JEAN PAUL
SAMTLICHE VVERKE
Abteilung II
Jugendwerke
tind vermischte Schriften
Band 1
JEAN PAUL
Jugendwerke I
ZWEITAUSENDEINS
Herausgegeben von Norbert Miller
unter Mitwirkung von
Wilhelm Schmidt-Biggemann
l.Auflage, Marz 1996.
2.Auflage, Marz 1996.'
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser Verlages.
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In der Schweiz uber buch 2000,
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ISBN 3-86150-152-X
INHALTSOBERSICHT
Erste Abteilung
Erste schriftstellerische Versuche 1779^-1782
7
Zweite Abteilung
Gronlandische Prozesse 1783-1784
369
Dritte Abteilung
Satirische Schriften 1783-1788
583
Nachbemerkung
1175
Inhaltsverzeichnis
ERSTE ABTEILUNG
Erste schriftstellerische Versuche 1779-1782
SCHULREDEN
I.
[UBER DEN NUTZEN 0ES FRUHEN STUDIUMS
DER PhILOSOPHIE]
Nach Stand und Wurden allerseits hochst, hoch und werthge-
schazte Anwesende!
Es ist der Wahrheit nicht zuwider, wenn man behauptet,
daB es nicht selten Studirende gebe, die von der Meinung
eingenommen sind, daB die Philosophic einem Jtingling,
der sie schon friih zu treiben anfangt, schadlich, oder zum
wenigsten unniiz sei. Damit sie doch von ihrer Meinung 10
einen Grund angeben konnen, bringen sie vor, deswegen
sei die Philosophic schadlich, weil sie vom Lernen der
Sprachen abhalte, den Kopf mit unnothigen Griibeleien an-
fiille, und die Krafte des Korpers durch Nachdenken
schwache. Diese und andere, zum Theil scheinbare, zum
Theil vollig unrichtige Griinde, sind im Stande, manchen
zu verfiihren, daB er die Philosophic auf Schulen hintenan-
sezzet und sie bis auf seine akademischen Jahre, in welche
er sie gleichsam hinverbannet hat, aufschiebt. Es ist aber,
wenn ich urtheilen darf, nicht schwer zu begreifen, daB 20
dieses ein sehr schadliches und gefahrliches Vorurtheil sei.
Die Philosophic ist eine Wissenschaft, die in nicht so gerin-
ger Zeit erlernet werden kan, ia! ich glaube, sie sei eine
Wissenschaft, worzu unser ganzes Dasein kaum hinreicht,
um ihre Tiefen und Abgriinde auszumessen, und der man
sich nicht friih genug widmen konne, um in ihr einige
Starke zu erlangen. Kommen nun Junglinge auf die Akade-
mie, die sie entweder gar nicht, oder doch bios dem Namen
nach kennen, so ist vielcr Schade fur sie unvermeidlich.
Weil sie sich noch nicht an philosophische Begriffe ge- 30
SCHULREDEN
wohnt haben, so werden sie in ein noch ganz unbekanntes
Feld versezt. Wollen sie demnach nicht zuriikbleiben, so
miissen sie entweder ihre Universitats Zeit um ein Grosses
vcrlangern, oder sich besonders anstrengen und andere
Theile der Wissenschaften verabsaumen. Da nun aber we-
nige lange auf der Universitat bleiben konnen, urid doch
keiner seine Hauptwissenschaft, von der er einmal den Na-
men fuhren will, bei Seite legen kan, so komt er nur weit
in derselben und auch nicht weit genug in den iibrigen
io Theilen. Dann kan er also wohl sagen, daB er Philosophic
getrieben habe, aber nicht sagen, daB der Nuzzen fur ihn
daraus gros gewesen sei. Ich hielt' es daher fur nicht un-
schiklich, wenn ich es unternahme, dieser Meinung zuwi-
der, gerade das Gegentheil zu beweisen, und diese Gedan-
ken waren denn also die Veranlassung, um welcher willen
ich iezt, so vie! das geringe Maas meiner Krafte zulasset,
darzuthun suchen werde, dap derienige, welcher die Philoso-
phie schon friih , aberrecht,treibt, in seinen andern Wissenschaften
einen grossern Fortgang- habe.
20 Nie wiird ich mich, hochst, hoch und werthgeschazte
Anwesendel vor einer so vornehmen Versammlung zu spre-
chen erkuhnet haben, wenn mir nicht die Nachsicht, wel-
che Sie, wie ich bemerkt habe, gegen Anfanger sehr giitig
hegen, das Vertrauen eingeflosset hatte, daB Sie auch meine
Fehler mit Grosmuth (ibersehen und bei meiner Rede den-
ken werden, daB es nur geringe Krafte sind, welche sich
an diesen Gegenstand gewagt haben.
Soil die Philosophic fur einen Jungling eineri gluklichen i.Theii.
Fortgang in seinem iibrigen Studiren zu wege bringen, so
30 wird es freilich nicht iede Art und Weise sie zu treiben,
bewirken. Ich will daher zuerst da mit mich beschaftigen,
wie ein Schuler nach meinem Urtheil die Philosophic zwar
friih aber recht treiben soil.
Die erste Einschrankung ist diese. Wenn man behauptet,
ein Schuler soil sich derselben friih widmen, so meinet man
hiedurch keinesweges, daB er die Sprachen und andere Wis-
JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
senschaften verabsaumen, oder nur als Nebenwerk ansehen
diirfe. Dies wiirde weit gefehlet sein. Die Sprachen ver-
nachlassigen, und sich bios mit der Philosophic abgeben,
hiesse wider die Ordnung der Natur handeln, wider den
Strom schwimmen und sein Hauptwerk auf die Seite sez-
zen. Es ist nicht zu leugnen, daB das Gedachtnis eher seine
Kraft aussert und sich ehe[r] gebrauchen lasset, als die Be-
urtheilungskraft angewendet werden kan.
Daher sind ohne Zweifel, wenn auch keine andern
Griinde da waren, die iungen Jahre der Studirenden von i
ie her zur Erlernung der Sprachen mit allem Rechte bestimt
gewesen. Die Sprachen also soil er keinesweges verabsau-
men, sonst wiirde er das Schiksal derienigen haben, die
eben diesen Weg schon in den verflossenen Zeiten gegan-
gen sind, sich bios der Philosophic gewidmet und wegen
Vernachlassigung der Sprachen allerlei Irthiimer ausge-
breitet und bittere Streitigkeiten dadurch veranksset ha-
ben. Von andern Wissenschaften gilt eben das, was von
den Sprachen gilt. Namlich sie nicht bei Seite zu sezzen.
Die Natur selbst belehrt ihn, dieses nicht zu thun. Er kan 20
ia nicht unaufhorlich mit einerlei Gegenstand beschaftiget
sein. Sein Geist wiirde eben so ermatten und am Ende iiber-
driissig werden, wie der, welcher, ohne auszusezzen, eine
Handarbeit thun sollte. Wie unvollkommen wiirde hernach
selbst der Anfang seines Studirens sein, wenn er so viele
andere niizliche Kenntnisse, die entweder bei der Philoso-
phic zum Grunde mit gelegt werden sollen, oder die ihr
zur Grosse gereichen, ia ohne welche ein Mensch nie recht
brauchbar sein wiirde, verabsaumen wollte. Philosophic
ist ia an und fur sich selbst nicht zureichend, die Dinge 30
in der Welt, wozu wir erzogen werden, zu verrichten.
Ferner, wenn man sagt, friih miisse die Philosophic stu-
diret werden; so verstehts sich von selbst, daB nicht die
Zeit der gar zu grossen Jugend gemeinet sei, wo ein Mensch
ganz unfahig ist, abstrakte Begriffe zu fassen und zu bilden.
Diese Zeit und Miihe wiirde vergeblich auf die Philosophic
SCHULRJEDEN 13
gewendet sein. Denn, wo wollte er die Denkkraft herneh-
men, die erst in den kiinftigen Jahren die Starke erlangt,
die sie dazu haben muB? Woher das Anhalten, die Gedult,
einer Wahrheit lange nachzuspiiren? eine Wahrheit auf vie-
len Seiten mit Anstrengung der Geisteskrafte zu betrach-
ten? Und wenn er auch durch seine viele Muhe etwas davon
begriffe, so wiirde es doch mehr schwankend und unrichtig
als wahr und zuverlassig sein; und iiberall wiirde er auf
Hindernisse stossen, die ihn belehrten, daB er zu fruh, ohne
io das nothige vorausgesezt zu haben, in ihr Gebiet gekom-
men sei. Er verstiinde ia, wenn ich seine Jugend voraus-
sezze, die Sprache und Kunstworter in der Philosophic
nicht. Sie hat ihre eigne Technologie, die ein Ungeubter
so leicht nicht verstehen kan. Und, wenn er noch in den
Sprachen ungeubt ist, so wird er viele philosophische
Schriftsteller, die er zu seinem Anfang und Fortgang in
der Philosophic recht gut wiirde brauchen kdnnen, entbeh-
ren miissen. Sein Korper selbst wiirde eine so grosse An-
strengung des Geistes nicht ertragen kofinen. Das noch
20 zarte Gehirn wiirde nicht vermogend sein, die heftige Wir-
kung der Seele bei diesen Arbeiten auszuhalten. Gewis er
wiirde sich Krankheiten und Zerriittung des Korpers, die
sich vielleicht durch sein ganzes Leben hindurch nicht wie-
der heben liesse, zuziehen.
Hingegen wird man diese Einwendung gegen dasienige
Alter nicht machen konnen, in welchem dieienigen sich
befinden, wenn wir auf die Verfassung unsers Gymnasiums
sehen wollen, welche schon in die oberste Klasse gekom-
men sind. Dergleichen Jiinglinge sind schon fahig, in das
30 Gebiet der Philosophic einzutreten, zu iiberlegen, zu ver-
gleichen, und zu schliessen.
Um gut darinnen fortzukommen, halt' ich es fur nothig,
daB sie so verfahren. Zuerst miissen sie sich um eine Ency-
klopadie der Philosophic bekummern; ich meine, sie miis-
sen Sorge tragen, daB sie die vorziiglichsten Grundsazze
aus alien Theilen der Philosophic sich bekant machen und
JUGENDWERKE ■ 1. ABTEILUNG
ihrem Gedachtnisse nicht nur, sondern durch gehoriges
Nachdenken ihrem Verstande auch einverleiben. Ohne
dieses zu beobachten, werden sie nicht darinnen gliiklich
fortschreiten. Zu diesem werden sie aber also gelangen,
wenn sie erstlich die, in der Schule dazu ausgesezten Stun-
den, mit aller Genauigkeit besuchen, und alles dasienige
beobachten, welches erforderlich ist, wenn sie recht viel
Nuzzen daraus schopfen wollen. Niemals miissen sie in
dieselbe kommen, ohne sich recht fleissig zubereitet zu ha-
ben. Ist in irgend einer Sache die Zubereitung nothig, so 10
ist sie es in dieser. Die philosophischen Biicher sind nicht
i miner so leicht wie ein anderes historisches geschrieben.
Die genaue Bestimmung der Begriffe, die Ernsthaftigkeit
der Sachen, und die Art des Vortrags, welcher nicht ieder-
zeit bei den Philosophen so geschmukt ist, tragen alle etwas
dazu bei, daB man sich mehr Mime geben muB, als bei
einem andern Buche. Komt man nun unbereitet dazu, so
rauschet das gesagte vor dem Ohre vorbei und wird nur
halb verstanden; da hingegen eine gehorige Zubereitung
dem Schiller dieienigen Dinge schon zum voraus bekant 20
macht, die ihm schwer vorkommen werden, und ihm also
die Ermahnung giebt, bei dem offentlichen Vortrage etwas
aufmerksamer zu sein. In den offentlichen Lektionen selbst
mufi er alle Aufmerksamkeit anwenden, theils um den zu-
sammenhangenden Vortrag zu fassen, theils auch um etwas
iiber dieienigen Punkte, woriiber er zweifelhaft geworden
war, zu erfahren. Ist sie vorbei und er in seine Wohnung
wieder zurukgekommen, so ist es ihm sehr nothig, eine
Wiederhohlung desselben anzustellen und nicht nur in der-
selben das durchgegangene Stiik noch einmal sich vorzu- 30
halten, sondern auch die vorhergehenden sich noch einmal
in das Gedachtnis zu bringen. Denn dadurch wird er fahig
werden, das Ganze zu iibersehen und sich nicht bios einzel-
ner Theile bewust zu sein. Wenn er auf diese Weise fort-
fahrt, so wird er endlich sehr wol eine Encyklopadie der
Philosophic bekommen, die er zur Grundlage in der zu-
SCHULREDEN 1 5
kiinftigen Zeit gebrauchen kan. Nun muB er aber auch
sein Gemiith an gewisse philosophische Eigenschaften ge-
wohnen; durch welche er gerade zu der Zeit, wo er es am
wenigsten denkt, zu philosophiren im Stande sein wird.
Er mufl sich also an eine bestandig muntere Aufmerksam-
keit gewohnen und alles, was ihm vorkomt, gleichsam von
neuen betrachten und es mit philosophischen Augen anse-
hen. Des Philosophen Art ist diese, daB er in alien Dingen
auf deutliche Begriffe, grundliche Beweise und tiichtige
to Schliisse siehet, daB er das ausserliche, das nicht wesentliche
absondert und nun [!] auf das Acht hat, was zunachst zu
"der Sache gehort. Dieses muB er auch in solchen Sachen
nachahmen, die nicht unmittelbar zu der Philosophic geho-
ren, und [er] wird auf eine philosophische Art bei Dingen
verfahren, die es dem Anscheine nach nicht zuzulassen
scheinen; und dadurch immer mehr seinen Geist ausbilden.
Selbst bei Biichern, die nur der Sprache wegen in den Schu-
len gelesen werden, wird er dieses anwenden. Er wird nicht
nur iiber die Sprache Regeln abstrahiren, sondern, indem
20 er den Worten nach weiB, was da stent, bald die Grunde
des Schriftstellers, bald die Art und Weise zu schliessen
betrachten und sich die Sache im Zusammenhange vorstel-
len. Oberdies muB er sich mit dem grosten Eifer bemuhen,
unpartheiisch zu sein; sich gerne von Jedermann belehren
lassen, immer nur auf die Grunde sehen, sich aber sehr
hiiten, daB er nicht in den Fehler verfalle, daB er zu zeitig
selbst Ausspriiche iiber Dinge thun will, da er doch kaum
angefangen hat, mit philosophischen Dingen umzugehen.
Keiner Parthei, sage ich, muB er blindlings folgen. Wahr-
30 heit muB ihm iiber alles gehen und deswegen sich so ge-
wohnen, daB wenn er auch etwas eine Zeitlang sich auf
eine unrechte Art vorgestellet hatte und nun bessere
Grunde vorkommen, die ein anders beweisen, er nicht
hartnakkig bei seiner Meinung bleibe, sondern die Un-
wahrheit gerne fahren lasse und dem danke, der ihm etwas
besseres gezeigt hat. Vor dem Stolz aber muB er sich wie
JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
vor einer Schlange hiiten. Junge Leute fallen gar leicht in
diesen Fehler. Wenn sie etwas einmal iiberdacht haben und
nun fiihlen, daB sie es so ziemlich gefast haben, was der
Autor habe sagen wollen, so glauben sie auch nun mehr,
daB nichts anders mehr moglich sei; ist es noch dazu etwas
neues, was von dem gewohnlichen abweichender ist, so
nehmen sie es urn so viel lieber an und erkiihnen sich als-
denn gar leicht mit einer Dreistigkeit einen Ausspruch thun
zu wollen. Hiermit machen sie es eben so, als wie ein iunger
Mensch, der auf ein Handwerk gegeben wird. Er ist noch 10
in der Lehre begriffen und sollte weiter nichts thun als daB
er fleissig acht hatte und zusahe, und merkte, was ihm sein
Lehrmeister vorsagte: allein er fangt schon selbst an, die
Sache besser machen zu wollen, ehe er noch weiB, welches
nur die Theile sind, die er noch zu lernen hat. So lacherlich
und schadlich dieses ist, eben so verderblich ist es auch
in der Philosophie. Ich will nun aber annehmen, er sei so-
weit gekommen, daB er die vorziiglichsten Grundsazze ge-
fast habe, so kan er allerdings sodann seine Kenntnis durch
das Lesen zu erweitern suchen. Hier aber ist wieder nothig, 20
daB er vorsichtig verfahre und meist solche Schriften lese,
die nicht einzelne Materien behandeln, sondern immer
noch das Ganze, obgleich etwas vollstandiger, vortragen.
Denn so ist es glaublich, daB er den meisten Nuzzen aus
seinem Studiren ziehen werde. Last er sich aber auf einzelne
Materien ein, so thut er nichts anders als der, welcher grie-
chisch lernen will, und zwar die Deklinationen und Kon-
iugationen gefast hat, auch einige Verse vielleicht aus dem
N. T. exponiren kan, aber nun schon anfangt, die Vari-
anten in den alten Autoren zu sammlen und zu beurtheilen. 30
Unter dieser Beschaftigung wird wahrscheinlich seine Zeit
auf Schulen verstreichen. Sollte er aber auch dieses noch
zu Ende bringen, dann mag er sich an grossere Werke wa-
gen und dann die Akademie zur Erweiterung seiner Ein-
sichten dazu nehmen. Mich diinkt, es sei nicht mehr zu
zweifeln, daB ein iunger Mensch, der so verfahrt, die Philo-
SCHULREDEN 1 7
sophie nicht auf die unrechte Art treibe, und wenn also
dieses friihzeitig geschieht, daB er darauf gliiklicher in sei-
nem Studiren fortkommen werde.
Dies wird auch, wie ich glaube, nicht schwer zu beweisen Then n.
sein. Seine Denkkrafte werden durch die Philosophie sehr
geiibt und verstarkt. DaB die Philosophie die Krafte der
Seele bilde und verfeinere, wird Niemand laugnen konnen.
Die meisten, in der Philosophie vorkommenden, Materien
wollen uberdacht und iiberlegt sein. Derienige nun, der
io sich mit derselbigen beschaftigt, muB nothwendig alle
Krafte seines Geistes anwenden; und mannigmal solches
Nachdenken anwenden, daB der Geist die Schranken fuh-
let, iiber die er nicht hinaus kan. Durch diese Anstrengung
miissen die Seelenkrafte nach den psychologischen Gesez-
zen erhohet werden. Denn iede Ausserung einer Kraft der
Seele in der Hervorbringung einer Vorstellung macht diese
Kraft zu neuen Ausserungen geschikt, ia geschikter, als
sie vorher war. Eben so wie, wenn ein Korper, der einen
Stos oder Schlag bekommen hat und dadurch zur Bewe-
20 gung gebracht worden ist, noch geschwinder sich bewegt,
wenn er auf seinem Weg noch einen Schlag dazu bekommt.
Weil nun die Gabe, etwas leicht zu begreifen, das vorziig-
lichste bei der Erlernung der Wissenschaften ausmacht, so
muB ganz deutlich folgen, daB der, der hierinnen seine
Krafte schon geiibt hat, am besten in deren Erlernung fort-
kommen musse.
Derienige, so sich fruh mit philosophischen Wissen-
schaften abgiebt, lernt eine gewisse Gedult und Anhalt-
samkeit, eine und ebendieselbe Sache auf verschicdnen
30 Seiten zu betrachten. Wer z.B. eine Sache definiren will,
auf wie vielen Seiten muB er sie nicht betrachten? Das ihr
eigne muB er von dem unterscheiden, was sie mit andern
Dingen gemein hat. Welche Vorsicht muB er anwenden,
damit er seine Definition weder zu eng mache, das heist,
Hauptmerkmale der Sache vergesse, noch zu weit, d. i.
allgemeine Merkmale, die auch andern Dingen zukom-
JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
men, angebe. Diese Gedult muB nun aber in Erlernung
anderer Wissenschaften auf vielfache Weise niizzen. Tau-
send Dinge sind in den Wissenschaften, die nicht anders
als mit Gedult, Miine und Aufmerksamkeit aus ihrer Dun-
kelheit hervorgegraben werden konnen und wenn es auch
nicht Dunkelheit ist, aus der sie in das Licht hervorgegraben
sein wollen, so erfordern schon dieienigen Theile, welche
als ausgemacht angenommen werden, Gedult, Miine und
Aufmerksamkeit, wenn man namlich selbst iiberzeugt sein
wilL Hierzu wird sich Niemand aber besser schikken, als 10
derienige, der sich an solche Anhaltsamkeit im Denken
schon durch friihes Philosophiren gewohnt hat. Also lasset
sich aus diesen angegebnen Stiikken leicht der Schlus ma-
chen, daB die Philosophic dem Jiingling sehr niizlich sei.
- Noch mehr. - Durch dieselbe bekomt er bald eine gros-
sere Fertigkeit, das Wahre von dem Falschen zu unterschei-
den. Hierdurch wird endlich eine Fertigkeit und Ange-
wohnung entstehen, in alien Dingen auf den Grund zu
gehen und sich nur dann zu beruhigen, wenn die Beweisse
klar vor Augen liegen. Nicht alles, was er horet oder lieset, 20
wird er ungepriift annehmen: ich sezze aber voraus, wenn
ers Vermogen zum Prufen sich schon erworben hat. Wie
sicher wird er nicht auf dem Pfade der Wahrheit, von wah-
rer Philosophic geleitet, einhergehen? Er wird leicht die
zwei Irrwege des menschlichen Verstandes vermeiden,
namlich den Aberglauben und die Anhanglichkeit an ge-
wisse angenommene Meinungen, und den Unglauben oder
das Zweifeln an alien Dingen. Auf solche Weise muB er
nothwendig gliiklich in seinem Studiren durch die Philoso-
phic werden. 30
Auch darinnen wird er in seinen Studien auf Schulen
fortkommen. Die Schriftsteller, die man daselbst liest, wird
er, sie mogen aus einer Klasse sein, aus welcher sie wollen,
ohne Muhe verstehen, das Ganze eines Buchs leicht fassen,
und sich einen Begrif von des Schriftstellers Absicht, Plan
und Giite machen konnen. Ein solcher, der die Philosophic
SCHULREDEN 19
wenig kennt, wird audi philosophische Schriften eines Ci-
cero's, Plato's und Aristoteles, davon doch hie und da Bii-
cher erklart werden, nicht verstehen. Wenn ein Studirender
nicht bei den blossen Worten dieser Schriftsteller stehen
bleiben und zufrieden sein will, wenn er nur einen durftigen
Wortverstand herausgebracht hat; so ist fur ihn kein frucht-
bareres Mittel sie zu verstehen, als die Kenntnis der Philo-
sophic Dieselbe wird ihm auch in andern Schularbeiten
sehr behulflich sein. In den Thematen, die [er] ausarbeiten
io mufi, wird er sich einer grossern Bestimmtheit, wenn ich
so sagen darf, und Auswahl bedienen. Er wird leicht einse-
hen, ob etwas zur Sache gehore oder nicht - watir sei oder
nicht. Der Ausdruk wird der Sache angemessen sein. Diese
und viele andere Vortheile hat der, so die Philosophic bald
treibt, zu geniessen. Aber sollte sich nicht dieser Nuzzen
vergrossern, wenn er sich auf hohere Schulen begiebt? Al-
lerdings. - In alien Wissenschaften ist er schon durch sie
urn einen Schritt weiter gekommen, weil sie mit alien zu-
sammenhangt. Wenn wir einige durchgehen und genauer
20 betrachten wollen, so wird sich leicht ergeben, dafi sie in
alien Wissenschaften sehr nuzlich sei.
Der Theolog, der sich schon friih der Philosophic ge-
widmet hat, kan iiber alle Gegenstande der Theologie
leichter nachdenken, mit Genauigkeit und Scharfe nach-
denken. Er wird das Bibelbuch leichter erklaren und den
Sinn gewisser Schriftstellen mit Hiilfe gesunder Exegese
bestimmen konnen. Was das theologische System anbe-
langt, so wird er nicht sogleich weder dem Orthodoxen
noch Heterodoxen Beifall geben, wo er nicht die Grunde
30 beider iiberlegt und abgewogen hat. Er wird nicht zu viel
verbessern und reformiren wollen, noch auch alles anneh-
men, was die Alten behauptet haben, noch glauben, daB
man, bios weil es andre auch so gesagt und vorgetragen
haben, in der Theologie kein Jota verandern und das Sy-
stem immer in dem Zustande, wo es vor ioo Jahren war,
bleiben musse. - Bei einigen Theilen derselben ist Philoso-
JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
phie nothwendig. Wer wollte sich mit der natiirlichen Got-
tesgelahr[t]heit abgeben, ohne Philosophic zu verstehen.
Einen Deisten oder Zweifler wird niemand ohne Philoso-
phic widerlegen und sein Glaubenssystem wird niemand
wider die kiinstlichen und philosophischen Einwiirfe der
Gegner besser retten und nachdruklicher vertheidigen kon-
nen, als ein Philosoph. Und so ist, nach meinem Urtheile,
schon aus diesen wenigen klar, daB derienige, der sie bald
zu treiben anfangt, einen sehr grossen Fortgang in der
Theologie haben werde. 10
Die Philosophie ist auch dem niizlich, der sich der Juris-
prudenz widmet. Der philosophische Rechtsgelehrte wird
akkurater das Recht sprechen, die verwirrtesten Falle gliik-
licher auseinander sezzen, die Kunstgriffe der Bosheit leich-
ter entdekken, die Wege sie in ihrem Laufe aufzuhalten
mehr wissen, und die Unschuld zu vertheidigen und zu
retten, weit tuchtiger sein. Gewisse Theile der Philosophie
sind auch in der Rechtsgelehrsamkeit enthalten. Ein sehr
wichtiger Theil fur den Rechtsgelehrten ist das Recht der
Natur. Je aufgeklarter darinnen seine Einsichten sind, desto 20
mehr wird auch von dieser Seite die Gerechtigkeit von ihm
gehandhabet werden. Dieses Naturrecht ist aber ein Theil
der Philosophie und wer diese treibt, hat schon einen Theil
der Rechtsgelehrsamkeit gleichsam voraus erlernet oder
geendigt.
Wer sich mit der Arzneikunde beschaftigt, der wird mit
Hulfe der Philosophie besser fortkommen. Der Philosoph
breitet sich schon iiber den menschlichen Korper und des-
sen Kenntnis aus; er redet von dem Baue desselben und
den Ursachen des Lebens, dem Triebwerke, wodurch er 30
erhalten wird, den Ursachen (der Absonderung) des wech-
selseitigen Einflusses des Korpers auf die Seele und der
Seele auf den Korper. Eben diese Lehren kommen wieder
in der Arzneigelehrsamkeit vor. Also hat einer schon einen
Theil von dieser erlernt, wenn er iene getrieben hat. Es
sind ferner Theile derselben, die ganz philosophisch behan-
SCHULREDEN 21
delt sein wollen, und die em ewiges Gewebe von unniizzen
Hypothesen und ungegriindeten Meinungen blieben, wenn
sie nicht durch die Einsicht der Philosophic entwikkelt
wiirden. Die Physiologie gehort hieher. Derienige Arzt
wird endlich die Krankheiten gluklicher heilen, weniger
Fehlschliisse in Entdekkung der Ursachen der Krankheiten
machen und scharfsinniger die Mittel, sie zu heilen, aufzu-
suchen und anzuwenden wissen, dessen Kopf durch Philo-
sophic licht geworden ist. So wenig dieses ist, welches die-
io sen Gegenstand angehet, so wahr, glaube ich, ist es, daB,
wer bald Philosophise bald auch cingutcr Arzt werdcn wird.
Und sollte nicht derienige, der sich den schonen Wissen-
schaften und Kiinsten widmet, auch durch die Erlernung
der Philosophic sich eine grosse Erleichterung und Hulfe
verschaffen? Ja wol! - Wer das Eigentliche der schonen
Wissenschaften ausdriikken und den Zwek derselben nicht
verfehlen will, der wirds gewis mit Htilfe der Philosophic
leicht thun konnen. Das Schone, das Reizende, das Naive
und Proporzionirtekan gewis der, der Gefuhl und Philoso-
20 phie hat, am besten treffen. Und eine Theorie von diesen
geben? - kan niemand als der Philosoph. Dies beweisen
die Schriftsteller, die diese Gegenstande bearbeitet haben
- ein Longin, Home, Sulzer, Moses Mendelssohn und noch
m. d. — Aus diesen wenigen lasset sich also schon einse-
hen, daB die Philosophic, wo nicht in alien, doch in den
meisten Wissenschaften nothwendig und niizlich sei, und
daB derienige Studirende sich viele Zeit ersparen und in
andern Wissenschaften sehr viel gluklicher sein muB, der
sich bald mit philosophischen Materien abgeben wird.
30 Ein so grosser Nuzzen sollte demnach ieden Jiingling Konkius.
reizen und die Philosophic ihm wichtig machen. Wer be-
denket, welcheunerschopfliche Quelle des Vergntigens die
Philosophic dem Wahrheitsfreund reicht - wer bedenket,
wie vollkommen er sich durch sie macht - wie alle Krafte
des Geistes durch sie erhoht, veredelt und verfeinert wer-
den, um wie viel Schritte er durch sie schon weiter ist,
JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
wenn er sich andern Wissenschaften nahert - wenn er be-
denket, wie viel hurtiger er dann in denselben fortgehen
konne wer dieses bedenket, und dennoch sie fliehen
wiirde, der miiste sich den Vorwurf machen, sehr unweise
zu handeln. Und gesezt, es gabe einen, dem das Erkennen
der Wahrheit kein Ergozzen verschafte, in dessen ubereifi-
tem Herzen kein Funke Wahrheitsliebe mehr glimmte -
gesezt, er ware gegen dieses alles unempfindlich; so wird
ihn doch sein eigner Vortheil und seine Eigenliebe bewe-
gen ? die Philosophic, die verehrungswiirdigste der Wissen-
schaften, zu treiben.
II.
[Uber den Nutzen und Schaden der Erfindung
neuer wahrheiten]
Nach Stand und Wiirden aller setts hochst- hack- und wertge-
schazte Anwesende!
Der Mensch strebt unaufhorlich, die Ideensphare seines
Geistes zu erweitern; alle seine Begierden und Leidenschaf-
ten sind Ausserungen dieses Grundtriebs; iede Unterneh-
mung ist eine Art von Aufgabe, deren Auflosung ihn inter- 20
essirt; und alle verschiedne Lebensarten sind eben so viele
Wissenschaften, die sich endlich all' auf die Erkent[ni]sfa-
higkeit seines Geistes beziehen. Dies ist der Trieb nach Vol-
kommenheit, der unaufhorlich den Menschen zur Thatig-
keit anspornt. Wenn nun dieser Geist bios nach
Erweiterung und Entwiklung seiner Ideen strebt; konte
wol eine Modifikazion dieses Triebes naturlicher sein, als
die Begierde nach Neuem? - In Jedem aussert sich in gewis-
sein Grade diese Begierde; und man hat wahrgenommen,
daB ie mehr ein Mensch nach hoherer Volkommenheit 30
strebt, ie mehr er umfast, ie mehr er Genie ist: desto mehr
SCHULREDEN 23
liebt er's Neue. Jede Begierde und Neigung ist in ihren
Schranken etwas Gutes und Geschenk der Gotheit. Eben
so auch diese Begierde, Aber wenn sie ihre Granzen iiber-
schreiten und die Damme, die Vernunft und Religion sez-
zen, durchbrechen: so sturzt iede Neigung den Menschen
in's Verderben. Und sind nicht auch die Verwiistungen
der Neuheitsbegierde deutlich? - Es ist also, vorziiglich
in unsern Tagen, nothig, da man so viel vom Alten und
Neuen spricht, da die Granzen, in welchen diese Begierde
10 nach Neuem schadlich oder nuzlich ist, so fein gezeichnet
sind - es ist nothig, sag' ich, sich hier die Schranken zu
bestimmen, zwischen welchen diese Begierde niizt oder
schadet. Meine Absicht ist's also iezt, darzuthun, daB nichts
niizlicher, edler sei, als neue Wahrheiten zu erfinden; dap aber
auch dieses eben so schadlich sei, wenn man die Granzen tiber-
schreitet.
Jedochwas wag' ich? dies ist eine Materie, die weit mehr Caput. Bene-
Stof in sich enthalt, als daB sie diese geringe Rede fassen
konte - eine Materie, die Kraft' erfordert, welche meine
20 weit iibersteigen. Ich kan also nicht fortfahren, bevor ich
mir nicht bei Denenselben, h.h, u.w. Anwesende! die Nach-
sicht erbeten habe, womit sie den Anfanger beurtheilen,
und die giitige Aufmerksamkeit, der Dieselben meine Vor-
ganger wiirdigten.
Nichts ist niizlicher und edler als die Erfindung neuer Abhandiung
Wahrheiten - dieser Saz findet Widerspruch, aber er ist
leicht zu beweisen. Der Mensch ist ein eingeschranktes
Wesen, das seine Fahigkeiten stufenweis' entwikkelt, und
die Volkommenheiten seines Daseins almahlig erreicht.
30-Denn Gott nur ist alles, was er sein kan, auf einmal. Je
mehr nun der Sterbliche fortschreitet, desto mehr erweitert
sich sein Gesichtskreis; desto mehr Ideen umfast er, desto
besser kan er ihre Verbindungen wahrnehmen und durch
Vergleichungen und Schliisse Wahrheiten erfinden. Noth-
wendiger Weise mus hernach der, der mehr kultivirt, mehr
denkendist, Wahrheiten erfinden, die ienem, der lange vor
24 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
ihm lebte, der weniger gedacht hatte, neu und unglaublich
scheinen miisten, wenn er sie horte. Und ist alsdann diese
Erfindung nicht gut, nicht edel? Oder sollen wir sie gar
verwerfen, weil sie neu ist? Was hat denn dieses Neue fur
ein Kenzeichen des Verwerflichen, des Falschen, an sich?
keines. Ausser daB tausend Menschen nicht den Verstand,
den Tiefsin gehabt haben, um dahin zu dringen, wie dieser
- vielleicht auch nicht gekont haben. Gemeiniglich erfindet
der grosse Geist, das Genie das Neue; iiber welches der
Dumkopf schreit und das der Kluge untersucht. Jede Erfin- 10
dung neuer Wahrheiten, die Griinde fur sich haben, mus
uns demuthigen, zeigt unsre Eingeschranktheit an, unsern
stumpfen Blik, der nicht scharfsichtig genug war, um
schon langst eben dieses zu erfinden. Denn wenn z. B. ein
Neuton eine ganz neue Theorie der Schwer' erfindet, so
erfindet er iezt nicht die Sache selbst - denn vielleicht zog
schon Millionen Jahre vor ihm ein Weltkorper den andern
an - er legt auch nichts Neues hinein, sondern er entwikkelt
nur unsre dunkeln Ideen davon, er macht nur das Unsicht-
bare unsrer Vorstellungen sichtbar, er verbindet nur die 20
Sazze, die vor uns lange da lagen, und macht die Konklu-
sion daraus. Und eben dies ist's, was uns die Erfindung
neuer Wahrheiten so schazbar macht. Alle Wissenschaften
entstanden durch sie - Eine iede Wissenschaft war bei ihrem
Ursprung' eine diirftige Samlung hie und da zusammen-
hang[end]er Ideen, aber liberal waren Liikken, waren fal-
sche Sazze. Diese Samlung kam auf die Nachkommen, die
ein System d'raus machten, und liberal die Liikken auch
durch falsche Sazze zu verbessern suchten. Bald nun kdmt
ein Tieferdenkender, reist hie und da nieder - verwirft die 30
falschen Sazze, baut auch wieder auf. Dieses wird dann
weiter fortgepflanzt auf andre Nachkommen, und immer
mehr wird's verbessert. Dieses ist der Gang, durch welchen
alle Wissenschaften ein[i]gc Volkommenheit erlangt haben
- anders kan der menschliche Geist nicht. Was sollen wir
aber nun von dem halten, der alle diese Neuerungen ver-
SCHULREDEN 25
wirft, der glaubt, das ganze System, das er von seinen Vor-
eltern empfieng, sei unverlezlich, unwiderleglich? Wenn
nun alle so gedacht hatten, waren wir iezt noch auf dem
Punkt, wo Noah und seine Sohn' in den Wissenschaften
standen - wenn man so dachte, wiirde nicht aller Eifer
im Menschen nach Wahrheit erstikt werden? und der Fort-
schrit der Wissenschaften? dieser war' hin, ewig verloren.
Man braucht nur ein wenig mit scharfen Blikken die Ge-
schichte des Menschen, seiner Kultur, oder Barbarei, zu
io betrachten, um wahrzunehmen, wie wenig iede Wissen-
schaft bei ihrem Anfange war und sein konte, wie sie erst
nur stufenweis' erhohet wurde, und was die Erfindung
neuer Wahrheiten zu ihrem Wachsthume beigetragen hat!
Wir wollen, um dies deutlicher zu erweisen, einige Wissen-
schaften betrachten, und sehen, wie sehr sie Neuerungen
vervolkomt haben.
Unter die Wissenschaften, in welchen man sich gegen
die Neuerungen am meisten sezt oder die man gar derselben
unf ahig halt , kan man wol die Theologie rechnen . Nie wird
20 man mehr d 'ruber schreien, als wenn in der Theologie eine
alte Lehre verandert oder eine neue hineingebracht werden
sol: und niemand kan sich mehr verhast machen, als eben
der, der solche Neuerungen vorbringt. In gewissem Ver-
stande kan man auch Recht dazu haben: wenn man namlich
Religion und Theologie als Ding' einerlei Art betrachtet.
Aberich mus erst sagen, daB zwischen Religion und Theo-
logie ein Unterschied zu sein scheint. Diese besteht aus
einem kiinstlich geordneten Vortrage der Religionslehren
und ist besonders dem Lehrer nothig. Jene ist der Unter-
30 richt, der iedem Menschen zur Gottesverehrung nothig ist,
und besteht aus einem simpeln und praktischen Inbegrif
der Religionslehren. Theologie hangt eben nicht so genau
mit der Religion zusammen, sondern steht nur in so fern
mit ihr [in] Verbindung, wiefern sie eine Anstalt genant
werden kan, die Bildung der Lehrer der Religion zu er-
leichtern. Die christliche Religion hat Jahrhundert' ohne
26 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
Theologie bestanden - recht wol bestanden. 1st nun Theo-
logie eine Wissenschaft, so ist sie Neuerungen fahig; und
sie sind in ihr eben so nothig und nuzlich als in irgend
einer. Oder soke diese Wissenschaft allein wenigstens in
ihren Sazzen und Lehren des Weiterschreitens, oder, wie
ieder Schrit vorwarts neu ist, der Neuerung unfahig sein?
Oder ist sie nicht vielmehr, so lange Menschen sind, merk-
lich weiter fortgeschritten? Stelle dir den Monch, der ein
Jahrhundert vor Luther'n lebte, [vor] urid las ihn sein Reli-
gionssystem vortragen, wie schwankend! wie widerspre- 10
chend aller gesunden Vernunft und der Bibel! - Und dann
einen Monch aus dem vergangnen Jahrzehend, und verhore
sie- welcher auffallende Unterschied! Jener wird Sazze fur
Kezzerei ausgeben, die dieser mit aller Zuversicht, ohne
Bedenken annimt; iener wird ieden Redlichen, der seine
Religion nicht hat, in die unterste Holle verdammen; dieser
wird vom Schiksal des Heiden nach dem Tode mit Zuruk-
haltung sprechen — ist das nicht Fortschrit der Theologie?
Noch mehr mus dieses erhellen, wenn man einen prote-
stantischen Priester gleich nach der Reformazion gegen ei- 20
nen aus unsern Zeiten stelt. Jener wird mit aller Heftigkeit
in Schriftstellen Beweise fur diese oder iene Lehre finden,
wo dieser, durch bessere Kritik und Exegese belehrt, nichts
sieht - iener intoleranter, dieser toleranter handeln. Wer
wil hier den Fortschrit der Theologie, den grossen Fort-
schrit, der in wenig Jahren geschah, verkennen? Und ist .
sie dieses iezt nicht mehr fahig? Sind die Quellen, woraus
der Theolog schopft, versiegt und ausgetroknet? Exegese
- wer wird wol behaupten, daB diese zu Luther's Zeiten
eben so bluhte wie iezt? Hatte man dazumals alle die Hulfs- 30
mittel, die dazu erfordert werden - Kentnis von den Ge-
brauchen der Morgenlander, des Genius der griechischen
und hebraischen Sprache im A. und N. T.? Lebte zu iener
Zeit ein Michaelis, Tychsen Semler, Teller, Griesbach?
Und eben diese Manner gestehen aufrichtig, dafl noch vie-
les dunkel ist - noch tausend Stellen mehr Berichtigung
SCHULREDEN 27
brauchen, die dem kiinftigen Kritiker bleiben - noch Stel-
len, die sogar wichtige Artikel betreffen. Die zweite
Quelle, die theologische Kentnis zu befordern, ist die Phi-
losophic. O! wer wolt' es wagen, von dieser zu behaupten,
sie sei, auch in dem, was die Theologie betrift, vollig zu
ihrer Volkommenheit gebracht? Nie wird der menschliche
Verstand die Tiefen der Philosophic, besonders wo sie mit
der Theologie zusammengranzet, durchschauen konnen.
Also die zwei Quellen fur den Theologen sind noch nicht
to ausgeschopft, werden's auch so bald nicht werden. Sind
also nicht die Neuerungen fiir die Theologie wichtig, no-
thig und niizlich - so niizlich als es irgend bei einer Wissen-
schaft sein kan? »Ja! antwortet man mir yielleicht, man
soke doch nichts andern; denn wtirde wol Gott so viele
Christen etliche Jahrhunderte lang in Irthum' haben hinge-
hen lassen?« Einer der schwachsten Einwiirfe - der all' Un-
tersuchung des Wahren verbant, der zuviel beweist. Konte
nicht der Doktor Ek in seiner Disputazion eben dieses zu
Luthcr'n sagcn, und mit Rechtc sagen? Hatte man nicht
20 Jahrhunderte durch an ein Fegfeuer, einen Ablas, eine
Messe und tausend andere Ungereimtheiten, die wirklich
das Wesentliche der Religion betreffen, geglaubt? - Wenn
die Menschen die Wahrheit nicht einsehen - und wenn's
fur sie iezt gerade nicht zutraglich ware — wird Gott wol .
da Wunder thun? Uberlast er nicht das der almahligen Auf-
klarung des Menschen? Und wenn der Mensch durch die
Lage, die Umstande, in denen er sich befand, nicht anders
kont' und irren muste, wird er's zurechnen? — Also sind
die Neuerungen nicht ubcrfliissig. Sie haben iiberdas noch
30 einen zufalligen Nuzzen, der sich vorzuglich in unsern Ta-
gen aussert. Eben die Neuerungen, die falsch waren, die
Einwiirfe gegen die Religion haben sie nicht wankend ge-
macht, noch sie umgestossen - nein, man hat sie widerlegt;
das christliche Religionssystem fester, bestimter gemacht,
und es vor den Blossen bewahrt, die's den Freigeistern bios
stelten. All die Voltaire's, die Hume's, die Lamettrie's, und
28 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
ihre ganze Reih' haben Anlas zu den vortreflichen Verthei-
digungen der Religion von einem Jerusalem, Nosselt, Les
u.s.w. gegeben. Welche Freude wiirde den edlen Luther
erfiillen, wenn er iene Vertheid[ig]ungen lase, und das Ge-
baude der Religion auf den Stiizzen fast aller Wissenschaf-
ten ruhen sahe? Wiird' er nicht Gott danken, der in seiner
besten Welt iedes Bose zum Vortheile des Ganzen ausschla-
gen last? Getrost kan der Theologe mehrere Einwiirf er-
warten: denn auch ein Lessing'scher Fragmentist hat seinen
Widerleger gefunden. Aus diesem scheint mir der Nuzzen 10
der Neuerungen in der Theologie unwidersprechlich zu
erhellen.
Eben dieses findet bei der Jurisprudenz und der Heil-
kunde stat. Vorzuglich bei der leztern. Denn sie griindet
sich meistens auf Erfahrungen - oder sol's wenigstens -;
die Erfahrung ist nun nicht immer dieselbe. Sie erscheint
in iedem Klima, ieder Zeit, iedem Volk, ia iedem Indivi-
duum anders. Mussen dann nicht auch die Systeme, die
auf Erfahrungen gebaut werden, veranderlich, folglich der
Neuerung fahig sein? In dieser zeigt sich auch die Uner- 20
griindlichkeit des Schopfers - hier sind vorzuglich dunkle,
schwere Materien, wie z.B. die Lehre von den Nerven
ist. Solten nicht diese Schwierigkeiten die Moglichkeit zu
Neuerungen voraussezzen? Und ihr Fortschrit beweist
auch, daB [man] neue Meinungen erfindet und annimt.
Und die Philosophic? Bei dieser hat noch Niemand ge-
zweifelt, ob sie auch der Neuerungen fahig ware - denn
diese ist's vorzuglich, die dem Menschen seine Einge-
schranktheit zu fiihlen giebt. Man darf auch rvur ein wenig
mit der philosophischen Geschichte bekant sein, urn so- 30
gleich zu sehen, wie gering ihr Anfang war, wie viel neue
Meinungen zu ihrem Wachsthume beitrugen - aber wie
viel, wie sehr viel immer daran zu verbessern ist. In Riik-
sicht auf gewisse Theile derselben konte man sie ein Land
der Hypothesen nennen. Hier wird eine neue Lehre vorge-
bracht, da. wird sie widerlegt. Aber immer gewint sie dabei
SCHULREDEN 29
- immer wird untersucht, und doch endlich die Wahrheit,
die zwischen beiden Extremen liegt, in der Mitte gefunden.
Unsre Tage beweisen's satsam, wie sehr sie neue Meinun-
gen vervolkomthaben. Die Erfahrung bestatigt, daB iedes
Genie, das auf stent, an der Philosophie andert und sich
ein neues System baut. Und dieses 1st so niizlich fur die
Philosophie, daB sie ohne dieses eine der geringsten Wis-
senschaften sein wiirde. All ein sind nun Neu'rungen ge-
nug? ist sie derselben iezt nicht mehr fahig? kan sein - Allein
io zu Kartesius Zeiten, da dieser sein System verbreitete,
glaubte man nicht, daB ein zweiter kommen und diesen
verbessern konte - aber sieh', es waren schon mehrere da!
und noch mehrere werden koni[m]en. Wie mancher Lehr-
saz, der iezt ungezweifelt angenommen wird, wird wan-
kend gemacht werden, wie manches Land im Reiche der
Wissenschaften, das der Philosoph iezt fur ein Feuerland,
mit steilen Felsen bedekt, halt, wird die Nachwelt urbar
machen und tausend neue Meinungen hervor bringen! Nie
wird dies aufhoren; es muste denn der Mensch Gott, oder
20 die Anzahl der Wahrheiten endlich werden. Aus diesem
wenigen kan man sehen, wie niizlich und nothig die Neue-
rungen in alien Wissenschaften sind! Wenn man nur so weit
gienge, so wiirde die Granze, zwischen welcher Neuerun-
gen niizlich, nie uberschritten werden - allein man geht
weiter; anstat's Altezu verbessern, hinzuzusezzen, verwirft
man's ganz, und macht sich's bios zur Absicht, dieses Alte
zu verdrangen und Neues an seine Stelle zu sezzen. Dies
ist der Punkt, wo die Begierde nach Neuem aufhort niizlich
zu sein, und anfangt zu schaden. Dieses wird leicht zu be-
30 weisen sein.
Der, der's im Neuen iibertreibt, verfehlt ganzlich des iiTheii.
Endzwekkes, warum ihm Gott den Verstand gegeben hat,
warum er untersucht. Mit der Gabe zu urtheilen, hat Gott
nur den Menschen beschenkt: die Thier' haben's nicht.
Dieses ist der Grund des ewigen Fortwachsens des Men-
schen. Sol er nun nicht diese Gabe des Schopfers so an wen-
30 JXJGENDWERKE • I. ABTEILUNG
den, wie's sein Endzwek ist? Und was wil dieser? unsre
Gliikseligkeit - diese besteht in Tugend, und Wahrheit;
iene fur's Herz, diese fiir den Verstand, von dem wir iezt
reden. Hat nun nicht der, der's in Neuem ubertreibt, seinen
Verstand zum Spot? Er behauptet Wahrheit nicht, weil sie
Wahrheit ist, sondern weil sie neu ist; und verwirft's Alte,
weil's alt ist. Jedes Neue ist ihm wahr, iedes Alte falsch.
Wird dieser wol ie zur Wahrheit gelangen? Er braucht die
rechten Mittel nicht. Wer Wahrheit suchen wil, der komme
mit kaltem Blute, ohne Partheisucht - nehme keine Riik- 10
sicht weder auf das, was Alte, noch was Neue gesagt haben:
denn beide konnen irren. Wenn er vorgiebt Wahrheit zu
untersuchen, so wagt er nicht Grund' ab: er glaubt sie
schon. Er sucht sie nicht mehr: er hat sie schon gefunden.
Wenn du dann mit ihm die Griinde der beiden Partheien
abwagen wilst: so hat er schon eine Parthei ergriffen, eh'
er die Griinde der andern kent. Er sieht bios, was das neu-
este, was fiir ihn das angenehmste ist. Handelt dieser nicht
hochst unbillig? Wird der wol ie die Wahrheit erlangen?
Seine Leidenschaft fur's Neue stelt ihm das Alte unter ei- 20
nem ganz andern Gesichtspunkt dar. Jede Leidenschaft stelt
uns nicht das Ding vor, wie's ist, sondern wie's ihr iezt
scheint. Zum Beweise kan die Vorstellung einer und eben-
derselben Sache bei zweien Menschen dienen, davon den
ei-nen die Leidenschaft blendet, und den [andern] die Ver-
nunft fiihrt. Man weis, was Leidenschaft fiir Wirkung auf
den Verstand hat und wie leicht sie denselben irre fiihrt.
Sie verandert, verfalscht, verdirbt, oder vergiitet die Sa-
chen, der Verstand folgt dieser Empfindung; denn wer
wird wol seine Empfindung fiir falsch halten? Mus nicht 30
hernach der Verstand unrichtig urtheilen - so urtheilen,
dan* sein Urtheil ihm so lange wahr ist, als eben diese Ge-
miithsverfassung, diese Leidenschaft dauert? Der Verstand
betrachtet die Sache, ohne Ruksicht zu nehmen, wie sie
auf ihn wirken mochte: die Leidenschaft betrachtet nicht
mehr, sie fuhlt schon die Wirkung - den Verstand interes-
SCHULREDEN 3 1
sirt die Beschaffenheit, die Leidenschaft die Wirkung der
Sache. Und diese soke sich mit einschleichen in die Unter-
suchung der Wahrheiten? Und ist's nicht bei dem, der bios
das Neue affektirt, eben so? Er wird in einem immerwah-
renden Wirbel von Meinungen herumgetrieben. Heute
komt eine neue Meinung zum Vorschein. Er nimt sie an:
denn sie ist neu, unerhort. Morgen sagt ein andrer das Ge-
gentheil - sagt aber auch 'was Neues. Nun wem sol er
glauben? dem, der am lezten geredet hat, und der doch
io vielleicht der neueste ist? - So komt er nie zur Wahrheit:
denn nach seinem Tode werden noch tausend neue Sachen
hervorgebracht werden. Oder dem ersten? aus Griinden,
oder nicht? - Ist's erste, so mus er auch Altes glauben:
denn dieses hat auch viel Griinde fur sich. Ist's lezte; so
betet er nach. Und von diesem lezten mus ich sagen, daB
er vorziiglich des Tadels wiirdig ist - denn denienigen,
der ganz Neuling, aber's bios aus Griinden ist, kan man
mit Recht nicht tadeln - Dieser nun, der's Neue nachbetet,
was hat der vor dem voraus, der's Alte nachbetet? - Nichts.
20 Nur die Form ist verschieden. Dieses ist alt, ienes neu.
Und hattc man's Neue nicht erfunden, so wiird' er eben
so zuversichtiglich das Alte nachsagen, wie iezt das Neue.
Bei diesem lezten trift's vorziiglich ein, daB er andre ver-
achtet, daB er sich selbst genug ist, daB er sich iiber den
Altglaubigen, wer weis wie weit erhoben fiihlt und ieden
seinen Ausspruch fiir unwiderlegbar halt. Er diinkt sich
schon eben so viel, wie iene Manner, der en Meinung er
bestreitet: allein er bestreitet sie nicht, sondern andre
thun's, er sagt's nur nach. Alle diese Griinde zeigen deutlich
30 genug, daB ein solcher sich selbst den grosten Schaden thut
- nie das Ziel seiner Wunsch' erreicht. Aber eben diese
Griinde sind zu algemein, von zu vielen Wissenschaften
abgezogen, als daB sie fiir iede gleich passend sein solten.
Wir wollen sie also in Riiksicht auf etliche der vorziaglich-
sten Wissenschaften betrachten. Der Neuling z.B. in der
Theologie ist derienige, der nichts Altes annehmen wil -
32 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
der nie Gninde sieht, wenn sie nicht fiir's Neue sind - der
eine neue Meinung in gewissen Lehren der Theologie eben
so unbetrachtlich ansieht, wie eine Hypothes' in der Natur-
lehre, Chemie o. a. W. Von diesem last sich behaupten,
daB all' der Schaden, den wir vorher angegeben haben,
ihn in noch grosserm Grade treffe. Ein solcher verfehlt
ganzlich des Zwekkes, warum er Theolog wird. Er unter-
sucht nicht selbst, er glaubt auch's Alte nicht, er sieht, was
Neues gesagt wird: und dies nimt er an. Dadurch verab-
saumt er seine groste Pflicht, selbst zu untersuchen. - 10
Ferner bei gewissen theologischen Materien ist's eben
nicht gleichgultig, in Riicksicht auf die Ausiibung selbst,
welche Meinung man annehme. Hier ist vor allem Behut-
samkeit nothig - denn hier sind Meinungen nicht bios fur
den Gelehrten - hier sind sie fur den Christen, den Men-
schen. Eine Meinung in der Theologie geglaubt oder ver-
worfen - hat den grosten Einflus auf s Leben, Hier ist auch
Behutsamkeit nothig, in Absicht auf uns selbst. Es giebt
gewisse Meinungen, bei den Orthodoxen und Heterodo-
xen, die schmeicheln, und fiir gewisse Lieblingsneigungen 20
Stuzzen sind. O Wahrheitsforscher! hier ist Aufmerksam-
keit nothig! Wie leicht wird deine Begierde, der diese oder
iene Meinung schmeichelt, den Verstand iibereilen, dich
iiberreden, sie sei wahr, da sie's doch nicht ist - wie leicht
kanst du einen Beweisgrund ubersehen, den die Leiden-
schaft verdunkelt, einen Einwurf nicht achten, der deiner
Neigung zuwider ist. Kan sich also der, der nicht behutsam
verfahrt, nicht den grosten Schaden zuziehen? Ist also nicht
der Neuling, der leichtsinnig, ohne Griinde verwirft, Ta-
dels wiirdig? 30
Alle Wahrheiten hier sind mehr wichtig, haben mehr
Einflus auf unser Gluk oder Ungliik, als in andern Wissen-
schaften. Die meisten beziehen sich auf Gott, unsern Geist,
sein Gluk u.s.w. Sind diese nicht wichtig? Hier hast du
mit deinem Schopfer zu thun: hier ist Ehrerbietung deine
Pflicht und diese vernachlassigt der, der bios Neues
SCHULREDEN 33
liebt, verfahrt mit dem grosten Leichtsin mit Dingen, die
ihm so wichtig sein sollen? Fiirwahr er konte sich nicht
mehr schaden, als eben dadurch. -
Und in der Philosophic? - hier wird er immer in Irthum
herumirren, und nie Wahrheit erblikken, wenn er nicht
untersucht; sondern das Neue alzeit vorzieht. Wie leicht
sind hier Partheien moglich und gewohnlich, die selten,
durch die Vertheidigungssucht verfuhrt, tief genug ein-
dringen - wie leicht wird er dem Tros der Nachahmer
io folgen, die alles, was ein Genie sagt, fur Wahrheit aus-
schreien! - Eben so verhalt sich's mit andern Wissenschaf-
ten.
Dieses ist der Schaden, den die Neuerungssucht bringt, Konklus.
und der Nuzzen, den die Begierde nach Neuem hat, wenn
sie in ihren Schranken bleibt. Dieses sind die zwei Irwege,
die der Jungling vorzuglich zu vermeiden hat, libertriebne
Anhanglichkeit an's Alte, und alzugrosse Liebe. des Neuen.
Dieses lezte ist der Weg, der den Jungling so leicht irre
fiihrt. Leichtsin, Unbesorglichkeit, ob man dieses oder ie-
20 nes annehme - Veranderungsliebe - Has gegen die Pedan-
terei, die ihn oft auf Schulen driikt - eine gewisse Art Ehr-
geiz, sich uber den andern zu erheben - und in Ruksicht
auf die Theologie, oft die schwachen, falschen Grundsazze,
die man ihm in seiner Jugend unter dem Namen der Religi-
onslehren verkauft hat u. dergl. mogen die Quellen dieses
Ubels sein. Dahingegen bei dem, der bios am Alten hangt,
die Ursachen sein mogen: er ist nunmehr alt - es wird
ihm schwer, Sazze, die er von Jugend fur heilig gehalten,
im 40. 50. Jahr zu verwerfen - ein gewisser Eigennuz -
30 eine Menschenfurcht, die sich die Wahrheit zu bekennen
scheuet - Tragheit u.s. w. Beide Wege fiihren zum Verder-
ben. Last uns derowegen behutsam den steilen Weg zur
Wahrheit hinanklimmen und keine Gefahr scheuen, sie zu
bekennen, wenn wir sie gefunden haben - last uns nie die
Leidenschaft das Ziel verriikken, wornach wir streben -
kurz, last uns [SchluB fehlt]
UBUNGEN IM DENKEN
Schon hienieden ist die Weisheit an himlischen Freu-
den reich; und ware sie's nicht: warum sah'n wir aus
ihrem Schosse so ruhig alien Eitelkeiten der Welt
EngeVs Philosoph j. d. Welt.
Erster Band
November. 1780
Anzeige
Diese Versuche sind bios fur mich. Sie sind nicht gemacht, urn
andre etwas Neues zu leren, Sie sollen mich bios iiben, urn's
einmal zu konnen. Sie sind nicht Endzwek, sondern Mittel -
nicht neue Warheiten selbst, sondern der Weg, sie zu erfinden.
Ich werde mir hier oft widersprechen, manches da fur war,
und dort fur falsch erklaren. Aber man ist ein Mensch - und
nicht immer derselbe.
Es wird oft gezweifelt werden - entweder weil die Einsichten
mangeln - oder weil's iiberhaupt besser ist, gar nichts, als falsches 10
zu glauben. Noch einmal also: es ist bios Ubung.
Jedes Monat enthalt sechs Bogen und ieder Band drei Monate.
- Am End' iedes Bandes folgen Zusazze, oder - wenn man's
so nennen wil - Verbesserungen. In Hof den 29. November.
1780.
Johann P. F. Richter.
I. Untersuchung
Wie unser Begrif von Got beschaffen ist [a]
Der Mensch kan sich Got in seiner Unendlichkeit nicht denken.
- Jeden Begrif von einem Ding' erlangt er entweder von aussen,
durch seine aussern Sinne, oder von innen, durch seine Seele
- durch die sogenanten innern Sin[n]en. Beide Arten von Sinnen
konnen ihm keinen anschauenden Begrif von Gottes Unend-
lichkeit geben. Alle Kraft* und Wirkungen in der Welt, wo von
er den Begrif der Unendlichkeit abstrahiren konte, sind endlich.
10 Seine innern Sinnen konnen ihm auch keine Idee davon geben
- denn sie sind endlich. Ferner, um sich Got in seiner Unendlich-
keit vorstellen zu konnen, muste man unendliche Kraft' haben
und dies hiesse selbsten unendlich sein. Eine iede Kraft mus
zur Wirkung ihr bestimtes Verhaltnis haben - und diese kan
nie grosser sein als iene, aber wol umgekehrt. Unsre Vorstel-
lungskraftnun steht in einem Verhaltnis mit der Menge, Grosse
der Dinge, die vorgestelt werden - ihr ist hier eine gewisse
Granze gesezt. Eben dies findet bei'm Begriffe von Got stat.
Wir konnen uns iiberhaupt nichts denken, was keine Schranken
20 hat. Niemand kan sich die Ewigkeit vorstellen. Also sind
Unendlichkeit Gottes, Ewigkeit p. bei uns mehr Wort als Ge-
danke - »K6nnen wir uns aber Got gar nicht vorstellen?« Ja!
wir konnen's. Namlich, um uns einen Begrif von ihm zu ma-
chen, nehmen wir alle geistige Volkommenheiten, die wir nur
an uns kennen, zusammen, und drangen sie in einem Bilde zu-
sammen — und dies nennen wir den Begrif von Got. Es kan
sein, daft das Wesen, das nach unsern Begriffen Got ist, cm
eingeschranktes, aber hoheres Wesen ist, als wir. Und ie hoher
ein Geist ist, ein desto grosseres, dem Urbild sich naherndes
3o Bild (ich sage nicht »erreichendes«) kan er sich von ihm machen
- aber erreicht wird's nie. Das Vermogen haben wir, uns gros-
3» JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
sere Wesen als wir zu denken, weil wir eingeschrankt sind. Ein
eingeschranktes Wesen kan sich ein hoheres und minder be-
schranktes denken. Die Ursach' ist: es hat Mangel, Irthumer,
Schranken, Unvolkommenheiten. Nun darf sich's bios diese
Unvolkommenheiten wegdenken: so hat's das hohere Ideal.
Dies ist unser Begrif von Got. Wir denken [uns ein Wesen],
das nicht eingeschrankt ist, das alles kan, weis, was wir nicht
konnen. Mehr brauchen wir nicht. Aber bei einem hohern We-
sen als der Mensch wiird' eine solche Vorstellung Got entehren
- ia 's wiird' Abgotterei begehen. Jedes Geschopf mus sich seinen i
Schopfer in allem als das Oberste, Volkommenste denken. Al-
lein nur eben dies Geschopf. Das Geschopf, das unter diesem
ist, wird seine Gotheit mit weniger Vorziigen belegen: aber 's
wird deswegen auch nicht siindigen. Das iiber beid' erhabne
Geschopf wird seinen Schopfer grosser denken: aber eben, weil's
kan. - Wenn wir sagen: Got kan alles, weis alles u.s.v/. sobeweist
dies nicht, daB wir den Begrif von Got erschopfen. Denn dies
»alles« ist nur ein dunkler Begrif. Losen wir ihn auf, so sehen
wir, wir verstehen unter dem alles- dem Begreifen nach, nicht
nach den Worten, denn viel Wort sind fur uns sinlos - nur das, 20
was Wir nicht konnen, ob's gleich endliche Wesen noch konnen.
Das Vergniigen, das uns das Denken an Gottes Unendlich-
keit verschaft, entsteht daher, weil wir uns Volkommenheiten
vorstellen pp. Und ie grossere Kraft ein Wesen zum Denken
besizt, desto mehr Vergniigen mus ihm 's Vorstellen der
Unendlichkeit Gottes Vergniigen erwekken, das in dem Masse
das Vergniigen des andern davon iibertrift, in welchem er seine
Denkkraft' iibertrift. Niemand kan sich daher Got unendlich
vorstellen, als Er selbst. Und eben daher mus er auch unendli-
ches Vergniigen schopfen. - Got kan sich auch kein grosseres 30
Wesen als sich selbst denken. Denn er hat alle Volkommenheiten
und keine Mangel, woraus er, wenn er sich diese Mangel weg-
dachte, ein hoheres Ideal bilden konte.
August 1779.
UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. 1780 39
II. Untersuchung
Von der Harmonic zwischen unsern wahren und irrigen Sazzen
Alle Wahrheiten stehen in einer unaufloslichen Verbindung mit
einander. Laugnest du eine: so laugnest du tausende zugleich,
so veranderst du alle im Reiche der Wahrheiten. Dies ist nie
bezweifelt word en. Aber ist alles Wahrheit im Menschen - alles
Harmonie derselben? Zwei Griinde verneinen dies. Erstlich lean
er sich nicht alle Wahrheiten denken - denn er ist beschrankt.
Einen kleinen Punkt im Lande der Wahrheit kent er - wie wil
10 er nun seine Verkettung, und Harmonie mit alien (ibrigen wahr-
nehmen, ftihlen? Ferner: irt er - er kan nicht nur nicht das ganze
Wahrheitsgefilde (ibersehen: er sieht auch in dem Punkt, das
[!] er iibersehen kan, falsch - er glaubt Falsches. Aber wenn
Harmonie das Wesen der Wahrheit ist - wenn der Mensch alle
seine Sazze als wahr fiihlt - wobei offenbar wahre mit irrigen
vermengt sind - wie wil er Wahrheit und Nichtwahrheit ver-
einigen.
Obiektive genommen, lassen sich nie diese zwei Dinge in
Harmonie bringen - hier hat man Recht. Aber in einem gewissen
20 Subiekte konnen sie doch Harmonie sein. Doch nur in Bezie-
hung auf dies namliche Subiekt. Ein ieder Mensch, er glaube
was er wil, glaubt ein Ganzes - und eben das, was er in sich
als Widerspruch findet, ist auch ein Ganzes. Er wird sich doch
nicht selbsten bewust sein, daB er irt: sonsten must' er ja den
Irthum fahren lassen. Ich kan so schliessen: weil ieder Mensch
keinen Irthum als Irthum glaubt, und also sein ganzer Glaub'
aus lauter ihm wahr scheinenden Sazzen besteht: so mus dieses
Glauben eine Zusammenkettung haben, weil Wahrheit alzeit
in Verbindung steht. Nun besteht des Menschen Ideensystem
30 aus einem Gemische von wahren und falschen Sazzen. Er mus
also die Liikke, die's Falsche unter dem Wahren macht, ausful-
len: wenn er nicht gleich seinen Irthum fuhlen sol. Aber die Art
40 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
und Weise, wie er's Wahre und Falsche verbindet diese weis
ich noch nicht. Die Untersuchung ist aber nicht ganz unntiz.
Denn es folgen diese wichtigen Sazze daraus:
Da ieder Irrende seinen Irthum fiir Wahrheit halt: so ist's
Pflicht fiir uns, dem Irrenden mit aller Nachsicht zu begegnen.
Denn er ist ia eben so tugendhaft wie der, der wahr glaubt:
nur die Form ist verschieden. -
Wenn wir Irthumer bekampfen wollen: so miissen wir nicht
etwan gegen einen einzigen Saz einige Griinde vorbringen; son-
dern wir miissen mehrere angreifen, weil sie mit einander ver- 10
bunden stehen- weil einer den andern schuzt. Daher sind Perso-
nen, die ganz verschiednen Glauben haben, schwer von ihren
Meinungen abzubringen. Denn man mus ihr ganzes Wahrheits-
system, ihren ganzen Gedankenbau umstiirzen - denn sie ver-
binden mit ieder wahren Idee eine falsche Nebenidee - sie modi-
fiziren die wahren nach den falschen Sazzen. -
August 1779.
III. Untersuchung
Ein Ding ohne Kraft ist nicht moglich
Em Ding ohne Kraft ist unmoglich. Ich rede bios von der Mog- 20
lichkeit - denn in der wirklichen Welt ist so kein Ding ohne
Kraft. Ich glaub' es also beweisen zu konnen. Man sezze der
kleinste Theil der Materie sei ohne Kraft, so mus er, wenn er
zusammengesezt ist, sogleich zerfallen; denn eben die Kraft giebt
den Grund und die Moglichkeit des Zusammengeseztsein an
- wenn er einfach ist, so hat er mit keinem Ding' in der Welt
Verbindung, noch Verhaltnis, kein Ding kan auf ihn wirken.
Denn kont' es wirken, so must' er wenigstens Rezeptivitat ha-
ben, (weil in ein Ding nur gewirkt werden kan, insofern's entge-
genwirkt) und dies Entgegen wirken oder diese Rezeptivitat war' 30
ia selbst Kraft und also der Voraussezzung zuwider. - Ferner.
UBUNGEN IM DENKEN • NOV. I780 41
Man sezze, ein Korper bewege sich auf dieses ohne Kraft sein
sollendes [!] Ding, so mus der Korper entweder dessen Stell'
einnehmen konnen, oder nicht. Findet's erste Stat, so mus er
dieses Ding gleichsam wegwiirken konnen, aber dan hatt' es Re-
zeptivitat und deswegen auch Kraft - oder er mus in seinen
Ort sich hinbewegen konnen, ohne dan die Lage des andern
verandert wird; und das ist Widerspruch: denn zwei Dinge kon-
nen nicht in einem und ebendemselben Raume sein. Oder man
sez's Lezte: namlich dieser Korper kan gar nicht des Dinges
Ort einnehmen, wegen dessen Undurchdringlichkeit: (dafiir
wolt* ich besser sagen »Entgegenwirken« , im Grund' ist's einerlei)
aber dan hat's Ding auch Kraft. Man kan noch diesen Beweis
hinzuthun, wenn er nicht zu gewagt scheint. Wenn's Got ver-
nichten wolte, so miiste doch eine - uns unbekante - Kraft auf
diese Substanz ohne Kraft angewendet [werden]. Sie kan aber
nicht leiden, und derowegen kan auch die Vernichtungskraft
nicht angewendet werden. Jedes Endliche aber ist vernichtbar
- dieses Endliche aber ist unvernichtbar — und deswegen ist's
gar nicht. -
September 1780.
HIT. Untersuchung
Ist die Welt ein Perpetuum Mobile?
Ein Fragment
Ich habe zu wenig Kentniss' in der Mechanik, urn diesen Saz
auseinandersezzen zu konnen. Ich wil aber doch nur die Grtind'
angeben, die mich veranlassen, diese Frage zu beiahen.
Got hat die Krafte der Bewegung erschaffen; und, wenn man
wil, ihnen die erste Anreizung gegeben. Eben diesen Kraften
nun braucht er iezt nicht mehr einen Stos zu geben - er braucht
30 sie nur fortdauern zu lassen. Wer nun behauptet, da6 diese Kraft'
endlich aufhoren oder nur abnehmen wiirden, wenn sie nicht
42 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Got in gleicher Thatigkeit erhielte: der glaubt dies ohn' Ursache.
Warum sollen sie abnehmen? Eine Kraft wird vermindert, wenn
sie wirkt: dies beweist die Erfahrung. Allein dieses geschieht
aus dem Grunde, weil die eine Kraft eben soviel durch die Ein-
wirkung in die andre verliert, soviel diese leztere wieder starker
wird. Die Kraft' in der Welt sind immer dieselben. Nur wenn
die eine abnimt, nimt die andre zu. Im Ganzen ist immer eine
Summe. Nur das Verhaltnis der Theile gegen einander wird
geandert. Fur sichkan keine Kraft geringer werden. Das Gegen-
theil zu behaupten, ware ganz wider den Grundsaz in der Me- 10
chanik: Ein bewegter Korper bewegt sich ewig fort, wenn er
nicht gehindert wird. Denn da muste die Bewegung auch einmal
aufhoren, wenn die Krafte fur sich selbst abnehmen solten.
» Aber sie werden durch die Wirkung auf andre verringert! « Gut!
alsdan werden also die andern immer starker - und's bleibt doch
dan Eine Summe. » Wie aber? wenn gleiche Kraft' aus entgegen-
gesezten Richtungen auf einander wirken - miissen nicht diese
zwei Kraft' einander schwachen, ohne da8 der einen ersezt wird,
was der andern abgeht?« - Nein! Wir wollen sezzen, gleiche
Krafte wirken auf einander aus entgegengesezten Richtungen: 20
so miissen diese ewig so bleiben, ohnelm geringsten verringert
zu werden. Denn was der einen abgehen sol, wird ihr durch
die Wirkung der andern, die eben so sehr in sie wirkt und ihr
soviel Kraft wieder ersezt, als die andre verliert, wieder ersezt
- und so wechselsweise. Da aber ihr Zunehmen und Abnehmen
auf beiden Seiten einander gleich bleibt, so miissen sie in Ewig-
keit dieselben sein. »Aber warum hat man noch bisher kein
Perpetuum Mobile erfinden konnen?« - Eben weil man in der
Welt nichts isoliren kan - weil immer eine Kraft durch die Ge-
genwirkung der aussern Dinge vermindert wird - und wenn 30
all' entfernt, so ist doch noch wenigstens der Druk der Luft,
oder gar eine noch feinere Materie da. Es ist nicht wahrscheinlich
- aber wol moglich, daB ein Perp. Mob. kont' erfunden werden.
Ein Einwurf ist noch zu widerlegen - sieh' BjornstahTs Briefe,
des dritten Bandes erstes Heft'-: »Ein Perp. Mob. ist nicht mog-
lich. Es miissen zwei Triebfedern dazu sein, welche einander
UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. I780 43
wechselsweise aufziehen. Die Elastizitat und Wirkungskraft ist
nun entweder einander gleich oder nicht. Sind sie gleich, so
entsteht kerne Wirkung, sondern sie bleiben im Gleichgewichte.
Ist eine grosser: so konnen sie einander nicht wechselsweise auf-
ziehen. Also ist die Unmoglichkeit eines Perp. Mob. erwiesen. «
- Ja eines solchen, wie vorausgesezt wird. Aber alsdan auch
in Ansehung der Welt? - Uberhaupt trift mich dieser Einwurf
gar nicht. Denn ich sezze zum voraus, daB die Abnahme der
einen Kraft durch die Einwirkung der andern wieder ersezt
werde. Ja! ich diirfte nur eine unendliche Anzahl Triebfedern
in der Welt annehmen - welches noch nicht ungereimt ist. Und
eben der, der diesen Einwurf macht, hat die Moglichkeit eines
andern P. M. gezeigt. Es ist also doch mein voriges System
richtig - nur last's sich nicht auf alle, uns moglich scheinende,
P. M. anwenden.
Oktober 1780.
V. Untersuchung
Was algemeines uber's Physiognomiren
Die Physiognomie ist ohne Zweifel eines der schwersten Stu-
20 dien. Leicht last sich's wol a priori davon rasonniren; aber
schwer ist's, selbst Erfahrungen anzustellen. Hier komt einem
ein Gesicht vor, dort eines, wo man nicht weis, was man aus
ihm machen sol, das uns gar nichts sagt; - oder man fiihlt wol
einen gewissen Haupteindruk: aber's fehlen die Worte dazu. Uns
fehlt die Benennung einer ieden Linie, Beugung, Niianzirung
des Gesichts pp. Diese Wissenschaft, wie Lavater bearbeitet,
ist vollig neu. Ware sie alter; so wiirde man mehr Worter dazu
haben, und dan ware sie uberhaupt viel leichter zu vervolkom-
nen. Alle Worter, die man dazu hat* werden andern Wissen-
30 schaften abgeborgt. - Uberhaupt ist sie eine Wissenschaft, die
Jarhundert' und Jartausende zu ihrer Vervolkomnung braucht.
44 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Wie viel Beobachtungen miissen angestelt werden! Und doch
sind alle diese Beobachtungen noch in kein System gebracht;
da herausgerissen, dort hineingeflikt. Wie wenig sind die iezzi-
gen Anfange! - Man soke den Menschen vom Anfange seines
Lebens bephysiognomiren bis an sein Ende - und dan - dies
ist doch nur Einer - welche Menge Menschen, Verschiedenheit
ihrer Karaktere, ihrer Lagen, worinnen sie sind! Es giebt Lagen
im menschlichen Leben, wo viel im Gesichte wurde gelesen
werden konnen; aber diese Lagen sind dem Beobachter unzu-
ganglich. Die Ziige des Wolliistlings im Taumel der viehischen 10
Leidenschaft - und die Ziige des Gottesvererers, der eben diese
Freude, nur unschuldig, geniest - wie verschieden miisten ihre
Mienen sein. Die furchtsame Miene des Diebes - und der to%
dendeBlik des Morders; miiste nicht den [!] leztern die schwarze
Tat aus den Augen blikken? - Aber hier kan der Beobachter
nicht selbst beobachten. Man solt' iezt, glaub' ich, da die
Physiognomie noch nicht weit ist, mer aus den Handlungen
auf s Gesicht schliessen, als umgekert. Das wil soviel sagen.
Man sol beobachten, wie die Menschen handeln, und dan die
Miene, die die Handlung begleitet, warnemen. Dieses oft tun, 20
diese Mien' in ihren Abanderungen, Vermischungen mit andern
- aber bios wenn eben diese Handlung anders getan wird - in
ihrer Stark' und Schwache fleissig beobachten dieses dan
vorausgesezt, konte man leicht, wo eben diese Miene sich wie-
derfande, die Handlung daraus schliessen - die vergangene oder
zukiinftige daraus schliessen. War' dan die Handlung nicht ganz,
so wie sie diese Mien' angiebt:.so untersuche, ob diese Miene
mit der Miene, mit der du die iezzige vergleichst, gleich ist
- hier wirst du mehr entdekken. Allein, anstat dieses zu tun,
handelt man umgekert. Ohne recht sich em Merkmal gemacht 30
zu haben, das iede Handlung begleitet - wil man schon aus
einem dunkeln Geful von der und iener Miene den Karakter her-
ausphysiognomiren. - »Es trift aber zu« - Ja! eben dieses Zutref-
fen zeugt fiir mich. Denn durch Gewonheit ist auch ein gewisses
Merkmal von dieser und iener Handlung hangen geblieben: das
iezt wirkt, aber one daB ihr euch desselben merklich erinnertet.
UBUNGEN IM DENKEN • NOV. ljSo 45
Aber trift's allemal zu? ist's allemal vollig richtig? und seid ihr's
gewis, daft euch euer Gedachtnis, euer Gefiil nicht betriegt?
Septemb. 1780.
VI. Untersuchung
Unsere Begriffe von Geistern, die anders ah wir sind
Wenn wir unsre Begriffe von Geist und seinen Kraften auf andre
Geister, die nicht Menschen sind, anwenden; so mussen wir
notwendig irren. Alle Wirkungen unsers Geistes hangen in ge-
wissem Grade - und die Erfarung scheint fur den grosten zu
10 sein - von unserm Korper ab. Das Gedachtnis nimt ab und
zu, ie nachdem die Gehirnfibern sich verandern, barter oder
weicher werden. Es ist war, die Erwekkung anlicher Begriffe
kan's verstarken - allein von wem hangt nun eben diese Mog-
Iichkeit der Erwekkung ab? notwendig von den Gehirnfibern.
- Die Einbildungskraft ist Knabe, Jungling, Man und Greis,
wie's der Korper ist. Der Verstandige ist ein Nar, wenn sein
Korper in Unordnung ist. Ein Neuton in seinem Alter versteht
sich selbst nicht mer, und ein Linnaus vergist die Benennungen,
die er selbst erfand. Die Sele wachst, wenn der Korper wachst
20 - sie nimt ab, wenn er abnimt. Es ist war, es giebt Kinder am
Korper, die Manner am Geist sind- Barattie's, die im Knabenal-
ter Bucher schreiben. Aber ist ihr Gehirn denn noch Kind? Ihr
Korper lauft in kurzer Zeit die Periode durch, die der gewonliche
Mensch erst in vieleri Jaren zu vollenden hat. Ihre Gehirnfibern
haben eben die Festigkeit, Feinheit und andre Eigenschaften,
die die Fibern des Mannes haben. Ihr Korper ist nicht Kind
- und ihr Geist Man; - sie sind beide schon ganz Man. Sie sind's
aber nur friihe geworden. Denn die Menge der Teile, die den
Korper ausmachen, bestimmen sein Verhaltnis zum Geiste nicht
30 - sondern ihre Beschaffenheit. Dies alles wird dadurch bekraf-
tigt, weil eben diese alzufruh' reife Genie's so bald vergehen.
46 JUGENDWERKE - I.ABTEILUNG
Worzu nun dies alles? um zu beweisen, daB unser Geist ganz
vom Kdrper abhangt - zu ser abhangt, als daB die gewonliche
Teorie von Geistern sich auf andre Wesen, die nicht Menschen
sind, iibertragen Hesse. Hat der Engel eben den Begrif, den wir
haben? Er ist ia nicht Mensch - sondern Engel. Dichten wir
ihm einen solchen Begrif an, so machen wir ihn zum Menschen.
Der Engel denkt, aber nicht wie wir; weil er einen andern oder
gar keinen Korper hat.
All' unsreBegriffe vom Tier bis zum Engel, bis zum Schopfer
hinauf - ist der Begrif von einer Menschenreihe. Unter dem 10
Tier stellen wir uns den Menschen auf seiner untersten Stufe
vor - den Engel denken wir uns als einen veredelten, und Got
als den volkommensten Menschen.
Es ist war, in der Natur geschieht kein Sprung. Der Engel,
der an mich angekettet ist, wird mir also auch in vielen anlich
sein miissen. Aber die unterste Pflanz' ist auch an den Neuton
angekettet. Sind sie aber deswegen nicht verschieden? Die Natur
macht keinen Sprung; aber ist nicht die tausendste Stufe von
der ersten verschieden? - Die Sele des Engels wird Fahigkeiten
haben, wo von wir uns iezt keinen Begrif machen konnen, Er 20
wird vielleicht manche unsrer Krafte nicht haben, nicht so, wie
wir haben; - aber er wird bessere und merere haben.
Man teilte sonst die ganze Schopfung in Geist und Materie
ein. Leibniz hat erwiesen, daB es gar keine Materie giebt - daB
alles Geist ist, nur durch Stufen von einander verschieden. Viel-
leicht giebt's Wesen, die sich gegen uns verhalten, wie wir uns
zur Materie - die uns so zu sagen fur Materie halten. Recht be-
trachtet, ist dieser lezte Gedanke nicht iibertrieben - man mus
aber ein Leibnizzianer sein. Es kan Arten von Wesen geben,
die in unsern Augen, in den Augen noch hoherer Wesen, nicht Gei- 30
ster sind; die's aber demohngcachtet in den Augen Gottes sind.
Geht nicht durch die ganze Schopfung eine unermesliche Kette
- wo die ersten und hintersten Glieder einander zum Erstau[n]en
unanlich sehen, deren Anlichkeit und Verbindung aber nur der
Vater aller Geister entdekken kan? - Aber was sollen wir vom
unendlichen Geiste denken? Wir begreifen kein Wesen in der
UBUNGEN IM DENKEN '• NOV. 1780 47
Schopfung, der unterste fiilende Atom ist uns unerforschlich
- der hohere Geist kan ihn mer begreifen, und wird desto mer
staunen - wir kennen uns selbst nicht - und dich - o! den zu
denken, des Seraphs tiefblikkender Verstand bebt - dessen Un-
ergriindlichkeit der Stof des Forschens fur ganze Schopfungen
Geister durch Ewigkeiten durch - unermesliche Ewigkeiten
durch sein wird — und dich soke der schwache Menschenwurm
zu denken, sich erkiinen? Nein - dich anbeten, dich lieben wird
er; dies ist sein Vermogen und weiter keins. Got hat gewis Ei-
10 genschaften, die wir nicht kennen - er zeigt sich uns auf dieser
Erdenwelt nur von einer Seite, von welcher wird er sich in der
kunftigen zeigen? - Wir geben ihm die Eigenschaften in unendli-
chem Grade, die wir an uns finden - allein giebt's keine Wesen,
die andre Eigenschaften als wir haben, und die Got auch in
unendlichem Grade zugeschrieben werden konnen?
Novemb. 1780
VII. Untersuchung
Wie sich der Mensch, das Tier, die Pflanz'
und die noch geringern Wesen vervolkommen
20 Alles ist Sele - aber eine Sel' ist nur besser als die andre. Vom
Menschen bis zum unformlichen Kiesel herab herscht Vervol-
komnung Seiner selbst. In ieder Minute seines Daseins leidet
iedes Ding Veranderung - entweder es wirkt, oder es leidet.
Durch beides wird's anders, als es vorher war - beides entfaltet
seine Kraf te, strengt sie an - kurz vervolkomnet sie. Jedem Ding'
ist in der Welt seine Dauer und eben deswegen auch der Grad
von Volkommenheit bestimt, den's erlangen kan. Jedes Ding
in der Welt entwikkelt sich anders, als das andre - weil iedes
von iedem verschieden ist. Jedes fangt von unmerkbar Kleinen
30 an: und steigt almalig entweder zum Menschen, oder zum Tier,
oder zur Pflanz' u. s. w. hinauf - iedes steigt aber in Ewigkeit
48 JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG
fort. Herlich sind diese Aussichten! Sie sind wert, weiter verfolgt
zu werden. Wir wollen die Art der Vervolkomnung bei iedem
Wesen auf diesem Erdbal besonders betrachten. Wir wollen vom
Menschen anfangen, und vom Bekanten auf s minder Bekant'
und Unbekante schliessen.
Der Mensch. Unmerklich und fur die Einbildungskraft fast
unbestimlich ist der Anfang des Menschen. Er war schon mit
dem Adam da. Er lebt' in ihm als ein Samentiergen - aber in
tausend und aber tausend Verhiillungen verborgen. Ich lebt'
auch im Adam schon - aber wie? wie klein? - ich begreif's nicht. 3 10
Solt' ein Samentiergen aber eine so lange Zeit, bis der Punkt
des Befruchtens kam, miissig zugebracht haben? nach einem
Jarhundert' eben das gewesen sein, was es vorher war? Nein!
Es wurd' auch als Samentiergen volkomner. Jede Entwiklung
der Samentiergen aus einander, in dem's auch mit verhiilt war,
trug zu seiner Vergrosserung, Vervolkomnung und endlichen
Enthullung bei. Nun komt die wichtigste Periode fur dasselbe.
Es wird befruchtet - es wachst und wird schon Embryon. Mit
schnellen Schritten gehtiezt seine Verbesserung fort, bis es Kind
wird. b Sein Fortschrit scheint zu fliegen - in kurzer Zeit wird's 20
Knabe, Jiingling und Man! Hier ist das Meisterstuk der Schop-
fung volendet! Vom Anfange seines Daseins, das vom Adam
anfangt, bis auf iezt war ieder Zustand besser als der vorherge-
hende - ieder die Folge vom andern - Aber nun scheint uns
die Analogie zu verlassen, die uns so viel in der Betrachtung
der Welt hilft. Der Mensch steht auf der Stufe seiner Volkom-
menheit stille, ia er geht zuriik - wird ein Kind - wird alt. AHein
a Wirbegreifennichts vom Anfange des Menschen, nichts vom Ende
desselben. Nur sein mitlers Dasein kennen wir ein wenig. Seine Dauer
von Jartausenden vorher und seine Dauer von Ewigkeiten nachher ken- 30
nen wir nicht — nur ein en Augenblik kennen wir.
b Aber wer kan behaupten, dafi seine Entwiklung von Anfang seiner
Schopfung an bis auf diesen Zeitpunkt nicht eben so schnel gegangen
sei? - Wer kan die Durchgange bestimmen, die's notwendig von Anfang
seines Seins bis iezt durchgehen muste? Wer kan seine damalige Beschaf-
fenheit bestimmen, um die Zeit zu berechnen, die's brauchte, zu der
iezzigen [Beschaffenheit] zu gelangen? -
UBUNGEN IM DENKEN • NOV. I780 49
dies alles scheint's nur. Denn erstlich werden's nicht alle Men-
schen. Es giebt Greise, die mit der Lebhaftigkeit, mit der Stark*
ihres Geistes, den muntern und bliihenden Jiingling iibertreffen.
Ferner. Wir wollen ihnen diese Abname der Geisteskrafte zuge-
stehen. Was folgt dan? Ihre Krafte werden ia nicht geringer -
sie werden nur durch den Korper verhindert, sich so wie sonst
zu aussern - ihre Sele wachst immer fort. Aber die Schwachheit
des Korpers macht, daft sie ruk warts zu gehen scheint. - Nemt
den Widerstand weg - und sie wird nicht stille gestanden sein
10 - sie wird weiter fortgeriikt sein. c Endlich komt der Tod. Auch
hier wird die Fortschreitung nicht unterbrochen - denn
»Ewig ist die Fortschreitung der Volkommenheit sich zu na-
hern,
Obwol am Grabe die Spur der Ban vor dem Auge verschwin-
det.« -
Nun steigt der Mensch von Stufe zu Stufe - komt auch auf
die Stufe des Engels - aber er wird nicht Engel; denn er war
vorher Mensch und bleibt's. Seine vorhergehende Zustand' ha-
ben keinen Engelszustand gleichsam vorbereitet, sondern nur
20 eine hohere Menschenstufe. Um Engel zu werden hatt' er andre
Zustande durchgehen miissen. Der Mensch ist so zu sagen,
Pflanzen Mensch, Tier Mensch, Engels Mensch und Sera[p]hs
Mensch. d
Das Tier. Es hat vieles mit dem Menschen gemein, ist aber
auch in vielem von ihm verschieden. Hatten wir scharferen Ver-
stand so wiirden wir der Verschiedenheiten und Anlichkeiten
noch merere antreffen. - Wir miissen vorziiglich die Tier' unter-
c Wenn eine Kraft A eine Wirkung = 3c, und eine andre Kraft B
eine Wirkung = 2c hervorbringt, so ist die Ieztere Kraft B, wenn sie
30 einen Widerstand = V2 B zu iiberwinden hatte, nicht kleiner als A,
sondern sie ist = 1V3 A. Dies wende man auf's Alter an.
Tausend Samentiergen gehen verloren. Ihre Korpergen werden
zerriittet, eh' sie ganz Menschen sind. Und ihre Selen - wo sollen sie
hinkommen? - Ich weis es nicht. Doch - wo kommen die Embryo's,
die Kinder hin, die doch auch Selen haben? Giebt's nicht in ienem Leben
auch Stufen? Sie sind dan nicht mer Samentiergen -
50 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
scheiden, die an den Menschen granzen, dieklugern, z. E. Hund,
Affe und die meisten der vierfiissigen; und dieienigen, die nicht
so nah' an ihn angranzen, die Fische, Insekten u.s.w. - die
Tier', die weniger, und dieienigen, die mer durch Instinkt ge-
trieben werden. Vor ihfer Geburt konnen wir ihre Vervolkom-
nung nicht wis sen, ob sie hier einander anlich oder unanlich
sind. Bei ihrer Geburt unterscheiden sich beide Arten von einan-
der. Die Kliigern also zuerst. -
Die Tiere, die sich liber andre erheben und mehr Verstand
und weniger Instinkt haben, sind bei ihrer Geburt nicht das, 10
was sie bei'm Tode sind. Sie wachsen an Volkommenheit, an
Geschiklichkeit, und an den Kraften der Sele, wie wir. Der iungc
Hund, der's erste Mai Atem holt, ist ungeschikt - er kan noch
nicht laufen wie seine Mutter - er lernt's erst durch wiederholte
Versuche. Hingegen betrachtet iezt den altern Hund. Wie listig
ist er nicht? wie weit (ibertrift er hierinnen den iungern? wie
viel Leidenschaften aussern sich bei ihm, die der iunge gar nicht
oder in minderm Grad' hat? - Ist das nicht Fortschreitung? Ein
altes Tier ist wenig von einem erstgebornen Kinde zu unter-
scheiden - es (ibertrift den menschlichen Embryon. Wie viele 20
tausend Empfindungen stromen dem Tiere taglich zu? - und
diese solten die Fahigkeiten seiner Sele nicht verbessern? ein
Tier, das nur Eine Empfindung gehabt hat, solte dem gleich
sein, das tausende gehabt hat? Sein Gedachtnis wird verstarkt,
seine Einbildungskraft wird geiibt u.s.w. Wie werden nicht
seine Begierden vergrossert? Das Tier kan sich etwas angewonen
- ist das nicht Beweises genug, daB auch ein Tier volkomner
werden kan? »Aber sie sind seit der Schopfung nicht weiter
gekommen.« Dies beweist weiter nichts, als daB sie nicht Men-
schen sind. Jeder Gattung von Tieren ist eine Granze gesezt, 30
wo ihre Vervolkomnung aufhoret. Jedes Tier erreicht sie. Dem
Menschen ist auch Eine gesezt; aber er hat sie noch nicht erreicht.
Ich wil noch hinzusezzen: wir urteilen falsch, wenn wir die Ver-
volkommung der Tiere nachder unsrigenschazzen.Dennworin
besteht die Volkommenheit der Tiere? Kan ihre Sele nicht zune-
men, one daB man's merket?- Und das meiste, was hier nicht
UBUNGEN IM DENKEN ' NOV. I780 5 1
beobachtet wird, ist die Sprache. Sezt, alle Menschen waren
isolirt, konten sich einander nicht durch Sprache mitteilen -
wiirden wir nicht auf dem Punkte stehen, wo Adam stand? Die
Fortschritte, die die Menschen gemacht haben, sind nicht 's
Werk eines einzigen: tausend' haben daran gearbeitet. »Aber
die Biber, die Bienen leben in Verbindung und in Geselschaft?«
- Sie sind zwar beisammen: aber 's ist eben so, als wenn sie
nicht bei einander waren. Denn sie konnen einander nicht ver-
bessern, weil sie nicht reden konnen. - Ich komm' auf eine andre
10 Klasse der Tiere, dieienigen namlich, die bios aus Instinkt han-
deln. »Die iunge Biene macht auf den ersten Versuch ihre Zell'
eben so gut als die alte - der Seidenwurm macht sein Gewebe
nur einmal und die Raupe wird nur einmal zum Schmetterling;
wo bleibthier die Fortschreitung?« - Folgendes last sich antwor-
ten, welches zusammengenommen den Einwurf hebt: Man ver-
wirt hier manches mit einander. Der Instinkt ist nicht die Vol-
kommenheit des Tiers selbst. Wenn dieser es ware, so wiirde
freilich immer einerlei Volkommenheit bleiben, weil der In-
stinkt immer derselbe ist. Der Instinkt tragt nur zur Volkom-
20 menheit bei. - Der Mensch hat Vernunft, die ihn seiner Verbes-
serung immer naher bringt. Das Tier, dem man die Vernunft,
wenigstens in einem so hohen Grad' abspricht, wiird' on' In-
stinkt elend sein und nie volkomner werden - denn's wiirde
bald sterben. Wie wolt' ein Insekt, das zu wenig Selenkraft'
hat, um mit diesen seine Schwachheit zu ersezzen, leben, und
wie volkomner werden? - - Ferner , wenn man auch dies zugabe,
so wiirde wenig daraus folgen. Das Tier macht seine Kunst-
werke gleich auf's erstemal gut. Das geb* ich zu. Wie aber?
wenn eben diese Verrichtung seine hochste Stufe ware? Macht's
30 gleich nach seiner Geburt? »Ja! einige!« die namlich, die nur
einen Tag leben - denen eine Minut' ein Monat, ein Jar ist.
Andere konnen's nach ihrer Geburt noch nicht. Eine Biene lebt
lange; bis sie endlich auch ihr Werk anfangt. Weist du die Fort-
schritte, die's macht, ch' du's noch siehest, - die Fortschritte,
eh' es geboren wird? Wir konnen's ihnen gar nicht absprechen,
ia nicht einmal dariiber urteilen. Wir reden von der Volkom-
52 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
menheit des Menschen, wenn wir von der Volkommenheit der
Tiere reden wollen - wir sprechen ihnen nur die menschliche
ab, wenn wir ihnen alle absprechen wollen. Endlich ist's ia von
einigen Tieren erwiesen, daB sie fortschreiten - wenn nun alles
in der Schopfung Eine Kett* ist - soke nur der Hund volkommen
werden, der Wurm aber auf einer Stufe bleiben?
Endlich zerfalt die tierische Maschine wie die menschliche.
Das Tier stirbt - aber nicht auf immer. Der Mensch ist unsterb-
lich, das Tier auch. Ich bin ser geneigt zu glauben, dafi das
Tier an eben dem Orte nach seinem Tode fortexistiren werde, 10
wo der Mensch fortdauert. Es war sein Begleiter in diesem Le-
ben, warum solt' es im kunftigen nicht sein? Das Tier trit nun
eine Stuf' hoher. Aber 's wird nicht Mensch - so wenig der
Mensch nach seinem Tode Engel wird. Es bleibt Tier; aber 's
erklimt nur eine hohere Stuf in der Tierheit. Wie verschieden
mus also [das] Pferd, das nun um eine Stufe weiter geriikt ist,
nun einen andern Korper bekommen hat, von dem Menschen
sein? — Wie vil tausend Arten von Tieren giebt's! Jedes klimt
hoher - aber ihr Verhaltnis gegen einander bleibt - das Schaf
wird dem Fuchs nicht gleichkommen, und ein Wurm, den ich 20
mit den Fiissen zertrete, wird das Pferd nicht erreichen, das
mich stolz tragt. Welche reizende Aussicht - sich zu denken
diese ganze Tiermenge, iedes veredelt - zu hohern Bestimmun-
gen erhoben - mit bessern Kraften beschenkt! Nach Millio-
nen Jaren - was wird der Hund sein, der mich iezt liebkoset
- und mit was fur Augen werd' ich ihn ansehen? -
Die Pflanze. Der Baum, unter dessen kulenden Schatten du
dich iezt erquikkest, war noch als Samenstaub in einem der er-
sten Baume verhiilt. Nach tausend und aber tausend Enthiillun-
gen, wo immer ein Samenstaubchen im andern verborgen lag, 30
kam endlich auch dieser Baum hervor. So ist's mit alien Ge-
wachsen. -Von der Vervolkomnung der Pflanzenselen konnen
wir wenig sagen. Denn wir konnen ihre Ausserungen nicht
warnemen, weil sie sich nicht bewegen konnen. Wir miissen
nur von der Volkommenheit der Pflanze, wie sie in die Sinne
fait, auf den Geist schliessen, der in ihr ftilt. All' ihre Sinne
UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. 1780 53
scheinen sich auf ein ser schwaches Gefiil einzuschranken. Ihr
Korper wachst. Wie volkommen ist nicht eine ausgewachsene
Pflanze, wenn wir sie gegen ein Samenstaubchen vergleichen!
- Die volkommene Pflanze kan vielleicht eben so sein, wie das
geringste Insekt als ein Samentiergen. Sie stirbt - - zu entschei-
den war' hie zuviel; mutmassen ist erlaubt. Der Mensch steigt,
das Tier steigt, und die Pflanzensele solt' ihr Schopfer nicht
eben so steigen lassen? Sie wird mer als Pflanze werden
- aber kein Tier nicht: denn sie war's in diesem Leben nicht.
10 O! wie mus ich mich freuen, wenn ich iene Blumen voile Gefilde
betrachte - wenn ich glaube, daft sie auch ihr Dasein fulen -
wenn ich mich so ganz im Kreis f Mender, sich freuender Wesen
erblikke - wenn ich bedenke, daB auch diese Pflanzen in der
Ewigkeit
Die Wesen die unter den Pflanzen sind. Von diesen begreif ich
nichts. Sie sind Monaden, sind Selen; wenn Leibniz Recht hat.
Sie werden gewis auch ihre Kraft' entwikkeln. Millionen Mil-
lionen sind ihrer - und diese solten in Absicht ihrer selbst um-
sonst gewesen sein? Gewis nicht. Wer weis, was iede Verande-
20 rung, iede Versezzung, die mit ihnen vorgenommen wird, zu
ihrer Volkommenheit beitragt. In der Welt ist eins mit dem
andern verbunden; in iedes wird gewirkt, oder wirkt selbst -
und dies alles nicht umsonst. Wie viel kan der Mensch zu ihrer
Volkommenheit beitragen, one daft er's selbst weis! O! der
Wunder der Schopfung sind merere, als wir glauben. Wir wissen
nur von uns - und staunen die Tiefen an, die unserm Aug' uner-
reichbar sind. Wir kennen kein Tier nach seiner innerlichen Be-
schaffenheit, keine Pflanze, kein andres Wesen recht. Dank nur
dir, dafi du uns geschaffen hast, guter Vater! Wie freu' ich mich
30 zu sein, kunftig noch zu sein, um zu betrachten diese ganze
neue Welt, mit andern Tieren bevolkert, die Vernunft haben,
mit Pflanzen besat, die den iezzigen Tieren gleichen und mit
Wundern erfiilt, wo von ich mir iezt noch gar keinen Begrif
machen kan. Welche Wesen werd' ich erblikken, iiber mir, ne-
ben mir, unter mir! - Und ich? - ach! was werd' ich dan sein?
Mit Freuden werd* ich mich der Stunden erinnern, wo ichkiinf-
54 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
tige Wunder Gottes nur noch im Dunkeln mutmaste - da im
Dunkeln mutmaste, wo ich iezt helles Licht habe. Welche neue
Krafte werd' ich erhalten! wie werden die iezzigen verstarkt
werden! Welche neue Sinne werd' ich bekommen, um nur me-
rere, nur grossere Wunder zu entdekken! - Wie wird mein Kor-
per beschaffen sein - dieser Korper, der dieses schreibt! O Got
sei mir giitig! las mich dies geniessen, fur das ich dir nie genug
Dank werde stammeln konnen -! Und? wie werd' ich dich lieben?
meine Mitmenschen lieben? —
Zu Ende des Novemb. 1780. 10
Bemerkungen
I.
Welche Sinne liefern uns die meisten Empfindungen?
Die Menge&tr Empfindungen, die wir durch einen Sin erlangen,
verhalt. sich wie die Feinheit desselben. - Das Auge bietet uns
eineerstaunendeMengevon Empfindungen dar, die dieienigen,
die wir durch's Or erhalten, weit tibertreffen. Der Geruch
scheint zwar unter dem Geschmak zu sein; aber er ist es nur,
weil dieser vor diesem geiibt wird. Durch's Gefiil erlangen wir
die wenigsten von einander verschiednen Empfindungen; weil
er der grobste ist.
II.
Schwierigkeit in. Ansehung der Einfachheit der Sele
Die Sel' ist einfach und mus es sein. Und doch kan sie in eben
dem Augenblike [!] mer als einen Begrif haben - mer als eine
Sach' empfinden - durch mer als einen Sin fiilen - ia in Einem
Augenblik Vergniigen und Schmerz zugleich haben. Sie kan
die Schmerzen von einer Wunde fiilen - und zu eben der Zeit
UBUNGEN IM DENKEN ■ NOY. I780 55
die Siissigkeit einer Frucht geniessen. Woher komt das? — Ich
weis es nicht.
III.
Nicht irnmer wird eine Idee durch die Verbindung mit mererern klar
Es ist falsch, wenn man sagt, um eine Idee klar zu machen,
mus man merere dazu denken. Denn eine Idee, die sich oft in
die andre dunkel mischt, macht uns den ganzen Begrif wider-
sprechend und verwirt.
IIII.
10 Zweierlei Gedachtnis
Gedachtnis ist zweierlei: tierisches - durch anliche Eindriikke -
Mitwirkung der Nerven - fiir den Menschen mer zwingend
— und geistiges - mit Bewustsein - durch Ideenassoziazion, die
der Verstand, der eigne Wille veranlast.
V.
Grund der Einschrankung der Sele - Mutmassung
Mir scheint air Einschrankung der Sele vom Korper abzuhan-
gen. Je weiter sie denken wil, desto mer nimt der Korper ab,
leidet - ie grosser die Bewegungen der Sele sind, desto starker
20 die Bewegungen im Korper, die den Tod bereiten. Ist das nicht
Wink des Schopfers? - Mus es nicht fur's Ganze zutraglich sein,
daB du so weit und nicht weiter mit deinen Selenkraften wirkst?
- Vielleicht ist ieder Korper fiir den Geist die Granze, so weit
er sich zu einer gewissen Zeit entwikkeln darf - vielleicht ist
wol unser zukunftiger Korper eben das Mittel, diesen Geist ein-
zuschranken- vielleicht geht's immer so fort? und immer Tren-
nung des Geistes und des Korpers Mittel zu grosserer Volkom-
menheit? -
56 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
VI.
Man kan sich einen Gedanken nicht zweimal denken
Jede Idee andert sich durch die Lange der Zeit, -durch ofters
Vorstellen derselben. - Ich denke keinen Gedanken in meinem
ganzen Leben, davon der eine wie der andre ware. Ich kan mir
keinen Begrif zweimal vorstellen - weil der eine nicht wie der
andre ist. Die SeF ist der Veranderung eben so wie andre Ding*
unterworfen. In ieder Sekunde leidet oder wirkt die Sele - in
ieder wird sie anders - und eben deswegen auch ihre Wirkung,
das Vorstellen.
VII.
Ursache der Verdrangung der Lere von Erbsiinde
Die Verdrangung der Lere von der Erbsiinde scheint mit dem
Wachstume der Psychologie zuzunemen.
VIII.
Gedachtnis und Gewonheit
Ist Gedachtnis wol nicht auch Quelle der Gewonheit? -
Villi.
Jede neue Meinung ist schazbar
Jede neue Meinung, die falsch ist, bringt neue Warheiten zum
Vorschein. Deswegen - i) sie wird widerlegt; und dan last sie
sich nicht aus den gewonlichen Warheiten widerlegen. Denn
sonst miiste der, der die neue Meinung zuerst hatte, sie sich
selbst haben widerlegen konnen. 2) Zufalliger Weise - man
denkt iiber den falschen Saz nach - und komt dan auf neue.
Es ist gewonlich, daB die neuen Warheiten falsch sind - allein
sie sind's nicht ganz: man trent nur's Falsche von dem Waren
— und dan steht die Warheit in neuer Gestalt da.
UBUNGEN IM DENKEN ' NOV. IjSo 57
X.
Vom Schmuk in schweren Schriften
Der Kopf, der viel Gleichniss' anbringt, geschmiikt schreibt,
scheint mir wenig tief eindringen zu konnen - wenigstens kon-
nen ihm die Gleichnisse, und andre Figuren nicht einfallen, wenn
er eben scharf nachdenkt; sondern nur alsdan, wenn's schon
geschehen ist. Wer tief nachdenkt, der stelt sich die Sache, wor-
iiber er denkt, ganz allein vor - alle seine Selenblikke sind darauf
geheftet. - Hier finden keine andre Ideenverbindungen stat, als
solche, die unmittelbar 's Ding betreffen. Hingegen wenn er
seine Arbeit wieder iibersieht, kan er leicht mereres hinzuden-
ken, und Figuren anbringen. Aber ist's nuzlich bei schweren
Materien? -
XI.
Nicht ieder widerlegt sein sollende Einwurf ist widerlegt
»Dieser Einwurf ist schon hundertmal aufgewarmt und wider- e
legt worden: und iezt komt man wieder mit ihm. « Dies ist die
Sprache mancher, die lieber nachbeten, als selbst untersuchen.
Ein solcher Machtspruch sol sogleich einen ganzen Einwurf ent-
20 kraften. Dieser Einwurf ist hundertmal aufgewarmt worden -
kan sein. Aber dies zeigt an, er ist niemals widerlegt worden.
Man hat so 'was gegen ihn gesagt: aber's reicht nicht zu. Daher
komt ein andrer, tragt eben diesen Einwurf mit, in die Augen
fallendern, Farben vor, um aufmerksam zu machen. Ich halte
den Menschen fur zu gut, als daB ich glauben konte, er verteidig'
eine Sache, von deren Falschheit er liberzeugt ist. Wenn iemand
etwas widerlegt sein sollendes wieder aufwarmt; so zeigt dies
an, die Sach' ist gar nicht oder wenigstens fur diesen nicht wider-
legt worden. -
58 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
XII.
Vom System machen
Es ist eben nicht leicht, ein System zu machen. Entweder viele
zusammen - in langer Zeit - machen sich ein System; so wie
's teologische entstand - oder ein Genie bildet sich selbst eins;
wie die meisten philosophischen. Beide Falle geben die Schwie-
rigkeit, die damit verbunden ist, deutlich an den Tag. Es ist
allemal leichter, einen Saz zu verstehen, von ihm uberzeugt zu
sein, auch ihn zu erfinden - als ihn in Verbindung mit andern
zu bringen - ia ganze Ideenreihen miteinander zusammenzupas- 10
sen. Dies leztere kan bios der, der viel (iberdenkt, dessen Einbil-
dungskraft wirksam genugist, umihm sogleich die fernere Ver-
bindung eines mit'm andern zu zeigen; aber auch eingeschrankt
genug, um ihn in Uberdenkung vieler Sazze durch keine Ne-
benideen zu storen. Das erste felt oft dem Kalten - dem Manne
- und das lezte schadet dem Jungling. Beid' Eigenschaften ver-
eint, geben den, der ein System machen kan. - Es ist mk'n
Systemen eine eigne Sache. Nichts ist unsrer denkenden Natur
mer gemas, als Warheiten im Zusammenhange zu denken -
nichts freut uns mer, denn hier ist die groste Anstrengung des 20
Geistes mit Vergniigen, das aus der vereinten Mannigfaltigkeit
komt, verbunden — allein nichts kan uns auch mer irre fiiren,
als eben dieses. Denn wir stellen uns dan die Dinge nicht so
vor, wie sie sind, sondern wie wir sie in unser System hinein
haben wollen - wir schnizzeln und formeln so lang' an dem
Dinge, bis es in unsre Ideenreihen hineinpast.
XIII.
Vom Ausbessern der Schriften
»Man mus seine Schriften ausbessern - sie nach Horazens Vor-
schrift neun Jare verwaren, eh' man sie drukken last.« Diese 30
Regel giebt man so gern den Genie's - aber der Pedant nur.
Ausbessern sol's Genie seine Schriften? alles bekritteln? der,
der's eben nicht kan, weil er Genie ist? Saft und Kraft heraussau-
UBUNGEN IM DENKEN * NOV. 1780 59
gen, damit ia nichts ungewonliches mer d'rinnen bleibt? - O
Toren! bedenkt, daB das Alter des Menschen kurz ist - daB
es besser ist, wenn uns das Genie merere neue Dinge giebt,
als daB es mit dem Ausbessern des ersten Werks, die Verferti-
gung des zweiten versaumt. Ihre Arbeiten konnen wir wol be-
urteilen, aber nicht selber machen. Das erste gehort nicht fur
sie, aber wol 's lezte.
XIIII.
Der grosse Man ist nicht allemal so gros, als er's scheint
10 Wenn wir die Schriften eines grossen Genie's lesen, oder von f
seinen ausserordentlichen [Taten] horen; so stellenwir sie uns
ihr ganzes Leben durch in einer solchen Glorie, solchen Anstren-
gung aller ihrer Krafte vor. Aber dies ist falsch. Die grossen
Taten, die sie tun, die erhabnen, schweren Warheiten, die sie
erfinden, sind nicht altagliche Ausserungen bei ihnen - es sind
nur starke Anstrengungen, die sich zu gewissen Zeiten aussern.
Ein ganzes Leben in einer solchen Anstrengung zu furen - was
ware das fur ein Mensch! Der Dumkopf ist deswegen nicht mit
dem Genie eins. Der erste bleibt alzeit Dumkopf, er ist solcher
20 Ausserungen gar nicht fahig - das Genie ist zwar auch gewonli-
cher Mensch, aber nicht alzeit. - Das Genie ist nicht immer
dasselbe - der Dumkopf aber wol.
XV.
Demut Larve des Hochmuts
Der Demiitigste ist oft der Hochmutigste - paradox, aber war.
Dieser aussert seinen Hochmut dadurch, daB er ieden seine
Grosse, seine Krafte fiilen last - iener aber dadurch, daB er seine
Krafte zwar auch aussert, aber mit minderer Beleidigung des
andern - ia daB er sogar durch eben diese Demut sich eine gute
30 Eigenschaft mer erwirbt. Man nem' einem Demiitigen seine
Demut - und seh' wie er entriistet wird. Eben das, womit der
Demiitige pralt, ist die Demut. - Demut artet oft in Schmeiche-
60 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
lei aus - vorziiglich gegen hohere. - Dieser ist demutig bei einem
Grossern als er selbst - und pralt bei einem geringern.
XVI.
Weissagung Voltaire's
»Wenn so viel wider die Bibel ware geschrieben worden, als
fur dieselbe; so ware sie schon langst verdrangt. « Das sagte Vol-
taire. Mit grosser Einschrankung scheint dies in unsern Tagen
einzutreffen.
XVII.
Von Freundschaft gegen Kliigere 10
Unsre Schwachheiten entdekken wir demienigen nicht, von
dem wir glauben, er selbst habe keine. Daher hat's Genie die
groste Freundschaft gegen dieienigen, die in Ansehung der Ver-
standeskrafte weit unter ihm stehen. - Dumkopfe leben eher
in vertraulicher Freundschaft mit einander, als Genies.
XVIII.
Von guten und schlechten Buchern
Die besten Biicher werden oft mit geringer - und die schlechte-
sten mit grosser Muhe verfertigt. Das Genie, das ein gutes Buch
schreibt, schopft aus sich selbst, ist sich selbst Leiter und geht 20
seinen eignen Gang. Stromweise fliessen ihm neue Gedanken
zu, die es wenig Miih' hat, nur noch zu ordnen. Der Kompilator,
der Nachbeter, der ein elendes Buch macht, mus nachschlagen,
herunfsuchen, und mit Muh' und Not ein eignes Gedankchen
herauspressen. Ich mochte fast sagen, der Kompilator braucht
mer seines Korpers, und das Genie seines Geistes Krafte. Jenem
hilft Gedachtnis, diesem Einbildungskraft und defer Verstand
- ienem Nachbeterei, Nachsuchen, diesem eignes Denken - ie-
ner arbeitet Jare lang daran, dieser macht sich seinen Plan in
etlichen Minuten. — 30
UBUNGEN IM DENKEN ■ NOV. IjSo 6 1
Diese Bemerkungen, vorzuglich die leztern, miissen immer mit
Einschrankung - und oft mit Ausnamen - verstanden werden.
Ein Saz ist dan nicht mer Warheit, wenn man seine Algemeinheit
iiber die Granzen ausdenet. Wir abstrahiren alzeit nur von vielen
und nicht von alien Dingen. Wir sind zu eingeschrankt, um alles
ubersehen zukonnen. Eine Ausnam' ist eigentlich nur eine Aus-
name von der Sache, worunter wir sie rechnen. Eben diese Aus-
name zeigt an, dafi sie nicht in diese Klasse der Dinge gezalt
werden darf, wo sie Ausname scheint, sondern in dieienige,
io wo sie keine ist. Die Anlichkeit verf urt uns oft, anlich scheinende
Dinge zu dieser und iener Sache zu zalen; wenn uns nicht die
Ausname lerte, daB eben diese Sache da eine Ungleichartigkeit
verursacht, wo sie anlich schien. - Dies wende man auf obige
Bemerkungen an - und bedenke, daB, wo eine Sach' eine Aus-
name macht, ich diese nicht darunter gerechnet habe - oder
konte. —
DEZEMBER 1780
VIII. UNTERSUCHUNG
Uber die Religionen in der Welt
Alzeit der wenigste Teil der Erdbewoner hatte die Religion,
die nach der Christen Meiming die ware ist. Es ist nicht schwer,
dies aus der Geschichte zu beweisen. Ich wil die Sprach' eines
gewonlichen Ortodoxen reden. - Da die Oberschwemmung
der Welt kam, waren achte, die in Riicksicht auf's Praktische
die ware Religion hatten; und eine ganze Welt, so weit sie damals
bewont war, trug Ateisten und verderbliche Sunder. - Ein Pa- 10
triarch mit seiner Familie war Gottes Volk; und alle Nazionen
der Erde verworfene Abgotter.
Ein Judenvolk vererte Got recht: und die ganze Menschen-
menge der Weltvolker kant' ihn gar nicht. Ja! eben dieses Volk
ward auch abtriinnig - und nun eine ganze Reihe vernunftiger
Geschopfe, die ihren Schopfer schandeten!
Chris tus komt. - Eine neue Religion wird eingefurt. Anfangs
hatte sie zwolf Anhanger, hernach siebzig, dan tausende. Aber
was ist dies gegen die Millionen Mehschen, die dieser Erdbal
ernart? Ein ganzes Amerika kent ihn viel' Jarhunderte durch 20
nicht. In Afrika und Asia sind der Christen eben so wenig. Eu-
ropa ist vol von Gozzendienern. Nur ein kleines Hauflein nent
sich christlich.
Die Zal der Christen vermert sich. Nun giebt's Parteien, die
einander verdammen. Man weicht ab. Die Dunkelheit nimt zu.
Die Christen werden zu Vernunftschandern. Kurz das - Pabst-
tum ist da. Nun ist die Zal der waren Christen kaum mer merk-
lich. Dieser Zustand dauert Jarhunderte. Noch nicht genug. So-
gar eine ganz neue Religion wird aus dreien zusammenge-
UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. 1780 63
schmiedet. Muhammed breitet seine Leren durch Krieger aus;
verwiistet Lander und zwingt zum Glauben. Er wachst; seine
Anhanger vermeren sich und es entsteht die machtige Turken-
nazion.
Endlich veranlast Luther eine neue Reforme. Ein Teil wird
erleuchtet, der andre bleibt bei seinen Leren. Kalvin geht wieder
vom ersten ab: und wird das Haupt einer Kirche, die man die
reformirte nent. - Sieh' nun drei Kirchen, da iede die andre
verdamt.
10 Diese drei Kirchen klaren sich auf. Vorzuglich die Lu-
ther' sche. Es entstehen in ihr Parteien: es kommen die Freigei-
ster, Naturalisten und Heterodoxen.
Und nun du, der du ein Protestant bist, der du deine Anzal
Sazze fur allein war und annemungswiirdig erklarst was
wilst du mit der iibrigen Menge von Menschen anfangen, die
das nicht fur war halten, was du glaubst, die deinen entgegenge-
sezte Sazze behaupten? - Vielleicht bist du so wenig Mensch,
ieden andern, der nicht mit dir dasselbe glaubt, zu ewiger H61-
lenpein zu verdammen? Fast schaudert's mich, nur diese Be-
20 hauptung herzuschreiben.
Uberlege diese Warheit: Got herscht iiber die Welt - Got ist's,
der das Gute hervorbringt, aber er ist's audi, one den das Bose
nicht geschieht. Oder, wirkt liberal Gottes Vorsehung - hat
sie Einflus auf das Elend, das Lander verwiistet - last sie Krieg'
entstehen, wo Menschen einander wie Tyger morden - weis
sie liberal aus parzial Ubeln iiberwiegendes Gute fur's Ganz'
herauszubringen - - und nur die Religionen, die fur die Aufkla-
rung des menschlichen Verstandes, fur die Erwarmung des Her-
zens, so wichtig, fur unser ewiges Gliik so wichtig sind, die
30 Religionen - diese solten ausgeschlossen sein? Es sol auf den
ungefaren Zufal ankommen, ob hie eine neue Religion entste-
hen, da eine alte vergehen sol? Die Regierung der Vorsehung
hat das Gliik der empfindenden [Geschopfe] zur Absicht - und
nur die verniinftigen solten ausgeschlossen sein - denn dieser
ihr ganzes Gliik hangt von der Religion ab. Got wil uns zeitlich
gluklich machen? nur ewig nicht? -
64 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
Ein Muhammed ist der Stifter einer neuen Religion, die wir
fur falsch erklaren. Tausend und aber tausend sind ihre An-
hanger - ihre Anhanger Jarhunderte schon durch. - Von
wem hieng's nun ab, daB diese Religion entstand? Konte nicht
durch eine andre Bes chaff enheit der Sele Muhammed's, durch
andre Umstande, die auf ihn wirkten, durch minderes Gluk,
das ihn in seinem Unternemen begiinstigte, die Entstehung die-
ser Religion verhindert werden?- Oder »hatt* er vielleicht Wun-
der tun mussen, urn das Aufkommen dieser Religion zu verei-
teln?« Wie falsch! Wer beweist mir, daB es one Wunder nicht 10
hatte geschehen konnen. Mit dieser Zuflucht konte man noch
tausend Obel in die Welt versezzen, und ihren Widerspruch mit
der Giite Gottes dennoch rechtfertigen. In wessen Busen nur
noch ein Funke Menschenliebe glimt - wer kan sich diese tau-
sende seiner Mitbriider als elende Schlachtopfer zu ewigen Stra-
fen verdamt denken — wer sich Got, den Giitigen, und die Men-
schen, die Elenden, denken? - Doch ich wil abbrechen von einer
Behauptung, die Got lastert: ich wil die Augen wegwenden von
einer Szene, die uns alles so schwarz, so finster vorstelt. Wir
wollen ein System verlassen, das nur heilige Eiferer, die nichts 20
als sich selbst liebten, die sich Got so grausam wie sie selbst
vorstellen, ausbriiteten. Wir wollen uns vor der Benennung In-
differentisten nicht fiirchten, sondern frei behaupten: daB alle
Religionen gut sind, dap keine verdamt, wenn wir uns nicht durch
Bosheit des Herzens selbst ungluklich machen - daj] iede Religion
an dem Orte, wo sie ist, die beste ist - und dafi die christliche Religion
zwar fur sich betrachtet die beste sei, dap sie's aber nicht an iedem
Ort, sondern nur da wo Gottes Vorsehung sie hinbestimte, bleibt.
Einige Bemerkungen werden dazu dienen, die Saeh' in ein
helleres Licht zu sezzen und sie uns warscheinlicher zu ma- 30
chen.
Die Religion ist der Weg, den die Vorsehung geht, den Men-
schen zu vervolkomnen, seinen Verstand aufzuklaren und sein
Herz zu bessern. Sie geht mit iedem Individuum einen andern;
eben deswegen ist die Menge der Religionen so gros. Tausend
verschiedne Volker tragt die Erde - und tausend verschiedne
UBUNGEN IM DENKEN ' DEZ. IjSo 6$
Religionen giebt's. Jedes kleine Volk in Nordamerika hat fast
erne andre Religion; und eigentlich betrachtet hat jedes Indivi-
duum seine eigne, individuelle Religion.
Sie andert sich mit dem Klima ab. Der Morgenlander hat
nicht die Religion, die der Abendlander verert - wer an dem
Nordpol wont, glaubt nicht eben das, was der behauptet, der
am Siidpol ist. Es ist war, man kan ein Christ sein in Lapland,
und einer in Indien. Aber man ist nicht der Christ im eisigten
Lapland, der man im brennenden Indien ist. Die verschiedne
io Warm' oder Kalte des Klima's, seine FeuchtKeit oder Trokken-
heit haben verschiednen Einflus auf den Menschen, der dies
Klima bewont - der Blutumlauf ist entweder geschwinder oder
langsamer - die Gefasse sind mer oder weniger gespant - kurz
der Korper ist in iedem Klima anders, die Sel' ist also auch
verschieden - die Folg' ihrer Ideen, die Starke der Neigungen
u.s.w. ist nicht in iedem Klima dieselbe. Sol die Religion die-
selbe sein - dieselbe bei denen sein, deren Wilkiir 's iiberlassen
ist, diese oder iene anzunemen? Ein wenig Kentnis der Ge-
schichte last uns leicht diese Frage beanrAvorten. -
20 Vielleicht konte man sagen: »Es ist war, dafi es tausend Reli-
gionen giebt: aber sind diese Religionen fur die, welche ihnen
anhangen, gleich gut? ist ein Turk eben so gut, als ein Christ?«
- Diese Frage last sich so beantworten. Jede positive Religion
giebt dem Verstande dessen, der sie hat, etwas zu denken. Jeder
verfeinet, formt und verbessert die Anzal Sazze, die er fur Reli-
gionswarheit halt - und eben durch dieses bildet er seinen Ver-
stand. Die Erfarung eines gemeinen Menschen mit den Religi-
onssazzen verbunden, die er glaubt, geben's Resultat seines
ganzen Ideenkreises - bestimmen den Grad der Volkommen-
30 heit, den sein Verstand iezt erreicht hat. Die Religion giebt ie-
dem Stof zum Nachdenken - er wiirde nichts suchen, als was
gerade vor ihm da lage, wenn die Religion ihn nicht spornte,
nachhoheren zu trachten. Jede Religion, wenn man ihre Gebote
befolgt, machtihre Vererervolkomner, machtsietugendhafter: 3
a Bei'm Sparter ist's Tugend, zu stelen - bei uns bestraft man's mit
dem Leben. Der Sparter, der dieses tut, siindigt nicht - aber der Christ,
66 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
obgleich nicht iede auf einerlei Art. Und den Nuzzen, den eine
iede Religion ihren Vererern verschaft, mist und kent niemand
recht als eben diese (Vererer). Eine iede Nazion mist den Nuzzen
von der Religion einer andern nach der ihrigen ab: und mist
falsch.
Wo icb eine Religion vereren sehe, die ich fur falsch erkenne,
so denk' ich: eben diese Religion ist die beste zu dieser Zeit, an
diesem Ort, bei diesen Umstanden. Eine andre dahin versezt,
wiirde nicht diese Wirkung, diese dem Ganzen heilsame Wir-
kung tun. Unser falsches Urteil iiber den Nuzzen oder Schaden 10
eines Dinges entsteht daher, weil wir's Ganze nicht kennen.
Wir sehen, eine Sache niizt in diesem Teile des Ganzen. Wir ,
schliessen, also mus es auch in einem andern nuzzen. Wir wiir-
den Recht haben, wenn alle TeiF einerlei Beschaffenheit hatten
und auf einerlei Art sich zum Ganzen verhielten. Eben so mit
den Religionen. Es ist gut, daB es Juden in Palastina giebt -
aber 's ware schadlich, wenn 's deren in Amerika gabe. - Die
Vorsehung sol die Welt regieren, und ich - der ich so kurzsichtig
bin, dessen Verstand viel kleiner gegen [den] Verstand des Al-
weisen ist, als der einer Milbe gegen den eines Leibniz's - und 20
ichkonte etwas bessers machen und an des iezzigen Stelle sezzen
- und das must' es sein, wenn eine bessere Religion an die Stelle
der vorhandnen konte gesezt werden? Heist das nicht die Vorse-
hung verhonen? nicht, sie ganzlich weglaugnen? Soviele Reli-
gionen es giebt, so viele sind war - aber fur iedes Individuum v
ist's nur eine. Subiektiv war sind sie alle: obiektiv war sind sie
auch alle, aber iede unterscheidet sich von der andern durch
die Menge der waren Sazze - ganz obiektiv war ist keine, aber
eben sowenig eine ganz falsch.
Ich glaube, Got sieht mit mer Wolgefallen auf die Religionen 30
der's tut, ist nicht from. Bei einem und eben demselben Individuum
konten diese Falle nicht stat finden - aber wol bei merern. - Die Tugend
ist nur dan Tugend, wenn sie unsern Geist vervolkomt - Aber ist die
Art der Vervolkomnung bei iedem Geiste dieselbe? - also ist's auch
die Tugend nicht. - Diese Gedanken sind fliichtig hingeworfen, aber
vielleicht wert, naher untersucht zu werden.
UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. 1780 67
in der Welt herab, als es mancher Teolog vermuten mochte.
Er sieht sich liberal verert: aber nicht in demselben Bilde. Jeder
macht sich eins nach seinen schwachen Beg riff en: aber keiner
erreicht's Urbild. Der Philosoph verert in Gott einen Geist, den
er nach seinen Begriffen von Volkommenheit gebildet hat -
der gemeine Christ einen guten und machtigen Menschen - der
Griech' einen Zeuvs [!] - der Agypter einen Kneph - und die
Afrikaner ihre Fetisso's. Der Algutige freut sich des Eifers
ihres Herzens - und vergiebt die Schwachrieit ihres Verstan-
10 des. -
Es ist mer Weisheit Gottes in der so mannigfaltigen und ver-
schiednen Austeilung der Religionen verstekt, als man glaubt.
Man hat nur auf diesen Punkt noch nicht genug Ruksicht ge-
nommen, um den Nuzzen einer ieden Religion, den eben diese
und keine andre giebt, genau zu bestimmen. Wenn die christli-
che Religion fur alle Volker alzeit die beste ware: wiirde sie
nicht der Got, der alles tut, Glu.k iiber seine Geschopfe zu ver-
breiten, nach Amerika, Asia und Afrika haben gelangen lassen?
Felen etwa die Mittel? und konnen dem Alweisen diese felen?
20 - Uber das, was in der Zukunft geschehen kan, wollen wir
nicht entscheiden. Vielleicht werden noch alle Volker fdhig,
Christen zu werden.
Vielleicht sind manche von den heutigen nichtchristlichen
Religionen die Vorbereitung zur Annemung der christlichen.
Im Judentum lag 's Christentum schon als Keim vcrborgen.
Waren die Juden nicht gewesen, so wiirden die Christen nicht
das gewovden sein, was sie sind. Judentum ist Religion der Kin-
der - Christentum der Manner. Man must' ein Kind sein, eh'
man ein Man wurde. Auch wir mCissen 's alle noch sein. Man
30 solt' uns deswegen als Kinder das Christentum nicht leren: son-
dern den Verstand zu mererer Reife kommen lassen. Waren
Kinder am Korper fahig, 'das Christentum zu fassen: so hatten
auch ehmalige Kinder am Geist Christen sein konnen, one Juden
gewesen zu sein. - So wie's Kinder giebt, die Vernunft haben,
eh' sie alt genug sind: eben so findet man Christen unter nicht-
christlichen Volkern, und es giebt der erstern merere als es uns
68 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
diinkt. Sie miissen nicht gerade das N. T. haben: der Koran,
Talmud, Vedam vertrit seine Stelle.
»Aber wie lange dauern nicht schon gewisse Religionen, one
daB ein Anschein ihrer Verbesserung vorhanden ware? -« Dau-
erte nicht eine iudische Religion Jartausende, bis endlich Chri-
stus kam? Was sind Jartausende dem Ewigen? Miissen wir Plane
Gottes, die Ewigkeiten umfassen, nach unsrer Mtikkenexistenz
abmessen? - In der Natur reift alles langsam: aber 's bringt her-
nach desto herlichere Fruchte.
Last uns noch dieses betrachten. Got beurteilt ieden, nicht 10
nach dem, was andre glaubten, sondern was er glaubte. Seine
Begriffe von Recht und Unrecht sind der Masstab, wornach
seine Handlungen abgemessen werden. Und wenn eine Religion
wirklich ware, die einer andern in alien Sazzen entgegengesezt
ware; so wiirden zwei Anhanger von beiden Religionen ungleich
gerichtet werden, wenn sie in alien Stiikken anlich gehandelt
hatten. Der eine wiirde belont, der andre bestraft werden.
Jedes Subiekt hat eine andre Art sich zu vervolkomnen, d. h.
seine Verstandes und Willens Kraft' auszubilden - und eben des-
wegen eine andre Religion. Got kan diesen nicht verdammen, 20
der mit ienem nicht einerlei Weg geht. Beide kommen zu eben
dem Ziel; nur durch verschiedne Wege. Und Got ist's, der beide
diese Wege betreten last.
Und was ist nun das Resultat von diesem alien? - Dies. Alle
Religionen sind gut- und an dem Orte, wo sie sind, die besten.
Sie sind verschiedne Mittel zu demselben Endzwek. Jede Reli-
gion aber, der ich mit Uberzeugung anhange, ist fur mich die
beste. Fur einen andern ist sie's nicht: weil er von ihr nicht
(iberzeugt ist. - Das Christentum ist so wenig in der Welt ausge-
breitet - eben weil 's Vortrefliche seltner ist, als das Mittelmas- 30
sige. - Behonlachl' also keine Religion, die du fur falsch erklarst
- du belachelst den, der eben diese Religion entstehen lies. Last
uns tolerant gegen die sein, deren Verstand wir wol iibertreffen:
deren Herz aber besser, menschenfreundlicher und liebevoller
ist als unsers. Last uns nicht, wie sonst, Briider morden, um
einem Erhalter des Lebens zu gefallen - nicht gegen die grausam
UBUNGEN IM DENKEN ' DEZ. 1780 6$
sein, die der Hochste liebt. Wie herlich sind diese Aussichten!
Air unsre Bruder- all' unsre Religionsverwandte - al zu einem
Himmel berufen - von einem Vater geliebt! —
Villi. Untersuchung
Jeder Mensch ist sich selbst Masstab,
wonach er alles aussere abmist
Jeder glaubt, er sei unter alien der wichtigste, der beste. Er wil
kein anderer sein - und wenn er gleich seine aussern Umstande
mit einem andern vertauschen mochtc, so verwechselt er mit
ro ihnen doch seine innerlichen nicht. Ob er schon an dem andern
Volkommenheiten findet, die er nicht hat, so weis er doch solche
an sich zu entdekken, die der andre nicht besizt und die ihm
iener Stelle leicht ersezzen. Sich glaubt er am besten zu kennen;
deswegen fangt alle seine Beurteilung andrer von seiner Selbst-
kentnis an. Es braucht wenig Beobachtungsgeist, um diese Ge-
wonheit in der Beurteilung der Meinungcn, Handlungen und
aussern Umstand' anderer zu entdekken. Zuerst also die Meinun-
gen anderer.
Er weis, was er glaubt. Der andern Meinungen beurteilt er
20 nach den seinigen. Findet er in ienen Widerspruche mit den
seinigen: so sind sie ihm falsch. Er untersucht nicht, ob vielleicht
die seinigen die falschen sind. Den Begrif , den er mit einer Sache
verbindet, sol auch der andre damit verbinden. Er fast dieses
ser dunkel; und spricht deswegen einem andern die Fahigkeit
ab, es deutlicher denken zu konnen - oder, er sieht eine Sache
deutlich ein, und wundert sich, wie sie dem andern Schwierig-
keit verursachen konne. Wenige Menschen verstehen einander
recht - sagt Gothe. Warum? weil wenige von etwas andern als
von sich Begriff haben. - Zwei sprechen mit einander. Beide
30 bedienen sich einerlei Worte - aber nicht beide verbinden diesel-
70 JUGENDWERKE ' I.ABTEILUNG
ben Begriffe damit. Jedes Wort ist nur Kleid, nur sinlicher Aus-
druk, nur Korper des Gedankens: den Geist macht sich ieder
dazu - und macht sich eben deswegen einen falschen. Daher
kommen soviele gelerte Streitigkeiten. Man zankt sich Jare lang
iiber eine Sache - zulezt kommen beide Parteien uberein, wenn
sie einsehen, daB sie nicht denselben Begrif mit einerlei Worten
verbunden haben. Sie waren beide einig - nur machten sie sich
falsche Gegner.
Der wiirde furwar! ser klug sein, der alle verstiinde, und der
[der] diimste, der niemand als sein ander Selbst fassete. Der 10
Grund von diesem alien liegt hierinnen: Jeder Mensch hat eine
eigne Masse von Begriffen, die er durch Erfarung bekommen
hat. Diese Begriffe hangen mit einander auf s genauste zusam-
men. Einer modifizirt sich nach dem andern. Er begreift einen
Begrif nur insofern, als er aus seinem eignen, individuellen Vor-
rat von Sazzen Ideen nach dem Assoziazionsgesez herbeifiiren
kan, die ihm diesen Begrif aufklaren, mit ihm zusammenhan-
gen, und sich zu ihm als Teile zum Ganzen und umgekert, oder
als Grund und Folg' und umgekert verhalten. Nun hat ieder
Mensch ein System von Begriffen^ das vom System eines andern 20
verschieden ist. Jeder hat einen andern Korper und eine andre
Sele, andre Erziehung, befindet sich an andern Orten, hat andere
aussere Umstande u.s.w. - und eben deswegen einen andern
individuellen Vorrat von Begriffen: Miissen nun also nicht die
Begriffe bei iedem verschieden sein, die er herbeifiirt, einen
Ausdruk, oder eine Sache sich zu erlautern? Mus nun nicht ieder
bei eben dem Wort' einen andern Begrif verbinden? - Ich gebe
zu, daB das Assoziazionsgesez der Ideen bei alien Menschen
gleich wirkt. Aber 's findet nicht bei iedem anlichen Stof. Oft
sind tausend Verbindungen moglich. Nur die iedesmalige indi- 30
viduelle Beschaffenheit des Subiekts giebt den Grund von der
iezzigen Verbindung, die gerad' aus tausenden wirklich ward.
- Leute, die einander in vielen anlich sind, verstehen einander
am besten. Zwei Narren streiten selten lang' aus Ernst iiber
eine Sache. Aber ein Dumkopf und ein Weiser sind einer dem
andern vollig unverstandlich. Und dieser ienem mer, als umge-
UBUNGEN IM DENKEN * DE2. 1780 71
kert. Um einen Narren zu verstehen, mus man oft selbst einer
sein.
Ich komm' iezt zur Beurteilung fremder Handlungen. Wir
schazzen die Handlungen der Menschen da noch am richtigsten,
wo sie uns nichts angehen. Und nicht einmal dies tun wir oft.
Wir sehen iemand handeln; und leihen ihm dan unsre Lage.
Alsdan sehen wir freilich viel Ungereimtes, Lacherliches und
Boses darinnen: es komt aber nur daher, weil wir dies hinein
sezzen. Der Mensch, der iezt so handelt, handelt recht: eben
io weil er nicht in unsrer Lag' ist. Er wiird' aber dan erst bose
handeln, wenn er eben dies in unsrer Lage tate.
Die Handlungen eines gewissen Menschen scheinen uns bose.
Aber warum? - weil wir ihm unsre bosen Absichten leihen,
und seine guten wegnemen, oder sie miskennen, Er handelt
gut - weil er andre Absichten hat, als wir ihm iezt zuschreiben.
Er wiird' aber bose handeln, wenn er die unsrigen hatte. Der
Argwon wird durch diesen Selbstbetrug genart. Kein Mensch
ist im Stande, die Handlung eines andern zu beurteilen, weil
cr seine Lage nicht hat, seine Absichten nicht kent. - Ich glaube,
20 niemand wird nach den Gesezzen recht gerichtet. Sie sind zu
algemein; und Strafen selten den Verbrechen proporzionirt.
Und man unterscheidet noch dazu nicht, ob das, was bei diesem
Subiekt' ein Verbrechen ist, es auch bei einem andern ist. Got!
wie viel sind schon unschuldig gemordet, wie noch merere un-
schuldig gepeinigt worden! und wie wenigen ist ihr Recht wie-
derfaren! - Ich glaube der Richter, der alzumenschenfreundlich
ist, wird sich wenigern Ungerechtigkeiten aussezzen, als der,
der alzu strenge richtet. Gelindigkeit ist eher verzeihlich als
Grausamkeit Denn iene begehen offers Gute, diese meistens
30 Bose - Man vergebe mir diese Ausschweifung. -
Niemand wird deswegen mer Lasterhafte in der Welt anzu-
treffen glauben, als der, der selbst recht bose ist, oder 's war.
Tausend sieht er handeln, die gut handeln. Aber er dichtet ihnen
bose Absichten an und verwandelt gute Taten in Laster: bios
weil er in diesem Falle so handeln wiirde. Eben weil er so oft
bose war, so ist er scharfsinnig genug, um andre als bose da
72 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
zu erklaren, wo niemand als er so sein wiirde. »0! es giebt
ia gottesfiirchtige Betschwestern, die tausend Schandtaten in
der Welt erblikken - one selbst bose zu sein.« Ich glaub' es.
Sie waren aber vorher eben den Lastern ergeben, auf die sie
iezt schelten. Sie sind Huren gewesen, eh' sie Nonnen wurden.
Der menschenfreundliche Lavater argwont nie Boses. Er sieht
bios Tugenden in der Welt, und Engel, die sie bewonen. Dies
ist mir Biirge, daB er selbst das ist, fur was er andre ansieht.
Aus dem UrteiP eines Menschen iiber die Handlung eines an-
dern, kan ich schliessen, wie er selbst ist. Das Urteil, das er 10
iiber andre fait, fait er iiber sich selbst. Nur der, der ein Laster
schon erfaren hat, mutmast seine Moglichkeit bei andern.
Niemand ist daher leichter zu betriigen, als ein Unschuldiger,
und Guter. - Aber ich wil lieber in unschuldigem Irtum hinwan-
deln, und mit Engeln umzugehen glauben: ich werde gluklicher
sein. Wie wil ich ruhig sein, wie mich unbesorgt dem andern
in zartlichen Hinwallungen mitteilen - wenn ich bios schwarze
Herzen sehe, die mir libels bereiten, lachelnde Feinde, die den
Grund meines Gliiks untergraben, und menschliche Teufel, de-
ren Grim auf ihrer Stirn mich schaudern macht! - 20
Bisher hab' ich von dem Urteile der Menschen iiber andrer
Taten geredet, in so fern diese uns nichts angehen. Ich komm'
iezt auf die, welche einen guten oder bosen Einflus auf uns ha-
ben. Auch hier nemen wir uns zum Masstab an, den andern
zu beurteilen. - Hier entdekt man am besten den optischen Zau-
bertrug, der uns so oft den Gesichtspunkt in Schazzung andrer
verriikt. Wirsehenniemitblossen Augen. Das Verhalten andrer
gegen uns ist das Glas, wodurch wir sie sehen. Durch dieses
Glas erblikken wir des Freundes Laster als Flekken in einer herli-
chen Sonne, und seine Tugenden, als Taten einer Gotheit wiir- 30
dig. Durch dieses Glas erscheint uns das kleinste Vergehen un-
sers Feindes als ein Verbrechen wider Got und Menschheit -
und seine Tugend als ein Schimmer, mit [dem] der Schatten
des Lasters nur noch mer kontrastirt.. Sturz driikt dieses alles
vortreflich so aus: wir sehen die Laster im Sonnenmikroskop
und die Tugenden im konischen Spiegel; oder umgekert. One
UBUNGEN IM DENKEN ■ DE2. I780 73
Allegoric - Jedes Unrecht, das man an uns ausiibt, wird doppelt
bos, bios weil wir's fiilen; und iede Tugend doppelt vererungs-
wiirdig, weil man sie zu unserm Nuzzen tut. Die Moralitat einer
Handlung wird verdoppelt, wenn sie uns angeht. Wir werden
beleidigt - Wir sezzen uns nicht in die Lag' unsers Beleidigers,
urn die Bewegungsgriinde zu entdekken, die ihn vielleicht mit
Recht zu dieser Handlung gereizt haben. Wir betrachten nur
uns. Und nach der Grosse [des Eindruks], den dies Ubel auf
uns macht, bestimmen wir die moralische Haslichkeit seines
10 Urhebers. Unsre Empfindlichkeit, seine Unwissenheit, sein
Recht dazu bringen wir hier nicht mit in Rechnung. Wir finden
an uns so viel Volkommenheiten und Liebenswiirdigkeiten, wir
lieben uns so ser, daB wir gar nicht einsehen konnen, wie ein
andrer nicht eben dies an uns merken, nicht eben die Liebe gegen
uns tragen konne. Je vortreflicher wir uns scheinen: fur desto
lasterhafter halten wir den, der in Beleidigung unsrer keine Riik-
sicht darauf nimt. Wir bedenken aber nicht, daB wir in andrer
Augen nicht das sind, was wir in unsern sind. Daher ist die
Tugend, seinen Beleidiger zu lieben, unter alien die schwerste,
20 unter alien dieienige, die am wenigsten ausgeiibt wird. Wir
wlirden die Ausubung dieser Tugend ser erleichtern, wenn wir
uns als den Beleidiger, und nicht als den Beleidigten dachten. Wie
viel Ursachen wtirden wir dan finden, die wichtig genug sind,
das Verfaren unsers Feindes zu entschuldigen, oder wenigstens .
die Haslichkeit desselben zu mindern! - Eben so verfaren wir
bei'm Guten, das uns von andern zu Teil wird. Die Giite seines
Herzens wird nach der Grosse des Guten geschazt, das er uns
erwiesen hat. Von dem, was geschehen ist, schliessen wir auf
das, was er hat tun wollen. Vielleicht macht dies der Menschheit
30 Ere! Dieser Feler - wenn's einer ist - kan noch eher entschuldigt
werden, als der vorhergehende: ich wil lieber ienen als diesen
begehen. -Ich wil anders z. B. von den Leidenschaften, uberge-
hen, das zu bekant ist, um hier angemerkt zu werden. -
Einen bessern - heist, ihn nach uns formen, und einen loben,
heist, unsre Volkommenheiten am andern bemerken und sie
schazzen. Wir schazzen nur das an andern, dessen Vortreflichkeit
74 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG
wir bei uns selbst gefult haberi. »Derowegen ist ieder gegen
das gleichgiiltig, was nicht das Stekkenpferd betrift, auf dem
er reitet.«
Nicht einmal uns selbst beurteilen wir recht. Um eine Hand-
lung von uns zu beurteilen, nemen wir nicht die Lag' an, in
der wir waren, da wir sie taten - wir schazzen sie nach unserer
iezzigen Lage. Deswegen stimt der Mensch so wenig rnit sich
selbst iiberein.
Endlich begehen wir den Feler, in allem uns zum Masstab
zu nemen, auch bei der Schazzung der Gliiksumstande des an- 10
dern. Wir sehen einen andern und halten sein Gluk hoher als
unsers. Die Ursach' ist: wirkennen seine Leiden nicht; und glau-
ben er habe gar keine, weil er die unsrigen nicht hat. Man halt
einen andern gliiklicher als sich, indem man zu seinen Freuden
die unsrigen hinzusezt und ihn one Leiden sein last, da er nur
die unsrigen nicht hat. Daher komt der gemeine Wan, Konige
sein die gliiklichsten unter der Sonne. Man sieht ihre glanzenden
Freuden, deren Genus der Pobel fur so viel ange[ne]mer halt,
da ihr Anblik schon so viel reizendes hat, ihre Reichtumer, die
ihnen die teuersten Wolliiste erkaufen, und ihre Macht, womit 20
sie sich iedes Gute mit Gewalt rauben konnen alles dieses
stelt das Konigsleben dem Kopfe des Pobels in einer solchen
Glorie dar, daB es kein Wunder ist, wenn ieder machtig, ieder
reich, ieder ein Konig werden wil. - Eben so beurteilt man's
Leiden andrer. Wer immer gluklich ist, empfindet iedes Ungluk
doppelt - Dieser glaubt also, iener Elende empfind' iedes Un-
gliik auch doppelt und halt [ihn] dadurch fur so ungliiklich.
Aber er bedenkt nicht, daB ienen immerwarender Kummer
schon an's Elend gewont habe, und daB er also wenig bei dieser
Reihe von ungluklichen Tagen fiile. - 30
Diese Tauschung, alles nach uns zu schazzen, begleitet uns
liberal. Sie verlast auch den Weisern nicht vollig. Sie ist ein
Feler, den man nur bemerkt, wenn er schon lange begangen
worden ist - ein Feler, der sich ablegen last, wenn man keine
Ursach' hat, ihn zu begehen. Man wiirde weniger stolz, weniger
feindselig sein, wenn man ihn nicht hatte: aber man wiirde dafiir
UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. I780 75
andre Vorteil' entberen mussen. Man wurde nichts beurteilen
konnen; weil man keinen Masstab hatte, es darnach zu verglei-
chen.
X. [Untersuchung]
tJher Narren und Weise - Altags Zeug!
Der Nar kent seine Unwissenheit nicht; aber andre kennen sie.
Er kent nur seine Wissenschaft, die andre an ihm nicht finden.
Der Weise hingegen findet liberal Granzen seines Verstandes,
die andre nicht bemerken; weil sie sie noch nicht erreicht haben.
10 Er weis am besten, wie wenig er kan. Er kent am besten den
granzenlosen Umfang des Reichs der Warheiten, urn sein kleines
Terrain, das er darinnen in Besiz hat, fur nichts zu achten: wel-
ches aber andre fur gros ausschreien, weil ihres unendlich kleiner
ist.
Der Dumkopf diinkt sich viel zu wissen, weil er das nicht
kent, was er nicht weis - und der Weise glaubt wenig zu wissen,
weil er das kent, was er nicht weis. Der Dumkopf giebt ungern
oder gar nicht nach, weil er selbst wenig dachte, und deswegen
selten zu irren glaubte. Der Weise hingegen nicht. -
20 Wenn ein Dumkopf und ein Weiser zusammenkommen, se-
hen beid' einander fur Narren an. Aber dieser bemitleidet ienen;
und iener verhont diesen. Ein Nar ist eben so unerforschlich
als das Genie - und das am meisten, weil iener sich nicht selbst
beobachten kan. Die Ausserungen des Narren sind in Nacht
verhiilt; man erklart zu viel oder zu wenig, oder gar falsches
hinein. Oft ist dieser Nar nur ein verstimtes Genie - und dan
scheinen die Narheiten am grosten zu sein.
Der Dumkopf ist eben so vergniigt wie der Weise. Beide
sind stolz; der erstere auf sein Vielwissen, der leztere auf sein
30 Nichtswissen: und nur der lezte ist's mit Recht. Denn 's gehort
viel dazu, einzusehen, daB man wenig weis.
j6 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
Beide schreiten weiter - der eine in der Narheit, der andre
in der Weisheit. Bleiben sie stille stehen; so vcrwandelt sich
einer in den andern. Die Granzen der Narheit und Weisheit lau-
fen ser in einander. Es braucht wenig, von einem zum andern
iiberzugehen. Wir solten nur oft mit scharfern Augen sehen,
urn in dem Narren ein (ibelangebrauchtes [!] Genie zu entdekken
- und so umgekert. - Es ist viel, vom Klugen etwas zu lernen
- aber 's ist noch schwerer, vom Narren zu lernen, Der ist ein
grosser Nar, der glaubt, viele Narren in der Welt anzutreffen:
und der ein Kluger, der alle zu verniinftigen analy siren kan.
Man ist nicht immerfort ein Nar; man ist aber auch nicht
immer ein Weiser. Narheit und Weisheit haben ihre periodischc
Riikker wie's Fieber.
' Bemerkungen
X Villi.
Was ist fiir ein Unterschied zwischen Temperamentstugend und
Temperamentslaster?
Ein kalter Stoiker, den Temperament und aussere Umstandc
zum Weisen balden, iibertrit nie die Schranken, die unsre Be-
gierden zamen. Ein feuriger Jiingling hingegen, der zu ser stro- 20
mende Kraft in sich fiilt, als daB er sich derselben mit Masse
bedienen konte, schweift aus - aber nur eine kurze Zeit. Wel-
chem von beiden werd' ich den Vorzug geben, welchen fiir
den volkomsten und besten halten? - Den leztern. Ich wiirde
gewonnen haben, wenn man nur beid' in anliche Umstande
versezte.
UBUNGEN IM DENKEN • DEZ. I780 77
XX.
Der Schriftsteller mus nicht zu demiitig sein
Es gefalt iedem, wenn ein Schriftsteller demiitig ist, wenn ein
Genie sagt, daB es keines sei. Man preist diese Art, seinen Wert
nicht in Augen zu haben, iedem Schriftsteller an. Aber ich
glaube, mit Unrecht. Warum sol der Man, der's wol kan, seine
Grosse nicht fulen lassen - warum sol der aufgeklarte Kopf mit
den Biiklingen eines Dumkopfs vor's Publikum treten? Viel-
leicht ist wol dies die Ursache. Wir leiden's noch, daB einer
10 ein grosser Man ist: aber wir mogen's nicht von ihm selbst erfa-
ren. Unsre Eigenliebe wird zu ser beleidigt. Wenn iemand von
sich sagt, daB er gros sei: so ist's eben so viel, als wenn er sagte,
daB wir klein sind. Man braucht also die gar zu grosse Demiiti-
gung nicht zu empfelen. - Man kan bescheiden sein; man mus
sich aber deswegen nicht selbst heruntersezzen. Man ist beschei-
den, wenn man sich nicht mer zueignet, als sich gehort, und
andern das nicht raubt, was ihnen gehort.
XXI.
Der grosse Geist liebt's Gross' auch an andern, der kleine hast's
20 Ein kleiner Geist kan keinen, der ihm gleich ist, und noch weni-
ger einen hohern neben sich leiden. Er hast das Grosse, weil
er klein ist. Er beneidet's wol: aber nachahmen kan er's, mag
er's nicht. Mancher kleine Geist scheint manches Grosse gar
nicht zu bemerken, noch seinen Besizzer zu beneiden. Es komt
aber daher, weil er das Grosse fur das nicht ansieht, was es
ist. - Ein grosser Geist hingegen liebt und schazt andere Grosse
neben sich; weil er selbst gros ist. Wer's nicht tut, zeigt an,
daB er noch nicht gros genug ist, urn andere nicht zu beneiden
- seine Grosse noch nicht genug fiile, urn sich one Has mit
jo andern vergleichen zu konnen.
78 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
XXII.
Empfindungsassoziazion
Eine Idee erwekt die andre, entweder als Grund und Folge, und
umgekert - oder als Teil des Ganzen und umgekert - oder end-
lich, weil beid' oft mit einander sind erwekt worden. Wie?kont'
es nicht eine Empfindungsassoziazion geben, wie's eine Ideenas-
soziaziongiebt?-Ichhabez. B. eine Person oft an einem gewis-
sen Orte sizzen gesehen, die iezt tod ist. Wenn ich mich nun
an eben diesem Orte (wieder) befinde - wenn alle Empfindun-
gen wieder aufleben, die ich sonst da hatte, wenn iezt meine 10
Phantasie mitwirkt; wird nicht diese Person als ein Teil dieser
Empfindung gegenwartig zu sein scheinen? wird nicht das Feuer
der Einbildungskraft mit den iezzigen Empfindungen vergesel-
schaftet, die Empfindung selbst erregen? — Zum wenigsten
last [sich] hieraus die Ursache von manchen Gespensterer-
schein[ung]en angeben. Denn manche Personen wollen gewisse
Erscheinungen gar zu klar empfunden haben, als daB sie solche
fur Schrekbilder der Phantasie erklaren liessen. Wie? wenn man
ihnen einraumte, daB es wirklich Empfindung gewesen sei -
und nur in der Ursach' von ihnen abgienge, daB man sie namlich 20
in die Sele versezte, da iene sie ausser derselben suchen?
XXIII.
Uber's Genie solte nur ein Genie schreiben
Jeder rasonnirt ein wenig uber's Genie: ieder schwache Kopf
wil von grossen Kopfen reden. Uber Genie solte niemand als
ein Genie selbst schreiben. Es kent ein Genie am besten, wenn's
nur sich kent; es hat die Krafte dazu, eben weil es ein Genie
ist. Und sogar dieses selbst wird schlecht dariiber schreiben.
Denn 's ist sich selbst ein Razel, welches es nicht entziffern kan,
es wandelt in Nacht, und geht dunkle Gange. Es kent an sich 30
nichts als seine Unergriindlichkeit, und es allein kent sie am
besten.
UBUNGEN IM DENKEN ■ DE2. 1780 79
xxinr.
Vom Gliiklichsein
Niemandfiilt das Unangeneme so inniglich, als der, den's selten
betrift. Je gluklicher man ist, desto mer ist man unangenemen
Empfindungen ausgesezt. Die bestandige Freude, worin man
schwebt, schliest ieden Miston aus - iedes Ubel macht mit dem
bestandigen Guten einen doppelten Kontrast. - Man kan leichter
einen Zustand ertragen, der immer derselbe bleibt, solt' er auch
nicht ser wiinschenswert sein, als in einem gliiklichen leben,
10 den immer unangeneme ZufalF unterbrechen. An ienen Zustand
hat man sich schon gewont; diese fiilt man desto empfindlicher,
ie mer man gluklich ist.
XXV.
Das Gut' und 's Bose, das uns betrift, modifizirt sich nach unsrer iedcs-
maligen Empfanglichkeit
Jedes Gute oder Bose, das uns betrift, modifizirt sich nach unsrer
iedesmaligen Empfanglichkeit. Eben diese Freude schmelzt den
einen in Wehmut, und treibt ihm Freudentranen aus dem Aug'
- und begeistert den andern zur Iarmenden Froligkeit. Der vo-
20 rige Zustand vermischt sich mit dem iezzigen auf eine bewun-
dernswiirdige Art und schattirt ihn gleichsam. Dasselbe Ungluk
stiirzt den einen in Verzweiflung - entflarnt den andern zur Wut
- und last einen dritten in Starheit und Unbeweglichkeit hinsin-
ken - oder einen andern heisse Tranen weinen. Wir fiilen eine
Sache, wir geben den Ton, nach dem wir gestimt sind. Eine
Metapher, die viel sagt! -
XXVI.
Oft ist's gut, niizliche Irtumer stehen zu lassen
Manche teologische Sazze, die der aufgeklartere fiir falsch halt,
30 haben ihren Nuzzen, ihren mannigfaltigen Nuzzen bei geringen
80 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
und minder erleuchteten Leuten. Sie sind Sporn zu gewissen
Handlungen, die nicht geschehen wurden, wenn man iene ver-
miste. Sie haben fur sie Nuzzen, weil sie davon iiberzeugt sind;
und sie sind davon iiberzeugt, weil sie nicht Krafte genug haben,
sie zu untersuchen. Fur den Weisern fait der Nuzzen weg -
denn er glaubt sie nicht, und kan's nicht, weil er zu aufgeklart
ist. - In der Welt ist Warheit und Irtum eben so weise verteilt,
als Sturm und Sonnenschein. Du verwirfst gewisse Sazze, die
unwar sind: aber sieh* zu, ob du an ihre Stelle ware sezzen kanst,
die eben den Nuzzen bringen, wie die falschen. Vielleicht bringt 10
ein Irtum niizlichere Folgen hervor als eine Warheit an seiner
Stelle. Es versteht sich bei solchen, die ihn glauben. Der Weise
zieht Nuzzen aus Warheiten. - In Gottes bester Welt ist kein
Irtum one niizliche Folgen - und wo ein Irtum ist, ist er's nicht
umsonst, ist an dem Orte besser, als eine Warheit.
XXVII.
Dem Unwissenden sol man nicht allemal seinen Irtum benemen
Las dem Unwissenden einen Irtum, von dem er sich zu iiberzeu-
gen vermag; und dring' ihm keine Warheit auf , deren Beweis
er nicht einsieht. Schenk' ihm einen leichten Irtum, und quaT 20
ihn nicht mit schweren Warheiten. Si eh' alzeit, wo's deinem
Bruder frommet! Er mist die Giite seiner geglaubten Sazze nicht
nach den Beweisen derselben ab, sondern nach ihren guten oder
bosen Folgen. Der Weise Hebt Warheit als Warheit, weil sie
seinen Verstand ergozt, der Unweise, weil sie ihm gefalt und
ihm niizt. Nimst du ihm's lezte weg, so hat er gar nichts. Denn
das erstere last sich nicht an seine Stelle sezzen, weil er kein
Weiser ist.
XXVIII.
Von den verschiednen Gedachtnissen \ 30
Es ist falsch, wenn man glaubt, ein Philosoph brauche kein star-
kes Gedachtnis zu haben. Wer selbst schon gedacht und bemerkt
UBUNGEN IM DENKEN • DEZ. 1780 8 1
hat, wie schwer es ist, die feinen Gedanken sich nicht entwischen
zu lassen; wird sich wundern, wie dem Philosophen Gedanken
nicht entgehen, die man schon Muh' hat zu fassen, die so fein
sind, daB sie ein scharfsichtiges Auge kaum bemerkt. Der Philo-
soph hat eben so gutes Gedachtnis, wie der Geschichtschreiber.
Beide machen nur nicht gleiche Anwendung davon. Das Ge-
dachtnis der Philosophen nimt nur solche Ding* auf, die Auf-
merksamkeit und Nachdenken erwekken, kurz die den Verstand
interessiren. Dinge, die wenig zu denken geben, z. B. Zeitrech-
10 nungen, manche unbedeutende Geschichte des Vaterlands
u.s.w. dies alles merkt es nicht: es hat wichtigere Sache[n] zu
behalten. Eigentlich merkt man nur das, was man merken wih
denn dies hat allemal den grosten Eindruk auf uns, und wird
deswegen auch viel leichter behalten . Es giebt aber verschiednen
Geschmak; und eben deswegen verschiednes Gedachtnis. Jeder
benimt dem's Gedachtnis, der nicht das behalt, was er behalt.
Aber er solte bedenken, daB wenn der andre nicht gerade das
merkt, er doch was merke. Die Gedachtnisse sind iiberhaupt
weniger im Grad, als vielmer der Art [nach] unterschieden. -
20 Der hat also das groste Gedachtnis, der gegen alles am reizbar-
sten ist - und der das geringste, der liberal unempfindlich ist.
Daher komt's starke Gedachtnis der Jiinglinge - und's schwache
der Greise.
xxvnii.
Malen Wort' unsern Selenzustand?
Die Worte drukken nie das ganz aus, was man fiilt. Sie geben
nur einen Umris. Wen hef tiger Affekt drangt, findet nie die
Worte, die seinen Selenzustand hinmaleten. Sie sagen nur, daft
etwas da sei; aber nicht, was, und wie es da sei. Nur der, der
30 gleich mit ihm gestimt ist, fiilt das namliche dabei - aber er
fiilt dan nicht bios das, was dasteht, er fiilt noch, was der andre
nicht ausdriikken konte. Er malt's Gemald aus, das der andre
nur durch schwache Umrisse gezeichnet hat. Ein par Worte
sind oft genug, um seine Sei' in einen Zustand zu versezzen,
82 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
den keine Worte malen konnen. - Aber ie besser der Umris
ist, den du iezt von deiner affektvollen Sele machst, desto leich-
ter wird's dem Leser, das Gemalde zu vollenden. Gothe ist ein
solcher Zeichner. Er trift iede Saite des empfindenden Herzens
- hat nicht gariz Deutschland ihm geweint?
XXX.
Vom Schwermiitigen
Empfindliche Selen haben Muhe freudig zu werden, wenn sie
traurig waren. Wem's von innen nagt, ofnet mit vieler Muhe
sein Herz einer Freude. Er last nur denen Freuden den Eingang,
die an seine Melancholie granzen - stille, sanfte Freuden, die
ihn wehmutig machen, liebt er mer, als das Larmende bald be-
reuter Vergniigen. Er senkt sich in stilles Trauren, nichts sol
ihn storen. Er wil das Recht haben, traurig zu sein, welches
ihm vielleicht eine Freude rauben konte. - Freude macht uns
zu algemeinen Menschenfreunden; und Traurigkeit last uns alien
gram sein, oder wenige ausschliessend lieben.
XXXI.
Warum sich kleine Geister so gern loben
Grosse Manner loben sich selten: aber sie brauchen's auch nicht.
Taglich sumset ihnen 's Gerucht von ihrer Vortreflichkeit in
die Oren. Kleine Geister werden nicht mude, von sich Gutes
und Schones zu sagen. Die Ursach' ist, weil niemand ie derglei-
chen von ihnen gesagt hat. Sie wollen nun Lob. Eignes mus
die Stelle des fremden ersezzen.
XXXII.
Gedachtnis und Einbildungskraft scheint einerlei zu sein
Es ist schwer, Gedachtnis und Einbildungskraft zu unterschei-
den. Die Granzlinien, wo's eine anfangt, oder's andre aufhort,
sind zu fein gezeichnet. So viel ist gewis. Gedachtnis ist nie 30
UBUNGEN IM DENKEN ■ DE2. 1780 83
on' Einbildungskraft. Ich kan mich keiner Sach' erinnern, one
zugleich 's Bild derselben wenigstens dunkel in meiner Sele zu
haben. Und ist dies nicht Wirkung der Einbildungskraft? - Auch
ist Einbildungskraft nie one Gedachtnis. Denn von alien mogli-
chen Bildern, die iene zusammensezt, ist der Stof aus der Natur
genommen, den das Gedachtnis an die Hand giebt. Es ist mog-
lich, daB das Ganze dieses nie in der Natur existirt hat; aber
seine Teile sind doch da gewesen. Einbildungskraft tut weiter
nichts als zusammensezzen: nicht aber schaft sie. Sie ist ein Top-
10 fer, der wol dem Ton allerlei Gestalten giebt, aber ihn nicht
hervorbringt. Einbildungskraft wiirde also nicht sein, wenn Ge-
dachtnis nicht ware. - Uberhaupt scheint's mir, daB alles Ge-
dachtnis bios Einbildungskraft ist - und daB diese bios es sei,
die ienes giebt. - Die Erinnerung ist nichts, als die Bemerkung
der Anlichkeit oder Unanlichkeit der gegenwartigen Sache mit
dem Bilde in der Sele. Und was ist die sogenante memoria localis
anders, als die Vergegenwartigung dagewesener Bilder. Wenn
das vermeinte Gedachtnis wirken sol, so miissen zwei Bilder
von einer Sache in der Sele vorhanden sein, die man mit einander
20 vergleicht, und aus deren Anlichkeit mit einander man schliest,
daB eins schon da war. Also ist bei iedem Aktus des Gedachtnis-
ses ein Urteil. Die Einbildungskraft hat nur allezeit Ein Bild
vor sich. Ihre Absicht ist nicht, zu bemerken, daB es schon da
war: sie nimt gar keine Riiksicht auf die Zeit. - Dieser hat viel
Einbildungskraft, aber wenig Gedachtnis. Das ist kein Einwurf
gegen mich. Ich kan eben dasselbe Vermogen der Sele bei dem
einen Obiekt iiben, und bei'm andern ungebraucht lassen. So
ist's bei'm Poeten. Eine Kraft aussert sich nicht bei alien Gegen-
standen auf dieselbe Art: sie wirkt hier stark, da schwach. Es
30 sind aber nicht zwei Krafte.
XXXIII.
Wider die Freiheit
Wider den Freiheitslaugner wendet man dies ein: »wie? ich soke
notwendig handeln? - Kan ich nicht tun, was ich wil?« Das
84 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
gesteht man dir gerne zu; aber es folgt nichts wider uns daraus.
Was du wilst, kanst du ausfuren. Hierinnen zwingt man dich
nicht. Aber wo liegt denn der Grund, dafi du dieses wilst? Ent-
weder er liegt in dir, oder in den aussern Dingen. In dir kan er
nicht liegen; du giebst keinen Grund dazu an. Du wilst dies,
weil du's wilst. Dies ist ein identischer Saz. Nun ist allemal
noch die Frage, warum du dieses wollen wilst? Hier verschiebt
man immer die Frage weiter; man komt aber nie zu Ende. Es
ist also der Grund ausser dir zu suchen. Deine Sel' ist so gemacht,
daB sie etwas wil; wenn gewisse aussere Ding' auf sie wirken. 10
Es komt nun nicht auf sie an, diese Dinge wegzuschaffen. Sie
mus, wenn sie da sind. Freilich kan sie's nicht fiilen, dafi sie
gezwungen wird: weil sie alsdan eben die Sache wollen und
nicht wollen muste. - Was wir nun sind, sind wir durch die
Dinge geworden, die uns umgeben. Ich kan mich durch ernstli-
ches Nachdenken bessern; aber von wem hangen diese Gedan-
ken ab? nicht von aussern Dingen, die sie erregen? oder sind
sie [eine] Kette von Vorstellungen, wo iede Grund und Folg'
ist? Und hieng wol die erste von uns ab? — .
XXXIIII. 20
Wiewenig wir Geisternatur und uns selbst kennen
Wir begreifen gar nichts von Geistern. Die Kraft' eines Geistes
- ihre Entwikkelung - in was fur einem heiligen Dunkel ist
dies noch verhiilt? Wir spielen immer mit leren Worten und
glauben die Sach' erhascht zu haben, wenn's nur ihr Schatten
ist. Was sind die Schranken eines Geistes? wie kommen einem
Geist als Geist Schranken zu? — Ich bin mir ein unerforschlich
Ding. Ich bin mir unbekanter, als alles was mich umgiebt. Ich
schaudere, wie ich so ungewonte Dinge fiile, wenn ich mich
einmal selbst erblikke. Sind wir denn immer bestimt, ausser 30
uns selbst herum zu irren, urn zu suchen, was wir in uns schon
haben?- Eben die aussern Dinge, die den Endzwek haben, uns
uns selbst fiilen zu lassen, bewirken gerade das Entgegengesezte,
werfen uns ausser uns selbst hinaus. Wir werden dadurch mer
UBUNGEN IM DENKEN • DEZ. I780 85
Neigung als Gedanke - man vergebe mir Dunkelheit, wo Licht
nicht moglich ist - und eben dadurch ungeschikt gemacht, uns
selbst zu betrachten. Es sind mir merkwiirdige Augenblikke,
wenn ich mich selbst sehe.
XXXV.
Von verborgnen Leiden und Freuden
Es giebt mer Freuden in der Welt, als man gewonlich glaubt;
aber 's giebt auch mer Leiden, als sich einige einbilden. Wer
uns bereden wil, das Leben sei eine Reih' angenemer Empfin-
10 dungen, bringt iene Freuden vor, die uns einnemen, weil sie
oft der Scharfsichtigkeit unsers Auges entgangen sind. Wer hy-
pochondrisch genug ist, zu glauben, unser Los sei verzerender
Gram und unsre Bestimmung immerwarende Leiden, der sucht
alle verborgene Qualen zusammen und bringt unbekante Freu-
den nicht mit in Rechnung. Beid' einzeln betrachtet irren: beide
zusammengenommen geben's Bild des gewonlichen Men-
schenlebens. Man kan zur Behauptung seiner Sachc Schilderun-
gen von dem Leben einiger Menschen vorbringen, die entweder
meistens gluklich oder ungliiklich waren. Aber man darf sich
20 nur erinnern, daB es hier sowie bei allem in der Welt, Ausnamen
giebt. Der gewonliche Mensch hat nicht soviele Freuden, als
einige traumen; aber auch nicht soviele Leiden.
XXXVI.
Schonheit ein Mittel zur Menschenliebe
Unser Schopfer hat alle Mittel angewandt, urn in uns die Liebe
gegen andre zu erwekken, zu naren - die Liebe, die uns das
Leben so siisse macht, die uns iedes Leiden mit verdoppelter
Kraft ertragen last. Eine Flamme lodert unaufhorlich in unsern
Busen, die uns zur Freud' entziindet, wenn wir andre frolich
30 sehen, und die unser Herz in Unmut kochen last, wenn andre
Tranen vergiessen - wir nennen sie Menschenliebe. Ein Mittel
hierzuseh' ich in iener Anziehung der Gesichter, die man Schon-
86 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
heit heist. Dieser Reiz im AnbJik, der unsre Sele so anlokt, dieses
Schmelzende, das unsre Herzen in Wehmut zerfliessen und unsre
Augen zartliche Tranen herausweinen last - dieses Gotliche in
menschlichen Gesichtern kniipft das Band, das onehin ein im-
mer reger Trieb bindet, noch fester, noch inniger zusammen.
- O! ich mocht' eher vor dem Bilder alles Schonen und Volkom-
nen nieder fallen, hinauf zu ihm weinen, wenn ich eine riirende
Schonheit erblikke, als wolliistige Gedanken haben.
XXXVII.
Warum Schriften, wo der Verfasser uns denken last, gefallen 10
Schriften, wo der Verfasser gedachthat, gefallen uns. Aber die-
ienigen gefallen noch mer, wo er uns denken last. Wir eignen
uns dan die Belonung fur das zu, was der andre erfindet; und
schmeicheln uns das zu konnen, was andre fur uns tun. Darum
liest man sogern wizzige Sachen. Darum giebt's so wenige, die
abstrakte Schriften mit Vergniigen lesen - ausser dieienigen,
die sogar in schweren Material, wo der Verfasser selbst alles
gedacht hat, doch in Stande sind, mer hinzuzudenken.
XXVIII.
Zur Physiognomik 20
Ich mochte das Bild eines Menschen in seiner Jugend, in seinem
Jiinglings, Mans und Greisen Alter sehen. Wie verschieden mti-
sten diese Bilder sein! Man wiirde die Geschichte seines Lebens
darin eingegraben lesen; den abwechselnden Sieg zwischen Tu-
gend und Laster beobachten, die Furchen, die Gewonheit immer
tiefer pfliigt, entdekken und dieinnersten Falten der Sel' unver-
hiilt, bemerken konnen. - Wenn wir aus der aussern Form der
Sel' ihre innere Beschaffenheit warsagen, so haben wir bios den
gegenwartigen Zustand derselben, on' ihren vor[her]gehenden
und zukiinftigen vor Augen. Aber wer ist der grosse Physio- 30
gnomist, dem Ziige, deren Verbindung mit dem Vorhergehen-
den er nicht warnimt, isolirte Ziige sogleich die innersten Falten
UBUNGEN IM DENKEN ■ DEZ. 1780 87
der Sel' entschleiern solten? - Kan ich den iezzigen Grad des
Lasters bestimmen - gesezt, ich wiist' iiberhaupt, daB ein Laster
daware - wenn ich keinen Masstab habe, einen Grad zu bestim-
men? Und ieder Mensch mus mit seinem individuellen Masstab
gemessen werden. Wiist' ich den Ausdruk von dem unmerk-
lichsten Grad des Lasters bei diesem Menschen, so wiird' ich
aus dem iezzigen Grade des Lasters Grosse bei diesem bestim-
men konnen.
XXXVIIII.
io Von Vokalen
Vokale sind nichts anders, als gewisse Stufen, die man bestimt
hat, urn einen almalig sich abandernden Laut zu unterscheiden.
Es giebt mer Vokale, als man in den gewonlichen Sprachen
antrift. Unser Or ist nur zu ungeiibt, die feinern zu unterschei-
den. Unser A verandert sich almalig zum ae und endlich zum
e mit erweiterter Ofnung des Mundes; und klingt wie O und
U, mit verminderter Ofnung desselben. Mit eben dem Rechte,
mit welchem man einen Laut mit A bezeichnet, konte man ihn
auch O nennen. Denn's last sich keine Granz' angeben, wo a
20 aufhorte a zu sein, und anfienge O zu werden. Das tiefste A
ist das helste O. In den Wortern einer Sprache sind die Vokale
nicht mit der Genauigkeit angegeben, als es sein soke. Deswegen
kan man auch die rechte Aussprach' einer Sprache nur mimdlich
lernen.
XL.
Die Welt ist kein Jammertal
Mancher denkt, recht gottesfurchtig zu sein, wenn er die Welt
ein Jammertal nent. Aber ich glaube, er wiird' es eher sein, wenn
er sie ein Freudental hiesse. Got wird mit dem eher zufrieden
30 sein, dem alles in der Welt recht ist, als mit dem, dem gar nichts
recht ist. Bei so vielen tausend Freuden in der Welt - ist's nicht
schwarzer Undank, sie einen Ort des Kummers, und der Qual
zu nennen??? —
MAI. 1781
XI. Untersuchung
Man belont die Tugend zu wenig in der Welt, und bestraft's Laster
zu ser
Ich sehe mer Strafen als Belonungen in der Welt - dies komt
nicht daher, weil's mer Bose als Gute giebt; sondern weil man
mer Sorgetragt, das Laster zu bestrafen, als die Tugend zu belo-
nen. Wer einen Menschen mordet, mus sterben; strenge Strafe!
- Aber wer einen andern mit Lebensgefar dem Tod' entreist,
wird entweder - unbelont gelassen, oder wenigstens nicht so 10
ser belont als es sein Eifer zu verdienen scheint. Und ist dies
nicht unbillig? Dem Morder raubt man's Leben, das groste,
was man ihm nemen kan - den Erhalter desselben - lobt man
ein wenig. Welche Ungleichheitzwischen Strafen und Belonun-
gen! Es wiirden sicher weniger Verbrechen in der Welt sein,
wenn man die guten Taten mer belonte. Tausend unedle Hand-
lungen werden veriibt, weil uns der Reiz eines Vorteils zu ser
anlokt, als daB wir dafiir nicht ein Laster begehen solten. Wie?
wenn man iene Vorteile, die mit der Ausiibung gewisser Laster
verbunden sind, von ihnen trente, und sie als einen Herold der 20
Tugend ausstelte, der ihre Vortreflichkeit dem schwachen, vor-
teilsbegierigen Menschen verkiindigte? —
Sezt einen Man, der gezwungen ist, sein Weib und seine Kin-
der vor Hunger tod niederfallen zu sehen, wenn er ihnen nicht
schleunige Hiilfe verschaft. Was sol er iezt tun? Arbeiten? - Er
hat nicht Krafte genug, allein fur so viele Narung zu erwerben.
Die Zeit ist auch zu kurz. Unter der Bemuhung, ihnen Hiilfs-
mittel zu verschaffen, werden sie sterben. Oder sol er betteln?
UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 1 89
betteln? - ein edles Herz wait lieber den Tod. Und warlich,
war' er auch gut genug, seine Ere der Menschenlieb' aufzuop-
fern, so wiird' es eine vergebliche Sache sein. Einige Pfennige,
in einem ganzen Tage gesamlet, reichen nicht hin, fur eine ver-
hungerte Familie Brod zu kaufen. Kurz, dieser Man ergreift
das geschwindeste Mittel. Er wird, wenn er in Paris ist, auf
die neue Briikke gehen, und sich nach einem reichen Kaufman
umsehen, welchem er durch Vorhaltung der Pistole die Bors'
abnotigen kan. Er wird ein Dieb, und wenn's die Umstand*
io erfordern ein Morder werden. Wie! ihr Menschenfreunde,
Menschenverbesserer, wenn ihr den Vorteil mit der Tugend
verbandet, den sonst nur's Laster gewart. Es ist war, es ist nur
scheinbarer Vorteil: aber dieser reizt so stark - warum gebt ihr
ihn der Tugend nicht? Warum sezt ihr soviele der Gefar aus,
lasterhaft zu werden? »Die Tugend belont sich selbst« aber auch
das Laster bestraft sich selbst. Warum last ihr dieses nicht seiner
eignen Bestrafung iiber; da ihr iene mit ihrer eignen Belonung
begmigen wolt? - »Jene Straf ist fur den unkultivirten Menschen
zu schwach, urn mit der Vorstellung derselben ihn gegen die
20 Zaubergewalt des Vorteils wafnen zu konnen« - Ja! so ist auch
die innerliche Schonheit der Tugend zu unmachtig, als dafi sie
sich durch ihren eignen Reiz bei rohen Menschen Vererer schaf-
fen soke. - Gewis es wiirden merere tugendhaft leben, wenn
man mer Nuzzen hatte, es zu sein. »Aber so wird die Tugend
eigenniizzig gemacht.« Eigenniizzige Tugend? Was wolt ihr
sonst fur eine haben? Eine uneigenniizzige, ganz uneigenniizzige
ist eine englische. Ihr zersprengt die Saite, weil ihr sie zu hoch
spant. Ihr macht, dafi gar keine Tugend in der Welt ist, weil
ihr die menschliche verschmaht. Eine menschliche, und mit
30 Flekken verdunkelte, ist doch wol besser als gar keine. Last
uns Menschen sein, ehe wir Engel werden wollen. -
Ein armer Missetater mit al dem Pomp, al dem Schauer hin-
gerichtet, den die Schar grimmiger Gerichtsdiener, der Zulauf
des drangenden Volks, der feierliche Aufzug der Geistlichen,
die fiirchterlichen Werkzeuge des Henkers,die grausame Todes-
angst, die sich auf dem Gesichte des Armen mit schreklichen
90 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG
Ziigen malt, das Angsten der sterbenden Menschheit, der An-
blik des scheidenden Geschdpfs, des rauchenden Bluts, erregt
- mus vom Laster wegschrekken, und den Elenden, der schon
mit verbundnen Augen hin an den Rand seines Ungliiks getau-
melt ist, algewaltig zuriikreissen Aber sezt einen Woltater
der Menschen, dessen Busen fur Briiderwol gliihet, einen Men-
schenfreund, der hundert, der tausend Elende dem Ubermas
ihres Kummers entrissen, und der leidenden Menschheit die
Tranen vom Auge verwischt hat - den hie der Schweis, der
seinem gluhenden Angesicht entdrang, nie die tausend Gefaren, 10
denen er sich aussezte, abhielten, Menschen gliiklich zu machen
sezt einen solchen; und denkt dan, wenn man diesen zur
Belonung seines Eifers mit al den Erenbezeugungen iiberschiit-
tete, die nur der Uberwinder erringt! Wenn ein Herold seine
guten Taten unter der Menge des staunenden Volks verkiin-
digte, und wenn die Freudentranen derer, denen er Vater war,
laut ihm dankten, laut seine Verdienst' anzeigten - wenn der
Regent, der iiber ihn herschte, ihm vor alien seinen Beifal zu-
winkte und offentlich die Merkmale seines Wolgefallens zu er-
kennen gabe, wenn dieser Man liberal geert wiirde, liberal den 20
Vorzug vor vergotterten Dumkopfen und erhobnen Menschen-
qualern hatte, wenn alles dies ware - sagt selbst, ob's nicht gros-
sen Eindruk auf die Gemuter machen, sie vom Laster zuriikrufen
und tief in der Sele dtn Trieb, Gutes zu tun, erregen wiirde.
Und ware diese Art, den Menschen gut zu machen, uns nicht
anstandiger, unsrer nicht wiirdiger? - Wirklich an Mannern,
die eine solche Belonung verdienen, felt's nie. Aber wie verfart
man mit ihnen? Ein Olavides z. B. in Spanien, der bios Men-
schen gliiklich machte, und sie einer herlichen Aufklarung naher
brachte, wird verdamt, bei unwissenden Monchen den aufge- 30
klarten Verstand mit Unsin der Priester zu foltern, und alle Tag',
in ein enges Gefangnis verschlossen, Rosenkranzz' abzubeten!
O Schiksal, o Menschheit!
Und wenn nicht die Verdienste des Menschen, den ihr belo-
nen solt, so gros sind, als ich sie angegeben habe; so belont
wenigstens die geringern in kleinerm Masse, und last nicht die
UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 I 91
unbemerkte, oft verkante Tugend in sich selbst verschlossen,
bios mit dem eignen Beifal, gut gehandelt zu haben, vergniigt
sein.
Aber ist dies nicht vielleicht Schimare, unniizze Spekulazion?
Nein, es ist's nicht, weil man iezt das auszuiiben anfangt, was
vorher nur schones Traumbild war. Wem ist's Fest der guten
Leut' unbekant? - oder die Rosiere d'Artois, welche die Kom-
merzkammer zu Nantes stiftete, alle Jar' einem tugendhaften
Madgen 500 Livres zu geben? a oder der Entschlus des Konigs
von Preussen, Statiien der beriimtesten Manner aufrichten zu
lassen - die eines Kleist's, Schwerin's pp? oder die wiirdige
Grabschrift, womit Friedrich zu Baden die Verdienst' eines
Landmans kronte? b Glukliches Jarhundert, das solche Aussich-
ten verspricht.
XII. Untersuchung
Uber Narren und Weise, Dumkopf und Genie's
Narren und Dumkopfe - diese Benennungen bezeichnen nicht
ein und eben dieselbe Sache; obgleich man sie oft mit einander
verwechselt. Ihre Verschiedenheit last sich leicht entdekken.
20 Der Dumkopf ist das bedauernswiirdige Geschopf, dessen
Geist nie mer als eine geringe Anzal Ideen fast, nie durch die
Stralen der Warheit in vollem Mass' erleuchtet wird, der Dum-
a Wekhrlin's Kronologen. II. Teil S. 94.
b Eben daselbst wo's heist: »Auf Befel des Marggrafen zu Baden
wurd' auf dem Damfeld, einem durch den Fleis eines Landmans aus
einem oden Plaz in ein fruchtbares Feld verwandelten Bezirk, eine Eren-
saul' errichtet, mit der Inschrift:
Georg Adam Lang
dem Burger in Langenheim,
30 der Bienenvater genant,
verdankt die Austroknung des Damfelds
Karl Friedrich. «
92 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
kopf ist der Polype zwischen Menschen und Tieren - Der Nar
ist dies alles nicht - die meisten sind Narren, weil sie zuviel
wusten, oder zu wissen glaubten, als ihnen zutraglich war. Sie
verstehen viel; aber eben weil sie's libel anwenden, werden sie
zu Narren. Der Dumkopf wird geboren; der Nar gemacht. Der
Dumkopf kriecht wie die Schnekke so langsam, weit ist er auf
dem Wege zur Warheit zuriik, und unfahig weiter zu kommen.
Er hat wol den rechten Weg; aber ist's auch ein Wunder, daB
der, der kaum einige Schritte vor's Tor hinaus ist, nicht irre
geht? - Der Nar hingegen ist voraus; aber er hat den rechten 10
Weg verlassen und irt one Leidfaden. Der Dumkopf ist nicht
gleichzuerkennen: denn er hat's mitdemWeisen gem ein, wenig
zu sagen und sich nicht leicht zu entdekken. Oft nimt er auch
die Maske des Weisen an, wie der Esel die Lowenhaut - beiden
steht ihr Anzug nicht - aber nur der Scharfsichtige entlarvt sie.
Der Nar hingegen wird gleich sichtbar; er hat ein eignes Kenzei-
chen an sich, das ihn von andern unterscheidet wie die Montur
die Soldaten - namlich, er ist nicht wie andre Leute. Der Nar
sagt alles, was er denkt; und eben das verrat ihn sogleich. Wir
wiirden merere Narren in der Welt antreffen, wenn merere of- 20
fenherzig genug waren, ihre Gedanken herauszusagen. - Der
Dumkopf ist blodsichtig; ersieht nicht weiter als vor seine Fiisse
hin - der Nar hat gute Augen; aber er sieht durch eine falsche
Brille. - Der Dumkopf ist deswegen Dumkopf, weil er nicht
unter den Tieren ist, wo er als ein Genie gelten wiirde - der
Nar deswegen ein Nar, weil er nicht in einer andern Welt als
der wirklichen ist - in der namlich, die in seinem Kopfe existirt,
wo man ihn fur klug halten wiirde. Der Dumkopf kan nicht
geheilt werden, weil er so geboren ist - er ist ein Schwacher,
dessen Krafte nicht vermert werden konnen. Den Narren kan 30
man bessern, eben weil er schlimmer werden konte. Er ist ein
Starker, dessen Kraft' iibel gebraucht worden sind: es ist nichts
notig, als sie auf eine andre Seite zu lenken. Raserei ist der hoch-
ste Grad von Narheit - und diese heilt man in unsern Tagen.
- Im Schlafe sind wir alle Narren - das macht, weil wir die
Sinnen nicht zum Wegweiser haben. Der Dumkopf ist's im
UBUNGEN IM DENKEN ■ MAI 1 78 1 93
Schlafe nicht - da ist er Embryon, er denkt gar nichts. Das
Ubel des Dumkopfs besteht darin, daB er zu wenig Einbil-
dungskraft hat - das des Narren, daB er zuviel hat. Deswegen
ist der Poet der Gefar nahe, ein Nar zu werden. Daher der so
gelobte furor poeticus. - Leidenschaften machen uns zu Narren
- aber nicht zu Dumkopfen. - Der Dumkopf hat sein Ebenbild
unter den Tieren; der Nar nicht. Dies zeigt an, daB iener weniger
mit den Menschen verwand ist, als dieser. - Alle Menschen
haben zu gewissen Zeiten Narheiten an sich; und die grosten
10 am meisten - aber dum ist nur eine kleine Anzal. Dum ist man
bestandig - ein Nar oft nur auf eine kurze Zeit. - Das Herz
des Dumkopfs ist wenig edler Bewegungen fahig; das des Nar-
ren ist zu alien aufgelegt, welche nur die Grille nicht betreffen,
die ihn zum Narren macht. - Die Narren spert man ein, oder
hangt sie an Ketten. Aber die Dumkopfe last man laufen, sie
sind geduldige Tiere wie die E -. Sie stehen oft auf Katederstii-
len, auf Kanzeln-siesizzenauf demTrone. Oft braucht's nichts,
um ein Amt zu bekommen, als ein Dumkopf zu sein. Denn
der, der's zu vergeben hat, ist mitleidig gegen die, die sein Eben-
20 bild sind - schazt an andern das, was er an sich selbst schazt.
- Darin nur sind Dumkopf und Narren einander gleich, daB
keiner glaubt das zu sein, was er ist. -
Es ist iezt leicht zu erraten, daB ein Weiser und ein Genie
nicht einerlei Dinge sind. Der Weise ist dem Narren, dem Dum-
kopf das Genie entgegengesezt. Von allem, was ich gesagt habe,
brauchtmannurdas Gegenteil abzuziehen, um die Verschieden-
heit des Weisen und des Genies zu entdekken. Noch einige Be-
rn erkungen!
Wenn ein Dumkopf und ein Weiser zusammenkomt, so sieht
30 ieder den andern fur einen Narren an. Aber dieser bemitleidet
ienen; und iener verachtet diesen. - Ein Nar ist eben so uner-
forschlich, als ein Genie - und das am meisten, weil iener sich
nicht selbst beobachten kan. Die Ausserungen des Narren sind
in Nacht verhiilt; man erklart zuviel oder zu wenig, oder gar
falsches hinein. Oft ist dieser Nar nur ein verstimtes Genie,
und dan scheinen die Narheiten am grosten zu sein.
94 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG
DaB die meisten Genie's eine kleine Dosis Narheit an sich
haben, ist an sich nicht notwendig, Aber in dieser Welt ist nichts
rein; alles ist mit Mangeln vermischt, so die Tugend, so die
Weisheit. »Verschiedne Volkommenheiten fiiren ihre eigne
Mangel mit sich, und machen, so wie in der Korperwelt, indem
durch die Biegung nach der einen Seite die Konvexitat zunimt,
auf der andern ein desto grosseres Leres.« Auf der einen Seite
bewundern wir iene grosse Genie's, auf der andern bedauern
wir sie. Karakter des Genie's ist's nicht, aber Los der Mensch-
heit, daB der, welcher mit einer Eigenschaft sich unser Er- 10
staunen erwirbt, mit der andern wieder unsre Hochachtung ver-
liert.
Aber auch oft, und das mus man zu ihrer Verteidigung sagen,
sehen wir das mit schiefem Auge Kir Narheit an, was nur unge-
wonlicher Weg des Genies ist. Wir kalte Weisen haben gewisse
Granzen festgesezt, iiber die freilich das Altagsvolk nicht hin-
auskriechen mag, nicht hinauskriechen kan. Aber diese achtet
das hochfliegende, drangende Genie nicht - die emporstrebende
Selenkraft last sich nicht einengen, noch sein kiiner Gedanken-
flug durch Regeln fesseln. Einen Gothe, mit alien seinen Aus- 20
schweifungen liest man doch hundertmal lieber, als seine kraft-
losen Schreier, als das elende Gekreische seiner Antipoden. -
Uberflus der Kraft drangt zum Guten - aber sie ist auch oft
Gelegenheit, boser zu werden. -
In unsern Tagen hielt man's fur Unterscheidungsmerkmal
des Genie's, ausschweifend und ein Nar zu sein. Viele gaben
sich daher Miihe, sich als Genie's zu zeigen, und das in noch
grosserm Grade zu sein, was sie vorher in kleinem waren.
Es ist viel, vom Klugen etwas zu lernen - aber es ist noch
schwerer, vom Narren zu lernen. Niemand findet seines glei- 30
chen mer in der Welt, als der Nar. Alle andre halt er fur Narren
- bei sich selbst macht er eine Ausname. - Der ist ein Kluger
und Scharfsichtiger, der alle zu Verminftigen analysiren kan.
Man ist nicht immer fort ein Nar; man ist aber auch nicht
immer ein Weiser. Narheit und Weisheit haben ihre periodische
Riikker wie's Fieber. - Wer einen Menschen genau studirt,
UBUNGEN IM DENKEN ■ MAI I781 95
taglich mit ihm umgeht, nimt seine Natur endlich an. Ich mus
also aufhoren vom Narren zu reden. -
XIII. Untersuchung
Die Warheit - ein Traum
Ich wil meinen Traum sogleich erzalen. Ob er mer oder minder
war ist, ob er mer oder minder gewis eintreffen wird - kan
der Wachende am besten entscheiden. Mir traumte, ich gieng'
an einem schonen Maiabend spazzieren. Stil gleitete der mur-
melnde Bach zwischen den mondbeglanzten Kieseln hinweg -
10 ruhig lispelte der sanfte Zephyr in den schwankenden Roren
- hel iiberdammerte der liebe Mond die halbe schlafende Erden-
welt - feierlich stil war Gottes Schopfung. Alles schien zu einer
Ruhe des Herzens einzuladen, welche uns das Gewiil der Ge-
schafte so oft versagt - alles eine Heiterkeit in den sorgenfreicn
Geist auszugiessen, nach welcher man in rauschenden Vergnu-
gen umsonst schmachtet. Ein Himmel, wo Welten Gottes an
Welten Gottes funkelten, erinnerte die SeF an ihre grosse Be-
.stimmung, die weiter als dies Erdenleben reicht - zog sie in
Empfindungen, die den Geist iiber sich selbst erheben. — Aber
20 nicht so war mir's diesmal. Ich betrachtet' alles dies - und one
Riirung. Mein Geist schwarmt' one Leidfaden in einem Lande
von Warheiten, Hypotesen, Warscheinlichkeiten herum. Ich
dachte: was ist denn das eigentlich fur ein Ding, das man Warheit
nent - welches in iedem Horsale, in iedem Tempel, in iedem
Munde wiederschalt - urn welches sich tausende in Disputazio-
nen, in Biichern und Unterredungen zanken, um welches sich
tausende hassen und verfolgen, und um welches Millionen mit
Tiegerwut sind niedergewiirgt worden?? Es ist ein Ding
eigner Art - eine Sache, die ieder sucht, ieder zu finden glaubt
30 - und die keiner gefunden hat, weil ieder etwas anders als der
96 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
andre findet. Durstend eilt der Geist herum, die Wahrheit in
ihrer gotlichen Gestalt zu umarmen, sich an ihrem Anblik zu
laben - allein unbefriedigt geht er hinweg, er findet nicht, was
er suchte- oder ein Wanbild, das man Hypotese, oft Demon-
strazion nent, mus seine Wiinsche befriedigen. Wir wandeln
in einem dunkeln Lande. Ein Sterblichefr] entdekt einen Schim-
mer, der seine Tritt' auf dem schlu[p]frigen Pfade dieses Lebens
sichern sol. Allein ein andrer trit naher, und findet, es ist ein
- Irwisch, der im Sumpf leuchtet und vergeht. Hier, rufen tau-
sende, hier ist sie, die Warheit, nach der ihr euch senet, Sterbliche 10
- man komt - man freut sich iiber eine Sache, die ihre Giite
nur der Kurzsichtigkeit unsrer Augen zu danken hat. Nach Jar-
hunderten komt ein Tiefsehender - der entlarvt den angebeteten
Got, und beweist, daB es nur ein Gozzenbild ist. Ich les' einen
Zeno, Epikur, Moses, Spinoza, Paullus, Lamettrie, Leibniz,
Baile, Luter, Voltaire und noch hunderte - und verirre mich
in ein Labyrint on' Ausgang. Lauter Widerspriiche - und Wider-
sprtichezwischen grossen Geistern! Der, der mit Adlersblik den
Gang der Warheit bis in ihre geheimste Holen verfolgte, hat
sich geirt, und ich Kurzsichtiger, der ich kaum im Stande bin, 20
die nachsten Gegenstand' um mich herum zu erkennen, solt'
entscheiden, welcher von beiden Scharfsichtigen recht gesehen
habe? - Mein Herz war beklemt . Zu vol der innern Bewegungen
sucht' es sich durch Klagen auszuschiitten. O Vater der Warheit,
bist du's, der uns in einen solchen Zustand versezte? Sind wir
durch deinen Willen bestimt, ewig von einem unaufhaltbaren
Triebe zu einem Gute angespornt zu werden, welches wir nie
finden? ewig eine Begierd' in uns zu ernaren, deren Sattigung
nirgends vorhanden ist? - Giitiger! komt dieses Ubel aus deiner
Hand? - bist du die Quelle dieser Leiden? - - Ich wolte fortf aren, 30
neue Klagen zu den alten hinzuzusezzen - als die Dammerung
des Mondes um mich her, sich in einen Sonnenglanz verwan-
delte, herlicher als unsrer - einen Sonnenglanz, der nur in einer
hohern Sphare leuchtet. Eine Gestalt schien sich mir zu nahern,
die mich demiitigte, weil ich fulte, daB ich nur Mensch war.
Ich wolt' entfliehen; allein eine Stimme rufte mich zuriik: bleib,
UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 1 97
Sterblicher, und las dich beleren. Ich kam naher - herliches We-
sen, das vor mir war- ein Seraph in Menschengestalt verkleidet.
» Armer Mensch, sagt' er, was ist's, das deine Stirne faltet, wel-
che iezt die Verkunderin deiner Freuden sein soke - woher die
Melancholie, diesichso fiirchterlich auf deinem Angesichte ma-
let?« Ich beklage mich iiber ein tJbel, welches alle mit einander
gemein haben - fur das aber noch keine Befreiung vorhanden
ist. Ich beklage mich, daB ich wie andre Menschen geboren
bin zu irren - ich, der ich Warheit suche, sie aber nie finde,
10 sondern alzeit ihre Maske, den Irtum. »Aber hast du denn nie
'was wares gefunden; ist alles, was du weist, Irtum?« Das nicht.
Ich bin nur mismutig, daB der Warheit so wenig ist, daB immer
ihr reines Gold mit den Schlakken des Irtums vermischt ist.
»Bedenke deine Klage, Sterblicher! Wer giebt dir's Recht, mer
zu fordern, als dir gegeben ist? Du weist Warheit, aber es ver-
driest dich, daB deine Anzal warer Sazze, einen so kleinen Urn-
fang begranzen, mit einem Worte, es verdriest dich, daB du
nur Mensch, und nicht Engel bist. Wie weise sagt' einer deiner
Weisen:
20 O Eingebildeter, du wilst die Ursach finden
Warum dich Got so schwach, so klein, so blind erschaffen?
Errate, wenn du kanst, erst was noch harter ist,
Warum du nur so schwach, so blind, so klein nur bist?
Frag deine Mutter, Erd\ warum die Eichen hoher,
Und starker als das Kraut, das sie beschatteh, wurden?
Frag iiber deinem Haupt die silbernen Gefilde,
Warum des Jupiter's Gefarten kleiner wurden,
Als er
Schau' dich einmal um, und betrachte die Erde, die du bewonst.
30 Betrachte die Tiere, die dich in so grosser Anzal umgeben. In
Dumpfheit des Sinnes wandeln sie dahin, wo ein blinder Instinkt
sie hindrangt - tief in Finsternis verhult sich ihr Geist - er denkt
noch keinen Gedanken, begreift noch keinen Saz, kent keinen
Unterschied zwischen Warheit und Irtum. Und iezt seh' dich
an. Mit einem Blik, der weit in Gotteswelt umherschaut, gehst
98 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
du einher. Kein Instinkt reist dich von der Betracht[ung] ab.
Deine Leidenschaften dauern nur kurze Zeit; und's steht bei dir,
ob du ihr Her oder ihr Sklave sein solst. Du bist mit Sinnen
begabt, die fein genug sind, iede unmerkbare Niianze der Kor-
per zu empfinden, nicht so hinreissend wie bei den Tieren, um
dadurch deine SeF in der ruhigen Betrachtung zu storen - ausge-
breitet genug, um nicht die Blikke deiner Sel' auf einen Gegen-
stand allein zu fesseln, und durch den zu starken Reiz des einen,
die Vergleichung mit dem andern zu hindern - in eine Welt
versezt, wo tausend Gegenstande deine Neugierde reizen, wol- 10
tatige Bediirfnisse dich in Tatigkeit sezzen, Leiden dich wirksa-
mer, und Freuden dich mutiger machen. Was verlangst du mer
vom Schopfer? Du forderst, gar nicht zu irren? - so forderst
du auch, daB er dich nicht hatte schaffen sollen. Entweder ein
fulloser Atom - oder ein Got hattest du werden mussen, um
nicht zu irren. Du beklagst dich, daB du nur Mensch bist; -
so hat's Tier auch Recht sich zu [be]klagcn, daB es nur Tier
ist, und ich, daB ich nur Seraph bin. Du beklagst dich iiber
das, was [du] nicht hast, und vergist dariiber den Dank fur das,
was du hast.« O! ich Kile, wie ser ich meinem Schopfer Dank 20
schuldig bin, daB er mich nur zum Menschen geschaffen hat.
