algemeinen Menschenverstand kopfen, 
one die Wiedergeburt des Kopfes, wie bei den Armpolypen, 
fiirchten zu dtirfen; und ein Herkules konte das vielkopfichte 

30 Publikum enthaupten, in der Hofnung, daB ein zweiter Jolas 
iedes aus dem wunden Halse keimende Haupt mit einem glii- 
henden Eisen versengen werde, und one Furcht, daB im Sumpf 
ein Krebs in die kritischen Scheren die Ferse dessen, der der 
SchlangedenKopf zertrit, fassen werde. Da man von originalen 
Kopfen, wie von dem Walfische, nicht Giite des Fleisches, son- 
dern Menge des Fettes erwartet, so wiirde ieder Autor durch 



678 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Walfischas zum Genie sich masten konnen und um den Magen 
nicht durch die Augen zu zerstreuen, sich wie bei gewissen an- 
dern Hausgefliigel, die Mastung durch Blenden erleichtern: 
wenn kein kritischer Richter lebte, der, wie die Sparter, auf 
grosse Fettigkeit Strafen legte. Je langer unser Nachdenken auf 
diesem Vorschlage ruhet, desto grdssere Vorteile drangen sich 
aus demselben hervor. Das Publikum wiirde sich nie an kleine 
Dichtertalente stossen diirfen: denn der Autor konte demselben 
die Entdekkung derselben durch Verbergung seiner Vernunft 
ersparen und seine Oren in eine Schellenkappe verlarven: stat 10 
daB iezt der Rezensent an dem Autor, der wie der grosse Vogel 
Straus, seine winzigen Fliigel zu verstekken hoft, indem er bios 
den gehirnlosen Kopf verstekt (d. h. stat eines schwachen Kop- 
fes keinen, stat der Dumheit Narheit zu haben affektirt), die 
nachgeamte Vermummung belacht und der Fama leise ins Or 
sagt: der Her dort tut als wenn ihm der Kopf felet, verstekt 
den Eselskopf, damit die Leute denken, er habe ein Affengesicht 
und folglich Affenfiisse, die tanzen konnen. Woran liegt endlich 
der Mangel an erhabnen dichterischen Schonheiten? nicht an 
den Poeten: denn diese geben den niedrigsten Gedanken einen 20 
koniglichen Mantel; sondern an den Rezensenten, die ihn von 
den Achseln wiederum herunterzerren und den entlarvten Betler 
dem Mitleiden Preisgeben. Schimmern nicht auf alien Dichtern, 
wie auf dem Riisselkafer, Fliigel liigende Fliigeldekken? Aber 
freilich wenn der Rezensent die bunte Schale abbricht, so mus 
sich an dem pralenden Riisselkafer stat der versprochnen Fliigel 
ein schuppichtes Hinterteil darstellen; allein nicht den Kafer son- 
dern den Kritiker soke das Publikum die unzeitige Entzaube- 
rung entgelten lassen. Er hatte wissen sollen, daB solche schone 
Wachsbilder keine Betastung aushalten und daB man von Mil- 3° 
tons Schonheiten, an denen, wie an den Stral[en] des Phobus, 
die Zerspaltung den verborgnen Pfauenschmuk entfaltet und 
deren festgeflochtnen Reiz die Hand eines Newton* in sechs 

* Der den Milton und das Licht so kommentirte, daB Voltaire hatte 
vergessen sollen, daB er in seinen alten Tagen auch die Apokalypsis 
kommentiret. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 679 

neue zuriikdrehet, gar keinen Schlus auf die Leute machen 
konne, die den Milton verachten. Die Befolgung unsers Rats 
wird nun durch Auferwekkung der Schonheiten, iiber die kri- 
tische Richter den Stab brachen, und durch Beschuzung derer, 
denen das kritische Anatomirmesser den Tod drohet, dem Pu- 
blikum den Stolz wiederschenken, dessen Beistand die Vorziige 
andrer Nazionen so notwendig machen. Endlich wolte man ia 
die belletristischen Rezensenten nicht ganz vertilgen, so miiste 
es unter der Bedingung geschehen, daB sie bios eigne Werke 
10 beurteilen: denn nur so ware von ihnen keine neidische Entlar- 
vung des dichterischen Niedrigen, das das Publikum zu seinem 
patnotischen Stolze nicht entberen kan, zu besorgen, sondern 
vielmer lobrednerische Schminkung der Larve zu hoffen und 
die mikroskopischen Augen des Schmetterlings wiirden die 
Fliigel desselben, deren Wert die naturlichen Augen des Men- 
schen auf bunten St.aub heruntersezen, mit unsichtbaren 
Schwingfedern befiedern. 

Das Joch der Vernunft abzuwerfen, mus man vorher das Joch 
des Reims abwerfen. Ists nicht lacherlich, den Pegasus, den man 
20 am Kopfe nicht mer aufzaumen mag, am Schwanze aufzuzau- 
men, oder mit einer andern Wendung, ists nicht am besten, 
dem Verse den Sin und den Reim zugleich, und sowol dem 
Reuter den Kopf als dem Musenpferd den Schwanz zu nemen, 
gleich den Englandern, die 

coupent les tetes aux rois et les queues aux (besser a leurs) che- 

vaux. 
Ihr erspart durch Wegschneidung des Sins eurem Leser den Ekel 
an altaglichen Gedanken; allein das Hinterteil des Verses ekelt 
ihn ia noch weit mer und er findet am deutschen Verse, wie 
30 an den Schlangen, weder Kopf noch Schwanz sondern bio's den 
flekkichten Oberrest, der zwischen beiden innen liegt, genies- 
bar. Die Mitteilung eurer Narheiten ist der Zwek eurer Verse- 
macherei; allein wie oft fordert nicht der Reim die [defekt] heit, 
wie oft vergesset ihr nicht iiber dem Stimmen [des Hinterteijles 
das [Narjrische, das ihr sagen woltet, wie der Klang von Davids 
Harpfe die Tolheit Sauls zerstreuete, und wie oft wird nicht 



680 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

die Vernunft, die ihr immer zur Bildung des Reims rufen mus- 
set, sich in das iibrige, wozu man sie nicht gerufen, mischen 
wollen? Wir wollen iibrigens gar anfiiren, wie ser die Nachbar- 
schaft, worin der Reim mit dem Wolklang stent, euch die Hol- 
perichkeit des Verses und seine rumliche Anlichkeit mit Golde 
erschweren wiirde, das nicht klingt. Schon Bartholin sah ein, 
daB Reime die Epilepsie vertreiben; warum schliest man denn 
weiter fort, daB Reime sich mit der neuern Narheit so wenig 
vertragen als Nieswurz? Ubrigens sind reimlose Verse weit iiber 
unserm Lob; sie mogen sich durch ihre Wirkungen selbst an- 10 
preisen. Leset unsre reimlosen Gedichte, und wenn ihr nicht 
in den meisten eine Narheit findet, die den meisten gereimten 
Versen relet, so wollen wir uns stat des Reims tadeln und verlo- 
renhaben. Den geringen Fortschrit der poetischen Raserei unter 
uns haben wir unstreitig den wenigen Dichtern, die ienen Stein 
des Anstosses aus dem Wege warfen, zu verdanken. Wiirde man 
wol z. B. in den Gedichten, die ein gewisser Poet in Wien dem 
D. Museum widmet, die Narheit entdekken, die ieder in ihnen 
bewundert, diente nicht die Reimlosigkeit in Geselschaft des 
harten Versbaues den dummen Gedanken zu einer narrischen 20 
Larve? Fart der H. Verfasser in der Verriikkung seines Kopfes 
noch weiter fort, so wird kunftighin nicht bios kein verminftiger 
Gedanke mer die reimlose Zeile schanden, sondern sogar in ge- 
reimte wird er den Unsin verpflanzen konnen. Namlich auf 
folgende Weise, die wir nicht bios ihm, sondern auch andern 
Sangern angeben. Man erfinde den Reim zuerst; alsdenn wird 
schon derhartnakkichte Vorsaz, ihn beizuhalten, den verniinfti- 
gen Gedanken zu Unsin verstumlen und bei dem Verse wird, 
[wie] bei der Pythia, der Hintere dem Kopfe die Narheit dikti- 
ren; ubrigens ists wenigstens gut, den dummen Gedanken, wie 3c 
Kakus die Ochsen, bei dem Schwanze in den Stal zu ziehen. 
Man sieht hieraus auch die Schlechtheit der Dichter, bei denen, 
wie bei, dem Knarhun, der Hintere erst den Kopf akkompagnirt. 
Endlich ist es wol unstreitig, daB besseres Papier und besserer 
Druk der deutschen Poesie den gehorigen Schwung geben 
wiirde, und es felet uns weniger an guten Dichtern als an guten 



BrrrscHRiFr der deutschen satiriker 68 i 

Verlegern. Wie kan ein erhabner Gedanke auf Fliespapier leben? 
Wie ser erbleicht nicht das glanzendste Geisteskind zugleich mit 
der Drukkerschwarze? und steht nicht die Scharfe des Wizes 
mit der Scharfe der Lettern in einem unlaugbaren Verhaltnis? 
Warum [defekt] sche Schriften, zu deren Gegenstand man mit 
Recht [defekt] zu Makulatur herab? sie waren auf zu schlechtes 
Papier und mit zu schlechten Lettern gedrukt, als daB irgend 
eine schone Freundin iedes Puzes ihnen die Bildung ihrer Lokken 
hatte anvertrauen mogen; ia nicht einmal die Bildung ihres Ver- 
io standes; denn der Umgang mit iungen Reichen hat sie angewo- 
net, das Herz durch [den] Stern, den Kopf durch den Hut und 
den Menschen durch das Kleid ersezt zu sehen. Wodurch iiber- 
trift der Britte den Deutschen? durch das, was wir noch nicht 
nachgeamet, durch typographischen Wiz und Tiefsin. Verge- 
bens suchen wir durch Nachamung seiner Narheit einen gleichn 
Rum hinanzuklettern; den deutschen Schriften felet zu . . . So 
sieht ieder ein, daB Amsterdam dem Paris Wiz, und Lemgo 
dem Lemgo Unsin leihet. Was berechtigt Wien zu seinem neuen 
Stolz und zu seiner Geringschazung derer, die Wien erst lesen 
20 darf? gewis nicht die Verdienste seiner Autoren, sondern die 
Verdienste seiner Verleger, von denen iedoch die erstern unzer- 
trenbar sind; es weis nun schon wizig zu drukken, und wieneri- 
sche Sprache durch hollandisches Papier zu adeln; so stammelte 
Mosis Zunge aber sein Angesicht glanzte. Der herlichen, durch 
Plan und Menschenkentnis schon langst berumten Romane, die 
uns Chodowiecki's Reisfeder und Geisers Stichel iarlich liefert, 
wollen wir gar nicht gedenken, sondern uns bios mit der Erwa- 
nung der schmuzigen Schriften des vorigen Jarzehends begnu- 
gen, die reines Papier zu wiirdigen Zierraten weiblicher Toilet- 
30 ten reinigte. Wir lasen manche davon im himmelblauen 
Manuskripte - denn die Biicher werden gleich den Speisen, in 
schmuzigen und tonenen Gefassen gekocht, aber in glanzenden 
und silbernen aufgetragen - und wir erstaunten iiber die Plump- 
heit der Zoten; allein da wir sie wiederum gedrukt lasen, so 
erstaunten [wir] iiber die Feinheit des zweideutigen Wizes. Wir 
lobten daher die innere Unreinlichkeit der Autoren eben so ser 



682 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG 

als die aussere Reinlichkeit, und brachten dabei das schmeichel- 
hafte Gleichnis von dem an, der eben so heftig 

stinkt als er die Reinheit seines weissen Felles bewacht. Doch 
ist nicht bios weisses Papier die Larve, sondern auch schwarze 
Drukkerschwarze das Schonheitswasser unzuchtiger Schriften. 
Obrigens solten auch die Verleger die belletristischen Werke 
darum reichlicher schmukken, weil sie am meisten von der Un- 
sterblichkeit derselben leben. Was macht sie arm? der Verlag 
gelerter Werke - was wiederum reich? der Verlag schoner 
Werke: so behauptete man von einem Grossen zur Zeit des spa- 10 
nischen Sukzessionskrieges, daB er durch Goldminen arm und 
durch Hospitaler reich geworden. Endlich solten doch die Neu- 
ern das einzige Mittel, den Vorschrit in das Tor der Ewigkeit 
den Alten abzulaufen, nicht so ganz vernachlassigen, sondern 
sich der gliiklichefn] Erfindung der Buchdrukkerei dadurch 
wiirdig machen, da(3 sie Schonheiten, deren Schopfung sie den 
Heiden mit dem Kopf nicht nachtun konnen, wenigstens durch 
die Presse hervorzuzwingen suchen. - Schliislich rechnen wir 
zur Schonheit belletristischer Schriften ihre Kleinheit: denn wir 
haben an alien Lesern alzeit ein besondres Vergmigen iiber das 20 
Ende derselben bemerkt; allein sie durch viele Seiten hindurch 
sich zu diesem Vergmigen den Weg zu banen notigen, heist 
durch Ermiidung die Frucht derselben verbittern. Die engen 
Nahbeutel der Leserinnen nemen nicht wie Jagdtaschen einen 
grossen Adler, sondern nur bunte und kleine Kolibritgen ein, 
die die wilden Damen dafur an die Oren hangen. Nebenher 
anzumerken: der Adler verschlukt das uberflussige Licht mit 
[seinen] starken Augen, das lekkere Kolibritgen stelt den Augen 
andrer Tiere nach. Wie toricht liess' es iibrigens, wenn der 
Schmetterling mit den Federn seiner Fliigel Folianten schreiben 30 
wolte? stat der Almanache. Nicht bios das Epigram, sondern 
alle Gedichte wachsen an Wiz durch Kleinheit; nicht bios das 
Singedicht anlicht der Sage des Schwertfisches, deren Kiirze die 
Zane vermeret, sondern auch die ubrigen Gedichte anlichen den 
Produkten des Gewachsreichs, wo die Gestrauche mer Mark 
als die Baume enthalten. Daher verdienen die Verleger alles Lob, 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 683 

die das schlechtere Tuch des Autors mit Gold d. h. den Inhalt 
der Seite mit einem breiten weissen Rand bordiren und folglich 
beschneiden; ie weniger auf einer Seite steht, desto weniger kan 
dem Leser misfallen. Daher taten endlich die Autoren ser wol, 
die aus riimlicher Aff ektazion der Kiirze das Buch und den Aus- 
druk zugleich abkiirzten und das Publikum mit einer doppelten 
Sparsamkeit in ihren Worten und vorziiglich in ihren Gedanken 
erfreueten - oder die ihm durch Gedankenstriche die schalen 
Gedanken ersparten, die im entgegengesezten Falle den leren 

10 Raum hatten ausfiillen miissen. 

Dies sind, Hebe Autoren, die noch ungebrauchten Beforde- 
rungen der poetischen Narheit; wir lassen die Erfindung neuer 
eurem Triebe zur Vervolkomnung und hoffen bios die Be- 
schneidung eurer langen Oren und eine gewonliche Verriik- 
kung. Unterstiize du, weises Publikum, mit deinen Bitten die 
Wirksamkeit unsers Rats und drohe denen, die keine Narren 
werden mogen, mit deinem Misfallen. Stelle deinen Lieblingen 
den Trieb vor, den du hast, die Franzosen zu verachten, erweise 
ihnen zugleich die Unmoglichkeit, diese[r] Nazioh in etwas an- 

20 dern als der poetischen Narheit vorzulaufen und sage, was du 
schon so oft gesagt, dan in dieser Riiksicht patriotisch sein nichts 
heist als narrisch sein - Kurz sage, dan du die poetische Tolheit 
weniger unsertwegen, die wir sie belachen mochten, als deinet- 
wegen forderst, der du sie lesen, sie loben, sie bewundern, iiber 
sie stolz sein und sie endlich darauf auch belachen wilst. 

»Teufel! wie gros ist das Gebiet der Dichter! sind wir denn 
noch nicht an dem Ende desselben?« So wirst du, ermudeter 
Leser, iezt ausrufen; und gerade so riefen auch wir aus, da wir 
auf den gewonlichen Granzen des Poetenlandes in eine neue 

30 Erweiterung derselben hiniibersahen. Unserm Erstaunen iiber 
den neuen Boden glich nur das Erstaunen iiber seine neuen Be- 
woner, die durch eine Amazonenkleidung die Oberflache der 
eigentlichen Dichter so gut von sich spiegelten, da8 wir sie bei- 
nahe fur Manner gehalten. Ihr Schonen! oben da wir das Gliik 
hatten, euch fur einige Torheiten zu danken und euch um neue 
zu bitten, zolten wir eurem Geschlechte die gehorigen Krazfiisse 



684 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

und den Handkus; allein hierunten, wo wir zwar auch das Gltik, 
euch fiir Torheiten zu danken, wiederum geniessen, beugen wir 
uns vor euch weniger tief und die Hande kiissen wir gar nicht: 
denn ihr erscheint als Amazonen, die dem Manne zu viel anli- 
chen, um von ihm geschmeichelt zu werden. Sol der Pfau vor 
einer Krah^ die von ihm das bunte Kleid geborgt, den Schwanz 
neigen? Ja! wenn die Krahe in ihren eignen Federn vor ihm steht; 
alsdan fordert es der Wolstand von dem Pfauen, seine schim- 
mernden und beleidigenden Talente auf der Erde aufschleifen 
zu lassen, von sich nichts zu zeigen als die Fusse und die Federn 10 
der Krahe mit der rauhen Stimme zu loben. 

Unsre Bitschrift sol vorziiglich das Publikum auf die Selten- 
heit der Torheiten aufmerksam machen; wir miissen daher auch 
von dem weiblichen Dichterwesen, das man fiir die neueste 
Torheit erklart, zeigen, daB es keine ist, aber auch zugleich das 
Mittel angeben, es zu einer zu vervolkomnen. Wenn es keine 
Torheit, mit dem angebornen Pfunde zu wuchern: so ist es auch 
keine, wenn eine Schone dichtet: denn die Natur scheint fast 
das andre Geschlecht zum Dichten noch fahiger geschaffen zu 
haben als das erste. Die Eigenschaften, wodurch sich unsre Poe- 20 
ten ihren Rum verdienen, sind wie bekant Unwissenheit und 
Warme; allein wir fragen ieden Stuzer, ob nicht die meisten 
Schonen diese beide Talente in einem weit hohern Grade besi- 
zen? Der Dichter wird nur gemacht; die Dichterin auch geborcn; 
d. h. iener muste sich zur Dichtkunst erst durch das Denken 
durchschlagen, fiir welches die Natur den Man mit Basfibern 
bezogen zu haben scheint, und seine sehenden Augen wiirden 
die Kele zerstreuen, wenn er die Phantasie nicht wie die Nachti- 
gal, durch Verfinsterung des Bauers zum Singen aufforderte. 
Die Verfinsterung gliikt fast auch den Neuern noch viel besser 30 
als den Alten; deren Einbildungskraft immer zu ser mit Verstand 
geschwangert war und gleich den Edelgesteinen, zu Nachts das 
Licht von sich warf, das sie am Tage eingesogen. Allein alle 
diese Schwierigkeiten kent die Dichterin wenig und wenn dem 
Manne die Ideen wie die Erbsiinde (nach Leibniz) ahgeboren 
sind, so sind sie ihr (nach Lokke) wie die wirkliche Siinde nicht 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 685 

angeboren; den fernern Beweis davon wird man mit vieler Ge- 
lersamkeit in A's algemeiner Weltgeschichte, und auch in B's 
Anatomie des Menschen ausgefiiret finden. Die Erziehung ent- 
wikkelt iibrigens das Nichtdenken, das sie der Natur roh ver- 
dankt. Man wiirde die Sorgfalt der Eltern und den Fleis derer, 
denen sie die Bildung des Madgens iibertragen, vollig verken- 
nen, wenn man beiden die wenigen misgeratnen Schonen, wel- 
che denken, zu Last legen woke. Denn was konnen sie zur Ver- 
volkomnung der freilich ungleich ausgeteilten Fahigkeit, nicht 

io zu denken, bessers tun, als dem Madgen die Abbildung der 
neusten Damenmoden etwas fruher als das Abcbuch in die 
Hande geben, zugleicherzeit seine Fiisse dem Tanzmeister, seine 
Hande dem Zeichenmeister, sein Herz einem Kandidaten, seine 
Zunge einer Franzosin und was am meisten ist seinen Kopf den 
- Autoren anbefelen? - Oder wil man diesen Lermeistern zu- 
sammen alle Liebe und alle Fahigkeit zum Nichtdenken abspre- 
chen? O glichen ihnen alle Schonen nur halb; so hatten wir der 
Homere mer als der Zoilusse. Der Kopf ist der Termometer 
des Herzens; mit der.Lerheit des ersten haben wir daher zugleich 

20 die Warme des andern erwiesen. In den kleinsten Tieren zirkulirt 
das heisseste Blut; gerade so steigt die Warme der Ideen mit 
der Kleinheit ihres Tummelplazes. Die Empfindsamkeit, die in 
manlichen Kopfen schon langst versiegt ist, sprudelt der Kalte 
der Jarszeit ungeachtet noch aus weiblichen hervor. Diesen Be- 
weis ihrer Warme wird der Pyrometer noch unterstiizen, wenn 
man mit ihm den Wert dessen, was die Manner von der Liebe 
drukken lassen, und den Wert dessen, was die Weiber von ihr 
sagen, messen wird; wie Urin und Weibermilch dieselbe Warme 
aussern, eben so und so weiter. Uberhaupt ist die Erhizung 

30 der iezigen Sanger leicht zu erreichen: denn sie scheint halb er- 
dichtet zu sein. Bako hat angemerkt, dafi ein gliihendes Eisen 
schwacher als ein kaltes klingt; umkleidet man diese Bemerkung 
mit einem metaphorischen Sin, so widerlegt sie die Gefiilsan- 
massung der Neuern, deren Empfindungen zu laut sind, um 
warm zu sein. Das Gefiil gliiht; allein eben darum knistert es 
nicht. Auch steigt die Phantasie zu selten auf den Siedpunkt 



686 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

und sinkt zu bald, als dafi die Vater em p finds amer Alphabete 
nicht den nbrdlichen Volkern anlichen solten, die sich vor andern 
durch Fruchtbarkeit auszeichnen. »Aber wenn das andre Ge- 
schlecht nicht Dichter, sondern auch Gedichte zu gebaren die 
Talente hat; warum nuzt man seinen Kopf in offentlichen Am- 
tern nicht? Oder sollen alle Volker Unrecht gehabt haben?« 
Welcher Schlus: die Weiber taugen zu keiner Verrichtung, wo- 
bei man denkt, ergo taugen sie zu der nicht, wobei man nicht 
denkt. Der h. Apostel Paullus verbot ihnen, in der Kirche zu 
predigen, allein er verbot ihnen nicht, darinnen zu singen. Zum 10 
Pfarrer gehort ein Man, der drei Jare auf einer Universitat gelebt 
und folglich ein Gelerter ist; allein der Kantor braucht nie Stu- 
dent, sondern hochstens nur Primaner gewesen zu sein. - Die 
Schonen beruffen sich selbst auf ihr gutes Herz, um das Dasein 
einer guten Kele zu erweisen und nicht selten sagen sie den Re- 
zensenten, daB sie zu sanftmiitig sind, um schlecht zu dichten. 
In dieser etwas neuen Schlusart geht ihnen der beriimte Linne 
vor, welcher die sanftmiitigen Tauben mit den Sangvogeln in 
eine Klasse sezt. - » Allein warum fieng denn die Phantasie der 
Weiber erst im vorigen Jarzehend zu singen an?« Nicht - wie 20 
man daraus folgern wil - weil ihr der Gesang nicht angeboren, 
sondern erstlich darum. Die deutsche Poesie entfernte durch 
ihre Unvolkommenheiten die Dichterinnen von sich und sie 
muste sich erst zu dem Ton vervolkomnet haben, in den die 
Schonen einf alien konten. Der deutsche Phobus muste lange 
an dem himlischen Tierkreis herumfaren, die Sonne muste in 
den Wasserman getreten sein, um Wochenschriften einzuflos- 
sen, in den Stier, um Dumheit mit Wut vereinigt zu schenken, 
in den Krebs, um die Geniehize zu geben, bis er endlich in die 
gemassigte Jungfrau treten konte. - Wer ferner die Fesseln kent, 30 
in die man die Schonen noch vor funfzig Jaren schmiedete, der 
wird ihren spaten Aufflug begreifen. Sie waren noch mit einer 
zu grossen Affenliebe gegen ihre Tochter angestekt, um ihnen 
die neun griechischen Madgen vorzuziehen und waren ihren 
Mannerfn] zu treu, um mit dem Apollo die Ehe zu brechen. 
Sie konten wol ihre Kinder in den Schlaf singen, allein nicht 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 687 

das Publikum; sie brachten die Zeit, worin sie Epigrammen 
hatten spizen konnen, mit Abstumpfen der Nadeln hin und rei- 
nigten sogar ihre Wasche selbst, stat daB sie keine andre als 
fremde hatten reinigen d. h. rezensiren sollen. Sie liebten zwar 
ihre Mariner auf der Erde, allein sie glaubten noch, daB man 
sich im Himmel nicht mer freien wiirde und ihr Christentum 
schrankte sich zu ser auf Handlungen ein, als daB sie den unsri- 
gen hatten nahe kommen konnen, die, gleich den Peruanerin- 
nen, welche in die Kirche gehen, weil sie gerne singen, in dem 

10 Christentum den Gegenstand ihrer Verse lieben. Sie spielten 
weder mit Karten noch mit Worten;" und da ihre Fiisse stat zu 
tanzen nichts konten als gehen, was wunder, wcnn sie auch die 
Fiisse ihrer Worte nichts vom Tanzen lerten, sondern bios beim 
Gehen in Prose liessen? Kurz dazumal wurden die herlichsten An- 
lagen der Dichtkunst durch hausliche Tugenden und durch sim- 
peln Menschenverstand ganzlich erstikt; und nur der ganzlichen 
Ausrottung der leztern hat Deutschland das Aufflattern seiner 
Dichterinnenzuverdanken.Ubrigensgereichtdemselbendervo- 
rige Raupenzustand seiner weiblichen Schmetterlinge zu keiner 

20 sonderlichenSchande: denn muste selbst Paris frCiher auf dieBei- 
ne als auf die Kopfe seiner Weiber stolz sein*, so konnen ia wir 
Deutschen iiber die wizigen Kopfe der iezigen Weiber die ar- 
beitsamen Hande der vorigen verschmerzen. - Das Dichten der 
Schonen lasset noch bessere Beschdnigungen zu. Eine gute Of- 
nung eines weiblichen Kopfes entdekt uns nicht bios die Staub- 
faden, die poetische Blumen zeitigen konnen, sondern selbst 
den Samenstaub, der im Grunde aus tausend kleinen Blumgen 
besteht; nicht bios die Geburtswerkzeuge, sondern, gleich dem 
H. Haller, den pullus in ovo. So hinterlast z. B. die schone Lek- 

30 tiire tausend Blumgen in dem Gehirn, in dessen Nervengeist 
man sie frisch erhalt, und die Notwendigkeit, in der Geselschaft 
zu schimmern, veranlast die Schone, ihre Sele, so wie ihren 
Korper, mit Eselsmilch zwar nicht zu naren aber doch zu wa- 

* Rabelais sagt, Paris habe seinen vorigen Namen Lutece von der 
weissen Farbe der Beine seiner Weiber bekommen. Die andre, gerade 
entgegengesezte Ableitung dieses Namens ist bekanter. 



688 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

schen, und gleich den mogolischen Weibern, welche Blumen 
in die Haut einschneiden, ihrem Gehirne poetische Verschdne- 
rung einzuazen. Nun fragen wir ieden, ob eine solche Blumen- 
lese nicht in eine gedrukte Blumenlese eingeschaltet zu werden 
verdient, undobihrGeruchnur den Nasen eines kleinen Zirkels 
vonFreunden undFreundinnen angehore, die ihn nicht seltenaus 
Nachlassigkeit, oder Neid, oder Dumheit ungenossen und un- 
geriimt vorbeistreichen lassen. - Wie oft (iberreicht ihnen ein 
schoner Geist nicht im Umgange poetische Bouquets, zu denen 
die Blumen durch Sicherheit vor kritischen Sensen hoher als 10 
die gedrukten emporgeschossen! Sol nun die Schone diese Ge- 
schenke nicht wiederum an das Publikum verschenken, wenig- 
stens an den Verleger verkaufen durfen! Solten dieses wol selbst 
einige Schone glauben, so fordern wir sie hiemit auf, alle die 
siissen Schaze, die die Poeten gerne den ungefulten weiblichen 
Kopfen, so wie die Bienen ihren Honig holen Baumen, anver- 
trauen, unter ihrem eignen Namen zum Besten des bevorteilten 
Publikums herauszugeben und sich, wiewol mit Bescheidenheit 
Baume zu nennen, die stat der Friichte Honig tragen. Wir iiber- 
gehen iibrigens noch tausend zwingende Anlasse zum Dichten 20 

- wer wolte z. B. den Kummer, fur den keine Freundinnen 
Ableiter abgeben, nicht liber das ganze Publikum herunterreg- 
nen lassen - wer woke nicht den Man und die Bekanten, die 
das Summen zuwenig ziichtigt, mit Epigrammen stechen - wer 
woke nicht seine eigne Langeweile dem Publikum mitteilen, 
um sie zu mindern - wer wolte dem Reiz der Abwechselung 
widerstehen, bald Bander bald Sylben zu messen, bald sich bald 
sein geistiges Kind zu schmiikken, bald die natiirlichen bald 
die satirischen Zane weiszupuzen, bald mit dem Facher bald 
mit der satirischen Geisel angeneme Schmerzen auszuteilen? p. 30 

- allein das, was den Schonen das Dichten unentberlich macht, 
die Verfeinerung der Liebe, wollen wir zur Rechtfertigung der- 
selben noch beriiren. Der geheimde Rat Kloz hielt, nach Les- 
sings Vorwurf, ieden geflugelten Knaben Kir einen Amor; ge- 
rade so glaubt das andre Geschlecht ieden Dichter der Liebe 
fahig und sieht Gedichte (poetische Blumen) fur Bliiten der 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 689 

Liebe an. Es irt sich hierinnen so wenig, und es kiirzet bei einer 
Liebe, auf deren gehofte Erwiederung die Schamhaftigkeit die 
Entwafnung wagt, alle Vorsorgen fur den Riikzug so gut ab, 
daB nur wenige geschwinde Augenb[l]ikke den Widerstand von 
der Niederlage trennen. Schon unter dem Treffen muntern poe- 
tische Pfeifen und Versemusik die Tapferkeit auf; allein nach 
demselben ergozt das Te deum und andre Konzerte das Or am 
meisten. Und hier schlagen wir ieden Tadler der Dichterinnen 
mit der Frage nieder: ob man wol heiliger huren konne als wenn 

10 man poetisch hurt und sich, gleich den Schmetterlingen, auf 
poetischen Blumen begattet? Mit welcher Keuschheit umarmet 
nicht der Liebhaber seine Geliebte in den Musen, und sie ihri 
in dem Apollo? sezt Sezt noch die Impotenz der meisten Dichter 
hinzu, denen, wiegewissen Insekten, die Geschlechtsglieder nur 
am Kopfe sizen, so mus es ieden freuen, daB sich fur den Kastrat, 
der seine Liebe nur singt, eine Kastratin findet, die auch die 
ihrige singt. Wie oft werden endlich die, welche der Ort schei- 
det, von frankirter Poesie vereinigt; so wie stat der Post der 
Wind die ewiggetrenten Blumen kopulirt. Kurz, die weibliche 

20 Dichtkunst ist nach unserm Erweis so wenig eine Torheit, daB 
wir das andre Geschlecht hiemit auffordern, sie bis dazu zu trei- 
ben. Unsre Bitte ist nicht unbillig: denn ihre Erfiillung kostet 
demselben nichts als den Vorsaz, zum waren Ziele der Dicht- 
kunst eine andre Ban einzuschlagen. Seine Verse sind voriezt 
harmonisch und dum und man kan an ihnen, wie iener Prinz 
(nach Voltairens Bericht) an ienem Frauenzimmer, nichts als die 
Fusseliebcn, welche ihnen, wie dem Teufel, der Pegasus stat des 
Kopfes geliehen, womit der Ochs dem bosen Feinde und seinen 
Gedichten aushelfen mussen. Wie volkommen sind dagegen die 

30 manlichen, die mit verriiktem Inhalt schrekken und auf lauten 
Fiissen stolpern gleich den Larven der My-[BlattschluB] 

Wir rechnen troz den Naturkiindigern den Vogel Minervens 
zu den Strichvogeln und glauben, daB die Warheit so gut wie 
die Selen wandere. Hierin bestarkt uns das neuere Beispiel Wiens 
besonders. Ein einziges Erdbeben trieb aus dem Grunde einen 
Parnas hervor, zu dem der Neid hinaufsieht und von dem der 



690 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Stolzherumsieht; einen Parnas, der seinen Boden aus der Unbe- 
kantschaft, in der ihn die tausend niedrigen zeither von unterir- 
dischen Maulwurfen aufgestossenen Parnasgen liessen, auf ein- 
mal reisset, und auf dem selbst iezt die Duodezparnasse in die 
Augen fallen. Unsere Litteratur sinkt, wie wir oben aus der 
Vergreifung ihrer Natheiten erwiesen; die wienerische steigt, wie 
wir aus ihrer Hinarbeitung zu neuen Torheiten dartun werden. 
Dieses Lob ihres iezigen Zustandes wollen wir gar nicht zu ei- 
nem Tadel des vorigen misgedeutet sehen. Gewis daB Wien 
nicht erst von gestern her, sondern schon langst durch den Eras- 10 
mus, mit der Gottin, welche dieser Man beinahe zu ser gelobt, 
bekant geworden; gewis daB die Lange seiner Oren, die immer 
mer fur kiinftige Schellen reifen, eine lange Ernarung vorausse- 
zen - nur aber rezensirte Berlin die wienerische Makulatur noch 
nicht, und unsre Schriftsteller lasen dieienigen nicht, von denen 
sie nicht gelesen wurden; Wien besas schon damals Kopfe, nur 
konte man sie in Sachsen und Brandenburg bios im Gemalde 
haben, sowie Herodot keine andern als gemalte Phonixe gese- 
hen; es konte schon damals Hanswiirste aufweisen, nur spielten 
sie noch auf keinem Nazionakeater, sondern bios auf deutschen 20 
Teatern. Das adeliche Alter seiner Oren zu zeigen, konten wir 
uns auf die theologischen Schriften beruffen, die die Monche 
von ieher mit eben soviel Vergniigen zeugten als leibliche Kinder 
und die gleich diesen irdischen Geschwistern der Welt unbekant 
auf ihren Geburtsortern starben; allein die unwidersprechlich- 
sten Beweise, daB die erasmische Gottin die wiener Autoren 
vor der Presfreiheit eines vorlaufigen Einflusses gewiirdigt, ge- 
bar oder vielmer entband der Tod der Kaiserin, welche wizige 
Kopfe in ihre Tranen einsalzten, wie die Salztrager die toden 
Kdnige von Frankreich, Schon in diesen Gedichten warf die 30 
Narheit gaukelnde Stralen durch Weihrauchswolken der Dum- 
heit und wir hatten nicht Unrecht, da wir aus dem erschrekli- 
chen nachtlichen Geschrei der Pfauen die Vermutung zogen: 
»nun wird bald ein sanfter Regen fallen. « Soke iibrigens ein 
Neidischer an dem Dasein dieser Gedichte, die noch fruher als 
ihr erhabner Gegenstand verwesten, zweifeln wollen, so ver- 



BITrSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 69 1 

weisen wir ihn auf die deutsche Geschichte, die die Poesie aus 
Dank [fur] die alten Woltaten in Geschichte verwandelt*; diese 
wird ihn leren, daB man in Wien beinahe zwei Jare den Tod 
der Kaiserin besungen. Im Vorbeigehen konnen wir den hohen 
Hauptern, die, gleich den Gipfeln der Baume, den poetischen 
Vogelfn] zum Parnasse d. h. zum Geburtsort ihres Gesangs und 
ihres Kots dienen miissen, und vorzuglich der oftgedachten 
grossen Kaiserin, die zuviel Lob verdiente, urn gereimtes zu 
verdienen, und die nicht bios das Opfer der Kelen sondern auch 

10 der Magen ihrer Sanger wurde, ein aufrichtiges Bedauern zollen 
und das herliche Vorrecht des Narzissus wiinschen, an dessen 
Grabe man bios mit Stilschweigen voriibergehen durfte. Diese 
Sangereien waren wie gesagt Voriibungen zu den iezigen Vol- 
kommenheiten, die immer nur noch Voriibungen zur Narheit 
sind und Wien kan wol auf lange Oren, aber noch auf keine 
Schellenkappen stolz tun. Unsre Augen wenigstens konten in 
seinen Broschiiren nichts entdekken als Dumheiten, die iedoch 
viel versprachen und deren man fur zehn Kreuzer nicht merere 
fordern konte. Ihnen die Entfernung von den Narheiten, nach 

20 denen sie streben, zur Last legen wollen, hiesse vergessen, daB 
sie erst seit kurzem etwas Dummes sagen diirfen, das die Mon- 
che nicht diktirt, und sollen die Esel, welche die Presfreiheit, 
sowie das romische Fest des Gottes Konsus, von ihrer Sklaverei 
erloset, sich schon mit dem ersten Versuch auf das Springen 
des geiibtern Affen verstehen? Oder wil man aus einzelnen Bo- 
gen die Bande beurteilen, die von ienen so angekundigt werden, 
wie bei den Weibern die Gebarung des Kindes vom oftern 
Zwang zum Harnen? Und wird nicht selbst den Monchen eine 
zu lange Enthaltsamkeit den gestatteten Genus der Weiber und 

30 der Musen erschweren? Den Fortschrit unsers Parnasses iibri- 
gens besser zu mizen war zu einer Zeit unmoglich, wo man 
zugleich lernen und schreiben, d. h. zugleich trinken und pissen 
muste. Allein wir diirfen hoffen, daB die ^Narheit endlich auf 

* Namlich bei den alten Deutschen kam die Geschichte durch die 
Poesie auf die Nachwelt; bei uns komt die Poesie durch die Geschichte 
auf dieselbe. 



692 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

der Dumheit wurzeln werde, so wie, nach einem alten deutschen 
Margen, eine Eselin die Hasen gebar, und dies aus folgenden 
Griinden: sie aussern erstlich den Stolz, der ihren Fortschritten 
den Weg durch die Hindernisse der Vernunft banen mus und 
der eben so oft der Vater als das Kind der Grosse ist. Der Mangel 
des Stolzes zeugt eben unter uns diesen grossen Mangel der 
Narheit, so wie im Gegenteil den Britten Nazionalstolz und 
Nazionaltorheit zugleich auszeichnet; mit zu wenig eignem 
Winde versehen, um nicht nach ausserer Luft zu schnappen, 
bleiben wir bios bei dummen Handlungen stehen, fur deren 10 
Billigung unsre Erfarung biirgt, und wagen keine Torheit, deren 
Ungewonlichkeit man unter den Namen der Vernunftwidrig- 
keit tadeln wiirde. Der Stolz verpanzert, wie sonst der Teufel, 
dieienigen, die er besizt, mit Unempfindlichkeit gegen ausserc 
Verwundungen und erlast der Dumheit den Zaum fremder Ur- 
teile, dernarrisches Springenzuriikhielt. Auf einensolchen Stolz 
kan Wien iezt stolz sein; er ist es, der dasselbe auf hohere Stufen 
emporwehen wird und dem die Verwandlung eines Esels in 
einen Affen ein leichtes ist. Uberdies verspricht er in den wiener 
Autoren eine desto grossere Wirkung, da sie denselben in gros- 20 
ser Quantitat zu besizen scheinen: denn sie konnen sich eines 
solchen Stolzes rumen, daB sie die Morgenrote ihrer Litteratur 
schon fur die Abendrote derselben, die grauen Milchhargen des 
Barts fur graue Hare des Kopfs halten und gleich dem Fo der 
Sineser, stand[en] sie gerade, da sie geboren, machten sieben 
Schritte und riefen aus: im Himmel und auf Erden verdient Nie- 
mand Vererung als ich. Die seltne Grosse ihres Stolzes leuchtet 
auch aus ihrem Verhalten gegen ihre auswartigen Richter her- 
vor: denn ihre Abhartung gegen kritische und satirische Geiseln 
verrat eine Aufgeblasenheit, in welcher der Dachs das Muster 30 
gegeben, der nach dem Plinius, Bissen und Schlagen durch Auf- 
blasung seines Korpers trozt. Ja ihr Stolz hat eine solche Ausde- 
nung erreicht, daB ihn Angriffe stat auszuleren mit neuem 
Winde laden; so wie aussere Wunden die Luft unter die Haut 
schiessen und den Korper schwellen lassen. »Berlin beneidet 
und hasset Wien, darum tadelt es dasselbe!« so spricht nur der 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 69$ 

Stolz, dessen Grosse sich durch den Angrif verrat und vermert. 
Zwar drohen ihre unlaugbare Unvolkommenheiten diesem 
Stolz den Untergang; allein fur seine Dauer steht uns die vortref- 
liche Einrichtung des Menschen, der seine Mangel nur dan in 
ihrer schlechten Gestalt erblikt, wenn er sie abgelegt und sie 
wie fremde richten darf, so wie alle Exkremente des Korpers 
nur dan unsern Ekel aufwiegeln, sobald wir sie von uns gegeben 
und sie nicht bios dunkel fulen sondern audi deutlich sehen. 
Wir diirfen also hoffen, daB bei den genanten die Lerheit nicht 

10 die Aufgeblasenheit (iberleben werde, daB sie wenigstens so 
lange stolz sein werden, als sie es nicht zu sein notig hatten. 
Unsre Hofnung auf die Verwandlung ihrer Dumheit in Narheit 
griindet sich auch auf die Grosse ihres Oberhaupts, das freilich 
wiirdig ware, nur solche Menschen zu beherschen, die es ge- 
schaffen, und das, in doppelter Beziehung Vater des Vaterlands, 
nur fur solche Korper wie ein Vater sorgen soke, deren Selen 
es gleichsam gezeugt, wie der Weiser im Bienenstokke nur der 
Konig seiner Kinder ist. Allein eben dieser Joseph wird, freilich 
wider seine Absicht, das Werkzeug der Erfiillung unsrer Bitte: 

20 denn er wird gewis noch kiinftig die grosse [n] Taten fortsezen, 
die schon iezt soviel kleine Biicher gezeugt und durch fernere 
Verdienung des Lorbers dem gelerten Teil seiner Untertanen 
Gelegenheit geben, ferner Nieswurz zu verdienen. Die Ausrot- 
tung der dummen Monche wird auch noch kiinftig zur Befruch- 
tung narrischer Skribenten geraten und Bedlam entvolkert die 
Kloster. Er wird das Ungeheuer der kirchlichen Tirannei mit 
Schwerd und Federmesser schrekken und den Kriegern und den 
Autoren die niizliche Vereinigung wider dasselbe erlauben d. h. 
dem Herkules gleichen, der die stymphalischen Vogel, die 

30 giildne Frikhte wie Geizhalse bewachten, teils mit Pfeilen erlegte 
teils mit Klappern vertrieb. Die Esel werden von den Kanzeln 
zu den Schreibpulten fluchten und die Dumheit die Zunge der 
Priester mit der Feder der Laien vertauschen: so verstumte zu 
Christi Zeiten der Teufel im Munde seiner heidnischen Vererer, 
der Priester, aber besas haufiger iudische Laien und gab stat 
heiliger Orakel verachtete Narheiten ein. Die Autoren werden 



694 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

auf den Weg, den sie der Warheit durch alte Vorurteile, auf 
Josephs Geheis hindurchbanen, neue walzen, und den Ochsen 
gleichen, deren Hintere die Furchen, welche ihr Kopf fur war- 
tenden Samen aufreisset, mit verdauten Kornern besaet und die 
Ofnung des Feldes mit Kot fullet. Unsrer Hofnung, daB mit 
dem Gipfel des Trons die Wurzel des Parnasses wie wol nach 
entgegengesezten Richtungen wachsen werde, burgt die Ver- 
gangenheit fur die Warhaftigkeit der Zukunft. Was konte Joseph 
grossers tun als das, was die oftgenanten Leute veranlaste, das 
Kleinste zu tun: namlich, sie liessen ihre Dinte iiber Gute und 10 
Bose regnen, ihr Hintern hinterlies iedem Gegenstand eine 
seidne Bekleidung und das Kleinste war so wenig vor ihrer Ver- 
kleinerung als das Groste sicher und ihre Lobreden trafen nicht 
bios die Kaiserin, sondern auch die Stubenmadgen, ihr Tadel 
nicht bios den Pabst, sondern auch ihre Schreibkollegen; der 
Bewoner Bedlams riet seinem Nachbarn zu Nieswurz und der 
Klang von zehn Kreuzern wiirkte Dissonanz der Schellen von 
Kappe zu Kappe; der stinkendste Atem traf endlich auf eine 
hungrige Nase, die ihn fur Weihrauch einsog und umgekert 
fandderunerlicheMissetaterimmer nocheinen, dener iibersah, 20 
namlich seinen unerlichen Henker, an ieder Laus nagten kleinere 
Lause und den dummejn] Schafskopf qualten dumre Wurmer; 
und der Poet suchte fremde Krallen, und der Rezensent fremde 
Flugelgen zu beschneiden. - Der dritte Grund, an den [sich] 
unsre Hofnung auf die kiinftige Verstandesverriikkung halt, ist 
die Liebe zur Poesie, die man in ihrer Teatermanie leicht wittern 
kan. Jezt arbeiten sie noch zu ser fur das Auge, um fur den 
Gaumen zu arbeiten und erleuchten ienes auf Unkosten des lez- 
tern; so wie das Licht des angeziindeten Branteweins den Wol- 
geschmak desselben verzert und das angeneme petrank sich zu 30 
Wasser herunterschimmert. Zwar sezen sie der verwundeten 
Prose nicht selten die holzernen Beine der Dichtkunst an und 
besteigen den Pegasus, den sie am Zaume auf dem schlechtern 
Wege gefiiret, auf dem bessern wieder; allein ihrer Begeisterung 
felet noch viel zur Narheit, der iedoch bei weiterer Ubung die 
Dumheit Plaz machen wird, so wie man ebenfals nur in der 



BrrrscHRiFT der deutschen satiriker 695 

Jugend der Tonkunst mit der Harmonie geblasner Ochsenhorner 
zufrieden war. Der Stral des Apollo (d. h. der Sonne) wird aus 
den sorglos verstreuten Eiern die gehirnleren und kleingefiilten 
Straussenachund nach schon ausbruten, es ware unbillig, wenn 
der Phobus euch zu nichts diente als zur Ersparung des Holzes, 
und nicht ausser den Rauchtobak auch poetische Kopfe entziin- 
dete; diese Stralen, die Newtons Kopf erleuchteten, werden den 
eurigen doch wenigstens verriikken.* Ja, soviel sich wenigstens 
aus ihren iezigen Produkten z. B. aus den Traumen iiber den 

10 Tod der Kaiserin erraten last, so mag wol manche Narheit schon 
das Ei verlassen; nur traut sie sich nicht so unbefiedert in die 
Kalte der Vernunft hinaus - der prosaischkriechende Unsin mus 
erst eine schmerzliche Verwandlung bestanden haben, eh' eine 
hohere Sphare seine schwachlichen Reize dem Verfolger ent- 
riikken kan und nur in grosse Fliigel last sich ein kleiner Kopf 
verlarven - einen Gedanken, dem Schlaf oder Traum die Augen 
geschlossen, schiizen nur viele poetische Bilder gegen den Dolch 
der Kritik, so wie den schlaf enden Dalailama dreihundert und 
sechzig Bilder bewachen stat eines einzigen Schweizers. - Vor 

20 dieser Hofnung zur Tolheit des wienerischen Parnasses wird 
der Stolz des deutschen fallen und die, die erst in zwanzig Jaren 
die Vernunft besiegen konten, werden die beneiden, die sie 
schon in zehn besiegten. Nur mussen alsdan die Wiener zum 
Besten ihres Rums fur ein langeres als ein dreitagiges Leben 
ihres Unsins sorgen, der zeither, gleich eingeschiften Kolibrit- 
gen, nicht einmal die Reise von Autor zum Rezensenten aushielt, 
sondern auf der Post verrekte, eh' er in Berlin ankam, daher 
auch die Berliner Bibliothek diese Produkte, nicht wie unsre, 
einzeln einschart, sondern des Gestanks wegen, wie in der Pesti- 

30 lenz, in einen einzigen Graben aufeinanderschlichtet. Ihr Auto- 
ren, bittet daher nicht bios fur verstorbne Menschen, sondern 
auch fur verstorbne Bucher; und ihr Leser bittet in der vierten 
Bitte, gleich den Reichen, nicht um tagliches Brod, sondern 
um taglichen Hunger. Die Annaherung eines Absazes erinnert 

* Es wird hier auf die Krankheit angespielt, die unter dem Namen 
Sonnenstich bekant 



696 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

uns, daB auch an uns die Reihe zu bitten komt; allein wir unter- 
lassen es, da diese Autoren zu hoflich denken, sich zu einer Sache 
durch unsre Bitten auffordern zu lassen, wozu wir sie schon 
durch das obige Lob aufgefordert; ia sie scheinen zur Gewarung 
dieser Bitte so geneigt, das selbst eine entgegengesezte sie in 
dieser Geneigtheit nicht zu storen vermogen wiirde. 

Bis hier folgten wir unserm Wege mit Vergniigen; allein iezt 
sezen wir ihn mit dem Zittern fort, das dem Pilgrim immer 
auf dem Kreuzwege ankomt. Dem Poeten durften wir ins Ge- 
sicht sagen, daB er die Ban zur Tolheit mit dem Ziele verwechsle; ic 
aber diirfen wir es den Theologen sagen, daB sie aus den ortodo- 
xen Landstrassen auf die Fussteigfe] der Vernunft geraten? Viel- 
leicht werden nicht bios die intoleranten antworten: »sind wir 
verniinftig? sind wir kezerisch?« sondern auch die toleranten 
werden lispeln: »verratet doch unsre Armut an teologischen 
Torheiten unsern reichen Mitbriidern nicht, die den Mangel mit 
Stolz bestrafen.« Uberhaupt verfiirt sie die Anlichkeit der Ge- 
stalt zu einer Verwechslung der Satyren mit den Teufeln; daher 
sie uns nicht bios mit Dinte anschwarzen, sondern sogleich, 
wie Luther, mit dem ganzen Dintenfas beschiessen; daher wir 20 
immer durch versteltes Lob zu einem widersprechenden Spot 
ausholen und gleich falschen Kramern, unsern Pfeffer durch 
Lorbern zu verunstalten gezwungen sind. Um nun dieienigen 
intoleranten Theologen, welche zwar an Gottes stat die Siinden 
gegen sie, aber aus Bescheidenheit nicht an ihrer eignen verge- 
ben mogen, zu Beschiizern unsrer Geisel zu haben, erklaren 
wir hiemit, daB unsre Klage iiber Mangel an theologischen Tor- 
heiten nicht im geringsten auf sie ziele und auch, fals wir das 
Licht der Warheit noch ein wenig anbeten, auch nicht zielen 
konne. Ja selbst mit weniger Torheiten musten wir zufrieden 30 
sein, weil in dem Widerstand gegen die Aufklarung sich ein 
Teil der Krafte zersplittert, die der Orthodoxie sonst ungeteilt 
zufielen; um desto mer aber konnen wir uns gliiklich schazen, 
daB die Intoleranten dem neuen Strom des Lichts nicht auf Ko- 
sten der Satire entgegenschwammen und iiber die Widerlegun- 
gen die Torheiten nicht vergessen, ia wir wiirden, waren nicht 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 697 

alle Wiinsche Neuiarswiinsche, denen, welche den gewonlichen 
theologischen Narheiten abgeschworen, eine baldige Kreuzi- 
gung und ihren Henkern eine totale Sonnenfinsternis wiinschen. 
Die Gegenstande unsrer Klagen sind also die, welche der alten 
in neue Meinungen verlarvten Vernunft ihre vorige Krone in 
den Schos zu werfen suchen. Wieviel Horner und Zane konten 
wir nicht auf diese Vernunft mit der blossen Bemerkung loshe- 
zen, daB diese Vernunft gar nicht neu, ia nicht bios alter als 
Sozinsondern auch alter als die Sozinianer ist. Allein wir wollen 

10 unsre Feinde nicht gleich dem Hanibal durch [mit] Scheiterhau- 
fenfakkeln bewafnete Ochsen schlagen: sondern sie vielmer 
durch Griinde auf die Seite der Narheit Ziehen, sobald wir vorher 
dargetan, daB sie auf die Seite der Vernunft getreten. Ungeachtet 
sie sich noch, aus Furcht, in Feinde der leztern verstellen, so 
scheitert doch ihre Verstellung an ihren Handlungen, und das 
Gehirn eines LeB verlarvt sich umsonst in das Gesicht eines Tel- 
ler's in Zeiz; Teller entdekt doch die Vernunft hinter den nach- 
gemachten Minen und schreiet mit Zuversicht auf der Zinne 
seines Tempels: »ungeachtet LeB mein Gesicht nachmacht, so 

20 hat er doch nicht mein, sondern ein Gehirn und ist ein Wolf 
im Schopsenkleid. « Damit wir aber den Schein der Parteilichkeit 
vermeiden, wollen wir einige Neuerungen anfiiren, womit sich 
die Heterodoxen mit Recht den Verdacht der Verniinftigkeit 
zuzogen. Schon ihre Lobreden auf die Duldung riechen nach 
Vernunft und denienigen, welche das Edikt von Nantes fur Se- 
hende auferwekken, scheint die eigennuzige Sorge fur ihre eig- 
nen Augen die tolerante Hand gefiiret zu haben. Ihrer Schuld 
wachst neue Schwarze durch den Umstand zu, daB die Ausrot- 
tung der Intoleranz die Land und Seemacht der Ortodoxie ver- 

30 mindere, indem sie die Feinde derselben vermeret. Wiirde wol 
Lessing Gozen den Streit so erschweret haben, wenn ihm sein 
Gegner mit der kiinftigen Todesart der Welt hatte drohen diir- 
fen? Die Furcht des Scheiterhaufenfeuers, das die Hexenmeister 
iezt besprochen haben, die es mit ihrem Fette naren solten, wiirde 
die Lippen der Vernunft wenigstens so lange versiegelt erhalten, 
bis erst die Empfindung der Folter sie ofnete; und die Theologen 



698 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

konten die verniinf tigs ten Einwiirfe widerlegen, indem sie sie 
verbrenten. Man sieht also, daft die Toleranzprediger, fals sie 
auch der Vernunft niemals nachgeschrieben hatten, schon durch 
ihr Jagdverbot alle Verzeihung verscherzet. Aber sie haben noch 
iiberdies der Vernunft nachgeschrieben! Und dieses ist denn der 
testis ocularis fur den obigen Argwon, daB sie weniger zum 
Besten der Freigeister, die die Vernunft misbrauchen, als der 
Heterodoxen, die sie brauchen, auf die Ausrottung der Intole- 
ranz durch die Wiederholung des katonischen Ausspruchs: cen- 
seo Carthaginem esse delendam gedrungen. Die Vernunft, wel- 10 
che die Orthodoxen in heterodoxen Biichern riigen, schimmert 
selbst durch Distinkzionen hindurch; und denienigen, die alle 
vernunftwidrige Dogmen aus der Dogmatik relegiren, aus den 
Stellen der Bibel den Unsin exorzisiren, den Kanzelpulten die 
Oren beschneiden und sogar der Orgel das Yanen abgewonen, 
verschulden den Vorwurf der Orthodoxen, daB sie vernunftig, 
und der Satiriker, daB sie nicht narrisch handeln. Wir glauben 
also unsre obige Klage durch Griinde gerechtfertigt zu haben; 
die wenigen neuen Torheiten, womit diese Abtriinnigen uns 
mit ihrer Vernunft auszusonen suchen, wollen wenig sagen und 20 
entschadigen uns fur die alten ser schlecht. Eine kurze Anfiirung 
dieser Torheiten wird von der Richtigkeit unsers Urteils und 
von dem Vertrauen auf unsre Starke zeugen. Ihre erste und (wir 
miissen es bekennen) groste Torheit, die sie unserm Spot anbie- 
ten, ist unstreitig die, daB ihre Vernunft ihre innere, weltlich- 
glanzende Seite mit einer aussern, theologischdunkeln und 
schwarzen verpanzert, so wie alte Topfe von innen bunt glasirt, 
von aussen geschwarzt und beschmuzt aussehen. Dieienigen 
Heterodoxen, die ihrer Sicherheit wegeri die Uniform ihrer 
Feinde tragen, und die in ihrem Kopfe die Rechtglaubigkeit, 30 
die von seiner Oberflache zuriikgespiegelt wird, zu besizen die 
Mine machen, so wie iener Italiener die Irokoer durch einen 
Spiegel auf seiner Brust beredete, daB er sie auch im Herzen 
trage, diese Heterodoxen machen sich uns durch mer als eine 
lacherliche Seite verbindlich. Denn indem sie den Mangel der 
Torheiten, den wir ihnen vorgeworfen, durch den Schein der- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 699 

selben verbergen, so leidet dabei unsre Geisel wenig, die onehin 
nur die Haut, aber nicht das Eingeweide ziichtigen wil und sol, 
und indem sie ihren Gegnern anlich scheinen, kizeln sie uns 
zu einem nicht viel breiterm [?] Lachen als wenn sie ihnen gleich 
waren. Hiezu komt noch, daB sie dadurch die Ordnung der 
Dinge umkeren. Man hat es vom Esel gewont, daB er eine L5- 
wenhaut stat des Gallakleids urn sich wirft; aber vom Lowen 
hat man es nicht gewont, auf seinem Riikken eine Eselshaut 
stateines zynischen Mantels liegen zu sehen. Wenn ein hasliches 

10 Frauenzimmer sein Gesicht in eine Larve stekt, so handelt es 
verniinftig, denn die Ofnung des Visirs wiirde seinen schwach- 
sten Teil ieder Verlezung Preisgeben; allein wenn ein schones 
eben dasselbe tut, so handelt sie lacherlich, denn iede Larve um- 
wolkt ihre Reize und iedes Kleid schwacht sie wenigstens, und 
die Schonheit siegt, gleich den Athleten, leichter unbekleidet. 
Allein im Grunde scheinen doch manche Heterodoxen weniger 
darum Narren, um von uns verspottet, als von ihren Gegnern 
geduldet zu werden und eine Eselshaut ist weniger ihr Harle- 
kinskleid als ihr Panzer. Zu einem anlichen Zwek verwandte 

20 Empedokles die Haut des Tiers, das dem Midas nur die Oren 
geliehen. Wenigstens nimt folgende figiirliche Stelle des Laerz 
keine bessere Abschelung an: Empedokles, sagt er im Leben 
desselben, stelte auf den Spizen der Berge Eselsidle gegen den 
iibeln Einflus der Winde in den Hundstagen aus. Freilich ist der 
Wiz in dieser Stelle ein wenig gezwungen; allein uns komt es 
ia hier auch nicht auf das an, was Laerz gesagt, sondern auf 
das, was Empedokles getan. Wenn es unter den neuen Reforma- 
toren einige gegeben, die ihre Vernunft hinter ortodoxen Schein 
verbergen, so giebt es auch noch andre, die ihre Dumheit hinter 

30 einer heterodoxen Mine verstekken. Diese leztern beten, stat 
denen nachzubeten, die auch nachbeten, nur denen nach, die 
nicht nachbeten und yanen Pasquille auf lange Oren; ihr schwa- 
cher Kopf konte neue Ideen nicht verdauen, allein eben darum 
aufbewaren und die Gleichheit der Wirkung machte sie einen 
verdorbnen Magen mit einem gesattigten verwechseln; kurz sie 
werden, gleich Folen mit schwachen Augen, durch zu gutes 



700 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG 

Futter blind. Allein so viel auch Lacherliches diese Torheit 
brandmalt - denn lacherlich ist es allerdings, wenn ein Esel, 
der seine Oren nach den Oren der Pferde zuschneiden lassen, 
iiber einen altmodischen Esel, mit dem er noch die Kele teilt, 
stolz hinwegsieht und noch obendrein vergist, daB die Dumheit 
nicht in langen Oren, sondern im Gehirne wone und daB mit 
dem Zeichen nicht immer die Sache weggenommen werde; la- 
cherlich ists, wenn der, welcher die Verteidigung der Heterodo- 
xie yanei, den einen Esel schilt, der die Widerlegung derselben 
wiehert, wenn ein Lilliputer auf den Schultern eines Brobdignak 10 
den Gulliver fur einen Lilliputer und sich fur einen Brobdigna- 
ken erklart, und wenn einer seinen Magen mit nichts als neuge- 
baknetn Brode verderben mag - so lacherlich also, wie gesagt, 
diese Torheit scheinen mag, so tragt sie doch weniger Nesseln 
als dieienige, welche ihr weichen miissen. Denn von ihrer Neu- 
heit pralt iede Verspottung ab, welche auf die Zeit erst zu ver- 
schieben, wo der Leser diese Narheit mit belachen helfen wiirde, 
weil er sie schon einer fremden aufgeopfert, uns nicht gelegen 
ist. Auch steht sie den orthodoxen weit an der Erwiirdigkeit 
nach, welche stat des Schattens das Lacherliche so hebt und oft 20 
ersezt; wiewol wir damit nicht in Abrede sein wollen, daB die 
Zeit sie schon endlich mit antikem Firnis schminken kan. Kaum 
Er warning ist endlich die Torheit derer wert, die den rechten 
Fus auf den neuen Glauben sezen und den linken auf dem alten 
lassen, die die rechte Achsel iiber das, was sie auf der linken 
tragen, zukken und Poly pen zwischen der Orthodoxie und ih- 
rem Gegenteil abgeben. Ein Esel, dem Ein Or mangelt, gewaret 
einen verdruslichen Anblik stat des lacherlichen, wenn er noch 
mit seinen zwei Oren erschi enen ware. Das Publikum und selbst 
die Heterodoxen werden uns iezt zugeben, daB wir uns iiber 30 
ihre Unfruchtbarkeit an Narheiten mit Recht beschweret und 
es gar nicht aus parteiischer Vorliebe gegen die Ortodoxen ge- 
tan, wenn wir den leztern einen weit grossern Reichtum an la- 
cherlichen Eigenschaften zugestanden. 

Fur Ausrottung dieser neuen Nieswurz, die sich gewis auf 
den christlichen Weinberg wenig schikt, sprechen tausend 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 70 1 

Griinde; aus denen wir aber nur einige auslesen. Erstlich scheint 
ihr vernunftigen Leute unsre Gewonheit, in Ermanglung einer 
Tonne mit dem Schiffe zu spielen, bei eurer Neuerung gar nicht 
mit zu Rate gezogen, und unser uraltes Privilegium, iiber ,den 
Stand den Spot auszulassen, dem die Person ausweicht, ganzlich 
vergessenzuhaben. Unsere Verspottungdes geistlichen Standes 
ist daher nicht, wie ihr uns vorwerft, unbillig sondern billig; 
denn es stand bei euch, sie durch Torheiten eurer Person vom 
Stande abzuwenden und uns der unvermeidlichen Anlichkeit 

io mit dem Artaxerxes, der an seinen siindigen Hofleuten nicht 
die Leiber, sondern die Kleider peitschen lies, dadurch zu iiber- 
heben. Diese grosse Aufrichtigkeit wagen wir bios auf die Hof- 
nung (Belonung) hin, daB ihr kunftig, kluger, eure Person nicht 
auf Kosten eures Mantels, den ihr wie Joseph faren lasset, aus 
unsern Handen retten werdet. Zu dieser Klugheit, eure weisse 
Haut mit theologischer Dinte schwarz zu farben, muntern wir 
euch durch das Versprechen auf, an eurem schwarzen Rok die 
weisse Farbe zu loben. 

Damit wir die Aufsezung eurer vorigen Narrenkappe von 

20 alien Seiten versuchen, wollen wir unsern angegebnen Grund 
mit einigen andern verstarken, die wir von euren Feinde[n], 
den Orthodoxen, in der Hofnung entlenen, daB diese abgeniiz- 
ten Waffen in unsern Handen nachdruklicher als in den Handen 
der genanten Missionaren der Narheit predigen werden. Erstlich 
iibertretet ihr durch diese Neuerung alle die Gewonheiten, die 
euren Stand seit langen Zeiten her vom Ler- und Werstand un- 
terschieden. Sogar die heidnischen Priester, welche sonst den 
christlichen in den meisten Eigenschaften nachstehen, scheinen 
doch das Hauptgesez ihres Standes, nicht zu denken, wo nicht 

30 erf iilt wenigstens gekant zu haben. Denn warum hatten sie sich 
auf den Miinzen mit Ochsenschadeln gekront verewigen lassen, 
wenn sie damit nicht die passende Anlichkeit ihres Gehirns zu 
seiner doppelten Schale hatten andeuten wollen? Sogar das ge- 
hornte Opfertier fur ihren hochsten Got scheint auf die Eigen- 
schaften der Priester hinzuweisen und Pferde waren so seiten 
Opfer und Priester, daB bios Midasse Esel schlachteten. So wie 



702 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

man immer spater mit Buchstaben als mit Bildern schrieb, so 
gieng's auchhier, und dieschon genanten Hieroglyphen, womit 
die heidnischen Priester ihren Kopf silhouettirten, wurden erst 
spat von den Buchstaben verdrungen, in denen die christlichen 
den ihrigen deutlich kennen lerten. Und hier hatten wir denn 
die langstgewiinschte Gelegenheit, das Lob der Theologen in 
die Anfurung ihrer torichten Meinungen zu weben; allein die 
leztere wiirde einen Quartanten mit Perlenschrift gedrukt aus- 
fullen; daher wir mit ihr zugleich das Lob, welches sich auf 
sie griindet, zu einer weitlauftigern Behandlung versparen. Ge- 10 
nug! daB wir bei euch Heterodoxen die historische Kentnis der 
theologischen Narheiten d. h. der Kirchengeschichte vorausse- 
zen diirfen. Vielleicht ists uberfliissig, euch zur Erweiterung 
eurer Physikotheologie in die offentlichen Bibliotheken zu ver- 
weisen, welche die langen durch die Zeit versteinerten Oren 
grosser Theologen aufbewaren; vielleicht seid ihr durch euer 
Examen mit denen Mitgliedern der Konsistorien bekant gewor- 
den, die alt genug sind, um alte Meinungen zu haben d. h. die 
zur Zeit, wo die 7. magern Ochsen die sieben an Unsin fetten 
Ochsen verschlungen hatten, geboren, fur den Winter des 20 
schlafrigen Alters aus den Systemen einsamlen konten. Denn 
nicht bios leiblicherweise gilt die Bemerkung von Akkerman, 
daB Kinder, die am Tage geboren werden, gute Augen, und 
solche, die zu Nachts geboren werden, schlechte erhalten*; auch 
geistlich[er]weise kan man sagen, daB Theologen, die mit ihren 
Augen das erstemal nicht das Licht der Welt sondern die Finster- 
nis derselben zu erblikken das Gliik gehabt, immer Eulenaugen 
stat der Luchsaugen in ihren Augenholen getragen. Sobald ihr 
uns nun die kanonische Antikheit derienigen torichten Meinun- 
gen, die ihr von euch gestossen, zugestehen miisset; so gesteht 3° 
ihr zugleich die Felerhaftigkeit eurer Kunheit zu. Denn sagt 
selbst, ob es nicht kiin und noch etwas mer ist, Saze, welche 
die ganze Kirche seit langen Zeiten wo nicht erwiesen wenig- 

* Baldinger's Magazin fiir Arzte. Zweiten Bandfes] sechstes Stiik 
1780. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 7O3 

stens behauptet, auf welche und fur welche grosse Manner star- 
ben, welche nicht bios die Dogmatik in Prose, sondern auch 
das Gesangbuch in Versen leret und fur welche Griinde in deut- 
scher und lateinischer Sprache vorhanden und die von fleissigen 
„ Steinschneidern den steinharten Gehirnen des Pobels mit Miihe 
eingeschnitten worden, solchen alten Sazen bios darum alien 
Glauben aufzukiindigen, weil ihr Gegenteil, das doch noch nicht 
maioren ist, die Vernunft zur Freundin hat? Wenn das Vernunft 
heist, so haben sie eure Gegner auch! »Aber die Schwachheit 

10 der alten Lersaze brach ia in ein solches Zittern aus -« daB ihr 
sie nicht umstossen sondern diese Bewegung fur einen Wink 
an euch hattet aufnemen sollen, dem Alter die schuldige Erf urcht 
abzutragen und euren gesunden Kopf vor dem grauen zu ent- 
blossen. Denn alte Lersaze konnen ia gleich der Erde, die, welche 
sie mit Fiissen treten, nicht anders als durch Beben niederwerfen 
und gleich einer verpesteten Armee, durch Schwachheiten sie- 
gen. »Daraus folgt, daft Luther Unrecht tat, die christliche Kir- 
che zu repariren; oder darf nur er mit den Neuerungen ein Mo- 
nopolium treiben?« Nein! auch euch gestatten die Konsistorien 

20 allerlei Neuerungen in Lesarten, in der Kasuistik, fast mit der 
einzigen Einschrankung, daB sie den symbolischen Biichern 
nicht entgegen sind - und ferner, warum amet ihr Luther'n nicht 
auch darin nach, daB ihr den iezigen Dogmatiken die torichten 
Meinungen, welche der grosse Man aus Hochachtung gegen 
ihr Methusalem's Alter in den damaligen Systemen unangetastet 
lies, mit eurem unererbietigen Widerspruch verschonet? Zumal 
da derselbe Unsin, fur den schon sein damaliges Alter bei dem 
cholerischen Luther sprach, iezt seit der Oberstehung dieses ge- 
farlichen Stufeniars zwei Jarhunderte alter, daher um zwei Jar- 

30 hunderte erwiirdiger und unverlezbarer geworden ist. Und 
warum schlagt bei euch das Beispiel eurer Gegner so wenig 
an, welche die torichtsten Meinungen und Gewonheiten bios 
darum in Schuz nemen, weil sie alt und die Kopfe, die sie erfun- 
den, schon lange tod sind? Wiirde wol der Taufexorzismus noch 
in der Kirchenagende, oder die Texte fur Son- und Feiertage 
noch in dem Kalender vorgeschrieben werden ppp. und wiirde 



704 JTJGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

wol der Examinator der Vernunft des Kandidaten noch die Ge- 
standnisse ihrer Feler abfoltern und auf ieder heterodoxen Farte 
das Anathema anschlagen, wenn nicht das Alter die Rechtmas- 
sigkeit aller dieser Dinge iiber alien Zweifel hinaussezte? Wenn 
die Orthodoxen die Beibehaltung dieser unvernunftigen Dinge 
vor ihrer Vernunft mit dem Alter derselben rechtfertigen kon- 
nen, so kont auch ihr es und wiirdet es immer gekont haben, 
wenn ihr nicht stat der Chronologie die Philosophie iiber theo- 
retische Glaubensleren hattet richten lassen und nicht Griinde 
iiber Jarszalen erhoben hattet. Nichts ist wol torichter als dieie- 10 
nigen Stimmen zu wagen, die von Orenzeugen schon gewogen 
worden; da man sie bios zalen soke, um hinter ihren Wert zu 
kommen; so wie man nur in der Kindheit der Miinzkunst das 
Geld wog, das man iezt zalt. Diese Ermanung, die theologischen 
Torheiten beizubehalten, weil sie schon lange beibehalten wor- 
den, haben wir euren Gegnern abgeborgt, die sie so oft wieder- 
holten, daB ihr euren hartnakkigen Widerstand nicht oft hattet 
wiederholen sollen. 

Keret wieder zur alten Einfalt zuriik, sagen wir iezt mit den 
schweizerischen Theologen, damit euch nach eurem Tode der 20 
Teufel nicht holet, welches Schiksal sich ausser einigen mutigen 
Offiziren doch niemand weiter wiinscht. Wir sind zwar noch 
nicht ganz iiberzeugt, daB alle Denker aus dem Fegfeuer dieser 
Welt in die Holle der kiinftigen faren werden; indessen neigt 
doch die Mutmassung einiger christlicher Theologen, daB die 
Sonne die Holle, und die eines heidnischen (nach Plutarch), daB 
der Mond der Himmel sei, den Beifal auf unsre Seite, weil das 
Licht der Sonne sich alsdan zum Lichte der Denker, und die 
relative Finsternis des Mondes zur Orthodoxie seiner Bewoner 
ser gut schikken wiirde. Allein eure Vernunft hat ausser dem 30 
argumentum a tuto noch ein neues Argument gegen sich; da 
es namlich in unsern Zeiten unmoglich ist, tugendhaft zu sein, 
und noch einigermassen moglich, dum zu sein, so dachten wir, 
man gienge wenigstens den einzigen iibrigen Weg zum Himmel, 
und erlosete mit dem Kopfe das Herz aus der Holle. Der schmale 
Weg zum Leben, den eine enge Pforte beschliest, geht iiber so- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 705 

viel Hindernisse, soviel Gebirge und Hokker, die iezt die Weg- 
reparatur verdoppelt, hinweg, als die Wege in Palastina haben; 
dies wird man zugeben - die Pferde aber taugen bios auf ebne 
Strasse, und nur die Esel auf gebirgichte Wege; daran ist noch 
weniger Zweifel - nun furt die Frage, ob es besser ist, auf dem 
Wege zum Himmel ein Pferd zu sein, das den Hals bricht, oder 
ein Esel, der unverlezt anlangt, ihre eigne Antwort mit sich. 
Im Grunde ist unser Rat, dem Teufel unter der Gestalt eines 
Esels zu entwischen, nichts weniger als neu und das Heil von 

10 tausend Selen . . . Nur daB sie, wenn wir sagen, man konne 
den Kopf zum . . . Farren des Herzens machen, besser so sagen: 
der Glaube wirkt Vergebung der Sunden aus. Die vielen Grunde, 
auf die sie in ihren Systemen diesen Saz auffuren, sind bekant; 
wir sezen daher nur noch die Bemerkung hinzu, daB im A. T. 
die Schlange das Sprachror des Teufels, aber dafiir ein Esel das 
Sprachror eines Engels gewesen; eine anliche Bemerkung aus 
der Mythologie unterdriikken wir fur einen schiklichern Plaz 
als den iezigen, den keine Fabeln verunstalten diirfen. Soke die- 
ser Rat nicht bei euch zum Vorteile der Dumheit ausschlagen, 

20 so entkraftet er wenigstens euren oft wiederholten Vorwand, 
daB ihr die Vernunft zu nichts als einer Lokpfeife der Freigeister 
brauchet. So namlich: sobald man an den Himmel das Herz 
in Kopf, Tugend in Dumheit auszalen darf , so mus der grossere 
Teil der sogenanten Freigeister dem Teufel entkommen konnen, 
ungeachteter ihn gelaugnet, und in das dritte Stokwerk desieni- 
gen Himmels hinaufsteigen, dem er bios zwei gegeben.* Denn 
die wenigen Laster, die sich nach dem Ausspruche der Warheit 
die meisten, und nach dem Ausspruche der Organe der Warheit, 
der Theologen, alle Freigeister auf Rechnung ihres Glaubens 

30 verstatten, biisset ihr Kopf zwar nicht dadurch, daB er den Or- 
thodoxen, allein doch dadurch, daB er dem Voltaire nachbetet, 
welches im Grunde immer auf dasselbe dem Herzen erspriesli- 
che Nichtdenken, und auf die Finsternis des Kopfes hinauslauft, 

* Der Schulmeister und hernach der Pfarrer sagen den Kindern, daB 
es dreierlei Himmel gebe 1) Lufthimmel 2) Sternenhimmel und 3) Freu- 
denhimmel. 



706 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

die ihm, wie die Finsternis der Stube, Tugend leiht. Denn nicht 
das schwarze christliche Kreuz auf dem Rukken macht den Esel 
zum Esel, wie manche Orthodoxen behaupten, sondern die lan- 
gen Oren, welches manche Freigeister ihrem eignen Gefiil zu- 
wider laugnen; wiewol diese leztern sich mit Recht etwas auf 
die ansenlichen Gliedmassen einbilden, die sie fur Enkel des Mi- 
das erklaren, dessen freies Urteil lange Oren, aber kein Kreuz 
belonten und der deswegen der Ourang Outang der Esel ist. 
Ein vernunftiger Menschenfreund wird daher denienigen Au- 
tor, der mit seinen schlechten freigeisterischen Grundsazen et- ic 
was zur Dumheit seiner freidenkenden Leser beitragt, gewis 
hoher schazen, als den Autor, der mit orthodoxen Sazen die 
Vergrosserung ihrer Dumheit zwar auch beabsichtigt, aber we- 
niger erreicht, und es geschieht gewis nicht aus blosser Vorliebe 
fur Kollegen, wenn wir in dieser Riiksicht den satyrischen Ver- 
fasser der Charlatanerien iiber manche seiner Widerleger hinauf- 
sezen. Daraus fliest die wenig bekante Regel fur Gottesgelerte, 
ieden auf seinem eignen Stekkenesel den Weg zum Leben zuriik- 
legen zu lassen; iibrigens sind wir von den guten Absichten 
manches Orthodoxen gewis, daB er die Freigeister, die er zeither 2c 
hassen miissen, weil sie gleich den , in seinen Augen 

die Schlange spielten, kiinftighin weniger hassen und verfolgen 
wird, nachdem wir erwiesen, daB sie auch gleich eben diesem 
den Ochsen spielen, und wir konnen hoffen, daB er seinen 
Has gegen ihre Schlangenherzen durch seine Liebe gegen ihre 
Taubenkopfe abzukulen beginnen werde. 

Wir haben erwiesen, daB dem Wol eurer Selen an der Anne- 
mung der Orthodoxie nicht wenig gelegen; nun solten wir eben 
dasselbe von dem Wol des Korpers erweisen. Und wirklich 
liesse sich hieriiber viel Nuzliches auskramen, da die Toleranz 3c 
der Obrigkeit, an der nichts als die Augen durch die Intoleranz 
verbunden sein mus, die Hande so ser noch nicht gebunden, 
daB sie die Behauptung manches dummen Sazes nicht mit Am- 
tern besolden und die Laugnung davon nicht auf verschiedne 
Arten anden soke, noch nicht so ser, daB ein Heterodoxe[r], 
der die symbolischen Biicher beschworen, nur auf Kosten seines 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 7O7 

Gewissens, allein nicht mer seines Magens verniinftig zu wer- 
den, die Aufklarung seines Kopfes mit nichts als einem Meineid 
zu verkaufen und fur die Weisheit nicht mer das Wol seines 
Korpers und der Seinigen, sondern nur das kunftige seiner Sele 
in Gefar zu sezen notig hatte. Allein ungeachtet die Toleranz 
noch nicht so weit um sich gegriffen, so hat man doch in neuern 
Zeiten sich zuviele Waff en, welche die Vernunft unter die Bot- 
massigkeit des Widerspruchs zwingen, aus den Handen winden 
lassen, als daB wir damit drohen konten; dies giebt uns daher 

10 die Gelegenheit, von unsrer Ermanung der Heterodoxen, to- 
richter zu werden, auf Ermanung der Orthodoxen, ienen ihrer- 
seits die Bekerung zu erleichtern, iiberzugehen und sogleich mit 
Anpreisung des Mittels der Intoleranz, dessen Wirksamkeit wir 
eben in diesem Absaze vermisset, anzufangen. 

Jezt heulen die Orthodoxen unter den Wolfen; stat daB sonst 
die Heterodoxen unter den Schafen blokten. In den iezigen auf- 
geklarten Zeiten verfolgen die Toleranten dieienigen, die sonst 
in den finstern Zeiten selbst verfolgten; so wie der Jager am 
Tdgedas Wild iagt, das zu Nachts andre Tiere iagt. Also schon 

20 der Schmerz iiber das Unrecht, fiir unschadliche und noch dazu 
dumme Meinungen mit Spot gemishandelt zu werden, hatte 
nach dem Wiedervergeltungsrecht in euch friiher die Gewonheit 
auffrischen soil en, schadliche und kluge Meinungen mit andern 
als satirischen Geiseln abzutreiben. Zan um Zan, Auge um 
Auge. Allein nicht bios der neuen Intoleranz, sondern auch der 
neuen Vernunft kont ihr mit nichts als Intoleranz begegnen. 
Wie viel diese leztere gegen Aufklarung verschlagt, lert die Kir- 
chengeschichte in mer als einem Beispiel. So habt ihr es z. B. 
d[em] Kaiser zu danken, daB der iiber den 

30 Arianismus die Oberhand behalten; und sein Sabel war es, der 
aus derselben Materie eine Bildsaule, die wir nun anbeten, stat 
cines Postaments, das den Fiissen eines andern Gottes zum Sche- 
mel hatte dienen miissen, hervorgehieben. Sogar den dummen 
Meinungen falscher Religionen hilf t die Intoleranz beweisen und 
die langen Oren Spaniens hat vor der algemeinen Beschneidung 
gewis nur das Inquisizionsgericht bewart, das, fals es nicht in 



708 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Madrit, sondern in Hamburg oder Wittenberg residirte und 
nicht stat der protestantischen die katolischen Leren verfechtete, 
alles Lob verdienen wiirde. Indessen wil in unsern Tagen diese 
etwas bittere Arznei sparsam gebraucht sein: nur dieienigen 
Meinungen, die iede Schminke der Vernunft ausschliessen, mii- 
sten sich in schwarze Ungewitter zusammenziehen, so wie am 
Tafelsberg die Wolke, die bei ihrem Ursprunge in Gestalt eines 
Ochsenzugs erscheint, nach und nach in stiirmische Winde aus- 
bricht. Auch bat die algemeine Verfeinerung sogar euch schon 
zu ser nach ihrem Willen gemodelt, als daB wir euch die wilden 10 
Esel einer gewissen Provinz, die (nach Delaporte's Bericht) die 
Pferde tod beissen, zu bestandigefn] Musterfn] anempfelen 
mochten. Vielleicht raten wir zu einem oftern Gebrauch des 
kleinen Geschuzes der Intoleranz, das zwar mit weniger Lerm 
aber nicht mit geringerm Erfolg Dumheit ausbreitet. Dahin 
rechnen wir eine scharfere Zensur, die Kontumaz der Bucher, 
der Exorzismus der geistlichen Kinder. Es ist unglaublich, wie 
viel verniinftige Gedanken die Dinte guter Zensoren schon er- 
sauft; freilich war der Gaumen dieser Leute, die zur Sicherheit 
des Publikums die Bucher kosteten, an den kunstlichen Gift 20 
noch nicht gewont, dem sie nachspiiren sollen und sie waren 
von der Vernunft so ser gereinigt, daB sie Bucher davon reinig- 
ten. Jezt felet es noch mer an dummen als parteiischen Zensoren , 
in welchen lezteren iedoch nicht selten die Feindschaft gegen 
den Autor Feindschaft gegen die Vernunft erwekt und die iiber- 
haupt in den Handen der Geistlichen so niizlich werden konnen 
wie in den Handen der Ophiten (Schlangenbruder) die Schlan- 
gen, deren Zunge das Brod des Abendmals belekken muste, 
eh' es auf die Zunge der Kommunikanten kam. Als einen Teil 
der Intoleranz solten wir auch die Bucherkonfiskazion empfelen; 30 
allein sie wirkt in ihrem iezigen Zustande so ser ihrer Absicht 
zuwider, und hemt die Ausbreitung vernunftiger Schriften so 
wenig, daB wir alle Orthodoxen bitten mochten, fernerhin bo- 
sen Schriften keinen Hausarrest mer an[zu]k(indigen. Sie 
wurdejn] dadurch nicht bios vom Vorwurfe, wider Willen das 
Licht verbreitet zu haben, sicher sein, sondern auch, fals sie 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 709 

einen zweiten Schrit wagten, die Orthodoxie merklich befor- 
dern. Wie namlich? wenn sie kunftig in den catalogus librorum 
prohibitorum, dieses Buch des Lebens, in das ieder Autor seinen 
Namen geschrieben wunscht, stat verniinf tiger Bucher, die Wi- 
derlegungen derselben eintrtigen und orthodoxe Bucher, wie 
die Katholiken die Bibel, zu lesen untersagten, damit sie gelesen 
wiirden? Unser Rat scheint paradox; aber vielleicht macht eben 
dieses Paradoxe seinen Wert. Vielleicht wendet man uns ein, 
daB die Konfiskazion zwar einem guten, aber nicht einem dum- 

10 men Buche zu Lesern verhelfen konne. Allein hierauf mag die 
tagliche Erfarung antworten und dem Unwissenden sagen, daB 
schon viele freigeisterische und einfaltige Geburten, deren Na- 
belschnur und deren Lebensfaden zu Einer Zeit und mit dersel- 
ben [Schere] ware abgeschnitten worden, durch das Verbot ihrer 
Lesung mer als ein Stufeniar (Auflage) iiberlebt haben. Wir 
glauben daher, daB die Presfreiheit dem Leben der wienerischen 
Litteratur einen empfindlichen Stos versezt habe. Desto mer 
Lob verdient der Man, welcher die A. D. Bibliothek wenigstens 
schon den continuantibus gestattete, um dieLeser dieses gefarli- 

20 chen Journals zu mindern. In andrer Riiksicht gefalt uns dieses 
Verfaren durch seine lacherliche Seite. »Wer schon 40 Biichsen 
Gift erstanden, hat, um sein Geld nicht ausgegeben zu haben, 
das Recht, die iibrigen Biichsen gar zu kaufen; und da onehin 
die dikken Reichen durch das enge Nadelor der Himmelspforte 
schwerlich kommen werden, p.« 

Ehe die Orthodoxen dumme Bucher konfisziren, miissen sie 
sie machen und die verniinftigen, sobald sie sie immer verbieten, 
widerlegen konnen. Und hier stimmen wir denn in die haufigen 
Klagen iiber die algemeine Unbekantschaft mit der Polemik ein: 

30 denn wer die Eroberungen der Vernunft so wie wir ausgemes- 
sen, kan den elenden Zustand des theologischen Zeughauses 
schon auf das gewissjeste] erraten und die iezige Aufklarung 
hat die Polemik an ihren Verachtern genug geracht. Sie wieder 
bei den Orthodoxen in ihren alten Kredit einzusezen, brauchen 
wir nichts als an der Beschreibung einer polemischen Schrift 
zu zeigen, daB sie der sogenanten Vernunft besser entgegenar- 



710 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

beitet als selbst die Intoleranz. Nicht selten werden wir auch 
an den Streitschriften andrer Gelerten Anlichkeit mit den theo- 
logischen bemerken konnen. Eine polemische Schrift ist nicht 
das Werk eines ieden Kopfes und eines ieden Herzens, wie sol- 
ches der sonst nicht ungeschikte Lessing neuerlich zu seinem 
Schaden erfaren; allein an allefn] den Eigenschaften, die man 
von einem Polemiker fordert, werden wir ihre seltne Kraft ge- 
gen die Aufklarung den Orthodoxen sichtbar machen. Schon 
die Eigenschaft der Lange, auf die Polemiker wie die Generale 
bei ihren Rekruten vorziiglich achten, nur mit dem Unter- 10 
schiede, daB iene nur auf die Lange der Oren, diese aber auch 
auf die Lange des ganzen Kerls dringen, mus gegen den Verstand 
der Streiter mit einem guten Vorurteil einnemen: denn sie anli- 
chen dadurch dem Tiere, welchem selbst sein groster Feind das 
Lob eines seltnen Abscheues vor dem Denken lassen mus. Bei- 
laufig ist hieraus begreiflich, warum man die Tapferkeit der 
Polemiker und der Soldaten zu messen pflege; und es last sich 
damit der bekante Ausdruk rechtfertigen, daB die Tapferkeit 
des Polemikers A. in H. eben soviel Fus und Zolle lang sei 
wie des bekanten Dragoners G. seine vom **schen Regiment, 20 
wiewol eine genauere Untersuchung den Dragoner vielleicht 
einige Striche tapferer finden wiirde. Die zweite Regel der Pole- 
miker ist, ihr Treffen mit einem Feldgeschrei anzufangen, worin 
immer die eifrigsten Nachamer des langorichten Tiers, dessen 
Haut man auf die larmende Trommel spant, es am weitesten 
bringen. Das Feldgeschrei enthalt iibrigens abgenotigte Klagen 
iiber die Gefar der Kirche, iiber das Unheil, das die Schrift des 
H. Gegners bei schwachen Gemiitern stiften wird, iiber den 
Leichtsin des Gegners und auch Bitten, in so wichtigen Sachen 
behutsamer zu gehen und keine unreife Friichte mer zu Markte 30 
zu bringen p. Ungeachtet nun eine Tapferkeit, die bios die Oren 
verwundet, gegen herzhafte Gegner wenig verfangt, so gilt doch 
von furchtsamen der Vers, der die Wirkung der Harmonie schil- 
dert 

Toreille est le chemin du coeur; 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 711 

ia so wie ein gewisses Tier der Starke seiner Feinde nichts als 
ein unertragliches Geschrei entgegensezen kan, oder wie die si- 
kambrische Kohorte der Romer sich durch den Schal ihrer Waf- 
fen fiirchterlich gemacht hatte, so haben geschikte Kezermacher 
tiber die Vernunft mer durch das Feldgeschrei als durch das 
Treffen gesiegt und die Starke der Fauste mit der Starke der 
Kele ersezt. Noch mer betaubt dieser Kunstgrif den Leser und 
verschliest sein Or der leisern Stimme dessen, den man bekriegt. 
Sonach glauben wir auch von diesem zweiten Geseze der Streit- 

10 theologie erwiesen zu haben, daB sie den Fortgang der Aufkla- 
rung vereitele. Diese Regel ist ubrigens so wichtig, daB man 
sie in einer dritten noch tiefer einzuscharfen fur notig geachtet, 
die also heist: man schimpfe seinen Gegenpart so weit es nur 
die christliche Liebe erlauben mag; iedoch mus man die 
Schlechtheit seines Kopfes aus der Gute seines Herzens, und 
die Schlechtheit des Herzens aus der Gute des Kopfes herzuleiten 
und zu erweisen suchen. Diese Regel geht indes nicht bios theo- 
logische, sondern auch andre gelerte Streitigkeiten an; wie denn 
Verlaumdung ein solcher wichtiger Artikel der gelerten Kriegs- 

20 kunst ist, daB der beste Gelerte one sie troz seiner iibrigen Waffen 
fait und daB der schlechtere, beim Mangel des Obergewers, 
durch das blosse Untergewer, durch die zwote Trompete der 
Fama siegt, fast so wie das Stinktier seinen unbewafneten Kopf 
mit dem bewafneten Hintern beschfizt, die Zane durch den 
Harn, und Kraft durch Gestank ersezt, und den Feind, indem 
es ihn besudelt, schlagt. Ubrigens macht die Leichtigkeit, womit 
sich diese Waffe regieren last, ihren Nuzen noch algemeiner: 
denn man findet, daB gelerte Kampfer, von denen Vernunft, 
Einbildungskraft, Wiz und Warheit desertirt sind, wenigstens 

30 noch das Schimpfen in ihrer Gewalt hatten, und daB streitende 
Kopfe, die zum Unterrichte und zum Gefallen verdorben waren, 
nur desto empfindlicher beissen konten, so wie schlechtes Bier, 
das nimmer naren und berauschen kan, am besten zu Essig taugt. 
Doch scheint das Schimpfen sich fur Theologen mer zu schikken 
als fur andre Gelerte. Denn erstlich brauchen sie dasselbe gegen 
Leute, denen es am meisten schadet. So wiirde es z. B. einem 



712 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Juristen wenig oder keinen Nachteil bringen, ihn einen Athei- 
stenzu nennen; aber einen Theologen einen Sozinianer zu schel- 
ten, das fruchtet mer und entwafnet wo nicht seinen Kopf, we- 
nigstens sein Herz. Alle Gattungen der Beschuldigungen, 
namlich die falschen und die waren bringt ein Theolog mit gros- 
serm Glukke als ein andrer - die falschen, weil der aufgeklarte 
Kopf seines Gegners ieden vorgeworfen Flekken warscheinlich 
macht - die waren, weil an dem, der wenig Feler hat, ieder. 
Feler mer auffalt und daher die Pfeile der Satire mer auf sich 
zieht, so wie die weisse Farbe der Scheibe das Treffen ihres 
schwarzen Punkts erleichtert. Zweitens darum: da es den Theo- 
logen, ungeachtet sie das Salz der Erden sind, an attischen Salze 
mangelt, so haben sie vor andern Ursache, dem Leser die ein- 
schlafernde Kalte ihrer Streitschriften durch Bitterkeiten, die an 
den Wiz wenigstens erinnern, ertraglicher zu machen; aus einem 
anlichen Grunde glaubt Unzer in seinem Arzt, daB der Genus 
der bittern Kerne des Obstes seine kulenden Eigenschaften weni- 
ger schadlich machen wurde. Bei dieser Gelegenheit erlaube 
man uns anzumerken, daB ein grosser Teil von uns aus guten 
theologischen Streitschriften vielleicht mer Unterricht ge- 
schopft als aus Swift's und Pope's Schriften. Denn die Bitterkeit, 
auf welche doch der Wert und die Dauer der Satire und des 
Biers beruht, ware manchem von uns, der zum Ankauf des 
Hopfens nicht die Kasse eines Swifts besizt, unerreichbar geblie- 
ben, hatte er nicht aus Streitschriften gelernt, daB Kienrus und 
Ochsengalle, welche manche Bauern den Hopfen vertreten las- 
sen, die Bucher und den Gerstensaft eben so bitter wie der beste 
bohmische Hopfen machen konnen. Die dritte Ursache, warum 
Schimpfen den theologischen Schriften so wol last, ist eben die, 
mit der wir den Orthodoxen das Studium der Polemik anzu- 
empfelen suchen: es widerlegt den Gegner und erschwert der 
Vernunft das Siegen. Der Essig, welcher mit alien Giften anbin- 
det, entkraftet auch den Gift der Heterodoxie und verwart gegen 
ihn den Streiter und den Leser. Den Streiter - denn die Entru- 
sting verbreitet.um seine Augen, die eine gewaltsame Ofnung 
schon der Verfiirung der geschminkten Vernunft ausgesezt 



BTTTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRTKER 713 

hatte, die heilsamsten Wolken, das Herz racht sich am Kopfe, 
der immer den Willen desselben brach, durch Nachhangung 
eines Willens, den der Kopf billigen mus und der Affekt starkt 
die Uberzeugung, die der Gegner schwachte, und verpanzert 
das weichste Gehirn mit der hartesten Hirnschale und schmiedet 
Kraftlosigkeit zu Hartnakkigkeit, wie das dumste Tier, der Esel 
namlich, die hartesten Knochen hat. (Der Affekt, der die Einge- 
bungen der gesunden Vernunft kaum dulden kan, hasset noch 
mer der kranken ihre.) Den Leser - denn die iible Meinung, 

10 die man ihm vom Herzen des Gegners eingeflosset, macht ihn 
gegen den Kopf desselben so mistrauisch, daB er an den Griinden 
desselben weniger das Gewicht, als die Absicht priifet, und da 
das Herz des Menschen leichter sympatisirt als sein Kopf, so 
resdnirt ienes ortodoxe Beschimpfungen leichter als dieser hete- 
rodoxeGriinde. Kurz das Schimpfen, das ein gemassigter Eifer 
ausstost, halt von Streiter und Leser, wie das Fluchen vom Wan- 
derer, iedes Irlicht ab; daher noch kein Orthodoxer mit den 
Grundsazen seiner Gegner besudelt worden, dem das Schimpfen 
nur einigermassen gelaufig war, sondern am Ende des Streits 

20 noch immer den alten treu befunden worden. - 

Wir haben aus den Eigenschaften des Herzens eines Polemi- 
kers in der Kiirze dargetan, daB sie die besten Gegenmittel der 
iezigen Lustseuche abgeben; noch leichter wird uns dieser Er- 
weis von den Eigenschaften seines Kopfes werden. Wir wiirden 
uns, zur Ersparung dieses Erweises, auf polemische Schriften 
selbst beruffen; wenn wir hoffen durften, daB das Leben dersel- 
ben sich iiber ihren Streit verlangern konte. Allein so wie die 
Here, die der Bauer im Nordlicht, ihrem Kampus Marzius, 
kampfen sieht, mit ihrem. Schlachtfeld und friiher als die Nacht 

30 verschwinden, eben so endigen sich gelerte Kriege, die mit ieder 
kleinen Erleuchtung entstehen, mit Vergessenheit; nur eine 
kurze Zeit ruhen die Bogen, die am Tage wie die Karten gegen 
einander zu Felde flogen, zu Nachts eben wie die Karten friedlich 
in Ballen nebeneinander: denn bald vertauschen sie das Grab 
mit der Holle und den Buchladen mit dem Kaufladen, um in 
ihrem Tode noch brauchbarer zu sein als in ihrem Leben. Da 



714 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

die Waffen der Dogmatik, welche der Polemiker fiiret, iezt un- 
geniizt verrosten; so miissen wir sie vorher bekanter machen. 
Vielleicht daB man sie nur vernachlassiget, weil man ihre Kraft 
gegen die Aufklarung iibersieht. Die iezige Ausbreitung der He- 
terodoxie hat wol, ausser der Annaherung der lezten Zeiten, 
vorziiglich die Abname der Kunst, die Begriffe zu trenschiren 
d. h. zu distinguiren, zur Ursache. Wie vielen unsinnigen Mei- 
nungen hat nicht der Kaiserschnit der Distinkzion das Leben ge- 
rettet; Meinungen, die man iezt mit der Feder nicht halb so 
gut verteidigt, als man sie sonst mit dem distinguirenden Feder- 
messer yerteidigte. Sogar irrige Lersaze machte diese passau- 
ische Kunst unuberwindlich; wie viel mer ware! Schon die 
Scholastiker liessen die Material [i Jen zu ihren Systemen in 
Schneidemulen verarbeiten; Systeme, die nocht iezt so feste sind 
wie die Uberreste alter Gebaude, (die man aber eben sowenig 
wieunbewonte Schlosser demoliren. mag). Was wunder, wenn 
dem theologischen System, das vor dem scholastischen Warheit 
voraus hat, Distinkzion noch mer geholfen. (en gros, schnei- 
dende Ware) Daher das krusiusische Lergebaude, fals auch alle 
seine Stiizen aus ihren rechten Winkeln gleiteten, sich immer 
dennoch auf der unbeweglichen Stiize der Distinkzion erhalten 
wird. Solten die bestandigen Erschutterungen des or[to]doxen 
Lergebaudes kiinftighin noch zu Distinkzionen die Zuflucht zu 
nemen notigen, so mus man sich durch die monadenartige Be- 
schaffenheit eines Begriffes von seiner Zerteilung [nicht] ab- 
schrekken lassen. Denn die Zerschneidung macht aus einem Be- 
griffe, der sie nicht zu iiberleben drohte, zulezt doch noch zwei, 
so wie dasselbe mit den Polypen geschieht. »Person« und »Sub- 
stanz« sind im Grunde nur zwei Kleider fur denselben Begrif; 
allein halt nicht ieder,dem es um sein Heil zu tun ist, diesen 
Begrif wegen seiner zween Rokke fur zween Begriffe? Last sich 
damit nicht wenigstens die Vernunft iiber die Widerspruche im 
Dogma der Dreieirdgkeit zufrieden stellen! Man sieht hieraus 
daB Distinkzionen den Geistlichen noch mer niizen als den Kon- 
sistorien Ehescheidungen, die selbst eine Distinkzion rechtfertigt 
- Eine andre veraltete Waffe, welche die Dogmatik sonst der 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 715 

Polemik nachtrug, ist die Exegese. Wir wollen zwar nicht laug- 
nen, daB man in unsern Tagen fur den Kern dieser Wissenschaft 
neue Narung erdacht; allein eben darum miissen wir auch geste- 
hen, daB man dariiber die Schale derselben aus der Acht gelassen. 
Die Neuern wissen mit dem Sin der Bibel umzugehen, dieses 
wusten zwar die Alten weniger, aber dafiir gaben sie sich mer 
mit ihren Worten ab und einen einzigen biblischen Dintentrop- 
fen paraphrasirte ihr hermenevtische[s] Mikroskopium [in] eine 
Welt von Gedanken. Wir halten die Entscheidung iiber den Wert 

10 dieser entgegengesezten Verfarungsarten zuriik; indessen miis- 
sen [wir] unparteiisch gestehen, daB die Neuern, die nicht am 
Ausdruk, sondern am Sinne der Bibel kleben, den . . . anli- 
chen, die bios nach den Kerne[n] und nicht nach der siisse[n] 
Umkleidung der Kirschen trachten, daB aber die Alten den Nus- 
knakern gleichen, die die Schaleri der Niisse zerquetschen, aber 
ihren Kern nicht geniessen, oder, fals ein Nusknaker ein zu ko- 
misches Bild gewarte, dem Donner, der zwar das Urwerk zu 
Schanden richtet, allein dafiir das Gehause verschonet. Den Wert 
der seltnern Theologen, die aus einem einzigen Worte der Bibel 

20 Sy stem wel ten bilden, stellet wol eine Vergleichung mit den 
Pferden, die man Krippenbeisser nent, in ein helleres Licht: die 
Krippenbeisser und die genanten Exegeten kauen namlich nicht 
am Futter, sondern an der Krippe, worinnen es liegt; allein bei- 
den wird die Verminderung des Futters durch Wind ersezt, wo- 
mit diese Gewonheit sie aufblast, und durch Abgeschliffenheit 
der Zane, welche der Widerstand der Krippe abschleift. Natiir- 
lich daB solche Zane in der Polemik Wunder tun miissen! Man 
wird nun aus den zwo Waffen, welche die Dogmatik fur die 
Polemik schmiedet, auf dieTauglichkeit der leztern, in Riiksicht 

30 der iezigen Aufklarung einen Lichtschirm abzugeben, schliessen 
konnen. Nur noch einige Beweise,.wie geschikt die theologi- 
schen Streiter ihren Defensiv Krieg gegen die Vernunft zu fiiren 
wissen. Sie stopfen ihr den Mund durch die Anmerkung: »dieser 
Saz ist nicht wider, sondern iiber dich, und enthalt keinen Wi- 
dersin, sondern nur Nichtsin!« Auf diese Weise verdammen sie 
die Vernunft zwar nicht zum Tode, aber doch, welches nach 



7I<5 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

der neuern Jurisprudenz noch besser ist, zu einem ewigen Ge- 
fangnis. DaB diese Distinkzion zwischen Widerspruch und Un- 
begreiflichkeit die dikste Mauer gegen die rebellische Vernunft 
sei, erhellet auch daraus, weil sie sogar die noch ungereimtern 
Margen andrer Volker wider die meisten Einwiirfe zu beschiizen 
im Stande ware. In Streitschriften tut ferner die Verwirrung 
der Begriffe das beste und Ordnung niizet nur in politischen 
Kriegen. Haufiger als andre Gelerte liefern die Theologen ihre 
Schlachten, gleich den Ariern, zu Nachts; wenigstens wissen 
sie sich so zu postiren, daB sie die Sonne im Riikken haben 10 
und daher iiber ihre Feinde siegen, welche dieselbe im Gesichte 
haben. Endlich sind Sophistereien, die man selbst fur solche 
erkent, das Freikor der Polemik. Dies war uns sonst unbekant; 
und erst aus den neuern Ausfallen des H. Tellers auf H. Fedder- 
sen ersahen wir, daB Scheingrunde d. h. Scheiden one Degen, 
den Gegner zwar nicht fallen, aber doch schlagen konnen, und 
daB man gleich diesem Theologen nicht bios aus dem Dinten- 
fasse Anschwarzung auf den Gegner schiessen, sondern auch 
aus der Streusandbiichse in die Augen Sand werfen musse. Na- 
her betrachtet sollen freilich theoretische Sophister[e]ien unter 20 
uns wenigstens eben so heilig gewesen sein wie unter den ersten 
Christen praktische und wenn der Rat des Marquis de Ponds, 
den Feind mit papiernen Soldaten zu tauschen und mit der 
Schere scheinbare, wie der Schneider mit der seinigen wirkliche 
Helden hervorzuschneiden, vielleicht von seiner unfigiirlichen 
Seite einem ieden Offizier misfalt, so kan doch seine figurliche 
einem Theologen gef alien. Diese Zulassigkeit der Scheingrunde 
in der Polemik ist der deutlichste Beweis, daB man mit Streit- 
schriften die Aufklarung verhindern konne. (Wir wollen die 
schwachern Beweise als Zugabe darwiegen.) Aus diesem und 30 
den vorigen Griinden werden uns die Orthodoxen einraumen, 
daB Ochsenhdrner, welche bei den alten Kriegern nur Zierraten 
der Helme gewesen, bei Gelerten die Helme selbst sind. Mer, 
glauben wir, braucht es nicht, die Polemik bei ihnen in Gunst 
zu sezen; und die iezige Krisis des Systems wird ihnen die genan- 
ten Waffen besser anpreisen als es unsere Beredsamkeit ie zu 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 717 

tun vermochte. Soltet ihr also von den Quaker[n], die den Krieg 
verdammen, abfallen und kiinftig wider die Gewonheit der er- 
sten Christen gelerte Schlachten so liebgewinnen als politische: 
so beobachtet den in unsern vernunftigen Zeiten unentberlichen 
Kunstgrif, daB ihr wie manche Potentaten der Tapferkeit der 
Soldaten durch die Menge derselben aufzuhelfen sucht. Was 
wiirde z. B. eine einzige Piece gegen Lessingen ausgerichtet ha- 
ben? nicht die Halfte dessen, was unzalige Piecen von Magistern, 
Studenten und Fruhpredigern geschrieben ausrichteten. Ihr kont 

10 dasselbe an den Fliegen beobachten, die, zu klein das Licht wie 
ein Vorhang vom Fenster abzuhalten, bios mit oftern Stulgan- 
gen den Scheiben die Durchsichtigkeit und dem Zimmer die 
Erleuchtung rauben. Gerade so entzog audi die Menge der Per- 
ser durch unzalige Pfeile ihrem Feinde das Licht und (iberschat- 
tete ihn wenigstens damit, womit sie ihn nicht toden konten. 
Nachstdem dienet auch die Menge der Streiter zu einem Erweis 
des Argernisses, dessen Veranlassung ihr dem Gegenpart vor- 
riikken wolt. Sobald ein Heterodoxer das Glaubenslicht puzet, 
so ofnct ihr die Puzschcrc, damit ieder den Gestank des glim- 

20 menden Dochtes rieche und schliesset daraus: »H. A. hat das 
Glaubenslicht ausgeblasen, wie aus dem Gestank leicht zu erse- 
hen!« Ubrigens schazt man die Gegengriinde der Orthodoxen 
und der Konige nach dem Gewicht; ein Alphabet oder 24 Bogen 
ist ein 24 Plunder und ein einzelner Bogen eine Musquetenkugel. 
One unsre Erinnerung werdet ihr das Deutsche so schlecht 
schreiben als es euch geziemt und eure Gedanken in denselben 
Betlerrok einkleiden, worein die Einsiedler sich selbst gekleidet. 
Und zwar nicht bios der Erbauung wegen, wie diese taten, son- 
dern auch darum: der Monsame, den ihr in den Samen des 

30 Wortes Gottes mischet, hindert eure feindseligen Leser, den lez- 
tern anzugreifen, so wie man die Satkorner durch widrigen Ge- 
ruch und Geschmak gegen die Er[d]flohe verwaret. Miisset ihr 
ubrigens nicht, sobald ihr eurem Gegenpart vorwerfen wollet, 
daB er Wiz fur Griinde, Schimmer fur Licht und deutsche Spra- 
che fur deutsche Grundlichkeit verkaufe, von allem Wize rein 
sein, den ihr tadelt, und alle Verschonerung der Schreibart mei- 



71 8 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

den ia als parodirender Antipode eures Gegners die schlechten 
Griinde hinter die schlechte Schreibart verstekken und wie die 
Wilden durch ausserliche Haslichkeit einen Schlus auf innerliche 
Tapferkeit erschleichen? Daher ihr wie natiirlich die Harmonie 
des Periodenbau, die von euren theologischen Schriften so unzer- 
trenbar ist wie die Orgel vom Altar und deren sich sogar euer 
Feind Semler durch die haufige Lesung eurer Antworten schul^ 
dig gemacht, aufgeben miisset. Merere Griinde kont ihr bei den 
Presbyterianer[n] finden, die die Musik sogar aus der Kirche 
verweisen. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 719 



[Bruchstucke] 



Weisen hervorgeschmolzen, so wie aus den zusammengeflosse- 
nen Metallen des zerstorten Korinths das korinthische Erz ent- 
stand, das seine edlen Bestandteile weit ubertrift. Allein die 
Goldtinktur ist eine Universalarznei, wie das aurum potabile 
ein Universalgift; die Alchymie verleiht dem Menschen Ge- 
sundheit und Reichtum auf einmal, und vereinigt Geschenke, 
die sonst unvereinbar gewesen. Dafi die Erfindung einer Uni- 
versalarznei die ganze Arzneikunst untergraben miisse, dies 
io scheint niemand, weder ein Alchymist noch ein Arzt, geandet 
zuhaben. Und dennoch wird es nicht anders kommen, fals man 
nicht die Alchymisten selbst zur Abwendung dieses unerwarte- 
ten Ungliiks zu bereden sucht. Diese Uberredung iibernemen 
wir selbst, weil uns an dem Wol der Arzte viel gelegen ist, 
die nicht nur den Kranken, sondern auch den Satirikern niizen, 
die Hypochondrie nicht nur durch die Tugenden, sondern auch 
durch die Feler ihrer Kunst heilen und rauf die widerspanstigen 
Darmer durch das Zwergfel wirken. Wir wenden uns iezt an 
die Gotgeheiligte Bruderschaft selbst und reden sie an wie folget: 

20 Adepten! 

Das Lachen hat seine Zeit, sagt der Konig Salomo; daher la- 
chen wir mannigmal nicht. Eben iezt macht uns eine wichtige 
Sache so ernsthaft, als es sich fur Leute schikt, die mit euch 
reden wollen. Hoffentlich werdet ihr unsern iezigen Ernst unser 
gewonliches Lachen nicht entgelten lassen; da ihr ia selbst nicht 
selten den ewigen Ernst wegschmelzet und mannigmal die be- 
lacht, die euch belachen. 

Freilich anlichen wir euch wenig; ihr habt eure Kunst von 
den Engeln und wir die unsrige von dem Teufel, dem man 

30 uns wie bekant, anlich malet und ungeachtet wir mit euch Eine 
Eigenschaft des Midas teilen, so teilen wir doch die weit bessere 



720 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

nicht, Gold zu machen. Allein wenn ihr nur fur Einsicht in 
euren Wert die Erlaubnis, mit euch zu reden, schenket, so kont 
ihr uns, die wir euch schazen, one euch zu anlichen, und zu 
euren Verdienste[n] auf Kosten unsrer Eigenliebe die Augen 
aufheben, diese Erlaubnis am wenigsten verweigern. Zwar den 
Sin eurer Schriften zu fassen und also zu bewundern miisten 
wir Adepten sein; allein konnen wir darum nicht die Worte 
derselben bewundern? Ja wenn wir von euren Gedanken, wie 
von vornemen Leuten, nichts als das Kleid und nicht selten nur 
den Saum des Kleides kiissen, so lassen wir eben dem besten 10 
eurer Schriften Gerechtigkeit widerfaren: denn so vortreflich 
auch der uns verborgne Sin derselben sein mag, so wird er doch 
alzeit weit unter den noch viel schazbarern und viel mer verspre- 
chenden Worten derselben bleiben, gerade so wie, um die obige 
Vergleichung beizubehalten, ein vornemer Man die Verdienste 
seines Kopfs iiber die Verdienste seiner Kleidung zu erheben 
bei den besten Anlagen und der grosten Anstrengung vergebens 
unternemen wird; oder wie der Kopfpuz einer Dame in franzo- 
sischem Wiz iiber den Kopf derselben unendlich weit hervorra- 
gen wird. Dafi wir aber nur dem Fokus eures Tiefsins, namlich 20 
den Worten, Vererung zollen, ist eine Nachamung der verniinf- 
tigen Mode, am Menschen nur den besten Teil zu kiissen und 
daher z. B. nicht den vornemen Man, sondern sein Kleid, nicht 
den Kopf des Pabstes und der Dame, sondern den Fus des einen 
und die Hand der andern, oft nicht die schwarze Hand derselben, 
sondern ihren weissen Handschuh, seltner ihren Busen, unter 
welchem das Herz ist, als ihre Lippen, auf denen es nicht ist, 
und auf dem Bloksberg dem Teufel nicht das Gesicht, sondern 
den Hintern zu kiissen. Diesmal trugen (nach einem alten 
Sprichwort) die Sakke die Esel, und nicht wir unsre Materie. 30 

Ihr habt in dem annulus Platonis - warum nicht des Gyges? 
ob dieser annulus iibrigens vinculum oder gestamen sei, lassen 
wir vom Plato, wie Plinius vom Prometheus unentschieden - 
der Welt die Erfindung der Universalarznei angekiindigt. Besser 
kontet ihr euch um die Kranken nicht verdient machen und 
von dieser Seite leuchtet iedem der Wert eurer Erfindung ein. 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 721 

Allein eure Woltat richtet alle die zu Grunde, die zeither Kranke 
geheilet, und auf die bessere Bekantmachung eures Mittels mus 
der Sturz der ganzen Arzneikunst unvermeidlich folgen. Ein 
Ungluk, das ihr euren Milchbriidern gewis nicht wunschen und 
noch weniger zuziehen wollet. 



Die iezige Kargheit in Torheiten sol uns dennoch nicht undank- 
bar gegen die Freigebigkeit in Bosheiten machen. Freilich ge- 
wint der Teufel durch die leztern mer als wir; denn ieder lacht 
mit uns im unisonoiiber die Narren, aber vor dem Laster wiirde 

io selbst der ewiglachelnde Lamettrie die Lippen zusammenziehen. 
Die Menschen haben Recht: denn da sie ihre Torheiten taglich 
verandern, aber nicht ihre Laster, da die Hand der Mode wol 
dem Kopfe, allein nicht dem Herzen beikommen kan und das 
Weib iedem Kalender die parisischen Waff en wechselt, urn die- 
selbe eigne Niederlage zu erkampfen, so trift ihr Lacheln iiber 
Torheiten immer nur solche, gegen die sie schon neue einge- 
tauscht, und ihr Zwergfel opfert seinem Nachbar, dem Herzen, 
die Erschutterung durch die altvaterische Tracht desselben, auf. 
- So fiirt man z. B. iezt auf dem Parnas die Unsitlichkeit stat 

20 der Dumheit ein und ieder isset, fals er kein Jude ist, das Schwein 
lieber als den EseL Auch wir legen gern unser Scherbgen des 
Beifals zur algemeinen Billigung der schriftstellerischen Un- 
zuchtigkeit; nur soke man mer die groben Zoten des Englanders 
als die feinen des Franzosen nachamen. Die leztern sezt wiziger 
Reiz iiber ieden Spot hinweg. Was hilft es uns nun, wenn ein 
feiner Autor zwar der Unzucht huldigt, aber die Entblossung 
mit zuvielen Blumen (iberstreuet, und nakte Reize zwar nicht 
in Kleider, allein doch in Puz verhiillet, wie die Neuseehollander 
ihren Korper nicht bekleiden, sondern schmukken; was hilft 

30 es uns, wenn er fur deutsche Lenden erst griechische Huren 
auferwekt, die mit attischem Wiz ihre Schande wiirzen; wenn 
er zwar durch unzikhtige Gedanken fur den reichen Wollust- 
ling, allein noch mer durch ihre wizige Einkleidung fur seinen 
Rum sorget, so wie der Eichenbaum dem Schweine seine 



722 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Friichte zur Narung, und dem Verdienste die Blatter derselben 
zum Lone anbietet; wenn er wie ein anonymischer Teil unsers 
Kdrpers, oder wie das Schwein die Unreinlichkeit durch Fet 
entschuldigt. — Vielleicht macht uns sein geschiktes Spiel aus 
Zuschauern zu Schauspielern; vielleicht entmant sein Buch die 
kiinftige Nachkommenschaft - allein eben darum schazt ihn das 
deutsche Publikum desto hoher und unser Spot wiirde nur von 
ihm auf uns zuriikprallen. Uberhaupt sehen wir gar nicht ein, 
warum man das sechste Gebot nur durch Zweideutigkeiten d . h . 
nur halb bricht. Einen dummen Gedanken tischt man ganz, und 10 
eine Zote nur halb auf; soke man hierinnen den Koch nachamen 
wollen, der ebenfals den Schweinskopf halb, und den Kalbskopf 
ganz auf die Tafel bringt? Freilich mussen wir einraumen, daB 
auch brittische Zoten neulich durch einige menschenfreundliche 
Schriftsteller unter uns in einige Aufname gekommen; und man 
mus diesen wiirdigen Skribenten allerdings die seltne Geschik- 
lichkeit eingestehen, womit sie ihren Herzen die Weichheit und 
den Schmuz des Kots zugleich mitteilten, und die Vorsichtig- 
keit, wodurch sie den Harn mit Tranen veredelten und womit 
sie die doppelten geistigen Zeugungsglieder, die sie mit mereren 20 
Insekten gemein haben, so benuzten, daB sie mit dem einen 
zwar lunarische Oden, aber doch mit den andern gereimte Zo- 
ten, mit dem einen den Geist, mit dem andern den Korper des- 
selben schufen. Allein dem alien ungeachtet sind immer noch 
unter uns die Bucher leider selten, wodurch man sich den Besuch 
des Bordels, wie durch Postillen den Besuch der Kirche, erspa- 
ren konte; selten liefern uns die Romane Heldinnen, mit denen 
die Einbildungskraft huren konte, so wie iener Jungling eine 
weibliche Bildsaule des Praxiteles umarmte und unsre Schonen 
haben nur ser selten Gelegenheit, auf ihren Wangen die Rote, 30 
die sich zur Ausiibung gewisser getaner Sachen nicht schikt, 
bei Beschreibung derselben anzubringen. Diese algemeine 
Zuchtigkeit ist desto unerklarbarer, da manche Vater das Gebot 
(ibertreten, welches ihre geistigen Kinder halten. Sie solten doch 
wenigstens die Huren malen, um sie zu bezalen; so wie umgekert 
- verzeiht das spielende Gleichnis! - hinge Maler die Venus beza- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 723 

len, urn sie zu malen. An dem Aufkommen grober Zoten ist 
uns nur darum soviel gelegen, weil wir Satiriker uberhaupt den 
Schmuz gern fur Spot verkaufen; und manche von uns gleichen 
den Hirschen, die, nach den Jagern, die Galle unter dem 
Schwanze tragen. Selbst Swift ist hierin unser Vorbild; wenig- 
stens zog er oft ein feines und ein grobes Hemd zugleich an. 
Wir wissen zum Beweis, wie gut schmuzige Zweideutigkeiten 
alle iibrigen satirischen Erfor[der]nisse ersezen, nichts bessers 
als das Beispiel unsers vortreflichen Kollegen, des Kusters von 

10 Rummelsburg, anzufiiren, der, one die geringste Anlage zur 
Satire, schon etliche satirische Alphabete geschrieben, die iede 
Lesgeselschaft halt. Nur seine Zoten haben ihm eine Bewunde- 
rung erobert, deren Grosse nur durch den seltnen Schmuz ge- 
rechtfertigt wird. Dieser Kollege schlagt, one Bedenken, so- 
gleich die Vorhange vom leidenden Bette auseinander und zeigt 
den Augen der Geselschaft den Gegenstand ihrer Oren. An ihm 
ist wie an dem Pytagoras, kein Glied golden als der Hintere, 
in den er sein hasliches Gesicht verlarvt. Dieses alles hat schon 
Aristoteles gesagt: denn er bemerkt, daB den Tieren mit Stacheln 

20 am Hintern, vorne Zane felen. - Auch von der Abstellung unsrer 
Klage iiber den Eintrag, den die Unziichtigkeit der Dumheit 
tut, kan das Beispiel ienes Autors die Moglichkeit erweisen, 
Ungeachtet iede Seite eine Zote aufzeigen kan, so weis er auf 
ieder der Vernunft auf eine bewundernswiirdige Art auszuwei- 
chen, und er last uns in der ihm rumlichen Ungewisheit, ob 
sein Kopf oder sein Herz schlechter ist. - Allein auch schon 
in altern Zeiten waren die Esel dem Priapus mit geweihet und 
unsre Schuster nahen ia die Ochsenhaut mit Schweinsharen zu- 
sammen. - Die Zote eines Dummen ist das Orenschmalz eines 

30 langen Ores. Allein demallen[un]geachtet sahen wir es lieber, 
ihr Autoren, wenn ihr minder unziichtig und dafiir ein wenig 
dummer schriebet. Seht auch die Buchbinder nemen zum Ein- 
bande eurer Werke seltner Schweinsleder als Schafleder. 



724 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Vielleicht seid ihr wol zu bescheiden, das Publikum mit blossen 
Werken eurer Erholung belastigen zu wollen; vielleicht zu stolz, 
eure Ergiessungen des Herzens durch kalte Richter besichtigen 
zu lassen und das, was das Lob der bessern Nachwelt verdient, 
dem Tadel der schlechtern Mitwelt Preis zu geben; zu stolz, 
zu schreiben, weil so viele schreiben - auf alle diese Griinde 
haben wir keine Antwort; allein sie rechtfertigen euch nur, wenn 
ihr nichts drukken lasset, nicht aber wenn ihr nichts schreibt. 
Miisset ihr denn fur das geheime Gemach und den Kramladen 
bios drukken lassen; kont ihr nicht wenigstens fur sie schreiben? 10 
Unser Rat war' also der: verkauft eure Manuskripte nur dan 
erst an Verleger, wenn sie der Kaufman, der Koch, das Herings- 
weib nicht angenommen. Diese Neuerung wiirde dem erstern 
das Vergniigen gewaren, seltner betrogen zu werden; den an- 
dern die Bequemlichkeit, nie gedrukter Makulatur zu bediirfen 
und nie der geschriebnen zu ermarige[l]n, und euch den Stolz, 
der Welt genuzt [zu] haben, one getadelt zu werden. Ja diese 
Neuerung ware einer noch grossern Erweiterung fahig: denn 
wen[n] man z. B. einer Schonen ihre gereimte Lobrede in der 
Handschrift iiberreichte, so wiirde sie sie bemizen konnen, 20 
nachdem sie sie gelesen und derselbe konte die Hare, die er 
gelobt, so lange bilden helfen, bis die poetischen Blumen papier- 
nen oder seidnen weichen miissen. Und wie bequem ware es 
nicht, wenn dasselbe Manuskript, dessen Vorlesen den freund- 
schaftlichen Zirkel aufgemuntert, auch die Fidibus ersparen 
halfe und Weihrauch und Tobaksrauch zugleich aushauchte 
und auch solche Kopfe erwarmte, die aus Merschaum beste- 
hen. 

Da wir uns von unsrer Bitte an die Schriftsteller wenig Wir- 
kung versprechen konnen, so solten wir uns iezt an die Verleger 30 
wenden, welcheder schriftstellerischen Unfruchtbarkeit von ie- 
her die Nesteln zu losen am besten gewust. Allein wir tun diese 
Bitte nicht, weil wir sie - schon getan haben, ia was noch mer 
ist, weil sie schon halb erfult worden. Folgendes ist der Schliissel 
zu diesem franzosischen Schlos. Ungefar vor zehn Jaren war 
der Mangel unniizer und eintraglicher Biicher auf Kosten unse- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 725 

rer Lustigkeit aufs hochste gestiegen und alle Tage kamen uns 
Klagen dariiber von Kramern, von Rezensenten, von miissigen 
Reichen, von Weibern und von Satirikern zu Oren. Einem unse- 
rer Mitbriider trugen wir die Abhelfung dieses Mangels auf, 
welcher vor einiger Zeit mit Tod abgegangen. Zu diesem Be- 
hufe zeigte er in einem Sendschreiben an alle deutsche Verleger, 
dessen Verfertigung ihm ein bertimter reicher Buchhandler, 
dem wirhiemitoffentlichgedankthaben wollen, durch die Mit- 
teilung seiner vielfaltigen Erfarungen unendlich erleichterte, i) 

10 daB ein verniinftiger Buchhandler sich fur den Mangel guter 
Biicher nur durch schlechte wenigstens entschadigen konne, 2) 
dafi die Vermerung der schlechten Biicher noch in den Kraften 
iedes geschikten Verlegers stehe. In der ersten Halfte seines 
Sendschreibens, in welcher er eine mer als gemeine Kentnis des 
Buchhandels verrat, zeigt er den Verlegern aus guten Griinden, 
daB ein Verleger nicht nur ein gutes Buch einem schlechten 
nicht vorziehen sondern auch nachsezen miisse; denn die Erbau- 
ung und die Aufklarung, die das gute vor dem schlechten voraus 
habe, gehore nicht zur Absicht des Verlegers, der als Kaufman 

20 nur Bereicherung suche, und als Mensch auf seinen Beutel mer 
als auf seinen Kopf und sein Herz bedacht sei; welches leztere 
er mit den Beispielen verschiedner Verleger erweiset, deren 
Dumheit und Bosheit er als bekant annam. Zum Beweis, wie 
wenig Profit aber ein gutes Buch abwerfen konne, flirt er den 
Gaumen und den Magen des Publikums an, welche sich von 
den schlechten Schriften, an die sie sich seit der Entstehung der 
deutschen Litteratur einmal gewonet, unmoglich abbringen 
liessen, da die Lesung eines guten Buches das Gedachtnis, den 
Verstand, und die iibrigen Selenkrafte auf eine unangeneme 

30 Weise anstrengt: ia er fordert endlich ieden Verleger auf, ihm 
unter den Schonen, die nun, als ein neuer und grosser Teil des 
lesenden Publikums, doch auch eine Stimme haben und ein 
Buch eben so gut als einen Kopfpuz rezensieren konnen, dieie- 
nige zu zeigen, welche eine philosophische Abhandlung z. B. 
den Agathon lieberlase als einen Roman. Den Abgang derieni- 
gen schlechten Biicher, die das Herz verderben, sezt er als erwie- 



726 JUGENDWERKE ■ 3. ABTETLUNG 

sen voraus und merkt nur dabei an, dafi sogar heilige und alte 
Frauenzimmer unzuchtige Schriften und sogar heilige Priester 
pasquillantische mit grossem Vergniigen lesen; und beruhigt 
im Vorbeigehen das Gewissen einiger Verleger iiber den Verlag 
solcher Schriften, indem er ser gut erinnert, daB das Gewissen 
sich gar nicht in Handlungssachen mischen musse und daB es 
zwar in der Kirche, aber nicht im Komtoir predigen diirfe, wo- 
bei er auf das Beispiel des grossern Teils der Verleger und Kauf- 
leute sich kun beruft, daB unzuchtige Schriften fur einen gewis- 
senhaftern Buchhandler immer zehn kaufmannische finden i 
wiirdefn] und es also toricht ware, einem andern die Ausbrei- 
tung des Giftes und den Gewin zuzuschanzen, daB man endlich 
den Himmel den Verlag unziichtiger Bucher iiber den Verlag 
dummer verschmerzen machen konne und uberhaupt sich auf 
das lerende Beispiel der Obrigkeit verlasse[n] musse, deren zar- 
tes Gewissen nie die Konfiskazion unkeuscher Schriften, aber 
desto eifriger die Konfiskazion verniinftiger fur notig findet. 
Endlich nent er einige Verleger mit Namen, welche sich von 
dem Schaden, den ihnen der Verlag vortreflicher Schriften zu- 
gezogen, durch den Verlag elender erholet; so wie, sezt er nicht 20 
unwizig hinzu, iener Grosse zur Zeit des spanischen Sukzes- 
sionskriegs durch Goldminen arm und durch Hospitaler reich 
ge word en. Nachdem er in der ersten Halfte den Nuzen schlech- 
ter Bucher erwiesen, so schlagt er alien Buchhandlern alte und 
neue Mittel [vor], sie zu vermeren. Vorher entlarvt er den 
scheinbaren Einwurf , daB die Menge elender Bucher ihren Wert 
verringern wiirde. »Nicht im geringsten! antwortet er mit vie- 
lem Bedacht: denn ieder Vielschreiber findet auch einen Vielle- 
ser, und wenn man alle Bucher lieset, so wiirde man unbillig 
handeln, iiber die Menge derselben zu klagen, und den Feler 30 
[der] Agypter begehen, die die Heuschrekken aufspeisen und 
demungeachtet ihre Anzal schelten. Und sobald man bedenkt, 
daB in unsern Tagen ieder Bucher lieset, und die Blinden sie 
wenigstens horen, daB das lesende Publikum eine neue Verstar- 
kung durch den Pobel, durch Jungemagde, Kutscher, Kinder 
und Weiber gewonnen, so wird man eingestehen, daB der 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 727 

schlechten Biicher nie zuviele werden konnen, sondern daB die 
Zal der schlechten Schriftsteller vielmer mit der Zal der schlech- 
ten Leser wachsen miisse.« Die Widerlegung schliest er mit der 
Anfiirung einer Stelle aus Sturzens Schriften, der mit ihm glei- 
cher Meinung ist. Von den Mitteln, von welchen er die Verme- 
rung schlechter Schriften rumet, wollen wir nur einige anzeigen; 
die iibrigen kan ein wisbegieriger Leser vom ersten besten 
Buchhandler erfaren. Die Lenden unsrer Vorfaren, sagt er denn 
erstlich, hinterliessen uns mancheMisgeburten; allein der Staub, 

10 der ihre Zerstaubung bedekt und verursacht, entzieht sie der 
Lesung, Aus diesem Staube grabt sie nun ein fundirter Verleger 
hervor; allein er mus, da das Publikum die Schlechtheit nur 
an neuen Biichern schazt, den Beweis der Antikheit, den das- 
selbe bei den Biichern, wie Winkelman bei den Figuren, aus 
dem Kopfenimt, vorher weg[g]ekopfet und mit einem selbster- 
fundnen ersezet haben, eh 1 er auf der leipziger Messe die Misge- 
burt bekanter macht, so wie Nero die alten Statiien, die er ent- 
haupten lassen, mit seinem eignen Haupte kronte. Er sezt hinzu, 
daB ein Verleger dasselbe Buch von einem vornemen Titel zu 

20 dem andern erheben konne, ie nachdem der lunarische Wechsel 
der Mode die Hiite zuschneidet, unter denen schlechte Biicher 
und Kopfe gefallen; worin er vorziiglich das Beispiel ienes Hof- 
mans anpreist, der das Haupt eines Bildes seines verstorbnen 
Monarchen nach dem Tode desselben von dem Maler, um fur 
das Bild des Nachfolgers , iiberwischen und dem ver- 

storbnen Rumpf einen lebenden Kopf einimpfen lies. Doch, 
sagte er, darf ein Verleger nicht bios alte Biicher durch gef allende 
Titel zu guten schminken; vielmer last sich aus seiner Anlichkeit 
mit den Hebammen erweisen, daB die Form des Kopfes von 

30 einem neugebornen Buche halb auf seine schopferischen Hande 
ankomme. Hierauf macht er die wichtige Anmerkung, daB de- 
nen alten Misgeburten, an denen sich die Vater neuer versehen, 
mit der Umanderung des Titels ein schlechter Gefallen geschahe; 
vielmer wurde ihr alter Taufschein fur das Rekommendazions- 
schreiben gelten konnen; sie miissen also troz der Mode ihren 
Nam en one Reformazion schreiben, gleich gewissen Edelleuten, 



728 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

die sich noch Hans schreiben, ungeachtet ieder iezt Johan 
schreibt. Er fiirt zum Beispiel die Schriften von Jakob Bohme, 
von Eulenspiegel, von Alchymisten, und Robinsonen an, die ein 
geschikter Verleger beileibe nicht wie andre schlechte Biicher 
wiedertaufen diirfe: denn eben ihrem Titelblat miisse' das Publi- 
kum die Bewunderung verabfolgen lassen, auf die die iezigen 
beliebten Autoren schon durch gliikliche Nachamungen pranu- 
merirt. Beilaufig anzumerken, diesen Wink haben die Verleger 
so gluklich benuzt, daB ihnen die Herausgabe der genanten 
schlechten Biicher vielen Beifal und Absaz eingetragen. Nun 10 
komt er auf ein andres Mittel, in dessen Anpreisung seine Bered- 
samkeit bergunter zu stromen scheint. Die schlechten Biicher 
zu vermeren, fangt er an, mus man die belletrischen amsiger 
vermeren, deren Multiplikazion man zeither iiber die Multipli- 
kazion der theologischen vergas. Aus einer genauen Zergliede- 
rung der poetischen Vogel entwikkelt er vorher die Vorziige, 
mit denen sie den vierfiissigen Tieren den Rang ablaufen und 
die der yanende Pelikan vor dem yanenden Esel voraushat; und 
da bringt er denn heraus, daB die Ursache, warum Gedichtc 
heutzutage die Augen aller Leser, nicht bios derer, die nicht 20 
sehen, sondern nur horen, auf sich lenkefn] und warum selbst 
ernsthafte Doktoren die Lesung der Dichter nicht unter der 
Wiirde ihres Hutes halten, gleich den vorigen pedantischen Ga- 
sten (im figurlichen und unfigiirlichen Sinne) , die die Vorlegung 
eines Fltigels fiir eine Beleidigung aufnamen, in der wolklingen- 
denGedankenlosigkeit der Dichter liege, die dem Leser das Ver- 
gniigen der eignen Anstrengung um ein leichtes verschaffe, und 
in den wiirzigen Ingredienzen, womit er den Geschmak seiner 
Hirnwurst hebt; hieraus erklart er ungemein deutlich, warum 
schwache Frauenzimmerkelen lieber einen Pelikan akkompag- 30 
niren als einen Esel, deren Gunst der Kanarienvogel nicht selten 
dem Schoshund streitig macht. Zur leichtern Absezung dieser 
Gattung von schlechten Biichern empfielt er ausser der Kleinheit 
ihrer Schale, an der man wie an Uren die Grosse zu lieben aufge- 
hort, vorzuglich ihren Ausflug auf das neue Jar, weil alsdan 
die verschleierte Natur nicht mit den dichterischen Silhouetten 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 729 

derselben konne zusammengehalten werden, weil es Vergniigen 
mache im Winter, der gleich dem Plato, mit seinem scharfen 
Pfeifen alles iibrige Gepfeife verbant, den Zaunkonig und den 
Dichter zu horen, dessen Fingern keine andre Kalte als die vom 
Ofen umsonst bekampfte Kalte des Alters das poetische'Orgel- 
spielen erschweren kan; weil es ferner ser anomalisch gehandelt 
ware, den erwachsnen Kindern die Weihnachtsspielereien erst 
auf die Ostermesse zu bescheren, und weil man endlich die poe- 
tischen Almanache, die nicht erst seit der Zeit, da sie mit den 

10 astronomischen den Namen geteilet, auch das Schiksal teilten, 
nur wie Archonten und Planeten ein Jar zu regieren, iarlich ge- 
rade wie Kalender one eine andre Veranderung als der Jarszal, 
gewisser Tage und der Son- und Mondfinsternisse kan abdruk- 
ken lassen. Er legt den Buchh[andlern] vorzuglich die merkanti- 
lische Vortreflichkeit der Romane naher, die so leicht zu schrei- 
ben sind, daB sie ieder lesen kan, weil man, nach der Vorschrift 
des Versuchs tiber den Roman, von Blankenburg, die Hauptsa- 
che, namlich die Karaktere bios aus der Luft zu greifen notig 
hat, so wie auch die Manner nach einigen Naturkundigern, die 

20 Keime der Menschen aus der Luft auffangen und ihre Nach- 
kommenschaft in die Lenden einatmen. »Da nun, sezt er mit 
Recht hinzu, Romanenschreiber gleich den Merschweinen viel 
harnen konnen one viel getrunken (d. h. gelesen) zu haben, so 
sen' ich nicht ein, wie mancher Buchhandler Gelersamkeit mit 
zu den Erford[er]nissen eines solchen Autors, der diese unnotige 
Eigenschaft im Honorarium demungeachtet hoch anrechnet, 
zalen, und von dem Gebrauche der iibrigen, immer den unwis- 
sendsten zu walen, so unbedachtsam sich entfernen konnen; 
welches Vorurteil gewis der Vermerung der Romane mit pha- 

30 raonischer Grausamkeit zeither im Wege gestanden. « Auch hier 
miissen wir dankbar anerkennen , daB man iezt von diesem Vor- 
urteil und folglich auch von seinen Verwiistungen sich losge- 
wunden und daB uberhaupt unsre iezigen Zeichner der Men- 
schen den Namen Gewandermaler in vieler Riiksicht verdienen, 
da sie nicht mer Got, sondern dem Schneider nachschaffen und 
stat der Korper Kleider malen. Um auch die schlechten Biicher 



73° JUGENDWERKE • 3, ABTEILUNG 

andrer Wissenschaften zu vermeren, braucht man, sagt er, nur 
einen neuen Format und einen neuen Titel fur die Wiederholung 
des Gesagten auszusinnen. Zu diesem neuen Format und diesem 
neuen Titel notige aber mer die Nascherei der Kaufer, die an 
steinalten Warheiten das Jugendrot der neuen wenigstens durch 
Schmmke ersezet lesen wollen, als die Notwendigkeit der Sache, 
da ia eben die Repetizion die Mutter solcher Bucher ist. Nach- 
dem er zur Ausfullung dieser Bande ein kleines Verzeichnis der 
Warheiten, die ihre Geburt gleich dem Fo achttausendmal wie- 
derholet und gleich eben diesem Heiligen ihre Poststazionen 10 
durch alle gelerte Tiere gemacht, nebst einem andern aus Meu- 
sels gelerten Deutschland distillirten Verzeichnis der wenigen 
Gelerten geliefert, die zu den schazbarern Repetiruven gehoren, 
so schlagt [er] unter andern Masken dieser Wiederholung auch 
die Alman[a]che vor, die sich in der Erreichung der Schlechtheit 
auf die tiefen Fusstapfen der poetischen verlassen konnen. Den 
Samen zu diesem leztern Vorschlage legte in ihm warscheinlich 
der Rat eines Gelertejn] im D. Museum, die Kalender zu Schul- 
bucherfn] der Ungelerten (oder deutlicher: derer, die Studenten 
und Autoren sind) zu machen. Genug! daB die Buchhandler 20 
und selbst die Schriftsteller diesem Rat vor andern die Befolgung 
schenkten und die astronomischen Platten zum Prasentirteller 
aller Wissenschaften machten. »Wennihrnun, redet unser Autor 
die Verleger an, von Einer Wissenschaft schlechte Bucher zur 
Welt befordert habt, so miisset ihr, anstat euch an diese schein- 
bare Erschopfung zu keren, die Kombinazionskunst zu Hulfe 
ruffen und verschiedne Wissenschaften in dieselben Bucher zu- 
sammengiessen, in deren Benennung euch unser Reichtum an 
>Magazin<, >}arbiicher<, >Samlung<, >Journal<, >Tagebiicher<, 
>Auszug< die notige Abwechselung anbietet. In solchen Biichern 30 
mus, ungeachtet die Kerne immer dieselben bleiben konnen, 
den Schalen die Mannigfaltigkeit angedrechselt werden, die man 
in der Musik unter dem Nam en variatio schazet. Damit nun 
so ein Buch gleich der Arche Noa, der Gasthof alles Lebendigen, 
und von der gelerten, wie der Mensch von der natiirlichen Welt, 
der microcosmus oder, da in der gelerten alles sich um Einklei- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 731 

dung drehet, ein [?] microvestis werde, braucht ihr nichts zu 
tun als bald gelbe versteinerte Dime von einem alten Dintenfasse 
abzuschaben, bald das Fet, das die Lichter der Welt [?] in den 
Leuchter rinnen liessen, zusammenzukrazen, bald aus den Ver- 
sa mlungszim me rn von Studenten den Tobakspeichel und das 
verschiittete Bier in eure Kanale zu lenken, bald das Yanen einer 
Herde von Gedanken durch das Wiehern eines einzigen Motto 
anzukiindigen, bald eine Zervelatwurst aufzutischen, wozu die 
farende Post das frankirte Rindfleisch, die reitende den Pfeffer 

io und Salz, die Landkutsche den Spek und eine Extrapost das 
Eselsfleisch gefaren gebracht, bald gar wie die Buchbinder, das 
Buch mit lerem Papier zu durchschiessen, auf dem seiner Lerheit 
unbeschadet, immer weitgedrukte sinlose und Singedichte ste- 
hen konnen, bald Gedanken, unter deren Taufschein der Verfas- 
ser sich Robert et Kompagnie unterschreiben soke und deren 
Etymologie ins Altertum mkwarts geht, zu adoptiren, bald das 
Buch durch Aufname freundschaftlicher Ergiessungen zu einem 
gedrukten Stambuche zu machen, bald Anekdoten einzuschal- 
ten und Avertissements und Errata und Vacat. Hatten endlich 

20 solche Samlungen alle Wissenschaften erschopft, so bleibt euch 
noch die hinreichende Zuflucht iibrig, aus Samlungen zu sam- 
len.« Unser Autor - man verzeihe uns die unentberliche Weit- 
laufigkeit in diesem Auszuge, die man nun gleich wird iiberstan- 
den haben - rechnet unter schlechte Schrift[en] mit Recht die 
Journale und giebt, da nicht iedem die Verschlechterung dersel- 
ben gelaufig sein mochte, die Bedingungen an, an denen sie 
sich auf die tiefste Staffel der Schlechtheit ganz sicher herunter- 
lassen konnen. Die Erfiillung dieser Bedingungen erspart uns 
die Anfurung derselben und die Muster die Regeln. Nur konnen 

30 wir einem Gleichnis, das gegen die Natur andrer Gleichnisse 
eine Demonstrazion ser gut spielen konte, das Gastfreund- 
schaftsrecht auf ein par Tropfen Dinte und ein wenig Papier 
nicht verweigern: eine Geselschaft Rezensenten, die auf erhab- 
nen Stokwerken horsten, die der Verleger heget, und die entwe- 
der auf den felerhaften Oberflus guter oder auf die felerhafte 
Kraftlosigkeit schlechter Autoren herunterschiessen, last sich 



732 JUGENDWERKE ' 3.ABTEILUNG 

nicht wiirdiger beschreiben und anpreisen als in einer Verglei- 
chung mit einer Stube vol Kreuzspinnen, die ein Freund der 
Seide und ein Feind der Seidenwiirmer zusammengefangen, die 
die Dekke in die seidne Fruchtbarkeit ihres Hintern kleiden, 
und die an einem Faden auf ihre Narung von blutigen Vogelfe- 
dern oder ganzen Fliegen (denen sie ihr weniges Blut abzapfen) 
heruntersinken. Aus Mistrauen gegen die angezeigten Mittel, 
die schlechten Biicher zu vermeren, schliest er ihr Verzeichnis 
mit dem wirksamsten, nicht bios schlechte zu schreiben sondern 
auch zu (ibersezen und die deutsche Dumheit mit auslandischer 
zu fiittem. Er wiinscht Deutschland zu seinen Ubersezungsma- 
nufakturen Gliik und zeigt nicht nur, daB es one diese nicht 
einmal den iezigen Schaz von schlechten Buchern wurde auf- 
weisen konne[n], sondern er schreibt den Ubersezungen auf ein- 
mal ausser Vermerung auch Verschlechterung der schlechten 
Biicher zu, Ein deutscher Autor kan uns nichts schenken, als 
einen Esel, der die Lowenhaut des alten Adams noch nicht aus- 
gezogen; allein der Esel eines auslandischen, den seine Lands- 
leute noch mit einer langen Mane in der Nachbarschaft der lan- 
gen Oren bekommen, gerat uns, von dem Ubersezer 
wiedergeboren, one die auslandische Lowenhaut und mit einer 
neuen Eselshaut in die priifenden Hande, und die Leser, die sich 
mit einem auslandischen Autor nicht in einem tete-a-tete unter- 
halten konnen, gewinnen den betrachtlichen Vorteil, den arm en 
Laplander[n] zu gleichen, welche den Saft der Erdschwam- 
me, die sie sich nicht kaufen konnen, unter der Gestalt des 
Urins von denen auffangen, die ihn getrunken. Endlich schliest 
unser Autor sein ganzes Sendschreiben mit einer ernstlichen und 
beinahe riirenden Bitte an alle deutsche Verleger, seinen fur den 
Handel so wichtigen Vorschlag unparteiisch zu beherzigen, 
seine zur Vermerung der schlechten Biicher angeratnen Mittel 
dem sichern Probierstein der Erfarung zu unterwerfen und die 
ganze Sache mit Zuziehung der armstenund reichsten, der iiing- 
sten und altesten unter den Gelerten zu einiger Volkommenheit 
zu treiben. Leider erlebte er die Erfiillung seiner Bitte nicht; 
aber wir erlebten sie und miissen daher, an seiner stat, den Her- 



BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 733 

ren Buchhandlern das riimliche Zeugnis vor dem ganzen Publi- 
kum erteilen, daft sieihre Affenliebe gegen gute und ungangbare 
Biicher endlich faren lassen, daB sie zur Vermerung der schlech- 
ten Biicher besonders in Ruksicht der belletristen und haupt- 
sachlich der Romane weder Brief e noch Kosten gesparet, daft 
sie alle Arten von Almanachen, alle Gattungen von Samlungen 
selbst schon von Samlungen aus Samlungen muhsam veranstal- 
tet ia unter eignem und f rem den Namen iibertrieben angeprie- 
sen, one von alien ihren Bemuhungen das geringste mer hoffen 

10 zu [konnen] als etwan etwas Geld, und daB sie in der Vermerung 
der schlechten Zeitungen sogar die Fruchtbarkeit der Schrift- 
steller an schlechten Buchern hinter sich gelassen, so daft es nun 
merere Radir- als Federmesser giebt. 

Sobald sich Autoren zur Schopfung, und Verleger zur Erhal- 
tung schlechter Biicher verstehen; so mussen sich auch die Leser 
zur Lesung, wenigstens zur Bezalung derselben verstehen. Sie 
dazu anzulokken, braucht man eben keinen neuen Koder auszu- 
sinnen; sondern man kan noch immer den krummenden und 
kriechenden Wurm an die Angel stekken, der die Leser von 

20 ieher gelokt und von ieher betrogen. Unter den Mitteln, 
schlechte Biicher an Manner zu bringen, scheint namlich eine 
gute Ankiindigung sich immer am meisten hervorzutun. Den 
Gebrauch dieses Mittels anzupreisen iiberlassen wir dem, der 
ihn leren wird. Es ist aber dieses Herr G. C. A-z, ein verdienter 
Satiriker, der zum Besten derer, die das Publikum mit elenden 
Buchern zu hintergehen wiinschen, ein Buch iiber die Kunst, 
Ankiindigungen zu machen, unter der Feder hat, um es auf 
Pranumerazion herauszugeben. Die Ankiindigung sezen wir als 
ein Muster in ihrer Art und zur Ausfullung des Raums hieher. 



30 »Wieder eine Ankiindigung, liebes Publikum! Aber du must 
nicht hinzusezen leider! sondern mit mir ausrufen Gotlob! Denn 
der guten Ankiindigungen sind iezt noch nicht so viele, daB 
die meinige entberlich ware; und die Kunst, sie zu verfertigen, 
ist noch nicht so bekant, daB ein Lermeister entberlich ware. 



734 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Unsre guten Ankiindigungen sind noch iiberdies so in den Post- 
skripten der Journale p. zerstreuet, daB die wenigen Muster, 
die das Lineal der Regeln vertreten konten, erst auf die Hand 
eines Samlers warten, bevor sie niizen konnen. Der Wert dieser 
Kunst hat iibrigens die Stimme des bessern Teils des Publikums 
fur sich. Dieser betrachtliche Ast der Litteratur, aus dem die 
arbeitsamen Deutschen in zehn Jaren so schone Zweige und 
Bliiten gelokt, hat daher auch auf eine fortgesezte Pflege ein 
unlaugbares Recht* Auf die Kultivierung dieses Asts hab' ich 
nun den besten Teil meines Lebens gewand und, wenn ich nicht 10 
alien Beifal meiner Freunde auf die Rechnung ihrer Liebe schrei- 
ben sol, vielleicht nicht one Erfolg gewand. Freilich daB der 
Mangel der Vorganger die Feltritte vervielfaltigen muste; allein 
ich bin auch schon mit der Ere zufrieden, die Ban gebrochen 
zu haben, und begebe mich willig des Rums derer, die sie pfla- 
stern werden. Indessen [abgebrochen] 



[EINE ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059 

OBER DEN MECHANISCHEN WITZ 

DES 18. JAHRHUNDERTS] 



NACHRICHT 2UM NACHSTEHENDEN [AlJFSAZ] 



^ Zu dem Manuskripte, das ichhier mitteile, kam ich im Traume 
folgender mas sen. Ich war (iber die bekanten Aussichten in die 
Ewigkeit kaum eingeschlummert, als ich im Jar 3059 n. C. G, 
eine Reise nach Konstantinopel unternam, um auf der Universi- 
tatsbibliothek daselbst, die beinahe an iedem Schalttag of fen 

10 stand, wegen eines gewissen seltnen deutschen Buches aus dem 
achtzehnten Jarhundert zu fragen. Es fand sich dasselbe zwar 
nicht, ungeachtet der Bibliothekar (was bei dergleichen Leuten 
eine seltne Tugend ist) mit der sichtbarsten Geduld darnach 
suchte; allein dafiir entschadigte mich die Bekantschaft volkom- 
men, in die ich mit diesem Manne, eben dem Verfasser der 
folgenden Abhandlung, geriet und die ich mit ihm bis an mein 
Ende unterhalten werde. Wir wurden bald so vertraulich, daB 
wir einander mit unsern Erfindungen unterhielten. Fiir ein be- 
sonders Zeichen seiner warmern Freundschaft nem' ich die Vor- 

20 lesung des folgenden historischkritischen Aufsazes an; zumal 
da er ihn nach einem gewissen Zufal dem Publikum auf immer 
zu entziehen gesonnen ist. Ich kan auch den Zufal one Nachteil 
meines Freundes wol nennen: er hatte seinen Aufsaz fiir das 
konstantinopolitanische Museum (eine Vierteliarsschrift) einge- 
sendet; allein man gab ihm denselben wieder zuriik, weil ihm 
aus Versehen einige Winke auf ein Honorarium entfuren. Ich 
trostete ihn dariiber dadurch (und das Publikum sage selbst, 
ob ich unrecht habe) indem ich ihm vorstelte, dafi die Samler 
des Museums wenn sie unparteiisch handeln wolten, vor seinem 



73 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

bessern aber teueren Aufsaze dem schlechtern aber geschenkten 
den Vorzugbescheiden musten: denn das Obergewicht, das sein 
abgewiesner vor dem fremden eingeriikten solange als sie fur 
Einen Preis kamen allerdings behauptete, miisse sich in dem 
Masse vermindern als der Geldpreis des erstern stiege; ich gab 
ihm zu bedenken, ob er nicht selbst des entschiednen Vorzugs 
vom Wert ungeachtet, den das Pferd vor dem Esel voraus hat, 
doch dem leztern, wenn er ihn umsonst bekame, vor dem er- 
stern, wenn er es teuer oder auch wolfeil kaufen miiste, das 
Schnupftuch zuwerfen wiirde: Vorschlag, einen schlechten 10 
Aufsaz one Honorar und einen guten mit [Honorar] hinzuschik- 
ken; wiirde ihn mit dem Geschmak und der Unparteilichkeit 
aussonen. 