Aber ich weis noch nicht deutlich genug, ob deine Antwort
auf meine Klagen vollig befriedigend ist. Du beweist mir wol,
daB der Mensch Irtumer haben mus - aber nicht, daB er gerade
soviel haben mus. Konten wir nicht noch eine grosse[re] Anzal
Warheiten fassen, one daran von den Schranken unsrer Endlich-
keit gehindert werden? Und beweist deine Antwort nicht zuviel?
Kontest du nicht auf diese Weise dem Menschen alle Wahrheit
bis auf einen kleinen Schimmer nemen, und ihn immer mit der
Berufung auf seine Endlichkeit zufrieden stellen wollen? - Und 30
warum haben denn gerade die grosten Geister am meisten geirt? .
Warum besteht unser Verdienst vor den Alten nur darinnen,
daB wir sie widerlegen, und an die Stell' ihrer windigen System'
neue sezzen, deren Umsturz die Ere der Nachwelt ausmacht?
»Erwarte, sagte das uberirdische Wesen, Belerung. Die grosten
Geister haben am meisten geirt, weil sie die meisten Warheiten
UBUNGEN IM DENKEN • MAI I j8 I 99
einsahen. Je mer der Mensch Krafte fiilt, auf dem Weg der War-
heit fortzugehen, destomer ist [er] der Gefar ausgesezt, sich zu
verirren. Es scheint ihm ein kleines Verdienst zu sein, auf dem
Wege fortzuschlendern, den alle gehen - cr sucht neue Banen,
er erklimt unersteigbare, aber auch desto gefarlichere Hohen.
Der Sterbliche wurde seltner irren, wenn er mit dem zufrieden
ware, was er gewis weis - aber well sein Geist in nichts Granzen
kent, so wi] er mer wissen als er wissen kan - wo er Warheit
nicht deutlich sehen kan, sezt er Hypotesen an ihre Stelle - er
10 traumt. Daher eure Widerspriiche. Jeder traumt, und traumt
anders, als der andre. Daher haben grosse Geister die meisten
Hypotesen erdacht, weil ihr weitsehender Blik durch das kleine
Land der Warheiten, was sie (ibersehen konten, zu ser einge-
schrankt wurde - sie erweiterten dies Land, aber's felt' ihm
nichts, als daB ein Teil davon nicht wirklich war. Daher irren
eure kleinen Geister seltner: weil sie mit der kleinen Anzal War-
heiten, die gewis sind, genug zu tun haben. Sie sinnen auf keine
neue Aussichten - ihr kurzsichtiger Blik erreicht kaum die Gran-
zen des bekanten Lands. Es ist notwendig, es ist niizlich, daB
20 wir gerade soviel Irtumer, gerade soviel Warheiten haben. Wenn
du eine Vorsehung glaubst, wenn du zugiebst, daB alles gut
ist, und daB man nichts bessers an die Stelle des iezzigen sezzen
konne - so wirst du keinen Augenblik zweifeln, daB es gut sei,
wenn gerade soviel Irtumer in der Welt sind. Mit Nacht ist
des Alwissenden Rat umhult - wir entdekken nur einzelne Spu-
ren seines Plans, und diese sind so weise, so erhaben - sollen
wir nicht denken, daB das, was wir nicht kennen, eben so weise,
cben so erhaben sein werde? Glaube mir, Mitgeschopf! ieder
Irtum, der in der Welt hervorgebracht wird, entsteht nicht one
30 den Willen des Schopfers - er hat mannigfaltigen Nuzzen. Er
ist mit in die unabsehlige, verwikkelte Kette der Weltbegeben-
heiten einverwebt - seinen Nuzzen entdekt das blode Auge des
Endlichen nie - nur der, der alles sieht, sieht auch ihn.
Wenn ihr euch iiber Irtumer beklagt, so beklagt ihr euch iiber
eure Endlichkeit. Das Wcsen der Ding' ist unerforschlich -
steigt, Sterbliche, Jartausende die Leiter der Warheiten hinan
IOO JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG
- ihr durchblikt nicht das Innere der Dinge; und wenn ihr's
nicht durchblikt, so must ihr irren, und dies wird ewig euer
Los sein. Es ist auch meines. Euer Zustand nach Jartausenden
wird von dem iezzigen nur dadurch unterschieden sein, daB
ihr mer Warheiten wist, aber nicht, daB ihr weniger Irtumer
glaubt. Reine Warheit sieht bios der Alleinsehende - aber er
hat auch Kraft dazu, weil er unendlich ist. Wer nur eine endliche
Anzal Warheiten begreift, mus irren. Eben weil Warheit an
Warheit gekettet ist, weil das Dasein der einen Warheit uns von
weitem die Wurklichkeit der andern mutmassen last, und weil 10
wir sie nicht all* iibersehen konnen; so rmissen wir Hypotesen
bauen, uns auf Warscheinlichkeiten verlassen, und mit Irtiimern
begniigen. O fiile ganz, Mensch! die Wiirde, ein Geschopf zu
sein, das Warheit erkent - versink' in Entziikken, wenn sich
dein Geist den Weg vorstelt, welchen er in tausend tausend Jaren
wird gegangen sein - welch ein unabsehliges Feld von Warheiten i
wird dein wonnetrunkner Geist iiberschauen - welche weitent-
legne Gefilde im Reiche des Waren werden sich deinen gierigen
Blikken zeigen! Algiitiger! sind wir's wert, diese Wonne zu ge-
niessen -konnen wir's deiner Giite verdanken, die immer und 20
immer woltatige Stralen den verfinsterten Geist erleuchten
last? -
Eure Glukseligkeit, Sterbliche, besteht in der Erweiterung
eurer Krafte. Ein Irtum schrankt sie nicht ein - er befordert
ihren Wachstum. Denn es gehort schon viel Denkkraft dazu,
nur irren zu konnen; das Tier irt nicht, aber dafiir ist's auch
nicht Mensch. Und las dir sagen, Lieber! Ihr miskent all' eures
Schopfers giitige Absicht. Hier, eure Welt, die ihr bewont, hat
der Alvater nicht zum Orte bestimt, wo ihr Warheit finden solt
- sondern hier wil er nur in euch den Trieb erwekken, sie zu 30
suchen. Ihr irt tausendmal - aber eben diese Irtumer, die ihr
bemerkt, erregen in euch den heissen Wunsch, einmal zur War-
heit zu gelangen. Mit gliihender Stirne blikt ihr hin nach ienen
Hohen, wo Warheit tront- und in eurem Busen wiiten Sturme,
die euch von Welle zu Welle treiben. In tausend -Masken der
Warheit vermumt sich der Irtum - euer Busen erweitert sich,
UBUNGEN IM DENKEN ' MAI IjSl 101
urn die Gotliche zu umarmen - aber ihr merkt euch betrogen,
und zieht dem Gozzen die Larv' ab, womit er euer Vertrauen
so schandlich gemisbrauchet hat. In euch schaudert ihr zuriik,
lechzet nach Warheit, blikket zum Vater derselben. Und der,
der sieht euer Senen nicht umsonst. Forscher auf dunkeln Pfa-
den, last euch die Miihe nicht verdriessen, die ihr anwendet,
die Warheit zu entdekken - der Alvater merket sie, er wird
sie euch belonen. Euer diirstender Geist wird von Lebenswonne
durchstromt werden, wenn ihn neue Gegenstand' im Reiche
io der Warheit mit tausend Reizen fesseln. Und du, armer Zweif-
ler! der du in dunkler, menschenloser Hole seufzest - ach nichts
erkenst, an allem zweifelst-in dessen Sel' umsonst die Warheit
aufstrebt gegen die Wellen der Zweifel - dein Got kent deine
Leiden - er wird sie belonen, weil sie schwer zu ertragen sind,
und weil nur Edle sie leiden. - Ihr verdamt manchen, dessen
Schuld es nicht war, wenn er Warheit mit dem Irtum verwech-
. selte- ach! seht nicht mit honischem Lacheln, stolzem Mitleid,
verdammender Mien' auf einen Spinoza herab, der seinen Got
mit der Welt vermischte. Vielleicht hat er droben bei ihm erkant,
20 daB er ist, aber auch gefult, daB nur Liebe sein Wesen ausmacht. «
Ich geriet in Entziikken, Wollust durchstromte mein ganzes
Wesen. Ha! Vater, rief ich, wenn ist die Zeit, wo auch ich die
Quelle deiner Liebe reiner trinken werde; wenn ist die Zeit,
wo auch in meinen schmachtenden Busen unvermischtere
Stralen deiner gotlichen Warheit werden gesenkt werden? ach
wenn?? — Ich erwache. Die zu lebhaften Ideen erregten in mei-
nem Korper harmonische Bewegungen der Wollust. Ich be-
dauert' es, daB es nur Traumbild war; aber ich trostete mich
wieder, wenn ich bedachte, nicht ieder Traum ist vergeb-
30 lich. Vielleicht wird auch dieser erfult - vielleicht in dem Land'
erfiilt, wo man nicht mer traumt, und sicher nicht mer
um Traume zankt. —
102 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG
Bemerkungen
XXXXI.
Unsre Freuden werden nicht erhoht, aber wol verandert
Unsre Gliikseligkeit ist der Intension nach immer dieselbe; nie
wird [der] Grad derselben erhoht; aber wol die Art derselben
verandert. Man wechselt mit den Dingen, die uns Vergniigen
verschaffen. Grossere Vergniigungen erlangen wir nie: aber nur
andre. Dem Kinde gefallen seine Puppen, dem Jiingling seine
Geliebte, dem Manne seine Erenstellen. Und das Kind freut
sich eben so innig uber seine Puppen, als der Man Vergniigen 10
empfindet, wenn er eine hohere Stufe der Er' erklimt. - Unser
ganzes Bestreben besteht daher nicht in Erhohung unsrer Freu-
den, sondern in Abwechslung derselben. - Man verlangt aber
deswegen andre Freuden, weil langer Genus eben derselben Sa-
che, Ekel an die Stelle des Reizes sezt, und weil die Beschaffen-
heit des Geists nicht immer dieselbe bleibt, urn an einem Dinge
zu alien Zeiten gleichen Geschmak zu linden. -
Vielleicht war's Vergniigen, das Neuton empfand, wenn ihm
sein Kartenhaus wolgeriet, demienigen gleich, das er fulte, da
er unter dem Apfelbaum ein neues Attrakzionssystem erfand. 20
Aber wer biirgt dafiir, dafi nicht einmal eben dieser grosse Geist,
wenn er Jartausende Gottes Werke durchforscht hat, seine Er-
findung fur Puppenspiel, und sein System fur Kartenhaus des
kurzsichtigen Kindes halten wird? - Wir wollen unserm Schop-
fer danken, daft er uns Vergniigen geniessen last, one daruber
mismutig zu werden, daB sich unser Geschmak an den Dingen,
die uns vergniigen, so oft umwandelt. - Es ist Los der Mensch-
heit, Los des Geschopfes, welches nicht immer an derselben
Sache Vergniigen fiilen kan, weil sich seine Empfanglichkeit
Mazu, vermoge der fortgehenden Vervolkomnung der Sel' um- 30
andert. Nur Got ist's, der zu alien Zeiten eben dasselbe Vergnii-
gen an einerlei Dingen geniest.
UBUNGEN IM DENKEN • MAI 1 78 1 IO3
XXXXII.
Wie man den Narren verschlechtern und verbessern sol
A. Wie sol ich einen Narren zu einem'noch grossern ma-
chen?
b. Das ist leicht- du darfst nur seine Narheiten loben: er wird
sie dan verdoppeln.
A. Aber wie ihn im Gegenteil wieder kuriren? denn's ist doch
wol leichter, eine Wunde schlagen, als sie heilen?
b. Du must ihm sagen, daB cr vortreflich ist, und daft nur
kleine Flekken seine schone Gestalt verunzieren. Weil er gern
ganz schon sein wil, so wird er sich bemuhen, die entdekten
Feler abzulegen. Du wirst ihm derselben immer merere enthul-
len; und er wird besser werden. Denn einen zu bessern, mus
man ihm nicht sagen, daB er schlecht sei, sondern man mus
ihm seine gute Meinung von sich lassen. Denn eben diese dient,
ihn zu dem umzubilden, was er schon zu sein glaubt.
XXXXIII.
Lob hat mer gcschadct als Tadel
Lob ist eine starke Speise. Sie ist nicht fur ieden. Der mus schon
20 weit sein, und das Lob, das man ihm beilegt, ser verdienen,
der sich loben horen kan, one schlechter zu werden oder wenig-
stens stille zu stehen. Mancher wird auf der Ban aufgehalten,
die ihn zum entfernten kostlichen Ziele furt, weil ihn der Zuruf ,
daB er gutlaufe, glauben machte, er habedas Ziel schon erreicht.
Manche sind bios dadurch zu Narren geworden, weil man ihre
Weisheit lobte. Und sicher wird man finden, daB grosses Lob
mer geschadet hat als iibertriebner TadeL Dieser schlagt zwar
nieder, aber er unterdriikt doch nicht ganz das Geful unsrer
cignen Grosse. Er ist oft Sporn, der zu grosserer Tatigkeit an-
30 reizt, Schrekbild, das vom Schlaf aufwekt. Aber alzugrosses
Lob last uns glauben, ein Ziel schon erreicht zu haben, nach
dem wir erst ringen, schmeichelt uns gros zu sein, da wir noch
auf dem Wege dazu sind. Lob wirkt auch deswegen mer als
104 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Tadel, weil man sich eher bereden last, daB man gros sei, als
daB man klein sei. —
XXXXIIII.
Die alten Warheiten mus man nicht in altem Tone vortragen
Es giebt Warheiten, die nicht oft genug konnen gesagt, konnen
wiederholt werden. Allein eben deswegen weil man sie oft sagen
mus, mus man sie nicht immer auf einerlei Art sagen. Nichts
ermudet uns mer, als Einerleiheit, und eine Warheit uns verhas-
sig zu machen, braucht man nur sie uns oft in einerlei Form
zu wiederholen. Das neue Kleid, in dem eine Sach' erscheint,
stelt sie uns in neuen Reizen dar; sie nimt uns ein, bios weil 10
sie anders ist als vorher. Vor dem Menschen, der mit der Mod'
aus dem vergangnen Jarhundert vor uns komt, hat man eine
heimliche Abneigung; und der Warheit, die man im alten,
lan[ge]wonlichen Ton' herleiert, verschliest man die Oren. Wer
zu schwach ist, zu erfinden, der trage das Erfundene in besserer
Gestalt vor; und wer uns nichts neues sagen kan, der sage das
Alte mit andern Worten. Und vielleicht haben sich diese Regel
manche neuere Schriftsteller fast zu ser zu Nuzze gemacht. Sie
haben sich eine gewisse kraftvolle Sprach' erfunden, in der alles,
was man darirmen vortragt, von einer andern Seit' erscheint. 20
Sie scheinen Erfinder, Leibnizze zu sein, und sind nur — Mode-
schneider.
XXXXV.
Der Dumkopf hochmiitig, das Genie demiitig
Es ist doch paradox, daB man nie einen Dumkopf gesehen hat,
der nicht hochmiitig gewesen ware; und nie einen grossen Geist,
der nicht demiitig sich bezeigt hatte. Es ist war, manches Genie
wil Alleinher im Reiche der Gelersamkeit sein, und briistet sich
wie ein Despot, zu dessen Fiissen der Pobel wie Gewurm
kriecht; aber es ist nur dies Ursache, weil man ihm das Recht 30
so zu handeln von selbst abtrit. Man lobt die grossen Kopfe
UBUNGEN IM DENKEN ' MAI ljSl IO5
zu ser, und macht den Abstand zwischen ihnen und den Altags-
menschen zu gros, als daB sie nicht glauben solten, was man
sagt, und nicht sich so verhalten solten, wie man ihnen Anlas
giebt. Ferner mancher Dumkopf scheint demiitig zu sein. Aber
er scheint's nur; und ist's nicht. Er denkt gros von sich; aber
er hiitet sich, es zu sagen, weil er befurchtet, ausgelacht zu wer-
den. -Erglaubt, niemand konne seine Grosse gehorig schazzen,
als er selbst.
XXXXVI.
10 Von der Unverschwiegenheit des schonen Geschlechts
Man beschuldigt gemeiniglich das schone Geschlecht der Ge-
schwazzigkeit, und ihrer Folge davon, der Unverschwiegenheit.
Teh glaube, daB es war ist; aber ich glaube nicht, daB man ihm
das als einen Feler anrechnen kan; ia ich bin vielmer iiberzeugt,
daB eben diese Eigenschaft ihrem Herzen - obwol auf Kosten
des Verstandes - Ere macht. Denn was ist eigentlich Unver-
schwiegenheit? Nichts als die Geschwazzigkeit, zur unrechten
Zeit angewand. Und was tut der Mensch der geschwazzig ist?
Er teilt gerne mit, was er hat. Ihm schmekt nichts, was andre
20 nicht auch kosten. Er wil nichts allein wissen; andre sollen auch
davon unterrichtet sein. Er sagt also, was er verschweigen sol
- one die Absicht zu haben, einem Andern dadurch Schaden
zu verursachen. Er ist in gewissem Betrachte menschenfreund-
lich; obgleich er nicht das rechte Mittel dazu wait. Daher sind
Frauenzimmer so unverschwiegen, weil ihr Herz so offen, so
aufschliessendist. Daher sind's Frauenzimmer mer als Mansper-
sonen, weil sie mer Gute des Herzens besizzen, als Anteil am
Verstand' haben. Daher sol man selten einem guten, ofnen
Menschen ein Geheimnis anvertrauen. Wer gut gegen uns ist,
30 wird Miih' haben, es bei andern nicht zu sein. Daher sind Bose-
wichter am verschwiegensten.
I06 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
XXXXVII.
Das groste Obel
Ein Obel ist dan das groste, wenn's uns hindert, an seine Heilung
zu denken.
XXXXVIII.
Rache - stille Belonung der Tugend
Sich an seinem Feinde rachen, heist die Vergehen andrer an sich
selbst bestrafen, sagt ein beriimter Schriftsteller. Konte man
nicht auch im Gegenteil sagen: belone die stille Tugend, die
guten Taten, die unbemerkt geschehen - und du nimst Anteil
an ihrer Ausubung. Eine edle Tat belonen, heist die Ursache
sein, daB die geschehene eine andre erzeugt. - Segnet den Man,
der verkante Tugend im Stillen kront — im Himmel wird ihm,
und dem, den er belonte, tausend Freude dafur.
Der Man, der liberal als der fromste ausgeschrien wird, ist
eben nicht der tugendhafteste; weil er alle seine guten Taten
mit grossem Prunk verrichtet, denn sonst wiirden sie nicht so
bekant sein. Lieber ist mir der, der nicht so geriimt ist; weil
er weniger Lerm von seiner Tugend macht - der gut ist, one
die Absicht zu haben, es in hohem Grade zu scheinen - der
woltatig ist, und seinen Namen verlaugnet, - die Tranen von
des Elenden Wang' abtroknet, und nicht den Dank dafur an-
nimt. O eine Tugend, der keine gleichet; eine Grosse, die iede
andre iibertrift. So war Montesquieu; der eine ganze Familie
aus elenden Umstanden herausries [!], und ihr dan das Vergnu-
gen versagte, ihrem Woltater dafur danken zu konnen. Eine
Tugend, die die Tugend des Martyrs weit iibertrift. Man Gottes!
du solst mir der erste sein, den ich in ienem Leben umarmen
werde! -
UBUNGEN IM DENKEN ' MAI 1 78 I 107
XXXXVIIII.
Grund unsers Gluks, und seines Grads
Man ist gliiklich, oder ungliiklich, wenn man glaubt, es zu sein.
In dem geistigen Mechanism unsrer Sele Hegt die Ursache dies
zu glauben - der Grad der Gliikseligkeit aber hangt von den
aussern Umstanden ab, in die wir verflochten sind. Mein Gliik
oder Ungluk Hegt in mir; die Begebenheiten aber, die den Lauf
meines Lebens ausmachen, bestimmen den Grad des Gluks oder
Ungliiks.
10 L.
Das Bose ist notig zur Freude
Das Bose ist das Salz, welches das Gute wtirzt, und one welches
es erst unschmakhaft sein wiirde. Wir klagen so oft iiber das
Bose, das in der Welt vorhanden ist, und bedenken nicht, daB
es notwendig ist, urn's Gute zu fulen. Die physischen Ubel in
der Welt vermindern, heist eine grosse Anzal Freuden aus der-
selben hinweg nemen.
LI.
Was heist's Wesen einer Idee analysiren?
20 Was heist, das Wesen einer Idee analysiren? nichts anders, als
mit seinem Auge den kunstlichen Mechanism des Sehens ent-
ziffe[r]n wollen. Mit meinem Auge kan ich nicht sehen, wie
die Lichtstralen auf mich wirken, und durch Erschiitterung der
Sehenerven die Empfindung verursachen - eben so wenig kan
ich durch Nachdenken herausbringen, workmen das Denken
bestehe.
IOS JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
LII.
Gottes Absicht hier auf Erden mit uns, in Riiksicht der Erkennung der
Warheit
Gottes Absicht hier auf dieser Erd' ist nicht, uns durch's reine
Licht der Warheit zu erleuchten - sondern nur durch einen
Schimmer derselben den wissensbegierigen Geist nacfr einem
Vergnugen anzulokken, das in iener Welt unsre groste Wollust
ausmachen wird. Wir sollen hier nicht weise werden - wir sollen
aber den Trieb bekommen, es einmal zu sein. Reine Wollust
gebiert Ekkel - reine Warheit ist fur uns nicht, weil sie der Tatig- 10
keit unsers rastlosen Geistes Granzen sezt.
Ende des ersten Bandes
ZUSAZZE, ODER VERBESSERUNGEN
Zum Monat November
Seit. i [37]. a
Ich halte diese ganze Abhandlung iezt fur ser unvolkommen,
sowol in Riiksicht der Sachen, als vorziiglich der Sprache. Das
unpolirte, undeutsche sieht man ihr sogleich an. Auf der zehnten
Zeile steht ein falscher Gedanke. Es wird gesagt, wir konten
audi deswegen keinen erschopfenden Begrif von Gottes
Unendlichkeit haben, weil unsre innern Sinnen nur endlich waxen.
10 Erstlich ist's nicht genau, von v ielen innern Sinnen zu sprechen.
Ferner: es solt' heissen: wir erlangen auch deswegen keine rechte
Vorstellung von Got, weil unsre Sele selbst nicht unendliche
Fahigkeiten oder Kraft' hat, und also durch's Anschauen ihrer
Selbst nur einen ser eingeschrankten unvolkomnen Begrif bilden
kan. - Got nur allein begreift, was Unendlichkeit ist - weil
er selbst unendlich ist. - Got allein nur fiilt seine Grosse - alle
Geister denken so schwach von ihm, daB ihre Vorstellung seiner
Grosse auch nicht im geringsten nahe komt, weil sie sich verhalt
wie endliches zum unendlichen. - Alles bei Got ist unendlich
20 - ein unendlicher Gedanke - was ist das? Noch mer eine unendli-
che Vorstellung von den endlichen Wesen? - O Got! wie tief
must du uns durchblikken?
Seit. 5 [39]. b
Die Art, wie der Mensch das Ware mit dem Falschen verbindet,
one ihre Mishelligkeit mit einander zu fulen, begreif ich iezt
leicht. Erstlich denkt er selten eine lange Reihe von Warheiten
mit einander durch, so daB er z.B. merken konte, der erste
meiner Sazze widerspricht dem lezten; sondern gemeiniglich
110 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
glaubt er den einen Saz, one sich's einf alien zu lassen, auch den
entgegengesezten zu behaupten. Konten wir unser ganzes War-
heitssystem auf einmal iibersehen; so wiirden wir all' unsre Wi-
derspriiche mit leichter Miih' entdekken. Ferner, wir merken
diese Widerspriich* auch deswegen nicht, weil wir die Vorstel-
lung, die wir von einer Sache haben, nicht genau genug betrach-
ten und in ihre Teil' auflosen. Vorziiglich viel tragt hiezu die
Sprache bei. Wir denken oft mer Wort' als Ideen - diese Worte
verbinden wir auf eine vage Weise mit andern widersprechenden
Ideen, one den Widerspruch zu bemerken. Unser Irtum besteht 10
also in der Meinung mer zu denken, als wir denken.
iSeit. 8 [41]. c
Dieser Beweis, den ich selbst dort nur wage, scheint mir iezt
falsch. Denn erstlich kan man nicht so viel aus der Vemichtungs-
kraft Gottes schliessen, weil wir keinen Begrif davon haben,
und weil einige ihr gar die Wirklichkeit absprechen. Er taugt
auch zweitens deswegen nichts, weil man nach eben diesem
Beweis dartun konte, dafl nichts konte geschaffen werden.
Namlich wen[n] Got etwas erschaffen wolte, so must' er doch
eine uns unbekante Kraft auf das zu erschaffende Wesen anwen- 20
den. Dies Wesen kan aber nicht leiden; und also kan auch die
Erschaffungskraft nicht auf dasselbe angewand werden- also
kan's gar nicht geschaffen werden. - Wie widersinnig diese Be-
hauptung sei, leuchtet ein. Im Grund' ist iener Beweis nicht[s]
als eine petitio principii. -
Seit. 8 [42]. d
Was heist denn eigentlich, eine Kraft wird vermindert, wenn
sie wirkt? - So viel. Eine iede Wirkung sezt auch ein Leiden
voraus: weil iedes Ding nur in so fern und so viel wirkt, insofern
und soviel das andre Ding entgegenwirkt. Leiden und Wirken 30
sind relative Begriffe. EinKorper vermindert seine Kraft durch
Wirken, heist also seine Beschaffenheit wird durch das Entge-
genwirken der andern Sache verandert, seine Bestandteile, die
mit vereinigter Macht wirkten, bekommen ein anders Verhalt-
UBUNGEN IM DENKEN ■ ZUSATZE 1 1 1
nis zu einander. Die Elastizitat des Degens z.B. nimt ab, wenn
er oft gebogen wird. Deswegen. Die Sache, gegen die der Degen
gebogen wird, verandert den festen Zusammenhang seiner
Teile. Die Kraft des Degens bleibt immer dieselbe: denn seine
einfachen Teile konnen ihre Kraft nicht verlieren. Aber ihr Zu-
sammenklang zu einer und eben derselben Wirkung, wodurch
diese Elastizitat moglich ward, wird aufgehoben - sie wirken,
aber nicht so stark: weil ieder Teil einen andern Wirkungskreis
annimt. Uberhaupt scheint in der ganzen Lere von Wirkung,
io Ursach, Grund, noch viel Verworrenheit zu sein - und die meiste
Verworrenheit macht vielleicht der Physiker. Eine Kraft ein-
schranken, heist, das Obiekt ihrer Wirkungen ver andern, und
ihren Wirkungskreis erweitern. Weil nun dieselbe Kraft ihre
Wirkung auf merere Dinge zugleich ausdenen mus; so scheint
sie schwacher zu sein, wenn man den Grad ihrer Starke nach
ihrer Wirkung auf eins von den vielen Obiekten, abmist - one
Ruksicht auf das ganze Resultat zu nemen, das von dem Zusam-
mcnnemen ihrer Ausserungen gegen all' Obiekte zu derselben
Zeit, entsteht. Eine Kraft entwikkelt sich, heist nicht, ihre Grosse
20 nimt zu; sondern nur sie wirkt iezt auf die rechten Gegenstande
- auf dieienigen namlich, von deren Wirkung gegen sie, sie den
Namen hatte: man nimt die fremden Gegenstande weg, die ihre
Einwirkung auf die rechten verminderten. - Das Produkt der
Ausserung einer Kraft bei einem Obiekte verhalt sich umgekert
wie die Anzal der Obiekte, auf die sie zugleich mit wirkt. -
- Wie verhalt sich die Kraft, die in mir denkt, zur Kraft, die
meinen Arm bewegt? - Sind die Kraft' in den Geistern, und
die in den Korpern nur dem Grad nach, oder der Art nach von
einander verschieden? — Heiliges Dunkel.
30 Seit. 35 [57]. e
fch freute mich, da ich las, daB Lessing eben diese Bemerkung
gemacht hatte.
Seit. 38 [ 5 9].f
Man sezze noch hinzu: Das Genie und der grosse Man hat oft
dem Zufal mer zu danken als man glaubt. Sie wundern sich
JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
oft iiber sich selbst - oder mit andern Worten, sie begreifen
nicht, wie der Zufal so ser ihr Freund geworden ist.
ZUSAZZE ZUM MONAT DEZEMBER
Seit. 41 [62]. g
Nach dem Worte »beweisen« sezze man hinzu: Manches wird
zwar iibertrieben scheinen; allein urn die Unwarscheinlichkeit
gewisser Meinungen ins Licht zu sezzen, mus man sie in dem
Tone vortragen, in welchem sie ihre Anhanger verteidigen.
Seit. 43 [63J.I1
Anstat der Sazze »Vielleicht« bis »herzuschreiben« sezze man: 10
Vielleichtblikst du umher mit selbstzufriednem, grausamen La-
cheln, siehst das Gewimmel der irrenden Menschen, die deine
Unwissenheit fur Strafbare erklart, und dein gefulloses Herz
zu ewigen Leiden verurteilt. Vielleicht bist du noch unaufgeklart
genug, einer Meinung, deren Ungrund man in unsern Tagen
auf's deutlichste gezeigt hat, noch anzuhangen. Aber nicht ge-
nug, daB man dieses nicht tut - man mus auch weiter gehen.
Oberlege pp.
Seit. 45 [64]. i
Anstat des Ausgestrichenen [13 In - 17 denken?] sezze man: 20
Wer - der ein Herz hat, das bei den Leiden andrer sympatetisch
schlagt - wer, der seinen Mitbruder nie one Tranen iammern,
nie one Teilnemung klagen horen kan, wer kan sich die tausende
seiner Mitbruder denken, die unbesorgt im leichten Irtumssin
hinwallen, in deren Busen sich auch einTrieb nach Gliikseligkeit
regt, wer kan sich diese denken, nach dem Leben hin in einen
dunkeln Abgrund geschleudert, wo keine Hofnung dammert,
iedes Gefiil erstikt, iede Freude vernichtet wird - wer kan sich
diese so denken, deren Verbrechen in nichts anderm bestand,
als daB sie von nichtchristlichen Eltern geboren wurden? - 30
UBUNGEN IM DENKEN ■ ZUSATZE H3
Seit. 47 [65]. k
Man sezze hinzu: Oder solten wol die Meinungen des Verstan-
des vom Einflusse des Klima's ausgeschlossen sein? Der Ver-
stand folgt dem Willen, und wer bestimt wol die Kraftausserun-
gen des Willens, seine Neigungen, seine Trieb' und Begierden
mer, als der Korper? Man iiberzeugt sich meistens nur von dem,
von welchem man sich uberzeugen wil - man hangt den Lersaz-
zen an, die unsre Neigungen begiinstigen.
Seit. 48 [65]. 1
10 Anstat des Sazzes »Diese Frage« stehe dies: Dies ist leicht zu
beantworten. Man darf nur einiges, was schon gesagt ist, hier
wiederholen. Alles, was in der Welt vorhanden ist, mus recht
sein, weil eine Vorsehung sie regiert - in unsern Augen zwar
nicht, aber in den Augen des Alweisen. Jede Religion also, die
da ist, ist besser als eine andre an ihre Stelle gesezt. Man mache
mir hier keinen Einwurf, der von der Freiheit des Menschen
hergenommen ist. Erstlich, steht auch der Mensch unter der
Regierung Gottes - nie kan er etwas tun, dessen Folgen den
Absichten Gottes zuwider liefen. Zweitens, 's ist onehin die
20 gewonliche Teorie von der menschlichen Freiheit noch strittig,
und immer die Frage noch' nicht ausgemacht, ob nicht unser
Geist ein automatum spirituale ist, so wie unser Korper eine
leibliche Maschine. Allein one sich an dieser algemeinen Ant-
wort begniigen zu lassen, last sich auch noch einiges angeben,
was minder algemein ist.
Seit. 49 [66]. m
Zu Ende der Anmerkung fiige man noch hinzu: Oberal in Gottes
Schopfung ist unendliche Einheit und unendliche Mannigfaltig-
keit vereint- eben so in der Geister Schopfung. Unendlich ver-
30 schieden modifizirt sich derselbe Trieb, dieselbe Neigung, der-
selbe Gedanke bei verschiednen Subiekten - in unzalige
Niianzen andert sich das bei verschiednen Menschen ab, was
man Tugend und Laster nent. Nur der kurzsichtige Moralist
114 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
bestimt fur all' eine ewige Regel des Rechts, die er bios fiir sich
allein bestimmen soke. -
Seit. 49 [66]. n
Nach »gabe« sezze man: Es versteht sich von selbst, daB man
von der vergangnen Zeit redet- und nicht von der gegenwarti-
gen; denn sonst wiirde man der Erfarung widersprechen. - Die
Zeit hat viel Einflus auf die Giit' einer Sache. Was iezt gut ist,
war's deswegen zu einer andern Zeit nicht; und so umgekert.
Seit. 54 [69]. o
Anstat des Ausgestrichenen [7 Jeder - 13 ersezzen] sezze man: ro
Jeder Mensch glaubt, er sei unter alien der wichtigste, der beste;
aber nur der Nar und der Dumkopf haben den Mut, es zu sagen.
Einieder wil kein andrer sein - und wenn er gleich seine aussern
Umstande mit den Umstanden eines andern vertauschen
mochte, so hutet er sich doch, [mit ihnen] seine innerlichen
zu verwechseln. Er findet zwar an andern Volkommenheiten,
die er selbst nicht besizt- allein er ist in diesem Punkte scharf sin-
nig genug, solche an sich zu entdekken, die dem andern man-
geln, und die ihm die Stelle derienigen, welche er nicht hat,
leicht ersezzen. Die schone Seite, die er an sich bemerkt, weis 20
er liberal hervorzuzeigen - weis sie zu vergrossern, bis sie die
weit wichtigern Vorziige des andern iiberwiegt, und seine eigne
Schwachheiten durchihren Glanz unmerkbar macht. Diese Art
der Eigenlieb* ist bei iedem anzutreffen - aber nicht bei iedem
in derselben Gestalt. Auch dem Heiligen, auch dem Weisen
hangt sie [an] - allein beide bemerken sie nicht, weil sie eine
scheinheilige Maske vor sich hat. - Das woriiber ich einige Be-
merkungen hersezzen wil, hangt mit diesem auf s genaueste zu-
sammen, und verhalt sich wie Folg' und Grund. Es betrift die
Art, wie die Menschen von den Dingen urteilen, die sie umge- 30
ben.
UBUNGEN IM DENKEN ■ ZUSATZE 115
Seit. 55 [70]. p
Nach dem Worte »falschen« mus es heissen: ieder hat, wenn
ich so sagen darf, eine individuelle Sprache - so wie ieder eine
andre Ideensphare.
Seit. 56 [70]. q
Anstat des Ausgestrichenen [5 wenn - 7 haben] sezze man:
wenn sie einsehen, daft sie um Worte gestritten haben, denen
ieder einen andern Sin beilegte: wenn sie gestehen, daft sie Nar-
ren gewesen sind, um sich als Gelerte zu zeigen.
10 Seit. 63 [74]. r
Man sezz' hinzu: Deswegen begreift er nicht, warum er diese
oder iene Handlung zu begehen fahig gewesen war. Urn's zu
begreifen, braucht er nur wieder in die vorigen Umstande zu
kommen.
Seit. 65 [75]. s
Von dieser kleinen Abhandlung mus ich sagen, daB sie zu unbe-
stimt, zu unwar gewesen ist, als daB ich sie durch Zusazz' hatte
verbessern konnen. Zum Beweis aber, daB ich nicht bios diese
Feler nur bemerket habe, habe ich sie zu verbessern gesucht, in-
20 dem ich die ganze Untersuchung von neuem anfieng. Siehe die-
ses Monat Seit. 89 [91].
Seit. 74 [8i].t
Man sezz* hinzu: wer lang eine Sache behalt, hat nicht starkes
Gedachtnis - denn er hatte viele Miihe, sie zu fassen. Nur die
lebhaften Kopfe vergessen bald; aber die Ursach' ist, weil sie
bald begreifen.
Seit. 76 [83]. u
Nach dem Worte »Zeit« mus hinzugefugt werden: Deswegen
sind's nicht zwei Krafte: nur komt bei der Ausserung einer und
30 eben derselben Kraft eine Nebenbestimmung hinzu, welche die
Mitwirkung der Urteilskraft verursacht. Wirkt die Kraft der
Sele, sich etwas dagewesenes vorzustellen, on' Urteilskraft, so
Il6 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
heist man sie Einbildung - aussert sie sich mit derselben, so
nent man sie Gedachtnis.
Seit. 80 [86]. v
Man sezz' hinzu: Warum gefallen aber auch Schriften, wo alles
auf 's deutlichste entfaltet ist? Deswegen - Je deutlicher man eine
Sach' einsieht, desto grossern Eindruk macht sie auf uns - und
ie grosser der Eindruk ist, desto leichter gesellen sich neue Ideen
zu den alten, desto mer wird unsre Sel' in Feur gesezt. Und
um uns zu gefallen, braucht man nur uns in Selbsttatigkeit zu
sezzen. Wer sich bei uns beliebt machen wil, hat nichts notig, 10
sagt La Bruy[e]re, als zu verursachen, daB wir uns selbst gefal-
len.
Seit. 80 [86]. x
Man sezz' hinzu: Wen keine Schonheit riirt, ist entweder one
Gefiil, one Leidenschaft, und dan ist er zu bedauren, er ist ein
Instrument, dem die Saiten abgeschnitten sind - Oder er halt
diese Zierde des menschlichen Antlizzes bios fur eine Lokspeise,
die zu sinlichern Vergnugungen einladet, und dan ist er in Gefar,
ein zu werden. Zwar der, der zu ser reizbar gegen eine
schone Gestalt ist, kan auch versucht werden, eine unedle Tat 20
zu begehen - Aber dies ist ein Feltrit, den die besten Manner
oft nicht vermieden haben, ein Feltrit, dessen Folgen in der Sele
nicht so schadlich sind, als die von einem andern Laster, weil
der Grund im zu starken Reize sinlicher Begierden liegt.
Seit. 82 [87]. y
Man sezz 1 hinzu: Eher mocht' ich einen solchen Ausdruk dem
Sone des Ungliiks vergeben, der in truben Stunden schwarzer
Melancholie sein eingeengtes Herz in Klagen ausstromerj last.
Aber von dem dikbauchigen Abt, der auf seinem weichen Sopha
herliche Tage verlebt, der kein andres Obel kent, als eine rastlose 30
Sele zu haben, die seine Ruhe durch's Gefiil der Langweil' unter-
bricht - von diesem so einen Ausspruch auf heiliger Statte zu
horen - ist unertraglich, heist des Schopfers spotten, und seine
Woltaten mit Undank belonen. —
ABELARD UND HELOISE
Im Jenner 178 1
Der Empfindsame ist zu gut fur diese Erde, wo kalte
Spotter sind - in iener Welt nur, die mitweinende
Engel tragt, findet er seiner Tranen Belonung.
Abelard's Brief' an Wilhelm
Den i. Mai.
Kaum hast du mich verlassen, Lieber! so folgt schon ein Brief.
Ach lang* nab* ich dir nachgesehen, weinend nachgesehen, da
wir an ienem Hiigel uns schieden. Wie mir's so warm urn's
Herz ward! - Die Trane quol, da ich an deiner Seite gieng und
dich vielleicht zum leztenmal umarmte. Die Tautropfen blin-
kerten hel, die Gegend lachelte hold, und die Sonne stralte sanft,
da ich dir die Hand mit weggewandten Augen drukte - wehmu-
tig dich ansah und schied. Ach Lieber! was ist ein Menschenleben 10
one Freund! So kalt, so eng, so eigenniizzig! - Ich fiilt' es wol,
daB ich dich verlor - Verstort gieng ich nach Hause - ich hatt*
allerlei Empfindungeh und Gedanken durcheinander - und
empfand und dachte gerade nichts. Oberal vermist' ich dich.
Ich mochte mich ganz in dein Herz schutten, ganz an deiner
Seite meine Leiden, und meine Freuden dir mitteilen - aber Wil-
helm ist nicht, nicht mer bei mir. Dafiir schreib' ich dir immer;
und immer viel Dies [?] war Prolog zu der Menge von
Briefen, womit ich dich kiinftig uberschiitten wil.
den 6. Mai. 20
Die Phantasie wird oft unser Henker; aber auch oft zaubert sie
uns Freuden, die nie wirklich sind, deren Genus aber alles iiber-
trift. Ich bin ein Beispiel. Ich schweb' iezt in Entziikkung, atm'
Himmelsluft und schliirfe mit vollen Ziigen den Becher der
Wollust aus. Ich sperre mich nicht ein - sondern Gottes milde
Natur ist mein Aufenthalt. Ich steh' friih auf; und meine erste
Sorg' ist, dem Orte, wo ich wone, zu entfliehen. Hier empfang'
ich die Natur mit ofnen Armen, mit heitern Sinnen. Alles belebt
mich. Alles reist mich hin zum Dank gegen den Urheber meines
Lebens. Wenn die Sonne langsam am roten Horizont herauf- 30
ABELARD UND HELOISE 119
steigt und ihre Erde zur Freude befeuert - wenn die Nachtigal
mit traurigen Tonen die Sele in Wonne schmilzt, wenn tausend
Bliimchen duften, tausend Vogel dem Giitigen singen, tausend
und tausend Wiirmchen zur Freude geschaffen, unbemerkt hin-
schleichen - wenn ieder Tautropfen eine blinkende Sonne, und
iede Sonne ein Spiegel der gotlichen Lieb' ist - wenn ich Gottes
Gegenwart, der sich im Graschen und Zeder, in der Milb' und
dem Elephanten naht, so nahe, so lebhaft fiile — dan dan sink*
ich, ich beuge die Knie und fake die Hande, und seh' hoch hinauf
to zu ihm, zu diesem Guten, diesem Vater. Ich kan dan nicht reden;
aber weinen, seufzen kan ich. Eine Trane drangt die andre. -
Nichts erwekt mich hier aus meinen sussen Traumen. Kein
Pedant - der mich mit unniizzen, kalten Wissenschaf ten folterte:
kein Vater - dessen Streng' ich furchten diirfte. Ich liebe die
Wissenschaf ten, aber nur einige sind fur mich, und ich dank's
Got, daB sie's sind. Ich lerne das, was ich lernen wil; denn warum
solt' ich in einer Sache weiter zu kommen suchen, deren Anden-
ken meiner Sele schon verhast ist? -
Ich gehe mit Menschen um, die mich nie beleidigen; - und
20 wenn sie mich beleidigen, vergeb' ich. Ser leicht find' ich einen
Grund, der ihr Verhalten gegen mich entschuldigt. Ist's nicht
eine Freude, in so einer Welt zu leben! liberal bin ich warm,
allem steht mein Herz offen! Die Welt scheint mir ein Elysium;
und ich wundre mich, wie man hat ein Jammertal daraus machen
konnen. Mocht' ich ewig so mein Leben vertraumen! Aber -
aber - ach die Tauschung verliert sich einmal: ich zitre!
den 20 Mai.
O unbestandiges Herz! Heute last du mich lachen, und morgen
weinen. Vergleich' meinen lezten und diesen Brief mit einander
30 - und du wirst den Unbestandigen ganz darinnen entdekken.
Bald seh' ich, vol Wonnegefiils, alles in Freude, alles im Junius;
- bald faltet diistre Schwermut meine Stirne, und innerer Gram
zernagt alle Keime der Freude. Ich bin iezt wehmutig - ein Wort,
das mir soviel ausdriikt. Ich spazziere bis Abends; bis der Mond
120 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
schimmert. Ach und dan fiil' ich ein so ungewontes Senen in
meinem Herzen - einen so innern Drang, Tranen zu w einen.
Ich bin so vol, und doch so ler. Bis an ienes melancholische
Dunkel ienes Waldchen geh' ich abends. Die Baume sauseln
Wehmut in mein Herz hinein - Amseln und Nachtigallen schla-
gen laut - Landleute begeben sich, des Tages Last miide, nach
Haus. Almalig stralet die Sonne roter; almalig entsteigt der graue
Nebel der diirren Erde - almalig verdunkelt sich's um mich.
Alles schweigt- Ich bin wie ein Traumender dan. Endlich blinken
hie und da einzelne Stern' in iener blauen Tief und am grauen 10
Hugel steigt der Mond so ruhig, dem Leidenden so mild, her-
vor. Ich blikke zu ihm - und denke, wie oft wirst du, wenn
dein Herz schlagende Wellen triiben, hinauf mit betranten Aug
schauen. Und dan andet's mir so triib - so dumpf! Mein Busen
schwelt! Ich irre nach Hause. Alles ist mir dan argerlich, was
mir vorkomt, sie sollen alle gleiches mit mir fiilen, die, die nicht
so gestimt sind. Ich schelte den einen Kalten, der nicht warm
ist, wo ich's bin. Aber nicht lange dauert dieser Zustand . . .
Mein Vater sumset mir taglich in die Oren, daB ich so nicht
weit genug komme. Er lies mich so nach und nach wissen, 20
daB er mich in's Gymnasium einer nahen Stadt tun woke. Das
Ding ist mir schon verdriislich, wenn ich daran denke. Ich
furcht' immer, man mochte mich aus meinem siissen Traum
erwekken. Und was fur Kerl's werd' ich dort antreffen! Aber
wenn sie fulten wie du, Lieber! wenn sie gut waren; dan - Gliik
fur mich!
den 28. Mai.
Es ist richtig, guter Wilhelm! In vierzehn Tagen bin ich in der
Stadt. Mir wird's iezt da ganz kurios urn's Herz. Ich denk' im-
mer an's Scheiden, und dies stimt mich ganz zum Traurigen, 30
zum Wehmutigen um. Alles erscheint mir anders - alles, als
wenn ich's zum leztenmal sahe. Ach die Wiesen, die ich so oft
an deiner Hand durchstrich, bliihen nicht mer fur mich wie
sonst: sie scheinen ihren Liebling, der sie nun bald verlast, zu
betrauern - iede weise Lilie, iede blasrote Rose ist mir heilig,
ABELARD UND HELOISE 121
derm sie erinnert mich meiner Hinfalligkeit. Der Mensch liebt
die Veranderung: und doch hat er so viele Miihe, sie vorzune-
men. Durch's Herz geht's mir, wenn man mir vom Zubereiten,
vom Einpakken sagt. Und wenn nur keine Zeremonie mer unter
uns war! Dies kalte Abschiednemen von solchen, die tins so
wenig interessiren, ist Schuld an allem Gefiillosen, Unempfind-
lichen, das so oft uns in unserm Leben aufstost. Eine iede Zere-
monie war's erstemal warmer Herzehsausdruk. Das andremal
war sie Spiel nachamender Affen, die nichts dabei empfanden
io - und wurde zum drittenmal zur Mode; wobei zugleich die Sitt*
aufkam, kalt zu sein bei warmen Worten. Und ich - kan nicht
Lebewol sagen, one zu fiilen, was ich sage, - one mir Tranen
in die Augen kommen zu lassen. Dies komt denn den kalten
Narren so weibisch und schwarmerisch vor! - Wenn die ganze
Sache vorbei ist, werd' ich dir erst wieder schreiben.
den 16 Junius.
Endlichnach vieler Miih' hab' ich Zeit, dir zu schreiben. liberal
ist Gerausch um mich her - liberal Zerstreuung. Sol ich dir
denn nun mem Ziehen der Lang' und der Breite nach, erzalen?
20 - Vielleicht wurde wenig Interessantes darinnen sein: wenn du
nicht der warest, der alles von mir mit fiilendem Herzen auf-
name. Der Tag meines Abzugs kam. Als die Morgensonn* in
mein Bette stralte, und ich die Augen ofnete - waren Tranen
mein Gebet. Beklemt stund ich auf. Allerlei Dinge zerstreuten
mich, bis um 7. Ur fruhe der Wagen vor die Tiire gerasselt
kam, auf dem ich mit meinem Vater in die Stadt faren soke.
Uber mein Aug' war schwarzer Flor - die Tranen versiegten
nicht. Jeder Handedruk; iedes Lebewol durchdrang mir die be-
bende Sele. O! es drangt' im Innern - o ich wiinschte, so zu
30 sterben. Ach Freund, wenn du dieses liesest, du wirst mir nicht
glauben, nicht mit mir sympatisiren konnen - aber erinnere
dich, wenn du einmal deine Eltern, oder dein Weib, deine Kin-
der, oder deine Freunde verlassen must, erinnere dich, dafi ich
gesagt habe: Scheiden ist schwer. —
122 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Ein herlicher Tag war's - die Sonne gos ihr Licht so sanft
in meine rotgeweinte Augen - die Wiesen dufteten so balsamisch
und ein Konzert von Gottes Sangern durchtrillerte so melodisch
die Luft. Ich kam in die Stadt; one noch recht zu mir gekommen
zu sein. Bald gewont' ich da ein: ob gleich ein inniges Senen
mich weiter wegzog. Ich besuch' iezt die Schule. Die Lerer sind
Leute so so! Sie naren sich von Duft und Wind; sie geben ihrem
Verstande nichts bedeutende Narung - und lassen das Herz ver-
welken. Denn man schimpft hier auf die neuen Empfindler. Kei-
ner ist nach meinem Geschmak. Und die Schiiler! da weis ich 10
dirnoch weniger zu sagen. Viel Gutes vermutet' ich von ihnen,
aber meine gute Meinung sinkt. Sie sind Ebenbild ihrer Lerer.
Wenn nun's Original schon schlecht ist; mus nicht die Kopic
unertraglich sein? - Ach Kalte, Kalte! daB du liberal deine Vere-
rer, deine Altar' hast! Wenn ich doch hier einenandern Wilhelm,
Guter! antraffe - einen Freund, in den sich mein stromendes
Herz ergiessen kont. Ich mache Versuche; aber bald schauder*
ich zuriik, und werfe die vermeinten Freunde wie gluhende Ko-
len aus der Hand. - Meine warmen Herzensausgiisse werden
mit Spotteln in ihre Ufer zuriik getrieben: ich schame mich dan, 20
(wie paradox!) gut gehandelt zu haben. Wilst du sie kennen
lernen? Lies dieses Gesprach.
ich. Wie freu' ich mich, daB es nun wieder Sommer ist! Herli-
chers kan ich mir nichts gedenken, als alle Tage, fruh und
abends, spazzieren gehen
SCHULER. Ich auch - wenn ich gearbeitet habe! Man macht
sich eine gute Mozion.
ich. O dieses ist's wenigste. Dieses Vergnugen kan ich eben
so gut in der Stube geniessen. Aber, lieber Freund! die milde
Natur betrachten und sich von ihr riiren lassen 30
SCHULER. Da miissen Sie noch wenig im Sommer spazzieren
gegangen sein. Das erstemal, wenn ich im Frilling' mich im
Felde befinde, da gefalt mir alles. Aber im Sommer da hort's
Vergnugen schon auf - Man hat's ia alle Tage
ich. So so! Ihnen mag's so sein - mir nicht. Ekstatisches Geful
iiberwaltigt mich, und
ABELARD UND HELOISE 123
SCHuler. Sie verschmachten fur Hizze. (spottelnd.)
Mit solchen Kerl's hat man umzugehen. Und dieser ist noch
einer von der bessern Art. Denn er hat doch rasonniren gelernt.
Aber hier ein Dummer, da ein Dummer. Man aft mich; denn
ich bin fremd. Ich bin zu offenherzig, darum halt man mich
fur einen Einfaltigen - darum werd' ich so oft betrogen. Nun
so hab' ich dir denn nach Art der alten, und erenvesten Kronik-
schreiber alles beschrieben - und es war' Zeit, ein Ende zu ma-
chen. Nur dieses sol das Resultat von allem diesen sein: in dieser
Stadt werd' ich wenig besser werden; viele Muhe wird's hinge-
y;en kosten, nur das zu bleiben, was ich bin.
den 29. Jun.
Wenn ich doch Zeit genug hatte! Ich leb' unter den Leuten so
mit hin. Ich befiirchte gar, ihnen anlich und mir unanlich zu
werden. Selten phantasir' ich wie sonst - aber wenn ich's tue,
dan bin ich ganz Abelard. Ich weine seltner als sonst, aber die
Tranen sindinniger. Ich lache mer als sonst, aber iiber geringere
Freuden, iiber nichts bedeutende Dinge. Unter alien hier scheint
einer mir anlich zu sein. Wir empfinden fast schon unsre Gleich-
heit - unsre Herzen Ziehen sich an wie der Magnet das Eisen
- aber wenn nur aussere Verhaltnisse nicht hindern. Entweder
wir werden's bald - oder nie. Lebe wol!
den 12. Julius.
Und wir sind's bald geworden! Ich habe gesucht, und fand,
was ich suchte. Lieber Wilhelm, wenn du nicht noch lebtest,
so wiird' ichPytagoras Selenwanderungannemen, und glauben,
deine Sele war' in seinen Korper gefaren, so ganz anlich ist er
dir. Aber Gluk fur mich! Ich habe zwei Freunde gefunden. Ein
Gesprach iiber ein Buch fachte den Funken an, der schon in
30 uns glimte - wir wurden ein ander dadurch naher gebracht.
Wilst du's lesen? - hier.
ich. Unfelbar haben Sie Selling's Jugendgeschichte gelesen?
124 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG
karl. Mit Freuden erinner* ich mich's.
ich. Und ich auch - Gewis es mus Ihnen ser gefallen haben?
karl. O wer's nur fiilte. Dies Buch ist ganz fur den Jungling
geschrieben. Ein Stral von der so unbesorgt durchlebten Kind-
heit umdammert so sanft die Sele - alle unschuldige Wonnen,
in der Jugend genossen, leben in der Sele wieder auf - man
senet, senet sich, einem Freund' an den Busen zu fallen und
an ihm der Freudenerinnerungstranenf!] auszuweinen -
ich. Guter! wieoftdacht' ich's, wiinscht'ich's-und umsonst.
karl. Und ich - auch umsonst - umsonst (nachdenkend)
ich. (ihn anblikkend) umsonst? - o wir fiilen, Guter - wir
- wir
karl. wollen's sein - ach Freunde sein, es bleiben - Freunde,
Wehmtitig sari* ich meinen Freund an- die Tranen entdrangen
den Augen. Ich entfernte mich. Denn sie ist nicht auszuhalten,
die nahe Gegenwart des Weinenden. Alles wird in der Sele ge-
spant. Alles engt uns ein! Leb wol, lieber Wilhelm! Du bist mir
nun doppelt teuer, lieber. Denn ich kan dich taglich in deinem
Ebenbilde lieben. Jedes Ungliik wil ich aushalten - denn ich
habe zwei Freunde gefunden. -
den 24. Jul.
Du wiinschest meinen Freund naher kennen zu lernen? - Dies
wird dir leicht sein; denn du brauchst nur dich zu kennen -
er ist ganz dein ander Ich. Sein Vater ist Pfarrer in einem Dorfe,
das eine halbe Meile von der Stadt entfernt ist. Er hat Geld
genug, um woltatig zu sein: und nicht zu viel, damit in Laster
zu verfallen. Fast taglich besuch' ich ihn. Hier geniess' ich Got-
terworme. Abends, wenn der Mond sein Zimmer erleuchtet,
phantasirt er mit wehmiitigen Tonen auf dem Klavier - die im-
mer trauriger, dumpfer, selenschmelzender werden, die so sil- 30
bern in die Sel' hinein tonen. -
Wir sind ganz fur einander geschaffen. Aber unsre Freund-
schaft wiirde dauerhafter, inniger sein, wenn unser Stand uns
nicht von einander unterschied. Er ist ganz Freund, wenn wir
ABELARD UND HELOISE 125
allein sind; aber zunikhaltend und kalt, wenn er andre um sich
hat. Eben die Gemiitsart, die uns zu Freunden vereinigt, macht
uns oft zu Feinden. Wir sind beide hizzig, aufbrausend. Eben
deswegen giebt's oft Zankereien zwischen uns beiden. Aber
diese kleinen Uneinigkeiten sind nur da, um die erkaltende
Freundschaft wieder anzufachen - wir lieben uns nie mer, als
wenn wir vorher Feinde gewesen sind. Jeder wil sein Recht
behaupten, sich zu rachen; und doch ist ieder geneigt, zu verzei-
hen, wenn nur einer den Anfang machte. Wenn wir uns ent-
10 zweien, so werden wir leicht wehmutig: hiiten uns aber, es ein-
ander merken zu lassen. Dies ist getreues Gemalde der Natur!
- Aus diesem allem schliess' ich: es ist ser schwer, einen Freund,
den man vorher war liebte, zuhassen. Man hast nur zum Schein.
den 28. Jul.
Mein Freund wil mich iezt unter den Hundstagen mit zu seinen
Eltern nemen. In ein par Tagen werden wir abreisen. Ich ver-
spreche mir gliikliche Tage. O herlich ist Freundschaft! Guter!
stelle dir die Welt in al ihrer Herlichkeit und Pracht vor, die
sie haben wtirde, wenn alle einander liebten, wie ich, du, und
20 Karl. Wir wiirden keinen Himmel verlangen; denn wir hatten
ein Paradies schon auf der Erde. Und wir Menschen beklagen
uns doch oft iiber die Vorsehung, und bedenken nicht, daB wir
selbst unsre grosten Peiniger, Henker sind. - Lebe wol, Freund!
bald werd' ich dir schreiben.
den 1 August.
Gestern kam ich mit meinem Freund in seiner Wohnung an.
Eine der vergniigtesten Reisen, die ich ie getan habe! Abends
um 6. Ur gieng ich mit ihm ab. Unter freundlichen Gesprachen
erreichten wir's Dorf. Gerade gieng die Sonn' unter- o Freund!
dies war ein Schauspiel! wiirdig des grossen Weltschopfers! -
Eine Rote verbreitete sich iiber den halben Himmel, die kein
Pinsel des Malers ie erreicht hat - so schon vermischten sich
126 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
die weisen, duftigen Wolken mit dem goldnen, rotenden Son-
nenstrale. Tausend goldne Fliegen, tausend kleine Tiergen spiel-
ten unbesorgt im lezten Lichtstral - sie freu'ten sich der Warme,
die ihnen so wol behagte. Und wir - wir Menschen nemen
so selten die Woltaten, die aus unsers guten Gottes milder Hand
fliessen, on' Argwon, one Rasonniren on - Wenn wir doch alles
mit warmen Herzen, unbesorgt, genossen, was uns dazu gege-
ben ist! — Durch eine lange Reihe von Baumen musten wir's
Dorf erreichen. Das Schnurren der Kafer, das Quakken der
Frosch' im nahen Teiche, das Sumsen der Miikken, das Lispeln 10
der Baume — alles dieses fiel uns so warm auf's Herz! Endlich
erblikten wir's Dorf, in Linden liegen, durch deren Laub das
matte Licht des Mondes durchzitterte. An der Tiire der friedli-
chen Hiitte stand meines Freundes Vater - ein erwiirdiger Greis.
Ruhig schmaucht' er seinen Tabak. Mit al iener patriarchalischen
Unbefangenheit, Offenherzigkeit, mit iener ungekiinstelten
Biederheit und Deutschheit empfieng uns der Alte und seine
Gattin - weiblicher Abdruk des alten Greises! - Sie freueten
sich ihren Son zu sehen; sie namen liebreich uns auf, one iene
Komplimente, diekalte Heuchler, affende Franzosen erdachten. 20
Ein kleines Madchen von vier bis fiinf Jaren hiipfte lachend um
ihren Bruder; und sah' auf die Hande, ob sie ihr was mitbringen
wiirden. Freund! hier ist Natur! Ich leb' hier glCiklich: sei du's
auch!
am 4. August.
Bald wird die Glokke 12 schlagen: und ich bin noch beschaftigt,
dir zu schreiben. Alles schlaft schon; ich bios wache noch. Und
warum? Ich komm' eben von einem Spazziergange zuriik, den
ich auf dem Kirchhofe machte, welcher die Pfarwonung um-
giebt. - Ich bin iezt so vol von Empfindungen, daft ich befiirch- 30
tete, sie verrauchen zu lassen, wenn ich sie dir nicht gleich mit-
teilte. Ich sah' unter Mondsblinkern al iene einsam zerstreute
Kreuz' auf den Grabern der Redlichen, auf welchen ernstes Mos
wuchs; iene flinkernde Todeskranze, auf denen das schim-
ABELARD UND HELOISE 127
mernde Mondenlicht so sanft abpralte. Ich dachte: »Sieh'! du
lebst noch und tritst mit Fiissen den Staub der Briider, die eben
das waren, was du bist - und bald wirst du ihnen auch gleich
werden. Denn bald wird der Wurm die bliihende Wange zerna-
gen - bald wird Moder und Verwesung deinen Anblik scheus-
lich machen bald, bald wirst du hier liegen, schlummern.«
Ich sezte mich auf einen neuen Grabeshiigel. Ich sah' die durch-
locherten Menschenknochen - die Schadel, in denen ein
menschlicher Geist eh'mals wonte. Es war mir, als wenn der
io Verstorbnen Geister sanft mir die Wange belispelten, in mir
iede Tiefe der Empfindung erschiitterten. Die Baume rauschten
heilig, dumpf im Gottesakker - der silberne Mond gieng am
blauen Himmel unter dem Sternenher weg — Alles dieses zu-
sammen sturmte so in meine Sele, daft ich nieder fiel, laut betete:
O guter Got! mein Schopfer! Hier bin ich unter denen, denen
ich bald gleich sein, bald an ihrer Seite mitmodern werde. Vater!
ich siindige! ach vergieb dem Schwachen! Hier auf diesem Grab'
bet' ich zu dir! Las mich; las mich, wenn dieser Geist der Erd'
entflohen, und dieser Korper mit ihr vermischt wird - dich
20 schauen, ach las mich gliiklich sein! Und, o Jesus! der du auch
des Todes stillen Schlummer schlummertest, wisch* die Tranen
dem Leidenden ab! Ach guter Got! wenn ich doch bei dir schon
ware, um zu trinken des Himmels Wonn' aus dem Becher deiner
Liebe-umzuleben mitGuten, um nicht mer Tranen des Elends
zu weinen, nicht mer gedrangt zu sein!
Erschopft stand ich auf - floh' und schrieb eilig dieses Blat
an dich. Es tobt in mir! Ich werde wenig schlafen konnen. Die
Unordnung, die in diesem Brief herscht, wird dir die ganze
Gestalt meiner Sele deutlich genug enthullen.
30 am 6 August.
Verwirrung! Ein Gedanke durchkreuzt den andern. Ich kenne
mich kaum. Ich wil dir die Ursach' erzalen; aber unordentlich
genug. Gestern abends spazziert' ich nach einem kleinen Wald-
chen. Ich war eben auf dem Rukwege wieder, und in Gedanken
1 28 JUGENDWERKE ■ I. AJBTEILUNG
vertieft, als — du wirst iezt 'was ausserordentliches erwarten,
und dich betriigen - als mir ein mittelmassig gekleideter Man
begegnete - das ist aber das wenigste - der ein weibliches Ge-
schopf am Arme fiirte, das - Aber hier, Freund, felen Worte.
Die erste, die mir ganz Weib scheint - nein, nicht Weib, ganz
EngeL Jedes Frauenzimmer gefiel mir nur bisher; aber diese riirte
mich. Ach ich liebe sie - sie, die ich nicht kenne. Ich kenne
nur ihre Bildung, die mir Unschuld und Tugend verspricht -
ich sah nur ihr Auge, in dem gequalte Unschuld nach Mitleid
herausschmachtete; - aber ihren Namen, ihren Stand, ihre Auf-
furung weis ich nicht. O Herz! was bist du iezt! Ich bin nicht
mer Abelard. Ich bin's mer oder weniger - ich weis es nicht.
Jezt schmacht' ich bios, sene mich bios, weineblos. Tausendmal
des Tages schwebt mir ihr Bild in einer solchen Glorie, solchen
Reinheit, solchen Liebenswiirdigkeit vor, daB ich alles vergesse,
was schon ist. Fast iedes andre Frauenzimmer hass' ich iezt -
weil ich nur eine einzige liebe. Aber ich bin verdruslich dir Dinge
zu beschreiben, wozu ich keine Worte finde.
Ich wandte mich um, sah' nach ihr und erblikte, wie sie sich
umsah. Und nach mir? - Todten hatt* ich den Man wollen,
der sie begleitete, daB er mir ein Vergniigen raubte, welches
alle meine Sinn' erfulte, meine ganze Sele begeisterte. Freund!
hilf mir! Dies Weib raubt mir alle Besonnenheit - fesselt alle
meine Tatigkeit, entnervt meinen Geist! Ich mag kaum's Maul
auftun: ich mag nichts reden, als von ihr, und da mocht' ich
nie aufhoren. - Mein Freund Karl scheint die Veranderung an
mir bemerkt zu haben. Er fragte nach der Ursache, die ich ihm
verbarg. Ein Liebender ist kalt gegen den Freund, dem er sich
nicht entdekken darf - und der warmste gegen den, dem er
all' Heimlichkeiten seines Herzens vertrauen kan - dies hab'
ich iezt an mir gelernt. Der Liebe Macht kan ein Einziger Mensch
nicht ertragen; andre miissen sie mit tragen, andern mus er sie
entdekken. Darum hat ein solcher einen Freund so notig. Leb'
wol! In mir wiiten Stiirme.
ABELARD UND HELOISE 1 29
am 12 August.
Ach! umsonst hoft man, daB die Zeit die Flamme verloschen
sol, die iede Nerve durchgliiht - sie facht sie vielmer an, die
Liebe wachst. Die Einsamkeit vermert sie - und desto mer,
ie weniger man den Gegenstand seiner Liebe nicht vor Augen
hat. Unsre Einbildungskraft verschonert uns die Liebenswiir-
digkeit der geliebten Person in's unendliche; da uns die Sinne
sie nur in ihren naturlichen Reizen darstellen. Die Einbildung
last iede Unvolkommenheit des Bildes weg; die Sinne verbergen
10 sie nicht. Deswegen ist Einsamkeit der Liebe so gefarlich - nein!
nicht gefarlich, so trostlich, so narend
Mein Freund Karl wendet alle Mittel an, mich meinen
Schwarmereien (wie er's nent) zu entreissen, wieder Freud in
meine Sel* auszugiessen; aber er wird seines Endzweks verfelen.
Mit vieler Miih'und Not hat er mich beredet, morgen mit ihm
zu einem Kaufman in dem Stadchen K- zu reisen, und bei ihm
eine Summe fiir seinen Vater auszuzalen. Er hat mir ihn schon
geschildert - der Kaufman ist ein filziger Teufel auf diesex Welt.
O kriechende Insekten! Ich mochte den Kerl priigeln, one daB
20 ich [ihn] noch gesehen habe. Und doch gen' ich zu ihm! Freund,
es ist ein wunderliches Ding darum, daB man mit dem oft gerne
umgeht, den man doch von Herzen hast. Man hat eine Freude
daran, daB man sie hassen kan. Es komt daher verdamt
sei doch dies kalte Rasonniren. Ich liebe, ich fiile bios, und -
verzeih' mir's, lieber Wilhelm. Kalt' und Warme des Herzens
haben bei mir iezt ihre periodische Rtikker, wie's Fieber. —
Adieu!
am 13. August.
Freund ich kan mich nicht mer halten, ich iiberlebe die Wonne
30 nicht, mein Herz fast sie nicht, sie zerreist mir's Gehirn! Ich
habe sie gefunden, die ich liebte, ich kenne sie und gliih' ihr.
O tausend Dank meinem lieben Karl, der sie mir entdekken
half; one dem ich einen Engel weniger auf der Erde wiirde ge-
kant haben. Ich wil dir's erzalen, tausendmal erzalen: denn ich
130 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
werd' es nie sat werden. Nachmittag reist' ich mit meinem
Freund ab. Unter schonen Wetter kamen wir endlich im Stad-
chen K- an. Ich gieng mit in's Haus des Kaufmans, den ich
dir schon vorher als einen kargen Man geschildert habe. Mein
Freund bezalt die Summe von seinem Vater an ihn. Wie lachelnd
er's Geld einstrich! wie sorgfaltig er hinschielte, um zu sehen,
ob richtig gezalt sei! Sein diirres, schwarzes Gesicht verzog sich
zu einem Lacheln, aus dem des Geizigen Sele ganz durchschien.
Er war so gastfrei, uns auf einen Kaffee dazubehalten. Man trug
ihn auf - und wer? Meine, die Geliebte, die ich neulich im Wald 10
sahe, die Gute! Ein weises Unschuldskleid mit blasroten Schlei-
fen war ihr Gewand. Durch mein Inneres durchbebte mich ihr
Anblik - fast alle Sinne vergiengen mir - ich muste vor Freuden
weinen. Sie macht* ihr Kompliment so natiirlich, so unge-
zwungen. Ich stottcrte. Star blikt' ich sie an, und woke mich
weiden an ihrem Engelsblik - o Got, und ich kont' es nicht
ertragen. -
Sie ist geschwazzig. Der Geiz ihres Vaters scheint ihr manche
Qual zu verursachen. Ich wandt' al meine Selenkraft an, mich
mit ihr zu unterhalten - aber da bracht' ichkaum Ein gescheutes '20
Wortheraus. Ich wolte mein Herz, das von Empfindung iiber-
flos, gern ihr zeigen; aber wie kont' ich's! Jedes Wort sagte mir
zu wenig, war mir zu weitschweifig - ich wolte viel sagen,
und sagte gar nichts. Sie unterredete sich meistens mit meinem
Freund'. Nur, wenn sie lachelte, sah' sie mich mit holder En-
gelsanmut an. Ach! sieblikket nicht nach Liebe- sie schmachtet,
senet darnach. - Durch alle Glieder zitterte mir der Schauer,
der mich eiskalt iiberlief, wenn ich ihre Hand, oder ihren Fus
beriirte. Wie uns doch Got so wunderlich geschaffen hat. Ein
menschliches Geschopf wie wir - ist uns Gottin - ist uns Quel 30
der Seligkeiten, in welchen wir taumelnd sinken.
Es wurd' Abends: und ich glaubte, kaum eine Stunde da ge-
wesen zu sein. Mein Freund brach auf; ich wuste nicht, wie
mir geschah. Ich nam Abschied von ihr - so verwirt, so wild,
so tobend! Ein unaufhaltbares Drangen entpreste mir die Worte:
Vergessen Sie mich nicht. Sie antwortete darauf: wenn Sie bald
ABELARD UND HELOISE 13I
wiederkommen. Das wiederhol' ich mir so oft: es durchdrang
al meine Sinne. Ich lief und eilte nach Hause. Mein Freund ent-
dekte meinen Zustand. Es wurde mir unendlich leichter, nur
mich ausschiitten zu konnen. Aber er sympatisirt mir nicht ge-
nug. Es ist schwer, einen Freund zu finden, der an unsrer Lieb'
Anteil, warmen Anteil nimt. Ihren Namen sagt' er mir. Sie
heist Heloise. Drei Menschen in der Welt, die den Himmel ver-
dienen, du, Heloise, und Karl. Freue dich mit mir: so wie du
sonst mit mir geweint hast.
10 am 16 August.
Ich denk' nur sie - meine Heloise. Alle Tage mocht* ich zu
ihr eilen. Mein Freund aber halt mich ab. Er sagt: es verbietet's
der Wolstand. O so hoi der T- al den Wolstand, der mich hin-
dert, gliiklich zu sein. Ist's nicht mit al unsern Gutern bios Kin-
dertand, bios Puppenspiel? Sie sollen uns gliiklich machen; und
wenn sie's einmal konnen, diirfen sie nicht. Dieser hat Geld
- macht's ihn gliiklich? - es hindert ihn, es zu sein. Er ist reich,
deswegen sol er immer reicher werden, deswegen sol er keine
arme Geliebte heuraten. O verdamte Giiter! Last mich arm, last
20 mich bios, und ich bin gliiklich, in meinem Geiste gliiklich.
Oder - die Eltern dieses iungen Menschen haben nichts als einen
beriimten adelichen Stambaum aufzuweisen. Macht ihn dieser
hohe Stand gliiklich? Nein. Sein Herz begert's iezt zu sein, er
findet unter tausenden eine, die seine Sele liebt - aber sie ist
von niedrer Geburt - Nun, darf er die, die seines Herzens
Won[n]e, sein alles ist, auf die sein ganzes Wesen alle Kraft'
hinstrekt - diese darf er nicht lieben. Er sol ungluklich sein.
O Bruder! wenn man sich so einengen lassen mus. Wenn uns
die kalten Kerfs mit gelassenen Blut al unsre Won[n]e, unsre
30 Seligkeiten wegrasonniren, wegrauben, aus den Handen reissen
- wer wil sich halten? Mein ganzes Wesen strebt sich dagegen
auf - ich knirsche. Ich mus - morgen mus ich zu ihr. Ich wil
bei ihrem Vater mir Tuch zu einem hollandischen Tuch kaufen.
Ich werd* allein zu ihr hingehen: und's meinem Freund nicht
132 4 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
merken lassen. Denn ich bin fast eifersiichtig auf ihn. Das ist
Torheit meines Herzens? -
am 17 August.
Unter dem Vorwande, spazzieren zu gehen, entfernt' ich mich
von meinem Freunde. In einer Viertelstunde schon erreicht' ich's
Stadchen. Der Kaufman hatte mich mich nicht vermutet. Fast
macht' er schon eine gramische Miene; wenn ich nicht nach
hollandischen Tuch gefragt hatte. Wir wurden eins: ich kauft'
ihm's ab. Aber seine Tochter sah' ich nicht. Endlich nam ich
mir's Herz, nach ihr zu fragen. Eben trat einer herein, der mit 10
ihm handelte, als er mir sagte, daB sie im Garten ware. Ich
ergrief diese Gelegenheit, antwortet' ihm, daB ich ihn nicht sto-
ren wolle, und entfernte mich in den Garten. Er ist schon -
der Garten, wenig Pracht - aber genug fiir einen, der Sin hat,
die Natur zu lieben. Viele schattigte Lauben - duftende Nelken
und andre Blumen, b[l]iihende, und fruchttragende Baume reiz-.
ten mich noch einmal so stark, weil ich meine Geliebte darin
suchte. Endlich sah' ich sie bei einer Rose stehen, welche erst
vom Wind war entblattert und abgeknikt worden. Sie stand
star - ihre Augen waren feucht. Ich uberraschte sie: kaum konte 20
sie mir antworten. Wir fiengen em Gesprach von gleicngultigen
Gartendingen an; sie arbeitet' immer dazu. Endlich notigt' uns
ein kleiner Regen, in eine Laube zu gehen. Wir sassen neben
einander. AchBruder! wenn du wiistest, welches Gluk dies fiir
mich war! nur neben ihr zu sein! so nahe! Durch die fallenden
Regentropfen blinkerte der gebrochne Sonnenstral so mild -
Sie sagte: Eben so lachelt der Gute, ob ihm gleich Tranen entfallen.
Freund! dies sagte sie genirt. Sie blikte weg. Ich antwortete,
war! war! und konte nicht ertragen die Zauberkraft dieser Wort'
an mir, die mich iiberwaltigten; sagte: der Giitige wischt sie 30
einmal ab, die Tranen, die Bedrangte weinen. Bruder! ich muste
schluchzen, weinen. Sie nam meine Hand, driikte sie bebend.
Es durchschauerte mich Himmelswonne, iede Nerve, iedes
Aderchen gluhte. Wir sahen einander an; und ich sah auf ihrem
ABELARD UND HELOISE 133
gliihendem Gesichte die Wonne, die der Gute fiilt, der nach
langen verschlummerten Jaren sein Haupt aus des Grabes Lager
empor hebt, und seiner Taten Lon sieht, und Ewigkeit dazu
- die Augen standen gen Himmel, Gefiil, Gefii] war ieder Li-
nienzug ihres Antlizzes - die Tranen entrolten den Augen.
Kont's nicht aushalten, muste fliehen. Mit wilden Schritten
gieng ich im Garten umher. Wuste nicht mer zu bleiben. Der
Geist ist nicht fur iibermassige Wonne geschaffen. Er ertragt's
nicht. Endlich verschnauft' ich ein wenig. Ein schoner Regen-
io bogen glanzt' im Tal. Jedes Bliimchen duftete siis: ieder Regen-
tropfen funkerte blizzend vom Sonnenblikke - alles lebte wie-
der. Wir kamen wieder naher. Ich war erschopft und fieng
folgendes gleichgiiltige Gesprach mit ihr an.
ich. Komt Ihr Vater oft in Garten? Ich glaube doch nicht,
daB es ihm verdriislich fallen wird, wenn ich mich hier so lang'
aufhaltc.
eloise. O kcinesweges. ManbrauchtseinemGeizenurgenug
zu tun, um alle Gefalligkeit von ihm zu erhalten. Sie kauften
hollandisches Tuch von ihm: nun wird er Ihnen alles erlauben.
20 Der Geiz ist sein Laster - er ist die Ursache mancher bosen
Handlung, die er schon veriibte - - o meine Mutter!
ich. Wie? er wird doch
eloise. Er bios ist schuld, daB sie nun modert. Sein hartes
Verfaren mit ihr, das vom Geiz entstand, raubt' ihr iedes Ver-
gniigen, verbittert' ihr iede Freude. Endlich zerte der Kummer
in ihr alle Lebenskraft auf — und sie ist nicht mer, fur mich
Ungliikliche nicht mer. (Sie blikt mit nassen Augen gen Him-
mel) Und eben dieses Laster wird mich bald hinlief
ich. Halten Sie innen! Er ist nicht bios Her! der Tyran!
30 eloise. Ich bin ungluklich, so lang ich bei ihm bin. Ich werd*
es weniger sein, wenn er mich zu meiner Tant' hintun wird
- und hier, Lieber, wollen wir oft
ich. Wont Ihre Tant' an dem Orte, wo mein Freund Karl
sich befindet? Das war ein Gliik!
eloise. Ja! und in vierzehn Tagen werd' ich ankommen. Des-
wegen bitt' ich Sie, verschonen Sie mich wenigstens so lange
134 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
mit Ihrcr Gegenwart - die mir.so lieb ist - bis ich an diesem
Orte bin. Mein Vater mochte Verdacht schopfen. Dan aber
wollen wir oft
Sie wurd* unterbrochen. Denn ihr Vater kam gcrade zur Gar-
tentiir herein. Wie unertraglich mir sein Anblik war! Der Teufel
ware mir weniger hassenswert gewesen, als dieser Qualer der
Unschuldigen. Nun mer glaubt' ich ihm wenig Verbindlichkeit
mer schuldig zu sein, da ich das Gliik mit seiner Tochter zu
sprechen, on' ihn zu befiirchten, haben konte. Ich nam deswc-
gen kalt von ihm Abschied. Das hollandische Tuch versprach cr
mir nachzuschikken. Lebewol! das war viel geschrieben.
am 20 August.
Eine Szene, wie sie oft unter Freunden vorgeht, wil ich dir iezt
beschreiben. Du weist aus meinen vorigen Briefen schon, daB
ich und mein Karl ein wenig uneins geworden sind. Ich kam
Abends von meiner Heloise nach Haus. Auf die Frage meines
Freundes, wo ich gewesen ware, gab ich fast ungestum zur Ant-
wort, auf dem Felde. Mich verdros es schon, daft er darnach
gefragt hatte. Den andern Tag schikte mir Heloisens Vater das
hollandische Tuch. Ich muste nun meinem Freund die Luge 20
gestehen. Es war mir unertraglich, nur um ihn zu sein. Aber
Freund! ich traue dir zu viel Kentnis des menschlichen Herzens
zu, als daB ich vermuten konte, du hieltest mein Betragen gegen
meinen Freund fur Bosheit des Herzens. Es ist ein eigen Ding
mit dem Menschen. Je mer zwei Freund* in eins zusammenflies-
sen, ie warmer ihre Freundschaft ist; desto mer kontrastirt eine
kleine Mishelligkeit mit der vorigen Liebe. Eben die Empfind-
lichkeit des Herzens, die sie zur Liebe stimt, stimt sie auch bei
veranderten Umstanden zum Hasse. - Ich hatte weinen mogen.
Um mir Luft zu machen, gieng ich hinaus in's freie Feld. Es 30
war eine Stunde vor dem Sonnenuntergang. Ich lagerte mich
auf einem Hiigel, wo ich ein weites Korngefilde, blumigte Wie-
sen, iibersehen konte. Ich dachte so iiber mich nach. Mein Geist
rufte die dammernden Vorstellungen von den Tagen der Ju-
ABELARD UND HELOISE 135
gend, von ihren Freuden zuriik. Ich lag so dort - und sah' hinaus
in die weite Welt- sente mich. Es wurde mir eng. Wie gliiklich
warst du, dacht' ich, als du noch in unbesorgtem Kindheitssin
alle Freude so. warm genossest - als du dich freuetest liber iede
Kleinigkeit - als dir die Morgensonne behagte, weil ihr Stral
dich warmte - als der Abendsonnenstral dir gefiel, weil er so
rot schien - als der Mond dich freute, weil er so hel schimmerte
- als noch in dir nicht Stiirme das Herz durchwiiteten - als
du noch stil warst. Was ist der Mensch! Ich lag so da - ich
10 iibersah' die weite Gegend, wo der untergehenden Sonne roter
Glanz durch die wallende Kornsat durchbrach, als die Lerche
dem Schopfer ihr Abendlied wirbelte, als ich im Dorf vom mos-
bewachsenen Turn herab die dumpfe Gebetglokke schallen
horte, als es dunkel wurd' im Tal, und dunkler und immer
dunkler die Rote den Horizont umschattirte, als das kiile
Abendliiftgen im hohen Grase, in den Buchen sauselte, als die
Heuschrekk' in den Kornblumen ihren einformigen Gesang so
fortsumsete da erinnert' ich mich, meinen Freund, Karl,
so beleidigt zu haben - da ergrief mich's. Ich eilte, urn ihn um
20 Vergebung zu bitten. Ich fand ihn endlich in seiner Studierstube,
wo cr ein klagendes Adagio spielte, das so dumpf durch die
bebende Sele tonte. Ich ergrief hastig seine Hand, sagte: verzeih,
Freund! mir Bosewicht! Ach hier wandt' er sich um, sah mich
an und weinte Vergebungstranen - er driikte mir die Hand,
und zog mich an's Fenster, wo der Mond durch die Baum' her-
durchschimmerte, und ein Bach sanft murmelnd im Mondsstral
wiederglanzte - er zog mich an's Fenster, gen Himmel sehend,
sagt' er: Freund, las uns hier gut sein, und vergeben dem Felen-
den-- dort, dort, zeigt' er mit der Hand nach dem Sternvollen
30 Himmel, dort bleiben wir ewig gut - dort beleidigt man nicht.
Ich fiel ihm um den Hals - wir schluchzten. Er spielte wieder
so trostend, so silbernschallend, daB ich ausser mir war, dich,
und meine Heloise herwiinschte - und dan Himmelswonne,
Seligkeitsgeful, Elysium! -
I36 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
am 26 August.
Die Hundstage sind vorbei; aber bewar mich Got, daB ich den
Ort verlassen soke, wo ich so gliikliche Tag' habe. Zu Michaelis
geh' ich auf die Akademie. Ich werde die Schule nun nicht mer
besuchen. Meine Heloise kam heute bei ihrer Tant' an, eher,
als ich's vermutete. Mein Freund sagte mir's. Jezt geh' ich den
Tag wol sechsmal bei ihrem Hause vorbei, um sie zu sehen.
Was man ein Kind ist! Ihre Tante ist die Frau des Amtmans
an diesem Ort. Der Amtman ist so ein guter alter Deutscher,
von wenig Empfindung fur Liebe, als bios fur ehlige Lieb' und 10
fur Geld. Gesehen hab' ich sie bios - aber noch nicht mit ihr
geredt. Morgen abend wollen wir im Garten des Amtmans
zusammen kommen. Wie das Herz schlagt, entgegenpochend
neuer Wollust!
am 27 August.
Es ist Mitternacht, und ich schreibe. Ich mus dir alles erzalen.
Heut den ganzen Tag schon kont' ich nichts arbeiten. Jede Mi-
nute wurde mir zur Stunde: ich hofte bios auf den Abend. Kaum
hatt' ich gegessen: so fand' ich mich schon im Garten ein. Ich
durchirte die langen, melancholischen Lauben. Es war einer der 20
schonsten Sommerabende. Der Busen schwelte mir schon: eh'
ich sie noch sah. Endlich flog sie zur Gartentiir' herein: und
hu[p]fte die Lauben nach einander hindurch. Mit welcher Gra-
zie, mit welcher Anmut bewilkomte sie mich! Mein Freund
Karl kam endlich auch mit dem Amtman zur Gartentiir' herein.
Alle viere sassen wir nun in einer Laube - und vergniigten uns,
wie iene Altvater, mit vertraulichen Gesprachen. Aber ich hort'
und sahe nicht - nur auf sie war meine Sele gerichtet. Das Ge-
sprach geriet endlich durch eine wunderbare Wendung auf die
neuen Gothesianer - Empfindler. Der Alte hatte so 'was davon 30
gelesen und gehort - der sah das Ding ganz auf der schiefen
Seit' an. Mich argert's, sagt' ich, daB man iiber die Empfindun-
gen und Genii' andrer urteilen wil, on ihren Wert, ihre Beschaf-
fenheitnochselbst empfundenzu haben. Wer lastert am meisten
ABELARD UND HELOISE 137
den Gothe? nur der, der ihm nicht nachfulen kan - nur der Kalte.
Noch nie hab' ich einen Jiingling gekant, der Sinnes und Geful-
kraft genug hatte, mit einem Gothe zu sympatisiren - welcher
auf ihngeschimpft, ihn behonlachelt hatte. Aber wol ausgedorte
Pedanten, alte Knasterbarte genug, die seinen Namen enterten.
»Aber manche iibertreiben's im Empfinden.« Wo ist aber, ver-
sezt' ich, die Granze gezeichnet, wie weit man empfinden sol.
Ist nicht alles relativ? Der viel, der wenig - ieder nach seinen
individuellen Kraften und Anlagen dazu. Und ich wiFs lieber
io iibertreiben, lieber mich ganz hinreissen lassen von der Mensch-
heit edlen Gefiilen, als kalt wie ein Stein sein, Mitleidstranen
weglacheln, andre im qualenden Jammer mit holzernem Her-
zen, durrem Gehirn, troknen Augen sehen. Jesus weinte manche
menschenfreundliche Trane bei'm Grab' eines Lazarus - o 's
regte sichinihm menschliches Gefiil, seine Saiten seines Herzens
tonten den klagenden Tonen der Ungliiklichen in einem solchen
Einklangzu, daB es Schande f ur uns ware — Ich wolte fortfaren,
als der Alte so gleichgiiltig, so ungeriirt, von iezzigen Statssa-
chen an zu schwazzen fieng, daB ich vor Unmut mich entfernen,
20 und mir Luft machen muste. Ich und meine Heloise giengen
mit einander weg, um im Garten zu spazzieren. Wir giengen
bis in's hinterste Ende des Gartens. In einer Laube sezten wir
uns nieder, wo wir den vorbeirauschenden Bach horen konten.
Ach! eine Sommernacht vol Freuden, wie sie im Himmel nur
sind. Wir hatten eine weite Aussicht - driiben dunkle Walder,
wo die hohen Baume so prachtig in den blauen Himmel empor-
sahen - da einen murmelnden Bach, der sich in den dunkeln
Wald hinernschlangelte - oben uber uns einen Himmel, wo ein
Stern am andern funkerte. Hinter uns fieng eine Nachtigal im
30 Gebiisch' an zu schlagen. Wir lauschten. Schmetternd wirbelte
sie die Ton' herab, und sank, tiefer und tiefer - endlich innig,
riirend, senend. So silbern tont's nach in der stillen Nacht, so
leise sang sie die melancholischen Tone. Ich konte mich kaum
mer halten, Ich umschlang meine Geliebte! O ich wagt' es,
meine Lipp' an die ihrige zu driikken. Ha! wie Lebensglut den
Sterblichen durchstromte! Wie alle Welt um mich her vergieng!
I38 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
- Wir weinten, und liessen unsre Tranen an unsre Busen fallen.
Ich sank an sie hinan, verhiilte das Antliz - meine Sele begerte
aufgelost zu werden - mit ihr - und dan hinzueilen, wo kein
schwacher Korper mer den Geist entstalt [!] al die Wonnen zu
fassen. Karl rufte mich - ich wachte wie vom Traum auf: redete
kein Wort. Giengnach Hause. - Wie wenig werd' ich heut schla-
fen konnen; denn die Bilder der eingesaugten Wollust gliihen
zu tief in meinem Gehirn - nichts wird sie tilgen! - Let)'
wol!
am 1 Septemb.
Ich mus fort zu meinem Vater. Ich mus auf die Akademie -
o wie wird's mir! Von ihr - von ihr - sol ich. Und wie lange?
Ich schwindle. Ich werde wieder mit meinem Freunde in die
Stadt gehen, um da zu valediziren. Viel wird es mich kosten,
nur von ihr Abschied zu nemen - auf einige Zeit. Denn eh'
ich nach der Universitat O- reise, mus ich noch einmal mit
ihr reden - und dan scheiden - scheiden. -
am 16 Sept.
Ich bin iezt zu Haus bei meinem Vater. Aber wie viel hat's
mich gekostet, mich loszureissen von diesem EngeL Ich sagt' 20
ihr nichts davon, von meiner Abreise - abends kam ich zu ihr
und lud sie ein auf einen Spazziergang im nahen Waldchen. Sie
tat's. Wir schlenderten so unbesorgt hin: und verweilten bis
der Mond an zu leuchten fieng, der hinter dem Hiigel herauf-
gieng. Wir wurden immer wehmutiger. Endlich sagte sie:
Lieber Abelard! Wir lieben uns: aber diirfen wir auch?
ich. Und wer wil's verbieten? Got im Himmel freut sich
dariiber; und wer war' der Mensch? -
heloise. Ach mein Vater! Ach! wir beide sind fur einander
geschaffen - von Got bestimt. Und mein Vater wird ein Band 30
zerreissen, uns ungliiklich machen.
ich. Ich verstehe Sie nicht - ich zittere, was Sie sagen wollen.
ABELARD UND HELOISE 1 39
heloise. Dies - Er hat mich schon, mich Elende - einem
Menschen bestimt, der eben so lasterhaft, eben so unempfindlich
ist, wie mein Vater.
Ich sank hin, vermocht' nichts. Denn al seine Hofnung so
verwelken, al die Wonnen, denen der Geist entgegenschmach-
tete, so entreissen sehen - in einen dunklen Abgrund, wo kein
Abend der Hofnung dammert, hinabgeworfen werden -
Freund! dazu ist's Menschenherz zu schwach, es auszuhalten.
Lieber! wenn du meiner Qual nicht nachempfinden kanst, so
io stelle dir [vor], du habest eine Geliebte, die dein Alles, deine
Wonn' ist; stel dir vor, du wtirdest dan hinabgeschleudert in
den Abgrund, wo kein Licht den Geist belebet, wo alles schwarz
vor dir steht, wo dein kiinftiges Leiden dich wie ein Hollenge-
spenst wiirget - und dan denke mich. Meine Geliebte trostete
mich wieder. Sie erzalte mir genauer, wie er auf der Universitat
ware, wo ich hinwolte, und wie er in etlichen Monaten zuriik-
kommen wiirde, sie zu — Zitre Abelard! wie mich dies Wort
ergrief so kalt - alles hin - hin, tont's in mir nach. Ach wir
trosteten uns. Wir weinten. Wir redeten von Wiedersehen, vom
20 Himmel. Wir kerten um. Vier Manner bringen eine Todenbar.
Stil - giengen sie her. Meine Sele - war wie vernichtet. Meine
Heloise fragte: was das ware? Dumpf fangt hin ten einer an zu
reden: »Es ist, sagt' er, ein armes Bauernmensch. Diese war
immer melancholisch. Sie hatt' einen Schaz gehabt, und der
starb ihr im hizzigen Fieber. Seit der Zeit gieng sie immer mit
nassen Augen herum. Sie redete mit keinem Menschen ein
Wort. Endlich ersaufte sie sich. In diesem Waldchen, wo ihr
Schaz liegt, wil sie auch neben ihn begraben sein.« Dumpfes
Stilschweigen herscht* um uns her, heiliges Dunkel umfinsterte
30 den furchterlichen Wald, graulich durchschimmerte des fliehen-
den Mondes Stral durch die zakkigten, finstern Baurae - umfas-
send durchschaurte das Bild der Selbstmorderin die bebende
Sele - die still e Todesbare - das schwarze Leichentuch - ieder
Schrit der Manner, die die Leiche trugen, durchhalte den
schwindelnden Geist. - Ruf's im Geist zusammen al dies, Wil-
helm! und drang's in ein Bild. Und dan — ich und meine Heloise
I40 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
sezten uns auf einen Stok. Ich unschlang sie, und seufzete tief
aus den Tiefen der Sel' heraus: »Du, gute Sel*! deren Korper
iezt die nagenden Wiirmer nart, du, du kontest nicht ertragen,
daB dein Geliebter hinschied vor dir, daB er dich verlies, und
daB du einsam in der oden Schopfung hinwallen mustest? -
Ach! dein Herz war den Qualen zu eng, die's bestiirmten! Du
fandest al dem Kummer, al den Sturmen keinen Ausgang, als
dich hinzuwerfen in des Todes kalten, eisernen Arm - als hinzu-
eilen vor Got, der Schwacheri vergiebt, als hinzueilen zum Jesus,
dem Menschenfreunde, um da ihn zu suchen, der dich liebte, 10
urn da ihn zu umarmen vor dem ganzen Himmel, alien Guten
und Seligen, den Einzigen - der fur dich auf keiner Erde zu
finden war. « -
Al dieses durchblizte die verkummerte Sele, wie der schlan-
gelnde Blizstral die schwarze Wolke. Meine Heloise lag an mir,
schwieg - innerer Schmerz durchwiilte die Empfindungstiefen,
durchbebte die Nerven, durchschauerte Mark und Bein. Ich
fieng an zu reden, zu meiner Geliebten: Ach du, die mir mein
alles ist, du sagtest mir vor, ein Tyran wolle dich mir rauben
- dich - und auch mich hinstiirzen in Stiirme, die die Sele dran- 20
gen an des Todes Pforte - ach von dir! - schreklich! nichts,
nichts, kerne Macht sol mich trennen von dir - o! dies Leben
ist bald zu endigen, bald kan sich der arme Geist den Fesseln
des Korpers entschwingen. O du! sieh' die Trane, die mir iezt
im Auge bebt! Sieh' sie, Geliebte! ich werde weich. Wenn ich
dich verlieren soke, und wenn du erfarest, daB dein armer
Abclard, vom Kummer durchnagt, diese sterbliche Hiitte ver-
lassen hat, dan erinnere dich des heutigen Abends, erinnere dich
der Tranen, die ich an deinen Busen verweint habe Dan
schau' hinauf mit einer Tran' im Aug' auf mein neuaufgeworfnes 30
Grab, das den kalten Uberrest deines Ungliiklichen dekt, schau'
hin, schau' dieBlumen vom Winde wanken, schau' die Veilgen,
die meiner Grabstatt' entsprossen, deren Duft so schon duftet,
weil sie vom Moder meines Fleisches ihre Narung ziehen, schau'
hin, wenn du dein Abendgebet mit nassen Augen gen Himmel
seufzest, wenn's Grab von des Mondes still en Stral iiberdam-
ABELARD UND HELOISE I4I
inert wird - sieh' mich schlafen, und folg' mir! Das Gefiil
iiberwaltigte mich - ich verhulte mein Haupt - al meine Krafte
waren gespant: ich war nicht mer Mensch.
Endlich giengen die vier Manner wieder vor uns vorbei, die
dieUngluklichebegrabenhatten. Stille Wehmut, und menschli-
ches Bedauren blikten aus ihren Gesichtern. Ein iung aussehen-
der Mensch von diesen verbarg seine Augen mit der Hand -
er weinte. Meine Heloise sagt* endlich zu mir mit erstikter
Stimme: Lassen Sie uns hingehen, und die Graber der beiden
10 Redlichen - - Der Strom von Tranen, die sie mit ihrem
Schnupftuch aufhielt, unterbrach das lezte Wort. Bald gelangten
wir an die beiden Graber: nach dem wir vorher die Gebiische
durchirren musten.
Hart ragten ihre Graber neben einander hervor. Zwei
schwarze Kreuze waren auf die Graber gestekt. Zwei Kranze,
die bald verwelken wolten, hingen an den Kreuzen. Schon hatte
des Sturms Brausen die gelben Blatter von den nahen Birken-
baumen auf die Graber hingestiirmt, und die Grabeshugel wie
ein gelberTeppichiiberzogen. Lieblichsauselt' cs in den finstern
20 Baumen nahe Gegenwart der Verstorbnen - dumpf braust' es
aus des Waldes Einoden ein Brausen des Herbstes und einsam
krachzte die NachteuF ein Todtenlied im verfallenen Schlos. Wir
sahen, wir horten, wir fiilten dies. Wir sahen gen Himmel, wo
der Polstern gerad* Ciber uns funkelte, und der Mond weinend
unter den weissen Wolkgen hineilte - Wir ergriefen die Hande,
schauten hinauf, und den bebenden Lippen entzitterten diese
Worte: Got! dort oben! der du uns siehst hier bei den Grabern,
hier im Dunkeln - bei diesen Guten hier, die sich liebten bis
zum Tode, bei diesen schworen wir, dafi die Liebe, die in unserm
30 Busen flamt, nie erkalten sol - daB wir nie einander verlassen
wollen, bis uns des Todes starker Arm einander entreist! Got!
du siehst! wir lieben rein! o wie wollen wir dir danken, wenn
wir hier gliiklich werden! Und wenn's auf der Erde nicht ge-
schehen konte, wenn der Menschen Wut auch Geliebte zu tren-
nen sich nicht scheut — o! so wollen wir dort, wo alles sich
freut, und nichts weint, dort dir ewig danken, dort in ewiger
14^ JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG
Lieb' die Ewigkeiten verleben , die dem Edlen zur Freude bestimt
sind. Vater der Lieb' hilf uns! — Ach das war eine Szene -
wie ich nie eine dergleichen wieder haben werde. Ein Blik auf
die Graber geworfen, und die Wort' herausgestossen: Ruhet
sanft! ihr Kampfer! ihr Dulder! eilten wir nach Haus. Schon
elf Ur war's, als wir durch's Dorf giengen. Keine Lampe des
armen Landrnans schimmerte mer im einsamen Dorfe, alles
ruhte schon. Nur hie und da belt' ein wachsamer Kettenhund.
So schon lagen die schlechten Hauser vom Mond versilbert,
nach einander hin. Ich furte meine Helois' am Arm. Das war \o
ein Abend - vol von Wonnegefulen, und vol der Todesschauer.
Erst als ich an der Turschwelle mit ihr stand, fiel's mir ein,
daB ich Abschied von ihr auf eine Zeitlang nemen muste. Sie
stand so liebend vor mir da, ganz in Engelsgestalt, aus der das
Menschliche so sanft niianzirt, herausschmachtete. Ihr rotge-
weintes Aug* hob sie so mild auf, mir in's Angesicht zu blikken.
Ihre Hand brant' in meiner Endlich erofnet' ich ihr, daB
ich nun nach Haus zu meinem Vater miiste - und daB ich bestimt
sei,in wenig Wochenauf die Akademiemichzubegeben. Liebe!
sagt' ich, nun werden wir uns eine Zeitlang nicht sehen - Leben 20
Sie wol! Ein Kus versiegelte diese Worte. Aber ich konte mich
von ihr nicht losreissen - Wir standen noch eine Zeitlang da
- immer naher zog's mich hinan. Endlich tat ich mir Gewalt
an - sie rief mir nach: Vergessen Sie den heutigen Abend nicht.
Zu fruh' nam ich und mein Freund von den alten erwiirdigen
Leuten Abschied. Die Tranen rolten mir die Bakken herunter,
da mir der Alte so bieder Gliik wiinschte zu meinem Studieren.
Noch einmal blikt' ich zum Fenster hinauf, wo meine Heloise
heraussahe: Sie neigte sich- und wir beide wischten die Tranen
ab. Hier nun bin ich bei meinem Vater. Mein Geist sent sich 30
nach Veranderung, ist iiberdriissig des ewigen Einerlei's - alle
Biicher stinken mich an. Taglich hoff ich auf den Tag, wo
ich auf O- reisen kan. Adieu! Lieber!
ABELARD UND HELOISE 1 43
am 20 Septemb.
Meine Phantasie malt mir iezt nichts anders als schwarze Bilder,
Zerstorung, Ungliik. Taglich schwebt mir mein Scheiden von al
den Bekanten, al den Liebenden, al den Guten vor. Und noch
dazu gerade diese Jarszeit - Einsam geh' ich umher in meinem
Gram. Wenn ich hore das heilige Brausen des Zerstorens von
den Gipfeln der Ham' und das Gerassel welkender Blatter von
den Asten herunter - wenn ich sehe das Vergehen der Natur
so algemein um mich her - wenn ich iedes Geschopf der unbe-
io lebten Natur ziikkend ersterben sehe - wenn die Wies' ihren
Glanz verliert, die Blume mit al ihren Reizen zur algemeinen
Grabstatt' hingeliefert wird - wenn ich liberal Tod rule, liberal
Untergang merke — und dan in meinem Herzen al das Wiiten
der Ungluksstiirme, die ich schon brausen hor' in dunkler Zu-
kunft - in meinem Herzen der Gedanken, bald must du alles
verlassen, bald must du gehen von denen, die dich lieben, und
dich scheiden von der, die deiner Wonne Quel ist — und wenn
dan der sinkende Geist, umdammert von einer so froh durchleb-,
ten Vergangenheit mit al ihren Freuden, traurig einer schwarzen
20 Zukunft entgegenzittert, die Unglukswolken iiber seinem
Scheitel zusammentreibt ach! dan glaubt der arme Endliche
vergehen zu mussen in dem Sturm des Todes um ihn her, dan
glaub' ich zu fallen, wie das gelbe Blat, das vom Baum' herab-
welkt, hin zu sein in herb[st]licher Verwiistung!
am 30 September.
Morgen geh' ich ab. Stum geh' ich den ganzen Tag herum.
O! wie wird mir's, wenn ich an's Abschiednemen gedenke!
Morgen werd' ich nur bis zum Dorfe reisen, wo meine Heloise
wont; und bei meinem Freund ubernachten. Dan sol ich schei-
30 den von meinem Karl - scheiden von meiner Heloise ich
schaudere! Got! wenn's vorbei ware! -
am 1 Oktober.
Abend ist's. Ich bin im Hause meines Freundes. Ach sol ich
144 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
dir den Abschied von meinen Eltern erzalen? Das ist mir schwer!
Gestern Abends sas ich mit meinem Vater so vertraulich noch
einmal beisammen; wie liebreich er mir die Regeln gab, mein
kiinftiges Leben darnach einzurichten. Es wurde mir schwer
als das leztemal »Gute Nacht!« zu sagen. Bald war die Nacht
verschlummert, die ich mit wehmutigen Traumen vertraumte.
Wehmutig schon stand ich auf. Unten im Hause hatte man ein
Gelarme. Da hort' ich die Koffer's zumachen, die Schlagfasser
zuschlagen - Endlich kam meine Mutter in mein Zimmer. -
Lieber Son! sagte sie, hast ausgeschlafen - dies ist's leztemal 10
in der Stube. Ach! mein Son! mein Son! du gehst iezt fort von
mir - Wenn werd' ich dich wiedersehen - Sie weinte: ich weinte.
Gieng hinunter in die Stube. Ich muste das Schnupftuch vor
die Augen nemen, um die rollenden Tranen zu verbergen. Denn
mir ist's argerlich, von andern sich in's weinende Auge sehen
zu lassen. Als ich in die Stube trat, fiel mir mein Koffer und
meine andern eingepakten Sachen in die Augen - auf s Herz
- ich gieng an's Fenster. Sah' zum leztenmal den Birnbaum,
unter dem ich so vertraulich mit meinen Spielkammeraden das
iunge Leben verlebte - unter dem ich so senlich auf die Birn 20
hofte, die mir der starke Wind abschiitteln soke. Ich sah al das
- es wurde mir heilig - es drangt' in mir, al dies so verlassen
zu miissen, so hinausgeworfen zu werden in die weite Welt.
Oh! - Ich trank Kaffee. Aber immer mischteh sich die Tranen
mit meinem Trank. Ach! wie mein guter Vater mir in die Augen
sah, und wegblikte, weinte - wie die liebe Mutter mit nassen
Augen den Kaffe einschenkte. Endlich kam das Pferd in den
Hof angetrabt, mit welchem ich fortreiten soke. Ach! da flossen
die Tranen. Da umklammerte mir mein kleines Briidergen die
Knie! »Lieber Bruder! bleib da! kom bald wieder!« ach kleines 30
Geschopf! wie innig, wie war hast du dies in deinem Kindessin
gesagt! Got! ich kan dir's kaum hinaus erzalen. Da stand der
Vater und weinte, da stand die Mutter und weinte, da war das
Hausgesinde, und weinte - immer drehte sich eins urn's andre
um, die Tranen zu verbergen. Ach sie sahen mich alle! und
sahen nicht den Jammer, den meine Sele fiilte - nicht die Wellen,
ABELARD UND HELOISE 145
die in mir tobten. Endlich macht' ich's ein Ende: Nam meinen
Vater bei der Hand, zerdriikt ihm sie, sagte tief heraus: Vater!
Leben Sie wol! Dank fur Ihre Liebe gegen mich, fur Ihre Bemu-
hung wegen mir - Dank Ihnen! o meine Mutter! leben Sie wol!
Und auch du kleines Briidergen! und alle! Ach - - - ich
schluchzte. Im Hof war unser alter Holzhakker, der sah auch
nach mir, rief »Leben Sie wol, iunger Her!« auch ihr! sagt* ich
mit erstikter Stimme. Ich schwang mich auf s Pferd, gallopirte
durch's Dorf und hielt immer das Schnupftuch vor die Augen.
Freund! das war ein Morgen! Und heut* abends - o was wird
da's Herz fiilen. Morgen fruh urn 5 Ur geht's weiter. Heut
abends Abschied von Heloise - morgen fruh von Karl - Ach!
iezt schon stiirzen mir die Tranen auf s Papier! Lieber! ich wil
aufhoren.
am 2 Oktober.
Noch einmal webt in mir auf, ihr Empfindungen! die ihr heute
meine SeF erschuttertet, und fliesset noch einmal ihr Tranen,
die ihr heut dem Freund* und der Freundin geflossen seid! -
Hier bin ich allein in einem Stiibgen des Posthauses, wo ich
20 logire. liberal neben mir Getose - in meiner Sel' heilige, tiefe
Stille - Ach! ich wil mich mit dir unterhalten: denn ich hab*
iezt auf der weiten Gotteswelt keinen andern, dem ich mich
erofnen, dem ich meine Leiden erzalen konte. Also Erzalung,
wie ich mich geschiedehhabe von meinem Karl, meiner Heloise.
Auf dem ganzen Weg, bis an's Dorfgen war ich vol Empfin-
dung - vol des Gedankens an meine Eltern, mein Briidergen,
meine Bekanten. Ich kam an bei meinem Freunde. Es war uns
heute nicht wie sonst; es war uns weher - Wir redeten wenig
- wir sahen einander nur an; weinten nicht, ausser mir kam
30 bei'm Tischgebet eine Tran' in's Auge. Abends beschlos ich
zu meiner Heloise zu gehen, und von ihr Abschied zu nemen.
Ich gieng mit schwerem Herzen in den Garten des Amtmfans],
wo ich sie erwartete. Im Gartenhaus lag ein Buch aufgeschlagen,
ich las, und dieses:
I46 JUGENDWERKE ' I . ABTEILUNG
Oft wird heut ein Sturm des Leides
iiber dich ergeh'n:
ach! dan werden triibe Tranen
dir im Auge steh'n.
Aber Morgen, frommer Knabe,
Morgen, - freue dich!
drangen Freudentranen wieder
aus dem Auge sich.
Es waren Krausenek's Gedichte. Ach wie das al auf mich paste
- Armer! Tranen weinst du iezt genug - Tranen des Leides, 10
des Kummers; aber wenn, ach wenn wird die Zeit kommen, wo
du lachelst, wo die Tranen der Wollust im Auge zittern?
Ich gieng an's Gartenfenster: schaut' hinaus, war beklemL Oh!
wie die dumpfigen, schwarzlichen Wolken dahinschwammen,
und den holden Mondstral vor den Augen verbargen - wie's
so duftig mich umgab - wie der Nord in die welkenden Blatter
hineinrauschte, sie in Wirbeln zerstreute - wie er sausete, der
Nachtgeist, der alles mit Wehen durchnam - wie die herbstliche
Liifte so kalt einem anschauerten - wie der Wind driiben auf
dem Hiigel die knarrenden Baum' abschuttelte, und das Tal 20
mit welken Blattern bestreute - wie der getriibte Bach hinwir-
belnd so fiirchterlich fortklang und rolte - und wie der blinkende
Abendstern droben die senende Sel' in al iene genossenen Won-
nen im Sommer, hinwiegte, hinzauberte, hindammerte!! - Ha!
da wait' es in mir - da ruft' es von innen tief heraus: ach! ist
denn alles so nichtig - sind die Freuden so bald verraucht, denen
sich der Geist immer und immer zusent - folgt denn so bald
der triibe Herbst auf den lachenden Sommer? So dacht' ich;
und endlich kam sie hinten herein mit schleichendem Tritte j -
in ihrem weissen Gewande, in dem ich sie zum erstenmal sahe. 30
Ganz das weibliche Geschopf, in dem sich Anmut und Schwer-
mut, Schonheit und Riirung so herlich vereinigte. Sie sah zur
Erde - sah die gewelkten Blatter, sah die herbstliche Verwii-
stung, horte das Rauschen der Blatter unter ihrem Fus — und
ABE LARD UND HELOISE 147
sah mich endlich zum Fenster herausblikken - weinte. Ach! da
fiefs mir auf's Herz! Ach! dacht' ich, was wil noch werden -
- »Sind Sie schon da« sagte der weibliche Engel. Lange war
stumme Szene. Endlich furte sie mich an's Fenster. Wir hielten
uns bei der Hand. Ich sagte: sehen Sie dort den Mond, wie
er sich verbirgt hinter's hinwallende Gewolk - wie er so weinend
auf seine Erdenwelt herabschimmert - auch auf uns, die wir
beangsteten Herzens sind, die wir weinen, weil wir scheiden
miissen. In Heloise's Auge glanzt' eine Trane, vom Monde be-
io silbert. - Ich sah' ihr star in's Auge, bebte dies heraus: Ach
Geliebte! ich komme weg von dir - o Got! - Lassen Sie's, lassen
Sie's, driikte sie mir die Hande, dies sagend - ach! sehen Sie
dort hinauf, dort wont unser Vater, der uns nicht qualt, wie
mein leiblichet - dort wont der, der fur die Guten sorgt. Ach!
der wird Sie nicht verlassen, mich nicht verlassen - er wird
unsre Liebe begiinstigen - diese innige, diese reine. Gutes Ge-
schopf! Engel! fiel ich ihr urn den Hals - dich verlassen, hin
- hin von dir - oh! »Freund! redete sie mich an mit mutiger
Stimme, was verlieren wir, wenn wir getrent werden? wie lange
20 dauert's? Kurz ist die Zeit unsers Wallens hier - und Lieber!
wenn ein Ungluk hier im Erdental unsre Vereinigung verhin-
derte; giebt's denn keinen Ort mer, wo Menschen weiter leben?
Sehen Sie an dies Herz da, das so mutig pocht, sehen Sie's,
dies wird einmal stille stehen - aber 's wird's nicht ewig bleiben.
Ein Heifer, ein Menschenfreund, ein Gottesmensch steigt ein-
mal von seinem Himmel herab, und wekt alle aus bemosten
Grabern mit Gottesstimm' hervor - ach! dan wird er uns auch
hervorwinken - dan erwachen die Schlummernden einer Mor-
genrote, die ewigen Tag verkiindet - dan stehen wir da, be-
30 schauen die Grabesholen, in denen wir so viel* hundert Jare ver-
schlummert haben - dan umstromt neue Lebenskraft die
Erwekten-dan, dan sehen wir beid' auch einander, mit Entziik-
ken eilen wir einander in die Arme - sinken hin, trinken Wollust
- und dan geht's in einen Himmel, wo Gute sich wiedersehen,
ewig wiedersehen, eine ewige Sonne uns glanzt, ein ewiger
Mond uns dammert - Freund! Lieber! ach ich werde weich!
I48 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
wir werden wiedersehen, wiedersehen! Geh' hin, Geliebter! er-
trage die Leiden mit Geduld, erinnere dich deiner Heloise, die
oft urn dich, dich Edlen, weinen wird - ach Guter! leb' in Frie-
den! - -« Ich sank zu ihren Fiissen - Himmel und Erd' vergien-
gen um mich - ich sprang auf - umhalste sie - fulte mich Engel
- dachte Wiedersehn - ris mich- sagte Leb' wol - schied! Freund!
das waren Worte, die sie zu mir sagte. Ein Trost fur ieden,
der liebt. Lieber Wilhelm! wenn auch du einmal liebst — oder
wenn du Liebende kenst, deren Liebe rein ist, die aber dulten
Jammer hier - die sich senen nach Vereinigung, und getrent 10
werden von Tyrannen wenn du sie kenst, so sag' ihnen:
Edle Menschen! gramt euch nicht. Bleibt hier geschieden! Er-
wartet die Auferstehung dort! dort seht ihr einander wieder,
wo euch kein Menschenfeind mer drangt - dort liebt ihr einander
ewig. — Ach! al' ihr Liebende! hier im Sterbtal! die ihr duldet
Leiden hier, weil ihr gut seid, weil ihr Tugend, Reinheit liebet,
und nicht Geld, nicht Stand, nicht hohe Wurden - last's sein,
dns oft Kummertranen eure Augen benezzen, blikt hin in's bes-
serc Leben! in iene Hohe, wo ein Werther mit seiner Lotte, ein
Siegwart mit seiner Marianna - und al die guten Selen, lachelnd 20
auf euch herabwinken - wo sie, nachdem die Tranen des Kum-
mers vom Auge verwischt sind, euch die Zauber iener Welt
nur in dammerndem Lichte zeigen - seid Manner, duldet! und
erndtet dan! Ich weine, Freund! und sol ich's nicht?
Jezt weiter.
Ich lief nach Hause, blikte mit tranenvollem Auge noch ein-
mal nach dem Garten, wo ich soviele Seligkeiten genossen hatte.
Zum leztenmal siehst du ihn, siehst du dies Haus, siehst du
dies alles - klang's in der trauernden Sele. Mein Freund war
noch auf, als ich kam. Wir redeten wenig - mein Busen schwol 30
- alles war gespant. Mein Freund war sanfter. Nicht so ser er-
schiktert' ihn der Gedanke des Scheidens. Ruhig hob sich sein
Busen - ruhig ran die Trane - er war wie's stille Mer, auf dem
die fachelnden Zephyr's nur schwache Welgen erregen. Zu fruh
um fiinf Ur standen wir auf; weil ich um sechse schon abgehen
wolte. Stil giengen wir beide herum. Wenige Wort' entbebten
ABELARD UND HELOISE 149
den Lippen. Jeder flilte die Liikke, die bald in ihm soke gemacht
werden. Ach! immer durchflog mich der Gedanke - wie der
Bliz das Dunkel - naher komt die Stunde, wo du von ihm must.
Schon schlug's dreiviertel auf Sechse. Ha! da rolten die Tranen
die Wangen herab -Da stand er am einen, und ich am andern
Fenster; und ieder verbarg die weinenden Augen. Wir sahen
so hinaus als es sechse schlug. - Stumme Szene! - Wir kerten
uns vom Fenster ab, eilten an einander, umarmten uns - Weinten
die Tranen, die Scheidende weinen, mit einander - vermischten
sie - die Sinne vergiengen - es wurde finster in den bebenden
Selen - ieder fiiltenur den andern - genos Wonne, fulte Schmer-
zen. Ach! und dan! zerreissender Schmerz! »Lebe wol« zu sagen,
und fort - weit von ihm. Ich weine. Ach Wilhelm! erinnere
dich noch einmal der Szene, da wir am dammernden Morgen,
am langsamen Heraufsteigen der rotlichen Sonne, in Gottes
freier Luft uns trenten. Ach! wie's so schwer gieng! Und wer
solt's nicht gefiilt haben, wer - der einmal einen Freund hatte,
und sich trennen must' auf etliche Wochen, Monate, Jare, auf
immer? Got! wie's im Busen wait, und Feuersglut in Adern
rolt! wie's Herz zerprest, wie sich's sent, wie die Augen
weinen, die Hande gluhen, die Lippen beben, und der ganze
Mensch in alumfassende Gefule versenkt wird, und Engel sich
fiilt! -
am 12 Oktober.
Da bin ich nun da, auf der Universitat! und zu was Ende? dafi
ich Geld verzere, das ichbesserhatt' anwenden konnen, Sachen
vergesse, die ich gewust habe, und Dinge lerne, die mir nichts
niizzen. Wirklich das ganze Universities Leben ist weiter nichts
- Sol's mer sein? - So bin ich auf keiner Universitat; so bin
30 ich zu Hause, wo ich das Gute eben so gut lernen kan. Was
mir al die Professoren sagen wollen, kan ich aus den Buchern
besser - griindlicher - und mit weniger Zeit und Geldverlust
lernen. Aber das Ding hat man einmal in finstern Zeiten ange-
fangen, wo man wenig Bucher schrieb, und wo man, um klug
150 JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG
zu werden, die Leute selbst horen muste. Jezt nun, da's einmal
Mod' ist, halt man's fur Siinde, diese Sitt' abzuandern - man
hat Bikher, hort die Professoren und der Diimling bleibt doch
allemal derselbe. Wegen der Studenten - da ist weniges zu sagen.
Der halbe Teil geht hin in seinem Altagssin - bleibt Dumkopf
- verzert's Geld - verludert die Zeit - unedel genug! Ein Teil
ist ein wenig kliiger: schlendert den betretenen Weg seiner Vor-
faren dahin - tut, was andre tun - betet nach. Dieser ganzes
Dichten und Trachten zwekt dahin, einmal ein eintragliches
Dienstgen zu bekommen - dan so hinzuleben und selig zu ster- 10
ben. Dieses nun konte man ihnen nicht verargen. Denn wer
wil von dem, der kaum Sinneskraft genug hat, auf dem ge-
wonlichen Weg fortzukommen, wer wil von dem fordern,
sich neue Wege zu banen? Aber nicht genug, daB sie die alten
nicht verlassen - sie hassen, beleidigen und belacheln auch den,
der ihre verlast, ungebante banet, noch nie erklimte erklimmet.
Wenige giebt's, die mer Drang des Geistes in sich fulen. Diese
wollen nicht bios studiren, um einmal ihren Korper dadurch
zu erhalten - sie lernen, ihren Geist zu naren. Mit algewaltiger
Geniekraft fallen sie iiber die Wissenschaften her - blikken tief 20
in's Innerste- fliegen Adlersflug - leuchten Sonnenglanz. Aber
diese kent man so selten, mag sie nicht kennen. Denn sie schaden
den Altagsweggangern erstaunlich - verderben ihnen den be-
pflasterten Weg - und machen ihnen viel Not und Plage. Er-
staunlich gering ist die Anzal derer, die in Riiksicht auf's bessere
Herz die genanten iibertreffen. Ich finde noch liberal mer den
Verstand kultivirt und Riiksicht auf ihn genommen, als das Herz
verbessert - zu feinern Regungen gemildert. Wirklich ein ge-
scheuter Kerl wird tausendmal mer geschazt, als ein empfindsa-
mer Jiingling. Diesen Bosewicht da, der sich nichts rumen kan, 30
als libel angewandter Verstandesgaben - sezt man iiber ienen
zartlichen, liebevollen Menschen hinauf, dessen Verstand zwar
weniger gros ist, der aber besser angewandt, dessen Herz milder
gewont wird, und dessen Sitten menschenfreundlicher geformt
sind. - Es giebt wenige Leibniz's, Neuton's, Wolfs, in der Welt
- aber noch weniger Gothe's. Aus diesem kanst Lieber!
ABELARD UND HELOISE 151
schliessen, wie wenig Vergniigen ich mir versprechen
kan!
Freund! ich bin so im Gerausch darinnen, daB ich nicht so
oft wie sonst an meine Heloise denke. Aber wenn man dem
Gewiil nichtsbedeutender, die Sele verhungern lassender Dinge,
entgangen ist, wenn man einsam in sich selbst sich versenkt
- ach! dan webt's schon wieder in einem auf - dan braust's,
wie die unterirdischen Feuer, die nur desto heftiger sind, ie lan-
ger ihnen der Ausgang verschlossen war. Wenn ich mit meinen
10 Arbeiten fertig bin, und fur mich auf dem Klavier phantasire
- dan erscheint dem lechzenden Geist Heloise's Bild, dan sieht's
nasse Auge zum mondbeglanzten Fenster hinaus, und sent sich
- hiniiber - uber alle Tal und Hiigel zu schauen, sie zu finden
- Wonn* aus ihrem Anblik zu saugen. Mcin Karl wil mir alle
Vorfallenheiten mit Heloise schreiben!
am 28 Oktober.
Es ist ein elend Leben so! Da sizz' ich - habc wenige Freunde,
und keinen wie du und Karl - da stiirmt's draussen, da wiitet
der Winter, und last einem nicht einmal die Wonne geniessen,
20 unter Gottes freiem Himmel zu sein. Sol ich etwas lernen? Wenn
dem Geiste die Krafte felen, wenn er in sich selbst nicht einig,
wenn alles abgespant ist? Ach! hatte mich mein Vater und meine
Mutter zu Hausse gelassen, mir alle Tag' meine Heloise erlaubt,
und Bucher gegeben - ich ware weiter gekommen, und hatt'
al des Kummers, al des Nagens weniger gehabt. Schon lange
schreibt mir mein Karl nicht: Ich schrieb ihm neulich, daB er
mir den Namen vom verhasten Kerl sagen solte, der Heloise
du weist's schon. Ich mocht' ihn kennenlernen, um ihn
zu hassen.
30 am 4 Novemb.
Karl hat mir geschrieben. Von Heloise - sie ist schwermiitig,
seit der Zeit, als ich von ihr weggekommen bin. Mit innerlichen
Kummer geht sie herum, und seufzet nach dem, der weit von
152 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
ihr lebt - ihr Herz verlangt nach ihm, findet ihn nicht. Dagegen
komt sie oft zu meinem Freund Karl, mit ihm unterhalt sie
sich von mir - wie er schreibt - dan weinen beide - er um
den verlornen Freund, sie um den entfernten Geliebten - Ihr
Vater, das niedrige Geschopf , sol Anstalt machen, sie dem Kerl,
der Fischer heist, zu iiberliefern - »Uberliefern« sag' ich. Denn
einen gelindern Ausdruk weis ich nicht, wenn man eine dem
iibergiebt, gegen den iede Fiber ihres Wesens bebend aufstrebt
- dessen Gegenwart ihr Todesqual, und dessen Anblik Hollen-
nah' ist. Freund! fast - ob's gleich das Herz ser leise sagt, so 10
merk' ich's doch - fast komt mir der Gedank' in den Kopf,
diesen Bosewicht, diesen Rauber unsrer Gliikseligkeit zu m-
Wie schwach ist der Mensch! der beste Mensch! wenn er nur
von der Seit' angegriffen wird, wo's ihm am schwersten wird,
gut zu bleiben!
am 10 Novemb.
Drei Jar' hier zu bleiben? - Ich halt's nicht aus. Las den Verstand
hinfaren, und weniger aufgeklart werden - sol mein Herz immer
so verschmachten, so verlechzen? Ich kan's kaum ertragen, dies
ewige Senen, da ich nun ein Monat wegbin - und nun drei 20
Jare - ich bebe. Gestern Abends kont' ich nicht mer; da must'
ich hinaus. Es war tiefer Schne und acht Ur'schon. Da ist ein
Hiigel, wo ich hiniiberschauen kan in's gelobte Land, wo Helo-
ise atmet. Ich stand dort, iibersah* die ganze Gegend, wo der
Schne so schon vom Monde zuriikblinkerte und der ganze Bo-
den, wo ich stand, wie Feuer glimte. Uber mir war eine helle
Sternennacht - und der liebe Mond, der einem Leidenden iiber
allesist, denn er hat so 'was trostendes, mitweinendes fur Elende
- der liebe Mond gieng seinen blauen Weg am hellen Himmel
hin - kalter Wind saust' um mich - wild stiirmten die eisschwan- 30
gern Wolken im Ater dahin - furchterlich knasterte das Eis im
nahen Flus nacheinander hinauf Ach! ich stand so da, schaut'
hin, iiber iene Gebirg' hinweg, wo sie ist - die Sele sente sich,
die Geliebte zu sehen, dachte: Ach! Geliebte! du denkst iezt nicht
ABELARD UND HELOISE 1 53
an deinen elenden Abelard, der von kalten Nordwinden um-
stiirmt, da friert, der da weinend zu dir hiniiber schmachtet,
den die Qual von dir zu sein, im Herzen engt - der da steht,
die Arm* ausstrekt und - kalte Luft erfasset! Ach! da schwol
mir der Busen! must' hinweg, so unbefriedigt, so durstend wie
zuvor - da dreht' ich die Augen vol Tranen himmelan, blikt'
unterwarts, schlug mich an die gliihende Stirn, eilte nach
Hausse! - Ach! so ein Zustand! Aber nun, wenn die Geliebte
meiner Sele, denk' ich, hier fur mich auf dieser Welt nicht mer
10 ware - was dan? Wie wolt' ich's aushalten, die langen Lebensiare
vol zerenden Kummers? Fiirwar! nicht lange wtird* ich mich
qualen - dies Gehirn ist bald zerriittet, und das schlagende Herz
bald zum Stillesteh'n gebracht - - Wo gerat' ich hin? - Ich bin
iezt ganz anders wie sonst. Mannichmal (ibereist eine Kalte den,
sonst so warmen, Jungling, daB mich sogar ein mittelmassigefr]
Menschenkenner fur einen Gefullosen, Unempfindlichen schel-
ten wiirde - eine Kalte, wo mich eine noch so riirende Sache
nicht zum Weinen bringen konte. Ich bin zu ungliiklich; darum
riiren mich andrer Leiden iezt so wenig. Und oft - da steigen
20 die Tranen von selbst.in die Augen - bei den freudigsten Bege-
benheiten. Denn eben diese lassen mich mein Leiden vermoge
des Kontrastes noch einmal so stark empfinden. -
am 16. Nov.
Nichts mer braucht' es, mein Ungliik volkommen zu machen,
als den Kerl kennen zu lernen, den ich dir schon in den vorigen
Briefen als einen Nichtswurdigen geschildert habe - den nam-
lich, der meine Heloise bekommen sol. Ich sah ihn, und sein
Anblik erschiittertedie, schon sinkende, Sele- der arme Nieder-
gedriikte wurde gar in die Tiefen des hochsten menschlichen
30 Elends versenkt. Er kent mich schon, er weis die ganze Verbin-
dung, in der ich mit Heloisen stehe. Er meidet meinen Anblik
-tief kocht Has aus dem beengten Herzen herauf, flistert, heim-
lich mir zu: Beleidig' ihn - schad' ihn[!]. Tagtaglich mus ich
ihn sehen. Wiist' ich doch seinen Namen nicht, urn mich ieden
154 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Augenblik an den Quel meiner Plagen zu erinnern! Und hore
noch Lieber! bald, bald geht er hin - mich ganz ungliiklich zu
machen. Denn bald wird er meine Heloise heuraten. Ach! mit
diesem Wort' alles hin - mit diesem Worte meine Freud' auf
, ein ganzes Leben geraubt - mit diesem Wort ich elend! Freund!
wenn mich doch eine Krankheit hinrisse, um al den Jammer
nicht zu erleben! Wie gern wolt' ich an dem Heuratstag Heloise' s
hinscheiden von dieser Welt! Wenfn] doch des Todes kalter Arm
den Lechzenden, Ungliiklichen umfaste-undhinin's stille Grab
ihn senkte! Ach! wie wol war mir's in der kiilen Erde, wo die
Brust, vom Jammer gedrangt, hinwesete, al die Glut, die im
Herzen flamt, abgekiilt wurde, und der arme Abelard ruhig
al seine Qualen verschlummerte - Vielleicht! ach! mus ich ihn
wol selbst rufen - Selbst! - oh!!
am 12 Dezemb.
Warum ich dir seltner als sonst schreibe? Keine andre Ursache,
als weil ich nichts zu schreiben habe. Alle meine Briefe sind
vol von Klagen iiber mein Elend - sind Zeugen meines Ungliiks
- und davon wilst du viele lesen? - - Doch heut' einmal, Dank
Got! kan ich mit unbedrangterm Herzen schreiben. Ein wenig 20
Hofnung dammert im schwarzen Gewolk meiner kiinftigen
Leiden herauf - Wie's so wol tut! Aber wie? ich freue mich,
daft eine Mordtat mer in der Welt geschehen ist? Paradox!
Ich wil dir's entratseln. Fischer ist fort von hier; aber vorher
hat er einen Menschen im Duel ermordet. Man sezt ihm nach.
Nun ist keine Hofnung fur ihn, Heloisen zu bekommen. Weit
wird der Bedauernswiirdige in der Welt umherschweifen. Ach!
wenn's ware - wenn ich Heloise einmal Got! wie gliiklich!
Aber mir andet's - Den ganzen Vorfal hab' ich dem Karl schon
geschrieben. 30
am 20 Dezemb.
Wtitet nur immer, ihr Qualen! die ihr's arme Herz zerprest -
lekt nur immer, gliihende Schmerzen! das bisgen Freuden-
ABELARD UND HELOISE 155
und Lebenskraft im Elenden auf - giesset neuen Jammer in die
gedrangte Brust, damit sie bald zerspringe — verzert den armen
Abelard! Vorher must' ein ziikkender Stral der Hofnung ein
wenig dammern, damit ewiges Dunkel desto fiirchterlicher dem
Erdenson alle Freuden verfinstern, schwarzes Gewolk desto
graulicher iiber seinen Scheitel wiiten konne. Ha! eile! entflieh'
der oden Erde! wo keine Freude mer fur den Verlasnen keimt
- wo Jammer, Ungliik nur sich veretnigen, d'en Guten zu foltern,
den Bosen durchzulassen. Lies! Wilhelm! dies aus Karl's Brief;
io und zittre fur deinen Freund. »Den 17 Dezemb. kam Fischer
an. Er kerte bei'm Amtman ein, wo, wie du weist, Heloise
logirt. Er tat ganz friedlich. Niemand wuste die schwarze Tat,
die er veriibt hatte; aber niemand mutmaste noch weniger die,
die er im Sinn' hatte. Er wuste, dafi er sich auf Heloise keine
Rechnung machen konte. Was tut er? Ach! Freund! fast trau'
ich nicht, dir's zu schreiben. Er beredet Heloise abend mit ihm
im Garten spazzieren zu gehen. Wie eine Schlange so bos, so
lisdg, flirt er sie bis an's hinterste Ek des Gartens. Er wirft sie
zur Erde - sezt ihr's Pistol auf die Brust - wil sie enteren. Sie
20 schreiet. Es kommen Leute. Er schiest los. Der Schus geht durch
den Arm. Sie fait in Unmacht. Der Bosewicht entflieht. Nun
liegt sie schon etliche Tage todkrank. Man zweifelt an ihrem
Aufkommen. Sie seufzet nach dir; und begert dich noch einmal
vor ihrem Ende zu sehen. -« Ach! armer, elender, bedauerns-
wiirdiger Abelard! hin ist alles mit ihr! Got! ach! Heloise! Ge-
liebte! dieser Menschenmorder muste dich auch gar morden.
Ha! wie die grauenvolle Zukunft mit schrekkenden Blizzen iiber
den Zitternden daher leuchtet! Freund! schaffe mir Hulfe! Errette
den Elenden, der am Rande seines Ungluks wankt, dem alles
30 entraubt, der bios, verlassen ist, allein, traurig in Gottes Schop-
fung hinwallet. - Ach! wie sie schmachten wird nach mir auf
dem bangen Todesbette - wie seufzen wird die gute Sele nach
dem Ungluklichen! Ich mus sie sehen, eh' sie hinstirbt, mus
sie umfangen, eh' sie erkaltet, und den lezten Hauch ihres Atems
verschlukken, eh' er verduftet - So weit komt's mit mir, mit
meiner ungluklichen Liebe! Dan, dan wird Abelard eilen, ihr
I56 * JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
nachzufolgen, und — sterben. In etlichen Stunden reis' ich ab.
Got! wie die Gedanken in mir sich verwirren, die Empfindungen
abwechseln! -
am 24 Dezemb.
Ich bin bei Heloise. Sie schlummert - bald wird sie auf immer
schlummern. Hu! wie's rauscht urn mich! wie der Todesengel
urn's arme Opfer mit geziiktem Schwerdte schleicht - wie ich
sie schon klagen und singen hore, die Leichleute, mit schwarzem
Flor angetan - wie dort die Bare, die meine Geliebte einschliest,
mit den fliegenden Todenkranzen oben, hin in der Luft schwebt 10
- wie driiben der Priester an des Grabes Rande von Eitelkeit
und Tod predigt; und wie sie, sie^- hin in die Erde versenkt
wird, die Erdschollern [!] den graugemalten Sarg erschiittern,
und wie's dumpfen Todeston wiederholt aus des Grabes H6F
heraus!!!
Abends kam ich zu meiner bald scheidenden Heloise; sturmte
die Stieg' hinauf; achteteniemand. ZurTiir des Zimmers hinein!
Undach! ach!-blas, diebliihendeBlume-todengelb, die weisse
Lilie - tief in der Stim' Hole, das sanfte, blaue Auge - eingefallen,
das voile Antliz — Sie blikte zum Fenster hinaus. Sie sah mich 20
mit senendem Auge, das Auflosung wiinscht - neue Wonne
belebte die fast schon verwesende Leiche - al die Frcuden, sonst
in Gliikstagen eingesaugt, umdammerten bei meinem Anblik
den schon hinwegeilenden Geist, gliihten tief aus dem schon
erkalteten Herzen wieder auf. So traf ich sie an. Hin war ich,
fiel auf 's Bette, wo sie sterben soke, umfaste die vorige Geliebte,
benezte das liebreiche Angesicht mit heissen Tranen, driikte sie
hastig an mich — »Abelard« keuchte sie tief aus dem bald mo-
dernden Herzen heraus - ich zerflos in Tranen. Ach Got! guter
Vater! kontest du mich so leiden sehen, und nicht in die ewigen 30
Wonungen aufnemen den Leidenden da? - Ich sazte mich nieder,
sie strekte die schwache Hand nach meiner aus - driikte sie,
scufzte dies mit leiser Stimme: Lieber Abelard! Sie — sehen
daB ich bald diese Welt — verlassen — werde
ABELARD UND HELOISE I 57
dafi nun - bald geschehcn wird was ich
schon — lange — wiinschte Ich - - danke - Got! Wie
— wol — werd' — ich — ruhen Ich glaubte Sie
— in - dieser Welt nicht — mer - anzutreffen - hier
ist der Abschiedsbrief an - Sie Betriiben
Sie - Sich - nicht — wir - werdcn — einander - wiedersehen
Hier blikte sie mich an mit bedeutungsvollem Blikke;
und ach! ihre Augen weinten Tranen - vielleicht die lezten in
ihrem Leben. Sie zeigte mit ihrer Hand nach oben hin. Freund!
io dies Geschopf mus ich verlieren? und so zusehen, wie's da liegt
im maligen Ermatten ihrer Krafte, im Verzeren al ihrer Lebens-
geister - zusehen, wie's bange Herz immer matter im kalten
Busen schlagt, wie die Leidende mit senendem Blikk' herumirt,
urn Hulfe zu suchen, sie nicht findet - und trostlos in sich kert,
den Tod schon fiilt. — Ach! Ach! wem solten hier nicht die
Augen von Tranen iiberfliessen? wem, der nur Mensch ist? und
mir, der ich ihr Geliebter bin, der ich in ihr alle Befriedigung
meiner Wiinsche suche? ich??
O Tod! wilkomner Gast! wenn du doch Abelard's weinende
20 Augen schlossest und cliese Quellen von Tranen den nagenden
Wurmern iibergabest! - Verwcsung! angenemer Freund! wenn
du doch diese iiberfulte drangende Brust, wie ein liebes Kind,
aussaugtest und dieses rebellische Herz dem Spiel der Winde,
in Staub verweset, hinliefertest! - Und kiile Erde! Stof meines
Korpers! wenn du doch diescn gliihenden, al seine Krafte selbst
verzerenden, Jiingling bedektest, neben ihr mich aufbewaretest,
neben ihr mich in Moder auflostest und dan! o Got! du
mich wieder mit ihr auferwektest!
Ich wurd' unterbrochen; ihr Beichtvater kam. Ich stelte mich
30 an ein Ek des Fensters. Alles war mir Traum, was man mit
ihr tat. Fast eine Stunde sagt' ihr der Geistliche vor. Ich wurd'
es iiberdrussig, mir die lezte Stunde, die ich mit diesem Geschopf
noch zu verleben hatte, so entreissen zu sehen - und sagte dero-
wegen zu ihm: Lassen Sie's gut sein. Sie hat from gelebt. Sie
braucht nicht, sich erst auf ihrem Todenbette zu bekeren. Ich
wil Ihre Stelle bei ihr vertreten. Ich fertigte so den Geistlichen
I58 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
ab. Man woke iemand her zu ihr tun, der sie die Nacht bewachen
soke. Ich bot mich selbst dazu an. Niemand als ich sol bei ihr
sein, und sie sterben sehen - denn ich vermut' ihren Tod heute
nacht. - Got! wenn sie doch genesete! -
Um 10 Ur zu Nachts.
Da sizz' ich allein; neben mir die schlummernde, todkranke,
bald hinscheidende Heloise. Wie himlische Klarheit ihr Antliz
umleuchtet - o! sie fult sich schon in iene seligen Gegenden
versezt, von Himmels Engeln umgeben, von Got fur die Leiden
mit gtitigem Blikke belonet. Ach! nicht mer wie vorher tobt 10
der Schmerz in mir; die Krafte sind erschopft. Stil iiberflies ich
von Tranen. Sie hat mich getrostet; mir vom Wiedersehen ge-
sagt. Sie scheint immer schwacher zu werden. Freund! wenn
sie hinsturbe, die, nach der Abelard's ganzes Wesen alle Krafte
strekt - wenn der arme, verlassene,, one Geliebte, hier auf der
weiten Welt herumirren miiste - wenn Todestaler die zwei Lie-
benden so schreklich trenten — Wenn dan mit ihr iede Schonheit
der Natur erstiirbe, iede Blum* ihren Qlanz verlore, des Vo-
gels-Gesang [!] one Reiz dem Elenden tonte, wenn mit ihr die
ganze Schopfung fiir ihn tod, ungeheur vor ihm lage ach! 20
dan werden bittre Tranen die Wangen des Ungluklichen benez-
zen, immernagende Schmerzen das Herz des Armen durchgra-
ben dan werden die Augen des Untrostbaren hin in die
dunkle Wiiste des Elends starren, er wird leiden - aber nicht
lange - Freund! wenn sie stirbt; sterb' ich audi! Ich bin ganz
des leztern Gedankens vol.
One dich dies Leben durchzuwallen,
Heloise! kan ich nicht -
Wie die welke Blume werd' ich fallen,
die die Wut des Sturmqs bricht, 30
wenn du vor mir hin in ienes Leben eilest,
und der Leiden sat - in Jesu Arm verweilest.
ABELARD UND HELOISE 159
Um 12 Ur zu Nachts.
Endlich hat sie ausgekampfet; sie ist verschieden. Ich aber bin
noch da, atme noch; werde noch gefoltert. Engel droben bist
du, schaust auf den Leidenden mit tranenleren Aug' herab. —
Ich sas bei ihr am Bette, als sie erwachte. Star blikt sie mich
an, sammelt alle Sehkraft, ihren Abelard noch einmal ganz in's
Auge zu fassen und sein Bild mit in iene Ewigkeit zu nemen
- sie reicht mir die Hand, rochelt tief aus der beklemten Brust
mit Todesstimm' heraus: »ich — werde — bald - verloschen
io — Leb — wol - Abelard! wir - sehen uns wie «
die Stimme stokt, sie schliest die Augen - die Wangen erbleichen
- die Fuss' erkalten - die Hande starren — der Todesschweis
kocht aus der welken Stirne - die Lippen zittern - iedes Adergen ,
und Nervgen zukket zum leztenmal - das Blut stromt steter
- das Herz treibt's nicht mer - das Geschopf ist im Todeskampf
- noch einmal - alle Krafte der sterbenden, geangsteten Mensch-
heit gesamlet - blikken mich die sterbenden Augen wild an -
verloschen - innen pocht's - iede Fiber strebt gegen den Tod
auf, streitet die lezte Kraft weg ich fal auf ihr Todenbette
20 - umfasse die Scheidende - driikke wiitend ihr pochendes Herz
an meines, ihre Todenfarbigen Lippen an die meinigen - lasse
sie nicht faren, begere mit ihr zu sterben - endlich durcheist
die Todeskalte die Erblaste - sie ist nicht mer Heloise - ich
lasse sie. Eine Viertelstund sink' ich hin in Betaubtheit, fiile
nichts. Bios mein Geist entschwebt der Erden Tiefen - fliegt
mit der Verklarten gen Himmel - sieht sie im Unschuldsge-
wand, mit der lezten Tran' uber Leiden im Aug, vor dem [!]
Alvater treten und knien - sieht die weinenden Engel ihr des
Elendstranen [!] abwischen — sieht den Himmel vergniigt, eine
30 neue Dulderin einzunemen. Liebreich tont das Gold himlischer
Saiten auf den Engelsharfen herab - lieblich sauselt es Kiilung
von den wehenden Palmen herunter - Und ach! sie sieht, in
Himmelsglorie drunten auf die Erde blikkend, den armen Abe-
lard vom Schmerz gebeugt, vom Kummer durchnagt, knien,
weinen, flehen - sie winkt, sie gebeut zu folgen - ich wil und
fiile der Erde Fesseln und erwache.
l6o JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG
Ich bin meiner nicht mer machtig; alles ist in mir verhiilt.
Ich seh' zum Fenster hinaus, auf zu dem sternvollen Himme]
- erblikke den blassen Mond, mit graulichdurchschimmerten
Wolkgen, verschleirt, hineilen, seh wie er iiber die Ungliiklichen.
des Erdentals weint. Freund! es wird ruhiger in meiner Sele
- es wiitet nicht mer so in derselben. Der Got, der alles liebt,
hat auch sie mir entrissen - er wird wiedergeben, was er genom-
men hat; er wird verzeihen, wenn ich selbst ihr nacheile. Ich
wil beten, dafl er mich bald hinrufe zu meiner Entschlummerten
- Wie sie iezt iube[l]n wird bei den Koren der Verklarten - 10
wie sie sich freuen wird, al dem Jammer so hurtig entgangen
zu sein. Da liegt sie, auf dem Bett' ihrer Ausdultung - so schon!
so himlisch! Welche veredelte Physiognomie! Wie die Augen
so sanft geschlossen sind - der Mund so ruhig — dieser tode
Engel! - Abelard! lagst du doch neben ihr so! - Der Schmerz
wait wieder auf — Ich wil Lerm machen, und ihren Tod ansa-
gen! Leb' wol Lieber! du wirst wenig Brief e mer empfangen!
Ach! Ach! -
am 26. Dezemb.
Heut' hab' ich den Brief von meiner verstorbnen Heloise gelesen 20
- den Brief, wo sie Abschied von mir nimt. Ich wil dir ihn
abschreiben: du wirst weinen.
»EdIer, betriibter Abelard!
Du wirst dieses Blat in die Hande nemen, wenn ich schon
modere. Du vermutetest meinen Tod nicht, du glaubtest nicht,
neulich mich zum leztenmal zu sehen; aber F. - Got verzeih's
ihm - hat alle deine Hofnung vernichtet. Geliebter! wir waren
einst gluklich, wir hoften, es in Zukunft noch mer zu sein -
aber nun sind wir getrent, weit, weit getrent, bis ein woltatiger
Tod dich wieder zu mir fiirt. Bald schauder' ich, den bittern 30
Kelch des Todes zu trinken - bald hoff ich auf seine Ankunft,
sene mich, ihn zu umfangen. Got! hilf mir! - Und du, edler
Jiingling, lebe wol. Du wirst viel dulden muss en. Mein Tod
wird dein Innerstes zerreissen. Oben in ienen seligen Hohen
ABELARD UND HELOISE l6l
werd' ich wandeln, und du wirst unten im Tranental seufzen
-ich werd' Himmelsfreuden geniessen, und du wirst deine Tag'
in Tranen verleben. Wenn nach diesem Leben noch Erinnerung
des vorhergenossenen Daseins stat findet, ach! dan wird oft
deine Heloise, mitten unter der zaubernden Musik hoherer Gei-
ster, unter den Koren der mitweinenden, edlen Engel - mitten
in der Geselschaft des Menschenfreundes, den ich bald anbeten
werde - mitten unter diesem allem wird sich der Gedank* an
den Abelard, der traurig auf Erden wandelt, in alle meine Freu-
io den mischen, mitten unter den Tranen, die die Entziikkung der
Liebe Gottes weint, wird eine triibe fur dich, Herlicher! herab-
rollen - im Himmel werd' ich an dich denken, dich zu mir
wimschen. Geliebter! mir bricht's Herz, dich lassen zu miissen.
Aber las es sein. Bald werd' ich dich umfangen in der Ewigkeit
- bald werd' ich dir die Tranen vom Aug' abwischen vor Got,
vor Jesu, vor den Engeln. Besuch' abend bei'm Mondenlicht
meine Grabstatte, schopfe Trost, nahe bei meiner eh'maligen
Hiittezu sein, und hoffe, den Bewoner derselben bald zu umar-
men. Blikke dan gen Himmel, und wenn's den Seligen vergont
20 ist, ihre Geliebten und Freunde von oben zu betrachten, o! so
wird deine ehmalige Geliebte oft in den weissen Wolkgen im
Lichtgewand erscheinen, Trostung dir zuwinken. Dan wird's
in des Kirchhofs Baumen todenleise rauschen, dan werd en die
Blumgen, die auf meinem Grabe bliihen, im Mondenschimmer
durch kule Liifte geschwankt werden, und ein sanftes Schauern
wird deine Wange belispeln; dan denke: hier ist der Geist Helo-
ise's. Ach! dan werd' ich vor Got niederf alien, fur dich beten,
um deinen Tod flehen. Kom bald! Abelard! o mit Freuden wil
ich dich umfangen - dan wird dies beangstete Herz nicht mer
30 in einem kummervollen Busen schlagen - ich werde mich f reuen
- freuen - Dulde! weine; aber tobe nicht! Bald wird dein Leben
verrauschen! Lebewol! ich weine! zum leztenmal! sei gluklich.
Dich erwartet
Deine
sterbende
Heloise. «
1 62 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Wol zwanzigmal hab' ich diesen Brief schon durchgelesen:
ich werde des himlischen Trostes darinnen nicht sat. Ach!
Freundin! dich must' ich verlieren! eine so edle, so herliche Sele!
Nun bist du da, wo du dich hinwiinschtest; droben wandelst
du unter Engeln, mit unbetrantem Angesicht - du blikkest freier
- und dein Abelard leidet noch hier. Ach! der seufzet - schwer
heraus, aus der beklommenen Brust. Lieber Got! wenn ich doch
schon bei ihr ware! Was bin ich der ganzen Welt mer niizze?
oder sie mir? Zu ieder Arbeit bin ich verdorben: ich habe gelebt,
und nur fur Heloise; sie ist tod, ich lebe nicht mer, fur nichts 10
auf der Welt. Einsam werd' ich in meinem Gram herumgehen;
nichts wird ihn lindern, als der Tod. Und der verzieht noch?
In der Nebenkammer liegt ihr erblaster Korper. Dumpf
klingt's iezt aus dem mosigen Kirchturm zwolf Ur heraus. Hu!
wie furchterlich! ach! klange die Glokke Todesklang, schallete
sie, mich zu Grabe zu lauten!!! Vor sah' ich die Anstalten, die
man machte, sie auf morgen zu begraben: Es war abends. Da
ergrief mich wieder der Jammer. Ich eilt' auf diese Stube, ver-
barg das weinende Antliz - wolte gar nichts mer denken und 20
empfinden, al meine Geisteskraft* in Nacht umhiillen. Endlich
fiel mir's ein, die tode Heloise noch einmal zu sehen. Allein
geh' ich leise in's Zimmer, wo die Geliebte liegt. Sie war schon
eingesargt. Das ganze Zimmer war vom Mond' erleuchtet. Ich
hob den Dekkel vom Sarg ab. In ein weisses Sterbkleid einge-
hult, lag sie drinnen. Jezt Lieber! wenn ich al das dir ausdriikken,
malen konte, was so lebendig, so alumfassend meine Sel' er-
schiitterte, als ich die Geliebte star, kalt, one Sel' und Empfin-
dung, mit Moder und Verwesung erfiilt, vor mir liegen sah
- als es drangt' in mir, zu ihr zu reden, und sie nicht horte 30
meine Stimme, nicht sahe mein Weinen - als ich so dachte,
diese, mit der du so oft beisammen sassest, deren Gegenwart
Wonnegefiil in dein krankes Herz gos - ach! diese, nach der
sich deine ganze Sele sente, diese schlummcrt hier, schlummert
Todesschlaf - da liegt die Edle, nach viel tausend Kummer hat
sie ausgerungen - hat sich hin in's Wonneleben gekampft - Gute!
ABELARD UND HELOISE 1 63
wie oft blikte dein triibes Auge tranenvol gen Himmel - hier
ist's geschlossen, tief in die Nacht verhiilt - Wiirmer werden's
bald durchfressen — ach! dieser blasrote Mund, wie oft erofnet'
er sich, entziikkende Wortezu sprechen, iezt ist [er] stum, stum,
bis Got ihn zum Lobgesang gegen ihn wieder ofnet und
diese Hand, die so kalt iezt in der meinigen ruht, ach! wie oft
driikt' ich sie, fulte WonnegefuF an derselben die schone Natur
zu betrachten - ach! diese ist erstart, stil steht der Puis in dersel-
ben - und dieser Busen, an dem ich so oft Tranen des Kummers
10 verweinte, so oft an ihn hinsank - wird Wonung von Gewimmel
nagender Wiirmgen! Und dieses edle Herz - bald wird's hin-
stauben, und bald wird der Wind im Sturme seine Teil' her-
umiagen, oder die leisen Liifte werden es als Sonnenstaub in
der untergehenden Abendsonne bewegen — ach! ach! alles so
hin! dieses edle Geschopf so zerstort - Und Abelard noch nicht?
der ist so verlassen? so allein in der Welt? nichts ist mer
fur ihn, dem er sein hinwallendes Herz naher bringen, mitteilen
konte? - allein wiiten in ihm die Sturme des Ungliiks? drangen
ihn? Da steht er, in al seiner Eingeschrank[t]heit, Nichtsvermo-
20 genheit - seufzet, haschet zu erfassen, was weit von ihm ist
- er mochte gerne mit ihr reden, ach! sie horts nicht - gerne
sie kiissen; ach! er schaueret, die bald erdewerdende Lippen an
die seinigen zu drukken — Ach! mus ich denn so? Stent's nicht
bei mir, al diese Qualen zu enden, mich hin in die stille Todes-
nacht zu stiirzen? - Ein Strom von Tranen entdrang meinen
Augen. Eine Minute - ein Zufal - ein Punkt - so war' ich hin
gewesen; so hatt' ich sie dort erblikt, so war' ich al meinem
Jammer auf einmal entgangen. Aber, Freund! es gehort Mut,
Starke, Kraft dazu, selbst dem grauenvollen Tod in die Augen
30 zu treten. Man schauert, wenn man ihn naher erblikt. Was wird
aus mir werden? - Leb wol!
am 27 Dezemb.
Gotlob! daB al das Gerausch, al mein Jammern ein wenig vorbei
ist. Heute wurde sie begraben; wie stil wird sie ruhen! Ich wil
164 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
dir al meine Empfindungen bei ihrem Begrabnisse mitteilen.
Um die Zeremonie mitzumachen, must' ich mich schwarz an-
kleiden, und in Flor verhullen! Ach! lieber ein weisses Un-
schuldsgewand, um einen Engel zu betrauren! - Ich must' al
das leidige Kondoliren mit anhoren - Kondoliren - mit lachen-
dem Munde - schoner Kontrast! Fischer, ihr Morder, hatte wol
selbst mit kondolirt. Aber ich nam mir vor, mich al der lastigen
Gebrauche zu begeben. Ich war stum - Nur meinen Schmerz
dacht' ich - an keinen Wolstand! Got! wenn's Innerste zerrissen
ist, sol man komplimentiren, Strom* nicht[s]sagender Worte 10
fliessen lassen, und heucheln? - Als ich so da stand, und man
vor dem Hause die Leichenarien zu singen anfieng, wo iedes
Wort den Armen mit Dolchstichen verwundete, iedes Wort so
dumpf in den sinkenden Geist tonte, als die Sele bei den ziehen-
den Klagtonen der Sanger so innig fortiammerte, tief im zerris-
senen Busen das blanke Schwerd fulte — als dan der Leichenzug
angieng, als ich sah al meine Wonn' in ein holzernes Gehaus
verengt - mit schwarzem Leichtuch umhult - hin, hintragen,
und ich hinterdrein schlich mit verstortem Blik, zeriammerter
Sele - als die Flore vom Wind' in die Hohe geiagt wurden, 20
und schwebten — und als es bei dem Garten vorbeigieng, wo
ich etliche Monate vorher mit der Verstorbenen Hand in Hand,
weinte, und ich mich dan der Red' erinnerte, die sie an mich
hielt, da ich auf Universitaten gieng, da sie sagte, weinend, vol
edlen Gefiils sagte: wir werden wiedersehen, wiedersehen
als das al mich umfaste, ha! da stiirzt' ich hin in Nacht des
Schmerzens - kein Sin empfand - die Sele war umfinstert -
im grauen Nachtdunkel brausten des Sturmes Wogen - ach!
da hatt' ich mich, wenn ich gekont hatte, hin in den stromenden
Flus gestiirzt, al meine Qualen geendet — Und als man weiter 30
in den Gottesakker kam, und ich al die beschneiten Hugel der
Graber erblikte, und droben neben kalen, beeisten Lindenbau-
men die frische Erde des neuaufgeworfenen Grabes sah, und
als ich naher kam, wo ihre Grabstatte sein soke, und hin an
seinen Rand schritte, und hinunter sah, und hinein starte mit
wildem Blik, und dies kalte Haus schauete, und dachte: kiil!
ABELARD UND HELOISE 1 65
eng! bist du! da verwesen al meine Wunsche? hier? . . . hier
modert, schlummert, verstaubt sie? — und als der Geistliche
sich vor die Bare stelte, unter dem freiem Himmel mit lauter
Stimm' iiber den Gottesakker hin von Eitelkeit predigte, und's
tief in mir rufte: eitel! eitel ist alles! Lieben und Hassen! Freud'
und Weinen! eitel! vor etlichen Monaten war al dies anders -
- und als das Gewimmel der Schneflokken vom Himmel herab
die schwarze Bar* iiberschneite, und man den Sarg von der Bar'
herunterhob, die Seil* uber's Grab breitete, die den Sarg hinun-
10 terlassen solten, und als der Dekkel abgehoben wurde, urn die
Erblaste im Grabschmuk den Leuten zu zeigen, und ich durch's
tranengetriibte, blode Aug* ihre weisse Hand erschaute, die so
oft in meiner ruhte, die ich so oft dnikte, und diese Hand in
den veriammerten Geist al die genossene Freuden wiederhin-
dammerte, und sie schmerzlich aufgliihten im Verlassenen, -
- als ich dan hinunter in's enge Haus, in's kiile Grab meine
Heloise — Heloise - ach! — sinken sah und in die Tiefe so
schnel der Sarg fiel, und die Seil' unter ihm wieder hervor gerolt
wurden, und die Todengraber mit Schaufeln die gefrorne Erd'
20 hinunter schollerten, und die Erdklumpen auf dem holen Sarg
wiedertonen, und's graulich aus der Gruft herausdumpfete, und
der Schal mir wie Abschiedsstimme der Geliebten vorkam, und
das Grab gefiilt ward, und der Graber mit Fiissen den Boden
zustampfte, und ich sie dachte, hart unter der Last der Erde,
eng, verschlossen — weg von mir - als - als - als - dan, dan
hiilt' ich mich in den Todenmantel, verbarg Kopf und Brust,
lies wiiten die UngKiksgewitter, schrit hinunter in's Todestal
- sente mich - drang - - - aber aber ich durfte, konte nicht
Noch atm' ich!
am 29 Dezemb.
Ein wenig bin ich wieder ruhiger. Aber oft hab' ich Anfalle
des Schmerzens; dan bin [ich] im Stande, mir das Pistol an die
Stirne zu driikken - Aber wenn ich wieder kalter bin, und mein
Vorhaben iiberdenke, so schauder' ich. Ich habe nicht Krafte
l66 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG
genug, dies auszufiiren; oder vielmer, mein Jammer ist noch
nicht gros genug, mich zu dieser Tat zu drangen. Der erste
Anfal wird mich Was wird aus mir werden? Sieht Got
nicht meinen Jammer? ist's Siinde, empfindlich und trostlos bei
Beraubung der Freuden zu sein? Wenn nicht - so ist mein Zu-
stand nicht zu verdammen; aber wol zu bedauern. Von Woge
zu Woge werd' ich getrieben - und endlich scheitern.
am 30 Dez.
Wenig hat gefelt, so ware mein voriger Brief an dich mein lezter
gewesen - wenig, so schlummerte dein Freund schon in der 10
kulen Erde. - Ich war wieder in Gefar - in Sturm. Alles macht
sich auf, mein Herz in den grosten Jammer zu versenken. Ich
habe sogar das lezte nicht, was nie einem Ungliiklichen versagt
war - den Tod. Ich kan ihn nicht erbeten - er flieht mich -
Ich flehe - er achtet mein nicht - ich brauche Gewalt - er verlacht
mich. Gestern war ich unbeklemter; heute fieng's wieder an
auf zu wall en, tief braust' es ein Brausen des Sturms, der Wut
in mir - wie Atna's Lavaglut kocht' es aus dem eingeengten
Herzen herauf. Den ganzen Tag heut war ich einsam. Nur
abends gieng ich spazzieren, mer meinem Kummer neue Na- 20
rung zu verschaffen, als ihn zu lindern. Spat kam ich zuriik.
Es war schauernde Kalte. Der Mond schien hel. Ich erblikte
von ungefar den Gottesakker. Mit unaufhaltbarer Gewalt ris
es mich hin zu demselben. Hinein. - Ich erinnerte mich al dessen,
was die Verstorbene mir in ihrem lezten Brief geschrieben hatte.
Hin zum Grabe. Ich stand in stiller Einsamkeit zwischen den
einsamen, dampfenden Grabern, als ich mich erinnert' ihrer
Wort' im Brief, vom Himmel herab auf ihren Abelard zu
schauen, mir in glorienvoller Gestalt zu erscheinen, als ich mich
aller meiner Freuden mit ihr, erinnerte, meiner Heloise mich 30
erinnerte, die stil unter mir staubte, nicht horte Lerchengesang
und Nachtigallenlied, nicht sahe Sonnenglanz und Mondsdam-
merung — als ich um mich her in meiner Sel' al dies wie in
Reihen gestelt, versamlet hatte — und ein ungefarer Wind durch
ABELARD UND HELOISE 1 67
die nakten Gipfel der Baume wisperte, und meine gliihende
Wang' anschauerte, und die erhizte Phantasie aus den schwim-
menden, weissen Wolkgen sich die erblaste Heloise in duftiger,
glanzender Luftgestalt webte, und sie mir zu winken schien -
wie al dies so in mich drang — da fiel ich zur Erde, auf ihr
Grab - erwog - beschlos, zu sterben, und mich durch die Kalte
des Nachtgeistes tod en zu lass en. Ich warf mich hin in den
Schne. Hu! wie war's aussen so kill! und in mir so brennend!
Ich wolte langsam einschlafen und so erfrieren. Aber die Einbil-
10 dung, vol der lebendigsten, gliihendsten Bilder, lies keinen
Schlummer die matten Augen schliessen. Endlich war ich fast
schon on' Empfindung. Der Schlaf driikte mir endlich die
Augen zu. Lang lag ich so da; eine Stund' ungefar. Ach! nun
schlug ich die Augen wieder auf. Der Mondsstral fur in diesel-
ben. Ich war erstart, hike nichts mer. Das Sturmen meines Her-
zens hatte nachgelassen, und die Bilder der gliihenden Phantasie
waren ausgeloscht. Ich wuste nicht, wo ich war. Ha! sagt* ich
endlich mit erfrorner Lippe, lebst du noch? ist dies um mich
her, Erde, oder Himmel, oder Holle? - Ach Ungluklicher! der
20 Tod komt nicht. Du must ihn oft rufen. Er last dich wieder
erwachen, damit er's Vergnugenhabe, dichzwei [mal] zu toden.
- Nun gieng ich wieder so durstend, so unbefriedigt nach Haus,
wie ich gekommen war. Ach! Got, du must es wollen, dafi
ich noch atme - meine Ur mus noch nicht ausgelaufen sein.
Ich wil warten — Obermorgen ist das neue Jar. Das alte ist
herlich angefangen, elend verlebt, und erbarmlich geschlossen
worden. Mut-- dieser felt; ach! wenn's vorbei ware. Leb* wol!
Die Griinde wider den Selbstmord, die du mir unfelbar entge-
gensezzen wirst, kanst du bei dir behalten. Ich weis sie alle;
30 sie helfen mir aber zu nichts. Sie martern mich bios, machen
mir meinen Tod schwerer. Begeh' ich den Selbstmord nicht;
so werd' ich grossere Feler begehen. Ich wil also lieber den klei-
nern
168 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
am 31 Dezemb.
Dank Got! es ist beschlossen. Ich wil sterben. Lieber Wilhelm!
es ist nicht mer Wut des iibermassigen Schmerzens, die dazu
mich drangt; es ist kalter Entschlus - On' Uberspannung sol
ein Schus durch's Gehirn den iammernden Geist von seiner
Hiitte trennen. Und der Grund dieser ialingen Veranderung?
ist dieser. Heut' abend, da ich nichts wuste zu tun, zu denken,
zu empfinden - so ser hatte der immerwarende Gedank' an die
Verewigte alle Kraft* abgespant - abend geh' ich wieder hinaus
in's freie Feld, und hinein in's Waldgen, wo ich vor meiner 10
Abreise mit Heloise war. Ein Gliik oder Ungluk fiirte mich
an den Ort, wo die zwei Liebende begraben lagen, davon ich
dir in einem meiner Briefe geschrieben habe. Es war der Ort,
wo dieienige schlummerte, die den Tod fur ihren erblasten Schaz
auf sich zu nemen nicht scheuete. Weiter braucht' es nichts,
in mir den glimmenden Funk en zur lodernden Flamm' anzufa-
chen. Ich erblikte sie, die Graber der beiden Edlen. Die ganze
Szene stelte sich meiner SeF in al ihrer Lebhaftigkeit wieder
vor. Ich erinnerte mich, wie ich mit Heloise an diesen Grabern
stand, wie wir der Liebe schwuren - Ach! da fiel mir's auf s 20
Herz. Schwacher, Entnervter, sagt' ich zu mir, ein weibliches
Geschopf, unter den Landleuten erzogen, wenig fur die feinern
Regungen des Herzens gestimt - scheut sich nicht, den Tod
iiber sich zu nemen we gen ihres Geliebten - und du, der du
so vol Gefiils bist, den iede entnommene Freude tausendfach
verwundet; du bebst, dem Tod unter die Augen zu treten? Dein
Herz wird von immerwarendem Jammer durchbort, und du
zitterst, diesem Jammer ein Ende zu machen? Ich schwur, nicht
langer mich zu qualen - ich eilte nach Haus; war viel freier
und unbeklommener urn's Herz. Eben iezt um n Ur schreib 3°
ich dies; und bald werd' ich meinem Schwur ein Gemige leisten.
Ha! Lieber! dieses ist der lezte Brief, den du von deinem ehma-
ligen Freund liesest. Du wirst ihn lesen, wenn er schon lange
verschieden ist. Morgen ist neues Jar. Morgen feier* ich's im
Himmel. O Freund! morgen bin ich bei Heloise. Mit Wonne,
und mit Schauer blikk* ich hin in's vergangene Jar. Sehe Freu-
ABELARD UND HELOISE 169
den, und Qualen - Got Dank! daB sich der lezte Tag desselben
soherlichendet. Leb' wol! Wilhelm! Jezt todet sich dein Freund,
das gespante Pistol liegt neben mir. Zum leztenmal blikk' ich
zum Fenster hinaus nach dem gestirnten Himmel - zum lezten-
mal hab' ich diese Erde lebendig betreten und betrachtet - zum
leztenmal dammert mir der Mondstral. Ach Freund! ich weine!
vorher war ich kalt; iezt wird's Gefiil der Menschheit wieder
in mir rege. Alles zum leztenmal - Meine Eltern nicht mer sehen,
dich nicht mer sehen, Karl 1 nicht mer sehen? - Ach! troste meine
10 Eltern, wenn sie meinen Tod erfaren, sag' ihnen, daB ihr un-
gliiklicher Son eher zu bemitleiden, als zu verdammen ist. Tro-
ste den alten grauen Vater. Sag' ihm, bald werd' ich ihn in ienen
seligen Hohen umarmen. Kusse mein kleines Brtidergen an
meiner Stat. Troste meine liebe Mutter, mein Freund! Lebt alle
wol! die ihr mich liebtet! euch alle seh' ich wieder! auch dich,
geliebter, guter, edler Freund! unter tausenden wil ich bei der
Auferstehung dich suchen, vor alien andern dich umarmen, und
Tranen an dich hinweinen. Lebt wol! al ihr Menschen im Sterb-
tal! Seid gliiklicher als euer Bruder! DaB dessen Jammer keiner
20 von euch trage, keiner so sterbe wie er! Und o! ihr Liebende!
die ihr naher am Herzen mir liegt, die ihr gleichen Kummer
mit mir fiilet, seid geduldig! last al die Tranen, die eure Augen
triiben, mit ruhigem Gemiit die Wangen herabrinnen, last hoch
iiber euch heulen den kaltenden Nord, last unter euren Fus iede
Freudenblum' entbliitet und entblattert werden - ach! last das
al! Erinnert euch des ungliiklichen Abelard, wenn ihr seinen
Namen gekant habt, der mer duldete, als ihr - erinnert euch
desselben, wie er in seiner Todesstund' an euch alle dachte, und
Trostung fur alle Mitleidende vom Alvater herunterstonte! -
30 — Leb auch du wol, Rauber meiner Freuden! Morder meiner
Geliebten! vergeben sei dir von mir - auch du, o Got! vergieb
ihm. - Lebt alle wol Mitbriider! Mitmenschen! - Und du auch!
Wilhelm! teuerer Wilhelm! Wein' eine Trane des Mitleidens dem
ungliiklichen Jungling, der so - so seine Qualen enden mus.
Weine, wenn du meinen Tod horst. Meinen modernden Korper
begrabe du und Karl neben Heloise. Leb edel! Vor Jesu seh'
170 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG
ich dich, umarme dich Leb wol! Es schlagt zwolF aus!
Lebwol! Oh Mordgewer! zerspalte dieses Gehirn Got!
im Himmel steh' dem leidenden Geschopf bei! Jesu! erbarme
dich bald des Elenden, nim seine Sel' in deine Hande! Und du,
o Geist Heloise's! steh mir bei! Bald seh' ich! Hilf Vater! mein
Got! oh! - oh!
Der Schus geschieht, und befreiet den Ungliiklichen von der
langsam todenden Qual. Man hort den Knal, lauft herzu, und
findet Abelard todkampfend. Alle Mittel werden umsonst ange-
wand. In etlichen Minuten verscheidet er. Eine Trane noch ent- 10
quilt dem Auge, indem sein Geist sich vom Korper trent. Alles
ist in Besttirzung, da man den ofnen Brief an Wilhelm liest.
Man schikt ihn an denselben; und schreibt einen an Karl. Zu
Mittag am Neuiarstage kommen die beiden Freunde. Sinlos fal-
len sie auf ihren erblasten Freund. Ihren Jammer mag ich nicht
beschreiben. Auf abend sol er begraben werden. Vier Anver-
wande vom Abelard tragen ihn. Stil, betriibt gehen die beiden
Freunde der Bare nach. Bei'm Mondschein senken sie den Er-
blasten in die kule Erde, nach der er sich schon lange gesent
hatte. Weinend driikken Wilhelm und Karl sich die Hande; und 20
seufzen: Hilf Got! daB unser Leben sei, wie's Leben dieses Edlen!
Aber bewar uns vor seinem Ende. Und las uns ihn wieder im
Himmel antreffen. - - Oft erinnerten sie sich an denselben; und
weihten seiner Asch' eine stille Trane.
Dies ist die Geschichte des Jiinglings, den wir aus seinen Briefen
kennen gelernt haben. Ruhig rinn' ihm von des Edlen Wangen
eine Trane des Mitleids! - Liebt den Ungliiklichen; er verdient
warlich eure Liebe; amt ihn aber nicht nach! Und o! ihr Liebende!
ABELARD UND HELOISE 171
die ihr die gleiche Qual mit ihm duldet, last euch seine Ge-
schichte zum Trost dienen. Verzaget nicht, wenn euch Leiden
drangen! Und wenn eures Kummers zu viel ist, so blikket hin
in ienes Leben - und wenn eure liebende Herzen hier geschieden
sind,* so erwartet das Wiedersehen in Gottes seligem Hirnmel
- Wo alle sich wieder erkennen Freund und Freundin, Werther
und Lotte, Siegwart und Marianna - und alle - und auch du
und ich! —
J. P. F. R.
172 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG
MEIN EIGEN URTEIL UBER DEN AbELARD,
den 9. August 178 1
Feler. Dieses ganze Romangen ist one Plan gemacht, die Ver-
wiklung felt ganzlich und ist altaglich und uninteressant. Die
Karaktere sind nicht so wol libel geschildert, als gar nicht ge-
schildert. Man sieht von Abelard und von der Heloise nichts
als das Herz: man weis nichts von ihrem Verstande; es ist keine
ihrer Neigungen ausgemalt; nicht einmal die Empfindung der
Liebe ist war dargestelt. Oberdies ist alles iiberspant; bei vielem
empfindet man nichts, eben weil es ser - empfindelnd sein soke. 10
Es ist auch wider die Warscheinlichkeit gefelt. Es ist ser fade,
die eine Person der Gefar der Enterung auszusezzen, und sie
aus Furcht sterben zu lassen - und noch fader ist's, die andre
Person zum Selbstmorder zu machen. Die Sprache ist nicht gote-
sianisch; aber sie ist schlechte Nachamung der gotesiantschen.
Schonheiten. Es ist nicht liberal die Sprache des Herzens verfelt;
die Schilderungen von Szenen aus der Natur sind nicht ganzlich
misgeraten. Das Deutsche ist nicht ganz elend; es ist wenigstens
nicht dem Deutschen ganzanlich, welches die heutigen Kraftge-
nie's schreiben. Auch findet man einzelne gute Bemerkungen 20
hierinnen; und ich wiirde mer bemerkt haben, wenn ich hatte
weniger empfindeln wollen. Endlich fur mich hat dieses Biichel-
gen die Schonheit, daB es einen meiner besondern Zustande
meines Herzens zu einer gewissen Zeit darstelt, den ich iezt fur
Torheit halte, weil ich das Gliik nicht habe, noch derselbe Tor
zu sein. -
Leipzig. J. P. F. Richter.
ETWAS UBER DEN MENSCHEN
Im Jare 178 1
Mai bis August
Wir sind nie bei uns selbst, nie in unserm eignen Hause, sondern
allezeit bei dem andern, in dein Hause des Nachbarn - Sobald
sich unsre Sinne omen, so reist ieder Gegenstand uns aus uns
selbst heraus; wir verlassen uns, und keren nicht eher wieder
zuruk, als bis ein starker Schlag unser ganzes Wesen erschiittert,
oder bis sich unsre Sinne schliessen, um auf immer nichts mer
zu empfinden — das heist unbildlich, wir beschaftigen uns mit
alien Dingen, nur mit uns selbst nicht. In alien Wissenschaften
giebt's Gelerte; allein die Menschenkentnis hat keine. Wir erspa-
hen den Weg, den der Komet nimt, welcher in tausend Jaren 10
einmal sichtbar wird; aber wir kennen die geheimen Gange
nicht, wodurch die Leidenschaft den Sieg uber unsre Vernunft
erhalt - wir lernen den Unsin auswendig, den ein moderndes
Blat der Vergessenheit entrissen hat, um der Notwendigkeit
aus[zu]weichen, mit unsern eignen Vorstellungen bekanter zu
werden - wir halten ein Insekt, eine Jarszal, eine Sylbe fur wur-
digere Gegcnstande unsrer Betrachtung, als uns selbst, und
schazen es fur notiger, Fremdlinge in uns, als ausser uns zu
sein. Vielleicht driikt uns die Eigenliebe die Augen zu, um uns
nicht zu sehen, wie wir sind - vielleicht halt man das fur eine 20
unnotige Sache, was weder Rum noch Geld eintragt - vielleicht
besizen wir wol deswegen so wenig Menschenkentnis, weil wir
schon so viele zu haben glauben. Unsre eigne Unbegreiflichkeit
wiird' unsre Neugierde reizen, die Wunder in uns wiirden unser
Erstaunen erwekken, wenn wir nicht Worter fur Wissenschaft
hielten, nicht das, wasim System steht, mit dem verwechselten,
was in der Natur wirklich ist, und dem Gelerten das zuschrieben,
was nur dem Weisen gehort. Ich werd' iezt nur dieses lezte Hin-
dernis der Menschenkentnis wegnemen, und vom Menschen
nichts angeben, als das, was ihn uns unverstandlich und ratsel- 30
haft macht.
Der Mensch hat zwei Seiten, welche immer getrent erschei-
nen, und die doch nur zusammengenommen seine Gestalt aus-
machen. Daher fallen unsre Urteile iiber ihn so verschieden,
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 175
so widersprechend aus, weil ieder sich tauschen last, dieienige
Seite des Menschen, die er iezt im helsten Lichte sieht, fur das
ganzeBild desselben auszugeben. Daher scheinen uns alle Schil-
derungen, die man von der menschlichen Natur macht, war
zu sein, weil sich iede durch die Erfarung bestatigen last - daher
(iberredet uns der eben so ser von seinem Saze, welcher sagt,
der Mensch ist gut, als ein andrer, der behauptet, er ist bos
- daher war noch kein empfindsamer Mensch, kein aufgeklarter
Kopf , welcher nicht in seinem Leben beide Systeme einmal als
io war gefiilt hatte. Ich wil die gute und bose Seite des Menschen
iezt schildern - man hike sich aber, das, was vielleicht Unver-
mogenheit des Malers ist, auf die Rechnung des Originals zu
schreiben. Also die Vortreflichkeit des Menschen!
»Wir sind Engel in Menschengestalt verkleidet. Unser Korper
kiindigt eben so wol unsre Hoheit an, als unser Geist. Dieser
fult seine Verwandschaft mit dem Himmel; und iener beweist
unsern Vorzug vor den Tieren. - Unsrer Grosse felt nichts,
als die Kentnis derselben. Sterblicher! du bist noch nicht weise
genug, um die Vortreflichkeit deines Verstandes, und noch nicht
20 gut genug, um die verkante Reinheit deiner Tugenden zu scha-
zen. Der Himmel erst wird dich leren, dich selbst zu bewundern.
Ich weis nicht, sol ich mer deine bewundernswurdigen oder
deine liebenswiirdigen Eigenschaften, mer deinen Verstand oder
dein Herz schildern.
Warum die grossen Geheimnisse, die in iedem Werke der
Natur so auffallend, so unverkentbar sind, warum das Uner-
forschliche, wo mit des Schopfers Hand alle Wesen, vom ver-
minftigen Geist bis zum materiellen Atom herunter, gestempelt
hat? deswegen, weil ein Mensch gebildet wurde, der Verstand
30 genug bekam, diese Geheimnisse zu entratseln, dieses Uner-
forschliche zu durchdringen. Sezt einen Menschen mit weniger
Verstand - so braucht diese Welt ihre Schonheit, ihre Mannig-
faltigkeit, ihren Plan nicht mer. Er benimt den Geheimnissen
der Natur ihre Dunkelheit, er dekt den Schleier auf, welcher
seiner Neugierde die Gestalt der Dinge verbirgt, er durchdringt
alles mit seinem Blikke, entziffert alles mit seinem Verstande.
I76 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Wir klagen iiber die Schwach' unsers Verstandes bei den Din-
gen, die wir nicht fassen kormen; allein wir miissen erst bewei-
sen, ob auch das Auge des Engels da klarer sieht, wo wir dunkel
sehen? - Nicht genug, daft der Mensch die Welt kent - er kan
noch mer, er kent sich selbst. Er widersteht der Kraft, die ihn
immer ausser sich heraus zu den aussern Dingen schleudert;
er verlast diese Welt, und begiebt sich in seine eigene. In seinem
unteilbaren Ich findet er Wunder, die er durch kein Bild aus-
driikken kan, die er bios fulen mus. Er zerlegt das Wesen der
Empfindung, indem er empfindet, bemerkt die Geseze des Den- 10
kens, indem er denkt, betrachtet den Willen, indem er begert.
Er versenkt sich in sich selbst - eine Metapher, die so leicht
gemacht, so schwer verstanden ist! Er weis durch die Sprache
sein betrachtend Ich von seiner Sele zu trennen, und sie seinem
Geistesaug' in einer gewissen Entfernung darzustellen: dadurch
sieht er sich selbst wirken, denken, empfinden, wollen; dadurch
erblikt er sich selbst. - Er kent das Haus, das er bewont; er
hat seinen Korper in al seine Teile aufgelost, iede Muskel be-
merkt, die Grosse der Blutkiigelgen bestimt, und selbst die un-
sichtbaren Gange der Nerven verfolgt. Er lacht der Krankheiten, 20
die ihm seinen Untergang drohen, weil er Borhave's, Haen's,
Tissot's hat. Er wagt das Feur, zerlegt den Lichtstral, ruft den
Donner vom Himmel herab, analysirt das Wesen der Metalle
und erforscht iede Zusammensezung der Korper. - Ungeachtet
diese tausend verschiedne Gestalten, Gewachse, Tiere mit ihrer .
Mannigfaltigkeit sein Auge verwirren; so weis er doch dieses
Kaos in seinem Kopfe zu ordnen, und fur ieden Erdstrich seine
Pflanzen, seine Tiere, seine Produkte, fur iedes Geschopf seine
Lebensart, und fur iede Blume ihre Staubfaden zu bestimmen.
Alles behalt er mit seinem Gedachtnis, bef asset es mit seiner 30
Einbildung; in seinem Geiste bildet sich die Welt im Kleinen
ab, er ist der Spiegel der Wunder Gottes.
Aber diese Erde schliest seine Wisbegierde in zu enge Granzen
ein: er wil auch die Wonungen grosserer Wesen kennen lernen.
Er entschwingt sich dieser Welt, fliegt auf zu weitern Erden,
nahert sich dem Glanz herlicherer Sonnen, wandelt mit Bewo-
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 77
nern fernerer Welten. Seine kurzsichtigen Augen hindern ihn
wenig. Er mist die Grosse dessen, was [er] nicht sieht, und be-
stimt die Entfernung fiir Korper, die er erst durch Glaser ent-
dekt. Eben so leicht sieht er das Unsichtbare in der Nahe. Er
zalt die Muskelfn] an dem Wurme, kent die Bewoner des Was-
sertropfens, entdekt den Lebenslauf des Tiergens auf dem Son-
nenstaubgen. - Der Mensch ist gros, weil er diese Welt kent;
er ist noch grosser, weil er ihren Schopfer kent. Was die Sonne
der Erde ist, die sich um sie dreht; das ist der Schopfer dem
io Menschen, der ihn anbetet. Die Algiite des Unendlichen erfult
ihn mit sanfter Warme: seine Weisheit erleuchtet ihn mit hellem
Lichte. So lang' er keinen Schopfer kent, so ist er noch dem
Tier' anlich, das neben ihm dieselbe Erde bewont - aber las
ihn diese Schopfung verlassen, und zu ihrem Urheber steigen;
dan ist der Mensch gros, der verwechselt sich nicht mer mit
den Dingen, die ihn umgeben, alle kennen ihren Urheber nicht,
er kent ihn und ist gros, ist gliiklich, ist unsterblich.
Der Mensch ruft die vergangene Welt wieder zum Dasein
hervor; er veriindert die Gestalten der gegenwartigen, und giebt
20 der zukiinftigen Wirklichkeit. Seine Einbildung fliegt in die ur-
graueEwigkeitzuriik, wo noch Nacht die Embryonen der wer-
denden Wesen dekte - sie durchwandelt die Gegenden, die er
erst nach Jartausenden kennen lernt, durchlebet die Zeiten, die
einen Teil der kiinftigen Ewigkeit ausmachen. Sie leiht iedem
Gegenstande glanzende Farben, sie erhebt alles, verschonert al-
les; sie findet Narung fur's Herz im Rauschen des Eichenwalds,
und im Wanken der Blumen, bei'm Anblikke der aufsteigenden
Sonne, und bei'm Schimmer des blassen Mondes.
Allein er ist nicht bios Zuschauer, sondern auch Nachamer
30 der Wunder Gottes. Seine Schwache leiht der Schopfung neue
Grosse: seine Feler vermeren ihre Anmut. Er schaft mit Ra-
phael's und Korregio's Pinsel lebende Korper auf Leinwand und
last mit Huysum Rosen auf Teppichen bliihen. Mit Pygmalion's
Zauberkraft belebt er den toden Stein, giest Blut durch den har-
ten Marmor aus, und driikt in den formlosen Kloz die himli-
schen Ziige der Tugend. - Sogar dieses unsichtbare Gewebe
178 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
der Luft mus seine Wollust vermeren und von der Grosse seiner
Erfindungen zeugen. Dieses ist's, wo er mit harmonischen T6-
nen das Herz in angeneme Gefiile auflost, wo leise Bebungen
den Geist in kiinftige Welten versezen, und ihm durch die Wol-
lust des Ors von den Freuden des Himmels einen Vorschmak
geben. Doch - wenn wolt' ich aufhoren, die Vortreflichkeit
des menschlichen Verstandes zu beweisen. Ich muste mer als
Mensch sein, um dies leisten zu konnen: ein Engel muste mir
Beredsamkeit, ein Seraph Scharfsin dazu leihen.
Wir haben ihn iezt bewundern gelernt, wir wollen ihn auch 10
lieben lernen. Er wird geboren one Keim zum Laster, begabt
mit guten Trieben. Seine ganze Sele ist bios gebauet, um tu-
gendhaft zu sein - iedes Laster ist Miston in seiner Natur. Sein
Antliz ist nur fur den Ausdruck der Tugend gebildet, wird nur
durch gute Taten verschonert; iedes Laster verzert die himli-
schen Ziige, und kiindigt durch aussere Verwiistung das innere
Ubel der Sele an. Oder vielleicht ist unsre ganze Anlage gut,
bios damit der Misbrauch derselben unsre Schuld verdoppeln
konne; vielleicht hat uns die Natur diese Giiter gegeben, aber
vergessen, uns den Gebrauch derselben zu leren? Nein - sieh' 20
den Menschen, wie er vertraulich mit seinem Mitbiirger den
Schatten Eines Baums, die Giiter Eines Gottes, die Beschuzung
eines Regenten geniest - wie er die sanften Gefiile der Lieb'
als unverdorbner Jungling, die noch sanftern Regungen der Zu-
neigung als Vater gegen seine Kinder, als Gatte gegen sein Weib
fillet - wie das Elend seiner Briider sein Herz erweicht, die Not
des Bedrangten seine Hiilf auffordert, und die Klagen der Un-
schuld seinen Mut entflammen - sieh' ihn als warmen Freund,
als Beschiizer des Vaterlands, als Verteidiger der Warheit, als
Christ, als Paullus, als Sokrat, als Antonin - o! warlich du wirst 30
dich selbst liebgewinnen, du wirst dem Schopfer danken, ein
Mensch zu sein. Sogar keines deiner Laster ist one Tugend,
keiner deiner Triebe ganz verdorben. Auch den Bosewicht er-
weicht noch das Leiden der Unschuld, auch im Busen des Mor-
ders regen sich noch sanfte Gefiile, und selbst aus den Augen
des Tyrannen fliessen noch menschliche Tranen. Der Mensch
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 179
ist also gut, wenn ihn nicht traurige Notwendigkeit in Laster
stiirzt, oder unvermeidliche Verblendung zu unrechten Mitteln
verleitet. Das ist das Geschopf, der Got auf Erden, das gros
ist als Konig auf dem Tron, und als Sklav in Ketten - gleich
gros als Krosus oder Betler - als Epiktet wie ein Engel glanzt,
aber auch als elender Bosewicht Zeichen seiner Hoheit tragt
- das alles war, was man gros hier nennen kan, alles werden
wird, was sich nie ein Sterblicher vorgestelt hat.«
Dies ist das schmeichelhafte Gemalde vom Menschen. Ein
10 triibsinniger Menschenfeind wiirde die menschliche Natur mit
folgenden traurigen Farben abschildern:
»A11' unsre Grosse ist vermumtes Elend; wir scheinen uns
gros, weil wir uns nicht kennen; wir haben unsre Hoheit den
Verblendungen der Eigenliebe zu danken. Wirf die Dekke ab,
Sterblicher, die deinem Auge den Anblik deiner Niedrigkeit
verbirgt, zerstore die Phantomen von Gliikseligkeit, die sich
nur der Nar oder der Traumer als wirklich vorstellen kan. Habe
scharfere Augen und du wirst sehen, dafi das wenige Grosse,
das wenige Gute, das du bei dir warnimst, von dem Schwachen
20 und Bosen in dir bei weitem iibertroffen werde - daB du nur
ein wenig gros bist, um die Schwache, die deinen Verstand be-
schrankt, ein wenig gut bist, um die Bosartigkeit, die in deinem
Herzen lebt, in doppeltem Kontraste zu fulen. Dein Verstand
erhebt die Dumheit zum gelerten Galimatias; deine guten Re-
gungen vergrossern den Triumph des Lasters.
Immer dar trompetest du die Wichtigkeit deines Verstandes
aus, immer bist du der erste Herold von der Grosse deiner Erfin-
dungen. Was weist du denn eigentlich? soviel als man notig
hat, um ein Nar zu werden, um Stolz zu bekommen, um die
30 Unwissenheit durch gelerte Worter in die Larve der Einsicht
zu vermummen. >Ich kan Philosophic, Teologie< Ja, ich glaub*
es; du weist nur von dem notigsten nichts; du kenst dich selbst
nicht - du bist nicht gewis, besteht deine Natur aus einem Teil,
oder aus zweien, nicht gewis, ob du eine Sele, oder einen Korper
hast - du bist zweifelhaft, wohin du dich rechnen solst, ob du
das Tier oder den Engel fur deinen Verwanden erkennen solst.
l8o JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
Elende Wissenschaft! wo man von der Sele alles weis, nur nicht,
wie sie denkt, wie empfindet, wie sie wirkt — wo man den
ganzen Korper kennt, nur nicht das, was sein Herz im bestandi-
gen Mechanism erhalt, was seine Narung in Blut verwandelt,
und aus den rohen Speisen den Geist der Nerven distillirt.
Prachtige Systeme! die iede Kleinigkeit leren, und iedes Wich-
tige voriibergehen. Wir wissen viel, aber wenn nur diese Wis-
senschaft nicht Erfindung von neuen Irtumern, oder Nachbete-
rin von altem Unsin ware. Niemand weis mer als ein Gelerter;
allein niemand weis auch mer Liigen als er. Der Mensch hat 10
also seine Weisheit b[l]os seiner Kiinheit, zu erdichten, und sein
Viel wissen seiner Unverschamtheit, es zu sagen, zu danken.
Was sind diese hochgepriesene Entdekkungen anders, als Stek-
kenpferde, worauf das Kind eine Zeitlang reitet, bis es sie mit
neuen vertauscht, wenn es kliiger geworden ist? - Diese War-
heit, die ieder Professor zu seinem Got auf dem Kateder macht,
die in ieder Disputazion die Hauptrolle spielt, die euch Liigen
durch den Druk verewigen, und fur einander wechselsweise
Scheiterhaufen anziinden lert, was ist sie anders, als ein Goze,
den ihr euch geschnizt habt, um den dummen Pobel zu betrii- 20
gen, als eine Puppe, mit der ihr spielet, um die Langweile zu
vertreiben? - Es ist nicht die Warheit, um die ihr euch in Horsa-
len, in Buchern und auf den Kanzeln zankt, sonde rn das Geld,
das sie euch einbringt, der Rum, den sie euch verschaft. Der
Philosoph verteidigt mer seinen Verstand als sein System; der
Ortodoxe schwort mer auf seine Einname, als auf die symboli-
schen Biicher. Die Warheit andert sich wie die Moden — natiir-
lich deswegen, weil Modewaren das meiste - Geld eintragen.
Wolte man mir die Teologie entgegensezen, so wiird' ich an-
raten, die Kirchengeschichte zu lesen - die Annalen der mensch- 30
lichen Dumheit — , und sich an die zwei Hauptgebote dieser Wis-
senschaft [zu] erinnern, namlich: >sei dum auf Erden, im
Himmel wirst du schon kliiger werden< und >sage lieber Liigen,
als die Warheit, die dein Grosvater nicht geglaubt hat<. Dan
wird man den menschlichen Verstand beklagen, und seine Exi-
stenz uberhaupt in Zweifel ziehen.
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 8 1
Ich verlache die Krankheiten - hoV ich den Arzt sprechen.
Er hat Recht, so zu sagen, weil er gesund ist. Aber der, der
unter seiner Kur seufzet, wird ihm nicht nachsprechen. Die
Krankheit wird ihm ihre Wirklichkeit durch Schmerzen, und
die Nichtigkeit der Arzneien durch den Tod fiilen lassen. Weil
man in nichts die Natur liebet, so hat man auch die Kunst erlernt,
kunstlich zu sterben. Die Gifte der Arzte sind noch wirksamer
als ihre Arzneien; wenn nicht beide - Synonymen sind. Sie retten
vom Tod nur durch den Zufal, und das beste, was sie noch
io tun, ist, daB sie geschwinder sterben machen.
Der Schwung der Einbildungskraft ist auch so hoch nicht
als man sagt; sie fliegt noch nahe an der Erde, und ist noch
nie hoch gestiegen, one zugleich einen Beweis gegeben zu ha-
ben, wie tief sie wieder gef alien ist. Wo sind die Bilder herge-
nommen, dieihrgliihendnent, woraus sind die Wesen geformt,
fur deren Schopfer ihr euch ausgebt? nicht aus eurer Einbil-
dungskraft; sie sind blosse Kopie der Natur. Ihr sagt uns nur
das, was ihr empfunden habt, und seid noch armselig genug,
dies selten sagen zu konnen. Die Bilder, die ihr Original in der
20 Natur nicht haben, sind auch so bewundernswert nicht, weil
sie ser dem Horazischen Humano capiti cervicem pictor equi-
nam etc. gleichen. Aber ihr solt die Ere haben, Schopfer der
Ungeheure, und Hirngespinste zu sein.
Ihr malt die Freuden des kiinftigen Elysiums - ihr betriigt
euch, es sind die Freuden des gegenwartigen Lebens: ihr sezt
euren Himmel nur aus Bruchstiikken von dieser Welt zusam-
men. - Ihr fliegt bis an die urgraue Schopfung zuriik, um da
ein — unendliches Nichts zu sehen - ser viel! Ihr seht das Zu-
kiinftige? deswegen, um das Gegenwartige schlechter zu sehen
30 - ihr hebt eure Augen gen Himmel, um besser auf der Erde
zu stolpern.
Und die Naturkentnis? - man soke fast zweifeln, ob es wirk-
lich eine gabe; denn nie ist sie gegenwartig, sie ist immer schon
dagewesen. Mit iedem Jarhundert, oft mit iedem Jarzehend, be-
komt sie eine andre Form. Wir haben soviel Physiker, als es
kluge Kopfe gab; allein von Aristot an bis zum Euler war die
1 82 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Natur immer dieselbe. Im Grund' ist also ein Naturforscher
nicht der, welcher die Wirkungen der Natur zu erklaren weis,
sondern der, welcher weis, was alle von diesen Wirkungen ge-
glaubt, d. h. fur Liigen gesagt haben. Selten vermert er den
alten Schaz mit eigner Dumheit. Es ist freilich leicht Hypotesen
zu machen; allein wirklich kein Verdienst zu traumen: >aber zu
beweisen?< auch keines, wenn das, was man beweist, in hundert
Jaren widerlegt wird. Man lacht iezt iiber die Dumheit der alten
Naturforscher; wer wird einmal iiber unsern Verstand la-
chen? - io
Andre Wissenschaf ten erlangen ihre Wichtigkeit nur von dem
Namen, womit man sie benent, z.B. >wir bringen alle Tiere
in ein Geschlechtsregister, alle Pflanzen in eine Nomenklatun
heist mit andern Worten, wir konnen sehen und zalen; oder
>wir zerteilen den Lichtstrah ist eben so viel, als: wir erfinden
als Manner, was wir im Knabenalter schon an der Seifenblase
sahen - ferner, >wir sind Redner, wir haben die Gemiiter in
Handen< ist eine Umschreibung des Worts Betriiger, und heist,
wir haben die Gabe blind zu machen.
Ferner, al das Leben, das wir dem toden Stein andichten, zeugt 20
nicht von der Grosse der Meisterhand, die ihn gebildet hat; son-
dern von der Feinheit des Kiinstlers, uns durch unsre eigne Ein-
bildung zu tauschen. Wir sehen weniger das, was da ist, als
was es vorstellen sol; das Kunstwerk ist mer Zeichen fur uns,
als Bild. Und (iberdies beweist die Fertigkeit der Hand noch
nicht die Grosse des Verstandes. - Wir finden so viel Vergniigen
an der Harmonie der Musik; weil uns bessere Oren felen, um
ihre Einformigkeit zu emp finden.
Aber vielleicht ist nur der Verstand die schwache Seite des
Menschengeschopfs, vielleicht wird sein Mangel durch gute 30
Trieb' ersezt, und wir sind weniger weise, um mer gut zu sein?
Wenn es ware! allein der Mensch ist nicht bios ein schwaches,
sondern auch ein bosartiges Geschopf; er verdient nicht bios
Verachtung, auch Has. Sein ganzes Leben ist eine Kette von
Felern, da von die aussern Gegenstande sie erzeugen, das Herz
sie gebiert, der Irtum ihnen Narung giebt, und der Verstand
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 83
sie zur Reife bringt. Sei nicht froh so viel Verstand zu haben:
es wurde besser sein, wenn du diimmer warest, deine Laster
wiirden geringer, dein Ungluk wiirde kleiner sein. Was ist diese
Reue anders, als ein Richter, der zwar deine Torheiten bestraft,
aber ihre Folgen nicht mindert - als ein Pfeil, der doppelt
schmerzt, wenn du die bereute Tat zum zweitenmal begehest?
Unsre groste Tugend besteht in dem Schein derselben; oder
wenn wir sie haben, so ist's Laster ihr Begleiter, und fast eben
so oft ihre Mutter. - Man rechnet ihm die geselschaftliche Ver-
io bindung zu einem so grossen Verdienst an. Aber ich sehe wenig
Tugend, wenn man da gut ist, wo man keinen Nuzen hat, laster-
haft zii sein. Die vielen Vorteile, die ihm die Geselschaft zuwege
bringt, halt ihn vollig schadlos fur den Zwang, den er seinen
Begierden antun mus. Er ist da weniger offentlich Morder und
Rauber; aber er ist's dafiir in geheim, und ist's desto arger, weil
er's ungestraft, weil er's mit mer Nuzen sein kan. Dieser Zwang
hat seinen Verstand erhoht, um feinere Laster auszudenken, hat
ihn die Gewonheit gelert, mer Maske zu sein, und fur's verlarvte
Laster noch die Belonung der Tugend zu fordern. Diese so hoch
20 gepriesene Menschenliebe ist nichts als verkleideter Eigennuz.
Wir sind nur menschenfreundlich, weil wir vorteilsbegierig,
rumsuchtig und argwonisch sind. Last dies alles felen, so wird
die Rache schon das Antliz des Kindes verunstalten, der Grim
des Morders die Stirn des Jiinglings scheuslich machen. Ist das
Geschlecht wol gesellig, wo man den lobt, der grausamere To-
deswerkzeuge erfindet, den belont, der geschwindere Mittel
zum Toden aussint? Die Scharfrichter des menschlichen Ge-
schlechts, die Eroberer, glanzen mit goldnen Buchstaben in den
Jarbuchern der Welt - den Morder des einzelnen Menschen
30 hangt man an den Galgen, den Morder der vielen beert man
mit der Krone. Wo sind die milden Triebe, wenn elendes Gold
zu iedem Verbrechen gegen Vater, Weib, Kinder iiberredet?
Man fiirt die Freundschaft an; allein man ist ia nicht unser
Freund, sondern der Freund des Geldes, das man hat, der Ere,
die wir geniessen, der Bequemlichkeiten, der Vorteile, die wir
verschaffen. Verliere dies alles, und deine Freunde werden dich
1 84 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
wie die Pest fliehen; sie werden dich nicht mer lieben, weil du
das verloren hast, was dich ihnen liebenswurdig machte. - Es
regen sich noch gute Triebe im Herzen des Bosewichts; aber
wie schandlich, wenn er dan noch Bosewicht bleibt, und die
Stimme der sterbenden Tugend unterdriikt, um die Schwarze
des Lasters zu vermeren, das iiber sie triumphirt hat.
Und die Erhebungen zum Himmel? diese sind so gewonlich
nicht bei dem, der immer auf der Erde kriecht. Es ware besser
fur ihn, wenn er seinen Wonplaz gar nicht verliesse; er wird
nur desto defer fallen, ie hoher er gestiegen war, er wird die 10
Strafe seiner Laster vergrossern, weil er einen Himmel kante.
- Endlich die stoischen Weisen, die ihr uns immer mit so vieler
Pralerei entgegensezt, was sind sie anders, als Menschen, die
nicht bose sind, weil ihnen die Krafte dazu felen, die Ver-
schwendung fliehen, weil sie kein Geld haben, die nicht nach
Ere streben, weil sie keine zu verdienen glauben? Sie opferten
all' ihre Krafte dem Laster auf; die Mattigkeit, die auf diesen
Dienst folgt, wollen sie fur Tugend ausgeben. Und war' es auch
wol zu bewundern, wenn sie nach unzaligen Niederlagen einen
Sieg errangen, den sie mer der Schwache ihres Gegners als der 20
Kraft des Siegers zu danken haben? oder war' es bemerkenswert,
daB sie from wiirden, wenn sie's nicht lange mer sein kon-
nen? -
Siehe Mensch, das bist du; nicht das, was dich deine Eigen-
liebe zu sein beredete - du bist nicht der Halbgot, nicht der
Engel, fur den man dich ausgab; und deine Krafte sind nicht
so gros, deine Triebe nicht so rein, noch deine Tugend so vol-
kommen, als du sie durch das Mikroskop deines Stolzes sahest.