Vom Danke des Publikums fur diese schazbare Abhandlung 
kan iibrigens wenig auf mich zuriikf alien, der ich sie nur heraus- 
gebe und hochstens etwan das geistige Kind ans Licht bringe, 
bevor sein Vater als ein opus posthumum nachkomt. Auch leg' 
ich weit weniger Wert auf das Verdienst, das mein Gedachtnis, 
das einem einzigen Vorlesen den Aufsaz (denn ich habe weder 
das Manuskript noch eine Kopie davon) abhoren muste, an der 20 
Bekantmachung desselben erworben haben mag, als auf die 
Probe, die ich von meiner Freundschaft fur den H. Verfasser 
ablege, indem ich mich nicht fur den Verfasser ausgebe: denn 
ich weis nicht, ob viele der doppelten Versuchung, sich die 
Schopfung eines Werks anzumassen, das wie das folgende sich 
auch der beste Kopf gemacht zu haben wimschen kan und dessen 
warer Schopfer erst nach etlichen Jartausenden mit seiner Vindi- 
kazion angezogen kommen mus, nicht unterlegen hatten; und 
aus dieser Unwissenheit mich zu Ziehen ist das Verhalten ienes 
Poeten am wenigsten geschikt, der sein gliikliches Gedachtnis, 30 
womit er das Gedicht, das er seinen Verfasser vorlesen horete, 
auswendig hersagen konte, zu einem Beweise misbrauchte, daB 
er es selbst gemacht hatte. 

Ubrigens kan sich der Leser desto mer Grundlichkeit und 
Warheit versprechen, ie mer den V[erfasser] eine grosse Biblio- 
thek und langwieriges Studium in die historischen Geheimnisse 



ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059 737 

des achten Jarzehends des achtzehnten Jarhunderts einweihen. 
Zwar ist er auch in der neuen Geschichte nichts [weniger] als 
ein Fremdling und er hat seine politischen Remarquen iiber das 
blutige Jarhundert (wie man das neun und zwanzigste Jarhundert 
nent) unter der Feder, die Aufsehen machen werden; aber die 
litterarische Geschichte des achtzehnten Sakulums ist doch sein 
Lieblingsfach und ich scherze daher nicht bios, wenn ich ihn 
nicht selten den konstantinopolitanischen Fulda heisse. Niemand 
kent die damalige deutsche Sprache besser als er und (damit 

10 glaub' ich alles gesagt zu haben) die Schriften der damaligen 
Genies, die kaum die Zeitgenossen verstanden, versteht er 
volkommen. Er sprach meine Sprache mit mir so fertig als ich 
selbst und mein Buch ... las er mit dem ganzen Vergniigen 
eines iezigen Lesers. Daher ist freilich auch er wie ieder fur das 
ein wenig eingenommen, womit er den meisten Umgang pflegt 
und Spuren einer kleinen Parteilichkeit fur sein 8 Jarzehend des 
1 8 Sakulums werden scharfsichtigernLesern seiner Abhandlung 
wol hin und wieder aufstossen. Aber wie gern wird sie ihm 
ieder und vorziiglich der [verzeihen], der seine Entfernung von 

20 dem Zeitalter erwagt, das er zu bearbeiten unternommen. Die 
Jartausende, die sich zwischen das seinige und das geschilderte 
gelagert, vergrossern und verdunkeln wie Nebel die Mumien 
der Vergangenheit und die immerwachsende Undurchsichtig- 
keit ermattet das Auge. In der Nacht nach dem Untergange 
der Gegenwart mussen notwendig die Gedanken der Schriftstel- 
ler Glanz gewinnen, wie zu Nachts auf den Markten der See- 
stadte die Schuppen der am Tage verkauften Fische flimmern 
und schimmern. Die Entfernung der Zeit leiht wie die des Orts 
der Fakkel grossern Glanz und der poetischen Musik angene- 

30 mern Klang. 

Man erlaube mir, meinen Vorbericht erst mit der folgenden 
Anmerkung zu schliessen. (Woher komt es, dafi ich der erste 
bin der seine Zeitgenossen mit der Nachwelt bekanter macht?) 
Es ist unglaublich, in was fur einer Unwissenheit der Zukunft 
die ganze iezige gelerte Welt versunken lebt; sie kent alle Zeiten 
und bearbeitet alle Teile der Geschichte, aber um den einzigen 



738 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Teil, um die Geschichte der Zukunft kiimmert sie sich nicht. 
Die vortreflichen Schriftsteller der Nachwelt, die grossen K6- 
nige derselben, dieTugendbeispiele derselben, alles das wiirdige 
Gegenstande unsrer Wisbegierde, scheinen meinen Zeitgenos- 
sen noch gar nicht oder doch nur dem Namen [nach] bekant 
zu sein; und [ich] bin warhaftig der erste, der ein Produkt der 
kunftigen Zeiten an das Licht stelt. Vielleicht daB dieser der 
Nachwelt ser wiirdige Aufsaz auf den Wert derselben aufmerk- 
samer macht; vielleicht daB er dan ein Magazin, das die besten 
Werke der Nachkommenschaft liefert, erwekt und durch das- 10 
selbe die Magazine der spanischen, franzosischen und englischen 
Litteratur von ihrer unverdienten Stelle wegdrangt. An was felet 
es uns oder vieljmer] guten Autoren mer als an guten Rezensio- 
nen? Und woraus entsteht doch mer Unheil, Unterdrukkung, 
Neid u.s.w. als aus diesem Mangel? Man klage nicht iiber die 
Unmoglichkeit, ihm abzuhelfen; sondern man gestehe sich nur 
selbst seine eigne Saumlichkeit, die unparteiischen, mit sovieler 
Kritik abgefasten Urteile der Nachwelt iiber unsre guten Auto- 
ren (denn der schlechten Biicher Rezensirung freilich iiberlasset 
sie uns selber) zu samlen und herauszugeben; und Klopstok mag 2c 
es bei sich selbst verantworten, daB er die vortreflichste Rezen- 
sion seiner Messiade von einem der besten Kunstrichter des 
zwanzigsten Jarhunderts auf Kosten seines Rums dem Publikum 
vorenthalt und nur einigen Freunden mitteilt. - Alles was wir 
noch in Riiksicht der Nachwelt getan haben, ist das, daB wir 
ungedrukte und zukiinftige Biicher konfiszirten. Und doch liegt 
es nicht an der Schwierigkeit der Sprache selbst, daB wir nicht 
mer getan und zukiinftige auch herausgegeben. Denn wir leben 
ia nicht bios in der Gegenwart d. h. wachen nicht bios; auch 
nicht bios in der Vergangenheit d. h. schlafen nicht allein: son- 3c 
dern wir leben auch in der Zukunft d. h. wir traumen auch. 
Nichts ist aber wol geschikter, uns mit der Zukunft bekant 
zu machen, als das Traumen; und es ist es noch weit mehr als 
die Warsagungsgabe selbst, was man auch zu . . . des ersten 
sagen mag. Denn man klare sich nur die Ursachen auf, wodurch 
der Traumende nicht nur die Dauer und dadurch die Art der 



ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059 739 

Zeit in seine Gewalt bekomt und wodurch er in den Stand gesezt 
wird, mit seinen eignen bunten glanzenden Augen den Abgrund 
des Nicht^ zu erleuchten und daher zu sehen, in dem die Gegen- 
wart und Zukunft in einander stromen, und den die ganze Ver- 
gangenheit und ihre Beute nicht zu fiillen vermag. Bekantlich 
sind die Ursachen: im Traume schlummern alle Sinne, das Licht 
der Vernunft ist ganzlich untergegangen und das faule Holz der 
Phantasie hat Raum bekommen, ienes Licht durch seinen 
Schimmer zu ersezen. Vergleicht man mit dem Traumer den 

10 Propheten: so sieht man leicht, daB dieser seinen Namen mit 
desto grossern Rechte fure, ie naher er dem erstern komt, daB 
aber seine Anlage [zum] Geschichtschreiber der Zukunft mer 
ein Ersaz als eine Wirkung seiner geschwachten Verstandes- 
krafte sei und daB Inspirirte fur ihre Einfalt durch Blik in die 
Feme schadlos gehalten werden; und daher mag sich wol die 
ser verstummelte Fabel schreiben, daB Jupiter dem Teresias seine 
leibliche Blindheit durch Warsagergabe verschmerzen lassen. 
Wenn nun aber doch der Prophet bei alien den Nebeln, die seine 
Vernunft aus den entfernten Gegenden aufzieht, bei alien den 

20 Hindernissen, die sein gesunder Menschenverstand gebiert, 
doch hinlanglich treue Berichte von zukiinftigen Dingen liefert; 
wie viel mer mus es nicht der Traumende konnen, der seiner 
Vernunft so gewachsen ist, daB sie zu alien Fltigen seiner Phan- 
tasie ganzlich stilschweigen mus? Mus er nicht ein Augenzeuge 
der Zukunft, wovon der Prophet nur ein Orenzeuge ist, werden, 
indem die Bilder seiner Phantasie, diese ungebornen (nicht aber 
toden) Schatten, sich in Wesen verwandeln und gleich der Saule 
des Pygmalions Belebung gewinnen: so wie nach Luzian die 
Bildsaule eines gewiss.en korinthischen Generals zu Nachts ihren 

30 Tod am Tage, vergas und mit Gesang die Gassen durchstrich? 
Bleiben also auch hier nicht wieder die Alten die kliigern, wenn 
sie die, welche weissagen wolten, in den Tempel[n] schlafen 
hiessen?- Genug, um ieden, der nicht blind ist, zu uberfiiren, 
daB es vorziiglich den Gelerten, die mer als Ungelerte traumen, 
an der Gelegenheit nicht fele, ihre his tori schen Kentnisse von 
der Nachwelt zu vermeren, zu berichtigen. Die Uberfiirung 



740 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

wird wenigstens der folgende Aufsaz volenden; in meinem eig- 
nen Beispiel wird man den Blik traumender Augen in die Zu- 
kunft weniger verkennen. Und doch bin ich fest iiberzeugt, 
daB die Traume aller meiner Nachfolger den meinigen weit hin- 
ter sich lassen werden: denn es mus keinen so schlechten Trim- 
mer geben als ich, der ich zu dem Traume, worin ich den folgen- 
den Aufsaz fand, mich durch ein Buch wie durch ein 
berauschendes Opium erst starken muste und am Tage mein 
Gesicht an Lavaters dunkJern Aussichten in die entfernte Ewig- 
keit hatte iiben miissen, um gliiklicher zu Nachts in den leichtern 10 
Aussichten in die nahere Zukunft zu sein; den Edelgesteinen 
gar nicht unanlich, die zu Nachts das Licht ausspenden, das 
sie am Tage von der Sonne abstalen. - So gerne ich indessen 
durch iene Griinde und Beispiel[e] zu Bekantmachungen water 
Traume anzuspornen wiinsche: so wenig wil ich doch [fur] 
ein[en] Freund der erdichteten gehalten sein. Auch wenn uns da- 
mit die Herren Poeten und Satiriker weniger iiberhauft hatten 
als sie leider! taten: so wurd' ich doch der Vermerung derselben 
schon darum meinen Beifal und meine Unterstiizung abschlagen 
miissen, weil sie mit den waren zwar die Vernunftwidrigkeit 20 
aber auch weiter nichts gem[ein] haben. 

Einige Anmerkungen zum folgenden Aufsaze werd' ich mir 
wol erlauben, one zu fiirchten, daB ich dem Stolze meiner Leser 
durch die Mutmassung zu nahe treten konte, daB Anspielungen 
p. im }. 3o[59] ihnen wol nicht so gut bekant sein werden als 
mir. Nur zu leicht wird man meinen ungelenksamen Stil dem 
Stile des H. . . . ansehen: man mus es aber, ein Buch aus der 
mit russischen, amerikanischen, tiirkischen [Worten] bereicher- 
ten deutschen Sprache des Jars 305(9] in die iezige deutsche des 
18 Jarhundertjs] zu verdolmetschen, nie versucht haben, um 30 
meiner Ubersezung gar keine Mangel verzeihen zu wollen. 



Ich bin gar nicht gesonnen, mich in den Streit tiber die Alten 
und Neuern mit Widerlegungen oder Zustimmungen zu men- 
gen. Unter zwo Parteien, deren iede der andern nur ihre entge- 



ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3O59 741 

gengesezten Irtiimer aufdringen wil, walet der Warheitsfreund 
am besten keine. Aber da doch manche Irban den waren Weg 
oft von feme begleitet, eine andre hingegen von ihm sich vollig 
verlauft: so ist vielleicht der Man ser zu wiinschen, der auf die 
verschiedne Abweichung der beiden Irwege aufmerksam macht 
und er kan eben dies nur tun, wenn er die Mittelstrasse, als 
den Standpunkt seiner Vergleichung, nicht verlast. So werd' 
ich im gegenwartigen Aufsaze nur einige Data zur Angabe und 
Berechnung der Schritte aufstellen, um welche die Freunde des 

10 Altertums weniger als die Freunde der Neuern irren. Hatten 
iene das, was ich bald zu ihrem Vorteil anfiiren werde, mer 
gekant und gebraucht: so wiirden sie vielleicht weniger versucht 
worden sein, auf gewissen irrigen Behauptungen so hartnakkig 
zu bestehen und williger diesen einige Ubertreibungen Preis ge- 
geben haben, deren Entschadigung ihnen nunmer nimmer zu 
ihrem Siege felte. Ich wil sagen: sie wiirden den Vorzug, den 
unsre Litteratur vor der alten in dem durch Sprache ausgedriikten 
Wize unstreitig hat, den Lobrednern unsers Jarhunderts gerne 
nicht gelaugnet haben, hatten sie ihnen dafiir alsdan einen noch 

20 grossern Vorzug entgegensezen zu konnen gewust, der die 
Schriftsteller von 1 770-1 780 wieder hoch iiber unsre hebt und 
der ganz im mechanischen in wilkurlichen Zeichen und Hiero- 
glyphen geausserten Wize besteht. Und mit historischkriti- 
schen Anmerkungen iiber diesen Wiz werd' ich die ernsthaftern 
Leserdieser Vierteliarsschriftzuunterhalten wagen. Leider! sind 
aber von den Schriften iener Zeit, in denen er vorziiglich 
herschte, eigentlich fast gar keine auf uns gekommen - und 
auch dies nebst der Schwierigkeit seiner Entzifferung mag die 
zeitherige Unwissenheit in etwas entschuldigen - und die noch 

30 unversiegten Quellen, woraus ich schopfen mus, sind nicht im- 
mer die reinsten. Denn weder die damaligen und uns geblfieb- 
nen] Schriften, in denen man ienen mechanischen Wiz nicht ganz 
vermisset, noch das Universaliournal, das die Postskripte oder 
Anhange mitgerechnet aus 365 Banden besteht, ich meine die 
algemeine deutsche Bibliothek, (das sind rtun aber meine Quel- 
len alle) konnen uns die richtigsten Begriffe von der Sache ma- 



742 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

chen; iene Schriften nicht, weil sie iiber das Bulen um den geisti- 
gen Wiz den mechanischen zu ser vernachlassigen, als dafi man 
one Unbilligkeit inihre Fortschritte die eingranzen soke, welche 
mit ungeteiltem Eifer verfolgten; dieses Journal noch weniger, 
weil es kein Freund von dieser damaligen Erfindung zu sein 
scheint und folglich nicht die Wtirdigung, die dieser Wiz ver- 
dient, erwarten lasset; wie es denn der Nachwelt nicht einmal 
den Namen iener wizigen Mechaniker aufbehalten hatte, ware 
es ihm moglich gewesen, ihnen dieienige Verewigung desselben 
zu verweren, die ein unschuldig Gefangner bewerkstelligt, der 10 
seinem Gefangnis seinen eingebrenten, eingeschnittenen, oder 
eingekrazten Namen iibergiebt. Indessen folgt hieraus zum 
Nachteil der Freunde des Altertums so wenig, daB vielmer die 
Gewisheit und Besorgnis, in der Schazung ienes Jarhunderts 
auf Kosten desselben zu irren, zur Entschuldigung und zum 
Sporn dienen kan, daB wir uns haufig giinstigen Vermutungen 
von seinem litterarischen Werte iiberlassen, die wir mit nichts 
beweisen konnen. 

Den Wiz, der im achten Jarzehend (des achtzehnten Jarhun- 
derts; aber man schenke mir im folgenden diesen schleppenden 20 
Zusaz) bluhte, nenne ich mechanisch, weil er mit der Anstren- 
gung der Sele wenig oder nichts zu tun hatte und hauptsachlich 
gewisse Geschiklichkeiten der Hande voraussezte. Ich wil damit 
nichts als den Vorzug bezeichnen, der diese neue Art des Wizes 
von der alten so ser unterscheidet: denn stat daB die leztere nur 
ein Geschenk der Natur, und noch dazu ein seltnes ist, ist erstere 
ein Werk der Kunst oder wenn man wil doch eine Gabe der 
Natur, die durch die Kunst auch den schwachsten Kopfen kan 
beigebracht werden. Z. B. sinreiche Gedankefn] zeugen konnen 
nur wenige Giinstlinge des Zufals; aber sinreiche Gedankenstri- 30 
che (ein Hauptzweig des mechanischen Wizes) hervorzubringen 
ist eine Geschiklichkeit, wozu die Natur alle[n] Handen Anlage 
eingepflanzt, die nur einen kurzen Beistand der Kunst erwarten. 
Daher kan das Lob der mechanischen Schriftstellerei, daB sie 
auch dem niedrigen Volke nicht verungliikte und dazumals 
selbst den schwachsten Kopfen, den iiingsten und ungelertesten 



ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059 743 

Leuten mit dem grosten Erfolg von statten gieng, uns nicht 
mer wundern und wiirde, ware es auch nicht durch das unver- 
dachtige und erzwungne Gestandnis der Feinde dieses Wizes 
selbst, doch nicht zweifelhaft sein konnen. 

Meine Aufzalung der Zweige des mechanischen Wizes fang' 
ich von dem kleinsten an und riikke dan mit ihr zu den grossern 
fort. Erstlich der Apostroph: von dem man damals einen ganz 
andern und wizigern Gebrauch zu machen wuste, als den, wel- 
chen nur unsre iezigen Dichter zu kennen scheinen. Bei uns 
10 ist er nichts als das Zeichen der Vokalen, die man dem Wol- 
Jdange aufgeopfert. Die mechanischen Schriftsteller brauchten 
ihn zu diesem Dienste zwar auch; ia sie wusten die Gelegenhei- 
ten, mit ihm die Vokale wegzuschiessen, zum Besten des Ores 
so zu vervielfaltigen, dafi die Konsonanzen der Sprache sich 
in eben soviele Dissonanzen auflosten, und daB ihr Klang sich 
almalig zur Harte stimte, die die damaligen Schriftsteller so gern 
den benachbarten Sprachen (der russischen) streitig zu machen 
wiinschten. Aber er war nicht bios Pause des Wolklangs. 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE: 

Kan die Theologie von der nahern Vereinigung, die einige Neuere 

zwischen ihr und der Dichtkunst zu kniipfen angefangen, sick wol 

Vortheile versprechen?* 



A us dem Franzosischen 



* Diese Preisfrage wurde vor ungefahr neun oder zehn Monaten von 
einem freundschaftlichen Zirkel schweizerischer Theologen aufgewor- 
fen. Ich war so gliiklich, durch den gegenwartigen Aufsaz den Preis 
zu erhalten. Ein Geschenk, welches die Geber gewis noch mehr als 
den Empfanger ehret und besser einen Zeugen von der Unpartheilich- 
keit der erstern, als von dem Verdienste des leztern abgiebt. Denn ich 
fuhl' es nur zu gut, daR meine Verdienste um die Auflosung iener Frage 
die Unpartheilichkeit, die mich Deutschen den Schweizern vorzog, sehr 
wenig rechtfertigen. Bei meinen theologischen Rezensenten kan ich 
eben darum auf keine ahnliche Gelindigkeit rechnen. Zwar schmeichle 
ich mir, sie werden in gegenwartiger Preisschrift den angenehmen Stil 
nicht vollig missen, den man von theologischen Aufsazen einmal ge- 
wohnt ist; auch wollen mich meine Freunde iiberreden, dafi ich den 
Wiz und die Laune des H. Tellers in Zeiz nicht ganz ungliiklich nachge- 
ahmet; allein ich bin demungeachtet nicht weniger uberzeugt, und fiihle 
es vielleicht besser als irgend iemand, dafi es mir dafiir mit der theologi- 
schen Grundlichkeit nur schlecht gelungen sei und dafi ich nach der 
deutlichen Entwiklung und Bestimmung der Ideen, worin man den 
Gottesgelehrten mehrere Nachahmer unter den Philosophen wunschen , 
mochte, ohne bemerkenswerthen Erfolg gerungen. Wenn iibrigens ein 
Manuskript eine Handlaterne ist, die meistens nur dem Trager leuchtet; 
ein abgedruktes Buch hingegen eine Gassenlaterne, die fur mehrere 
brent: so darf ich wol nicht um Verzeihung bitten, daB ich meine Preis- 
schrift drukken lassen. 



Ein gunstiger Wind hat in unsern Tagen auf iedes Feld der Wis- 
senschaften den Samen von den Blumen der Dichtkunst gesaet. 
Sie bliihen auf den Mistbeten des zynischen Arztes, begossen 
mit prophetischem Urin, und bekranzen die Graber der Pazien- 
ten; sie duften auf den Plazen, wo sonst unehrliche Leichname 
stanken, und auf den Altaren, wo die Rechtgelehrsamkeit keine 
Menschen mehr opfert, d. h. auf den Rabensteinen; ia sie wach- 
sen sogar schon auf dem enthirnten Schadel des Philosophen 
wie Mos auf dem enthirntenSchadel eines Missethaters, oder 
wie seidne Blumen auf den gehirnvollen Kopfen unsrer Damen 10 
- und in den Schulstaub selbst haben sie ihre Wurzeln geschla- 
gen. Was Wunder, da noch iiberdies einmal eine Zeit war, wo 
die kaufmannischen Hollander natiirliche Blumen liebten, daB 
iezt die gekommen ist, wo die Gottesgelehrten die poetischen 
lieben. Algemein namlich polemisiren iezt die Orthodoxen in 
poetischer Prose, machen ihr Gefiihl zum Beweis der Glaubens- 
geheimnisse, die man sonst durch Distinkzionen erhartete und 
nehmen die Vernunft in die Blumenketten der Poesie gefangen. 
Keine Frage ist nun also wol natiirlicher und nothiger als die: 
ist aber der Orthodoxie diese Aufnahme der Dichtkunst auch 20 
niizlich? Da ich diese Frage schon lange vorher, eh' man sie 
offentlich beantworten zu lassen, noch im geringsten daran 
dachte, mir selbst zu beantworten oft und eifrig suchte: so kan 
ich ohne Eitelkeit hoffen, sie iezt mit einiger Befriedigung der 
Denker aufzulosen und mit Griinden zu beiahen, die eine Priifung 
wenigstens verdienen, ia wenn ich mir nicht zuviel schmeichle, 
vielleicht auch aushalten. 

Ich werde meinem Zwekke vielleicht nicht schaden, wenn 
ich, bevor ich ihm naher trete, einige von den Vortheilen, die 
schon sonst die Theologie von der Poesie gezogen, angebe. We- 30 
nigstens gewinne ich dadurch iiber den, der die Nuzlichkeit des 
Amalgama von beiden Wissenschaften auch wegen der Neuheit 
desselben in Zweifel zieht, vielleicht doch so viel, daB er Eine 
Stiize seiner Meinung fahren lasset und mir einraumt, daB Theo- 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 747 

logie und Dichtkunst friiher Freunde als Feinde gewesen. Es 
solte mir nicht schwer werden, die Bestatigung meines Sazes 
auch von nichtchristlichen Volkern herzunehmen. Denn aus 
welchen andern Handen bekamen wol die Griechen ihre Reli- 
gion als aus denen, die die Leier des Apollo spielten? Was war 
die Iliade und die Odyssee des Homers ihnen anders als das 
A. und N. Testament, wenigstens das Gesangbuch? Und die 
Gedichte waren ihrien Predigten, die sie iedoch nicht vergassen. 
Die meisten Priester der wilden Volker zeichnen sich nicht min- 

io der durch eine schwarmerische Phantasie aus, die ihrer Dogma- 
tik iiber den gesunden Verstand des Wilden gewohnlich siegen 
hilft; auch wiist' ichkeinen Stifter einer neuen Sekte, dem nicht 
die Auxiliartruppen der Einbildungskraft beigestanden hatten. 
Allein ich thue vielleicht besser, wenn ich bei der christlichen 
Dogmatik stehen bleibe. Schon die Patriarchen unsrer Religion, 
die Kirchenvater, wusten ihre dichterischen Talente zur Aus- 
breitung ihrer Lehrsaze gliiklich anzuwenden. Sie sahen ein, dafi 
im Oberreden die Macht der Dichtkunst da angehe, wo die 
der Vernunft aufhoret und dafi nur die erstere die leztere ersezen 

20 konne. Daher wird man in den Stellen ihrer Schriften, wo Be- 
weise fehlen, Bilder, Allegorien und dergleichen wol schwerlich 
vermissen und nur selten wird man sie in der Erbauung ihrer 
Lehrgebaude iiber der Vernachlassigung derer Regeln der Ar- 
chitektur betreten, welche die Symmetrie fur wirkliche Fenster 
durch gemalte, (blinde,) die die Erleuchtung durch Tauschung 
ersezen, zu entschadigen rathen. Diese Gefalligkeit der Dicht- 
kunst fiir theologische Wahrheiten hat, meines Erachtens, einen 
desto grossern Werth, ie unentbehrlicher die damalige Jugend 
der leztern eine solche Hulfe machte. Beilaufig! ich wunschte, 

30 ein bekanter Franzos wiederholte noch einmal seine Luge, daB 
die ersten Christen ohne schonen Geschmak geschrieben. Auch 
ohne die geringsten Anspriiche auf patristische Gelehrsamkeit 
getraut' ich mir ihn aus alien Kirchenvatern (aus dem Tertullian 
und Origenes sogar) mit genug Stellen zu beschamen, in denen 
er mir troz seines Scharfsins gewis nichts anders als rhetorische 
Blumen soke zeigen konnen. Vielleicht hat auch bios der langst 



748 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

widerlegte Vorwurf der Heiden, daB die ersten Christen einen 
sonderbaren Abscheu gegen wolriechende Blumen triigen, ihn 
verfiihret, ein gleiches von den poetischen Blumen zu behaup- 
ten. 

Ferner: der Anfang und das Ende der Bibel stammen aus poe- 
tischen Federn her und. die Dichtkunst scheint an ihr keine Ver- 
schonerungen gespart zu haben. Ich zweifle aber, ob die Poesie 
den Theologen einen wichtigern Dienst als diesen erweisen kon- 
nen. Denn eben diese poetischen Zierrathen der Bibel schenkten 
der Dogmatik die besten Lehrsaze, die namlich, die es mit der 
Philosophie oder der gesunden Vernunft aufnamen, und nur 
aus den biblischen Metaphern zogen die Gottesgelehrten bald 
durch eigentliche Auslegung bald durch mdglichste Ausdeh- 
nung derselben die schonsten und von der Vernunft am meisten 
abweichenden Dogmen. Wenn ich es sagen darf , so hat die Dog- 
matik sogar noch nicht alle Vortheile benuzt, die ihr die biblische 
Poesie anbietet, und nach meinen geringen Einsichten ist fur 
einen kunftigen Augustin noch eine ziemliche Ernte von Meta- 
phern iibrig, durch deren eigentliche Auslegung sich ganz ncuc 
Unbegreiflichkeitenerhartenliessen. Z. B. die Poesie des N. T. 
nent Christum einen Hohenpriester, einen Konig und einen 
Propheten. Nun brauchte man nur das Figurliche als etwas Un- 
figurlicheszubehandeln, sohatte man drei Amter Christi. Auch 
vermisset man sie, wie denn billig, wol in keiner guten Dogma- 
tik. Allein giebt die biblische Dichtkunst nur diese drei Ver- 
gleichungen an die Hand? Nent sie den Erloser denn nicht auch 
einen Hirten, ein Lam und einen Weinstok? Und aus diesen 
Metaphern lassen sich, wenn man sie wie keine behandelt, doch 
wol auch eben so gut wie aus den obigen, drei Amter unge- 
zwungen herleiten? Indessen besinn* ich mich noch in keiner 
Dogmatik ein halbes Duzend Amter angetroffen zu haben. Je- 
doch wil ich, um niemand zu beleidigen, hicr weiter nichts sagen, 
als man hiite sich, wenigstens nicht der Anzahl der biblischen 
Metaphern unsre Armuth an vernunftwidrigen Dogmen schuld 
zu geben. 

Cocceius fieng im vorigen Jahrhundert an, alle Geschichte 



BEANTWORTUNG DER PRETSAUFGABE 749 

in der Bibel zu Allegorien zu veredeln. Allein niemand hat dieser 
Neuerung das seltne Verdienst, die Geheimnisse oder die Saze 
iiber und wider die Vernunft zu vervielfaltigen, ie abgesprochen. 
Und dieses Verdienst, welches gehorig zu schazen nur theologi- 
sche Augen konvex genug geschliffen sind, hat man der Dicht- 
kunst halb mit anzurechnen, ohne deren Hiilfe Allegorien sich 
kaum verstehen, geschweige wie hier in die Bibel wiirden tragen 
lassen. Auch iezt hatte ich zum Tadeln, wenn ich es liebte, wie- 
derum Gelegenheit: denn diese neue Waffe gegen die gesunde 

io Vernunft lassen die iezigen Theologen aus einer mir unbegreifli- 
chen Nachlassigkeit fast vollig ungebraucht, (das einzige Hohe- 
lied Salomonis wird doch keine so grosse Ausnahme machen 
sollen,) indessen sie dafiir lieber mit schlechtern und mit abge- 
nuzten Waffen fechten. - So viel mag nun von den Vortheilen 
genug sein, wozu in den vorigen Zeiten die Dichtkunst dem 
Theologen verholfen. 

Die Frage, auf deren Beiahung es hier ankomt, ist also: niizt 
der Theologie ihre neuere Vermischung mit der Dichtkunst? 
DaB unter Theologie die Orthodoxie verstanden werden miisse, 

20 glaub' ich voraussezen zu durfen: denn einem Heterodoxen 
konte man mit eben so wenig [Recht] als einem Philosophen 
den Namen eines Theologen geben. Unter der »neuern Vermi- 
schung derselben mit der Dichtkunst« meinet man offenbar die 
Methode einiger Theologen, in lauter Bildern und Metaphern 
und Deklamazionen oder in poetischer Prose zu schreiben. Und 
so ware denn unsre Frage genau genug bestimt! - 

Schon das must', soft' ich meinen, bei iedem Theologen ein 
giinstiges Vorurtheil fur die Poesie erwekken, dafi sie in nicht 
wenigen Stiikken die groste Ahnlichkeit mit der Theologie be- 

30 hauptet. Schlagt die erste beste Asthetik auf, sie wird euch in 
derEinleitungsagen, das Ziel, welches alle Kunstrichter stekken 
und alle Dichter treffen, sei die Verdunklung des gesunden Ver- 
standes durch die untern Selenkrafte. Nehmet nun die schlechte- 
ste Dogmatik, so wird sie euch gleichfals lehren, daG Mitthei- 
lung der Dinge, die sich sowol iiber als gegen die gesunde 
Vernunft erheben und auf eine heilsame Weise sie bezahmen 



750 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

und vermindern, den Endzwek der Theologie ausmache. Sie, 
diese Vernunft, ist folglich der Antichrist oder der Pabst, an 
dessen Entthronung dem Theologen und dem Poeten gleichviel 
gelegen ist, auf welche sowol der eine hinarbeitet, wenn er durch 
ein distinguendum est zwischen vermahlten Begriffen die Ehe 
aufhebt, die iener Stadhalter Gottes fur unaufloslich erklart; als 
auch der andre, wenn er, ohne vorher bei der oft besagten baby- 
lonischen Hure eine Dispensazion gekauft zu haben, Begriffe 
in verbotnem Grade kopuJirt. Nur daB freilich beide iiber den 
gesunden Menschenverstand mit verschiednen Waffen siegen, 10 
nur dafi der Theolog den Sieg zum kiinftigen Gliikke und der 
Dichter bios zum gegenwartigen, und der eine zur Besserung 
und der andre zur Belustigung braucht. Diese Ahnlichkeit der 
Dichtkunst und Theologie, die fast den meisten vor mir entgan- 
gen, fiel schon alten Volkern in die Augen, wenn ich anders 
ihre Hieroglyphensprache recht entziffere. Denn ohne Ursache 
haben wol manche von ihnen den Got der Verse, d. h. die 
Sonne, unter dem Bilde eines Ochsen vorstellen zu konnen sich 
nicht eingebildet? Ich weis es zwar, daB in der Erklarung des 
leztern Sinbilds die Gelehrten sich immer getheilet haben, und 20 
freilich auch, da die alten Volker selbst den Ochsen so entgegen- 
gesezte Behandlungen erfahren liessen und bald zum hochsten 
Got bald zum Opfer des hochsten Gottes machten, theilen haben 
mussen; allein was hier der Ochse sagen wil, das wiirde man, 
ohne mein Zuthun, doch schon haben errathen konnen, wenn 
man nur auf alten Miinzen sich fleissiger umsahe. Denn auf 
diesen tragen die Priester immer Ochsenschadel auf dem Kopfe; 
gar nicht aber stat einer Krone wie einige meinen: Sondern es 
last sich (ware nur hier der schiklichste Ort dazu) sehr wahr- 
scheinlich machen, daB man die Hirnschale des heidnischen Prie- 30 
sters mit der Hirnschale des Ochsen weniger kronen als verdop- 
peln wollen. Auch die Agypter (ibersahen die Ahnlichkeit 
zwischen einer theologischen Kehle und einer poetischen Flote 
nicht, sondern schlossen eben daher in ihre bekante Verabscheu- 
ung der erstern auch die leztere mit ein, wie denn Plutarch aus- 
driiklich bezeugt, daB sie den Klang der Trompete hasseten, 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 751 

weil er dem Yanen des bei ihnen so verabscheuten Esels ahnlich 
tonte. - Einen Einwurf hab ich doch zu befriedigen: denn man 
konte mir namlich von Dichter und Theologen den gemein- 
schaftlichen Has gegen die Vernunft zwar gerne zugestehen, 
so wie man auch (urn das Grosse mit dem Kleinen zu verglei- 
chen) von der Fledermaus und dem Maulwurf einen gemein- 
schaftlichen Abscheu gegen das Licht einraumt; allein nur den 
Unterschied als etwas besonders mir aufriikken, dafi der Theo- 
log, gleich dem Maulwurf, in der dunkeln Tiefe grabe, der 

io Dichter hingegen, gleich der Fledermaus, in der dunkeln Hohe 
fliege. Aber wie kan er, dieser Unterschied, ihrer beiderseitigen 
Ahnlichkeit und meiner Behauptung nur das geringste beneh- 
men sollen, da derselbe Unterschied des Maulwurfs und der 
Fledermaus den Naturforscher Klein nicht abgehalten, beide 
Thiere in eine Klasse zu sezen? Wenn iibrigens Plinius* dem 
Maulwurfe eine besondere Tauglichkeit fur wahrsagenden Prie- 
ster beilegen wil: so mus er sich wol auf die Dienste gar nicht 
besonnen haben, die ihnen die Vogel durch Geschrei und Flug 
von ieher erwiesen. - Ich werde vielleicht auf Kosten der Kiirze 

20 griindlich scheinen; allein mir ist es weniger um Belustigung 
als um Belehrung zu thun und ich wil mich Iieber der Weitlauf- 
tigkeit als der Seichtigkeit beziichtigen lassen. Denn nur iezt, 
nachdem ich unwidersprechlich dargethan, daB die Poesie nicht 
minder als die Theologie gegen den kalten Verstand zu Felde 
ziehe, darf ich mit einiger Hofnung der Antwort auf die Frage 
entgegensehen: wenn nun gar zu den Termen der Theologie 
sich die Dichtkunst mit ihren Verhtillungen schlagt, wenn dem 
leichten Kopf der erstern die leztere noch gar ihre Fliigel leiht, 
mus sie alsdan nicht zu einer neuen Hohe aufsteigen? - Allein 

30 dies ist noch das Wenigste. 

Ich glaube auch beweisen zu konnen, daB die Poesie die ein- 
zige Waffe ist, womit die Orthodoxen den heterodoxen Kongres 
aus dem Felde zu schlagen sich noch versprechen diirfen. Zwar 
haben sie allerdingS auch noch mit andern Waff en gefochten 

* Pirn. H. N. L. XXX. c. 3". 



752 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

und die Verzweiflung gab einigen sogar philosophische in die 
Hande. Allein man hat leider! auch gesehen, wie wenig sie ge- 
wonnen, wie sie vielmehr von den Krankheiten der Feinde an- 
gestekt, und mit dem gerechten Verdacht beladen sich zurukge- 
zogen, daB ihnen mehr um den Ruhm der Tapferkeit als des 
Sieges zu thun gewesen und daB sie durch ihren Widerstand 
ihre Niederlage mehr haben beschonigen als verhuten wollen. 
Indessen behaupte ich damit gar nicht, daB kein einziger Theo- 
log sich der Philosophic gegen unsre Sozinianer bedienet habe, 
ohne zum Nachtheil seines Systems von ihr angestekt zu wer- 
den. Eine solche Behauptung wiirde gewis die unverzeihlichste 
Unbekantschaft mit den Verdiensten derer voraussezen, welche 
die Vernunft, die sie wahrend ihrer polemischen Kriege in ihre 
Dienste genommen hatten, zu Ende des Streits abzudanken 
gleichwol nicht vergassen; welche die Philosophic allerdings, 
so wie Gulliver seine Brille*, brauchten, namlich, nicht um da- 
mit zu sehen, sondern um damit die Pfeile von Zwergen abzutrei- 
ben, und die gewis in aller Ruksicht eine Vergleichung mit dem 
schonen Amor verdienen, der in semen Handen Fakkeln tragt 
und dessen Augen dennoch von einer Binde geschlossen bleiben, 
oder auch mit ienem klugen BHnden, der zu Nachts "mit einer 
Lateme gieng, nicht um besser zu sehen; denn er sah auch [am] 
Tage nicht, sondern um damit die Angriffe von denen zu verhii- 
ten, die nur zu Nachts nicht sehen. Allein die Nachahmung 
dieser Theologen mochte nur vielleicht nicht in eines ieden 
Kraften stehen; ich wiirde wenigstens keinem dazu rathen, von 
dem ich nicht gewis wiiste, daB ihm die Meisterhand eines C-ius 
angeboren ware. Da man endlich auch durch Scheiterhaufen- 
feuer niemand mehr erleuchten kan, so bleibt folglich nur ein 
einziges Mittel, zu erleuchten ubrig, namlich Dichterfeuer. 
Uber die Moglichkeit dieser Sache werd ich mich nun schon 
etwas mehr ausbreiten miissen: denn so bald ich aber auch das 
von der Poesie erwiesen, daB sie die beste Waffe gegen die Hete- 
rodoxie und die einzige Stiize der Orthodoxie noch sei, so werd' 
ich zu ihrem Lobe nun wol nichts weiter hinzuzusezen brauchen. 
* S. Reise desselben nach Lilliput. 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 753 

Aus der sogenanten Streittheologie ist bekant, daB Dunkelheit 
des Ausdruks zu den ersten Erfordernissen einer guten Widerle- 
gung gehore und daB der besten alles fehle, wenn iene fehlet. 
Noch immer nab' ich die Gleichnis nicht vergessen, womit H. 
Teller in Zeiz diesen Saz, als er sonst in Leipzig dariiber las, 
uns Zuhorern zu erlautern pflegte. Wir Theologen, meine Her- 
ren, sagte er, gleichen den Ariern, die ihre Schlachten nur im 
Finstern lieferten, und wie man oft von seinem argsten Feinde 
noch etwas lernen kan, so haben auch wir vom Teufel gelernt, 

io daB uberirdische Ideen, so wie er, am besten im Dunkeln sich 
zeigen. Diese Einhullung der Gedanken nun, worauf in polemi- 
schen Schriften so streng gehalten wird, fordert man nicht weni- 
ger von poetischen. Denn da man bemerkt hatte, daB die besten 
deutschen Gedichte, die algemein gefielen, doch denen nicht 
gefielen, die sie verstanden, und daB ein Schleier aus Worten 
poetische Schonheiten nicht nur zu bedekken, sondern auch zu 
ersezen fahig ware, so wie der Schleier, den der Maler iiber 
ein Gemalde webt, das Gesicht der Figur gleichfals mehr ersezet 
als verhullet, so wurde die algemeine Regel festgesezt, daB nur 

20 allein Dunkelheit und Entfernung vom gesunden Menschenver- 
stande einem poetischen Gedanken Anspruch auf Grosse geben 
konte, so wie nur dieienigen Planeten die grossesten sind, die 
am weitesten von der Sonne abstehen und am wenigsten ihren 
Strahlenausgeseztsind. Daherdie Bemerkung, daB diedichteri- 
sche Schopfung nicht eher von statten gehe, als bis an den ganzen 
Kopf der Befehl ergangen: es werde Finsternis; der ubrigens durch 
folgenden Ausspruch des H. Jugel's eine neue Bestatigung zu- 
wachst: »Wenn keine Finsternis der kreatiirlichen Schopfung 
Gottes vorhanden gewesen ware, also daB alles aus Licht bestan- 

30 den, so hatte nimmermehr keine sichtbare Bildung der Dinge 
zum Vorschein kommen konnen.«* - Sonach wird nun wol 

* S. Gotfried Jugel's Physica-Mystica und Physica sacra sacratissima 
p. Berlin und Leipzig bei George Jakob Dekker 1782 Seit. 233. Dieses 
alchymistische Buch verleiht, wie iener Esel des Abderiten Anthrax, 
einen so angenehmen Schatten gegen beschwerliches Sonnenlicht und 
bestreitet die gesunde Vernunft an manchen Orten mit so vielem 



754 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

kaum die Frage mehr sein konnen, ob sich durch die Poesie 
die Dunkelheit verdikken lasse, auf die in polemischen Schriften 
nur nicht gar alles ankomt und ob man durch sie iiber den Geg- 
ner den Vortheil zu gewinnen hoffen diirfe, von ihm nicht ver- 
standen zu werden. Denn wem durch Blumen es nicht gelingen 
wolte, die Aufspiirung des Ideenganges dem Gegner zu verei- 
teln, so wie in geruchvollen blumichten Wiesen der Jagdhund 
die Fahrte des Wilds verliert, und wer auf poetischen Stelzen 
den Feind nicht eben so gut, wie der Jager auf holzernen den 
listigen Fuchs, um die verratherische Spur der Fiisse betriigen 
konte, und da, wo die Nebel der Theologie ihn nicht dicht genug 
umlarvten, sich nicht mit besserem Erfolg in die Wolken der 
Poesie aufschwingen wolte, die im Grunde selbst nichts anders, 
als erhohte Nebel sind: von dem Hesse sich iiberhaupt nicht ver- 
sprechen, daB er in der dunkeln Schreibart sich durch irgend 
ein andres Mittel auszeichnen werde. Doch dies ist nur eine 
lere Besorgnis. Vielmehr nehmen sich eben dieienigen Schriften, 
wovon iede Seite einem bunten Blumenbete gleicht, durch die 
groste Dunkelheit aus und eben mit dem Pinsel der Poesie 
wissen manche Theologen dem Lichte, das schon an sich 
mit der theologischen Ehrwiirdigkeit sich schlecht vertragt, so 
kraftig zu begegnen, daB man die nothige Verfinsterung nur 
selten vermisset, beinahe so wie man sonst den Kirchen zu der 
Dunkelheit, in die man ihre Wiirde sezte, durch Bemalung der 
Fensterscheibenverhali. Zum Beweis wil ich nur das bekante Bei- 
spiel meines Vetters anfiihren, der seiner mit vielem Beifal auf- 
genommenen Widerlegung des H. Steinbarts durch haufige 
Metaphern, Allegorien und Ausruffungen eine solche Dunkel- 

Erfolge, daB es wol nicht erst auf meine Em[p]fehlung zu warten 
braucht, um von iedem Alchymisten fleissig und mehr als einmal gelesen 
zu wer den. Beilaufig mus ich noch erinnern, daB ich in diesem merk- 
wiirdigen Buche hie und da auf einen Sin gestossen. Wahrscheinlich 
hat er sich durch Unachtsamkeit des Sezers eingeschlichen, an welcher 
die unleserliche Hand des H. Verfassers auch nicht ganz unschuldig sein 
mag. Der Verleger wird daher bei der zweiten Auflage doch dafiir sor- 
gen, daB die wenigen Stellen, wo Drukfehler einen Sin verursachen 
konnen, berichtigt werden. 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 755 

heit ertheilte, daB er seinen Sieg ohne alle Hiilfe der Exegese 
und der Philosophic gewan. Denn wo ihm die Theologie die 
sichere Tiefe versagte, fliichtete er auf poetische Hohen; und 
bestatigtc auch dadurch die oben besagte Ahnlichkeit des Theo- 
logen mit dem Maulwurf, der ebenfals bei Uberschwemmun- 
gen seine Locher gegen hohe Baume vertauscht; daher ich oft 
meinen Vetter zum Scherze mit einem gewissen Dintenfisch 
vergleiche, der seinem Rauber nicht bios durch Auslassung eines 
verdunkelnden Safts, sondern durch Auffliegen entkomt. Warum 

io H. Steinbart sich auf keine Gegenantwort eingelassen, wird man 
wol ohne mich errathen konnen. - Demallenungeachtet liesse 
sich die Dunkelheit der Schreibart noch auf eine hohere Stufe 
treiben; und ein fleissigeres Studium der alchymistischen Schrif- 
ten, deren Liebhaber sich ohnehin bei dem feinern Theil des 
Publikums iezt taglich vermehren, mochte darauf vielleicht am 
ersten fiihren. Denn bei ihnen allein ist die agyptische Finsternis 
noch acht zu haben, wovon sich unsre Poeten nur des Schattens 
ruhmen diirfen und wenn der Dichter in diesen kaum seine Flu- 
gel genugsam verlarven kan, so vermag der Alchymist in iene 

20 sich schon bis auf [den] Kopf, ia sogar bis auf die Ohren zu 
vermummen. DaB sich aber nur niemand von der Nachbildung 
dieser Finsternis durch das Vorurtheil abschrekken lasse, bios 
mit dem Zauberstabe des Alchymisten Moses gelinge sie! Denn 
ein Ungeweihter habe nur den Muth, die Fesseln der Kritik 
zu zerreissen, die aus iedem Bilde ein Anagramma von Ahnlich- 
keiten oder auch ein Farbenklavier zu machen ihn zeither gehin- 
dert, so wird er wie der beste Adepte, alle seine unerzognen Ge- 
danken J/mtekke«5spielenlassenk6nnen. Und (iberhaupt, dacht' 
ich war' es einmal Zeit, daB der Gottesgelehrte von dem Alchy- 

30 misten, der von ihm dunkle G^H&ewzuborgen sich schon lange 

dieFreiheitnahm, auch hinwiederum dunkle Wortertntlthntt.-* 

Der Theologie haben schon viele Gegner lange Ohren zuge- 

* Mein Rath erhalt nicht wenig Gewicht von dem Beispiele der M'on- 
chein den alten Zeiten, die sich vorziiglich der Alchymie beflissen; und 
von dem Ausspruche des Kornelius Agrippa, welcher die Alchymie 
die Sch wester der Theologie genant. 



756 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG " 

schrieben. Ich wil iezt nicht untersuchen, ob der Vorwurf der 
Ahnlichkeit mit einem Thiere, das zween der grosten Manner, 
La Motte Le Vayer und Biiffon, unter seine Lobredner zahlet, 
am Ende nicht gar mehr Lob als Tadel enthalte, sondern ich 
wil nur erweisen, daB man vermittelst der Dichtkunst ihn auf 
immer vernichten konte, wenn man namlich die langen Ohren 
nur zu poetischen Flugelgen auskerbte. Ich mus mich erklaren. 
Unsere Gegner verlangen nicht undeutlich Philosophic und 
Vernunft von polemischen Schriften und Forderungen dieser 
Art entfahren vorziiglich der Berliner Bibliothek nicht selten. 10 
Nun kenn' ich die Schlinge zwar wol, worein die Genugthuung 
einer so arglistigen Forderung uns gewis verwikkeln wiirde; 
allein vielleicht hilft uns die Dichtkunst iene Foderungen auf 
eine Art befriedigen, wobei die Schlingen vermieden werden. 
Wie namlich, wenn der Theologe zwar nicht Philosophic und 
Grunde, aber doch etwas zu liefern anfienge, was ihnen [von] 
ieher, wenn nicht vorgezogen, doch gleichgeschazet wurde und 
was man die Stelle derselben schon langst und oft vertreten lies, 
ich meine Metaphern und iiberhaupt poetischen Schmuk? denn 
die Hinlanglichkeit dichterischer Zierrathen, Grunde zu ersezen 20 
wird wol niemand in Zweifel ziehen, der nur einmal an sich 
die Bemerkung gemacht, daB die Uberzeugung sich eben so 
gern fur das Schone als das Erwiesene erklare und ienes willig 
fur dieses gelten lasse. Und ich glaube iiberhaupt, daB man den 
Zwek der Dichtkunst sehr unter ihrer Wiirde angebe, wenn 
man blosse Verschonerung der Vernunft allein zu demselben 
macht. Denn auch die Vernunft ersezen kan sie, die Dichtkunst, 
so wie die Schminke nicht bios Hdslichkeit, sondern auch Ent- 
kraftung (wie die des Tiberius auf dem Krankenbette) verhehlet, 
so wie man mit Puder nicht bios der rothen, sondern auch der 30 
grauen Farbe der Hare abhilft d. h. in denselben sowol Haslich- 
keit, als Schwache verhrvt. Auf meiner Seitestehennochiiberdies 
die grosten Autoren aller Volker und aller Zeiten, die alle, vom 
Plato an bis zu Voltaire dies so gut yvusten, daB sie Behauptun- 
gen, denen der gehorige Sin fehlte, wol selten ohne die nothige 
Verschonerung aufstelten, und den Leser alzeit fur die Sprodig- 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 757 

keit ihres Verstandes durch die Liebkosungen ihrer Phantasie 
entschadigten. Audi befanden sich schon verschiedne Theolo- 
gen bei dem Ersaze der Griinde durch Zierrathen, gar nicht 
ubel und ich konte deren manche nennen, welche es nie gereuet 
hat, sich gleich den Kampfhahnen, gegen ihren Widerpart der 
Fliigel mehr als des Kopfs bedient zu haben. Warum reissen in 
Pfenningers vortreflichen »Samlungen zu einem christlichen 
Magazin« einige Aufsaze ohne den geringsten Beistand der Exe- 
gese und Philosophie dennoch die Oberzeugung eines ieden Le- 

io sers an sich, und schlagen die Heterodoxen mit einer blossen 
Widerlegung, ohnealle Auxiliartruppen von Griinden, dennoch 
aufs Haupt? Warum anders als weil durch die Dichtkunst ihr 
polemischer Helm, wie des Alexanders seiner, befliigelt worden 
ist; weil sie es an Deklamazionen, Bildern und Ausruffungen 
nicht fehlen Iassen, durch welche die Griinde zu ersezen andre 
nur zu oft vergessen; weil sie der orientalischen Feigheit ieder 
ihrer Saze durch orientalischen Phrasenschmuk abhelfen, so wie 
morgenlandischeKrieger dieunsrigen zwar nicht an Tapferkeit, 
aber dafur bei weiten in glanzender Montirung iibertreffen. 

20 Uberhaupt durften die schweizerischen Theologen (ohne eigen- 
niizige Schmeichelei sei dies gesagt!) in der Fruchtbarkeit an 
Metaphern und rauschenden Gefiihlausgussen und dergleichen 
wol den Rang vor den deutschen behaupten, und ich wiirde 
diesen betrachtlichen Unterschied zwischen beiden noch an- 
schaulicher erharten konnen, untersagte mir die Wiirde meines 
Gegenstandes nicht die zu wenig edle Anspielung auf gewisse 
Thiere, welche in der blumenreichen Schweiz fetter und hoher 
angetroffen werden als in unsern Gegenden. Freilich last sich 
nicht verhehlen, dafi ein Genie iiber die Orthodoxie eben so 

30 oft als iiber die Kritik wegseze; allein an seinem innern Gefiihl, 
an einem gewissen Geist der Dichtkunst hat es am Ende wol 
einen eben so guten Leiter als andre an Luther und Kalvin und 
der weise Homer hat, meines Erachtens, gar nicht Unrecht, 
wenn er in seiner Odyssee behauptet, dafi gewisse Rinder in 
Sizilien, die ohne Hirten weiden, von dem Phobus gehiitet wer- 
den. 



758 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Einer meiner Freunde las den vorhergehenden Absaz und 
theilte mir folgenden Einwurf dagegen mit: »Manche orthodoxe 
Wahrheiten mogen wol in ihrer Jugend (d. h. zur Zeit der Kit- 
chen vater) sich nicht anders als durch bunte Einkleidung um 
Proselyten haben bewerben konnen; allein iezt macht schon ihr 
Alter ieden Erweis und folglich auch ihre Verschonerung unno- 
thig« und das ist zwar auch nicht zu laugnen und ich konte 
sogar noch mit dem Ansehen des H. Kants* dienen, der nur 
iungen Personen, aber nicht alten einen bunten Anzug gestattet. 
Allein nur schade, daB das orthodoxe System iezt wieder an I0 
eben so lokkern Wurzeln hangt als damals, da es erst gepflanzet 
war, und daB die theologischen Spinweben durch den Staub, 
den die Zeit auf sie fallen lassen, fast ganzlich unfahig geworden, 
ferner Fliegen zu fesseln. Man wird also wol in die Bediirfnisse 
der Zeit, worein die Kirchenvater sich schon einmal gefuget, 
sich zum zweitenmale fiigen und der Rtikkehr des Obels mit 
der Wiederholung der Kur begegnen mussen. Und das iiberdies 
auch noch aus einem neuen Grunde. Denn wenn es wahr ist 
(wie denn noch niemand daran gezweifelt) daB der Korper der 
Religion nach und nach zu einem theologischen Skelete einge- 20 
gangen, so kan es.fiir einen rechtschaffenen Gottesgelehrten wol 
kein dringenders Geschafte geben, als ihr das Fleisch durch den 
poetischen Schmuk, der es sonst nur hob, iezt zu ersezen. Ein 
Geschaft, dazu auch das Beispiel der Anwohner des Oronoko- 
flusses schon langst hatte ermuntern soil en, welche sobald die 
Verwesung ihren toden Konig ganz entfleischet hat, sein Skelet 
mit Gold und Edelgesteinen aufpuzen, wie man damit lebende 
Potentaten aufpuzt. 

Die Sache ist mir so wichtig - denn die Poesie kan uns noch 
einige Zeit fur den Aufschub der Wunder schadlos halten, die, 30 
so unentbehrlich sie auch (wie ich mit zween beruhmten Gottes- 
gelehrten glaube) zur zweiten Griindung unsers Glaubens sind, 
sich doch wol schwerlich yor dem Ende dieses Sakulums bege- 
ben diirften - die Sache ist also wie gesagt, mir so wichtig, 

* S. Beobachtungen iiber das Gefiihl des Schonen und Erhabnen. 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 759 

(und mir, hoff ich, nicht allein) dafl ich ohne Mittheilung eines 
gutgemeinten Raths mich von ihr loszureissen nicht fahig bin. 
Da sich namlich nur bei wenigen Theologen die Geschiklichkeit 
voraussezen lasset, durch poetischen Schmuk die Griinde zu er- 
sezen, weil die meisten fast bios durch Distinkzionen sie zu erse- 
zen gelernt, so mus man auf Muster denken, die die Vervolkom- 
mung hierinnen erleichtern. Vielleicht werd' ich, wenn ich nun 
dazu die Schriften der neuern Philosophen vorschlage, sowol 
ieden Verniinftigen als auch den Erfolg auf meiner Seite haben. 

io Mir wenigstens sind keine Biicher bekant, wo die Phantasie 
den Verstand so fleissig ablosete und der Kopf sich in die Flugel 
so gluklich verlarvte als eben iene. Sogar an Stellen, wo die 
Phantasie auch die Saze, mit welchen die gesunde Vernunft in 
offenbarer Feindschaft lebt, unter ihre grossen Flugel in Schuz 
nimt, wie eine Henne ihre Kuchlein in Schuz nimt, sind die 
Schriften unsrer Philosophen nicht arm; und solche Stellen ha- 
ben fur den Theologen doch bei weitem die meiste Brauchbar- 
keit. Daher kan man die Lesung derselben ihm so lange nicht 
genug empfehlen, als sein poetischer Geist zur Hervorbringung 

20 der Deklamazionen, die mit dem gesunden Verstand abwech- 
seln sollen, noch fremde Nahrung braucht. Ich wil nicht hoff en, 
daB man von mir die arglistige Absicht argwohne unbefestigte 
Orthodoxen zur Philosophic anzukodern und ihnen den Apfel 
des Erkentnisses unter dem Namen von poetischen Blumen in 
die Hande zu spielen. Denn zwar zu Wolf's Zeiten, wo die Phi- 
losophic alien ihren Gift noch bei sich fiihrte, hatte mein Rath 
vielleicht verdachtig sein konnen; aber in unsern, wo man diesen 
Man und seine Nachahmer der Vergessenheit endlich Preis ge- 
geben, die seine Sucht nach Griinden wol eher verdient hatte, 

30 wurde so ein Argwohn etwas Schlimmeres als Unbekantschaft 
mit unserer Litteratur zu erkennen geben. Ich hatte daher nam- 
lich die oben angefiihrten Dienste, welche die Dichtkunst der 
Theologie geleistet, sehr gut mit dem noch vermehren konnen, 
daB sie der Philosophic die zynische Kleidung abgeschwazet und 
dafiir ihren eignen kostbaren Schmuk ihr aufgedrungen. Denn 
eben der poetische Anzug war fur die Philosophic, urn nicht 



760 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

viel zu sagen, ein Sterbekleid, wo nicht gar das Kleid, das den 
starken Herkules vergiftete. Dem Poeten folglich einzig und 
alleinhat derTheolog die almahlige Ausrottung des Philosophi- 
rens zu verdanken. Zwar spielt noch ein gewisser Skeptizismus 
die verstorbne Philosophic; allein da er mehr ein Kind des Her- 
zens, als des Kopfes ist, und auf den Ruinen der Demonstrazio- 
nen vielmehr eben das Wunderbare aufbauet, so konnen Theo- 
logen philosophische Schriften auch von dieser Seite genom- 
men, ohne den geringsten Schaden lesen. 

Allein poetischer Schmuk leihet einer theologischen Schrift 10 
ausser der Festigkeit, auch Schonheit; so wie man das Gebaude 
mit Kalk nicht nur ntauert, sondern auch tuncht, und damit nicht 
nurseinem Innern Haltsamkeit, sondern auch seiner Oberflache 
Glanz ertheilt. Nun glaub' ich zwar genie, daB viele Theologen 
der Dichtkunst eine solche Ankoderung der Leser lieber gar 
wieder zuriikgeben mochten; und zu ihrer Entschuldigung vor- 
schiizen werden, daB eine Sprache, welche deutsch, harmonisch 
und geschmukt sei, sich schlechterdings mit der Wiirde religio- 
ser Schriften nicht vertrage; daB man vielmehr eben deswegen 
von ieher in Predigten pp mit dem Hauptendzwek, der gesunden 20 
Vernunft todliche Stosse beizubringen, immer noch die Neben- 
absicht, auch auf den Bruder derselben, auf den gesunden Ge- 
schmak Seitenhiebe zu fiihren, zu verbinden getrachtet, so wie 
Merrettig und Zwiebeln den Gaumen sowol als die Augen beis- 
sen. Ja ich bin so sehr wie sie selbst (iberzeugt, daB die christliche 
Demuth fur theologische Gedanken eben so streng wie fur theo- 
logischeLeiber schlechte Kleidung verordne. Allein ich seh' nur 
auch nicht ein, warum die Gottesgelehrten dem Geschmakke 
der Zeiten, dem sie doch schon ihre vorige zerrissene Eremiten- 
kleidung aufgeopfert, noch gar die verstummelte Einkleidung 30 
ihrer Saze aufzuopfern sich weigern konnen. Denn leider! ist 
es doch nur mehr als zu wahr, daB das iezige, durch Franzosen 
verwohnte, weichliche und schwelgerische Publikum die besten 
und von dem gewohnlichen Menschenverstand ganzlich abwei- 
chenden Schriften doch nur dan erst seiner Lesung und seines 
Beifals wiirdigt, wenn ihnen auch das kleinere Verdienst eines 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 76 1 

bezaubernden und bilderreichen Stils nicht fehlet - so sehr zieht 
maniezt das Angenehme dem Niizlichen vor, und so sehr duldet 
man die Belehrung wenigstens nur in der Larve der Belustigung, 
gleich den Metallen, welche das Gold so lange verschmahen, 
als man es ihnen ohne die Beimischung des Queksilbers (des be- 
kanten Sinbildes des Wizes) anbietet. Man kan sich daher urn 
die iezt so wenig beliebte Theologie nicht besser verdient ma- 
chen als durch ihre Verschonerung: denn nur den Mangel der- 
selben allein und keinesweges einen vernunftwidrigen Inhalt 

10 hatte man die Abnahme ihrer Liebhaber verantworten lassen 
sollen. Und die Theologen, welche das Publikum darum lieber 
gar eines ganzlichen Kaltsinnes gegen alle Schriften, die Saze 
iiber und wider die Vernunft enthalten, beschuldigen wolten, 
begiengen also aus zu vielem Eifer eine kleine Ungerechtigkeit. 
Vielmehr mus man ihm bei aller seiner Ausartung doch den 
Ruhm noch lassen, daG es Wissenschaften, die auf Verminde- 
rung des so haufigen gesunden Menschenverstandes abzielen, 
allerdings zu schazen wisse; und ware mir davon auch weiter 
kein Beweis als seine neuerliche Liebe zur Alchymie, einer Wis- 

20 senschaft, die in der Menge der Unbegreiflichkeiten nun gewis 
mit ieder Theologie in der Welt sich messen darf, bekant, so 
wiird' ich mich schon durch diesen berechtigt glauben, dasselbe 
von aller Gleichgiiltigkeit gegen das Vernunftwidrige loszu- 
sprechen. Aber man sehe nur freilich auch, mit welcher Schwar- 
merei, mit welcher Bilderverschwendung und Nachahmung der 
neuesten Schreibart alchymistische Bucher geschrieben sind. Ja 
fanden denn nicht eben die wenigen Schriften, worinnen die 
Orthodoxie im goldnen und englischen Einband der Poesie aufge- 
treten und die diirren Termen in bliihende Metaphern ausge- 

30 schlagen waren, gerade die meisten Leser? Wenn H. Goze in 
Hamburg nicht eben so wie H. Teller in Zeiz die Bewunderung 
der Lesewelt erregt, so liegt die Schuld nur daran, daft er mit 
ihm bios das System, aber nicht auch den Wiz des h. Augustins 
gemein zu haben trachtet. Und es haben daher schon vor mir 
viele einsichtsvolle Orthodoxen den Wunsch geaussert, dafi es 
dem Hern Hauptpastor, diesem wahren theologischen Herku- 



7<52 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

les, der schon so manchem heterodoxen Ungeheuer das Lebens- 
licht ausgeblasen hat und noch ausblasen wird, gefallen mochte, 
kiinftig in einem angenehmen Stile zu verkezern, der gewis sei- 
nen Bemiihungen einen weitern Wirkungskreis erofnen wiirde. 
Er sage nicht, daB hamburgische Orthodoxie sich mit Leipziger 
Belletristerei nicht vereinen lasse. Derm oft genug nab' ich ham- 
bur gisches Rindfleisch und Leipziger Lerchen in Einen Magen 
gehen sehen; und er wird sich auch selbst aus dem Hoseas auf 
die Engel besinnen, an denen sich der Kopf ernes bekanten vier- 
fiissigen Thieres sehr wol mit Flugeln vertrug. - Liefe endlich 10 
die Anfiihrung meines eignen Beispiels nicht wider die Beschei- 
denheit, so kont' ich von meinem Aufsaze iiber die Wunderga- 
ben*, den ich mir von meiner Phantasie ohne Einhelfen des 
Verstandes diktiren lassen, bemerken, daB er Lesern, deren Ur- 
theil gar nicht gleichgiiltig ist, zu gefallen das Gliik gehabt, ia 
daB ich zu fernern Arbeiten dieser Art von mehr als Einem Orte 
zu schmeichelhaft fur mich bin aufgemuntert worden. 

Und nun endlich der lezte Nuzen der Poesie! Sie bringt vor- 
namlich das Herz auf die Seite der Theologie, gegen welches 
alsdan der Kopf wenig mehr verschlagt und iiber dessen Warme 20 
derselbe gern ieden Mangel des Lichts verschmerzt oder besser 
vergist. Ich freue mich, daB ich den Leser dieser Lobrede auf 
die Poesie hier nicht mit blossem Vernunfteln abzufertigen 
brauche, sondern sogleich mit Erfahrungen iiberzeugen kan. 
Ich beruffe mich auf die Litteratur- und Kirchengeschichte des 
vergangenen Jahrzehends. Nur zu wahr wird ieder Theolog die 
traurige Bemerkung finden, daB der Orthodoxie niemals ein 
so gewisser Untergang als damals bevorstand. Wie sehnlich sah 
sie nach neuen Wolken sich um, die sie, wie sonst Wolken die 
homerischefn] Helden, dem Auge des Feindes entzogen! Ganze 30 
Herden Wolfe hatten sie in ihren heiligen und dunkeln Hainen 
angefallen, als sie ohne Feuer war, sie wegzuschrekken, und so 
gar ohne ein Spizbubenpfeifgen, ihre Gefahr zu melden. Aber 



* Ich lies ihn in Pfenninger's Samlungen zu einem christlichen Maga- 
zin einriikken. 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 763 

dank sei es der Diana (dem Mond), die nun bei den Deutschen 
den Vater der Verse vertrit, daB sie, die zu Nachts kiisset und 
am Tage in den Waldern iagt, diese wilden Thiere theils erlegte 
theils verscheuchte und so der Orthodoxie das theure Leben 
erhielt. Beilaufig! es war ein sehr gunstiger Zufal, daB die deut- 
schen Dichter eben damals gleich den Karaiben, die Luna mehr 
als den Phobus verehrten: denn der leztere diirfte die Orthodoxie 
gegen die Wolfe, welche die Mythologie zu seinem Lieblings- 
thiere macht, in Schuz zu nehmen eben nicht sehr geneigt gewe- 

10 sen sein. Also unfigurlich: Die Poeten des vorigen Jahrzehends 
hatten gewisse Winkel im Reiche der Moral, worein ihre Augen 
sich vorzuglich gern ihres Urins entluden, wie man denn das 
auchnoch an gewissen Hausthieren bemerken kan. Ein solcher 
Winkel war der Wunsch: »o! wenn ich doch wieder ein Kind 
ware!« Ein Wunsch, der sich von dem Befehle der Theologen: 
»ieder Christ bestrebe sich der Lange seiner Ohren eine Elle 
zuzusezen!« innichts als darin unterscheidet, daB er besser erful- 
let wurde. Denn wirklich wurden verschiedne zwar nicht am 
Korper, allein doch vor ihrem Greisenalter am Geiste dasienige, 

20 was sie wiinschten und die angerufne Luna bewies, daB sie iezt 
Kinder eben so gut machen konte als vor Zeiten entbinden, wie 
denn selbst einige meiner besten Freunde so gliiklich waren, 
den Verstand fruher als die Hare zu verlieren. Allein weiter. 
Umsonst riefen die Theologen vorher in unpoetischer Sprache: 
nim deine Vernunft gefangen, urn nicht zum bosen Feinde zu 
fahren. Aber kaum driikten sie ebendasselbe in poetischer so 
aus: »argert dich dein (geistiges) Auge, so reis es aus; bios die 
Thrdnendruse, die neben demselben liegt, macht dich selig; bios 
aus diesen quilt das Wasser des Lebens, das Weihwasser, dessen 

30 Besprengen dich entsiindigt. Und wie die Gottin der Dunziade 
rief; meine Kinder, wer am meisten pisset, erhalt den Nachttopf, so 
ruffen wir dafiir, wer am meisten (mit den Thranendriisen) pisset, 
erhalt das Himmelreich« - kaum war also dieses ausgeruffen, als 
die Augen iedes Gehirn in Thranen ersauften und iedes Herz 
sich gegen seinen Kopf emporte. Und dazumals sah man daher 
denn lauter Heilige, die gleich den gekopften Martyrern, mit 



764 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

ihren Kopfen unter dem Arm d. h. Chapeaubas giengen und 
einige lebhafte Riimpfe kegelten sogar mit ihren runden Haup- 
tern nach den Fiissen der Berliner Bibliothekare. Dazumal tru- 
gen auch die Engel in ihren Sanften keine andern Thiere gen 
Himmel als die langohrichten, die in Italien selber Sanften tra- 
gen, und der Agypter, den man nach seinem Tode enthirnet 
hatte, erkante sich in dem Deutschen wieder, dem ebendasselbe 
bei seinem Leben wiederfahren war. Nur in der Holle allein 
war Licht und das groste Gehirn hatte der Teufel. Beilaufig! 
vielleicht ist noch nicht algemein bekant, daft ebendamals der 10 
bose Feind, weil er seinem gehor[n]ten Kopf die Beherschung 
der klugen Ankomlinge aus unsrer Welt nicht zutraute, den 
Rossen Elias nicht bios mit den Fiissen, sondern auch mit dem 
Kopfe zu ahnlichen wiinschte und durch diesen frechen Wunsch 
seinen Fal wiederholte, so daB ihm zur Strafe auch seine Pferde- 
fusse abgesagt und dafiir Ochsenklauen angesezet worden; eine 
Nachricht, die gewis weiteres Nachdenken verdient, deren 
Richtigkeit iibrigens durch den P. GaBner und durch ein Post- 
skript des Briefs Juda, meines wenigen Bediinkens, hinlanglich 
ausser Zweifel gesezet worden. 20 

Und dies waren denn die Griinde, womit die theologische 
Niizlichkeit der Dichtkunst sich beiahen liesse, deren Anzahl 
und Scharfe iibrigens eine geschiktere Feder leicht wird vermeh- 
ren konnen. Von Einwiirfen dagegen scheinen mir keine son- 
derlich wichtig zu sein, ausser zweien, mit deren Widerlegung 
ich dan schliessen wil. 

Der erste Einwurf, mit dem, ich woke wetten, auch H. Goze 
meine obige Bitte an ihn abweisen wiirde, ist gegen die Mog- 
lichkeit gerichtet, Theologen an die Bildersprache zu gewohnen: 
denn, fahrt der Einwurf fort, fast die meisten kommen durch 30 
ihre Lage, durch ihr troknes Studium u.s.w. urn die Warme 
und die Phantasie, die allein die Hand in der Bilderschopfung 
fiihren konnen; ihre erstarten Finger vermogen hochstens einen 
Choral auf der poetischen Orgel langsam zu durchwaten, aber 
nicht mit dichterischen Gemsenspningen ein Allegro auf einem 
Fliigel zu gallopiren. Und diesen Mangel an Phantasie und 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 765 

Warme gesteh' ich auch gerne zu; nur aber die Folge daraus 
nicht, die Unfahigkeit zur Poesie namlich nicht. Ich weis wol, 
es ist eine iiberalangenommene Meinung, daB nur feurige und 
phantasiereiche Kopfe sich auf die Kunst verstiinden, Farbe auf 
Farbe aus ihrem Pinsel regnen zu lassen und Bilder iiber Bilder 
zu schlichten; allein wird denn diese Meinung auch von der 
Erfahrung unterschrieben? und hat man wenigstens nicht viel- 
leicht die Handschrift der leztern nachgemacht und zum grosten 
Schaden der Dichtkunst nachgemacht, von welcher dadurch 

10 mancher gute Kopf sich auf immer abschrekken lassen, der sei- 
nes Mangels an Phantasie und Warme ungeachtet mit der Zeit 
unsern besten Dichtern sich diirf te beigesellet haben? Ich mochte 
daher vielmehr im Gegentheil behaupten, daB zu viel Feuer die 
poetischen Blumgen verwelken mache, aber massige Warme 
hingegen sie hervorlokke und daB denen, die gern die bemalte 
Larve eines Gedanken in noch eine verlarven und ein Bild zum 
Vorhange eines andern machen wollen, die Kalte ganz und gar 
nicht schade. Man versuch' es nur ohne den Beistand der leztern, 
seine Blikke dem Hauptgegenstande untreu zu machen und sie 

20 urn die bunten Ahnlichkeiten desselben buhlen zu heissen: so 
wird man den Versuch schlecht genug ausfallen sehen. Wenn 
man bios warm ist, so kan man den Gegenstand auch nur malen; 
allein kaum daB man gleichgiiltige und kalte Augen zur Betrach- 
tung desselben mitbringt, ist man schon fahig, stat einer blossen 
Abzeichnung desselben seine Verschonerung zu liefern. So kan 
die Sonne mit alien ihren Strahlen dem hellen Wasser nichts 
als ihr Bild abgewinnen; allein las durch die Abwesenheit ihrer 
Warme ihren Spiegel zu Eis gehartet worden sein, so wird er 
aus ihren Strahlen stat ihres Bildes einen -bunten, blizenden 

30 Schimmer zuriikbilden und auf dem Eise werden Farben spielen, 
die dem ungespaltnen Sonnenlichte fehlen. Daher dampfen auch 
gute Tragodiensteller die flammenden Leidenschaften des 
Schauspielers und Zuschauers mit so vielem Erfolg durch lange 
Allegorien und wizige Einfalle; und nach dem Blizen des Wizes 
kiihlet sich das Wetter fast alzeit, wie man in den Asthetiken 
sich aus[zu]driikken pflegt. Ich selbst besinne mich noch wol 



766 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

aus meinen Jugendiahren, (und verschiedne gute deutsche Dich- 
ter wollen ebendasselbe an sich wahrgenommen haben) daB mir 
die dichterische Erhebung eines Gegenstandes nie besser gelang, 
als wenn ich ganz halt fur ihn war, so wie auch die Kalte im 
Friihling die Baume hebt. Also schon deswegen ware der Rath 
einiger Asthetiker, daB man, um in der Schwulst (oder besser, 
deutscher und der Wahrheit gemasser: Grosse und Erhabenheit) 
der Bilder etwas zu leisten, durch kunstliche Mittel .eine kiinstli- 
che Kalte in sich hervorzubringen suchen musse, die alsdan mit 
leichter Miine sich dem Leser mittheilt, ganz und gar nicht zu 10 
verachten, wenn er auch, dieser Rath, durch das Ansehen eines 
BCiffons gar nicht unterstiizet wiirde, der in seinen Epochen 
der Natur allein nordliche Lander der Zeugung kolossalischer 
Thiere, Gewachse u.s.w. fahig achtet. Solten wol nicht einige 
eben darum den nordischen Ossian dem Homer vorziehen? 
Liesse daraus nicht auch einigermassen sich erklaren, warum 
Milton, mit dem es noch obendrein in der Menge der Bilder 
schon mehr als ein Deutscher aufgenommen, nach Aussage sei- 
ner dritten Frau seine meisten Verse im Winter machte? Doch 
wil ich das nur fur eine hingeworfene Muthmassung angesehen 20 
wissen. Meine Behauptung sol die Theologen zur Dichtkunst 
aufmuntern und sie kan folglich nie genug bewiesen werden. 
Daher nur noch folgenden lezten Beweis! Wer wird den Alten 
wol Feuer fiir den Gegenstand, den sie besangen, absprechen? 
wer ihnen nicht vielmehr ein starkeres, als den Neuern zugeste- 
hen? Und dennoch finden wir in ihren Schriften den Reichthum 
an Bildern und Blumen nicht, auf welchen allein der kaltere 
Deutsche entschiedne Ansprikhe machen darf. Folglich 
schliesse ich daraus, daB allein die Kalte des Kopfes die Ver- 
schwendung poetischer Zierrathen begunstige. Ein Gleichnis 30 
- ich weis wol, daB Gleichnisse nichts beweisen; allein doch 
erlautern kdnnen sie und vielleicht auch wol ergozen, fals man 
sie nur sparsam anbringt und nicht wie einige Englander, den 
Leser auf ieder Seite iiber eines stolpern lasset - wird hier wenig- 
stens nichts schaden. Man betrachte den Blumaschenkohl, wie 
so ohne Farbe ist er nicht im warmen Sommer! wie so bunt macht 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 767 

ihn aber nicht der kalte Winter! - Was endlich die Phantasie 
anlangt, so wird ihre Entbehrlichkeit zum Dichten, durch das 
Beispiel der Manner, die in alien Almanachen singen, und denen 
niemand den Namen grosser Dichter streitig macht, mit deren 
bekanten Talenten aber dennoch Phantasie sich gar nicht verein- 
bar denken lasset, meines Erachtens nun wol entschieden sein. 
Der Philosoph zwar, der unter den vorbeieilenden Ideen eine, 
wie die Schlange einen Raub, mit festem Blikke unbeweglich 
macht und dieser einen durch Bekleidung mit neuen ahnlichen 

10 Theilen, die das fluchtige Auge unterhalten mussen, die groste 
Anschaulichkeit verschaft, dieser, sag' ich, mag wol ohne Phan- 
tasie nicht griibeln konnen; allein wer dem Winde das Beiwort 
sauselnd, dem Donner das Beiwort rollendu.s.w. zurEhe geben 
wil, dem ist Phantasie nun ganz und gar entbehrlich, wiewol 
eben darum Gedachtnis desto weniger. Der Schlus von allem 
diesem ist die Widerlegung des obigen Einwurfs, ist also nam- 
lich, daB der Mangel an Phantasie und Warme dem Gottesge- 
lehrten die poetische und bilderverschwenderische Schreibart 
eben so wenig erschweren konne, als er ihm zeither die Dichtung 

20 geistlicher Lieder erschwerte. 

Die lezte Einwendung ist wichtiger, aber doch nicht unbeant- 
wortlich. Da zufolge der Erfahrung, konte man namlich sagen, 
der Schlaf figiirlicher und unfigurlicher Weise von der Predigt 
angelokt, von dem Gesange aber vertrieben wird, so ware zu 
besorgen, daB die Theologie in der Aussaung des Schlafs, dessen 
hundertfaltige Fruchte (so gar oft inspirirte Traume) man nicht 
sogleich aufs Spiel sezte, durch poelischen Schmuk vielleicht 
konne gestoret werden und daB die Poesie wol nur die Augen 
der Vernunft aber nicht des Korpers, dessen seine man doch 

30 eben so ungern offen sahe als iener ihre, schliessen helfen durfte. 
Ein Einwurf , von dem ich selbst gestehe, daB er ohne Nachtheil 
meiner Behauptung nicht unbeantwortet bleiben kan. Denn ich 
kan selbst nicht laugnen, daB die Einschlaferung des Lesers ei- 
nem theologischen Autor und einem Prediger wenigstens eben 
so sehr am Herzen liegen musse als die Erbauung desselben. 
Und auch ich weis es aus eigner Erfahrung, wie sehr alle Kranke 



768 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

und folglich auch Kranke am Geist der Schlaf erquikke; auch 
mir sind die Ursachen nicht ganz unbekant, warum man den 
Sontag einen Ruhetag genant; auch ich habe einigemale die Hei- 
lung der Sele empfunden, die das Schlafen im Tempel gewahrt, 
so wie sonst das Schlafen im Tempel des epidaurischen Askulaps 
den Kranken heilte; und auch ich kan daher nicht anders als 
den Theologen beipflichten, die den Mohnsamen und den Samen 
des gotlichen Worts in Paren ausstreuen, und einen Kirchenstuhl 
fur einen Gehurtsstuhl der Traume verkaufen. Was aber von der 
Kanzel gilt, gilt nun vom Pulte ebenfals, das sich von ihr nur 10 
durch den Umfang des Wirkungskreises unterscheidet. Allein 
diese Einschlaferung, worauf der Theologie soviel ankomt, ist 
sie denn nun mit der Dichtkunst so gar unvereinbar als der obige 
Einwurf mehr vorauszusezen, als zu erweisen scheint? Zum 
Glukke nicht! Vielmehr last sich aus der Hippokrene der Dichter 
der beste Schlaftrunk zubereiten und man hat mehr als ein Bei- 
spiel, daB schlaflosen Greisen Gedichte eben so gute Dienste 
geleistet als die besten Predigten. Persius rechnet in seiner ersten 
Satire einen Schlaf auf dem Parnas unter die Voriibungen eines 
Dichters; nun brauch ich wol nicht erst zu melden, daB man 20 
ihn zu nichts anderem brauchen konne, als ihn seinen Lesern 
mitzutheilen. Was last sich bei den unzahligen Traumefn] in den 
Almanachen fur eine andre Absicht denken, als die, die Kaufer 
ein zuschla fern? Man lasse sich hierin nicht durch das Geniefeuer 
der neuern Verse irre fuhren: denn auch iibermassige Warme 
ofnet dem Schlaf das Thor des Mundes so gut als iibermassige 
Kalte. Beim ersten Anblik zwar scheint die dichterische Lebhaf- 
tigkeit, die man, wenn sie ohne Sylbenmas und Reim auftrit, 
sehr schiklich mit dem Namen Raserei belegt, der Einschlafe- 
rung wenig Fortgang zu versprechen; allein man spiire dem 30 
Scheine nur defer nach, so wird man finden, daB eben die iezige 
Bilderverschwendung weit mehr Leser als sonst kalte Reime 
in Schlummer miisse wiegen konnen, weil, wie schon Haller 
angemerkt, das Einschlafen gern mit einer Art von Verstandes- 
verwirrung anfangt. Folglich bleibt den iezigen Poeten bei der 
neuen Ahnlichkeit mit dem Opium, den gesunden Verstand 



BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 769 

zu entkraften, imrrier auch noch die alte unbenommen, einzu- 
schlafern; und es macht den Deutschen nur desto grossere Ehre, 
daB sie nicht bios von Addison mit einer Schlafmiize*, sondern 
auch [von] Shakespear mit einer Schellenkappe gekronet wur- 
den, so wie Bonifazius VIII zu nicht geringer Ehre der Pabste 
die Krone derselben verdoppelte. Man wird nun von selbst er- 
rathen, daB Theologie und Dichtkunst in nichts als nur in den 
Mitteln der Einschlaferung sich unterscheiden konnen; und man 
konte folglich, wenn man das Publikum mit einem Kinde ver- 
10 gliche, richtig sagen, daB es von dem mutterlichen Busen des 
Theologen mit der Milch des Evangeliums in den Schlaf gesau- 
get, und von der Ammenkehle des Poeten in den Schlaf gesungen 
werde. Eine Vereinigung dieser beiden Mittel aber, welche Ruhe 
mus sie nicht bewirken! Nur wiinsch' ich noch, daB alle Leser 
den Schlaf, den sie aus den Schwingfedern des Schwanes bekom- 
men, auf den Pflaumfedern desselben geniessen mogen! - 



* Ich meine den Zuschauer des Addison, der zu den vielen deutschen 
Wochenschriften Anlas gab, die, wie Geistliche,ieden die Woche einmal 
einschlaferten. 



ANHANG FOR MEINE EINFALTIGEN LESER* 



* Ich schmeichle mir nicht sehr, wenn ich glaube, daG die vorstehende 
oder gar die nachfolgenden Abhandlungen nicht vielen von meinen 
Lesern gefallen konnen. Denn diese Vielen sind nun schon so sehr ver- 
wohnt, nur dan zu lachen, wenn der Autor vorhcht, dafi sie gar nicht 
mehr lachen konnen, wenn sie es allein thun sollen. Sie lieben nichts 
Ernsthaftes mehr, daher nicht einmal das scheinbar Ernsthafte der Ironie; 
sie lieben den Cervantes nur, weil man ihn zum Marot herabtravestirt 
hat; sie beklatschen die iezigen Spasmacher, die unserm Liskov nicht 
die Schuhriemen auflosen konnen, den sie nebst dem zweiten franzosi- 
schern Liskov, (Rabener) vergessen. Fur einen solchen Geschmak ist 
die achte Ironie nicht, und meine schlechte daher noch viel weniger. 
Da ich aber doch nicht demiithig oder ungluklich genug bin, zu fiirch- 
ten, daB dieses Buch nicht mehrere als nur solche, die klug sind, zu 
Lesern werde haben: so hab' ich mich entschlossen, die Hofnung und 
den Wunsch, auch von den einfaltigen gelesen zu werden, der Wirklich- 
keit durch einen Anhang naher zu bringen, der fur die grosse Anzahl 
doch wenigstens leichtere und kurzere Ironien enthalt. 



Ein Feuerschaden 



Ein mit Dampfen gefulter Luftbal, ein Komet oder Trabant der 
Erde, zundete neulich mit seinem Untergange einen Schorstein 
und die nahe Wohnung eines wizigen Kopfes an. Dadurch gieng 
diesem ungluklichen Menschen der ganze Schaz von wizigen 
Einf alien, den er zeither aus unzahligen Biichern und Gesel- 
schaften mit unglaublicher Miihe zusammengetragen hatte, in 
Rauch auf; Exzerpten, durch deren vorlaufige Durchlesung er 
zeither sein kurzes Gedachtnis iedesmal so leicht in den Stand 
sezen konnen, die nachste Geselschaft mit eignem Wize zu un- 10 
terhalten. Er glaubt daher mit dieser Nachricht die, in deren 
Geselschaft er nun einige Zeit langweilig und einfaltig zu schei- 
nen sich genothigt sieht, von der Muthmassung, dafi er beides 
auch sei, einigermassen wenigstens solange abhalten zu konnen 
als er mit dem Ersaze seines Verlustes noch nicht zu Ende ge- 
kommen ist, durch den er so fort in den Stand gesezt zu werden 
hoffen darf, eine hubsche Anzahl wiziger Einfalle fur seine eig- 
nen auszugeben und wieder der alte angenehme Geselschafter 
zu werden. Er wiirde es gern sehen, wenn man Gegenwartiges 
fur den Brandbrief seines Wizes gelten liesse. 20 



Ein Beispiel von der weiblichen Keuschheit und Enthalt- 

SAMKEIT 



Da ich schon seit vielen Jahren an einer Lobrede auf das ganze 
weibliche Geschlecht arbeite und sarnie, so bin ich besonders 
auf iede schone Anekdote, iedes schone Tugendspiel aufmerk- 
sam, womitichdie Zeugnisse fur den Werth der Schonen etwan 
vermehren kan. Darunter gefalt mir eines, das ich im Reisebe- 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 773 

schreiber Shaw gelesen, so ausnehmend, da8 ich mir eine vor- 
laufige Bekantmachung desselben nicht versagen konnen. Ein 
einziger manlicher Palmbaum, sagt dieser glaubwurdige und ge- 
naue Beobachter, ist hinreichend, vier ja fiinfhundert weibliche 
Palmbaume zu befruchten und zu befriedigen. Man sieht leicht, 
daB ein wortreiches Lob hier sehr iibel angebracht ware. 



AVERTISSEMENT 



Um alien Lesern, die ihre Namen gerne gedrukt sahen, zu wil- 
fahren, hat sich ein Man, der hierin auf den Beistand seines 

10 Kopfes und Herzens sich verlassen kan, zur Ankiindigung und 
Herausgabe eines Buchs entschlossen, worin er nichts als lauter 
Namen von Pranumeranten beiderlei Geschlechts zu liefern ver- 
spricht. DieThatigkeit, womit das Publikum sich seines Parnas- 
ses anzunehmen immer mehr anfangt, und die algemeine Ver- 
feinerung, welche den geistigen Vergniigungen den Rang der 
verdrangten grobern immer gewisser zusichert, machen dem 
Verf. des Werks die schonsten Hofnungen zur Unterstiizung 
eines Unternehmens, das dem Parnas und den feinen Vergnii- 
gungen nicht minder als seinem Urheber zum grosten Nuzen 

20 gereichen mus und dem zur Volendung die giitigen Beitrage 
des Publikums unentbehrlich sind. Die Starke und Anzahl der 
Bande hangt daher ganz von der Anzahl der Pranumeranten 
ab. - Der Verf. ist ein so warmer Freund des weisen Ausspruchs: 
rede nicht, sondern handle gleich, daB er unter alien Vorziigen seines 
Werks nur diese zween auszuplaudern sich erlauben kan. Da 
er erstlich in demselben die volstandigste Anzeige von der Be- 
dienung, dem Alter, den meisten Verdiensten eines ieden Pra- 
numeranten nebst seiner Silhouette liefern wird: so schmeichelt 
er sich, durch dasselbe dem Publikum den volkomnern und. 

30 weitlauftigern Addreskalender in die Hande zu geben. - Zweitens: 
er glaubt einen guten Anfang, den alzugegriindeten Klagen der 



774 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

Rezensenten iiber die Abnahme abzuhelfen, in welche die Mode 
der vorigen Gelehrten, das Buch mit einem Namen- und einem 
Sachregister auszustatten, bei uns gediehen, durch sein geistiges 
Produkt gemacht zu haben, das, wenn es gleich kein Sachregister 
enthalt, doch dafiir auch bios aus einem Namenregister besteht. 
Weil sonach das Register den Text ersezen wird, so hoft er nicht 
eitel zu scheinen, wenn er sein geistiges Kind mit einem gewis- 
sen Fische (dem Final) vergleicht, der bios ganz Schwartz - das 
swiftische Sinbild des Registers - zu sein scheint. 



TODESFALLE 



Den 7. dieses hat sich der fromste Rechtsgelehrte alhier, um nicht 
zu verhungern, aufgehangen. Man hat die Haut ihm abgezogen, 
sie ausgestopft und gegenwartig auf unserm Rathhause neben 
den Brecheisen des Nikel Lists aufgestelt, um sie alien Juristen 
gratis zu zeigen, die haufenweise herbeieilen, den Ungluklichen 
in Augenschein zu nehmen und ein Beispiel an ihm zu nehmen. 
Am 18. November wurde PL D. Logon, ein Arzt mit eignen 
und neuen Grundsazen, zur Erde bestattet; am 20. Nov, ver- 
wechselte er das Zeitliche mit dem Ewigen und iiberlebte sein 
Leichenbegangnis kaum zwei Tage. Er war ein so guter Theore- 20 
tiker, daB alle Praktiker des Orts die tiefe Ohnmacht, in die 
er am verwichnen Montag fiel, einstimmig fur die erwunschte- 
ste Gelegenheit erklart hatten, ihn ohne Gegenwehr in das kiihle 
Grab zu senken; und dadurch sowol von ihrer Liebe gegen den 
Seligen als gegen die hiesigen Einwohner, deren Gesundheit 
die gewohnliche Verzogerung der Beerdigungen nur zu hart 
schon biissen muste, eine etwarmige Probe abzulegen. Der Kri- 
ster, von dem ich dieses habe, horte ihn aus dem Erbbegrabnis 
in der Kirche, in welches man ihn beigesezt, ganz vernehmlich 
sterben und sprach ihm in seiner lezten Stunde Trost und Er- 30 
quikkung zu. 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 775 

Am Tage darauf fiel der schon durch verschiedne dichterische 
Arbeiten bekante Poet Falzelius in die Sunde des Selbstmords 
an seiner Sele. Die unglukliche Liebe, die ihm schon neulich 
dieDrohung, sichzuentleiben, auspreste, lies er von unzahligen 
Leiden zum Entschlusse, sich zu entselen, anwachsen, den er 
nun leider! ausgefuhret. Gegenwartig schwebt sein Geist in Ge- 
stalt eines Windes um den Kopf seiner Geliebten und sauselt 
seine Klagen ihr so leise zu, daB sie ihn nicht hort. Sonst befindet 
sich sein Korper noch ganz gesund und Schlaf und Auslerungen 
io gehen ihm nach Wunsch von statten, wie auch die Verdauung. 
Uberhaupt merkt man keinen Be- [BlattschluB] 



Wasserschaden 



Folgender Zufal verdienet zur Warnung der ganzen Kaufman- 
schaft weiter bekant gemacht zu werden. Eine der grosten Ziei> 
den unserer Handelsstadt war wol der gewesene Kaufman Fagel; 
und es scheinet nicht, daB sie seines Gleichen so bald wieder 
bekommen werde. Es ist eine alte Bemerkung, daB der Man 
von Genie sich dem Fache, wofiir er geboren worden, gewohn- 
lich ganz und mit ungetheilten Kraften widmet und fur alles, 

20 was nicht in dassclbe schlagt, Gleichgultigkeit und Verachtung 
verrath. Wo man daher eine solche edle Partheilichkeit fur ir- 
gend eine Beschaftigung antrift, da schliesset man sicher nicht 
falsch auf vorziigliche Anlagen zu dieser Beschaftigung. Unser 
Fagel hatte sie nun vollig fur die seinige. Er f and (ich schmeichele 
ihm hier nicht und seine bittersten Feinde mussen dasselbe sa- 
gen) in der ganzen Welt nichts seiner Achtung und Liebe wiirdig 
als den Handel; diesem weihte er alle Krafte seines Korpers und 
seiner Sele; nur die wenigen Wissenschaften, die auf diesen einen 
wichtigen Bezug hatten, lernte er und fur die iibrigen gab er 

30 keinen hollandischen Pfeifenstiel - (daher wafen die Gelehrten 
die gewohnlichen Gegenstande seiner beissenden und lauten, 



776 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

aber gerechten Satire und von seinem Ladendiener hegte er 
heimlich eine hohere Meinung als von mir) - diesem endlich 
opferte er alle andre Riiksichten auf , und wenn mit ihm sogar 
die Religion in Widerstreit gerieth, so entschied er gleichwol 
zum Vortheil des Handels; eine Entscheidung, die allerdings 
manche nicht so lobenswiirdig als ich befinden mogen, allein 
diese verrathen auch dadurch auf einmal ihre ganze Unwissen- 
heit in dergleichen Dingen. Eine Meinung, die er mir einmal 
anvertraute, stellet uns den ganzen Man leibhaftig vor die 
Augen. Er gab mir namlich zu verstehen, (ich sas damals nicht 10 
im Armsessel, sondern auf dem Arm desselben, der mir stat 
eines Quersattels diente) daB er seines Orts von den Freuden 
der Seligen im Himmel die unwurdigen Begriffe nicht hegen 
konne, welche die Kanzeln uns gewohnlich davon machen. Mit 
horbarer Oberzeugung bat er mich, es ihm doch aufrichtig zu 
gestehen, ob ich nicht selber die innerlich verlachte, welche uns 
lehren, daB unsere ganze ewige Seligkeit in einem immerwah- 
renden Singen und Harpfen und Musiziren bestehe; ein Vergnu- 
gen, sezte er hinzu, an welchem unter alien Seligen hochstens 
die Kapelmeister einigen Geschmak finden wiirden. Denn er 20 
frage mich kek, beschlos er, ob nicht diese ewigen Konzerte 
der ganzen ansehnlichern Kaufmanschaft im Himmel vielmehr 
hochst langweilig oder gar lacherlich vorkommen mussen? zu 
geschweigen, daB wenigstens er nicht bios mit den Ohren, fur 
deren gute Werke doch nur allein ein musikalischer Himmel 
belohnen wiirde, der (iberdies mit seinem blossen Silberklange 
das schon auf der Erde an den bessern Goldklang gewohnte kauf- 
mannische Ohr nicht sonderlich erbauen konne, nicht bios mit 
den Ohren, sage er, sondern auch mit andern Gliedern Got 
diene. Am Ende dieser Frage zog er die Achseln und schnalzte 3c 
mit der Zunge ein vernehmliches Mitleiden mit dem hiesigen 
Nachmittagsprediger. Er muste auf meine Antwort warten, 
weil ich beschaftigt war, meinen iiber die Knie hinausgebognen 
Kopf unverriikt zu halten, urn den Abflus meines Speichels nicht 
in seinem Falle zii storen; endlich sagte ich aber: was das leztere 
anlange, so wisse ich es selbst, daB er nicht bios mit den Ohren, 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 777 

sondern auch mit der Nase und nicht selten mit der Zunge tu- 
gendhaft sei. Allein das erstere, den Abscheu vor der Musik, 
fande ich an den Kaufleuten und sogar an ihm selber nicht; und 
berief mich desfals auf die ansehnliche Pranumerazion derselben 
zu den hiesigen Winterkonzerten. Auch lies ich ihn mein Be- 
fremden merken, wie er so reden konnen, da er selbst dieselben 
mit den starksten Beitragen und mit den haufigsten Besuchen 
beehret habe. Hier ersuchte er mich mit einiger Heftigkeit, ihn 
an diese so verhaste und so oft bereuete Ubereilung nicht mehr 

io zu erinnern, zumal da an den Beitragen »die drinnen« (hier wies 
er auf ein anstossendes weibliches Zimmer) mehr als er selber 
schuld waren. Und was das vorgeworfne Besuchen der Kon- 
zerte angehe, so konne er mir auf seine Ehre versichern, daft 
er in denselben nie die geringste Ergozung finden konnen und 
ihnen das Knarren seiner Wage vorzuziehen nicht anstehen 
wiirde; (andern Kaufleuten gehe es eben nicht besser) »allein, 
sagte er, bezahlt sind sie einmal und theuer bezahlt, was wil 
man anders machen, als man gehet hinein, damit man das Geld 
nur nicht ganz zum Fenster hinausgeworfen hat, ob man gleich 

20 freilich oft die Langweile darinnen kaum wiirde aushalten kon- 
nen, wenn man sie nicht einigermassen wieder mit den Augen 
oder dem Gaumen sich vertriebe.« Wir kamen zur Hauptsache 
zuriik und meine Leser iezt mit. Da erofnete er mir, dafi er 
zu Got das Vertrauen habe, er werde frommen Kaufleuten, fur 
die er schon auf der Erde so gesorget, daB er ihren Stand iezt 
beinahe iiber die meisten andern erhoben, auch im Himmel die 
Freuden nicht versagen, welche ihren Wiinschen angemessen 
seien und ohne welche sie den Verlust ihrer irdischen in Ewigkeit 
nicht verwinden konten; sei nun das wahr, fuhr er fort, so sei 

30 leicht zu errathen, daB unter den Freuden der Seligen eine Art 
von Handel den obersten Plaz einnehmen musse. Auch gebe 
hieruber die Bibel die unzweideutigsten Winke und die Offen- 
barung Johannis lasse sich sogar bis zur Nachricht heraus, daB 
in dem ausgebreiteten Handel, der zwischen dem Himmel und 
der Holle wiirde getrieben werden, das Wasser den wichtigsten 
Artikel werde ausmachen. Mich (ibrigens versicherte er, ob ich 



778 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

schon ein Gelehrter sei, so fiirchte er doch nicht, daB ich verdamt 
werde, angesehen ich vor andern mich beeifert habe, sowol mei- 
nen Verstand als meine Leidenschaften zu schwachen und zu 
unterdriikken: sondern er hoffe gewis, mich im Himmel als 
einen Schnuriuden wiederanzutref f en . - So ein Man war Herr 
Fagel. Allein ware mir seine beilaufige Schilderung nicht zu lang 
gerathen: so wiird' ich wol noch hinzufugen, daB, wenn anders 
die edeln und volkomnen Metalle ihren Besizer veredeln und ver- 
volkotnnen konnen, Fageln niemand, der seinen Reichthum 
kante, ein edles Herz und einen volkomnen Verstand absprechen m 
konte. Allein wie gesagt der Raum mangelt mir zu diesem Zu- 
saze, den ich daher ungern zurukbehalte. Ich weis meinen Leser 
mit der erstaunlichen Weitlauftigkeit in der Nebensache nicht 
anders wiederauszusohnen als durch eine eben so grosse Kiirze 
in der Hauptsache und ich wil dieser das abbrechen was iene 
zu viel hat. 

Dieser musterhafte Kaufman versah es, ungeachtet er dop- 
pelte Handlungsbucher wie Christus angeblich doppelte Ge- 
schlechtsregisterfuhrte, gleichwol darin, dafi er sie schlecht auf- 
bewahrte: denn sonst wiirde ihn wol nicht das Ungliik betroffen 20 
haben, daB ihm vom Wasser des lezten Winters das eine Han- 
delsbuch, das er bios zum Gebrauche vor Gericht bestimmet 
hatte, ganz und gar verdorben wurde. Dieser Verlust war uner- 
sezlich und er dadurch auf einmal ein geschlagner Man. Seine 
Furcht vor dem andern Handelsbuche, worin beinahe lauter 
wahre Zahlen stehen, fras ihm ordentlich das Herz ab und man 
hat sich daher nicht zu wundern, daB man ihn vor einigen Tagen 
ertrankt gefunden. Ich wiinschte, diese Erzahlung nittelte man- 
chen Kaufman aus der Sorglosigkeit, worin er iiber die Sicher- 
heit seiner beiden Handelsbiicher steht, an deren einem oft doch 30 
sein ganzer Reichthum hangt. - So eben vernehm' ich, daB die 
Auguren aus den Eingeweiden, namlich die Arzte mit ihren 
Messern in dem Leichname des Ungliiklichen die Auflosung 
der Frage, ob er aus Verzweiflung oder Wansin ersoffen, sollen 
gesucht, alkin nicht recht gefunden haben. Man muthmasset 
daher stark, daB die Familie ihre Ehre auf eine andre Weise retten 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 779 

und mit einigen Zeugen zu beweisen suchen werde, daB ihr 
entseelter Anverwandter vor seiner That deutliche Ausserungen 
der Verriikkung spiiren lassen, als welche uberhaupt - glaubt 
man, wird die ansehnliche Familie, urn ein ehrliches Begrabnis 
desselben auszuwirken, vorstellen - in dem ganzen Fagelschen 
Geschlechte erblich sei. Ich denke indessen meinen Theil und 
schweige; wenigstens weis ich soviel, (und das ist kein gutes 
Zeichen) daB der Verstorbne sich schon hie und da sehen und 
horen lassen und daB iezt seine Sele ohne den Korper herum- 
io wandelt, wie sonst sein Korper ohne die Sele. Got gebe! daB 
es gestern zum ersten und leztenmale war, daB mich mein ver- 
storbner Freund mit seiner Erscheinung star machte und hernach 
mich bestieg und auf mir nach Hause rit. Du lieber Himmel! 
mich wandelt der gestrige Schauer iezt wieder an und die Furcht 
schuttelt mich dermassen, daB ich nicht im Stande bin, den Pe- 
rioden zu schliessen; 



Nachricht von einigen neuen Larven, die bei Benstof in 
der veitsstrasse zu bekommen sind 

(Aus unserer Zeitung) 



20 Das hiesige Publikum weis es schon, daB ich mich stets mit 
der Vermehrung seines Vergniigens beschaftige: beinahe in ie- 
dem der sechs Jahre meines Hierseins bin ich mit neuen Erfin- 
dungen hervorgetreten, welche unserer Retoude und dem Pu- 
blikum und mir selbst die groste Ehre machten. Mein Vorfahr 
lies es hierinnen beim Alten bewenden und unstreitig mag er 
seine guten Ursachen dazu gehabt haben; er war sonst ein guter 
KopL Ich weis nicht, ob es dem Publikum gelegen ist, daB ich 
meinen Vorganger in Neuerungen so weit hinter mir lasse; aber 
ich kan fur diese ungewohnliche Fruchtbarkeit meines un- 

30 scheinbaren Kopfes wenigstens nicht: schon von Jugend auf san 
ich Sachen aus, worauf der Hundertste nicht gefallen ware und 



780 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

ich bin oft iiber mich selbst in die groste Verwunderung gera- 
then, so daB ich mehr als einmal-zumeinenanwesendenBaronen 
sagte: »Sagen Sie mir nur doch, (Sie. sind ia Gelehrte) wienach 
es menschmoglich ist, daB einer sich immer was Neues aussin- 
nen kan und immer noch mehr, ohne daB es in seinem Verstande 
alle wird; das weis ich nun nicht, woher das bei mir gerade 
komt: mein Vorfahr z. E. hatte von dergleichen nichts an sich. 
Ich glaube, es ist auch nicht alien gegeben.«- 

Dames und Herren beschwerten sich zeither mehr als sonst 
bei mir iiber ihre Kentlichkeit, der auch die sonderbarsten Mas- 10 
ken nicht abhelfen konten, sagten sie. Ich san diesem Ubel lange 
nach und brachte doch kein Mittel dagegen heraus. Endlich ge- 
rieth ich auf die Muthmassung, ob nicht vielleicht eine Larve, 
welche gerade das Widerspiel von dem, der sie traget, ware, 
das Mittel abgabe, das ich suchte. Ich machte also an einem 
wiirdigen iungen Offizier, der gewohnlich kein anderes Glied 
als seine Augen bewafnet, die Probe und schlug ihm zu einer 
Redoutekleidung, die mit seinem Karakter so unvertraglich 
ware als nur moglich, eine formliche Soldatenriistung vor. Und 
siehe! die Probe fiel so gluklich aus, daB wir es nicht besser 20 
hatten wiinschen konnen: der ganze Maskensal wurde irre ge- 
fuhret und man glaubte algemein, der Offizier sei ein Krieger 
und Soldat. - Mein Erstes darauf war, eine unmassige Menge 
Larven fur die verschiednen Stande und Mitglieder des hiesigen 
Publikums auszudenken und verfertigen zu lassen, von welchen 
iede dem Karakter dessen, fur den sie bestimt ist, so sehr wider- 
spricht, daB ihn niemand darunter suchen und errathen kan. 
Ich glaube also wol versprechen zu diirfen, daB die kunftige 
Retoude um gar vieles brillanter als die vorigen ausfallen werde; 
Kosten wenigstens hab' ich darauf soviel angewandt, daB ich 30 
zufrieden sein darf, wenn mir der zahlreichste Zuspruch nur 
die Halfte davon wieder erstattet, und auch gern zufrieden sein 
wil, da es bekantermassen nicht das erstemal ist, daB ich die 
Ehre der hiesigen Noblesse freiwillig auf Kosten meines leren 
Beutels behaupte. - Vielleicht giebt es aufgewekten Herren und 
Damen im voraus zu lachen, wenn ich Ihnen sub rosa hinter- 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 78 I 

bringe, daB ich selber die Masken mit vermehren werde; ich 
werde aber namlich erscheinerr mit zwei langen Hornern auf 
dem Haupte, dergleichen Ehemanner zu tragen pflegen; und 
hinter dieser narrischen Vermummung wird wol niemand, 
glaub* ich, sich einfallen lassen,'den Benstof zu suchen, selbst 
meiner Frau werd* ich zum erstenmale unkentlich und liebens- 
wiirdig vorkommen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, mich 
bei den Lesern und Leserinnen dieses Blattes, wenn der Bal zu 
Ende sein wird, zu erkundigen, ob sie nicht wirklich, wie ich 

10 vorausgesagt, mich in meiner neuen Larve verkant und wol 
gar fiir einen ihrer vornehmen Freunde werden gehalten haben. 
Nur mus ich hier im voraus gegen alien Verdacht protestiren, 
daB ich mit meinen Hornern eine Satire auf den ganzen Sal her- 
umtragen wolle; wahrhaftig ein Verdacht, der mich vollig (wo 
Got fiir sei!) urn mein Brod bringen konte: ich werde mich 
daher durch genugsame Versicherungen von alien manlichen 
Masken, meine Verkleidung fiir keine Satire auf sich zu halten, 
vorher sicherstellen oder sonst den ganzen Spas aufgeben. - 
Doch ich schreite zu ernsthaftern Sachen und wil iezt einige 

20 der neuen Masken etwas naher beschreiben. 

Erstlich ist bei mir zu haben eine Retoudekleidung fiir die 
wiirdigen Hern Rechtsgelehrten alhier; vorstellend die Gottin 
der Gerechtigkeit nebst Zubehor. Der Einfal ist ubrigens nicht 
von mir, sondern von einem alten Gelehrten. Dieser stelte mir 
vor, daB man iedem Troz bieten konne, eine unkentlichere Ver- 
larvung fiir einen Priester der Gerechtigkeit ausfiindig zu machen 
als die in die Gottin derselben sei; denn von ieher ware dem 
Gotte nichts unahnlicher gewesen als der Priester. Daraus (dies 
sind alles seine eignen Worte) miisse man es sich erklaren, 

30 warum die alten Priester gewohnlich wenn sie inkognito han- 
deln wolten (hier machte der alte Gelehrte mit einigen Zoten 
mich roth), sich in ihre Gotheiten verstellet haben. Er entdekte 
mir auch Ursachen von dieser Unahnlichkeit zwischen dem 
Gotte und dem Priester; ich habe sie aber alle bis auf diese ver- 
gessen: der erstere sei namlich ein iiberirdisches, der andre aber 
nur ein irdisches Wesen, der erstere unendlich und der andre 



782 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

endlich; daher lasse sich zwischen dem Priester der Gerechtigkeit 
und zwischen der Gottin derselben schlechterdings keine Ahn- 
lichkeit denken. - IndeB mus es doch erst die kiinftige Retoude 
ausweisen, ob der alte Gelehrte richtig geschlossen; wiinschen 
wil ichs wenigstens zum Vergniigen aller Rechtsgelehrten, wel- 
che meinen Bal mit ihrem Besuche zieren werden. 

Wre ich hore, so haben sich auch einige Hofleute entschlossen, 
den Glanz meiner Retoude mit ihrer Gegenwart vermehren zu 
helfen. Ich wiinschte, Ihnen von meinem Danke fiir diese kiinf- 
tige Ehre keine so schwache Probe geben zu konnen, als die 10 
ist, daB ich fiir Sie eigenhandig einige Masken zurichte, welche 
(wenn es mir gliikte) den volkommensten Schelmengesichtern 
wenig oder nichts nachgeben diirften und zu deren iedem Zuge 
mir beinahe die ausgemachtesten Spizbuben gesessen sind. Ver- 
rathen diese Herren mithin nur nicht durch ihre Herschaft iiber 
die andern Glieder ihren Werth, so darf ich wol hoffen, daB 
sie uns alle, die wir sie nur unter ihren lachelnden, gefalligen 
und friedlichen Gesichtern kennen, mit diesen boshaften Larven 
tauschen und zu ganz lacherlichen Muthmassungen verleiten 
werden. Wenigstens wil mir fiir diese Unkentlichkeit ein hiesi- 20 
ger Schauspieler fast Biirge sein; und das, weil er an sich etwas 
ahnliches schon erlebt zu haben glaubt. Er erzahlte mir, es sei 
gar nichts ungewohnliches, daB manche Zuschauer den fleisch- 
farbigen Uberzug, wodurch er den Gliedern, von welchen seine 
Rolle es verlangte, den Schein der Naktheit gegeben, fiir seine 
eigne nakte Haut genommen hatten. Und ich glaube beinahe, 
er hat Recht; aber ich hatte doch nicht sogleich auf diesen einzi- 
gen Fal hin cine so hohe Wette, daB der ganze Saal diese Verlar- 
vung der Hofleute fiir ihre Entlarvung anzusehen sich werde 
vermogen lassen, eingehen sollen. 30 

Der Herr, welcher den Baron G. aus Paris hieher begleitete, 
lies neulichbei mirnacheinem Nasenfutteral anfragen, von wel- 
chem er sich alle Dienste einer ganzen Maske verspricht. Ich 
melde ihm hier offentlich, daB die Sache zwar auch angehet 
und recht gut angehet; allein ich wiinschte mir die Ehre, mit 
ihm einmal unter drei Augen zu sprechen, so wiird' ich ihm 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 783 

einen Rath, der sich nicht wol offentlich geben lasset, insgeheim 
zu geben wagen, den namlich, daB er das Futteral Futteral sein 
liesse, da er auf einem weit kiirzern Weg zur Unkentlichkeit 
gelangen konte, wenn er seine Nase entweder zu Hause lassen 
oder doch in die Tasche stekken woke. 

Bekantermassen trift den reichen Kaufman D. vor andern das 
Ungliik, daB er unter ieder Verlarvung errathen wird; auch sieht 
er selbst sehr wol ein, daB bios sein glanzender. Wiz und seine 
muntern Einfalle es sind, denen er seine Kentlichkeit schuld zu 

10 geben hat. Noch hat aber keines seiner Mittel etwas dagegen 
verfangen wollen; sogar sein neuliches, warend den ganzen Bal 
kein einziges Wort zu sagen, schlug nicht an, sein schimmernder 
Wiz blieb damals wie iederzeit sein unzeitiger Verrather - etwas, 
das ihm ieder ohne das geringste Talent zum Prophezeien hatte 
voraussagen konnen, da der rechte Wiz wie die rechte Gotselig- 
keit, sich eben am wenigsten oder gar nicht durch Worte, son- 
dern fast bios durch Werke aussert.* Allein demungeachtet ist 
die Sache ganz und gar nicht unmoglich; ich glaube sogar die 
Retoudekleidung entdekket zu haben, welche diesen wiirdigen 

20 Kaufman gegen die Erkennung sicher stellen kan, und das ist 
keine andre als eine volkommene Betlerskleidung. DaB sie sein 
Ausserliches unkentbar macht, ist das geringste, was sie thut; 
aber auch seinem Wize giebt sie ein so unscheinbares, so ge- 
schmakloses, so altagliches Ansehen, daB er unsern reichen D. 
bei keinem mehr verrathen, aber wol verlaugnen wird, bei den 
wenigen ausgenommen, welche in ihrer Wage den Werth eines 

* Diese Bemerkung ist an sich so wahr, und gleichwol noch so unbe- 
kant! Erwagte man sie mehr, so ware vielleicht den Klagen iiber die 
Armuth des deutschen Wizes bald ein Ende gefunden. Derm nur an 
30 solchem mangelt es uns, der sich durch Worte aussert; allein von demie- 
nigen, der sich in Handlungen auslasset, der nicht auf die Ohren, sondern 
auf die andern Sinne wirkt und den wir aus unsern Geselschaften am 
reinsten wieder in die litterarische Welt hervorziehen konnen, besizen 
wir zum Oberflus und dieser ist eigentlich der wahre deutsche Nazional- 
wiz. Einige Schriftsteller suchten inn auch einzufuhren und ich 
wiinschte, mehrere waren ihnen gefolget, da die Sache doch so leicht 
ist. 



784 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Mannes ohne das Beigewicht seiner Kleidung abwiegen und 
welche das Verdienst auch in der armsten Gestalt zu erkennen 
und zu ehren wissen. Ich wunsche daher ordentlich, Herr D. 
Hesse in der kiinftigen Retoude seinem Wize sogar mehr als 
sonst denZiigel schiessen; der Spas wurde dan nur desto grosser 
sein, daB ihn darum gleichwol niemand erkant hatte. Was die 
Betlerskleidung angelangt, so hab' ich schon fiir ihn mit einigen 
Kosten eine aufgetrieben. 

Ich beschliesse dieses mit der angenehmen Nachricht, daB 
ich endlich einmal gewis erfullen kan, was ich schon so oft ver- 10 
sprochen und ein Verlangen befriedigen kan, das mir die hiesi- 
gen hohen Herschaften schon so haufig zu erkennen gegeben; 
und die kiinftige Retoude sol man unfehlbar mit der begehrten 
Anzahl Affen gezieret finden, zu welcher ich ohne meine Schuld 
schon so lange vergebliche Hofnung machen miissen; ia kan 
ich es so weit bringen (Kosten und Miihe werd' ich wenigstens 
nicht sparen) so wird die Anzahl der mannlichen und weiblichen 
Affen der Anzahl der Damen und Herren vielleicht gleich sein. 
Es miiste diese Gleichheit das Vergniigen auf beiden Seiten un- 
gemein verm ehren; ich mus aber daher bitten, daB iede Person, 20 
welche ihre Gegenwart meinem Maskenballe zu gonnen ge- 
denkt, mir davon eine vorlaufige Wissenschaft zukommen 
mochte lassen, damit ich bei zeiten fiir iede nach einem Affen 
mich umsehe: denn man glaubt es nicht, wie seiten diese auslan- 
dischen Thiere sich von Tag zu Tag machen und wie schwer 
siezuhabensind. -Jedem mus es wol sein eigehes Gefiihl sagen, 
daB die Frohlichkeit bis zu ihrer grost moglichsten Hohe aufko- 
chen wurde, wenn man es so weit brachte, daB die verlarvten 
Affen und die verlarvten Menschen sich von einander gar nicht 
unterscheiden konten; welche lacherliche Misgriffe auf der er- 30 
stern, welche zweideutige Weigerungen auf der andern und 
welche angenehme Verwirrung auf beiden Seiten wiirden aus 
dieser herlichen Verwechselung entstehen! Und ich getraue mir 
fast, zu derselben meinen Gonnern einige Hofnung zu geben. 
Denn mein Affenlieferant hat mir die Erwartung gemacht, daB 
er mich vielleicht mit lauter Affen von der ungeschwanzten Art 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 785 

werde versehen konnen; das ist aber gerade die Art, welche 
nicht mit den Menschen zu verwechseln sogar beinahe schwer 
ist, so daB ich schon auf die Muthmassung gerathen bin, ob 
nicht wirklich der Mangel des Schwanzes diese edlern Affen 
berechtige, mit den Menschen in Paren zu gehen. - Allein, wenn 
das Vergniigen der Verwechselung ungetriibt sein sol, so mii- 
sten die bessern Menschen unserer Retoude die Ausserungen 
etwas zuriikhalten, welche ihren Vorrang vor meinen schlech- 
tern, den Affen, zu sichtbar machen konten; und unter diesen 

10 Ausserungen mus ich besonders die wortlichen Zweideutigkei- 
ten oder auch Unzweideutigkeiten nennen, als in welchen die 
Affen ihre Schwache wol nicht wiirden verhehlen konnen, weil 
sie iiberhaupt nur wenig, oder doch auf eine Art sprechen, daB 
es einem menschlichen und an vornehmes Lmereden gewohn- 
ten Ohre misfallet. Ich meine daher nichts zu verlangen als was 
unser samtliches Vergniigen gleichfals fodert, wenn ich Herren 
und Damen ersuche, auf der kiinftigen Retoude die wortlichen 
Zweideutigkeiten fur diesesmal einzustellen und sich bios auf 
thatliche Zweideutigkeiten einzuschranken, dafiir aber auch in 

20 diesen leztern sich desto freiern Lauf zu lassen, weil sie in den 
Affen die erklartesten und machtigsten Wetlaufer hierinnen zu 
iiberholen haben, welche noch dazu bei dieser Gelegenheit alle 
Segel aufspannen werden, ihre Ahnlichkeit mit den Menschen 
wo moglich zu behaupten; ein seltner Wetstreit, der Menschen 
und Affen vergniigen mus. - Ob im Tanzen der Affe nicht einen 
kleinen Vorsprung haben mag, ist vielleicht schwer auszuma- 
chen; freilich sind seine Fiisse sonderlich zu Spriingen aufgelegt: 
allein ich habe die Erwartung von unsern iungen Herren, daB 
sie auchhierin die Ahnlichkeit der bessern und schlechtern, der 

30 einheimischen und auslandischen Menschen herzustellen und zu 
erhalten trachten und ihre Spriinge in eben so viele Beweise 
der alten Wahrheit verwandeln werden, daB man das, was die 
Natur andern giebt und uns versagt, eben so gut von der Kunst 
erstehen konne. - 



786 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

WlEDERRUFFUNG 'EINES UNRICHTIGEN GlEICHNISSES 



Ich kan in meinem Anhange nicht fortfahren, bevor ich nicht 
eine kleine Ungerechtigkeit wieder gutgemacht, die ich in der 
vorvorigen Abhandlung gegen die Orthodoxen begangen. Es 
entfuhr mir darinnen die eben so unrichtige als ehrenruhrige 
Vergleichung der leztern mit den Maulwiirfen; und ich kam 
dadurch mit Recht bei iedem billigen Leser in den Argwohn, 
daft ich beide fur blind ansehe. Ich nehme daher meinen Irthum 
wieder zuriik, den ich nie hatte begehen konnen, war' ich nicht 
ein so grosser Fremdling in der Naturgeschichte wie in den ubri- 10 
gen Wissenschaften. Ich habe iezt von den neuern Naturfor- 
schern gelernet, daB die Maulwiirfe allerdings Augen besizen 
und damit wenigstens in ihrer finstern Wohnung sehen; und 
nehme daher keinen Anstand mehr, zu gestehen, daB es die Or- 
thodoxen keinesweges verdienet haben, mit diesen Thieren ver- 
glichen zu werden. Ich darf hoffen, so bereitwillig ich zum Ge- 
standnis meines sehr menschlichen Fehlers gewesen bin, so 
bereitwillig werden iene auch zur Verzeihung desselben sein 
und vielleicht erwagen, daB alle Menschen irren und sogar die 
Kardinale, wenn sie den Pabst erschaffen, der wegen seines drei- 20 
fachen Gehirns allein nicht irret. 



Beforderung 



Der hiesige Prof, extraord. G-g, dieser durch aussern Rost und 
innern Gehalt gleich sehr bekante Man," begieng am 15. Januar 
seinen drei und sechzigsten Geburtstag mit alle dem Vergniigen, 
das einem Manne, den der Kummer und das Alter beugt, die 
Aussicht in ein giinstigeres Gliik nur machen kan; sein hoher 
Gonner aber war es, der auch an diesem Geburtstag wie an 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 787 

den (ibrigen nicht vergas, dem armen Professor stat des Ange- 
bindes das Versprechen zu geben, ihn zu einer hohern Stelle 
zu befodern. Kan ie die Wiederholung eines Versprechens die 
Wahrscheinlichkeit seiner Erfiillung vermehren, so hat G-g Ur- 
sache (iber dieses vergmigt zu sein, fur dessen Erfiillung eine 
vieliahrige Bekraftigung ihm biirgt: denn er darf nun schon 
mehr als zwanzig Geburtstage zahlen, woran es ihm gliikte, 
aus dem Munde seines Gonners das obige Versprechen wieder- 
holet und bestatigt zu horen. Auch machte ihn das, wie man 
10 wol denken kan, ganz munter und ordentlich veriiingt und be- 
lebte ihn mehr als es bei seinen Jahren, seinem Ernste und seinen 
mislichen Vermogensumstanden zu erwarten stand. Mochte er 
nur aber auch die nahe Erfiillung dieses alten Versprechens gar 
erleben, das gleich einem angenehmen Traume sowol an sich 
selbst als auch durch seine Realisirung das groste Vergniigen ge- 
wahren kan. 



TODESFAL 



Am sechsten November wurde H. D. Logon, ein Arzt, der sich 
durch viele neue Heilungsarten beriihmt und verhast gemacht, 

20 in seinem Erbbegrabnis beigesezt; am siebenten November 
verwechselte er das Zeitliche mit dem Ewigen und iiberlebte 
also sein Leichenbegangnis nur Einen Tag. Am verwichenen 
Montage war es, wo er so gluklich war, in die tiefe Ohnmacht 
zu fallen, welche ihm die unangenehmen Empfindungen, die 
sonst von einer lebendigen Begrabung unzertrenlich sind, so 
wol ersparte. Und man wird es, so wahr es ist, kaum glauben, 
daB er diese Benuzung seiner Ohnmacht seinen zween Todfein- 
den, seinen Kollegen, zu verdanken hat, deren Has sonach mit 
ihm und der Sonne untergegangen zu sein scheinet: denn sie 

30 waren es, welche einstimmig darauf drangen, ihn zu begraben, 
eh' er aus der Ohnmacht erwachte, indem sie auf das Nachdriik- 



788 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

lichste vorstelten, daB man diese gliikliche Gelegenheit, ihn ohne 
Gegenwehr zur Erde zu bestatten, mit gutem Gewissen nicht 
versaumen konne, besonders da soviele traurige Beispiele vor- 
handen waren, wie sehr der Aufschub der Beerdigung iedes 
Patienten und der Arzte insbesondere den hiesigen Einwohnern 
schon Schaden gethan hattc. - Der Kiister sizt eben iezt bei 
mir und versichert mich, daB er den Arzt in der Kirche aus 
dem Erbbegrabnis auf das Vernehmlichste sterben horen und 
sicb darauf so fort entschlossen habe, sich bei dem Sterbenden 
als den Teufel anzustellen, der ihm in der lezten Stunde die siind- 
lichen Heilungen vorwiirfe, wodurch er sowol der Kirche a]s 
den Arzten das rechtmassige Brod entzogen. 



Beitrag zur Geschichte der seltnen Wiederhalle in Ge- 

BAUDEN 



Es ist bekant, daB es Sale giebt, welche den Schal bald mit wach- 
sender bald mit abnehmender Starke wiederholen und verviel- 
faltigen; daB es andre giebt, in deren entgegengesezten Winkeln 
man Gesprache fiihren kan, die niemand in ihrer Mitte horet; 
daB es bei Rouen ein Landhaus giebt, in welchem ein Singender 
nur seine Stimme und die Zuhorer nur den Wiederhal derselben 20 
vernehmen u.s.w. Das alles weis ieder; allein das Echo, was 
erst neulich erfunden worden, scheint mir nicht sehr bekant 
zu sein und fast kein Autor hat sich in eine zulangliche Beschrei- 
bung desselben eingelassen. Ein Baumeister namlich, der lange 
in Italien gereiset, erwirbt sich seinen Unterhalt, daB er Kour- 
zimmer bauet, welche alles, was eine Person auf einem erhabnen 
Orte darin spricht, so viel mal wiederhallen als Zuhorer sich 
in dem Zimmer befinden. Das Echo ist dan gemeiniglich desto 
starker und deutlicher, ie erhabner der Standort dessen ist, der 
da von herunterspricht; und auf der Spize eines Throns erreget 30 
man einen ungleich lautern Wiederhal als auf den Stufen dessel- 



ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 789 

ben. Die Vervielfaltigung des Schalles mit den Zuhorern diinkt 
mich etwas besonderes an diesem Echo zu sein und die Behaup- 
tung der Physiker, daB der Wiederhal leren Raum verlange, 
ganz verdachtig zu machen. Ubrigens kerkert dieser geschikte 
Architekt seine Kunst nicht in die Kourzimmer gleichsam ein; 
er bauet auch in die Kollegien diesen Wiederhal, von welchen 
er besonders mit Vergmigen erzahlt, daB in ihnen von dem Tage 
seiner Verbesserung derselben an die friedlichste Einmtithigkeit 
tiber die wichtigsten Dinge sei herschend geworden. Er bietet 

10 seine Erfindung sogar den Rathshausern der kleinen Stadte an, 
zu welchen er seinem Echo den Eingang durch das wirklich 
grosse Versprechen zu verschaffen sich bemuht, daB in Raths- 
stuben mit seinem Wiederhalle nur ein einziger Rathsher wiirde 
zu votiren brauchen, da fur die andern, welche indessen entwe- 
der mit der Sele oder auch mit dem Leibe abwesend sein konten, 
das Zimmer schon das Votum gabe. - Ware dieser Kiinstler 
nicht mein Freund, so wiird' ich hier seine Feinde nachdruklicher 
als durch die Versicherung zu beschamen mich begniigen, daB 
er von den meisten deutschen kleinen Hofen die ruhmlichsten 

20 Zeugnisse davon getragen, daB er daselbst in alien Zimmern, 
welche entweder der Werth derer; die sich da einfinden, oder 
der Unterredungen, die da vorgehen, nur einigermassen wichtig 
macht, die daurendsten Denkmalc seiner Kunst zuriikgelassen 
habe. Er ist ubrigens iezt hier. 



Von einer nachdenklichen Ahndung 



Ich hatte vor einem halben Jahre die Ehre, mit dem Hern Hen- 
nings, der soviel iiber die Geisterwelt geschrieben, nicht nur auf 
der ordinairen Post zu fahren, sondern auch verschiedne gelehrte 
und philosophische Worte zu wechseln. Ich erinnere mich noch, 
30 daB es mir nach einem hartnakkigen Gefechte gliikte, ihn von 
seinem Unglauben an die Geister abwendig zu machen; er 



790 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

schwor mir sogar den baldigsten Wiederruf aller seiner Schriften 
zu. Gleichwo] schiebt er ihn noch immer auf, ia wie ich hore, 
so sol er sie sogar mit noch unglaubigern neuen vermehren. 
Ich mus ihn also offentlich angreifen und die Erzahlung von 
der nachdenklichen Ahndungsgabe einer Dame, wodurch ich 
iiber den H. Professor den Sieg davon trug, hier bekant machen, 
damit ich ihn auf eine oder die andere Art iiber diese wichtige 
Sache sich zu erklaren veranlasse und zwinge. - Eine Dame 
hatte so schwache Nerven und Selenkrafte, daB sie iiber ieden 
wichtigen Widerspruch ihres Gemahls in Ohnmacht sank und ro 
nie sich weigerte, die Wahrheit (denn daB sie nur diese in iedem 
Streite mit ihrem Gemahl verfechte, sagte ihr ihre eigne Emp- 
findung deutlich) wie iene schone Marterinnen das Christen- 
thum* durch einen kurzen Tod zu besiegeln und zu verherlichen 
- so sehr bestatigt sich die Bemerkung Paskal's, daB ein kran- 
kelnder Zustand fiir die Aufopferungen und Pflichten des Chri- 
sten sichungemein wol schikke. Eine iede Ohnmacht, die nichts 
anders als ein wahrer abbrevirter Tod ist, und die Genesung 
davon sah nun die gedachte Dame richtig voraus. Man glaube 
wenigstens nicht, daB ich mich etwa von ihr tauschen lassen: 20 
das lasset sich nicht annehmen, da sie mir die Ahndung alzeit 
lange vor der Erfiillung derselben anzuvertrauen die Vorsicht 
hatte. »Heute Abend, sagte sie gewohnlich schon zu friih, da 
sezt es gewis einmal wieder zwischen uns was - nunmehr mus 
er zwar wol, ich hab' den Stof schon beim Schneider. Es ahndet 
mich aber ordentlich, daB es doch ohne Ohnmacht nicht abge- 
hen wird. Glauben Sie nicht? (Hier schiittele ich alzeit den Kopf) 
Nu! sagen Sie nur, ich hab's gesagt. « Und es trift auch wahrhaf- 
tig ein. Ihrem Gemahl aber verhehlet sie ihre Ahndung sorgfaltig 
und ich glaube nicht, daB diese Zartlichkeit den Tadel des Uber- 30 
triebnen verdienet. Denn was sie mir zutrauen kan, der ich die 
Voraussehung und die Gegenwart ihres Todes alzeit mit manli- 
chem Muthe ertragen, das kan sie ihrem zartlichern Manne nicht 
auch zutrauen, den die blosse Gegenwart ihrer Ohnmacht schon 

* Denn so nanten die ersten Christen die Damen, welche fiir die 
Religion starben. 



ANHANG FUR MEINE EINTALTIGEN LESER 791 

genug peinigt. Denn oft kan ich ihn nicht einmal aufrichten, 
wenn ich sage: »Sein Sie doch gelassener, Sie gleichen sonst 
wahrhaft dem unglaubigen und verzweifelnden Thomas mehr 
als ich, wie Sie mir vorwerfen, dem spizbiibischen Apostel Ju- 
das. Ich sage Ihnen ia, daB die in Got Ruhende mir heute friih 
ihren Tod und ihre Auferstehung klar und deutlich voraus ver- 
kiindigt hat. In neun Minuten, sagte sie, wil sie sich auferwek- 
ken. Sehen Sie? -« Die lezte Ohlung mit Riechwassern* hilft 
ihr dan ins wartende Leben gar wieder heriiber und die Krank- 
heit nimt unter unsern Blikken ab; diese geschwinde Genesung 
verdanken wir grostentheils einer geschikten Anwendung des 
medizinischen Grundsazes, daB man die Sele heilen miisse, wenn 
der Korper krank ist, und umgekehrt. - Ich wiederhole meine 
offentliche Foderung an den H. Hennings, mir und dem Publi- 
kum auf eine befriedigende und einleuchtende Weise zu zeigen, 
wie man von dieser Voraussehung der Ohnmachten zulangliche 
Rechenschaft geben konne, ohne doch eine besondre Kommu- 
nikazion der Dame mit den Geistern dabei voraussezen zu miis- 
sen. Ist er das im Stande, wo werd 1 ich mich keinen Augenblik 
langer bedenken, die Anzahl seiner Proselyten zu vermehren. 



Eine Preisaufgabe 



Die hiesige Akademie sezt heuer zum erstenmale eine Medaille 
von 10. Dukaten zum Preise fur die beste Beantwortung der 
Frage aus: Welches sind die vernunftigsten, wichtigsten und nothigsten 
Preisfragen, welche die Akademie fur das kiinftige Jahr aufzulosen 
geben mus? 



* Diese Allegorie ist richtig; denn mit dem Ohle, womit man iezt 
den Kranken fur den Himmel wiedertaufet, wolte man ihm in der ersten 
Kirche nur Gesundheit ansalben. 



BESCHLUS ODER VORREDE; 

worin keine Anmerkungen iiber Wiz, Ironie und mich selber gesparet 

werden 



Ohne den geringsten Grus zu sagen, hab' ich mich vor dem 
Publikum prasentirt und so fort niedergesezt. Dieser Mangel 
der Vorrede oder diese Unhdflichkeit krankt, ich weis es wol, 
meine Leser noch bis auf diesen Augenblik, in welchem ich 
die vierte Zeile meines Beschlusses schreibe: denn ieder von 
ihnen hatte, als er mein Buch aufschlug, auf eine Begriissung 
gezahlet, so wie sie in seinem Stande und seiner Nazion ge- 10 
wohnlich ist. Der Jude dachte: »Friede sei mit dir! wird der 
Verfasser des Akadabra zu dir sagen« - der Wiener »und zu 
dir: Gelobt sei Jesus Christus« - der gemeine Man »und zu mir: 
Got griis dich« und der vornehme Man »und zu uns: ganz ge- 
horsamster Diener« - noch anders dachte der Kamtschadale, 
anders der Mohr und ieder anders vom Menschen bis zum Re- 
zensenten herab. - Allein was kan ich fur diese Verrechnung 
meiner samtlichen Leser? Denn da einmal der Vorsaz unbeweg- 
lich in meinem Kopfe sas, eine Vorrede auszufertigen, die so 
lange werden soke wie das Buch selbst: kont' ich mehr thun 20 
als daB ich das leztere mit der jriesenlangen Vorrede wenigstens 
nicht anfieng, sondern beschlos und, da man ohnehin die mei- 
sten spater als das Buch schreibt und drukt, auch einmal eine 
spater zu lesen gab? Ich gieng also nichts weniger als darauf 
um, den armen Leser um die gewohnliche Autovendoxologie fur 
ihn, zu bringen, wie etwan Luther das Vaterunser so lange 
darum brachte, als er Augustinermonch war. Ich habe nur die 
ganze Experimentalmechanik der Hoflichkeit, den Tanz*der 
Zunge, die Verrenkung des Riikgrads und das Scharren der 
Fiisse fur den Beschlus meines Werkes auf gesparet: eben so fangt 30 
der Schauspieler seine Rolle an, ohne den Hut fur das ganze 



BESCHLUSS ODER VORREDE 793 

Publikum zu riikken oder sogar nur anzufassen, allein sein Spiel 
endigt er (fals er sich durch die ftinf Stufeniahre, d. h. durch 
die ftinf Akte so gluklichgefristethat, daB er nicht das Sterbliche 
frCiher als seine Theaterkleidung ausziehen mussen) mit einem 
anhaltenden Biikling, woran er sich zugleich mit dem Vorhang 
zur Erde niederlast und woraus er nicht eher wieder fahret,als 
bis dem Parterre von ihm nichts mehr sichtbar ist als die Beine. 
Soke aber freilich irgend einer aus der unzahligen Menge derer, 
die mein gegenwartiges Buch mit unsaglichem Vergniigen lesen 

I0 und wiederlesen und an ihm nichts tadeln werden als die Kurze, 
dasselbe nicht gar bis zu diesem Beschlusse, worin ich den Grus 
fur ihn aufhebe, durchblattern, so kam' ich zwar damit ungliik- 
licher Weise zu spate und ich hatte den Hut vor dem vornehmen 
Hern abgenommen, nachdem derselbe schon lange bei mir vor- 
iibergegangen: aber das ware des Lesers Schuld; was kan ich 
dafur, daB ihn mein Buch nicht so ergozt wie mich selbst und 
den Kenner? 

Drei Amter mus und sol ich in diesem Schlusse bekleiden. 
Das ersteist das hohepriesterliche, d. h. ich fiihle mich verpflich- 

20 tet, den Leser dies und das zu lehren; wogegen ich von ihm 
erwarte, daB er mir alles Beweisen erlasse und aufs Wort glaube, 
wofern er wiinscht, daB ich mein Amt nicht mit Seufzen thun 
sol. Ober Ironie und Wiz namlich werd' ich mich in den ver- 
schiednen Anmerkungen ausbreiten, deren Gehalt man leicht 
errathen kan, wenn man uberlegen wil, wie sehr die Seltenheit 
des Grades, worin ich beide zu besizen so gluklich bin, mich 
vor andern in den Stand sezen kan, iiber sie aus eignen Erf ahrun- 
gen zu sprechen. - Eigentlich hat zwar (dem Titel zufolge) mein 
Buch bei dem Leser die Dienste eines Hofnarren genommen; 

30 allein wenn Home den Scherz nicht aus der ernsthaften Epopee 
herausgeworfen, warum wollen wir nicht umgekehrt zur Er- 
wiederung auch den Ernst aus dem Scherze nicht zur Thiire 
hinausbeissen? Doch sol den erstern immer oft genug der leztere 
ablosen, welchem zu Gef alien ich keine Ausschweifungen spa- 
ren werde. Uberhaupt kan der Leser durchaus darauf rechnen, 
daB Wiz und Verstand in diesem Beschlusse stets wechselseitig 



794 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

ab- und zugehen werden, so daft also die Buhne nie leer bleibt: 
denn kaum daB z. B. der gesunde Menschenverstand sich auf 
ein Kleines wird beurlaubt haben, so sol schon der Wiz dafiir 
aufgetreten sein, wie der Leser es auch am Anfange dieses Be- 
schlusses merken miissen, worin der Wiz zur Zeit allein seine 
Rolle spielt und solange fortspielen wird, bis weiter unten auch 
der Verstand sich sehen lasset. 

Das zweite Ehrenamt, das ich anzutreten habe, ist das prophe- 
tische. Ich mus namlich verschiedne Prophezeiungen unter meine 
Leser austheilen. Der Gegenstand derselben ist niemand anders I0 
als ich selbst und mein kleiner geistiger Junge, der an der Mi- 
chaelismessediePresse verlassen. Ich habe demselben, ich meine 
diesem Buche, die Nativitat gestelt und nachdem ich dem Ein- 
flus der Opposizion der Sonne und des Saturns auf die Geburts- 
stunde desselben sorgfaltig nachgegangen, auch die bedenkliche 
Sonnenfinsternis bei seiner Zeugung wol erwogen, nachstdem 
iiber den Fastnachtstag, als an welchem es von der Vatermilch 
abgesezt worden, ganz besondere Betrachtungen angestellet 
hatte, so hab' ich durch unglaubliche Muhe und tagelange Be- 
rechnungen herausgebracht, daB die Aspekten folgendes Schik- 20 
sal meines geistigen Kindes aussagen: »Ein geistiges Knablein, 
den und den geboren, ist sanfter Natur, thut niemand was zu 
Leide, hat Krallen und ein gutes Herz. Macht seinem Vater viel 
Ehre und Freude. Fangt seinen eignen Gewiirzhandel an und 
hat gutFortun. Wird fremde Lander sehen, hat Gluk bei grossen 
Herren und Frauenzimmern, komt spat zu grossem Reichthum 
und Ehren. Dasselbe werden beissen die Thiere mit grossen 
Ohren, sol sich hiken vor blinden Leuten und schwarzen Schafs- 
pelzen. Seine Kleidung sol sein englisch mit Gold besezt und 
eine verguldete Veste. Oberlebt alle Stufeniahr und seinen alten 30 
Vater und wird endlich lebenssat und nachdem es zum zweiten- 
male zum Kinde geworden in einem Alter aufgelost, daB sein 
Tod in alien Zeitungen zu lesen sein wird, die von dessen Alter 
nicht genug Riihmens machen konnen.«- 

Der Leser solte nicht so einfaltig sein, mich zu fragen: wie 
komst du Saul unter die Propheten? Denn unter die grossen Pro- 



BESCHLUSS ODER VORREDE 795 

pheten werd' ich mich audi wol nie verlaufen d. h. unter die 
Rezensenten: sondern nur von der Anzahl der kleinen such' ich 
zu sein d. h. der Selbstrezensenten. Vielmehr hab' ich mir vor- 
genommen, indiesem Beschlusse iiber iene grossern mich mehr 
als einmal zu erbossen, mit meinen Fingern durch ihre Barte 
zu fahren und damit selbige, wie die Tiirken die ihrigen, zu 
kammen und ganz gerade anzuziehen, wie nicht weniger meine 
Hand in ihre rothen Hare zu bewegen, um ihren Kopf durch 
ein gelassenes Schiitteln zu iiberzeugen, daB ich sowol ihre Hare 
als den Sieg und das Recht in Handen habe. Denn der Leser glaube 
mir, ein Drittel dieses Prophetenvolks gehort unter die falschen 
Propheten, die aus ihren eignen Eingeweiden und aus dem Qe- 
schrei gewisser Thiere verhaste Weissagungen gegen uns Auto- 
ren ausbringen; und ich scheue mich nicht sie tief unter das 
Publikum herabzustossen ia sogar sie fur eben so viele fluchende 
Bileame, dieses hingegen fur den redseligen und scharfsichtigen 
Esel, den sie bestiegen, und mich fiir den Engel zu erklaren 
(wiewol Pater Bougeant meint, daB es der Teufel gewesen) der 
dem Esel die Belchrung seines Reiters diktirt. 

DaB sich Got erbarm! ich mus das dritte Amt, das konigliche, 
niederlegen. Denn ich kan nicht hoffen, im ganzen Beschlusse, 
es sogar nur anzutreten, Gelegenheit zu gewinnen, und weis 
uberhaupt nicht, was ich oben gedacht habe, daB ich in demsel- 
ben zu stehen versicherte, mutmasse aber stark, daB ich diese 
Luge ersonnen, um die Ahnlichkeiten in den Amtern zwischen 
mir und Christo zur Ehre meines Wizes volzahlig zu machen. 
Ich wil ubrigens der Hofnung leben, der Leser werde mir es 
zu Gute halten, daB ich mich selbst in ein Amt eingesezt, das 
bios metaphorisch ist und das mir nichts zu verwalten giebt; 
und werde sich zu Gemuthe fuhren, daB ich nicht nur das Bei- 
spiel der Hofdmter, sondern auch der drei Amter meines Gleich- 
nisses selbst, welche die Theologen Christo auf dem Wink blos- 
ser drei Methapern ausgewirkt, desfals vorschiizen konne und 
werde. 

Jezt mus eigentlich der Wiz die Fortfuhrung des Spieles dem 
Verstande iibergeben. Auch hab' ich schon dreimal mit dem 



796 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Hausschliissel hart gepocht (wie es bei Dorfkomodianten und 
Prosaisten gewohnlich: denn ansassige Schauspieler und Dichter 
klingeln); aber der Verstand lasset sich weder horen noch sehen. 
Ich ersuche das samtliche Parterre, mein Klopfen mit dem 
Schliisse] durch Trommeln mit den Stokken zu verstarken, da- 
mit der Verstand durch unsern erschreklichen Larm an seine 
Schuldigkeit erinnert werde. - Unterdessen er unter Weges ist, 
merk' ich in der Geschwindigkeit noch an, daB Schauspieler 
so wie Heldendichter ihre Materie am liebsten und schiklichsten 
in der Mitte anfangen - Ah! da komt er ia, mein Verstand! wie 10 
langsam er die Fusse bewegt! wie sehr er die scharfsichtigen 
Augen schliesset! Jezt spricht er: 

Nichts ist ekelhafter als eine ungerathne Ironie; sogar ein Fal 
ins Niedrigkomische ist es nicht halb so sehr und man wil lieber 
dem, der sich fur nichts mehr als einen Hanswursten aus[ge]ge- 
ben, einzu /awtesLachen, als einem, der sich zu [einem] ernsten 
Gesichte anheischig gemacht, ein sichtbares [vergeben]. Leider! 
[ist] diese Laune die seltenste unter alien und vorziiglich gegen 
uns Deutsche so sprode, deren Spas immer mit ihrem ironischen 
Errtste davonlauft. Sie konnen Ironie kaum verstehen, ge- 20 
schweige machen; und ir eben so bekantes als ruhmliches 
Phlegma macht ihnen nicht nur das erste, sondern auch das lez- 
tere schwer: denn wer selten lustig ist, ist's nie mit Masse und 
bestatigt die Bemerkung, daB die Begierden, die uns sparsam 
iiberfallen, den Meister iiber uns am leichtesten spielen und daB 
nichts so enthaltsam macht als Ubersattigung. 

Gleichwol sucht man einen Fingerzeig bei den Kunstrichtern 
vergebens, die alle das alte Lied wiederholen. Uberhaupt wird 
mir iedes Genie zugeben, daB es von seiner Kunst tausendmal 
mehr wisse als die meisten Kunstrichter zusammen; und daB 30 
es wenigstens das, was sie es lehren, selbst erfinden mtisse, urn 
es zu nuzen. Hinter die Magerheit ihrer Lehren komt man nicht 
besser, als wenn sie ieder iiber das Fach, das er vorziiglich bear- 
beitet, zu Rathe zieht. Wenn man behauptet, daB man nicht 
zwo Kiinsten wie zwo Herren dienen konne und iede auf einen 
ganzen Man Anspruch mache: so darf man noch richtiger be- 



BESCHLUSS ODER VORREDE 797 

haupten, dafi auch iede Kunst ihren eignen Kunstrichter heische, 
so wie in Agypten iede Krankheit ihren besondern Arzt hatte: 
denn die Arten des Geschmaks heben sich nicht weniger auf 
als die Arten des Genies. - Zu den wenigen Mustern der Ironie 
mocht' ich die wenigstfens] in die Schule schikken, welche ge- 
nug gelernt haben, um Schiiler sein zu konnen, welche Kunst- 
richter genug sind, um Nachahmer sein zu konnen: denn die 
Schonheiten, dieihrnachschaffen wollet, wollen nicht bios emp- 
funden, son&em gesehen sein und / in der Kentnis ihres Ursprungs 
/ der Nachahmer mus an d Hand / und da seine innere Kraft 
zu schwach ist, ihr eigner Leiter [zu sein], weil er nicht wie 
das Genie die Blindheit der Schopfungskraft durch die Grosse 
derselben leiten kan. Daraus lasset sich der ungliikliche Erfolg 
erklaren, womit die Dunsen [?] dem Genie von Gottesgnaden 
die Miinze nachschlugen: diese Falschmiinzer hatten wol wie 
die in Algier wenigstens ihre rechte Hand verwirken sollen, 
wenn man noch hinzudenkt, daB sie Schonheit[en] nicht bios 
nachamten sondern auch stahlen, wie die gedachten das Geld 
nachpragen und beschneiden, Form und Materie entwenden. 
Die Ironie ist wie bekant ein unter den Blumen des Lobes 
lauernder TadeL Was ist nun leichter, denkt man, als zu loben 
sich stellen? denn man braucht doch nur den Gegenstand seines 
vorgeblichen Weihrauchs mit den hoflichen Superlativen so 
freigebig als moglich einzuseifen? 



KLEINE SATIREN 
[VOM VERFASSER DER GRONLANDISCHEN PROZESSE] 



Ich glaube nicht bios mit Paskal, daB der Frommigkeit nichts 
vortheilhafter ist, als ein kranklicher Korper: sondern ich habe 
mich auch durch unzahlige Erfahrungen iiberzeugt, daB der Poet 
sich ebenfals nichts bessers wiinschen kan, als eine in einem 
seltnen Grade gebrechliche Gesundheit, und daB seinen Flugeln, 
auf die seine Vorziige und Obungen sich einschranken, die 
Schwachung des ganzen Korpers sogar noch mehr zu statten 
kommt, als die bisherige Schwachung seines bloBen Kopfes. Aus 
guten Griinden ftihre ich nicht mich selbst zum Beispiel an; 
noch weniger eine bekante groBe histerische Dichterin; nur wil 
ich dem geneigten Leser etwas ahnliches erzahlen, was mir ein 
Pferdeknecht von den Pferden mitgetheilet. Er behauptete nam- 
lich, daB die Abschneidung von zwo gewissen Sehnen ihres 
Schwanzes volkommen hinreiche, denselben in die gliikliche 
Nothwendigkeit einer unaufhorlichen Erhebung zu versezen. Ich 
seze voraus, daB der Leser die Anwendung von den Pferden 
auf die Poeten selber entdecket. Wird aber dann mein Wunsch, 
(iber den man gestern in einer gewissen Geselschaft die Achseln 
zukte, der namlich, daB man, wenn es mit der VergroBerung 
des deutschen Parnasses ein Ernst sein sol, sich doch einmal 
nach Mitteln umsehen mochte, wodurch der pobelhaften Ge- 
sundheit unserer Dichter ein guter Stos konte beigebracht wer- 
den, wird dieser Wunsch, sag' ich, noch uniiberlegt zu seyn 
scheinen? Zwar konnte er manchem vielleicht wenigstens unno- 
thig vorkommen, sobald man den Poeten selber glauben wil, die 
uns an sich eine Menge Laster vorzahlen, welche von ieher der 
Verfeinerung und Entkraftung des Korpers den grosten Vor- 
schub gethan; allein man frage dagegen ihre Gedichte, ob auch 
diese ihre angebliche Gebrechlichkeiten bestatigen: wenn sie die 
Starke verlaugnen, die man doch von einem zum Vortheil der 
Phantasie abgemergelten Korper erwarten kann; so liegts am 
Tage, daB alle ihre (der Dichter) Aufopferung[gen] der Tugend 
die Erfindung eines Mittels noch immer zu wiinschen iibrig 
lassen, das ihrem Korper dieienige Unahnlichkeit mit den star- 



KLEINE SATIREN 801 

ken Korpern der Barden verschaffet, welche erfoderlich ist, 
wenn ihre Verse die vollige Ahnlichkeit mit den starken Versen 
der Barden erlangen sollen. 



Bei tins haben nur die Heiligen, nicht aber die Tugenden, Tern- 
pel. Also audi hierinnen stehen die Alten so wie in allem, auf 
einer so hohen Stufe iiber uns, daB wir an ihre FiiBe kaum mit 
unsern Kopfen reichen. Man nehme z. B. die Tugend, welche 
wir unter dem Namen einer edlen Freiheit, einer edlen Unver- 
schamtheit kennen. Die Athener bauten ihr einen besondern 

io Tempel; und wir? wir erreichen ihr Muster hierin nicht einmal, 
geschweige daB wir es iiberholten. Ungeachtet die Tugend der 
Unverschamtheit beinahe die einzige ist, die noch nicht aus den 
Granzen der feinern Welt verstossen worden, ungeachtet man 
sich noch nicht vor ihr, wie vor ihren Gespielinnen, scheuet, 
zu ihrem Verehrer sich zu bekermen, ungeachtet es sich mi thin 
ohne iibertriebene Voraussezungen erwarten lieBe, daB man der 
vorziiglichen Obung dieser oftgedachten Tugend besondere 
Orter heiligen wiirde: so hat man doch nicht nur nicht daran 
gedacht, fur die Unverschamtheit besondere Tempel aufzufuh- 

20 ren, sondern man begniiget sich ohne Bedenken, dieselbe zu- 
gleich mit Gott in einem Tempel zu verehren, und lasset sie 
mit der Halfte einer Kirche sich behelfen, von der ihre Feindin, 
die Schamhaftigkeit, die andere innen hat. - Man versuche nicht, 
mir einzuwenden, daB sie doch dafiir von iedem Hausvater und 
ieder Hausmutter zu Hause verehret werde, und den Rang einer 
Hausgottin genieBe. Denn durch langes Nachspiihren habe ich 
in Erfahrung gebracht, daB an diesem ganzen Vorgeben kein 
Wort wahr ist. Ich habe z. E. erst vorgestern Abends zu meinem 
grosten Erstaunen und Misvergniigen vernommen, daB eine 

30 Dame vielmehr die Abgotterei gegen die Schamhaftigkeit zu 
Hause aufs hochste treibt. Sie sol insgeheim, (ich kan es aber 
kaum glauben) wie gewisse heidnische Priester, sich die Wan- 
gen mit kunstlichem B/w^beschmieren (denn das ist die heutige 
Art diese Abgottin zu verehren; vor Zeiten musten die ungliik- 



802 x JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

lichen Dienerinnen derselben, so gar ihr eignes aufopfern und 
sich damit das Gesicht anstreichen) und man wil gesehenhaben, 
daB sie das Bild derselben in ihrem Spiegel aufgestellet, und sol- 
ches friih und Abends, wie ein Marienbild, ordentlich angebetet 
habe. Zwar fiigte der Erzahler etwas hinzu, womit er das Grelle 
der Sache zu mildern glaubte; allein eben dadurch vermehrte 
er es offenbar. Denn wenn (wie er hinzugefugt) besagte Dame 
in ihrer Vertraulichkeit gegen ihre Busenfreundin, Schamhaf- 
tigkeit, doch noch einige MaaBe halt, und z. B. nicht sich zu 
entkleiden wagt, bevor sie dieselbe von sich entfernet hat, oder 10 
noch weniger ihre Freundin zu ihrer BettgenoBin zu machen 
sich getraut; so ist dies leider nichts als ein Beweis rnehr, daB 
ihre Freundschaft mit derselben nur desto langer bestehen 
werde, da keine Vertraulichkeit sie untergrabt und kurze Tren- 
nungen sie noch mehr befestigen. 