Wenn du nichts sein kanst, so sei demutig, und vermere deine
Torheiten nicht mit der grosten derselben, daB du glaubest, 30
keine zu haben. Freu' dich kein Tier zu sein; aber rume dich
nicht zu ser, daB du ein Mensch bist, und erwage, daB du noch
weit vom Engel abstehest. Geschopf, vol Laster, vol Irtumer,
vol Feler, unfahig etwas ganz zu sein als ein Tor oder ein Bose-
wicht - entf erne dich von meinen Augen, damit ich mich nicht
selbst an deinem Bilde bedauere; falle mir aus den Handen, Pin-
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 185
sel, damit ich mein eigen Elend nicht mit zu glanzenden Farben
abmale, und du, o Tod, tode mich, da6 ich etwas anders oder
was einerlei ist etwas bessers als ein Mensch werde!« —
So weit dieses melancholische Gemalde! Jeder Mensch komt
in seinem Leben in Umstande, wo er die erste Schilderung fur
war halt, aber er wird auch in Lagen versezt, die traurig genug
sind, ihm die andre warscheinlich zu machen. Ich glaube dem
Pope, oder Antipope, ie nachdem ich das Original von ihren
Gemalden wechselsweise abgebe, und nur von den aussern Um-
standen hangt's ab, welcher Meinung ich beitreten soL Aber
in welcher ist Warheit? Beide Gemalde zeichnen eine ware Seite
vom Menschen; allein sie felen beide darinnen, dafi" sie iede dieser
Seiten getrent von der andern vorstellen, und iede fur die ganze
Gestalt des Menschen ausgeben. Wir sind weder Engel, noch
Teufel, wir sind Menschen; aber dies sind wir nur deswegen,
weil wir das ratselhaf teste, das veranderlichste, das widerspre-
chende Geschopf sind. Wir bemerken dieses weniger an uns,
weil wir unser Auge zuser auf den gegenwartigen Zustand hef-
ten, und dadurch unfahig werden, uns ganz in den vorhergehen-
den zu versezen, um den Kontrast beider Zustande durch ihre
Vergleichung zu fulen. Nur dan gelingt uns dieses, wenn die
vorigen Lagen starke Eindriikke zuriiklassen, oder wenn entge-
gengesezte Zustande durch ihre geschwinde Abwechselung
unsre Aufmerksamkeit erregen. - Ich wil einige Anmerkungen
iiber die Widerspruche, und iiberhaupt uber die Natur des Men-
schen, als Folgen aus dem Vor[her]gehenden hinzusezen - nur
erinnere man sich, daB gewisse Warheiten mer von uns empfun-
den, als von andern gelernt sein wollen, und daB fast alle von
ihrer Evidenz verlieren, wenn sie nicht die Erfarung des gegen-
wartigen Augenbliks sind. -
Der Mensch ist das Geschopf, das die Fahigkeit besizt, das
Unvereinbare zu vereinigen - das Geschopf, welches Nar und
Weiser, Bosewicht und Heiliger zugleich ist. Wir sind im
Stande, alles zu werden, aber nicht, etwas ganz und lange zu
sein; wir leben nur von der Veranderung. - Wir sind gemacht,
unvolkommen und doch gros zu sein, uns Lieb' und Has, Be-
1 86 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
wunderung und Verachtung in demselben Augenblikke zu er-
werben. Unsere Tugenden beweisen unsre Grosse; aber auch
noch im Laster sieht man das Geprage unsrer Hoheit. Wir kon-
nen uns keine grosse Eigenschaft erwerben, one zugleich eine
andre wieder zu verlieren, wir konnen nicht gros werden, on'
unsre vorige Niedrigkeit nicht zum Begleiter zu haben. Der
groste Mensch ist nicht der, der one Feler ist, sondern der, dessen
Grosse uns seine Schwachheiten ubersehen last. Jede Volkom-
menheit hat die Unvolkommenheit nach sich, wie der Korper
den Schatten, und es scheint als wenn wir durch diesen Kontrast 10
nur liebenswiirdiger, nur menschlicher wiirden, weil oft unsre
Volkommenheiten ihre Reize den Felern zu danken haben, die
sie begleiten. Der Himmel hat sich ein Vergniigen gemacht,
ein Geschopf zu bilden, das alle Volkommenheiten an sich verei-
nigt, welche in andern Wesen einzeln anzutreffen sind, und das
alle die Unvolkommenheiten bei sich warnimt, welche die Kol-
lision so verschiedner Fahigkeiten hervorbringt. Unsre Obel
kommen nicht daher, weil wir keine Volkommenheiten haben,
sondern weil wir so verschiedne, so grosse haben. Unsre Feler
werden uns iiber die Engel erheben, und wir werden vielleicht 20
einst dem Schopfer fur das danken, was uns iezt einen Einwurf
gegen seine Vorsehung abgiebt. —
Wir mogen den Menschen ansehen, von welcher Seite wir
wollen, so sehen wir nicht immer denselben, sondern alzeit ver-
andert, alzeit sich widersprechend, alzeit verschieden: und dies
scheint in hoherm Grade bei seinem Herzen, als bei seinem Ver-
stand' einzutreffen. Wir wollen beides betrachten.
Sein ganzes Leben ist eine bestandige Reue, ein bestandiges
Klugerwerden. Er wird alter, um die Zal seiner Feler vermert
zu sehen, weiser, um zu wissen, wie oft er ein Nar war. Jeder 30
Tag lert ihn, den vorhergehenden fur schlechter zu halten; allein
nie lernt er dadurch, von dem gegenwartigen eben das zu ver-
muten, was bei dem vergangenen eingetroffen war. Er last sich
bereden, zuglauben, daB erzwanzigjarekeinen Verstand gehabt
hat; aber nie wird man ihn iiberzeugen, daB er ihm in der gegen-
wartigen Minute fele. Er bemerkt meistens seine Feler, wenn
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 87
er sie nimmer brauchen kan, wenn sie alt sind, und seine Irtu-
mer, wenn er sie lang' abgelegt hat. Nichts last sich denken,
wovon nicht einmal ein Nar war' iiberzeugt gewesen; aber es
last sich auch nichts behaupten, welches nicht irgend ein Weiser
gelaugnet hatte. - Der Mensch hat die albernsten Torheiten ge-
glaubt, und die erhabensten Warheiten erfunden. Jeder Schrit
im Reiche der Warheiten sezt seinen Geist in Entzukken, erwekt
in ihm das Gefiil seiner Vortreflichkeit; aber endlich, wenn er
am Ende der Ban ist, so erfart er, dafi sein Verstand einge-
10 schrankt und sein Wissen klein ist . Die gute Meinung von seinen
Einsichten verliert er nur durch die Vervolkomnung derselben
- bios durch die Dumheit vergrossert sich das Vertrauen auf
seine Verstandeskrafte mit den Jaren. Allein eben diese Zweifel,
eben dieses Unerklarbare, womit der Weise bei iedem Schritt'
aufgehalten wird, ist ein deutlicher Beweis seines Scharfsins.
Dieses zeigt, da8 er iiber die Sphare der gewonlichen Kentnisse
wegfliegt, und neue Lander entdekt, die noch nicht fur ihn sind.
Der ist der Weiseste, welcher das kent, was er nicht begreifen
kan; denn er sieht dan schon, wie Mose auf dem Berge, das
20 Land, welches er in der Ewigkeit zu erobern hat, er bemerkt
schon die Dammerung, die die Morgenrote eines ewigen Tages
verkundigt. Wunderbares Geschopf! das mit dem andern Leben
bekant ist, eh' es das iezzige geendet hat.
Wir haben eine Einbildungskraft, die das Unendliche nicht
vorbildenkan, die aber eben so wenig bei dem Endlichen stehen
bleibt. Wir konnen uns die Ewigkeit nicht denken, aber wer
kan sich die Zeit begrenzt vorstellen? - Wir wissen vom innern
Wesen der Dinge gar nichts, nicht einmal das, was ihre Existenz
ausmacht. Im Menschen ist ein wunderbares Kaos von Warhei-
30 ten und Irtiimern. Er erhebt sich oft nur zu erhabnern Warhei-
ten, um in grossere Irtiimer zu fallen; sein Bemiihen sich von
den Irtiimern loszureissen, ist vergeblich, er walzt den Stein
des Sisiphus. Die Unwarheiten, die er glaubt, haben ein richtiges
Verhaltnis mit seinem Verstande. Aber eben so wenig wird er
gar nichts Wares glauben konnen. Selbst in den abgeschmakte-
stenTeorien der Morgenlander verkent man die Richtigkeit sei-
188 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
nes Verstandes nicht, und immer haben seine Verirrungen den
Weg zur Warheit durchkreuzet.
Seine herlichsten Krafte hangen mit seinen tierischen zusam-
men. Wenn sein Verstand bald eine Sonne ist, die ieden Gegen-
stand mit blendenden Farben erleuchtet, bald eine Sonne, dereri
Stral ein dunkler Nebel verhiilt, was kan man anders denken,
als daB dieser Verstand, der alles betrachtet, alles durchdringt,
der Got kent, der Macht eines elenden Erdenteilgen unterworfen
ist, das iezt eben Unruh' im Korper anrichtet? Diese Einbildung,
die den Granzen der Erde entflieht, die der Flug zu ungesehenen 10
Sonnen nicht ermiidet, und fiir die der Raum einer unermesli-
chen Welt nicht zu gros ist, diese halt ein elender Teil Speise,
eine geringe Veranderung im Gehirn, ein Dunst im Unterleibe,
in ihrem Lauf auf? Ist's nicht wunderbar, die Fahigkeiten eines
Engels mit dem Korper eines Tiers vereint zu sehen; aber
ist's nicht noch wunderbarer zu bemerken, daB eben dieser
Korper den Glanz des Engels vermert, daB eben diese kleine
Erde ihre Himmelsburger mit neuen Volkommenheiten ausrii-
stet? -
Unsre Fahigkeiten glanzen weit umher; aber sie miissen erst, 20
wie die Sonne, den dikken Nebel durchbrechen, mit dem sie
ihr Korper umhult. Wir sehen eigentlich hier nicht den mensch-
lichen Geist in seiner waren Beschaffenheit - er bildet sich nur
im Kleinen in seinem Korper ab, wie die Sonne im triiben Was-
sertropfen. Der Tod wird uns erst das durchsichtige Gewand
geben, das die Entfaltung keiner unsrer Reize weder verhindert
noch verbirgt.
Der Mensch verteidigt seine Saze mit seinem Tode, er wird
der Martyrer fiir sein System. Griinde andern seine Begriffe
weniger, als es der Zufal tun kan. Dem Vernunftler, dem keine 30
Griinde die Existenz Gottes dartun konnen, beweist das Rau-
schen eines Blats die Wirklichkeit der Gespenster, die Nacht
macht aus dem Spotter den Andachtigen, und die Annaheruhg
des Todes last einen Voltare sein Glaubensbekentnis ablegen.
- Er last oft sein Herz reden, wo nur der Verstand die Stimme
haben soke. Sein Wille beredet ihn oft mer zur Annemung einer
ETWAS USER DEN MENSCHEN 1 89
Warheit, als sein Verstand, und seine Neigungen ersezen nicht
selten den Beweis, der seinen Sazen felt. Er hat eine brennende
Begierde, iede der Geburten seines Gehirns dem andern zu ver-
kaufen. Er wil nicht allein weise sein; aber auch oft wil er nicht
allein dum sein. Gewalt, Waffen miissen dan die Stelle der Be-
weise vertreten, und wo ihrh die Logik ihre Dienste versagt,
verrichtet sie der Scheiterhaufen. - Er verert eine Religion, die
die Liebe gebietet; dies hindert ihn nicht, ihre Vortreflichkeit
durch Morden zu beweisen, und den Opfern seines Fanatizism
10 die Menschlichkeit seiner Glaubenslerenvorzupredigen. - »Dies
sind ia alles nur Torheiten« ia aber eben deswegen sind's Wider-
spriiche im Menschen. Eine Torheit ist eine Handlung, die an-
dern gewonlichen widerspricht; man kan kein Tor sein, und
sich selbst gleich bleiben.
Der Mensch verdient unsre Verachtung, wenn er eitel ist;
aber er kan auch zugleich auf unsre Bewunderung Anspruch
machen, wenn er bei seiner Eitelkeit Verstand zeigt. Ich sehe
hier vorziiglich auf die Eitelkeit in der Kleidung, auf die Ab-
wechselung der Moden. Hier giebt er deutliche Beweise seiner
20 Erfindsamkeit, aber nur bios urn die Zal seiner Torheiten zu
vergrossern; hier zeigt er, daB er gute Augen habe, um besser
durch eine - falsche Brille zu sehen. Wir Iernen aus der Ab-
wechselung der Moden, daB es nur Gewonheit braucht, um
seinem Geschmakke alle Torheiten annemlich zu machen, daB
bios diese felen darf , um ihn mit Tadel gegen alle Abweichungen
vom Gewonlichen bewafnet zu sehen. Vielleicht sind uns ge-
wisse Torheiten eben so notig zu unserm Leben, als Brod zu
unsrer Speise, und wir konnen gewissen Trieben nicht genug-
tun, on' auf Extreme zu springen. Die Notwendigkeit unsrer
30 Irtiimer last sich a priori, und die unsrer Torheiten a posteriori
beweisen. - Man kan Ciberhaupt wenig von den Moden sagen,
aber ser viel davon denken.
Wir beschaftigen uns mit den Geringfiigigkeiten dieses Le-
bens; aber nur wie's Gotter tun; wir beweisen dadurch nicht
daB wir keinen Verstand haben, sondern nur daB wir ihn libel
anwenden. Wir behandeln das Grosse, um zu zeigen, daB wir
igo JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
nur Menschen sind. Fur viele Dinge in der Welt sind wir zu
klein, fiir viele zu gros.
Wenn die Meinungen und Urteile des Menschen veranderlich
sind, so sind seine Neigungen, seine Ausserungen des Willens
widersprechend. Die moralische Natur des Menschen ist iiber-
haupt eine so wunderbare Mischung von korperlichen und
geistigen Wirkungen, eine so unerklarbare Vermengung von
guten und bosen Trieben, und eine so dunkle Werkstat von
verborgnen Kraften, daB unsre Untersuchungen dariiber wol
nie ein End' erreichen werden - und vielleicht in dieser subluna- 10
rischen Welt keines erreichen sollen. Uns felt noch ein Neuton,
der das Prisma entdekte, welches die guten und bosen Bestand-
teile unsrer Handlungen genauer von einander trente. - Woher
entstehen all' unsre bosen Handlungen? aus unsern guten Trie-
ben. Die Natur legt' in uns die Begierde, glukhch zu sein: wir
befolgen ihre Befele, urn's Gegenteil zu werden. Wenn wir we-
niger bos sein wolten, so must' uns der Schopfer mit weniger
Anlage zur Tugend geschaffen haben. Wir konten nicht unter
das Vieh herabsinken, wenn wir nicht die Fahigkeit hatten, uns
uber den Engel zu erheben: denn nur der ist der groste Bosewicht 20
geworden, der Anlage zum Heiligen hatte. Aber durch welche
Gange triibt sich diese reine Quelle zu einem so unreinen Strom?
und welches ist der Unterschied zwischen dem Bosewicht und
dem Heiligen, die beide dieselbe Anlage hatten? Ich weis es
nicht; nur der, der's nicht recht weis, glaubt es zu wissen. -
Ich mochte die Sele des tiefsinnigen Leibniz's genauer kennen;
aber ich ware noch begieriger, das Herz des Bosewichts enthult
vor mir zu sehen, alle Triebfedern desselben zu entdekken, ieden
geheimen Winkel seiner Begierden, iede Tiefe seiner Empfin-
dungen zu durchschauen. Er wiirde vielleicht dan mer unser 30
Mitleiden, als unsern Has erregen, wir wiirden mer sein Gluk
durch abgemesne Strafen, als sein Ungluk durch wilkiirliche
Qualen zu vermeren suchen, wir wiirden dan sein, was der ge-
gen uns ist, der uns alle - durchschaut.
Was ist doch diese unsre .Unbestandigkeit in unsern Handlun-
gen? Heute sind wir ganz Tugend, iede Uberwindung ist so
ETWAS UBER DEN MENSCHEN It) I
leicht, iede gute Tat so schon, der Weg zum Himmel so eben
- und morgen bist du das nicht mer, dein Herz fiilt weniger
Gute, deine Begierden sind schwerer zu iiberwinden, die bosen
Handlungen mit mererem Reiz verguldet, und den [!] Weg zum
Ungliik mit schonern Blumen bestreuet. - Unser Herz ist vol
menschenfreundlicher Triebe; und demungeachtet haben wir
die Kunst erfunden, mit leichter Miihe merere ungluklich zu
machen? Mit Tranen scheidet der Held von seiner Familie, um
mit doppelter Wut den Feind zu durchboren? Ist das derselbe
10 Rauber, welchen iede Beute zum Mord iiberredet, und den iezt
die Trane der Unschuld erweicht? sind das dieselbe[n] Diebe,
die die Rechte des Eigentums an andern verlezen, und unter
sich selbst heilig halten? - ia es sind dieselben, weil sie - Men-
schen sind. Wunderbares Geschopf, das das Laster begeht, und
in seiner Umarmung seine Abscheulichkeit fiilt; das die Tugend
verlast, und sich noch einmal umwendet, um ihr holdes Antliz
noch einmal zu betrachten.
Wem gehoren unsre Handlungen an; sind sie ganz unser? Ich
glaube, mancher Fromme hat einen Teil seiner Tugend dem
20 Korper zu danken, den er so gern zum Lasttrager seiner morali-
schen Feler macht; und man wird es dan unsern katolischen
Briidern vergeben konnen, wenn sie mer Hochachtung vor den
korperlichen Reliquien eines Heiligen als vor dem abgeschied-
nen Bewoner derselben haben. Und was tragen die aussern Um-
stande zu unsrer Tugend bei? o! da ist eine Tiefe der Metaphysik
- mir schwindelt hinabzuschauen: ich wil mich beruhigen zu
glauben, daft der Mensch ein Ratsel ist.
Sol ich noch etwas von unsern Leidenschaften sagen, die wir
so wenig kennen; weil wir bei ihren Ausserungen am wenigsten
30 Verstandbesizen, siezuuntersuchenPDiesesind's, diedenMen-
schen zu einer Hohe bringen, die alzeit schauderhaft fur ihn
ist, die ihn in entgegengesezten Dingen gros machen und in
Widerspruch mit sich selbst sezen. Last diesen Man von dem
Freunde, den er iezt so warm umarmet, heimtukkisch beleidigt
werden. Nun ist die Harmonie, in der er vorher war, gestoret;
er strengt sich an, das Gegenteil von dem zu werden, was er
192 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
gewesen ist. Es komt iezt wenig darauf an, ob er vorher tugend-
haft war; es komt darauf an, zu was ihn der aussere Eindruk
macht. Nun wiinscht er das Herz durchboren zu konnen, das
nicht lange vorher an seinem Busen schlug - er sieht in dem
Gesichte die Mienen des Todfeindes, wo er vorher nur Ziige
der Zuneigung bemerkte, er sieht auf demselben die hamische
Verachtung, das Drohen des Morders, er sieht das Bild des Teu-
fels. Wer gab ihm die Augen, denselben Menschen in kurzer
Zeit in zwei so verschiednen Gestalten zu erblikken? die Leiden-
schaft - diese Leidenschaft, die alles verandert, die den Menschen 10
sich selbst unanlich macht, die unerklarbar wirkt und unwider-
stehlich hinreist.
Alle haben den Stolz von der Natur zur Mitgabe bekommen;
ieder sezt sich liber den andern hinauf , und last ihm nur in einem
Stiikke den Vorzug, um ihn desto besser in einem andern iiber-
treffen zu konnen - ieder pralt entweder mit goldbordirten Klei-
dern, oder mit Diogenes Mantel, mit Gelersamkeit oder Dum-
heit. Dieser begleitet uns in den niedrigsten Lagen, in die wir
versezt werden, verlast uns nicht bei dem Anblikke der Verwe-
sung und macht uns selbst in der Farbe des Todes noch rang- 20
siichtig. »Das ist kein Widerpsruch« es ist einer, wenn uns das
Geful der Grosse da nicht verlast, wo wir nur klein sind.
Wir sind nie so gluklich oder ungliiklich, als uns unsre aussere
Umstande Anlas geben: wir sind's alzeit mer oder weniger. Aus
der mit Wolken bedekten Zukunft webt sich der Mensch Duft-
bilder, die eine schone oder schrekliche Gestalt fur ihn haben.
Diese vermengen sich mit seinen gegenwartigen Umstanden,
und vermeren durch ihr Dasein sein GKik oder Ungltik.
Wir iagen nach den Vergniigungen, und sind mismutig sie
gefunden zu haben, wenn ihr Genus voriiber ist. Wir werden
nie gesattigt, unser Hunger vermert sich, ie mer wir ihn stillen,
wir diirsten nach Wasser bei der Quelle. Unsere Begierden sind
zu heftig, ihr[e] Dauer zu lange, ihre Quelle zu rein, als daft
dieselben Dinge den Menschen und das Vieh auf gleiche Art
befriedigen solten. Er halt, wie wenig ihm das genug tut, was
ihn umgiebt; deswegen ersezt seine Einbildungskraft, was ihm
ETWAS UBER DEN MENSCHEN 1 93
seine Macht nicht geben kan; er stilt seine Wiinsche durch sich
selbst. Wenn er gliiklich ist, so hat [er] den Grund seines Him-
mels mer in sich, als in der Welt zu suchen - diese aussere Welt
giebt ihm nur Materi alien zu derienigen, die er in sich schaft.
Ein besondrer Zusammenhang zwischen dem Menschen und
der Welt! -
Seine Organisazion, sein Korper ist fur diese Erde gemacht;
aber demungeachtet ist's so deutlich, so unverkenbar, daB. er
nur ein unreifer Himmelsbewoner ist. Im Kinde verhiilt noch
to ein dichter Schleier die aufkeimende Grosse - aber er vervol-
komt Fahigkeiten, die nicht fur diese Welt gehoren. Es entwik-
keln sich verborgne Krafte, die den Ort seiner Bestimmung
naher anzeigen, es keimen Tugenden, fur die diese Erde ein
zu elender Aufenthalt ist. Demungeachtet zieht ihn eine unsicht-
bare Gewalt weit unter seine Wiirde herunter. Er ist weder fur
diese Erde; denn er hat Augenblikke, wo er den Himmel in
sich fiilt - er ist auch nicht fur die andre Welt, weil er oft fur
diese zu gering ist. Kurz, er ist ein wunderbares Mittelgeschopf,
das sich ein Ratsel bleibt, von dem er nicht mer weis, als das:
20 daB es unaufloslich ist. Er vervolkomt sich von seiner Geburt
. an, mit einer besondern Schnelligkeit, er erhebt iede seiner
Krafte zu einer doppelten Hohe, er iiberwachst sich selbst, um
das zu werden, was er - am Anfange war. Er wird als ein Kind
geboren; er stirbt wieder als eines. Er weis nichts von seinem
Ursprung, und eben so wenig von seinem Ende. Von seiner
Existenz kent er nur den gegenwartigen Augenblik - er weis
nicht was er vor Jartausenden war, und was er nach Ewigkeiten
sein wird. Ihr dichtet, herauszubringen, was ihr gewesen seid,
und sein werdet - ich wil anbeten fur das, was ich bin. Ich
30 bin zuviel, als daB ich nicht nach dieser Welt mer sein solte. -
Jeder Mensch ist verschieden, schon in Riiksicht auf sich allein
- er wird noch verschiedner, wenn wir das ganze Menschenge-
schlecht zusammen betrachten. Die Menschheit ist sich so unan-
lich als es Menschen giebt. Hier rast sie an der Kette, und kent
ihr eigen Ich nicht- dort verliert sie sich mit Neuton in algebrai-
sche Erfindungen - ist dum im Huron, scharfsinnig im Leibniz
194 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
- ist hier Skeptiker, dort Nachbeter - glanzt hier am Sklaven
an der Kette, und ist dort Scheusal im Konig auf dem Trone
- hier betet sie Got, dort den Teu£el an - hier beglukt, dort
mordet sie - verdient hier den Himmel, dort die Holle - ist
sich hier Harmonie, dort Widerspruch — O nein, ich betriige
mich; es ist liberal dieselbe liebenswiirdige Menschheit, nur
nicht liberal derselbe Teil ihrer Gestalt. Ich sehe da nur den
Schatten, der dort das Licht erheben sol - da die Feler, die dort
den Reiz ihrer Volkommenheiten vermeren. Sie muste einen
Nero haben, um desto mer im Seneka zu glanzen. Wir sehen 10
iezt nichts von ihr als ihre einzelne Teile; die andre Welt erst
mus uns besser, mus uns weiser machen, um al die widerspre-
chende Ziige in Ein Gemalde vereinigt zu sehen, um die vermiste
GCite am Menschen zu entdekken, und die Menschheit von dem
Widerspruch mit sich selbst zu rechtfertigen. Dan wird unsre
Seligkeit sein, uns selbst besser zu kennen, unsre Tugend darin
bestehen, daB wir nicht gegen unsre Wiirde handeln, und wir
werden Got reiner anbeten, weil wir uns ihm anlicher fiilen,
und Jesum warmer lieben, weil wir mer Menschen sind. -
Joh. Paullus Fried. Richter. 20
TAGBUCH MEINER ARBEITEN
AUF DAS AUGUSTMONAT. 1 78 I
Leipzig
Am Frettag den 10 August.
Von dem, wovon wir am meisten wissen solten, wissen wir
am wenigsten; aber bios deswegen, weil wir schon soviel davon
zu wissen glauben. Ich rede von der Menschenkentnis. Ich wil
nur einige Liikken unsrer Kentnis der menschlichen Natur rii-
gen. Alle unsre Bemerkungen iiber unsre Natur haben wir den
Gelertenzu danken, die sie von sich abstrahirt haben. Alle unsre
Menschenkentnis lauft also da hinaus, daB wir etwas die Be- 10
schaffenheit eines schon polizirten, verfeinten Menschen wissen.
Allein wir wissen vomWilden, vom Rohen, vom Unkultivirten
nichts, der solche Betrachtungen nicht iiber sich anstellen kan.
Wir lernen dan nicht den Menschen, sondern den Gelerten ken-
nen - wir werden nicht von der eigentlichen Beschaffenheit der
menschlichen Neigungen iiberhaupt,- sondern von ihrer Be-
schaffenheit beim Gelerten, unterrichtet, wir haben nur den
Menschen studirt, der einen gewissen Grad der Kultur hat, nicht
den, dessen Kraft* alle noch unausgebildet, dessen Triebe nicht
geschwacht, nicht falsch gelenkt sind, dessen Natur in ihrer Un- 20
vermischtheit von fremden Zusaz noch erhalten worden ist.
Also fiilt unsre Menschenkentnis noch einen ser kleinen Raum
aus - wir kennen also unter den tausend Menschengesichtern
nur das gelerte; und man mochte fast sagen, daB es am leichtesten
zu kennen ist, weil es - nur Tor en gewonlich ist - wir kennen
keine andern Menschengesichter, als die lateinisch reden. »Aber
eben diese Gelerten beobachten auch andre Menschen, nicht bios
sich selbst - ferner sie brauchen sich ia nur in die Umstande
zuriikzusezzen, in welchen sie das noch nicht waren, was sie
iezt sind, urn durch die Vergleichung beider Umstand' ihre Be- 30
schaffenheit und ihren Unterschied heraus[zu]bringen.« Es ist
TAGBUCH MEINER ARBEITEN " AUG. 1 78 1 197
alles schon gesagt; aber es ist nicht so gut getan. Von beiden
Dingen wil ich zeigen, daB keines in unserer Wilkiir steht. -
Was beobachtet denn der Gelerte, und wenn man wil der Scharf-
sinnige an dem rohen Naturmenschen? - Sich selbst - Er sieht
ihn handeln; und leiht ihm Ursachen, die nur ihn selbst zu dieser
Handlung bestimt hatten. Er kan sich nicht in des andern Um-
stande sezzen; deswegen sezt er diesen in die seinigen. Er formt,
und schnizzelt so lang' am andern, bis er ein Abdruk von ihm
selbst ist. Der Mensch ist gemacht, in alien andern nur sein
10 vielfaches Selbst zu sehen - er giebt iedem die Begriffe, die er
hat, die Triebe, die Neigungen, die ihn beherschen, kurz er
beschenkt ieden mit al dem was sein eigen ist; und was denkt
er von alien, die er nach seinem Masstab mist? was er von sich
denkt; der Kreis seiner Erfarungen iiber sich selbst enthalt schon
die Erfarungen iiber die andern in sich. Es aussern sich Triebe
im Naturmenschen, die wir unmoglich beobachten konnen,
weil wir sie nicht gefult haben. Wir sehen an ihm Handlungen,
deren Grund uns verborgen liegt, weil das Erkentnissystem des
andern nicht das unsrige ist. - Ferner das, was man sagt, von
20 dem Zuriiksezzen in unsre vorigen Umstande, zeigt an, daB
man nie einen Versuch dariiber gemacht hat, weil man die Un-
moglichkeit dieser Sache nicht eingesehen hat. Ich wil z. B. wis-
sen, wie ich vor 10 Jaren unter gewissen Umstanden, deren ich
mich noch erinnere, gehandelt habe. Was tu* ich? Nichts als
das: ich stelle mir die Einwirkung dieser vergangnen Umstande
als gegenwartig vor, und gebe die Wirkung, die sie iezt auf
mich zu machen scheinen, £tir dieienige aus, die sie damals auf
mich gemacht haben. Wie blind sind wir doch, uns selbst zu
betriigen. Zu iener Zeit war ich ia noch nicht dies Wesen, was
30 ich iezt bin. Meine Denkungsart hat sich geandert; die Wirkung
derselben Ding' auf mich mus sich also auch andern, weil meine
Empfanglichkeit nicht mer dieselbe ist. Man sagt: ich kan mir
ia leicht meine vorige Denkart vorstellen. Aber man irt sich.
Unsre Denkungsart wird nicht bios durch etliche Begriffe be-
granzt, die wir damals gehabt haben, und die deutlich genug
waren, noch iezt nicht verloschen zu sein - sie ist das Resultat
I98 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
von den dunklen Ideen, die wir nicht einmal damals bemerkten,
von Trieben, deren Beschaffenheit iezt nicht mer dieselbe ist,
deren Grad, deren Art von den iezzigen ganz verschieden, und
endlich von der Einwirkung des Korpers, die iezt wegfalt, weil
unserer sich geandert hat. Also soviel konnen wir iiber uns in
verschiednen Zustanden, und iiber andre urteilen! Das ware ein
Wink fur die lieben Moralisten, die alle Menschen auf Gottes
Erdboden ganz gemachlich unter eine Regel bringen, die nur
einen Menschen handeln zu sehen brauchen, urn von seinem
Beweggrunde und seiner Moralitat harklein rasonniren zu kon- 10
nen, die fur den Jiingling, den Man, den Greisen, das Weib,
den Gesunden, den Kranken, den Neger, den Weissen, den
Dummen, den Klugen - die fur alle dieselbe Moral haben. Mein
Lieber! der Mensch hat in seinen verschiednen Altern und Zu-
standen eine andre Moral - und so vielfach die Gesichter sind,
so verschieden sind die Tugenden und Laster. Das schwarze
Negermadgen ist auch schon; aber ihre Schonheit ist von andrer
Art, als die einer pariser Koquette. Darum suchfe] an den Kiisten
Guinea's nicht denselben Dekalog, den d[er] in Paris Studirende
[?] findet. In Sparta wiirde das 7., Gebot ein wenig anders gelau- 20
tet haben als bei den Juden, und iedes andre Gebot wiirde fur
ein andres Land eine andre Form bekommen.
Am Sonabend den 11 August.
Der Heuchler kan ieden Karakter vorstellen, sein Gesicht zum
Heiligen und Bosewicht drehen, er kan alle Masken annemen,
aber nur die nicht, on' eine zu sein, d. h. er kan nicht aufrichtig
sich stellen. Auf unserm Antliz malt sich die Gestalt unsrer Sele
nur zu deutlich, als daB nicht mannigmal ungeachtet der Larve,
die des Heuchlers ware Miene verbirgt, ein unbemerktes Merk-
mal seiner Furcht uns seine Verstellung verriete. Der Aufrichtige 30
sieht dir frei in's Gesicht; er denkt nicht, seine Gedanken und
Reden widersprechen zu lassen. Und eben diesen Mut, diese
Unbesorgtheit, diese Offenheit mus der Heuchler entberen.
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. I781 199
Denn wenn sein Gesicht nichtfs] verrat, so verrat es doch wenig-
stens die Miihe, die er aufwendet, nichts zu verraten. — Man
hat allerlei iiber die Gesichter geschrieben; aber die Gesichter
der Schauspieler hat man noch nicht genug beobachtet. Der
Schauspieler, dessen Gesicht in seinem Leben nie dasselbe ist,
der auf demselben wildeste Leidenschaft, und Gesinnung ab-
wechselnlast, dieser muste sich sicher von andern Menschenge-
sichtern durch irgend etwas auszeichnen: und zwar deswegen
must' er ein besonderes Gesicht haben, weil er alzeit ein andres
10 hat. Denn man glaube nicht, daB die Rollen, die er spielt, gar
keine Eindriikke lassen solten, wenn er sie oft wiederholt. Last
ihn [nie] eine andre Person vorstellen, als Lessings Norton - ich
wette, er wird endlich - Norton werden, Denn man spielt keine
Person gut, in deren Lage und Denkungsart man sich nicht ver-
sezzen kan. Und sich oft in diese versezzen, es oft konnen [?],
heist ihr anlich werden. Hamlet und Garrik waren unfelbar,
wenn sie zu einer Zeit gelebt hatten, Freunde gewesen - denn
sonst hatte Garrik nicht so Hamlet sein konnen. —
Du wilst deine Feler von deinen Freunden erfaren. Du irst
20 dich ser. Ihre Aufrichtigkeit geht wol so weit, daB sie dir unbe-
trachtliche Flekken deines Karakters entdekken, und die eben
weil sieunbetrachtlichsind, mer deiner Eigenliebe schmeicheln,
als deine Besserung befordern - allein ihre Aufrichtigkeit geht
nicht so weit, dir Feler zu sagen, die du selbst bei dir nicht
entschuldigen kanst, die deiner Eigenliebe wehe tun und viel-
leicht die Freundschaft gegen ihren Entdekker geringfer] ma-
chen. Das beste Mittel, unsre Feler kennen zu lernen, ist, andern
ihre eignen Feler zu entdekken. Dan werden sie stolz genug
sein, nicht allein Mangel zu haben; und sie werden solche auch
30 bei dir suchen, sie finden, und sie dir auch - sagen. Im Freunde
kan man sich nicht leicht sehen; er ist wie ein Spiegel, dem
unser Atem seinen Glanz [?] benimt. Wir miissen weiter von
Menschen entfernt [sein], um keinen Einflus auf ihr Urteil zu
haben - der Feind ist oft der treueste Kundschafter unsrer. Feler.
Unsre Tugenden sagt uns der Busenfreund, der uns liebt - unsre
200 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Feler der heimlich, der uns hast. Beide sagen oft zuviel - aber
dan ist das Auge seharfsichtig genug, die Warheit herauszubrin-
gen.
Am Sontag den 12 August.
Wir sprechen soviel von dem Nuzzen, den die eignen Lebensbe-
schreibungen grosser Manner haben. Die Entdekkung ihrer
Schwachen des Verstandes macht unsre Psychologie an Bemer-
kungen reicher, das Bekentnis ihrer Feler und Torheiten dient
zur Erweiterung unsrer Moral. Man hat Recht; wenn man diese
Behauptung einschrankt. Die grossen Manner solten eigentlich 10
ihre Mangel nur grossen Mannern zeigen - sie in ihrer waren
Gestalt zu sehen, wiirde den Kopf des Schwachen verrukken.
Er, der sogar seinen Felern die Larve der Schonheit giebt,
braucht nur das Beispiel eines grossen Mamies, um sich diese
Feler zu einem Verdienste anzurechnen. Er wird sie nicht mer
bessern; er halt sie zu seiner Grosse notwendig. Er schazt also
sich [?] dem Genie gleich, weil er so . . . ist, dessen Mangel
zu haben. Und wenn er sie nicht hat, so wird er sich sie zu
erwerben suchen. Er wird sie endlich an Torheit iibertreffen.
Ferner [?] manche Dinge sind zu ser der Misdeutung des schwa- 20
chen Kopfs ausgesezt, als daB man sie ihm sagen konte. Er glaubt
nur den gros, der keine kleine Eigenschaft hat; er kan es nicht
zusammenreimen, Torheiten und Grosse zugleich zu haben. -
Es gehort schon ein grosser Geist dazu, sich einen grossen den-
ken zu konnen; wer klein ist, kan es nicht. Darum solten auch
die grossen Geister nur wieder von grossen in ihrer waren Ge-
stalt gesehen werden. Ach! mir ist bange, wenn ich daran denke,
was Rousseau's eigne Lebensbeschreibung einmal ftir Urteile
[?] iiber diesen Man erwekken wird. Grosser, verkanter [?] Man!
(dessen Tugend bios die Ursache seiner Leiden war. War' er 30
nicht Sokrat gewesen, ein Epikur hatt' er immer sein [konnen].)
ach wie werden die oden [?] Kopfe iiber dein Buch herf alien.
Wie wird der gelbsiichtige Ortodoxe deine schone Gestalt zum
Teufelsangesicht brandmarken weil du zu gut warst, nicht one
TAGBUCH MEINER ARBETTEN ■ AUG. 1781 201
Feler zu sein. Das Gestandnis deiner Feler wird seiner Rache
die Narung geben, die er braucht, urn [den] Schein eines heiligen
Zeloten zu haben. Der einaugige Moralist wird fur dich eine
Holle bauen, weil du nur Mensch warst, weil du aufrichtig ge-
nug warst, dein Herz dem Mitbruder [?] zu zeigen, wie's einmal
[?] der Richter alien [?] zeigen wird. Der Spotter wird lachen,
wo er deine Torheiten sieht, die dich mit den Menschen ver-
schwistern; und der harte Bose [?] wird Gift aus den Blumen
saugen, er wird [mit] deinen Felern seine Bosheit entschuldigen.
10 Ach bios du! herlicher [?] Geist, der du iiber den eingeschlosse-
nen Kreis dieser elenden [?] Geschopfe wegsiehst! du wirst den
Man liebgewinnen, weil sein Herz ihn dir nahert, da sein Ver-
stand ihn iiber alles erhob - du wirst al seine Feler verschwinden
sehen, weil sie der Mantel der Aufrichtigkeit verdekt - du wirst
deine eigne Schwache fiilen, und deine Meinung von deiner
Grosse sinken lassen, weil auch die Engel ihre Feler haben. -
Wir haben grosse Geister gehabt; aber noch keine grosse
Menschen. All' unsre Genies schwingen sich durch ihren Ver-
stand iiber diese Erde weg - wir sehen traurig ihrem Flug nach
20 und bedauern nur Menschen zu sein; wir vereren sie, aber wir
liebensienicht ser. Allein eine Ausname ist da: Rousseau - Seine
Fahigkeiten machten ihn zum grossen Man - sein Herz zum
grossen Menschen. Wir lieben ihn mer, weil er seine Feler ent-
dekt, und sich nicht schamt, unser Mitgeschopf zu sein. Auch
den Montaigne kan ich her[nemen?]. -
Der ist unfelbar der groste Menschenfreund, der mit wenigen
Menschen umgeht, deren Herz aber seine Liebe fordert, deren
Ungliik sein Mitleid erregt. Man wird nur gegen den Menschen
gleich[giiltig], wenn man ihn oft und nicht recht sieht, wenn
30 man mit vielen umgeht, one mit keinem recht bekant zu sein
- man erstikt das Mitleid, wenn man taglich Gelegenheit hat,
es [zu] aussern, und nicht Krafte genug, es zu befriedigen. Jede
Neigung wird befriedigt, wenn ihr Gegenstand oft ist - das
Mitleid wird endlich abgehartet, wenn's immer Unglukliche
202 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
sieht. Darum glaub' ich hat der Man in der grossen Stad nicht
die Menschenliebe, die der Bewoner des einsamen Dorfes fiilt.
Und vielleicht haben aus eben der Ursache die Konige weniger
Mitleid, weil sie immer ein Haufe von Menschen umgiebt, die
sie nicht interessiren, ia die ihren Begrif von der Wiirde des
Menschen durch ihr eignes Herumkriechen von seiner Hohe
herabstimmen. Vielleicht ware das auch wol ein Grund, warum
die Frauenspersonen mer Menschenliebe haben, als die Manner.
Sie kennen weniger Menschen; aber sie kennen die wenigen
recht. - io
Warum hat doch [der] Jiingling im Umgang mit dem Manne
so viel Langweile, und dieser wieder mit ienem? Daher. Uns
amusirt nichts, was sich nicht auf uns bezieht, uns gefallen nur
die Geselschaften, wo andre uns uns selbst gefallen machen.
Aber der Jiingling kan nicht mit dem Manne, dem er Erfurcht
schuldig, von sich selbst reden. Ja! wenn er's tut, so mus er
meistens seine Feler gestehen, oder doch wol Ermanungen d[es]
Altern crwartcn. Uns aber ermanen, heist von uns erwarten,
daB wir einmal schlecht handeln werden - dies aber beleidigt
unsre Eigenliebe. Ferner. Dieienige Geselschaft misfalt uns, wo 20
man nicht unserFreund, oder wol unser Vorgfesezter] ist. Denn
niemals ist ein Man ein Freund eines Jiinglings gewesen: sein
Lerer kont' er wol sein. Wir sind nur mit dem Freund, bei dem
wir eine Anlichkeit mit unsern Begriffen, Neigungen p. bemer-
ken. Wir konnen den nicht lieben, der Eigenschaften an sich
an hat, die sich mit den unsrigen nicht vertragen. Wenn die
Ehe die korperliche Vereinigung zweier Menschen ist - so ist
die Freundschaft die Vereinigung zweier Selen. Wer wird aber
ie die Gestalt erwalen, die unsre Empfindung fur haslich erklart.
Also auch, wie kan 30
Wer ein Tor ist, mus einen Toren zum Freunde haben. Ein
Weiser ware fur ihn das, was fur ein pariser Modehergen ein
ekelhafter Hottentotte ware. Jeder Mensch hat seine Torheitcn;
deswegen sucht er den Freund, der gleiche mit ihm hat. Urn
des Jiinglings Freund zu sein, miiste der Man Jiingling werden:
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 203
oder iener miiste Philosoph sein, one Feltritte begangen [?] zu
haben. Die Herzen werden nur warm gegen einander, die einer-
lei Warme erhizt - wenn sie aber verschiedene Tugenden haben,
so stossen sie einander weg wie der Nordpol des Magneten den
Siidpol. Noch eine andre Ursache, wenn Manner und Jiinglinge
einander Langweile verursachen. Jener hat [?] so wenig Gele-
genheit, viel von sich reden zu horen. Dem Jiingling sind die
Sachen noch unbekant, noch uninteressant, die den Man betref-
fen. Er kan auch nicht bewirken [?], daft der Man sich selbst
10 gefalt: weil man iede Lobeserhebung dessen, der unter uns [?]
ist, fur Schmeichelei ansieht; und ieder Beifal dessen, den wir
unwissend halten, nur unsre Oberflache beriirt. —
Warum kent man doch's Genie eines iungen Menschen nicht
so leicht? Weil keine Genies ihn beobachten. Oder noch ein
Feler. Er mus seine Fahigkeiten in den Dingen zeigen, wo er
die wenigsten hat - er wird oft in Sachen schlechte Fortgange
machen, weil er in entgegengesezten die grosten macht. Man
beurteilt ihn aus dem was er merkt, und nicht, was er denkt.
Man gewont [ihn] an ein Joch, unter das er sich beugen mus:
20 und eben dieser Zwang erniedrigt ihn in den Augen des blod-
sichtigen Lermeisters sogar unter die mittelmassigen Kopfe.
Man verbietet das Ungewonliche, und erklart iede Abweichung
von der alten Ban fur Verirrung. Der gute Kopf, dessen ganze
Absicht Rum ist, sucht also da Lorbern einzuernden, wozu er
keine Fahigkeit hat; er sucht sein Genie zu zeigen, indem er
sich gewont, die besten Ausserungen desselben im Zaume zu
halten. Und iiberdies, nichts ist unbedachter, als den Jiingling
aus seinen Schularbeiten kennen lernen zu wollen. Habt mit
ihm Umgang; hort seine Urteile. Aber dan mus nicht ein feierli-
30 cher Ernst auf eurer Stirne seine Offenheit in kalte Erfurcht
verwandeln - um ihn kennen zu lernen, must ihr das Schulge-
sicht ablegen, und auf eurem Gesichte den manlichen Ernst mit
der iugendlichen Freimiitigkeit [?] vertauschen. Er wird dan be-
gierig, durch seine Offenheit euren Beifal zu verdienen. Seine
Stralen des Genies wird er nicht mit dem Schleier der Gewon-
204 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
heit [?] verdekken; im entgegengesezten Fal, seht ihr ihn nicht,
wie er ist, sondern wie ihr ihn vermutet: er sagt euch dan nicht
seine Gedanken, sondern die, von denen er glaubt, daB ihr sie
erwarten werdet. -
Vielleicht ist unser Jarhundert tolerant gegen Meinungen
[usw. wie S. 296,21 - 29] Ich mochte heutzutage lieber Epikur,
als Diogenes, oder lieber Ateist, als Schwarmer sein. Zum Be-
weis leset das Leben eines Vokaires, und das eines Rousse-
aus. —
Man redet soviel von unsrer Gewonheit, von unsern Sazzen 10
uberzeugt zu sein, und ihnen doch entgegen[zu]handeln: von
dem Widerspruch zwischen unsrer Teorie und Praxis. Was man
von der Gewalt der dunkeln Vorstellungen, der Einwirkung
des Korpers u. s. w. zur Ursach angegeben hat, ist scharfsinnig
und war. Aber ich glaube noch eine Ursache beifugen zu kon-
nen. Alle unsre Gemeinsazze sind von Erfarungen abstrahirt:
unsre Teorie ist das Resultat algemeiner Begriffe, die wir bei
gewissen Begebenheiten gebildet haben. Wir machen in uns das
Gesez, so und so handeln zu miissen. Wir handeln auch wirklich
darnach, wenn die Umstande, wovon wir ienes algemeine Gesez 20
abgezogen haben, wieder dieselben sind. Wir handeln aber nicht
darnach, wenn sie nicht dieselben sind. Vielleicht enthalt unser
Gemeinsaz dem Ausdruk nach sie mit darunter; aber weil wir
ihn nicht davon abstrahirt haben, so glauben wir nicht nach
ihm handeln zu diirfen. Wir handeln nie wider unsre Uberzeu-
gung; wir schranken nur ihre Algemeinheit ein; wir erlauben
uns Ausnamen von der Regel. Unsre Sazze sind oft auf Schrau-
ben gestelt; wir folgen ihnen oder nicht, ie nachdem unsre Not-
durft erfordert. Deswegen ist's schwer, in vielen Lagen immer
tugendhaft zu bleiben. Jede andere Lage, in der wir uns befinden, 30
erfordert andere Grundsazze, nach denen wir handeln miissen:
fast jeden andern Tag sind wir gezwungen, andere Tugenden
auszuiiben. Deswegen hat Hermes Recht, wenn er sagt, die Tu-
gend ist wie ein Pflanzgen, das immer dieselbe Seite nach der
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1781 205
Sonne zu gekert haben wil. Unsre Umstande oft verandern,
heist uns der Gefar aussezzen, nicht in alien tugendhaft zu sein.
Deswegenistnichts schwerer, als in vielen geselligen[?] Verbin-
dungen, in vielen Abwechslungen des Schiksals immer derselbe
Tugendfreund zu bleiben - aber auch nichts leichters, als ein
Heiliger sein - in der Zelle. Deswegen haben die lebhaften Kopfe
am meisten Feler begangen, weil ihre innere Beschaffenheit des
Geists taglich Umwalzungen leidet; weil iede geringe Begeben-
heitihren ganzen gegenwartigen Zustand zu verandern vermag:
10 sie sind so oft bose, weil sie zuviel Lagen haben, als daB sie
in alien gut sein konten; sie haben so oft geirt, weil das Laster
zu vielfaltige Masken annam, als daB sie's nicht einmal hatten
mit der Tugend verwechseln sollen. Ich glaube die Feler man-
cher lebhaften Menschen haben oft mer Gutes an sich als die
Tugenden des Unempfindlichen, die keine Miihe kosten. Die
Niederlage dessen ist mir lieber, der mit einem starken Feinde
kampft, als der Sieg von demienigen, der mit einer Miikke
focht.~
Am Montag den 13 August.
20 Unser zukiinftiges Leben ist eine Fortsezzung des iezzigen: dies
kan nicht soviel heissen: unser gegenwartige[r] Zustand enthalt
ganz den Grund des zukiinftigen in sich, so daB wir, urn unsern
Zustand nach dem Tode zu kennen, nur den vor dem Tode
genau zu kennen brauchen, um den ersteren, wie die Folg' im
Grund, im lezteren zu sehen. Vielmer wird unsre ganze Beschaf-
fenheit geandert, weil wir unsern Korper entweder ablegen,
oder umtauschen p.
Es giebt Menschen, denen man wenige Einsichten zuschreibt,
weil sie zu viele haben, um sie sagen zu wollen oder zu konnen.
30 Es giebt wiederum solche, die man fiir gelerte Kopfe halt, weil
sie alles, was sie wissen, sagen; und weil wir geneigt sind, von
ihnen noch mer zu vermuten, was sie nicht gesagt haben. Jene
halt man fiir schlecht, und diese fiir gut; und man irt sich bei
206 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
beiden. Die Grdsse des einen kan man nur nach seinen Gedan-
ken, die Grosse des andern nach seinen Worten bestimmen.
Wenn beide gleichviel sagen, so ist der erste der gelerteste; denn
er denkt noch vielmer, was er nicht gesagt hat. Jener ist ein
Geiziger, der aus seinem vollen Kasten ein par Groschen nimt;
dieser ein Praler, der einen Beutel vol Luisd'or bei sich furt.
Jener hat mer als diese Groschen; dieser hat nur diese Luisd'or. -
Am Dienstag den 14 August.
Gestern nab' ich schlecht gedacht, weil mein Korper nicht -
mit gedacht hat. Wenn die Sele wachen wil, da der Korper 10
schlaft, so - traumt sie. Die Schwache des Korpers hat viele
Philosophen zu Traumern gemacht. Aber heut zu tage ist alles
mit histerischen Zuf alien, mit Nervenkrankheiten u. s. w. be-
haftet, und doch sah man das nicht, was du als Folge daraus
behauptest - aber man hat empfindsame Romane geschrieben. -
A. Aber Her Fip ist ein grundgeschikter Man. Er redet 2 Stun-
den in Einem fort, on* anzustossen.
B. Es komt ihm auch kein - Gedank' in den Weg.
Ein Nar ist am meisten ein Nar, wenn er unter den Klugen
ist: denn ihre Verachtung befeuert seinen Stolz, den Dumheiten, 20
die er auskramt, das Kleid der Gelersamkeit zu geben. Und
wirklich, gebt mir lieber eine braune Negerin als eine parisische
Dratpuppe - lieber die Dumheit im Gewand der Natur, als in
der Perriikke der Gelersamkeit. -
Wie sich die Moden andern! Sonst trug der Nar seine Kappe,
seine Schellen und sein Narrenhabit - iezt hat er dafiir Perriikke,
Stern, und Stuzzerkleid. -
Diogenes suchte Menschen mit der Laterne, und fand keine.
Jezt wiird' er menschliche - Masken finden. -
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ' AUG. I J% I 207
Die Physiognomik ist ein par Jarhunderte zu spat oder zu
friih gekommen. Das gewonliche Altagsgesicht ist altmodisch.
Man hat fremde Farben, fremde Adern, fremde Zane auf dem
Nachttisch; was noch mer ist, man hat ein fremdes Gesicht.
Guter Lavater, du hattest warten sollen, bis die alte Mode auf-
kame, unverlarvt zu sein. Was helfen mich deine 4 Bande
Ph[ysiognomik] auf dem Redoutensale. -
a. Sie werden mir nach vielen Jaren einmal recht geben. -
b. Da must' ich ser, ser alt werden.
10 Im Alter werden wir Embry[onen] der kiinftigen Welt. Der
Tod gebiert uns. Dan werden wir Kinder, und Junglinge in
der Ewigkeit. -
Um heut zu tage ein Buch zu schreiben, braucht man nur
zu lesen und zu - kombiniren. Um zu rezensiren, braucht man
nur Mut.
bav. 's is Pfaffengeschwaz! wie solt' ich nach dem Tod denken
konnen.
tim[?]. Ja wol, da Sie hier niemals gedacht haben. -
Rousseau's Grosse war andern niizlich, denn er war wizzig
20 und bered - sie war ihm niizlich, denn er war tugendhaft. Be-
dauert Voltaire, der alle Fahigkeiten hatte, und von ihnen nicht
die Friichte genos, weil er nicht tugendhaft war. Uns bios [?]
ntizt er, *wie die Seide des Seidenwurms, dem sein eigen Gewebe
zum Grabe geworden ist. Die Statue, die man ihm sezte, must'
ihm wenig Vergmigen schaffen, weil er wuste, wie bald er ihr
gleichjen] werde; und die griinen Lorbern verwelkten auf sei-
nem diirren Todenkopfe.
Der Mensch gehort unter die Amphibien, bald ist er im Him-
mel, bald auf der Erde, bald Weiser, bald Tor, Epikur wolt'
30 uns zu Wasser-, der Stoiker zu Erdgeschopfen machen. Dem
208 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
einen felte die Sele, dem andern der Korper, da er schrieb. -
Last uns doch so lange Menschen bleiben, so lange wir noch
Leib und Sele haben.
Wiz ist eine besondre Pflanze. Sie wachst nicht liberal; mei-
stens nur im warmen Klima. Sie wil auch begossen sein - und
lieber fast mit Wein, als Wasser. - Darum bringt eine gute Wein-
ernde alzeit etliche [?] wizzige Kopf hervor. - Manchem Genie
[?] felt's oft nur am fruchtbaren Regen, um gute Fruchte zu
bringen.
»In Ewigkeit werd' ich iene Hohe nicht erlangen, nach der 10
ichfliege;« sagte der iunge Vogel. »Du solst sie auch nicht errei-
chen: das kan nur der Adler. Du solst nur fliegen lernen.« Nie-
mals werden die Sterblichen [?] Warheit erkennen, wirft mir
[?] der Skeptiker ein - las es [sein], sagt Lessing, sie ist d[es]
Unendlichen: wir wollen nur sie mer lieben lernen und volkom-
ner werden. Es ist doch schon schon, von weitem darnach zu
sehen.
Plato's Definizion vom Menschen past nicht, weil sie auf den
unbefiederten [?] Han past. Allein bei manchem eitlen Doktor
mocht' ich einen krahenden Han in's Auditorium laufen lassen, 20
und schreien: ecce hominem ad doctorem creatum. - Man ver-
zeihe mir dies unromische Latein; in den Auditorien ist's so
gewonlich.
Wer Wiz hat, durchwandelt blumenvolle Gefilde. Er bricht
hier ein Blumgen, da ein Blumgen, um einen schonen Straus
zu binden.
(Der Wiz macht lauter . . . und Ehescheidungen. Er kopulirt
den Edelman und die Bauerstochter - er trent die besten Ehe-
leute. Alle Leute verwundern [?] sich iiber die wundferlichen]
Verbindungen oder Trennungen.) 30
Auch im Alter kan man noch wizzig sein. Denn wenn die
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 1 209
Schwachheit des Greisen von seinen ungewonlich harten [?] und
weichen Gehirnfibern abhangt, so schadet dies dem Wiz wenig.
Seine Ideen haben mit einander die sonderbarsten Ehen und
Trennungenzu machen. Diese bewfeglichen?] Fibern befordern
ihn vielmer. Sie sind eine Anlage zur Narheit; und wer ist wol
naher verwand als Wiz und Narheit? -
Am Mittwoch den i$. August.
Beaucoup d'hommes ont d'esprit, qui ne sont point de sages;
et qui en ont asses, pour etre fous. -
10 Tout l'homme, qui n'a jamais senti d'avoir ete une fois un
fou, n'a pas encore cesse de l'etre.
Mon ami, vous aves peur de perdre votre raison - ne soies
pas inquiet. Vous ne perderes jamais ce que vous - n'aves jamais
eu.
Tout le sage a ses folies; tout le fou est souvent sage. Ainsi
quelle difference est entre le sage et le fou? celle: le premier
se croit tel, qu'il est; le derniere n'a jamais cru d' avoir une folie;
le premier se corrige puisqu'il sent ce que lui manque; mais
le dernier n'a jamais trouve en soi-meme une faute; c'est pour-
20 quoi il n'a jamais pris peine de la corriger. -
Trois lettres francoises
I.
Mon ami! venes une fois, je vous attends. Pourquoi tardes vous
d'etre le temoin de mon bonheur? Vous aves pris part a mon
malheur; il est terns que vous voies, que la providence n'est
pas indifferente a celui, qui adore la vertu, que la probite souff-
rante recoit enfin sa couronne et que je suis heureux! Hates done
de venir! et ne perdes les heures de la joie, qui courent si vite-
2IO JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
ment, qui appartient si rarement et ne reviennent jamais. Ne
me gates la jouissance d'etre heureux, en vous refusant d'en
prendre part. Ou otes moi le plaisir, dont je vous suis oblige,
ou ajoutes aux bienfaits, dont vous m'aves accable, le plus grand,
c'est-a dire, d'en jouir avec moi.
II.
Je suis foible, vous etes fort; et il depend de vous ce que je
doit souffrir. Vous aimes le vice, c'est asses pour me rendre
malheureux. Bien done! Continues de me faire sentir et votre
force et votre impiete; mais saves, que je m'estime plus heureux 10
d'etre perdu de vous, que d'etre sauve, et que je ne vois rien
dans tous vos cruautes que l'envie, qui vous pique, de me rendre
semblable a vous-meme. Mais pour en reiiissir, il faut que vous
corrempes mon ame, que vous m'inspires vos vices; il faut,
que vous devenes plus fort, plus sage et plus mal que le diable
meme. Tous les peines nouvelles, que vous ajouteres aux an-
ciennes, ne serveront que d'exercer ma vertu, de doubler son
prix et d'augmenter mon bonheur dans le monde futur. Mais
soies assure, que je ne vous hais pas; je suis encore trop heureux,
pour souhaiter votre malheur. Au contraire je serai ravi, si vous 20
deviendres un homme, et cesseres rassembler au diable.
III.
Je t'aime, fille adorable! e'est tout ce que ma langage peut dire,
mais ce n'est pas tout ce que mon coeur sent. O dieu, que tu
aurois aussi ajoute au coeur, qui sait aimer, la langage, qui le
pouvoit exprimer. Je n'ecrive pour parler a toi, mais pour me
souvenir de toi: nos coeurs parlerons un jour plus veritablement,
plus haut, plus distinctement, quand ils seront unis pour jamais,
que le peut cette morte plume. O esperance, que tu rendes les '
heures si tardes, et pretes au moment la duree d'une annee! 30
Qu'un sommeil bienfaisant berceroit mon ame en songes dou-
ces, et me faisoit oublier tout mon bonheur jusqu'a le matin,
ou je m'eveille, de le posseder pour jamais. Sois heureuse, done
je le serai aussi: aime moi, moi qui je suis prete a mourir pour
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 211
un ange, lequel le del me renderoit en habit plus coeleste ct
plus digne de son ame.
Am Donnerstag den 16 August.
Das Mittelmassige ist der Polype zwischen dem Guten und
Schlechten. -Keinschwerers Geschafte ist fur den Kunstrichter,
als ein mittelmassiges Buch zu rezensiren: er weis nicht wo er's
hinsezzen sol; es geht ihm wie dem Naturkundiger, dcr stille-
schweigt, wenn er Polypen oder Korallen sieht. -
Am Sontag den ip August.
10 Warlich, es gehort weniger dazu, gluklich zu sein, als man
glaubt. AH* unser Ungliik komt daher, weil wir das ware Gluk
nicht kennen, und, indem wiruns nach einem zu grossen bestre-
ben, uns einbilden, gar keines erreicht zu haben. Wir halten
es nicht fur Gluk zufrieden zu sein, darum gefalt uns keiner
unsrer Zustande; wir wollen nicht allein gluklich sein, wir wol-
len es auch andern zeigen; deswegen so viel Pomp, so viel Auf-
wand, der uns nichts als den Neid des andern erwirbt, unser
Vergniigen durch einen wilkurlichen Zwang einschrankt und
unsre Glukseligkeit unsrer Eigenliebe aufopfert. Ober d[em]
20 Schein des Gliiks vergessen wir seinen Genus. Ich weis nicht
ob der Furst, der eine offentliche Tafel vor den Augen vieler
tausende halt, so frolich wird essen, wie der Arme, der von
seiner Arbeit ermiidet, hungrig unter dem Angesicht seines
Weibs und seiner Kinder sein' Abendbrod aufist. Dieses Behagli-
che, dieses innige Fiilen der Freude, wird von der Begierd' auf-
gezert, seine Macht zu zeigen. O! ich sah' oft an dem Goldbe-
dekten Manne nichts, als die Traurigkeit in einer schonen
Maske, die nur den Zuschauer hintergeht, aber ihren Besizzer
desto arger foltert
30 Ein trauriges Gesicht steht nicht zu einem frolichen Kleide; aber
212 JUGENDWERKE " I. ABTEILUNG
wol kontrastirt angenem eine offene Miene mit den Lumpen
des Betlers. Die grossen Palaste sind immer die Wonungen des
Kummers, indem die Freude in den Hiitten der Armen einkert,
und der, den die Wolgeriiche des Lobes umduften, bekomt end-
lich Kopfschmerzen von den starken Geruchen. Gesunder ist
der, der auf dem Lande Gottes freie Luft geniest - das Lob der
andern macht Kopfschmerzen; aber der innere Beifal belont her-
licher, er reinigt die Sele, und er verlast sie nie und ist selbst
ihr Geselschaft[er] auf dem Todenbette, ihr Begleiter, wenn sie
den Korper verlast. Die Ungleichheit, die Got unter den Men- 10
schen gemacht hat, scheint grosser zu sein, als sie ist. Die Rei-
chen haben nur den Schein des Gliiks; da die Armen sich seines
Genusses freuen, und in dem Masse, in dem wir den andern
gliiklich scheinen, scheinen wir uns ungliiklicher. -
Unter alien Ubeln, die die Armut verursacht, ist das das gros-
seste, daft man unfahig ist andern seine Menschenfreundlichkeit
genug zu zeigen. O! woltatig sein, diese reinste Quelle des
menschlichen Vergniigens, diese mus der Arme so oft entberen.
Zwar sein Wille wird die Grosmut des Reichen iibertreffen,
d[em] es nicht viel kostet, wolzutun; aber rechnet ihr den innern 20
Unwillen, seine B ruder leiden zu sehen, und ihnen keine Hiilfe
erzeigen zu konnen, fur nichts?-
Tranen sind der Regen, der alle Tugenden befruchtet, und
sie milde macht. Der Hartherzige kan auch Tugenden verrich-
ten; allein sie haben das Ansehen des Heroischen, sie erregen
mer unsre Bewunderung als unsre Liebe, sie sind nicht mensch-
lich genug. Das weiche Herz giebt alien Handlungen etwas an-
genemes, etwas riirendes. Ich werde dem danken, der mir aus
kalten Beweggriinden angetrieben mein Elend mildert; aber den
wcrd' ich umarmen, der seine Tranen mit meinen vermischt 30
und mein Heifer wird. Bei ienem tut's weh, seine Hiilfe zu brau-
chen; bei diesem verschmilzt sich eignes Elend und f rem des
Teilnemen in eine so angeneme Empfindung zusammen, daB
wir diese Empfindung [?] in der allergluklichsten nicht hingeben
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 21 3
wiirden. Die Tranen des Mitleidfigen] sind heilender Balsam
in die Wunden des Ungluklichen gegossen. Seine Leiden ver-
mindern sich, weil er sie nicht allein leidet. —
Lezte Wort' eines Ungluklichen an seine Mitbriider!
anstat einer Grabschrift
Wer du bist, der du hicr weilest, ein Gluklicher oder Unglukli-
cher, wenn du nur ein Mensch bist, bleib hier stehen, und lies.
Hier rcdet ein Ungliiklicher, der unter deinen Fiissen iezt von
seinen Leiden ausruht. Ich war geboren mit alien Anlagen zur
10 Freude. Ich hatt' ein empfindliches Herz, reizbare Sinnen, einen
guten Verstand. IchhatteEltern, die mich gut erzogen, die nicht
ganz arm waren und deren Fleis mir hinreichende Versorgung
bis zu meinen Jtinglingsiaren versprach. Ach! ich hatt' alles bei
mir, was gliiklich macht [?]; aber ausser mir fand' ich alles,
was mich ungluklich machte. Mein Herz hatt' einen Himmel
in sich, und wurd' ausser sich in eine schwarze Holle versezt.
Ach! du empfindliches Herz, was warst du anders, als eine
leichte Feder, die die Sturmwinde der Leidenschaftfen] in den
Luften [bewegten?]
20 Am Montag den 20 August.
Got sieht in iedem gegenwartigen Zustande den zukiinftigen
als Folge desselben verhiilt. Und dies ist das, was man seine
Alwissenheit nent. Man macht sich von dieser Eigenschaft einen
sonderbaren, und falschen Begrif, da man glaubt, Got sehe das
Zukunftige zum voraus, one Ruksicht auf die Beschaffenheit
des Gegenwartigen, one Ruksicht auf das Verhaltnis der wir-
kenden Dinge zu einander. Deswegen schlos man: mus zu ieder
Weissagung ein unendlicher Verstand erfordert werden. Man
bedachte nicht, daB in einer Welt, wo alles durch Ursach und
30 Wirkung verkniipft ist, zum Weiss agen nichts erfordert wird,
als den gegenwartigen Zustand aller unzaligen wirkenden Dinge
genau zu kennen, und ihm auf seiner Entwiklung durch Aban-
214 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
derung der Wirkungen bis zu dem Zeitpunkte zu folgen, den
man voraus bestimmen woke. Ein Engel also kan fahig sein,
Begebenheiten, die erst nach tausend Jaren wirklich werden,
genau vorherzubestimmen. Denn es wird nichts erfordert als
die Kentnis der Beschaffenheit aller wirkenden Ursachen. So-
bald ich die Ursache kenne, kenn' ich die Wirkung; und dan
kenn' ich alle die Zustande, welche Reihen dieser Wirkungen
sind. Sobald wir also sezzen, daB die Kentnis des gegenwartigen
Zustandes aller wirkenden Dinge die Krafte des Engels nicht
iibersteigt, so kan man ihm auch die Kentnis aller zukiinftigen 10
nicht absprechen. Wir sehen nur deswegen das Zukunftige so
schlecht, weil wir das Gegenwartige nicht besser sehen. —
Ich begreife, wie Got den gegenwartigen Zustand der Ding'
erkent. Allein ich begreife nicht, wie er den zukiinftigen erken-
nen mag. Er sieht das Zukunftige als Folg' im Gegenwartigen;
ganz recht! Allein was ist fur ein Unterschied unter seinem Er-
kennen einer Folg' im gegenwartigen Ding, und unter dem Er-
kennen, daB die Folge wirklich, selbst gegenwartig ist? Man
tauscht sich, es begreifen zu konnen, weil wir Gottesvorherse-
hung [!] nach der unsrigen abmessen. Allein alle unsre Vorausse- 20
hung der Zukunft besteht ia nur in Mutmassungen, in Erwar-
tungen, in Moglichkeiten - bei Got ist gerade das Gegenteil,
er sieht das Zukunftige eben so notwendig wirklich, als das
Gegenwartige, er sieht's auch anschauend! das ist eben das Ratsel!
Wie verhalt sich die Vorstellung Gottes vom heutigen Tag, die
er iezt hat, zu der, die er gestern, daB ich so rede, hatte? - -
Was noch mer ist, wie stelt sich Got das Vergangene vor? Gabe
das nicht einen Einwurf gegen die Behauptung ab, daB eine
iede Idee Gottes ausser ihm wirklich sein mus? Got sieht's Zu-
kunftige; hier zwar konte man sich mit Spizfiindigkeiten heraus- 30
helfen; aber er sieht auch das Vergangene? Hier ist Dunkelheit,
iiber Dunkelheit! - Und er sol unveranderlich sein? ia er mus
es sein; ich verstehe nur nicht, wie er's mit der Kentnis des
Zukiinftigen und Gegenwartigen sein kan. —
TAGBUCH MEINER ARBETTEN • AUG. 1781 21$
Da fait mir ein kurioser Gedank' ein: Solten nicht die Jarszeiten
eine Abanderung in den Werken des Geists machen? - Solt'
es gleichviel sein, ein Buch im Sommer oder Winter, oder
Herbst, oder Frilling zu schreiben? - Solten manche Biicher von
der Ostermesse, und von der Michaelismesse nicht eine kleine
Verschiedenheit haben? Es versteht sich von selbst, daB sie miis-
sen in einem halben Jare gemacht sein.
Am Dienstag den 21 August.
Jeder halt den fur weise, der weit in der Wissenschaft gekommen
10 ist, die er selbst liebt; allein den halt er nur fur gelert, der da
viel weis, wo wir nichts wissen. Jeder erteilt der Wissenschaft,
die er vorziiglich betreibt, einen Wert vor alien andern - ieder
halt seine Art von Kentnissen fur unentberlich, fiir unschazbar.
Deswegen findet ieder viel Gelerte in der Welt; allein nicht viel
Weise: weil die Anzal der Menschen, die sich mit unsrer Lieb-
lingswissenschaft abgeben, geringer ist als die, welche die iibri-
gen Kentnisse bearbeiten. -
Ere den Alten, du erest nicht bios den Menschen in ihm,
du erest in ihm schon den kunftigen Himmelsburger. - Wir
20 lieben den Freund noch einmal so innig, der bald uns verlast;
wilst du gegen den Greisen kalt sein, dessen Alter die Krankheit
ist, welche almalig . . . Schon deswegen, weil ich den Alten
nicht lange mer sehe, seh' ich ihn desto lieber. -
Am Mittwoch den 22 August.
Dankbarkeit ist nicht die leichteste, nicht die angenemste Pflicht;
dies haben nur die nicht gefiilt, die sie nie gekant, und alzeit
mit der Schmeichelei verwechselt haben. Niemand kan leichter
seinen Dank durch Worte ausdriikken, den(n) von dieser Art
der Dankbarkeit red' ich, als der, welchem seine Kleinheit iede
216 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG
Abhangigkeit unbedeutend, iede Erniedrung ertraglich macht.
Jeder, der dankt, ist in einer gewissen Verwirrung; wenn er
eine hohe Sel' hat, so wird das Wanken, wie er des andern Wol-
taten erkennen sol, ihre Grosse an den Tag legen sol, und wie
er seine eignen ... die Ursache dieser Verwirrung sein; er fult
sich der Woltaten zu wiirdig, als daB er dafiir one . . . danken
konte. Bei der kleinen Sel' ist gerade das Gegenteil; ihre eigne
Unwiirdigkeit der Woltat macht in ihren Augen mit der guten
Gesinnung des Gebers einen sonderbaren Kontrast; sie weis
nicht die Grosse der Woltat zu schazzen, weil sie sie nicht ver- 10
dient, deswegen ergiest sie sich in lange Danksagungen: sie er-
niedrigt sich zu Schmeicheleien, weil sie nichts dabei verliert,
das zu sagen, was sie nicht fult. Der Verfasser der Lebenslaufe
sagt: ich wolt' einen Menschen schon ganz aus seiner Art Ge-
schenke zu geben, erraten; allein ich sezze noch hinzu, ich wil
den Karakter noch besser aus der Art erlernen, wie er Geschenke
annimt. Es giebt Menschen, die sich durch ihre Danksagung
der Woltat, worum [?] sie danken, unwurdig machen. Es giebt
Leute, die durch iedes Danken eine neue Woltat verdienen.
Wenn man recht dankt, redet man wenig; aber man halt viel. 20
Der Mund schweigt; aber das ganze Gesicht verrat den Dank,
der auf den Lippen blieb; wolliistige Tranen, die von den Wan-
gen des Geretteten herabfliessen, o! diese belonen reichlich den
Menschenfreund fur seine Muhen. Er fiilt in sich eine Ruhe,
die nur das Andenken einer guten Tat giebt, eine harmonische
Zustimmung, die nur die Saiten der Freude, die er bei dem
andern bebend gemacht hat, in seinem weichen Herzen hervor-
bringen. - Es ist schoner Woltaten zu geben, als zu empfangen;
denn 's ist angenemer sich bei'm Guten tatig, als leidend zu
verhalten, und behaglicher, Macht zu haben, als abhangig zu 30
sein.
Man mochte fast sagen, die Sele des Dankenden verliess' ihre
innere Wonung, sie schwebe nur um den Korper, sie bilde sich
auf ihm ab, sie sprach' auf den stummen Lippen, in den zartli-
chen Augen, in den sanften Ziigen des ganzen Antlizzes. Es
giebt gewisse Zeiten, wo die Sele sichtbar wird, wo sie ihre
TAGBUCH METNER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 217
Gestalt entschleiert, und ihre Larve ablegt: unter diese Zeiten
gehort gewis der Augenblik des Dankes. Da nur kan man sehen,
ob einer eine Sel' hat, ob er eine schone hat, um sie one die
Maske der Schmeichelei zeigen zu diirfen. - Gewissen Menschen
dankt man nicht gern; von dem, der uns Boses erwarten lies,
empfangen wir ser ungern das Gute; eben so wenig vom Hoch-
mutigen: man fiilt sich zu tief erniedrigt, wenn der andre unser
Elend zu einer Staffel gebraucht, worauf er zu hoherer Ere stei-
gen kan, man findet es unertraglich, zugleich Gut' und Bosartig-
10 keit in der Handlung zu erkennen, und durch unsre Pflicht der
Dankbarkeit dem Laster des Hochmuts noch Narung verschaf-
fen zu miissen. Und endlich, - o Got! wenn ich alles dulden
soke, nur dies nicht - dem dummen und zugleich bosen Men-
schen zu danken, der durch einen Zufal auf unsre Erkentlichkeit
Anspruch machen kan. O! wer eine hohe Sele hat, wer ein scho-
nes Herz in sich fiilt, oder einen scharfsinnigen Verstand bei
sichbemerkt, o! der lasse sich lieber vom Sturz seines vormali-
gen Glukkes zcrtriimmern, als einem elcnden Bosewicht oder
Dumkopf
20 Am Donnerstag den 23 August.
Es giebt Menschen, die ihre Feler nicht anders, als mit ihren
eignen Augen sehen wollen. Bei diesen mus man sich hiiten,
ihnen ihre Torheiten zu entdekken, denn dies ist gerade das
Mittel, sie in dieselben verliebt und anhanglich zu machen -
man mus aber suchen, ihre Augen zu verbessern, dafi sie sie
selbst sehen, man mus selbst solche Torheiten begehen, um sie
ihnen auffallend zu machen, und sie zu gewonen, sich selbst
in uns zu tadeln. So sind am meisten die Konige. Darum haben
viele kluge Manner ihre gute Absicht nicht erreicht, weil sie
30 dieses Mittel nicht gebraucht haben; was noch mer ist, sie haben
gerade dadurch ihrcm Endzwek entgegengearbeitet. Mancher
21 8 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG
begeht einen getadelten Feler desto ofter, um dadurch unsern
Tadcl zu widerlegen und zu beweisen, daft er sich nicht geirt
habe. - Es ist (iberdas nichts unbesonnener, als einen bestrafen
in dem Augenblik da er kaum die Torheit begangen hat. Das
heist nicht sein Urteil verbessern, das heist ihm Gelegenheit
geben, es zu verteidigen, es fester einzupragen, es durch Schein-
griinde gegen die Anfalle der aufwachenden Vernunft zu si-
chern. Hat man wol so wenig Menschenkentnis, daft man
glaubt, ein Mensch werd' eine Torheit begehen, die er als Tor-
heit erkent? Ist nicht iede Tat in dem Aug' ihres Urhebers gut?
Und mus man nicht eher die Zeit erwarten, wo andre Umstande .
ihm eine andre Lage, ein andres Urteil gegeben haben, wo er
genotigt ist, bei sich selbst den Widerspruch seiner Handlungen
zu fulen? - Ich wiiste kein besseres Mittel, einen Hochmiitigen
zu alien Arten von Lastern anzugewonen, als ihn augenbliklich
nach ieder Unschiklichkeit zu bestrafen. Er wird gewis nie eine
Torheit ablegen, weil er zu stolz zu dem Bekentnis des Irtums
ist. Er bessert sich nur da, wo er glaubt, daB meinem Auge
die Verschiedenheit seiner Urteile und Handlungen entgangen
sei. - Und die neuen Ideen eines Schriftstellers widerlegen,
nachdem er das Buch in der lezten Messe herausgegeben, heist
die Ursache sein, daB er seinen Irtum nie wiederruft. Aber dis-
putire mit ihm nach 10 Jaren dariiber; dan wird er selbst . . .
Gewisse Bestrafungen der Torheit sind nichts anders als Waff en,
die man ihrem Urheber in die Hand giebt, seine eigne Schwache
zu verteidigen. - Es sind viele gferade] Narren geworden, weil
man zu bald die eigne [?] Torheit an ihnen bestrafte; und manche
zu B6sewicht[ern] ausgeartet, weil man an ihnen nie etwas an-
ders als ihre Mangel bemerken woke.
Am Freitag 'den 24 August. 30
Eine iede unsrer lebhaften Ideen ist das Glas, wodurch wir alle
andern erblikken. Deswegen nemen unsre Begriffe eine andre
Farb' an, nach den Augen womit wir sie sehen: oder eigentlich
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 219
iede lebhafte Ideenreihe, die wir iezt denken, zeigt uns von alien
andern Ideen nur das anliche, das sie mit einander gemein haben;
wir sehen dan die alten Begriffe anders, weil wir sie mit andern
Nebenideen sehen, wir bemerken neue Seiten an ihnen, welche
uns durch die Lebhaftigkeit der gegenwartigen [?] Ideen, die
mit gewissen unbedeutenden Seiten im Verhaltnis der Anlich-
keit, Gleichzeitigkeit u.fs.w.] stehen, sichtbar werden. Unser
Glaube ist also in einem unhaltbaren Flus; wir denken nie die-
selbe Idee wieder; alle unsre Begriffe verandern [sich] im Grad
und in der Art. Wie wir uns selbst sehen, so sehen wir auch
die aussern Dinge. Kein Ding macht dieselbe Empfindung zu
verschiednen Zeiten auf uns; weil unsre Empfindung alzeit um-
geandert [?] ist. Alles ausser uns verandert seine Beschaffenheit,
seine Gestalt, wie sich in uns die Selenzustande andern. Der
Trubsinnigeleihtiedem Gegenstand die schwarze Farbe, welche
in seinem Kopf das Kleid seiner Gedanken [?] ist: in iedem Ver-
gniigen sieht er das Elend, das es giebt [?], in ieder Freudenblume
den Wurm, der ihren Keim zernagen wird, und die Wollust
umschl[eiert] er mit dem Flor der Schwermut. Auf den Gesich-
tern, die laut[er] Frolichkeit verkiinden, sieht er schon die
schwellenden [?] Zuge des Grams und des Kummers; und das
Lacheln des Sauglings erwekt [?] in ihm die Vorstellung [der
Tranen], die er noch weinen wird. Den Bewonern der Pallaste
giebt [?] er das Haus, das uns alle verschliest, in dem Sauseln
des Waldes hort er schon das Rauschen der welken Blatter, und
er sieht nicht die anmutigen Szenen des Sommers, one an die
Verwiistungen des Winters zu denken.
(wird fortgesezt.)
Am Sonnabend den 25 August.
Lett re.
Vous ne tendes qu'a la gloire; vos actions ne se rapportent qu'a
la louange, que vous en regeves; vos vertus ont une grande appa-
rence, pour etre vues et applaudies, et vos lumieres memes ser-
220 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
vent plus a nourrir votre faste, que votre ame. Voila le cote,
qui vous rend et louable et coupable, selon les positions, dans
lesquelles vous vous trouves, selon les homines, qui presentent
vos juges. Vous pouves devenir tout, un fripon et un honnete
homme, un sage et un sot, si vous en croies avoir quelque
louange. Ainsi tout ce que vous etes, n'est pas votre ouvrage,
mais celui des autres, pour lesquels vous 1'etes devenu. Entendes
done la voix d'un ami, qui ne cherche d'eteindre vos desirs les
plus vifs, mais de les bonier utilement. La gloire ne doit pas
etre le fin, auquel se rapportent vos actions; mais elle doit devenir 10
un motif nouvel, pour aimer la vertu et la sagesse. Adores la
vertu sans en faire de bruit; seches les larmes du malheureux
sous le'nom d'autrui, et oublies vous meme en faisant le bien;
done vous deviendres louable et fameux, sans avoir cherche de
1'etre. Votre gloire ne depend seulement du jugement des hom-
ines, qui se trompent si souvent; elle depend du jugement de
celui, qui ne s'est jamais trompe, qui voit tout, et n'oublie rien
de recompenses Et enfin qu'est ce que la gloire? Une chose,
qui n'existe que dans le bouche d'autrui, qu'on n'achete qu'aux
depens de son repos, de sa fortune, et dont les fruits ne recom- 20
pensent la peine, qu'on a met de I'acquerir. - Outre cela vous
cherches votre immortalite dans le present - e'est le moyen,
d'etre oubli a 1'avenir. Presque tous les gran[d]s hommes de
I'antiquite sont devenus celebres apres leur mort. Leurs contem-
porains n'ont vu dans eux que les objets de leur envie, ils les
ont hais, persecutes, tues; mais ce fut le moyen de les illustrer.
La posterite a supple la gloire apres leur mort, que les contempo-
rains ont refusee; la haine de leur nation a double leur grandeur
et ils sont devenus plus fameux, parcequ'ils ont ete plus envies.
L'envie croit deminuer le merit; elle se trompe, elle l'annonce, 30
elle Taggrandit, elle le rend immortelle. II faut des esclaves pour
triompher; il faut des envieux pour devenir grand. - Qui est
bientot loue, n'est pas long terns loue. Toujours on prefere
Fhomme mechant, qui s'accommode aux prejuges et aux vices
des autres, au celui, qui marche son route, sans entendre le bruit
des mediants, les calomnies des fripons. Mais la posterite a d'au-
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 221
tres yeuxa voir; elle n'a point deraison demeconnoitrele merite,
et d'honnorer le vice; elle oubl[i]e le mechant, mais la memoire
du vertueux fleurit aux coeurs de tous les vertueux, elle ne se
■ fane jamais, elle repand son ombre agreable jusqu' a l'aeternite
meme. - Vouloir qu'on soit loue de tous, c'est vouloir qu'on
plaise aux mediants, c'est aimer le vice. Cesses done d'etre ce
que vous aves ete. Soies plutot un amant de la vertu, de la verite,
soies un bienfaiteur de 1'humanite, ajoutes a l'excellence de vos
talens celle de leur usage; done vous attireres le respect de tout
10 le monde, et de vous meme. Vous pouves perdre lc premier,
mais ne pas le dernier, et ce n'est que le dernier, qui procure
le premier. J'acheve, et vous laisse faire ce que j'ai dit. S'il fau-
droit encore, que je dirois plus, j'avois vainement dit tout.
Lessing sagt irgend wo: man redet am meisten von der Tu-
gend, die man nicht hat. Wie war! Wer predigt mer von der
christlichen Liebe als der blinde Fanatiker, der ieden anders den-
kenden verfolgt? wer erhebt mer die unparteiische Gerechtigkeit
als der bestochene Richter, und wer ist ein eifrigerer Lobredner
der Demut, als der Hochmutige? - Wir ersezzen das durch
20 Worte, was wir nicht durch die Tat beweisen korinen, wir wol-
len, dafi der andre aus unsrer Teorie einen Schlus auf unsre Praxis
mache. Was man hat, erwant man nicht oft; denn man kan's
ia sehen. Hingegen da, wo wir befiirchten, daB uns der andre
eben so gut wie wir selbst kenne, begehen wir den Widerspruch
zwischen unsrer Zung' und unserm Herzen. - Warum ist wol
der Man, der ein Greis ist, on* alt zu sein, allemal der galanteste?
Deswegen weil er seine Manheit, die er einem tierischen Laster
aufgeopfert hat, durch verliebte Versicherungen ihres Daseins
ersezzen wil. -
30 a. Mein Her! Sie hatten besser getan, wenn Sie Ihre Dumheit
bios gedacht hatten [usw. wie S. 295,25-296,5]
Man lobt oft andre bios, um selbst gelobt zu werden. Wir
streichen gewisse Eigenschaften bei ihnen heraus, die wir selbst
222 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
besizzen - dadurch wird der andre gezwungen, uns einen glei-
chen Dienst zu erwiedern.
Nichts macht mer zum Freunde, als gemeinschaftliches Lei-
den. Das Ungliik erweicht das Herz; last den andern dasselbe
Ungliik fulen - o dann fliessen ihre Herzen zusammen, wie
eili Tautropfen in den andern, alles zerschmilzt sich in eine Emp-
findung. - Die Menschenliebe ist eine Blume, die nur im wei-
chen und feuchten Erdboden wachst; Tranen sind der Tau, der
ihren Wachstum befordert. Wer nie iiber sein eigen Elend ge-
weint hat, wird eben so wenig iiber das des andern weinen;
wer nie gelitten hat, wird mit dem Leidenden nicht sympatisi-
ren. -
Am Sontag den 26 August.
Es ist bekant, daB die Handlungen des Menschen so oft wider-
sprechend sind; aber es ist vielleicht weniger bekant, daB seine
Meinungen es eben so oft sind. Der nur leugnet [es], der bios
nach seinem System denkt; und d. h. mit andern Worten, der
gar nicht denkt. Es giebt Menschen, die an ieder Sache nur das
aufsuchen, was siefahig macht, in ihrem System einen gewissen
Plaz einzunemen. Sie haben fur nichts einen Sin, was nicht in
einen Paragraphen gehort; sie empfinden nie die ware Wirkung
der Dinge auf sie, weil sie allemal daran formen, um sie ihrem
System anzupassen. Diese widersprechen sich nicht oft, weil
sie nicht selbst denken. Hingegen der, der alle Ding' in einem
lebhaften Lichte sieht, der ihre Verhaltnisse also mit grosserer
Deutlichkeit bemerkt, und der nie daran denkt, wie die Dinge
sein sollen, sondern nur achthat, was [sie] sind, dieser ist oft
der Gefar ausgesezt, in Widerspruche zu fallen. Er beurteilt alzeit
die Dinge nach den Lagen, in welchen er sie sieht; er sieht sie
also lebhaft. Dies bewegtihn, dem Sazze, den er von . . . abstra-
hirt, eine grossere Ausdenung zu geben, und die Seite, die iezt
so glanzend in sein Auge fait, verhindert ihn, eine andre als
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 223
moglich zu denken oder sie zu mutmassen. Allein last eben die-
sen Menschen in entgegengesezte Umstande kommen, so wird
er ein Urteil nach seiner gegenwartigen Lage fallen, er wird
die andre Seite des Dings lebhaft sehen - und diese beiden Resul-
tate der Urteile von diesen Dingen werden ein Widerspruch
werden. Das bemerkt man an alien Schriftstellern, die nicht Sy-
stematiker sind; an solchen die mer den Eindrukken ihres Her-
zens folgen, wie Rousseau pp., und an wizzigen, die allemal
die verborgenste Seite der Dinge aufsuchen. -
10 Derienige Mensch begeht nicht die meisten Torheiten, der
wenig Verstand, und wenig Empfindung hat. Denn das sind
gerade die Gaben, welche ihn unfahig machen, einen andern
als den betretnen Weg zu gehen. Aber der, dessen Bewegungen
des Herzens die Starke seiner Ideen iiberwaltigen, ist oft der
Gefar ausgesezt, dem andern nicht klug zu scheinen. Jede starke
Leidenschaft treibt zu etwas ungewonlichem; felt nun der Ver-
stand demienigen, der sie hat, so wird dieses Ungewonliche
toricht sein
Uberhaupt halten wir vicle Handlungen fur Torheiten, weil sie
20 ungewonlich sind. Mancher Tor wiirdc den JSFamen eines Wei-
sen erhalten, wenn er merfere] hatte, die ihm gleich waren, und
wenn er Schwache genug hatte, seine eignen Torheiten gegen
die kanonisirten [?] Torheiten der andern zu verwechseln.
Niemand flilt mer die Beschwerlichkeit, dum zu sein, als der
Selbstdenker. Nur er ist der Qual ausgesezt, seine Schwachen
zu kennen, und ihre Wirkung durch das Bewustsein seines . . .
vermert zu empfinden. Kein Dumkopf hat ie gesagt: Es giebt
Zeiten, wo ich schlecht denke. Allein kein Weiser hat ie gelebt,
one das Gestandnis zu tun: »oft bin ich ganz unfahig, zu denken;
30 oft sind alle meine Krafte abgespant, alle Bilder erscheinen der
Sele im Dunkeln p.« Also kent niemand das Obel der Dum-
heit besser als der Weise; und sicher kan man sagen, daB
ieder, der's nicht kent, noch nicht davon befreiet ist. Man mus
gut gedacht haben, um zu fiilen, daB man iezt schlechter denke,
224 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
und man mus zu gewissen Zeiten eine ser betrachtliche Hoh'
erstiegen haben, urn zu andern Zeiten zu wissen, daB die iezzige
nicht dieselbe ist.
Am Dienstag den 28 August.
Der abstrakte Denker, als solcher, ist am wenigsten geschikt,
andre Menschen zu beobachten; obgleich er am meisten geschikt
ist, sich selbst zu beobachten. Wer sich immer mer mit seinen
Ideen beschaftigt, als sich seinen Empfindungen iiberlast, mer
an ieder Sache, daB ich mich so ausdriikke, das geistige sieht,
und immer den Eindruk der aussern Dinge durch die Ideen 10
schwacht, die er sich davon abzieht, dieser wird unrichtig,
schwach empfinden, und also auch so beobachten. Daher die
Zerstreuung bei grossen Geistern, welche nichts anders ist als
Beschaftigung mit andern Ideen, als es iezt das Verhaltnis der
Zeit, des Orts pp. erforderte. »Aber dennoch haben eben solche
Manner Selenfleren] geschrieben, die doch nichts als Resultate
von Beobachtungen iiber andre sind?« Man irt sich. Diese Beob-
achtungen haben sie nicht an andern gemacht; sie haben von
sich selbst abstrahirt. Ihre Psychologie ist nichts als die Ge-
schicht' ihrer eignen Sele, und iede Beobachtung, die sie an an- 20
dern machen, miissen sie schon bei sich gemacht haben - sie
miissen wenigstens die Moglichkeit ihres Daseins schon aus sich
selbst kennen. Sie taugen gut die Ursachen von einem Dinge
zu ergriinden, aber nicht die Beschaffenheit des Dinges selbst
zu entdekken. Hingegen ganz verschieden von diesen sind dieie-
nigen, die mit einem Blik eine unendliche Menge von Gegen-
standeniibersehen, ihre Beschaffenheit bemerken, ihre kleinsten
Abanderungen entdekken p. Ihre ganze Sele schwebt um die
Gegenstande, welche sie umgeben, alle Ideen, die sie hat, wei-
chen zuriik, um die Empfindung nicht zu verfalschen, oder sie 30
dienen der gegenwartigen . . . zu Narung. Sie haben ihren Blik
nicht gewont, die kleinsten Teile der Dinge zu betrachten; des-
wegen sind siedesto fahiger, viel auf einmal zu iibersehen. Diese
wissen besser die Dinge zu sehen; iene besser sie zu denken
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • AUG. 1 78 I 225
- diese schaffen die Baumaterialien her, iene machen daraus das
Haus - diese sehen gut in d[er] Feme, iene in d[er] Nahe,
iene . . ., diese mikroskopisch. Diese beschaftigen sich mer mit
der Welt ausser ihnen, iene sind bekanter mit der Welt in ihnen;
diese schauen immer was fremdes an, iene alzeit ein Bild ihrer
Ideen; diese wissen vie! von den Dingen zu erzalen, und wenig
zu rasonniren, iene sagen ser wenig von ihnen, um mer von
ihnen zu denken. Diese irren selten, allein sie entdekken auch
nicht viel; iene irren ser oft, ser gefarlich, aber die Lander, die
10 sie entdekken, belonen [?] auch reichlich die Gefar, der man
sich ausgesezt hat.
Warum wil uns doch ieder Lerer der Philosophic das System
aufdringen, welches er fur's ware halt; warum wil ieder Profes-
sor aus seinen Schulern Anhanger der Sekte machen, welche
ihm die beste scheint? - DaB doch ieder Mensch der Despot
iiber unsre Sele sein wil, der er iiber den Korper werden wil.
Jeder verfelt seines Zweks, der uns denken wil leren, indem
er uns an sein System ankettet - das heist nicht unsern Verstand,
sondern unser Gedachtnis (iben. Werd' ich dadurch kliiger, daft
20 ich weis was ein andrer gesagt hat, wenn diesjer] mir die
Gele[genheit] abschneidet, zu wissen, was andre [?] gesagt ha-
ben, wenn er mir verbietet, einen andern Weg in meinem Den-
ken zu gehen, als den, den er in meinem Gedachtnis bepflasterte?
Man soke uns nicht Philosophie, sondern philosophiren leren
- uns nicht gewonen Warheiten anzuschauen [?], sondern sie
zu erfinden, man soke iiberhaupt mer die Geschichte der Philo-
sophie als sie selbst vortragen. Nichts ist notiger als Selbstden-
ken, nichts ist schazbarer, und vielleicht auch nicht[s] schw[erer]
zu erwerben. Der Mensch ist geboren Liigen zu sagen und zu
30 glauben; er ist geboren, sich den Wellen der Mode und des
Schiksals zu iiberlassen, eh' er sein eig[nes] Ruder ergreift, kurz
wir sind ewig Kinder, ewig Schiiler. Es kostet Miihe, diese ge-
wonliche Tragheit, diese Selbstverlaugnung [?], diesen Despo-
tism iiber andre zu liberwinden. Man erschwert diese Arbeit
doppelt, weil man diese Tragheit nicht nur nicht unterdriikt,
226 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
sondern sie noch verstarkt. In unsrer Jugend sollen wir die Be-
haltnisse des Aberglaubens, der Luge werden, womit ein Ge-
schlecht das andere beschenkt; man banet in der Sele die Irwege
zu tief, als daB sie einmal, wenn sie starker geworden, nur die
Moglichkeit eines andern Wegs mutmassen, noch weniger den
Mut, einen andern zu betreten, . . . konte, man macht aus uns
Maschinen. Der Teologe macht den Anfang, der Philosoph
sezt's fort, und unsre eigne Tragheit
Ich fiile meinen Geist urn nichts starker, wenn ich den andern 10
sein System vortragen hore; aber dan f[iile] ich [ihn], wenn ich's
beurteile, wenn ich mir selbst eins mache. Das Systemmachen
ist dem Menschen angeboren; aber wir solten nur [?] ieden sein
eignes machen lassen, und ihm nicht uns[ers] anpeinigen; wir
solten iedem seine eigne Art zu sehen lassen, weil er andere
Augen hat, und ihm nicht eine Brill' aufsezzen, durch die er
wie wir sieht. Unter den Geistlichen ist's eingefurt, einerlei zu
denken, und alien Ideen dasselbe Kleid zu geben, das der ganze
Orden tragt, das schwarze. Der Philosoph ist eben so. Er hat
den Banstral nicht; allein er kan uns mit [?] dem Namen der 20
Dumkopfe, der Fr. [?] brandmarken, wenn wir nicht seinen
Weg gehen; er spricht iedem die Vernunft ab, der nicht seine
hat, und halt ieden fur einen Abgot[ter], der nicht seinen Jupiter
anbetet. Der Jurist kan nicht selbst denken, weil er sich nach
d[en] Vorschrift[en] dferer] richten mus, diezueiner Zeit lebten,
wo man Denken fur - Todsiinde hielt. Also [?] auch hier Des-
potism]. Und der Arzt? der denkt - iiberhaupt [?] gar nicht.
Er hat wenig Nuzzen davon, und aus seiner Kunst selbst hat
er eingesehen [!] gelernt, daB das Denken dem Korper und oft
dem Gliik schade. Bei diesem ist der Desp[otism] der Rezepte, 30
. . . Also seid ihr dazu gemacht ihr Menschen euch fiiren zu
lassen, und entweder selbst die andern im Sumpf zu fiiren, oder
ihnen darein [?] zu folgen.
Gewisse erhabne Gedanken von grossen Geistern sind bios
nur erfunden, um wieder von grossen Geistern geglaubt und
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. I jS I 227
gesagt zu werden. Eine erhabne Warheit im Munde des kleinen
Geists, das heisset den Harnisch Sauls cinem David anziehen;
sic wird lacherlich, wenn sie sie sagen, und die Warheit selbst
verliert etwas von ihrer Grosse, wenn sie im Insektenkopf ge-
wisser Menschen sich mus einkerkern lassen. Mer Er' ist's fur
solche Warheiten, wenn sie von solchen Geistern angegriffen
und gelaugnet werden. Es ist rumlicher, manche Menschen zu
Feinden zu haben, als ihr Freund zu sein. Die Geselschaft, mit '
der wir umgehen, verkund[igt] von weit[em] unsere eigne Be-
io schaffenheit. Eine grosse Warheit in Geselschaft der kleinen
niedrigen Gedanken verliert ihre Erhabenheit; sie nimt die Farbe
von denen an, mit denen sie gedacht wurde, und wird entert
durch das Lob, das ihr ein Unmundiger bringt. Aus dieser Ursa-
che kan man es in unsern Tagen vielen [?] vergeben, wenn sie
[?] Leibnizzens Monadenler' ungereimt und lacherlich finden.
Wenn ie ein Sterblicher den Schleier, der die Natur der Dinge
dem Auge verhult, weit aufdekte, wenn ie ein Erdcnson die
Granzen iiberflog, die ihm die Menschheit [?] sezte, und eines
Sterblichen Auge ie den brennenden Sonnenstral der Warheit
20 mit mer Stark' hat ertragen konnen, o! gewis so war es Leibniz!
All' seine Entdekkungen machen ihn fur diese Menschheit [?]
unsterblich; aber seine M[onadologie] macht ihn mer als uner-
sterblich; sie giebt ihm einen Rum, der auf unsern Lippen zu
wenig sich ausdriikken last, sie macht ihn nicht zum grossen
Menschen, sie macht ihn zu mer, zum Engel. Aber auch nur
Leibniz dachte diese Warheit - tausende sagen sie iezt nur, und
die hadern [?], wenn sie sie [nicht] g[ar] verspotten. Wenn ich
einen Schulpedanten das System dieses Mannes vortragen hore,
so find' ich es lacherlich, weil diese Warheiten mit den kleinen
30 Ideen des Lerers einen sonderbaren Kontrast machen, weil ich
da den von Farben schfwazzen] hore, der nie gesehen hat, und
der bios ein par Benennungen [?] von Farben vorbringt, die
der Sehjende] ihm hat horen lassen. Solche Leute solten erwar-
ten, bis sie mer Fruchtbarkeit bekamen, urn die Friichte eines
solchen Mannes in ihren diirren Kopfen zu naren - sie solten
den Tod erwarten, der sie diesem Manne zufiirte - gewis als
228 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Unsterblicher wiirde der Man noch Lerer der Dinge ihnen sein
konnen, die sie sch[on] selbst and [ere] leren woken. Verziehen
[?] [sei] es also, gewisse Geister dieses Jarhunderts, wenn ihr
diesen Man mit seinem System dem Lacheln des Spottes und
des Kurzsins Preis gebt. Warlich war' er da, er wiirde euch audi
verzeihen; er wiirde vielleicht sein System nicht gesagt [?] haben,
wenn er nicht eine bessere Nachwelt erwartet hatte. - Gewis,
wenn dieses System nicht war ist; so kenn' ich keinen schonern,
keinen erhabnern Irtum - so kenn* ich keine Warheit, die so
schon glanzte, wie diese Luge, die so natiirlich sich durch ihre 10
Einfalt empfale, wie dieser Unsin. Leibniz! Leibniz! du wirst
unter den Engeln mer Bewunderer gefunden haben, als unter
deinenMitbrudern, und wirst Lobeserhebungen der Sterblichen
nicht eher einernden konnen, als bis sie unsterblich sind. -
Bild eines Tugendhaften - und Gluklichen
Sein Leben wallete so sanft iiber die hok[rig]ten Wege der Men-
schen, wie der Zephyr iiber die lieblichen Wiesengefilde. Oft
verlezten Ddrnen seine Hand, aber bios um die Rose zu brechen,
auf denen [?] sie gepfl[anzt] war. Er umkranzte mit den Blumen
der Freude sein graues Haupt, und wankte zum Grabe mit der 20
Krone siis [?] durchl[ebter] Jugend. Endlich brach die Damme-
rung des schonen Tags an, und er verhauchte den begliikten
Geist in ienes Leben, und verschied unbemerkt [?], wie der
klfagende] Ton des Klaviers in d[er] Luft verfliest. -
Gewisse Leiden, die auf Vergniigen folgen, sind notwendig,
um uns vor den schadlichen Folgen der alzugrossen [?] Freude
zu sichern. Auf heitere Tag* unsers Lebens folgen schw[ere]
Gewitter; allein was tutY Der Donner sol nur die schfadlichen]
Diinste zerstreuen, welche der Sonnenstral aufgezogen hat, er
sol die Liifte reinigen, und der Vorbote des schonen Morgens 30
[sein], der auf diese Nacht folgt. Eben so mussen auch Leiden
die Ubel wegs[chaffen], welche uns der Genus der Freude er-
wekt, sie mussen unsre Sele reinigen, und die Ankiindigung
der neuen Freuden sein; welche uns erwarten. Ach! nach Leiden
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ AUG. 1 78 I 229
ist's schon sich freuen; und bei der Trauer Freudentranen - o!
ist's nicht ein schoner Regenbogen? -
Viele leben so elend, weil sie nicht wissen, daB Erdenleben
und Himmelsleben einerlei ist, und viele machen sich ungliik-
lich, weil sie den Himmel auf der Erde von dem im andern
Leben unterschieden halten.
Brief an einen Freund iiber die Liebe!
Ich schreibe dir Dinge, mein Lieber, die du iezt fur dum, und
fur unwar halten wirst. Das wil ich auch haben; aber ich wil
10 zum voraus sagen, daB du eben diese Sachelgen nach kurzer
Zeit fur eben so war halten wirst. Ich wil dir von der Liebe
schreiben; du fulst sie; ich denke sie - aber man mus sie vorher
gefiilt [haben], um iiber sie denken zu konnen. Sie ist eine der
liebenswiirdigsten, angenemsten, unwiderstehlichsten Leiden-
schaften. Wenn wir lieben, so ersch einen wir uns selbst in En-
gelsgestalt, und unsre Liebe gegen uns selbst wachst mit der
Liebe gegen unsre Geliebte - wenn wir lieben, so glauben wir
[uns] in dem Besiz aller Tugenden, und keine schwarze
Reg[ung] des Lasters bewegt mer die liebenden Herzen - die
20 Liebe reist uns hin mit unsichtbarer Gewalt, sie bindet uns mit
Rosenfesseln, die wir gern tragen, weil sie angenem sind - die
Liebe entflamt uns zu allem, sie dreht unser weiches Herz wie
Wachs in den Handen herum, die Liebe macht den Klugen zum
Narren, und giebt Dummen Verstand. Von all[em] die[sem]
wil [ich] iezt mer sagen.
Einen andern lieben, und sich nicht lieben, oder fur liebens-
wiirdig halten, ist ein Widerspruch. [Der] Liebende schwebt
iiber alle Menschen hinweg, er-sieht sie alle von weit[em], alle
im Tal, er und seine Geliebte stehen auf dem Berge und atmen
30 Ater. Die Volkommenheiten, die wir am geliebten Gegenstand
bemerkten, eignen wir uns mit zu, und die Vereinigung der
Herzen vereinigt ihre Tugenden, eins fliest in das andre iiber,
und wir schmiikken uns mit des andern Volkommenheit, wie
mit einer Beute. Sie macht uns auch andre angenemer. Wir lie-
230 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
ben in iedem Menschen unsre Geliebte; unser Herz ist zu vol;
deswegen sinnen wir nicht auf die Ranke des feinen Betriigers
- iedes Menschengesicht erregt in [uns] die Ziige unsres Gegen-
standes, in ieder Handlung d[es] andern mutmassen wir nichts
boses; deswegen ist niemand leichter zu betriigen als ein Lieben-
der. Er hat fur nichts mer Sin auf der Welt als fur Liebe - er
sieht alles schief, was nicht seiner Geliebten Bild ist, und ist
nirgend zu Hause, ausser wo sein Engel ist. Jeder Liebende mus
dem Kalten lacherlich vorkommen; aber er wird ihm nicht bos
vorkommen. Wen die Liebe nicht gut macht, der ist ser verdor- 10
ben. Der Morder wird mit mer Riirung auf den Raub ausgehen;
er wird in iedem Menschen einen Verwandten seiner Geliebte
berauben - Der Neidische wird iiber das Gluk, das er iezt fiilt,
vergessen, andfrer] Gliik zu beneiden; der Todfeind wird die
Flam men der Lieb\und des H asses nicht zugleich in sich konnen
brennen lassen, und sein Herz wird zu weich werden, um gegen
den andern . . .; der Stolze wird den Schein des Gluks verwi-
schen, da er iezt es selbst geniest, er wird sich nicht iiber die
Menschen mer erheben, weilihn ieder [?] Menschnaher anzieht,
er wird Rum und Glanz veracrjten, und seine Unsterblichkeit 20
[?] an dem Busen seiner Minne suchen. Kurz alle Lasterhafte
verbessert die Liebe; sie giebt wenigstens ihrem Laster eine er-
tragliche Farbe, und verwandelt teuflische Verbrechen in
menschliche Siinden. Die Starke, die sie dem Laster nimt, giebt
sie der Tugend. Wenn der Tugendhafte liebet, so wird er nicht
boser, er wird reiner, starker, frommer. Seine kalten Tugenden
werden mit mer Warme belebt, seine Taten nemen iezt mer
ihren Ursprung aus seinem Herzen, als aus seinem Kopfe, und
er fiilt iezt das Gluk feurig [?], d[a] er vorher nur davon iiber-
zeugt [?] war. Jede Uberwindung scheint ihm leicht, er fiilt sich 30
Held in der Tugend. Ferner die Gewalt der Liebe iiber unser
Herz ist hinreissend. Wir konnen H[er] fast iiber alle Leiden-
schaften werden; aber iiber die [Liebe] konnen wir's nicht, bis
uns das Alter dazu d[en] Schild giebt, die Pfeile derselben abzu-
treiben. Und angenem? O ich sol das Angeneme der Liebe schil-
dern: nein dies wiirde mich dem Vorwurf aussezzen, sie nicht
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ' AUG. 1781 23 I
gefult zu haben. Alles wiirde zu kalt, man kan das Feuer dem
Papier nicht einhauchen, das in dem Herzen lodert, und das
nicht schildern [?], wozu die Zunge felt. Die siissen Entziikkun-
gen der Liebe sind zu heftig, zu iibergros, um mit Bedacht [?]
und lange genossen zu werden. Sie verfliegen wie Feuer [?],
im Augenblik; aber sie Iassen holde [?] Erinnerungen nach sich.
Wir sind uns unsferer] nur vor und nach ihrem Genus bewust;
unter demselben [?] wird unser Geist zu ser hingerissen - er
weis nichts von sich; aber herlich [?] sind die Stunden sie [zu]
10 uberdenken, sie zu hoffen, und sich ihrer zu erinnern. - Aber
viel von dies[em] last sich sagen, wenn man . . . Die Lieb' ist
eineTorheit, sie verleitet w[enigstens]zuvielen, undes ist keine,
die sie uns nicht begehen konte Iassen. Wer liebt, der hat nur
cine Person in der Welt vor Augen; auf [?] alle andern achtet
er nicht; er handelt ungewonlich, oft toricht. Gewis es hat noch
keinergeliebt, one sich darnach[?] zu erinnern, dafi erTorheiten
begangen hat. Aber sie sind so siis, und selbst das Andenken
an sie schmerzt mer durch das Gefiil, sie nicht mer begehen
zu diirfen, als sie begangen zu haben. Wir Menschen sind ia
20 onehin nur geschaffen fur Torheiten - den meisten Teil unsrer
Freuden haben wir unsern Verirrungen, unsern Torheiten zu
danken. Und wer nie ein Tor sein wil, wil kein Mensch sein;
oder noch besser, wil der allergroste Tor sein. Unser Kliiger-
werden besteht nur in Verwechsjeln] unsrer Torheiten, wir hal-
ten nur immer den geg[enwartigen] Augenblik fiir klug, und
manche Beschaftigung des ernsthaften Mannes wiirde uns eben
so viel Narheit zu sein diinken, wenn wir langer lebten, um
sie mit andern zu vertauschen. Wir sehen meistens nur unsre
Torheit in der Feme. Ihre Nahe verwirt unser Auge, wir driik-
30 ken lieber die Augen ganz zu, weil ihr Stral wegen seiner Nahe
alzuser blendet. - Darum Freund freue dich, so lange du noch
gluklich genug bist, die ware Beschaffenheit deiner Freuden
nicht zu kennen. Befreie dich nicht von einem Irtum, der so
angenem begliikt; und flieh' eine Warheit, deren Entdekkung
nur Verlust eines Guts sein wiirde. Aber halt' auch diesen Zu-
stand nicht fiir ewig, und die nicht fiir Narren, die solche Narren
232 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
vor langer Zeit schon waren. Ach! dies gotliche Feuer verlischt,
wie Rote auf den Wangen, die Liebe wird alt wie der Korper,
grau wie das Haupt - und das Herz, das in dir mat schlagt,
wird eben so mat [?] fur deine Geliebte schlagen, deine Neigun-
gen werden die Kalte annemen, die dein Blut iibereist, und alle
Menschen werden dir haslicher scheinen, indem dein Gesicht
Runzeln bekomt, und du wirst mit dem kleinsten Funken Liebe
noch dein eigen Ich erwarmen, bis die kalte Erd' auch den aus-
loscht, und lieben und geliebt werden von dem Sarg verschlos-
sen wird, der unsre Gegenjwart] den Augen der Mitmenschen 10
entreist. Denke oft daran, wenn du liebst, daB du einmal aufho-
ren wirst zu lieben; da wird deine Liebe eifrig, ia sie wird heilig
sein. Tranen werden ihr Feuer in sanfte Warme verwandeln,
siisse Schwermut ihre Entziikkungen umschleiern, und deine
Lieb' auf der Erde wird durch den Gedanken [?] des Grabs gelau-
tert werden, einmal Lieb' in dem Himmel zu werden. 1st auf
Erden die Liebe so schon; wie wird sie im Himmel sein? - Lebe
wol! -
Hinweg ihr Sorgen; euch alle begrabt mein Grab; hinweg
Torheiten, ihr seid nur Narung fur die Menschenraupe, und 20
hinweg ihr Laster, wenn das Grab den Schmetterling entwik-
kelt, ach! dan dan kriechen wir nicht mer. Fromme, heilige Tu-
gend begeistere du meine Brust, one dich verweset sie schand-
lich, iedes Adergen [?] gliihe so lange der Gotheit [?], so lang'
es der Wurm nicht zernagt, und du o! Sele, o Geist hoherer
Abkunft sei deines Ursprungs, sei deines Erbes [?], sei des Grabs,
sei des Himmels eingedenk! O! dann sterb' ich so sanft, veratme
den Geist in's Elysium, vermodre die Flekken im Grabe, steh'
auf in reinem Engelsein [?], und eil' in die Himmel, danke dem
Schopfer, liebe Jesum, leb ewig, lebe begliikt, steige von Him- 30
mel zu Himmel, von Sonne zu Sonne, von Sphare zu Sphare,
vom Menschen zum Engel, zum Seraph, ach! gar zu allem. -
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 I 233
Auf das Septembermonat. 1781
Leipzig
Am Sonabend den i September.
Es hat noch kein Weiser gelebt, der nicht in irgend einer Sache
von einem Dumkopf war' iibertroffen worden. -
DerTermometer unsrer Begierden ist im Blut, »der Barome-
ter unsrer Denkungsart im Unterleibe«, der Zeiger 6b unser
Verstand richtig geht, ist [?] im Gehirn, und das Register unsrer
Tugenden und Laster auf dem Gesichte. Vielleicht wiirden wir
io unsre Sele besser kennen, wenn wir unsern Korper besser ken-
ten, und unsre Psychologie wiirde Zuwachs erhalten, wenn der
Philosoph und der Arzt bessere Freunde miteinander wiir-
den. -
Wer eine schlechte Physiognomie hat, ist durch sein ganzes
Lebenhindurchauf den Pranger gestelt; ieder liest das Verzeich-
nis seiner Feler auf seinem Gesichte; er wird unaufhorlich fur
einen Bosewicht erklart; man sieht seine bosen Handlungen,
eh' er sie tut, man liest seine Gedanken, eh' er sie ausfiirt. -
Alle Miihseligkeiten dieses Lebens sind noch ertraglich; nur
20 die nicht, lasterhaft gewesen zu sein. Jedes Ubel schmerzt, aber
das Ubel, das vom Laster herkomt, schmerzt nicht bios, es pei-
nigt, es brent, es nagt. All' andre Leiden gehen eigentlich nur
unsre Wonung an, sie nahern sich uns nur von weitem, erregen
nur Schmerz auf der Oberflache der Sele, und verlieren sich
in kurzer Zeit mit der Ursache, die sie hervorgebracht hat. Allein
so ganz anders sind die Qualen, womit das Laster seine Diener
staupt. Sie sind nicht um unser Wesen herum, sie gliihen im
Innern des Geistes, sie sind immer unsre Begleiter, wurzeln in
234 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
unser Wesen ein, und verlassen uns nur dan, wenn wir die alten
Sunden mit neuen vermeren wollen, und weichen von uns, da-
mit sie in grosserer Geselschaft wieder zuriikkommen konnen.
Umsonst sucht er die Pfeile heraus[zu]reissen, womit ihn das
Laster verwundet; er vermert nur seine Qualen und wiitet gegen
sein eigen Fleisch. Eigentlich kent nur der Lasterhafte die Ab-
scheulichkeit des Lasters; der Tugendhafte hat sich bios davon
(iberzeugt, allein es nicht gefult. Zwar die erste[n] Umar-
mungfen] desselben sind siisse; allein die Kinder, die daraus ge-
zeugt werden, sind die Geisseln des Vaters. Es gefalt uns nur 10
vor der Verbindung mit demselben wie die Braut vor der Hoch-
zeit; aber wenn wir nach den ersten Berauschungen des Vergnii-
gens hellere Augen bekommen, dan erblikken wir das Ungeheur
wie's ist, dan schwilt ieder Reiz zur Haslichkeit auf , und es nimt,
um das Mas unsers Elends zu verdoppeln, iezt die Maske der
Abscheulichkeit an, so wie's vorher die Larve der Schonheit
trug. Got brauchte fur den Lasterhaften keine Holle zu schaffen;
er schaft sie sich schon selbst; er fult in der andern Welt nur
die Holle, die er von dieser Erde mitbringt, ihn brent nur das
Feur, was [?] er hier in seinem Busen narte, und nur die Kinder, 20
die er mit dem Laster gezeugt hat, sind die.Teufel nach seinem
Tode. - Was wiird' ihm also ein Himmel anders sein, als der
Ort, wo man seines Jammers durch den Anblik der Gliiklichen
[?] noch spottete, wo man durch die Gelegenheiten zu neuen
Siinden den alten Qualen nur einfen] grosseren Stachel ver-
schafte, und ihn durch den Anblik der Freuden, deren er unfahig
ist, den tausendfachen Tod des Tantalus sterben lasset? - Der
Glanz der Heiligen wurd' ihm leuchten seine eigne Haslichkeit
zu sehen
Aber vielleicht sind die Leiden, die man dem Bosewicht an- 30
dichtet, nurTraum' eines gutherzigen und schwachen Kopf[es]?
- O nein, diese Tranen kont ihr tagtaglich auf den Gesichtern
der Elenden lesen, deren Blik das Laster zur Erde geheftet hat,
deren Herz ode wie eine weite Wiiste, zu ieder Freud' erstorben
ist, in denen kein Bliimgen der Freude mer Narung findet, weil
das Laster alle Kraft weggesaugt hat. Las dich vom Morder
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 1 235
unterrichten, wie er sein Leben verlebt, der in iedem Menschen
den Henker sieht, welcher seine Taten bestraft, den das Bild
des Ungliiklichen, den er getodet, bis in die Gemacher der lauten
Freude begleitet, der auf iedem Gegenstand das Menschenblut
erblikt, welches er verspriizt, den im Traume der Geist des Ab-
geschiednen in bleicher Todesgestalt erschrekt und seine Sele
zum Gerichte des Rachers abfordert, der in sich verschlossen
alle seine Qualen leidet on' einen Freund, dem er klagen konte,
on' einen andern Trost, als Hofnung des Todes, der auf der
10 weiten Welt keinen angenemen Aufenthalt fiir sich sieht, als
das Grab, welches mit ihm das Andenken seiner Tat bedekt.
Oder wolt ihr die Pein[en] leugnen, die tief im Mark des Wollii-
stigen seine Ruhe, sein Blut, seine Gesundheit, sein Gliik wegze-
ren, das Feur der Reue, welches sein Herz in eine durre Sandwii-
ste verwandelt, wo iede [?] Freude verwelket, die Traurigkeit,
die sich in seinem zus[ammen]welk[enden] Gesichte mit tiefen
Spuren eingrabt, und den schreklichen Kontrast, den das Geful
der Reue und das Geful der Anreizung [?] zu neuen Sunden,
in ihm verursachen, und endlich die schrekliche Katastrophe,
20 wenn unter der halb angef angnen Wollust der Geist *lem Korper
das Ende [?] des . . . Verbrechens iiberlast und hin in die andre
Welt mit dem Flekken der lezten Siinde besudelt eilt? —
Am Montag den 3 September.
Wir alle betrachten einen Ungliiklichen mit mitleidsvollen
Augen, wir suchen ihm eine Linderung in seinen Qualen zu
verschaffen und halten den fiir unmenschlich, der den Elenden
zum Gegenstand seines Spottes, seines Hasses und wol gar seiner
Verfolgung macht. Allein, wenn wir gegen [den] so mitleidig
gesint sind, den das Schiksal elend gemacht hat; warum sind
30 wir's weniger gegen die, die sich selbst elend gemacht haben?
Warum versagen wir dem verworfnen Bosewicht unser Bedau-
ren? Verdient der's etwa nicht, der in seinem Ungliik die Strafe
seiner Verbrechen sieht, der keinen Trost hat, als den, verzwei-
236 JUGENDWERKE - I. ABTEILUNG
feln zu konnen, und der auf einmal von den Qualen in und
ausser sich bestiirmt wird? - Ich weis nicht, warum ich den
Morder hassen sol; obwol ich [weis], daB ich seine Tat verab-
scheuen sol. Der Grund unsers Verhaltens mag wol in unsrer
Selbstliebe liegen. Wir hassen ihn nicht, weil er bos ist, sondern
weil wir befiirchten, daS er's gegen uns sein konte. Wir sehen
uns fur beleidigt an, und werden seine Feinde. Darum hat man
einen grossern Has gegen einen Morder, als gegen einen Unkeu-
schen, darum wiinscht ieder Geizhals den Dieb an den Galgen.
Ich mochte sagen: wer den Rechtschaffenen liebt, ist ser tugend- 10
haft; allein wer den Bosen liebt, ist noch tugendhafter, und von
zwei Menschen, da von [der eine] einen Armen, und der andre
einen Lasterhaften bemitleidet, geb' ich alzeit dem Lezt[ern] den
Vorzug. Man mus sich schon iiber die Sphare der gewonlichen
Denkart hinweggeschwungen, man mus schon das ganze Welt-
geweb' aus einem hohern Standpunkt betrachtet und seinen
Kopf und sein Herz von den gewonlichen Schiksalen des
menschlichen Lebens unabhangig gemacht haben, um dasselbe
Mitleid gegen den Gemordeten und seinen Morder, dicsclbc
Regung gegen das verfiirte Madgen und ihren Verfiirer fiilen 20
zu konnen . Vielleicht ist auch des wegen die Tugend dem Feinde
zu vergeben so schwer und so selten. Wir glauben ihn hassen
zu diirfen, weil er Iasterhaft ist, und suchen unsre Rache durch
den Vorwand seines bosen Herzens zu entschuldigen. -
Die Lei dens chaf ten sind die Winde, die uns durch das weite
Mer des Lebens treiben; ie starker sie sind, desto geschwinder
die Fart, desto leichter sind alle Hindernisse iiberwunden, desto
friiher neue Lander entdekt. Allein sie konnen uns eben so leicht
gegen Steinklippen treiben, in Mersstrudel stiirzen und der gro-
sten Verirrung aussezzen. Die Vernunft bios ist unser Steuer- 30
man; sie kan uns nicht forttreiben, allein sie kan den rechten
Weg zeigen. Wer one Leidenschaft sein wil, der wil nichts sein;
diesem ist dan seine Vernunft so wenig niizze als ein Wegweiser
dem Lamen, der nicht gehen kan. -
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1781 237
Man ist zu nichts mer geneigt, als die Sele nach dem ausserli-
chen Ansehen des Korpers zu beurteilen, den Scharfsinnigen
aus seinen Bewegungen der Hande und Fiisse, aus seinen Kom-
plimenten und aus seinen kurzen Antworten zu warsagen. Man
wil die Grosse der Sele aus den Torheiten schliessen, die man
in ihrem Korper warnimt, und durch das Fenster den Man er-
kennen, der das Haus bewont. Man hat sich oft und fast alzeit
betrogen; allein man liebt diesen Betrug mer als eine Warheit,
die unserer Eigenliebe nicht ser schmeichelt. Ich wil das sagen.
10 Wir suchen bei iedem grossen Manne mit Sorgfalt einen Feler
auf , der uns zur Wolke dient, daB uns der Glanz seiner Grosse
nicht blendet. Wie leicht nun findet man nicht das was man
suchet, oder vielmer wie leicht beredet man sich nicht, es gefun-
den zu haben? Der Man erscheint, der uns iiberdunkeln sol,
der von iedem gelobt wird und von dem wir uns ein glanzendes
Bild schon von selbst entworfen haben a . Wir beobachten seine
Miene, sein Betragen, seine Kleidung, kurz alles das, was der
vernachlassigt, der nicht klein sein wil. Nun ist unsrer Eigen-
liebe genug getan; wir haben die Seite an ihm gefunden, welche
20 wir wiinschen, nun ist das Bild von diesem Manne entworfen;
ein solches namlich, welches notig ist, um von einem kleinen
Geiste fur noch kleiner gehalten zu werden. - Ja selbst der
Scharfsichtige, selbst der, der Verdi enste genug hat, um nicht
Neid zu haben, selbst der Philosoph lasset sich oft verfiiren,
vom Ausserlichen aufs Innerliche des ungewonlichen Menschen
zu schliessen. - Es ist eine gewisse Schadloshaltung fiir die klei-
nen Geister, daB sie die grossen in gewissen Dingen (ibertreffen
konnen, es ist eine Starkung fiir ihr Auge, daB es nicht vom
a Obschon die Eigenliebe nicht gern vom andern am grosten denkt,
30 so bildet sich schon in unsrer Einbildung von iedem berumten Mann'
ein IdeaLab. Allein wir konnen uns die Grosse eines Mannes lcichter
auf seinem Korper und seincm Betragen abgedriikt vorstellen, als uns
seine Geistesfahigkeiten abstrakt denken. Deswegen stelt sich ieder
kleine Geist vorziiglich seine Grosse in den Dingen vor, die er fiir gros
halt- d. h. er erwartet das Auszeich[nende] des Genies in Kleinigkeiten.
Er betrugt sich alzeit, allein er betriigt sich gern.
238 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
zu hellen Stra] der Sonne blind wird. - Uberdies entdekt nur
der grosse den grossen Man; und er zeigt seine Schonheit nicht
dem kalten Eunuchen, sondern dem warmliebenden [Herzen]
iedes Guten. Man lernt ihn erst geniessen, wenn man ihn lange
genossen hat, nur erst durch die Warme der Freundschaft reifen
die Friichte, die so siis zu kosten sind, und die Vortreflichkeit
des Baums beweisen; ein grosser Man ist am grosten in seiner
Stube, und noch grosser in sich selbst. Draussen in der Welt
blendet.er nur, und verschiest feurige Stralen; man mus naher
bei ihm sein, um Warme von ihm zu empfangen. - 10
Die Neider sind nichts als die Wolken, die den Wiederschein
der glanzenden Sonn' auffassen; der Stral pralt von ihnen ab;
allein man sieht nicht, wo er hergekommen ist.
Der Man, der auf dem Atna steht [usw. wie S. 278,5-10
brent.]
Auch am triiben Tage scheint die Sonne, wir sehen nur ihren
Stral nicht. Auch in den barbarischen Zeiten glanzte des Genies
Glanz; allein die Nebel der Dumheit, die Wolken der Intoleranz,
die aufsteigenden Diinste des Neides verhulten seine Stralen.
Es gieng wieder unter, one iemand anders als sich geleuchtet 20
zu haben. -
So wie's Sonnenfinsternisse giebt, so giebt's Verdunklungen
des grossen Mannes. Immer trit ein andrer Korper zwischen
ihn und uns; und wir sind so toricht, diese Verfinsterungen ihm
selbst zuzuschreiben. Jede Sonne wird so von einem kleinen
Mond in ihrem Leuchten verhindert. Deswegen sieht der Furst
die verdienten und grossen Manner nicht, weil ihn immer die
dunklen Korper der Neidischen umkreisen, und immer fort eine
Sonnenfinsternis zuwege bringen. -
Manche Menschen haben ihre Volkommenheiten ihrer Klein- 30
heit zu danken. Man sieht sie kaum mit blossem Auge; nur
bios durch ein Vergrosserungsglas -
TAGBUCH MEIN.ER ARBEITEN * SEPT. 1 78 1 239
Am Dienstag den 4. September.
Von dem Frauenzimmer, das sich schminkt, vermut' ich, daB
es mer als sein Gesicht schminken werde. Wer uns einmal betro-
genhat, dem trautman weniger. Und wirklich wenn die Wange
schon liigt, so darf man nicht viel Warheit von der Zung* erwar-
ten. Beide werden mit dem pralen, was sie nicht haben. —
Wenn oft die kleinen Dunsen, und die gelbsiichtigen Neider-
linge einem aufgeklarten Manne nichts tun konnen; so tun sie
doch dies, daB ihre Menge seine Gegenwart verbirgt. Sie um-
10 summen ihn, in so grosser Anzal, daB man ihn nicht mer sieht.
Wir verkiirzen oder verlangern die Zeit nach unserm Gef alien.
Im Gliikke, in der Liebe, gehen uns re Uren zu geschwinde.
Hofnung und Furcht lassen sie langsamer gehen, und die Lang-
weile hindert gar ihren Lauf. Der wer recht viele Langweile
gehabt hat, wird glauben am langsten gelebt zu haben. Einen
Dumkopf in eine Einsamkeit verbannen, ware das Mittel, ihn
in kurzer Zeit glauben zu machen, daB er ein Greis geworden
sei. Und ein grosser Man hort bei schalen Kopfen nie die Ur
schlagen; es verfliest ihm keine Zeit, weil er nicht denken kan,
20 und er wiirde seine Unsterblichkeit verwiinschen, wenn er unter
diesen ewig leben soke. - LangweiF ist Hunger der Sele, die
nichts als ekelhafte Gerichte sieht - der Geist ist in einer Wiiste,
wo er keine Quelle fiir seinen Durst findet - Langweil' ist die
Auszerung des Menschen. -
Am Donnerstag den 6 September.
Die Jugend ist eigentlich die Zeit unsrer Erfarung; das Alter
die Zeit der Meditazion. Wer dies verandert, wird nie weder
recht erfaren, noch recht denken; er wird kein Philosoph wer-
den, weil er ziibald einer sein wolte. Die Jugend ist das Alter
30 unsrer Leidenschaften, unsrer Verirrungen, unsrer Feler. Hier
24O JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
lernen wir uns kennen, indem wir Feltritte begehen, wir lernen
den andern kennen, weil wir die Geselschafter seiner Feler sind.
In der Ruhe des bedachtigen Alters, in der Merstille aller Leiden-
schaften, und in der Kalte, die der Winter des Alters gebart,
konnen wir die verflossenen Tage in Reihen vor uns vorbeige-
hen lassen, wir konnen die Gestalt ieder Leidenschaft genau be-
trachten, weil wir sie lange nicht gefult haben, wir konnen den
Bau unsers ganzen Herzens analysiren, weil es durch seine man-
nigfaltigen Bewegungen unser Auge nicht mer verwirt, und
es iezt anatomiren, da es tod fur uns ist. Jeder Man ist fester 10
in seinen Entschlussen, wekaussehender in seinen Urteilen, be-
kanter mit sich selbst, wenn er alles dies noch nicht in der Jugend
war. -
Was ist das Leben? nichts als eine Reis' um die Welt; erst
schones Morgenland, dan brennender Mittag, dan kaltender
Abend, und endlich rauher Nord - Kind, Jiingling, Man, Greis.
Immer findet man den iezzigen Ort schlechter, als die vorherge-
henden. O! am schonsten unter alien ist die so froh verlebte
Kindheit - der Morgensonne Stral, nicht Glut der Linie, warmt
hier. Man geniest hier die Freude, so lange sie dauert, man ver- 20
langert sie nicht durch den Nachtisch der Hofnung; allein dafur
hat man auch die Qualen der Furcht nicht, und ist befreiet vom
Stachel der felgeschlagnen Hofnung, man fiilt nur den gegen-
wartigen Schmerz, und verlangert seine Dauer nicht durch
ein . . . Die Kindheit ist der Frilling des Lebens, der Mai im
Jar, das Eden in einer wiisten Welt, der Vorschmak des Him-
mels. O! zu bald verflossene Tage, ach! wie oft saugt der lech-
zende Geist in der diirren Wiiste des Lebens nur aus euch allein
noch Narung, euer Schatten wandelt noch um uns herum, wir
ergozzen uns wenigstens an eurem Bilde, da ihr Iang' uns verlas- 30
sen habt, und schauen noch einmal senend mit ausgestrekten
Armen hin in das Land, wovon uns eine ewige Kluft trennet.
Meine Jugend vermischt sich in alle meine Leiden, sie benimt
ihnen ihr Schmerzhaftes und umwandelt [?] sie in siisse Melan-
cholic -
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1 78 I 24I
Am Sonnabend den 8 September.
Beim Tod' eines iungen Freundes
Ach! hin bist du also, Geliebter! Dein iunges Leben so bald ver-
bliiht, deine Wange schon bleich, dein Herz schon kalt! Da ich
von dir mich trente, o! dacht' ich, daB ich mich auf immer tren-
nen wiirde? Leben, Leben was bist du? mer, als ein Traum?
Die schonen Tage der Jugend verfliessen, die Freunde, die Ge-
selschaft[er] unsrer ersten Freuden, verschwinden, verstreuen
sich in die weite Welt, oder modern im Grabe? Sie verlassen
io uns alle; wir bleiben iibrig, und saugen nur noch an dem Anden-
ken der vergangnen Freuden. Auch du? du bist hingeschieden,
hast die Leiden des Lebens gelitten, und den Kampf des Todes
ausgekampft? - Ach hatte mir irgend ein Geist den Tod leise
zugelispelt, da ich das leztemal dich sahe, so hatt' ich doch einmal
deinen Busen an den meinigen gedriikt, noch einmal das warme
[?] Herz an dem meinigen gliihen lassen, und hatten wilde [?]
feurige Tranen des Abschieds auf immer deine Wangen benezt!
- Nun ist's aus, nun schlaft dein Leib im kiilen Grabe, dein
Herz verweset und kent den Freund nicht mer, der's iezt betrau-
20 ert, im furchtbar stillen Reich der Toden schlummerst du, iiber
dir hin eilen die Jare,' es verbliihen die Wangen der iezzigen
Jiinglinge, die Greise wanken in die Gruft, es veralten die Tor-
heiten, es dreht sich alles herum, und larmt ausser dir - nur
in deinem Grab' ist heilige Stille. Geist des Verstorbnen! was
bist du? waren [?] w[ir] [nicht] sonst einander so anlich?vund
iezt? -ach! iezt hast du den dichten Vorhang der Zukunft durch-
drungen, hast ein[ge]sehen die Rathsel der Ewigkeit; iener fin-
stere Abgrund zwischen Tod und Leben ist dir [hel] - mir noch
dunkel, der [?] ich noch wall' iiber die Erde. Wie weit bist du
30 von mir? Eine Kluft, die schaudernd ist, Leben und Tod! - Ach!
vielleicht gliihen in deinem Busen schon heilige Flammen, mein
Herz warmt sich nur noch von Funken, vielleicht trinkt dein
Geist schon in grossern [Ziigen] den Strom der Freude, und
ich labe mich noch an den Tropfen, die in der Wiiste [?] des
Lebens ... So ruhe denn sanft, geliebter, hingeschiedener
242 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG
Freund! Leicht miisse der Rasen deine Brust bedekken, unbe-
merkt dein Korper sich in Staub auflosen, deine Leiden mit dei-
nem Herzjen] begraben werden, und deine Feler mit deinem
Korper vermodern! Und wenn nach den Tagen dieser Welt,
wenn eine holdfere] Sonne strait, die auch deinen Staub er-
warmt, du frisch veriiingt deine Wonung verlassest, ach! dan
urn [arm'] ich auch dich, dan blikken Freudentranen uns aus den
Augen! wie schon! wie herlich du grosser Morgen der Auferste-
hung wirst du ihn mir wiederzufuren! Und wenn ich einmal
nach vielen Jaren an dein Grab komme, so sol eine Trane die 10
Bliimgen betauen, die deiner Grabstatt' entsprossen sind. Und
wenn der Staub deines vermoderten Korpers im Sonnenstral
spielet, so wil [ich] hinaufsehen zur Sonne mit nassen, mit feuri-
gen Blikken, und denken: ach war' ich auch da droben, wo
eine schonfere] Sonne leuchtet. Dan werd' ich hin[auf] in ienes
blaue Himmelsgewolbe blikken, und meine Augen werden dei-
nen Aufenthalt in den weiten Wonungen des Weltvaters suchen.
Ruhe sanft, noch einmal., ruhe, Geliebter! -
Am Mitwoch den 12 September.
Aphorismen iiber die Dumheit
Der Himmel benam wol dem Dummen den Verstand, aber
nicht die Meinung, ihn zu haben. Fiirwar! es muste kein elende-
res Geschopf sein, als [ein] Dumkopf, der sich selbst von der
Wirklichkeit seiner Dumheit-uberzeugt hatte. Last also dem Ar-
men den einzigen Trost, den er noch hat; stort ihn aus den Trau-
men nicht, die sein einziges Vergniigen noch ausmachen; nemt
ihm die Binde nicht ab, damit er nicht sein Ungliik sehe. Der
Mangel des Verstandes wird reichlich mit Stolz ersezt; und die
Unwissenheit hat das Pralen zum Apanage.
»Der Dumkopf fart mit Sechsen [usw. wie S. 274,21-275,17]
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1781 243
Man kan sich die Antipatie, die unter den guten und schlech-
ten Kopfen herscht, weniger vorstellen, wenn man nicht zu
einjen] von beiden gehort. - Manche Schriftsteller, die iiber
die Dumheit schrien, haben ihr - eigen Fleisch gehast. - Es
ist nicht leicht viel von ihr zu sagen, wenn man nicht eins von
beiden ist. Siehe Forts.
Am Donnerstag den 13 September.
Das Gedachtnis bios ist das, was den dummen Menschen vom
klugen Tier unterscheidet. Er ist nicht fahig [usw. wie
10 S. 267,2-268,13]
Er ist unveranderlich; er vertauscht [usw. wie S. 269, 1-269,20
namen;] die er fur unverlezbar halt, weil er sie von seinem
Vater erbte, und weil er iede Klugheit als eine Abartung vom
dummen Geschlecht ansieht. - Wer hie was grosses gedacht,
hat nie was grosses gewolt, wer einen kleinen Kopf hat,
hat auch ein kleines Herz, wer wenig denkt, empfindet we-
nig. -
Er beneidet den andern nicht um seinen Verstand, denn er
hat sich zu gewis iiberzeugt, ihn darinnen zu iibertreffen; er
20 beneidet ihn um die Ere, die man seinen Einsichten wiederfaren
last, dieBequemlichkeitpp. Deswegenhalt er iezt ein Ideenkon-
zilium bei sich, wo er gerade so lange wait, bis er's schlechte
gefunden hat. Dan kriecht er im Finstern, weil er das Licht der
Warheit scheut, er verwundet den erlichen Man, wie gewisse
[?] Fledermausse, im Schlafe; er zieht seine Fahigkeiten mit
heimlichem Lacheln in Zweifel, verlaumdet durch sein Stil-
schweigen, und verlast nie einen Grossen, one wie die Harpyen,
den Unrat des Anschwarzens dagelassen zu haben. Der Dumme
wiirde nie bos sein, wenn cs keine Weise gabe: diese sind gleich-
30 sam Wegweiser, die ihm den Weg zur Holle zeigen. - Selten
werden grosse Manner durch grossere Manner gesturzt; [usw.
244 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
wie S. 270,25-35 niederstiirzt.] Nicht ein Grand[e] in Spanien
allein stiirzte den weisen Olavides; sondern die ganze heilige
Inquisizion . . . Wie der Baum die kleinen Krauter unaufhorlich
bedimstet, die unter seinem Schatten wachsen; so erhalt das ode
Geschlecht taglich Narung von ihrem Regenten, sie vermeren
[sich], undbringen Friichte, die Antipoden der Vernunft. Siehe
Forts. S. 35 [249,5].
Der Glanz des Rechts chaff enen leuchtet dem Bosen [usw. wie
S. 298,4-6]
Grosse Manner sind oft am angenemsten, am niizlichsten, 10
wenn sie durch die Jare ihre Feler abgelegt haben, und gef alien
erst am Abend ihres Lebens, wie die Sonne bei'm Untergange
schoner ist als am Mittage. Sie sind gros, one gefarlich zu sein;
sie warmen, aber sie brennen nicht; sie senken ihre Stralen sanft
in's Auge, und blenden den Zuschauer nicht.
Derienige, der iiber das Laster zu ser nachdenkt, wird gleich-
giiltig gegen dasselbe. Die Haslichkeit desselben last sich eher
fiilen, als vorstellen und sie verschwindet, wenn man sie durch
das Glas der Metaphysik betrachtet. Dieses benimt der Tugend
einen Teil der Schonheit, dem Laster einen Teil der Haslichkeit; 20
es macht alles gleich und entdekt Bestandteile, die dem Ganzen
nicht anlich sind.
Am Freitag den 14 September.
Unterschied zwischen dem Weisen und Gelerten
Den Weisen schaft die Natur; der Gelerte hat seine Existenz
den Kleinigkeiten zu danken, die seinem Gehirn Narung geben:
ein Wesen, das aus dem Staub der Folianten zusammengeklei-
stert ist. Ein Gelerter kan ieder werden; er kan seine Dumheit
vor und nach
ein Weiser kan nicht ieder werden; nur dan und wan keimt einer 30
hervor aus der diirren Wiiste der menschlichen Blindheit. -
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1781 245
Der Weise denkt, und ist bios ein Weiser, weil er denkt; der
Gelerte befreiet sich von dieser Miihe; er iiberlast sie andern
und sucht seinen Vorzug darinnen, daB er sich mit den Worten
bekanter [macht], in die andere ihre Gedanken einhulten. Ein
Gelerter hat viel gelernt, viel gemerkt; allein er kan nicht viel
leren. Er kan nichts verdauen, darum bleibt seine Sel' immer
diirre. Der Weise weis vielleicht weniger, aber von diesem we-
nigen macht er mer Gebrauch; bei ihm verwandelt sich alles
in Narung; er liest des andern Gedanken, um sie zu eignen zu
10 machen. Der Gelerte webt bios in der Studierstube; er glanzt
am meisten, wenn er allein ist, er ist ein Licht, das unter dem
Scheffel leuchtet; draussen in der Welt verblasset sein Schein.
Der Weise ist Liberal niizlich, er warmt in der Nahe und leuchtet
in d[er] Feme. Siehe Fortsez. [S. 250,7]
Am Sonnabend den 1$ September.
Das Ungliik macht mitleidig - dies ist nur mit gewisser Ein-
schrankung war. Man ist gegen dieienigen nicht mitleidig, die
vorher unsern Neid, und iezt unser Bedauern erregen; wer tief
im Elend klagt, lachelt mit einer gewissen Zufriedenheit iiber
20 den Sturz desienigen, dessen Hoh' ihm beneidenswert schien.
Der Ungliikliche ist nur mitleidig gegen Elende, deren Gliik
nicht weit von seinem Ungliik abstand, deren Fal den seinen
weit iibertrift. Man findet eine Erholung darinnen, einen Un-
gliiklichern als sich selbst zu kennen und d[er] Kolos v[on] Lei-
den des andern verbirgt das kleine Haufgen unsrer Schmerzen.
- Fur eine grosse Sel' ist das Gliik gefarlicher als das Ungliik
- ienes stiirzt sie eher in grosse Laster, als dieses, und die Feler,
die sie im Elend begeht, sind verzeihliger, erhabner, als die La-
ster, wozu sie das Gliik verleitet. - Das Gliik gebiert oft die
30 Feler, und Laster, welche der kleine Geist in seiner Niedrigkeit
vorher erst bei sich gedacht hatte; so wie die Sonnenwarme
die Insekten ausbriitet, welche der Frost noch unbelebt und ver-
borgen hielt. -
246 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Fiir einen kleinen Geist ist eine hohe Stufe der Ere eine ver-
diente Schande. Man tadelte vorher seine Kleinheit nicht; aber
iezt macht man sie lacherlich, da sie sich mit dem Grossen verei-
nigt. Sein Verdienst sizt auf seiner Erenstelle, wie ein Pygmae
auf dem Berge Piko; ein seltsamer Kontrast macht ihn lacherlich,
und der kleinste Wind des Neides , der Klugheit blast das Tiergen
von seinem Trone herunter. 3
Am Sontag den 16 Sept.
Der grosse Ruf der immer um die Oren eines Mannes summet,
macht ihn taub, die Stimme seiner Schwachheit zu horen, die 10
ihm seine Kleinheit entdekt. - Man glaubt andern mer als sich
selbst; und sogar wenn die Eigenliebe widerspricht, sezt man
seinem Geful die Meinung der andern vor. Paskal sagt:
Die Erentitel, womit [usw. wie S. 298,27-29 machen.
S. 299,3-10] - Wer trachtet ein Amt zu erhalten, das ihm viel
Ere verschaft, der wird nie in Gefar geraten, verachtlich zu wer-
den.
Tugend ist fiir sich schon; so wie das Gold auch im Finstern
one den Glanz seine Giite behalt. Allein Got mus erst, wie die
Sonne dem Gold, unsrer Tugend den Wert geben, der sie in 20
unsern kurzsichtigen Augen glanzend macht. -
Am Dienstag den 18 Septemb.
Es giebt hochmiitige Menschen, die so lange demiitig scheinen,
als sie Rum haben, es zu scheinen; und als man ihnen durch
a Allein die kleinsten Geschopfe kommen am besten weg bei Sturm-
winden; die Eiche bricht zusammen und das Mos unter ihr bleibt unbe-
riirt. Grosse Dingc konnen kleinen am wenigsten beikommen. Welcher
grosse Geist hat ie einfen] mit Gold und Ere beladenen Dumling . . .? -
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 1 247
Lobreden die Miihe erspart, ihre eignen Lobredner zu werden.
Diese legen ihre Demut ab, wenn man sie fur das halt, was
sie zu sein affektiren: diese pralen, wenn man ihnen wider-
spricht. Das ist das ware Unterscheidungsmerkmal [?] vom
w[aren] Bescheidenen und scheinbaren
Wer so demiitig scheinen wil, daB er vorgiebt das nicht zu haben
was er hat, von dem ist zu vermuten, dafi er sich selbst mer
zuschreibt als er hat - aus dessen scheinbarer Demut kan man
seinen Hochmut schliessen.
10 Am Freitag den 21 Sept.
Das Ungliik schadet dem grossen Manne wenig; er steigt auf
den Triimmern seines vormaligen Gliiks zu einer betrachtlichern
Hohe hinauf. Oder wenn's ihm schadet, so geht er, wie die
Sonn', unter bei seinen Zeitgenossen, vergoldet noch am lezten
Tage seines Laufs die Wolken des Ungliiks, und entzieht sich
den Augen der Zuschauer; allein er geht eben [so] wie die Sonne
wieder in einem andern Lande mit morgenrotlichen Stralen auf,
und senkt sein unvermischtes Licht in die rein[eren] Augen -
der Nachwelt. - Die Grosse des Menschen zerschmilzt am
20 Schein des Gliiks wie Schne [?]; die Grosse fliegt mit wachsernen
Fliigeln, die die Glut der guten Tage zerschmilzt, und das Gc-
schopf fait zur Erde nieder, und kriecht im Schlam.
Erentitel, Ordenskreuzbander, und dfergl] Zierraten hangen
um den grossen Man herum, daB man fast nie den Menschen
sieht. Ausser seinem Hausse hiilt er sich in diesen Schleier der
menschlichen Schwachheit ein, und zeigt uns von sich nichts
als seine Kleidung. Zu Hausse sieht man den Menschen, wenn
er sich auszieht. Allein alle seine Biographen sahen ihn nur da,
wo ihn alle Menschen sahen; beobachteten die Handlungen, die
30 er vor alljer] Augen tat, und massen an seiner Kleidung, die
er in offentlichen Zusammenkunften [trug], das Mas zu der
Grosse seiner Sel' ab; daher sind alle Biographfien] so schal,
248 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
so einformig, so ermiidend. Daher sind alle ihre Helden one
Feler; weil sfe sie da nicht sahen, wo sie sich eine Torheit zur
Erholung erlaubtfen] und die Unformlichkeit ihres Korpers nur
mit dem Schlafrokke bedekt[en]. Wir kennen noch mer den
Kopf der beriimten Menschen, als ihr Herz; ienen haben sie
selbst durch ihre Werke gezeichnet, dieses in ihren geheimen
Handlungen abgebildet; sie hatten uns einen eben so grossen
Gef alien [getan], wenn sie uns auch ihre Gedanken, Meinungen,
ihre Empfindungen, Gefiile dargestelt hatten; und wenn der
Verstand, der in Rousseau's W[erken] glanzt, noch nicht das 10
Monument seiner Grosse geendigt hat, so wird sein Herz, dessen
Beschaffenheit er der Nachwelt beschrieben hat, den Grund sei-
ner Grosse tiefjer] graben.
Wie mager sind unsere Psycholfogien] noch: tiefsinnig genug,
aber nicht ausgebreitet genug; sie wissen von alien Dingen den
Grund anzugeben, allein sie kennen nur wenige Dinge, um von
ihnen [den] Grund angeben zu konnen. Sie bringen alles in Para-
graphen, diese Mauern [?] d[er] Freiheit [?], zwingen [alles] in
em System. Wisse, dafi, wenn du die Geschichte eines Tages
oft in dem Herz [en] eines Menschen lesen kontest, so wiirdest 20
du deine ganze Psfychologie] da antreffen, auf [?] ein Blat
gedrfangt]; und nun rechne [?] das Buch, das die Zeit volendet,
und sezze, du kontest alle mit unsichtbarer aber unausloschlicher
Schrift in die Sele eines Menschen geschriebnen Geschichten
lesen- wolan [?] das ware dan [?] das System eines menschlichen
[?] Psychol [ogen]; aber [?] bios das Abcbuch d[er] alg[emeinen]
Ps[ychologie] d[er] Geist[er]. Gewis, die Beschaftigung, die der
Sternkundige einmal in iener hohern Gegend fur seinen Geist
an der Menge der Welten finden wird, diese wird der Psycholog
an der Menge der Karaktere finden, die er dort kennen lernen 30
wird. Er weis von alien menschlichen Karakteren soviel wie
der Mesfkiinstler] von andern Welten; er kent nur seinen eignen
ein wenig; wie der Astronom diese Erde. Wenn ein Kepler die
entziikte Harmonie des mannigfaltigen Weltsystems mit trok-
nen Blikken anstaunen wird, so wird ein Leibniz tief anbeten [?],
TAGBUCH MEINER ARBEITEN ■ SEPT. 1 78 I 249
wenn er im unendlichen Gewirre der menschlichen Hand-
lungen, Gedanken, Leiden, Verirrungen, Warheiten endlich alle
verschiednen [?] Dissonanzen sich [in] den einz[igen] Wollaut
der algemeinen Gliikseligkeit auflosen sieht. -
Am Sonabend den 22 Sept.
Wenn die Dumheit Monarch ist, dan macht sie ieden Weisen
zum Sklaven. Dan mag sich ieder Kluge den Mantel eines Ein-
faltigenborgen, und sich einhullen, vor sein Gesicht eine Maske
ziehen, und ein Schlos an seinen Mund legen, damit nicht der
io trage und schwere [?] Arm des Unverstjandes] seine Weisheit
mit Spot bespfriizze], sie Unmiindigen zum Spiel aussezze, ihm
Beifal gegen [?] die Torheit mit Gewalt abzwinge, und die er-
wiirdige Stimme des aufgeklarten Mannes durch das Geschrei
d[er] Dunsfen] unterdriikt werde. -
Jeder grosse Man ist stolz: denn er miiste die Volkommenhei-
ten nicht haben, die er hat, wenn er ihren Wert nicht einsahe,
nicht seinen eignen Vorzug, der daraus [?] entstehet [?], fulte.
Allein eben weil er ware Vorziige besizt, weil seine Vortreflich-
keit ihm so seinen eignen Beifal, und oft seine Bewunderung
20 abzwingt, so halt er's fur unnotig, das elende Lob des Narren
zu erbetteln, sich durch Krummen eine Unsterblichkeit aus des
andern Atem zu erkaufen, und seine Grosse erst durch vorher-
gegangene Erniedrigungen zu verdienen. Er ist gegen das Lob
andrer gleichgiiltig; sein eignes ersezt ihm alles andre. Deswegen
scheint er demiitig zu sein: und ist gerade das Gegenteil; er ist
nur bescheiden, und sucht sein Verdienst nicht darin, zu sagen,
daB er gros ist, sondern es zu beweisen: er pralt nicht mit seiner
Einsicht in der Vorrede; allein in dem Buche selbst zeichnet
er sein Bild mit glanzenden Farben. - Und wenn er oft von
30 seinen Schwachen, seiner Unvolkommenheit spricht, so sagt
er nicht, daB der andre iiber ihm sei, daB dieser die Vfolkom-
menheit] habe, die ihm mangelt: sondern weil er gros ist, so
25O JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
erkent er eb>en, wie viel es noch brauche, um der groste zu sein:
er"bildet sich ein Ideal von Volkommenheit, das er in sich nicht
findet, und dessen Glanz seinen Schimmer verdunkelt. Desfwe-
gen] sagt er aber nicht, daB der andre volkommen ist; die andern
sind ihm [?] nur Einfaltige [?] genug, das Ideal, das er nicht
zu erreichen vorgiebt, bei sich selbst anzutreffen. -
Der Gelerte ist nur dem Gelerten brauchbar; allein der Weise
ist dem Unweisen und Weisen gleich niizlich. Ein Gelerter hat
seinen Geist nicht iiber andre erhoben, seine Urteile sind nicht
scharfer, seine Bemerkungen nicht feiner und seine Handlungen
nicht schoner, als die eines andern; er treibt bios ein andres
Handwerk als sie, seine Hande haben nur eine andre Beschafti-
gung, davon er den grosten Teil one Kopf verrichten kan. Allein
so ganz anders ist der Weise. Er ragt mit seinem Geist [?] weit
iiber den Altagshaufen hervor, er betrachtet alles aus einem be-
sondern Gesichtspunkt, in seiner Beschaftigung ist mer End-
zwek, in seinen Ideen mer Feinheit und alles ist bei ihm mer
als gewonlich.
Der Neid ist ein Kind des Mangels; und nicht selten der Ba-
start eines unsrer heiligsten Triebe. Er ist die Narung einer aus-
gezerten Sele, und wachst nur auf den Ruinen des menschlichen
Geists wie Mos auf den verfalnen Pallasten. Er nart sich von
den Felern des andern, wiederRabevon As.-Es ist so unredlich
[?], neidisch sein, und doch so schwer, es nicht sein; daB wir,
wenn alle Laster so viel Zusammenhang mit unsrer Natur hatten,
auf die Giite unsrer Natur Verzicht tun musten. -
Am Sontag den 23 Sept.
Er erscheint in so mannigfaltigen Gestalten, in so scheinheiligen
Larven, daB er sogar der Liebling des grossen Mannes nicht
selten ist. - 30
Helvezius macht die gute Bemerkung, daB der Neid bei iun-
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1 78 1 . 25 1
gen Personen weniger stat finde als bei alten. Diese Erscheinung
erklart er'pp. Er hat Recht; allein er hat diese Ursache hinzuzu-
sezzen vergessen. In der Jugend beneiden wir grosse Manner
nicht, weil wir gliiklich sind, und weil sie uns nicht in den Din-
gen iibertreffen, die wir vorziiglich lieben. Unsre Jugend ist
die Zeit unsrer Freude, sie ist der Foiling im Jar. Unser iunges
feuriges Blut wiegt die Sele in siisse Traume zukiinftigen Gliiks,
die bliihende Wange veriagt das ganze Gefolge von blassen
Schrekken, Schwermut, und Qualen, die Gesundheit des Kor-
10 pers stalt die Gesundheit der Sele, unsre Unerfarenheit der Lei-
den, die so oft im menschlichen [?] Leben aufstossen, der Mut,
der noch nicht durch misgegliikte Versuche entnervt ist, die
Einbildung, daB lauter Engel [?] die Welt bewonen, und der
Schlus von der gegenwartigen Freude auf die zukunftige, alles
dieses macht die glukliche Zeit unsers Lebens, die so bald ver-
fliest, so oft beklagt, und nie zuriikgeruffen [?] wird. Dieses
Wolbehagen sichert uns vor dem Neide, der aus unserm Un-
gluk, wie Ungeziefer aus verfaulten Korpern, wachst. Wenn
man gliiklich ist, wil man andre auch dazu machen; da man
20 weis, wie ser ihr Gliik zu unserm beitragt. Eine Hauptursache
der Abwesenheit [?] des Neids mag sein. In unsrer Jugend ken-
nen wir noch nicht den schandlichen [?] Misbrauch, den der
Reiche von seinem Reichtum, der Machtige von seiner Macht
macht, wir haben noch nicht erfaren, wie der Fus der Gewalt
nur die Freude d[es] Armfen] zertrit und wie die Hand [?] der
Grossen ihre Starke zu unserm Ungliik gebraucht. [Fortsetzung
s. S. 252, 11]
- Der grosse Man hat meistens nur Eine starke Leidenschaft.
Sich dieser entgegensezzen wollen, heist der Hydra einen Kopf
30 abhauen; man vermert sie, ie mer man abschlagt. So beim gros-
sen Man. Man dampft seine grosse Leidenschaft [nicht], sondern
man verteilt sie in merere, die endlich alle zu der gewonten
Leidenschaft, wie die Fliisse in den Hauptstrom wieder zuriik^
kommen. -
252 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Die Einsamkeit vermert den Stolz; mit ie weniger Menschen
man umgeht, iiber desto merere sezt man sich hinauf. Daher
wird allezeit der auf dem Dorfe sich mer diinken als der in der
Stad; daher lebt der Schwarmer [in] der Einsamkeit, weil er
am meisten den Stolz liebt. Die Gelersamkeit, die man von Bii-
chern einsamlet, macht stolz, die man von andern Menschen
hort, macht bescheiden: denn man glaubt das schreiben zu kon-
nen, was manliest, allein man glaubt nicht das sagen zu konnen,
was uns oft der andere sagt. -
Am Montqg den 24 Septemb. 10
Wir kennen vom Reichtum noch nichts als seine gute Seite,
die uns in unsrer Jugend unsre Freude verschaft; wir schliessen,
dafi alle Menschen ihre Macht und ih're Gute so zu unserm Nuz-
zen gebrauchen werden, wie unsre Eltern sie dazu gebraucht
haben. Das ist die Ursache warum wir sie ihnen nicht misgon-
nen; wir haben unsern eignen Nuzzen dabei. Sezzen wir noch
hinzu, daB unser Gliik in unsrer Jugend in Dingen [besteht],
die wir nurbei unsern . . . antreffen, so werden wir uns erklaren,
warum man gegen die Ere des andern nicht neidisch ist. Man
hat andre Vergniigen zum Endzwek, als die Vergniigen einer 20
eitlen Ere; man ist noch gliiklich genug, sein Gliik in sich zu
finden; darum bettelt man's nicht aus dem Atem des andern;
man geniest iezt mit andern Sinnen, als dem Or. Deswegen
ist die Jugend gegen den Rum des grossen Mannes gleichgiiltig;
weil man gegen die Giiter gleichgiiltig ist, deren Besiz unsre
Freuden nicht vermert. Die Lorbern, mit denen man unsere
Verdienste kront, sind die Narung fur die Schlange, den Neid,
die ieder Sterbliche in seinem Busen nart. Man hast ieden, der
mit uns nach demselben Ziel der Grosse strebt. - Der Neid
ist allerdings von keiner schonen Gestalt; aber er ist nicht so 30
scheuslich, als man ihn abmalt. Er ist bei zweien Arten von
Menschen anzutreffen, bei solchen, die das an andern beneiden,
was sie haben, und bei solchen, die das an andern beneiden [?],
was sie selbst nicht haben.
TAGBUCH MEINER ARBEITEN • SEPT. 1781 2$3
Am Dienstag den 25 Sept.
Der Neid schadet weniger dem, der Verdienst hat, als denen
die dieses Verdienst geniessen wollen; er ist der Wurm, der die
Friichte eines guten Baumes verdirbt. Der Baum ist vortreflich,
allein seine Friichte niizzen niemand. - Der Neid ist wie der
Hochmut eines von den Lastern, welches man am andern hast,
wenn man auch es pp. Der Neidische liebt den Neid am andern
nicht; er mus ihn auf s . . . hassen. -
Die Aufmerksamkeit ist das Or der Sele. -
10 -Der Trieb, dem andern zu gefallen, begleitet den Menschen
bei ieder seiner Handlungen und die Rumbegierde ist eine von
den Haupttriebfedern, die uns in Tatigkeit sezt. Man wil also
vom andern geschazt sein. Aber nicht genug; der andre sol uns
nicht nur so hoch schazzen, als wir uns selbst; sondern er sol
auch eine noch grossere Meinung von uns bekommen. Wir ver-
bergen unsre Feler vor dem andern; ia was noch mer ist, wir
horen nicht einmal gern dieienigen Mangel aus seinem Munde,
die wir selbst eingestehen. Man wiirde dem, der aus Beschei-
denheit einige seiner waren Feler selbst erzalte, einen unangene-
20 men Dienst erweisen, wenn man ihm die Wiirklichkeit dieser
Feler zugabe. -
[RHAPSODIEN]
I.
Uber die Religionen in der Welt
Unsre Pflichten sind nicht wilkiirliche Anordnungen Gottes,
sondern notwendige Bestimmungen zur Gliikseligkeit der
menschlichen Natur; Tugend ist verhaltnismassige Ausbildung
aller Selenkrafte; Vererung Gottes hat bios das Gliik der empfin-
denden Wesen zur Absicht, und ist in keinem unbestimten Re-
gentenrechte des Schopfers gegriindet - Religion ist also der
Weg zu unsrer Selbstvervolkomnung. Dieses hat man lange zu-
gegeben; aber warum wil man nicht die daraus fliessende Not- 10
wendigkeit der mannigfaltigen Religionen zugeben? Wenn die
Anlagen der Menschen so verschieden sind, wenn diese Anlagen
durch Erziehung, Klima, und Zufal so mannigfaltig abgeandert
werden, wenn also die Vervolkomnung des Menschen nicht
liberal dieselbe sein kan; warum straubt man sich so ser, in den
mannigfaltigen Religionen den Gang einer weisen Giite zu se-
hen, und in dem Gewirre von verschiednen Meinungen nichts
als die verschiedne Ausbildung verschiedner Selenkrafte zu er-
blikken? - Wir verraten Scharfsin, wenn wir die niizlichen Fol-
gen iedes anscheinenden Ubels entdekken, allein wir verraten 20
nicht bios Stumpfsinnigkeit, auch Harte, wenn wir den Nuzzen
der vielen Religionen verkennen, sie fur Strafen Gottes erklaren,
und ihre Vererer mit lieblosen Benennungen brandmarken. Der
Indianer ist ganz fur seinen Erdstrich geschaffen; warum sol
es die Religion desselben weniger sein? Der arme Gronlander
sieht nur selten die woltatige Sonne; er mus sich mit Lichte
begniigen, das ihm Nordscheine geben: und sein Geistesauge
sieht nur selten einige Stralen der Warheit; er wandelt bei dem
Schimmer, den er einem angenemen Irtum zu verdanken hat.
Man mus weise sein, um in iener Einrichtung Gottes Weisheit 30
zu bemerken; allein man mus noch weiser sein, um sie in dieser
nicht zu verkennen. -
Die anscheinende Verschiedenheit der Religionen ist nichts
RHAPSODIEN 257
als Verschiedenheit des Grades ihrer Geistigkeit. Die Leren in
alien sind fast dieselben; nur bald sinlicher, bald abstrakter ge-
dacht, bald in diesen, bald in ienen Bildern ausgedrukt. Daher
kam es, daB man sie alle fur Abartungen einer und derselben
alten Tradizion ansehen wolte. Der Grieche, der seinen Zeuvs,
der Mexikaner, der seinen Vizlipuzli, der Gronlander, der seinen
Porngarsuk, der Afrikaner, der seine Fetissen, und der Jude,
der seinen Jehova anbetet, alle haben denselben Gott, alle lieben
ihn mit derselben Liebe, erweisen ihm dieselbe Erfurcht. Allein
10 ihre Begriffe vom hochsten Wesen andern sich nach dem Grad
ihrer Ausbildung ab; sie denken sich alle dasselbe als das hochste,
sie legen ihm alle die grosten Volkommenheiten bei; aber ihre
Ideale von Hoheit, von Volkommenheit sind nach dem Mas
ihrer Denkkrafte verschieden. Der Indianer sieht seinen Gott
aus der Sonne leuchten, aus dem Mond und aus den Sternen
schimmern; der Philosoph denkt ihn von alien Welten verschie-
den, als Inbegrif der reinsten Volkommenheiten, als Quelle aller
Wesen. Ich wundre mich nicht, daB der Rohe diesen geistigen
Begrif nicht hat; ich wundre mich vielmer, daB er (iberhaupt
20 einen hat, und daB iedes Geschopf den Weltvater von der Seite
sieht, die ihm die begreiflichste ist , die sich fur seine Lage schikt ,
die auf dasselbe den heilsamsten Einflus hat. Wenn also die Reli-
gion Vervolkomnung unsrer Fahigkeiten abzwekket; so errei-
chen alle diese Absicht; so sind sie alle gut, und unterscheiden
sich nur durch das Mer oder Weniger. Sokrates stirbt fur den
Himmel, in welchem er Tugend und Weisheit erwartet, der
Muhammedaner fur das Paradies, das ihm die grosten Wolliiste
der Sinne verspricht, und der Negersklave fur das Land, das
ihm seinen Hund, seine Bekanten und seine alten Freuden wie-
30 dergiebt. Bei alien diesen hat die Religion gleiche Wirkung; die
Beweggriinde bios sind verschieden, weil die Ausbildung der
Krafte verschieden ist. - Das Judentum sogar stieg von einer
Stufe der Geistigkeit zur andern; und die christliche Religion
selbst blieb nicht immer dieselbe. Diese leztere glanzte in Christo
nur schwach aus den Ruinen des Judentums hervor; Johannes
sah ihr Licht ungehinderter sich ausbreiten; und noch iezt klimt
258 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
sie, nach der Mutmassung eines grossen Mannes, zu der Reinheit
der natiirlichen Religion empor, und macht uns gewis, daB wir
im Himmel zu viel sein werden, um noch Christen zu
sein. -
Man kent den Nuzzen wenig, den alle Religionen ihren Vere-
rern verschaffen; man schliest die Augen zu, um ihn nicht zu
sehen, oder giebt sich keine Muhe, ihn zu entdekken; man halt's
fiir besser, die Liebe Gottes gegen tausend Volker, unmerkbar
zu machen, um sie bei einem einzigen ohh' alle Granzen zu
finden. Die Vorteile, die iede Religion verschaft, sind ganz und 10
gar nicht zu verkennen. Was tut der Wilde, der nichts von Reli-
gion weis? Er fischt, er iagt, er nart sich, er kriegt, befriedigt
seine tierischen Begierden und tut einigen Torheiten Geniige.
Er tut gerade soviel, als ndtig ist, um sich nur ein wenig vom
Tier zu unterscheiden. Hier ist keine Anreizung zum Nachden-
ken, keine Begierde, die etwas mer als kdrperliche Lust zum
Endzwek hatte, keine Regung, die menschlich ware, nichts, das
ihn weit uber das Tier erhobe. Aber wir wollen ihn einen Gott
in der Sonne sehen, und einen Himmel hinter den Wolken er-
warten lassen. Nun hat er sich sichtbar verbessert - er betet 20
an. Er wil sich die Liebe seines Gottes erwerben, er schreibt
sich gewisse Pflichten vor, er legt in seine Handlungen mer
Endzwek, giebt seinen Begierden mer Ausdenung und richtet
seine Wirksamkeit starker auf die Zukunft. Das Gefiil der Ab-
hangigkeit macht ihn behutsamer und ererbietiger; er ftilt ge-
wisse Regungen der Lieb' und des Danks, und zu den Bediirfnis- ,
sen der Narung, welche ihn sonst mit seinen Mitmenschen
vereinigten, komt noch die Einheit ihres Glaubens, ihrer Pflich-
ten, ihrer Hofnung hinzu. Daher findet man desto mer Tugend
bei einem Volke, ie mer Gottesvererung man bei ihm antrift 30
- daher hat der Verstand seine erste Kultur von der Religion
erhalten, weil bei alien Volkern die Teologie fast die erste Wis-
senschaft war - daher sind scheme Kunste und Wissenschaften
liberal eherentstanden, als Philosophic, weil iene eine nahe Ver-
bindung mit den Religionen hatten - daher war die Astronomie
unter alien Kentnissen dieienige, die am friihesten zu einiger
RHAPSODIEN 259
Volkommenheit kam, weil man den Himmel kennen wolte,
den man anbetete. Vielleicht ist dies zn algemein, um unsere
Wisbegierde zu befriedigen; aber es ist genug, gewissen Irtu-
mern vorzubeugen. Also: alle Grade und Arten von Volkom-
menheit solten in der Schopfung sein, alle Wesen unterscheiden
sich nur mer oder weniger in dem Grade ihrer Krafte, und der
Ausbildung derselben; alle Religionen befordern mer oder we-
niger die Vervolkomnung des Menschen; alle sind also gut, und
an dem Orte, wo sie sind, die besten.
10 Wenn wir die rohen, oft falschen Begriffe, den Anthropo-
morphism, den wir in den Schriften des A. T. finden, rechtferti-
gen und mit Gottes Weisheit vereinbaren konnen; so konnen
wir die noch niedrigern Begriffe, die noch sinlicher ausgedriikte
Meinungen der nichtchristlichen Volker eben so gut rechtferti-
gen; was noch mer ist, wir mussen sie billigen. Und was zwingt
uns, die Roheit, die Unaufgeklartheit gewisser Volker bis an's
Ende der Welt fortdauern zu lassen, und von dem Gegenwarti-
gen den Masstab zu dem Zukiinftigen zu nemen? Vielleicht sind
manche von den heutigen nichtchristlichen Religionen die Vor-
20 bereitung zur Annemung der christlichen, oder naturlichen. Im
Judentum lag das Christentum schon als Keim verborgen. Wa-
ren die Juden nicht ge wesen, so wiirden die Christen nicht das
geworden sein, was sie sind. Judentum ist Religion der Kinder
- Christentum, der Manner. Ich sehe nichts kezzerisches darin-
nen, manche heutige Religionen in das Verhaltnis zu der christli-
chen zu sezzen, in welchem die iiidische war. Vielleicht komt
uns dies paradox vor, weil wir das Judentum noch zu ser mit
den Augen eines Juden ansehen- wir solten einen Paullus nacha-
men, und es als - Christen betrachten. »Aber wie lange dauern
30 nicht schon gewisse Religionen, ohne daB ein Anschein ihrer
Verbesserung vorhanden ware?« Dauerte nicht die iiidische Jar-
tausende, bis endlich Christus kam? Was sind Jartausende dem
Ewigen? Mussen wir Plane Gottes, die Ewigkeiten umfassen,
nach unserer Ephemerenexistenz abmessen? In der Natur reift
alles langsam; aber es bringt hernach desto dauerhaftere, desto
herlichere Fruchte.
260 JUGENDWERKE : I. ABTEILUNG
Wir sehen alles schief, weil wir uns in allem als den Mittel-
punkt sehen. Alles, was wir haben, was wir sind, scheint uns
das beste zu sein. Unsre Fahigkeiten, unsre Tugenden, unsre
Meinungen, halten wir fur unverbesserlich; daher verwerfen wir
auch iede Reforme in der Religion. Wir finden es ungereimt
zu sagen, dafi Christus und die Apostel nur den Grund zu einem
Gebaude gelegt haben, welches wir zu einer betrachtlichern
Hohe auffuren sollen; wir sind Juden gegen die, die bessere
Christen werden wollen, und gleichen ihnen nur darinnen nicht,
daB wir nicht mer - kreuzigen durfen. Doch die herliche Mor-
genrote, die iiber das Gebiet unsrer Religionsleren heruberdam-
mert, verkiindigt einen noch herlichern Tag, und ist ein schwa-
ches Bild von der Sonne, die unsern Nachkommen glanzen
wird. — -
II.
UNTERSCHIED ZWISCHEN DEM NARREN UND DEM DUMMEN
Narren findet man liberal; Dumkopfe eben so haufig - in dem
Reiche der kleinen Geister haben beide ihre Wonung, und in
das Landgen der grossen Geister kommen sie nicht selten zum
Besuch. Weil man sie so oft sieht, so giebt man sich keine Muhe, 20
sie recht zu sehen: und dies mag die Ursache sein, warum man
beide miteinander verwechselt. Ihre Verschiedenheit fait in die
Augen.
Der.Dumkopf ist das bedauernswiirdige Geschopf, dessen
Geist nie mer als eine geringe Anzal Ideen fast, das die reine
Warheit nur durch kleine Rizzen seiner Organisazion hindurch-
schimmern sieht, und das, gleich weit entfernt von erhabnen
Irtumern und grossen Warheiten, in einer behaglichen Mitte
von Sinnenschein und Altagswarheiten dahinschwebt - der
Dumkopf ist der Polype zwischen Menschen und Tieren. Der 30
Nar als solcher ist dies alles nicht. Er war nicht blind geboren,
RHAPSODIEN 26l
sondern er hatt' ein empfindliches Auge bekommen, das iezt
durch das Licht geblendet ist. Dieses Auge tragt er liberal mit
sich herum, und sieht alle Gegenstande in einer und derselben
falschen Farbe. Dieselbe feine Organisazion, die ihn vom Dum-
men unterschied, macht ihn i[e]zt zum Narren. Durch physische
Zufalle behielt er von alien Sinnen einen Einzigen iibrig. Alles,
was mit diesem Sin empfunden wird, sieht er durchdringend;
was man durch andre Sinne empfindet, sieht er schwach und
unrichtig; er hort, riecht, schmekt und fiilt mit dem Auge. -
io Der Dumkopf wird geboren, der Nar gemacht. Jener verirt sich
selten; allein er kriecht auch in alien seinen Handlungen wie
eine Schnekke, und es ist kein Wunder, wenn der, welcher einige
Schritte vor das Tor hinausist, noch auf dem rechten Weg sich
befindet. Dieser ist liberal ausschweifend, liberal ungewonlich;
er hat Kraft zu gehen; aber ihm felt Vernunft, um auf dem rech-
ten Weg zu gehen. - Der Dumme ist nicht leicht zu erkennen:
denn er hat's mit dem Weisen gemein, wenig zu sagen und
sich nicht leicht zu entdekken. Oft nimt er auch die Maske des
Weisen an, wie der Esel die Lowenhaut - beiden steht ihr Anzug
20 nicht - aber nur der Scharfsichtige entlarvt sie. Der Duns ist
erst ganz Duns bei Dunsen; er predigt da seine Weisheit, wo
man sie nicht widerlegt, und leuchtet mit seiner schwachen
Lampe nur den Augen, die kein Sonnenlicht vertragen konnen.
Daher stirbt er unbekant, und unverspottet von den Weisen.
DerNarhingegen wird gleich sichtbar; er hat ein eignes Kenzei-
chen an sich, das ihn von andern unterscheidet wie die Montur
die Soldaten, namlich, er ist nicht wie andre Leute. Er sagt alles,
was er denkt; und eben das verrat ihn sogleich. Wir wiirden
merere Narren in der Welt antreffen, wenn merere offenherzig
30 genug waren, ihre Gedanken herauszusagen; aber die Zal dersel-
ben wiird' auch kleiner werden, wenn sie nur von Klugen beur-
teilt wiirden. - Die Narheit ist die Geburt der starken Leiden-
schaft; ieder grosse Man tragt zu gewissen Zeiten ihre Livre.
Dieses komt daher. Heftige Leidenschaften haben Stunden, wo
sie zu einer gewissen Schwache herabsinken, um durch Erho-
Iung neue Krafte zu samlen: allein diese Leidenschaften sind
262 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
liberal gleich ungewonlich. Verraten ihre ungewonliche Ausse-
rungen viel Starke, so bewundert, so bestaunt man sie: verraten
sie Schwache, so belacht und bespottet man sie und erklart sie
fur Torheiten. Narheiten sind also Lieblinge der grossen Man-
ner; sie dienen ihnen zur Erholung wie ihre Frauen. Die Dumheit
aber ist die abgesagteste Feindin des grossen Kopfs; sie ist nicht
in seinem Gefolge; und niemand begert sie zur Freundin, als
die, welche sie schon von ihrer Geburt an dazu bekommen haben
und welche ohne sie nicht leben konnen. -
Es giebt wenig originelle Toren, und unzaligfe] Dumrae. Jene 10
wolleneinbesonderesErdreich haben, siewachsen nurim fetten
wie das Unkraut; diese keimen liberal hervor, und finden an
iedem Orte Narung genug, weil sie wenig Narung brauchen.
- Torheiten sind uns so notwendig, wie Luft zum Atmen, sie
begleiten iede starke Einbildungskraft und kiindigen oft den
seltnen Man an, wie Insekten den Honig. Narheit ist das Unge-
wonliche in Gedanken, Worten und Werken; und wer wil dies
vermeiden? - Nur der, den Anhanglichkeit an Modemeinungen
in Fesseln legt, und den sein Salarium zwingt, im algemeinen
Konzert der menschlichen Torheit den Takt zu halten und mit 20
seinem Nachbar im unisono zu singen. Das Landgen der Ver-
nunft ist fur die unruhige Phantasie zu klein; sie schwarmt in
das nahe und weite Reich der Feenmargen, Luftgebaude und
Abenteuer hiniiber; sie tut es wenigstens zu Nachts, wenn die
Vernunft ihre Augen mit den korperlichen schliest. 1 Aber dum
mus kein Mensch sein; unwissend ist oft ieder weise Man, bios
weil er manches nicht lernen wil } dum ist nur der, welcher vieles
nicht lernen kan. Wenn wir einen gewissen Grad des Verstandes
fur Weisheit ausgeben; so liegt's nicht in der Natur des Men-
schen, daB er einen geringern Grad habe. Narheit hat also ihren 30
Grund in schazbaren Eigenschaften; Dumheit entspringt aus ei-
ner schlechten Anlage unsrer Krafte. -
Der Dumme ist blodsichtig, er erkent kaum die nachsten Ge-
genstande. Der Nar hat gute Augen; allein er sieht durch eine
1 Sogar vor dem Einschlafen geht, wie Haller sagt, ein gewisses Deli-
rium vorher.
RHAPSODIEN 263
falsche Brille. Dieser hat vorher gut gesehen, und eben dadurch
das Gesicht verderbt; iener hat seine guten Augen schon vor
der Geburt verloren. Der Dumkopf kan nicht geheilt werden,
weil er so geboren ist - er ist ein Schwacher, dessen Krafte
niemand vermeren kan. Den Narren kan man bessern, eben
weil er schlimmer werden konte. Er gleicht einem Starken, des-
sen Krafte tibel gebraucht sind; es ist nichts notig, als sie auf
eine andre Seite zu lenken. Raserei ist der hochste Grad von
Narheit; und diese heilt man in unsern Tagen. Aber der Dumme
10 hat noch keinen Arzt gefunden: vielleicht wol auch deswegen,
weil er nie glaubt krank zu sein, und weil man ihn mit zuviel
Erentitel und Amtern behangen hat, als daB man die - hokke-
richte Gestalt seiner Sele sehen konte.
Der Dumkopf ist deswegen Dumkopf, weil er nicht unter
denTierenist, wo er als ein Genie gelten.wiirde; der Nar deswe-
gen ein Nar, weil er nicht in einer andern Welt als der wirklichen
ist; in der namlich, die in seinem Kopfe existirt, wo er der Kliig-
ste sein wiirde. - Das Ubel des Dumkopf s besteht darin, daB
er zu wenig Einbildungskraft hat; das des Narren, daB er zuviel
20 hat. Deswegen kan sich oft der Poet urn den Verstand dichten
- daher der gelobte furor poeticus. - Der Dumme hat sein Eben-
bild unter den Tieren; der Tor nicht. Dies zeigt an, daB iener
naher mit den Tieren verwand ist, als dieser. -
Das Herz des Dumkopfs ist wenig edler Bewegungen fahig;
das des Narren ist zu alien aufgelegt, welche die Grille nicht
betreffen, die ihm seinen Verstand benimt. Die Schwache des
Verstandes gebiert den Neid, wie ein verfaulter Korper das Un-
geziefer 2 , und die Lere des Kopfs nimt ein windiger Hochmut
ein. Der Nar ist nicht neidisch; er glaubt zu viel zu haben, um
30 dem andern das Seinige zu misgonnen; er ist eben so wenig
hochmutig, aber er ist auf eine edle Art stolz, und meistens
gleichgiiltig. -
Die Ausserungen des Narren sind in Nacht verhult; man er-
2 Man konte noch sagen: so wie andre Tiere ihre Eier in todte Korper
legen; so legt auch das Verdienst den Neid in einen schlechten und
todten Kopf.
264 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
klart zu viel oder zu wenig hinein. Der Gang seiner Ideen ist
zu unstat, er macht zu viel Spriinge, als daft sich der ware Weg
seiner Begriffe zeichnen liesse. Oft ist er ein verstimtes Genie;
dan scheinen seine Torheiten am grosten zu sein, dan wird er
durch den sonderbaren Kontrast von Vernunft und Unvernunft,
Stark' und Schwachheit vollig unerkliirbar. Bei dem Dummen
findet das Gegenteil stat. Alle Ausserungen seines Verstandes
verraten ihren Ursprung; seine Ideen springen nicht; sie bewe-
gen sicb kaum. Der Psycholog geht so ler von ihm weg, als
der ist, den er beobachten wolte. Er wird in Bedlam mer lernen, 10
als in einer - Professorenversamlung.
Der Weise lernt bei'm Narren, wie wenig alle Weisheit ist;
er lernt bei'm Dummen, wie viel sie ist. Jener macht ihn demii-
tig; dieser hochmutig.
Torheit, Traumen und Raserei sind nur im Grade verschie-
den. Wenn man anders handelt, als es das Verhaltnis der Zeit,
des Orts u. s. w. erfordert, so ist man ein Tor, oder ein Trimmer,
oder ein Rasender. Der Tor handelt einige Augenblikke so, der
Trimmer, so lang er schlaft, der Rasende immer. Davon unter-
scheidet sich die Dumheit auffallend. - 20
Der Dumme kan ein Priester sein, wenn er nur Verstand ge-
nug hat, um Oftgesagtes noch einmal zu sagen, und das Echo
der symbolischen Bucher zu werden. In Gerichtshofen wird er
iibel wegkommen, wenn er nicht selbst - Richter ist. Als Arzt
wird er gluklich sein; die, die seine Kur noch nicht erfaren haben,
werden ihn loben, und die, die er heilen wolte, werden ihn
nicht mer tadeln konnen. Weltweiser wird er nicht sein konnen,
aber Schulphilosoph; er wird so wenig Verstand und soviel :
Dumheit besizzen, um dem Galimathias das Kleid lateinischer
und griechischer Phrasen und Termen anhangen zu konnen. 30
Er wird den gelerten Froschen gerade soviel Wind erteilen, als
notig ist, daB sie sich zu Ochsen aufblasen konnen, und wird
den Geist der Scholastiker in ein compendium philosophiae fur
Liebhaber zusammendistilliren. Poesie - diese schikt sich ganz
fur ihn; zurlicentia poetica gehort auch, nicht denken zu diirfen.
Gereimter Unsin gefalt wie eine schone Luge; die Dissonanzen
RHAPSODIEN 265
in Begriffen losen sich in eine schone Harmonie der Wort' auf .
Der Dumme kan also gelert sein; der Nar kan dies alles nicht
so gut, nicht mit soviel Ere sein. Der Teolog wird zum Narren
sagen: du wendest deine Vernunft libel an: wir wollen lieber
keine haben, als sie iibel anwenden - Der Jurist: die Narren
reden die Warheit, heist's sonst; dies muBt du dir erst abgewonen
- Der Arzt: du wirst zwar andre so heilen konnen, daB du leben
kanst; allein dir wird die Kunst felen, gelert davon zu reden;
man mus lateinisch liigen konnen, um Luisd'or und Ere zugleich
10 einzuerndten. Der Schulphilosoph: wir nemen keine Narren an;
wir machen sie; du bist schon iezt, was du durch uns erst werden
soltest - iiberdies, deine Porzion von gesundem Menschenver-
stand ist noch zu gros. Bios der Poet wird sagen: zweiter Pindar!
du wirst den Flug des Genies fliegen, entledigt von der Biirde
der Vernunft - die Shakespeare sind nirgend als in Bedlam! —
Der Dumme ist fur Gedachtnisarbeit; er ist das lastbare Tier,
welches die Materialien zum Bau der menschlichen Weisheit
herbeifiart: ihm ist's einerlei, Reliquien, oder Sakke zu tragen;
ihm behagen Disteln: oder unhgiirlich, ihm sind des andern
20 Gedanken gleichgiiltig, ob sie ein griechischer Philosoph oder
ein alter Kirchenvater gesagt hat; er halt's mit den Worten. Der
Nar ist fiir dies alles nicht; er baut oft kiin am Pallaste des
menschlichen Wissens, aber er baut selten regelmassig. Jener
kan nicht gut Her, aber gut Knecht sein, und hat weniger Ver-
stand zu befelen, als Geduld, zu gehorchen. Dieser kan nicht
dienen, weil er seinem eignen Kopf dient; dieselbe Lebhaftig-
keit, die ihn oft tief sehen last, last ihm nicht Kalte genug,
lange dasselbe zu sehen, es nach alien seinen Teilen zu sehen.
Der Nar kan oft Auge; der Dumme solt' alzeit Arm sein. -
30 Die Narren spert man ein, hangt sie an Ketten, oder man
bewirft wenigstens iede ihrer Handlungen mit dem Kote des
Spottes. Aber die Dumkopfe last- man laufen, sie sind geduldige
Tiere wie die E -, man kan sie wenigstens zum Tragen brau-
chen. Allein sie stehen auch oft auf Katederstiilen, auf Kanzeln,
sie sizzen auf dem Trone. Oft braucht's nichts, um ein Amt
zubekommen, als keinenVerstandzu haben. Denn der, welcher
266 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
es zu vergeben hat, ist mitleidig gegen die, die sein Ebenbild
sind; schazt an andern das, was er an sich selbst schazt. Gold
und Silber war alzeit eher in den Handen der wilden, als aufge-
klarten Volker; also auch in Europa, empfangt es der Weise
erst als mildtatige Gabe von dem Dummen. Der Tor erhalt
den Reichtum von dem ZufaL - Der Duns wird von vielen,
der Nar von sich allein geert: die Ursache ist, weil es unzalige
Dunsen giebt, und weil Stupiditat in iedem Kopfe dieselbe ist;
- den Toren hingegen schazt niemand, weil niemand ihm anlich
ist, und weil die, die seinen Namen tragen, so unendlich man- 10
nigfaltig sind, daB kein Linnee sie klassifiziren konte.
Das Reich der Dumheit wird nach und nach eingeschrankt;
wir durfen fiir die Zukunft eine Sonne hoffen, die mit ihrem
Licht auch in die fins tern Wonungen der schwachen Kopfe
dringt. Die Torheiten werden nie weniger werden; aber man
wird vielleicht noch lernen, sie zu vergeben. - Darin nur sind
Narren und Dumkopfe einander gleich, daB beide nicht glauben
das zu sein, was sie sind. —
III.
Von der Dumheit 1
Es ist nicht leicht, viel vom Dummen zu sagen, wenn man zu
wenig ist, ihn zum Feinde zu haben: man mus gros sein, um
die Bosheit, die Ranke, die Schwache der Dunsen zu kennen.
Demungeachtet hat ieder Schriftsteller Fehde mit diesem mach-
tigen Volke gehabt; wenige sind Pope, Sterne, Zimmerman ge-
wesen; die meisten haben ihr - eigen Fleisch gehast.
1 Grosse Kopfe haben soviel Neues dariiber gesagt, daB nichts als
das Alte davon zu sagen iibrig bleibt. Sie haben uns ein volkomnes
Bild von dem Dumkopf gezeichnet; allein sie haben zu sanfte Farben
aufgetragen, die nur das Auge des Kenners reizen. Man mus abstehen-
dere gebrauchen, um dieienigen aufmerksam zu machen, deren Bild
Rhapsodien 267
Das Gedachtnis ist die einzige Fahigkeit, die der Dumme vor
dem klugen Tier voraushat. Er ist nicht fahig, sich selbst Bilder
zu schaffen, selbst zu denken; er fangt die Bilder und die Urteile
des andern auf, und beflekt oft fremde Geburten mit eignem
Wizze, damit man an dem Kote den Kanal sehe, durch den sie
gegangen sind. Das Gedachtnis felt denenienigen selten, die kei-
nen Verstand haben; allein dafiir felt ihnen der Geschmak an
Dingen, die sie merken solten. Wer nicht selbst denkt, fast eben
so wenig das, was andre denken; ihm ekkelt vor der losen Speise.
10 Dafiir macht er sein Gedachtnis zu einem Behaltnis von unniiz-
zen Dingen, zum Archiv der Dumheit, und ist der Wisch, auf
den ieder Tor seine Einfalle schmiert. - Er behalt treu, weil
ihm die Kraft felt, Neues hinzuzusezzen. Der Poet kan uns nichts
von dieser Welt erzalen, ohne einen Teil seiner eignen Welt er-
scheinen zu lassen; sein Gedachtnis und seine Einbildungskraft
liegen mit einander in Streit und plundern sich unaufhorlich.
Daher erzalt Voltaire so falsch, weil er so schon erzalt. Ein
Dummer verandert leichter den Zusammenhang als die Be-
schaffenheit einer Geschichte, und last uns eher aus seiner Erza-
20 lung erraten, was etwas war, als warum es so war. - Ein Dum-
mer behalt viel, allein er erinnert sich wenig; die [deen folgen
bei ihm nur dem Gesezze der Gleichzeitigkeit - ein besserer
Kopf merkt weniger auf einmal, aber eine einzige Sache erinnert
ihn an tausend anliche. Bei dem Dummen ist iede Idee isolirt;
alles ist bei ihm in Facher abgeteilt und zwischen entfernten
Ideen ist eine Kluft, uber die er nicht hinuberkommen kan. Er.
kent den Reichtum seines Gedachtnisses nicht; darum ist er im-
mer arm. Aus derselben Ursache besizt er weder Wiz noch Tief-
sin. Wiz ist Bemerkung des Verhaltnisses zwischen entfernten
30 Ideen; Tiefsin Bemerkung des Verhaltnisses zwischen den nach-
sten Ideen. Der Wizzige durchlauft gleichsam in der Lange, was
der Nachdenkende in der Tiefe der Ideen durchlauft; der eine
hateinteleskopisches Auge, der andre ein mikroskopisches. Ein
sie vorstellen sollen. Ich mochte den Feler begehen, bios zu illuminircn,
wenn ich mir das Verdienst erwerben konte, gewissen Menschen ihr
Gesicht gezeigt zu haben. Es ist wenig; aber fur mich genug. -
268 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
wizziger Einfal ist daher dem Dummen so fremd, als eine tief-
sinnige Bemerkung. - Die Gedanken des andern interessiren
ihn mer als seine eigne - eigentlich liebt er nur die Hulle dersel-
ben, die Worte. Er sieht einen ganzen Tag einen Schriftsteller
an, um herauszubringen, was er hat sagen wollen; allein er errat
niemals den Sin eines denkenden Mannes - er giebt ihm selbst
einen. Er beschaftigt sich, dem andern den Schriftsteller so zu
geben, dafi er ihn geniessen kan; er hat keinen Nuzzen von den
vortreflichen Gedanken, die er liest; er stirbt Hunger bei der
Malzeit und ofnet die Schale, damit ein andrer den Kern esse.
- Der Staub der.Folianten ist seine Narung, er grabt sich da
ein, wie der Kafer in den Kot, und oft konte man sagen, daB
er vom Rost lebe.
Der Dumkopf hat sich am meisten liber den Mangel der Ein-
bildungskraft zu beklagen..Die Blumen der Phantasie bliihen
nicht in seinem Gehirn. Lebhafte, neue Bilder sind gleichsam
die Blute von unsern Begriffen, welche im kiilern Herbst des
Mannesalters geniesbare Friichte fur die Vernunft, tragen. Wer
neue Bilder schaft, schaft die Keime zu neuen Gedanken. Allein
eben deswegen weil der Dumme die Dinge nicht lebhaft sieht,
so bemerkt er auch ihre unbekantern Verhaltnisse nicht; und
hat deswegen keinen Verstand. Unsre Einsicht in die Dinge
hiingt von der Lebhaftigkeit ab, mit der wir sie denken. 2 - Die
Einbildungskraft eines Meskiinstlers und eines Dichters kan im
Grade bei beiden dieselbe sein; sie unterscheidet sich bios in
der Art. Eine feurige Einbildungskraft ist die erste Anlage zum
Genie; eine untatige und tode das sicherste Kenzeichen der
Dumheit. Denken ist daher dem Dummen beschwerlich, er be-
gniigt sich mit dem Nachbeten. Man kan gut schliessen, wer
nicht denkt, betet nach; aber nicht umgekert, wer nachbetet,
der denkt nicht. Daher fliesset seine Hartnakkigkeit in seinen
2 Auch in den tiefsinnigsten Untersuchungen verrichtet die Einbil-
dung das Hauptgeschafte; bei dem gewonlichen Menschen stelt sie das
Bild der Sache, bei dem tiefsinnigen die Teile der Sache, lebhaft dar.
Leibniz hatt* eben so gut anstat der Teodizee, eine Jliade schreiben kon-
nen; und Malebranche war Pindar in der Metaphysik. - -
RHAPSODIEN 269
Entschliissen; er vertauscht selten alte Torheiten mit neuen,
noch weniger halt er's fur gut, weiser zu werden. Bios darinnen
verandert er sich, dafi sein Stolz mit seinem Alter zunimt. Des-
wegen sieht er mit hochmikigem Mitleid auf den herab, der
zuviel denkt, um alzeit dasselbe zu denken, der seine Eitelkeit
seiner Warheitsliebe aufopfert und das Gestandnis einer unange-
nemen Warheit der Hegung eines erkanten Irtums vorzieht.
Deswegen ficht er mit patriotischem Mut fur die Uberlieferun-
gen seiner Voreltern, und sucht alle Waffen aus dem Riisthause
10 der Bosheit und Dumheit hervor, um den riistigen Feind des
Alten zu schlagen. Jede neue Entdekkung raubt ihm seine Ge-
wisheit, seine Ruhe, seinen Stolz, zerstort das Gebaude seines
Wissens und wafnet ihn mit Wut gegen ihren Urheber. Sein
kleiner Geist nart sich von Kleinigkeiten; er verliert daher bei
ieder Neuerung. Du glaubst gewisse Spinweben der Vorzeit
zerstoren zu durfen; allein weist du nicht, dafi es Tiere giebt,
die sich bios von diesen Geweben naren? - Sein Ideensystem
beschrankt sich auf eine kleine Anzal Begriffe, die tief in ihm
haften, weil sie in seiner Jugend ihren Weg durch den Rukken
20 namen; die er fiir heilig halt, weil sie die Reliquien von dem
Geiste seines Vaters sind und einen Teil seiner Erbschaft ausma-
chen. Sein Kopf ist eingeschrankt, seine Einbildungskraft tod,
sein Verstand klein; sein Herz ist eben so eingeschrankt, eben
so tod, eben so klein. Der Verstand mus das Herz mit seinen
Stralen erwarmen, und es ist ungereimt zu sagen, daB die groste
Tugend nicht den grosten Verstand voraussezze.
Der Dumme begeht niedrige, aber keine grosse Laster. Bei
ienen vereinigen sich Bosheit und Schwachheit, bei diesen be-
wundert man die Menschheit in ihren Ruinen; in iene versinkt
30 man langsam, in diese stiirzt man auf einmal. Schwachheit,
Langsamkeit, Blindheit bestimt den Dummen zu den erstern:
die leztern wiird' er erst begehen konnen, wenn er eines hohern
Grads von Tugend fahig ware.
Neid- dieser ist das erste Unkraut, welches neben dem Hoch-
mut in seinem Herzen keimt. Dieser Bastart unsers heiligsten
Triebes, dieses Kind des Mangels, diese Narung einer ausgezer-
270 JUGENDWERKE • I . ABTEILUNG
ten Sele, briitet in dem schwachen Kopfe ieden unmerkbaren
bosen Vorsaz zur niedrigen Tat aus. Er beneidet den Weisen
eigentlich nicht ura seinen Verstand: denn er hat sich zu gewis
Ciberzeugt, ihn in diesem zu iibertreffen; sondern er beneidet
ihn, um die Ere, die er sich erwirbt, um die Bequemlichkeiten,
die er sich verschaft. Er sieht wol ein, dafi er seinen Schimmer
nicht eher bemerkbar machen kan, als bis er den Glanz des an-
dern verdunkelt, wie eine grobe Erde die Sonne, er begreift,
dafi seine Grosse nur auf den Ruinen des aufgeklarten Mannes
wachsen kann, wie Mos auf verfalnen Pallasten, und daB seine 10
Dumheit so lange der Verachtung ausgesezt sein werde, so lange
das Verdienst die meisten Vererer behalt - deswegen gewont
er sein Auge, die Feler des grossen Marines zu entdekken, und
in ieder Sonne die Flekken zu sehen, seinen Mund, durch Stil—
schweigen zu verlaumden, durch versteltes Lob die unbemerk-
ten Feler zu geiseln, und liberal mit dem Unrat der Verkleine-
rung das Verdienst zu bespeien, und endlich sein Herz, das Bose
mit dem Vergniigen eines Teufels zu lieben, alle menschen-
feindliche Regungen mit einer geheimen Freude zu naren und
sich in ein Kloak ieder niedrigen Begierde zu verwandeln. Der 20
Dumme wiirde viele Laster nicht haben, wenn es keine Weisen
gabe; diese sind gleichsam seine Fiirer zur Holle. Der Dumkopf
ist meistens gluklich, wenn er den aufgeklarten Kopf angreift.
Grosse Manner werden selten durch grosse Manner gestiirzt;
sie kpnnen sich gegen sie verteidigen, sie fallen wenigstens mit
Rume, und teilen die Ere mit ihrem Besieger. Desto ofter hinge-
gen werden sie durch die Zwerge der geistigen Welt gestiirzt.
Nie sind diese Geschopfe allein; sie halten sich zusammen wie
die Zugvogel, und fulen ihre gegenseitige Anziehung am stark-
sten im Kriege gegen den Klugen. Der grosse Man verachtet 30
die Miikkenstiche der kleinen Geister; er betriigt sich. Sie haben
zwar nicht die Starke des Elephanten, um seinen Tron zu er-
schuttern; aber sie durchnagen im Geheim seine Feste wie Holz-
wtirmer und zerlochern die Stiizze desselben, bis sie nieder-
stiirzt. Fiel Olavides durch einen zweiten Olavides? - nein,
durch die heilige Inquisizion. -
RHAPSODIEN 27 1
Der Neid kan dem Rechtschaffenen sein Verdienst nicht be-
nemen; aber er kan die Wirkungen desselben verhindern; so
wie gewisse Wurmer dem Obstbaum nicht schaden, aber seine
Friichte dem Menschen ungeniesbar machen.
Ein andrer Hauptzug in dem Bilde des Dumkopfs ist sein
Stolz. »Was die Natur an Verdienst versagt hat, sagtPope, ersezt
sie durch reichlichen Stolz: denn wir finden in der Sele, so wie
im Korper, das vom Wind' aufgeblasen, dem Blut und Lebens-
geisterfelen.« Der Himmel benam dem Dummen wol den Ver-
io stand, aber nicht die Meinung, ihn zu haben: der Stolz ist ein
angenemer Traum, der den schwachen Kopf dem aufgeklarten
gleich macht, eine Blindheit, die ihm seine Mangel verbirgt,
ein Praservazionsglas fur seine Eigenliebe bei dem Glanze des
Genies. Wir wollen diesen Feler, der weiter nichts als lacherlich
ist, naher kennen lernen. Stolz ist der grosse Man - aufgeblasen
der Dumme bei'm Aufgeklarten, eitel bei seinesgleichen. Man
mus vorher den erlaubten Stolz kennen lernen, um besser iiber
den unerlaubten zu urteilen.