Es lasset sich zwar nicht laugnen, daB der Englander einen Lowen 
im Wappen fuhret; allein soke es sofort auch eben so unlaugbar 
sein, daB der deutsche Poet sich in die Haut dieses Lowen ver- 
kappe? ist nicht vielmehr die ganze Geschichte von dem Esel, 
der eine Lowenhaut zur Larve seiner eignen machte, ein Ge- 20 
schopf aus dem Fabelreiche? - Aber darum ziehe ich noch nicht 
den groBen Einflus in Zweifel (und ich finde nothig es ausdriik- 
lich zu erinnern), den unsere eigenen groBen Kopfe auf unsere 
kleinen zum grosten Vortheil unsers Parnasses haben. Ich meine, 
wir diirfen nicht bios behaupten, daB wir den Englander gar 
nicht nachahmen: sondern wir konnen uns auch riihmen, daB 
wir dafur in die Fusstapfen unserer eignen Muster desto angstli- 
cher treten. Ich verfocht neulich eben dasselbe gegen einen Eng- 
lander selbst mit unglaublicher Geschiklichkeit und Hize, und 
brach zulezt in das schone Gleichnis aus: so wie, wenn die goldne 30 
Morgensonne hervortrit und ihre abschiiBige Bahn hinaufsteigt, 
die goldnen Bewohner des Grases, die Insekten, alle sie nachzu- 
ahmen beginnen, und nach einigen Versuchen die Spizen des 
Grases auch gluklich erklettern; eben so fahrt wohl kein Genie 



KLEINE SATIREN 803 

bei uns mit seinen lauten Fliigeln in die Hohe, daB nicht sofort 
in alien FiiBen der erstaunten Zeugen seines Auffluges eine me- 
chanische Begierde nach einer ahnlichen Emporfahrung sich 
rege, welche wir gewohnlich durch einen Versuch befriedigen, 
uns samtlich durch einen algemeinen gleichzeitigen Sprung wo 
moglich zu heben. 



Ich weis zwar wol, daB der Geschmak unsers Publikums eine 
Schuzschrift eben nicht sehr vonnothen hat und am wenigsten 
die meinige; allein ich kan mich doch nicht enthalten, zwo Ahn- 

10 lichkeiten bekant zu machen, die ich zwischen ihm und den 
Seligenim Himmel wahrgenommen und die mir sehr zu seinem 
Vortheile zu sprechen sch einen. Lavater bemerkt namlich im 
dritten Theile seiner Aussichten in die Ewigkeit, daB die Seligen 
im Stande sein werden, sich zu iedem Riesen aufzublahen und 
iede wilkuhrliche Vergrosserung ihres Korpers auszuhalten. Er 
sezet und wie mich diinkt nicht ohne Grund, hinzu, daB diese 
besondere Ausdehnungsfahigkeit ihrer Statur sie zur Bewoh- 
nung aller Welten und zum Umgange mit alien Bewohnern 
derselben (sie mogen so gros sein als sie wollen) ausnehmend 

20 tauglich mache. Ich mache hievon die figurliche /Anwendung 
auf unserPublikum, welches das gewis ist, was die Seligen doch 
nur wahrscheinlich sind. Ich bin oft uber den vortref lichen Kopf 
desselben in das freudigste Erstaunen gerathen, und es sage mir 
selbst (ich iiberlasse mich seiner unpartheiischen Entscheidung), 
ob es irgend einen Kopf in Meusels gelehrten Deutschland oder 
anderswo kennt, der aus so vielen, so groBen, so verschiednen 
Talenten bestehet, und der besonders einen so algemeinen Ge- 
schmak besizet, als sein eigener. Denn das Publikum ist im 
Stande (und das ist seine erste Ahnlichkeit mit den Seligen), 

30 sich iede GroBe zu geben, welche von iedem neuen groBen Kopfe 
zur Bedingung ihrer gegenseitigen Unterhaltung gemacht wird; 
es hilft sich an der Hand der Kunstrichter so weit auf, daB es 
sehr gut horen und verstehen kan was K-k von seinem Munde 
herunter redet; es empfindet mit G-e; es philosophirt mit K-t 



804 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

und H-r und spottet mit W-d. - Die andere Ahnlichkeit mit 
den Seligen machet ihm wo nicht mehr, doch eben so viel Ehre. 
Diese konnen sich nach Lavater auch zusammenpressen und 
noch weit mehr, als die Teufel sich in Miltons Gedicht, oder 
als die Kaufleute die Baumwolle. Den Nuzen von dieser un- 
nachahmlichen Verkleinerung sol uns Herr Lavater entdeken; 
es ist dieser: daB der Selige, der aus einem Kolos in einen Punkt 
zusammengeschrumpfet, die Geselschaft der Riesen nun mit der 
Geselschaft der Insekten vertauschen, und denleztern alle natur- 
historischen Geheimnisse ihres Wesens in der Gestalt ihres Glei- 10 
chen abforschen kan. - Wenn meine Partheilichkeit fur das Pu- 
blikum mich nicht ganz tauschet, so kan man ihm die hgurliche 
Ahnlichkeit dieser seltenen Zusammenziehung eben so wenig 
absprechen als die obige einer seltenen Auseinanderbreitung; 
von iener macht es so gar noch ofterern Gebrauch als von dieser. 
Ich berufe mich auf das Publikum selbst: findet es nicht eben 
so viel Geschmak an den elendesten Wiener Romanen als an 
denbesten von W. . Pistes nicht fahig, sich an dem zum zweiten- 
male aufgelegten Spotte des Kiisters von Rummelsburg mit ei- 
nem besondern Vergniigen zu lezen? und schlieBet es in seine 20 
Lektiire der besten Autoren nicht auch die schlechtesten ein? 
- Diese seltne Algemeinheit seines Geschmakkes sezet in- 
dessen die geschikteste Verkleinerung seines Kopfes voraus, 
und sie ist der deutlichste Beweis, daB ihm das Vermogen nicht 
fehlt, sich dermassen einzuziehen, daB es endlich in den kleinen 
Geselschafter des kleinsten Autors sich verwandelt, oder unfi- 
giirlich, von seinem Geschmakke und Scharfsin so viel Preis 
zu geben, daB es beide durch unermiidete Verringerung dem 
Geschmakke und Scharfsin des schlechtesten Autors endlich 
volkommen gleichmachet. Es ist schwer, mit einiger Richtigkeit 30 
zubestimmen, ob man dem Publikum seine VergroBerung oder 
seine Verkleinerung hoher anrechnen miisse; indessen, wenn 
man mich dariiber befragte, so wiirde ich ohne Bedenken die 
Parthei der leztern darum nehmen, weil nichts so schwer ist 
als zu fremden Begriffen sich herunterlassen. - Das ganze groBe 
Verdienst der Autoren, die fur Kinder schreiben, beruhet ia auf 



KLEINE SATIREN 805 

dieser Schwierigkeit der Herunterkssung. Und ware auch dieses 
nicht, so wiirde wenigstens in meinen Augen die Fahigkeit des 
Publikums, zu kleinen Autoren herabzusinken, seiner andern, 
zu grofien hinaufzusteigen, sehr weit bios darum vorstehen, weil 
es selten oder keine Gelegenheitfindet, von der leztern Gobrauch 
zu machen, hingegen aber ieden Tag beinahe Anlas hat, sich 
von der angenehmen Unentbehrlichkeit der erstern zu iiberzeu- 
gen, und zum Besize eines Gaumen sich von neuem Gliik zu 
wiinschen, ohne welchem es schlecht im Stande sein wiirde, ans 
10 unseren besten neuen Schriften das gehorige Vergniigen zu 
schopfen. Ich darf also wohl nicht erst hinzufiigen, dafi dieser 
Gaumen dem Publikum sowol als uns kleinen Autoren selber 
einen unsaglichen Nuzen verschaffet. . 



Es ist sehr befremdend, aber leider! auch eben so sehr gewis, 
dafi gerade in unserem Zeitalter, wo das schone Geschlecht unser 
hasliches vollig gedemuthiget hat, so viele Spotter sich gegen 
dasselbe erheben, und man soke anfangs nicht vermuthen, dafi 
der reizende Theil der Menschheit in der litterarischen Welt eine 
so ganz andere Stelle als in der feinen spielen werde. Soke unter 

20 den Veranlassungen zu diesem Betragen des Schriftstellers, die 
ein anderer aufzahlen mag, auch eine bekante Geneigtheit mit 
sein, sich in der Person des Schriftstellers fur das zu rachen, 
was ihm als Menschen wiederfahrt; soke er mithin in seinem 
gedrukten Spotte eine Entschadigung fur seine wirklichen Er- 
niedrigungen suchen, die er der guten Lebensart nicht hatte ab- 
schlagen konnen: so ist soviel gewis, dafi dies ganze Betragen 
dem Schriftsteller weiter keine Ehre machet. - Die Damen iibri- 
gens miissen sich mit Geselschaft trosten: denn es gehet dem 
Teufel ebenfals nicht besser, dem man mit der Feder in der Hand 

30 alle die Ehrfurcht versaget, die ihm sogleich zu Dienste stehet, 
wenn man mit ihm unter vier Augen und des Nachts zu sprechen, 
das nur gar zu seltne Vergniigen hat. Die Fiirsten selbst haben 
in unsern Tagen kein anderes SchiksaL Denn wenn hat iemals 



806 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

der so sehr verkante Despotismus sichtlichere Wurzeln geschla- 
gen und groBere Bliithe getragen, wenn hat er kiihlere, braunere 
und langere Schatten geworfen als iezt? Allein wenn hat man 
gleichwohl mehr gegen ihn geschrieen und ihn verunglimpfet, 
als eben auch iezt? Man lese nur die Franzosen. - Ich werde 
mich also nicht mehr entschuldigen, daB ich von dem spotten- 
den Haufen der Skribenten mich ganz absondere: sondern ich 
wil sogleich in einige der warmsten Lobeserhebungen des scho- 
nen Geschlechtes ausbrechen, die einen matten Nachgeschmak 
von denen geben konnen, die ich ihm unter das Gesicht mit 10 
einer Art gewohnlich mache, daB ich mir und ihm eine schone 
Rothe abiage. 

Ich fange mein Lob mit einer wolgerathenen Rechtfertigung 
einer gewissen weiblichen Mode an, die zwar zu alt sein mag, 
verspottet, aber noch gar nicht zu alt ist, gerechtfertiget zu wer- 
den. Em gewisser Herr, den ich nicht nennen darf, erofnete 
mir, daB eine gewisse Dame, welche der Leser sogleich errathen 
wird, ihm offentlich mit einer Miene der Unbekantschaft be- 
gegne, die den Sieg vollig verlaugne, den er iibcr ihre tugend- 
hafte Verstellung davon getragen zu haben sich riihmen diirfte; 20 
und er versicherte mich, das einzige, was ihn noch iiber ihre 
Vergessenheit seines Triumphes beruhige, sei ein starker Zwei- 
fel an ihrem Gedachtnisse uberhaupt, der ihm zum Gliik fur 
seinen Stolz heute bei der unverhoften Nachricht, daB er nicht 
der erste, sondern der neunte Sieger sei, dem es bei ihr so gehe, 
zu Sinne geschossen. - Ich schmeichle mir aber, die Dame besser 
und ohne Unkosten ihres Gedachtnisses rechtfertigen zu kon- 
nen, und ersuche daher den Leser, sich von der Sache folgende 
Vorstellung zu machen: die besagte Dame hat wie iede, ihren 
Genius, den einige ihre Tugend, andre ihre Keuschheit oder 30 
auch ihre Schamhaftigkeit nennen. Er mag indessen ihre Freun- 
din heissen. Diese Freundin hat sich in das Herz der Dame einge- 
miethet, dessen zwo Kammern sich allerdings, wie es mir 
scheint, zu Ankleidezimmern oder doch zu Koulissen fur sie 
sehr gut schikken. Der obige Herr komt nun und erlaubet sich 
die Freiheit, bei aller der Hoflichkeit, die er der Dame erweist, 



KLEINE SATIREN 807 

verschiedene unbesonnene Worte fallen zu las sen, die ihrer 
Freundin gar nicht gleichgiiltig sein konnen. Endlich vergiBt 
er sich gegen diese so sehr, daB sie iiber seine Ungebiihr nicht 
anders als erziirnen kan, und wirklich in der ersten Hize aus 
den zwo Herzkammern der Dame herausfahrt und unter Beglei- 
tung des Bluts aiif ihre Wangen eilet. Hier glaubte sie vielleicht 
sich versteket und sicher genug, weil der Zinober, hinter dem 
sie lauerte, einerlei Farbe mit ihrer natiirlichen und zornigen 
hatte, so wie etwa die Raupe durch die Gleichfarbigkeit mit 

10 ihrem Nahrungsblatte dem Hunger des Vogels entwischet. Al- 
leinihr Widersacher, der fremde Herr, entdekte oder muthmaste 
gleichwol ihre Nachbarschaft und nahert boshafter Weise seine 
Lippen und Zahne den Wangen, um seine darauf sizende Feindin 
(denn man mufi das Argste vermuthen) zu erbeissen. Ich zweifle 
nicht, er wiirde es volfuhrt haben, wenn sie (die Freundin, wie 
ich die Schamhaftigkeit, oder Keuschheit zu nennen fur gut be- 
funden) nicht sogleich der Vorstellungen der Dame ungeachtet, 
die bisher den kaltblutigen Zuschauer gespielet, sich entschlos- 
sen hatte, von derselben sich so lange zu entfernen bis der Herr 

20 es miide wiirde, auf sie zu warten, und selbst den Abtrit nahme. 
Die Nachricht von den Mitteln iibrigens, welche die Dame in 
der Abwesenheit ihrer Freundin gefunden, den Muth des Herrn 
so gut zu demiithigen und seine Kraft e so gut zu entwafnen, 
daB sie ihre Freundin noch in seinem Beisein ohne Gefahr einer 
neuen Veriagung zuriik zu rufen wagen konte, wird meinen 
Lesern sehr gleichgiiltig sein, und ist auch schon in andern 
Schriften volstandig zu finden. Mit Fleis nab' ich bisher mit 
kaltem Blute erzahlet. Nun aber vermag ich die Frage nicht 
langer zuriik zu halten: Konte der Herr die Dame empfindlicher 

30 beleidigen als in einer Freundin, die mit ihr in die Schule gegan- 
gen, die mit ihr aufgewachsen, die ihre Reize sonst lange mit 
Schonheitsw asset und Schminke unentgeldlich aufgepuzt, die ihr 
treuer als Gluk, Liebhaber und Schooshunde gewesen, und die 
sie liberal hinter dem Rukken lobte? Geh' ich zu weit, wenn 
ich daher behaupte, daB die Dame in ihrer beschimpften Busen- 
freundin sich mit allem Rechte volhg eben so sehr beleidiget 



808 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

finden konte als eine andre sich in ihrem Schoshunde angegriffen 
achtet, wenn man gegen denselben sich so sehr vergisset, daB 
man entweder den Gebrauch eines weichen Hundekiissens von 
ihm machet, oder seine Pfote nicht mit der Hand, sondern mit 
dem FuBe driikket? Eine Unachtsamkeit gegen die Dame selbst 
konte vielleicht noch beschoniget werden; aber die gegen eine 
Freundin derselben gehet ihre Eigenliebe naher an, da ieder sei- 
nen Freund noch weit mehr als sich selber liebet, wie schon 
Zizero aus dem Grunde versichert, weil man fur den Freund 
Tugenden in Gefahr sezet, die man bios dem eignen Vortheile 
nie aufgeopfert hatte. Man verzeihe mir diese anscheinende 
Weitlauftigkeit iiber die GroBe der oftgedachten Beleidigung: 
konte ich wol anders als nach dieser Vorbereitung dem Leser 
die hohe Meinung von der Dame beibringen, die ich ihm iezt 
hoffentlich beibringe, wenn ich ihm melde, daB sie diese uner- 
horte Beleidigung dem fremden Herrn gleichwol von Herzen 
verziehen hat, daB sie nicht auf Rache gesonnen, daB sie so gar 
gleich dem Christen oder gleich dem Zasarj dem nichts aus 
dem Gedachtnisse zu kommen pflegte, als fremde Beleidigun- 
gen, sich offentlich gegen den Feind ihrer Freundin angestellet, 
als ob sie sein Vergehen und sogar inn selbst ganz vergessen 
hatte? - Ich bin gewis, in meinem Leser ist nun an die Stelle 
seiner vorigen zweideutigen Meinung von ihr eine vortheilhaf- 
tere getreten, und vielleicht hat selbst mancher unbedachtsame 
Lacher seinen voreiligen Spot iiber ihre edle Vergessenheit wie- 
der zurukgenommen. Wenn wir noch dazu sezen, daB der 
fremde Herr gar schon der neunte Gegenstand ihrer Verzeihung 
gewesen, so werden wir vielleicht wol kaum mehr in Zweifel 
sein, ob sie dem Petrus vorzuziehen ist, der nur siebenmal des 
Tages seinem Nachsten vergeben mag; ia wir konnen, ohne 
mit unserer Partheilichkeit fur sie iiber die Granzen der Wahrheit 
zu gehen, aus den Proben ihrer Versohnlichkeit das Vertrauen 
fassen, daB es ihr mit der Zeit sogar leicht ankommen werde, 
es in der Befolgung eines gewissen Gebotes des neuen Testa- 
mentes so weit zu bringen, daB sie nicht nur den Bakkenstreich, 
den ihre Freundin empfangen, vergiebt, sondern auch zu einem 



KLEINE SATIREN 809 

zweiten einladet und aufmuntert. - Zwar wil mich der fremde 
Herr versichern, daB sie kurz nach dem Abtritte ihrer Freundin, 
in eine edle Hize und Erbitterung gegen ihn gerathen und um 
dieselbe zu rachen, auf seine eigne (denn in den manlichen Her- 
zen wohnen auch solche Freundinnen) ahnliche Anfalle zu thun 
Versuche gemacht; allein diese boshafte Versicherung sol dem 
Glanze ihrer nachherigen Versohnlichkeit nichts entziehen, 
wenn der Leser erstlich zu bedenken beliebet, daB sie diese Rache 
nur in dem ersten Anstosse eines unschuldigen Eifers fur ihre 
10 gemishandelte Freundin genommen; und zweitens, daB sie ge- 
wis iiberzeugt war, mit solchen Angriffen dem fremden Herrn 
nicht im geringsten zu misfallen, als von welchem in derganzen 
Stadt bekant ist, daB er der vermeintlich angefalnen Freundin 
das Logis in seinen zwo Herzkammern schon seit vielen Jahren 
aufgekiindiget, und sogar sich hie und da verlauten lassen, er 
muthmasse immer mehr, das Bewustsein, sie einmal beherber- 
get zu haben, sei eine bloBe lere, lacherliche Tauschung. 



Die Agypter pflegen bekantermaBen, um das Bild ihrer verstor- 
benen Freunde gewisser zu verewigen, es auf Mumien zu malen. 

20 So ausgemacht dieses scheint, so grundlos ist doch, was einige 
mit eignen Augen gesehen zu haben schworen, daB auf der Gasse 
lebendige weibKche, alte Mumien herumwandeln, die mit drei 
Farben (weis, roth und schwarz) auf ihr lebendiges Gesicht ihr 
verstorbenes aufgetragen und gemalet, und ihrer unsterblichen. 
Haslichkeit eine Kopie von ihrer langstverblichenen Schonheit 
anvertrauet und einverleibet haben sollen. Ich wiinschte, daB 
man uns mit solchen tiikkischen Zeugnissen kiinftighin zu ver- 
schonen belieben, und iiberhaupt meine goldne Bemerkung 
mehr in Erwegung ziehen mochte, daB eine Luge nur den ergo- 

30 zet, der sie saget, aber selten die andern, die sie horen, und 
niemals die, welche sie trift. 



8 10 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

Wiirden nicht die Poeten weit besser fahren, wenn sie stat ihres- 
gleichen die Zukkerbakker nachahmten? Es ware schlim, wenn 
ich dem Leser erst einkauen miiste, daB ich es mit dieser 
Frage ernstlich meine. In der That, die Kunstrichter wiirden derri 
Parnasse eine Menge schlechter Poesien ersparet haben, wenn 
sie es mit mehr Eifer den Dichtern eingescharfet hatten, daB 
ieder Schrit, den sie aus der Bahn ihrer gedachten Muster thun, 
sie den schlimsten Verirrungen blosstellen werde und musse. 
Hatte man ihnen z. B. die Gelees (oder das sogenannte Gefrorne) 
zur Nachahmung vorgeleget, welche dem Gaumen des Kenners 
mit Siissigkeit und Kalte so unbeschreiblich schmeicheln: wiirden 
dann die Gedichte so selten sein, die einen oder den andern Reiz 
oder gar beide in einem betrachtlichen Grade vereinigen? wiirde 
man dann noch aus fremden Sprachen die Produkte holen miis- 
sen, welche dem feinern Leser sowol in der Sussigkeit als Kalte 
die groste Geniige leisten konnen? Ich wundre mich daher nur, 
daB doch unsere anakreontischen Dichter ihre Werke mit diesen 
zwo Volkommenheiten noch immer in einigem Grade, und 
mit der Volkommenheit der Kalte sogar in einem nicht gem ei- 
nen, zu adeln im Stande warcn. 



FLUCHTIGE MUTHMASSUNGEN UBER DIE 
MENSCHLICHEN TUGENDEN 



Die grossen Manner des Alterthums sind, wiewol weder ihr 
Leib noch ihre Sele auf unsere Zeiten gekommen, unserer Be- 
wunderung doch nicht ganz entzogen worden: sondern sie ha- 
ben uns durch Reprasentanten, in denen wir sie noch ehren und 
nachahmen konnen, ihre eigne Stelle ersezet, indem sie namlich 
auf die Nachwelt ihre Namen vererbten, an die wir iezt die Be- 
wunderung richten konnen, der sie selbst leider! unzuganglich 
sind. - Soken nun die Tugenden fur uns nicht wenigstens eben 
so gut als diese grossen Manner, die blossen Kopien derselben, 
gesorget haben? Und solten sie uns nicht eine ahnliche Entscha- 10 
digung, iiber die wir ihre Abwesenheit leichter verschmerzen 
konnen, hinterlassen haben? Zum Gliik bediirfen wir nicht diese 
Frage zu verneinen: denn wirklich hat keine einzige von alien 
den Tugenden, die vor sechstausend Jahren - denn bekanter- 
massen ist Adam zwar der Stamvater unsere's Menschenge- 
schlechts, aber doch bios ein Spading eines andern uralten, das 
vor undenklichen Zeiten her die Erde in Geselschaft der Tugen- 
den bewohnet hatte - von unserer Welt Abschied nahmen und 
in eine unverderbte (ibergiengen, es vergessen, uns vorher zu 
Erben ihres Namens einzusezen; und man mag nun Offenherzig- 20 
keit, oder Grosmuth, oder Keuschheit, oder Freundschaft oder 
sogar Enthaltsamkeit nehmen, so sind das doch lauter Tugen- 
den, deren Namen noch offenbar in dem Munde, dem Herzen 
und den Schriften des bessern und grossern Theils der Menschen 
ihren Plaz behaupten und die Achtung und Gastfreundschaft 
geniessen, die wir diesen Tugenden selbst nicht mehr erzeigen 
konnen. Diese Betrachtung (ibrigens ist vielleicht nicht unge- 
schikt, die diistern Empfindungen, denen uns der Anblik der 
iezigen Lasterhaftigkeit nur zu oft Preis giebt, einigermassen 
wieder zu zerstreuen; mir wenigstens hat sie iederzeit meine 30 
Zufriedenheit mit der ganzen Welt wiedergegeben und ich 
wurde dem nicht danken, der mir kiinftig mit Griinden, waren 
sie auch die richtigsten, diese lezte Quelle meiner Zufriedenheit 
verstopfte. Konte ich daher auch auf den Leser diese Beruhigung 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 813 

verbreiten, so hatte ich den Endzwek erreichet, den ich mir 
bei dem folgendem weitlauftigern Beweise vorsezte, daB wir 
allerdings schazbare Anlagen zur Tugend unter unserem Be- 
schlusse und in unserem Munde haben und daB die Linie derer 
edeln Nam en der Tugenderi, welche iene oft belobten Volker 
unausgesezet auf der Zunge hatten, audi bei uns noch nichts 
weniger als erloschen ist. 

Die Natur hat unsern verschiednen Gliedmassen verschiedne 
Dienste angewiesen. Der Kopf ist bestimt, zu denken oder wenn 

10 er dieses nicht thut, wenigstens zu dichten; die Hande, uns zu 
beschiizen, zu nahren und zu verschonern, wie auch zuweilen 
den Nebenmenschen zu schlagen und ihm das Seinige vorsichtig 
zu entwenden; das Herz, unter alle das Blut auszutheilen u.s.w. 
Keinem von diesen alien aber ist eine so edle Bestimmung be- 
schieden als erstlich der Zunge, die das unentbehrliche und kost- 
bare Werkzeug ist, womit wir die edelsten Thaten ausiiben und 
unsere tugendhaften Entschliessungen in Handlungen verwan- 
deln; als hernach zweitens dem Gesichte, welchem unsere Anla- 
gen zur Tugend (oder wie einige sich ausdriikken unser Gewis- 

20 sen) eingepflanzet und anvertrauet sind und worauf die 
angebornen und unveranderlichen Grundgeseze der Moral ein- 
gegraben stehen, nach denen die Zunge, so viel es die menschli- 
che Schwachheitzulasset, sich richtet; wie man etwa an schonen 
Grossen und Banditen sehen kan, an denen die Zunge wol nie 
das Gesicht veflaugnet und Liigen straft, sondern meistens das 
Versprechen der Tugendhaftigkeit erfullet, das ienes unsern 
Augen machet. - Eh' ich dieses, was ich mir vorlaufig angezei- 
get, gar beweise, mus ich eine Warming vorausschikken, fur 
die mir der Leser nicht genug danken kan: man lasse namlich 

30 bei der Aufsuchung des Sizes unserer Tugend doch das Herz 
ganzlich aus den Augen, als welches hierin ausser der einzige[n] 
Rolle, die ich ihm schon angewiesen, namlich die, die Werk- 
zeuge unserer Tugend mit Blut zu versorgen, weite.r keine zu 
spielen hat. Denn giebt es ia einige Menschen, (und man wil 
es freilich behaupten) die durch ihre Tugend den Irthum zu be- 
statigen scheinen, daB bei derselben das Herz mit im Spiel sein 



8 14 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

miisse: so halte man sie bios fur Ausnahmen, welche der alge- 
meinen Erfahrung durchaus keinen Abbruch thun diirfen, die 
uns die* iibrigen Menschen als Windbuchsen kennen lehret, die 
zwar auch wie Feuergewehre eine Zundpfanne (das Herz) besi- 
zen, allein von ihr nicht den geringsten Vortheil fur ihre Schiisse 
ziehen konnen, weil sie mit Wind, und nicht mit Fetter schiessen. 
Und daB sogar auch iene Ausnahme'n nicht sehr haufig sind, 
wird der geneigte Leser (seine eigne Erfahrung sei mein Richter) 
schon langst aus der Verwunderung geschlossen haben, in die 
er gerath, wenn er auf eine von diesen Ausnahmen stosset, und 10 
welche wirklich nicht geringer ist als die, in welche ihn der 
seltne Anblik eines Genies oder einer grossen Schonheit sezet. 
Die Philosophen sagen uns, daB die Menschen vor den Thie- 
ren nichts voraus haben als die Spracheund daB diese allein unsere 
Ideen so weit iiber die thierischen erhebet. Mich diinkt, die Phi- 
losophen hatten weiter gehen und behaupten konnen, daB die 
Sprache einen ahnlichen Dienst auch unsern Tugenden leiste, die 
ohne die Verbesserung durch sie denen der Thiere den Preis 
wol nie wiirden abgelaufen haben. In die Natur der Taube ist 
Sanftmuth, in des Hundes seine Treue, in die des Lowen Edel- 20 
muth u.s.w. verwebet und ich sehe nicht ein, warum man sich 
sehr bedenket, denen Handlungen der Thiere, bei denen ein 
gutes Temperament zum Grunde lieget, den Namen der Tugen- 
den einzuraumen, und warum man die Abstuffung, in der man 
alle Volkommenheiten durch die ganze Schopfung fortgefiihret 
glaubet, gerade bei den moralischen abbricht und von ihnen 
allein laugnet, daB sie sich auch weiter herab zu den Thieren 
fortziehen und da in uniibersehbare Grade sich verlieren. Allein 
so sehr ich auf der einen Seite geneigt bin, diesem moralischen 
Werthe der Thiere, der sich auf Handlungen einschranket, das 30 
versagte Recht zu geben, so weit bin ich doch auf der andern 
entfernet, gegen den Vorzug blind zu sein, auf dem wir soviele 
Stufen iiber sie hinwegsteigen und der kein geringerer als dieser 
ist, daB wir zum Dienste unseres tugendhaften Temperaments 
nicht iene schlechtern Glieder, Hande, Fiisse pp., sondern das 
edlere und gefiihlv oiler e, namlich die Zunge in BeWegung sezen, 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 815 

und durch den Mund den edlen Regungen der Lunge Luft ver- 
schaffen und kurz die bessern und geistigern Geschopfe unsers 
Willens in eben so guten und geistigen Korpern, namlich in 
Worten zur Welt bringen konnen - sol ich erst hinzusezen, daB 
aber das Thier wegen des Mangels der Sprache ewig unter die- 
sem Grade der moralischen Vervolkommung bleiben mus? In- 
dessen ist es gleichwol sehr nach meinem Geschmakke, wenn 
ich bei Hern C. G. Berger Iese, daB die Thiere sonst wirklich 
im Besize von diesen menschlichen Volkommenheiten der 

10 Zunge waren, von denen sie nur durch ihren Sundenfal herabge- 
sunken. Der Glaube an eine ehmalige Sprachfahigkeit der Thiere 
. war schon eine meiner Lieblingsmeinungen, eh* ich sie noch 
von Hern Berger bewiesen las und nicht sowol dem Plato als 
der Bibel verdank' ich sie, deren Winke hieriiber so leicht auszu- 
legen sind, daB man in der That sich ein wenig wundern mus, 
wie die grosten Manner so lange neben das Ziel hatten vorbei 
schiessen konnen. Denn das erste Buch Mose machet uns mit 
einer Schlangebekant, die (wenn wir nicht unsere Augen Liigen 
strafen wollen) so gut wic einer von uns alien, sprechen konnen 

20 und es hat uns eine Rede von ihr aufbehalten, aus der ich, wiewol 
ich aller orientalischen Sprachen, vollig unkundig bin, doch ver- 
mittelst meiner gesunden Vernunft soviel sehr deutlich sehe, 
daB sie das Hebraische, welches sogar unsere geschiktesten Kan- 
didaten wegen seiner ausserordentlichen Schwierigkeiten nicht 
mehr zu erlernen vermogen, mit einer seltnen Leichtigkeit und 
in einer besondern Reinheit gesprochen; und es ware zum Vor- 
theil aller Damen sehr zu wiinschen, (wiewol ich mir wenig 
Hofnung dazu mache) daB unsere Autoren fur Damen und un- 
sere Papageien ihre Sprache nur halb so rein und deutlich reden 

30 lernten als die Schlange die ihrige sprach. Natiirlich hatte (wie 
ich dem Leser nicht erst sagen darf) nicht diese allein die Gabe 
der Sprache: keinem einzigen Thiere fehlte sie und die Affen 
und Fische waren damals so wenig stum als iezt die Menschen, 
die ihnen in anderen Stiikken gleichen. Folglich war in iener 
goldnen Zeit auch des Thieres Zunge zu den tugendhaften Be- 
wegungen und Handlungen geschikt und aufgeleget, die iezt 



8l6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

nur die unsrige adeln; und in diese Sprach- oder Tugendfahigkeit 
mus man das Ebenbilddcs Menschen sezen, das dieThiere damals 
noch an sich trugen. Allein ungliiklicher Weise verloren sie es, 
wie wir das gotliche, beinahe ganz, wenn ich einige schwache 
Ziige ausnehme, die sich davon noch in den Papagaien, Staren 
pp. erhalten haben. Die Schlange namlich, die wegen ihrer ge- 
schwindern und mithin moralisch bessern Zunge das Bundes- 
haupt der (ibrigen Thiere vorstellen muste und durch die Art, 
wie sie sich aus der Probe ihres Gehorsams zog, das Schiksal 
aller andern entscheiden soke, fras unbesonnener Weise von dem 10 
verbotenen Baume und verdarb durch seine Frucht sich und 
alien iibrigen Thieren die Sprach- und Tugendwerkzeuge ganz 
und gar, wie es der Augenschein noch ieden Tag uns sehen 
lasset. Dieses stehet zwar nicht alles in der Bibel; allein ich trage 
es ia doch hinein und nun wird es hoffentlich der Leser darin 
stehen finden: es ist dieses (beilaufig zu sagen) eine Geschiklich- 
keit, in der ich wimschte, daB mehrere mir nachschliigen und 
zu der man iunge Theologen mehr als zu etwas anderem wegen 
ihres eignen urid des Nuzens ihrer Lehrsaze anfiihren solte, weil 
doch wirklich die Kunst, in der Bibel auszulegen was schon 20 
da ist, gegen meine, in sie etwas hineinzuspielen was noch gar 
nicht da ist, in keine Betrachtung weder des Nuzens noch der 
Schwierigkeit zu kommen verdienet, so wie etwan die Kaldaer, 
welche die Traume des Nebukadnezars bios auszulegen ver- 
standen, unerreichbar weit von dem Daniel zurukgelassen 
wurden, der sie vorher errathen und erschaffen konte eh' er sie 
deutete. 

Ich gehe in Begleitung des muntern Lesers von den Thieren 
zu den Wilden fort, deren schimpfliche Nachbarschaft mit ienen 
so wie ihr geraumiger Abstand von uns sich nur gar zu deutlich 30 
aus ihrer Unfahigkeit oder wenigstens aus ihrer Verdrossenheit 
zu denienigen Thatigkeiten zu errathen giebt, welche der 
menschlichen Zunge von der Tugend vorgeschrieben werden. 
Fast immer sezet der Wilde an den Plaz der feinen Worte nichts 
als rohe Handlungen, weil seiner naturlichen Tragheit die An- 
strengung des Geistes, die zu ienen gehoret, beschwerlicher an- 



UBER DIE MENSCHLICHEN.TUGENDEN 817 

komt als die Anstrengung des Korpers, welche diese erfodern. 
1st es daher zu verwundern, wenn vor Zeiten Pabste selber diese 
Ahnlichkeit der Wilden mit den Thieren so auffallend gefunden, 
daB sie dieselben ohne Bedenken in die Klasse der Affen herun- 
tersezten* an welchen sich eine ahnliche Stumheit und eine ahnli- 
che Beweglichkeit der iibrigen Glieder zeiget? Ich kan auch die- 
ses Urtheil der Pabste oder vielmehr des Pabstes Zacharias nicht 
so lacherlich finden als es einige zu thun beliebten: denn ich 
sehe, daB dasselbe offenbar wenig oder nicht von dem verschie- 

10 den ist, das die Wilden selber iiber sich fallen, wenn sie die 
Thiere fur wahre Menschen erklaren. Aus allem ergiebet sich 
soviel, daB die Tugend der wilden Volker noch nahe an die 
der Thiere stosse und diese selten so weit zuruklasse, oder der 
unsrigen so nahe komme, daB sie stat blosser Handlungen Reden 
und Worte hervorarbeitete. 

Denn diese hohere Tugend ist beinahe bios ein Werk der Ver- 
feinerung und wenn die Wilden iezt hie und da anfangen (ich 
wunsche nur, daB diese Nachricht sich bestatiget), von ihrer 
Zunge einen haufigern und tugendhaftern Gebrauch zu machen 

20 als vorhin, so diirften wol wir Europaer unsern Umgang mit 
ihnen fur die erste Ursache dieser Verbesserung, die allein sie 
fur die von uns erlittenen Drangsale und Ungerechtigkeiten 
reichlich schadlos halten kan, ohne Selbstpartheilichkeit ausge- 
ben konnen. Eben so saget auch Buff on, daB die Hunde das 
Bellen lediglich unter polizirten Volkern erlernet haben, unter 
wilden aber (in warmen Lander n) in der Sprachlosigkeit verblei- 
ben, fur die ihr Fleisch, das dort genossen werden kan und unse- 
rem guten Schafiltisch in keinem Stiikke weichet, eine schlechte 
Vergiitung gewahret. - Uberhaupt mus ich eine Anmerkung 

30 machen, die meines Erachtens allein hingereichet hatte, den 
milzsuchtigen Streit iiber den entschiednen grossen Werth der 
Verfeinerung auf einmal abzuthun: namlich in eben dem Grade, 
als die Menschen sich aufklaren und denken lernen, wird es 
ihnen einleuchtend, daB fast liberal die Sache gegen ihren Namen 
in gar keine Betrachtung zu kommen verdienet, und in eben 
diesem Grade wachset ihre Willigkeit, diesem den Vorzug vor 



8l8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

iener zu lassen - und diese Willigkeit erstrekken sie nicht auf 
geringfiigige, sondern auch auf die wichtigsten Dinge bis sogar 
auf Kentnisse und Tugend. Hoffentlich sol es mir an Beispielen 
nicht mangeln. An keinem einzigen Hofe fehlen den Amtern, 
deren Verwaltung unthulich, lacherlich oder veraltet ist, wol 
die Namen oder die Manner, die sie mit dem grosten Ruhme 
verwesen. - Die Hofe erlassen sich die Wirklichkeit der Versiche- 
rungen und Entschuldigungen, die sie sich gegenseitig bei ge- 
wissen Umstanden machen, einander gern: aber es sei feme/ 
daB die von beiden Sei ten verziehene Grundlosigkeit derselben 10 
sie auch gegen deren Nennung gleichgiiltig machen soke; viel- 
mehr haben sie stets Nachlassigkeiten in der leztern mit den 
blutigsten Kriegen geahndet. - Es ware schlim fur die Philoso- 
phic, wenn ihr ganzer Reichthum sich auf blosse Begriffe ein- 
schrankte, die im Grunde nur fur eine blosse Zulage zu ihrem 
weit grosseren Schaze gelten konnen, der lediglich aus Wortern 
bestehet. Noch,schlimmer ware es fur dieienigen Philosophen, 
die zu neuen Erfindungen untiichtig sind, wenn ihnen die Natur 
mit der Fruchtbarkeit an diesen auch zugleich die weit muhlosere 
Fruchtbarkeit an Namen versaget hatte, durch welche alte Erfin- 20 
dungen mit dem Scheine neuer und eigner aufgestuzet werden 
konnen. - Einem ieden, seine Sache mag auch noch [so] sehr 
die Richter fur sich und das Recht wider sich haben, liessen 
gleichwol die Geseze, in Betrachtung daB oft die ungerechteste 
Sache aus Schuld des Advokaten oder des Richters verloren ge- 
hen kan, zur lezten Zuflucht die wolthatige Erlaubnis (ibrig, 
dieselbe Klage, die unter einem Namen verloren worden, unter 
einem andern wieder anzufangen und hernach zu gewinnen. 
- Der Theolog hat von ieher bei allem Eifer, mit dem er seine 
Feder zur Vertheidigung der Wahrheit in Bewegung sezte, sie 30 
dennoch von dem warmen Schuze ausgeschlossen, in den er 
nur gewisse Worter auinahm, als zu deren Ausbreitung er weder 
Kriege noch Flammen sparte. - Ferner: man kan zum Ruhme 
der deutschen Akademien ohne Zweifel annehmen, daB fast auf 
alien gewisse Professoren dazu besoldet werden, daB sie iedes 
halbe Jahr das Versprechen, Kollegien in alien Wissenschaften 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 819 

zum Besten armer Studenten gratis zu lesen, sowol gedrukt als 
geschrieben von sich geben und erneuern. - Welcher Freund 
des Wizes wird nicht .an unsern guten Schriften den Titel dem 
iibrigen Inhalte vorziehen? so wie einer, der in Italien Spuren 
der romischen Grosheit suchet, sie nicht an den Italianern selber 
sondern in ihren Namen suchen und finden wird, als welche 
meistens »Zasar« oder »Kato« oder »Zizero« pp. heissen; oder 
so wie ich neulich von einem sehr weitlauftigen Anverwandten 
von mir, an dem ich lange alle Zeichen der Gottesfurcht vermi- 

to ste, auf einmal besser zu denken anfieng, da ich mit besonderem 
Vergniigen wiewol nicht ohne Miihe ersah, daB er mit seinem 
Namen, den ich an dem Galgcn geschlagen erblikte, sich Furch- 
tegot schreibe. - Es ist sehr schwer, ich hatte beinahe gesaget 
unmoglich, iiber ein Buch ein strenges oder gelindes, ein nach- 
theiliges oder vortheilhaftes Urtheil mit einiger Richtigkeit zu 
fallen, so lange man iiber den Namen seines Verfassers noch 
nicht zur Gewisheit gekommen ist; wenigstens las ich neulich 
zweihundert neue Biicher mit innigem Vergniigen, die mir iezt, 
da ich die Namen ihrer Verfasser ausgeforschet habe, nichts 

20 anders als unsinnig und abgeschmakt vorkommen konnen, so 
wie ich vor vierzehn Tagen den Fuchs, den ich in der von einem 
meiner warmsten Freunde mir aufgehefteten Meihung, in ihm 
einen Hasen zu speisen, mit mehr als gewohnlichem Appetite 
aufgezehret hatte, kaum daB mir der wahre Namen meiner 
Speise hihterbracht war, sogleich mit unglaublichem Ekel wie- 
der von mir spie; ein Ekel, der sich iezt zu meinem grosten 
Verdrusse auch auf alle Hasen erstrekket. Oder auch umgekeh- 
ret brauche ich bei guten Biichern nichts als eine vorlaufige 
Nachricht vom Namen ihres Verfassers, um so fort in den Stand 

30 gesezet zu sein, aus ihnen das Vergniigen zu schopfen, das sie 
mir und iedem andern, an welchem die Natur einen feinen Gau- 
men nicht ganz vergessen hat, so reichlich anbieten: - und nur, 
um zu keinem Verdachte der Eitelkeit Ursache zu geben, unter- 
lasseiches hier, von meinem korperlichen Gaumen ein Gleiches 
zu riihmen, den ich ohne Bedenken iiber ieden andern Gaumen, 
hatte man ihn auch von zwei und dreissig Ahnen geerbet, hin- 



820 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

wegseze, weil ich ihn alzeit vermittelst einer Zurechtweisung 
durch den Linnaus sehr Ieicht dahinbringe, daB er sich an den 
Insekten und dem Ungeziefer, das auf vornehmen Tafeln zum 
Frasse fur ahnliche figiirliche Frosche, Schnekken u.s.w. aufge- 
tragen wird, ausserordentlich labet und lezet. - Der Offizier 
von guter Geburt, guter Erziehung und gesunden Grundsazen 
wird eben so viel Bedenken tragen, sich der Ausubung der Tu- 
genden, worinnen die eigentliche Ehre bestehet, mit Preisge- 
bung seines Lebens zuunterziehen, als er mit Vergniigen iede 
Gelegenheit ergreiffen wird, fur den Namen der Ehre, fur welche 10 
er ein eben so feines Gefuhl als fur die Karten hat, erstochen 
oder erschlagen zu werden und sich zum Martyrer desselben 
machen zu lassen. - Ich konte der Beispiele noch weit mehrere 
zusammentragen, aber hoffentlich reichen auch schon diese zu, 
von den nur zu oft verkanten Wirkungen der Aufklarung einen 
unpartheiischern Begrif zu geben. 

Keinen geringern Einflus nun aussert die Aufklarung oder 
Verfeinerung auch auf unsere Tugenden. Denn so wie sie alle 
Sinnen entkraftet und alle Glieder brandschazet, um den Kopf 
im Denken durch die Krafte des ganzen Korpers zu unterstiizen, 20 
so machet sie auch mit der Tugend gemeinschaf[t]liche Sache 
und entnervet zu ihrem Behuf Hande und Fusse, driikket und 
sauget das Herz aus, fanget sogar dem Gehirne die Lebensgeister 
ab und entwendet dem ganzen Korper die durch ihn verstreueten 
Krafte zur Tugend, um sie alle auf die - Zunge zu Haufe zu 
fiihren, iiber deren gliikliche Leichtigkeit, edle Thaten zu edlen 
Thaten zu fiigen und iede Viertelstunde mit einer neuen tugend- 
haften Thatigkeit, mit der sie sowol dem Nebenmenschen als 
ihrem eigenen Besizer den grosten Nuzen verschaffet, zu be- 
zeichnen, man sich dan freilich nicht mehr zu verwundern hat. 30 
Nur einige Beispiele. Der Verfeinerung des Korpers und der 
Sele haben wir es zu danken, dafl nun die Damen nicht mehr 
selten sind, die der vertu, den sentiments und dem honneur 
Plaz auf ihrer Zunge geben und sogar bei den sieghaftesten Ver- 
suchungen, hatten sie auch schon iiber den bessern Theil ihres 
Wesens den Meister gespielet, doch der Keuschheit noch den 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 821 

besten, die Zunge, unerobert erhalten; eine Tugendhaftigkeit, 
von der uns Crebillon in iener Dame, die ein Bet zum Schauplaz 
und einen Marquis zum Ohrenzeugen des ausserordentlichen 
Sieges machte, den ihre Zunge iiber den untugendhaften Wider- 
stand der Gelegenheit und iiber das feige Beispiel ihres ubrigen 
Selbsts davontrug, ein sehr schones nur vielleicht aber zu vol- 
kommenes Bild entworfen hat. - Hatte weiter die Verfeinerung 
nicht die Krafte der aussern Glieder, die wir sonst zur Rettung 
des Elenden aufboten, samtlich in die Zunge zuriikgezogen, 

io wiirden wol iezt die Beispiele von Personen so haufig sein als 
sie gotlob! wirklichsind, welche eben dieses sonst so menschen- 
feindliche Glied ganzlich der Wolthatigkeit und dem Dienste 
der Ungliiklichen widmen? Wenigstens wiirden wir dan in die 
Zahl dieser Menschenfreunde dieienigen nicht sezen kdnnen, 
die dem Merkur (dem Got der erlaubten und der unerlaubten 
Handelschaft) ihren Kopf und ihre Hande heiligen; und die 
gleichwol iezt ihr besseres Glied, das die Alten sonst eben ihm 
geweihet hatten, die Zunge, gerade seiner Feindin, der Freige- 
bigkeit, geloben und den Leitungen derselben iiberlassen. - 

20 Die Verfeinerung bedienet sich ausser unsrer Schwachung 
noch eines andern und gliiklichern Mittels, tugendhafte Hand- 
lungen zu tugendhaften Reden zu veredeln und zu entmannen. 
Es giebt namlich eine gewisse Aufklarung, die weniger das Licht 
als der Schimmer gewahret und welche die einzige ist, die Perso- 
nen von hohem Range angemessen, zutraglich und wilkommen 
ist. Diese Aufklarung stellet gleich dem brennenden Brandte- 
wein, in den man Salz geworfen, alle Gegenstande, worauf ihr 
Schimmer fallet, und besonders die menschlkhen Tugenden in 
einer angenehmen Todtenfarbe dar und bildet die moralischen 

30 Skeptiker an den Hofen, welche die Tugend so geschikt zu zer- 
gliedern und ihr die Reize so scharf abzulosen und abzuziehen, 
die Siinde hingegen mit so modischen Schonheiten aufzupuzen, 
mit so naturlicher und schamhafter Rothe neu zu bewerfen und 
mit so unschuldigen goldnen Augen auszulegen wissen, daB 
wirklich dadurch der ganze Unterschied der Gestalt, den die 
Empfindung anfangs zwischen beiden finden wollen, gliiklich 



822 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

aufgehoben und fiir den Unparthehschen nun weiter keine 
Griinde mehr vorhanden sind, warum er die erstere lieber als 
die andere umarmen soke. Noch weit mehr aber ist iene Philoso- 
phic zu der einem weisen Manne so anstandigen Kalte und 
Gleichgiiltigkeit gegen Laster und Tugend behiilflich, wenn 
man von ihr in iedem besondern Falle Gebrauch machet: denn 
ich behaupte, daB ein geschikter Kopf, sobald er sich iiber sein 
Gefiihl hinweggesezet, aus iedem vorkommenden Falle eben 
so viel Umstande, welche die eine Entschliessung, als solche, 
welche die entgegengesezte rechtfertigen, auszuklauben ver- 
mag; und ich sage hiemit nichts als was die Juristen schon langst 
in Ausiibung gebracht, wenn sie durch einen scharfsinnigen aber 
bescheidenen Gebrauch des Grundsazes: »der kleinste Umstand 
andert die Sache« von Fallen, welche das Gesez offenbar unter 
seinen Worten mit begriffen hatte, sehr gut ins Klare sezten, 
daB es sie keinesweges darunter begriffen haben konne. Ist man 
aber einmal so gluklich, daB man den moralischen Werth der 
Handlungnicht mehr herausbringen kan: dan ist man geborgen; 
denn man hat dem sogenanten (mir Iacherlichen) Gewissen sei- 
nen Willen gelassen und es mus nun der Begierde und der Lei- 
denschaft zurukken und Plaz machen, welche das votum deci- 
sivum giebt. Ich glaube dieses als den einzigen Weg (wenigstens 
wiinschte ich einen andern zu kennen) den Lesern empfehlen 
zu diirfen, auf welchen man, ohne das Gewissen im geringsten 
zu verunreinigen, von seinen Tugenden in lauter Handlungen 
ausruhen kan, die an sich betrachtet den Strang ganz wol verdie- 
nen mogen. Oberhaupt diinkt mich lasset sich dieser Philoso- 
phic die Tiichtigkeit wol nicht absprechen, kalte und denkende 
Manner durch die vortheilhafte Beleuchtung, die sie ihren laster- 
haften Entschlussen giebt, einigermassen fiir den freilich glan- 
zendern Firnis zu entschadigen, womit die warmere Leiden- 
schaft eines andern solche iiberstreichen wiirde. - Ich brauche 
kaum zu erinnern, daB die Verfeinerung durch diese Kalte die 
Sache der Tugend nicht' wenig befodere: denn indem sie alle 
Warme aus der Nachbarschaft der Zunge, aus Kopf und Herz 
gluklich vertreibet, blaset sie dieselbe auf die Zunge selbst zu- 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 823 

sammen und erwarmet diese in eben dem Grade fiir die Tugend, 
in welchem sie das Herz dafiir kalter machet. Vielleicht klaV 
ich dieses durch ein Gleichnis auf . In einem eingefrornen Wein- 
fasse hat der Frost bios die geringern, geistlosen aber zahlrei- 
chern Theile des Weines verhartet und die wenigen geistigern 
und hizigen in einen kleinen Raum zusammengetrieben; allein 
alle Kenner lassen sich uber das Feuer eines solchen Weines mit 
ausserordentlichenLobspriichenheraus. Sezet nicht eben so die 
Kalte fiir die Tugend, sobald sie sich einmal aller Glieder eines 
10 Mannes bemeistert hat, die Zunge desselben in den gliiklichen 
Stand, von ihr mit der grosteri Warme zu sprechen und es hierin 
ienenschwachern Geschopfen weit zuvorzuthun, die uber die 
durch ihr ganzes Wesen verstreute Tugendwarme gerade das 
Wichtigste vernachlassigen namlich den Ausbruch derselben in 

- Worte? 

Vielleicht hab' ich schon mehr gesaget als es nothig war, um 
Leser, die selbst mit denken, zu iiberzeugen, daB die Verfeine- 
rung der hohern Tugend und ihrer Ausubung durch Worte wi- 
der die algemeine Meinung unglaublich vortheilhaft und gewis- 

20 sermassen unentbehrlich sei. Indessen mus ich es doch noch 
an einem auffallenden Beispiel den Leser bemerken lassen, wie 
wenig da, wo die niedere Tugend, die sich mit Handlungen 
abgiebet, herschend ist, die Verfeinerung bestehen konne. 
Namlich sogar der feinere und vornehme Man mus den Karak- 
ter, durch den er sich vom Pobel unterscheidet, auf einige Zeit 
ablegen und vergessen, wenn er zu einer tugendhaften Handlung 
sich herunterlassen wil. Eben er, der z. B. die Wolthaten, die 
er euch durch seine Zunge (das Werkzeug der hohern Tugend) 
zufliessen lasset, mit so vielen Feinheiten zu begleiten und zu 

30 erhohen weis, eben er mus sich beinahe zur Pobelhaftigkeit und 
Grobheit zwingen, sobald er mit seinen Handen (den Werkzeu- 
gen der niedern Tugend) dem Geringern eine Wolthat ertheilet 

- ein deutliches Anzeichen, wie sehr der feine Man sich durch 
tugendhafte Handlungen aus seinem Elemente verirre, und ein 
bedeutender Wink an ihn, sie lieber ganz den niedern Standen 
zu iiberlassen, die ohnehin zu etwas Edlerem wenig Ansaz zei- 



824 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

gen. - Ubrigens mag der Leser selbst den Ausspruch thun, ob 
es fur tugendhafte Handlungen ein sehr giinstiges Vorurtheil 
erwekken konne, wenn man siehet, daB sie nirgends als bei ge- 
ringen und unaufgeklarten Leu ten angetroffen werden; ich fur 
meine Person habe schon Parthei genommen. 

Jezt soke ich von der Zunge auf das Gesicht ubergehen; allein 
ich habe noch vorher dem Leser erstaunlich vieles zu sagen, 
durch das ich nicht ohne Grund verhoffe, die magern Kentnisse 
desselben auf einen merklich bessern Fus zu sezen. 

Erstlich mus ich eine Klage des Helvetius wieder aufwarmen. 
Denn so wird man es nennen, wenn ich bittere Beschwerden 
iiber die Nachlassigkeit fuhren werde, mit der man die Kinder 
zur Tugend anleitet. Es ist sonderbar, daB man sie alles lehret 
und nur die leztere nicht. Man kann aber zur Entschuldigung 
wenigstens nicht die Unreife der Kinder zu einem solchen Un- 
terrichtc vorschuzen: denn ihre Zungen, welche die schwersten 
Wissenschaften so leicht zu fassen und sich ihrer Kentnisse zur 
rechten und gesezten Zeit so reichlich wieder in erwachsene 
Ohren zu entledigen vermogen, sind mi thin auch nicht zu iung 
und zu unfahig, mit dem besten Erfolge zu tugendhaften Bewe- 
gungen und Geschiklichkeiten abgerichtet zu werden; und oft 
wenn ich unmiindige Kinder in f einen Geselschaften, denen sie 
iezt beinahe so unentbehrlich geworden als den Pantomimen, 
schwere und sogar einem Erwachsenen nicht Schande machende 
Proben von ihrer praktischen Einsicht in die Komplimentir- 
kunst ablegen horte: so konte ich mich nicht enthalten zu den- 
ken: eben so fruchtbar als an Komplimenten wiirden diese un- 
miindigen Zungen auch an alien Tugenden sein, wenn man sie 
auch zu diesen angefuhret hatte. Und dan lasse ich einen heimli- 
chen Seufzer iiber das Schiksal der Tugend fahren. - Auch darf 
ich wol noch hinzusezen, daB die Tugend doch warlich wichtig 
genug ist, daB man das Kind in die moglichstfruhe Bekantschaft 
mit derselben bringe und in das Siegellak seines Herzens, bevor 
es hart und kalt geworden, ihren Namen driikke; und die feinere 
Welt verlache mich immer, ich werde dennoch stets behaupten, 
daB alle Tugenden und besonders die modischen wegen ihrer 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 825 

ungemeinen Wichtigkeit, den Zungen der Kinder gelaufig ge- 
macht zu werden, vollig eben so sehr verdienen als nur immer 
ein modisches Kartenspiel verdienen mag, den Fingern dersel- 
ben beigebracht zu werden. Warum machet man sich nicht we- 
nigstens die neuen Fusstapfen mehr zu Nuze, die einer unserer 
grosten Padagogen hierin nachgelassen? Ich meine unter diesem 
Padagogen mich selber. Ich habe namlich den Unterricht im 
Spiel mit dem Unterrichte in der Tugend bei meinen Kindern 
sehr geschikt verbunden. Etwas Volstandiges von dieser Ver- 
io bindung kan ich zwar hier nicht mittheilen und ich mus den 
ungeduldigen Leser deshalb auf meinen iezt auf der ordinairen 
Post zu habenden Traktat hievon vertrosten, der hoffentlich in 
kurzem seinen Verleger finden wird, da er nun schon von 
mehr als einem Schokke derselben abgewiesen worden. Indes- 
sen mag doch ein schoner Gedanke desselben (Siehe Seit. 31.) 
hier stehen und den Leser auf das Ganze lustern machen: Sie 
miissen, sag' ich zur kleinen Jeannette wiewol in einer kindi- 
schern Einkleidung, tugendhafte Reden eben so geschikt an die 
S telle tugendhafter Handlungen zu sezen wis sen als Spielmarken 
20 an die Stelle des Spielgeldes: denn so wie keine verniinftige und 
dabei sparsame Dame dem Hern, bei dem sie verlor, den Ge- 
winst wol in etwas anderem auszahlen wird als in Spielmarken, 
und wie sie auch hier das Privilegium ihres Geschlechtes, frei 
auszugehen, geltend machen wird, es miiste denn der Chapeau 
(auf deutsch der Hut, denn der Man ist des Weibes Hut und 
gleichet dem Chapeau parasol des Hern Hautrey) aus einem 
unersatlichen Geize weder nach dem Privilegium noch nach der 
Galanterie etwas fragen wollen; eben so mus sie den tugendhaften 
und der Schonheit und Schwache ihres Geschlechtes gleich sehr 
30 angemessenen Gebrauch, den sie von ihrer Zunge machet, wei- 
. ter auf keine andern Glieder ausdehnen. - Den Knaben ermahne 
ich, sich fur die Wolthaten, die er vermittelst seiner Zunge dem 
Nebenmenschen angedeihen lasset, wieder an dem Beutel des- 
selben durch das Spiel bezahlet zu machen, das noch keinen 
zu Grunde gehen lassen, der sich nun unermudet beflissen, dem 
gesunknen Gliikke stets die Hand und die empfindsamen Finger 



826 JUGENDWERKE * 3.ABTEILUNG 

zum Aufstehen zu bieten. Davon nehme ich Anlas, ihm vorzu- 
halten, daB er fur die sichtbaren Nachlassigkeiten, die sich die 
Damen im Spiele unter dem Schuze unserer galanten Versohn- 
lichkeit beigehen lassen, sich nur durch unsichtbare einigermassen 
wieder entschiidigen konne, wodurch man nicht sogleich (wie 
nur Einfaltige glauben) den Namen eines Beutelschneiders ver- 
dienet, indem sieoffenbar mehr auf die Auslerung als Abschnei- 
dung des Beutels abgesehen sind. - Auf diese seine und von 
mir so oft bewunderte Art weis der gedachte, des Drukkes so 
wiirdige Traktat die Kinder im Spiel und in der Tugend auf 10 
einmal zu unterweisen und sie in dem erstern Belohnungen und 
Aufmunterungen fur die leztere bemerken und samlen zu lassen . 
Wenn der Dichter nicht Unrecht gehabt zu singen: 

ein Wahn, der uns begliikt 

1st eine Wahrheit werth, die uns zu Boden driikt; 

so darf ich dreist mein System von der menschlichen Tugend 
iiber iedes andere und der Wahrheit vielleicht sonst nahere stel- 
len: denn ich kenne wenigstens keines, aus dem eine grossere 
Zufriedenheit mit unsern Tugenden und mit unsern Anlagen 
dazu sich schopfen liesse wie aus meinem. Wir wollen uns bei 20 
alien Moralisten nach unserem moralischen Werthe erkundigen, 
so werden sie uns samlich mit der Versicherung von sich lassen, 
daB wir gerade soviel Tugenden haben als man etwa nach Mo- 
liere vonnothen hat, um nicht gehangen zu werden - und dazu 
braucht man nun von Tag zu Tag zumal bei der Vorsprache 
modischer Laster immer wenigere. Horen wir hingegen auf 
mich, so war die Welt wol nie mit einer so reichlichen Anzahl 
Tugenden versorget als eben in unsern Tagen, selbst die Zeiten 
vor Adams Geburt nicht ausgenommen. Denn der Leser iiber- 
zahle nur die fremden und seiner eignen Handlungen Eines Ta- 30 
ges, die mein System unter die edlen sezet, so wird er finden, 
daB deren eine erstaunliche Menge sind, und daB er allein mit 
der Zunge mehr Gutes gethan, als eine ganze Kirche vol mit 
andern Gliedern. Am Morgen hat er einen ungliiklichen Freund 
durch ein uneigenmiziges Versprechen einer Hiilfe, die sogar 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 827 

iiber seine eignen Krafte gehet, wieder aufgeheitert. Zu Mittage 
hat er den Grol gegen einen alten Feind so gluklich zum Schwei- 
gen gebracht, dafi er ihm ohne Anstos zu der vortheilhaften 
Veranderung seiner GliiksUmstande gratuliren und mit ihm die 
herzliche Sprache der Versohnlichkeit fertig reden konnen. Im 
Konzerte lies er den Regungen der Weihherzigkeit, die von der 
Musik erwachte, vor den Ohren des Hern, der Dame und der 
zwo iungen Schonen, die er alle vorher seinem Berufe nach 
(denn er ist ein Lotteriekollekteur) mit unglaublicher Miihe (iede 

10 Person insbesondere) beredet hatte, ihr weniges Geld in einem 
Zahlenlotto sehr gut anzulegen, den freiesten Lauf und trieb 
den schamlosen Spot, dem er durch seine Empfindungen sich 
Preis gab, durch nichts als eine edle Gleichgultigkeit zuriik. Und 
so denn weiter fort bis zu Nachts um zwolf Uhr. Eben so 
viele, wo nicht mehrere gute Handlungen hat der Leser auch 
seine Bekanten veruben sehen. Noch mehr: sogar eben die Tu- 
genden, die andre Systeme fur die seltensten erklaren, machet 
meines zu den gewohnlichsten, und Uneigenniizigkeit, Stand- 
haftigkeit, Offenherzigkeit, die nach einigen wirklich der Astraa 

20 sollen nachgezogen sein, kan man nach meinen Grundsazen 
nichts als gerade fur die treuesten Gespielinnen unserer Zungen 
ansehen; wenigstens verlieren sich die Unbesonnenen immer 
mehr, die durch ihr eignes prahlerisches Zeugnis sich selbst aus 
der Zahl der Tugendhaften stossen. Aber was auf einmal fur 
unsere Tugend entscheidet, ist unstreitig dieses: Die Schriftstel- 
ler, auf deren Vortheil (beilaufig zu sagen) in guten Staaten ganz 
besonders soke gesehen werden, weil sie offenbar (aber man 
erwaget dieses nicht genug) nicht zum Lehr-, sondern zu dem 
weit niizlichern und grossern Niihrstande miissen geschlagen 

30 werden, haben sich durch glukliche Fiigungen in unsern Tagen 
ungemein vermehret und noch weit mehr sie die Bucher. Bei 
dieser gliiklichen Schaar schreibender Wesen vertrit nun die Fe~ 
der die Stelle der Zunge und die Tugenden, deren Werkzeug 
bei andern diese ist, sezen wir in Wirklichkeit durch iene. All ein 
mit einer edlen Kekheit darf ich versichern, dafi wir Schrif tsteller 
beinahe keine einzige Aufopferung (und ich nehme hievon auch 



828 _ JUGENDWERKE ' .3. ABTEILUNG 

nichts aus als wizige Einfalle) scheuen, welche der Tugend von 
unserem Kiele dargebracht werden mus. Welche reine Unei- 
genniizigkeit, welche patriarchische Offenherzigkeit, welchen 
deutschen Freiheitssin legen wir nicht in unsern Werken an den 
Tag, in den prosaischen sowol als in den poetischen! Die Tole- 
ranz, die vielleicht schwerer zu beobachten ist als man denket, 
ist gleichwol unter uns kein Phonix und sie m angel t keiner einzi- 
gen von unseren Schriften als bios den Rezensionen und Wider- 
legungen. Wenn man dem Bekkaria nachsaget, daft er einmal 
um die widerrechtliche Folterung des Anfiihrers der Rauber an- 
gehalten, die seine Gemahlin in einige Gefahr gesezet hatten: 
so mus man auch auf der andern Seite nicht zu ruhmen verges- 
sen, daB er vorher einen Traktat ediret hat, worin er eben dieser 
Folter das Wort gar nicht redet und in den er vielmehr aus alien 
Autoren die Griinde mit unglaublicher Miihe zusammengetra- 
gen, die sowol die Grausamkeit als die Untauglichkeit dieses 
alten Mittels zur Entdekkung der Wahrheit ins Licht zu sezen 
dienen. Man siehet hieraus wenigstens soviel, daB wir Schrift- 
steller in iedem unserer geistigen Kinder der Welt einen Sokrates 
erziehen und schenken und daB es folglich beinahe soviele Tu- 
gendhafte als Bucher giebt. 

Auch hat mein System vor andern die Aufmunterung zur 
Tugend und die Erleichterung derselben voraus. Man er- 
schwerte uns bisher durch unreife Foderungen den Aufflug zum 
Himmel muthwillig. Und wie konte es auch besser kommen? 
Einmal hatten die Moralisten die Schranken, in welche die Natur 
unsere Tugend eingeschlossen, in der besten aber nicht in der 
verniinftigsten Absicht vernikket. Es schien ihnen nicht mehr 
wiirdig genug, daB wir dem Himmel von uns nichts als die 
Zunge opfern solten, so wie etwan die Anwohner der Hudsons- 
bay von allem Viehe nichts speisen als die Zunge. Sondern sie 
schlugen vor, zu Rekruten der Tugend auch die iibrigen Glieder 
auszuheben, die doch alle - an das hatten aber die ehrsamen 
Moralisten nicht gedacht - schon langst, schon in ihrer zartesten 
Jugend unter die Fahneirgend einer Leidenschaft- das eine Glied 
unter eine Sturm-, das andere unter eine Wetter-, das dritte unter 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 829 

eine Feuer-, das vierte unter eine Kirchfahne- geschworen hatten. 
Daraus entstanden nun in alien Fallen, wo die Tugend sich nicht 
mit der Leidenschaft auf billige Bedingungen sezen wolte, die 
traurigsten Verwirrungen, weil das Gliedmas dan nicht mehr 
wuste, welchem von den zween Herren es gehorchen soke, von 
denen ieder das Gegentheil befahl. Natiirlich wurde ieder dieses 
einheimischen Haders sehr bald sat und die Entschlossensten 
machten es wie iener vornehme Herr, der mir allegorisch versi- 
cherte: er hatte der Tugend die zwo Kammern seines Herzens 

10 zwar gerne gegonnet, weil er selbige ohnehin wirklich zu nichts 
zu brauchen wuste; allein sie habe, so lange sie darinnen gewoh- 
net, taglich ein solches Keif en verfuhret, (nicht zu gedenken, 
daB sie das Miethegeld oder den Hauszins niemzh zu rechter Zeit 
abgetragen,) daB er ihr wider Willen das Quartier aufsagen miis- 
sen: iezt habe er es aber an ein Paar wolgezogne, iunge und 
(der Kleidung nach) reiche Teufel vermiethet. Und in der That 
verdenk' ich niemand diesen Entschlus, wenn ich mich in seine 
Lage seze. Denn der Leser iibcrleg' es selbst: ob ich z. B. meine 
Zufriedenheit wol auf einen bessern Fus sezen wurde, wenn 

20 ich der Bescheidenheit, der ich gern einen Plaz in meinen Schrif- 
ten ledig lasse, auch den abtrate, den in meinem Kopfe der 
Hochmuth behauptet; und soviel kan ich schon ohne prophe- 
tische Einsichten voraussagen, daB ich bei meinen knappen Ver- 
mogensumstanden in allem Betrachte schlecht fahren wurde, 
wenn ich oder meine Hande auch nur die geringste Ruksicht 
auf die seltne Uneigennuzigkeit nahmen, von der iibrigens 
meine Zunge und mein Kiel unausgesezet (allein ohne meinen 
Schaden) so sehr Profession machen. Kurz der Versuch und 
die Foderung einiger Philosophen, die Tugenden selber stat ihrer 

30 Namen, womit man sich so lange die Welt stehet schon begnuget 
hat, in den Gang zu bringen, ist um nichts verniinf tiger und 
billiger als iene Neuerung einiger Philosophen in Lagado, die 
(wie Gulliver in seinen Reisen erzahlet) urn ihre Lunge nicht 
abzunuzen, im Gesprache die Dinge selbst anstat ihrer Benennun- 
gen gebrauchten und iedesmal in Sakken die Gegenstande getra- 
gen brachten, von und mit welchen sie einander unterhalten 



83O JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

wolten. Irre ich mich nicht ganzlich, so hat Swift vielleicht hinter 
dieser allegorischen Maske sogar eben den gedachten Moralisten 
einen blutigen Hieb versezen wollen, den sie iibrigens nur zu 
sehr verdienen. - Allein nun mein System! Dieses fiihret uns 
zur Tugend auf einen merklich glattern und abschiissigern Weg. 
Die edelste Handlung lasset sich mit einem Paar Bewegungen 
der Zunge oder der Feder abthun und keine Neigung.wird da- 
durch beeintrachtiget. Man kan vermittelst der Sprachwerk- 
zeuge den Better mit einer reichlichen Gabe erquikken, ohne 
durch unzeitige Wolthatigkeit entweder dem Eigennuze oder der 10 
Obrigkeit des Ortes anstossig zu werden. Kein Alter, kein Stand, 
keine Beschaftigung, kein Geschlecht und kurz nichts versperret 
uns mehr den Weg zu unserer Veredlung. Besonders aber sind 
die hohern Stande der Ausiibung der meisten Tugenden giinstig. 
Daher ist der Posten eines Ministers so beneidenswerth; er, der 
sonst zu denen Tugenden, die man sich durch andere Glieder 
erwirbet, so sehr Muth und Gelegenheit benimt, wie sehr er- 
muntert und hilft er nicht zu denen, bei welchen die Sprach- 
werkzeuge Geburtshiilfe verrichten? Schauet auf zu dem erha- 
benen Marine, wie er da stehet, und bald hier die wehrlose 20 
Unschuld mit dem Versprechen des Schuzes oder der Errettung 
aufgerichtet von sich lasset, bald dort dem unpolirten Ver- 
dienste, das sich seine Belohnung unbesonnener Weise durch 
eine arbeitsame Anschwellung derselben erschweret hatte, ein 
der schopferischen Phantasie desselben so angemessenes und 
wilkommenes Geschenk mit einigen bunten Traumen machet, 
welche das besagte Verdienst mehr laben und bezahlen als alle 
Wirklichkeit. Hier erwartet von seinem Munde ein Tapferer die 
Belohnung der neuesten Wunden und dort giebt er dem abge- 
mergelten Lande die bluhende Gestalt wieder - vor den Ohren 30 
seines allergnadigsten Hern. Mochte dieser grosse Man nur aber 
auch ein Horrohr besizen, das den entferntesten Seufzern des 
Elends den Weg zu seinem Ohre bahnte; weil er sonst das 
Sprachrohr sich ganz vergeblich angeschaffet, durch welches er 
Linderung auf sie auszugiessen wiinschet. 

Indessen wil gleichwol mein System von der menschlichen 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 83 I 

Tugend nicht so ganz mit der Meinung harmoniren, die wir 
uns gewohnlich von unserer Wiirde machen. Und ich fiihle das 
selbst; allein ich weis, woher es komt. Von Jugend auf horen 
und lesen wir von gewissen Patagonen der Tugend, von einem 
Sokrates, Aristides, Kato, Antonin u.s.w., iiber deren Ver- 
wandschaft mit uns wir Zwerge aufgeblasen werden und die 
auch allerdings der menschlichen Natur viele und mehr Ehre 
als alle franzosische Philosophen machen wiirden, wenn man 
nur die Kleinigkeit erst ausser Zweifel gesezet hatte, dafi sie 

10 - wirklich existiret haben. Allein zum Beweise ihrer Wirklich- 
keit ist nur ungluklicher Weise wenig Hofnung und keine Mog- 
lichkeit vorhanden. Man lese, allein man priife auch die Griinde, 
welche der einsichtsvolle Pater Hardouin zum Behufe des Sazes 
beigebracht, daB die Schriften, die wir den sogenanten Alten 
zuschreiben, von Monchen des dreizehnten Jahrhunderts abge- 
fasset worden. Die Wahrscheinlichkeit dieses Sazes ist von die- 
sem Originalkopfe beinahe bis zur Handgreiflichkeit getrieben. 
Ob es aber dan mit der Existenz der Tugendhaften, von denen 
diese unterschobnen Schriften Erwahnung thun, anders als mis- 

20 lich stehen konne, wird dem Leser seine eigne unpartheiische 
Empfindung sagen. Doch wozu diese Ermiidung mit schwer- 
falligen, historischen Untersuchungen? Man stelle nur die innere 
Moglichkeit dieser Tugend-Muster selbst auf die Probe: sie wird 
sie schlecht bestehen. Denn wie? die Existenz von Mannern ware 
moglich, die in sich durch blosse Grundsaze eine immerwah- 
rende sanfte Warme fiir die Tugend unterhielten, da doch sogar 
wir, die wir unsere wilden Vorfahren so weit hierinnen zuriik- 
lassen, alle unsere Tugend auf gahlinge Anstosse von guten 
Trieben einschranken und schon mehr als zu gliiklich sind, wenn 

30 wir es nur dahinbringen, dafi aus der Menge der Leidenschaften, 
die iiber unsere Handlungen die nachsichtigste Aufsicht fuhren, 
sich dan und wan eine hervordranget, die uns verminftigere 
und der Tugend giinstigere Befehle zu volstrekken giebt? Wie 
ferner? die Existenz eines Mannes wie Epiktet soke sich denken 
lassen, der die Forderungen der stoischen Moral befriediget 
hatte, da wir nicht einmal der christlichen sehr viel Gehor zu 



832 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

geben im Stande sind, welche doch in allem Betrachte nicht 
so geistig, nicht so urieigenniizig und nicht so schwer als die 
stoische ist? Und es soke nicht ungereimt sein, Leute uns als 
Meister der Tugend abzuschildern, welche doch meistens von 
dem hochsten Range und von dem grosten Verstande waren? 
- Es bleibt uns mithin kein anderer Ausweg aus diesen Wider- 
spruchen offen, als daB wir (iber das Dagewesensein dieser Tu- 
gendmuster unglaubig die Achseln ziehen. Denn die bekante 
Ausflucht einiger Franzosen gefallet mir nicht, welche den Alten 
stat des Daseins besser ihre Tugenden absprechen zu konnen 10 
glaubten und z. B. die Ernsthaftigkeit und Strenge des Kato 
an den Pranger stelten oder die Bereitwilligkeit des Sokrates 
zum Tode in eine Furcht vor den Schwachheiten des Alters 
verun[e]delten. Oder gefallet etwa doch meinem Leser das 
gelbe, bittere, kriechende Unkraut, das mit seinen morderischen 
Wurzeln die Wurzel der Eiche umstrikket und auszehret, urn 
vielleicht den Gipfel derselben, dem es von unten die Nahrung 
abschneidet, entkraftet sinken zu sehen? O meine Freunde lasset 
uns nicht einmal die Schilderungen von diesen grossen Man- 
nern, die nie gewesen, aus Neid beschimpfen, sondern lasset 20 
uns den Agyptern gleichen, welche die Abbildung des vortrefli- 
chen Phonix anbeteten, ungeachtet er weder unter ihnen noch 
iiberhaupt existirte. Denn wir haben gegriindete Hofnung, es 
diesen tugendhaften Undingen doch einmal noch gleichzuthun 
und sie zu realisiren, und das sobald als wir werden - gestorben 
sein. Unser ieziges Leben ist namlich eine bestandige Erziehung 
und so wie es das erste und wichtigste Augenmerk eines guten 
Unterrichtes ist, das Kind mit Namen und Wortern, zu welchen 
ihm erst das reifere Alter die Begriffe und die Sachen schenket, 
zu bereichern und zu iiberschutten, eben so leget unsere Bestim- 30 
mung es uns hienieden auf, uns um den unverganglichen Schaz 
von den Namen der Tugenden zu bemuhen und ihn nicht in 
unser Gedachtnis zu begraben, sondern auf der Zunge wuchern 
zu lassen. Allein so wie in dem Kinde zulezt die Worter zu Sa- 
chen reifen, eben so werden auch wir endlich doch einmal nam- 
lich nach dem Tode die Tugenden zugewogen bekommen, zu 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 833 

deren Eintauschung wir uns hier mit einer grossen Menge ihrer 
Nam en oder moralischen Papiergeldes sehr vorsichtig versehen 
und belasten. 

Der Leser solte iiber meine Fruchtbarkeit nicht so murren 
als er iezt wirklich thut; ich kan unmoglich schon mit den ver- 
sprochenen Betrachtungen iiber das menschliche Gesicht, her- 
vorplazen: sondern ich mus ihn vorher noch mit einigen Ein- 
schrankungen des Vorigen unterhalten, welche dazu dienen 
sollen, alles das, was ich bisher von der Zunge geaussert und 

10 bewiesen habe, vollig umzustossen. 

Denn es gehoret das zartlichste und aufmerksamste Gefiihl 
fur die Schiklichkeiten iedes Augenblikkes dazu, um der Zunge 
nicht Tugenden entwischen zu lassen, welche dem andern unge- 
legen kommen konnen. So erinnere ich mich noch ganz wol 
aus meinen iiingern Jahren, da8 ich einmal dem Ansehen, in 
welchem ich bei einigen Dame[n] stand, einen unheilbaren und 
unverschmerzlichen Stos durch einige Zweideutigkeiten ver- 
sezte, welche freilich die Muthmassung zu sehr begunstigten, 
daB meine Zunge der Keuschheit obliege, ungeachtet ich doch 

20 damals nicht vergessen hatte, ein Raar feine - Waden anzuziehen. 
In unsern Tagen wiirde man noch mehr Anstos an iedem Gesel- 
-schafter nehmen, der die Ausserungen der Zunge, welche unter 
dem Namen keuscher Handlungen verhasset sind, nicht genug- 
sam zuriikhielt. Selbst das schone Geschlecht machet in diesem 
Falle keinen Gebrauch von unserer Nachsicht, die stets seinen 
Abweichungen von der Mode zu Dienste stehet, sondern es 
fallet gern in den algemeinen Ton der Zeit mit ein, mit welchem 
altvaterische Ziichtigkeit der Sprachwerkzeuge von Herzen 
schlecht zusammenstimmen wiirde; wiewol darum dennoch 

30 keine rechtschaffene Dame den Versuch einer geschikten Ver- 
schwisterung der Mode mit der Tugend unterlassen und keine 
franzosische es vergessen wird, in dem Busen auf welchem stat 
des veralteten Kruzifixes ein wol getroffener Priapus lieget, ein 
weiches Herz fur das Bild der Tugend aufzusparen, das der Cha- 
peau demselben einpraget wiewol leider in der rachsiichtigen 
Absicht, die Tugend in ihrem Bilde zu beflekken und zu beleidi- 



834 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

gen*; so wie etwan die irlandischen Damen das Bild des TwiB, 
der sie in seiner Reisenbeschreibung verkleinert hatte, auf den 
Boden ihrer Nachttopfe malen liessen, um sich taglich an dem 
armen TwiB rachen zu konnen und ihn in effigie zu ersaufen. 
- Oder ferner: kein Gesunddenkender wird sich die Tugend 
der Menschenfreundlichkeit bei alten Richtern, noch die der 
Versohnlichkeit bei iungen Offizieren anmassen und es war auch 
ein fataler Verstos von mir, daB ich neulich bei einer hohen 
(iedoch nicht erhabenen) Standesperson mich als cinen philoso- 
phischen Verachter des Ranges anstelte, wiewol ich gegen die- 10 
selbe keine Demuthigung vergas, welche den gefahrlichen Ein- 
druk dieser Anstellung unkraftig machen konte. Daraus lasset 
sich die Warnung ziehen, der Zunge keine edle Handlung zu 
gestatten, welche nicht mit den gewohnlichen schlechten oder 
guten Handlungen dessen, vor dem wir sie ausuben, eine 
schmeichelhafte Ahnlichkeit und Verwandschaft hat. - Allein 
wer denket gesezt genug, dieser Warnung eine pflichtmassige 
Handlung aufzuopfern, so wie man einem Freunde einen wizi- 
gen Einfal aufopfern sol? Haben nicht die meisten sich so wenig 
in der Gewalt, daB sie den iiberfliissigen Kraften, welche ihre 20 
Zunge zu einer tugendhaften Thatigkeit auffodern, duch un- 
zeitige schone Handlungen Luft machen, welche der, so sie 
anhoret, gar nicht erwartet und verlanget; so wie etwan 
eine verderbte Orgel den Wind, womitman sie erfullet hat, 
nicht wie eine gute durch stumme Ofnungen auslasset, son- 
dern sofort mit ihm hie und da zerstreuete Pfeifen schreien 
machet, ohne die Finger des Spielers zu erwarten, die ihr vor- 
her die Tone anweisen miissen, die er -gern zu h'oren ver- 
langet. 

* Das folgende Gleichnis wird passender und bitterer ausfallen, wenn 30 
ich den Leser erinnere, daB ich das Herz oder die Sele der meisten franzo- 
sischen Damen an dem Orte ansassig glaube, an welchen schon Zechini 
sie verlegte, siehe Bjornstahls Reisen B. II. Seit. 196. Daher kan auch 
eine H-, wie die liaisons dangereuses sie schildern, ihrem Herzen oder 
ihrer Sele Gefiihl und Empfindung ohne Bedenken zuschreiben, wiewol 
auf eine unfigurliche Weise. 



USER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 835 

Ich darf daher aus diesen Schwierigkeiten wenigstens soviel 
schliessen, daB die Tugenden sich gar nicht ins gemeine Leben 
schikken, sondern bios in die Kirche gehdren, alwo man sie 
ungehindert taufen d. h. mit einem Namen belegen oder ausiiben 
kan, so wie im Gegentheil die Laster, die ihr Leben auf sechs 
Tage brachten, alda begraben liegen: beilaufig! ich schon allein 
komme ieden Sontag mit einer seltnen Menge Laster, die ich 
in den sechs Wochentagen entweder selbst gezeuget oder von 
andern adoptiret und hernach nach den gesundesten Grundsazen 

10 gros gezogen hatte, beladen in die Kirche, wo ich sie unter vie- 
lem Klagen, unter einem algemeinen Leichengesang und unter 
der Leichenpredigt des Priesters lebendig verscharre und in ihr 
Erbbegrabnis beiseze, wiewol sie aus solchem bald wieder auf- 
erstehen, um mich, ihren Todtengraber, aus der Kirche nach 
meiner Wohnung zu begleiten. - Die Rabbinen sagen, der 
Mensch erhalte am Sabbath eine neue Sele, die so lange bei ihm 
sich aufhalt als der Sabbath wahret. Und das kan sehr wol sein, 
wenn man es namlich so nimt: das menschliche Herz bestehet 
aus zwo gut cingerichteten Kammern, mit deren ciner sich die 

20 Sele, die wir stets bei uns fuhren, die sich aber mit ganz andern 
und wichtigern Dingen zu bef assen hat als mit Tugenden, behel- 
fen mus, von denen hingegen die andere unaufhorlich fur die 
gcdachte Schabbessele leer und off en stehet, die auch an keinem 
Sontage ermangelt, sie zu beziehen noch sie eher wieder verlasset 
als bis sie die Zunge in den schonsten und fiir blosse^Wochentage 
zu kostbaren Handlungen wol geiibet hat. Oberhaupt diinkt 
mich solten wir fiir die ubriggebliebenen Namen der Tugenden 
eine Hochachtung tragen, die es uns nie erlaubte, sie durch eine 
Einmischung in unsere profanen Gesprache zu entheiligen: und 

30 wir solten diesen Tadel desto weniger iezt mehr zu verdienen 
fortfahren, da wir einen ahnlichen schon bei dem Namen Gottes 
nicht mehr verdienen, gegen den wir mit einer solchen Ehr- 
furcht erfiillet sind, daB wol keiner mehr von uns es wagen 
wird, denselben vor den Ohren einer ausgesuchten Gcselschaft 
zu nennen, so wie auch die Juden den Namen Jehova aus Ehrer- 
bietung niemals iiber ihre Zunge kommen lassen. 1st es daher 



836 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

wol zu weit gegangen, wenn ich vorschlage, daB man kiinftighin 
ieden, dessen Zunge edle Handlungen an andern Orten als in 
der Kirche und in einer unheiligern Kleidung als in der sontagli- 
chen verrichtete, zu einer besondern und abschrekkenden Strafe 
ziehen mochte? Wenigstens sah ich doch schon in Manheim, 
daB das Gebet sich ganz wol auf einen mechanischen Fus ver- 
richten lasset. Mit dem ersten Trommelschlag fahret alda ieder 
Man unter dem Gewehr nach seinem Hut, mit dem zweiten 
betet er und mit dem dritten mus er sein Gebet geendiget und 
den Hut aufgesezet haben. Soke sich nun da einer so sehr verges- 10 
sen, daB er langer betete als man trommelt, so diirfte er wol 
seiner Strafe nicht entwischen kdnnen. 

Allein ich gehe iezt noch viel viel weiter und werde nicht 
eher ruhig sein als bis ich meinen Saz so sehr eingeschranket, 
daB von ihm gar nichts mehr (ibrig ist; es ist dieses nichts als 
die Pflicht eines ieden guten Philosophen. Ich gerathe namlich 
mit mir selbst in Widerspruch und behaupte deshalb, daB ich 
ganz und gar nicht abzusehen vermag, wie man nur mit einigem 
Grunde die Ausubung der Tugenden mit der Zunge, gesezet 
man schrankte sie auch nur auf die Kirche ein, zur Rechtschaf- 20 
fenheithat unentbehrlich finden konnen. Vielmehr kan ich nach 
einem langen Nachdenken nicht anders als der Meinung sein, 
daB es unserem Karakter und unserer Ausbildung weit ange- 
messener sein wurde, wenn wir nun, da die Tugenden doch 
einmal sich Bei Nacht und Nebel hinterlistiger Weise von uns 
davon gemacht, auch die Namen derselben ihnen nachziehen 
liessen und einen nach dem andern in groster Geheim mit seinem 
Abschiede beschenkten. Denn wir stellen uns meines Erachtens 
nur dem unbesonnenen Hohne bios, wenn wir dem Bilde der 
abgeschiedenen Tugend mit einer Hochachtung begegnen, die 30 
sich nur gegen sie selbst gebrauchen liesse; wie Alexander dem 
Gemalde des vortreflichen Buzephals, als derselbe verrekket war, 
Futter aufstekken lassen. Wir gehen den Lachern besser aus dem 
Wege, wenn wir stat des Alexanders die Katholiken nachahmen. 
Diese fangen an einzusehen, daB sie die Anbetung, die sie sonst 
den lebendigen Heiligen und Martyrern mit dem grosten Rechte 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 837 

erwiesen, nicht ganz eben so schiklich an ihre Bilder richten 
und lassen sie daher almahlich unterbleiben, so wie wir es mit 
den Bildern oder Namen der Tugenden auch machen solten. 
- Freilich miissen wir alsdan Sorge tragen, dafl unsere Recht- 
schaffenheit unter dieser Kalte gegen die Namen dcr Tugenden 
nicht leide und wenn wir es dahin bringen, uns von der ungliik- 
lichen Nothwendigkeit, Gutes zu thun und zu reden, unverseh- 
ret loszuwinden, so diirfen wir dennoch nicht auch von der 
Verbindlichkeit uns loszahlen, Gutes zu denken und zu wollen. 

10 Aber dan thun wir auch alles und mehr als zu viel, wenn wir 
dieser leztern nachleben. In magnis voluisse sat est. Wer bei 
dem Anblikke eines Elenden denket: wie gern half ich dir!, 
der hat, soke er auch bei diesem Gedanken weder Hand noch 
Zunge regen oder beide wenigstens zum grosten Schaden eines 
andern Nebenmenschen regen, alles gethan, was die Moral von 
ihm erwarten kan: ia sogar noch weit mehr; denn er hat iezt 
eine edle That verrichtet und doch dabei nicht um die Bewunde- 
rung des Haufens gebuhlet, sondern sie derselben willig vorent- 
halten, indem er sie namlich ins Geheim, nur in seinem Kopfe 

20 und vor dem belohnenden Richterstuhle seines Gewissens aus- 
ubte; eine solche unsichtbare uns nicht den geringsten Nuzen 
bringende gute Handlung ist beilaufig ein grosser Einwurf ge- 
gen die Philosophen, die unsere besten Handlungen fur eigen- 
niizig erklaren. Was aber eine mit den blossen Gedanken verubte 
Tugend am meisten adelt, ist wol dieses, daB der grobe Maden- 
sak, der Korper, daran keinen Antheil hat und sie folglich mit 
seinem Einflus nicht besudeln kan. Es ist dieses eine Staff el der 
moralischen Volkommenheit, zu der ich nur wenige hinaufzu- 
ziehen hoffen darf: denn was mich betrift, so steh' ich schon 

30 langst darauf . Die Rabbinen haben angemerket, daB unsere Sele, 
so lange wir schlafen, in dem Himmel verweile und den Teufel 
ihre Stelle in dem Korper ersezen lasse. Allein wir sind nicht 
bios im Schlafe und zu Nachts so tugendhaft, sondern wir leuch- 
ten, gleich dem Sterne der drei Weisen aus Morgenland, auch 
am Tage. Diesem zufolge bin ich gleichfals selten bei mir selbst 
und meine Sele wandelt fast stets im Himmel und verrichtet 



838 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

da ohne den Widerstand des Leibes die schonsten Handlungen; 
der Teufel aber hat auf mein vorheriges Ersuchen alzeit die Ge- 
wogenheit, den Korper fortzubeselen, seine Glieder zu regieren 
und in demselben des Amtes der abwesenden Sele so gut zu 
warten als er kan und das heist sehr gut. Wie bei mir, so mus 
es natiirlicher Weise noch mehr bei grossern Heiligen sein; und 
ie augenscheinlicher daher die Handlungen, welche ihr grober 
Korper thut, dem Einflusse eines Teufels zusagen und anpassen: 
desto richtiger lasset sich muthmassen, daB die Sele iiber das 
Irdische hinweggestiegen sei und sich entkorpert ihren guten 10 
Trieben iiberlasse. - Wegen meiner Satiren verdammc daher 
niemand mich: aber man halte sich desfals an den Teufel; denn 
der machet sie eigentlich und saget sie meinen Fingern in die 
Feder. Allein er soke es nicht thun und mich, warend ich mich 
gerade im Widerspiele des Spottes hervorthue, nicht in einen 
so zweideutigen Kredit bei iedem Rechtschaffenen sezen. 

Nicht bios die Volkommenheit der Sprachwerkzeuge machet 
die gute Schauspielerin; ein guter und iunger Dramaturg verlan- 
get von ihr auch Schonheit des Gesichts. Eben so wird der 
Mensch auf dem Schauplaze des Lebens die von der Natur ihm 20 
ertheilte Rolle gut spielen, wenn zu seiner tugendhaften Zunge 
auch ein tugendhaftes Gesicht sich gattet. Beide leisten aber ein- 
ander die unzertrenlichste Geselschaft. Die Physiognomie des 
Thieres versprichtkeineTugend, so wie seine Zunge auch keine 
hat. In den niedern ungebildeten Standen sehen die Menschen 
vollig so roh, so unregelmassig, so eigenniizig und so zuriik- 
stossend aus als sie sprechen. In den mitlern bricht zwar das 
Gesicht nicht halb so sehr wie in den vorgedachten die Strahlen, 
welche die Tugend durch dasselbe wirft; allein es machet doch 
noch nicht wie in den hohern, das Laster unsichtbar; sondern 30 
in denselben stosset ihr auf das in hizigen Getranken eingepo- 
kelte Gesicht des Saufers, auf das phlegmatische aufgegohrne 
des Fressers, auf das Anagrammatische des Jahzornigen und auf .. 
das Schweins- und Affenartige des Unkeuschen. Die Verstel- 
lung erstrekket sich hier nur auf die Gesinnungen, aber nicht 
auf die Leidenschaften;. wenigstens strafen diese durch das Auge 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 839 

und die Stimme und durch das unwilkiihrlich ausgestrekte La- 
cheln das glanzende Gesicht Liigen, dessen erschlafte Muskeln 
iiberdies die unbandigen Mienen nicht lange im Ziigel zu halten 
vermogen, so wie eben diese aus Ermattung in der ruhigern 
Anstellung (Simulatio, entgegengesezet der Verstellung) die 
Haut, wie ein nachgebendes Hosenband die Hose, sich herun- 
terschieben und sie das, was siebedekken solte, entblossen las- 
sen. Die Zunge hingegen bleibet in diesen Standen hinter den 
hohern in gar keiner Tugend zuriik; vielmehr entschadigen sie 

10 in Riiksicht der moralischen Volkommenheiten das Auge vol- 
kommen durch das Ohr und haben stat der Farben-Khviere die 
starker eindringenden Ton klaviere aufzuzeigen. - Wo sol ich 
aber die Gelehrten hinrechnen? Denn ihr Gesicht spricht mei- 
stens weder von Tugend noch Laster, sondern nur von Kentnis- 
sen; weil ihre Leidenschaften (ich rede von solchen in kleinen 
Stadten und von einsamen in grossen) weder Gelegenheit noch 
Starke genug erhalten, sich einen Weg auf ihren Gesichtern zu 
bahnen, auf denen alle Mienen mit stehendbleibenden Schriften 
abgedrukket sind. Dagegen glaub' ich aber auch in meinem 

20 z. B., so viele altvaterische Zierlichkeit zu spiiren, daB ich es 
beinahe mit einem Buchdrukkerstok vergleichen darf; wiewol 
dasselbe, wenn ich es zu einem Gonner hintrage, auch aussiehet 
wie ein Dank- und Buspsalm zugleich. - Ich komme nun auf 
die Gesichter der Grossen, von denen ich nicht zuviel Gutes 
sagen kan: denn sie scheinen eine Silhouette von den meisten 
Tugenden aufgefangen zu haben, als solche vor ihnen vorbei 
und von der Erde hinwegflogen. Und hier mus ich eine beilau- 
fige, aber vielleicht nicht unschikliche Frage thun: warum haben 
dieienigen Philosophen, die uns und vorzuglich die Hofe mit 

30 milzsuchtigen Griinden aus dem vormaligen Besize aller Tu- 
genden so gern gestossen hatten, aus dem Bilde und dem Ab- 
drukke, der sich von diesen und besonders von einer algemeinen 
Menschenliebe noch iezt auf den Gesichtern der Hofleute vorfin- 
det, nicht den natiirlichen Schlus gezogen, daB doch wirklich 
einmal die Originale dieser Kopien, die Tugenden selbst, miis- 
sen da gewesen sein? Denn nahmen nicht Biiffon und Bailly 



84O . JUGENDWERKE : 3. ABTEILUNG 

aus den Abdriikken, die von seltnen indianischen Gewachsen Leib- 
niz auf Steinenm Deutschland und Jiissieu auf Steinen in Frankreich 
bemerket hatte, schikliche Veranlassung her, zu muthmassen, 
daB mithin diese Friichte der heissem Lander wol selbst einmal 
in Frankreich und Deutschland miissen haben fortkommen 
konnen und daB daher beiden vor vielen tausend Jahren die 
Warme musse'beigewohnet haben, die zur Pflege dieser herlichen 
Gewachse erfoderlich war, bei uns Europaern aber nicht mehr 
anzutreffen ist? - Ich frage noch einmal: warum schliessen die 
Philosophen nicht auch so? 10 

Aber zur Sache! Das Gesicht traget erstlich die grossen oder 
kleinen Anlagen, durch welche wir zur Tugend beruffen wer- 
den, und verdienet in dieser Riiksicht allerdings den Namen 
einer moralischen Produktenkarte, Und hier behalt der Physio- 
gnom in der grosten Ausdehnung Recht, wenn er saget, daB 
dasselbe keine Tugend verspreche, welche der, dem es angeho- 
ret, nicht realisire. Denn ich beziehe mich auf die altagliche Er- 
fahrung: kiindigteiemals der Riikken einer Nase dauerhafte und 
kiihne Tapferkeit an, welche sich nicht wirklich bei der Zunge 
gefunden hatte? hat euch das Gesicht eines Grossen zu einem 20 
Beistande Hofnunggemachet, den euch nicht bald seine Sprach- 
werkzeuge leisteten? und wo sind die Lippen, welche den Hang 
zur Menschenliebe, den sie durch ihre Gesta/f bekennen, in ihrer 
Bewegung verlaugnen? Schwerlich wird endlich der sehr schmei- 
chelhafte Kupferstich von meinem Gesichte, den ich meinem 
neuesten und besten Werke vorangestellet, zu einer Tugend sich 
anheischig machen, welche nicht der Leser von dem Werke 
selbst in die schonste Wirklichkeit gesezet fande; und der Kup- 
ferstich wird ein moralisches Namen-, aber auch das Werk ein 
moralisches Sachregister sein. - Wenn der Leser mit dieser Be- 30 
trachturig iiber die Zuverlassigkeit der menschlichen Gesichter, 
noch eine iiber die Menge derer, denen solche Versprechungen 
der Tugend angeboren werden, zu verkniipfen beliebet: so wird 
er wenig mehr gegen [den] Schlus daraus, daB die Anzahl der 
Tugendhaften nicht geringe sei, einzuwenden haben. 

Aber nicht genug! sie ist nicht nur gros: sondern sie wird 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 



auch taglich noch grosser und grosser. Denn sogar dieienigen, 
an denen entweder die Natur das Gesicht verwahrloset und ver- 
unzieret oder die selbst die Anlagen desselben durch Laster zer- 
riittet haben, sogar diese halten das ihrige zur Tugend an und 
bieten zur Verbesserung ihres Aussern desto mehrere Krafte 
auf, da sie wenige oder beinahe keine mit der Umanderung 
ihres Innern beschaftigen, als an der sie mit dem grosten Rechte 
vollig verzweifeln. Man erlaube mir, mich uber die Hofleute 
- denn auf diese nab' ich gezielet - ein wenig weitlauftiger her- 

10 auszulassen: der Gelegenheiten, sie zu rechtfertigen, und der 
Unpartheiischen, die diese niizen, sind ia ohnedies so wenige! 
Man darf zur Ehre unserer Tage ohne Zweifel voraussezen, 
daB sowol die kleinen als die grossen Hofe keinen Man mehr 
einschliessen, in dessen Kopfe nicht die franzosische Philosophic 
vortreflich ausgeraumet hatte und der nicht alle Tugend fur 
Spielwerk und nicht die Sele fur den Korper ansahe. Sondern 
die meisten Einwohner derselben wissen es sehr gut, daB das, 
was sie ihr Ich nennen, entweder gar nicht existirt oder doch 
einer Ausbesserung sowol nicht fahig als nicht wiirdig ist. Sie 

20 nehmen daher alle Krafte ihres geringfiigigen Ichs zusammen, 
um bios ihrem andern Ich, dem Korper, fur dessen Vorziiglich- 
keitund Existenzihnen ihre eignen Sinne und fremde Zeugnisse 
biirgen, zu einiger Hohe aufzuhelfen und an ihm die gluklichen 
Anlagen in den Gang zu bringen, die ihn auf einen hohern Fus 
zu sezen dienen, namlich die Anlagen zum Wiz und zur Tugend. 
Den Stempel dieser leztern driikken sie aber dem Korper nicht 
darum auf, um mit dieser korperlichen Ahnlichkeit einen Fiir- 
sten zu bestechen, der auch von innen tugendhaft ist; liber einen 
so schmuzigen Eigennuz sind sie zu weit hinweg: sondern sie 

30 thun es aus ganz andern wiewol vollig unbekanten, darum aber 
nicht minder ruhmlichen Absichten: denn den tugendhaften 
Anstrich ihres Gesichts lassen sie auch unter einem lasterhaften 
Hern nicht fahren, der sie dafiir durch ein desto grosseres Ver- 
trauen belohnet, weil selbst die schlimsten Fiirsten zu Werkzeu- 
gen ihrer Fehlgriffe mit Wissen niemals eben so schlimme Die- 
ner auslesen und in alien Fallen, wo sie es gleichwol schienen, 



842 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

es nur in der irrigen Meinung thaten, daB die Einwilligung des 
Vertrauten in seine lasterhafte Bestimmung nicht aus Eigennuz 
und Verdorbenheit, sondern aus einem verblendeten oder rich- 
tigen Diensteifer fur seinen Hern entspringe. Daher stellet ieder 
einsichtsvolle Giinstling sich als iiberzeuget an von der Pflicht- 
massigkeit seiner ziigellosen Folgsamkeit und giebt seinen Ge- 
horsam gern auf Kosten der Grosse desselben fur tugendhaft 
aus. - Sonder Zweifel lieget diese Betrachtung bei dem schonen 
Bonmot zum Grunde, das neulich dem Teufel, als er mich 
abends unverhoft iiberraschte, augenbliklich eingefallen zu sein 10 
das Ansehen haben soke, wiewol ich von sichern Handen weis, 
daB er es schon lange vorher in der Holle geschmiedet und auf 
den Kauf gearbeitet hatte: »es scheinet sehr, sagte der Teufel, 
daB die Fiirsten und Hofdamen mir von den Hofleuten nichts 
wollen zukommen lassen als die - Sele, den Leib aber sich und 
der Tugend zuwenden; so wie die Perser (nach dem Strabo und 
nach mir) glaubten, daB die Gotheit an den Opferthieren nichts 
fur sich aussondere als die Sele und den Priestern das Ubrige 
Preisgebe.« 

Das Gesicht wird aber erstlich zur Tugend gebildet, wenn 20 
mankeine niedrigen Bewegungen der Leidenschaften auf demsel- 
ben aufkommen lasset und unedlen Regungen der Muskeln zu 
gebiethen weis. Es ist dieser erste Grad der Tugend eins und 
dasselbe mit der Unterdriikkung der Begierden und mit der 
Herschaft iiber sich oder das Gesicht, welche die Stoiker mit 
so vieler Warme predigen. Daher sind die Grossen die einzigen 
Stoiker und Weisen noch, sind es aber auch in dem Grade, daB 
sie, wahrend eine menschenfeindliche Wuth ihr Inneres aufrei- 
bet, dennoch von ihrem Gesichte ieden Einflus dieser Verwii- 
stung abwenden und unter alien Stiirmen iiber die weise Ruhe 30 
desselben gehorig wachen konnen; so zerschmelzet der Bliz 
zwar das Gehwerk der Uhr, aber ihr Gehause kan er nicht bescha- 
digen, oder so mus er, wahrend er die harten Knochen zertrum- 
mert, das weiche Fleisch um selbige unversehret lassen. Diese 
Unveranderlichkeit des Gesichts ist aber zu den Intriguen des 
Hofs so unentbehrlich als zur Tugend und mithin auch in diesem 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 843 

Betrachte nicht genug anzuloben. Denn wenn das Hofleben ein 
immerwahrendes Kartenspiel ist, (was war' es aber anders?) so 
mussen, sol das Spiel nicht fade, nicht falsch und langweilig 
werden, alle Karten durchaus einander auf der aussern §eite vol- 
kommen ahnlich sehen und bleiben und der aufrichtige Spieler 
mus hinter das, was sie bedekket, nicht durch eine diebische 
Aufmerksamkeit auf die Oberflache, sondern nur durch ein zar- 
tcs Gefuhl, durch verborgne Zurukspieglungen und durch den 
pantomimischen Beistand dessen, der den blossen Zuschauer spie- 

10 let, zu kommen sich gestatten konnen. Obrigens lasset sich hier 
eine Frage aufwerfen, zu deren Beiahung ich mich sehr hirineige: 
ob namlich daraus, daB die Leidenschaften auf hofmannischen 
Gesichtern Verstekkens spielen, nicht vielleicht zu schliessen sei, 
daB die Hofleute von gar keinen geplaget werden? Ein Schlus, 
der wenigstens das Beispiel des Lord Kaimes fur sich hat, wel- 
cher die Menge der Kinder morde d. h. der Unterdrukkungen der 
Friichte der Unkeuschheit fur ein gliikliches Zeichen der 
Keuschheit eines Volkes d. h. der Abwesenheit der Bastarte halt. 
Noch hoher hat dasicnige Gesicht es in der Tugend gebracht, 

20 das nicht bios von keinen Affekten mehr beunruhiget wird, das 
auch schon einer langen Reihe edler Entschlusse Plaz gegeben. 
Wichtiger Fortschrit, den man nur unter der Anleitung der ge- 
duldigen Selbstbeschauung und des fremden Beispiels machen 
kan! - 

Erstlich unter der Anleitung des Beispiels! Denn der Einflus 
ist erstaunlich, welchen dieses auf uns hat. Unvermerkt und 
unwilkuhrlich (ibersezet man sein eigenes Gesicht in dessen sei- 
nes, den man oft und gern siehet. Daher sehen die alten Bedien- 
ten (nach Lichtenberg) so aus wie ihre Hern; daher ist die Mei- 

30 nung Lavater's wahrscheinlich, daB zwischen der Physiognomic 
und den Werken des Malers Ahnlichkeit der Schonheit sei: denn 
die Antike wird sich seiner Phantasie und seinem Gesichte zu- 
gleich einpragen, und indem er die Gestalt einer Prinzessin ver- 
schonert, wird er seine eigne verschonern. Was konte die Natur 
also der Tugend fur ein besseres Mittel, geschwind und leicht 
auf dem Gesichte festen Fus zu fassen, geben als unsere Nachah- 



844 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

mungsbegierde? Und hier merk' ich mit Vergniigen an, daB 
die so sehr verschrienen Weltleute es gewis nicht sind, die von 
diesem Mittel am wenigsten Gebrauch zum Vortheil ihrer Bes- 
serung machen. Vielmehr sind sie es gerade, welche oft eben 
darum der Geselschaft der Tugendhaften und des schonen Ge- 
schlechtes nachgehen, um durch sichtliche Beispiele ihrem Ge- 
sichte die zartern Ziige der Tugend bekanter, gelaufiger und 
eigner zu machen; eine Benuzung der Geselschaft, durch die 
sie eben so sehr von dem Alzibiades sich unterscheiden, dem 
es bei seinem lernbegierigen Umgange mit Sokrates nicht um 10 
des sen Tugend, sonde rn um dessen Uberredungskunst zu thun ge- 
wesen, als sie den falschen Perlen sich nahern, welche von achten 
Muscheln mit einer achten Perlenhaut veredelt und uberkleistert 
werden*. Em solcher Man wird auch vom Schauspieler gern 
seine Physiognomie bearbeiten und von ihm zum Tugendhaf- 
ten, wie Zizero zum Redner, sich bilden lassen. Ja, ich kenne 
einen, der mit Lavaters Fragmenten nicht der Wolfarth seines 
Kopfes, sondern der seines Herzens rieth und in ihnen weniger 
fremde Gesichter beurtheilen als sein eignes verbessern lernte: 
denn seit der Lesung derselben hat der untere Theil seines Ge- 20 
sichts (die langlichten Augen und die Augenlieder waren leider! 
durch nichts von ihrem persiflirenden, menschenverachtenden 
und stolzen Spotte abzubringen) sehr merklich an Menschenliebe 
zugenommen, die iiberhaupt von der Gesichterkunde vorziig- 
lich befodert wird und werden sol. 

Gleichwol thut erst die Selbstbeschauung hier das Hauptsach- 
lichste. Diese verrichtet man vor einem venezianischen Spiegel, 
oder auch vor einem schlechtern: nur mus er uns unsere Fehler 
offenherzig vorwerfen und beichten; denn der Spiegel ist das 
Gewissen der Grossen, das man wie das Gehirn, in das grosse 30 
und in das kleine eintheilet. Den grossen Spiegel oder das grosse 
Gewissen hanget man zu Hause an einen Nagel; das kleine fiihret 

* Bekantlich legen die Sineser falsche aus Perlenmutter gearbeitete 
Perlen in die geofneten Muscheln, die im Friihlinge aus dem Meere 
heraufkriechen. Das andere Jahr finden sie die falschen Perlen mit der 
gedachten Haut bekleidet in ihnen. 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 845 

man stets bei sich entweder in dem Etuis oder auf der Tabatiere. 
Wie gesagt, den Spiegel besuchet man, um sich von ihm die 
unmodischen Fehler und Laster, die in unsere Mienen sich ein- 
geschlichen, vorhalten zu lassen und audi zuweilen, um uns an 
der Ubersicht unserer Besserung zu vergniigen. Allein der 
Weltman lasset von dem Spiegel, der sein einziger auf rich tige 
Freund am Hofe ist und zwar seiner Sele, aber doch nie seinem 
Korper schmeichelt, nicht, wie das Kind vom Vater, sich seine 
Unarten bios nachmachen: sondern er leget sie auch ab und 

10 beniizet die freundschaftliche Erinnerung soviel er kan. Bald 
sezet er an die Stelle eines grellen Zuges einen sanftern; bald 
erforschet er die Zusammenstimmung eines neuen mit den iibri- 
gen; bald durchlauft er mit eilfertiger Anstrengung die pantomi- 
mische Tonleiter aller Tugenden und ubet sein Gesicht in den 
Verwandlungen des Proteus; bald sucht er zwischen ienem und 
der Zunge das Band fester zusammenzuziehen und sich immer 
mehr dem holfeldischen Sezinstrument zu nahern, das die Noten 
zugleich timet und sezet und alles, was es dem Ohre sagt, fur 
das Auge niederschreibet; bald stellet er bios die hochste An- 

20 strengung Eines Muskels auf die Probe und lehret sein Gesicht 
gleich uns Autoren, doppelte Ausruffungs- und Fragezeichen 
machen. Indessen kan er nicht alle Tugenden aus deutschen und 
englischen Gesichtern in sein franzosisches iibersezen: sondern 
es ist hier ein sehr wichtiger Unterschied zwischen ihnen vor- 
handen. Einige zielen auf unsere eigne, andere auf fremde Wol- 
farth;derphysiognomischeAusdruk der ersternnahert sich mehr 
der Erhabenheit und erwekket bios Bewunderung, der Ausdruk 
[der] leztern hingegen ist Schonheit und erreget Liebe. Muth und 
Selenstarke z. B. gehoren zu den erstern und Ziehen daher, weil 

30 sie bios ihrem Besizer und oft auf unsere Kosten vortheilhaft 
sind, so wenig etwas anders als Bewunderung nach sich, dafi 
uns ein zu starker Ausdruk derselben oft sogar gehassig ist. Die 
Menschenliebe gehoret zu den leztern und ihr Ausdruk wird 
uns wegen der Vorsprache der Selbstsucht auch mit der Entstel- 
lung durch Wollust und Schwache gleichwol noch schon und 
liebenswiirdig vorkommen; und die Schonheit kan mit alien 



846 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Lastern bestehen, die niemand als dem Urheber selber schaden. 
Das erstere Geschlecht ist zu den Tugenden der erstern Art, 
das zweite mehr zu denen der leztern gebildet; dieses ist daher 
geselliger, uneigenniiziger, mittheilender, gesprachiger, eitler 
(nicht stolzer) und verbindlicher als wir und da gute Lebensart 
im Grunde nichts ist als ein naturlicher Anstrich von den geselli- 
gen Tugenden, so scheinet es mithin zu derselben und zum Hofe 
ordentlich geboren zu sein. - Niemand wird also im Ernste 
und verniinftiger Weise andern Tugenden als den schonen und 
menschenfreundlichen Aufenthalt auf seinem Gesichte verstat- 10 
ten. Denn soviel ich noch hofmannische Gesichter in Kupfer 
gestochen sah, so hatten sie doch alle das Ansehen einer Dedika- 
zion, es schien als wenn sie einem den ganzen Man mit Leib 
und Sele dediziren woken. 

Ubrigens nennen einige unbekante Schriftsteller diese morali- 
sche Aufstuzung des Gesichts die Reparatur desselben zum Ein- 
zuge der Tugend; und ich pflichte ihnen darum bei, weil ich 
wirklich bei einigen solchen gut tapezirten Menschen gegriin- 
dete Hofnung hatte, an ihnen die Einmiethung der Tugend sel- 
ber zu erleben, wiewol sie imgluklicher Weise zu fruh durch 20 
den Tod hinweggeraffet wurden, der eine im 70. und der andre 
im 8 1 . Jahre seines Alters. Daher kan es auch ganz und gar nichts 
verschlagen, wenn es der Tugend beliebet, den Menschen 
gleichwol nicht zu beziehen, zu welchem ihr das blinde und 
gemalte Thor des Gesichts (d.h. die tugendhafte Miene) den 
Eingang angeboten; und die, welche zu unsern Bemuhungen, 
unsere Gesichter in Portrdts der Tugend zu verwandeln, aus kei- 
nem bessern als diesem Grunde sauer sehen, weil wir diese Ab- 
bildungen nicht mit der Tugend selbst beselen konnen, diese 
scheinen auf eine merkwiirdige Art den Tiirken zu gleichen, 30 
die ebenfals die Verfertigung ernes ieden Bildes verdammen, weil 
man solches mit keiner Sele begaben kan, Sie fugen sogar hinzu, 
am iiingsten Tage werde ieder Maler von seinen Gemalden um- 
ringet werden, die alle eine Sele von ihm fodern wurden. Viel- 
mehr lasset es sich auch sonst erharten, daB es eben so wol an- 
gehe, in effige from zu sein, als in effigie gehangen zu werden. 



UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 847 

Vielleicht driikke ich mich aber durch diese Metapher bestimter 
aus: da die Tugenden (nach Plato) die Fliigel der Sele sind, so 
heisset mit einem tugendhaften Gesichte den Mangel derselben 
verhehlen meines Erachtens nichts schlimmers als gewissen Ka- 
fern ahnlich sein, an welchen der Mangel der Flugel sehr gut 
durch bunte und schimmernde Fliigeldekken ersezet wird. Oder 
noch anders: ein aufrichtiges Gesicht ist ein Spiegel, in dem 
sich bios anwesende Tugenden abmalen; allein ein hofmanni- 
sches gleichet einem Krystal- oder Zauberspiegel, welcher zu- 

10 kunftige gute Handlungen zeiget und verkiindigt und es saget 
nicht, was man gethan hat, sondern was man einmal (z.B. nach 
dem Tode) thun wird und ist sonach fiir kein moralisches Arnte- 
sondern fiir ein moralisches Saatregister anzusehen. Indessen be- 
liebe der Leser dennoch hier in die genaueste Uberlegung zu 
nehmen, was ich von einem Hofmanne auf meine Erofnung, 
daB ich das Bild der Menschenliebe auf seinem Gesichte fiir 
ein sehr gutes Vexirbild hielte, zur Ant wort vernommen und 
aus besonderer Gefalligkeit hier mittheile: er treibe, versezte er, 
mit der Tugend einen Kommissionshandel; daher lege er auf 

20 seinem Gesichte stets einige Musterproben von Tugenden zur 
Schau aus: verlange nun iemand von ihm ausser der Probe auch 
ein ganzes Stiik, so besize er zwar nie dergleichen selbst, allein 
er wisse schon seine Leute, die mit solcher Ware in Uberflus 
versehen seien und ihm daher damit sehr wol aushelfen konnen. 
»D. h., schlos er lachelnd, ich zeuge selten oder nie eine gute 
That; find' ich aber eine, die eine Waise ist und zu der kein 
Vater sich bekennet, so adoptive ich sie freiwillig und vertrete 
bei ihr gern Vaterstelle: auch ist es mir angenehmer, ein gut 
gerathenes Pflegekind meinen Namen tragen zu sehen, als eine 

30 Misgeburt, die ich selbst inkognito gezeuget, sich nach selbigem 
nennen zu horen.« 

Soviel von den menschlichen Tugenden, welche so wol von 
unserer Zunge als von unserem Gesichte in groster Menge Got 
geopfert werden. Was die Laster anlanget, womit wir uns mit 
dem Teufel abfinden, so bringen wir selbige in natura und durch 
die iibrigen Glieder dem bosen Feinde dar. Ich glaube, in beiden 



848 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Stiikken verfehlen wir die Fusstapfen der Agypter nicht sehr 
weit, die ebenfals den guten Gottern Weihrauch und Bilder von 
Opferthieren, den bosen aber wirkliches und ungestaltetes Vieh zu 
schenken und zu opfern pflegten. 

Allein ich mus hier, so ungern auch ich und die Leser es sehen, 
abbrechen und meine wichtigern Geschafte wieder vornehmen. 
Kaum kan ich mich ohnehin fur den Verlust der Zeit, die ich 
an diesen Aufsaz verwandt, das Bewustsein, mit dem ich die 
Feder niederlege, genugsam entschadigen, dafi ich namlich so- 
wol von unsern redenden als zeichnenden Kilnsten in der Tugend 10 
vielleicht auf eine Weise diirfte gehandelt haben, deren sich wol 
die beriihmteste Feder nicht zu schamen brauchte: und ich 
glaube, dieses Lob, das ich mir iezt zufliessen lassen, gilt von 
meinem Stile nicht weniger als von meinen Gedanken. 

Verfasser der gronlandischen Prozesse. 



ZERSTREUTE BETRACHTUNGEN 

UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN, 

AUF VERANLASSUNG DER SWIFTISCHEN ANWEISUNG ZU 

DEMSELBEN 



Ich werde alles, was ich mit den folgenden Betrachtungen errei- 
chen will, erreicht haben, wenn es mir gelingt, darin uber den 
vollig verkannten Werth unsers dichterischen Nationalbathos ei- 
nen und den andern AufschluB zu gewahren, der die einseitigen 
und milzsiichtigen Urtheile iiber denselben, welche jetzt zum 
grosten Nachtheile unsers Parnasses immer weiter um sich zu 
greifen drohen, zu berichtigen dienet. Noch zufriedner wiirde 
ich mit der Wirkung dieses geringen Versuches seyn diirfen, 
wenn er eine geschicktere Feder anfrischte, dem Niedrigen in 
der Dichtkunst die vorige Gunst des Publikums und das beyzei- 
ten wieder zu verschaffen, soil anders der Genius des Bathos 
die ausgeschlagene Hand von unserm Genie sowohl als von un- 
serm Geschmacke nicht ganzlich abziehen. Mein AnlaB ist die 
Ubersetzung von Swifts Kunst, in der Poesie zu sinken, welche 
man dem achten Theile der Manheimer Ausgabe von Pope's 
Werken einverleibet hat. Sehen meine Leser diesen swiftischen 
Aufsatz noch mit dem grossen Haufen fur eine Satyre auf das 
poetische Bathos an, so muB es ihnen sonderbar vorkommen, 
daB ich da von den AnlaB zu einem Lobe darauf entlehnet. Allein, 
ich muB es ihnen hier gestehen, daB ich jene Abhandlung, wenn 
ich mir nicht selber alien Gaumen fur die Satyre absprechen will, 
fiir keine kann gelten lassen; sie ist fur das Niedrige der Dicht- 
kunst nichts weniger und nichts mehr, diinkt mir, als was 
Home's Grundsatze der Critik fiir das Erhabene derselben. Man 
lese nur das Original mit einem unbefangenen Auge; vielleicht 
findet man, daB es wirklich kein einziges komisches Wort ent- 
halt, sondern vielmehr bis zum Pedantischen feyerlich ist. Doch 
zwar auch nur das Original: denn die deutsche Obersetzung 
ist von ihrem Verfasser in dem verzeihlichen Wahne, daB er 
eine Ironie zu verdolmetschen habe, mit einigen der spaBhafte- 
sten Worter angeputzet worden. So wenig indessen diese lau- 
nichte Verschonerung sich in einen ernsthaften, unironischen 
Aufsatz des Dechanten schickte, so sehr wiirde sie doch seinen 
satyrischen Stucken anpassen; und ich wiinschte daher von Her- 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 85 I 

zen (und gewiB das Publikum auch), daB ein Mann von der 
gehorigen Starke in der schweren komischen Sprache, deren 
Wesen ich nicht bios in eine geschickte Vermischung steinalter 
und pobelhafter Worter mit nagelneuen, sondern auch in eine 
haufige Anbringung lacherlicher Holzschnitte setze, fur den 
Dank der Nation die Muhe iibernahme, von dem swiftischen 
Satyr die ernsthafte Larve abzuheben und das Gesicht desselben 
dafur mit einem komischen Anstrich zu verbramen und gleich- 
sam einzuseifen. Ich frage das Publikum selbst, ob es iiber ihn 

10 in der ernsthaften Gestalt, die ihm der alte Ubersetzer Waser 
gelassen, sehr lachen konne? 1st es nicht seine erste Forderung, 
an einen deutschen Ironiker wenigstens, daB er die Versteckung 
seiner Satyre in die Grenzen des Musters einschranke, das ein 
Kind ihm giebt, wenn es sich unter seine eigne Schiirze verstek- 
ket, und der suchenden Mutter auf die Spur durch den Zuruf 
hilft: wo bin ich? Oder hat der sonst vortrefliche Wieland Recht 
gethan, und hat man es ihm sehr gedanket, daB er seinen SpaB 
in einen Ernst verkappte, daB, die wenigen Leser ausgenommen, 
welche dachten, die iibrigen alle und die lustigsten sogar vor- 

20 ziiglich, an der ganzen Satyre nicht das geringste Vergniigen 
finden konnten, sondern genothigt waren, sich von der Ernst- 
haftigkeit des Herrn Autors einigermassen in dem Lachen des 
Pedrillo zu erholen, als in welches sie noch mit dem ihrigen 
einfallen konnten? Und kann man es wohl fur mdglich halten, 
daB der Verfasser der physiognomischen Reisen dem betrognen 
Publikum, das seine modischlaunichte Sprache fiir die Satyre 
selber ansah, wovon sie doch nur die ironische Larve war, so 
wie auch gemeine Leute fiir den Stachel der Biene die Scheide 
desselben halten, den Beyfall, den es nun nicht mehr widerrufen 

30 kann, wiirde abgelocket haben, wenn er eine ernsthafte Sprache 
zum Deckmantel seines Scherzes hatte gewahlet gehabt? - Derm 
uberhaupt ist es gottlob! ausgemacht, daB der biedere Deutsche 
und vorziiglich der offenherzige Jiingling und Pobel in seinen 
Abscheu vor aller Verstellung auch die ironische einschliest. 
Auch hat man uns schon den ironischen Kandide und Don Qui- 
xotte in einer niedrigkomischen Umkleidung geschenket, von 



852 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

deren Beytrag zur Verstandlichkeit derselben der einstimmige 
Bey fall der Nation das vortheilhaf teste ZeugniB ablegt. Allein, 
mir diinkt, Swift verdienet diese Entlarvung wenigstens nicht 
minder, ja, er ist vielmehr versteckter, ernsthafter und iiber- 
haupt satyrischer als beyde, und daher einer Travestierung noch 
weit bediirftiger und wiirdiger. - Dieser grosse Mann, der die 
Nachwelt zwar zur Erbin seines Narrenhauses eingesetzt, allein 
seine dornichte Geissel, von welcher gleichwol die ganze Besse- 
rung der Bewohner desselben abhanget, sich, wie andere Predi- 
ger ihre Bibel, oder die gemeinen Leute ihre ausgefallenen 10 
Zahne, aus einem unbegreif lichen Eigensinn, ins Grab mit geben 
lassen, wo sienun ohne Nutzen fur die Welt und ihn vermodert. 
- Aber, was mach' ich jetzt? ich mache den Lobredner der deut- 
schen Ironie, und habe mir doch bios vorgesetzt, den des deut- 
schen Bathos zu machen? 

Die dichterische Welt bietet, wie die natiirliche, ihrem Be- 
wohner drey verschiedene Regionen zum Spielraum seiner 
Gliedmassen an. Die erste ist im Ather, in welchen die wenigen 
unglucklichen MiBgeburten hinaufgewehet werden, die sich 
nach dem RathschluB der unerforschlichen Natur mit groBen 20 
Fliigeln an Kopfund Fussen schleppen. Die zweyte und mittlere 
ist auf dem festen Boden, welcher den theatralischen Schritten 
und Sprungen der unzahligen Wesen, die nichts als Menschen 
und die Mitteldinge zwischen fliegenden MiBgeburten und nie- 
derfahrendenGenies sind, zum Schauplatz dienet. Die letzte Re- 
gion ist unter dieser und in der Tiefe, zu welcher sich die seltnen 
Geister hinunterschwingen, die von MiBgeburten und Men- 
schen sich durch eine besondere Grosse und Schwere ihres Kop- 
fes und ihrer Fiisse und meistens auch durch sonderbare insek- 
tenartige Gliedmassen, welche ihrem Gewichte den Weg bahnen 30 
und graben, auf das sichtbarste unterscheiden. Man merket 
wohl, daB ich den Letztern den Vorzug gebe. Die Erstern sind 
die schlechtesten, und ich nannte sie mit vielem Bedachte MiB- 
geburten: denn die Flugel an Kopf und Fussen verrathen ihre 
traurige Verwandtschaft mit den Thieren, so wie ihre Unahn- 
lichkeit mit den riickenbeflugelten Engeln nur gar zu deutlich, 



USER DAS DICHTERISCHE SINKEN 853 

und es bleibt schwer zu begreifen, wie ein Geistlicher vor dem 
Richterstuhle der Casuistik, die jedem aus der Art der Menschen 
geschlagenen Kopfe die Taufe verweigert, seine Entheiligung 
der letztern an solchen Kopfen, wie Milton's, Popen's u.s.w. 
ihre waren, mit etwas anderem entschuldigen konne, als hoch- 
stens mit der Unsichtbarkeit des jungen Auswuchses. - Die 
mittlern, die zwar nicht nieder, aber auch mcht auffahren, 
sondern gehen, werden mehr geschatzet, und jeder ist ihr 
Freund; allein, wie gesagt, den Vorzug vor beyden behaupten 

10 doch bey alien Volkern die Letztern, die in den ParnaB wie in 
ein Bergwerk einfahren. Ich glaube fiir diesen Vorzug einige 
Griinde gefunden zuhaben, die mit dem Verdienste der Neuheit 
auch das Verdienst des Gewichts vereinigen; allein, ehe ich sie 
aufstelle, will ich den Leser vorher mit einer anmuthigen Alle- 
gorie von dem dichterischen Bathos erf rischen, welche vielleicht 
mit der kunstrichterlichen Trockenheit dieses Aufsatzes einen 
sehr gefalligen Absatz machet. 

Die Allegorie ist nicht von mir, sondern von Klopstock, und 
kann im erstenGesangederMeBiade nachgelesen werden. Indes- 

20 sen hat noch niemand sie darin entdecket, und Klopstock selber 
kann den allegorischen Knoten nicht auflosen, den er doch ge- 
schiirzet. Ich wiirde daher die unbesonnenste Eitelkeit verra- 
then, wenn ich vorgabe, daB, was scharfere Augen iibersehen, 
gleichwohl ich homuncio erblicket hatte. Nein! sondern ich will 
hier offentlich die Entzifferung dieser Allegorie dem Herrn 
Professor Kramer in Kiel, der sie mir in einem Privatschreiben 
mitgetheilet, wieder zustellen. Und das um so viel mehr, da 
ich vielleicht mit dieser Probe seiner Spahkraft das Publikum 
auf den Schatz aufmerksamer machen kann, den es an diesem 

30 Kopfe besitzet. Ich weiB es zwar, man hat ihn sehr getadelt, 
daB er oft den grosten Schonheiten seines commentirten Origi- 
nals den eifersuchtigenSchleyerabzunehmenunterlassen; allein, 
ich habe nur immer geglaubt und in verschiedenen Recensionen 
es auch ohne Bedenken herausgesagt, daB er fiir die unterlassene 
Enthullung derer Schonheiten, von welchen doch noch immer 
wenigstens der Kenner die Florkappe abzuheben vermag, durch 



854 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

die weit muhsamere Entdeckung sowohl dererjenigen, die der 
scharfsichtige Kenner und Klopstock selbst, als auch derer, wel- 
che der Einfaltige nicht erblicket hatte, sogar seinen strengsten 
Richter vollkommen miisse entschadigen konnen. Verdienet 
daher seine Entschleierung der Schonheiten von der letztern Art 
das frankirte Lob meines neulichen Briefes nicht, das so lautet: 
»Nein! keinen Markzieher (wie Sie Ihre Bescheidenheit bereden 
will): sondern einen wahren Korkzieher besitzen an Ihnen die 
klopstockischen Verse «? Gleichwohl wiirde es jeder mit mir 
lieber sehen, wenn ein so fahiger Kopf das Alter der eignen 10 
Schopfung nicht in blossem Gommentiren hinbrachte, sondern 
wenigstens zuweilen das eine Ende seines langen Pinsels, das 
Schonheiten nurzeiget, mit dem andern ablosete, das Schonhei- 
ten auch malet. - Hier ist aber seine Erklarung der gedachten 
Allegoric Klopstock dichtet eine Sonne, welche in der Tiefe 
der Erde leuchtet. Nach meinem Freunde Kramer geht des 
Dichters Meynungdahin: so wie die aufsteigenden Poeten einen 
Phobus haben, der am Himmel den Namen der Sonne fuhret, 
so strahle auch fur die niedersteigenden einer, auf welchem ihre 
Niederfahrt in die Tiefe allezeit Hake mache. Ich will, setzt er 20 
dabey hinzu, Ihrer Wahl zwischen den beyden Sonnen zwar 
nicht vorgreifen, aber meine wenigstens ist dem untern Phobus, 
den jeder erreichet, ungleich gewogener als dem obern entfern- 
ten, dem man sich nichts als hochstens nahern kann. Man kann 
nicht richtiger urtheilen; und ich wiinschte urn so mehr, alle 
unsere Dichter machten Herrn Kramers Wahl zu ihrer eignen, 
da der modische Abbruch, den ihr Gehirn, ihr Gesicht und ihr 
Leben von ihren korperlichen Erholungen langst gelitten, sie 
zu einem so langwierigen und schweren Geschafte, wie der Auf- 
flug zur Sonne ist, wahrscheinlich wohl ganz unfahig gemachet 30 
haben muB. Klopstock saget weiter, dafi man zu dieser Sonne 
den Eingang durch den Nordpol nehme. Was ist das anders, 
fragt Herr Kramer, als eine bildliche Vorstellung der Kalte, wo- 
mit ein Dichter den Niederflug anfanget? Er laugnet aber darum 
nicht, daB sie bald der Erwarmung weiche, die mit der Arbeit 
des Sinkens und mit der Tiefe so sehr zunimmt. Mein Freund 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 8$5 

beschliesset seine Entzifferung mit dem leichtesten Theile der 
Allegorie: daB nemlich auf dieser Sonne auch die Seelen friihver- 
storbener Kinder wohnen; denn Kinder sind das bekannte Bild 
der Bucher. Die Seek eines Buches heisset der Witz, die Phahta- 
sie und das Gefuhl desselben. Man habe sich daher nicht zu 
verwundern, bemerket Herr Kramer mit Recht, daB unsere be- 
sten Schriften von alien diesen Gaben wenig oder nichts, zum 
mindesten nicht sehr lange blicken lassen, da den meisten von 
dem fruhzeitigen Rufe der Natur das Leben wieder abgefordert 

to wird, und manche schon vor der Geburt d. h. vor dem Drucke 
denGeistaufgeben; wenigstens schleiche, versichert er, von sei- 
nen Satyren auf Wielanden und Herdern nur der papierne Kor- 
per herum, und der witzige Geist derselben sey langst zu dem 
untern Phobus eingegangen (nicht aber, wie Ariost saget, zu dem 
Monde) allwo er denselben nach dem Tode wieder anzutreffen 
hoffe: allein, daher konne man auch einem Autor die gute Mey- 
nung von seinem eignen Kinde nicht verdenken, weil ihm allein 
am besten bekannt seyn muB, wie groB der Witz und Scharfsinn 
desselben war, ehe es beyde durch und nach dem Drucke verlo- 

20 ren. 

Jetzt muB der Leser den allegorischen Witz verlassen, und 
mich wieder auf meiner kritischen Untersuchung begleiten. 
Wenn ich den sinkenden Dichtern den Vorsitz vor den steigen- 
den anweise, so thue ich es wahrlich nicht aus Vorliebe fur jene, 
und aus Vorurtheilen gegen diese, sondern aus Griinden; moch- 
ten die, welche mir widersprechen, der Sache nur halb so lange 
nachgesonnen haben als ich! Denn, ich glaube erstlich die Ge- 
schichte selbst auf meiner Seite zu haben. Aus ihr lasset sich 
erweisen, daB alle kultivirte Volker sich zum dichterischen Fluge 

30 weit besser und fruher angeschicket, als zum dichterischen Falle 
und lange mit alien Vollkommenheiten des Erhabnen sich Ruhm 
erworben haben, ehe sie in den Stand gesetzet wurden, nur mit 
einigen betrachtlichen Verdiensten im Niedrigen hervorzutre- 
ten. Die Romer musten sich lange Zeit mit einem Lukrez und 
Catull , liber deren staten , unhorbaren und ruhigen Flug ich nicht 
in das gewohnliche pedantische Entziicken gerathen kann, be- 



856 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

gniigen, ehe die Zunahme der Verfeinerung ihre dichterischen 
Frtichte zum Fallen reif machte. Denn kaum waren diese es zu 
Horazens Zeiten; nur Mazenas, dessen Talente die Gesellschaft 
von zween ertraglichen Dichtern entwickelte, betrat und traf 
den abschufiigen Weg zum Niedrigen. Und gleichwohl wurden 
damals diese FuBstapfen noch von wenigen aufgesucht; erst 
spater hin fieng man allgemein an, mit dem hohen Kothurn sie 
auszuftillen, zu vertiefen und zu erweitern. Eben so nahm das 
franzosische Genie schon unter Ludwig XIV. mit wachsernen 
Fliigeln den hohen Anlauf zu seinem jetzigen spaten aber ruhm- ro 
lichen Sturze unter Ludwig XVI. Selbst unsere Litteratur hat 
erst die hohern Stufen zuriicklegen mussen, ehe sie auf die ge- 
genwartigen kam: denn, ich kann, ungeachtet des Stolzes auf 
meine Nation, die Fortschritte im Bathos, auf welche das vorige 
und jetzige Jahrzehend mit Rechte trotzet, gleichwohl dem vor- 
vorigen noch nicht zugestehen, als worin wir zum jetzigen Sinken 
bios ausholten. 

Ich fahre in meinem Beweise fort, und bezeige die groste 
Verwunderung, daB die Freunde des Erhabnen Feinde des Ba- 
thos seyn konnen, da das erstere in der innigsten Verwandtschaft 20 
mit dem andern stehet, und beyde mit einander in wechselsei ti- 
ger Begleitung gehen; mir diinkte daher vielmehr immer, daB 
man den erhabenen Dichter nicht erheben konne, ohne zugleich 
den niedrigen mitzupreisen. Ich will mich aber iiber die Ver- 
wandtschaft derselben naher erklaren. Ich betriige mich hoffent- 
lich in der guten Meynung von den Feinden des Bathos nicht, 
wenn ich ihnen zutraue, daB sie der Wahrheit das Opfer der 
Unpartheylichkeit bringen, und auch unsern niedrigsten Dichtern 
einige Grade von Schwulst zugestehen werden. Ich kann auch 
dieses GestandniB mit Recht von jedem erwarten und fordern, 30 
der auf einige Bekanntschaft mit unsern Oden und Trauerspielen 
und unserer Prose Anspruch macht. Es fragt sich nun aber, ob 
ein richtiger kritischer Maasstab den Unterschied zwischen 
Schwulst und Erhabenheit wohl so groB befinde, als ihn einige 
machen wollen? oder, wenn er es aber ist, ob er nicht vielmehr 
zum Vortheile der Schwulst ausfalle, welche nur ein hoheres 



USER DAS DICHTERISCHE SINKEN 857 

Stockwerk iiber dem Erhabenen ist? Ich sollte es meynen. Der 
Dichter, der noch unter der Oberherrschaft des gesunden Ge- 
schmackes steht, muB in der Erhokung seiner Gedanken sich 
unter den willkiihrlichen Grenzen halten, die ihm jener ohne 
den geringsten Grund vorzuschreiben beliebt hatte; ein Despo- 
tismus, der eine auffallende Ahnlichkeit mit einem andern der 
romischen Kayser hat, welche fur die Gebaude eine Hohe, iiber 
die sie nicht hinausgehen durften, festsetzten. Der Dichter hin- 
gegen, der sich von der Eigenmacht des gesunden Geschmacks 

10 losgewickelt hat, unterwirft auch seine poetischen Gedanken 
den Einschrankungen desselben nicht, sondern an den Grenzen 
des Erhabenen fangt er seine Erhebung erst recht an, und lasset 
sie weit iiber das Erhabene hervorragen; - es ist dies eine Frey- 
heit, welche der freye Deutsche in der Poesie eben so eifrig 
zuerhalten suchen muB, als in der Baukunst, der unsere Gesetze 
in der Auffiihrung der Hauser die freyeste Hand lassen, und 
keine Erhohung derselben untersagen, die unsern Gassen den 
Vortheil einer kiihlen Dunkelheit vers chaff en kann. 

Ich bin aber noch nicht da, wohin ich will: denn es ist erst 

20 die Natur des Zusatzes zu erwagen iibrig, durch welchen der 
niedrige Dichter das Erhabne zum Range des Schwulstigen 
erhebt. 

Wenn man das erhabene Bild, das einen erhabnen Gegenstand 
vorstellet, so lange verfolget und ausmalet, bis man den niedri- 
gen Zug, der in keinem korperlichen Bilde einem satyrischen 
Kopfe lange verborgen bleiben kann, darin ausgefunden und 
mit erhabnen Farben angedeutet hat; so kann man sich gewiB 
versprechen, durch den niedrigen Zusatz das Erhabne bis an 
die Grenzen des Schwulstigen gefiihret zu haben*. Man kann 

30 vorlaufig daraus eine Rechtfertigung unserer sinkenden Dichter 
ziehen, daB sie die steigenden nachahmen. Denn, alles was sie 

* Wenn Young sagt: Gott schlug aus der Finsternifi den Funken, die 
Sonne, heraus; so ist das noch bios erhaben; denn, urn cs schwulstig 
zu machen, miiste ein guter Dichter das unterstrichne Niedrige dieses 
Gleichnisses in vielen erhabenen Worten aufdecken, und in ein sehr 
glanzendes Licht stellen. 



858 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

von ihnen entlehnen, ist doch offenbar bios das Erhabene d. h. 
das, was sichallein unserm Geschmacke am wenigsten empfieh- 
let; aber der schwiilstige Zusatz, wodurch sie den Werth des 
Raubes um die Halfte erhohen, gehoret ilinen allein, und aller 
Dank, den das Publikum dafiir saget, gebiihret ihnen ungethei- 
let. In der That, wenn alle Nachahmungen, wie die jetztgedach- 
ten, der Art waren, daB sie ihr Original verschonerten, und 
durch Zusatze von Schwulst und Niedrigkeit fur das Publikum 
angenehmer machten, so wie etwan nach Helvetius Thorheiten 
und Kleinfugigkeiten den grossen Mann bey dem neidischen P6- 10 
bel in Gunst und Ansehen setzen, so wiirden die Nachahmungen 
bald verschrien zu werden aufhoren. Ich hatte oben noch sagen 
sollen, daB nicht bios der erhabene Vorwurf durch eine niedrige 
Verschonerung, sondern auch der niedrige durch eine erhabene 
und unangemessene schwulstig dargestellet werde. Genug, daB 
in bey den Fallen die Paarung zwischen dem Niedrigen und Er- 
habenen den Contrast zuwege bringt, der schlechter dings erfor- 
derlich ist, die wohlthatige Empfindung des Lachens zu erregen. 
Hat aber einmal der Odendichter, Tragodiensteller und poe- 
tische Prosaschreiber dem Leser ein Lacheln abgeschmeichelt, 20 
dann hat er alles gethan, was man mit Recht von ihm verlangen 
kann; verfehlet er aber freylich dieses, so hat er auch alles verfeh- 
let. 

Allein, es kommt mir beynahe vor, als wenn man iiber die 
warme Freundschaft, die Schwulst und Satyre mit einander ge- 
kniipfet haben, noch nicht viel nachgedacht hatte. Wenigstens 
miiste man doch sonst aus derselben trefliche Auflosungen man- 
cher schweren Aufgaben hergeholet haben. Man hatte sich z. B. 
daraus erklaret, warum es so schwer sey, die Spotter unserer 
erhabenen Dichter mit einiger GewiBheit von den Nachahmern 30 
derselben zu unterscheiden, und den ahnlichen Fehler der Na- 
turforscher zu vermeiden, welche die Satyrs mit den Affen ver- 
wechseln. Von der Schwierigkeit dieser Unterscheidung kann 
ich dem geneigten Leser selbst ein Beyspiel erzahlen. Nemlich 
ein guter aber erhabener Dichter verlieB Deutschland, das er 
mit einem sogenannten Meisterstiicke beschenket hatte, kurz 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 859 

nach dem Abdrucke desselben. Ich meines Ortes habe zwar 
daran nie viel Vergniigen finden konnen; aber warum ich es 
gleichwohl um wie viel nicht hatte missen wollen, ist, daB seine 
Erscheinung eine unubersehbare Menge der schwiilstigsten 
Kopfe, die nur jemals vielleicht einen Parnas geadelt haben, 
gliicklicherweise erweckte. Der Dichter kam wieder zuriick, 
aber es hatte ihm von den unerwarteten Wirkungen seines Pro- 
ducts eine Nachricht nicht einmal getraumt. Ich brachte also 
mit vielen Kosten drey und f unfzig auszeichnende Nachahmun- 

10 gen desselben zusammen, und versprach mir und ihm von der 
Oberraschung damit das groste Vergniigen: denn von seinem 
rechtschaffenen Herzen konnte ich erwarten, daB er iiber die 
bessern Werke, von denen seines nur der AnlaB war, mehr Ver- 
gniigen als Neid empfinden werde. Allein, wie erstaunte ich, 
da er mir ganz kaltsinnig wieder sagte, er hatte geglaubt, um 
seine Nation wenigstens keinen Spott verdienet zu haben, und 
er miisse sich besonders wundern, wie Weygand so viele Satyren 
auf einmal gegen ihn verlegen konnen. Umsonst widersprach 
ich lange seinem Irrthume; erst mit den Journalen brachte ich 

20 ihn zurechte, welche durch ihr Lob keinen Zweifel iibrig liessen, 
dafi die Nachahmungen fiir wirkliche Nachahmungen zu halten. 
Sollte dieser Dichter sich auf die Bekanntschaft des Menschen, 
von dem er dieses hier lieset, nicht sogleich besinnen konnen: 
so will ich ihn nur erinnern, daB ich der bin, dem er gewohnlich 
aus Scherz mehr Ahnlichkeit mit dem Teufel zuschrieb, als sich 
fiir einen Menschen vielleicht wohl schickt, und der seine Ver- 
wechselung der Nachahmer und Spotter mit der folgenden des 
Alexanders verglich. Der Held riihrte nemlich auf seinem indi- 
schen Feldzuge mit seinem kriegerischen Schauspiele die Affen 

30 einer Gegend dergestalt, daB sie gleich Kindern sich samtlich 
entschlossen, »Soldatens« zu spielen. Zu fruh stand ein ganzes 
mit Priigeln bewafnetes Heer von Affen da, das Alexander in 
der Dammerung fiir ein feindlkhes von Indianern hielte, bis er 
bey hellem Lichtc zu seinem grosten Vergniigen entdeckte, daB 
die Gewafneten keine Menschen, sondern Affen waren, und 
mehr Auxiliartruppen als Feinde zu seyn die Miene hatten. 



860 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

Die Nachbarschaft der Schwulst und des Lachens lasset sich 
auch noch durch andere Wahrnehmungen ausser Zweifel setzen; 
wie z. B. durch die, daB unsere schwulstigsten Dichter, wenn 
sie wollen, zugleich auch die scharfsten Spotter seyn konnen. 
Eine Wahrnehmung glaub' ich, von der sich iiberhaupt ein vor- 
treflicher Gebrauch zum VortheiJ unseres Parnassus machen 
liesse, in dessen Lobspriiche fur die Menge seiner schwiilstigen 
Dichter man nun schon lange genug den Vorwurf der Gering- 
zahligkeit seiner satyrischen einmischte. Denn gar nicht an die- 
sen letztern, sondern nur an den Anlassen, ihre Talente in Bewe- 10 
gung zu setzen, fehlet es uns. Schlimmes Wetter, iible Gliicks- 
und Gesundheitsumstande und bittere Feindschaften, - das sind 
aber jene gliicklichen und seltenen Anlasse. Wer mithin diese 
zu vervielfaltigen ein Mittel erfande, und besonders mehrere 
und heftigere Feindschaften unter den schonen und schwiilstigen 
Geistern anzustiften ein Arkanum mittheilte: der wiirde unserer 
Litteratur in jedem schwiilstigen Dichter einen herrlichen Spot- 
ter geschenket haben; ich erstaune iiber die Menge Dichter, wel- 
che dannihre Hohe verlassen und mit einer Geissel die Erdenbe- 
wohner besuchen wiirden. Wenn ich mich nicht irre, so ist es 20 
mit den Dichtern gar kein anderer Fall als mit den Insecten. 
Denn diese erhalten sich gleichfalls nur so lange in der obern 
Luft als es schones Wetter ist; driickt aber der herannahende Re- 
gen sie mit Diinsten, so fallen sie samtlich so fort in unsern 
Bezirk herab, und stechen da Menschen und Vieh. Ich darf hof- 
fen, daB man mein GleichniB nicht misdeuten, und nicht aus 
der Niedrigkeit des Gegenstandes, wo von ich es hergenommen, 
einen unzeitigen Argwohn, daB ich die Dichter damit verklei- 
nern wollen, schopfen werde. Dieser Verdacht wiirde um so 
mehr mich kranken, weil ich gerade die entgegengesetzte Ab- 30 
sicht hatte, unsern Dichtern mit einem anstandigen, edeln und 
ein wenig schmeichelhaften Bilde eine Ehre zu erweisen. Denn 
das mit Gold besetzte Kleid hat in mir von den Insecten nach 
und nach eine so hohe Meynung erzeuget, daB ich sie kaum 
von einem golden und reichgekleideten Menschen groBer hege. 
Und ware auch dies nicht, so wiirde mich noch immer das Bey- 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 86l 

spiel der weisen Egypter schiitzen konnen, die auf ihren Obelis- 
ken (nach Winkelmann) einen Kafer zum Bilde der Sonne ge- 
nommen. Denn kann den Phobus oder Apollo dieses Bild nicht 
entehren, so muB die Sohne desselben jcde Ahnlichkeit mit 
den Insecten und mit den Kafern insbesondere, die, wie sie, 
sich in die Erde hinunter graben, sogar adeln. 

Die Ahnlichkeit der Schwulst und Laune befestige ich noch 
mit der auffallenden, aber mir treflich zu passe kommenden 
Bemerkung, daB in unsern Tagen, wo die poetischen Flugel bey- 

io nahe so lang wie Konigshande gewachsen sind, auch zugleich 
die Krallen der Satyre sich verlangert haben. Seit Sternes Zeiten 
hat es wohl aufgehort zweifelhaft zu seyn, daft die Laune, und 
besonders die sternische, einen Nationalzug im deutschen Cha- 
racter ausmache. Ich habe wenigstens drithalbhundert Stuck 
Romanen, voll der scharfsten Laune, aufgekauft, die satyrischen 
Vorreden und satyrischen Noten der Ubersetzer gar nicht ge- 
rechnet, die als Zugabe mit unter laufen mogen. Aus diesen 
besteht beynahe meine halbe Bibliothek und ihnen hab' ichs 
grostentheils zu danken, daB ich das Handwerk eines Biicher- 

20 verleihers bis zur Zeit noch nicht aufgeben miissen; und etwan 
den iibrigen Dichtern im Bathos noch, die ich daher auch bios 
wegen ihrer ungemeinen Nutzbarkeit und nicht aus Interesse hier 
vertheidige und lobe. Nie aber habe ich von einem ahnlichen 
satyrischen Reichthume der Engelander oder Franzosen gehort 
odergelesen, und den Beweis vom Gegentheil war' ich wirklich 
begierig zu sehen. Durch den vereinigten Beystand der Verleger 
und Leser ist es sogar, darf ich dreist behaupten, so weit gedie- 
hen, daB man Satyre und Galle zum Merkmale eines Schriftstel- 
lers nach der Mode mit eben der Sicherheit machen kann, mit 

30 der man aus der GroBe der Gallenblase und aus der Menge der 
Galle bey dem Rindvieh schlieBet, daB es mit der Seuche ange- 
steckt ist. 

Ich habe bewiesen, daB das Schwulstige eine geschickte Ver- 
bindung des Niedrigen mit dem Erhabenen ist. Mithin fallet 
die Scheidewand von selbst iiber den Haufen, welche der Kunst- 
richter, ohne Befehl der Natur, zwischen den steigenden und 



862 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

sinkenden Dichtern gezogen, und Klopstock behalt ganz recht, 
wenn er in obengedachten Allegorien saget, daB die Sonne am 
Himmel mit der Sonne in der Erde zusammen wirke, d. h. daB 
der obere Phobus, in Gesellschaft des untern, den Dichter be- 
geistre. Von dieser Verwandschaft des Niedrigen und Erhabe- 
nen sieht man in der korperlichen Natur schon Ahnlichkeiten. 
Aus derselben Ofnung des Saamenkorns sprieBet die Wurzel, 
die nach unten und das Stammchen das nach oben gehet; bey dem 
Cometen spielet dasselbe Anhangsel bald den Schwartz, bald 
den Bart, je nachdem es der Stand gegen die Sonne erlaubt. 10 
Man kann daher den Gedichten des Herrn Haschke im deutschen 
Museum. das Verdienst einer seltnen Erhebung beylegen, ohne 
die Wahrheit nicht nur ohne auch den Sprachgebrauch im ge- 
ringsten zu beleidigen: denn die Etymologen lehren uns, daB 
vom Worte Teuche (unser jetziges Tiefe) durch eine gewohnli- 
che Vorsetzung des S das Wort Steuchen, d. h. Steigen, gebildet 
worden; und so kann man, umgekehrt, dem Flugennserer besten 
Dichter den Namen des Falles geben, wenn man auch keinen 
Milton hier zum Vorganger hatte, der das Aufsteigen eines Engels 
zur Sonne nicht wtirdiger zu schildern weiB, als daB er es ein 20 
Herabfahren zu derselben nennt; eine Fcinheit, die Addison ohne 
alle Ursache meisterte. 

Ich mochte nicht gerne das Ansehen haben, als ob ich die 
Uberzeugung des Lesers nur zu erschleichen suchte; ich lege 
ihm daher noch einen Grund fur die Vorziiglichkeit der sinken- 
den Dichter vor, von dem ich mir viel verspreche: den, daB 
diese mit dem vorziiglichsten Theile ihrer Geschicklichkeit 
schon gebohren werden miissen, die steigenden .aber oft die 
Halfte ihres Werths von der Kunst erst nachgezahlt bekommen; 
ein Unterschied, der sehr zum Vortheil der sinkenden Dichter 30 
bey jedem sprechen muB, der sich nicht ganz von den Urtheilen 
des Adels entfernt, welcher seine angebohrnen Verdienste seinen 
erworbenen so weit vorziehet. Man gebe mir zu einer maBigen 
Phantasie nur so viel Scharfsinn als man nothig hat, um von 
den Winken der Kritik und der Muster Gebrauch machen zu 
konnen: so verspreche ich Werke zu liefern, die ein angebohrnes 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN s 863 

Ubergewicht der Einbildung vorauszusetzen scheinen sollen; 
und die Phantasie, die nie von der Erde bios mit ihren Fliigeln, 
aufgekommen ware, steiget unter unsern Blicken, wenn sie den 
Flug von der kleinen Anhohe der Muster und Regeln anfangen 
konnen. Ich erlautere mich mit LeBings Beyspiele: war dessen 
Phantasie nicht so genau und fast karg gegen seinen Scharfsinn 
abgewogen, so wiirde die Geburtsstunde seiner Meisterstiicke 
nicht erst in der Bliithe des letztern, sondern schon in der Bliithe 
der erstern geschlagen haben. - Allein nicht so verhalt es sich 

10 mit dem Dichter, der im Sinken hervorsticht; dieser wird ge- 
bohren und nicht gemacht, so wie die Fische, die zeitlebens 
dieTiefebewohnen sollen, mit den Schwimmblasen verschonet 
bleiben. Denn von dem, was den niedrigen Dichter eigentlich 
zum niedrigen Dichter macht, verdanket er das meiste der Natur 
und wenig der Kunst, ich meyne das dichterische VerhaltniB 
der Seelenkrafte unter einander, das man gewohnlich in Starke 
der Phantasie und in Schwache des Verstandes und Leerheit des 
Gedachtnisses setzet. Ich fasse diese Anlagen in dem kurzen, 
und von keinem verachtlichen Nebenbegriffe begleiteten Aus- 

20 drucke -»Einfalt« zusammen; ein Wort, an dessen bessern Be- 
deutung der Leser von einigen Neuern schon muft gewohnet 
seyn. Doch vorher vom GedachtniB! Man hat dasselbe sehr gut 
mit einer Wachstafel verglichen; je weniger diese nun mit frern- 
den Eindriicken und gelehrten Buchstaben besudelt worden, 
je reiner, je weisser sie mithin ist, desto besser schickt sie sich 
fur den unschuldigen Dichter: Jemehr er seinen ideenhungrigen 
Geist Fasttage haltcn laBt, desto aufgelegter wird er zu Entziik- 
kungen, und desto vertrauter mit den Eingebungen des Phobus, 
so wie man sich sonst durch leibiiches Fasten zu den Mysterien 

30 des Apollo einweihte. Je weniger er Ideen hat, desto mehr bildet 
er an denen, die er hat, und desto angelegner lark er sich ihre 
Aufblasung seyn, weil er anders den Kopf und den Vers nicht 
fiillen kann. Will man Beyspiele von Poeten, deren Phantasie 
das Opfer des iiberfullten Gedachtnisses geworden, so kann man 
sie sogar an erhabenen Dichtern finden, wie z. B. an Milton 
und Kowley, deren Gedachtnis nicht selten ihre Phantasie so 



864. JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

arg bepackte, daB sie unter ihren Schatzen sich kaum aufzurich- 
ten, noch weniger aufzuschwingen vermochten; so wie oft der 
in der Wdrme zerflossene Honig sich auf die Fliigel der Bienen, 
die ihn eingetragen, leget, und den Gebrauch derselben ihnen 
verleidet. Wenn es so ist, wer wird nicht mit mir wiinschen, 
daB man von den Dichtern alle Kenntnisse, wie von den Bienen 
alien Honig, entfernen mochte? - Was die Einfalt anlanget, so 
mag ihre allgemein eingestandene Ahnlichkeit mit langen Ohren 
ein Beweis ihrer Unentbehrlichkeit zum Dichten seyn: derm 
eine kurze Bearbeitung der Kunst kerbet die langen Ohren in 10 
poetische Flugelchen aus; und je groBer die Ohren sind, f desto 
groBere und schwerere Fliigel geben sie. Allein diese Unwissen- 
heit (um wieder zu meiner Sache zuriickzukehren) muB sie nicht 
schlechterdings angebohren werden? Denn kann sie der Mensch 
sich selber geben? Oder verlieret er nicht taglich einen Theil 
von ihr, so wie von seiner angebohrnen Unschuld? 

Zwar wird die Nachwelt vielleicht noch ein Mittel fur die 
Dichter erfinden, den Verstand zum Besten der Phantasie zu 
entkraften, wenn man das anders nach einer ahnlichen Entdek- 
kung fur die Fink en zu erwarten berechtigt ist, denen man durch 20 
das Blenden der Augen das Singen erleichtert; allein jetzt vermis- 
sen wir dies Mittel noch gar sehr: wenigstens leisten die hitzigen 
Getranke, die unfigurlichen Umarmungen der Musen noch bey 
weiten das nicht, was ich mir von kiinftigen Entkraftungen des- 
selben verspreche. 

Ich habe alles gelesen was man gegen Dichter im Bathos vor- 
gebracht; und ich finde, daB es grostentheils auf Klagen iiber 
ihreDunkelheithinauslauft. Es ist aber sonderbar, daB mir diese 
Klagen nur dem Dichter Ehre und dem Leser Schande zu ma- 
chen geschienen, und ich bewunderte den letztern nicht, daB 30 
er Verse, die jener mit so vieler Leichtigkeit macht, mit so vieler 
Miihe lieset, so wie ich, umgekehrt, einen bekannten Dichter 
nicht sehr bewundern kann, in dessen Versen die Muhsamkeit 
der Schopfung mit der Leichtigkeit der Lesung einen sonderba- 
ren Absatz machet. 

Denn um kurz zu seyn, die schwiilstigen Dichter konnen fur 



USER DAS DICHTERISCHE SINKEN 865 

ihre Dunkelheit wenig oder nichts, und man muB sich sehr hii- 
ten, daB man die ihrige nicht mit der Dunkelheit einiger Alten 
und des Pope verwechsele, und hernachauf diese Verwechslung 
etwan ein ahnliches Verdammungurtheil griinde. Persius und 
Pope konnen allerdings auf keine Weise ihre Dunkelheit ent- 
schuldigen; ihre Gedanken sind offenbar so dicht auf einander 
geschlichtet, daB keinLicht dazwischen fallen konnte. Aber kann 
man eben dasselbe unsern dunkeln Dichtern vorwerfen? - ver- 
binden sie nicht mit einer groBen Sparsamkeit in Worten wenig- 

10 stens keine kleinere Sparsamkeit in Gedanken? und.konnten sie 
ihre Kiirze glucklicher aufklaren als durch ihre Leerheit? Frey- 
lich, dem undenkenden Leser verursachet schon dieses zu viel 
Miihe; aber mir diinkt, ein guter Dichter muB doch auch ein 
wenig auf den Geschmack der denkenden Leser Rucksicht neh- 
men, die es ihm desto groBern Dank wissen, wenn er, sobald 
er Nichts saget, es in so wenig Worten als moglich saget, und 
dasselbe groBe Nichts, das aus tausend Kopfen das Gehirn ver- 
dranget, in wenige Strophen zusammenpresset. Andere wollen 
unsere Dichter wegen einer leeren Schwulst dunkcl gcfundcn 

20 haben, und diesen antworte ich: es ist wahr, der Mangel des 
Sinnes macht eben so unverstandlich als der UberfluB desselben; 
doch - ich will mich an einem Gleichnisse erklaren. Man ofne 
eine aufgetriebene Schweinsblase, so findet man, bios mit einem 
gemeinem Auge, nichts als Wind. Allein wird einNaturforscher 
nicht mehr darinnen entdecken? Allerdings: Er wird himmli- 
schen Ather in Menge gewahr werden, wovon der Wind bios 
das Vehikulum und der Korper ist. Aus dem Euler aber wird 
er sich noch vielleicht besinnen, daB es wenig braucht, diesen 
Ather in Licht und Feuer zu erhohen. So ist es nun nicht nur 

30 mit einer aufgeschwollenen Blase, sondern auch mit ^aufge- 
schwollenen Versen beschaffen. Ein fliichtiger und unvorberei- 
teter Blick findet nichts als Luft, ein eingeweihter hingegen in 
der Luft noch hohen Ather. Daher ist unter alien litter arischen 
Lacherlichkeiten die wohl die lacherlichste, daB man die Schuld 
seiner eignen zu kurzen Ohren auf die unhorbare unverstandli- 
che Sprache der Dichter schieben will. Ich will noch einmal 



866 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

dem Leser etwas erzahlen, weil ihm meine obige Erzahlung, 
wie ich ihm leicht abmerken konnen, so sehr zu gefallen das 
Gliick gehabt. Ich verfochte neulich die Verstandlichkeit der 
Sprache der Thieve gegen einen kalten Philosopher!. Ich stellte 
ihm vor, daB sie unter einander sich sehr leicht verstehen konn- 
ten, ohne es darum uns Menschen zu seyn. Der Philosoph blieb 
bey seinem Wahne und ich wiirde mich zuletzt wohl gar haben 
entschlieBen mussen, ihn von demselben durch meine jahzorni- 
gen Hande zu befreyen, war' es mir nicht noch mit dem folgen- 
den gelungen. Ich legte ihm die Frage vor: ob er von der Sprache 10 
gewisser neuerer Dichter ein Wort verstiinde? Er muste es ver- 
neinen; gleichwohl, sagte ich, verstehen sie sich unter einander 
sehr wohl, und so - senior] ich - verstehen sich auch die Thiere. 
Er wandte zwar noch die Sprachlosigkeit von einigen der letz- 
tern vor, allein ich kam wieder auf die Dichter zuriick, und 
erinnerte, daB auch diese seit einiger Zeit sich einander ungleich 
weniger durch gedruckte Sprache als durch gedruckte Panto- 
mime verstandlich machten, und daB sie, nachdem sie gefunden, 
wie unsicher und miBlich es war, in die Worte den Sinn vor 
den Ungeweihten. einzusperren, nun wenig oder gar keinen 20 
mehr in dieselben legen. Gleichwohl wissen Adepten den Ver- 
stand in den Gedankenstrichen, doppelten Ausrufungs- und 
Fragezeichen, Apostrophen u.s.w., als in welche er sich aus den 
Worten zuriickgezogen, sehr wohl zu finden. Ich ersuchte ihn, 
dieses auf die Thiere anzuwenden, die ebenfalls an die Stelle 
der Sprache die Bedeutsamkeit pantomimischer Korperbewe- 
gungen setzen, und gab ihm zu bedenken, ob nicht die Schmei- 
cheleyen, die ein Hund fur den andern in gewisse Schwingungen 
seines Schwanzes leget, den Augen eines andern Hundes so ver- ' 
standlich sey[e]n, als es den Ohren der Dame dielauten Schmei- 30 
cheleyen sind, die ihr die Schleppe nachrauschet. - Ich iiberlasse . 
es unsern Dichtern selbst, von diesem Gesprache den Gebrauch 
zu machen, den sie fur ihre Rechtfertigung am vortheilhaftesten 
befinden. - Die Aufhaufung und Ineinanderschiebung der Me- 
taphern wird auch von einigen uns als eine Ursache der Dunkel- 
heit des Sinnes vorgerucket. Allein es ist wohl nicht der Miihe 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 867 

werth, darauf zu antworten. Denn es sollte sich doch, denk' 
ich, von selbst verstehen, daB, wo Metaphern sind, audi nur 
von diesen und nicht vom Sinne die Rede seyn kann. Sind jene 
bunt und deutlich, so hat der Dichter das seinige gethan; ob 
der Sinn darunter groB oder klein, und vollends, ob er dunkel 
oder deutlich sey, ist hochst gleichgultig, da er sogar, ohne den 
geringsten Schaden, ganz wegbleibenkann. Denn das wolle der 
Himmel nicht! daB man jemals anfinge, die Gegenwart oder 
gar die DeutJichkeit des Sinnes durch Aufopferung der Meta- 

10 phern zu erkaufen; das verhiite der Genius des poetischen Ba- 
thos, daB sich je die Dichter auf irgend eine Weise das Joch der 
alten Kiinstler aufbiirden lieBen, welche die Lesbarkeit der Auf- 
schriften nicht zu theuer zu bezahlen glaubten, wenn sie deshalb 
bios den kahlen weissen, und niemals schonen bunten und fleckig- 
ten Marmor dazu wahlten. 

Unter den Vorziigen der grabenden Dichter verdienet der 
wenigstens eine beylaufige Erwahnung, daB sie aus der Tiefe 
edle und vollkommene Metalle hervorziehen; ich ziele auf keine 
figurlichen, sondern auf unfigurliche, die sowohl den Poeten 

20 als ihren Schuldnern zum grosten Nutzen gereichen, so wie un- 
serer Nation zum grosten Ruhme: denn die GroBe des Hono- 
rariums, womit man jetzt die gangbaren Muster im Bathos auf- 
wiegt, wird, meines Erachtens, immer der starkste Beweis mit 
bleiben, daB unsere Litteratur ihr goldnes Alter hat. 

Ich habe einige Hofnung, daB man nach meiner Apologie 
die grobsten Vorurtheile fahren lasset, womit man gegen die 
Dichter im Bathos eingenommen war. Vielleicht bemerket man 
sogar die Begiinstigung nicht mit Gleichgultigkeit, welche ih- 
nen aus einem fleiBigen Gebrauche der swiftischen Anweisung 

30 zum Sink en erwachsen wird, und die ich ihnen gewiB davon 
verspreche. Denn vielleicht waren sie nieso im Stande, wie jetzt, 
die ganze Nutzbarkeit dieser Anweisung zu erschopfen. Muster 
in alien Arten von Bathos richten jetzt den guten Kopf zum 
Sinken ab; alles, was wir noch zu erwarten brauchen, sind Re- 
geln dazu, und wenn Swifts seine nicht die besten sind, so sind 
sie doch auch nicht die schlechtesten, weil sie grostentheils aus 



868 JUGENDWERKE ' 3.ABTEILUNG 

englischen Poeten, gegen deren Geschmack wir nichts einwen- 
den konnen, gezogen worden. Die Befolgung dieser Regel ist 
der einzige, aber wichtigste Schritt, den wir zu unserm Ziele 
noch thun mussen. Denn man wird es mich nie bereden, daB 
alle Riesenarme aller unserer Genies nur etwas Vollendetes auf- 
zufuhren vermogen werden, wenn sie ihre Krafte nicht an ge- 
wisseRegelnlenken. Von denFuBstapfen, (unddas sindRegeln), 
welche friihere Genies selber eingedriickt, mufi sich das spatere 
den Weg anweisen lassen, wenn es nicht seine vorsetzliche Aus- 
beugung mit langwierigen Verirrungen biissen will; und wenn 10 
man vorschiitzt, daB unsere grosten Kopfe im Bathos selbst 
das Gegentheil behauptet haben, so glaube man nur auf mein 
Wort, daB man sie nicht recht verstanden. Ich will aber das 
MiBverstandniB aufklaren. Unsere Genies mogen in noch so 
allgemeinen Ausdriicken gegen alle Regeln eifern: so begreifen 
sie unter ihrer Verachtung doch nur diejenigen, welche die 
Kunst zu steigen lehren, und es ist ihnen nie eingefallen, ihren 
Ungehorsam auch auf die ausdehnen zu wollen, bey denen man 
sinkenlexnet. Wie viele Satyren auf diese vermeyntliche Ausdeh- 
nung werden jetzt auf einmal stumpf ! Denn in diesen Schranken 20 
ist nichts verminftiger als ihr HaB gegen kritische Gesetze; sie 
wollen sinken und man will ihnen dazu Vorschriften aufdringen, 
die ganz gut seyn mogen, allein nur wenn man steigen will; 
sie suchen, gleich guten Philosophen, die tiefste Tiefe, und man 
zahlet ihnen die Handgriffe vor, womit man seine eigene Fliigel 
in Schwung bringet und lenket - Was ist unverniinftig, wenn 
es dies nicht ist? - Ihre Gegner, die Kunstrichter, vermutheten 
vielleicht selbst so etwas:, denn warum thaten sie zuletzt den 
Vorschlag, dem niedrigen Adel der Dichter, d. h., dem sinken- 
den solle, wofern er nur der Kunst einen Zutritt in seine Werke 30 
gestattet, dafiir erlaubet seyn, iiber dieselbe eine bunte Decke 
zu ziehen und sie zu verbergen, (artem celare, sagt Horaz). Wie 
man doch in der Enge, wohin man sich getrieben siehet, vor 
der Niederlage sich windet und wiirget! Ihr lieben Kunstrichter 
und du kleiner Horaz auch mit! Die Versteckung der Kunst rathet 
denen an, die sich einmal mit ihr schleppen miissen; allein seyd 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 869 

froh, daB ihr Genies besitzet, welche iiber diese zweydeutige 
Bemantelung hinaus seyn konnen, welche die Maitresse (die 
Kunst) voider Frau (der Natur), nicht hinter dem Betschirm 
zu verstecken nothig haben, weil sie selbige besser gar nicht 
eingelassen. Es ist unstreitig wohl gethan, das Schlechte zu ver- 
bergen; allein es ist noch besser, es gar nicht zu haben. Nur 
die Alten musten sich zu dem erstern bequemen, weil sie das 
letztere - bios ein pedantischer Verehrer derselben kann mir 
widersprechen - nicht kannten. Ich glaube, unsere Kopfe ver- 

10 dienen fur diese Neuerung das Lob noch in einem weit hohern 
Grade, das der Kiinstler des goldenen tunderischen Homes fur 
eine ahnliche erhalten. Vor ihm war man uneinig, ob man den 
Figuren entblofite oder bedeckte Geschlechtsglieder geben miisse, 
und die Kliigsten zogen die Bedeckung vor. Unser nordische 
Kiinstler war noch kluger als beyde, er liefi sie an den Figuren 
dieses benihrnten Homes ganz und gar hinweg. Ich will mich 
an einem einheimischen Bilde erklaren. Ich setze voraus, daB 
die Papilloten, die den Seitenhaaren die Rollungen der Mode 
gelauhg machen, den kritischen Regeln gleichen, welche das 

20 Genie werk bilden und erziehen sollen. Nun ersuche ich den Le- 
ser, meinen Schuster genau zu betrachten, und mir hernach auf- 
richtig wieder zu hinterbringen, was er an der Frisur desselben 
wahrgenommen. Er wird unfehlbar an jeder Seite des Kopfes 
zwo gerade ausgehende Papilloten entdecken, an deren Gestalt 
sich ein delikates Auge ordentlich stechen muB. Gleichwohl 
weiB sein Kopf, so lange er getragen wird, von keinen Locken, 
sondern die Papilloten, die bey andern dieselben bilden, ersetzen 
sie bey ihm; in dies em abscheulichen Haarputz gehet er ohne 
Bedenken herum und misset Stiefel an. Der Stutzer hingegen 

30 machet von der Papillote den Gebrauch eines Mittels, das Haar 
zu locken, und es unter dem gliihenden Eisen unversehrt zu erhal- 
ten; er traget sie hochstens zu Nachts. Wer endlich philosophi- 
scher denkt als beyde, erspart sich die langsame Verschonerung 
und begniigt sich mit Locken, wie sie aus fliichtigen Kammstri- 
chen herausf alien. Meinem Schuster, den ich so lacherlich ge- 
macht, gleichen die pedantischen Poeten, in deren Werken die 



87O JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Kunst die Stelle der Natur einnimmt und das Mittel den End- 
zweck vertritt. Dem Stutzer gleichen die griechischen und ro- 
mischen, welche den Beystand der Kunst annehmen aber ver- 
hehlen; und dem Kliigsten die neuern Genies, die den Beystand 
ganz ausschlageri und mit ihrer Schopfung nur desto geschwin- 
der fertig werden. - So weit hatte ich geschrieben als ich es 
einem Candidaten der Theologie lesen lieB, der mich fur die 
Mittheilung mit einigen mehr wahren als feinen Schmeicheley- 
en, und hernach mit einem Gleichnisse belohnte. Er versicherte 
mich, die sachsischen Theologen hatten einmal in einem ahnli- 10 
chen Streit mit dem bertihmten Hafenreffer iiber die Frage gele- 
gen: ob Chris tus in seiner Menschheit wohl die Verhehlung 
( KQvtyi<; ) oder die Entausserung (kzvwok;) seiner Gottlichkeit be- 
obachtet habe; die Sachsen, welche die Entausserung verfoch- 
ten, hatten den Sieg davon getragen, und so, setzte er hinzu, 
werde und solle auch die Entausserung der Kritik und Kunst iiber 
die Verbergung derselben die Oberhand behalten. 

Also, wie gesagt, in diesem Sinne wird jeder mit den Genies 
eins seyn, daft sie bey der geringsten Macht, die sie der Kritik 
iiber sich einraumten, um ihre besten Gedanken, um alle Origi- 20 
nalitatkommen, undkurz, Uhren mit abgeschnittenen Gewich- 
ten ahnli ch werden wiirden. Allein, wenn sie sich gegen die 
Kettendev Regeln erklaren, welche gleich Hemm- oder Sperrket- 
ten ihren Wagen der Psyche vom Parnasse in seine Tiefe ge- 
schwinder und leichter herunter zu rollen verhindern: miissen 
sie denn darum auch gleich diejenigen Ketten verwerfen, woran 
der Wagen vom Lastvieh fortgezogen wird, und gleich behaup- 
ten, daft sie sich bios ihrem naturlichen Gewichte iiberlassen 
wollten? Vielleicht leidet auch ihr gewohnlicher Nachdruck 
diese unzeitige Ausdehnung. Allein man hatte denselben aus 30 
ihren Schriften berichtigen soil en, welche uns ihren Abscheu 
vor Regeln in den richtigen Schranken zeigen. Derm in den mei- 
sten derselben sanken sie nach gewissen Mustern. Mustern aber 
seine unbandigen Krafte unterwerfen, heist lebendigen personi- 
fizirten Regeln sich unterwerfen. Nur daft man, Trotz aller Vor- 
sicht, hiebey nicht vollig ausser Gefahr ist, sich in der Wahl 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 87 1 

der Muster zu betrugen; und es waren daher gewiB nicht die 
schlechtesten Kopfe unserer Nation, die ihren Sturz nach gar 
keinem Beyspiele einzurichten sich entschlossen; so wie diejeni- 
geri Affen von den Naturkiindigern insgesamt fiir die kliigsten 
erklaret werden, welcheden Menschenzm wenigsten spielen und 
nachahmen. Allein immer bleibt der Natur die Kunst unentbehr- 
lich, und das angebohrne Gewicht eines Autors kann bey aller 
seiner Schwere noch eine Vermehrung annehmen. Brauchen 
nicht alle Schwermiithige, ihres schweren Blutes ungeachtet, 

10 noch die Vorsicht, ihrem Sinken im Wasser, durch eingestecktes 
Bley, gleichsam Fltigel zu geben? 1st es nicht von denPharisaern 
bekannt, daB sie, um aus Andacht ihre Kopfe gegen die Erde 
besser und langer gebogen zu erhalten, ungeachtet dieselben mit 
Bley genug dazu versehen waren, gleichwohl noch eine betracht- 
liche Quantitat von diesem Metall in ihren Miitzen trugen? Oder 
ist es mit dem poetischen Sinken anders? - Ich schlieBe hieraus 
nichts, als daft Swifts Abhandlung das herrlichste Mittel werden 
kann und werden soil, unsere Litteratur empor zu bringen, und 
unsern Genies den Geschmack an den Regeln einzufloBen. Viel- 

20 leicht wider legen unsere Sanger kiinftig durch einen willigen 
Gehorsam gegen dieselben den abgenutzten Spott und die oft 
gesungenen Klagen uber ihre Regellosigkeit. Vielleicht thun 
diese Regeln das angebohrne Gewicht, das sie freylich nie ersez- 
zen, ja vielleicht kaum vermehren konnen, wenigstens leiten; und 
schon das ist genug, so wie auch die Holzhauer mit den Seilen, 
(damit spiele ich auf die Ketten der Regeln an), die sie an den 
Gipfel eines hohen Baums anbinden, den Fall desselben nicht 
bewirken, aber doch lenken. 

Ich habe nun ausgcredet, und Ciberlasse es dem Publikum, aus 

30 meiner Rechtfertigung des dichterischen Bathos den Nutzen zu 
schopfen, den ich darin versteckt habe, und in derselben die 
Grunde zur Beforderung desselben aufzusuchen. Ich rede hier 
dasjenige Publikum an, das in kleinen Stadten ausschlieBend 
diesenNamen fiihret; ich meyne das niedrige und gewissermaa- 
^cn den Pobel. Mit dem feinern ausgebildeten Publikum hab 
ich nichts zu schaffen. Seine Kalte und sein Phlegma gegen das 



872 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

deutsche Bathos ist beriichtigt und getadelt genug. Es mag auch 
kiinftighin sich an einer Dichtkunst laben, die mit seinem Stande 
gleich sehr erhaben ist, so wie es aber auch fortfahren mag, uns 
niedrige Dichter an derselben durch vortheilhaften Undank zu 
rachen. Aber nur die Gunst des niedrigen Publikums suche ich 
einer Dichtkunst auszuwirken, welche sich sowohl fur dasselbe 
schickt. Meines Erachtens sollte die Stimme desselben allein ge- 
horet werden und jede andere uberschreyen; nicht bios, weil 
es bey weitem die groBere Anzahl ausmachet, sondern weil iiber 
die Dichtkunst, welche nach unsern neusten und besten Astheti- 10 
kern lauter Volkspoesie seyn soil, auch nur das Volk entscheiden 
kann. Eine Ode, z. B., miBfalle mithin dem abgeschliffnen 
Gaumen so sehr als sie wolle, sobald sie nur dem Pobel nicht 
miBfallet: so hat man noch kein Recht, ihr das Zeichen der Ver- 
werflichkeit, ja nicht einmal der Zweydeutigkeit aufzudrucken. 
Es ist dies so wahr, daB ich mich deshalb kaum auf den seel. 
Abt zu berufen fur nothig halte, der den Sitz des besten Ge- 
schmacks in den niedern Standen sucht. An den Pobel wende 
ich mich daher, und stelle ihm vor, daB nun das Schicksal unserer 
niedrigen Dichter auf ihn ankommt, daB es in seiner Gewalt 20 
stehet, durch seinen Beutel, seine Augen und seine Federn sie 
bey ihrem jetzigen Gliicke zu beschutzen, oder ihnen gar die 
Oberherrschaft in die Hande zu spielen, und (iberhaupt der Vor- 
mund unseres Genies zu seyn, an welches uns Herr Adelung 
den Anspruch, bios wegen unserer groBen Korper, abspricht, 
welche doch, wie er hatte sehen sollen, gerade im Gegentheil 
bey unserm poetischen Sinken die Wirkung eines Bleygewichts 
verrichten. Ich stelle dem Pobel ferner vor, daB sich ihm jetzt 
die beste Gelegenheit zur wirksamen Unterstiizzung des Bathos 
anbietet, da der Buchhandel im grosten Flore stehet, da unser 30 
niedriger Genius zu neuen Kraften aus seinem Winterschlafe auf- 
gewacht ist, da wir beynahe eine verschwenderische Anzahl 
schwerer Kopfe unter unserm Beschlusse haben, Und da ihr all- 
gemeiner Wetteyfer im Sinken ein gewisses Bonmot nicht Lii- 
gen straft, das ich zu dem Herrn Professor Lichtenberg sagte 
und jetzt erzahlen will. Ich hatte die Ehre, mit ihm, da wir 



UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 873 

uns in England aufhielten, nach Greenwich zu fahren. Unter- 
weges stritten wir lange iiber den Werth der deutschen und der 
englischen Genies. Vielleicht nahm ich die Parthie der erstern 
mit zu vieler Warme; allein mir diinkte, Lichtenberg sprang 
doch auch ein wenig von der strengen Wahrheit ab, da er den 
Wetteyfer der englischen Musenpferde mit dem Wetteyfer der 
Pferde zu Newmarket in Vergleichung zu stellen beliebte. In 
Greenwich besahen wir das dasige Seehospital, worin ein Wett- 
rennen auf Tischen uns beyde in das groste Erstaunen und Ver- 
io gniigen setzte. Der Leser irret, wenn er etwan vermuthet, daB 
es lilliputische Pferde, dergleichen Gulliver auf seinem Tische 
hatte, gewesen: sondern es waren Lause, mit denen die Matrosen 
ein brillantes Wettrennen angestellet hatten. Ich will meinen Le- 
ser[n] weder mit dem unbeschreiblichen Geschrey , noch mit den 
Summen, die dabey verloren oder gewonnen wurden, und die 
man in der Hitze der Hofnung oft bis zum Werthe eines Haar- 
kamms steigerte, beschwerlich fallen: sondern nur sogleich sa- 
gen, daB ich davon AnlaB nahm, den Witz des Herrn Professor 
Lichtenberg mit meinem nicht ungeschickt zuriickzuschlagen, 
20 indem ich ihm auf deutsch erofnete, daB mir dieses Wettrennen 
des Ungeziefers das glucklichste und edelste Bild von den Wett- 
laufen des Ruhmes und des Genies zu seyn schiene, in denen 
die deutschen schonen Geister einander zu (iberholen suchen, 
so wie die larmenden Matrosen, deren jeder sein Gluck den 
Fiissen eines Insectes anvertraute, den Anfiihrern der litterari- 
schen Partheyen glichen. Der Verfolg des Gesprachs gehoret 
nicht hieher: nur bitte ich noch den, der mit dem Schmeichel- 
haften, das meine Vergleichung mit unserm Parnas enthalt, etwa 
nicht zufrieden ist, zu erwagen daB die meines Herrn Gegners 
30 noch ungleich schmeichelhafter fur den englischen gewesen. 
Ich werde mich mehr als zu gliicklich schatzen, wenn ich 
mit diesem Aufsatze den niedrigen Dichtern vielleicht einen 
Schild oder auch einen Helm gegen die satyrischen Pfeile, die 
von alien Seiten auf sie abgeschossen werden, in die Hande ge- 
geben habe; und ich werde mich dafiir hinlanglich belohnet fuh- 
len, durch das Bewustseyn, der gerechten und angefochtenen 



874 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Sache beygestanden zu haben, und durch die Hofnung, die sin- 
kenden Dichter und ihre Werke vielleicht vermehren zu helfen, 
als welche mir in meiner Lesebibliothek das meiste Geld eintra- 
gen: und nur dieses letztere war der eigentliche Anlatf meiner 
Vertheidigung derselben, gar nicht aber niedriger Eigennutz. 



[VON DER GOTTLICHKEIT DER FURSTEN] 



Ich weis recht wol, was ich wage, daft ich in unsern Tagen, 
wo man mit einer bewundernswiirdigen Ubereinstimmung den 
Fiirsten die Menschwerdung anzumuthen sucht, [fiir] die Rechte 
ihrer hohern Natur das Wort fuhre. Ich erwarte auch fiir meinen 
freimiithigen Widerspruch von denen, welche die Fiirsten 
nichtfs] lieber als herabsezen, den ruhmlichen Vorwurf , daB ich 
die feile Vergotterung derselben den ausgearteten Alten nach- 
spreche. Allein die Sache der Wahrheit geht mir iiber alles und 

io auch iiber meine eigne Ehre; dazu gewinnet sie doch iiber kurz 
oder lang iiber die Mode die Oberhand und es konte dan viel- 
leicht auch kommen, daB man den eilfertigen Spot wiederruft, 
womit man sich an dem Freunde derselben vergieng. Vielleicht 
ist sogar, wenn ich nicht zuviel hoffe, diese gliikliche Zeit, wo 
man die Gotlichkeit der gekronten Haupter nicht mehr in Zwei- 
fel ziehen wird, schon nahe. Es gehe der Despotismus derselben, 
(ich brauche das Wort im besten Verstande) der von ieher die 
Menschen ihre hohere Natur kennen Iehren, nur in gleichem 
Schritte fort und nicht zuriik, so hoff ich, meines Alters unge- 

20 achtet noch selber ihre algemeine Vergotterung zu erleben. 
Vielleicht diirften dan manche Skribenten, die mich zum Marty- 
rer dieser Abgotter machen, die Opfer derselben zu werden sich 
entschliessen miissen. Ichmus iiberhaupt hier einen auffallenden 
Widerspruch aufdekken. Es ist namlich ausserst sonderbar, daB 
in unsern Tagen, wo die Thronen so sehr unter unsern Blikken 
in die Breite und Hohe wachsen, wo die koniglichen Arme sich 
so sehr verlangern und sogar vervielfaltigen und wo kurz die 
starksten Zeugen von der Gotlichkeit sich in immer grosserer 
Anzahl einstellen, daB sag' ich, gleichwol die Zal derer Skriben- 

30 ten noch gros ist und beinahe wie es scheint, eben da rum grosser 
wird, welche von der Natur derselben die unwiirdigsten und 



876 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

oft ruchlosesten Meinungen ausstreuen, daB mit dem Beweise 
ihrer Gotlichkeit zugleich die Zweifel daran und mit dem Des- 
potismus die Zal derer anwachst, welche die . . . verschreien. 
In der ganzen grellen Gestalt erscheinct dieser Widerspruch in 
Frankreich, welches den Montesquieu p. getragen, die die gotli- 
chen Rechte auf die bitterste Art angegriffen und die Sache der 
menschlichen Freiheit so gut verfochten haben als der Wiz eine 
schlechte kan. Die Ursache dieses Widerspruchs mag ich nicht 
aufsuchen, weil ich besorge, daB sie der menschlichen Natur 
nicht sonderlich Ehre machen mochte. - Allein ich wende mich 10 
nun zum Beweise, daB die Fiirsten wahre Gotter sind. Unter 
den erstern versteh' ich, wie man leicht errathen kan, iedes We- 
sen, was sich mit einer Krone bedekken und auf einen Thron 
sezen darf: doch mus ich den Rektor magnifikus ausnehmen, 
der auch auf einer Art von Thron sizet; aber die Fiirsten nehme 
ich nicht aus, ungeachtet man ihren Siz sonst nur einen Stuhl 
nante: denn man gestehet algemein, daB ihm der Name Thron 
mehr gebuhre, so wie umgekehrt der pabstliche Stuhl seinen 
Namen mehr verdient, dem man ein Bein nach dem andern 
ausziehet und von dem ich den Verlust des dritten beinah noch 20 
zu erleben gedenke. 

Eh' ich weiter gehe, mus ich vor alien Dingen sagen, was 
ich unter dem Namen Gotter verstehe. Und hier verhehF ich 
dem Leser nicht, daB ich ein volkommener Manichaer bin. Der 
Unterschied, den sie unter den Gottern festsezen, die sie in gute 
und hose eintheilen, dunkt mich eine der unwidersprechlichsten 
Wahrheiten zu sein. Auchist er ein Glaubensartikel der meisten 
wilden Volker. Selbst unsere Theologen, deren Ausspruch 
hieriiber doch wol das meiste Gewicht haben mus, scheinen, 
ob sie es gleich nicht ausdriiklich sagen, auch einen bosen Got 30 
zu glauben; ihr Teufel steht wenigstens in nichts dem urspriing- 
lichen bosen Wesen nach, das die Wilden glauben. Ich kan mich 
hierbei der Anmerkung nicht enthalten, daB wir unsre meisten 
Behauptungen auch bei den Wilden und Irglaubigen, wenn wir 
wolten, aber nur in einer rohern Gestalt antreffenkonten. Daher 
fuhrten auch sonst die Theologen die Beweise mit so vielem 



VON DER GOTTLICHKEIT DER FURSTEN 877 

Gluk, daB die ganze Theologie in der alten Gotterlehre verkap- 
pet stekke. Denn daran ist wirklich nicht zu zweifeln so wie 
an dem Schlus daraus, daB der Theologie durch diese entdekte 
Ubereinkunft nicht wenig Glaubwiirdigkeit zuwachse. Unfehl- 
bar wiirde ein Grieche diesen richtigen Schlus, wenn er dieselbe 
Ubereinstimmung seiner mythologischen Irthiimer mit den 
theologischen Wahrheiten wahrgenommen hatte, mit dem ganz 
unrichtigen erwiedert haben, daB daher vielmehr iene durch 
diese gar sehr bestatigt wiirden. - Diese Eintheilung der gotli- 

10 chen Wesen ist mir indeB zu meinem Beweise unentbehrlich. 
Denn unter der ersten Klasse konte ich den Regenten keinen 
Plaz ertheilen und hoffentlich traut mir auch kein Leser soviel 
Unsin zu. Auch giebt es deren nicht mehr als eines. Dazu ist 
sogar das Dasein dieses einzigen noch sehr zweifelhaft, ia, wenn 
anders die Weltleute hier ein Wort mitsprechen konnen, die doch 
die franzosische Philosophic wol innen haben, vollig unbewie- 
sen und unwahrscheinlich. Oberdies wiird' es mislich um die 
Achtung der Fursten stehen, wenn man ihnen nicht deren mehr 
zusprechen wolte als Got iezt gewohnlich erhalt. Ich bin daher 

20 vollig uberzeugt, daB man in Zukunft keine andern Gotter ver- 
ehren und glauben wird als die Fursten und so wie [man] eine 
Zeitlang iiber den guten die bosen vergas, iiber die bosen den 
guten vergessen wird. Man sieht demnach wol, daB ich die Re- 
genten in keine andere als in die Klasse der Gotter aufgenommen 
wissen wil, welche im ganzen Morgenland unter dem Namen 
boser Wesen so bekant und fiirchterlich sind. Doch kan ich einige 
der iezigen Regenten (deren Namen ich mit Fleis errathen lasse, 
weil ich vor nichts einen so eingesessenen Abscheu trage als 
vor Statsgefangnissen) nicht wol zu diesen Gottern mit schlagen; 

30 vielmehr kan ich sie ohne Nachtheil der Wahrheit fur nichts 
als fur blosse Stadthalter des guten Gottes erkennen. Ich werde 
im Folgenden die Volkommenheiten sorgfaltig aufsuchen und 
volstandig zu Haufe fiihren, welche die alten Skribenten den 
bosen Gottern beilegen; ich werde dan iedesmal zeigen, daB 
man sie in aller Ausdehnung alien Regenten, die ihres Namens 
wiirdig sind, nicht absprechen konne: so darf [ich], mislingt 



878 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

mir nicht alles, mit einigem Grunde hoffen, daB es der Leser 
nicht mehr fiir einen Ausbruch von poetischer Lobrednerei, 
noch fiir eine abgottische Schmeichelei, noch fiir ein der Ironie 
wegen ubertriebnes Lob, sondern fiir eine platte Wahrheit halten 
werde, daB ich behaupte, daB die Regenten wahre Gotter sind; 
Gotter, welche diese Erde vor andern Welten zu dem schonsten 
Schauplaze ihres Ruhms und ihrer Wirksamkeit ausgelesen, 
welche uns von ihrem Dasein durch erstaunjiche[n] Verande- 
rungen der Welt iiberzeugen, zu deren Ehre wir alle GJiedmassen 
und nicht bios Zungen und Riikken in die heftigsten Bewegun- 10 
gen zu sezen verb unden sind und welche uns gar wol in dieser 
Welt einen reins ten Vorschmak von der Holle geben konnen, 
die sie fiir uns in der kunftigen aufheben. 



ACHTE SAMLUNG MEINER BESTEN 

BONSMOTS; 

nebst einer Rede iiber die Bonsmots, in wekhe noch eine Rede uber 

den Fus eines Hasen eingeschaltet warden 



Es mus mir unangenehm sein, daB ohne mein Vorwissen von 
Zeit zu Zeit Samlungen von Bonsmots ans Licht treten, die 
man fur die meinigen ausgiebt und die doch grostentheils von 
fremden Verfassern herriihren; und erst vorgestern hatte ich die 
Krankung, eine solche Samlung von zwei Bogen auf dem Tische 
eines Biicherkramers fur gemeine Leute, neben Traum-, Histo- 
rien- und Liederbiichelgen mit ausgeleget zu sehen, welche fur 
sieben Kreuzer gelassen wurde. Ich versicherte ihn, daB ich nicht 
ein einziges Bonmot von alien denen, die mir darin zugeschrie- 
ben wiirden, fur meines anerkente; allein er blieb dabei, »das 10 
miisse er besser wissen als ich, ob ich sie gemacht: denn er habe 
sich sein ganzes Leben durch mit besonderem Fleisse und gewis 
nicht ohne Gliik auf die Kentnis der Namen von den Verfassern 
seiner Piecen geleget; daher ware es auch mir nicht sehr zu verar- 
gen, wenn ich nicht so genau wie er den Verfasser meiner Schrif- 
ten anzugeben vermochte. « - Dieser Vorfal und noch mehr die 
Bitten meiner Freunde haben mich bewogen, selber eine Sam- 
lung von meinen Bonsmots zu veranstalten und durch eine achte 
den unachten insgesamt das Handwerk auf einmal zu legen. 
Ich ubergebe sie hier dem Publikum und darf um desto mehr 20 
erwarten, daB es an der wahren ein ziemliches Vergniigen finden 
werde, da es dessen schon so viel an den untergeschobnen ge- 
funden. Die Rede iiber die Bonsmots, die ich hier voranstellen 
werde, sol hoffentlich die Samlung selber mehr zieren als verun- 
zieren. Ich habe sie neulich vor einer Geselschaft guter Freunde 
gehalten und sie wurde sowol von ihnen als von mir mit dem 
grosten Vergniigen angehoret: doch hier lese man sie selbst. 

Meine Herren! 

Eh' ich meine Rede iiber die Bonsmots anfange oder vielmehr 
fortseze, diirfte es wol nicht iiberfliissig sein, daB ich Ihnen ent- 30 
dekke, warum ich meine Miize auf dem Kopfe lasse; denn in 
der That, eigentlich soke ich sie abnehmen: die ganze Welt 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 8 8 I 

spricht nie anders als Chapeaubas und ein grosser Theil der Leh- 
rer der Redekunst behauptet sogar, daB ein Redner, der nicht 
auf einen ganz altaglichen, sondern einen etwas ungewohnli- 
chern Beifal ausgehe, nicht nur nicht den Hut, sondern auch 
nicht einmal den iCop/aufhaben diirfe. Und ich werde vielleicht 
selbst in dieser Stunde mehr als einmal Anlas nehmen, ohne 
Kopf zu reden. Ich komme aber davon ab, daB ich Ihnen sage, 
daB meine Muze unter die sogenanten Krdutermiizen gehoret, 
welche die Gelehrten haufig tragen, um sich das Gedachtnis 
10 zu starken. Mit der gegenwartigen f risen' ich nun auch meines 
auf, das einen solchen Helm so wenig entbehren kan, daB, fals 
einer von Ihnen mir diese Muze iezt mit Gewalt abnahme, ich 
dan nicht abzusehen vermochte, wie ich dan noch ein Wort 
weiter sagen konte: mein Gedachtnis wiirde auf einmal meine 
mit so vieler Miihe memorirte Rede iiber die Bonsmots fahren 
lassen und ich muste wirklich von diesem Stuhle, den ich unter 
einigen Hofnungen bestiegen, wieder hinunterspringen, ohne 
ein Wort mehr herausgebracht zu haben als etwan 

Meine Herren! 

20 Allerding lasset sich iiber die Bonsmots sehr viel sagen. Denn 
man kan nicht bios verschiedene wichtige Griinde aufstel- 
len, welche zum Vortheile derselben sprechen, sondern auch 
einige triftige Beweise beibringen, die ihren Unwerth meines 
Bediinkens volkommen ausser Zweifel sezen. Hoffentlich sol 
man bei mir weder die ersten noch die andern vermissen; und 
wenn ich iezt werde bewiesen haben, daB das Bonmotisiren 
gut und sehr gut ist: so werd' ich im andern Theile meiner Rede 
darthun, daB dieses gar nicht wahr ist und daB der erste Theil 
sich nicht so hoch gegen die Wahrheit hatte auflehnen sollen 

30 als er es leider! ietzt sogleich wirklich thun wird. Was die iibrigen 
viele Theile anlangt, die ich meiner Rede noch ansezen werde:-so 
kan ich iezt noch nicht voraussehen und voraussagen, was ich in 
ihnen vielleicht sagen durfte, doch soviel soke ich beinahe aller- 
dings prophezeienkonnen, daB ich darin wol etwas sagen werde. 
Man kan diinkt mich das Bonmotisiren nicht genug loben, 



882 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

wenn man bios seine gute oder seine Sommerseite vor Augen 
behalt. Wer sich auf dasselbe verstehet, komt liberal, wo es nur 
Ohren giebt, solten es auchkeine kurzen sein, ohne sonderliche 
Beschwerde fort und er kan wie der Papagai, bios mit seiner 
Zunge leicht sich Brod und einen Bauer schaffen. Denn man 
stelle ihn z. B. in die Schenke, so wird er sich in kurzem an 
der langsten Tafel zum Amte eines Mannes, der den beisizenden 
Bauern das Bier kredenzet, emporgeschwungen haben; und las- 
set er sich selbst einen Krug einschenken, so wird die ganze 
Geselschaft - er darf es nur verlangen - gern soviel zusam- 10 
menschiessen als er fur seine Zeche nicht bezahlen mag. Zuge- 
schweigen daB der Wirth ihn lieben wird, weil er die Gaste 
lustig macht; wiewol dieser ihn dabei doch heimlich geringscha- 
zet, weil er seinen Aufwand nicht mit eignem Vermogen be- 
streitet. Man verpflanze den Bonmotisten in die Bedientenstube: 
so hat er es in seiner Gewalt, sich unter seinen Mitarbeitern 
durch die Musik des Lachens, die er zu ihren Klagliedern iiber 
die Herschaft komponirt, algemein beliebt zu machen und ich 
wolte beinahe wetten, der Lakai thut zuweilen einen Gang fur 
ihn, der Koch ruft ihn zum Kosteri oder spielt ihm Speisen unter 20 
dem Vorwand ihrer Verdorbenheit in den Magen und wer weis 
was das Kammermadgen fur ihn thut, es miiste denn Empfind- 
samkeiten lesen. Allein ich mus ihm nun die Livree ausziehen 
und ihm ein hollandisches Tuchkleid anthun, damit ich ihn ohne 
daB es mir und ihm Schande macht, in ein vornehmes Speise- 
zimmer schikken kan. Ich habe ihn so weit gebracht, daB er 
iezt an einer ansehnlichen Tafel angesessen ist; wir wollen nun 
sehen, meine Herren, ob es ihm denn auch da gelingt? Wenig- 
stens braucht er nun schon da das Tischgeld in nichts auszahlen 
als in Bonsmots und wie ich merke zahlet man ihn selbst unter 30 
die feinsten Gerichte zum mindesten unter die Schaugerichte 
und er wird so gut mit aufgetischet als der ungerupfte Pfau. 
Sie werden noch wiinschen, meine Herren, unsern Bonmotisten 
auf einem hohern Posten, auf dem eines Gesandten z. B., zu 
finden, um zu sehen, ob ihm auch da sein Wiz so sehr zu statten 
komt wie liberal. Und dahinauf konnen wir ihn spielend befo- 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 883 

dern, wenn wir ihn nur an irgend eine Dame von Einflus ein 
wolgerathenes Bonmot (noch besser war* es, wenn er es in ein 
Madrigal transponirte) einzugeben zwingen. Mochten doch 
weniger selten sich dieses wichtigen Postens so wurdige Manner 
bemachtigen als unser Bonmotist (wie es sich iezt ganz wider 
unser Vermuthen zeigt) unstreitig ist! Denn nur selten wird ein 
GesandterdieBerichte, die er ieden Posttag an seinen Hof ablas- 
set, mit einem so breiten Rand von wizigen Flittergold einfassen 
als unsrer ganz unlaugbar thut, der sogar (wenn wir noch ge- 

10 rechter urtheilen wollen) in den seinigen Wahrheit und Kent- 
nisse so weit der schimmernden Einfassung zuzuriikken nothigt, 
daB sie zulezt kaum mehr zu sehen sind; und er schreibet seine 
apostolischen Briefe so schdn, daB er beinahe nur noch nothig 
hat, sie eng zu schreiben^ um zuwege zu bringen, daB sein Hof 
das Porto derselben sehr gern bezahlt. Ubrigens bringt er alle 
Hofdamen auf die Meinung, daB er einen grossen Verstand be- 
size, und verschiedene Hofleute auf die, daB er keinen habe; 
und ich wolte ihm beinahe versprechen, daB es ihm leichter 
als iedem andern sein wurde, sich bei einem ganzen Hofe in 

20 den Ruf eines Mannes zu sezen, der das gute Herz langst bei 
Seite geleget und der den Personen, die oft mit gesundcr Ver- 
nunft lastig zu fallen drohen, durch mehr nicht als einige Worte 
den Mund verschliessen konne. - Man seze ferner unsern Bon- 
motisten entweder als Professor auf den medizinischen Lehr- 
stuhl oder als offentlicher Wurmdoktor auf ein unbewegliches 
Pferd - auf beiden wird er scherzen und damit sich Zulauf er- 
schreien. - Warum wollen [wir] ihn nicht auch einen Zeitungs- 
schreiber werden lassen? Er wird wahrhaftig dem Amte eines 
Geheimschreibers der Fama keine Schande machen, es sei nun, 

30 daB er ausgeschriebene Liigen mit seinen Scherzen begleite oder 
daB er sie damit erseze. - Ich wiirde sagen, er konne eine Stelle 
neben den grosten Wienerischen Schriftstellern erhalten, wenn 
ihn nicht ein weit wiirdigeres Ziel an sich zoge, das, unsern 
besten komischen Schauspielern zur Seite zu sizen, indem er 
durch grobe Einfalle, die er in seine Rolle aus dem Stegreif ver- 
schwenderisch einstreuet, der Armuth oder dem Reichthum 



884 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

derselben an feinen des Dichters abhilft. Das wird man mir gerne 
glauben, daB niemand mehr als er im Stande ist, durch Zwei- 
deutigkeiten das Vergnugen einer ganzen Retoude zu machen 
und den Tanz durch seine Unterhaltung beinahe eine ganze halbe 
Stunde aufzuschieben; aber mit mehr Schwierigkeit werd' ich 
Sie das iiberreden, was doch eben so wahr ist, daB er, wenn 
er gehangen werden sol, vor iedem andern die Hofnung voraus 
hat, sich noch durch em glukliches Bonmot dem Strange zu 
entziehen: wenigstens liefert die Universalhistorie uns hievon 
die auffallendsten Beispiele, besonders die orientalische Univer- 10 
salhistorie. - Endlich verstehet er sich wol am besten auf die 
Verfertigung guter Schmeicheleien - dieser kostlichen Mundpo- 
made, wenn der andere viel gesprochen und die Lippen lange 
sehr angestrenget hat, so wie es fur das schone Geschlecht eine 
Handpomade giebt, den Handkus namlich. Denn der beschei- 
denste Man verzeihet die iibertriebenste Schmeichelei, die wizig 
ist: der Wiz derselben erleichtert ihm die Miihe, welche sonst 
Schmeicheleien so lastig macht, sie namlich auf eine Art zu be- 
an tworten, die den Zuhorer und den Verfasser derselben fur 
diesen Einbus ihrer Eigenliebe wieder schadlos halt und er kan 20 
sich mit vie] em Glukke stellen als ob ihn nur das Wizige, aber 
nicht das Schmeichelhafte des Bonmots vergniige und als ob er 
gar den Verfasser desselben stark in Verdacht habe, derselbe 
habe das leztere bios gesagt, um das erstere anzubringen. - Mit 
einem scherzhaften Einfal trostet man gemeine Leute weit kraf- 
tiger als mit einem ganzen Phalanx von Griinden; dieser iiber- 
waltigt ihren Unmuth nie, aber iener kan ihn zerstreuen. Ich 
hatte auch immer in dieser Lobrede auf die Bonsmots, die ich 
nun beschliesse, den Vortheil mit anf (ihren kdnnen, daB sie nicht 
vorher, eh' die Zunge sie ediret, die Zensur passiren miissen; 30 
Sie werden sich aber, meine Herren, verschiedener Bonsmots 
von mir erinnern, an denen Sie merklich fur ihr Vergnugen 
eben dadurch gewonnen haben, daB sie ans Licht oder vielmehr 
in die Luft getreten sind, ohne der Aufschrift im geringsten 
wiirdig zu sein: »mit Erlaubnis der Obern«. 

Ich habe den Bonsmots Weihrauch genug nun angeziindet; 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 885 

es ist Zeit, dafi ich auch meinen Teufelsdrek hervornehme und 
anbrenne, um den gehorigen Gestank dem Wolgeruche nach- 
steigen zu lassen. In der That meine Herren, gegen die Bonsmots 
lasset sich erstaunlich viel sagen, aber noch weit mehr gegen 
dieBonmotisten. Einblosser ganzer Bonmotist ist ein erbarmli- 
cher Man: denn er kan in keiner Einsiedelei gluklich leben, weil 
da niemand lacht und niemand belacht wird. Ich ersuche Sie 
daher auch, meine Herren, wenn Sie mit einem solchen Manne 
in Geselschaft sind, iiber alles, was er sagt, ungezwungen zu 

10 lachen: er ist sonst den ganzen Abend ein geschlagener Man 
und Sie sind schuld an seinem Elende. Den blossen Bonmotisten 
freuet in der ganzen, vor ihm an einem Sommermorgen aufge- 
schlagnen, und wie die goldnen Titelblatter alter geschriebener 
Biicher glanzenden Natur nichts als ihre Ahnlichkeiten mit der 
menschlichen Thorheit, aus denen er einige gute Gleichnisse 
zu verfertigen gedenkt; so fanden iene Irokesen nichts in ganz 
Paris ihrer Bewunderung wurdig als etwan die Garkiichen in 
der Strasse de la Houchette. Er kan von alien Dingen nichts 
brauchen als ihre Gebrechen und wenn er nach der Sonne siehet, 

20 so ists ihm nicht um ihren Glanz, sondern um ihre Flekken 
und Beschattungen zu thun; er macht aus den maiestatischen 
Bildergruppen, die die Natur von sich in sein Gehirn geworfen, 
kein Altarblat, sondern Vexirbilder und verwandelt geschikt 
Dekkenstiikke in Dosenstiikke. Die Freundschaft ist nicht seine 
Hausgottin und er ist allein, wenn er ernsthaft ist. Er zertriim- 
mert die Wahrheit selbst, wenn es darauf ankomt, aus ihr den 
Schimmer eines Kontrastes oder einer Ahnlichkeit zu schlagen, 
so wie man die Peylaischen Lichtgen zerbricht, damit sie auf 
Einen Augenblik zu glanzen anfangen. Der Anblik der Volkom- 

30 menheiten erhebet seine Sele nicht; sondern sie befindet sich 
bei demselben ausser ihrem Elemente. Kurz meine Herren, sa- 
gen Sie zuweilen ein Bonmot, aber werden Sie keine Bonmoti- 
sten und lassen Sie den Wiz nichts als hochstens den Zizisbeo 
der Wahrheit sein. Denn iiberdies ist nicht die Wahrheit, der 
gesunde Verstand und die gesunde Empfindung ein Falhut, der 
die Wunden von unserem Haupte abhalt, der Wiz hingegen nur 



886 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

ein Chapeaubashut, der den Kopf erfrieren lasset und den man 
traget, weil es die Leute sehen? ist nicht iene ein Panzerhemd, 
das beschiizet, und dieser nur ein feines Oberhemd, das verzieret? 
oder iene eine FeU- und dieser eine Puzkilche? und endlich iene 
eine Bouteilk alter Wein, welcher starkt und dieser eine blosse 
Riechflasche, aus der man nicht trinken kan und die man nur 
mit der Nase geniesset, oder auch ein Riechsak, an dem sich 
ein Frauenzimmer labet, da iene hingegen ein Strohsak ist, (ich 
konte auch sagen ein Kernsak, wenn es bekanter ware, daB die 
gemeinen Leute an gewissen Orten stat Stroh Obstkerne zum 10 
BetausfuHen , nehmen) auf dem man ausruhet, schlaft und 
traumt? Ja ist nicht selbst in allem diesem, was ich iezt gesagt, 
das Wahre, das darinnen liegt, unendlich besser als der Wiz, 
in den ich es kleiden wollen? Wenigstens komt es mir so vor. 

Ich habe im ersten Theile meiner Rede die Vortreflichkeit 
ernes Bonmotisten zu retten gesucht und im zweiten mir MCihe 
gegeben, sie wieder zu laugnen. Es ware lacherlich, wenn ich 
mir iezt das unzeitig bescheidne Ansehen geben wolte als ob 
ich nur im geringsten zweifelte, daB Sie sowol dem ersten als 
dem zweiten Theile von ganzem Herzen beipflichten: vielmehr 20 
muntert eben das Vergniigen, das ich aus Ihrer Beistimmung 
schopfe, mich zum Versuche auf, meine Rede noch mit einigen 
Theilen zu vermehren; und ich wil iezt, ohne fernere Vorrede, 
meiner Zunge ihren Lauf lassen: zulezt wollen wir denn schon 
miteinander sehen, in was fur Facher die Kostbarkeiten beizuse- 
zen sind, die die regellosen Bewegungen meiner Zunge etwan 
ans Land herausgespiihlet. Denn meine Herren ich kan sehr 
leicht bestimmen, was ich sagen wolte, wenn ich nur einmal 
so weit bin, daB ich es gesagt habe. 

Aber ich habe ia noch nicht mit Einem Worte erklaret, was 30 
ein Bonmot eigentlich ist; und bis ich diese Erklarung zu Stande 
bringe, hab' ich immer Zeit genug, mich auf etwas, das ich 
Ihnen sage, zu besinnen. Ich denke also iezt stilschweigend uber 
den Verfolg dieser Rede nach; meine Zunge aber mag Ihnen 
indessen eine gute Realdefinizion von den Bonsmots mittheilen 
und ich hoffe, sie sol sich aus diesem Geschafte auch ohne den 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 887 

Beistand des Gehirns gut ziehen: ist sie nicht alt genug, um 
allein zu laufen? 

Ein Bonmot ist nichts mehr und nichts weniger als ein Ta- 
schenspielerstiikgen, dessen Gliik auf seiner Geschwindigkeit 
beruhet und das die phlegmatischen Augen zu Narren hat. Doch 
kan es auch mit ienem Tische verglichen werden, den H. Loriot 
(wie Bjornstahl im ersten Theile berichtet) unversehends aus 
dem Boden mit den besten Speisen gedekt emporzusteigen no- 
thigt. Am besten ists indessen, man nent es einen deus oder 

10 auch diabolus ex machina. Lieber Himmel! ich erstaune ganz, 
wenn ich die Geschwindigkeit erwage, mit der der Bonmotist 
zu einer wizigen Ahnlichkeit, die vielleicht im entferntesten 
Welttheile seines Kopfes liegt, mehr hinspringet als hinreiset; 
und ich kan mich nicht enthalten, zu wiinschen, daB man auch 
an den Wagen der Psyche Schritzahler (Podometer) anzuschnal- 
len versuchen mochte: denn man wiirde dan den Weg sehr leicht 
berechnenkonnen, den sie zum Bonmot zuriikgeleget. Wer sich 
die Sache so vorstellet: im Kopfe des Bonmotisten halten die 
Ideen, gleich Grazien, einander alle bei der Hand - iezt springt 

20 der elektrische Funken des Wizes auf die erste, aber eh' man 
A sagt hat er schon das ganze Heer durchlaufen und ist zur 
lezten hinausgef ahren - wer sich die Sache so vorstellet, (wenig- 
stens stelle ich sie mir so vor,) der weis von der ganzen Sache 
gerade so wenig als der Geist, der nach dem Dolaus der Unter- 
handlerund Mittelsmanzwischen meiner Sele und meinem Ma- 
gen ist und er unterscheidet sich von den beruhmtesten Philoso- 
phen in nichts als daB er das in Metaphern erklaret, was diese . 
durchTermenerklaren . . . Meine Herren! ich habe nun beinahe 
sechs Minuten inne gehalten und ich dachte, Sie hatten mir Beifal 

30 genug geklatschet; ich weis zwar wol, daB ich einen sechsminu- 
tigen mehr als zu sehr verdiene, ia ich wil nicht laugnen, daB 
Sie vielleicht gar nicht unrecht thaten, wenn Sie so lange klatsch- 
ten als ich rede; wie gesagt, dieses tadele ich an sich nicht: allein, 
meine Herren, meine lieben Herren, die Wande haben Ohren. 
Wenigstens hat das halbe Duzend Rezensenten, das sich iezt 
zur Meszeit oben auf dem Boden aufhalt und theils von Korrigi- 



888 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

ren theils von schriftstellerischer Handarbeit ernahret, wenig- 
stens hat doch dieses Ohren und vielleicht keine kleinen. Sezen 
Sie nun, das obige halbe Duzend hat Ihr Beklatschen, wider 
das ich an sich (ich wiederhoT es noch einmal) gar nichts habe, 
vernommen und das hat es gewis; wie wird es wol Ihren lobred- 
nerischen Handen mitspielen, wenn es meine Rede (vielleicht 
wusten Sie auch nicht einmal, daB ich sie zum Druk befodern 
wil) zur Rezensur bekomt? Sie wird es noch mehr tadeln als 
mich: denn dem Beifalle hat es beinahe einen noch grausamern 
Tod geschworen als dem Schonen und ich habe schon mehrmals 10 
mich belustigt, daB ich das Beifalklatschen nattirlich nach- 
machte, auf welches alle sechse sogleich ganz erbost aus ihren 
Lochern hervorkrochen, fast so wie die Iltisse durch das verhaste 
Wezen eines Messers ans Licht gezogen werden. Darum mus 
ich an Sie die Bitte thun, (und hoffentlich werden Sie ihr Plaz 
geben) mit alien fernern Beifal mich zu verschonen; ich verspre- 
che, daB ich selbst an Ihrer stat mir ihn ertheilen werde und 
gewisse Veranderungen meines Gesichts sollen Ihnen dieienigen 
Stellen meiner Rede sichtbar genug bezeichnen, bei denen ich 
innerlich sage: »iezt werden diese geschmakvollen Herren dir 20 
in ihrem Herzen leisen aber aufrichtigen Beifal zuklatschen 
und sie sind gewis vor Vergniigen iiber dich ganz ausser 
sich. « 

Die Schnelligkeit, mit der Bonsmots im Kopfe aufschiessen, 
ist Ursache, daB nicht immer die Wizigsten die meisten sagen 
konnen. Es giebt Leute, die einen glanzenden und einen grossen 
Wiz besizen, aber einen, der Zeit haben wil, eh' er einen Schrit 
thut. Diese solten sich meines Bediinkens bei ieder Gelegenheit, 
wo sie ein ungebildetes Bonmot in ihrem Kopfe hiipfen fiihlen, 
wie die Elisabeth ihr Kind, eine halbe Stunde Bedenkzeit zur 30 
Geburt des Bonmots ausbitten; oder hah' ich denn nicht selbst, 
ungeachtet mein Wiz weit unter ihrem ist, neulich dem H. A. 
bei seiner Abreise versprochen: »mit der nachsten Post gedenk' 
ich Ihnen ein Bonmot auf diesen hochst lacherlichen Vorfal 
zu ubermachen, das ich wahrend dieses Termins, um Sie noch 
mehr zu iiberraschen, aus dem Stegreife verfertigen werde«? 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 889 

Und dieses macht den Unterschied des Englanders und Franzo- 
sen. Dieser ist nicht wiziger als iener; im Gegentheil es hat gar 
noch kein Franzos soviel und so glanzenden Wiz gehabt als ein 
Pope oder Young: nur aber ist die Sache so: der Englander ist 
im Buche, der Franzos in der Geselschaft wizig; der Wiz des 
einen ist ein Ziehbrunnen, aus dem das Wasser mit Miihe her- 
aufgehoben wird, der des andern ein Springwasser, das in die 
Hohe schiest und schimmert und platschert - und das aus dem 
natiirlichen Grunde, weil der englische besser als der franzosi- 

10 sche ist; iener arbeitet ganze Massen von Ahnlichkeiten heraus, 
dieser bringt es auf einmal selten weiter als zu Einer; iener schaft 
vielfiissige Vergleichungen, dieser etwan eine Antithese; iener 
bewegt sich mehr mit den grossen Flugeln der Phantasie, dieser 
mehr mit dem Springstok des Scharfsins. Die Geburten des er- 
stern sind daher zu gros, als daB er sie mit Leichtigkeit und 
Schnelligkeit gebiihren konte. Die Phantasie, die ihn wie gedacht 
auf ihre Fliigel nimt, kan dieselben nicht in Einem Augenblik 
auseinanderbreiten und sie mus zu ihrem Aufschwung erst aus- 
holen - vollends gar in Geselschaft, wo sie eigentlich sich nicht 

20 regen kan, wo alles sie fesselt und ihr der Spielraum fehlet - 
denn ieden Dichter driikt ein Visitenzimmer wie ein Gefangnis 
- wie wil sie da dem Wiz beispringen? Der ist also da auch 
tod und giebt kein Zeichen des Lebens von sich. Sezen Sie hinzu, 
daB der Englander in der That zu wenig redet; in Einem fort 
aber reden, ist das sicherste Mittel, ein Bonmot zu sagen, auch 
wenn man es nicht zur Absicht hatte. Durch die Zunge wird 
das Gehirn ofter in Bewegung gebracht als durch dieses iene; 
alle Ideen werden durch den aussern Larm munter und einige 
kommen zulezt aus dem Flugloche heraus, ich meine zum 

30 Munde. Wenn Pythagoras unter seinen Schiilern auch einfaltige 
hatte (und die philosophische Geschichte scheinet dieses nicht 
zu verneinen): so ist hundert gegen eins zu wetten, daB er sie 
durch sein immerwahrendes Predigen des Stilschweigens erst 
recht verdorben und in Stokbohmen verwandelt hat, da er doch 
aus ihnen, fals er sie nur halbwege zur Bewegung der Zunge 
angehalten hatte, mit leichter Miihe wenigstens iezige deutsche 



89O JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

- Damen hatte Ziehen konnen. Manche Leute schaffen nur Ge- 
danken, um sie zu sagen und mit ihrer Zunge stehet allemal 
auch zugleich ihr Verstand stille. 

Sie sehen daraus auch noch, daB iiberhaupt Geschwindigkeit 
und Ungefahr dem Wize nicht so zugehoren als man gewohnlich 
meint und es giebt sogar gewisse Kunstgriffe, die ihm nachzu- 
helfen dienen, gewisse Briikken, auf denen er zu den entfernten 
Ahnlichkeiten hiniibergelanget und die er nacbher wieder ab- 
bricht. Man hat eine Gedachtniskunst; man soke auch eine Erfin- 
dungskunst erfinden. Denn es giebt wirklich eine und ieder alte 10 
Autor bedienet sich im Stillen gewisser Handgriffe, womit er 
seinem Kopfe die Schopfung von manchen Schonhei ten erleich- 
tert oder ersparet. Allein er gesteht sie nicht; sein Ruhm litte 
darunter zu sehr. - Das Gedachtnis des Gelehrten ist ein Gastbet, 
das entfernte Ideen aufnimt und in dem sie schlafen; meine Her- 
ren, wenn nun diese Ideen auch erwachen - so weit bringt es 
vielleicht der langsame Wiz noch - was hilft es aber, solange 
als der Betaufhelfer mangelt, an welchem die Ideen sich gar auf- 
richten miissen? Solche Betaufhelfer mus der Gelehrte liberal 
an seinem Kopfe herum zu befestigen suchen: sonst bringt er, 20 
bei allem Reichthume an Stof zu entfernten Ideenverbindungen, 
niemals ein Einziges Bonmot hervor. Er hat in unsern Tagen 
aufgehdret, bios vor dem Pulte Gedanken zu haben: er mus 
auch aufhoren, bios vor diesem Einfalle zu haben; er mus, werm 
er dem andern Tobak prasentiren wil, nicht erst in eine grosse 
Miihle zu gehen brauchen, sondern eine kleine Rappeemuhle 
so fort aus der Tasche ziehen konnen; er mus liberal eine Hand- 
presse bei sich tragen, womit er in der Geschwindigkeit der Ge- 
selschaft mit einer saubergedrukten Piece aufwarten kan; und 
endlich, warum wil er seine Unfruchtbarkeit im Umgange da- 30 
mit entschuldigen, dafi er Feder und Dinte in der Studierstube 
gelassen, da er doch billig eine tragbare Schreibfeder mit Dinte 
sich solte angeschaffet haben, die iibrigens bei H. Scheller in 
Leipzig gern zu haben ist? 

Meine Herren! da ich vor nichts mehr mich so angstlich in 
Acht nehme - und meines Bediinkens soke ieder, er sei Schreiber 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 89 1 

oder Redner, es thun - als vor dem zu gewohnlichen Fehler, 
daB man sich selber nicht verstehet: so ersuche ich Sie iezt, mir 
zu sagen, was ich etwa mit demienigen haben wollen, was ich 
in der lezten Viertelstunde gesprochen; da Sie mich verstehen, 
so sah' ichs sehr gern, wenn Sie mich so weit brachten, daB 
auch ich mich verstande. Ubrigens konte es wahrend der Zeit, 
daB mein Gehirn in den wichtigsten aber auch abstraktesten 
Untersuchungen begriffen in meinem Kopfe da sas, sehr wol 
geschehen sein, daB meiner Zunge mehr als einmal Dinge ent- 

10 fahren waren, die eigentlich keinen rechten Sin geben; allein 
ist es auch so etwas ungewohnliches, daB man mit Verstand 
zu reden vergisset, bios weil er fiir sich zu scharf denket? oder 
ist nicht vielmehr das einzige Kenzeichen, aus dem man zuwei- 
len noch mit einiger Richtigkeit zu vermuthen im Stande ist, 
daB einer Philosophic d. h. einen Kopf habe, oft dieses, wenn 
er von Zeit zu Zeit ohne denselben zu sprechen scheint?- 

Was die Bonmotisten nun selber anlangt, so giebt es deren 
wol nicht mehr als zweierlei; leibliche und geistige. Der geistli- 
che fasset seinen Scherz in Worte, der leibliche in Handlungen; 

20 der erste greift den Gegenstand seines Spottes mit der Zunge 
an, der andere mit den Handen und andern Gliedmassen. Ich 
glaube ein guter Hanswurst ist das wahre Muster von einem 
Bonmotisten, an dem nichts scherzet als der Korper. Gliikli- 
cherweise sind die korperlichen Bonmotisten unter den Deut- 
schen gar nicht selten; es giebt wenige Geselschaften, die nicht 
einen oder etliche Manner aufzuweisen hatten, denen man eine 
unerschopfliche Fruchtbarkeit an den wizigsten korperlichen 
Bonsmots dergleichen z. B. sind »einem andern einen Hasenfus 
indie Tasche spielen oder auch Schiespulver in die Tobakspfeife 

30 und besondere Thiere in das Bier u.s.w.« auf den ersten Blik 
einraumen mus. Gliiklich preis' ich die Geselschaft, der ein sol- 
cher Man zu Theil geworden; noch gliiklicher, wenn sie auch 
noch einen Schmarozer hat, der seinen Korper gern ienem zur 
Handhabung uberlasset: denn wenn die Hasen mangeln, so ists 
dochalzeiteineschlechtejagd, man mag auch soviele Jagdhunde 
haben als man wil. - Wichtig ist ubrigens die Bemerkung, daB 



892 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

diese Art von Wiz, die gleich dem wahren Christenthum oder 
dem Unchristenthum, sich nicht in Worten, sondern in Werken 
zeigt, der eigentliche deutsche Nazionalwiz ist; unser Geist thut 
an Bonsmots es bei weitem unserem Korper nicht gleich und 
ich wiinschte sehr, man hatte das etwas mehr bedenken wollen 
als man leider! gethan: man wurde alsdan vielleicht das un- 
fruchtbare Unternehmen, mit dem Franzosen in der Art des 
Wizes, die ihm gerade die gelaufigste ist, namlich im geistigen 
oder wortlichen, gleichen Schlag halten zulernen, vielleicht langst 
aufgegebenund dafiir mit mehr Eifer das betrieben haben, dem- 10 
ienigen Wize den Schwung zu geben, in welchem unsere Anlage 
uns begiinstigt, dem korperlichen namlich. Unsere wizigen 
Schriftsteller haben uns wol zu diesem Wechsel mit unserem 
Wize gerathen und sie haben durch das Beispiel ihrer Schriften, 
in welchen eine ganz neue Art des korperlichen Wizes mit vollen 
Handen gestreuet war, ich meine Holzschnitte, besondere Let- 
tern, Apostrophen u. dergl., auf das auffallendste gezeiget, daB 
uns noch zum Anbau ein Feld des Wizes off en stehet, dessen 
Bearbeitung uns nicht fehlschlagen und gleichwol wenig oder 
gar keinen Wiz geistiger Art verlangen wurde; aber ich scheue 20 
mich fast zu gestehen, wie lange und wie wenig der Rath und 
das Beispiel dieser Autoren gefruchtet. 

Jezt werden Sie wol verstehen, was ich meinte als ich einst 
den Streit, den ich mit einem Franzosen iiber den Wiz seiner 
und meiner Nazion gefiihret, mit den Worten abbrach: » Mon- 
sieur, ich war lange in Frankreich; aber ich mus gestehen, ich 
habe in der ganzen Zeit nicht halb so viele Bonsmots gehoret, 
als ich bei uns an einem einzigen Aprilabende in einer vergniig- 
ten Geselschaft von Stummen sehen kan und schon oft gesehen 
habe; und ich trage selbst bestandig einen alten Hasenfus bei 30 
mir (hier zog ich ihn aus der Tasche) - Sehen Sie, dieser Fus 
da ist die Hauptstiize meines geselschaftlichen Wizes; ich rede 
nie viel und oft gar nichts, aber dennoch bin ich das Leben und 
die Sele verschiedener Geselschaften alhier, die den feinen Wiz 
iiber alles schazen. Aber Sie wissen wol nicht, daB ich diesen 
Ruhm bios dem geschikten Gebrauch des Hasenfusses, den ich 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 893 

Sie eben sehen lassen, verdanke? Ich habe einmal iiber diesen 
oft besagten Fus eine Rede gehalten, die mir ausnehmend gefal- 
len: diese Rede sezet nun das, was ich Ihnen iezt gesagt, in ein 
vortrefliches Licht. Ich wil sie Ihnen doch - ich habe ohnehin 
nichts zu thun - iezt auf der Stelle wieder halten. Belieben Sie 
nur etwan sechs Schritte von mir zuriik zu treten und ich wil 
versuchen, mich auf diesen hohen Kinderstuhl zu schwingen, 
damit ich iiber Sie gehorig hervorrage: leider! ist es nur gar 
zu oft die geringste Sorge der Redner, sich so zu postiren, daB 
stat der Rede wenigstens der Stuhl sie iiber den Zuhorer erhebe; 
und doch verlieret auch die erhabenste Rede auf einem niedrigen 
Stuhl. Ich hoffe aber, ich meines Orts size so hoch genug und 
schiesse merklich iiber Sie vor. - Das waren aber so vdllig meine 
damaligen Worte: 

>Meine Herren! 
Sie haben mich mit der grosten Hoflichkeit ersucht, Sie mit 
einer lobenswiirdigen Lobrede auf den Hasenfus, den ich hier 
in Handen halte und von Zeit zu Zeit mit einigem Anstand 
schwenke, aus dem Stegreif zu bewirthen und zu lezen. Und 
in der That verdienet dieser Fus, ohne welchen mir allem Anse- 
hen nach Ihre Aufheiterung und Belustigung diesen Abend nicht 
so ganz ausserordentlich gelungen ware, eine geschikte Lobrede 
mehr als zu sehr: doch verdiene auch ich nicht weniger eine 
und ich werde daher suchen, iezt mich und den Hasenfus zu- 
gleich zu loben und in des Ieztern Lorberkranz meinen eignen 
mit einzuflechten . - Ich kan nicht bergen, daB ich meinem Gros- 
vater vollig beipflichte, der mir den gegenwartigen Hasenfus 
stat eines Pathengeschenkes mit den besondern Worten zustekte: 
ich binde dir hier, mein Pathgen, meine satirische Ader ein: 
verliere diesen Fus - er ist von einem sogenanten Festhasen, 
den ich am Charfreitage geschossen - niemals, so wirst du liberal 
wilkommen sein; aber ohne ihn — wenigstens ist es schwer, 
wenn man nur mit der Zunge und nicht mit ihm bewafnet ist, 
eine gute Geselschaft dreimal zum Lachen zu bringen: denn was 
hangt man dem andern an den Rok, was stekt man ihm in die 
Tasche, was legt man ihm unter den Teller, wenn es dieser 



894 JUGENDWERKE ■ 3. ABTE1LUNG 

Fus nicht ist? Vielleicht zwar dies und das; allein der Hase wird 
derm doch dabei immer gar sehr vermisset. - Das sagtc mein 
Grosvater; ich aber schreite ohne Verzug zu wizigen Verglei- 
chungen des Hasenbeines fort. Verschaffe ich namlich nicht mit 
diesem Fusse meinem geselschaftlichen Wize einen seltnen 
Glanz und eine besondere Politur, so wie eben mit diesem Fusse 
der Gold schmidt beides dem Silberzeug ertheilt? ist er nicht der 
Schildhalter, nicht der Anker meines Wizes? thut er ihm nicht 
Hand- und Spandienste? Ich behaupte sogar, der gegenwartige 
Hasenfus ist nicht bios der Beinharnisch der Boksfusse meines Sa- 10 
tyrs, sondern auch der Kothurn, der ihn hebt. Man sage was 
man wil, gewisse Griinde lassen mir es nie ausreden, daB dieser 
Fus meinem Wize, der seine Insekten- Springfusse langst verlo- 
ren, stat eines angesezten Fusses von Silber oder doch stat eines 
holzernen Beines dienet. Und wie oft hab' ich nicht selbst in 
dieser Geselschaft die Thorheit und den Eigendunkel mit diesem 
Fusse sanft gekrazet und verwundet? Ich wiinschte nur, ich hatte 
die Liste der Erschlagenen und Blessirten, die meinen neulichen 
wizigen Si eg in der Stube unserer Wochnerin begleiteten und 
ausmachten, bei mir stekken: ich irre sehr oder Sie wurden dan 20 
nimmer zweifelhaft bleiben, ob ich, mit meinem Hasenfusse 
wie mit einem Seitengewehre bewafnet, nicht vielleicht mehr 
Feinde schlage als wenn ich in der Hand den Eselskinbakken 
Simsons, oder am Arme die eiserne Faust des Berlichingen hatte. 
Man bemerke ferner, daB ein Wiz, den man in einem Hasenfusse 
aufbewahret und herumtragt, einem Wize, der seinen Aufent- 
haltnur im Kopfe genommen, in gewissem Betrachte vorzuzie- 
hen sei. Denn nichts kan man leichter verlieren, leichter verder- 
ben als diesen und eine schlechte Verdauung kan eine 
Sonnenfinsternis im Gehirne bewirken; aber der Hasenfus und 30 
der Wiz darinne ist so vielem Mondswechsel, so vielen Gefahren 
nicht blosgestellet: freilich weis ich wol, daB ich, wenn Sie alle 
zu meiner Entwafnung zusammentraten, endlich auch mein 
Hasengliedmas und meinen darein verstekten Wiz muste fahren 
lassen - wahrhaftig ich wiirde dan in dieser Welt wenig mehr 
reden oder schreiben! - allein Sie thun es nicht. Dem Beinfras 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 895 

ist ubrigens gliiklicherweise ein todter Fus auch nicht unterwor- 
fen. - Voltaire gedenkt eines Prinzen, der in eine gewisse Dame 
sich verliebte und zwar nur in ihre Fiisse; stellen Sie sich mich 
unter dem Bilde eines Hasen vor: so wird es Ihnen mehr ein- 
leuchten, daB auch an mir kein Glied - ich nehme den Kopf 
am wenigsten aus - sich durch soviel Wiz empfehle als nur dieser 
Fus, den ich in Handen halte und der Kunstrichter, der nur 
auf Schonheit des Geistes und nicht der Gestalt zu sehen pflegt, 
kan in der That unter alien Gliedern, die ich von Hasen mir 

10 einverleibet, doch eigentlich nur auf den Fus seine Liebe wer- 
fen. - Auch fodere ich Sie zu Zeugen auf, daB seit dem Besize 
desselben keinem meiner Gleichnisse, die ich doch nicht sparsam 
ausspende, das vierte Bein gefehlet: sezte ich nicht iedem, das 
hinkte, den Fus des Hasen an? Dieienigen Syllogismen, denen 
ich durch ihn zu Hiilfe kam und zum dritten Fusse verhalf, so 
wie das Alter nach dem Odip den Menschen dreibeinicht und 
zum delphischen Dreifus machet, wil ich gar nicht erwahnen; 
nur an die unzahligen Syllogismen wil ich erinnern, die ich ver- 
mittelst des Hasenfusses in den Stand scztc, auf vier Fussen zu 

20 laufen. - Ex ungue leonem; d. h. aus dem blossen Lowenfusse 
merket man schon, daB man auf einem alten Grosvater- oder 
Lehnstuhl sizet; oder noch deutlicher und richtiger: wenn man 
von einem Geselschafter auch weiter nichts wiiste als daB er 
einen Hasenfus stets in der Tasche oder in den Handen - diese 
sind dan die Waffentrdger seines satirischen Wizes - fiihret: so 
konte man doch daraus schon muthmassen, daB er ein wiziger 
Kopf sein wird. - Schluslich haben die Evangelisten mit ver- 
schiednen Thieren sich in Kupfer stechen lassen, Markus mit 
einem Lowen, Johannes mit einem Adler, Matthaus mit einem 

30 Engel und Lukas mit einem Ochsen; was mich anlangt, so werd' 
ich, wenn ich fur das nachste Stiik der A. deutschen Bibliothek 
mich kopieren lassen werde, dem Maler zugleich mit einem 
Hasen sizen und ich werde in alien meinen achten Portraiten 
den linken Arm uber ihn wie iiber einen Schoshund legen. Denn 
(iberhaupt giebt es wol kein edleres Thier, als den Hasen, der 
unsere tapfersten und in die schreklichsten Lowenhaute montir- 



896 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

ten Krieger sowol mit dem Herzen als den Loffeln beschenket, 
versorget und ausriistet, und der seine Hare unsern Hiiten leihet 
und sonach unsere Kopfe eben so oft schmiikket und warmet 
als er sie fiillet. - Soviel hab' ich ungefahr zum Lobe des Hasen- 
fusses sagen wollen. Uberfliissig werd' ich dafur belohnet sein, 
wenn es mir gelungen ist, Ihnen und vielleicht auch den deut- 
schen Autoren durch diesen Fus wie durch den Arm eines Post- 
zeigers den Weg zum wahren Wize gewiesen zu haben. Solten 
Sie aber schon Wiz haben, so werd' ich wenigstens mich freuen, 
daB ich Sie veranlasset, demselben gar noch diesen nothigen 10 
Fus anzustrikken oder in einer andern Metapher Ihrem Wize diese 
Vorgespan oder Ihrem Satyr diesen Legestachel* der Bonmots 
anzuschaffen. Ich stekke iezt den Springstab, oder diesen Fus, 
an welchem ich meinen Wiz so lange und so heftig springen 
lassen, endlich in die Tasche und fasse das Lob des Hasenfusses 
in die nachdriikliche Frage zusammen: warum fuhren denn so 
algemein gerade die vorziiglichsten Menschen, die in deri fein- 
sten Geselschaften den Ton angeben, die in den vornehmsten 
Speisesalen essen und die von dem schonen Geschlechte am mei- 
sten geachtet und geliebet werden, den Namen Hasenfiisse? We- 20 
nigstens kan dieser Name doch nicht beschimpfen sollen, da 
ich selbst durch die gegenwartige Rede den Namen eines wahren 
Hasenfusses verdienet zu haben meine.<« 

Ich habe vielleicht zu lange von den korperlichen Bonmotisten 
geredet; eh' ich aber endlich zu den geistlichen ubergehe, wil 
ich fur die ein Paar Worte verlieren, die zwischen beiden das 
Mittel halten und bei denen zu einem Bonmot die Sele und 
der Leib zugleich mit wirkt. Z. B. der Hofmarschal Tax macht 
iezt eine Anmerkung, der man ohne Anstand den Rang eines 
Bonmots verstattet. Wizig ist sie indessen eigentlich gar nicht: 30 
alles, was seine Sele dabei that, war nur, sie mit einem etwanni- 
gen Sinne auszusteuern; allein nun legte sein Korper die zweite 
Hand an sie und ersezte ihr alien den Wiz, der zu einem Bonmot 



* Legestachel heisset bekantlich der Stachel am Hintern der Insekten, 
womit sie einen Aufenthalt fur ihre Eier graben und womit sie sie legen. 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 897 

ihr etwan abgieng, reichlich durch die Pantomime, mit der er 
sie gebar und durch seine Kleidung, die durch die Augen die 
Ohren bestach. Und iezt erst ist aus der Anmerkung des H. v. 
Tax ein Bonmot gewordqn, das vielleicht gern und gut zwei 
Tage am Hofe herumlauft. Ich nante erstlich die Kleidung: denn 
es giebt gar kein so leichtes und dabei so untriigliches Mittel, 
iiber die Einkleidung, die irgend iemand seinen Gedanken anle- 
get, ein richtiges Urtheil zu fallen, als daB man acht hat, wie 
er seinen eignen Korper einkleidet, oder wenn er ein Frauenzim- 

10 mer ist, ob es seine Wangen roth traget, ob es seiner Haut die 
Farbe der Unschuld kauft und ob es wol nicht schon gar unter 
der vorigen Regierung gedienet. Nach dem Korper schazet man 
das Weib, nach dem Kleide den Man. Als vor sechs Monaten 
der Minister fiel, erinnere ich mich, daB verschiedne feine Her- 
ren bei unserem Hofschneider wizige Einkleidungen der Re- 
marquen bestellten, die sie iiber ihn machen wolten: gleichwol 
sagte sein Nachfolger das beste Bonmot; allein ich weis auch 
von guter Hand, daB er es sich halb von Paris kommen lassen. 
Meine Herren, hier hatte ich vielleicht auffallenden Anlas zu 

20 allerlei Anmerkungen iiber die sogenanten Prachtgeseze, die wol 
offenbar auf nichts anders als unsere vollige Entkleidung ausge- 
hen; allein ich weis zu gut, wenn man schweigen mus, als daB 
ich iiber eine so kuzlichte Materie mehr bemerkte als etwan 
dies, daB freilich zu wiinschen ware, unsere Obern liessen uns 
die almalige Vervolkomnung unserer Kleider und folglich unse- 
rer Bonsmots mit den gehorigen Einschrankungen zu und ver- 
statteten dem Weteifer aller Stande, iiber einander im Wize her- 
vorzuscheinen, lieber alien volligen freien Lauf. - Zur 
Pantomime, die ich noch ferner den korperlichen Mitarbeitern 

30 an einem wizigen Einfal beigesellet, rechne ich den ganzen An- 
stand, womitmanden Korper, das Gesicht, den Stok, die Dose, 
die Uhr oder gar nichts traget und halt. Das Gesicht ist iiber- 
haupt der Prasentirteller unserer Worte besonders der Scherze; 
und sogar der lustige Schriftsteller gefallet uns nicht eher als 
bis wir ihm in unserm Kopf ein Gesicht stiikweise geliehen ha- 
ben: er fahrt libel dabei, wenn wir hernach entdekken, daB er 



898 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

gar nicht so aussiehet als wir ihn uns vorgestellet. Ich gehe viel- 
leicht zu weit, aber ich getraute mir fast zu wetten: wenn man 
sich die Miihe gabe, vom Kammerhern Fiou, an welchem unsere 
Damen nichts zu Keben vorgeben ajs den aufgewekten Kopf, 
etwan die Haltung seiner Figur, den Stok, die Tabatiere und 
zuweilen den Facher genau zu scheiden, und darauf nachzuse- 
hen, wie viel in ihm etwa noch Wiz zuriikgeblieben: so wiirde 
man mit Erstaunen finden, daB in der That gar nichts mehr 
da ware. Auf dieses Experiment griindet sich eine andere Muth- 
massung von mir, die im Anfange befremdend genug ist. Sie 10 
kennen alle denromischen Schauspieler Roszius, der den Korper 
des Zizero zum grosten Redner der damaligen Zeit gebildet. 
Dieser Man wuste in die Pantomime seiner Rolle soviel Ausdruk 
hineinzulegen, daft er mit den Worten selber kaum eben soviel 
sagte und seine Zunge zulezt audi gar abdankte, weil iedes Glied 
an ihm schon eine war: nur muste alzeit ein Sklave seine Panto- 
mime mit den Worten, die dazu gehorten, akkompagniren. Ich 
soke nicht meinen, daB unsere iezigen Korper diese Beredsam- 
keit ganz und gar verlernet hatten: und mich diinkt, zwar nicht 
unter den Schauspielern, aber doch unter Hofleuten giebt es 20 
solche Rosziusse noch gewis. Wenigstens hatte ich bei der neuli- 
chen Parforcejagd die Ehre einem gewissen Hern bekant zu wer- 
den, dessen Worte und Bonsmots so wenig eine Vergleichung 
mit den korperlichen Bewegungen, wodurch er sie veredelte 
und ersezte, aushielten, daB ich wirklich schworen wolte, die 
Bonsmots, die er ausdiinstet, wiirden wenig an Wiz verlieren, 
wo nicht gar daran gewinnen, wenn er es einmal versuchte, 
sie ohne den Beistand der Sprachwerkzeuge zur Welt zu bringen 
und wizig und stum zugleich zu sein: zum mindesten wolte 
ich doch dafur stehen, wenn er zwar nur Gestus machte, seinem 30 
Reitknecht aber doch erlaubte, wie Roszius dem Sklaven, sie 
mit denen Worten, ohne die man sie gewohnlich nicht gern 
lasset, zu begleiten: ich wolte, sag' ich, dafur stehen, daB er 
durch diese Annahme eines Sprechers, die ihm die Krafte, die 
er seither immer zwischen Rede und Gestus theilen mussen, 
nun bios auf die leztern zu wenden gestattete, nicht nur seine 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 899 

Bonsmots gar nicht verschlimmern - denn alien den geistigen 
Wiz, den er ihnen sonst etwa mit seiner Zunge zugetheilet, be- 
kamen sie nun eben so gut von des Reitknechts seiner - sondern 
auch so gar ansehnlich verbessern wiirde: denn ware ihnen nicht 
eine verbesserte Pantomime zugewachsen? »Unser Herr von 
Saflouhours (denn von diesem sprech' ich) ist seit einiger Zeit 
wirklich ein ganz anderer Herr geworden. Sonst war er zwar 
auch schon wizig; aber so sehr als ers iezt ist und bios seit der 
Zeit ist, da er stum geworden und seinen Reitknecht fur sich 

10 denken und reden lasset, so sehr war ers doch niemals. Und 
noch darzu, so feuert seine Satire in Einer Minute wol fiinimal. « 
So wird man liberal sagen und sich gar nicht irren. Ich soke 
freilich von dem Antheile, den ich der geselschaftlichen Panto- 
mime d. h. der Bewegung der Hande, Augen, Minen, Achseln 
u.s.w. an den wizigen Einf alien zuschreibe, nicht so gar lang 
reden; allein ein merkwiirdiges Beispiel von der Grosse dieses 
Antheils kan ich doch auch nicht Ihnen entziehen, zumal da 
es von mir selber hergenommen ist. Sie konnen mich iezt hof- 
fentlich alle sehen, meine Herren: hab' ich nun Unrecht, wenn 

20 ich behaupte, daB die Natur den Madensak, meinen Korper, 
weder durch Verdienste des Zeuges, noch der Naht und des 
Schnittes besonders ausgezeichnet? und scheint es Ihnen nicht 
auch, daB sie mich ihre Freigebigkeit gegen meinen Geist, die 
iibrigens, besonders in den Gaben des Tiefsins, sehr gros sein 
mag und die ich auch noch nie gelaugnet, durch eine eben so 
grosse Kargheit gegen meinen Korper wirklich ein wenig zu 
theuer hat bezahlen lassen? Denn wie viel fehlet, daB ich dem 
Elephanten eben so sehr an Plumpheit der Glieder ahnliche, als 
ich ihm an Gewandtheit des Geistes gleiche? Die Pflichten eines 

30 Redners unters*agen mir zwar, mich auf diesem Kriipel- und 
Rednerstuhle umzuwenden und Ihnen das Gesagte dadurch zu 
beweisen, daB ich Ihnen den Riikken zukehre, und ich mus mich 
bios mit der Hofnung begniigen, daB Sie die erste Gelegenheit, 
mich ohne mein Vorwissen von hinten zu sehen, dazu anwenden 
werden, an meinem Bukkel die Grosse zu entdekken, die Sie 
bisher bios an meinem Kopfe und seinen Gaben bemerket; allein 



900 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

diese Pflichten verbieten mir doch nicht, (denn sie heissen es 
mir) Ihnen meine Redners Gestus vorzumachen, um Sie damit 
wo moglich zu (iberfuhren, daB ich mich ganz ohne Grazie be- 
wege . . . Diese Gestus nun - ich habe sie Ihnen iezt vorgemacht 

- die einige meiner giitigen Freunde fur einen Beruf zur Kanzel 
ausgeben, die aber ich nur Primanern anempfehlen mochte - 
denn ich in meinem Rektorate brachte wirklich keinem meine 
Gestus bei, den sie nicht eben so gut liessen als die Valedikzions- 
rede, womit er sie begleitete und die ich gleichfals machte - 
diese Gestus wolt' ich sagen thaten mir sonst in alien feinen 10 
Geselschaften unermeslichen Schaden und waren die einzigen 
Ursachen, warum ich mich mit allem Wize des Geistes bei nie- 
mand in das Ansehen eines Bonmotisten zu sezen vermochte 
als etwa nur bei mir selbst. Gluklicher Weise legte mir einmal 
ein iunger Herr die simple Frage vor: wie viel ich denn wol, 
wenn man den wenigen Wiz, der an meinem Geiste schimmerte, 
hinwegnahme, noch Wiz iibrig zu behalten hofte, um auf den 
Namen eines guten Geselschafters Anspruch machen zu kon- 
nen?- Seit dieser Frage san ich auf bessere Mittel, ein aufgewek- 
ter Geselschafter zu werden; und ich ward es endlich auch wirk- 20 
lich. Ich richtete namlich einen Affen von meiner Statur und 
Gesichtsgestalt mit unglaublicher Miihe zu alien den korperli- 
chen Bewegungen und Geberden ab, dit man etwa zu einem 
guten Bonmotisten fodern kan. Ich stellete ihn gewohnlich vor 
mich hin und begleitete seine Bewegungen mit einigen Worten: 
oft unterlies ich auch sogar dieses und die Bonsmots des Affen 
wurden dadurch gar nicht dunklenoder schlechter. Dem Affen 
verdank' ich meinen ganzen Kredit bei den hiesigen Damen; 
weil er ihnen mit seinem Riikken, seinen Handen und seinen 
Augen die wizigsten Schmeicheleien sagte, neben denen ich fast 30 
nurzum Scherz die gehorigen Erlauterungsworte herlaufen lies. 
Ich bin daher auch iiberzeugt, daB meine Bonsmots sehr durch 
den Druk verlieren musten: der Affe wird ihnen immer fehlen; 

es musten denn die f einern Leser sie vor dem Spiegel deklamiren . 

- Wie sehr ware auch andern Mannern, die mit mir den Geist 
und den Korper des Asops gemein zu haben so ungliiklich sind, 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 901 

ein solcher Affe zu wtinschen, durch den sie ihren Wiz der fei- 
nern Geselschaft mittheilten! Nur sind Affen nicht immer fur 
Geld zu haben und bei wizigen Kopfen ist iiberdies selbst nicht 
einmal Geld zu haben. Wenn daher Personen, die mit den no- 
thigsten Eigenschaften eines Affen versehen waren (und an sol- 
chen fehlet es uns gewis nicht: ich nenne aber nur die gereisten 
Deutschen) sich bei wizigen Kopfen, die sich nicht wizig zu 
geberden wissen, fur Affen vermiethen wolten; wenn sie durch 
ihren korperlichen Wiz dem geistigen Wize derselben nachhal- 

10 fen, und wenn sie diese unpolirten Baren liberal dadurch emp- 
fohlen, daB sie die Affen derselben abgaben - wenn freilich alles 
dieses geschahe: so wiirde der Ruhm vieler Personen sehr dabei 
gewinnen, und meiner auch: denn ich habe die ganze Sache zu- 
erst in Vorschlag gebracht. 

Der Werth einiger anderer Bonmotisten lauft dahinaus, daB 
sie fremde Einfalle anbringen, nicht aber eigne erfinden, und 
ihr Gedachtnis macht ihren Wiz. Ich erinnere mich nie ohne 
Vergniigen, daB ich einen gewissen fiirstlichen Rath auf ein hal- 
bes Jahr zum troknen einfaltigen Geselschafter machte, indem 

20 ich ihm seine Bonsmotssamlung entwandte: doch hatte ich sie 
ihm kaum wiedergegeben, so war er schon der alte wizige Kopf 
wieder. - Noch ein anderer grabt sein Salz aus dem vortreflichen 
Vade Mekum. Wenn ich mit diesem in einer Geselschaft zusam- 
menzutreffen hoffe, so stekke ich das Vade Mekum zu mir: 
denn wahrend er die ganze Tafel mit den Scherzen desselben 
erheitert, so siz' ich stil und unbeweglich da und lese mit groster 
Aufmerksamkeit in meinem Vade Mekum die Scherze nach, 
die er der Geselschaft daraus vorleget und verschaffe meinem 
Vergniigen an ihrem Wize noch durch die beilaufige Verglei- 

30 chung einen ansehnlichen Zuwachs, die ich zwischen der ver- 
schiednen Weise anstelle, womit er und womit der Herausgeber 
des Vade Mekums den namlichen Einfal erzahlen: beinahe so 
machte ichs schon als Primaner, wenn ich in der Kirche war, 
wo ich immer in meinem Testamente die Spriiche griechisch 
nachlas, die der Pr^diger deutsch anfuhrte; eben so kauft man 
auch Opernbuchelgen, um die Oper den Sangern nachzulesen 



902 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

und lasset die Augen dieLtikken ausftillen, die das Ohr gelassen. 
Aber ich bin es sat, langer zu reden: sonst wiird* ich noch 
viel von den Bonmotisten sagen, die ihr ganzes Leben durch 
eine gewisse Zahl Bonsmots wiederkauen und sie mit stehend- 
bleibenden Schriften drukken; oder von den Wortspielern, die nur 
Worte paren und den Sin gleichsam an zwei Orten eingepf arret 
sein lassen; oder von denen, die sich bios mit einer eklen Fortse- 
zung guter Scherze abgeben, so wie gewisse Schriftsteller 
fremdc gute Biicher fortsezen, die ieden Einfal zur Selen- und 
Mundwanderung uin eine ganze Tafel herum, verdammen und 10 
die, wie die Mittagsglokke, das lange Gelaute noch mit dem 
Anschlagen verlangern; oder von denen, die das Wizige alzeit 
so sagen zu miissen glauben, daB man es nicht verstehen kan, 
die nur deutlich sprechen, wenn sie uns mchts merkwiirdiges 
sagen wollen und die der Meinung sind, dafi ieder Schleier eine 
Schonheit anmelde, daes doch auch Leichenschkier giebt, die ein- 
gefallene und ausgeloschte Reize bedekken; oder von denen, 
die ihren Stand und ihren Reichthum mit ihrem Wize in ein 
Biindnis treten lassen, die den Geselschafter, der in den erstern 
beiden unter ihnen ist, auch im dritten unter sich verlangen, 20 
ihm die Bewunderung und Wiederholung der Scherze, die von . 
ihnen gehen, abdringen und sonach servitutem cloaci auflegen; 
oder von denen, die das Salz nicht zum Wurzen, sondern zum 
Einbaizen anwenden, die iedes Visitenzimmer in ein Geiselge- 
wolbe* verwandeln und die durch die Hohe ihres Standes, von 
der sie ihre satirischen Pfeile auf den Untern abdriikken, sie 
defer in die Wunde eintreiben als ihre schlechte Scharfe allein 
thun konte**; oder endlich noch von andern Bonmotisten kont' 
ich reden, die mir iezt gar nicht einfallen. 

* So nent man in den Klostern den Ort, wo die Monche und Nonnen 30 
sich wegen ihrer Stinden gciseln lassen. 

** wiewol dieses im Grunde wirklich zu loben ist: denn die Natur 
weiset sie selbst dazu an, der Stumpfheit ihres Wizes durch die Hohe 
seines Herabwurfs abzuhelfen, weil von einem Vornehmern auch die 
stumpfeste Verspottung schmerzet. Im Ganzen genommen ist iedoch 
der Wiz der Hohen und Grossen auch der scharfste und am meisten 
im Feuer gehartet: so hangen an den hohen Baumen bios die harten 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 903 

Schliislich ist noch anzumerken, wie es bei den Alten ver- 
schiedene Floten gab - sie hatten Jungferfloten, Knabenfloten, 
Mansfloten, Hochzeitiloten, und Trauerfloten - und wie es bei 
uns verschiedene Biere giebt - wir haben Gesellenbier, Meister- 
bier, Arntebier, Hochzeitbier und Kindtaufsbier - oder wie der 
Lowe ein grimmiges Thier ist, also hat man verschiedene Bons- 
mots, Sommer- und Winterbonsmots, Retouden- und Tafel- 
bonsmots, Konigs- und Kriegerbonsmots und solche, die am 
Hochzeittage geboren werden, und Kavalier- und Damenbons- 

10 mots. Nur von den leztern wil ich anmerken, daB ich sie nicht 
wol leiden kan und die Damen brauchten einen, der sich bei 
ihnen erholen wil, eben nicht gerade damit zu unterhalten. Son- 
dern da es nun doch in unsern Tagen einmal zu einem ausge- 
machten Grundsaze gediehen, daB man, urn sich recht zu erho- 
len, ordentlich narrisch werden musse - »denn von keiner 
andern Kappe (man sage mir nichts von der Schlafkappe) kan 
eine Bischofsmuze abgeloset werden als von der Narren- und 
Schellenkappea sagt der Bischof - »und von keiner andern die 
schwere Kronen sagt der Regent - »und von keiner andern der 

20 Helm« sagt der Hauptman, der schon so lange bei mir liegt und 
mich beinahe aufgezehret - »uiid von keiner andern der Doktor- 
hut« sagt der Doktor- »und von keiner andern meine Taufmuze« 
die Dame - »und (wenn ich den Lorberkranz ausnehme) auch 
sonst von keiner andern meine grosse Krautermuze« sag' ich end- 
lich - da wir also - aber ich wunschte, Sie horten mich nicht, 
sondern lasen mich, damit Sie diesen langen Perioden noch ein- 
mal iiberlesen konten - algemein eins sind, die Erholung mit 
der Narheit zu vermengen: so wunschte ich lieber, die Damen 
befoderten die Erholung matter Herren stat der Bonsmots durch 

30 Erzahlung arabischer und hamiltonischer Mahrgen und saugten 
damit die alten Selen derselben, wie sonst ihre iungen: denn 
sucht nicht eben so ein gros gewachsener Mensch, der die 
Schwindsucht hat, den Busen seiner Amme wieder und wird 

Fruchte, welche auf den Untenstehenden mit dem doppelten Eindruk 
der Harte und der Hohe fallen. An niedrigen Baumen findet man bios 
weiche Fruchte, wie die Naturforscher langst bemerkt. 



904 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

zum saugenden Kinde, urn wenigstens nicht so bald ins Him- 
melreich zu kommen? - 



1. Satirische Bonsmots, 
dte tch bet vermischten gelegenhetten gesagt 



Ich mache eine Ausnahme von den gewohnlichen Spottern, die 
niemand so sehr mit ihren Bitterkeiten verfolgen als Apotheker 
und Arzte; und ich habe auch Ursache, sie nicht aufzubringen, 
da sie an meinem alten Korper, dem sie immer unentbehrlicher 
werden, so leicht Rache nehmen konnen. Daher ergrif ich in 
meiner lezten schweren Krankheit ieden Anlas, meinen Doktor 10 
zu loben, mit dem grosten Vergmigen. Ich nante z. B. die Arz- 
neiglaser nie anders als meine Gesundheitsglaser*; und gab damit 
fein zu verstehen, daB ich ganz der Meinung ware, iene thaten 
der Gesundheit eben so ansehnliche Dienste als diese. Und fast 
allemal, eh' ich meine Mixtur verschlukte, pflegte ich zu ihm 
mit unvergleichlicher Munterkeit zu sagen: »auf Dero Wolsein, 
Herr Doktor. « 



Man warf in meinem geringen Beisein einmal' die Frage auf: 
»warum unsere Geseze nicht auch wie die agyptischen, dem 
Ehebrecher die Nase nahmen?« Ich antwortete sehr gut: »weil 
die Ehebrecherin sie ihm schon meistentheils selber nimt.« Dar- 
auf brachen wir alle in die grosten Lobeserhebungen unserer 
Geseze aus, welche dem Ehebrecher stat der Nase gern nur das 
Vermogen nehmen. 



Als ich einstens sah, daB man eine hole Zzhnhdc mit B/e/ausful- 

* Gesundheitsglaser nent man bekantlich dieienigen, woraus man 
des andern Gesundheit trinkt und seine eigne vertrinkt. 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 905 

lete, um sie nicht schmerzhaften Beriihrungen blosgestellet zu 
lassen: rief ich ohne Bedacht auf einraal aus: »Solte nicht ieder 
von Ihnen, meine Herren, in dessen Kopfe Blei das Gehirn er- 
ganzet oder auch ersezet, dariiber ganz ausserordentlich froh 
sein, und dem Himmel dafiir danken, daB sein Kopf doch nicht 
hoi ist? Denn in der That er wiirde die Leerheit des Kopfes nie 

■ anders als mit Misvergniigen empfinden konnen. Was mich an- 
belangt, so wuste ich, im Falle ich den Stein der Weisen verlore, 
der in dem meinigen den Plaz des Gehirnes eingenommen, 

10 wahrhaftig nichts, was ich lieber an diese Stelle des Gehirnes 
sezen wiirde als BleL« Ich habe mir aber dadurch einige Feinde 
gemacht und mehr als einer von diesen Anwesenden hat mir 
schon gedrohet, meiner und dieses Buches in den besten gelehr- 
ten Zeitungen gar nicht zu schonen. 



Ich weis nicht wen ich den Hof einen Himmel nennen horte; 
genug ich pflichtete ihm volkommen bei, indem ich sagte: daft 
er gar wol ein Himmel genant werden konne in mehr als einerlei 
Betracht, ia in der That in dreierlei Betracht: denn in eben soviele 
Stokwerke theilen fast die Schulmeister insgesamt den Himmel 

20 ein, namlich in den Luft- oder Wolken-, in den Sternen- und in 
den Freudenhimmel. Warum wolle man nun aber nicht den Hof 
erstlich einen Luft-, Wind- und Wolkenhimmel nennen, da man 
ihm doch nicht nur alle Arten von Luft, sondern auch einen 
seltenen Oberflus daran allerdings zugestehen miisse? oder 
zweitens einen Sternenhimmel, da wenigen Rokken daselbst die 
schonsten Ir- und Wandehterne fehlen, welche leider! so weit 
von uns andern Leuten abstehen, daB ihr Licht seit ihrer Schop- 
fung gar noch nicht zu uns herunterkommen konnen? und end- 
lich drittens auch einen Freudenhimmel, da es da von Freuden 

30 ganz wimmele, die noch kein Auge von uns gesehen und noch 
kein Ohr von uns gehoret habe? Ich fiigte endlich hinzu, soviel 
sei wenigstens gewis, daB ein Hof ein wahrer limbus patrum* 

* Der limbus patrum ist der Ort, wo die Selen der frommen Juden, 
die vor Christi Geburt gestorben, hingekommen sind. 



906 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

sei, in dem lauter rechtschaffene Manner, die keine Christen 
waren, so lange sich aufhielten, bis sie von dieser Welt hinweg 
in den Himmel abgeruffen wiirden. 



Einbekanter und mit Recht geschazter Almanachsdichter fragte 
mich, wie er sein Bandgen ungedrukter Gedichte wol am 
schnelsten und besten von den vielen Flekkcn saubern konne, 
die es noch besudelten. » Auf eben die Art, wie man die kostliche 
und unverbrenliche Asbestleinwand reinigt, wenn sic beschmu- 
zet worden - sagte ich - man braucht sie namlich nur ins Feuer 
zu werfen.« Allein diese Reinigung stand ihm nicht an und der 10 
einzige Vortheil, den seine Gedichte von meinem Rathe zogen, 
war der, daB ich ihm dadurch Anlas gab, sie mit einigen sehr 
beissenden Epigrammen zu vermehren, die alle auf mich abzie- 
len und ohne Schonung die Fehler meiner Nase aufdekken. 



Das folgende ist zwar kein Bonmot, aber doch eine schone Rede. 
Ich fuhr vor funf Jahren mit noch sechs andern Belletristen auf 
der Donau nach Wien, des festen Vorsazes, mich da zu erschies- 
sen: ich wolte meinen Tod mit einigen Nebenumstanden beglei- 
xen und aufstuzen, welche mir die Bewunderung der ganzen 
Stadt Wien erwerben solten: denn ich war vollig entschlossen, 20 
mein Leben durch einen sonderbaren Tod in ein vortheilhaftes 
Lichtzu sezen. Allein im bekanten Donaustrudel lief en wir alle 
Gefar, zu ersaufen; man gab schon alles verloren und meine 
poetischen Gefahrten, weit entfernt, sich eine so gunstige Gele- 
genheit, Bilder zu kiinftigen dichterischen Beschreibung eines 
Schifbruchs einzusamlen, zu Nuze zu machen, iiberliessen sich 
einer unempfindlichen Trostlosigkeit: nur ich behielt Fassung 
genug, auf einen alten Tisch zu steigen und darauf folgende 
merkwurdige Rede an die sechs trostlosen Belletristen zu halten: 
»Meine Herren! ich wil geschwind reden, damit ich nicht mein 30 
Leben friiher endige als meine Rede. In acht Minuten sind wir 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 907 

ohne Zweifel alle ersoffen. Aber warum Sie deswegen Ihre Hei- 
terkeit verlieren, das seh' ich nicht ein. Sie haben meines Bediin- 
kens leicht sterben: denn Ihr Name lebt doch, wenn anders die 
vielen Almanache, in die Sie ihn verpflanzet, auf Unsterblichkeit 
desselben rechnen lassen konnen. Dazu solten Sie vielmehr die- 
sen ungewohnlichern Tod durch Schifbruch als eine Gelegenheit 
wilkommen heissen, in der andern Welt durch eine geschikte 
Bcsingung desselben, durch ein Leichenkarmen auf Ihren Kor- 
per Ihre poetischen Talente zu zeigen. Allein ich soke untrostli- 

10 cher sterben, weil ich unberiihmt sterbe: denn ich gehe erst eben 
nach Wien, um einigen Nachruhm zu hinterlassen, indem ich 
da boshafter Weise Hand an mein eignes Leben geleget und 
mich erschossen hatte. Gleichwol ziere ich sowol meine Minen 
als meinen Gang mit alien Zeichen der bewundernswiirdigsten 
Gelassenheit; aber schwer fallet es mir indessen doch, - ich ver- 
hehr es nicht - daB ich ersaufen mus eh' ich mich erschossen 
habe. Leben oder vielmehr sterben Sie wol!« Gluklicherweise 
ersof ich damals nicht nur nicht, sondern ich crschos mich auch 
nicht nachher: denn ich gerieth auf einen andern Weg, wodurch 

20 ich meinen Ruhm auf immer befestigte, namlich auf das Bii- 
cherschreiben, von dem wir beide, ich und mein Name, nun 
ganz gemachlich leben. 



Ich war einmal in einer Geselschaft Gelehrten, die alle an dem 
Obel der Zerstreuung siechten. Jeder sprach als wenn er allein 
ware und wir behandelten einander samtlich als Abwesende. 
Diese Zerstreuung nuzte ich, um einige sehr gute Betrachtungen 
iiber die Zerstreuung anzustellen; und ich rief endlich aus, daB 
die ganze Geselschaft, von der nichts als die Korper anwesend 
waren, zusammenfuhr: »meine abwesenden Herren, das Ge- 
30 sprach ist meines Bediinkens gleich dem Brief schreiben ein vor- 
trefliches Mittcl, (denn schwerlich giebt es ein besseres) sich 
mit Abwesenden zu untcrhalten und mit ihnen Gedanken und 
Worte zu wechseln.« 



908 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Fur etwas mehr als ein blosses Bonmot und (es gerade heraus 
zu sagen) fur eine ausserst gliikliche kritische Muthmassung 
mochte ich iene Frage gehalten wissen, die ich mir in einem 
Zimmer vol Damen entfahren lassen: ob namlich nicht vielleicht 
Goz von Berlichingen die ersten Blechhandschuhe getragen und 
erfunden habe? und ob sich dieses nicht wenigstens aus dem 
Umstande vermuthen lasse, daB er eine eiserne Hand gefuhret, 
als welche er sonder Zweifel in einen Blechhandschuh wird ein- 
gefassethaben, urn sie theils vor dem Erfrieren, theils vor Wun- 
den, teils auch vor dem Roste zu beschirmen? 



Ich kenne wenige Personen, welche von den Ahnlichkeiten, die 
sie umgeben, einen so gliiklichen Gebrauch zum Ausdrukke 
ihrer Empfindungen zu machen verstehen als ich: Nur Ein Bei- 
spiel. Ich und mein Gesicht, wir waren neulich in das sechzigste 
Jahr unsers Alters getreten, als wir beide so gluklich waren, 
die Liebe einer gewissen Schonen, die gewis einmal sehr iung 
gewesen, (wenn mich mein Gedachtnis und ihre eigne Versiche- 
rung nicht betriigt) und von deren Gesichte zwo Ausgaben vor- 
handen waren, eine auf feinem weissen Schreib- und eine andere 
auf schlechtem Drukpapier, auf uns zu ziehen. Ich hatte ihre 20 
Empfindungkaum gemerkt, als ich mich in meinen alten Tagen 
entschlos, sie zu erwiedern: aber sie merkte diese Erwiederung 
nicht und harmte sich iiber meine Kalte. Einst stellete ich mich 
auf einen grossen Pechkuchen und lies mich elektrisiren. Nun 
bin ich aber (das mus ich von mir ruhmen) gar nicht der Man, 
der mit dem Ather, der sich in ihm zusammenhauft, etwan sehr 
geizte: alle Anwesende lies ich aus mir elektrische Funken in 
groster Menge ziehen und die gedachte Schone durfte mich an 
zwei Orten, an dem Kinne und an dem linken Goldfinger beriih- 
ren. Diese Beriihrung begleitete ich mit einer Vergleichung, 30 
die ich eben gelobet habe: »Scheinet es nicht, sprach ich zu ihr, 
daB es mit dem elektrischen Feuer, das ich von mir lasse, nur 
gerade so beschaffen ist wie mit dem Liebesfeuer, womit ich 
ein weibliches Herz in Brand stekke? Denn beide Arten von 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 909 

Funken machen nicht bios der Person, in die ich sie fahren lasse, 
sondern auch mir, aus dem sie fahren, gar viele Schmerzen.« 



Vorgestern zu Nachts besuchte mich der Teufel einmal wieder; 
denn ich hatte ihn lange nicht gesehen. Ich bat ihn, wahrend 
ich meine bekante Lobrede auf den Engel Michael zu Ende 
brachte, sich die Zeit auf meiner Hausorgel zu vertreiben; und 
ich hatte hier Gelegenheit zu bemerken, daB der Teufel (viel- 
leicht wegen seiner Pferdefiisse) das Pedal sehr gut treten kan. 
Endlich kamen wir ins Gesprach. Er trat mit dem Versprechen 

10 hervor, sich mir in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Ich muste 
ihm meinen Stiefelknechthinlangen, auf welchem er zu meinem 
grosten Erstaunen ohne Muhe seine beiden Pferdefiisse auszog. 
»Das sind nur meine Halbstiefel oder mein Kothurn und mein 
Sokkus; in der That aber sind es die Brautigamsschuhe, die ich 
an meiner Hochzeit mit den Yahoos getragen.« Er stieg vom 
Stiefelknecht herab und erschien nun mit seidnen Strumpfen 
und iibersilberten Schuhschnallen. »In der That, Sie haben sich 
iezt auf einen merklich schonern Fus gesezet, Herr Teufel «: die- 
ses Wortspiel machte ich. Eben so leicht schuttelte er hierauf 

20 seine graslichen Horner herab, an denen er mich bemerken lies, 
daB sie eigentlich ein Paar gute Puherhomer waren, die einem 
Jager wie ihm unentbehrlich sind. » Ziehen Sie doch einmal mei- 
nen krummen Schwanz gerade« sagte er zu mir. Da ich es thun 
wolte, gieng er ihm aus und blieb mir in den Handen stekken; 
fast so wie mirs in meiner Jugend mit alien Schwanzen der Vogel 
wiederfuhr, die ich daran erhaschen wolte. Wir trugen den 
Schwanz mit einander ans Licht und hier entdekte sichs, daB 
er dem Hanswurst gestohlen war, der in dem leztern Jahrmarkte 
damit den Teufel vorgestellet hatte, Noch nicht genug: der Teu- 

30 fel fieng endlich an, almahlich seine Haut aufzuknopfen. Die 
Knopfe waren alle innen angebracht und giengen von der Achsel 
an bis zur Kniescheibe. Die behaarte schwarze Haut fiel von 
ihm herunter und er sprang mit den Worten aus derselben: »es 
ist dieses Gcwand zwar eine gute Seeuniform; aber ich werde 



9IO JUGENDWERKE • 3, ABTEILUNG 

es kiinftighin doch nur stat eines Pudermanteh brauchen.« Der 
Leser wird begierig sein zu wissen, wie nun der Teufel nach 
dieser Entkleidung aussah: ich weis aber nichts zu sagen als daB 
er gerade so aussah wie ein ordentlicher Mensch: doch hatte 
er in seinen Mienen viel von einem ostindischen Sklavenhandler; 
welches ich zu seinem Ruhme nicht verschweigen wollen. - 
Ich habe aber schon einigemale horen mussen, daB diese Er- 
scheinung und Entlarvung des Teufels hie und da in Zweifel 
gezogen wird; ich ersuche daher die ganze Welt, mich mit ihrem 
Besuche zu beehren: vielleicht bin ich dienstfertig genug, ihr 10 
die zwei Pferdefusse und die zwei Pulverhorner wirklich vor- 
zuzeigen. Den Schwanz aber hab' ich dem Hanswurste wieder- 
zugestellet und aus der Haut hab' ich mir ein Paar warme Pelz- 
striimpfe arbeiten lassen, von denen ich freilich nicht 
voraussagen kan, ob es ihnen die Welt wird noch ansehen kon- 
nen, daB sie sonst dem bosen Feinde zugehoret: ich kan es freilich 
noch wol. - Allein die Absicht, warum ich dieser Begebenheit 
hier einen Plaz verstattet, hatt' ich beinahe aus den Augen verlo- 
ren, namlich um dem Leser die Bonsmots, die ich dabei gesagt, 
mittheilen zu konnen: und hier thut es mir leid, daB ich ihm 20 
kein einziges vorsezen kan, weil ich sie ungliiklicherweise alle 
vergessen habe. Daher sen* ich iezt wol ein, daB ich ihm auch 
die Begebenheit nicht hatte mittheilen sollen. 



Bei einigen Personen sind die Speisen nur die Dekorazion des 
Speisesales und sie essen, wie die Schauspieler auf dem Theater, 
nur um der Zuschauer willen. Ich sas auch einmal an einer sol- 
chen Tafel, wo mehr der Stolz als der Magen genahret wird; 
allein ich sah bios auf den Vortheil des leztern und hielt meine 
Sattigungnur schlecht in den Schranken der modischen Lebens- 
art. Um aber doch nicht ganz ohne Rechtfertigung zu siindigen, 30 
brachte ich dies vor: »mich diinkt einem Christen, der in neuem . 
Bunde lebt und der das Zeremonialgesez langst von sich abge- 
schiittelt, mus das doch erlaubt sein was man schon einem 
h. David im alten Bunde gern verzieh. Ungliiklicherweise hab* 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 911 

ich auch wie der Psalmist David, aus Hunger die Schaubrodte 
angegriffen und sehr daran gezehret. Es komt nun darauf an, 
ob es mir eben so wie ihm verziehen wird; und ich wiinschte 
iezt freilich, meine unrechtmassige Sattigung wieder aufheben 
und ganz hungrig von der Tafel weggehen zu konnen.« Die 
unfigiirlichen und wahren Schaugerichte kamen alsdan auch und 
ich nahm da von Anlas, folgendes noch beizubringen: »meiner 
Meinung lassen sich die Schaugerichte fiiglich wol nicht in meh- 
rere als in zwo Arten eintheilen: in Schaugerichte, die man essen 

10 kan und die der Koch zubereitet, und in Schaugerichte, die man 
nicht wol essen kan und die von einem Kunstdrech[s]ler und 
Konditor am besten gekocht werden: die Schaugerichte der er- 
sten Art geniessen nur die Bedienten, als welche sie noch ver- 
dauen konnen; die von der andern Art werden von der Herschaft 
selbst genossen, welche wie ein platonischer Liebhaber, sehr 
wol vom Anschauen des geliebten Gegenstandes zu leben ver- 
mag.« Der Leser wird muthmassen, daB man einen Menschen, 
der wie ich mit sovieler Ungezogenheit isset und spricht, sofort 
wird zurThur hinausgeworfen haben; aber zum GKik fiir mich 

20 ist an dem allem, was ich geprediget zu haben mich iezt riihmte, 
nicht ein Wort wahr: ich habe, so etwas mundlich zu sagen, 
den englandischen Muth gar nicht, sondern nur den deutschen, 
es gedrukt zu sagen. 



Ich betrachtete mit einem Freunde die heiligen drei Konige aus 
dem Morgenlande und er bezeugte seine Verwunderung, daB 
immer einer von ihnen wie ein Mohr gemalet und abgebildet 
zu werden pflege. »Ich wundere mich auch, sagt' ich, aber nur 
dariiber, daB unter drei Konigen nicht mehr als Einer schwarz 
ist. « 



30 Ein iunger, reicher, aufgeblasener Laffe prahlte damit, daB man 
ihn in alle Geselschaften verlange »und ich kan doch, sezte er 
hinzu, auf einmal nicht mehr als in einer sein. Ich mochte zu 



9-12 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

manchen Zeiten meinen Fiissen wirklich ein Paar Flugel wiin- 
schen, wie Merkur sie hat - nicht urn von Ihnen etwan wegzu- 
fliegen, meine Herren, denken Sie das nicht von mir - sondern 
nur um liberal hinfliegen zu konneri. « Ich fiel ihm bei: »Einiger- 
massen entschadiget uns zwar die Munterkeit Ihrer Fiisse fur 
Ihre Fliigellosigkeit; aber doch wunscht' ich selbst, Sie konten 
fliegen und Sie verdienen vielleicht eben so sehr Flugel als der 
Distelsamen nur immer, der dadurch den Feldern erst recht nuz- 
bar wird.*« 



In einer Geselschaft geschminkter Damen wurde iiber die 
Schwierigkeit, Nazionalkleidungen einzufiihren, allerlei gesagt; 
ich laugnete diese Schwierigkeit, weil sogar schon verschiedne 
Gliedmassen der Damen zu einer Nazionaltracht sich von selbst 
bequemet hatten. »Haben nicht, fragt* ich, die Damen wangen 
schon langst eine algemeine Nazionalkleidung angenommen? 
alle vornehme Wangen durch ganz Europa hindurch tragen sich 
roth.« 



2. SCHMEICHELHAFTE BONSMOTS, DIE ICH GESAGT 



Ich gieng mit der Frau von G. in ihrem Garten spazieren, der 
so schon ist wie sie selbst. Dieser machte ich folgende Schmei- 20 
chelei: »Die Katholikenbehaupten, daB das Paradies noch stehe 
und von der Siindfluth nicht mit weggeschwemmet worden: 
ich glaube das selbst - wenn sie aber noch sagen, daB sich darin- 
nen Henoch und Elias bis zur Wiederkunft des Antichrists auf- 
halten: so ist das nicht wahr; denn meines Wissens ist niemand 
darinnen als ich und Sie.« Dieses Bonmot kan alien zu einer 



* Die Flugel des Distelsamens helfen dieses arge Unkraut durch den 
Wind auf alle Akker verbreiten. 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 91 3 

Richtschnur dienen, die Besizern schoner Garten auf eine wizige 
Weise schmeicheln wollen; ia man kan dasselbe wortlich nach- 
ahmen. 



Ein nicht sehr tapferer Edelman schlug auf seinen rostigen De- 
gen, den er in vielen Jahren nicht gezogen hatte, und sagte: 
»ich weis nicht, warum die Leute sich vor diesem Ding da so 
fiirchten; es thut ihnen doch nichts zu Leide, wenn ich es nicht 
bewege.« Um ihm zu schmeicheln, fiel ich ihm bei und sagte: 
»Vielleicht haben sie gleichwol nicht sehr Unrecht, wenn sie 
io sich vor diesem Dinge fiirchten: denn die Wunden, die es verse- 
zen kan, sind nicht am leichtesten zu heilen, wie ich mir von 
einem sehr geschikten Feldscherer sagen lassen*.« 



Ich hatte neulich die Ehre, unter einem halben Duzend Damen 
zu sein, die sich alle herzlich liebten: denn unter den Hofleuten 
ist die Freundschaft kaum so innig und rein als unter den Damen. 
Wir wurden miide, in Einem fort verniinftig zu reden, und fien- 
gen daher an, die alte Frage iiber den Werth beider Geschlechter 
zu verhandeln. Ich nahm die Parthei des weiblichen mit aller 
nur erlaubten Heftigkeit. »So wiinschten Sie also wol eine Dame 
20 geworden zu sein?« Auf diese schalkhafte Frage gab ich die auf- 
richtige Antwort: »um alles in der Welt nicht: ich konte ia dan 
keine mehr lieben.« 



Teh weis nicht, in welcher Geselschaft die Anmerkung gemacht 
wurde, daB die Amazonen sich die rechte Brust weggeschnitten, 
um Pfeil und Bogen leichter zu handhaben. Ich versezte sogleich: 
»das lass' ich zwar gelten; aber ich wolte doch wetten, hatten 



* Bckantermassen sind keine Wunden schmerzhafter und gefahrli- 
cher als die, welche mit stumpfen und rostigen Waff en geschlagen wer- 
den. 



914 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

sie mit dem Bogen Amors auf die Manner geschossen, diese 
Verstumlung ware nicht nothig gewesen und sie wiirden sie 
mit den Pfeilen Kupido's eben so gut getroffen haben, ungeach- 
tet ihr Busen ganz gewesen ware.« 



Eine sehr blatternarbigte Dame klagte uber die vielen Feinde, 
mit denen ein schones Gesicht zu kampfen habe, und endigte 
zulezt mit den Worten »und gar die Blattern! die groste Schon- 
heit besiegt die nicht. « - »Dennoch, erwiederte ich, kenne ich 
eine gewisse Schonheit (Sie haben sie vielleicht noch ofter als 
ich gesehen), die sich von diesen wichtigen Feinden wenigstens 10 
nicht so leicht besiegen lies, sondern ihnen starken Widerstand 
entgegensezte: das beweisen die vielen ruhmlichen Narben von 
vornen, die sie seitdem an sich herurntragt. « Sie lachelte; ich 
vermuthe daher, dafi sie mich verstanden. 



3. BONSMOTS, DIE ICH IM TRAUME UND SCHLAFE GESAGT 



Mir traumte einmal, ich hatte mich aus Verdrus iiber die Rezen- 
senten gehangen. Endlich kamen Leute, die sich aus gewissen 
Vorurtheilen noch bedachten, mir durch schleunige Abschnei- 
dung das halbverlorne Leben zu retten: diese munterte ich zu 
meiner Belebung durch folgendes Bonmot auf: » Wenn ihr nicht 
geschwind den Strik zerschneidet, so zerschneidet die Parze, 
die ihr noch von der Schule her kennen soltet, den Faden meines 
Lebens.« Indessen ist die Schonheit dieses Einfals nicht der ein- 
zige Bewegungsgrund zu seiner Mittheilung: ich wolte vielmehr 
mit demselben noch von den Tragodienstellern den Tadel der 
Unnaturlichkeit abschieben, womit die Rezensenten sie so gerne 
belegen, wenn sie sterbenden Personen die bliihendsten Meta- 
phern und die wizigsten Einfalle in den Mund spielen. Denn 
mein Beispiel kan einigermassen beweisen, daB dieses nichts 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 9 I 5 

weniger als unnatiirlich und unmoglich ist: hieng ich nicht schon 
am Aste, hatte ich nicht schon die Sprache vollig und das Leben 
beinahe verloren und (was die Sache noch um vieles wunderba- 
rer machet, weil der Traum uns sonst gar wenige verniinftige 
Dinge sagen lasset) war ich nicht im Traume, als ich dennoch 
mit einem der schonsten Bonsmots mich horen lies? Wenn ein 
Tragodiensteller eben dieses einen aufgehangnen aber doch wa- 
chenden und seiner Zunge noch machtigen Helden hatte sagen 
lassen: wie wiirde nicht ieder iiber Unnatiirlichkeit geschrieen 
io haben? 



Mirtraumteeinmal, ichsasseauf dem Geburtsstuhle meiner Frau, 
und der wiirde zu einem Kinderstuhle ; und der Kinderstuhl 
wiirde zu einem Furstenstuhle (aber dergleichen giebts ia in un- 
sern Tagen nicht mehr: der Kinderstuhl wird also wol vielmehr 
zum romischen Stuhle geworden sein) und der romische wiirde 
zu einem Kirchenstuhle ; und der wurde, da ich aufwachte, zu 
m einem alten Lehnstuhle, auf dem ich am Tage schlafe; und der 
Lehnstuhl wurde, sobald ich die Feder ergrif und diese Erzah- 
lung fur meine Leser niederschrieb, der Lehrstuhl der ganzen 
20 Welt, der er noch ist. Die fiinf Bonsmots, mit denen ich die 
fiinf Verwandlungen meines Stuhls begleitet, darf ich dem Leser 
wol nicht erst erzahlen, da er sie ohne Zweifel schon unter der 
Lesung meines Traums sich hat traumen lassen. 



Mir traumte, ich hatte bei dem Fiirsten ** um den Kammerhern- 
schlussel angehalten und mein Gesuch mit folgenden Griinden 
unterstiizet: ich brauchte einen solchen Schliissel, weil ich erstlich 
einen Hauptschlusselbr&uchte, um den Geldkasten eines gewissen 
Kaufmans zu meinem grosten Nuzen aufzusperren, den ich 
sonst entweder mit einem Dieterich oder gar mit einem Brechei- 
30 sen zu erofnen genothiget ware - ich miiste zweitens einen haben, 
weil meine Siinden und vorziiglich meine Schwachheitssiinden 
unzahlig waren und ich also keine Stunde ohne einen Loseschlils- 



gi6 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

sel leben konte, zumal da mir der Teufel mit dem Bindeschlussel 
drohte - ich miiste drittens einen haben, weil ich das Schlos (des 
Stilschweigens) langer auf meinem Munde zu tragen miide ware 
und iiberhaupt mich entschlossen hatte, kiinftighin gar sehr viel 
und noch weit mehr zu reden als andere oder auch ich selbst 
denken, dieses Schlos aber Iasse sich, wie ich an meinen Vettern 
gemerket, durch diesen Schliissel am besten aufschliessen - und 
viertens und Ieztens miiste ich durchaus einen Kammerhern- 
schliissel haben, weil ich sonst (wie ich doch gesonnen ware) 
unmoglich in Deutschland die Schlafgemacher und in Indien 10 
und Italien die Schlosser der infibulirten Weiber leicht aufzusper- 
ren im Stande sein wiirde. Der Fiirst bewilligte meine Bitte, 
weil sie (was noch nie erhoret worden) in vier Bonsmots abge- 
fasset war. Der Leser merkt aber ohne mein Erinnern, daB auch 
dieser leztere Periode mit zum Traume gehoret: denn in der 
That welcher Regent wiirde Bonsmots mit Kammerhernschliis- 
seln belohnen? Diese miissen grossern Verdiensten bleiben. Ich 
wil zwar nicht sagen, daB sie bios dem grosten Verdienste, das 
sich ein Man wenn nicht um das Vaterland, doch um den Vater 
desselben nur erwerben kan, als ein ausschliessender Lohn ge- 20 
weihet sein solten, ich meine ienes Verdienst, wenn man in dem 
Vater des Vaterlandes die Liebe gegen den schwachern, zartli- 
chern und schonern Theil seiner Unterthanen nach besten Kraf- 
ten begiinstiget, es sei nun daB man ihr Docht zum Ursprunge 
oder Ohl zur Nahrung liefere; denn in der That die Gelegenheit 
zu diesem Verdienste fallet nur gar zu Wenigen zum Loos und 
der Kammerhern wiirde zu wenig werden, wenn ihrer nur so 
viel als dieser Gluklichen werden soke; aber das mocht' ich doch 
wiinschen, daB dieser Schliissel wenigstens nicht an Rokke ohne 
alles Verdienst (sowol der Farbe als des Zeugs) geheftet wiirde, 30 
ia wenn ich Fiirst ware, ich wiirde mit ihm nur die beehren, 
denen man algemein ausgemachte Verdienste im Reiten zuge- 
stiinde: dennbedenket man es denn gar nicht, daB dieser Schliis- 
sel seinen ursprunglichen Endzwekken nach ein Uhrschliissel 
sein sol, der das abgelaufne Verdienst wieder aufziehet, und 
nicht etwan bios ein gemeiner, sondern ein ganz besonderer 



SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 9 1 7 

Uhrschliissel, dergleichen nur der vom londonschen Uhrma- 
cher Thorogoed erfundne ist, durch den kein Staub beim Auf- 
ziehen ins Uhrwerk komt, und den man von der rechten zur 
Hnken und von der linken zur recbten und ohne Gefahr, die 
Feder zu sprengen, drehen darf? - 



Mir traumte einmal, ich sprache mit einem Morder und Rauber, 
der sich ungefahr so lobte und rechtfertigte: »Die einzige Beru- 
higung, die ich mit aus der Welt zu nehmen hoffe, ist die, daB 
ich meiner Mordthaten ungeachtet doch niemals in meinem 

10 ganzen Leben iemand Unrecht gethan oder wissentlich wider 
mein Gewissen gehandelt habe. Ich habe in meiner Jugend in 
einem europaischen Kriegsrecht gelesen, daB nichts widerrecht- 
lichers sei, als mit gehaktem Blei auf den Feind zu schiessen. 
Dieses Verbot hab' ich wol nie aus den Augen gelassen, und 
ich darf mich riihmen, daB ich keinen von alien den vielen Rei- 
senden, die ich todgeschossen, anders als durch gute Biichsen- 
kugeln erleget habe. « War' ich nicht erwacht, so hatt' ich ctwas 
darauf geantwortet. Gleichwol sez' ich das, was ein Rauber ge- 
sagt, unter meine Bonsmots: denn ich bin der Meinung, daB, 

20 weil alles nur in meinem Kopfe vorgieng, es eben so yiel ist, 
als ob das, was der Rauber sagte, von mir selbst gesprochen 
worden und ich hatte cs ihm gewissermassen diktiret. 



UNPARTHEIISCHE BELEUCHTUNG 
UND ABFERTIGUNG 

der vorzuglichsten Einwiirfe womit Ihro Hochwurden meine'auf der 
neulichen Masker ade gedusserte Meinung von der Unwahrscheinlich- 
keit meiner Existenz schon zum zweitenmale haben umstossen wollen; 

auf Verlangen meiner Frcunde abgef asset unci zum Druk befor- 

dert vom Teufel. Hof, im Vierlingschen Verlage, gedrukt in 

diesem Jahr* 



* Ich habe mich oben bei dem Lescr zwar entschuldigt, daB ich eine 
Arbeit, welche der Teufel drukkenlassen, unter die meinigen aufnehme; 
aber ich hatte unstreitig besser gethan, lieber diesen urn die Verzeihung 
eines Nachdruks zu bitten, bci welchem iener (wie ich bescheiden genug 
bin, zu gestehen) vielmehr gewinnen mus. - Den auswartigen Leserri, 
die vielleicht den Namen des Superintendenten, gegen welchen der Teu- 
fel die Feder ergriffen, nicht kennen, weil ihn Meusel »in seinem gelehr- 
ten Deutschland« ganz vergessen hat, dienet zu wissen, daB er sich Sta- 
pelhaselius schreibt. Der Leser wird iibrigens ohne mein Erinnern schon 
merken, daB die Stadt Hof, welche der Teufel als semen Verlagsort 
namhaft macht, nur eine scherzhafte Erdichtung sein sol; denn es giebt 
bekantermassen keine Stadt dieses Namens und man wird sich also die 
vergebliche Miihe ersparen, darnach eine Reise mit den Fingern auf 
der Landkarte zu unternehmen. Die Buchhandlung aber, welche der 
Titel noch nent, existirt wirklich und ist in Hof. 



Dedikazion an den Hern von W..t...r....h..s..n 

Ich war nicht so gluklich, Ew. Exzellenz xmttr meinen Zuhorern 
auf der neulichen Retoude zu sehen; daher mdcht' ich Sie wenig- 
stens an der Spize meiner Leser finden. Und bin ich anders (wie 
ich doch sehr zu vermuthen berechtigt bin) der erste Teufel, . 
der eine Zuschrift macht, so wird die Neubegierde, zu wissen, 
wie stark der bose Feind, der Vater der Liigen, auch im Dedizi- 
ren sein moge, Ew. Exzellenz gewis zu meinem Leser machen. 
Um Ihre Neubegierde aber nicht zu misbrauchen: schikke ich 
Ihnen nur die Zuschrift ohne das Anhangsel, mit welchem mein 
Verleger sie verkauft. Der pedantische, polemische und lang- 
weilige Ton, worin dasselbe den Superintendent Stapelhaselius 
widerlegt, wiirde bei Ihnen nicht sehr zu seinem Vortheil spre- 
chen; und es ist uberhaupt nur der Aufmerksamkeit derer, die 
es verfluchen werden, aber spnst keinen Dreier werth, wiewol 
es im Buchladen nicht unter viere erlassen werden kan. Daher 
mir nichts unangenehmer sein wiirde als wenn Ew. Exzellenz 
es doch aus demselben sich bringen liessen. 

Das Dediziren, sagt Furetiere, hat ein Betler erfunden. Er wil 
damit wol nur sagen: »ein Poet«; denn die Ahnlichkeit, welche 
beide miteinanderim Singen, Bettelnund Stehlenhaben, gestattet 
es wenigstens recht gut, unter dem einen den andern zu verste- 
hen. Lasset man nun den Dichter fur den Erfinder der Zuschrif- 
ten gel ten, so kan man aus dem, was Horaz singt, 

poetis 

Quidlibet audendi semper fuit potestas 

auf das Natiirlichste erklaren und rechtfertigen, warum ordent- 
licher Weise kein wahres Wort in denselben steht; die Tugenden 
etwa ausgenommen, welche darin an dem Mazen gefunden und 
gepriesen werden. Denn was diese anlangt, so werden wol nur 
Wenige nicht zugeben, daB sie im vollesten Masse und in groster 
Menge ohne sonderlichen Nachtheil der Wahrheit dem Gonner 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 92 1 

zugeschlagen werden konnen. Sovielweis schon doch fast ieder 
und hat es langst vergessen, daB der Zueigner, der nur einmal 
Eine Tugend seines Gonners, namlich die Freigebigkeit, vollig 
ausser Zweifel sezen kan, sogleich das Dasein der (ibrigen als 
volkommen erwiesen vorauszusezen und nach dem eben so be- 
kanten als wahren Grundsaze des Stoikers berechtigt ist, »daB 
wer Eine Tugend hat, die iibrigen alle besize.« 

Allein nur ein anders ist ein Poet, ein anders der Teufel; und 
ich bin nichts weniger als wie der Dichter ein armer Teufel. 

10 Auch die.gemeinsten Leute werden es Ew. Exzellenz sagen kon- 
nen, daB dieienigen unter den Geistern so wie unter den Men- 
schen aus der Lotterie des Reichthums das grosse Los gezogen, 
die man die bosen nent; und woke ich alle die Personen anfiih- 
ren, die ich gegen einen mit rother Dinte (und nicht mit Blut, 
wie doch einige wollen: denn damit werden nur Friedenstraktate 
unter zeichnet und ausgestrichen) geschriebnen Schein mit Scha- 
zen gleichsam uberschuttet habe, so wiirden Sie iiber meinen 
Reichthum so wie uber meine Uneigenniizigkeit vielleicht in 
einiges Erstaunen gerathen. Ich kan daher zwar den Schriftstel- 

20 lern, die mich wie der Kaiser Wenzel den Henker zu Gevattern 
bitten und mir ihr geistiges Kind venchreiben und zueignen wiir- 
den, eine Erkentlichkeit vom grosten Gehalte versprechen (und 
ich wiinsche diesem Winke zu ihrem und zu meinem Besten 
seine Wirkung); allein iiber die Nothwendigkeit, sie nachzuah- 
men, bin ich eben darum so weit hinaus, daB ich mir vielmehr 
die Freiheit nehmen wiirde, Ew. Exzellenz selbst mit einigen 
Hekthalern fur die Lesung meiner Dedikazion zu danken; hatten 
mir sie nicht die Akademien, um sie in Medaillen umzuschmel- 
zen, alle abgenommen.* 

30 * Der Teufel mag wissen, was er hier wil; ich nicht. Denn zwischen 
Hekthalern und Medaillen ist auch nicht die kleinste Ahnlichkeit. Viel- 
mehr ist der Unterschied unter ihnen, daB iene (wie schon der Pobel 
weis) den Geldschaz durch ihre Gegenwart vermehren, diese aber einen 
armen und ehrgeizigen Gelehrten nichts weniger als reicher machen. 
- Im Vorsaze des Perioden wird auf die alte Meinung angespielet, daB 
die-Eltern die Sele eines Kindes dem Teufel, gegen einen betrachtlichen 
Selenverkauferlohn, verschreiben konnen. 



922 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Demungeachtet ist man gar noch nicht zu argwohnen berech- 
tigt, daB diese Zuschrift in eine schlechte und wahre umschlagen 
werde, bios weiJ ich sie gratis darzureichen gesonnen bin. Denn 
man solte doch bedenken, daB der Teufel von ieher ein Vater 
der Lugen gewesen und mithin es noch zu sein wenigstens in 
einer Dedikazion nicht verlernen werde. Doch vielleicht darf 
ich Ew. Exzellenz von der Zahl derer, die so wenig von mir 
erwarten, ausnehmen; vielleicht bin ich in Ihren Augen soviel 
werth, daB Sie mir zutrauen, ich werde Ihnen in der Zuschrift 
Eigenschaften genug beilegen, von denen Sie wenig oder keine 10 
Spuren an sich entdekken und die vielleicht noch kein Dedikator 
seinem Gonner zu leihen gewagt. Ich wil auch in der That Ihr 
Lob anheben, und ohne langerc Vorrede diese Gelegenheit mit 
dem grosten Vergnugen ergreifen, vor dem ganzen Publikum 
die schmeichelhafte Luge zu sagen, daB das verdachtige Licht 
unsers achtzehnten Jahrhunders noch nicht den freien Eingang 
in den Kopf Ew. Exzellenz gefun'den, den ihm mein Widersacher 
Stapelhaselius zum grosten Nachtheile seines Kopfes und seiner 
Seligkeit zugestanden, und daB die Aufklarung, die Ihren 
Wohnort so gefahrlich macht, sich gliiklicherweise noch nicht 20 
bis zu Ihnen verstiegcn, so wie auch die Morgensonne die tiefen 
Thaler fruhcr bescheinet als die Gipfel der Berge. Auch mus 
ich weiter, wenn ich der Unwahrheit nichts vergeben wil, Ihnen 
das Lob beilegen, daB wenigstens die bessern Rechtsgelehrten 
und Richter, welche zu sehr Christen sind, urn die heidnische 
Abgottin Themis oder Gerechtigkeit anzubeten und zu verehren, 
und die die Geseztafeln derselben wenn nicht gleich dem Moses 
in Trummer schlagen, doch gleich der Zeit bis zur Unlesbarkeit 
abfeilen, mit Ew. Exzellenz auf das Volkommenste zufrieden 
sind und wol keinen Entscheidungen begieriger entgegensehen 30 
und entgegenarbeiten als den Ihrigen. Und es ist keine blosse Wir- 
kung meiner Freundschaft, die ich (wie ich mich, die Unwahr- 
heit zu sagen, riihmen darf) mit Ihnen stets gepflogen, wenn 
ich hier offentlich erklare, daB ich wenigstens nie iene betagten 
und unfranzosischen Grazien in Ihrem Betragen und Anstand 
vermisset, ohne welche kein Gelehrter in Geselschaft erscheint 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 923 

und welche ganz sichtbar beweisen, daft er mit den feinsten 
in allerlei Leder eingebundenen Geselschaftern auf einem ver- 
traulichen Fus stehe und daB er sich in der politesten gedrukten 
Welt lange umgesehen: denn wahrhaftig ich wurde ia dieses 
Lob nicht wagen, kont' ich mich desfals nicht auf Ihre Feinde 
und auf die Gottin der Unwahrheit, die mandoch am wenigsten 
im Verdachte einer lobrednerischen Partheiligkeit fur Sie haben 
kan, und sogar auf mich selbst mit der grosten Kekheit beruf- 
fen.* 

10 Inzwischcnhab' ich durch diese Zuschrift nicht bios zu Ihretn, 
sondern auch zu meinem Lobe etwas beitragen wollen. Ich wolte 
Sie namlich darin urn ein Beigewicht fiir die Wagschale ange- 
sprochen haben, in der die Griinde liegen, womit ich meine 
Nichtexistenz unterstuze. Denn leider! hab' ich nur mehr als 
zu viele Ursache zu befiirchten, daB man in einer Sache, die 
mich so nah angeht wie meine Nichtexistenz, meine eigne Aus- 
sageblos von schlechtem und zweideutigem Gewichte befinden 
und mich fur einen blossen Hauszeugen meiner Nichtexistenz 
gelten lassen wird. Was wil ich aber damit gegen die Theologen 

20 ausrichten, die meine Existenz mit Aussagen von Ohren- und 
Augenzeugen und mit Dokumenten aus Kaldaa belegen kon- 

* Die Romanenleser lassen sich durch mich dem Hern Satan gehor- 
samst empfehJen und ihn hoflichst crsuchen, die Perioden ein andermal 
zu viertheilen und nicht in der Riesenlange aufzutischen, iiber welche 
sie, die Romanenleser, sich an dem obigen beinahe halb tod geargert, 
wenigstens ganz ausser Athem gelesen haben. Glaubt er durch die Lange 
derselben die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der Gedanken 
zu erleichtern und zu erzwingen: so lassen sie ihm sagen, daB sie gar 
nicht gesonnen sind, mit dieser Aufmerksamkeit sich zu belastigen oder 
30 (iberhaupt mehr dabei zu denken, als sein eigner Schwanz, der ohnehin 
als das Ende der Fortsezung des Gehirns schon mehr als zu vi'el denkt. 
Denn wolten sie doch denken: so wiirden sie nicht lesen, sondern die 
weiblichen Geschlechts wiirden sprechen und die manlichen Geschlechts 
wiirden schweigen; verharten iibrigens gleichwol mit unabanderlicher 
Hochachtung 

Sr. des Hern Satans Hochwolgeboren und Hochwiirden 
gehorsamste Diener und Dienerinnen 
A-Z. 



924 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

nen? Wahrhaftig nicht viel. Man sol z. B. nur die iezige anstos- 
sige Erhellung so vieler Kopfe als einen Beweis meiner verbor- 
genen Wirksamkeit und Existenz anfuhren; was kan ich dan 
thun? etwan vielleicht vorstellen, daB man dem Teufel etwas 
beimisset, was lediglich der Gottin der Weisheit und Wahrheit 
schuld zu geben ist? Allein das wird man mir nur so wenig 
glauben als die gemeinen Leute es dem Naturforscher glauben, 
daB die nachtlichen Stimmen im Walde, die sie dem wilden 
Jager d. h. auch dem Tew/e/zuschreiben, nichts als die Stimmen 
der Eulen d. h. der Vogel der Weisheit sind; und ich weis es i 
schon, ich werde predigen mogen, was ich wil, H. Stapelhase- 
lius bleibt doch dabei, daB das bedenkliche Licht, wodurch der 
Kopf Ew. Exzellenz ihm so verhast geworden, stark vermuthen 
lasse, daB ich darin meinen Wohnsiz aufgeschlageh; so wie et- 
wan der Engellander Swinden den Ort des Lichts, die Sonne, 
fur den Aufenthalt der Teufelhielt. Aber eine ganz andere Wen- 
dung wiirde meine Sache nehmen, wenn ich zu Zeugen, daB 
der Teufel an der Erleuchtung der Kopfe vollig unschuldig ist, 
nicht mehr bios mich allein, sondern auch diese Kopfe selber 
aufruffen diirfte: denn deren Aussage konte man wol nicht ver- 20 
werfen. Wie also, wenn Ew. Exzellenz zu erklaren beliebten, 
daB Ihre Einsichten, woriiber meine Feinde mit mir so hadern, 
nichts weniger als Geschenke des Satans, sondern reife Friichte 
eines unmeineidigenN achdenkens und einer langen Lektiire sind? 
- Wenigstens war eine solche Erklarung von Ihnen der Haupt- 
endzwek dieser ganzen Zuschrift. 