Stolz ist wares Gefi.il unsrer Volkommenheiten; dieses hat
20 ieder, welcher Vorziige vor andern besizt. Allein eben dieses
Bewustsein des eignen Werts hindert den verdienstvollen Man,
um das elende Lob des Narren zu betteln, sich durch Krummen
eine Unsterblichkeit aus dem Atem des andern zu erkaufen und
seine Grosse erst durch vorhergegangene Erniedrigungen zu
verdienen. Er ist gegen das Lob des andern gleichgultig; sein
eignes ersezt ihm iedes fremde. Deswegen scheint er demutig
zu sein; und ist's nicht; er ist bescheiden. Er sucht sein Verdienst
nicht darin, zu sagen, da8 er gros ist, sondern es durch Handlun-
gen zu beweisen: er pralt nicht in der Vorrede mit seinen Ein-
30 sichten; in dem Buche selbst zeichnet ef sein Bild mit glanzen-
dern Farben. Und wenn dieser Man klein von sich denkt, so
denkt er nur so, in Vergleichung mit dem Ideal von Grosse,
das er sich gebildet hat, nicht in Vergleichung mit der Grosse
derer, die ihn umgeben. -
Der Hochmut erfiilt im Dummen den leren Raum, den sein
Verstand iibrig last. Dieses Mikroskop, wodurch seine Eigen-
272 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG •
liebe seine Volkommenheiten betrachtet, vergrossert iede seiner
guten Seiten in's Unendliche, schwelt Kleinigkeiten zu Tugen-
den auf und last ihn in den Schlakken von nachgebetetem Unsin
das Gold einer tiefgedachten Warheit sehen. Er heftet seinen
Blik so lange auf seine Volkommenheiten, bis er seine Feler
nicht mer sieht und, durch den Glanz des Lichts geblendet, auch
an dunkeln Gegenstanden einen Schimmer bemerkt. - Deswe-
gen mist er nach seinem Ich ieden Riesenkorper; schazt an dem
andern nur die Anlichkeit mit sich und erteilt dem die meisten
Lobspriiche, der gleiche - Oren mit ihm hat. Er ist der erste, 10
der die Torheiten belacht, die nicht die seinigen sind, der die
Feler bestrafet, welche man an ihm nicht abgelernt hat - aber
er ist alzeit der lezte, Gutes von dem Verdienst zu sagen, welches
ihm mangelt und dem berumten Manne die Lobspriiche zu er-
teilen, die er sich selbst versagen mus. Jede Handlung, dazu
er nicht das Muster gegeben hat, iede Meinung, die nicht aus
seiner Werkstat kommt, iede Person, die nicht sein Freund ist,
ieder Ort, den er nicht durch seine Gegenwart heiligt, iedes
Land, das nicht das seinige ist, alles dies scheint ihm seine Ver-
achtung zu verdienen; er betrachtet's mit Gleichgultigkeit, und 20
bemerkt mit heimlichem Vergniigen die Giite alles dessen, was
er ist, was ihm gehort. - Gegen die, die mer Verstand haben,
als er, betragt er sich aufgeblasen; d. h., er aussert seinen Hoch-
mut durch Verachtung des andern. Er flieht den Wei sen, wie
der Affe den Spiegel, der ihm seine Misgestalt zeiget. In der
Gesellschaft der aufgeklarten Manner ist er stum; wenn ihm
nicht sein Rok oder sein Stern das Recht zu reden erkauft hat.
Er vergiitet sich die Langweile, die ihm des andern Weisheit
macht, durch die hohe Meinung von sich selbst, die er in dem
Masse vergrossert, in welchem der Widerstand von aussen zu- 30
nimt. Er verachtet das kleine Volkgen, welches nicht seinen
Verstand hat; und denkt von demselben zu gering, als daB er
ihm die Weisheit predigen solte, die nur fur - gewisse Oren
gehort. Wir sind geneigt, die Lobspriiche derer fur unbedeutend
zuhalten, die uns keine erteilen mogen; wir verachten, wie der
Fuchs, die Traube, die wir nicht bekommen konnen; daher
RHAPSODIEN 273
scheint der Dumkopf die Ere entberen zu wollen, die ihm der
Weise versagt; daher ist er gegen diesen aufgeblasen. Der Duns
liebt die Geselschaft der Dunsen; hier sucht er dem Drang seiner
Erbegierde einen Ausweg zu verschaffen und seine Einsichten
mitunverwelkenden Lorbern zu bekronen. Er bult urn den Bei-
fal seiner Mitbriider: deswegen erzalt er die Siege, die er iiber
des andern Verstand erhalten hat, fiirt ieden klugen Gedanken
zur Schau auf, den er und seine Mitgenossen mit dem Kote
des Tadels. bewerfen, und stelt die Weisheit an den Pranger,
10 um sie dem Lachen der Dumheit Preis zu geben. Hier kriechen
die Dummen auf dem Kolos des Verdienstes wie Insekten
herum, um an demselben die Hokker und Ungleichheiten zu
sehen - Hier Ziehen sie mit dem Stachel der Verlaumdung aus
ieder guten Handlung den Gift und wissen ieder ungewonlichen
Tat die Farb' ihres Herzens zu leihen. Also bios im Lande der
E- errichtet sich der Dumme seine Trophaen, seine Monu-
ments, seine Unsterblichkeit - Hier bios ist er eitel. - Nie ist
der schlechte Kopf demiitig; er scheint's oft; allein er verhelt
nur seine gute Meinung von sich, aus Furcht ausgelacht zu wer-
20 den. Er denkt zuviel Gutes von sich, als dafi er's sagen konte.
Niemand kriecht aiich leichter als ein Aufgeblasener; er ernied-
rigt sich unter die Wiirde des Menschen, weil er keinen waren
Begrif von der Hohe desselben hat.
Seine Tugend hat er seinem Korper, und, wenn man wil,
seinem Aberglauben zu danken. Er ist ein Heiliger, weil er einen
vertraglichen Unterleib, ein frommes Blut und ein ruhiges Ge-
hirnhat. Das ubrige ist Aberglauben. Er unterwirft sein Bisgen
Vernunft, das er noch hat, dem Glauben; er erfult die Welt mit
Wunder, damit der gesunde Verstand keinen Plaz mer behalte;
30 er liefert iede Woche einmal mit den Anfechtungen des Teufels
einTreffen, welcher seine Einbildungskraft zu einem Gukkasten
von Siinden und Lastern machen wil; er kreuzigt sich, so oft
er an die Holle, und das ihr Anliche denkt; er denkt sich Himmel,
Got, Welt und Religion nur mit solchen Worten, die er nicht
versteht, und steigt auf Postillen und Gebetbiichern wie auf einer
Leiter den Himmel hinan; ihm ekkelt der Geselschaft der Men-
274 JUGENDWERKE " I . AfiTEILUNG
schen, weil er die heil. Engelein besser findet; er begeht alle
Laster der Menschenfeindschaft, der Verlaumdung und des
Neids, weil er sie fur - Schwachheitssunden halt; er verbrent
die Kezzer auf der Erde, weil er ohnehin weis, daB sie in der
Holle ewig brennen werden, er bittet Got, er mochte ihn vor
dem Verstand der Philosophen und dem Gift der Aufklarung
bewaren und verhiilt sich in den Mantel des Aberglaubens, um
sich in iedem Laster ohne Beflekkung herumwalzen zu durfen
- das ist das Bild des dummen Heiligen. Vielleicht ist dieses
Bild nicht ganz ausgemalt; allein wer wil den kopiren, der den 10
grosten Teil seines Gesichts unter die Larve der Heuchelei und
der Religion, und unter dem Schatten der Einsamkeit und Ab-
sonderung verbirgt? - Die Dumheit ist die Mutter des Aber-
glaubens, und ich glaube, sie hat sich bios das Kleid der Religion
erborgt, um in einer gefalligern Gestalt zu erscheinen. Allein
man lernet den Dummen am meisten kennen, wenn er heilig
ist. - Ich hore auf von dem Volke zu reden, dessen Verstand
es weniger der Verachtung Preis giebt, als es sein Herz dem
Hasse ausgesezt hat: ich mus aber vorher von seinem Gliik in
der Welt noch etwas sagen. 20
»Der Dumkopf fart mit Sechsen, der aufgeklarte Man geht
zu Fus hintennach; der Dumme glanzt in Gold, der Weise friert
in Lumpen; man bekront des Einfaltigen Einsichten mit Geld,
mit Ere, man verfolgt den Weisen, lafit ihn in der Jugend ver-
hungernundhochstens, wenn er grau ist, ein Amtgen erbetteln.
Warlich! die Dumheit ist so gliiklich, daB man's verwiinschen
mochte, ein Weiser zu sein.« So knirscht erbittert der, welchen
Dunsen drangen - welcher vor dem Tron des Toren kriechen
sol, um erhohet zu werden. In iedem Lande hort man diese
Sprache; ausser in England nicht, wq man die Verdienste belont, 30
und in S-, wo es keine giebt. Aber ich wil ihm etwas sagen,
das ihn vielleicht ruhiger machen wird, wenn sein Herz so gros
ist als sein Verstand. Warum bist du mismutig, mocht' ich ihn
anreden, wenn dein Nebenmensch nicht ganz ungliiklich, nicht
ganz aller Giiter beraubt ist? Er hat keinen Verstand; sol er auch
das nicht haben, was den Verstand ersezt? Er entbert die meisten
RHAPSODIEN 275
geistigen Vergniigungen; sol er auch einen Teil der korperlichen
entberen? Du hist gegen den andern zu grausam; gegen dich
zu eigenliebig, wenn du reich und klug zugleich sein wilst. Las
den Himmel Armut und Dumheit in ein Geschopf vereinigen
- es wird das elendeste unter der Sonne sein: es felt ihm alles,
sein Gluk zu machen; es kan nicht einmal ein rechter Bosewicht
sein. Und wenn ia die Armut einen Dummen zeugt, so ist schon
auf eine andre Art fur ihn gesorgt. Oberal sind reiche und mach-
tige Dunsen gepflanzt, die reichlichen Schatten iiber ihre Mit-
10 briider verbreiten, die ihre eigne Verdienste an den Brudern
ihres Geistes belonen. Sie ziehen sich an wie der Magnet das
Eisen; sie fiilen ihre briiderliche Verwandschaft. In iedem Lande
ist so ein Man, der lange Oren fur eine Zierde halt, und seinen
Kopf schazt, weil er so dum ist. Dieser befordert die Vertrauten
seiner Dumheit; beglukt ieden, der zum Orden der Dunsen ge-
hort und verbant den Aufgeklarten als einen Rebel aus dem
friedlichen Reiche der Esel.
»Den Spiegel hat die Katoptrik noch nicht erfunden, darin
der Dumme sich sehen konte« - Man irt sich - der Spiegel ist
20 langst da - gebt dem Dummen nur erst Augen zum hineinsehen,
d. h. macht ihn klug! ! -
mi.
Von dem unzeitigen Tadel der Feler des andern
Es giebt Menschen, die ihre Feler nicht anders als mit ihren
eignen Augen entdekken wollen. Bei diesen mus man sich hii-
ten, ihnen ihre Torheiten zu sagen: denn dieses ist gerade das
Mittel, sie in dieselben verliebt zu machen; man mus aber su-
chen, ihr Auge zu verbessern, daB sie sie selbst sehen, man mus
sie auf gleiche Feler andrer aufmerksam machen, und sie gewo-
30 nen, ihre Flekken in andern parodirt zu erblikken. Einen Mach-
tigen tadeln, heist nicht, sein Urteil verbessern - das heist, ihm
Gelegenheit geben, es zu verteidigen, es fest einzupragen, es
276 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
durch Scheingriinde gegen die Anfalle der aufwachenden Ver-
nunft zu schiizzen. Der Mensch wil den Despotism, den ihm
das Schiksal iiber die Handlungen des andern gegeben hat, auch
iiber die Meinungen desselben ausdenen; er wird also nie, wenn
er getadelt wird, seinen Irtum eingestehen, er wird den getadel-
ten Feler desto ofter begehen, um uns dadurch zu widerlegen,
und zu beweisen, daft er sich nicht geirt habe. Gebt einem feuri-
gen Fiirsten einen pedantischen Moralisten an die Seite - er wird
der groste Bosewicht werden, der ie den Tron verunert hat,
er wird alle die Feler haben, die man an ihm getadelt hat, und 10
man wird ihn nicht mer bessern konnen, weil man ihn zu bald
bessern wolte. - Ferner: auch der Hochmutige wird durch un-
vorsichtige Bestrafung seiner Feler zu ieder Art von Laster ange-
wont. Er wird gewis nie eine Torheit ablegen, die man an ihm
getadelt hat, weil er zu stolz ist, sich zum Bekentnis eines Irtums
zu bequemen. Er bessert sich nur da, wo er glaubt, dafi unserm
Auge der Widerspruch zwischen seinen Handlungen mog' ent-
gangen sein. Eben so wird der Schriftsteller den Irtum nicht
wiederrufen, den man widerlegte, da sein Buch erst die leztc
Messe herausgekommen war. Endlich ist unzeitiger Tadel bei 20
dem, der vol Leidenschaft ist, unnuzlich, schadlich, gefarlich.
Grosse Leidenschaften werden durch Tadel verstarkt, kleine
vermindert, so wie der Wind ein loderndes Feuer zu weit um
sich greifenden Flammen anfacht, und ein kleines im ersten Auf-
glimmen erstikt. Im leidenschaftlichen Zustand komt's nicht
darauf an, was die Dinge sind; sondern was sie uns zu sein schei-
nen: wenn mir da der andre sein Urteil saget, so verbessert er
das meinige nicht; ich ziehe meine Empfindung seinem Aus-
spruche vor. Die Leidenschaften verderben nicht bios das Auge,
um die Dinge schief zu sehen; sie nemen uns auch das Or, die 30
Meinung des andern dariiber zu horen. Was ist hierbei zu tun?
wie sol ich die Feler des Machtigen, des Hochmutigen, des Lei-
denschaftsvollen verbessern, ohne ihren Stolz zu beleidigen,
ohne ihren Meinungen zu widersprechen, ohne ihnen Anlas zu
neuen Verirrungen zu geben? - Man mus entweder den Vorsaz
einer unschiklichen Handlung verhindern, die Gelegenheit dazu
RHAPSODIEN 277
abschneiden und. die ware Seite des Lasters in ihrer schreklichen
Gestalt darstellen, ehe man durch die anscheinend gute desselben
gewonnen ist, — oder man mus den Feler erst lange nach der
Tat bestrafen. Das erste steht selten in unsrer Gewalt; das lezte
fast alzeit. Jedes Laster gefalt eh' man's begeht; wir lieben es
so lange, als wir es noch nicht begangen haben, wie die Braut
vor der Hochzeit - allein nach der Verbindung mit demselben
fait seine Schminke weg, es gebiert Kinder, die unsre Geiseln
werden und uns die Beschaffenhek ihrer Mutter nur zu deutlich
verraten. - Hier ist der Punkt, wo iede Warming, iede Bestra-
fung niizlich wird; wir fiilen an uns selbst die Warheit, die man
uns sagt, deswegen glauben wir ihr, handeln nach derselben
und machen sie zu unsrer bestandigen Begleiterin. »Der Pedant
und der Unterweiser, sagt Rousseau, sagen beide einerlei: der
erste aber sagt's zu aller Zeit; der andre sagt's nur, wenn er
der Wirkung seiner Reden gewis ist. « Der Pedant redet da, wo
ihn die Umstande widerlegen; der Weise legt den Umstanden
seine Reden gleichsam in den Mund; iener sagt zu alien Zeiten
dasselbe, dieser sagtzuieder Zeit nur das, was sich hieher schikt;
icner kan zur Not kleine, dieser auch grosse Selen bessern; iener
schadet oft, dieser arbeitet selten umsonst. - Es ist noch ein
Weg iibrig, um den andern zu verbessern, den man unter alien
am wenigsten betrit. Ich wil ihn in diesem Gesprache zeichnen.
A. Wie sol ich einen Narren zu einem noch grossern
machen? [usw. wie oben S. 103, 5-16] - Manche sind Teu-
fel geworden, weil man ihnen niemals sagte, daB sie Engel
sein konten. —
V.
Abgerissene Gedanken uber den grossen Man
30 Man lernt die grossen Manner erst recht geniessen, wenn man
sie schon lange genossen hat; erst durch die Warme der Freund-
schaft reifen die Fruchte, die so siis zu kosten sind, die die Vor-
278 JUGENDWERKE ; I.ABTEILUNG
treflichkeit des Baums beweisen. Draussen in der Welt blenden
sie, und verschiessen feurige Stralen; man mus naher bei ihnen
sein, urn Warme von ihnen zu empfangen. Ihr Schiiler sein,
ist viel; ihr Freund sein, ist zenmal mer. —
Der Man, der auf dem Atna steht, sieht eher die prachtige
Sonne, als die untern Talbewoner. - So sieht der aufgeklarte
Kopf friiher die Morgenrote eines Genies, als sie die stumpfen
Augen der Dummen sehen. Er sieht das Genie am fruhen Mor-
gen, er sieht es bis an seinen Untergang; iene sehen es nur,
wenn es schon blendet, schon brent. - So wie wir den Wert 10
gewisser Dinge nur durch ihren Besiz kennen, eben so scheint
nur der die Grosse eines Andern richtig zu schazzen, [Liicke
gelassen]
So wie's Sonnenfinsternisse giebt, so giebt's auch Verdunk-
lungen des grossen Mannes. Daher sieht der Machtige die ver-
dienten Manner nicht, weil ihn immer die dunklen Korper des
Neids und der Verlaumdung umkreisen, und durch ihr Dazwi-
schentreten scheinbare Flekken in dem Glanze des Verdienstes
verursachen. Allein man sieht eigentlich am beriimten Manne
nicht seine eigne Flekken, sondern die Flekken seiner Neider. - 20
Grosse Manner sind am niizlichsten, wenn sie durch die Jare
ihre Feler abgelegt haben, und gefallen erst am Abend ihres
Lebens, wie die Sonne bei ihrem Untergange. Sie sind gros,
ohne gefarlich zu sein; sie warm en, aber sie brennen nicht; sie
verbreiten sanfte Stralen, ohne blendenden Glanz. In ihrem Le-
ben waren sie grosse Geister, bei ihrem Tod grosse Menschen:
und verdienten dort unsre Bewunderung, hier unsre Liebe.
Das Ungluk schadet dem grossen Manne wenig, welcher auf
den Trummern seines vorigen Gliiks zu einer betrachtlichern
Hohe hinaufsteigt. Und, wenn es ihn auch unterdriikt, so endigt 30
er seinen Lauf wie eine Sonne, entzieht sich almalig den Augen
seiner Zeitgenossen, und vergoldet noch durch ein schones Ende
die triiben Wolken des verflossenen Lebens. Allein er geht auch,
wie die Sonne, in einem andern Lande mit morgenrotlichen
Stralen auf; er glanzt mit seinem Rum der Nachwelt. Das Gluk
ist ihm gefarlicher; es kostet ihm mer Miihe, gros zu bleiben,
RHAPSODIEN 279
als gros zu werden, und die Warme der guten Tage scheint
die wachsernen Fliigel zu zerschmelzen, mit welchen er sich
in die Hohe schwingt. -
Derienige soke den grossen Man nicht loben, der ihn nurloben
lean, der nicht sich selbst einen Teil des Lobes zueignen darf
- Herlicher klingt die Lobrede, die ein grosser Man auf den
andern, ein Friederich auf einen Voltare macht: denn er allein
kent das ware Grosse, er allein stelt es am besten in seinem
naturlichen Glanze dar. Wir hingegen schweigen; wir lassen,
10 wie Zasar, eine Trane der Nacheiferung fallen, unser stilles
Staunen wird der Herold von der Grosse iener Manner, und
unsre Liebe gegen sie das Monument ihrer Unsterblichkeit. -
VI.
Vom Menschen
Der Mensch ist ganz vol Wunder und vol Ratsel; und das groste
unter alien ist, daft er sie nicht kent, und sich keine Miihe giebt,
um sie einmal zu kennen. Jeder gesteht zwar, daft sich im Men-
schen Geheimnisse finden - allein dieses ist ein Komplimen fur
seinen Scharfsin - kurz darauf erklart er diese Geheimnisse. Ich
20 kan weder die alten besser erklaren, noch sie mit neuen verme-
ren; ich wil bios versuchen das Langegesagte zu wiederholen,
damit ein Andrer etwas Neues dariiber sage.
Der Pedant in der Psychologie hat den Menschen, dieses voile,
und aus verschiednem Stof gewebte Werk Gottes, in ein morali-
sches Skelet verwandelt; er hat mit dem Messer der Abstrakzion
und Distinkzion alles Fleisch weganatomirt, und ein Gerippe
gemacht, dessen Gebeine in den Paragraphen der Kompendien
zerstreuet sind. Diese Geschopfe sind keine Menschen, sie tau-
gen nicht in die Welt; sie passen hochstens auf den Katheder,
30 wo man die menschlichen Puppen durch Drat bewegt, um fur
Geld eine behagliche Komodie zu geben. Der Mensch hat tau-
280 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
send Seiten; aber man sieht alzeit nur Eine. Der Systematiker
beurteilt ihn nach dieser einzigen, verschliest sein Auge gegen
die andern und bemerkt in ihnen nichts als die Anlichkeit mit
dieser. Der Skeptiker hat widersprechende Seiten gesehen; er
weis genug, um sich die Brille des Systems nicht aufsezzen zu
lassen; allein er weis zu wenig, um nicht Skeptiker zu sein. Wenn
nur eine unendliche Hand den Menschen schaffen konte; so kan
ihn vielleicht auch nur ein unendliches Auge durchschauen. Er
ist das Geschopf, welches die Fahigkeit besizt, das Unvereinbare
zu vereinigen - das Geschopf, welches Nar und Weiser, Gotloser 10
und Heiliger zugleich ist. Er ist im Stande, alles zu werden,
aber nicht, etwas ganz, etwas lange zu sein; er lebt von der
Veranderung. Er ist so gros und so unvolkommen, so gut und
so bose, so weise und so toricht, dafl wir ihn gleich ser bewun-
dern und verachten, lieben und hassen miissen. Wenn seine La-
ster in seine Tugenden, seine Torheit in seine Weisheit verwebt
ist, wie Schatten und Licht, und wenn beide oft kampfen, wie
Nacht und Tag - was sieht dan der Weise? - wenig, eine Dam-
merung. Den Glanz seiner Tugend umschattet seine Schwach-
heit; allein auch seine niedrigsten Laster tragen den Stempel sei- 20
ner Grosse; er zeigt in seiner Tugend, wie wenig er ist, in seinem
Laster, wie viel er sein konte; er erwirbt sich keine grosse Eigen-
schaft, ohne wieder eine andre zu verlieren, und iede seiner Vol-
kommenheiten zieht eine Unvolkommenheit nach sich, wie der
Korper den Schatten. Der Himmel bildete den Menschen zum
Geschopf, welches tausend Volkommenheiten an sich vereinigt,
die in andern Wesen einzeln anzutreffen sind, und das alle die
Unvolkommenheiten bei sich warnimt, welche die Kollision
so verschiedner Fahigkeiten hervorbringt. Unsre Ubel kommen
also nicht daher, weil wir keine Volkommenheiten haben, son- 30
dern daher, weil wir so grosse, so verschiedne haben. Vielleicht
werden uns einst die Feler, die wir iezt verdammen, iiber die
Engel erheben; und vielleicht werden wir dem Schopfer fur das
danken, was uns iezt einen Einwurf gegen seine Vorsehung ab-
giebt. Was wissen wir aber eigentlich von der Giite oder Nicht-
giite unsrer Natur? so viel, als ndtig ist, um das Ratselhafte
RHAPSODIEN 28 1
unsers Zustandes zu fiilen - der Vorhang der Ewigkeit verbirgj:
uns noch neben tausend Dingen auch uns selbst, und wir werden
nicht eher das kennen lernen, was wir sind, als bis wir es nicht
mer sind. -
Sinne und Verstand - siehe! zwei Feinde, die ewig mit einan-
der im Streit liegen, und da ieder nur siegt, um in kurzem vom
andern iiberwunden zu werden. Unsern Sinnen haben wir viel
zu danken; wenigstens die Irtiimer, die uns auf die Warheit ge-
bracht haben. Siebetrugenimmer; allein in diesem Betruge liegt
10 auch der Same der Warheit. Wir losen das vermischte Licht
der Sinne durch das Prisma der Vernunft in seine einfachen Far-
ben auf; wir gehen weiter als uns der Schopfer die Macht gab;
wir sehen durch das Sinnenlicht nicht bios andre Gegenstande;
wir sehen durch dasselbe uns selbst. Ein Licht ziindet das andre
an, und unsre Sinnen erleuchten unsern Verstand. Der Mensch
ist ein Sklav seiner Sinne und zu ewigen Irtiimern verdamt;
allein er mus eben so gut der Vernunft gehorchen; er mus zween
Herren dienen. Er fiilt Irtiimer, die er glauben mus; Warheiten,
die ihm sein Auge widerlegt. Dieses ist nun nicht wunderbar,
20 daB er die Welt durch das gefarbte Glas seiner Sinne betrachtet,
dieses ist nicht unerklarbar, daB der Alweise selbst diese Tau-
schung zu seinem Nuzzen veranstaltet hat; allein dieses ist wun-
derbarer, dafi er noch einen Blik neben diesem Glas hinaus auf
die ware Gestalt der Dinge werfen kan,dieses ist unerklarbarer,
daB er die Tauschung warnimt, in welcher er sich befindet, und
einem Teil der Irtiimer widersteht, die man ihm aufdringen wil.
Leibnizzens Monadologie hebt den Vorhang der Zukunft auf,
und erofnet dem Lichte der Ewigkeit den Zugang in die sterbli-
chen Augen; sie sagt den Menschen das , was sie als Engel erf aren
30 solten; sie macht uns gros in der Hiille, und zu wunderbaren
Mittelgeschopfen entfernter Welten. Man mus dariiber denken,
um das wunderbare zu fiilen; es verliert, wenn ich mer davon
sage. - r
Wenn man die Meinungen des Menschen betrachtet; so wird
er bald gros, bald klein, bald schazbar, bald verachtlich, d.h.
er wird widersprechend. Die Krafte des menschlichen Verstan-
282 JUGENDWERKE ' I.ABTEILUNG
des verdienen unsre Bewunderung, ihre iible Anwendung erregt
unser Bedauern. Die Meisterstiikke der grosten Geister sind
meistens Gebaude von Irtiimern - auf ihren Irwegen errichten
sie die Monumente ihrer Unsterblichkeit. Der Mensch klimt
an den steilen Hohen der Untersuchung iiber die Wolken des
Irtums hinaus und atmet die reine Atherluft erhabner Warheiten
auf dem Gipfel des erstiegnen Berges; allein er sinkt eben so
tief wieder herab, als er gestiegen war; ihn umhiilt der Nebel
der Unwissenheit, und die Dunste des Aberglaubens; ihn nart
der Schlam der verderblichsten Irtiimer. Er hat so erhabne War- 10
heiten erfundenund.so nichtswiirdige Dumheiten geglaubt, daB
man ihn nie genug loben und nie genug tadeln kan. Wir haben
einen grossen Verstand; aber wir wissen ihn nicht zu gebrau-
chen; er ist ein Diamant in den Handen der Kinder; er ziert
uns erst in der Ewigkeit, wenn wir Manner geworden sind.
- Im Menschen ist ein wunderbares Chaos von Warheiten und
Irtumern. Er klimt oft nur zu hohern Warheiten hinauf, um
in tiefere Irtiimer herabzusturzen; sein Bemiihen sich vom Irtum
loszureissen, ist vergeblich; er walzt den Stein des Sisiphus; die
Unwarheiten, die er glaubt, haben ein richtiges Verhaltnis mit 20
seinem Verstande. Allein, eben so wenig wird er gar nichts wa-
res glauben konnen. Selbst die Gebaude seiner Irtiimer sind aus
Trummern iibelverstandner Warheiten zusammengesezt; selbst
in den abgeschmaktesten Theorien der Morgenlander verkent
man die Richtigkeit seines Verstandes nicht, und immer haben
seine Verirrungen den Weg zur Warheit durchkreuzet.
Seine Einbildungskraft baut aus Bruchstiikken dieser Welt
eine neue zusammen; sie ist die Malerin von Meisterstiikken,
dazu die Sinne bios die Farben geliehen haben - dieses ist nicht
wunderbar; allein dieses ist's vielleicht mer, daB sie nicht das 30
Endliche, sondern das Unendliche malt und in dem engen Be-
zirk des menschlichen Gehirns gleichsam das verkleinerte Bild
der Unermeslichkeit aufstelt. 1 Man hat Unrecht zu sagen, daB
wir nur das Endliche denken konnen: im Gegenteil wir konnen
1 Platner scheint der erste gewesen zu sein, der dieses bemerkt hat,
siehe seine phihsoph. Aphorismen. Da man das nicht geben kan, was
RHAPSODIEN 283
uns bios vom Unendlichcn einen Begrif machen. Wir glauben
etwas Endliches zu denken, wenn wir bios den Absaz, den Teil
einer unendlichen Statigkeit denken. Dieses ist paradox und un-
erklarbar, so wie iiberhaupt unsre Einbildungskraft eine dunkle
Werkstat geheimer Krafte ist. Mensch! wenn wird man dich ken-
nen lernen? vielleicht wenn man dich nicht mer aus den Schulen
kennen lernt?
Die Vereinigung unseres Korpers mit unsrer Sele bleibt das
ewige Ratsel iedes Philosophen; wir wissen nicht, sol er unsre
10 Weisheit oder Torheit, unser Gliik oder Ungliik befordern; uns
ist unbekant, was wir ihm zu danken haben, wenig, viel oder
alles. Man hat Recht, wenn man sagt, daft unsre Sele sich den
meisten Stof zu Ideen nur vermittelst ihres Korpers verschaffe,
und daB er das meiste zur Entwiklung ihrer Fahigkeiten beitrage;
allein man hat Unrecht, wenn man laugnet, daB uns der Korper
nur bis zu einem gewissen Grade der Grosse erhebe, und dan
ieden Weg zu neuen Fortgangen mit unuberwindlichen Hinder-
nissenverschliesse. Unsre Fahigkeiten glanzen weit umher; aber
sie miissenerst, wie die Sonne, den dikken Nebel durchbrechen,
20 in welchen sie unser Korper verhiilt. Wir sehen eigentlich nicht
den menschlichen Geist in seiner waren Beschaffenheit - er bil-
det sich nur im Kleinen in seinem Korper ab, wie die Sonne
im triiben Wassertropfen. Der Tod wird uns erst das Gewand
geben, das die Entfaltung keiner unsrer Reize weder verhindert
noch verbirgt. -
Torheit - ein wichtiger Artikel zur Menschenkentnis! Die
Torheiten sind die Ramen, die iedes vortrefliche Menschenbild
einfassen - sie sind die Schellen, welche durch ihr Gelaute uns
von der Gegenwart eines Menschen benachrichtigen - sie sind
30 das gewisseste Unterscheidungszeichen des Menschen vom
Tiere. Und doch hat man iiber die Torheiten des Menschenge-
schlechts noch wenig Weises gesagt. Sie zeigen eine besondre
Seite der Sterblichen, die bios vom Systematiker nicht gesehen
wird, weil ihm das Gewebe seines Systems iede freie Aussicht
man nicht hat, so kan ich diesen vortreflichen Man nicht loben; allein
ich kan ihn bewundern.
284 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
unmoglich macht. Die Torheiten leren den Weisen, bescheiden
und duldsam zu sein, und seine groste Kentnis vom Menschen
darein zu sezzen, daft er die Unergrundlichkeit desselben kent.
Torheit ist weder Laster, noch Dumheit; sie ist oft ein Mittelding
zwischen beiden; sie scheint bios fur den Menschen zu gehoren,
und mit iedem andern Geschopfe unvereinbar zu sein. Unser
Herz hat ein Gefiil fur Moralitat, unser Verstand ein Gefiil fur
Evidenz - fur die Torheiten haben wir das Gefiil des Lacherli-
chen. Tugend und Laster, Warheit und Irtum erstrekken ihre
Folgen bis in's andre Leben; die Torheiten nicht. Sie sind bios 10
fur diese Welt, und fur die Kinder in derselben, die spielen,
lachen und belacht werden. Ich weis nicht, in welchem Verhalt-
nis sie mit den Mitteln zur Erreichung unsrer Bestimmung, ste-
hen; allein sie scheinen nicht ganz unwichtig zu sein, weil sie
so haufig sind. Sie sind die Federn auf dem Kleide des Weisen;
er keret sie nie alle ab. Sie sind die Lappen auf dem aus alien
menschlichen Torheiten zusammengesezten Harlekinskleid des
Unweisern. Sie herschen iiber die ganze Welt; aber unter einem
andern Namen. Weil sie dem Spotte ausweichen wolten, den
audi ihre eifrigsten Vererer gegen sie ausspeien; so namen sie 20
die schonere Benennung »Mode« an. Nun hat sich die Torheit
emenTronerrichtet, denkeine Vernunfterschuttert, eine Macht
verschaft, die selbst den Weisen bezwingt, und eine Gewalt
zu[ge]eignet, die sich iiber die ganze Welt ausbreitet. Die Mode
ist ein Beweis der Erfindsamkeit des Menschen in - Torheiten;
sie zeigt, daB er gute Augen habe, um besser durch eine - falsche
Brille zu sehen; daB er viel Vernunft besizze, um seine Narheiten
damit zu naren; daB er seine Volkommenheiten gebrauche, um
die Anzal seiner Mangel zu erhohen. Es ist widersprechend;
aber es ist menschlich. Was sich ubrigens nicht von den Moden 30
sagen last, das kan man von ihnen denken. - Wenn der Mensch
am andern die Torheiten lacherlich findet, die er sich selbst ver-
zeiht - wenn er seinen Vorzug in Dingen sucht, deren Nichts-
wiirdigkeit er eingesteht - wenn er seine Meinungen nach seinen
Lagen auf Chamaleonsart abwechseln last, und doch in dem
andern iede Abweichung von seinem System fur toricht und
RHAPSODIEN 285
strafbar erklart- wenn er ausser seinem Hausse in dem Parade-
kleid der Vernunft geht, und innerhalb desselben seine Torheit
mit seinem Schlafrock anzieht - wenn sein Stolz sein Verdienst
iiberwachst, wenn der Wind erkaufter Schmeichler den Zwerg
zu einem lacherlichen Riesen aufblast, und ihm nur der Bukkel
des andern, nie der seinige sichtbar wird - wenn er iede Geburt
seines Gehirns fur eine Minerva halt und den andern zum Prose-
lyten seiner Dumheit zu machen sucht - wenn er die Kinder
seiner Vernunft mit dem Flitterstat gelerter Torheit bebramt,
10 und die Narheit zum Herold seiner Grosse wait — urteilt selbst,
wenn ihr namlich iezt nicht selbst das seid, was ich geschildert
habe, was sol man vom Menschen denken, diesem erwiirdigen,
und lacherlichen, diesem vernunftigen und torichten Geschopfe?
Gewis nicht das, was so viele von ihm denken. —
Die moralische Natur des Menschen war von ieher das Laby-
rinth der Weisen; alle haben sich darinnen verirt; alien hat Ariad-
nens Leidfaden gefelt. Noch iezt bewundern wir diese sonder-
bare Mischung von geistigen und korperlichen Wirkungen,
diese unauflosbare Vermengung von guten und bosen Regun-
20 gen, dieses Gewebe von dunkeln Gefiilen - noch iezt felt der
Neuton, der das Prisma entdekte, welches iede unsrer Handlun-
gen in ihre einfachen Farben aufloste. Tugend und Laster sind
gewis nicht das, was sie unserm Geful zu sein scheinen; sie sind
das, was die Ewigkeit deutlicher zeigen wird, was einige Philo-
sophen im Dunkeln vermuten, was einem der starksten Ein-
wiirfe gegen die Vorsehung seine Macht benimt. Woher entste-
hen alle unsre bosen Handlungen? aus dem Triebe nach
Gliikseligkeit. Wir irren uns also in den Mitteln, diesen Trieb
zu befriedigen; dieser Irtum entsteht aus der Einschrankung
30 unsrer Natur; diese Einschrankung hangt nicht von uns ab. Man
weis, wie viel sich fur die Lere von der Notwendigkeit sagen
last; man weis auch, was sich gegen sie sagen last - beides zwingt
uns zu dem Bekentnis, daB wir nicht viel vom Menschen wissen,
und daB wir dieses Wenige selten sagen diirfen.
Wenn wir weniger bos sein wolten, so must* uns der Schopfer
mit weniger Anlage zur Tugend geschaffen haben. Es braucht
286 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG
gleich viel Kraft der Sele, um ein grosses Laster oder eine grosse
Tugend zu beschliessen; diese Kraft aussert nur ihre Tatigkeit
an verschiednen Gegenstanden. Wir konten uns nicht (iber den
Engel erheben, wenn wir nicht unter das Tier herabsinken kon-
ten: derm nur der ist der groste Bosewicht geworden, der Anlage
zum Heiligen hatte. Aber durch welche Gange trubt sich diese
reine Quelle zu einem so unreinen Strom und wie zeugen gleiche
Anlagen einen Brutus und einen Katilina? und wie verhalt sich
die Volkommenheit eines Bosewichts mil herlichen Anlagen zu der
Volkommenheit desienigen, der from ist, weil er nicht ser sundigen 10
kan? — Ich weis es nicht; bios der, der es unrichtig weis, glaubt
es zu wissen.
Die Bestimmung des Menschen nach dem Tode! warlich, wenn
alles in unsern Lergebauden licht ist, hier ist noch Grabesdunkel.
- Wir wissen zwar, daB wir sein werden; denn wir sind hier
zuviel, um nicht nach dem Tode mer zu sein. Allein was werden
wir sein? Ach! hier ist dikke Finsternis, Nacht des Grabes. Weder
die Fakel der Religion noch der Vernunft leuchtet hier. Hier
auf dem Erdbal,-wo ein Wirwar von tausend Meinungen die
Sele trunken und ihren Blik auf die Warheit schief und triibe 20
macht, wo wir uns betriigen, oder der andre uns betriigt, wo
Geschichte und Philosophie oft gleich unsicher sind, wo iedes
Jarhundert die Liigen vertilgt, die das vorhergehende geboren
hat, oder neue an ihre Stelle sezt, um sie vom kiinftigen widerle-
gen zu lassen, wo das, was man gewis weis, in Vergleichung
mit dem, was man gar nicht, was man unsicher und was man
falsch weis, zu einem Nichts verschwindet, und wo der Mensch
so ratselhaft ist, wie die Welt, in der er sich befindet, und das
Gegenwartige so unbekant wie das Zukimftige - auf diesem
Erdbal, sag' ich, solten wir vom Leben ienseit des Grabes mer 30
als Mutmassungen wissen, und unsrer Furcht vor dem unbe-
kanten Lande etwas mer als Hofnung entgegensezzen konnen?
Nein; traume wer wil Aussichten in ienes Leben; die Traume
verlieren sich, wenn man erwacht. Warer sagt Pope: »Hoffe
in Demut; erhebe dich auf zitternden Flugeln! Erwarte den gros-
sen Lerer Tod, und bete Got an!«
RHAPSODIEN 287
VII.
Etwas uber Leibnizzens Monadologie
Etwas, das man schon lange wuste, und eben deswegen iezt vergessen
zu haben schcint
Gewisse erhabne Warheiten sind von grossen Gei stern erfunden
worden, um wieder von grossen Geistern geglaubt und gesagt
zu werden. Im Munde eines schwachen Kopfs verlieren sie etwas
von ihrer Grosse und bekommen einen Anstrich von Lacher-
lichkeit; sie passen fur die Sele eines kleinen Geistes, wie Saul's
10 Harnisch fur den David, und die Erhabenheit derselben ver-
schwindet, wenn sie in den Insektenkopf gewisser Menschen
eingekerkert werden. So wie es fur das Verdienst eine Ere ist,
von gewissen Menschen gehasset zu werden; so ist's fur erhabne
Warheiten ein Gewin, von Dumkopfen belacht und gelaugnet
zu werden. Diese Warheiten verlieren, wenn sie im Kopfe des
Dunsen seine schwachen Begriffe zu Geselschaftern bekommen,
und werden entert durch das Lob, welches ihnen ein Unmiindi-
ger bringt. - Leibnizzen's Monadologie - man bewundert mer
ihren Erfinder als sie selbst, weil ihre Wichtigkeit uns den Ent-
20 dekker derselben vererenswert macht, da fur ihre Erhabenheit
iede menschliche Bewunderung zu klein und zu unbedeutend
ist - sie ist ein Stral vom himlischen Lichte, eine Warheit, die
noch nicht fur diese Erde gehort, und ein Gedanke, den man
erst ienseit des Grabes denkt. Jeder grosse Man begreift nur
mit Muhe die Moglichkeit ihrer Entdekkung und halt einen
Leibniz bei dem vorteilhaftesten Begriffe von seiner Grosse,
doch noch fur zu klein, um von ihm ihre Erfindung zu vermu-
ten. Allein der, der sie erfand, konte sie nur denken - tausende
nach ihm sagen sie bios; sie bleibt auf ihren Lippen; sie ist zu
30 gros fur ihren Kopf. Sie wird in alien Horsalen gelert; allein
ich zweifle, ob sie in vielen recht gelert wird. Der Professor
tragt sie vor - man findet sie lacherlich: ich selbst wiirde lachen,
aber nicht uber diese Warheit, sondern iiber den, der sie sagt.
288 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Sie gehort nicht auf den Kateder, und nicht in die Kompendien;
bios deswegen weil gewisse andre Warheiten dahingehoren, da
eine trefliche Figur machen. Tausend Kopfe sind zu diir, um
die Fruchte eines solchen Mannes zu naren; sie finden da nicht
Landes genug, und verdorren. - Ich weis nicht, ob nicht eben
hierinnen auch die Ursache liegen mag, warum die Verachtung
eines Leibnizze's in dem Geiste des vergangnen Jarzehends einen
Hauptzug ausmachte. Gewisse Genies machten sich wachserne
Fliigelein, um damit zur Unsterblichkeit aufzufliegen - sie flat-
terten und gaukelten, und glaubten hoch genug geflogen zu 10
sein, um iiber die Kleinheit dieses Riesen lachen und spotten
zu konnen, Vielleicht sah' sie der grosse Man, und horte sie
sumsen, wie Fliegengeschmeis vor der Sonne Untergang. Man
vergiebt einem Verliebten seinen Entusiasm fur ein schones Ge-
sicht; soke man einem Kleinen diesen Entusiasm fur einen gros-
sen Geist nicht vergeben? Ich bin sein Schiiler nicht, aber ich
hoff es in der andern Welt zu werden. Vielleicht hat er in dersel-
ben mer Engel zu Bewunderern gehabt als Menschen in dieser;
und vielleicht erndet er erst die Lobeserhebungen der
Sterblichen ein, wenn sie selbst unsterblich sind. Genug von 20
einem Manne, von dem ieder zu wenig sagen wird, weil
er soviel sagen soke! -
VIII.
Von der Dankbarkeit
Dankbarkeit ist nicht die leichteste, nicht die angenemste Pflicht;
dieses haben nur die nicht gefiilt, die sie nie gekant und alzeit
mit der Schmeichelei verwechselt haben. Es giebt zweierlei Ge-
schenke, fur die man dankt; solche, die uns Giiter verschaffen,
deren Erwerb in unsrer Wilkiir stand, und solche, die uns
dasienige erteilen, was wir erst von der Hand des Schiksals 30
RHAPSODIEN 289
erwarten musten. Der Mensch ist liberal Tor; so auch hier.
Er schamt sich nicht das zu mangeln, was er sich selbst verschaf-
fen konte; er schamt sich nicht, unwissend und untugendhaft
zu sein - allein er halt's fur eine Schande, das nicht zu haben,
was er durch den Zufal, durch das Schiksal bekomt; er scheut
sich seine Armut, seine geringe Herkunft, seine korperlichen
Gebrechen zu bekennen. 1 HelP ich seinem Mangel an Dingen
ab, die er durch eigne Schuld nicht besas, mach' ich ihn tugend-
hafter und verstandiger; so dankt er mir mit ofner Miene, mit
10 freiem Herzen, und ohn' eine Ausserung des Zwangs, welcher
iedes Geful unsrer Abhangigkeit zu begleiten pflegt. Allein so
ganz anders ist sein Dank, welchen er mir bezalt, wenn ich ihn
reicher mache oder iiberhaupt mit Gutern beschenke, welche
er sich selbst nicht erwerben konte. Der grossen Sele ist iede
Erniedrigung unertraglich; sie druckt ihren Dank daher mit
einiger Verwirrung, mit abgebrochnen Worten und selten mit
Kraft aus, und das Geful, wie wiirdig sie dieser Woltat sei,
scheint den Dank zu erschweren, den sie dafiir errichten wil.
Es ist daher ein unsicheres Mittel, sich durch Geschenke einen
20 grossen Man zum Freunde zu machen, welcher nur den liebt,
den er umsonst liebt, dem er nichts schuldig ist. Allein es komt
auch darauf an, wie man Geschenke giebt - Gewisse Menschen
zeigen eine edle, nicht verachtliche, Miene bei ihrer Freigebig-
keit; sie scheinen dem andern nichts zu schenken; sie scheinen
nur seine Verdienste belonen zu wollen. Der Hochmutige han-
delt gerade entgegengesezt. Man liebt ihn daher nicht, ob er
gleich Gutes tut; man hast ihn dafiir und findet es unertraglich,
dafj der andre auf unserm Elend, auf unsern Ruinen zu einer
hohern Staffel der Ere steigt, daB er Giite und Bosartigkeit in
30 derselben Handlung vereinigt und unsre Pflicht der Dankbarkeit
gebraucht, um seinem Laster des Hochmuts reichlichere Narung
zu verschaffen. Man dankt auch dem ungern fur sein Gutes,
von dem man etwas Boses erwartete. - Zum obigen sezz' ich
1 Eben so sind wir auf unsre Verstandesgaben mer als auf unsre
Tugenden stolz; ob wir gleich mer Entschuldigung hatten, es auf diese
als auf iene zu sein. -
290 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
hinzu, daB der kleine Geist mit weniger Miihe, und vielleicht
auch oft mit weniger Rechtschaffenheit danke. Dieser erniedri-
get sich zu ieder kleinen Handlung, eben weil er einen falschen
Begrif von seiner Grosse hat; er schazt die Woltaten zu gros,
weil er sie nicht verdient - deswegen ergiest er sich in lange
Danksagungen, die erst auf seinen Lippen geboren wurden, des-
wegen sucht er Bewegungen des Herzens an den Tag zu legen,
die er nie fiilte, und halt's fur keine Schande, dem andern
Schmeicheleien zu sagen, welche beide, der, der sie empfangt,
und der, der sie giebt, fur Liigen halten. Es giebt Menschen,
die sich durch ihren Dank der empfangnen Woltat unwiirdig
machen, so wie es solche giebt, die mit ihrem Dank fur ein
altes Geschenk, ein neues verdienen. - Der Verf . der Lebensldufe
sagt, er wolle aus der Art, Geschenke zu geben, den Karakter
eines Menschen auf ein Har treffen. Ich sezze hinzu, man kan
einen Menschen noch besser kennen lernen, aus der Art, wie
er Geschenke annimt. Es ist der Augenblik, wo der Mensch ohne
Larve ist. Wir haben Miihe, da unsre Bosheit zu verbergen,
wo uns der andre geschwinde mit seiner Giite uberrascht - die
Sonne beleuchtet unsre.Werke der Finsternis, eh' wir den Mantel
der Verstellung dariiber geworfen haben. Weil dem Menschen
die Verstellung nicht natiirlich ist, so vergist er sie oft in der
Geschwindigkeit; dieses ist die Ursache, warum eine unerwar-
tete Woltat uns den Zustand eines Menschen zu erkennen giebt.
Allein eben so oft uberrascht sie den Tugendhaften; sie stelt
uns die unbedekten Reize seines Herzens dar und zeiget die Aus-
briiche seiner Aufrichtigkeit und seines Gefiils, ohne das Ge-
wand des Wolstandes und des Zwanges. So wie die Morgenrote
die schlummernde Schone in ihren ungeschminkten Reizen er-
blikt, so sehen wir die Gestalt der unverhiilten Tugend.
RHAPSODIEN 29 1
Villi.
VERGLEICHUNG DES ATEISM MIT DEM FANATIZISM
Ateism und Aberglaube, beide erzeugen gleich schadliche Wir-
kungen, und sind nur in ihrem Ursprunge verschieden. Sie sind
Kinder des Irtums; aber dieser Irturn entsteht nicht immer aus
derselben Quelle. Der Ateist irt, weil er selbst denkt; der Fanati-
ker, weil er bios mit dem andern denkt - iener gelangt mit
Miihe auf einen ungewonlichen Irweg, welcher einen Man for-
dert, der auch die steilsten Hohen der Warheit erklimmen kan;
io dieser hat seinen Irtum einer Schw'ache zu danken, welche halb
die Wirkung seines Kopfs und halb die Wirkung seines Herzens
ist. Neben dem Wege zur Warheit liegt auf der einen Seite die
abschiissige Ban zum Fanatizism und auf der andern die steile
Hohe zum Ateism; in iene darf man so zu sagen nur fallen,
auf diese mus man steigen, allein es ist schwerer von iener zu-
riikzukeren, als von dieser. Ein Ateist mus ein Philosoph sein;
ein Fanatiker ein schlechter Teolog. Die Vervolkomnung der
Philosophic wird den Ateism, die Vervolkomnung der Teologie
den Fanatizism unmoglich machen - beide Ungeheuer werden
20 nur von der Nacht geboren, und sind Feinde des Tages. Der
Aberglaube hat nie einen grossen Man zum Anhanger gehabt,
ausgenommen in dem Zeitpunkt, wo der Grosse anfangt klein
zu werden - Der Ateism hat einen Spinosa gehabt. Man kan
den Gotteslaugner durch Grtinde widerlegen; der Aberglaubige
nimt keine an, und es ist ein grosseres Wunder einen vernunftig
gemacht zu haben, der . keine Vernunft hat, als einen, der sie
libel anwendet - man kan leichter ein schlechtsehendes Auge
verbessern, als ein blindes heilen. - Der Ateist verert einen Got
nicht, den er nicht glaubt; der Aberglaubige verert einen falsch,
30 den er nicht kent; auf der einen Seite scheint's besser zu sein,
sich keine als falsche Begriffe vom hochsten Wesen zu machen;
auf der andern ist's mer Verdienst, einen Irtum hegen, der unsre
anderweitigen Beweggriinde zur Tugend verstarkt, als einen,
der die Ausiibung ieder guten Tat von dem Ausspruche unsers
Eigennuzzes abhangig macht. Der Gotteslaugner begeht nie das
292 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Laster, weil er's mit der Tugend verwechselt, sondern well er's
zur Erreichung seiner Absichten tauglich findet - er verert bios
die Tugenden, zu welchen ihn die Geselschaft zwingt, welche
sein Eigennuz anrat, und die Giite seines Temperaments hervor-
bringt. Der Aberglaubige wird viele Laster begehen, weil er
sie fiir Tugenden halt; er wird aus Pflicht bose sein; er wird
aus Heiligkeit Tugenden verabscheuen; aber er wird nicht das
Bose tun, weil's die Larve der Nuzlichkeit tragt, noch das Gute
verabsaumen, weil es seinen Neigungen widerstreitet. Der
Ateist ist ein besserer Burger, als der Fanatiker; er ist vertragli- 10
cher. Der Aberglaubische errichtet Auto-da-feen; der Ateist kan
und mag's nicht; iener glaubt den Andersdenkenden hassen zu
diirfen, weil er ihn der Holle wiirdig halt; dieser aussert mitleidi-
gen Stolz gegen den, dessen Meinungen er fiir einen Beweis
seiner Dumheit ansieht. Der Ateist sucht Proselyten zu machen,
weil es seinem Stolze schmeichelt, den andern eines Irtums
iiberfiirt zu haben; der Aberglaubige bekert aus heiligem Eifer,
aus Menschenfreundlichkeit und aus Pflicht; dieser klagt liber
das bose Herz des andern und bestraft ihn durch Verfolgung,
iener klagt iiber den schwachen Verstand des andern und ziich- 20
tigt denselben durch Spot und Verachtung. Der Fanatiker ist
alzeit ein Schwarmer; der Ateist ist immer zu kalt; dieser hat
weder grosse Laster, noch grosse Tugenden, iener zeichnet sich
durch beide zugleich aus. Die Menschenliebe des Fanatikers ist
eingeschrankt, aber feurig; die des Ateisten hat ihre Ausdenung
ihrer Kalte zu danken. Der Mut des Ateisten entsteht, unabhan-
gig von seinem System, bios aus der Starke seines Geistes; bei
dem Fanatiker ersezt nicht selten die Uberzeugung von seinen
Meinungen einen Teil des Muts, welchen ihm die Schwache
seines Geistes versagt. Die Hofnung des Paradieses entflamt den 30
Muhammedaner zu ieder kiinen Handlung, erfiilt ihn mit Blut-
durst im Schlachtfeld, und verbirgt durch ihre schone Gestalt
den Anblik der nahen Gefar vor seinen Augen - nur mit dem
Aug' eines starken Geistes sieht der Ateist ohne Beben das erof-
nete Grab, den schrekvollen Tod. Der Ateism entsteht aus
Starke, der Fanatizism aus Schwache der Sele; allein die Wirkung
RHAPSODIEN 293
von diesem ist Verdoplung, von ienem Verminderung des
Muts. Man kan eher den schadlichen Wirkungen eines Ateisten,
als eines Fanatikers widerstehen; iener handelt aus einem Eigen-
nuz, welcher zeitliche Vorteile zum Endzwek hat; er fiirchtet
den Tod; er sucht ihn zu vermeiden, sogar durch die Aufopfe-
rung seiner schazbarsten Vergnugungen; es giebt also eine
Strafe, die ihn von iedem Verbrechen abhalten mus - allein wer
wil den vom Laster abhalten, welcher sich durch einen Befel
Gottes zu seiner Ausiibung berechtigt glaubt, wer wil durch
10 Strafe das Verbrechen desienigen verhindern, welcher dafiir den
Himmel zur Belonung erwartet, und wer wil dem Schranken
sezzen, dessen Mut durch heitere Aussichten bis zur Kunheit
erhoben, dessen Standhaftigkeit durch die Hofnung auf iiberna-
tiirliche Einfliisse bis zur Unempfindlichkeit gestalt und in des-
sen Plan der Tod selbst als das sicherste Mittel zur Erreichung
seines Endzwekkes betrachtet wird? — Die Menschheit hat die
Schlage des Fanatizism tief genug gefult, der im Gewande der
Religion iedes Verbrechen des Ruchlosen begieng, der aus Be-
gierde nach dem kiinftigen Himmel die gegenwartige Welt in
20 eine Holle verwandelte, der seine Gestalt in den Jarbuchern der
Welt mit blutigen Ziigen gezeichnet hat. Der Glanz der Aufkla-
rung verscheucht dieses Geschopf der Finsternis; der Ateism
entsteht mit dem Anfange der Erleuchtung des menschlichen
Verstandes, er verschwindet bei dem Wachstume derselben;
man kan erst bei der Morgenrote der Vernunft auf seinen ver-
wirten Pfaden wandeln, und nur im Mittagsglanz den Ausweg
aus diesem Labyrinte finden. Allein welches ist nun von diesen
zweien Ubeln das groste? ist's Aberglaube, oder Ateism? Ich
antworte mit Voltaire: L'ateisme et le fanatisme sont les deux
30 poles d'un univers de confusion et d'horreur. La petite zone
de la vertu est entre ces deux poles; marches d'un pas ferme
dans ce sender, croies un Dieu bon, et soies bons. 1
1 Der Ateism und der Fanatizism sind die zwei Pole einer Welt vol
Verwirrung und Schrekken - Zwischen ihnen liegt die kleine Zone der
Tugend; wandelt auf diesem Pfade mit festem Schritte, glaubt einen
guten Got, und seid gut.
294 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
X.
Allerlei
Niemand fult das Unangeneme so inniglich, als der, den es selten
betrift. Die bestandige Freude, worinnen man schwebt, schliest
ieden Miston aus und niemand furchtet mer den Anblik der
Leiden, als der, welcher die schone Gestalt des Gliiks gewont
hat. - Man kan leichter einen Zustand ertragen, der immer der-
selbe bleibt, solt' er auch nicht ser wiinschenswert sein, als in
einem gliiklichen leben, den immer unangeneme Zufalle unter- 10
brechen. Jenen macht uns die Gewonheit ertraglich; diese ver-
doppeln ihre Schlage nach ihrer Seltsamkeit. Gewis, es giebt
Leidende, die deswegen ganz ungliiklich sind, weil ihnen noch
etliche Leiden felen; sie konnen sich nicht unter den Ruinen
ihres Gliiks verbergen, dessen stehende Halfte zu nichts als zum
traurigen Andenken der gehabten Freuden dient. Sie leiden die
Qualen des Prometheus; angeschmiedet an ihre Begierden, wer-
den sie vom Unglukke gemartert, welches an ihrer immerwach-
senden Hofnung frist. -
2. 20
Ein Obel ist dan am grosten, wenn es uns hindert, an seine
Heilung zu denken. - Schmerz ist das Gegenmittel des Schmer-
zens; er ist die Stimme der leidenden Natur, die um Hiilfe ruft
- sie ist tod, die Hiilfe komt zu spat, wenn er zu schweigen
anfangt. - Er lert uns gleichsam die Diat in unsern Freuden,
und giebt die geschwindeste Nachricht vom Dasein unsrer
Obel.
3-
Ein Schriftsteller sagt einmal: sich an seinem Feinde zu rachen,
heist die Vergehen andrer an sich selbst bestrafen. Konte man 30
nicht auch sagen: belone die stillen Tugenden, und die guten
Taten, die unbemerkt geschehen - und du nimst Anteil an ihrer
RHAPSODIEN 295
Ausiibung. Eine edle Tat belonen, heist die Ursache sein, daB
die geschehene eine andre erzeugt. Begiesse die Tugend, welche
ungesehen in der sandigten Wiiste des Menschenlebens hervor-
keimet; sie wird dir Schatten geben in der Hizze der Leiden,
und Friichte in der andern Welt! -
4-
Vielleicht ist's Gottes Absicht nicht, uns hier auf dieser Erde
durch das reine Licht der Warheit zu erleuchten; vielleicht wil
er nur durch einen Schimmer derselben den wissensbegierigen
10 Geist zu einem Gute anlokken, welches in iener Welt unsre gro-
ste Wollust ausmachen wird. Das Bose macht uns erst das Gute
fiilbar und der Irtum scheint oft der Weg zur Warheit zu sein.
Das Tier ist unter uns, weil es nicht irt; der Mensch ist gros,
wenn er die Warheit findet; allein er ist auch nicht klein, wenn
er sie nur suchet. - Wir sollen hier nicht die Warheit finden;
wir sollen sie hier nur lieben lernen. Die Begierde nach ihr erhalt
unsre Krafte in grosserer Tatigkeit, als der Genus derselben;
denn dieser erschlaft iede andre als eine unendliche Kraft.
5-
20 a. Herr *** mus ein gelerter Man sein. Er predigt eine Stunde
ex tempore weg, ohn' anzustossen.
B. Es komt ihm auch kein - Gedanke in den Weg.
6.
A. Mein Herr! Sie hatten vielleicht besser getan, wenn Sie
IhreDumheitenblos gedacht hatten, ohne sie drukken zu lassen.
Die Misgeburten gefallen nur dem Vater, der sie gezeugt hat.
b. Man mus auch leben; man kan nicht umsonst arbeiten.
A. Das heist wol, man kan nicht umsonst dum sein. - Es
ist auch nicht notig. Hatten gewisse Personen Ihren Verstand
30 kennen gelernt; gewis Sie waren zum Heiligen kanonisirt wor-
den; Sie haben wenigstens die notigste Eigenschaft dazu. Oder
noch besser - ein Patronus ecclesiae wiirde Ihre Verdienste mit
einer Pfarre belonet haben, wenn - -
296 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
b. Gut! ich kan es iezt noch eben so gut tun. Ich eigne meine
Schrift de haereticis puniendis dem Hern *** zu. Adieu!
A. Wunderbar! Must* ich gerade klug reden, urn diesen dum-
mer zu machen! Nichts giebt doch der Dumheit mer Narung,
als der Verstand des andern. —
7-
Diogenes suchte ehmals Menschen mit der Laterne, und fand
keine. Der Diogenes unsers Jarhunderts 1 suchte sie audi, und
fand - menschliche Masken.
Fluchet dem Manne nicht, dem seine Talente sein Falstrik ge-
worden sind! - Er ist gros gewesen, um euch aufzuklaren und
zu ergozzen, um sich s,elbst in Irtiimer zu stiirzen und aus seinen
Gaben seine Geiseln zu machen - er niizt euch, wie die Seide
des Seidenwurms , dem sein eigen Gewebe zum Grabe geworden
ist. Eret die Opfer fur die Menschheit! - Sie sind heilig, sie
verdienen eine Trane, die, welche durch ihren Fal die Abgriinde
des Irtums ausftillen musten, um fur die Nachkommen den Weg
zur Warheit ebner und sicherer zu machen. —
9. 20
Vielleicht ist unser Jarhundert tolerant gegen Meinungen, und
intolerant gegen Handlungen. Man darf iede Warheit frei sagen;
allein man darf nicht iede Tugend unverspottet ausiiben. Man
darf urteilen, ohne die Meinung des andern zum Wegweiser
zu haben; aber man darf nicht handeln, ohne den andern zum
Muster genommen zu haben - und wir haben das Joch der Sy-
steme abgeschiittelt, um die Bande des Wolstandes mit doppel-
ter Strenge zu kniipfen. Wir leiden alle Arten von Freigeister
[!], nur nicht alle Arten von Heiligen. Rousseau ware gewis
weniger verfolgt worden, wenn seine Handlungen nicht eben 30
1 In einem andern Betracht scheint Rousseau dem Antisthenes mer
als dem Diogenes zu gleichen.
RHAPSODIEN 297
so paradox wie seine Meinunge[n], und sein Herz nicht eben
so gros wie sein Verstand gewesen ware. -
10.
Man wil seine Feler von seinen Freunden erfaren; man irt sich
ser. Ihre Aufrichtigkeit geht wol so weit, daB sie uns die unbe-
trachtlichen Flekken unsers Karakters entdekken, die eben, weil
sie unbetrachtlich sind, mer unsrer Eigenliebe schmeicheln, als
unsre Besserung befordern - allein sie hiiten sich, uns die Feler
zu sagen, die wir nicht entschuldigen konnen, die ihren Entdek-
10 ker in den Verdacht der Schadenfreude bringen, und die, nicht
langst im Schosse des Stolzes gezeugt, von unsrer Eigenliebe
noch ihre Narung bekommen. Das Mittel von unsern Freunden
unsre Feler zu erfaren, ist, ihnen die ihrigen zu sagen; sie sind
dan zu stolz, um sich nicht auf gleiche Art zu rachen. Wer un-
serm Herzen zu nahe ist, der zeigt uns selten unsre ware Gestalt;
er ist ein Spiegel, den unser warmer Atem dunkel macht. -
Der Feind ist oft der treueste Kundschafter unsrer Mangel, und
zeigt durch Bellen unsre gefarlichsten Feinde an. Unsre Tugend
sagt uns der Busenfreund, der uns liebt; unsre Laster der Feind,
20 der uns hast - beide sagen zuviel; allein dan ist es leicht, die
Warheit zwischen entgegengesezten Liigen zu finden. -
ii.
Der Termometer unsrer Begierden ist im Blut, der Barometer
unsrer Denkungsart im Unterleibe, der Zeiger, ob unser Ver-
stand richtig geht, im Gehirn, und das Register unsrer Handlun-
gen auf dem Gesichte.
Ein wolgebildetes Gesicht ist der Lobredner unsers Herzens;
es vertrit die Stelle unsrer Zunge, und last dem andern das sehen,
30 was er eigentlichhoren soke. -Wer eineschlechtePhysiognomie
hat, der ist durch sein ganzes Leben an den Pr anger gestelt -
ieder liest das Verzeichnis seiner Feler, welches die Natur mit
unverkentbaren Zugen auf sein Gesicht geschrieben hat. Die
298 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
aussere Bildung ist nicht selten die Satyre auf die unsichtbare
Sele.
13.
Der Glanz des Rechtschaffenen leuchtet dem Bosen, seine eigne
Haslichkeit zu sehen. Darum flieht er ihn, sucht die Nacht, und
fiirchtet kein Gespenst mer als sich selbst.
14-
Das Gliik zeigt uns meistens die Haslichkeit der kleinen Geister,
da wir vorher nur ihre Niedrigkeit bemerkten. Die guten Tage
bringen die Laster an das Licht, welche der schwache Kopf in 10
seiner Niedrigkeit nur gedacht hatte; so wie die Sonnenwarme
die Insekten ausbriitet, welche der Frost noch unbelebt und ver-
borgen hielt.
15-
Einem schwachen Kopf ist eine hohe Stufe der Ere die groste
Schande. Seine Kleinheit wird iezt lacherlich, weil sic sich mit
dem Grossen vereinigt; und sein Verdienst sizt auf seiner Eren-
stelle, wie ein Zwerg auf dem Berge Piko. Der kleinste Wind
des Tadels und der Verlaumdung wurde das Tiergen von seinem
Trone herunterblasen, wenn es nicht in unsrer sublunarischen 20
Welt die Mode ware, daB sich das Kleine am besten in der Hohe
erhalt. Der Grosse versucht umsonst seine Starke gegen den
Kleinen; kein verdienstvoller Man hat noch einen mit Gold und
Ere bedekten Dumhng gestiirzt - der Sturm kan nur die Zeder,
aber nicht das Mos zusammenbrechen. -
16.
Die Erentitel, womit man die Menschen behangt, sind ein enges
Gewand, welches unsre Torheit hindert, nach Gefallen Sprtinge
zu machen. Die Biirde, die man tragt, drtikt zu ser, als daB
man einige Schritte aus dem betretenen Weg des Wolstandes 30
weichen konte, um ein Blumgen der Freude auch ausser der
Herstrasse zu pfliikken. Der Mensch ist gluklicher, wenn er
RHAPSODIEN 299
die Torheiten tun darf , welche er selbst wil, als wenn man ihn
zu solchen zwingt, die er nicht begert hat. -
Wer viel Ere hat, der kan sie nicht leicht verlieren; sie ist
zu schwer, als daB er sie abschutteln konte - allein ie weniger
man Ere hat, desto ungehinderter ist der Weg zu ihrem Verlust.
Im erstern Fal verliert man viel; ie weiter der Weg von unsrer
Ere zu unsrer Schande ist, desto tiefer fallen wir vom vorigen
Gipfel des Rums in den Schlam der Verachtung hinein. Im zwei-
ten Fal hat man gerade so wenig Ere, als notig ist, um sie ohne
10 Schande verlieren zu konnen. -
17.
Warum giebt's noch so wenig Philosophic? - deswegen, weil
ieder nur die seinige geltend machen, nur der seinigen Ausbrei-
tung verschaffen wil. Wer denkt und wer nicht denkt, beide
hindern den andern, selbst zu denken; der eine wirft uns das
Joch seiner Gedanken, der andre seiner Worte um den Hals;
der eine wil uns mit seiner Weisheit, der andre mit seiner Dum-
heit beherschen - beide pflastern in unserm Gedachtnisse nur
Einen Weg zur Warheit, damit unser Verstand nie einen andern
20 als den ihrigen gehe. - In unserer Kindheit macht uns ieder
zu den Behaltnissen seiner Dumheit oder Weisheit; dadurch
werden wirim reifern Alter genotigt, vorher die Gedanken and-
rer herauszuwerfen, ehe wir die unsrigen einsamlen und aufbe-
waren konnen. Warum versezt man uns aber in die grausame
Notwendigkeit, an allem zweifeln zu mussen, da wir derselben
iiberhobensein konten, wenn man uns weniger Gedanken, aber
mer denken lerte, wenn man uns weniger mit Antworten befrie-
digte, und mer zu Fragen reizte, und uberhaupt uns alzeit nur
die Rechnung aufgabe, ohne das Fazit zu sagen? - Wir solten
30 nicht die Kinder unterrichten, sondern sie gewonen, sich selbst
zu unterrichten; wir solten nicht Philosophic, sondern philoso-
phiren leren; wir solten uberhaupt die Kunst lernen, den andern
erfinden zu leren. - Freilich ist's leichter, einen Blinden an der
Hand fiiren, als ihn fahig machen, seinen Weg selbst zu finden,
und es macht weniger Beschwerde, dem andern etwas Gutes
30O JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
zu sagen, als zu verursachen, daB er es uns sage. Warum haben
wir so wenig Originale? deswegen, weil ieder den andern zur
Kopie von sich macht - warum denken so wenige? nicht deswe-
gen, weil der Mensch nicht denken mag, sondern weil es ihm
schwer fait, anders zu denken, als man ihn denken gelert hat
- und warum erfinden so wenige? deswegen, weil man die alten
Irwege so tief im Gehirne banet, daB dem Verstande, welchen
man in denselben zu gehen zwingt, von alien Seiten iede freie
Aussicht auf einen andern Weg unmoglich gemacht wird. So
wie man uns in der Kindheit zu Christen macht, damit wir 10
als Manner Heuchler sein konnen; so lert man uns eine Weisheit
in der Jugend, die nichts als unsre Dumheit im Alter befordert.
- Nur der Skeptiker ist der beste Lerer der Philosophic, allein
nur fur die, welche Philosophen werden konnen, nicht fur die,
welche sich bios so nennen wollen. Der philosophische Geist wird
sich alsdan mer ausbreiten, wenn es weniger Pedanten, Demon-
stratoren und Gelerte geben wird. -
18.
Erentitel, Ordenszeichen und dergl. Zierraten hangen in solcher
Anzal urn den grossen Man herum, daB man an ihm fast nie 20
den Menschen sieht. Dieser Flitters tat sol die dunkeln Flekken
des Menschen liberglanzen und zum bunten Kleide seiner
Schwachheit dienen - man erreicht auch dadurch den Endzwek,
daB wir von iedem beriimten Manne nichts als seine Kleidung
sehen. Sein Biograph sah ihn da, wo ihn alle Menschen sahen;
beobachtete die Handlungen, die er vor Zuschauern ausiibte;
malte sein Gesicht mit den Farben, die er seinem moralischen
Puztische zu danken hatte, und nam von seiner Paradekleidung
das Mas zur Grosse seiner Sele ab. Dies ist die Ursache, warum
die meisten Biographen so einformig, so ler an psychologischen 30
Bemerkungen sind. Nur der Freund eines beriimten Mannes
ist fahig sein Biograph zu werden; denn er sah ihn da, wo er
mer Mensch als Burger war, wo er sich eine Torheit zur Erho-
lung erlaubte und wo er seine Mangel nur mit dem Schlafrokke
bedekte. - Wir kennen mer den Kopf, als das Herz beriimter
RHAPSODIEN 3OI
Manner: denn ienen haben sie in ihren Werken gezeichnet, dieses
nur in ihren geheimen Handlungen abgebildet. Rosseau wird
diesen Mangel durch seine eigne Lebensbeschreibung ersezzen,
deren Ausgabe man erwartet - vielleicht fiigt er seinen iibrigen
Paradoxen noch das groste hinzu, sich durch Feler liebenswiir-
dig gemacht zu haben.
Die Freude ist eine Schdne, der man uberdriissig wird, wenn
man immer ihr lachendes Angesicht sieht - hingegen werden
10 ihre Reize ihre Annemlichkeit behalten, wenn sie zu gewissen
Zeiten in den Flor einer siissen Schwermut verschleiert wer-
den. -
20.
Fur Liebende
Unsern Torheiten haben wir den grosten Teil unsrer Freuden
zu danken - ist's nicht vielleicht mit der Liebe auch so, die den
schonsten Teil unseres Lebens mit so vielen Reizen iiberstreuet?
Man kan nicht iiber die Liebe urteilen, wenn man sie ftilt; weil
man zu giinstig von ihr urteilt - allein der kan eben so wenig
20 iiber den Wert einer Empfindung urteilen, der ihrer nicht mer
fahigist, undder sich den Mangel dieses Guts durch die Verach-
tung desselben ertraglich zu machen sucht. - Wenn alles die
Grosse des Menschen beweist, so scheinen mir seine Freuden
ein Beweis seiner Kleinheit zu sein - die meisten sind Torheiten,
und nur ihr Genus verbirgt uns ihre Gestalt - in dieser Welt
sind wir Kinder, und unsre Beschaftigung ist spielen. Allein
wir sind gliiklich - dies ist genug, fur dieses Leben genug; wir
wollen daher nicht durch Untersuchungen iiber die Freuden ih-
ren Genus verabsaumen [usw. wie S. 304,18-305,15]
30 21.
Was ist das Leben? - Verzeiht, Freunde! wenn ich glaube, daB
es wenig ist. Jenseits des Grabes ist das eigentliche Menschenle-
ben - hier ist nur Traum. Wie weit kommen wir mit al unsrer
Tugend, unsrer Weisheit, unsrer Selbstvervolkomnung? die be-
302 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
sten Menschen riikken ein wenig fort, die andern bewegen sich
unmerkbar. Wir sollen hier spielen, und uns durch Torheiten
die Zeit unsrer Kindheit vertreiben - wir sollen einmal Gebaude
unsers Wissens auffuren, aber hier vorher uns an Erbauung klei-
ner Kartenhauser (iben - wir sollen einst die gotliche Tugend
umarmen, allein sie hier vorher mit den Puppen unsrer Morali-
sten, und unsers eignen Herzens verwechseln - diese schone
Welt sol mer unsre Freude als unsre Kentnis befordern, und
unser Got sol mer von uns als Vater, und weniger als unendlicher
Geist gedacht werden - denn wir sind Kinder. Dieses macht
den Gedanken des Grabes so angenem, diesen Gedanken, den
weder der Aberglaubige, noch der Leichtsinnige, den weder
der Philosoph, noch der Teolog, den bios der Mensch recht
denkt. Shakesp ear schemtihn recht gedacht zu haben; er erschut-
tert uns, wenn er davon spricht - man lernt den Tod kennen,
wenn man seinen Monolog im Hamlet hort. Man iiberschaut
nur auf dem Hiigel des Grabes dies unbedeutende Menschenle-
ben ganz - die Leiden verschwinden, das Grab bedekt sie - die
Torheiten sind ohne Wert, sie sterben mit dem Korper - die
Gewebe unsrer Weisheit zerreist die Hand des Todes und al
der Pomp der berumten Toren zerflattert wie ihre Asche, zum
Sonnenstaub. Nur du, gute Tugend, begeistere meine Brust;
ohne dich verweset sie schandlich - und verbreite deinen Glanz
bis in [die] dikken Finsternisse des Todes! Und, wenn du iezt
nur Schimmer bist, an deiner Hand geht doch das furchtsame
Kind mit weniger. Zittern durch das Tal des Todes, welches
so furchterlich ist, weil's so unbekant ist. - Verzeihet diese Aus-
schweifung am Ende! !
User die Liebe
Wenn alles die Grosse des Menschen beweist, so scheinen seine
meisten Freuden seine Kleinheit zu beweisen. Die meisten sind
Torheiten; allein ihr Genus verbirgt ihre Gestalt. Wir wandern
von einem Spielzeug zum andern und der Man und der Knabe
reiten beide auf Stekkenpferden, nur nicht auf denselben. Wir
urteilen alzeit weise iiber das Vergangene, und alzeit schlecht
iiber das Gegenwartige; eben so halt ieder mit Recht seine ver-
gangnen Freuden fur Torheiten, und mit Unrecht seine gegen-
10 wartigen fur verniinftig. Es komt nur darauf an, uns unsre Freu-
den in einer gewissen Entfernung der Zeit zu zeigen - wir
werden sie dan iibersehen, und ihre ware Gestalt fassen konnen,
wenn sie uns der Abstand der Zeit kleiner vorstelt. - Entfernt
die Freuden vorher von unsrer Zunge, und dan wird sie unser
Auge sehen. Wozu dieses alles? um zu beweisen, daB es sich
mit der Liebe vielleicht eben so verhalte - diese Liebe, die iiber
unsre Leidenschaften eine grossere Gewalt als die Vernunft aus-
iibt, die die ganze Welt zu ihrem Tempel, und ieden Menschen
zu ihrem Anbeter macht, die dem Weisen seinen Verstand raubt,
20 und dem Feigen seinen Mut wiedergiebt, die gefalt, wenn man
sie verflucht, und deren Leiden so siis sind, wie ihre Freuden,
die die Tugend in ein wollustigeres Gewand kleidet und das
rauhe Laster mit mer Menschlichkeit umgiebt, die die Freuden
des niedern Standes von dem Mangel, und die Vergniigungen
des hohern von der Langweile befreit, und die den Menschen
zum Engel, und die Welt zum Paradies verwandelt. Ja! meine
Freunde! diese Liebe scheint auch eine Torheit zu sein - Aber
fragt nicht den gliihenden Jiingling, was sie ist? Man kan iiber
das nicht urteilen, was man geniest - der Jiingling hat seine
30 Vernunft auf ihrem Posten eingeschlafert, um freier herumge-
hen, und ungehinderter die Bliimgen der Freude auch im Lande
der Torheit pfliikken zu diirfen. Fragt auch nicht den Greisen,
304 . JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
dessen Empfindungen mit seinem Blute gefroren sind und des-
sen Warme sich zu seinem Ich auf einen Punkt zusammengezo-
gen hat, urn nicht, wie Feuer, den andern sanft zu warmen,
sondern wie ein gliihender Funke, bios die Hand des andern
zu verbrennen. Dieser kan nicht sagen, was die Liebe ist; er
hat es lange vergessen, was sie war; er begreift ihre Moglichkeit
nicht mer; er halt sie fur ein Laster, oder fur eine Dumheit.
Aber fragt den Weisen, der gliiklich genug war, sie zu empfin-
den, und weise genug, sie zu denken; der ihre gute Seite in
ihrem Genus, und ihre schlechte nach demselben kennen lernte;
der seine Vernunft in der Jugend, und in dem Alter seine Warme
behielte - was wird der von der Liebe sagen? Dieses: sie ist eine
Torheit; aber sie tnacht gluklich - o! schone Zeit, wo der Arm der
Liebe noch die Vernunft zu angenemen Traumen einwiegtel — Und
ist dieses nicht genug fur dieses Leben, wo der Mensch ein Kind
ist, und seine Beschaftigung spielen? Last uns daher nicht durch
Untersuchungen iiber die Freude ihren Genus verabsaumen,
noch durch das Mikroskop der Vernunft an iedem schonen Ge-
genstande die unsichtbare Haslichkeit entdekken - aber last uns
auch denken, wenn wir nicht mer geniessen konnen, und die
Torheiten untersuchen, die fur uns ihren Reiz verloren haben. 1
Und du, Jungling, liebe, wenn dein Herz zur Liebe gebildet
ist, und sei eine Zeitlang ein Tor, um gluklich zu sein. Freue
dich so lange, als du die Beschaffenheit deiner Freude nicht kenst
- heg' einen Irtum, der dich beglukt, und flieh' eine Warheit,
deren Entdekkung der Verlust eines Gutes ist. Allein hike dich,
die Lebhaftigkeit deiner Liebe fur ein Zeichen ihrer Dauer zu
halten. Ach! dieses Feuer verlischt mit der Rote auf den Wangen
- die Liebe wird alt wie der Korper, grau wie das Haupt - das
Herz, welches mat fur dein Leben schlagen wird, wird noch
matter fur deine Geliebte schlagen - deine Neigungen werden
die Kalte annemen, die dein Blut iibereist, du wirst auf den
andern die Haslichkeit iibertragen, die deine eigne Gestalt ver-
unziert, und mit dem lezten Funken Liebe nur noch dein eigen
1 Es ist unnotig zu sagen, da(5 man dieienigen Freuden fur keine Tor-
heiten halten kan, die aus Tugend und warer Weisheit quellen.
RHAPSODIEN 305
Ich erwarmen, bis audi ihn die kalte Erde ausloscht und Liebe
und Gegenliebe von dem Sarge verschlossen wird, der uns un-
sern Freunden entreist. - Denk' an dies, so wirst du weniger
toricht sein, und nie das ewig machen, was eher als dein Korper
aufhort. - Wenn du liebst, so erinnere dich, daB du einmal nicht
mer lieben wirst - alsdan wirst du am andern die Torheiten
nicht darum verspotten, weil sie nicht die deinigen sind, noch
ihn einen Kalten schelten, weil er fur keine Geliebte brent -
alsdan wird deine Liebe eifrig sein one Ungestum, und nur die
Opferfordern, dieihr [die] Vernunft nicht versagt. Tranen wer-
den ihre Glut in sanfte Warme verwandeln, eine siisse Schwer-
mut wird ihre Entziikkungen umschleiern, und eine heilige
Freundschaft endlichihre Stelle einnemen. - Und dan wird nach
diesem Leben deine Geliebte deine Freundin sein, und ihre
schone Sele auch one den schonen Korper geliebt werden. —
Bruchstuck aus einem Aufsatz user Leben und Tod
[ ... In dieser Einsamkeit, wo unser Weiser den] unbegreifli-
chen Schopfer in seinem ersten und schonsten Tempel anbetete,
wo ieder Gegenstand seinen Geist zur Betrachtung oder sein
20 Herzzum Empfinden reizte, wo ihn der Frilling an den Himmel
und der Herbst an das Grab erinnerte, wo ihm der Vogel sein
Grablied sang, und der Bach seine Seufzer wiedermurmelte -
in dieser Einsamkeit schlich oft der Gedanke an das Leben, und
an den Tod, durch seine Sele. Er hatte oft genug gedacht, um
iiber gewisse Dinge nicht wie andre zu denken, und sich oft
genug geirt, um selten zu entscheiden und oft zu zweifeln; des-
wegen dacht' er das Grab weder wie ein Theolog, noch Philo-
soph, weder als ein Aberglaubiger,. noch Leichtsinniger; er
dacht' es wie ein Mensch. 1 An einem Abend, da der Gedanke
3° * Dieses ist kein Wortspiel. Der gewonliche Theolog giebt dem Tode
die furchterliche Gestalt, die er in der Bibel von ihm zu finden glaubt;
306 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
an die Ungewisheit der menschlichen Bestimmung seine ganze
Sele erfiilte, verlor er sich von seinem Weg. Er irte herum, aber
er sezte seine Betrachtungen fort, denen die Stille der Nacht
soviel Narung, und ihre Dunkelheit etwas Feierliches ver-
schafte. Er sah etwas Weisses durch das Gebiische blinken. Er
gieng hin. Es war ein Grabstein. Er las: Dieser Stein ist die Tur,
die den Eingang in's Land der Finsternisse ofnet. Und unten am
Steine stand: Der ist weise, der den Tod sieht eh' er ihn fiilt. -
Diese Worte fielem dem Weisen auf s Herz; er sezte sich auf
das Grab; Empfindungen und Gedanken wechselten ab; er hielte
folgendes Selbstgesprach: »Leben! Tod! das eine hab' ich, den
andern erwart' ich - ich kenn' aber keines. Finster wie diese
Nacht ist meine Sele - Got! der du meinem Geist ein Augc
gabst zum Sehen; warum schufest du nicht auch eine Sonne
zum Leuchten? Es ist alles finster, in mir, neben mir - doch
nein, es ist nur dammernd: denn ich seh' ia Gestalten von Syste-
men und Meinungen vorbeigehen. Was ist das iezzige, was das
zukiinftige. Leben? [abgebrochen]
und der Aberglaubige dieienige, die ihm seine erhizte Phantasie malt
- der schlechte Philosoph sieht den Tod schon, [Schluss fehlt]
So Shakespear in seinem .bekanten Monolog. Wer da die Warheit
dessen, was ich gesagt habe, nicht fiilt, der fiilt sie nie. -
DAS LOB DER DUMHEIT
VORREDE
Ich, die Dumheit, neme bald diese bald iene erwiirdige Gestalt
an, um mich alien Menschen in der besten zu zeigen; allein ich
gefalle alzeit nur denen, die mich in der ihrigen sehen, weil
ieder bios die Dumheit schazt, welche der seinigen am anlichsten
ist. Bald glanz' ich in dem polirten Hofling, der, gleich einem
Gemalde, alle seine Verdienste auf der Aussenseite tragt, der
seinen Verstand durch seinen Rok bekomt, und durch die Erhe-
bung der Feler des Machtigen Belonung fur die seinigen erhalt
- Bald kriech' ich in das finstre Gehirn eines Schulphilosophen, 10
mache Sekten durch meine Unverstandlichkeit, demonstrire
den Unsin durch Schlusse und in Paragraphen, und ersezze
durch den Tiefsin auf dem Gesichte den Mangel desselben im
Gehirne - Bald borg' ich den schonen Korper eines Frauenzim-
mers, lasse mich bewundern, anbeten und bedichten und mit
alien den Geistesgaben versehen, die man ieder Schonen gegen
den Genus ihrer Schonheit willig zuschreibt - Bald sing' ich
aus der diirren Gestalt eines Poeten, der seinen Gonner an dem
Geburtstag desselben mit alien den guten Eigenschaften iiber-
schuttet, die er im vorigen Jar noch nicht gehabt hat - Bald 20
bin ich der Gonner selbst, der dem Dummen das Lob der Dum-
heit bezalt - Bald komm' ich von oben herab und senke mich
in einen Geistlichen, dessen Gestalt ich aber nur am Sontage,
wie andre Leute ihre Sontagskleider, anziehe. Allein alle diese
Verwandlungen verschaffen mir immer nur andre, niemals me-
rere Bewunderer. Um also diesem bestandigen Wechsel von
Lob und Tadel auszuweichen, wil ich durch eine Rede beweisen,
dar3 ich die Woltaterin der meisten Menschen bin, und daB es
dieselbe Dumheit ist, die in der abgelebten Heiligin und im mo-
dischen Dichter seufzet, die den Unsin im alten Theologen 30
durch Sp niche, und im Schulpedanten durch Schlusse beweist,
und die im Kandidaten die Amter bekomt, welche sie im Gonner
DAS LOB DER DUMMHEIT 309
verteilt. - Mochte doch ieder der Dumheit die nachste Bewun-
derung und Liebe nach der seinigen schenken! so war' ich so
gros, wie Themistokles, den ieder seiner Krieger fur den tapfer-
sten nach sich hielt. -
Man verwechsele meine Lobrede auf mich nicht mit Erasmus
Lobrede auf die Narheit. Denn die Narheit ist von mir genau
unterschieden, und wird erst durch die Vermischung der Weis-
heit mit mir gezeugt, wie der Maulesel durch die Vereinigung
des Pferdes mit dem Esel. Daher liebt ein Dummer einen Dum-
io men mer, als einen Narren. Obrigens wiird' ich ienes Buchs,
das lateinisch und sogar nicht einmal in diesem Jarhundert ge-
schrieben ist, nicht gedacht haben; wenn es nicht durch [eine]
neue Ubersezzung unter Gelerte und Ungelerte gekommen
ware. -
Ich habe mich ser gehutet, tiefsinnig zu scheinen, oder gar
verminftig anstat galant zu sein, weil ich auch fur die Damen
schreibe, bei denen man wol schone, aber keine scharfsichtigen
Augen voraussezzen kan.
Man wird sich wundern, dafi die Dumheit Schriftstellerin
20 wird; allein man hatte mer Recht sich zu wundern, wenn die
Weisheit Schriftstellerin wiirde.
Ich mag diese Vorrede zu keinem demiitigen Busgebet an
die litterarischen Richter machen - als Dumheit bin ich immer
reich genug, mir bei den gelerten Ablaskramern Vergebung fur
vergangne und zukunftige Siinden zu erkaufen. -
Ich hatte noch Allerlei zu sagen, was nicht hieher gehort; allein
ich wil nur das sagen, was wirklich hieher gehort, namlich daB
sich der ganzen gelerten Republik empfielt die
Dumheit.
Das Lob der Dumheit
Euch, ihr neun Musen, bei denen ieder Dichter um die Narheit
bettelt, welche ihm sein Nervensaft, sein Wein oder seine Ge-
liebte in zu kleinem Masse erteilt, euch ruff ich nicht an, mich
zu meinem Lobe zu begeistern: denn ich hasse, wie ieder Gelerte
von achter Antikheit, alles Schone und Deutliche, und schazze
den Unsin am meisten, der auf gelerten Fiissen daherstolpert.
Aber euch ruff ich an, geerte und machtige Dumkopfe von
A bis Z herab, die ihr meine achten Sone, und nur darum Men-
schen seid, um die andern von der Aufklarung zu erlosen; die 10
ihr mich durch die Kunst, die Dumheit mit der Weisheit zu
naren, noch (ibertreffet, und eure Ere bios deswegen mit einem
Anschein von Vernunft beflekt, um die meinige zu erhalten;
die ihr aus iedem Feinde der Dumheit cincn Fcind Gottes macht,
und bald das Unverstandliche durch unverstandliche Worte de-
monstrirt, bald das Widersprechende durch theologische Be-
weise beweiset — Befeuert mich iezt zu meinem Lobe, wie
ich euch oft zu dem eurigen befeuert habe, giest in mich alle
den Stolz aus, der nirgends als in euren Verstandleren Kopfen
Raum genug findet und lert mich eure Kunst, heilig und tiefsin- 20
nig zu scheinen, one es mer als ihr zu sein! !
Wenn die Achtung, die uns andre erzeigen, uns mit einer
noch grossern fur uns selbst erfiilt; wenn sich ieder Nar unter
den Narren noch schazzenswerter findet und ieder Dumme
durch seine Freunde desto mer sein eigner wird: wie ser mus
ich mich vereren, wenn ich die Menge derer (iberschaue, die
mich vereren, und wie leicht mus mich dieser Stolz fahig ma-
chen, ihm noch merere Narung zu verschaffen! Meine vorige
Anruffung gleicht also den gewonlichen in Gedichten nicht:
denn sie ist nicht unnotig. Eben durch sie stelt' ich mir die 30
Menge, die Macht und den Rum aller meiner Vererer vor, und
DAS LOB DER DUMMHEIT 311
sezte mich in das Feuer, das ich notig habe, um andre fiir mich
warm zu machen.
Da ich kein Gedicht verfertige, d. h. niemand grillenmassig
in den Schlaf singen wil, und da ich so weit gekommen bin,
daft ich anfangen kan, so wil ich anfangen - und wir wollen
also, meine Freunde, mit einander, one fernere Weitlauftigkeit,
dem Beweis unsrer Sache naher kommen und erstlich den Nuz-
zen im Algemeinen betrachten, den ich den Mensche[n] ver-
schaffe, und dan unsre Aufmerksamkeit auf die Vorteile richten,
10 die ieder besondre Stand der Menschen mir zu danken hat; wo
ich zugleich zur Vergrosserung meines Lobs der Ere, die mir
durch den Zusammenhang mit sovielen gar beriimten, gelerten
und frommen Leuten zu Teil wird, Meldung zu tun nicht er-
mangeln werde. -
Ich gebe das, was die Arzte selten geben, aber wol mit eigner
Geschiklichkeit und besondrer Methode nemen konnen - die
Gesundheit. Dieses kont' ich so demonstriren, wie man sonst
zudemonstrirenpflegt. Ich konte namlich aus der Abhangigkeit
des Korpers von der Sele, und umgekcrt, ser leicht dartun, wie
20 ser das Denken schwache, und wie ser die Dumheit starke; wie
die, mit ieder Tatigkeit der Sele verbundnen, Bewegungen im
Gehirn, den Nervensaft von andern Teilen des Korpers nach
dem Kopfe zu reizen, und wie eben dadurch vielerlei Ubel ent-
stehen. Allein ich befurchte, des selenverderblichen Materia-
lismi beschuldigt zu werden, wenn ich von dem Zusammen-
hange zwischen der Sele und dem Korper mer als nichts denke.
Ich wil aber auf eine andre Art zeigen, daB die Dumheit die
langgesuchte Universalmedizin gegen alle Krankheiten sei. Be-
trachtet den gliiklichen Sterblichen, dessen Magen nie durch
30 den Kopf an der Verdauung ist gehindert worden, und der sei-
nen Nervensaft nie zur Befruchtung irgend eines Gedanken ver-
schwendet hat - sein Korper ist das Bild der Gesundheit. Man
sieht zwar auf seinem Gesichtekein Verzeichnis von tiefsinnigen
'Gedanken; allein eben darum auch keine Spuren der verwiisten-
den Sele. Er versteht die Kunst, zu hungern, zu essen und zu
verdauen: denn sie ist seine einzige, wenigstens die einzige, an
312 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
welcher seine Sele Anteil nimt. Sein Kopf ist keine Werkstatte
der Gedanken; aber eben darum auch keine der Schmerzen. Er
kentienes Ubel, die Hypochondrie, nicht, welche den Gelerten
aller der Freuden beraubt, die er vorher zu verachten schien.
Die Reizbarkeit seiner Nerven ist weder so klein, daB sie ihn
gegen den Genus der sinlichen Vergniigungen gleichgultig
macht, noch so gros, daB sie iede lebhafte Wollust in empfindli-
che Schmerzen verwandelt. Stellet neben dieses Bild das Bild
des Weisen. Man sieht es ihm an, daB er eine Sele hat: denn
es ist oft zweifelhaft, ob er einen Korper hat. Dieser Korper 10
hat sich im bestandigen Dienste des Geistes aufgerieben und
scheint durch seine Abname sich der Unkorperlichkeit des We-
sens zunahern, das in ihm denkt. Das Gesicht wird von Runzeln
durchschnitten, diesen Narben iedes Streiters gegen die Dum-
heit, und der Kopf, gleichsam schwer von vielem Wissen und
angefult von den geraubten Kraften der (ibrigen Glieder, neigt
sich gegen die Erde. Wenn der Weise spricht, so hort man ihn
so wenig, daB man ihn allemal misverstehen mus. Dieienige
Malzeit, die bios eine fur seinen Korper ist, ist ihm die muhsam-
ste Beschaftigung, und seinem Magen felt alles Feuer zum Ko- 20
chen, weil es sich in seinem Kopfe befindet. Das Feuer seines
Geistes, das, wie das Feuer der Vestalinnen, nie ausloscht, lekt
nach und nach alle seine Safte auf, und seine Sele und sein Korper
uberlebenendlich gleichsam das Leben, so daB iene die Weisheit
einer abgestorbnen Sele, und dieser die Magerkeit eines abge-
storbnen Korpers erhalt. - Man sieht nun ein, wie ser ich die
Gesundheit befordere; aber man sieht auch, wie undankbar die-
ienigen gegen mich sind, die meine Arbeit von dem Arzt zersto-
ren lassen, oder ihm das danken, was er selbst mir danken
mus. - 30
Eine Ausschweifung, die eigentlich nur eine zu sein scheint,
wird dem Vorigen neue Starke und meiner Gestalt neuen Glanz
verschaffen. - Man streitet schon lange iiber die in iedem Be-
trachte wichtige Frage: wie der Genus ienes bekanten Apfels*
die physische Ursache von den Krankheiten des menschlichen
Korpers sein konne. Da es weder moglich noch theologisch
DAS LOB DER DUMMHEIT 313
war, diese Sache durch Griinde auszumachen: so muste man
sich auf das Traumen legen. Allein es wurde auch dadurch nichts
bewiesen und als war festgesezt, weil nicht alle Traumer einerlei
getraumt hatten. Mir bios ist die Auflosung dieser theologischen
Frage aufbehalten worden. - Der Baum des Erkentnisses des
Bosen und Guten ist, wie die Benennung selbst anzeigt, die
Fahigkeit zu denken, oder die Wissenschaften. Wenn nun gesagt
wird, daB Eva 1 von einem Apfel dieses Baums gegessen habe,
so heist dies unfigiirlich also: sie fieng an iiber das summum
10 bonum, den Zankapfel aller Philosophen, nachzudenken und
also die heidnische Philosophey zu treiben. Die Schlange, wel-
che Evam zum Denken verfurte, mag dieienige gewesen sein,
welche nachher das Bild der Pallas Polias auf der Akropolis zu
Athen beschiizte. Dieses wird warscheinlich, wenn man mit
dem heil. Bernhardo annimt, daB der Luzifer, oder diese
Schlange auf den Berg des Erkentnisses geflohen sei. Diesen
Berg nanten die blinden Heiden den Parnassus. Also das Den-
ken, zu welchem die Menschen durch den Apollo, oder Asmodi,
durch die Musen oder Teufel - welches im Grunde einerlei ist
20 - sind verfiirt worden, ist die Ursache von alien den Krankhei-
ten, deren Anzal durch nichts als die Dumheit verringert wird.
Diese Erfindungen liessen sich in einer Inauguraldisputazion
zum Nuzzen aller lebenden Christen, mit aller iiblichen Weit-
lauftigkeit ausfuren und mit alien den Zitazionen begleiten und
verschonern, die ich hier auslasse, weil ich nicht gleich dieieni-
gen finden kan, die sich nicht hieher schikken. - Folgendes wird
den Einflus der Dumheit auf die Gesundheit noch deutlicher
dartun. Warum sind die Tiere so gesund? weil sie noch weniger
1 Sogar in der Geburt der Pallas find' ich einige Anlichkeit mit der
30 Schopfung der Eva. Jene entsprang aus dem Haupte des Jupiters - diese
aus der Seite des Adams, und wie diese den Adam, wider der Weiber
Weise, zum Denken verfiiret hat, so wird iene, als die Gottin der Weis-
heit, one Zweifel auch den Jupiter dazu verfiirt haben. Diese kleine
Anlichkeit der heidnischen und heiligen Geschichte bestatigt gar deutlich
dieMeinung einiger Theologorum, daB die alten Philosophi und Poetae
ihre Weisheit aus den, in der ganzen Welt bekanten und gelesenen,
Biichern der Juden geschopft haben.
314 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
denken, als dieienigen Menschen, die sich am meisten mit ihnen
beschaftigen. Warum die Wilden? weil sie noch im halben
Stande der Unschuld leben, und, gleich andern heiligen Man-
nern, die nach eben diesem Stande trachten, keine Gedanken
haben. Warum die Mdnche? weil sie immer beten, Messe lesen,
predigen und desgleichen. - Ein dikker Bauch ist bei vielen eine
Wirkung meines giitigen Einflusses; daher ist er einem gewissen
Stande vorziiglich eigen; daher hat Shakespear mit Recht gesagt:
voile Wanste pflegen lere Kopfe zu haben. Dieses sieht man
auch an den unberiimten Mannern, die in beriimten Amtern 10
stehen. Ihr Korper nimt zu, weil sie aufgehort haben, ihres Amts
wiirdig zu sein, seitdem sie es bekommen haben, und weil sie
alle die Verdienste verloren haben, die man an ihnen belont
hat. In ihrem Amt, in welchem sie um alle den Verstand kom-
men, den sie in demselben brauchen, wird ihre Gehirnmasse
so klein wie die eines Straussen, deren hundert erst eine Abend-
malzeit fur den Heliogabalus ausmachten; allein rechnet ihr da-
fur ihren Wachstum an - Fet nicht? Wer also in seinem Amte
gleichsam auf Mastung stehen wil, der mus seiner Sele ieden
Gedanken, ieden scharfen Blik verweren; eben so macht man 20
die Vogel am fettesten, wenn man sie blendet. Wenn man noch
nicht einsieht, daft das Nichtdenken mit zur Diat gehort: so
frage man den Arzt; unter den vielen Diatsregeln, die er giebt,
ist diese die einzige, die nicht erdichtet ist, die er selbst beobach-
tet. -
Ich erhalte nicht bios die Gesundheit des Korpers, ich erhalte
auch die Gesundheit der Sele. Denn erstlich, ich mache den
Menschen heilig, d.h. ich zeige ihm den leichtesten Weg", in
den Himmel zu kommen, one ihn mer als ieder andre zu verdie-
nen. Beides wil ich beweisen. Einige Menschen bilden sich 30
falschlich ein, daft die Frommigkeit in einem aufrichtigen Nach-
denken iiber die Religionswarheiten, und in einer fleissigen
Ausiibung der erkanten Pflichten bestehe. Mein Heiliger macht
es besser. Er untersucht niemals; aber er glaubt alzeit. Er hat
keine Augen zum Sehen; allein wol Oren zum Horen. Sein Vater
hinterlies ihm, bei seinem Ableben, nebst Haus, Hof, Akker,
DAS LOB DER DUMMHEIT 315
Ochsen, u. dgL, auchseinen Glauben. Diesen findet der christli-
che Son in dem Gesang-Gebet-Predigt- und Evangelienbuch
so wol verwart, wie die alten verschlagnen Miinzen in den ange-
zeigten Beuteln. Er liest von Sontag zu Sontag die Meinungen
der altesten und raresten Kerntheologen, um sie zu glauben;
er driikt sie tief in's Gedachtnis, um seinen Verstand fest davon
zu (iberzeugen. Er glaubt sie, one sie zu untersuchen: denn er
weis gewis, da6 sie ihre Urheber erf an den, one zu denken. Den
Teufel, der ihm zuweilen in der Gestalt der Vernunft zusezt,
to treibt er mit Seufzern zuriik, und seine, in Schweinsleder einge-
bundne, Postille brauchter zum undurchdringlichen Schilde ge-
gen die Pfeile der Weisheit. Ferner, er ist so heilig, dafi er selten
tugendhaft zu sein braucht. Beten ist seine Hauptsache: denn
seine Zunge ist das einzige Glied, welches er mit der grosten
Leichtigkeit und dem wenigsten VeVstand bewegen kan. Vor
den glanzenden Lastern der Heiden hiitet er sich mer als vor
ihren nichtglanzenden, und alle seine gottesfiirchtigen Hand-
lungen quintessenzirt er in einen einzigen Seufzer. Er flieht die
Arbeit, um besser den Miissigang [!] seiner Sele zu betrachten,
20 und Wetterbeobachtungen iiber die aufsteigenden Diinste aus
seinem Unterleibe anzustellen. Er kan niemals seinem Nachsten
dienen: denn er mus immer Got dienen. Ja, er tut ihm oft aus
christlicher Liebe einen kleinen Schaden an, um ihn zur Busse
zu leiten, und wird zum Schein der Todfeind seines Nachbars,
um keinen Anteil an seiner Vernunft zu nemen. Sein Has wird
nicht selten durch die Erleuchtung von oben noch heftiger; so
wie der Essig durch den Stral der Sonne noch scharfer wird.
Allein gegen seine Selenschwester beweist er ware Bruderliebe;
vermutlich, weil sie seine geistigen Entziikkungen durch andre
30 unterhalt, und ihm ser oft besondre Belerung iiber wichtige
Tropen in der Mystik erteilt. - Die unreinen Gedanken, die
von unten herauf zu seinem Kopfe steigen, verwandeln sich
oben in gesalbte Worter und heilige Seufzer - eben so werden
die Diinste, die aus kotigten Ortern emporsteigen, in der Hohe
zu Schnee. Allein die Liebe seiner Schwester loset iene Seufzer,
so wie die Warme diesen Schnee, in ihre ersten Urstoffe auf.
3l6 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
Wenn er weint, so ist er am meisten zu fiirchten; eben so klagt
das Krokodil mit menschlicher Stimme, wenn es einen Men-
schen beriikken und erwiirgen wil. Er hat die ganze Bibel im
Kopfe; allein so, wie der Walfisch den Propheten im Bauch hatte
- er nart weder seinen Verstand noch sein Herz mit derselben,
und kent alle Tugenden, um keine auszuuben. Ist es aber nicht
leicht, from zu sein, wenn man nur dieienigen Laster abzulegen
braucht, die sich der Obrigkeit nicht verbergen lassen, nur dieie-
nigen Tugenden anzunemen braucht, hinter welchen sich ein
ganzes Her von Felern verstekken kan? Und mir bios hat man 10
dies zu danken; nur auf die Dumheit last sich diese Heiligkeit
pfropfen, und nur durch mich traben diese Heiligen in den Him-
mel, wieMuhammed auf seinem Eselin's Paradies. Denn wenn
der Schimmer der Vernunft eines Heiligen vor dem Glanz einer
andern Erleuchtung verblatt; wenn alles, was er spricht, so heilig
ist, daB es keinen Sin hat; wenn er sich mit seiner Phantasie
tiber das Gebiet des gesunden Menschenverstandes erhebt, um
naher bei'm Himmel zu sein; wenn er, um in seinem Fluge zu
den atherischen Gegenden durch nichts Irdisches gehindert zu
werden, die Vernunft, wie Elias seinen Mantel bei seiner Him- 20
melfart, hinter sich wegwirft, und sich den Kindern gleich zu
machen sucht, indem er seinen Verstand dem ihrigen gleich
macht: - was kan anders daraus folgen, als daB ein so grosser
Grad von Heiligkeit nur durch einen so grossen Grad von Dum-
heit erworben wird?
Und diese Menschen allein sind es, die sich meines Besizzes
nicht schamen. Sol ich mer zu diesem Lobe hinzusezzen? - nur
die konnen mer hinzusezzen, denen ich es schuldig bin. -
Ich mache den Dummen durch seinen Kopf eben so gliiklich
wie durch sein Herz. Ich gebe ihm zwar nicht die Weisheit; 30
aber doch die Meinung, sie zu haben. Der Mangel der Weisheit
schiizt ihn vor alien Gefaren, die den Denker in's zeitliche und
ewige Verderben stiirzen. Er iiberlast sich nie dem Mere der
Zweifel, um nach dem Lande der Warheit zu schiffen; er liest
nie andre Biicher als solche, die seine Sele in Hofnung und seinen
Korper in Schlaf wiegen. Daher ist er immer ruhig: denn er
DAS LOB DER DUMMHEIT 317
ist zu blind, etwas Furchterliches zu sehen; daher ist er immer
sich selbst gleich in seinen Meinungen: denn er kent nur dieieni-
gen, die er glaubt. Die Maschine seines Geistes geht ieden Tag
gerade so, wie sie durch das Gewicht seines Korpers aufgezogen
ist, und alle vier und zwanzig Stunden erneuert sie den vorigen
Lauf. Allein alle diese Vorteile erhalten erst durch den Stolz
ihren grosten Wert. Ich mache ieden Dummen stolz, und eben-
deswegen auch gliiklich. Derienige mus sich alzeit iiber seinen
Wert schazzen, demur einen kleinen hat. Da er von vielen iiber-
10 troffen wird, so notigt ihn seine Eigenliebe, Vorziige an sich
aufzusuchen, die andre nicht zu haben scheinen, sie zu vergros-
' sern und endlich mit einem Glanze zu verschonern, der alle ubri-
gen Feler unbemerkbar macht - und da er wenig zu schazzen
weis, so bewegt ihn seine Dumheit, die Mangel zum Range
auszeichnender Vorziige zu erheben. Dieser Stolz last sich ieden
Tag an iedem Dummen bemerken. Jeder Tor im Amte, der
seit vielen Jaren die Belonung seiner Dumheit geniest; ieder
Geistliche, der neue Biicher aus Vorurteil und alte aus Tragheit
nicht liest und ieden Sontag eine Probe seiner Unwissenheit
20 und Faulheit ablegt; ieder Schullerer, den ein weiser Gonner
wegen seiner Unwissenheit und seinen Lastern zu nichts anderm
als einem Lerer der Weisheit und Tugend machen konte, und
der seinen Eleven mit Miihe die Dumheit einpriigelt, die ihm
eingeprtigelt worden ist; ieder Dumling, dessen Dumheit in der
Jugend zu ser belont wurde, als daB sie nicht im Alter hatte
wachsen sollen und der im Amte das vergist, was er als unwis-
sender Jungling noch wuste — alle diese sind fast eben so stolz,
als sie dum sind, alle diese hangen die wichtige Amtsmiene vor
ihr einfaltiges Gesicht und machen ihre Zunge zum bestandigen
30 Lobredner ihrer Feler. Aber dieser Stolz ist iedem unentberlich,
der ihn hat; er ist die groste Woltat, die ich meinen Vererern
erweisen kan. Das Lob, welches der selige Sancho Pansa dem
Schlaf giebt, last sich eben so gut auf den Stolz anwenden. »Ge-
segnet sei der Man, soke der zweite Sancho sagen, der den Stolz
erfand (der bin ich). Der Stolz ist ein Mantel, der alle Grillen
bedekt, eine (Selen-) Speise fur den, der hungert, ein (Selen-)
3 18 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Trank fur den, der durstet, eine Wagschale, die den Schafer
dem Konige, und den Dumkopf dem Klugen gleich macht, kurz
eine algemeine Miinze, fiir die man alle Dinge kaufen kan.«
Der Stolz ist eine Fee, die alle Wiinsche des Dummen erfiilt.
Er braucht eine Volkommenheit nur am andern zu finden, um
sie an sich zu finden, oder er braucht sie nur nicht zu haben,
um sie zu verachten. Hat sich der Andre durch irgend ein Ver-
dienst gros genug gemacht, um von den verkleinernden Augen
des Dummen bemerkt zu werden: so schwingt sich dieser leztere
auf den Fliigeln des Stolzes iiber den Verdienstvollen hinauf, 10
und sieht dan von seiner Hohe mit Mitleid auf den vergotterten
Pigmaen herab. - Durch den Stolz kan er ein Amt verwalten,
das er durch Dumheit erhalten hat. Der Dumme wiirde eine
Hohe verlassen, fiir die er nicht geboren ist, wenn er sich nicht
auf seinem Tron aufblahte, so wie lere Blasen auf hohen Bergen
aufschwellen; er wiirde sinken, wenn er sich nicht durch den
Stolz in der H6h' erhielte, so wie der Schwimmer durch Blasen
sein Sinken verhiitet. Wenn z.B. Ihro Hochwiirden einen Kan-
didaten, der von seiner Orthodoxie noch keinen sinlichen Be-
weis bei Ihrer Frau abgelegthat, als ein Schlachtopfer Ihres heili- 20
gen Zorneifers in Ihre Hande bekommen - wenn denn der
Arme, der noch Verstand genug hat, um nicht den Ihrigen zu
haben, und Vernunft genug, um Ihnen ein Kezzer zu scheinen,
wenn dieser kliiger antwortet als Sie fragen und anders antwor-
tet als Sie aufgeschrieben haben - wenn er den hebraischen Text
anders giebt, als Sie zwischen die Zeilen Ihres Kodex gekrizzelt
haben, oder wenn er gar in der Dogmatik Griinde vorbringt
und die Ihrigen verlangt, weil Sie die seinigen verwerfen —
sagen Sie selbst, wer steht Ihnen iezt bei, damit Sie das scheinen,
was Sie nicht sind? ist's nicht Ihr Stolz, den der Kluge unmoglich 30
dem Dummen nachamen kan, welcher auf Ihrem Gesichte alle
die Wichtigkeit verbreitet, die Sie sich durch Ihre Gelersamkeit
nicht geben kdnnen; welcher dem Kandidaten den Mut benimt,
der den Ihrigen schwacht, und ihn endlich beredet, mer Ihre
Gewalt als Ihr Recht, mer Ihr Herz als Ihren Verstand zu fiirch-
ten? - Auf diese Art siegt die Dumheit iiber die Weisheit; auf
DAS LOB DER DUMMHEIT 3 19
diese Art mach' ich den Genus meiner Woltaten durch die Uber-
windung neuer Hindernisse noch fortdauernder, noch reizen-
der, und verdiene noch mer Lob, als dieienigen, die durch mich
siegen. -
Dieses Lob wird durch die Erfarung vergrossert, daB man
nichts notig hat, um ungluklich zu sein, als weise zu sein, und
daB im Gegenteil die meisten ihre Amter nur durch mich erhal-
ten. Diesen lezten Saz werden nur die nicht glauben, die ihn
durch ihr eigen Beispiel beweisen: denn ieder glaubt sein Gliik
10 einer andern Sache als seinen Felern schuldig zu sein. Ich wil
iezt nichts vorbringen, als das, was sich alle Tage sehen last;
daraus wird folgen, daB die Weisheit notwendig ungluklich,
und die Dumheit notwendig gliiklich mache, und daB iene al
dcs Lobs unwiirdig ist, welches bios ich verdiene. Da sich
daruber nicht zu viel sagen last, so wil ich dariiber viel sagen. -
An iedem Orte sind reiche und machtige Dumkopfe ge-
pflanzt, die reichlichen Schatten iiber ihre Mitbriider verbreiten,
und die rtahe Verwandschaft mit ihnen durch' einen gemein-
schaftlichen Has gegen den Klugen beweisen; Leute, die lange
20 Oren an sich und andern schazzen, die die Verlaumdung zum
Ordenszeichen ihrer Bruderschaft walen und den Aufgeklarten
als einen Rebellen aus dem friedlichen Reiche der Esel verban-
nen. Allein es giebt zweierlei Arten von Dummen, welche die
Dumheit befordern; einige sind zu reich, um sich durch das be-
schafte des Denkens zu ermiiden, zu reich, um ausser dem Gelde
noch den Verstand zu schazzen; andre sind zu alt und zu lang
im Amte, um die Weisheit eines Jungern der Dumheit eines
Altern vorzuziehen, und um die nicht zu hassen, die den Feler
haben, geschazte und belonte Feler nicht zu haben. Von den
30 Leztern zuerst! Man glaube aber nicht, daB ich meine geliebten
Dumkopfe tadle, wenn ich von ihnen in der Sprache rede, in
der man sie gemeiniglich tadelt: denn ich mus ia menschlicher-
weise reden. -
Alle dieienigen Dunsen, die in Amtern alt geworden sind,
die sie so wenig verdient haben, wie ihre Gonner die ihrigen
- der Priester, der unter der Perriikke seines Grosvaters den
320 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG
Verstand seines Grosvaters tragt, der die groste Heiligkeit zu
besizzen glaubt, weil er sie seinen Zuhorern anempfielt, der alle
Menschen fiir seine Schiiler halt, weil er lange Zeit der Lerer
seiner Gemeinde ist, und der seinen theologischen Galimathias
fiir ausgemachte Warheit ansieht, weil er ihn seit vielen Jaren
seinen Schafen one Widerspruch predigt - der Rechtsgelerte,
der entweder als Richter seine Stupiditat mit seinem Nuzzen
vereinigt und ein dummes Urteil lieber wiederholt als es verbes-
sert, oder der als Advokat den Verstand der Gesezze sucht und
den seinigen verliert, wie der Hund in der Fabel sein Fleisch, 10
der ieden Jiingern deswegen fiir ein[en] Esel halt, weil ihn der
Aktenstaub noch zu keinem grauen macht, und der von dem
wollobl. Rat seines Stadgens alle die Lobspriiche einsaugt, die
Esel nur Eseln erteilen - der Arzt, der auf eine lange Praxis
trozt, die nichts als die die Wiederholung seiner Feler beweist,
der, gleich einem kriegerischen Wilden, seine medizinische
Tapferkeit nach der Menge.der besiegten Pazienten abmist und
lieber nach der medizinischen Halsgerichtsordnung seines Va-
ters fortexekutirt, als die Schlachtopfer seiner Unwissenheit
durch das Studium der Neuern vermindert - der Schulpedant, 20
der immer mit dem Stokke seine unniizzen Leren in das Ge-
dachtnis der Kinder eingrabt, der sich schon lang sein Leren
sauer werden last, um andern das Lernen sauer zu machen, und
sich Gliik wiinscht, ein strenger Lerer der Dumheit und kein
angenemer Lerer der Weisheit zu sein - der Philosoph, der alter
als seine steinalte Logik ist, der zu lang geschlossen hat, um
noch zu denken, zu lang mit dem Terminus Medius gespielt
hat, um ernsthafter als seine gravitatischen Spielkollegen zu sein,
und der seine schwache Vernunft durch die drei Buchstaben
q. e. d. 2 unter dem Gehorsam des Glaubens gefangen genom- 30
men hat, um, gleich seinen Kollegen, zwar kein Denker, aber
2 quod erat demonstrandum. Diese drei Worte stehen am Ende ieder
Demonstrazion, und sind die Demonstrazion der Demonstrazion. -
Diese Anmerkung sei bios fiir die hofnungsvollen Jiinglinge, die iene
drei Worte zum erstenmale sehen, weil sie, wie bekant, eine modischere
Dumheit als die pedantische lieben. -
DAS LOB DER DUMMHEIT 321
doch ein volkomner Metaphysiker zu sein - kurz iede Reliquie
der alten Zeit, die die gegenwartige tadelt, und ieder abgenuzte
Kopf, der in der Finsternis der aufgeklarten Welt, wie faules
Holz in der Nacht, leuchten wil; allc diesc schazzen sich zu ser,
- um den Weisen zu schazzen, sind zu ser von dem Geful ihrer
Superioritat durchdrungen, um es nicht durch Verachtung und
Has gegen iHre Feinde zu aussern. Sie miissen aber auch den
Klugen verachten und verlaumden: denn die Achtung, die sie
ihm erzeigten, wiirde ihre eigne schwachen, und die Anerken-
io nung fremder Verdienste wiirde ihnen zum Vorwurfe des Man-
gels an eignen gereichen. Sie musten sich nicht lieben, um den
Aufgeklarten nicht zu hassen. Und wenn ich nun iezt zusam-
menrechne, was alle diese Dumkopfe vermogen, durch ihre
vereinigte Macht, durch den Zusammenhang mit den Machti-
gern und mit der Menge, durch die Hiilfe der Religion, der
Vorurteile, des Ansehens vermogen - wenn ich betrachte, wie
ihr Eigennuz mit ihrer Eitelkeit vereint, sie zwinget, den Klugen
nicht bios in Schande und Ungliik zu stiirzen, sondern auch
ihr eigen Gliik seinem Ungliik, und seiner Schande ihre eigne
20 Ere aufzuopfern; wie sie durch ihre Dumheit, die durch das
Alter mer Zuwachs und durch die Belonung mer Mut erhalten
hat, angetrieben werden, den kleinsten Verlust ihrer Achtung
an denen zu rachen, die sie kaum als ihre Feinde anzusehen wiir-
digen, und denen den Besiz gewisser Giiter unmoglich zu ma-
chen, die ihn durch nichts als die Weisheit verdienen und durch
nichts als eben diese entberen konnen - dan wundre ich mich,
daB es Weise giebt, aber nicht, daB es unglukliche Weise
giebt. -
Allein nicht bios die Gelerten, sondern die Machtigen und
30 Reichen sind es am meisten, welche die Ausbreitung der Dum-
heit besorgen, und die Ausbreitung der Weisheit verhindern.
Ein Reicher ist selten an etwas anderm als an Geld reich, und
wenn er seine Dumheit nicht schon mit der Geburt erhalt, so
erhalt er sie doch rriit seiner Erbschaft. Es ist leichter, daB ein
Kamel durch ein Nadelor gehe, als daB ein Reicher in das Reich
- der Weisheit komme. Wenn er nun keinen Verstand hat, wie
322 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
sol er den Verstand des andern schazzen, und wie sol er in der
Austeilung der Amter, der Belonungen u.s.w. mer Ruksicht
auf die Weisen als auf die nemen, die er weder verachten noch
beneiden kan? - Allein es sind noch andre Ursachen da, warum
der Machtige und Reiche den Aufgeklarten hassen mus. Der
Kluge komt bios durch den Glanz seiner Verdienste um die
Belonung derselben, und sein Kopf scheint, wie der Kopf der
Medusa, das Herz iedes Dummen in Stein gegen ihn zu verwan-
deln. Die Sonne seines Verdienstes benimt alien den Sternen
den Schein, hinter welchen die Herzen der Hoflinge ihrc ro
Schwarze und ihre Schande verbergen, und verdunkelt die, die
dem Glanze des Goldes alien ihren Glanz, und dem Werte des-
selben alien ihren Wert zu danken haben. Er tadelt die, die sich
Schmeichler durch Geschenke erkaufen und hungrige Dum-
kopfe zu ihren Lobrednern besolden, und zeigt denen ihre
Kleinheit, die das Gefiil ihrer Grosse der Verblendung ihrer Ei-
genliebe schuldig sind. Den Reichen, der bios an Geld reich
ist, halt [er] eben so wenig fur verstandig, als den Maulesel,
der den Kardinal tragt; so wie er ihn, wenn er sich mit seinem
goldnen Gewande in iedem Laster one ausserliche Beflekkung 20
herumwalzt, eben so wenig fur rein erklart, als den Roskafer,
an dessen schimmernder Beinhaut man kein Merkmal seines
schmuzigen Aufenthalts entdekt. Er verachtet am meisten die
Dumheit, deren Gestalt mit der Miene der Weisheit pralt, und
die sich mit dem angenommenen Gesichte desienigen zu eren
glaubt, den sie verfolgt und verachtet. - Daher ist der Lorber-
kranz, den das Verdienst tragt, nichts als der Blumenkranz, der
das Schlachtopfer des Neides bezeichnet. Daher miissen die
Weisen Brosamen von denen betteln die die Belonung fremder
Verdienste verschwenden, und dem Unwissenden mit der 30
Zunge schmeicheln, mit welcher sie ihn leren konten. Daher
dichtet man ihnen alle die Feler an, die man an ihnen bestrafen
wil und die den Wert ihrer wirklichen Verdienste zu vernichten
bestimt sind. Daher erhalten sie selten ein" Amt, ausser in dem
Fal, wenn man sie mit einem bestrafen wil; sie kommen allemal
zu spat, und sind iibrigens zu arm, um ihr Verdienst durch die
DAS LOB DER DUMMHEIT 323
Ubergoldung desselben sichtbar und schazbar zu machen, oder
zu stolz, urn sich die Belonung ihrer Verdienste durch etwas
anders als ihre Verdienste verschaffen zu wollen. Dies ist das
Schiksal des Weisen. - Gewis, wenn die Dumheit gar keinen
Nuzzen brachte, so soke man wenigstens dum sein, weil man
nur mit vieler Gefar weise sein kan.
Allein alle die Bequemlichkeiten, die der Stand des Weisen
ausschliest, haufen sich zusammen, um den Dummen zu be-
gliikken. Da das vorige ein Beweis dieses Sazzes ist, so brauch'
10 ich nur noch etwas weniges hinzuzusezzen. Der Dumme hat
keine Feinde: denn er hat keine Bewunderer, oder wenigstens
nur solche, die an seiner Dumheit ihre eigne bewundern. Er
ist gewont vor denen zu kriechen, die auf fremde Schande ihre
Ere griinden und in den Erniedrigungen andrer die Beweise
ihrer Grosse suchen. Wer wolte ihm nun das abschlagen, das
er nicht verdient, oder auf eine unwiirdige Art verdient und
wie soke man den nicht erheben, der so gut kriechen kan? Wie
soke er das Herz seines Gonners nicht gewinnen, da er beweisen
kan, daB er den Kopf desselben hat? - So erwirbt sich der
20 Dumme dasienige one Verstand, was der Weise durch den Ver-
stand verliert. - Da der Rok der Ere bios gemacht ist, um die
Blosse des Niehtverdienstes und der Dumheit zu bedekken 3 :
wem anders als dem Dummen felt genug Ere, um die groste
zu verdienen? - und da der Lon der Verdienste nur fur die be-
stimt ist, die keine Verdienste haben, und nur der regieren darf,
der zu regieren am wenigsten Verstand zeigt: wer anders als
der Dumme zeichnet sich durch den Mangel an beiden genug
aus, um damit sein Gluk zu machen? - Jeder also, der ein Kloz
ist, kan sich freuen, es zu sein: denn man wird ihn auf eine
30 hohe Erenstelle sezzen, um ihn anzubeten; man wird ihm einen
Altar bauen, um ihm auf demselben die Vernunft zu opfern
und seinem Stolze durch die Vertilgung des Rums des Weisen
einen wolriechenden Weihrauch anzuziinden. Die Welt liebt
3 Allein auch hierinnen amt man die Schonen nach, die sich ankleiden,
um ihre Naktheit zu zeigen.
3^4 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
noch immer die Abgotterei (ich rede menschlicherweise,) und
verlast noch immer einen lebendigen und weisen Got, um aus
unbeselten Dingen die Gegenstande der algemeinen Vererung
zu schnizzen. — Eine andre Ursache von dem Gliikke des
Dummen find' ich in der Geneigtheit der Machtigen, machtig
und giitig zu scheinen. So wie ieder Edelgeborne zu edel denkt,
um dem gemeinen Pobel in etwas anderm als den Lastern gleich
zu werden - oder vielmer, so wie ieder Edelman seiner Hure
grosmutig das Geld schenkt, welches sein Schneider von ihm
tagtaglich umsonst fordert; eben so finden die patroni ein grosses 10
Vergnugen darinnen, dem Dummen das als eine Woltat zu ertei-
len, was sie dem Weisen als einen Lon entziehen, und sich dem
einen in der gutigen, dem andern in der machtigen Gestalt zu
zeigen. Warum hat dieser Dumme soviel Titel, daB er seinen
rechten vergist, soviel Amter, daB er sie alle versaumen darf,
so viele Verdienste von aussen in mancherlei Gestalt, daB er in-
wendig keine zu haben braucht? - deswegen, weil es einem ge-
wissen Hern beliebt hat, die Schopfung aus Nichts nachzuamen
und ihre Moglichkeit den Weisen zu demonstriren. - Wenn also
der notige Grad von Dumheit fur iedes Amt bestimt ware, so 20
Hesse sich das Gliik iedes Menschen schon in seiner Jugend war-
sagen, und ein Schulmeister konte one Miihe den kiinftigen Ge-
neralsuperintendent von dem heterodoxen Dorfpastor unter-
scheiden. - 1st es iezt noch verkentbar, wie weit sich mein
Einflus in das Gliik des Menschen erstrekke? wie gros meine
Machtsei, daichieden vornemern Dummen so unwiderstehlich
auf die Seite des geringern stimme, wie gros meine Giite, die
keinen meiner Anbeter iibergeht, und wie gros das Lob, das
mir deswegen gebiirt? - Mein Lob iibertrift noch dasienige, wel-
ches die Vornemsten meiner Vererer nur durch mich geniessen, 30
und ich verdiene einen Lobredner, der grosser ist, als die, welche
den besten verdient haben. -
Ich habe iezt viel zu meinem Lobe, allein.blos im Algemeinen
gesagt. Nunsind noch da Weiber, Stuzzer, Machtige, Hoflinge,
Edelleute, Theologen, Philosophen, Poeten, pp., welche alle
ihre Vorziige und ihr Gliik einer andern Gotheit als der meinigen
DAS LOB DER DUMMHEIT 325
schuldig zu sein glauben, und welche nicht selten meine Wolta-
ten zu Werkzeugen ihrer Undankbarkeit machen.
Die Rangordnung iibt nirgends grossere Rechte aus als im
Reiche der Dummen. Ich werde mich daher als Konigin vorziig-
lich hiiten, sie zu verlezzen. Da die Schonen, wie die kleinen
Kinder, immer vorauslaufen: so mogen sie auch bei mir voraus-
laufen. Nur verzeihen sie, wenn ich nicht immer galant genug
bin. Ich habe mich noch nicht so ser im Lugen, wie die Menschen
geiibt, ob ich's wol aus den Assembleen, Zuschriften und Lob-
10 reden mit einigem Fortgang zu erlernen gedenke.
Eine Frau hat nicht notig, klug zu sein: denn, weil sie schon
ist, so ist sie schon alles das, zu was sie kaum die feurigste Einbil-
dungskraft ihres Anbeters machen kan; sie ist also ausserst ver-
standig. Ein schones Weib ist klug, wenn sie auch dum ist: denn
wer wolte eine dumme Rede im Munde eines schonen Frauen-
zimmers fur eine dumme Rede halten, und wer wolte an einem
weiblichen Geschopf die Schonheit loben, one zugleich iiber
den Verstand in Entzukkurig zu geraten, ia one diesen, der nicht
wirklichist, hoherzuschazzen, als iene, deren Wirklichkeit man
20 empfindet? - Das vornemste Gebot fur die Schonen ist; trachtet
am ersten nach der Schonheit, das iibrige wird euch alles zuf al-
ien. Im Grunde ist also die Schonheit das Band, welches die
Schonen mit mir verbindet. Allein es ist ihnen nicht bios unno-
tig, klug zu sein; es ist ihnen auch unmoglich. Sie sind nicht
geschaffen zu denken, sondern zu gef alien. Wenn Pope vom
Menschen (eigentlich vom Manne) sagt: er trit auf, urn sich einmal
umzusehen und zu sterben: so kan man von der Frau sagen: sie
trit auf, urn sich einmal sehen zu lassen, und zu sterben. Daher hat
sie ihre Sele, um ihren Korper zu vervolkomnen; daher hat die
30 Natur bei dem Manne fiir den innern Bau des Kopfs, bei der
Frau fiir den aussern Bau desselben gesorgt; daher hat iener seine
Sele im Kopfe, diese die ihrige auf dem Gesichte. »Aber giebt
es nicht Gelerte des andern Geschlechts?« ich weis es nicht; allein
wenn es solche giebt, so konte man die Litanei mit einer neuen
und notigen Bitte verstarken: denn es ist gewis, da8 die Dumheit
auf dem Wege zur Weisheit am ersten die Narheit umarmt.
326 JUGENDWERKE - I.ABTEILUNG
- Es ist also Lob fur .mich, daB ich dieienigen behersche, die,
sich ausgenommen, fast alles beherschen; allein es ware zu we-
nig, wenn sie nicht auch Vorteile hatten, meine Untertanen zu
sein. Ich mache sie geschikt, alle die Kleinigkeiten zu ihren im-
merwarenden Beschaftigungen zu walen, durch welche sie zwar
ihre natiirlichen Schonheiten verbergen, aber doch modischere
an ihre Stelle sezzen. Wenn ich nicht in dem Geiste der Schonen
lebte und webte, so wiirden sie wenigere Zeit an den Orten
verschwenden, wo ovidische Verwandlungen vorgehen, wo
verschiedne Schopfer sich zur Umschaffung ieder haslich- oder 10
schongeschafnen Nymphe vereinigen und fremde Reize die
Wangen mit einer liigenhaften Lokspeise bemalen - sie wiirden
die groste Langweile fiilen, iene Spizzen- und Dratgebaude, die
so kiinstlich und so zerstorbar, wie Systeme, gewebt sind, iiber
ihren Hauptern aufzufiiren, iene durchsichtigen Gewebe zur Be-
strikkung der schimmernden Miikken, die bald auf einer Blume ,
bald auf dem Kote sizzen, mit alien Vogelstellerskiinsten auszu-
breiten, und durch Modekleider kiinstlich alle die Schonheiten
zu verstekken, die ihre natiirlichen sind, oder wenigstens nur
die sehen zu lassen, die die Erbarkeit nicht gerne sieht, oder 20
die nicht die ihrigen sind - kurz, wenn ich nicht ware, so wiirde
man an den Schonen alle die Zierraten vermissen, die nur dieie-
nigen fur Torheit halten, die an keine andre als die ihrige gewont
sind. Nur eine Sele, die noch kleiner als diese Kleinigkeiten ist,
kan sich lang mit ihnen beschaftigen, und nur die, die selten
denken, konnen gedankenlose Arbeiten lieben. Zwar wird sich
die Narheit einen nicht kleinen Anteil von dieser Ere anmassen;
allein ich glaube, es gehort mer als Narheit dazu, um langweilige
Narheiten one Langweile zu treiben. Auch hier past, obwol mit
einiger Veranderung, diese Bemerkung: I'exactitude dans les 30
petites choses est la vertu des sots. Allein die Schonen haben
noch andre Geschafte, die ihnen anstat des Vergniigens Lang-
weile verursachen wiirden, wenn sie sich durch etwas anders
als ernsthafte Dinge Langweile verursachen liessen. One Lang-
weile sich etliche Stunden mit einem Hiindgen, oder mit einem
seufzenden Liebhaber zu unterhalten- one Langweile ein ernst-
DAS LOB DER DUMMHEIT 327
haftes Buch durchzublattern und ein faselndes zu lesen, oder
einen halben Morgen in der Kirche zu sizzen, oder am Fenster
zu stehen - one Langweile einfaltige Komplimente zu horen
und zu erwiedern, oder einen ganzen Abend mit der Zunge,
die dem Stachel der Biene gleicht, den Namen einer Nachbarin
wund zu stechen, oder in der Geduld sich zu (iben, den Lebens-
lauf eines neuen Bandes anzuhoren - one Langweile Langweile
zu machen und zu ertragen — dazu gehort eine ungewonliche
Starke, dazu gehort eine weibliche Starke, die durch mich ver-
10 schaft und erhalten wird. Mir also haben es die Schonen zu
danken, wenn sie sich weder durch den Ekkel noch durch wich-
tige Dinge abhalten lassen, kleine und unwichtige zu treiben.
Kaum darf ich mir das, darausfliessende, Lob zueignen: denn
es ist zu gros, als dafi es die Lobredner der Narheit nicht vermin-
dern solten, und iibrigens ist die Dumheit selbst noch galant
genug, um viele' dumme Handlungen fur galante zu erkla-
ren. -
Nun wil ich zeigen, wie ich den Schonen die Herschaft iiber
die Manner verschaffe. Anfangs woke ich zuerst von den unver-
20 heirateten und dan von den verheirateten Frauenzimmern spre-
chen. Allein ich sahe bald ein, daft in diesem aufgeklarten Jar-
hunderte zwischen beiden keine andre Distinkzion als hochstens
eine theologische, d.h. eine unsichtbare und geistliche stat finde.
Denn die unverheirateten und verheirateten Schonen haben ein-
ander ihre unterscheidenden Feler mitgeteilt und um noch gros-
serer Anlichkeit willen, die unterscheidenden Tugenden klug-
lich abgelegt, so daB der Unterschied zwischen beiden nur dieser
ist: die eine kauft ihre Narheiten mit dem Gelde ihres Vaters,
die andre mit dem Geld ihres Mannes; die eine hat viele Liebha-
30 ber, die andre viele Manner, die eine macht ihren Anbeter zum
belachenswerten, die andre ihren Man zum beweinenswerten
Narren. - Genug alle Schonen haben mir ihren Tron zu danken;
sie regieren alle nur von der Dumheit Gnaden. Wenn sich die
Jiinglinge den Weibern gleich machen, um ihre Sklaven zu sein,
um Weiber gegen Weiber zu sein, und die Narrenmontur anle-
gen, in welcher man der regierenden Torin dient - wenn sich
328 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
ieder, gleich dem Pasquinn in Rom, von den Franzosen als die
Statue gebrauchen last, an welche diese ihre Pasquille auf die
Deutschen, hangen, und keiner Vernunft genug hat, mit andern
als nachgeamten Torheiten zu pralen - wenn man den Verstand
einer Schonen bewundert, weil er der Verstand einer Schonen
ist, und das verstandige Geschlecht ernsthafte Urteile zuriik-
halt, um die faselnden und torichten des flatterhaften Ge-
schlechts zu beklatschen - wenn der, mit den Erfindungen der
Narren behangte, Nar sich zum Sklaven eines weiblichen Blik-
kes macht und mit hoflichem Verdrehen der Glieder ieden Befel 10
seiner Gebieterin empfangt und befolgt - kurz wenn Manner
eine Zusammensezzung von den Felern der zwei Geschlechter,
eine Mischung von manlichen und weiblichen Torheiten wer-
den — sagt selbst, ihr, die ihr diese Ere so schazt, daB ihr iede
vernunftige verschmaht, ist nicht die Dumheit wenigstens der
Grund, auf welchem sich so ausschweifende Torheiten bauen
lassen? Ich verdiene von euch noch mer Vererung als eure
Schuzgottin; diese giebt euch Schonheit, ich gebe eurer Schon-
heit ihre groste Wirkung; diese hat euch zum Weib des Mannes,
ich hab' euch zur Beherscherin desselben gemacht. Und solt' 20
ich nun nicht von euch erwarten diirfen, daB ihr, als neue Ama-
zpnen, meine Herschaft durch dieienige vermert, die ihr mir
zu danken habt?- Dan mochten immerhin die Priester verminf-
tig werden; ich wiirde Priesterinnen haben! ! -
Wenn ich nicht ein Weib ware, so wurd' ich fast rmide wer-
den, meine Verdienste um die Weiber zu erzalen. Ich mache
den Eheman geschikt, sich unter das Joch der weiblichen Her-
schaft zu beugen. Es ist war, die meisten Manner werden durch
goldne Ketten und seidne Faden geleitet; allein es ist auch war,
daB ihnen nur durch meine Veranstaltung die Fesseln unsichtbar 30
bleiben, welche zu zerreissen sie machtig genug waren. Von
diesen mannigfaltigen Kiinsten der Weiber, die durch mich ihren
Endzwek erreichen, wil ich einige angeben. Der eine Man wird
dem Hymen von dem Amor schon gebunden iiberliefert, und
er verliert, gleich dem Simson, in dem Schosse seiner Deli[l]a
seine manliche Starke. Ein andrer wird von seiner Frau mit Hiilfe
DAS LOB DER DUMMHEIT 3*29
seiner Feler beherscht und iede seiner Torheiten dient einer an-
dern Torheit seiner Frau zur Ursache oder zur Entschuldigung:
diese steht mit seinen Leidenschaften, durch die man den Men-
schen, wie gewisse Tiere an den Oren, festhalt, in einem gehei-
men Verstandnisse, und wenn, nach Plato's Allegorie, der
menschliche Wagen durch die Leidenschaften, als die Pferde,
gezogen wird, so sezt sich das Weib fast allemal auf den Kutsch-
bok, urn spazieren zu faren. Eine andre Schone macht ihren
Man zum Vorwurfe der Spottereien ihrer Verwandten und
io Freundinnen, und bezwingt seinen manlichen Arm durch die
Menge weiblicher Zungen - eben so treibt oft ein Schwarm
stechender Bienen den Baren endlich vom Honig ab. Noch eine
andre gehorcht einmal, um das zu erlangen, was sie hernach
befelen wil; sie iiberwaltigt durch angenommene Schwachen
und siegt durch eine scheinbare Flucht. Eine dritte lost ihren
harten Man in erzwungnen Tranen auf, wie den Zukker im
Thee, und die Schonheit verteidigt sich durch dasselbe Element,
aus welchem sie geboren wurde. Und endlich, die Schlimste
der Schlimmen beherscht ihren Man durch die wiederholte An-
20 merkung, daB er sein Gliik, seine Ere, sein Amt denen Verdien-
sten zu danken habe, die seine - Frau besizt. - Man verzeihe
diese Ausschweifung, und bemerkenun, daB die meisten dieser
Kunstgriffe dem Manne nur durch meine Hiilfe unsichtbar blei-
ben, nur durch mich folgenden Endzwek erreichen. Es ist dieser,
daB der Man seiner Frau eine Lebensart erlaube, die iezt die
gewonlichste ist, und die ich, zur Darstellung der Dumheit des
Mannes und zur Vergrosserung meines Lobes, kurz schildern
mus. - Eine Frau, die nach der Mode lebt, lebt bios fur ihr
Vergniigen, und ihre Vereinigung mit dem Manne verbindet
30 sie zu keiner andern Pflicht, als die, die Vergniigungen mit ihm
zu teilen, die man nur durch die Mitteilung geniest. Sie ist zu
zart, zu arbeiten, und hat kaum. Krafte genug, den Miissiggang
zu ertragen. Der Zustand des Hauswesens; wie wolte sie der
bekummern, da sie nicht Magd, sondern Frau ist? Ihre Pflicht
in ihrem Ehestande ist ia nicht, die Giiter ihres Mannes zu ver-
meren oder zu erhalten, sondern sie zu geniessen; und wenn
330 . JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
hatte sie Zeit, niizliche Dinge zu tun? Sie hat kaum Zeit genug,
unniizliche zu tun; der halbe Teil des dem Schlafe entzognen
Vormittags reicht kaum zu, die Sorge fur den Puz zu endigen,
und die Zeit lauft soviel geschwinder als der Miissigang, daB
die Schone, kaum noch vor dem Mittagsessen, die Folgen von
der Unmassigkeit der vorigen Nacht mit einer fremden Scham-
rote ubertiinchen kan. Ihren Kindern niizliche Leren zu geben
- so weit last sie sich nicht herab; doch mus man gestehen,
daB sie sich erniedrigen wird, ihnen andre als niizliche Leren
zu geben, wenn das Madgen alt genug sein wird, um die Regeln 10
zu fassen, wie man aus Mannern Narren, und mer als Narren,
Weiber machen sol, oder ihr Songen verstandig genug, um kin-
dische Torheiten gegen modische vertauschen, und ein Ge-
schlecht vergottern zu lernen, das er bios zu lieben weis. t)bri-
gens ist sie nur in so weit Mutter ihrer Kinder, als sie Vergniigen
hat, es zu sein. Wenn sie nicht in Geselschaft miissig sein kan,
so ist sie in der Einsamkeit miissig; sie liest. Sie lernt durch
die Bucher nicht denken, aber doch reden; nicht das Niizliche
schazzen, aber doch es verachten; nicht die Torheiten ablegen,
aber doch mit ihnen pralen. Um den Nachmittag nicht one 20
Miissiggang verstreichen zu lassen, begiebt sie sich in eine Ver-
samlung, wo sie hochstens kleine Arbeiten verfertigt, um an
ihnen die Lange der verschwendeten Zeit zu berechnen; wo sie,
gleich der Bienenkonigin, Konigin und Geliebte zugleich ist,
oder wo sie mit eignen Felern pralt und fremde sucht und mit
ihrer Zunge die kleinsten Mangel aus ihren Winkeln hervor-
zieht, wie der Ameisenbar die Ameisen mit der seinigen. Kurz,
um eine Frau nach dem iezzigen Schlage zu sein, ist sie alles
das, was eine Frau nicht sein sol. Wenn nun der Man alles dieses
zugiebt, wenn er dieienigen, die ihn mit ihren Zetteln erinnern, 30
daB er eine Frau hat, bezalt; wenn er seiner Frau, die er nur
mit ihren naturlichen Reizen geniest, alle dieienigen kauft, mit
welchen sie seine Freunde geniessen, und sich seine unverdiente
Schande mer kosten last, als mancher seine unverdiente Ere;
und wenn er endlich in ihr noch ihre Torheit und ihre Bosartig-
keit anbetet, um dem Agypter zu gleichen, der den Affen und
DAS LOB DER DUMMHEIT 331
das Krokodil anbetete — sagt es selbst, ihr Schonen, ist das
nicht ein Man, wie man sonst keinen fand, wie ich ihn erst
in diesem Jarhundert gebildet habe? - Ich wil nun den lezten
Vorteil anfiiren, den mir die Schonen schuldig sind. Ich werde
aber nie von ihrer Schamhaftigkeit fordern, das zu gestehen,
was sie bios den Mut haben, zu tun. Man wird sich aus einem
alten, alten Historienbuch erinnern, daB die Weiber treu waren.
Allein diese Treue existirt nur in den Gesezzen, die sie gebieten,
und in den Geschichtsbuchern, die sie erdichten. Wer wil nun
aber die Manner, die alte Wunder glauben und neue erwarten,
dahinbringen, daB sie das nicht sehen, was die Weiber nicht
tun sollen, und das hoffen, was diese zu galant sind, noch zu
kennen? - bios ich. Da die Frau mit dem Manne den Ehekorper
ausmacht, so halt sie's fur gut, wenn sie die Bibel befolgen und
woltatig sein wil, daB die linke Hand - der Man geht bekantlich
zur Linken - nicht wisse, was die rechte tut. Allein die Frau
mus nicht nur listig genug sein, um betrugen zu konnen; der
Man mus auchdum genug sein, um sich betriigenzu lassen. Alle
die Frauen daher, wo die eine ihre Andacht mit dem Priester
teilt, und sich von ihm das sinlich erklaren last, was er sonst
nur in Hebraismen verbietet - wo die andre einen Dichter in
ihrem Schos aufnimt, der, zwar nicht wie Jupiter in Gestalt eines
goldnen Regens, aber doch in Gestalt eines durch den Mond
versilberten Tranenregens ankomt - und wo die lezte gefarlich
krank ist, weil sie sich von einem iungen Doktor heilen lassen,
weil sie ihre Treue an ihrer Krankheit sterben lassen und das
Krankenbette zum Todtenbette ihrer Ere machen wil - alle
diese, sag' ich, konnen nur durch meine Hiilfe ihren Mannern
die Liebe gegen einen andern verbergen, die sie one mich durch
die Affektazion einer grossern gegen sie, umsonst zu verbergen
suchen. - Konnen nun die Schonen von mir mer fordern, als
ich ihnen leiste? und kan ich von irgend iemand mer Lob for-
dern, als sie mir schuldig sind? Gewis, ich bin nachst ihnen
selbst, nachst ihrem Schoshunde oder ihrer Schoskazze und
nachst ihrem Puzze, der wiirdigste Gegenstand ihrer Achtung
und ihres Lobes.
332 JUGENDWERKE ■ I. ABTEILUNG
Ausser den Weibern gehoren zu den Beherschern der Welt
noch dieienigen, die eine Krone tragen. Von diesen kan ich nun
nicht viel zu meinem Lobe anfiiren, weil ich im achtzenten Jar-
hundert schreibe. Denn wenn die Dumheit, wie ich hoffe, noch
nicht von den Kanzeln und Kathedern geiagt ist: so ist sie wenig-
stens, zum Leidwesen aller Dunsen, vom Trone geiagt. Und
wenn dies auch nicht ware, so wiird' ich doch deswegen schwei-
gen, weil es eine Todsiinde ist, die Warheiten zu sagen, die
kaum der lachende Nar sagen darf. Ich wil bios von den Vortei-
len reden, die ich sonst den Fiirsten verschafte. - Derienige,
der gesagt hat', daB das Leben eines Fiirsten nicht das angenemste
ist, hat eine Warheit gesagt, die nur derienige glaubt, der sie
selbst empfindet. Ein Fiirst hat zuviele Vergniigungen, um sie
zu geniessen und gliiklich zu sein; er hat aber auch zuviele Ge-
schafte, um sie zu Quellen seiner Freude machen zu konnen
-iene verursachenihm Langweile, und diese Ermudung. Durch
mich weicht er beiden aus. Er vertreibt die Langweile, die den
Weisen am meisten im Uberflus der rauschenden Freuden fol-
tert, dadurch, daB er mit den Ursachen derselben abwechselt.
Er reihet Freuden an Freuden und todtet durch neue den Ekkel
an den vorigen in seiner Geburt. Er drehet sich in einem Zirkel
von Ergozlichkeiten one Schwindel herum; weil sein Geist zu
klein ist, bessere zu mutmassen und die gegenwartigen zu ver-
achten. - Durch mich iiberlast er seinen Ministern die Sorge,
ungerecht zu sein, und teilt den Raub mit ihnen, one ihr Verbre-
chen zu teilen. Durch mich begiebt er sich der schweren Arbeit,
die Stimme des Schmeichlers durch ernsthafte Tugend wegzu-
schrekken, und den unharmonischen Klagen des algemeinen
Elends sein Or darzubieten; gegen die Vornemen gerecht zu
sein, die gegen Geringere ungerecht sind; mit Scharfsin den Ver-
dienstlosen hinter der Larve von der Ere und Reichtum, und
den Verdienstvollen unter den Lumpen von Armut und den
Anschwarzungen der Verlaumdung zu entdekken, und dem
Dunsen seinen goldnen Rok auszuziehen, um damit das nakte
Verdienst zu bekleiden. So geniest er dan das Gliik, welches
Sultane nur durch mich geniessen, die kaum Verstand genug
DAS LOB DER DUMMHEIT 333,
haben, um den stranguliren zu lassen, der es riicht verdient,
und oft zu wenig, um sich durch ihre Gewalt Sicherheit vor
andern als den Furchtsamen verschaffen zu konnen. -
Allein ich sage zu wenig zu meinem Lobe, wenn ich nicht
auch sage, wie ser ein dummer Fiirst andern niizt. Hier last
sich der giitige Einflus der Dumheit kaum von denen verkennen,
die ihn empfinden. Der Verstand des Fiirsten ist die Sele des
Stats. Sobald nun diese Sele den Korper verlast, so ist er ein
Raub aller grossen und kleinen Rauber - Geier und Raben zer-
10 stiikken den noch nicht faulenden Korper und lassen gerade das
noch iibrig, aus dem nachher das Ungeziefer geboren wird, wel-
ches das As von den Beinen abnagt und nichts als das Gerippe
des zerstorten Riesen ubriglast. Dan tragt der Bukkel und die
Zunge des Ministers, durch die Bewegungen nach der politi-
schen Tanzkunst, etwas ein, und der Wert des Hoflings wird
nach seiner Aussenseite, wie der Wert des Fuchses nach dem
Pelz, bestimt - Dan bekomt man die Verdienste, wie die Kleider,
um Geld, und der Mangel derselben wird durch ihr Zeichen
ersezt - Dan adelt ein schwarzes Herz mit einem Tropfen adeli-
20 chen Bluts, mer, als die Tugend dessen, der keine andre als
seine eigne aufweisen kan - Dan bestielt die Gerechtigkeit die
Diebe, und die Richter bekommen fur die Beschiizzung der Gii-
ter der Untertanen doch wenigstens die Giiter der Untertanen
- Dan wird kein, mit Eren grau gewordner, Beamter gezwun-
gen, noch im Alter klug oder gar gerecht zu werden, und kein,
im Reichtum geborner, Jungling angehalten, die Dumheit seines
Vaters abzulegen - Dan erhalt man, zwar nicht wie Darius durch
die Stimme eines Pferdes, doch aber durch die Stimme eines
Esels die wichtigsten Erenstellen, und was das Laster einer geer-
30 ten Hure nicht ausfiiren kan, endigt die Heiligkeit eines Priesters
- und dan bliihet die Dumheit auf Kanzeln > auf Kathedern, auf
Richterstulen, und auf iedem hirnlosen Kopf grunt der Lorber
des Rums, wie das Mos auf dem Kopfe eines altenholzernen Esels
vor einem Stadtore. - - Ich wolte in Riiksicht der Fiirsten wenig
zu meinem Lobe sagen; iezt seh' ich, daB ich viel gesagt habe.
Ich komme nun auf die Hoflinge, die ich vorziiglich begliikke;
334 JUGENDWERKE ■ I . ABTEILUNG
denen ich die yornemste Eigenschaft bin und die mich nur dan
weniger besizzen miissen, wenn sie nicht unverschamt liigen
wollen. - Ein weiser Hofman ist bei einem weisen und bei einem
dummen Fiirsten gleich ser in Gefar; ein dummer macht sich
bei beiden beliebt. - Ein weiser Fiirst wil oft allein weise sein;
er wil iiber seine Untertanen durch seinen Verstand eben so
erhaben sein, wie durch seine Macht, und sein Neid ist oft desto
gefarlicher, da er den beneideten Gegenstand weniger zu iiber-
treffen als zu unterdriikken sucht. Oft liebt er einen Weisen
nur deswegen, weiJ er sich gern von dem bewundern last, der 10
das Schazbare bewundert. Allein immer wird er die Kinder
nachamen, die durch ihre Hande von dem Schmetterling alle
den Schmuk abstreifen, mit dem er in seiner Freiheit schimmerte
- er wird dem Weisen das nemen, was seinen Wert ausmacht,
die Freiheit zu reden. Das Gold des Fiirsten macht die Zunge
des Weisen schwer, wie Blei, und dieser leztere verliert in seinem
goldnen Kafig, gleich den Vogeln, die nur in der freien Luft
singen, mit der Freiheit zugleich seinen Wert, seine Gliikselig-
keit, sein Alles. - Bei einem dummen Fiirsten ist's noch gefarli-
cher, Verstand zu haben; er ist zu dum, ihn zu schazzen; zu 20
stolz,' ihn nicht zu bestrafen. Er wil geschmeichelt sein, und
von denen am meisten, die ihren Wert nicht in seiner Hochach-
tung suchen. Wie wil nun der kriechen, der bios Fliigel zum
Fliegen hat? - nur die vierfiissigen Tiere sind es, die mit ihrer
Zunge die Fiisse ihres Hern lekken, und mit ihren Augen, die
nie gegen die Sonne gesehen haben, aus den Augen ihrer Gebie-
ter Befele zu neuen Erniedrigungen lesen. Ein dummer Fiirst
duldet ausser dem Dummen niemand als den Narren; dieser
ist der Affe, der auf dem Baren reitet. - Aber ein Dummer
komt bei einem klugen und bei einem unklugen Fiirsten gleich 30
gut weg. Jener findet ein Vergniigen darinnen, die an Verstand
zu iibertreffen, die er in allem iibertrift. Ein Zimmer vol einfalti-
ger Hoflinge, die mit ihren Schmeicheleien die Kleinheit ihres
Verstandes und Herzens zugleich verraten, mus ihm eben da's
sein, was dem Apollo die Hekatombe von Eseln war, die ihm
die Hyperboraer opferten. Meistens hat der Fiirst seine Hof-
DAS LOB DER DUMMHEIT 335
linge, wie mancher Reiche seine Bucher, nur des schonen Ein-
bands und des glanzenden Titels wegen; sie sind, gleich den
geschnizten Engeln, die in manchen Kirchen um den Altar
herum zum Schmukke desselben befestigt sind, nichts als Zier-
raten des Trons, deren Gestalt ihren Wert ausmacht. - DaB fer-
ner ein dummer Hofling die Gunst eines dummen Fiirsten er-
halte, dieses braucht nur gesagt zu sein, um bewiesen zu scin.
Wie soke dieser an ienem das hassen, was er an sich selbst liebt?
Wie soke ein Oberer an einem Untern die Feler nicht belonen,
io die die seinigen entschuldigen oder gar. vererenswert machen?
Wenn ein Dummer nichts weiter als dum ist, so ist er am Hofe
gluklich; freilich mus man audi gestehen, daB auf dem Tirone,
wie iibcrhaupt auf hohen Ortern und Bergen, eine Kalte herscht,
gegen die man sich durch die aussere Kleidung verwaren
mus. -
Da sich die Pflicht des Hofmannes auf das Gebot einschrankt,
das achte zu ubertreten, und da es wenig Weisheit braucht, mit
der Zunge Ja oder Nein zu schlagen, wenn des Fiirsten Miene
auf Ja oder Nein hinweist, oder umgekert zu weisen, wenn es
20 schon geschlagen hat: so ist mir ieder Hofman Dank schuldig,
wenn ich ihn von der Biirde der Weisheit befreie, die ihm nicht
bios unnotig, sondern auch schadlich ist. Ich iibergehe, daB er
durch den Besiz der Weisheit die Augen und den Has des Neides
auf sich richtet, und daB oft die Ursache seiner Erhohung die
Ursache seines Falles werden kan; aber ich wil zeigen, daB er
durch mich einer Langweile entgeht, die ieder fiilt, dessen Ver-
stand nicht kleiner ist als seine Erenstelle und seine Vergnugun-
gen. Von Freuden umringt sein, die mer glanzend als schmak-
haft sind, mer begert als genossen werden, und mer den Neid
30 des Zuschauers als die Zufriedenheit des Besizzers erzeugen;
die durch unnatiirliche Reizungen unnatiirlichen Ekkel gebaren
und die Langweile hervorbringen, wie die Warme die Maden
- von Leuten umringt sein, die einander entweder verachten
oder beneiden und beides durch Komplimente zu erkennen ge-
ben, die mit Eitelkeit gesagt und mit Eitelkeit erwiedert werden
- von diesen Leuten umringt sein, wenn ihre Verlaumdungen
336 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
oder ihre Schmeicheleien erschopft sind und die Guten felen,
die man tadeln konte, oder die Bosen, die man loben konte;
wenn ihnen die Geschichte ihres miissigen Lebens keine Unter-
haltung fur die iezzige miissige Stunde darbietet und wenn sie
miide werden zu lugen oder zu tandeln - das ist das Leben eines
Hofmans; ein Leben, welches er nur dan one Langweile verlebt,
wenn ich den Durst seiner Sele nach Ideen auf kleine Ideen ein-
schranke und ihm durch seine eigne Gedankenlosigkeit die Ge-
dankenlosigkeit andrer ertraglich und angenem mache. Meine
Gutigkeit gegen die Hofleute, und mein darausfliessendes Lob 10
ist so gros, daB diese Vater der Liigen mich dan bios loben
wurden, wenn sie mir zu schmeicheln gedachten, und daB sie
mich anbeten wiirden, wenn ich - eines Fiirsten Gestalt an-
name. —
Nun komm' ich auf die Personen, von denen ieder mit der
Achtung reden soke, mit der sie von sich reden - die Personen,
deren lange Reihe von Verdiensten von Jarhunderten anfangt
und sich nicht eher als bei ihrer Konzepzion oder bei ihrer Geburt
endigt, die die Tugenden ihrer Voraltern in ihren Adern herum-
laufen lassen und mit Verdiensten, wie manche mit Zanen, ge- 20
boren werde[n] - ich meine die Edelleute. Diese Menschen
iibertreffen ieden unadelichen unendlich weit; sie haben mir es
also zu danken, wenn sie ieden auch an Dumheit iibertreffen.
Daher erteil' ich ihnen einen Stolz, der bios ihnen eigen ist.
Andre Menschen schazzen sich wegen der Verdienste, die sie
zu haben glauben; aber diese schazzen sich wegen der Ver-
dienste, die sie nicht zu haben glauben, die aber ihre Anen hatten.
Sie verachten denienigen, welcher one edle Geburt die edeln
Taten verrichtet, auf die sie pralen, weil sie sie nicht selbst,
sondern andre sie verrichtet haben. Ihre Vorfaren wurden gebo- 30
ren, rumwurdige Handlungen zu tun; sie werden geboren, dar-
auf stolz zu sein. Sie fiilen ganz ihre Grosse, die Uberreste von
beriimtem Blute tragen zu diirfen — gewis die Esel, welche
ebenfals Reliquien tragen, wurden auch die ihrige fiilen, wenn
sie eine vornemere Dumheit als ihre eigne besassen. Man sieht
leicht ein, daB es die groste Dumheit ist, mit fremden Rume
DAS LOB DER DUMMHEIT 337
zu pralen; allein da nun einmal diese Dumheit die notigste Ei-
genschaft eines Edelmans ist, wie ser verdien' ich Lob, daB ich
sie ihm erteile! Wenn man noch weiter geht, so sieht man, daB
bios ich ihm angehore, ihn gluklich mache. Er kan mich besiz-
zen, und doch zugleich die Weisheit zu besizzen sich rumen:
denn hat er nicht Anen gehabt, die sie besessen haben? Eben
darum, weil er alle Verdienste hat, braucht er nur noch mich
haben. Da ihm sein grosser Wert, d.h. sein Wappen, wie dem
Todtenkopfvogel sein Todtenkopf, angeboren ist, und sich in
10 der Heraldik die schmeichelhafteste Lobrede auf seine Ver-
dienste findet - da an seinem Stambaum alle die Fruchte des
Verdienstes hangen, die er selbst nicht zu tragen braucht, von
denen er aber den Nuzzen geniest, und da er in seiner friihen
Jugend die Heldentat getan hat, durch keinen andern Leib als
den Leib seiner gnadigen Mama, triumphirend und mit erober-
ten Verdiensten beladen, in die Welt einzuziehen - da seine ver-
dienstlose Substanz durch einen Tropfen altes Blut in eine ver-
dienstvolle ist verwandelt worden, so wie das Blei durch die
Tinktur des Alchymisten in Gold verwandelt wird, und da der
20 Rum seiner Vorfaren an ihm glanzt, wie das Bild der Sonne
in der Mistpfuzze — was solt' ihm nun zu seiner Glukseligkeit
in der Welt noch mer notig sein als die Dumheit? »Er hat aber
einen Kopf?« allein er hat ihn nicht zum Denken; er hat ihn
bios, seinen Federbusch darauf zu sezzen - eben so hat er seinen
Degen, nicht um damit zu stechen, sondern urn ihn an der linken
Seite zu tragen. Daher wird unter die geerbten adelichen Ver-
dienste nur das Blut, nicht das Gehirn gerechnet - und iibrigens
pralt ein Edelman nur mit fremder Tapferkeit, nicht aber mit
einer andern als seiner eignen Dumheit. Dieser mein Zusam-
30 menhang mit dem Adel erhebt mich weit iiber die Weisheit,
welche nur mit dem gemeinen Pobel zusammenhangt. Ware
diese grosse Ere nicht meine eigne, ich wiirde iezt - den Stolz
des Adels annemen.
Auch die Stuzzer sollen etwas weniges zu meinem Lobe bei-
tragen. Zwar weis ich, daB sie Narren sind und also nicht in
mein Gebiete gehoren; aber ich weis auch, daB sie zu ser Narren
33o JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG
sind, um nicht Dumme zu sein. Allein ihre Dumheit wird durch
ihre modischen Narheiten schazbar gemacht. Ihre Bestimmung
in der Welt ist, den Damen anstat der Merkazzen, die einige
halten, zur Belustigung zu dienen und durch manliche Torheiten
die weiblichen zu vereren und anzubeten; was ist ihnen daher
unnotiger als der Verstand, oder notiger als die Dumheit?
Darum tanzt ein Stuzzer iiber das ganze Mer der Wissenschaften
mit franzosischem Hiipfen, wie die Mtikke iiber das Wasser;
darum erhalt er sich mit seinem Stolze auf der Oberflache der
menschlichen Kentnisse, wie der Fisch durch die Ausdenung J0
seiner Blase auf der Flache des Wassers, und sinkt nie defer,
um Perlen zu suchen. Jede seiner Ideen entsteht, hiipft und ver-
geht in seinem Gehirn, wie ein Irlicht im Sumpfe; er liest, um
in der nachsten Assemblee zu sagen, daB er gelesen habe, und
azt, gleich den Taiiben, den andern mit unverdautem Futter;
seine groste Wissenschaft besteht darinnen, alle zu verachten,
und sein groster Stolz ist, Kleinigkeiten zu wissen; seine Sele
ist schones und weises Postpapier, welches die Damen mit ihren
Einfallen beschreiben, und sein Gedachtnis ist das Gefas der
Uneren, welches die schmuzigen Galanterien von Geselschaft 20
zu Geselschaft tragt. Auf diese Weise braucht er nichts zu den-
ken, wenn er nur iiber alles reden kan; er kan unwissend sein,
wenn er nur stolz ist; er kan dum sein, wenn er nur ein Nar
dabei ist. Doch ich habe selbst zuviel Lob, um es von denen
zu betteln, deren Rum geschwinder vergeht, als ihre Torheiten
und ihre Jugend. -
Jeder Stand hat mir von seinem Rume etwas mitgeteilt; nun
komm' ich auf dieienigen Menschen, die, ausser ihren Mazenen,
niemand als sich loben, auf die Gelerten. Ich weis zwar, daB
sie Freunde der Weisheit sind; aber ich weis auch, dafi sie nie 30
aufgehorthaben, die meinigenzu sein, und daB ihre Verbindung
mit meiner Feindin nicht mer bedeutet als die Verlobung des
Doge von Venedig mit der adriatischen See. Sie streiten nur
deswegen gegen mich, um die Weisheit zu besiegen; alle ihre
Fechtereien mit mir sind nur ein Schauspiel fur den Zuschauer,
dessen Ausgang mich mit ihnen noch fester vereinigt - eben
DAS LOB DER DUMMHEIT 339
so schlagen sich in einem gewissen auto sacramentale Christus
und der Teufel mit Fausten, und tanzen zulezt mit einander eine
Sarabande. Sie gleichen den Mannern, die Hagestolze sind, um
des Nachts besser das Gegenteil sein zu konnen. Freilich ist ihre
Dumheit nicht die gewonliche - andre haben sie von der Natur,
aber sie haben sie sich auf den Schulen und Universitaten mit
vieler Miihe und vielen Kosten erworben; andre geben ihre
Dumheit in ihrer Landessprache zu erkennen, aber sie driikken
die ihrige durch zusammengesuchte Zizero'sphrasen aus; andre
io besizzen noch einen Gran von gesundem Menschenverstande,
allein sie schamen sich dessen, was die Bucher nicht leren. Kein
andrer als der Dalai Lama kan sich der Ere rumen, daB seine
Exkremente bis an den Hals der Konige gelangen und eben so
begierig gesucht und fur eben so selten gehalten werden, wie
der Herausgeber derselben - eben so diirfen nur die Gelerten
die Exkremente ihres Geistes um vieles Geld verkaufen und ih-
ren Unsin weit und breit verhandeln. Ich glaube daher, daB
man einstens keine Gelerte in der Holle antreffen wird - etliche
verminftige ausgenommen. So wie die Hollander den Japanern,
20 die ihnen als Christen ein Begrabnis in ihrer heiligen Erde ver-
sagten, vorstelligmachten, daB sie keine Christen, sondern Hol-
lander waren; eben so konnen die Gelerten dem Petrus, wenn
er ihnen wegen einiger Anlichkeit mit den heidnischen Weltwei-
sen den Himmel verschliessen wil, kek und getrost die Nach-
richt erteilen, daB sie keine vernunftigen, sondern gelerte Leute
sind. - Wozu dies alles? bios um darzutun, daB mein Zusam-
menhang mit den Gelerten nicht scheinbar, sondern wirklich
und fest ist, und daB ich ein Lob verdiene, welches die Weisheit
eben so ser erniedrigt, als es mich erhebt. Aber nun wil ich
30 auch zeigen, daB die Gelerten Vorteile haben, meine Vererer
zu sein.
Das Bucherschreiben macht die Hauptbeschaftigung eines
Gelerten aus, so wie das Weben der Nezze die der Spinnen;
hier also mus ich vorziiglich meinen Einflus zeigen und meiner
Ere Monumente errichten, die so lang als Papier und Drukker-
schwarze dauern. - Die Gelerten haben verschiedne Bewe-
340 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
gungsgriinde, warum sie Biicher schreiben; allein die meisten
dieser Bewegungsgriinde lassen sich one Zwang aus den reizen-
den Saften des Magens herleiten. Ich wil einige Bewegungs-
griinde zur Autorschaft, die doch alle nah oder entfernt mit
dem Hunger zusammenhangen, anfuren, um meine Einwir-
kung auf die meisten Schriftsteller zu erweisen. Einige schrei-
ben, weil sie zu ieder andern Arbeit als dem Bucherschreiben
verdorben sind, und zu wenig wissen, um iemand anders als
das ganze Publikum unterrichten zu konnen - andre, weil sie
das drukken wollen lassen, was zwar unter dem Namen des 10
Verfassers, aber noch nicht unter ihrem eignen Namen gedrukt
ist, und weil sie lieber aus den Buchern als aus den Kasten des
andern ihren Unterhalt mausen wollen - einige schreiben, um
zu beweisen, daB sie iung sind und eine fruhzeitige Schande
kluglich einem spaten Rume vorziehen - andre, weil sie ihre
Feder so wenig als ihre Kriikke entberen konnen und die Menge
ihrer Jare durch die Menge ihrer Schriften beweisen wollen,
durch Schriften, die an ihnen, wie die Schwamme an faulen
Baumen, herauswachsen und die, gleich den zulezt ausgebriite-
ten Jungen des Zaunkonigs, noch schwacher als ihre Vater sind 20
-einige schreiben, weil sie vermoge ihrer Amtspflicht alle halbe
Jar ein Pasquil auf sich in lateinischen Worten verfertigen miissen
- andre, weil sie sich durch das Schreiben alles Unrats ihrer
Sele entledigen wollen, um von den Besichtigern der geistigen
Exkremente den Zustand ihrer Krankheit zu erfaren - einige
schreiben, um zu beweisen, daB sie Weiber, hochstens Herm-
aphroditen sind, und durch ihr Singen (bekantlich lieben die
Schonen die Verse) darzutun, daB die schonsten Vogel nicht
am schonsten singen - andre schreiben, um von aller Geistesar-
beit auszuruhen, oder um sich von einer Krankheit zu erholen, 30
oder um einen Rausch zu - verschreiben, oder um miissig zu
sein und miissige zu machen. - - Alle diese Schriftsteller mach'
ich zu Schriftstellern und zu gluklichen Schriftstellern; ich zeige
ihnen alien ihre gegenwartige Schande in Miniatiir, und ihren
kiinftigen Rum in Riesengestalt; ich gebe ihnen Starke, die Un-
bequemlichkeiten, die sie empfinden, fur die Vorteile zu ertra-
DAS LOB DER DUMMHEIT 341
gen, diesie hoffen, und mache sie so gliiklich, daft sie sich durch
den gehoften Genus einer Ere betriigen, die nie wirklich wird,
und daB sie ihren Verleger um ein Geld betriigen, dessen niizli-
che Wirklichkeit sie mit Vergnugen empfinden. -
Einige Arzte leiten aus dem Magen alle Krankheiten her; ich
wolte noch leichter aus dem Magen den Ursprung der meisten
Schriften erklaren. Der Magen sezt einen Gelerten, der seinen
Korper nicht so wie seine Sele mit Luft und Wind naren kan,
in ein gelertes Feuer, und die von unten aufgestiegnen Diinste
10 erhellen durch ihre Entziindung das ganze Ideengebiete des Au-
tors so ser, daB er Iauter neue Warheiten sieht und dem Drange
endlich weicht, sieim Drukke mitzuteilen. Daher befordert eine
Teurung die Erfindungen in der gelerten Republik ganz unge-
mein, und ieder Miswachs an Getraide zeugt eine reichliche
Erndte von Biichern. Daher gleichen die meisten Gelerten den
Tieren, die ihre Stimme nicht eher horen lassen, als bis sie der
Hunger reizt. Daher gleicht der Magen der Hole Aol's, aus wel-
cher die vier Hauptwinde, theologischer, iuristischer, medizini-
scher und philosophischer, hervorbrechen 4 . Da ich nun mit
20 grosser Griindlichkeit bewiesen habe, daB der Magen die Finger
anreizet, nach der Unsterblichkeit zur Verlangerung des Lebens
zu greifen: so hab' ich zugleich schon halb bewiesen, daft ich
die Mutter, wenigstens die Amme der, in Hunger empfangnen
und gebornen, Geisteskinder bin. Wer giebt dem Autor die
Hofnung, daB seine Schriften eben so hungrig werden gelesen
werden, als er sie gemacht hat? nur ich. Ich bin seine Leiterin
4 Ich kan nicht umhin, hier etwas in Riiksicht der wissenschaftlichen
Winde, aus einem alten hundertiarigen Kalender anzufuren. Die Sache
gehort zwar nicht hieher; aber eben darum steht sie in einer Note.
30 »Theologischer Wind bedeutet Krieg und Blutvergiessen, erregt Staub
und fiirt finstre Wolken und schrekliche PIazregenherbei« - »iuristischer
nimt, gleich einem Wirbelwind, alles mit sich hinweg, dekt Dacher
ab, reist die Kleider vom Leibe und raubt alle Geratschaften und sogar
das Bette aus den zerstorten Hausern weg« - »medizinischer ist mit
pestilenzialischen Diinsten angefiilt, verleiht einigen Gesunden die
Krankheit, und alien Kranken den Tod« - » philosophischer bringt viel
Kalte und Schneegestober, bei Nordscheinen und langen Nachten.« -
342 JUGENDWERKE * I. ABTEILUNG
auf dem Wege zum Brod - derm sonst wiirde er sich es einfallen
lassen, zu denken, eh' er das Buch machte, und langer zu denken,
als ihm seine Safte Kraft zum Denken verliehen. One mich
wiirde sich bei seiner Arbeit sein Kopf mer als seine Hand be-
schaftigen, und anstat viel zu schreiben, wiirde er gut schreiben;
ia one mich wiirde er sogar das Schlechte verbessern und ein
Lob one Gewinst hoherschazzen als einen Tadel mit Nuzzen
begleitet. Allein alien diesen Ubeln helf ich ab, indem ich einem
Autor zeige, daB Lobeserhebungen einer noch ungebornen Welt
weit weniger sattigen als ein Gewinst in der gegenwartigen und 10
daB das Verlangen des rebellischen Magens weit eher befriedigt
werden miisse als die Begierde des wolliistigen Ores nach Rum;
indem ich ihm anrate, zwar schlechte, aber doch viele Biicher
zu schreiben und sich durch neue Schande neuen Unterhalt zu
verdienen; mit den Worten weit verschwenderischer als mit den
Gedanken umzugehen und einen guten Einfal vorbedachtlich
mit einem Her schlechter zu begleiten, um den Leser durch das
Korngen zu iiberraschen, das er auf dem Miste findet; indem
ich ihn gewone, besser von sich als von iedem anderfn], und
schlechter von dem Verniinftigen als von seinem Feinde zu re- 20
den, ein erschlichenes Lob ewig zu wiederholen und einen emp-
fangnen Tadel durch tadelhafte Schriften zu rachen, immer we-,
niger selbst zu lernen, um merere Zeit auf die Belerung des
Publikums verwenden zu konnen, und nur dan die Feder nieder-
zulegen, wenn die Faulheit den Hunger besiegt, und die Schwa-
che der Augen und Hande das fernere Stelen verbietet. -
Manche werben durch ein Buch um ein Amt; auch bei diesen
verricht' ich die Hauptsache: denn ich mache die Dedikazion,
gegen welche sich das Buch als ein Anhangsel verhalt. Ich
schmeichle dem Gonner mit alien den Liigen, die sein Stolz 30
erwartet und oft kaum erwartet, und erweise ihm eine Erfurcht,
die er sich selbst noch nicht erwiesen hat. Daher waT ich allemal
einen solchen, der gerade soviel Feler hat, als ich ihm Tugenden
beilegen wil - denn auf diese Weise wird er die Freigebigkeit
des Autors in guten Eigenschaften, durch eine andre Freigebig-
keit erwiedern, und wenigstens dem, der gelogen hat, beweisen
DAS LOB DER DUMMHEIT 343
mtissen, daB er nicht gelogen hat. Schriftsteller gleichen den
Betlern, die die Woltatigkeit der Vorubergehenden erheben, urn
die Wirkungen derselben zu erfaren. -
Ferner helf ich denen Schriftstellern, die schlechte Bticher
schreiben,. um gute zu verdrangen, und die in der Vertilgung
eines fremden Rums ihren eignen suchen. Diese beflekken ent-
weder die Ere ihres Gegners durch falsche Verlaumdungen, oder
widerlegen seine Behauptungen durch scheinbare Einwiirfe; ie-
nes verrichtet eine niedrige, dieses eine gelerte Dumheit - eben
10 so besprizt entweder der nasse Kot die Kleider, oder verhindert
als aufwallender Staub das Sehen. - Und endlich verlass' ich
auch dieienigen nicht, die einen Rum darin suchen, bei der
Nachwelt durch ihre Schande bekant zu sein, und die lieber
verachtet als vergessen sein wollen. Durch den Verlust ihrer
Ere erhalten sie dieselbe Ewigkeit, die andre durch den Glanz
ihres Rums erhalten. Ich erteile ihnen meine Gaben in solchem
Masse, daB sie den Anschein von seltnen Misgeburten bekom-
men und deswegen von einem grossen Naturkenner durch den
scharfen Spiritus seiner Satire den Nachkommen aufbehalten
20 werden. Ein Jurieu, ein Dennis, ein Freron, etc. etc. etc. haben
nur durch meine Hulfe iiber die Zeit gesiegt und einen Namen
errungen, der langer dauert als ihre Schriften, die im Kramladen,
ihrem Erbbegrabnisse, verwesen. -
Nun komm' ich'auf einzelne Wissenschaften. Hier wird man
vorziiglich bemerken, daB ich immer da den meisten Rum ein-
samle, wo meine Vererer den Namen meiner Feinde tragen,
und daB ich an den Orten am meisten hersche, wo der Name
der vertriebnen Weisheit nur dadurch bekant ist, daB ich ihn
fure. - Die ersten, die mir mit siegreichen Federn in der Hand
30 oder hinter dem Or, und mit lateinischen Lobgesangen im
Munde, entgegenkommen, sind dieienigen, die schwarze Klei-
der zum Unterschied von denen tragen, die bunte tragen - viel-
leicht um die Indianer nachzuamen, die ihre Zane schwarzen,
um sich von den Tieren zu unterscheiden, die weisse haben.
Doch ich habe vergessen, daB ich zu einer Zeit rede, wo fast
der halbe Stam der Theologen von mir abgefallen ist, und wo
344 JUGENDWERKE • I.ABTElLUNG
.ich deswegen eine aufrichtigere Betnibnis fiile als die einer
Witwe, die so hinter ihrem Flore trauert, wie ihre, ebenfals mit
Flor bedekten Pferde. Ich wil einige Blikke zuruk in die ver-
gangnen Jarhunderte tun, damit man meine vorige Macht be-
wundern und meine iezzig'e nicht verachten lerne. Wie kurz war
das goldne Alter der Dumheit, wo die Monche rnachtiger als
die Vernunft, und noch furchterlicher als ihre Leren waren, die
Monche, welche die Dumheit kanonisirten und das Denken zu
einem Verbrechen machten; die das Licht der Weisheit mit dem
Feuer der Holle verbanden, und den Himmel nur denen ofneten, 10
die ihre Dumheit besassen oder belonten; die sich aus der Bibel
und aus den alten Weltweisen Schazze von Unsin sammelten,
und den Heiligen aus christlichen und den Gelerten aus heidni-
schen Absurditaten zusammensezten; die durch Wolken von
dunklen und sinlosen Worterfn] die Maiestat der theologischen
Dumheit verkiindigten und durch die Sprache der alten Weisen
ihrem Unsin das Ansehen gaben, das sich der Esel durch die
Lowenhaut giebt; die zuviel Glauben hatten, um Vernunft zu
haben, und Macht genug, ihre Meinungen one Beweise zu be-
weisen; die von den Weisen, welche in den Klostern, wie Lam- 20
pen in den Grabern, umsonst leuchteten, gefurchtet und vereret
wurden, und von dem Dummen die Belonung fur die Dumheit
erhielten, die sie selbst hatten und andern predigten; die Stadhal-
ter in meinem Reiche waren und die Granzen desselben bis in
eine unentdekte, ia bis in eine kiinftige Welt erweiterten! —
Doch von ienem erwiirdigen Alter ist auch iezt noch mer ubrig
als die Veranlassung zum Spot iiber dasselbe, und iene Streiter
der Dumheit haben noch mer hinterlassen als ihre verrosteten
Waff en gegen die Weisheit. Sie leben no'ch halb in ihren Nach-
kommen, und mit ihnen mein Lob. Von denen nun, die die 30
alte Dumheit mit neuen Waffen verteidigen und das Erbstuk
von vaterlichem Unsin nicht one Miihe und one Vorteil an-
bauen, wil ich iezt reden - und zeigen, daB ich einen eben so
grossen Einflus in unbegreifbare Biicher habe, als in unverniinf-
tige, und daB keinem Dummen seine Dumheit notiger sei als
dem Theologen die theologische. -
DAS LOB DER DUMMHEIT 345
Die Polemik oder die Streittheologie ist das Zeughaus alles
grossen und kleinen Gewers, das man zur Besiegung der Ver-
nunft gebraucht. Man wird also voraus mutmassen konnen,
daB ich, gleich den homerischen Gottern, meinen Helden am
meisten in iedem gefarlichen Streite beistehe, und dafi die Starke
der Dumheit am vorziiglichsten in ihrer Verteidigung glanzt.
Ich wil daher einen theologischen Krieg kurz beschreiben. Man
hat viele Arten zu widerlegen; die beste ist, nicht zu widerlegen,
sondern zu schimpfen. Ein ieder achter Polemiker sezt es als
to ein Postulatum voraus, daB ein aufgeklarter Kopf nur bei einem
bosen Herzen stat finde. Daher iammert er iiber die, in Schafs-
kleider vermumte, Wolfe, und glaubt sie durch sein Bellen ab-
zutreiben. Daher schreiet dieser Wachter Zion's Feuer bei der
Erblikkung eines Funken von Vernunft und sucht die christliche
Kirche durch das Mittel zu retten, durch welches die Game das
Kapitol retteten. Daher klagt er iiber seinen Gegner, daB er gar
nichts glaube, weil er das Unglaubliche nicht glaubt, und daB
er seine Vernunft so ungefesselt herumgehen lasse, da sie schon
langst von dem Glauben eines Theologen hatte in Ketten und
20 Banden gelegt sein sollen; daher macht er die wichtigen Mut-
massungen, daB nun die garize Welt werde mit Blindheit ge-
schlagen werden, weil man schon anfange, im Finstern nicht
zu sehen, und daB sich die Tugend mit der Dumheit verlieren
und der Verstand der Heiden die Laster derselben bewirken
werde. Nicht selten wird ein Gegner durch dieses Verfaren so
widerlegt, dafi er sich nicht mer zu antworten getraut, und mer
vor der Stimme des Dummen als vor dem Kopfe desselben er-
zittert - eben so sol der Elephant vor dem Grunzen des Schwei-
nes erschrekken - allein nicht immer. Nachdem daher ein Theo-
30 log die Schwachheitssunde begangen hat, seinem Gegner
wirkliche Siinden anzudichten: so mus er auch wirkliche Dum-
heit genug besizzen, um demselben eine untheologische zuzu-
schreiben. Dieses ist leicht: denn ich tue hier fast mer als die
Feder des Polemikers; er ist hier ganz Duns. Er sezt in seiner
Streitschrift voraus, daB ein ieder andrer Irtum als ein neuer
hochgeschazt und durch keine Widerlegung entheiligt werden
34-6 JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG
musse, daB eine alte Liige den Wert einer alten Warheit habe
und daB man einen sinlosen Saz, wo nicht zur Erleuchtung des
Verstandes, doch zur Erwarmung des Herzens beibehalten
miisse; er beweist griindlich, daB man der Vernunft der Alten
mer als der iezzigen trauen konne, daB man weit sicherer mit
den Alten als den Neuen irre und einen nachgebeteten Irtum
mit besserm Gewissen hegen konne als einen aus Griinden ge-
glaubten; er bedient sich hie und da der Philosophie, um besser
das Verniinftige zu widerlegen, er sezt seine Worter nach den
syllogistischen Regeln zusammen und beweist endlich aus dem 10
Sazze vom Widerspruch die Warheit widersprechender Dog-
men; er teilt das Einfache durch das Messer der theologischen
Distinkzion in unsichtbare Teile und weis die Richtigkeit einer
falschen Unterscheidung durch eine neue zu erharten; er ist
scharfsichtig genug, alles das in der Bibel zu finden, was er
darinnen sucht; ia sogar das nicht darinnen zu finden, was er
nicht darinnen sucht; er versteht die Kunst, aus iedem Spruch
die Grundlage zu einem System herauszuschneiden, wie iener
aus einer Kuhhaut ein Karthago, und immer die Erklarung zu
walen, die sich von der Vernunft am weitesten entfernt; kurz 20
er ist geschikt, eine Sache zu verteidigen, die weniger wegen
ihrer Warheit als ihrem Alter eine Verteidigung verdient. --
Auf diese Art beweist er seine Meinungen, oder, was einerlei
ist, bestreitet die seines Gegners.
Ist nun ein Saz so bose und kezzerisch, daB er sich nicht wider-
legen last: so wird ein achter Polemiker den Urheber desselben
ser leicht verhindern konnen, ihn zu verteidigen. Er wird einen
Machtigen, der den Duramen, so wie den Kot an den Fiissen,
hinauf zu seinem Trone bringt, leicht dahin zu bewegen wissen,
daB er den hier ungluklich macht, der es dort sein wird, daB 30
er einem Kezzer verweret zu denken, um ihn besser zu iiberzeu-
gen, und ihn zwingt, dum unter Dummen zu reden und alge-
meingeglaubte Lugen nicht zu widerlegen, sondern zu unter-
stiizzen. Freilich ist hier eine grosse Liikke in der Streittheologie;
man vermist eine der wichtigsten theologischen Beweisarten
- ich meine den Scheiterhaufen. Wenn sonst ein hartnakkiger
DAS LOB DER DUMMHEIT 347
Gegner den Theologen den Sieg erschwerte, so kamen alle mit
Fakkeln in der Hand auf ihn zu, nicht um ihn aufzuklaren, son-
dern um ihn zu verbrennen - eben so besiegte Hannibal durch
eine Herde Ochsen, mit brennenden Materien auf den Hornern,
die Romer. Da nun die Theologen den Klugen nicht mer durch
das Scheiterhaufenfeuer in das hollische Feuer schikken diirfen:
so fangen sie freilich an, meiner Beihiilfe ungeachtet, nicht alle-
mal Rechtzu haben und durch ihre Schlusse minder zu iiberzeu-
gen, weil ihnen die Anwendung der theologischen Logik versagt
10 ist. — Aus diesem alien sieht man deutlich, daB man nicht dum
genug sein kan, um ein Polemiker zu sein, daB man nur durch
meine Hiilfe den alten Unsin durch neuen verteidigt und sich
da am meisten vor dem Denken hiitet, wo man nicht nachbe-
tet. -
Aus diesem folgt, daB ich auf die Dogmatik 5 eben so viel
Einflus habe, als sie auf meine Ere. Wenn die Dogmatik, welche
die ganze Theologie umgranzt, wie die sinesische Mauer Sina,
weniger dazu dient, neue Einsichten zu verschaffen, als neue
Einsichten zu verweren, und nur dazu geschikt ist, aus Dummen
20 Kezzermacher, und aus Klugen die Schlachtopfer derselben zu
machen; wenn sie sich wie ein verschlungenes und verwirtes
Gewebe iiber die ganze Religion ausbreitet, um den Weisen zum
Aussaugen fur den Unweisen zu fangen; wenn sie ein aus Wor-
ten errichtetes Gebaude ist, in dem heidnischer Unsin den Ek-
stein ausmacht, und ein von Monchshanden gemachter Tempel,
in dem man die Dumheit verert; wenn sie gerade das enthalt,
was kein andrer als ein Lerer brauchen kan, wenn er seine Zuho-
rer betriigen wil, und gerade so viel Sin hat, um iiber das Dasein
5 Ich mdchte den Schonen und den modischen Stuzzertheologen
30 gerne begreiflich machen, was Dogmattkheist; allein der Name derselben
ist eben so schwer zu verstehen, als die Sachen, die sie enthalt. Nur
merke man das: ein Buch, das wolklingend und verstandlich geschrieben
ist, ist schwerlich eine Dogmatik T ein Buch, das verniinftig geschrieben
ist, ist sicherlich keine Dogmatik - ein Buch, das ubelklingend, unver-
standlich und unverniinftig geschrieben ist, ia das ist unfelbar eine Dog-
matik. -
348 JUGENDWERKE * I.ABTEILUNG
desselben ewiges Zanken zu naren; wenn sie, der Bibel eben
so unanlich als widersprechend der Vernunft, beide zu Stiizzen
ihres Luftgebaudes wait und durch beide einen Unsin erweist,
den durch beide ein Kluger widerlegt - wenn die Dogmatik
dieses alles ist und tut, so mus man gestehen, daB ieder ihrer
Gegner, ihr zu Eren, verdiene, zur Erwarmung seines Herzens
gebraten, und zur Erleuchtung seines Verstandes verbrent zu
werden; allein man mus auch gestehen, dafi ich wegen meiner
Gikigkeit besonders verdiene, ein Freudenfeuer zu erhalten,
welches die Teile meiner geopferten Feinde, in Gestalt einer 10
Weihrauchswolke, hin zu meinem Trone sendet und mir den
heilsamen Einflus der Dogmatik auf das Gliik meiner Vererer
und auf die Vergrosserung meiner Herschaft, in den Oberresten
der verbrenten Weisen zeigt. Ich hore ungern auf, von der Dog-
matik zu reden; aber ich fange gerne an, von den Predigten
zu reden. Kein Jiingling kan seine erste Predigt hoher schazzen,
als ich eine iede, die nicht philosophisch, sondern theologisch
ist. Ja ich wiirde auch eben deswegen meiner Lobrede eine Pre-
digt erteilt haben, wenn ich nicht besorgt hatte, man mdchte
sie fur eine - Leichenpredigt ansehen und ihr daher noch weniger 20
als einem Liigner glauben. Man wird sich sogleich liberreden,
daB die Dumheit die meisten Predigten inspirire, wenn ich sage,
daB eine Predigt ein Ding ist, das ser leicht im Schlafe gemacht,
aber schwer one Schlaf angehort werden kan, und das nur der
liest, der es tadeln, oder seine Sunden durch die Langweile ab-
biissen wil; ein Ding, in welchem weder Warme noch Licht
ist, und in welchem schlechte Gedanken in schlechter Sprache
gesagt werden; ein Ding, welches eben soviel Geheimnisse als
Hebraismen enthalt, die beide vom Prediger one Verstand vor-
gebracht und vom Zuhorer one Verstand gehort werden; und 30
endlich ein Ding, welches Einen Gedanken so weit ausdenet,
wie die Niirnberger ein Pfund Messing, und mit Einem, in
Worten aufgelosten, Gedanken einen Raum von acht Seiten an-
ftilt, so wie man mit Einem, in Wasser aufgelosten, Gran Kar-
min eine acht Ellen lange und hohe Wand befarben kan. DaB
ich die meisten Predigten verfertige, dies folgt auch daraus, weil
DAS LOB DER DUMMHEIT 349.
so viele geschrieben werden, und noch mer, weil so wenige
gelesen werden. Mer kan ich nicht zu meinem Lobe sagen; aber
ein Leichenprediger konte wol noch mer. -
Ich iibergehe die ubrigen theologischen Schriften, die Gebet-
biicher, die aus ser riirenden Worten und morgenlandischen Re-
densarten, zur Beforderung der Deutlichkeit, zusammengesezt
sind und von dem Verfasser kurz vor dem Einschlafen oder
ser kurz nach dem lezten Morgentraum verfertigt werden, urn
das Schlafen und Traumen des Lesers und also seine Andacht,
10 moglichst zu befordern - die Betrachtungsbiicher, die auf ieden
Tag im Jar eine probate Anweisung geben, nichts zu denken,
und die ubrigens anstat der starksten Opiate von preshaften Se-
len nicht one Nuzzen gebraucht werden - die prophetischen
Bucher, die in den Potentaten die Originale von den apokalypti-
schen Tieren finden, wie der Astronom in einer Anzal von Ster-
nen die Anlichkeit mit den Erdentieren, und die inspirirte
Traume durch menschliche erklaren; die ihr Verfasser drukken
last, weil er sich freut, sich selbst nicht verstanden zu haben,
und weil er hoft, von seinen Lesern eben so wenig verstanden
20 zu werden, oder vielmer weil er gedenkt, sich durch den Ge-
winst von denselben die Ausgaben wegen der Nieswurz zu er-
leichtern, u.s.w. Alle diese ser theologischen Schriften haben
meiner Existenz die ihrige zu danken und sind bios durch meine
Hiilfe aus Embryonen from mer Gedanken und Traume be-
trachtliche Oktavbande geworden. - Ich habe genug von den
theologischen Geisteskindern geredet; aber ich habe noch nichts
von ihren Vatern gesagt. Es ist leicht zu zeigen, dafi ich mit
den Geistlichen in einer nahern Bekantschaft stehe als die hebra-
ische Sprache, und daB- sie durch mich eben so leicht in den
30 Schafstal gelangen als durch eine - Schaferin. Bios durch mich
bekommen und verwalten sie ihr Amt. Gewonlich fordert sonst
nur der Gonner die Dumheit, wenn er das Amt erteilt; aber
hier fordert sie auch der Examinator, wenn es erteilt ist. Die
Weisheit ist in den heiligen Landern, wie in andern fremder
Schnupftobak, Kontrebande; wer nicht reich genug ist, sich mit
den Visitatoren abzufinden, oder listig genug, sie zu betriigen,
350 JUGENDWERKE ' I.ABTEILUNG
der verliert durch dieselbe Sache sein Gluk, die es zu befordern
verhies. Dieienigen Geistlichen also haben mir schon viel zu
danken, die durch die angenommene Larve der Dumheit den
Lon der Weisheit erhalten; allein dieienigen noch unendlich mer,
die durch den wirklichen Besiz derselben gluklich werden.
Durch mich wird ferner ein Geistlicher sein Amt mit weniger
Miihe verwalten, weil ihm die Aufklarung seiner Zuhorer eben
so gleichgultig ist, als die seinige; er wird weniger dem Neide
derer,ausgesezt sein, die wegen der Gkichheit des Standes die
Gleichheit der Dumheit erwarten und zu faul und zu stolz sind, 10
nach dem beneideten Gute zu trachten; er wird weniger den
Has derer erfaren, deren vornemere Dumheit durch den Anblik
der geringern Weisheit beleidigt wird, und die nur solchen befe-
len wollen, die sie verachten konnen; er wird leichter Predigten
machen, in denen sein Oberer nichts von Kezzerei und Vernunft
wittert, in denen seine Kollegen den gestolnen Unsin aus zwan-
zig Postillen, bewundern, in denen sein Schulmeister den Stem-
pel seines eignen Genie's mit Neid bemerkt, und die in der abge-
lebten Matrone die Tranen auspumpen, mit welchen sie in den
alten Siinden das Unvermogen zu neuen beweint; kurz er wird 20
durch mich leichter der Man werden, von dem man nach seinem
Tode riimt, daB er erbaulich gepredigt, exemplarisch gelebt,
und sogar niemals - gedacht hat. - Man sieht hieraus, daB ich
eben so verdiente, kanonisirt zu werden, wie dieienigen, die es
bios durch mich gewordensind. Zwar hab' ich noch keineWun-
der getan; aber wie leicht konte man mich sie nicht tun lassen? -
Nun kommen dieienigen erlichen Leute, die mer von der
Dumheit andrer als von ihrer eignen leben, die durch die Ver-
schwendung der Dinte, wie der Dintenfisch durch die Auslas-
sung einer schwarzen Feuchtigkeit, eine Dunkelheit um sich 30
verbreiten, durch welche sie ihren Raub beriikken, oder ihren
Raubern entgehen, und die als Diebe gegen Diebe schuzzen,
wie die Banditen in Italien gegen die Banditen - ieder wird so-
gleich erraten, daB ich niemand anders als die Rechtsgelerten
meine. Diese Leute verstehen die Kunst, iede Warheit zu wider-
legen - eben deswegen mag ich ihnen diese nicht sagen, daB
DAS LOB DER DUMMHEIT 35I
sie oft ser dum verteidigen oder anklagen und noch dummer
richten; aber diese wil ich ihnen weiter unten sagen, daB sie
die Dumheit andrer ser zu benuzzen wissen. Dies einzige sezze
ich hinzu, daB bei ihnen die Gesezze meine Stelle vertreten, und
daB sie das von den Romern erhalten, was andre von ihren Va-
tern erhalten. —
Nicht viel mer kan ich von den Arzten sagen! Sie selbst kennen
mich nur unter einer griechischen Gestalt oder glauben ihrer
Praxis das schuldig zu sein, was sie mir schuldig sind. Es ist
10 gewis, daB ihnen die Weisheit ser unnotig ist, wenn sie einen
Kranken durch ein Todesurtel d. h. ein Rezept, vom Leben zum
Tode bringen. Es ist warscheinlich, daB zum Hinrichten nicht
viel Verstand gehore, da die Arzte so viele dumme Nebenbuler
haben. In iedem Orte giebt's alte Weiber, die die Pazienten tod-
ten, welche von rechtswegen bios der dasige Medikus todten
soke - und der Unterschied zwischen ienen und diesem ist nur
der: daB iene deutsch, dieser griechisch, iene nach den Grund-
sazzen der Grosmutter, und dieser nach den Grundsazzen des
Grosvaters oder auch des Hippokrates mordet. Doch die Arzte
20 sollen mir fur ihre Dumheit kein Lob erteilen; sie sollen nur
dafiir - alle Weisen heilen.
Die Philosophen borgen von der Weisheit ihren Namen; allein
die meisten derselben borgen von mir das, was sie unter diesem
Namen verbergen. Sie sind nach den Theologen dieienigen, die
am tapfersten fur meine Herschaft fechten, Sie sind die Erfinder
des Unsins, den der Theologe kanonisirt; sie demonstriren das,
was dieser predigt, und leihen ihm die Waffen der Vernunft
zum Streite gegen die Vernunft. Mein Einflus auf sie ist noch
viel gewisser als ihre Demonstrazionen, und one Paragraphen
30 werd' ich be weisen konnen, daB ich die Urheberin des Unsins
bin, den sie in Paragraphen zerstiikken. Zuerst von der Logik,
die nur deswegen denken lert, damit niemand denken lerne! -
Es ist kein Wortspiel, wenn ich sage, daB die Logik am besten
one Logik geschrieben und die Kunst zu denken am besten durch
Nichtdenken gelert wird: denn es ist eine Warheit, die aus dikken
Logiken, one Syllogistik geschlossen werden kan. - Man wird
352, JUGENDWERKE ■ I.ABTEILUNG
dieses sogleich einsehen, wenn ich die Entstehung einer gewon-
lichen Logik bei ihrem Verfasser beschrieben habe. Wenn dieser,
eh' er seine Gehirnfibern oder seine Feder in Bewegung sezt,
durch die Vernunft eines andern 6 auf den unscholastischen Ge-
danken gerat, daB die Logik nichts als eine Psychologie sei, daB
sie nicht denken lere, sondern die Gesezze des Denkens und
ihr Verhaltnis zur Warheit erforsche, und also weniger Termen
und mer Erfarungen und keine Regeln enthalten musse, u. s. w.:
- dan komm' icb zu ihm in feierlicher Gestalt, in Gestalt seines
alten Schullerers, oder des Aristoteles. Logischer Ernst furchet 10
auf meinem Gesichte philosophische Linien und grabt tiefsin-
nige Runzeln; die Wichtigkeit meiner Miene verkiindigt die
Wichtigkeit des Spielzeugs der Kinder auf dem Katheder. Ich
lasse ihn zuriiksehen in iene Zeiten, wo der fette Monch in seiner
Zelle iiber Distinkzionen und Term en briitete und seine Phanta-
sie mit dem Unsin seiner Vorganger beschwangerte, um neuen
zu gebaren: wo die scholastischen Esel die Disteln der Dialektik
abgrasten, wo Okame und Skotusse zwei Here von exerzirten
Dunsen gegen einander anfiirten, um Dumheit durch Dumheit
zu besiegen. Ich zeige ihm den Aristoteles, wie an ihm nichts 20
mer sichtbar ist als der Unsin seiner Kommentatoren, wie seine
Vererer inihm das Geschopf ihrer christlichen Dumheit anbeten
und diesem Vater der Vernunft die Vernunft zum Opfer dar-
bringen, wie Abgotter dem Vater der Menschen die Menschen.
Ich zeige ihm, wie untrugliche Theologen ihre heiligen Meinun-
gen in heidnischen Schlusarten beweisen, oder wie man iene
kezzerische Logiker, einen Ramus, Vanini u. s. w. zu ihrer Bele-
rung hin in's hollische Feuer zum Aristoteles sendet. Dies alles
zeig' ich meinem Logiker, obwol in einem Lichte, wie es die
Gelerten und die Fledermause vertragen. »Ja, denkt er bei sich, 30
ich wil eine Dumheit zu erhalten suchen, fur welche meine Vater
6 Der Dumme erlaubt der Vernunft keinen nahern Zutrit als in das
Gedachtnis. Das Gedachtnis ist gleichsam die Antichambre der Sele.
Aber man weis wol, wer in derselben gewonlich am langsten warten
mus und wer zulezt nach einem gleichgiiltigen Anschauen seinen
Abschied erhalt. -
DAS LOB DER DUMMHEIT 353
soviel Dinte vergossen haben, welche durch das Alter so erwiir-
dig und durch ihre Seltenheit so schazbar geworden 1st. Meine
Logik sol nicht verniinftig, aber gelert sein. Ich wil den Aristote-
les nicht lesen, noch weniger ihn verstehen lernen; aber ich wil
ihn unaufhorlich zitiren. Ich wil dahin trachten, mich selbst nicht
zu verstehen, noch mich von meinen Lesern verstehen zu lassen
- und liberal sol man merken, daB ich iene Vater der Finsternis
in succum et sanguinem vertirt habe. Ich wil keinen einzigen
neuen Gedanken vorbringen; aber ich wil keinen einzigen alten
10 Term auslassen und iedem unwichtigen Begrif durch eine bar-
barische Benennung eine neue Wichtigkeit verschaffen. Ich wil
mich anstrengen, das zu sagen, was man weis, und noch mer
dasienige, was man zu wissen nicht notig hat. Ich wil alles Un-
niizliche zum Nuzzen der Lerer zusammenbringen und endlich
bei der Syllogistik alle Krafte der Dumheit aufbieten, um durch
eine rumliche Hizze in meinem Gehirn ein elektrisches Glok-
kenspiel von barbarischen Termen und Regeln und Partizionen
zu erwekken.« — So macht man eine Logik; so macht sie die
Dumheit. - Mit den vibrigen philosophischen Wissenschaften
20 hat es dieselbe Bewandnis. Die Metaphysik ist eine Landkarte
vom Reiche der Moglichkeiten; wer weis nun nicht, daB man
bios mit der Phantasie eines Dunsen gegen dieses Land zu fliegeri
kan, so wie, nach Swift's Erzalung, der Kapitain Brunt mit sei-
nen gefliigelten Kaklogalliniern nach dem Monde flog? - Sezt
man noch hinzu, daB man in der Metaphysik ser kliiglich Worter
erfunden hat, die mer durch ihren Klang als ihren Sin die tiefsin-
nigsten Abstrakzionen verraten und mer auf dem Trommelfel
als in den Gehirnfibern philosophische Erzitterungen verursa-
chen; daB man eine besondre Stellung der unverstandlichen
30 Worter erdacht hat, die man das Metrum der metaphysischen
Dichtereien nennen konte, und daB man ieden Beweis zu einer
Demonstrazion umschaffen kan, wenn man die drei Worter
»quod erat demonstrandum « hintenanflikt, wie die Verfertiger
der Rezepte in den Kalendern ihr »probatum est«, oder wenn
man den Beweis suchenden Leser von Paragraph zu Paragraph
verweist und ihn endlich eine kleine Quelle von einem ganzen
354 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Strome oder gar nur das entdekken last, was der neugierige
Affe nach zwanzig aus einander gewikkelten Papieren entdekt
— sezt man dieses alles zum vorigen hinzu, sag' ich, so folgt
unwidersprechlich, daB die Wonung des Ergo's, wie Voltaire
die Schule nent, auch die Wonung der Dumheit sein miisse.
Ich bin also die Dulzinee der metaphysischen Don Quixotte;
- wenn ich's nicht verstandlich und grimdlich erwiesen hatte,
so wiird' ich sagen, ich hatt' es demonstrirt. -
Ein Nar, den sein Salarium nicht zwingt, im Konzerte der
menschlichen Torheiten den Takt zu halten und mit den Nach- 10
barn im Unisono zu singen, der ist deswegen nicht weniger
Nar: denn die Stelle der Torheiten, die er nicht nachamt, ersezt
er durch dieienigen, die er erfindet. Eben so in den Wissenschaf-
ten; wo eine alte Pedanterei sogar durch nichts anders als eine
neue vertrieben werden kan. Wer soke daher den loblichen Eifer
nicht schazzen, den einige Modephilosophen haben, in einer
neuern Dumheit noch weitere Schritte zu tun als ihre Feinde
in einer altern getan haben? und wer soke nicht meine Klugheit
und meine Giitigkeit zugleich bewundern, da ich entgegenge-
sezten Parteien gleiche Liebe erzeige, ihnen gleiche Waffen im 20
Streite, und gleiche Hiilfe in der Gefar erteile? - Ich w'il mit
etlichen Worten einen Stuzzerphilosophen beschreiben. Er
denkt niemals oder selten; aber er fult von der Sonnen Aufgang
an bis zum Untcrgange des Mondes, in Einem fort. Er hast
den Beweis einer Sache eben so ser als die Demonstrazion der-
selben und hat, gleich den Schnekken, sein geistiges Auge in
seinen geistigen Fulhornern. Sein Unsin steigt und fait nach
der Ebbe und Flut seines Nervensaftes, und sein Gehirn mus
erst durch die heftige Bewegung des Bluts elektrisirt sein, eh*
er einige Funken von Warheit erblikt. Er verabscheut ieden 30
deutlichen Begrif; nur dunkle, in dunkle Worter gehiilt, erteilen
seinem Geiste die Warme, die sein Korper von dunkeln Kleidern
empfangt. Jeden narhaften Gedankeh umschaft er in seinen
Schriften in eine schonfarbigte Blume; eben so verwandelten
sich unter den Handen des Midas narende Speisen in glanzendes
Gold. Er hast lere, abstrakte Termen, aber er liebt gefiilvolle
DAS LOB DER DUMMHEIT 355
widersinnige Ausdriikke, und zieht dem metaphysischen Unsin
den poetischen, und der kalten Unvernunft die warme vor. Er
diiftet von den, friihmorgens erhaltenen, philosophischen Ge-
danken, wie von Pomade, und die Brille der Vernunft 7 verwan-
delt er in ein modisches Augenglas. Zu friih giebt der Friseur
seinen Haren, und ein Doudezbandgen seinen Gehirnfibern, eine
modische Lage; nachmittags tragt er die leibliche und die geistli-
che Frisur zur Schau herum und abends (iberlast er in den Armen
einer Hure beide ihrem Schiksal. - So eine Philosophic ist fiir
10 die Damen: denn auf diese Weise konnen die Damen Philoso-
phen und Damen zugleich sein. Ich verdiene also Dank, nicht
bios weilichinderErteilung meiner Gaben soviel Freigebigkeit,
sondern auch weil ich soviel Abwechselung beobachte und we-
nigstens die Trachten der Dumheit nach der Mode abandere,
so wie die Geistlichen eben diesem weltlichen Tyrannen ihren
heiligen Ornat zur Verstumlung darbieten. -
Ich erteile meine Gaben nicht bios in Prose, sondern auch
in Versen, und lasse Dumheit nicht nur predigen und demon-
striren, sondern auch singen. Man sieht, dafi ich von den Dich-
20 tern reden und mir von ihnen ein Lobgedicht erbetteln wil, das
sie ihren Geliebten nicht ofter als mir erteilen solten, da wir
beide ihnen gleich niizliche Dienste in der Veriagung des gesun-
den Verstandes erweisen. Die Sanger unter den Menschen
zeichnen sich, so wie die unter den Tieren, weniger durch ihr
Gehirn, als ihre Zunge und ihre Kele aus - freilich giebt es unter
beiden auch Papagaien, die das sagen, was andre denken. Der
Beweis davon ist leichter als ein Reim zu finden. - Der Parnas-
sus, auf dem, wie bekant, die Dichter ihre Herberge aufgeschla-
gen haben, gleicht bald den feuerspeienden Bergen, bald den
30 Spizbergen; wenigstens ist der eine Teil seiner Bewoner so siid-
heis, wie die Lava, die er gliihen, und der andre Teil derselben
so eiskalt, wie das Eis, das er gefrieren last. Zuerst von den
Eisvogeln! - Diese werden Dichter, nicht weil sic Genie haben,
sondern weil sie wissen, wie man das Genie anwenden musse,
7 So nent ein Alter die Philosophic.
356 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
und machen bios darum schlechte Verse, well ihnen die Regeln
bekant sind, wie man gute machen rmisse. Ein solcher Dichter
verfertigt Verse, die so kalt und angenem sind, wie die Regeln,
nach denen er sie verfertigt; er ist unlesbar nach alien Vorschrif-
ten der Kunst geschrieben, und weis schlecht zu sein, one Tadel
zu verdienen. Derselbe Gedanke, so kalt und unsehmakhaft wie
Wasser, schlangelt sich gleich einem Flus durch seine Ode hin-
durch, und sein einformiges Gemurmel verandert sich nur nach
der Verschiedenheit des Sylbenmasses, liber welches er hinflies-
set. - Kiine Bilder hast er mer als der Priester die guten Werke,
die nicht aus dem Glauben kommen. - In der Elegie macht
er eine Ausname von der Zunft der weinenden Briider; er giebt
derselben nichts als ein trauriges Kleid, d. h. traurige Worte -
eben so findet man am vornemen Witwer keine andre Betriibnis,
als die, mit welcher ihn sein Schneider versehen hat. - In Riik-
sicht der drei Einheiten der Schauspiele ist er vollig orthodox,
und der Verfal der poetischen Dreieinigkeit prest ihm herbere
Klagen aus, als einem andern der Verfal der theologischen. Seine
betriibten Personen auf dem Theater sprechen gerade so, wie
betriibte Personen in der Welt denken; man mus daher bei ienen
auf das Innerliche, bei diesen auf das Ausserliche sehen. - Ein
solcher Dichter ist gliiklicher als seine andern Religionsver-
wandten; er kan dichten, so oft sich seine Finger in ihrem natiir-
lichen Zustande befinden; er braucht die poetische Flamme nie-
mals durch kostbare Ole zu vergrossern oder zu naren und kan
sich sogar in seinem grauen Alter rumen, daB seine Hand noch
nichts von ihrem dichterischen Feuer verliere. - Ein solcher hat
keine Einbildungskraft: allein wo kein Feuer ist, da ist auch kein
Licht; er ist also dum. Er reitet daher nicht auf dem Pegasus,
sondern auf einem viel langsamern Tiere - gewis, hier wiirden
die Amerikaner Rechthaben, wenn sie den Reiter und sein Tier
fiir Ein Ding hielten. -
Andre Poeten lieben weder dichterische Warme, noch dichte-
rische Kalte; aber sie lieben den Wolklang. Sie rechnen das
Nichtdenken zur licentia poetica, und die Dissonanzen in Be-
griffen losen sich ihnen in eine schone Harmonie der Worte
DAS LOB DER DUMMHEIT 3 57
auf. Selten schwimt auf ihrem Mere von Worten eine Blume.
EinGedanke ist bei ihnen so klein, wie das kleinste Insekt; allein
er hat eben so viele poetische Fiisse, als dasselbe natiirliche. Sie
verstiimlen den Sin in einem kurzen Sylbe[n]mas; und denen
ihn aus in einem langen - eben so verkiirzte Prokrustes die Beine
langer Gaste in kurzen Betten, und verlangerte die Beine kurzer
G'aste in langen Betten. - Diese Dichter haben mir das zu dan-
ken, was sie zu Dichtern macht - ihren wolklingenden Unsin.
Noch andre Poeten opfern ihre Vernunft nicht dem Wol-
10 klange, sondern dem hohen Fluge auf. So bald sie die poetische
Krankheit bekommen, so ist nichts vermogend, die Konvulsio-
nen ihrer Narheit und die gewaltsamen Bewegungen ihres Un-
sinszubandigen. Sie phantasieren von Unsterblichkeit, und ihre
Schlaf miizze sehen sie fur die Lorberkrone an, die die Welt ihrem
Verdienste aufsezt. Ihr Nervensaft, der ihr Gehirn iiber-
schwemt, vertilgt ieden Gedanken, den er befruchten soke, und
ihre entziindete Einbildungskraft giebt dem schweren Unsin
dythrambischen Flug; so wie das entziindete Pulver schwere
Kanonen forttreibt Mit ihrer Dumheit wachst auch ihre Krank-
20 heit und ihr Genie, und nur dan dichten sie am schonsten in
ihren poetischen Hainen, wenn die Dunkelheit derselben iedem
Strale der Vernunft den Durchgang verwert. - Es ist schwer
ausmachen, ob sie sich durch ihre Gedichte die Ere verschaffen,
die sie im voraus geniessen; aber es ist gewis, dafi sie mir durch
dieselben die Ere verschaffen, die ich von iedem Dunsen ge-
niesse.
Endlich komm' ich auf die Dichter, die von Tranen leben,
wie der Fisch von Wasser; auf die Schneemangen, die, wider
den Lauf der Natur, am Tage von dem aussern Frost erstarren,
30 und zu Nachts im Mondenstral vor Hizze zerschmelzen. Ich
kan sie in meiner Lobschrift nicht iibergehen, weil sie sich, in
der neulichen Tranensundflut Deutschlands, durch ihre Stimme
als Frosche, und durch ihre Flosfedern als Fische ser tatig bewie-
sen haben; aber ich werde nicht viel von ihnen sagen, weil sie
zugleich mit dem Wasser verschwunden sind. Ihre Dumheit
last sich leichter mit Griinden dartun, als in ihren Versen ertra-
358 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
gen. Welche Menschen weinen am leichtesten? solche, die,
gleich den Wasserkopfen, Wasser anstat des Gehirns haben -
vorziiglich dreierlei Kinder, die kleinen, welche aus natiirlichen,
die schonen, welche aus galanten, die alien, welche aus physischen
Ursachen weinen. DaB aber alle diese Kinder ser viel Vernunft
haben, dies wird niemand glauben als diese Kinder selbst. Jeder
Poet also, der mit seinem leren Kopf, wie mit einem Schwam,
das Tranenwasser der Gedichte in sich saugt, und es durch einen
Druk in einem Gedichte wieder von sich giebt, der kan sich
nicht bei mir beklagen, da6 er zu wenig - Dumheit erhalten 10
habe, ob er sich wol bei der Weisheit beklagen kan, daB sie
ihm sogar den Schein von Verstand verweigert habe. Genug
von den Uhuen, und von alien iibrigen Vogeln des Waldes! -
Ich hatte mir anfangs vorgesezt, die Dumheit der Romanen-
schreiber one Beihiilfe des Ergo's zu demonstriren; allein ich
unterlies es, da ich in einem Meskatalog 200 Beweise von eben
dieser Warheit fand. Ein Romanschreiber ist mir, die Zeichnun-
gen ausgenommen, die meistens schoner als das Buch selbst
sind, fast alles schuldig; ia noch mer, er ist mir die schuldig,
die ihn lesen, oder oft rezensiren. 20
Ich komme nun auf die eigentlichen Gelerten, d. h. auf die,
welche sich mit Fleis auf das legen, was sie nicht brauchen kon-
nen. Allein die Mannigfaltigkeit ihrer Arten ist zu gros, als daB
ich hier iede besonders vornemen konte. Kein gelerter Duns
wird mich also tadeln, wenn ich ihn bios in seinem Nachbar
lobe und von seiner Dumheit einen unbestimtern Abris zeichne,
als er gemeiniglich in seinen Vorreden zeichnet. - Da ein Geler-
ter lieber redet als denkt, so ist's kein Wunder, wenn ieder
in den Worten Schuz vor den Gedanken sucht und so lang
fremde Sprachen erlernet, bis er unfahig ist, in seiner eignen 30
zu denken. Wie er durch eine Sprache weiser werde, das ist
seine Sorge nicht; aber wie er durch sie dummer werde, das .
ist seine Sorge. Und hierinnen zieh' ich die lateinische Sprache
ieder andern vor. Zizero hat mir durch seine Beredsamkeit mer
Proselyten verschaft als fast alle meine Missionarien, geistlichen
und weltlichen Standes, ie gekont haben. Ihm hab' ich's zu dan-
DAS LOB DER DUMMHEIT 359
ken, daB niemand verminftig wird und werden darf, als bis er
lateinisch sprechen und schreiben kan, und daB man der Ver-
nunft so lang den Anbau versagt, bis man sie durch Worterge-
lersamkeit unmachtig und entberlich gemacht hat; ihm hab' ich's
zu danken, daB man einen schlechten Gedanken weit geneigter
als eine schlechte Redensart vergiebt, und dem Gelerten iede
andre Siinde als eine gegen die heilige Grammatik, iede andre
Dumheit als eine unlateinisch gegebne, verzeiht. Diesen Leuten
bin ich noch unentberlichef als ihr Lexikon; undwenn sie mich
10 nicht notig haben, um einen alten Schriftsteller zu verstehen,
so brauchen sie mich doch, um ihn andern zu erklaren. Ein
Kommentator ist noch viel schazbarer als das, was er kommen-
tirt: denn er ist noch viel dunkler. Er erwirbt den Alten eine
Bewunderung, die der Leser mer ihrer Dunkelheit als ihrer
Schonheit zolt und die mer aus dem Geful einer eignen Schwache
als aus dem Warnemen einer fremden Starke entspringt; er weis
von ieder deutlichen Sache soviel Erklarungen zu geben, als
notig sind, um sie undeutlich zu machen; er kan das Starke in's
Schwache zerstukken und den Text durch Noten verdiinnen,
20 wie der Weinschenke den Wein durch Wasser; er kan, zum Be-
weis seiner Gelersamkeit, seinen Kommentar zu einem Katalog
der Biicher machen, die er nicht gelesen, aber doch gesehen
hat; er kan, zum Beweis seines Scharfsins, die Schonheiten und
die Feler seines Autors in entgegengesezten Gestalten darstellen,
um den Negern zu gleichen, die ihre Gotter schwarz und den
Teufel weis malen, und kan bald von einem Feler beweisen,
daB er sich in eine Schonheit, wie das Kupfer auf den Kirchtur-
mern in Gold, durch das Alter verwandele, und bald eine Schon-
heit durch seine kritische Dinte vertilgen, so wie man Gold in
30 aqua regis, und Perlen in Essig aufloset. Die Gelersamkeit eines
solchen Kommentators und iiberhaupt alles das, was ihm Hoch-
achtung in seinen eignen Augen und Verachtung in fremden
erwirbt, ist bios mein Werk - ein fernerer Beweis dieser klaren
Sache ware unnotiger als seine Noten. -
[ch ubergehe alle dieienigen Dummen, die sich in den Staub
der Folianten, wie der Kafer in den Kot, oder der Geizige in
36O JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
dem Goldkote, dem Exkremente des Gliiks, vergraben, und
ihre Vernunft und ihre Freuden dem Gewerbe einer Dumheit
aufopfern, die man nicht bewundert, nicht beneidet, nicht be-
lont; - alle dieienigen, die in den Alten nicht das Schdne, sondern
das Seltne, und nicht seltne Gedanken, sondern seltne Worte
aufsuchen, um ihre eigne Schriften in ein Gewand von alten
Lumpen zu kleiden; - alle dieienigen, die der Ursprung eines
alten Worts mer interessirt als ihr eigner, und die zu wenig Ver-
nunft haben, um liber andre als kleine Gegenstande gelerte
Traume zu traumen; - alle dieienigen, die die Feler andrer tadeln, 10
um ihre eignen zu entschuldigen, die, angereizt durch den Neid,
und unterstiizt durch die Dumheit, aus Rezensionen Pasquille
machen und von fremder Schande, wie die Raben von As, leben;
und alle dieienigen, die durch affektirte Feler ihres Korpers
wirkliche Tugenden ihres Geistes ausdriikken und durch gelerte
Zerstreuung den Mangel der Gelersamkeit verbergen wollen,
die die Weisheit nur in den Kopfen, die zerstorter als ihre zer-
storten Perriikken sind, wonhaft glauben, so wie das ihr ge-
weihte Tier, die Eule, in verfalnen Schlossern wont, und die
ihre Stirn mit tiefen Falten durchpfliigen, als wenn sie darauf 20
den Samen der Weisheit ausgesact hatten — alle diese iibergeh' ■
ich, denn ieder verert in ihnen meine Macht und Giitigkeit und
erblikt in ihrem Rume den Glanz des meinigen; allein dieienigen
kan ich nicht ubergehen, die von Zeit zu Zeit kleine Lobschriften
auf mich drukken lassen und deren Name eine langere Ewigkeit
zu leben verdiente, als die kurze eines Verliebten - ich meine
die, welche Programme schreiben. Es ist hart, wenn man ge-
zwungen wird, dumme Schriften zu schreiben; allein es ist noch
barter, wenn man gezwungen wird, dumme Schriften zu lesen.
Da aber bios dieses Leztere Geld und Rum eintragt: so mus 30
ich vorziiglich denen helfen, die eine Arbeit unternemen, die
weder durch die Hand noch die Zunge eines andern bezalt wird.
Das Thema ist bei einem Program die Hauptsache und die Aus-
furung das Nebenwerk; und wenn diese im tiefen Schlaf ge-
macht werden kan, so wil ienes schon im Traume erfunden
sein. Nichts ist daher natiirlicher, als daB ich dem Autor ein
DAS LOB DER DUMMHEIT 361
Thema verschaffe, iiber welches sich ser viel Dumheit one
grosse Gelersamkeit auskramen last. Bald lass' ich ihn in elen-
dem Latein den Verfal des Studiums der Alten beklagen und
one Geschmak den Geschmak andrer tadeln - bald lass' ich ihn,
zum Vergniigen seiner Obern, traurige Mutmassungen von
dem kiinftigen Zustande des Christentums krachzen, und mer
Nachrichten von theologischen Kriegen erschaffen, als die Zei-
tungsschreiber von weltlichen erschaffen - bald lass' ich ihn die
Jugend zur Dumheit anmanen und ihr alle die Kezzer in schrekli-
10 cher Teufelsgestalt mit Hornern und Pferdefiissen vormalen,
deren Name schon die Widerlegung derselben ist und deren
Schriften man widerlegen kan, one sie gelesen oder verstanden
zu haben - bald lass' ich ihn in seinem Program nichts als -
lateinische Redensarten sagen und sogar am Ende den Zwitter
von deutscher und lateinischer Prose mit einem Metrum vol
poetischer Worte bekronen, welches man sonst nach einer har-
ten Figur lateinische Verse nent. - Man wird nun einsehen, daB
ich eben soviel Lob verdiene, wie die Fautores und Maecenates,
die das Titelblat der Programme zieren und vielleicht nichts
20 in der Welt als eben dieses zieren. -
Ich komme nun von geringern Dunsen auf vornemere, auf
die Doktoren - dieses ist zwar ein unnatiirlicher, aber doch ein
solcher Sprung, durch welchen sich die meisten Doktoren ihren
Doktorhut erspringen. Es ist gewis, daB ich eben soviele Dokto-
ren mache als das Geld und die Weiber. Denn ich verleihe allemal
den leren Kopf, der es verdient, daB man ihn mit dem Dekkel
des Doktorhuts bedekke, um ihn vor aller Vernunft, vor iedem
Verdienste und iedem Gedanken rein zu konserviren. Die Men-
schen haben mir also nicht bios ihr Geld und ihr Gliik zu danken;
30 sie sind mir auch meistenteils ihre Ere schuldig. - Ferner: ein
Doktor weis durch mich nicht nur Nichts, sondern auch Alles,
d. h. er ist nicht bios dum, er ist auch stolz. Daher ist folgender
Vers war, wenn ihn auch kein Doktor gesagt hat, ia wenn ihn
auch einer gesagt hatte:
Convertir un docteur est une oeuvre impossible.
362 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
Denn liesse sich ein Doktor bekeren, so folgte, daB er nicht
allemal Recht hatte, welches aber klar wider den Saz des Wider-
spruchs lauft - so folgte, daB er im ersten Augenblik seines
Doktorlebens nicht alles das ware, was er bis an sein Ende ist,
welches aber alle Doktoren durch ihr einmutiges Beispiel wider-
legen - so folgte, daB er Griinde anhorte, Griinde tiberlegte,
ia Griindennachgabe, welches aber alles gegen seine Ere streitet,
und endlich folgte sogar, daB er - vernunftig ware, welches
aber kaum eine Widerlegung verdient. Wie ser mus der semen
Verstand schazzen, der mit demselben nie geirt und nie gedacht 10
hat! Wie ser mus der seine Einsichten bewundern, der nie andre
als die seinigen zu bewundern Gelegenheit gehabt hat! - Ich
glaube, daB man dummer als ein Doktor sein kan; aber ich
glaube nicht, daB man stolzer als er sein kan. - Ich unterstiizze
ihn auch mit meiner ganzen Kraft in Disputazionen .- doch dies
last sich nicht sagen, aber wol sehen und horen. Und endlich,
wie ich ihm seinen Glauben an das tausendiarige Reich der
Dumheit erhalte; wie ich seinem Stolze die Narung erteile, wel-
che ihm die heutige bose Welt versagt, und seine Dumheit mit
dem Rume bekrone, den er vergebens von den Dummen for- 20
dert, vergebens von den Weisen bettelt; wie ich seiner neugieri-
gen Hand verwere, den lateinischen Biichern untreu zu werden,
und auf eine unkeusche Weise die deutschen zu beriiren, und
ihn gegen die herschende Mode, vernunftig zu scheinen, durch
Unbekantschaft mit den neuern Kentnissen und durch Stolz auf
die seinigen, stale, u. s. w. alles dieses kan ich nur kurz anfiiren,
denn mir felt das Latein eines Doktors, der Katheder eines Dok-
tors, die Zuhorer eines Doktors. - Wenn ich nicht, gleich einem
Doktor, ein Lob in Superlativen verdiene, so verdiene ich wenig-
stens ein solches, wie es von ihm ieder Student erhalt, der die 30
GCite seiner Disputazion durch etwas anders als die Disputazion
darzutun weis. -
Man wird immer bemerkt haben, daB ich denen am meisten
niizze, die befelen, und denen weniger, die gehorchen, und daB
der geringere Dumme mit meinen Gaben das Gliik desienigen
befordere, der sich durch eben dieselben Ciber ihn emporgehoben
DAS LOB DER DUMMHEIT 363
hat. Ich wil nun diesen Nuzzen, den die Obern von der Dumheit
des Volks ziehen, kurzlich naher betrachten.
Wenn ertragt ein Volk die Ungerechtigkeiten seines Beher-
schers mit der wenigsten Ungeduld, als wenn es unfahig ist,
sie einzusehen? Wenn folgt es am liebsten unnuzzen Befelen,
als wenn es ihnen blind folgt, und weder die Harte seines Zu-
standes, noch die Harte dessen, der iene vermert, zu begreifen
Verstand genug hat? Und wenn sind ihm die Grunde seines
Hern am meisten genugtuend, als wenn es sie nicht durch das
10 Auge, sondern durch das Gefiil erkent? - Seine Kurzsichtigkeit
hindert es, zum Tron hinaufzublikken, und in seinem Beher-
scher mer oder weniger als einen Beherscher zu sehen. Seine
Blindheit sieht liberal Ubel, weil sie nirgends das Gegenteil se-
hen kan, und die darausentstehende Furcht macht es zu Werk-
zeugen und Schlachtopfern dieser Ubel zugleich. Sein Regierer
darf daher nur das sein, was er scheint; und der Glanz seiner
Macht bewirkt ihm ieden freien Gebrauch derselben. — Eben
so iiben dieienigen an einem dummen Volke die meisten Unge-
rechtigkeiten aus, die die Gerechtigkeit auszuiiben bestimt sind.
20 Der Rechtsgelerte, der aus den Gesezzen nichts lernt als sie zu
iibertreten, kan mit mererm Vorteile das an sich ziehen, was
ungelerte Diebe an den Galgen bringt, mit mererm Gliikke das
nach den Gesezzen nemen, was andre wider die Gesezze nemen,
mit mererm guten Schein seine Feder anstat des Brecheisens
gebrauchen, dessen sich der Rauber bedient, und weit leichter
fur die Miihe, zu rauben, gesezmassige Bezalung verlangen, wie
die Bassa's, die von den Bauern Zangeld fur die Abnuzzung
ihres rauberischen Werkzeugs fordern - wenn seine Klienten
eben so wenig Verstand haben, als er Gewissen, eben so.viel
30 von ihm erwarten, als er verspricht, und niemals mistrauen,
wenn er nicht halt. Man malt die Gerechtigkeit mit verbundnen
Augen - man hatte vielleicht warer gemalt, wenn man sie vor-
gestelt hatte, wie sie andern die Augen verbindet. So wie die
Raben und Adler vorher die Augen aushakken, eh' sie die andern
Teile des Korpers verzeren - eben so nemen die Rechtsgelerten
vorher die Gabe zu sehen, eh' sie dem Blinden das Ubrige ne-
364 JUGENDWERKE • I. ABTEILUNG
men. Wie viel Lob verdien' ich von ihnen, daB ich ihnen durch
meine Vorsorge den Aufwand und die Miihe erspare, dem an-
dern seine gesunden Augen durch wolpraparirte Dinte zu ver-
derben! -
Dieienigen, welchedie Dumheit des Volks am meisten befor-
dert und genaret haben, haben den meisten Nuzzen von dersel-
ben gezogen. Es ist nicht gewis, daB die Dumheit den Himmel
im andern Leben verschaft; aber es ist gewis, daB sie denen,
die dieses gesagt haben, den Himmel in diesem Leben verschaft
hat. Die Geistlichen sind mir mer schuldig als ihren Kopf; und 10
wenn sie mir nicht ihr eigen Gliik schuldig sind, so sind sie
mir doch das Gliik ihrer Vater schuldig. Nichts ist warer als
dieses; und nie war der Klerus am gluklichsten, als da der Pobel
am diimsten war. Damals, in ienen dummen Zeiten, bezalten
die Dunsen dieienigen, die andern ihre eigne Dumheit mitteil-
ten, und der Unsin, in lateinischen Worten gegeben, erzwang
die Bewunderung von denen, die ihre natiirliche Dumheit in
ihrer natiirlichen Sprache von sich gaben. Damals nuzten die
Wissenschaften nur denen, die andern damit schaden wolten,
und verschaften Vorteile, nicht wenn man sie lernte, sondern 20
wenn man sie lerte. Damals konten die Monche, gleich den
Vampyren, das Blut derer aussaugen, die in der algemeinen
Nacht der Vernunft die Augen ihres Geistes gleichsam zum
Schlafe zuschlossen, und die Theologen waren nur deswegen
weniger blind, urn die Blindheit andrer zu verstarken und zu
benuzzen, waren nur deswegen weniger dum, um boser, nicht
um weiser zu sein; eben so sieht die Nachteule, die das Licht
des Tages nicht vertragen kan, bios darum in der Finsternis
besser, um sich von den schlafenden Vogeln zu naren. Damals
konte man andern verweren, zu untersuchen, damit man der 30
Miihe entgieng, selbst zu untersuchen, und iede Lere einer dum-
men Zunge flog zu einem dummen Ore. Damals konte man
mit den Schliisseln, die den Himmel aufsperten, die Geldkasten
des Reichen, die Kabinete der Grossen und die Schlafzimmer
der Weiber aufsperren. Damals konten dieienigen den andern
in die Holle der kunftigen Welt verdammen, die seine Teufel
DAS LOB DER DUMMHEIT , 365
in der iezzigen sein woken, und die heiligen Manner konten
one Weiber sein, weil die heiligen Weiber one Manner waren. 8
- Doch ieder wird wissen, wie ser ein dummes Volk in den
vorigen Zeitjen] dem Klerus geniizt hat, da er weis, wie ser
ein aufgeklartes in der iezzigen dem Klerus schadet. Wenn man
bedenkt, mit wie vielen niizlichen Kentnissen sich ieder Geistli-
che iezt iiberladen mus; wie er gezwungen wird, nicht bios
. Worte, sonde rn sogar Gedanken zu lernen; die Exegese mit
Sprachkentnis, und, was das schreklichste ist, die Dogmatik
10 mit einigem gesunden Menschenverstande zu bearbeiten; mer
gelert als inspirirt, und mer verniinftig als theologisch zu sein
- wenn man dieses bedenkt, so mus iedem Dummen die Haut
vor den geanderten Zeiten schauern, und selbst ich wiirde die
bemitleiden, die von mir abgefallen sind, wenn ich nicht wiiste,
daB bios, der halbe Teil abgefallen ist. -
Ich habe nun zu viele von meinen lobenswiirdigen Seiten ge-
zeigt, als daft man die andern nicht erraten soke. Ich habe nicht
notig, mer von mir zu reden; aber ich habe notig, zu meinen
Vererern zu reden: denn diese konnen mir zu einer Ere behulflich
20 sein, die grosser ist, als meine iezzige. Es war sonst fiir mich
angenem, wenn mich meine Vererer baten; aber es ist iezt viel-
leicht fiir mich niizlich, wenn ich meine Vererer bitte. Ihr also,
die ihr mer Macht als Vernunft und mer Stolz als beides habt,
nemt euch der Dumheit wie eurer eignen an; sezt die Amter
als Preise aus, die man nicht durch den Flug des Musenpferds,
sondern durch das Schleichen des langorichten Tieres gewint;
macht den Man durch die Erenstelle, nicht aber die Erenstelle
durch den Man beriimt, last das Geld alzeit den Mangel des
Verstandes, niemals aber den Mangel der Dumheit ersezzen und
30 verhindert das Dasein der Weisen eben so ser als das Gliik dersel-
8 Das Zalibat der Monche war mit dem Zalibat der Nonnen unzer-
trenlich verbunden. Ein Monch one Nonne mus notwendigerweise das
Geliibde seiner Keuschheit brechen; und eben so eine Nonne one Monch
- man miiste denn annemen, daB die Keuschheit eben so wolfeil ausser
den Klostern, als in denselben ware, welches im iezzigen Jarhundert
zuzutreffen scheint. -
366 JUGENDWERKE • I.ABTEILUNG
ben - Ihr Hoflinge, redet so selten klug als ihr war redet, bewei-
set das Gliik der Dumheit durch das Lacheln eurer Miene, die
Hoflichkeit derselben durch die Beweglichkeit eurer Zunge, die
Geschmeidigkeit derselben durch die Beugungen eurer Glieder
und die Galanterie derselben durch das Narrenhafte eurer Klei-
dung; habt nur dieienigen Verdienste, die man beim Schlafenge-
hen an den Nagel hangt, nur dieienigen Tugenden, mit welchen
euch das Laster des Fiirsten beert; helft durch das Kriechen vor
eurem Fiirsten dem Dummen, der vor euch kriecht, und unter-
stiizt den Weisen durch Versprechungen - Ihr, die ihr, gleich 10
den Gewachsen, welche ihre Fruchte in der Erde verbergen und
bios einen unniizzen Stangel vorzeigen, alle eure Verdienste in
euren Erbbegrabnissen verwesen und von eurer Grosse nichts
als den Auswuchs derselben d. h. euch selbst sichtbar werden
last, ihr Edelleute, erinnert euch unaufhorlich eurer Verdienste,
damit ihr kerne erwerbet; last in den iezzigen Zeiten euren Stolz
mer als eure Dumheit hervorleuchten und zeigt nur denen das
Bild eurer Sele, die es, wie ein Spiegel, wiederzurtikgeben; seid
Freigeister bei Unadelichen, Edelleute bei Edelleuten, Lerer des
Stolzes und der Dumheit bei euren Kindern, und wizzige Spotter 20
bei euren Untertanen - Ihr Stuzzer, die ihr von der Narheit
nur eure Gestalt, von mir aber euer Innerliches erhalten habt,
faret fort, an den Toiletten die Dumheit zu predigen, und an
den Schonen sowol die wizzige Verbindung ihrer Hare, als ihrer
Ideen, sowol ihre zarte Haut als ihr zartes Herz, sowol den Glanz
ihrer Harnadeln als ihrer Tugenden, und sowol ihre kluge Wal
in modischen Bandern als modischen Biichern zu bewundern;
seid unwissend in den ernsthaften Kentnissen, um sie besser
verachten zu konnen, und ziehet eure modische Dumheit der
unmodischen Weisheit vor - Ihr Gelerten, die ihr mich so wenig 30
als das Latein entberen kont, macht durch eure Belesenheit euren
Verstand dem Verstande des Tieres gleich, welches euch die
Ableiter eurer Gedanken leihet; leset die Alten so, wie ihr sie
andre lesen lert, samlet aus denselben die raresten Worter, um
euren Verstand aufzuklaren, und werfet alle unniizze Spreu von
verniinftigen Gedanken weg, um euer Gedachtnis nicht zu iiber-
DAS LOB DER DUMMHEIT 367
laden; sucht in den klassischen Schriftstellern das Deutliche auf ,
um es zu kommentiren, und die Liikken, um sie auszufullen;
last die stechenden Safte eures hungrigen Magens eure trage
Dumhcit zum Schreiben anspornen, fiilt durch Htilfe cures lcrcn
Kopfs euren leren Magen, und samlet Varianten, Bemerkungen
p., um kein Almosen samlen zu diirfen; disputirt, um eure
Sprachwerkzeuge in gelerten Anstrengungen und in der Erre-
gung lateinischer Luftschwingungen zu iiben und um den ge-
schwinden Gang eurer Ideenmaschine durch den geschwinden
10 Gang ihres Perpendikels d. h. der Zunge darzutun - Ihr Geistli-
chen, beweiset, daB ihr wiirdig seid, den Unsin zu verteidigen,
den eure Vater erf unden haben; gebt, sobald ihr in euren Feldern
die Spur irgend eines kezzerischen Tieres ausgewittert habt,
durch euer Bellen das Zeichen zur Verfolgung und begleitet
iedes verniinftige Buch durch hundert Widerlegungen, so wie
die Maven die Fische begleiten; schreibt Predigten, um nicht
zu denken, Gebetbucher, um wachend zu schlafen, und Erkla-
rungen der Bibel, um wachend zu traumen; lasset die Fakkel
der Vcrnunft nic in das Allerheiligste des Unsins dringen und
20 beschiizzet, gleich den Kerubim, mit Ochsenkopfen die Bun-
deslade der Dogmatik - - Ihr, die ihr die ersten Anfangsgriinde
der Dumheit lert, erstikt das Feuer des Genies durch den Mist
eurer Leren, verewigt in dem Riikken eurer Eleven eure Grau-
samkeit, und in dem Gedachtnisse derselben euren Unsin -
Kurz, ihr alle, die ihr mich in euch oder in andern, insgeheim
oder offentlich, aus Grundsazzen oder Eitelkeit, aus natiirlicher
Zuneigung oder Gewonheit, aus Heiligkeit oder Freigeisterei,
anbetet, verdoppelt euren Eifer fur die Ausbreitung meines
Reichs mit meinen Feinden und ersezt durch eure Tapferkeit
30 die Schwache der Anzal; naret durch die Wissenschaften nichts
als euren Stolz; leset, um nicht zu denken; schreibet, um nicht
denken zu lassen; rezensirt in der Jugend, zensirt im Alter, und
erwerbt euch den unsterblichen Rum, unter den Reformatoren der
Weisheitdie Reformatoren der Dumheit gewesen zu sein!! - Vielleicht
hab' ich mir durch mein Lob, nichts anders als den Tadel meiner
Feinde zugezogen? vielleicht hab* ich mein vortrefliches Bild
368 JUGENDWERKE ' I. ABTEILUNG
nur Blinden zur Betastung gezeigt und meine Gotheit bis zur
sinlichen Darstellung derselben in der groben und verniinftigen
Menschensprache, erniedrigt, one neue Anbeter zu machen? -
Nein - ich denke zu viel Gutes von mir, um so viel Boses von
den Menschen zu denken. - -
1783: Arme Gottin! Pope lobte dich in Versen und ich nur in
Prose; warum blieb doch deine schlechtere Lobrede ungedrukt?
Nun macht sie weder deinen Feinden Vergniigen, noch deinen
Freunden Mis vergniigen.
ZWEITE ABTEILUNG
Gronlandische Prozesse 178 3-1784
grOnlAndische prozesse,
oder
SATIRISCHE SKIZZEN
J'ai bien peur, que notre petit globe terraqueene
soit les petites maisons de Tunivers.
Memnon ou la sagesse humaine.
Voltaire.
I.
Uber die Schriftstellerei
Ein Opusculum posthumum a
Eine Priesterin der Venus, die ihre lezten Reize auf den weichen
Altaren ihrer Gottin geopfert, und deren Schonheit kein Kaufer
der Wollust eines verstohlnen Wunsches mehr wiirdigt, ist
darum noch nicht auf dem Wege, gegen die alte Schande den
Ruhm der Besserung einzutauschen, und auf den sichtbaren
Wink der neuen Haslichkeit den Dienst des Vergniigens zu ver-
lassen. Vielmehr wiederholt ihr Geist die Rolle des Korpers: 10
denn sie wird aus einer Schiilerin der Liebe die Lehrerin dersel-
ben, aus einer Hure eine Kuplerin; sie nahrt sich von den Lastern,
die sie nur lehren und nicht thun kan, sie beschaut ihr voriges
Gliik in der gelehrigen Wollust ihrer Eleven, und erleichtert
sich dadurch das schmerzliche Andenken ihres iezigen Un-
werths. -Eben so ich. Das Misvergmigen, nicht mehr schreiben
zu korinen, lindere ich mir durch das Vergniigen, es andere zu
lehren. Namlich: ich widmete vor vielen Jahren meine rechte
Hand mit alien ihren Muskeln dem weltberuhmten Apollo; und
gewis ich konte ihm kein wichtigeres Glied meines Korpers 20
widmen. Denn schon der lere Raum in meinem Kopfe und Ma-
gen versprach der gelehrten Welt eine Feder, so unerschopflich
an Dinte, als das Kriiglein iener Witwe an Ohl; und in einer
lang anhaltenden Theurung war ich auf dem Wege, ein Polyhi-
a Der Verfasser dieses Werkgens gab vor einem halben Jahre seincn
unsterblichen Geist auf. Er war Famulus eines beriihmten Professors;
daher er auch nichts lernte. Er wiirde eben darum Kollegien gelesen
und Beifal gefunden haben; allein er hatte zu wenig Geld, um sich ein
lateinisches M oder D zur Zierde seines Namens kaufen zu konnen.
Was er aber hatte, fras eine langwierige Krankheit auf, deren er hier 30
erwahnt, und die ihn bis ins Alter und in das Lazareth begleitete, wo
er starb, doch nicht, ohne sich unsterblich gemacht zu haben. -
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 373
stor, wenigstens ein Polygraph zu werden. Allein o die ver-
wiinschte Gicht! die alle Muskeln des Genies lahmt, und die
Schopfer der Unsterblichkeit, diese Werkzeuge der Begattung
mit den Musen, diese fruchtbaren Staubfaden, ich meine die
fiinf Finger, in einen schmerzlichen Krampf zusammenzieht!
Denn kurz: an dieser Gicht starb meine Unsterblichkeit, weil
keine neue Lorbern meinen erkampften Ruhm behaupteten, und
ich wurde eher vergessen als geheilt. Allein ob mir nun gleich
iezt das Alter die hergestellte Gesundheit verleidet; obgleich die
io Uberreste des vorigen Ubels noch immer der gelehrten Repu-
blik die Flechsen meines Arms entziehen; so will ich doch durch
eine neue Anstrengung meine verloschenen Gedanken zu einem
Buche anfachen, und mit meiner Hand, ehe sie verweset, mir
Lorbern pflanzen. Der Invalide lehrt exerziren, und ich lehre
in diesem Werkgen, wie gesagt, schreiben. Das heist, ich
entwikle die Ursachen der Autorschaft, als da sind Hunger,
(aber nicht Sattigung,) Trunkenheit, (aber nicht Durst,) Jugend,
Liebe u.s.w. Das heist, ich abstrahire aus den vortreflichsten
neuen Schriftstellern die Erfordernisse eines guten Buchs z. B.
20 die Schwulst u. so ferner. Ich habe meistens die schonen Wissen-
schaften im Auge, die Gemeinweide alles litterarischen Viehes,
den Spielplaz der schriftstellerischen Jugend. -
Dem leiblichen Hunger der Schriftsteller verdankt das Publi-
kum seine geistliche Sattigung. Einige Arzte leiten aus dem Ma-
gen alle Krankheiten her; ich wollte aus demselben nochleichter
den Ursprung der meisten Schriften erklaren, und zeigen, da8
weniger der Nervensaft des Gehirns als die unbefriedigte Galle
des Magens an der Erzeugung eines Buchs arbeiten. Ein iiberful-
ter Magen schikt dem Kopfe alle Folgen der Uberladung, nam-
30 lich Faulheit und Dumheit zu; warum solte ein lerer nicht das
Dachstubgen der Sele besser erleuchten, warum sie nicht mit
der Heiterkeit und dem Verstande begeistern konnen, durch
deren Hiilfe seinen Bediirfnissen abgeholfen wird? - Der Magen
sezt einen Gelehrten, der seinen Korper nicht so wie seine Sele
mit Luft und Wind nahren kan, in ein gelehrtes Feuer, und die
von unten aufgestiegnen Diinste erhellen durch ihre Entziin-
374 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG
dung das ganze Ideengebiete des Autors so sehr, daB er lauter
neue Wahrheiten sieht und dem Drange endlich weicht, sie
durch die Presse mitzutheilen. Daher begiinstigt eine Theurung
die Erfindungskraft der gelehrten Republik ganz ungemein und
ein Miswachs des Getraides verspricht eine reichliche Ernte von
Biichern. Daher gleichen diese Stuzen des menschlichen Wissens
denThieren, bei denen nur der Hunger die Geschiklichkeit ihrer
Kehle in Athem sezt; und die gepriesne Stimme der Wahrheit
ist oft nichts als das verstarkte Knurren des unbefriedigten Un-
terleibs. Gleich der Hole des Aolus beunruhigt der Magen die 10
Welt mit vier bekanten Hauptwinden. Das gelehrte Handwerk
scheint auch folgender Sitte zu ahnlichen. In Scandino (im Ge-
biete des Herzogs von Modena) macht sich das Volk diese Lust-
barkeit. Man behangt mit allerlei Eswaren den Gipfel eines Pap-
pelbaums, den man von seiner Rinde und seinen Asten entblost.
Nach den Lokspeisen seines Gipfels klettern die Bauernkerle,
die erst nach vielen vergeblichen Versuchen ihr Ziel ersteigen
und sich ihrer Belohnung bemachtigen. Eben so hangt an dem
Lorberbaum nicht mehr der Reiz des Ruhms, sondern der Koder
der Nahrung, nach welcher die schreiblustige Hand des Autors 20
oft vergeblich hascht, und die sich endlich dem Besieger des
schlupfrigen Stams und dem Ersteiger des Gipfels iiberliefert.
Jedem, auch noch so philosophischen Magen ist der langst ver-
spottete horror vacui eingepflanzt - obwohl nicht alien Kop-
fen -; was Wunder, wenn die verlegne Sele stat Almosen zu
samlen, Varianten, Lieder, Bemerkungen samlet, wenn sie von
den Biichern, aber nicht von den Menschen bettelt, wenn sie,
gleich verarmten Vatern, sich von dem Erwerbe ihrer geistli-
chen Kinder nahrt, und wenn der Magen die Finger anreizet,
nach der Unsterblichkeit zur Verlangerung des Lebens zu grei- 30
fen? - Was Wunder frag ich: kein Wunder namlich ists. Und
wie sollte es auch, da der Eigennuz alle Wesen beselet? Er kamp-
fet in dem Heerfiihrer um die blutige Beute, mit welcher das
menschenfreundliche Kriegsrecht den Uberwinder belohnet,
und um den Ruhm, der erst durch ermordete Krieger athmet;
er riistet den ungekronten Rauber mit Verachtung gegen die
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 375
Drohung des Gesezes aus, und thut in ihm fiir den Strik, was
er in andern fiir den Lorber thut. Er verlangert in der Feder
des Advokaten Buchstaben, Perioden und Prozesse, und spielet
durch die Kiinste des mit Aktenstaub bedekten Gewissens die
rechtliche Uneinigkeit der Klienten auf ihre Enkel. Er angelt
im Verliebten mit poetischen Schwiiren nach Wollust und Geld,
und krachzet aus dem feisten Abte die Lobrede der himlischen
Nahrung. Kurz, er fesselt den ganzen vielfarbigen Haufen von
Absichten an Eine Kette. Und nur dem Schriftsteller wolte man
10 eine grossere Uneigenniizigkeit ansinnen, als die, sich mit ihrer
Larve zu verschonern; nur er solke sich an die prahlhaften Ver-
sprechungen der Vorreden zu binden haben? O so wiirde die
Welt arm an Bikhern und reich an Betlern sein; anstat der geist-
lichen Kinder wiirden ihre Vater sterben und die Weitschweifig-
keit nur christliche Predigten vergrossern, und dikke Quartan-
ten und dikke Bauche seltner werden. Die vortreflichen heiligen
Reden, die nun auf den Kanzeln, in den geheimen Gemachern
und in den Kramladen ihre Bestimmung erfullen, waren gleich
anderm Ungeziefer, unbekant unter der Peruke ihres Verfassers
20 gestorben, dem leren Raume der kritischen Zeitungen hatten
Muster zu seiner Ausfiillung gefehlet; und die geistreichen Ro-
mane waren ungeboren geblieben, die nun den Geist der feinern
Liebe durch modische Zoten bis zu der Kochin und dem Kut-
scher verbreiten, die die Langeweile von dem Golde verscheu-
chen, und die ermattete Wollust mit gedrukter Lokspeise anko-
dern, die den deutschen Magen mit Eicheln und Konfituren
blahen, ohne ihn zu nahren und die Dumheit aller lesenden
Stande mit blumichtem Futter masten. Diesem Hunger verdan-
ken wir die Anstrengung, mit welcher der Dichter seine poe-
30 tische Pfeife auf Unkosten seiner Lunge blast, gleich gewissen
Derwischen in Agypten, die mit einem Stos in ihr Horn ihr
Almosen fordern, oder den stummen Betlern, die durch ein
tonendes Glokgen die Freigebigkeit um eine Gabe ansprechen.
Diesem Hunger verdanken wir die Geschiklichkeit, mit welcher
der Philosoph auf metaphysischen Seilen tanzt, auf den Beutel
der mildthatigen Bewunderung hoffend, und mit welcher seine
37<5 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
Ideen, gleich dem Rauche, in die Hohe wirbeln, wo, so viel
er weis, neben dem Korbe sokratischer Abstrakzionen auch der
sinlichere Brodkorb hangt. Ja diesem Hunger verdanken wir
die Wahrheits- und Menschenliebe des Schriftstellers: denn
nichts ist natiirlicher, als daB die stechenden Safte des Magens,
die Uneigenniizigkeit aus ihrem Schlafe aufspornen, und daB
ein Herz vol siisser Menschenliebe zu einem Magen vol bitterer
Galle sich schlage. Ich habe selbst einen vortreflichen Schriftstel-
ler gekant, dessen uneigenniizige Fruchtbarkeit an riihrenden
Bruchstiikken das Publikum einem Stokke nagender Wiirmer 10
in seinem Unterleibe zu verdanken hatte, welche unaufhorlich
Ideen an den Magen abluden, der sie darauf durch die Nerven
an das Gehirn und endlich an die Sele verschikte. Auf diese
Weise waren die Feinde der Musen seine Musen; auf diese Weise
vertraten verachtete Thiere bei diesen Meisterstiiken des
menschlichen Herzens die Stelle der Hebamme, eben so lokken
in Arabien die Stiche eines gewissen Insekts aus der Esche das
siisse Manna heraus, und eben so verbessern auf der Insel Malta
gewisse Maden den Feigenbaum und zeitigen seine Fruchte. -
Wie sehr iiberbietet das Werk seinen Schopfer; wie klein ist das 20
Loch, woraus man oft Quartanten spinnt! - Allein eben dieses
versohnet mich mit dem scheinbar ungerechten Schiksale der
Schriftsteller, die durch gedrukte Liigen dem verdienstvollen
Beutel eines dummen Gonners ein erzwungenes Almosen ab-
schmeicheln miissen. Denn der weise Apollo wuste zu gut, daB
nur hungrige Jagdhunde am besten iagen, nuchteme Laufer am
geschwindesten laufen, daB ein zaundiirrer Pegasus langer als
ein schweres Reitpferd bei Athem bleibe, daB man aus dem
Kieselstein das Feuer herausschlagen, und aus dem gepolsterten
Stuhle den Staub herausklopfen miisse - Darum stattete er seine 30
Lieblinge mit Armuth aus, verbesserte ihre Sele auf Kosten ihres
Korpers und gab ihnen wenig zu leben, damit sie ewig lebten. .
Der Gedanke der Unsterblichkeit verzukkert also dem
Schriftsteller sein ieziges bitteres Leben. Dies bringt mich auf
die Betrachtung, daB Autoren nicht nur fur ihren Magen, son-
dern auch fur ihre Ohren schreiben, und Lorbern brechen, nicht
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 377
nur urn damit den Geschmak einer Rindfleischsuppe zu verbes-
sern, sondern auch um sie um die Schlafe zu winden. Und dieser
Endzwek ist auch erreichbarer als der vorige. Denti'das Publi-
kum bezahlt weniger karg als der Verleger, weil dieser die Be-
lohnung in Geld und ienes sie in Wind auszahlt. Ubrigens steht
der kritische Ablas iedem fur Geld, kiinftige Gegendienste
u. s.w. feil, wie ich weiter unten von den Rezensenten zeigen
werde, ieder wunderliche Heilige wird zum Gegenstande der
Anbeturig kanonisirt, und es giebt iezt der Unsterblichen eine
io solche Menge, da3 man nur die neuesten kent und die Cibrigen
schon vergessen hat. Die heutigen Journale, die Archive des
schriftstellerischen Ruhms, sind daher nichts als eine Zusam-
menhaufung von Abbildungen der besten, deutschen Kopf e und
ihrerGaben, dieendlich vom Ruhme der Kritiker selbst gekront
wird - eben so ist ein Thurm in Ispahan, der aus lauter Ziegen-
kopfen, deren Horner auswarts stehen, gebauet ist, und dessen
Spize der Kopf des Baumeisters macht. - Hat dich der Zirkel
deiner Bekannten einmal mit Bewunderung umrauchert, ein
Klubbbartloser Rezensenten zum Erben des Nachruhms erkoh-
20 ren, oder gar ein Trup Nachahmer zum Fuhrer einer gehornten
Herde ausgeblokt, und, was am meisten ist, ein Schok Weiber
fur den Kizel ihrer Thranendriisen mit der Verewigung be-
schenkt: so glaube fest, dein Name sei der Zeit gewachsen, so
troze dem Tadel unbekanter Klugen, so verachte die sichtbaren
Zeichen deiner nahen Sterblichkeit, so futtere durch deine
Fruchtbarkeit die gefrassige Vergessenheit sat, damit sie wenig-
stens etliche deiner Geburten verschone, und widerkaue in Ge-
danken deinen Ruhm, das Urtheil einer klugern Nachwelt hof-
fend, um deinen Muth in Verbreitung des Unsinns zu starken,
30 gleich der pythischen Priesterin, die sich durch gekaute Lorbern
zur Raserei in heiligen Versen, erhob. Zwar hindert der unachte
Kritiker die Beruhigung deines Ehrgeizes, durch unniize Dro-
hungen; allein im Grunde hindert er sie nur so lange, als das
vonibergehende Gcfuhl deiner Schwache ihm beifalt, als dein
Stolz ihn nicht widerlegt. Doch wil ich einige Perioden hin
durch seine Sprache reden, um ihn hernach in der deinigen besser
378 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
zu widerlegen. »Stolze Insekten, spricht dieser Herold der deut-
schen Schande, die ihr euch im warmen Stral der Abendsonne
ein ewiges Leben traumt, oder auf dem Kothe, eure Wiege und
eure Nahrung, den spielenden Glanz eurer Fliegeldekken be-
wundert, wie leicht kan euch der nachste Frost zerstohren! Die
heutigen Gozen des Tags riechen nach dem Weihrauch ihrer
Verehrer; aber wie die Hunde bei verandertem Wetter stinken,
so wird die kleinste Verbesserung des Geschmaks sie in den
Abscheu der deutschen Nase verwandeln, und gleich einem
Lichte wird ihr Ruhm kleiner werden, ie langer er glanzet. An
diesem Ruhme werden sich die Zahne kiinftiger Mause wezen,
und die Wiirmer - der Nachtrab des Todes - werden die gepries-
nen unsterblichen Produkte noch fruher als ihren sterblichen
Schopfer verdauen. Die Behaltnisse des iezigen poetischen Feu-
ers werden die Tobakspfeifen der Nachwelt anziinden, und den
Pfeffer des Enkels umkleiden. Vorausgesezt, da6 noch ein so
spater Tod sie verewigt, vorausgesezt, daB die Nachwelt sie
durch die Spezereien der Rezensenten als Mumien, oder durch
den scharfen Spiritus der Satire als seltne Misgeburten iiber-
komt. Die Zeit wird dan die Flekken dieser Biicher, wie des
Seehunds seine, vergrossern, und iedes Jahr ihnen in einer neuen
Runzel das Zeichen seines vorigen Daseins zuriik lassen. Die
iezt streichenden Almanachs und iibrigen Poetereien werden,
gleich den streichenden Heringen, durch das Fortschwimmen
im Flusse der Zeit immer magrer werden, die hinrauschenden
Jahre den Kleister modischer Verschonerung abspiilen, und die
Sense der Zeit die iezigen Blumgen wegmahen.« b So sagt der
Kritiker; naturlich, daB ihm kein Autor glaubt, weil ieder bios
sich glaubt. Wie leicht last sich das Zischen der Misbilligung,
iiber die Stimme des eignen Beifals und iiber die Hofnung eines
bessern Urtheils verschmerzen! Und diese Hofnung ist nicht
ungegriindet. Denn die billigere Nachwelt wird unfehlbar dem
Verdienste der heutigen Autoren die iezige Verachtung mit
doppelter Bewunderung vergiiten, und diese vortreflichen
b Doch wird man diese verwelkten Blumgen auch einmal fur kri-
tische Ochsen, als Heu zura Wiederkauen brauchen konnen.
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 379
Schriftsteller werden erst unsterblich werden, wenn sie gestor-
ben sind. So schwellen in Persien die todten Korper auf; so stinkt
der Same des Korianders auf der Pflanze, und gewint nach der
Trennung von derselben Wohlgeruch. Erst im Grabe werden sie
dem Feuer ihres Genies freien Wirkungslauf lassen konnen, wie
die Bomben erst in die Erde fallen, ehe sie die feurigen Werk-
zeuge des Todes um sich schleudern; erst aus ihren modernden
Kopfen wird der Lorber, gleich den Haren, hervorspriessen,
eben so griinet das Mos auf den faulenden Kopfen der holzernen
I0 Esel vor den Stadthoren. Wie der weisse Schleim, womit der
Wurm in der Perlenmuschel die Ofnungen seiner Schale stopfet,
nach und nach zur Perle reift, ebenso wird der Nervensaft der
oftgedachten Schriftsteller, der fur schlechte Zwekke und oft
bios fur die Verbesserung zerrissener Kleider verschwendet
wird, mit der Zeit in den glanzenden Gegenstand der kiinftigen
Bewunderung sich verwandeln und zu den aufgereihten Perlen
der iibrigen Genies sich fugen. Denn vielleicht, dafi das Ge-
schlecht der Kenner nicht ausstirbt, die nur Biicher, welche die
Wurmer angefressen, schmakhaft finden - und so fehlt den Pro-
20 dukten der heutigen Autoren zur Unsterblichkeit nichts als eine
lange Vergefienheit und die Zahne der Wurmer; wie die Pro-
dukte des Rindviehes, die Kase, sich durch Alter und Milben
dem Gaumen empfehlen. Auch die Wilden finden faulende Fische
am wohlschmekkendsten. Ja noch mehr, kiinftige Kritiker wer-
den die Geburten der iezigen Kopfe zu Lehrern ihren Zeitver-
wandten distilliren, wie der Chemiker aus verfaultem Urin leuch-
tenden Phosphor schaft; und ihre Dinte wird die vermoderten
Reliquien der Genieinsekten zum neuen Leben erwekken, wie
aus einer mit Rindshlut besprizten Krebsasche neue Krebse aufer-
30 stehen. c Von der Kunst solcher Kritiker hat also die heutige
scheinbare Dumheit -nach ihrem Tode die Verwandlung in
c Mit dieser Auferwekkungskraft ist der unschazbare Verfasser des
Annulus Platonis begabt, welcher annulus 1781 schreib ein tausend sie-
benhundert und ein und achzig herauskam, und in welchem annulus
der alchymistische Unsin, wie der Papagei in dem Ringe seines Bauer s
sich wieget.
38O JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Weisheit zu gewarten - eben so schuf sich Virgil aus einem toden
Ochsen einen ganzen Schwarm von Bienen, eben so macht man
aus dem wasserichten Gehirn des Potfisches Lichter- Gesezt aber
auch, euer Ruhm hinkte eurer Schande auf zu langsamen Stun-
den nach; gesezt alle Eingange zum Tempel der Ehre waren
verschlossen, so steht doch jedem noch diese Hinterthiire offen.
Denn namlich, obgleich der Parnas durch die Umgrabung und
Umwuhlung von tausend schriftstellerischen Handen, unend-
lich an Fruchtbarkeit gewinnen mus; so ist doch ausgemacht,
daB ihm durch die Verwesung aller dieser Glieder eine noch 10
grossere zuwachsen miisse, wie man an einigen Orten die Wein-
bergenicht ohne Nuzen mit Ochsenklauen diingt. Wenn nun der
Tod des Schriftstellers der Literatur frommet, so komt er auch
dem Ruhme desselben zu statten - und so nahrt die Verwesung
seinen Lorber, so wurzelt auf seinem Grabe seine Unsterblich-
keit. - Auf diese Weise ist jeder Schriftsteller seiner Verewigung
versichert, und die Menge seiner Tadler beweist nur seine Unta-
delhaftigkeit, und ihr Sieg iiber das Leben seines Ruhms seine
Vorziige: denn je mehr Trager, des to vornehmer die Leiche. -
Ja jede Schande sezt Ehre voraus; wer hangt, ist iiber die Erde 20
erhaben. Und oft macht diese Schande beriihmt und gros; eben
so lassen die Rezensenten das Tadelhafte einer Schrift mit grossern
Buchstaben drukken, eben so wird eine Mutter durch eine Mis-
geburt und ein Verbrecher durch den Pranger bekant. - Zu den
obigen Griinden fur die Verewigung der heutigen Schriftsteller
fait mir eben ein Beyspiel aus den neuern Zeiten ein. Namlich:
wer hatte sich ie die Moglichkeit traumen lassen, daft Dichter
des dreizehnten Jahrhunderts dem geschmakvollen Gaumen des
achtzehnten behagen konnen, wer je den Minnesangern ihre
jezige Auferstehung weissagen mogen? Und doch hat der Ge- 30
schmak unter Friedrich und Joseph, die bestaubten Musen unter
den schwabischen Kaisern gepliindert. Dieser lobenswiirdige
Fleis nun, der in den Bibliotheken, den litterarischen Gottesak-
kern, nach altem Unrath scharret, wird auch auf unsere Nach-
kommen erben. Dann werden die kiinftigen Freunde des grauen
Unsins, die jezigen Freunde desselben belohnen und zweite A-Z
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 381
werden die poetischen Reliquien unserer Zeit fur den Geschmak
ihres Publikums verbessern, und sie von den verstorbenen
Schonheiten saubern, - eben so kamte D. Kunastrokius Esels-
schwanzekhr, und rupfte die tauben Hare mit den Zahnen aus. d
Allein nicbt alle schreiben, um Ehre zu erhalten; einige auch,
um sie andern zu nehmen. Von diesen nun, die der Neid zu
ungerechtem Tadel begeistert, deren Ehrgeize fremde Schande
schmeichelt, und die man kurz unter den Namen der Rezensen-
ten befasset, von diesen weiter unten! . -
Das dichterische Feuer steht dem Schriftsteller nicht immer
zu Gebote, und das Genie fallt eben so oft in Ohnmacht, als
ein Frauenzimmer. - Dieser Ermattung nun helfen verschiedene
kiinstliche Reizungen ab. Der Schopferkraft des Weins verdan-
ken wir manchen gereimten Unsin, und dem Schaume desselben
manche Venus. Die Poeten und die Hunde namlich verliehren
ihren Verstand auf entgegengesezte Arten. Der Mangel an Ge-
tranken macht die Hunde narrisch, wiitend oder dichterisch;
allein nur der Uberflus daran spricht den Dichter von seinem
Verstande los, und spornet ihn iiber die trage Vernunft hinweg.
Diese Hize des Weins stort den Unsin der Phantasie aus seinem
Winterschlafe, und wekt die buntschekkigte Brut der Traume
aus ihrem Schlummer; - aus alien Winkeln des Gehirns kriechen
verborgene Einfalle hervor, jede Ahnlichkeit, jede die Stam-
mutter einer Familie von Metaphern, samlet ihre unahnlichen
Kinder um sich, und gleich einer wandernden Mausefamilie,
hangt sich ein Bild an den Schwanz des andern; - alle Saiten
des hohlen Kopfes tonen zu einem gleichzeitigen Misklang, das
Gedachtnis wirft seine gestohlnen Schaze aus, und wie Heu
durch die Nasse, erhizt sich der zusammengeraubte Haufen von
verwelkten Blumen durch das Getranke. Nur auf diese Weise
kan der Parnas mit einem Bedlam weteifern, nur durch das Ein-
saugen einer solchen Lauge kan der Unsin zu einer pindarischen
Hohe aufschiessen. Darum waren auch alle geflekte Thiere dem
Bacchus heilig; - wenn man namlich das buntaustapezierte Ge-
d Siehe Tristram Shandi's Leben. i. Theil 7. Kapitel.
382 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
hirn eines Musensohns mit einem vielfarbigen Thierfelle ver-
gleichen darf. Daherist begreiflich, warum Bacchus seinen Hor-
nerschmuk bald an- bald ablegte; vorausgesezt, daB durch das
vorige die Ebbc und Fluth des dichterischen Unsins begreiflich
geworden. - Daher verehre ich neben den huldreichen Mazenen,
deren Verdienste der Magen dem Schriftsteller in die Feder sagt,
niemand mehr als die Spinnen. Denn eben diese beschuzen mit
ihren Geweben die Trauben vor den gefraBigen Mukken, und
bewachen den Wein, den die Gonner an die Poeten verschenken.
Auf diese Weise hangt an der Fruchtbarkeit des Hintern der 10
Spinnen die Fruchtbarkeit genieartiger Kopfe; auf diese Weise
nuzen dem Parnas unter alien Spinnen die naturlichen am mei-
sten. - Daher verehre ich neben den huldreichen Mazenen auch
die Eseh Denn die Nascherei eines Esels veranlaste die Beschnei-
dung der Weinstokke. Dafiir errichteten ihm die Nauplier in
Argien ein steinernes Ebenbild; und das holzerne Ebenbild des-
selben von den Stadtthoren mocht' ich fast der Dankbarkeit
der Dichter anempfehlen, da noch iiber dieses seine langen Beine
ihr Atherleben fiiglich abbilden. - Allein der Wein ist ein zu
kostbares Mittel der Begeisterung, er ist ofter der Endzwek als 20
der Vater der Verse, und manches Weinlied hat der Durst ge-
macht. Auch verraucht fur die vorgesezte Anstrengung des
Vielschreibers sein Einflus zu bald, den oft iiberdies die darauf
folgende Lerheit im Kopfe, auf dem Papiere und in der Borse
verbittert. Mit Vorbeigehung des edlen Gerstensaftes, und der
(ibrigen Getranke, deren Einflus auf den langsamen Nervensaft
schon durch gedrukte Zeugnisse verewiget worden, komm' ich
daher auf die aussere Hize, die das Blut reichlicher nach dem
Kopfe treibt, und der geistigen Fischerin einen reichen Fischzug
von Ideen verspricht. Die Sonnenhize wekt nicht bios schlaf ende 30
Fliegen, sondern auch schlafende Ideen aus ihrer Erstarrung,
und vereiniget in dem Kopfe wie in der Atmosphare Diinste
zu Blizen. Ihre Warme zeitigt Fruchte und Bucher, und leitet
den Nervengeist nach dem Kopfe, wie den Saft der Erde nach
den Gipfel des Baums. Zu Rom sollen in den Monaten der gro-
stenHize die meisten Mordthaten geschehen. Wenigstens aus
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 383
den Lenden des Males rriag bei uns manches Almanachsgedicht
entspringen. Dazu ist im Mai die Hochzeit der Natur; und die
Jungferschaft der Musen wird doch nicht allein den Begierden
des Dichters trozen und seine Verse iiberleben wollen? Der
Hundsstern ists, unter dessen Wuth der Hund in gefahrlichen
Geifer und der Dichter in nuzliche Verse ausbricht, und der
beide an die Mcnschen hezt. Im Winter ist ein warmer Ofen
der Vice-Apollo. Er schmelzet unahnliche Begriffe in einem
Vers zusammen, und nahrt unbefiederte und dem Ei der dunkeln
10 Idee kaum entschliipfte Himgeburten mit dem beschleunigten
Zuflus gestohlner Ideen - so nistet die Schubuteule an den heisse-
sten Orten, wo die Sonnenhize das Aas fur ihre Jungen in Brei
aufloset. Aber o ihr Stuzen des deutschen Wizes, wendet
nie an die Begeisterung zu viele Kosten, und schwizt und trinkt
nie zu oft, oder zu sehr, damit ihr beides lange konnet; sonst
wiirdetihr euer theures Leben der Verewigung aufopfern, sonst
wiirde der Pegasus gleich dem gezahmten Krokodil, seinen Rei-
ter verschlingen. -
Wer soke wohl glauben, daB Krankheit zum Bucherschreiben
20 cine Ursache, wenigstens eine Veranlassung werden konne?
Oder vielmehr, wer soke es nicht glauben, da Apollo sowohl
der Gott der Arzte als der Musen, und also auch der Krankheiten
wie der Bucher ist? - Einem kranken Korper ist die Sele die
groste Unthatigkeit schuldig, und sie mus inn aller der Anstren-
gung (iberheben, die der rukkehrenden Gesundheit den Weg
vertreten konte. Daher ist der Ruhe des Pazienten ausser dem
Schlafe nichts bessers vorzuschlagen als das Bucherschreiben.
Diese Arbeit entzieht den Geist alien Gedanken, ia sogar der
Ermudung lebhafter Traume und schrankt seine ganze Anstren-
30 gung auf die Handhabung einer leichten Feder ein. Diesem
Nichtdenken sind wir daher manche Kunst zu denken schuldig:
denn ohne Logik last sich nichts leichter schreiben als eine -
Logik. Und das Krankenbet mag die Wiege von manchen vor-
treflichen Betrachtungen gewesen sein, die Kranke fur andere
Kranke in den Druk gegeben, und die darum auch nicht fur
den gesunden Verstand geschrieben sind. Ja die Krankheit arbei-
384 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
tet oft selbst an dem Buche. Der Druk etlicher geprester Winde
im Unterleib vermag das ganze Gebaude des Optimismus um-
zusturzen; ein verschleimter Magen tragt bliihende Deklamazio-
nen gegen den Luxus, und gesalznes Blut wiirzt die Satire mit
beissendem Wiz. Wie Gewachse zwischen Steinen besser gedei-
hen, so wuchs mancher Lorber durch die Steine in der Harn-
blase, urn einige Zolle hoher, und eine iibelabgelaufene Aderlas
versah einmal alle Almanachs des deutschen Reichs mit riihren-
den Elegien: so fliesset das Gummi aus den Baumen, nach ge-
machten Einschnitten. Ich rechne zu meiner Gliikseligkeit die 10
Nachbarschaft eines Musensohns, der auf der Spize eines Par-
nasses von fiinf Stokwerken weilet, und den Bachus und Venus
mit der Schwindsucht beschenket haben. Wie die Zugvogel,
kehret seine Krankheit im Fruhlinge mit sichtbaren Ausserun-
gen und mit ihr sein trauriger Gesang zuriik. Sobald das Blut
seinen Speichel farbt, so wimmert seine genieartige Lunge in
youngischer Melodie. So verkiindigen die blutigen Fleken im
weissen Kothe der Stubennachtigal, die Ankunft ihres Gesangs.
- Biicher sind oft nichts als Symptomen eines kranken Geistes.
Predigten schreiben, heiss' ich, den Durchfall haben; dichten, 20
das Fieber haben; epigrammatisiren, die Kraze haben, und re-
zensiren, die Gelbsucht haben. Nur das einzige Chiragra ist die
Feindin der Musen und bindet der Schopferin geistiger Meister-
stiikke die Finger. Des vortreflichen furor poeticus, oder der
Tolheit, der heutigen Melpomene, wird weiter unten gedacht
werden. -
Die ewige Jugend der Musen adelt die Jugend ihrer Sohne,
junge Schriftsteller sind daher die besten. Dasselbe Vermogen,
welches den Jungling bald zum Vater vaterloser Kinder macht,
berechtigt ihn zur Erzeugung anonymischer Biicher, und die 30
Akademie erlaubt ihm die erste Schandung der Musen und der
Madgen. Seine Bedurfnisse, seine Fahigkeiten lokken ihn zum Ge-
brauch der Feder. Seine Bediirfnisse - denn an dem Orte, wo
die Gelehrsamkeit zu Hause und im Schlafrok ist, wo die Weis-
heit mit Stok und Degen, in jeder Gasse ein Logis fur sich und
ihre bezahlenden Freunde gemiethet und wo der Katheder bios
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 3^5
das Echo klingender Goldstukke ist, an diesem Orte kauft sich
der Jiingling den Verstand seiner Lehrer um einen Preis, den
der Wert der Sache nicht immer unterschreibt, an diesem Orte
mus man daher das Publikum zu lehren anfangen, damit man
selbst lerne und Biicher schreiben, um welche kaufen zu konnen,
wie einige Wilden gegen ihre Kinder Weiber einhandeln. Mit
dem Lohn gedrukter Epigrammen befriedigt man den Har-
krausler und die Arbeit der innern Seite des Kopfs bezahlt die
Zierde seiner aussern; zusammengeflikte Verse flikken den Rok,
io schmuziger Spas wascht die Hemden und mit einem verdorbnen
Allerlei erschreibt man sich ein Schaltjahr von Braten. Man singt
da die Liebe, um sie bezahlen zu konnen. Ubrigens hascht der
Jiingling auch nach Luft, dem Elemente des Ruhms: daher lispelt
er durch die Feder - das Sprachrohr der Fama - dem Ohre der
Welt d. h. etlicher Bekannten seine Grosse zu. Sein Ehrgeiz wei-
det sich an der Verwunderung seiner Freunde, und wuchert
gierig die gefalligen Mienen ein, die sie an seine Grosse ver-
schwenden. Man stelle sich vor, wenn er, dieser Weltschopfer
in mice, nun sechs Monate im Schweisse seines Angesichts Bil-
20 der, die ihm gleich sind, geschaffen und vom siebenten selige
Ruhe erwartet; wenn alle Figuren seiner Gallerie in bunten Klek-
sen schimmern, fur die er auf Kosten der Zukunft alle Muschel-
schalen seines Farbekastgens ausgeleret; wenn er seinem Kinde
einen Pathen und sich das Pathengeld erbettelt hat - man stelle
sich vor, sag' ich, mit welcher Wollust er dann das schon ge-
bundne Buch - die vergoldete Nus ohne Kern - seinem Vater
iiberschikken mag, der aus Vergniigen, den ersten geistigen En-
kel, die erste Kraft der Muskeln seines Sohnes, zwischen den
Fingern zu halten, das fruchtbare Feld mit Goldkoth, dem Ex-
30 kremente des Gliikkes, diingt. Freilich mus er in der Vorrede
seinen Eigennuz mit einer menschenfreundlichen Larve zieren
und seine Absichten mit etlichen Liigen beschonigen. Denn die
Liebe zu den Menschen, nicht zu den Huren; der Erwerb etlicher
von Edlen geweinten Thranen, nicht des Weins; das voile Herz,
nicht der lere Magen; die Befriedigung seiner bittenden Freunde,
nicht der ungeduldigen Glaubiger - gaben ihm seinen Kiel in
386 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
die Hand. Auch die Wahrheitsliebe ist die Mutter seiner Biicher.
Diese nothigt ihn zur muhsamen Unternehmung, der ganzen
Welt den Star zu stechen, und bestraft sogar seine Zurukhaltung
rnit empfindlichen Gewissensbissen; so biisset oft eine Frau die
Zurukhaltung ihrer (iberfluBigen Milch mit gefahrlichen
Krankheiten. Und da die Wahrheit sich mehr zu schwachen
als starken Kopfen halt, wie ihr Thier, die Eule, nur in eingefal-
nen Gebauden nistet, da sie gerne von der Menge zu einem
Einzigen fluchtet, da sie troz dem amsigen Schweisse, den Mu-
Bigen in den Kopf und in die Feder fliegt, warum soke der 10
gliikliche Jiingling von seiner Vertraulichkeit mit derselben,
nicht den besten Grbrauch machen? nicht den Denker durch
die Resultate seines Nichtdenkens aufhelfen, nicht den Haufen
irrender Kopfe vermittelst seiner Dinte mit Einsicht taufen und
nicht mit den Geschenken des Zufals oder eines Augenbliks,
der Armuth des vergeblichen Fleisses steuern? - Dies wohl er-
wogen, wird man daher den Zorn jedes Schriftstellers rechtfer-
tigen, dessenBehauptungen man bios mitEinwurfen empfangt,
dessen Wahrheitsliebe man bios mit Wahrheitsliebe vergilt; wird
seine Hartnakkigkeit gut heissen, gegen die blosse Griinde we- 20
nig verfangen, und seine Antipathie gegen Belehrung seinem
Eifer, zu belehren, anrechnen! - Aber auch die Fahigkeiten des
Jiinglings schaffen ihn zum Schriftsteller. Er ist zu unwissend,
um jemand anders als das ganze Publikum unterrichten zu kon-
nen, und stolz genug dem Tadel Unverbesserlichkeit entgegen
zu sezen, und fur den Ruhm der Originalitat jede Thorheit zu
wagen. Zu dem Romane besizt er alle Anlagen und alien erfor-
derlichen Mangel an Menschenkentnis, und sein hiziges Blut
verspricht vortrefliche Tiraden im Trauerspiele. Unbekant mit
der Kritik feilt er nie von seinen Werkeh den Stempel der 3c
schlechten Natur hinweg, aber verbessert dafiir in Rezensionen
fremde Produkte. Zu alien diesem komt noch das wichtigste,
seine Liebe. Seine Hure ist seine Muse und wie die Propheten
des alten Testaments zum Besten der israelitischen Kirche hur-
ten, so hurt er zum Besten der gelehrten Republik. Die Liebe
veranlast und begeistert ihn zum Gesange; der Vogel singt vor
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 3^7
der Begattung, die Musik geht vor dem Schauspiele vorher und
die bessern Theile des Holzes rauchen, ehe die schlechtern bren-
nen. Nur der ideenlere Kopf des Jiinglings freilich fangt, gleich
ungeschmiertenR'idern, am leichtesten Feuer: denn hohe Zimmer
sind nicht gut zu heizen. Und eben dieser Vorzug bestimt ihn
zum Autor. Ja da Reden und Thun sich wie Kopf und Fus ver-
haJten, da das Pedal grober klingt als das Manual, da die Haut
der Fussolen dikker als die der Hande ist, und man nicht den
Fusboden, nur die Dekke des Zimmers mit Gemahlden ver-
schonert, so kan er in der Schule der buffon'schen Liebe die
platonische lernen, kan vermittelst seiner Verse, des gedampf-
tern Wiederhalles der grobern Wollust, die Thranendriisen des
Publikums mit dem weinerlichen Durchfal anstekken, und,
gleich den Turk en, die nach Russel's Bericht, vor dem Gebet
ihre Nothdurft verrichten, die Hurerei mit der Empfindsamkeit
kronen. Auf diese Weise erscheint er, gleich einer gewissen
Schwalbe, im Fluge grosser als in der Ruhe, und die vielfarbige
Blume seines Wizes verdankt einer Wurzel, die sich vom Miste
nahrt, ihren Ursprung und ihren Unterhalt. Bei jedem Anfluge
von Studenten, die den Schos ihrer Vater verlassen haben,
wunsch' ich daher der Litteratur zu ihrer kiinftigen Fruchtbar-
keit Gluk - so weissaget der Bauer aus dem Absprunge der
Zweige von den Tannen, die Fruchtbarkeit des kiinftigen Jahres.
Zur Jugend geselt sich ein wiirdiger Kollege, das Alter. Nur
der Name und die Gestalt veranlast die Unahnlichkeit beider.
Denn dieses hat nur vergessen, was jene noch nicht gelernt,
dieses steht an der Vorderthure, jene an der Hinterthure der
Kindheit; die Hare dieses haben die Farbe der Zeit, und die Hare
jener sind gepudert, die Feder ist bei diesem Kruke, bei jener
Stekkenpferd. Ein alter Schriftsteller ist daher ein guter, er hat
die zwo nothigsten Eigenschaften, Schwache und Stolz. Von
der Bescheidenheit sprechen ihn seine Jahre los, und er hat das
Recht, jeden fur einen Esel zu halten, der kein grauer ist. Darum
darf auch das Alter zensiren, so wie die Jugend rezensirt. Da
auf seiner Nase die Augen seiner Augen sizen, so kan die Wahr-
heit diesen seinen vier Schlusarten - dem logischen Postzug
388 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
- wohl nicht entgehen, und mit der Kriikke des Gesichts, wenn
ich die Brille so nennen darf , kan er doch einen Protheus einho-
len. Wenn daher aus seinem Kopfe, in welch en schon tausend
Biicher eingegangen, und aus welchem keines ohne das Zol an
das Gedachtnis, wieder herausgegangen, wenn aus diesem
Kopfe ein eignes komt, so wird es natiirlich ein gutes sein, wird
sich durch die gestohlnen Lappen andrer Biicher empfehlen und
mit dem Reichthum des Gedachtnisses die Schwache des Ver-
standes bemanteln - eben so schazt man in Norwegen die soge-
nanten Kasekasten, in welchen man die Kase aufbewahret, nach 10
ihrem Alter: denn je alter sie sind, desto zahlreicher sind die
alten Brokken, die immer von den vorigen Kasen zuriikgeblie-
ben, und die jeden neuen schmakhafter machen - Sezt man zu
diesem alien, daB sich im Alter alle Thatigkeit vom ganzen K6r~
per in die Zunge zurukzieht, daB die Erweiterung des Mundes
mit der Anriikkung des Ende des Lebens wachst, wie die Ge-
darme imer weiter werden, je mehr sie sich dem Hintern nahern,
daB die Geschwazigkeit mit der Dumheit weteifere, wie man
das Maulweh aufreist, eh' sich die nikkenden Augen zum Schlafe
zuschliessen, sezt man dieses zu dem vorigen hinzu, so ist aus 20
den scheinbaren Gebrechen des Alters sein Recht an die Fiihrung
derFeder, erwiesen. Denn durch eben diese schazbare Geschwa-
zigkeit stopft man ganze Alphabete vol Buchstaben und Worte.
Da die Jahre, so viel ich bemerkt, die Liebe grosser Genies zu
den Musen nur noch mehr entflammen, wie das Alter die Brunst
der Hengstesel vermehren sol, da Biicher aus alten Kopfen wie
Schwamme aus faulen Baumen, entspringen, und es schwer ist
aufhoren zu schreiben, wenn man lange geschrieben, so ist es
auch billig, daB Dinte so lange aus der Feder des Schriftstellers
fliesse, als der Sand in dem Stundenglase des Todes, und daB 3c
er noch mit dem Ende seines Lebens seine Mitbriider geissele,
wie man aus dem stachlichten Schweife der Roche eine Peitsche
macht. - Das jugendliche Gesicht der Muse kan sich so gut
mit seinen Runzeln vermahlen, als die Venus mit dem hinkenden
Vulkan. -
So nach'mus man wohl viel schreiben? Allerdings, da man
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 389
von Aufgange bis zum Untergange des Lebens schreiben kan.
Lieber Freund, wie die Katholiken schon Jahrhunderte lang mit
der Milch der Maria schachern, so kanst du es mit deiner Dinte
wenigstens etliche Jahrzehnte, oder kanst mit deinem Unsin,
wie der Dalai Lama mit seinen Exkrementen, wol gar dein Lebe-
lang handeln. Jedes Jahr miissen wo moglich alle neun Musen,
der Schopfungskraft deiner herkulischen Lenden frohnen, und
keines miisse ungetriibt von deiner Dinte das Meer der Ewigkeit
erreichen! Wirft doch auch der Hirsch jahrlich die holzernen
10 Geburten seines Kopfes ab, entledigt sich doch die Schlange
jahrlich ihrer alten Haut! Doch in der Vielschreiberei nimt es
unser Deutschland mit jedem Volke auf! Es besizt Kopfe, die
an ihren errungenen Lorberkranzen ihre Jahre herrechnen, wie
man das Alter der Ochsen aus der Anzahl der Ringe ihrer Horner
bestimt. - Kopfe, die sich wie die Masern jahrlich, ja oft sechs-
monatlich, beim Publikum einfinden - es besizt schriftstelleri-
sche Finger, die an Buchstaben so fruchtbar wie an Nageln sind,
und Autoren, die Feinde des leren Raumes, mit ihrer eignen
Lerheit das Papier beflekken, und gleich den Sinesen schwarz
20 fur die Freudenfarbe und weis fur die Trauerfarbe halten; Auto-
ren, deren Werkstat angemessene, zugeschnittene und gemachte Bii-
cher zugleich fullen. So vertragen sich an demselben Zitronen-
baum Blute, halbreife und ganz reife Fruchte, so wirft nach
dem Opptian die Hasin einen zeitigen Jungen, tragt zu gleicher
Zeit im Uterus einen ohne Hare, und einen ungebildeten. -
Aber zu was Ende diese Vielschreiberei? welche Frage! als wenn
man sich nicht mit aufgethurmten Buchern den Thron des
Ruhms erbauen muste! als wenn die Fruchtbarkeit auf dem Par-
nas nicht eben so viel Ehre wie im alten Testamente brachte!
30 als wenn nicht die Autoren, gleich den islandischen Weibern,
am langsten lebten, die die meisten Kinder gebohren! Ubrigens
kam die obige Frage gewis nicht aus dem Magen! - Der Viel-
schreiberei redet auch folgendes Verfahren das Wort. Die Be-
gierde des Buchhandlers, die Welt mit Wahrheit aufzuhellen,
plundert die Studierstuben verstorbener grosser Schriftsteller,
und durchstankert ihre Pulte, urn mit ihren zuriikgelassenen
390 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
Exkrementen, die der Name ihres Verfassers in Konfekt ver-
edelt, das hungrige Publikum abzuspeisen - so durchsucht man
im Konigreiche Monsul oder Murfili, nach Marko Polo's Be-
richt, e die Nester ausgeflogener Adler, um in dem Kothe derselben
Diamantenzu finden; so glaubte man sonst, der Ham des scharf-
sichtigen Luchses verwandle sich in Edelgestein. Warum soke
nun nicht ein lebender Schrifts teller mit seinem eignen Unrathe
diese Begierde nach Unrath sattigen? warum soke er seinen
Uberflus der algemeinen Hungersnoth entziehen? warum soke
er nicht mit seiner Fruchtbarkeit dem Magen des Publikums 10
die Exkremente der Todten ersezen?
Ein anders ist die Frage: wie schreibt man viel? Durch die
Beantwortung derselben werd ich der genauern Bestimmung
der schrifts teller is chen Eigenschaften immer naher kommen,
wozu ich durch das Vorige fast bios ausgeholet habe. Wer seiner
Faust die nothige Fruchtbarkeit erleichtern wil, mache es so!
Alle Gedanken, die seine ersten Produkte verschonerten, lasse
er in den lezten unter einer neuen Verkleidung eine neue Rolle
spielen, und streiche ihnen, wie alten Hiiten, den Schein der
Neuheit an. Alle Ideen, die ihm der Zufal ins Gehirn wirft, 20
die dem ersten Augenblikke des Erwachens aufstossen, die den
Vortrup der nachtlichen Traume machen, die in der Hize der
Unterredung aufschiessen, dieer der geselschaftlichen Vertrau-
lichkeit, oder der zufalligen Lesung eines halben Wisches ab-
stiehlt, die der nothwendige MuBiggang auf dem geheimen Ge-
mach, erzeugt, oder die endlich kaum aus der Dunkelheit
entsprungen, das ergreifende Gedachtnis tauschen, wie die dem
Ei entschliipften Rebhuner sogleich ihre Geburtsstelle verlassen
- alle diese Ideen beschenk' er mit einem papiernen Korper,
und belebe sie mit Dinte, scharre sie auf einem Haufen zusam- 30
men, und schiebe sie auf irgend einem Karren zu Markte. Wird
man so das leise Auftreten jedes Gedanken belauschen, so jeden
in ein Buch zu seinen tibrigen Geselschaftern sperren, so vom
e Siehe die berlinische Samlung der besten Reisebeschreibungen 3.
Band S. 255-256.
GR5NLANDISCHE PROZESSE ■ I.BANDCHEN 391
Gehirn jeden Ansaz eines Einfals abkrazen, so durch Worte jeden
Frosch zu einem Ochsen aufblasen: so wird aus jeder troknen
Materie ein Oktavband, aus jedem Steine werden Kinder, her-
vorspringen; so wird jeder Kopf der Stamvater einer verschwi-
sterten Bibliothek werden, und mit seiner Fruchtbarkeit einen
eignen Schrank ausfiillen, so wird der Zahn des Autors keine
Feder mer verwiisten, und seine Hand die kleine Stirne nimmer
reiben, wie die Fische ihren Bauch an dem Sande reiben, um
ihre Eier leichter zu gebahren! -
io Stehlen ist der Puis der Vielschreiberei. Die gelehrte Republik
schazt, wie Sparta, die Vorziige der Diebe, die ihre langen Finger
unter irgend einem Handschuh zu vcrstekken wissen, und die
Journale winden um die Schlafe derselben schone Kranze, stat
daB die peinliche Halsgerichtsordnung Karl's des funften ihren
Hals mit einem Strik zuschniirt. - Einige Thiere haben in ihren
Winterhausern zwo Kammern, deren eine die eingesamlete
. Speise, und die andere ihren Auswurf aufbchalt. In der Studier-
stube eines achten Gelehrten sind daher fremde und eigne Werke,
Exzerpten oder Speisekammern, und eigne Papiere, die Behalt-
20 nisse der verdauten Exzerpten oder geheime Gemacher. Der
uneigenniizige Trieb dieser schopferischen Abschreiber, zum
Besten der Menschheit, das unter ihrem Namen drukken zu
lassen, was anfangs nur unter dem Namen des Verfassers ge-
drukt wurde, die Billigkeit dieser Menschenfreunde, ihren Un-
terhalt nicht aus fremden Kasten, sondern nur aus fremden Bii-
chern zu mausen, schleicht nun auf verschiednen Wegen zu
ihrem Zwekke, vermumt in verschiedne Gestalten ihr glanzen-
des Verdienst. Der eine lothet die disiecta membra poetarum
mit eignen Reimen in ein horazisches humano capiti cervicem
30 pictor equinam etc. zusammen, schnizt sich aus Eichen ein hol-
zernes Musen- und Stekkenpferdgen, wie man aus zertrummer-
ten im Herkulan gefundenen Pferden von vergoldetem Erzt ei-
nen neuen Gaul zusammengos, und opfert weiblichen Nasen
die wohlriechenden Extrakte, die er, gleich dem Parazelsus f aus
Parazelsus extrahirte aus Menschenkoth ein wohlriechendes
Extrakt, welches er Zibetha occidentalis nannte.
392 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
poetischen Auswiirfen distilliret, und zum Beweis der Wirklich-
keit des deutschen Zibeths, der Welt mittheilt. Ein andrer, durch
irgend einen grausamen Spiegel mit seiner Kleinheit bekant,
flieht ein so miihseliges Handwerk, begniigt sich mit der Berau-
bung eines einzigen, reitet durch seine Pymaenlenden bewogen,
wie Gulliver auf den Brustwarzen eines jungen Madgen von
Broebdignak, so auf denen einer einzigen Muse, oder schneidet
hochstens einem fremden Pegasus den Schwanz ab, stekt ihn
zwischen seine kindischen Beine, und rudert damit auf die
Ewigkeit zu. »Der Eiche Splitter sind der Strauche Donner- 10
keile.« Eben so reicht der Raub von etlichen ihrer Blatter zur
Bekranzung seines zwergartigen Kopfes hin. - Der eine maskirt
sich gleich den bei ihren Diebstalen vermumten Dieben in Eng-
land, in Namenlosigkeit, und raubt fremden Honig, gegen die
Stacheln seiner Besizer mit Bienenkappe und Handschuh verse-
hen; ein anderer verhult seinen Eigennuz in Uneigenniizigkeit,
stiehlt dem Schweisse seine Frucht, um sie dem Publikum mit-
zutheilen, und bereichert sich aus siisser Menschenliebe durch
anderer Verarmung, so bestreichen nach Pokokke's Bericht, die
agyptischen Diebe ihren nakten Leib mit Ohle, um bei ihren 20
nachtlichen Thaten nicht ergriffen zu werden. Einige mausen
dem Autor nichts als das Buch, welches sie dafiir mit einer eig-
nen Vorrede, und auch einem eignen Register ausstatten, d. h.
mit einem bessern Kopfe und einem bessern Schwanze verscho-
nern, eben so schaffet Scheuchzer das sogenante Einhorn, indem
er dem Bilde des Pferdes einen Eselsschwanz und ein Horn auf
der Stirne, anmahlet. Andere fischen im Zirkel freundschaftli-
cher Vertraulichkeit, nach entfalnen Gedanken grosser Manner,
schwazen mit der List des Fuchses in der Fabel, andern einen
Kase ab, und verwahren im GedachtniB die aufgelesene Frucht 30
eines fremden Mundes, fur ihre neueste Schrift, so verschlukt
der Dieb Edelgesteine in der Hofnung, sie in seinen Exkrem en-
ten wieder von sich zu geben. Ja oft bestiehlt der Schiiler den
Lehrer, liigt der Welt seine erborgte Grosse vor, bis diese vor
der grossern ihres eigentlichen Besitzers, wie vor der Sonne,
der mit ihren Strahlen prangende Mond, erblast, oder verwahrt
GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 393
seinen Raub bis zum Tode des Eigenthiimers, um ihn hernach
durch eigne Zusaze unkentlich zu machen: so saugte einmal eine
Wolf in den Son eines Gottes, den Romulus. Einige unsterbliche
Autoren verschlechtern ihren Diebstahl zu ihrem Eigenthum,
und pragen auf Silber ihr langohrichtes Ebenbild; andere
wollen den Zeugen ihrer Armuth mit unniizem Reichthum
verdachtig machen, und verbramen den gestohlnen Kastor-
hut mit eignen abgefiihrten Tressen. - Darum ist oft der Ver-
fasser schlechter als sein Buch, und das Kind dem Vater so
I0 unahnlich, darum verstummen oft in Gesellschaft die Un-
terhalter einer ganzen Lesewelt - eben so geniest man nicht
das Krokodil, sondern nur seine Eier. Daher schreibt sich das
Buntfarbige mancher Schriften: denn eigentlich genommen,
sind die Kazen, die Originale der gelehrten Diebe, nach dem
Urtheile der neuesten Naturforscher, hochstens zweifar-
big. -
Viel zu schreiben, mus man wenig verbessern. Jeder achte
Skribent wird mir beifallen und die Schadlichkeit der Kritik
gestehen. Dieses Ungeheuer nahrt sich von den Schoskindern
20 der Schriftsteller und fordert jede geistige Erstgeburt zum Opfer
- doch ist, nebenher anzumerken, hiervon die Erstgeburt des
Esels, wie im alten Testamente, zum Troste der heutigen Auto-
ren ausgenommen. - Die Kritik polirt, aber auf Kosten der
Grosse. Sie ist der Stimhammer der poetischen Instrumente;
aber wer weis nicht, daB das Stimmen die meisten Saiten kostet?
Der Kam kammet die Hare in Ordnung; aber er reisset ihrer
auch genug aus. Und dazu wird sich wohl kein heutiger Autor
verstehen; denn erstlich weis er ja, dafi sein Produkt fur die
Verbesserung zu gut gelungen, und daB sein Kind fur eine nach-
30 folgende Erziehung zu volkommen geboren ist. Spottend einer
schadlichen Angstlichkeit, die sich in Kritik verstelt, schiizet
so ein Meister die Werke des ersten Augenbliks gegen die Ver-
besserung des Fleisses, und entzieht so gar sichtbare Unebenhei-
ten der kritischen Feile. Je grosser er ist, das heist, je grosser
er sich zu sein diinkt, destomehr verschmaht er die Vollendung,
desto weniger verhunzt er die Fehler der ersten Hand durch
394 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
die Arbeit der Iezten. Demi in der Unvolkommenheit seines
Werks selbst verrath sich die Volkommenheit desselben; je
sichtbarer die Flekken auf der Perlenmuschel; desto grosser die
Perlen darinnen. Die Regeln fesseln nur Geistesarme, wie der
Churfurst von der Pfalz Betler zu Leibeigenen machen kan; und
durch die Befolgung derselben verliehrt sich der Anschein von
Originalitat in kahle RegelmaBigkeit. Politur zeugt von Schwa-
che, so widerspricht nach dem Talmud die glatte Haut eines
Mannes dem Versprechen seines Geschlechts, und Rauheit ist
Schonheit, wie die Mahler alle Engel manlichen Geschlechts mah- 10
len. Da iibrigens die heutigen Skribenten so sehr nach dem Na-
tiirlichen und Ungekiinstelten haschen, wie ich weiter unten
bei Erwahnung ihres vortreflichsten Talentes, der Schwiilstig-
keit, zeigen werde, da sie die Sichtbarkeit der angstlichen Kritik
so viele Werke verstellen und meistens den Schorstein iiber das
Haus hervorragen sehen, so ist ihnen der Has gegen jede Verbes-
serung nicht zu veriibeln. Zwar behaupten einige, eben der
Kunst verdanke man die Natur, und jene sei da am grosten,
wo sie am verborgensten ist - nur klaren Saiten sahe man die
Schwingung nicht an, und wer sich gewaschen, miisse sich frei- 20
lich hernach abtroknen - und endlich die Kritik sei nie die Muse
selbst, sondern nur ihre Hebamme, gehe nur als ein leuchtender
aber kalter Mond nach dem Untergange der blendenden und
heisen Sonne auf, und wie die Gothen sich zweimal, trunken
und nuchtern, berathschlugen, so galte sie nur in Geselschaft des
Enthusiasmus. Allein alles dieses trift die heutigen Autoren gar
nicht. Denn der Gebrauch der Kritik wiirde ihre Werke nicht
verbessern, sondern vernichten, welche, gleich dem Blei, nur in
der Hize glanzen, und erkaltet sich mit einer widrigen Farbe
uberziehen, ja da diese vortreflichen Kopfe sich nie zu Lesung 30
einer aristotelischen Poetik herablassen, so mus ihre eigne unge-
bildete Kritik ihre Arbeit nur noch mehr verschlechtern: so be-
schmuzt der Gronlander sein Gesicht, indem er es mit seinem
Speichel wascht - Auch weis jeder, daB grosse Schriftsteller sich
durch die kurze Bearbeitung ihrer Werke von den kleinen aus-
zeichnen, die einem einzigen Buche ein halbes Leben widmen,
GRONLANDISCHE PROZESSE " I. BANDCHEN 395
wie umgekehrt grosse Thiere langer als kleine briiten und tra-
gen. - Zweitens - ich sagte oben erstlich - liebt jeder Vater .
das Misgeschopf seiner Lenden, und stat eine Misgeburt gleich
den Wilden zu toden, komt er schwachen Kindern durch vaterli-
che Zartlichkeit zu Hiilfe wie die gronlandischen Mutter die
ihrigen durch lekken zu starken vermeinen. Gegen einen solchen
Kindermord straubt sich der erste Naturtrieb aller Wesen, ich
meine der - Hunger im vaterlichen Magen, der Gedanke an
die verminderte Bogenzahl. Sezt zu diesem noch die Kranklich-
to keit der meisten schriftstellerischen Produkte und ihren baldigen
Tod, wird man da noch den Dolch der Kritik zur Verstiimlung
oder gar zur Ermordung derselben auffordern wollen? Sol der
Vulkan den Wurmern die Nahrung vor den Zahnen wegneh-
men? Sol der Vater den Henker seiner Kinder spielen? sol er
dem Zahne der Zeit mit seinen eignen Zahnen vorkauen? Ach
last doch dem Schriftsteller die Liebe gegen eine Schande, die
so bald stirbt, und zwingt ihn nicht zur Ermordung eines so
hinfalligen Ruhms! Nie wafne er die zartliche Hand gegen das
Kind, das sie gezeugt; nie vergehe sein Kunstwerk unter dem
20 Meisel, der es gebildet; und nie fliesse aus der Spize seiner Feder,
wie aus dem Schwanze gewisser Schlangen, die giftige Dinte,
die die neugebohrne Zeile hinrichtet! -
Aber nicht nureignem, sondern auch fremdem Tadel, opfert
der achte Skribent keine Zeile auf . Er billigt das Lob einer Re-
zension, aber er kehrt sich an keine Misbilligung. Und wie solt
er auch? Fait er das Urtheil iiber seinen eignen Werth doch allein
mit der Unparteilichkeit, deren der Neid den Kunstrichter unfa-
hig macht; hat er doch allein die Augen, seine geschafne Schon-
heiten zu sehen; ist er doch allein der beste Leser, wie der beste
30 Schriftsteller, allein der Pygmalion, der sich in sein steinernes
Geschopf verliebt! Darum schmeichelt er seinen entdekten
Mangeln, wie die Hunde ihre Gebrechen lekken; darum sumset
er um die Ohren seines Tadlers die Strafe einer langweiligen
Widerlegung, und sticht ihn mit Epigrammen in den Strumpf,
eben so schossen die Thrazier Pfeile gegen den Donner; darum
nahret Zurechtweisung seinen Zorn und sein beunruhigter Stolz
396 JUGENDWRKE ■ 2. ABTEILUNG
erscheint in verstdrkten Glanze, wie umgeriihrte Dinte schwarzer
wird. Sehr billig ist er, wenn er den Tadel verzeiht, ohne ihn
zu benuzen; wenn er den Fehler betastet und ihn sizen last, wie
manche den Hut beruhren, ohne ihn abzunehmen. Auf gleiche
Weise trozt seine Unverbesserlichkeit der Satire. Da er weis,
daB das Kleid der Satire oft gerade dem Endzwekke entgegen-
wirkt, den nur der Korper derselben erreicht, daB ihre Form
Thorheiten veranlast und nur ihr Inneres Thorheiten verhindert,
wie die Korner der gelben Distel (Argemona Mexicana) laxiren
und die Blatter derselben ver stop fen; so freuet er sich ihres beis- 10
senden Wizes und seiner Fehlerlosigkeit zugleich, dichtet dem
andern die verlachten Fehler an, und das Kind geisselt mit der
Ruthe des Vaters seine Spielkameraden. -
So mus ein rechter Schriftsteller wohl stolz sein? Ja! das mus
er. Auch ragt bios durch den Stolz der deutsche Parnas iiber
den eiteln franzosischen hervor, und ihm verdanken wir die
gehofte Bewunderung der Nachwelt. »Gesegnet sei der Man,
der den Stolz erfand. Der Stolz ist der Mantel, der alle Grillen
bedekt, eine Speise fur den Hungrigen, ein Trank fur den Dur-
stigen, eine Wagschale, die den Schafer dem Konige, und den 20
Dumkopf dem Klugen gleich macht, kurz eine algemeine
Miinze, fur die man alle Dinge kaufen kan. « So kont' ein zweiter
Sancho Pansa den Stolz loben, wie der erste so den Schlaf lobte.
Und gewis mit Recht. Stolz ist die Mitgabe des Dichters; Warme
dehnet die Luft aus. Gewohnlich fiirchtet sich jeder Esel vor
dem Schatten seiner Ohren;% allein die Musensohne spiegeln mit
inniger Wollust ihre Gehorwerkzeuge - die Friichte eines un-
fruchtbaren Kopfes, die Pilzen auf dem Miste - in dem blinken-
den Thaue und dem murmelnden Bache ab. Solche grosse Kopfe
machen ihre Zunge zu ihrer eignen Schmeichlerin, wie das Rind- 30
vieh sich gerne lekt ; aber nur das Rindvieh, nicht der Poet schadet
dadurch seiner Mastung. Freilich, da das Rindvieh jenes Lekken
unterlast, sobald man es mit seinem Kothe beschmiert, so soke
man denken, daB kritische Peitschenhiebe jene Unsterbliche aus
S Siehe den Artikel vom Esel, in Buffon's Naturgeschichte.
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 397
dem Traum von eigner Grosse wekken, daB eignes Lob an frem-
den Tadel scheitern und und Stolz an der Satire wie der Pfau
an Brennesseln sterben musse, Allein weit gefehlt! Vielmehr be-
fruchtet den Stolz satirische Galle; er gleicht gewissen Friichten,
die von jeder unsanften Beriihrung aufschwellen. Zum Ersaz
des verweigerten Weihrauchs, schmeichelt er seiner Nase mit
dem Opferdufte seines Unterleibs, und freuet sich der wohlrie-
chenden Blahung. Unicuique stercus suum bene olet. Einem
jezigen Tadel sezt der Schriftsteller das Andenken eines vorigen
io Lobes entgegen. Ich glaube daher, daB die litterarischen Gozen
des vorigen Jahrzehends die Abgotterei des jezigen iiber die
Erinnerung ihrer vergangenen Ehre leicht verschmerzen, daB
sie jede Wunde von Geiselhieben mit wohlriechendem Balsam
aus den Biichsen des vergangenen Jahrzehends leicht salben und
so wie man Tabak gegen den Gestank nimt, sich den bittern
Theil des Lebens mit seinem stissern leicht verzukkern konnen.
Eben so riecht der Fuchs an den nelkenartigriechenden Flekken
seines Schwanzes, seine Krankheit hinweg. Aus diesem alien
erhellet, daB der Stolz friiher als der Lorber keime, oder ihn
20 mit seiner Fiille erstikke, daB der Stolz den Schriftsteller zum
Schriftsteller macheja daB er mit dem Verdienste in umgekehr-
tem Verhaltnisse stehen miisse.Denn wer geschwinde fahrt,
glaubt, daB ihm alles entgegenkomme und er nur stillestehe;
dahingegen der Schwindelnde sich zu bewegen vermeinet, un-
geachtet er auf einer Stelle bleibt. Daraus folgere ich, daB die
Bescheidenheit wenige heutige Autoren, und der Stolz die mei-
sten kleide; daraus folgere ich, daB wir den Gipfel der schriftstel-
lerischen Volkommenheit erstiegen haben: denn nur auf hohen
Bergen schwellen lere Blasen auf.
30 Diesen Stolz rechtfertigt die Unwissenheit der iezigen Skri-
benten, die der Nachwelt noch laute Bewunderung abnothigen
wird. DaB ich hier von den Dichtern rede, wird man von selbst
wissen. Durch Einzwangung des Bauches stumpfen einige den
Stachel des Hungers - umgekehrt wissen grosse Kopfe ihren
Trieb nach Ideen durch Aufgeblasenheit zufrieden zu stellen,
und befestigen sich durch die Einbildung, alles zu wissen, in
398 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
dem Vorsaze, nichts zu lernen. Daher erweitern sie ihre Kent-
nisse durch die Lesung ihrer eignen Schriften, so trankt sich
die Kamelziege mit ihrem eignen Speichel, so frist der Straus
seine Exkremente. - Diese Unwissenheit vervolkomnen sie
durch verschiedene Studien. Der eine bereichert seine Men-
schenkentnis durch Umgang mit den Biichern, und bestiehlt,
gleich den Richtern, die Diebe und die Armen. Ein andrer sam-
melt Nachlese in Journalen, wie einige aus den Akten die Juris-
prudent erlernen. Um die Alten in der Grundsprache zitiren
zu konnen, liest er sie in Obersezungen, oder stiehlt, noch bes- 10
ser, seine Zitazion aus einer fremden Zitazion. Ein andrer fiittert
seine Unwissenheit mitDikzionaren, den Registern der Gelehr-
samkeit; eben so fieng iene Klapperschlange eine Wasserraze
bei dem Schwanze zu fressen an. h Einige speisen den Kopf mit
dem Herzen ab, und befruchten die Dumheit mit Thranen, die,
wie der Wiesenfuchsschwanz, in sumpfigen Ortern am besten
gedeiht. Andern erlaubt die Schopfung eigner Werke die
Durchlesung fremder nicht, und ihre Bestimmung das Publi-
kum zu unterrichten, raubt ihnen die Zeit sich selbst zu unter-
richten. Und wozu eine solche Unwissenheit? Dazu; daB man 20
nicht natiirliche Fahigkeiten in eine unniize Spreu von vernunf-
tigen Gedanken vergrabt. An der kalten Gelehrsamkeit stirbt
das Genie; es wachst am besten durch Mangel an Nahrung,
so wurden die Kinder der Sparter grosser, ie weniger ihre Eltern
ihnen zu essen gaben. Darum verachten genielose Kopfe alle
Gelehrsamkeit, auf die Ankunft ihres Genies laurend; eben so
ziindet man an einigen Orten die nachtlichen Laternen nicht an,
weil man auf das Aufgehen des Mondes harret, und darauf oft
bis zum Aufgehen der Sonne harret. - Dazu; daB man nicht
durch immerwahrendes Forschen die Quelle der Wahrheiten 30
erschopfe. Unsere vortreflichen Kopfe mit eben so vortreflichen
Herzen versehen, vernachlaBigen ihre Gabe, alles zu durchdrin-
gen, zum Besten der Nachwelt, die ihnen iede (ibriggelassene
Allerneueste Mannigfaltigkeiten. Erster Jahrgang. Erstes Quartal
S. 80.
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 399
Endekkung Dank wissen wird. Darum zieh ich dem nichtmodi-
schen Tiefsinne den neumodischen Seichtsin vor, und schaze
an dem leztern die groBern Verdienste um den Parnas. So verbes-
sert ein Ochs die Weide, indem sie ein Pferd verschlechtert. Denn
dieses mahet sein Futter bis an die Wurzel hinweg, da iener,
vermoge seines Mauls, nur die obersten Spizen des Grases f as-
set. - Dazu; daG man dem Pobel nicht gleich wird . Dieser drangt
sich zur Gelehrsamkeit, darum verlast sie der Adepte; die un-
sterblichen Sonne der von Pope besungenen Gotheit erlosen die
io Welt von der Gelehrsamkeit und predigen durch ihre Wunder
die Unwissenheit. So verkleiden in Mexiko bei der Mitter-
nachtsmesse zu Weihnachten, die Monche sich in Teufel und die
Laien in Engel. Dafur haben sie, wie die Schnekken, ihr geistiges
Auge in ihren geistigen Ftihlhornern, und ihr verfeinertes Gefiihl
erleichtert ihnen die Aufspiirung der Wahrheit in dunkeln Or-
tern; eben so sind die Schnabel der Kraniche mit Fiihlspizen
begabt, damit sie ihre Nahrung im Schlamme leichter finden.
Denken ist nicht mehr Mode, aber wohl fuhlen; und wie der
korperliche Stuzer mit halbgeschlossenem Auge den Gegen-
20 stand seiner Affektazion anblinzelt, so driikt der geistige die
Augen zu, um besser zu sehen, und erzweifelt sich Gewisheit.
Wie sehr unterscheidet er sich von dem dummen Haufen, der
Zweifel mit Gelehrsamkeit und Tiefsin mit Gefiihl verbindet.
Und endlich nuzet die Unwissenheit am meisten der Versema-
cherei. In Japan sol ein Orden von Blinden sein, die sich auf
die Musik vorziiglich legen, da sich die unsrigen auf harmoni-
sche Verse legen. Den Nuzen der Dumheit predigen unzahlige
Almanache, worinnen unzahlige Beispiele den Unsin durch
Wohlklang schminken, wo Dissonanzen der Begriffe in Konso-
30 nanzen der Worte zerfliessen, wo der kleinste Gedanke wie sonst
die kleinsten Insekten, auf den meisten poetischen Fiissen fort-
zappelt, wo den Sin kurzes Silbenmas verstiimlet oder langes
ausdehnet, wie Prokrustes die Beine seiner Gaste fur kurze Bet-
ten verkiirzte, und fur lange verlangerte. Diese Volkommenheit
einer gedankenlosen Harmonie, war nur den neuesten Dichtern
aufgehoben: denn nur Eselsknochen gaben sonst die tonendsten
400 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Floten; da hingegen in Hallers und Withofs Versen der gedan-
kenreiche Flus sich mit Miihe durch sein Bette windet, da in
alten Dichtern die Knochen der (ibeln Versifikazion das Mark
der Gedanken urns chlies sen. - Nur ein leres Fas klingt sonor.
Freilich oft daB diese Nebenbuhler ihres vielstimmigen, vierftis-
sigen Ebenbildes nur fur ihre eignen Ohren yanen. Ferner fliegt
der grosse Dichter gleich den Fledermausen, am liebsten in der
Finsternis. Je kleiner sein Kopf, desto grosser seine Fliigel, und
ohne Kopf kan er noch mit den Musen Beilager halten, wie
einige Insekten sich ohne Kopf begatten. In den dunkelsten Hai- m
nen lauschet die groste Begeisterung, und eine entziindete Ein-
bildung giebt dem schweren Unsin dythrambischen Flug, wie
das entziindete Pulver schwere Kanonen forttreibt. Dunkle
Korper werden am leichtesten warm, und ein Dichter gleicht
dem Hofmeister Alexanders, der in der Sonne fror und im
Schatten schwizte. Darum weissag* ich meiner geliebten Nazion
ein kiinftiges Volk von Pindaren, wenn den Verstand Landes
zu verweisen noch ieder so fortfahrt, sein Scherbgen zu ge-
ben. — Der Ather ist das Vaterland des Dichters; darum ver-
schmaht er die Kentnis einer schmuzigen Erde. Sein Flug geht 20
iiber alle menschliche Kopfe hinweg, und er schwebt zu hoch,
Menschen zu sehen, oder von ihnen gesehen zu werden. Wie
die Geier hoch nisten, um nach einer alten Sage leichter von
der Luft geschwangert zu werden, so ist Luft der Parnas und
die Muse der Dichter. ^ Auch schaft Unwissenheit Originalitat,
wie naturlich. Es gehen mehrere Wege zum Haslichen als zum
Schonen; darum kan man, durch keinen Wegweiser des Schonen
verdorben, zu ienem leichter unbetretene Wege entdekken als
zu diesem. Ein Kopf, in welchem Fieberhize die Dunkelheit
bebriitet, in welchem der schwerfallige Verstand am Fette der 30
Einbildung erstikt, ein solcher verspricht eine unerhorte Origi-
nalitat. Eben so sollen von dem Nelkensamen, den man in Son-
und Mondfinsternissen saet, dunkle und wunderliche Farben
fallen. Ich wundere mich daher alzeit, warum Deutschland noch
so wenig Originale hat. - Da es das Amt eines Dichters mit
sich bringt, seine Lesewelt grillenmasig in den Schlaf zu singen,
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 401
so ist ihm auch darum Lerheit des Kopfes unentbehrlich; der
Mohnkopf, dessen Korner den Schlummer ankodern, ist der
lerste aller Kopfe, seine Nebenbuhler ausgenommen - Darum
konte auch ein langsamers Thier die Stelle des Musenpferdes
einnehmen, und dan hatten die Amerikaner Recht, die einmal
den Reiter und sein Thier fur ein Ding hielten.
Ha! nun komm' ich zu dir, langohrichte Muse des heutigen
Affengeschlechts, buntfarbige Nachahmung! die du ieden leren ,
Kopf in das Echo des Genies und Deutschland in den Resonanz-
io boden Europens verwandelst; die du die quakkenden Sanger
des Schlams zu Nebenbuhlern grosserer Kehlen erhebst, und,
wie die Agypter, in Pferdemist Hiinereier, tagtaglich in den
warmen Geschenken vergotterter Magen dichterische Brut zum
hungrigen Leben ausbriitest, um mit iugendlichen Zungen die
Trommelfelle der deutschen Ohren zu riihren. Bald blasest du
einen flekkigten Frosch zu einem Young auf - nun klappert
der arme Poet in seinen Versen mit Todengebeinen, und ver-
grabt wie ein Hund ieden Knochen in sein Lied, den ihm der
Tod von seinem Tische zuwirft, nun schwarzt er sein Papier
20 mit der Farbe einer aus Galapfel und Vitriol gemachten Traurig-
keit, nun tragt er seine Wiinsche gen Himmel, allein um sie
auf der Erde zu befriedigen, wie der Adler die Auster, die Be-
wohnerin des Schlams hoch in die Liifte hebt, um ihre Wiege
in ihr Grab zu verwandeln, und nun wiederhalt sein lerer Magen
von der brittischen Schmahschrift auf die leibliche Nahrung.
Bald foltern andre, durch dich erhizt, die Ohren mit Hexame-
tern, und machen Golgatha zum Parnas; wie Mukken um den
Kronenleuchter, so summen sie um den Kronenleuchter der
Schopfung, um das Sternenheer herum, schikken in die flam-
30 menden Nagel am Himmel, Kolonien von Gevattern und
Freunden, und privilegiren die Venus zum Aufenthalte kiinfti-
ger Huren und zum himlischen Bordel, und spielen durch den
Silberklang ihrer Instrumente den Edeln Mitleiden fur ihre ver-
stumten Beutel ins Herz - auf ihren Kopfen wachsen, wie auf
den Hauptern gemahlter Heiligen, Lichtstralen stat der Hare,
in ihren wasserichten Versen schwimmen lichthelle Engel so
402 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
haufig, wie schimmernde Heringein der Nordsee, und verscho-
nern das unfarbige Element, wie Heere von Insekten das nachtli-
che Meer, mit zitterndem Glanze. Oft miide des Flugs, krahen
sie auf ihrem Miste bios ihren Nazionalnamen den horchenden
Kapaunen ins Ohr; nicht selten lobpreiset ihre schwindsuchtige
Lunge die beharte Brust eines Barden, und die verwelkten, nicht
ganzfleischernen Waden des Enkels trozen auf die unerschopfli-
chen Lenden der Voraltern. Doch schaffen warme Abende aus
schlechten Ausdiinstungen der Erde nicht bios Sternschnuppen,
die in einer scheinbaren Ahnlichkeit mit den Sternen, schim- 10
mern, und deren Glanz an seiner Vergrosserung stirbt, sondern
auch Irlichter, die auf poetischen Fiissen nur im kotigen Sumpfe
tanzen, mit ihrer Gegenwart nur ihren Geburtsort - das Grab
von tausend Asern-beglanzen. Diese Gozen des Pobels buhlen
mit ihrer Sakpfeife nur um den stampfenden Beifal baurischer
Fiisse, stekken gleich der bekanten symbolischen Schlange, den
Schwanz der Geselschaft in das Maul derselben, stehlen der Be-
redsamkeit des unjeinigen Markts die Schonheiten ihres originel-
len Verses, und schmucken, gleich dem Indianer, der seine Zim-
mer mit Kuhmist tiinchet, das schone Papier modischer Biicher 20
mit den Exkrementen eines pobelhaften Wizes. Zu solchen
Zungenschlagensich weinerliche Augen. Daher grunzen Zoten
in liebevollen Versen, daher fliest die Hefen der Natur in emp-
findsamen Sylbenmaften, und ein par Reime vermahlen die pla-
tonische Liebe mit der thierischen. Dieser Nachahmer ist ein
aufgedunsenes Geschopf, aus Unsin zusammengeknatet, mit
Thranen eingemacht und in Geniehize gebakken; ein Sanger des
Monds, der wie Hunde gegen eben dieses Himmelslicht heulet,
der in den Lorberkranz den geraubten iungfraulichen flicht, der
die Hurerei zum Christenthum, und zum Altar das Wollustbet 30
einweihet, der sein Gehirn in seinem feurigen Herzen pulveri-
sirt, wie iener Tyran den Bauch eines gluhenden Ochsen mit
Menschenopfern fiilte. Dort speien die geofneten Gefangnisse
der Kritik zur Vergessenheit verdamte Missethater aus, und ge-
ben den Parnas dem Tummeln einer ungefesselten Schwache
Preis. Nun sperret der Wiz ungleiche Dinge in ein Gleichnis
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 403
zusammen, umzaunet stossige Bilder mit Einem Komma, yanet
aus dem Halse desselben Esels dissonirende Metaphern, schnei-
det aus einer Ahnlichkeit eine lange Allegorie, wie iener aus
einer Kiihhaut Karthagos Umris zu, und bemahlet Seifenblasen
von Gedanken mit alien Farben des Regenbogens. Nun vervol-
komt sich das Theater zum Tolhaus und die Raserei kront der
Selbstmord. Nun gattet sich im Dialog des Trauerspiels Pobel-
sprache mit Odenton, und auf derselben Zunge umarmen sich
die Schwanke des Biergasts und der Gesang des Seraphs, wie
io Taschenspieler aus demselben Fasse Wein und Wasser zapfen.
Der Speichel der Dichtkunst loset der unberedten Leidenschaft
die Zunge, und die poetische Feder impfet dem stummen
Schmerze rhetorischen Auswuchs ein. Den griechischen Ko-
thurn verdrangt der Pferdefus des Teufels, den man den FCissen
des Bosewichts anschnallet, oder der Fliigel des Engels, der auf
heiligen Riikken wachst. Der tragische Mord schreiet um die
Gerechtigkeit der Melpomene, deren Arsenal ein einziger Abend
erschopft, und das Schwerd der Auflosung des Knotens mahet
das Leben derer hinweg, die fiinf Akte alt wurden. Dieses ist,
20 dieses war dein Werk, himlische Nachahmung, die du auf Af-
fengesichtern das Genie parodierst, die du die Kehle des Papagais
zur menschlichen Rede und die Gurgel des Krokodils zur
menschlichen Klage umstimmest, die du den Musensohn mit
der Narheit begeisterst, um die er bei den Musen immer und
bei dem Weine oft, vergeblich bettelt! Und mehr als dieses wird
dein kiinftiges Werk sein! Doch ich erwache aus meiner Begei-
sterung, um mit kaltern Blute iiber die heutige Nachahmungs-
sucht zu reden. Die Gewohnheit der Nachahmer, bei der Er-
scheinung eines Genies iede vorige Schonheit als etwas Hasliches
30 zu verschreien, und seinem Ruhme den Ruhm der Vorganger
aufzuopfern, wie die alten Mexikaner zur Ehre der neuen Sonne
alle Gefasse zerschlugen und alles Feuer ausloschten, das die
verstorbene Sonne beschienen. 1 Diese Gewohnheit verdienet
unsern Beifal. Denn eben dadurch gerathen kaltere Zuschauer
1 Diese Wilden glaubten namlich, alle 52 Sonneniahre endige die
Sonne ihren Lauf und ihr Dasein, und eine neue trete an ihre Stelle.
404 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
in Enthusiasmus fiir den neuen Got, eben dadurch macht man
die Hande des Beifals wund, so da6 das iibertriebene Klatschen
in Pochen iibergeht, so daB der kalte Winter des Tadels den
im Sommer des Lebs gemasteten Abgot bis zur Magerkeit ab-
zehrt. Freilich emport die aufwarmende Nachahmung unsern
Eke] sogar fiir wahre Schonheiten; eben so ermiidet der Knabe
unsere Augen, der uns vermittelst eines Spiegels unaufhorlich
mit dem Sonnenlichte blendet. Doch mus ich zur Ehre der mei-
sten Nachahmer gestehen, daB sie weniger Schonheiten als Feh-
ler aufwarmen, daB sie, zu dum um nach ihrer eignen Melodic 10
Thoren zu sein, daher mit f rem den Kalbern pfliigen^ Denn sie
glauben durch Fehler grosser Kopfe ihre eignen Fehler zu
schminken; eben so vertrieb man sonst mit dem Kothe des Lowen
die Flekken im Gesichte. Aber wer weis nicht, daB man einige
Augenblikke nicht mehr sieht, wenn man lange in die Sonne
gesehen; daB die Ausdiinstung des Lichts ieden nahen Gegen-
stand schwarze; daB schales Wasser durch die Vereinigung mit
zischendem Spiritus triiber werde; daB das glanzende Silber des
spanischen Rohres die Hand seines Besizers schwarze? Freilich
weis dieses ieder; abe\r was schadet es dem Ruhme der Nachah- 20
mer? Liebt doch das Publikum den Nebenbuhler schoner Fehler,
und freuet sich der Frucht des diingenden Mistes, wie man das
Schwein troz seiner schmuzigen Nahrung geniest; frozen doch
diese Laquaien des Gerries mit dem prangenden Silber ihres Bor-
denhuts dem verstektern Golde ihres Hern, dessen Glanz eine
Borse verschleiert; last doch der Verlust der gestohlnen Schon-
heiten den Nachahmern alzeit das Verdienst der eignen Wassrig-
keit, wie der verflogene Geist des angeziindeten Brandteweins
allemal seinen Korper, das schale Wasser, hinterlast; und schliip-
fen sie doch endlich zwischen den Beinen ihres Originals zum 30
Thore der Ewigkeit hinein, oder werden doch diese Buben
einige Augenblikke von der Kutsche eines vornehmen Mannes
gefahren, an die sie sich von hinten angehangt! - Und dies lezte
auch darum, weil die meisten heutigen Nachahmer schon als
eigne Originale gelten konnen. Da diese vortreflichen Kopfe
bewiesen haben, daB das Genie nur mit dem Maule, hochstens
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 405
auf einem Blatte pfeife, mitlerweile das Nichtgenie sich erst eine
Flote kaufe; daB das Genie bios den Finger in den Hals stekke,
um zu vomiren, mitlerweile das Nichtgenie sich erst ein Vomi-
tiv bei dem Batteur hole, so kan man audi die ganze Sipschaft
des Sterne zu den Originalen rechnen, die ohne Regeln schlecht
sind, und ohne Pillen den Durchfal haben. Ja dieser Sucht die
Neuern nachzuahmen, verdanken wir den Abscheu die Alten
nachzuahmen. Wie man doch sonst harten Stahl an alter Eleganz
scharf und glanzend schlif! Wie doch sonst das griechische Genie
I0 das deutsche in Fesseln leitete, die Musen des rauhern Norden
bci den Musen des Paradieses des Geschmaks in die Schule gien-
gen, und die alten Genies Natur den neuern lehrten! Da man
hingegen iezt nach brittischen Pfeifen tanzt, die neuen Ketten
zu Ordensketten wahlt, und aus Liebe zur Natur die Simplizitat
verbant! Welcher Fortschritt; wie wiirdig in einer Lobrede auf
die Deutschen zu stehen! -
Die griechische Natur ist von einer grobern verdrangt wor-
den, der ich schon oben gedacht. Namlich weil die heutigen
Autoren Freunde der Natur sind, so Ziehen sie die schlechte
20 ieder andern vor, sezen ihre Schonheiten ihren Fehlern, und
baurische Naivitat baurischen Zoten nach. Diese Skribenten ha-
ben zwar die schonere Seite der Natur in ihrer Gewalt, aber
sie gleichen den alten Gottern, die sich, nach einigen, den Men-
schen nur von hinten zeigten. Vielleicht auch, daB alle ihre Vor-
ziige sich in den Fokus desienigen Orts zusammen gedranget,
wo das Bisamthier mit wohlriechenden Reizen pranget. Ihre
kleinen Augen bemerken im Bade einer Pfuze folgende Vol-
kommenheiten; erstlich, daB ihr Badegast sich durch diese Wie-
dertaufe von den reinlichen Franzosen unterscheide, zweytens
30 daB er dadurch ein empfindsames Herz an den Tag lege, und
drittens in dem schmuzigen Elemente seine Mitgesellen Rein-
lichkeit lehren konne. Das lezte zuerst. Denn freilich wie konnen
die Gelehrten die Denkungsart des gemeinen Pobels anders ver-
bessern, als daB sie die ihrige verschlechtern, anders ihn Ge-
schmak lehren, als daB sie ihn den seinigen lehren, wie der Zorn
des Vaters den Zorn an dem Sohne bestraft? Auf diese Weise
406 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
ist der gelehrte Hals darum das gedampftere Echo des pobelhaf-
ten Wizes, urn das Grunzen desselben zu einem sanftern Tone
zu bilden. Zweitens verrath eine unsitliche Zunge ein ziichtiges
empfindsames Herz. Bei den meisten Volkern waschen sich
Leidtragende weiche Leute nicht, und nicht bios in Indien gehen
Heilige und Begeisterte nakt. Und endlich unterscheidet diese
Unsitlichkeit von den Franzosen, deren Ubersezer sogar die zu
natiirlichen Stellen der Alten ihrem strengen Wohlstande aufop-
fern; eben so last ein franzosischer Philosoph die Menschen ohne
Hintern wieder auferstehen, Daher driikken unsere Diktatoren
des Geschmaks ihre Gedanken in unreiner Sprache aus, wie man
sonst vom Wiedehopf sagte, daB er fur seine Junge ein Nest
in Menschenkoth baue, und zu gros fur hohen Flug iiben sie
ihre Schwingfedern im Sinken; eben so kan das fliegende Eich-
horn (sciurus volans L.) nur niederwarts fliegen. Auch sollen
einige den schamlosen Ausdruk zu besserer Bekampfung der
Kunstrichter anwenden, d. h. sie beschneiden sich die Nagel
nicht, um ein feindliches Gesicht damit tiefer zu verwunden.
- Nur Schade freilich, daB die Unverschamtheit der heutigen
Autoren mehr affektirt als naturlich ist, daB sie sich mit Unver-
scharntheit, wie die Weiber mit einer gekauften Schamrothe,
nur schminken. Denn gewis sind wiUe Schweine besser als
zahme. Doch hoff ich von der Zukunft, daB auch gelehrte Esel
nicht mehr reinlich sein, und lange Ohren sich unter demselben
Lorber mit einem langen Riissel gatten werden.
Zu diesem Geschmak an der Natur gesellet sich die Schwiil-
stigkeit, der Bastart des Erhabnen, deren ebenfals oben schon
gedacht worden. - Im sechzehnten Jahrhunderte liebte man
Zwerge; im achtzehnten Riesen - vor nicht langer Zeit trug
man kleine und iezt tragt man grosse Hike; kurz die franzosi-
schen Deutschen sind zu brittischen gereift. Alle Federn huldi-
gen der Schwulst, das heist, man gallopirt Berg auf Berg ab,
man schminkt wie die Wilden den ganzen Korper stat der
Wange, und zieret gleich einigen Indianerinnen Finger und Fus-
zahen mit Ringen; d. h. man schlagt unfahig zu gehen, gleich
dem Paradiesvogel, seine Wohnung in den Liiften auf, und wei-
GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BAND CHEN 407
let, wie Simon Stylites, Jahrelang auf einer Saule; d. h. man
treibt das Wasser zu einer Hohe, wo es sich in Regen zersplittert,
und prangt wie ein Betler Son- und Werkeltage mit demselben
Rokke; d. h, man berauscht sich vom Morgen an bis an den
Abend, und singet ohne zu reden. Alles nun so mit gleichen
Farben zu schmtikken, das Kleine eben so erhaben wie das
Grosse zu schildern, die Wahrheit mit Zierathen wie ienes Mad-
gen im Kapitol mit Schilden zu erdriikken und die Natur in
die Kunst zu verschleiern, dieses ist freilich kein geringes Werk
10 unsrer schongeisterischen Fauste. So ein grosser Glanz, so ein
unregelmassiger Lauf steht nicht in den Kraften einer kranken
Phantasie; eben so halt niemand als Bartholin die flammenden
und regellosen Kometen fur Geschwure des Himmels. So eine
Mannichfaltigkeitzeugt von Reichthum, wie ein banquerotirter
Kaufmannin Schotland buntfarbigeKleidev zu tragen verurtheilt
wird. Ein hiziges Genie gebiert zwar eben, wie ein kalter
Schriftsteller, lauter kalte und wasserige Gedanken; allein stat
sie mit diesem in einer simpeln Sprache aufzutischen, zwingt
sie das Genie in verstummelte Perioden zusammen, und ballet
20 gedankenlose Weitlauftigkeit in ein einziges undeutsches
Komma - eben so hartet der Sommer wie der Winter das Wasser
der Wolken zu Eis, aber dieser bildet die Diinste zu leichten
Schnee und iener giest sie in Hagel - die Flintenkugeln der abfeu-
ernden Atmosphare - um. Freilich schlagt der Hagel starker
und vergeht geschwinder! - Da ferner unsere Nascherei nur
nach iiberflussigen Wize hakt, so nahern wir uns zwar unserm
Falle, erreichen aber auch unser ZieL Denn die Zeit fiihret den
Geschmak erst auf den Gipfel des Parnasses, eh' sie ihn von
da heruntersturzt, und Wizelei kiindigt den Uberflus und das
30 Ende unsrer Krafte an, wie die vor den Augen herumfahrende
Funken Zeichen der Volblutigkeit und des nahen Schlagflusses
sind.
Noch einiges von den Versemannern! Alle iunge wahlen die
Almanachs zu den Prangern ihrer vortreflichen Ohren, und da
die ersten Kinder die starksten, die ersten Kupferabdriikke die
besten sind, wie auch die erste Schlange die kliigste und der
408 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Teufel als Jiingling noch ein Engel war, so gestatten iene Alma-
nachs, denen die Ausfiillung der bestimten Bogen den gering,-
sten Kummer macht, mit Recht ieder unversuchten Kehle die
Freiheit, sich zum Vergniigen des Publikums horen zu lassen.
Dazu gewinnen sie dadurch an Mannigfaltigkeit, die ihnen so
sehram Herzenliegen mus, angesehen in alien Kalendern Regen
mit Schnee, Frost mit Hize, Nebel mit Thau, Donner mit Hagel
abwechselt und Almanachs einer Waschstange gleichen, an wel-
cher feine und grobe Hemde, Hosen und Unterrokke zugleich
getroknet werden, oder einem Gasthofe, wo der Fuhrman Kas 10
fur seinen Hunger und Stroh fur seinen Schlaf, und der ver-
goldete Herr fur beides die Vorsorge des Luxus findet, und end-
lich einem Findelhause, das die Schande vornehmer und
schlechter Huren aufbewahret, und welches der Stuzer wie der
Bediente durch fruchtbare Wollust bevolkert. Und wer weis
(ibrigens nicht, dafi Almanachs Weihnachtsgeschenke fur grosse
Leute sind, die damit wie die Kinder mit dem ihrigen nur eine
kurze Zeit spielen? Darum fullet man auch die kleinen leren
Plaze der Duodezblattergen mit Epigrammen, wie mit spizigen
Steinen aus; mit Epigrammen, die in Reimen sumsen ohne Sta- 20
chel wie die Bremsen, und deren Worte doppelter Sin belebt,
aus welchen der Wiz wie aus Besessenen, die bosen Geister
(schiklichere Bewohner der Schweine) austreibt; mit Epigram-
men, deren wasserige Bestandtheile Mangel an Lebhaftigkeit
zu einem wizigen Eiszapfen gehartet hat, dessen Spize die klein-
ste Beriihrung aufthauet; mit Epigrammen, deren pralerischen
Zorn der Flederwisch beschamet, den sie gleich ienem Knaben
in einem Lustspiele des Kinderfreunds, aus der prachtigen Scheide
Ziehen, und die mit schonem Titel, mittelmasiger Mitte und
schlechtem Ende dem spanischen Rohre gleichen, dessen obern 30
Theil Silber kronet, dessen Mitte ausgestorben, und das mit
einem abgestumpften Stachel endet. Und ihre Anzahl macht
der deutschen Fruchtbarkeit Ehre, und verspricht dem Wize die
baldige Ankunft des goldnen Alters, auch troz dem Vorurtheil,
daB es vibles Wetter bedeute, wenndie Flohe viel stechen. Ferner
sinken auf den Fittigen des Neuiahr-Schnees schone Idyllen
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN . 409
herab, die das Zwittergeschlecht zwischen Natur und Kunst
ausmachen, in denen Dichter auf stadtische Pracht landliche
Zierathen wie die Damen auf die Schopfung des Friseurs pa-
pierne Blumen, pfropfeh. Auch diese Gewohnheit der Dichter
wie vornehme Leute bald in der Stadt bald auf dem Lande zu
wohnen ist niizlich; und wenn die Hunde auf dem Parnas Gras
stat des Fleisches fressen, so bedeutet dieses nicht schlechtes,
sondern schones Wetter. - Am meisten werden die Almanachs
durch die Enkel des Anakreons - die Zukkerbekker des Parnas-
10 ses- zu den Archiven des deutschen Genies erhoben. Die grosse
Gabe, das Blut des einen Reimes nach der Liebesglut des andern
zu stimmen und Damons Lust mit Daphnens Brust zu reimen,
den Amor gesunde Herzen jagen und erlegen, aus schwarzer
Dinte die Venus wiedergeboren werden und sie in einer zephyr-
nen Sanfte ans Land tragen zu lassen, ohne ihre Kammerjung-
fern, die Grazien, zu vergessen, kurz die Gabe die verwelkten
Reize der Einbildungskraft vor dem Nachttische der Mytholo-
gie aufzufrischen, ist nur den Mannern gegeben, die ihr Ge-
schlechttroz ihrer Gestalt und ihres Namens ausgezogen haben.
20 Denn nur Kastraten singen klar! Denn nur in den todten Lowen
legten jene Bienen alten Testaments ihren Honig, und kleine Ein-
bildungskraf t verrichtet dieDienste des fehlenden Verstandes, wie
man auf einer Paste des Jupiter Muskarius den Bart desselben
durch die Fliigel einer Fliege abgebildet sieht. Ein anakreon-
tisches Gedicht ohne Gedanken heist eines ohne Fehler, ein
Tropfen Verstand hingegen versauert die ganze SuBigkeit. Der
beste Beweis der Achtheit eines solchen Gedichts ist, wenn es
auf der Kapelle des Verstandes verfliegt; eben so erwies sonst
dem Apotheker das Verfliegen des Bisams auf einem gliihenden
30 Eisen, seine Giite. Daher auch grosse Dichter fur den Wohlklang
erst den Sin zuschneiden, wie der Komponist den Text auf Ko-
sten des Verstandes der Melodie anpasset, und durch kluge Wie-
derholung der Reime, der Worte und ganzer Verse die zufallige
Anhaufung der Gedanken vermeiden. Solche wasserige Verse
dringen aber auch am leichtesten durch weibliche Hirnschalen,
wie nur diinne Dinte durch Papier durchschlagt. Noch ist anzu-
410 • JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
merken, daB sich in Almanachen die Leichensermonen auf ver-
storbene Dichter finden; der Soldat schiest und der Dichter blast
bei dem Tode seines Kameraden - Hab ich so viel Gutes von
den Almanachen gesagt, so lasse man mich doch auch noch
einiges Gute von den besten derselben, von dem Almanache
der Belletristen sagen, dessen Titel auf die Ahnlichkeit mit einem
schlechtern, urn Aufsehen bettelt. Mit welcher feiner Kritik ta-
delt sein Herr Verfasser an Haller's Gedichten das Wasserige,
worein der philosophische Geist des Dichters leicht verfallen
konnte, und zahlet den Meister Klas zu Wezels Produkten und 10
spricht dehkastnerischen Epigrarnmen alles poetische Verdienst
ab, angesehen sie ihm nur das zu haben scheinen, was gute ha-
ben; mit welcher Unpartheilichkeit entdekt er den Unwerth
Herder's, den zu loben noch neulich ein Kunstrichter im gottin-
gischen Magazin sich verleiten lies, und erzahlt die Geschichte
des Streits zwischen Platnern und Wezeln, so daB er selbst
Augenzeugen eines bessern belehret, und wie nachahmungs-
wiirdig ergiest sich sein menschenfreundliches Herz in Beschul-
digungen der Toden etc. etc. etc.! Solche Schonheiten verblen-
den den Leser fur geringere; daher ich auch die Vortreflichkeit 20
seiner spashaften Schreibart und die Feinheit seines scheinbar
- pobelhaften Wizes nicht entdekken konnen. Ubrigens verlei-
det einem schlechtes Fleisch die schlechte Bruhe. Niemand ver-
misset im geheimen Gemache die Tapeten. Kein Kranker ist
zur Beobachtung der Wohlanstandigkeit verbunden. Die
Schwalbe bauet fur ihre Jungen, die sie mit Spinnen und Miikken
aufzieht, nur ein Haus von Koth. -
Die Zeichnung der Karaktere in Schauspielen und Romanen
spricht die jezigen Schriftsteller zu Mei stern. Unerschopflich
sind sie in der Mannichfaltigkeit derselben. Sie mahlen namlich 30
nicht weniger als zwei Arten von Menschen, Heilige und Bose-
wichter, die, wie man weis, nur in den Kopfen der Dichter
existiren. So sind im Damenbretezweierlei Steine, schwarzeund
weisse. Die Menge der Heiligen macht Romane und Kloster zu-
gleich beriihmt, und jeder erstaunt iiber den Pinsel, der unsicht-
baren Engeln ein Kleid von Luft anstreichen konte. Steigt aus
GRONLANDISCHE PROZESSE * I. BANDCHEN 411
dem Dintenfasse gar em Seraph hervor, wie aus dem Mere eine
Venus, so ist das Buch unsterblich. Denn je mehrere Stralen
ein Meerstern hat, desto theurer ist er. Doch sizt unsern Mahlern
auch der Teufel, und stat ihn gleich Luthcrn mit der Dinte von
der Wand zu verscheuchen, zeichnen sie ihn hurtig damit ab
und schmukken Nachttische mit seinem Schattenris. Und sie
treffen ihn auch. Mit so schonen Hornern, mit so schonem
Schwanz, mit so schonen Pferdefiissen! - Uberhaupt verleiht
sein schwarzes Ansehen der ganzen Dichtung Leben und holli-
10 sche Warme, so schmiikt oft das schwarze Bild eines Mohren
das Fuhrwerk des Winters und erwarmet uns im Grimme des
Frosts durch die Erinnerung an das heisse Athiopien. Auch die
Mahler aus der hollischen Schule schazt man nach Verdienst: denn
die schwarze Farbe ist die Leibfarbe der jezigen Mode, wie alte
Burger in alten Stadten an Festtagen schwarz gehen. Unsere
ubrigen Pygmalione flikken ihre buntfarbigen Geschopfe aus
schonen Redensarten und rhetorischen Figuren der Almanache
zusammen, gleich den Leuten, die aus verschiedenen Schmet-
tcrlingsfliigcln Mannergen zusammenpappen, oder den Mexi-
20 kanern, die durch Zusammensezung verschiedenfarbiger Federn
Gestalten erschaffen, die die Taiischung des Pinsels uberbieten
und die Wahrheit der Natur erreichen. - Jemehr ferner ein Mu-
sensohn die geschikte Grausamkeit eines Henkers in seiner Ge-
wait hat, desto mehr bemachtigt er sich unserer Thranendriisen
und unserer Bewunderung. Die heutigen Autoren dreschen
durch die Schlage des Ungluks aus ihren Helden die vortreflich-
sten Gesinnungen heraus, und wissen der Vernunft durch Elend
endlich den Sieg iiber die Leidenschaft zuzuschanzen; wie die
Tartarn die Pferdemilch so lange schlagen, bis die groben Theile
30 zu Boden sinken und die feinern, die Bestandtheile der Butter,
oben bleiben. Andere predigen in Deklamazionen die Grosse
ihres Helden, die sie darauf durch Ungliik auf die Probe sezen,
um sie in neuen Deklamazionen glanzen zu lassen; so schlagt
man die aufgeblasene Schweinsblase mit den Handen und er-
weitert sie dadurch zu Annehmung mehrerer Luft. - Sogar stah-
lerne Herzen konnen unsere Dichter durch fremde Leiden heis
412 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
klopfen. Freilich verstehen nur sie die Kunst, den Bedienten
wie den Herrn in sanfte Empfindsamkeit aufzulosen, alles in
die Liverei der Traurigkeit zu kleiden, und den Einflus des
Standsunterschieds auf die Gesinnungen zu vernichten. Das
Schachspiel der Islander hat so stat der Laufer Bischoffe. Nur
unsere Dichter schneiden die Traurigkeit volkommen nach dem
Ungliikke zu, und lassen bald um ein Wiirmgen den Degen,
bald um einen Vater nur die Knopflocher trauern. Ferner in
alten Meisterstiikken erinnert bios die Natur an das Genie des
Dichters; aber unsre Dichter hiillen sich nie in eine Lowenhaut 10
ein, ohne ihre grossen und daher hungrigen Gehorwerkzeuge
um das Futter des Lobs betteln zu lassen. Unsere Dichter mahlen
nie ihre Helden, sondern nur sich, blasen immer Leidenschaften
zu Flammen an, die den Einflus ihrer Lunge voraussezen, und
verrathen gleich gewissen Betriigern, die Menschheit des ver-
kleideten Engels oder Teufels durch die menschliche Stimme.
Wie vortreflich! Denn obgleich der Spiegel schlecht ist, der mehr
sich oder seine Folie als die umgebenden Gegenstande sehn last,
obgleich das Klavier schlecht ist, dessen Tasten sich mehr als
die Saiten horen lassen, obgleich der Taschenspieler schlecht 20
ist, dessen langsame Hande die Tauschung seiner Kunst ver-
nichten: so thut doch dieses der Ehre unserer Dichter keinen
Eintrag; sie gleichen vielmehr den Spinnen, deren fruchtbarer
Hintere ihren Weg durch zuriikgelassene Faden bezeichnet; sie
machen die Zunge ihres Helden zur Lobrednerin ihrer Frucht-
barkeit. - Nichts ist unsern Scharfrichtern der Melpomene ge-
laufiger als das Hinrichten und gleich der Feder der Arzte, mor-
det die ihrige nach verschiedenen Methoden; als da sind, den
Delinquenten an Seufzern sterben zu lassen, ihn durch Wehmuth
auszumergeln, ihm durch einen Zufal das Lebenslicht auszubla- 30
sen. Etliche last man erfrieren; ein anderer mus sich mit dem
natiirlichen Tode begniigen. Die meisten last man am hizigen
Fieber erbleichen, weil es den Pazienten auch ausserdem noch
zu Rasereien veranlast, nach welchen das vernunftige Publikum
sehr begierig ist und die man daher mit Gedankenstrichen bor-
diert, durch diePresse verewigt. Freilich nur den Personen, de-
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I . BAND CHEN 413
ren Name das Buch betittelt, erlaubt man den edeln Selbstmord;
freilich nur diesen darf man die Selengrosse andichten, die bei
den vielfaltigen Stichen der Grillen, wie der Hund bei den Sti-
chen der Flohe gegen ihre eigne Haut ihre eignen Zahne kehrt,
oder die mit der Sense des Todes den gordischen Knoten poeti-
scher Zuschworung der Treue aufloset. Unsere heutigen Auto-
ren, tiefsinnigeMenschenkenner, lassen ihre Selbstmorder vor-
trefliche Oden vor der Spize des gezukten Dolchs singen, wie
die singende Nachtigal ihre Brust gegen einen Dorn hinkehren
10 sol und das Ende ihres Helden pranget mit den langsten und
vortreflichsten Tiraden, wie der Schwanz des Paradiesvogels
mit den schonsten und langsten Federn. Einige Selbstmorder
tragen sich bios von Romanen, Liebesbriefen und Reliquien der
vorigen Freuden ein Nest zusammen, in welchem sie wie der
Phonix in seinem Neste von Spezereien und Weirauch, sanft
und selig verscheiden. - Ich wiiste zur Abhelfung der Einfor-
migkeit in den Hinrichtungen noch eine ungenuzte Todes art,
die gewis alien Edlen Thranen genug abzapfen wiirde. Kupido
schiest ganze Alphabete durch mit seinen Pfeilen; warum vergif-
20 tet man aber nicht wie die Indier diese Pfeile? Freilich geben
die meisten ihren Geist an der Liebe auf; aber warum nur an
der figurlichen, warum nicht an der unfigiirlichen? Und sol im-
mer nur Mangel an Liebesgenus, nie Uberflus daran hinrichten?
Doch der Aufnahme dieser riihrenden Todesart schadet ihre
Ahnlichkeit mit dem Namen eines verhaBten Volks. So nach
miiste man zur Wiederholung des Todes bei derselben Person
greifen und nach dem Beispiel der Wiedergeburt einen Wieder-
tod erfinden.
Noch etwas iiber das Schauspiel und nachher eben so viel
30 iiber den Roman! - Je mehr Personen in einem Stukke, desto
vortreflicher dasselbe. Denn je mehr Pferde am Wagen, desto
vornehmer der Herr darinnen. Die Kunst des Theaterdichters
frohnet nur dem Auge; und was last wohl prachtiger als die
Abwechselung, die Menge der Schauspieler in demselben
Stiikke? Wie denn iiberhaupt ein guter Theaterdichter alles Ver-
dienst des Verstandes bios dem Schauspieler iiberlast, und dem
414 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
Organisten gleicht, der nichts als die Melodie spielt, und den
Sin dazu zu singen der Gemeinde frei stelt. - Uber die Einheit
des Plans sind unsere guten Kopfe langst hinweg; sie lassen in
der Hofnung verdoppelter Starke, ein Schauspiel zu dem andern
stossen und gewinnen durch Verdoplung des Intresse die Tau-
schung der Leser und der Zuschauer. So schiessen ungewisse
Schuzen mit doppeltenKugeln nach dem Ziele. - Die groste Ver-
wikkelung der Umstande wissen sie mit einem einzigen Streiche
auszuwirren, und das Ungliik ihrer Helden durch eilige Ver-
nichtung desselben zur gewissern Erzeugung des Erstaunens zu 10
benuzen. Eine Flintenkugel geht desto besser, je fester sie im
Laufe stekt. Freilich {ibertragen sie dem Deus ex machina, wie
die kleinglaubigen Junger ihrem Meister, das ganze Wunder-
werk. — Die Hollander vergotterten einmal Tulpen wie die
Agypter Zwiebeln; unsere Mode vergottert Romane - die Ro-
mane, die den Schwanz der Liebe zu ihrem Maule fugen; die
zu Thrdnen und zu noch etwas mehr reizen, gleich gewissen Gif-
ten, die zugleich vomiren und purgiren; deren Lesung das Mer
der Wollust emport wie das Tabakrauchen den Speichel haufiger
fliessen macht; die die Vernunft bekriegen, den Dunsen gefallen 20
und Weibern zum Pflaster gegen die Wunden der Liebe dienen,
gleich den Blattern der Tolbere, (Atropa Belladonna) die den
Augen schaden, den Schafen behagen und die Geschwiire einer
Weiberbrust heilen. Die besten Romane sind jezt diejenigen,
worinnen die Fruchtbarkeit des Verfassers hundsartig jeden
Winkel einer Materie beharnet, wo er wie ein Reife nur in krum-
men Linien lauft, wo er wie ein Hund beim Spaziergange seines
Herrn bald riik- bald vorwarts springt, und wie mancher Hund
mit seinem Schwanze, mit dem muhsam erreichten Ende des
Buchs noch spielet, kurz wo jeder Theil nach der Trennung 30
vom Ganzen, wie ein ausgerissenes Bein einer Spinne, noch
fortlebt. Der Tarantelstich der Original) tat hat namlich alle
Fusse der phlegmatischen Deutschen zu einem ewigen Tanze
begeistert. Und das zum Vortheile des Parnasses, obgleich im
gemeinem Leben das Springen der Esel schlechtes Wetter be-
deutet, obgleich sonst eine Kugel auf der Kegelbahn, die mit
GRONLANDISCHE PROZESSE • I . BANDCHEN 4*5
Hiipfenzum Keile irret, nicht gut geschoben heist. Denn unsere
scharfsinnigen Autoren verstekken hinter immerwahrende Di-
greBionen ihre Unbekantschaft mit der Materie. So schiizt der
schiefgeworfene Stein sich nur durch Hiipfen auf dem Wasser,
gegen das Sinken. Uberhaupt schmiegen sich luftlere Gefasse
jedem Gegenstande an, und leichte Sachen fallen in verschiede-
nen Absazen. Was noch mehr ist, nur der grosse Kopf eines
heutigen Autors ist der Schuzengel seiner kuhnen Fusse. Die
Horner der Gemse bewahren ihre fehlspringende Fusse vor dem
10 Abgleiten in den Abgrund. Die schlafenden Augen des Nacht-
wandlers leiten ihn auf seinen gefahrlichen Spaziergangen und
sein Leben hangt an seiner Blindheit. Die Gewohnheit Digre-
flionen zu machen, gleicht der Gewohnheit gewisser Geizigen,
die ihren Gast zu ihren Freunden um Bewirthung betteln schik-
ken, und sich Dank mit fremden Wohlthaten erschleichen. -
Die meisten jezigen Autoren schreiben aus Has gegen alle Weit-
lauftigkeit, stat der Romanen Universalhistorien der Geburten
in ihrem Gehirne und die vorigen Biographen eines Harlekins
sind zu Biographen ganzer Familien von Narren gereift. Nun
20 erlebt der erste Band in kurzer Zeit Urenkel, und der Sohn
wirbt dem Vater Leser, wie der Sohn eines Professors dem Kol-
legium des seinigen Ohren und Beutel - nun findet der Gast
stat des blosen Rindfleisches, worauf er geladen wurde, den
ganzen Ochsen theilweise aufgetischt - nun verkauft das Jus
Patronatus die Pfarre nur mit der Zulage einer Witwe von fiinf
Kindern - nun schwangert eine einzige Begattung mit dem
Apollo die Autoren wie eine einzige die Blatlause mit mehrern
Geschlechtern. Das heiss' ich Fruchtbarkeit! Das heiss* ich Len-
den, die einen ganzen Haram von Musen befriedigen! - Einige
30 Romanschreiber kodern die Neugierde der Leser durch lange
Vorenthaltung der Hauptkaraktere an und verwahren den Hel-
den der Geschichte als ein Samenthiergen in ihrem Dintehfasse,
bis er endlich durch die Feder dem zweiten Alphabete - dem
Schopfer seines Embryonenstands - anvertrauet wird, und so
durch das Honorarium almahlig zum Manne aufwachst. Die
stolzen Autoren gleichen namlich den stolzen Kutschern, die
416 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG
das vorderste Pferd am weitesten von Wagen entfernt einspan-
nen. - Einige Freunde der Ruhrung erregen mit vieler Klugheit
die Unzufriedenheit des Lesers, durch eine widrige Endigung
der Geschichte und jeder weis ihnen fur den Unwillen Dank,
den die geendigte Lektiire hinterlast, wenn der Held und die
Heldin ihre Liebe viele Bande hindurch gegen das Schiksal ver-
theidigen und zulezt ohne den Lohn ihres Elends, ohne Vereini-
gung, sterben. So versieht mein Schneider meinen Rok mit
Knopf en und Knopflochern, der en nahere Vereinigung aber der
modische Schnit desselben verhindert. - Die Schreibart der Ro- ro
mane ist bekant. Die eine gleicht ungesalzner Butter, so milde
und so fade! Die andere ist das Gegentheil, und riecht nach
Zwang und wizigem Schweis. Ein durchgeschwiztes Kleid ist
im gemeinem Leben ungesund, allein nicht im litterarischen,
welches das Widerspiel des gewohnlichen ist, wie die Turkei
nach Bjornstahl's Bericht das umgekehrte Europa.
Nun komm' ich auf die Scharfrichter des Ruhms, auf die Zol-
bedienten des Neides, auf die Schweizergarde vor dem Tempel
der Ehre, auf die vortreflichen Leute, die die Fehler des Parnas-
ses, gleich gewissen andern Leuten, die die Stadt vom Kothe 20
reinigen, auf einem Haufen zusammenscharren, deren Tadel der
verwustenden Zeit vorgreift, deren Feder den keimenden Lor-
ber mit fressender Dinte schwarzt, oder die den Got einer Mode
mit versteltem Beifal schminken; die vor dem Hunger zur Ver-
laumdung gefliichtet, oder die auf dem Riikken der Missethater
ihren Unterhalt einernten, und die Schande mit dem Staubbesen
zuchtigen, um ihn nicht verdienen zu mussen - kurz auf die
Sipschaft des Zoilus, d. h. auf die Kunstrichter. Denn obschon
die Barbarei untergegangen, so verwesten doch ihre Zahne
nicht, sondern verwandelten sich in Kunstrichter, die nur zu 30
oft einander durch eine uneinige Starke aufreiben; eben so gien-
gen die gesaeten Zahne jenes erlegten bootischen Drachen in
Krieger auf, die sich selbst besiegten. Ein unwissender Kunst-
richter mag daher wohl der beste sein? Und so ist es auch. Die
Priester eines gewissen Volks stechen sich die Augen aus, um
von den Gottern einer nahern Vertraulichkeit gewtirdigt zu
GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 417
werden. Daher thut ein Priester des Apols, dem er die Gegen-
stande seines Neids opfert, sehr wohl, wenn er sich mit Hulfe
einer schamlosen Unwissenheit zur Zunge des Musengottes
aufwirft. Nicht bios die biirgerliche Gerechtigkeit soke man
mit verbundenen Augen mahlen - welches nebenher anzumer-
ken noch dazu fehlerhaft ist, indem die bestochenen Hande der
Gerechtigkeit vielmehr andern die Augen verbinden. - Denn
auch die litterarische richtet ohne Augen mit den Handen, und
man schazt das Gewicht des Kunstrichters bios nach der Schwere
10 seiner Faust, wie das Gewicht des Ochsens nach der Schwere
seiner Vorderpfote. Stat das Urtheil von den Augen abhangen
zu lassen, braucht er ja nur dem Munde des Publikums seine
Schmeichelei oder Verlaumdung abzustehlen, und nur die
Trompete der Fama mit seiner Pfeife zu akkompagniren. Und
zu was auch Augen, da man tadeln kan, was man nicht gelesen?
Eine misverstandne Stelle schaft das ganze Urtheil, und nach
der Vorrede schneidet man die Kritik des ganzen Buchs zu.
Denn wie manche das Herz auf dem Gesichte sehen, und auf
der Stirne den abbrevirten, durch die Hand der Natur aufge-
20 driikten Galgen lesen konnen, den die Hand des Henkers noch
nicht aufgedriikt, so konnen scharfsichtige Rezensenten aus der
Stirne eines Buchs seinen innern Werth wahrsagen, und die
Hohe des Baums an iedem seiner Schatten abmessen. Ja oft komt
einem Kritiker die Rechtfertigung seines Urtheils zu theuer, fur
die Lesung einer langen Vorrede zu stehen; daher mus ein ohn-
gefahrer Blik in das Buch fur den Beweis seines Tadels sorgen;
daher verdankt er oft dem Zufal seine Rache. Denn wie Lavater
in dem Daumen den ganzen Menschen sah, gleich dem Gron-
, lander,- der die Frau des ersten Menschen aus dessen Daumen
30 entspringen last, so saugt ein liebenswiirdiger Kunstrichter aus
der giftigen Blume eines siissen Gefildes seinen Tadel, so bestraft
er an einer ganzen Familie die Siinde eines einzigen. - Zu was
Augen, da er ferner seiner verschleimten Zunge das Urtheil
iiberlast? Der veranderliche Korper entweder rezensirt die Sele
eines andern. Denn der Thermometer unserer Begierden ist im
Blute, »der Barometer der Denkungsart im Unterleibe«, und
41 8 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG
der Zeiger, ob der Verstand richtig geht, im Gehirne. Die Un-
sterblichkeit eines Autors griindet sich daher bald auf die Ge-
sundheit, bald auf die Kranklichkeit eines Kritikers, und sehr
oft tadeln die Winde des Unterleibs, was die Winde der Lunge
(die Schnupfen) loben, der Geschmak einer Krankheit wider-
spricht dem Geschmak der andern, und die Dianste des Weins
weisen die Diinste des Kaffees zu rechte. - Oder die veranderli-
che Sele rezensirt. Wer weis nun aus seinem Linnaus nicht, daB
verschiednen Thieren verschiednes Futter behagt? Der eine Re-
zensent liebtnaiven, der andere stechenden Wiz; der Ochse Salz,
der Esel Disteln. - Ja wenn auch der Rezensent ohne Unverstand
rezensiren woke, darf er? »Mir fur einen Kreuzer Weihrauch«
schreit ein Verleger in die kritische Bude; »und mir ein halb
LothTeufelsdrek; mein Nachbar liegt in Todesnothen« ein and-
rer. Sol da der Rezensent der Wahrheit um den Sold des Hungers
dienen, und seinen Magen seiner Zunge aufopfern? Ochsengalle
erregt den Appetit, warum sol sie nicht auch ihn zu stillen ver-
braucht werden? Man kan auch wohl einem Autor einen Kopf
anloben, wenn man dafiir silberne Kopfe zu gewarten hat, wie
die Dankbarkeit in Italien mit silbernen Herzen die Altare derer
Heiligen behangt, die menschliche Herzen von dem Tode erret-
tet. Und oft endigen sich ia auch die Klopffechtereien der Kriti-
ker und der Autoren mit gegenseitiger Freundschaft, so bald
nur ihre Wahrheitsliebe ihre Beutel gefiittert; so tanzte in einem
auto sacramentale der Teufel mit Christo eine Sarabande, nach-
dem beide sich vorher mit Fausten geschlagen. Zu was Augen,
da sie niemand von einem Kritiker zu fordern berechtigt ist?
Von einem iungen namlich, welcher allein seinen Namen ver-
dient. Nur die Hande, in denen noch die rothen Eindriikke des
lehrmeisterlichen Stokkes brennen, klatschen iezt mit der kriti-
schen Peitsche, und von diesen die sich nun kaum der empfindli-
chen Anspornung zum Klugwerden entzogen haben, kan nie-
mand billigerweise Verstand fordern, obwohl eben darum der
Verleger Rezensionen; hochstens brauchen sie durch wieder-
holte unsinnige Rezensionen das Denken zu erlernen, und durch
Handeln den Kopf zu verbessern, wie die Fliegen ihre. Augen
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 4 19
mit ihren Fiissen auspuzen. Auch wird kein ausgewachsener
Bart sich an embryonischen Barten rachen - wozu nun Verstand
in tadelfreiem Tadel? Ein iunger Rezensent freilicrr, gegen dessen
Vervolkommung sich noch einige angebohrne Giite stemt, und
dessen Blut noch in dem Bette der Scham lauft, thut sehr wohl,
wenn er dem billigern Geriichte nicht so gerade entgegen-
schwimt und sein Urtheil an das algemeine bindet; wenn er
seiner Galle nur bei mittelmasigen Schriften wilfahret und nur
an diesen seine Faust ihre Muskeln iiben last; so versuchen be-
io riihmte Arzte die gefahrliche Kraft ihrer neuen Heilungsmittel
an Missethatern, bis sie aus Vice-Henkern der Missethater end-
lich Henker der Kranken werden. - Auch beruht auf der Unwis-
senheit das Vermogen des Kritikers, Fehler aufzusuchen. Jedem
andern als dem scharfsichtigen Auge des Gelbsiichtigen, entgeht
die algemeine Farbe der Natur. Das Loschpapier ist grauer und
schlechter als das Schreibpapier; allein eben vermoge seiner
Schlechtheit saugt es die Dintenklekse auf diesem ein. »Aber
>einsaugen< past dieses auf den Kritiker?« als wenn die Schlotfe-
ger nicht selbst schwarz waren und die Farber nicht die Farbe
20 hatten, die sie ihren Zeugen geben! als wenn Lichtpuzen (Puz-
scheren) durch den schwarzen Docht, den sie von dem Lichte
abnehmen und in sich zusammenhaufen, nicht auch selbst ge-
schwarzt wurden! Und zu was auch endlich Augen, da sie zu
den Hauptendzwekken des Kritikers zur Verlaumdung und
Schmeichelei entbehrlich sind? Und hieruber wil ich einiges sa-
gen. DenNeid, diesen Bastartunsersersten Triebes, dieses Kind
des Mangels, diese Kost der Schwindsucht, erwarmet das Genie
zum geiffernden Leben. Denn die Sonne schwarzt das Gesicht,
und ie mehrere Lichter in einem Zimmer sind, desto mehrern
30 Schatten wirft ein dunkler Korper. DaB aber gefiihlte Schwache
leichtzum Neide reift und schwarze Dinte gelb wird, ist natiirlich.
Journale nun sind die Magazine des Neides, und gleichen dem
Pasquin in Rom, den die Rache in ihre Geburten kleidet und
die Verlaumdung mit ihrem Geifer umspint; Rezensenten nun
sind die Leute, die gleich gewissen Volkern zur Geburt eines
Buchs weinen und zu seinem Tode lachen, die wie die Priester
420 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
eine Leichenpredigt mehr als eine Taufe lieben, und mit ihren
Kugeln um den Fal der meisten Kegel weteifern. Dazu mus
der Kopf und das Herzzugleich helfen, und Scheingrunde miissen
die Verlaumdungbeschomgen- so verblendet die Erde als aufwal-
lender Stauh die Augen und beflecktzk nasser Koth die Fiisse. Wohl
dan dem Rezensenten, wenn seine Dinte iede verhaste Schonheit
wegfrist, wenn das Gold in seinem aqua regis und die Perle
in seinem Essig zergeht! Wohl dan dem Rezensenten! Denn das
Opfer seiner Feder unterliegt einer doppelten Schande, der eige-
nen und der fremden, und der besiegte Riese errothet iiber die 10
siegenden Zwerge, stat daB grosse Manner, durch grosse Man-
ner fallend, wenigstens mit Ruhm fallen, die Ehre mit ihrem
Besieger theilen, und durch einen schonen Untergang die triiben
Wolken des verflossenen Lebens vergolden. Wohl dem Rezen-
senten, wenn von dem Stich einer einzigen Feder fremder Ruhm
verwelkt, wenn er mit einer einzigen Wizelei das Produkt eines
Genies fur einen Haufen sinloser Buchstaben, deren Werth et-
wan auf aussern Firnis beruht, erklaren kan; so verwandelt der
Stich einer Schlupfwespe den Sodomsapfel in ein Behaltnis
schwarzen Staubs, das die Nascherei noch durch eine schone 20
Oberflache tauschet. Aber freilich grabt oft der harte Diamant
in den feindlichen Hammer die Merkmale seines Widerstands;
freilich gaukeln oft umsonst die luftigen Berggeister dem fleissi-
gen Bergmanne die Veranlassung zu einer furchtsamen Verach-
tung des goldnen Zieles, vor. Und doch, wenn auch! Nicht
iedes Verdienst ist gegen die Feinde seines Werths gewafnet,
deren Schwache der Fleis und die Anzahl verbessert. Tausend
Wassertropfen holen auch den Scheitel einer Bildsaule aus; auch
Wurmer konnen die Patente der Ewigkeit zernichten, und die
Exkremente vieler Fliegen das schonste Papier beschmuzen; 30
auch ohne die erschiitternden Waffen des Elephanten, durchna-
gen freundschaftliche Holzwiirmer den Ruhm und zerlochern
seine Feste. Zwar stirbt vielleicht innerer Werth nicht immer
an der Kritik, aber doch sein ausserer Glanz; so schwarzt nach
Drummond, der Bis einer Otter die Haut des Menschen, aber
todtet ihn nicht. Darum spiiren einige Rezensenten am Grossen
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 42 1
das Kleine auf, um dan dariiber zu lachen, und vergiften gleich
den Schlangen, die gemachte Wunde. Andre, menschenfreund-
licher, verlaumden bios durch Stilschweigen. Einige geiseln
durch versteltes Lob die unbemerkten Fehler, ihre Arznei scha-
det mehr als die Krankheit, und mehr als Gift vergiftet ihr Ge-
gengift. Andere rauchern nur verwesten Nasen, (iberziehen wie
die Perser, die Toden mit Honig, und bewerfen sie wie die Grie-
chen mit Kranzen; loben als Alte Alte, und salben wie die Turken
einander die Barte. Dafur brechen iunge hofnungsvolle Dichter
10 und Rezensenten fiber grauen Ruhm den Stab, trennen von
weissen Haren den freundschaftlichen Lorber, wie die Kohlmei-
sen ihre altern Mitbriider todten, und ihr Gehirn fressen, diingen
mit verwestem Ruhm ihren eignen, masten sich wie die Hyane
von aufgegrabnen Todten, und gleichen ganz den stechenden
Wespen, die das Mark verstorbener Pferde gebahren sol. Und
einige endlich versuchen durch Unbilligkeit zur Erwiederung
derselben zu reizen, und auch oft beist die Wuth des Hundes
in einen Menschen Wuth. Und vorausgesezt, da(3 ein unbilliger
Angrif den Autor nicht zu angenehmen und lehrreichen Ant-
20 worten veranlasset, wie Affen auf Kokosbaumen sich mit Ko-
kosnussen gegen die Steine der Indianer vertheidigen, vorausge-
sezt, daB die voreilige Ungerechtigkeit des Kritikers den Autor
nicht aus einer unvorhergesehenen Unbekantheit reisse, wie der
Honigsucher (viverrra melivora) in die Baume, deren Honig-
schaz ihm unerreichbar ist, das Merkmahl ihres Werths durch
seine Zahne grabt, dies vorausgesezt, sind der Rache des Kunst-
richters mehr grosse als, kleine Schriftsteller vorzuschlagen.
Stechfliegen stechen leichter durch einen seidnen als einen wolle-
nen Strumpf . Und welcher Beutelschneider wird Diogenes Pera
30 bestehlen, welcher Rauber in Diogenes Fas einbrechen? welcher
Kritiker nicht den Schlangen ahnlichen wollen, die nur Frosche
fangen, die sich bewegenl - Allein ein achter Kritiker mahlt nicht
nur wie der Neger, die Gotter schwarz, sondern auch den Teufel
weis. Denn nichts ist billiger, als schwachen Kopfen durch Lob
aufzuhelfen, und ihnen durch den Posaunenton des Beifals neue
Produkte abzufordern, wie Postknechte durch gefalliges Pfeifen
422 JU&ENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
ihren Pferden die Erleichterung der Harnblase abschmeicheln.
Ein achter Kunstrichter iauchzet da Land! Land! wo die Entfer-
nung dem Dunst und dem Nebel Gestalten leihet. Sein Mitleiden
versusset dem Ruhme die Sterbensstunde durch Zusprache, und
berauscht den Schriftsteller wie sonst die mitleidige Gerechtig-
keit den Missethater, durch Weihrauch zu einer gliiklichen Fiihl-
losigkeit fiir das Ende. Ja da man sonst die gehdrnten Opfer-
thiere der Gotter mit Blumenkranzen kronte, warum sol er die
Opfer der Kritik nicht mit Lorberkranzen zieren? - Derienige
ist der vortreflichste Kunstrichter, der immer das Lob durch 10
Tadel versalzet, der nie die Kralle darreicht, ohne cin wenig
zu krazen, der gleich dem Schoshunde mit spizigen Zahnen seine
gelinde Zunge verpallisadirt. Ist ia doch auch die Taube nicht
ohne Galle. Bittere Magentropfen auf Zukker gegeben, lassen
sich wohl einnehmen. Auch macht man die Prikken in Essig
und Lorbern zugleich ein, und die Lappen gehen aus dem heissen
Bad ins kalte. - Noch einige vermischte Anmerkungen iiber
die Rezensenten! Die Menge derselben beweist, wie die Menge
der Mause eine gesegnete Erndte. - Der Faust unserer tiefsinni-
gen Kunstrichter verdanken wir die Entwiklung mancher 20
Schonheiten; denn treten nicht auch die Klauen der Ochsen bei
den Orientalern das Getraide aus den Garben heraus? Und auf
der andern Seite mausen die Kazen so gut wie die Eulen, und
verrichten nicht oft die Murmelthiere des Savoyarden die
Dienste eines Schlotfegers? Ja die Rezensenten verrichten mehr;
denn ihre Wuth hat manches Genie zur Satire begeistert, und
Dunsen sind wir die Dunziade schuldig, so veranlaste das Zi-
schen der Schlangen der Gorgone die Minerva zur Erfindung
der Flote. - Kein Japaner darf einen Baum umhauen, ohne einen
neuen zu pflanzen - dummer Gebrauch! Und wenn wir ihn 30
annahmen, wer wiirde rezensiren? Ich lobte oben die Unwissen-
,heit der kritischen Kopfe, aber ich hatte auch die Klugheit ihrer
Handlungen und ihrer Ranke loben sollen, denn der Teufel
prangt nicht bios mit Ochsenhornern, sondern auch mit Pferde-
fiissen. Auf den Kritikern beruht das gute oder schlechte Schik-
sal des Parnasses; dies sieht man auch daraus, weil die Kritik
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 423
sich erst auf den Ruinen des Genies erhebt, und der Sieg der
Rezensenten erst auf die Niederlage der schonen Geister folgt.
Die Knochen im Gesichte ragen erst dann hervor, wann die
schonen Wangen eingefallen. Im Winter steigt der Merkurius
des Warmenmessers erst bei schlechtem Wetter. Doch lokt oft
nicht der Regen, sondern nur die Ahndung desselben die Regen-
wurmer aus der Erde hervor. -
Endlich einige Kleinigkeiten! Das Titelblat ist das wichtigste
Blat des ganzen Buchs, denn nach dem Gesichte wiirdigt man
10 die unbekantern Theile eines Menschen. Daher mus ein Schrift-
steller zur Erfindung eines prachtigen Titels, sein ganzes Gehirn
aufbieten und der scheinbaren Geringfugigkeit desselben ist er
alle mogliche Ausschmukkung schuldig. So tragt man in Japan
nur Geflugel mit vergoldeten Schnabeln auf die Tafel. Darum
aber braucht er nicht das zu leisten, was er auf den Titel ver-
spricht - Jener Mahler schrieb unter seine Figuren nicht, was
sie waren, (denn das sah man ia) sondern was sie sein solten.
Und welcher vornehme Man ist nicht weniger als sein Titel?
Da ferner die Schriftsteller ihre Verewigung nur von den Jour-
20 nalen durch die Aufbewahrung ihrer sinreichen Titel zu gewar-
ten haben, wie die Bauern in einigen Orten die Kopfe aufgeges-
sener Heringe an einem Faden zusammenreihen und an die
Stubendekke hangen, so ist es auch darum gut, alien Wiz in
den Titel, wie in eine Urne, fur die Nachwelt zusammenzudran-
gen. - Auch das Motto ist nicht zu vergessen. Wie schon glanzt
der Name eines grossen Schriftstellers, der das Motto herleiht,
auf einer modischen scharfsinnigen Schrift! Eben so glanzt das
Bild der Sonne auf der Stirne des gotlichen Ochsen der Franken.
Je weniger das Motto sich zum Buche schikt, desto mehr macht
30 es dem Wize des Verfassers Ehre, dem auch die kleinste Ahn-
lichkeit nicht entgangen. Vorzuglich dem Titelblatte ernsthafter
Streitschriften last ein spash'aftes Motto, aus Registern gestoh-
len, ungemein wohl. Eben so schimmern auf den Helmen der
Held en Federn aus dem Schwanze des Pfauen. Ich wiirde auch
zur Verschonerung eines Titelblattes das geistreiche Portrait des
Verfassers selbst vorschlagen, wenn der kopierte Geist in seinen
424 JUGENDWBRKE * 2. ABTEILUNG
Gesichtszugen einen von dem Versuche nicht abschrekte, das
Original desselben im Buche naher kennen zu lernen; so entzieht
oft das ausgehangte Bild einer Misgeburt die Neugier der Zu-
schauer, der Betrachtung des Originals. -
Alle Schriften strozen iezt stat der Gedanken von Gedanken-
strichen, die man auch Gedankenpausen nennen konte. Man
durchstreicht iezt nicht mehr Worter, aber man durchstreicht
doch dafur das lere Papier. Die Guayruer lassen neben dem be-
grabnen Korper einen lerenPlaz fur den Geistxmd unsere grossen
Kopfe neben den Worten einen fur die Gedanken, und deuten 10
den Sin, wie Heraldiker das Silber, durch leren Raum an. Man
vertheuert durch eine solche Verschwendung der Dinte seine
Ware, wie die Kaufleute durch Benezung die ihrige. Gedanken-
striche sind Furchen ohne Sam en - sind Linien, die der Chiro-
mantist zu lesen gedenkt, und fur deren Bedeutung der Zufal
nicht gesorgt - sind das algebraische Zeichen der Subtrakzion
- sind die Gebeine verstorbener Gedanken - sind die Schleppen
oder Schwanze der Perioden, welche Schwanze auch oft den
Kopf der Perioden, wie die Schwanze bekanter Vogel den Kopf
der Damen zieren - sind Briikken, iiber die Kliifte unahnlicher 20
Materien geschlagen - sind Mittel, unsere Bewunderung vom
Genus ihres Gegenstandes zu trennen, wie iener zwischen sich
und seine schone Schlafgenossin einen Degen legte. - Aus die-
sem wird ieder den verschiednen Gebrauch und die Nothwen-
digkeit der Gedanken striche ersehen konnen, und meine Gedan-
kenstriche werden sich auch selbst loben. -
Schade, daB wir iezt nicht mehr so unsere Worter wie unsere
Kleider verstumlen. Doch last es noch in Gedichten, wo jeder
Vers gleich einem Gleichnis ubel zu Fus ist, sehr schon, wenn
das holzerne Bein des Apostrophs das weggeschossene naturli- 30
che ersezt, wenn man die Fiisse der Worter in enges Sylbenmas,
wie die Sineser die weiblichen Fiisse in enge Schuhe, einzwangt.
-Man verstiimlet die Worter nicht bios, wie die Wilden ihre
Kinder, der Zierde, sondern auch der Erhabenheit wegen. Ein
Wort mit den krummen Narben eines Federhiebs, wie marzia-
lisch sieht es! -
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 4 2 5
Da man oft zwei Uhren und auf Einer Seite zwei Lokken
tragt, da man Monsieur oder Herr im Briefe aus Hoflichkeit
ve'rdoppelt, so wird man leicht sehen, daB die Verdoppelung
der Frag- und Ausruffungszeichen nicht bios modisch, sondern
auch verniinftig ist. Manche Autoren konnen dadurch mehr
ausdriikken, als sie im Sinne haben!
Kaum brauch' ich zu erirmern, daB der Verfasser sein Buch
mit schonen Kupferstichen zieren miisse, die seine schlechten
Zeichnungen heben. Diese Mode errinnert mich an die Mode
io einiger armen Agypter, die ihren Gozen stat der Schweine die
Abbildungen der Schweine opferten. Oder daB er fur schones
Papier sorgen miisse? Denn wer isset gern auf einem schmuzigen
Tischtuche? Und endlich, daB er sein Kind in der moglichst
kleinen Gestalt erscheinen lassen miisse. Grosoktav ist der Posi-
tiv des Wizes, Kleinoktav sein Komparativ, und Duodez gar
sein Superlativ. Das Gehirn verhalt sich zum Kopfe umgekehrt.
Auch bemerkt Home in seiner Geschichte der Menschheit sehr
gut, daB bei der Verfeinerung des Gaumens gross e Stiikke
Fleisch aus der Mode kommen. Der rohe Angelsachse briet oft
20 einen ganzen Ochsen, und der feine Siheser fiillet seine Schiisseln"
mit kleingeschnittenem Fleische an. - Ich habe nichts dawider,
wenn man stat der gothischen Lettern romische wahlet. Denn
es beweist, daB die klassische Gelehrsamkeit unter uns noch
nicht ausgestorben. -
Nun bin ich fertig; das heist, ich habe durch das Gemalde
eines heutigen Autors das Gemalde eines vortreflichen gegeben,
und durch Schilderung der iezigen Schreiberei, schreiben ge-
lehrt. Freilich ist nur das Beispiel unsers Parnasses Muster. -
Aber das Dakapo meiner halbgeheilten Gicht verscheucht alle
30 Musen aus m einen Fingern, und notigt mich zum Schlusse.
Welcher gesattigte Magen liebt ubrigens auch ein langes Dank-
gebet? Je mehr ein fallender Korper sich der Erde nahert, desto
geschwinder fait er, und ich abbrevire wenigstens die Endsylben
der Worter. Kurz, Amen! -
426 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
II.
User die Theologen
Ein Brief
Theuerster Hen Konfrater!
Ihr Stilschweigenhat so lange gedauert als meines, aber Sie wer-
den das Ihrige nicht so gut entschuldigen kdnnen. So viel zu
thun, wie ich, haben Sie wenigstens nicht gehabt! Denn Iesen
Sie nur. Sie kennen den beriihmten Freigeist in meiner Diozes,
dessen Schriften die ganze Welt kent. Er ist tod - aber er starb
besser als er lebte. Es wiederfuhr ihm namlich das Schiksal ver- 10
schiedener grosser Manner, deren Leben ihr Tod beschamte.
Diese Lichter der Welt gleichen unsern gewohnlichen Talglich-
tern, die, wennblos ihre Flamme verloschen, fortglimmen und
stinken. 3 - Ein hiziges Fieber fras so alle Krafte meines Freigei-
'stes auf, siegte so iiber seinen Verstand, lahmte so seinen Muth
und widerlegte so seine Grundsaze, daB ich ihn nach einem eifri-
gen Gebete vermittelst heisser Buspredigten und vermittelst des
Arguments a tuto von acht bis zehn Geheimnissen iiberzeugte.
Und schon hatte zu den librigen eine schadliche Aderlas ihn
vorbereitet, und ich brauchte an sein Heil nur noch die lezte 20
Hand zu legen, als der Tod meiner Bekehrung das ganze Spiel
verdarb, und die Schere der Parzen mit seinem Leben zugleich
meinen Sorites zerschnit. Freuen Sie sich der Macht der Ortho-
doxie. Zwar war sein Korper seinem Geiste gewachsen, und
seine Krankheit allein sorgte fur den Beweis meiner Saze; zwar
vereinigte sich sein heisses Blut mit seinen schwachen Nerven
und sein Kopf mit seinem Magen, die Sele dem Rachen des
Teufels zu entreissen, und die Phantasie erwarmte den erstarten
a Bios auf dem Korper beruht die ganze Standhaftigkeit im Tode.
Freilich stinkt ein glimmendes Talglicht; allein ein glimmender Wachs- 30
stok riecht gut.
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 427
Aberglauben der Kindheit zur Besiegung der Vernunft - allein
dies alles verdunkelt den Triumph meiner Dogmatik nicht im
geringsten. Denn es ist ein grosser Beweis fur die Wahrheit
des Christenthums, wenn der, der Verstand besizt, dasselbe an-
nimt, so bald er ihn verliert, und ohne ubernatiirlichen Einflus
ist es unmoglich, eine kranke Sele in einem kranken Korper
zu heilen. Fur vier Wande schimmert also mein Sieg zu prachtig;
darum beschreib' ich ihn in einem Buche, das ich zum Besten
der Christenheit fur ein ansehnliches Honorarium drukken las-
I0 sen wiL Denn dem gewissen Spotte aller Klugen opfere ich die
wahrscheinliche Erbauung etlicher Schwachen nicht auf. In die-
sem Buche nun versichere ich die Welt, daft ich durch eine
Menge Disputazionen iiber die natiirliche Theologie meinen
Freigeist zum Christenthum vorbereitet, dessen Geheimnisse
er alle vor seinem Tode, versichere ich, im Glauben angenom-
men. Hiezu habe ich mir von dem hiesigen Bucherverleiher
etliche Bucher entlehnet, um daraus die Beweise fur die Wahr-
heit des Christenthums abzuschreiben, mit denen ich meinen
kranken Proselyten bekehret. Zu diesen fremden Beweisen fug'
20 ich einen eignen unwiderlegbaren hinzu, der mir neulich im
geheimen Gemach beigefallen, und dessen Kraft auf Gedanken-
strichen, ExklamazionenundFragezeichenberuht. Mein Gefuhl
namlich widerlegt die Vernunft der Freigeister d. h. mein Un-
terleib und meine Safte entwafnen den Kopf der Unglaubigen.
Und ein ganzer Rumpf mus doch wohl einen Kopf iiberwiegen?
Wie denn iiberhaupt mein Blut und meine Nerven dem Satan
noch manchen Abbruch thun werden. Ja selbst mein kiinftiges
Fet sol fur die Erleuchtung der Heterodoxen schmelzen - diesem
Versprechen verdank' ich auch mein fetmachendes Amt. - Ich
30 werde dem gedachten Buche auch allerhand Gebete fur Ver-
stokte einverleiben, an deren Dasein mein Herz aber wenig An-
theil hat. Denn wie die Katholiken Rosenkranze aus Ochsenhor-
nern fabriziren, eben so miissen Protestanten die Gebete bios
aus ihrem Kopfe herausspinnen. Endlich werd' ich allem diesen
noch die Widerlegung eines Buchs meines Helden beifiigen, das
schon neulich von einem Schok Programmen griindlich wider-
428 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
legt worden. Um meinen Lesern, die ienes Buch nicht haben,
die Kosten des Ankaufs und denen, die es haben, die Miihe
des Nachschlagens zu ersparen, werd' ich meiner Widerlegung
gegen iiber, alle Einwiirfe meines Gegners noch einmal abdruk-
ken lassen. Ubrigens enthalt ia auch die ostliche Seite von der
Wurzel des Eselsgallenbaums den Gift, gegen den die westliche
Seite seiner Wurzel mit ihrem Gegengift verwahrt. - Ich werde
noch etwas drukken lassen. Auf die Nachricht namlich, daB
iemand aus der Bibel eine Quintessenz von lehrreichen Fragezei-
chen distilliret habe, b habe ich eben dasselbe mit den Ausruf-
fungszeichen versucht, worauf die Samlung bibJischer Kom-
mate und Punkte folgen sol. Wiewohl das bestandige
Nachschlagen in der lutherischen Ubersezung, meine Finger viel
Nachdenken und vielen Fleis gekostet, so belohnet mich doch
dafur die Hofnung, alle Gegner der Religion dadurch entwafnet
zu haben. Daher ich diesem Auszuge noch (iberdies Anmerkun-
gen beigefugt, die mehrentheils unwiderlegbare Fragzeichen,
riahrende Exklamazionen, und niizliche Gedankenstriche iiber
die exzerpirten Bibelspruche enthalten. - In der Vorrede sag'
ich alien Heterodoxen ins Gesicht, daB sie Zahnarzte sind, die
der runzlichten Theologie die hohlen Zahne ausreissen, und ihr
durch diese Operazion den iiblen Athem rauben, an dem sich
tausend exegetische Nasen weiden; ia ich werf ihnen ihre Unart
vor, die Sprache der Bibel in die heutige zu kleiden und so auszu-
legen, daB man es versteht - stat daB bessere Exegeten, wie
die Elephanten, nie das Wasser trinken ohne es zu triiben. Auch
thue ich darin einen kleinen Seufzer iiber mein Unvermogen,
nicht die Nacht wie Jupiter bei der Alkmene.verlangern zu kon-
nen. - Aber genug von meinen Biichern, und nun etwas von
meinen Kollegen!
Diese Mitarbeiter am christlichen Weinberge, die insgesamt
das Bier lieben, versamlen sich von Zeit zu Zeit in die Wohnung
unsers Hern Superintendenten, wo sie sich iiber das Beste der
Kircheimmerberathschlagen, und selten zanken und oft betrin-
b Siehe den Pontius Pilatus von Lavater.
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I . BANDCHEN 429
ken. Wie ersprieslich dieses Institut fur das Beste der Kirche
ausfalle, mogen Sie daraus urteilen! Jeder Pastor scharret sich
ein Haufgen kasuistischer Zweifel zusammen, an denen sich un-
ser gemeinschaftliche Scharfsin iibt. Zwar entstehen und leben -
diese Zweifel von den Ausdiinstungen schaler Kopfe, allein sie
kiizeln auch wieder dafiir die griibelnde Eitelkeit dieser Kopfe.
So errichteten die alten Peruaner dem Vorsteher ieder Provinz
einen Tribut von Bechern vol L-s-, die noch in andrer Riiksicht
ienen Zweifeln ahnlichen. Der Herr Superintendent ferner -
10 doch ich mus Sie erst ihn kertnen lehren. Er ist das Echo der
Orthodoxie, und untersucht zwar nicht, glaubt aber doch dafiir;
hat nicht Augen zum Sehen, sondern nur Ohren zum Horen.
Einige meinen, er ziehe die Dumheit, wie andere Leute die Son-
tagskleider, die Woche nur einmal an; aber ich bin seiner From-
migkeit das Gestandnis schuldig, daB er unausgesezt ein treuer
Freund des Nichtdenkens gewesen, welches er von seinem Vater
seliger nebst alten Biichern und verschlagnen Munzen geerbet.
Daher drukt er sich gewisse Meinungen fie/ ins Gedachtnis, um
seinen Verstand fest davon zu iiberzeugen, und halt seine in
20 Schweinsleder eingebundne Schilde den Pfeilen der Weisheit
entgegen. Und mit einem solchen Verstande trabt er denn so
in den Himmel, wie Muhammed auf seinem Esel ins Paradies.
Er ist so heilig, daB er tugendhaft zu sein nicht nothig hat; daher
er auch seltner in die glanzenden als nichtglanzenden Laster der
Heiden verfalt. Mit den Seufzern, der Quintessenz seiner guten
Handlungen, verbindet er nochhaufiges Beten, weil er sich sei-
ner Zunge als des einzigen Glieds bewust ist, dessen Thatigkeit
die wenigste Miihe und den kleinsten Verstand erfordert. Um
doch auch zu arbeiten, beobachtet er den MiiBiggang seiner Sele,
30 und stelt Wetterbeobachtungen iiber die aufsteigenden Wolken
seines Unterleibes an. Seinem Nachsten kan er hochstselten die-
nen, weil er immer Got dienen mus. Doch thut er demselben,
um ihn zur Busse zu leiten, oft einen kleinen Schaden an, und
hast ihn, weil ihn Got hassen wird. Diesen Has vergrossert nicht
selten eine iibernaturliche Erleuchtung, die ihm etwas gewohn-
liches ist - eben so vermehrt der Strahl der Sonne die Scharfe
430 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
des EBigs. In seiner Jugend sol ihn nie die Menschenliebe verlas-
sen haben, die die Lenden zeugen und todten. Daher er auch
gelehrigen Selenschwestern nie bessere Belehrung iiber wichtige
Tropen in der Mystik versagte. Freilich reiften die aufgestiegnen
Gedanken seiner irdischen Glieder in dem himlischen Gliede,
in dem Kopfe, zu gesalbten Seufzern, wie die Dunste kothigter
Orter in der Hohe zu Schnee gefrieren. Sein Bruder (vergeben
Sie mir diese Fortsezung meines Schilderns, in das ich nun ein-
mal gerathen bin) hat sich durch seine Verdienste zu einem Kon-
sistorialrath empor geschwungen. Denn er hat namlich mehr 10
Kapitale als kluge Gedanken, und eben so viele Thorheiten als
Schmeichler. Sein Kopf ist der Sklave seines Magens, und seine
Orthodoxie nicht selten das Opfer seines Weins; er schazet aus-
ser seinem Kochbuch auch seine Dogmatik, und ausser seinem
Koche, auch seine Kollegen, aber Unruhen seines Unterleibs
erf (ill en ihn mit Gleichgiiltigkeit gegen die Unruhen der Kirche.
Zum Besten lehrbegieriger Wiirmer hat er sich auch eine Biblio-
thek angeschaft, und seine Biicher nahren weniger ihn als nach-
barliche Mause. Ausser diesen Verdiensten sol ihn auch eine
Hure mit der Wiirde, ein so wichtiges Glied der geistlichen Braut 20
zu sein, gestempelt, und eine Schaferin ihm den Schafstal erofnet
haben. Darum vertheilt er auch dankbarlich Amter und Huren
in Paren. - Ubrigens last seine Zunahme an Fet und Dumheit
sich nur mit der Zunahme seiner Ehre vergleichen. -
Der Herr Superintend ist also, um wieder aufs Obige zu kom-
men, der Vorsteher der ganzen Versamlung. Er schlichtet jeden
Zank durch seinen Ausspruch, der natiirlicher Weise alzeit rich-
tig ist. Seine Nase weis jeden Embryon eines Zweifels in unsern
Kopf en aufzuspiiren, und seine Zunge denselben zu vernichten.
Ein gewisser Vogel, der Ochsenhakker, (Buphaga africana L.) 30
sol mit seinem Schnabel so lange den Riakken des Rindviehes
verwunden, bis er die Larven der Ochsenbremen unter der Haut
desselben hervorlangen kan. Ein nuzlicher Vogel! - In dieser
Geselschaft schlug man neulich verschiedene Mittel vor, die
Ausbreitung der Heterodoxie zu hemmen. Zum Beispiel, um
die Gegner zu widerlegen, miisse man nicht mehr widerlegen,
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 43 1
sondern schimpfen. Das heiss' ich gut gerathen! Denn unsere
Stimme ist iiberhaupt fCirchterlicher als unser Kopf. Sol doch
nach dem Berichte der Alten ein Elephant vor dem Grunzen
eines Schweines zittern. Und da die Welt mit einer solchen
Blindheit gescjilagen ist, daB sie anfangt im Finstern nicht mehr
zu sehen, so ist es sehr billig, ihren Augen durch Faustschlage
Lichtzuverschaffen. AuchwirdjedeSeleden Ruhm jener Ganse
des Kapitols verdienen wollen. - Ein anderes Mitglied meinte,
Aufwieglung des Pobels oder der Obrigkeit wiirde der jezigen
io Erleuchtung am besten abhelfen. So reizen die Wilden ihre
Hunde, die Finsternis'des Mondes wegzubellen. Diesem Vor-
schlage fiigte er noch eine riihrende Leichenpredigt auf die
Dumheit bei. »Schade freilich sagt' er, dafi man nicht mehr
durch die Asche verbranter Kezer die Kirche vor andern Kezern,
wie der aberglaubige Schafer durch pulverisirtes Wolfsfleisch
seine Schafe vor den Wolfen, schiizen kan! - Aber warum seid
ihr verschwunden, ihr Zeiten, wo Dumheit sich mit Feuer am
Lichte der Vernunft rachte, wo die Frommigkeit noch lange
Ohren trug, und lange Strahlen warf, wo lateinisches Yanen
20 noch der leisen und einfachen Stimme der Wahrheit gewachsen
war - ihr Zeiten, wo priesterliche Gewalt sich auf das Elend
des Klugen und des Pobels zugleich steifte, und wie der Tempel
zu Ephesus, sich auf Kohlen der Eichen und auf Schaffelle mit
Wolle, griindete, und wo die Uberbleibsel der Wissenschaften
nur noch in dustern Kopfen schimmerten, wie man sonst, da
es noch keine Laternen gab, das Licht in Ochsenhorner stekte.
Freilich ist diese Finsternis unserer Zeit bios dem Fiirsten der
Finsternis zuzuschreiben. « c - Aber es ist noch nicht so arg, warf
mein Nachbar ein. Die meisten wiederkauen nur die Heterodo-.
30 xie, und sie ist bios im rechglaubigen Maule und noch nicht
im Magen. Zwar geben wir viele unserer Waffen dem Roste
Preis; allein von Messe zu Messe liefert doch die theologische
Schmiede neue oder Wenigstens solche, an denen man die Merk-
c Eben so biirdet der Sineser einem kampfenden Drachen die Verfin-
sterung des Mondes auf, die er bios sich und seinem dunkeln Wohnplaze
aufzuburden hatte.
432 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
male ihres Gebrauchs und ihres Alters weggeschliffen, und ich
mus zur Ehre verschiedener jeziger Theologen gestehen, da6
sie auch da nicht denken, wo sie nicht nachbeten. »Aber das
ist ja schon arger als arg, nicht mehr nachbeten«, sagte der Her
Superintend. »Ew. Hochehrwiirden haben volkqmmen Recht«
sagte mein Nachbar. - Ein andrer schob die Schuld der Ver-
schlimmerung der priesterlichen Denkungsart auf unsern Man-
gel an polemischen Kentnissen. Sonst scharfte jeder Student an
den Kezern, die er aus der Vorlesung eines Doktors kennen
lernte, seine polemischen Waffen, gleich dem Kinde, welches I0
seinen Zahnen das Auskriechen vermittelst der Wolfszahne er-
leichtert, mit denen es sein Zahnfleisch reibt. Aber wo ist jezt
das Studium der Polemik? Oder vielmehr das Studium der Pa-
tristik, rief ein dritter. In London ofnete man unter dem Karl
dem II. die Graber, um iiber die Pest durch Gestank zu siegen,
und gewis wiirde dem Unglauben das erneuerte Studium jener
vortreflichen Kirchenvater, eines Laktanzius, Augustinsu. s. w.
steuern, das nun durch Semlern ganz in Abnahme gediehen ist.
Vorausgesezt nur, sagte ein Kandidat, daB man die Kinder besser
erziehen lernt. Ichinformire schon dreissig Jahr, und meine Ehre 20
ist schon eben so lange das.Opfer der eigensinnigen Eltern, die
ihren Kindern stat dunkler Worte klare Ideen eingepragt haben
wollen. Als wenn Schullehrer nicht eben so wie die Kirchenleh-
rer den holzernen Armen gleichen musten, die an den Wegen
den Wanderer zurechtweisen, als wenn Gedanken in jungen
Kopfen nicht kiinftigen Unglauben vorherbedeuteten, wie nach
der Weissagung des Bauers die durch Blatminirer entstandenen
Krummungen auf den Baumblattern, Anzeichen kiinftiger
Schlangen sind. Nachdem man endlich den »Anekdoten des
Hrn. Tellers fur Prediger« die Lobrede gehalten hatte, daB ihre 30
Gemeinniizigkeit alien Beifal des jezigen Publikums und alle
die Bewunderung der Nachwelt verdiene, welche die algemeine
deutsche Bibliothek, nach der Weissagung des Hern Verfassers,
entbehren wird, daB ferner dieses vortrefliche Buch, welches
nur den Verstandigen misfalle und dagegen jeden Orthodoxen
fur den stechenden Wiz seiner Gegner schadlos halte, der weis-
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 433
sen Nieswurz (veratrum album L.) gleiche, die fur die Pferde
ein Gift, und fur die Geschwiire des Rindviehs eine Arznei ist,
welche durch die Bremsen auf den Riikken desselben entstehen
- nachdem man endlich die Bonsmots der Pfarhern in diesem
Buche gelobt und auf Veranlassung des Wizes des Hern Tellers
die Bemerkung gemacht hatte, daB modische Laune sich selbst
zu finstern Kopfen paren konne, wie Herr Gachet von Beausort
in der Leber der Hammel Schmetterltnge gefunden haben wil -
so schlossen etliche Komplimente die ganze Unterredung.
io Aber ich schliesse meinen Brief noch nicht, sondern liefere
noch etwas aus einer zweiten Unterredung, solt' es auch auf
Kosten ihrer Geduld geschehen. Nachdem uns der Herr Super-
intend mit der neuen Bemerkung iiberrascht hatte, daB Geistli-
che schwarze Kleider zum Unterschiede von denen tragen, die
bunte tragen, wie die Indier ihre Zahne zum Unterscheide von
den Thieren schwarzen, die weisse haben, so las ein Diakonus
eine Abhandlung ab, deren Griindlichkeit mich berechtigt, Ih-
ncn einige Stiikke daraus mitzutheilen. Sie demonstrirt die
Schadlichkeit des Denkens so gut, daB ihr zu einer rechten De-
20 monstration bios der Schlus quod erat demonstrandum fehlet,
den ich nicht selten die Demonstrazion der Demonstrazion zu
nennen pflege. »Der Apfel der Eva verursachte eben so viele
Streitigkeiten als der Apfel der Eris. Und gewis ist der Streit
uber die physische Moglichkeit der Zerriittung, die der Genus
der bekanten Frucht im menschlichen Korper erzeugte, noch
nicht ganz beigelegt. Und wie solt es auch, da jeder sich zur
Beantwortung dieser Frage aufs Traumen legte, und kein Aus-
spruch der Kirche auf irgend einen Traum, das Siegel der Wahr-
heit driikte? Ich schmeichle mir am besten getraumt zu haben.
30 - Der Baum des Erkentnisses des Guten und Bosen ist, wie
der Name selbst an die Hand giebt, die Fahigkeit zu denken
oder wenn man wil, die Wissenschaften. Davon essen heist
nachdenken oder vielleicht uber das summum bonum, den
Zankapfel aller Philosophen, nachdenken. Die Schlange, welche
Evam zum -Denken verfuhrte, mag wohl die gewesen sein, die
nachher das Bild der Pallas Polias auf der Akropolis zu Athen
434 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
beschiizte. Dieses wird durch die Muthmassung des heiligen
Bernhardus noch wahrscheinlicher, daB der Luzifer oder diese
Schlange auf den Berg des Erkentnisses geflohen sei. Diesen
Berg nanten die Heiden den Parnas. Kurzdem Apollo mit Horn,
Schwanz und Pferdefus haben wir das Denken zuzuschreiben,
das unsere Korper vergiftet. Denn man vergleiche auch nur die
Opfer dieses Gifts mit den Gluklichen, welche seinem Einflusse
durch Nichtdenken vorbauen. Der Nichtdenker, der seinen
Magen nie seinem Kopfe aufgeopfert, seinen Nervensaft nie fur
die Befruchtung eines tiefsinnigen Gedanken verschwendet, ist 10
das leibhafte Bild der Gesundheit. Sein Gesicht ist kein Register
des Gehirns, aber auch kein Beispiel seiner Verwiistung. Sein
Kopf ist keine Werkstatte der Gedanken, und eben darum auch
keine der Schmerzen. Keine Ruhe verdikt sein Blut oder macht
den Kopf den Residenzstadten gleich, nach welchen die Krafte
des ganzen Korpers streben. Nicht Hypochondrie, sondern Ge-
machlichkeit schwellet seinen Unterleib. Aber stellet den Den-
ker dagegen, dem man eine Sele ansieht und einen Korper
wiinscht. Wenigstens einen bessern, als den, der sich im Dienste
des Geistes aufgerieben und durch seine Abnahme der Unkor- 20
perlichkeit seines Verwusters zu nahern scheint. Er gleicht den
Lampen, die oben mit Ole und unten mit Wasser gefullet sind.