Eigentlich bin ich iezt mit meiner Dedikazion zu Ende; aber 
ich darf Ew. Exzellenz den Zank nicht verhalten, den ich eben 
mit der Gottin der Wahrheit iiber die Lange derselben hatte 
und den wir mit gegenseitigen Thatlichkeiten beschlossen. Die 30 
angeregte Gottin, die mich iiberhaupt stets angefeindet, rechnete 
mir eine gute Menge von Ihren Verdiensten vor, deren Meldung 
und Lob ich in dieser Zuschrift nicht hatte vergessen sollen. 
Sie werden es kaum glauben, aber sie kan es nicht laugnen, 
daB sie eine wiewol fluchtige Erwahnung des wolthatigen Ein- 
flusses, den Sie auf den Wolstand Ihres, Wohnorts durch den 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 925 

Gebrauch Ihrer hohen Vorrechte schon so lange gehabt, mir 
zumuthen wollen; ohne auch nur im geringsten zu bedenken, 
daB alles das, was ich von Ihnen (ihr zufolge) bekant machen 
sol, ia schon langst bekant und (so zu sagen) fast schulkundig 
ist und gesezt es war' es auch noch nicht, doch einen zu grossen 
Raum ausfiilte, um dessen in einer Zuschrift genug zu finden. 
Durch diese hinkende Zumuthung schien ein ungerechter 
Zweifel an meinem Dedikazionstalent so sichtbar hindurch, dafi 
ich meine Antwort nicht langer an mir halten konte. Der Zorn 

10 hatte schon lange den Hahn der Nase aufgezogen und mein 
ganzes Gesicht schusfertig gemacht. »Ich mus es besser wissen, 
fuhr ich gelassen los und die Wahrheit an, als Sie, wie man 
eine Dedikazion abfast. Ich habe deren in meinem Leben wol 
uber hunderttausend gemacht oder doch machen helfen - o! 
noch viel viel mehrere! - und Sie haben wol, so lang Sie in 
Kupfer gestochen werden, noch kein halbes Schok zum Druk 
befordert. Es verlangt auch kein Dedikator Ihren mehr hinderli- 
chen als forderlichen Beistand. Ich besorge nur ohnehin, dafi 
ich Ihnen zuviel freie Hand in meiner Zuschrift an Se. Exzellenz 

20 gelassen: und stosset daher wirklich meinen Leser[n] soviel 
Wahres auf, daB sie es fur Luge halten miissen, so sind Sie allein 
mit Ihrem Einreden daran Schuld und ich werde iiber Sie 
schreien.« Vielleicht hab' ich die gute Wahrheit ein wenig zu 
hart angelassen; denn sie versezte mir auch sogleich mit ihrem 
Palmzweig* einen so empfindlichen Hieb auf mein Steisbein, 
daB ich in der ersten Aufwallung meine Hande ihren Haren 
naherte, ihre Sonne in Besiz nahm und diesen grossen Weltkorper 
auf funfzig Schritte weit von uns so leicht wegschmies, wie 
den harten Kase, womit der Italianer zum Andenken des romi- 

30 schen Diskus kegelt. - Und das ware denn eine aufrichtige Er- 
zahlung von meiner beriihmten Schlagerei mit der Wahrheit, 
von der im Publikum so viele falsche Zusaze herumschleichen. 
Ich steure mich indessen ganz auf die Hofnung, daB Ew. Exzel- 
lenz sich nicht durch die Freundschaft, die Sie mit meiner Wi- 

* Die Alten bilden die Wahrheit ab mit einem Palmzweig in der 
rechten Hand, und mit einer Sonne auf dem Haupte. 



926 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

dersacherin aufgerichtet, Ihre unpartheiischen Augen werden 
zudriikken lassen: und dan weis ich gewis, daB Sie mein ganzes 
Verfahren (das iahzornige Kegeln mit der Sonne wil ich gern 
ausnehmen) vollig billigen werden. 

Nur beriihren wil ich endlich noch einen andern Zwist mit 
der Wahrheit, in welchem iedoch mein Recht ein wenig zwei- 
deutiger sein mag. Sie wil es namlich durchaus nicht schiklich 
fin den, daB ich mich unterschreibe als Ew. Exzellenz ganz un- 
terthanigsten Diener. Und ich bin ganz fur das Gegentheil; und 
fiihre ihr zu Gemiithe, ob ich, der so viele Diener unter den 
Menschen zahlet, den anders als ehren konne, zu dessen Diener 
ich mich bekenne. Am Besten thu' ich indessen doch, Sie selbst 
um die Auflosung der peinlichen Frage zu ersuchen: in welchem 
Falle ich kliiger handle, wenn [ich] mich nenne oder nicht nenne 

Ew. Exzellenz 



ganz unterthanigsten Diener 
den Teufel. 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 9 2 7 



Die Widerlegung selbst 



Ungefahr vor drei Wochen hab' ich, der Teufel, auf der Retoude 
einige Zweifel gegen meine eigne Existenz mit der Bescheiden- 
heit, die iedem Gelehrten geziemt und die ich nicht selten iiber- 
treibe, an den Tag zu legen gewaget; aber ich sahe nicht voraus, 
daB von diesem unschuldigen Skeptizismus H. Superintendent 
Stapelhaselius den ungliiklichen Anlas nehmen wiirde, mich 
zweimal sehr hart anzugreifen. Das erstemal that er's in einer 
anderthalb Bogen starken Schrift, die er den Titel fiihren lasset: 

io Unentbehrliches Gegengift gegen den neuesten Anti-Egoismus des Sa- 
tans, oder die Grunde, womit der Teufel in eigner Person an einem 
offentlichen Orte seine Existenz . abzuldugnen sich erfrecht hat, zum 
Besten der Schwachen und Einfaltigen aufeine schwache und einfaltige 
Weise in ihrer ganzen Blosse dargestellet von P. Q. R. Stapelhaselius 
Superintendent pp. - Zum grosten Gliik fur meine und seine 
Ehre las dieses Schriftgen niemand als der Verfasser, der Kor- 
rektor und ich; obendrein las ich es nur im Manuskripte, der 
Korrektor horte es gar nur, der sich es von mir vernehmlich 
vorsagen lies, urn die Korrekturbogen darnach zu andern. Allein 

20 eben deswegen spielte mein Gegner unsern Hader vor den Rich- 
terstuhl des Pobels , der nicht Augen zum Lesen , aber wol Ohren 
zum Horen in seinem Kopfe fuhret, und er wiederholte in der 
Predigt am Sontage Invokavit seine ungelesene Widerlegung. 
Nun aber leiden es die Pflichten, die ich meinem guten Namen 
- meinem noch einzigen und grosten Gute in der Welt - schuldig 
bin, durchaus nicht mehr, meine Gegenwehr noch langer durch 
ein fortgeseztes Stilschweigen aufzuschieben: denn vorziiglich 
in diesem leztern Angriffe vergas er so sehr alle Schonung gegen 
mich, daB er mich vor einer ganzen christlichen Versamlung 

30 ohne Scheu mit Namen nante, meiner immer nur in den 
schimpflichsten Ausdriikken (dergleichen sind »Vater der Lu- 
gen, alte Schlange p.«) gedachte und mir besonders meine 



928 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Klauen empfindlich vorriikte, fur die ich doch nichts kan und 
an denen er gewis sich sehr versiindigte, weil man mit den Na- 
turfehlern seines Nachsten kein Gespotte treiben sol. Ich kan 
dieses alles mit meiner Pergamenttafel gehorig dokumentiren, 
als in welche ich eine Kopie von meiner Abkanzelung auf der 
Stelle eintrug: denn ich war damals gluklicher Weise gerade sel- 
ber in der Kirche, als er mich armen Teufel von der Kanzel 
warf und sas in dem mit N ro 103. bezeichneten Stuhle in der 
Gestalt eines geschikten Advokaten, wie sich vielleicht der Klin- 
gelvater noch entsinnen wird. An meine nachgeschriebene Pre- I0 
digt wiird' ich mich auch zu halten wissen, fals ich die Sache 
auf den Weg einer scharfern Untersuchung einleiten soke: denn 
das hab' ich noch gar nicht verredet, da mir zumal alle meine 
Freunde vereint anliegen, mit dem Hern Stapelhaselius einen 
langen Iniurienprozes anzufangen und an hohern Orte,wo man 
hoffentlich dem Teufel zu seinem Recht verhelfen wiirde, um 
eine offentliche Ehren[er]klarung nachzusuchen. Doch den 
Streit des Burgers mit dem Burger noch bei Seite! Jezt hat es 
bios der Gelehrte mit dem Gelehrten zu tun. 

Eh' ich indessen zeige, wie unzureichend er die Zweifel, die 20 
ich gegen meine Existenz gemacht, aufgeloset: scheint es nothig 
zu sein, daB ich mir die Miihe gebe, die Leser uberhaupt in 
eine genauere Bekantschaft mit uns Teufeln zu bringen. Denn 
es ist unglaublich, was fur einfaltige Meinungen meine Leser 
von uns noch haben. DaB man uns existiren lasset, das ist noch 
der geringste und verzeihlichste Irthum; aber von unserer Natur, 
von unserem Wohnorte, von unsern Beschaftigungen hat man 
auch noch kein wahres Wort gepredigt und geschrieben und 
es scheinet die Zoographie der Teufel ordentlich bisher nur darum 
in so ungeschikte Hande gefallen zu sein, damit ich mir desto 30 
grossern Ruhm erwiirbe, wenn ich eine gute liefere. Die besten 
Dienste wird meine genauere Nachricht von den Teufeln aber 
wol den Theologen thun, welche sie sofort den symbolischen 
Biichern einverleibenkonnen, damit sie stat der herausgeworfe- 
nen Irthumer von ihren Mitbriidern entweder beschworen oder 
unterschrieben werde: indessen wtinschte ich lieber, sie warteten 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 929 

mit dieser Ausbesserung ihres Glaubenssystems.gar noch bis 
zur Erscheinung meines grossern Werks; denn die volstandigern 
und interessantern Nachrichten von Gebrauchen, Kunstwerken, 
Kultur und Religion der Teufel werd' ich dem Publikum erst 
in diesem bescheren. 

Wir Teufel sind nicht geschafj en: denn sonst wurden wir existi- 
ren; aber wir sind gezeuget und die menschlichen Selen sind un- 
sere Eltern. Da mir der Leser die Moglichkeit eines Dinges, 
das weder ist noch nicht ist*, hoffentlich schon aufs Wort gern 

10 glauben wird: so lass' ich den Beweis derselben bei der blossen 
Versicherung bewenden, daB ich diese Moglichkeit vielleicht 
so lebhaft fuhle als man dergleichen. abstrakte Dinge nur fiihlen 
kan. - 

Soviel ich weis, bin ich der erste, der von einem Mitteldinge 
zwischen dem Sein und dem Nichtsein Erwahnung thut. Ich 
habe aber das Nichts bios vermittelst des Kaiserschnittes der Di- 
stinkzion von diesem Mitteldinge so gliiklich entbunden. Ich 
wiinschte daher, die Theologen machten von meiner ganz neuen 
Distinkzion zwischen dem Sein und dem Nichtsein kiinftighin 

20 einigen Gebrauch: sie wiirde gewis der Orthodoxie nicht schad- 
lich sein, der es ohnehin iezt an geschikten Unterscheidungen 
zu mangeln scheint und die vielleicht besonders von solchen 
Distinkzionen, welche ihrem Todfeind, dem Saze »eine-Sache 

* Hier scheint sich der Teufel zu widersprechen; allein er scheint 
es auch nur. Auf der Maskerade erklarte er sich dahin, daB er nicht 
existire; hier aber, daB er weder existire noch nicht existire. Dieser 
Widerspruch fiel mir sehr auf und ich sprach deshalb im Namen meiner 
samtlichen Leser den Teufel selber um die Auflosung desselben hoflich 
an, die er mir auch mit dem grosten Vergniigen ertheilte. Ich sol namlich 
30 den Lesern wieder sagen, er sei, wiewol ein Mittelding zwischen dem 
Nichts und dem Etwas, doch dem erstern naher als dem leztern ver- 
wandt; und habe daher, weil ihn die Armuth der menschlichen Sprachen 
mit keinem besondern Namen fCir diese nahere Verwandschaft versor- 
genkcinnen, sich lieber ein Unding als ein Ding genant, da die erste 
Benennung, wenn gleich nicht ganz richtig, doch der Wahrheit naher 
als die andere sei. Diese Belehrung begleitete er mit einem ungewohnli- 
chen Gestanke, den er an seine eigene Stelle treten lies und den er sich 
abgewohnen soke. 



93° JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

lean nicht zugleich sein und nicht sein« so nah ans Leben greifen 
wie meine obige, nicht sehr viele aufzuzeigen hat. Allein ich 
weis es wol, man legt iezt beinahe gar keinen Werth auf gute 
Distinkzionen mehr. Daher komt es aber auch, daB die Sache 
der Orthodoxie taglich etliche Schritte weiter zuriikgehet. Sie 
biisset einen Sieg nach dem andern ein, nicht weil sie etwan 
vernunftwidrige Saze verficht, sondern weil sie diese Saze nicht 
mehr auf eine vernunftwidrige Weise vertheidigt. Denn in der 
That unsere Gottesgelehrten scheinen es ein wenig zu sehr ver- 
gessen zu haben, daB der gesunde Mensch[en]verstand nur mit 10 
solchen orthodoxen Waffen vortheilhaft angefallen werde, die 
mit denen ganz ungleicher Art sind, womit er sich wehrt und 
daB der vernunftwidrigste Prozes mus verspielet werden, wenn 
er auf eine andere als vernunftwidrige Art gefiihret wird. Der 
orthodoxe Zwerg David kan in der riesenmdsigen Riistung Sauls 
dem heterodoxen Riesen Goliath nur wenig oder nicht[s] anha- 
ben. Unter iene vernunftwidrigen und siegreichen Waffen, von 
welchen dieiezigenGottesgelehrtenihre Hande so unklug abge- 
zogen, gehoren nun eben die Distinkzionen, von denen man, 
ohne sie etwan uber die Gebiihr zu schazen, sehr gut behaupten 20 
kan, daB sie ihres Gleichen gar nicht haben, wenn es auf Entwaf- 
nung, Gefangennehmung und Hinrichtung des gesunden Ver- 
standes ankomt. Deskartes sagte; gebt mir Materie und Bewe- 
gung, ich wil euch eine Welt machen. Ich sage: gebt mir so viele 
Distinkzionen als ich begehre, ich wil durch ihre Hiilfe Syste- 
mentempel hersezen und auffiihren, welche so hoch sein sollen, 
daB sie den Auditorien der Vernunft das Licht vollig verbauen: 
beilaufig! diese Verbauung kan mir niemand wehren, angesehen 
der Vernunft Servitus luminum* gegen die Rechtglaubigkeit 
obliegt. — " 30 

Ich habe nun die Materie von den theologischen Distinkzio- 
nen in moglichster Kiirze abgethan; ich gehe daher weiter und 
lasse mich iezt iiber diese Materie auch mit entgegengesezter 

* Servitus luminum ist wenn es der andere leiden mus, daB ich ihm 
das Licht verbaue. 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 9$ I 

Ausfuhrlichkeit heraus. Obrigens gehoret es unter meine herb- 
sten Krankungen mit, daB ich merken mus, wie gar noch weit 
mein sonst einnehmender Stil vom wahren philosophischen ab- 
stehe: denn aller meiner Bemuhungen ungeachtet mus ich doch 
taglich horen, daB mich beinahe die meisten meiner Leser ver- 
stehen; eine Nachricht, die mir unmoglich wilkommen sein kan, 
der ich so gut weis, daB von Schriften, die wie philosophische 
und wie meine zur Erleuchtung des ganzen Menschengeschlechts 
sich anheischig machen, eine nicht gewohnliche Dunkelheit der 

io Schreibart mit so vielem Rechte erwartet und gefordert wird, 
so wieetwan ein geschikter Operateur, wahrend er dem Pazien- 
ten den grauen Staar sticht, das Zimmer durch die Fenstervor- 
hange verfinstert. Indessen wil ich wenigstens nichts sparen, 
was in meinem Vermogen stehet, um im Folgenden die Materie 
von den Distinkzionen mit soviel Kunst zu verhandeln, daB 
ich so wol meine Leser als mich selbst vollig ausser Stand seze, 
zu wissen was ich haben wil. 

EinTheolog distinguirt, wenn er an einem einfachen Begriffe 
unahnliche Theile ausspiirct; d. h. wenn er Eine Idee fur zwo 

20 ausgiebt und die namliche unter andern Namen wiederkommen 
lasset; d. h. endlich - um am dunkelsten zu sein - wenn er zu 
Einem Kinde ein kleines Heer Gevattern bittet, um es auf meh- 
rere Namen taufen zu lassen. Die Operazion dabei ist naturlich 
und leicht. Man sezt namlich das Bestreben, den Theilen eines 
Begriffes nachzuforschen, so lange fort bis die Phantasie, die 
sich bei keinem lange aufzuhalten vermag, an die Stelle des Be- 
grifs, auf welchen allein man. sie heften wollen, einen andern, 
den man fur den alten ansieht, geschikt untergeschoben hat; 
eben so verdoppeln sich die Gegenstande vor dem leiblichen 

30 Auge, wenn es lange auf ihnen verweilet. In dieser Ruksicht 
kan man gar wol wenn nicht beweisen doch behaupten, daB 
die Begriffe gleich der Materie ins Unendliche theilbar sind. 
Die Vortheile nun, welche dem Theologen diese Trenschirkunst 
gewahret, stechen in die Augen: durch sie verschaft er sich die 
unschazbare Freiheit, ohne Bedenken einem Subiekte iedes Pra- 
dikat ankleben zu diirfen, das er nur wil, widersprache es dem- 



932 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

selben auch gerade zu; denn er hebt diesen Widerspruch straks 
dadurch gliiklich, da8 er am Subiekte einen neuen Namen aus- 
fiindig macht, welchem ienes Pradikat nicht mehr widerspricht. 

- Da ich von dieser schweren Materie mit sovielem Glukke 
dunkel geschrieben: so kan ich ohne Anstand zu dem Versuche 
fortgehen, von ihr auch verstandlich zu schreiben und die Vor- 
hange konnennun aufgezogen werden und das Licht kan wieder 
hereingeschossen kommen. Ich wil namlich eine gewisse gutge- 
sezte Rede (ein Priester am Vorgebiirge der Nasen hat sie abge- 
fasset und gehalten) mittheilen, wekhe die orthodoxe Brauch- 10 
barkeit der Distinkzionen ausser Zweifel sezet, indem sie bios 
durch deren Vermittelung den gesunden Menschenverstand mit 
einer Behauptung aussohnet, mit der er sonst in der grosten 
Zwietracht lebte. So sagte der Priester: 

Lieben Freunde! 
»Ihr batet mich neulich, ich mochte euch eure Skrupel iiber 
die grosse Wahrheit, die ich zuerst herausgebracht, benehmen, 
die namlich daB drei Nasen richtig zusammenaddiret eigentlich 
nicht mehr thun als HweNase. Ich wiinschte freilich, ihr glaubtet 
wichtige Wahrheiten, von deren Zahl auch diese ist, ohne alien 20 
Beweis und auf mein blosses Wort; indessen wil ich euerer nicht 
sehr glaubigen Bitte doch wilfahren, und ich werde den Beweis, 
den ich euch von iener Wahrheit gebe, ohnehin schon so 
schwach einzurichten wissen, dafi er soviel ist wie gar keiner 
und da(3 euer Glaube bei diesem Eingrif der Vernunft wenig 
leidet. Die Stiize, mit welcher meine Behauptung von den Nasen 
fallen und stehen mus, ist ein gewisser sonderbarer Unterschied 
unter den Nasen. Es giebt deren namlich zwo Klassen, die der 
substanziellen und die der personlichen Nasen. Sonach wiirde mein 
Saz wol auch bestimter und richtiger so gefasset: drei personliche 30 
Nasen geben weder mehr noch weniger als Eine substanzielle.. 

- Zwei Gottesgelehrten haben indessen vorgeschlagen, den 
Ausdruk >personliche Nase< lieber in den >Nasensubstratum< 
umzusezen. Ich kan zwar ihre Neuerungen nicht alzeit billigen, 
allein diese Wiedertaufe konte, dunktmich, kaum gliiklicher sein: 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 933 

denn nicht nur daB diese kleine Veranderung des Namens die 
Schwierigkeiten alle aus dem Wege raumt, worauf unsere Frei- 
denker darin wollen gestossen sein, sondern sie lasset auch auf 
diese geheimnisvolle Lehre ein reichliches Licht fallen, das ihr 
in den schwachsten Kopf Zugang verschaffen mus. Zudem hat 
der neue Name noch den Vorzug, dafi er keineswegs mehr zu 
denken als der alte giebt, wenn vielleicht nicht gar noch weniger. 
Inzwischen ist die Sache mit der blossen Distinkzion noch 
gar nicht abgethan: sondern ich mus euch eben erst die Verschie- 

io denheiten namhaft machen, die mir zu dieser Distinkzion zwi- 
schen den Nasen Befugnis geben. Ich dekke sie euch auch gerne 
auf, weil ihr zumal selbst wol schwerlich darauf kamet. Der 
Unterschied beider Nasen besteht namlich - und das macht 
eben, dafi man ihn so schwer auffindet - ganz und gar nicht 
in ihren Eigenschaften: vielmehr ist die eine volkommen so ge- 
formt, so lang, so schwer und so gebogen als die andern und 
mathematische Punkte sehen sich kaum gleicher als sie; sondern 
worin er eigentlich besteht und gesucht sein wil, ist, daB die 
eine Nase den Namen substanzielle und die andern den Namen 

20 personliche tragen. Indessen reichen aber auch diese zwo Benen- 
nungen meines Bediinkens volkommen hin, durch die Un- 
gleichheit ihres Lauts der Gleichheit der Nasen abzuhelfen und 
eine Verwechselung derselben, welche ihre gleichen Eigen- 
schaften sonst so unvermeidlich machen, gluklich abzuwenden. 
Vielleicht freuet euch die Nachricht, daB ich zum Besten eures 
Gedachtnisses und zum Nachtheil eures Verstandes ein Dreimal- 
eins in benanten Zahlen aufgesezt, das so lautet: 

Eine personliche Nase ist Eine substanzielle Nase 
Zwo personliche Nasen sind Eine substanzielle Nase 

30 Drei personliche Nasen sind auch Eine substanzielle Nase. 

Dieses neue Einmaleins soltet ihr eurem alten in unbenanten 
Zahlen beibinden; und ich sahe das gerne. Vielleicht schlagt mir 
auch noch etwas Wichtigeres nicht fehl. Ich gehe namlich schon 
lange darauf urn, den weltlichen Arm dahin zu vermogen, daB 
er euch mein neues Einmaleins zu beschworen nothigt. Denn 
nent mir selbst ein Unterpfand euerer Uberzeugung von der 



934 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Wahrheit meines Einmal ems, das wichtiger ware als ein Eid- 
schwur: kont ihr mir ein heiligers geben, so wil ich es wahlen. 
Allein selbst die Scheme kennet bei dem Liebhaber kein besseres 
Unterpfand der Treue als eben ienes Beschworen; und man hat 
auch noch kein Beispiel, daB eine dabei iibel gefahren und der 
Liebhaber seinen Schwur etwan gebrochen hatte. 

Ubrigens nab' ich eine geistliche Schaferei und ihr seid meine 
geistlichen Schafe; allein zu euerer Schande mus ichs sagen, daB 
meine Herde von verschiedenen Schafen verunreinigt wird, 
welche mehr Verstand verrathen als sich fur ein Schaf wol 10 
schikt. Diesen raudigen Thieren werd' ich also auch wol 
schwerlich die Einheit mehrerer Nasen einreden; und die kleinli- 
che Eitelkeit, homines emunctae naris scheinen zu wollen, wird 
sie verleiten, meinen vernunftwidrigen Behauptungen kein Ge- 
hor zu geben. Aber den bessern unter euch ertheile ich den wol 
durchdachten Rath, von dem ihr in der Folge manchen Vortheil 
ziehen konnet, gehet selten oder niemals euerer eignen simdhaf- 
ten Nase* nach: ihr seid geistliche Braute, die Nase mus euer(e] 
Brautfiihrerin werden und euch etwan in die Kirche bringen.** 
An andere Orte folgt ihr aber nie; sondern erinnert euch stets, 20 
daB sie auch einmal in ein B-l gefuhret, wo ihr in die groste 
Gefahr geriethet, ohne sie wieder aus demselben herauszuge- 
hen.*** Zur Ehre euerer und meiner Einsichten wil ich es zwar 

* Fur die wenigen Leser, die die obige leichte Allegorie nicht enthiil- 
sen konnen, schreib' ich diese Noten. Der Priester oben meint unter 
der Nase die Vernunft und den gesunden Menschenverstand: daher rath 
er, beide selten oder niemals in Glaubenssachen zu Wegweisern anzu- 
nehmen. 

** Hochstens, fahrt er fort, kan man sich der menschlichen Vernunft 
bedienen, um sie etwas sagen zu lassen, das dem Glauben zum Vortheil 30 
gereicht. (Auf ihrem Zeugnis beruhet das Ansehen der Offenbarung: 
ist dieses einmal festgegriindet, so saget diese lauter Dinge aus, welche 
die Vernunft fur einen schlechten Zeugen erklaren; welches indessen 
nichts schadet: denn die Theologen iibertreiben es gewis nicht, wenn 
sie fodern, daB bei uns die groste historische Wahrscheinlichkeit, daB 
die Apostel alzeit Recht haben, iiber die Gewisheit, daB 3 nicht 1 ist, 
das Obergewicht behaupten sol.) 

*** d. h. Aber sonst mus man die Vernunft nicht horen, weil sie 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 935 

nichthoffen, allein angenommen nur, daB ihr vor meinem Rathe 
euere Ohren verstopfet: so mus ich euch erofnen, daB ich in 
diesem Falle mir ein Gewissen daraus machen wurde, wenn 
ichnicht so fort einige Anstalten trafe, die Rettung euerer arm en 
Sele mit der Aufopferung euerer Nase zu erkaufen: ich wiirde 
daher ohne Anstand an die Personen, die ihr Schwerd nicht um- 
sonst tragen, einBitschreiben des Inhalts ablassen, daB man euch 
dieses Gliedmas, das ihr, stat es gehorig mit schonen Korallen 
anzupuzen, gleich den Wilden zur Auswitterung und zum Ver- 
io f olge irref uhrender Fusstapfen erniedrigt, bis an die Wurzel abzu- 
losen und dem Teufel diesen Schleichweg zu dem Size euerer 
Sele abzuschneiden belieben mochte. Und von einem so einsichts- 
vollen weltlichen Arm wie der unsrige ist darf ich alle Hulfe 
erwarten, fals nur die Griinde, womit ich mein Ansuchen um 
selbige unterstiizen werde, wirklich so stark sind als sie mir 
vorkommen . Wenigstens hoff ich sol doch das ihn in Bewegung 
bringen, wenn ichihm das Beispiel der Turk en verschlagen vor- 
halte, die in der ahnlichen Meinung, daB der Teufel sich in unver- 
stummelte Bildsaulen begebe und verkorpere, alien und sogar 
20 den schonsten Kunstwerken fleissig nach der Nase stehen: durch 
diese Verstumlung glukt es ihnen fast allemal, den Teufel zu 
verhindern, daB er sich in die Bildsaule nicht einmiethet. Oder 
wisset ihr selbst die Obrigkeit zur Absagung euerer Nasen mit 
etwas starkerem zu ermuntern als durch diese Beruffung auf 
das Verfahren der weisen Tiirken? konnet ihr fur dieselbe etwas 
nachdriiklichers vorbringen als daB gerade die von euch, denen 
entweder die Natur die Nase erlassen oder die Kunst sie genom- 
men, vom Teufel am wenigsten verunreinigt werden, stat daB 
andere durch griechische und heidnische Nasen den bo sen Feind 
30 in sich lokken und in sich Ziehen? Ich habe einmal gelesen, daB 
Tagliacozzi, gewesener Professor der Anatomie in Bologna, 
Leuten, deren Nasen preshaft waren oder verloren gegangen, 

manchmal sich geirret hat und einigemal so sehr, daB sie an ihrer eignen 
Wahrheit verzweifelte; worauf die Allegorie hier zielet. Allein ich mag 
keine Noten mehr machen; ich wil lieber glauben, daB alle meine Leser 
meine Verstandesgaben besizem 



93 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

frische ansezte, die er aus fremden Hintern verfertigte: nur blie- 
ben sie nicht langer bekleiben als derienige lebte, von dessert 
Fleisch sie genommen waren. Dies brachte mich neulich auf 
einen sehr nuzlichen Entschlus. Ich erbiethe mich namlich, den 
Stof zu den Nasen, welche an die Stelle euerer angebornen, fals 
diese euch die Obrigkeit abnimt, treten miissen, unentgeldlich 
aus meinem H- brechen zu lassen; und die iibrigen Prediger, 
die das Nasendreimaleins mitpredigen,hab' ich ein Gleiches zu 
thun beredet. - Ach lieben Leute! wenn mir so die Gefahren 
zu Sinne schiessen, die gegen euer Selenheil zusammentreten, 10 
wenn ich besonders an die Nieswurz denke, die sich durch eure 
Nase so leicht in den Kopf einschleichen kan: so mus ich sehr 
laut ausruffen: Wie vie[l]mal, nicht bios dreimal, gliiklicher als 
ihr ist iene menschliche Misgeburt in Dresden, der an der Stelle 
der Nase ein langer Schwartz sas. Die Natur steuerte .sie mit 
einem Vorzug aus, den ihr erst von der Kunst erbetteln musset, 
indem ihr, wie ich euch gerathen, euere kezerischen Nasen able- 
get und dafiir aus orthodoxen Hintern euch bessere ausste- 
chet«. — 

Das ist die Rede des Priesters. Wenn ich nun von mir auf 20 
meine Leser schliessen darf,. so glauben sie iezt alle die Einheit 
dreier personlicher Nasen so fest wie ihr Dasein selber. Was 
fur ein sonderbares Mittel aber hat denn mich und die Leser . 
vermocht, von der gesunden Vernunft zu einer Behauptung 
(iberzutreten, die in der ganzen Theologie an Ungereimtheit 
nicht ihres Gleichen hat? Wir sehen alle, daB es eine Distinkzion 
gewesen; und daraus folgt meines Bediinkens zum Vortheile 
der Distinkzionen genug. Ich habe oft zu meinen Freunden ge- 
sagt: »Distinkzionen sind der Stein der Weisen, die Quadratur 
des Zirkels, die Universalarznei fur ieden, der etwas gegen den 30 
gesunden Menschenverstand behaupten wil und sind besonders 
in einer Inauguraldisputazion von ausgemachtem Nuzen. Seht! 
bios vermittelst guter Distinkzionen wil ich die Widerspruche 
der ungereimtesten Religionen in der Welt auf eine wirklich 
befriedigende Weise auflosen, ihren Widersin zu Nichtsin erheben 
und ihre Gegner wenn nicht zur Uberzeugung doch zum Stille- 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 937 

schweigen bringen. « Lachten meine Freunde iiber meine An- 
massung: so erinnerte ich sie nur daran, daB ich es eben alzeit 
gewesen, der den Priestern aller ausserchristlichen Religionen 
die Distinkzionen eingeblasen, womit sie selbige so gut verthei- 
digten. Wenn nun Distinkzionen schon fur auswartige Religio- 
nen, welche doch von der Wahrheit eben so sehr als von der 
Vernunft abgehen, eine leuchtende Pomade abgeben, welche 
macht, daB sie mit vielem Lichte um sich werfen: so frag' ich, 
welche Dienste miissen sie der deutschen Orthodoxie erst thun, 

10 die vollends mit der Wahrheit so sehr (ibereinkomt als sie mit 
dem gesunden Menschenverstande streitet? Ich glaube, die um- 
ziehen sie mit einem ordentlichen Heiligenschein und der dienen 
sie stat guter Altarlichter. - Diese lange Ausschweifung wird 
mir niemand verargen, weil sie doch die trefliche Absicht hatte, 
die theologischen SchneidemuhXcn, die man iiber die modischen 
H^Wmiihlen bisher ganz vergessen, wo moglich wieder in den 
Gang zu bringen und den Orthodoxen zu bewegen, daB er alte 
gute Waff en wieder hervorsucht. H. Stapelhaselius wiederholt 
es so oft, daB der Teufel einen besondern Grol gegen die Recht- 

20 glaubigkeit in sich hege: der Leser hake doch meine obigen Be- 
muhungen, ihr durch Distinkzionen wieder in die Hohe zu hel- 
fen mit dieser Versicherung meines Gegners zusammen und 
entscheide dan, ob sie etwan Grund hat. 

Ich komme zu den obigen Worten zuriik: die Teufel werden 
nicht von Got geschaffen, sondern von menschlichen Selen ge- 
zeuget. Denn fahr' ich iezt fort, man mus sich den menschlichen 
Kopf wie einen Bienenkorb denken. Mitten darin sizt der Weisel 
oder die Biemnkonigin, ich meine die menschliche Sele. Wir 
Teufel sind die Drohnen oder manlichen Bienen und haben uns 

30 um sie in beliebigen Entfernungenherumgelagert. Die Men- 
schen nennen uns aber nur die Bilder der aussern Dinger denn 
in diese luftigen Gestalten verkorpert - in der Gabe, uns in alles 
was wir wollen zu verkleiden, thun wir Teufels es wol den 
meisten Geistern zuvor - wandeln wir gewohnlich vor der Sele 
auf und nieder. Zuweilen nehmen wir auch diese Bilder und 
Schattenrisse, welche von den aussern Dingen (wie Epikur zu- 



938 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

erst bemerkte) ab- und ins Gehirn hineingeworfen werden, dop- 
pelt und mehrfach um, wie etwan die europaischen Weiber 
mehrere Rokke und die iapanischen mehrere Westen auf einmal 
anlegen: in dieser dikken und minder durchsichtigen HiiHe sieht 
uns dan die Sele fur ein wirkliches ausseres Ding (auch sogar 
vor dem Sonnenlichte der Sinnen) an und sagt liberal: »ich habe 
was gesehen« und fahret (welches sonderbar ist) vor Wesen zu- 
sammen, mit denen sie doch unter einem Dache wohnt und 
die mit ihr unter dem Schlafe des Korpers Verstekkens spielen. 
Wie klaglich ists daher, wenn einige unser Dasein aus solchen 10 
Geistererscheinungen beweisen wollen! Denn wie ich eben ge- 
zeiget, sieht man ia bei keiner etwas Wirkliches oder uns selbst, 
sondern nur die Bilder vom Wirklichen, die wir Spasses halber 
um uns geworfen; wiewol ich nicht laugne, daB wir es wirklich 
zuweilen in der muthwilligen Absicht thun, den Menschen 
weiszumachen, daB wirexistiren. - Im menschlichen Kopfe nun 
verfuhren wir Jahr ein Jahr aus ein Gelarme, ein Geschnurre 
und ein Wesens, das ganz unglaublich sein wiirde, kont' ich 
mich hierin nicht auf den eignen Kopf eines ieden Lesers selbst 
beruffen. Denn bald baden wir uns in Nervensaft, um schon zu 20 
werden, so wie die Weiber sich sonst eben darum in Eselsmilch 
badeten; bald sezen wir die Gehirnfibern in harmonische 
Schwingungen und bringen der Sele ein Standgen; bald dampfen 
wir im sogenanten Unterleibe soviel Tabaksrauch in den Kopf 
hinauf, daB der Weisel oben kaum zu bleiben weis; und was 
dergleichen erlaubte Zeitvertreibe mehr sind. Doch ist das nur 
Nebensache. Denn unser Dichten und Trachten ist eigentlich 
auf Parung mit dem Weisel gestellet, welche uns bei weitem 
am meisten beschaftigt, weil sie erst den muhsamen Sieg iiber 
die vielen Weigerungen desselben voraussezet. Diese Mishellig- 30 
keit riihret namlich von unserer schwarzen Farbe her, gegen wel- 
che die menschliche Sele eine naturliche Antipathie verrath, die 
kaum beim indianischen Hahn hef tiger gegen die rothe sein kan. 
Unserer Vermahlung mit der Sele gehen daher gewis iedesmal 
soviele Praliminarien voraus als gewohnlich einer Vermahlung 
zwischen den Spinnen oder auch einer zwischen hohen Haup- 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 939 

tern. Denn weitsogar gefehlt, daB es ihre Sprodigkeit erweichen 
soke, wenn wir Bienen uns in den poetischen Blumen der Phanta- 
sie solange herumwalzen, daB wir uns ihr mit Blumenstaub ganz 
weis gepudert prasentiren konnen: so haben wir noch einen lasti- 
gen Schrit zu thun eh' wir zum Ziele gelangen; wir mussen 
ihr erst noch einen Liebestrank eingeben, in welchem sie ihren 
Verstand und ihren Abscheu vor unserer Farbe zugleich ver- 
trinkt. Es wird derselbe (Nervensaft glaub* ich nennen ihn bei 
euch die Arzte) bekantlich aus dem Dampfe kochender Wasser- 

io adern zubereitet. Die Wirkung dav*on aber hat wol ihres Glei- 
chen nicht. Denn ein oder ein Paar Spizglaser vol sind vollig 
zulanglich, den Verstand aus der Sele fortzuschaffen und an sei- 
ner Stelle die inbriinstigste aber keuscheste Liebe gegen den 
Teufel in sie einzulassen, der den Trank hergab. 1st es einmal 
so weit, so wird ohne weitern Anstand sofort von beiden Seiten 
zur Begattung geschritten, an welcher die Menschen Siissigkei- 
ten schmekken wollen, deren Empfindung sich sogar bis auf 
die Aussenseite des Bienenkorbes verbreitet; wenigstens horte 
ich manchen von diesem oder ienem Menschen sagen: »er mus 

20 wieder einen Streich ausgedacht haben: er sieht so freudig aus. « 
- Wahrend der Begattung wird von Einem Theile der Teufel 
ein Kreis um das thatige Ehepaar geschlossen, um alles Licht 
von ihm abzuhalten, weil es die Brautnacht verderben wiirde; 
der andere Theil halt die guten Engel fest, (auch eine Art Bienen 
und auch mit zum Bienenstok gehorig) welche das Beilager mit 
Einspruchen zu storen drohen und wirklich schon mehr als ein- 
mal bios durch ihre strahlende Gestalt die kraftlose Sele in einen 
Schrekken gesezet haben, der sie auf der Stelle unvermogend 
machte, ihre wolltistigen Anstrengungen weiter fortzusezen. 

30 Und hier solt' ich wol den Leser an die wichtigen Verdienste 
erinnern, die ich mir um die Beschirmung der Orthodoxie er- 
worben, indem ich nicht nur einmal die guten Engel (die Men- 
schen nennen sie wol Toleranz und Menschenliebe) in gefangli- 
cher Haft gehalten, welche Mine und Anstalt machten, der 
Parung gewisser Teufel mit Priesterselen betrachtliche Hinder- 
nisse in den Weg zu legen; einer Parung, aus welcher doch die 



940 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

machtigsten Verfechter der angefochtenen Wahrheit hervorge- 
hen miissen, namlich Verkezerungsgeist, Has und Intoleranz. 
Allein ich weis zu wol, wie schlecht man mich fur diese glanzen- 
den Verdienste belohnet; ich werde daher auch inskiinftige, bei 
diesem Mangel an Aufmunterung, mir wenig mehr Miihe urn 
den Erwerb neuer solcher Verdienste geben. Indessen war doch 
niemand so gar unglaublich undankbar als mein oft angeregter 
Gegner, H. Stapelhaselius. Wirds der Leser glauben, dieser Man 
hat die Kinder aus seiner Begattung mit dem Teufel des ortho- 
doxen Hasses, die, ohne rrfeine Dazwischenkunft, durch den 10 
Engel der christlichen Liebe so gut als hintertrieben war, in sei- 
ner Widerlegung auf mich selber losgelassen und angehezet. 
Niemand weis aber die Miihe, welche der Widerstand des Engels 
mir machte: es kam ia zwischen uns sogar zum Raufen und 
Schlagen; der Engel sezte sich zur Wehre, ich faste ihn bei den 
Fliigeln, er mich bei den Hornern und ich wiirde sonach noch 
bis iezt mit ihm gefochten haben, hatt' ich merit meinen Schwanz 
zu Hiilfe geruffen, der seinen Waden verschiedene empfindliche 
Streiche zuwedelte und so den Sieg mir zuschlug. 

Bald nach der Hochzeit wird die Sele oder Bienenkonigin 20 
von einem iungen gesunden und wolgebildeten Satan entbun- 
den, dessen Gestalt meine obige Vergleichung desselben mit 
einer Biene vollig rechtfertigt. Er hat namlich einen Schwanz, 
wie die Biene etwas ahnliches, den Stachel; er hat zwei Horner, 
wie die Biene auch; er hat zwei Paar Krallen, wie die Biene 
vollig eben soviel, man muste denn ihr drittes Paar mit in An- 
schlag bringen; er hat (wie Rabbinen schon sagen) Fltigel, die 
Biene ebenfals; er ist schwarz, und die Farbe der Biene ist? - 
zwar iezt golden; allein auch bekam sie diese Farbe erst als einen 
Lohn vom Jupiter, den ihre Vorf ahren (wie Virgil singt) in seiner 30 
Kindheit mit Honig aufazten. Denn sonst sahen die Bienen (wie 
die Fabel lehret) eisenfarbig aus. Der Leser betrachte nun den 
Teufel mit ein wenig mehr als gewohnlicher Aufmerksamkeit, 
so wird es ihm nicht entgehen, daB wirklich die Schwarze des- 
selben eben gar sehr ins Eisenfarbige spielet. Daher komt es 
wol, daB die Bibel den Konig der Teufel gemeiniglich Belzebub 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 941 

d. h. einen Konig der Fliegen nent. Man sieht auch, wie nahe 
der Doktor Baynyard einer richtigen Vorstellung von uns war, 
der sich den Teufel wie eine grosse Brumfliege dachte. — Der 
iunge Satan nun, (wenn die Menschen einen sehen, so sagen 
sie: das ist eine Siinde) komt, wie die Mohren, mit der Farbe 
der Unschuld, mit der weissen auf die Welt, doch reift sie bald 
zur schwarzen, zur kohlschwarzen; alsdan kan die Mutter ihr 
Kind nicht mehr riechen noch schmekken. Einige wenige indeB 
werden mit der schwarzen Farbe auch schon geboren und glei- 

io chen denen Blumen, die schon in der Knospe mit alien den 
Farben gepuzet sind, welche die Sonne hernach aufdekket. Die 
Menschen kennen und schazen diese scharzgebornen Teufel un- 
ter den Namen schwarzer Laster. Seltner schenkt die Sele der 
Geisterwelt einen stummen Teufel, der meistens gleich nach sei- 
ner Geburt in ein fettes Schwein fahret. Doch mogen sie in 
den iezigen Tagen haufiger sein; wenigstens hor' ich immer, 
daB die stummen Siinden es geworden und darunter meint man 
doch wol solche Teufel. Was todgeborne Satane, Embryonen 
und Misgeburten anlangt, so hekt die Sele nur dan und wan 

20 dergleichen. Ich darf nicht vergessen, daB die Selen in weiblichen 
Korpern meistens Teufel zeugen, die an Gestalt und Gaben den 
Affen sehr gleichkommen; der Manner ihre aber sind immer 
wahre ausgemachte Teufel. - Ich hatte oben doch mit erinnern 
sollen, daB im Bienenstokke gewohnlich Ein Teufel ist, dem 
die Sele das Schnupftuch vor andern zuwirft; und daB diesen 
Vorzug immer der behauptet, der die meisten von den obenge- 
dachten kochenden Wasserquellen besizet und mithin die Sele 
am freigebigsten mit Liebestrankenbedienen und beriikken kan. 
In einigen Bienenstokken sind diese Guter unter alle gleich ver- 

30 theilet und sie haben unter einander eine Reiheschank; heute be- 
sauft sich die Sele bei dem, morgen beim Nachbar und geht 
sonach mit ihren Gunstbezeugungen unter dem ganzen Heer 
hausiren und giebt sich wol zulezt, wie man davon schon un- 
laugbare Beispiele hat, gar einem guten Engel Preis, der ihr 
etwan gerade ein wenig Nervensaft zutrank. 

Etwas sehr wunderbares und darum nicht weniger ausge- 



942 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

machtes ist es, daB man den obern Theil des menschlichen Bie- 
nenstoks bios mit ein wenig Wasser geschikt zu besprengen und 
gleichsam zu taufen braucht, urn der Bienenkonigin darin die 
Jungferschaft auf der Stelle wiederzu vers chaff en, hatte sie auch 
bei alien Teufeln schon geschlafen. Ich habe selbst lange an der 
Wirkung dieser Taufe gezweifelt; aber seitdem ich an dem Was- 
ser eines gewissen Franzosen eine ahnliche wahrgenommen , kan 
ich iene mit Recht nicht mehr in Zweifel ziehen. Er verfertigt 
und verkauft ein sonderbares Arkanum unter dem Namen Jung- 
ferschaftsessig (vinaigre de virginite), von dessen Gebrauch er al- 10 
len Dam en, sowol verehlichten als unverehlichten die Wiederge- 
burt der Jungferschaft mit so klaren und so nachdriiklichen 
Worten verspricht, daB man die franzosische Glaubwiirdigkeit 
mit der griechischen verwechseln muste, wenn man dennoch 
glauben woke, der Franzos luge und sein Essig mache wirklich 
keine Jungfern. - Allein andere glauben die Bienenkonigin wie- 
der zu verjungfern, wenn sie mit vielen Zeremonien den Bienen- 
stok von aussen um ein Spahngen beschneiden und sie nennen 
ihr Beschneidemesser das Inokulirmesser, das dem Stokke bessere 
Friichte einimpfet. Und diese werden mit Recht von iedem - 20 
Beichtvater, hatt' ich mich bald versprochen, ich wolte aber 
sagen von iedem - Bienenvater verlacht: denn alles, womit sie 
diese unbegreifliche Umschaffung der Sele wahrscheinlich ma- 
chen konnen, lauft etwan dahinaus, daB die Abyssinier, (wie 
Paw erzahlt) etwas ahnliches vom Korper behaupten und die 
Beschneidung einer Frau fur die Wiedergeburt ihrer Jungferschaft 
ansehen.*- 

Uber die Erzeugung des Menschen hat man noch gar nichts 
gesundes vorgebracht. Der Leser urtheile selbst, wie.weit alle 
Hypothesen dariiber die Wahrheit verfehlet, da keine die fol- 30 

* Jezt merk' ich erst, daft der Teufel sich oben uber die Beschneidung 
der Juden aufhalt. Ich wiinschte aber, er hatt' es nicht gethan: er billigte . 
weiter oben mit so vielem Rechte unsere Taufe, ich sehe aber nicht 
ein, wie er demungeachtet iene misbilligen kan, die doch die Vorlauferin 
von dieser ist. Vielleicht loset man das Rathsel auf, wenn man annimt, 
daft der Teufel im Grunde ein heimlicher - Atheist ist. 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 943 

gende und einzige richtige Erklarung von der Erzeugung giebt: 
wenn eine Bienenkonigin eine neue erzeugt, zu der sich die klei- 
nen von iener hervor[ge]brachten Teufel oder Bienen schlagen; 
wenn dieser kleine Staat im Staat seinen Bienenstok an einem 
schonen Sommertage verlasset, von dem man dan sagt, er 
schwdrmet; und wenn selbiger sich in einem neuen anlegt: so kan 
man sagen, der Mensch hat ein Kind gezeugt. 

Inzwischen ist wol nichts ausgemachter, als daB die fiinf Sinne 
die Fluglocher sind, wodurch die Teufelgen fliegen, wenn sie 

io ihre Honig- und ihre Giftblase mit den Exkrementen der Blumen 
zu fiillen fortgehen oder aus der erstern ihren Weisel zu azen 
wiederkommen. Jede solche Honigmalzeit ist ein LiebesmaU das 
ihre Mutter zu neuen Begattungen mit ihnen anfrischt und 
starkt. Sind aber endlich die Blumen verbliiht und die Honigzel- 
len erschopft: so erleichtern alle Teufel die geschwollene Gift- 
blase auf ihre Mutter und dringen alle mit ihren langen Stacheln 
auf sie ein, um mit Pein ihrem Unvermogen die Fortsezung 
der Parungen abzudringen, welche sie ihr sonst mit Honig ab- 
schmeichelten. Dem Spiele macht ein zaundiirrcr Man ein Ende, 

20 der mit einem krummen sensenartigen Zeidelmesser den Honig 
auszunehmen gegangen komt und in der ersten Erbossung iiber 
das Siissigkeiten verprassende Pak die Bienenmutter samt ihren 
Kinderfn] durch Tabaksrauch in die - Holle iagt, die ich iezt 
nicht ohne Anmuth naher zu beschreiben gedenke.« 

Nein! ich mus dem Teufel den Pinsel aus den Krallen reissen, 
den er misbraucht, um uns so schwarz abzumalen als wir ihn 
gewohnlich. Denn der Menschen, die Ausnahmen von seiner 
Allegorie sind, giebt es so viele, daB sie aufhoren, nur blosse 
Ausnahmen zu sein. Sogar die, welche den Menschen so verach- 
30 ten, daB sie auch sich selber nicht ausnehmen, widerlegen sich 
durch sich selbst. Der Theil ihres Wesens, der auf einen andern 
Theil desselben mit soviel Verachtung heruntersieht, stehet eben 
darum hoher und von der Tiefe des schlechtern entfernt und 
sie mussen an sich wenigstens ihre Selbst verachtung hochscha- 
zen. Nein also! denn du sonderbares Geschopf, du Mensch, so 



944 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

unbegreiflich thoricht du bist; so unaufhorlich deine Narren- 
schellen, gleich einer schlagenden Minutenuhr, mit Klingeln ie- 
den Ruk der Zeit begleiten, so hat die Natur doch fur deine 
Neigungen besser gesorgt und du bist nur eben so schwach 
als gut. Ich hatte daher sehr gewiinscht, lieber Satan, du moch- 
test unsere schlechte Seite lieber in einer andern Allegorie ent- 
worfen haben als in der mit den Bienen, diesen holden unbe- 
scholtenen Thieren. Warum nicht lieber in einer mit den 
Wespen, die keinen Honig geben und andern nichts aus sich 
mittheilen als stechenden Gift? Denn ich hatte so gerne unsere 10 
gute Seite durch iene bessern Thiere dargestellet; und wiewol 
ich es auch iezt thun werde, so kan ich doch nur die wenigen 
Blumen pfliikken, die du etwan am Rande der Wiese, worm 
du alien Schmuk hinweggeerndtet, noch stehen lassen, wie die 
Maher gemeiniglich thun. 

Ich habe es von einer sichern aber unsichtbaren Hand, daB 
es eine gewisse Art von Bienen oder Engel giebt, mit welchen 
besondere Menschenselen dieienigen Engel zeugen, die unter 
uns den Namen schone Thaten fiihren. Mancher menschliche 
Bienenstok ist oft wirklich mit sovielen Engeln musivisch aus- 20 
geleget, dar3 er innen aussieht, wie ein Tempel, wie ein Pan- 
theon, wie ein Himmel. Solche Bienen versammelten sich unter 
deinem Schlummer auf dem Flugbret deines Bienenstoks, auf 
deinen Lippen, lieber Plato, als du noch ein Kind warest; aber 
die Bienen blieben da nicht sizen, sondern giengen, als du ge- 
wachsen und mehr in die Hbhe als in die Tiefe gewachsen warest 
- bei den meisten Menschen ist es aber umgekehrt und an ihrer 
Sele wachsen, wie nach Martinets Bemerkung an ihrem Korper, 
die untern Theile starker als die obern - gar weiter in den Bienen- 
stok hinein. Uberhaupt, Plato, war dein Leben, nicht wie bei 30 
den meisten ein dummer dikker mitternachtlicher Traum, nicht 
wie bei einigen ein hellerer Morgentrzum, sondern wie bei den 
besten eine noch hellere Schlaftrunkenheit, und mit deinem Zuge 
nach oben, der zwar auch die Fusse sich in den Koth verirren 
lasset, allein der auch ihre Heraushebung erleichtert, komst du 
mir wie einer in den Steinsalzbergwerken vor, der wie seine 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 945 

Mitarbeiter geboren^und erzogen unter der Erde, zwar auch in 
den Himmel, der dw/derselben liegt, nie gewandelt, allein doch 
an der Ein- und Ausfarth Strahlen eines reinern Lichtes aufge- 
fangen. Nothwendig wird dieser Man gewisse Ausdehnungen 
in seinem Busen fiihlen, die ihm sein Salzbergwerk zu enge 
machen und ihn aus der Erde auferstehen heissen. Wie gesagt, 
so komst du mir vor, lieber Plato! Ich versage dir mit alien 
Alten den Namen des Gotlichen nicht, aber bios, weil noch 
niemand als du in deiner Republik so gut von der Tugend ge- 

10 schrieben, die allein gotlich ist, und weil noch niemand so gut 
als du gezeiget, daB unser Korper, in welchem unser Ich wie 
in einer beweglichen Bildsaule stekt, ein Geistesgefangnis ist, 
das ich iedoch meiner Allegorie zu Folge besser ein Weiselgefang- 
nis* nenne, und daB die diistre, unreine und dikke Erdenathmo- 
sphare, die uns belastet und in der wir uns miide waten, das 
heilige Grab ist, das edle Thaten eine Zeitlang einschliesset. - 

Die Anmerkung ist sehr nothig, daB oft das zu schone und 
warme Wetter in menschlichen wie in andern Bienenstokken 
dem Honig, welchen die Bienen oder Engel fur den Weisel, fur 

20 die Zellen und die Jungen eintragen, die Festigkeit nimt und 
ihn zergehen macht. Das ist ein grosses Ungliik: denn der zer- 
flossene Honig hangt sich an die Flugel der Bienen, leimt sie 
an die Hintertheile derselben an und hindert so den Flug.** 
Bienenverstandige haben an meiner stat schon angemerkt, 
daB die Bienenstokke, welche ihren Stand in der Abend- und 
Morgensonne haben, die fleissigsten sind und ruhmen daher das 
Lickt zum Honigbau iiber alle Massen; und alle Alten sagen uns 
dasselbe: allein die iezigen Poeten wenden alles an, uns diese 
wichtige Anmerkung aus dem Gedachtnis zu bringen und su- 

30 chen uns zu (iberreden, daB man zur Tugend so wenig Licht 
bediirfe als zum Dichten. 



* So nent man ein gewisses Behahnis von Drath, in welches man 
den iungen Weisel sperret, wenn er nicht im Bienenkorbe bleiben wil. 

** d. h. der haufige Genus des sinlichen Vergniigens entkraftet die 
Tugend. 



94$ JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Gliiklich ist der, in welchem es von Engeln wimmelt! Denn 
sie singen ihm Abends ein Wiegenlied, das die Geister seiner 
verstorbnen Kinderiahre aus dem Gedachtnisse auferwekt, wel- 
che ihn dan im Traume besuchen und mit ihm, weil der Schlaf 
wie das Alter wieder zum Kinde veriiingt, wie mit ihres Glei- 
chen spielen. Ich hake dafiir, gliiklicher ist ein solcher, der Engel 
oder Bienen zeugt, als ich, der ich bios stechende Wespen oder 
Teufel d. h. Satyrs in die Welt seze. Aber ganz ungliiklich ware 
der, der auch langer spottete als er die Feder hielte und der nicht 
zuweilen vor dem Angesichte der schuldlosen und erhabnen 10 
Natur die menschlichen Kleinigkeiten und ihre Lacherlichkeiten 
und den Spot dariiber auf einmal vergasse: der Stachelschwein- 
mensch in London warf doch seine natiirlichen Stacheln ab, 
wenn es kalt wurde; und in dieser Mausezeit pflegte er auch 
seine Gattin zu umarmen. 

Vom Sokrates kan ich bei dieser Gelegenheit vielleicht etwas 
neues mittheilen. In der Nacht vor dem Tage, da er starb, sol 
er (hat mich wenigstens sein Genius berichtet) im Traume durch 
neue Vermahlungen die Zahl seiner Engel vermehret und mit- 
hin, da er ihre Geburt nicht erlebte, mit Bewohnern einer bes- 20 
sern Welt schwanger die ungerechte verlassen haben. So tonet 
zuweilen eine einsame Biene im Mondschein umher und ziehet 
aus den Lindenbliithen, die sie am liebsten kostet, zu Nachts 
noch Honig, weil ihr der Tag zur Einsamlung desselben zu kurz 
geworden. 

Genug aber nun! Denn das weis ieder von selbst, daB der 
Bienenvater im Herbst den Honig aus den Bienenstokken schnei- 
det und im Winter (des Todes) sie unter die Erde begrabt, wo es 
warmer sein sol und wo die Bienen ausruhen. In verschiedenen 
Bienenbiichern hab' ich dabei noch gelesen, daft dieses Begraben 30 
ihn en so wenig Schaden thut, daB im Friihling der ganze 
Schwarm sich mit groster Munterkeit wieder heraus in die Hohe 
erhebt; indessen ganz gewis weis ich doch das nicht und ich 
habe auch selber noch keine Erfahrung dariiber angestellet; 
meine Leser mogen daher lieber mit dem Bienenvater selbst 
aus der Sache sprechen. -Der Teufel kan aber iezt wieder auftre- 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 947 

ten, den ich so lange verdrangte, weswegen ich mich bei den 
Lesern wol entschuldigen mus. Er theile uns denn seine verspro- 
chenen Nachrichten von der Holle giitigst mit, auf welche ich 
selbst (ich laugne es nicht) ein wenig begierig zu sein mich nicht 
erwehren kan. 

»Ich habe mich schon oft iiber die Magerheit der Nachrichten 
gewundert, welche die Menschen von der Holle haben, und 
noch mehr iiber ihre unglaubliche Nachlassigkeit, genauere ein- 
zuziehen. Wenigstens liesse die Warme, mit der sie diesen Ort 

10 zum Ziel yon alien ihren Schritten und Spriingen erheben, ein v e 
ganz andere Neubegierde, ihn kennen zu lernen, erwarten und 
man soke anfangs glauben, es musse ihnen an der Kentnis dieses 
Zieles nicht weniger gelegen sein als an seiner Erreichung. 
Gleichwol haben sie iiberhaupt nicht mehr als zwei gute Reise- 
beschreiber von diesem Orte aufzuzeigen, und das ist Klopstok 
und Schwedenborg. Der erstere ist nicht einmal ein rechter 
Geograph der Holle, sondern nur ein Landschaftsmaler derselben. 
Nur der andere, Schwedenborg hat allenfals ihren kunftigen 
Biischingen etwas vorgearbeitet und wirklich eine ziemlich 

20 richtige Karte von ihr aufgenommen. Ungleich mehr Glauben 
als der Heldendichter verdient er auch: denn er scheuete aus 
Liebe zur Wahrheit die gefahrliche Reise nach der Holle nicht, 
hielt sich lange da auf, pflog besonders mit mir einen taglichen 
Umgang, der seinen Kentnissen noch mehr als den meinigen 
zu statten kam - es hatte es daher wol die gute Lebensart, ich 
wil nicht sagen die Dankbarkeit erfodert, daft er auf irgend eine 
gleichgultige Weise in der Vorrede zu seinen Werken die doch 
nicht ganz geringen Dienste namhaft gemacht hatte, die ich ihm 
bei seinem Aufenthalte in der Holle that - und schos in ihre 

30 entferntesten Winkel die gliiklichsten Blikke. Obrigens ist sein 
Dagewesensein hinlanglich durch den Verlust seines Verstan- 
des* ausser Zweifel gesezet. Unter seinen erheblichern Verdien- 

* Denn bekantermassen ist es eine der ansehnlichsten Revenuen der 
Teufel, daft ieder Mensch, der noch bei lebendigem Leibe die Holle 
besichtigt und bereiset, seinen Verstand stat des Abzuggeldes da zuriik- 



948 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

sten um die Holle wollen wir auch seinen ihm zur andern Natur 
gewordenen Abscheu vor allem Wunderbaren und Abentheuer- 
lichen, auf welches andere Reise[be]schreiber ordentlich Jagd 
•machen, um hernach die Leser darauf zu Gaste zu bitten, nicht 
vergessen. Denn ich kan es meinen Lesern versichern - sie diirfen 
ihm daher in allem blindlings glauben -, daB auch nicht ein ein- 
ziger Umstand aus seiner Feder geflossen, den er etwa selbst 
ersonnen und von dem er sich nicht vorher mit eignen Augen 
(des Geistes, nicht des Korpers) auf das Genaueste unterrichtet 
gehabt hatte: vielleicht hat noch kein Reisebeschreiber so wenig 10 
als er, seiner Phantasie oder gar seinem Verstande dem Gedacht- 
nisse ins Wort zu fallen erlaubt. Nur daher komt auch in seiner 
Reisebeschreibung iene auffallende Ahnlichkeit der Holle mit 
der Erde, welche gewis ein anderer Reisebeschreiber, der weni- 
ger als Schwedenborg auf den Vortheil der Wahrheit und mehr 
auf den Vortheil der Unterhaltung sah, mit lauter zwar wunder- 
baren aber ersonnenen Unahnlichkeiten wiirde vertauschet ha- 
ben. Ich vermisse diese patriotische Verlaugnung des Kopfes 
nur selbst bei Klopstok ein wenig zu sehr: unter seinem von 
Farben geschwollenen Pinsel (denn make Schwedenborg ia zu- 20 
weilen, so that ers doch nur mit dem umgekehrten Ende des 
Pinsel s) hat die Holle beinahe ihre meisten Ahnlichkeiten mit 
der Erde eingebiisset; Ahnlichkeiten, fur welche der Leser durch 
die Aufstuzung mit Unahnlichkeiten nur schlecht entschadigt 
wird, die zwar schon genug aussehen, allein zum Ungliik fur 
ihre Wirklichkeit nur keinen andern Schopfer haben als - des 
H. Klopstoks eignen phantasiereichen Kopf. 

Die Holle ist in dem grossen Kometen, der sich durch seinen 
Schwanz vielleicht mehr Ruhm auf euerer Erde erworben als 
Alzibiades sich durch den abgehakten Schwanz seines Hundes. 30 
Denn er hat damit euer Erdgen einmal mit Wasser getauft und 
ist schon auf dem Wege, es noch einmal, aber mit Feuer zu 

lassen mus; so wie der Lady Montague fur die Betretung des Serails 
etwas abgefodert wurde, das iedoch, nach ihrem scharfsinnigen Sohne 
zu urtheilen, nichts weniger als ihr Verstand war; doch hat sie vielleicht 
auf dieser Weiberschaubiihne auch nur um freien Einlas selbst mitgespielet . 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 949 

taufen, um entkorperte frische Verdamten Manschaft auf sich 
einzuschiffen.* Die Kalte daselbst glaubt niemand, wer nicht 
selbst da war; die Hize aber ist gar nicht auszuhalten, da sie 
zumal noch durch unsere eigne Korper vergrossert wird. Denn 
die durchsichtigen Leiber aller Teufel sind natiirliche volkom- 
mene Brenspiegel, welche mit den Strahlen, die von den Sonnen, 
von guten glanzenden Engeln und selbst von der Wahrheit auf 
sie fallen, andere Teufel stechen und sengen . Es ist ein sonderba- 
res Schauspiel, wenn man so sieht, wie das ganze Hollenheer 

io von einer wechselseitigen Flucht getrieben wird; wie ieder Teu- 
fel eine ganze Holle von Feuer auf sich tragt und von sich wirft 
und wie besonders die grossen Teufel daherwandeln wie feuer- 
speiende Berge. Was im Himmel Licht ist, das ist in der Holle 
Feuer, und stat der Heiligenscheine, die dort die Haupter zieren, 
sind hier Pechhauben, die um die Kopfe brennen. Ich kan aber 
nicht beschreiben, was fur Vergniigen die Gelehrten, welche 
die Erde der Holle schenkt, an uns lebendigen Brenspiegeln fin- 
den, mit denen sie Versuche zu machen der damit verbundnen 
Qualen ungeachtet gar nicht sat werden konnen; und ein grosser 

20 Experimentalphysiker versicherte mich neulich, er mochte um 
wie viel nicht wieder auf die Erde, wo die Brenspiegel, selbst 
die biiffonschen nicht ausgenommen noch so in der Wiege lagen 
und einengeschiktenkentnishungrigenEmpedokles wenig oder 
nicht versengten und verbrenten: ich meines Orts wil es alien 
noch lebenden Gelehrten auch gern gonnen, daB sie das Vergnii- 
gen dieser Versuche habhaft werden und in die Holle kommen. 
- Demungeachtet wird es mir der Leser willig glauben, daB 
unsere brenspiegelartigen Korper uns unsern Umgang derge- 
stalt verleiden und beschwerlich machen, daB es in der Holle 

30 ordentlich fur die Probe einer mehr als gewohnlichen Freund- 
schaft gilt, wenn zwei einander selten besuchen und sich ihre 
Nachbarschaft ersparen, so wie im Gegentheil gegenseitige An- 
naherung und Umarmung (etwas ahnliches von diesem findet 

* Der Teufel zielet auf Whistons Kometen, der an der Siindfluth 
schuld ist und am Feuer des tungsten Tages schuld sein wird. 



950 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

man doch bei euch auch, namlich unter eueren Hofleuten) fur 
das untriiglichste Merkmal des bittersten Hasses angesehen 
wird. - Ihr sprechet immer von feurigen Pfeilen, womit die 
Liebe die Herzen anschiesset; aber ihr sprechet nur von meta- 
phorischen. Bei uns hingegen wird wirklich mit unfigurlichen 
geschossen, so wie auch die Erdschnekken auf einander ordent- 
liche Pfeile als Boten der Liebe ablassen: mit den Strahlen nam- 
lich, die der brenspiegelhafte Korper absendet, geben die Teufel 
einer aus euerer Welt gegangenen Bienenkonigin, indem sie sich 
nahern, ihre Liebe zu verstehen; ie mehrere Teufel (Laster) eine 10 
Sele also aus euerer Welt in die Holle hinuberbringt, des to 
schlimmer hat sie es folglich, weil um sie so viele Kinder buhlen 
und in sie sich oft ein ganzer Kreis von gliihenden Feuerkegeln 
einbohret. - Bei dieser Gelegenheit kan ich Potentaten, die Feu- 
erwerke so sehr lieben, daB sie beinahe ihre Unterthanen kaum 
starker lieben, eine Nachricht mittheilen, die sie freuen mus: 
die Fiirsten namlich, die ihre Regierung auf der Erde mit den 
meisten Feuerwerken gezieret hatten, verwandeln sich in der 
Holle gewissermassen selber in schone Feuerwerke, welche in 
alien Farben und sogar in der schwarzen brennen. Schoners giebt 20 
es vielleicht nichts als den Anblik von einem oder etlichen der- 
gleichen furstlichen Feuerwerken, an welchen sich besonders 
der Name des Fiirsten, auf der Stirne mit blutrothen Buchstaben 
flammend, ungemein ausnimt. 

Mir ist es sogar unbekant nicht, daB verschiedene Leser liber 
diese und ahnliche Ungereimtheiten, die ich von der Holle er- 
zahle, die unglaubigen Achseln ziehen werden; vielmehr wurde 
mir gerade das Gegentheil bei dem Skeptizismus unserer Zeiten 
unerwartet kommen: aber fiir Spotter und Denker, an denen 
Hopfen und Malz nun wol verloren ist, schreib' ich auch der- 30 
gleichen Ungereimtheiten nicht: sondern nur zum Besten des 
kleinen verachtlichen Haufgens derer, welche eben so edel als 
selten denken, hab' ich mir die uneigenniizige Miihe genom- 
men, die obigen Widersinnigkeiten von der Holle ans Licht zu 
stellen, weil ich hoffen kan, daB diese sie vielleicht in ihrem 
Glauben an Ungereimtheiten noch mehr zu bestarken dienen 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 95 1 

und daB ich ihnen die Skrupel, die sie doch zuweilen sich iiber 
alten Unsin machen mogen, vielleicht gliiklich durch neuen be- 
nehme. Jezt aber weiter! 

Jeder Teufel unternimt zur Zeit, wo sein Temperament die 
Witterung auf der Holle nicht mehr ertragen kan, einen Zug 
nach der Erde. Auf sie walfahrten z. B. im Mai die hizigen Teu- 
fel der Wollust, um den Frost bei uns voriibergehen zu lassen. 
Ein sonderbares Phanomen ist es beilaufig, daB keine Teufel 
schlimmer sind als die, welche eben von der Erde zuriikgekom- 

io men sind. Ich habe oft daniber nachgesonnen; und finde die 
Muthmassung immer wahrscheinlicher, daB an dieser Ver- 
schlimmerung die Tugendbeispiele vielleicht nicht am unschul- 
digsten sind, womit die Teufel euere Erde so gefiillet und ver- 
schonert erblikken. Der Leser kan dariiber weiter nachdenken; 
er erwage aber doch eine ahnliche Bemerkung von Pockocke 
wol, daB ieder Muselman von seiner Walfarth nach Mekka, dem 
heiligen Grabe der Tiirken, um ein gut Theil schlechter zuruk- 
kehret als er hinzog und daB die, welche am haufigsten da gewe- 
sen, ordentlich auch die schlimsten sind. Es macht dem Christen 

20 ausserordentlich viel Ehre, daB er auch hierin vor dem Tiirken 
voraus ist und daB die katholischen Walfahrten dem Laster stat 
Vorschub Abbruch thun. Denn vielleicht haben mehrere mit 
mir die Bemerkung gemacht, die mich nie betrogen, daB wol 
nichts geschikter als so eine Walfarth ist, die Frommigkeit so 
wie den Korper ganz von neuem aufleben zu lassen; und ich 
iibertreibe es vielleicht nicht, wenn ich glaube, daB eine Walfarth 
nach Maria Taferl fiir die Verbesserung der weiblichen Herzen 
und besonders fiir die Keuschheit von eben so wichtigen und 
guten Folgen ist als eine nach Paris fiir die moralische Verbesse- 

30 rung der manlichen nur immer haben mag. Wenn ich diese unge- 
meine Nuzbarkeit der Walfarthen iiberlege - sie sind in der That 
wahre Selenwanderungen und etwan fiir den Kirchenstaat das, 
was der Umlaufdcs Geldes fiir den politischen ist - und etwan 
noch dies darzu, daB die Wienerinnen sich die iahrliche Erlaubnis 
zu einer Reise nach Maria Taferl im Heirathskontrakt versichern 
lassen: so find' ich es unbegreiflich, wie man noch soviel vom 



952 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Verfal der weiblichen Keuschheit schwazen kan und wie man 
wenigstens die obgedachten Wie[ne]rinnen nicht von diesem 
Vorwurfe ausnimt. - Was ubrigens die verschlimmerten Teufel 
anlangt, so schwizen sie doch gar bald in der Holle die Bosartig- 
keit aus, welche sie auf der Erde einsogen; so wil man in Neapel 
bemerkt haben, da8 den Wachteln der Gift, den sie bei ihrer 
Wiederkunft aus Afrika mit sich fiihren, durch einen achttatigen 
Aufenthalt in Italien gar leicht benommen werde. - Einige Phi- 
losophen konnen diese Durchziige der Teufel durch die Erde 
nicht mit dem Saze reimen, daB die Erde ein Tempel Gottes 10 
ist; allein sie vergessen vielleicht, daB durch gewisse Kirchen 
ein Durchgang gehet, der iedem den Durchzug erlaubet, wenn 
er auch kein sontagliches Kleid anhat. 

Hier kan ich sehr schiklich und ungezwungen den Anlas mit 
denHarenherziehen, dem Leser zu entdekken, daB das gedachte 
Italien seine Hsbergwerke nicht nothiger hat als die Holle die 
ihrigen. Denn wo wolten wir sonst nicht bios Kiihlung fur den 
Durst hernehmen? sondern auch woraus wolten wir unsere 
Hauser auffuhren? In Rusland hat man schon einmal einen Pal- 
last von Eis gebauet; und bei uns giebt es gar keine andern Bau- 20 
materialien. Wenn wir daher die Redensart: er hat sein Haus ver- 
soffen euch Menschen nachbrauchen: so nehmen wir sie im 
eigentlichsten Sinne. Denn das namliche Eis ist unsere Wohnung 
und unser Trank und ich hab' es wol ofters erlebt, daB der, 
dem alles Eis seines Kellers ausgegangen war, zulezt den Eiskel- 
ler selbst angrif und auch diesen durch die Gurgel iagte: so ist 
es oft derselbe Baum, in dessen Hohlung der Bienenschwarm 
wohnt und in dessen BKithen er saugt. 

Ich darf hoffen, daB die Linie iener schazbaren Christen noch 
nicht ganz erloschen ist, welche von euch mit dem sehr unge- 30 
rechten Namen Scheinhtilige gebrandmalet werden; ein Namen, 
den sie schon deswegen nicht verdienen, weil ihre geheimern 
Handlungen mehr als zuwol beweisen, daB sie gar nicht scheinen, 
heilig zu sein. Diesen wenigen Reliquien der verstorbnen Hei- 
ligkeit, welche gewis auch nach ihrem Tode ihren Gottesdienst 
noch fortzusezen wiinschen aber wenig hoffen werden, erweis' 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 953 

ich unfehlbar durch die Versicherung den grosten Gefallen, daB 
sie die Holle, fals sie nur daselbst im Winter anlangen, mit Kir- 
chen von Els ganz iiberdekket und ordentlich gepflastert finden 
werden. Fur Selen, welche das Tempelbesuchen unter ihre 
wichtigsten und fromsten Geschafte zahlen und die das Horen 
der Predigten dem Befolgen derselben so weit vorziehen, lean 
es doch unmoglich gleichgiiltig sein, zu erfahren, daB sie auch 
in der Holle, diese frommen Bediirfnisse zu befriedigen Gele- 
genheit antreffen sollen; ich mache mir vielmehr Rechnung, daB 

10 diese Versicherung vielleicht manchen guten Christen anfri- 
schet, darauf zu denken, wie er seinen iezigen Wohnort, wo 
ihm der Spot seinen Gottesdienst von Tag zu Tag nur mehr 
versalzet, sobald als moglich gegen die Holle vertauschen moge, 
wo er unter den Teufeln seinem Got doch ungestorter dienen 
kan. - Zu dieser Menge von Kirchen kommen wir aber, weil 
ieder Teufel gehalten ist, fur iede neue Kolonie von Selen, um 
die er die Holle verstarkt, einen besondern Tempel zu geloben 
und zu erbauen: dafur darf er auch iiber seine Kirche das Jus 
patronatus exerziren; eine Gewohnheit, die die ersten Christen 

20 von uns entlehnet haben und der verschiedene Edelleute auf 
der Erde manchen Ruhm verdanken. Daher komt es auch, daB 
ieder Patronatsteufel die vakanten Stellen des Organisten und 
Klingelbeutelvaters mit beliebigen Subiekten besezt. 

Mehrere als diese zwo Stellen sind in unsern Kichen auch 
nicht zu vergeben; denn das Predigers Amt versieht der Orga- 
nist. Ich wil mich erklaren. Ein Teufel hat namlich eine Erfin- 
dung gemacht, auf welche die Holle mit Recht stolz ist; ich 
meine die bei uns so beriihmte Predigerorgel, welche auf Veran- 
lassung eines leichten Drehens ganz gut ausgearbeitete Predigten 

30 halt; Predigten, welche Licht in den Kopf und Warme in das . 
Herz zu bringen selten unterlassen. Ich seh' es leider! wol voraus, 
daB mein Leser iezt einfaltig genug ist, sich diese Orgel mit 
der Gabe der Sprache zu denken; ich mus es ihm also ausdriiklich 
melden, daB sie keine Vokal- sondern nur Instrumentalmusik 
machen kan. Aber eh* ich die Orgel beschreibe, wird es dem 
Leser gefallen, in meiner Begleitung ein wenig defer in das We- 



954 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

sen der Predigten einzugehen; und fals er auf diesem Hinunter- 
steigen zum Brunnen, worin die Wahrheit sizt, etwan fallen 
woke, so halte er sich nur an mich, ich werd' ihn gerne halten. 
Wenn man den Ursachen, warum gute Predigten in dem Zu- 
horerso betrachtliche und heilsame Veranderungen anzurichten 
im Stande sind, etwas genauer nachspiiret: so entdekket sichs, 
daB der blosse Sin ihrer Worte nicht von der Zahl iener Ursachen 
ist, denen wir nachforschen, sondern daB der Schal ihrer Worte 
alle iene wolthatigen Wirkungen allein zu Stande bringt. Auch 
frage man sich nur selbst: welche Predigten haben dein Gewissen 10 
am nachdriiklichsten aus seinem Mittagsschlafgen gewekket, 
ohne dadurch den Schlaf deines Korpers zu storen? in welchen 
waren die Ermahnungen fur dich am beweglichsten? welche 
dir die faslichsten? Und man wird sich nicht laugnen konnen: 
daB es allerdings stets die gewesen sind, welche die Gemein- 
schaft mit dem gesunden Menschenverstande ganzlich aufgeho- 
ben und an seine Stelle die heiligsten Schalle hatten rukken las- 
sen, die meines Erachtens auch die einzige zulassige Kirchenmusik 
sind. Ich habe vor etlichen Jahren eine Gastpredigt gehoret, wel- 
che durch gewisse an das Ohr und Herz ungewohnlich drin- 20 
gende Schalle, womit sie den Sin theils erganzte theils ersezte, 
die Herzen und Ohren von uns Zuhorern insgesamt in eine Be- 
bungund Stimmung brachte, die so ungewohnlich lang anhielt, 
daB sie eben so lange als der Klingelsak fortklang d. h. der Ein- 
druk dieser schallenden Predigt dauerte wenigstens noch eine 
gute Viertelstunde noch als das Amen schon gesaget war: denn 
der Sak - die Kirche war sehr vol - klingelte eine Viertelstunde 
langer als die Predigt, die er, wie bei den Alten den Deklamator 
die Blasinstrumente, akkompagniret hatte. Ein Teufel, der die 
Gleichnisse sehr liebt, sagte ungemein artig: mit der italienischen '30 
Komodie sei es auch nicht anders; denn oft habe er beinahe 
das ganze Parterre mit deutschen Zuhorern bedekt gefunden, 
davon kein einziger ein italienisches Wort verstand: namlich 
nicht um den Sin, sondern um den Klang der gespielten Stiikke, 
der durch den Beistand einer italienischen Kehle ienen auch 
leicht (ibertreffen kan, sei es ihnen zu thun gewesen. - Obrigens 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 955 

ist das was ich hier sage, so unbekant nicht. Die Resonanzboden, 
welche an den Dekken mancher Kirchen angebracht sind, um 
den Eindruk der Predigt auf die Ohren zu verdoppeln, lassen 
mich vielmehr stark vermuthen, daB ihre alten Erbauer, welche 
so sehr fur die Verstarkung des Schalles sorgten, die Wahrheit 
auch schon mussen gekant haben, daB die Predigt, um schneller 
zu dem Herzen zu gehen, nicht den Um- und Irweg durch den 
Kopf, sondern den nahern Weg durch die Ohren nehmen miisse. 
Ja bei einem alten Alchymisten, den ich nicht nennen mag und 

io kan, find' ich sogar in seiner unschiizbaren »Homiletik« folgende 
Stelle: »und in den Sprachzimmern des Himmels sollen bios Kir- 
chenstiikke gehoret werden, die Klavier- aber nicht, die Singstukke 
sind, und auf Erden sollen die Glaubigen wie im Himmel die 
algemeine Sprachereden: denn die Prediger sind die Stadtmusikan- 
ten der Christenheit, « Diese Stelle hat ihre alchymistischen Dun- 
kelheiten fur profane Leser, welche daher meinen Kommentar 
daruber nicht entbehren konnen: die Sprachzimmer des Him- 
mels sind die Kirchen (der Autor hat bei alien Anspielungen 
bestandig seinen Hauptsaz im Auge, daB in den Kirchen nicht 

20 die Kunst zu denken, sondern nur die redenden Kiinste getrieben 
werden sollen); Kirchenstiikke sind Predigten; Klavierstukke 
sind die Predigten, welche blosse Tone ohne Sin enthalten; Sing- 
stukke sind die Predigten, die auch noch Gedanken enthalten 
und die er eben auf den Kanzeln nicht geduldet wissen wil; unter 
der algemeinen Sprache, an deren Erfindung Leibniz arbeitete, 
meint er blosse Tone ohne Sin, welche von alien Menschen 
in der Welt gleich gut verstanden werden; wenn ein Prediger 
nun solche Predigten halt, so ertheilet ihm unser Autor den 
ehrenvollen Namen eines Stadtmusikanten der Christenheit 

30 d. h. eines Mannes, der zu bestimten Zeiten offentlich ganze 
Stadte und Dorfer mit lieblichen Tonen ergozet. - Ich weis zu 
Predigten wie ich sie haben wil, keine bessern Muster vorzu- 
schlagen als die Kirchengebete selbst, in welchen nach meinem 
Bediinken wenig vakante Stellen des gesunden Menschenver- 
standes, die nicht sofort mit den langsten, biblischen und gesalb- 
ten Wortern besezet waren, anzutreffen sind und worin die 



956 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

Worte, welche im Besize der Ehrwurdigkeit und der Unver- 
standlichkeit sind, zuweilen ordentlich mit vollem Halse 
gestreuet werden. 

Vielleicht erscheinet nach diesen Bestimmungen der Giite ei- 
ner Predigt die vormalige Einmischung lateinischer Worte in ei- 
nem weit vortheilhaftern Lichte als sonst; und man wird mit 
mir sehr an dem Nuzen zweifeln, den einige uns von der Neue- 
rung verheissen, das Deutsche, das der Zuhorer nicht versteht, 
an die Stelle das Lateins einzufuhren, das er doch auch nicht 
versteht. Es ist sogar die Frage, ob diese Neuerung nicht viel- 10 
mehr der Erbauung Eintrag thut: denn ich habe oft ausdriiklich 
wahrgenommen, daB unverstandliche lateinische Worte ver- 
mittelst ihrem auslandischen Schalle den Zuhorer weit mehr 
bewegen, bessern und erleuchten als unverstandliche deutsche. 
Fur ieden Freund der Religion - und fur einen solchen geb' 
ich mich aus - muste es eine ausserst angenehme Erscheinung 
sein, daB neulich gewisse katholische Lander in die gefahrliche 
Abschaffung der lateinischen Kirchensprache nicht willigten, 
sondern sich gegen sie auf das Ernstlichste und (soviel ich weis) 
auch so gluklich sezten, daB sie das kostbare Kirchenrecht noch 20 
iezt behaupten, in einer fremden Sprache zu beten, so wie die 
Bedienten in einer fremden (in der franzosischen namlich) flu- 
chen. , 

Ich mus noch eine beilaufige Anmerkung machen. Man hat 
schon oft den Predigten Einformigkeit vorgeworfen; ich glaube 
aber, man hat sich eben so oft geirret und man hat meinen Saz 
nicht genug erwogen, daB auf den Schal der Worte in ihnen 
nicht das Wenigste ankomt. Denn spricht man namlich von 
der Einformigkeit ihrer Gedanken, so ist zwar niemand bereiter 
als ich, sie zuzugeben; allein ich habe vielleicht auch besser als 30 
irgend iemand gezeiget, daB man diese Einformigkeit in keiner 
Riiksicht tadeln konne, weil das Meiste an dem Klange und 
in der That sehr wenig an den Gedanken einer Predigt gelegen 
ist, welche man vielleicht gar - ich bin oft auf diesen Einfal 
gekommen - in Zukunft ganz darin auslassen konte und die 
wenigstens fur nichts mehr als fur blosse Zugaben zu den Wor- 



LTNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 957 

ten gelten konnen. Einformigkeit der Worte aber kan wol nie- 
mand unsern guten Predigten im Ernst schuld geben, welche 
eben alien ihren Ruhm darein sezen, daB sie es zu einer gross ern 
Mannigfaltigkeit, Abwechselung und Anzahl von Worten als 
von Gedanken bringen. Hab' ich nicht sogar erst gestern eine 
trefliche Anzugspredigt - nur der Korper des Geistlichen hielt 
an die Gemeinde seine Anzugspredigt, der Verstand desselben 
hielt hingegen zugleich an sie seine Abschiedspredigt- mit son- 
derbarem Vergniigen gelesen, in welcher sich nicht mehr als 

io ein Einziger Gedanke zuweilen sehen lies, der aber iedesmal 
in einem frischen Worterkleid erschien? Und die groste Ehre, 
die man einer heiligen Wahrheit anthun kan, ist wol auch, daB 
man sie so oft als moglich die Kleider wechseln lasset; so wie 
eine Agypterin die Freundin, welche sie besucht, desto schmei- 
chelhafter ehret, eine ie grossere Zahl von Kleidern sie ihr an- 
beut, ihre Umkleidung zu vervielfaltigen. Man nennet die Ge- 
danken Selen der Worte, ihrer Leiber. Aristo teles sagt aber von 
der Freundschaft, daB sie Eine Sele in mehrerern Leibern woh- 
nen mache. Wen mus es nun wol nicht freuen, wenn er siehet, 

20 daB die Freundschaft, welche von Predigern gewichen, sich 
doch in ihre Predigten gefliichtet, daB namlich das Band der 
Freundschaft (ein Gedankenstrich ist oft dieses Band) oft ein 
ganzes Heer von Worten dergestalt umschlungen halt und eines 
und desselben Sinnes macht, daB man von ihnen mit mehr unfi- 
gurlichem Recht als von Menschen sagen kan, in ihnen alien, 
soviele auch deren sind, ist nicht mehr als Eine Sele d. h. nur 
Ein Gedanke? - 

Beruhet aber nun auf den Klang der Predigten wirklich soviel 
als ich bisher zu beweisen getrachtet: so haben wir Teufel durch 

30 unsere Predigerorgeln das Predigtwesen auf einen sehr merklich 
bessern Fus gesezt. Das Maschinenwerk einer solchen Orgel 
ist ungleich volkommener und kimstlicher als das der Drehor- 
geln, in welchen die Savoyarden zur Meszeit die Spharenmusik 
der Gasse auf dem Riikken herumtragen und ist folgendes. Auf 
einer langen Walze, die wol so gros als der Weberbaum des 
Goliaths sein mag und die neulich ein Wizling den Heubaum 



95 8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

des Futters, das wir unsern Zuhorern vorstekken, zu nennen 
beliebte, sind in taktmassigen Entfernungen grosse und kleine 
Stifte eingenagelt, mit deren iedem die umlaufende Walze be- 
sondere Tangenten anschlagt. Der Apostel Judas, den ich seiner 
Arbeitsamkeit wegen hier offentlich riihmen mus, unterzog sich 
auf Bitten eines Teufels mit dem grdstem Vergniigen dem Ge- 
schafte, einen ganzen Jahrgang Predigten in Musik zu sezen und 
sonach in einen Jahrgang Chorale zu transponiren. Diese musi- 
kalischen Predigten, die man wol (und der Apostel Judas wiinscht 
es wirklich) mit keinen andern Typen drukken konte als mit 10 
Breitkopfs musikalischen, (bei euch giebt es nur mudkalische 
Texte) trug der scharfsinnige Erfinder dieser Orgel (aber warum 
wil ichs langer laugnen, daB ich er selber bin?) auf ihre Walze 
ausserst geschikt und gliiklich iiber. Beschreiben aber werd' ich 
es dem Leser nicht, mit welchem Beifalle ich die erste Predigt 
aborgelte, auf einem Orgelstuhle stat auf einem Predigtstuhle si- 
zend. Komt er indessen (wie wir alle hoffen) nach seinem Tode 
selbst in die Holle, so kan er sichs erzahlen lassen, wie sehr 
sowol Teufel als Verdamte durch die harmonischen Ermahnun- 
gen meiner Orgel wechselsweise bald zur Niedergeschlagenheit 20 
iiber ihre Siinden bald zur Verwunderung iiber mein gliikliches 
Genie sind hingerissen worden. Ein ganzes Jahrhundert sprach 
man damals in der Holle beinah' von nichts als meiner Orgel; 
die Poeten entlehnten von ihr neue Ahnlichkeiten und annehm- 
liche Bilder, sogar Damenstrumpfe und Koeffuren a Tourgues 
prechantes erschienen, die noch iezt mit wenigen Veranderun- 
gen getragen werden und ich hob mich damals auf die Staffel 
meines Ruhms, auf der ich nun seit sovielen Jahrhunderten stehe 
und worauf ich iiber meine meisten Mitbriider so weit hervor- 
rage. Indessen wenn es mir erlaubt ware, in dem Oberflusse 30 
von Weihrauch, womit ich fur meine Erfindung uberschiittet 
wurde, doch auch gegen den kleinsten Abbruch desselben nicht 
gleichgiiltig zu sein: so wiird' ich wtinschen, daB man den Apo- 
stel Judas, der doch wahrhaftig bei der ganzen Sache nichts that 
als die Buchstaben in Noten veredeln - was ieder andere Ver- 
damte eben so gut hatte thun konnen - ein wenig weniger als 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 959 

mich mochte erhoben haben: denn meines Bediinkens war ich 
doch allein der wiirdigste Gegenstand alles damaligen Lobes. 
Obrigens thue ich es aus ganz reinen Absichten, daB ich mich 
hier so lobe; und ich wiirde es dem Leser entweder gar nicht 
oder doch nur sehr verbliimt zu verstehen gegeben haben, daB 
meine Erfindung einer predigenden Orgel .eine Starke in der 
Mechanik verrathe, die vielleicht nur H. von Kempele mit mir 
gemein hat, und tiberhaupt eine Vorziiglichkeit des Scharfsinnes 
und der Beurtheilungskraft vorausseze, auf die ich mit Recht 

io stolz bin, ich wiirde das , sag* ich, wol nicht gethan haben, wenn 
ich nicht wiiste, daB ich mit diesem Gestandnisse meines geisti- 
gen Werths den Theologen vortreflich zu Passe kame, welche 
zum Behuf ihres Systems dem Teufel einen grossen Verstand 
beilegen mussen. 

Es machte mir aber noch viele Miihe, bis ich dem musikali- 
schen Stamme meiner Orgel auch die Predigten auf ganze und 
halbe Feiertageeinimpfte; hiezu kamen noch einige Kontrovers- 
predigten, die vielleicht wiirdig sind, einen Hahn in Miinchen 
- diese lebendige polemische Gewehrfabrik - zum Verfasser zu 

20 haben, ein Man, der gewis langst verdienet hatte, zu dem Posten 
eines Kontroverspredigers in der Holle erhoben zu werden und 
dem niemand den Namen eines wahren Schildhalters, oder eines 
grossen Standbaums des achten Monchthums absprechen wird, 
wer seinen geist- und fetreichen Korper kent - und endlich sind 
es kaum zwei Jahrhunderte, daB ich mit meiner Orgel ganz zu 
Stande kam und ihr noch die ganze Passion in den Stiften ein- 
schlug, welche ich aus den Nageln geschmiedet hatte, womit 
(wieich mir wenigstens von den katholischen Schmidten, wel- 
che die Nagel machten, sagen lassen) die Romer Christum ans 

30 Kreuz nagelten. - 

Ich weis es doch, (so wenig es sich auch der Leser merken 
lasset,) daB er heimlich nichts mehr wiinschet als auch von der 
Handhabung meiner Orgel etwas zu erfahren. Ich wil daher 
auch dariiber, wieiiber alles, keine Worte sparen. Man kan leicht 
errathen, daB der Organist bald dieses bald ienes Register ziehen 
wird, weil er sich nach den geistigen Bedurfnissen derer richten 



960 " JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

mus, die er zu erbauen, zu belehren und zu bewegen hat. Den 
Tremulanten wird er also nicht schnurren lassen, wenn er Chri- 
stenfeude erregen wil; noch das Zymbal schreien, urn die Zuho- 
rer in Traurigkeit zu senken: aber umgekehrt wird er verfahren. 
- Ich habe es ferner selbst zu oft empfunden, wie viel eine Predigt 
durch eine unaufhorliche Einschaltung von allerlei Versen des 
Gesangbuches gewint, als daB ich meiner Orgel den Weg zu die- 
sem Gewinste hatte verbauen sollen: sondern ich habe wirklich 
in ihr das Register der Vogelgesang genant* angebracht, mit des- 
sen bisherigen Eindriikken auf die Ohren und Herzen meiner 10 
Zuhorer ich auch ganz wol zufrieden sein kan. - Allein mehr 
fragt sichs, ob es mir wol eben so sehr gelungen ist, zu dem 
verschwenderischen Zitiren des Worts Gottes, das man an man- 
chen menschlichen Predigern so schazet, meine Orgel tiichtig 
zu machen? Und ich getraue mir es nicht, so gerade zu zu beia- 
hen, wie wol ich wirklich auf so etwas sah, da ich in derselben 
das kostbare Register, die Menschenstimme , mit vielen Kosten 
bauete: auch nahm ich wahr, daB der bekante Teufel, der Chri- 
stum mit Spriichen versuchte, nach diesem Register, wenn er 
am Sontage Invokavit eine Predigt spielet, haufiger als wir an- 20 ■ 
dern und (was ich eben bemerken wolte) zu sichtbarem Vortheil 
unserer Erbauung greifet. - Auf dem Manual meiner Orgel spie- 
len, heisset das Evangelium predigen; das Pedal aber brummet 
das harte Gesez: indessen wird kein geschikter Organist eines 
von beiden allein gehen lassen: besonders wird er sich noch hii- 
ten, daB er nicht etwan mit dem Evangelium zu spat in das 
Gesez einfalle. - Der Sovoyard orgelt das namliche Stiik immer 
von neuem; gerade so lasset ein Organist bei uns dieselbe Predigt 
zu wiederholtenmalen hintereinander von der musikalischen 
Drehscheibe laufen: denn mit iedem Umdrehen der Walze ist 30 
sie eigentlich einmal aus. Bei uns ist diese Wiederholung am be- 
kantesten und beliebtesten unter dem musikalischen Kunstna- 
men Variatio. 

* ist bekantlich ein Register aus drei Pfeifen, welcheim Wasser, worin 
sie stehen, durch den von oben einblasenden Wind harmonische Bewe- 
gungen erregen. 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 96 1 

Der Leser schmeichelt sich zuviel, wenn er sich einbildet, daB 
ich bios seiner Neugierde zu Gefallen meine Instrumentalpredi- 
ger so weitlauftig und geschikt beschrieben habe. Sondern ich 
habe durch eine umstandliche Auseinanderlegung derselben nur 
den Patronatsherschaften zeigen wollen, was sie sich von ihnen 
eigentlich zu versprechen haben. Denn ich wil es nur iezt heraus- 
gestehen, da8 ich darauf umgehe, mit meinen Orgeln auch auf 
der Erde die bisherigen Prediger zu verdrangen. Und von den 
hohen Personen, deren Pflicht und bestandige Sorge es ist, die 

10 geistlichen Stellen nicht an die ersten besten, sondern an wiirdige 
Subiekte zu vergeben, darf ich meines Bediinkens auch wol nicht 
fiirchten, daB sie meine Orgeln bei Befoderungen iibergehen 
werden: indessen wird es doch nichts schaden, wenn sie noch 
folgendes erwagen. Entweder sie miissen behaupten, was ich 
oben widerleget, daB der Zuhorer konne geriihret und gebessert 
werden, es mag mit dem Klange der Predigt so mislich als es 
wolle stehen: oder sie miissen, wenn sie dieses, wie leicht zu 
erachten, nicht mogen werden, auch mit mir gestehen, daB 
meine Orgeln nicht bald genug auf die christlichen Predigtstiihle 

20 gesezet konnen werden, weil sie in dem Klange es den Kehlen 
der bisherigen Priester in aller Absicht zuvorthun. Der Ton, 
den eine blosse Luftrohre von sich geben kan, mus in mehr 
als einer Ruksicht rauh, prosaisch und tief unter dem weit fei- 
nern, poetischen Klange sein, den eine gute Orgelpfeife macht. 
Daher komt es freilich denn auch (und wie ist es wol anders 
moglich!) daB euere Geistlichen lauter tauben Ohren predigen: 
bei meinen Orgeln ist das nicht und es vergehet kein Sontag, 
daB sie nicht Pazienten, die sich am Tarantelgifte der Siinde 
krank und todt tanzen wiirden, durch ihren Klang wieder zu 

30 rechte bringen und gleich der Leier des Orpheus steinerne Her- 
zen erweichen und moralische Thiere bezahmen. Ich denke doch 
nicht, daB es in unsern Tagen noch Leute giebt, welche den 
Aberglauben so weit treiben, daB sie meine Orgeln abweisen, 
bios weil alsdan die Predigten nicht mehr aus Kehlen, sondern 
aus Pfeifen kommen wiirden: wenigstens gehoret gewis der 
Adel, der geistliche Stellen besezen darf, nicht unter die Zahl 



962 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

iener Leute und er wird nicht anders als gleichgiiltig gegen eine 
Anderung sein, die ia nicht die Predigten selbst, sondern nur 
den Kanal, durch welchen sie fliessen, betrift. Meines Erachtens 
fragt er wol gar, warum sol dieser Karial denn gerade eine Kehle 
sein? Sehen wir nicht schon, daB die Natur den Gesang nicht 
auch bei alien Thieren in die Kehle, sondern bei den Insekten 
in andere Glieder verlegt? Die Heuschrekke z. B. bewirkt das 
Vergniigen, das sie unsern Ohren macht, bios durch eine Trom- 
mel unter dem Bauche, und ist sonach ein geborner Bauchredner, 
andere thun es wieder durch eine auf dem Riikken, wo eben 10 
der Sovoyarde und der Organist bei uns seine Orgel tragt. Man 
wende dieses nun auf die Prediger an. Allein ich sage sogar 
noch weit mehr; ich behaupte auch, es ist wol nichts schiklicher 
und niizlicher als mein Vorhaben, auf den Kanzeln stat der bis- 
herigen Vokalmusik meine Instrumentalmusik einzufuhren und 
ich beruffe mich hierin auf die Griechen, welche (wie Plutarch 
im Gastmahl der sieben Weisen meldet) aus vielen Griinden der 
Meinung waren, daB sich in die Tempel Tone aus Holz und 
Stein viel besser als Tone aus menschlichen Kehlen schikken. 
Aus dieser Vorliebe gegen die Instrumentalmusik gedenk' ich 20 
auch in meinem fasciculo programmatum sehr ungezwungen 
herzuleiten, warum sie den Deklamator allezeit mit einem musi- 
kalischen Instrumente wenigstens akkompagnirten. Indessen 
thu' ich auch nicht mehr als bios den zweiten Schrit, wenn ich 
meine Orgeln das Deklamiren der Prediger nicht begleiten, son- 
dern ersezen lasse. - 

Allein ich weis wol, die Natur und die Menschen machen 
keinen Sprung und zur algemeinen Einfuhrung meiner geistli- 
chen Bus- Wekker werden iezt nur wenige Kirchspiele reif genug 
sein. Man wird meine Saemaschinen, wodurch ich den Samen 30 
des gotlichen Worts mit einem reichlichen Zusaze von Mohnsa- 
men aussae, ich meine die oft gedachten Orgeln viel zu maschi- 
nenartig finden, um ihnen die Kanzeln anzuvertrauen. Daher 
werd' ich wol vor der Hand und auf Rechnung reiferer Zeiten 
noch von der Einfuhrung derselben ablassen mussen. Allein ich 
wiinschte doch auch nicht, daB man darum gar nicht an der 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 963 

Beschleunigung iener bessern Zeiten arbeitete: wenigstens soke 
man, weil man die vakanten Kanzeln mit blossen Maschinen 
zu fullen sich aus Vorurtheilen iezt noch nicht iiberreden lasset, 
doch bei dem H. v. Kempele sprechende Figuren bestellen und 
einstweilen diese auf die Kanzeln steigen lassen: vielleicht ge- 
wohnte man sich mit der Zeit daran, zulezt auf denselben auch 
blosse leblose Maschinen zu sehen. Die Befolgung meines Raths 
wiirde gewis sowol fur die Selen der Zuhorer als fur meinen 
Beutel von den ersprieslichsten Folgen sein: denn ich habe mir 

10 schon vom H. v. Kempele die Volmacht ausgewirkt, alsdan 
mit seinen Redemaschinen einen ausgebreiteten Kommissions- 
handel zu treiben, und wie ich ho re ist dieser grosse Mechaniker 
- er gieng aber auch bei mir lange in die Schule und profitirte 
viel bei mir - auch gesonnen, durch eine betrachtliche Provision 
Ehre bei mir, seinem alten Lehrmeister, einzulegen. 

Wie ein talentreicher Kopf alles zu seinem Nuzen kehret! Ich 
war neulich in Agypten und holte einen geschikten Derwisch 
in die Holle ab. Ich traf ihn gerade als er in einem Haus stand 
und verschiedene male in ein langes Ochsenhorn sties, theils 

20 um die Leute an den iiingsten Tag theils um sie an seine Absicht, 
,ein Almosen zu bekommen, harmonisch zu erinnern. Ich be- 
schlos sogleich, sobald ich in die Holle zurukkame, von dieser 
Sitte der Derwische einen gemein- und e^emiuzigen Gebrauch 
zu machen. Meine Ankunft traf gliiklicherweise auch gerade 
in das Ende des Kircheniahres; um desto schiklicher konte ich 
meinen Entschlus ins Werk richten. Ich nahm also meine predi- 
gende Orgel auf den Riikken, gieng damit in das Haus meines 
nachsten Nachbars, zog die Posaunenstimme und lies sie eine 
kurz-aber wol^ezteBuspredigtin moglichster Schnelle halten; 

30 ich aber sang zur Predigt das bekante Buslied: »Ihr lieben Teufel 
insgemein, wenn wolt ihr euch bekehren« p. - Da ich fertig 
war, trat der Hausherr heraus, gegen den ich mich so auslies: 
»Ich habe durch gegen wartigen Posaunenbas ein christliches 
Haushalten nur anfrischen wollen, an den iiingsten Tag und 
dessen Posaunen zu denken und mir meine Sanggebiihren zu 
geben.« 



964 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Auch von den Persern hab' ich eine sehr verniinftige Ge- 
wohnheit geborgt. Sie lassen alle Morgen einen Man herumge- 
hen, der die Trommel schlagt, um die Eheleute nicht an den 
iiingsten Tag, sondern nur daran zu erinnern, daB sie Eheleute 
sind und daB das Ehebet kein Krankenbet oder Eisfeld oder Wit- 
wensiz, sondern eine Munzstatte der Menschheit ist. Mercier hat 
von Paris ebenfals bemerkt, daB das Gerausche, welches die Wa- 
gen der Vornehmen machen, die zu Nachts um i nach Hause 
fahren, manchen kleinen Pariser aus dem Nichts geruffen. Zu 
solchen Elek[t]risirmaschinen der Eheleute brauch' ich nun in der 10 
Holle meine predigenden Orgeln auch. Alle Morgen namlich 
lass' ich den Nachtwachter, gerade eh' er abdankt, eine durch 
die Gassen tragen und durch ein erbauliches Stiik, das er von. 
ihr abdrehet, die Leute strassenweise in hernhutische Eheiibun- 
gen bringen; und mich diinkt, ist die Morgenstunde sowol die 
schiklichste zum Studieren als gewahlteste dazu, meine Orgel 
solche Hochzeitpredigten halten zu lassen. 

Wenn aber etwas im Stande ist, die Patronatsherschaften und 
nochhoherc Ortezubewegen, daB sie meinen Orgeln die Voka- 
zionen zu den wichtigsten Pfarstellen ins Haus schikken: so ists 20 
gewis dieses (oder gar nichts ists im Stande), daB durch meine 
neuen Prediger alle Kanzeln von Kezern und Denkern mehren- 
theils gesaubert wiirden. Denn meinen Predigern mogen noch 
so viele Gebrechen vorgeworfen werden (und das der Selenlo- 
sigkeit hab' ich selbst am ersten geriigt und bemerkt): so sind 
sie doch gotlob vom grosten unter alien frei, namlich vom Ge- 
brechen der Heterodoxie, an dem ich leider nur selber sieche. 
Jedes Stiftgen, das ich eingeschlagen, iede Pfeife, die ich einge- 
sezt, trift mit den symbolischen Buchern auf eine sonderbare 
Weise zu und ist ein ordentliches Echo derselben. Zum Uberflus 30 
sollen die Konsistorien meine Orgeln noch examiniren. Finden 
sie gleichwol irgend etwas Heterodoxes an ihnen, das sich troz 
meiner sorgfaltigsten Aufsicht in sie eingeschlichen hatte: so 
bin ich erbotig, sie zurukzunehmen und die Kosten allein zu 
tragen. Ich sah' es daher weiter gar nicht ungern, wenn ein Kon- 
sistorialrath mit einer orthodoxen Stimpfeife zu mir kame. Wir 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 965 

wolten alsdan Pfeife vor Pfeife vor uns nehmen, beim Floten- 
werk anfangen und beim Schnarwerk aufhoren: es wiirde sich 
dan gewis bald zeigen, daB iede Orgelpfeife der Stimpfeife vol- 
kommen entsprache. War' indessen ia eine kezerisch verstimt, 
so wiirde es ia ein Leichtes sein, sie nach der Stimpfeife zu ver- 
bessern, indem ich, wie geschikte Orgelmacher thun, ihr durch 
einen geringen Einbug des Mundes den rechten Ton wieder 
verschafte. - Ich weis gewis, ieder wird den Tag segnen, wo 
es durch die Einfiihrung meiner Orgeln so weit komt, daB die 

10 gesalbten und getauften Glokken der christlichen Kirche (so nenn* 
ich die Prediger) nicht mehr mit unharmonischen Sumsen zusam- 
mengelautet werden, sondern daB durch das ganze Land zwi- 
schen alien Predigern (d. h. nun zwischen meinen Orgeln) eine 
vorherbestimte Harmonie regiert. - 

Vielleicht wiirde ein anderer den Vortheil nicht iibergehen, 
daB meine Orgeln von Jahr zu Jahr denselben Jahrgang Predigten 
halten; denn auf ihren Walzen hat nicht mehr als Einer Plaz. 
Zu verachten ist aber auch dieser Vortheil weiter gar nicht; er 
ist das Mittel, das die Konsistorien langst hatten suchen sollen, 

20 der algemein eingerissenen Uppigkeit, in iedem frischen Jahre 
neue Predigten aufzutischen, ein Ende zu machen. Ich kenne 
wahrhaftig keine Unart, welche mit alien Einrichtungen euerer 
Voreltern mehr stritte als diesen iahrlichen Wechsel der Predig- 
ten. Euere frommen Vorfahren sezten fiir iedes frische Jahr bios 
in der Absicht die Evangelien des vorigen fest, damit auch in 
iedem frischen Jahre die Predigten des vorigen wiederholet wiir- 
den; denn sie hoften, daB die Nachwelt nicht bios so verstandig 
sein wiirde, um die Prediger fiir die Wahl eines andern Textes 
als dessen, der im Kalender steht, zur Strafe zu Ziehen, (das 

30 thut sie nun allenfals noch) sondern daB sie auch sich gleich 
genug bleiben werde, um auch keinen, der iiber den namlichen 
Text eine andere Predigt als die voriahrige zu halten sich unter- 
fangt, ungeziichtigt durchzulassen. Einige bessere Pri ester mo- 
gen sich zwar auftreiben lassen, welche diesen iahrlichen Predig- 
tenwechsel wirklich nicht zu schulden kommen lassen; allein 
viele nun wol nicht. Wenigstens konte doch diese einem Chri- 



966 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

sten so anstandige Geniigsamkeit mit Einem Jahrgange Predig- 
ten durch das ganzeLeben hindurch, vermittelst der Einfiihrung 
meiner Orgeln noch viel viel algemeiner werden. Steht aber 
mein Mittel den Konsistorien nicht an: so mogen sie (es ist ihre 
Pflicht) zum mindesten auf ein anderes, den iahrlichen Predig- 
tenwechsel abzustellen, denken: ein solches ware etwan, wenn 
sie ein besonderes Predigtbuch ausfertigten oder auslasen, das 
von alien Kanzeln eines ganzen Landes von Jahr zu Jahr miiste 
hergesagt oder abgelesen werden. Die Gemeinden haben urn 
so mehr Recht, auf diese kleine Wolthat zu zahlen und sie von 10 
ihnen ordentlich zu fodern; da sie schon eines ahnlichen Luxus 
Abstellung ihnen verdanken. Man si eh t wol, daB ich auf die 
gedrukten Kirchengebete ziele: derm daB diese nicht auch wie die 
gewohnlichen Kalender iahrlich wechseln, sondern wie immer- 
wahrende Kalender von Jahr zu Jahr dieselben bleiben, das hat 
man bios den Konsistorien zu danken. Ich wiinschte, daB man 
sie, welche die Nothwendigkeit von iahrlicher Unveranderlich- 
keit der Kirchengebete so gut eingesehen, auch von der ahnli- 
chen Nothwendigkeit lauter mit stehenden Schriften gedrukter 
Predigten iiberzeugen konte. 20 

Es giebt gewisse Volksprediger, welche durch einen gewissen 
tandelnden, spielenden und zuweilen kindischen Ton sich der- 
gestalt bei dem Landman eingeschmeichelt haben, daB er sich 
wol schwerlich sie nehmen lasset und daB er ohne Bedenken 
meinebessern Orgeln ausschlagt Ich habe also nichts darwider, 
wenn man dem Selenwole desselben vor der Hand wenigstens 
so zu rathen sucht, daB man zu seinen Predigern stat meiner 
Orgeln, die wirklich zu wenig auf den Volkston gestimt sein 
mogen, gute Sakpfeifen beruft. 

Ausserst hart wiirde es mir aber fallen, gieng[e] mein Proiekt 30 
ganz und gar zuriik. Denn auf Rechnung, mit meinen Predigern 
auf der Erde den besten Abgang zu finden, hab' ich eine grosse 
Orgel- und Predigerfabrik angelegt und bin daher mit Ware 
ordentlich iiberladen. Sez' ich nicht wenigstens tausend Stiikke 
an die hohere Geistlichkeit und an den Adel ab: so seh' ich mich 
in der traurigen Nothwendigkeit, meine besten Prediger um 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 967 

einen Spotpreis an die Sovoyarden zu verstechen. - Mochte mir 
doch besonders der Wunsch nicht zu Wasser gemacht werden, 
daB mein Gegner, der H. Superintendent Stapelhaselius, sobald 
als moglich stiirbe! Nicht aus Rachsucht, sondern aus der un- 
schuldigen Begierde wunsch' ich es, eine kostbare Superinten- 
dentenorgel, die mit unvergleichlichem Wollaut predigt, unter- 
zubringen: ein Werk, zu dessen Lobe ich nur das anmerken darf , 
daB ich alle Pfeifen mit unsaglichem Aufwand aus guten Esels- 
beinen drehte, die (schon nach Plutarch) die wolklingendsten 

10 Blasinstrumente geben. - Was schluslich das vakante Filial in 
Veitsdorf anlangt: so erwart' ich nur, welchen Tag der dasige 
Kirchenpatron anberaumen wil, um meine Orgel die Gastpre- 
digt ablegen zu horen. Wenn alsdan der Rathsher aus der Kirche 
geht, so wird er seinen gelehrtern Sohn fragen: »Nun! wie hat 
dir unser neuer Prediger gefallen«; und alsdan wird der Sohn 
zu meiner Ehre antworten: »ich mus sagen, mir sehr wol! Be- 
sonders hat das an ihm meinen ganzen Beifal, daB es ihm doch 
nicht wie andern an Wind gebricht. Denn sage er mir selber, 
Her Vater, ist nicht das, was doch den eigentlichen Werth einer 

20 guten Predigt macht und was keiner ohne ihren grosten Nach- 
theil fehlen kan, ist nicht das die Einblasung von oben oder die 
Inspirazion? Es macht daher dem Teufel wirklich Ehre, daB er 
gerade fur die Hauptsache, fur die Inspirazion bei unserem Pre- 
diger am meisten gesorgt.« 

Ich komme wieder auf die hollischen Kirchen von Eis. Ich 
lies oben ein Wort von der Stelle eines Klingelbeutelvaters fallen. 
Meines Wissens ist aber das bei euch ein Man, der unter der 
Predigt an einem langen Stab einen nicht von Geld, sondern 
(wie bei den stummen Betlern) von Glokgen klingelnden Beutel 

30 unter der christlichen Gemeinde herumbietet und in ihn aus ih- 
ren erbauten Handen Tempelmiethzins oder Himmeh-Weggeld 

, sammelt; bei uns hingegen thut er ganz etwas anders. In den 
hollischen Kirchen empfangt er nicht, sondern er giebt und nicht 
die Zuhorer, sondern der Prediger mus es bezahlen, daB sie 
ihn anhoren. Diese kleine Ausgabe verschaft uns den grossen 
Vortheil, daB unsere Kirchefn] nie leer stehen: denn wer wird 



968 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

nicht gerne seine religiosen Kentnisse und sein Geld vermehren? 
wer wird nicht fur das Heil seiner Sele und seines Beutels sorgen? 
Beide aber finden eben in unsern Kichen ihre Rechnung; beson- 
ders mus ich hier die sogenanten Scheinheiligen bei uns ruhmen, 
welche keine Kirche versaumen und wahrhaftig lieber einen 
kleinen Geldprofit, den sie etwan zu Hause machen konten, 
in die Schanze schlagen und dafur den grossern Geldprofit, den 
ihnen die Kralle eines gehornten und geschwanzten Klingelva- 
ters fur die Anhorung des Predigers in die Hande driikt, geniig- 
sam hinnehmen als daB sie des Zeitlichen wegen aus einer erbau- 10 
lichen Predigt bleiben solten. Ich wiinschte, man nahme diese 
Gewohnheit auch auf der Erde an und gabe iedem Kirchengan- 
ger fur die Anhorung einer Predigt etwas gewisses . Ich bin iiber- 
zeugt, lase man nach dem Amen stat der Einlage des vorigen 
Sontags ungefahr folgende Erinnerung ab: »eine christliche Ge- 
meinde wird ersucht, sich kiinftigen Sontag zahlreich in unsern 
Tempel einzustellen: denn es wird diesesmal iedem die Anho- 
rung der sehr wichtigen Predigt des Hern Diakoni Fax iiber 
die Uneigennuzigkeit des Christen, stat daB sonst nur ein leich- 
ter Kreuzer gegeben wurde, mit einem guten Bazen bezahlet 20 
werden« - lase man dieses Versprechen ab: so wiirde gewis der 
reichliche Anflus der Zuhorer am nachstfolgenden Sontage be- 
weisen, daB es gotlob schon noch Christen giebt, denen die 
Sorge um ihre Sele am Herzen liegt und denen eine gute Predigt 
iiber die christliche Uneigennuzigkeit etwas sehr wilkommenes 
ist. Warum wil man nicht einen Besuch der Kirche so sehr be- 
lohnen als in Paris dem Akademisten die Beiwohnung einer 
Sizung bezahlet wird? Ein Akademist hat fur iede namlich einen 
doppelten Lohn; der erste ist das Vergniigen, das ihm das Be- 
wustsein uneigenniiziger Bemiihungen um die Aufklarung der 30 
Menschheit giebt; der andere ist der Silbefpfennig, den ihm die 
Akademie dafur giebt. Mochte man doch (iberhaupt einmal ein- 
sehen, daB die Tugend gar nicht wie die Geldliebe ihre eigne 
Belohnung mit sich fiihre, sondern sie erst vom Beutel des an- 
dern erwarte! Mochte man doch es nicht langer bezweifeln, daB 
in eueren Tagen, wo alle Menschen sich unter die mit vorneh- 



UNPAJtTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 969 

men und heraldischen Raubthieren gestikte Fahne des Eigennuzes 
und der Geldliebe begeben haben, unmoglich iemand auf die 
Tugend, wenn sie nur in ihrer nakten Maiestat auftrit, nur einen 
kalten Blik noch viel weniger wahre Liebe werfen kan! Denn 
ia nur dan, wenn man ihr, der Tugend, die blauen Augen aus 
dem Kopfe gestochen und dafiir goldene hineingedrukt; wenn 
man ihr die weissen Zahne aus dem Munde geholet und die 
Zahnladen mit silbernen gefiillet, wenn man ihr die warmen 
Fiisse abgesagt und sie auf metallene gestellet; wenn man sogar 

10 ihren Hintern, wie Pythagoras seinen, mit Gold ausgeleget: dan 
nur erst kan man sich einige Hofnung machen, daB es dem Mad- 
gen nicht an Liebhabern fehlen werde, die alle zu den silbernen 
Fiissen desselben ihre Herzen legen und in seinen goldnen Augen 
Liebe werden lesen wollen; seitdem es blind, zahnlos, lam und 
krupelhaft geworden, wird keiner mehr, es zu ehlichen, sich 
weigern, da sich wol mit seiner Haslichkeit, aber nicht mit seiner 
Schonheit Handel treiben lasset und nur seine fremden Glieder 
bei dem Goldschmid vortheilhaft abgesezet werden. - Wenn 
man noch nicht glaubt, das Geld, den Sporn zum Laster, in 

20 einen Sporn zur Tugend verwandeln zu miissen: so hore man 
noch folgendes: Man klopfe in der Aukzion dreimal mit dem 
Schliissel und ruffe: wer mag die Tugend? Seht! sie ist doch 
schon! - der ganze Aukzionssaal wird sich gewis nicht regen. 
Man fiige noch hinzu: auch hat sie gleich den Juden im belagerten 
Jerusalem, sehr viel Gold im Magen, das sie verstekken wil. 
Wahrhaftig nun werden alle Verntinftige sich in sie verlieben 
und sie nach Hause nehmen und ihr den Magen aufschneiden 
und ihr das Gold und das Leben rauben wollen. So sah' ich 
oft die Kinder eine mit dem Schnupftuch gefassete Biene behut- 

30 sam auseinanderzerren, ihr den hervorhangenden vollen Honig- 
magen abreissen, ihn mit der Zunge aufknakken und seinen 
Honig schmausen; allein die Bienenvater liessen sie alzeit hart 
deswegen an. 

Von unsern eisigten Kirchen bemerk' ich noch dieses, daB 
sie, sobald angenehmes warmes Wetter einfallet, straks alle abge- 
brochen werden, so wie einige nordamerikanische Volker den 



970 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Got Matkomek nur im Winter anbeten. Der zerschlagene Tem- 
pel wird alsdan unter die Gemeinde, sowol Teufel als Christen, 
unpartheiisch ausgetheilt und ieder geht mit einem ziemlichen 
Stiik da von nach Hause: doch pflegen bei weitem die meisten 
ihre Porzion Eis auf der Stelle zu vertrinken und da das hollische 
sehr berauscht, so ist es etwas gewohnliches, daB vom Tranke 
der Kirche die ganze Holle tol und vol besoffen ist. 

Endlich ist es aber einmal Zeit, die Widerlegung des H. Sta- 
pelhaselius, zu der ich einen so langen Anlauf genommen, selber 
anzutreten. Indessen da ich nun schon die Leser so weit gebracht, 
daB sie wissen, wie und wo wir Teufel unsere Nichtexistenz 
zubringen: so kostet es nichts als noch einen zweiten Schrit, 
sie auch von unserer Nichtexistenz selber zu iiberzeugen. Ober- 
haupt hat mein H. Gegner ein gar zu misliches Unternehmen 
gewagt: er widerlegt in mir eigentlich nichts geringers als die 
ganze gelehrte Holle selbst. Denn die Rede, die ich neulich auf 
der Maskerade hielt und iiber die er den Meister zu spielen hoft, 
ist nicht ein Abkomling meines Kopfes, sondern ein unerlaubter 
Auszug aus den unzahligen Abhandlungen, die bei unserer Aka- 
demie, deren President zu sein ich die Ehre habe, iiber die Preis- 
frage eingelaufen waren: » welches sind die besten Griinde, aus wel- 
chen das Nkhtsein der Teufel sich behaupten lasset? Die beste 
Beantwortung wird die Akademie der Teufel mit einer noch 
grossern Pastete kronen als des H. Grey in England seine war, 
welche doch sechs Schuh im Umfang hatte und auf vier Radern 
gefahren wurde.« 

Wenn alle Griinde des H. Stapelhaselius meinen Unglauben 
an meine Existenz auch nicht im geringsten entkraften konten: 
so sind nur die schwachen Griinde selber schuld, aber nicht eine 
rechthaberische Abgeneigtheit, mich von ihm bekehren zu las- 
sen. Mein Gewissen giebt mir das beruhigende Hauszeugnis, 
daB ich die Schrift meines Gegners ganz in der Verfassung gele- 
sen, welche ein Theolog von seinen Lesern zur Erleichterung 
ihrer Oberredung fodert. Oder kan der billigere und iiber den 
theologischen Pobel erhabene Gottesgelehrte mehr verlangen 
als daB man, so lange man ihn lieset, dem gesunden Verstande 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTrGUNG 97 1 

abzutreten befiehlet, weil dieser immer sein Widerbellen dazwi- 
schen wirft, wenn man gerade im Begrif ist, sich mit dem Autor 
iiber die wichtigsten Wahrheiten zu sezen? Das hab' ich aber 
nun gethan und bei dem ersten Blatte meinen Verstand mit ei- 
nem Wink bei Seite geschaft. Der erste und vielleicht wichtigste 
Vortheil, den ich sogleich von seiner wilkommenen Entfernung 
zog, war ein gewisses Gefiihl einer gliiklichen Bereitwilligkeit, 
das Alter eines Wahrheitsgrundes bei mir etwas gelten zu lassen 
und mich in die Behauptung meiner Existenz zu fugen, weil 

io sie wirklich unter den altesten Sazen mit obenanstehet: denn, 
sagte ich zu mir, mit den theologischen Sazen und mit den hol- 
landischen Dukaten ists sichtbar eine und dieselbe Sache. Einem 
neuen Dukaten diirfen kaum zwei As gen am Gewichte fehlen; 
ein alter hingegen wird gern genommen, wenn er auch dreie 
zu leicht wiegen soke. Eben so siehet man es ungern, wenn ein 
theologischer Saz, der noch nicht langst erst auf die Bahn ge- 
kommen, gar zu schlecht bewiesen werden kan und man ver- 
zeiht es ihm kaum, wenn er auch nur um einige Griinde zu 
leicht befunden wird; ein alter Saz aber leget seine Jahre und 

20 seine Griinde in die namliche Wagschale und macht wie bei 
den Arabern ein Zeuge, seine Behauptung mit seinem so gar 
sehr langen und ehrwiirdigen Barte leicht wahrscheinlich. 
Wahrheit und Liigen werden gleich dem Weine, immer besser 
und lieblicher, ie alter sie werden. Ich glaube daher, dafi ich 
wol durch nichts so sehr den Dank einer ganzen Welt ^verdienet 
habe als durch mein neuliches Werk, das unter dem Titel » Topo- 
graphische und historische Rathswage der WahrheiH algemein bekant 
ist. Denn der Versuch ist mir iiberaus gluklich gerathen, den 
ich darin machte, die Grade der Wahrscheinlichkeit eines Sazes 

30 nach der Entfernung des Ortes, wo er zuerst aufkam, und nach 
der Lange der Zeit, die er alt ist, mit einer etwas mehr als ge- 
wohnlichen Genauigkeit zu berechnen und anzugeben. Beson- 
ders kan ich mein Werk schwachen Skeptikern nicht genug an- 
empfehlen und ihnen zu Gef alien nab* ich mich auch 
hauptsachlich daran gemacht: denn aus der Verlegenheit, in die 
sie so oft gerathen, den Ausschlag zwischen zween wahrschein- 



972 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

lichen entgegengesezten Meinungen nicht ausfiindig machen zu 
konnen, wird sie ein einziger Blik auf meine Wage ziehen, indem 
sie an den Unterschied, den sie zwischen dem Geburtstage und 
Geburtsorte der beiden Saze finden, sich halten und darnach 
ihre Uberzeugung abmessen. Von iungen Theologen verdient 
es sogar ordentlich studiert zu werden und auch bei polemischen 
Vorlesungen konte man es stat der bisherigen Anleitungen ganz 
wol zum Grunde legen. Uberhaupt mus ich gestehen, daB mein 
Verstand, der in der gegenwartigen Widerlegung nur im lezten 
Viertel ist, in ienem Werke als Volmond erscheine und ich habe 10 
es beinahe bios unternommen, um eine Probe zu machen, wie 
weit mein Verstand seine eigne Ubertreffung wol treiben konne; 
mit Vergniigen meld' ich, daB die Probe so ausgefallen, daB 
mein Verstand und meine Einsichten den Namen und Rang 
eines Sternes verdienen, der sowol die drei Weisen aus Morgen- 
land als die (ibrigen Weisen zu Wasser und zu Land am besten 
fiihren kan und doch dabei ein wolfeiler Zizerone ist. - Ein 
Man aber, der vom Werthe alter Saze so grosse Begriffe hegt 
wie ich, der hat nicht das Ansehen, daB er seine Uberredung 
einem Theologen schwierig machen werde: wenn also gleich- 20 
wol H. Stapelhaselius mich von meiner Existenz nicht uberfuh- 
ren konnen, so sieht man wol, an wem von uns beiden die 
Schuld nicht liegt. 

Mein FL Widersacher halt sich lange bei der angeblichen 
Nothwendigkeit auf, daB ich meine Existenz schon dadurch be- 
weise, daB ich sie laugne; er komt dreimal darauf zuriik. Es 
ist wahr, dieser Einwurf wuchs ihm gleichsam in die Hand; 
aber er hatte doch eine gewisse alte Regel aus dem gelehrten 
Kriegsrecht auch nicht ganz aus den Augen sezen sollen, die 
namlich: mit Einwiirfen, die sich sofort selbst anbieten, mus 30 
man den Gegner verschonen, weil man vermuthen mus, daB 
sie auch diesem sich werden angeboten haben. Gerade so hier. 
Denn ich habe ihn auch selbst sehr wol vorausgesehen, den obi- 
gen Stapelhaseliussischen Einwurf; nur sah ich aber auch noch 
dies voraus, daB er vielmehr meine Nichtexistenz im Grunde 
nicht wenig zu bestatigen dienet. Hat namlich in der That noch 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 973 

kein Wesen sein eignes Dasein in Zweifel gezogen: so ist es 
ia hochst wahrscheinlich, daB ich, der es allein gethan, meine 
ganz besondern Griinde haben miisse, eine so unerhorte Aus- 
nahme zu machen. Warum vertrauet H. Stapelhaselius in Din- 
gen, die mich selbst angehen, nicht meinem Verstande, von 
dem er in seinen Katechisazionen den Kindern sonst so wtirdige 
und grosse Begriffe beibringt, sich nicht lieber als seinem eignen 
an, der durch den Siindenfal Adams so sehr geschwachet und 
zerruttet ist? Auch in mir spricht das Selbstgefuhl so laut fur 

10 meine Existenz als in irgend einem Wesen; die Schliisse miissen 
daher sehr einleuchtend und zwingend sein, die mich gleichwol 
von einem so beredten Gefuhle abfallig machen konten - dieses 
ungefahr hatte man aus meinem Anti-Egoismus schliessen sol- 
len, allein wie ich sehe that mans nicht. - Ganz ohne Nachdenken 
hat ubrigens Stapelhaselius das Kartesianische cogito ergo sum 
in die Sache gewirret: es beweiset, wie ieder merkt, zuviel und 
mithin gar nichts; denn ich kan eben damit auch darthun, daB 
mein FL Gegner predige, ohne eigentlich zu existiren, oder daB 
er sein eignes Dasein schon dadurch laugne, daB er meines be- 

20 hauptet, welches doch nicht wahr ist. Kurz er hatte seines so 
leichten Einwurfs sich schamen sollen; wenigstens scham' ich 
mich der fernern Widerlegung desselben. 

Aber sein zweiter Einwurf ist von ganz anderem Schrot und 
Korn und der verdienet alle meine Aufmerksamkeit volkom- 
men. H. Stapelhaselius ziehet namlich den Rabbi Bechai, den 
Rabbi Salomon u. a. an, welche insgesamt versichern, daB Noah 
ein Paar Teufel mit in seine Arche genommen, um sie der Was- 
serprobe zu entziehen, auf welche dam als das Leben des ganzen 
Erdbodens gestellet werden soke. »Wie wil aber, ruft hier mein 

30 Gegner aus, der bose Feind sagen, daB er nicht existire, da doch 
seine ersten Eltern nicht nur existirten, sondern auch nicht ersof- 
fen?« Hierauf antwortet der bose Feind: darum sagt ers, weil 
er gewis weis, daB iene zwei schwarze Wesen, von welchen 
die Rabbinen reden, seine ersten Eltern gar nicht waren, sondern 
etwas ganz anderes. Denn kurz ienes angebliche Paar Teufel 
ist ein Paar - Neger, das Noah mit in den Kasten gepakt. Das 



974 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

kan niemand so gut wissen als ich; derm in unserer Familie ist 
es eine bestandige Tradizion- Tradizion ist ein Spedizionshandel 
der Vorwelt mit der Nachwelt - gewesen, daB unsere ersten 
Eltern mit ihren Augen einen Neger und eine Negerin in der 
Arche gesehen. Der erstere, sezt man noch hinzu, war der Lakai 
des Noah*; er muste dem Patriarchen die Stiefel ausziehen, die 
Nachtigal und den Spiz futtern und zu heiligen Zeiten das Haar 
aufbrennen. Dafiirbekam der Neger nichts; allein er durfte auch 
ohne das geringste Fahrgeld gratis in dem Kasten fahren; die 
alten Tarokkarten (und wahrend der langweiligen Sundfluth 10 
wurde doch nicht wenig gespielet) fielen auch alle in seinen Beu- 
tel und er genos dabei noch (iberdies den Vortheil, den er sich 
ausbedungen, daB er, wenn er etwas verbrochen hatte, nicht 
vom Noah, sondern nur von dessen Sohne Cham ausgescholten 
und gezuchtigt werden durfte; ein Vortheil, den man den iezigen 
Bedienten gluklicher Weise ohne ihr Anhalten gewahret, an 
welchen man miindliche Strafen, um sie zu mildern, fast allezeit 
nur von den Kindern volstrekken lasset. Der Erzvater nahm 
den Neger eigentlich seiner Farbe wegen in die Dienste; er ra- 
sonnirteaberso: »daichso wichtige Griinde habe, die Schwarze 20 
der Haut dieses Negers fur ein naturliches Kleid derselben und 
(wenn ich genau reden wil) fiir eine angeborne Livree zu halten: 
so brauch' ich ia nicht erst eine genahte ihm zu geben, sondern 
ich kan ihn ganz gut nakt oder richtiger bekleidet gehen lassen. « 
- Die Negerin war die Kammerfrau der Madame Noah und 
sprang ihr bei, wenn sie Toilette machte; doch fiel dieses auch 
weg, als die Seekrankheit die Madame auf ein langwieriges Kran- 
kenlager warf. Es kan sein, was man bei uns sagt,daB sie ihr 
»die Gedichte im Geschmak des Grecourts« vorgelesen, ich 

* Man kan daraus schliessen, daB der Geschmak des Noah doch nicht 30 
roh gewesen, sondern sich sehr dem Geschmakke unserer Grossen in 
der Holle genahert, die gern ein schwarzes Wesen in ihrem Gefolge haben 
und zum Kammermohren entweder einen schwarzgekleideten Priester 
oder einen in ganzer Trauer nehmen. Hierinnen ahnlichen den Teufeln 
auch die Grossen auf der Erde, welche immer zwei Schwarze in ihren 
Diensten haben, einen Schwarzen von innen und einen von aussen. (Diese 
Note ist vom Teufel.) 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 975 

glaub* es aber noch nicht; derm ich wolte wetten, die Noahin 
las diese keuschen Hurenlieder nur unter zwei Ohren, damit 
sie niemanden anstossig wiirde als bios sich. Das wil ich aber 
. eher glauben, daB hingegen die Negeriri in den Siegwart ein 
wenig zu verliebt gewesen und durch ihre iiberflussigen Thra- 
nen das Wasser der Siindfluth nur noch starker machte. Soke 
es wol Grund haben, was neulich die Frau des Noah irgendwo 
gestanden haben sol, daB sie namlich die unpunktirte Ausgabe 
ihres Gesichts lediglich den Handen der Negerin verdanke, die 

10 auf ihm alien schwarzen punctis salientibus der Haslichkeit mit 
einem Vergrosserungsglas nachspiirte und sie geschikt ver- 
tilgte?* 

Bei dieser Gelegenheit wil ich dem Leser eine hiibsche Ab- 
handlung iiberreichen, welche ein iunger Anverwandter von 
mir verfertigt hat; sie verrath seine grossen Anlagen wenn nicht 
zu einem Gelehrten, doch zu einem Autor. Sie beweiset viel- 
leicht griindlicher als alle Schriften, die bisher dariiber geschrie- 
ben worden, daB die Neger eigentlich die Teufel sind, deren 
Existenz die Theologen verfechten und daB alle Eigenschaften, 

20 die man diesen beilegt, sich an ienen finden; iezt begreift man 
vielleicht auch besser, wie die Rabbinen oben die Neger in der 
Arche Teufel nennen konten. Er fangt so an ohne Dedikazion 
und Vorrede: 

»Es komt, geneigter Leser, nicht sowol auf die Gedanken, 
die ein Autor in die Welt schikt, als auf sein Gesicht, mit dessen 
Stichersiebegleitet, an, oberseinGliik machen sol. Hoffentlich 
findet der Leser, daB ich diese wichtige Bemerkung nicht aus 
der Acht gelassen, da ich das gegenwartige Geisteskind gebar. 
Er wird weder an den Gedanken der gegenwartigen Abhand- 

30 lung die Seichtigkeit schwer entdekken, welche von der weni- 
gen Miihe zeugen kan, die ich an sie verschwendet, noch an 

* Der Teufel wird oben von wenigen Damen verstanden werden, 
wenn ich die etlichen ausnehme, deren eignes Gesicht ein Kommentar 
zur obigen dunklen Stelle ist und die von ihrem Bilde im Spiegel den 
Gebrauch eines Kupferstiches machen konnen, der ihnen die Sache an- 
schaulich macht. 



97<5 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

meinem vorangestochenen Gesichte den Unterschied iiberse- 
hen, der zwischen diesem und meinem angebornen ist und der 
die grosse Sorgfalt am besten ausser Zweifel sezen kan, die ich 
auf die Verschonerung meines Kupferstiches verwandt. Es ist 
mehr Wahrheit als Selbstlob, wenn ich versichere, daB ich die 
Stirn an meinem Gesichte auf dem gegenwartigen Kupferstich 
wenigstens um 3 . Linien hdher und um 4V2 breiter machen las- 
sen als sie auf dem Gesichte ist, das meinen Kopf zudekt; und 
ich wiinschte, der Leser nahme doch einmal meine Person selbst 
in Augenschein: er wiirde dan mir gewis beipflichten, daB ich 10 
in natura meine Lippen nicht mit der Halfte der sonderbaren 
Grazie schliesse und ziehe, mit der ichs doch im Kupferstiche 
thue. Kurz ich mochte um wieviel nicht mein gestochenes Ge- 
sicht gegen mein angebornes tauschen. Der Leser kan mir dem- 
nach nicht vorwerfen, daB ich ihm zuwenig Wiz und Scharfsin 
aufgetischet: mich diinkt, das Gesicht von mir, das ich hier ans 
Licht stelle, besonders seine obern Theile versprechen und ent- 
halten von beiden mehr [als] zu viel und in der That mehr, 
als ich sogar selber habe. Ich habe daher gestern sehr wol gesagt, 
daB ich in effigie wiziger und verniinftiger schreibe als irgend 20 
ein Teufel in der Holle und auf Erden, Indessen ist es doch 
nicht unmoglich, daB meine kiinftigen Gesichter - denn alles 
schreitet in seinen Volkommenheiten weiter - das gegenwartige 
gar sehr im Wize und Scharfsin (iberholen; da selbst die zwote 
Auflage meines Portraits verschiedenes vor dieser ersten voraus 
haben wird. Ich gedenke besonders meinem kiinftigen Gesichte 
durch die Muster der Alten aufzuhelfen, die man iezt viel zu 
wenig nachahmt und kopiert, und ich werde dasselbe vielleicht 
aus den besten Antiken zusammensezen. Meine Nase wird im 
griechischen Stile schreiben; Zizero sol mir seine satirischen Lip- 30 
pen vorstrekken; Sokrates wird mich mit einer denkenden Stirne 
versehen; den Plato wil ich um seine beredten Augen ansprechen 
und er schlagt mir sie gewis nicht ab; Midas hat sich schon 
von selbst zur Absclineidung seiner treflichen Ohren erboten, 
damit ich das zu leise Lob, das mir das Publikum giebt, leichter 
und verstarkter vernehmen konne; und ein manliches Kin wil 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 977 

ich schon wo mausen. Ein solches Gesicht von mir (wenn ich 
es wirklich zu Stande bringe) ware dan eine sonderbare Quintes- 
senz vom ganzen menschlichen Wiz und Scharfsin und wurde 
noch mehr studieret zu werden verdienen als die Alten, nach 
denen ich es bildete. Aber das sehen eben unsere Gelehrten auf 
der Holle nicht ein: werglaubtwolnurz. B., daB meininKupfer 
gestochenes Gesicht ein Pranumerazionsschein ist, den ich dem 
Leser iiber meinen Wiz und Verstand ausfertige, oder die Ad- 
dresse oder das Inventarium meines Geistes, oder ein Sternbild, 

io das aus den Strahlen meiner Talente zusammengeflossen, oder 
ein Assekuranzbrief auf meine zerbrechlichen Gaben, oder ein 
Adelsbrief, der den Adel meines Herzens erhartet, oder endlich 
auch bios ein Stekbrief, der den Leser meine unsichtbare Sele 
kennen lehret? Noch mehr aber ist ein anderer Fehler unserer 
Gelehrten zu tadeln, iiber den ich schon lange vergebliche Be- 
schwerde gefuhret, der, daB sich so selten einer mit seinen natur- 
lichen Hornern vor der Algemeinen hollischen Bibliothek in 
Kupfer stechen lasset: berechtigen sie dadurch nicht wider ihre 
eigne Absicht zu dem Argwohn, als ob sie ihrer Horner sich 

20 gar schamten; eines Hauptschmuks, zu dem sich doch die gro- 
sten Ehemanner der Erde und der Holle vielmehr Gliikwun- 
schen und den der grosse Alexander, der schon auf der Erde 
sein Bild damit bekronen lies , hier auf seinem angebornen Kopfe 
mit sovielem Vergniigen tragt? Wenigstens hab' ich mich nicht 
im geringsten geschamet, auf dem gegenwartigen Kupferstiche 
gehornet zu erscheinen; und in den kunftigen Stichen, die mich 
in Lebensgrosse darstellen sollen, werd' ich auch nicht einmal 
suchen, meinen feinen Schwanz zu verstekken. - Jezt komt 
meine Abhandlung von den Negern endlich selber: billige Leser 

30 werden dem Tadel, daB sie viel zu wenig Wiz und Scharfsin 
habe, hoffentlich schon wol an meiner stat durch das Lob zu 
begegnen wissen, daB dafiir mein Kupferstich sogar Oberflus 
von Wiz und Scharfsin verspreche. 

Die Teufel, sagt man auf der Erde algemein, tragen sich 
schwarz: es lasset sich noch daniber disputiren, ob sie es thun, 
um doch auch etwas aus Paris nachzuahmen, wo die Advokaten 



97^ JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

schwarz gehen; vielmehr glaub' ich, thun sie es wol, um sich 
inEngeldesLichtsd. h. in^ctoar^gekleidetePriester zu verstel- 
len, mit deren Schwarze sie wenigstens ihre Aussenseite aufstaf- 
firen wollen, weil sie nicht ihr Inneres damit zieren konnen. 
Bei den Negern finden wir nun wirklich iene Schwarze, die 
den Teufel eigentlich macht; sie gehen in ganzer Trauer iiber 
ihren Abfal von Got: denn sie treten alle weis d. h. als gute Engel 
ins Dasein und werden erst mit der Zeit schwarz und bos. Man 
sieht beilaufig auch mit, daB den Europaerfn] wegen der weissen 
Farbe ihrer Haut der Name guter Engel gebiihret, welche noch 10 
nicht gefallen sind und ihre anerschaffene Reinigkeit unbeflekt 
bewahret haben; auf sie mus man daher alles ziehen,was die 
Bibel von den guten Engeln sagt und es lasset sich daraus auch 
leicht begreiffen, wie der Verfasser der Offenbarung Johannis 
unter den Seraphinen und Cherubinen die Hollander habe mei- 
nen konnen. - 

Noch mehr. Die Reisebeschreiber melden uns, daB verschie- 
dene Neger zu ihrem Got und Schopfer, den sie sich wie die 
Kardinale den Pabst, selber schaffen, den Teufel gewahlet. Auf 
dieser Spur fusse man doch weiter. Modelt nicht iedes Volk 20 
nur nach seinem eignen Werthe seinen Got und fiihret es nicht 
auf ihn bios die Vorzuge zu Hause, die es selbst in hohem Grade 
besizet und schazet? Daher ist auch mancher Got ein ordentliches 
Quodlibet von Volkommenheiten. Wenn nun die Neger den 
Teufel fur ihren Got d. h. fur den personifizirten Inbegrif ihrer 
eignen Vorzuge erkennen: konnen sie es wol merklicher zu ver- 
stehen geben, daB sie selber auch Teufel sind, wiewol nur endli- 
che und unvolkommene? Zwar liesse es sich allenfals horen, 
wenn man einwurfe: >vielleicht aber entlehnten sie die kiihnen 
Ziige, woraus sie den Teufel zusammengemalt, nicht von sich 30 
selbst, sondern von weit hohern Modellen, ich meine von ihren 
westindischen Herren.< Allein diese Vermuthung, so sehr sie 
vielleicht dem stolzen Europaer schmeicheln mag, widerspricht 
doch ganzlich der Wahrheit, Denn es ist nur gar zu bekant, 
daB der Negersklave iiberhaupt wenig Achtung fur seine weis- 
sen Peiniger tragt, noch weniger aber gar soviel als er fur sie 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 979 

wirklich haben muste, wenn er sie zum Bilde seines Gottes, 
des Teufels, sizen lassen soke, so wie etwan iene Dame den. 
haslichen Pelisson bat, ihrem Maler zu einem Kopfe des Teufels 
zu sizen. Verdienen freilich thun die Europaer diese Achtung 
wol unstreitig und ihr Betragen gegen die Negersklaven verrath 
nichts, was nicht auch fur den teuflischen Got derselben sich 
schikteundsich auf den Teufel nicht ganz wol ubertragen Hesse: 
indessen kan ich doch nicht verhehlen, daB sie die Ehre der 
Weissen bei den schwarzen Schatten und Silhouetten der 

io Menschheit noch weit nachdriiklicher behaupten und noch weit 
giiltigere Titel auf den Namen der Teufel sich erwerben konten, 
wenn sie ihre Strenge gegen die Neger nur um ein wenig noch 
vermehren und Amerika aus einer blossen Folterbank und einem 
Gerichtsplaz derselben gar in ein Theatrum anatomicum von 
ihnen verwandeln woken. Wenigstens haben sie doch den stol- 
zen Neger mit alien Peinigungen, Beraubungen und Verstum- 
lungen bisher noch nicht zum Gestandnis bringen konnen, daB 
sie Milchbruder oder gar Briider seines grossen Gottes, des Teu- 
fels, sind und er halt sie immer fiir nichts als fur blosse Diener 

20 und Werkzeuge desselben. - Der scharfsinnige Venezianer Ca- 
donizi hat erwiesen, daB die Verdamten in der Holle von zwei 
Henkern gemartert werden, von den Teufeln und von den Thier- 
selen: man erlaube mir solange als die Europaer ihren Beruf, 
die gewissermassen verdamten Neger zu peinigen, nicht besser 
abwarten, ihnen den Namen Teufel standhaft zu verweigern 
und begniige sich mit dem blossen Ehrentitel wilder und reis- 
s en der Thiere. 

Selbst der menschliche Sprachgebrauch scheinet dafiir zu 
sprechen, daB die schwarzen Menschen Teufel sind. Wie oft, 

30 hort man nicht gemeine Leute von einem untadelichen Grossen 
sagen: >der Teufel weicht nicht von ihm oder der Schwarze be- 
gleitet alle seine Tritte und Schritte.t Jeder sieht wol, daB das 
soviel als dieses sagen wolle: >der Mohr weicht nicht von ihm 
und trit ihm liberal hinten nach<; und mit dem Ausdrukke: >er 
ist ein Diener des Teufels< wil man in der That weder mehr 
noch weniger zu verstehen geben als man mit dem gabe >er 



980 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

ist Hen von einem guten Kammermohren<. Sonach nennen 
schon die gemeinen Leute die schwarzen Menschen Teufel. 

Den Aufenthalt der Teufel verlegen alle gute Geographen in 
die heisse Holle; und auch nicht ohne Grund: denn die Neger 
bewohnen in der That ein Land, das wegen seiner Hize den 
Namen der Holle verdienet: und an den wenigen Wohnorten 
derselben, wo es ia nicht so warm ist, wissen ihre europaischen 
Herren schon Einrichtungen und Verfugungen zu treffen, wel- 
che die Ahnlichkeit mit der Holle volkommen wieder erganzen. 

Man rtihmet von den Teufeln algemein, daB sie gleich den 10 
Fiirsten besondere Rechte an die edlen Metalle haben und Gold 
und Silber mit ihren Krallen austheilen: uns, die einige mit den 
Teufeln verwechseln, kan man damit gar nicht meinen, weil 
wir nie den Menschen Geld geben; aber wol auf die Neger passet 
es, welche den Eingeweiden der Erde Ofnung verschaffen und 
ihr den Goldkoth abklystiren d. h. in den Goldbergwerken gra- 
ben. Ich halte den Umstand, daB die Neger den Europaern zu 
mehrerem Gelde helfen, fur den wichtigsten Beweis, daB sie 
Teufel sind: iibrigens ist es fur die gesamte Menschheit besser, 
wenn die Erde Gold als wenn sie Fruchte hergiebt: denn ienes 20 
ist kontante Zahlung oder Zahlung zur Kassa, diese hingegen 
gleichen einer Zahlung durch Assignazion. 

Die Schrift sagt: Die guten Engel dienen den Frommen. Allein 
hier mangelt etwas; es soke noch heissen (und in einer seltnen 
Handschrift aus dem 3. Jahrhundert, welche die vatikanische 
Bibliothek auf der Holle in ihrem Beschlusse hat, heisset es auch 
wirklich so): und die bosen Engel dienen den Frommen auch. 
Was sind mithin die Neger, welche in der That den Europaern 
dienen? Naturlich nichts anders als Teufel, so wie diese nichts 
anders als Fromme oder Christen. Da diese Teufel auch bei den 30 
Hollandern Dienste genommen: so ergiebt sich daraus ein ganz 
unerwarteter Beweis des alten Sazes, daB die Hollander nicht 
bios Hollander, sondern auch Christen sind; auch kan ich den 
Leser ganz wol ersuchen, diesen Saz, fals ihm bessere Beweise 
desselben unbekant sind, auf mein blosses Wort hin zu glauben. 

Ubrigens sezt es wol die algemeine Ubereinstimmung aller 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 98 I 

polizirten Europaer am besten ausser Zweifel, daB die Neger 
aus der Zahl der Menschen ausgestrichen werden mussen; 
muthmasse ich anders diese Ubereinstimmung nicht zu rasch 
aus dem doch durchgangig gebilligten Unterschiede, mit dem 
sie ihre Nebenmenschen und mit dem sie hingegen die Neger 
zu behandeln so genau acht haben. Zum mindesten lasset es 
sich doch von Holland erharten, daB es die Neger fur schwarze 
Engel ansieht: denn man hore folgende Anekdote. Vor einiger 
Zeit hatte ein Kaufman (so tief fiel er unter seinen kaufmanni- 

10 schen Karakter!) in den hollandischen Niederlassungen in Suri- 
nam eine ganze Plantage von Schwarzen taufen lassen. Holland 
schwieg dazu nicht, sondern verfallete ihn dafiir in die (mich 
diinkt gemilderte) Strafe von funfzehn tausend Thalern. Diese 
Bestrafung lasset sehr vermuthen, daB sie gar wol einsehen, 
wie wenig die Neger zu den Menschen gezahlet werden mussen 
und wie unwerth sie daher der Taufe sind: indessen konte die 
Strafe wo noch ein wenig scharfer sein. Denn ich kenne wenig- 
stens kein Verbrechen, das grosser ware als das, das Sakrament 
der Taufe an Kopfen.zu entheiligen, welche auf den Riimpfen 

20 boser Geister stehen und denen zur volligen Ahnlichkeit mit 
dem Teufel nichts fehlet als ein gutes Paar Horner: und der 
ungliikliche Kaufman beschimpfte die Taufe in aller Riiksicht 
mehr als die Lappen thun, welche selbige doch nur Hunden er- 
theilen. 

Mit sovielem Verstande ich auch den Beweis von der Teufel- 
heit der Neger gefiihrethabe: so glaub' ich doch, eine geschiktere 
Feder konte sie noch weit besser ins Klare sezen; und zu wiin- 
schen war' es auch recht sehr. Denn solange der Irthum von 
der Menschheit der Neger noch nicht von Grunde ausgerottet 

30 ist, so lange mus man das alte Lied anhoren, daB der Negerskla- 
venhandel eine der grosten Statsschulden der Menschheit, eine 
zwote Siinde gegen den h. Geist und das gegen den Scheiterhau- 
fen der Inquisizion sei, was gegen das Fegefeuer die Holle ist. 
Und doch macht den Europaern vielleicht nichts mehr Ehre 
als eben dieses geschmahte Betragen derselben gegen die Neger, 
wenn man nur diese nicht mehr in die Klasse der Menschen 



982 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

lasset. Denn der seltene Grad, in welchem ihre Herren sie peini- 
gen, ist dan kein Beweis von Grausamkeit mehr, wol aber ein 
bleibendes Denkmal von einer Menschenliebe und Gelindigkeit, 
die man vielleicht nur in europaischen Busen findet; indem die 
Europaer aus dem Schlozer u. a. ganz leicht erharten konnen, 
daB sie nie die Neger (ob sie gleich gedurft hatten) wie Teufel 
behandelt, sondern stets zu mitleidig gewesen, sie anders als 
nur wie das Vieh zu behandeln. - Zwar sollen die Sklaven auf 
der Insel Frankreich nicht so gut wie das Vieh gehalten werden, 
weil man da nur sie, aber keine Hirschen schiessen darf; allein 10 
ich glaube nur, das leztere ist wol nicht wahr. Denn fur so einfal- 
tig halte man doch den Leser nicht, (er halt sich selbst nicht 
daftir) daB man ihn zu bereden hoft, der Europaer schone da 
den Neger nicht einmal so sehr als der grausame Lowe ihn 
schont, der in der blutdiirstigen Wahl zwischen einem Thiere 
und einem Neger sich alzeit zum Nachtheile des erstern bestimt 
und den leztern laufen lasset. Freilich mehr als das Wildpret, 
kan man auch nicht verlangen, daB man dort die Sklaven schone, 
und die Jagdverbote miissen zu gewissen erlaubten Zeiten so 
gut in Riiksicht dieser als in Ruksicht ienes aufgehoben werden 20 
diirfen. Ich sehe sogar wol, daB man auch ausser der erlaubten 
Zeit - so wie etwan die Jager sich zu Ostern und Pfingsten 
gewisse kurze Ubertretungen des Jagdverbots erlauben, urn so- 
genante Festhasen zu schiessen - den Negern Vogelfreiheit schen- 
ken konne und daB es besonders an hohen Festtagen ein unschul- 
diger und christlicher Zeitvertreib sein mag, einige oder mehrere 
Sklaven - welche H, Lichtenberg mit allem Recht menschliches 
Schwarzwildpret nent - mit guten Biichsen zu erlegen. Ubri- 
gens schliess' ich freilich noch nicht gern.« 

So weit mein hofnungsvoller Anverwandter. 30 

H. Stapelhaselius, zu dem ich iezt wieder zurukkomme, eifert 
mit einer unanstandigen Heftigkeit gegen meine angebliche 
Frechheit, mich von allem Antheile an den menschlichen Siinden 
loszusagen. Meinetwegen eifere er immerhin: nur dtirft' er doch 
auch dieses uberlegen: nach seinen Grundsazen bin ich noth- 
wendig es auch, der die Menschen mit Feindseligkeit erfullet 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 983 

und sie zu den Ausbriichen derselben in Hader und Z wist hinzie- 
het. Demnach frag' ich ihn vor den Augen des ganzen menschli- 
chen Publikums: warum schamet er sich dieser Behauptung 
nicht, die er an sich selber widerleget findet? Denn er antworte 
mir aufrichtig: hab' ich d. h. hat der Teufel ihm den unchristli- 
chen Grol eingeplanzet, den er auf alien Seiten seiner Broschure 
gegen mich an den Tag leget? hab' ich ihm die ehrenriihrigen 
Beschimpfungen vorgesprochen, womit er mich vim meinen 
Kredit bei Rechtschaffenen zu bringen sucht? und hab' ich ihm 

io die griine Galle eingeflosset, womit er in seiner Schrift sowol 
als in seiner Predigt meine unschuldige Schwarze zu vermehren 
und verfalschen trachtet? hab' ich das wirklich oder nicht viel- 
mehrersichselbst?Dochunstreitig das leztere, man miiste denn 
lieber annehmen, daB ich mit dem H. Stapelhaselius meine eigne 
Verkleinerung abgeredet und mich mit ihm gegen mich selbst 
verbunden hatte: iiber so eine einfaltige Voraussezung ist aber 
meines Erachtens das Publikum doch hinweg. Es ist das alles, 
was ichbehaupte, so deutlich, so unwiderleglich; und gleichwol 
mus ich mehr davon reden. Denn unter den unzahligen Ver- 

20 laumdungen, die man liberal gegen den Teufel ausstreuet, ist 
diese gewis die liebloseste, daB ich die Theologen in ihren hefti- 
gen Federduellen als Spiesgesel und Sekundant begleiten, in ihnen 
den unchristlichen Feuereifer gegen anders Denkende entziinden 
und anfachen und mit ihnen die cholerischen geistigen Wechsel- 
kinder* zeugen sol, welche man unter dem Namen Streitschrif- 
ten furchtet. Ich sag* es aber frei heraus: das ist eine verdamte 
Luge, und eine gehassige Anschuldigung, fur die ich alle Genug- 
thuung begehre. Denn man hat nicht mehr Grund, den bosen 
aberguten Feind fur einen Soufleur der verkezernden Theologen 

30 auszugeben als der einfaltige P. Boucheant hatte, es auch mir 
anzudichten, daB der Esel des Bile am s reden lernte, welches ihn 
doch ein Engel bekantlich gelehret. Um aber mich auf einmal 
vonallem Verdachteloszumachen, erbieteich, der Teufel, mich 

* Wechselkinder (Kielkropfe, Teufelskinder) sind unformliche Ge- 
stalten, welche nach den gemeinen Leuten der Teufel stat schonerer 
unterschiebt. Man kent sie daran, daB sie schwer sind und doch mager. 