- So vereinigen sich in seinem Kopfe alle Krafte des geschwach-
ten Korpers. Die Stirne ist zum Behaltnis des Samens der Weis-
heit gefurchet, und von Runzeln durchschnitten, diesen Narben
eines jeden Streiters gegen die Dumheit. Das Feuer, welches
seinem Magen fehlet, loscht, wie das vestalische, nie in seinem
Kopfe aus, und lekt almahlig die Krafte hinweg. Kurz seine
Sele und sein Korper iiberleben so gleichsam das Leben, daB
fur diese Welt die eine zu weise und der andere zu mager wird. 30
Woher (ibrigens die Gesundheit der Thiere? daher, weil sie noch
weniger als ihre Besizer denken; oder der Wilden? weil sie im
halben Stande der Unschuld leben; und der Monche? weil sie
beten, Messe lesen und desgleichen. - Shakespear sagt, voile
Wanste haben lere Kopfe. Wie gut last sich dieses fiir einen be-
kanten Stand anwenden. Die Dumheit liebt fetten Boden; daher
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 435
das verdienstvolle Fet derer unberiihmten Manner in beruhmten
Amtern, die alle die Verdienste verlieren, die man an ihnen be-
lohnet hat, und ihres Amts wiirdig zu sein aufhorten, nachdem
sie es bekommen hatten. Daher manche, um in ihrem Amte
auf Mastung zu stehen, das Denken verschworen, wie man die
Vogel fetter macht, wenn man sie blendet. Daher ist die Dum-
heit die langgesuchte Universalmedizin. Daher konnen Arzte
nur sich selbst am besten heilen. etc. « Dieser bundigen Abhand-
lung sezte unser Herr Vorsteher bios den wichtigen Einwurf
io entgegen, daB der Geheimnisse und Wunder, deren Vermeh-
rung jedem am Herzen liegen musse, durch jene Traumerei eines
weniger wiirde. Ubrigens, sagt' er, ist es viel gefahrlicher, das
erste Buch Mose als die Offenbarung Johannis auszulegen d. h.
in den Potentaten die Originale zu den apokalyptischen Thieren
zu finden, wie der Astronom in einer Anzahl von Sternen die
Ahnlichkeit mit einem Erdenthier, und inspirirte Traume durch
menschliche zu erklaren - angesehen das erste Buch Mose weit
wichtiger fur das Heil der Menschen ist. Aber dem Argernis
etlicher Kleinglaubigen nicht jede neue Wahrheit aufopfern, den
20 Braminen nicht ahnlichen zu wollen, die fur das Heil einer
Miikke besorgt, kein Licht anzunden, das heiss' ich Siinde. Ja
und eben diesen Kleinglaubigen, sagt' ich, sind wir die Beibe-
haltung eines jeden grauen Sazes schuldig. Und gewissen Geg-
nern, die gewisse Lehren von der Kanzel verbannen wollen,
weil sie ihnen schadlich vorkommen, braucht man bios entge-
genzusezen, daB sie niizlich sind. Eben so vortreflich urtheilten
einmal die Madritter Arzte. Den Einwohnern Madrits namlich
wurde verboten, die Gassen zu Nachts in ein geheimes Gemach
zuverwandeln, dessenGestankdieLuft infizirt. »Oder vielmehr
30 reinigt, schrien jene Askulape, da der Koth die faulen Theilgen
der Luft in sich saugt, und dadurch ihrem gefahrlichen Einflusse
auf den Korper zuvorkomt.« Nicht zu gedenken, daB man da-
durch Luthern die Ehre entzoge, das dem kirchlichen System
zu sein, was die Buste des Klaudius der spanischen Kirchenuhr
war, fur welche sie als ein Gewicht gebraucht wurde. d - Zulezt
Der Kardinal Kolonna brachte diese Buste nach Spanien, deren
436 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG
vereinigten sich alle zur Verwerfung der neuen Gesangbiicher,
weil die neue Politur den alten Liedern ihren vortreflichen Rost
gekostet hatte. Mit dem Verlust ihres Rosts ist aber der Verlust
ihres Werths verkniipft. Darum ware es christlich gewesen, sich
diesem Unternehmen gleich dem tiefsinnigen berlinischen
Kaufmanne entgegen zu sezen. Last man doch audi in Bremen
den Dom nicht reinigen, weil man da von den Verlust seiner
Kraft befurchtet. e Nun aber genug von diesen niizlichen Unter-
redungen.
Mein Herr Vetter, dies mus ich Ihnen nur melden, hat sich 10
durch den Sprung in ein reiches Ehebette die Krone der Ver-
niinft, den Doktorhut, ersprungen. Oder vielmehr umgekehrt.
Denn seine Gattin schlug ihren Ring dem manlichen Finger ab,
den kein Doktorring geziert. Auch enthiilte sein ofner Beutel
die versperten Vorziige seines Kopfes in einem solchen Glanze,
daB alle Dekanen, Professoren u. s. w. ihr lateinisches Unver-
mogen beklagten, ihn nur in Superlativen loben zu konnen.
Doch hat man nicht bios seinem Beutel, sondern auch seinem
Schmause die guten Gesinnungen jener Herren zu verdanken.
- Ubrigens wiirde mein Vetter, der seinen jungen Jahren nicht 20
die Empfanglichkeit fur diese Wiirde zugetrauet, noch lange
die Volendung seines Ruhms verzogert haben, hatte nicht ein
Zufal iiber seine Schiichteniheit gesiegt. Er sah namlich einmal,
daB ein Doktor aus einem Erdenklos ein Bild, das ihm gleich
war, erschuf und daB die romischen Waffen in der Disputazion
mehr klirten als trafen. Kurz diese Gelegenheit wekte das
schlummernde Gefiihl seiner Wiirdigkeit; seine Meinung schlug
sich zu seinen Wiinschen, und er grif an sich das Dasein der
erforderlichen Eigenschaften mit Handen. Diese Waffen aber
zu haben glauben, heist sie haben. Darum glich er hierinnen 30
dem romischen Burger Zipus, auf dessen Stirne die aufmerk-
dortiges Schiksal erst Lord Galloway im spanischen Sukzeftionskrieg
erfuhr. So wenigstens entsinne ich mich es im ersten Theile von Home's
Geschichte der Menschheit gelesen zu haben.
e Siehe die berlinische Samlung der besten Reisebeschreibungen
2 Theil Seite 92.
GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 437
same Betrachtung eines Stiergefechts die Waffen der kampfen-
den Thiere pflanzte. f - Uberhaupt find' ich in solchen Dis-
putazionen Ahnlichkeit mit einer Gewohnheit der Perser,
die nicht Gelehrte sonde rn Ochsen disputiren lassen. Alle Jahre
namlich mus der Kampf von zweien dieser Thiere den Vorzug
erweisen, den ihre Religion iiber die turkische hat! Um daher
ihrem Glauben den Sieg zu vergewissern, nennen sie den star-
kern Ochsen Ali und den schwachern Osmanf - Gesegnet sein
mir daher die niizlichen Ubungen der Sprachwerkzeuge in ge-
io lehrten Anstrengungen, und die Disputazionen, die das Ohr
mit lateinischen Luftschwingungen salben, und in denen der
Gelehrte auch durch geschwinde Bewegung seines Perpendikels
(der Zunge) den langsamen Gang seiner Ideenmaschine zu ver-
rathen weis. Aber einiges hab ich an der Doktorschopfung zu
tadeln, dessen Abanderung zu wiinschen ware. Namlich warum
schlept sich doch ein Aktus, dessen Wichtigkeit fur Religion
und Gelehrsamkeit auf seiner Stirne geschrieben steht, mit so
wenigen Zeremonien? Warum wil man nicht durch Anhaufung
derselben dem Spotter Mienen der Bewunderung abgewinnen?
20 Warum erweitert man nicht die Schranken dieser Schopfungs-
tage, um die Langeweile der Zuschauer zu befriedigen? Warum
verschwendet man bios an einige Gliedmassen des embryoni-
schen Doktors so bedeutsame Zierrathen? warum die meisten
an seinen Kopf, sein geringstes Glied? Ich dachte doch, eine
Handlung, in welcher jede Zunge die Talente mit lateinischen
Superlativen des Lobs uberhaufet und wohlgeschriebene Blatter
dem unerkanten Verdienst mit Weihrauch aus dem Lexikon,
schmeicheln, eine solche Handlung verdiente ein Geprang, wel-
ches alle Augen zum Gaffen aufbote. - Auch spant die Muskeln
30 aller beisizenden Theologen eine Bescheidenheit, die zur jezigen
Ausstellung ihrer Wiirde nicht wohl last und die die sichtbaren
Verdienste der dikken Bauche Liigen strafen. Endlich rauchert
man denen Vorziigen des neuen Doktors zu wenig Lob, die
er nicht besizt, und unterhalt die Zuhorer bios mit der Vortref-
lichkeit seiner Eltern, da man sie mit der Vortreflichkeit seiner
Val. Max. L. V. c. 6.
438 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
ganzen Sipschaft unterhalten konte. - Aber genug des Tadelns!
Ungeachtet mein Vetter nur ein Monat vorher sich von seinem
Gegner, seinem vertrauten Freunde, die Einwiirfe und die Wi-
derlegung derselben ausgebeten hatte: so iibertraf doch sein Ge-
dachtnis meine Hofnung. Aber die Verfertigung der Disputa-
zion kostete meinen Vetter sehr viel Geld. Doch hatte sie der
Verfasser auch mit schonen Noten bordirt, ja was noch mehr
ist, die Hauptsache nur auf dem Titel mit wenigem beriihrt. -
Aber ich schreibe ja ewig; und so lange werden Sie mich doch
nicht Iesen wollen. Daher habe ich die Ehre zu sein etc.
III.
Uber den groben Ahnenstolz
Ein Brief
Hochwohlgeborner Herr,
Gnadiger Hen,
Hochstzuverehrender Gonner.
Ew. Hochwohlgeb. Gnaden werden mir eine Kiihnheit zu gute
halten, zu welcher meine eigne Noth und Dero gnadigen Ver-
dienste michnothigen. Unsere nahrlosen Zeiten haben mir iiber
Ihre Wohlthatigkeit die Augen geofnet und mein nCichterncr 20
Unterleib murret mir taglich eine Lobrede auf Ihre Vorziige,
in die Ohren - eine Lobrede, die der besten Zueignungsschrift
Ehre machen wiirde, die des Stempels der Ewigkeit nur von
der Presse bedarf, deren Warheit aber auf ihren Beutel ankomt.
Doch ohne meine Diirftigkeit Ihren Verdiensten zum weitesten
Spielraum ihrer Thatigkeit anbieten zu wollen, ohne von der
Besezung der Pfarstelle zu reden, auf die mein Mangel an Geld,
und mein Uberflus an guten Zeugnissen mir wohl einige An-
sp niche verleihen mochten, und zu deren Verwaltung ich mich
GRONLANDISCHE PROZESSE * I. BANDCHEN 439
durch die vorlaufige Liebe fur Dero unpasliches Kammermadgen
tuchtig fuhle, kurz ohne weiter von dem zu reden, was an den
Endzwek meines Briefs nur anstreift, komm' ich sogleich auf
Ew. Hochwohlgeb. Gnaden selbst, und fang' an, Ihre Beschei-
denheit durch Ihre staubichten Verdienste zu beschamen.
Ew. hochwohlgeb. Gnaden kennen den grossen Werth des
alten Adels und alten Kases, zu welchem der eine durch viele
Ahnen und der andere durch viele Maden erhoben wird. Also:
schon da Sie noch ein hochadeliches Nichts waren, oder, nach
io einem wahrscheinlichern Systeme, noch als der Keim eines Em-
bryons in den vielfachen Lenden Ihrer Ahnen schliefen, (bis Sie
sich aus diesen menschlichen Hull en zum Gegenstande meines
Lobs entwikkclten, gleich der leren Nusschale, mit der zehn
aus einander gewikkelte Papiere die amsige Neugier des Affen
belohnen,) schon da schlug Ihr kleines Herz fur grossen Ruhm.
Denn schon da lebten Sie in der Nachbarschaft der ritterlichen
Waffen, die an den Lende,n Ihrer Ahnen hiengen. Denn schon
ungetauft bekehrten Sie mit militarischer Polemik den Unglau-
bigen zum Christen, und predigten feindlichen Herzen mit spi-
20 zigen Degen die Liebe Gottes in Christo. Sie siegten in Jerusa-
lem, eh' Sie noch Ihr Schlos bewohnten, und todeten Sarazenen,
eh Sie lebten. Ihre Tapferkeit ist also alter als Sie selbst - daher
sie auch vor der Ankunft Ihres jugendlichen Alters verstorben
ist - und Ihre lange Kette yon Verdiensten misset ganze Jahrhun-
derte, und reicht bis zu ihrer Konzepzion und vielleicht bis zu
Ihrer Geburt. Aber Ihre lezte Heldenthat ist auch Ihre groste.
Denn biet' ich auch alle Farben meiner Einbildung auf, so ver-
schonert sie doch das Gemahlde einer Heldenthat nicht, als die
Ihrige ist, da Sie Ihre Siege mit dem schonsten Triumphe kron-
30 ten und, mit fremden Lorbern und eroberten Verdiensten bela-
den, durch keinen andern Leib als den Leib Ihrer gnadigen Mama
in die Welt einzogen. Auf dieser Heldenthat beruht die ganze
Anerkennung Ihres Werths. Denn sezen Sie nur den Fal, Ihr
Herr Vater hatte Sie vor Ihrer Zeugung an irgend eine unstate
Schone bei irgend einem Anfal von warmer Wohlthatigkeit ver-
schenkt; wo ware nun Ihr Ruhm? Vielleicht daB Ew. Hoch-
440 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
wohlgeb. Gnaden dann Ihr hochadelichcs Haupt weniger mit
Puder als Ideen geziert, und Ihrer Ahnen nicht eingedenk, zum
gesunden Menschenverstand heraberniedrigt hatten; vielleicht
daB sie dann durch die Tafeln Mosis zu Tugenden veranlast
worden waren, die Sie nun Ihrer Ahnentafel aufopfern. Aber
gewis, und nicht bios wahrscheinlich ist folgendes. Ihr Ruhm
ware an Ihrem Schiksale gescheitert, Ihre Verdienste waren ohne
die schmeichelhafte Lobrede der Heraldik geblieben und Sie in
den Handen der genanten Schone aller angeerbten Grosse Hires
grossen Vaters verlustig gegangen - so schlug nach Biiffon ein 10
wandernder Komet von der glanzenden Sonne diese finstere Erde
ab. Und dies ist auch so ungewohnlich nicht. Denn glauben
Sie, die adeliche Wollust hat vielen Huten die Federn beschnit-
ten, und in den Bordellen liegen viele Von's begraben. Die
Schmeisfliege verwandelt die Wiege ihrer Brut in das Grab der-
selben, wenn sie ihre Eier einer afrikanischen Blume (Fritillaria)
anzuvertrauen, durch die Ahnlichkeit ihres Geruchs mit dem
faulen Fleische, dem von der Natur bestimten Nahrungsort je-
ner Brut, sich tauschen last. Und gewis todeten hundert adeliche
Vater den Ruhm ihrer Kinder in ihrer Erzeugung, wenn sie 20
die Schaze ihrer Lenden in den Schos einer unadelichen ausler-
ten, welche einer Adelichen vorzuziehen, sie durch die adelich
scheinende Fehler von jener verleitet wurden. - Ihren Ruhm
vergrossert auch die Moglichkeit, daB Ew. Hochwolgeb. Gna-
den durch die Warme von neun Monaten aus einem unadelichen
Samenthiergen zu einem adelichen Embryon gereift waren, und
durch die Nahrung von adelichem Blute aus einer unverdienst-
vollen Substanz in eine verdienstvolle veredelt worden waren.
Die Tinktur des Alchymisten schenkt dem Blei das Wesen des
Goldes und, nach Bleskenius Bericht, sol ein See in Irland, gleich 30
dem Leib einer ehebrecherischen Edelfrau, alles schlechte Holz,
was seinen Boden beriihrt, in Eisen umschaffen. - Und da ein
Stambaum bei Einpfropfung fremder Zweige seine Rechnung
findet, und durch die angeblichen Werkzeuge seiner Zerstoh-
rung, wie der Kokosbaum durch eingeschlagene Nagel, nur ho-
lier zu treiben fahig wird, so mogen freilich viele Damen in
GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 44 1
der Erniedrigung zum Pobel die Vergrosserung ihrer Verdienste
finden, und gleich dem Riesen Antaus, auf der Erde neue Krafte
einsaugen. - Doch zuriik von einer DigreBion, zu der mich eine
adeliche veranlaste.
Wie sehr mus man ferner Ihre Klughek bewundern, mit der
Sie einen Betrug verhinderten, der Sie zum angeblichen Sohne
Ihrer Amme herabgewCirdigt, und Ihre Verdienste dem unver-
dienten Gliikke eines Hurensohnes aufgeopfert hatte. Oder
wenn umgekehrt Ihr Adel selbst die Frucht jenes Betrugs ware,
io wie erstaunenswiirdig sind dan die Krafte, durch welche Sie
sich zu einer solchen Ahnlichkeit mit dem achten Adel, empor-
arbeiteten, daB Sie alien Tugenden des Pobels den Abschied
gaben, und nur seine Laster beibehielten, daB Sie nun, gleich
den Gewachsen, die ihre Friichte in der Erde verbergen und
nichts als einen unnutzen Stengel vorzeigen, Ihre Verdienste
wie andere Edelleute, in Ihre m Erbbegrabnisse verwesen, und
von Ihrer Grosse, nichts als den Auswuchs derselben d. h. Sich
selbst sichtbar werden lassen. -
Ihr ganzes Leben iibrigens ist Ihre Lobrede und braucht also
20 die meinige nicht. Denn schon im zwanzigsten Jahre schienen
Sie einigen Verstand zu haben, und schon im dreiBigsten schie-
nen Sie keinen mehr zu haben. Sie schiizten immer die Antikheit
Ihres Betragens, gegen seine Verbesserung durch die feinere
Welt, und harteten gegen jede Politur Ihre Rauheit ab. Sogar
zum Echo gothischer Hoflichkeit umgeformt wusten Sie immer
noch Ihre erborgte Lebensart durch die Uberreste Ihrer adeli-
chen Sitten zu verschonern. Ew. Hochwohlgeb. Gnaden glei-
chen hierinnen den Tonnen, in welchen das beste Bier durch
ubrigen sauern Schleim versauert wird. - Mit welcher Tapfer-
30 keit Hessen Sie nicht, da Sie zu ** den Frieden mit Ihren Waffen
beschuzten, den geringern Soldaten Ihre Dienste thun, und wie
schon stachen nicht immer Ihre galanten Griibgen gegen kriege-
rische Narben ab? Hat wohl jemand damals mit mehr Achtung
von Ihnen gesprochen als Sie? oder jemand tiefere Wunden ge-
schlagen als Ihre Zunge fremder Ehre? Doch ja, Ihr Degen dem
Muthlosen. Die ganze Welt weis ja, daB Sie mit der Zierde Ihrer
44-2 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
Seite die Anfalle spiziger Zungen abgetrieben oder bestraft, wie
das Rindvieh sich mit seinem Schwanze an den Zungen hungri-
ger Insekten racht; und daB Sie mit erstaunlichem Muthe der
Wehrlosigkeit so lange trozten, bis sie ihre gefahrliche Seite her-
auskehrte. Freilich stieg nie feindlicher Pulverdampf in das zart-
liche Kloak Ihres Kopfes oder in Ihre Nasenlocher; freilich kan-
ten Sie den Werth Ihrer Tapferkeit zu gut, um das Leben ernes
so seltnen und zerbrechlichen Vorzugs von dem ungefahren
Fluge eines Stiikgen Bleies abhangen zu lassen; und Sie wusten
ferner wohl, daB sogar der Schal einer Kanone Krieger in seid- 10
nem Panzer zu heftig verwunde, wie dem Schmide jenes Pan-
zers, dem Seidenwurme, Donnerschlage schaden; auch wissen
andre wohl, daB die Anzeichen eines nahen Feldzuges den Muth
Ihres adelichen Gebluts bis zu einem Fieber hinaufgeschraubt,,
zu dessen Dauer Ihre Menschlichkeit Ihren Feinden Gliik
wiinschte. Aber ich brauche ja kaum die Ursachen einer Grosse
an Ihnen selbst zu suchen, die Ihr Grosvater auf Sie zuriikge-
strahlt. Das war ein Mann; und ein Liebling des vorigen Fiirsten,
wie er keinen hatte! Er allein war der Affe, der auf diesem Baren
ritte, stat daB seine Nebenbuhler - zu Zeiten Krtikken des furst- 20
lichen Stolzes - mit der Ehre zufrieden sein musten, ihrem Besi-
zer wie die Biicher manchem Reichen, nur durch schonen Ein-
band und glanzenden Titel zu niizen und gleich den geschnizten
Engeln, die in manchen Kirchen durch ihre Gegenwart den Altar
ausschmukken, sich nur durch Gestalt zu empfehlen und nur
als Zierrathen des Throns zu gelten. Freilich war auch sein Ge-
sicht der Spiegel der fiirstlichen Meinung, und seine Zunge
schlug Ja oder Nein, sobald die Miene seines Gonners auf eines
davon hinwies, oder seine Miene wies, sobald es schon geschla-
gen hatte; freilich machte er seinen Absichten den Lieblingsfeh- 30
ler desselben zinsbar, und band den Herrn eines Thrones wie
einen Schoshund an das Bette einer Hure an; freilich schminkte
er das algemeine Elend mit einer gekauften Frohlichkeit, und
befriedigte die Menschlichkeit des Fiirsten mit glanzenden Freu-
denfesten. Aber dafiir war ein Thron sein Sessel und sein Korper
in Verdienste gekleidet, die man beim Schlafengehen an den
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 443
Nagel hangt, und in Tugenden, mit denen ihn das geschmei-
chelte Laster belohnte. Dafiir war er Vater des Vaterlands . Denn
dieses kusset seine Gebeine fijr die jezigen Folgen seiner vorigen
Huld. Damals da gait die politische Tanzkunst, nach der sich
Zunge und Rukken bewegten, Hofthiere wurden nach der Aus-
senseite, wie unesbare Raubthiere nach dem Pelze, geschazt und
adeliches Blut adelte ein schwarzes Herz mehr, als die Tugend
den, der keine andre als seine eigene aufweisen konte. - Da
masteten sich mit Gold bedekte Wanste vom Hunger der Menge
io und geraubte Hiitten waren die Quadersteine der Pallaste - da
wurden die Amter zu Preisen ausgesezt, die nicht der Flug des
Musenpferds, sondern das Schleichen seines langohrichten An-
tipoden gewan, der Mangel der Verdienste prahlte mit den
schonen Zeichen derselben, doch nicht bios fugten sich lange
Hande zu langen Ohren und nicht bios gab die Stimme eines
Esels jedem, wie die Stimme eines Pferds dem Darius, die ge-
wunschte Wiirde, sondern die Dumheit muste ihren Werth, wie
Griechen die Horner der fiir den Altar bestimten Ochsen, auch
vergolden, muste die Geneigtheit mach tiger Hande auch um
20 das Lekken machtiger Fiisse kaufen. - Da Iahmte iibrigens Gold
die freimuthige Zunge mit bleierner Schwere und der Patriot
verlernte, wie die Vogel, die nur in der freien Luft singen, im
goldenen Kafige seine Vorziige und der Lorberkranz war der
Blumenkranz, der dem Opfer des Neides zum schonen Zeichen
seines Unterganges diente. - Da fliichtete man vor dem Donner
des Gesezes hinter eine wohlthatige BetgenoBin, wie man mit
ausgehangten Federbetten Kanonen trozt, oder Gold versohnte
den Grossen mit der Ungerechtigkeit des Unterbedienten und
der Paktolus that die Dienste des Lethe - Da forderte der billige
30 Obere fiir die Beschiizung der Giiter der Unterthanen nichts
als die Giiter der Unterthanen und sogar der Rauber wurde zum
Raube der Gerechtigkeit. - Da endlich warfen die mizlichen
Leute, die weniger von eigner als fremder Dumheit leben und,
wie Geier und Raben, die Augen ihrer Klienten zum Vorschmak
der iibrigen Mahlzeit aushakken, romischen Aktenstaub denen
ins Gesicht, deren Taschen sie mit den diirren Handen der Ge-
444 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
seze ausleren wolten, 2 und verbreiteten durch Verschwendung
ihrer Dinte, wie der Dintenfisch durch Auslassung einer
schwarzen Feuchtigkeit, eine Dunkelheit um sich, in welcher
sie ihren Raub beriikten oder ihren Raubern entgiengen. —
Aber vergeben Sie mir eine Ausschweifung, mit der Ihren Ruhm
zu vermehren ich irrig glaubte. Derm wer errieth' ihn nicht
schon aus Ihrem Federbusche, den ausser wenigen Thieren und
Menschen, niemand weiter tragen darf? Fur diesen auch glaub'
ich Ihr hochadeliches Haupt geschaffen, da es so wenig zum
Denken, als Ihr Degen zum Verwunden gemacht sein kan, un- 10
geachtet nur Ihr Blut und nicht Ihr Gehirn adelich ist. Welche
Grdsse, die Sie nicht einmal kanten, die Ihren Stolz iibertrift.
Die Reliquien von beriihmten Blut tragen diirfen! o damit ver-
tragt sich kaum die Demuth des Priesters, und gewis der Esel,
der Reliquien eines Heiligen tragt, wiirde durch seinen Stolz
ihre Bescheidenheit verscheuchen, ware er nur mit einer vor-
nehmern Dumheit als seiner eignen ausgestattet. Darum wiirdi-
gen Sie ja den neu^n Adel kaum Ihres Speichels. Denn welcher
Unterschied zwischen dem Ihrigen und diesem! Ein neuer Edel-
mann erwirbt sich erst die Vorziige, die Ihnen, wie manchem 20
die Zahne, schon angeboren; er prangt mit eigenen Friichten,
da Sie hingegen auf die trozen konnen, die an Ihrem Stambaum
hangen; er beglanzt mit seinem Ruhme nur .seine Vorfahren,
wie die untergehende Sonne den Ort ihres Aufgangs mit dem
zweiten Rothe verschonert, da Sie hingegen den Ruhm Ihrer
Vorfahren, wie die Mistpfuze das Bild der Sonne, wiederstrah-
len. Kurz die ausnehmende Tapferkeit Ihrer Ahnen berechtigt
Sie, jeden zu verachten, der nur an Tapferkeit Ihren Ahnen und
nicht an Ahnen Ihnen gleicht. - Ich schliesse mit dem Wunsche,
daB Ew. Hochwohlg^b. Gnaden Ihren westphalischen Schinken 30
nochlange sowohl zum Besten Ihrer Unterthanen als auch Ihrer
Familie schmausen, mit christlichem Trunke noch lange das
a Ein Rechtsgelehrter verdient sich sein Brod mit seinen und den ge-
sezlichen Handen. Hiebei fait mir der Beutelschneider ein, der wahrend
seine wachserne Hande beteten, mit seinen naturlichen unter dem Mantel
Beutel einerntete.
GRONLANDISCHE PROZESSE * I. BANDCHEN 445
Beispiel Ihrer Nebenchristen sein, und mit Ihrer Tapferkeit, die
in Ihrer Riistkammer aufgehangt rostet, noch lange den Ruhm
Ihrer Nachkommen fester griinden mogen, bis Ihnen endlich
ein ruhiges Alter die unruhige Jugend vergiitet. Ich wiirde Ew.
Hochwohlgeb. noch mehr wiinschen, wenn ich durch Ihre
Gnade zur Verwaltung des Orts beruffen ware, von welchem
Sie am neuen Jahrstage eine bessere Weide fur Ihre Ohren, zu
erwarten berechtigt sind. Bis ich aber da stehe, verharre ich
einstweilen etc.
mi.
User Weiber und Stuzer
Ein Brief
Liebster Freund!
Es giebt zweierlei Freunde. Das Herz der einen gleicht den wil-
den verwachsenen Hohlen, in die man vor zufalligem Regen
fluchtet, und das Herz der andern einem lachenden Sommer-
haus, welches schone Tage zum Tempel der Freude einweihen.
Sie verhalten sich zu einander, wie Regen- und Sonnenschirm,
wie Winter- und Sommerkleid. Zu welcher Klasse ich Sie zahle,
20 werden Sie bald erfahren, wenn Sie aus dem folgenden erfahren,
welchen ich iezt brauche. - Ich habe mich in den Stand der
heiligen Ehe begeben, das heist unlakonisch also: ich habe den
Sodomsapfel, stat bios meine Hofnung an seiner schonen Ober-
flache zu weiden, aus thierischem Hunger angebissen und zur
Belohnung Staubin demselben, das Werk eines fruhen Wespen-
stiches, angetroffen; das heist, ich habe die hungrige Voreiligkeit
meines Magens die angenehme Tauschung meines Auges ver-
nichten lassen, und wie ein Kind mit dem glanzenden Kleister
einer Puppe, die mir bios zum Spiele gegeben war, meinen neu-
30 gierigen Gaumen beleidigt, das heist, ich habe mir die Flugel
446 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
des Amors mit dem Bande des Hymen fest zusammenbinden
lassen, und bin nun schlafrig nach der Mahlzeit; das heist, ich
bin aus einem Dichter em- Mensch geworden, oder figiirlich,
eine widernaturliche Verwandlung verdamt den Schmetterling,
den fluchtigen Gast der Blumen, zum Schiksal der tragen Raupe,
die lebenslang an Einem Kraute nagt, oder die Schmerzen des
Auges bezahlen das Vergniigen, das die Nase in dem kiinstlichen
Rauche fand; das heist endlich, das hizige Fieber (so nenne ich
den Enthusiasmus) ist von dem Wasser ausgeloscht, nach wel-
chem es so lechzte! Und wenn es nur dies hiesse; aber bei mir 10
heist es mehr! Mein neuer Stand lehrte mich Dinge kennen,
deren Ungereimtheit selbst im Traume sich verriethe, und deren
Moglichkeit man bios einer bittern Erfahrung einraumet, und
die angenehme Bezauberung meiner Unwissenheit 36ste ein
Unterricht auf, dessen Mittheilung meinen Brief fiillen sol. -
Sie kennen meinen alten Vetter, der die iezige Welt, ungeach-
tet sie nun meistens fur ihn abgestorben, doch durch seine Brille
in keinem falschen Lichte sieht, und die menschlichen Thorhei-
ten zu sehr verachtet, um die alten den neuen vorzuziehen.
»Nichts ist einfaltiger, sagt er immer, als mit der alten Welt 20
eitel sein, um es nicht mit der neuen zu sein, wie nichts unertrag-
licher,*als mit der Demuth prahlen. Die Leute, die durch unmo-
dische Narheiten tiber modische siegen, gleichen denen, die
durch alte Schaden gegen den Anfal epidemischer Krankheiten si-
cher gestelt sind.« Diesen alten Vetter fragt* ich, wie vornehm
und wie alt meine zweites Selbst sein musse. »Wie alt? nicht
sehr alt! Denn nur ein unreifes Weib ist zur Ehe, wie unreife
Gurken zum Essen, reif. Zwar lassen beide sich durch Essig
und Salz fur den Gaumen zubereiten; aber nicht ieder liebt das
Eingemachte, nicht ieder giebt sich die Muhe der Zubereitung, 30
und mancher verlangt seinen Sallat fruher als im Winter. - Die
Parzen spinnen neben unserm Lebensfaden auch das Band der
Freundschaft, das uns almahlig so gar mit den Gegenstanden
unsres Hasses verbindet, und wir wiirden mit dem Teufel selbst
Briiderschaft trinken, wenn er sich auf dieser Erde ofters und
nicht bios im Finstern sehen Hesse. Was Wunder, wenn daher
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 447
ein Madgen sich in den Proteus der Mode verliebt, gesezt er
erschiene auch in der Gestalt eines Affen wie sonst, oder eines
Schweines wie iezt? Was Wunder, wenn es mit seinem Puze,
anfangs der Nahrung einer kleinen Eitelkeit und darauf einer
unschuldigen Liebe, seinem Stolze und seiner Bulerei frohnet;
wenn es durch den taglichen Genus der Schmeichelei zum Ekel
gegen kaltere Achtung verwohnet, die wohlfeile Befriedigung
einer stolzen Schwachheit in dem angenehmern Siege derer fin-
det, deren Kompagnie Amor taglich mit neuen Rekruten ver-
ro mehrt? Auf tugendhaften Widerstand rechne ich wenig, weil
ihn die Zeit besiegt. Die Geburten stuzerischer Zungen machen
cndlich das beste Herz, wie der Koth gewisser Vogel kahle Fel-
sen, fur Unkraut urbar, und irgend ein Flek im Stundenglas
der Zeit riimt doch endlich die Farbe des aufrollenden Sandes
an. Wahlen Sie daher, wie ich schon gerathen; denn obgleich
freilich iunge Herzen, vermdge ihrer Weichheit, gleich dem
weichen Bernstein, am leichtesten modische Insekten aufneh-
men, so hindert doch noch keine Verhartung, den winzigen
Gast los zu werden. - Da iibrigens das erste Jahr der Ehe, wie
20 mich diinkt, das lezte Jahr der Erziehung eines Weibes ist; da
ferner die Schone, deren Mund wegen ihrer Jugend den Ziigel
des vierten Gebots noch kent, einen angenehmern, seidnen Zii-
gel weniger unleidlich finden wird, so erhelt die Richtigkeit
meines Raths auch ohne den Zusaz, daB eine iunge Schone end-
lich dem Mann manche Schamrothe iiber Thorheiten erspare,
zu weichen das Ehebette - der Altar der Thorheit - und die
Schlafmiize, die Schellenkappe des Weisen, veranlassen. DaB
ich Ihnen das entgegengesezte Extrem nicht anpreisen werde,
werden Sie schon aus dem Misklange vermuthen, den weibli-
30 ches Alter und manliche Jugend mit einander formiren. Das
heiss' ich, wie die Kaufleute und Fuhrmanner, die alte schmuzige
Schlafmiize mit einem neuen schonen Hute bedekken, oder wie
buhlerische Matronen, den durch die Kunst veriiingten Kopf
auf einem alten, welken und krummen Rumpf herumtragen
- Wie vornehm? fragen Sie; gar nicht vornehm, antwort' ich,
vorausgesezt, daB Sie ausser den genanten Ubeln das vermeiden
448 JUGIilMDWERKE ' 2. AJBTEILUNG
wollen, der Sclave einer vormaligen Mannesrippe zu werden.
Denn nur in den geringeren Standen sind die Manner Manner,
aber in den hohern sind es die Weiber, und in Ruksicht der
Raubvogelist es ohnedies ausgemacht, daB die Weibgen grosser
als die Mangen sind. Auch bellet ein Schoshund ieden an, den
ein Jagdhund in Frieden last; nicht zu gedenken, daB der eine
seinen Miissiggang mit Konfekt bezahlet haben wil, und der
andere die blossen Knochen seiner fetten Beute nicht verschma-
het« - Sie werden selbst einsehen, daB mein kluger Vetter weni-
ger weltklug als altklug gerathen, und daB zufolge seines ersten 10
Raths, ein weibliches Kind mein zweites Selbst geworden ware.
Sein zweiter veranlaste die Thorheit, daB ich in Madgen gerin-
gern Standes die Erziehung ubersah, mit welcher stolze Mutter
sie zu der kiinftigen Verbindung mit einem reichen Opfer ihrer
Eitelkeit, ausriisten und zu einem Hunger nach Thorheiten rei-
zen, den der Aufwand des Reichen kaum sattigt. Denn kurz,
auf eine solche Tochter wirkte mein Geld und mein Rock so
sehr, daB sie mir ewige Liebe schwur, nachdem ich sie nicht
oft auf den Knien darum gebeten hatte, daB sie sie mit vielen
Kiissen versiegelte, nachdem ich sie vorher mit Bezahlung vieler 20
Galanteriewaren versiegelt hatte, und daB sie sie sogar in einigen
lyrischen Gedichten besang, die sie in einer edlen Ergiessung
des Herzens, aus sehr wenigen Blumenlesen zusammenstop-
pelte. Aber naher zur Schilderung meines zweiten Selbsts,
welches ich unter dem Namen seines Geschlechts schildern
werde.
Das Kind meines Pinsels mag mit dem Kopfe zuerst auf die
Welt kommen. Man fangt vom unbedeutendsten gerne an, und
wenn dem von Apelles gemahlten Kopfe der Venus noch kein
Mahler einen eben so schonen Rumpf geben konte, so beweist 30
dies nur, daB die Verschonerung des geringsten Gliedes der Got-
tin die Kunst ausser Stand gesezt, ihren wichtigern Gliedern
eine verhaltnismasige Vortreflichkeit zu geben. Eine schone
Frau hat nicht nothig, klug zu sein: denn ihre Schonheit sezt
sie in den Besiz aller der Volkommenheiten, die kaum ihr feu-
rigster Anbeter an ihr findet; sie ist also ausserst verstandig.
GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 449
Wer woke auch eine dumme Rede im Munde eines schonen
Frauenzimmers fiir eine dumme Rede halten, wer an einem
weiblichen Geschopfe die Schonheit riihmen, ohne iiber den
Verstand desselben in Entzukkung zu gerathen, ia ohne diesen,
der nicht wirklich ist, hoher zu schazen, als iene, deren Wirk-
lichkeit eben zur Luge verleitete? Trachtet, ihr Schonen, am
ersten nach der Schonheit, das ubrige wird euch alles zuf alien.
Zwar sind die Weiber geschaffen, zu gefallen, aber nicht zu den-
ken; zwar kan man, wenn Pope vom Menschen (eigentlich vom
io Manne) sagt: er trit auf, urn sich einmal umzusehen und zu sterben,
von der Frau sagen: sie trit auf, urn sich einmal sehen zu lassen
und zu sterben - allein eben deswegen.
Ungeachtet dieses Uberflusses an Verstand nun, wird iedes
schone Gesicht iezt der zweite Schopfer seines Gehirns. Die
deutschen Schonen wollen namlich ihren Nachbarinnen nicht
bios den Kopfpuz zu danken haben, sondern unter wizigen
Koeffuren auch ein wiziges Gehirn tragen. Kurz, die Verbesse-
rung der Oberflache des Kopfes ist nun zur Verbesserung seines
Innern ausgeschlagen. Kartenblatter waren die Vorboten der
20 ernsthaften Buchdrukkerei. Der buntschakigte Laufer kiindigt
den gravitatischen Hern an. Der Kantor praludirt zu einem
Buschoral ein hupfendes Scherzo. Sie wiirden schlecht rathen,
wenn Sie diese Verbesserung der Venuskopfe auf die Rechnung
niizlicher und nothiger Kentnisse schrieben. Weit gefehlt! Ro-
mane sind die Schminktopfe weiblicher Selen, Romane niizen
dem Kopfe und dem Herzen wie die Sonnenschirme, mit denen
die Schone ihr Auge gegen das Licht, und ihre Fusse gegen das
Anstossen auf einem ebenen Wege, verwahrt; und ich schlos sehr
richtig von der Unbekantschaft meiner Frau mit der Okonomie,
jo auf ihre Belesenheit in belletristischen Schriften. Vielmehr hat
leichter Wiz den schwerfalligen Verstand aus ihren Kopfen ver-
scheucht, wie der lebhafte Fuchs mit seinem Harne den schlafrigen
Dachs aus seinem Baue veriagt. Ja modische Schleifsteine haben
so gar ihren Wiz bis aufs Heft abgeschliffen, der aber freilich
gegen seine Schneide vortreflichen Glanz eingetauscht. DaB ich
bios der Frau Wiz einraume, die ihn aus ihrer schongebundnen
45° JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Bibliothek zusammengeschart, die ieden diirren Gedanken, wie
die Kinder ihre holzernen Puppen, in verschiedene gestohlne
seidne Flekgen kleidet und von deren Zunge die Quintessenz
der vormittagigen Lektiire, wie von mancher Nase das Geistige
des verdauten Tabaks, abtropfelt, versteht sich von selbst. Und
daraus last sich auch verstehen, daB ihre Sele wie ihre Toilette
durch unordentliche Mannigfaltigkeit und reichen Vorrath an
nothigen Reizen, verschonert wird, daB der Kopf so weit wie
ihr Herz ist, und beide durch kurze Beherbergung der Bucher
und Anbeter, und durch freundliche Aufnahme neuer Gaste, i C
ihrem steinernen Ebenbilde gleichen. Aber noch mehr! Nun
haben weibliche Kolonien den Musenberg eingenommen, und
durch den Sturz der beneidenswerthen neun Koniginnen fur
die Oligarchic eine Demokratie eingefuhrt. Nun loset die Feder
die Nadel ab, die Leier des Orpheus entzieht die weiche Hand
dem altvaterischen Spinrade, und unsere Weiber kochen bios
fur das Publikum. Nun schwangern Stuzer sie stat der leiblichen,
mit geistlichen Kindern, nun wachst der Lorber unter ewigem
Puder, wie griine Baume unter dem ewigen Schnee der Alpen
hervor, und verschonert die Architektur des Kams, und nun 2c
endlich vereinigt sich die Taube der Venus und die Eule der
Minerva 3 auf demselben Schosse und freuen sich in Geselschaft
der Schoskaze, des unerwarteten Triumvirats. Denn nun be-
nachrichtigt iede Schone das . Publikum vermittelst einiger
Reime vom Dasein ihrer Vapeurs, und die gefangene Luft, die
ohne den Faden einer Ariadne das Labyrinth der Gedarme
durchirret, fahrt im Tone eines weinerlichen Adagio aus der
dichterischen Pfeife in das Ohr des Publikums hinein. So blast
der Blasebalg seinen Oberflus an Wind durch die Orgelpfeifen,
in Gestalt der Andacht, dem Zuhorer ins Herz. Wenn sonst 3c
ein Madgen zur verlohrnen Gesundheit wieder aufbluhte, und
lebendig den Handen des Fiebers und Arztes entkam, so zog
a Sonst war die Krahe der Lieblingsvogel der Minerva. Vielleicht
hat sie ihren vorigen Rang der Eule wieder abgelaufen, und zum Besten
der Damen iiber den Zorn der Minerva mit einer Zunge gesiegt, deren
Beweglichkeit sie den Verlust der genanten Ehre kostete.
GRONLANDISCHE PROZESSE • I . BANDCHEN 45 I
die Endschaft dieses Ubels kein neues nach sich. Nun hingegen
besingt iedes sein Fieber, und hinterlast der Nachwelt in einem
Almanach entweder die dargestelte Empfindung des fieberi-
schen Frostes, oder die gereimte Raserei der fiebrischen Hize.
-' Denn nun wandelt die Dichtkunst an der Spize der Liebe;
die Manbarkeit langt bei den Madgen in Gestalt des Genies an,
und schlagt um ihre Schlafe in Lorbern aus, so wie sie bei den
Junglingen ihre iiberflussigen Krafte an die Erzeugung der Bart-
hare verwendet. Was Wunder auch? da der haufige Genus von
io den Herzen der Stuzer, die Kehle der Poesie nothwendig begei-
stern mus. So futtert man die Stubennachtigal mit Rinderherzen
- Die Franzosen hassen eine Tragodie ohne Liebe; wir iezigen
Deutschen eine Liebe ohne Tragodie. Wenn daher der funfte
Akt die Liebe eines Madchen mit einem tragischen Ende kronet,
so giest es seine Thranen in irgend ein Kloak des deutschen
Parnasses aus. Meine Frau meint daher, wenn ich mich noch
bei Lebzeiten ihrer Muse zu einem seligen Ende verstiinde, so
wiirde sie mit vielem Vergniigen ein Stuk Zypresse um meine
Urne winden, und so gar dieses Zweiglein einem der Biindel
20 zusammengelesener poetischer Zweige einverleiben lassen. Al-
lein ob ich gleich ihr Vergniigen nicht zur Poesie erhebe, so
zersprengt doch iedes kleine Misgeschik ihr Herz, und ist die
Hebammeder poetischen MdWidesselben. Naturlich hilft sie dem
unformlichen und ungelektenKlumpen von Gefuhl dadurch auf
die poetischen Beine, daB sie ihn eine zeitlang im Gangelband
der Prose leitet. Und noch naturlicher, daB sie deswegen die
iunge Geburt in einem Nahbeutel herumtragt, gleich gewissen
Spinnen, die ihre Eier in einem seidnen Sakgen mit sich herum-
fiihren, oder dem Beutelthier, dem die Natur eine eigne Tasche
30 fiir seine Jungen gebildet. - Vielleicht glauben Sie, iedes Reiten,
und also auch das Reiten auf dem Pegasus, stehe einem Weibe
nicht, und dieser konne hochstens mit einem Vorreiter vor dem
Wagen der Venus hertraben. Die Weiber konnen nur besungen
werden, nicht singen. Aber Sie irren sich. Der Got der Verse
ist bei uns generis foeminini, und die Sonne nebst ihrem Kam-
mermadgen, der Venus, beherschen die weibliche Welt. O des
452 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
elenden Rezensenten, der die weibliche Hand nicht kiiste, die
von einem Duodezbandgen entbunden worden, der die Flakons
des Lobs fur die Nase nicht ofnete, die sich von Wohlgeriichen
grosgemastet, und der geschminkte Wangen mit seiner Dinte
beschmuzte! Fiihren doch so gar in Zeilon weibliche Lastthiere
ihre Ware ohne Verzollung ein! - Sie werden aus diesem alien
sehen, daB meine Frau durch das, was sie weis, gehindert wird
zu wissen was sie wissen soke. Wie last sich aber einer solchen
Blindheit, der Frucht einer solchen Aufklarung, abhelfen? fragt*
ich meinen Vetter. »Durch Zanken, durch Zanken! Nur das 10
Ohr mit taglicher Satire ermudet! Streuen doch auch die islandi-
schen Schafer denen Schafen Salz in die Ohren, die durch haufi-
ges Sonnenlicht blind geworden!« Schoner als wahr!
Aber weiter! Naher betrachtet, lebt iede modische Frau nur
fur ihr Vergniigen und die Vereinigung mit ihrem Manne ver-
bindet sie zu keiner andern Pflicht als der, die Freuden mit ihm
zu theilen, die man nur durch Mitheilung geniest. Sie ist zu
zart, zu arbeiten: denn sie hat kaum Krafte genug, den Miissig-
gang zu ertragen. Sol ihr kleiner Fus durch etwas anders als
den Tanz ermudet werden, und sich nicht bios in schonen Linien 20
bewegen? Sol ihre weisse Hand, deren Reinigkeit so viele Hand-
schuhe bewachten, ausser den Karten schmuzige Topfe beruh-
ren, und ihre schone Farbe der Pflicht aufopfern? Und wozu?
Urn die Giiter des Mannes zu vermehren? sie braucht sie ia nicht
einmal zu erhalten, sondern nur zu geniessen. Und wenn hatte
sie Zeit, nuzliche Dinge zu thun? Sie hat ia kaum Zeit genug
unniizliche zu thun; der dem Schlafe halbentzogne Vormittag
reicht mit Miine hin, die Sorge fur den Puz zu endigen, und
oft hat sie den Tag nothig, um sich fur die Nacht anzukleiden.
Die Pflichten des Ehebettes weichen billig den Pflichten des 30
Nachttisches. wo sie sich in theure Thorheiten kleiden mus;
wo ovidische Verwandlungen vorgehen; wo sie die bleichen
Folgen der nachtlichen Wolluste mit neuen Verfiihrungen iiber-
tiinchet, und sich mit dem Schweise des Mannes schminkt, um
wenigstens am Tage schonzu sein, wie die Blume, deren Reize
sich mit der Sonne verbergen; wo sie liber die ausgelegten Lok-
GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 453
speisen diinne Neze zur Bestrikkung der Augen ausbreitet, wo
sie nur die Reize in den Puz verhiilt, die ihre naturlichen sind,
und die hingegen sehen last, die die Ehrbarkeit nicht gerne sieht;
und wo sie sich mit Wohlgeriichen salbt, weil sie durch ihre
Schonheit weniger als durch die Ausdiinstung derselben zu ver-
fuhren glaubt, wie die Pokken mehr durch Ausdiinstung als
durch Inokulazion, d. h. durch sich selbst anstekken. Meine
Frau (erlauben Sie diese scheinbare Unterbrechung meiner
Schilderung) unterrichtete mich durch ihr eigen Beispiel von
io alien ienen Erfindungen. Ich Thor wolte namlich nach den lezten
Paroxysmen der Liebe mit ihr iiber die gewohnlichen Ausgaben
einig werden, weil ich glaube, dafi fur die Hande des Zufals
kein Beutel zu vol ist, und dafl selbst eine bestimte tagliche Ver-
schwendung das Verm 6 gen, wie ofne Geschwure den Unterleib,
vor dem Durchfalle bewahren. Allein wie wuste mein zweites
Selbst meine Klugheit zu vernichten! Denn kurz, sie wolte sich
der Welt durch unvermutheten Glanz ankiindigen, und lies ihre
ersten Verschwendungen ihre grosten sein, wie man in alten
Zeiten dieBiichermitgrossen, und goldnen Anfangsbuchstaben
20 zierte; sie verwandelte mein Haus in den Sammelplaz aller mo-
dischen Helfershelfer, wo der Schneider hinter dem Galanterie-
handler wandelt, und beider Mienen mit dem Bewustsein ihrer
Unentbehrlichkeit triumphiren, wo der Harkrausler einen mit
seiner Gegenwart belagert und oft mit Ahndung des mittagli-
chen Hungers auf die Endigung der morgendlichen Traume der
Madame harret; wo die kleinen Bediirfnisse des Puzes die ge-
schwinden Fiisse aller Bedienten beschaftigen, und der larmende
Miissiggang den stillen Fleis verscheucht —
Aber, um wieder aufs vorige zu kommen, Sie miissen nicht
30 denken, daft bios die Jugend an ihrer scheinbaren Verschonerung
arbeite. O die Thorheit iiberlebt die Schonheit, und nach dem
Tode der Natur, wandelt in der Gestalt derselben das Gespenst
der Kunst umher. Ich kenne eine altliche Matrone, deren Erin-
nerung und Begierden weit jiinger als ihr Korper sind, obgleich
jhren Reizen die Hand der Zeit den Scheidebrief troz allem Ge-
schnorkel der Kunst noch allemal lesbar genug geschrieben, und
454 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG
ob sie gleich in einer agyptischen Geselschaft als eine lehrreiche
Mumie gelten konte. Diese borgt von der Mode die Jugend,
in welche sie ihr Alter kleidet, so wie LeBing dem Tode stat
des diirren Skelets, welches ihm alle Mahler geben, die Gestalt
eines jungen schonen Genius gab. Buntfarbige Seide umrauschet
ihr Gerippe, wie der wizige Sargmacher das Haus des Todes
mit bunter Mahlerei verschonert. Auf ihren welken Lippen
schwebt eine ewige Leichenpredigt auf ihre verstorbenen Reize,
und ihre verwelkte Schonheit, die immer mit haslicher Mine
hinter der geborgten Verschonerung hervorwinkt, spielet allc 10
Rollen der bliihenden; so sol, nach Montaigne, das eingesalzne
Wildpret seine Zustande nach den Zustanden des lebendigen ab-
wechseln lassen. b Ihre Wangen bliihen roth und weis zum zwei-
ten mal. Der dumme Bauer nur weissagt aus dem Herbste, in
welchem die Baume wie im Friihlinge bliihen, ein iibles Jahr. -
Der Man nun, der alle diejenigen bezahlet, die ihn mit ihren
Zetteln erinnern, daft er eine Frau hat, der wie der Agypter
seinem vergotterten Affen oder Krokodil alle die Freuden op-
fert, die er entbehret, und Papyrus im Munde und Magen, seinen
Gozen mit Lekerbissen mastet, der gegen die verschwendete 20
Frucht seines Schweisses kiinftige Armuth eintauschet, und mit
dem wahrscheinlichen Elende seiner Kinder, ihrer Mutter mo-
dische Spizen kaufet, ein solcher Man bleibt von seiner Frau
nicht ganz unbelohnet. Denn sie last ihn die Schwere ihres Fa-
chers weniger fuhlen, dessen Rechte er nun, zu lange der seini-
gen entwohnet, und der Mode entgegenzuschwimmen, mit zu
schwachen Flosfedern versehen, anerkennen mus. Das schwa-
chere Geschlecht namlich hat sich unseres Kopfes, unserer
Hande und Fiisse bemachtigt, zu stark fur die leichte Behaup-
tung unseres Herzens, das vielleicht durch die neuen Eroberun- 30
gen verlohren gegangen, urn ohne Zweifel die Gebrauche eines
Landes nachzuahmen, wo die Frau nie den Namen eines Beher-
schers, sondern nur seine Gewalt, nie eine Krone, sondern nur
Unterthanen besessen. Man mus sich die Ehe nicht, wie ich mir
b Montaigne L. I. chap. 3-
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 455
sonst, als ein Stiikgen vorstellen, im welchem Diskant und Bas
zusammenspielen, in welchem die rechte Hand (die Frau) den
einen und die linke (der Man) den andern spielt; man mus nicht
denken, daB das Herz sich unter den Kopf noch schmiege, und
daB die Klugheit des leztern und die blinden aber guten Eigen-
schaften des erstern in die Harmonie sich noch bringen lassen,
in welche der geschikte Violinist die Hare des Pferdes und die
Gedarme des Schafes bringt. Der Man ist der Kopf der Frau nicht
mehr; sie hat ihren eignen aufgesezt. Und das war, das ist auch
io so leicht! Die meisten Simsons verliehren im Schosse einer Delia
ihre Hare und Amor bindet die Augen zu, urn dem Hymen
das Binden der Hande zu erleichtern. - Oder man hat Thorhei-
ten, und an diesen kan man jeden wie gewisse Thiere an ihren
Ohren festhalten! Wenn nur einmal die Schellen der Frau die
Schellen des Mannes akkompagniren! - Die Leidenschaften,
sagt Plato, sind die Pferde am menschlichen Wagen; o und wie
leicht schwingt sich ein Weib auf den Kutschbok um spazieren
zu fahren! - Eine andre Frau gehorcht vielleicht einmahl, um
zehnmal befehlen zu konnen, uberwaltigt durch angenommene
20 Schwachen und siegt durch eine scheinbare Flucht. Eine dritte
loset den harten Mann in Thranen auf, wie den Zukker im Thee,
und die Schonheit vertheidigt sich durch dasselbe Element, aus
welchem sie gebohren wurde. Viele Wassertropfen siegen end-
lich uber den Widerstand des Steines. Freilich folgt der Regen
erst auf den Donner, und wenn die Fliege ihren Riissel erst ver-
geblich an der zahen Feuchtigkeit versucht hat, so verdunnet
sie dieselbe durch ihren Speichel. Und man hat Beispiele, daB
das Eis eine Briikke, die seinen Anfallen widerstand, dann nie-
derris, wenn es in seine vorige FluBigkeit aufgelost, in machti-
30 gen Flu ten dahersturmte. - Auch vermag ein Heer von Kehlen
der Schwestern, Schwiegermutter und Freundinnen sehr viel,
und der manliche Arm erliegt der Menge weiblicher Zungen,
wie manchmal ein Schwarm stechender Bienen den Baren vom
Honig abtreibt. Eine starke Stimme zerschreit ein Basglas. -
Nichts zahmet den Man leichter als die oftere Wiederholung
der Anmerkung, daB er sein Gliik, seine Ehre, sein Amt den
456 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG
Verdiensten schuldig ist, die seine - Ehehalfte besizt. Und dan
gleicht (iberhaupt die ganze Ehe dem umgekehrten Traumbilde
des Nebukadnezars d.h. das Haupt ist von Thon, und die Ftisse
von Gold, oder dem Teufel, dessen Kopf vom Ochsen und dessen
Fusse vom Pferde borgen. Und wenn endlich der Man zum
Wachs herabgesunken, das jeder warmen Betastung nachgiebt,
wenn er der Zeit die Selbstbeherschung abgetreten - und (iber-
haupt der Festigkeit ermangelt, durch die irgend eine Beschaf-
fenheit der Sele dauernde Farbe erhalt, so wie das Eisen im Blute
die Farben der Volker verursachet, so ists um die Rechte seines 10
Geschlechts gethan und er das Spiel eines weiblichen Reizes und
der Sklave einer geschminkten Wange! - Die meisten Schonen
regieren also von der Dumheit Gnaden und ihr lispelnder Befehl
verstarkt sich nur in Midas Ohren so. - Doch hat sich meinc
Muskeln- und Fie chsenmas chine noch nicht an die Beweglich-
keit gewohnet, die fur die Veranderlichkeit der Befehle schoner
Minen so nothwendig ist, und gleicht noch nicht einer Wind-
mtihle, die jeder Wind einer weiblichen Lunge nach seiner Laune
dreht. -
Obgleich ferner eine modische Frau nur in so fern Mutter 20
ihrer Kinder ist, als sie Vergniigen hat, es zu sein; obgleich der
Miissiggang ihr keine Zeit fur die Verbesserung des Kopfes und
Herzens derselben iibrig last: so stiehlt die miitterliche Pflicht,
der Faulheit doch noch einige Minuten, worinnen sie das Mad-
gen in die Geheimnisse der Lebensart einweihet, es die Geogra-
phic der Reize lehrt und mit dem Facher exerziren last, worinnen
sie den Riikken und das Knie des Jungen an das Komplimenten-
joch und ihn an die Tugend gewohnet, unter sein Geschlecht
zu fallen. Kaum brauch' ich noch zu erinnern, daB sie vor der
Langenweile zu den Geselschaften fliichtet, in welche sie nicht 30
seltenihren Arbeitsbeutel bringt, um entweder durch denselben
an die Versaumung ihrer Pflicht erinnert zu werden, oder an
kleinen Arbeiten die Lange der verschwendeten Zeit zu berech-
nen - Geselschaften, wo sie gleich der Bienenkonigin, als K6-
nigin und Geliebte gilt und wo die Schonen immer wie Kinder
vorauslaufen diirfen; wo der Kopf des Mannes das Echo schoner
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 457
Lippen ist, und die Langeweile sich von der luftigen Hoflichkeit
nahret; wo halbe Komplimente den buntfarbigen Kreis durch-
wandern, eh' man mit dem wichtigen Geschafte, sich an eine
Tafel zu sezen, zu Ende kornt, wie der glanzende Kafer urn
das runde Gericht, das ihm der Magen eines grossen Thieres,
ein besserer Koch als ein franzosischer, aufgetischt, herumsum-
set, eh' er sich in seine Speise vergrabt; wo Lust den Ekel, wie
Warme die Maden ausbriitet, und die meisten Vergniigungen
mehr glanzend als schmakhaft sind, mehr begehrt als genossen
10 werden; wo die Verlaumdung, wenn die Geschichte eines muBi-
gen Lebens keine Unterhaltung fur die miiBige Stunde mehr
darbietet, bose Geriichte erntet und saet, und mit ihrer Zunge,
wie die Schnake mit der ihrigen, zugleich saugt und sticht; wo
unzwekmasige Satire iiber denjenigen Gegenstand des verbisse-
nen Lachens siegt, der seine Starke nicht auf der Zunge, wie
das Krokodil im Schwanze hat, wo man die Schamlosigkeit,
die ihre Ohren an galanten Zoten weidet, hinter den Facher
verbirgt, wo man den Stolz eines schonen Gesichts durch Lob
zu diktatorischen Ausspriichen besticht, wie die Scythen ihre
20 Stutten aufbliesen, um mehr Milch zu bekommen, und aus einer
weissen Haut den Wiz, wie aus einem schwarzen Kazenfell die
Funken, durch Streicheln herauslokket.
Aber in diesen Geselschaften thut eine Frau noch mehr: denn
ihr Man, der sie nur mit ihren natiirlichen Reizen geniest, kauft
ihr die, mit denen sie seine Freunde geniessen sollen, und lasset
sich seine unverdiente Schande mehr kosten als mancher sich
seine unverdiente Ehre. Daher die lange Dauer jener Geselschaf-
ten; die Fischer fischen zu Nachts am liebsten. Sie, mein Freund,
miissen nicht an eine Treue glauben, die nur in den Gesezen
30 existirt, die sie gebieten, und in den Geschichtsbuchern, die sie
erdichten. Die Vorweltnahm vielleicht mit Einem Gerichte und
einer Ehehalfte vorlieb; aber wer jezt mit sechs Schiisseln und
Einem Gatten? Wem ekelt nicht wie den Kindern Israels vor
dem alle Morgen aufgewarmten Manna? und wen liistet nicht
nach Wachteln? Auch ists zu verzeihen, wenn der muntere Stu-
zer dem schwerfalligen Manne den Rang ablauft, wenn das Herz
458 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
einer Frau, gleich dem Herz der Fische, das Zwergfell zu seiner
Basis macht, und nur seine Spize gegen den Kopf hinkehret.
Denn eine solche Untreue reichte nur sonst hin - sonst, da bios
eine Frau ihre Andacht mit dem Priester theilte, und sich von
ihm das sinlich erklaren lies, was er i miner in Hebraismen ver-
bietet; sonst, da sie bios krank wurde, um von einem jungen
Doktor geheilt zu werden, um ihre Treue an ihrer Krankheit
sterben zu lassen, um ihr Krankenbette zum Todenbette ihrer
Ehre zu machen - und vielleicht auch noch jezt hier und da,
wo ein Dichter durch einen im Monde versilberten Thranenre- 10
gen, wie Jupiter durch einen goldnen Regen, widerspenstige
Reize unterjocht. Aber mit so einer Untreue komt man jezt
nicht weit genug. Warum das rauben, was man billig fordern
kan? und wie iiberfluBig ist das Brecheisen des Diebs, der Feder
des Rechtsgelehrten? Kurz die Mode rechnet die Horner eines
Mannes zu seiner Frisur und hochstens verschleiert man eine
Untreue so wie den Busen. Aber sie sollen die jezige Wollust
durch folgendes Gemahlde einer Witwe, die ich kenne, kennen
lernen. In ihrer Ehe, die nicht lange dauerte, war sie unfruchtbar,
und hatte kein Kind ausser ihren Man. Doch zeigten sich nach 20
seinem Tode die Pfander von der Starke seiner Lenden, und
seine Witwe ehrte sein Gedachtnis durch die, denen er das Leben
gab, da er keines mehr hatte - so treibt der Kokosbaum nach
dem Verluste seines Gipfels mehrere Aste und Fruchte. Ich mus
hiebei anmerken, daB bios der Zufal ihrer vorgeblichen Un-
f ruchtbarkeit diesen Streich spielte. Denn sie liebt nur die Wollust
und hasset die Fruchte derselbm. Wenn man die siisse Hulk der
Pflaume genossen, speiet man den harten Kern heraus. DaB sie
ihre Reize durch die Farbe des Todes schminkte, und durch
den schwarzen Flor den Busen zum weissem Ziele zu machen 30
wuste, das durch seine schwarzen Grenzen die Augen der Schu-
zen auf sich zieht, ist naturlich. Immer roll en ferner ihre Augen
nach manlichen Reizen herum, immer rothet ihr heisses Blut
ihre Wangen mit Begierde, immer sucht sie Opfer ihrer Schande
auszuwittern, und mit verborgenen schonen Strikken weis sie
einen ausgespahten Raub in ihre Arme zu ziehen. Nicht selten
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 459
opfert sie ihren Stand ihrer Lust auf , und kiihlet niedrige Begier-
den in niedrigen Mitteln ab, wie man mit schlechten Regenwur-
, mem entzundete Glieder heilt. Die Spottereien des Geriichts sind
ihr Stiche gewisser Insekten, die mehr kizeln als schmerzen;
auch verstekt sie hinter ihren Reichthum ihre Schande, wie die
Madgen der Volker in Achem, die Beweise ihres Geschlechts
mit einem silbernen Bleche verdekken. Jezt sattigt sie ihre Wiin-
sche bios mit dem Anschauen derer Silhouetten ihrer verstorbe-
nen Anbeter, die unter dem Spiegel ihrer Toilette hangen - so
io reihet der Bauer die Kopfe getodeter Sperlinge ah einem Faden
auf, und hanget sie an die Wand.
Ein Hund oder auch eine Kaze, aber selten ein Vogel ist der
Zizisbeo der meisten Frauen, und wenn die linke Hohle ihres
Herzens noch dem Manne zugehort, so hat eines der genanten
Thiere wenigstens die rechte Hohle desselben gemiethet, und
nimt stat des Kindes den Schos ein. Ich besuchte neulich eine
Dame, die mich sehr lange mit einer Lobrede auf ihren Schos-
hund unterhielt. Nur Schade, daft die Fabel dem Thiere den
Mund nicht geofnet: denn es hatte seiner Panegyristin ohne
20 Zweifel eben die Vorziige beigelegt, die sie ihm beilegte. Sie
liebt ihren Hund so zartlich wie ihre Kinder: daher sie auch
beide nichts lernen last, und sie kan so wenig ohne dieses Thier
als mit seinem Nebenbuhler, ihrem Manne, leben. Ja sie gewoh-
net ihn sogar durch Sufiigkciten an eine vornehme Verderbung
des Magens. Ein Zufal nothigte sie neulich, ihn durch Aufnahme
unter ihre Arme, dem Hundspobel zu entziehen, der ihn freilich
nicht wie der Herr der Schopfung geehret haben wiirde. So
trug Aeneas seinen Vater durch das brennende Troja. Sonst nur
war das Tragen der Hunde eine Strafe fur Rebellen. Und jezt
30 tragt man mit Ehre einen Hund unter dem schonen Arm, unter
- welchem ein Gesangbuch sehr iibel lassen wiirde. Unsere Dame
erlaubt ihm alle Freuden, nur die Freuden der Liebe nicht. Der
wahrscheinlichen Mesalliance nicht zu gedenken, ist ihr schon
seine Schwangerschaft so argerlich als die ihrige; so argerlich
als die Thiere, die ihren zottigten Gozen, wie die Mause den
Kutka, den Got der Kamtschadalen, qualen. Vor etlichen Jahren
46O JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
wurde ihr Man krank und, obgleich der Arzt, dem sie ihn liber-
ties und der sie oft heilte, Rezepte und Mixturen verschwendete,
wieder gesund. Sie war trostlos und noch trostloser machte sie
das Ableben einer Schoskaze, die ohne ein Todesurtel d. h. ohne
ein Rezept sich beim Charon einschifte. Ihr Hund verlor neulich
ein Auge durch die Kaze einer Freundin, die ihr gegen iiber
wohnt - nun lieben sich die beiden Freundinnen wie ihre Schos-
thiere.
Nichts ist natiirlicher, als daB die schonen Kinder wie die klei-
nen, und die alten Kinder die hydraulische Kunst verstehen, mit 10
den Augen Wasser zu speien. Diese Fruchtbarkeit an diesem
Elemente schreibt sich namlich von der Giite ihres Kopfes her,
der wie ein Schwam das Wasserige leicht einsaugt; diese iiber-
maBige Warme entsteht namlich durch die Grundlichkeit ihrer
Ideen: denn seichte Wasser werden am leichtesten warm, kurz
dieses riihrt von den guten Eigenschaften her, durch die das
andere Geschlecht seit einiger Zeit den Vorzug vor dem unsri-
gen, billig behauptet. Auch meine Frau besizt ein Herz, das
die neuliche Thranensundfluth aus dem Sand hervorgespuhlet.
Zu weichherzig, um es gegen hartherzige zu sein, racht sie ihre 20
Emp finds am keit an meiner Unempfindsamkeit durch unleidli-
chen Stolz oder durch Thranen. Aussere Kalte und innere
Warme machen von den Fenstern Wasser herabrinnen. Daraus
last sich auch folgendes erklaren. Da sie lange genug Jiinglinge
geliebt hatte, die existirten, fiel sie einmal zur Abwechselung
auf einen, der nicht existirte. Doch war dieser J tingling in Minia-
tur von Hrn. Chodowiecki gezeichnet, und von Hrn. Geiser
gestochen, und in Riesengestalt vom Herrn Autor gemahlet.
So betete der Agypter den Vogel Phonix an, den er nie gesehen,
aber doch im Gemahlde hatte. All ein zulezt wurde ihr das Nichts 30
untreu und sie selbst wurde miide, ein Ding, das im Gehirn %
lebte, einem Dinge vorzuziehen, das auch auf der Stube lebte.
Daher blieb ihr weiches Herz an meinem Antezessor kleben.
Oft zu Nachts schlug sie ihr Klavier so wehmuthig, daB ihre
halbwachenden Eltern daraus ihren Tod weissagten; allein unten
am Fenster harte der folgsame Liebhaber und erfuhr durch die
GRONLANDISCHE PROZESSE - I. BANDCHEN 4^1
verabredete musikalische Sprache, dafi er nicht umsonst harre.
So hort der gemeine Man die Stimme des Todes in dem Schla-
gen, mit welchem die Biicherlaus in ihrem Wurmloch das Man-
gen zur Begattung einladet.
Nur noch die Dinte, die ich sonst aussprize, fur ein par Ziige
meiner Frau. Ich mus ihre Gaben fur Ohnmachten ruhmen und
sie hat zu gut leben gelernt, um nicht ofters tod zu scheinen.
Und wenn ein kleiner Unfal neben sie anstreift, warum soke
sie auch nicht den Spekkafer nachahmen, der sich bei der klein-
10 sten Beriihrung tod stelt? Die Kunst zu sterben ist der Probier-
stein eines Schauspielers; warum soke sie nicht der einer Frau
sein? - Doch stehen ihre feiernden Lebensgeister allemal unter
dem Geseze des Wohlstandes; sie weis sich selbst zu rechter
Zeit von den Toden aufzuerwekken, und das Leben verlangert
seinen Urlaub nicht iiber die bestimte Minute.
An ihrer Laune hangt meine Ruhe, und ihre Laune hangt an
dem Zufal. Aus dem Mittagsessen weissag* ich mehr als der
Augur aus dem Fressen der heiligen Hiiner weissagte; und vor
schlechtem Wetter sichern mich meine Wande nicht. Oft wird
20 man unbillig bestraft, damit man billig bestraft werden konne;
und man last den andern das Holz zu seinem Galgen stehlen.
- Ich furchte nichts mehr als die Schmeichelein der Frau. Der
Fuchs stuzt vor einem unerwarteten Lekerbissen und vermuthet
richtig die verstekte Falle. Eh' man die Schafe schiert, wascht
man sie weis. - Tandeln kan man noch, eh' der Priester mit
dem heissen Lak aus dem ersten Buch Mosis die Vereinigung
versiegelt, und das Orchester spielet auch oft ein lustiges Allegro
vor dem Trauerspiel; aber in das Ehebette mus man die Puppen
der Wiege nicht bringen, sonst tragt ein Kind den Namen eines
30 Konigs, und seine Anverwandten regieren. - Auch Kiisse satti-
gen und die Lippen verwunden eben so gut als die Zahne, so
wie der Pelikan seine Jungen durch das Reiben mit dem Schnabel
todet. »Ich kiisse den halben Tadel von der schonen Lippe weg«
das heist, du lekst den Loffel aus, woraus du bittere Magentrop-
fen eingenommen. - Aber wer widersteht auch oft dem Reize
des Geldes, obgleich silberne Spornen eben so wie stahlerne
462 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
das Pferd verwunden; oder dem Reize der Ehre, obgleich der
Maulesel durch einen prachtigen Reiter, einen Kardinal, nichts
gewint; und endlich dem Reize der Schonheit, obgleich versil-
berte Pillen eben so bitter wie andre schmekken? Aber dies ge-
hort nicht in diesen Brief, und ich mus aus der blumenvollen
Wiese, in der man nicht reiten darf, wieder in den alten Steig
zuriikkehren.
Sie wollen die Stuzer naher kennen lernen? Wenn Sie unter
dieser Benennung alle die Leute verstehen, die an der Toilette
und am Pulte f aseln, die mit brittischen und f ranzosischen Thor- 10
heiten prahlen, die von der Narheit nur die Gestalt und von
der Dumheit das Innere entlehnen, so werden Sie in meinem
Brief e vielleicht das finden, was Sie suchen. Ein Stuzer in der
weitern Bedeutung des Worts ist erstlich ein Philosoph. Jezt
namlich ist die Metaphysik nicht mehr eine Landkarte vom
Reiche der Moglichkeit, nach welchem man auf den matten
Schwingen der Dumheit, wie nach Swift's Erzahlung, der Kapi-
tain Brunt durch seine gefliigelten Kaklogallinier nach dem
Monde, zuflog; jezt briistet man sich nicht mehr auf Abstrakzio-
nen, die weniger in den Gehirnfibern als auf dem Trommelfelle 20
philosophische Erzitterungen verursachen und verwandelt lere
Worter nicht mehr in Demonstrazion durch eine Stellung, die
man das Metrum der metaphysischen Dichtereien nennen konte
- Sondern man ist viel modischer ein Nar. Wer durch sein Sal-
arium nicht gezwungen ist, im Konzerte der menschlichen
Thorheiten den Takt zu halten, und mit den Nachbarn im Uni-
sono zu singen, der ersezt die Stelle der Thorheiten, die er nicht
nachahmet, durch die, die er erfindet. Man erf and daher eine
Philosophie, die sich durch eine trubsinnige, schwarze Gestalt
empfiehlet und gleich einem Weibe, stat scharfsichtiger, schone 30
Augen, stat der Beweise Blumen hat; sie gleicht dem indiani-
schen Gozen in der Stadt Multan, dessen Gesicht schwarz ist,
und in dessen Augenhohlen stat der Augen, zwo Perlen glanzen.
Unser Stuzer nun hast lere, abstrakte Termen, liebt aber gefuhl-
volle, widersinnige Ausdriikke und zieht dem metaphysischen
Unsin den poetischen, der kalten Unvernunft die warme vor.
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 463
Nach der Ebbe und Fluth seines Nervensafts fait und steigt seine
Uberzeugung und sein Gehirn mus erst durch die heftige Bewe-
gung des Bluts elektrisirt sein, wenn die Bewohnerin der glan-
dula pinealis einige Funken Wahrheit aus demselben herauslok-
ken sol. Sein Geist, ein Feind deutlicher Begriffe, erhalt nur
von dunkeln die Warme, die sein Korper von dunkeln Kleidern
empfangt. Der Anblik der nakten Wahrheit wiirde seinen Augen
schaden, wie der Anblik der nakten Minerva den Augen des
Tiresias. Daher umschaft er Gedanken in Blumen, wie unter
10 den Handen des Midas nahrende Speisen sich in glanzendes Gold
verwandelten. So vergoldet man zu Weinachten fur die Freude
der Kinder die Niisse; aber wer weis nicht, dafi ihnen das Flitter-
gold zwischen den aufknakkenden Zahnen hangen bleibt? Er
duftet von Philosophie wie von Pomade, und macht die Brille
der Vernunft zu einem modischcn Augenglas. Am Morgen
giebt der Friseur seinen Haren, und ein Duodezbandgen seinen
Gehirnfibern eine modische Lage; nachmittags tragt er die leibli-
che und geistliche Frisur zur Schau herum, und abends zerstoh-
ret er beide in den Armen einer Hure. Doch oft zu stolz fur
20 cine solche Unbestandigkeit, sezt er sich durch einen nachge-
sprochenen Skeptizismus uber das Denken hinweg und machet
die Schwache seines Kopfes zur Schwache aller Kopfe. Nun
ofnet sich seiner streitbaren Zunge das Feld der Zweifel, nun
steht seine Behauptung jedem Anfal, und jede fremde weicht
dem seinigen; nun schimmert die besiegte Vernunft fur den Tri-
umph seines Stolzes, eben so funkeln im Schwanze des Pfauen
die verwandelten Augen des bestraften Argus. - Er hat ferner
zwar keine Gelehrsamkeit, aber er weis sie doch zu verachten,
und sein Stolz ist der hulfreiche Nachbar seiner Unwissenheit.
30 Audi erhalt er sich vermittelst desselben auf der Oberflache aller
Kentnisse wie der Fisch sich durch Ausdehnung seiner Blase
auf der Flache des Wassers, und sinkt nie defer, um Perlen zu
suchen. Doch ungeachtet seiner Abneigung gegen ernsthafte
Kentnisse, erhebt er sich zu unwichtigen; ungeachtet er bios
c So nante ich weis nicht wer die Philosophie.
464 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
lieset, um in der nachsten Assemblee zu sagen, daB er gelesen,
so macht er doch durch Belesenheit seinen Verstand dem Ver-
stande des Thieres ahnlich, welches den Gelehrten die Ableiter
ihrer Gedanken leihet. Der Titel eines Buches ist ihm wichtiger
als sein Inhalt und nicht so wichtig als seine Rezension. Er ver-
bessert auch selbst gelehrte Urtheile und brandmahlet manchen
Ruhm mit den stummen Zeichen einer zweideutigen Achtung
oder bekranzet die Ohren, welche an einem Pranger schon ge-
kreuzigt worden. Aber immer betet er den Autor an, von dem
er die meisten Schriften gelesen; so vergotterte man in jeder 10
Provinz des alten Peru die Art Fische, von welcher man die
meisten ring. Da er wenig denket, so ists natiirlich, dafi er viel
redet. Und wie solt' er nicht, da die Geschwazigkeit die Jugend
am besten kleidet? Auch macht junges Holz mehr Geprassel als
Licht und Warme, und Wagen mit neuenR'idem knarren am mei-
sten. - Zwar ist sein Gedachtnis das Gefas der Unehren, welches
schmuzige Galanterien von Geselschaft zu Geselschaft tragt;
aber doch ist seine Sele reines, feines Postpapier, welches die
Dam en mit ihren Einf alien beschreiben. Oberhaupt starkt die
Weisheit der Damen seine schwindstichtige Sele, und die Milch 20
einer Eselin seinen schwindsiichtigen Korper. Wenigstens tragt
das schone Geschlecht in die leren Zellen seines Gehirns, zum
Ersaz der verlohrnen Gedanken, den Honigsaft aus den neusten
Almanachen. So zog der Agypter'aus dem Kopfe eines Leich-
nams das Gehirn heraus, dessen Plaz er mit Spezereien ausfulte.
-Erist auch Kenner von Kunstwerken, das heist, er weis etliche
Kunstworter ohne ihren Sin. Haben doch auch die meisten Kon-
chyliensamler blosse schimmernde Gehause ohne die Bewohner
derselben! Sein Wiz ist unerschopflich, wenigstens ist es der
Wiz seiner Buchersamlung; er fuhret eine fremde Dumheit nie 30
ohne beissende Laune an, und giebt zum Rindfleisch allezeit
Meerrettig. Vorjezt macht er aus Himberen Efiig d. h. er satiri-
sirt iiber die Empfindsamkeit. Sonst trug er mit vielem Vergnii-
gen jeden Logogryph des Merkurs, den er selbst aufgelost, in
seiner Bekantschaft herum. So legte man die tode Sphynx auf
einen Esel. Nur selten oder wenn er in einer Uniform ist, ver-
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 465
kiirzt er die Zeit durch wizige Blasphemien. Doch sobald er
sich in einer vornehmen Geselschaft befindet, so versteht es sich,
daB er sein Herz beflekt, urn seine Ehre nicht zu beflekken,
gleich den Morlakken, die mit blossen Fiissen durch eine Pfuze
gehen, um die neuen Schuhe nicht zu besudeln - Schmeicheln
und verlaumden hat er in seiner Gewalt, er macht, wie Wernike
sagt, den Anwesenden roth und den Abwesenden schwarz, und
gleicht, wie mein Vetter sagt, den Bleistiften, deren eines Ende
roth und deren andres schwarz schreibet, oder den Fernglasern,
10 die aus einem vergrossernden und einem verkleinernden Glase
zusammengesezt sind. - Um frei zu sein, ist er weniger Nachah-
mer des Franzosen als des Britten, und er wiinscht iiberhaupt
unsern Narrenkappen deutschen Schnit, und unsern Schellen
deutsche Form. Daher raubt er bios niizlichen Geschaften die
Zeit, in welcher er die Arbeit des Friseurs revidirt, in welcher
er den Hut von etlichen grauen Atomen reinigt, in welcher er
sich vor dem Spiegel mit seinem stummen Ebenbilde iiber die
Lage seiner Reize berathschlagt u. s. w. Er tragt auch einen De-
gen; aber Linnaus irt sich, wenn er alle Thiere zu den Hunden
20 rechnet, die den Schwanz nach der linken Seite tragen. Er hat
ferner alle die Konvulsionen in seiner Ubung, die zur Hoflich-
keit erfordert werden; wenn er redet, so weis er sich der Erde
gehorig zu nahern, gleich dem Rohrdommel, der eh' er schreiet,
seinen Schnabel in die Erde stekt, und ihm sind die Grade des
Bogens bekant, in den der Riikken sich nach Masgabe des Ge-
genstandes seiner Verehrung zu krummen hat. Seine lebhaften
Fusse erfullen oft das ganze Zimmer mit seiner Person, und
er vertheilt unpartheisch unter alle Anwesende den Genus seiner
Gegen wart. Bald fiittert er aus einem glanzenden Gefas eine
30 schone Nase mit wohlriechendem Staub, und iiberreicht das
kizelnde Opfer mit den erforderlichen Gliederverdrehungen,
bald sezt eine fremde Dose seine Zunge und seinen Riikken
in dankbare Bewegungen. Hier treibt er den Schweis eines nak-
ten Busen in die ofnen Poren, um durch eine schadliche Abkuh-
Iung einer unschadlichen Erhizung zuvorzukommen, und dort
eilt er dem Facher entgegen, der ihn zu einem galanten Narren
466 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
schlagen oder fiir eine Thorheit bestrafen wird, zu deren Wie-
derholung er seinen Wiz auf eine schmeichelnde Art aufgefor-
dert glaubt. Mit welcher Wollust driikt er endlich dort am Fen-
ster seine Lippen an junge Hande. So beschnuppern die Lippen
der Ziegen junge Baumzweige. Mit Kiissen ist er iibrigens frei-
gebig; jeden bewirft er mit denselben von seinem Fenster, wie
die Affen den Vorbeigehenden mit ihren Exkrementen von dem
Baum herunter. Endlich weis ich nicht, ob er ofter hurt oder
ehebricht. Denn er ruhmt sich zu zeiten des einen und des an-
dern; obgleich mehr seine Oberflache und sein Schein als sein 10
Wesen und sein Inneres manliche Starke verspricht, wie der Ge-
ruch des Bokkes nur von seinem Felle, nicht von seinem Fleisch'
entstehen sol. Niemand beschmuzt besser als er mit zweideuti-
gem Wiz reine Ohren. Doch stehen auch poetische Bilder seiner
Artigkeit zu Diensten. Nur neulich sagte einer zu meiner Frau,
er tranke Wollust aus ihren Augen. »Wie Gulliver, sagte mein
Vetter, der es horte, englisches Bier aus den Huneraugen eines
brobdignakischen Frauleins trank.«
Wollen Sie bei mir selbst die Richtigkeit dieses Gemahldes
untersuchen, so lassen Sie ihre Tabakspfeife zu Hause, deren 20
Rauch meiner Frau wenigstens etliche Anbeter kosten wiirde.
Vertreiben Sie lieber mit dem Tabaksrauche die hause von Ihrem
Nelkenstokke. Die genauern Schilderungen verspahre ich auf den
kunftigen Brief, und die Antwort auf diesen erwarte ich aus
Ihrem Munde selbst. etc.
V.
Fragment aus einem zweiten Lobe der Narheit
Die Sterne auf den Rokken schimmern nur zu Nachts; aber
wehe der Sonne, vor der sie erblassen! Wehe den Knien, die
nicht dem Kloze huldigen, aus welchen man den Gegenstand 30
der algemeinen Verehrung geschnizt! Blize treffen zwar den
Lorber nicht; aber doch den, der ihn tragt, und nichts ist ge-
GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 467
wohnlicher als Thranen in scharfsichtigen Augen! Der grosse
Man mus also entweder durch niedrige Buklinge unter dem
Neide hindurch kriechen, und den langen Fischen gleichen, die
sich kriimmen, ufn durch das widerstehende Wasser schwim-
men zu konnen, oder er mus gleich den Palmbaumen durch
Stacheln seine Friichte gegen die Schweine beschiizen. Welches
von beiden er nie wollen, und welches er selten konnen wird,
weis man von selbst. Was bleibt ihm nun iibrig? Genug! der
Rath, er werde wie der Narren einer. Die Arzte des Volks haben
10 Harlekine bei sich; und sein Korper wenigstens spiele, wahrend
seine Sele Pillen austheilet, den buntschekkigen Diener. Um
die Nattern zu verscheuchen, tragen die Mohren in Zypern
Schellen an den Stiefeln. Scherz ist daher nicht zu verachten;
denn ausserdem, was Sturz von dem Einflusse der lustigen
Laune Voltairens auf die Duldung dieses Mannes, sagt, ausser-
dem, daB alles dumme Vieh vom Schafe bis zum Stier das Salz
llebet, so ist auch gewis, daB das Lachen ein par Stufen von
Grosse heruntersezt. Ernsthaftigkeit ist das Wappen des grossen
Verdienstes; daher ist es in Abdera besser Demokrit als Heraklit
20 zu sein. - DaB ich mit diesem alien dem Weisen bios angerathen
haben wil, seine Thorheiten weniger zu verbergen, auf Som-
merflekken nicht Schminkpflastergen zu legen und diinne Wa-
den nicht durch allerlei Materialien zu vergrossern, versteht sich
von selbst: denn Thorheiten hat jeder, und von keinem Kleide
lassen sich alle Federn und alle Staubgen abbursten. - Allein
weiter! Narheit komt auch der Dumheit zu statten. Diese beiden
Benennungen sind nicht gleichbedeutend. Denn die Narheit ist
der Maulesel, der aus der Vereinigung des Pferds mit dem Esel
(der Weisheit mit der Dumheit) entspringt. Zwar sind beide
30 wie Frau und Man immer ein Leib, zwar ist immer neben dem
gothischen Rathhause, wo man sich berathschlagt, der Raths-
keller, wo man sich betrinkt; zwar sind beide Schwestern und
beide Antimusen, aber jede bewohnet doch einen besondern
Gipfel auf dem Parnas, der der Antipode des griechischen, und
oft der deutsche ist, und wenn dieser Erdbal das Bedlam des
Universums ist, so wohnet die Dumheit, gleich den Bedienten,
468 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
parterre, und die Narheit, gleich der Herschaft, in den obern
Stokwerken, des Gelehrten, des Polypen zwischen beiden, nicht
zu vergessen, der unter dem Dache logirt. - Die Narheit komt
nun der Dumheit zu statten. Hiemit, um noch einem Misver-
standnis vorzubeugen, sag' ich nicht, daft die Dumheit nicht
die Mutter des Gliiks ist; daB auf ihrem faulen Riikken nicht
mehr die Mehlsakke liegen; daB der nicht erhoben werde, der
kriechen kan und der gluklich ist, der es verdient. Ich weis,
daB der Rok der Ehre bios gemacht ist, um die Blosse des Un-
verdienstes zu bedekken, wiewohl man oft die Schonen nachah- 10
met, die sich ankleiden, um ihre Naktheit zu zeigen, ja daB
die Ehrentitel, womit man die Menschen behangt, ein enges
Gewand sind, welches die Thorheit hindert, nach Gefallen
Spriinge zu machen. Aber was wil ich denn sagen? Dieses. Man
nehmeerstlichnur die Mode. Denn die Narheit ist der Schneider
Europens. Ein kleines Gehirn hat seinen Werth; aber was fur
einen grossen bekomt es nicht unter einem grossen Huthe? Jeder
schazt einen Esel; aber einer, den sonst die Fabel und jezt die
Mode grun anstreicht, ist zum Anbeten, und wenn ich ein Frau-
enzimmer ware, wiird' ich sagen, zum Kiissen. Selbst die stolze 20
Philosophie im zynischen Mantel, mus dem seidnen Mantelgen
weichen, welches um ein lebendiges Skelet flattert, das man
mit einem lateinischen M gekronet. Grosse Schuhschnallen lei-
hen nicht bios kleinen Fiissen, sondern auch kleinen Kopfen
ihre Strahlen. Zu langen Ohren stehen grosse Lokken schon
und noch schoner goldne Schellen. Da ich nur von manlichen
rede, wird man wohl errathen, daB an weibliche das gehangt
werden mus, um was man dem Galanteriehandler das halbe
Vermogen verpfandet. »Der Man hat glanzende Gaben« heist
nicht, er hat einen glanzenden Kopf, sondern einen glanzenden 30
Bauch, wie der Feuerkafer; er hat namlich eine goldgestikte
Weste. Der Gehalt der meisten Idolen guter Geselschaften woh-
net auf ihrer Oberflache und ihre aussere Seite ist ihre beste.
Die Pflanzen niizen dem Apotheker mit ihrer Rinde am meisten,
und die Rinde ist der schmakhafteste Theil des Brods. Schalet
die Rinde von jenen Lorberbaumen ab, und sie verdorren; dieses
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 469
siehet man, wenn solche gute Kopfe ihre Talente fur die Befrie-
digung des Magens verpfanden, und ihren Wiz zur Trodelbude,
in die Geselschaft der durchlocherten Dumheit, wandern lassen.
- Von der Bestatigung meines Sazes war ich neulich Augenzeuge
bei einer Kaufmansfrau, die fur ein unmiindiges Kind einen
Hauslehrer unter zweien Studenten auswahlte, die man ihr we-
gen ihrer gleichen Dumheit vorgeschlagen hatte. Natiirlich
wurde der eine, der so wenig besas, daB er seine rothen Hare
nicht mit Puder schminkte, und das alte rothliche Brautigams-
[o kleid seines dikken Vetters trug, und also bios dum war, dem
nachgesezt, der seinen Magen seiner weissen Frisur aufopferte,
der mit einem schwarzen Rokke und weissen seidenen Striimp-
fen prangte, und also auch ein Nar war. So war in Agypten
der Esel wegen seiner rothen Hare der Teufel der Nazion, und
der gehornte Apis wegen seiner weissen und schwarzen Flekken
der Got derselben. Aber noch mehr! etc.
VI.
Ober die Konfiskazion der Bucher
Ein Brief
20 Mem Herri
Hier haben Sie Ihr Manuskript wieder, von dessen Giite mich
Ihr Ruhm schon zum voraus iiberzeugte. Sie haben in demselben
fastzu viel Griinde angeworben, und konten also einige abdanken.
Kurz Ihr Buch stelt die Schadlichkeit der Biicherkonfiskazion
in ein solches Licht, daB ich dasselbe nach seiner Herausgabe
so schleunig als moglich konfisziren wil. Ich bin diese kleine
Gefalligkeit unserer Freundschaft schuldig. Damit es namlich
gelesen werde, wil ich verbiethen, es zu lesen und diesen Gift
durch Bekantmachung seines Daseins in den Mund vieler Kaufer
30 spielen; dieses sol den Nuzen eines Privilegiums vertreten. Denn
470 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
eine Schrift gewinnet durch die Verbannung in den Buchladen
des Verlegers, in kurzer Zeit weit mehr Ruhm als in einer lan-
gern durch den Zulas seines freien Umlaufs. So sol ein junges
Fohlen durch Einsperrung in den Stal in einem Jahre mehr Luder
auf den Leib bekommen, als in zweien durch die Weide auf
der Wiese. Aber zu diesem Verfahren verbindet mich auch
das Wohl der Kirche. Das Wachen iiber die reine Lehre, die
vor etlichen Jahrhunderten auf einmal rein wurde, ist die
Pflicht eines jeden, der mehr fur den Himmel als fur seine Ver-
nunft besorgt ist, und das groste Verdienst dessen, der dafur IC
besoldet wird. Die Reinigung der Glaubenslehren von neuem
anfangen, ist nun unerlaubt, weil sie bios vom Jahre 1483 an
bis 1546 erlaubt war; und vollig unnuz, da man damals durch
Hiilfe weniger Marnier, durch Mangel einer gesunden Exe-
gese und einer richtigen Philosophic mehr sehen, mehr aus-
puzen und festsezen konte, als jezt bei der Vereinigung vieler
Gelehrten, beim Lichte einer bessern Exegese und bei der Anlei-
tung einer freiern Philosophie. Darum verehr' ich gleich den
Agyptern, die die altenKazen anbeteten und die jungen ersauften,
jeden alten Reformator, und schade, daB ich die jungen nicht 2c
verbrennen wenigstens ersaufen kan. Gold darf nicht zu wenig,
ein Buch nicht zu viel wagen. Auf der Rathswage namlich, wie
naturlich. Wie sonst bei den Hexen, so wird jezt bei den Buchern
das zweifelhafte Dasein des Teufels erforscht. Das Sinken im
Wasserrettetejenendas Lebenund das Schwimmen auf demsel-
ben, verurtheilte sie zum Scheiterhaufen. - Eben so wird umge-
kehrt ein Buch durch seine Leichtigkeit einer offentlichen Bi-
bliothek und durch seine Schwere des hollischen Feuers werth.
So weissagen die Angekoks der Gronlander aus der Schwere
des Kopfes eines Kranken seinen Tod und aus der Leichtigkeit 3c
desselben seine Wiederherstellung. Die Aufseher des Parnasses
erlauben den Arm en, gleich den Aufsehern der Walder, nur die
Fallung kleiner, verwachsener, untauglicher Baumgen; aber
grosse und schone zu fallen, wird billig durch gesezliche Dro-
hungen verboten und durch die Erfiillung derselben bestraft.
Zwar gleicht ein boses Buch dem Stinkholz; es aussert seinen
GRONLANDISCHE PROZESSE ' I. BANDCHEN 471
kezerischen Geruch am meisten, wenn man es verbrent; allein
iiber diesen kleinen Nachtheil sieht ein heiliger Eifer hinweg.
- Mein Enkel der Kandidat Z. brachte mir neulich eine Piece,
in welcher er eine neue Lesart ernes dictum probans, und in
deren Zuschrift an den Hrn. Superintend, er eine verstekte Bitte
um ein Amt und eine Frau (namlich um dessen Tochter) wagte.
Zu seinem Gliikke iiberredete ich ihn, daB die Erhaltung des
Amtes auf der alten Lesart beruhe, und das Ja der bezielten
Tochter nur von dem [XT] in Rom. V, 14. abhange. Kurz er
schrieb eine Widerlegung seiner eignen Behauptung, und
machte durch Rechtglaubigkeit sein Gluk. Nun last er die Musen
Musen sein, und macht bios seine Frau fruchtbar; nun fiillet
er bios die Wiege, aber nicht das Schreibepult. Bei Ihnen ists
umgekehrt. Ihre Kezerei macht Ihr Gliik, und sie wird es am
meisten machen, wenn Sie diesen Brief Ihrem Verleger, des
Honorariums wegen, zeigen. Ich bin ungeachtet Ihres zukiinfti-
gen Ungliiks in der andern Welt, und Ihres Gltiks in der jezigen,
Ihr
Freund etc.
Beschlus
20 Nicht Adieu, sondern Got griis dich, lieber Leser! Ich hatte nam-
lich Vorrede stat Beschlus schreiben sollen, hatt' es nicht zu affek-
tirt gelassen. Warum aber die Leibwache nicht vor die Thiire?
darum. Die meisten Vorreden sind Kiichenzettel, die der Wirth
einem hungrigen Reisenden von den guten Speisen macht, die
er gehabt hat, haben wird und nicht hat; die meisten sind lobende
und liigende Leichenpredigten auf das in Vergessenheit be-
grabne Geistesknablein, d. h. die heuchlerische Demuth des
Schriftstellers wird die Prophetin seines Schiksals, wie Moliere
an dem eingebildeten Kranken starb, den er troz seiner eignen
30 Kfankheit spielte; wenige sind Henkel des Buchs. Dies alles soke
die meinige nicht sein; sondern bios eine freundschaftliche Un-
472 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
terredung mit dem Leser meiner Satiren. Wir haben uns wie
ein par Eheleute den ganzen Tag miteinander gezankt; aber
schlafen diese darum nicht zu Nacht in Einem Bette? Eilt doch
auch der Respondens mit dem Opponens nach der lateinischen
Heze zum gemeinschaftlichen Schmause und man giebt dem
Barbier, der Ader gelassen, gerne eine Schale Kaffee, wenn man
in der Stadt, und ein Glas Brandewein, wenn man auf dem
Lande wohnet. Wer weis nun nicht (dieses ist das Darum aufs
obige Warum) daB man unter der Thure am liebsten und ver-
traulichsten mit dem Freunde redet, bei dessen Ankunft man 10
unter vielen Komplimenten den verlohrnen Schlussel zum Her-
zen suchte?
Man seze noch hinzu, daB gewisse Pferde in der ersten Vier-
telstunde am meisten schwizen und freilich dan nimmer. Der
Schweis verunstaltet ein geschminktes Gesicht. Und wer ist
daran Schuld? Hauptsachlich die Rezensenten, die in ihren Ur-
theilen die Figur pars pro toto lieben, die aus dem Anklopfen
nicht nur auf den Werth des Zeigefingers, sondern auch des
ganzen Menschen schliessen, und nach diesem Schlusse sanft
oder wild herein sagen, die aus dem Komplimente des Fusses 20
den Werth des Kopfes weissagen u. s. w. Wer kan da essen,
trinken, und frolich sein, wenn ein Har den Dolch der Kritik
tragt, der iiber einen, wie iiber das Haupt jenes Schmeichlers,
hangt? nicht zu gedenken, daB aus dieser (ibeln Gewohnheit
der Rezensenten die iible Gewohnheit der Schriftsteller ent-
springt, gleich dem Monde gros aufzugehen, und die Mitte der
Laufbahn durch Abnahme der Grosse zu schimpfen und das
Horn, gleich der Schildkrote, am Schwanze zu tragen.
Der Verfasser des Buchs iiber die Ehe hat also in dieser Riik-
sicht Unrecht, wenn er von der Vorrede, vom Hute, riihmet, 30
daB man sich damit dekke. Darum geh' ich Chapeaubas, und
mag gewissen Richtern mein Todesurtheil nicht in die Feder
sagen. »Aber dies alles ist ja eine Vorrede zu einer Vorrede;
und die deinige ist so unbedeutend, so ler!« Sie sol aber auch
nichts anders sein, da sie bios, wie gesagt, ein Freundschaftsge-
sprach oder bildlich eine Schiissel Krebse ist, die man nach der
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 473
Mahlzeit giebt und die wenig Fleisch und viel, auch wohl schone
Schale haben.
»Aber zum Verhor selbst! Denn was woltest du sonst mit
unser einem reden wollen? Also die ungleiche Schreibart?« ist
freilich sichtbar; aber auch verzeihlich. Ihr Puis namlich schlagt
bald heftig bald mat, wie es die Umstande mit sich bringen.
Die Welt im Kleinen mus naturlich mit der Welt im Grossen,
und die Sakuhr mit der Sonnenuhr ubereingehen. So fait man
aus der Ironie in die Deklamazion, wenn auffallende Thorheiten
io fur kalten Spot zu warm machen. Fur Thoren Horaz oder Vol-
taire, fur Bosewichter Persius und Pope. Freilich sind die Satiri-
ker die besten, welche mit ihrer Peitsche mehr zuschlagen als
klatschen. Und endlich ist der Mensch so ein nachahmendes
Thier! Was Wunder wenn derjenige, der heute aus dem gestagen
Stiikke unaufhorlich »Als ich auf meiner Bleiche« wiederholt,
morgends eine Arie aus der Alzeste wiederkauet. Der Gelehrte
ist das Echo seiner Bibliothek, und mancher der Spiegel eines
Spiegels. Selbst der Korper ist der Resonanzboden der Sele, ich
sage nicht ihr Echo. Denn etc.
20 »Und die unzusammenhangende Schreibart?« ist vielleicht
zusammenhangend. Es ware unfein, dem Leser das zu sagen,
was er sich selbst sagen kan, ihm wie einem Kinde das Buchsta-
biren zu lehren, und mit dem Stokke oder dem Griffel auf ieden
Buchstaben aufmerksam zu machen. Der Rok ist abgenuzt und
unbrauchbar, auf dem man alle Faden zahlen kan, und nichts
ist gothischer als die modischgrossen Schuhschnallen, um ein
par kleine Riemen mit einander zu verbinden. Manche Fliisse
stromen unter der Erde fort; aber dan, sobald sie wieder sichtbar
werden, gebiihret ihnen noch der Name ihres Ursprungs. Die
30 Biicher sind die angenehmsten, deren Verfertigung der Autor
dem Leser zum Theil iiberlast. Wer uns gefallen wil, sagt la
Bruyere, mus verursachen, daB wir uns selbst gefallen, und
mancher Schriftsteller ist seine Bewunderung weniger seinen
Talenten als der geschmeichelten Eigenliebe seiner Leser schul-
dig. Daher verwandelt man so gern nahe Vergleichungen in
Allegorien - ich sage nahe Vergleichungen, weil man nur das
474 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
leichtere zu errathen geben mus und Kinder nur die Ahren auf-
zulesen haben, die der Schnitter nicht mit in seine Garben ge-
bracht, und weil der Autor seinem Wize da, wo er klein ist,
einen Schein von Lebhaftigkeit in der Meinung des Lesers er-
theilen mus, der das Vergniigen an eigner Thatigkeit auf die
Rechnung f rem der Talente schreibt. Daher der Geschmak am
sternischen Wize.
»Die gezierte, mit Gleichnissen iiberladene?« So ein Tadel
ware nun wohl leichter vermieden als verdient, wenn es namlich
einer ist. Und daran zweifle ich. Ich rede jezt obne Beziehung ic
auf mich. Warum sollen gewisse Schonheiten nur einzeln etwas
werth sein und in Herden verliehren, und den Elephanten glei-
chen, die einzeln ihre Starke gebrauchen, und in Geselschaft
ihre Krafte und ihre Wildheit vergessen? »Aber sie ermiiden
den Leser« und was ermiidet ihn nicht? Mus er so lange lesen,
bis er zu viel gelesen? Die Arzte rathen, daB man zu essen aufho-
ren sol, wenn es am besten schmekt. Freilich wird der Genus
des Brodes nie zum Ekel; aber ich denke Brod schmekt auch
nicht so gut als eine Torte. »Seneka« ich weis es; aber ich weis
auch, daB sein Wiz oft ein Kastrat ist und nur eine schone Stimme 20
hat, daB derselbe ofter Worte mit Worten als Gedanken mit
Gedanken Ringe wechseln last, und daB seine Geburten oft den
Blumen gleichen, die der Zufal durch Kalte an den Fenstern
bildet. Solcher Wiz ist nur Zuker, den die Kinder lieben und
den eine altere Zunge freilich nicht vergottern kan. Auch sind
Anthithesen leichter als Vergleichungen gemacht, und seinem
Wize fehlet oft die Lebhaftigkeit, ob man es gleich dem guten
Stoiker ansieht, daB er sich pudert, eh' er die Hare ausgekamt
und gekrauselt, und den Vogelbauer von altem Kothe reinigt,
eh' er den Vogel gefangen. - Uberhaupt, nebenher anzumerken, 30
trit ieder dem Wize das Gras ein, und jeder riikt den Granzstein
des Verstandes weiter. Als wenn der Kantor, der orgelt und
singt, nicht eben so gut sein muste, wie der Pfarrer, der predigt!
Ja, Wiz und Verstand sind Blutsverwandte. Zwar sezt der eine
uber den Graben und der andere macht einen Umweg; der eine
ist fur Mesalliance, und der andere zahlt erst die Ahnen; der
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 475
eine stampft wie das Pferd aus jeder gepf lasterten Strasse Funken
und der andre braucht ein Feuerzeug, um ein Licht aufzustekken;
der eine hat ein teleskopisches und der andere ein mikroskopi-
sches Auge. Aber eine Henne sieht den unsichtbaren Raubvogel
in der Hohe und das unsichtbare Wiirmgen unter ihren Fiissen
zugleich, und der Wiz ist ofter mit Verstand als' der Verstand
mit Wiz verbunden. Freilich spielt der Wiz bios aus der Tasche
und scheint bios dem gekopften Vogel den Kopf aufzusezen,
oder einen ungekopften zu kopfen; aber er vergniigt doch. Und
io was thut, was kan der Verstand mehr, wenn er verlobte Ideen
kopulirt? Die angenehme Empfindung unserer Thatigkeit ist
doch am Ende der einzige Lohn fiir jede geistige Anstrengung.
— Aber um wieder auf den obigen Leser zu kommen, so glaube
ich, daB bunte Tapeten, wenn man sie sich anschaffen kan, die
Nuzung der Wand keinesweges erschweren, und daB selbst die
Blatter der Baume nicht zweklos sind. Wenigstens litten, nach
Sander, die Trauben der Weinstokke, von denen man alles Laub
abgebrochen, in heissen Monaten vielen Schaden. Die Schle-
henbluthe riecht zwar sus, aber sie schmekt bitter, und der Dia-
20 mant, der glanzt, schneidet Glas. Auch mus eine Reitpeitsche
schoner gearbeitet sein als die Peitsche eines Postillions. Freilich
verfiihret oft ein Bild zu einem andern, wie aus dem. Blatte der
Prikkelbere ein andres wachst, und ein Gedanke hiilt sich in
mehrere Ausdriikke, wie Weiber in mehrere Rokke; allein
warum sol man auch den Kamtschadalen gleichen, die von ihren
Zwillingen alzeit ein Kind umbringen, oder dem Ephor Emere-
pes, der, ein Freund des Alten, die zwo neuen Saiten zer-
schnit, womit Phrinys die Musik zu vervolkomnen ge-
dachte? -
30 »Weithergeholte Vergleichungen, welche zu verstehen man
erst eine Reise um sein Gehirn machen mus.« Die Richtigkeit
eines Gleichnisses griindet sich auf die Richtigkeit seiner Ahn-
lichkeit. Wie unvermeidlich aber ist die Tauschung, das in der
Hize der Arbeit fiir ahnlich zu halten, was erst durch Zwischen-
ideen, die man bei dem Leser unrichtig voraussezt, ahnlich wird?
Schreiben ist empfangen, empfangen geniessen; aber im Ge-
47 6 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
nusse gleichen wir alle dem Papagei, der wahrend seines Fressens
auf Einem Beine stent. Die Gegenwart ist eine falsche Brille
und oft scheint die Fliege, die zu nahe vor dem Auge vorbei
fliegt, ein Adler, und der Adler, den die Entfernung in einen
schwarzen Punkt verwandelt, eine Fliege zu sein. Daher geht's
mit den Buchern wie mit den Kindern; in den ersten Jahren
mogte man sie, wie man sagt, vor Liebe fressen, im zehnten
Jahre verwandeln sich ihre schonen Einfalle in Kindereien, und
der Rektor des Gymnasiums spricht dem Jungen die Talente
ab, die sein Schulmeister an ihm fand. Ferner eine angstliche 10
Selbstkritik kuhlet nicht nur den Enthusiasmus zu sehr ab, wie
eine Schnuppe (oder ein Rauber) das Licht geschwinder ver-
brennen macht; sondern zu viele Fasttage entnerven auch, ein
zu sehr gepuztes Licht brent triibe, und ein oft gewaschnes
Hemde wird feiner und diinner zugleich. Endlich ist gewis, dafi
diejenigen Weiber die wenigsten Kinder gebaren, die sie am
langsten saugen, wie naturlich.
»Schmuzige Gleichnisse« nicht bios um noch schmuzigere
Thorheiten zu bedekken, sondern auch darum. Unsre Verfeine-
rungist zur unverschamtern Annahme ziemlich schmuziger La- 20
ster gediehen; warum sol die Verfeinerung nicht gar bis zur
freien Anfuhrung ihrer Benennungen gehen? Ist es eine Ehre
eine Hure zu sein; warum ist es eine Schande sie bei ihrem Na-
men zu nennen? Dort sag ich salvo titulo; warum sol ich hier
sagen salva venia? Warum wollen wir den Schweinsstal tiber-
tunchen; und warum iiber einem gekronten Wurm, der sich
nun in mehrere Wurmer aufloset, eine prachtige Pyramide
bauen? DaB doch die Zunge so gerne den Antipoden des Herzens
spielt! Noch mehr. Nakte Volker sind nicht so wolliistig als
gekleidete, und die nakten Namen gewisser Dinge schmeicheln 30
der Begierde weniger als die, welche gefahrlichen Reizen zum
Negligee dienen. Die Gewohnheit nur macht die Sele zum Ka-
straten, troz eines herkulischen Korpers. »Die Einbildungskraft
geht gern im Schatten spazieren« sagt zwar ein franzosischer
Schriftsteller. Aber eben in den schattichten Alleen sind die. mei-
sten Huren, und die Nacht, die nach den Philosophen die Mutter
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I . BANDCHEN 477
aller Dinge ist, ist auch die Mutter der Bastarte. - Freilich mus
man hierinnen die Ausschweifung der Autoren vermeiden, die
ihren Nachttopf iiber den Vorbeigehenden ausschiitten, die ein
schones Zimmer mit den kothigen Stiefeln beschmuzen, zu de-
ren Reinigung ein Teppich vor der Thiire ermahnte und diente.
Aber meine Leser mogen selbst kauen; so wie sie in Riiksicht
der schmuzigen Gleichnisse selbst fiir eine Serviette sorgen mo-
gen!
»Warum die Biicher nicht zitirt, woraus naturhistorische Be-
io merkungen u. s. w. genommen worden?« weil ich derselben
zu viele zu zitiren gehabt hatte, und iiberhaupt den Schonen
nicht gleichen mag, die ihre Bibliothek mit dem Riikken an
das Fenster stellen, um ihre Belesenheit bewundern zu lassen.
Aber die Richtigkeit mancher naturhistorischen Bemerkung
oder mancher Nachricht eines Reisebeschreibers, die zu einem
Gleichnisse gedienet, bleibt dahingestelt; und wozu ware sie
auchnothigPDaher ich oft den Volksaberglauben und aberglau-
bige Biicher geniizt. Nur eines anzufuhren »Das in der Medizin
gebrauchliche Regnum animale oder Thierbuch etc. von Krautermann.
20 Arnstadt und Leipzig. In Verlegung Ernst Ludewig Niedtens 1728. «
Es komt hier nur auf die Verdauung an; von einem schlechten
Buche last sich ein guter Gebrauch machen, aus schmuzigen
Lumpen verfertigt man ja schones weisses Papier und wer weis
nicht, daG der Flus Paktolus sein Gold dem Bade des langohrig-
ten Midas verdankt? Uberhaupt niizet dem Wize Gelehrsamkeit
so wie sie dem Verstande schadet, der nur im finstern Brunnen
die Sterne sieht. Der eine gleicht den Insekten, die viele Augen
haben, der andre dem Riesen Polyphem, der nur eines hatte.
Der eine ist ein Vielfras und macht vor dem Essen keinen Tanz,
30 der andre singt wie die Vogel am schonsten ungefuttert. Der
eine ist ein Wechsler, der viele und vielerlei Miinzen im Vorrathe
hat, und der andre ein Okonom, dessen Vermogen in liegenden
Griinden besteht. Die Amtspflicht des Wizes ist wie bekant ent-
fernte Ideen gleichsam durch Kanale zu verbinden; aber Entfer-
nung findet in einem spannenlangen Gebiete nicht stat; und in
Riiksicht des Verstandes ist ohnehin ausgemacht, daB er sich
47° JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG
im Gegentheil durch ein Fernglas die Augen verdirbt Manche
Gelehrte dachten selbst nicht, weil sie sich zu sehr mit dem
beschaftigten, was andre dachten.
Aber ich wil meine Leser des angefangenen Kritisirens iiber-
heben. Nihil est perniciosius quam immatura medicina, sagte
Seneka, auch riigt man am Mohren keine Sommerflekken. We-
nigstens gleicht jede Selbstvertheidigung dem Stokke, den man
mehr zur Zierde als zur Wehre bei sich fiihret, solt' es auch
ein knotichter Geniepriigel sein. - Allein nur noch einige An-
merkungen zu etlichen Satiren in diesem Buche. Mogen sie auch 10
ein wenig unordentlich unter einander stehen; wer wird wie
der Kaiser Geta, nach dem Alphabethe essen wollen? - Dies
heiss' ich die iibrigen Brokken samlen.
Zu No. I. Der Spot iiber die Geniesucht, die nun mit dem
Tode ringt, scheint nicht so ganz unnothig zu sein. Denn ihr
Abfahren so gar zugegeben, erwachen nicht manche Menschen
im Grabe zum Dakapo ihres Lebens auf? Ferner auch tode Kor-
perstekken an, und Stiikke Aal entspringen oft dem hollischen
Feuer, zu dem sie die Kochin schon verdamt hatte. Ein einziges
Genie vermag unsern Gaumen zu verpesten, und ein neuer Got 20
uns in die vorigen Gozendiener zu verwandeln. Ja die Zahne
einer Wasserratte bios waren zur Uberschwemmung etlicher
hollandischerProvinzennothig. Dochgeseztes bliebe bei diesen
Thorheiten bei der ersten Auflage, gesezt wir wiederkauten
unsre Schande nicht, und waren klug genug, um nur zehn Jahre
lang thoricht gewesen sein zu wollen; warum wolte man die
vorigen Narheiten nicht durch nachfolgenden Spot bei der
Nachwelt entschuldigen? Der verschmizte Knabe spielt bei der
Ankunft des Vaters den zankenden-Moralisten, um dadurch sei-
nen Antheil an der Strafe derer, in deren Geselschaft man ihn 30
iiberraschte, von sich abzulehnen. Mit Nesseln vertreibt man
den Gestank eines Leichnams aus dem Hause. Den im Gefangnis
gestorbenen Missethater flicht man aufs Rad; der Japaner kaum
zu gedenkeri, die den unbestraften Leichnam durch Einpokelung
fur seine Strafe aufbewahren.
Aber vielleicht sind gewisse Autoren so gliiklich in ihren Erb-
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ I. BANDCHEN 479
begrabnissen den Kramladen zu verwesen, ohne als unverfaulte
Knochen der Nachwelt in die Hande zu gerathen; vielleicht um-
kleiden diese vortreflicben Bucher, die Behaltnisse origineller
Exkremente, nie kiinftige Bucher, die Behaltnisse von blossem
Verstande, wie der Apotheker die Buchse vol wohlriechender und
gesunder Essenzen mit der Harnblase des Rindviehes zubindet. -
Ich glaube iibrigens, da8 die schongeisterische Tolheit nicht un-
heilbar, sondern bios nachgeahmet ist. Jene Kinder im Waisen-
, hause waren bios der Wiederhal der Konvulsionen eines einzi-
10 gen, und selten wird ein Mensch tol gebohren. Verbessert den
Geschmak der Leser, so verbessert ihr den Geschmak der Skri-
benten. Die alten Mexikaner machten ihre gesunden Kinder zu
Kriipeln, weil ihr Kaiser Zwerge, Buklichte und Blinde zu Hof-
narren erhob; und die Autoren musizirten mit ihren Schellen-
kappen, weil dielangen Ohren des Publikums nur solchen Kon-
zerten Beifal zunikten. Das Elendthier heilt sich von der
fallenden Sucht, indem es sich mit seinem Fusse hinter dem
Ohre krazt; lasset einmal unsere schonen Geister sich hinter den
Ohren krazen, so sind sie ohne Mixturen kurirt! — Vielleicht
20 verdienet niemand mehr eine Satire als gewisse Satiriker, die
wie Broome sagt, iiber alles spotten, um nur ihren Wiz zu zei-
gen, gleich gewissen Schonen, die alles belachen, um ihre weis-
sen Zahne zu verrathen. Und wenn sie nur weisse Zahne hatten,
wenn diese Zahne nur nicht hoi waren, nur nicht durch Aufbe-
wahrung zurtikgebliebener Speisen den Mund in ein lebendiges
Grab verwandelten! Eine Satire iiber die Satire ist ein Zahnsto-
cher, und gewis hatte manche nothig, sich wie der Monch selbst
zu geiseln. An manchen Orten hat eine Gerichtsperson das
Recht, den Scharfrichter, der iibel exekutirt, vor den Kopf zu
3° schiessen; und warlich jeder rechtschafne Man mus den harter
als mit Spot bestraft wiinschen, der iiber Thorheiten nicht spot-
tet, sondern spaset, dem fremde Verbesserung so gleichgiiltig
wie seine eigne ist, der mit gichterischer Hand ein Rezept gegen
die Gicht zusammensezt, der der Kaze gleicht, die fur die Aus-
rottung der Mause, welche an einer Rinde ein wenig nagen,
sich durch Topfe vol Milch belohnet, die sie insgeheim aussauft,
480 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
oder den Richtern, die oft mehr stehlen als die Diebe, die sie
bestrafen, der ferner das Gedeihen der Thorheiten fiir die bessere
Erndte seiner Satire wunscht, gleich dem Todengraber, der fiir
die Fortdauer der Pest betet, um mehrere Toden begraben zu
konnen, und der endlich wohl gar zur Geburt der Thorheiten,
die er zeichnen wil, eine freiwillige Ursache wird, wie der Mah-
ler Parrhasius einen abgelebten Man zu Tode quake, um von
seinem Schmerze die Ziige fiir ein Gemahlde des gepeinigten
Prometheus zu borgen. - Freilich mahlt der Heide den Satir
eben so, wie der Christ den Teufel mahlt; aber das Gebetbuch
giebt auch dem Teufel den schonen Namen Lucifer, den Zizero
dem Morgenstern giebt.
Zu No. II. Die Aufklarung des geistlichen Standes ist weniger
ausgebreitet als sie scheint; sie ist mehr in den Biichern als in
den Kopfen. Der gemeine Mann glaubt, die ganze Welt geniesse
mit ihm um 12 Uhr der Mittagssonne und gewisse menschen-
freundliche Schriftsteller urtheilen wie der Pastor des Montaig-
ne. 3 Aber Intoleranz spint noch ihre Gewebe in den Wink ein
der Konsistorien, und das grosse Agypten beherbergt noch
dikke Finsternis neben dem lichten Gosen. Alte Kirchen sind
dunkel und die meisten Rathshauser in unertraglichem Ge-
schmak gebauet. Ichkenne viele Theologen, die die Orthodoxie
fiir ihren Magen und die Heterodoxie fiir ihren Kopf lernen;
»um gut in dem Exam en zu bestehen« sagen sie. So heurathet
man oft ein runzlichtes Gesicht des Geldes wegen, und entscha-
digt dafiir das angeborne Gefiihl des Schonen durch eine Kon-
kubine, die Extrapost der Ehe. So kleidet sich ein armenischer
Kaufmann zu Konstantinopel offentlich desto schlechter, je rei-
cher er zu Hause ist. So tauscht die Raupe durch die Ahnlichkeit
ihrer Farbe mit ihrem Nahrungsblatte, die Raubbegier des Vo-
gels. So spielte David den Narrischen vor jenem Konige. DaB
die Freiheit im Denken weniger in den hohern als in den niedern
Standen wohnet, dafl es nach Verhaltnis mehr heterodoxe Land-
3 Quand les vignes gelent en mon village, mon prestre en argumente
Tire de Dieu sur la race humaine, et. iuge que la pepie en tieiine defia
les Cannibales. Montaigne L. I. ch. XXV.
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 48 1
geistliche als heterodoxe Superindenten giebt, hab ich oft be-
merkt. Der vornehme Man isset was dem gemeinen Man ekelt,
z. B. Frosche. Die obersten Facher des Repositoriums sind die
engsten und nur kurze Saiten klingen am klarsten. Meine Satire
scheint also weder unbillig nocb unnothig zu sein, und auf ver-
wiistete Orter streuet man ja Salz, der Einpokelung des Rind-
viehes kaum zu gedenken; die Wahrheit der zweif elhaften Sage
nemlich noch vorausgesezt, daB das Kupfer auf den Kirch-
thiirmen sicb mit der Zeit in Gold verwandle.
10 Zu No. III. Ein verdienstloser Edelman verdienet mehr Ver-
achtung als jeder andre Verdienstlose, den keine angeborne Ehre
zu Verdiensten aufforderte; ein verdienstvoller aber mehr Ach-
tung als der, der sich sein Verdienst nicht auf Kosten eines tragen
Stolzes erwerben durfte. Ein Wappen schandet und ehret mehr
als keines. Also ein Spot iiber den Adelstolz, der noch jezt dem
Adel mehr als Verdienste angeboren zu sein scheint, schmalert
die Verdienste dessen nicht, der sich durch eigne der fremden
wiirdig macht, schmeichelt aber auch der Einbildung dessen
nicht, der wie der Mond mit geborgtem Lichte glanzet, und
20 eben so oft wie er Sonnenfinsternisse verursacht; der auf den
Besiz einer Praposizion prahlet und den man wie die Romer
den Dieb, homo trium litterarum nennen konte. Man klagt jezt
iiber die Geringschazung des Adels; aber man solte nicht klagen,
sondern bedenken, daB alle Menschen den Wilden gleichen, die
ihren Gottern Beute und Anbetung so lange opfern, als die Got-
ter als Gotter helfen. Ein jeziger Edelman verhalt sich zu einem
vorigen wie die Kaze zum Lowen; indessen findet der Heraldiker
jene und Linnaus diese als Skelete betrachtet, vollig ahnlich,
den Unterschied der Grosse und der Eigenschaften ausgenom-
30 men. Die Verfeinerung macht (iberhaupt alles gleich, was sich
nicht durch den Kopf unterscheidet. In diesem leztern unter-
scheidet sich nun der Adel nicht immer von dem Pobel, und
Minerva schreibt lieber mit simpeln Gansefedern, als mit silber-
nen, glasernen oder mit Federn von welschen Hiihnern. Aus
dem obigen last sich auch die Ehre erklaren, mit der man jezt
dem andern Geschlechte begegnet;.daher ist jezt eine Edelfrau
482 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
stolzer als ein Edelman. Selbst das Verfahren der Griechen macht
hier keinen Einwand: denn sie waren erstlich so tapfer als fein,
stat daB wir jezt mehr das lezte sind, und wer kent zweitens
die Schonen nicht, die nicht nur durch Schonheit, sondern auch
durch die Kunst, die korperliche Schwache des Geschlechts
durch geistige Starke zu heben, iiber griechische Weisheit und
griechische Tapferkeit siegten? -
Zu No. IV. Wer in dieser Satire bios altagliche Sachen mit
neuen Ausdrukken aufgestuzt findet, hat Recht; wer sie darum
tadelt, hat Unrecht. Ich glaube, was schon oft gesagt worden, 10
miisse immer schon gesagt werden, und nur neue Gedanken
konnen marktschreierischen Puz entbehren. Das lezte zuerst!
Ein neuer Gedanke wird von selbst der Gunstling des Verstan-
des, ohne das Vorgespan des Kammermadgen oder der Frau,
ich meine der Einbildungskraft, nothig zu haben, und eine
schdne Schone gewint durch das Negligee, was eine minder-
schone erst durch den Puz gewint, und ein gutes Buch braucht
keinen Rezensenten zum Herold, zum Laufer. Das Grosse ist
wie unsere ersten Eltern gerne nakt; der Konig von Preussen
kleidet sich simpel, und Herkules hatte keinen Tempel, sondern 20
wurde in der freien Luft verehret. Worte folgen den Ideen wie
der Schatten dem Lichte; aber in der Mittagssonne ist der Schat-
ten am kleinsten. Aber warum sol man im Gegentheil das Ge-
meine gemein sagen? warum sol Schale und Kern wie bei dem
Koriander gleich hart sein? Ich dachte, die siisse Hulle des Pfer-
sichs entschadigte fur den ungeniesbaren Kern. Schmekken
doch auch die Nester gewisser Vogel angenehmer als sie selbst;
der unniize Hofling kan allerdings mit dem Werthe seiner kost-
baren Kleider prahlen, und die Federn des Pfauen kommen der
Schlechtheit seines Fleisches zu Hiilfe, und machen ihn zum 30
Stuzer der Dacher. Die meisten Toden werden in einer neuen
und schonen Kleidungbegraben. Nicht zu gedenken, daB ferner
die Worte die Gedanken, der Leib die Sele, unterstiizen und
sie entweder der Priifung unter das Glas bringen oder der Ober-
zeugung besser anempfehlen. Nicht zu gedenken, daB dieses
alles-die Fuhrwege pflastern heist, die am kothigsten sind, weil
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 483
am meisten darauf gefahren wird; so ist auch gewis, daB die
loci communes sich nicht so leicht verschonern lassen als man
denkt, und daB auf den Fussteigen kein Gras wachst. Die Philo-
sophic erfindet, die Poesie verschonert die Erfindung; die eine
ist Kolumb, der Amerika entdekt, die andere Vespuzius Ameri-
kus, der es benent; die eine Tuchmacher, die andre Schneider;
die eine Bergman, die andre Miinzer; die eine schuttelt die Apfel,
die andere samlet sie in Korbe, und bereitet sie fur den Gaumen;
die eine ist das Uhrwerk, die andre die Glokke, welche den
10 Kindern desselben, den Stunden, den Namen giebt; die eine
ist Fechtmeister, die andre Tanzmeister, die eine Mutter, die
andre die Frau Gevatterin. Dieses alles mag die Antwort fur
den sein, der nach der Durchlesung von No. IV. mit dem Male-
branche fragt, was ist denn damit bewiesen? — Wer glaubt,
man habe in No. IV. dem schonen Geschlechte nicht die geho-
rige captatio benevolentiae gemacht, nicht die Hand desselben
in effigie, namlich den Handschuh, in den sie sich oft verschlei-
ert, gekiist, wie Konige sonst dem Knechte der Knechte den
Fus, dem sie kund und zu wissen gethan, daB nicht jede Zunge
20 die gehorigen Gaben fur die Schmeichelei besize und manche
selbst zu rauh sei, urn nicht durch gutgemeintes Lekken zu ver-
lezen. Die Schmeichelei gleicht dem Feigenbaum, dessen Saft
giftig und dessen Friichte siisse sind, oder den Vampyren, die
das Blut aus dem Schlafenden herauslekken, und dem Opfer
ihrer Zunge noch kiihle Liiftgen zuwehen, urn es in seinem
Schlummer zu erhalten. Manner wie schandlich opfert ihr der
Schmeichelei die Ehre eures Geschlechts auf. Doch nicht nur
dieses Nam ens unwurdig, verdienet ihr nicht einmal den Namen
des Geschlechts, das iiber eure Rechte triumphirt und bald von
30 euch zu schlecht denken wird, urn euch unter seine Sklaven
zuzahlen. Denn bald werden sich eure Schmeicheleien in Wahr-
heit verwandeln, ihr werdet so lange liigen, bis ihr wahr redet,
und so lange fallen, bis ihr unter das zweite Geschlecht failed
Aber um Vergebung, ich traumte jezt und vergas, daB ich in
Deutschland traumte. Was nicht ein Nachtwandler fur gefahrli-
che Reisen unternimt! Allein eine blinde Henne findet doch wohl
4©4 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG
auch ein Korn, und der obige Traum mag wohl nur dies bedeu-
ten, daB das erste Geschlecht seine Weiblichkeit dem zweiten
zu verdankenhabe. Ubrigens weis jeder, daB erne Frau (namlich
Semiramis) dem Manne am ersten das raubte, was ihn von ihr
unterscheidet. Allein ich soke nicht bios fur obigen Traum, son-
dern auch fur No. IV. und fur andre Nummern auch darum
urn Vergebung bitten, weil jeder und das schone Geschlecht
am meisten dem Spot Unempfindlichkeit andichtet, und bei
dem Satiriker mit der Gewisheit ein hartes Herz vermuthet,
mit welcher es sich bei gewissen Leuten vermuthen last, die 10
durch Volstrekkung anbefohlner Strafen ihr Gefuhl gegen den
Eindruk fremder Leiden abharten. Gerade als wenn Lachen und
Weinen zweierlei Jahrszeiten waren! als wenn das Lachen oft
nicht mit Thranen geboren wiirde! als. wenn Heraklit der Anti-
pode des Demokrits ware! Und wer weis ubrigens nicht, daB
der gemeine Man oft den Scharfrichter stat eines Arztes braucht!
Zur Vermeidung jenes Verdachts daher wil ich folgenden Einfal
meines Vetters, der gestern die dritte Frau betrauerte und be-
klagte, nicht gebilligt haben. »Beim Vogelschiessen, sagt' er
heute, wird nur der Schiize Konig, der den Rumpf herunter- 20
schiest, aber nicht der, der etwa den Kopf oder den Fliigel, oder
den Fus u. s. w. gewint. Mit dieser Bemerkung getraue ich mir
heute in der Halbtrauer das vierte weibliche Element meiner
Ehe zu erhalten.« Mein Vetter, der sonst hubsch aussieht, hat
nun manchmal solche dumme Einfalle, wie jeder kluge Man!
Um diesen Einfal zu verstehen, mus man wissen, daB jezt
Schonheit, wie sonst Geld, das Band der Ehe ist. Die alte Mode
verbindet die zwei Riemen des Schuhes mit silbernen Schnallen,
die neueste verbindet sie mit schonen seidnen Bandern.
Zu No. V. und VI. Vacat. 30
Ein zweiter Band diirfte auf diesen folgen, den ich darum
nicht den ersten nante, weil erst das Urtheil des Publikums ent-
scheiden mus, ob er einen Bruder haben sol. - Die Vortreflich-
keit des Titels von meinem Buche wird mich fur meine lange
Wahl belohnen; ich hake ihn wenigstens alzeit Kir nichtpassend
GRONLANDISCHE PROZESSE • I. BANDCHEN 485
genug, um ihn fiir gut zu halten. Der Wiz unserer Schrifts teller
namlich glanzt auf der ersten Seite der Bucher in vollem Lichte,
so wie er auf den lezten Seiten im lezten Viertel ist. So prangt
in England vor den Wirthshausern auf dem Lande, ein Galgen
mit einem Schilde, in dessen Ausschmukkung sich der Beutel
des Besizers auf Kosten des Gasthofs erschopft. a Kein Autor
schandet sein Buch mit einem christlichen Taufnamen; fast jeder
Bauer schreibt sich ja Hans, Christian etc. Man wahlt daher
lieber, gleich den Independenten zu Karls I. Zeiten, Namen aus
10 dem A. T. Oder man bittet Griechen und Romer zu Gevattern.
Einige Erdsohne schreiben auch den Gottern des heidnischen
Himmels einen Gevatterbrief, gleich den Unterthanen, die den
adelichen Hernihres Dorfs in den Pathen desselben verwandeln.
- Ich nun habe mir den Titel meines Kindes der Raritat wegen
aus Gronland verschrieben. Man wird namlich aus Kranz und
andern wissen, daB die Partheien daselbst ihre Streitigkeiten in
getanzten und gesungenen Satiren abthun und sich mit einander,
ohne das Sprachrohr der Advokaten, schimpfen'. Ergo betitle
ich mein Buch: gronlandische Prozesse, q. d. e. Bis hieher hab
20 ich etwas zu sagen verschoben, was vielleicht jeder Leser schon
auf der ersten Seite errathen, namlich dies: daB der Verfasser
dieser Skizen noch jiinger ist, als die, die ihn rezensiren werden.
Das ist viel gesagt! Allein nicht zwar darum, um auf meine
Jugend unbillige Nachsicht zu betteln, sondern um wegen der-
selben keine unbillige Strenge zu erfahren. Doch ware der erstere
Endzwek nicht eben ganz verwerflich, und gewisse geile Aus-
wiichse des Wizes lies sen sich wohl mit jenem Gestandnisse ent-
schuldigen. Junge Federn haben Blut. Die Einbildungskraft fiir
die warme Jugend, den Scharfsin fiir das kalte Alter! In kalten
30 Landern ergozen die Vogel mit einer schonen Stimme, in war-
men nur mit schonem Gefieder; in kalten giebts mehr Eisen,
in warmen mehr Edelgesteine. Wer kan wissen, wie oft er fehlet!
Eben seh' ich, daB meine Vertheidigung selbst einer Vertheidi-
gung nothighat. Wenigstens darf ich hoffen, daB man von dem,
der weniger ist, als er werden kan, nicht die Vorziige dessen
a Museum 1776 Jul S. 632.
486 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG
fordern werde, der das ist, was er werden konte. Dieses aber
darf ich nicht hoffen, wenn die Kritiker noch den Insekten zu
gleichen fortfahren, die mehr die Bluthe als die Friichte eines
Baumes umschwarmen und mit ihrem Stachel aussaugen. Doch
die Ungeduld meiner Leser diirstet vielleicht zu sehr nach einem
wohlthatigen Dixi, und ich schliesse, um diese Vorrede oder
diesen Beschlus nicht durch unmaBige Vergrosserung, dem ho-
hen Kopfpuze oder den hohen Schuhabsazen der Weiber gleich
zu machen.
R.
ZWEITES BANDGEN
VORREDE
Es ist ein alter und in mancher Riiksicht loblicher Gebrauch
der Autoren, dem Buche eine Vorrede vorauszuschikken, die
man nach dem Titelblat zu lesen pflegt. Um diesem Gebrauche
nachzuleben, hab' ich daher folgende Vorrede ausgearbeitet:
Junge Schriftsteller, merkt irgend ein alter an, stellen in ihren
Vorreden bogenlange Selbstvertheidigungen auf. Dieser Be-
merkung fehlet zur Algemeinheit noch der Zusatz: »und wenn
io sie die Stirne ihres Buchs mit diesem Galgen verschonen, so
loben sie ihre Fehler wenigstens in einem langen Beschlusse,
und verhangen den Hintern mit dem zierlichgeflochtenen
Schwanze. « Da ich zur Bestatigung dieses Sazes schon im ersten
Bandgen mehr als einen Bogen geschrieben, so werd' ich ihrer
Fortsetzung im zweiten nur Einen widmen. Auch wurde die
Schurze mit der Lange einer Schleppe das Fortschreiten unterbre-
chen, und in die Vorrede, iiber welche der Leser noch mit dem
ersten Hunger herfalt, schikt sich keine so lange Abhandlung
von Nichts als in den Schlus, woran der gespeiste Gast sich
20 fur etwas andres hungrig lesen wiL
Lange Ohren sind die Erbsunde, fur welche kein Esel etwas
kan, und welche auch der billigere Theolog keiner ewigen Hol-
lenpein wiirdig achtet; aber wenn der Esel yanet, so begeht er
eine wirkliche Siinde. Denn er hatte auch schweigen konnen;
zum Wetterpropheten iibrigens verlangt man nicht einmal den
Saul, geschweige seine Eselin, sondern die Prophetenkinder
selbst. Dafl ich unter dem Esel einen Autor verstanden wissen
wil, brauch' ich nicht zu sagen. Dieser bittet nun in der Vorrede,
mit seiner Dumheit vorlieb zu nehmen, weil er dafiir nichts
488 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
kortne; allein iedes gute Journal antwortet darauf mit Recht,
dafiir aber konne er etwas, daB seine Dumheit gedrukt worden.
Allein diesem widersprech' ich nun in dem Verfolge meiner
Rede; allein ich hoffe, den Leser fur den Widerspruch meiner
Ideen durch ihre Schonheit zu entschadigen und seine beleidig-
ten Augen wieder durch die Vorsprache seines bestochenen
Gaumens zu gewinnen. Denn er wird gewis nicht die Unhof-
lichkeit ienes Gasts nachahmen, der iiber eine sparsam erleuch-
tete Tafel hinrief: »Gebt mir ein Licht mehr und ein Gericht
weniger!<< — Dieser ansehnliche Gedankenstrich sol weder die 10
Sizstange eines ausgeflogenen Gedankens sein, noch der Fuhlfa-
den eines an sich unempfindsamen Perioden, noch der Staubfa-
den eines poetischen Bliimgens, auch nicht eine Spiknadel, wel-
che die Stelle des Speks zu vertreten pflegt, noch viel weniger
der bout rime eines Sinnes, dessen Erganzung der Autor dem
Leser ansint, am allerwenigsten das Seitengewehr oder der Sta-
chel eines Epigrams, und endlich weder der Fetschwanz eines
Perioden mit schlechter Wolle noch die geradgespante Schon-
heitslinie von Hogarth . . . Hatte nicht iezt der Leser mich ge-
fragt, »nun was denn?« so wuste er schon folgendes Ende des 20
vorigen Perioden: sondern bios ein Markstein sol er sein, der,
gleich einem Absaze, unahnliche Materien von einander son-
dert, wie es im gegenwartigen Beispiel das Geschwaz iiber Ge-
dankenlosigkeit und das iiber Gedankenstriche ist. - Die erste
Satire, zu welcher diese Vorrede dich begleiten wird, ist die
schlechteste in diesem Buche. Dieses sag' ich deswegen, damit
du nicht Messer und Gabel bey dem Gerichte weglegst, das
seinen bessern Nachfolgern nur den Weg bahnen sollen. Der
Rath, den man in den alten Rednerschulen den Rednern gab,
die Rede mit einer schwachen Stimme anzufangen und mit einer 30
verstarkten fortzusezen, verdient noch iezt Befolgung. Bei mir
und bei dem Seidenwurm, dessen Kopf anfanglich nur Floret-
seide zu spinnen vermag, scheint die Natur ienen Rath in einen
Befehl verwandelt zu haben. Ist der »Erweis von der iezigen
Seltenheit der Thorheiten« keinen Dreier werth, so thue ich
wohl, wenn ich eine Satire iiber die Kunstrichter edire, und
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 489
darauf mich an meiner satirischen Peitsche aufkniipfe oder im
Flus Lethe ersaufe, um in einer bessern Welt, mit Abraham,
Isaak und Jakob gratis zu essen. - Fast bios schriftstellerische
Schellen werden im gegenwartigen Bandgen auf die Kapelle
gebracht; und ich argere mich, daB es nicht auch im vorigen
geschehen. Unser einer, der von alien Gemachern Bedlams
keine besser kent als die Studierstuben, weil er darinnen geboh-
ren und erzogen worden, soke erst an vergoldeten Bucherriik-
ken, die ihm ieder Bibliothekar gern zeigen wird, seine Geisel
10 iiben, eh' er sie iiber die mit hollandischem Tuche bekleidete
Menschenrukken zu schwingen wagte. Denn belacht er Narren,
die er nicht kent, so ahnlicht er den Hexen, welche den Gegen-
stand ihres Zorns verwunden wollen, indem sie nur sein Bild
aus Wachs verwunden; oder der Obrigkeit, welche stat des Die-
bes sein Bild aufhangt. Ich rezensire mich hier, aber ich lobe
mich nicht, und was iezt so arg stinkt, ist nicht Eigenlob, son-
dern Eigentadel. Ferner: die satirische Geisel scheint (in
Deutschland namlich) mit dem Staubbesen das gemein zu ha-
ben, daB sie die Riikken der Nichtgelehrten umsonst schlagt.
20 Hieraus wiirde nun gegen die Nothwendigkeit der Satire wenig
zu folgern sein. Denn nach der Meinung der Theologen, die
schon langst im Himmel sind, dauern die Hollenstrafen, unge-
achtet sie die Verdamten nicht bessern, dennoch ewig fort; allein
eine Satire, welche bekehrt, ist mir alzeit lieber. Dieses Lob
gebiihrt nun den Satiren iiber die Fehler der Autoren; vielleicht
darum, weil keine bitterer sind, und weil sie vor andern Satiren
das Gliick haben, eben von denen, fur die sie geschrieben wor-
den, gelesen zu werden. Keine Dame wird eine Nessel brechen,
um daran zu riechen; aber wohl der Botaniker, um sie zu skeleti-
30 ren. - Der englische Juvenal, Pope, reitet einen satirischen Pega-
sus, welcher sowohl beiset als fliegt, und er ahnlicht dem Ka-
suar, dessen Flugel mit Stacheln bewafnet sind. Eine starke
Einbildungskraft spornet immer so sein Lachen an, daB er ihm
nie den Ziigel zu halten vermag; daher in seiner vortreflichen
Dunziade ihm die Ironie unmoglich gelingen konnen. Der eng-
lische Luzian, Swift, dessen satirische Dornen unter Weihrauch
49° JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
duftenden Rosen lauern, iibertraf Popen in der Ironie zu sehr,
um ihn in der Starke -des Ausdruks zu erreichen, und wenn
die Ironie seines Busenfreunds in vorbrennende Schusse ausartet,
so scheint er hingegen die Sicherheitsflinte des H. Regnier zu
fiihren. Oberzeugt, daB der Zufal sie ihm nicht losschiesscn
konne, geht er mit derselben den Winkelziigen des Schwa rz-
wildprets so lange nach, bis sie die Hofnung zu treffen, los-
driikt. Nur mus er freilich zu einem einzigen satirischen Hieb
oft in ganzen Seiten aushohlen. Die Satiren dieser beiden Genies
wtirde nur die iibertreffen, welche ihre ausschliessenden Vor- i
ziige in einem gewissen Grade zu vereinigen ubernahme. Die
Vereinigung ist nicht unmoglich; allein zu ihrer Wirklichkeit
miisten vorher viele erbarmliche Versuche den Weg gebahnet
haben. Fiir einen solchen erbarmlichen Versuch bitt* ich nun
den Aufsaz iiber die Seltenheit der Thorheiten anzusehen; iibri-
gens hat einer, welcher Popen und Swiften elend nachahmet,
nicht nothig, um Verzeihung zu bitten, daB er beide noch elen-
der vereinigt. - Die Kiinstler verkaufen den wohlriechenden
Staub, den das Holz unter der Bearbeitung abgeworfen, zum
Rauchern. Gerade so mogen die Epigrammen, welche diesen 20
Band beschliessen, als Abfalle von den vorhergehenden Satiren,
als Staub, der aber freilich nach Weihrauch nicht riecht, oder
wenn ihr wolt als Feilstaub, den die kritische Feile den satirischen
Waffen zum Besten ihrer Scharfe abgenommen, mit unterlau-
fen. Ich weis nicht, ob ihre Klingen spizig sind; klingend sind
sie wenigstens nicht d. h. sie sind prosaisch. Warum es freilich
iezt noch Mode ist, das Singedicht mit Fiissen und mit Reimen
zu belastigen, mag Apollo wissen. Die Kiirze, zu welcher man
ihm dadurch zu verhelfen glaubt, wird nicht seiten eben dem
Reime und dem Metrum aufgeopfert: denn nur an Wernike's 30
Versen sind wie am Merigel die Fiisse zugleich Stacheln; und
wenn ihr denn auch endlich durch eine lange Allee von vielen
Versen den Witz des lezten eingehohlet, so habt ihr doch nichts
als ein Epigram, welches gleich den Ochsenhornern, zwar am
Ende spizig, aber auch bis dahin hohl ist. Ja nicht seiten ver-
schwindet noch dazu die Spize der Allee, wenn ihr an das Ende
GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 491
derselben gekommen. Vielleicht ist ein prosaisches Epigram
auch darum besser, als ein versifizirtes, weil ich nur das erstere
machen kan. Man hat den Fuchs so oft getadelt, daB er die Trau-
ben, welche er entbehren mus, sauer schilt; ich dachte, man
lobte ihn doch einmahl dafiir, daB er die Trauben, die er er-
sprungen, fur siis ausgiebt. - Die Ahnlichkeit meines Buchs
mit einer Polyglottenbibel, d. h. die Ungleichheit der Schreibart
hab' ich schon einmahl entschuldigt; aber wird die Wiederhoh-
lung des Fehlers nicht die Wiederhohlung der Entschuldigung
io nothig machen? Miiste man also nicht denen, die wie Moses
verbieten, das Feld mit mancherlei Samen zu besaen, noch ein-
mal sagen, daB nicht bios der Ekel nothige, im Genus der Schon-
heiten und also in der Nachahmung derselben den Unbestandi-
gen zu machen, sondern daB auch die Unahnlichkeit der Lagen
die Unahnlichkeit der Schreibart diktire? Die Philosophie kan
wohl eine algemeine Sprache erfinden; auch bietet Herr C. G.
Berger ihr hiezu die Hand, wenigstens die drei Schreibfinger;
allein dem Montaigne und auch manchem schlechten Kopf ist
es unmoglich, immer dieselbe Sprache zu reden und dem Felle
20 der Gedanken dieienige Bestandigkeit in der Farbe abzugewin-
nen, welche nach den neuern Versuchen, das Fel des Chamale-
ons beobachtet. - Der Fetflekken giebt es in diesem Theile weni-
ger als im vorigen, wo Gleichnisse die Prozesse anfiengen und
endigten, und die Hutschnalle und die Schuhschnalle schim-
merte; allein selbst diese Vorrede, der als dem Hute des Buchs
die Tressen doch so wenig stehen, daB iezt bios der Bediente,
aber nicht der Her Gold auf dem Kopfe tragt, hat der Tressen
so viele, daB sich vermuthen lasset, das Kleid werde deren we-
nigstens eben so viele haben. Ob sich (ibrigens die Wasche leich-
30 ter von einem Fetflek oder von einem Stokflek reinigen lasset,
werden die Wascherinnen am besten wissen. Nur ich lasse mir
es nicht ausreden, daB die Krafte der Sele wohlfeiler beschnitten
als gediingt werden, und daB zwei silberne Sporen theurer sind,
als ein Iederner Zaum. »Alsdan sind aber deine Satiren nichts
als Samlungen von Epigrammen!« Meinetwegen! Findet ihr an
demienigen Gliede meines geistigen Kindes, welches wie Kaiser
492 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
und Konige unter einem fremden Namen reiset, allein demun-
geachtet wie sie mit seinem eignen iedem bekant ist, zu viele
Verschonerung; so bin ich zufrieden, wenn ihr alle seine Glieder
tadelt, aber doch den Hintern lobet. Ist ia auch eine gewisse
Statue unter dem Namen der Venus mit dem schonen Hintern
beruhmt! Den Griechen Peron verewigten blosse Salben und
am Demetrius Phalereuslobteman stat schoner Augen die scho-
nen Augenlieder; daher er den Beinamen xa^iTofJtaKpaQoc; be-
kommen. Beilaufig! Dieser Demetrius konte mit seinen Augen-
liedern auch denen zu Passe kommen, die uns stat der 10
tiefsinnigen Gedanken eine schonere Einkleidung der abgenuz-
ten liefern. Dies alles ist wiederum Selbstrezension, aber wie-
derum kein Selbstlob; und ich mag niemanden weniger ahnli-
chen, als den Stuzern, die ihren durftigen Lenden herkulische
Verschwendung schuldgeben. Vielmehr verrath Oberflus an
Zierrathen Armuth an Wiz; und nur ein Wirth, bey welchem
selten vornehme Leute einkehren, nimt Betler und Spizbuben
auf, und bestiehlt in Ermanglung reicher Diebe, arme Diebe.
Mr. le Camus Bischof von Bellay sagte einmal, eh' er seine
Rede anfieng: Messieurs, on recommande a vos charites une 20
jeune Demoiselle, qui n'a pas asses de bien pour faire voeu
de pauvrete. D. h. ins Deutsche iibersezt also: lieben Herren,
habt Mitleid mit einem Autor, der zum Geliibde der geistigen
Armuth zu arm befunden worden, und zu wenig Wiz hat, um
ihn nicht zu verschwenden.
Bis auf die Mode, nichts kluges zu sagen, blieb meine Vorrede
den (ibrigen treu; allein iezt verlast sie ihre Vorganger und
schimpft nicht ein einzigesmal auf die Rezensenten. Denn ich
sehe auch wenig Billigkeit in dem Verfahren, auf den gutge-
meinten Tadel der Kunstrichter mit Schmahungen zu pranume- 30
riren. Ich, meines Orts, dank ihnen vielmehr im voraus fur das
Razenpulver, das sie mir streuen werden, und verspreche, das-
selbeihrer Absicht gemas, als Zahnpulverzu verbrauchen. Denn
man musnamlich nicht denken, daB sie mit dem kritischen Dol-
che, den sie z. B. auf mich ziikken werden, mich toden wollen;
vielmehr wollen sie mich damit bessern. Nur daB sie einen
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 493
Dolch zum Zahnstocher nehmen. Der leztere ubrigens hat noch
niemand getodet; wenn ich den Agathokles ausnehme, dessen
Zahnstocher aber sein Vetter iiberdies vergiftet hatte. Spiihret
man den Absichten der Rezensenten etwas genauer nach, so
findet man, dafi sie den Autor fast alzeit darum nur verwunden,
um ihn anzuspornen. Ihnen fluch' ich also nicht; und ihren Got,
den Momus, bet' ich gar an. Mein Gebet zu diesem Got hab'
ich von gewissen Tatarn in Siberien entlehnet, die es als das
einzige an den ihrigen abschikken. »Schlag mich nicht tod!«
io bet' ich namlich.
R.
I.
Unpartheiische Entscheidung
des Streits iiber das Verhaltnis zwischen dem Genie und den Regeln;
als eine Probe von der kiirzlich entdekten Tauglichkeit des Wizes,
die Stelle des Verstandes, in Aufsuchung
der Wahrheit zu vertreten
Man hat iiber den gegenseitigen Werth des Genies und der Kritik
nie so viel gestritten als in unsern Tagen; aber audi nie gab
20 es mehr Genies, gegen deren Ruhm die Kritik so viel einzuwen-
den hatte. Kein Sieg, sondern nur ein Waffenstilstand endigte
diesen Streit, den ich erneuern wil, um ihn auf immer zum Er-
staunen derer zu schliessen, welche dem Wize nicht einmahl
die mittelmassigen Augen des Verstandes zutrauen. Aus Liebe
zur Wahrheit werd' ich fur beide Partheien neue Waffen Schmie-
den, und kein Gleichnis und keine Anspielung verschweigen,
deren Schonheit einigen Einflus auf den Ausschlag fur irgend
eine Seite verspricht. Zulezt, wenn ich Gleichnisse von Gleich-
nissen werde subtrahirt und zum Fazit die Wahrheit gefunden
30 haben, werd' ich einen langen Schlus beifiigen, um den Wiz
und mein Meisterstuk d. h. mich selbst zu loben.
494 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
Grunde fur die Wichtigkeit der Regeln
I. Die Leute, welche figiirlich auf dem Pegasus reiten, scheinen
iezt dieienigen nachzuahmen, welche unfigiirlich auf prosai-
schen Pferden reiten; beide tragen lange Sporen. Liebhaber der
Allegorie wiirden noch hinzufiigen; beide bringen die langen
Sporen seltner auf die Pferde als in die Kollegien, und beiden
fehlet zum geschwindesten Gallop nichts als ein Pferd.
2. Diese Mode kan,man diesen Genies in so fern nicht ver-
iibeln, als sie den Genus von der angebohrnen Freiheit der
Sprachwerkzeuge durch das Gleichnis rechtfertigen konnen, daB i
der despotische Zaum nur fur das Maul der Pferde, aber nie
der Esel schiklich sei. O Homer, o Homer, rufen sie hier aus,
warum fandest du doch in England keinen Esel zum Ubersezer!
sondern hochstens einen Maulesel, so wie in Frankreich gar nur
eine Stutte! Nach diesem Gleichnisse hatten die Deutschen frei-
lich Recht, ihren Pegasus mit einem gefliigelten Riikken und
einem Eselskopfe zu mahlen.
3. Allein bei einem geringen Nachdenken wird ieder auf das
Gleichnis fallen, daB die Reinlichkeit den vogelfreien Bewoh-
nern des Mikrokosmus allenfalls zwar den Kopf, aber nicht die 20
iibrigen Glieder zum Wohnplaz einraume d. h. das Genie kan
zwar auf einige Nachsicht gegen seine Fehler rechnen, allein
an seinen Nachahmern, deren Haupt es ist, duldet man keine
Lause.
4. DaB die Affen sich den Menschen bis zur Annahme der
Blattem, aber nicht der Sprache genahert, ist weit weniger be-
kant, als daB die Herren Xdem Hern a ausser den Apostrophen,
wenig Dichtergeschiklichkeiten abgeborgt, und daB die Schrif-
ten der Herren ywohl das pokkengrubichte Gesicht, aber nicht die
starke Zunge der Schriften des Hern b sich angeschaft. 30
5. Ohne mich mit fernern Ausnahmen von der Regel herum-
zubalgen, sez' ich fest: Genie und Kritik miissen Hand in Hand
schreiben. Denn der Vogel fliegt sowohl mit Schwungfedern
als mit Regierfedern und sein Schwanz lenkt seine Flugel.
6. Denn die Schiffe niizen die Segel erst durch das Steuerruder
G RON LAND ISCHE PROZESSE * 2. BANDCHEN 495
- hievon machen selbst die Schiffe keine Ausnahme, auf denen,
sobald sie flot sein werden, kiinftige Alexanders ihre Landmacht
und ihre vier und zwanzig Plunder zur Einnahme des silbernen
Monds abschikken werden.
7. Ichkan meinen Gegnern die Freiheit, schimmernde Politur
zur einzigen Wirkung der Regeln zu machen, ohne die Besorgnis
gestatten, mein Wiz mochte dadurch in einen kleinern Kreis
von Ahnlichkeiten eingezaunet werden. Denn der Polirung lit—
terarischer Produkte halt nichts eine schonere Lobrede, als der
10 Offizier, der seine Kinder wund priigelt, weil der Hahn an der
Flinte und zwei Knopfe am Rokke nicht blank waren. -
8. Oder als meine alte Base, die den hokkerichten Brei, eh'
sie ihn auftragt, mit dem Loffel glattet. -
9. Endlich als der Hollander, welcher den Stahl mit einer E3e-
ganz und einer gleissenden Reinlichkeit austapeziert, um derent-
willen das Rindvieh seine Wohnung mit dem reinlichen Besizer
theilen mus und mit den reinlichen Eseln theilen konte.
10. Den Neuern, die zur Nachahmung unsrer Damen herab-
gesunken, ihre Biicher tragen und gebaren, aber nicht saugen
20 - sie mit ihrem Blute, aber nicht mit ihrer Milch nahren; (und
deren Briiste die Wohlthatigkeit des Bauchs nicht fortsezen -
kont' ich der Scharfe des Beweises wegen noch hinzufugen.)
1 1 . Die das Lob mit stinkenden Fehlern ankodern und gleich
den Seiltanzern, nicht durch zierliche Pas um den Beifal des
Kenners, sondern durch gefahrliche Sprunge um das Erstaunen
der Menge buhlen;
12. Die so wie die Bedienten den berauschten Kameraden bei
der Herschaft fiir krank ausgeben, umgekehrt ihre kranke Phan-
tasie fiir berauscht ausgeben und Armuth in Verschwendung
30 verlarven;
13 . Die sich die Schopfung schoner Engel ohne die Schopfung
haslicher Tetifel nicht denken konnen.
14. Und die auch bei der Sele die gotlichen Kinder und den
Urin aus demselben Kanal abzapfen wollen;
15. Diesen Neuern konte ich auf den Einwurf, daB die Kalte
der Kritik zwar das Unkraut, aber auch zugleich die Blumen
496 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
hinrichte, mit dem Beispiele Popen's antworten, dessen Feile
immer auf die Stelle ausgerotteter Fehler Schonheiten pflanzte.
16. Allein meine Liebe zur Wahrheit untersaget mir diese so
wenig griindliche Antwort und leitet mich dafiir auf die seltnen
Bemerkungen, daft sich den Regeln die Ahnlichkeit mit einem
Kamme nicht absprechen lasse, der die Hare so wohl von altem
Unrath saubert, als in neue Reize krauselt. -
17. Und selbst auch nicht die Ahnlichkeit mit einem gewissen
Streusand, der nicht nur die schmuzige Dinte in sich saugt, son-
dern auch manigfaltigen Schimmer iiber das Papier, aussaet.
18. Ich wil des theologischen Spruchs gar nicht gedenken:
Conservatio (&. h. die Kritik) est altera creatio; sonde rn nur des
voltairischen: Nous eumes longtems neuf muses, la saine critique est
la dixieme qui est venue bien tard; ia sie gleicht der Margaretha
de Valois, Konigin von Navarra, auch darin, daB sie die vierte
Grazie ist.
19. Daher ist sie nicht bios die Zierde, sondern auch oft der
Keim grosser Schonheiten, so wie auf den Fliigeln des Windes
neben den wohlriechenden Diiften der B lumen auch der frucht-
bare Samenstaub derselben liegt.
20. Sie verbessert den Autor, indem sie sein Kind verbessert,
und macht das erste Buch zur Hebamme des andern: so wie
die neugebohrne Diane (d. h, der leuchtende Mond) ihrer Mut-
ter der Latona, (der Nacht) die Geburt ihres Zwillingsbruders,
des Apols erleichterte. Ein an den Zaum gewohntes Pferd lasset
zulezt ohne Zaum sich bandigen.
21. Man schmalert die Wichtigkeit der Regeln wenig, wenn
man sagt, das Genie grabe seinen Reichthum aus seinen eignen
Eingeweiden: denn ich sage, die Regeln sind das Eisen, womit
man das Gold hervorhebt.
22. Behauptet man, die Kritik zerstohre den Enthusiasmus
des ersten Empfangnisses des Buches; so sez' ich hinzu, aber
sie arbeitet an der Ausbildung desselben; die Kalte vergiitet ihre
Feindseligkeit gegen die Bluthe, durch die Zeitigung und Erwei-
chung der herben Frucht.
23. Und wenn das Genie den Aufflug der Phantasie wirkt:
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 497
so empfangt die Kritik sie bei dem Zuriikflug. Das leztere ist
das schwerste: derm der Knabe wirft den Bal mit weniger Kunst
in die Hohe als er ihn auffangt.
24. Wolte man mich noch weiter verfolgen, und das Genie
eine Venus und die Kritik einen Vulkan nennen; so wiirde ich
diesem Einwurfe nicht bios mit der Ehe der Venus und des
Vulkans begegnen, sondern auch aus dem Seneka einen Ge-
burtsscheinanfuhren, der den Amor fur eine Frucht des Ehebet-
tes besagter Venus und ihres Marines erklart.
10 25. Schluslich wachst auf dem Kin des Genies meistens nur
iugendliches Milchhar, aber von dem Kin der Kritik hangt ein
manlicher Bart herunter - den unbiegsamen Schnurbart noch
ungerechnet. Der Jungling fliegt Gedichte, der Man pfeift Re-
zensionen. Daher giebt die Mythologie den Pferden der Aurora
Fliigel, und den Pferden des Gottes des Tages keine.
Summa Summarum 25. Griinde oder Gleichnisse fur die Wich-
tigkeit der Regeln.
Hier ruhe, Leser, ein par Zeilen mit mir aus, und uberdenke
noch einmal vorher diese Griinde, eh* du mich zu den Gegen-
20 griinden begleitest. Lasse dich nie durch den Schimmer dem
Lichte untreu machen; priife die Farbe ieder Behauptung und
wische von der Luge die Schminke. Aber die gesunde Wahrheit
verachtet gekauftes Roth; darum hah' ich meine Saze ohne Puz
aufgestellt, und das Dintenfas nicht zum Schminktopf ernied-
rigt. Manche Personen sollen ihre natiirliche Augen durch gla-
serne ersezen. Allein fern sei von meinem Gansekiel auch dieser
Betrug! So wenig ich den Wangen der Wahrheit Schminke lieh',
so wenig lieh' ich ihren Augenhohlen Augen. Sie ist blind, lieber
Leser! darum ziehe sie der philosophischen Luge vor, die nicht
30 blind ist! -
Griinde gegen die Wichtigkeit der Regeln
1. Selten sol der Adler die Eule seiner Grausamkeit wiirdigen;
o! wie beschamt uns das Beispiel dieses Genies, uns, die wir
49§ JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG
so oft finstre Schulgelehrte mit unsern Schmahungen geehret!
Aber iezt sol es uns zu beschamen nicht mehr nothig haben.
2. Also Friede mit dem Man; aber Fehde mit seiner Meinung!
Und da lasset uns denn sagen, daB der Dolch des Fanatismus
der Vernunffc nicht mehr geschadet haben kan, als der Dolch
der Kritik dem Genie;
3. DaB nicht mehrere Wilden den eingeazten Farbenschmuk
ihres Korpers mit Krankheit und Tod bezahlt haben konnen,
als Werke des Genies mit Kranklichkeit die Schminke der zierli-
chen Regeln; ... 10
4. Auf Kosten der Konstrukzion macht sich unser Eifer mit
dem Gleichnis Luft, daB die Produkte des kritischen Gewurms
den Schlangen zwar an Geschmeidigkeit, aber auch an Kalte
ahnlichen; zur Schande unsrer Zeiten miissen wir noch hinzu-
seufzen, auch an langem Leben.
5. Und daB - fahrt die obige Konstrukzion wiederum fort
— das neue Joch der Regeln, das nie auf dem Nakken eines Barden
lag, uns fur die Abgotterei bestraft, die wir mit den franzosi-
schen, in Flitterschmuk verlarvten Gozenbildergen getrieben:
so beweiset Coceius sehr wahrscheinlich, daB sich die Juden 20
das Zeremonialgesez durch nichts als die Verehrung des goldnen
- besser (ibergoldeten - Kalbs auf den Hals gezogen.
6. O ihr Franzosen! ihr seid, bei unsrer Sele! Hufschmiede,
die schiizende Eisen auf den Huf des Pegasus nageln wollen.
Zu was sollen sie ihm, der auf der Erde nicht geht, der im Ather
gallopirt. Beschenkt doch den Ochsen damit, dessen ausge-
spreizte Klauen auf dem schliipfrigen Eise gleiten.
7. Hochstens seid ihr Bartscherer, die von dem Kin das ehr-
wiirdige Moos der Manlichkeit abmahen. Da stehen sie, die
kahlen Unterkinbakken, und gleissen in ihrer Unfruchtbarkeit, 30
so gar der Stoppeln beraubt, weil diese den weiblichen Kus ste-
chen konten. Schenke unserm vollen Herzen, guter Leser, die
Beklagung der Schnurbarte! . . . Die Menschheit ist gesun-
ken! . . . sie lacht der Schnurbarte! ... sie rasirt sich! ... sie
frisirt sich! . . .
8. O ihr Deutschen! dieihriiber Schonheiten, die ausser dem
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 499
Bezirke der Theorie aufgeschossen, deri Stab brecht, wie die
Theologen iiber gute Werke, die nicht aus dem Glauben kom-
men, . . . doch der Adler wil uns beschamen.
9. Kuhnlich diirfen wir voraussezen, daB das Knarren der
Feile, die man schiklich mit der Kritik vergleicht, die Hande
eines ieden, der kein Schlosser ist, zum Verschliessen der belei-
digten Ohren auffordern.
■ io. Nach dieser Voraussezung erzieht die figiirliche Feile wohl
Schonheiten, aber sie erzeugt keine.
10 11. Wie viel aber an ieder Erzeugung gelegen ist, kan ieder
aus dem ersten Kapitel des Tristram Shandy lernen.
12. Nicht bios der Dichter, auch sein Gedicht wird gebohren,
und nicht gemacht.
13. Nichts ist also ausgemachter, als daB die Kritik nicht die
Mutter, sondern nur die Amme grosser Schonheiten abgebe, vor-
ziiglich da sie dem faulen Fleische ahnlicht, das die neuen Natur-
kiindiger nicht fiir die Mutter, aber fur die Amme der Maden
halten. Die Laugnung dieser zwo Wahrheiten kan man nur ei-
nem Aristoteles ungeahndet hingehen lassen.
20 14. Hiezu komt noch, daB die Kritik, gleich der Chemie, das
Gold wohl reinigen, aber nicht machen kan. Zum leztern gehort
ein Alchymist, wie W. Shakespear oder wie der langorichte Mi-
das, den die Alchymisten fiir einen Alchymisten halten. - .
15. Und die Regeln, hiemit driikken wir das Siegel auf alle
iibrigen Griinde, konnen vielleicht fiir eine diirre Stange gelten,
an der sich Schonheiten hinaufwinden, aber nicht fiir einen kul-
tivirten Baum, worauf man sie wegen ihrer Wildheit impfen
muste.
16. Allein wir konnen der Kritik nicht einmal den Werth einer
30 diirren Stange einraumen, und kiinftige Gleichnisse zwingen
uns die Behauptung ab, daB keine Fehler des Genies die Strenge
der Regeln zu fiirchten haben. Die iibrigen Schonheiten bieten
sich ihnen zu Advokaten an - fast konte man diese Schonheiten
mit den schonen Weibern vergleichen, mit deren Reizen die
Manner die Blossen ihrer Sachen gegen das Recht verwahren.
17. Oder: in genievollen Werken kampfen Schonheiten mit
500 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Fehlern um das Ubergewicht, wie in Milton's Gedicht die Engel
mit den Teufeln; allein die Engel siegen, so wie die Schonheiten
in Milton's Gedicht.
18. Mit den Regeln schreibt man dem Genie im Grunde psy-
chologische Selbstkentnis vor. Aber lieber Himmel! denkt denn
niemand an den ungliicklichen Narzis, dessen Tod eine Weissa-
gung des Tiresias zur Wirkung der ersten Selbstbeschauung
macht!
19. Wie der Spiegel den Basilisken durch sein Bild todet, so
halt die kalte Psychologie dem Genie zwar seine Gestalt, aber 10
auch seinen Morder vor. Denn nimt die Feuerglut Adieu; »ich
empfehle mich Ihnen« sagt die Unsterblichkeit.
20. So bald das Genie vom Baum des Erkentnisses isset, so
bald darf es nicht mehr vom Baum des Lebens essen; fals man
den ersten Kapiteln des ersten Buchs Mosis nicht iede Glaub-
wiirdigkeit abzwakken wil.
21. Gleich dem Amor, ist das Genie zwar gefliigelt, aber auch
blind.
22. Gleich gewissen Konigen, kan es Reiche erobern, und
nicht regieren. Allein zum Ruhme eines Alexanders gehort si- 20
cher mehr als die gute Beherschung eines unbetrachtlichen Ma-
zed oni ens.
23 . Jedem mus schliislich die Feindschaft zwischen der Phan-
tasie und dem Verstande, (und also zwischen dem Genie und
den Regeln) aus den entgegengesezten Wirkungen einleuchten,
die das Alter auf beide aussert und ieder wird zugeben, daB
die Menge der Jahre nicht nur die weichen Theile eines alten
Korpers zur Ahnlichkeit mit den Knochen eines Jiinglings, son-
dern auch graue Gedichte zur Ahnlichkeit mit dem Gerippe (des
Plans) iugendlicher Gedichte verharte. 30
24. Weiter. Das Publikum lieset ein Buch mit Fehlern, die
sich den Schonheiten hinten aufgestelt, lieber, als eines, in wel-
chem die Kritik den Leser immer mit ihrer Scharfsichtigkeit
an den Schweis des Verfassers erinnert: so tragt man den
Schnepfen wohl mit seinem kothigen Eingeweide, aber nicht mit
seinen Augen auf die Tafel.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 501
25. Da schon der Apotheker zwar das Fet und den Koth, aber
nichtdas Fleischvom Hundebrauchbarfindet, so mus das Publi-
kum noch vielmehr zwar Vortreflichkeit .und Schlechtheit, aber
nicht Mittelmdfligkeit am Autor schazen, und dem schalen Was-
ser, nicht bios den Wein, sondern auch eine Pftitze vorziehen.
26. So eine MittelmaCigkeit lauft im Grunde nur auf Bedek-
kung, nicht auf Hinwegnehmung der Fehler hinaus; dieses lehret
ieden schon der Besen, welchen die Magd auf das Auskehricht
lehnet. Die Kritik ist also ein Besen.
10 27. Wenigstens ist sie (oder bestimter: die Regeln) ein grosser
Bas, nach dem man zwar tanzt, allein iiber welchen man auch
oft fait. Ohne Bas tanzt man vielleicht weniger taktmassiger,
aber man fait auch seltner.
28. Endlich was ware thorichter als werm Pygmalion seinen
Meissel auf die weiche Brust seiner doppeltbelebten Statue sezte,
um die Brustwarze zuder Kleinheit zuzuspitzen, die Winkelman
im ersten Theile seiner Geschichte der Kunst, als die erste Bedin-
gung eines schonen griechischen Busens den Bildhauern ange-
priesen? Nein, stat seinen Meissel einer so kalten Kritik zu lei-
20 hen, wird der entziickte Kiinstler sich an den schwellenden Siz
des verkanten Fehlers schmiegen und iiber die Kunst die Liebe
vergessen ...
29. Kurz, ihr guten Kopfe Deutschlands, singt in eurer Lita-
nei: behiite uns lieber Herre Got der Musen, nicht nur vor dem
Morden der Kritiker, sondern auch der Kritik Tyrannei. Ver-
gesset im Busgesang nicht, die kritische Feile mit einem eisernen
Szepter zu vergleichen. Erhort euch, wie fast zu vermuthen,
Apollo nicht, so nehmt euren Lorberkranz und erhangt euch
daran. Wer keinen Lorberkranz hat, ersteche sich mit dem Fe-
30 dermesser, oder schneide damit keine Federn mehr, um den
edlen Tod des Attikus zu verwelken. Durft ihr wegen der Niko-
laiten, nicht so schreiben wie der Werther; so sterbt wenigstens
wie der Werther! -
Summa Summarum 29 Grunde oder Gleichnisse gegen die Wichtig-
keit der Regeln.
Man subtrahire von dieseh 29 Griinden die obigen 25 Gegen-
502. JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
griinde, so wird man finden, daB die Schadlichkeit der Regeln
gerade um 4 Griinde wahrer ist als die Niizlichkeit derselben.
Kein Wunder, daB die Entscheidungen hieruber so oft zeither
wankend waren; da der Ausschlag von einem so unmerkbaren
Staubgen bestimmt wurde. Sollte man gegen diesen Beweis
neue Gleichnisse einwenden, so werd' ich sie mit andern schon
wieder beantworten.
Mit aller der Unpartheilichkeit, der man in solchen Streitig-
keiten fahig ist, hab' ich Griinde und Gegengriinde vor deinen
Augen, denkender Leser, die Revue passiren lassen; und wenn 10
du mit derselben Unpartheilichkeit entscheidest, wenn dein
Verstand, seiner grossen Bestimmung getreu, nicht fur Schlin-
gen der Dialektik den seidnen Faden der Ariadne fallen last und
gleich dem Paris, den Apfel nicht der Minerva, sondern der
schonsten, der Venus zuerkent; so wirst du meine Muhe mit
Uberzeugung lohnen und den 4 Gleichnissen, die der lezten
Parthei den Ausschlag geben, deine Verehrung der Regeln auf-
opfern und, fals du mich rezensirst, meine geringen Talente
die Wirkung deiner neuen Hochachtung fur regellose Genies
am ersten empfinden lassen. Denn ich habe meinem Wize alle 20
die Unregelmassigkeit gestattet, die er vertheidigte, und meine
Uberzeugung und meinen Ruhm auf demselben Boden gebauet.
Freilich verliert dieser Ruhm durch die zufallige Jugend dieser
Erfindung ziemlich viel. Ich entwarf namlich die ersten Ziige
von der Kunst, den Verstand durch Wiz zu ersezen, neulich
an einem Abend, da ich durch einen Weinrausch nicht nur mei-
nen Verstand verlohren hatte, sondern auch besonders zum
Wize aufgelegt war. Die Halfte der vaterlichen Entziikkung iiber
die neugebohrne Erfindung schlief ich mit dem Rausche aus.
Noch ein Viertheil verflog am Morgen, da ich in meiner Biblio- 30
thek die mannigfaltigen Verdienste der deutschen Litteratur
iiberlief , um zu erfahren, ob ich nicht die Ehre der ersten Erfin-
dung mit einem Vor ganger zu theilen hatte. Meine erste Unter-
suchung mit den Lehrgedichten fiel gliicklich aus; in diesen
sollte, nach der Vorschrift der Kritik, die Phantasie die Vernunft
spielen, allein das Genie lies darin die Vernunft die Phantasie
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN S°3
spielen; ich fand versifizirte Kompendien, in denen man den
Beweisen stat des q. e. d. Reime als Schwanze angeleimt. Mit
voreiliger Beruhigung schlag' ich die Biicher der abstraktesten
deutschen Philosophen auf - und hin war mein patriotisches
Vergniigen iiber meine Erfindung! Ich fand, daB denkende
Kopfe schon langst mit dem Denken gehadert und ihrer Ehegat-
tin, der Minerva, aus abmattender Gefalligkeit gegen ihre Ma-
tressen, die Musen, schon langst die ehlige Pflicht verweigert
hatten, kurz daB sie die Leser nicht mehr mit kahlen Griinden,
10 sondern mit frisirten Gleichnissen unterrichteten, und armselige
Rasonnements hiezu nur darum anbrachten, um dem Glanze
ihres Wizes durch den Kontrast neue Strahlen zu leihen. Wie
rette ich nun das lezte Viertel meiner Entziikkung? durch nichts,
billiger Leser, als die heiligste Versicherung, daB ich meine Er-
findung nicht gestohlen, sondern selbst erfunden und daB mein
Kopf nur durch einen gewohnlichen Autorzufal mit meinen Bii-
chern, die mich nichts als die Rezension derselben zu stehen
gekommen, auf demselben Resultate zusammen getroffen. Ub-
rigens wird mir dein Unglaube an eine Wahrhaftigkeit, die dem
20 Parnasse so fremd ist, doch das Verdienst lassen mussen, durch
einen eignen Versuch die neuen Rechte des Wizes nicht bios
bestatigt, sondern erweitert zu haben; und ich mus mir selbst
schmeicheln, an Mangel der Gedanken so gar den Philoso-
phen X. iibertroffen zu haben. Den Anschein von Vernunft in
meinem Aufsaze mag der Leser mit der Unmoglichkeit, Gleich-
nisse ohne Gedanken zu machen, entschuldigen. Und diese Un-
moglichkeit zu tibersteigen war vielleicht auch nur dem Hern Y
moglich, der zum Erstaunen aller Rezensenten seine Widerle-
gung des Leibniz aus lauter Bildern ohne Gegenbilder d. h. ohne
30 Gedanken webte. Nent die Bilder Konsonanten und die Gegen-
bilder Vokale, so kont' ihr dieses Buch mit der unpunktirten he-
braischen Bibel vergleichen, die mir R. Isaschar neulich fiir
komplet verkaufte. So eine Bibel ist aber schwer zu lesen; so
wie ienes Buch nur dem Nichtdenker, aber nicht dem Denker
verstandlich ist. Fiir ein wenig minder vortreflich und unver-
standlicherklareich dieienigen philosophischen Abhandlungen,
504 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
die aus Metaphern zusammengenahet sind, aus welchen leztern
das eingehiillte Gegenbild, oder der Gedanke noch halb hervor-
gukt. Metaphern gleichen namlich den zugeschlossenen Wasch-
kasten, iiber deren Bord das eingeschlossene Hemd zum Theil
heraus hangt. Kurz, ihr Deutschen, wenn ihr nicht das Bild
dem Gegenbilde vorzuziehen lernt, wie der Mahler, der die Na-
tur ihrem Bilde auf der Leinwand, und die Aspasia ihrem be-
ruhmten Portrat nachsezt, oder wie die Juden, von denen Pope
eine freilich nicht durch das athanasische Symbolum, sondern
durch die Juwelen erzeugte Anbetung des Kruzifixes am Halse ic
seiner Belinde vermuthet; und wenn ihr das Licht des Verstandes
nicht auspuzt, so werdet ihr nie einen Schimmer an dem faulen
Holze des Wizes erleben. Dieses rechtfertigt auch den Ekel des
Publikums an den Gedanken gewisser Philosophen, und seinen
Wohlgef alien an ihrer vortref lichen Sprache; so wie Rezensenten
der Koche ebenfals die Zunge, aber nicht das Gehirn des Ochsen
schmakhaft finden. - Der Leser verzeihe mir einige Zusaze, ohne
die ich mich von dieser angenehmen Materie nicht loswinden
konnen.
So bald man, meinem Vorschlage zufolge, fur die hinkenden 20
Schliisse hinkende Gleichnisse, fur iene, die oft zu viel Beine
haben, diese, die selten viele Beine haben, einfiihrt, so kan der
Antiskeptiker sein Te deum mit vollem Rechte singen, denn nun
schiest er mit epigrammatischen Pfeilen, wie Konige seit dem
Abkommen der Pfeile mit Kanonen, nach dem Ziele der Wahr-
heit, welches beide mit den leichten Federn so oft verfehlen
miissen und aus der Unentschliissigkeit, in der ihn seither
Griinde und Gegengrimde durch gleiches Gewicht erhielten,
reisset ihn nun das Fazit, um welches die subtrahirten Gleich-
nisse der Wahrheit naher sind als die subtrahirenden. Wie die 3c
Schriftsteller mit dem scharfen Wize gordische Knoten losen;
ohne ihre Gleichnisse einer in Ziffern ausgedriickten Subtrak-
zion zu unterwerfen, sehe man an folgendem Bei spiel, das ich
stat aller andern mache. »Man konte zwar sagen, die Gleichnisse
gleichen den Lichtern der Sale, die weniger leuchten als verzie-
ren; allein dieses Gleichnis beweist nichts und es ist gewis, daB
GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 505
die rhetorischen Blumen, gleich den natiirlichen in Blumen-
scherben, dem Fenster so wohl kein Licht rauben als eine wohl-
riechende Atmosphare zuhauchen, und daB das Salz, womit man
Bucher und Speisen wurzet, so wohl die Verdauung als den
Wohlgeschmack verbessere. An Abhandlungen vol Zierrathen
bewundert man, wie an Wachslichtern, nicht bios die schonere
Farbe, sondern auch das hellere Licht; an figtirlichen und unfi-
giirlichenTalglichternvermisset man nicht nur das erstere, son-
dern auch das andre.« - Zum Nebenbeweis fiihr* ich noch mei-
10 nen Beichtvater an, der, nachdem er mich vorher verdamt hatte,
meinen Unglauben an die Genugthuung, den er seinen philoso-
phischen Beweisgriinden fur dieselbe aufzubiirden hatte, durch
GleichnisseundBilderkurirte, dieer meistens dem biirgerlichen
und dem peinlichen Rechte abborgte. Meine Dankbarkeit emp-
fiehlt Se. Hochehrwtirden, meinen Beichtvater alien Juristen,
die des Reims wegen Christen zu werden wunschen und deren
Rettung die Slinde gegen den h. Geist nicht unmoglich gemacht.
- Ich kan diesen Aufsaz nicht ohne die Ankiindigung einer neuen
Logik schliessen, in der ich die Worter Axiom, Postulatum etc.
20 auf eine neue Art definiren und mit dem gleichgeltenden Gleich-
nis Metapher etc. vertauschen werde. Zur Probe eine Definizion
des Sorites!
§• 173. •
»Ein Sorites ist eine Reihe von solchen Ahnlichkeiten, mit deren
Anzahl man fiiglich ihre Entfernung wachsen last. Eine solche
Allegorie - so hatten die Alten den Sorites nennen sollen - gleicht
einem sogenanten trojanischen und nur auf die romischen Tafeln
ganz aufgetragnen, wilden Schwein, in welches man kleinere
Thiere verbarg, in die man noch kleinere verbarg, bis endlich
30 eine Nachtigal die Konklusion des wolschmekkenden Sorites
machte.«
506 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
II.
Beweis,
dap man den Korper nicht bios fiir den Vater der Kinder, sondern
audi der Biicher anzusehen habe, und dap vorzuglich die grosten Gei~
stesgaben die rechte Hand zur glandula pinealis gewahlet
Ein Beitrag zur Physiologie
Obwohl der paradoxe Titel dieser Abhandlung sich dem Leser
durch ein Versprechen empfiehlt, dessen Grosse mich der Erful-
lung desselben iiberheben konnte, und obgleich der ausgehan-
gene Schild mit zu viel Zierrathen prangt, um nicht das sauerste 10
Bier zu entschuldigen: so wil ich doch das schriftstellerische
Recht, zu liigen, erst auf ein andersmal und vielleicht in der
nachsten Ankiindigung meiner Werke niizen und iezt das Publi-
kum durch meine Wahrhaftigkeit eben so sehr als durch mein
Versprechen in Erstaunen sezen. Um aber doch der Mode nicht
ganz ungetreu zu werden, wil ich nur einiges vorausschikken,
was nicht zur Sache gehort. Dieser Beitrag zur Physiologie mag
sich mit einer Abhandlung iiber die Buchertitel anfangen! ,
Die iezigen schriftstellerischen Produkte sind, wie bekant, die
Geschopfe und darum auch die Schopfer guter Regeln, und ieder 20
neue Roman ist ein andrer »Versuch iiber den Roman. Leipzig
und Liegniz, bei David Siegerts Witwe 1774. « Was wunder,
wenn man daher auch meine Regeln von dem Titelmachen auf
den meisten Titelblattern realisirt finden wird! - Ein achter Skri-
bent mus iiber den Titel, zu welchem sich nachher allemal ein
Buch findet, die ersten und meisten Federn zerkauen: und das
Versprechen mus friiher aus dem Kiel fliessen, als die Verlezung
desselben. Der Titel ist der Kopf des Buchs; das Kind deiner
Feder mus daher mit dem Kopfe zuerst in die Welt sinken, wie
das Gipfelgen des kiinftigen Baums am ersten durch die Erde 30
keimt. Der Titel ist die Krone des Buchs; allein in Niirnberg
ist die Krone schon vorhanden, wenn die Reichsfiirsten noch
in der Wahl des Haupts wanken, auf dem sie schimmern sol.
Der Titel ist die Frisur des Buches; allein die Madam reicht
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 507
dem Kamme ihren Kopf friiher dar als ihren Rumpf den Handen
des Puzes und die Verschonerung steigt almahlich von der
Nachthaube zum Nachtkleide herunter, wie die morgendlichen
Sonnenstrahlen vom kahlen Scheitel des Berges zum schattigten
Fusse desselben. Dieses Recht des Titels, am ersten Tage der
Schopfung des Buchs geschaffen zu werden, fliest aus dem an-
dern Rechte desselben, durch Schmuck weit liber die iibrigen
Theile der Schrift erhoben zu werden - darum vergleiche ich
ihn mit dem Kopfe eines Kindes: denn am Kinde ist der Kopf
10 verhaltnismassig grosser als die iibrigen Glieder, als am Jiing-
linge - und ferner mit einer Krone: denn ihr Werth und ihre
Edelgesteine iiberstrahlen weit alle iibrigen Insignien der hoch-
sten Wiirde und selbst den Szepter - und endlich mit einer Frisur:
denn unter der aufgeschwollensten Vergette wohnt das kleinste
Gehirn, namlich das eines Stuzers. Und dieses zweite Recht quilt
wiederum aus verschiedenen Ursachen. Fur einen wizigen Titel
schenkt die Lesewelt das Privilegium, ihn mit einem unwizigen
Buche zu begleiten. Wenn der Wiz sein Blendlaterngen nur auf
der ersten Seite leuchten last! dan mag er es immer ausloschen!
20 Wenn ein Buch nur dem Insekt (der Laternentrager) gleicht,
an dem zu Nachts bios der Kopf einigen Schimmer wirft! Je
weniger Kopf daher ein Autor auf sich fuhlt, desto mehr mus
er den seines Kindes vergrossern; und einen guten Titel zum
Herolde eines schlechten Buchs machen; so last sich nach einigen
alten Naturktindigern, aus der Grosse der obern Glieder des
Korpers die Grosse der unehrbarn weissagen. Der Titel ist also
der Lorberkranz, unter dessen Schatten sich das kahle Haupt
verborgenhalt. Ferner, mancher Achilles im Lesen, bleibt mei-
stens bey dem Titelblatte stehen, stat daB ein Rezensent bis zur
30 Vorrede geht - gleich einem gewissen indischen Fuchs (Izque-
polt) der bios die Kopfe der Insekten frist. Was wunder, wenn
daher ein Autor alle seine Talente zur Ausschmiikkung des Blat-
tes vereinigt, in dessen enge Grenzen die Seltenheit kauflustiger
sein Vermogen, durch Aufklarung und Erwarmung der Welt
seine Menschenliebe zu befriedigen, eingezaunet - und wenn
er das Buch nur als ein Anhangsel zum Titel schreibt. An dieser
508 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
Menschenliebe nimt auch der Verleger Theil: denn er stikt die
Thiire seines Buchladens mit schonen Biicherkopfen, so verziert
der Landedelman in England seine Stalthure mit den angenagel-
ten Schnauzen der erlegten Fiichse. Und endlich sind auch die
Rezensenten an der Menge affektirter Titel Schuld. Denn ehe
sie durch scharfe Kritik das Buch genauer anatomiren, iibt vor-
her ihr Wiz seine Stumpfheit an dem Titel, gleich dem Mezger,
der mit dem stumpfen Ende seines Beils die Stirne des Ochsen
zerschmettert und mit dem scharfen Ende das tode Thier zer-
hakt. Nun trift Wiz auf Wiz, und ein Wetterstrahl erstikt die 10
Wirkung des andern. Da endlich der Autor das Leben seines
welken und wurzellosen Namens durch Einimpfung den Jour-
nalen anvertrauen mus, die leider! gleich den Addreskalendern,
nichts als Titel aufnehmen oder figurlich, die die toden Bucher
bios skalpiren 2 und selten andre Seiten als die erste zu Zeugen
ihres Siegs auffiihren, wie etwan David die Vorhdute der erlegten
Philister: so ists naturlich, dafi der Schriftsteller alle seine Einfalle
auf einen Haufen, auf das Titelblatt zusammentreibt, um die
Nachwelt durch die Vortreflichkeit des ewigen Theils iiber den
Verlust des zeitlichen untrostlich zu machen, daB er den Alexan- 20
der nachahmet, der auf seinem indischen Feldzuge durch Ver-
grabung grosser Helme bey der Nachwelt den Ruhm eines Ge-
nerals von Riesen zu erschleichen dachte. - Einige zieren ihr
Buch mit einer pabstlichen Krone d. h. mit einem dreifachen
Titelblatte, weil sie zu uneigenniizig sind, demselben ein sechs-
faches zu geben. Den ganzen Prunk volendet noch das Motto,
welches, wiewohl als geborgtes Gut, den Kopfputz des Kindes,
wie Hare von Pferden und Missethatern den Kopfputz der Da-
men vergrossert; rothe Buchstaben mogen fur Schminke, und
eine Vignette fur ein Schonpflastergen gelten. Ubrigens konnte 30
a d. h. so wie der Wilde von seinem toden Feinde bios die Haut der
Stirne abzieht, also der Rezensent u. s. w. Die Fehler des Buchs werden
in der folgenden Zeile mit den Vorhauten der Philister verglichen etc.
Diese Note hatte ich mir durch Weitschweifigkeit, die mich dem
schlechtern Leser verstandlich und dem bessern ekelhaft gemacht hatte,
ersparen konnen.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5O9
(nebenher anzumerken und die lange Ausschweifung mit einer
neuen zu beschliessen) der Verleger seinen Namen auf dem Ti-
telblatte schon uber den des Autors hinwegriikken: denn der
Autor ist ohnehin nur ein Konsonans, den man ohne seinen
Verleger nicht aussprechen kan, und wir diirfen nicht den Juden
gleichen, in deren Buchern die meisten Vokale den Konsonanten
wie Staub an den Fiissen kleben! - Ich hoffe nun den Leser zu
meiner physiologischen Entdekkung durch dieses Praludium
vorbereitet zu haben, das ich gleich andern geschickten Organi-
10 sten und Autoren, durch einen Umweg von etlichen Akkorden
leicht von seinem Moltone zum Durtone des Liedes hatte zu-
riickbringen konnen.
Ein Autor braucht keine Sele; denn sein Korper ist seine Sele
- so wie auf einem Kunstwerke des Parrhasius kein Gemahlde
hinter dem Vorhange verborgen stekte; denn der Vorhang war
das Gemahlde selbst. Sein Korper schenkt gewissen scheinbar-
geistigen Handlungen nicht bios den Namen, b sondern auch
den Ursprung; und nichts ist thorichter, als einen solchen deum
ex machina wie die Sele ist zur Verfertigung einer solchen kor-
20 perlichen Sache wie ein Buch ist herabzuzaubern. Die Anatomie
(dies wird alles aus dem folgenden erhellen) ist. der wichtigste
Zweig der Experi mentals elenlehre und ein junger Rezensent
wird wohl thun, das. Kollegium uber die Asthetik mit einem
Kollegium iiber die Eingeweide zu verbinden. Die verschiede-
nen Glieder sind nichts als verschiedene Selenkrafte; und jedes
Glied steht unter der Herschaft einer besondern Muse, so wie
sonst jedes Glied von einem gewissen Stern beherscht wurde
oder wie iedes nach dem Galen, seine eigne Sele besizt. Ich
furchte (ibrigens nicht durch den Beweis, daB Korper die mei-
30 sten geistigen Kinder ediren, den Schimpfnamen eines Materia-
listen zu verschulden: denn behaupten, daB man ohne Kopf Holz
spalten konne, heist darum nicht behaupten, daB man mit den
Handen denken konne, und wenn ich den Materialisten das
b Begreifen, einsehen etc. lauter Namen, die der Korper den geistigen
Thatigkeiten leiht. Solche bildliche Benennungen gleichen den hebra-
ischen Buchstaben, welche zugleich Gemaldeund Name einer Sache sind.
5IO JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG
Nichtsein ihrer Sele zugestehe, so mus ich darum nicht ihren
... j
Gegnern das Dasein der ihrigen absprechen.
Montaigne widmete einen seiner Versuche dem Daumen; auf
dieses beruhmte Beispiel wage ich es, nicht nur dem Lobe des
Daumens, sondern auch der Hand den grosten Plaz in dieser
Untersuchung anzuweisen. Jeden Wahrheitsfreund mus es
schmerzen, die gotlichen Hande der Schriftsteller zu blossen
Nachtretern ihrer Kopfe herabgewiirdigt zu sehen. Man ver-
gleiche die Verdienste ihrer Hande mit denen ihrer Kopfe, und
enthalte sich dan des Unwillens iiber eine so alte Ungerechtig-
keit! Das Buch verdankt der Hand seines Vaters den dikken
Inhalt, und dem Kopfe desselben nichts als sein Bildnis von
N. gestochen; das Buch verdankt der Hand Worte und Ortho-
graphic, deren Neuheit den Leser bezaubert, und dem Kopfe
Gedanken, deren Alter ihm Ekel erregt; ohne Hand kan der
Dichter so wenig als der Mahler mahlen; ohne Hand kan der
Autor das Buch so wenig schreiben als der Sezer sezen, aber
ohne Kopf es zu thun, hat der erste dem andern abgelernet c
und beide brauchen ihn nun zu nichts als zum Genus der Friichte
ihrer Hande. Ja noch mehr, seitdem der Kopf den neuern
Schriftstellern seine Schaze entzog, that die Hand sich zur Frei-
gebigkeit auf, und sie haben es nur der Giite der leztern zu dan-
ken, dan ihnen die Feindschaft des erstern weniger empfindli-
cher fait; sie konnen nun zwar weniger denken, aber dafiir mehr
schreiben, fur die Sele. ihrer geistigen Kinder ist zwar ein Sedez-
format zu weit, aber fur den Korper derselben auch ein Oktav-
band zu eng, und stat des Nervengeistes verschwenden sie
Dinte. Sie gleichen zwar dem Baren in der Schwache des
Haupts, die Plinius ihm zuschreibt, allein auch in der Starke
der vordern Tazen - eben so stekt in den Scheren des Krebses
das Fleisch, das seinem Kopfe mangelt. Und da der Raubvogel
weniger mit dem Schnabel als den Klauen die Beute zerfleischt:
so ist klar, warum mancher Satiriker besser mit seiner Hand
c Wem fait hier nicht die Hand ein, die am Rande alter Bucher stehet
und dem Leser die Schonheiten derselben, wie ganze Arme den Furleu-
ten den Weg, zeigen soil.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 511
schreibt als mit seinem Munde spricht und die Lesewelt besser
als seine Freunde unterhalt. — Nichts ist daher undankbarer, als
den Handen den Kopf , und der Lea, fur deren Gesicht ihr Bauch
Lobredner gebiert, die Rahel vorzuziehen, die ihre Schonheit
nicht durch Fruchtbarkeit bestatigt; und nichts ist mir unertrag-
licher, als wenn Journale stat der langen Finger die langen Ohren
loben, d und den Handen den Weihrauch stehlen, um ihn dem
Kopfe zu schenken. Eben so mussen oft die Hande des klugen
Schreibers den Kopf des dummen Amtmans spielen und das
10 machen, was sie bios mundiren solten - und doch lobt man
nicht den Schreiber, sondern den Prinzipal fiir den wohlgerathe-
nen Aufsaz. So dampft um den frisirten Kopf des Generals der
Ruhm, den bios die kriegerischen Fauste seines Heres erkampft
und verdient haben, und tausend Muskeln verliehren den Lohn
ihres Sieges durch das einzige Gehirn, ohne welches sie siegten.
Ich schranke hiemit die Verdienste der Hand nicht auf den
Schriftsteller ein. Ich verehre alle die Vorziige, die man an der
orthodoxen Hand durch einen Ring belohnt, der einen Finger
mit dem Denken kopulirt, und durch ein D, mit welchem die
20 andern ihren Namen kronen diirfen; alle die Vorziige, welche
einem Arzte die Definizion, »daB er ein Wesen sei, in des sen
Fingern die Fahigkeit lieget, an den Puis zu greifen und ein Urin-
glas zu halten« billig zuschreibt; alle die Vorziige, welche die
Hand eines Gasners seinem christlichglaubigen Gehirn ver-
dankte, und durch deren Hiilfe seine Finger den Glauben mit
Wundern diingten; alle die Vorziige, die wir auf schonen Han-
den kiissen; alle die Vorziige, die die Finger eines Konigs, dessen
Krone auf keinem Kopf ruhet,um seinen Szepter biegen. - Aber
an einem Autor schaze ich die Hand am meisten; und an der
30 Hand den Daumen. Mit Recht entziffert Lavater aus der Inskrip-
tion des Daumens den Werth seines Besizers und ein noch unge-
drukter Traktat von mir erhebt ihn zum Mikrokosmus in nuce.
Daher belegte man nach einem alten Schriftsteller den Daumen
d Lange Finger haben heist - ich weis nicht ob liberal - stehlen. Ein
rauberischer Autor arbeitet mit den Handen, ein dummer mit dem
Kopfe.
512 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
darum mit dem Namenpollex, weil er von pollere abstamt; daher
nanten ihn die Griechen ovuxeiQ d. h. die Vice-Hand. Wenn
das Denken einen Gleis auf der Stirne fahrt; so hinterlast das
Schreiben eben dasselbe Zeichen der Geistesanstrengung auf den
Daumen, und Bayle erzahlt von Sebastian Maccius, einem Poe-
ten des siebzehnten Jahrhunderts, daB sein Kiel, den er nie ruhen
lies, tiefe Furchen in seinen Daumen und seine Schreibefinger
gezogen. Eine Rezensent tragt auf dem Daumen sein vornehm-
stes Gewehr-ich meine den Nagel, mit welchem er die raudigen
Schafe des kritisirten Buchs fur die Schlachtbank bezeichnet.
Converso pollice -
quemlibet occidunt e
So bald daher irgend ein Unfal, z. B. ein Duel die Selenkrafte
dieses Glieds zerstort, so ists um den Ruhm des Autors gethan
- umsonst blieb ihm der Kopf, Lorbern zu tragen, wenn er
die Hand verlohr, sie zu brechen; er hat sich nun seine Kiele
und seine Biicher vergebens angeschaft und seinem Ehrgeize
bleibt zur Beruhigung nichts iibrig, als die Leichenrede einer
Zeitung, auf deren leztes Blat irgend eine mitleidige Feder einen
Tropfen Dinte iiber den Verlust eines so jungen Genies hinwei-
net. Eben so gaben die Romer alien Soldaten den Abschied,
deren Daumen durch Wunden zu Invaliden geworden. Vor die-
sem Ubel wiirde uns die Erfindung einer Schreibmaschine am
besten schiizen, welche dem Autor die Zusammensezung der
Buchstaben eben so sehr erleichterte, wie die Rechenm as chine
die Zusammensezung der Zahlen, und welche die Biicher so
mechanisch schrieb, als sie die Presse drukt. Auch ists wunder-
bar, daB die neuen Erzieher, die iede tabula rasa zu einem diction-
naire encyclopedique beschreiben, und die die Wissenschaften in
dem weichen Gehirn nicht aussaen, sondern aufschutten, die
Vermehrung der Kentnisse ihrer Zoglinge nicht durch Vermeh-
rung der Mittel, sie dem Publikum zu iiberliefern, gemeinniizi-
ger machen. Man soke mich nachahmen. Ich lehre namlich mei-
e Iuv. Sat. III. v. 36 - Auch passet hieher, wiewol ebenfals nur im
figiirlichen Sinne, was Statius irgendwo vom Tode dichtet, daB er lange
und schwarze Nagel habe.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5 13
nen kleinen Eleven, von dessen Informazion ich mich durch
Ausarbeitung kleiner Erziehungsschriften erhohle, mit beiden
Handen schreiben; meinem unbelohnten Fleis wird ers daher
einmahl noch danken, wenn er die Welt iede Messe mit Zwillin-
gen erfreuen und mit der linken Hand seine rechte widerlegen
kan. Audi solten unsre Autoren die vierhandigen Affen, deren
Nachahmungssucht sie sonst so tauschend nachahmen, dadurch
zu erreichen suchen, daB sie ihre zwo untern Hande nicht bios
zum Gehen, sondern auch wie die obern zu etwas Bessern be-
io niizten, so wie der Organist mit den Fiissen spielt. Doch meldet
Sturz, daB Wilton in Celsea seit dem Verluste seiner Arme wirk-
lich mit den Fiissen zu schreiben angefangen. - Zu allem diesem
fug' ich noch hinzu, daB der Hutmacher kunftighin nur zur
linken Hand des Handschuhmachers gehen durfe - daB das Chi-
ragra keine Idee im Gehirne auf der andern lasse, und wenigstens
die Hande nur fruher als den Kopf verwiiste, wie der Henker
iene nur fruher als diesen abhauet - daB der Rezensent wie der
Zigeuner, seine Wahrsagungsgabe ausser den Anekdoten auch
durch Chiromantie unterstiizen konne - daB die Autoren (doch
20 nicht mein Verleger) mich fur diese Erfindungen nicht besser
belohnen konnen, als wenn sie in Zukunft stat ihres Kopfes
ihre rechte Hand vor ihre Werke in Kupfer stechen lassen; wozu
bei den Autoren noch der Umstand komt, daB ihr BildniB ihre
Kinder meistens iiberlebt, so wie noch Abzeichnungen, aber
keine Nachkommen des Einhorns vorhanden sind, und bei den
Rezensenten, daB schon der Anblik dieses Glieds ein Dichter-
haufgen in zitternder Ehrfurcht halten kan, so wie (nach dem
Berichte des Schafers) eine im Schafstalle aufgehangene Wolfs-
klaue die ganze wollichte Herde in Schrekken sezt - endlich
30 fug' ich noch hinzu, daB ich nichts mehr hinzuzufugen habe. -
Ich wende mich zu einem andern Gliede, dessen Lob ich zwar
verkikzen, aber nicht vergessen darf. Die Hand, die ausfuhrt,
komt schwerlich dem Magen gleich, der erfindet, und der Vater
der Biicher theilt seine Unsterblichkeit nur halb mit der Heb-
amme derselben. Aber ie langer meine Feder sich bei der Be-
trachtung dieses Glieds verweilet, desto mehr nahert sich ihr
514 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
prosaischer Schrit dem poetischen Trabe. Ja mein Enthusiasmus
wird schon so stark als mein Hunger. Ich lobte die Hand; aber
den Magen besing' ich. - Wer trankt mich mit Begeisterung?
welche Muse sez' ich in die erste Zeile meines ohnfussigen Lie-
des, um in den andern mit dem Schwunge zu fliegen, wodurch
sich die singende Hand zum besungenen Magen erhebt? und
bei welchem erdichteten Got betle ich in schlechten Versen um
gute? . . . bei keinem! Der Magen sei zugleich mein Apollo und
mein Mazen! Du also hungriges Glied, o! Allerheiligstes des
korperlichen Autors, o! Lexicon des Obersezzers, o! alter Orbis 10
pictus des Romanenschreibers f und o! Gradus ad parnassum des
Poeten, so wie formula concordiae des Priesters! WiegederBucher,
die kritische Galle, so wie der Wurmer, die Ochsengalle todet;
in wenigen Thieren viermahl, und in denen nur einmahl vor-
handen, die ihre Gedanken wiederkauen, und von dem Krebse,
wie die neugebohrne Minerva von dem Jupiter, in dem Kopf
getragen; fleischicht bei unsern Sangvogeln und hautig bei den
Raubvogeln, die sie rezensiren — schenke meinem Kiele die
Feinheit, die du seinem Lobe der Schonen, die Wahrhaftigkeit,
die du seinem Lobe der Gonner, und die Menschenliebe, die 20
du seiner Satire auf die iibrigen mittheiltest! Lasse mich meine
Feder in die Quintessenz dieser vereinigten Geschenke tauchen,
und lobe dich noch mehr als deinen Mazen und deine Demuth.
- Oft halfst du mir so singen: Das Haupt des Parnasses und
des Dichters kranzen Lorbern, aber weder in dem Eingeweide
des ersten, noch in der Hosentasche des andern schimmert Gold;
Apollo zeitigt den gelben Reichthum, aber Pluto arntet ihn; dem
Phobus vergolden seine Sonne den Kopf, allein er ihnen nicht
einmahl den Hut; der Permessus trankt keine Aussat von gold-
nen Kornern, und eine Muse ist kein reiches Burgermadgen; 30
- helf es mir iezt laugnen. Oft halfst du mir in einer Vorrede
dich tadeln; helf mir iezt in einer Abhandlung dich loben: so
schrieb iener unpartheiische Englander am Montage wider den
i Eine Anspielung auf den neuen orbis pictus, den H. Lichtenberg
im gottingischen Magazin den schonen Geistern vorgeschlagen und
schon zu liefern angefangen.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5 1 5
Walpole, und am Mitwoch wider den Pultney. Oft uberschrie
dein hungriges Murren in meinen Ohren die zwote Trompete
der Fama; es verstarke sich iezt in der ersten! Doch halt! ich
kan nun deine poetische Hulfe entbehren; mir fehlten nur ein
par Seiten, die nun meine Bitte ausgefult hat. - Deine Anrufung
ist ia auch dein Lob, welches du ohnehin in einer Rezension
derselben fortsezen kanst.
Ich habe wenig mehr (iber dieses Glied zu sagen, vorzuglich
da schon der Verfasser das Specimen novi medicinae conspectus 175 1
10 bei Guerin in Paris den Magen fur das zweite Gehirn ausgege-
ben. Doch wag' ich noch einen neuen Schrit und halte ihn fur
das erste. Die kurze Beantwortung einiger Einwiirfe sol diesen
halbpoetischen Theil meiner physiologischen Abhandlung be-
schliessen.
Objectio. Nein! Die Ausdehnung dieser Hypothese iiber-
schreitet die Granzen der Billigkeit. Das Wahre derselben war
langst bekant; nur das Falsche derselben ist neu. Jeder kent die
unversiegende Quelle, aus der halbiahrlich eine Siindfluth von
Obersezungen stromt; aber die hochadeliche Dichtkunst zu ei-
20 ner solchen pobelhaften Abstammung herunter zu wiirdigen,
aber stat der Hippokrene eine Mistlache fur die Nahrung auszu-
geben, aus welcher die poetischen Blumen ihren Duft scheiden
und ihren Schmelz saugen, heist die Sache iibertreiben. Das Lied
eines neuen Barden entspringt aus seiner Luftrore, nicht aus
seiner Speiserore. -
Responsio. Eben so dacht* ich vor zehn Jahren bei der Heraus-
gabe meiner Bardengesange. Dieser Meinung war ich noch bey
meiner Rezension derselben, siehe die **Zeitung, und die***
und die** und das **Journal etc. Allein da Petrum Kamper's
30 Nachrichten (iber die Hornviehseuche (im d. Museum) mich
lehrten, daB dem verstorbenen Vieh das Obel seiten im Gehirn,
und meistens im Magen gesessen, ja da mir iiber die Moglich-
keit, dafi man zum Unsin nur durch den Trieb der Nachah-
mung, nicht des Hungers iiberredet werden konte, aus eigner
Erfahrung Zweifel aufstiegen: so sank ich almahlig von meiner
Tauschung zur Wahrheit d. h. zur Behauptung herab, daft nicht
5l6 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
nur die glanzenden Schuppen der Fische, das sinesische Gold-
fischgen nicht ausgenommen, ihre Nahrung aus dem Magen
hohlen, sondern daB auch die Gewohnheit der Kochinnen, in
die Fliigel des aufgetragenen Vogels den Magen zierlich einzu-
klemmen, auf die verstekte Verwandschaft der Schwingen un-
sers genievollen Gefliigels anspiele. Ein Mehreres davon weiter
unten!
Objectio. Wenigstens ist gewis, daB dieses die liebevolle Ro-
manen nicht trift, die wiewohl nicht aus dem Gehirn, doch aus
den Thranendrusen geflossen. Und wer solte ihren Verfassern 10
die Uneigennuzigkeit absprechen, der sie die Beutel ihrer Hel-
den so gerne Preis geben?
Resp. Eben darum. Ein Autor verschenkt auf seiner empfind-
samen Reise tausend Thaler, um dafur von seinem Verleger
hundert zu bekommen; seiner Feder, aber nicht seiner Hand
gehort das Lob der Freygebigkeit; der geizige Schriftsteller
zeugt, gleich geizigen Vatern, verschwenderische Kinder, und
er bestiehlt einen iungen Buchhandler durch dasselbe Buch, in
welchem er dem Publikum Wohlthun prediget. - Obrigens ist
das Buch eines sogenanten liebevollen Autors seltener die Kopie, 20
als die Larve seines Herzens; wenigstens gleicht das Original
oft dem Gemahlde so wenig, als das Herz, welches der Anato-
miker studirt, demjenigen, welches der Zukkerbekker aus Sii-
Bigkeiten, oder der Friseur aus den Haren des p Vorderkopfes
formt. Diese Meinung erhalt ein neues Gewicht von der Ent-
dekkung des H. Blumenbachs, daB der dunkle Korper im Leibe
des Raderthiers nicht das Herz desselben, wie einige glauben,
sondern sein Magen ist. g Allein bekanter ist, daB dem Gewiirm,
das der Regen, die Tranen des empfindsamen Himmels, aus der
Erde lokt, das Herz so wie das Gehirn von der Natur versagt 30
worden, obwohl nicht ein langer Darmkanal. Hieher passet
vortreflich ein Traum des bekanten Schwedenborgs: die Mond-
geister, sagt er in seiner geographischen und topographischen
Beschreibung der Weltkorper, sind nicht grosser wie Knaben
s Siehe dessen Handbuch der Naturgeschichte. Zweite Auflage 1782.
Seit. 32.
GRONLANDISCHE PROZESSE * 2. BAND CHEN 517
von sieben Jahren; allein ihre Stimme, die, wie ein Riilpsen,
aus dem Bauche herausgestossen wird, schallet fiirchterlicher als
der Donner. Um doch auch dem Schwedenborg (so wie Theo-
logen dem Verfasser der Apokalypsis) eine Weissagung zu lei-
hen, sez' ich hinzu, dafi er unter den Bewohnern des Mondes
die Anbeter desselben verstehet. -
Von einer solchen Quelle sprech' ich aus Galanterie die Pro-
dukte des schonen Geschlechts frei; zu ihrer Entstehung reichet
schon das Glied hin, das man so oft kiisset, und dessen vor
10 dem gegenwartigen gedacht worden. Ja ich treibe meine Hof-
lichkeit so weit, dafi ich auf die Schonen, die Biicher nahen
und strikken, den Anspruch des Titus Flaminimus von dem
inagern Philopomen anwende. »Du hast schone Hande, aber
keinen Bauch.«
Obj. Den Richter mus man auch richten. Aus Hunger kizelt
der Dichter das Trommelfel und der Satiriker das Zwergfel sei-
ner Leser; derselbe Mangel reicht dem einen die Flote, und dem
andern die Geissel, und die Thorheit und der Spot wachsen,
wie die Thora und die Antithora, auf einem gemeinschaftlichen
20 Boden. Der Magen trankt eure satirische Feder, die gleich ihm
und durch ihn zu einem Perpetuum mobile geworden, mit seinen
miissigen aber darum scharfern Verdauungssaften, und ihr er-
lacht euch Sattigung auf Kosten derer, denen ihr gleicht.
Resp. Rechnet Opponent mich nicht unter solche Satiriker,
so geb' ich es aus Liebe zur Wahrheit von alien zu; zahlet er
auch mich darunter, so raume ich es bios vom Verfasser der
Raritaten ein.
Eine unnaturliche Ideenverbindung fiihret mich von der Satire
auf die Galle, deren eingestandner Nuzen eine lange Lobrede
30 entbehrlich macht. Sie ersezt bey dem Satiriker den Nervensaft
d. h. das Genie, bei dem Polemiker die Wahrheit und bey dem
Rezensenten die Einsicht. Der leztere kan zwar wie der Areopa-
gus im Finstern richten; allein den Genus dieser Erlaubnis
mocht' ich ihm bios bei dem Lossprechen zugestehen; das Herz
eines Autors hochstens kan er ohne den Gebrauch des Gesichts
verwunden, wie der Amor mit verbundnen Augen seine Pfeile
518 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
auf das Herz abschiest; aber die Verdammung des Kopfes ist
ohne den Beistand der Galle unthulich, die, wie sonst die Galle
einiger Fische die Scharfe der Augen auf einige Zeit wieder giebt.
Und so hat sie einen doppelten Nuzen; denn sie lehrt die Biicher
nicht bios verldumden y sondern auch verstehen - so last die
Schlange ihren Gift in ihren Feind und in ihre Speise h fliessen,
und todet und verdauet damit; so ist ein iunger Kalbermagen so-
wohl zur Versauerung 1 als Verdauung der Milch geschikt. Ohne
Galle kan man ferner seinen gelehrten Feind eben so wenig wi-
derlegen als hassen; ohne sie last sich kaum der Titel einer Streit- i
schrift machen und in der Vorrede und dem Inhalte spielet sie
eine eben so wichtige Rolle wie die personifizirte Zwietracht in
Voltaires Henriade. Mein Freund Y wiirde der Menschenfeind-
lichkeit der Philanthropinen die schone Larve des griechischen
Namen nicht mit so vielem Glukke abgezogen haben, hatte er
die hulfreiche Galle vorher entweder durch ein Vomitiv aus der
einen oder durch eine Purganz aus der andern Thiire des ofnen
Tempels des Janus gejagt. Rezensentcn und Satiriker folgt die-
sem gliiklichen Beispiel, und vomirt und laxirt niemals - oder
hochstens am Neuiahrstage, urn nichts wiinschen zu diirfen! 20
- Zur Vermehrung derselben empfehF ich euch den Genus von
sussen Sachen, die der Magen nach und nach zu Galle kocht,
so wie es die Pflicht des Romanenschreibers mit sich bringt,
die siisse Menschenfreundlichkeit, die sein Held vom ersten
Bande empfieng, durch den vorlezten in Misanthropie versauern
zu lassen. Unter den sussen Sachen versteh' ich die Almanache,
stat des Marzipans zu Weihnachten und vor dem Neuiahr - und
die iibrigen Produkte unsrer Zukkersiedereien. - Obrigens ist
die Galle in alien Wissenschaften zu gebrauchen und gleicht dem
Arsenik, der sich mit alien Metallen vermischt und alle ver- 30
dirbt.
»Der Monarch sizt doch nur mit dem Hintern auf dem
h Stat des Speichels, der die Verdauung erleichtert oder eigentlich
anfangt.
1 Man macht an den meisten Orten die Milch durch sogenantes Lab
d. h. ein Stiikgen Kalbermagen gerinnen.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 519
Throne « sagt Montaigne, und der Dichter sizt doch nur mit
eben diesem Gliede auf dem Pegasus, sag* ich, und seine Gesange
sind doch nur Werke der untern Selenkrafte, sagt endlich ein
Philosoph. Ungeachtet meine Materie mir iezt die gliiklichste
Gelegenheit in die Feder spielt, die Rothe der deutschen Scham-
haftigkeit durch schmuzige Zweideutigkeiten zu priifen; so wil
ich doch der Sitlichkeit den Vorzug vor der Mode lassen, und
ungeachtet ich (wie alle deutsche Schrifts teller) fur schone Augen
schreibe, so will ich doch der keuschen Ohren schonen. Nur
erlaube man dem Kunstler, das fur ein anatomisches Lehrbuch
in Kupfer zu stechen, was der Mahler fur das Kabinet eines
Reichen freilich nicht mahlen soke. - Wenn der Pfau reden
konte, sagt Voltaire, k so wiirde er seine Sele in den Schwanz
sezen; ich glaube es nicht, denn der Dichter, welcher ebenfals
auch nur mit seinen untern Selenkraften bunte und prachtige
Farben schlagen kan, sezt die seinige in den Kopf. So wie man
fast das Gehirn des Potfisches Sperma ceti nante; so getraue ich
mir zu erweisen, daft die Musen nicht auf dem Gipfel des Parnas-
ses, mit dem ich den Dichter iezt vergleiche, sondern im Thale
desselben wohnen und daft man dem Poeten durch dieselbe
Grausamkeit den Gesang rauben konne, durch die man ihn den
Farinelli's giebt. Wenigstens wiirde er nachher den Kapaunen
gleichen, die Eier ausbriiten, aber nicht bef ruchten konnen; d. h.
er wiirde Verse ediren, aber nicht macheh, oder von einem Ori-
ginal zu einem Nachahmer herunter sinken. Die Ursache ver-
larvt sich oft so unkentbar in ihre Wirkung, daft ich iedem den
Unwillen iiber mein schandliches Paradoxon verzeihe. Nicht
immer ist man der Lerche, die man hort, so nahe, daft man
siesiehet. Alleinin wem steigt nicht oft die dunkle Vermuthung
auf, daft die Verse und die Siinden des Dichters, wie die Weissen
und die Schwarzen aus den Lenden desselben alten Adams her-
stammen. Oberhaupt f ragen die Bewohner von dem Berge Par-
nas wenig nach den Gesezen des Berges Sinai: sie sind alle hete-
k Les oreilles du Comte de Chesterfield. Mit diesem Einfalle wil Vol-
taire der Philosophen spotten, die den Siz der Sele dahin verlegen, wo
sie ihre schazbarsten Wirkungen zu aussern scheinet.
520 JUGENDWERKE " 2. ABTEILUNG
rodox und sie schiessen nur so lange keine Epigrammen auf
den alten Glauben, als eine Klopfstokkische Harfe ihre Finger
unterhalt; sie lieben in dem Prediger ihres Orts nichts als seine
Tochter; sie machen ihre Verse meist am Sonntage, nicht bios
weil sie da keine Kollegien besuchen, sondern auch weil da ieder
Unpoet eine Predigt hort oder liest; ihre Epigrammen iibertreten
das achte, ihre andern Gedichte das sechste Gebot; die Polizei
hassen sie beinah so innig als die Kritik; sie kleiden nicht bios
ihre geistigen Kinder, sondern auch sich selbst nach englischer
Mode und ihr Busen ist so offen wie ihr Herz; sie mischen in 10
ihre Hippokrene so viel Wein, daB ihr pindarischer Unsin zum
prosaischen Unsin derer herniedersteigt, die ihnen einschenken;
wie sonst Missethater zu den Statiien, so fliehen sie zu den Na-
men heidnischer Gotter, um sich vor einer christlichen Andung
ihrer Fehler zu retten, die Siinden des alten Adams burden sie
dem kleinen Amor auf, und beten den Teufel unter der Gestalt
eines Fauns an. - DaB der.poetische Sin mit dem sechsten Sin
in demselben Stokwerke namlich parterre logirt, erhelt aus der
Starke, die sie einander mittheilen. Die Venus ist nicht bios am
astronomischen, sondern auch am mythologischen Himmel die 20
Gespielin des Phobus; Ehe dieser Brautigam seine Kammer ver-
last, hat sie schon ausgeschlafen, und wenn er in dieselbe wieder
eingegangen, ist sie noch munter. Die dritte und lezte Rolle
spielt nicht selten der Merkur. 1 - Daher dieienigen, welche die
Dichtkunst nicht gern herabsezen mochten, die Liebe desto
mehr erhohen; so schuttet z. B. Hippokrates das Satgetraide
der Menschheit unter dem Dache auf d. h. er sezt die Samenge-
fasse in die Ohren. - Daher findet man beide durch ahnliche
Symptomen verschwistert; und zu dem Ausspruche
Homines homines fatiunt in Paralysi 3<=
kan man hinzufiigen, auch die Dichter die Gedichte: denn das
Dichten ist, wie der Zorn, eine kurze Wuth. - Daher wachst
der Lorber auf dem Boden, dessen Krafte er nicht mit der Myr-
the zu theilen braucht, mit frischern Zweigen der Zeit entgegen.
Der Kritiker verzeihe mir, dafi er hier an den Merkur des Astrono-
men und Chemisten zugleich denken mus.
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 521
So nahrt, nach Bako, der zuriickgehaltene Harn der Vogel ihr
Gefieder und der Unrath diingt den schimmernden Feder-
schmuck; woraus folgt, daB der Pfau den Stolz auf seinen
Schwanz nicht bios durch das Andenken an seine Fiisse, sondern
auch an die Nahrung und Nachbarschaft des ersten iiberwinden
konne, so wie den Poeten ins kiinftige nicht bios seine zerlocher-
ten schwarzen Striimpfe, sondern auch seine pluschenen Hosen
das yvco'&i aeoruTOv buchstabiren lehren werden. - Ich wil iibri-
gens durch meine Behauptung dem Kopfe nicht ganzliche Un-
io thatigkeit beim Dichten zugemuthet haben; dieses Glied ent-
wirft den Plan, dessen Ausfuhrung das Genie ubernimt »die
Speise komt oft aus einem Lande, und die Briihe aus einem
andern« sagt Addison, aber in einem andern Sinne. Nur hab'
ich den Kopf der Erwahnung unwerth geachtet, weil ich das
Kolorit der Zeichnung weit vorziehe. Der diirre Plan eines Ge-
dichts komt vielleicht dem gesunden Verstande nahe, aber nur
die Belebung desselben durch Worte und Metaphern verrath
das Poetische. So ahnlicht dem Pferde nichts mehr als das Ge-
rippe eines Esels, m aber iiberzieht das kluge Skelet mit Fleisch,
20 und vergesset die Kehle und die Ohren nicht, so steht das leib-
hafte.Thier da, auf dem alle GleichniBmacher, wie sonst die
Konige, so statlich reiten. - Noch widerbellet der Uberzeugung ,
meines Lesers ein Einwurf , dessen Ausrottung vielleicht zu einer
kleinen Ausschweifung gerathen wird. Der Leser namlich ist
vielleicht an die spanische Scheidewand zwischen unserm Kopf
und unserm Herzen zu wenig gewohnt, um einen Sanger der
platonischen Liebe, der antiplatonischen fahig zu halten. Er ver-
gist vielleicht ferner den Antheil des Korpers an unsrer Moralitat
und kleidet die bessern Kinder desselben in so schimmernde
30 Namen, daB sie sich ihres Vaters schamen. Das leztere ist der
Inhalt des folgenden Absazes; und das erstere des nachsten.
Her A. verdankt nicht seinem Beichtvater, sondern seinem
Arzte die Wiederherstellung seiner Frommigkeit: sein Herz bes-
m Man sehe die Abbildungen von Pferde und Eselgerippen in Buffons
Naturgeschichte. Aus dieser Ahnlichkeit entsteht auch die Geneigtheit
einiger Naturkiindiger, den Esel fiir ein ausgeartetes Pferd zu halten.
522 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
serte sich mit seinem Unterleibe und ein Tobaksklystier ofnete
den leztern dem Nachtstuhl und das erstere den Freunden.
Her B. fuhrt die Menschenfeindlichkeit mit Purganzen ab und
leitet Mixturen in den Stal des Augias, um besser verdauen und
lieben zu lernen. Der volbliitige Her C. schreibt das Aufhoren
seiner Gewissenbisse nicht den Bissen hungriger Blutigel, son-
dern dem h. Geiste zu; allein selbst die Lanzette des Barbiers
ofnet ihm vergebens die Thiir des Himmelreichs, wenn er nicht
anfangt, den unter der Gestalt von Lagerbier versuchenden Teu-
fel zu fliehen und das Wasser zum Heil seiner Gesundheit und 10
Seligkeit zu trinken, so wie man in der christlichen Kirche (zu
verschiednen Zeiten) die Kranken mit 01 gesund und selig salbte,
und gleich den koptischen Christen die Taufe zur blutigen Be-
schneidunghinzuzufiigen. Aus dem Bruder des Hern L. exorzi-
siren Prugel die Raserei und sein wunder Riikken liest dem Ge-
hirn ein Privatissimum iiber die Logik. Warum sezen doch bei
dem wilden Hern D. die Anfalle der Giite so lange aus? - ein
Flus ist ihm vors Ohr gefallen; daher predigen funf Schafdarmer
und viele Hare eines Pferdeschwanzes ihm die Menschlichkeit
umsonst. Warum schrieb ich gestern mit so weniger Begiinsti- 20
gung der Phantasie, unsrer herlichsten Selenkraft? meine Auf-
warterin that mehr Wasser in den Kaffe als gewohnlich; heute
stahl sie mir von einem Lothe nur ein halbes, daher ich denn
bei diesem halben Bogen auf den Beifal aller Kunstrichter rech-
nen kan . . . Und nun nehmet die Liebe, die den Menschen zum
Got und diesen Got, wie der Got Jupiter, zum Thier macht.
Deine himlische Venus, lieber Jiingling, die sich, nach deiner
gestrigen Schilderung, nicht nur mit Morgenrothe schmiikte,
auf deren Frisur nicht nur die goldnen Nagel des Himmels stat
der Harnadeln glanzten, deren Reize nicht nur ein aus Sonnen- 30
strahlen verfertigtes Neglige umhulte, deren Kehle nicht nur
in seraphischen Trillern zitterte, deren Korper nicht nur schoner
als eine Gottin; sondern auch deren Sele heiliger als ein Engel
war - diese Venus kanst du heute nicht mehr lieben, ihre Tu-
gend, die selbst ihren Reizen die Bewunderung halb entzog,
hat heute ihre Almacht iiber dich verlohren? »Ja! denn nicht
GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 5 2 3
zu gedenken des Fontanels am rechten Beine etc.« ich verstehe
dich, ihr ganzer Korper ist tugendhaft, aber das rechte Bein
ist lasterhaft. Und die Stoiker sagen ia, daB Eine lasterhafte Fus-
zahe nicht nur die Tugenden der neun andern, sondern auch
der iibrigen Glieder unwirklich mache. - Die Eidschwiire einer
ewigen Treue zerschneidet vielleicht die Sense des Todes nicht,
aber wohl ein scharfes Messer, und derienige hort gewis auf
zu werthern, den man kombabusirt.
Meine Ausserung iiber das moralische Verhalten der Gelehr-
io ten mus man nicht fur einen Tadel derselben auslegen; sie ist
vielmehr der Schleier einer Lobrede auf sie. Denn ihr Herz,
welches Laster begeht, entschuldigt ihr Kopf dadurch, daB er
sie verbietet. Bei einem heidnischen Philosophen muste viel-
leicht das Herz den Kopf akkompagniren; aber einem christli-
chen kan man unmoglich zumuthen, an die Tugend, die er unter
die Hirnschale logirt, auch noch die zwo Kammern des Herzens
zu vermiethen; so taufte man sonst den ganzen Korper, aber
iezt nur den Kopf des Kindes zum Christen: Was half es dem
Gelehrten, die Laster verschreien, wenn er sie nicht lieben darf ,
20 und wer kan seine Treue gegen die keuschen Musen besser be-
lohnen als eine Hure? Wenn seine linke Hand dem Nachbar
im Schauspielhause das Schnupftuch maust, so bedenkt auch,
daB seine rechte eine Tragodie gezeugt, die aus alien hundert
Augen eines Argus Thranen lokken wiirde, und ein Manuskript,
in dem man die Nachdrukker Diebe schilt, kan man mit gutem
Gewissen an drei Verleger auf einmal verkaufen. Ein Theolog
darf die zehn Gebote ungestrafter iibertreten, fals er sie nur aus
dem Hebraischen ins Deutsche vertiren kan, und wenn er der
Freundin des Herkules seinen gelehrten Magen weihet, so wird
30- sie auf die Feindin desselben keinen schelen Blik werfen, die
nur das Herz bekommen.
Was von denen gilt, die die Tugend in Prose loben, gilt noch
mehr von denen, die es in Versen thun. Diese leztern gehen
mit dieser Gottin wie die Katholiken (nach der Versicherung
kluger Katholiken) mit den Bildern gewisser Heiligen um; sie
behangen sie mit goldnem Schmuk, allein sie beten sie nicht
524 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
an. Auf dem Kopfe eines Poeten liegt Puder und Pomade; an
seinen Fiissen klebt Staub und Koth; nur der Flug entfaltet an
ihm, so wie an den Vogeln, den beweglichen Schimmer seines
Gefieders, und er gleicht dem Vogel Greif durch die Adlersflii-
gel, die ihn fur den Bewohner der Liifte erklaren, und durch
die vier Fiisse, die ihn mit den Thieren der Erde verbriidern.
Das kleinste Nachdenken giebt uns die Entschuldigung dessel-
ben an die Hand. Er mus Menschen kennen lernen; allein das
Studium derselben versiiBt er sich oft durch die Nachahmung
derselben: - Ferner racht sich die Natur an einer ubermenschli- 10
chen Erhohung immer durch eine thierische Erniedrigung und
die Arbeit und die Erhohlung schweifen immer uber entgegen-
gesezte Grarizen aus. Daher bricht die Tugend des Dichters auf
seinem Pegasus den Hals, und wenn das Pferd sich in die Hohe
baumt, sinkt der Reiter. Ich kenne selbst einen grossen Dichter,
der sich von der Besingung der platonischen Liebe durch die
Freuden des sechsten Sins erholte. Nie werd' ich den Flug und
das Gotliche der Ode vergessen, die sein trunkner Enthusiasmus
am Abend seines Hochzeittages sang; kaum steigt die Lerche
hoher, wenn sie sich begatten wil. - Ja oft unterbricht das Mur- 20
ren der ungeduldigen Natur die Harmonie der Spharen und das
wilde Schwein erschiittert unten durch das Reiben seines geilen
Rukken den Baum, auf dessen Gipfel ein Vogel nistet und singt;
verzeihet daher, liebe Mitchristen, dem armen Musensohn, der
wie die Monche den fastenden Tag auf die prassende Nacht
grundet und den alten Adam anzieht, wenn er die Hosen ausge-
zogen. Kaum hab' ich iezt z. B. meinen Satir auf einige Zeit
entlassen, so komt der Teufel in der Gestalt eines Pavians (diese
zwei gleichen meinem gehornten Schosthier ziemlich) und wil
mich versuchen. Allein ich veriagte ihn gleich mit Dinte, wie 30
der sel. Doktor Luther, d. h. ich fahre fort, die Sinlichkeit mei-
ner Kollegen zu entschuldigen. An der Ebbe und Fluth ihrer
Siinden hat die Ebbe und Fluth ihres Reichthums den meisten
Antheil. Die Wilden in Brasilien erzahlen von der Schlange Cu-
rururyyva, daB sieihrenLeib,sobald sieihnmitSpeisenangefiilt,
den fleischfressenden Vogeln iiberlasse, die ihn bis zum Skelet
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 525
abnagen, welches darauf ihr Lebensgeist, der sich sonst in ihrem
Kopfe und iezt im Kothe aufhalt, zur vorigen Schonheit, Gestalt
und Grosse belebe. n Kaum traute ich bey der ersten Durchlesung
dieses Mahrgens meinen Augen; ich sah' in der aberglaubigen
Liige eine schone Allegorie verstekt, und vergas iiber den Genus
des Wizes beinahe, daB die Wilden in Brasilien weder den Dich-
ter A. noch B. ia vielleicht auch nicht den Hern C. kennen,
der zum Besten seiner Nase in der Welt umherstreift. - »Aber
der lasterhafte Autor reist ia so das Werk seines tugendhaften
10 Kindes wieder nieder.« Warum folgt man denn dem Beispiel
mehr als den Lehren? Der Baum, iiber dessen Wurzel du stol-
perst, tragt ia auch die Zweige, woraus du einen Stab zum
Schuze deiner Fusse schnizen kanst. - Aber ich entschuldige
ia Gelehrte und Dichter gar zu gut; sie opfern der Tugend doch
nichts als Verstand oder Einbildungskraft und gleichen den Kamt-
schadalen, die ihrem Got verdorbne Kopfe und Schwanze von
Fischen darbringen.
Es bleibt also dabei, vortrefliche Musensohne, (um wieder
zum Eingange des Labyrinths zuriikzukehren) herkulische Len-
20 den sind immer mit einer herkulischen Kehle gepart; wenigstens
fliegen die Vogel nicht nur mit den Fliigeln, sondern auch mit
dem Schwanze.
Beinahe hatte ich meine Abhandlung ohne die Erwahnung
des Kopfes beschlossen, dessen Besiz der korperliche Autor al-
lerdings mit dem Zeugnis des Friseurs belegen kan. Ich wil also
iezt den Fleischer nachahmen; dieser giebt den ungeniesbaren
Kopf als Zulagehin, und macht ihn durch das fette Hinterviertel
verkauflich. Soke mir iemand vorwerfen, meine Abhandlung
verfalle durch den zweiten Kopf, der ihren Schwanz macht,
30 in eine zu sichtbare Ahnlichkeit mit iener Schlange mit zwei
Kopfen und keinem Schwanze; so vergist er offenbar, daB der
Bericht der neuesten Reisebeschreiber den angeblichen zweiten
Kopf des Thiers zu einem wahren Schwanz herabsezze. Der
Kopf eines Gelehrten verschaft ausser den kleinen Vortheil, daB
n Onomatologia historiae naturalis etc. 3. Band. S. 538.
526 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
er fiir den Doktor- und Magisterhut einen Trager, und fur den
Physiognomisten einen genievollen Schedel abgeben kan, kei-
nen andern, als diesen, daB er die langen Ohren tragt und nahrt.
Sobald das Publikum diese leztern Gliedmassen gehorig mit Lob
und Wind fiittert, so entsprechen sie der freigebigen Hand durch
einen erstaunenswiirdigen Wachsthum, den iiberdies das Alter
nicht unterbricht. So tragt z. B. mein Gefatter Smerdis ein Par
Ohren, die beinahe noch langer sind als der Oktavband, den
er wider die langen Barte der Alten auf Pranumerazion heraus-
gegeben. Doch dieses alles werd' ich in Gesners Traktat de artti- 10
qua asinorum honestate nachstens besser entwikkeln, welches ich
fiir mein eignes Werk ausgeben und durch den Zusaz der entge-
gengesezten Lesart von antiqua fiir unsre aufgeklarten Zeiten
nuzbarer machen werde. Dieses Werk werden unzahlbare
Zeichnungen langer und meist origineller Ohren schmukken,
deren Beschaffenheit ich den Kopfen beriihmter Gelehrten bei
Uberreichung meines Stambuchs, soviel es Lorberkranz und
Schlafmiize gestatteten, abgesehen. Ich bitte daher ieden Burger
der gelehrten Republik, dem es um den Wachsthum der Akustik
zu thun ist, mir einen Schattenris von seinem Ohr gegen kiinfti- 20
ges Ohrenfutter zukommen zu lassen. Die Tolhauser werden
freilich wenige Zeichnungen liefern; aber die Akademien desto
mehrere. - Von den schriftstellerischen Augen nab' ich nichts
zu sagen; man weis ia, daB die Nachteule, die gut hort, schlecht
sieht; - Vom Gehirn noch weniger; denn ich zweifle an seiner
Existenz eben so sehr als mancher Anatomiker (und ieder Ehe-
man) an der Existenz des Hymen. Der Mangel desselben ver-
tragt sich so gut am Gelehrten mit der Menge der Kentnissen
als an den Insekten mit der Menge der Augen. Aus dem alien
folgt, daB man der Redensart »der Mensch hat Kopf « kiinftighin 30
die Wendung geben konne »er hat Magen.«
So hab' ich denn die Philosophic vom Himmel gerufen und
den Korper in seine alten Rechte eingesezt. Nun verdankt der
Autor ihm nicht bios die Gesundheit, sondern auch die Unsterb-
lichkeit; so wie die Schlange sonst von beiden das Sinbild war.
Ich wiirde dieser Abhandlung ein dreifaches Register beige-
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 5^7
fugt haben, wenn ihr gedanken voile r Inhalt nicht iedes entbehr-
lich machte. Denn ein Inventarium darf nur die Biicher vergros-
sern, die ausser den gestohlnen Schazen keine enthalten und
nur ein gehirnloses Riikgrad sol sich in einen zierlichen Schwanz
verlangern. So wie die franzosischen Schonen unter dem Fran-
ziskus II. zwar ihren Hintern mit Kleidern vergrosserten, aber
doch auch zugleich ihr Gesicht verlarvten: so kan man den rie-
senmassigen Hintern eines Buchs, d. h. das Register mit nichts
als der Kleinheit seines zusammengeplunderten Vordertheils
io entschuldigen. - Soke (ibrigens, in den Augen der Kenner, mei-
nem physiologischen Beitrag dichterischer Flug zu haufig man-
geln: so schreibe man das Prosaische auf die Rechnung meiner
Tauschung, noch ein Barde zu seyn. Man wird namlich wissen,
daB Zierrathen der Philosophic weit besser als der Dichtkunst
passen, und so wie die Deutschen ihre Schilde mit Verschone-
rung iiberluden, ihrer Kleidung hingegen alle Verzierung mit
der Wuth des Martin im Mahrgen von der Tonne versagten,
eben so schikt sich fiir das philosophische Schild der Minerva
wohl rednerischer Bombast, aber weder fur ihren Kopfpuz noch
20 die andern Dekken ihrer Reize. Aber ich habe beinahe mein
obiges Versprechen, die Abhandlung zu schliessen, vergessen.
III.
Epigrammatischaphoristische Klagen
eines Rezensenten an und uber die Autoren, welche die Rezensionen
ihrer Werke entweder selbst verfertigen, oder doch mit nichts ah einem
Exemplar bezahlen
Viri praenobilissimi atque doctissimi, Auditores spectatissimi!
Von meiner friihen Jugend an rezensirte ich schon; aber da waren
bessere Zeiten. Die damahligen Autoren tibertrafen fast mei-
30 stens ihre Kinder noch an Kopf und an Herz. In meinem Alter,
528 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
wo ich ofter zensire als rezensire, sind die Zeiten schlechter und
Sie, meine Herren taugennicht einmahl so viel wie ihre Biicher.
Aus tausend Beweisen wil ich fur heute nur zween ausheben.
Sieschenken mir Ihr Buch, um es nicht zu tadeln. Aber meine
Herren eine Lobrede auf lange Ohren wird durch ein par lange
Ohren sehr schlecht bezahlt, die man mir vielleicht wohl noch
unfrankirt, zuschikt. Wenn der Teufel, Got sei bei denen, die
ihn glauben! an seinen Portraitmahler Kallot, dem er oft geses-
sen, folgende Anrede gehalten hatte, die ich aus dem Franzosi-
schenins Deutsche vertiren wil: »Monsieur Kallot! mahlet mich
doch nicht mehr so kohlschwarz als ich euch erscheine, sondern
kreidenweis, wenigstens weis! Seht! dafur lass' ich euch mein
schwarzes Fel zu Beinkleidern. Haltbar ist es und in der Holle
kont ihr es noch tragen.« - Wiirde nicht Mons. Kallot dem
Teufel geantwortet haben: »aber es ist nicht schon! zu einem
Par modischen Hosen fehlt ihm eben die Farbe, womit ich es
schminken sol. Ich mahl' dich also noch ferner schwarz.« Der
Teufel zwar wird darauf verstummen urid stat des Felles nur
seinen ordinaren Gestank zuruklassen; aber Sie bitte ich, meine
Herren, an mir die Zuriiksendung Ihrer Biicher nicht mit epi-
grammatischem Gestank zu rachen.
Ihre Biicher verdienen das Lob zu wenig, als daB sie dasselbe
bezahlen kdnten; sie bezahlen hochstens den Tadel; mortis suae
merces sagt Velleius Paterkulus vom Reichen, der seinen Fa]
durch Reichthum verschuldet: den Mord ihres geistigen Kindes
kan sein Kleid (so nenne ich des folgenden Gleichnisses wegen
das Papier des geschenkten Exemplars) nicht abwenden; son-
dern nur bezahlen; so wie der Henker in England sich die Klei-
dung des arm en Sunders zueignet.
Kurz, meine Herren, Sie miissen es wie die Philister machen,
die von der Unpaslichkeit ihrer Hintern die Israeliten durch
goldne unterrichteten; schikken Sie mir etliche goldne Kopfe,
so kenne ich den Zustand, ihres eignen und nenne sie daher
vor der ganzen Gelehrtenrepublik Schrifts teller aureae aetatts.
Woken Sie mir aber, in Ermanglung des Geldes, zwar Exem-
plare aber im Preise der Makulatur zuschikken, so werd' ich
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BAND CHEN '. 529
vor der Welt, nachdem ich meine zwei Schreibefinger auf irgend
eine Asthetik gelegt, mit schreklichen Eidschwiiren versichern,
daB Ihre Makulatur nie Makulatur werden konne.
Aber Sie, meine Herren zur linken Seiten, mocht* ich mit
meiner Dinte vergiften, und nicht bios anschwarzen. Sie rezen-
siren sich selbst? was sollen denn die Rezensenten rezensiren?
doch nicht Rezensionen. Oder sollen wir verhungern? Die Au-
toren miissen wenigstens vorher verhungern, und dan nur erst
die Rezensenten. Wenn alle Diebe sich im Gefangnisse selber
10 hiengen, so miisten die Henker, aus Hungersnoth, entweder
auch stehlen, oder sich auch aufhenken. Oder wenn die Gotter
ihre Nase an ihrem eignen wohlriechenden Athem sattigen wol-
ten: wozu dienten denn die Pries ter mit Rauchfassern?
Sie, mein Herr, z. B. sind Verfasser und Rezensent, vielleicht
auch Leser des gegenwartigen Buchs. Sie wollen vielleicht ein
ganzes Alphabet von Bogen durch ein einziges Blat, durch ein
kleines Rezept, unsterblich machen; aber
Pallida mors aequo pulsat pede pauperum tabernas
Regumque turres.
20 d. h. Bande in folio und in sedecimo, dikke Biicher und ihre
dunnen Rezensionen stossen im Kramladen aufeinander und der
Tod schneidet ihre ungleichen Blatter fur dasselbe Gewiirz zu
Pyramiden. Die eine Seite der Diitte sagt zwar: »die andre Seite
wird nie eine Diitte; sondern sie lebt ewig« allein welcher Kaufer
sieht der halben Diitte die Unsterblichkeit und eine Gleichheit
mit dem Herkules an, dessen eine Halfte sterblich und dessen
andre unsterblich gewesen?
Auch ist Ihr eignes Lob zu schlecht, um wahr zu sein. Nicht
bios Ihr Kopf ist unfahig, Lorbern zu tragen; sondern auch Ihre
30 rechte Hand ist unfahig, sie zu brechen; dieses wird Ihnen deutli-
cher werden, wenn Sie nicht bios, wie Sie bisher that en, Ihren
Kopf mit dem Kopfe des Esels vergleichen, dem seine zween
langen Ohren dem doppelgipflichten Parnas ahnlich machen,
sondern auch wenn Sie ihre Hand mit dem ungeschmeidigen
Huf desselben vergleichen. Kan wohl die Ofnung, die iibelrie-
530 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
chende Excremente liefert, besserriechenden Wind oder Weih-
rauch liefern? Und mus nicht die Rezension so arg stinken wie
das Buch?
Doch diesem widersprech ich durch folgendes: Sie wollen
das Lob nur besizen, aber nicht verdienen; daher blasen Sie die
erste Trompete der Fama mit dem Munde, und die dichterische
Flote nur mit dem entgegengesezten Orte und ihre laute Kehle
akkompagnirt und uberschreit den Mastdarm; stat daB Sie es
umkehren und mit der zwoten Trompete der Fama iiber die
Flote richten solten? 3
Allein, meine Herren, scheint Ihnen auch das Publikum durch
das Vergessen des Urtheils kein Urtheil zu fallen; halt Sie auch
vor der Verewigung Ihrer Schande der Seraph nicht zuriik, der
mit flammendem Schwerd den Baum des Lebens vor den ersten
Eltern bewachte, damit sie nicht davon essen und leben ewiglich:
so wir Ihnen doch die Unmoglichkeit, mit eignen Kraften die
Einbalsamirung Ihrer Ohren und die Einrostung Ihrer Schellen
zu bewerkstelligen, das Selbstrezensiren verleiden. Oberlassen
Sie es daher einem Rezensenten, der Sie nicht nur tod, sondern
auch eben darum unverweslich machen kan; und dessen kri-
tische Dinte Sie, wie scharfer Spiritus kleinere Insekten zu toden
und zu konserviren zugleich im Stande ist.
Ich konte Ihnen die epigrammatischen Widerspriiche Ihres
Betragens vorhalten und sagen: Sie gleichen einem heidnischen
Bildhauer, der dem gotlichen Kinde seines eignen Meisels
Weihrauch bringt und sein Geschopf zu seinem Schopfer er-
hebt.
Ferner: Ihre prahlerische Rezension widerspricht Ihrer de-
muthigen Vorrede, und sie loben das Buch, worin Sie sich
tadeln.
Endlich kont' ich noch die Weissagung beifugen, daB der
Knabe, den der vortrefliche Verfasser der unnachahmlichen Sa-
tire »Beweis, daB man den Korper sowohl fur den Vater der
a Die Fama hat namlich, nach Buttler, zwo Trompeten; mit der einen
blast ihr Mund Lob und Ehre, mit der andern ihr Hintrer Tadel und
Schande aus.
GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 53 I
Biicher als der Kinder anzusehen hab« b mit beiden Handen
schreiben lehrt, vielleicht mit der linken die rechte rezensiren
wird, Ihres Beispiels und des Sprichworts wegen manus manum
\avat.
Allein die Figur der Praterizion, nach der Zeno unter dem
Spaziergehen in seiner Stoa die Bewegung laugnete, wird Sie
eben so wenig riihren als andre rhetorische Figuren. Ihr originel-
ler Magen knurret mir eine laute Widerlegung vor, und seine
Lerheit macht ihn, wie die Lehrheit Kopfe, zum Disputiren nur
to desto fahiger. Aus Ihren Minen entziffere ich noch folgenden
Ausruf : »Her Rezensent! wir loben uns nur, um uns zu sattigen;
wir hangen unsre toden Geburten in wohlriechenden Rauch auf ,
nicht um ihre Dauer, sondern um ihren Preis zu vermehren.
Ach! wenn uns das phlegmatische Publikum nur nicht bios das
gabe, was wir uns selbst geben konnen, nur nicht dem Verleger
das gabe, was er uns nicht giebt, nur nicht unsern Magen bei
der Schwelgerei der Nase darben liesse! So wie vom Opfer die
Gotter nur den Wohlgeruch, ihre Priester aber das Solide genos-
sen, so riecht der Autor das Lob und der Verleger verzeret den
2° Gewinst des Buchs! Ach daB man so oft fur eine Juno eine Weih-
rauchswolke, fur eine Daphne einen Lorberbaum in die diirren
Arme schliest! Glukliches Sina oder China, oder Schina, bei
dir kan der Arme vom Verkaufe seiner korperlichen Excremente
leben; nur im elenden Deutschland kan er es nicht einmahl von
seinen geistigen, sondern mus vielleicht an der Dyssenterie und
am Hunger zugleich sterben.« Hierinnen, meine Herren, haben
Ihre Minen Recht; ich wil daher schluslich Ihrentwegen auf
meine Kniee fallen, und so zum Apollo beten: » Apollo, Adam
deiner schwarzen und weissen Musensohne, du begabtest die
3° Herren da! mit dem Kopf eines Strausses und mit dem Magen
eines Strausses; fiille ihnen doch wenigstens den leztern, wie
es auch deine Sch wester von anno 1770 bis 1780 that und gieb
ihnen Brod, da du ihnen keine Verse giebst. Ich flehe dich
darum, Amen!« Und hiemit meine Herren ist mein heutiges
b Von dieser Satire ist der Verfasser der satirischen Skizzen sowohl
Verfasser als Rezensent.
532 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
Autorenverhor geendigt, wie die vossischen Rezensentenver-
hore insgesamt.
IIII.
BlTSCHRIFT ALLER DEUTSCHEN SATIRIKER
an das deutsche Publikum, enthaltend einen bescheidnen Erweis von
dessen ieziger Armuth an Thorheiten, nebst Bitten und Vorschlagen,
derselben zum Besten der deutschen Satire abzuhelfen
Vorrede
zum nachstehenden Aufsaze
Du liest, lieber Leser, nicht gern eine Vorrede; wie viel weniger 10
zwo Vorreden. Allein vielleicht eben, weil du meine erste iiber-
schlagen hast, wirst du mir verzeihen, das in der andern lesen
zu mussen, was ich in der (iberschlagnen zu sagen vergessen.
Ich vergas namlich, den folgenden Aufsaz mit einer Entschuldi-
gung zu versehen, ohne die er sich nicht vor deine Augen ge-
traut. Den Titel meines Buchs, welcher dich zu Satiren einladet,
straf ich iezt Liigen, da ich einem Aufsaze, der in keiner Riiksicht
mit der Satire in Verbindung stent, sondern vielmehr stat spas-
hafter Einfalle, ernstliche Klagen und Bitten und Vorschlage
enthalt, viele Bogen widme. Vielleicht dafi der ernsthafte Leser 20
den Ernst unter dem Scherz nur desto wilkomner heist; aber
der lustige wird die Beleidigung seiner Schosneigung wenig-
stens nicht eher vergeben, als bis sie entschuldigt worden. Auf
meine Entschuldigung konte ieder von selbst fallen. Wenn der
Satiriker aufhort zu lachen, so last sich voraussezen, daB andere
aufgehoret, lacherlich zu sein: denn seine Kunst kan die Thorheit
nicht iiberleben. Zwar auch alter und abgelegter Narheiten kan
er im Nothfal spotten, so wie ich zum Beispiel that. (Denn
was ist alter, allein eben darum iezt seltner, als die Schrifts teller,
die schlecht schreiben; als Theologen, welche die Vernunft kon- 30
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 533
fisziren, als Philosophen, die keine sind? auch die Thorheit der
Weiber, das Echo ieder Mode abzugeben, ist eben so alt als
unmodisch, und der adeliche Stolz ist so alt, daft ihn alle Edel-
leute besassen, die Ahnen und Verdienste hatten, nur die Edel-
leute ausgenommen, die stat der Ahnen Verdienste hatten und
eben deswegen iezt so selten, daB ihn wenigstens die nicht besi-
zen, die stat der Verdienste Ahnen haben.) Nur gefallen solche
Satiren gar mit den Vorziigen nicht, die meinen fehlen. Der
Mangel am Narrenrukken ware denn die eine Ursache, warum
io ich die satirische Peitsche an die Wand gehangen; die andere
ist der Vorsaz meiner bessern Kollegen, diesem Mangel abzu-
helfen. Sie glaubten der iezigen Verniinftigkeit am besten durch
einen Aufsaz steuren zu konnen, welcher das Publikum mit sei-
■ ner Armuth an Thorheiten und mit den daraus fliessenden
schadlichen Folgen fur die deutsche Satire bekanter machte.
Vielleicht daB die Wahl des Mittels besser ausgefallen, als die
Wahl dessen, der es ausfiihren muss en. Denn zum leztern wahl-
ten sie mich. Ich vermuthe darum, weil sie aus meinen Satiren
liber lauter veraltete Thorheiten schlossen, daB ich dem Mangel
20 an auffallendneuen Thorheiten, fur die keine eigne Scharfsich-
tigkeit mich durch verborgne entschadigt, eifriger entgegen ar-
beiten wiirde, als andre Satiriker, welche die iezige Theurung
an Narren gar nicht empfinden, weil sie ihre Augen zu Spiirhun-
den ihrer Zahne machen konnen, und weil ihr Gesicht, wie bei
den Raubvogeln, so scharf \yie ihr Schnabel ist. Eine andere
Ursache, warum sie den Propheten gerade den Saul und mich
bessern Satirikern vorgezogen, ist, weil ich eben ein schlechter
bin und daher ein Werk, worin das kleinste Lacheln beleidigend
ware und das angebohrnen Ernst verlangt, gliiklicher zu Stande
30 zu bringen die Hofnung gebe, als andre, in deren ernsthaftesten
Minen sich immer unwilkuhrliche Ausserungen ihres satirischen
Talents einschleichen wiirden. Diese zwei Perioden wiird' ich
aus Has gegen den Egoismus wieder ausstreichen, miist' ich
nicht durch die Angabe der gedachten zwo Ursachen die Ver-
muthungeiner dritten (der bessern Tauglichkeit) abwenden, die
mir, fals sie auch wahr ware, schadlich sein wiirde: Denn es
534 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
sagt Zizero: Nihil est his, qui placere volunt, tarn adversarium,
quam exspectatio. Allein der Erweis, daB das Publikum ver-
niinftig ist, ist noch iiberdies eine Arbeit iiber meine Krafte;
weil die Stiizen, worauf er ruhet, gleich andern Stiizen ihren
Fus in die Erde verbergen, und weil die Anzahl derselben, fals
man keine sophistischen mit unterlaufen lassen wil, kleiner ist
als man glaubt. Ferner giebt sich das Publikum, da es keine
Thorheiten hat, so viele Miihe, um den Schein, einige zu haben,
daB es so gar einer geiibtern Feder nicht leicht sein wiirde zu
zeigen, daB es keine hat; ia der ganze Beweis hat nach dem 10
ersten Anblik so wenig Wahrscheinlichkeit fur sich, daB viel-
leicht selbst mancher scharfsichtige Leser die Klage iiber 'den
Mangel an Thorheiten fur eine Ironie aufnehmen wird. In der
Hofnung, daB der Zuschauer die Holprichkeit der Bahn so gut
sieht, als sie der Wetlaufer empfindet, und in der andern aus
der ersten entstehenden Hofnung, daB man den nachfolgenden
Aufsaz nicht so ganz umsonst zur Empfehlung der Thorheiten
werde geschrieben sein lassen, kan ich mit dem Versprechen
schliessen, kunftighin keine ernsthaften Aufsaze mehr in die sa-
tirischen Skizzen aufzunehmen und uberhaupt meine Feder 2c
nimmer zu einem Vorlegeloffel einer fremden Dinte herzulei-
hen.
IIII.
Bitschrift alley deutschen Satiriker
an das deutsche Publikum; enthakend einen bescheidnen Erweis von
dessen ieziger Armuth an Thorheiten, nebst Bitten und Vorschlagen
derselben zum Besten der deutschen Satire abzuhelfen
Weises Publikum!
Die Titelblatter wiederhallen noch immer die alte Behauptung:
difficile est, satiram non scribere. Und zu den Zeiten dessen, 3c
der sie schrieb, war sie auch vollig rich tig. Aber einige Blikke
in unsre Bitschrift werden doch lehren, daB sie es in unsern
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BAND CHEN 535
nicht mehr ist; daB das goldne Alter der Satire, wo'es Juvenale
und Narren gab, langst verflossen und daB also die Liebhaber
ienes Motto, fals sie nicht die erste Luge ihres Buchs auf das
erste Blat desselben sezen wollen, kiinftig der Wahrheit das non
in dem obigen Verse aufopfern werden miissen. Nicht bios unfi-
gurliche Narrenschellen sieht man iezt selten; auch die figiirli-
chen und unsichtbaren erscheinen nicht haufiger. Und daB man
den theuren Hanswurst vom Theater verwiesen, Hesse sich auch
noch verschmerzen; aber daB er aus dem Parterre und so gar
to aus den Logen fliehen miissen, das kostet den Deutschen ihre
ohnehin geringzahligen Satiriker und nothiget uns das gegen-
wartige wirksame Mittel ab, mit dem buntschekkigten Gegcn-
stand der Satire zugleich sie selbst dem Untergange zu entreissen .
Ehe wir aber das Publikum von seiner Armuth an Thorheiten
zu uberfuhren anfangen; miissen wir doch denienigen Theil des-
selben, der sich auf die Rechte der Satire nicht vollig versteht,
iiber das Recht der Satiriker, vom Publikum Thorheiten zu ver-
langen, in der Kiirze belehren. Die bessern Leser werden die
Belehrung iiber eine schon bekante Sache giitig iiberschlagen.
20 Die Unentbehrlichkeit unsers Ordens, der zum Wehrstand ge-
hort, sezen wir als eingestanden voraus; vorzuglich da der Na-
turkiindiger Phanias unsre Lobrede, die in unserm Munde sun-
ken wiirde, mit einer Geschiklichkeit unternommen, die Plinius
des folgenden Lobes wiirdigt: Urtica quid esse inutilius potest?
condidit tamen laudes eius Phanias Physicus. Unsre unentbehr-
lichen Talente nun tragen stat der Friichte, die andre Autoren
dem Gaumen des Lesers anbieten, Blatter, die seine Hande ste-
chen; die Gallenblase ist unsre Hippokrene und gleich den Theo-
logen konnen wir nur die Holle, aber nicht den Himmel schil-
30 dern. Die Gegenstande des Spottes aber theilen wir in unsern
Kompendien wie natiirlich in ehrwiirdige und lacherliche, oder
in Tugenden und Laster ein, so wie die Richter bald Unschuldige
bald Schuldige verdammen, und die Konsistorien bald hetero-
doxe bald orthodoxe Kandidaten mit einem ubeln Testimonium
bestrafen. Jedoch miissen wir anmerken, daB wir nur dan ehr-
wiirdige Dinge verspotten, wenn es uns an lacherlichen fehlet;
53 6 JUGENDWERKE • 2. ABTEILU^G
und nur ausserster Mangel an Missethatern und Barnabas zwingt
uns zur Geiselung eines gotmenschlichen Riikkens und zur Dor-
nenkronung eines heiligen Haupts. Die Ursache dieser Weige-
rung last sich leicht errathen. Denn wem ist unbekant, daB die
Muskeln der Leser das Belachen der Tugend nicht so willig
akkompagniren als ihre Vernachlassigung derselben vermuthen
liesse, ia daB sie nicht selten diese Gottin durch das Klatschen
der Hande fur die Unfolgsamkeit der Fusse zu entschadigen
suchen? Aller dieser Schwierigkeiten ungeachtet gossen wir
neulich auf die heiligsten Gegenstande, auf Religion, Keuschheit 10
und Bibel unsre Galle; woraus das weise Publikum auf den Grad
einer Theurung an Thorheiten vorlaufig schliessen kan, die uns
zur Nahrung unserer Galle so wie den Juden im belagerten Jeru-
salem, nichts als die Beraubung der Altare iibrig gelassen. Ei-
gentlich stehet die Verspottung des Ehrwiirdigen einzig und
allein den Invaliden des Wizes, kraft eines alten Privilegiums
zu. Der Kontrast zwischen dem Grossen und Kleinen, der eben
zum Lachen kizelt, last sich namlich bei an sich grossen Gegen-
standen am leichtesten verstarken; (daher alle Parodien ohne
Miihe gemacht und mit Vergniigen gelesen werden) warum 20
soke man nun einem erschopften Satiriker seiner Arbeit einige
Erleichterung, die er sich durch die Wahl des Gegenstandes zu
verschaffen sucht, noch misgonnen? warum seiner Schwache
Angriffe auf unbewafnete und edlere Gegenstande verdenken,
da doch selbst der alte Lowe, nach Plinius, mit seinen abgenuz-
ten Waff en stat der wilden Thiere Menschen zu wiirgen anfangt?
Daher dieienigen, welchedem ehrwiirdigen Verfasser der Char-
latanerien die Bibelspotterey veriibeln, entweder eine schlechte
Kentnis der satirischen Regeln oder eine fliichtige Lesung seiner
Satiren verrathen: denn es hatte sie nur einen kritischen Blik 30
in die Charlatanerien gekostet, und sie wiirden darinnen einen
Wiz entdekt haben, der weiter keinen als heiligen Gegenstanden
mehr gewachsen ist. Und wenn sie Leute loben, welche dem
Himmel doch wenigstens die Hefen von den Kraften, die ihnen
der Dienst des Teufels abgezapft, mit zitternden Handen iiber-
reichen; warum wollen sie denjenigen tadeln, der den Bodensaz
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 537
einer Gallenblase, die der Spot auf den Teufel langst erschopfte,
heiligen Gegenstanden weihet und die Bibel mit derselben
Schwache verspottet, womit sie der gedachte Christ befolgt?
Doch wir spotten nicht bios uber ehrwiirdige Gegenstande,
sondern auch iiber Thorheiten; und dariiber eben so oft, und
eben so gern. Hasen sind unser Ziel und unsre Nahrung und
so bald uns hungert, so rufen wir aus dem Bauer zu unserm
reichgekleideten Hern: Spizbube und zu seiner treuen Gemahlin:
Hure. Nichts konnen wir daher sehnlicher wunschen, als die
io Vermehrung der Narren. Ein Gesuch an das Publikum, seine
Narheiten zu verdoppeln, ist also nicht bios andern Mitgliedern
desselben, sondern auch uns Satirikern erlaubt und so bald wir
nur erwiesen, daB es uns die von ieher gewohnliche Anzahl
Narren nicht mehr liefert, so ist es verbunden, dieser Armuth
abzuhelfen. Freilich da wir diesen 'Erweis zu fiihren niemahls
nothig halten und immer mit der Anzahl der Narheiten der Welt
zufrieden sein konten, so zufrieden, daB Swift so gar eine Lob-
rede auf die ganze Welt versprach: so findet man unsern Gesuch
ein wenig auffallend und griibelt deshalb nach gezwungnem
20 Tadel desselben. Daher wendet man denn gegen die Billigkeit
unsrer Bitschrift ferner ein: dieienigen, die die Thorheiten ver-
mindern sollen, diirfen sie nicht zu vermehren suchen. Die erste
Halfte liesse sich zugeben, ohne daB es darum von der andern
nothig ware. Denn schon das Beispiel der Richter wiirde fur
uns antworten, die die Lasterhaften, haufiger wiinschen, weil
sie von der Bestrafung derselben leben und die nicht selten dem
unerfahrnen Landman ihre Kunstgriffe fur seine Fehler unter-
schieben, um sie an ihm ahnden zu konnen. Allein es ist gar
nicht einmahl wahr, daB die Satire die Thoren bessern wolle;
30 sie wil sie ia nur vergniigen. Dieses wissen selbst die Thoren
so gut, daB sie in ieder satirischen Schilderung das Bild ihres
Nachbars, aber nie ihr eignes such en und darum auch finden:
denn geschahe das leztere, so wurden sie Vergniigen gegen Bes-
serung vertauschen, stat daB sie iezt so wohl nicht gebessert
als nicht betriibt werden. In einer Lobrede sucht man, wie im
Spiegel, nie fremde Gegenstande, sondern nur sich selbst zu-
538 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
ruckgestrahlet; allein bei der Satire ist es umgekehrt. Daher wir
bei alien Besizern satirischer Bilderkabinetter umsonst nach ih-
rem eignen Portrait gefraget, ungeachtet es der nachste Nachbar
in duplo besas; so berichtet Moore, daB die meisten Italiener,
welche die Gemahlde von alien Dingen besizen, ihr eignes nicht
besizen. Ist aber einem Satiriker an der Ausrottung der Thorhei-
ten ia etwas gelegen, so tadelt er sie nicht, sondern lobt sie,
welches man die Figur der Ironie betitelt; wic die Zauberer nach
einem uralten Aberglauben, die Kinder durch Loben toden. Ub~
rigens mag iene f alsche Meinung vom Endzwek der Satire durch 10
unsre Vorreden entstanden sein, die man wortlich auslegte, stat
sie mit bessern Lesern wie Traume und Dedikationen durch
das Gegentheil auszulegen.
Diesc algemeinen Griinde wollen wir nur noch durch einige
besondre verstarken. Um Thorheiten kan vorziiglich das trau-
rige Schiksal unsrer Schriften betteln, deren Gestank beinahe
noch geschwinder verstaubt, als die Nasen, die er ziichtigen
sollen. Kein Papier reift eiliger zur Hiille des Pfeffers, als das,
was schon vorher Hiille von satirischen Pfeffer gewesen; und
gegen den Zahn der Zeit verpanzert unsre satirische Zahne die 20
Harte umsonst, die sie mit den langerlebenden Knochen der
Esel theilen. Wir sterben nur wenig spater als die Thorheiten,
die wir toden und gleichen den Pillen, welche mit dem Unrathe,
den sie exuliret, fortgehen. Wer liest unsern Rabner noch? nie-
mand vielleicht als sein Verleger in Leipzig. Wer liest unsern
noch viel grossern Liskov? nicht einmahl sein Verleger, denn
der ist tod. Wenn daher unsre Zahne unsern Magen iiberleben
sollen, oder wenn dein Gedachtnis unsre Geburten nicht durch
seine vielen Locher fallen lassen sol, so mtissen wir in dasselbe
Vielschreiberei aufschiitten, so wie sich in dem locherichten 30
Siebe die Korner nur durch ihre Menge erhalten, und sonach
unsre Fruchtbarkeit mit deiner Vergessenheit weteifern lassen,
und mit der Starke unsrer Phantasie die Schwache deines Ge-
dachtnisses verbessern. Ein neuer Grund also, warum du deine
Thorheiten vermehren must, ist der, damit wir unsre Satiren
vermehren konnen.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 539
Weiter. Der Satiriker sind in kurzem so viele geworden, dafi
wir, fals nicht bald der Narren eben so viele werden, gegen
einander unsre eignen Geiseln kehren und gleich Offiziren, mit
unsern Waff en stat zu kriegen duelliren, und wie die Schafe in
Island, mit den Zahnen, denen das Gras mangelt, die Wolle
der Mitbriider abscheren werden miissen. An dieser ungluckli-
chen Vermehrung ist bios Sterne schuld, bei dessen Erscheinung
auf einmahl alle Kinder unsrer schonen Geister zu zahnen anfien-
gen und von dessen Augen und Lippen zu gleicher Zeit ein
io algemeines Weinen und Lachen auf die deutschen Gesichter flos,
welche darauf nicht selten zu gleicher Zeit Zwiebeln fur ihre
Augen und Risifolium fur ihre Lippen, und keine Nieswurz
fur ihre Nase brauchten. Sonderbar beilaufig! dafi zu Einer Zeit
in Deutschland alles ubertrieben lachen und ubertrieben weinen
wolte als sonst geschah; so wie in demselben vierzehnten Jahr-
hundert auf einmal die Sekte der Geiselnden und die Sekte der
Tanzenden aufstand. Doch mag auch Paris nicht von aller Ver-
anlassung zu der sternischen Spotsucht rein sein: denn seine Stu-
zer, die vor etlichen Jahren Dornstokke mit unbeschnittenen
20 Stacheln trugen, haben vielleicht unsre geistigen Stuzer in der
alten Nachahmung wenigstens bestarkt, in ihren Schriften mit
dem Stokke nicht bios zu gehen, sondern zu stechen. Vielleicht
glaubst du iezt, aus der Menge der Satiriker einen Schlus auf
die Menge der Thoren erschleichen zu konnen, allein du irrest
dich, weil die sternischen Nachahmer ihre Spashaftigkeit nicht
erst an Thorheiten, sondern an verehrungswiirdigen Dingen
iibten und daher mit dem Lachen gar nicht auf deine Freigebig-
keit in Thorheiten zu warten brauchten. Auch rechnen wir diese
launichten Leute, die bios spasen, nur aus Mitleiden zu unsrer
30 Zunft, die eigentlich spottet. Ferner unterschieden sie sich von
uns, die wir gleich den Mahlern seltner uns als fremde Gegen-
stande mahlen, dadurch, daB sie mehr sich als ihre Leser lacher-
lich machten. Dieses Verdienst ubrigens, das ihnen mit Recht
die meiste Achtung und Lesung erwarb, muste ihnen zwar bei
ihren Fahigkeiten sehr leicht zu erreichen sein: denn allemal war
die schlechtste Satire auf andre die beissendste auf sie, so wie
540 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
eine iibelgemachte oder iibelgeladene Flinte in demselben Ver-
haltnis den Schiizen stat des Zieles trift; allein die Hohe, zu wel-
cher sie dieses Verdienst hintrieben und bei der nicht selten das
Lachen des Lesers in Mitleiden zerschmolz, war immer eine
Seltenheit und rechtfertigt die Leser, die lieber den Lacher als
sich belachen, und auch die Schonen, fals man noch das kleine
Verdienst der unziichtigen Reden beifuget, wegen der Wieder-
hohlung der Auflagen. Auch der Liebling des Publikums, der
Verfasser der Raritaten des Kiisters von Rummelsburg, bleibt
dieser Selbstbelachung troz dem Anschein des Gegentheils ge- 10
treu: denn wenn er z. B. in irgend einer Stelle seines Buchs
einen Dumkopf lobet, so wil er sich doch damit nicht loben
- das that er schon in der Vorrede beim Tadel seiner Rezensenten
- sondern er wil sich wirklich belachen, nur hat er die Ironie
so wenig in seiner Gewalt, daB sein Lob kein verstekter Tadel
hebt, und er sich nicht einmal belachen, sondern nur loben kan.
Und hierin ubertrift ihn der Herausgeber von Holty's Gedich-
ten, H. GeiBler der iiingere (der nun iezt nicht mehr so unbekant
wie H. GeiBler der altere ist) in einem hohen Grade. Denn die
Satire auf sich selbst, die er in Holty's Lob einflochte, ist ihm 20
so gut gelungen, daB wir sie vielleicht der iuvenalischen entge-
gen stellen, ia in der Bitterkeit nicht selten vorziehen konnen.
Stat sich einen Affen zu nennen, macht er ihn vielmehr so gleich
und zeigt dadurch, daB er das Tadeln besser als die Rezensenten
verstehe, die dem Autor nicht beweisen, sondern nur vorwer-
fen, daB er ein Esel sei. Er tadelt seinen Stil nicht, aber er last
ihn dafur drukken und erwartet von seinen kritischen Lesern,
daB sie eine Schreibart, welche die Fehler der Prose mit den
Fehlern der Dichtkunst paret, welche harte und iibelgebaute Pe-
rioden, lange Allegorien und kiihne Metaphern, neue Worter 30
und einige dem Lessing unglucklich nachgeahmte Idiotismen
sucht, zugleich enthalt, ohne sein Erinnern von selbst lacherlich
finden werden; diese Erwartung driickt er zu Ende der Satire
immer noch in demselben Stile so aus: »Ober alle Belohnung
wiirde die aus der Feme flusternde Ahndung des sanftesten Ge-
fuhls fahiger Seelen gehen dem Herausgeber« - Soke iibrigens
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 541
unsre Vermuthung, dafi nicht alle diese Fehler die Fehler seiner
eigenen Schreibart sein, sondern dafi er einige aus Satiren und
Rezensionen iiber den iezigen affektirten Stil genommen und
nur fiir eigne ausgegeben, gegriindet sein: so hatte seine Hand
stat einer Satire gar ein Pasquil auf seinen Kopf gemacht und
die Selbsterniedrigung bis zu einer Tiefe getrieben, die er vor
dem Richterstuhl der Selbstliebe mit der Hofnung des Gewins
aus der voreiligen Zusammenstoppelung fremder Gedichte
kaum entschuldigen konte. Um die Verschiedenheit des Gan-
io ges, den dieselbe Laune in verschiednen Kopfen nimt, bestimter
zu zeichnen, fugen wir den Kunstgriffen der gedachten zween
Kopfe noch den eines dritten bei, namlich des Verf. der Charla-
tanerien, welcher um nicht bios sich, sondern auch seine Leser
lacherlich zu machen, in der Vorrede sein ironisches Lob auf
sich selbst, mit der geschwinden Vergreifung seines Buchs zu
rechtfertigen, die Mine annimt. Er wil namlich das Herz und
den Kopf des Publikum auf eine feine Weise ziichtigen, das seine
Schriften, welche doch fiir beides wenig enthalten, so haufig
gelesen; daher thut er, als wenn er den Beifal desselben billigte,
20 indem er auf ihn stolz zu sein vorgiebt. - Wir sind aus unserer
Bahn gekommen, die iedoch unsre Verirrungen immer durch-
kreuzet haben.
Endlich haben dir deine Komodien und Romanenschreiber
schon langst deinen Mangel an originellen Thoren vorgeworfen,
bei dem auch unsre Zunft kunftighin unmoglich mehr bestehen
kan. Alle deine Narhejten verschreibst du dir aus Paris und Lon-
don; und doch zankst du mit uns, den Spot auf diese Thorheiten
auch aus London und Paris verschreiben zu mtissen. Allein aus-
wartige Thorheiten konnen wir so wenig belachen, wiedu, weil
30 wir sie ebenfals wie du bewundern; wenigstens mus die auslan-
dische Narheit erst in eine deutsche verdolmetschet worden sein,
eh' unsre Bewundrung in Belachung ubergehen kan. Der Man-
gel an Satire vergrossert iiberdies wiederum deine Empfanglich-
keit fiir f remde Narheiten: Denn die Okonomen haben bemerkt,
dafi nur Vieh, welches man mit Nesseln gefiittert, unter epidemi-
schen Krankheiten ohne Anstekkung lebe. - Wir glauben nun
54 2 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
in diesem Praludium unser Recht, dich um Thorheiten zu bitten,
ausser Zweifel gesezt zu haben; und gehen daher mit der Hof-
nung, du werdest sie vermehren, so bald du von der Wenigkeit
derselben nur genugsam (iberzeuget worden, zur Bewerkstelli-
gung des leztern iiber. Vielleicht mochtest du uns den Erweis
deiner Verniinftigkeit schenken; vielleicht warst du wohl schon
langst von deiner Armuth an den Thorheiten iiberzeugt; allein
die Richter zwischen uns und dir, die Auslander, welche dich
bios nach deinen bessern Gliedern, nach den reisenden Edelleu-
ten namlich schazen, sind von dieser Armuth weniger iiber- 10
zeugt. Diese davon zu iiberzeugen, mochte vielleicht auch
schwerer sein, als dich zu uberzeugen, der du die Leichtheit
unsrer Griinde mit deiner noch allein iibrigen Thorheit, namlich
dem Stolze volwichtig zu machen die Giite hast. Fiirchte endlich
nicht, da8 wir, gleich den Selensorgern, deine Verniinftigkeit
iiber die Granzen der Wahrheit schildern werden. Vielmehr
werden wir gerecht genug sein, fur iede Handlung, welche du
aus Liebe fiir die deutsche Satire und aus Has gegen die Vernunft
gethan, das gehorige Lob dir abzutragen. Denn unser eigner
Vortheil gebietet es, jede Gelegenheit, durch gerechte Lobsprii- 20
che dich zur haufigern Verdienung derselben, auffodern zu kon-
nen, nach unsern Kraften zu beniizen, und die Vernunft fordert
es, unsre Bitschrift nicht durch eine partheiische Algemeinheit
im Tadeln, als die sein wiirde, wenn wir deine besten Handlun-
gen, auf welche dein Stolz am meisten trozt, (z. B. das neuliche
Genie wesen) zu verniinftigen heruntersezen woken, verdachtig
zu machen. Wiirden wir schluslich unserm eignen Ziele nicht
den Riikken zukehren, wenn wir die Einwurzelung des gesun-
den Menschenverstandes in derselben Schrift vergrosserten, die
zur Ausrottung desselben aufmuntern sollen? Wiirden wir euch 30
die Besiegung eines Feinds zumuthen, den wir fiir sehr machtig
hielten oder zu halten vorgaben? Leider! dar] wir zu den ersten
Gegenstanden unsrer Klagen dieienigen machen miissen, die uns
durch ihr Beispiel so viel niizen konten. Denn ihre eigne Thor-
heiten diirfen wir hochstens nur an ihren Nachahmern verspot-
ten; eine konigliche Narheit halt durch Krone und Szepter, aber
GRONLANDISCHE PROZESSE - 2. BANDCHEN 543
nicht ihre Kinder durch Stern und Kommandostab, die Satire
von sich ab und stat, daB (nach Pope's Bemerkung) der Reiche
seinen giildnen Schenktisch nur im Spiegel zu bewundern wagt,
bewundern wir umgekehrt die goldnen Schellen einer Krone
selbst, und belachen erst ihre zuriickgeworfne Abspiegelung an
den Hofleuten. Spot also zwar nicht, aber doch Klagen iiber
grosse Haupter gestattet man ihren Unterthanen; und den
Schriftstellern sind die Fiirsten, wie den Kaldaern die Sterne,
nicht bios Gegenstande der Anbetung, sondern auch der astro-
10 nomischen Beobachtung, wiewohl beides in einer knieenden
Stellung geschehen mus. Auf dieses alte Recht wagen wir denn
das freimiithige Gestandnis, daB wir fast ein wenig bestiirzt,
auf den Thronen eben so viele Kopfe als Diademe und mehrere
Szepter als gnadige Tazen zahlen, Freimiithig allerdings mus
dieses Gestandnis dem vorkommen, der mit den Pflichten der
Konige vertrauter ist: denn es schimmert durch dasselbe der
Vorwurf hindurch, daB sie ihre Pflichten nicht so gut wie ihre
Minister, ia nicht einmal so wie die Konige der vierfiissigen
Thiere so wohl als der befiederten erf ii lien, welche alle drei (Mi-
20 nister und Lowe und Adler) nie vergessen, daB sie Raubthiere
sind. Sonst gab es noch Hofe, wo niemand klug war, als der ,
Hofnar und wo die Schatze Amerika's noch mit gekronten
Thorheiten und Kopfen gestempelt von den Thronen auf die
Unterthanen herunterrolten; allein iezt scheinen die koniglichen
Schatzkammern erschopft, wenigstens verschlossen zu sein. Die
Satire kan mit keinen gemiinzten Schellen mehr prahlen; und
ihr Nachtrab, das Pasquil, stiehlet nur noch den Goldsaikken
die Rander, um daraus mit lugenden Handen falsche Munzen
zu pragen. Wer uns die iezige Seltenheit furstlicher Thorheiten
30 nicht glaubt, der frage Leute, die ihm unpartheiischer und gros-
ser scheinen z. B. die Favoriten, Hofprediger und Hoftanzer
iedes Fiirsten. Alle werden ihm die Vernunftigkeit des ihrigen
nicht genugsam schildern konnen. So gar iede gedruckte und
gepredigte Lobrede auf einen Fiirsten treten auf unsre Seite und
gehen nur darin von uns ab, daB sie dem Gegenstande ihres
Lobs, nicht nur viele, sondern auch alle Thorheiten absprechen.
. 544 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Selbst der Sprachgebrauch spricht fur uns und vervielfaltigt die
verniinftigen Handlungen der Potentaten. Denn werm ein Fiirst
die Vorschlage seiner Minister unterschreibt, so hat er sie, fals
man den Sprachgebrauch nicht ganzlich Lugen strafen wil, er-
funden; wenn er den Akkerbau durch nichts, als die Jagd erschwe-
ret, so behaupten so gar die Landleute, daft er ihn unterstiize;
und iedes Getraide, das er ihnen nicht wegerntet, verdanken sie
ihm als gesaet, wenn er am Tage stat zu donnern schldft, so riih-
men nicht bios iibertreibende Dichter, sondern auch ernsthafte
rectores magnifici, daB er die Nacht fur das Wohl des schlum- 10
mernden Stats durchwache; kurz wenn er kein Henker, sondern
ein Stiefvater des Vaterlands ist, so ist er, nach der Versicherung
eines ieden klugen Mannes, ein Vater desselben.Daher auch die
Erde gekronte Tyrannen zwar oft bedekt, aber nie getragen hat;
und fals auch ein Henker eine konigliche Gruft zu erben gluklich
genug war, so hatte doch noch keiner das Gliik einen konigli-
chen Thron zu erben. Die wenigen Fehler, die mancher Fiirst
etwan noch hat, kan man, sobald er sie nicht uber den Zaun
der Klugheit hinauswachsen lasset, sehr gut fur ausgerottet erkla-
ren; so wie selbst Christus die Bezdhmung siindiger Gliedmassen 20
der Ausrottung derselben gleichschazt, und die eine unter der
andern versteht. Was haben wir nun zu thun? alle Potentaten
um Thorheiten zu bitten? Nein! einige zwar, aber nicht alle;
aber nicht die, welche die Bitte um Vermehrung ihrer Thorhei-
ten ihren beredten Hofleuten schon zu oft abgeschlagen haben,
als daB wir sie mit grosserm Gliikke zu wiederhohlen hoffen
diirften. Sondern diese bitten wir bios um die Erlaubnis, auf
sie, da sie die Satire mit keinem Stof begnadigen, wenigstens
Pasquille schreiben zu diirfen. Auch waren schon Friedrich und
Joseph so gnadig, ungebeten uns durch diese Erlaubnis fur ihre 30
Tugenden zu entschadigen. Nur die iibrigen hohen Haupter,
welche keine Satire, geschweige einPasquil auf sich dulden kon-
nen, fiehen wir mit der unterthanigen Knechtschaft, die uns
geziemt, um die gnadige Erlaubnis an, auf sie zwar keine Pas-
quille, aber doch Satiren machen zu diirfen, ohne iedoch wie
zeither besorgen zu miissen, ihr goldhartes Szepter werde an
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 545
unsern harichten Riikken die ungekronten Opfer unserer Gei-
seln hart zu rachen belieben. Solten sie aber auf diese Bitte in
einem gnadigsten Reskript antworten, daB fiirstlicheThorheiten
gleich den romischen Biirgern, das Recht haben, nicht gegeiselt
zu werden: so wenden wir uns an ihre Kronerben und tragen
denselben in aller Unterthanigkeit vor, uns ein Privilegium zu
verleihen, kraft dessen ausser dem Leibarzt niemand als wir ihre
glorwurdigsten noch iezt lebenden Vorfahren nacli ihrem Tode
anatomiren darf.
io Da wir gezeigt, daB die Fiirsten, gleich ihren Unterthanen,
arm an Thorheiten sind, so haben wir zugleich erwiesen, daB
ihre Hofleute es auch sind. Denn alle Lacherlichkeiten, die iene
abgelegt, verbergen diese und verlarven alle die schazbaren Fehler,
denen sie treu bleiben, in die Tugenden der erstern wenigstens.
Sonach konnen wir ihnen freilich nicht vorwerfen, daB sie keine
Thoren sind, allein doch dies, daB sie keine mehr zu sein schei-
nen. Ein Unterschied, der uns wenig nuzt! Weit besser war es
sonst, als es noch keinen Montesquieu und keinen Voltaire und
folglich keine Fiirsten gab, die von Ihnen verfiihrt waren; als
20 noch der Hofman von seinem Oberhaupte die Schellen geliehen
bekam, die er uns auszahlte, als noch die Krone fur Sterne und
Bander, wie das Genie fur Nachahmer, verschonernde Flekken
crfand, und die Gunst des Fiirsten noch fur Weteifer in seiner
Lieblingsschwachheit feil stund. Jezt stellen sich die Hofleute
nicht wie sonst lasterhaft, sondern tugendhaft, und gleichen dem
Chamaleon, das (nach Linnee) alle Farbennachaffet, die schwarze
ausgenommen. Zwar ahnlichen sie hierin gewissen Wilden,
welche ihre unehrbaren und empfindlichen Glieder nicht aus
Liebe zur Tugend, sondern aus Furcht, sie zu verlezen, verhiil-
30 len; allein die Wirkung bleibt fur den, der gern einen Priapus
abzeichnen mochte, immer gleich verdriislich. Ja die Schadlich-
keit dieser Larven nimt noch durch den Umstand zu, daB wir
alle deutsche Hofe, ohne daB sie uns ie gesessen haben, mit
unsrer Galle, (wie der Mahler mit Fischgalle,) abmahlen, und
Riikken, die wir selbst geschnizt, mit unsern lauten Peitschen
rothen miissen. Denn nur selten sind wir so gliiklich, mit unsern
54-6 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
eignen Augen den Hofman, wie der Geizige den Affen und den
Baren aus der nassen Fensterscheibe der Dachstube auf der Gasse
beobachten zu konnen; am seltensten gerathen uns Biicher in
die Hande, in denen wir stat der Hofe die Gemahlde derselben
studieren konten, so wie Delaporte nicht in den Landern, son-
de rn nur auf ihren Karten zum Behuf seiner Reisen durch die
Welt, herumzureisen pflegte. Denn der Romane, die den Hof-
ling mit wahren Farben schildern, haben die Deutschen ia nur
wenige, vielleicht nur einen , den vom phlegmatischen Publi- ,
kum seit vier Wochen schon vergessenen Roman namlich, der ro
uns von den Hoflingen freilich nebst vielen falschen und alten
Ziigen doch den neuen und wahren liefert, daB ein Hofman,
zufolge einer etwas scharfern Beobachtung, sich nicht selten
- verstelle. Eines solchen Blick in das hofmannische Herz hatte
man sich vom Verfasser dieses Romans, der als Kandidat der
Gottesgelahrheit noch keinen Hofman kennen zu lernen Gele-
genheit gehabt als den Haman, der zu den Zeiten der apokryphi-
schen Autoren gehangen worden, am wenigsten versehen sol-
len. Allein nur desto mehr last sich von ihm versprechen, nur
desto grossere Talente sagen uns die Hofnung zu, er werde Lich- 2c
tenberg's Klagen iiber den Mangel an Menschenkentnis kiinftig
stillen und zum Besten des noch blinden Beobachtungsgeistes,
seine Feder zu einer Starnadel zuspizen. Dem Mangel einer sol-
chen Bekantschaft mit euch ihr Hoflinge, miisset ihr es freilich
auch anrechnen, wenn wir in der Unzufriedenheit mit der An-
zahl eurer Schellen zu weit gehen; und vielleicht ist bios bald
Mangel des Lichts schuld, daB wir manche eurer Thorheiten
iibersehen, bald falsches Licht, daB wir noch mehrere entschul-
digen. Ganzlicher Mangel des Lichts und vollige Unwissenheit
der Hofe mag vielleicht schuld sein, daB wir noch bis iezt glau- 3c
ben, daB ihr einen Gott, dessen Nichtsein schon die ersten
Grundsaze der Vernunft euch lehren, darum noch annehmet,
weil der Wiz und Voltaire und euer Herz fur dessen Dasein
sprechen; von iener Unwissenheit riihrt vielleicht auch unsre
Oberzeugung her, daB ihr em Herz habt; daB ihr nur dan eine
wichtige Mine machet, wenn ihr einen wichtigen Gedanken auf
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 547
euer Gesicht iibertragen wollet; daB ihr euren schonen Gebiete-
rinnen beynahe eben so wenig schmeichelt wie eurem Gebieter
und die Weyhrauchswolken nur darum aufsteigen lasset, um
dadurch fur den Kopf des Fiirsten das Licht dioptrisch zu ver-
vielfaltigen und von den Herzen der Damen die Erwarmung
abzuhalten; daB ihr bei andern euren Fiirsten mehr aus Liebe
zuihm als zu euch so lobet; daB ihr eure Freundschaft mit andern
Zeichen ausdriikket als eure Feindschaft und den Feind nur
darum umarmet, um ihn zu erwiirgen, aber nicht um ihn zu
io liebkosen; und endlich erzeugte wohl bios die Unbekantschaft
mit eurem Werth unsern alten Wahn, daB die Halfte von euch
nicht, wie man gewohnlich glaubt, verdiene gehangen zu wer-
den, sondern vielmehr Ordensbander anstat des Striks zu erhal-
ten werth sei. Ein falsches Licht aber ists vielleicht, das einer
noch grossern Anzahl eurer Thorheiten glanzende Seiten in un-
sern Augen leihet. So verliehrt z. B. eurelacherliche Ahnlichkeit
mit den Schlangen, welche kriechen, alien Nuzen fiir uns, so
bald der Verfolg der Ahnlichkeit uns zu dem Umstand leitet,
daB die Schlangen auch springen, um sich der nahen Beute zu
20 bemeistern. Denn so feig die Gewohnheit ist, im Frieden mit
stummen Windbiichsen auf den Feind zu schiessen, so muthvol
ist die, womit sie gut gemacht wird, namlich auf ihn im Kriege
mit lauten Kanonen zu feuern. So kame uns ferner eure Satire,
womit ihr in Geselschaf ten gewohnlich fechtet, wirklich stumpf
und daher lacherlich vor, wenn nur uns nie einfiele, daB ihr
sie an eurem harten Herzen schleift. Denn so lacherlich das Un-
ternehmen ist, wie die Schlangen mit lokkern Zahnen zu beissen;
so verniinftig wird es durch den Umstand, daB ihr und die
Schlangen den Vorwurf der Unmacht schon durch den Gift
30 vermeidet, dem die lokkern Zahne den Weg nur haben bahnen
sollen. Eure schltipfrigen Erzahlungen entschuldigen wir immer
mit dem Zustande derer, die ihr damit unterhalten wollet. Um
ihnen das Vergniigen an solchen Erzahlungen abzugewohnen,
denken wir, freilich vielleicht eben aus Unbekantschaft mit eu-
ren Zuhorern, muste man das Vermogen zu den Lastern, deren
schwaches Echo iezt nur die Ohren sind, ihren Lenden erst wie-
548 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
der eingiessen. Ihr redet viel; allein da wir uns einbilden, dafi
ihr eben darum viel redet, warum die Wilden sich einbilden,
dafi die Affen nichts reden, um namlich nicht arbeiten zu diirfen;
so konnen wir euch nicht im geringsten mehr lacherlich finden.
Euer Hang, Neuigkeiten zu horen und zu erzahlen, scheint, un-
sers Bediinkens, euch als Priestern der Fama zu geziemen: denn
diese ist auch gleich den Harpyen, mit einem ewigen Hunger
und ewigen Durchfal behaftet, und hat eben so viele und eben
so unermudliche Ohren als Zungen. Da wir weiter aus Unkent-
nis der Hofe glauben, dafi man daselbst am Hofman, wie am lo
Biere, die Gestalt friiher als den Geschmak priife, so konnen
wir natiirlich nichts als Spuren der Vernunft in eurer Sitte ent-
dekken, zum wizigen Kopfe ein wiziges Kleid zu paren, so wie
an den schwarzen Kazen die Augen und das Fel im Finstern leuch-
ten. Vielleicht, dafi wir auch den Gehalt eures Verstandes in
einem falschen Lichte sehen: denn sonst wiirden wir eure Sucht
nach Wiz weniger verniinftig finden, und nicht mit dem Bei-
spiele der klugen Wirthe entschuldigen, die das triibe Bier gern
in Schaum verlarven. Wenn wir vermuthen, dafi ihr darum in
Bildergallerien mit artistischen Termen um euch werft, um die 20
Unbekantschaft mit ihrem Gegenstande selbst euch nicht mer-
ken zu lassen; so verfallen wir vielleicht in die gewonliche Tau-
schung, von sich auf andre zu schliessen: denn gerade so machen
wir es, wenn wir die Namen von Grossen, die wir nicht kennen,
hersagen, um die Voraussezung ihrer Bekantschaft bei andern
zu erschleichen. Wahrscheinlich verleitet uns die Entbehrung
eurer Gesellschaft auch vom Vorwurfe lacherlicher Schmeiche-
leien euch loszusprechen: denn wir sind der Meinung, dafi ihr
in euren schmeichelhaften Gefalligkeiten Masse zu halten wisset,
dafi ihr andern zwar schonePas, aber nicht saure Schritteopfert, 3c
zwar die Hoflichkeit, aber nie eine fremde Biirde euren Rukken
krummen lasset, und zwar mit Versprechungen, aber doch nicht
gar mit Erfullungen, nicht mit Handlungen, sondern nur mit
ihren Bildern, den Worten, wie die arm en Agypter ihren Got-
tern stat der Schweine die Bilder derselben opferten, schmei-
chelt. Zwar lasset ihr oft andre an euch sich anhalten, und reichet
GRONLANDISCHE PROZESSE * 2. BANDCHEN 549
auf eurer Hohe denen, deren kiinftige Undankbarkeit euch we-
nig verschlagen kan, die Hand zum Nachsteigen; allein dafur
scheint ihr tins den Grundsaz zu befolgen, daB es gleich ungerecht
und gefahrlich ist, eines fallenden Favoriten oder eine fallende
Bundeslade zu halten. Wenn ihr einer H- die Entmannung des
Fiirsten iibertraget, so scheint ihr fiir die Satire zu sorgen: denn
was ist lacherlicher als ein gekronter Kastrat? Aber wenn uns
das gemeine Geriicht sagt, das ihr ihm auch das Ruder des Stats
entreisset, so wie Jupiter dem Saturn nicht bios die Hoden, son-
io dern auch den Szepter nahm, so wie man den Kapaunen auf
einmal Kam und Hoden raubet, so verschwindet die lacherliche
Farbe dieses Verhaltens auf den ersten Blik, und wir mussen
das angefangene Lacheln wieder aufgeben. So leiht unsre Un-
wissenheit selbst eurer neuen Thorheit, der Verstellung nam-
lich, welche der obige Kandidat zuerst bemerkte, und dem
Spotte Preis gab, ein Gegengift gegen die Satire. Dieser Men-
schenkenner behauptet zwar deutlich, daB Hofleute, gleich dem
beruhmten Marchiali, eiserne Larven, die sie niemahls ablegen,
tragen, stat daB andre nur wachserne und diese nur auf Redouten
20 gebrauchen. Allein auch dieser neue Zuflus hilft unsrer Galle
wenig oder nichts: denn wir konnen uns nicht erwehren, die
immerwahrende Fortdauer eurer Verstellung zu bezweifeln,
weil wir uns Falle moglich denken, worinnen eine glaserne
Maske, welche das Gesicht so wohl zeigt als beschuzt, unent-
behrlich ist. Ja wir traumen uns Gonner, welche alien Schein
des Verstandes so beneiden und fiirchten, daB ihr die Gunst
derselben nur durch eure Entlarvung, nur durch den Kunstgrif ,
nichts anders zu scheinen als was ihr seid, erringen zu konnen
scheint. Und unbekant mit eurer Starke, trauen wir eurem Her-
{o zen zwar, aber nicht eurem Kopf das Vermogen zu, die bestan-
digen Rezidive der Naturzu verheimlichen. So gar den Thieren
fait dieses unmoglich. Das Thier z. B. das, wie Plinius von ihm
ruhmt, a als ein lebendiges Farbenklavier, auf seiner Oberflache
alle Noten der Farbenleiter zu geben weis, sol doch haufig zu
seiner natiirlichen, d. h. zur Eselsfarbe zuriikzukommen die
a Hist. N. L. 8. c. 34.
550 JUGENDWERKE * 2. ABTEILUNG
Schwachheit haben. So weit unser langer Beweis, daB ihr die
Satire mit keinen Narheiten beschenket, wenigstens nur unter
der dritten Hand damit beschenket. Da wir zu hoflich sind,
um nicht der leztern Vermuthung beizupflichten, so enthalten
wir uns unsrer gewohnlichen Bitte um Narheiten und hoffen,
von der Unnothigkeit derselben durch die Erfullung der fol gen-
den noch fester iiberzeugt zu werden. Um fur eure unbekanten
Gef alii gkei ten gegen die Satire Dank uns kiinftig abzugewinnen,
so kronet sie mit einer neuen; leget namlich euren alten Kaltsin
gegen deutsche Gelehrte einmal ab, und widerlegt durch eure k
Geselschaft die Klagen unsrer Bitschrift. Zwar lauft schon iezt
das Geriicht auf gelehrten Zungen herum, daB man an deutschen
Hofen deutsche Gelehrte zu dulden anfienge und ihr eure Mut-
tersprache zu erlernen versuchtet; allein solche Geruchte glaubt
man nur einer wiederhohlten Bestatigung, die aber zu beschleu-
nigen unsre Bitte vielleicht wirksam genug ist. Soke auch unser
Umgang den eurigen nicht verdienen, so hat doch der Niedrige
vielleicht noch einige Tugenden, wo mit er fur die Thorheiten
des Grossen dankbar sein kan, und beide konnen einander mit
ihren entgegengesezten Eigenschaften wechselseitigen Stof zum 2c
Spot anbieten.
Bei den Menschen %ax* e|oxtiv d. h. bei den Edelleuten mus
sich unsre Klage zu einer andern Wendung bequemen. Denn
ohne gegen sie ungerecht zu sein, konnen wir ihnen nicht eben
das vorwerfen, dessen sich alle die andern Gegenstande unsrer
Klagen schuldig gemacht. Vielmehr miissen wir gestehen, daB
die meisten von ihnen auf manchen Thorheiten troz des aussern
Widerstands beharren, denn von ihrem Stolze z. B. konnen sie
darthun, daB er wenigstens eben so viele Ahnen wie ihr Blut
alt sei. Allein eben diese Einformigkeit ihrer Schellen ist der 3c
Satire nachtheilig und nicht viel weniger nachtheilig als ganzli-
cher Mangel derselben. Wen ekelt nicht ein uraltes Lachen zu
wiederhallen; wen ekelt nicht eine Satire, deren Vergeblichkeit
alle ihre Vorganger zusichern? und wir fragen die Adelichen
selbst, ob sie an der Satire uber den Ahnenstolz in den gronldndi-
schen Prozessen nur wohl so viel Geschmak gefunden haben,
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 551
wie an einem Vomitiv oder gar so viel wie an einer adeliches
Blut reinigenden Arzenei? Wir zweifeln sehr; und doch, wenn
auch ihr Lachen kein Aufstossen des Ekels verbittert hatte, blieb
darum das Lachen der iibrigen vom Nachgeschmak des Unwil-
lens verschont? Unter die iibrigen, welche den Ahnenstolz billi-
gen und daher den Spot dariiber fur unbillig erklaren, gehoren
so gar einige von uns; von denen auch daher der V. der obenge-
dachten Satire sich einige Vorwurfe zugezogen. An ihrer Spize
stehct so gar der grosse Swift, der in seinen unsterblichen Satiren
io den Ahnenstolz (den groben sowohl als den feinen) soviel wir
wissen niemahls belacht, sondern alzeit lobt und billigt. Noch
deutlicher ausserte er seine Gedanken hieruber in einem noch
ungedrukten Aufsaze. »Einige Kautelen^ die angehende Satiri-
ker zu beobachten haben« betitelt. Dieser ernsthafte Aufsaz, der
zwar wie alle seine ernsthaften Aufsaze, (wie schon der Graf
Orrery bemerkt) tief unter seinen satirischen bleibt, scheint uns
doch wegen manches guten Raths seine Unbekantheit (denn
selbst der genaue Johnson gedenket desselben in der swiftischen
Lebensbeschreibung mitkeinem Wort) nicht zu verdienen. Da-
20 her wir nicht iibel zu thun glauben, wenn wir den Anfang der
gedachten Vertheidigung des Ahnenstolzes iibersezzen und hier
einriikken. In der Mitte der 37 Seite seines Manuskripts fahret
er denn so fort: »So unbillig ein Spot iiber unehlige Geburt
iedem Verniinftigen vorkommen mus; eben so unbillig, ia noch
unbilliger mus einer iiber den Stolz auf adeliche Geburt ihm
diinken, und es wird mir leicht sein, die Ungerechtigkeit des
leztern wenigstens so gut zu erweisen, als ich eben vom erstern
erwiesen. Der Stolz macht lacherlich, wenn er sich nicht auf
Dinge, die Werth haben, griindet, sondern bios von luftiger
30 Nahrung aufschwillet; gar nicht Lachen aber, sondern neidische
Ehrfurcht vielmehr mus der Stolz erwekken, der aus dem Be-
wustsein schazbarer Vorziige erwachst. Hatte nun der Adel die
erste Art des Stolzes, briistete er sich auf den Besiz einer Feder
oder eines Stiiks Pergaments: so berechtigte er die Satire freilich
zum Lachen, und ieder rechtschaffene Edelmann wiirde mit mir
ihn der Geisel willig Preis gegeben sehen. Allein eines solchen
552 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
dummen Stolzes habt ihr ia selbst, ihr lustigen Leute, weder
den hohen noch den niedrigen Adel iemahls noch beschuldigt;
sondern ihm vielmehr den edlern Stolz alzeit beigemessen, den
Stolz nicht auf ein Wappen, sondern auf das, wovon es Zeichen
ist, auf Verdienste der Vorfahren. Auch wird ihn ieder Edelman
zu aussern sich nicht schamen: denn ist Tapferkeit keine Eigen-
schaft, worauf man stolz sein darf? Kan nicht also ieder
Edelman, soviel es die Granzen der Moral erlauben, sich selbst
sehr hochschazen, da ieder die Tapferkeit von wenigstens eini-
gen seiner Ahnen durch heraldische Belege ausser Zweifel sezen I0
kan? Warum habt ihr aber dennoch zeither lachen konnen? Ich
wenigstens kan es hier, so sehr ich es sonst liebe, nicht; denn
auch noch folgendes halt mich davon ab. Man kan die schazba-
ren Dinge, oder mit einem Wort die Verdienste, auf die ein
edler Stolz sich griinden last, fuglich in eigne und fremde, und
also in solche eintheilen, die man hat, und in solche, die man
nicht hat. Nur alter Adel besizt die leztern, nur die erstern trift
man bei neuem an. Fals nun beide die Gegenstande ihres Stolzes
gegen einander zu vertauschen nicht thoricht genug sind, so
darf die Satire beide nicht anfeinden; den Stolz des neuen Adels 2 o
auf eigne Verdienste zwar auch nicht, noch weit weniger den
des alten auf fremde. Denn wessen Verdienste sind ungezweifel-
ter, des Lord G-s seine, dessen Tapferkeit wir erst auf das Wort
der Zeitungen glauben miissen, oder des Lord L-th seine, dessen
Vorfahren sich durch ihren Werth das verdienten, was man
nachher erst unter dem Konig Jakob I. fur Geld sich kaufen
konte? oder wessen Werth ist unverganglicher, der des Herzog's
F-b-d, dessen Statseinsichten troz ihrer Grosse der Raub einer
einzigen Krankheit, einer aussern Verlezung und ieder Gering-
fugigkeit werden konnen, oder der des Grafen B-ld, dessen Ur- 3c
urahn seinen Scharfsin durch das bekante noch bis iezt uniiber-
troffene und von den grosten Statsmannern noch bewunderte
Statssystem der etc. verewigt hat? Ich denke immer des leztern
Verdienste sind am gewissesten, und des leztern Werth am dau-
erhaftesten. Da(3 er aber diese fremden Verdienste nicht mit eig-
nen vermehrt, ist vielleicht selbst sein einziges eignes Verdienst
GRONLANDISCHE PR02ESSE ■ 2. BANDCHEN 553
und zeugt von vieler Klugheit. Denn den Ruhm, welchen man
geerbt, nicht vergrossern, sondern geniessen, heist wie ein Man
handeln, der die Thorheiten des Geizes in geistlichen und leibli-
chen Gutern zu vermeiden weis, der die Erbschaft nicht wieder
vererbt, und fur zweite Erben aufspart, sondern selbst zu ver-
brauchen und unter seine Glaubiger zu vertheilen klug genug
ist. Uberdies vertragt ein altes Wappen nicht iede beliebige Ein-
schaltung neuer Figuren; ein Pegasus z. B. wiirde einem redenden
Wappen geradezu widersprechen, und ich hab' es aus dem
io Munde angesehener Edelleute, daB auf einen Stambaum sich
keine Lorberzweige pfropfen lassen. Daher so wie ein Christ
seiner Unfahigkeit zu eignen guten Werken durch Zueignung
der guten Werke seines Erlosers abhilft, eben so kan ein Edelman
die Verdienste seiner Vorfahren zu seinen eignen machen, wenn
er sie sich zueignet, unfahig sie sich zu erwerben. Daraus folgt
aber auch, daB der Satiriker den Ahnenstolz, welchen die Ver-
nunft so dekt, nicht fur unverniinftig und lacherlich erklaren
diirfe; sondern vielmehr an einem Adelichen das alte Blut, das
in dessen Ahnen fur grosse Thaten schlug, wenigstens eben so
20 ehren musse, als man in Madure an den Eseln die Selen ehret,
die vorher in verstorbnen Edlen wohnten; kurz, daB adeliche
Verdienste darum, weil sie angeboren sind, nicht weniger Ach-
tung verdienen, als Ideen, Siinde, und Krankheiten, die alle
gleichfals angeboren sind.« So weit Swift; und so weit auch
unser Beweis von der Verminftigkeit des Adels, dessen Stolz
nicht einmal, fur eine Thorheit gelten kan. Ja auch diesen sogar
haben einige schon fahren lassen; wir bemerken an verschiednen
Edelleuten, welche die Akademie bezogen, um da einige Ro-
mane zu lesen, daB sie den Adelichen so lange nicht spielen,
30 als sie einen Unadelichen zeugen und verschiedne Barons haben
den Federhut vorher auf den Tisch gelegt. Ja auch im Umgange
mit Manspersonen vergist der iezige Edelman sein Erbbegrab-
nis, und erst ein zweites von mus ihn an das seinige erinnern
und ein andrer bescheidne Edelman seine Bescheidenheit ver-
scheuchen, so wie die lateinischen Negazionen durch Verdop-
lung eine entgegengesezte Bedeutung annehmen, und ein Fe-
554 JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG
derbusch mus dem andern <£iXutJtE avdocDjtog ei zuwinken. -
Zwar woken einige Edelleute dieser empfundnen Armuth an
Thorheiten durch Reisen entfliehen und sich mit auslandischen
bereichern; allein so viel sie auch damit franzosischen und engli-
schen Satirikern mogen geniizet haben, so wenig niizten sie doch
damit den Deutschen. Denn das falsche Mittel machte sie ihren
Endzwek ganz verfehlen; urn Hoflichkeit zu lernen, hatten sie
nicht nach Frankreich, sondern nach Sina reisen miissen, und
Grobheit lehren die Hollander weit besser als die Englander.
Um iiber Gemahlde zu reden, hatten sie eben so wenig nothig 10
Italien als die Gemahlde zu sehen, und um zu liigen, brauchten
sie nur die sieben Wunderwerke der Welt in Augenschein ge-
nommen zu haben. Sollen daher ihre Reisen zu ihrer Bildung
ausschlagen, so miissen sie kiinftig, soviel wir einsehen, sich
der Unbequemlichkeit unterziehen, zu den Wilden selbst zu rei-
sen, weil uns diese Volker doch nicht, wie die Franzosen, Mis-
sionaren schikken. Denn weit besser und viel wohlfeiler als von
den Franzosen wiirde alsden ein bliihender Graf nebst seinem
Hofmeister, von den Gronlandern iiber seinen Nachbar, und
von den Kamtschadalen iiber Got spas sen lernen. Ein Kannibale 20
wiirde ihndie Unterthanen nicht, wie der Finanzpachter, nur
aussaugen, sondern f res sen lehren. Wie viele Gelegenheit zu hu-
ren wiirden ihm die Hottentoten anbieten, ohne dafiir mehr
zu fordern als etwas Rauchtobak; und fur die Mittheilung der
Franzosen wiirde er nur bunte Glaser zahlen diirfen und die
Krankheit so wohlfeil kaufen, daB er sie heilen lassen konte:
denn unter den Wilden kosten die Huren noch nicht soviel wie
die Arzte und der Gift nicht soviel wie der Gegengift. Wir bitten
daher alle adeliche Eltern, denen Bildung ihrer Kinder nicht
ganz gleichgiiltig ist, diesen Vorschlag naher zu beherzigen und, 30
nach einer giinstigen Beherzigung, auszufiihren, um dadurch
auf einmahl den Klagen iiber die Vergeblichkeit der Reisen ein
Ende zu machen, so wie den unsrigen iiber den Mangel an Thor-
heiten.
Geschmiikt mit grossen Schnallen, einem grossen Hute und
grossen Stokke, mit einem kleinen Harbeutel, kleinen Rokgen
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 555
und kleinen Westgen, nicht ohne Wohlgeruch und ohne Puder,
die Geisel in der Tasche, das Schnupftuch oder halb ausser der-
selben, trit unser satirisches Kor dem schonen Geschlechte na-
her, macht mit seinen beschuhten Boksfussen die gewohnlichen
Spriinge der Hoflichkeit, und greift mit gebognem Rukken nach
den schonen Handen, um die noch schonern Hands chuhe zu
kiissen. Schones Geschlecht! das uns hasset und doch auch nach-
ahmet; das den Satyrn den angebohrnen Ungehorsam gegen
zwei Gebote der andern Geseztaf el nur halb vergibt, den Unge-
10 horsam gegen das achte Gebot namlich nicht vergiebt - womit
haben wir eine so heftige Rache deines Pinsels verschuldet, dan
er uns aus Satyren zu Teufeln umwandelt und seine ungerechten
Zeichnungen noch in giftige Farben kleidet? Wir haben nur
Boksfusse; und du leihest uns Pferdefiisse. Wir tragen nur kleine
und gerade Horngen; aber du kronest uns mit so grossen und
so krummen Hornern, wie sie der Teufel vom Ochsen und dein
Her vom Aktaon entlehnet. Wir haben gewis keinen sonderli-
chen Schwanz; aber du verlangerst unser Steisbein so sehr wie
deine Schleppen. Zwar so weis, wie du dich, konnen wir uns
20 nicht mahlen; aber du mahlst uns doch so schwarz wie den bosen
Feind. Noch einmal also: wodurch haben wir diese Schilderung
verdient? Durch unsern haufigen Spot vermuthlich? Aber wir
haben doch iiber dich nicht mehr gespottet, als iiber die, die
dich anbeten; und immer zehn Satiren iiber unser eignes Ge-
schlecht gegen Eine iiber dich geschrieben. Oder durch unsern
bittern vielleicht? Aber so zanke dich mit den Rezensenten, die
uns dazuzwingen. Gleichden Offizieren, deren spanisches Rohr
an dem Soldaten die Menschlichkeit bestraft, womit er die
Spiesruthe iiber die Wunden seines Kameraden geschwungen,
30 geben sie uns mit dem Dolche oder dem Degen der Kritik alle
die Streiche wieder, die dir unsre galante Geisel schenken wol-
len; dafi wir aber deinen schonen Rukken auf Kosten des unsri-
gen schonen sollen, kanst du wenigstens, so lange in der gelehr-
ten Republik das salische Gesez noch gilt, nicht fordern. Pope's
Bitterkeit entschuldige zwar nicht mit der Empfindung von
Riikkenschmerzen, aber doch von Kopfschmerzen; Boileau's
$$6 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Bisse rechne dem Schnabel eines indianischen Hahnes an a und
eh* du Voltairens Spot auf dich verdammest, so verdamme auch
vorher seine Lobreden auf dich. Oder hassest du iede Satire
iiberhaupt? Aber du liebst sie doch an dir so sehr! Denn lieben
must du sie, weil du auf die Schmeicheleien der Manner immer
mit Spot antwortest, deine Lippen eben so gern, wie deine Wan-
gen mit Eflig schminkest; und als Gottin Europens mit deinem
Gesicht, auf welches die Natur bunte Reize pflanzte, und mit
deinem Munde, in welchen die Mode satirische Nesseln saete,
den Gottinnen der Agypter, den Zwiebeln namlich zu gleichen i
kein Bedenken tragst, deren schone Blumen auf einer scharfen
Wurzel bliihen und die zugleich beissen und gefallen. Dieser
ungerechte Zorn aber ist es dennoch, der die Satire um deine
bisherige Wohlthatigkeit brachte, der die Rache dir eingab, ver-
minftig zu werden, um unserm Lachen die Nahrung zu entzie-
hen. Da, wie wir eben erwiesen, dein Zorn ungerecht ist; so
mus es auch deine Rache sein. Wie hart du dich aber an uns
geracht, wollen wir iezt darthun. Wir konnen auf dein geneigtes
Gehor um desto gewisser rechnen, da wir in unserm Erweis
vor iedem satirischen Zuge uns hiiten, und deine Thorheiten 20
iezt nicht belachen, sondern nur die Verminderung derselben
erweisen und ihre Vermehrung erbitten werden, kurz da wir
unsre Satirn weniger den Teufeln als den Affen d. h. den Stu-
zern, welche ebenfals deine Unfruchtbarkeit an Thorheiten tag-
lich dir kniend vorwerfen, ahnlich machen werden. -
Wir musten aufhoren zu lachen; weil unsre Schonen aufhor-
ten, zu weinen. Wer nur vor zehn Jahren der deutschen Satire
auf den Zahn fuhlte, der gestand die Nothwendigkeit, ihr Gebis
durch verbessertes Futter zu scharfen; wer kurz darauf noch
einmahl fuhlte, der fand eine neue Scharfe, und rieth auf die 30
Wirksamkeit des Empfindungswesen. Daher gab der Unter-
3 Nach dem 1' annee litteraire wurde Boileau in seiner Kindheit von
diesem Thiere an einem empfindlichen Orte verwundet; nach Helvezius
last sich aus dieser Verwundung seine Bitterkeit gegen Weiber u. s. w.
erklaren.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 557
gang des lezten der Satire einen unheilbaren Stos und das Mittel,
das Sterne in seiner Empfindsamkeit den Deutschen anbot, die
Englander in der Satire zu erreichen, gefiel den deutschen Scho-
nen zu unserm unersezlichen Schaden nur auf eine kurze Zeit.
Nicht zwar als ob man der Empfindsamkeit das ganze Bedlam
aufgekiindigt hatte; allein sie logirt doch nur noch parterre,
schwellet stat der Herzen unter unbedekten Busen, doch nur
noch Herzen unter groben Halstuchern , klagt nur in der weichen
Kochin iiber die harte Madame und quillet nur aus aufrichtigen
io Thranendriisen. Was bleibt uns sonach iibrig? nichts als die
Fortsezung unsrer Satiren. Ungeachtet das Miserere der Augen
nachgelassen, so miissen wir doch mit unsern Purganzen noch
hausiren gehen. So wie der Teufel in dem Korper des Studenten,
den er getodet hatte, auf Befehl des Magikers Agrippa einige
Zeit die Stelle der Sele vertrat, und mit den fremden Fiissen
einen Tag spazieren gieng; eben so schenkt unsre Ironie der
Empfindsamkeit, die sie hingerichtet, verlangertes Leben, und
redet die tode Sprache der weinerlichen Makulatur. Ja die Ver-
minderung des satirischen Stofs hat noch iiberdies eine ungliikli-
20 che Vermehrung der Satiriker nach sich gezogen. Ein guter
Theil der Autoren namlich, welche sich vom Schimpfen auf
uns langer nicht ernahren konten, schlugen sich zu uns, um
ihre Ebenbilder zu geiseln; die Armuth hatte ihre Gallenblase
gegen ihr Herz aufgewiegelt und dem Kiele stat der Thranen,
die weniger Goldkorner als bisher aus dem Beutel der Verleger
herauszuspiihlen anfingen, nahrhafte Galle eingeflosset; und
derselbe Hunger weinte im zwanzigsten Jahre mit den Weinen-
den und lachte im dreissigsten mit den Lachenden. So diente
iener Eselskinbakken dem Simson sowohl zur verwundenden
30 Waffe als zur wasserreichen Quelle. Auch die Schonen lachen
iezt iiber ihre vorigen Thranen, belohnen die »physiognomi-
schen Reisen« mit lachenden Zahren, satirisiren iiber ihre Nach-
ahmerinnen, und lassen den Pankrazius Selmar den Siegwart
von der Toilette schieben. So weinen die Reben Wasser, bevor
sie die Trauben liefern, die unser Gleichnis versauert, oder den
Wein, den es zu Ess^kocht. So versteht das Kind sogleich nach
558 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
seiner Geburt zu weinen, aber das Lachen lernt es erst spater
fremden Gesichtern ab. Von dieser scheinbaren Ausschweifung
kommen wir auf den Versuch zuriik, die zu sehr verschriene
Empfindsamkeit von ihrjer] verkanten Seite darzustellen; und
das schone Geschlecht zu iiberreden, daB es auch sein eigner
Vortheil sei, so viel wie sonst zu weinen. Das starkste, womit
man die Empfindsamkeit angepriesen und was wir iezt wieder-
hohlen, ist unstreitig dies, daB sie die Bevolkerung, auf welcher
das Wohl eines ieden States ruhet, nicht wenig befordere. Wie
bei der Beschneidung, so ist es bei ihr nur das kleinere Verdienst, 10
die Sele geheiligt zu haben; wenn man es mit dem zweiten ver-
gleichet, die Fruchtbarkeit des Korpers vermehret zu haben; we-
nigstens niizen beide der Erde eben soviel wie dem Himmel.
Die arithmetische Fortsezung unsers Beweises (iberlassen wir
einem zweiten SuBmilch, auf den wir uns hier im voraus bezie-
hen. Wahrscheinlich blieb dieser Vortheil der Empfindsamkeit,
der alle ihre (ibrigen Unbequemlichkeiten aufwiegt, manchen
harten Schonen unbekant; und vielleicht ware dieselbe ohne den
Widerstand des Vorurtheils noch allgemeiner geworden, daB
man den Mond anbete, ohne seine schone Anbeterin mit anzu- 20
beten, und daB die Diana keine andern Bitten gewahre als die
Bitte um ewige Jungferschaft. Erhoret ia doch diese Schwester
Apollo's schon auch die, die um Hebammenhulfe flehen, um
Makulatur zu gebahren. 3 Zwar miissen wir gestehen, daB unsre
Zeiten dem schonen Geschlecht willig den nonnenartigen
Schleier erlassen, den es sonst iiber die Mittheilung seiner Reize
werfen miissen, daB in unsern Tagen die Liebe iede Larve und
folglich auch jdie Empfindsamkeit entbehren konne; allein wir
glauben unsern schonen Leserinnen eine keusche Verachtung
solcher Freiheiten und eine Erhebung iiber die Ziigellosigkeit 30
ihrer Zeitgenossen, zutrauen zu diirfen, und wir hoffen, daB
wenigstens die meisten von ihnen zu edel denken werden, ihre
hochsten Freuden nicht mit dem Schleier von Religionsempfin-
dungen zu heiligen, da selbst heidnische Madgen nur dem Pric-
a Nach der Mythologie ist die Diana oder Luna Hebamme und ewige
Jungfer.
GRONLANDISCHE PROZESSE * 2. BANDCHEN 559
ster, der sich fur den Got ausgab, die Umarmung erlaubten;
die Tugend zu sehr lieben werden, ihr ein schones Sterbekleid
von weissem Atlas und von rothen Bandern zu versagen, und
die biiffonsche Liebe zu innig hassen werden, als daft sie nicht
iiber dieselbe, um sich ihren widrigen Anblick zu erspahren,
die Larve der platonschen hangen solten. Jedes Glied des Weibes
ist zu schon fur eine Enthiillung; aber vorzuglich wird das Herz
desselben durch Naktheit entstellet, und solte eine Schone den
Busen unbekleidet tragen diirfen, so darf sie doch das Herz,
io zu dessen schoner Larve ihn die Natur geschaffen, nicht alien
Augen Preis geben. Kehret also, ihr deutschen Madgen, die ihr
euch iiber die grossere Anzahl erheben wolt, wieder zur ver-
nachlassigten Diana zuruk und zaubert, gleich andern Zauberin-
nen, kiinftig wieder nur zu Nachts. Verrathet eure Geschiklich-
keiten nicht mehr dem geschwazigen Phobus und lasset ihn
kiinftig bei euch, zur Stillung seiner Neugierde nach euren Rei-
zen, hochstens nur eine spate Morgenvisitte im Bette abstatten;
aber nur die Luna freue sich der Vertraulichkeit derer, rnit denen
sie das Geschlecht theilet, nur ihren matten Schimmer lasset
20 dem Haus Zeuge dessen sein, was er zu keusch und zu kalt
ist zu verrathen und niemand als nur die Liebhaberin des Endy-
mions wisse von euch, daB ihr sie nachahmet. - Wir wiederhoh-
len noch einmahl die obige Versicherung, daB nicht Eigennutz
uns diesen Rath diktire. Gerade das Gegentheil wiirde uns die-
ser diktiren; er wiirde alien Schonen die Keuschheit anzupreisen
versuchen, iiber die man in unsern Tagen, ungeachtet sie unter
die abgelegten Thorheiten gehort, dennoch mit grosserm Beifal
zu spotten hoffen darf als iiber die Hurerei, deren Riikken der
Schmuk verpanzert und die Mode bewacht. Eine Hure niizet
30 uns warlich wenig: derm lacherlich ist sie hochstens nur dan
uns, so wie der ganzen Stad, wenn sie so ungliiklich ist, keine
mehr zu sein, wenn entweder ein kleiner Engel diese Gotheit,
ein kleiner Amor diese Venus entgottert und der gereifte Samen
den Sallat um die Gunst eines ieden Gaumens gebracht hat, oder
wenn die Meisterin der Schulerin das Laster abtreten miissen,
oder wenn die Zeit die Schonheit skelettirt hat. Indes kan dem-
56O JUGENDWERKE ' 2. ABTEILUNG
ungeachtet eine Person, fur deren Tugend ihre Juwelen und
vergoldete Wagen Burgschaft leisten, dem gemeinen Wesen
niizlich sein. Denn stat dafi man sonst die Gunst eines Ministers
erst aus der Hand seiner Gemahlin kaufen muste, kan man iezt
dieses Umwegs entubrigt sein, wenn man sich sogleich an seine
H- wendet. Den H- der Konige, die zu Priamus Zeiten regier-
ten, kan man ein solches Lob nicht zugestehen; denn nach den
Berichten der damahligen Schriftsteller war selten eine Konigin,
sondern immer eine H-, die der Staub gebohren hatte, schuld,
daB ein Konig sein Land vernachlassigte und sich ihm entzog; i
so wie der Erde der Mond (Weib) seltner als ihre eignen Dtinste
die Sonne (Man) verschatten und triibe Tage haufiger als Son-
nenfinsternisse sind. Gliiklicher sind unsre Zeiten, wo die
Keuschheit auf die Thronen und die Astraa zu den Sternen geflo-
hen! -Man wird sich freilich wundern, da6 die Schonen, welche
dem deutschen Parnasse die griechischen Musen so gut zeither
ersezten, indem sie mit ihren Reizen sowohl den Pinsel unserer
Anakreons als auch den Pinsel Rabners bereicherten, der Satire
zu sizen und derselben mit ihren entkleideten Schonheiten zu
Modellen zu dienen sich almahlig zu weigern anfangen. Die 20
Verwunderung mus bei dem noch hoher steigen, der die deut-
schen Schonen schon vor dem Zeitpunkte ihrer Verfeinerung
und ihrer Verniinftigkeit zu kennen das Gliik hatte. Denn von
alien Thorheiten der vorigen Schonen, z. B. des Tages sich nur
einmahl anzukleiden, alle die Reize, welche fur mehrere bluhen,
von einem einzigen brechen zu lassen, und -die Schonheit, die
zur Untreue bestimt ist, durch hausliche Geschafte fur den Man
abzunuzen, das feine Gefiihl der Sele und der Hande durch ar-
beitsamen Geiz abzuharten, nicht bios gemeinen Menschenver-
stand, sondern auch eine unpolirte Sprache zu haben, an Gedich- 30
ten so wenig Geschmak zu finden wie an Dichtern, und in der
Litteratur und den Moden gleich unwissend zu sein, u. s. w.
von alien diesen und noch andern Thorheiten, sagen wir, wird
man iezt in der schonen Welt mit Erstaunen wenig oder keine
Spuhren finden. Noch mehr: an die Stelle dieser abgelegten
Thorheiten hat man nicht einmahl neue treten lassen und die
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 56 1
inwendige Seite der vorigen Weiber haben die iezigen uns nicht
einmahl durch die aussere ersezt: denn was den Puz oder die
aussere Seite anbelangt, so konnen wir gegen die gemeine Mei-
nung erweisen, daB er im hochsten Grad verniinftig und zum
Belachen daher nicht tauglich sei. Wir wiinschten freilich selbst
lieber, denen beipflichten zu konnen, die den Chamaleontismus
der weiblichen Moden fur die lacherlichste Narheit erklaren;
allein folgende Betrachtung zwingt uns, hierin andrer Meinung
zu sein und der algemeinen Uberzeugung von der Lacherlichkeit
10 der Moden unsre unbedeutende Stimme zu versagen. Den gan-
zen Irthum hatte man durch eine genauere Entwiklung der Ver-
schiedenheit, die zwischen den Bestimmungen der zwei Ge-
schlechter vorwaltet, ohne Miihe abwenden konnen. Allein man
vergas iiber die Wahrheit, der Man ist fur seinen Geist geschaf-
fen, die eben so gewisse Wahrheit, die Frau ist fur ihren Korper
geschaffen; und wiewohl einige franzosische Dichter den lezten
Saz wenigstens den Weibern, in Madrigalen einzusingen such-
ten, so glaubte man ihn dennoch nicht und sezte ihn bios zu
einer franzosischen Schmeichelei herab. Eine Schmeichelei zwar
20 ist er, ja, aber keine franzosische, sondern eine wahre. Von dieser
Meinung nun irre gefiihrt, kont' es freilich nicht anders kom-
men, als daft man am schonen Geschlechte eben das tadelte,
was man hatte loben sollen und die Bestimmung desselben in
etwas anderm als in der Verschonerung des Korpers suchte.
Zu einer langen Widerlegung fehlet uns hier der Raum; auch
ist unser Saz, daB die weibliche Sele von dem weiblichen Korper
sichtbar iibertroffen werde, und sie folglich, so grosse Ansprii-
che sie auch auf Ausbildung und Hochschazung machen konne,
dem leztern doch noch grosser.e zugestehen mtisse, eine von
30 den Wahrheiten, die sich selbst beweisen. Zu anstossige Liikken
indessen in unserm Erweise dieser Wahrheit werden die Scho-
nen, wennsiein Geselschaften unsre Bitschrift rezensiren, selbst
zu erganzen so gutig sein; und die bekante Beredsamkeit ihrer
Reize sichert uns schon im voraus eine so algemeine Annahme
unsrer Meinung zu als sie verdient. Alle Rektoren bekennen
einmuthig, daB man einen Knaben so erziehen miisse, als ob
562 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
erkeinen Korper hatte, und alleGouvernantenfiigen nochhinzu,
daB man umgekehrt ein Madgen so erziehen musse, als wenn
ihm die Sele fehlte; und von diesen alten Grundsazen entfernen
sich denn beide auch nur selten. Hatte also auch nicht die Natur
dem weiblichen Korper die iiberwiegende Vortreflichkeit gege-
ben,' die wir ihm zusprechen, so wiirde er sie doch durch die
Erziehung erhalten haben, die iiber die bessere Verschonerung
desselben lieber seine Sele ganz vergessen wil. Auch die ersten
Christen, die uns in keinen Hoflichkeiten gegen das andre Ge-
schlecht nachstehen als in den geringfiigigern, waren so galant, 10
dem herlichen Korper des Weibs die schuldige Achtung zu ent-
richten und ihm den Vorrang vor der Sele sogar in Religionssa-
chen, wo man sonst nur auf den Werth der leztern sieht, zuzuge-
stehen. Sie nanten namlich, schmeichelhaft genug, die
weiblichen Martyrer Callimartyres, schone Matyrer. An man-
chen Orten heist man einen schlechten Portratmahler einen Se-
lenmahler. Diese Benennung, die Sulzer nicht zu rechtfertigen
wuste, last sich ungezwungen durch das Ubergewicht des weib-
lichen Antlizes iiber das weibliche Gehirn, der sichtbaren Reize
iiber die unsichtbaren, veranlast denken: denn der Mahler mah- 20
let namlich allerdings das Angesicht einer Schonen schlecht,
welcher durch dasselbe den Geist, den es eben verlarven sollen,
durchschimmern und die geistigen Reize die korperlichen
schwachen last; seinen Endzwek der Verschonerung sezt er bei
einer solchen Verratherei ganzlich aus den Augen. Beilaufig!
wie sehr beschamt auch hier die Natur die Kunst! Kaum daB
dieser das Gehirn mit einer Aussenseite nur zu bedekken gelingt,
so kan iene es damit sogar verschonern, kan den Kopf mit liigen-
den Reizen tapezieren, kan zwischen die Lippen die schlangen-
formige Schonheitslinie eines schlangenartigen Wizes wallen 30
heissen, der, gleich den mit Queksilber angefulten Nachtschlan-
gen aus Glas, glanzet und drohet und nicht beisset, urid kan
Augen, denen kein Gehirn entspricht, zu blinden Fenstern aus-
mahlen, welche den innern Bewohner nicht erleuchten, und
doch zu erleuchten scheinen. Aus unsrer Behauptung last sich
auch f erner die Haslichkeit der gelehrten Schonen begreiflich ma-
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN $63
chen, der Sappho z. B., deren Sele ihre Gestalt so weit hinter
sich gelassen; wie nicht minder die Gehirnlosigkeit der Stuzer,
welche sich nach der aussern Gestalt des andern Geschlechts
so gliiklich bilden. Daraus folgt weiter, daft den Werth ieder
Schonen schon der erste Anblik entscheidet und daft die, welche
am Nachttisch die Geliebte stat zu loben, erforschen wollen,
ziemlich unschiklich die Heroldskanzlei in eine Entzifferungs-
kanzlei verwandeln. Daraus folgt endlich das, um was uns hier
am meisten zu thun gewesen, die Rechtfertigung des Puzes
10 namlich: denn sobald die sichtbaren Reize des Meisterstiiks der
Schopfung einen so erwiesnen und so betrachtlichen Vorzug
vor seinen unsichtbaren haben, so ist audi seine Verbindlichkeit
zur Verschonerung seines edlern Theils ins alte Licht gesezt.
DaB aber der Korper keine andre Verschonerung als die des
Puzes annehme, wird man uns gern zugeben. Folglich fordert
es die von der Natur so gewahlte Bestimmung einer Schonen,
daft sie auf die Bekleidung alle ihre Neigungen zu richten suche,
und derselben wenigstens die meisten Stunden und die besten
Krafte widme, dafi sie iiber geringere Arbeiten nie die edlere
20 und ihren Fahigkeiten mehr angemessene Beschaftigung, sich
zu puzen, vergesse, und Langweile, Verdrus und Ausgaben,
die die Vervolkomnung des Korpers so oft erschweren, lieber
mit Gedult ertrage, als dadurch in der Erfiillung ihrer Pflichten
lasser werde. Wir wollen iezt, um die vielen Pasquille auf den
weiblichen Puz in alien ihren ungerechten Seiten bloszustellen,
und auf eine gewisse Art unsern Spot, den uns die Schonen
so oft vorgeworfen, durch ihre Vertheidigung gut zu machen,
die Schritte, welche das weibliche Geschlecht in der Ausbildung
seines Korpers thut, mit den ahnlichen, welche das manliche
30 in der Ausbildung seiner Sele thut, vergleichen und rechtferti-
gen. Kleider sind dem schonen Geschlecht, was dem unsrigen
Gedanken sind; der Kleiderschrank ist die Bibliothek, das An-
kleidezimmer die Studierstube desselben. Schazen wir einen
Leibniz wegen seiner Erfindungen; so schazt die Frau eine Puz-
handlerin nicht weniger wegen der ihrigen und der Volkom-
menheit wird sie von dieser vielleicht noch naher als wir von
564 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
ienem gebracht. Es gereicht dem Mann nicht zur Schande, daB
er den Autoren Frankreichs die wizigste Einkleidung seiner Ge-
danken ablernt; es kan daher der Frau zu nichts anders als zur
Ehre gereichen, wenn sie, ihrerseits, die Puppen Frankreichs,
wie Antiken studirt, sie zum Muster sich wahlet und mit der
geschmakvollen Kleidung derselben auch ihren Korper zu ver-
schonern strebt. Fast alle unsre Autoren lassen sich von den
Franzosen zu einer glanzenden Verschwendung des Wizes hin-
reissen; dieser Fehler ist ihr einziger und ein liebenswurdiger.
Soke man es nun den deutschen Schonen weniger zu gute halten, 10
daB sie die Schminke, die iezt in Paris fur antiken Firnis gilt,
nicht als eine uberfliissige Verschonerung von ihren Wangen
abgewiesen? weniger zu gute halten, da sie vor den Autoren
einige Entschuldigungen noch voraus haben? Diese namlich,
daB sie nur an die Stelle der Rosen, welche die Sense der Zeit
von den Wangen abgemahet, Vorstekrosen kleben, oder daB
die Schamhaftigkeit manchem Gesichte zu schon lasse, als daB
es von derselben nicht iahrlich ein Par Topfgen verbrauchen
diirfe, und endlich, daB man nur aus Liebe zu den schonen Kun-
sten dem Zeuxis den Pinsel entwende, urn hungrige Vogel mit 20
gemahlten Trauben anzukodern. Ein guter Kopf lasset nicht
selten die Worte die Gedanken spielen und den Schmuk an die
Stelle des gesunden Verstandes treten; warum soke eine Schone
mit minderm Beifal ihren Kopfpuz, wie hohe Haupter ihre
Krone, den Kopf ersezen lassen? Ein Dichter, der gleich einem
musivischen oder musaischen Mahler nach und nach aus gefarb-
ten Steingen und bunten Glasscherben d. h. aus entlehnten Me-
taphern ein Gemahlde zusammenklebt, wird in unsern Zeiten
der verbesserten Kritik dem weit vorgezogen, der sein Ge-
mahlde nur - mahlt, dessen Schopfung nur auf einmal von dem 30
Pinsel fliest. Um derselben Ursache willen kan eine Schone,
deren Reize nicht weit her sind, nicht den Ruhm einer andern
fordern, die an jedes Glied eine besondre auslandische Schonheit
anzieht, die vom Schwanze des Pferdes und des StrauBes den
Schmuk des Kopfs entlehnet, die gleich dem Spiritus einsprizen-
den Anatomiker, den unsichtbaren Adern eine blaue Farbe und
GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 565
der leren Zahnlade stat des beinernen einen goldnen Zahn zu
schenken weis und die den Seidenwurm die Seite des Walfisches
mit seinem Gespinst zu schliessen heist. 3 Fur die meisten geisti-
gen Thatigkeiten leihen korperliche Dinge figiirliche Namen
her; umgekehrt fiihren die modischen Puzarten Benennungen,
die geistigen Eigenschaften gehoren; ein neuer Beweis, daB bei
der Frau der Korper die Sele spiele. b Die wizige Schalkheit hat
der Man, wenn er sie hat, im Gehirn; die Frau in einer bekanten
Koeffure. Die Melancholie, die beim Manne nur das Herz auf-
10 schwelt, ist bei der Schdne in den Kopfpuz genahet und in die
Frisur gebauet. Der Geist jenes Kammerhern, und der Hut seiner
Matresse haben beide etwas Erhabenes und es ist zweifelhaft,
ob das Herz dieses Jiinglings oder die Robbe seiner Geliebte
die meiste verliebte Standhaftigkeit besizt. Auch hat von der
Minerva dieser manliche Kopf und dieser weibliche Kopfpuz
viel Ahnlichkeiten geschenkt bekommen; die Orthodoxie hat
endlich Gehirne gegen Koeffuren vertauscht und orthodoxe
Nadeln stechen anstat orthodoxer Federn. - Wir miissen die
Vergleichung der verschiednen Ausbildung der beiden Ge-
20 schlechter noch etliche Schritte weiter begleiten: denn so unwi-
dersprechlich, wie wir hoffen, wir auch die VernunftmaBigkeit
des weiblichen Puzes dargethan, so ist doch noch die Verander-
lichkeit desselben zu rechtfertigen iibrig. Und eben urn die
Wechsel der Moden dreht sich gemeiniglich der ungerechte Spot
auf das schone Geschlecht. Allein wenn Verschonerung des
Korpers so sehr Bestimmung der Frau ist, als des Marines Aus-
bildung der Sele: so mus iener eine neue Mode, diesem eine
neue Meinung ihre unahnlichen Bestimmung gleich sehr erfiil-
len helfen und ein hoherer Schuhabsatz hebt die eine auf keine
30 niedrigere Staffel von menschlichen Werth als den andern eine
vermehrte Auflageeinesguten Buchs. Die Schonen konnen sich
a Eine Anspielung auf den Ausdruk, er schlofl die Statte zu mit
Fleisch.« Dafi man hier von den Posche, seiner Nachahmung der man-
lichen Pumphosen rede, werden die meisten von selbst sehen.
b Alles, was iezt folgt, spielt auf die sonderbaren Benennungen der
weiblichen Moden an.
566 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
eben so wenig als andre Menschen iiber das Lob der endlichen
Wesen, zu grossern Volkommenheiten erst von kleinern aufzu-
steigen, hinwegsezen und die Moden vom Jahre 1782. konten
unmoglich das Reizende, das Geschmakvolle und Natiirliche
schon haben, das erst das I783ste Jahr den seinigen gegeben.
So sind z. B. die Bander der erstern wiirklich schon; aber der
letzern ihre haben freilich eine sanftere Farbe: die erstern frisirten
(besonders gewisse Arten von Schiirzen) immer gut genug, aber
uns diinkt ein wenig zu schmal, welches erst die leztern gliiklich
vermieden; auch gaben manche von den erstern den Seitenlok- 10
ken reizende Lagen; allein wir fragen jeden Perukkenmachers-
Jungen, ob sie von den iezigen nicht in falschen Touren iiber-
troffen werde? Oder wil man auch von den iezigen schon die
Volkommenheitfordern, zu der erst sie den Weg gebahnet, und
die freilich die Moden, welche der auerbachische Hof in der
kiinftigen Michaelismesse gebahren wird, unsern schonen Lese-
rinnen (dies konnen wir ihnen im voraus versprechen) so unwi-
derstehlich aufdringen mus, daB sie die briinstigste Liebe gegen
die iezigen Moden werden fahren lassen miissen? Das obige for-
dern hiesse von den Autoren der vergangenen Ostermesse den- 20
selben Scharfsin und denselben Wiz schon fordern, den wir erst
an den Autoren der kiinftigen Michaelismesse bewundern wer-
den; hiesse dem ersten Theil eines Buchs die kunftige Volkom-
menheit seines zweiten zumuthen. Nur das Thier erhalt sich
immer auf derselben Stuffe; aber darum auch auf einer so niedri-
gen. Denn was hebt den Man iiber den klugen Urangutang
anders hinaus als die unaufhorliche Erweiterung seiner Ideen?
Eben so; wodurch wiirde sich die Frau, die fur die Bekleidung
ihres Korpers gebohren wurde, von der Motte, die ebenfals da-
fiir gebohren wurde, unterscheiden, wenn es nicht durch den 30
Wechsel der Moden ware? Aber eben dieser Wechsel riikt sie
hoch iiber die in ihre abgelegten Kleider gekleidete Motte hin-
aus, die Son- und Werkeltage und lebenslang denselben Rok,
dessen Zuschnit zuerst im Paradies erschien, zu tragen vom In-
stinkt gezwungen wird. Neue Meinungen zu konfisziren steht
dem Fortgange der Menschheit also nicht mehr entgegen als
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 567
neue Moden zu konfisziren und nur wer das manliche Ge-
schlecht auf symbolische Bikher schworen zu lassen sich unter-
stiinde, konte auch das weibliche in eine Nazionalkleidung ge-
fangen zu nehmen sich unterstehen. Folglich sind die Moden
so lacherlich gar nicht als sie einige fanden, und eine groBere
Abwechselung derselben ist vielmehr ein Wunsch, den jeder
Gutgesinte mit uns, aber so lange umsonst, thun wird, als man
die Erfinder von Dingen, worauf die Vervolkomnung der hal-
ben Menschheit beruht, nicht besser zu belohnen und zu unter-
10 stiizen anfangt. Und so lange gehort denn auch der Wunsch
einiger Stadte, Paris einzuhohlen, das im Jahre 1782. zweihun-
dert Arten von Modehauben und zwei und funzig Manieren
von Kleiderbesazungen zahlte, noch unter die Neuiahrswun-
sche, die so wenig als Fliiche in Erfiillung gehen. DaB iede neue
Mode ein neuer Schrit in der weiblichen Vervolkomnung sei,
vergassen wir doch oben gegen einige Einwiirfe, die unverdien-
tes Gewicht bey manchen haben konnten, zu erweisen. Man
stost sich erstlich an die Auferstehung veralteter Moden. Allein
ist eine Mode, die schon einmal getragen worden, darum weni-
20 ger werth, iezt getragen zu werden? So mtiste auch ein Saz,
weil ihn Jacob Bohme geglaubt, darum unwerth sein, von heu-
tigen Kopfen geglaubt zu werden. Verdienen aber Jacob
Bohme' s Meinungen den neuen Beifal unserer Autoren, so ver-
dienen auch alte Moden den Beifal der iezigen Weiber. Sollen
die Poschen z. B. ihre algemeine Hochschazung etwan deshalb
nicht verdienen, weil sie schon zu den Zeiten der Kreuzziige,
wo man sie den Morgenlandern abgesehen, Mode gewesen?
und sol man iiber ihr Alter ihre schazbare Tauglichkeit verges-
sen, selbst ungestalte Hiiften zu verschonern, selbst die magerste
30 Taille zu heben und an den weiblichen Korpern die schone Fet-
tigkeit, die die genanten Morgenlander so lieben, wenigstens
scheinbar zu ersezen? Sol man das? so mus man auch, um sich
in thorichten Urtheilen gleich zu bleiben, den Autoren die Auf-
nahme einer andern alten Mode, die figurlich der obigen in allem
gleicht, venibeln: d. h. in seine geschmaklose Verurtheilung
auch alle die vortreflichen Manner mit einschliessen, welche die
568 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Schwiilstigkeit der Morgenlander aus ihrer unverdienten Ver-
achtung zu reissen so viele Miihe sich gegeben uiid es wenigstens
dahin zu bringen gesucht, da6 der Deutsche durch prachtige
Worte die morgenlandigen Gedanken (wie die Schonen durch
Kleider die morgenlandische Fettigkeit) erseze. - Neue Moden
von niedern Standen entlehnen kan man, ohne den Endzwek
der Mode zu vernachlassigen, ebenfals: Denn diese Stande hatten
sie selbst erst von den hohern bekommen. So senken sich die
Gipfel mancher Baume auf die Erde herunter, wurzeln in dem
niedrigen Boden ein, und wachsen dan aus demselben zur alten 10
Hohe wieder hervor. Doch sind die Schranken, die sich unsre
Schriftsteller in der Nachahmung der bauerischen Sprache ei-
genhandig sezen, auch in der Nachahmung des baurischen Puzes
anzuempfehlen und wir bemerken mit Vergniigen, daB doch
die meisten Schonen sich weniger die Landleute als die Wilden
zum Muster ihres Anzugs wahlen, welche es auch in der Ver-
schonerung der obern Theile des Korpers am weitesten ge-
bracht. Nur miissen die Schonen, ihren wilden Lehrmeisterin-
nen schon alles abgelernt zu haben, sich noch nicht schmeicheln
und es fehlen ihrien zur volkomnen Ahnlichkeit mit einer gepuz- 20
ten Wilden zwar nicht viele, aber doch noch einige Zierrathen;
daher der noch ungedrukte und viele Kupfer fodernde Aufsaz
unsers Mitbruders * * betittelt: »Beschreibung und Abbildung
derienigen Theile des Puzes der Wilden, die von unsern Damen
noch nicht nachgeah met worden,« alle Unterstiizung des scho-
nen Geschlechts verdient und neben den Kalendern mit den Ab-
bildungen der neuesten Damenmoden, vielleicht das niizlichste
Geschenk ist, das ein Man seiner Frau am kiinftigen Neuiahrstag
machen kan. - Diese Griinde, die einer noch grosseren Scharfe
fahig sind, reichen, wie uns diinkt, zur Rechtfertigung der Mo- 30
den vollig zu. Die Ausbildung des Korpers ist folglich das Ver-
niinftigste, was die Schonen nur vornehmen konnen; und sich
lacherlich zu machen, bleibt ihnen sonach nichts iibrig als die
Ausbildung der Sele, indem sie namlich Journale lesen und die
Theaterzeitung in Berlin, indem sie poetische Bliimgen pfliik-
ken und zusammenbinden, und den neuesten Almanach nicht
GRONLANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 569
sogleich vergessen und den Versen Reime geben oder auch
kerne. Um alles dieses werden wir sie weiter unten bitten, wo
wir zugleich Grunde beizubringen hoffen, die sie vielleicht
liberreden werden. Nun solten wir noch von ihrem Eigensin,
von ihrer Veranderlichkeit, von ihrem Stolze iiber Schonheit,
und von ihrer Eitelkeit aus Haslichkeit, von ihrer Verstellungs-
sucht, von ihrem Hasse gegen das Ernsthafte u. s. w. beweisen,
daB alle diese Eigenschaften sehr leicht mit der Vernunft sich
aussohnen lassen. Allein fodern auch wohl die Schonen oder
10 ihre Anbeter diesen Beweis? sind die erstern nicht selbst iiber-
zeugt, daB jene Dinge keine Thorheiten sind? und haben nicht
die andern sie sogar zu ihren Reizen gezahlet? Unsre gewohnli-
che Bitte werden sie errathen und auch, da sie so gerecht ist,
erfiillen. Wir haben iiberdies, weil wir die Almacht des Lobs
iiber die Schonen sehr gut kennen, uns des Tadelns ganz enthal-
ten, und wenn iener Wundarzt die Leute verwundete, um sie
salben zu konnen, so hoffen wir das umgekehrte Verfahren ge-
gen sie beobachtet zu haben. Wir verlassen sie, bis wir sie unten
wieder sehen, beugen nicht nur unsern Riikken und kiissen ihrc
20 Hande, wie oben, sondern schworen auch, daB wir sie anbeten,
und gehen mit dem schmeichelhaften Gedanken fort, sie zu ihrer
Bereicherung an Thorheiten vielleicht bald durch das freimii-
thige Gestandnis ihrer Armuth daran wenigstens die ersten
Schritte machen zu sehen.*
* Die Fortsezung dieser Bitschrift wird im dritten Bandgen folgen
und es vielleicht wol fullen. Soke man das Versprechen in der Vorrede,
in der Vereinigung der starken Schreibart mit der ironischen einen er~
barmlichen Versuch zu machen, noch zu wenig gehalten finden, so wisse
man, daB wir erst im kiinftigen Theile der Bitschrift zu den Materien
30 kommen werden, die eine bessere Erfiillung ienes Versprechens erlau-
ben. Noch steht es bei den Kunstrichtern, uns durch eine gute Rezension
dieses Theils der Bitschrift die kiinftige Bitte um Vermehrung ihrer
Thorheiten zu ersparen.
570 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
V.
Epigrammen
Auf einen Garten ohne Statuen
Die Oberschrift dieses Epigrams ist falsch; auf einen Garten mit
Statuen, mus es besser heissen: Denn die schonen Tochter des
Eigenthiimers, die stiindlich darin spazieren gehen, ersezen iede
Statue, sowohl die nakten von Gottinnen als die wandelnden
des Vulkans auf eine tauschende und angenehme Weise.
Uber silberne Esgeschirre und silbeme Sarge
Der Mensch isset die Thiere, und die Thiere nicht selten ihn 10
von Silber. Und doch sind die Wurmer, die ihren Wurm aus
einem silbernen Geschir aufspeisen, nicht mehr als die werth,
die den ihrigen auf einem holzernen verzehren.
Uber Passionspredigten
Die Katholiken haben Fastenspeisen und die Protestanten dafiir
Fastenpredigten; durch Lerheit heiligen iene ihren Magen und
diese ihren Kopf, und beide machen des iahrlichen Andenkens
wegen, die Passionszeit Christi zur Passionszeit der Vernunft.
Jeder schazt nur nach der Ahnlichkeit mit sich den andern
Daher schliest der Tanzmeister bey den Menschen, wie mancher 20
heutige Dichter bei Withof's Versen, von den Fiissen auf den
Kopf; daher halt der Musikus dicke Ohren fur lange Ohren.
Von der dunkeln Schreibart
Wer die Gebrechen seiner Gedanken in eine dunkle Sprache ein-
kleidet und verhult, ahmet kliiglich die Wirthe nach, die gerne
trubes Bier in einem undurchsichtigen Gefas auftragen.
GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 571
Unterschied zwischen einem Rauber und einem gewissen vornehmen
Mann
Der Rauber ist ein Falke, der nur fur seinen eignen Magen stost
und der ebendeswegen vogelfrei ist; allein unser vornehme Man
ist schon ein zur Jagd abgerichteter Falke, der auf Geheis des
Fiirsten in die Hohe steigt, um fur den gnadigen Hern, der ihn
futtert, auf jede Beute nicht unbelohnt herabzuschiessen.
Ein anders ist, wenn der Esel, ein anders, wenn der Herkules
cine Lowenhaut um sich wirft, bey ienem ist sie nur Larve,
^ bei diesem aber Kleid; der leztere hatte den (iberwunden, dessen
Haut er sich zugeeignet, aber der erstere kam zu seiner fremden
Montur gewiB nicht durch eigne Tapferkeit.
Aufeinen seltnen Dichter, der die Zuhorer seiner Lieder auf den Wein
mit Wein entschadigte
Dein Gesang mildert in uns das Feuer seines Gegenstandes, und
beschiizt unsre Vernunft gegen den Feind, den er lobet; Deine
Hippokrene ist unser Wasser in dem Wein und dein Lorberkranz
unser Epheukranz.*
Der verliebte Richter
20 Der Gerechtigkeit und dem Amor sind die Augen verbunden;
wenn aber ein Blinder dem andern den Weg weiset, werden
sie nicht alle beide in die Grube fallen?
Die so leicht durch Worte geargert werden, haben meistens
schon durch Thaten selbst geargert, und manche Schonen glei-
chen dem Zunder in der Empfanglichkeit fur iedes Fiinkgen
nur darum so sehr, weil sie ihm auch in dem Umstand, schon
einmahl gebrant zu haben, gleichen.
* Mit Epheu kranzten sich die Alten, um sich durch seine kiihlende
Eigenschaft vor der Berauschung zu verwahren.
572 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
An die blumichten Philosophen
Warum verbergt ihr, wie die Biene, euren Kopf in poetische
Blumen? warum umhult ihr den Gedanken in liberfliissige Ver-
schonerung, und sezt den Leser der Nothwendigkeit aus, vom
Bier, bevor er's trinken kan, den blinkenden Schaum erst weg-
zublasen. - Zwar ist Schaum auch Bier, aber nur weniger Bier.
Auf eine Schauspielerin, welche den Schauspieler, gegen den sie die
Rolle einer Liebhaberin spielte, wirklich liebte
Gleich alten Lugnern, haltst du deine eigne Lugen fur Wahrheit,
und bist das, was du scheinest; dein Gesicht sieht wie deine
Maske aus, und du gehorchest der Natur und der Kunst zu-
gleich. So ist das Essen auf dem Theater Dekorazion und Wirk-
lichkeit auf einmal, und lasset nur die ungesattigt, die es bezahlet
haben. Der niedergelassene Vorhang endigt dein Spiel nicht,
sondern verbirgt es nur; aber deine Rolle wirst du in deinem
Hause nicht lange ohne das Zischen derer fortsezen, die den
Anfang derselben auf dem Theater beklatschten.
Ober den Rath des Marquis de Poncis, den Feind dutch Soldaten,
die man aus Papier geschnitten, zu tduschen
Vollig unnothig war' es, aus Papier mit der Schere scheinbare
Helden zuzuschneiden, so lange man noch Schneider hatte, die
aus Tuch mit der Schere wirkliche Helden zuzuschneiden im
Stande sind. Aber unsichtbar wohl, wie die Engel dem Elias,
und in kleinerm Format kan das Papier, mit goldnen Waffen
ausgeriistet und wie die Wilden mit Tapferkeit bemahlet, dem
Tuche beistehen, und in Brief en konnen nicht nur Kaufleute
die Here ihres Schachbrets, sondern auch Generale ihre stehende
Armeen gegen einander anfiihren.
Kleider sind die Waffen, womit die Schonen streiten, und die
sie gleich den Soldaten, dan nur von sich werfen, wenn sie iiber-
wunden sind.
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 573
Vertheidigung des Max, der BUcher liest, nicht um sie zu verstehen,
sondern um sie gelesen zu haben, behaupten zu konnen
Ungeachtet Max Bucher nicht verdauet, sondern nur kauet, so
hat er doch Recht auf seine Lektiire stolz zu sein: derm das ist
schon ein Wunder und eine Ehre, daB so gar Max Bucher liest.
So frisset die holzerne Ente des Vaukansons die vorgeworfnen
Korner ohne Ernahrung und ohne Verdauung; allein an ihr als
einer Maschine ist schon das genug Werth, daB sie die Korner
wenigstens verschlukt. Dieses kunstliche Verschlukken bringt
iW der Kiinstler in der Ente durch einen verstekten Blasebalg, und
die Natur in dem Max durch Begierde nach Ruhm oder Luft
zuwege, und beide Ziehen Korner in sich, weil sie Luft in sich
ziehen wollen.
Dunsen konnen einen beruhmten Man nicht loben; sie konnen
mit ihren entgegengesetzten Ofnungen durch die zwo Trompe-
ten der Fama nichts als stinkende Lufte hauchen, die zwar die
Nase des Nahen, aber nicht einmahl die Ohren des Entfernten
erreichen. Tadeln konnen sie eben so wenig: denn ein stinkender
Athem, der nicht rauchern kan, weht immer iiber hohle Zahne,
20 die nicht beissen konnen. Indes konte der Duns beruhmte Man-
ner, wenn ihr so wolt, doch tadeln - durch sein Lob namlich;
und auch loben - durch seinen Tadel namlich.
Uber den misanthropischen Swift
Das Talent zur Satire, das den Narren verwundet, verwundet,
zu sehr genahrt, zulezt seinen eigenen Besizer. So wie der Nagel,
der in Feinde Wunden schneidet, den selbst, der ihn tragt, durch
uberfliissigen Wachsthum verwundet, und von seiner neuen
Lange in sein eignes Fleisch zuriikgebogen wird; oder so wie
der Zahn, womit das Thier andre verlezt, seinen eignen Gaumen
30 verlezt und ihm das Kauen verleidet, wenn iiberflussige Lange
und Spize ihn zum sogenanten Wolfszahn umgewandelt.
574 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
An die Gerechtigkeit
Warum bestrafest du mit Ketten den so lange, den du nur mit
dem Strik bestrafen soltest? warum raubst du deinen Opfern
das Leben erst nach der Gesundheit; warum lahmest du, gleich
gewissen Schlangen, sie mit Unbeweglichkeit, eh' du sie todest,
und giebst den Missethatern in dem Kerkermeister den zweiten
Henker? Zwar hierin must du die Spinnen nachahmen, die, von
altenBeuten sat, die neue mit den Faden, die sie fiengen, umfes-
seln, und an ihrem Gespinst fur den kunftigen Tod aufhangen.
Allein, warum sperrest du die Unschuld ein; - dan namlich auch 10
ein, wenn du sie nicht toden magst? Oder glaubst du, die, welche
du nicht in freier Luft zu toden berechtigt bist, doch im Gefang-
nis toden, und die, welche du dem Tode nicht durch Verurthei-
lung iiberliefern darfst, demselben wenigstens durch Verzoge--
rung der Lossprechung iiberliefern zu diirfen? Gewis! auf diese
Fragen kanst du nur mit dem Beispiel des Faulthiers antworten,
welches die Thiere, die in seine unmachtigen Klauen kommen,
damit zwar nicht zerreissen kan, aber doch so lange festhalt,
bis sie von sich selbst verrekken.
Nur die Abwesenheit des Geniessens gestattet unserm Antliz 20
seine Richtung gen Himmel: denn gleich dem Vieh, senken wir
das Haupt, sobald wir weiden, und nahern es der Erde, auf
der die Freude blunt.
Das Epigram
Das Epigram ist gleich den vergifteten Pfeilen, nur an der Spize
vergiftet, oder gleich dem Rettich, nur am Ende des Schwanzes
am scharfsten.
Von der Bestrafung der elendesten Schriftsteller
Das Gewehr des Rezensenten ist der Nagel des Daumen; das
Gewehr des Satirikers sind die Zahne. Daher steht die Hinrich-
tung litterarischer Insekten den Rezensenten, aber nicht den Sa-
tirikern zu. Denn es umkehren, hiesse den Hottentotinnen glei-
GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 575
chen, die gewisse Insekten, die sie mit dem Nagel toden sollen,
mit den Zahnen toden. Oder wenn ihr die Geisel fur das Gewehr
der Satire erkent, so frag* ich, sol man das Ungeziefer geiseln
oder toden?
Das Gratuliren am Geburtstage eines Vornehmen
Die ersten Christen nanten den Tag, wo der Martyrer gelitten
hatte, den Geburtstag desselben; so ist umgekehrt der Geburts-
tag des Vornehmen der Passionstag desselben, und was er sich
an demselben zu wunschen hatte, ware dies, dafi andre ihm
nichts wunschten.
Warum der Dichter A. schon seit acht Tagen sich nicht uber
die Granzen der Menschheit hinausgeschwungen, wenigstens
nicht hoher gestiegen als die funf Treppen zu seiner Behausung;
komt daher, weil sein Wirth ihm keinen Wein mehr borgen
wil. Ohne mit diesem aber seine Sele gesalbt zu haben, kan
er eben so wenig fliegen, als es die Hexe, ohne ihren Leib mit
Ol gesalbt zu haben, kan. Und vielleicht ist dieses Vermogen
des Menschen, durch den Magen den Kopf zu erleuchten, durch
Doppelbier seine Ideen zu verdoppeln, und auf den Schwingen
20 des Pulses einen Wetflug mit den gefliigelten Engeln einzuge-
hen,.kein kleiner Beweis seiner Grosse; es ist kein kleiner, mein'
ich, daB er die Mittel seiner Vergrosserung zu seinen Fiissen
findet, daB die Erde, welche dem Himmel in fetten Diinsten
neue Sterne leiht, auch demselben an den Menschen neue Engel
leiht, und daB Dinge, die klem sind, uns gros ma chen. Zwar
ist die Leiter kothig, deren Staffeln uns erheben; allein athmet
darum, weil unser Fus, gleich dem Fus der Leiter, in Koth stehet,
unser Kopf weniger den Ather. Zwar komt aus dem Magen,
der Kiiche des Geistes, unsern Sinnen Ekel, Verwiistung und
30 Schmuz entgegen; allein ist das hohere Stokwerk, fiir das die
Kiiche arbeitet, darum minder mit reizenden Gerichten, mit
Zierrathen und mit Pracht geschmiikt? und sol der schmuzige
Koch die glanzenden Gaste beschamen? Unter dem blossen
576 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
Brod und Wein im Abendmahle empfangt die Sele dennoch
die herlichste Nahrung. -*
So wie zur Anzeige des schlechten Wetters Blumen und Sekrete
ihre unahnlichen Ausdiinstungen verdoppeln, so kiindigen gute
und schlechte Autoren durch hochste Anstrengung ihrer wider-
sprechenden Talente den Sturz vom erstiegnen Gipfel des Ge-
schmaks an, und beide treiben Schonheiten und Fehler auf ihre
entgegengesezten aussersten Granzen, die das nachste Zeitalter
sie gegen einen Mittelpunkt vertauschen heist, wo sie einander
wechselseitig durch ihre Nahe schwachen. Frankreich hat zu 10
gute und zu schlechte Schriftsteller, um nicht zu sinken; aber
England sinkt noch nicht, denn es hat nur die erstern; und auch
Deutschland nicht, denn es hat Gotlob! nur die leztern.**
Auf einen Arzt, der seine Kranken mit strenger
Diatetik qualte
Warum lassest du den Hunger die Wirkung deiner Arzneien
beschleunigen? warum bist du nicht einmal so mitleidig, wie
dieRichter, die dem armen Sunder vor seiner Hinrichtung doch
noch die Henkersmahlzeit gonnen?
Auf Balbus, der zugleich dichtet und rezensirt 20
Bald sizt er auf dem Pegasus, um zu fliegen, bald auf dem Buze-
phal, um zu morden; er singt und beisset mit demselben Schna-
bel, und schlagt mit den Fliigeln, womit er flattert. Gleich dem
* Auch Epigrammen (und folglich auch dieses) diirfen vom Tadein
im Loben ausruhen, und der Hintere derselben kan stat immer gleich
dem Hintern des Stinkthier, die Nase mit Gestank zu beleidigen, schon
mannigmahl gleich dem Hintern des Bisamthiers, ihr mit Wohlgeruch
rauchern; wodurch sie denn auch freilich so lang, wie manche des Wer-
nikke und wie dieses werden.
** Dieses ganze Epigram hab* ich aus dem Munde eines beruhmten 30
Kunstrichters, der wie mehrere beruhmte Manner die sonderbare
Gewohnheit liebt, im Umgange und in seinen anonymen Schriften ge-
rade das Gegentheil dessen zu sagen, was er in Schriften mit seinen
Nahmen sagt.
. GRONLANDISCHE PROZESSE • 2. BANDCHEN 577
Kantor mischet er die Bestrafung der unmundigen Sanger in
seinen Gesang, und seine Hand loset seine Kehle ab. Er stiehlt
Fehler, und tadelt Schonheiten; er raubt, wie die Harpyen, was
er nicht besudelt, und lasset nur den, den er plundern wil, unver-
wundet, wie iener Husar in seinem Feind nur seinen Diebstahl
schonte.
Das Obel bios ertragen konnen, ist nicht genug; man mus es
auch abwerfen wollen. Gleiche dem Salamander, der das Feuer
nicht nur aushalt, sondern auch ausloscht; und gleiche nicht dem
io Tiirken, der genug Philosoph ist, sein Haus ohne Verzweiflung
brennen zu sehen, aber es zu wenig ist, sich um dessen Rettung
zu bekummern.
Den Weg zum Himmel zu gehen haben die am wenigsten Zeit,
die ihn repariren, und wer die Laterne tragt, stolpert leichter,
als wer ihr folgt.
Ein alter Kritikus kan sich schwerlich von Fehlern an Schonhei-
ten erhohlen, immer mischet er in den Genus der leztern den
Nachgeschmak der erstern, und immer schneidet er gleich ie-
nem Anatomiker, mit demselben Messer den Kadaver und die
20 Speise, oder auch gleich einem faulen Bedienten, die Zwiebel
und die Apfel.
Der Philosoph beweist oft, ohne zu verschonern; der Poet thut
das leztere oft ohne das erstere, und der Theolog thut oft keines
von beiden. Um dem Lehrsaz des Leztern von der Auferstehung
der Toden wenigstens eine kleine Verschonerung zu leihen,
konte man so sagen: gleich den meisten Raupen, kriecht der
Mensch eine Zeitlang auf der Erde umher, wird dan von der
Erde in der holzernen Verpuppung des Sarges aufgenommen,
ruhet da einen Winter, durchbricht endlich am Friihling die
30 Puppe, und flatten aus der harten Erde mit neuen und unverletz-
ten Schonheiten hervor.
57 8 JUGENDWERKE ■ 2. ABTEILUNG
Vertheidigung der Autoren, die ihre Werke dem schonen Geschlecht
zueignen
Warum solten sie es nicht diirfen? machten ia schon die Romer
die Venus zur Aufseherin iiber die - Leichen.
Uber die Anonymitdt der Rezensenten
Ausser ihnen und den Scharfrichtern in England, exekutirt,
meines Wissens, wohl niemand weiter verlarvt.
Man beurtheile dochgrosse Theologen nicht bios nach ihren Schriften,
sondern auch nach ihren Handlungen
Denn selbst die Jager beurtheilen das Wild nicht bios nach seiner 10
Lohsung, sondern auch nach seiner Fahrte.
Liebe der Schonen zu den Dichtern
Sonderbar! daB ihr immer in der Nachbarschaft der Dichtkunst
Liebe vermuthet, und gleich dem Geheimenrath KIoz,* ieden
geflugelten Knaben fur einen Amor halted Aber glaubt mir,
dieses geflugelte Ding ist nicht selten der Tod, wenigstens im-
mer der Schlaf.
Roms Schicksal konte man sonst aus dem Gesange der Vogel
weit unsichrer weissagen, als man es heutzutage aus dem Ge-
sange der Operistinnen und Kastraten kan. 20
Die Zoten der kaum zweimahl aufgelegten Raritaten des Kiisters
von Rummelsburg sind das Ohrenschmalz aus langen Ohren.
Auch der grosse Mann bleibt oft von den Angriffen des Neides
verschont; dan namlich, wenn ihn niemand sonderlich ehret.
So nahmen die Christen von den Kunstwerken, die ihre fromme
* wie ihm Lessing in seiner Untersuchung: »wie die Alten den Tod
abgebildet«, vorwirft. Zur Verstandlichkeit des Folgenden wird man
sich erinnern, daB die Alten den Tod und Schlaf als Jiinglinge mit Fliigeln
gestalteten.
GRONIANDISCHE PROZESSE ■ 2. BANDCHEN 579
Wuthzerstohrte, wenigstens die Statiien aus, welche die Heiden
nicht angebetet hatten.
Phax lieset den Roman von W. , nicht urn seine Wisbegierde,
sondern um andre Begierden zu sattigen, und in der entblosten
Heldin des Buchs wil er nicht den Menschen, sondern das Ge-
schlecht kennen lernen. So besucht eben dieser Phar, der kein
Arzt werden mag, ein anatomisches Kollegium, um mit seinen
Augen nicht die Zerschneidung, sondern die Entblossung eines
schonen weiblichen Kadavers zu niizen. Und alsdan beklagt er
io sich, daB man seine keuschen Augen mit nakten Reizen geargert;
stat daB der Schiiler der Anatomie uber die Zerstohrung der
Schonheit die Almacht derselben vergist.
Hr. A. wil seine Gattin, wie arme Katholiken die h. Jungfrau
Maria, lieber anbeten, als aufpuzen.
Die ahnliche und seltne Statue
Einstzerbracheine Statue aus Marmor, die die hoflichen Unter-
thanen ihrem Fiirsten hatten sezen lassen, und aus ihrem zer-
triimmerten Kopfe kroch eine - Krote hervor.* Woraus ieder-
man deutlich sah, daB diese Statue, (welches einem Kunstwerk
20 sonst nur selten gelingt,) nicht bios den Korper, sondern auch
die Sele ihres gekronten Urbilds kentbar vorstelte.
Kein dummer Leser braucht sich vor einer guten Satire zu fiirch-
ten. Vor den Stacheln des Spots, wie der Nesseln, sichert ihre
tolpische Betastung ihre Fauste; denn beide stechen nur die
Hande, welche sie leise benihren. Folglich liegt es bei den mei-
sten Lesern gar nicht an ihrem Herzen, wenn Satiren sie nicht
bessern, und sie konnen fiir ihre so oft getadelte Beharlichkeit
in Fehlern wenig oder nichts.
* Es ist nichts seltnes, daB man Kroten in Marmorblokken, Baumen
30 u. s. w. findet.
580 JUGENDWERKE • 2. ABTEILUNG
Der Nuzen des gelehrten Schimpfens
Manche Autoren wiirden iiber ihre gelehrten Gegner das Feld
behalten haben, wenn sie sich auf das Schimpfen etwas mehr
verstanden hatten. Daher wiist' ich nichts, wovor ein polemi-
scher Gelehrte sich mehr zu hiiten hatte^als vor dem Geiz in
Schimpfwortern, und man kan ihm nicht genug einscharfen,
daB er seinen Gegner, gleich den Talglichtern, nicht bios er-
leuchten, sondern auch anschwarzen miisse. Es ist vielleicht
nicht iiberflussig, diese Behauptung durch ein Gleichnis, wo
nicht zu erweisen, wenigstens zu erlautern. Das Stinkthier ersezt 10
durch Gestank die Kraft und durch Harn die Zahne; es beschiizt
den unbewafneten Kopf mit dem bewafneten Hintern, und
schlagt seinen Feind, indem es ihn besudelt. Mochte das Stink-
thier doch bald unter unsern Gelehrten mehrere Nachahmer er-
wekken!
Die Gemahlde von den alten deutschen Sitten gefallenuns; Reli-
quien davon, d.h. Manner, die etwas von ienen Sitten noch
an sich tragen, gef alien uns nicht, und wir ahnlichen den Katho-
liken nur darin, daB wir die Bilder, nicht aber, daB wir die Reli-
quien der Heiligen verehren. 20
Die Macht der Alchymie
Schon das ist viel, daB sie den dumsten Kopf zum aufgeklarte-
sten machen kan,* so wie sie auch unedle Metalle in edle ver-
wandelt; aber das, denk' ich, ist doch noch mehr, daB sie den
besten Kopf in einen schlechten umschaffen kan, so wie Boyle
stat der grossen Kunst Gold zu machen, die noch grossere, Gold
zu degradiren, versteht.
* Wer mir es nicht glaubt, beliebe nur sich bei einem solchen Kopfe
zu erkundigen, ob er nicht seit seiner Einweihung in die Alchymie leb-
haft empfinde, daB er alle die grossen Manner ubertreffe, die sonst ihn 30
(ibertroffen. Fals er ein achter Goldmacher ist, wird er die Frage zu
bei alien gewis nicht anstehen.
GRONLANDISCHE PROZESSE ' 2. BANDCHEN 58 1
Nicht iede Unsterblichkeit ist wiinschenswerth; auch die Ver-
damten sind unsterblich. Der Ruf mus den Nahmen, wie die
Agypter toden Korpern, nicht bios Unverweslichkeit, sondern
auch Wohlgeruch schcnken.
Wer misset nicht willig in den Meinungen ienes Denkers eine
Deutlichkeit, dienurden Nichtdenkern die Verkezerung dersel-
ben erleichtern wiirde? Wer verschmerzt nicht gerne die Ver-
dunklung, womit die Laterne das Licht umgiebt, iiber den
Schuz, den sie ihm gegen das Blasen der Winde verleiht?
10 Uberdie Zensoren, deren es, wenn ich mich nicht irre, noch vor achtzig
oder neunzig Jahren einige gab
Ehe das damahlige Publikum ein gutes Buch zu lesen bekam,
musten es schon vorher unwissende und partheiische Zensoren
gelesen gehabt haben. So liessen die Ophiten (Schlangenbruder)
im zweiten Jahrhundert das Brod des h. Abendmahls (das so
gut wie die Bucher Selenspeise ist) von den Zungen der Schlan-
gen belekken, eh' es auf die Zungen der Kommunikanten kom-
men durfte.*
Wink fur einige deutsche Satiriker und Nachahmer des Sterne
20 Ich fragte bei meinem neulichen Aufenthalt in Berlin meinen
beriihmten Freund, den H. Verfasser der Charlatanerien, wie
er es angefangen, daB er bei seinen Talenten, welche das Talent
zur Satire ganzlich ausschliessen, sich doch einen so grosen Na-
* Da ich fiirchten mus, daB man das Dasein der Zensoren bezweifeln
und mir vorwerfen mochte, ich hatte sie bios zum Behuf des Gleichnisses
geschaffen: so berufe ich mich auf den 1. Band der »Beitrage zur
Geschichte der Erfindungen«, wo H. Bekman Seit. ioo unwidersprech-
lich erweist, daB schon 1479 Zensoren gelebt. Denn daraus, daB es iezt
keine mehr giebt, last sich auch nicht folgern, daB es nie welche gegeben.
30 Die Rezensenten selbst scheinen mir nichts als eine Spielart dieser alten
Zensoren zu sein. Indes ersezen die Rezensenten ihre Stelle nicht so
ganz, und es ware, besonders zur Unterstuzung der sinkenden Ortho-
doxie, sehr zu wiinschen, daB man diese Art von Leuten, welche sonst,
gleich den romischen Zensoren, dem Luxus des Verstandes so gut ge-
wehret, wieder aufbrachte.
582 JUGENDWERKE - 2. ABTEILUNG
men unter den Satirikern erworben. Er sah mich schalkhaft an,
und antwortete: ich schrieb Pasquille. Ich lass' unentschieden,
ob mein Freund dieses in Scherz oder in Ernst gemeint; genug,
daB diese Antwort einen heilsamen Rath fur die deutschen Spot-
ter enthalt. Oft bedauerte ich es, daB mancher seine Talente,
mit denen er im Pasquil wirklich viel leisten wtirde, ihrer Be-
stimmung zuwider in der Satire abnuzt, fur die sie doch nicht
geschaffen worden, und in der er gleich dem Stachelschwein,
mit seinen Pfeilen doch nur rasselt und nicht schiest. Wolte man
also mir und dem H. Kranz folgen, so schrieben die, welche
zeither Satiren geschrieben, kiinftig Pasquille. Eine ahnliche
Klugheit hat schon Pauw an den Volkern bemerkt, die kein
Eisen haben, und folglich Holz zu ihren Waff en nehmen miissen.
Um namlich auch mit schlechtern Werkzeugen nicht weniger
Feinde zu morden, vergijten sie die holzernen Waffen, weil sie
nicht wie eiserne sich scharfen lassen.
Wem gleicht ein Dichter, der schmuzige Gedanken in harmonische
Verse kleidet?
Einem Sanger, der seinem stinkenden Athem Wohlklang abno-
thigt, der die Luft mit Gestank und Harmonie zugleich beladt,
und unsere Ohren auf Kosten unsrer Nase unterhalt.
Auf einen, der ein freigeschriebnes Buck nicht der Gedanken, sondern
der wizigen Einkleidung wegen las
Du suchest von diesem Buche nicht erleuchtet, sondern bios
ergozt zu werden. Aber behandelst du sonach das Licht der
Wahrheit anders als die Fledermaus das Talglicht, die ebenfals
den Schein desselben flieht und nur sein Fet abnagt; die ebenfals
den Abscheu ihrer Augen zum Vergniigen ihres Gaumen macht?
3. ABTEILUNG
Satirische Schriften 1783-1788
GESPRACHE
A. Das ist mem Buch?
B. Ja! ich habs gelesen.
A. Aber so geschwind?
B. Weil ich genug Zeit dazu hatte, und weil es durchzulesen,
es wenige braucht.
A. Aber es durchzudenken mochte mer brauchen. Vielleicht
bei Ihnen nicht. Was haben Sie daher iiber Skeptiz[ismus] ge-
dacht?
io b. was sich daruber denken last. Und (iberdas hat der Verfas-
ser soviel daruber gedacht!
A. Eben darum. Aber hat er Sie iiberzeugt, Sie von Ihrem
Zweifel geheilt und auf die Ban des schlichten geraden Men-
schenverstands von den Irwegen der Spizfindigkeit zuriikge-
bracht?
B. Er hat mich nicht davon zuriikgebracht - ich meine nicht
die Irwege, die ich nie betreten; von der vernunftigen Zuriikhal-
tung unsrer Urteile meine [ich]; da hat er mich nicht zu-
ruk[ge]bracht. Es kan es aber auch niemand.
20 A. Mit alien Griinden niemand?
b. Niemand, ia, derm dieser Griinde sind wenige, und recht
beleuchtet sind sie Scheingrunde.
a. Zum Beispiel?
b. Der, daB die Behauptung des Skeptfizismus] dem deutli-
chen Ausspruch der Sinne zuwiderliefe, daB das Gefiil der Evi-
denz derselben alien Kiinsteleien der Sophistik ungeachtetf?]
nicht wiche.
A. Nun ia!
b. Als wenn die Sinne da nicht eben so stark sprachen, wo
30 sie lugen, als wo sie nicht; als wenn der ewige [?] Betrug dersel-
ben sich unsrer Uberzeugung nicht eben so stark auf d range,
586 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
als ihr wfares] Licht. Und alle unsre Unvermogenheit gegen
den Betrug der Sinne beweist weiter nichts [als] dafi wir geborne
Sklaven des Irtums sind.
a. Das Geful der Warheit gilt hier nichts? -
B. Es mag gelten, dieses Geful, insofern es unsre Oberzeu-
gung an diese oder iene Meinung fesselt, insofern es uns zu
glauben verleitet; aber ob es unsre Uberzeugung mit Recht so
oder so fesselt, mit Recht dies oder ienes zu glauben verleite -
A. Daruber entscheiden die Griinde, welche unsern Beifal auf
diese oder iene Seite lenkten. ic
b. Ja wol die Griinde. Aber doch miissen sie erst auf das Geful
wirken; und dies Geftil sol uns sagen, ob es nicht lugt, der Rich-
ter sich selbst richten?
A. Das behauptet man nicht.
B. Nicht deutlich; aber schlusweise.
A. Und wenn auch. Fur was sol denn der Mensch sein ganzes
Leben durch gegen sein eignes Geful kampfen? Ja noch mer
- sagten Sie also, das Gefiil konne nicht uber sich sfelbst] richten?
B. Nun ia. Und daraus folgt?
a. Daft es auch nicht uber seine Falschheit richten kan. Es 2c
kan da nicht schwach sein, wo es fiir sich spricht, wenn [es]
da stark sein sol, wo es gegen sich [spricht]. Der Skeptiker glaubt
wenigstens, daB er nichts glaubt.
B. Freilich ware dies auch ein Glauben. Allein ein Skeptiker,
der entscheidet gar nichts.
A. Und das doch wol aus Griinden. Er glaubt also eben [so]
gut wie andre Menschen; freilich [?] daB er nur [?] wenig glaubt.
B. Auch ware noch vieles auszumachen: aber auf ein ander-
mal.
a. Und das sind sie alle, die Biicher? Wo sind denn die andern? 30
B. Wie »wo«?-
A. Wer mem' ich, hat sie? als wenn ich nicht deutlich redete.
B. Wer sie hat? Das weis ich nicht; aber Sie konnen sie nicht
haben.
A. Nicht? warum?
GESPRACHE 587
B. Sie konnen sie nicht haben - Ja so - warum? - Der - der
Biicherhandler
A. Hat sie schon weggegeben? So sol ihn
B. Nein - er hat sie nicht gehabt. Und zwar nicht gehabt,
weil er sie nicht haben darf.
a. Hm! Hm!
b. Ja! und wissen Sie warum?
a. Nun?
b. Weil es dem Magistrat in den Kopf gekommen ist, es rein
10 weg zu konfisziren —
A. vermutli ch, weil viel Warheiten gegen ihn darin stehen -
b. Ja! und weil viel Lugen von ihm audi darin stehen. Und
das kan man ihm weiter nicht verargen.
A. Vorausgesezt, daB sie darin sind, und nicht bios darin zu
sein scheinen; vorausgesezt, daB sie die Feder des Autors, und
nicht das Auge des Lesers hineingetragen hat.
B. Als wenn es darauf ankame! Scheinen oder Sein gilt hier
gleich viel und es wirkt gleich viel.
a. Wie so!
20 B. Wie so? Das ist ia natiirlich. Die Unschuld des Verfassers
macht wol nicht die Folgen einer schlechten Auslegung seines
Buchs gut; und was hilft seine Unschuld one Klugheit. Ja! und
wie schadet sie andern! Natiirlich daB es einerlei ist, ob ich Be-
schuldigjungen] darin zu sehen vom Autor gezwungen oder
von mir veranlast werde!
A. Das wol! Aber-
B. Aber?
a. Aber der Verfasser kan nicht die Blindheit andrer bussen?
oder sol er sie?
30 b. Er darf sie nicht; aber er nuzt sie.
a. Ernsthaft?
b. Ja! er nuzt sie. Wie lange wiirde sein Buch liegen geblieben
sein. -
A. anstat daB es' iezt liegen bleiben mus. -
B. anstat daB es eben darum liegen bleiben nicht kan. Es wird
weggehen,
588 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG
A. wenn es kan.
b. wie warme Semmel. Kan? Es mus wol. Wer macht ein
Buch so bekant als ein ... . Befel?
A. Aber auch zu seinem Nuzen?
B. Wie anders - denn bekants[ein] heist gelesen werden. -
A. Nun! das heiss' ich einen Redner. \
B. so?
a. Denn so ein Ausdruk, so ein Wolklang, ia so eine Zierlich-
keit-
b. Das ich nicht wuste! 10
A. Freilich hat er auch seine Feler. Aber wer hat sie nicht?
Und doch kan er auch die wegpuzen!
b. Ob ers kan, das weis ich nicht; haben tut er sie, und soviel
daB er seine Eigenschaften so ziemlich wegpuzen wiirde, wenn
er seine Feler wegpuzte: denn mit seinen Schonheiten mochte
es wol nicht weit her sein - die sind alle . . .
A. Nun was denn? wol auch Feler? - Das ist war, auf diese
Weise bleibt er nur aus Felern zusammengesezt? O aus Vorzii-
gen, wird aber ieder sagen; nur freilich, solche Vorziige ertragt
bios ein neidloser Zuschauer, 20
b. und solche sieht bios ein blinder.
a. Schwachheit ist besser als Bosheit! Aber nein! seine Vor-
ziige sieht nur der Blinde nicht, ertragt nur der neidische nicht.
Manchen Grossen schazen zu konnenf?] gehort sjelbst] viel
Grdsse dazu; was wunder, daB es der kleine nicht kan? was
wunder, daB ers nicht wil, da einen grossen rechtf?] vereren
zu wollen, eben so viel Grosse gehort -
b. die ich naturlicher weise nicht habe. Meinetwegen, aber
andre haben sie und diese andern denken eben so von ihm, diese
andern bewunderh eben so ser die Kleinheit seiner Bewunderer, 30
als diese seine Grosse. Zugegeben, daB er freilich nicht ganz
schlecht ist; aber ob ganz gut?
A . Das glaub' ich auch nicht; so wie ienes Sie. Denn ich denke,
daB Sie von ihm schlechter denken, als ich gut.
GESPRACHE 589
B. Etwan weil vorhin -
A. ia weil Sie vorhin seine Feler seine Eigenschaften sein lies-
sen, weil Sie seine Schonheiten nicht weit her sein liessen.
B. Und daraus folgt?-
A. natiirlich, daB Sie schlechter von ihm denken als ich gut.
B. Ja! das folgt aus meiner Rede. Und aus der Ihrigen, daB
ich minder schlecht von ihm denke als Sie gut.
A. Ich?
B. Sie, weil Sie ihn vorfhin] aus lauter Vorziigen zusammen-
10 gesezt sein liessen.
A. Sie ihn aus lauter Felern; ich aus lauter Vorziigen.
B. Das waren 2 Irtumer; und den meinigen hab' ich einge-
standen.
A. Ond ich tue meinen iezt.
b. Nun sind wir einig,
A. daB wir uns geirt haben? oder daB wir auf einander [?]
zurukken?
B. Das lezte wol nicbt; freilich das erste. Aber was liegt auch
an dem Lezten?
20 a. Ja! da an dem ersten so viel liegt, als an Liebe liegt.
B. Die doch wol unsre Meinungen endlich vereinigen
mochte, indem sie die Vereinigung derselben durch gewiirkte
[?] Kaltbliitigkeit urn ein merkliches erleichtert.
a. Vielleicht!
A. Eben fang* ich an zu schreiben.
B. Von was denn?
a. Das weis ich erst, wenn es geschrieben ist. Die Gedanken
fliegen Einem in die Feder wie -
B. ich schenke dir deine Vergleichung. Aber wenn es nur
30 erst war ist! Oder vielleicht meinst du schlechte Gedanken? ia
dan.
a. Die sind der Erwanung nicht wert. Da man Gedanken
haben mus, so ists freilich kein Wunder, daB man schlechte hat,
aber [?] eins ist, wenn man gute hat.
B. Und diese hat man, wie?
590 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
A. Bekomt man wilst du sagen: unter dem schreiben. Freilich
liefert der Zufal nicht zu ieder Materie Gedanken.
B. Das ist so natiirlich. Zu leichten namlich, wenn er sie ia
liefert -
A. Und nicht einmal zu diesen, alien Kopfen. -
B. kurz: er liefert sie aber doch einigen. Doch wenn und wem
er sie liefert, ist ia die Frage nicht, sondern ob?
A. Dieses Ob beantwortet die tagliche Erfarung, die ieder
mit seinem Kopf anstellen kan.
B. Der namlich einen Kopf hat, last du aus.
A. und von deren Moglichkeit das geringste Nachdenken
(iberzeugt. Denn -
B. Das wollen wir sehen - riikke also das Resultat deines
Nachdenkens heraus. Denn -
A. Denn da hier bios die Giite der Gedanken in Betrachtung
komt; ia eigentlich nicht einmal diese,
B. Diese nicht?
a. Sondern bios die geschwinde Erfindung guter Gedanken
gemeint wird.
B. Es ist auch war - die geschwinde Erfindung. -
A. Da man auch leicht durch die Gewonheit, d. h. durch die
oftere Vervolkomnung des Kopfs, zu dieser Geschiklichkeit ge-
langt -
B. Freilich, so ists natiirlich, wenns daraus folgt.
a. Noch natiirlicher bei andern Umstanden.
B. Bei welchen z. B.?
A. Bei Gelegenheit des Dialogs, wo sich oft die Gedanken
mer nach Worten als diese nach ienen richten, wo wenigstens
der Ubergang von einem [?] zum andern die Gedanken schon
mit einschliest.
B. Daher mag auch wol die schdne Verbindung der Perioden
in Lessings Schriften kommen.
A. Nicht anders.
B. Denn er legte sich mer auf den Dialog als die gemeine
[?] Prose. Und die Geschiklichkeit in ienem schlagt auch bei
dieser liberal durch.
GESPRACHE 59 1
a. Aber angenem ist so eine Schreib[art] mer als eine andre.
b. Ja! recht angenem.
A. DaB man doch mannigma] mit der Behandlung gewisser
Materien gar nicht fort kan!
B. Es ist argerlich; es ist war. Bei mir ist dies der Fal selten.
A. Und bei mir desto ofterer. Vielleicht dafi deine weniger
Zeit hindurch [?] dauern; da meine oft ganze halbe Tage hin-
durch waren.
B. Meine sind auch nicht allemal sogleich volendet. Aber da-
fur hiit ich mich wol, dabei zu ermatten und der Ermattung
dan nachgeben zu mussen.
a. Wie denn hiiten?
B. Ich meine - ich arbeite ruhiger, und daher auch langer.
Meine Flamme verlodert nicht im ersten Aufbrennen; freilich
steigt sie nicht himmelan.
A. Ja, wer es haben kan, wessen Amt ihn nicht zu heftigen
Anstrengungen notigt,
b. Das Amt nun wol niemals. Aber andere Umstande; die
Begierde, sich hervorzutun-
a. freilich durch Werke namlich, die bios die Kraft seltner
Augenblikke zu wege bringt.
a. Ich wiinsch' dir gliikliche Feiertage.
b. Also wenigstens warme.
A. Sie stal mir die Ur ia.
b. Aber wie du so etwas nicht merken kontest! Das begreif
ich nicht.
A. Ich wol! Man vergist iiber die Liebe die Zeit; wie viel mer
ihren Herold.
592 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
a. Hast du die Puppen auf dem Markte auch gesehen?
B. Das glaub' ich! und von alien, die gekauft wurden, gefiel
mir nicht eine.
A. und mir nur wenige von den Puppen, die einkauften.
B. Die Puppen sind die Statuen der Weiber.
A. und folglich auch Gotter der Manner. Ich meine iezt die
franzosischen grossen Puppen, die sich, wie die Saule des Pyg-
malions, in unsre Weiber verwandeln.
A. Sie war so stum, so steif, so kalt wie eine Statue; meine
Liebe hat sie belebt, erwarmt, entstumt, wie man iezt sagt.
B. Du bist der zweite Pygmalion; aber nicht der zweite Lieb-
haber einer Statue. Dennin Statuen, figurliche und unfigurliche,
haben sich schon mer Leute verliebt. O was hat die Schonheit
nicht schon alles ersezt?
A. wenigstens geschminkt.
A. So weit schon?
B. Besser: erst. Denn ich began die Lesung hiziger als ich
sie fortseze.
A. Aber so geschwind gesattigt zu sein?
b. War' freilich ein Wunder: aber ich bin auch eigentlich wie-
der hungrig: ich amte nur d[en] Dichter nach, der auch die ersten
Schritte geschwinder tat als die folgenden.
A. Ja denn freilich verzeiht man ihm die Langsamkeit nicht,
welche der Geschwindigkeit nur vorangehen, aber nicht folgen
darf.
a. Der Seidenwurm spint Seide, die Spinne ihr Gewebe -
B. Der Beobachter Gedanken, und der Systemmacher
Worte -
A. Erst aus vielen Spinnenfaden last sich ein seidner f lech-
ten.
GESPRACHE
593
' b. So kan man auch aus Quartanten vol Worte einige Gedan-
ken distilliren.
A. Die Spinne hasset den Seidenwurm.
b. Und Herr X. den Hern Z.
A. Aber daB der Man so gros denkt und so klein handelt,
daB sein Herz so unter seinem Kopfe bleibt! -
b. Eben deswegen! Denn welche Tiere haben die meisten
Augen?
A. Nun! die kleinsten, die Insekten!
b. Und der Riese Polyphem hatte nur eines.
EPIGRAMMEN
i.
Die nur konnen verfiirt werden, die es schon sind, und ieder
Fal ist kleiner als der erste. Man giebt nur denen Argernis, die
sfelbst] schon welches gegeben. Die Leinwand, die kein Funken
anzundet, mus erst durch Verbrennen zum Zunder werden, den
ieder anzundet. Docendo discimus.
2.
Fabel
Wenn einmal die Tiere reden konten, so konten sie auch schrei- 10
ben. Ein Adler wolte die Nichtadler doch auch fliegen leren;
er gab also eine Anweisung zum Fliegen in etlichen Quartanten.
Sein Manuskript war mit den Federn seiner Flugel geschrieben.
Zulezt woke er seinen Flug nach der Sonne wieder machen,
und siehe! seine ohnmachtigen Schwingen verhiiten nur seinen
Fal und bewirken nicht sein Steigen. »Sol diese Fabel sich wol
mit der Lere endigen, sagt[e] ein Kunstrichter, dafi man oft auf-
hort das Beispiel der Tugend zu sein, wenn man der Lerer der-
selben ist, dafi das Herz ser oft unter dem Kopfe bleibt? Die
Fabel ist dum, ich wolte gewis eine bessere machen, Hesse mir 20
nur die Rezension derselben Zeit dazu!« Ich ziehe die Lere p.,
sagte der Verf. einer Schrift iiber das Eigentum, die er an drei
Verleger verkaufte.
3-
»Ich schreie doch viel starker als das Pferd« sagte einmal ein
Esel. »Und wie unausstehlich meinem Kennerore erst dieses
Pferdgeschrei ist!« sagte ein andrer Esel, der Rezensent des er-
sten.
EPIGRAMMEN 595
4-
Eine Herde Esel giengen zur Miile mit Sakken heraus, und sahen
von weitem die Studenten mit Schreibbikhern unter dem Arm
aus dem Kollegio kommen. »Jezt kommen die Esel des Profes-
sors auch!« Da ich gestern Disteln fras, sagte einer, daB sie das
zu Hause nicht brauchen konten!
5-
Die Warheit unterrichtet anonym, unter dem Namen der Fabel.
6.
Die Blatter der Eiche kronen das Verdienst und ihre Friichte
masten das Schwein. So die Henriade, und die Pucelle d' Orle-
ans.
7-
» Von wem hast du dein Trinken gelernt?« sagte ein andres Insekt
zur Grille. »Von einem unsterblichen Poeten.« Umsonst?
»Nein, ich lerte ihn das Singen.«
Ein Arzt gieng einmal fr-iih auf dem Gottesakker spazieren und
betrachtete die Werke seiner Hande, als ihn der Tod antraf . Nach
zo gegenseitiger Umarmung und Begriissung sagte der Tod: »hier
hast du eine Universalarznei; es ist ein Magenelixir, das ich aus
dem Flusse Styx geschopft. « Aber macht diese Arznei derm tod?
»0 sie macht auch krank.« Lieber Freund, bald mer - mein
Apoteker verfertigt sonst sjelbst] Wasser aus dem Styx. -
9-
Es ist kein Beweis fur die Arzneikunst, wenn ein Arzt lange
lebt. Lebt doch der Tod noch langer! - Der Arzt hat stat der
Sense, den Degen.
10.
jo Ein ungelerter Falke sagte zum gelerten: »Wie komt es denn,
daB dich die Menschen als ein Raubtier dulden, da sie andre
596 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
nicht dulden?« Daher, ich raube fur meinen Furs ten, ihr nur
fur euch. -
11.
An einen,
der viele Biicher hat, und wenige liest
Du gleichst den Zukkerbekkern, die das nicht geniessen, was
sie andern iibergeben. Du kaufst Biicher nicht urn daraus klug
zu werden, sondern um andere zu iiberreden, daft du es bist,
und speisest gelerte Magen umsonst. Vielleicht kaufst du auch
mit soviel Geld den Rum dum zu sein, durch soviel Veranlas- k
sung klug zu sein.
12.
An einen,
der Epigrammen von Kindern machen lies
Die Uberschrift meines Epigrams ist schon ein Epigram auf
dich; und meines sol doch nur eine Dedikazion sein. Antworte
mir durch deine Schuler wieder. Du kultivirst Wiz vor dem
Verstand. Du bestrafst den, der nicht gut gelacht hat; du lerst
eher tanzen, als gehen; doch braucht der Knabe nicht soviel
Verstand, sie zu machen, *als du Dumheit, sie aufzugeben. Ler' 2c
sie nicht etwas, was sie einmal wider dich gebrauchen konnen.
Denke nicht, daB ich dein Schuler war - meine Epigrammen
wiirden dir sonst gef alien, und Kennern noch mer misf alien,
wenn es moglich ist. - Wilst du mich tadeln, so lobe mich.
13.
Es giebt Schmetterlinge fur den Tag, und fur die Nacht. Ich
wtirde also auch die Existenz zweierlei Stuzer behaupten, wenn
man in der grossen Welt nicht Nacht in Tag und Tag in Nacht
verwandelte.
14- 3c
An einen medizinischen Stuzer
Du gleichst dem Todenkopfvogel: er ist ein Schmetterling wie
du; das Bild des Todes ist sein Wappen; gemeine [?] Leute furch-
ten und grosse schazen ihn, wie dich umgekert.
EPIGRAMMEN 597
15-
Die Autoren sind Konsonanten, die sich one einen Verleger
nicht aussprechen lassen. Und doch steht dieses Name auf dem
Titelblat unter dem ienes, wie die Vokalen bei den Hebraern.
Beide lassen sich one Vokalen nicht gut lesen.
16.
Zimon nakte Perser [?] und ihre Kleider; nur das, was nicht
ihnen gehorte, fand Kaufer. So ists, wenn man die Moral und
die Fabel von einander trent; ieder liest diese one iene - zieht
10 die Warheit nicht nakt aus. -
17.
Demokrit verdarb sich das Gesicht, um besser zu philosophiren;
ienfer] philosophirt, um blind zu werden; ienes sol noch bezwei-
felt werden, dieses ist gewis.
18.
Derselbe Baum, mit dessen Zweige wir uns gegen das Fallen
sichern, macht uns mit seinen Wurzeln fallen - der Man, dessen
Schriften Tugend leren, lert mit seinem Leben das Laster.
19-
20 Dieser Arzt hatte keine Erben; weil sie sich stellen musten, seine
Pazienten zu sein.
20.
A. Warum klatschen Sie denn nicht, und pochen nur?
B. Ich mus den Stok in den Handen halten, womit ich po-
che. -
Nichts ist gemeiner in alien Epigrammen [als] die Horner der
Hanreihen; wenn es nicht die Horner der Epigrammatisten sind.
598 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
22.
Bin Wortspiel
Der Jude beschneidet seinen Son und Gold; aber weder Madgen
noch Silber. -
23.
Herr G. wischt sich bei Vorstellung eines Trauerspiels die Tra-
nen mit dem Schnupftuch ab, das er eben gestolen. -
24.
Die romischen Feldhern schminkten sich bei ihrem Triumphe;
du vor dem Siege. 10
25.
Er djchtet und siegt zugleich; er hat den Pegasus und Buzephal.
26.
[An einen]
Vorleser seiner Weinlieder
Nicht dein Gesang, sondern der Gegenstand desselben berauscht
uns; ia deine Weinlieder sind Wasser in den Wein und dein Lor-
berkranz ist unser Epheukranz. -
' 27.
Dein Kopf glanzet nur in der Entfernung; die Sorgen und die 20
Laster erfullen ihn - so scheinet die Sonne von weitem, und
ist nach einigen der Aufenthalt der Verdamten.
28.
Auf ein Allerlei
Dein Buch ist durch Mannigfaltigkeit an Felern angenem; urn
nicht schlecht zu sein, bist du es in alien Fachern; gleich den
Insekten, die viele Augen, und wenig Gehirn haben, Teau de
milles fleurs.
EPIGRAMMEN 599
29-
Ich erhize meinem Vetter den Kopf durchs Herz. Wenn er nichts
mer zu schreiben weis und gelerte Verstopfung hat, so les' ich
ihm mit gutem Erfolg Schriften [defekt] iiberfliessen: so klystirt
[defekt]
30.
[Man] vergleicht eine Schone mit der Sonne; schon seit der Zeit
da Phobus Verse eingab. Ich vergleiche [sie] mit der Erde; ich
weis aber nicht, welches System war sein wird, das kopernika-
10 nische oder [das ptolemaische].
3i-
Die Rote auf iungen Wangen ist gut - denn sie ist warscheinlich
die Farbe der Scham - die Rote auf alten Wangen taugt nichts
- denn [sie] ist aus einer Biichse genommen. So bedeutet umge-
kert Abendfote und Morgenrote p.
32.
Die Sonne macht die Wolken und meine Fr[au] rot, die Nachts
beide weis waren.
[33.]
20 Doch must du mir erlauben, meine Rechte iiber dein Werk gel-
tend zu machen. Zwar sol mich der Korper deines geistigen
[?] Kindes von der Hinrichtung desselben abhalten; allein in
England und andern Orten gehoren onehin die Kleider des Ver-
urteilten dem Henker.
[34.]
Die Schriftsteller begeren so die Musen, wie die Affen die Wei-
ber.
[35.]
Wie derselbe Wind die grossen und kleinen Orgelpfeifen be-
30 wegt, so dieselbe Begeisterung die grossen und kleinen Dichter.
6oO JUGENDWERKE - 3.ABTEHUNG
. [36.]
Dieser Poet singt nur in Kreuz und Leiden; [man mus ihn] mit
Fiissen treten, eh' er klingt, wie's Pedal; Satiren.
[37.]
Die Pfoeten?] haben lange Nagel, um ihre Harpfe besser zu spie-
len und ihren Feind zu verwunden.
[38.]
Er singt from und redet bos - neben der keuschen Muse hat
er eine Hure zur Beischlaferin; ein Heiliger auf dem Parnas,
und ein Bosewicht auf Sinai; ihm felen alle die Tugenden, die 10
er mit seinen Versen einflost - und seine einzige Tugend ist,
daB er alle die lert, die er nicht hat, und daB er das Laster tut
aber nicht besingt; sein Buch ist besser als er und das Kind der
Antipode des Vaters. Um ihn zu bewundern, mus man ihn nicht
kennen. Er gleicht dem, dessen schone Stimme uns entziikt und
dessen ubler Odem uns ekkelt. Um sich im Genusse seiner Ge-
schiklichkeit nicht storen zu lassen, mus man entfernt sein. Auf
seinem Kopf ist Puder, an seinen Fiissen Kot -
[39.]
Je weniger man lernt, desto mer lert man; ie unverdauender 20
der Magen, desto ofner der Leib, und s[elbst] das docendo
dis[cimus] gilt nicht von ihfnen], aber das discendo doce; sie
stellen sich auf die Abcbank, und machen sie zu ihrem Kateder.
[40.]
Fur den Baston ist unser Gehor zu klein -
. [41.]
Die Kunstrichter tadeln das Schlechte, um das Gute tadeln zu
konnen; [gleich] dem Herodes, der Christus zu toden, alle Kin-
der toden lies. -
EPIGRAMMEN 601
[42.]
Selbstrez[ension]. So zankt sich der Doktor mit seinem Harle-
kin, nicht urn zu zanken, sondern seine Pillen anzupreisen, halt
sich seine eigne Leichenrede, wie Karl sein eignes Leichen-
begfangnis].
[43.]
Aus Ubersezungen das Gute kennen lernen; den Harn der
Schwamme trinken. -
[44.]
10 Je mer wir gewisse Warheiten durchdenken, desto mer verlieren
sie von ihrer Urschonheit, oder so weit ein Rezensent liest, so
weit tadelt er - gleich dem Kinde, das das Buch beschmuzt,
so weit es gekommen; er ist aber erst bei Uber.
[45.]
Er weis alles zu benuzen; und seinen Raub in sein Eigentum
zu verwandcln; cr macht den Zukker und Klos.
[46.]
Gewisse feurige Schriften tun auf Schriftsteller die Wirkung des
Weins - sie treiben den Harn [defekt]
BITSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER
AN DAS PUBLIKUM
Weises Publikum!
Alle Titelblatter wiederhallen die alte Behauptung, difficile est
satiram non scribere. Diese Unwarheit, deren Verzeihung man
dem grauen Herkommen der BCicher, auf dem ersten Blatte
die erste Luge zu sagen, nicht verweigern kan, sol durch unsre
Bitschrift von aller ihrer Warscheinlichkeit entkleidet werden
und unsere Griinde fur die iezige Teurung an Narheiten werden
dir den mitleidigen Ausruf abdringen, difficile est satiram scri-
bere! Mit diesen Griinden werden uns die meisten Stande aus-
helfen und man wird iiber die Seltenheit erstaunen, die die figiir-
lichen Narrenkappen mit den unfigurlichen iezt gemein haben.
Guter, teurer Hanswurst! vom Teater hat man dich nicht bios
verwiesen, auch aus dem Parterre? - ach! sogar aus den Logen!
Da man bei einem guten neuen Autor, ausser den Narheiten,
nichts seltner findet als eine Ordnung derselben, so haben auch
wir bei unserm Aufsaz fur den Reiz der Verwirrung gesorgt,
one durch die Furcht abgeschrekt zu werden, man moge diese
Bitschrift fur das Kind einer iuristischen Feder ausgeben. Doch
ieder sieht ia, daB sie - deutsch ist. Ubrigens werden wir immer
die Griinde fur die Seltenheit des Narren mit ihren schadlichen
Folgen fur den Satiriker abwechseln lassen.
Die Fiirsten sind den Schriftstellern das, was die Sterne den
Kaldaern waren - nicht bios Gegenstande der Anbetung, son-
dern auch der astronomischen Beobachtung; doch verrichtet
man beides auf den Knien und das eine am Tage und das andre
zu Nachts. Auf dieses alte Recht wagen wir denn die freimiitige
Klage, daB wir mit Erstaunen auf den deutschen Tronen fast
eben soviele Kopfe als Diademe zalen und eine grossere Anzal
von Zeptern als von gnadigen Klauen antreffen, ungeachtet wir
zu Einem Tron zwo Klauen und nur Einen Zepter rechnen.