984 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

hier offentlich, iiber alle Theologen, sie mogen zur hohern oder 
niedern Geistlichkeit gehoren, welche sich vom Genius der 
Menschenliebe verlaufen haben, die miihsame Vormundschaft 
ohne das geringste Entgeld bios zum Besten der Orthodoxie 
und meines Ruhms zu iibernehmen und alles was ich lean zu 
thun, urn ihnen die polemische Galle abzufuhren, die hervorste- 
chenden Fingernagel abzukiirzen und iiberhaupt ihr ganzes We- 
sen auf einen menschenfreundlicbern Fus zu sezen: ich hoffe, 
rneine Bemiihungen um ihre Menschwerdung soil en sie mir nicht 
ganz mislingen lassen. Hobbes sagte einmal: »stekte der Teufel, 10 
wenn ich in einem tiefen Brunnen lage, seinen gespaltnen Fus 
hinab, so wiird' ich ohne Bedenken in denselben eingreifen, 
damit er mich heraushobe.« Da ich aber noch weit mehr fur 
die Theologen thun wil und mich entschlossen habe, in die ko- 
thige Grube der Intoleranz, worin sie zu ganzen Nestern sizen, 
zu ihrer Rettung stat meines kurzen Fusses meinen langen 
Schwanz hinunterzusenken: so darf ich ia wol mir Recht erwar- 
ten, daB sie samtlich mit unglaublicher Begierde an ihn sich 
anschlingen und fest anhalten werden, damit ich, wenn ich mich 
vorher vor meinen eigenen Schweif eingespant hate, erne Traube 20 
nach der andern unbeschadigt an das Tageslicht herausfahre; 
dem Fuchse etwan gleich, der an seinem Schwanze, den er stat 
einer Angel ins Wasser geworfen, die anbeissenden Krebse dar- 
aus hervorlangt, die er, um sie dem troknen Tode auf einem 
fremden Elemente zu entziehen, so fort auffrisset, oder auch 
den Ratten, die sich ihres Schwanzes stat eines Stechhebers be- 
dienen, um den Wein almahlig aus dem Fasse auszutunken und 
vielleicht auch ienem Fuchse ein wenig, an dessen Schwanz der 
messenische Feldher Aristomenes sich aus seinem unterirdischen 
Gefangnis so gluklich herausfand. 30 

Auf so schwachen Fiissen stehet denn meine Existenz noch 
bis auf diesen Augenblik, aller Bemiihungen meines H. Gegners 
ungeachtet. Er kan aber glauben, daB ich ihm diese Vergeblich- 
keit derselben gar nicht gonne; es ware mir ia selber lieber und 
vortheilhafter, wenn ich existirte und wiiste ich, daB es etwas 
halfe, ich wiirde sogar ohne Bedenken den H. Superintendenten 



UNPARTETISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 985 

Stapelhaselius selbst um meine Erschaffung angehen, so wie in 
einem gewissen spanischen Schauspiele Adam sich vor Got dem 
Vater mit der Bitte auf die Knie warf, ihn aus dem Nichts her- 
vorzubringen. Allein ich weis wol, das Nichts wird noch lange 
mit mir schwanger gehen, eh' es mich gebieret, und sobald 
werd' ich mir wenigstens keine Rechnung machen diirfen, mit 
meinen Freunden ausser meinen bisherigen Namenstag, auch 
noch wie andere Wesen einen Geburtstag feierlich begehen zu 
konnen. Untrostlich bin ich dariiber indessen' auch nicht: von 

10 Epikur und Voltaire hab' ich hierin ein anstandigeres Betragen 
gelernt. So wie diese zwei Manner - diese herlichen Doppel- 
oder Schusterlichter der iezigen Erde - den Tod ihres Wesens 
leicht iiber das Leben ihres Namens verschmerzten: so wil ich 
mich dadurch beruhigen, daB fur mein Nichtsein mich die Exi- 
stenz und Unsterblichkeit meines Namens (Teufel) reichlich 
schadlos halt: zulezt komm' ich doch wol einmal zum Erstaunen 
aller Wesen als die Nachgeburt meines Namens ins Dasein hervor. 
Der erste Gebrauch, den ich dan von meiner Wirklichkeit 
machte, ware, daB ich in folgendes Gleichnis ausbrache: gerade 

20 so wird ein katholisches Kind, das durch eine Spriize im Mutter- 
leibe getauft worden, spater geboren als benamset und gelangt 
zur Geburt wirklich etwas spater als zur Wiedergeburt. 

Eh' ich schliesse mus ich von der Predigt meines Gegners 
wiewol ungern sagen, daB sie mir schlecht gefallen. Nicht ihre 
erbarmlichen Gedanken mein' ich, sondern die harten Namen, 
womit sie mich belegt. Sie schildert mich von so schwarzen 
- Seiten und stosset mich so tief unter mich selber hinab, daB 
ich bei ihrer Anhorung ordentlich ganz dariiber erschrak und 
zulezt zu zweifeln began, ob ich wol wirklich der Teufel oder 

30 nicht vielmehr gar der Advokat, dessen Gestalt ich wie schon 
gedacht, in seinem Kirchenstuhle angenommen hatte, sei: ich 
verleztedaherverschiedeneTheile meines Scheinkorpers so sehr 
ich konte; da ich nun wie natiirlich nichts davon empfand, so 
schlos ich, daB ich nicht der Advokat, dem dieser Korper ange- 
hore, sondern der Teufel sei, der nur in den Schein desselben 
sich verstellet hatte. - Uberhaupt meine Herren Menschen, der 



986 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Teufel ist es nun im hochsten Grade sat und miide, euch die 
Rolle des Schwarzwildprets langer vorzuspielen, das ieder von 
euch hezt; er wird inskunftige seiner Ehre mit empfindlichen 
Mitteln Schuz zu verschaffen wissen und ohne Anstand ieden 
von euch holen, der ihn nicht lobt. Derm verdient hab' ichs 
doch wol nicht, daB z. B. der Edelman mein Bild zu meiner 
heimlichen Krankung verstummelt in seinem Wappen fuhrt; oder 
daB die Inquisizion bei iedem Autodafee mich in effigie verbrent 
und einaschert*; oder daB iede euerer Damen mir, wenn ich 
etwan schlafe, die Horner, die ich wie Bacchus die seinigen ab- J0 
und anlegen kan, geschikt entwendet und sie ihrem schlafenden 
Manne aufbindet, hernach aber, wenn der Man sich iiber die 
schwere Verzierung erbosset, mich als den Thater angiebt und 
zwischen mir und den Mannern dadurch oft den grosten Kaltsin 
und wochenlange Misverstandnisse verursachet. Ja womit hast 
du es verdienet, unschuldiger Schwanz, daB die Kupferstecher 
dir ein Stiik um das andere ablosen und deine riikwartsgehende 
Verkiirzung sich so frei herausnehmen als warst du ein modi- 
scher Zopf? Und bis auf den heutigen Tag weis ich es auch 
noch nicht, womit ich dich, lieber Luther, so aufbrachte, daB 2 o 
du mich fur das Schwarze deines Ziels ansahest und stat der 
Dinte dein Dintenfas gluklich auf mich richtetest und schossest, 
ohne vorher fluchtig zu erwagen, daB dein ubereilter Schus zwar 
an der Wand, woran du mich erbliktest, einen ewigen Heiligen- 
schein, den ieder Reisende besieht, aber an meinem kohlschwar- 
zen Pelze wegen der bleichen Dinte einen unausloschlichen 
weislichten Flek zuriiklassen werde? - - Leider lies es H. Stapel- 
hasel nicht einmal bei einem Dintenschusse bewenden; er ziikte 
auch das Federmesser und machte die Schuswunden noch gros- 
ser durch Stichwunden. 30 

Das Evangelium des Sontags (Invokavit) gab ihm Anlas, iiber 
meine exegetischen Kentnisse ein nachtheiliges Urtheil zu fallen 
und aus meiner Auslegung der Spriiche, mit denen ich darin 

* Auf die papiernen Miizen der zu verbrennenden Kezer wird ge- 
wohnlich der Teufel gemalet, dessen Bild hernach zugleich mit dem 
Kezer in Rauch aufgeht. 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 987 

Christum versuchte, bemiihte er sich den Schlus zu ziehen, daB 
meine Exegese wol nicht weit her sei. Auch schon andere Kan- 
zeln haben mir den namlichen Vorwurf gemacht, den ich mithin 
um so mehr gliiklich abzulehnen habe. - Vorher bitte ich die 
Leser, sich irgendwo eine Bibel nur auf einige Minuten vor- 
strekken zu lassen und darin das Evangelium, welches meine 
Verdrehungen der Bibelstellen enthalten sol, aufmerksam aber 
mit Augen nachzulesen, die nicht gegen mich gewafnet sind. 
Es wird ihnen gewis nicht entwischen, daB ich selten oder nie- 

10 mals mich an den sachlichen Sin der Bibelstellen, wol aber immer 
an den wortlichen gehalten.* Und meines Erachtens ist ia doch 
dies der Weg, den die Theologen selber in der Auslegung der 
Bibel gehen; ich darf sogar behaupten, daB sie ihn vielleicht 
nicht einmal betreten hatten, diesen richtigen Weg, wenn ich 
nicht in meiner Versuchung Christi sie zuerst darauf geleitet 
hatte. Hab* ich diese Auslegungsweise nicht auch den Juristen 
- mit ihnen bin ich iiberhaupt nahe verwandt, weil ich (wie 
Prokop schon gemeldet) der leibliche Vater ihres Justinians ge- 
wesen - beigebracht, welche mir nicht ^enug dafiir zu danken 

20 wissen? Denn wie sehr werden nicht dadurch, daB sie die Geseze 
wie ich die Bibel auslegen, die Prozesse verlangert? - Zwar ha- 
ben einige neuere Theologen diesen orthodoxen Weg verlassen 
und sich, weil sie die Schale der Bibelstellen nicht verdauen kon- 
ten, lieber mit dem blossen Kern derselben abgespeiset, gewissen 
Vogeln den Kirschbeissern ahnlich, welche nicht die siisse Hulk, 

* Unter dem sachlichen Sin der Bibel meint der Teufel den wahren 
Sin, den man entdekt durch die Wunschelmthen des Zusammenhangs, 
der alten Gebrauche, der Sprachkentnisse u.s. w. Durch diese Auslegung 
bringt man aber wenig mehr aus der Bibel heraus als was man schon 
30 vorher aus den Alten wuste und kein guter Theolog wird daher vielen 
Werth auf sie legen. Der wortliche Sin der Bibel hingegen ersezet das, 
was ihm an der Richtigkeit abgehet, mehr als zu wol durch seine Frucht- 
barkeit an Lehrsazen, die fur die ganze Rechtglaubigkeit von ungemeiner 
Wichtigkeit sind, als z. B. der herliche Lehrsaz von der Genugthuung. 
Man sieht zugleich, daB es nicht genug ist, wenn ein Theolog bios den 
wahren Sin in der Bibel zu entdekken versteht; er mus auch wissen, 
in ihr den falschen aufzufinden. 



988 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

sondern bios den Kern der Kirschen schmausen; allein ich glaube 
dabei kan die Rechtglaubigkeit unmoglich gewinnen und aller 
der wichtigen Dogmen, die sich nicht auf den Sin, sondern auf 
die Einkleidungbiblischer Ausspriiche griinden, mus sie dadurch 
nothwenig verlustig werden. Zum Gliik fiir die Orthodoxie 
sind doch nicht alle Theologen auf der Liste dieser Neulinge 
und selbst meinem H. Gegner mus ich das Lob ertheilen, daB 
er noch von der Zahl der bessern Theologen ist und sich mehr 
an die Einkleidung als an den eigentlichen Sin eines Bibelspru- 
ches halt; hierin ist er und noch einige wenige gewis den holzer- 10 
nen Nusknakern nicht unahnlich, welche den Kern der Nusse 
gleichfals nichtverzehren, sondern sich nur mit der Aufknikung 
der Schale abgeben, oder vielleicht noch ahnlicher dem Zigau- 
ner, der das abgenuzte durchraucherte Tobaksrohrgen in Er- 
manglung des Tabaks zulezt selbst angreift und es eben so gut 
als den Ranch, dessen Vehikulum es sonst war, sich schmekken 
lasset und wirklich auch ahnlich den Armen in Frankreich, die 
vor zeiten ihren Hunger nicht mit Speisen, sondern mit Tellem 
stilten*. Meine Freunde klagen taglich iiber meine Unfrucht- 
barkeit an Gleichnissen; ich wil daher diese treflichen Ausleger 20 
noch mit etwas namlich mit den Pferden in Vergleichung stellen , 
welche den Namen Krippenbeisser fuhren. Diese namlich iiben 
ihr Gebis an der Krippe und lassen das Futter, das sie enthalt, 
dariiber stehen und kauen Holz lieber als Hafer. Ein Roskam, 
der bios meiner Physiognomic wegen mein Freund geworden 
und meinen wolgewachsenen Pferdefus bis zur Podolatrie** 
hochschazet, nent mir drei Griinde, warum Krippenbeisser an- 
dern Pferden weit vorstehen. Erstlich brauchen sie wenig Futter, 
weil sie sich mit Holz zufrieden stellen: denn eben, weil man 
ihnen wenig zu fressen gab, gewohnten sie sich daran, von der 30 

* Denn eine runde Scheibe Brod vertrat die Stelle eines Tellers und 
diese konten die Armen wol essen. Jezt aber wiirde ein Silberservice etwas 
so ungeniesbares sein als die Schauessen der Grossen; zum Gliik bekom- 
men sie keines von beiden, sondern sie miissen auf eine weit wolfeilere 
Weise verhungern. 

** So nante man sonst das abgottische Kussen der pabstlichen 
Fiisse. 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 989 

Krippe zu zehren; der Roskam wil aber andern die Berechnung 
iiberlassen, wieviel dadurch an Futter bis zum Tode des Pferds 
ersparet werde. Zweitens schlukt der Krippenbeisser unter dem 
Benagen des Holzes eine ungewohnliche Menge Wind; mein 
Freund fragt aber, ob dieser nicht durch Aufblahung das man- 
gelnde Luder fiir ieden, der gesunde Augen hat, volkommen 
erseze? Endlich ist das gewis nicht der geringste Vortheil, daB 
die Zahne des Pferdes an der harten Krippe auf das Schonste 
zu- und abgeschliffen werden. Man kan dieses fuglich auf die 

10 obigen Exegeten anwenden: denn alle drei Vortheile haben sie 
mit den Krippenbeissern gemein; ihre Anhanglichkeit an den 
biblischen Wortsin macht, daB sie alle iene beschwerlichen Mit- 
tel zur Entdekkung des wahren gar nicht vonnothen haben und 
daher weit weniger Kentnis oder Selenspme brauchen, daB sie 
ferner ungemein an himlischem Ather oder Wind zunehmen, der 
ihre Magerheit durch Aufblasung verbirgt und daB sie endlich 
ihre polemischen Zahne, womit sie urn sich und nach den Ke- 
zern schnappen und beissen, sonderbar abwezen und schar- 
fen. 

20 »Leider! ist es nur gar zu gewis, daB der Teufel ein heimlicher 
Heterodox ist« Diesen abscheulichen Vorwurf macht mir mein 
Gegner ohne Scham und Scheu. Das (gesteh' ich) glaubte ich 
nun nicht zu verdienen und ich bin dariiber schon in verborgene 
Thranen ausgebrochen. Zwar hab' ich mich nie um ein geistli- 
ches Amt beworben und werd' es auch schwerlich iemals thun; 
iiberhaupt zieh' ich von der ganzen Rechtglaubigkeit nicht den 
geringsten Nuzen: aber ich meine ihr dennoch Dienste genug 
geleistet zu haben, um einer glimpflichern Begegnung werth 
zu sein und um vielleicht mit ihren eifrigsten Verfechtern in 

30 Paren zu gehen. Denn was thun denn die besten Orthodoxen, 
was thut selbst Teller in Zeiz so grosses zum Behuf der Recht- 
glaubigkeit? Sie enthirnen etwan schwache Kopfe unter dem 
Vorwande, sie zu trepaniren, und stekken in diesen, sobald sie 
sie verfinstert und des Sonnenlichts beraubet haben, dafur das 
orthodoxe Nachtlicht auf, das aus Schopsenfet gezogen worden. 
Soviel thue ich nicht; aber ich thue weit mehr; ich lasse ihnen 



990 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

die Eroberung schlechter Kopfe und greife dafiir lieber grosse 
an und unterwerfe diese der Orthodoxie. Die Arzte mogen sa- 
gen was sie wollen, ich weis es doch (die Alten, die Juden und 
alle unpolizirte Nazionen pflichten mir bei) daB ich, der Teufel, 
es bin, der die grosten und feurigsten Denker, von welchen 
man fiir das orthodoxe System alles zu befahren hatte, nahe 
vor der giftigen Reife ihrer ganzen Kraft in den sichern Zustand 
des Wahnwizes versezet und sie aus eigner Volmacht als Gefan- 
gene des Bedlams und der Kirche anhalt und aufgreift. Man 
lean sich daraus einen kleinen Begrif von der Empfindung ma- 10 
chen, mit der ich es anhoren mus, wenn die Priester mir, der 
ich gerade allein der iezigen Vermehrung der Kopfe mich noch 
ein wenig entgegenstelle und dem man alle bisherige Verminde- 
rung derselben noch zu danken hat, es schuld geben, daB der 
Kopfe von Tag zu Tag mehrere werden. Denn man wird doch 
nicht zu dieser Beschuldigung durch einen gewissen unschuldi- 
gen Spas veranlasset worden sein, den ich mir ie zuweilen er- 
laube? Manchmal namlich thue ich an einem Delinquenten, um 
den Scharfrichter, der an ihm sein Meisterstiik kopft, in eine 
possierliche Verlegenheit und in Irthum zu bringen, den Kopf 20 
vervielfaltigen. Oder sol ich wirklich glauben, daB meine Ankla- 
ger nicht wissen, daB diese Kopfe nur scheinbare sind, die nicht 
langer als der wahre dauern? - Dazu beweisen auch noch andere 
Griinde, daB ich weit grossere Verdienste um die Rechtglaubig- 
keit als die Theologen habe. Ich schwache soviel als moglich 
die menschlichen Kopfe, ohne doch davon den geringsten Vor- 
theilzu ziehen, man miiste denn das Bewustsein uneigenniiziger 
wolthatiger Anstrengungen fiir einen rechnen. Bei den Theolo- 
gen aber ist das ganz anders: wenn diese das namliche thun, 
so gewinnen sie weit mehr dabei. Von ieher hat man ihnen 30 
die geistliche Augenlosigkeit der Menschen als die Bedingung 
ihres Gliiks empfohlen, um sie zur Verbreitung derselben anzu- 
frischen. Freilich dan ists kein Wunder und in der That nur 
wenig Verdienst, daB sie die Ausrottung der geistlichen Augen 
mit so vielem Eifer betreiben. Und ist es wol mit den gezahmten 
Habichten anders? Da man ihnen die ganze Zeit ihrer Bezah- 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 991 

mung den Fras in den Augenhohlen von ausgestopftem Wildpret 
auftischet: so stossen sie, sobald sie aus den Handen des Tragers 
losgelassen werden, gleich auf die Augen des Wilds und graben 
sie aus. - Und warum wil man denn gar nicht bedenken, daB 
ich der Theologie mit weit wenigern Kraften beizuspringen im 
Stande bin als die Gottesgelehrten, welchen alles, Gelehrsam- 
keit, Einflus und sogar der wekliche Arm zu Dienste stehen, 
wenn sie fur ihre Wissenschaft etwas thun wollen? Es war nicht 
diegrosteHeldenthatdes Riesen Gullivers, daB er die Feuersbrunst 

io des kaiserlichen Pallasts in Lilliput mit seinem Harne loschte; 
so mus es wahrhaftig auch fiir den Riesen in Hamburg, fur 
Goeze, gar nichts schweres gewesen sein, den Brand dev christli- 
chen Kirche, worein Lessing sie stekte, mit seinem Urin, den 
erdarauf lies, sogleich zu dampfen (denn mit Urin konnen seine 
damaligentStreitschriften gar wol verglichen werden, wenn man 
sie mit dem weit grossern Werth derer zusammenhalt, die er 
erstkunftig wird drukken lassen). Ich Zwerg wiirde mich daher 
damals weit verdienter urn die brennende Kirche gemacht ha- 
ben, hatt' ich auch nur einige unkraftige Sprizen herbeigefahren; 

20 allein nicht einmal das konte ich, sondern bios mit dem unent- 
geldlichen Vorsaze muste ich mich begniigen, fals die christliche 
Kirche ia abbrente, zum Aufbau einer neuen in der ganzen Welt 
um Beisteuer kollektiren zu laufen. 

Stapelhasel sagt in einer Note: »Wil es der Teufel auf sich 
nehmen, etwas zu behaupten, was im geraden Widerspruch mit 
den symbolischen Biichern stehet? Oder glaubt er, daB er es 
besser wisse als sie, ob er existire?« Das gar nicht! Aber ich 
glaube, wenigstens so lange meine Existenzbestreiten zu diirfen, 
als man sie mich noch nicht beschworen lassen: denn zu einem 

30 Inhume wiird' ich mich alzeit lieber entschliessen als zu einem 
Meineide. 

Endlichzanket mich mein Gegner aus, daB ich, zur Laugnung 
meinerExistenz, in meiner eignen Gestalt und auf einem offent- 
lichen Tanzboden auftrat. Indessen kan ich doch dieses mit mehr 
als einem giiltigen Beispiel entschuldigen und ich habe hierin 
einen Kiister zum Vorganger. In Salzburg namlich warf sich 



992 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

der dasige Kiister auf Befehl des Geistlichen in meine Gestalt, 
welche ich ihm meines Wissens doch nicht einmal geliehen hatte, 
trat unter der Kanzel auf eine Zitazion des Predigers zum 
Schrekken der ganzen Gemeinde hervor und suchte sie durch 
meine angebliche Aussenseite von meiner Wirklichkeit zu uber- 
fuhren. Ich selbst erstaunte iiber meine unbegreifliche Verdop- 
pelung und die Furcht zog verschiedene meiner Hare in die 
Hohe, wie bei einem Menschen, der sich selber siehet. Ich frage 
aber nur, durfte man meine Gestalt zum Dienste einer Luge 
dingen; warum solte ich sie nicht noch weit lieber zur Steuer 10 
der Wahrheit brauchen durfen? 

So weit meine Antwort. - Ich sehe aber wol voraus, FL Sta- 
pelhaselius wird sich in alien Geselschaften beschweren, daB ich 
sie nicht wenigstens lateinisch abgefasset; und von Herzen wiin- 
schen wollen, ich mocht' ihm lieber, solt' es auch um der 
Schwachen willen sein, seine Bestrafung gar geschenket haben: 
er wird die Zigauner nachahmen, welche die Streiche, womit 
man ihre Dieberei betrafen will, mit einem unschuldigen Kinde 
auffangen, damit man aus Mitleiden mit diesem ihnen die Ziich- 
tigung erlasse, die sie fehltreffen machen. Allein.,fur fremdes 20 
Argernis kan er, aber nicht ich. Denn ich habe das Glaubenslicht 
gewis sehr geschikt gepuzet: nur er ofnet die Lichtpuze und 
verschaffet dem Gestanke des glimmenden Dochtes Ausbruch, 
um hernach schreien zu konnen: »der bose Feind hat das Glau- 
benslicht ganz ausgeblasen, wie aus dem ungewohnlichen Ge- 
stanke leicht zu ersehen.« 

Kunftighin werd' ichindessen schwerlich mehr als Autor auf- 
treten, sondern mich lieber in eine wolthatige Einsamkeit zu- 
rukziehen, wo ich mit dem geringen Pfunde meiner Kentnisse 
weit besser zu wuchern und der Welt solang sie noch stehen 30 
mag, als ein geschikter Advokat zu dienen gedenke. Ich beur- 
laube mich daher von meinen Lesern nicht ohne eine gewisse 
Running und lasse zu einem langern Andenken ihnen einen Ge- 
stankzuriik, der vielleicht ubler als gewohnlich riecht: zufrieden 
nur, daB ich doch durch zwei sonderbare Werke mich verewigt, 
welche zu einem neuen Sprichwort Anlas geben konnen: »Sogar 



UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 993 

der Teufel hat zwei grosse Dinge volbracht; er hat die Briikke 
in Regenspurg gebauet; er hat Stapelhaseln widerlegt!« 



VOLSTANDIGE MITTHEILUNG 

der schlechten, aberwizigen, unwahren und uberflussigen Stellen, die 

ich in meinem nock ungedrukten »satirischen Organon« aus Achtung 

fur den Geschmak und fur das Publikum ausgestrichen habe 



Die Beispiele von denen Genies, die ihre Werke durch einen 
zu angstlichen Gebrauch der Feile entkrafteten und verunzierten, 
sind bei weitem seltner als die von solchen, welche den ihrigen 
durch eine zu sparsame Anwendung derselben Schaden und 
Eintrag thaten. Oberdieses konte man an ienen, die dem Ge- 
schmakke zu sehr frohnten, weiter nichts tadeln als daB sie zu- 
weilen matter schrieben; sie gefielen aber doch alzeit auch dan 
noch. Diesen hingegen, die sich iiber den Geschmak vollig hin- 
wegsezten, konte man vorwerfen, daB sie zuweilen auch ganz 
schlecht schrieben und manchmal also gar nicht gefielen. Die 
guten Kopfe konnen daher nichts bessers thun als recht viel 
in ihren Werken ausstreichen; ia den schlechten rath' ich sogar, 
alles in ihren auszustreichen. Mochte doch ieder schone Geist 
michzum Muster nehmen und ienen goldnen Spruch: »der Poet 
mus der Gottin Kritik alzeit einige Tropfen von der Hippokrene 
libiren, damit er sich in ihr nicht zu sehr berausche!« stat eines 
Feuersegens an die Thiir seines Museums annageln! Denn ich 
kan sagen, daB ich mit diesem Spruche, der (beilaufig anzumer- 
ken) unter den wenigen scharfsinnigen Gedanken, die mir zu- 
weilen entfahren, gewis die erste Stelle verdienet, bisher alzeit 
das Feuer des Genies von mir so gluklich abgewendet als der 
Bauer mit seinem Segen anderes Feuer von sich. 

Allein ich habe noch ein besseres Mittel, das Feilen unter un- 
sern Autoren in Gang zu bringen, in Bereitschaft; und das ist 
der folgende Vorschlag: kunftighin mus ieder Autor verpflichtet 
sein, iedes neueBuch, womit er die Welt bevolkert, mit etlichen 
Bogen zu verstarken, auf denen alle die schlechten, unsinnigen, 
aberwizigen Gedanken, die er in demselben weggestrichen und 
verbessert hat, zusammengedranget zu finden sind. Jeder sieht 
ein, daB solche Anhangsel - Korrekturbogen kan ich sie zierlich 
nennen - ungemein tauglich sein wurden, das Publikum mit 
eignen Augen sehen zu lassen, wie sehr der Verfasser an seinem 
Produkte gefeilet und wie ungleich schlechter es ursprunglich, 



MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN 997 

da es erst aus seinen Handen kam, gewesen als es iezt ist, da 
ers nach der Wiedergeburt desselben zum offentlichen Vergnii- 
gen herausgegeben. Mein Vorschlag ist ubrigens so gar neu 
nicht als er einigen scheinen konte. Denn grosse Dichter z. B. 
Voltaire, Bodmer u. s. w. haben wirklich schon ihre Werke mit 
dergleichen Verzeichnissen der schlechten Gedanken, deren Plaz 
sie darin mit bessern ausgefiillet hatten, freiwillig vergrossert: 
es kan aber nicht schwer sein, unsere Dichter zu iiberzeugen, 
daB hierinnen zwischen ihnen und zwischen grossen Dichtern 

10 gar kein Unterschied sei. Ich verschweige noch den beilaufigen 
Vortheil, der mit meinem Vorschlage verbunden ist, den, daB 
dadurch die Bogenzahl einen ansehnlichen und unerwarteten 
Zuwachs erhielte: mich diinkt namlich, die Absicht, die Dikke 
des Buches ohne seinen Werth zu vermehren, hat man bisher 
durch die gewohnliche reiche Einstreuung langer Gedankenstri- 
chebei weitem nicht so gut erreichet als man sie unfehlbar durch 
meinen vor[ge]schlagnen Anhang der ausgestrichnen schlechten 
Gedanken erreichen wird. - Noch wil ich offenherzig gestehen, 
wem ich meinen vortreflichen Vorschlag eigentlich zu danken 

20 . habe; es ist ein preussischer Kavallerist, der mich darauf brachte, 
so wie Pythagoras auf Veranlassung eines Schmidts den mathe- 
matischen Magister erschuf. Er erzahlte mir, wie sehr man bei 
den Reutern von seinem Regimente auf die Abpuzung ihrer 
Pferde sahe; und fiigte hinzu, daB sie ihre Sorgfalt darinne durch 
die Vorzeigung des Pferdestaubes ausser Zweifel sezen miisten. 
Bei den Pferden fallet mir alzeit das Musenpferd der Dichter 
(zuweilen auch das Stekkenpferd des Sterne) ein. So wars auch 
iezt und es schos mir auf einmal der Gedanke durch den Kopf: 
wie? wenn man die Dichter des deutschen Reichs zu einer ahnli- 

30 chen Reinhaltung des Musenpferdes anhielte? wenn man ihnen 
auflegte, den Beweis, daB sie dasselbe gehorig gesaubert, durch 
die offentliche Darlegung des Kothes oder Staubes zu fiihren, 
von dem sie selbiges gereiniget? - 

Er gefiel mir auch so sehr, dieser Gedanke, daB ich mich sofort 
entschlos, der ganzen gelehrten Republik ein Beispiel seiner 
Ausfiihrung zu geben und die erste Probe davon an meinem 



99$ JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

noch ungedrukten Werke »satirisches Organon« betitelt zu ma- 
chen. Und hier ist sie. - Das folgende Verzeichnis enthalt eine 
volstandige Samlung von allem Kothe und alien Unreinigkei- 
ten, die ich meinem iungen gehornten ziegenfiissigen Satyr 
theils durch Waschen theils durch Striegeln theils auch durch 
Schaben abgenommen. Hoffentlich ist es nicht blosse Tau- 
schung meiner Eigenliebe, wenn ich mir verspreche, daB diese 
Unreinigkeiten nicht nur einem geschmakvollen Buchhandler 
Lust zum Verlage des ganzen satirischen Bokkes, sondern auch 
vielleicht das Publikum ein wenig begierig auf die volstandige 10 
Erscheinung desselben machen werden. Auch soke mir das ge- 
ringste Vergniigen, das die Leser an den hier mitgetheilten Feh- 
lern meines Produktes fanden, sogar Aufmunterung sein, mich 
derselben ordentlicher Weise mit Absicht zu befleissigen, urn 
von Zeit zu Zeit das Publikum mit solchen Lieferungen ausge- 
strichner einfaltigen, unwizigen und sinlosen Gedanken nach 
besten Kraften befriedigen und laben zu konnen; und ich habe 
schon lange den heimlichen Wunsch in mir herumgetragen, daB 
ein kompetenter Kunstrichter meine Vermuthung, daB ich viel- 
leicht einigen Ansaz zur Hervorbringung von Fehlern haben 20 
diirfte und mich mit grosserer Begiinstigung meines Genies auf 
diese als auf Schonheiten legen wiirde, diese Vermuthung, von 
der ich doch immer ungewis sein mus, ob ich sie nicht vielleicht 
nur aus einer zu guten Meinung von mir selber glaube, durch 
seine Beistimmung besiegeln und ausser Zweifel sezen mochte, 
weil ich alsdan, uber meine Anlagen besser belehret, aufhoren 
wiirde, mit vergeblichem Ringen nach Schonheiten mich ferner 
zu peinigen, und dariiber den Ruhm der Fruchtbarkeit an Feh- 
lern, den ich mir durch ein zwekmassiger angewandtes Genie 
so leicht erwerben konte, zum grosten Nachtheil des deutschen 30 
Parnasses ferner zu verpassen und zu verscherzen. Wie gesagt, 
haben die folgenden ausgestrichnen schlechten Stellen meines 
kunftigen Werkes das Gliik, dem Leser nicht vollig zu misfallen: 
so werd' ich inskiinftige iiber dasselbe mit der scharfsten Feile 
herfahren und darin ungleich mehrere Stellen durchstreichen 
als stehen lassen, um nur desto mehrere zur Presse zu verdam- 



MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN 999 

men und die Zahl der undurchstrichnen guten Stellen zu verrin- 
gern, dieich zulezt wol gar ganzlich unterdriikken werde. Denn 
man sage mir doch warum nicht? Vielmehr ist es Pflicht, daB 
der Mensch seine litterarischen Tugenden so wie seine moralischen 
nicht zur prahlhaften Schau stelle, sondern beide sorgfaltig ver- 
hehle; aber seine Fehler hingegen, es mogen nun solche seiner 
Schriften oder seines Herzens sein, nicht heuchlerisch verstekke 
und am wenigsten vor dem Lesepublikum geheim hake, als 
welches vermdge seiner bewahrten und innigen Freundschaft 

io mit dem Autor das groste Recht an den Anblik aller Gebrechen 
desselbenhat. Wie in manchen Orten Italiens die Frauenzimmer 
den Kleiderschmuk, den sie angeleget, den offentlichen Augen 
nicht gonnen und nur den simpeln schwarzen Rok, den sie iiber 
ihn werfen, aus Demuth sehen lassen: so wil ich, um mir die 
Verlaugnungen des litterarischen Ruhmes gelaufig zu machen, 
iede Stelle meines Buches, die sich nur im geringsten entweder 
durch treffenden Wiz, oder durch tiefgedachte Wahrheit oder 
auch durch prosaischen Wolklang auszeichnet, dem Publikum 
vorenthalten wenigstens unverschlimmcrt nicht iibergeben, 

20 ohne mich von dieser Verheimlichung meines Werthes durch 
das vereinigte Bitten aller Rezensenten, Verleger und Freunde 
abbringen zu lassen; solche Stellen hingegen, an denen ich sitli- 
che Schiefheit entweder des Gedankens oder des Ausdruks ge- 
wahr werde oder die sonst dem Geschmakke des Publikums 
anpassen, werd' ich nie anstehen, zu meiner Demuthigung ans 
Licht zu bringen und mit sehr scharfen Lettern und auf sauberem 
Papier drukken zu lassen; dergestalt, daB aus meinem mit trok- 
ner und nasser Dinte zugleich versehenen Dintenfasse, wie aus 
der Biichse der Pandora, nur das Schlimme hervorgehen und 

30 die Hofnung hingegen in ienem wie in dieser, auf dem Boden 
sizen bleiben wird. Denn ich bin iiberdies durch die murrische 
Aufnahme, die eines meiner gedrukten Werke wegen zuvieler 
Vortreflichkeit erlitten, allerdings schon ein wenig gewiziget 
worden und ich werde nie aufhoren, mir und alien Autoren 
die ausgemachte Bemerkung vorzuhalten, daB das groste Un- 
gliik, was geistigen, so wie leiblichen Eltern wiederfahren kan, 



IOOO JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

das ist, wenn ihre Kinder oder ihre Biicher viel Verstand haben: 
denn der ist das untruglichste Zeichen, dafi sie nicht lang leben 
werden. - Kurz und gut: die nordische Rothgans iagt kleinere 
Rothganse solange herum, bis sie vor Furcht den Mist fahren 
lassen, welchen habhaft zu werden die grosse Gans sie geiaget 
hatte. Nun ist zwar das Publikum die grosse Gans und der Autor 
die kleine, und ienes verfolgt ihn solange bis er seiner Exkre- 
mente sich entlediget, welche dasselbe mit der grosten Begierde 
auffangt; allein es fehlet doch noch viel, daB das, was ich in 
diesen zwei Perioden gesagt, ein passendes Gleichnis sein soke. 10 
- Hier ist aber endlich das solange angekiindigte Verzeichnis 
der ausgestrichnen Schlechtheiten: 

Seit. 3. strich ich folgendes aus: »Ich habe zwar nichts gegen 
den Stirnmesser des H. Lavaters, mit dem man die Sele, (wie 
bisher die Korper der Rekruten,) ziemlich genau messen kan; 
allein ich brauche doch lieber bei Damen meinen Schleppenmes- 
ser, den ich an ihre Schleppen anlege, um aus der Lange dersel- 
ben die Lange ihrer Ohren zu erfahren; eine Operazion, die sich 
auf das mich diinkt nicht genug bekante Axioma griindet, daB 
die Ohren einer Dame stets so lange wie ihre Schleppe sind; 20 
so wie auch die Ohren des Elephanten einerlei Lange mit seinem 
Schwanze haben. « Hier ist die Behauptung und der Wiz ganz 
falsch; und ich mochte so etwas um wieviel nicht drukken las- 
sen. 

Seit. 6. Die folgende Stelle: »Denn man ziehet schon ein Bein 
nach dem andern aus dem romischen Stuhle heraus, so daB ich 
besorge, der Stuhl fallet zulezt gar um und die Herauszieher 
schlagen sich mit seinen Beinen ohne die geringste Schonung. 
Saget man, dieser alte Stuhl ruhe ia wie ein Grosvater- oder 
Lehnstuhl auf Lowenfussen: so antwort' ich darauf, daB diese 30 
nur von Holz sind und niemand im geringsten mehr krazen 
konnen« - diese Stelle nab' ich nicht bios ausgestrichen, sondern 
auch ausradiret: sie verrath eine unbedachtsame und gefahrliche 
Einmischung in politische Handel, die fur einen Deutschen sich 
gar nicht schikt, als der verbunden ist, bei der Betrachtung der 
politischen Welt laut und zu wiederholten Malen auszuruffen: 



MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN IOOI 

»es ist alles sehr gut und die politische Welt ist nach meiner 
Einsicht die beste Welt.« 

Seit, 7. war folgende Note: »Die Erde ist das Sinbild ihrer 
Bewohner. Nach Deskartes ist sie so gut eine Sonne, wie die, 
welche ihr leuchtet; allein sie ist nur eine mit einer dikken Rinde 
umhiilte und verlarvte Sonne. So sind vielleicht auch wir von 
keinem schlechtern Stoffe als bessere Geister iiber uns; allein 
der grobe Korper umziehe.t und verschliest die Sonne in uns.« 
Durch diese Note hatte ich mich gegen mein erstes Gesez im 

10 Schreiben verstossen, namlich dieses, das Publikum mit alien 
Gedanken, die ernsthaft sind oder die mehr die weisse als 
schwarze Seite des Menschen (denn er gleicht gewissen agypti- 
schen Statuen, die halb aus weissem und halb aus schwarzen 
Marmor gearbeitet sind) zeigen, wo moglich zu verschonen; 
daher strich ich sie billig hinweg. 

Eben so machte ich es auch mit der folgenden, Seit. 33. und 
aus dem namlichen Grunde: »Wie sich in den englischen Garten 
nachgeahmte Ruinen befinden, so giebt es auch gewisse Men- 
schen in unserer Welt, die fur dieselbe zu grossind und kunstliche 

20 Ruinen einer bessern zu sein scheinen« - Vielleicht sind einige 
mit meiner Strenge gegen diesen Gedanken nicht so ganz zufrie- 
den, allein ich mus hier dem Weltman Beifal geben, der ihn 
las und die Hinwegnahme desselben ohne Einschrankung bil- 
ligte. 

Seit. 101. hies es so: »Die Affen tragen in ihrem Kopfe einen 
gewissen Stein (Affenstein wird er genant) der gegen viele 
Krankheiten helfen sol; allein wenn nun ein Affe krank ist, was 
hilft ihm der Stein, den sein Kopf verschliest und zu dem er 
lebendig nicht gelangen kan? So ists nun gerade auch mit dem 

30 vortreflichen Steine der Weisen, der zwar die herlichsten Hei- 
lungskrafte sowol als Bereicherungskrafte besizet, der aber dem 
Alchymisten selber, als in dessen Kopfe er sich aufhalt, nicht 
den geringsten Nuzen schaft: denn wie kan dieser ihn aus dem- 
selben, ohne Gefahr seines Lebens herausbannen? Er mus ihn 
nothwendig mit sich in die Ewigkeit nehmen.« Ich habe dieses 
wie vieles andere ohne den geringsten Grund durchstrichen: 



1002 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNO 

denn ich glaube, es kan nicht schaden, wenn man von Zeit zu 
Zeit Handlungen, die sehr wenig Vernunft verrathen, zu bege- 
hen sich iibt. 

Seit. 1 10 durchstrichich: »Wirhaben die Franzosen nachgeah- 
met und auch nicht nachgeahmet: die deutsche Litteratur liegt 
noch in der Paradewiege, nur die deutsche Tugend liegt schon 
auf dem Paradebet.« 

Seit. 200. durchstrich ich: »Der Tod ist kein Punkt, sondern 
nur ein Abtheilungszeichen im menschlichen Dasein, ist ein Ge- 
dankenstrich, der zwo Welten verbindet: auch ist das kiinftige 10 
Leben mit fortlaufender Signatur des iezigen gedrukt.« 

Seit. 201. durchstrich ich: »Einige Leute sterben von unten 
hirtauf und manche werden von unten hinauf geradert, allein 
das ist ein langsamer Tod. Die Keuschheit einer Dame hingegen 
stirbt von oben herab und doch auch langsam.« 

Seit. 202. hies es: »Die Katholiken haben ganz Recht, es giebt 
einen limbus patrum und einen limbus infantum: denn ist nicht 
ein Hospital der erstere und ein Findelhaus der andere?« Diesen 
Saz konte ich nicht wol stehen lassen, da ich bald an ihm merkte, 
daB er wahr ist. 20 

Seit. 222 stand: »Die Eva ist das Postskript des Adams: ich 
sage damit dem schonen Geschlechte etwas schmeichelhaftes. 
Denn ich ziele hierunter auf ienen Hofman, der wie Bako erzah- 
let in den Briefen an seinen Hern das Wichtigste alzeit fur das 
Postskript aufsparte.« Aber mit dieser Schmeichelei hatte ich 
die Liebe aller Schonen verscherzen konnen: denn es ist bekant, 
daB sie ausser der Wahrheit nichts so sehr hassen als die Schmei- 
chelei. 

Seit. 299 durchstrich ich: »Die vornehmen Personen mit de- 
nen ich umgehe, wissen es schon, daB es einmal meine Art ist, 30 
ihnen nicht zum neuen Jahre zu gratuliren, ohne zugleich ihnen 
zum alten zu kondoliren. « Denn von diesem alien ist auch nicht 
Eine Sylbe wahr. 

Die Seiten 312 und 313. hatte ich auch durchstrichen und 
zur Einrukkung hieher bestimmet, weil sie ganz vol Zoten wa- 
ren. Allein da ich nach mehr Erfahrung fand, daB ein Buch 



MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN 1003 

sclten ohne sie viel Leser sich vcrsprechen darf und daB es deren 
berauben nichts anders heist als es entmannen: so woke ich auch 
nichtden Sonderlingzu meinem eignen Nachtheil machen, son- 
dern ich unterpunktirte wieder alle durchstrichnen schmuzigen 
Stellen, damit sie der Sezer meines kiinftigen Werkes so gut 
als alles tibrige drukken moge. Daher darf sich der Leser auf 
mein Wort die Hofnung machen, um die gedachten Zoten gewis 
nicht verkiirzet zu werden; und unter alien guten Stellen, die 
ich von meinem Werke zum Drukke befodern werde, werden 

10 ihm die rehabilitirten Zweideutigkeiten* hoffentlich das lauterste 
Vergniigen gewahren. 

Seite628. hies es so, wenri ich anders rechtlese: »Das Schiksal 
gab iedem menschlichen Wesen auf seinem Wege zum Grabe 
eine Wolke zur Begleitung; und ieder von uns gehet mit einer 
andern Wolke verhullet. Uber diese siehet keiner hinaus und 
sie lagert sich bestandig zwischen ihn und die Wahrheit. 1st sie 
schwarz, so ist er ungliiklich und glaubt von ihr umzogen, mit- 
ten im Sonnenschein der Natur, es sei Nacht: ist sie hingegen 
erleuchtet, so ist er gliiklich und freuet sich, wie es in der Wolke 

20 so schon spielet und flimmert. Sie lieget iiber seinem ofnen 
Grabe und scheint es zu fiillen. Er trit getauschet in dasselbe 
und nun zieht sie sich auf; und er siehet den Schlund, in den 
er sinkt, und die hellen, weiten Gefilde der Wahrheit und Tu- 
gend, die er ohne Genus verlasset.« - Weiter unten stand noch 
Folgendes: »Wir sind wahrscheinlich alle irrig; aber ieder halt 
nur den andern dafiir: denn wir gleichen Leuten, die in Staub- 
wolken gehen. Jeder von diesen glaubt, hart an ihm sei der Staub 
am dtinsten, bei denen hingegen, die in einiger Entfernung vor 
oder hinter ihm herziehen, sei derselbe ganz dicht und undurch- 

30 sichtig.« - Alles dieses hab' ich ohne Anstand durchstrichen, 
theils weil es mir offenbar fur eine Satire zu erhaben schien, 
theils weil ich schon das namliche auf einigen zwanzig Seiten 
nur mit andern Worten gesaget hatte und ich, was den Nuzen 

* Einen rehabititiren heisset in Frankreich bekantlich die Verdam- 
mung, die ein Kriminalgericht iiber ihn gefallet, widerruffen. 



1004 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

der Tavtologie anlangt, so weit von andern Autoren abgehe, 
daB ich nicht gern das auf ein und zwanzig Seiten sage, was 
ich fiiglich mit der grosten Weitschweifigkeit auf zwanzig brin- 
gen kan. 

Vom ganzen Lobe der Halbgelehrten auf der 8oo ten Seite strich 
ich nur dieses aus: »Einen Esel, meine Herren, der seine zwei 
langen Ohren hat, kan man meines Erachtens doch noch zur 
Noth ausstehen; allein einer, der mit Einem einzigen herumge- 
het, weil er sich zur Verbesserung seiner Gestalt das andere ab- 
nehmen lassen, ein solcher Esel mit Einem Ohre - das ist mei- 10 
nem Gesichte ein unertraglicher Anblik.« Meine Leser werden 
die Ursache, warum ich es ausgestrichen, zu errathen glauben; 
allein ich musihnen sagen, daB ich es ohne alle Ursache gethan. 

Eine ganze Menge anderer Stellen seze ich gar nicht hieher, 
die so neu, so wahr, und so verniinftig waren, daB ich sie noth- 
wendig wegstreichen muste, wenn ich nicht wolte, daB es an 
meiner Stat der Zensor thun soke. 

Dafiir wil ich aber den Leser mit einigen andern schlechten 
Stellen und einzelnen schlechten Ausdriikken entschadigen, 
womit ich mein oftgedachtes Werk noch zu verunzieren um 20 
desto weniger unterlassen werde, weil ich sie ohne alle Scho- 
nung daraus wieder wegzustreichen gedenke. Als z. B. ihm 
werd* ich einverleiben und wiederum nehmen 

den Gedanken: »bald hat der bessere bald der schlechtere Theil 
unsers Wesens die Oberhand und wir gleichen den Noten in 
der Musik, von denen bald der Kopf bald auch der Schwanz 
oben ist« 

den Ausdruk: »die Zeit verstekket ihre grauen und langen 
Fltigel unter goldne, blizende Fliigeldekken« 

den Gedanken: »die Phantasie oder der Pegasus ist das Sattel- 30 
pferd am Wagen der Psyche« 

den Ausdruk: »wir haben der Zeit, wie dem Vieh auf der 
Weide, Glokken angehangen, um es aus dem Klingeln zu horen, 
wenn die eine oder das andre sich fortbeweget: damit sie uns 
nicht unvermerkt entfliehen« 

den Ausdruk: »das Feuer der Leidenschaften besprechen« 



MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN ( IOO5 

diePhrasis: »weibliche Galakleidung ein Taggarn und weibli- 
ches Negligee ein Nachtgarn« 

die ganz unverstandliche Phrasis: »so handeln heisset mit dem 
Falhut Chapeaubas gehen« 

den Saz: »die Damen haben die Kuche gegen den Kamin ver- 
tauschet und sind aus Kiichenstukken schone Kaminstukke gewor- 
den« 

dieBehauptung: »was Nurnberg fur Amerika ist, das ist Paris 
fur Europa«* 
10 die Vergleichung: »es ist Krieg heisset mit andern Worten: 
die Menschheit frisset, gleich gewissen nicht recht begrabnen 
und unruhigen Todten, sich selbst« 

den Unsin: »unsere Einsichten sind nicht selten die Lichter, 
die wir urn den Sarg, in dem unser todtes Vergnugen liegt, gestellet 
haben « 

und die Vermuthung: »auch ein regierendes Kind, wenn es 
nur die Krone friiher als den Bart bekomt, kan diinkt mich 
iiber wichtige Feinde den Sieg erhalten und friihzeitige Lorbern 
einernten, so gut als nur irgend ein grosgewachsener Fiirst; und 
20 das zwar auch durch Hiilfe kluger und tapferer Generale: auch 
traumte mir wol einmal, daB eines von einem Gangelwagen auf 
einen Triumphwagen gehoben worden« 

Aber genug der schlechten Gedanken und der schlechten Aus- 
driikke! Von diesem weggestrichnen schlechten Theile meines 
Werkes werden nun unfehlbar die Kunstrichter samt und son- 
ders Gelegenheit hernehmen,. iiber meine noch ungedrukte Sa- 
tire die gehorigen Rezensionen ans Licht zu stellen; so wie die 
bekante Prager Bucherkommission auch alle dieienigen Theile 
der A. deutschen Bibliothek zu lesen verbot, die g. G. erst ktinf- 
30 tig erscheinen sollen. Wenigstens war dieses die Absicht, warum 
ich mit Einem und dem schlechtern Theile derselben hervortrat; 
und die vorstehenden aberwizigen, einfaltigen und unsinnigen 

* Bekantlich nehmen die Seefahrer gewohnlich Niirnbergische Pup- 
penwaren mitzu Schiffe, um sie den Wilden anzuhangen. Die parisischc 
Kleiderpuppenware wird hingegen nicht an Europens wildern, sondern 
feinern Tbeil versandt. 



1006 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Gedanken sind gleichsam die Exkremente meines geistigen Kin- 
des, die ich den Rezensenten ins Haus schikke, damit sie daraus 
ersehen, daB dasselbe noch ganz frisch und gesund und von 
alien Gebrechen vollig frei ist. Das war meine Pflicht; ihre ist 
es nun, mir iiber den Zustand desselben ein giinstiges visum 
repertum auszufertigen. Und sie konnen das sehr wol. Denn 
ex ungue leonem; d. h. aus der Lange der Fingernagel siehet 
man sogleich, daB der Besizer derselben kein gemeiner, sondern 
ein vornehmer Sineser ist oder unfigurlich aus den hier mitge- 
theilten langen Nageln meiner Satire konnen die Rezensenten 10 
nicht anders als schliessen, daB sie sich vor alien ihres Gleichen 
ganz besonders auszeichnen miisse, da sie so vortrefliche Hiilfs- 
mittel zum Krazen und Verwunden besizet. - Auch wird man 
mir es gerne glauben, daB die vorstehenden Fehler nicht derie- 
nige Theil meines ungedrukten Werkes sind, der mir am leichte- 
sten zu machen ankam; vielmehr hab' ich in diesen den meisten 
Fleis und Wiz verstekket, so wie gewis Vaukanson eben so viel 
Miihe hatte, den Hintern seiner holzernen Ente so weit zu brin- 
gen, daB er Auswurf Von sich gab, als die Kehle derselben, daB 
sie Tone von sich gab. Aus diesen und noch vielen andern Grun- 20 
den, die ich a'nfuhren konte, erhellet die Verbindlichkeit der 
Rezensenten mehr als zu wol, mich wegen einer noch unge- 
drukten Arbeit mit mehr als gewohnlichen Lobspruchen zu er- 
heben und mir meinen Weihrauchslohn ein halb Jahr voraus 
zu pranum[er]iren, wie man es oft dem Gesinde mit dem Gelde 
thut. Ich wil gar nicht erwahnen, daB ein Buch tadeln eh' es 
noch im Druk geboren worden sovid ware, als dem Donner 
ahnlichen, der einmal ein Kind im Mutterleibe (nach Plinius) 
erschmis und schwarz machte, wiewol ohne den geringsten 
Schaden seiner Mutter, der Marzia. Ich ersuche die Kunstrichter 3° 
noch einmal, mich zu loben und meinern noch unbekanten 
Kinde , wie die Athener dem unbekanten Got, einen schonen Altar 
zu sezen und ihm Weihrauch darauf anzuziinden. - 



Nachdenklicher aber wahrer Bericht 

von einer hochst rnerkwurdigen Erscheinung der 

WEISSEN FRAU 

und von den Ursachen, 

warum sie in der Erde gar nicht ruhen kan 



Ich laugne es gar nicht, daB H. Prof. Hennings in Jena, der be- 
kante Erbfeind der Gespenster, unter unsern besten Philosophen 
die erste Stelle verdienet und der Nuzen, den der Scharfsin seiner 
Werke unserem Kopfe, der Styl derselben unserem Geschmakke 
und ihre Dikke seinem eignen Beutel schaft, lasset sich wol nicht 
verkennen: vielleicht bestreitet er das Dasein der Gespenster mit 
eben so viel Geschiklichkeit als meine Grosmutter es sonst ver- 
focht. DaB ich zur Fahne eines solchen Mannes mich auch ge- 
schlagen, dies macht mir also gewis keine Schande; und ich 
bekenne es daher auch gern, es ist kaum 14. Tage, daB ich noch 10 
wirklich weder an Gespenster noch - denn beides ist im Grunde 
wol nicht weit aus einander - an Got selber glaubte. Zum gro- 
sten Gliik fiir meine Sele bin ich aber von diesem furchterlichen 
Gespensterunglauben durch einen ganz sonderbaren Vorfal gro- 
stentheils wieder hergestellet und ich nahere mich immer mehr 
einer volligen Heilung, seit dem ich mit gewissen alten Damen 
ordentliche wochentliche Zusammenkiinfte halte, worinnen ie- 
des Mitglied seine besondere Geistergeschichte - die alteste und 
unwahrscheinlichste erklar' ich gemeiniglich fiir die glaublichste 
und nachdenklichste - erzaWen mus, die ich sofort in mein Gei- 20 
sterflorilegium* eintrage. Der Vorfal, den ich meine, ist die 
Erscheinung der weissen Frau, iiber welche iezt in unserer wizi- 
gen Stadt soviel gesprochen und - was uns wol am wenigsten 
zur Schande gereicht- so wenig gedacht wird. Ich bin eigentlich 
der Urheber vom ganzen Geriichte: denn ich habe die weisse 
Frau zuerst gesehen und sie meinen Freunden angemeldet. Ich 
darf daher hoffen, daB unser Publikum mit dem grosten Ver- 
gniigen lesen werde, was ich ihm von dieser ausserordentlichen 
Begebenheit etwan mittheile, zumal da vielleicht niemand ein- 
nehmender und geschikter erzahlet als ich. 30 

* So nenne ich ein gewisses Buch, in das ich iiber tausend Geisterge- 
schichten aus den beruhmtesten Autoren und aus dem Munde der glaub- 
wiirdigsten Kinderwarterinnen mit unglaublicher Miihe zusammenge- 



ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOO9 

Am vorvorigen Sontage gieng ich wie gewohnlich noch eh' 
ich meinen Morgensegen verrichtet hatte in die Sp-, urn die 
Friihpredigt anzuhoren; ich kam aber um eine ganze Viertel- 
stunde zu friih. Aus Langerweile gieng ich im Chor herum und 
zahlte mit mehr als gewohnlicher Aufmerksamkeit die Orgel- 
pfeifen. Schon da rauschte es etlichemal und das leztemal sehr 
stark; weil ich indessen glaubte, es ware der Teufel, der mit 
mir Verstekkens spielen woke - denn das thut der alte Schalk 
fast allemal, wenn er sehr aufgeraumt ist - so kehrte ich mich 

10 weiter nicht daran, sondern zahlte fort. Plozlich aber wurde 
es auf den Schnarpfeifen, die ich eben zum zweitenmale iiber- 
zahlte, unter starkem Gerausche ganz hel: ich war schon im 
Begrif, dem bosen Feinde seine unzeitige Spashaftigkeit ernst- 
lich zu verweisen, und kehrte mich um, als ich zu meinem gro- 
sten Erstaunen eine von Fus bis auf den Kopf in feinen weissen 
Atlas gekleidete Frau vor mir stehen sah. Vielleicht blieb ich 
nicht ganz in meiner philosophischen Fassung; allein soviel lies 
mir mein Erschrekken gleichwol noch Besonnenheit - und mich 
diinkt, macht mir dieses Betragen wahre Ehre -, daB ich schleu- 

20 nig meinen Stok in einer Stellung, worin ich, der Stok und 
der Boden einen rechtwinklichten Triangel formirten, gegen 
die Erde hielt, mich sehr geschikt um mich bewegte und so 
im Drehen einen akkuraten Zirkel beschrieb, Durch dieses my- 
stische Manoeuvre brachte ich mich vollig in Sicherheit und 
die weisse Frau konte mir nun, fals ich nur immer in meinem 
Zirkel mich hielt, wenig oder nichts anhaben. Zum Uberflus 
zog ich noch, aber mit unbeweglicher Steifigkeit, Hermes sma- 
ragdene Tafelund der Sch wester Mosis Praktika* aus der Tasche. 

tragen und dessen durchgangige Richtigkeit ich eben so wol beschworen 
30 wolteals der symbolischen Biicher ihre, wenn ich mich ordiniren liesse. 
* Zwo beriihmte alchymistische Schriften, welche schon wegen ihrer 
ungemein[en] Dunkelheit mehr als zu wol verdienen, von iedem Gold- 
macher gelesen und bewundert zu werden, dem es nicht ganz unbekant 
ist, daft gute Alchymisten ihre Gedanken gern in Schatten sezen und 
hierin den Eseln nachschlagen und nacheifern, welche (nach dem Plinius) 
ihr Wochenbet gern im Fin stem aufschlagen und ihre Jungen immer 
an dunkeln Ortern zu gebahren suchen. Sonst aber bin ich mit iedem 



IOIO JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Aus der ersten las ich 9 Worte leise, aus der andern 63 vernehm- 
lich. Jezt hatte ich Muth und Schirm genug, um den Geist herz- 
haft anzureden: »Ich wiinschte, fieng ich an, Frau weisse Frau, 
mein Schwiegersohn, der H. Pfarrer in T. ware hier bei uns; 
der wiirde Sie geschikt beschworen und meinen Muth nicht 
wenig auffrischen. Aber was bewegt Sie denn eigentlich, nach 
dem Tode herumzugehen und mich da auf dem Chor mitten 
unter meiner unschuldigen Paginirung der Schnarpfeifen so hef- 
tig zu erschrekken? 1st etwan in der Stadt H-f etwas vorgegan- 
gen, was Ihr keine Ruhe lasset? Wie?« 10 

Sie schiittelte; und ich fuhr sogleich fort: 

»Das hab' ich gleich vermuthet: denn weder am Lehr- noch 
am Nahr- ia auch nicht einmal am Wehrstande derselben ist 
das Geringste auszusezen und besonders ist da die edle Neugier- 
de algemein, welche man an den Nachtigallen so schazet, wenn 
man auf ihren Fang ausgehet. Aber wie stehts mit der andern 
Stadt, die ich nicht nennen wil und die man auf guten Spezial- 
karten hart an den Granzen von Utopien findet? Lasset in der 
Sie etwan was nicht ruhen? (Sie nikte) Nun so rede Sie!« 

die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 20 
bis die Predigten daselbst etwas besseres hervorbringen als 
Schlaf. 

ich: Was mich anlangt, liebe Frau weisse Frau, so mus ich 
hierin ganz anders denken und in diesem Punkte hat Sie gewis 
nicht Recht. Denn der Schlaf, der Kranke am Leibe schon so 
erquikket und lezet, kan Kranke am Geiste - und das sind wir 
Zuhorer leider alle und iede Kirche ist ein geistliches Kranken- 
haus, wiewol auch oft ein Inokulazionshospital, in welchem die 
Stinden erst eingeimpfet werden - wol nicht anders als recht 
sehr laben oder gar heilen; und oft bin ich mit einer Sele, die 30 
an Gewissensbissen siechte und ganz mat darnieder'lag, in die 
Kirche gegangen und habe eine Sele, die so frisch und munter 

Alchymisten einig, dafi er Recht hat, ein Mitglied des rosenkreuzerschen 
Ordens desto hoher zu halten, ie weniger es gesunden Menschenver- 
stand verrath, so wie die Agypter den Maulwurf mit Anbetung beehr- 
ten, weil er keine Augen ihnen zu haben schien. 



ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOII 

wie mein Pudel war, wiederherausgebracht - welches aber wol 
nicht geschehen ware, wenn ich nicht in Einem fort darin ge- 
schlafen hatte; eben so, liebe Frau weisse Frau, genasen sonst 
die Kranken, wenn sie in dem Tempel des epidaurischen Asku- 
laps schliefen. Ich wil daher vielmehr wiinschen, daB es uns 
nie an solchen Predigern fehlen moge, die den Mohnsamen mit 
dem Samen des gotlichen Worts stets geschikt zu vermengen 
wissen, um beide in Paren von der Kanzel herunter auszusaen: 
zumal da ohnehin der Sontag ein Ruhetag sein sol. 

io die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 
bis die Prediger daselbst nicht mehr ihre Predigten zu Impromp- 
tus machen und nicht mehr vorgeben, sie bekamen sie von 
oben herab. 

ich: Freilich seh' ich selbst nicht ein, warum gerade sie allein 
auf diese ausserordentliche Unterstiizung rechnen, da der Gene- 
ral, der Richter, der Arzt u. s. w. sie oft eben so sehr verdienen 
und von nothen haben; allein sie meinen es auch nicht so. Son- 
dern sie wollen, da oben und unten relative Begriffe sind und 
iedes von beiden des andern Namen tragen kan, mit dem Aus- 

20 drukke »sie bekamen ihre extemporisirten Predigten von oben 
herab« offenbar nicht mehr als so viel sagen »sie bekommen sie 
von unten herauf«; vermuthlich also aus dem Unterleibe, wo es 
nie an geistreichen Diinsten gebricht. Sonach ist einePredigt aus 
dem Stegreife wol ein angenehmer Nebel, der von der Erde auf- 
steigt; aber nicht einer, der vom Himmel herabsinkt. Und zu- 
dem, liebe Frau weisse Frau, gesezt, daB der extemporisirende 
Prediger Gedanken, welche blosse Zoglinge des Unterleibes 
sind, fur Abkomlinge des Himmels ansahe: wie verzeihlich 
ware nicht diese Verwechselung! Urtheilet der gemeine Man 

30 nicht eben so? Wenn er namlich von der plozlichen Erscheinung 
des Ungeziefers, das ein starker Reg en zuweilen aus seinen unter- 
irdischen Schlupfwinkeln hervorlokt, sich keine Rechenschaft zu 
geben weis: so schliesset er sofort, es ware vom Himmel hcrun- 
tergefallen und prophezeiet sich aus dem Frosche- oder Mausse- 
oder Wurmerregen allerhand Bedenkliches. 
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 



IOI2 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

bis die Prediger daselbst, welche sonst so sehr gegen Satiren 
eifern, nichtmehrselbstkeinePasquilleauf derKanzel machen. 

ich: Urn wieder meine Meinung Ihr unverholen zu gestehen, 
so bekenn' ich, daB sie nach meiner Einsicht gar nicht Unrecht 
thun, wenn sie iiber alle Satiren den Stab brechen. Denn sage 
Sie selbst, Hebe Frau weisse Frau, kan sich wol iemals das Ge- 
schaft eines Spotters mit den Pflichten eines Christen vertragen? 
so wenig als Christus und Belial: vielmehr bin ich iiberzeugt, 
daB ieder Satirenschreiber mit Haut und Haar zur Holle fahrt 
und gewisser massen schon iezt lebendig brent; der Teufel ver- 10 
stand sich daher auf seinen Vortheil neulich gar nicht libel, da 
er mir vorstelte, es geschahe ihm ein weit grosserer Gefallen, 
wenn ich als ein Satirenschreiber, als wenn ich als ein blosser 
Advokat zu ihm fahren woke. Allein das werd' ich nun wol 
bleiben lassen, und ich gedenke als ein blosser ehrlicher und 
rechtschaffener Advokat - hochstens kauf ich mir etwan noch 
einen Titel - den ubrigen Weg zur Holle, den der Teufel auch 
repariren lassen soke, in aller Gotseligkeit und Ehrbarkeit gar 
zuriikzulegen. - Auch kan ich einem Prediger das Pasquilliren 
nicht verdenken. Denn offenbar macht er seine Pasquille in kei- 20 
ner schlimmen Absicht, sondern vielmehr bios um dadurch an 
denen, die ihn durch personliche Anlasse gegen sich erbittert 
haben, eine erlaubte Rache auf der Kanzel zu nehmen. Das 
Schwerdt ist ihm entrissen, womit sonst der Bischof seine 
Feinde ziichtigte; es bleibt ihm daher kein anderes Werkzeug 
seiner Rache ubrig als sein Kopf und die Zunge darin. Und 
ists mit den Pferden anders? Auch diese hat man um den Schwartz 
verkiirzet, womit sie sonst in die Fliegen, die sie slacken, einhie- 
ben; daher miissen sie sich gegen sie iezt bios mit ihrem Kopfe 
wehren: allein alle Pferdverstandige sind auch mit dieser Ab- 30 
schwanzung sehr unzufrieden. 

die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 
bis die Prediger daselbst einander nicht mehr ihre Beichtkinder 
abfangen. 

ich: Ich bin mit den meisten dortigen Geistlichen bekant, 
die auf Werbung frischer Beichtrekruten liegen; allein ich wiirde 



ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOI3 

liigen, wenn ich sagen wolte, daB sie mir ie tadelhaft vorgekom- 
men ware; denn ich iiberlegte alzeit dieses: Wenn die Juden und 
Parsen nur einigen Grund hatten, die grossere Menge der Kinder 
an einem Vater vorziiglich zu schazen und dem die meisten An- 
spriiche auf Gotgefalligkeit und Achtung zuzugestehen, der die 
meisten Kinder hatte; so erhellet es schon aus der Benennung 
Bcichtvater, daB es unter seine ersten Pflichten gehoret, an der 
Vermehrung seiner Beichtkinder unverdrossen zu arbeiten und 
ieden auch noch so zweideutigen Weg gerne einzuschlagen, der 

10 die Erreichung dieses Endzweks verheisset. Es ist daher nicht 
einmal genug, daB er Beicht&rWerbald adoptiretbzld sich erziehet: 
sondern er mus auch in die Hauser gehen und da weder erlaubte 
noch unerlaubte Mittel sparen, die Beichtkinder andern Vatern 
nicht ungeschikt zu entfuhren, sie zum Emanzipiren zu bereden 
und sie unter seine Kirchfahne schworen zu las sen. Noch mehr 
verlanget dies wol sein zeitlicher Vortheil: denn der Beichtstuhl 
ist fur ihn ein fruchtbarer Geburtsstuhl des Geldes und er wiirde 
ubel fahren, wenn er nicht suchte, iiber die Vermehrung seiner 
geistlichen Kinder die Vermehrung seiner leiblichen zu ver- 

20 schmerzen. - Sieht Sie, so denken ich und andere verstandige 
Manner iiber die geistlichen Selenkaufer. 

die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 
bis die Justiz daselbst kein Blut mehr saugt. 

ich: Und meines Wissens thut sie das auch nicht. Das Mark 
zieht sie wol den Partheien aus den Beinen, wie denn das 
Schwerdt der Gerechtigkeit unter die besten Markzieher gehoret; 
allein daB sie ihnen auch das Blut abzapfte, davon hab' ich noch 
nichts vernomraen. Aber wol hab' ich im Gegentheil aus dem 
Munde verschiedenerdasigerRichter selbst gehoret, daB sie iiber 

30 nichts strenger als den Grundsaz hielten: man mus die Schafe zwar 
schdren, aber nicht schinden; und so weit sie daher auch zuweilen 
die Scharung trieben, indem sie den Schafen alle Wolle mit dem 
Schwerdte der Themis glat wegrasirten und selbige hernach nakt 
wieder laufen liessen: so haben sie sich doch allezeit so sehr 
wol bezahmet, daB sie noch niemand wirklich geschunden, son- 
dern ieden vielmehr mit ganzer, heiler wiewol unbedekter Haut 



10 14 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

von sich gelassen. Was wil Sie sagen, Hebe Frau weisse Frau, 
man siehet da auf den Vortheil der streitigen Partheien sogar 
dermassen, daB man selten einen Termin zum Vergleiche anstel- 
let, bios weil man ihnen die Terminskosten ersparen und erhal- 
ten wil; sondern man giebt sich die groste Miihe, ihnen Lust 
zu einem vortheilhaften Prozesse einzuflossen: ia wenn er end- 
lich eingefadelt ist, so unterliisset man noch nicht, ihn in eine 
Lange zu ziehen, welche den Richtern alle Zeit und Gelegenheit 
schenket, ihre Entscheidung mit der grosten Behutsamkeit und 
Oberlegung abzuwagen, damit ia keine Parthei auch nur zu dem 10 
geringsten Schaden komme. Indessen hat mir doch mein Barbier 
etwas Sonderbares von den Advokaten mitgetheilet. Er hatte 
namlich unter dem Galgen (so sagte er) und an andern Orten 
verschiedene Hirnschadel derselben aufgesamlet. Diese Advo- 
katenkopfe brauchte er einmal von ungefahr zu grossen Schropf- 
kopfen »und zu meiner grosten Verwunderung zogen sie wirk- 
lich gut: seit der Zeit bedien' ich mich ihrer ofters, zumal da 
ich mit ihnen sowol nasse als trokne Kopfe sezen kan; aber frei- 
lich mus ein Advokat erst verstorben sein, eh' man mit seinem 
Kopfe die Leute schropfen kan. Ich habe daher oft gewiinscht, 20 
man mochte mir hohern Orts die Erlaubnis ertheilen, alien le- 
bendigen Advokaten, deren Hirnschadel mir zu Schropfkopfen 
brauchbar schienen, die Kopfe zum Besten meines Metier ab- 
nehmen und sie zu blutziehenden Werkzeugen verarbeiten zu 
diirfen.« So sagte mein Barbier; allein ich fiirchte sehr, daB er 
ein wenig gelogen. - Ubrigens solte Sie wissen, daB man von 
der Justiz, gesezt man wiirde von ihr auch offenbar mishandelt, 
dennoch alles ohne Gegenwehr erdulden wird, wenn man klug 
denkt; denn es ist mit ihr wie mit den Blutigeln, welche nur 
desto starker saugen, wenn man sie ungliiklicherweise etwan 30 
verlezet hat. 

die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 
bis der Adel daselbst nicht mehr auf seinen Adelsbrief sich mehr 
einbildet als ein anderer auf den wahren Adel der Sele, sondern 
bis er dem Adel besserer Stadte nachahmet. 

ich: Ich gesteh' es Ihr wieder frei heraus, wenn ich von Adel 



ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOI5 

ware, ich sahe keinen Biirgerlichen gern iiber die Achsel an und 
die Herablassung, der ich, wenn ich von ihm borgen wolte, 
nicht wol iiberhoben sein konte, wiird' ich wenigstens wieder 
dadurch gutzumachen und zu widerruffen suchen, daft ich ihm 
nicht das Geringste bezahlte. Ich wiirde sogar mit iedem 
Edelman, der den Umgang der Biirgerlichen nicht so streng 
vermiede als ich, mein wiziges Gespotte treiben und ihn bei 
meines Gleichen einsichtsvol verkleinern. Alle meine vaterliche 
Gewalt wiird' ich in Bewegung sezen, urn meine Kinder zu 

10 verhindern, sich in den Kaufmans- und Gelehrtenstand herunter 
zu verlieren: brachte ich sie dadurch in Gefahr, Hungers zu ster- 
ben, so wiird' ich mir schon sehr gut zu helfen wissen und etwan 
so zu ihnen sagen: »beruhiget euch, lieben Kinder! Es schadet 
euch nichts, wenn ihr verhungert. Aber der Welt schadets, daB 
sie so kalt gegen verdienstvolle Leute und insbesondere gegen 
euch ist, die ihr soviel Verdienste von euren Vorfahren und 
vorziiglich von mir geerbet habt. Indessen schikk' ich euch doch 
nicht so ganz hiilflos in die Welt: sondern die adeliche Feder 
auf eurem Hute geb' ich euch zu einer guten Stiize in alien Unfal- 

20 len mit. Wenn es euch an einem Obdach fehlet, so kont ihr 
euch unter euerem Stambaum stellen, der euch Schatten genug 
verleihen wird. Hungert es euch, so schauet zu euerem Stam- 
baum hinauf; an diesem hangen soviel Fruchte als etwan nothig 
sind, euch sat zu machen. Fragt iemand nach dem Reichthume 
und den Schazen eures Kopfes: so antwortet nichts, zieht aber 
stilschweigends euren Adelsbrief aus der Tasche und langt ihn 
dem Manne mit den Worten hin: >sieht er, Heber Freund! wir 
haben zwar nichts gelernt und dieser Adelsbrief ist gewisser 
massen unser testimonium paupertatis spiritualis; allein eben 

30 diesen Adelsbrief konnen wir iiberal stat einer kromischen Pro- 
duktenkarte unsers Kopfes aufzeigen und stat eines Tauf- und 
Todtenscheins unserer Verdienste. < - Und das hat auch seine vol- 
lige Richtigkeit. Denn dieser Brief ist ein Assekuranzbrief \ den 
wir von unsern Ahnen haben, welche auf meine und eure Ver- 
dienste, fals sie etwan auf der Farth des Lebens Schifbruch leiden 
solten, Assekuranz geleistet haben. Oder stellet euch die Sache 



10 1 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

noch anders vor. Ihr wisset, ich habe euch oft zum Stolze auf 
die Tapferkeit unsers vierten Ahnen (in aufsteigender Linie) auf- 
gemuntert, dem im Kriege alle Glieder abgeschossen worden 
und dessen holzerne Beine hier vor euch hangen, so wie ihr 
iezt auch auf meinem Gesichte ein Denkmal, das ich meiner 
sonderbaren Tapferkeit in verliebten Kriegen gesezet, vor euch 
habt, namlich meine wachserne Nase. Verlangt nun mein Furst 
Tapferkeit von mir: so verfahr' ich so. Mein Adelsbrief ist ein 
Wechselbrief; ich bin der Trassierer desselben; mein Ahne ist der 
Trassat und der Furst der Prasentant. Sonach zahlet also mein 10 
Ahne die verlangte Tapferkeit fur mich aus; da es aber hier vier 
Quartiere hinaufgehet, so werde ich wol vier Wechselbriefe stel- 
len mussen, einen Prima-, einen Secunda-, einen Tertia- und 
einen Quartawechsel. - Endlich, lieben Kinder, musset ihr auch 
einen Adelsbrief fur einen Spedizionsbriefhzhen, der die uralten 
Verdienste begleitet, die an mich addressiret sind und die ich 
weiter zu euch spediren mus und die ihr hernach noch weiter 
an eure Kinder befodert. Indessen geht nun! Ich wiinschte wol, 
ich kont' euch unsern Adelsbrief an den Hals hangen: denn so 
lage doch iedem euer ganzer Werth sogleich offen dar, so wie 20 
man aus den Zettelgen, die der Apotheker an den Hals der Arz- 
neiglaser befestigt, ohne Miihe ersiehet, daB etwas Heilsames 
und Geschmakwidriges in ihnen stekket.«* So wiird' ich, war' 
ich von Adel, zu meinen Kindern sagen: da ich's aber nicht 
bin, so sage ichs zu Ihr, liebe Frau weisse Frau. 

die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 
bis dem Schlosser, der meinen Sarg beschlagen, das gar nachge- 



* Meines Bediinkens leuchtet es aus dieser langen Rede mehr als zu 
wol ein, daB man, weit entfernt, gewissen eben so unzeitigen als unbilli- 
gen Satiren auf den adelichen Stolz Gehor zu geben, vielmehr alles an- 
wenden soke, den Ahnenstolz noch mehr zu unterhalten und anzufri- 
schen; und iedem Edelmanne soke, eh' er furstlicher Page wird, zu 
wiederholten malen eingescharfet werden, daB er ein Wesen ist, das 
sich von einem Biirgerlichen in allem, in korperlichen und Selenkraften, 
in der Kleidung und sogar in der Orthographie ganz besonders unter- 
scheidet. 



ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOI7 

zahlet wird, was er dariiber zuviel gefodert und was man ihm 
unbilligerweise abgebrochen. 

ich: Dafiir werd' ich sorgen: denn ich wil hoffen, daB Sie, 
als ein Geist, nicht Kiget. Unwahrscheinlich komt mir diese Ab- 
brechung freilich vor: denn in der gedachten Stadt ist es sonst 
eine algemein beobachtete und gewis nicht unverniinftige Ge- 
wohnheit, den Arbeitern des Sarges gar nichts abzubrechen, 
sie mogen noch so viel dariiberschlagen, weil' man aus vielen 
Erfahrungen gefunden, daB im Falle des Abbruchs alzeit iemand 

10 nachgestorben. Auch gereichet diese Gewohnheit so wol den 
Arbeitern, die iibersezen, als auch den Leidtragenden, welche 
iibersezet werden, zum grosten Vortheile und Ruhm. 

die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 
bis alle diese Foderungen zusammen erfiillet und vorher zu Je- 
dermans Wissen in dem Hofer Intelligenzblatte bekant gemacht 
werden: denn dieses wird auch auswarts gelesen. 

ich: Wenn Sie auf die Erfullung Ihrer Foderungen passen wil: 
■so besorg' ich, Sie gehet wenigstens so lange herum als der 
ewige Jude. . . . 

20 Jezt fieng es an zu lauten. Die weisse Frau verschwand. Ich 
fiel in Ohnmacht und wurde von vier Alumnen (denen ich dafiir 
in meinem Testamente, wenn sie geistlich studieren, ein schones 
Legat vermachen werde) fur tod aus der Kirche geschleppet. 
Und noch iezt machen mir weder meine Erben noch mein Dok- 
tor Hofnung zum Aufkommen, zumal da der heftige Durchfal, 
den meine Furcht mir zugezogen - vor der Erscheinung war 
ich drei Tage festen Leibes und sie hob sonach meine Verstop- 
fung und meinen Gespensterunglauben auf einmal - mehr zuzu- 
nehmen als nachzulassen scheint. Ich wiinschte sehr, noch im 

30 alten Jahre Todes zu verfahren, damit das Leichenbegleit hubsch 
ansehnlich ware, wenn ich am Sontage nach dem neuen Jahre 
mich mit einem ganzen Chore begraben Hesse. - Schliislich thut 
es mir leid, daB ich so drohen mus; aber ich kan wahrhaftig 
nicht anders: wenn man namlich in der gedachten Stadt den 
obigen Foderungen der weissen Frau nicht binnen meinem 
Kranksein wilfahret; so gen' ich, sobald ich tod bin, ebenfals 



IOl8 JUGENDWERKE • }. ABTEILUNG 

herum und zwar vielleicht in Geselschaft der weissen Frau. Ich 
werde sie dan am rechten Arme fiihren und auch als Gespenst 
so gehen wie ich Zeit meines ganzen Lebens gieng - namlich 
ohne Kopf. 

J. P. F. Hasus. 



VOM KAUFMAN VAGEL 
Fragmente ftir den kiinftigen Biographen seines Lebens. 



Dieser Kaufman war eine sonderbare Zierde unserer Stadt und 
ich wiinschte, daB er nicht tod ware: seines Gleichen bekomt 
sie wol sobald nicht wieder. Schon eh' er in die Welt getreten 
war, weissagte der Nativitatsteller der hiesigen Gegend, daB 
er sich entweder auf das Handeln oder auf das Stehlen legen 
wiirde; und seiner Mutter traumte im lezten Monate ihrer 
Schwangerschaft, daB sie eine Misgeburt unter dem Herzen 

io triige, welche gleich dem Riesen Geryon nichts hatte als Hande 
und nichts thate als nehmen. Seine Warterin hat mir erzahlet, 
daB er sich nicht wie andere Kinder durch den Schal und durch 
Klappernbesanftigen lassen, sie miisten denn von Sf/fcergewesen 
sein. Seine kleinen Briider betrogen zuweilen, gaben aber zu- 
weilen auch den Armen ein Almosen; er hingegen stahl niemals 
und schenkte niemals und hielt weder auf Betrug noch auf Mit- 
leid sonderlich viel; er billigte es daher in seinen altern Jahren 
sehr, daB die Obrigkeit hie und da nicht bios das Stehlen, son- 
dern auch das Almosengeben untersagte. Er pflegte oft zu sagen: 

20 »man mus die Hand alzeit geofnet aus dem Beutel Ziehen, so 
wie aus dem Klingelbeutel.« Einmal sagte er sogar: »die Natur 
hat das menschliche Herz in einen doppelten Beutel gethan, in 
den Herzbeutel und in den Geldbeutel.« 

Acht Wochen vor seinem Tode war ich an einem schonen 
Sommerabend mit ihm in seinem Gartenhaus beisammen. Das 
Gefuhl der Schonheiten um mich her lies ich in eine Lobrede 
auf das menschliche Schiksal ausstromen: wenn ia, sagte ich, 
unser Leben eine Pilgrimschaft sein sol, so ist sie doch so 
ang[e]nehm wie eine Walfarth nach Maria TaferL Da ich endlich 

30 fertig war, sagte er gelassen, indem er die Pfeife anblies: »Ach 
ia! es war' alles noch gut, wenn nur die Natur die Diatengelder 



IO20 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

fur unsere Reise durchs Leben nicht so gar karg zugeschnitten 
hatte. « 

Folgender Zug von ihm hat mich immer besonders frappirt. 
Er lag im zwolften Jahre an den Blattern darnieder. Der Arzt 
erzahlte einmal (und er horte es mit) daB in der Babarei die 
Blattern, welche man zum Inokuliren nahme, gewohnlich mit 
Konfituren oder Niissen bezahlet wiirden. Das merkte sich un- 
ser VageL Zwei Tage darauf wolte man ihm etliche Blattern 
ablosen, um sie einem Nachbarskinde einzuimpfen: aber er wei- 
gerte sich, dieses zuzulassen und stelte bestandig vor »so ganz t 
gratis konne man wol die Blattern nicht von ihm begehren: 
sie waren seine einzige eigne Manufakturware und er hatte sie 
mit vieler Muhe und Plage auf seinem Leibe hervorgetrieben: 
er gedachte vielmehr mit seinen Blattern einen kleinen Handel 
anzufangen.« 

Er begrif weiter nicht schwer; aber das Rechnen wurd' ihm 
doch am leichtesten. Indessen halt' ich dafiir, daB es besser ist, 
wenn der Mensch nicht rechnen kan: wenigstens trug es einem 
gewissen Hern zwei tausend Gulden ein, daB er sich auf die 
Arithmetik wenig verstand. Denn auf soviel ungefahr belief sich 20 
der Verstos, den er in der Rechnung gemacht hatte, die er iiber 
Vormundschafts- und andere Gelder fiihren miissen. Freilich 
zulezt wurde er iiber diese Verrechnung gerichtlich zur Rede 
gestellet; allein er nahm mich zu seinem Advokaten an und ich 
machte die Sache aufs Beste. In seiner Vertheidigung, die ich 
einreichte, legte ich ihm ungefahr die Entschuldigung in den 
Mund, »daB er fur seinen Rechnungsverstos wenig oder nichts 
konne; denn nicht mit seinen Fingern, sondern mit der neuen 
Rechenmaschine des H. Hahn, die ihm theuer zu stehen gekom- 
men, hab' er die Rechnung iiber viel besagte Gelder gefuhret. 30 
Habe nun diese einige Fehler (wiewol er seines Orts hieran noch 
stark zweifele) zu Schulden kommen lassen: so wisse man ho- 
hern Ortes wol, daB nicht er dafiir zur Strafe zu ziehen sei, 
sondern die Maschine oder auch H. Hahn, der sie so schlecht 
gemacht und es konne wirklich nichts schaden, wenn man be- 
sagten H. Hahn gerichtlich anwiese, kiinftighin Rechenmaschi- 



VOM KAUFMANS VAGEL 1 02 1 

nen zu liefern, welche sich nicht um zwei tausend Gulden frank, 
verrechnen. Er aber lebe vielmehr der Hofnung, die Zufrieden- 
heit seiner Richter eben durch die Uneigenniizigkeit verdient 
zu haben, daB er eine Rechnung, worin ieder freiwillige Verstos 
seinem Beutel fremde Schaze zuleitete, doch nicht selber uber- 
nommen, sondern sie lieber einer unpartheiischern Maschine 
ganz iiberlassen wollen.« 

Indessen hatte sich unser guter Kaufman Vagel beinahe in 
seinem acht und zwanzigsten Jahre seiner Geliebten wegen 

io durch einen Schus aus der Welt geschaft; nicht, weil er sie nicht 
bekommen konte: sondern weil er sie bekommen hatte; denn 
da er nachrechnete, fand er, daB sie ihm nur kaum die Halfte 
von dem Brautschaz zugebracht, den er von ihr erwartet hatte 
und daB ihre Anverwandten ihn schandlich betrogen, welche 
ihm seine Frau weit reicher und dummer abgemalet hatten als 
sie wirklich war. »Und Geld ist doch, sagte er, das Agio, das* 
die Frau dem Manne geben mus, weil sie nicht volwichtig ist. « 

Es ist eine sehr bewahrte Anmerkung, daB der Man von Genie 
sich dem Fache, fur das er geboren worden, immer mit unge- 

20 theilten Kraften weihe und alles andere, was nicht darein schlagt, 
mit Gleichgultigkeit und Verachtung vernachlassige: selten fin- 
det man diese edle Partheilichkeit fur eine Wissenschaft ohne 
die Begleitung von vorzuglichen Anlagen zu eben dieser Wis- 
senschaft und ich bin selbst ein auffallender Beleg zur Wahrheit 
dieser Bemerkung. Ich ausserte namlich in meiner Jugend (und 
noch immer) eine so sonderbare Gleichgultigkeit und vielleicht 
Abgunst gegen die Moral, daB ich alle meine Bekante veranlaste, 
mir vorzuglicheTalentezur/wn'-spfWettzzu weissagen: nun find' 
ich doch wirklich, daB dieses eingetroffen; denn ich bin einer 

30 der geschiktesten Juristen geworden, die ich kenne. Eine alte 
Zigaunerin prophezeiete aus meinem thatigen Hasse gegen die 
Moral auch noch dieses, daB ich durch meine Geschiklichkeit 
zwar viele Diebe vom Galgen retten wiirde, allein nur mich 
selbst nicht: ich glaube aber, diese Weissagung lasset sich mit 
der meiner Freunde noch wol zusammenreimen; denn der giil- 
tigsteTitel, den einer zum Namen eines geschikten Juristen auf- 



1022 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

zuzeigen haben kan, ist eben das, wenn man algemein von ihm 
ruhmt, daB er verdiene, gehangen zu werden. - Eine solche 
Vorliebe hatte nun unser Vagel fur die Kaufmanschaft gerade; 
er fand wenige Dinge in der Welt seiner Achtung und Liebe 
so wiirdig als den Handel: diesem widmete er alle Krafte seines 
Korpers und seiner Sele; diesem zu[ge]fallen gab er sich mit 
einigen Wissenschaften ab, weil sie auf ihn sich bezogen, stat 
daB er fur die ubrigen schwerlich einen hollandischen Pfeifenstiel 
gegeben hatte (daher waren auch die Gelehrten die gewohnli- 
chen Gegenstande seiner gerechten und lauten Satire und von 10 
seinem Ladendiener hegte er heimlich eine ganz andere und bes- 
sere Meinung als von mir); und dem Handel endlich schlug 
er kein Opfer ab, so gros es auch war, selbst wenn mit demselben 
die Religion in Streit gerieth, lies er niemals ihn den Kurzern 
ziehen. Mich diinken dies Ziige zu sein, aus welchen der Man 
von Genie satsam hervorleuchtet, der fur nichts in der Welt 
warm ist als fur das Fach, in das seine Krafte passen. 

Man horte aber gar noch folgende Inauguraldisputazion, die 
ich einst mit ihm hatte. Unsere Unterhaltung hatte gerade die 
vertraulichste Wendung genommen, wie ich denn aus dem 20 
Armsessel mich auf den Arm desselben begeben hatte, wo ich 
wie auf einem Quersattel sas, als wir unser Gesprach tiber den 
Himmel (und dessen Haus), der dem Menschen auf dieser Welt 
beschieden ist, wenn er in einer Kutsche sizt, fahren liessen und 
uns von dem Himmel unterhielten, worunter oder worein der 
Mensch in der andern Welt zu kommen hoft. Hier lies er sich 
merken, daB er seines Orts ganz andere Begriffe von den Freu- 
den der Seligen hege als die sind, welche die Kanzel davon giebt. 
Mit horbarer Uberzeugung bat er mich, es ihm doch unverholen 
zu sagen, ob ich nicht selber innerlich die verlachte, welche un- 30 
sere ganze ewige Seligkeit in ein immer wahrendes Singen, 
Harpfen und Musiziren sezen. »An einer solchen Seligkeit, solt' 
ich meinen, konnen nur Kapelmeister einiges Vergniigen finden: 
was aber die ganze dasige ansehnlichere Kaufmanschaft anlangt, 
so wil ich wetten, daB ihr dieser harmonische Himmel gar nicht 
gefallet. Furkaufmannische Ohren kan auch (iberdies der himli- 



VOM KAUFMANN VAGEL 1023 

sche SilberklsLng wenig Reize haben: sie sind schon an den bes- 
sern Goldkhng auf der Erde verwohnt. Und was sagen Sie dazu: 
warum sollen im Himmel denn bios meine Ohren belohnet 
werden, da ich doch auch mit andern Gliedern gute Werke ver- 
richtet zu haben hoffe?« Am Ende dieser Frage zog er die Ach- 
seln und schnalzte mit der Zunge ein vernehmliches Mitleiden 
mit dem hiesigen Nachmittagsprediger. Er muste indessen ein 
wenig auf meine Antwort warten, weil ich beschaftigt war, 
meinen uber die Knie hinausgebognen Kopf unverriikt zu hal- 

io ten, um den Abflus meines Speichels nicht in seinem Falle zu 
unterbrechen. Endlich sagte ich aber: das wisse ich wol, dafi 
nicht bios seine Ohren den Himmel zu erben verdienten, da 
auch seine andern Glieder from gewesen; ich selbst wiirde kiinf- 
tighin, wenn ich in Noth geriethe, von seiner Zunge manche 
wolthatige Unterstiizung empfangen. Allein nur den Abscheu 
vor der Musik, den fand' ich an den Kaufleuten und an ihm 
sclber nicht: ich berief mich deshalb auf die ansehnliche Pranu- 
merazion derselben zu den hiesigen Winterkonzerten. Auch 
verhehlte ich ihm mein Befremden nicht, daB er von der Musik 

20 so reden konnen, da er selbst die Konzerte mit den starksten 
Beitragen und mit den haufigsten Besuchen beehret habe. Hier 
crsuchte er mich mit einiger Heftigkeit, ihn an diese so verhaste 
und so oft bereuete Ubereilung nicht mehr zu erinnern, fur die 
er ohnehin weniger [Blattschlur]] 



Ober meine schlechte nahrung 



Ich wiinschte, in meinem Wohnorte war* es etwan so wie in 
Hof; und es kan sich doch vielleicht nach dieser Stadt bilden, 
wenn ich es ihm hier offentlich vorwerfe. Ich mus mich namlich 
ohne Scheu beschweren, daB ich alzeit an meine Obere denke, 
wenn ich esse; selten ist meine Nahrung so gut, daB ich mich 
des hiesigen Adels dabei gar nicht erinnerte. Denn ware kein 
Adel hier, fehlte es uns an obern und untern Polizeibedienten 
vdllig und hatten wir keine Leute, die iiber die Fleischer herschen 
konnen: so durft' ich mich nicht bios von den Vordertheilen 10 
des Schlachtviehes erhalten, ich asse zuweilen etwas fettes und 
schmakhaftes und am vorigen Sontage hatte ich mit einer Och- 
senzunge meine eigne lezen konnen. Aber da der Herr*** 
hier weilet, der ein guterLykurg und Gesezgeberfiir die Fleischer 
ist: so war die-Zunge schon in seinem Topfe, eh' ich sie begehrte; 
auch glaubt' ich seinem Munde, der auf dem Rathhause so viel 
zu sagen hat, die Ochsenzunge von Herzen gonnen zu m lis sen. 
Wer sonach in meinem Wohnorte kein Amt verweset: der ge- 
langt zu keinem guten Bissen und ich bin, da ich von Tag zu 
Tag magerer werde, schon oft auf den Gedanken gerathen, 20 
wirklich nach einem Ehrenposten zu trachten, um so wol das 
gemeine Wesen als meinen Magen vollig zu begliikken. 

Frisch ordnete die Thiere nach ihren Nahrungsmitteln; ich 
glaube, es sind einige Wochen, daB ich die Honorazioren unserer 
Stadt nach der Verschiedenheit ihrer Kost klassifiziren wollen. 
Und in der That, wenn man einen geschlachteten Mastochsen 
lange und genau betrachtet, mus man nicht bekennen, daB er 
einen volstandigen Addreskalender vorstelt, wie etwan der 
Hechtskopf eine ganze Passionshistorie? »Jenes Stiik dort, das 
wol das beste sein mag - sag' ich oft, wenn ich zusehe - ist 30 
fur den Herrn*** geschaffen; dieser ganz gute Ballen ist das 



UBER MEINE SCHLECHTE NAHRUNG 1025 

Agio des Herrn**; was den Brustkern anlangt, so ist der der- 
massen fet, daB sich irgend ein Diener der Polizei ihn zueignen 
darf . « Und so entspricht iedes gute Glied des Viehes ordentlich 
einem guten Gliede des gemeinen Wesens; das Magere fallet 
denen anheim, die keinen Amtern vorstehen und ich kan mich 
mit einigen Knochen behelfen, die ich baar bezahle, stat daB 
Hohere das Fet sich borgen diirfen. 

Indessen, meine Herren, hab' ich zwar nicht vier Magen, aber 
Einen liihr' ich doch wirklich; und der verlangt ohne Bedenken 

10 Fleisch, das fur die beste Welt sich schikt. Da ich und der Konig 
Eine Woche alt waren: so nahmen wir beide mit derselben Nah- 
rung vorlieb, namlich mit Milch; iezt sind wir zwar beide er- 
wachsen und machen unsern Anverwandten die groste Ehre: 
aber unsere Magen solten sich demungeachtet nicht von einan- 
der trennen und der Konig von Spanien mus entweder einige 
. von seinen hundert Schiisseln fahren lassen, oder ich fange an, 
die meinigen zu vermehren. Seine Sele sucht sich nicht von mei- 
ner durch eine bessere Nahrung auszuzeichnen; warum wil sein 
Korper dadurch sich iiber meinen erheben? Das, was ich vom 

20 Konige von Spanien iiberhaupt gesagt habe, wend' ich iezt auf 
unsere Honorazioren an, auf die es vollig passet. 

Dazu verdienen diese in andern Dingen sonst diesen Tadel 
gar nicht. Sie suchen durch keine ekle Wahl der Kost fiir ihre 
Sele sich vor dem Pobel auszunehmen; sie lassen sich gern mit 
dem ersten besten Buche abspeisen und wissen es wol, daB die 
wahre Demuth von ihnen fodere, in der Ernahrung des Geistes 
sich willig von denen tiberholen zu lassen, die keine Amter ha- 
ben. Eine so edle Denkungsart liesse etwas erwarten; und doch 
trachten eben diese Personen, die gewis nicht zur Unterhefe 

30 des Pobels, sondern zur Qber- oder Spundhefe des gemeinen We- 
sens gehoren, den Pobel, dem sie Vorzuge des geistigen Frasses 
nicht misgonnen, durch den leiblichen zu (iberbieten und pralen 
mit keinem andern Theile ihres Wesens als mit dem schlech- 
tern. 

Freilich ist das Essen etwas, wodurch sich die hohern Stande 
besonders hervorthun miissen; wo die Weisheitszahrte ausgefal- 



1026 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

len, da kan die Speise nie zu weich und kostlich sein und dem 
Konige in Frankreich wird sogar - weil dies alles wahr ist - 
noch einige Zeit nach seinem Tode Essen vorgesezet. Allein 
wenn ich etwas Gutes geniesse: so bitt* ich mein ganzes Haus 
dazu zu Gaste und es schmekt mir allein sehr schlecht; bei den 
Manichaern war es daher ein Ordensgesez, nie allein zu essen. 
Warum wollen nun die Vater unserer Stadt nicht uns, die wir 
ihre wahren Kinder sind, einen Theil ihrer guten Bissen mit 
vorlegen? Allein sie sagen zu uns, was Augustin in Riiksicht 
des Abendmals empfiehlt: crede - et manducasti. Sonst stromet 10 
von den Bergen den Thalern fette Erde zu; aber im gemeinen 
Wesen werden die Thaler von den Bergen nicht gemastet, son- 
dern ausgesogen! 

Was die Edelleute anlangt, so solten diese selten etwas gutes 
zu sich nehmen und iiberhaupt sehr karg leben. Denn da es 
wol die Geschafte der meisten Edelleute verlangen, den ganzen 
Tag hindurch nicht wenig zu schworen - bald deferirt ihnen 
der Kutscher das juramentum credulitatis, bald der Jagdgenosse 
das purgatorium, bald ieder das suppletorium - und da man 
doch nach dem Gerichtsgebrauche nur nuchtern schworen darf: 20 
so konnen sie nicht selten genug essen, um oft genug ihre Eide 
zu leisten. Allein an diesen wichtigen Punkt denkt, wie es 
scheint, kein Mensch. 

Die grosten Philosophen ziehen die Hofnung dem Genusse 
vor; und in der That findet ieder grosseres Vergniigen an der 
Hofnung als andemEmpfangedesGeldes. Daher wird einMez- 
ger weit mehr von vornehmen als geringen Personen ergozet; 
denn iene lassen ihn Geld schon erwarten, diese geben es ihm 
bios und er bedienet daher die erstern weit besser als die leztern. 
Man siehet wol, dafi die Schuld meiner schlechten Nahrung 30 
auf mich selbst mit fallet, weil ich sie zu selten borgte; und 
wahrhaftig in Zukunft durft' ich kliiger verfahren und so gut 
nichts bezahlen, als wenn ich von Adel ware. 

Ach! wenn ich meinen Magen mit meinen Kentnissen ver- 
gleiche und an das alte Testament und die Honorazioren denke: 
so ruf ich aus: sonst brachten die Raben den Propheten Speise, 



UBER MEINE SCHLECHTE NAHRUNG IO27 

iezt aber stehlen sie ihnen selbige sogar. - Und das sogar Raberi, 
die in weissen Kleidern gehen. 

J. P. F. Hasus. 



[MENSCHEN SIND MASCHINEN DER ENGEL] 



Wenn wir sehr aufgeklaret sein musten, um die stolze Einbil- 
dung aufzugeben, daB die ganze Welt bios unsertwegen existire 
und daB die Sterne in der That nichts anders als die messingen 
Hirnmelknopfe waren, welche an der Himmelhaut der Kutsche 
oder Welt, die uns fahret, glanzten: so mag es noch weit mehr 
Erhellung unserer Kopfe bediirfen, eh' wir uns bereden lassen, 
daB wir bios gewisser hoherer Geschopfe wegen hienieden le- 
ben, die wir Engel nennen und daB diese die wahren Bewohner 
dieser Erde, wir aber nur der Hausrath derselben sind. Inzwi- 10 
schen ist es rrieine Absicht, von diesem leztern Saz so gut als 
moglich Beweise darzulegen: ich wiinsche wahrhaftig, daB eine 
Behauptung iedem einleuchte, die so sehr geschikt ist, unsere 
wahre Bestimmung ans Licht zu bringen, unserm Stolze zu ge- 
bieten und den Begrif vielleicht ein wenig zu erhohen, den die 
Welt von mir hat. 

Die Thatigkeit, in der wir auf dieser Erde sind, die Handlun- 
gen, die wir zu Stande bringen, tragen insgesamt so wenig zu 
unserm Wole bei, daB man langst hatte zweifeln sollen, ob denn 
unsere Geschaftigkeit bios unsern eignen Absichten diene: wie 20 
augenscheinlich ist es, daB diese Amsigkeit, die wider unser 
Gluk anlauft, dem Glukke anderer Wesen frohnet, deren Hande 
uns als Werkzeuge fuhren! Als ich vor einigen Jahren in meine 
Schreibtafelschrieb; »du kraftloser Schatte, armes Menschenge- 
schlecht, in der Welt, wo du allein zu schalten wahnst, drangen 
und bewegen sich tausend unsichtbare Hande, welche die deini- 
gen nur stat der Handschuhe gebrauchen!« so sah ich noch nicht 
ein, welch ein weiterer und wahrerer Sin in dieser Metapher 
liege! Denn es ist keine poetische Redensart, sondern kahle nakte 
Wahrheit, daB wir Menschen blosse Maschinen sind, deren sich 30 
hohere Wesen, denen diese Erde zum Wohnplaz beschieden 
worden, bedienen. 



MENSCHEN SIND MASCHINEN DER ENGEL 1029 

Als die Engel unsere Erde zuerst betraten: so hatten sie noch 
bei weitem die unzahligen Menschenmaschinen nicht, zu denen 
sie sich iezt Gliik wiinschen konnen; nach und nach erst erfanden 
sie [bald] diese bald iene Maschine oder wie wir zu sagen pflegen, 
Menschen, bis almahlig die Zahl ihrer Maschinen so heran 
wuchs, daB sie iezt fur alle Bedurfnisse die herlichsten Maschi- 
nen oder Menschen zeigen. 

Ein Engel verfertigte auch, wiewol mehr der Seltenheit und 
, des Vergniigens als des Nuzens wegen, herliche Schachmaschir- 

io nen und ieder meiner Leser mus dergleichen Wesen gesehen 
haben, die das Schach, ohne das geringste Zuthun eines Engels, 
bios durch einen Mechanismus, der in ihrem Kopfe angebracht 
ist, spielen konnen; sie bewegen den rechten Arm von selbst, 
sie schiitteln sogar - das ist unerhort - den Kopf zu einem fal- 
schen Zuge des Gegners und thun, wenn der Konig schach mat 
ist, um alles in der Welt keinen Zug mehr. Der Leser wird leicht 
wahrnehmen, wie ahnlich dies en Schachmaschinen die bekante 
ist, die H. v. Kempele erfand und die man wol gar bewundert; 
ich glaube aber, es ist ausserordentlich leicht, etwas nachzuma- 

20 chen, wenn man ein volkommenes Model schon vor sich hat 
und den Ruhm einer Erfindung an sich zu reissen, wenn ein 
anderer ihn erworben. H. v. Kempele war so gluklich, sich an 
lebendige Schachmaschinen, die die Engel schon ganz ausgear- 
beitet hatten, halten und sie in der seinigen nachkopiren zu kon- 
nen, was Wunder, daB es ihm gerieth, da es ein Wunder gewesen 
ware, hatte es ihm fehlgeschlagen. Demungeachtet bleibt auch 
immer ein gewaltiger Unterschied unter beiden Maschinen und 
das Werk des Engels sticht iiber das eines Menschen bei weitem 
hervor. Jenes besteht aus Fleisch und Blut - das Blut kan kein 

30 Chymiker nachmachen, dieses aus blossem Holz und einem 
Metalle. 

Die Engel waren es lange iiberdrussig, s[elbst] zu beten; sie 
sahen wol alle ein, daB es einerlei ware, ob man mit seiner eignen 
oder einer fremden Stimme, ob man mit seinen Sprachwerkzeu- 
gen oder mit einer andern Maschine betete; allein sie konten 
die Maschine [nicht] erfinden, die an ihrer stat betete. Endlich 



IO3O JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

brachte einer - wiewol einige mehrere angeben und Leibniz und 
Newton streiten noch urn die Ehre des ersten Einfals - eine 
zusammen, die noch besser war als man sie verlanget hatte. 
Ein Engel, der beten wil, giebt bios dieser Maschine einen Stos, 
so fangt sie an, ein schones Gebet abzutonen, das der Engel 
sich zurechnet. Ich wil iibrigens damit nicht von den Kalmukken 
stilschweigends behaupten, dafi sie die Erfindung der Betma- 
schine von den Engeln gestohlen; sie konnen gar wol auf densel- 
ben Einfal gerathen sein, ungeachtet er schon tausend Jahr in 
der Welt war, wie wir das Pulver erfanden, ungeachtet es die 10 
Sineser schon hatten. 



Vor einigen Jahren wurde von H. Changeux in Paris (Magazin 
des Buch- und Kunsthandels 12 St. 1780) der sogenante Baro- 
metrograph erfunden, der die Veranderungen der Schwere der 
Luft nicht bios wie ein gewohnliches Barometer angiebt, son- 
dern sie auch auf eine Woche lang Tag und Nacht aufschreibet: 
diese Maschine sol, wie es nur zu deutlich scheint, die Gelehrten 
brodlos und entbehrlich machen, die bisher die Buchhalter der 
Atmosphare waren und von iedem Tage eine Biographie ausfer- 
tigten. Ich glaube aber schwerlich, dafi der Barometrograph des 20 
Changeux den Barometrograph der Engel verdrangt. Denn 
diese Barometrographen, die sich von den Engeln herschreiben, 
- die Gelehrten - sind viel besser. Die Maschine des Ch. ftihret 
iiber die Veranderungen der Luft das Protokol nur 8 Tage lange; 
die Maschinen der Engel hingegen sezen diese Niederschriften 
so lange, als sie zusammengefugt verbleiben, fort und man hat 
Gelehrte aufzuweisen, die noch im achtzigsten Jahre "d[em] 
Barometer nachschrieben. Dazu geben die Gelehrten - welches 
die [Maschinen des Ch.] offenbar nicht konnen - die Wetterbe- 
obachtungen hernach in den Druk. 30 

Die Maschinen der Erde miissen fast alzeit den Maschinen 
der Engel den Vorrang lassen und man thut ienen nicht zu viel, 
wenn man behauptet, daB sie, so wie die Schonheiten der Erde 
nach Plato blosse Abdriikke der Schonheiten im Himmel sind, 



MENSCHEN SIND MASCHINEN DER ENGEL IO31 

blosse Nachahmungen und schwache Kopien der Maschinen 
sind, die die Engel erdacht: ienes Frauenzimmer z. B., das Kla- 
vier [spielt], ist hochstens eine glukliche Kopie der weiblichen 
Maschinen, die das Klavier schlagen und die Tone mit Bewe- 
gungen begleiten, die offenbar Riihrung zu verrathen scheinen. 



VORREDE[*] 



Wahrhaftig dieses Leben ist zu wichtig als daB ich lang an der 
Vorrede kunsteln und zimmern diirfte; zumal da ich sogar schon 
eine Viertelstunde iiber ihren Anfang nachgesonnen. 

Oft wenn ich in denen Kreisen Deutschlands, fur die dieses 
Buch etwan geschrieben sein mag, herumgieng, rief ich aus, 
daB einige es horten: wenn komt der Dadalus, der den Statuen, 
die hier im Lehr-, im Wehr- und im Nahrstande theils zum 
Nuzen theils zur Freude aufgestellet stehen, die Augen of net 
und die heruntersinkenden Hande aufrichtet! Noch ist der Da- 10 
dalus nicht da; noch ist vielleicht nicht einmal sein Vorlaufer 
da und da man diesen Landern gewisse Wahrheiten offenbar 
noch nicht hundertmale geprediget: so kan man von ihnen auch 
gar nicht begehren, daB sie selbige schon annehmen. Biicher 
wie dieses gehoren unter die ersten Schneeflokken, die nach 
einem Augenblikke zergehen, welche aber doch die Unterlage 
derer sind, die langer bestehen. Der Himmel lasset dan almahlig 
mehrere Biicher auf dergleichen Lander fallen, die sie fruchtba- 
rer und warmer machen und auf einen guten Friihling vorberei- 
ten. 20 

Verschiedene wiirdige Manner, die in verschiedenen Amtern 
und Wissenschaften arbeiten, haben sich der Ausbildung dieses 
Biichelgens unterzogen; was mich anlangt, so sieht man nur 
gar zu wol, daB ich mich darin zum kurzweiligen Rathe brau- 
chen lassen, welches, wie es scheint, mein Beichtvater nicht 
mehr leiden wil. 

Da die Rezensenten iiberhaupt geschikt sind und daher sich 
iiber die englischen Hunde weit genug erheben, bei denen es 
ein Fehler ist, das Wild am Kopfe anzufallen: so ahmen sie diese 
Hunde wenig nach und sezen ohne Bedenken dem Buche, wenn 30 

[* Zu den »Mixturen fur Menschenkinder aus alien Standen« (1786). 
Die Vorrede wurde nicht akzeptiert.] 



VORREDE 1033 

es ihnen keine andere Blosse giebt, am Kopfe oder Titel zu, 
woran sie mit ungemeinem Gliikke zerren. Gliiklicher Weise 
giebt unseres ihren Zahnen mit andern unbewahrten Stellen so 
viel zu thun, daft sie den Titel wol entrathen konnen, der sonst 
gut genug ist: denn an unsern Mixturen - leider trit iezt ieder 
Autor mit einem Kongresse aller Wissenschaften auf und die 
Mixturen haben sich aus den Apotheken in die Buchladen ge- 
fliichtet - mag vielleicht die Verschiedenheit der Ingredienzien 
von der Verschiedenheit der Apotheker, die sie praparirten, ent- 

10 schuldigt werden. 

Obrigens darf ich hoffen, daB uns niemand die eben so bos- 
hafte als lacherliche Absicht zutrauen werde, mit diesen Mixtu- 
ren irgend eine lebendige Sele auf Gottes Erdboden heilen zu 
wollen: wenigstens glauben wir ein so verdachtiges Zutrauen 
durch die Miihe gar nicht zu verdienen, die wir anwenden, die 
Gesundheit einiger Menschen algemein glaublich zu machen, 
indem wir es ieden sehen lassen, daB unsere Mixturen wenig 
oder nichts gegen sie verfangen: denn das ware eben sehr gut 
und so wie es ein Zeichen der korperlichen Gesundheit der Rasen- 

20 den ist, wenn die starksten Arzneien sie nicht sehr angreifen, 
so wiirde es noch weit mehr ein Beweis ihrer geistigen sein und 
es soke mich dieses freuen. 

Unter den Arbeitern dieses Buches hat keiner gelogen als et- 
wan zuweilen ich und sogar das nur zum Spas. Alle Beispiele 
des Unsins und der Bosheit, die wir hier erzahlet haben, sind 
leider nicht auf unserem, sondern auf dem Miste gewachsen, 
der von ieher das menschliche Unkraut zeugte und diingte und 
wir konten wenn es nothig ware, alle beigebrachten Thatsachen 
mit volwichtigen Beweisen versorgen. Zu wiinschen war' es 

30 daher sehr, - und wir ersuchen selbst darum, da wir es vergessen 
haben, weil man Namen schlecht merket - daB ieder, von dem 
hier etwan eine schlimme oder einfaltige Handlung mitgetheilet 
wird, es selbst bekant und glaublich machte, daB man ihn ge- 
meint, und sich dabei ordentlich nente: so etwas wiirde ihm 
keine Schande, uns aber viele Ehre und beiden doch wirklichen 
Nuzen bringen. 



1034 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

Freilich-und darauf schieb* ichs eben grostentheils, daB diese 
Vorrede mcht unsterblich wird - bleibt es immer das schlimste 
bei der ganzen Sache, daB dieses Buch alsdan auf gar kein Land 
passet: denn em Land, wo nicht die Kopfe, sondern die Ohren 
gros sind, wo es keine Prozesordnung giebt, wo die Kehle der 
Juden das Sprach- und Horrohr in den Kollegien ist, wo die 
schonen Kiinste unter die verbotenen und die verlornen geho- 
ren, wo einige Obere gerade so wenig Verstand besizen, daB 
sie siindigen konnen und wo man Leibes Nahrung und Noth- 
durftso sehrliebt, daB die Leute Christum, wenn er die Besesse- 10 
nen noch einmal heilte, anflehen wiirden, ihre Saue doch mit 
den Teufeln zu verschonen und diese lieber, wenn es ia keine 
andere Auskunft gabe, etwan in sie selber ziehen zu heissen - 
em solches Land sag' ich, ist ein Ding, das man wol in Utopien 
oder auf dem Uranus, aber gewis nicht auf unsern Spezialkarten 
auftreiben wird und ich habe es wenigstens bisher noch immer 
fruchtlos aufgesucht. 

Inzwischen so ziehedennhin, liebes Kind, und wenn du einen 
Menschen auf deinem Wege ausfundig machst - es steht iedoch 
nicht zu hoffen, da Diogenes nicht einmal mit der Laterne einen 20 
auskundschaften konnen - so griisse ihn von unsertwegen sehr. 

Wenn du aber einem Edelman begegnest, so stelle dich an 
als ob du dich besser als irgend iemand auf die Jagd- und Forst- 
gerechtigkeiten, desgleichen auf das peinliche Recht und die 
schwarze Kunst verstiindest, damit er dich sehr wol ausstehen 
kan. Tragt er gar einen Stern: so nenne denselben eine wahre 
Nebensonne des Fiirsten und einen richtigen Stern der Weisen, 
wenigstens spreche ziemlich deutlich vom Perihelium. 

Es ware freilich ein Ungluk, wenn du auf einen Rezensenten 
trafest: geschieht es aber einmal, so halte einen solchen Tag fur 30 
einen ungluklichen, wie die Romer es machten, wenn ihnen 
ein Verschnittener zuisties; inzwischen bitte den Kapaun dennoch 
zu krahen und uns wie dem Petrus unsere litterarischen Sunden 
zu Gemuthe zu fiihren. 

Wenn du auf einen Hofman gerathst: so thue als wenn du 
ein wenig lacheltest und iibrigens gar nichts verstandest. 



VORREDE IO35 

Wenn du einen Theologen inne wirst: so bete einen guten 
Feuersegen. 

Keinem schlechten Juristen wirst du nicht begegnen; denn 
diese lesen wenig: wenn du daher nur auf einen gewohnlichen 
Advokaten stossest, so ertheil' ihm einen Trost und such' ihn 
zu bereden, daB seine Furcht vor dem Hangen in effigie in der 
That eine leere Tauschung ist, weil die Geseze einen Man, den 
sein entkraftetes Gehirn urn alien seinen Willen gebracht, we- 
nigstens nicht mit Vorsaz hangen. 

Holet dich ein Esel ein: so gieb dich fiir keineii Evangelisten 
aus, da mit er dich nicht als dein Thier begleite, gesteh* ihm 
aber, daB die Menschen die Herschaft iiber die Thiere langst ver- 
loren haben. 

Komt dir endlich ein Hase nach: so sag' ihm zum Spasse mei- 
nen Namen 

J. P. F. Hasus. 



ZEITUNGEN 



Ich habe es oft in meinen iungern Jahren gesagt, daB die Zeitun- 
gen etwas Gutes sind; aber ich konte es nicht glauben bis iezt. 
Eine Zeitung soke ieder lesen und sie schikt sich fur den grosten 
Theil der Menschen. Ein Mensch, der iiber einer Zeitung sizet, 
hat immer den Vortheil, daB er gedrukte Buchstaben, die in 
der Turkei noch so selten sind, vor sich hat, daB er sie betrachten 
und iiber ihren Zusammenhang nachsinnen kan. Ferner kan ein 
Mensch aus den Zeitungen tiefe Einsichten in die gegenwartigen 
Staatskabinete schopfen und [vom] franzosischen Hofe reden 10 
als wenn er mit da ware und iiber verschiedene italianische die 
Achsel ziehen. Ja wenn er die Zeitung recht lieset, so kan man 
ihm von ihr auch versprechen, daB er in Furcht und in Hofnung 
von Zeit zu Zeit wird gesezet werden; zwei Gemuthsbewegun- 
gen, die viel werth sind und die auf dem Theater nicht zu theuer 
verkauft werden. Auch kan endHch ieder, der Zeitungen lieset, 
von den Zeitungen reden und der Ruhm eines guten Geselschaf- 
ters ist nicht so geringfiigig, daB man ihn durch das Wenige, 
was man fur eine Zeitung giebt, zu theuer zu bezahlen furchten 
diirfte. Ich kante einen Man, der seine Bekanten nur an den 20 
Tagen, wo die Zeitung kam, zu besuchen wagte, weil er dan 
etwas zu reden mitbringen konte. Allein wenn ich noch soviel 
zum Lobe der Zeitungen sage, so bin ich doch einen Fehler 
derselben nicht in Abrede, den ieder tadelt aber niemand abstel- 
let. Man kan namlich den Zeitungen vorwerfen, daB sie sich 
an das, was wirklich geschieht, zu genau halten und iiber dem 
angstlichen Kopiren der Natur die Erfindung ganz vergessen. 
Und doch thut der, der bios wirkliche Erzahlungen liefert, nur 
der halben Pflicht eines Zeitungsschreibers Geniige; ein vol- 
komner wird auch Erfindungen zu einem Geschafte machen 30 
und wie ein Tragodiensteller nur Lob verdient, wenn er uns 



ZEITUNGEN 1037 

die historische Begebenheit nicht so giebt wie sie vorgefallen 
ist sondern sie mit seinen Erfindungen ausschmiikt und ausdeh- 
net, so kan ein Zeitungsschreiber, der das Geschehene nicht 
durch eigne Zusaze vergrossert, nie gef alien, Ich habe daher 
schon geglaubt, eine Zeitung, die sich von den bisherigen da- 
durch auszeichnete, daB sie lauter erfundene Thatsachen zu 
Markte brachte, ware etwas, das wir noch nicht haben und das 
Liebhaber finden konte. 



Wie man horet, so sol iezt in einem von den 5 Welttheilen eine 
10 Zeitung gedrukt werden, die unpartheiisch und wahrhaft ist; 
man riihmet noch mehr von dieser Zeitung; es ware aber zu 
wiinschen, daB sie existirte: diese Beschreibung scheinet aber 
diesen Wunsch nicht sehr zu begiinstigen. 



Einer sol die Vorzimmer, welche mit Hofleuten angefiillet sind, 
mit den Zimmcrn vol Spiegeln verglichen haben, welche ma- 
chen, daB man unter vielen Menschen zu sein glaubt, ungeachtet 
nur einer da ist. 



Ein Fiirst hielt die Hand an d[as] Barometer und machte das 
Queksilber sehr steigen. »Ew. Durchlaucht haben mit Ihrer 
20 Hand eben so die Franzosen steigen lassen. « Oder: ich wiinschte, 
ich ware Queksilber, damit ich auch stiege. 



Geschichte 

1 Kapitel 

Ware ich wie die Apostel an alien Orten der ganzen Welt gewe- 
sen: so wiirde ich es wissen, ob noch ein Man existirt, der iiber 
den Bonmotisten, dessen Leben ich iezt schreibe, hinausraget; 



IO38 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

ich darf abe'r doch vermuthen, daft wol keiner existiret. Er hatte 
so viel Wiz, daB ich wolte, er hatte sein Leben sfelber] beschrie- 
ben, weil ich am wenigsten dazu tauge. »Man thue mich, sagt 
er, in keine Universalhistorie, wo ich wie [in] einer Stadt leben 
wiirde; man wiirde mich nicht kennen und ich wiirde zu wenig 
bemerkt werden; aber in eine Biographie oder auch Zeitung 
verpflanze man mich, die ich fur ein Dorf halte, wo mich ieder 
kent und wo d[er] Leute nicht so viel sind. Ja in einer Biographie 
- wenn mir iemand eine schenkte, - wil ich leben so lange mein 
Athem aus und eingeht,« Hier schenk' ich ihm eine. 



Einer drohte ihm. Er: »Glaubwiirdige Schriftsteller haben be- 
. hauptet, daB die Patagonen die Gespenster sehr furchteten. Wie 
gliiklich bin ich, daB ich kein Riese, sondern ein Zwerg bin: 
denn sonst wiirden Sie Furcht einiagen. « Er war alzeit willens, 
Biicher zu schreiben; er wolte eines machen von der Statur me- 
taphorischer Ideen, er wolte eines schreiben, worin er beweisen 
wolte, daB zwar Wesen die Existenz hatten, daB aber die Exi- 
stenz s[elbst] nirgends existirte. 



MIXTUREN 

FUR MENSCHENKINDER AUS ALLEN STANDEN, 

von verschiedenen Verfassern 



^vxriq urcQEiov - 

Ptolomaische Bibliothek. 




Erklarung der Titelvignette 



Es ist eine Apotheke fur Menschen und Vieh. Man wird, wie 
ich hoffe, alles in ihr bekommen konnen, was man sonst in 
guten Apotheken sucht, gepulverte Missethaterkopfe, Eselsblut 
gegen die Narheit, Album graecum, desgleichen die »Mixturen 
fur Menschenkinder aus alien Standen« und noch weit mehr. 
Verschiedene gutdenkende Personen, worunter sogar Doktoren 
sind, laufen, wie man sieht, mit langen Stangen ganz erbosset 
in die Apotheke hinein, und sind offenbar gesonnen, alle Arznei- 
glaser, weil sie zu selten vergiften, ganz geschickt zu zerschla- 10 
gen: hiezu werden sie von einem Rechtsgelehrten, der mit einem 
Buttel an der Thure stent, nicht wenig angefrischt, besonders 
da er so sehr schreiet: von Rechtswegen. Hinten im Eck stehet 
ein Mann mit einer Pechfakkel, den ich fur einen Geistlichen 
ansehe; er ist Willens, die ganze Apotheke in Brand zu stekken 
- und dann verbrennen nur gar zu gewis auch die »Mixturen 
fur Menschenkinder aus alien Standen« mit. 



Katalog der Vorlesungen, die in unserer Stadt fur das 

KUNFTIGE HALBE JAHR WERDEN GEHALTEN WERDEN 

I. Vorlesungen der theologischen Fakultat 

Alle Abende lesen tiber die schwersten Stellen der Schrift, drei 
geschikte Kaufmannsdiener und ein junger Baron, der in Ferney 
gewesen. Das Auditorium ist auf den hiesigen Koffeehausern, 
publice. 

Der Zensor der theologischen Schriften lieset ein sehr schones 
Kollegium iiber die Menschenliebe als eine Einleitung zu seiner 
verbesserten Kunst, Kezer zu machen. 



MIXTUREN * KATALOG DER VORLESUNGEN IO4I 

Uber die theologische Moral halt die ganze Stadt die schon- 
sten theoretischen Vorlesungen, von denen man sich wahren 
Nuzzen verheisset: die praktischen Ubungen darin werden, wie 
man schon seit vielen Jahren gethan, auch heuer ausgesezet blei- 
ben. Auch scheinen sie eine Geschaftigkeit zu verlangen, die 
sich mit dem menschlichen Triebe nach Ruhe gar nicht vertragt, 
den Paskal einen Uberrest des gottlichen Ebenbildes nennt, und 
den man daher mehr beleben als entnerven muB. 

Ubungen im theologischen sowol als im politischen Disputi- 

10 ren werden beinahe alle hiesigen Schuster in den bekanten 
Schenken anstellen; sie kosten nichts als etwan das Bier, das 
man selber trinkt. Indessen wird kein einziger Saz von ihnen 
durch den Scheiterhaufen unterstiizet, und auch die wichtigsten 
und dunkelsten Wahrheiten glauben die Meister des loblichen 
Schusterhandwerks dennoch durch die blosse geschikte Bewe- 
gung eines Stuhlbeins oder eines Bierkrugs gut genug zu erlau- 
tern und zu verfechten; ein Meister des loblichen Schusterhand- 
werks scheinet es seiner fur unwiirdig zu halten, den weltlichen 
Arm zu Widcrlegungen zu gebrauchen, zu denen sein eigner 

20 zulangt. 

Die Vorlesungen, die man von Alters her iiber die Sonn- und 
Festtagsevangelien jede Woche einmal im Auditorium, die Kir- 
che genannt, zu halten pflegte, und fur die man nichts zu bezah- 
lenbraucht, als was der Famulus fur die Stuhle auspresset, sollen 
auch dieses Halbjahr auf die gehorige gelehrte, philologische 
und schwere Manier gehalten werden, wenn sich nur so viele 
Zuhorer zusammenbringen lassen, als nothig sind, ein Publi- 
kum zu formiren, wozu indessen drei Personen unentbehrlich 
sind. Allein man weis wol, daB dieses nicht zu hoffen steht: 

30 denn schon seit langer Zeit hat man nicht mehr zusammen ge- 
bracht als zwei, den Professor namlich und seinen Famulus, 
hochstens noch den Teufel, den man aber wegen seiner Unsicht- 
barkeit nicht gut fur eine Person nehmen kan. Gleichwol hat 
man nicht umhin gekont, dem alten Gebrauche sein Recht zu 
geben, und diese Vorlesungen wenigstens anzukiindigen. 
Der hiesige Herr Superintendent kan diesesmal leider! nicht 



IO42 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

lesen, weil er unlangst durch einen ungliiklichen Zufall nicht 
nur seine Krautermiize, wodurch er sein Gedachtnis starket, 
sondern auch seine Hefte, durch die er solches ersezet, verloren 
hat und nun nichts mehr weis, als s einen Nam en und Titel, 
die selbigen begleiten. Inzwischen verspricht er einen Mann an 
seiner stat zu stellen, der doch lesen will, ob er gleich nichts 
versteht. 

Einige Advokaten haben sich zusammengethan, um uber das 
Katechisiren und den Katechismus geschikt zu lesen. Wenn 
hierinnen eine lange Obung vor Gericht, Fragartikel fur die 10 
Zeugen zu stellen, einige Geschiklichkeit gewahren kan: so 
glauben sie darauf nicht ungultige Anspriiche zu machen. 



II, Vorlesungen der juristischen Fakultat 

Uber das allgemeine Staatsrecht werden alle Tage von 10 bis 1 1 
sowol Vorlesungen als Disputiriibungen gehalten. Das Audito- 
rium ist auf dem Paradeplaz. Auch hat unser Fiirst das stehende 
Heer von gut montirten Professoren, die er bios dazu besoldet, 
um uber das Dorf- und Bauern- Faust- Strand- Kriegs- und 
Mezenrecht besser durchdachte Vorlesungen zu halten, als man 
sonst horet, noch neuerlich um etliche Regimenter verstarkt. 20 
Wie sonst zu den Priestern, so sind zu diesen Professoren Leute 
ganz untiichtig, die einen Fehl am Leibe haben; auf die Sele 
sieht man, wie bei alien Professoren zum Gliikke nicht so sehr. 
Diese von der Minerva, der Gottin der Wissenschaften und des 
Krieges, bewafnete Professoren, die in den finstern Zeiten, wo 
Theologie und Rechtsgelahrheit noch beisammen waren, beide 
mit guten Beweisen versahen und beschirmten, und die noch 
in der Rechtswissenschaft das Wahre gern ins Licht, und das 
Irrige gern in Schatten und Rauch zu sezen pflegen, diese Profes- 
soren wird jeder gute Fiirst, war' es auch zum Nachtheil seiner 30 
Lander, stets zu vermehren suchen. Obrigens wird nach keinem 
fremden Kompendium, sondern nach den eignen Sazen des Fiir- 
sten gelesen. 



MIXTUREN ■ KATALOG DER VORLESUNGEN IO43 

Eine Geselschaft Diebe erbietet sich zu eben so geschikten 
als theuren Vorlesungen iiber die juristische Praxis, wenn die 
gehorige Anzahl Zuhorer, die zu diesem Kollegium nothig ist, 
sich aufbringen lasset. Das Auditorium wiirde im Parterre des 
hiesigen Schauspielhauses sein; und die Zeit der Vorlesung von 
6 Uhr Abends bis um 8. Sie sind zwar ein wenig theuer, doch 
nehmen sie statt des Kollegiengeldes auch gern Uhren und Etuis 
etc.; auch wollen sie von ganz Armen gar nichts haben, und 
verdienen daher vielleicht, dar3 man sie im gemeinen Wesen 
io als Armenadvokaten anstelle. 

Uber das Gesandschaftsrecht lieset diesesmal ein Spion, der 
auch denen, die der praktischen Wappen- und Siegelkunde obzu- 
liegen willens sind, seinen Beistand anbietet, Privatissime. 

Er wiinschet sehr, daB er nicht gehangen werde, damit er 
ein so nuzliches Kollegium recht oft moge lesen konnen. 

Der schon erwehnte Herr Superintendent glaubt sich die 
Schwachheit seines Kopfes nicht hindern lassen zu miissen, ein 
nuzliches Kollegium iiber den HexenprozeB zu lesen; auch von 
den Prozessen, die man in Lausanne mit den Insekten, und die 
20 zuweilen die Landstande mit ihrem Fiirsten fiihren, wird er gern 
die wenigen Kenntnisse mittheilen, die ihm davon beiwohnen. 

Ein Hofmann wird lesen iiber die Kunst, den Fiirsten nicht 
nur Akten zu referiren, sondern auch Klagen des Volks. 



III. Vorlesungen der medizinischen Fakultdt 

In den beriihmtesten Soupees werden verschiedene wizige Her- 
ren anatomische Kollegien iiber den Menschen lesen. Sie haben 
den lebendigen Kadaver eines gefalnen rechtschaffenen Mini- 
sters kauflich an sich gebracht. Diesen werden sie geschikt zer- 
gliedern, und ihre vornehmen Zuhorer mit der Darlegung einer 
30 seltenen Menge Fehler belustigen, die sie mit dem Anatomir- 
messer an dem besagtenManne entweder entdecken oder doch 
erzeugen werden. Nicht nur Arme, sondern auch Reiche und 



1044 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG 

Vornehrae werden sie anatomiren; und Iebendig, wie es Hero- 
philus mit den Missethatern auch machte. Wie die Arzte an den 
Hunden die Menschen Iebendig zergliedern lernen: so haben 
auch sie in derZerlegunglasterhafterPersonen sichlange vorher, 
und nicht ohne Gliik getibet, eh' sie zur Zermezelung tugend- 
hafter iibergiengen, und sie hoffen, durch jene so weit gebracht 
zu sein, daB sie in dieser etwas vermogen. 

Obrigens haben sie eine maBige Menge sehr schoner Praparate 
von den guten Handlungen und guten Nam en, die sie mit vielem 
Fleisse zerschnitten, in ihrem Beschlusse. Sie versprechen sich ro 
noch eine besondere Unterhaltung fur ihre Zuhorer von den 
mit W^WausgestopftenKorpern, mit denen sie ihr anatomisches 
Theater zieren, und die beinahe jedermann bey dem ersten An- 
blicke fiir Iebendig und beseelet zu halten sich tauschen lasset; 
sie sind aber wirklich tod und ohne Sele, ob sie gleich sprechen, 
denn sie sind die eignen Leiber der gedachten Herren Professo- 
ren selbst. 

Beilaufig! In eben diesen Speissalen werden einige reiche Ren- 
tirer stat der Menschen, Speisen trenschiren; und keine anderen 
Thiere zergliedern, als unmenschliche, die zum Essen taugen. 2 o 
Einer von ihnen sucht seines Gleichen in den Querschnitten; 
doch auch in den Oberschnitten dtirfte mancher von ihm noch 
lernen konnen. 

Die hier anwesenden landesherrlichen Kommissarien werden 
nach Anleitung des Kalenders anzeigen, welche Tage gut sind, 
zum Aderlassen, Purgieren und Schropfen eines ganzen Landes, 
wie auch zum Holzfallen, zum Geldausgeben und so weiter. 
Sie werden aber aus dem Gesechsterschein, den die Zusammen- 
kunft gewisser Sterne auf den Rokken jezt formiret, sehr weit- 
lauftig beweisen, daB gerade eben die Tage dazu gut sind, an 30 
denen sie es beweisen. Sie machen sich auf den groBten Beifall 
Rechnung; mussen aber im voraus anmerken, daB sie kein Testi- 
monium paupertatis paBiren lassen konnen, sondern die ausge- 
sezten Kollegiengelder von den Landstanden aufs scharfste ein- 
treiben werden, weil der Ftirst damit, wenn nicht der Armee 
den riikstandigen Sold, doch wenigstens seiner Sangerin die zu 



MIXTUREN ' KATALOG DER VORLESUNGEN IO45 

pranumerirende Gage zu bezahlen gedenkt. Ihr Auditorium 
wird zuweilen in Speisesalen sein. 

Die hiesigen Biittel und ihre Hunde werden das im halben 
Jahrc angefangene Kollegium iiber physiognomicen forensem 
gar zu Ende lesen. 

Die gewohnlichen Vorlesungen iiber die Diatetik haben an 
alien vornehmen Tafeln ihren Fortgang; und die Koche bleiben 
noch die Famuli. 

Ein guter Dentist, der erst angekommen, sucht sich durch 
10 eine Anleitung zu empfehlen, den Leuten die Weisheitszahne, 
sie mogen noch so gesund sein, vermittelst des englischen Schlus- 
sels gluklich auszunehmen. Er hoft nicht ohne den Zuspruch 
junger Personen zu verbleiben, die einst Minister werden wollen, 
und die wissen, wie sehr der Pobel, dem man seine Weisheits- 
zahne nicht ausgebrochen, immer um sich beisset. 



IV. Vorlesungen der philosophischen Fakultdt 

Uber die Politik lieset wie gewohnlich der hiesige Zeitungs- 
schreiber. Ober die Wahrscheinlichkeitslehre der Direkteur des 
hiesigen Zahlenlotto's; man bezahlet dafur soviel als man will, 

20 und jeder, er sei ein Vornehmer oder Gemeiner, ein Reicher 
oder Armer, ein Studierter oder keiner, kan dieses Kollegium 
horen. Diesem diirften vielleicht stat der Prolegomenen einige 
Vorlesungen iiber die Regula Falsi und iiber die Rechtschaffen- 
heit der Italiener, die sich von den Beutelschneidern so sehr 
absondern, und nur das Geld ohne den Beutel begehren, voraus 
geschikket werden. 

DieMarqueursderhiesigenKoffeehauserladenjeden ein, ihren 
Vorlesungen iiber die Mechanik, die sie vor der Billardtafel hal- 
ten werden, auch kiinftighin den alten Beifal zu gdnnen. Sie 

30 hoffen nicht, daB ein ordentlicher Student seine Zeit dieser Be- 
schaftigung entziehen, und sie dafur auf unniizere Dinge wenden 
werde. 

Ober die natiirliche Magie und iiber die Alchymie d. h. iiber 



IO46 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

die Kunst, Schminke, Seufzer, Weihrauch und Worte in gutes 
Dukatengold zu verwandeln, werden die Sangerinnen unsers 
Theaters gern Vorlesungen halten, so wenig Zuhorer auch jede 
auf einmal haben mag. Sie sind ubrigens weit entfernt, den 
weiblichen professoribus ordinariis,* die eben hieriiber in dazu 
privilegirten Hausern lesen, den Zulauf abfangen zu wollen, 
und sie wissen gar wohl, daB sie nur Professores extraordinarii 
sind. Die Prima Donna lieset in ihrem eignen Hause, das ihr 
ein Kaufmann geschenkt, zu alien Stunden desTages, und sogar 
auch der Nacht, so wie die Sonne in Gronland zuweilen gar i 
nicht untergehet, und mit ihren Reizen den schlafenden und den 
wachenden Menschen erquikket. Sie werden alle Ovids artem 
amandi zum Leitfaden nehmen. Da die Weisheit gewohnlich 
die Gesundheit untergrabt, und da besonders die alchymisti- 
schen Versuche kranklich machen, so furchten sie nicht, dafi 
jemand sich von ihren alchymistischen Prozessen, wobei zuwei- 
len in der Phiole ein ordentlicher Mensch erschaffen wird, bios 
durch die Kranklichkeit entfernen werde lassen, die ihm davon 
drohet und die dem Geiste seine Verbesserung durch die Ver- 
schlimmerung des Korpers immer so sehr vergallet. 20 

Ein geschikter Stuzer hat sich entschlossen, an den Nachtti- 
schen iiber die Universalhistorie der Frisuren und Bandschleifen 
ein Privatissimum zu lesen, desgleichen iiber die Zeiten, wenn 
man die wichtigsten Kleidungsstiikke, wenn man z. B. Waden, 
Briiste, natiirliche Wangenrothe und andere zum Anzug gehori- 
ge und vor der Naktheit beschirmende Stiikke erfunden. Auch 
erbietet er sich mit seinen heraldischen Kentnissen, jedem zur 
Hand zu gehen, der sich dem wichtigen Zeitpunkt nahert, wo 
er das Siegel wahlet, das er durch sein ganzes Leben auf alien 
seinen Briefen fuhret. Endlich lieset er das beste Kollegium iiber 30 
die Experimentalphysik, allein keinem Menschen als nur sich 
selbst. Die Versuche stellet er an seinem eignen Leibe an; z. B. 
an diesem hat er gefunden, daB der EBig, wenn man ihn haufig 
trinkt, ziemlich mager macht und die Taille sehr verbessert - 

* d. i. den Huren 



MIXTUREN ■ KATALOG DER VORLESUNGEN IO47 

oder urn die verlorne Kunst der agyptischen Einbalsamirung 
wieder aufzufinden, pokelt er seinen Leichnam und besonders 
den Kopf desselben alle Tage in wohlriechende Wasser ein, die 
ihn auch wirklich so gut konserviren, daB er bisher noch keinen 
andern Gestank von sich gegeben, als angenehmen. So lange 
er noch beilaufig zu sagen, nicht wie ein Todter riecht und nur 
wie einer aussiehet; so lange kan er auch hoffen, das Ausfahren 
seiner Sele, ungeachtet er langst gestorben ist, noch einige Zeit 
zu verzogern: Denn nach der Meinung der Agypter verlasset 

10 die Sele den todten Korper erst, wenn er in die Faulung iiberge- 
het. Und sind denn auch nicht bei unsern Kopfen noch diese 
geistigen Geruche Zeichen, daB aus ihnen noch nicht alles geistige 
verflogen? 

Ein alter Mann wird tiber die romischen Alterthiimer lesen, 
um den Hunger noch einige Jahre langer zu ertragen. Er wil 
iede Antiquitat mit den gehorigen Zeichnungen, Gemmen, Pa- 
sten und Biisten erlautern. Wenn er z. B. von der Freiheit reden 
wird, die sonst die Romer verehrten: so wil er eine Paste aufzei- 
gen, worauf sie mit einem Hute in der rechten und mit einem 

20 SpieB in der linken Hand gebildet zu sehen ist; und so wird 
er ferner von alien iibrigen Tugenden, von der Wahrheit, von 
der offentlichen Sicherheit, von dem Adel und von alien andern 
Antiquitaten dieses alten und grossen Volks durch vorgewiesene 
Gipsabbildungen moglichst genaue und anschauliche Begriffe 
beizubringen trachten. Ich besorge aber beinahe, der alte Mann 
findet gar keinen Zuhorer, und er wird den Hunger langer ertra- 
gen wollen, als dieser ihn. 

Ubrigens giebt auch ein Tanzmeister alien FiiBen Unterricht, 
die in-schonen Pas am Hofe emporzusteigen oder im Felde davon 

30 zu laufen Willens sind; ein Bereiter lieset uber das Reiten sizend 
auf dem Reitstuhl des Gennete; ein Papagai lieset uber die Rede- 
kunst, ein Affe uber die Gestus, die man dazu macht und ein 
Franzos liber alle Wissenschaften in der ganzen Welt. 

Und ich selbst lese gleichfalls uber etwas: denn ich halte nicht 
nur eine vorlaufige aus einem aufrichtigen Herzen geflossene 
Lobrede auf alle vergangene, gegenwartige und zukiinftige Pro- 



IO48 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

fessoren dieser und der andern Welten, sondern auch eine asthe- 
tische Vorlesung iiber die schwere Kunst zu satyrisiren. Ich lege 
bei derselben meine eignen Satyren zum Grunde, in denen ich 
viel attisches Salz zu finden verspreche. Mochte ich sie doch 
das wahre englische Salz nennen! Denn dieses ist viel werth und 
heilet sehr. Man braucht sie daher nicht zu lesen; da ich schon 
uber sie lese, und ich glaube, sie iedem Verleger vortheilhaft 
genug zu machen, indem ich ihnen Zuhorer stat der Leser an- 
werbe. 



ElNIGE GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN 10 

gegen die noch immer fortdauernde Unart, nur dann zu Bette zu gehen, 
wenn es Nacht geworden 



Ein Herr von vielem Verstande behauptete neulich, ich hatte 
keinen. Dieser Vorwurf frischet mich an, mich selbst zu loben. 
So wie bei den Rdmern ein Angeklagter ausser den Sachwaltern, 
die ihn bios vertheidigten, auch noch zehn sogenannte laudato- 
rs aufstellen durfte, die ihn lobten; so kann mir iene Beschuldi- 
gung einen sehr schiklichen Anlas zu einer kleinen Selbstrezen- 
sion gewahren, und bios der obgedachte Herr wiirde Schuld 
sein, wenn ich das Lob, das ich mir iezt zuwerfen will, etwan 20 
iibertriebe. Ich kann wol sagen, daB der ganze Planet, worauf 
wir leben - meine Freunde behaupten es auch von den (ibrigen 
Wandelsternen, und wollen es damit bescheinigen, weil wegen 
der allgemeinen Verbindung keinem Planeten etwas Gutes zu- 
flieBen konnte, wo ran nicht auch die andern Theil nahmen - 
von meiner geringen Feder die erheblichsten Vortheile gezogen, 
die er, wie es scheint, anstandiger hatte vergelten diirfen, als 
er gethan. Wenn das Geniefeuer, das ganz Deutschland neulich 
ergriffen hatte, iezt gliiklich gedampfet ist, so ist der Antheil 
meiner Feder daran so beschaffen, daB ich davon reden darf; 30 
denn sie zeigte sich dabei als eine gute Handsprize. Wenn ferner 



MIXTUREN * GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO49 

die deutsche Litteratur sich iezt urn fiinf mehr als mittelmaBige 
Romane, und urn drei wahrhaft polemische Schulprogrammen 
reicher befindet, so kann man dieses Verdienst wol Niemand 
anders", als meiner Feder beilegen, da aus ihr eben der muster- 
hafte Origihalroman, den die erstern vollig nachgeahmet, und 
das sonderbare, blasphemische System, das die leztern lateinisch 
angefochten, geflossen ist. Wenn weiter die Wiener ausser ihren 
Magen auch ihre Selen zu iiberladen anf angen, und zehn Kreuzer 
weiter nicht ansehen, wenn es darauf ankommt, ihrem Ver- 
io stande ein etwas gutes Gericht zu kaufen; wenn die Gesundbrun- 
nen Deutschlands keine Falgruben oder kein h. Grab, oder kein 
Thai Josaphat der Keuschheit mehr sind; wenn die Kammerali- 
sten iezt allgemein darauf aus sind, nicht sowohl den Fursten, 
als das Land zu bereichern, wenn es seit einiger Zeit die Angele- 
genheit aller christlichen Staaten geworden, die Monchsorden 
und die stehenden Armeen auf einmal abzudanken, weil beide 
entvolkern und mussig gehen; wenn statt der Richter iezt die 
Gerechtigkeit zu unserem Erstaunen auf den Ri enters tiihlen sizt; 
wenn der geizige und rauberische Luxus nach und nach sich 
20 in ein Ding verwandelt, von dem man in den hohern Standen 
kaum mehr noch als den Namen ubrig findet; wenn die Fakulti- 
sten allmahlig einsehen, daB sie dennoch besser fahren, wenn 
sie die Franzosen nicht mehr nachahmen, sondern ihre Perioden 
noch langer machen als ich diesen, dessen Nachsaz schon 
kommt: so scheint es, daB es bios meine Feder ist, der man 
diese allgemeine Verbesserung, diese wohlthatige Veranderung 
eines so grossen Wandelsterns wie unserer ist (indem der Mond 
5omal kleiner ist) lediglich zu verdanken habe. Vielleicht urthei- 
let man iezt uber unsere guten Schriftsteller weit richtiger und 
30 einstimmiger als sonst; aber kann man es wol vergessen, wem 
man diese bessere Beurtheilung zuzurechnen habe? Namlich 
wieder meine oft besagte Feder war es, die durch unzahlige gute 
Rezensionen, die ich allzeit mit vieler Miihe erst aus vielen an- 
dern zusammentragen mussen, das ganze Publikum beiderlei 
Geschlechts gliiklich dahin gebracht, daB es nun liber den Gehalt 
unserer groBer Kopfe, die besten Urtheile fallet. Sonach ist sie 



IO5O JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

beinahe der Stimmesser von ganz Deutschland, der indessen von 
Lavaters seinem sich merklich unterscheidet, oder auch ein all— 
gemeiner Honigvisirer, der den Honigschaz eines ieden Autors 
soerforschet, daB man sich darauf verlassenkann. In der vorigen 
Messe gab ein beriihmter Poet vortrefliche Gedichte unter sei- 
nem Namen heraus. Diese hat er mir gestohlen, und sie sind 
achte Abkommlinge meiner Feder; mithin diirfte man wol mit 
dem Lobe, das man ihm dafur gegeben, besser mich belegen. 
Auch habe ich langst vermuthet, daB meine Schreibfeder zu 
einer poetischen Reisfeder vielen Ansaz haben miisse. In den Flii- 10 
geln von Wachs, auf denen die osterreichische Litteratur sich 
so gluklich in die Hohe gehoben, stak, wie man glaubt, meine 
Feder auch mit, und zeichnete sich als eine sehr lange Schwingfe- 
der aus, und wichtige Punkte der Staatswissenschaft sezte sic 
fiir zehn Kreuzer ganz gut ins Klare. Selbst in Paris hatte sie 
erhebliche Dinge leisten konnen, wenn ich langer da geblieben 
ware. Wenigstens soil ich das aus dem vermuthen, was mir 
in einer weit kiirzern Anwesenheit in London gelang, wiewol 
ich dem Leser von einem Geheimnis, iiber das die Staatskunst 
ihre Dekken zieht, mehr nicht verrathen darf, als hdchstens so- 20 
viel, daB meine Feder einem englischen Minister (seine lange 
Hand wird ihn sogleich offenbaren, denn er lasset sie, wie es 
scheint, mit in die Kriegsmaschienen gegen die Chur- und Fiir- 
stenallianz eingreifen) wochentlich zweimal durch ihre Bewe- 
£H«gNachricht gab, ob der Pobel an den bewuBten Koder ange- 
bissen; einer Senkfeder glich sie sonach da, die auf dem Wasser 
schwimmt, und durch ihre Bewegung dem Fischer entdekt, daB 
der Koder und die Angel unten gluklich verschlungen worden . - 
Dieses sind, wieichglaube, beinahe die merkwurdigsten Ver- 
dienste meiner Feder, die ich iener Feder weit vorziehe, welche 30 
der Erzengel Michael in seinem Duelle mit dem Teufel aus sei- 
nem Fliigel sich schlug und die hernach Tezel mit besonderem 
Vergniigen liberal vorwies. Und diese Verdienste sind es, auf 
die ich michberufe, wenn ich mich ohne Scheu fiir den Schuzen- 
gel, oder Vormund, oder Sekundanten des grosten Theils der ge- 
sitteten Welt ausgebe. 



MIXTUREN ' GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO5I 

Daher glaub' ich mein so ruhmliches Leben mit folgender 
guten Abhandlung beschliessen und kronen zu miissen. 

Es ist leider nur zu sehr bekant, daB wir die Tageszeiten vollig 
umkehren und troz des Widerstrebens unserer Natur aus Tag 
Nacht und aus Nacht Tag machen. Den Tag, welchen die Natur 
uns zum Schlafen bescheerte und dessen erster Endzwek es ist, 
unsere entkrafteten Glieder durch kurze Kanzleiferien auf neue 
Anstrengungen vorzubereiten, bringen wir in einem unzeitigen 
Wachen zu: die Nacht hingegen, die eben die Fruchte unserer 

10 Erholung einernten soke und in der alle Raubthiere wieder an 
ihre alte Arbeit gehen, verzetteln wir unter Schnarchen und 
Traumen. Und ich wiiste fast nicht, wen ich dieses doppelten 
Misbrauches der Tageszeiten nicht beschuldigen solte: selbst die 
feinere Welt trift, wiewol ungleich weniger, als die ungesittete, 
dieser Vorwurf noch. Denn es lasset sich wol nicht laugnen, 
daB sogar die, die im algemeinen Ruf des besten Tones stehen, 
doch mitten am Tage um 12 Uhr schon aus dem Bette laufen 
und kaum daB die Nacht noch voruber ist, schon um 4 Uhr 
wieder darein eilen. Indessen wird doch niemand audi diesen 

20 kleinen Anfang der Verbesserung, den die Vornehmen gemacht, 
verschmahen; besonders wenn man weiB, daB sonst der Mis- 
brauch noch viel hoher getrieben wurde und daB in England 
wirklich eine Zeit war, wo man um 10 Uhr Vormittags zu Mit- 
tag und um 5 Uhr zu Abend speiste, d. h. wo man gerade um 
die Zeit soupirte, in der man iezt diniret, so wie man iezt noch 
das h. Abend- oder Nachtmzl in ein Mittagsmzl verkehret: es ist 
aber nur gar zu klar, daB Leute, die am Tage assen, audi am 
Tage wachten. * 

Die Natur sei auch hier unser Schwabenspiegel und unsere re- 

30 gula falsi, nach der wir rechnen; von ihr selbst wollen wir horen, 
ob sie die Nacht wol zum Schlafen verordnet habe. Und hier 
diinkt mich, hatte sie vielweniger fur die Erleuchtung derselben 
sorgen miissen, war' es ihr Wille gewesen, daB wir sie verschlie- 
fen. Eine einzige Sonne bekam der Tag, aber tausend Sonnen 
gehen fiir die Nacht auf, und das blaue endlose Meer des Athers 
scheint in einen Staubregen von Licht zu uns herabzusinken. 



1052 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Wie viele StraBenlaternen schimmern nicht die ganze lange 
MilchstraBe hinauf und hinunter? Diese werden noch obendrein 
- wodurch sie einigermaBen iiber unsere Gassenlaternen hervor- 
ragen- auch angeziindet, es mag immerhin Sommer sein, oder 
der Mond scheinen. Indessen schmukt sich die Nacht nicht bios 
mit dem Mantel voll Sterne, in dem die Alten sie abbilden, 
und den ich mit schlechtem Grunde ihren geistlichen Ornat, oder 
(welches ich nicht hoffen will) gar ihren Herzogsmantel nenne, 
sondern sie treibt ihre Verschonerung noch viel weiter, und 
ahmt die Damen in Spanien nach. Gleich diesen, welche im 10 
Dunkeln die Brillanten durch Johanniswurmgen ersezzen, und 
ihren Kopfpuz mit deren Schimmer einfassen, bestekket die 
Nacht den untern Theil ihres Mantels, an dem keine Sterne glan- 
zen, auch mit solchen Thiergen, und die Kinder nehmen sie 
oft. Ich muB auch an den Mond denken, diese Brautfakkel der 
Verliebten, der sich von der Sonne Stralen borgt, um sie uns 
zu geben; hierin verdient er beilaufig mehr von unsern Autoren 
kopiret zu werden, bei denen es dem Anschein nach immer 
seltner wird, daB sie gute Gedanken einem groBen Mann (mit 
den Augen oder mit den Ohren) geschikt entwenden, und als- 20 
dann fur ihre eigenen verkaufen. - Es war offenbar der Wille 
der Natur, daB wir den Schlaf bis an den Taghinaussezzen sollten, 
wenn sie dem Monde so viele Vorzuge vor der Sonne gab; 
darum lud sie in die Stralen der leztern so viel Hize, um uns 
vom Freien in unser Bett zu scheuchen und darum machte sie 
den Schimmer des erstern so annehmlich, um uns vom Schlafe 
wegzulokken. Auch giebt es mehrere Grunde, daB an der Sonne 
wenig ist. Den Alten war eine Verfinsterung des Mondes weit 
erschreklicher als eine an der Sonne. Der Mond schaltet iiber 
das ganze Pflanzenreich, iiber die Witterung und iiber das Meer; 30 
der EinfluB der Sonne ist unkraftiger und eingeschrankter; ein 
Unterschied, iiber den ich oft sehr nachgesonnen und der um 
desto merkwiirdiger ist, da (wie aus dem Plato mehr als zu 
wol bekant) der Mond so sehr viel weiter als die Sonne von 
der Erde absteht. Es macht ferner dem Monde Ehre, daB die 
Erde in seinem Dienste ist und ihm liberal nachlaufen mus, wie 



MIXTUREN • GUTGEMEITMTE ERINNERUNGEN IO53 

man es von einem wolabgerichteten Kamrnermohren, Trabanten 
oder Zizisbeo verlangen kan. In den Mond hat ein Priester des 
Saturns (nach Plutarch) und noch neuerlich Herr Herder das 
Elysium verlegt; aber von der Sonne wiist' ich nichts, ausser 
etwan, daB sie der Englander Swinden fur den Aufenthalt der 
Verdamten und Teufel erklart. 

Dieses sahen die schonsten Geister des vorigen Jahrzehends 
vollkommen ein; sie fuhrten daher gleich den Tiirken den Mond 
auf ihren Fahnen, machten ihn zum geheitnen Sekretatr ihrer ver- 

10 liebten Bitten, und opferten ihm Verse, Schlaf und Thranen 
gern auf. Diese Sekte, um deren Untergang ich vielleicht mit 
mehr Recht trauere, als Montesquieu um der stoischen ihren, 
hatte wahrscheinlich viel dazubeitragen konnen, die Nacht wie- 
der in ihre alten Rechte einzusezzen, und der schlafenden Welt 
die Augen zu omen, und sie hat mich vorzuglich auf meinen 
Vorschlag gebracht. 

Indessen darf ichs zur Steuer der Wahrheit nicht verhehlen, 
daB es bei alien Vorziigen des Mondes doch noch zu wunschen 
ist, er war' ein wenig groBer. Vielleicht erklart sich daraus iene 

20 sonderbare Behauptung der Rabbinen, daB Gott eine Sunde ge- 
than, da er den Mond kleiner als die Sonne schuf . Was iibrigens 
den Menschen am meisten iiberreden kann, nicht die Sonne zum 
Gefahrten und zum Zeichen seines Wachens zu machen, ist un- 
streitig dies: daB im neuen Jerusalem (nach der Offenbarung 
Johannis) oder im Himmel, wo bekanntlich Niemand schlaft, 
auch keine Sonne ist. 

In meinen iiingern Jahren hab' ich ein poetisches Lob auf die 
Nacht zu Papier gebracht, das Stellen hat, die den Leser riihren 
miissen, und vielleicht so weit bringen, daB er niemals schlaft, 

30 als nur am Tage. Ich singe folgendermaBen: 

»Zu Nachts gehen wir alle mit einer traumenden Sele umher, 
und eine wollustige Trunkenheit fullet unser ganzes Wesen. 
Unsere Entwiirfe und Hofnungen schlagen ihre Fliigel auf, die 
wic Ikarus seine zusammenfallen, wenn sie die Sonne bescheint: 
so erheben gewisse Ameisen sich zu Nachts auf Fliigeln, die 
ihnen der erste Stral der Sonne nimmt. Gleich dem Traum er- 



1054 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

warmt die Nacht unsere Brust mit Offenherzigkeit und Muth. 
So wie einer, der auf den Alpen steht, eine reinere und hohere 
Welt um sich f unlet, in welche die ziehenden Banden, die uns 
an den Koth der Erde kniipfen, nicht hinaufreichen, und wo 
ein freier und wolkenloser Spielraum die Fliigel der Sele auf- 
nimmt, so ruhen die Thiere im Menschen zahm vor dem Ange- 
sichte des aufgedekten Himmels, die kiinftige Welt tritt im 
nachtlichen Schimmer herunter zur Gegenwartigen, und statt 
der gliihenden Leidenschaften, die sonst in unserem Busen ste- 
chen und sengen, driikken sich iezt mildere und wehmuthigere 10 
Empfindungen an das voile Herze an. Der Tag, den wir iiber 
uns in fremden Welten sehen, erinnert den Geist in der Finsternis 
unten, daB er auch dorthin gehore, und daB er von seinen seli- 
gern Verwandten verstoBen hier lebe, und in der nachtlichen 
Stunde, wo von den Korpern alle Reize abf alien, geht mit den 
hohern Sonnen auch im Menschen die Sonne auf, und der Edel- 
stein unsers Wesens wirft durch die Finsternis den vermehrten 
Glanz: so schlieBet die Wunderblume, zu uns verpflanzt, in der 
Nacht ihre Bluthen auf, weil es dann in ihrer Heimath taget, 
von der wir sie geschieden haben.« 20 

Ein guter Leser gehe, eh' er fortlieset, einigemale die Stube 
auf und nieder; ein schlechter aber kann ohne Bedenken sofort 
nachsehen, was ich von den Vortheilen des nachtlichen Wachens 
vorbringen werde. 

Ein groBer Theil des Aberglaubens, an dem die Landleute 
siechen, ist, wie man angemerkt, auf die Rechnung ihres haufi- 
gern Umgangs mit der Natur zu schreiben; die groBen Ein- 
driikke derselben machen sie geneigter, iiberall hohere und 
geistige Wesen vorauszusezzen und zu furchten. Diese Anmer- 
kung ist richtig; denn man gebe nur auf die Hof- und Weltleute 30 
noch Acht. Woher nehmen wol diese iene gesunde und mannli- 
che Denkungsart, die sie von ieder aberglaubigen Idee unbesu- 
delt erhalt und die sogar den Gedanken eines hochsten Wesens 
aus ihnen ausfegt? Offenbar verdanken sie diese Gesundheit ih- 
res Kopfes ihrer volligen Entfernung von der Natur und so 
hoch ich sie auch schaze, so weiB ich doch gewiB, sie wiirden 



MIXTUREN " GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN 1055 

sich entweder gar nicht oder doch weit weniger von der allge- 
meinen Schwachheit, an Gott und Tugend zu glauben, losge- 
wikkelt haben, wenn ihre Lebensart ihnen eine vertraulichere 
Bekantschaft mit dem grossen Scbauspiele der Natur, das iener 
Schwachheit so vielen Vorschub thut, auferleget hatte. Ich lernte 
vorgestern einen Atheisten auf dem Kaffeehause kennen, der 
vortreflichist; aber ich sage doch von ihm voraus, daB er einmal 
sein ganzes Glaubenssystem ohne Scham verlaugnet und ab- 
schworet, wenn inn jemand frCih aus dem Bette zieht und auf 

10 einen Ort hinstellet, wo er den Aufgang des Morgens und der 
Sonne sehen kan. Ich glaube zwar nicht, daB ein ganzer Hof 
alle seine gesunden Grundsazze aufgeben wiirde; aber der Hof- 
prediger wiirde doch einige in die Flucht schlagen konnen, nicht 
wenn er vor demselben in der Hofkapelle rasendgewordene Phi- 
losophic predigte, sondern wenn er eine Peitsche nahme und 
den ganzen Hof damit wie eine Schaferei in das freie Feld triebe 
und da alle Selen weiden Hesse. - Hier hoff ich m einen Vorschlag 
des Tagschlafes von einer Seite zu zeigen, die ihn, wie es scheint, 
empfehlen muB; denn zogen wir in der That von ihm den Vor- 

20 theil, daB er den Atheismus, zumal in den niedern Standen, 
noch mehr emporbrachte, so verdiente er gewiB die Beherzi- 
gung eines ieden. Ich geb' es aber alien Lesern zu bedenken, 
ob nicht, wenn es mir wirklich gliikt, am Tage alien Personen 
aus dem Nahr- Wehr- und Lehrstande die Augen zuzudriikken 
und zu Nachts hingegen sie mit Stubenarrest zu belegen und 
durch diese Scheidewand und die Finsternis alle frommen Ein- 
driikke der Natur von ihnen abzuwenden, ob nicht, sag' ich, 
dann wirklich die groste Hofnung vorhanden, einen gewissen 
kaltblutigen Atheismus, von dem das Gliik der Menschheit so 

30 sehr abhangt, bald weiter ausgebreitet und so wol in den niedern 
Standen haufiger gepflanzt, als in den hohern tiefer gewurzelt 
zu sehen? 

Allein nicht nur den Atheismus, sondern auch, was noch mehr 
ist, den Wachsbau begunstigt mein Vorschlag. 

Leider ist auch das einer von den Nachtheilen der Reforma- 
zion des Luthers mit, daB sie den Wachsbau so wie den romi- 



IO56 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

schen Stuhl, auf einen schlimmen Fus gesezt; und fur diesen 
Verlust werden wir durch alien Gewinst, den die Aufklarung 
und Tugend davon hatte, nur schlecht entschadigt: denn geistli- 
che Vortheile konnen nic den zeitlichcn die Wage halten und 
geschikte Reisebeschreiber sehen nicht darauf, wie viel Tugend 
und Aufklarung in einem Lande ist, wol aber wie viel Manufak- 
turen darin gegenwartig gehen und wie es mit dem Aktivhandel 
eigentlich stehet. Die lutherische Religion hat den Vertrieb des 
Wachses, der auf den katholischen Altaren von so vielem Be- 
lange ist, dermassen eingeschrankt, daB geschikte Bienenvater 10 
zuweilen gewiinschet, edel- und muthigdenkende Personen 
mochten wenigstens ihre Gesichter in die Nothwendigkeit, 
wachserne Nasen aufzuladen, weit ofter als bisher geschehen, 
sezen, um durch die Vermehrung der wachsernen Nasen dem 
Wachsbaue die Verminderung der wachsernen Altarlichter wie- 
der zu vergiiten und das gemeine Wesen iiber die seltnere From- 
migkeit durch die Unkeuschheit in etwas zu trosten. Allein da 
ieder H - weder kan noch mag: so ist vielleicht mein Vorschlag 
einbessererWeg,demVerluste, dender Absazdcs Wachses durch 
Luther gelitten, gluklich wieder beizukommen. Denn wenn man 20 
allgemein anfienge, den ganzen Tag dem Schlaf zu opfern, um zu 
Nachts ordentlich wachen zu konnen, so wiirde man hoffentlich 
keine geringe Anzahl Wachslichter yerbrauchen miissen. 

Sonach sezzet uns mein Vorschlag in den Stand, des Tages- 
lichtes vollig zu entrathen; ich sehe daher nicht ab, warum der 
Leser nicht sofort seine Fenster vermauren lasset, und ich er- 
warte wirklich auf meiner bevorstehenden Reise durch 
Deutschland, deren zu drukkende Beschreibung ich wohl nach 
der GroBe meiner Reiseschulden vergroBern diirfte - vor keinen 
Fenstern vorbeizufahren, als hochstens vor blinden. - Besonders 30 
findet England seine vollige Rechnung bei meiner angerathenen 
Umkehrung der Tageszeiten. Denn der Burger sieht sich da- 
durch des Zolles, den er bisher fur die Fenster, die er eher hatte 
zubauen sollen, entrichten miissen, gluklich iiberhoben. Noch 
mehr nuz' ich der Regierung; diese kann nun statt der Fenster 
die Lichter hoch verzollen lassen; eine Abgabe, die zum Gliik 



MIXTUREN ' GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO57 

noch weit mehr einbringt, und die besonders den Armen am 
meisten zur Last fallen durfte, als welche wohl fur dergleichen 
Burden starkere und mehr abgehartete Schultern haben, als die 
zartern Reichen. — Ein geschikter Mann inacht stets gern statt 
der Kartenhauser Projekte. Da ich, wie es den Anschein hat, 
einer bin: so wundere ich mich gar nicht, daft" ich neulich 
hohern Orts ein wohlthatiges Projekt eingereicht, dessen Wir- 
kung noch zu erwarten steht. Das Projekt ist dies, »daB es den 
Grundsazzen einer gesunden Politik wohl nicht sehr entgegen 

10 ware, wenn man das Sonnenlicht mit einer maBigen Auflage be- 
schwerte, ohnejedochdenen, die diesen Zoll umfahren wollten, 
die Freiheit zu nehmen, sich in finstere sonnenlose Orter zu 
begeben, die man sonst Gefangnisse nennt.« Ich kann nichts 
dafur, wenn noch kein Regent aus dem Sonnenlicht ein Regale 
gemacht, aber BefugniB hat er vollig dazu. Denn der Sachsen- 
spiegel verordnet, daB alle Schaze, die unter der Erde defer 
als ein Pflug geht, liegen, dem Regenten gebiihren, und die 
Astronomiethut dar, daB die Sonne zu Nachts zuverlassig tiefer 
unter der Erde, als ein Pflug hinlangt, zu stehen pflcge; daher 

20 eignet das Staatsrecht dem Regenten die Sonne zu freiem Ge- 
brauche zu, und er kann mit ihren Stralen machen was er will; 
wie denn der Fiirst Josua sie wie seinen Fakkeltrager behandelte, 
und sieeinmal bis in die Nacht vor sich stehen lieB; des Hiskias 
nicht zu gedenken, der einmal den ganzen Sonnenwagen gar 
hinter sich zu gehen nothigte. Auch ist sonst eine ganz auffal- 
lende Verbindung der Sonne mit den Regenten. Denn ieder 
Fiirsfist ein Wegweiser oder Meilenzeiger der Sonne.* Hat nicht 
der Tod oder die Geburth eines Fiirsten einen bedenklichen Ein- 
fluB auf die Sonne?** Kommt es nicht ganz und gar auf den 

30 Willen eines Fiirsten an, ob und wie lange sie dem Lande, wor- 
iiber er gebietet, scheinen soil?*** Steht es nicht in der Willkiihr 
* Der Fitrst der Natsches zeiget alle Morgen, wenn er aufgestanden, 
der Sonne den Weg, den sie am Tage zu gehen hat. 

** Die Geburt und der Tod groBer Konige (z. B. des Romulus) wur- 
den sonst immer von Sonnenfinsternissen begleitet. 

*** Gewisse Volker bitten ihre Fiirsten urn Sonnenschein und gutes 
Wetter. 



IO58 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

iedes Fiirsten, noch heute die Sonne zu heirathen, und dadurch 
mitihr die Herrschaft iiber die Welt zu theilen?* Indessen miiste 
er vorher an den gehorigen Orten eine Ehedispensation einho- 
len. Denn ist nicht ferner ein Fiirst der leibhafte Vetter der 
Sonne?** Und endlich, ist nicht das Lob der Regenten und der 
Sonne eine zulassige Ausschweifung, fur die mich gar kein 
Kunstrichter zur Strafe ziehen darf? 

Wenn wir alle am Tage schliefen: so glaub' ich wurde man 
es endlich dahin bringen, daft wir bios zu Nachts in die Kirche 
giengen. Dies ware in unsern Tagen, wo man lieber iiber Frei- m 
geister als iiber Prediger einschlaft, ein herlicher Dienst fur Kir- 
chen und Filiale. Denn zu Nachts geht ieder gern in die Kirche 
und die Fruhmetten an Weihnachts- und Ostertagen, diese 
Kompetenzstiikke, die manche Protestanten aus dem Konkurse 
ihrer vorhergehenden Religion gerettet haben, werden von der 
ganzen Stadt geliebt und besucht: es lasset sich leicht berechnen, 
wie viele Christen der nachtliche Gottesdienst an sich ziehen 
wiirde und die Menge derer, die gern den nachtlichen Lustbar- 
keiten dienen, macht die besten Hofnungen dazu. Der Grund, 
warum gute Christen dem nachtlichen Gottesdienst den Vorzug 20 
vor dem taglichen geben, scheint darin zu liegen, weil die From- 
migkeit bei ienem ihre Rechnung wirklich besser als bei diesem 
findet. Denn besteht sie, wie es ieder glaubt, fast ganz in der 
Nachahmung Gottes, der die Menschen erschaft und begliikt: 
so giebt gewis der nachtliche Gottesdienst guten Christen be- 
sondere Gelegenheit zur Erschaffung und Beglukkung der 
Menschen und komt also der Frommigkeit ungemein zu Passe. 
Daher heisset man in Wien eine Messe, die zu Mitternacht gehal- 
ten wird, eine Hurenmesse, weil der Laie, indem der Priester 
das eine Sakrament auf dem Altar zu sich nimt, gleichfals etwas, 30 
das sich fur die Heiligkeit des Ortes schikt, vorzunehmen sucht 
und das andere Sakrament, das der Ehe, geniesset und austheilt. 

* Kaligula vermahlte sich mit dem Monde, der bei den Romern eine 
Dame war; da aber die Sonne bei uns eine ist, so kann man wohl nur 
mit dieser, aber nicht mit ienem die Kaligula' s kopuliren. 

** Alle orientalische Konige nennen sich Vettern der Sonne. 



MIXTUREN • GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN 10 59 

In der That hatte man langst die Frage aufwerf en mogen, warum 
sich alles, was in der Kirche fur die Ehen der Menschen gethan 
wird, bios darauf einschrankt, daB sie der Priester bestatigt? 
An die Vollziehung derselben darin scheinen nur Wenige ge- 
dacht zu haben; und doch ist selbst nach einigen Juristen ihre 
Besiegelung und Bestatigung in der That mit ihrer Vollziehung 
ganzlich eins: dazu scheinet so etwas, da die ganze Natur ein 
von Gott selbst gebauter Tempel ist, wol sich bios fur eine Kir- 
che zu schikken, als welche nur Menschenhande aufgefiihret. 

10 Es hat mich daher iederzeit gekrankt, wenn ich sehen muste, 
daB alles, was man in der Kirche fur die Erbauung that, darauf 
hinauslief, daB man liebaugelte, daB man sich einen Gegenstand 
seiner Liebe auslas, daB man den Prasentirteller des Herzens, 
denBusen, auskramte, daB man Zusammenkunfte verabredete, 
und daB man einander an der Kirchthure begegnete; und ich 
habe oft gewiinschet, man mochte weiter gehen, am meisten 
aber mich iiber die Priester heimlich gewundert, die dazu nicht 
die Hand boten, sondern vielmehr ganz davon abzogen. Indes- 
sen war vielleicht auch das sehr schuld, daB es Tag war; und 

20 eben darum wiinschte ich an seine S telle die Nacht bringen zu 
konnen, in der ia auch unsere alten wilden Vorfahren ihren Got- 
tern opferten. 

Der Areopag zu Athen fallete seine Urtheile zu Nachts, und 
bestrafte mithin zu eben der Zeit, in der man gewohnlich siin- 
digt. »Denn, sagte er, am Tage ist es nicht moglich, schone 
Gesichter ohne Partheilichkeit zu richten. « Warum aber unsere 
Richter sich noch ganz und gar nicht nach diesem Muster ge- 
richtet, das begreif ich nicht genug, denn fast iedes Geschaft 
ihres Amtes nehmen sie am Tage vor, bios vielleicht die Folter 

30 ausgenommen, die aber leider aber auch zum groBten Nach- 
theile schuldiger Missethater sich beinahe zu verlieren drohet. 
Unsere Alten dachten besser, und hielten zu Nachts Gericht; 
wir aber haben nichts von ihnen beibehalten, als dies, daB wir 
die Partheien »bei rechter friiher Tageszeit« vorladen. Recht- 
schaffene Richter indessen, die es nur ein wenig noch fur ihre 
Pflicht erkennen, vor Gericht mehr die Person, als die Sache 



IO60 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

anzusehen, mogen es selbst entscheiden, ob sich wohl zum Rich- 
ten und Lossprechen schoner Gesichter schiklichere und gunsti- 
gere Stunden erwahlen lassen, als die nachtlichen? Denn sind 
nicht unsere Damen eben zu Nachts am schonsten, welche gleich 
den Gemalden in kein vortheilhaf teres Lichtgcsezzet werdenkon- 
nen, als in ein sparsames? Und wird man ihnen, wenn man sie 
zum Beweise lasset, nicht die Nachtzeit dazu anberaumen miissen, 
als in welcher sie eben mit ihfen Reizen, sie mogen sie nun 
den bildenden oder bios den zeichnenden Kiinsten verdanken, ihre 
Sache am gluklichsten fuhren? Auch wiirde die Nacht sowohl 10 
das Vergniigen vermehren, wenn eine zwote Phryne durch Ent- 
bloBung eines bekleideten Busens ihre Sache gewanne, als das 
Misvergniigen vermindern, wenn eine zwote Kalpurnia sich fiir 
den Verlust ihres Prozesses durch Aufdekkung des entgegenge- 
sezten Theiles rachte.*- Dazu kommt noch, daB der Richter 
zuweilen Haare auf seiner Periikke tragt, die dem Kopfe eines 
Missethaters, den er an den Galgen gebracht, sind abgenommen 
worden; ich nehme daher an, daB gute Richter noch mehrere 
Dinge mit den Missethatern gemein haben als die Haare; ich 
schlieBe daher sofort, daB unter die Rauber und Morder vorziig- 20 
lich gute Richter derselben gehoren. Ware ubrigens das leztere 
falsch, so seh' nicht wohl ab, wie ich neulich hatte behaupten 
konnen, daB man die Abschaffung der Todesstrafen zwar Mor- 
dern und Dieben zu Gute kommen lassen konnte, daB man sie 
aber wohl nicht auch auf gute Richter ausdehnen diirfe. Sezte 
ich ubrigens meinen Vorschlag vollig durch, so wiirden, wie 
ich hoffe, die Diebe nur am Tage rauben; allein eben darum 
muB man wiinschen, daB es alsdann die Richter nicht auch noch 
am Tage thaten, sondern iene nur zu Nachts ordentlich ver- 
dammten und nachahmten. Denn ist es wohl sehr anstandig, 30 
daB der Ungelehrte ein Nachtraubvogel, der Gelehrte oder Richter 
hingegen ein Tagraubv ogel ist? Mich diinkt vielmehr, der umge- 
kehrte Fall reimet sich weit mehr mit unserer Moral und unserer 

* Kalpurnia, Zasars Eheweib, hob wie wir alle wissen, aus Unmuth 
iiber den verlohrnen Prozes die Rokke vor den Richtern auf, und zeigte 
keinen cu] de Paris. 



MIXTUREN • GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN I06l 

Denkungsart. Iezt blaset und singet der hiesige Nachtwachter 
- denn ich arbeite wie bekannt, gleich den Heringsfischern und 
den H- nur zu Nachts. - Er scheinet mir ordentlich einen Ver- 
weis zu geben, daB ich meinem Leser die beste Stiizze, worauf 
mein Vorschlag ruht, zu zeigen vergessen. Es ist eine weise 
Einrichtung unserer Voreltern, dafi gewisse Leute unter dem 
Namen Nachtwachter bios dazu angestellet und besoldet wer- 
den, mit einem Horn oder mit einer groBen Klapper oder auch 
, mit einer Glokke auf dem Kopf , und mit einer guten BaBstimme 

10 zu Nachts ordentlich so viel Larm zu machen, als etwan vonno- 
then ist, um die schnarchenden Burger dahin zu bringen, daB 
sie die miiBigen Augen aufschlieBen und sehen, daB die Nacht 
schon wirklich eingebrochen, und daB es hohe Zeit ist, die Ar- 
beit wieder vor die Hand zu nehmeri. Sonach merkt man freilich 
wol, daB der Endzwek, worauf ein redlicher Nachtwachter aus- 
geht, nichts weniger als Einschlaferung der Stadte, Marktflek- 
ken, Dorfer und Gassen sein kann; ein Engel ist er, der mit 
einer Posaune die schlafenden Todten aus ihren warmen Gra- 
bern ins Leben und Wachen ruft; ein Hahn ist er, der uns aus 

20 einem theuern Schlummer kraht; ein lebendiger Wekker ist er, 
den wir nicht einmal erst am Tage zuvor aufzuziehen brauchen 
und der sich mit den Wekkern des P. Morgues, die auch Licht 
und Feuer machen und die Fensterladen omen konnen, ganz 
wol vergleichen darf; und endlich eine Lokpfeife zu wachenden 
Arbeiten ist sein Horn. Allein leider find' ich nur nicht, daB 
seine Instrumental- und Vokalpredigten noch iemand aus dem 
Bette gezogen hatten und seine Ermunterungen sind, ungeachtet 
sie doch von keinem geistlichen Tagwachter und keiner Kanzel 
kommen, wider die besten Absichten der Obrigkeit so gut als 

30 vollig verloren. Mochte ich durch dieses die Obrigkeit veranlas- 
sen, kraftigern Gegenmitteln gegen das nachtliche Schlafen 
nachzudenken - dergleichen waren z. B. wenn man die Leute 
mit Kanonen aus dem Schlafe schosse, wenn man auf Akade- 
mien den Studenten und in andern Stadten den Primanern die 
Gassen zu einem wolangebrachten Tumulte frei liesse. Indessen 
sieht man doch daraus, daB die Obrigkeit schon langst an der 



1062 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Ausfiihrung meines Vorschlags, amTagezu schlafen, gearbeitet 
und daB sie gar nicht schuld ist, wenn noch so viele Leute zu 
Nachts schlafen. 

Die Aken machten durch eine sinnreiche Erdichtung die 
Freundschaft, das Alter, das Mitleiden und den Betrug zu Kindern 
der Nacht, wie man aus dem Zizero wol weis. Und in der That, 
wenn man nicht zu blind gegen die Verdienste der grossen Welt 
ist, die die Nacht nicht verschlaft, sondern verlebt, so mufi man 
bekennen, daB die Nacht wirklich dergleichen Kinder zeugen 
kan. Die Freundschaft ist, wenn man seinen Augen und Ohren 10 
nicht mistrauen will und den Werth der aussern freundschaftli- 
chen Ausserungen zu schazen weiB, zwar liberal herschend, 
aber doch am meisten in der grossen Welt. Das nachtliche Wa- 
chen macht zweitens alt: sonst wurde man mit Miihe erst im 
achtzigsten Jahre alt; iezt gelanget ieder in der grossen Welt nach 
dreissig Jahren schon ganz wol zu einem ehrwiirdigen Alter; 
sonst fallete der Tod die Leute in ihren besten siebzigiahrigen 
Kraften, iezt schonet er starke zwanzigiahrige Personen und ladt 
nur die auf den Leichenwagen, die ganz verwelket sind und 
sich stark den Vierzigen nahern. Auch sind die haslichen Da- 20 
mengesichter ein guter Beweis, daB man in der feinen Welt zu 
Jahren komt; denn die Haslichkeit ist immer das ausgehangte 
Schild des Alters: ist aber einmal das Gesicht der Damen alt, 
so ist wol auch ein gleiches von ihrem Rumpfe zu vermuthen. 
Indessen, wie gesagt, dem Nachtleben hat man dieses beizumes- 
sen. - Das Mitleiden ist unter feinen Personen sehr haufig und 
stark, weil es da haufigere Gegenstande desselben giebt und mit- 
hin mehr Gelegenheit, es zu uben und anzufachen. Am Hofe 
haben alle mit ihrem Verstande, mit ihrem Wize, mit ihrem 
Geschmakke ein allseitiges Mitleiden . - Was den Betrug anlangt: 30 
so raumen auch Leute, die sonst eben keine Lobredner der arti- 
gen Personen sind, ihn dennoch gern denselben ein. 

Mochten iene Satiriker, die sich so gern iiber das nachtliche 
Wachen der feinern Stande lustig machen, hier die wichtige 
Lehre von mir annehmen, kunftighin mit ihrem Gelachter nur 
gegen Thorheiten zu Felde zu Ziehen! Verniinftige Personen 



MIXTUREN • GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO63 

diirften vielleicht dieses unbedachtsame Gespotte iiber die 
Nachtwachen der GroBen ohne Bedenken in Eine Klasse mit 
ienem Unfug der Studenten sezzen, die gleichfalls unter vorneh- 
men Fenstern schreien: Licht weg! Sie wiirden aber, diinkt mich, 
weit besser und verstandiger fahren, wenn sie mir nachtraten, 
und das vornehme Leben beim Lichte vielmehr gut genug erho- 
ben, es sei nun, daB sie unsere Vornehmen mit den Bergleuten 
verglichen, die oft lebenslang bei Grubenlichtem sehen, oder mit 
den Schuzheiligen, vor den en unaufhorlich Kerzen brennen 

io miissen, oder es sei auch, daB sie selbige mit ienem Konigc 
in Agypten verglichen, der auf AnlaB eines Orakels, das sein 
Leben auf sechs Jahre einschrankte, durch Lichter die Nacht 
in Tag verwandeln lies, um sein kurzes Leben zu verdoppeln. 
Die lezte Vergleichung ware die beste: denn wirklich lebt an 
Leuten von Welt sowohl der Korper als die Sele gar zu wenig, 
und eine Vervielfaltigung dieses Lebens durch Nachtlichter kann 
iederkaum anders als gutheiBen. Ein solches zwekmaBiges Lob 
mdchte vielleicht etwas sein, das den Satirikern wahre Ehre 
machte, die ihr Talent zum Spotte noch besser anlegten, wenn 

20 sie damit die Thorheit des Tagwachens bestritten, und endlich 
auch wol den Pobel in die FuBtapfen der GroBen einlenkten. 
Dann wiirde die ganze Welt bald auf einen bessern FuB zu stehen 
kommen- an den Damen wiirden neue Reize ausschlagen, und 
statt daB die italienischen bisher zu Nachts ihr Gesicht in eine 
Larve eingeschlossen, es schon zu erhalten, wiirden alle das 
namliche am Tage thun - die Rauber wiirden gemachlicher steh- 
len konnen, wir aber wiirden so gliiklich wie die Sineser werden, 
bei denen zu Nachts weit weniger als am Tage gestohlen wird 
- am ganzen Tage wiirde die Ruhe und die Stille iiber der Welt 

30 liegen, die sonst nur der allgemeine Mittagsschlaf in gewissen 
Landern ausbreitet - die Sonnenstrahlen wiirden darum noch 
immer nicht ohne alien Nuzzen sein, sondern ein zweiter h. Ai- 
chartus konnte doch noch seine Hands chuhe in Ermangelung 
" eines Nagels daran hangen - besonders wiirde ich zu meinem 
groBten Vergniigen auf meinen Tagspazziergangen durch 
nichts in meiner tiefsinnigen Aufmerksamkeit gestohret wer- 



IO64 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

den, als hochstens durch wenige schlafende und auf den Dachern 
hangende - Tagwandler, und etwan wtird' ich zuweilen auf hie 
und da zerstreuete kniende Astronomen stoBen, die hinter lan- 
gen Rohren einer sichtbaren Sonnenverfinsterung zusahen. 

Indessen hat man mich von verschiedenen Orten sehr gebe- 
ten, doeh nicht ganz die hohern und die niedern Stande iiber 
einen Kamm zu scheren. Und wirklich glaub' ich selber, war' 
es nicht sehr gut, wenn der vornehme und der gemeine Mann 
d. h. der hohe und der niedrige Adel der Menschheit ganz in 
denselbigen Stunden schliefen. Wenigstens wurde es der Philo- 10 
sophie und dem gesunden Menschenverstande viel gemaBer 
sein, wenn wir den gem einen Pobel zu Nachts, nur den vorneh- 
men hingegen am Tage zu Bette brachten. 1st es mit den Thieren 
anders? Alle pflanzenfressenden wachen und arbeiten am Tage, 
und alle fleischfressenden thun beides zu Nachts. Die Schotten 
glauben sogar noch bis auf diese Stunde, daB die guten Geister 
am Tage, und nur die bosen lieber zu Nachts erscheinen; ein 
Wahn, der viel Wahrheit enthalt, wenn man statt der Geister 
Menschen sezt. 

Besonders freuet's mich, daB das, was ich iezt gesagt, mit 20 
dem Beitritt des groBen Linnaus geadelt wird, dieses geschikten 
Buchhalters der Natur, der dem Buche der Natur ein geschiktes 
Namenregister angehangen, oder auch einen Addre skalender aller 
lebenden Wesen. Ich ziehe iezt aus einem langen Brief, den 
er an mich ablies, die verdeutschte Stelle aus, die ich hier brau- 
che. »Unbegreiflich ist es mir immer, wie man bei meiner Ein- 
theilung der Menschen in Tag- und in Nachtmenschen es doch 
nicht merken konnen oder mogen, daB ich unter den Nacht- 
menschen nichts weniger als die Affen gemeint, da es, wie es 
scheint, doch so leicht zu errathen ist, daB ich darunter vielmehr 30 
auf die Vornehmen und GrojJen ziele. Denn diese sind eben (nach 
alien Beobachtungen der Okulisten) mit dem Nachtgesichte , wie 
der Pobel mit dem Taggesichte* behaftet; und die fliichtigste 

* Das Taggesicht (Hemeralogie) ist, wenn der Kranke bei Tage gut, 
zu Nachts aber aller Lichter ungeachtet nichts zu sehen vermag; das 
Nachtgesicht ist der umgckehrte Fehler. 



MIXTUREN ' ABGERISSENE EINFALLE IO65 

Vergleichung stellet es dar, daB die sogenannte grope Welt, die 
den Tag nicht liebt und nicht sieht, urspriinglich aus Gronland 
hergekommen, wo die Sonne oft so lange abwesend ist, wie 
ein Zugvogel, gerade so sind die Ungarn mit den Laplandern 
verschwistert. Selbst Ihre neulichen okulistischen Erfahrungen 
bewahren dieses zum Theil sehr.« Inzwischen weis ich iezt, 
wie ich gern gestehe, nur die Schwanze, die Linnaus seinen 
Nachtmenschen zulegt, nicht recht mit den vornehmen Perso- 
nen zu vereinigen, die er darunter benennt. Ich habe doch mit 

10 vielen vornehmen und oft sehr angenehmen Personen Umgang 
gepflogen: allein gleichwol hab' ich noch nie etwas an ihnen 
verspuret, das einen guten Naturforscher einigermaBen befugen 
konnte, sie lieber zu den geschwanzten als zu den ungeschwdnzten 
Affen zu zahlen. 

Ober die vornehmen Nachtwachen ist wol niemand so erbo- 
Bet wie D. Franklin; er hat sie sogar einmal in einer hohnischen 
Satire an den Pranger gestellet; seiner Meinung nach fressen 
sie dem gemeinen Wesen zu viel Wachs und Talg weg. Einst, 
da ich sie gegen ihn verfocht, lieB ich ein Bonmot fallen, von 

20 dem man sich wundern muB, daB es, so viel ich weis, noch 
nicht dem Mercure de France einverleibet worden. »Ach! sagt' 
ich, aus bloBer Sucht, sich vom Pobel abzusondern, thun es 
die Grossen gar nicht; und es ware nur zu wiinschen, die Sonne 
am Himmel gienge wie die Sonne in der Oper ungefahr Abends 
zwischen 6 und 7 Uhr auf ; wahrhaftig die ganze vornehme Welt 
schliefe dann von Herzen gern am lichten hellen - Tage.« 



Meiner abgerissenen Einfalle erste Lieferung 



Es giebt sehr viele Praparate, Leichname, Statuen, ausgestopfte 
Menschenhaute, Mumien und groBe franzosische Puppen; und 
30 doch giebt es wenig Menschen. 



1066 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Die Gesezze haben einem Madgen die Iniurienklage wegen eines 
Kusses nur in dem Falle zugelassen, wenn es ihn wieder seinen 
Willen bekam. Allein, nimmt man nicht offenbarmit dieserEin- 
schrankung auf der einen Seite alles wieder, was man auf der 
andern zu geben schien? Denn der Fall, daB eine Schone den 
Kus, der ihr aufgedrungen worden, nicht vorher verlangt hatte, 
ist genau erwogen, gar nicht moglich. Wenn daher dieses Gesez 
den Schonen wirklich Vortheil bringen soil: so muB es, wie 
es scheint, schon so verbessert werden, daB alien Damen auch 
dann die Iniurienklage verstattet sein soil, wenn i em and sie mit 10 
ihrer eignen Einwilligung gekiisset hatte. 



Unser Leben, das sagen die groBten Fakultisten, ist ein bloBer 
Kinderstand: nur ist der eine ein Wechsel- der andere aber ein 
Prophetcn- und Sonntagskind; im andern Leben erst werden 
wir, wenn wir den Korper, dieses Fliigelkleid abgeleget, ma- 
ioren sein, und vielen Verstand zeigen. Und doch wollen man- 
che sich iezt schon, eh' sie todt sind, als Manner betragen. Wie 
wir namlich bei unsern Kindern das Gedachtnis am ersten reifen 
sehen, und mithin am ersten zu beschaftigen suchen: so ist dieses 
auch bei uns groBen Kindern die reifste Selenkraft, die wir vor- 
ziiglich warten sollten, weil die ubrigen (z. B. der Verstand) 
erst im Himmel oder im Treibhaus der Holle in Brute ausschla- 
gen. Kann man also wol von seiner ganzen Bestimmung hienie- 
den weiter abkommen, als wenn man eifrig Dingen obliegt, 
die doch wenig oder nichts dazu beitragen, daB man ein groBer 
GedachtniBgelehrter wird, sondern die lediglich nur unsern 
Verstand verbessern und liben? 



Ein Autor, der den Leser nicht einschlafen lasset, gleichet nur 
gar zu sehr einem romischen Tyrannen, der die Missethater 
durch die Veriagung ihres Schlafes qualte und todtete; und es 30 
macht der Empfindsamkeit unserer meisten Autoren wahre 
Ehre, daB sie hierin mitleidiger denken. 



MIXTUREN * ABGERISSENE EINFALLE IO67 

Das Mitleiden ist etwas, das einen Konig nicht kleiden will. 
Dennerist ein wahrer Vater des Vaterlandes, und die Untertha- 
nen sind seine achten Kinder. So wie nun ein verstandiger Vater 
nie Mitleiden mit seinen Kindern, wenn sie fallen oder sich ver- 
wunden, verrathen wird, weil dieses sie verzartelt, und ihre 
Empfindlichkeit vergroBert: so wird sich auch ein kluger Regent 
allzeit hiiten, einiges Mitleiden mit den Unglucksfallen seiner 
Unterthanen, es sei durch Worte oder durch Thaten an den 
Tag zu legen, und er wird vielmehr ganz kalt und gleichgultig 
10 gegen ihre Wider wartigkeiten zu sein wissen. Ein rechtschaffe- 
ner Edelmann, der nur ein kleiner Regent ist, wird es auch nicht 
anders machen. 



Ein Tyran fallet den Geist friiher als den Korper an; ich meine, 
er sucht seine Sklaven vorher dumm zu machen, eh' er sie elend 
macht, weil er weis, daB Leute, die einen Kopf haben, ihre 
Hande damit regieren, und sie gegen den Tyrannen aufheben. 
Der Henker ahmt ihn nach, und verbindet dem Missethater die 
Augen, bevor er ihn foltert. 



Meiner abgerissenen Einfalle zwote Lieferung 



20 Herr K-th lasset seinen Namen abdrukken, urn ihn groB und 
beriihmt zu machen; ich glaube aber, er konte ihn noch groBer 
machen, wenn er ihn in einen -Kurbisschnitte. Dennder Kiirbis 
und der Name eines Kiirbis wiichsen dann zum groBten Ver- 
gniigen u'nsers Planetensystems mit einander groB. 



Gewisse Wilde vcrehren den guten Gott, damit er ihnen niizze, 
und den Teufel, damit er ihnen nicht schade; wir Christen keh- 
ren es urn, und gehorchen dem guten Gott, um von ihm nicht 



1068 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

gestraft zu werden, und dem Teufel, urn Nuzzen von ihm zu 
ziehen . 



Ich hinterbringe hiermit den Burgermeistern, da8 sie bisher ohn 
alien Grund so sehr vor der Folter in Sorge gestanden: denn 
es darf sie niemand auf dieselbe spannen, sowol ihrer Wurde 
als ihres Fettes wegen. 



Mit Recht sagt das Sprichwort: Wenn groBe Herren sich raufen, 
so miissen die Unterthanen die Haare hergeben. Denn man seze 
auch, diese groBen Herren triigen gliiklicher Weise Periikken 
und fielen in diese einander: so muB man doch bedenken, daB 
die Periikken lediglich aus Haaren, die man todten oder hingerich- 
teten Unterthanen abgeschoren, gewebet worden. Man kan die- 
ses daher die Ton sur des Unterthanen heissen, der das Geliibde 
der Armuth, der Enthaltsamkeit, und des Gehorsams thut, um sei- 
nen Herrn dadurch in den Stand zu sezen, die drei entgegenge- 
sezten Geliibde zu leisten und zu halten. Daher die alte Monchs- 
regel: Monachi est plorare, non docere. 



Soke man nicht von einem gewohnlichen Advokaten wie von 
einem Frauenzimmer Unwissenheit der Rechte vermuthen diir- 
fen? Und warum macht er sich diese Rechtswohlthat so selten 20 
zu Nuze? 



Aesop behauptet freilich, daB Prometheus den Teig, woraus 
er uns arme Niirnberger-Puppen knetete, mit Thranen statt des 
Wassers angefeuchtet; allein ich habe Grund zu glauben, daB 
er liigt. Denn ich will hoffen, daB er die Dam en mit Schonheits- 
wasser, die Stabsofficiers mit Couragewasser oder mit einem Lie- 
bestrunk, die Monche mit kostbaren Weihwasser eingemacht. 
Auch hatte Prometheus so geschikt fortfahren sollen als er ange- 



MIXTUREN " ABGERISSENE EINFALLE IO69 

fangen; allcin er versah es ganzlich, und sorgte schlecht fur seine 
Ehre, da er in mein Wesen, offenbar Scheide- Bitter- und Hader- 
w asser einwirkte, und in das des armen Lesers gar einen starken 
Schlaftrunk. 



Ein Geistlicher sagte zu mir: »seinen geistlichen Ornat konteich 
sehr gut fiir das Sterbe- und Todtenkleid seiner Laster ansehen. « 
- »Glucklicher Weise, versezte ich, ist das vollig richtig, und 
ioh habe auch stets nicht anders geglaubt, als daB Dero Laster 
den Juden gleichen, die sich ihr Sterbekleid schon viele Jahre 
10 vor ihrem Tode machen lassen, und es am langen Tage wirklich 
anlegen. Dero Laster thun es sogar ieden Sonntag, und erinnern 
sich daran, daB ihr Leben nur 70, und wenns hoch komt, 80 Jahre 
wahret.« 



Gleich der Obrigkeit in Riicksicht der Missethater, sehen es die 
Kochinnen, wenn sie Geflugel abschlachten, ungern, daB einer 
zusieht der mitleidig ist: »Es kan, sagen sie, dann nicht wohl 
ersterben.« O ihr Scharfrichter der Thiere, die von euch mehr 
als 10 Verfolgungen erdulden muBten, ihr Koche, friiher wiir- 
den vielmehr eure arme Opfer sterben, wenn ihr eben mitleidi- 
20 ger waret, und nicht ihre Martern vermehret, um unser Vergnii- 
gen zu vermehren. 



Wenn es schon die Pflicht eines Advokatens ist, fur den zu eifern 
und zu fechten, der eine sehr ungerechte Sache hat: so kan es 
noch weit weniger seiner Bestimmung entgegen sein, eine ge- 
rechte zu beschiizzen. Ich glaube daher nicht den Posten eines 
Advokaten, auf den man mich gestellt, entehret zu haben, wenn 
ich zuweilen das Corpus juris zum Zeughaus gebrauchet, woraus 
ich Waffen zum Schuzze einer guten Sache genommen. So hab' 
ich zum Bei spiel die Rechtsregel: »Was man verschenken darf, 
30 das hat man auch das Recht zu verkaufen,« so gut angewendet, 



1070 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

daB ich neulich mit ihr sowol der Billigkeit, als den GroBen 
Frankreichs einen wirklichen Dienst erwies. Ich sagte namlich: 
da doch offenbar ieder Landesherr das Recht besizt, die wich- 
tigsten Amter vollig gratis zu vergeben - denn man sieht es 
leider alle Tage, daB Personen, die nichts haben, als ein wenig 
uberfliiBigen Verstand, den kein Geld veredelt, dennoch bedeu- 
tende Amter erobern - so muB er, wenn iene Rechtsregel rich- 
tig ist, ia auch nothwendig zugleich das Recht haben, die Amter 
bios verkaufen und sie vom Aukzionsproklamator dem Meist- 
bietenden zuschlagen zu lassen. Dieser SchluB hat, wie ich ver- 
nehme, dem ganzen Frankreich, wo der Amterhandel so sehr 
bliihet, wohlgefallen und es fiir mich eingenommen. 



Aelian behauptet, die Klaue eines Habichts zoge Gold an sich. 
Ich lieB mir demnach einen Habicht und Gold kommen; fand 
aber die sympathetische Anziehung nicht, die ich erwartete. Ich 
muthmaBte, daB Aelian die Sache vielleicht figurlich nehme. 
Ich lieB mich daher einen frischen Versuch nicht dauern und 
verschafte mir eine figurliche Habichtsklaue. Neben diese legte 
ich einen alten Louisd'or und in einiger Entfernung einen 
schlecht vergoldeten - Szepter; und zu meinem groBten Ver- 20 
gniigen zog die Klaue das Metall und den Szepter nicht nur an, 
sondern sie - woriiber wir uns alle nicht genug verwundern 
konten - grif auch sogar damach. Solche Erfahrungen zieren, 
diinkt mich, den wahren Philosophen, und man soke ihrer meh- 
rere machen und beschreiben, weil sonst nicht zu hoffen stent, 
daB man es noch vor Ablauf des Jahrhunderts in der finstern 
Lehre von der Sympathie zu etwas erheblichen bringen werde. 
Der Leser probier es inzwischen doch selber mit den Habichts- 
klauen, ob sie sein Gold, wenn er es ihnen hinhalt, wirklich 
sympathetisch an sich ziehen. 30 



Mein Mitleiden mit dem Herrn v. D. war stets aufrichtig und 
gut gemeint; denn er hat zu viel Plage und ist dabei unschuldig 



MIXTUREN * ABGERISSENE EINFALLE IO71 

wie ein Kind. Wodurch hat seine Sele es verdienet, daB sie ihren 
Milchbruder, den Korper alle Tage verschonern muB? Der Friseur 
zwikket seine tadellosen Haare alle Morgen - und das ist auch 
in den Gerichtsstuben die gewohnliche Zeit der Folter - mit 
gliihenden Zangen und thut ihm einen Pudermantel urn, den 
ich seinen danischen Mantel oder doch Marterkittel nenne; die Juris- 
prudenz foltert doch nur gesunde Glieder, aber der Schuster 
Ieget seinen siechen Fiissen statt der spanischen Stiefel enge 
Schuhe an; seine ganze Lebensgeschichte ist eine wohlgemachte 

10 Passionsgeschichte, indem ihm der Schneider statt des Purpur- 
mantels des Herodes, zur Schmach ein modisches Narrenkleid 
anzieht, das ihn zu lacherlich macht, indem ihn der Friseur ferner 
mit einer Dornenkrone von Haarnadeln verwundet, indem er 
weiter sich selbst Essig zu trinken giebt, urn eine magere Taille 
zu bekommen und indem er endlich so den ganzen Tag gekreu- 
zigt wird, bis er Abends das Haupt neigt, und - einschlaft, Wer 
dieses martervolle Leben eines Menschen, der seine groBten 
Siinden alzeit bis auf den Traum hinaus verschoben und mit 
Wissen noch keine Sele betriibt oder umgebracht, mit einiger 

20 Aufmerksamkeit in Erwagung zieht: der verfallet auf allerlei 
sonderbare Gedanken iiber das Wesen des Herrn v. D. und aller 
Stuzer tiberhaupt - denn ihnen ist alien ein gleiches herbes Schik- 
sal beschieden - und ist zulezt lieber geneigt zu glauben, daB die 
Stuzer insgesamtnur empfindungslose Maschinen sind, als daB 
es Wesen gabe, die bei aller ihrer Unschuld dennoch so sehr 
gepeinigt wurden; wenigstens geben diesem Schlusse die Karte- 
sianer viel Gewicht, welche aus einem ahnlichen Grunde die 
Thiere fur Maschinen erklarten, weil sich, wenn sie wirklich 
empfanden, ihre vielen Martern nicht mit ihrer Unschuld rei- 

30 men liessen. Auch haben daher schon manche Satiriker wirklich 
behauptet, daB die Stuzer bios Maschinen sind. 



1072 ' JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

Meiner ABGERISSENEN ElNFALLE LEZTE Lieferung 



Die Autoren sind mir lieber als die H-. Diese geben ihre Schwan- 
gerschaft fur eine Wassersucht aus; iene aber kehren es um und 
behaupten, daB sie ein wohlgebildetes Buchlein im Kopfe tra- 
gen, ungeachtet in der That nichts da ist als ein wenig viel Was- 



Wir loben zuweilen noch ein englisches Buch und yergniigen 
uns noch an dem Schimmer und den Stralen desselben, indessen 
es vielleicht in England selbst langst untergegangen ist: so be- 
haupten einige Astronomen, daB wir auf der Erde manchen Fix- 
stern schimmern sehen kdnnen, der, wahrend daB sein Licht 
zu uns herunterreiste, sich aus dem Himmel verlor. 



Das Laster ist der Ballast unsers Erdballes und es wird zu seiner 
Zeit schon ausgeworfen und versenket werden. 



Aus der Kirchengeschichte sind die Monotheletisten ganz wohl 
bekannt. Es waren Kefeer, die Christo, der nach seinen zwo Na- 
turen zwei Willen hat, nur Einenzuschreiben. Meines Erachtens 
ist es aber nicht gut, daB man diese Kezer fur seltener halt als 
sie wirklich sind. Denn ich kenne selber Monotheletisten, wel- 
che es, wiewohl bios von den Damen und Regenten beschwd- 
ren wollen, daB diese stets nur Einen Willen hatten. Und doch 
ware dieses die fatalste Monotonie in der Sele; auch beweiset 
es die Erfahrung satsam, daB wenigstens die Damen allezeit zwei 
Willen, einen menschlichen und einen gottlichen, einen bosen 
und guten, wirklich hegen, un'd keine Sache verlangen, die 
sie nicht auch zugleich, wenigstens im nachsten Augen- 
blikke, nicht wollten; und die Einheit der Handlung ist etwas, 
das sie so sehr wie der beste englische Tragodienschreiber zu 



MIXTUREN ' ABGERISSENE EINFALLE 1073 

verachten streben. Gleich korperlichcn Missgeburten sind ihre 
Selen mit zwei Kopfen versehen. 



Wenn ich einmal ins Gleichnismachen komme, so weis ich we- 
der Ende noch Ziel, und das oft iiber die namliche Sache. Sag' 
ich z. B. vom Gesichte einer Dame, die sich schminkt, sind 
zwo Ausgaben vorhanden, eine ohne, und eine mit illuminirten 
Kupfern: so bin ich*iicht vermogend, damit schon aufzuhoren; 
sondern ich sage noch: Die Schamrothe wird auf solchen ge- 
schminkten Gesichtern in effigie gehangen - ich nenne die 
io Schminke die Titelvignette des Gesichts - und den Kopf eine 
gute Portratbiichse, die das Portrat der Dame, das sie selbst 
gemalet, enthalt, daher einige die Damen zu den besten Portrat- 
malern gesellen - ich glaube gar, ich fange dann an die Schminke 
die lezte Ohlung der sterbenden Schonheit zu heissen - ia ich 
werfe den Jiinglingen, die diese zwei Blumenstukke auf dem Ge- 
sichte anbeten, den Bilderdienst vor - und lasse nur dann mit 
der Sache vollig nach, wenn ich die Farbenhandler die Monti- 
rungslivranten der weiblichen Wangen geheissen habe. 



Die Schonheit zieht uns Manner an; ist sie aber, gleich einem 
20 armirten Magnete, noch mit Golde oder Silber bewafnet, so 
zieht sie uns, wie es scheint, noch sechsmal starker an. 



Es giebt Lander, wo man Leibesnahrung und Nothdurft so sehr 
liebt, dafi die Einwohner Christum, wenn er noch einmal Beses- 
sene heilte, ersuchen wiirden, ihre Schweine doch mit den Teu- 
feln zu verschonen, und diese lieber, wenns ia keine andere Aus- 
kunft gabe, etwan in sie selber Ziehen zu heissen. 



Wie man das Vieh auf die Akker treibet, das Getreide abzuf res- 
sen, damit es nicht zu stark schiesse: so treibe man doch die 



1074 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

samtlichen Rezensenten auf unsere Autoren und lasse ihre schar- 
fen Zahne die Auswuchse des Genies ganz gut beschneiden. 



Der morderische Traum 



Da ich zum erstenmale las, daB die Taucher zuweilen einander 
unter dem Wasser ermorden, so rief ich aus: Also auch dieses 
Element besudelt der Mensch mit seinen Sunden? Was soli ich 
aber iezt sagen, wenn er sogar den schuldlosen Traum - den 
Wiederhall der Kindheit und den Freund der Leidenden - in 
ein Werkzeug des Todes zu verwandeln sucht. Herr A. predigte 
mit einigem Beifall; Herr B. kam an die Stelle eines verstorbenen 10 
C. und predigte mit noch grosserem. Von A., zu dessen Ab- 
schilderung mir gar wol der Teufel sizen konte, lasset sich nichts 
anders erwarten, als der rachsuchtigste Neid dartiber. Ernst, da 
der Herr B. von der Kanzel in die Sakristei herunterkam, re- 
dete A. ihn so an: »Sie haben heute wieder eine herrliche Predigt 
gehalten . . . Aber ich muB Ihnen doch meinen gestrigen Traum 
erzahlen. Mir traumte, Ihr Vorfahrer C. erschien mir; er freute 
sich, an Ihnen einen so vortref lichen Nachfolger bekommen 
zu haben, und lobte Sie so, daB es mich riihrte; aber, sagte er 
zulezt, ich will ihn bald nachholen.« Die Absicht dieses erdich- 20 
teten Traumes lasset sich errathen; auch granite sich B. sehr 
dariiber, aber er starb nicht daran. 



Ende 



Jeder Kalender hat seinen Kalenderanhang; die vornehmste 
Dame hat ihre Schleppe, vor die sie eingespant ist; die Welt 
hatihren iiingsten Tag; die schonste Musik verstummt in einem 



MIXTUREN " ENDE IO75 

Endetriller; der Monch, der noch so oft die Iezte Olung ertheilte, 
empfangt sie endlich selbst; nach Einer Stunde hat die beste 
Predigt (eine langere wird im Brandenburgischen mit zwei Tha- 
lern bestraft) und die schmerzlichste Foltet ein Ende - Warum 
sollte nun, da alle Wesen mit einem schonen Ende prangen, 
dieses Buch allein nicht sein ordentliches Ende haben? Ich wiiste 
wenigstens keine Ursache als etwan die, daB dieses Buch noch 
kein Ende hat, sondern in der nachsten Messe fortgesezet wird. 



Ober die religionen der welt 

Von einem Latitudinarier 



»Gott hatte bey allem seine Hand 
im Spiele: Nur bey unsern Irrthu- 
mern nicht?« 

Lefling. 



Die Vervollkommnung unserer Krafte ist der Zweck unsers Da- 
seyns, und Religion und Tugend sind nichts als bloBe Mittel 
dazu. Die Verschiedenheit der Religionen ist nur Verschieden- 
heit der Mittel zu verschiednen Graden und Arten der menschli- 10 
chen Vollkommenheiten. Wenn aber die hochste Vollkommen- 
heit des Ganzen verschiedne Grade der Vollkommenheit der 
einzelnen Theile nothig macht: Warum sollen nicht alle Irrthii- 
mer eben so nothwendig und nikzlich in der geistigen Welt 
seyn, als Schmerzen in der physischen - und wenn jedes Ubel 
im Grunde nicht ein Obel, sondern nur einkleineres Gut, jedes 
Laster im Grunde nicht ein Laster, sondern nur eine geringere 
Tugend ist: Warum wollen wir eine Religion falsch und ver- 
dammlich nennen, deren Anzahl wahrer Lehrsatze im Grunde 
nur minder gros, deren Wirkungen nur minder heilsam sind. - 20 
Wenn sich der Gronlander anstatt des Glanzes der Sonne nur 
mit dem Lichte der Nordscheine begniigen muB: so sind wir 
weise genug, Gottes Weisheit in dieser Einrichtung zu bemer- 
ken; wenn er aber anstatt der Erleuchtung der Wahrheit nur 
den falschen Schimmer eines angenehmen Irrthums kennt: 
Warum wollen wir nicht noch weiser seyn, urn Gottes Weisheit 
in dieser Einrichtung nicht zu verkennen? - Man hat zur Recht- 
fertigung der Vorsehung so oft den Nutzen der physischen 
Obel gezeigt; ich wolte lieber, man hatte den Nutzen der morali- 



UBER DIE RELIGIONEN IN DER WELT IO77 

schen besser gezeigt, und das Laster und den Irrthum mehr mit 
einem philosophischen als andachtigen Auge betrachtet. - 

Ich will einiges vom Nutzen der vielen Religionen sagen. - 
Betrachtet einen Wilden, der keine, nicht die schlechteste Reli- 
gion kennt: Was thut er? Er fischt, er jagt, er nahrt sich, er 
kriegt und befriedigt einige thierische Begierden und den Hang 
nach Thorheiten. Er ist so wenig Mensch, daB er sich kaum 
vom Thier unterscheidet. Er ist unbesorgt wegen der Zukunft, 
und vergiBt sie im GenuBe des Gegenwartigen. Seine Begierden 

10 haben nichts als die schlechtesten Liiste zum Endzweck, und 
das Gefuhl eines gegenwartigen Bediirfnisses ist kaum stark ge- 
nug, ihn zur Abhelfung desselben thatig zu machen. Aber wir 
wollen ihn einen Gott in der Sonne sehen, und eincn Himmel 
hinter den Wolken erwarten lassen. Nun hat er sich sichtbar 
verbessert - er betet an. Er will sich die Liebe seines Gottes 
erwerben; er schreibt sich gewisse Pflichten vor; er legt in seine 
Handlungen mehr Endzweck: er giebt seinen Begierden mehr 
Ausdehnung, und richtet seine Wirksamkeit starker auf die Zu- 
kunft. Das Gefuhl der Abhangigkeit macht ihn behutsamer und 

20 chrerbietiger; bevorstehende Gefahren erwecken in ihm Bewe- 
gungen der Furcht vor seinem Gott, und iiberwundne entzucken 
ihn zu Ausbruchen des Danks gegen denselben; die Hofnung 
eines andern Lebens starkt seinen Muth im Streite, und seine 
Stanclhaftigkeit unter den Grausamkeiten seiner Besieger. Die 
Menschen, welche vorher nur Gegenstande seiner Geschlechts- 
lust, seiner Furcht u. s. w. waren, theilen nun mit ihm die Anbe- 
tung desselben Gottes, die Annehmung derselben Irrthumer, die 
Hofnung desselben Himmels. - Seine Meynungen konnen 
falsch,lacherlichund abgeschmacktseyn: Was thut's?Wird nicht 

30 eben dadurch die Ideensphare seines Geistes mehr erweitert , und 
die Bilder seiner Phantasie mehr vervielfaltigt? Er kann nun tu- 
gendhaf t seyn; er kann wenigstens lasterhaf t seyn: Vorher konnt* 
er keines von beyden seyn. Es ist vielleicht besser, Gesetzeiiber- 
treten als keine haben, irre und riickgehen als stillcsitzcn, und 
lasterhaft als gar nichts seyn. Da das Laster nichts als die Wir- 
kung der unverhaltnismaBigen Ausbildung der Seelenkrafte ist: 



IO78 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

so ist der unfehlbar der Vollkommenheit naher, welcher eine 
Seelenkraft mehr als die andre ausbildet, als derjenige, der keine 
ausbildet, und es gehort mehr Kultur des Geistes dazu, sich 
das Verbot einer Sache vorzustellen, die Wichtigkeit desselben 
durch Scheingrundc zu entkraften, die That zu wahlen und aus- 
zufuhren, als alles dieses nicht zu thun, und sich ohne eigne An- 
strengung bios den Wirkungen zu iiberlassen, welche jeder Ge- 
genstand der niedrigern Begierde in dem begehrenden Wesen 
erregt. Vielleicht ist die Moral der nicht christlichen Religionen 
ein Gewebe von unmitzen Forderungen; aber sieht man denn 10 
nicht, daB eben dadurch ihre Verehrer in einer niitzlichen Folg- 
samkeit geiibt werden, daB weniger das Ausserliche der be- 
fohlnen Handlung, als das Innerliche ihres Urhebers zu dem 
Nutzen geschlagen werden miisse, den jede Religion bey ihrem 
Verehrer bewirkt, und daB der, welcher die Tugend in ihrer 
falschen Gestalt anbetet, auch fahig sey, sie in ihrer wahren an- 
zubeten? - » Aber die Vbrschriften der meisten nichtchristlichen 
Religionen sind nicht bios unniitzlich; sie sind auch schadlich; 
sie gebieten nicht bios das Ungereimte, sondern auch das Laster. 
Wenn der Nichtchrist z. B. sein Kind seinem Gott zu einem 20 
Opfer verbrennt - befordert dann seine Religion, die diese Un- 
til enschlichkeit verlangt, seine Tugend? « Man kann hierauf ant- 
worten, wenn man frey antworten darf: Vergleicht einmal jene 
bekannte Handlung des Abrahams mit der verabscheuten 
Handlung des Nichtchristen - jene soil dadurch nichts von ihrer 
Giite, aber wol diese etwas von ihrer Abscheulichkeit verliehren. 
Warum wird der Abraham, welcher seinen Sohn als ein Brand- 
opfer nach dem Befehle Gottes schlachten will, so sehr erhoben? 
Darum: Er wahlt unter kollidirenden Pflichten diejenige, welche 
die wichtigste und also allein Pflicht ist; er opfert der Liebe seines 30 
Schopfers die Liebe seines Sohnes auf, und ist taub gegen die 
Stimme der vaterlichen Empfindung, um der Stimme des gebie- 
tenden Schopfers zu gehorchen; ja er ist bereit einen Sohn zu 
tod ten, der nicht bios sein Sohn, sondern die Stiitze seines Al- 
ters, der Zeuge seiner Tugend, der Lohn seiner Rechts chaff en- 
* heit, und der Erf tiller seiner Hofnungen ist. Betrachtet den Hei- 



UBER DIE RELIGIONEN IN DER WELT IO79 

den, der sein Kind opfert; er thut beynahe dasselbe. Sein Priester 
befiehlt ihm sein Kind in den Armen des Gotzenbilds zu ver- 
brennen, in welchem er die sichtbare Gestalt seines Gottes anbe- 
tet. Er unterdriickt nun die vaterlichen Empfindungen durch 
die Starke der religiosen; und ziehet in dem scheinbaren Wider- 
sp ruche seiner Pflichten diejenige vor, die ihm die wichtigste 
scheint und die die schwerste ist. - Kurz er beweiset gegen seinen 
Gott eifrige Liebe. Aber warum tadelt man ihn doch? Deswe- 
gen, weil er diese Liebe gegen einen Gott aussert, der nicht 

to der wahre ist, d. h. der mit keinem jiidischen oder christlichen 
Namen benennt, und von seinen Verehrern nicht unter einem 
korperlichen Phantasienbild, sondern unter einer wirklichen, 
sinnlichen Figur gedacht und angebetet wird?* Jener Heide ist 
tugendhaft, aber er irrt; er verschwendet die Beweise seiner 
Liebe und Aufopferungen nur dem Wesen, das er kennt. Aber 
sollen die Verirrungen seines Verstandes die Tugenden seines 
Herzens strafbar machen? Soil ihn Gott fur lasterhaft erklaren, 
bios weil er gegen einen falschen tugendhaft gehandelt hat? - 
Ich weis nichts davon - ich weis, daB jene Handlung beym 

20 Abraham eine Tugend ist; aber daB dieselbe Handlung bey ei- 
nem Abgotter ein schwarzes Verbrechen ist, das glaub* ich nicht. 
- Eben dasselbe laBt sich in Riicksicht der iibrigen Laster sagen, 
die die nichtchristlichen Religionen zu gebieten scheinen. » Aber 
so las sen sich alle Verbrechen rechtfertigen. Ihr Urheber braucht 
nur gute Absichten zu haben, um ungestraft bos handeln zu 
konnen. « Allein setzt das Gegentheil, und die Verwirrung wird 
noch groBer! Wenn zur Gute meiner Handlungen noch etwas 
anders als meine Absichten erfodert wird, wenn das Aussere 
der That meine Moralitat bestimmt: So ist meine Tugend ein 

30 Raub der aussern Umstande; so bin ich niemals gewis, ob ich 
eine gute Handlung verrichte, denn ich weis ja nicht, ob sie 
der Zufall gut laBt; so hangt meine Zuf riedenheit von dem unge- 
wissen Erfolge meiner Tugenden, und mein moralischer 

* Bey dem erstern steht die sinnliche Abbildung des Gottes bios im 
Kopf, bey dem andern steht sie ausser demselben auf einem Postament 
von Stein. 



I080 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Wachsthum von dem of tern Daseyn eines glucklichen Zufalls 
ab. Wenn die Moralitat meiner Handlungen nicht in meinen 
Absichten gegrundet ist, so weis ich niemals, ob mein Herz 
gut ist, denn mein Verstand kann irren, kann meinen redlichen 
Eifer durch die unwahre Darstellung des begehrten Gegenstan- 
des bis zur Umarmung des Lasters tauschen. Wir zweifeln oft 
mit Recht, ob wir weise sind; macht uns doch nicht eben so 
zweifelhaft, ob wir gut sind - und laBt uns nicht durch unsre 
Irrthiimer unsre Tugenden anklagen, sondern durch diese jene 
entschuldigen. - Doch ich komme zu weit ab. 10 

In den meisten Religionen findet man diese Hauptsatze: es 
ist ein Gott und ein Leben nach dem Tode; in jeder findet man 
sie anders ausgedriickt, in andre Bilder verkleidet, mit andern 
Begriffen vermischt; allein in alien findet man ihren heilsamen 
EinfluB auf die Tugend. - Jeder leiht seinem Gott die Eigen- 
schaften, die er an sich am meisten schatzt; eben so jedes Volk. 
Jedes legt aber den Vollkommenheiten den meisten Werth bey, 
die es am nothigsten braucht, die es am langsten gekannt hat. 
Dasjenige Volk, dem durch immerwahrende Kriege die kriege- 
rischen Tugenden sind nothig und schatzbar gemacht worden, 20 
wird der Leibesstarke (iberall den Vorrang lassen; es wird also 
aus seinem Gott einen Herkules machen, es wird aus demselben 
das Ideal der groBten Tapferkeit machen, um ihn mehr anbeten, 
um mehr von ihm hoffen zu konnen. Je weniger nun eine Nazion 
aufgeklart ist; je weniger sie sich aus dem Stande der Wildheit 
und Barbarey herausgearbeitet hat; je weniger ihr Klima und 
ihre Verbindungen mit andern erlauben, die Sorgen fur die Be- 
diirfnisse des Korpers mit den Sorgen fur die Bediirfnisse des 
Geistes zu vertauschen, und den Werth der geistigern Vollkom- 
menheiten durch die Bearbeitung derselben kennen zu lernen: 30 
desto geringere Eigenschaften wird das Ideal bekommen, das 
sie sich von Gott bildet; desto leichter wird sie ihm Fehler beyle- 
gen, die sie an sich schatzt; destomehr werden ihre Begriffe 
vom gottlichen Wesen widersprechend werden; und desto han- 
figer wird sie sein Bild in der Schopfung vervielfaltigt, und sogar 
in geringern Dingen abgedruckt glauben. - Wird aber dadurch 



UBER DIE RELIGIONEN IN DER WELT I08l 

der Verehrung des Schopfers etwas entzogen? - Liebt der India- 
ner Gott, den er in der Sonne anbetet, nicht eben so sehr nach 
. seinen Kraften, fiihlt er die GroBe des GroBten nicht eben so 
sehr nach seinen Kraften als der Philosoph, welcher sich Gott 
nach reinen Vernunftbegriffen, als den Inbegrif alles Voll- 
kommnen, als die Quelle aller Wesen denkt? Oder soil jener 
weniger tugendhaft seyn, weil er Gott die Vollkommenheiten 
nicht giebt, die er nicht kennt, und von ihm nicht groBer denkt, 
als er kann? Oder deswegen, weil er anstatt eines dunkeln Bildes 

10 in der Phantasie, das entweder ein korperliches oder gar keines 
ist, das glanzende Bild, die Sonne wahlt, und nicht Kraft genug 
hat, sich den Schopfer noch vortreflicher als sein vortreflichstes 
Werk vorzustellen? - 

Der Satz von einem Leben nach dem Tode ist bey aller seiner 
Verunstaltung eben so nutzlich wie der vom Daseyn Gottes. 
Jedes Volk bildet sich seinen Himmel nach dem Theil der Erde, 
den es bewohnt; es erwartet da die Freuden, die es durch sein 
Klima u.s.w. zwar kennen lernte, aber nicht oft, nicht reichlich 
genoB. Jedes muB also im Himmel eine andre Gliickseligkeit 

20 suchen, weil jedes eine andre auf der Erde kennt; und dasjenige, 
welches nur mit den Reizen der sinnlichen Wolliiste bekannt 
ist, wird im Himmel den GenuB reiner und geistiger Vergnii- 
gungen weder erwarten noch begehren. Der alte Deutsche 
schrankte seine Wiinsche bios auf einen Himmel ein, der seinen 
Durst mit vortreflichem Biere stillte, das er aus den Handen 
schoner Madchen bekam, und aus den Hirnschadeln seiner 
Feinde trank. Allein alle diese Vorstellungen von der Gliickse- 
ligkeit eines andern Lebens sind nicht unwirksam, sondern Be- 
weggriinde zu gewissen Handlungen bey denen, deren kleine 

30 Sele nur kleine Wiinsche erzeugt, und durch nichts als die Hof- 
nung, sie zu erreichen, in Bewegung gesetzt wird. WenneinSo- 
krates fur einen Himmel stirbt, wo er Tugend und Weisheit er- 
wartet; so stirbt ein MuhammedanerfiirdasParadies, das ihm die 
groBten Wolliiste der Sinne verspricht, und der Negersklave fur 
das Land, das ihm seine Bekannten und seine alten Freuden wie- 
der giebt. - Das ubrige laBt sich hinzusetzen, was ich sagen will. 



1082 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Die Religionen andern sich mit den Volkern; beyde steigen 
mit einander. Selbst das Judenthum stieg von einer Stufe der 
Geistigkeit zur andern; und die christliche Religion sogar blieb 
nicht immer dieselbe. Diese glanzte anfangs nur schwach aus 
den Ruinen des Judenthums hervor, und vermehrte ihr Licht 
mit ihren Anhangern. Sie klimmt, nach der MuthmaBung eines 
groBen Marines, noch jetzt zu der Reinheit der natiirlichen Reli- 
gion hinauf; und es ist wahrscheinlich, daB wir im Himmel ein- 
mal zuviel seyn werden, um noch Christen zu seyn. - Warura 
solleh wir aber einen gleichen stufenweisen Fortgang des Lichts 10 
bey andern Religionen nicht annehmen? Konnen nicht manche 
nichtchristliche Religionen in dem VerhaltniB zur natiirlichen 
stehen, in welchem die judische zur christlichen stand? Bahnte 
nur das Judenthum dem Christenthum den Weg? Kann die Vor- 
sehung auf keine andern als jiidischen Irrthumer Christuswahr- 
heiten bauen? Gewis, mit einem scharfern Auge wiirde man 
bemerken, daB das VerhaltniB aufeinanderfolgender, nicht- 
christlicher Religionen zu einander eben so merkwiirdig ist, als 
das der jiidischen und christlichen. - Allein das Wenige was 
wir wissen, hindert uns iiberall und also auch hier, das Obrige 20 
zu wissen. 



VERGLEICHUNG DES ATHEISM MIT DEM 
FANATISM 



Beyde erzeugen gleich schadliche Wirkungen, und sind nur in 
ihrem Ursprunge verschieden. Der Atheist irrt, weil er selbst 
denkt, der Fanatiker, weil er bios mit dem andern denkt. Jener 
gelangt mit Muhe auf einen Irrweg, welcher einen Mann fo- 
dert, der auch die steilsten Hohen der Wahrheit erklimmt; dieser 
hat seinen Irrthum einer Schwache zu danken, die halb die Wir- 
kung seines Kopfs, und halb die Wirkung seines Herzens ist. 

io Neben dem Wege zur Wahrheit liegt auf der einen Seite die 
abschuBige Bahn zum Fanatism, und auf der andern die steile 
Hohe zum Atheism; in jene darf man so zu sagen nur fallen, 
auf diese muB man steigen; allein man kann auch leichter von 
dieser zuriickkehren, als von jener. Ein Atheist muB ein Philo- 
soph, ein Fanatiker ein schlechter Theolog seyn. Die Vervoll- 
kommung der Philosophic macht daher den Atheism, die Ver- 
vollkommung der Theologie den Fanatism unmoglich - Beyde 
Ungeheuer hat die Nacht gebohren; beyde sind Feinde des Ta- 
ges. Der Aberglaube hat nie einen groBen Mann zum Anhanger 

20 gehabt, ausser in dem Zeitpunkt, wo der groBe anfangt, klein 
zu werden. - Der Atheism hat einen Spinosa gehabt. Man kann 
den Gotteslaugner durch Griinde widerlegen; der Aberglaubige 
nimmt keine an. So wie man leichter ein falschsehendes Auge 
verbessern, als ein blindes heilen kann; eben so ist's leichter, 
einen verniinftig machen, der seine Vernunft iibel anwendet, 
als einen, der keine hat. Der Atheist verehrt einen Gott nicht, 
den er nicht glaubt; der Fanatiker verehrt einen falsch, den er 
nicht kennt; auf der einen Seite scheint's besser zu seyn, sich 
keine als sich entehrende Begriffe vom hochsten Wesen machen; 

30 auf der andern ist's niitzlicher, einen Irrthum hegen, der unsre 
anderweitigen Beweggriinde zur Tugend verstarkt, als einen, 



IO84 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG 

der die Ausiibung jeder guten That von dem Ausspruche unsers 
Eigennutzes abhangig macht. Der Gotteslaugner begeht nie das 
Laster darum, weil er's mit der Tugend verwechselt, sondern 
weil er's zur Erreichung seiner Absichten tauglich findet - cr 
verehrt bios die Tugenden, zu welchen ihn die Gesellschaft 
zwingt, welche sein Eigennutz anrath, und die Giite seines Tem- 
peraments hervorbringt. Der Fanatiker wird viele Laster bege- 
hen, weil er sie fur Tugenden halt; er wird aus Pflicht bose 
seyn, und sich nicht selten aus Liebe zum Himmel der Holle 
wiirdig machen - allein er wird nicht das Bose thun, weil es 10 
die Larve der Nutzlichkeit tragt, noch das Gute unterlassen, 
weil es seinen Neigungen widerstreitet. Der Atheist ist ein bes- 
serer Burger als der Fanatiker, weil er toleranter ist. Ich weis 
nicht, ob ein Staat von Atheisten moglich ist; aber ich weis, 
daB ein Staat von Fanatikern schon wirklich war - in jenem 
mdgt' ich nicht Freund, aber in diesem noch weniger Feind 
seyn. Der Aberglaubige hat Autodafe's errichtet; man hat von 
ihm genug Boses gesagt, wenn man nur dies gesagt hat. Der 
Atheist hat es nie gekonnt; allein es scheint auch nicht, daB er's 
je wiirde gewolt haben; er ist ein Philosoph; er verbrennt daher, 20 
wenn er intolerant ist, lieber die Bucher als die Korper seiner 
Gegner, und findet am andern mehr seine Dummheit als seine 
Ketzerey. Der Fanatiker glaubt den Andersdenkenden hassen 
zu diirfen, weil er ihn der Holle wiirdig halt; der Atheist aussert 
mitleidigen Stolz gegen den, dessen Meynungen er fur Beweise 
seiner Dummheit ansieht. Der Atheist sucht Proselyten zu ma- 
chen, weil er jeden Proselyten fiir einen Sklaven an dem Triumph- 
wagen seines Systems halt; der Fanatiker bekehrt aus Pflicht 
und heiligem Eifer; dieser klagt iiber das bose Herz des andern, 
und glaubt an ihm den Dienst des Teufels schon auf der Erde 30 
verrichten zu diirfen; jener klagt iiber den schwachen Verstand 
des andern, und bestraft ihn durch Spott und Verachtung. Der 
Fanatiker ist allzeit zu warm, der Atheist immer zu kalt - dieser 
hat weder groBe Laster noch groBe Tugenden, jener zeichnet 
sich oft durch beyde zugleich aus. Die Menschenliebe des Fana- 
tikers ist eingeschrankt, aber oft feurig; die des Atheisten hat 



ATHEISM UND FANATISM IO85 

ihre Ausdehnung ihrer Kalte zu danken. Man kann eher den 
schadlichen Wirkungen eines Atheisten, als eines Fanatikers 
Einhalt thun. Denn jener handelt aus einem Eigennutz, welcher 
zeitliche Vortheile zum Endzweck hat; er fiirchtet den Tod als 
das groBte Ubel; er vermeidet ihn durch die Aufopferung seiner 
schatzbarsten Vergniigungen, durch die Ubernehmung der 
grofken Leiden; es giebt also eine Strafe fur ihn, die ihm furch- 
terlicher als die Ertragung jedes Ubels, als die Beraubung jedes 
Vergniigens seyn muB. Allein wer will denjenigen vom Laster 

10 abhalten, der sich durch einen Befehl Gottes zur Ausiibung des- 
selben berechtigt glaubt; wo ist eine Strafe fur das Verbrechen, 
das mit dem Himmel belohnt wird, und wo sind die Schranken 
fiir den, der seinen Muth durch heitere Aussichten bis zur Kuhn- 
heit erhebt, seine Standhaftigkeit durch die Hofnung iibernatur- 
licher Einfliisse bis zur Unempfindlichkeit stahlt, und in seinem 
Plan den Tod selbst zum sichersten Mittel zur Erreichung seines 
Endzwecksmacht? — DieMenschheithatdie Schlage des Fana- 
tism tief genug gefiihlt, der im Gewande der Religion Verbre- 
chen auf Verbrechen haufte, der aus Begierde nach dem kunfti- 

20 gen Himmel die gegenwartige Welt in eine Holle verwandelte, 
der seine Gestalt in die Jahrbucher der Welt mit blutigen Ziigen 
gezeichnet hat. Welches ist nun das groBte Ubel, Atheism oder 
Fanatism? Voltaire antwortet wahr und schon: L/Atheisme et 
le Fanatisme sont les deux poles d'un univers de confusion et 
d'horreur. La petite zone de la vertu est entre ces deux poles; 
marchez d'un pas ferme dans ce sender, croyez un dieu bon, 
et soyez bons. - 



EIN NICHTCHRISTLICHER WEISER 



Ein Weiser - wenn jemand auf der Erde diesen Nahmen verdient 

- verlies das gesellschaftliche Leben, und begrub sich in die Ein- 
samkeit; den Zufluchtsort derer, die das Leben kennen lernen, 
eh' sie es geendigt haben; den halben Weg vom Leben zum 
Grabe; den Abend nach einem schwulen Tage. - 

Er war in einem Lande, wo der Weise eines von den Thieren 
aus der neuen Welt ist, wo man die Lange des Gehorwerkzeugs 
zum MaaB des Verstandes bestimmt; wo nichts als die Erhaben- 
heit des Buckels zu erhabnen Ehrenstellen befordert. Dieser 10 
Weise beleidigte mit seiner Weisheit die Machtigen und die Prie- 
ster des Landes, die sich in den Schatten der Unwissenheit setz- 
ten, und unter den dicken Wolken der Dummheit Schutz fur 
ihren Kopf gegen den brennenden Strahl der Wahrheit suchten. 
Er beleidigte auch diejenigen, die sich nicht durch das Licht 
des Klugern, sondern durch den Szepter des Machtigern, wie 
gewisse Thiere, durch den Priigel ihres Treibers, woken leiten 
lassen. Darum floh er in die Einsamkeit. 

Sein GedachtniB hatte genug in der Welt eingesammlet, um 
seinem Verstande Nahrung in der Einsamkeit zu geben. Er hatte 20 
andern geniitzt; darum wok* er auch sich nikzen, - er war der 
Gesellschaft andrer wiirdig; darum war er auch der seinigen 
wiirdig. Er woke in der Einsamkeit das vergessen, was nirgends 
als in der Welt niitzt - die Gelehrsamkeit; er woke in der Ein- 
samkeit das lernen, was am meisten jenseit des Grabes niitzt 

- die Weisheit. - Darum suchte er die Einsamkeit. 

Sein Herz war in dem Getummel der Gesellschaft von tausend 
Seiten gedriickt, gestoBen, verletzt und verwundet worden - 
darum suchte es Heilung im SchooBe der Einsamkeit. Er hatte 
viel verlohren; aber er hatte es noch nicht beweinen konnen, 30 

- er hatte die Menschen begraben, die ihn liebten; darum floh 
er die, die ihn haBten, und suchte die Einsamkeit. 



EIN NICHTCHRISTLICHER WEISER IO87 

Diese Einsamkeit war so still, wie sein Herz, so traurig, wie 
seine Gedanken - in ihr wohnten nur Freuden, die sich mit dem 
Flore der Schwermuth verhullten, nur die Leiden, die das Herz 
sanft bewegten, die aus keiner Leidenschaft flossen, und der 
Vernunft selbst eine mannliche Thrane abzwangen. 

In dieser Einsamkeit, wo unser Weiser den unbegreiflichen 
Schopfer in seinem ersten und schonsten Tempel anbetete; wo 
jeder Gegenstand seinen Geist zum Denken, oder sein Herz zum 
Empfinden reizte; wo ihn der Friihling durch seine Pracht an 

10 den schonern Himmel, und der Herbst durch seine Verwiistung 
an das finstre Grab erinnerte; - in dieser Einsamkeit schlich oft 
der Gedanke an das Leben und den Tod durch seine Sele. Er 
hatte oft genug gedacht, um tiber gewisse Dinge nicht wie andre 
zu denken, und nur zu haufig geirrt, um mit dem Zweifel nicht 
bekannt zu seyn. Einstmals, da in einem nachtlichen Spatzier- 
gang seine traurigen Betrachtungen durch die Dunkelheit der 
Nacht etwas Feyerliches, und durch die Stille derselben unge- 
wohnliche Nahrung erhielten, einstmals dacht* er so bey sich: 
»Was war ich, eh' mir noch mein Daseyn durch Schmerzen 

20 bekannt wurde? Was bin ich jetzt? Was werd* ich seyn? - Dieses 
Teh, das sich unbekannt, das sich furchterlich ist, was war es 
vor der vergangenen Ewigkeit? Wie ist es das meinige gewor- 
den? War ein ewiges Nichts sein ewiger Aufenthalt? Nein, ich 
kann es nicht denken, - ich kann niemals Nichts gewesen seyn, 
denn ich war ewig ein Etwas fur den Gedanken Gottes; sein 
Blick auf mich, schuf mich. Aber was war ich, da ich ein geisti- 
ger Punkt in der unendlichen Ideenwelt Gottes war? War ich 
vielleicht ein Staubgen in dem ewigen Wesenchaos? Vielleicht 
das ewige Spiel eines unaufhorlichen Wechsels von Wirkung 

30 und Gegenwirkung eines Atomenuniversums? - Ich bin also 
ewig, und kenne den Theil meines Daseyns nicht, der bey wei- 
tem der langste war? Kenne die unendliche Reihe von Zu- 
standen nicht, die die endliche Reihe, der jetzigen gebahren? 
Meine jetzige Existenz ist mir unbegreiflich; meine vorige wi- 
dersprechend - ich wanke zwischen dem Widerspruch eines 
ewigen Nichts, das in der Zeit Etwas ist, und zwischen dem 



1088 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Widersp ruche eines ewigen Etwas, das anfangt in der Zeit zu 
seyn, ohne Stiitze herum, und wechsele mit meinen Widersprii- 
chen nichts als die Foltern des Zweifels und des Staunens. - 
Aber ist mir wohl die Zeit bekannter als die Ewigkeit? Das 
Gegenwartige deutlicher als das Vergangne? Nein, mein voriges 
und jetziges Daseyn ist bios ein Wechsel unbegreiflicher Zu- 
stande. Unbekannt mit meiner aussern Hiille, und meinem in- 
nern Wesen; ein Herr und ein Sklave eines Korpers, der mich 
zum Verwandten des Thiers macht, und mir in den Abstuf ungen 
der groBten bis zu den kleinsten Thieren immer noch Ahnlich- 10 
keit mit der Menschheit, und die furchtbare Moglichkeit einer 
unendlichen Heraberniedrigung meines Wesens zeigt; der Raub 
entgegengesezter Triebe; der Ball korperlicher und geistiger 
Versuchungen; das Spiel einer unbegreif lichen Abwechselung 
von Tugend und Laster, von Weisheit und Thorheit, von 
Freuden und Quaalen, von Starke und Schwache; fur vieles zu 
gros, fur vieles zu klein; nie dem Thiere ganz gleich in meinem 
Fallen, nie demselben ganz unahnlich in meinem Steigen; unbe- 
lehrt von geringern und hohern Wesen, iiberlassen meinen Irr- 
thiimern und unbekannt mit allem, ja beynahe mit meinen 20 
Rathseln - bin ich hier, staune, forsche, hoffe, fiirchte und lerne 
den Tod fruher kennen, als mein Leben. Den Tod kennen ler- 
nen? O wiiBte ich jetzt, was er ware, sah' ich ihn, eh' ich ihn 
fuhlte, kennte ich das unbekannte Land, eh' ich diese Erde und 
diesen Korper verlieBe! - Vielleicht driick' ich meine Augen 
zu einem ewigen Traume zu? Aber vielleicht ist das jetzige Leben 
ein Traum, den meine Phantasie zu Nachts, und meine Sinne 
am Tage traumen - ein Traum, der mit meinem Leben ver- 
schwindet und aus dem mich der Tod zu einem ewigen Wachen 
stort? Meine KenntniB ist klein, und meine Hofnung gros; ich 30 
weis nichts vom andern Leben; aber ich weis etwas von dem, 
der mich zu diesem gebildet hat. O Unbegreiflicher! Dessen 
Licht dich uns verhullt, dessen GroBe unsern Verstand zum de- 
miithigen Staunen niederdriickt, dessen Giite durch ihre 
Unendlichkeit dem Herzen kaum einen stummen Dank zu wa- 
gen erlaubt, - wenn einst der letzte Schmerz meine aussere Hiille 



EIN NICHTCHRISTLICHER WEISER IO89 

zerstohrt; wenn dieses Herz die letzte Minute meines Lcbens 
schlagt, den letzten Seufzer preBt, die letzte Hofnung wait; 
wenn es dunkel um mich, und kalt in mir wird; wenn die Ge- 
spenster der Furcht und des Vorurtheils der sterbenden Vernunft 
den lang erkampften Sieg entreissen, und meine Gedanken wie 
bewegliche Schatten der sinkenden Sele vorschweben; wenn 
endlich der Tod mein Wesen erschuttert, und mir das Gefiihl 
und den Gedanken des Sterbens durch das Sterben raubt, und 
wenn ich dann bin, was ich nie gewesen war, o! dann sey deine 
10 Hiilfe groBer als meine Schwachheit - dann schiitze mit deiner 
Giite den Geist, der dir noch nicht danken kann - dann erhelle 
das dunkle Land des Todes durch deine Liebe, und giefie in 
mein verandertes Ich mit der Empfindung seines Daseyns die 
Empfindung deiner Giite aus! -« Seine Zweifel endigte nichts 
als der Tod, der vielleicht seine Hofnungen nicht endigte, son- 
dern erfullte. - 



UBER DIE 

PERRUCKEN UND SCHWARZEN ROCKE 

DER GEISTLICHEN 



Der Witz ist wenig zu sagen, abscheulich genug, und hat iiber- 
haupt am wenigsten unter uns alien Verstand und Menschen- 
liebe. Jeder Autor, der ihn in sein Buch einlasset, verdienet, 
wie ich und verschiedene Rezensenten besorgen, den Tadel der 
Ziererey und Affektazion auf alle Weise; daher hat er auch bis 
auf diese Stunde sich die Achtung der bessern Menschen, die 
ihn noch nicht haben, vergeblich zu erwerben gesucht. Woltest 10 
du, Genius des witzigen Englandes, dich nur horen lassen: so 
weis ich gewis, du hieBest den Witz ohne Bedenken wahres 
Platzgold, das stark in die Ohren fallet, sonst aber schlechte 
Miinze ist, und in der That nicht zu falschen Louisd'ors tauget. 
Ich woke, der Witz ware selber da: Vielleicht gab' er sich selbst 
den Nahmen einer bunten Spielmarke der Wahrheit, oder stellte 
sich gar mit dem Papiergelde in eine passende Vergleichung. - 
Wenn schon dem Witze so viel vorzuwerfen ist: so verdienet 
die Satyre vielleicht gar nicht einmal, daB man ihrer gedenkt, 
oder nur eine Satyre auf sie ausarbeitet. Wahrhaftig, wenn ich 20 
der Teufel ware: so wiirde ich ein sehr gutes Werk verrichten, 
und die meisten Satyriker wirklich holen; die ganze Welt wiirde 
mir dieses ausserordentlich danken, und ich hatte dann ein Opus 
supererogationis aufzuweisen; die schwachen Seiten der Men- 
schen, deren es so viele giebt, wiirden dann nicht mehr auch 
die leidende Wetterseite derselben seyn mussen; man wiirde 
dann keine andern Schacher mehr finden als bios buBfertige; 
alle Steckbriefe wiirden sich in vollkommene AblaBbriefe ver- 
wandeln; alle Thronen, Richterstuhle und Kanzelstiihle wiirden, 
welches man vorjetzt vergeblich versucht, aufs Beste besetzet 30 
seyn, und die ganze Welt wiirde aufrichtig die ganze Welt loben, 
und ich mich selbst mit. 



PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO9I 

1st es daher ein Wunder, wenn ich mich bey dieser offenbaren 
Schadlichkeit des Witzes und der Satyre, beyder sehr zu ent- 
schlagen suche, und besonders in meinen witzigen und satyri- 
schen Aufsatzen ihnen wenig Platz zu fassen verstatte? Es ware 
aber sehr zu wiinschen, daft auch unsere schlechten Autoren 
hierin in meine FuBtapfen zu treten sich entschlossen: vielleicht 
wiirde man ihnen dann seltener den Vorwurf eines grossen Wit- 
zes und einer guten Satyre zu machen nothig haben. 
' Vorzuglich bedenk' ich alles dieses genug, wenn ich eine Feder 

10 schneide, um mit ihr etwas Gutes iiber die Geistlichen hinzu- 
schreiben. »Lieber Hasus, sag' ich vorher zu mir selbst, denke 
wohl darauf, was du vor hast, und wenn du nicht vollig gewis 
vorher versichert bist, daB dir nicht das Geringste von Witz 
in deinem Aufsatze entfahren wird: so stehe davon lieber ab; 
wir beyde werden sonst verbrannt, und die Rezensenten stechen 
uns mit ihren Bienenstacheln ganz todt.« Alsdann beobacht' 
ich ein anderes und behutsames Verfahren, und stelle mich vor 
meinen Schriftkasten, in dem bios Schreibelettern stehen, wie ge- 
wohnlich hin. In diesen Kasten - ich schJieBe aber vorher die 

20 Augen zu - greif ich mit einigem Anstand, und hebe nach und 
nach aus ihm so viele Buchstaben heraus, als zu einem guten 
Aufsatze etwan vonnothen sind, welches ein guter Kunstrichter 
leicht bestimmet. Dann ist der Aufsatz, wie es scheint, so weit 
gebracht, daB er ohne weiteres Kiinsteln in die Druckerey schon 
reisen kann, um da durch Drucklettern erst recht vervielfaltigt 
zu werden. Es ist wohl natiirlich, daB. solche Arbeiten nicht 
anders als gut ausfallen konnen: denn der Zufall machet sie of- 
fenbar, welcher wie bekannt einer unserer besten Schriftsteller 
ist; daher gute Atheisten ihm nicht nur die Schopfung der Welt, 

30 sondern auch der Iliade zuschreiben, und gerne fur beyde ihm 
das Macherlohn nicht verweigern. Man diirfte sich nun das 
reichliche Lob, worn it man bisher meine theologischen Aufsatze 
belegte, leicht erklaren konnen, da sie namlich von keiner unge- 
schicktern Hand herkommen, als von der, die man schon seit 
tausend Jahren in der schonen Iliade zu bewundern, nicht ermu- 
den will. 



1092 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Auch der folgende Aufsatz stammt aus mcinem Schriftkasten 
ab, der wie es scheint der Futterkasten aller Seelen, ein Spruch- 
kastgen fur Fromme, ein moserischer Zettelkasten fur mich, und 
der Briitofen der beBten und jiingsten Wahrheiten ist. Ich will 
freylichhoffen, daB in diesem Aufsatze Witz und Wahrheit genug 
vermieden worden: allein hatte sich dergleichen in ihn dennoch 
eingeschlichen, so weis eine billige theologische Welt zu wohl, 
daB bios dem Schriftkasten und dem Zufalle davon die Schuld 
zu geben ist, als daB sie dafiir mich unschuldiger Weise zur Re- 
chenschaft Ziehen und verbrennen soke. 



Man bedenkt es zu wenig oder gar nicht, daB man den Rock 
(d. h. den Stand) verschonen miisse, wenn man den Mann anfal- 
let, so wie man in Siberien die Zobelthiere ohne Verwundung 
ihres kostbaren Felles zu erschieBen sucht, welches auch mit 
bleyernen Bolzen gar leicht zu thun ist, und daB nur schlechtden- 
kende Satyriker mit ihren Pfeilen Rock und Mann zugleich 
durchlochern. Was thun aber gleichwohl die anders, welche 
schlecht genug denken konnen, um durch Satyren den Rock 
oder die Kleidung der Geistlichen anzufechten? Ein guter Staat 
soke so etwas eigentlich gar nicht leiden; wenigstens, will ich 20 
es nicht leiden, sondern auf der Stelle die beste Schutzschrift 
fur ihre Kleidung - sie ist zugleich die anziiglichste Schmah- 
schrift auf die gedachten Satyriker - frohlich ausarbeiten. 

Das vorzuglichste Geschaft der Geistlichen ist, wie bekannt, 
unaufhorlich mit den Teufeln zu fechten, und die besten Religi- 
onskriege mit ihnen zu fuhren. Denn leider horen ja die Teufel 
bis auf diese Stunde noch nicht auf, geschickt auf die Universal- 
monarchie der Seelen Jagd zu machen, und sie hatten sogar schon 
einigemale einen Stadthalter in Rom. Glucklicher Weise sind 
unzahlige Geistliche mit verschiedenen Windbuchsen da, und 30 
auch mit gutem Feuergewehr;* diese jagen den Teufeln die besten 
Seelen ab, lassen Avokatorien ausgehen, und singen schon oft 

* Der Verf. meynt vermuthlich nur einen Pater Merz und seine 
Gesellen. 



PERUCKEN DER GEISTLICHEN 1093 

genug das Te Deum statt eines Kanzelliedes: gewis verdienen 
diese kiihnen Streiter es wenig, daB der Satan sie so oft wider 
alle Billigkeit als seine Sklaven fortfuhret, und es ware zu wun- 
schen, ich hatte soviel Geld, wie irgend ein Konig, so wiirde 
ich gern diese armen Christensklaven aus der Barbarey loskaufen. 
Ich will aber zeigen, warum ihre Montur schwarz ist - sie ist 
es namlich, weil die ihres Feindes es gleichfalls ist. Denn es 
ist bekannt, daB der Satan und alle schwarze Husaren, die er 
unter seine Fahne geworben, sehr viel aus der Schwarze machen, 

ro und ihr ganzes Wesen gern damit tingiren.* Warum solten nun 
hier die Geistlichen nicht zu einer vollig unschuldigen Kriegslist 
ihre Zuflucht nehmen diirfen? Wenn sie namlich sich anstellen 
- und das ist leicht - als ob sie selbst mit unter die Schwarzen 
gehorten: so spielen sie dem Satan einen verdammten Streich; 
sie rekognosciren seine Starke unangetastet, und thunihm unter 
dem Deckmantel seiner Parthey manchen Schaden. Am besten 
fahren freylich die Geistlichen dabey, die mit dieser Farbe nicht 
bios ihren Rock, sondern auch ihr Wesen aufputzen; diese ver- 
mag der Satan dann vollends gar nicht von seinen Freunden 

20 zu unterscheiden, und sie konnen mit aller Gemachlichkeit hin- 
ter seine Starke und seine Geheimnissc gelangen: aber auch die- 
jenigen Pries ter, an denen nur der Rock schwarz ist, machen 
dem Teufel ein Blendwerk vor, der sie hernach ohne Bedenken 
zu den Advokaten schlaget, die an manchen Orten (in Paris) 
in einem schwarzen Anzuge herumlaufen. 

Man kann hier bemerken, daB die gewohnlichen Schutzredner 
der geistlichen Kleidung ihrer Sache wahren Abbruch thun, 
wenn sie die Unterscheidung von andern zur Absicht dieses 
Anzugs machen. Wie? Der schwarze Rock soil die Montur seyn, 

30 die einen Prediger von andern auszeichnet? Wenn das ist: so 
unterscheide ich mich auch von andern Menschen, wenn ich 
zuweilen narrisch bin. Aber dieses Unterscheidungszeichen 
hanget ja an alien; in der Trauer geht man schwarz; an den ersten 

* Diese Schwarze haben nicht wir Christen zuerst am Teufel be- 
merkt, sondern schon die Heiden gaben sie ihrem Teufel dem Pluto; 
seine Priester und seine Opferthiere waren daher schwarz. 



1094 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG 

Festtagen traget sich der Zuhorer so gut schwarz, wie sein Pre- 
diger; selbst der Stutzer gauckelt in schwarzen FliigeUecken 
herum; obrigkeitliche Personen, und an vielen Orten die Advo- 
katen zieren sich mit einem schwarzen Gefieder, und sogar die 
Haut ganzer Volker ist mit dieser Farbe uberschattet. Mich 
diinkt, was ich mit jedem gemein habe, das kann mich nicht 
mehr von jedem unterscheiden. Zum Gliicke ist auch eine so 
lacherliche Absicht den Geistlichen niemals in den Sinn gekom- 
men, und sie wiirden gewis einen bessern Weg, sie zu erreichen, 
, einzuschlagen verstanden haben. Ich wolte wetten, sie hatten 10 
dann alle zur weiBen Kleidung gegriffen; diese tragt fast nie- 
mand, als zuweilen die Frauenzimmer und als die Unschuld, 
die noch dazu nur selten erscheint. Die weiBe Farbe ist die Flagge 
des Christen thums, und in seinem Wappen die schicklichste 
Tinktur; daher giengen auch in ihr die Pries ter der Alten und 
der ersten Christen, desgleichen sieben Tage lang die Neuge- 
tauften; und sie riihret so sehr, daB mich verschiedene Frauen- 
zimmer, nachdem es andere mit weifier Schminke vergeblich ver- 
suchet, mit weifler Kleidung zu ihrem groBten Vergniigen 
wirklich gefangen haben. Also wie gesagt, hatten sich die 20 
Geistlichen durch den Rock ausnehmen wollen: so hatten sie 
sich weiBe Kleider bestellet, wenigstens waren sie doch wahr- 
haftig gleich den Schornsteinfegern am Sonntage weis erschie- 
nen. 

Mit wahrem Vergniigen nehme ich wahr, daB ich nicht nur 
sehr geschickt die geistliche Kleidung von der Andichtung, daB 
sie unterscheiden sollen, wirklich losgemacht, sondern, daB ich 
auch ganz gut ihre wahre Bestimmung ins Licht gesetzt, namlich 
einc spashafte Ahnlichkeit mit dem Teufel zu verleihen, der 
von den Geistlichen stets angefallen wird: So behauptet der 30 
groBe Origenes, daB die ersten Eltern sich in die Haut der 
Schlange gekleidet, die sie beriicket hatte. Allein es ware (iberaus 
schlecht von mir gedacht, wenn ich schon aufhoren wolte: Ich 
entdecke daher noch gar viele und wirklich gute Bestimmungen 
an der geistlichen Kleidung. 

Denn sie macht ferner auf eine auffallende Weise jeden, der 



PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO95 

sie tragt, ausnehmend heilig, welches mir lieb seyn kann. Uber- 
haupt ist zwischen einem Rock und einer Seek fast gar kein 
Unterschied, und die Giite des einen laBet sich ohne die Giite 
der andern vielleicht nicht denken. Daher haben freylich die 
offenbar Recht, die behaupten, daB das ganze jiingste Gericht 
darin bestehe, daB wir samtlich von den Engeln in ein groBes 
Gewandhaufi gefahren werden, wo das Tuch, das jeder bey sei- 
nen Lebzeiten getragen, genau und uripartheyisch befiihlet und 
geschatzet wird, und daB nur diejenigen wirklich verdammt 

10 wiirden, die als Bocke schlechte Tuchwolle und keine spanische, 
und mithin kein Kleid der Tugend anhatten. Daher ahmet man 
am Hofe das jiingste Gericht sehr nach, und sieht die Person 
nicht an, sondern bios den Rock; selten wird da ein guter Rock 
verkannt, und man schatzet zu alien Zeiten an ihm Witz und 
Verstand sehr. Was das schone Geschlecht anlangt: so flieBet 
die Schonheit, womit es uns das Herz abgewinnet, und uns 
vor sich auf die Knie niederdruckt, ganzlich aus seinem Anzug 
her, und keine wohlgekleidete Dame wird es in Abrede seyn, 
daB sie schon genug ist, und vielleicht fast zu viel Leim an sich 

20 traget, um die Fliigel des Amors an ihrem Korper als einer Leim- 
stange ordentlich anzukleben. Wird nun Verstand und Schon- 
heit vom Anzuge ganz und gar verliehen: wie viel leichter From- 
migkeit, die so weit unter beyden stehet! Daher ist es zur Tugend 
gar nicht vonnothen, daB man ein stark besetztes buntes Kleid 
anhabe; sondern es ist schon vollig hinJanglich, wenn man nur 
einen gewohnlichen schwarzen Rock anzieht; dieser schenket 
vielleicht mehr Heiligkeit als ein ganzer Ozean von Weihwasser, 
und man kann es fast fur einerley ansehen, den alten Adam 
aus- oder einen schwarzen Rock anziehen. Den Grund davon 

30 auszuspiiren, dazu gehoret vielleicht die beste Nase; ich glaube 
aber doch, nicht ganz von der Wahrheit abzukommen, wenn 
ich behaupte, daB die Sache vollig so ist: Die schwarze Farbe 
- das hat Newton so lange er lebte, gesagt - schluckt die meisten 
Strahlen ein, und giebt die wenigsten von sich; nun bestehet 
offenbar der Geist der Frommigkeit in etwas Ahnlichem, in 
einem innern Lichte, das sich nicht mittheilet, und dessen Ver- 



IO96 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

steckung die meisten mit dem Nichtdenken augenscheinlich 
verwechseln; es kann also, wo der schwarze Rock ist, diese in- 
nere Beschaffenheit der Seele, da der Korper auf die Seele einen 
allmachtigen EinfluB hat, und da sie sich nach ihren taglichen 
Empfindungen modelt, wohl nicht lange aussen bleiben. Dazu 
kommt die Erfahrung, die auf alles dieses ein besonderes No- 
tariatssiegel druckt. Man ziehe namlich einem wohldenkenden 
Geistlichen - in vielen Fallen gliickt die Probe - das Priesterkleid 
aus, und thue ihm einen Uberrock, der aber eine andere Farbe 
haben muB, fertig urn, und bringe ihn dann nach dieser Reduk- 10 
tion in eine Gesellschaft, welche werth ist, aufgehangen zu wer- 
den: Wenn er da nicht noch mehr spaBet, schworet, larmet, ver- 
laumdet als sie: so bin dafiir ich werth aufgehangen zu werden; 
aber ich kann hoffen, daB er noch schlimmer ist. Und dennoch 
riihret diese ganze Veranderung desselben, die den Grundsatz 
nemo fit repente turpissimus genugsam widerleget, von einer 
blofien Veranderung seiner Kleidung her: Denn man gehe nur 
weiter, und gebe ihm den schwarzeii.Rock wieder und heb' ihn 
auf die Kanzel: so wird ein wahrer Heiligenschein aus seinem 
Kopfe dringen, seine Zunge wird die Luft, in die heiligsten Be- 20 
wegungen setzen, er wird die Tugend mit den holdesten Farben 
vor die Augen eben dieser schlimmen Gesellschaft mahlen und 
iiberhaupt so reden, daB ich den Klingelbeutel nicht mehr hore, 
und ganz geriihrt wieder fortgehe. So giebt es einige Vogel, 
die ihren fremden Gesang allezeit vergessen, wenn sie sich mausen, 
und die ihre Kehle mit ihrem Gefieder andern. Ich wiinschte 
nur, der Leser zoge jetzt einen alten schwarzen Rock zum SpaBe 
an, so wiirde er finden daB ich recht habe, und daB er dadurch 
von seiner alten Bosheit, Intoleranz und andern Fehlern auf der 
Stelle genug verlohren habe. Wenigstens erinnere ich mich noch 30 
wohl, daB ich einmal, da ich einen Freund zu Grabe begleitete 
- mir einen schwarzen Rock borgen muBte, und in ihm herum- 
gieng: Lieber Himmel! Warum machst du mich nicht alle Tage 
so, wie ich damals im gedachten Rocke war, indem ich einen 
schlechten Satyriker abgab, an verschiedene Sterne dachte, und 
den Tod, dessen Glieder auf dem Gottesacker umherlagen, gern 



PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO97 

ansah und anfiihlte ... Wahrhaftig, der alte Rock wirkt so in 
mich, daB ich jetzt wieder weine . . . 

Es ist so schwer, ein Geistlicher zu seyn, es fodert so viele 
Verlaugnungen in dem fortreiBenden Wirbel der Freuden und 
Beyspiele, daB wir alle ausserordentlich froh seyn solten, daB 
nur ein schwarzer Rock im Stande ist, ein so seltenes und wichti- 
ges Wesen zu erschaffen. Ich denke jetzt an die Kleider und 
an das SchweiBtuch Pauli: Ich wolte, ihr waret Mode, oder es 
konnte euch der Doktor statt des Doktorhutes kaufen; denn 

10 ihr konntet jeden heilen, der euch angrif , und das kann der beBte 
Doktorhut selten. Aber wir konnen doch etwas kaufen, das euch 
noch iibertrift; wir konnen namlich uns einen schwarzen Rock 
erhandeln, der die Seele wieder herstellet: Denn mancher Geistli- 
cher verrichtet lediglich mit seinem Rocke die groBten Wunder 
der geistlichen Kuren an sich und an andern. Gliicklich sind 
also wohl die meisten Lander, da in ihnen leicht dergleichen 
Rocke zu haben sind: man braucht nur ein ordinirtes Wesen 
hineinzustecken; so hat man ein groBes Pflaster gegen gefahrli- 
che Wunden des Geistes. 

20 Wenn ich mich nicht irre, so ist der Baron O'Cahill ein liber- 
aus verstandiger Mann; denn er giebt den Rath, die Artilleri- 
sten mit einer schwarzen Montur zu begaben, weil sie dann 
noch erschrecklicher seyn wurden, und weil - diesen letzten 
Grund fiige ich hinan - auch dann ihre Gestalt mehr ihrem Ge- 
schaft entsprache. Ich wolte, dieser Baron ware da bey mir; 
er wiirde es gewis gern sehen, daB ich seiner Meynung bin, 
und ein gleiches sogar von den Geistlichen behaupte, die ja eben- 
falls mit den Teufeln kriegen, und vor Zeiten noch mehr den 
Artilleristen glichen, indem sie nicht mit Kanonen, sondern gar 

30 mit Scheiterhaufen verwiisteten. 

Ich gebe denen meinen ganzen Beyfall, welche die schwarze 
Kleidung dem traurigen Geschafte eines Priesters angemessen 
finden. Denn in der That, es sey, daB man ein Christ ist, oder 
daB man Christen macht, so thut man allezeit etwas (iberaus 
trauriges. Man stirbt dadurch der Welt sehr ab, und legt sich 
liber diesen Tod in Halbtrauer. Leider ist jene richtigere Vorstel- 



IO98 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

lung vom Christen thume, die dasselbe zu einer Ponitenzpfarre 
machte, und die christliche Kirche als ein ordentliches Trauer- 
haus vorstellet, jetzt eben nicht mehr haufig, und wird es immer 
weniger; aber um destomehr diirfte man dafur zu sorgen haben, 
daB die einzigen Oberbleibsel jener Vorstellung, namlich die 
traurige Schwarze des geistlichen Anzugs sich nicht endlich auch 
verliehren. Ja man konnte auf diesem Wege noch den zweyten 
Schritt thun: denn da der Geistliche von dem Gegenstande, den 
er behandelt, wie ein Chamaleon seine Farbe entlehnet; so thate 
er wohl, wenn er sie eben so oft anderte. Denn wie die Altare 10 
zu Weyhnachten und Ostern weiB, zur Fastenzeit griin, in der 
Marterwoche schwarz, und zu Pfingsten roth gekleidet werden: 
so soke ein Geistlicher gleichfalls von den verschiedenen Festen 
seine Kleider farben lassen. Warum predigt er am BuBtage 
Nachmittags in derselben Farbe, in der er Vormittags auftrat, 
da er dochhier iiber das Arte, und dort iiber das Neue Testament 
prediget? Nicht so die Rhapsodisten, die die Odyssee in blauer 
Kleidung, und die Iliade in rother absangen. Ja was mich anlangt: 
so wiirde ich die Sache gar zu weit treiben; ich wiirde, wenn 
ich in meiner Predigt zuerst das Gesetz und hernach das Evange- 20 
Hum vorzustellen hatte, wahrhaftig in die FuBstapfen jenes be- 
kannten Mannes treten, dessen Kleid zum Unterfutter ein Tuch 
von anderer Farbe hatte; ich wiirde namlich mit einem ahnlichen 
Kleide die Kanzel besteigen, damit ich, wenn der erste Theil 
in einem gesetzlichen schwarzen Kleide gehalten ware, dann 
nur das Kleid umwenden, und mit einem rothen zum zweyten 
und evangelischen Theile schreiten konnte, wo ruber gewis je- 
der, und ich selbst recht sehr lachen wiirde. 

Dieses sind die wenigen Griinde, die mich bisher abgehalten, 
mit dem Geschrey gegen die geistliche Kleidung auch das mei- 30 
nige zu vereinigen, und nach denen ich nicht anders, als der 
Meynung seyn kann, daB die Geistlichen, so gut wie sonst ihre 
Biicher, schwarz eingebunden seyn miiBen . . . Aber auch ihre 
Perriicken verdienen meinen ganzen Beyfall. 

Denn sie und der groBe Hannibal setzen solche aus gleicher 
Absicht auf; um namlich den Feind zu uberlisten. Hannibal 



PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO99 

machte durch sie, sich bey dem Rekognosciren vor den Romern 
unkenntlich; die Geistlichen bewirken durch sie bey den Welt- 
menschen, daB diese sie fur keine Geistliche ansehen, welches 
ihnen fast allemal gelingt, da die Materie und die Bestimmung 
der Perriicken zugleich mit dem Laster in Verbindung stehen. 
In der That siehet ein schweitzerischer oder englischer Prediger 
mit seinem eignen ungeschmuckten Haare viel zu ehrwiirdig 
und zu simpel aus, und man vermisset an ihm sehr diese Decke 
Mosis von hinten, welche seinem Kopfe den Heiligenschein so 

10 gutnehmen konnte. Hingegen, wenn man auf den Kopfen un- 
serer Geistlichen dieses architektonische Laubwerk siehet, so 
freuet man sich merklich, daB erstlich wenigstens die Aussen- 
seite lhres Kopfes - denn die alten Theologen verfluchten die 
Perriicken - sich mit poetischen Figuren verzieret, und etwas von 
der Kultur znnimmt, und daB sie zweytens wie Narren aussehen, 
statt, daB die Damen mit ihrem Kopfputze bios wie Narrinnen 
ihnen vorkommen. Zu wiinschen aber war* es, daB sie nicht 
auf dem halben Wege ihrer Verschonerung stehen blieben, son- 
dern auch mit den iibrigen Erfindungen der Mode sich umhien- 

20 gen, da sogar schon Juden ihnen das Beyspiel geben, und in 
Berlin jetzt allgemein, trotz ihren alten Rabbinen sich Haarbeu- 
tel anbinden lassen. Soke man beylaufig aber in Zukunft nicht 
mehr darauf denken, Menschen, deren Haare zu Perriicken tau- 
gen, an den Galgen zu hangen: so seh' ich in der That gar nicht 
ab, wie kiinftig, da die Lustseuche immer mehrern kahlen 
Hauptern aus der groBen Welt schone Perriicken aufsetzet, die 
Geistlichen noch in einem anstandigen Kopftracht erscheinen 
wollen, und ich besorge, es fehlet zuletzt ausser den Kopfen auch 
an Perriicken selbst, die in der That wahre aus Haaren gewirkte 

30 Kopfe sind. Die Obrigkeit bedenke dieB nur nicht zu spat, und 
sage selbst, ob sie es wol gestatten konne, daB die Unkeuschheit 
der Eitelkeit ihren Kopfputznimmt, und inn selber aufsetzet. 

Dazu kommt noch, daB es einem Geistlichen, dem der wohl- 
feile Ankauf seiner Kleidung viel zu wenig Kosten macht, ein 
wenig sehr erschweret wiirde, das Geliibde der Armuth zu hal- 
ten, wenn nicht der hohe Preis der Perriicken dieser Ersparung 



1 100 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

einigermaBen wieder das Gleichgewicht hielte, und sie tragen 
.gewis viel dazu bey, daB selten einer etwas hat. Wenn die Per- 
riicken noch gar den Nutzen hatten, daB sie den Geistlichen 
weniger Biicher zu kaufen erlaubten, so sprache fiir ihre Beybe- 
haltung ein neuer Grund und auch Manner, die sonst nicht ge- 
linde und modisch denken, wiirden es nicht miBbilligen, daB 
die Perriicken die Kopfe ein wenig zieren, da sie selbige auch 
zugleich oft ein wenig verfinstern. 

J. P. F. Hasus. 



[DIE ZUKUNFT DER THEOLOGIE] 



»Ich woke, ich hatte der Zukunft den Ring des Gyges niemals 
abgezogen: ich hatte gerade den Doktor Seiler gelesen; ich war 
aber hernach sehr niedergeschlagen.« Diese unvorsichtige Aus- 
serung entfuhr mir neulich in einem Synodus, wo wir gut genug 
iiber den Propheten Daniel disputiret hatten. Ich glaubte nicht, 
daB man sie bemerken wiirde; aber zu meinem grosten Misver- 
gniigen mus ich horen, daB man sie recht wol auffieng. Denn 
yon alien Seiten wird nun in mich gesezt, ich mochte doch das, 

io was ich von dem kunftigen Schiksale der Theologie herausge- 
bracht zu haben schiene, nicht geflissentlich verhehlen, sondern 
alles zum Unterrichte so vieler theologischer Seelen redlich an 
den Tag geben. 

Wahrhaftig es ist sehr gut, daB nicht iede Hand den Betvorhang 
vor der schlafenden Zukunft zuriikzuschlagen vermag: wenige 
Menschen waren gesezt genug, um den Anblik da von auszuhal- 
ten. War' es wol zu wiinschen, daB unsere Orthodoxen, deren 
Lebensgeist die Rechtglaubigkeit ist, welche die symbolischen 
Buch.tr fur die Konsensbucher der Wahrheit halten und welche 

20 die Hofnung ihres Werthes, ihres Gliiks und ihrer Tugend vollig 
auf ihren orthodoxen Glauben sezen, daB diese etwas von der 
Zerstorung auskundschaften mochten, welche die Zukunft ih- 
ren Lehrgebauden und ihrem salomonischen Tempel wirklich 
drohet? Sie wiirden sich wahrhaftig zu sehr dariiber betriiben 
und mit Schaden bemerken, daB einem Orthodoxen keine 
Weissagungen vortheilhaft sind als bios die aus dem - alten Te- 
staments. Desto leichter wird man sich vorstellen konnen, wie 
ungern ich daran gehe, mit Prophezeiungen, die vollig wider 
die Orthodoxen ausfallen, endlich hervorzukommen und es 

30 ware mir wirklich am liebsten, wenn sie solche gar nicht lasen. 
Zwar ziehen einige (iberhaupt das ganze Vermogen der Men- 



1 102 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

schen, die Zukunft zu errathen, in Zweifel - wie wenig sind 
diese beilaufig von den Sozinianern unterschieden, welche sogar 
Got dieses Vermogen absprechen -;■ allein.es ist nur gar zu gewis, 
daB ieder grosse Man ein wahres Wettermangen ist, das die kiinf- 
tige Witterung empfindet und ich gabe selber etwas darum, 
wenn mir dieses gefahrliche Talent versaget ware. Es ist aber 
bekant genug, daB ich es in einem hohen Grade besize, seitdem 
ich nach Paris gefahren; ich wurde da mit dem Marquis Puyse- 
gur vertraut und kam durch ihn und einen Magnet ganz leicht 
in kurzem so weit, daB ich in heftigen Entziikkungen die ganze 10 
Zukunft vor mir unbewolkt und stark beleuchtet schauen kan. 



VOM VERBOTE DER EINFUHR AUSLANDISCHER 

SUNDEN 



Es sind kaum dreissig Jahre, daB die Heterodoxen uns alien in 
der Eile verboten, kiinftighin mehr Siinden von dem Teufel, 
es sei nun daB er existirte oder daB er wie die Tugenden gar 
nicht ware, anzunehmen und zu kaufen: »durch diese Einfuhr 
fremder Ware aus der Holle, sezten sie aus guter Absicht hinzu, 
geht sicher viel Geld (d. i. Tugend) ausser Landes, das wir be- 
halten konten, wenn wir uns die Siinden, die wir am nothigsten 

io brauchen, selbst zu fabriziren suchten und zu diesem Behufe 
die besten Fabriken auf dieser elenden Erde anlegten.« Da ich 
das horte: so billigte ich es wenig und machte die auifallende 
Anmerkung: »wenn wirklich niemand mehf mit Lastern, es 
mogen nun schwarze, oder schimmernde oder boue de Paris 
farbige sein, handeln darf, die er vom Teufel bekommen, und 
wennz. B. der Spieler seine Vol ten, der Hernhuter seinen geist- 
lichen Stolz, die Hofdame ihre unehliche Treue gegen fremde 
Manner, der Prediger den Elenchus seiner Predigten und ich 
sogar meine Satiren, selber machen mussen:« Ich wolte gar aus- 

20 reden und hinzufugen: »wahrhaftig man wird zu spat einsehen, 
daB davon ein algemeiner Mangel an teuflischen Lastern die 
Folge sein wird«; allein mein orthodoxer Nachbar fiigte es ploz- 
lich hinzu. Inzwischen trieb man das Verbot hernach durch und 
der Teufel wurde keiner einzigen Siinde mehr los; gleichwol 
that das, zum Erstaunen unzahliger Menschen, dem menschli- 
chen Handel mit Siinden nicht den geringsten Schaden und Hu- 
rerei, Diebstahl, Liigen, Falschheit waren als ob gar nichts vor- 
gefallen ware, noch wie alzeit bei iedem Menschen ordentlich 
zu haben: allein die ganze Sache - dies giebt auf einmal Licht 

30 - war folgendergestalt. Schon vor diesem Verbote namlich und 
von ieher hatten die Menschen alle ihre dem Teufel zugeschrie- 
benen Siinden wirklich selbst und in ihren eignen Manufakturen 



1 104 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

zubereitet - wie etwan die Katholiken heilige Reliquien vom 
Verrather Judas oder vom Esel, der Christum getragen, selbst 
zu zimmern und nicht erst durch Tradizion und Kommissions- 
handel zu bekommen pflegen - aber sie hatten nur auf ihrer 
Siindenware die Fabrikzeichen der achten des Teufels nachge- 
stochen und waren nicht immer so ungliiklich, daB sie nicht 
manchen Satiriker beriikket und ihm ihre Siinden wirklich fiir 
wahre des Teufels verkaufet hatten. - Wem fallet hiebei nicht 
das schone Wien mit Vergniigen ein? Jeder besorgte da, als man 
auslandische Ware einzufuhren verbot, daB hollandische, engli- ro 
sche. pp. Tticher auf einmal aus den Kaufladen verschwinden 
wiirden; allein es verschwanden bios ihre auslandischen Namen 
und die namlichen Tiicher wurden nun als Klagenfurther, Bra- 
banter Ware weggemessen. 

Wahrhaftig es ist leicht moglich, daB ich mich noch diesen 
Augenblik heftig dariiber eifere, daB man sonst dem Menschen 
viel zu wenig Ehre anthat und die moralischen Thiere unter 
denselben, die Deskartes die physischen, fiir blosse Maschinen 
ausgab. Ich woke, ich ware damals auf einer Kanzel gestanden; 
ich hatte ohne Bedenken alien damaligen grossen Theologen 20 
widersprochen, die den Menschen zu einer Marionette, an deren 
Faden bald der h. Geist bald der Teufel zoge, hatten herunterse- 
zen wollen. Und dabei wiirde ich mich gluklich auf den Eilhar- 
dus Lubinus bezogen haben. 

Es ware daher recht sehr zu wiinschen, die geneigten Leser 
insgesamt hatten nur das Geringste von der Meinung dieses Lu- 
binus, der zu Anfange des vorigen Jahrhunderts lebte, zufalliger 
Weise gehoret: sie wiisten alsdan sehr wol, daB er namlich der 
Meinung gewesen, alles Bose entsprange eigentlich vom Nichts 
und ware auch sicher Nichts. Wenn dieser vollig Recht hatte: 30 
so brauchten wir gar nicht erst den Teufel um Beistand zum 
Siindigen anzusprechen. Denn ieder von uns hat gluklicher 
Weise sein erhebliches Stiik Feld im grossen Raum des Nichts 
im Besiz und iedem ist, dem einen weniger, dem andern mehr 
davon zu Theil geworden. Es fehlet uns also gar nicht an Stof, 
um uns durch die Erschaffung guter Siinden vor leblosen Wesen, 



EINFUHR AUSLANDISCHER SUNDEN 1105 

die zu so etwas und zu tausend andern Dingen vollig verdorben 
sind, allenthalben genugsam auszunehmen. Hat etwan der 
Theolog A. sehr Lust, sich durch eine intolerante Handlung, 
oder [der] Jurist B., sich durch eine rabbulistische und der Arzt 
C, sich durch eine mo[r]derische von alien seinen Kollegen 
iiberaus zu unterscheiden? Gut, sie konnen sich helfen; sie be- 
wahren alle drei viel von diesem Nichts in ihrem Kopfe auf: 
dieses konnen und mussen sie nun iezt nuzen. Grosses Nichts! 
du bist also gar nicht die Glaze der Natur, oder ein leerer Zere- 

10 monienwagen, den die Metaphysik hinter den besezten fahrenden 
Weltkugeln dareingehen lasset: sondern du bist vielmehr - aus- 
serdem daB ich dich iezt gar zu einem personifizirten Wesen 
erhobenhabe-derwahre Eierstok, aus dem diebesten, niizlich- 
sten und bekantesten Handlungen, die die ganze Welt in Nah- 
rung und Sporteln sezen, allein ausgehekket werden mussen! - 
Und selbst iezt, grosses Nichts! wenn du nicht wares t und 
nicht auf dem gegenwartigen Stuk Papier dich aufhieltest - wie 
konte ich (denn alsdan ware das Papier schon vol) es iezt vol 
machen und hier einen ganz unnothigen Schwanz beifiigen, in- 

20 dem ich folgendes zu sagen nicht unterlasse: man kan mir glau- 
ben, die Welt ist auf ihre Bekehrung seit einigen Jahrtausenden 
besonders bedacht und wil sich schlechterdings nichts hindern 
lassen, den alten Adam augenbliklich auszuziehen, sobald nur 
der Komet, der diese Welt anziinden und verwandeln sol, wird 
da sein: dan werd' ich selber eine Freude dariiber haben und 
sie so wenig zu massigen wissen, dafi ich wahrend dem ganzen 
iiingsten Tage wenig andere Dinge als muntere Bonsmots vor- 
bringen diirfte, unter denen folgendes den auferstandenen sowol 
als den verwandelten Rezensenten am meisten gef alien wird: 

30 »endlich komt die langerwartete Flekkugel der besudelten 
Menschheit und Erdkugel und ihr lieben Christen insgemein, 
nun kont ihr euch geschwind bekehren.« Der Komet ist die 
Flekkugel. 



REISEPASSE IM ANDERN LEBEN 



Da ich von den Gronlandern mit Vergniigen las, daB ihre Prie- 
ster den Todten Reisepasse geben, in denen der h. Petrus um 
ihren Einlas mit verbindlichen Worten angesprochen wird: so 
machte ein Freund von mir, der mit ins Buch sah, die Anmer- 
kung: er glaube nicht, daB so etwas beim Petrus von besonderer 
Wirkung sei. Ich dachte augenbliklich nach und versezte: diese 
und dergl. Sachen konne man wol nicht wissen, solange man 
nicht offentlich oder in der Stille begraben worden. »Und es 
sol mir ein wahres Vergniigen machen, wenn ich Sie nach mei- 10 
nem Tode erschrekken und Ihnen von der ganzen Sache den 
besten Bericht abstatten kan«. Zum Gliik entschlief ich noch 
diesen Abend und meiner Seele wurde, wahrend der Korper 
tod da lag, ein hinlanglicher Unterricht dariiber zu Theil.- Zu 
fruh stand ich auf und nahm meinen Korper und brachte ihn, 
indem meine Seele mit ihren wolgewachsenen Beinen ganz 
leicht in seine fuhr - diese sind sonach die blossen Stiefel der 
geistigen Beine, die Hande sind ihre Handschuhe und was sind 
selbst seine dikken Beine und deren Verwandschaft anders als 
anpassende Unterziehhosen fur den Hintern der Seele? selbst 20 
ihrem Gesicht ziehet sie gegen die Kalte das Gesicht des Korpers 
an und seine Haare sind so beschaffen, daB die Seele sie, in Er- 
manglung eines eignen Haares, zu einer Stuzperiikke brauchen 
kan. Mit meinem Schaden mus ich es iezt erfahren, daB es die 
Rezensenten bei dem Publikum herausgebracht, daB den Auto- 
ren lange Parenthesen ganzlich untersaget sind. Denn was anders 
als dieses Verbot konte mich iezt hindern, der einsichtigstc 
Schuzredner des ganzen weiblichen Geschlechts zu werden, in- 
dem ich auf der Stelle zu behaupten nicht vergasse, daB einer, 
der den Damen ihre grosse Sorgfalt fur ihren Korper zu veriibeln 30 
wagt, es schlecht zu bedenken scheine, daB der Korper das beste 



REISEPASSE IM ANDERN LEBEN IIO7 

Kleid der Seele ist und daB wenn die Kleider des Kleids so vieler 
Sorgfalt wurdig sind, es das der Seele noch weit mehr verdienen 
miisse?- wirklichso weit, daB er vor meinem Freunde erschien, 
so daB ich nach meinem Tode ihm die ausfuhrlichste Nachricht 
von den Reisepassen ertheilen konte, die iezt der Leser gleichfals 
zu unserm wechselsweisen Vergmigen bekommen sol. 

Ich stand neben dem Petrus und war daher leicht im Stande, 
alles zu horen und zu sehen. Zuerst kam ein rechtschaffener 
Hofbedientegegarigen: er iiberreichte dem Petrus, indem er mir 

10 einen erheblichen Theil seines Buklings mit zukommen lies, 
ein Empfehlungsschreiben, das ihm der regierende Minister stat 
Geldes geschenket hatte. Petrus las es mit einer Mine, die halb 
auf das Papier und halb auf den Hofbedienten gerichtet war 
(und ich hielt die Ekke des Papieres mit) und sagte: er miisse 
erstaunen, da dieses Schreiben nicht an ihn, sondern an den Mi- 
nister eines andern Hofes gerichtet sei. Der Hofbediente: er habe 
es mit Wissen gethan, er hoffe aber, es schade allenfals nicht. 
Der Petrus erklarte ihm, daB die Hofbedientenseele in diescm 
Schreiben unter die schwarze Wasche der Menschheit gezahlet 

20 sei und daB ihm darin mehr Fehler schuld gegeben wiirden - 
als, fieng ich an, ein guter Tragodiensteller seinem Helden 
schenken wird, da er keine ganz unvolkomnen Karaktere schil- 
dern darf - Der Hofbediente wuste in seinem Erstaunen nicht, 
wen von uns dreien er anschauen soke. Endlich unterbrach es 
Petrus: »es solle ihm lieb sein: denn ware er besser von diesem 
Minister geschildert worden oder hatte ihn derselbe gar mit 
Lobspriichen versehen: so wiirde er nicht umhingekont haben, 
eine schlimme Meinung von ihm zu fas sen; so aber konne er 
in Gottes Namen eintreten.« Ich wil mich gern eines Bessern 

30 belehren lassen; aber solte es denn ganz unmoglich sein, daB 
die Minister zuweilen rechtschaffenen Leute[n] solche Uri as- 
brief e unter der Gestalt von Empfehlungen aufnothigen, um 
mit geringen Kosten ihres irdischen Wols etwas Wichtiges fur 
ihr geistiges zu thun, indem sie sie durch diese Verunglimpfung 
bei dem Petrus in den besten Kredit sezen und den Pasquin 
zu einer Ehrensaule gebrauchen? 



DUMHEIT SCHIKT SICH AUF ALLE WEISE 
FUR DAS GEMEINE VOLK 



Allerdings ist die grosse Welt der geschikte Zeremonienmeister 
der geringen; sie giebt wahre Prachtgeseze, welche den Puz nicht 
wie die gewohnlichen einschranken, sondern verandern und 
vermehren und zum Anstande richtet sie fahige Korper mit be- 
sonderem Glukke ab: allein ich bin fest iiberzeugt, daB auch 
der Philosoph zuweilen bei ihr in die Schule gehen wenigstens 
bospitiren konte; es ist gar nichts seltenes, bei ihr Meinungen 
anzutreffen, die man drukken konte und die den Beifal eines 10 
ieden, der ihnenbeipflichtet, leicht erhalten durften. Unter diese 
hervorstechenden Meinungen darf man auch die mit stellen, 
daB die Dumheit dem Pobel sehr wol lasse; diese ist unter den 
Grossen gewis kein rarer Vogel und ich habe sie bei ihnen zuerst 
gehoret: iiberhaupt nehmen sie sich dadurch recht sehr vor dem 
Pobel aus, daB sie ihn nicht, wie er sie, bewundern, sondern 
vollig verachten. 

Verstandiger Aphthonius! der du ohne die geringste Hiilfe 
des Peuzers, allein die aphthonianische Chrie erfunden! Ich 
wiinschte, ich hatte sie nicht ganzlich vergessen und sasse noch 20 
in tertia; so ware so wol ich als der Leser -iezt gliiklich genug: 
ich wiirde dan meinen Saz gehorig durchzufuhren und nicht 
nur mit dem laus auctoris anzufangen, sondern auch mit der 
conclusio ganz aufzuhoren wissen. 

Uberhaupt ist es schon an sich sehr anstossig und wirklich 
auffallend, daB der Pobel Verstand haben wil, da Leute auf ihn 
gern Verzicht thun, die weit besser sind und die Gewicht genug 
haben. Wahrhaftig Personen, welche gar nicht zum gemeinen, 
sondern zum vornehmen Pobel, nicht zur Unterhefe, sondern 
zur Ober- oder Spundhefe des gemeinen Wesens gehoren, welche 30 
auf Ehrenstufen mit Anstand stehen, die so gut wie lange Stelzen 



DUMMHEIT SCHICKT SICH AUF ALLE WEISE 1109 

sind, und welche in dem theuersten Anzuge einhergehen, dieser 
vornehme Pobel hat vom Werthe der Aufklarung einen richti- 
gen Begrif, weis sie mit Vergniigen zu entrathen und wil sich 
den Kopf nicht aus Verzweiflung einstossen, wenn er denselben 
verloren hat - und gleichwol verlangt der ubrige Pobel, der 
doch so sehr geringer als der vornehme ist, sich hierin ganz 
besonders vor diesem auszunehmen und wil ohne Scham einen 
Verstand und siehet offenbar auf einen wolgemachten Kopf auf? 
Der hohe Adel des Pobels, der sich durch seine Zufriedenheit 

10 mit iedem Schiksale seines Verstandes zuweilen den schimpf- 
lichsten Unannehmlichkeiten blosstellet, ist doch iron, da(3 er 
nur Verstand in irgend einem Grade besizet; und der niedrige 
Adel desselben, von dem niemand, nicht einmal seine Obern 
Verstand begehren und fodern, dieser ringet und iaget wie nar- 
risch darnach? Dieses kan sich unmoglich schikken und Mitglie- 
der der Akademie, die hierin dem Pobel ihre Stimme geben, 
sind sehr zu tadeln . . . Ich wolte, irgend eine geschikte rhetori- 
sche Figur ware da: diese wiirde meinen obigen Grund in ein 
weit lebhafteres Licht zu sezen verstchen und es konte wol sein, 

20 daB sie sich vollig so ausdriikte: » die besten Wesen sind blind und 
sehen wenigstens bios Lugen; der Amor, der oft schlaue Leute 
iiberlisten mus und der die besten Augen zubindet, ist so gut 
als stokblind; die Gerechtigkeit, die in ihrem Leben mehr als einen 
Aktenstok durchsehen mus, siehet wenigstens wie ein Nacht- 
wandler durch zugedriikte Augen; das Gluk, das doch die Ho- 
norazioren eines ieden Orts und die grosten Standspersonen zu 
bewachen, zu versorgen und zu unterstiizen hat, thut es gleich- 
wol alles hinter einer Augenbinde; Fakultisten, die liber Leben 
und Tod gutachten, stehen diesem schliipferigen Geschafte nicht 

30 selten ohne Scharfsin vor; Apotheker, die leicht die Nachrichter 
der Arzte werden konnen, wissen oft von der Semiofik der Re- 
zepte soviel wie von der Semiotik der Krankheiten; gross e Kri- 
minalrichter , die doch kein Schmerzengeld bezahlen, konnen 
gleichwol den Quistorp nicht auswendig und foltern gern einen 
Engel, den sie nicht hangen dtirfen; gutdenkende Leute in Husa- 
renmontur, welche ieden nur zum Husar anwerben, sind so ein- 



I HO JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

faltig, daB sie nicht das geringste davon merken, daB ihre Rekru- 
ten, sobald sie zum Regimente kommen, schlechte Infanteristen 
werden mussen; sogar Schauspieler, die niemals einen Prinzen- 
hofmeister besessen oder besoldet oder geniizet haben, treten 
gleichwol das grosse Amt eines Fiirsten vor vielen hundert Zu- 
schauern an und nehmen die grosten Szepter in ihre gichtbrii- 
chige Hande, wie die Universalhistorie oft wahrgenommen; ia 
H. Hasus selbst, der einigermassen narrisch ist und der in ver- 
schiedenen Fachern der Gelehrsamkeit noch wenig gethan, der 
schreibt ohne Bedenken den gegenwartigen Beweis, daB Dum- 
heit sich auf alle Weise fur den Pobel schikke. Wenn nun solche 
Leute ohne alien Verstand arbeiten; ihr lieben Fragzeichen, ein- 
fache und doppelte insgesamt! sagt mir, wie kan der Pobel sich 
seiner anmassen wollen, der keine rationes dubitandi et deci- 
dendi, keine Pillen, keine Todesurthel, keine Rekruten, keinen 
Fiirsten und nicht einmal einen Aufsaz zu machen verbunden 
ist, in welchem ganz gut bewiesen wird, daB die Dumheit sich 
vollig fur ihn schikke?« 



BRIEF AN EINEN 
ANGEHENDEN SCHAUSPIELER, 

mit einigen Warnungen vor der Verhunzung des lustigen Trauerspiels 
oder der hohern Komodie 



M[ein] H[err!] 

Ich habe Ihrem H. Vater die ganze Sache vorgestellet. Ich 
glaube, er hatte wahrhaftig das Kodizil noch gemacht, so tol 
war er: da ich ihm aber vorhielt, er soke sich doch nur recht 
in Ihre Lage denken und untersuchen, ob Sie wol bei Ihren 

io Schulden, bei Ihrem zerstreuten Leben und bei Ihrer Unwissen- 
heit - ich schilderte ihm das alles iiberaus gros ab - etwas anders 
hatten werden konnen als ein Komodiant: so anderte er doch 
die Mine und hernach die Sprache und er erkent Sie (Sie diirfen 
mir trauen) am Ende gewis wieder fur seinen Sohn. Zulezt that 
ich gar einen guten Spas hinzu: »Es wird weder Sie noch Ihren 
H. Sohn reuen, daft er, der bisher keine Stunde des Tags sich 
als ein Gelehrter oder Sparsamer erwies, nun sehr oft von 6 Uhr 
bis um 9. bald der erste bald der andre in hohern Grade wird 
sein mussen, wenn man den Gelehrten von Lessing und den 

20 Geizigen von Moliere anders noch giebt: sinds aber diese Stiikke 
nicht, so sind andre da.« 

Wenn der Wiirzkramer nicht Kigt, der Sie in der Ostermesse 
spielen sah: so konnen Sie keine mittelmassige Fahigkeit zum 
Theater haben; allein darum konnen Sie doch nicht iede Ausbil- 
dung von sich weisen. DaB Sie Lessing nicht lesen, das heiss* 
ich sfelber] gut; er schreibt den Schauspielern Riiksichten vor, 
ohne die sie sich auch Lob genug erzwingen konnen und es 
kostete die groste Mtihe, seine Lehren zu fassen und zu volfuh- 
ren. Aber daraus folgt nicht, daft* es Ihnen nicht in d[ie] Lange 

30 Schaden brachte, wenn Sie auch das Studium der Litteratur und 



II 12 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

Theater Zeitungund die dramatischen Abhandlungen in Roma- 
nen auf die Seite schoben. Die Theater Zeitung ist gut und sagt 
Sachen liber das Theater, die alzeit gut ins Ohr fallen; und die 
dramatischen Abhandlungen in Romanen sind so gut und fast 
noch besser als ihre Verfasser sie bei ihrem Mangel an Beobach- 
tung nur machen konten: und wie sehr solten die Rezensenten 
sich schamen, daB sie hieriiber nicht eins sind. Nur ists schlim 
und nicht sehr verzeihlich, daB so wenige dramatische Abhand- 
lungen liefern: zum wenigsten konnen sie nicht die Schwierig- 
keit der Unternehmung vorwenden, da es eine leichte Sache 10 
ist und man solche Abhandlungen ohne Menschenkentnis ma- 
chen kan. / Ich seze mich daher oft hin und entwerfe fur das 
Theater manche Beobachtungen und Vorschriften, die man 
vielleicht bei manchem nicht findet, dem man dafiir iibrigens 
blosse Theater und Weltkentnis nicht abstreiten kan. Nach und 
nach brachte ich einen ganzen Band zusammen. / Mich wun- 
derts iiberhaupt, daB der grosse Mangel dramatischer Vor- 
schriften keinen schlim mern Einflus auf die Schauspiele noch 
geaussert hat. Uber manche z. B. die lustigen Trauerspiele hat 
man noch gar keine giildnen Regeln; ia die Kritiker ziehen fast 20 
alle auf dem irrigsten Wege und sjelbst] das Wort lustiges Trau- 
erspiel must' ich mir erst dazu erfinden nach der Art der weiner- 
lichen Komodie. Ich wil Ihnen hieriiber meine Bemerkungen 
schreiben: Sie thaten mir dan einen Gefallen, wenn Sie sie 
etw[an] einem Buchhandler in Leipzig (Weigand) wiesen und 
ihn durch diese Probe zum Verlage zu bereden suchten; und 
vielleicht lassen Sie nachher die Schlusse, die [ich] daraus bringe, 
auch auf dem Theater nicht ohne Unterstuzung. 

Das lustige Trauerspiel, welches vielleicht die feinste Komo- 
die in der Welt ist, konnen die Deutschen sich vor vielen Volkern 30 
anmassen, so wie den Hanswurst: sie erfanden und erzogen es 
und London und Paris that dabei soviel als nichts. Gleichwol 
oder vielmehr eben darum - denn der Deutsche schazet ia nie 
das hoch, was er selber hat und ihm schmekket wie den Kindern 
und Dieben fremdes Brod besser als eignes; nur von einer Reise 
nach London und Paris weissagt er seinem Geiste wahre Nah- 



BRIEF AN EINEN ANGEHENDEN SCHAUSPIELER III3 

rung und zieht wie viele Okonomen die Viehweide der Stalfiit- 
terung vollig vor - also eben darum legte man bisher auf das 
lustige Trauerspiel so wenig Gewicht, dafi ich in der Stube her- 
umgehen und erst [auf] einen Nam en fur dasselbe sinnen muste. 
Denn seinbisherigerName - burgerliches, historisches p. Trau- 
erspiel hies mans - war so gut als keiner; ia nicht einmal so 
gut: denn unter Einem Namen kan man doch wahrhaftig nicht 
das wahre Trauerspiel, das Thranen regnet, und das lustige 
Trauerspiel, das Lachen abgewint und das sich iiber die Komodie 

10 in nichts als der Feinheit des Lacherlichen erhebt, zusammen- 
schliessen wollen und es ist doch ein Unterschied der Wirkung 
den ieder spurt, ob ich einem ordentlichenTrauerspiel von Gothe 
oder Ifland, oder ob ich einem sogenanten von seinen Nach- 
ahmern zuhore und zusehe: ienes beweget mein Herz, dieses, fals 
es gut ist, mein Zwergfel und ich kan iiber beide nur sehr entge- 
gengesezte Thranen vergiessen. Schlim ists, dafi Heilige und 
Muhfammed] sonst sogar Thiere von den Todten auferwekken 
konten, und dafi keiner von uns alien nicht einmal den besten 
Menschen wieder belcften kan; licb[cr] Lord Kaimes und Lessing, 

20 ware nur das nicht, so machte ich [euch] beide lebendig, damit 
die Welt und Deutschland wieder 2 Kunstrichter hatte. Freilich 
werden viele denken, ich hielte fiir beide die Welt noch schadlos: 
allein [ich] mochte, ich wiiste warum und in wie weit. 

Es mus fiir einen, der nicht denkt, unerwartet sein, dafi gerade 
das verbesserte Trauerspiel der Anlas zur Erfindting der feinen 
Komodie war; und doch ists nicht anders. Ohne den Druk der 
gothischen T[rauerspiele] und die Ubersezung d[er] Sha- 
kesp[eareschen] war' uns sicher die Erfindung noch lange (ia 
wer kan dafiir biirgen, ob nicht auf immer) unvergont geblieben: 

30 denn diesen beiden miissen wir ausser dem Ruhm ihres inneren 
Gehalts, noch das Lob eines zufalligen Verdienstes bewilligen 
und ihre tragische Stimme wekte uns verschiedene komische 
Genies aus dem Schlafe. Ich suche damit gar nicht den komi- 
schen Genies mit einer d'Alembertschen Tiikke das Verdienst 
dabei abzuakkern; - in der That dem Gothe das Lob einer Erfin- 
dung zuschlagen, zu der [er] hochstens der Anlas und das Werk- 



II 14 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

zeug war, ware eben so ungerecht als iene Strafe auf der andern 
[Seite?], mit der ein franzosisches Gesez die belegt, die ohne 
Vorwissen die Instrumente der Falschmiinzer geschmiedet hat- 
ten - allein miissen nicht die komischen Genies sfelber] gestehen, 
daB iene [?] Tragodie viel zu ihrer Erschaffung des lustigen 
Trauerspiels beitragen konte, indem sie, weil Anspannung auf 
der einen Seite den Menschen bald zum Gegentheil hinuber 
biegt, weil, so wie der Schmerz oft der Hof um die Sonne des 
.Vergniigens ist, auch umgekehrt . . . Oder konnen nicht, so 
wie Milton den ersten praexistirenden Keim zu seinem Helden- 10 
gedicht aus einer italienischen Komodie aufschnapte, eben so 
umgekehrt iene erhabnen Trauerspiele die puncta salientia zu 
lustigen Trauerspielen geliehen oder befruchtet haben? So be- 
haupten die alten Theologen, der Teufel wurfe zuweilen 
menschlichen Samen in ein Thier, das ihn alsdenn in eine Misge- 
burt ausbildet, iiber die man sehr lachen konte wenn man 
woke. / So geben Landplagen und p. dem satfirischen] Hofman 
mehr Vergniigen als Misvergniigen und machen ihn zu einem 
nur desto munterern Geselschafter des* Fiirsten. Leonard da 
Vinci fragtfe] die Landschaftsmaler warum sie nicht genau die 20 
regellosen Flekken an Mauern und Wanden besahen, da solche 
Flekken oft die besten Ideen zu den bestgeordneten Landschaften 
erregen konten. Warum sol ich nun glauben, daB ihr nicht diese 
Erinnerung genuzet und manche Keime des Lacherlichen mit- 
genommen und begossen habt? Ich wil iezt beide Trauerspiele 
zusammenhalten und in dieser Vergleichung auf die Keime, An- 
lasse des Lacherlichen weisen, die ienes von diesem genommen, 
wie Plutarch seine Helden vergleicht: ich gebe dadurch zugleich 
eine kleine Theorie von dem lustigen Trauerspiele und mache 
iiberhaupt dadurch meinen Aufsaz sehr gut. Auch begegne ich 30 
dadurch am besten dem Wahne, daB sie Parodien dieser Trauer- 
spiele; denn die Parodie macht das Trauerspiel lacherlich und 
liebt niedrige Szenen, dies thut das lustige Trauerspiel nicht: 
bios dem erschlaften und graslich kalten Paris ist die Parodie 
eigen, iener Affe hinter dem Prediger. 

Freilich das komische Genie hat das lustige Trauerspiel schon 



BRIEF AN EINEN ANGEHENDEN SCHAUSPIELER II 1 5 

von der Natur her: sonst konte die Veranlassung zum Lacherli- 
chen immer vor ihm liegen, er wiirde sie nie benuzen, noch 
minder ein lustiges Trauerspiel daraus entfalten. Daher sind sie 
von der Natur mit allem Auss[ern] des komischen Talents aus- 
gestattet; sie sind - wie Sulzer und [Addison anmerken] - die 
ernsthaftesten Leute von der Welt, wie alle grosse Lacher und 
selbst indem sie ihre Tragodie machen, bewohnet ein so lacher- 
licher Ernst ihr Gesicht, wie er bei iedem ist, der sfelber] nicht 
lachet, um es andere desto mehr zu machen. Auch ihrer Trago- 

10 die wissen sie die Larve und das Kleid des Ernstes so fest anzu- 
knupfen, daB nur feinere Kenner den Spas dadurch sehen kon- 
nen, und daB wol mancher Einfaltige sich tauschen lasset und 
nicht weis, ob er lachen oder weinen sol. Denn nicht ieder weis 
wie Klinger und gar Schiller die zwei Talente Yoriks zu vereinen 
und wirklich in demselben Stiikke den Kenner durch Running 
und Lacheln zugleich zu befriedigen: aber man kan sie eher be- 
wundern als nachahmen und die gewohnlichen Kopfe bleiben 
am besten bei dem Lachen. 

In der eigentlichen Tragodie miissen nicht zu wenig Fiirstcn 

20 ihr Spiel treiben: besonders glauben die Pariser, bios die Grossen 
konten am besten Schrekken und Mitleiden erregen und ein 
ehrlicher Burger kan da eher . . . Millionen erwerben als in einer 
Tragodie vorkommen. Zulezt muste d[ie] Krit[ik] ein besonde- 
res Nebengebaude auffuhren, das die Biirgerlichen fur sich ge- 
miethetund das bis auf diese Stunde das biirgerliche Trauerspiel 
heisset.* Unsere komischen Kopfe bemachtigen sich nun der 
Grossen als gute Schildhalter des Lacherlichen, als polirte Mar- 
morblokke, um daraus den Satyr und die Krote zu holen: denn 
ein Grosser dient zum Lachen und Weinen gleich sehr und 

30 gleicht dem . . . Sylbenmaas, das in London zu feierlichen und 
in Paris zu burlesken Versen gebraucht wird. Zwar war schon 

* Auch die Komodie wird von keinem Burger geziert und die Gros- 
sen haben es nicht gern, daB iemand anders lacherlich gemacht werde 
ausser ihnen: wie der Mensch das Endliche durch das Unendliche erkent, 
so komt es ihnen vor, man konne durch ihre Thorheiten auch die des 
gemeinen Volks kennen lernen. 



II 1 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

den Franzosen der Schaz von Lacherlichem bekant, der aus den 
Grossen zu holen ware; und die Grossen sjelber], die weil sie 
sjelber] gern lustig sind, in einer Komodie so viel Lacherliches 
als moglich verlangten, legten sfelber] den Dichtern das Gebot 
auf, nur iiber sie zu lachen; p. allein die Franzosen nuzten dieses 
Emanzipazions-[?] und Gnadeniahr wol weniger als sie konten: 
ich fragte einmal einen Englander darum, ob die franzosische 
Komodie Lachen errege; [er sagte] er konne es zwar nicht beia- 
hen aber auch [nicht] verneinen: denn er habe unter der Komodie 
zu fest geschlafen. Ich bilde mir ein, daB unsere Kfomodien] 10 
zwei bessere Wege giengen, von den Grossen einen lacherlichen 
Gebrauch zu machen. Sie gaben [ihnen] eine niedrige pobelhafte 
Sprache, wie Skarron und Blumauer, liessen sie stat der Zwei- 
deutigkeiten Zoten, stat der Schwiire Fliiche sagen: mit einem 
solchen Kontrast [?] konten sie das Lachen kaum verfehlen: denn 
so wie ich nichts ehrwiirdigeres, weiseres p. kenne als Fiirsten 
und ihre herabgehende Tonleiter (niedersteigende Zeichen), so 
weis ich mir auch keine grossere Disharmonie zu denken, als 
solche Personen eine Sprache reden zu lassen, die vielmehr denen 
angemessen ware, die ihnen ganz unahnlich waren. (Wiener, 20 
Prager Tragodien) 

Ich untersuche nicht, ob daher wirklich e[inige] Rezjensenten] 
auf den Schlus verfielen, daB unsre Trauerspiele die Sprache 
der grossen Welt [so gut nachahmten] als in unsern Tagen die 
Sprache der Thiere: wahrhaftig ihre Kentnis ihrer Sprache ist 
nicht ungewisser als die ihres Innern und man diirfte, wie ich 
glaube, diese doch als einen Biirgen von iener gelten lassen, 
so wie ein Reisebeschreiber, der die Sitten eines Volks be- 
schreibt, sicher auch seine Sprache reden kan und ein Lexikon 
derselben mit beidrukken lassen konte, wenn er wolte.* Fassen 30 

* An Stummen den Affekt studieren; und an den Thieren, die die 
Stummen der Erde sind; die mus der Schauspieldichter und -spieler 
studieren. Daher sind die Thiergarten pathognomische Kupferstiche zu 
den physiognomischen Fragmenten, Gemaldeausstellung, Ohren- 
beicht, Konduitenliste, Zeugenrotull, vererzte Laster, verzogne Name, 
Inizialschrift. 



BRIEF AN EINEN ANGEHENDEN SCHAUSPIELER III7 

sie nicht ihren buschichten Pinsel an und zeichnen die Gross en 
so hin, daB der gemeinste Man sich erinnert, wen er vor sich 
siehtPDenndieNiedern sind die Originale zu den Versteinerun- 
gen in der grossen Welt und man trift die Leerheit eines Hof- 
mans, wenn man seinen Bedienten kopiret; wie man sonst Got- 
ter und Evangelisten mit den Abzeichen der Thiere make und 
bildete: so sezet d[as] kfomische] G[enie] vollig mit Ziigen vom 
Pobel das Bild der Grossen zusammen. Man sagt, der Bediente 
sei gewonlich der Abdruk des Hern; daher kan es wol eines 

io Autors lezte Sorge nicht sein, den Hern durch Bedientenziige 
kentlich zu machen, wie Basedow rath, in die grossen Buchsta- 
ben mit rother Dinte die kleinen hineinzumalen, damit die Abc- 
schuler wiisten, wie ieder grosse hiesse. Wer das laugnet: der 
miiste von alien Rezensenten behaupten, sie hatten mehr aus 
erkaufter Schmeichelei als mit Grunde an so vielen G[enies] ge- 
priesen, daB sie die grosse Welt offenbar aus der pobelhaften 
hatten kennen lernen wie Sonnenfinsternisse im beflorten Spie- 
gel. Aber wie? studiert nicht wirklich der gute lustige T[rauer- 
spieldichter] seinen Hauswirth, seinen Stubenkameraden (wenn 

20 man nicht annehmen wil, er sei von der Universitat schon nach 
Hause), seine Geliebte, den Kaufman, dessen Informator er ist, 
und verschiedene Personen, die ihm aufwarten, mit Fleisse und 
oft genug? oder wagt er, ohne diese Beobachtung der niedern 
Welt, sich an die Schilderung der hohern? 

Das komische Trauerspiel bewirbt sich urn die Belustigung 
durch vornehme Personen auch durch das entgegengesezte der 
pobelhaften Sprache, durch eine aufgedunsene. 

Am schwersten wird man denken, werd' ich zu beweisen 
wissen, daB die . . riihrenden Szenen sie mit dem Samen zu 

30 lacherlichen bereichert haben; allein [man] wird am Ende mer- 
ken, daB ich nicht nur dieses dargethan, sondern auch noch gute 
psychologische Ausschweifungen [?] beigebracht, die am mei- 
sten niizen. 



[FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD*] 



[* Aus dem dritten Teil von Rousseaus Nouvelle Heloise.] 



Lettre XXI 



Sein Vergniigen suchen und seinen Schaden fliehen das ist das 
Recht der Natur, sobald man nicht dabei den andern versehrt. 
Sobald unser Leben fur uns ein Ubel und fur niemand ein Gut 
ist: so ist es erlaubt, sich von ihm loszuwikkeln. Giebt es in 
der Welt einen gewissen Grundsaz: so mus es dieser sein und 
wenn man ihn umrisse, so gab' es keine menschliche Handlung 
mehr die man nicht zu einem Verbrechen machen konte. 

Was versezen nun darauf unsere Sophisten? Zuerst sehen sie 
das Leben fur eine Sache an die uns nicht selber gehoret, da 10 
sie uns geschenkt ist: aber eben weil sie uns geschenkt ist: so 
gehoret sie uns. Hat ihnen Got nicht zwei Arme verliehen? 
Gleichwol lassen sie sich den einen und wenns sein mus beide 
absagen, sobald sie den kalten Brand befurchten. Der Fal ist 
fur einen der die Unsterblichkeit der Seele glaubt vollig der 
namliche; denn wenn ich meinen Arm der Rettung einer vor- 
ziiglichern Sache, meines Korpers aufopfere: so opfere ich mei- 
nen Korper der Rettung einer noch vorzuglichern Sache, mei- 
nem Wolsein auf. Alle Geschenke die uns der Himmel 
zugetheilet, sind ihrer Natur nach Giiter fur uns: aber eben sie 20 
sind nur gar zu sehr zu einer Ausartung ihrer Natur geneigt 
und der Schopfer verkniipfte sie noch mit der Vernunft, damit 
uns diese unter ienen wahlen lehrte. Wenn uns unsere Vernunft 
nicht zur Wahl der einen und zur Verwerfung der andern befugt: 
zu was dienet sie denn den Menschen? 

Diesen so schwachen Einwurf kehren sie auf tausend Arten 
herum . Sie halten den Menschen auf der Erde fur einen Soldaten 
auf seinemPosten. Got, sagensie, hatdichin diese Weltberufen: 
warum entweichest du ohne seine Erlaubnis aus ihr? Aber dich 
selbst hat er ia auch in deine Stadt berufen, warum wanderst 30 
du denn ohne seine Erlaubnis aus ihr? Liegt nicht allemal diese 
Erlaubnis in dem Obelbefinden? An welchen Ort er mich hinbe- 



FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 121 

rufe, ob in einen Korper oder auf die Erde, so sol ich doch 
da nur solang verweilen als ich mich wol befinde; und mich 
fortbegeben, sobald ich schlim daran bin. Seinen Befehl mus 
ich dazu erwarten, ich gesteh' es: aber wenn ich den naturlichen 
Tod sterbe, so befiehlt mir Got nicht das Leben zu verlassen, 
sondern er nimt mirs; nur dan wenn er mirs unertraglich macht, 
befiehlt er mir es abzudanken an. Im ersten Falle widerstrebe 
ich aus alien Kraften, im zweiten erwerb* ich das Verdienst der 
Folgsarnkeit. 

io Glauben Sie wol, daB manche Leute ungerecht genug sind, 
urn den freiwilligen Tod als einen Aufruhr gegen die Vorsehung 
auszuschreien als wenn man sich ihren Gesezen zu entfiihren 
dachte? Denn man horet auf zu leben, nicht um ihnen auszuwei- 
chen sondern um ihnen zu gehorchen. Wie, hat denn Got nur 
uber meinen Korper Gewalt? Giebts eine Stelle im Universum, 
wo ein Wesen nicht unter seinen Handen steht und wird er weni- 
ger iiber mich gebieten, wenn mein ausgereinigtes Wesen einfa- 
cher und dem seinigen ahnlicher sein wird? Nein, seine Giite 
und seine Weisheit sind meine Hofnung, und wenn ich glauben 

20 konte, daB der Tod mich seiner Macht entzoge: so mocht' ich 
nicht mehr sterben. 

Folgendes ist eines von den Sophismen des Phadon, der ubri- 
gens mit erhabnen Wahrheiten glanzet. Wenn dein Sklave, sagt 
Sokrates zum Zebes, sich entleibte: wiirdest du ihn nicht, fals 
du kontest, fiir diesen ungerechten Raub deines Guts heimsu- 
chen? Guter Sokrates! gehoret man denn Got nimmer zu, wenn 
man tod ist? Nicht das, sondern so hattest du sagen sollen: wenn 
du deinen Sklaven mit einem Anzuge belastest, der ihm in seinen 
Dienstleistungen fiir dich beschwerlich fallet: wiirdest du ihn 

30 strafen, daB er diesen Anzug weggeworfen, um besser seine 
Pflicht zu thun? Der Irthum liegt darin, daB man diesem Leben 
zu viele Wichtigkeit beilegt, gerade als hieng' unser Dasein von 
ihm ab und als ware man nach dem Tode nichts mehr. Unser 
Leben ist nichts in den Augen Gottes, es ist nichts in den Augen 
der Vernunft, es sol nichts sein in den unsrigen, und wenn wir 
unsern Korper raumen, so legen wir bios ein lastiges Gewand 



1 1 22 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

von uns. Ists der Miihe werth dariiber so ein Geschrei zu ma- 
chen? Milord, diese Eiferer sind nicht redlich: zugleich grausam 
und absurd in ibren Schlussen, vergrossern sie dieses vorgebli- 
che Verbrechen so als wenn man sich sein Dasein raubte und 
bestrafen es so als wenn man ewig existirte. 

Was den Phadon bet rift, der ihnen das einzige scheinbare Ar- 
gument dargereicht, womit sie fechten; so beriihrt er die Frage 
nurim Vorbeigehen. Sokrates, den ein ungerechtes Urtheil ver- 
damt hatte in einigen Stunden sein Leben einzubiissen, hatte 
gewis nicht von nothen muhsam auszumachen obs ihm erlaubt 10 
sei, es sich zu nehmen; und ein Beweis, daB dieses unsterbliche 
Werk keinen guten Einwand gegen den Selbstmord vortragt, 
ist daB es Kato zweimal in der namlichen Nacht durchlas, da 
er ihn begieng. 

Diese namlichen Sophisten fragen, ob iemals das Leben ein 
Ubel sein konne? Aber wenn man dieses Gewimmel von Irthii- 
mern, Foltern und Lastern iiberschauet womit es liberladen ist: 
so mochte man vielmehr fragen, ob es iemals ein Gut war? Un- 
aufhorlich fallet das Laster den Tugendhaften an und er hat die 
Wahl, ob er die Beute eines Lasterhaften oder ein Lasterhafter 20 
selbst werden wil. Kampfen und Leiden ist sein Loos; ubelthun 
und leiden ist des Bosen Loos: in allem ubrigen gehen sie ausein- 
ander und sie theilen nichts mit einander als die Leiden des Le- 
bens. Was macht wol hienieden das vorzuglichste Geschaft des 
Weisen aus als das daB er sich in sich selbst zusammenziehe 
und sich wahrend seines Lebens todt zu sein bestrebe? Ist nicht 
das einzige Mittel durch das uns die Vernunft von den Obeln 
der Menschheit loshilft, dieses daB sie uns von alien irdischen 
Gegenstanden und von allem was in uns sterblich ist abreisset 
und uns zu den edelsten Betrachtungen fliegen lehret? Wenn 30 
unsere Leidenschaften und unsere Irthumer alle unsere Leiden 
formen: mit welcher Begierde sollen wir nicht nach einem Zu- 
stand schmachten, der uns von beiden scheidet? Was thun iene 
sinliche Menschen die so unbedachtsam ihre Schmerzen durch 
ihre Freuden verdoppeln? Sie zertrummern so zu sagen ihr Da- 
sein, um es auf der Erde auszubreiten; sie vervielfaltigen die 



FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 123 

Last ihrer Ketten durch die Zahl ihrer Neigungen; sie haben 
keine Freuden die sich nicht mit tausend bittern Beraubungen 
schlossen; ie mehr sie empfinden, desto mehr leiden sie; ie mehr 
sic sich ins Leben hineinarbeiten, desto ungliiklicher machen 
sie sich. 

Aber ich wil auch im Algemeinen einraumen daB es fur den 
Menschen ein Gut sei bekiimmert auf der Erde zu kriechen: 
ich begehre nicht daB das ganze Menschengeschlecht sich mit 
algemeiner Einstimmung niedermache und diese Erde in ein 

io wiistes Grab verkehre. Ach es giebt schon Ungliikliche, die zu 
sehr zur Abtretung von der algemeinen Bahn privilegiret sind 
und fur welche Verzweiflung und herbe Schmerzen den Reise- 
pas der Natur ausmachen. Und von diesen da war' es eben so 
unsinnig zu glauben daB ihr Leben ein Gut sei als es vom Sophi- 
sten Possidonius war, unter den Foltern der Gicht zu laugnen 
daB es ein Obel sei. So lang uns das Leben Vergntigungen tragt, 
hat es unsere Wiinsche auf seiner Seite und nur die Empfindung 
des tiefsten Elends kan in uns iiber iene Begierde zum Leben 
obsiegen: denn die Natur hat uns alle mit einem Scheu vor dem 

20 Tode bewafnet und dieser Scheu ubertiincht eben noch unserem 
Auge das Jammerliche der menschlichen Lage. Man halt lange 
ein miihseliges und schmerzhaftes Leben aus eh' man den Ent- 
schlus es aufzugeben fasset: aber wenn einmal der Ekel zu leben 
den Abscheu zu sterben iibermannet: alsdan ist offenbar das Le- 
ben ein Obel und man kan sich seiner nicht zu bald entledigen. 
Also ob man gleich nicht den genauesten Punkt anweisen kan 
wo es aufhort ein Gut zu sein: so weis man doch sehr gewis 
zum mindesten, daB es lange ein Obel ist eh' es uns als eines 
vorkomt und bei iedem Verniinftigen geht das Recht von dessen 

30 Abdankung lange vor der Versuchung dazu voraus. 

Das ist aber noch nicht alles. Nachdem sie gelaugnet daB das 
Leben ein Obel sei, um uns das Recht zu rauben, es zu verlassen: 
so sagen sie wieder darauf, daB es ein Obel sei, um uns vorzu- 
riikkcn, daB wir es nicht zu erdulden vermogen. Ihnen zufolge 
ist es Feigheit wenn man sich von seinen Leiden und Plagen 
loswindet und nur Feige todten sich selbst. O Rom, Besiegerin 



1 1 24 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

der Welt, was fur ein Haufe von Feigen erwarb dir die Herschaft 
dariiber! Zwar Arria, Lukrezia, Eponina mogen darunter geho- 
ren, es waren Weiber. Aber Brutus, aber Kassius und du der 
du mit den Gottern die Ehrfurcht der staunenden Erde theiltest, 
grosser und gotlicher Kato, dessen heiliges und ehrwiirdiges 
Bild die Romer mit einem heiligen Eifer und die Tyrannen mit 
Zittern erfulte, deine stolzen Bewunder[er] sahen wol nicht vor- 
aus, daB eines Tages feile Rhetoren in der staubenden Ekke einer 
Schule erharten wiirden, daB du nur ein Feiger gewesen, weil 
du dem siegenden Laster die Huldigung der Tugend in Ketten 10 
abschlugest. Aber sage mir, unerschrokkener Held, der du dich 
mit sovielem Muth aus der Schlacht davonmachest, urn noch 
langer die Last des Lebens auszudauern: wenn ein brennender 
Funke auf die beredte Hand hinspringt, warum ziehst du sie 
so hurtig zuriik? Wie? hast du nicht so viel Muth das Brennen 
des Funken zu verschmerzen? Das nicht, sagst du, aber es ver- 
bindet michnichts zur Ertragung desselben; und mich, wer ver- 
bindet mich zur Ertragung des Lebens? Hat der Vorsehung die 
Zeugung eines Menschen mehr gekostet als die eines Funken 
und sind nicht beide ihr Werk? 20 

Ohne Zweifel ist es Muth, Obel denen man nicht entrinnen 
kan mit Bestandigkeit zu tragen: aber Tolheit ists, die freiwillig 
auszuhalten, aus denen man sich ohne Sunde Ziehen kan und 
eine unnothige Erduldung eines Obels ist oft selbst ein Ubel. 
Wer sich nicht aus einem schmerzhaften Leben durch einen 
schnellen Tod zu erlosen wagt: gleicht einem, der eine Wunde 
lieber einfressen als unter das heilsame Eisen des Wundarztes 
kommen lasset. Kom, verehrungswerther Parisot, nim mir die- 
ses Bein ab, das mich sonst hinrichtet. Ich wil dich ohne Zukken 
schneiden sehen und mich gern fur feig von dem Kiihnen schel- 30 
ten horen, der das seinige, aus Scheu der Operazion, lieber her- 
unterfaulen lasset. 

Ich gesteh' es, es giebt Pflichten gegen den andern, die nicht 
iedem Menschen das Schalten mit seinem Leben vergonnen: 
aber wie viele wol? Es mag sein daB eine obrigkeitliche Person, 
auf der das Heil des Vaterlandes ruht, daB ein Hausvater, der 



FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1125 

seinen Kindern Ernahrung schuldig ist, daft ein Schuldner, der 
seine Glaubiger verdiirbe, sich ihrer Pflicht Preisgeben, oder 
daB tausend andere burgerliche und hausliche Verhaltnisse einen 
ungliiklichen Rechtschaffenen das Ungliik zu leben, fortzutra- 
gen zwingen, um das noch grossere Ungliik ungerecht zu wer- 
den, abzuwehren: ists aber deswegen in ganz verschiedenen Fal- 
len erlaubt, auf Kosten eine Menge Elender ein Leben zu 
bewahren, das keinem niizet als dem der zu sterben scheuet? 
Todte mich, mein Sohn, sagt der abgelebte Greis zu seinem 

10 Sohne, der ihn tragt und unter der Biirde zittert: die Feinde 
kommen: kampfe neben deinen Briidern, rette deine Kinder, 
und lasse deinen Vater nicht lebendig in die Hande derer stiirzen 
deren Eltern er fras. Wenn auch der Hunger, die Leiden, das 
Elend - hausliche und schlimmere Feinde als die Wilden - einem 
Ungliiklichen verstatteten, in seinem Bette das Brod einer Fa- 
milie aufzunagen, die kaum welches fur sich erwirbt: warum 
solte aber denn nicht wenigstens der, der einsam auf der Erde 
lebt, der auf dessen ungluklichem Dasein kein Gut mehr bliihen 
kan, nicht das Recht geniessen, aus einem Aufenthalt zu ziehen, 

20 wo seine Klagen lastig sind und seine Leiden unfruchtbar? 
In der That warum soke man sich weniger vom Leben als 
der Gicht befreien diirfen? Kommen nicht beide aus derselben 
Hand? Wenn es peinlich ist, zu sterben: macht uns denn das 
Nehmen der Arznei etwan Vergniigen? Wie viele ziehen nicht 
den Tod den Arzneimitteln vor? Ein Beweis daB die Natur sich 
gegen eins so gut wie gegen das andere straubt. Man zeige mir 
doch, in wiefern es mehr verstattet sein kan, sich von voriiberei- 
lenden Ubeln durch Arzneien loszuhelfen, als von einem unheil- 
baren Ubel durch den Tod und in wiefern es weniger sundlich 

30 ist, Quinquina gegen das Fieber als Opium gegen den Stein 
zu brauchen. Sehen wir auf den Gegenstand: so sollen uns beide 
vom Ubelbefinden retten; sehen wir auf die Mittel: so sind beide 
gleich natiirlich; sehen wir auf das natiirliche Widerstrauben: 
so ists auf beiden Seiten; sehen wir auf den Willen des Schopfers: 
was fur ein Ubel wil man denn bekampfen, das nicht aus seinen 
Handen abran? Welchem Schmerze wil man ausbeugen, den 



1 126 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG 

er nicht auf uits abgesandt? Und welches ist die Granze wo sich 
seine Herschaft endigt und wo man ungestraft widerstreiten 
darf? Ist uns also die Veranderung keiner Lage verstattet, weil 
alles so ist wie ers gewolt? Mus man nichts in der Welt thun, 
aus Furcht seine Geseze zu durchbrechen; wiewol wir sie wir 
mogen thun was wir wollen niemals zerrutten konnen? Nein, 
der Beruf des Menschen ist edler und grosser. Got hat uns nicht 
beseelt, um unbeweglich in einem ewigen Quietismus zu blei- 
ben. Sondern er verlieh uns die Freiheit, um das Gute zu thun, 
das Gewissen, um es zu wollen, die Vernunft, um es zu wahlen. 10 
Er erhob uns zum Richter unserer eignen Handlung. Er schrieb 
in unser Herz: thue das was dir heilsam und niemand schadlich 
ist. Wenn ich fuhle, dan es mir gut ist, zu sterben: so kampf 
ich ia gegen seinen Befehl, wenn ich dan auf meinem Leben 
beharre (en m'opmiatrant a vivre): denn indem er veranlasset, 
daB ich den Tod wunsche, so schreibt er mir ia vor, daB ich 
ihn suche. 

Wenn die Christen entgegengesezte Meinungen vertheidigen: 
so zogen sie diese weder aus Prinzipien ihrer Religion, noch 
aus der Bibel, sondern bios aus heidnischen Philosophen. Lak- 20 
tanz und Augustin, die zuerst diese neue Lehre verfochten, wo- 
von weder Christus noch die Apostel ein Wort gesagt, steiften 
sich bios auf das von mir schon bestrittene Rasonnement des 
Phadon: so dafi die Christen mehr dem Ansehen des Plato als 
des Evangeliums glauben. In der That, wo trift man in der Bibel 
ein Verbot oder auch nur eine Misbilligung des Selbstmords 
an und ists nicht seltsam, daB diese soviele Beispiele des Selbst- 
mords ohne ein Wort des Tadels berichtet? Noch mehr; der 
des Simsons wird durch ein Wunder autorisiret, das ihn an sei- 
nen Feinden racht. Geschah dieses Wunder, um ein Verbrechen 30 
zu rechtfertigen und hatte dieser Mensch, der seine Starke durch 
Wollust verscherzte, sie bios zur Begehung eines gebilligten La- 
sters wieder erlangt, als wenn Got selbst die Menschen hatte 
blenden wollen? 

Du solst nicht todten, sagt der Dekalogus. Was folgt daraus? 
Nimt mans nach dem Buchstaben: so darf man weder Inquisiten 



FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD II27 

noch Feinde todten, und Moses der iiber so viele den Stab gebro- 
chen, verstande sein eignes Verbot sehr schlecht. Giebts einige 
Ausnahmen: so ist die erste sicher zu Gunsten des freiwilligen 
Todes, weil er rein von Gewalt und Ungerechtigkeit ist. 

Aber, sagt man, duldet die Obel die euch Got zusendet; ver- 
wandelt euer Leiden in euer Verdienst. Allein der Mensch keucht 
unter tausend Obeln, sein Leben ist aus Schmerzen zusammen- 
gewebt und er scheint zu leben, um zu leiden. Die Vernunft 
befiehlt, denen Obeln, denen er entweichen kan, zu entweichen 

10 und die Religion die niemals eine Gegnerin der Vernunft ist, 
versiegelt dies. Aber wie klein ist ihre Summe gegen die, unter 
denen er gezwungen seufzet. Aus der leztern Erduldung kan 
er sich ein Verdienst machen; der Schopfer nimt als eine freiwil- 
lige Gabe den erzwungnen Tribut an den er uns auflegt und 
rechnet die Verzicht auf dieses Leben, zum Vortheile des kiinfti- 
gen auf. Die Natur belastet den Menschen mit seiner wahren 
Busse: steht er das geduldig aus was er auszustehen genothigt 
ist, so hat er das Seinige gethan, und wenn er stolz genug ist, 
mehr thun zu wollen: so ist er ein Nar, der Einsperrung, oder 

20 einBetriiger, derBestrafung verdient. Wir wollen uns also ohne 
Skrupel des Lebens selber entlasten, sobald es zu einem Obel 
ausartet, weil es von uns abhangt es zu thun. Wenn das hochste 
Wesen ein Opfer begehrt: ist denn Sterben keines? Wir wollen 
ihm den Tod darbieten den er uns durch die Stimme der Ver- 
nunft abfodert und ruhig in seinen Schoos den Geist ausgiessen 
den er uns abverlangt. pp. 



Antwort des Englanders 
Lettre XXII 



Junger Mensch, eine Leidenschaf t verfiihrt dich; sei bescheidner; 

30 rathe nicht, indem du Rath verlangst. Ich kenne andere Leiden 

als die deinigen. Ich habe eine feste Seek, ich bin ein Englander, 



1 1 28 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG 

ich kan sterben: denn ich kan leben und als ein Man tragen. 
Ich sah den Tod in der Nahe und schau' ihn zu gleichgultig 
an, um ihn erst aufzusuchen. 

PP- 

Um deine Sophistereien auf einmal einzureissen, frag' ich dich 

nur das. Du glaubst das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der 

Seele, die Freiheit des Menschen; gleichwol dachtest du ohne 

Zweifel nicht, daB der Mensch bios zum Ungefahr auf die Welt 

gerufen worden, bios um zu leben, zu leiden und zu sterben. 

Hat es keinen moralischen Zwek und Gegenstand? Diese An- 10 

wort ist die auf das iibrige. 

Doch wir wollen diese algemeinen Maximen bei Seite lassen, 
mit denen man soviel Gepra[n]ge macht ohne oft eine zu befol- 
gen; denn es stosset in der Anwendung allemal eine besondere 
Bedingung auf, die alles so andert, daB man sich von dem Ge- 
horsam gegen eine Regel losspricht, die man andern vorschreibt, 
und es ist bekant, daB ieder der algemeine Regeln festsezt, meint, 
sie verbanden ieden ausser ihm. 

Es ist dir also, wie du sagst, erlaubt, aufzuhoren zu leben. 
Der Beweis davon ist sonderbar: weil du Lust hast, zu sterben. 20 
Das ist eine bequeme Schlusart fur Verbrecher: es giebt keine 
Schandthat mehr, die sie nicht werden durch die Begierde ent- 
schuldigen, sie zu veriiben: und sobald als der Sturm der Leiden- 
schaft iiber den Abscheu des Lasters siegt, wird ihnen die Be- 
gierde zu siindigen zugleich zum Recht dazu. 

Du darfst also aufhoren zu leben? Ich mochte wissen ob du 
angefangen? Wie? bist du auf die Erde gesezt, um da nichts 
zu thun? Legte dir der Himmel nicht mit dem Leben zugleich 
Pflichten zur Erfiillung auf? Wenn du dein Tagwerk vor dem 
Abend volendet hast: so raste am iibrigen Theil des Tages: aber 30 
was kanst du denn dem ewigen Richter antworten der dich um 
Rechenschaft von deiner Zeit befragt? Ich habe ein Madgen ver- 
fuhrt, und einen Freund betriibt. Ungltiklicher! finde mir den 
Gerechten aus der sich genug gelebt zu haben ruhmen kan: damit 
ich von ihm lerne, wie man das Leben mus getragen haben, 
um berechtigt zu werden, es abzuwerfen. 



FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 1 29 

Du zahlest die Leiden der Menschheit auf und errothest iiber 
eine Aufwarmung hundertmal gesagter Gemeinplaze nicht und 
nenst das Leben ein Obel. Aber forsche in der Reihe der Dinge 
Giiter aus, in die nicht Obel gemenget sind. Kanst du aber des- 
wegen sagen, daB es kein Gut im Universum gebe und kanst 
du das was von Natur bose ist mit dem verwechseln was es 
nur zufallig ist? Du hast es selbst gesagt, das passive Leben des 
Menschen ist nichts und geht nur einen Korper an aus dem 
er bald fortwandert: aber sein thatiges und moralisches Leben 
10 welches auf sein ganzes Sein einfliesset, besteht in der Obung 
seines Willens. Das Leben ist ein Obel fur den gliiklichen Bose- 
wicht und ein Gut fur den ungliiklichen Rechtschaffenen: denn 
nicht eine vorubereilende Modifikazion sondern seine Bezie- 
hung auf seinen Zwek macht es gut oder schlim. 

Dich ekelt zu leben und du sagst: das Leben ist ein Ubel. 
Bald oder spat wirst du beruhigt sein und wirst sagen, das Leben 
ist ein Gut. Du wirst richtiger reden ohne besser zu rasonniren: 
denn nichts wird sich verandert haben als du. Verandere dich 
also heute und weil alles Ubel bios in der schlimmen Beschaffen- 
20 heit deiner Seele liegt: so bessere deine regellosen Begierden 
und brenne dein Haus nicht an, um dir die Miihe zu ersparen, 
es anzuordnen. 

Ich leide, sagst du mir: hangt es von mir ab, nicht zu leiden? 
Das heist erstlich, den Streitpunkt versezen; denn nicht da von 
ist die Rede, ob du leidest, sondern ob das Leben fur dich ein 
Ubel ist. Du leidest; also must du suchen nicht mehr zu leiden. 
Wir wollen sehen, ob deswegen der Tod zu Hiilfe gerufen wer- 
den mus. 

Beschaue einen Augenblik den Fortschrit der Obel der Seele, 
30 der dem Fortschritte der Obel des Korpers entgegengesezt ist, 
so wie die Natur dieser zwei Substanzen selbst. Die korperlichen 
Obel wurzeln ein, beherschen und zertrummern durch Veral- 
tung diese sterbliche Maschine. Allein die andern, die aussern 
und fluchtigen Bekummernisse eines unsterblichen Wesens zer- 
stieben unmerklich und lassen demselben die ursprungliche 
Form die nichts andern kan. Traurigkeit, Langweile, Verzweif- 



1130 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

lung sind Schmerzen von geringer Dauer, die niemals in der 
Seele Wurzel schlagen; und die Erfahrung strafet stets iene bit- 
tere Empfindung Liigen, die unsern Leiden Unaufhorlichkeit 
andichtet. Ich sage noch mehr; ich kan nicht glauben, daB die 
Laster die uns verderben, defer unserem Geiste einwohnen als 
seine Kiimmernisse: ich glaube nicht nur, daB sie mit dem Leib 
vergehen der sie veranlasset, sondern ich zweifle auch nicht, 
daB nicht ein langeres Leben zur Besserung der Menschen zu- 
reiche und daB nicht mehrere Jahrhunderte von Jugend uns nicht 
lehren daB es nichts besseres gebe als die Tugend. 10 

Da die meisten physischen t)bel mit der Zeit nur wachsen: 
so konnen heftige korperliche Schmerzen wenn sie unheilbar 
sind, einen Menschen zum Disponiren iiber sich befugen: denn 
wenn seine Fahigkeiten durch den Schmerz zerriittet werden 
und das Ubel ohne Heilung ist, so ist ihm der Gebrauch seiner 
Vernunft und seines Willens entzogen; er hort auf ein Mensch 
zu sein, eh' er stirbt und er thut indem er sich das Leben ab- 
schneidet, nichts als daB er gar aus einem Korper Abschied 
nimt der ihn belastet und in dem seine Seele schon nicht mehr 
ist. 20 

Aber so ists nicht mit den Schmerzen der Seele, die so stechend 
sie auch sind, doch immer ihre Heilung bei sich fuhren. In der 
That was macht ein Obel manchmal unausstehlich? seine Dauer. 
Die Operazionen des Wundarztes sind gewohnlich schmerzli- 
cher als die Leiden von denen sie helfen: allein der Schmerz 
des Ubels ist fortwahrend, der der Operazion voriiberlaufend 
und man wahlt diesen. Was ist also fur eine Operazion gegen 
Ubel vonnothen die ihre eigne Dauer austilgt, die allein sie uner- 
traglich machen konte? Ists verntinftig, mit solchen gewaltsa- 
men Hiilfsmitteln gegen Ubel auszuriikken die sich selbst vertil- 30 
gen? Wenn einer Werth auf Standhaftigkeit der Seele legt und 
die Jahre nur das wenige schazt das sie werth sind: welches von 
den beiden Mitteln, aus den Klauen des Schmerzes zu kommen, 
wird er wahlen, den Tod oder die Zeit? Warte: so wirst du 
geheilt werden. Wilst du mehr? 

Erwage wol, iunger Mensch, was sind 20, 30 Jahre fur ein 



FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD II3I 

unsterbliches Wesen. Das Leiden und das Vergmigen flattert 
wie Schatten davon; das Leben verrint in einem Augenblik, es 
ist nichts fur sich selbst, sein Werth liegt in seinem Gebrauche. 
Bios das Gute das man gcthan blcibet und bios durch dieses 
ist ienes etwas. 

Sage also nicht mehr, es ist ein Obel zu leben, da es von 
dir abhangt daB es ein Gut sei und da wenn es ein Obel ist 
gelebt zu haben, dieses ein neuer Grund fur dich ist, noch mehr 
zu leben. Sage nicht mehr, es ist dir erlaubt zu sterben: denn 

10 eben so gut kontest du sagen, es sei dir erlaubt, nicht Mensch 
zu sein, dich gegen den Schopfer deines Wesens aufzubaumen 
und deine Bestimmung zu betriigen. 

Du sprichst von den Pflichten einer Obrigkeit und eines 
Hausvaters und da sie dir nicht aufgeleget sind, glaubst du dich 
von allem befreiet. Aber die Geselschaft der du deine Erhaltung, 
deine Talente, deine Einsichten verdankst; das Vaterland dem 
du angehorest, die Ungliiklichen die deiner nothig haben: bist 
du denen nichts schuldig? Unter den Pflichten die du in deinem 
Briefe aufzahlst, vergissest du nur die des Menschen und des 

20 Burgers. Wo ist der tugendhafte Patriot der sich weigert, sein 
Blut einem fremden Fiirsten zu verkaufen, weil ers nur fur sein 
Vaterland vergiessen darf und der nun gegen Befehl der Geseze 
es aus Verzweiflung versprizen wil? Die Geseze, iunger Mensch, 
verachtet sie der Weise? Der unschuldige Sokrates woke aus 
Achtung fur sie nicht aus seinem Gefangnis fliehen; und 
du nimst keinen Anstand, sie zu verlezen, um ungerecht aus 
dem Leben zu fliehen; und doch fragst du, was thu' ich schlim- 
mes? 

Du wilst dich durch Beispiele rechtfertigen. Du wagst die 

30 Romer zu nennen! Du und Romer! Stehet es dir zu, diese Namen 
auszusprechen? Sage mir, starb Brutus als ein verzweifelnder 
Liebhaber und zerris Kato fur eine Frau sein Eingeweide? Kleiner 
und schwacher Mensch, was ist fur ein gemeinschaftliches Maas 
zwischen dieser grossen Seele und deiner! Ich furchte diesen 
grossen Namen durch seine Apologie zu entweihen. Bei diesem 
ehrwiirdigen Namen mus ieder Freund der Tugend in den Staub 



1 13 2 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG 

seine Stirne legen und durch Stilschweigen den Namen des gro- 
sten der Menschen verehren. 

Wie iibel sind deine Beispiele ausgelesen und wie niedrig ur- 
theilest du von den Romern, wenn du denkst, daB sie sich fur 
berechtigt hielten, sich das Leben zu nehmen sobald.es ihnen 
lastig wurde. Betrachte die schonen Zeiten der Republik und 
forsche ob du Einen tugendhaften Burger sich so der Last seiner 
Pflichten, selbst nach den ungliiklichsten Schiksalen entledigen 
siehst. Kam Regulus da er nach Karthago kehrte, den Foltern 
die ihn erwarteten durch den Tod zuvor? Wie bewunderte nicht 10 
der Senat selbst den Muth des Konsuls Varro, daB er seine Nie- 
derlage Ciberleben konnen? Warum liessen sich so viele Generale 
freiwillig den Feinden ausliefern, sie denen die Schande so mar- 
tervol und der Tod so leicht war? Deswegen weil ihr Blut, ihr 
Leben, ihre lezten Seufzer dem Vaterlande gehorteri und weil 
weder Schande noch Ungliik sie von dieser heiligen Pflicht ent- 
fernen konten. Aber als die Geseze zerstohret und der Staat ein 
Raub der Tyrannen waren: so fiel iedem seine naturliche Freiheit 
und seine Rechte iiber sich wieder anheim. Da Rom nicht mehr 
war: so wars Romern erlaubt aufzuhoren zu sein; sie hatten alle 20 
ihre Pflichten auf der Erde erfiillet, sie hatten kein Vaterland 
mehr und bekamen das Recht sich die Freiheit zu geben die 
sie ihrem Vaterlande nicht mehr geben konten. Nachdem sie 
ihr Leben angewandt hatten, dem verscheidenden Rom zu die- 
nen und fur die Geseze zu kampfen: so starben sie gros und 
tugendhaft wie sie gelebt hatten und ihr Tod wurde noch ein 
Tribut fiir den Ruhm des romischen Namens, damit man in 
keinem von ihnen das unedle Schauspiel eines einem Usurpateur 
dienenden freien Burgers erblikke. 

Aber du, wer bist du? Was hast du gethan? Suchst du in deiner 30 
Dunkelheit eine Entschuldigung? Spricht dich deine Schwache 
von deinen Pflichten los und bist [du] darum weil du weder 
Name noch Rang in deinem Vaterlande hast, weniger seinen 
Gesezen untergegeben? Es steht dir wol vom Sterben zu reden, 
wahrend du die Anwendung deines Lebens deinen Mitmenschen 
schuldig bist. Lerne daB ein Tod wie du ihn vorhast schandlich 



FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 133 

und diebisch ist. Er ist ein Diebstahl am menschlichen Ge- 
schlechte. Ehe du dieses verlasse[s]t, so geb' ihm wieder was 
es fur dich gethan. » Aber ich gehore niemand, ich bin der Welt 
unniiz. « Philosoph der Mode! Weist du nicht daB du nicht einen 
Schrit auf der Erde thun kanst ohne da einige Pflichten fur dich 
anzutreffen und daB ieder Mensch schon dadurch der Mensch- 
heit nuzt, daB er existirt? 

Hore mich, iunger Unbesonnener! ich liebe dich, ich habe 
Mitleiden mit deinen Verirrungen. Wenn in deinem Herzen 
io noch das geringste Gefiihl der Tugend wohnt: komm' damit 
ich dich das Leben lieben lehre. Jedesmal daB eine Versuchung 
dich aus dem Leben hinausschrekken wil, so sag* zu dir selbst: 
»ich wil noch eine gute Handlung thun eh' ich sterbe. « Such' 
irgend einen Durftigen auf den du unterstiizen, irgend einen 
Ungliiklichen den du trosten, irgend einen Unterdriikten den 
du beschirmen kanst. Wenn diese Betrachtung dich heute zu- 
rukhalt: so wird sie dich auch morgen, auch iibermorgen und 
dein ganzes Leben zuriikhalten. Halt sie dich nicht zuriik: so 
stirb, du bist nur ein Bosewicht. 



MEINE BEANTWORTUNG 

der Berliner Preisaufgabe: »ob man den Pobel aufkldren durfe«; als 

ich fur die Algetn. deutsche Bibliothek abgezeichnet wurde 



Es steht einem nachsichtigen Publikum zu, mir nicht deswegen 
aufsazig zu werden, daft ich seit siebzehn Wochen keine Sylbe 
fur dasselbe drukken lassen: sondern lieber mit wahrer Kaltblu- 
tigkeit zu erwagen, daB ich selbst (und kein Feind) mir vor 
Weihnachten bei Belgrad die kiirzeste von den plastischen Natu- 
ren, die der Himmel aus dem Arm der Menschen zum Biicher- 
schreiben auswachsen lasset, namlich den Daumen so zer- 10 
schossen, daB ich weder den Degen noch die Feder weiter halten 
konte. Dafiir fuhr' ich iezt die leztere (mein durchschossener 
Ammanuensis ist nun wie neugeboren) mit desto grosserer Lust 
und diese Lust sol mich hoff ich schon antreiben, aus alien Kraf- 
ten und vielleicht mehr zu schreiben als man ohne den Schus 
von mir hatte hoffen konnen. 

Es kan niemand im Ernste laugnen, daB ich mich niemals 
mehr erbosse als wenn mich ein verniinf tiger Man abmalet und 
ich wiirde dem Henker eben so gern als einem Zeichner sizen, 
ob gleich der eine eben so wol meinen Kopf haben wil als der 20 
andere. Gleichwol wurd' ich genothigt, zweimal zu sizen, das 
erstemal fur den Dosendekkel meiner Frail, auf dem mich der 
Tabak so gelb gefarbet, daB ich zu meinem Verdrus aussehe 
wie der Neid und die Eifersucht, das zweitemal fur die A. 
deutsche Bibliothek, die keinen gelb machf sondern hochstens 
schwarz. Ich konte mir, wahrend meine zeichnende Frau mein 
Gesicht anschauete, recht gut dadurch die Zeit vertreiben, daB 
ich ihres auch anschauete und mich darein halb wo nicht mehr 
wie bekant verliebte so wie ein Viertel in meines. Allein da 
mich die alg. deutsche Bibliothek (ich sol vorn an ihrer Hausthiir 30 
mit dem gestochnen Kopfe wie die gewohnlichen Maskaroni 



MEINE BEANTWORTUNG 1 135 

aus der Mauer herausspringen* abzeichnen lies und ich dabei 
gar keine Moglichkeit absah, mich in den Maler, der wie das 
Chaos aussah, gewissermassen zu verlieben; da ich (iberhaupt 
erst recht bedachte, daft man es mir algemein zumuthen wiirde, 
vorder A. d. B. nichtauszusehenwieeinkrankes Schaf, sondern 
scharfsinnig genug; da ich endlich dabei nicht blieb sondern den 
Saz iiberlegte, daB nichts in der gelehrten Welt so leicht Scharfsin 
im Gesichte erzeuge als Scharfsin im Gehirn: so nahm ich mir 
den Augenblik vor, den leztern in auffallendem Masse zu haben 
io und mit ihm unter dem Abmalen einen Aufsaz von einem Tief- 
sin zu knaten, dergleichen noch wenig Pranumeranten und Sub- 
skribenten gesehen. »Es miiste der Bose oder ein noch schlim- 
merer Feind dabei interessiret sein, wenn ich nicht so 
scharfsin [n]ig aussehen wolte als ich schreibe« fein Blatt fehlt] 

wil, zumal mit dem Worte Pobel, weil die meisten Lexikogra- 
phen ihn in den hohern und in den niedrigen eintheilen, wie 
etwan den Adel: unmoglich kan einer, wenn er nicht die Ober- 
oder Spundhefe der Menschheit ganzlich mit der Unterhefe der- 
selben verwechseln wil, Leute von Stande zu einem andern als 

20 dem vornehmen Pobel schlagen und sogar ihre Bedienten von 
beiden Geschlechtern werf* ich zu dem edlern PobeL Mithin 
stehet die Akademie auf und fraget alle Gelehrte die etwas fran- 
zosisch konnen: sol man erstlich den vornehmen Pobel aufkla- 
ren? Ich wiirde ihr wenn ich franzosisch konte, diese Frage durch 
nichts beantwortet haben als durch eine zweite: sol man die 
Thiere aufklaren? Ich wolte deswegen, der vornehme Pobel 
sasse hier und liefe in meinem Helvetius die Ursachen, warum 
die Thiere ewig dem Menschen den Vorrang des Verstandes 
lassen, langsam durch und applizirte sie alle auf sich. Helvetius 

30 sagt: die Thiere miissen bei alien ihren menschlichen Anlagen 

* Sulzer sagt, diese an den Schlussteinen der.Bogen ausgehauenen 
Menschenkopfe kommen von der Gewohnheit der Barbaren her, den 
Kopf des erlegten Feindes als Puz oben an der Hausthiir einzupfahlen 
und man musse sie abbringen. Vergleichungen, Metaphern, Allegorien 
und Blumen sind verhast. 



II3<5 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

diimmer als die Menschen bleiben, weil sie ein kurzeres Leben, 
bessere Bekleidung und Bewafnung, mithin wenigere Bediirf- 
nisse als die Menschen haben; dem Verstande des Affen thut 
nochinsbesondere, schreibt er, seine unaufhorende Beweglich- 
keit und Springsucht wahren Schaden, weil sie aller Langweile, 
dieser Mutter und Saugamme der geistigen Vervolkommung 
ein Ende macht. (de Tesprit disc. [I] ch. [i]) 1st aber unter diesen 
Obeln eines, das nicht tiber den Schultern des vornehmen Pobels 
lage? Ich kan den Hern Maler nicht irre machen, wenn ich die 
rechte Hand massig herumstrekke und frage, wer fiihrt ienes 10 
voruberblizende Impro[m]ptu von Leben, wer wird ausser den 
Thieren mit Pelz- und Seidenldeidern geboren, wer findet auf 
iedem Plaze einen vollen Tisch und ein voiles Bet, in seinen 
Windeln Ordensbander, in seiner Wiege eine reiche Heirath, 
und um sich eine ganze Welt zum Angebinde fur seinen Ge- 
burtstag, als eben mem' ich der sogenante feinere Pobel? Er 
ist recht schlim daran: denn wenn ich gar auf das Obige vom 
Affen gerathe und nur von weiten hinsehe, wie die vornehmsten 
Korper als weiche Balle unter einem Tabakskollegium von Zer- 
streuungen, von Festins, von Opern, von Feuerwerken, von 20 
Dinees, von Soupees, von Thierhazen, im schwarzen Balhause 
der grossen Welt hiniiber und heriiber und in die Queere ge- 
schlagen werden, und wie iedem von freundschaftlichen Han- 
den iede Minute einsamer Langweile, wo seine dunkellebhaften 
Ideen ihren groben Bodensazkonten fallen lassen, abgeiaget und 
entfuhret wird: so wiinscht' ich, ich wiirde nicht gerade abge- 
malet, um nur meine Hande gewaltsam in ein Funfek vor Ver- 
wunderung aufrichten zu diirfen, daB bei einem solchen Gusre- 
gen von Lustbarkeiten, wovon das Achtel unser einen, wenn 
man auch soviel Verstand besasse wie ein Affe, zu zwingen hin- 30 
langte, daB man nicht mehrerern bekame, doch noch iemand 
in der grossen Welt seine fiinf Sinnen hat oder gar sechs . Warlich 
und wahrhaftig! 

Eine der besten Schilderungen die mir noch von dieser Seite 
des feinen Pobels in die Hande fiel, ist wol die, die ich in meiner 
Jugend, wo ich mich mehr des Trunkes und der Satire beflis, 



MEINE BEANTWORTUNG 1137 

in einem Zustande von beiden aus meiner eignen Feder vorlies 
und ich kan sie vielleicht darum auswendig, weil ich sie nicht 
so selten oder so gleichgiiltig durchlas als manche thun. 

»Wenn die Scholastiker und Pabstler, schrieb ich, mit den 
schwersten Schliissen darthun, dafi der Mensch drei Seelen be- 
herberge, dafi die erste, die vegetative, den Fotus aus dem Groben 
haue, um darauf durch ihren Untergang der sensitiven Plaz zu 
machen, dafi diese zweite so lange bilde und modellire bis sie 
durch die dritte, die vernunftige, weggetrieben werde, und dafi 

10 diese vernunftige lebenslang verweile: so haben sie unmoglich 
Unrecht; allein sie miissen doch vorher die ganze Seelenprozes- 
sion umwenden und durch diese Evoluzion die Hypothese den 
Leuten aus der grossen Welt ganz anpassen. Namlich so: die 
vernunftige Seele zieht offenbar zuerst in unsern Tagen ein und 
kein Glied als der Kopf hat in der Kindheit so viele Krankheiten 
und Vorzuge. Ein vornehmes Kind hat hoff ich mehr wahren 
Wiz als seine 50 Pathen, die viel alter sein miissen, und rasonnirt 
passabel iiber alien Teufel: den Teufel selber aber rasonnirts ne- 
benher mit weg. Ein paar Monate vor dem 15 Jahre gelangt 

20 die vernunftige Seele zum Ausgange aus Agypten d. i. aus dem 
Kinde und rukt sterbend der sensitiven zu. Ich erschrekke vor 
dem brennenden aussaugenden langen Tage der Wollust bei die- 
sem Solstizio. Wahrhaftig ich seh' es mit Augen, die sensitive 
Seele hat grosse und kleine Blasebalge unter dem Arm und eine 
Windlade unter dem Fusse und drukt sie damit, um nur mit 
32 Stiirmen die Blutkohle des Menschen zu Einer schiessenden 
Flamme aufzuwehen. Auf ieder Ader, auf iedem Nerven klebt 
das bunt schimmernde Vergniigen und driikt vorn einen aus- 
schliirf enden Saugestachel und hinten einen Eiervollen Legestachel 

30 hinein. Im 30 Jahre, wo ihn die Leidenschaften wie die Ameisen 
einen Maulwurf skelettirt da liegen lassen, in eben diesem Jahre 
wo der Jude das Hohelied Salomonis erst lesen darf, an dem 
der besagte Jiingling sich langst heiser gesungen, grunt zogernd 
die vegetabilische Seele her aus und erloset mich von der langern 
Biographie dieses matten Menschen. Dennnichts mus mich nun 
mehr gegen ihn aufbringen als dafi er so welk und zahe wie 



113 8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Leder ist: er ist ia klar ein ausgebranter aschenvoller Vulkan, 
oder der lange diirre Brandpfahl zum Denkmal des weggesengten 
herlichen Gebaudes und weswegen sol ich ein Geheimnis daraus 
machen, wenn ichs hindern kan, so hindere ichs, daB man ihn 
nicht einmal zum Kanzleikopisten annimt, obgleich sein Vater 
gewis ein ehrenbraver Man gewesen.« 

Der Maler sagte, es geschahe ihm ein wahrer Gefallen, wenn 
ich auf etwas Ironisches dachte, um eine ernsthafte Mine zu 
bekommen; denn er seines Orts pass' auf eine furs Portrait. 

Das lenkt uns ia alle, sagt' ich, recht ungezwungen dem zwei- 10 
ten Theile der berlinischen Frage zu: ob man den niedrigen Pobel 
aufklaren musse? 

Ich und unser alter Edelman, den niemand besser trift als der 
H. Maler, mochten kaum npch einen Buchsenschus fern von 
Altkazenellenbogen fahren, als der Edelman unter andern auch 
die Frage der Akademie (er wuste ubrigens gar nicht, daB die 
Frage oder die Akademie in der Welt sei) in den Mund bekam 
und sie auf der Stelle so aufloste: der gemeine Man durfe Sontag 
und Werkeltag nicht mehr Verstand haben als er brauche, um 
sein Testament zu machen. Da man nun dazu gerade so viel 20 
braucht als ein Stupider hat: so driikte mein ehemaliger Prinzipal 
meine Meinung stark genug aus; aber beweisen mus ich sie hier 
selbst - denn die Gerichtshern miissen allemal eine Meinung 
haben und die Gerichtshalter miissen sie ordentlich beweisen. 

Ich wiiste keine einzige Metapher, auf die die altesten und 
neuesten Staatslehrer das Staatsrecht gliiklich gegriindet haben, 
die sich nicht liberal mit meinem Saze reimte, daB das Volk 
immer den Beinamen des Karls des Einfaltigen behaupten musse. 

Wenn sie z. B. inzwischen sagen (sagte M. l'Academicien), 
der Staat sein eine Maschine — 30 

so ists ganz gut. Denn etwas schlechteres sol und darf er nicht 
sein; und etwas be^seres, das ist schon der Fiirst. Unvolkommen 
ist allerdings eine solche Staatsmaschine niemals, wenn der Re- 
gent gerade an ihr das, weswegen man sich solche ungeheuern 
Maschinen anschaft, nicht vermisset; wenn z. B. der ehrgeizige 
an dem seinigen eine drostattsche (indet, die ihn und seinen Na- 



MEINE BEANTWORTUNG 1 1 39 

men durch, in, mit und unter der Luft emportragt, wenn der 
essende eine Koch- und papini(inische, der kriegerische eine ent- 
hauptende und Donnermaschine an dem seinigen besizet: allein 
damit kan keiner von uns dreijen] sich iezt bemengen, sondern 
bios die Maschinenmeister aller Staaten. Es ist mir (ibrigens 
recht gut bekant, daB unbedeutende Publizisten in Regenspurg 
ein sehr schmales Traktatgen kontefn] drukken lassen, worin 
man die Maschinenhaftigkeit unserer Staaten ganz gut bestritte 
und sich nichts daraus macHte, am Ende auf den Saz zu fallen, 

io daB einige von ihnen gleich der Schachmaschine des Kempele 
ihre unzahligen Rader, Walzen, Gewichte und Rollen wirklich 
bios zum Spas und Schein und dazu hatten, um eben zu verber- 
gen, daB ein Kind allein die Hand im Spiele habe: allein da in 
beiden die Rader und alle Gelenke einer Maschine, obgleich ohne 
Nuzen, doch da sind, so beweiset der Einwurf ia nicht, daB 
sie keine, sondern hoffentlich nur daB sie elende Maschinen sind. 
Aber das konten sie eben nicht einmal bleiben, wenn iedes 
Staatsmitglied eben so gut seinen Kopf vol Aufklarung aufsezen 
diirfte als hatt' er noch eine Krone oben darauf zu thun. Ich 

20 bitte Sie beide, meine Herren, urns Himmels Willen, sinnen 
Sie geselschaftlich nach und malen Sie lieber nicht weiter, ob 
ein Staatsmitglied die treibende und getriebene kleine Maschine 
in der grossen Maschine bleiben kan, wenn man Licht nimt 
und ienes damit beseelet, wenn das holzerne Rad sich in [ein] 
lebendiges augenvolles Feuerrad verwandelt, dergleichen Jesaias 
selbst gesehen, kurz wenn in iedem stat des Fiirsten auch eine 
Seele regiert? 

Allerdings, sagte M. l'Afacademicien], ists damit vorbei und 
aus den Maschinen werden nichts als Menschen. 

30 Also wenn sie, wie Sie gotlob zugestehen, das (was man be- 
weinen mochte) wirklich werden: was wird aus der geheimen 
Landesregierung und mit den Kabinetsordres? Nichts, sag* ich 
und fahre in meinem Sorites weiter, als etwas Unerwartetes 
undjammerliches; die eisemeFHege, die Regiomontan ausdrech- 
selte und die schmeichelnd auf eines Kaisers Hand sich niederlies, 
wird nun vollig beseelt und sticht und beschmuzt die gedachte 



1 1 40 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

Hand und ist iiicht zu fangen - kurz der Schwann lebendiger 
Fliegen ist weder amts- noch schriftsassig und im Kleinen der 
Adel aus den Faustrechts Zeiten. Noch einma] kurz: die gerade 
und lezte Folge des Sorites ist die: daB Wesen, die ein Zeigefinger 
und der Daum des Regierungssekretairs, oder die 24 Lettern 
des Hofbuchdrukkers, ein Papierschnizgen von einem Regle- 
ment, soviel Dinte als zum Namen des Fiirsten gehort in ewige 
Vibrazionen und in alle mdgliche Richtungen schnellen konten, 
ohne die dii ex machina, namlich Vernunft, Gerechtigkeit, p. 
nur im geringsten nothig zu haben, so lange iene noch Maschi- 10 
nen waren, daB sag' ich solche Wesen, sobald sie Menschen 
geworden, nur gar zu klar durch nichts zu regieren stehen als 
durch den - verfluchten Antimachiavell. 

Ich meine namlich in dem Falle, wenn mans vorher mit Regi- 
mentern und grobem und kleinem Geschiiz umsonst probiert 
hatte und die Leute durchaus nichts annehmen und horen als 
- Vernunft oder ihr altes Parlament. 

Allerdings treten auch Staatslehrer auf den Katheder, die Ver- 
stand genug haben und es fur schlecht erklaren, den armen Un- 
terthan zu einer Maschine zu verkehren, den man nach bessern 20 
Grunden urid mit mehr Menschenliebe vielmehr fur einen Skla- 
ven gelten lassen dtirfte. 

Eben das wolt' ich Ihnen einwerfen und dabei den alten Hob- 
bes vorschieben, sagte M. rA[cademicien]. 

Allein eine heitere Friihviertelstunde kan es iedem Akademi- 
sten und auch andern aufdekken, daB nichts daran ist; wahrhaftig 
ich wundere mich tiber mehrere Publizisten, daB sie die schrei- 
ende Unvertraglichkeit der Volksaufklarung mit der Volksskla- 
verei schlechter einsehen als ich, und ich ware zu entschuldigen 
wenn ich mir etwas darauf einbilden konte, daB ich schon, da 30 
ich dem Erzamt eines Prinzenhofmeisters vorstand und mit mei- 
nem Eleven die Alten las, ihn gebeten, die namlichen Grundsaze 
an diesen zu bemerken und nachzuahmen. Sehen Sie nicht, sagt' 
ich zu ihm, daB die Sparter, dieses glanzende Volk von Fiirsten, 
weder sich in ihrer Freiheit, noch die Heloten in ihrer Sklaverei 
erhalten konten, wenn sie nicht den leztern alle menschliche 



MEINE BEANTWORTUNG II4I 

Bildung untersagten? Ja sie musten so weit gehen, daB sie das 
Singen und Lesen grosser seelenerhebender Oden ihnen nicht 
verstattenkonten. NunlegteichdemPrinzen die wichtige Frage 
an das Herz unter dem Stern, ob er nun den Tadel der Biicher- 
konfiskazionen fur so gegriindet halten konne als er haufig sei 
und ob sie wirklich das schlechteste Mittel seien, die Freiheit 
deren Soufleurund Spiritus familiaris von ieher die Aufklarung 
[zehn Blatter fehlen] 

[Amor, der oft] mit den feinsten Leuten zu schaffen hat und 
10 durch schone Augen scharfsichtige Augen erblinden lasset, hat sel- 
ber sicher keine mehr und ich schliesse das aus seiner Binde 
langst - die Gerechtigkeit, die in ihrem Leben mehr als einen 
Aktenstok durchsehen mus und 100 Beweise durch Augen- 
schein zu fiihren hat, schauet wie ein Nachtwandler bios durch 
zugedrukte Augen hindurch - das Gluk, das die Karten und 
Amter austheilet und fur die wichtigsten Stiizen des Staats selbst 
wieder eine Stiize ist und das der Kopf angesehener Personen 
zu seinem curator absentis angenommen, schliesset deswegen 
die Augen nicht auf - Clairvoyanten, iiber die die Welt vor Ver- 
20 wunderung fast rasend werden wil und die es doch selbst nicht 
sind sondern mehr Verstand (so wie mehr Vergnugen) haben 
als vier zusammengekochte Fakultaten auf einmal, brachtens 
gar nicht so weit, wenn sie bios stokblind dalagen und nicht 
auch schlafend dazu - Fakultisten, die iiber Leben und Tod gut- 
achten, stehen diesem schlupferigen Geschafte nicht selten ohne 
Scharfsin vor, und doch mit Leichtigkeit - Apotheker, die in 
dem namlichen Fache arbeiten, konnen gar nicht die Rezepte 
lesen und wissen von der Semiotik derselben nichts, und der 
der sie schrieb weis von der Semiotik der Krankheiten nichts, 
30 und doch geben beide keinen Heller fur Schmerzengeld aus - 
Schauspieler, die niemals einen Prinzenhofmeister oder ein Re- 
gierungskollegium geniizet haben, treten das almachtige Amt 
eines Fiirsten vor der ganzen Residenzstadt an und fassen die 
schwersten Szepter in ihre gichtbruchigen Hande, wie die Uni- 
versalhistorie gar oft wahrgenommen und protokolliret - 



1142 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

H. Hasus selbst, der einigermassen narrisch ist und niemals sich 
hfinstelt?] und iiber so viele Facher der Gelehrsamkeit etwas 
Gescheutes lieset als bios im Traum wo er ein Buch oft fast 
eher lieset als ers noch gemacht, der fiihret ohne Bedenken einen 
ellenlangen Beweis, daB Dumheit dem Pobel besonders anpasse, 
und wil den noch gelehrtern Academicien niederfechten und 
das Ganze als einen wakkern Aufsaz dem deutschen Merkur 
zufahren. Wenn nun solche und noch bessere Leute ohne Ver- 
stand auskommen und fet dabei werden: so mag ich nicht an 
der Stelle des Menschen sein ders zu verantworten hat, warum 10 
er mit den 4 bis 5 Pfunden Gehirn, womit ihn Got begabt, 
so schlecht wucherte, daB ers nicht herausgebracht, mit wie 
noch weniger Recht der Pobel seine Obern um Verstand an- 
schreien wil, er der bekantlich keine natiirliche Kinder - keine 
Referate- keine Gliiklichen - keine Weissagungen - keine ratio- 
nes dubitandi et decidendi - keine Brech- und Purgirmittel - 
keinen Furs ten und nicht einmal einen ellenlangen Aufsaz iemals 
zumachenbraucht, worin nicht iibel dargethan wird, daB Dum- 
heit ausserordentlich fur ihn passe . . .« 

Diese schwache Iniurie machte den Akademiker ganz leben- 20 
dig und er fieng zu meinem Schrekken an zu fragen: »nach wel- 
chem Recht wirft sich der kleinere Theil zum Austheiler der 
Kentnisse und des Schiksals des grossern auf? und befugt ihn 
das Recht des korperlich oder geistig Starkern zu etwas anderem 
als zum Schuzedes Schwachern, oder zur noch grossern Schwa- 
chung desselben? Beweiset der Umstand, daB es von ieher an- 
ders in der Welt gewesen, wol, daB es so sein diirfen und immer 
[so] sein werde? Konte man nicht mit dem Vorwande, das Volk 
konne die Aufklarung misbrauchen, sie iedem andern Stande 
auch abschlagen und wird sie nicht von den hohern Standen 30 
grausam gemisbraucht? Und wenn der Mangel gewisser Vor- 
kentnisse diesen Misbrauch durchaus nothwendig macht: 
warum hebt man nicht mit ienem diesen auf? Warum zittert 
man vor dem Orkan, unter welchem alzeit ganze Lander von 
der Finsternis sich mit bebender Erde ins Licht hinheben; und 
zittert doch nicht vor dem Orkan des Krieges, mit dem man 



MEINE BEANTWORTUNG 1 143 

oft nur Kleinigkeiten kaufet? Oder sol das Volk getauscht wer- 
den, damit es gelaufiger regieret werde, anstat daB es regiert 
wird, um nicht immer getauscht zu bleiben? Und wo werden 
Befehle der Vernunft gehorsamere Ohren finden als an Kopfen 
vol Vernunft? Wenn man nicht glauben wil, daB das Ganze der 
Menschheit wie das der Thiere immer und ewig sich an Einem 
nakten Felsen ansauge und daB nur wenige Individuen der Vol- 
kommenheit mit einigen Schritten entgegenziehen: wie wil man 
doch immer die namliche iezige Unempfanglichkeit des Volks 

io fur Aufklarung, voraussezen und der Zukunft zutrauen? Und 
wenn man glaubet, daB es einmal besser mit ihm werde, warum 
wil man selbst nichts thun, damit es fruher so werde?? pp.« 
Jezt bin ich schon fertig, sagte der Maler. 
Wenn das ist, sagt' ich: so konnen Ihre neue Beweismittel, 
die Sie erst nach dem Praklusionstermin beibrachten, auf keiner- 
lei Weise mehr Plaz greifen, da ohnehin schon ad octuplicas 
verhandelt worden. Lass' ich mich wieder malen: so konnen 
Sie ohnbeschwert den Prozes unter einer andern Akzion [von] 
neuem anhangig machen. 

20 Mich verlangt nur zu erf ahren, ob die vidimirte Kopie meines 
Kopfes der Alg. deutsch. Bibliothek gefallet - und ob das Origi- 
nal: denn ich send' ihr iezt die eine mit der Reichspost, und 
das andere mit gar keiner. 

J. P. F. Hasus. 



hinlAngliche winke 
wie mein epitaphium sein sol 



Wenn Sulzer Klagen ausstosset, daB man die wenigen Denkma- 
ler verdienter Manner nicht wie die Alten an Plaze des Vergnii- 
gens, an offentliche Spaziergange, sondern auf Gottesakker auf- 
sezet, wo kein Teufel hinkomt: so stoss' ich Klagen aus, daB 
man das nicht einmal thut, und wenn ich nicht selbst daran 
dachte und etwas ansehnliches in meinem Testamente bios dazu 
auswiirfe, daB mir fur mein Geld ein prachtiges Epitaphium, 
von dem ich iezt angeben mus wie ichs haben wil, gehauen und 10 
gesezet wiirde: so dachte in der ganzen Ballei keine Seek daran 
und das thut mir die Wahrheit zu sagen recht wehe. Nicht dem 
verdienstvollen Man sondern nur seinen Bewunderern fallet 
seine Verkennung so hart und aus wessen Seele eine grosse That 
erwachsen kan, bei dem sez' ich schon eine innere grosse voraus, 
den Sieg iiber die Ruhmbegierde, wie man den Ruhm einerntet, 
wo man ihn verachtet. Man wende das nicht auf mich an, son- 
dern nur auf sich. 

Wenn ein kiinftiger Reisender vor meinem Epitaphium vor- 
beireitet (denn aus der Landstrasse schauet man in den Gottesak- 20 
ker hinein und meines schimmert leicht in die Augen) und eine 
Reisebeschreibung halb in der Tasche und ganz im Kopfe hat: 
so entsinn' er sich, daB ich ihn hier ersucht habe, seiner Reisebe- 
schreibung, die ich wegen des guten Styls kaufen wiirde wenn 
ich nicht tod ware, dadurch einen ausserordentlichen Glanz zu 
geben, daB er stat seiner eignen elenden Beschreibung des E[pi- 
taphiums], meine folgende eigne hineinbringt oder es gar blei- 
ben lasse: denn hier ist sie ia schon. 

Der wesentliche Zwek eines Grabmals ist, einen Menschen 
lustig zu machen; es ist glaub' ich der lezte Spas eines Marines 30 
auf dieser Welt. 



WIE MEIN EPITAPHIUM SEIN SOLL II45 

Es miissen deswegen die Rezensenten, die halberhoben auf 
dem Grabstem nisten sollen, durchaus in 2 Arten von poetischen 
Figuren dargestelt sein. Dieienigen Rezensenten, die als Teufel 
gehauen werden, welche sich mit der Fama urn meine Seele 
schlagen, gehen in dies[er] Gestalt nach der einen poetischen 
Figur. Die andere ist, daft ich eben soviele Rezensenten als ana- 
tomische Professoren hinmeiseln Iasse, die mit ihren Handen 
und Messern in meinen Leichnam dringen und wissen wollen, 
wo das Obel ihm sizt: von der Anatomie konnen sie nichts wis- 
10 sen, gleich den Wurmern die unter dem Stein meinen Leichnam 
anatomiren, mehr um sat als weise zu werden. 

Es gehoret in meinen Plan, die 4 Fakultaten sollen versteinert 
werden und da ihre 8 Hande iiber die Kopfe zusammenschlagen, 
daft meine eignen wirklich faulen und folglich der Welt nichts 
mehr liefern als wachserne Fingernagel, wie der ungelehrteste 
Tode auch thut. Jede sol ausser dem Liripipium auf ihrem Kopf 
eines in der Hand halten, als ob sie willens ware, es mir aufzuse- 
zen (wegen der Menge meiner Verdienste) und als ob sie es 
bedauerte, daft es nicht mehr geht: allein es ist nicht zu spat 
20 und ich bin ia noch am Leben und kan tausend Liripfipien] auf- 
thun. 

Stat des a/co oder •>•** sol meine glandula pinealis oben ihren 
Plaz haben, da ich ihr alles zu danken habe, meinen Ruhm und 
diese Beschreibung und wenn diese Druse nicht soviel Vergnu- 
gen wie andere giebt, so doch mehr Weisheit und macht gut 
was andere verderben. Thranendrtise Zirbeldriise. Ich kehre 
mich in der Erde um, wenn man nicht errath, warum ich die 
medizinische Fakultat mit einer Garnitur von Weisheitszahnen 
aller Gelehrten giirte, sondern auf Vermuthfung] des Spasses 
30 fait. Garben Gehirnfibern - Spizglas vol Nervensaft - Ather. 

Alle meine Schneider - denn ich sezte nach und nach die ganze 
Gilde in Arbeit, nicht in Nahrung - sollen hinter mir her sein 
und nach meinem Rokke fangen: ich weis nicht erst seit gestern, 
daft sie es nicht nur wie die Damen bei Voltaire thun 26/CI3., 
sondern auch um mir den Rok abzupfanden, weil ich aus der 
Welt gegangen und ihn zu zahlen vergessen - im Himmel sol 



1 1 46 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

die Bibliothek von G6tt[ingen] stehen, damit die Leute sehen 
was ich fur Lust habe. 

Der Steinhauer mus kein Nar sein und nicht seine Anatomie 
und meine Muskeln vorzeigen wollen: denn dan wiird' ich mit 
meinen vorspringenden austretenden Muskeln aussehen wie ge- 
schunden; ich seh' aber ganz anders aus und regiere einen scho- 
nen gebohnten Korper seit meiner Zeugung. 

Ich that' es gern und brachte meine Frau - denn sie lebt noch 
und ob ich gleich aus guten Absichten sie einmal in Stein hauen 
und in einen Sarg einbetten lies: so wolte es doch ihre Nerven 10 
nicht genug angreiffen und ich hatte noch den unniizen Hauer 
zuzahlen- iammernd und heulend auf diese steinerne Gemalde- 
gallerie dessen, was ich wirklich bin, ich sag ich that' es; aber 
es ist kein Plaz fur sie und wie viel weniger fur die ganze halbe 
Welt, ob [ich] sie gleich darauf hinwiinschte und es doch zu 
versuchen rathe. 



LAUNIGTE PHANTASIE 



Es miissen schon viele Kunstrichter auf der Welt gewesen seyn, 
die recht gute Griinde angaben, warum das musical ischeVhantz- 
siren, das ohne Tact mit den entferntesten Tonarten und Emp- 
findungen wechselt, und worin Emmanuel Bach vortrefliche 
Proben setzte, nicht im Mindesten einem verniinftigen und un- 
sterblichen Wesen mehr vergonnt seyn kann, als das Launigte, 
an das ich mich jetzt einmal mache: lebten keine solche Kunst- 
richter, so kann ich weiter nichts dafur, und ich konnte deswe- 
gen keinen Ehebruch begehen und sie insgesarnmt vorlaufig 
zeugen. - Obrigens ist das Phantasiren bekanntlich so schwer, 10 
daB, so wie vielen nur im hitzigen Fieber und Wahnsinn bey 
einer Verdoppelung aller korperlichen und geistigen Krafte die 
ErinnerunggriechischerBeweisstellen, die Composition ganzer 
Gedichte und Reden etc. vonstatten gieng, gewohnlich auch 
das Phantasiren nur in solchen Krankheiten besonders gerath, 
die den Kopf beseelen, indem sie ihn ungemein verwirren. 
Meine Anlage dazu, (das fuhr ich selbst so gut wie ein anderer) 
will wenig sagen, und ich konnte mich bios deswegen nicht 
als Jesuit in Antwerpen niederlassen, und da an den Actis Sanc- 
torum mitschreiben, an denen (sie sind ein einaugiger Biicher- 20 
cy elope und ein Hierozoicon) vielleicht etwas ist. Ich besinne 
mich zwar aus Hallers Physiologie recht wohl darauf, daB er 
ein Beyspiel eines Wahnsinns anfiihrt, der wie ein eisernes Stuck 
bis in die fiinfte Generation uberriickte: allein es muB In- und 
Auslander ein wenig Wunder nehmen, daB da mein GroBvater 
im Grunde gar nicht recht bey sich war, sich die Sache auf mei- 
nen Vater doch nur sehr gedampft vererben wolte, indem viele 
Buchhandler dafiir haften konnen, daB ihn in seinem Leben nie- 
mals etwas hohers befiel, als die dythrambische Poesie; bey mir 
erschlafte diese Anlage noch weit mehr, und die Wahrheit zu 30 
gestehen ausserordentlich, und die poetische Pulsader schoB in 
mir zu einer schlechten satyrischen Blutader aus; bey meinen 
Kindern soke die Welt nicht einmal wenige Rudera davon er- 
w art en, und es konnen, sorg' ich nicht seit gestern, aus ihnen 



LAUNIGTE PHANTASIE 1 149 

niemals etwas anders werden, als Erwachsene; und ich merk' 
es ganz wohl, es soil eine ausserordentliche Schulstrafe des Him- 
mels fur mich seyn, daB er mich vollig ausfindig machen lasset, 
daB mein armer Urenkel sich, wenn er gezeugt worden, gar 
als ein essender Pralat aus der Welt hinaussitzen werde. So kann 
sich in der beBten und narrischten Familie am Ende ein entsetzli- 
ches Phlegm a einlagern. 

Wenn ich in der folgenden Phantasie auf die entlegensten 
Ideen gut genug durch chromatische Ausweichungen ubersteige, 
10 und dabey keinen Augenblick mich gegen die Kunst des reinen 
Satzes verstosse: so ists mir ganz lieb, und ich thu' es herzlich 
gern; denn die Bestimmung des Menschen auf diesem ganzen 
Erdglobus ist es ja wohl mit, daB er von Zeit zu Zeit einen 
ganznetten Aufsatz aushecke, es sey nun fiir ein philosophisches 
Wochenblatt oder fiir eine Monatsschrift, oder fiir die gegen- 
wartige. 



Ich woke, es ware, so wie es ein corpus evangelicum giebt, 
auch ein corpus humanum zu haben: es soke mir dann eine 
unschuldige Lust seyn, ihm - da der Mensch weit weniger belei- 

20 digt werden darf, als die Menschen - einige Trillionen grava- 
mina einzuberichten, unter denen die Zertriimmerung des ge- 
wesenen corpus humanum (der Illuminaten, dieses neuen 
pythagoraischen Bundes) nicht das letzte Gravamen ware, son- 
dern das allererste. Es half aber gar nichts. 

Daher wunsch' ich zuweilen bey muBigen Stunden, der Teu- 
fel soil vor der Hand das Meiste holen, und besonders sich selbst, 
da er nicht mehr Jesu, sondern der Gesellschaft Jesu so viele 
Reiche der Welt anbeut, und dadurch den armen angebotenen 
Reichen die krankendsten Streiche zu spielen denkt. 

30 Man wird erfahren; wenn man mir 3 Terzen Zeit verstattet, 
so kann ich hoffentlich auf eine alte Idee verfallen: Die menschli- 
che Seele braucht nach Chladenius nicht mehr Zeit zum Tritte 
auf einen alten Gedanken; aber zum Sprunge auf einen klaren 
will sie 30 Terzen nach Bonnet durchaus haben. Da ich nicht 



II50 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

auf einen klaren, sondern alten kommen wolte: so konnt' ich 
auf die versprochene Idee in der kurzen Zeit, daB ich dariiber 
rede, ganz gut gerathen; sie war mir bios neu, als wir, ich und 
Herr Nicolai, in Bayern aufeinander mit Vergniigen stieBen, 
und ich sie ihm etwan so vorlegte: »Es kann unmoglich an klei- 
nen deutschen Landgen fehlen, die die Originale wenigstens die 
Copien von Eldorado, wenn ich anders diesen schimmernden 
Namen Landern geben darf, die gewiB nichts geringers sind, 
als wahre englische oder chinesische Garten, im GroBen. Denn 
so wie diese die Miniatiirbilder der Physiognomie der Natur 10 
sind, und den stadtischen Palast mit einer kiinstlich wilden 
Einode umringen: so sind jene Lander fast gar diese abcopirte 
Natur selber, und selten fehlet einem prachtigen Landhause, 
das etwan dem Hofe angehoret, die Nachbarschaft der schon- 
sten, natiirlichen unbebauten Wiisten und Wildnisse, die den 
Bauerngehoren.* Wie ferner die englischen Garten, wenigstens 
ihre Originale die sinesischen, die Gestalt der Natur, durch ein- 
gef aline, halb abgebrannte Gebaude, durch aufgestellte Galgen 
und Torturwerkzeuge, durch Beschreibung der schrecklichsten 
Begebenheiten auf steinernen Pfeilern, copiren: so mocht' ich 20 
wol ausser Ihnen manchen fragen, obesnichtnochso gluckliche 
und diesen Garten nachgearbeitete Lander gebe, in denen nie- 
dergebrannte Wohnungen, Ruinen und Galgen fur die Bewoh- 
ner der letztern, jedem Postwagen vielleicht so zahlreich entge- 
gen laufen, daB sie die lange und wohlthatige Hand leicht 
verrathen, die sie zu solchen Thiergarten umgeandert; und noch 
dazu, so ist das alles keine kindische Kiinsteley, sondern wahre, 
ernsthafte Natur selbst. Was die schrecklichen Begebenheiten 
anlangt, so muBte bios der Satan sein Spiel dabey haben, wenn 

* Schon unsere Vorfahren verheerten gern die nachste sie umzin- 30 
gelnde Strecke, und hielten die Begranzung durch eine Wiiste, fur ein 
Zeichen der Tapferkeit. Und wohnet denn alien unsern Fursten noch 
so wenig von der vorigen Tapferkeit bey, daB k einer den Muth hatte, 
seinen Thron mit einer kleinen runden Wiiste einzufassen, in der iibri- 
gens zum SpaBe seine Unterthanen (als Colonisten) leben und sterben 
konnen? 



LAUNIGTE PHANTASIE H5I 

sie die Landeszeitung nicht eben so riihrend erzahlen wolte, als 
ein gedachter Pfeiler.« Ich sagte oben, ich hatte das dem Hrn. 
Nicolai so vorgeredet: allein ich erinnere mich jetzt des Gegen- 
theils gar wohl, und ich muB etwan nur gelogen haben. 

Es ist nicht gut, daB noch keine Regierung wahren und nicht 
Zeitungsruhm sich dadurch einzusammeln getrachtet hat, daB 
sie etwan jeden Durchreisenden gezwungen hatte, mit Vergnii- 
gen (er miiBte denn sagen, er ware gar nicht beschnitten) auf 
einezahme Schweinshaut zu springen, und auf ihr zu schworen, 

10 er wolle, sobald er iiber die Granze ware, wenig oder nichts 
von allem was er disseits derselben gesehen, aussagen, die ver- 
minftigsten Buchhandler mochten ihm bieten was sie wolten, 
so wie wirklich jeder der die Bastille wieder raumt, nichts von 
ihrer Geschichte auszuplaudern schworen muB. Ich sage, diese 
Frey las sung der Federn soke ihre Granzen haben, und die unge- 
bundentste PreB- und Maskenf reyheit konnte, dunkt mich nicht 
mehr begehren, als daB ihr etwan nicht verwehret sey, einen 
Staat, seine unbekannten Obern und jeden Holzwurm im 
Throne bis zum Hofbuchdrucker herunter, der das Werkgen 

20 verlegen kann, nach Wohlgef alien und ein wenig sehr zu loben: 
diese ErlaubniB des Lobs ist ein Grad von PreB f reyheit, den 
die Staatsinquisition in Venedig niemals verstattet; daher es 
kommt, daB jeder sie ungern lobet. Aber iiber das Lob hinaus 
ist jeder Buchstabe, den der Setzer dazu nimmt, giftig und allge- 
mein schadlich; Regierungscollegien verschmahen wie die 
Mahlerstuben vielseitiges Licht, und viele Fenster storen in bey- 
den alles Arbeiten. Gerade die beBten und menschenfreundlich- 
sten und niitzlichsten Schritte - der Zuschauer verspiirt den 
Nutzen f reylich nicht, aber die handelnde Person empfindet ihn 

30 lebhaft, wenigstens an sich, - die oft eben darum die grausam- 
sten scheinen, gehoren unter die Wohlthaten, die eine Regierung 
gern heimlich und im Dunk ein thut, und wenn es nothig ware, 
einem ganzen Lande eine Art von Tortur anzuthun- Staatslehrer 
solten wissen, daB das oft gar nicht abzuwenden steht - so kann 
ich mich noch immer nicht iiberreden, daB nicht, so wie die 
Kriminalisten zur Folter einzelner Personen die natiirliche Nacht 



1 1 52 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG 

anberaumen, auch zu der mehrerer Menschen eine gewisse fi- 
giirliche Dunkelheit so vortheilhaft sey, als nur irgend etwas. 

Denn was sieht man, wenn die PreBfreyheit ihre unnothigen 
Leichenfackeln anbrennt und hintennach tragt? Todte und Trau- 
ernde und Arzte in Trauerwagen - das macht aber hernach 
die Welt ungemein verdriiBlich, und kein Mensch will mehr 
auf ihr heruinlaufen. 

Es istklaglich, daB meine vielen und vornehmen Feinde uber- 
all berumgehen und daraus erharten werden, ich fragte im 
Grunde nach der Wahrheit fast gar nichts. Allein konnen sie 10 
wol das Factum verscharren, daB ich die Frage »was ist Wahr- 
heit« schon langst in Prag nicht auf der Klosterbibliothek, son- 
dern im Kloster selber gethan, da ich bey einer recht guten thea- 
tralischen Vorstellung des Leidens Christi am Charfreytage 
niemand anders machen konnte, als den bekannten Pontius Pila- 
tus, derim Originale, wieichhoreinder Schweitz so erbarmlich 
ersoffen seyn soil, daB die halbe Christenheit gar nichts mehr 
wider ihn haben soke? Wir wollen alle nichts mehr wiinschen, 
als. daB seine gedachte vidimirte Copie ganz anders und besser 
fahre, die so gut ist und so eifrig vor hat, noch unzahlige Jahre 20 
das sitzende Publicum mit nichts anderm aufzuheitern und voll- 
zupacken als mit recht passenden Phantasien, wovon der Anfang 
der gegenwartigen gewiB eine eben so gute Probe seyn mag, 
wie folgende Fortsetzung. 

Das Wort Phantasie ist wider meine Erwartung im Stande 
mich auf die Cirrhaer zu fiihren, deren Geschichte verniinftige 
Autoren gar wol fahig machen kann, solche zu erzahlen. Solon 
belagerte sie, und schnitt ihnen, damit sie verdursteten, alles 
Wasser ab. Es muB wahrscheinlich geregnet haben," weilihm 
seine Absicht ganz zu Wasser wurde. Deswegen gab er der Stadt 30 
ihren PlistusfluB wieder zuriick, nachdem er in dem FluBe vor- 
her einige Sacke NieBwurz hatte zergehen lassen. Als dieser laxi- 
rende Strom in die Stadt rann: so trank die ganze durstige Besat- 
zung daraus, vom Gesundesten bis zum Kranksten, und die 
Lazaretharzte und Regimentsfeldscheerer am ersten: wahrhaf- 
tig, ein ruhrender Autor, der den Vorfall aus der Universalhi- 



LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 53 

storie herausschneidet, und dann nach beBtem Vermogen er- 
zahlt, kann sich des Mitleidens daruber schwerlich erwehren, 
und nothigt durch nichts dem Leser Gegenthranen ab, als durch 
seine eignen. Denn mir ist nun vollig, als sah' ich nach wenigen 
Stunden die ganze Stadt, die den Effect durch Fasten vollends, 
beschleunigt, auf dem Nachtstuhle ansaBig; eine Compagnie 
wundert sich (aber zur Unzeit dunkt mich) iiber den Durchfall 
der andern und auch iiber ihren eignen, und wenige Geistliche 
(ich besorge gar keine) konnen sich so lange hinsetzen, daB sie 

io ein angemessenes Gebet gegen den ganzen Vorfall zu Papier 
bringen konnten. Und wenn etwas den originellen Jammer ver- 
mehren kann, muB es nicht das seyn, daB nun Solon - denn 
die Stadt war jetzt so gut offen, wie eines jeden Leib - die Of- 
nung der erstern benutzt, und an der Spitze des Todes herein- 
prallet, und gar nicht da wie David mit dem Saul in der Hohle 
hausen und etwan einen Rockzipfel nehmen will, sondern alles 
iibrige dazu, und end! ich eine Garnison anpackt, die sich nicht 
in Positur setzen kann wenn sie auch wolte, und deren bravste 
und erfahrenste Leute bey so gestalten Sachen weiter nichts ver- 

20 richten konnen als ihre Nothdurft? . . . Es falle mich doch kein 
angesehener Kunstrichter fur den Bericht einer Geschichte an, 
bey der ichs so gut meyne, wie wenige, und aus der ich fur 
Jung und Alt vorziiglich das moralische Apophthegma zu 
schopfen vorhabe, daB nur eine Stadt durch Niefiwurz fiel, die 
iibrigen aber ohne sie. 

Indem ich jetzt von ungefahr die ungleiche Zahl m einer Jahre 
und meiner Werke iiberlege (der letztern sind bekanntlich zu 
wenig) so bin ich erst im Stande die Wunde auszumessen, welche 
von der Siindfluth der sammtlichen Gelehrsamkeit dadurch ge- 

30 schlagen wurde, daB kein Mensch mehr so lange lebt, wie Me- 
thusalem. Wenn diese Abkiirzung des menschlichen Lebens 
hauptsachlich (wie es wenigstens die gangbare Meynung ist) 
zur Verhiitung der Vielschreiberey veranstaltet worden: so er- 
reicht sie ihren Zweck nur gar zu gut; wahrhaftig Manner, die 
bey einem patriarchalischern Alter ganze alexandrinische Bi- 
bliotheken hatten niederschreiben konnen, treibens jetzt iiber 



1 1 54 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

80, 90 Bande selten. Man glaube mir, ich hatte dann vielleicht 
eine ganze Rathsbibliothek in Druck geben konnen, wo nicht 
mehr; allein meine Hauptabsicht, warum ich das sage, ist, die 
mir bekannte Welt ein wenig auf die besondern Folgen davon 
aufmerksam zu machen. Ich mache mir Hofnung, wenn ich 
eine solche Vielschreiberey, die Voltairens seine uberholte, mit 
einer Sparsamkeit verbande, die der seinigen gleich kame: so 
konnt* ich am Ende oder noch eher so reich, wie der verstorbene 
Advokat Didius werden, der auf das romische Reich, da die 
romischen Soldaten es in die Auction geschickt hatten, das 10 
hochste Gebot that. Ich kaufte mir mit meinen Honorarien ein 
kleineres, und ich hoffe, es ware vollig zu haben: denn wahrhaf- 
tig, die Nachwelt wiirde sich wundern, wenn man wie bisher 
die Menschen bios nach dem Stuck- und Handverkauf (beym 
Neger- und Soldatenhandel) und niemals en gros und Lander- 
weise verhandeln wolte. Ichregiertenachher mein erschriebenes 
Land den ganzenTag, Sommer und Winter beym allerelendesten 
Wetter; wiewohl ich das alles bis auf diese Stunde unmoglich 
glauben kann: denn es ist ja bekannt genug, wie wenig Zeit 
mir zum Regieren verbliebe, da ich die meiste damit hinbrachte, 20 
daB ich einen Tractat iiber die Regierungskunst zusammen- 
flickte, aus welchem das meiste dem aufmerksamen Publicum 
hier vorgelegt zu werden verdient. Ich wiirde meinen Tractat 
verdrufilich mit der Bemerkung anfangen, wie ausserordentlich 
schlecht es ware, wenn iiber die Regierungskunst andere Perso- 
nen als solche, die sie selbst iibten, Tractate edirten. Ich wiirde 
darin fragen, ob wol groBe Manner von der Nachbarschaft des 
Thrones zu weit abwohnen konnten, und ob sie sich nicht am 
beBten als Granzwildpret ausnahmen, wie auch in der physi- 
schen Welt die groflten Planeten gerade am meisten von der Sonne 30 
ablagen: ich wiirde gestehen, ich sahe den Widerspruch mehr 
in den Worten, als in der Sache, wenn ich nicht bios wie bisher 
seltene Bucher in Bibliotheken, sondern auch ihre Verf asset, da- 
mit beyde dablieben, in einige Ketten legen und zeitig solche 
Proteusse/e55e/«lieBe, nicht damit sie weissagten, sondern damit 
sie schwiegen; ich wiirde hinzusetzen, ich wiirde auch ohne das 



LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 5 5 

Beyspiel der franzosischen Regierung auf diesen Plan verfallen 
seyn. Ich wiirde ein frisches Capitel anfangen, und darin ganz 
trocken bekennen, wie wenig mir an meinem Hofe alle andere 
ausser solche Leute gefielen,. die nichts thaten als leben, und 
die nicht durch Geschafte sich zum Vergniigen verdiirben, son- 
dern die schweren mieden; so wie auch die Alten den Gottern 
nur Opferthiere zufiihrten, die noch keine Arbeit gethan hatten. 
Ich wiirde gleichgultig fortfahren und sagen, ich wiirde leider 
bald genug aufhoren. Ich wiirde mich gegen den geistigen An- 

io thropomorphism in Riicksicht der Fursten* mit einem Eifer set- 
zen, von dem ich fur mein Leben gern wissen mogte, ob er 
mir nicht bey alien das Ansehen eines auffallenden Kauzes giebt. 
Ich wiirde in das Land der Wahrheiten nicht sowol als der Ideen 
gehen, und daraus mit mehrerern Beweisen heimkomrrien, daB 
es bey den niedrigern Posten des Staates gar nicht gleich gelte, 
wer sie besetze, sondern bios bey den hohern und wichtigern; 
einer Ministerstelle musse man daher habhaft, einer Dorfschul- 
zenstelle aber wurdig seyn, und der bloBe Zufall (d. i. die Erb- 
folge) konne in den bessern Staaten unmoglich bey einer andern 

20 Stelle allein Sitz und Wahlstimme haben, als bios bey der Beset- 
zung der hochsten oder des Thrones; die unbedeutenden und 
zahlreichern Staatsbedienten seyn die Mauersteine des Staatsge- 
baudes, deren Figur, wenn Liicken wegbleiben sollen, nicht 
gleichgultig sey, die Vornehmern aber seyn die wahren Saulen 
des Staats, die gleich den Saulen unserer Palaste gar nichts trii- 
gen, und ihm nur zur Zierde eingemauert standen, und die man 
nicht mit den Saulen der Alten vermengen muBte, auf denen 
oft ein ganzer Tempel lag: ich wiirde dabey anmerken, dies 
sey nicht zur Bekehrung anderer Lander gesagt, sondern viel- 

30 mehr zu ihrer Rechtfertigung. Ich wiirde endlich des Tractats 
noch satter als jetzt seines Auszugs werden und hinschreiben, 
er sey gar aus. - Obrigens ist es gewiB nicht von vernimftigen 
Kunstrichtern zu erwarten, daB sie es seyn wiirden die mirs 



* Dies nothigt mich zu einer langen und verniinftigen Note, die am 
Ende des Aufsatzes erscheinen soil. 



H5 6 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 

verdachten, wenn ich als Regent sie halbdtodt priigeln, oder in 
den Karren spannen lieBe, sobald sie meinen Tractat nicht mit 
der geringsten Unpartheylichkeit recensirten, sondern vielmehr 
mit Tadel. - Es ware zu wiinschen, ich brachte dann von mei- 
nem Ehrgeitze soviel auf den Thron, daB es meinen Kopf unter 
seiner goldnen Last aufrecht halten konnte, wenn ich zu meinem 
Vergniigen durch eine besondere Cabinetsordre befahle, es solte 
wochentlich eine gewisse Stunde ausdriicklich dazu ausgewor- 
fen werden, in der man durchs ganze Land bios von mir, den 
zwey Haupttheilen, woraus ich bestehe, von meinen verschie- 10 
denen Verhaltnissen, Wirkungen, Attributen, GedachtniBideen, 
Verstande, Anstande und Style sprechen miiBte, ausgenommen 
Gebahrende, Wahnsinnige und Sterbende. War' ich aber endlich 
selber von der Zahl der Letztern: so wiird' ich dieses Privilegium 
nicht auf mich ausdehnen, sondern mit meinem Thronfolger 
vor wenigen GroBen des Reichs so von mir reden: »Ich konnte 
gar keinen andern Grund haben, warum ich dich herrufen lassen, 
als den,, daB du sehen sollest, wie lustig und humoristisch ein 
Regent mit Tod abgehen kann, dessen langes Leben bios eine 
lange Bestrebung war, dasselbe mit nicht ungiinstigen Recen- 20 
sionen der gangbarsten Journale vermittelst des Buchermachens 
aufzuschmucken, und dadurch in der That zu verlangern. Fange 
mithin deine Regierung mit einem ungemein guten Tractate 
an, ich meyne nicht mit einem den du schlieBest, sondern den 
du schreibest, und gieb vorher meine meisten letzten Reden 
in Druck, deren ich, wenn ich nur noch zweymal vier und zwan- 
zig Stunden lebe, so viele schon zu fuhren suchen werde, daB 
ungefahr ein diinner Octavband daraus wird.« Dann werd ich 
das werden, was ich jetzt bin . . . 

Unter die erheblichsten Unglucksfalle, die mich diese Woche 30 
heimgesucht, setz' ich diesen mit, daB ich den vorhergehenden 
langen Absatz gemacht und herausgegeben; denn ich kann da- 
durch die gelehrte und auch die Lesewelt halb zum Vorwurfe 
berechtigen, ich schriebe offenbar nicht auf alien Blattern gleich 
vortreflich: dieser Vorwurf macht einen fingerlangen Dorn in 
der groBen Dornenkrone aus, die ich als Autor iiberall auf mir 



LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 57 

herumtrage, und muB in meiner Geschichte mit vorkom- 
men. 

Als der Bischof Ulphilas die Bibel ins Gothische verdoll- 
metschte: so HeB er die Biicher der Konige vollig aus, und thats 
aus einem Grunde, den Philostorgius deutlich angiebt: ich 
wiirde den heutigen Tag nicht vergessen, wenn mir mein Ober- 
setzer die Bitte gewahrte, die ich jetzt, er mag mich iibersetzen 
in was er will, an ihn thue, alles was in dieser Phantasie nur 
im geringsten an die Fursten streift, ganz in seiner Obersetzung 

10 zu iiberspringen (weil ich mit dem geringsten zornigen Scepter 
ohne Miihe zu erschlagen ware) und lieber von dem leerbleiben- 
den Raum dadurch einen wahrhaft guten Gebrauch zu machen, 
daB er in ihn folgende Stellen fliessend hineinverdollmetschet: 
Unsere in die Zukunft fliegende Blicke stoBen sich iiberall 
an Mauern, woran sie herunterf alien: ich weiB der Tod ist ge- 
sonnen, uns die Mauerkrone (corona muralis) zu schencken; allein 
eh' ers thut, miissen wir diese Mauern mit einigen guten Fresco- 
gemal&en, die darauf die Zukunft hinmahlen, die jene verbauen, 
desgleichen mit Wandtapeten aufputzen, wie ich nicht besser 

20 weiB. Da ich ebenfalls die Zukunft weniger sehen als traumen 
kann: so sorg' ich, ich farbe solcher Frescogemalde mehr als 
sich fur einen erzognen Europaer schicket auf die Mauer hin, 
und das thate mir besondern Schaden. Fur ein solches Kalkpor- 
trat und fiir eine Aussicht, nicht in die Ewigkeit sondern in 
die Zeit, geb' ich dieses aus. Ich stelle mir oft das Vergniigen 
und den allgemeinen Nutzen vor, der gewiB nicht ausbliebe, 
wenn auf einmal unsere Fursten, besonders die Kleinsten, wirk- 
lich anfiengen Soldaten zu halten. Man halte mich nicht gleich 
anfangs ganzlich in meiner Reverie auf, daB man uns beyden 

30 entgegenstellt, es ware halb unmoglich, weil es an allem, beson- 
ders an Uniform, Lohnung und Leuten fehle, denen man beyde 
gebenkonnte. DennesistGottlob, vielmehr alles nachErforder- 
niB da und noch weit mehr. Es sind besonders fleissige Unter- 
thanen da, denen die MuBe des Soldatenlebens eine wahre Erho- 
lung seyn miiBte, und die iiberhaupt der Werber schon 
deswegen fast alle in den Verhack und in die Brandmauer des 



1 1 58 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Vaterlandes verwandeln soke, weil sie dann dasselbe um desto 
leichter zu beschiitzen hatten, je weniger eben dadurch darin 
zu beschiitzen iibrig bliebe; so wie an vielen Orten der ar- 
beitsanie Landmann die fruchtbare Erde meistens aus dem Acker 
herausfahret und aus ihr einen Wall um denselben aufwirft, der 
das Wenige, was auf der zuriickgebliebenen unfruchtbaren auf- 
wachset, vollkommen gegen alle Thiere beschirmt. Es ware 
eben so zwecklos als langweilig, wenn ich hier mich und den 
Leser und den Recensenten mit der Wiederholung der bekannten 
Griinde qualen wolte, warum die Unterthanen sicher bios um 10 
des Fiirsten und nicht um ihrentwillen da sind, und Manner, 
die nur einigermaBen gelesen und gesessen, sind eben so wenig 
irri Stande zu glauben, daB die unermeBlichen Sterne bios fur 
den Menschen strahlen, als daft die herrlichen Seelenkrafte, die 
in den Gehirnfibern eines Unterthans angebracht sind, sein Ge- 
dachtniB, das kein Kiinstler nachzuarbeiten vermag, sein tiefsin- 
nig combinirter symmetrischer Gliederbau, wovon die Glieder- 
manner erbarmliche Reprasentanten sind, besonders der Geist 
in seinem Kopfe, der die chymischen Geister, den Salmiakgeist 
etc. ganz ubertrift, daB alle diese Wunder sag* ich, nicht fur 20 
fiirstliche Personen, sondern bios fur den elenden, hungrigen 
Untherthan selbst existiren, den wenige achten konnen: wahr- 
haftig der besagte Unterthan kann nicht einmal eine gute Copie 
von einem Menschen (Statue, Bild, Marionette) bezahlen und 
besitzen, wie soke er vollends auf den Besitz des Originals (das 
ist er selbst) Anspruch machen konnen, und kann er oder der 
Furst es kaufen? 

In Absicht der Uniform ist hoffentlich jede Kriegskasse in 
dem Zustande, daB sie recht gut ein Tuch dazu anzuschaffen 
vermag, durch das Sonne, Mond und die groBern Fixsterne hau- 30 
fig scheinen konnen. Es ist nicht zu wiinschen, daB es dicker 
sey, da die Kalte und das Holz zugleich abnimmt. Es ist mir 
recht gut bekannt, daB Zimmermann die Tapferkeit der nordli- 
chen Volker von der Kalte ihres Klima ableitet, und daB man 
aus dieser Ableitung und aus der Abnahme der klimatischen 
Kalte auf die Abnahme der Tapferkeit nur gar zu gern fortschlie- 



LAUNIGTE PHANTASIE 1159 

Bet; allein sparsame Kriegscommissare werden, hoff ich, stets 
die natiirliche Kalte durch die kiinstliche zu erganzen wissen, 
und die Kerls durch die kiirzeste und dunneste Montirung der- 
massen kalt halten, daB sie sich vor weiter nichts fiirchten, als 
vor der Holle, deren Warme auch ihnen bekannt ist. Je schlechter 
iibrigens Lohnung, Wohnung und das Ubrige zu haben ist, 
destomehr miissen es Proviantcommissarien und andere zu be- 
kommen trachten, damit man den Soldaten gegen die Obel 
und Entbehrungen des Kriegs abharte, und in diesem ihn keinem 
io Ungemach entgegenfiihren konne, das ihn nicht schon der 
Friede kennen lehren. Was gab den Spartern jene Liebe fur den 
Krieg, und jene Gleichgultigkeit fur seine Plagen? Sie wurden 
im Frieden wie Hunde gehalten: bekanntlich aber halt man 
Hunde meistens so schlimm, wie verschiedene Soldaten. 

Ein auffallendes Beyspiel von Tapferkeit stell' ich in einer 
Tragodie auf, an der ich noch schreibe, und welche man den 
Menschen anpreisen soke. Ich stifte einen betrunkenen Corporal 
an, daB er schworet, (wiewohl auch dann das Parterre es nicht 
wird glauben wollen,) »er seines Orts werde alle Wochen zwey- 
20 mal verwundet, und zwar mit einigem Ruhme, da die Wunden 
von vornen waren, und die Narben sahe man noch, und zwar 
geschahe ihm das allemal von seinen herzhaftesten Cameraden 
wenn sie ihn - rasirten. « Der Kerl dient unter einem Landgraf en. 

Der Corporal setzt noch hinzu: »Wer nicht das Geld hatte, 
eineCompagniePudelhunde aufzurichten, denen (iberhaupt das 
Manovre entsetzlich miihsam (weil sie fast ohne alien Verstand 
waren) beyzubringen ware: der fiihre weit besser und verniinfti- 
ger, wenn er bios Menschen anwiirbe, die nachher vor Fremden, 
die keine Feinde waren, prachtig paradirten, und er ware hof- 
30 fentlich der Mann schon dazu, der die nothigsten Handgriffe 
einzupriigeln verstande. « Ich bin gesonnen, den benarbten Cor- 
poral in der Mitte des ftiniten Acts todtschiefien zu lassen. 

»Ichkonnte, sagt' ich zu meinem Freunde O., diese Phantasie 
in den Druck geben.« 

»Warum?« sagte er. 

J. P. F. Hasus. 



Il60 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

Note vom geistigen Anthropomorphism, in Rucksicht der 
Fursten 



Robinet brachte mich darauf. Er entdeckte und bekampfte (in 
seinem Buche de la nature T.IL) den geistigen Anthropomor- 
phism zuerst. Ich will seine Hauptsatze mit meinen Worten her- 
setzen: »Wie der korperliche Anthropomorphism das gottliche 
Wesen mit einem menschlichen Korper umhiille: so pfropfe der 
geistige ihm die Eigenschaften der menschlichen Seele ein. Man 
diirfe aber das nicht. Denn der Unterschied zwischen den 
menschlichen und gottlichen Vollkommenheiten bestehe nicht 10 
im Mehr oder Weniger, sondern in der Art, in der Unendlich- 
keit. Man konne mithin dem hochsten Wesen keinen Verstand, 
keine Giite, keine Gerechtigkeit, kein Handeln nach Absichten 
zuschreiben, weil das alles bloBe Vollkommenheiten der endli- 
chen Wesen seyn, die man unmoglich auf ein hochstes iibertra- 
gen konne. « Das ist ungefahr der Focus des neuen umgekehrten 
Strahlenkegels, den dieser Philosoph auf uns alle fallen lassen. 
Fiir Ketzermacher oder Atheistenmacher (welches nicht zwey- 
erley ist) wird es gut seyn, wenn ich erinnere, daB Robinet gar 
nicht auch den Namen des gottlichen Wesens zugleich mit den 20 
(ibrigen Eigenschaften wegwerfe, sondern ihn ordentlich ste- 
hen, und mithin jedem noch genug dabey zu denken (ibrig 
lasse. 

Ich habe einen ahnlichen Kampf mit denen zu bestehen, die 
in den geistigen Anthropomorphism der Fursten fallen. Es ist 
hier in einer bloBen Note gar nicht der nothige Raum da, es 
vollstandig auszufiihren, daB die Metapher, die die Fursten Got- 
ter nennt, dem Auge der Vernunft als ein eigentlicher Ausdruck 
vorkomme, und ich muB den Leser vollig auf meine ungedruck- 
ten »politischen und despotischen Nebenstunden« verweisen, 30 
wo ich ihn hieriiber ganz befriedigt habe. Wahrhaftig einer blo- 
Ben Metapher wegen, wiirden die Romer ihren Kaysern keine 
Tempel gebauet haben, noch weniger den Proconsuln. Mich 
diinkt wenigstens, ausdrikklich dazu besoldete offentliche Leh- 



LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 6 1 

rer des allgemeinen Staatsrechts solten es wissen, daB zwischen 
einem Fiirsten und seinen Unterthanen gar keine Ahnlichkeit 
und keine Vergleichung start habe, da die letztern keine Freyheit, 
und mi thin kein eignes Ich, kein Gut und gar nichts haben, 
da ganze Millionen derselben sich nicht zutrauen, daB ihre zu- 
sammengesetzten Kopfe in corpore zu ihrer Selbstbeherrschung 
auslangen, die sie deswegen einem fremden fiirstlichen geben,* 
da endlich das Gluck ganzer Tausende kein zu hoher PreiB fur 
das Gluck des Einzigen ist. Wir konnen also zwischen den Vor- 

io ziigen des Fiirsten und der Unterthanen unmoglich einen Un- 
terschied annehmen, der bios im Grade bestande, so daB etwan 
der Fiirst nur weiser, besser etc. war als diese: er muB in der 
Art liegen. Ist es also nicht offenbarer Anthropomorphism, der 
den Fiirsten zu einem volligen Menschen macht, wenn ein Autor 
(gesetzt auch er sey ein Genie) seinen Verstand, seine Tugend, 
seine Gerechtigkeit zugleich mit seinem Buche einem Fiirsten 
zuschreibt, auf den sich solche bios biirgerliche Vorziige so we- 
nig, als auf den robinetischen Gott ohne AnstoB ubertragen las- 
sen, am wenigsten in einer Dedication, die lieber schmeicheln 

20 als beleidigen will? Robinet laugnet, daB das hochste Wesen 
nach Endzwecken handele: eben so ists bios ein Zeichen der 
menschlichen Schwachheit, die von dem fiirstlichen den Gedan- 
ken der Endzwecke nicht trennen kann. Robinet sagt, Gott 
konne unmoglich seine unendliche Weisheit und Giite im Uni- 
versumausdriicken: wie unmoglich das namliche einem wahren 
Regenten ist, beweiset nicht bios die Metaphysik, sondern auch 
die Reisebeschreibungen. Wir wollen also nicht mehr hohere 
Wesen dadurch verkleinern; daB wir sie durch die Beylegung 
solcher Vorziige zu erheben denken, die bios von uns iibergetra- 

30 gen sind. 

Ich bekenne, ich nahm unter dem Ausdruck Regent meistens 
auf den Orient Riicksicht, wo es noch Fiirsten in eigentlicher 
Bedeutung giebt, anstatt daB bey uns oft gerade die beBten mit 

* Daher reicht der unendliche Verstand eines Herrschers hin, es mag 
sich die Summe der Unterthanen noch so sehr vermehren, und ich 
glaube, Ein Regent ware fahig, iiber die ganze Erde zu regieren. 



1 1 62 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

solchen Unterthanenvorziigen, z. B. Giite, Verstand etc. sich 
entstellen: allein gestand derm nicht schon Ludwig der Vier- 
zehnte dem GroB sultan hierin den Vorzug vor sich selber zu? 



DIE MORDERISCHE MENSCHENFREUND- 
LICHKEIT 



Wenn der Bauer gesund ist, so sucht man ihm nichts zu nehmen 
als Haab und Gut; wenn er krank wird, so trachtet man ihm 
gar nach dem Leben - an ienem erkent er seine Feinde, an diesem 
seine Freunde. Ich meine hier keinen Bader, der eine todliche 
Aderlas und einen guten Groschen will; keinen Apotheker, der 
stat der Arzeneien Rezepte macht: sondern ich meine Pfarrer, 
Edel- und Amtleute, die den Landmann todten, um zu beweisen 

10 daB sie ihn haben heilen wollen, und die den Himmel zu verdie- 
nen suchen, indem sie andere darein iagen. 

Wenn ich bei einem Dorfhonorazior einer Haus- oder Reise- 
apotheke begegne: so fahr' ich zusammen, weil ich weis, es 
steht die Batterie und die Todtenorgel vor mir, womit der Tod 
in ein ganzes Dorf feuert. Denn sie ist offenbar geladen mit 
der Schweerschen Essenz, mit den hallischen Arzeneien, mit 
dem ailhaudischenPulver, mit dem rothen Pulver, mitTheriak, 
mit starkenden Magentropfen, mit Wund und Lebenstropfen, 
mit - Giften. Diese Arzeneien, die ein guter Arzt iezt selten 

20 und dann nur gegen langwieriges Leben verordnet, probiert der 
Dorfhonorazior an iedem Kranken Nummer nach Nummer 
durch, und rufet sie fur Universal arzeneien aus, ob es gleich 
nicht einmal Universalgifte giebt. Es siehet nicht, daB er an 
Universalarzeneien glaubt, bios weil er an Universalkrankhei- 
ten glaubt und z. B. von Fiebern nicht anders weis als daB sie 
wie die Weiber in kalte und hizige eingetheilet werden. Er sieht 
nicht, daB man wenn's Universalarzeneien gabe nichts verminf- 
tigers thun konte als alle Doktorhiite zerschlizen, und alle Apo- 
theken umschiessen und mich und diesen anmuthigen Aufsaz 

30 ausserordentlich auslachen, weil eine Universal arzenei - und 
der Dorfhonorazior denkt gar, er verwahre sie zu Duzenden 



II64 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

- besser und wolfeiler ware als selbst ein Kirchengebet fur 
Kranke, das wenns 100 mal geholfen, doch i mal nicht hilft. 

Der Dorfhonorazior sieht zu meinem Jammer nicht, und soke 
doch sehen, daB iene Arzeneien, warens auch die besten, unter 
den Handen eines andern als eines Arztes schlechterdings zu 
Gift ausarten miissen und nur etwan so oft heilen wie der Bliz, 
der zuweilen Gelahmte und Schwachsichtige kurirte und die 
iibrigen erschlug. Denn nicht die Ausforschung einer Arzenei 
erschweret die Rolle des Arztes - eme Krankheit umringt er mit 
einem Kongres von Mitteln - sondern die Ausforschung der i 
Krankheit, die so schwierig ist, daB selbst funf Jahre Kolle- 
gien horen, Doktorhut und Bucher kaufen das Genie dazu nicht 
ersezen konnen: was hat nun der Dorfhonorazior (Ausnahmen 
abgezogen) statt der funf Jahre, statt des Doktorhutes, statt der 
Bucher, statt des Genies? - nichts als einen alten Loffel, womit 
er dem Tode wie mit einer Ladeschaufel die Kanone ladt. 

Der Dorfhonorazior sieht noch nicht, daB er nichts sieht son- 
dern will mir den Sieg auf diesem Intelligenz Blatte durch den 
Einwurf nehmen: »der Landmann hat eine wahre Natur von 
Eisen, die was vertragt. « Nun so wird er auch die Krankheits- 20 
materie vertragen, wenigstens leichter als deine Arzenei. Aber 
es ist nicht einmal wahr. Der Landmann vertragt alles, Hunger, 
Arbeit, Wetter, Wunden - aber nur Krankheit nicht. Eben seine 
Starke, seine Oberfullung mit dichtem Blute werfen ihn aus 
bekannten medizinischen Grunden dem Tode desto schneller 
unter die Sense; wenn der epidemische Todesengel (Ruhr, Faul- 
fieber, Scharlachfieber etc.) herumfliegt; so schleicht er vor den 
mit Blute bestrichenen Hausern der vornehmen ausgequetsch- 
ten Stacker und Juden vorbei und lasset diese, die fiir Nerven- 
schwache nicht stehen konnen, sitzen: aber in die agyptische 30 
Hiitte des starken Bauers bricht er ein und hauset da nicht wie 
ein Christ, sondern wie ein Turk. Eine nervenschwache, hyste- 
rische, bleichsuchtige Frau kan langer leben als irgend ein Leser 
dieses Intelligenzblattes und ich mochte sie nicht: aber bey einer 
feurigen rothwangigen wie z. B. bey des gegenwartigen Verfas- 
sers seiner ist auf etwas bessers zu passen, und ich habe deswegen 



MORDERISCHE MENSCHENFREUNDLICHKEIT 1 165 

gern in die Todtenlotterie eingesezt; so wie eine dicke saftvolle 
Pflaume vom ersten Winds tos fallet, aber eine welke zusam^ 
mengerunzelte - die schiitter der Teufel ab. 

Wider mein Gefiihl werd' ich lustig und es machens die Stad- 
ter: denn die Dornen, womit man den Landmann gewohnlich 
nicht gekrbnt sondern gar umpanzert erblickt, lassen warlich we- 
nig Lust zum Scherz. Ich wollte noch sagen, daft da gerade die 
obengedachten Krankheiten dem Landmann am gewohnlich- 
sten und gefahrlichsten sind, weil sein dichteres Blut das Fieber 

10 so leicht bis zur Auflosung treibet und da mithin ihn schwachen 
fast so viel wie ihn heilen ist, daB sag' ich iene stark ende und 
hizige Arzeneien gerade das Holz sind, das man einem flammen- 
den Gebaude unterstellet, um es zu befestigen und wodurch 
man eben der Gluth zuschuret. Ja gesetzt, iene Arzeneien scha- 
detennichts: so schaden sie doch dadurch, daM sie den Kranken 
durch eine lugende Hofnung vom Rathfragen des Dokters ent- 
fernen . 

Es ist sonderbar, den Chirurg wagt niemand zu spielen, aber 
■ ieder den Arzt: und doch ist die Heilung einer Wunde zehnmal 

20 leichter, bestimter und gefahrloser als die eines Fiebers. - Noch 
2 Fragen und eine Antwort auf eine dritte. 

Der Landmann hat durch Erbschaft so viele medizinische 
morderische Irthtimer von seinen 32 oder 64 Ahnen bekommen 
- z. B. die von der Heilsamkeit des Brantweins in der Ruhr, 
des Warmhaltens in Fiebern und Blattern etc. -: war' es denn 
eine Todsiinde und vollig gegen die s*ymbolischen Biicher und 
gegen die Kanzel, wenn auf der letztern, oder auch unten der 
Landgeistliche solche Irthiimer bekriegte, da man zumal gar 
nicht einwenden und sagen kan, es waren theologische? 

30 Da adeliche Gutsbesitzer so oft die Gemeine zusammenheis- 
sen und ihr so viel billige Befehle erofnen lassen: warum wollen 
sie nicht einmal eine unschuldige Ausnahme wagen und ihr in 
Epidemien einen unbilligen Befehl ertheilen lassen - namlich 
zum H. Doktor zu gehen? Und wenn neulich iemand schon 
einen solchen gab: warum geben ihn nicht mehrere? 

Da ich also von euch, ihr Dorfhonoratiores, nichts unchristli- 



1 1 66 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG 

ches begehre und hoffentlich euch nicht ansinne, daB ihr dem 
Landmann etwas zu leben, sondern nur ihn leben lasset; da ich 
nicht die Absicht sondern die Wirkung eurer Menschenliebe 
anfeinde: was werdet ihr heute am Freytage nach der Lesung 
dieses Blattes thun? - lachen* und den Pachter, der's euch mitge- 
bracht, fragen wo er die Schweersche Essenz hat, und morgen 
das Intelligenz Comtoir, wer doch der narrische Kerl ist, der 

R. 



* Die 5 Personen die dieses Bktt auf dem Lande - in dieser ganzen 
Gegend - lesen, lachen gewifi nicht, und die lachen, lesen es nicht. 

Intelligenz Comtoir. 



I 



WAS DER TOD 1ST 



Der Engel Raziel, der den enterbten und gesunknen Adam tro- 
stete, war oft beim Tode der armen Menschen und trug zuweilen 
die abgeriBne kalte Frucht in einen hohern warmern Garten: 
darum sehnte er sich, einmal selbst den menschlichen Tod zu 
fuhlen. Ein Kreis von freundschaftlichen Engeln versprach ihn 
nach dem Augenblick des Todes mit ihrem Lichthimmel zu 
umringen, damit er wiiBte, daB es der Tod gewesen. 

Er schlug wie ein elektrischer Stral sich in den Leichnam eines 

io ungliicklichen unbekanten Rechtschaffenen, dessen Untergang 
gewesen war nicht wie der der Sonne, die sich prachtig vor 
dem Angesicht der wachenden Natur ins Meer wirft, daB rothe 
Wellen am Horizonte hinaufschlagen, sondern wie der Unter- 
gang des Mondes der still um Mitternacht hinter einem falben 
Gewolke versinkt; und er fiillte das welke und miide Gehirn 
des Armen mit einem belebenden Feuer: aber niemand merkte, 
daB nun aus dem Korper nicht der Rechtschaffene, sondern ein 
Engel handle. Jezt flogen seine Gedanken nimmer, sondern wa- 
teten durch die Atmosphare des Gehirns; und eine schwule Luft 

20 driickte ihn; die Gegenstande legten fur ihn die herbstliche ver- 
fliessende Duftgestalt ab und stachen auf ihn mit einbrennenden 
Farben; er empfand alles dunkler, aber sturmischer und eingrei- 
fender; der Hunger riB an ihm, der Durst brante an ihm: - ist 
das der Tod der Menschen? sagte er. Da er aber keine Engel 
und keinen umflammenden Lichthimmel sah: so merkte er wol, 
daB das bloB das Leben derselben sei. 

Abends lagen seine Fantasienbilder nicht mehr im Sonnen- 
schein, sondern in einem dampfenden Feuer und Bilder vom 
Tage rollten lebendig und wie Gespenster vor ihn, und eine 

30 unsinnige unbandige Sinnenwelt stieg vor seinen Gedanken auf, 
und auf seinem Haupte lag ihm (so kamen ihm die Vorboten 



u68 



JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG 



des Schlafes vor) ein quetschender Erdball, bis endlich hinter 
dem dicken Leichenschleier des Schlafes sich der den Himmel 
nachaffende Traum mit einem zaubernden KuBe um ihn klam- 
merte: da rannen (schiens ihm) die Erde und sein Korper von 
ihm ab und der verlassene Lichthimmel mit seinen Engeln stralte 
ihn an. »Das war denn der Tod, da ich mich niederlegte« sagte 
er im Traum: aber da er wieder mit seinem eingeklemten Men- 
schenherz aufwachte und die Erde noch erblickte, so sagte er: 
das ist doch nicht der Tod, sondern bloB der Schlaf und der 
Traum des Menschen, ob ich gleich den Lichthimmel und Engel 10 
gesehen. 

Der verstorbne Rechtschaffene hatte doch einen Freund, 
woran ich oben nicht dachte, da ich ihn unglucklich nante: aber 
der Freund wuBte nicht, daB den Korper seines entwichnen 
Freundes bloB ein Engel beseele. Der Engel liebte ihn mit 
freundschaftlicher Eifersucht und labte sich mit dem Augen- 
blick wo er diesem einmal sagen konte, er hatte in Einem Kor- 
per zwei Freunde geliebet. Du diisteres Menschenherz von Erde, 
sagte er, wie kont' in dir das atherische Gewachs der Freund- 
schaft aufgehen und dich mit seinen heiligen Wurzeln umschlin- 20 
gen, und auf dir mit einem Blumenkelche prangen, in dem der 
niedergef aline Himmel mit seinen Reizen wohnt. Der Engel 
wunschte, der Freund stiirbe mit ihm in den Himmel: aber er 
starb friiher. Als nun die harte nakte Statue ohne den einwoh- 
nenden Gott umlag und der Tod durch das versteinerte Antliz 
heraussah und starrte und mit der kalten gelben Hand den Le- 
bendigen anfaBte - als dem Engel schmerzhaftes Sehnen nach 
dem Freunde und trauriges Blut das Herz auseinander driickte, 
und zulezt das schwellende Auge in eine brennende Thrane zer- 
riB: so dacht' er, er flosse mit der Thrane weg und stiirbe so; 30 
allein es umfing ihn kein Lichthimmel, und er seufzete, daB 
das der Tod noch nicht sei, sondern nur der Schmerz uber einen 
fremden Tod. 

Der Korper des Rechtschaffenen legte ihn auf alle die Dornen, 
in die die hohern Stande mit vereinten Druck den niedrigen 
tiefer eintreten und einriitteln; die Krallen vornehmer Wapen- 



WAS DER TOD 1ST 1 1 69 

thiere sah er am wehrlosen Raube hacken und pfliicken, und 
diesen horte er vergeblich stohnen. Da durchschoB der Stich 
des menschlichen Hasses zum erstenmale sein englisches Herz: 
derin sicher nezet und schwarzt das Laster mit Gift die Spize 
dieses Pfeils. Er fuhlte eine innere Verwiistung und ZerreiBung 
und sagte: der menschliche Tod thut wehe. Aber er sah keine 
Engel: doch begrif er nicht, warum das Laster nicht den Geist 
zernagc und ermorde. 

Allein da er einmal in einer Abendstunde las die Beispiele 

10 der menschlichen Tugend, wie der Mensch unter dem Anbellen 
seiner eignen Bedurfnisse, unter tiefen Wolken und hinter lauter 
Nebeln auf dem einschneidenden Lebensweg doch mit dem 
Blick auf die Sonne am hochsten Himmel, auf die Pflicht, fur 
Eltern, fur Kinder, fur Freunde, fur Burger gebende und fuh- 
rende und helfende Arme ausstrecke, und nichts bei sich als 
die Hofnung trage, gleich der Sonne in der alten Welt unterzu- 
gehen, um wieder in der neuen aufzugehen: so schlug seine Ent- 
zuckungsflamme uber das geborgte irdische Gebaude hinaus, 
die murben Bande des Korpers gingen auseinander und der 

20 tiefste aber voriiberfliegende Schlummer deckte vor ihm den 
Lichthimmel und die Engel auf, deren Stralenstrom ihm uber 
den umgefallnen irdischen Damm entgegenwallte. »Bist du 
wieder da, du spielender Traum?« sagte er: aber sein verstorbner 
Freund umschlang ihn unter dem Lacheln des Himmels, mit 
dem begeisterten Kufi und sagte: Das war der Tod, du Erd- 
und Himmelsfreund! 

J. P. F. Hasus. 



BEITRAG ZUR'MYTHOLOGIE, 
oder von der Gotlichkeit der Fursten 



Da ich mich seit 8 Jahren vollig mit der Ubersezung und Vered- 
lung des Montfaucon begebe: so stoss' ich zuweilen auf Stellen 
im weiten mythologischen Felde, die vollig unbewachsen und 
unbearbeitet vor mir liegen. Ich kan mich aber hier auf nichts 
einlassen als auf den Punkt, dessen Bearbeitung ich durch [den] 
Titel verheissen. 

Er ist leider schwer und keine Seele woke sich noch iiber 
ihn hermachen, meine ausgenommen. 10 

Es ware mir angenehm, wenn ich sagen konte, daB die Wahr- 
heit von der Gotlichkeit der Fursten schon langst geboren wor- 
den und unter uns gelebet habe: allein ich bekenne ungern, der 
Beiname Gotter, den ihnen das gemeine Leben, die Bibel und 
die Alten zuweilen gaben, granzet noch sehr an das Metaphori- 
sche und ist hochstens eine Ahndung der Gotlichkeit, deren Be- 
weis ich iezt drukken lasse. Freilich sieht man auch hier mit 
Vergniigen, wie die Philosophie keine Wahrheit ausscharren 
konne, die nicht der gemeine Menschenverstand vorher gewit- 
tert hatte und iede Wahrheit, die iezt durch unsere Mittagslinie 20 
mit ihren Stralen geht, gab den Alten schon eine Morgenrothe 
von sich: allein H. Dutens schos hieriiber unbeschreiblich fehl 
und erboste mich haufig zu seinem Schaden. 

Um mit keinem Gelehrten in einen Wortstreit zu gerathen: 
merk' ich zum Oberflus noch an, daB alle Volker die Gotter 
in zwei Kasten und Kurien zerschneiden, in gute und bose. Ein 
Reallexikon wiirde sich dabei aufhalten, daB die Morgenlander 
den guten Got , den bosen genant, die Griechen 

und Romer die guten die obern, und die bosen die untern und 
daB wir die leztern Teufel getauft. Ich laufe dariiber hinweg 30 
und fiihre auch das kaum an, daB da ich als ein erwachsener 



BEITRAG ZUR MYTHOLOGIE 1 1 7 1 

Christ nur Einen guten Got glauben wil, ich natiirlicher Weise 
die Fiirstennur in die zweite Gotterklasse riikken kan, die ganz 
geraumig ist. Ich hoffe ein wenig, wenn ich aus der Definizion 
und den Beschreibungen die uns die Alten von den untern oder 
bosen Gottern gegonnet, nichts als Eigenschaften herausbringe 
die wahre Regenten zu alien Zeiten wirklich besessen, wenn 
ich endlich die Metaphysik und noch ein paar andere eben so 
verntinftige Wissenschaften dahin vermag dafi sie die Gotlich- 
keit der Regenten vollig erweisen: ich hoffe sag' ich daB man 
mich dan nicht mehr zu denen spannen und gatten werde, die 
aus abgottischer Schmeichelei oder dichterischem Paroxysmus, 
aber nicht aus verniinf tiger Oberzeugung wie ich die Fiirsten 
Gotter nennen. 

Da ich dieses Aufsazes wegen alle Wochen zweimal auf die 
Rathsbibliothek laufe und Schreibtafel und Bleistift in die Tasche 
stekke (weil der Rath alle Dinte untersagt), um mir den Natalis 
Comes reichen zu lass en und da den Artikel von den untern 
Gotternunter lauter Vergleichungen mit den Regenten zu exzer- 
piren: so mein' ich, sol mein Aufsaz durch diese Gelehrsamkeit 
nichts verlieren. 



[BEWEIS, DASS EHEBRUCHE NICHT MOGLICH 

SIND] 



Der Obersezer des goldnen Esels wil das Argernis seiner bisheri- 
gen unziichtigen Obersezungen dadurch auf einmal abthun, daB 
er eine von den in England edirten Ehebruchsverhoren des geist- 
lichen Gerichtes versucht und im englischen Original kommen 
Kupfer dabei, woriiber die grosse Welt vor Lust ausser sich 
kommen soke: in der Ubersezung sols auch so werden. Der 
wichtige Punkt bleibt und ich darf ihn nicht vergessen, daB ich 
eine Vorrede dazu seze, worin ich so gut ich kan beweise, daB 10 
es gar keine Ehebriiche giebt und geben kan. Da der Ubersezer 
so lange daran arbeiten wil wie ... an seiner Ubersezung des 
Kurt, namlich 30 Jahre: so wird mir das viel zu lange, da ich 
die Vorrede schon fertig liegen habe, und es ist besser, wenn 
die Vorrede die sonst nach dem Buche gedrukt wird, iezt einige 
30 Jahre voraus in Druk komt, oder in die Litteratur und Vol- 
kerkunde. Ein guter Autor lasset gern eine Arbeit 2 mal drukken 
und eh ich meine Gedichte zusammen herausgebe: lass* ich sie 
einzeln in dem Almanach erscheinen. 

Mache hier, liebes Publikum, die Bemerkung, daB ein thatiger 20 
Autor keine Kanzleiferien erlebt; wenn er nicht s[elbst] ein Buch 
macht, so schreibt er doch eine Vorrede zu einem das ein anderer 
gemacht: aber freilich befindet sich die Welt besser dabei als 
er. 

Ich baue eine Vorrede an dieses Buch, weniger um durch 
meinen Namen ihm Gewicht zu geben als um den Anstos, 
den 100 Leser an den Ehebriichen darin nehmen werden, da- 
durch wegzubringen, daB ich beweise, Ehebriiche - einfache 
und doppelte, mit vornehmen und niedfrigen] p. - seien gar 
nicht moglich geschweige wirklich und weiter hab' ich nichts 30 



EHEBRUCHE 1 173 

[am Rande: Jezt wird die Sitte bei den Fiirsten beschrieben 
- dan Ursachen, wie sichs herab zog.] 

. . . Aus den mitlern Zeiten haben wir [Liicke] daB iemand 
heirathet. Nur nennen wir [mit einem] Solozismus, den ich bis 
iezt nicht begreiffe, [den] Prokurator Eheman, und die wahren 
Ehemanner Liebhaber: es wiirde an den Nam en -nidus liegen, 
allein die Kanonisten wisse'n langst, was sie ihnen fur Verwir- 
rungen gemacht. 



NACHBEMERKUNG 



Elf Jahre nach AbschluB der Ausgabe von Jean Pauls Werken 
in sechs Banden, die inzwischen in dritter Auflage vorliegt, le- 
gen wir hier den ersten Band einer dreibandigen Sammlung 
der Jugendwerke und der vermischten Schriften (II. Abteilung) 
vor, durch die das Werk Jean Pauls so vollstandig veroffentlicht 
und erschlossen werden soil, wie es auBerhalb der von Eduard 
•Berend edierten Historisch-kritischen Ausgabe noch nie er- 
schienen ist. Zahlreiche Anfragen und Bitten von Lesern und 
Rezensenten haben den Verlag und den Herausgeber dazu be- 
wogen, in das Wagnis einer solchen Erganzungsausgabe zu wil- 
ligen. Ein weiterer Grund fur die Herausgabe ist, daB gerade 
in allerletzter Zeit das Interesse an Jean Pauls satirischen Fruh- 
schriften sich ungewohnlich verstarkt hat - Wolfgang Harich 
meint in seinem jiingst erschienenen Buch uber Jean Paul, die 
Satiren stellten den eigentlichen Schliissel zu Jean Pauls Schrift- 
stellerei dar - und daB auch eine Reihe seiner kleineren Schriften 
und Aufsatze neu in die Diskussion geraten ist. 

Der erste Band enthalt Jean Pauls Fruhschriiten von seinen 
Schulreden und seinen ersten »Obungen im Denken« an bis 
hinzu den satirischen Aufsatzen, die der »Auswahl aus des Teu- 
fels Papieren« von 1789 vorausgehen. Mit Ausnahme der 
»GronlandischenProzesse«, die 1783 in zwei Bandcheti erstmals 
und dann in einer nicht sehr gliicklichen Bearbeitung noch ein- 
mal 1822 erschienen sind, und einer kleinen Zahl von Zeit- 
schriftenaufsatzen. sind die meisten dieser Stiicke zu Lebzeiten 
nicht publiziert worden und haben sich nur in Jean Pauls sorgfal- 
tig gehutetem NachlaB erhalten. Zum Teil wurden diese Auf- 
satze und Satiren in den verschiedenen Sammlungen von Jean 
Pauls samtlichen Werken im 19. Jahrhundert veroffentlicht, 
zum groBen Teil erstmals in den ersten Banden der NachlaB- 
Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe. - Der zweite 



1 176 NACHBEMERKUNG 

Band bringt dann die satirischen Schriften bis zum Erschei- 
nungsjahr der »Unsichtbaren Loge« (1793), vor allem die beiden 
wichtigsten Sammlungen: »Auswahl aus des Teufels Papieren« 
(ersch. 1789) und die zu Lebzeiten ungedruckte »Baierische 
Kreuzerkomodie« (geschr. 1789). Damit ist der AnschluB von 
den Jugendschriften zu den in den Banden der I. Abteilung be- 
reits erschienenen Werken hergestellt. Die zweite Halfte des 
Bandes und der ganze dritte Band erganzen die asthetischen, 
padagogischen und politischen Schriften aus Band 5 der I. Ab- 
teilung urn die dort fehlenden »Vermischten Schriften«, vor al- 
lem urn die zahlreichen und groBenteils sehr bedeutenden Auf- 
satze, die Jean Paul zum Teil noch selbst in Sammlungen* 
zusammengefaBt hat (»Herbstblumine«, »Museum«, »Kleine 
Biicherschau«) und die zum andern Teil nach seinem Tod in 
die verschiedenen Gesamtausgaben aufgenommen worden sind. 
Mit AbschluB unserer II. Abteilung wird damit Jean Pauls 
Oeuvre, soweit es irgend Werk-Charakter besitzt, vollstandig 
vorgelegt sein. 

Wahrend in den bisherigen Banden unserer Ausgabe der 
Grundsatz einer gemaBigten Angleichung von Orthographie 
und Interpunktion an den heute iiblichen Gebrauch herrschte 
(bei selbstverstandlicher Wahrung von Jean Pauls Lautstand und 
von seinen oft eigenwilligen grammatikalischen Marotten), 
s tell ten sich fur die Herausgabe seiner Jugendschriften schwer 
zu entscheidende Textprobleme: Der junge Jean Paul hat sich 
fast noch als Schiiler eine ebenso bizarre wie konsequent ge- 
handhabtePrivat-Orthographiezugelegt, die mit geringfugigen 
Abweichungen durch alle Jahre des uns betreffenden Zeitraums 
beibehalten wurde. Und zumindest im Fall der »Gronlandischen 
Prozesse« haben sich auch Verlag und Druckerei weitgehend 
an diese Eigentumlichkeiten Jean Pauls gehalten. Fur die aus 
dem hahdschriftlichen NachlaB Jean Pauls veroffentlichteri 
Texte schien es uns, da unsere Ausgabe auch als Studienausgabe 
gedacht ist, notwendig geboten, uns in der Textgestaltung 
streng an die der Historisch-kritischen Ausgabe anzuschlieBen. 
Eduard Berend hat in den ersten drei Banden der zweiten Abtei- 



t NACHBEMERKUNG 1 1 77 

lung der Historisch-kritischen Ausgabe (1928 ff.) die Herstel- 
lung eines authentischen Textes auf mustergiiltige Weise gelei- 
stet. Eine Oberpriifung oder Nachbesserung auf Grund der in 
der Staatsbibliothekjn Ost-Berlin aufbewahrten Manuskripte 
konnte hier ausscheiden, zumal sicher kein Jean Paul-Kenner 
derzeit iiber eine auch nur annahernd vergleichbare Kenntnis 
des Materials und Sicherheit im editorischen Metier verfiigt. 
Fur die handschriftlichen Texte beriicksichtigt unsere Ausgabe 
also buchstabengetreu die Orthographie und die Interpunktion 
des jungen Jean Paul, entsprechend der Fassung der Historisch- 
kritischen Ausgabe. (Uber die Eigenarten Jean Pauls vgl. die 
Einleitung zum abschlieftenden Kommentarband.) 

Fur die gedruckten Schriften Jean Pauls bot sich zunachst die 
Orientierung an den bisherigen Banden unserer Ausgabe an, 
d. h. Zugrundelegung der letzten noch vom Autor durchgese- 
henen Ausgabe und eine vorsichtige Modernisierung in Ortho- 
graphie und Interpunktion. Von seinem Erstlingswerk, den 
»Gronlandischen Prozessen«, hat Jean Paul spat, 1822, eineneue 
Fassung erscheinen lass en. Er schreibt dazu in einem Brief vom 
12. Nov. 1820: »An diesem Erstling meiner Schriftstellerei hab' 
ich viel zu erziehen. Das Erziehen besteht im Beschneiden, denn 
eine UmgieCung nach der Form meiner jetzigen Geschopfe ware 
kaum moglich, und sogar unangenehm, da die Eigentumlichkeit 
des ganzen Jugendwerks aufgeopfert wiirde. Es mag denn als 
eine Sammlung satirischer Einfalle gelten.« Jean Paul hat seine 
Absicht, das Buch zu erweitern und mit neuen Satiren zu ergan- 
zen, zwar aufgegeben, im ganzen aber doch stilistisch und in- 
haltlich erheblich geandert, was sicher nicht zum Vorteil des 
Buchs gedient hat. Oberdies ist der Druck dieser zweiten Auf- 
lage, fur die Jean Paul nicht selbst Korrektur gelesen hat, er- 
barmlich schlecht ausgefallen. - Die »Auswahl aus des Teufels 
Papieren« (1789) ist zu Jean Pauls Lebzeiten nicht wieder aufge- 
legt worden. Wohl hat Jean Paul bereits 1797 sich an eine Neu- 
bearbeitung seiner Sammlung gemacht. Diese geriet ihm aber 
unter der Hand zu einem ganz neuen Werk, den »Palingenesien« 
(1798), das in keiner Weise als Neubearbeitung der »Teufelspa- 



1 178 NACHBEMERKUNG 

piere« aufgefaBt werden kann. Erst fur die Reimersche Gesamt- 
ausgabe wollte Jean Paul in den Wochen und Tagen vor seinem 
Tod die »Auswahl aus des Teufels Papieren« noch einmal 
durcharbeiten. Er ist damit jedoch nur mehr bis zum SchluB 
der »Ersten Zusammenkunft mit dem Leser« gekommen. Da- 
nach hat der Herausgeber, Richard Spazier, die stilistische 
Oberarbeitung nach Jean Pauls Richtlinien durchgefuhrt. 

In diesem Fall hat sich bereits Eduard Berend entschlossen, 
»die Originalausgabe von 1789 zugrunde zu legen und der Rei- 
merschen Ausgabe nur da zu folgen, wo sie offenbare Druckfeh- 
ler verbessert«. Fur die » Gronlandischen Prozesse« dagegen halt 
sich die Historisch-kritische Ausgabe, obwohl Berend lange ge- 
schwankt hat, ob er nicht der geschlosseneren ersten Fassung 
folgen solle, an die spate Redaktion. Hier waren wir der Auffas- 
sung, daft im Rahmen einer vollstandigen Darbietung des - 
liberdies chronologisch geordneten - Friihwerks von Jean Paul 
die erste Fassung den Vorzug verdient. DaB Jean Paul aus der 
Erfahrung seines langen Schriftstellerlebens fur die Durchsicht 
seines ungelenken Erstlings eine Fulle von Einzelverbesserungen 
(Glattung allzu ruppig geratener Bemerkungen, konsequente 
Durchfuhrung eines irohischen Prinzips etc.) einbringen 
konnte, scheint uns gering zu wiegen gegemiber der Moglich- 
keit, in den » Gronlandischen Prozessen« in ihrer Urfassung die 
Anfange Jean Pauls studieren zu konnen. 

Daraus ergab sich eine weitere Konsequenz, namlich auch 
in Orthographie und Zeichensetzung die Einheitlichkeit von 
Jean Pauls Jugendwerk durch die Textfassung unserer Ausgabe 
nicht zu gefahrden. Wir folgen also auch fur die gedruckten 
Texte der Jugendschriften den jeweiligen Erstdrucken und ver- 
bessernnur offenkundigeDruckfehler. Natiirlich ergibt das eine 
gewisse UngleichmaBigkeitinsofern, als wir bei den gedruckten 
Schriften die Orthographie des Setzers, nicht die Jean Pauls vor 
uns haben. Andererseits hat sich, wie schon erwahnt, der Setzer 
der » Gronlandischen Prozesse« zumindest sehr eng an Jean Pauls 
Gepflogenheiten gehalten, und ahnliches gilt fur einige der Auf- 
satze. Da nur die Wahl blieb, durchgehend zu normalisieren 



NACHBEMERKUNG 1179 

oder uns durchgehend an die Vorlagen zu halten, glaubten wir 
diese kleineren Unebenheiten in Kauf nehmen zu konnen. Fur 
die Abteilung der »Vermischten Schriften« gilt dann selbstver- 
standlich wiederum das Prinzip der ersten sechs Bande unserer 
Ausgabe. - Die 3. Abteilung dieses Bandes, die »Satirischen 
Schriften iy83-88«, hat Herr Wilhelm Schmidt-Biggemann 
editorisch betreut, dem hier besonderer Dank fiir die zuverlas- 
sige Arbeit gebiihrt. 

September 1974 Norbert Miller 



Als Druckvorlage fur die Texte auf den S. 9-368 der vorliegen- 
den Ausgftbe dienten »Jean Pauls Sam cliche Werke« (Hi s to- 
ri sch-kritische Ausgabe), hg. von Eduard Berend; und zwar der 
1. Band, Ausgearbeitete Schriften 1779-1782, der 2. Abteilung, 
Weimar 1928. Die »Gronlandischen Prozesse« (S. 371-582) 
wurden nach der Erstausgabe Berlin 1783 f. abgedruckt. Fiir 
die Texte auf den S. 585-1038 diente der 2. Band, Ausgearbei- 
tete Schriften 1783-1785, der 2. Abteilung der HkA, Weimar 
193 1 als Vorlage - mit Ausnahme der Schrift »Kleine Satiren« 
(S. 799-810), dienach dem Erstdruck in: »Fiir Aeltere Litteratur 
und Neuere Lecture. Quartal-Schrift«, hg. von Canzler und 
Meiftner, 2. Jg., 3. Quartal, Leipzig 1784, S. 48-66 gegeben 
wurde, und der »Zerstreuten Betrachtungen iiber das dichteri- 
sche Sinken« (S. 849-874), cji e ebenfalls nach dem Erstdruck, 
in: »Litteratur und Volkerkunde. Ein periodisches Werk«, 
5. Bd., Dessau 1784, S. 294-322, abgedruckt sind. DieBeitrage 
Jean Pauls zu den »Mixturen« (S. 1039-1075) wurden nach der 
Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1786 abgedruckt. Fiir die Schrif- 
ten »Ober die Religionen in der Welt«, »Vergleichung des 
Atheism mit dem Fanatism«, »Ein nichtchristlicher Weiser«, 
»Ober die Perriicken und schwarzen Rocke der Geistlichen« 
(S. 1076-1100) diente die Sammlung »Raffinerien fiir raffini- 
rende Theologen«, hg. von E. F. Vogel, 2. Bd., Frankfurt und 
Leipzig 1786 als Druckvorlage. Die Texte auf den S. 1101-1146 
sind wiederum nach der HkA, dem 3. Band der 2. Abteilung, 
Weimar 1932 abgedruckt. Die »Launigte Phantasie« 
(S. 1147-1162) wurde nach dem Erstdruck in: »Neue Litteratur 
und V61kerkunde«, 2. Jg., 1. Bd., Dessau und Leipzig 1788, 
S. 418-437 gegeben; »Die morderische Menschenfreundlich- 
keit« (S. 1163-1166) nach dem »H6fer Intelligenzblatt« vom 
19. Sept. 1788, 39. Stuck. Der Aufsatz »Was der Tod ist« 
(S. 1167-1169) wurde nach der Vorlage. im »Deutschen Mu- 
seum« 1788, 2. Bd., Nr. 6, Dezember, S. 552-555 abgedruckt. 



Die beiden letzten Texte ab S. 1170 folgen wieder der HkA, 
dem 3. Band der 2. Abteilung. 

Ausfuhrliche Bemerkungen zu Druckvorlage, Textgestalt 
und Entstehungsgeschichte der einzelnen Schriften werden im 
gesondert erscheinenden Kommentarband enthalten sein. 

Carl Hanser Verlag 



INHALTSVERZEICHNIS 



Erste Abteilung. Erste schriftstellerische Versuche 1779-1782 . . 7 

Schulreden 9 

I. [Ober den Nutzen des fruhen Studiums der Philosophic] . 10 

II. [Ober den Nutzen undSchadenderErfindungneuerWahr- 
heiten] 22 

Obungen im Denken. Erster Band 35 

November 1780 

Anzeige $6 

I. Untersuchung. Wie unser Begrif von Got beschaffen ist 37 

II. Untersuchung. Von der Harmonie zwischen unsern wah- 

ren und irrigen Sazzen 39 

III. Untersuchung. Ein Ding ohne Kraft ist nicht moglich . 40 
mi. Untersuchung. Ist die Welt ein Perpetuum Mobile? . . 41 

, V. Untersuchung. 'Was algemeines fiber's Physiognomiren 43 

VI. Untersuchung. Unsere Begriffe von Geistern, die anders 

als wir sind 45 

VII. Untersuchung. Wie sich der Mensch, das Tier, die 
Pflanz' und die noch geringern Wesen vervolkomnen . . 47 

Bemerkungen I-XVIII 54 

Dezember 1780 

VIII. Untersuchung. Ober die Religionen in der Welt ... 62 
Villi. Untersuchung. Jeder Mensch ist sich selbst Masstab, 

wonach er alles aussere abmist 69 

X. [Untersuchung], Ober Narren und Weise - Altags Zeug! 75 
Bemerkungen XVIIII-XL 76 

Mai 178 1 

XI. Untersuchung. Man belont die Tugend zu wenig in der 
Welt, und bestraft's Laster zu ser . . ■ 88 

XII. Untersuchung. Ober Narren und Weise, Dumkopf und 
Genie's 91 

XIII. Untersuchung. Die Warheit- ein Traum ....... 95 

Bemerkungen XXXXI-LII 102 

Zusazze, oder Verbesserungen 109 



INHALT 1 1 83 

Abelard und Heloise 117 

Abelard's Brief an Wilhelrn 118 

Mein eigen Urteil iiber den Abelard 172 

Etwas liber den Menschen 173 

Tagbuch meiner Arbeiten , 195 

Auf das Augustmonat 1781 196 

Auf das Septembermonat 1781 233 

[Rhapsodien] 255 

I. Ober die Religionen in der Welt 256 

II. Unterschied zwischen dem Narren und dem Dummen . 260 

III. Von der Dumheit 266 

IIII. Von dem unzeitigen Tadel der Feler des andern 275 

V. Abgerissene Gedanken iiber den grossen Man 277 

VI. Vom Menschen 279 

VII. Etwas iiber Leibnizzens Monadologie 287 

VIII. Von der Dankbarkeit '. . 288 

Villi. Vergleichung des Ateism mit dem Fanatizism .... 291 

X. Allerlei. 1-2 1 294 

Ober die Liebe 303 

[Bruchstiick aus einem Aufsatz iiber Leben und Tod] . . . . 305 

Das Lob der Dumheit 307 

Vorrede 308 

Das Lob der Dumheit 310 

Zweite Abteilung. Gronlandische Prozesse 178 3-1784 369 

Gronlandische Prozesse, oder Satirische Skizzen 371 

[Erstes Bandchen] 

I. Ober die Schriftstellerei 372 

II. Ober die Theologen 426 

III. Ober den groben Ahnenstolz 438 

IIII. Ober Weiber und Stuzer 445 

V. Fragment aus einem zweiten Lobe der Narheit 466 

VI. Ober die Konfiskazion der Biicher 469 

Beschlus 471 

Zweites Bandgen ( 

Vorrede 487 

I. Unpartheiische Entscheidung des Streits iiber das Verhaltnis 
zwischen dem Genie und den Regeln; als eine Probe von der 



Il84 INHALT 

kiirzlich entdeckten Tauglichkeit des Wizes, die Stelle des 
Verstandes, in Aufsuchung der Wahrheitzu vertreten . . . 493 

Griinde fur die Wichtigkeit der Regeln 494 

Griinde gegen die Wichtigkeit der Regeln 497 

II. Beweis, daB man den Korper nicht bios fiir den Vater der 
Kinder, sondern auch der Biicher anzusehen habe, und dafl 
vorziiglich die grosten Geistesgaben die rechte Hand zur 
glandula pinealis gewahlet 506 

III. Epigram matischaphor is tische Klagen eines Rezensenten 
an und iiber die Autoren, welche die Rezensionen ihrer 
Werke entweder selbst verfertigen, oder doch mit nichts als 
einem Exemplar bezahlen 527 

IIII. Bitschrift aller deutschen Satiriker an das deutschePubli- 
kum, enthaltend einen bescheidnen Erweis von des sen 
ieziger Armuth an Thorheiten, nebst Bitten und Vorschla- 
gen, derselben zum Besten der deutschen Satire abzuhelfen 532 

Vorrede zum nachstehenden Aufsaze 532 

IIII. Bitschrift aller deutschen Satiriker 534 

V. Epigrammen ' 570 

Dritte Abteilung. Satirische Schriften 1783-1788 583 

Gesprache 585 

Epigrammen. 1-46 594 

Bitschrift der deutschen Satiriker an das Publikum 603 

[Bruchstiicke] 719 

[Eine Abhandlung aus dem Jahre 3059 iiber den mechanischen 

Witz des 18. Jahrhunderts] 735 

Nachricht zum nachstehenden [Aufsaz] 73 5 

Beantwortung der Preisaufgabe: Kan die Theologie von der 
nahern Vereinigung, die einige Neuere zwischen ihr und der 
Dichtkunst zu kniipfen angefangen, sich wol Vortheile ver- 

sprecheri? 745 

Anhang fiir meine einfaltigen Leser 771 

Ein Feuerschaden 772 

Ein Beispiel von der weiblichen Keuschheit und Enthaltsam- 

keit . . .( 772 

Avertissement 773 

Todesfalle 774 

Wasserschaden 775 



INHALT 1 1 8 5 

Nachricht von einigen neuen Larven, die bei Benstof in der 

Veitsstrasse zu bekommen sind 779 

Wiederruffung eines unrichtigen Gleichnisses 786 

Beforderung 786 

Todesfal 787 

Beitrag zur Geschichte der seltnen Wiederhalle in Gebauden 788 

Von einer nachdenklichen Ahndung 789 

Eine Preisaufgabe 791 

Beschlus oder Vorrede; worin keine Anmerkungen iiber Wiz, 

Ironie und mich selber gesparet werden 792 

Kleine Satiren [vom Verfasser der Gronlandischen Prozesse] . 799 

Fliichtige Muthmassungen iiber die menschlichen Tugenden 811 
Zerstreute Betrachtungen iiber das dichterische Sinken, auf 

Veranlassung der swiftischen Anweisung zu demselben . . 849 

[Von der Gottlichkeit der Fiirsten] 875 

Achte Samlung meiner besten Bonsmots; nebst einer Rede 
iiber die Bonsmots, in welche noch eine Rede iiber den Fus 

eines Hasen eingeschaltet worden 879 

1. SatirischeBonsmots, dieichbei vermischtenGelegenheiten 
gesagt 904 

2. Schmeichelhafte Bonsmots, die ichgesagt 912 

3. Bonsmots, die ich im Traume und Schlafe gesagt 914 

Unpartheiische Beleuchtung und Abfertigung der vorziiglich- 

sten Einwiirfe womit Ihro Hochwurden meine auf der neu- 
lichen Maskerade geausserte Meinung von der Unwahr- 
scheinlichkeit meiner Existenz schon zum zweitenmale haben 
umstossen wollen; auf Verlangen meiner Freunde abgefasset 

und zum Druk befordert vom Teufel 919 

Dedikazion an den Hern von W..t...r....h..s..n . ...... 920 

Die Widerlegung selbst 927 

Volstandige Mittheilung der schlechten, aberwizigen, unwahren 
und iiberfliissigen Stellen, die ich in meinem noch ungedruk- 
ten »satirischen Organon« aus Achtung fur den Geschmak 
und fur das Publikum ausgestrichen habe 995 

Nachdenklicher aber wahrer Bericht von einer hochst merkwiir- 
digen Erscheinung der weissen Frau und von den Ursachen, 
warum sie in der Erde gar nicht ruhen kan 1007 

Vom Kaufman Vagel. Fragments fur den kiinftigenBiographen 
seines Lebens 1019 



1 1 86 INHALT 

Ober meine schlechte Nahrung 1024 

[Menschen sind Maschinen der Engel] 1028 

Vorrede [zu den »Mixturen fur Menschenkinder aus alien 

Standen«] 1032 

Zeitungen 1036 

Geschichte 1037 

Mixturen fiir Menschenkinder aus alien Standen, von verschie- 

denen Verfassern 1039 

Erklarung der Titelvignette 1040 

Katalog der Vorlesungen, die in unserer Stadt fiir das kiinftige 

halbe Jahr werden gehalten werden 1040 

I. Vorlesungen der theologischen Fakultat 1040 

II. Vorlesungen der juristischen Fakultat 1042 

III. Vorlesungen der medizinischen Fakultat 1043 

IV. Vorlesungen der philosophischen Fakultat 1045 

Einige gutgemeinte Erinnerungen gegen die noch immer 

fortdauernde Unart, nur dann zu Bette zu gehen, wenn es 

Nacht geworden 1048 

Meiner abgerissenen Einfalle erste Lieferung 1065 

Meiner abgerissenen Einfalle zwote Lieferung 1067 

Meiner abgerissenen Einfalle lezte Lieferung 1072 

Der morderische Traum . . : 1074 

Ende 1074 

Ober die Religionen in der Welt. Von einem Latitudinarier . . . 1076 

Vergleichung des Atheism mit dem Fanatism 1083 

Ein nichtchristlicher Weiser 1086 

■Ober die Perriicken und schwarzen Rodke der Geistlichen . . 1090 

[Die Zukunft der Theologie] 1101 

Vom Verbote der Einfuhr auslandischer Siinden 1103 

Reisepasse im andern Leben 1106 

Dumheit schikt sich auf alle Weise fiir das gemeine Volk . . . 1108 
Brief an einen angehenden Schauspieler, mit einigen Warnungen 
vor der Verhunzung des lustigen Trauerspiels oder der hohern 

Komodie mi 

Fiir und wider den Selbstmord 11 19 

Antwort des Englanders 1127 

Meine Beantwortung der Berliner Preisaufgabe: »ob man den 
Pobel aufklaren diirfe«; als ich fiir die Algem. deutsche Biblio- 

thek abgezeichnet wurde 1134 



INHALT 1 1 87 

Hinlangliche Winke wie mein Epitaphium sein sol ...... 1144 

Launigte Phantasie 1147 

Die morderische Menschenfreundlichkeit 1163 

Was der Tod ist 1167 

Beitrag zur Mythologie, oder von der Gotlichkeit der Fiirsten 1170 

[Beweis, daB Ehebriiche nicht moglich sind] 1172 

Nachbemerkung 1175 



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Das Einbandleinen, das Kapitalband und das Leseband sind 

aus 100% ungefarbter und ungebleichter Baumwolle.