Kurz die Schazkammer der mit gekronten Hauptern gestempel-
ten Torheiten hat sich fur uns erschopft; kaum daB noch der
Nachtrab der Satire, das Pasquil, mit unprivilegirten Handen
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 605
eine falsche Miinze schmiedet. Doch mildert diese Klage der
Sprachgebrauch, welcher einem gekronten Haupte alle die Tu-
gendenzuschreibt, deren Mangel es durch Vermeidung der ent-
gegengesezten Feler vergiitet, und nach welchem ein nichtboser
Fiirst, gleich diesem philosophischen Erdbal, der beste ist. Wenn
daher ein Fiirst die Vorschlage seiner Minister unterschreibt,
so erfindet er sie; wenn er den Akkerbau durch nichts als die
Jagd verhindert, so unterstiizt er ihn, und das Getraide, das er
nicht wegerntet, saet er; wenn er am Tage gar nur schlaft, so
, durchwacht er die Nacht fur das Wol des schlummernden Stats;
kurz ein Stiefvater des Vaterlands ist ein Vater desselben. Die
Erde bedekte wol, aber trugnie gekronte Henker, und ein Tyran
erbte nie einen koniglichen Tron, sondern nur eine konigliche
Gruft. Ja selbst konigliche Laster nent man ausgerottet, wenn
sie nicht iiber den Zaun der Klugheit hinauswachsen: so nent
das neue Testament die Beherschung verfurbarer Gliedmassen
das anatomiren derselben. Diese Teurung an fiirstlichen Torhei-
ten verursacht, daB wir weniger Satiren und mer Pasquille raa-
chen. Doch da der Tron der Grundpfeiler des Stats ist, da an
I 20 der kleinsten Bewegung eines Konigs das Schiksal eines ganzen
Volks hangt, so wollen wir Satiriker die Narung unsrer Galle
willig dem algemeinen Wol aufopfern, so bald uns die meisten
deutschen Potentaten durch ein Privilegium erlauben, auf sie
Pasquille zu schreiben und durch den Verkauf derselben dem
Hungertode zuvorzukommen. Die Erlaubnis, Pasquille zu ma-
chen, werden uns diese meisten lieber erteilen, als die iibrigen
die Erlaubnis, auf sie Satiren zu machen. Wenigstens hat der
goldharte Zepter der leztern ser oft an unsern harichten Rukken
die Opfer unsrer Geiseln geracht; f reilich vergassen wir mannig-
| 30 mal, daB manche furstliche Torheit das Vorrecht des romischen
Burgers geniesse, den man toden, aber nicht geiseln durfte. Wir
taten das leztere, weil den Premier minister an dem ersten Frau
und Hure und Kammerdiener ppp. verhinderte.
Wenn der Fiirst seine Torheiten abdankt, so folgt, daB seine
Hoflinge die ihrigen verstekken, wenn iener sein eignes Har
in zierliche Gestalten krauselt, so tragen diese den kalen oder
606 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
borstigen Kopf unter einer gekauften aber lokkichten Periikke
und in die Tugenden des einen verlarven sich die entgegengesez-
ten Laster der andern. Ungeachtet nun der Hofman durch diese
Mummerei gewisse Wilden nachamt, welche zur Verhiillung
ihrer unerbarcn Glieder nicht die Furcht iiberredet, durch die
Anstossigkeit der leztern zu beleidigen, sondern die Besorgnis,
die Verlezbarkeit derselben dem Zufalle auszusezen; so richtet
dennoch diese Gewonheit in unsrer satirischen Republik er-
staunlichen Schaden an - Und dieses um desto mer, da wir
Satiriker die Hofe mit wizigen Farben abmalen, one daft sie
uns ie gesessen haben, und unsre lauten Peitschen an den Riikken
roten, die wir selbst geschnizt. Selten daB 4 wir den Hofman,
wie der Geizige den Affen und Baren, durch die nasse Fenster-
scheibe unsrer Dachstube auf der Gasse mit eignen Augen beob-
achten konnen; noch seltner daB Biicher, in denen wir stat der
Hofe die Gemalde derselben studiren, so wie Delaporte nicht
in den Landern, sondern nur auf ihren Karten herumreiste, die
Geschopfe unsers Pinsels mit neuen wie wol unwaren Ziigen
bereichern. Diese Ursachen zusammengenommen verunstalte-
ten denn auch unsre Satiren mit sovielen'Liigen. Wir behaupte-
ten, daB das Chameleon seine Gestalt zum Spiegel der nachbarli-
chen Gegenstande mache und stat aller Speise nur Luft zu sich
neme; allein die neuen Naturkiindiger leren uns, daB das Tier
seine originelle Grundfarbe selten und nur im Zorne andert und
mit der geschwinden Zunge Insekten haschet. Wir fanden den
Hofling der Schlange anlich, welcher die Geschmeidigkeit des
Korpers das Kriechen erleichtert; und vergassen ganz, daB die
kriechende Schlange auch springt, um die nahe Beute zu iiberra-
schen, oder in einer andern Figur, wir liessen uber die Wind-
buchsen, aus denen hinter dem rauberischen Busche eine
stumme Luft den Tod hervorblast, die Kanonen aus der Acht,
deren Schlund dem Feinde ein Kollegium uber das Jus gentium
liest. Wir hatten nicht bios an der Sele des Hoflings, sondern
auch an seinem schimmernden Kleide franzosischen Wiz rumen
sollen; so wie nicht bios die Augen, sondern auch das Fel der
schwarzen Kazen im Finstern leuchtet, vorziiglich da man an
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 607
dem Hofman, wie an dem Biere, erst die Gestalt und darauf
den Geschmak priifet. Wir geiselten in den Hoflingen unsre Ne-
benbuler und waren ungerecht gegen ihr Herz, an welchem ihre
stumpfe Satire sich merklich scharft - Die Schlange beisset auch
nur mit beweglichen Zanen, allein durch sie fliest dan der Speichel,
der die Wunde vergiftet. Wir predigten gegen ihre schlupfrigen
Erzalungen; allein dan hatten wir auch den Lenden ihrer Zuhorer
das Vermogen zu den Lastern wieder eingiessen sollen, deren
schwaches Echo nun die Oren geworden. Die Fama ist gleich
10 den Harpyien, mit einem ewigen Hunger und einer ewigen Dis-
senterie behaftet und ihre Oren weteifern mit ihren Zungen in
der Unermudlichkeit - daraus ergiebt sich die Pflicht eines Prie-
sters der Fama, dessen tatige Zunge die (ibrigen miissigen Glie-
der erhalten mus. Wenn daher die Wilden meinen, die Affen
reden nicht, um nicht arbeiten zu diirfen; so irren sie sich: denn
bei uns reden sie eben deswegen. Auch schmeichelt der Hofman
seinem Nachbar oder Obern nicht so gar ser als wir sonst glaub-
ten: seinen Riikken kriimt wol die Hoflichkeit, aber nie die
Ubernemung einer fremden Last, er weihet seinem Freunde
20 schone Pas, aber nie saure Schritte, und opfert ihm Worte, aber
nicht die Erfullung derselben, wie die armen Agypter stat der
Schweine die Bilder derselben. Selbst von seinem Verhalten ge-
gen den Fiirsten waren wir iibel unterrichtet. Er schmeichelt
ihm nicht bios, sondern er affektirt auch Unverschamtheit und
flieht zur Kiinheit, um darauf mit mer Ere und Tauschung krie-
chen zu konnen. - Da ein gekronter Kastrat seiner Liebe zum
gemeinen Wol unleidlich vorkomt, so wird er einem Fiirsten,
dessen Entmannung er einer H- anvertrauet hat, gewis das so
wichtige Ruder des Stats entreissen und den Jupiter nachamen,
30 der seinem Vater Saturn nicht bios die Hoden, sondern auch
den Zepter raubte. - Vielleicht reicht er die erhebende Hand
denen zur riimlichen Annaherung, deren mogliche Undankbar-
keit ihm kunftig wenig schaden kan; allein selten wird er die
Rache seines Oberhaupts zu zaumen suchen und halt es fur gleich
ungerecht und gefarlich, einen fallenden Favoriten oder eine fal-
lende Bundeslade zu unterstiizen. — Aus diesem alien wirst
608 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
du, liebes Publikum, einen Schlus auf die notwendige Liigen-
haftigkeit und Armut unsrer Satire ziehen konnen. Doch miissen
wir auch den Hofleuten fur etliche neue Torheiten aufrichtig
danken. Mit Vergniigen schleichen wir ihren Urteilen in Bilder-
gallerien nach und fangen die gelispelten Kunstworter zur Na-
rung unsers Zwergfels auf. Uns gefalt ausser ihrer Unwissenheit
nichts so ser als das wizige Kleid derselben; und wir bewundern
an ihnen die gliikliche Nachamung der Wirte, die das trube Bier
in Schaum verlarven. Auch sollen iezt, wie man sagt, einige
Hofleute ihre Muttersprache erlernen; man sezt noch hinzu, daB 10
selbst an deutschen Hofen deutsche Gelerte geduldet wiirden
- allein diese Nachricht glauben wir erst einer kiinftigen Bestati-
gung. Wenn doch die Hofmanner der Torheit, patriotisch zu
scheinen, noch die nagelneue, tiefsinnig zu scheinen, beifCigten!
Doch eine solche Tauschung trauen wir ihrer Verstellungskunst
voriezt noch nicht zu, ungeachtet dieselbe oft einen eifersikhti-
gen Gonner mit der entgegen[ge]sezten Larve betrogen hat.
Man kan auf dem Redoutensal alle Glieder vermummen; allein
schwerlich die Augen ganz, fals man nicht den blinden Betler
machen wil. 20
Der Stolz und der Name eines Edelmans haben fast gleich
viel Anen; und seine Torheiten sind noch unsterblicher (mit
Erlaubnis des metaphysischen Donats) als unsre Satiren dariiber.
Allein der Ekel einer unaufhorlichen Wiederholung verleidet
uns alles fernere Lachen; und vielleicht bewerkstelligt noch die
Gewonheit, daB wir den Edelman mit den Augen eines Edel-
mans ansehen. Auch schazen wir einen Federbusch und ein Stiik
altes Pergament viel zu ser, um die nicht zu schazen, die den
Federbusch und das Stiik alte Pergament nicht verdienen. Von
unsrer Behauptung machen dieienigen Edelleute eine unbe- 30
trachtliche Ausname, die noch auf Akademien leben, um etliche
Romanezu lesen. An diesen mus man rumen, daB sie den Adeli-
chen solange nicht spielen, als sie einen Unadelichen zeugen;
und einer von uns war einmal Augenzeuge, daB ein iunger Baron
den Federhutvorher auf den Tisch legte; (einen Degen trug dieser
iunge Mars wegen seiner militarischen Erentitel, dazumal nicht,
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 609
wie denn auch die Dronen die Stachellosigkeit mit der Frucht-
barkeit verbinden.) Selbst die Mode der iezigen Denkungsart,
die alle Stande almalig zu ebnen scheint, driikt den Stolz des
alten Blutes nur so lange nieder als kein andres altes Blut den
Zeugen dieser schimpflichen Bescheidenheit abgiebt. Spreche
mit Einem Edelmanne, so ist er vielleicht bescheiden; seze einen
zweiten bescheidnen hinzu, so werden sie den lateinischen Ne-
gazionen gleichen, die durch Verdoplung eine entgegengesezte
Eigenschaft bekommen; und ieder Federbusch winkt dem an-
10 dern zu <MXutJie avftocojtog el. Vielleichtist auch unser Spotiiber
diesen Gegenstand nicht bios zu alt, sondern auch zu ungerecht.
Auf welche Verdienstesol der Edelman stolz sein, wenn es nicht
fremde sein sollen? Die Gegenwart hat bei ihm den Rum von
der Vergangenheit geerbt; lasset ihm daher ein Erbteil, das er
schon unter so viele Schulden verteilen mus. Er wird auf seinen
Stambaum nie Lorberzweige propfen; gut genug, wenn er auf
demselben Eichen propfet, die Fruchte und keine Blatter tragen.
O ihr Esel von Madure, euch verert man, weil euch die Selen
verstorbner Edeln beleben, nicht einmal dem arabischen Pferde
20 gleich, dessen Korper ein Stambaum von zwei und dreissig
Quartiren veredelt; und dem Edelmanne solten wir eine Ach-
tung entziehen, die seinem alten Blute gehort, das er aus neuen
Speisen distillirt? Diese Achtung diktirt uns die untertanige Bitte
an den Adel nicht um Vermerung, sondern um Veranderung
seiner Torheiten.
Geschmtikt mit grossen Schnallen, einem grossen Hute und
grossen Stokke, mit einem kleinen Harbeutel, und kleinen Rok-
gen und kurzen Westgen, nicht one Wolgeruch und one Puder,
die Geisel in der Tasche aber das Schnupftuch halb ausser dersel-
30 ben, trit unser satirisches Kor dem schonen Geschlechte naher,
macht mit seinen beschuhten Boksfussen die gewonlichen
Spriinge der Hoflichkeit und greift mit gebognem Rukken nach
den schonen Handen, um die schonern Handschuhe zu kiissen.
Schones Geschlecht! das uns hasset und auch nachamet, das den
armen Satirn den angebornen Ungehorsam gegen zwei Gebote
der andern Geseztafel nur halb vergiebt, namlich den Ungehor-
6lO JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
sam gegen das achte Gebot nicht vergiebt - womit haben wir
die Rache deines Pinsels so ser verschuldet, daB er unsre Satiren-
gestalt zur Teufelsgestalt verhaslicht? Wir haben nur Boksfiisse;
und du giebst uns teuflische Pferdefiisse - wir tragen nur kleine,
gerade, unreife Horner; und du sezest uns so krumme und grosse
Horner auf, wie sie der Teufel vom Ochsen und dein Herr vom
Aktaon borgt - wir haben keinen Schwanz; und du machst unser
Steisbein so lang, wie deine Schleppen - wir konnen uns zwar
nicht so weis wie du dich malen, aber du malst uns so schwarz
wie den Teufel. Das soltest du nicht tun. Wir haben ia uber 10
dich nicht mer gespottet als (iber die, die dich anbeten. Rechne
alle unsre Harte den bitterbosen Rezensenten an. Gleich den
Offizieren, deren spanisches Ror an dem Soldaten die Mensch-
lichkeit bestraft, mit welcher er die Spiesrute (iber die Wunden
seines Kameraden geschwungen, wiirde uns dieses militarische
Volk alle die Streiche aufzalen, die dir unsre galante Geisel ge-
schenkt hatte und wir wiirden schone Riikken auf Kosten des
unsrigen geschonet haben. Auch tadelt ihr, lieben Kinder, an
uns eure eignen Feler; ihr vergeltet ia selbst die Schmeicheleien
der Manner mit Satiren und verunstaltet eure Lippen, wie eure 20
Wangen, durch Essig. Mit eurem Gesicht, auf welches die Natur
bunte Reize pflanzte, und mit eurem Munde, in welchen die
Mode Nesseln saete, gleicht ihr Gottinnen Europens den Got-
tinnen der Agypter, namlich den Zwiebeln, die die Augen durch
die aussere Blume ergozen und durch die beissende Wurzel be-
leidigen. - Um euch aber doch besser zu gefallen, wurden wir
aus Satirn zu Stuzern, und anlichen nun nicht mer den Teufeln,
sondern den Affen und werfen euch eure Unfruchtbarkeit an
Torheiten vor, obwol nicht wie der Stuzer auf den Knien. Allein
diesem Vorwurfe wollen wir eine kleine Schilderung einer Tor- 30
heit vorausschikken, mit welcher ihr das vergangne Jarzehend
verschonertet, die ihr aber leider! dem iezigen und uns lebenden
Satirikern entziehet. Nie entwolkte unsre harichten Gesichter
ein schallenders Gelachter, als da wir auf dem Antlize des weibli-
chen Deutschlands die nun verschwundne Ebbe und Flut der
Tranen gewar wurden, die seltner zur Befeuchtung des Lorbers
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 6ll
oder der Palmen als der Myrthe flossen, als wir in iedem Auge
Wolken sahen, die Wasser regneten und das Licht aufhielten.
Ja einer von uns lachte beim Anblik einer Schonen, die einer
getodeten Fliege durch einen seidnen Sarg die Grausamkeit einer
Spinne vergiitete, zu deren Henker sie ihren kleinen Bruder
machte, so laut, daB die Schone ihn mit dem Sonnenschirm
an dem rechten Horngen gefarlich verwundete. Und wirklich
wir hatten auch nicht so lachen sollen; man hatte langer geweint!
Nun ist die Empfindsamkeit aus Herzen unter unbedekten Bu-
io sen in solche verwiesen, die unter einem groben Halstuche un-
gesehen klopfen, und die Kochin erbaut sich, in Geselschaft der
zwolfiarigen Mamsel, Sontags an dem geborgten Roman, iiber
den ihre Madam satirisirt. Was bleibt uns armen Teufeln nun
ubrig? nichts als die Fortsezung unsrer Satiren. Die Dissenterie
der Augen hat nachgelassen; aber wir gehen demungeachtet
noch mit unsern Vomitiven hausiren. So wie der Teufel in dem
Korper des Studenten, den er getodet, (auf Befel des berumten
Magikers, Heinrich Kornelius Agrippa,) die Stelle der Sele ver-
trat und seine Fusse zu einem tagelangen Spaziergang belebte;
20 eben so schenkt unsre Ironie der Empfindsamkeit, die sie hinge-
richtet, verlangertes Leben und redet die tode Sprache der wei-
nerlichen Makulatur. Hierin tut sich vorziiglich einer unserer
Mitbruder hervor, der das Ableben der Empfindsamkeit fur ei-
nen Wink aufgenommen, ihren modernden Riikken mit einem
dikken Roman unbarmherzig zu ziichtigen. Dieser zweite Swift
wird die Welt nachstens mit einem Band Satiren beschenken,
worin er der Torheiten vor der Sundflut nicht im geringsten
schonet. Was der Hunger nicht tut! Er ist es, der durch denselben
Kiel Tranen und Galle ausgiesset, der im zwanzigsten Jare mit
30 den Weinenden weint und im dreissigsten mit dem Lachenden
lacht. So diente umgekert iener Eselskinbakken dem Simson
sowol zur todenden Waffe als zur wasserreichen Quelle! Ein
Dichter wiirde dieses so ausgedriikt haben: der Eselskinbakke
weinte Freudenzaren iiber seine Bcsicgung der Philister. Solten
wir durch Vorstellung dieser Unbequemlichkeit das schone Ge-
schlecht nicht zur Auferwekkung der genanten Torheit uberre-
6l2 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
den konnen, so wird es sein eigner Vorteil tun. An deiner Seite,
liebes Madgen, betet man den Mond nur an, um dich anzubeten.
Und du selbst, urn was kontest du die Diane bitten? hochstens
um eine ewige Jungferschaft, die sie dir (nach der Mytologie)
auch geben wird; so wie dein Anbeter hochstens um die kiinftige
Verrichtung des Hebammendiensts, wozu sie sich gleichfals
(nach den Vorschriften der Mytologie) willig finden lassen wird.
Man sagt, daB die Zauberinnen meistens zu Nachts ihre uber-
menschlichen Geschiklichkeiten iiben; o ihr schonern Zauberin-
nen, die niemand verbrent, warum verratet ihr dem geschwa- 10
zige[n] Tage eure Kiinste, warum entreist der Apollo seiner
Schwester eure Vertraulichkeit, warum verratet ihr beim An-
kleiden vor der Toilette den Stralen eines Jiinglings die Geheim-
nisse, die nur das Auskleiden dem keuschen Schimmer der ewi-
gen Jungfer verraten soke? - Wir konten die Empfindsamkeit
noch beredter loben, hatten wir SuBmilch's Augen, um ihre
Folgen zalenzu konnen. Kenner der orientalischen Welt rumen
von der Beschneidung, daB sie den Judenselen Heiligkeit fur
den Himmel und den Judenkorpern Fruchtbarkeit fur die Erde
mitgeteilt - der Kontext mag das Gleichnis volenden und dem 20
Leser den Affen nennen, der den Menschen mit dem Tier, den
Engel mit dem Amor und die Religion mit der Liebe verbindet.
O ihr heidnischen Madgen, die ihr den Got in seinem Priester
zu lieben glaubtet! o ihr deutschen Madgen, die . . . abermals
nimt uns der Kontext die halbe Vergleichung aus dem Munde.
Ihr Schdnen, leiht uns eure Schamhaftigkeit! Wir werden dan
unsre Bitte mit eben so roten Wangen vorbringen konnen als
ihr sie erfiillen werdet! . . . Allein weiter! An eurer erstaunlichen
Verbesserung ist freilich die Verschlimmerung der Manner am
meisten Schuld. Ihr belontet namlich mit iener diese, welche 3°
in euren Augen eine entgegengesezte Benennung gewint. Die
Enterung des ersten Geschlechts zog die Verherlichung des
zweiten nach sich, und ihr habt angefangen Weiber zu sein,
weil wir aufhorten Manner zu sein. Seitdem die Manner ihre
Beutel der Kunst naturliche Haslichkeit in kiinstliche Schonheit
umzuwandeln, geofnet; habt ihr eure Torheiten in Vernunft
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 613
umgewandelt - ihr verschwendet eure Zeit nicht mer, seitdem
ihr sie dem Puze widmen durft, eure Hande kochen nun fur
den Kus dem Mund bessere Speisen. Daft ihr euch bis zu alien
Geschaften deutscher Hausmiitter herablasset, komt bios dahcr,
weil eure seidnen Blumen, eure Schwanzfedern und euer Har-
gebaude euch unaufhorlich durch den Spiegel eure Pflicht ein-
scharfen und der Tanzmeister hat eure Fusse hausliche Tatigkeit
und Eingezogenheit gelert. Fast konte man auch der haufigen
Einfur der holzernen Modepuppen Frankreichs eure Ungleich-
10 heit mit diesen Puppen zuschreiben. Frau A. hat ihrem Manne
ein ansehnliches Nadelgeld abgetrozt; allein sie entspricht dieser
Freigebigkeit durch eine seltnere Abnuzung der Nadeln. Frau
B. tragt unter einem entblostern Busen ein keuscheres Herz und
ihr felt zur Tugend des Engels nur die Naktheit desselben; auch
nimt sie zeither in ihrem Ehebette Morgenbesuche an, weil sie
die Reinigkeit desselben nicht anders gegen ihre Anbeter zu ver-
teidigen weis. . . . Freilich hat die Mode fur unsre Galleimmer
noch durch einen Feler gesorgt; ware dieser Feler nur des La-
cherlichen noch fahig. Eine Verspottung der strengen Keusch-
20 heit wurde unser Zeitalter gewis mit beifalligem Lacheln aufne-
men; allein die Verspottung der Unkeuschheit mochten wir um
wieviel nicht wagen. Was helfen unsrer Geisel die H-; ihre Riik-
ken beschuzt die Mode undheiligt der Schmuk. Vielmer miissen
wir den unsrigen zu einem Fidelbogen kriimmen, um ihnen
ein eintragliches Amt abzuschmeicheln; unsre Minen machen
die Lobrede ihrer Reize, wir geraten iiber ihren Wiz in selbstver-
gessende Entziikkung und weihen ihrer Tugend eine Trane des
Danks, um nicht Hungers zu sterben. Wer an den Minister A.
ein Gesuch hat, mus sich an seine H-, aber nicht an seine Gema-
1 30 lin wenden. Auch hat man an den gekronten Hauptern zu Pria-
mus Zeitenbemerkt, dafi sich ihre Vernachlassigung der Lander
seltner aus dem Einflusse einer Gemalin, und meistens aus dem
Einflusse einer aus dem Staub erhobnen Sklavin erklaren lassen;
so wie der Erde ihre verdikten Diinste ofterer als die Luna die
Stralen des Phobus stehlen und triibe Tage haufiger als Sonnen-
finsternisse sind. Wie gluklich sind unsre Zeiten, wo die Astraa
614 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
zu den Sternen und die Keuschheit auf die Tronen geflohen!
Nach dem iezigen Sprachgebrauch ist eine -, die mit ihrer Tu-
gend Juwelen und goldne Wagen einwu chert, keine H-, und
man kan die Priesterinnen vor wolfeilen Altaren fuglich auf ihr
Beispiel verweisen; iibrigens verabscheut man wie billig dieieni-
gen Huren am meisten, die keine mer sind. Eine weibliche Got-
heit entgottert nichts gesch winder als ein kleiner Engel: denn
der Sallat, auf dem schon Samen gereift, ist iedem Gaumen an-
stossig. - Zur Massigung unsrer Klage gestehen wir aufrichtig,
daB viele Schonen ihre ersten und kleinsten Gefalligkeiten wirk- 10
lich mit viel Schwierigkeiten verpanzern und nur die lezte one
verhaltnismassigen Widerstand dahingeben und daB sie sich
eben so schwer kiissen als enteren lassen! So wafnet die Rose
ihren untern Stiel mit spizen Dornen, aber den obern, mit wel-
chem allein man sie der Nase nahert, iiberlast sie der beriirenden
Hand one eine bessere Verteidigung als die kleinen umgekerten
Dornen, die nicht stechen. - Sonach miistest du, schones Ge-
schlecht, auf eine Woltatigkeit, die unsre Knie sonst mit soviel
Schmerzen bezalen, in Ruksicht unsrer Verzicht tun; den Anfang
zur Bereicherung an Torheiten kontest du am fuglichsten mit 20
dem Gestandnis deiner Armut an denselben machen. Erroris
agnitio est dimidia emendatio, steht im ersten Kolloquio der
langischen Grammatik. - Nur deine Zunge konte die Erzalung
von alien schadlichen Folgen deiner Weisheit one Ermiidung
aushalten; verzeihe daher unserm Kiele die Kiirze. Vorher miis-
sen wir anmerken, daB wir in der gelerten Welt alle Rollen,
aber nur so lange spielen, als wir sie in der unsrigen nicht ver-
spotten und daB wir dem Affen, nicht bios an Lustigkeit und
an Haslichkeit, sondern auch an Nachamungssucht gleichen.
Seitdem deine Verschlimmerung unserm Tadel ein Ende 3c
machte, legten wir uns auf dein Lob; wir schrieben lange Dedi-
kazionen zu deiner Verherlichung, und siisse Romane zu deiner
Erbauung. In Materien, zu welchen man den Zukker bios zu
beissen pflegt, warfen wir ganze Klumpen von dieser Siissigkeit,
bios urn deinem Gaumen zu fronen; und mit Vergmigen mach-
ten wir die Vernunft zum Opfer deines Geschmaks. In Buchern,
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 615
wo wir nicht dachten, schrieen wir der ganzen Welt ins Or,
daft du dachtest; in unsern Lobreden auf dich bewiesen wir,
dafl dich das erste Geschlecht in gar nichts als in Lobreden auf
dich, iibertrafe; wir verwarfen laut die Entfernung vom State,
die dir ieden andern als einen iibeln Einflus unmoglich macht
und die du nur mit Aufopferung deiner Haupttugend hinweg-
nemen kanst; ia einige von uns wagten sogar eine Lobpreisung
der Vernunft in deinen Moden. Doch von diesem leztern konten
wir nicht einmal dich iiberzeugen, zum Nuzen aller Puzhandle-
10 rinnenund Frauenschneider nicht iiberzeugen: denn gewis wiir-
dest du deine ungeheuren Poschen z. B., auf immer in den Klei-
derschrank verweisen, sobald sie mit der Vernunft ausgesonet
werden konten. - Aber sieh' unsre Bosheit; und verzeih' sie
auch zum Lon unsrer Aufrichtigkeit! Der Weihrauch, den wir
deiner gierigen Nase zubliesen, soke deinen schonen Augen zum
undurchsichtigen Nebel werden, und hinter den wolriechenden
Blumen lauerten satirische Dornen und erwarteten die Entblat-
terung unter gescharftern Spizen. Deine Aufklarung, womit uns
dieses Jarhundert droht, suchten wir durch Lob zu hintertreiben.
20 - Unsre Zuschriften baten zu deinen Fiissen um Beschiizung
der Anhangsel, namlich der Biicher, und wir pragten dich als
Schuzengel auf die Grabsteine unsrer Makulatur: so (ibertrugen
die galanten Romer der Venus die Aufsicht iiber die Leichen.
Allein du priiftest die Ingredienzien dieser silbernen Schmeiche-
3ei zu wenig. Du gewanst Eine Anlichkeit mit dem Plutus, die
wir eingestanden, namlich in der Herschaft iiber die Toden;
allein du gewanst noch eine, die wir verschwiegen, namlich
in der Blindheit. - Jede Lobrede auf deinen Geschmak untergru-
ben wir durch den boshaften Zusaz, dafi dir unsre Produkte
30 gefielen, und die Biicher, die wir von weinerlichem Unsin fast
iiberlaufen liessen, liessen wir dich in untergeschobnen Briefen
loben. - Zur Bildung deines Geschmaks schrieben wir - unles-
bares Zeug; und forderten fur uns die Achtung, die du dem
Potfisch erweisest, dessen wasserichtes Gehirn deine Wangen
zu schminken die Ere hat. - Jener Wundarzt priigelte die Leute
wund, um sie hernach heilen zu konnen; wende dieses auf unser
6l6 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
umgekertes Verfaren an und du wirst die Feindschaft unsers
Balsams mit unsrer Geisel ser unmerklich finden. - Dir bleibt
nun nichts iibrig als die Wal zwischen den Torheiten, die du
vergessen, und den Torheiten, die wir dich leren; sei klug und
erspare unsrer Satire, Torheiten zu saen, die sie bios ernten soke.
Widerstehst du aber unsern Bitten, so wirst [du] gewis unserm
Lobenicht widerstehen. Wir keren wieder um, und beugen uns,
wie oben, aber kussen die Hande nicht, die wir furchten, son-
dern schworen bios, daB wir deine Diener und Knechte und
dan und wan deine Anbeter sind. 10
Um das Obst lagern sich immer die summenden, flekkichten
und bewafneten Wespen; diese Dinger unterbrachen unsre vo-
rige Anrede immer mit Widerlegungen und f reuen sich iezt viel-
leicht auf unsre Bitte um lange Oren, um sich an uns durch
harte taube zu rachen. Doch die Stuzer waren unsern Bitten
mit Erhorung zuvorgekommen - allein nur schade daB ihrer
so wenig sind als ihrer Ideen. Bald werdet ihr verschwunden
sein als waret ihr verliebte Schwiire; die Teufel starben in unsern
Tagen und auch ihr! O mocht' euch beide Exegese und Frank-
reich fur bessere Teologen und fur bessere Schonen auferwek- 20
ken! Lasset uns wenigstens aus Riirung einige Nesseln auf euer
Grab pflanzen, die Yorik selbst begossen hatte! Wir reden iezt
nicht mer von den hollischen Geistern - von denen mogen die
Teologen reden - nur von euch! Euer Bild wird uns den Verlust
und den Ersaz zugleich sagen, und sich mit euren Nachkommen
in unsre Vererung teilen, die wir gleich den Katoliken, den Bil-
dern der Heiligen sowol als ihren Reliquien opfern! Eure Po-
made gab euch nur den Wolgeruch der Mumien; mochte unser
Kot euch die Unverweslichkeit derselben geben! Sollen wir
gleich dem Koch, den Hasen one Kopf auf die Tafel sezen? Wo 30
bliebe die Frisur, zu welcher der Kam des Kiinstlers nur den
Grund legt und in deren Volendung der Spiegel die Hand des
Tragers leitet? Miihsamer erbauet als ein System und doch so
kurz daurend als ein System; zu Nachts niedergerissen wie das
am Tage erbaute Jerusalem! nur vom Hute, nicht von der
Schlafmiize geachtet! In den Augen zeichnet sich vorziiglich die
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 617
Gedankenlosigkeit des Gehirns und die Beweglichkeit der
Zunge aus; doch lassen [sie] sich leichter entberen als das Fern-
glas; sie sehen nur, aber durch dieses wird man gesehen. Gestern
wonte auf der Stirne viel Wiz; allein heute sizt die Musche neben
den Lippen, die mit ieder Ofnung sowol satirische als weisse
Zane sichtbar machen. An den Namen der Kleider wird uns
eine kiinftige Mode erinnern. Essig wirkt in dem Korper galante
Magerheit; Stissigkeiten in der Sele. Last uns daher zur Trepana-
zion schreiten, iedoch one die frisirten Hare abzuscheren. Was
10 finden wir? den Zustand vor der Schopfung; leren Raum, Fin-
sternis und Chaos. Hinten im Winkel zwischen dem rechten
Auge und Ore verweset eine lateinische Deklinazion, wovon
iedoch der Dativ und Ablativ des Pluralis beim Anriiren in Asche
zerfallen, viele Phrases ungerechnet; hart daneben ein Gebein-
haus von lateinischen Spriichwortern, die den unverserten deut-
schen gar nicht mer anlich sahen, ferner etliche Regeln zu ihren
Exzepzionen verkleinert, und sechs beriimte und unkentliche
nqmina propria, von denen sich vorne ganz frische neue Ab-
driikke iedoch one Schwanze fanden; in die steinerne Hirnschale
20 sind die zehn Gebote one Luthers Auslegung gegraben und das
Vaterunser und eine Beicht; die Scherze liber diese Dinge zu-
sammen liegen, dieser Schrift gegeniiber, auf der Oberflache
des Gehirns eingedriikt. Im Allerheiligsten desselben sind Titel
und Bande von Biichern und Reichen, und iede Bibliotek
schimmert auf einer Toilette; artistische Termen one Gemalde,
und Schone one Namen; Hefte von Epigrammen, so wie in
kriegerischen Kopfen Spizen von Degen zuriikbleiben; iede
Meinung auf der einen Halbkugel hat auf der andern eine unbe-
kante Antipodin und A und Nicht-A werden von einander durch
30 zuviele Nachbarn entfernt, um den Saz des Widerspruchs durch
ihre Zerstorung zu bestatigen. Ausser einigem vorausverfertig-
ten galantem Unsin ist nichts weiter in diesem orbis pictus anzu-
treffen, weil sein Reichtum nur einige Augenblikke nach der
lezten Assemblee noch unzerstort zu iiberraschen ist, bis er
neuem Plaz macht; so lebt der nachgeschriebne Verstand des
Professors auf der Schreibtafel des Studenten nur eine kurze
6l8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Zeit bis man ihn fur neue Schaze mit Inselt wegwischt. - Wir
legen auf die Wunde das Emplastrum de Betonica und die grosse
Hauptbinde und fiigen zur Abbildung der Stubendekke, in deren
Winkeln Spinnengewebe hangen, noch die Abbildung des Fus-
boden hinzu, den unreine Schuhe mit Kot gepflastert. Auf den
Lippen des Seligen wechselt Schaum mit Gift und das schlechte
Gehirn mit dem schlechten Herzen in der Befriedigung der
schonen Zuhorerin ab: so sprachen im alten Testamente nur
zwei Tiere, die Schlange und der Esel. Seine fiinf Sinnen dienen
dem sechsten, und er wird durch das ein Nar, durch dessen 10
Mangel Farinelli ein Herzog wurde. Seine Bosheit fangt sich
am liebsten mit Narheit an, und gleich dem iungen Wolfe lernt
er sein Spielzeug almalig in seinen Raub verwandeln, bis er mit
der Zeit seine Bosheit in Narheit endigt . . . Hier legen wir den
Pinsel weg und wiinschen nur noch den Entschlafnen eine bal-
dige Auferstehung. Allein wer hat denn, ruft man hier, die fran-
zosischen Deutschen vertilgt und iiberlebt? dieienigen, die sie
am meisten tadeln, die brittischen; der englische Lowe hat die
gallischen Lilien zertreten. Ungeachtet beide in der Bestim-
mung, unaufhorlich zur Fortpflanzung wenigstens zu praludi- 20
ren, iibereinkommen; ungeachtet beide zu den Schmetterlingen
zu rechnen sind, so unterscheiden sie sich doch durch die Zeit,
wo sie herumflattern. Gleich dem Naturforscher, kennen wir
Tagschmetterlinge, von denen wir oben geredet, und Nacht-
schmetterlinge, an die wir unsre Bitte iezt richten wollen. Nur
Kinder oder Gelerte wiirdigen Schmetterlinge ihrer Aufmerk-
samkeit; iene reizt ihr Schmuk zur Begaffung, diese zur Anpfa-
lung derselben. Diese Unbekantschaft nun, in die unser Gleich-
nis diese Tiere mit andern Leuten, als den Schonen und
Beobachtern sezt, mochten wir durch unsre Schilderung aufhe- 30
ben, die sich zulezt mit einer Bitte an diese Insekten endigt.
Man denke sich ienen teuren Nachtvogel, den Todenkopf, der
auf seinem Rukken ein buntes Memento mori zum Wappen
tragt, und mit seinem Riissel Klagtone zum Schrekken des
Landmans schwirret, so hat man das halbe Bild des warmen
Liebhabers, den seine Freundin mit dem Freund Hain vertraut
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 619
gemacht, der seinen nachtlichen Tranentau durch hexametrische
Sylbenmasse hervorfliessen last und den Grabern klagt, dafi man
ihn so wenig Kinder machen lasse; der niedrige Triebe fur
fromme und den Venusstern fur die keusche Diane und seine
Freundin fur den Freund Hain ansieht, so wie Lessing, wiewol
mit Recht, eine Figur zum Tod macht, die Bellori zum Amor
verniedlichet; dessen voile Lenden das voile Herz so lange spie-
len, bis die Hize eines giinstigen Augenbliks diese vollen Ge-
fasse . . . nein, diese Allegorie volendet und bei dem, wie bei
10 dem Moren, Warme Schwarze nach sich zieht; der dem Britten
zwar nicht im Denken, aber doch im Bekleiden nacheifert und
ausser dem englischen Tiefsin, nichts so ser hasset als franzosi-
sche Harbeutel; so wie er nichts so ser liebt als einen galanten
Besuch in Reuterstiefeln und im Uberrok und Unverschamtheit
im Ausdruk. Dieses ist die Sillhouette eures Herzens, die wir
in keinem Bande des lavaterischen Werks angetroffen; die Sill-
houette eures Kopfs, die ihr ienem Opus, urn euer Gesicht ge-
wisser als euer Gehirn zu verewigen, unter dem Namen iunger
Genies und, wie wir mutmassen, oft unter der Gestalt ver-
20 schiedner Tierkopfe einverleibt habt, wollen wir sogleich nach
folgender Bitte einrukken. Es ware Undankbarkeit gegen cure
Schellenkappe, ihr eine grossere Anzal Schellen zuzumuten. Wir
erkennen es mit Dank, daft eure Narheiten keiner Addizion mer
fahig sind; merere anzunemen, ist unter den Kraften eines Men-
schen und iiber den Kraften eines Affen; aber lei der! sind eure
Torheiten einer Subtrakzion fahig und die Moglichkeit, euch
klug zu machen, verbittert noch unsern Dank. Die einzige Ver-
merung, die eure Schellen noch leiden, ist bestandige Beibehal-
tung derselben. Dahin geht unsre Bitte, der en Erfiillung uns
30 durch eine traurige Erfarung fast zweifelhaft, so wie notwendig,
wird. Eure Brtider, die Barden, auf die sich noch einige Kauf-
leute des vergangnen Jarzehends besinnen, liessen in alle Mo-
natsschriften die Nachricht einrukken, daB sie mitneuen Kraften
zu neuen Torheiten ausgeriistet waren; und doch felte ihrer
Warhaftigkeit die Dauer; wie warscheinlicher ist daher eure Un-
bestandigkeit, da euch, als Stuzern die Krafte zu gewonlichen
620 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
Torheiten mangeln und ihr zulezt gezwungen werdet, den Teu-
fel durch die Siinden eurer Zunge mit der Tugend eurer Lenden
auszusonen und das sechste Gebot mit andern Sinnen als dem
sechsten zu iibertreten, »Man kan, was man wil« schriet ihr
Barden unaufhorlich; und doch kontet ihr der Gottin, die Eras-
mus lobte, nichts als euren guten Willen schenken! euer Geist
war so willig, und euer Fleisch doch so schwach! Gesezt ihr
kontet dieser Gottin mit nichts als einem lugenhaften Verspre-
chen dienen, aber sogar aufhoren, dieses Versprechen zu wie-
derholen; da mus grosse Schwache vorwalten: denn die Uber- 10
bleibsel der alten deutschen Warhaftigkeit in eurer harichten
Brust wiirden uns beinahe fur die Erfullung eines Versprechens,
klug zu werden, Biirge gewesen sein. Wir samtliche Satiriker
konnen an euer Absterben nicht one Weinen denken; euer Leben
machte uns soviel zu lachen! Nein! nie finden wir so seltne Nar-
ren wieder als wir in euch verloren! Nie konte sich die Prose
eines grossern Unsins rumen, sie muste denn zugleich einen
Gottesgelerten zum Vater und eine dichterische Muse zur Mut-
ter haben und nur Palmenblatter zu Lorberblattern hinzugetan
geben eine bessere Anti-Nieswurz, als eure Eichenblatter gaben! 20
Nie entflog dem Verstande die Phantasie weiter, nie hiilte sich
der Widersin besser in Unsin, nie verbarg sich ein gefiederter
Kopf unter grossere Fliigel oder ein beharter (caput inter nubila
condit -) unter so dichte Wolken d. h. unter eine so grosse L6-
wenhaut. Nie stolperten Verse mit grossererTanzkunst als eure,
die, gleich holzernen Eseln vor den Toren, mit sechs steifen
Fiissen versehen waren. Nie wurde pobelhaftes Schimpfen so
innig mit Engelgesang verbriide[r]t und nur Pseudoklopstokki-
sche Harfenspieler auf silbernen Saiten anlichten so ser denen
unfigiirlichen Harfenspielern auf metalnen Saiten, deren Finger 30
soviel Entzukkung ins Or spielen und so lange Nagel tragen;
welche Nagel dieienigen, die sowol figurlich als unfigurlich auf
Saiten von Schafsdarmern spielen, entberen konnen. Nie iiber-
sezte Frankreich derbere Schmahreden auf Frankreich und er-
habnere Lobreden auf Deutschland als die damalige Makulatur;
nie standen soviel alte deutsche Rauber von den Toden auf und
BITrSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 621
nie waren die Manner der vergangnen Jarhunderte merere Zolle
hoher als die Mannergen des achtzehnten wie damals; nie wurde
der griechische Olymp heftiger bekriegt als damals durch die
zweiten Titanen, durch die altdeutschen Gotter, und der Apollo
weiter von den Poeten weggebant als damals durch Hiilfe
des . . . Nie erstaunte das Publikum iiber ein grosseres Trom-
melgelerm als da auf dem Trommelfel seiner beschnitnen Oren
Flohe in poetischen Tanz tanzten. Nie — aber was
helfen uns armen Satirikern alle Nie's; das goldne Kalb ist nun
io pulverisirt. »Unmoglich! schreiet Voltaire; Gold last sich nicht
pulverisiren« - » Aber doch Holz! schreien Theologen. Das Kalb
hatte nur ein giildnes Jasons Fel und weiter nichts. « Die Theolo-
gen haben Recht; und wir schweigen. Gotliche Barden Deutsch-
lands! eure Kreuzigung und eu[e]r Tod ist ein grosses Wunder;
eure Auferstehung ware ein noch grosseres! Tut dasselbe, wir
bitten euch; und ihr Stuzer, ihre Jiinger, lebt ewig, um es zu
erwarten.
Diese Anrede an die Barden ist keine Ausschweifung, lesendes
Publikum, sondern nur eine Versezung; sie gleicht einer Herm-
20 aphroditin, die kein neues Geschlechtsglied, sondern nur die
clitoris am unrechten Orte hat, namlich extra vaginam.
Wir sind schon zu nahe an die Granzen der gelerten Republik
geraten, um nicht mit unsrer Bitschrift defer ins Land zu drin-
gen. Wenn wir uns darin etwan zu lange zu verweilen scheinen,
so erinnere man sich, daB wir in diesem demokratischen State
geboren und erzogen, immer auf Vettern und Bekante stossen,
die aus Freundschaft unsre Bitschrift um Vermerung der Tor-
heiten weit giinstiger und mit mer Geneigtheit zur Gewar anne-
men, als der uns unbekante Minister, der aus seiner goldnen
30 Kutsche einen stolzen Komplimentenblik auf unsre Verbeugung
werfend, die Abziehung des Huts kaum mit der Berurung seiner
goldbordirten Schellenkappe erwiedert, gleich als wenn wir
verdienstvolle Manner waren, und seinem Affen nicht gleich
sahen, und der unser eingereichtes Memorial, in welchem wir
doch nicht um Gerechtigkeit gegen die Unschuld, sondern nur
um merere Narheiten flehen, dem Sekretair ungelesen iiber-
622 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
giebt. Der arme Minister! der die Sunde nicht mit der Torheit
vertauschen, am Halse lieber, gleich dem Schafershund, ein
stachlichtes Halsband, als gleich dummern Tieren, ein Halsband
mit Schellen, und am Leibe ein blut- und schweisbeflektes Kleid
lieber als ein buntschekkiges tragen wil! Der bose Minister! . . .
Doch wir vergessen ia unser Vaterland! In dieser Republik giebt
es, wie in Sparta, Heloten, die die Erde bauen d. h. Schriftsteller,
und eigentliche Burger, die die Fnichte der gebauten Erde ver-
zeren d. h. gelerte Leser, als da sind Professores, Priester p.,
die iedoch nicht selten ihr Feld selbst bauen. Von den Heloten 10
zuerst, unsernBlutsverwandten! Waserblikken wir? . . . welche
Verwiistung spert auf unsrer vaterlichen Erde den ungesattigten
und leren Rachen auf? Aus welchen neuen Holen stiirzten sich
diese Fuchse iiber die veriagten Affen her? O Vaterland, o Vater-
land, die Liebe zu dir p. so wiirden wir schreien, fals wir
uns wie Dichter ausdriikken woken, allein dafiir rufen wir bios
wie Verniinftige folgender massen aus: Vaterland, aus Liebe
zum Magen wollen wir die Seltenheit deiner Narren erweisen
und dadurch abstellen. Und wir versprechen dir, Vaterland,
die Heilung aller deiner weisen Bewoner, die ausgenommen, 20
welche Chapeaubas gehen und die Narrenkappe unter dem lin-
ken Arm verstekken, um sowol ihre Frisur bewundern als auch
dieheissen Stralen des Apollo den Verstand leichter entflammen
d. h. verbrennen zu lassen.
Wir konnen als zugestanden voraussezen, dafl alle Landereien
der gelerten Republik nach dem Rechte der Veriarung den Af-
fen, oder um nicht mit dem Linne zu reden, den Narren angeho-
ren, deren Verdrangung Deutschland seit 1760 unternommen
und anno 1783 ganzlich volendet hat. Im Falle der Nichtzugeste-
hung verweisen wir auf die grossen Reichsarchive, in welche 30
die Urkunden in Folio, die die Affen , von dem
wolweisen Rate reicher Stadte gekauft worden sind. Und wir
bitten hier ieden unwissenden Bibliothekar, den Zweifler gegen
ein douceur und one merkliche Geduld vor die offentlichen Bii-
cherschranke hinzufiiren und ihm die Riikken der Biicher wo
nicht in den obern doch in den untern Fachern lesen zu lassen;
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 623
angesehen man ia fur eine offentliche Bibliotek eben darum teure
Werke bestimt, urn sie den armen Gelerten, die sie sich nicht
zum Lesen kaufen konnen, wochentlich einparmal zu zeigen.
Ja die Natur selbst pflanzte um die Affenrepublik den Parnas,
wie um die schweizerische andre Berge, zur Leibwache. Dem-
ungeachtet sanken die oftgedachten Affen zu menschlichern
Ourangoutangs, wie die Jesuiten zu Exiesuiten herunter, ia man
schuf oder entdekte wenigstens eine neue Welt, der gleich der
neuen Welt des Amerikus, Affen felten. An den Pedanten oder
10 Schulgelerten verlor die Gottin der Narheit ihre besten Priester
und die Satire ihre besten Opfer. Soil en uns die wenigen Spat-
linge, die noch hie und da ihre Wurzeln unter dem Schulstaub
ausstrekken, an der Seltenheit derer Narren unglaubig machen,
die, in schmuzige Kleidung und in ein zynisches Fas verstekt,
die Musen nicht umarmten, sondern anatomirten und die blas-
roten Wangen derselben nicht kiisten, sondern mit kritischer
Dinte ausspnizten, nachdem sie namlich die griechischen Mad-
gen durch eine gefiillose Zergliederung vorher gemordet hatten,
und diediese Praparate unter dem Titel von Kommentaren iiber
20 klassische Autoren, in Kupfer gestochen edirten, um in iungen
Musensonen durch das Gerippe Liebe gegen das weggeschundne
Fleisch desselben zu entziinden; die, ewige Schiller der alten,
und ewige Lerer ihrer lebenden Welt, weder dachten noch han-
delten, ihren geistlichen Augen durch Lesen Blindheit und ihren
geistlichen Fussen durch Unbeweglichkeit Geschwulst zuzogen;
die das Teater der Welt fur blosse Kulisse, aber die Studierstube,
ihre Kulisse, fur eigentliches Teater ansahen; die den drei gotli-
chen Personen und der Einzigen gotlichen Substanz den Abend-
und Morgensegen, aber den mythologischen Gottern Wachen
30 und Traumen widmeten und das Gluk, mit dem Zizero in Rom
gewesen zu sein, gerne mit dem Ungliik, mit dem Zizero in
der Holle zu leiden, bezalt haben wiirden; die die Alten iedem
Neuern, sie selbst ausgenommen, und neue Scheidemiinze, die
gestolner Rost schminkte, neuen Goldstiikken, die mit eignem
Jugendrote glanzten, vorzogen; die gleich gewissen Raupen,
nicht an der Frucht, sondern an den Blattern des Baums nagten
624 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
und viele Sprachen lernten, um keine Gedanken, sondern um
Franzen von Kleidern der Gedanken zu erbeuten; die tode Spra-
chen be.sser als lebendige rede ten und fanden, so wie das lebendige
Schaf nur blokt aber das tode Wolklang schaft* und die Kunst
seiner Darme seine Kele iibertreffen lert. Die Lebensgrosse die-
ses Bildes mag der Leser unsrer Absicht anrechnen, in der Grosse
dieser Torheiten den Verlust zu malen, den alle Satiriker von
der Aufklarung der Gelerten erfaren. In der Zeichnung dieser
lezten wird uns der Schmerz oft unterbrechen: denn wir sind
mitleidig, und lachen iiber den Narren, aber weinen iiber den 10
Weisen. Stat der von Gelersamkeit strozenden Pedanten, in de-
nen Unmassigkeit in der Gelersamkeit iible Verdauung wirkte,
haben wir iezt bios Weise, die alle Gelersamkeit verabscheuen
und in der Anpreisung der ganzlichen Unwissenheit ihr Beispiel
mit ihrer Beredsamkeit weteifern lassen. Ein Gelerter ist iezt
ein Man, der nichts gelernt hat; ein grosser Gelerter ist einer,
der einen guten deutschen Stil schreibt, und daher weder die
Griechen noch die Romer liest und nur ihre Ubersezungen re-
zensirt. Denn er ist klug genug, um seine deutsche Schreibart
nicht dem feindseligen Einflusse der klassischen Lektiire bloszu- 20
stellen und dem Kardinal Bembo nachzuamen, der seinen Stil
an Paul's Brief en zu verderben befurchte und vermied. Zur Be-
forderung der Unwissenheit besoldet man sogar schon auf
Gymnasien stat der vorigen Philologen dichtende Rektoren, die,
gleich den erhabnen Engeln, mit der Schuliugend zu spielen
sich herablassen, und die Stelle der marchenreiche[n] Amme
vertreten; die ihre Lerlinge aus dem Zizero nicht das Latein son-
dern die Beredsamkeit lernen lassen. Ja ein gewisser Subrektor
lies aus Has gegen den Unterricht, seine zwolfiarigen Eleven
Epigrammen schleifen eh' sie Gedanken Schmieden konten; und 30
so wie man aneinigen Orten nur die iungen Ganse mit Nesseln
oder andre iunge Tiere mit Salz fiittert, so unterrichtete er mit
eignem stachlichten Wize seine Untergebne und schnit ihre
Singedichte so spizig, wie ihre Federn. Ein grosser Teil der iezt
* Der Leser denke an die Saiten der Geige.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 625
lebenden Satiriker verdanken ihm hier offentlich ihren bekanten
Mangel an Wiz und Ziehen daraus die Bemerkung, daB wiziges
Geschnorkel der friihern Jare dem schlichten Menschenver-
stande der reifern Plaz machen miisse, so wie der Schulknabe
seinen Pinsel in grossen Frakturbuchstaben herumfiiren und die
leren Raume derselben mit schonem Linien Wirwar fiillen kan,
stat daB der Man nur kurrent zu schreiben weis. - Solten sich
ia einige Kentnisse in den Kopf des Schulers verlaufen haben,
so heilt man ihn sogar von den ersten Symptomen der Pedanterei
10 und schikt ihn schon im 16. Jare auf die Akademie, damit er
das Wenige Latein bald vergessen und in der Unwissenheit wei-
tere Schritte machen konne. Hierin bietet ihm eine Akademie
die hulfreichste Hand; sie besizt etliche Bucherverleiher, die ihm
gegen ein Weniges die neusten Stulgange der Romanschreiber
mitteilen und vielleicht auch das visum repertum, das Rezensen-
ten uber die gekosteten Exkremente ausstellen, welche ihm bes-
ser als das, was der Professor von oben von sich giebt, behagen;
- die Akademie besizt auch Lerer, die nur den reichen Schiiler
Unwissenheit leren und nicht den Vorzeiger eines beschmuzten
20 testimonium paupertatis; - die Akademie besizt endlich iunge
Verleger, die alle Raupgen aufheben und in Schachtelgen futtern
und iedem Schmetterlinge mit dem Garngen nachsezen, um
zum Neuiar ein illuminirtes Insektenwerk in Sedez d. h. einen
Musenalmanach verlegen zu konnen; - wir wiirden noch hinzu-
fiigen, die Akademie besizt endlich Madgen, mit denen der
Jungling Verse zeugt, wenn man es nicht schon von einem gesit-
teten Primaner forderte, fur sein Madgen nicht nur mit dem
Primanerdegen sich zu erstechen sondern auch in etlichen Rei-
men unsinnig zu gebarden. - Daher grabt der Theolog aus sei-
30 nem Kodex nicht mer hebraische Wurzeln, sondern pfliikt in
demselben Blumen, um damit die kiinftige Predigt zu bestekken;
er reformirt die dikke Dogmatik, um sie nicht merken zu diirfen,
er (ibertragt. seinem Verstande die Ausfiillung des leren Ge-
d'achtnisses und die Dikke der rechtglaubigen Quartanten macht
ihn zum Proselyten der heterodoxen Oktavbande. Daher wiir-
digt der Jurist in der ganzen Rechtsgelersamkeit nichts seines
626 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Fleises als deutsche Termen und kent von Karls des funften
Halsgerichtsordnung nichts als die Widerlegung derselben, die
er in den **Almanach einriikken lassen, und bewundert an sei-
nem Stil nichts so ser als die Unanlichkeit mit dem KanzleistiL
Daher schopft der Philosoph liberal bios die Konklusion ab und
geniest die Begriffe, wie den Sallat, one die weggeschnittenen
Wurzeln, fait one den ontologischen Panzer vor dem Goliath
des Skeptizisrrius, bricht das Denken durch Zweifeln ab und
tragt, gleich den meisten Bedienten lauter zerbrochne Lichter
mit sich herum; doch davon weiter unten. Den Arzt haben wir 10
gar vergessen. Dem Dichter hauchen die griechischen Musefn]
vergebens Begeisterung ins ungriechische Or; er weis die grie-
chischen Verse nicht in deutsche zu iibersezen, und borgt daher
von den Musen der alten Barden um ein deutsches Gedicht.
Selten schopft seine hole Hand aus der griechischen Hippokrene,
um sie in Gestalt des Urins von sich zu geben; deutscher herber
Rheinwein treibt die Verse und den Harn viel geschwinder und
reichlicher. Hierlegt sich der Schmerz in die Spalte unsrer Feder
und hemt die Dinte, zur Abschilderung der iezigen Unwissen-
heit zu fliessen! Hingesunkne Pedanterei! vermag denn weder 20
der Gestank von verbrenten Federn noch der Wolgeruch von
Riechflaschgen (d. i. weder Tad el noch Lob) deine Onmacht
wegzukizeln? Sol denn unser Lachen durch die iezige Weisheit
einen ganzlichen Bankerut machen? Sind denn deine Torheiten
der Auferwekkung so ganz abgestorben, daB wir umsonst be-
merken: der Schulgelerte kroch zwar wie der Seidenwurm in
seinem Raupenstande auf Schulstaub, aber er span Seide; iezt
durchbeist er die seidne Puppe und verlast das niedrige Vater-
land, alleinblos um mit unniizen Schonheiten durch eine hohere
Sphare zu flattern! Werden denn die Seidenwurmer nicht einmal 30
durch Spinnen ersezt, von denen doch neunzig Faden einen seid-
nen und viele Gewebe ein konigliches Par Strumpfe geben?
Nicht einmal dies! Denn der gelerten Verschonerung, die der
unwissende Modeskribent fur sein Buch dem gelerten Pedanten
wegpliindert, miissen wir den Namen der Pedanterei zur Zeit
noch abschlagen, so wie die Krahen, welche den am Tage her-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 627
vorkriechenden Eulen die Federn stelen, darum noch nicht fur
Eulen gelten konnen! Zu desto grosserer Dankbarkeit gegen
dich, J. H. Steffens! sind unsre hamburgischen Kiele verpflichtet
--Lessingii Emilia Galotti. Progymnasmatis loco latine reddita
et publice acta moderante J. H. Steffens. Cellis. 1778!! - Wie
ser mus es uns freuen, unter so vielen Weisen einen Narren
anzutreffen; wie ser mus es dich freuen, an sovielen mit Medail-
len behangnen Narrenkappen nur an der deinigen Schellen zu
sehen, auf die ein achter rostiger Zizero 's Kopf gepragt ist! Fare
10 fort und iiberseze das Abcbuch zum Besten der Schuliugend
ins Lateinische!
Wir gehen in dem Erweise der iezigen NichtPedanterei d. h.
der Unwissenheit weiter. Die Reformazion der Kompendien
zog die Reformazion der Abcbiicher nach sich und der Ostrazis-
mus der Skeptiker verfolgt nun stat der Gedanken die Buchsta-
ben. Plus ultra ist nicht bios die Devise der Krebse, sondern
auch der Gelerten; der Pegasus muste anfangs die Hare seines
Kopfes, und darauf die Hare seines Schwanzes in schone Zopfe
flechten lassen. Kurz der Has gegen die Pedanterei und Geler-
20 samkeit ist so hoch gestiegen, daB kein Gelerter mer ortogra-
phisch schreiben wil. Mit dem Spriichwort Docti male pingunt
wird man kunftighin auch die Heterographie unleserlicher
Hande rechtfertigen und nur dem Ungelerten wird man eine
ortographische Hand aus Nachsicht gegen seine heterographi-
sche Zunge vergeben. Diese Buchstabensturmerei fieng ein
Feind der Bildersturmer an; mit den Federn seiner Fliigel schrieb
er eine Epopoe, und mit den Federn seines Schwanzes (die sich
eigentlich nicht in hamburgische Kiele umbilden lassen) ein
Abcbuch. So schikt der sinesische Kaiser seinen Vasallen ausser
30 den kaiserlichen Mandaten auch Kalender. So begint ein grosser
und endigt ein kleiner Buchstzbc Bticher, Perioden und Worter.
An ihn schlossen sich andre Feinde der Pedanten, deren Hande
und Halse sich die Gerichtsbarkeit uber Hand und Hals der Buch-
staben anmassen und die, gleich dem Belzebub zu Christi Zei-
ten, zwar Konige der Fliegen, aber auch Peiniger der Menschen
sind. Zu dieser Reparirung des Alphabets brachte sie wie gesagt
628 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
die Ungeduld, ihre orthographischen Feler immer auf die Redl-
ining des Sezers schreiben zu mussen, da sie doch die Unwissen-
heit aller Kentnisse auch zur Unwissenheit der Orthographie
berechtigte. Und da die gelerten Hande nach ungelerten Zungen
tanzen (d. h. nach der Aussprache des Pobels schreiben) und
da an dem deutschen Reich, wie an der Fama des Virgils, eben
soviele Zungen (Dialekte) sprechen als am gelerten, wie am
Briareus, Hande schreiben: so kan der Autor fur ieden falschen
Pas eine besondre Pfeife erfinden und das Abcbuch geht wie
die Bibel, den vielen Sekten mit vielen Lesarten an die Hand. 10
Daher schminken sie ihre Neuerung mit folgenden Griinden:
seit einiger Zeit, sagen sie, dient der Fischmarkt unserm Stil
zur Academie francaise; warum nicht auch unsrer Orthogra-
phie? Der Pobel giebt zu den Kleiderjn] unsrer Gedanken den
Zeug her; warum nicht auch den Schnit? nur zu franzosischem
Tuche gehort ein franzosischer Schneider. Ein adelicher Stil mag
seine beiden Hiiften mit Poschen, seinen Hintern mit einer
Schleppe, und seinen Kopf mit einer hohen Frisur belastigen;
allein ein bauerischer geht in kurzem Rokgen und barfus und
barhaupt. Und wenn wir, sagen sie endlich, auswartige Hulfs- 20
buchstaben abdanken; so riisten wir uns dadurch nur zu einer
gleichen Abdankung der griechischen Sprache, deren Tapferkeit
auf unserm Rukken ewig lebt. So mordete Domizian anfanglich
Fliegen und dan Untertanen. So folgt meistens auf Viehseuche
Menschenseuche. Und wenn wir den Vers des Boileau Tant
de chretiens furent martyrs d'une diphtongue angefiirt, so
schliessen wir mit der Antithese: die Christen sind endlich aus
Martyrern griechischer Buchstaben zu Henkern derselben ge-
worden. - Ungeachtet wir Satiriker uns in diese Rechtfertigung
des Buchstabenauto-da-fee*s aus einem weiter unten angegeb- 30
nen Grunde fiigen, und in der Verminderung des Alphabets
nur zum Besten derer Schranken wunschen, die ihren Zorn zeit-
' her mit vier und zwanzig Griinden ausgeloscht, so konnen wir
doch einer noch ungedrukten Bitschrift der apokryphischen
Buchstaben an das Publikum eine Stelle in der unsrigen nicht
abschlagen. Doch wir besinnen uns in diesem Perioden anders
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 629
und werden bios einige Stellen aus derselben herausheben. Die
Diphtongen wollen wir gar vergessen, iedoch nicht one sie vor-
her nicht nur Semitonien, sondern auch Amphibien und Herm-
aphroditen genant zu haben.
Die Vokalen sagen: Wir Vokalen insgesamt und namentlich,
deutsches obwol mit einem lateinischen Adiektivum benantes
Publikum! appellirten vor einigen Jaren an dich, da man auf
unsre Graber, woraus wir wieder auferstanden, Hakgen, wie
auf die Graber der Gedanken Striche, stat der Kreuze der Stam-
10 biicher pflanzte; welches Verfaren, nebenher anzumerken, wol
der Poesie ansteht, die uns eben so oft zeuget als todet, aber
nicht der Prose. Jezt appelliren wir abermals an dich: denn man
macht uns unsre Verdoplung in den Sylben mancher Worter
streitig, wie sonst andre den Dualis der griechischen Sprache;
und man veriibelt den Sonnen der Konsonanten die anlichen
Nebensonnen, ungeachtet wir, stat des H, durch unsre Verdop-
pelung zur Aussprache den Takt schlagen und uberhaupt die
Sprache zur Weichheit reifen machen, wenn uns nur nicht der
Mund so oft in der Geburt todete und wie manche den Tabaks-
20 rauch, verschlukte stat [uns] herauszugeben.
Das C sagt:
Wir steigen von den Buchstaben zu den Wortern auf. Die Sylben
iiberspringen wir und gehen die Verstiimlung alter Namen mit
Stilschweigen vorbei z. B. Tyr stat Tyrus, Polyb stat Polybius,
Aristot stat Aristoteles p. Ausser einer originellen Raserei furt
in unsern Tagen auch wol nichts geschwinder zum Rume als
eben diese Abhakkung der Schwanze vortreflicher alter Kopfe;
so wie auch Alzibiades mit dem abgeschnittenen Schwanze sei-
nes schonen Hundes nach der Aufmerksamkeit der Griechen
30 angelte; nur sorgen diese Reformatoren der Posteriora von Na-
men fur die Bekantmachung ihrer Verdienste zu wenig und noch
keiner hat in einer Vorrede oder auf dem Titel die erbeuteten
Schweife als Trophaen vordrukken lassen, worin doch der
Turke mit seinen Rosschweifen und David mit den Vorhauten
der Philister ein Beispiel, wenigstens ein Gleichnis giebt. Aber
630 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG
wie gesagt wir wollen diese modische Ausserung der Anti-Pe-
danterei mit Stilschweigen vorubergehen und daher folgende'
Rede, welche die belorberten und eisgrauen nomina prop[r]ia
an ihre Henker (den Verfasser der Chronologen mit eingeschlos-
sen) halten, gar nicht einriikken: »Was berechtigt euere Feder-
messer, uns den griechischen oder romischen Bart wegzurasi-
ren? verunstalten wir etwan cure Duodezblatter mit unsrer
Erwiirdigkeit? Oder, fals eure Hornhaut mit uns zufrieden ist,
ist es etwan euer Trommelfel nicht und haben wir euren langen
Oren* unsre Abkurzung aufzubiirden? Ihr schneidet uns also die 10
ganze Manlichkeit weg, um uns eine Kastratenkele zu geben?
O so sind eure Oren zwar lang, aber nicht fein! Zwar auch
die, welche auf den Grabern derer, die uns trugen, wonen, kast-
riren uns, aber sie nemen uns wie die Hottentotten ihren Kin-
dern, doch nur Eine Hode d. h. sie verwandeln us in i und den
rauhen Romer in einen harmonischen Abbe, und nur ihr glaubt
der Sake durch Verkiirzung Wollaut zu zudmkken? Bedenkt
uberdies den rezensentenartigen Raub, den ihr dadurch an
grauer Unsterblichkeit veriibt. Namlich das Leben eines Autors
zieht sich nach seinem Tod nicht in sein Kind, sondern in seinen 20
Namen, die Urne seines Rums, hinein. Nent ihr nun den Stazius
Staz, so schneidet ihr seinen Lorberkranz entzwei und raubt
die eine Halfte, wie es schon aber in einem andern
Sinne getan. Oder sind wir heidnischen Namen weniger heilig,
weil man uns nicht von Paten abgeborgt, und Zizero's Namen,
weil seine eigne Nase Gevatter stund? Diirft ihr uns beschneiden
(im obigen Sinne), weil man uns nicht getauft? Oder vielleicht
macht ihr uns zu Juden, um uns zu Christen zu machen d. h.
ihr schneidet unsre lateinischen Schwanze weg, um unsre Kopfe
ins Deutsche zu iibersezen. Allein seid doch so gut und lernt 30
bei dem H. Rat Johann Christoph Adelung, was an uns Bie-
gungssylbz und was Ableitungssylbt eigentlich ist. Schneidet die
erste weg, denn sie ist nur Har am Schwanz; aber schneidet
die leztere nicht weg, ob sie gleich Schwanz ist, denn der
* Tiere mit langen Oren horen meistens fein; und nur darauf spielt
das obige an.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 63 I
Schwanz ist ein verlangertes Riikgrad. So zankten« - Du siehst,
weises Publikum, wie klug wir gehandelt, daB wir diese lange
Rede nicht in unsre Bitschrift eingeriikt, und wie noch kliiger,
daB wir, taub gegen die Bitten der herlichen Figur der Prateri-
zion, auch folgende Fortsezung unterdriikken - »So zankten
sich, sagen wir, Biiffon und Leeuwenhoek iiber die Schwanzgen
der menschlichen Samentiergen. Der Franzos erklarte sie fur
klebrichtige Anhangsel derselben; aber der andre bewies, daB
das Schwanzgen fur ein Riickgradgen zu halten. Ein herliches
10 Gleichnis! das durch die zeugende Feder mit eben soviel Kizel
lauft, als die geschwanzten Sedezmenschen durch Oktavmen-
schen. - Vielleicht schneidet ihr uns auch die Schleppe ab, um
sie nicht tragen zu diirfen und nent den Kornelius Kornel, weil
der Vokativus der andern Deklinazion mit Ausnamen belastet
ist: denn nicht ieder kan, wie die Mutter des Verf. der Lebens-
laufe, seinen casum sezen. Schluslich hasset ihr die Pedanterei
so ser! Euer Grosvater nante den Homer Homerum; daher tauft
ihr den Aristoteles Aristot. Nicht bios iiber die Kopfe der Alten,
sondern auch iiber den Schwanz ihres Pegasus, d. h. ihrer Spra-
20 che, brecht ihr den Stab gleich den
- barbares Anglais dont les sanglans couteaux
wie ein franzosischer Ditfhter anfangt
coupent les tetes aux rois et les queues aux chevaux
wie H. Wilkes aus dem Stegreif fortfart.
Verzeiht iibrigens den haufigen Gebrauch des Worts
>Schwanz<: gern hatten wir unsre Gleichnisse aus der Botanik
entlenet, wiisten wir nur, was an uns Gipfel oder Wurzel ist.
Erhalten wir Verzeihung, so sezen wir noch hinzu: durch den
Verlust unsers Schwanzes gleichen wir dem ungeschwanzten
30 Korneten, den H. Herschel neulich entdekte und der an Erwiir-
digkeit alien wol beschweiften weit nachsteht; oder auch den
Biisten der grossen Manner, denen wir angehorten, und endlich
dem einen Vaterunser, welches die Bibel, und Luther als Monch,
one Doxologie und Amen gelassen. Amen! -«
632 JUGENDWERKE * 3. ABTEILU'NG
Wir steigen von den Buchstaben zu den Wortern auf, sagten
wir oben, und wir verweilen beinahe so lange auf der Stiege,
wie der Vater des Tristram Shandy im Roman desselben Na-
mens. Da wir gesonnen sind, eine deutsche Grammatik zum
Besten derer, die undeutsch schreiben lernen mochten, heraus-
zugeben, so wird man die folgende Kiirze nicht auf die Rech-
nung unsrer Faulheit schreiben. Nur etwas von der Erfindung
neuer Worter, worauf wir unten bei der Dichtkunst wiederzu-
riikkommen werden! Die Entfernung, in welcher die Neuern
mit der Pedanterei und folglich der Torheit stehen, fait durch 10
die Verschiedenheit des Alters, welches man sonst und iezt an
den Wortern schazt, am besten in die Augen. »Gold ist zwar
nicht zu verachten, lachelt der Alte, aber wenn ich es gestehen
sol, so erhalt es doch seinen Wert erst durch den Rost - den
man den Weinstein vom Zan der Zeit nennen konte. Eine Spra-
che, die vor tausend Jaren starb, verdient Kanonisazion; allein
ein Wort in derselben, das tausend Jare friiher starb als sie, ver-
dient Apotheose und eine Mumie - so kan ich eine tode Sprache
nennen - liebe ich zwar tausendmal mer als ein furchtsamer
Matrose, aber die einbalsamirte Nachgeburt derselben - so 20
nenne ich ein altes Wort einer alten Sprache - ist fur mich ein
Lekkerbissen, ungeachtet ich kein Jakute* bin. Daher auch der
Fleis, mit dem ich meine klebrichte Zunge in alien von Motten
gegrabnen Lochern alter Skribenten nach Insekten haschen
lasse. « Solche Torheiten konten die Lunge eines Demokrits zer-
sprengen und das gravitatische Zwergfel eines Heraklits aus sei-
ner gemachlichen Ebbe und Flut storen; allein eben darum kon-
nen wir das entgegengesezte weise Verfaren des Neuern nicht
verschmerzen, der iede Messe frische Worter bakt, alte Matro-
nen von Gedanken mit neuen und modischen Seidenkleidern 30
behangt und, alzeit Merer der deutschen Sprache, mit Wortern,
denen die Musen an Jugend nachstehen, sich fur die Sprodigkeit
dieser Madgen schadlos halt. So lacherlich der Alte handelte,
* Der Jakute isset, nach Gmelins Bericht, die Nachgeburt und den
Mutterkuchen.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 633
so verniinftig handelt der Neue. Und hier wollen wir nur dem
weisen Publikum einen Kunstgrif ins Or sagen, womit wir diese
Vernunft zu untergraben, diese Fruchtbarkeit an Vpkabeln zu
unterbrechen suchten. Wir sezten namlich der neologischen
Sprache eine palaologische entgegen; wir Satiriker insgesamt
sprachen so wie unsre Grosvater, wiewol wir nicht so wie sie
spasten, weil uns nicht an Belustigung, sondern an Nachamung
gelegen war - unsre schleppenden Perioden giengen auf Kriiken
und husteten alten Unrat von Worten heraus - wir brachen eis-
10 grauen Biichern die holen, gelben und achtzigiarigen Zane aus,
wir reiheten sie an einen Faden auf, wir hiengen das satirische
Ordensband iiber unsern Riikken, wir schrien auf unserm Tea-
ten meine Herren, so konte Swift nicht spassen! Der arme Man hatte
die Zane nur im Maul! Und wirklich ris auch die Leichtigkeit
eines Spasses, der, gleich pobelhaftenHarlekinen, auf die damals
lebenden Zwergfelle nicht durch den Wiz, sondern durch die
altvaterische Kleidung wirkte und den eine um vierzig Jare frii-
here oder spatere Geburt alles Belacheln gekostet hatte, alle lau-
nichte Gansespulen zu schnatternder Nachamung hin; aber -
20 o Leibniz! streiche doch aus deinem System des Optimismus
diese Aber, diese Drukfeler aus! - aber man nahte nur alte Lap-
pen auf neues Tuch und parte, gleich gewissen Volkern am Oro-
noko Flus, das Madgen mit dem Greise. So wie sonst franzosi-
sche Worter unter den deutschen Wortern herumhupften, gleich
den leichten Petitmait[res], die sich nicht selten unter die
schwerfallig tanzenden Bauren mischen, so gieng nun die Spra-
che Luthers mit der Geniesprache Hand in Hand, dasselbe Blat
hatte, gleich dem Saturn, auf der einen Seite die Kalheit des
Alters und auf der andern die Harigkeit der Jugend, dasselbe
30 Komma sprach mit entgegengesezten Zungen und dasselbe
Wort schtittelte den eisgrauen Kopf iiber den blutiungen
Schwanz. Kurz unsre Nachamer trieben ihre Weisheit und un-
sern Unwillen dariiber auf eine solche Hohe, daft nicht nur ieder
von uns seinen schreklichsten Leibfluch fluchte, sondern auch
dem Konzipienten dieses einen Dreier mer versprach, fals er
die Bitschrift um Torheiten riirend genug einrichtete. »Ich bitte
634 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Sie um Gotteswillen, meine Herren, lachen Sie doch!« rief iener
Hanswurst auf seinen Knien an seinem Kronungstage, und wir
rufen: »Wir bitten Sie um Gotteswillen, unsre Herren, machen
Sie uns doch lachen!« Ach hatten wir nur Hanswiirste, das Par-
terre dazu wiirde sich schon finden!
Nun zu den Gedanken! Der Pedant glaubte alles one Untersu-
chung; daher laugnet der Antipedant alles one Untersuchung:
Sonst bot sich die Nachsprecherei unserm Spotte dar; allein iezt
trat unwissender Skeptizismus, der unsrer miissigen Geissel
lacht, anihre Stelle. Immerdieselbe Unwissenheit; die der iezige 10
Geschmak uns schon langst aus den satirischen Zanen geriikt;
nur tragt sie noch (iberdies die privilegirte Montur der Zweifel-
sucht- immer dieselbe Entberung der Trauben; nur komt noch
die Herabsezung derselben hinzu und die Armut des Kopfes
geht auf die verstelte Lamheit desselben betteln. Unsre Uber-
zeugung von der besondern Geschiklichkeit der heutigen iungen
Philosophen, die hundert Augen des metaphysischen Argus mit
ihrer Feder zuzuschliessen oder zu verderben, schlagt unsre
Hofnung zur Abstellung dieser Weisheit vollig nieder. Denn
wenn man bedenkt, daB schon in den alten Zeiten die Esel dem 20
Mars gewidmet waren, so sind alle Zweifel iiber die Tauglich-
keit der Neuern zum kriegerischen Widersprechen aufgelost und
eine Stirne mit Hornern ist eben darum nur desto fahiger, ihre
Dumheit durch Sieg an ungehornten Kreaturen zu rachen. Zwar
ist der Baron Wolf ein starker und untersezter Man und selbst
unter den konkavgeschlifnen Augen einer iungen Witwe er-
scheinen seine Waden immer gros genug; allein demungeachtet
schlagt ihn, fals er in metaphysischer Finsternis wandelt, der
kru[m]me und lame Nachtwachter nieder. Auch mus man be-
denken, daB zu den skeptischen Pillen, die die Metaphysik abfu- 30
ren sollen, eigentlich England die Ingredienzien und Frankreich
das Silber, Deutschland aber nur die Pflaume, in der man sie
einnimt, oder das Getrank, das man auf ihre Bitterkeit trinkt,
geliefert haben - oder, - um ein mer deutliches und angemesse-
nes Gleichnis zu machen - unsre iungen Zweifler anlichen nur
den wilden Eseln, die die Indianer, nach Herodots Bericht, vor
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 63 $
ihre mit Sicheln bewafneten Kriegeswagen spanten. Die Wagen
verwundeten, aber nicht die Esel; diese zogen nur, wiewol wir
nicht laugnen, daB sie vielleicht demungeacbtet ein Te deum
geyanet. - Auch von der Menge dieser Zweifler last sich auf
ihre leider! grosse Weisheit zuriikschliessen; und wiewol sonst
die Warheit, gleich den Gespenstern, nur einzelnen Personen
erscheint, so zeigt sich doch iezt das Gespenst, wie in der Semi-
ramis des Voltaire, einer ganzen Versamlung und die Minerva
fait, gleich ienem Engel in dem Holwege,dem Esel friiher in
10 die Augen als dem Propheten. Der Esel bekomt alsdan die Spra-
che, und darauf endlich der Prophet das Gesicht. Doch haben
wir auch bei verschiednen langorichten Saundersons Kollegien
iiber die Selenoptik gratis gehort. Schliislich merken wir an,
daB das zweifelnde Denken, gleich den Laxanzen, die vorher
die unverdauten Speisen und dan erst den alten Sauerteig von
Schleim und Galle aus dem Unterleibe treiben, gewisse halbver-
standne Warheiten friiher aus dem Kopfe exulirt als alte Irtiimer,
und daB mancher den Teufel langer, wenigstens ofter glaubt
als Got; derbose Feind hat von ihnen, wie ihre Weiber, wenig-
20 stens die Nacht: denn die Finsternis erinnert nachdruklicher an
den Vater der Finsternis als das Licht an den Vater des Lichts.
Allein dem alien ungeachtet durfen wir - zu einer solchen Ge-
migsamkeit an Torheiten sind wir iezt verdamt! - das Ableben
des Skeptizismus nicht in unser Gebet einschliessen: denn da
incendia lumen praebent, (Ovid sagt praebebant)
d. h. die Begierde, die Metaphysik zu vertilgen, ist mit einem
fliichtigen Studium derselben nicht selten verbunden, wie doch
auch der Vorsaz, den goldnen Kelch - freilich nicht zu trinken
- sondern zu maussen, den Dieb in die Kirche und an den Altar
30 hin treibet; so konnen wir allemal unser Belachen der modischen
Unwissenheit auf ihre Larve der Weisheit schieben und wenn
der getrofne Esel die Lowenhaut zurijkwirft, so sagen wir,
nachdem wir mit Erstau[n]en zuriikgesprungen: »Ach! Sie
sind's, Her Esel? um Verzeihung! wir hielten Sie fur den L6-
wen.« Sezt aber in unsern Tagen, wo ein Eselskopf, wie in Sa-
636 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
maria, seine achtzig Silberlinge unter den Briidern gilt, die Ab-
schaffung der gelerten Maskeraden, so ists um unsern Spot
getan. Daher bitten wir alle iunge Skeptiker, sich auch noch
kiinftighin zu stellen, als wenn sie dachten. -
Eben darum diirfen wir auch eine andre Verlarvung der Ge-
hirnlosigkeit nicht antasten, die dunkle Schreibart namlich: denn
sobald der Freund der Dunkelheit deutlich schriebe, so wiirde
ieder wissen, daB er nicht denke, allein dan trate an die Stelle
der weisen Maske, an die sich unsre Geisel wagte, das dumme
Gesicht, von dem die Mode iede Verlezung abweiset. Vielmer 10
dringen wir bei solchen Meistern der schwarzen Kunst auf Bei-
behaltung ihrer Manier in folgender Anrede: »Schriften eurer
Art schazt man, wie das Pelzwerk in Rusland, nur nach der
Dunkelheit der Farbe; hutet euch daher, eure Unsterblichkeit
durch Deutlichkeit zu verwirken und denkt an den Lorberbaum,
der, nach den Alten, am besten im Schatten griinet. Verfinstert
euer Zimmer durch Vorhange und Fensterladen, um die Armut
an Moblen hinter die sichtbare Finsternis zu verstekken und
starkt in euren Wehen den Has gegen das Licht durch das Bei-
spiel der Eselinnen, die ebenfals (nach Aristoteles und Plinius 20
Bericht) ihre Geburten der Finsternis anvertrauen. Fertigt iibri-
gens alien Tadel durch die Bemerkung ab, daB man dem Scharf-
sin des Lesers nicht durch Verstandlichkeit vorgreifen miisse;
vielmer sol der Leser den Autor spielen und mit seiner geistigen
Zunge fremde Gedanken, wie gewisse Tiere mit der ihrigen
Insekten, nicht bios schmekken sondern auch erst fangen.«
Andre Nichtdenker dekken den gehirnlosen Kopf durch Kranze
von poetischen Blumen, und auch diese treiben unser Vergnu-
gen an ihrer Einbildungskraft oft bis zum Glauben an das Dasein
ihres Verstandes; allein den erstern komt es mer auf Verhiillung, 30
und diesen mer auf Verschonerung der Unwissenheit an. Daher
verpflanzen sie dieSchonheiten, welche die Poesie tragt, in die
Philosophic und gleich dem Frauenzimmer, stekken sie rhetori-
sche Blumen nicht bios an das Herz, sondern auch auf den Kopf.
Daher binden sie AbcGedanken in franzosische oder englische
Bande und ihre Ideen maussen sich iarlich zur Oster- und Micha-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 637
elismesse. Kleider, sagen sie, machen nicht nur Leute, sondern
auch Gedanken; wenn nun ein Gedanke seinen Ausdruk bis auf
den Faden abgetragen hat, warum sol man fur ihn keinen neuen
bestellen? Das abgenuzte Kleid, versteht sich, schenkt nachher
der Her dem Bedienten d. h. das Tausendmalgesagte erbt vom
Hundertmalgesagten die Einkleidung. Ihre Schriften gleichen
den Baumen, mit deren Verschonerung der heilige Christ die
frommen Kinder belont; die kleinen Wachslichter auf den Asten
beider, leuchten bios, um die mit Wiz vergoldeten Apfel und
1 10 Niisse und die gebaknen Siissigkeiten sichtbar zu machen d. h.
erst die Einkleidung ertapt den Gedanken, zu dessen Festhaltung
sie ihr eignes unsubstanzielles Wesen notigt. Diese List, womit
man iezt Deutschland dem Denken untreu macht, ist den Miit-
tern abgeborgt, welche ihre zu entwonenden Kinder die Mut-
terbrust durch Zukker enthaltende und wie die versagten War-
zen gestaltete Leinwand Flekgen entberen leren; und die List
hat den Mund der Lesewelt an das Papier, woraus er nichts als
Fasern oder eignen Speichel saugt, so ser gewont und die alge-
meine Verhungerung so gut angelegt, daB die Hintertreibung
1 20 derselben vorzCiglich in unsre Bitschrift gehoret, war' uns nicht
eine weitlauftige Satire hierin zuvorgekommen.
Diese Reihe Nichtdenker schliessen die, die sich nicht einmal
stellen, als wenn sie dachten. Unsre Augen, sagen sie, mogen
wol gerne weinen, aber sie mogen nicht sehen. Diese Leute, die,
wie die Esel, nichts so hassen als die Kalte - woraus Aristoteles
die Erzeugung der Esel in kalten Klimaten hochst irrig laugnen
wil -; und die, gleich den Tiirken, den Mond auf ihre Fanen
malen, diese Leute haben uns schon zuviele Bitten gewaret, um
noch mit der Bitte, sich zu stellen als wenn sie dachten, belastigt
zu werden.
Diese algemeine Unwissenheit konte unsre Klagen liber sie,
womit wir schon etliche Bogen gefiilt, durch eine nuzliche Wir-
kung stillen! Namlich: wer soke nicht vermuten, daB man in
unsern Tagen desto mer schriebe, da man so wenig weis und
daB Schriftstellerihre Unwissenheit durch Vielschreiberei niizen
werden? Und doch ist die Erfarung gegen diese Vermutung
638 , JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
und man schreibt iezt ungelerte Biicher beinahe eben so selten
als gelerte. Ein neues Beispiel der Feindschaft zwischen den Be-
weise[n] a priori und a posteriori. DaB doch immer der Warheit,
sowie der Gelegenheit, die Hare, womit man sie von vornen hal-
ten kan, von hinten felen! Alle neun Musen der Griechen versagen
den Genus ihrer Reize dem sechsten Sinne der Autoren; und
doch ist eine zehnte aber romische Muse, die sich Musa tacita
schreibt, ihre Ehefrau und stat der neun Juden dankt der Samari-
ter. Sie haben die Manlichkeit ihrer schriftstellerischen Lenden
ganz erschopft; und doch bleibt das Symptom dieser Erschop- 10
fung, namlich der Priapismus in Riiksicht der Musen aussen.
Ihr Magen verdaut fremde Biicher so schlecht; und doch ist
ihr Unterleib (wider alle Bemerkungen der Arzte) nicht offen
und last iedes Manuskript erst durch susses Lob aus sich heraus-
klystiren. Sie sizen auf der Abcbank der Wissenschaften; und
doch steigt keiner auf seine Abcbank, urn auf diesem Katheder
den iibrigen Abcbanken ein Kollegium zu lesen. Polygamic,
sagt man, hindert die Bevolkerung; und doch erzeugt gelerte
Monogamie nicht Polygraphie und die Unfruchtbarkeit des
Kopfs aussert sich nicht durch Fruchtbarkeit der Hande. Es giebt 20
so wenig philosophische Kopfe; und doch giebt es so wenig
philosophische Biicher und ungeachtet man keine Menschen-
.kentnis besizt, so schreibt man doch wenig Romane und Folio
Unwissenheit zeugt Duodezgeburten; so finden einige an ienem
Meisterstiik der Bildhauerei den Laokoon wie einen Riesen und
seine Kinder wie Zwerge. Zu dieser Unfruchtbarkeit wissen
wir die Ursache nicht zu entdekken. Umgang mit den alten
Musen, die die ehlige Pflicht nicht mit Buchern belonen, last
sich mit ihrem Hasse gegen die alte Gelersamkeit nicht reimen;
wiewol im unfigiirlichen Sinne iener alte Huren hielt, um nicht 30
Bastarte zu zeugen. Und da sie wenig denken, so kan man
ebenso wenig einer Fruchtbarkeit an Gedanken die Unfruchtbar-
keit an Buchern (den Korpern derselben) anschuldigen und auf
sie folgendes Urteil einer Frau iiber ihren Man, der ofter drukken
als taufen lies, anwenden: il ne sait faire que des esprits. An
leiblichen Reichtum ist auch so wenig zu gedenken als an geistli-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 639
chen. Sie verachten endlich die Bemerkung, die meisten Biicher
anlichen den sybillinischen, den Preis derer, die verbrennen,
erbendie, welcheiibrigbleiben, viel zu ser, als daft wir den Altar
der Kritik als das Grab ungesehner Werke mutmassen diirften.
Die Verbrennung so vieler Kinder liesse sich hochstens aus der
Meinung aller Autoren erklaren, daB ihnen das Publikum wol
die Untauglichkeit, aber nicht die Fruchtbarkeit der Insekten
verzeihe, und daB man demselben stinkende Speisen, ungeachtet
die Aufbewarung den Gestank vergrossert, solange vorenthal-
10 ten miisse, bis sie das Spriichwort einbalsamirt »Hunger ist der
beste Koch«. Diese Bucherseltenheit - dies siehst [du] leicht
ein, weises Publikum! - wiirde endlich unser Gesicht zu einem
Ernst hinaufstimmen, den unsre demokratischen Muskeln nie
aushalten werden; die Hauptquelle der Torheiten ware fiir uns
versiegt: denn konnen wir wol bei andern als Schriftstellern auf
grosse Narheiten rechnen und kan wol der Verfasser des Buchs
dem Leser desselben iede seiner Lacherlichkeiten einimpfen? Wir
werden daher nicht nur die neuliche Preisfrage: »welches sind
die besten Mittel, dem Kindermorde Einhalt zu tun« in einem
I 20 andern Sinne und in Hofnung besserer Beantwortung nachstens
von neuem aufwerfen; sondern auch iezt diese neuen Herodes
der unschuldigen Kindlein mit Griinden zu bekeren suchen.
Vielleicht sieht man ein, daB Biichern die Verwandlung nicht
in Asche, sondern in Makulatur anstehe; und vielleicht sagt die
Nachwelt in besserm Deutsche so: » Vor dem Jare 1783 verbrante
ieder Auktor, oder wie man damals sagte Autor, sein todgebor-
nes Knablein auf einem rogus, und begrub es nicht; aber nach
dem genanten Jare, wo VoB in Berlin die Bitschrift der Satiriker
drukken lies, verbrante keiner seines, sondern sargte es in weis-
1 30 ses Drukpapier ein und sezte es in die Buch- und Kramladen
bei. « So giebts auch in der schwedischen Geschichte zwo grosse
Epochen; die eine heist Brena-Old d. h. die Zeit, wo man die
Toden verbrante; und [die andre] Hauga-Old d. h. die Zeit,
wo man sie begrub. Jenes tat der Heide, .dieses der
Christ.
Sobald einer weis, daB unsre Autoren sich sterblich in die
64O JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
Unsterblichkeit verliebt, und daB ihrer Begierde nach Lorber
nichts gleichet als die Begierde der Kazen nach Marum Verum,
sowie ihrer Zuneigung gegen die Musen nichts als die Zunei-
gung der Affen gegen die Madgen, so wird er die gewissere
Verewigung als die erste Wirkung erwarten, die wir von der
Polygraphie rumen. Und wirklich wiisten wir auch ftir die, wel-
che auf den Fliigeln einer toden Gans, die merit das Schiksal
der wachsernen des Ikarus zu furchten haben, einen Wetflug
mit der unermudlichgeschwinden Zeit eingehen und noch iiber-
dies auf dem Wege zum Rum dem Unterhalt entgegenfliegen 10
wollen, nichts wirksamers auszusinnen als Vervielfaltigung der
Gansekiele ihrer Schwingen, als Vielschreiberei. Nichts ist na-
tiirlicher als daB das Publikum euch vergist, wenn ihr es erst
alle fiinf Jare an euren unsterblichen Namen erinnert; aber so
schlecht ist sein Gedachtnis nicht, den Namen zu vergessen,
der alle sechs Monate im Munde eines Soufleurs wiedergeboren
wird. Warum bliihen auf so wenigen alten Grabern Vergismein-
nicht; warum sank die Halfte der vortreflichen Alten in ewige
Vergessenheit hinunter? weil man dazumals seltner opera als
ein opus schrieb. Der Meskatalogus vom Jar 1620 enthielt 224 20
belletristische Schriften; ihre Menge rettete daher einige vom
Tode. Der Meskatalogus vom Jar 1780 enthielt 1 1 belletristische
Bucher; und wer glaubt wol von Einem dieser elf en, daB es
nicht den Sold der Stinde bezalen werde? Lieber Got! was sollen
denn die hundert Zungen der Fama mit elf Brosamen? Und
noch gar der Vielfras, der Tod? ach dieser frist die iezige[n]
Bucher, und ihre Vater und ihre Paten auf einen Bissen. Ein
Elephant mag immerhin erst alle vier Messen ein Junges geba-
ren: das lange Leben des leztern verhutet alle Folgen dieser Un-
fruchtbarkeit; aber sezt einmal, daB die Milbe nicht in einigen 30
Tagen etliche Tausend Milbgen zeuge, so werden die Milben
so selten als der Vogel Phonix werden und wenn der dumme
Stokfisch seine neun Millionen Eier im Pult verwesen lies, so
machten die Kaufleute einen Universalbankerut und die Hollan-
der wtirden sogar Christen werden. Allein nemet auch an, daB
der Name des Vielschreibers den Magen desselben nicht iiber-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 64 1
lebt, so bleibt ihm doch die Ere, auf seinen Rum den Ausspruch
ienes Dichters vom Menschen deuten zu konnen:
. Mors non una fuit, sed quae rapuit, ultima mors est.
Wir Satiriker machen ihm also folgende Grabschrift: »Hier liegt
der Vielschreiber A, den das Publikum iarlich zweimal vergas
aber fernerhin zu vergessen vergessen wird. Nachdem er in
funfzig Messen gestorben, aber alzeit wieder auferstanden war,
so starb er auch in der ein und funfzigsten sanft und selig, wird
aber nicht eher auferstehen als am iiingsten Tage.« Einen noch
10 kiirzern Leichensermon auf einen Polygraph gabe folgende Be-
nennung des Todes eines Alten ab: »Es ist ein Toder gestorben. «
In den Armen der Nacht liegt neben dem Tode auch der
Schlaf*; dieses bringt uns auf eine andre Anpreisung des Viel-
schreibens. Namlich da Biichern iiberhaupt die Einschlaferung
des Lesers selten felschlagt, so ist sie dem Vielschreiber noch
viel gewisser. Daher gaben die Alten der Gottin der Fruchtbarkeit
einen Monsamenkopf in die Hand; daher gilt das Horn fur ein
Abzeichen des Schlafs und der Fulle - auch der Dumheit, sezen
neuere Gleichnismacher hinzu. Auch mus eine Bibliotek viele
20 Rekruten von den Messen erhalten haben, bis sie ihre mit gold-
nen Achselbandern versehnen und gelbmontirten Glieder in der
Erregung des Schlummers gehorig abwechseln lassen kan.
Wenn auch Melpomene das belesene Kind in den nachtlichen
Schlaf gesungen, so ist doch noch erst Thalia notig, um den
nachmittagigen herbeizuschakern. Die Federn von zweihundert
Gansen fur ein einschlaf riges Bet - ist daher nicht zuviel gerech-
net. » Allein mein einziger Band Gedichte kan ia alle Tage gegen
das Wachen genommen werden« - recht! aber one Ekel? und
diesen verhiitet nur Abwechslung und ihr miisset also gleich
30 den Geschopfen, auf deren kleinern Federn wir den Schlummer
abwarten, den ihr durch ihre grossern ausgegossen, mit sanftem
Gefieder und angenemen Fleische zugleich niizen und nicht bios
* So werden beide als Knaben auf einer Kiste von Zedernholz im
Tempel der Juno zu Elis abgebildet.
642 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Eine dichterische Flote mus die hundert Augenlieder des Argus
von Publikum zuziehen. Nur - das bitten wir euch, Hebe
Deutsche! - nur veriagt nicht durch euren modischen Unsin,
bei dem man sich in vergebliche Anstrengung verliert, den al-
zeitfertigen Schlaf, dem eure Mittelmassigkeit schon den Mund
geofnet, und traumt weniger, damit der Leser mer schlafen kan.
Oder wollen eure BCicher, gleich dem Opium, die Raserei vor
dem Schlummer vorausschikken? Gotsched iibersezt den Addi-
son: nun machen deutsche Wochenschriften den Parnas zur Kir-
che; Eschenburg iibersezt den Shakespear: nun machen deutsche
Tragodien den Parnas zum Tolhaus. Addison kronte die Deut-
schen mit Schlafmiizen; Shakespear mit Schellenkappen.
Um Vielschreiberei bittet ferner die ganze Handelsschaft, die
das Gewiirz mit keinem wolfeilern Papier zu bekleiden weis
als mit volgedruktem. Und die Bitte derselben kan um desto
mer bei den Schriftstellern auf giinstige Oren rechnen, da, nach
der Mythologie, der Merkur beide durch gleiche Beschuzurig
zu Glaubensgenossen macht und den gelerten Kopfen geistige
Kinder darum giebt, um dem Kramer Makulatur zu geben.
Sonst beschenkte Merkur den Apollo mit der Laute; daher auch
in unsern Tag en Apollo seine Laute haufig an den Merkur ver-
kauft. Heben wir unsre Augen gen Himmel, so glanzt uns eben-
fals die Verwandschaft der Handlung und der Litteratur entge-
gen. Der Premierminister des Foibos ist der Merkur: nur mus
die astronomische Bemerkung, nach welcher die Sonne oft den
Merkur unsichtbar macht, zu unsern Zeiten der Wenigschreibe-
rei gerade umgekert werden.
Verlacht ihr die Bitten der Kaufleute, so werdet ihr doch die
Bitten der Grossenhoren, die auf eure Geburten desto begieriger
sind, ie weniger sie durch eure Untauglichkeit zum Umgange
verlieren, und die das Buch dem Vater vorziehen: so wie man
wol einen Kalbskopf, aber nie einen Ochsenkopf auf die Tafel
sezt; so wie die Dame mit dem Bauerknaben, aber nicht mit
dem Bauerkerl tandelt.
Auch bitten euch alle Reichen, deren Buchersale zu gros ange-
legt worden, um eure Fruchtbarkeit zu entberen.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 643
Und selbst der wolweise Rat zu X wird nachstens euch in
unverstandlichem Deutsche bitten, die offentliche Bibliotek zu
X mit untauglichen Biichern zu fiillen.
Schluslich bittet euch urn eure Schriften die Frau, urn damit
ihr Herz, und der Man, um damit seinen H- zu reinigen; der
Pobel, um sie zu lesen, der Rezensent, um sie zu loben, und
der Satiriker, um sie zu geiseln.
An die Buttel des Apollo getrauen wir uns mit keiner Bitte
um Torheiten; sie spielen den Teufel zu ser, um den Affen spie-
len zu wollen. Auch wiirde ihr holzernes Schwerd des Harlekins
iede Verspottung ihrer Harlekinschen Jakke zurukschrekken;
wir konnen bios geiseln, aber sie konnen uns toden und ihre
Riikken an unserm Kopfe rachen. Auch haben einige Rezensen-
ten ihren Tribut von Schellen uns schon in ihrer Jugend gelief ert,
da sie die Siinden begiengen, die sie an andern iezt vergeben
oder verdammen. Denn sie waren Homere, eh' sie Zoilus wur-
den; so wie das Alter den Zukker in Gift, und den berauschenden
Wein in scharfen Essig verwandelt. Eben so gos Peter der grosse
die Glokken, die gleich Dichtern, zu Leid und Freude summen,
20 in Kanonen um, die wie Rezensenten morden; eben so giebt
die Verwandlung dem surinamischen Insekte, das man als grune
Mukke wegen seines Gesumse den Leierspieler zu deutsch den
Dichter nante, eine zu Nachts leuchtende Blase an den Kopf,
daher man es den Laternentrager zu deutsch den regelgebenden
Kritiker nante. Auch bei ganzen Volkern hat die Poesie weit
fruher gebluhet als die Prose und der Vogel lernt eher fliegen
als pfeifen. Solte iibrigens iemand die Grausamkeit eines alten
Zoilus gegen die Poeten mit der Nachbarschaft, in der er als
Jiingling mit ihnen stand, nicht reimen konnen, so erinnern wir
30 diesen Jemand an die Bremsen, die denselben Ochsenriikken
stechen, der sie erzogen. Freilich- waren nicht alle Rezensenten
m ihrer Jugend Narren; manche waren da schon Rezensenten
und wurden, gleich einigen Kindern, mit Zanen geboren. Denn
die kritische Kalte vertragt sich bei den entgegengesezten Polen
des menschlichen Lebens am besten ia die Geographen finden
den Siidpol noch kalte r als den Nordpol. Gleich wolriechenden
644 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
und stinkenden Blumen, hauchen die Kritiker am Morgen und
Abend ihren Tadel oder ihr Lob am haufigsten aus; eben so
sind neugeborne und alte Wolfe grau und die Hare von beiden
rechnen auf unsre Erfurcht. - Also, wie gesagt, die Rezensenten
sollen uns keine Narheiten zollen; wir diirfen sie nie zum Ziel
unsrer Geisel walen und ein guter Genius lamet uns sogar den
aufgehobnen Arm. Vielmer wollen wir sie uns durch einige
gute Ratschlage verbindlich machen, deren Befolgung in unsern
Tagen, wo ieder Dieb ein Pasquil auf den Henker schmiert,
ihre Ere und unsre gute Absicht ins Licht stellen wiirde. Seit 10
Sterne die gelerten Richter in Allegorien geisel te, wie Hexen
ihren Feind im wachsernen Bilde desselben mit Nadeln stechen,
so sagte ihnen die deutsche Jugend, so wie dem Teufel, alle
Erfurcht auf, ieder Satyr rante ihnen nicht mit seinen kleinen,
sondern mit Ochsenhornern entgegen und iede Vorrede warf
ihnen ein Gleichnis an den Kopf . Das Sonderbarste ist, daB gute
Schriftsteller ihnen noch die Erfurchtsbeugungen abtrugen, zu
denen sich schlechte nicht mer verstunden; so wie auch die
Schonen, aber nicht die Fliegen, sich vor den Spinnen furchten.
Denn eigentlich soke man den Zanen solcher Skribenten, fur 20
die ein Tropfen aus dem Flus Lethe eine Welt ist, mer Behutsam-
keit gegen die Hern liber ihr Leben und ihren Tod zutrauen:
denn selbst die Insekten handeln hierin kliiger und H. Bomare
riimt von ihnen, daB sie seinen ausgestopften Wolf die neun
Jare, warend sie alle (ibrige vierfiissige Tiere angegriffen, ge-
schonet haben. Auch die Flohe konnen ein Wolfs f el nicht einmal
riechen; stat daB die unsrigen dasselbe zum Tanzboden ihrer
hiipfenden Laune und zum Gegenstand ihres stechenden Wizes
heraberniedrigen. Vielleicht verschulden die Richter durch un-
erbitliche Unparteilichkeit diese Nachlassigkeit der Autoren, so 30
wie auch den Tod seine Unerbitlichkeit um alle Altare der Alten
brachte; vielleicht sucht man die Lichter der Kritik darum auszu-
blasen, um hinter die Finsternis den abwechselnden Genus aller
Musen zu verstekken; vielleicht verweigert mancher Pegasus
sein Maul dem Zaum, weil der leztere gewonlich aus einer Och-
senhaut gearbeitet ist - allein mit alien diesen Vielleichts ist den
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 645
verschmahten Kunstrichtern wenig gedienet, sondern wir wer-
den nur dan die Wurzeln dieser Verachtung aufdekken und da-
durch unser obiges Wort halten, wenn wir ihren Verfal ihrer
zuhauhgen Nachsicht anrechnen. Ihr handelt ganzlich, sanfte
Kritiker, gegen eure Kunst, die sonst den Biichern nach der
Unsterblichkeit stand, seitdem ihr gegen alle Nasen eine Atmo-
sphare von Wolgeriichen hauchet, und mit eurem stinkenden
Atem hochstens nur griechische und romische Nasen verfolgt.
Gleich wolriechender Seife, befriedigt ihr die ergeizige schneide-
10 rische Haut, warend ihr die Feler abwaschet, und soke ia ein
strafbarer Riikken durch eure Federn Spiesruten laufen miissen,
so stilt ihr doch die Schmerzen durch musikalische Ergozung
der Oren, . Selbst zum bittersten Tadel holt ihr
erst durch Entschuldigungen aus und todet das Buch unter so-
vielen Komplimenten, in so feinem Weltton, mit so wenig
Grobheit, daB ihr beinahe den parisischen Henkern gleichsehet,
die, nach Mercier, gepudert und frisirt und galonnirt und in
seidnen Striimpfen und in Tanzschuhen den armen Sunder ra-
dern. Freilich liebt man so einen Henker mer als einen Arzt
20 in der Knotenperiikke und mit langer Weste; allein eben darum
zittert man weder vor seinem noch vor eurem Schwerde. Unser
Rat ist also der. Stellet euch kunftighin neidisch, um mit der
Farbe und der Scharfe eures Gebisses zugleich zu verlezen, merkt
aber dabei an, daB die Livre des Neides nur grosse Verdienste
kleidet, so wie sich in Sina nur der Kaiser gelb tragt. Daher stellet
euch ferner so viel es euch moglich ist scharfsichtig und schleift
das eine Auge eurer Brille konkav, um Schonheiten zu sehen,
und das andre konvex, um Feler zu sehen. Die leztern werden
sich eurer kritischen Gerechtigkeit in Menge anbieten, ia die
30 Begierde, sie zu finden, wird euch sogar Gelegenheit geben,
sie zu machen, so wie die Tiirhuter des Stats den Inhalt des
Koffers durch Aufsuchung der Konterbande oft beschadigen,
wenigstens in Unordnung bringen. Stellet euch strenge, nicht
nur gegen angehende Autoren, sondern auch gegen angehende
Verleger; verschonet die Buchladen derselben selten mit eurer
Grausamkeit, so wie der Bliz immer in Viehstalle herabschlagt.
646 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Auch hemt das Todschlagen der kranken Biicher und Kinder
die Viehseuche; doch mus euch hieran weniger als an der Herab-
sezung guter Autoren gelegen sein, die euch, wie wir schon
oben bemerkt, die Ungerechtigkeit mit Achtung lonen. Und
fals ihr die zwote Auflage loben musset, so tadelt wenigstens
die erste. Besorgt aber nicht, daB der Rum an eurem Gestank
sterbe. De cent pendus il n' y a pas un de perdu sagt das franzosi-
sche Sprichwort und die Leiter zum Himmel last sich ser gut
fur eine unsichtbare Fortsezung der Leiter zum Galgen ansehen.
Allein der Tod eines schlechten Autors sei das Signal, mit der 10
Trompete des Lobs das Grablied zu blasen; vergrossert, wie
die Kochin, mit eurem Atem das tode Gefliigel; bekranzt, wie
einige Mezger, mit Lorbern den toden Ochsen. Stellet euch ein
wenig wizig; schneidet daher, wie die Tiirken, die geschlagnen
Fussolen auf, und saet beissende Einfalle auf die Wunde. Die
Leute, bei denen ihr eine wizige Larve am wolfeilsten kaufen
kont, sind, unsers Bediinkens und unsrer eignen Erfarung nach,
dieienigen, die auch Heringe und Fische und Obst verkaufen.
Fangt ihr ieden Markttag die Ausbrtiche ihres Zorns in eure
Schreibtafel auf, so werdet ihr auf iede Messe seinen Spot vorra- 20
tig haben. Soke aber die Menge guter Autoren eure beissende
Heringslache doch erschopfen, so haltet euch an gehassige An-
spielungen auf besondre Anekdoten und an die geheime Chro-
nique scandalique des Parnasses; wodurch ihr noch (iberdies die
Rezension dem Pasquille immer mer und mer naher bringt.
Stellet euch endlich ein wenig mer partei[i]sch. Unparteilichkeit
wiirde euch nur das Lob derer eingeben, die von eurer Bileams
Zunge es ausschlagen, und den Tadel derer, die keinen recht-
massigen vergeben; allein keret ihr die Sache um, so beleidigt
ihr nur solche, die sich nicht rachen, und verbindet euch solche, 3c
die euch nicht verachten. Luzian berichtet, daB die Esel bei dem
Treffen zwischen den Bewonern der Sonne und des Mondes '
Trompeter abgaben; wir wundern uns daher, warum ihr eure
lobenden und tadelnden Trompeten nicht auch neulich blieset,
da die Sone des Apoh und der Luna ihren eingeschlummerten
Streit wieder erwekten. Dies sind die Ratschlage, durch deren
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 647
Beobachtung ihr eure alte Ere wiederum erobern kont. Allein
die Verwandschaft unsrer Zane mit den eurigen, die vor den
satirischen nur den Vorzug der Dauer haben, so wie auch Wolfs-
zane gegen die Natur andrer Zane, in der Erde nicht kalziniren,
macht uns euren Rum so wichtig, daB wir euch, fals die vorge-
schlagne Strenge one Wirkung bliebe, noch folgende Vergros-
serung eures Tadels vorschlagen. Namlich, so wie einige
schlechte Biicher schreiben, um sie zu loben, so schreibt
schlechte, um sie zu tadeln. One Besorgnis der Feindschaft oder
[o der Ungerechtigkeit kontet ihr alsdan unter fremden Namen
eure Kinder mit einer Strenge ziichtigen, deren Befurchtung
euer Ansehen wiederherstelte. Wir hatten, um euch den Tadel
zu erleichtern, wol zu guten Biichern raten konnen; allein aus
einem Rezensenten last sich nicht wol ein Autor bakken. Jenem
felet, was dieser hat; eben so giest die Hausmutter ihre Lichter
aus reinem Ochsenfet zusammen, allein zur Seife, die bios den
Schmuz wegnimt, samlet sie alles fur Lichter untaugliche oder
vom Leuchter herabgeflossene Fet, alle Spekschwarten und ie-
den olichten Unrat auf. Und so konten dieienigen von euch,
io die die Musen visitiren, bald auf dem Pegasus sizen, um zu
fliegen,baldauf dem Buzephal, umzumorden; und mit demsel-
ben Schnabel singen und hakken, oder wie ein Kantor singen
und die iungen Sanger prugeln, oder wie ein Richter eine hu-
rende Muse notziichtigen und verdammen; ia sie hatten dan
Gelegenheit, die Speise der Biicher, wie die Harpyien, so wol
zu rauben als zu besudeln, Schonheiten zu tadeln und Feler zu
stelen und das feindliche Land mit Beraubung und Verherung
zugleich zu geiseln. Der moglichen Unwirksamkeit dieses lezten
Rats kommen wir durch folgende Bitte an die Autoren zuvor:
]o eret eure Obrigkeit, die aus unversorgten Kandidaten, miissigen
Studenten und Londienern der Verleger besteht, aber spaset nie
mit eurer Obrigkeit weder in sternischen Romanen, noch in
Vorreden. Sie weis zwar so wenig, wie ihr; allein wie sol sie
etwas lernen, da sie bios euch lieset? Im Gegenteil ist warschein-
lich, daB ihre Rezensionen sich zu einem grossern Wert erheben
wiirden, wenn sie bios Biicher vol Wert verdamte und also lase.
648 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
So glaubte ein Proiektmacher in Balnibarbi*, daB Spinnen, die
man bios mit schonfarbigen Fliegen genaret hatte, Gewebe zeu- .
gen wiirden, an deren seidnen Faden alle bunten Farben ihrer
schonen Narung spielten. Glaubt also nicht kiinftighin mit dem
gemeinen Man, daB fiinf Gulden die Ermordung eines Henkers
biissen; abstrahirt vielmer von euch die Notwendigkeit dersel-
ben und uberzeugt euch von der Miihseligkeit eines Studiums,
bei dem man sich wegen der Gewonheit, den Kadaver und die
Speise, wie iener anatomische Professor, mit demselben Messer
zu schneiden, nicht an Schonheiten von Felern erholen kan. ic
Schliislich lenet euch nicht mit Epigrammen gegen die kiinftige
Verdoplung derltritischen Strenge auf : denn unserm Rat zufolge
wird spates Lob den Tadel schon versussen und eben dieses
Verfaren biirgt euch fur gleiche Unsterblichkeit mit den Mu-
mien, die die monatliche Einbeizung in scharfes Salz zur wolrie-
chenden Einbalsamirung vorbereitete**. Der Kritiker wird iib-
rigens gebeten, erenrurige Gleichnisse in der Erwanung seiner
Person zu iibersehen und wenigstens die Armut unsers Wizes
nicht Kir stolze Verachtung auszuschreien: denn von der leztern
entfernt uns die * * * Zeitung so ser, daB wir den Ausspruch 2c
Zizero's cedat stylus gladio so libersezen: der Satiriker sticht
zwar, allein der Rezensent todet.
Wie erquikkend ist's, von dem finstern Rezensenten der To-
den, dem Pluto, zu dem heitern Begeisterer der Lebendigen,
dem Apollo, aufzusteigen; wie angenem, von den Dichtern zu
reden, nachdem man von den Kritikern geredet, und wie ver-
gniigt einen Satiriker der Ubergang von denen, die. Torheiten
bestraf en, zu denen, die sie begehen! Tretet naher, leibliche Sone
der Musen, nur durch Armut entbloster gekleidet als eure
schamhaften Mutter, und lasset uns eure harichte Bardenbriiste 3*
an unsre harichte Satyrenbriiste driikken, und euch durch eine
aufrichtige Umarmung fiir eure Verschwendung in Torheiten
zu belonen, die von ieher unser Zwergfel erschiittert und unsern
* S. Gullivers Reisen.
** Solten mir die Rezensenten vorrukken, daB sie noch merere Feler
als die hier belachten an sich haben, [abgebrochen]
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 649
Magen gefiillet. - Aber ihr nahert euch nicht! Ach ihr fiirchtet,
keine Narren mer zu sein! Bleibt zuriik! umsonst hascht euer
Gesicht nach einer unsinnigen Larve; die langen Oren verraten
eure Vernunft troz der geborgten Haut des Lowen, den der
Britte im Wappen fiirt. Ach! ihr seid nicht einmal Affen;
deutsche Esel seid ihr! Selbst euer Springen widerlegt das beia-
hende Nikken eurer Oren nicht. Apollo! was hat dir Bedlam
getan, daB ihm dein Stral keine andre Rekruten als Hunde an-
wirbt, daB er bios das Gesicht, und nicht das Gehirn verunstal-
10 tet? — Doch unsre Begeisterung konte dem Apollo mit Recht
den Argwon abnotigen, daB die Advokaten Bedlams auch Be-
woner desselben sind. Denn an der Unwirksamkeit seiner Stra-
len ist ia die Lerheit der bestralten Kopfe schuld; die Affen,
welche ein grosses Gehirn in das Krankenhaus der menschlichen
Kopfe bringt, werden geboren, und nicht gemacht. Doch wir
miissen unsre Phantasie zur Vernunft herunterstimmen und
unsrer Bitte prosaische Kalte gebieten. Bios die leztere kan un-
sern Verdrus uber die neuern Versuche, die Narheit durch
Dumheit zu veriagen, zur Erwanung besserer Versuche, beide
20 zu vereinigen, zwingen.
Zur Beschonigung der Neuerung, der Narheit, nach welcher
man alle zum Vergniigen geschafnen Bucher schazte, die Dum-
heit zu unterschieben, schlug man allerlei Wege ein. Man ver-
larvte z. B. den Kopf in das Herz und der Honig, der dem Gau-
men schmeichelt, muste das Wachs ersezen, das dem Auge
leuchtet. Honigfaktoren vom Berg Hymettus bewonen iezt die
Graber der scharfsinnigen Athener; gerade so fieng im Lande
der Philosophic Milch und Honig an zu fliessen. Es gab gewisse
Winkel im Reiche der Moral, in die ieder Autor und ieder Leser
30 seine Tranendriisen pissen lies. »Meine Kinder, wer am meisten
pisset, erhalt den Nachttopf « sagte die Gottin Dumheit in der
Dunziade; allein die deutschen Vererer derselben sagten iezt:
»wer am meisten pisset, erhalt das Himmelreich.« Man sezte
hinzu: »argert dich dein Auge, so reis es aus, deine Tranendriise
macht dich schon selig, fals du nur Romane stat der Zwiebeln
brauchst. In Ermanglung beider darfst du nur durch einige Tor-
65O JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
heiten dir Leiden zuziehen, gegen deren Angrif du dich wie
einige Kafer gegen iede Beriirung, verhalst; du lassest namlich
deinen gewonlichen Saft faren.« Solche Biicher machen war
leichter a'ls sie lesen; und mir dieses, aber nicht ienes erschopfte
das Wasser des Lebens - Leben wird beim Autor im leiblichen,
beim Leser im theologischen Sinne genommen. Der erstere
saugt sein Kind mit Dinte, aber nicht mit Tranen, und das Was-
ser, das er so haufig in dieselbe mischt, gehort nicht seinen
Augen, sondern dem Brunnen an, woraus er auch trinkt. Frei-
lich nimt das Publikum die Exkremente des Kopfes fur Ergies- 10
sungen des Herzens, und gleicht dem Kamtschadalen nicht, der
gerade umgekert den Regen fur das Pissen seines Gottes halt.
EinBuch, das alle Leser weinen macht, ist eigentlicheinsolches,
wo der Autor zwar seine Augen schonet, aber sagt, ich weine;
so zittert ieder Zuschauer fiir den alten Lear, iiber dessen Haupt
der Regen bios rauscht, den die Bewegung alter im Nordwind
gesaeter Erbsen hervorbringt. Die Liebe gegen Esel stieg so
hoch, daB man seinen Oren sogar eine Elle zuzusezen wunschte;
»war' ich doch noch ein Kind« rief namlich ieder, und einige
wurden auch von der Diana, der Hebamme der Kinder, so gut 20
erhort, daB zwar nicht ihr Herz, aber doch ihr Gehirn seine
Jarszal wie ein Jude riikwarts las, und daB der Kopf iung wurde,
eh' das Har grau wurde. »Wer dum ist, wird selig« riefen Ro-
mane stat der Dogmatiken; Heiligkeit wurde mit Dumheit ge-
kronet, sowie, nach Voltaire's Luge, die geschnizten Engel vor
der Bundeslade mit Eselskopfen ausgeriistet waren; die Heiligen
trugen, gleich gekopften Martyrern, die Kopfe Chapeaubas, die
lebhaften Rumpfe kegelten mit ihren runden Hauptern nach den
Fiissen ihrer Gegner. Die Engel trugen in ihren Sanften lauter
geistliche Stuzer gen Himmel und der enthirnte Agypter driikte 30
dem enthirnten Deutschen die Hand; bios in der Holle war Licht
und das groste Gehirn hatte der Teufel, der demungeachtet sei-
nem Ochsenkopf die Beherschung der vielen Pferdekopfe, die
ihm die Erde zuschikte, nicht zutraute, sondern wunschte, den
Rossen Elias mit andern Gliedern als den Fiissen zu anlichen.
Der arme Teufel wiederholte durch diesen frechen Wunsch sei-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 65 I
nen Fal, und die Theologen wollen aus dem zweiten Brief Juda
die Nachrichthaben, daB ihm zur Strafe die Pferdefiisse abgesagt
und dafiir Ochsenfiisse angesezt worden. — Doch miissen wir
einigen Schriftstellern die chemische Geschiklichkeit einrau-
men, Blei mit Queksilber, d. h. die Dumheit mit Narheit zu
amalgamiren und wie schlechter Met, siisse und berauschend
zu sein. Vor einem aufgeklarten Kopfe giengen onehin die sus-
sen Geburten des Herzens in Misgeburten der Phantasie uber
und er wtirkte in ifrnen, wie die Sonne in den von Glasern aufbe-
10 warten Konfituren, uneinige Garung. Allein selbst diese
Freunde der Dumheit machten sich um uns durch einige Nar-
heiten verdient und unterzogen sich willig den Widerspruchen
mit sich selbst, die diese Gefalligkeit ausbriitete. Z. B. Sie um-
armten vor ihrem Puke alle ihre Leser mit anarchischer Men-
schenliebe und freuten sich vorzuglich auf den iiingsten Tag,
wo ihre Makulatur und die Leser derselben zugleich aufleben
und das lesende Schaf dem schreibenden Schops lauten Dank
fur den bekanten Roman im **Verlage zublaken sol; allein dem-
ungeachtet vergassen die Schopse ihr gutes Herz und visirten
20 mit ihren Hornern nach den Stirnen kritischer Bokke, die ihnen
auch am iiingsten Tag gewis zur Linken stehen werden. Ihr
Herz stand der Erde und dem Mond, den Huren und den Teu-
feln, aber nicht den Rezensenten offen und ungeachtet sie sogar
die Insekten liebten, die sie stachen, so hasten sie doch die Rich-
ter, die sie tadelten. Auf diese Weise residirten sie gleich dem
Merkur, bald im Himmel, um den Engeln den Gesang, bald
in der Holle, um den Teufeln das Pasquil abzulernen und wie
Schwalben sanken sie aus der pindarischen Sphare in die epi-
grammatische nieder, um Bienen zu toden, weil sie ihren Reich-
30 turn mit einem Stachel bewachen. Freilich leiht auch die ange-
borne Liebe fiir die Jungen dem sanftesten Tiere Wut zur
Verteidigung; und die Esel spielten die Affen nur gegen den,
der sie fiir keine Pferde erkante.
Andre, die ihren Kopf zu poetischer Raserei nicht fahig fan-
den, bestimten ihre gereimten Dumheiten fiir die Kinder, wel-
che man von ieher mit Eselsmilch saugte. Nam ein Rezensent
652 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
es ihrem langorichten Pegasus iibel, daS er stat zu fliegen nur
in Reimen wieherte oder yanete: so erschien in der Vorrede
des andern Teils der Gedichte folgende Widerlegung: »aber Kin-
der sizen ia nicht sattelfest; an dies dachte wol mein Kritikus
gar nicht. Ihr Pegasus mus ihrem Stekkenpferde gleichen; das
sichnur so viel bewegt, als der Reiter es bewegt d. h. den Unsin
in Kindergedichte zu bringen (iberlassen wir unsern kleinen Le-
ser[n], die bios auch unsre Richter sein solten; unsre Sorge ist
bios Wasserigkeit. Und wenn gereimte Verse die Kinder dum
gemacht, so werden nichtgereimte sie schon narrisch machen. 10
Wie klein ist iibrigens der Unterschied zwischen den Oren eines
Esels und eines Hasen! beide sind lang; nur nennet man die Oren
des leztern Loffel, und einen faselnden Dummen einen Gekken. «
Diese Dichtungsart schielet auch noch ausserdem nach einem
andern Ziele. Da mannamlichden Kindern sogar die Lermeister
zu Spielkamaraden aufgedrungen, bios um von ihnen die
Krankheit und dadurch die Arznei d. h. die Langweile und da-
durch die Bucher wenigstens auf einige Jare abzuhalten; so mus
das poetische Flugelwerk alien Eltern schon darum wilkommen
heissen. Denn Vogel sind das liebste Spielzeug der Jugend; stat 20
dafi der Man die Vogel mit weniger Vergnugen hotel und lieset\
er miiste denn spazieren gehen. Auch ist von dem Gesange kein
Unterricht zu besorgen: denn Kinder verstehen nicht die Spra-
che der Vogel, wie einige Magi; auch komt aus den Kelen dersel-
ben nichts als einin Harmonie quintessenzirtes Yanen. Zu einem
Predigtbuch gehort eine Kele in Quart; zu einem Musenal-
manach eine in Duodez; allein im Grunde ists einerlei ob man
Dumheiten schreiet oder singt.
Einige Pegasusse wunschen ausser den Kindern auch den
Heiland noch einmal zu tragen d. h. sie reimen nicht mer fur 30
die Litteratur, sondern fiir die Religion, sie steigen vom hohen
Parnas auf den niedrigen Sinai hernieder und pfeifen Lieder,
die man nicht liest aber singt. Die Esel, deren Fleisch das alte
Testament vom Altar verbante, opfern im neuen ihre Stimme
auf demselben, und Got, den unter den Heiden das Genie pries,
preist unter den Christen der Dumkopf. An den Dichtern fiir
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 653
das Gesangbuch ist nun die Dumheit am meisten vor Tadel
geheiligt. Die poetische Orgel akkompagnirt ia die prosaische
Kanzel, und wenn diese den Segen spricht, so antwortet iene
mit Amen. Man erinnere sich zur Erlauterung an das beriimte
zu Eren der Maria gefeierte Eselsfest, wo unter andern Gebrau-
chen der Priester den Segen mit Hinham beschlos und das Kor
mit Hinham beantwortefte]. Hatte man dazumals dem leztern
stat des Hinhams das Amen zugemutet, so hatte man den Prie-
ster zum heiligsten Eifer gereizt: denn, konte er sagen, wenn
IO ich das Halleluia yane, so mus auch das Amen geyanet werden
und die ganze Komodie ist mangelhaft, wenn der Priester allein
den Esel machen sol. - Von dieser Seite sind diese Freunde der
gesungnen Dumheit geborgen; von andern Seiten bieten sich
ihnen noch (iberdies schmeichelhafte Aufmunterungen dar.
Man gestattet ihnen die Vernachlassigung aller zehn Gebote der
Kritik. Sie sollen nur unterrichten, andre Dichter miissen auch
ergozen; die leztern sind Flotenuren, die den troknen Unterricht
in der Elementarchronologie mit den Reizen der Harmonic ver-
schonern, die erstern sind Nachtwachter, die mit einem dissoni-
20 renden Home den unnotigen Unterricht und die unnotige Er-
manung tauber Oren verschlechtern. Die christliche Kirche
fordert vom Gedicht nicht Schonheiten zur Bewunderung, son-
dern Unterricht zum sontagigen Genus; allein wenn man wie
Kleopatra die Perle trinkt, stat anzusehen, so braucht man wenig
auf ihren Wert zu achten und der Weisfisch kan die Stelle der
Muschel vertreten. Daher mag immer der Poet sinken, wenn
nur der Christ steigt, und das Herz erreicht den Himmel nicht
viel spater als der Kopf die Holle. Seiten ist die Sache umgekert;
. und dan wird vom ganzen Dichter nichts als die Kele selig und
30 der Rest fait dem Teufel anheim: so kam, nach dem Sadder,
nur der Fus eines gewissen Tyrannen in den Himmel und der
hinkende Rumpf in die Holle. Oder fals das Gedarm die Stelle
der Kele vertrit, so werden nur die Darmer nicht verdamt. Als-
danbeziehendie Seraphim und Cherubim mit diesen Schafsdar-
mern ihre Harfen, deren Silberklang die Nachamer Klopstoks
noch deutlicher vernommen als Plato den Klang der Spharen.
654 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
- Ein Kirchenpoet braucht ferner nicht auf dem Parnas herum-
zuklettern und nach buntem Unkraut botanisiren zu gehen. Er
zieht die orientalischen Redefiguren den okzidentalischen vor,
so wie man es mit den Perlen tut; und futtert christliche Schafe
mit Heu verwelkter Bliimgen, die auf iiidischem Grund und
Boden gewachsen. Nur selten bittet er den Apollo um ein Bus-
lied und nur selten zeugt er seine christlichen Kinder mit heidni-
schen Musen. Schluslich steht ihm iede beliebige Verstumlung
des Versebaues frei; er kan seinem Verse, wie die Kinder den
Fliegen, hier und da Fiisse ausreissen. Oder liebt er die Grosse IO
der leztern und den Misklang, so anlichet er nur desto mer den
langbeinigten und verdriislich zwitschernden Heuschrekken,
die, in Kafige gespert, in Spanien ebenfals die Altare aus-
schmiikken. Auch leiht die wolgespielte Orgel seinem Liede
Wolklang, wie die busfertige Gemeinde Andacht. - Soviele poe-
tische Freiheiten miissen nur die theologische, nicht zu denken,
desto anziehender machen. Und wirklich bnitete diese Anarchie
eine solche Menge geistlicher Lieder aus, daB man die Reforma-
zion der Gesangbiicher fiir die erwiinschteste und notigste Gele-
genheit zu halten hat, nur einige derselben vom Tode zu erretten 20
oder wenigstens in die Kirche zu begraben.
Wir wollen die iibrigen Beschonigungen der poetischen
Dumheit etwas abkiirzen. Die Namen derer Gedichte, die sich,
gleich vornemen Leuten, durch Titel den Anspruch an Kraftlo-
sigkeit anschaffen, sind noch folgende: Lergedicht - die Pfeifen
von diesem Register in dem dichterischen Orgelwerk brummen
ihr Lied one sonderliche Beleidigung der Oren heraus. Die Lerer
des Publikums in Versen haben viele Anlichkeit mit ihren Lerern
in Prose, so wie die Natur die Schnabel der Vogel und die Hor-
ner der Ochsen aus anlicher Materie gedrehet. Indessen haben 30
die langen Oren der leztern ihre Verkurzung dem Friseur zu
danken, der die amtsmassige Perriikke auf eine andre Art nicht
sizen machen konte; stat daB der Poet die seinigen durch den
Lorberkranz hinausstekt und mit ihnen um die Belonung der
reimenden Kele winket. - Allein ungeachtet das Lergedicht der
Phantasie lauter Feiertage gestattet und nur genugsame Kalte
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 655
heischet, die an den Fenstern, durch welche die Philosophic
Aufklarung schiesset, die wasserigen Diinste zu verschonernden
(und verdunkelnden) Blumen reif et , aber nicht leuchtende
Warme, die die Erde von wolriechenden Kindern Florens ent-
bindet: so felet es doch unserm iezige[n] Parnasse an Lergedich-
ten. Woher mag das in unserm Norden wol kommen? Daher:
die neusten Dichter sind wol mit genugsamer Dumheit zur poe-
tischen Verschonerung der Philosophic, aber nicht mit genugsa-
men Verstand zur Erlernung derselben ausgestattet; und manche
10 wollen lieber nicht singen, als vorher denken, lieber stum als
sehend sein.
Anakreontisches Gedicht - Versen, die dieser Name kronet,
wiirde der Verstand so iibel lassen wie einem Liebhaber. Selbst
der Wiz, den man aus dem unerschopf lichen Salzbergwerke der
alten Gottergeschichte grabt, biisset seine Verwandschaft mit
dem Scharfsin, durch den Vorzug, den man einer dummachen-
den Siissigkeit vor ihm giebt; so braucht man, nach Kartheuser,
an verschiednen Orten Indiens Zukker stat des Salzes. Dem
Apollo dieser Gedichte, dem Amor, der an seinem Korpcr nichts
20 als die Augen verhiillet, ist Scharfsin sowenig zuzumuten, wenn
er fliegt, als wenn er schiest und die Vernunft vertragt sich so-
wenig mit anakreontischen Liedern als anakreontischen Hand-
lungen. Der Liebende anlicht ienem Blinden, der vor seiner Hei-
lung den Gegenstand seiner Liebe lieber mit dem Geftil geniessen
als mit dem verbesserten Gesicht weniger lieben wolte. - Da
alle diese singende Zungen meistens die kleinen Fiisse des scho-
nen Geschlechts lekken, so glaubt das leztere, daB ihre Zungen
angenem singen, weil sie angenem lekken und die geschmei-
chelten Leserinnen konnen ihr Lob nicht anders als loben. Man
30 wirft daher ebenfals stat des Gummi den Zukker der Schmeiche-
lei in das Dintenfas und macht die Dinte glanzend, indem man
sie siisse macht. Ungeachtet soviel Mangel des Verstandes zu
diesen Tandeleien gehort, so belauft sich doch die Zal der
Anakreontinncn nicht ser hoch und die Schonen tandeln hoch-
stens nur mit tandelnden Dichtern, aber bios in poetischer Prose,
die dem Publikum noch kein einziges geistliches Kind geliefert.
656 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
Nichts ist naturlicher. In solchen Liedern lobt man nur die Scho-
nen; wen sollen diese in denselben loben? Ja, wenn Eigenlob
seinen Gestank durch wolriechende Wasser verlore! Und an ih-
ren Lobrednern konnen sie nichts als den Verstand loben, so
wie iene an ihnen nur die Schonheit. Allein das zweite Ge-
schlecht lobt das nicht, was es beneidet, so wie auch das erste
nur das lobet, was es nicht beneidet.
Endlich gereimte Gedichte (iberhaupt - das Publikum ist an
die Kraftlosigkeit derselben zu ser verwont, um sich darin irgend
einen narrischen Sprung gef alien zu lassen. Es sagt: »wil ich 10
Raserei lesen, so nem' ich Verse one Reime; aber Dumheit for-
dere ich von solchen, deren Ende in Unisono klingen.« Zwar
versuchten auch einige eine nahere Vereinigung der Schellen
am Schwanze des Verses und der Schellen am Kopfe desselben;
allein die Einfurung dieser neuen Mode hatte die Leichtigkeit
der alten gegen sich. Der Pegasus eines Reimers anlicht volkom-
men den kleinen Niirnberger Pferdgen, an deren Bauche unge-
stalte Blumen bliihen und in deren Hintern ein eintoniges Pfeif-
gen stekt. Um ein ieziger Dichter zu heissen, legt man also
seinen weissen Bogen, sein Musenpferd, vor sich hin, malet 20
allerlei poetische Bliimgen auf dasselbe, stekt in die Ofnungen
des Bauchs prosodische Beine und befestigt im Hintern stat des
Schwanzes ein Pfeifgen, auf dessen Schal die Harmonie des
Reims und des ganzen Verses ankomt. - Unsre Klage iiber die
Dumheit der iezigen Dichter wollen wir durch den Dank gegen
einige Narheiten derselben mildern. Man sucht in unsern Tagen
auf verschiedne Arten seinen Verstand zu verlieren. Es giebt
nur Eine Nieswurz, nur Einen Arzt der Vernunft; aber der Hen-
ker derselben, (oft Arzte genant) der berauschenden Krauter
giebt es unzalige; des Lorbers nicht einmal zu gedenken, der 30
die Pythia rasen und dichten machte.
Wer von unsern Dichtern Anspruch auf erneuerte Wiederher-
stellung der poetischen Narheit machen kan, der trate nun naher
und zeige seine Kappe und klingle mit seinen Schellen! -
Es zeigen ihre Kappen und klingeln mit ihren Schellen zwar
wiederum Esel, aber sie sind nicht wie andre Leute, sondern
bittschrift der deutschen satiriker 657
wie Affen; die obigen waren dum, aber diese sind tol; iene san-
gen, diese springen: denn das iezige Deutschland halt sich Esel
wie iener Taube Vogel, nicht des Singens, sondern des Sprin-
gens wegen. - »Diirfen wir uns, sagen sie, einige Verriikkung
des Gehirns anmassen, so verdanken wir sie lediglich folgendem
Verfaren: erstlich; wir namen alle gewonliche Metaphern, und
taten sie in unser Dintenfas, und riirten sie mit der umgekerten
Feder wol durcheinander und schrieben mit dieser bunten Hip-
pokrene den Adelsbrief unsrer Unsterblichkeit« - Dank, war-
10 men Dank lachen wir euch - ihr weint ihn! - fur die Verbesse-
rung eures Futters. Sonst iibtet ihr euren Gaumen an den
stachlichten Disteln der Scholastiker; aber iezt graset ihr an nied-
rigern Orten die Blumen des Parnasses ab. Ja ihr treibt eure
Verbesserung so weit, daB ihr stat der vorigen Verse, worin
ein einziges Bliimgen seine Fiisse durch die ganze Strophe strekte
oder dafur Seegras auf einem Mer von Worten schwam, dikke
Strausse von poetischen Blumen liefert, deren Nachbarschaft
nichts als ein seidner Faden kniipft. Aber die Feinheit dieses
Betragens verrat sich nur einer genauern Nachspiirung. Nam-
20 lich: in den apollinischen Mysterien schranjct man die ganze Poe-
sie auf die Fahigkeit ein, zwischen einem unadelichen Substan-
tivum und einem adelichen Adiektivum eine Misheirat zu
stiften. Z. B. der murmelnde Bach - das ist prosaisch geredet;
aber der zankende, oder brummende Bach - das ist poetisch und
gefalt iedem Leser: denn das Beiwort passet nicht im geringsten
zum Bache, der nie unwillig wird, selbst iiber seine Sanger nicht.
Der erste Grad der Poesie ist also Dumheit; allein einige Neuere
erfanden den hochsten, namlich Narheit d. h. sie kuppelten fal-
sche Metaphern zu einer Allegorie zusammen und die Kombi-
3° nazion des alten Unsins zweier Kiele erwarb dem dritten die
Ere der neuen Erfindung von neuem. Man pflanze auf einen
Kopf zwei Horner, so hat man ein Tier zum Ochsen gekront
und der Vers empfielt sich durch nichts als Dumheit; aber man
pfropfe, gleich dem Prinzen von Palagonia*, die verschiednen
Horner aller Tiere auf denselben Schedel, so komt eine narrische
* S. Brydone's Reisen.
658 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG
Misgeburt heraus und den Vers beneidet der Britte. Freilich
lassen sich solche Schonheiten erst aus dem Wirwar der Ideen
herauswikkeln und zu diesen Blumen dringt man durch das
dikke Gestrauch der Ideen und der Verstand mus untergegangen
sein, wenn die Phantasie aufgehen sol. So bauet der Friseur aus
der Verwirrung der Hare die Yerschonerung derselben. Allein
fur diesen Verlust ihres kleinen Verstandes halt sie der Rum
schadlos. Die Rhetoriker mussen sie so hoch achten als die Blu-
misten den Kohlreuter aus Wiirtenberg; denn so wie dieser am
ersten Bastarte durch Kopulazion unanlicher Blumen schuf, 10
eben so saen die neuern Poeten den Staub der einen poetischen
Blume in die Narbe der andern und die unnatiirliche Ehe be-
reichert die Deutschen mit originellen Misgeburten. Doch
schimmert ein kleiner Eigennuz durch diese Giitigkeit fur die
Satire hindurch. Man wuste zu gut, daB die Armen an Geist
das Strafamt der kritischen Richter am volstandigsten fulen, und
daB die leztern dem reichen Genie durch die Finger sehen; was
war also natiirlicher als durch freiwillige Nachamung vornemer
Siinden der Andung der angeerbten auszuweichen suchen und
sich vor den Rezensenten, wie David vor ienem Konige, der 20
eignen Sicherheit wegen unsinnig zu stellen. So lasset man in
LissabondieKornraderone Wagenschmiere , um mit dem Knarren
derselben den Teufel von der Beschadigung der vorgespanten
Ochsen abzuschrekken. Auch behauptet schon Muhammed, daB
man die Narheit fur ein Geschenk der Gotheit anzusehen habe,
weil sie den siindigen Menschen iiber oder unter die Begehung
der Siinden wegsezet. Klopft ein Kritiker, um Strafgelder einzu-
kassiren, an den Schadel des Poeten fragend »ist der Verstand
nicht zu Hause?« so erschalt vom Fenster herab die nachgebetete
Luge »da hatten Sie eher kommen mussen; der ist schon vor 30
einigen Wochen nach * abgereiset«. Nebenher anzumerken, so
ist bios das Gleichnis Schuld, daB wir die Abreise des Verstandes
in Zweifel zogen. Denn wenn der vorneme Man behauptet,
ich bin nicht zu Hause, so ist er zu Hause; allein der gemeine
ist so ser nicht zu Hause, daB er es nicht einmal behaupten kan.
Eben so erdichtet das Genie nicht selten die Herschaft seiner
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 659
Phantasie iiber seine Vernunft; allein wenn der Esel einmal die
Behauptung yante, daB er yane, wer wolte an dem doppelten
Zeugnis zweifeln und sich und den Esel Liigen strafen? Schliis-
lich konnen wir die Besorgung nicht verschweigen, daB war-
scheinlich kiinftige Kommentatoren aus dem dichterischen Ge-
hause den Unsin herauskrazen und gleich den Jungen in
England, aus dem Eselskopf das dumme Gehirn durch ein Licht
verdrangen werden.
Die obigen Esel konnen nun in ihrer eig[n] en Lobrede fortfa-
to ren: »Und dennoch wiirde angeborne Dumheit uns den Sieg
iiber den gesunden Menschenverstand noch immer ser erschwe-
ret haben, hatten wir nicht erworbne Unwissenheit zu Hiilfe
geruffen; und one verwegen zu pralen, konnen wir kun die Ge-
schichte aller Zeiten auffordern, uns einen Nebenbuler der Igno-
ranzin irgend einem Dichtergenie vorzuweisen. « Wir unterbre-
chen die Schilderung dieser Woltat, um in ihre Fortsezung
unsern Dank zu weben. Unser voiles Herz fangt sie mit einer
warmen Ergiessung in zwo Ausruffungen an, gegen deren fort-
stromende Kraft wir das Ende des Perioden mit drei Ausruf-
20 fungszeichen verdammen: Wie wert sind eure Kopfe, nicht bios
von Juden*, sondern auch von Christen angebetet zu werden
und wie ser verdienen eure Gerippe, daB sie kiinftige Veroneser
zu heiligen Reliquien kanonisiren!!!
Allerdings tragt die Armut der Ideen am meisten zu unnatiir-
lichen Verbindungen derselben bei, und das Neue, das man aus
wenigen Gedanken herausprest, schmekt nach Unnaturlichkeit.
Stehen der Tiere zu wenig im Kopfe, so part sich der Esel mit
dem Pferde, der Wolf mit dem Hunde und der Affe mit dem
Menschen. Daher steigt mit dem Enthusiasmus des Nichtgenies
30 der Unsin, stat daB bei dem Genie iener sich mit diesem bios
anfangt und die Phantasie auf der hochsten Stufe der Begeiste-
rung am Ideenhorizont eine Sonne sich hervorheben sieht, die
* Man wird wissen, daB den Juden die Anbetung eines Eselskopfes
angedichtet worden. Diesen Vorwurf laden sich aber die Einwoner von
Verona nicht auf; denn sie vereren nur das Gerippe des h. Esels und
das Geh [abgebrochen]
660 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
nicht mer mit Einer Farbe verschonert, sondern mit alien sieben
erleuchtet. Diese Verfinsterung des Kopfes erleichtert dem Dich-
ter das Dichten so gut wie das Blenden der Augen den Finken
das Singen. Schon die Mythologie eret die Lerheit in der sinrei-
chen Erdichtung, daB Ixion mit einer Wolke die Chimara gezeu-
get; und ieder wird aus der Neuiarslekture bemerkt haben, daB
die Starke der Gedanken alzeit mit der Schwache des Dichters
in einem wunderbaren Verhaltnisse steht und daB der, der wie
ein Britte dichtet, nicht wie (ein] Britte denkt; sogar der grosse
Jupiter konte den starken Herkules nur in einer verdoppelten 10
Nacht erzeugen. Man gebe in Gedanken den iezigen Dichtern
nur einige Kentnisse und sehe dan die Verwiistung, die die lez-
tern in ihren Gedichten verbreiten.
Durch diese Erleuchtung wiirde unsers Bediinkens das Er-
habne und das Blumichte unsrer Gedichte am meisten verlieren.
Die Ode wiirde wie der Teufel die vorwiz[ig]e Sucht nach Kent-
nis mit dem Fal vom Himmel auf die Erde biissen. Und wenn
denn der Flug der Neuern auf einmal kroche, so wiirde der
Naturkiindiger die lame Dichtkunst nur durch das Gleichnis
befliigeln konnen, daB die Vogel zum Fluge kleine Kopfe brau- 20
chen, die den Fliigeln den Weg banen. Auch konte dan der My-
thologist erinnern, d-aB die Nacht von gefliigelten Pferden, und
nur der Tag von ungefliigelten gezogen werde; daher merkt auch
Kant in seiner Untersuchung tiber das Gefiil des Erhabnen und
Schonen ser richtig an, daB die Nacht erhaben und der Tag nur
schon sei. Der Blumen nicht einmal zu gedenken, die vor dem
Strale desselben Phbbus iezt verwelken, der sie sonst auf griechi-
schem Boden reifte. Sie halten das Auge der Kritik nicht aus
und die geringste Betastung rupft aus dem Schmetterlingsflugel
die schimmernde Larve. Glichen iibrigens die poetischen Zier- 30
raten dem traurigen Baum zu Goa nicht mer, dessen Bliiten-
schmuk die Nacht entwikkelt und der Tag abpfliikket, so konte
ia ein ieder das Dichterhandwerk lernen, da iedem Kopf und
Hande angeboren werden und tausend wiirden aus der Zunft
gestossen werden, die ihren Kopf ihren Flugeljn] aufgeopfert.
- Wie unentberlich die Unwissenheit zu der Dichtkunst ist, er-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 66 1
helt ferner aus dem Alter, in dem die Gedichte am besten wach-
sen. Das Denken macht das manliche Alter zur Poesie vollig
untauglich und die weichen Musen fliehen die Liebkosungen
des stachlichten Barts. Aus dem Kopfe sprost der Lorber friiher
als der Bart; und die Zeit, wo man am schlechtesten denkt,
hielt man von ieher fur die, wo man am besten dichtet. Daher
ist dem Kunstrichter die Jugend so notig: denn nur ein Esel
kan das Yanen eines andern Esels rezensiren; das Pferd versteht
sich bios aufs Wiehern und wurde daher fur seine eigne Vol-
io kommenheit parteiisch sein . . . Soke iibrigens iemand aus der
Almahligkeit, mit der die ubrigen menschlichen Volkommen-
heiten sich zu ihrem Ziele drehen, die Verkleinerung der Dicht-
kunst, in der man, wie in der Liebe, one Ubung am grosten
ist, folgern wollen, so vergist er sicherlich die Rechtfertigung,
die die unfigiirlichen Vogel den figiirlichen anbieten. Schon Op-
pian behauptet, daB die Jungen eines gewissen Vogels, Katarakta
genant, mit vollig ausgebildeten Fliigeln das Ei durchbrechen;
und schon der Landman weis, daB nur Staren, die noch nicht
fliigge sind, sich essen lassen. Allein ein alter Star schmekt so
20 schlecht als er singt; daher auch sicherlich der Poet das Dichten
in den Jaren, die der Vernunft angehoren, aufgeben wurde, ver-
hinderte die Dichtkunst diese Untreue nicht durch eine neue
Woltat. Sie unterhalt namlich den Wachstum der langen Oren
eben so ser wie der Lorbern, die sich an ihnen hinaufwinden
und das fortgesezte Blasen auf der harmonischen Pfeife der
Phantasie endigt sich mit unheilbarer Schwindsucht des Kopfes,
der sich an Wind erschopft. Dumheit und Poesie befruchten
einander wechselseitig - besser konten wir die Poesie und ihre
neuen Vererer nicht loben. Fur die Warheit dieses Lobs wird
30 ihr eignes Beispiel schon noch sorgen; es braucht nur eine kleine
Bestandigkeit, so hat ihre lebhafte Phantasie ihren podagristi-
schen Verstand zu Boden und zu Tode getanzt und wir hoffen
noch an den langen Oren eine Verlangerung zu erleben, deren
sich kaum die Siamer rumen diirfen, ungeachtet der Deutsche
und der Siamer sie durch dasselbe Mittel verlangern - namlich
durch plumpe Zierraten. Sonderbar! Der Poet begint mit Narheit
662 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
und endigt mit Dumheit. Man wird in unserm rousseauischen
Erweis der Schadlichkeit der Wissenschaften fur die Dichter die
Weitlauftigkeit iibersehen, die uns immer im Lobe unsrer
Freunde gewonlich ist, Ausser ihrem Talent, unwissend zu sein,
verdient wol nichts einen grossern Beifal als ihr Stolz darauf;
denn eben dieser kleidet die Ignoranz in das Lacherliche, um
das es uns hauptsachlich zu tun ist.
Beinahe hatten wir in der Billigung der iezigen Unwissenheit
die brittische Larve vergessen, in die man seine langen Oren
einpresset - namlich die Sucht, kurz und gedrangt zu schreiben. 10
Und wirklich nemen sich weitlauftige Gedanken am besten in
kurzen Worten aus. Leser, die neue Warheiten nicht tragen kon-
nen, finden die Vergiitung dieser Schwache in Biichern, die ver-
mittelst der Kiirze in alten die Verstandlichkeit mit angenemer
Anstrengung vereinigen. Pumpt man den Wind des grossen
Kopfs in eine kleine metallene Kugel zusammen: so erreicht
das nachgiebige Element die Elastizitat des brittischen Schies-,
pulvers, das, geziindet durch den Verstand des Lesers, den engcn
Raum durchbricht, und mit der neuen Grosse brennet und
leuchtet. Oft scheint auf ein Duzend Bilder immer derselbe Ge- 20
danke; allein vereinigt man, wie Buffon und Pater Kircher, die
kalten Zuriikstralungen in dasselbe Ziel, so brennen die Spiegel
starker als die Sonne, die sie silhouettiren. Selbst das diinne Bier
last sich durch ein enges Gefas zu einer Garung und Starke ver-
volkommen, die das gute aussert. Freilich komt dabei nicht sel-
ten Unsin heraus; allein der Wirkung desselben hat man schon
dadurch vorgebauet, daB man Unsin Tiefsin nennet. - Doch
wird diese Mode, stuzerartige Gedanken in kleine, kurze Rok-
gen zu kleiden, mit der Mode, die uns die vorhergehende Alle-
gorie geliehen, sich verlieren. Die Freunde des Nichtdenkens 30
verschieben ihre Entlarvung nur bis zur Zeitigung unsers Publi-
kums und sobald die Leser nach langen Oren rufen werden,
so werden die elastischen Gehorwerkzeuge der Autoren die enge
Larve von sich schnellen und die neue Lange priifen. Glukliche
Zeit! wo die Worte Tavtologie, wie die Menschen Freundschaft,
naher kniipfen wird - denn bei der Tavtologie ist wie bei der
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 663
Freundschaft, Eine Sele in mererern Korpern - wo der Poet
nicht mer den gewonlichen Echo's, die ein Wort einmal, son-
dern den seltnern anlichen wird,diees vielmal wiederhallen. -
Die Esel wollen reden und ihre tibrigen Versuche, narrisch
zu werden, gar erzalen. Wir werden ihnen gewis nimmer mit
Dank in die Erzalung ihrer Woltaten fallen: »Um einen Verriik-
ten in den Augen der Vernunftigen zu spielen, hat man nichts
notig als das Gegenteil von dem zu tun, was die meisten tun.
Wir schopften daher aus der Lektiire berumter Dichter z. B.
10 des neulich herausgekommenen Homers oder des Miltons oder
des Klopstoks die meisten Schonheiten unsrer Werke, die dem-
ungeachtet immer fiir originel gelten konnen: denn es gehort
erst ein Stachel wie der unsrige dazu, aus ihren siissen Blumen
entgegengesezte Schonheiten zu saugen und Homer kan nicht
aus iedem einen Antihomer schnizen. Longin's Abhandlung
Liber das Erhabne hat uns vielleicht zum Niedrigen etwas tiefer
herabgezogen; allein unser Sinken last sich doch besser aus einem
angebornen Gewicht erklaren, wodurch uns iedoch die Schwul-
stigkeit d. h. die Erhabenheit nicht erschwert wurde: denn beim
20 Steigen schikten wir, gleich dem Vogel Merops, den Schwanz
voraus und richteten den Kopf auf der Ban zum Himmel, noch
hin nach seiner Heimat, d. h. nach den Siimpfen hin. Obrigens
schlagen auch die Vogel ihre auffliegenden Schwingen unterwarts
und holen zum Steigen durch das Sinken aus. Man gestand uns
auch, wider Vermuten, einige Verstandesverwirrung zu, da wir
die grosten Gegenstande des menschlichen Denkens durch be-
sondre (oft launigte, oft schwiilstige) Ziige zu verkleinern und
die grosten Gemalde unsrer schongedachten Muster vermittelst
unsers Storchschnabeh in Mini atiirbild gen brachten. Allein wir
30 konten nicht nur wie der Hochmiitige in die Hohe kriechen,
sondern auch wie der Stolze, in die Tiefe steigen. Man muste
seine Verwunderung zwischen unsre Niedrigkeit und zwischen
unsre Erhabenheit zerteilen; es braucht gleich viel Kunst, sagte
man in verschiednen Zeitungen, einen Cherubim schwarz anzu-
farben als den Belzebub weiszuwaschen und man war eben so
neugierig, einen Riesen als einen Zwerg zu sehen. Swift's Kunst
664 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
zu sinken lerte lins zwar einigermassen steigen; allein der Poet
wird geboren aber nicht gemacht, und die Britten sind nicht
die einzigen Meister des Schwiilstigen. Wer leret wol den Rauch
das Steigen? Obrigens fordert die Schwulstigkeit nicht gerade
ungeheure Krafte. Sie mus zwar ihrem Gegenstande die groste
Verschonerung leihen; allein es komt nur darauf an, solche Ge-
genstande zu walen, denen keine gehort. Wagt sich freilich der
Pinsel an erhabne, so halt ihn die Schwierigkeit der Zeichnung
vom Verdienste der Verschonerung zuruk - aber erhabne Gegen-
stande sind der Verkleinerung besser fahig und nur niedrige 10
nemen vom Pinsel die Apotheose an und die lere Schweinsblase
denet sich auf einem hohen Orte aus. - Manche Kunstrichter
haben unsre Absicht, den Antipoden der Vernunft zu machen,
so ser verkant, daB sie uns die Vernachlassigung dessen, was
zur Sache gehorte, und die Auszierung der Nebensachen als
eine Verlezung unsers Zwekkes vorgeriikt. Sie waren zu blind,
urn in diesem Verfaren die Vernunftwidrigkeit zu entdekken,
die wir zur Absicht hatten . . . Mit welcher Mutterliebe wir
fur den Rum der Narheit sorgten, konnen wir nicht nachdriikli-
cher als durch die ungeschminkte Bemerkung anzeigen, daB 20
wir der Narheit die erenvolle Benennung >Genie< auswiirkten.
Dieser Kunstgrif vergrosserte nicht nur die Zal unsrer Anhan-
ger, die fur diesen Namen gern ihren unbedeutenden Verstand
bezalten; sondern er sezte auch dem Tadel des kaltern Publikums
die gehorigen Schranken und notigte den Kunstrichter, die
Friichte einer offenbaren Narheit unter der schmeichelhaften
Benennung von Auswuchsen des Genies zu verwerfen. - Die
Nichtalgemeinheit der Narheit liegt also nicht an der Faulheit
der Esel; sondern am Mangel der Affen.«
Lesser mizet zur Einteilung der Insekten sowol ihre Ftisse als 30
ihre Flugel; eben so werden wir nicht bios an dem Flug, sondern
auch an den Fiissen einiger Gedichte die Verdienste um die Nar-
heit rumen. Die Versifikazion des Verses kan den Unsin wenig-
stens resoniren, wo nicht gar wiederhallen. Schon an einigen In-
sekten bilden die Flugel den harmonischen Schal, den man
gewonlich ihrer Kele zuschreibt; auch tragen einige Neuern die
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 665
Stimme der Hunde, Esel, Pferde und den Schal lebloser Dinge
nicht one Gluk in ihren Versbau iiber - warum solten sie, die
Verstiimlung des Kopfes der Verse durch die Verstiimlung sei-
ner Fiisse abzubilden, mit weniger Gluk wagen, da onehin die
Arzte zwischen den Fussolen und dem Kopfe eine innige
Freundschaft und eine wechselseitige Mitteilung der Krankhei-
ten warnemen? Niizte doch auch den alten romischen Weissa-
gern das Geschrei der Vogel eben so gut als der Flug derselben.
Man schmiikke ubrigens ein gellertischversifizirtes Gedicht mit
10 der grosten Tolheit aus, so konnen wir uns doch der Anwen-
dung des Tadels »die Fiisse sind niichtern« nicht erweren, den
Garrik dem Preville zurief, ungeachtet dieser den Betrunknen
ebenfals volkommen spielte. Ex pede Herculem d. h. die Fiisse
des Laufers sagen an, was fur ein grosser Kopf ankommen wird
und das Pedal mus die Melodie des finstern Gesanges brum [m Jen.
Diesem zufolge suchten auch einige Neuere den Vers zu einem
Bedlam zu bauen, das seiner Bewoner wiirdig ware und durch
die Abwechslung der Disharmonie das Or so gut zu unterhalten
wie durch Disharmonie in Begriffen den Geist. Nicht one Ver-
20 gniigen bemerkten wir den Unsin, dem Leser die Harte des Ge-
dichts fur eine Mutter seines Wizes aufdringen zu wollen, so
wie die hartesten Diamanten am meisten glanzen, so wie die
Entstummung der grobsten Orgelpfeifen dem Blasebalg den mei-
sten Wind kostet. In dieser Herabstimmung des deutschen
Wolklangs gieng vielleicht nicht bios Klopstok, sondern auch
die Dorfkantoren vor, die miteinander um den grobsten Bas
weteifern und nicht selten mit dem Finger die Kele etliche Noten
defer stimmen - oder vielleicht auch La Motte Le Vayer, dessen
Oren die sanfte Musik ekelte und der harte Dormer freute -
30 oder wol gar der Doktor Maior in Kiel, der die Trommel iiber
alle Instrumente erhob und fur die Basis der ganzen Tonkunst
erklarte. Ungeachtet alle zu einem gothischen Versbau die Be-
schneidung manlicher Worter und die Kopulazion der beschnit-
tenen zu rechnen, einig waren: so trente man sich doch iiber
die Frage, ob man dem Unsin die Flugel oder die Fiisse zuerst
anleimen musse. Einige begannen aus Liebe zum Unsin die
666 JUGENDWERKE " 3. ABTEILUNG
Schopfung mit der Abmessung der holperichten Sylben und
ungeachtet bei den Poeten, wie bei den Weibern, die Geburt
der Kinder, von denen die Fiisse anstat des Kopfes am ersten
in die Welt eintreten, die grosten Schwierigkeiten macht, so
iibernamen sie diese Miihe doch fur die Erfrischung, die ihnen
die Friichte ihres Schweisses versprachen. Die poetische Ver-
wirrung der Gedanken, schlossen sie, gelingt dem Zufalle gewis
besser als die Abhartung des Verses; und wir konnen ia, sobald
wir mit der leztern zu Stande gekommen, das Kind des Zufals
in der Poesie noch unterrichten und den Unsin ins Metrum hin- 10
eindriikken. Dem Sylbenmas den Sin anzumessen und gleich
faulen Bedienten, die dikke Kerze fur den engen Leuchter klein
zu schmelzen oder gleich ienem Reichen, die Folianten nach
den Biicherschranken, die der Schreiner fur lauter Duodezbii-
cher gearbeitet, zuzuschneiden, ist vielleicht das beste Mittel,
die in Narheit zu ubertreffen, die man in Harte iibertrift. Auch
kan man den Huf allemal mit noch mer Eisen beschlagen, wenn
man das Gehirn aus dem Kopf heraustrepanirt. Wir miissen zwar
zu alien diesen noch hinzusezen, daB gleichfals bei den Vogeln
die Fiisse friiher als die Fltigel reifen; allein auch die andre Partei, 20
die dem Gedanken den Hals friiher als die Beine bricht, verdient
unsre Aufmunterung, wenn sie der erstern eine zu grosse An-
lichkeit mit den dummen Reimern vorriikken, die dem Verse
den Schwanz eher als die langen Oren anschaffen. Sie messen,
sagen sie, ihr geistiges Kind, gleich kalten Handwerkern nach
dem pied royal, aber wir messen das unsrige, wie die Maler,
nach Gesichts oder Kopfslangen. Eine feurige Einbildungskraft
tut es dem Zufal im Unsinne noch zuvor; und der leztere ent-
schuldigt sogar freiwillige Siinden gegen die Prosodie: denn,
sagen sie alsdenn zu ihrem Rezensenten in der A. D. Bibliotek, 30
verweret ihr uns die stolpernde Versifikazion, so entziehen wir
euch auch den fliegenden Unsin; entweder Eisen an den Fiissen,
oder keine Narrenschellen am Kopfe; diirfen unsre Verse dem
Paradiesvogel nicht mer an (natiirlichen oder verursachten)
Mangel der Fiisse gleichen, so sollen sie ihm auch nimmer an
Kleinheit des Kopfes anlichen und vergas den[n] der neidische
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 667
Kritikus unser von ganz Deutschland gerCimtes Muster, dessen
Gedichte, gleich dem Saturnus, Fliigel auf dem Riikken und
Fesseln an den Fiissen tragen? Hierauf fragt zwar der Rezensent
in der Rezension der zweiten Auflage: »aber kont ihr denn so
fliegen wie diescr grosse Man?«; allein sie antworten bei Gele-
genheit: )>natiirlich, denn wir konnen ia so hinken.« Gliiklich
ist iibrigens der Pegasus, auf dessen iedem Gliede die Schellen
der Narheit hiipfen, vom Kopfe an bis zum abgestuzten
Schwanze!
10 Sieh! Deutschland, dies sind deine Dichter, die ins Tolhaus
taugen! freilich hoftest du, einen grossern Schaz von Narren
zu besizen; aber nun sagen wir dir es, dafi dein ganzer Reichtum
in Eseln besteht; allenfals noch in theologischpoetischem Horn-
vieh, womit dir die blumenreiche Schweiz aushilft. Die Affen
erfrieren in deinem kalten Klima alle; der noch bessern Orang-
utang gar nicht zu erwanen, die schon auf dem Schiffe durch
Frost umkommen.
Wer sind denn die driiben, die sich gleichfals narrisch stellen?
sie tragen ia, wie der Merkur oder wie ein gewisses Hun, die
20 Fliigel der Dichtkunst auf den Kopfen? ach! es sind dumme Pro-
saisten, die, um Narren zu heissen, ihre lange Oren in Fliigelgen
auskerben; sie schreiben in poetischer Prose. Dieser seltnen Ge-
burt versahen wir uns nicht: denn die Begattung der Vogel mit
den Saugtieren gehort sonst unter die Drukfeler im Buche der
Natur und der Prosaist heget gegen den Poeten einen Has, dem
nur der Has des vierfussigen Maulwurfs gegen den gefliigelten
nahe komt. Selbst die Natur baute fur beide Tiere verschiedne
Stalle; dieienigen, die gut in Versen schreiben, konnen es weni-
ger in Prose und noch mer umgekert, so wie die Vogel, die
30 gut reden lernen, schlechter singen und umgekert der Nachtigal
dieTalentedes Papagaies mangeln. Auch lassen die entgegenge-
sezten Bestimmungen der Poesie und Prose beim ersten Anb[l]ik
keine nahen Verbindungen zu; in der Prose visitirt man die Be-
griffe, nimt ihren geheimen Gebrechen die vielfaltigen Hiillen
und fals die Entkleidung nicht hinreichet, so schindet man und
anatomirt zulezt; in der Prose drehet man den weissen Stral
668 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
des Apollo in seine sieben Farben zuriik; die Prose ist die Zunge
der Philosophie - allein die Dichtkunst praget auf die Hornhaute
der Leser durch uberflussiges Licht Bilder, die die Erleuchtung
iiberleben und zwischen die Warnemung andrer Gegenstande
treten; die Poesie wiegelt alle Nervengeister gegen den Verstand
auf, die gleich den Janitscharen, ihren Sultan, den sie selbst ge-
kronet, am besten auf dem Tron erhalten und am gewon-
lich[st]en von demselben herunterstranguliren; kurz die Poesie
gehet auf Verriikkung unsrer armseligen Kopfe urn, denen die
Philosophie onehin nicht genug Nieswurz verschreiben kan. Fur 10
solche entgegengesezte Ziele konte daher die Natur den Augen
desselben Kopfes selten Richtung geben und nur ein Chameleon
dreht zu gleicherzeit seine Augen nach oben und nach unten;
die Erleuchtung des Publikums durch Verstand und die Verfin-
sterung desselben durch Phantasie steht so selten vereinigt in
den Kraften Eines Mannes, daf] uns die anliche Seltenheit derie-
nigen Pariser einfalt, die zu Mittag und zu Abends traktiren kon-
nen. Nach Mercier, pflegt der Magistrat bios zu diniren, und
der Financier zu soupiren. Unsre Weitlauftigkeit iiber die grosse
Kluft zwischen gebundner und ungebundner Schreibart, wird 20
der geneigte Leser durch die grossere Verwunderung rechtferti-
gen, in die ihn die neuere Briikke dariiber sezen wird, so wie
die Narheiten, die die poetischprosaischen Esel damit gewon-
nen, die Ubersteigung sovieler Schwierigkeiten rechtfertigen
und belonen. Die volwichtigste Narheitsschelle, die die Neuern
durch diesen Kunstgrif einwuchern und fur die sie ser viel Weih-
rauchkaufenkonnen, ist one Zweifel dieses: daB sie der Philoso-
phie den Kopf abdrehen und der Dichtkunst die Fliigel ausreis-
sen oder wenigstens iene enthirnen und diese entfiedern, worauf
alsdenn die erste durch ihre Lerheit steiget und die andre durch 30
ihre Fleischigkeit sinket. Oder unfigurlicher: die Poesie komt
durch diese Untereinandermischung um ihre glanzende Lebhaf-
tigkeit und die Philosophie um ihre leuchtende Prazision; gerade
so gehet es den bunten und weissen Zeugen, wenn sie eine dum-
me Magd in derselben Wanne wascht, in welcher das bunte auf
Kosten seines Farbenglanzes, das weisse mit buntem Schmuz [?]
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 669
anfarbt. Mit belonendem Vergniigen werden daher die ge-
nanten Esel bemerken, daB iezt die Philosophie, gleich den op-
fernden R6mer[n], ieden Ochsenkopf von Gedanken mit poeti-
schen Blumcn umwindet, daB die Warheiten schwachcrn
Geschlechts ein Amazonenkleid anlegen, daB die Dikheit der
Schale mit der Diinnigkeit des Kerns zunimt und die Verschone-
rung mit der Unwichtigkeit der Sache steigt, so wie man Duo-
dezbande in die groste Ausschmiikkung einbindet. Hungert,
lieber Professor der Philosophie, dein Magen nach Griinden und
10 Friichten, so reicht man deiner Nase eine wolriechende Blume
dar, deren Zerkauung deinen Gaumen beleidigen wiirde oder
die, um der Allegorie einen andern Schwanz anzuheften, mit
einem bunten Gipfel pralet, den die unschmakhafte und friichte-
lose Wurzel Liigen straft. Auf diese Weise hatten denn die Neu-
ern die Philosophie zu einer grossen Anlichkeit mit der Poesie
getrieben: denn diese leztere ist wie bekant dem Denken so we-
nig giinstig wie die Dogmatik, die auch manchen Unsin aus
zu grossen Blumen heiliger Poesie zusammengeflikket, und die
Flugel der Dichtkunst stehen auch darin den Flugeln der Vogel
20 gar nicht nach, die wenig Fleisch und viel Bein und Federn ha-
ben. Zur Erfindung einer solchen Torheit muste man sich noch
iiberdies erst den Weg durch das entgegengesezte Beispiel der
Alten banen, die ser iiber die Granzsteine der Poesie und Prose
hielten und von keinen poetischprosaischen Polypen wusten;
. die aber vorzuglich die Verwirrung hasten, welche poetischer
Schmuk unter philosophischen Begriffen anrichtet, so wie auch
ihre Kiinstler zu ihren Aufschriften immer weissen, aber keinen
bunten Marmor waken, weil die Farben des leztern die Lesbar-
keit der Buchstaben schwachten. Allein die poetische Prose zog
30 auch die prosaische Poesie nach sich; und das ist die andre Nar-
heit, auf deren Erfindung die Neuern sich etwas zu gute tun
konnen. Denn so wie die Neuseelander bunte Reize auf den
Hintern malen, dem sie nicht gehoren, und dafur das Gesicht
one die Schminke lassen, die ihm gehort, eben so iibet sich der
neuere Pinsel an dem Hinterteil der Wissenschaften, auf dem
sie sizen sollen, der aber nicht zum Gefallen geschaffen ist, und
67O JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
gehet hingegen das Gesicht derselben, auf dem man natiirliche
und kiinstriche Schonheiten sucht, one Verschonerung vorbei.
Solte man unsern Eseln die unsinnige Einfiirung der Kraftlosig-
keit der Dichtkunst durch die Bemerkung etwan streitig machen
wollen, daB die Erschopfung an poetischen Zierraten nicht zur
Kraftlosigkeit sondern zur Schwulst gefuret, so bedenkt man
nicht, daB dieleztere eben aus der ersteren entsteht: denn Korper
one Blut und Lebensgeister sind der Geschwulst am meisten
fahig und Poeten, deren kurze Beine auf dem Pegasus nicht
schliessen konnen, und die iiberhaupt nicht festsizen, machen 10
es wie kleine Knaben auf den Pferden; beide Ziehen dem Trabe,
unter dem die oftere Berurung der Erde sie aus dem Gleichge-
wicht stost, den Galop vor, in dem man one Empfindung des
erschiitternden Widerstands des Wegs durch die Luft hinfliegt.
Und hier sind die Neuern wiederum so gliiklich, den verniinfti-
gen Alten nicht zu gleichen. Denn bei diesen waren alle TeiJe
der Wissenschaften wie an Amor, nakt und nur die Fliigel befie-
dert; allein den Zustand unsrer Litteratur konnen gewisse Vogel
(Penguins) am schmeichelhaftesten abbilden, deren Korper
nicht nur schimmerndes Gefieder bekleidet, sondern deren Flii- 20
gel sich auch durch Kleinheit und Naktheit hervortun. Ja wir
gleichen den Alten sowenig, daB wir sie in der Narheit (ibertref-
fen: denn wir konnen ihrem Zizero und ihrem Virgil Leute ent-
gegensezen, die die Talente von beiden vereinen und zugleich
mit dem Zizero in der Dichtkunst, und mit dem Virgil in der
Prose weteifern. - Die poetische Prose liefert aus ihrer Miinz-
statte auch noch andre Schellen. Die Neuern wissen sie an Orte
zu verpflanzen, wo sie niemals gewesen war und wo der Boden
sich noch nicht an Narheiten erschopfet hatte. So brachte man
sie z. B. in die Romane, wohin sie nicht gehorte und tausend 30
Ungereimtheiten belonten diese Versezung. Unnaturliche Ka-
raktere musten die matte Phantasie in die Hohe wehen, und
der Romanenschreiber spielte den Reisebeschreiber Gulliver,
der Menschen aus Lilliput und aus Brobdignak gemalet. Bald
schwarzte die Hize ihrer Phantasie den Helden zum geistigen
Moren, die Zeichnungen der Kopfe glichen nicht den Portraits,
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 671
sondern den Silhou[e]tten, wo schwarze Farbe fiir die Airma-
iling der Zuge gilt und die graslichen Misgeburten des Gehirns
schienen stat des Apollo den Teufel zum Vater zu haben, auf
den man sonst nur leibliche Wechselgeburten taufte. Bald en-
digte man die Hollenfart mit der Himmelfart; menschliche
Kopfe gebaren, gleich der Maria, gotliche Sone und man span
aus dem unerschopf lichen Hintern luftige Engel heraus und die
Nachamungen der Natur in Dinte glichen denen in Zukker,
sowol an Sussigkeit als Unanlichkeit. Die poetische Prose be-
10 reicherte auch das Trauerspiel mit einigen Ungereimtheiten.
Denn wer wird wol den Rum der Verstandesverwirrung einem
Dichter aus den Handen winden konnen, der seine dialogisiren-
den Personen einander mit Blumen werfen und sie, gleich Kin-
dern, buntgeflekteBalle schlagenlast, der. alle Geister unter dem
Himmel zu schonen Geistern zu kastriren und gleich dem AI-
chymisten, den kaufmannischen Merkur, den tragen Saturn,
die kalte Luna in den Apollo zu veredeln unternimt; der das
gesunde und schone Rot von den Wangen des geschilderten
Helden wegschindet [?], um durch die Einspriizung einer bunten
I 20 Verschonerung dem Parterre die toden Adern sichtbarer zu ma-
chen; der den Karakter, gleich Sonne und Mond, mit Vergrosse-
rung auf und untergehen und in der Mitte der Ban aus Mangel
an vergrossernden Diinsten in die natiirliche Grosse zuriikfallen
last; der den Pluto zum zweitenmal beredet, die christlichen
Proserpinen unter dem Pfliikken poetischer Blumen in das Reich
der Toden zu entfiiren; der wenigstens seine Schlachtopfer das
Leben fruher als die Allegorie zu endigen zwingt und seinen
Maschinen zur Endigung des erbaulichen Lieds den Balg zu tre-
ten vergist, so wie oft die Lunge der Orgel den Atem durch
30 fremde Nachlassigkeit vor dem Ende ihres Gesangs verliert.*
Was ist ungereimter als ein solches Trauerspiel? was ist aber
auch rumlicher? - Die poetische Prose lauft endlich mit ihrem
* Der Leser wird, zu seinem und unserm Vergniigen den Wiz in
der obigen Redefigur nicht zu iibersehen, hier in der Note hofKchst
ersucht. Es miiste ihm schon ser gefallen haben, fals wir bios die Lunge
des Menschen in einen Bias [defekt]
672 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Gestrauch auch an den Kirchmauern hinauf . Die Theologie hatte
schon von ieher ein Aug auf lange Gehorwerkzeuge und ihre
Feinde miissen ihr wenigstens den riimlichen Has gegen be-
schnittene oder kurze eingestehen; so wie gekronte Haupter
lange Soldaten kurzen vorziehen. Und beide aus demselben ver-
niinftigen Grunde: »inKriegen der Kopje sind lange Oxen immer
tapferer gewesen als kurze« sagt der Theolog; »gerade so waren
in Kriegen der Hande lange Korper immer tapferer als kurze «
sagt das gekronte Haupt, wiewol das belorberte des Generals
dieses nicht sagt. Daher tut der theologische Examinator und 10
der kriegerische ser wol, die Tapferkeit eines neuen
Rekruten genau zu messen. So ist zum Beispiel die Tapferkeit
des Polemikers A. eben soviel Fus und Zolle lang wie des bekan-
ten Dragoners B. seine; doch ist der Dragoner noch einige Stri-
che tapferer. Tut man nun zu viel Theologie ein wenig Poesie,
so erhalt man einen Maulesel, den wir wegen seiner Anlichkeit
mit dem Pegasus und dem Midas, fast dem Esel gleichschazen.
Wir verrieten ein ser unhofliches Mistrauen gegen deine
Augen, weises Publikum, wenn wir noch weitlauf tiger zu er-
weisen fortfiiren, daB die meisten Dichter dich um deine Be- 20
wunderung betrogen, und daB der Beifal, den du eigentlich fur
Affen aufgehoben, den Eseln zu Teil wurde, die dich mit einer
bunts chekkichten Verlarvung hintergiengen. Unsre satirische
Zunft leidet dabei am meisten; iiber was sol sie lachen? iiber
einen Esel lacht man wenig, fals er nicht scherzt. Auch wurde
sein Riikken,der das harte Ziel iedes plumpenPrugels ist, unsere
Geisel enteren. Nachstdem schuzt ihn seine dikke Haut vor dem
Gefiil der Strafe und die brittische Lowenhaut, mit welcher er
nicht selten sein schwarzes Ordenskreuz bedekt, verdoppelt gar
die Unempfindlichkeit - stat daB im Gegenteil der Affe weicher 30
fiilt, den die Drohung schon verwundet, und unter der Ziichti-
gung schreiet, springet, und grinzet; stat daB ihm, wie dem
Einwoner Bedlams, medizinsche Schlage nicht selten von der
Narheit helfen. Was bleibt uns nun ubrig? nicht die Bitte an
die deutschen Dichter, sich narrisch zu stellen. Die Verriikkung
des Kopfes komt nicht auf ihren guten Willen an: sonst ware
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 673
keiner mer bei Sinnen. Auch der Nar wird geboren, und nur
der Dumme weniger selten gemacht. Allein iener fordert einen
fetten Boden, dieser komt auf Kirchendachern fort; der Nar
Donquichot reitet das edlere Pferd, der Duns Sancho den
schlechten Esel und ienen bakt die Natur im Traum, und diesen
bios im Schlaf - daher schenkt sie uns den erstern seltner als
den andern, und wenn sie Grosbrittanien mit Einem Affen be-
gliikket, so fallen doch dem lieben Deutschland nichts als Esel
anheim, die den Affen zu spielen suchen. Eine Bitte wiirde uns
t0 also wenig helfen; aber ein Vorschlag der Mittel, sie zu erfiillen,
desto mer. In Hofnung eines dankbaren Gehorsams wollen wir
den deutschen Musensonen folgende Mittel, narrischer zu wer-
den y angepriesen haben.
Manchen Dichtern felet zum Besiz der Narheit nichts als ein
iiingeres Alter. Die meisten fangen erst im sechzenten oder gar
im zwanzigsten Jar zu dichten an d. h. sie beginnen zu schreiben,
wenn sie nicht mer huren konnen, und nemen aus dem peinli-
chen Gefiil der angehurten Dumheit eine Muse zur Frau, um
sich Narheit zu erheiraten. Aber diese Mode macht eben die
10 Verrukkung des Gehirns unter uns so selten. Das Laster hat
die Hippokrene der Narheit schon ausgepumpt, eh' noch die
-Dichtkunst angelangt, fur deren Begeisterung alsdan nichts als
der Schlam des Bodens iibrig ist. Da die Sele ihre Manbarkeit
fruher als der Korper erreicht - denn auf Schulen zeugt man
specimina, Exercitationes styli u. a. Geburten, allein meistens
erst auf Akademien Bastarte- so beschleunigt die iezige Verfei-
nerung die Reife nicht bios des leiblichen sondern auch des geist-
lichen Zeugungsvermogen und redliche Rezensenten hatten da-
her die Jarszeit, wo der Pegasus, gleich dem Moses, das
;o berauschende Dichterwasser aus dem Felsen schlagt, weit fruher
angeben sollen. Sie sahen, daB man iezt im 16. Jare die Liebe
schon iaben kan; warum schlossen sie nicht daraus, daB man
sie also im 12. schon besingen kan? Sezt man zu diesem alien
noch hinzu, daB die Manbarkeit die zum figiirlichen und unfi-
gurlichen Singen klare Kele oft in einer Nacht eine ganze Oktave
herunterstimme: so wird man gewis unserm ersten Rat, namlich
674 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
die iungen Leute schon auf Schulen zur Herausgabe narrischer
Gedichte anzuhalten, die Beforderung der Narheit nicht abspre-
chen. Daher die Rektoren, die die Arbeiten ihrer Schiiler ediren,
unendlichen Dank verdienen; nur mussen sie ihre eignen Vorre-
den, deren prosaische Dumheit dem Leser immer die
versi[fi]zirte Narheit verleidet, kunftig unterdriikken. Schritte
ferner die Manbarkeit mit dem Gange der Aufklarung weiter
fort d. h. der Kindheit naher und kame endlich die Zeit, wo
man huren und lesen zugleich lernte, und folglich zum Dichten
noch fruher als zu beiden fahig ware; so miiste man die Jarszeit ic
der Autorschaft noch weiter zuriiksezen und die Gedichte von
Kindern, die alsdann, gleich denen in der persischen Provinz
Chouvatisam, eine musikalische Stimme aus Mutterleibe brach-
ten und in melodischen Trillern iiber Bauchgrimmen schrieen,
beileibe nicht unterdriikken, sondern vielmer frankirt in die
Dessauische Buchhandlung der Gelerten zum Verlage senden.
Unsern Klagen iiber die Hurerei, deren Nuzen in Ruksicht vieler
andrer Dinge wir gar nicht laugnen wollen, lasset sich mit nichts
als hochsten[s] mit den Beispielen einiger Dichter begegnen,
denen ihre antiplatonischen Jungemagde zur Abzeichnung pla- 2c
tonischer Heiliginnen gesessen, wie die griechischen Maler oft
die Ziige zu Gottinnen von Huren entlenet. Allein ein Dichter
tut zur Schilderung vortreflicher weiblichen Karaktere besser
den Pinsel als die Augen herumschweifen und seine Phantasie
als seinen Beobachtungsgeist wirken zu lassen; kurz er mus den
ganze[n] weiblichen Engel aus der Luft greifen: denn auf der
Erde sind weibliche Engel so selten, daB wir uns bios mit weibli-
chen Gottinnen begniigen mussen. Die antiplatonische Liebe
soke eigentlich eine Nachgeburt der platonischen sein; lauft ruin
die Nachgeburt dem Kinde voraus, so wird die Geburt erschwe- 3<
ret, sagen die Hebammen. Wenigstens gleicht die Wollust in
Ruksicht ihres Verhaltnisses zur Poesie, den Sirenen; beide sind
nur in ihrer Jugend geflugelt. Uberhaupt wird ieder Freund der
Litteratur mit uns eine nahere Untersuchung iiber das Verhaltnis
zwischen Dichtkunst und Hurerei, von einem scharfsinnigen
Physiologen angestellet wunschen, und wir waren selbst neu-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 675
gierig zu wissen, wie oft des Jars ein Barde, wie oft des Monats
ein geistlicher Liederdichter das Bordel one merklichen Schaden
des Kopfes besuchen diirfe.
Wir raten fernerzu einem neuen BegeisterungsmitteL Apollo,
der sonst dem Griechen die Verse in den Kopf , und der Griechin
(der Pythia) in den Hintern diktirte, begeistert unsre Dichter
nicht zu einer einzigen Narheit. Vielleicht kan er kein Deutsch,
so wie der Dichter kein Griechisch - und dieser kan eine griechi-
sche Begeisterung nicht so leicht in eine deutsche iibersezen,
10 wiewol er griechische Dichter in deutsche iibersezt - Vielleicht
ist dem guten Jungling die Wiedergeburt des alten Germaniens
unbekant, dessen Siimpfe sich zu Hippokrenen gelautert, dessen
finstre Eichenwalder zu poetischen Hainen eingegangen - Viel-
leicht hat ihm derneuliche Phalanx weiter Bardenkelen das feine
Gehor verschrien, worin nur Musik der Spharen resonirt. Kurz
Phobus hort nicht mer, soke man ihn auch Foibos wiedertaufen.
Bacchus begeistert zwar noch, aber selten und nicht umsonst.
Durch gutes Bier den Nervensaft zu sturmischen Bewegungen
aufkochen machen, heisset wie die Schiffer handeln, die durch
20 saures das Mer zum Sturm aufreizen. Und iiberdies verlont die
Dauer des Ungewitters den Aufwand nicht; in kleinen Kopfen
brechen sich, wie in kleinen Wassern, die niedrigen Wellen ge-
schwind und der Sturm auf einem Teiche gleicht der Stille des
Ozeans. Unsre dummen Poeten gleichen den fliegenden
Fische[n]; ihre Fliigel erhalten sie so lange in der Erhebung als
sie nas sind, stat daB der Adler mit troknen Schwingen am be-
sten, und mit gebadeten am schwersten fliegt. Was ist zu tun?
unsre Dichter wollen nun einmal durch Begeisterung ihrer an-
gebornen Schwerfalligkeit entgegenarbeiten: denn sie haben in
jo Reisebeschreibungen gesehen, daB die Warme Esel schon und
lebhaft mache und im heissen Italien sind die Esel, die Sanften
tragen, kliiger als im kalten Deutschland die Esel, die sich tragen
lassen. Nimt man noch dazu, daB dem verfeinertern Gaumen
des Publikums nach grossern Narheiten liiste als die gangbaren
Begeisterungsmittel hervorzubringen im Stande sind, daB es
nicht mer Lerheit des Kopfes fur Lerheit der Fliigel und kleine
676 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Schwungfibern fur grosse Schwungfedern, sondern eine Ver-
riikkung des Kopfes fordert, die in einen einzigen Vers feindse-
lige Produkte aus alien vier Weltteilen des runden Gehirnes
stopfet und den Menschen, den Affen und den Han in demselben
Sak ersauft, die zu einem Bilde, wie die Agypter zu einem G6-
zenbilde, die Gliedmassen verschiedner Tiere pltmdert, und un-
ter deren Kunst eine kleine Anlichkeit, gleich den Polypen,
durch Zerstiikkung wachst und iede Strophe des Gedichts mit
einem maiorennen Gliede ihres Korpers bevolkert, oder die frei-
gebiger eine Metapher in die andre verlarvt, ein Bild zum Vor- 10
hange des andern macht und die Farben stat glanzend dik und
uneben auftragt; deren dichterisches Feuerwerk nicht leuchtet
oder warmt, sondern in bunten Flammen zittert, dauernde Ge-
genstande in zitternden und bunten Flammen darstelt bis die
unbestandige Kopie verlischt und unformliche Feuerklumpen
das aufgebrante Kunstwerk beschliessen — nimt man also zu
dem obigen die vermerten Forderungen des Publikums hinzu,
so wird man mit uns uber die Notwendigkeit einer neuen Hip-
pokrene, die mer den Verstand umnebelt als die Phantasie er-
hebt, einig sein. Mit dieser Wirkung ist nun wol der Rauchtabak 2c
begabt, den wir hiemit alien Dichtern anpreisen. Da seine dunl-
in achende Krafte sich vorziiglich bei einer gewissen fremden
Volkern bekantern Art, ihn zu rauchen, aussern, so konnen wir
auf den Unterricht der Reisebeschreiber verweisen. Um diesen
guten Rat zu schminken, solten wir noch verschiedne richtige
Anlichkeiten zwischen Dicbten und Rauchen anbringen; allein
diese Pflanze unsern Dichtern zu empfelen braucht es keinen
Wiz, sondern nur die platte Anfiirung ihrer schazbaren Eigen-
schaft, dumnarrisch zu machen. Da man inskiinftige aus Tobaks-
pfeifen die platonischen Fliigelknochen, die den Dichter iiber 3<
die iezige niedrige Heimat erhohen, schnizen kan, wie man auch
umgekert schon lange aus den Fliigelknochen verschiedner Vo-
gel Tobakspfeifen gemacht, so hoffen wir mit Grunde die ganz-
liche Abstellung des Gebrauchs, sich, gleich den Weiberjn],
schwere Geburten durch den Genus hiziger Sachen zu erleich-
tern; dieses Vorurteil hat schon eben soviele geistliche Vater
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 677
als leibliche Mutter getodet. Wir hoffen ferner, daB die deut-
schen Gedichte den Tobak kiinftig seltner werden anziinden
diirfen, weil er sie zeuget; es rniiste denn der Autor selbst mit
dem ersten Teil seiner gesammelten Gedichte die Pfeifen, die
den zweiten eingeben, entziinden wollen; und sonach kame wi-
der d[ie] Regel des Horaz ex f[umo] ffulgor]. - Noch eins! Jener
Alchymist sol seine Pf eife mit dem astronomischen Zeichen des
Phobus gestopfet haben; wie rniiste das den Apollo argern, die
Begeisterung nur einstopfen, nicht mer geben zu diirfen. Doch
I0 tragt dieser Spas weiter nichts zur Verstandesverwirrung bei
und ist also nur Nebensache!
Deutschland wird so lange keine Narren haben, als es Rezen-
senten hat. Kaum stent irgend ein toller Dichter auf, so binden
sie seine deutsche Manheit mit den Ketten der Regeln und arz-
neien und priigeln das Genie so lange, bis er wiederum zum
vorigen Esel niedersinkt. Und doch klagt man in alien Journalen
iiber Mangel an Originalitat, den man selbst veranlasset! Kurz
zur bessern Hegung der poetischen Narheit miissen wir auf eine
Rezensentenklopfiagd dringen und wir sagen es gerade heraus,
20 daB Deutschland die Verriikkung Englands one Wirkung
nachamet, bevor es nicht seine Ausrottung der Wolfe nachgea-
met. Wiirde man aber die litterarischen Henker entwafnen, so
wie die neuere Jurisprudenz es mit den burgerlichen tat, so wiir-
den die gelerten Diebe, die dem Reichen seinen Reichtum stelen,
weniger, der Originale merere und die Vernunft mit den Rezen-
senten seltner werden. Ein einziges Genie konte alsdan mit sei-
nem scharfen Wize den algemeinen Menschenverstand kopfen,
one die Wiedergeburt des Kopfes, wie bei den Armpolypen,
fiirchten zu dtirfen; und ein Herkules konte das vielkopfichte
30 Publikum enthaupten, in der Hofnung, daB ein zweiter Jolas
iedes aus dem wunden Halse keimende Haupt mit einem glii-
henden Eisen versengen werde, und one Furcht, daB im Sumpf
ein Krebs in die kritischen Scheren die Ferse dessen, der der
SchlangedenKopf zertrit, fassen werde. Da man von originalen
Kopfen, wie von dem Walfische, nicht Giite des Fleisches, son-
dern Menge des Fettes erwartet, so wiirde ieder Autor durch
678 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Walfischas zum Genie sich masten konnen und um den Magen
nicht durch die Augen zu zerstreuen, sich wie bei gewissen an-
dern Hausgefliigel, die Mastung durch Blenden erleichtern:
wenn kein kritischer Richter lebte, der, wie die Sparter, auf
grosse Fettigkeit Strafen legte. Je langer unser Nachdenken auf
diesem Vorschlage ruhet, desto grdssere Vorteile drangen sich
aus demselben hervor. Das Publikum wiirde sich nie an kleine
Dichtertalente stossen diirfen: denn der Autor konte demselben
die Entdekkung derselben durch Verbergung seiner Vernunft
ersparen und seine Oren in eine Schellenkappe verlarven: stat 10
daB iezt der Rezensent an dem Autor, der wie der grosse Vogel
Straus, seine winzigen Fliigel zu verstekken hoft, indem er bios
den gehirnlosen Kopf verstekt (d. h. stat eines schwachen Kop-
fes keinen, stat der Dumheit Narheit zu haben affektirt), die
nachgeamte Vermummung belacht und der Fama leise ins Or
sagt: der Her dort tut als wenn ihm der Kopf felet, verstekt
den Eselskopf, damit die Leute denken, er habe ein Affengesicht
und folglich Affenfiisse, die tanzen konnen. Woran liegt endlich
der Mangel an erhabnen dichterischen Schonheiten? nicht an
den Poeten: denn diese geben den niedrigsten Gedanken einen 20
koniglichen Mantel; sondern an den Rezensenten, die ihn von
den Achseln wiederum herunterzerren und den entlarvten Betler
dem Mitleiden Preisgeben. Schimmern nicht auf alien Dichtern,
wie auf dem Riisselkafer, Fliigel liigende Fliigeldekken? Aber
freilich wenn der Rezensent die bunte Schale abbricht, so mus
sich an dem pralenden Riisselkafer stat der versprochnen Fliigel
ein schuppichtes Hinterteil darstellen; allein nicht den Kafer son-
dern den Kritiker soke das Publikum die unzeitige Entzaube-
rung entgelten lassen. Er hatte wissen sollen, daB solche schone
Wachsbilder keine Betastung aushalten und daB man von Mil- 3°
tons Schonheiten, an denen, wie an den Stral[en] des Phobus,
die Zerspaltung den verborgnen Pfauenschmuk entfaltet und
deren festgeflochtnen Reiz die Hand eines Newton* in sechs
* Der den Milton und das Licht so kommentirte, daB Voltaire hatte
vergessen sollen, daB er in seinen alten Tagen auch die Apokalypsis
kommentiret.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 679
neue zuriikdrehet, gar keinen Schlus auf die Leute machen
konne, die den Milton verachten. Die Befolgung unsers Rats
wird nun durch Auferwekkung der Schonheiten, iiber die kri-
tische Richter den Stab brachen, und durch Beschuzung derer,
denen das kritische Anatomirmesser den Tod drohet, dem Pu-
blikum den Stolz wiederschenken, dessen Beistand die Vorziige
andrer Nazionen so notwendig machen. Endlich wolte man ia
die belletristischen Rezensenten nicht ganz vertilgen, so miiste
es unter der Bedingung geschehen, daB sie bios eigne Werke
10 beurteilen: denn nur so ware von ihnen keine neidische Entlar-
vung des dichterischen Niedrigen, das das Publikum zu seinem
patnotischen Stolze nicht entberen kan, zu besorgen, sondern
vielmer lobrednerische Schminkung der Larve zu hoffen und
die mikroskopischen Augen des Schmetterlings wiirden die
Fliigel desselben, deren Wert die naturlichen Augen des Men-
schen auf bunten St.aub heruntersezen, mit unsichtbaren
Schwingfedern befiedern.
Das Joch der Vernunft abzuwerfen, mus man vorher das Joch
des Reims abwerfen. Ists nicht lacherlich, den Pegasus, den man
20 am Kopfe nicht mer aufzaumen mag, am Schwanze aufzuzau-
men, oder mit einer andern Wendung, ists nicht am besten,
dem Verse den Sin und den Reim zugleich, und sowol dem
Reuter den Kopf als dem Musenpferd den Schwanz zu nemen,
gleich den Englandern, die
coupent les tetes aux rois et les queues aux (besser a leurs) che-
vaux.
Ihr erspart durch Wegschneidung des Sins eurem Leser den Ekel
an altaglichen Gedanken; allein das Hinterteil des Verses ekelt
ihn ia noch weit mer und er findet am deutschen Verse, wie
30 an den Schlangen, weder Kopf noch Schwanz sondern bio's den
flekkichten Oberrest, der zwischen beiden innen liegt, genies-
bar. Die Mitteilung eurer Narheiten ist der Zwek eurer Verse-
macherei; allein wie oft fordert nicht der Reim die [defekt] heit,
wie oft vergesset ihr nicht iiber dem Stimmen [des Hinterteijles
das [Narjrische, das ihr sagen woltet, wie der Klang von Davids
Harpfe die Tolheit Sauls zerstreuete, und wie oft wird nicht
680 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
die Vernunft, die ihr immer zur Bildung des Reims rufen mus-
set, sich in das iibrige, wozu man sie nicht gerufen, mischen
wollen? Wir wollen iibrigens gar anfiiren, wie ser die Nachbar-
schaft, worin der Reim mit dem Wolklang stent, euch die Hol-
perichkeit des Verses und seine rumliche Anlichkeit mit Golde
erschweren wiirde, das nicht klingt. Schon Bartholin sah ein,
daB Reime die Epilepsie vertreiben; warum schliest man denn
weiter fort, daB Reime sich mit der neuern Narheit so wenig
vertragen als Nieswurz? Ubrigens sind reimlose Verse weit iiber
unserm Lob; sie mogen sich durch ihre Wirkungen selbst an- 10
preisen. Leset unsre reimlosen Gedichte, und wenn ihr nicht
in den meisten eine Narheit findet, die den meisten gereimten
Versen relet, so wollen wir uns stat des Reims tadeln und verlo-
renhaben. Den geringen Fortschrit der poetischen Raserei unter
uns haben wir unstreitig den wenigen Dichtern, die ienen Stein
des Anstosses aus dem Wege warfen, zu verdanken. Wiirde man
wol z. B. in den Gedichten, die ein gewisser Poet in Wien dem
D. Museum widmet, die Narheit entdekken, die ieder in ihnen
bewundert, diente nicht die Reimlosigkeit in Geselschaft des
harten Versbaues den dummen Gedanken zu einer narrischen 20
Larve? Fart der H. Verfasser in der Verriikkung seines Kopfes
noch weiter fort, so wird kunftighin nicht bios kein verminftiger
Gedanke mer die reimlose Zeile schanden, sondern sogar in ge-
reimte wird er den Unsin verpflanzen konnen. Namlich auf
folgende Weise, die wir nicht bios ihm, sondern auch andern
Sangern angeben. Man erfinde den Reim zuerst; alsdenn wird
schon derhartnakkichte Vorsaz, ihn beizuhalten, den verniinfti-
gen Gedanken zu Unsin verstumlen und bei dem Verse wird,
[wie] bei der Pythia, der Hintere dem Kopfe die Narheit dikti-
ren; ubrigens ists wenigstens gut, den dummen Gedanken, wie 3c
Kakus die Ochsen, bei dem Schwanze in den Stal zu ziehen.
Man sieht hieraus auch die Schlechtheit der Dichter, bei denen,
wie bei, dem Knarhun, der Hintere erst den Kopf akkompagnirt.
Endlich ist es wol unstreitig, daB besseres Papier und besserer
Druk der deutschen Poesie den gehorigen Schwung geben
wiirde, und es felet uns weniger an guten Dichtern als an guten
BrrrscHRiFr der deutschen satiriker 68 i
Verlegern. Wie kan ein erhabner Gedanke auf Fliespapier leben?
Wie ser erbleicht nicht das glanzendste Geisteskind zugleich mit
der Drukkerschwarze? und steht nicht die Scharfe des Wizes
mit der Scharfe der Lettern in einem unlaugbaren Verhaltnis?
Warum [defekt] sche Schriften, zu deren Gegenstand man mit
Recht [defekt] zu Makulatur herab? sie waren auf zu schlechtes
Papier und mit zu schlechten Lettern gedrukt, als daB irgend
eine schone Freundin iedes Puzes ihnen die Bildung ihrer Lokken
hatte anvertrauen mogen; ia nicht einmal die Bildung ihres Ver-
io standes; denn der Umgang mit iungen Reichen hat sie angewo-
net, das Herz durch [den] Stern, den Kopf durch den Hut und
den Menschen durch das Kleid ersezt zu sehen. Wodurch iiber-
trift der Britte den Deutschen? durch das, was wir noch nicht
nachgeamet, durch typographischen Wiz und Tiefsin. Verge-
bens suchen wir durch Nachamung seiner Narheit einen gleichn
Rum hinanzuklettern; den deutschen Schriften felet zu . . . So
sieht ieder ein, daB Amsterdam dem Paris Wiz, und Lemgo
dem Lemgo Unsin leihet. Was berechtigt Wien zu seinem neuen
Stolz und zu seiner Geringschazung derer, die Wien erst lesen
20 darf? gewis nicht die Verdienste seiner Autoren, sondern die
Verdienste seiner Verleger, von denen iedoch die erstern unzer-
trenbar sind; es weis nun schon wizig zu drukken, und wieneri-
sche Sprache durch hollandisches Papier zu adeln; so stammelte
Mosis Zunge aber sein Angesicht glanzte. Der herlichen, durch
Plan und Menschenkentnis schon langst berumten Romane, die
uns Chodowiecki's Reisfeder und Geisers Stichel iarlich liefert,
wollen wir gar nicht gedenken, sondern uns bios mit der Erwa-
nung der schmuzigen Schriften des vorigen Jarzehends begnu-
gen, die reines Papier zu wiirdigen Zierraten weiblicher Toilet-
30 ten reinigte. Wir lasen manche davon im himmelblauen
Manuskripte - denn die Biicher werden gleich den Speisen, in
schmuzigen und tonenen Gefassen gekocht, aber in glanzenden
und silbernen aufgetragen - und wir erstaunten iiber die Plump-
heit der Zoten; allein da wir sie wiederum gedrukt lasen, so
erstaunten [wir] iiber die Feinheit des zweideutigen Wizes. Wir
lobten daher die innere Unreinlichkeit der Autoren eben so ser
682 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG
als die aussere Reinlichkeit, und brachten dabei das schmeichel-
hafte Gleichnis von dem an, der eben so heftig
stinkt als er die Reinheit seines weissen Felles bewacht. Doch
ist nicht bios weisses Papier die Larve, sondern auch schwarze
Drukkerschwarze das Schonheitswasser unzuchtiger Schriften.
Obrigens solten auch die Verleger die belletristischen Werke
darum reichlicher schmukken, weil sie am meisten von der Un-
sterblichkeit derselben leben. Was macht sie arm? der Verlag
gelerter Werke - was wiederum reich? der Verlag schoner
Werke: so behauptete man von einem Grossen zur Zeit des spa- 10
nischen Sukzessionskrieges, daB er durch Goldminen arm und
durch Hospitaler reich geworden. Endlich solten doch die Neu-
ern das einzige Mittel, den Vorschrit in das Tor der Ewigkeit
den Alten abzulaufen, nicht so ganz vernachlassigen, sondern
sich der gliiklichefn] Erfindung der Buchdrukkerei dadurch
wiirdig machen, da(3 sie Schonheiten, deren Schopfung sie den
Heiden mit dem Kopf nicht nachtun konnen, wenigstens durch
die Presse hervorzuzwingen suchen. - Schliislich rechnen wir
zur Schonheit belletristischer Schriften ihre Kleinheit: denn wir
haben an alien Lesern alzeit ein besondres Vergmigen iiber das 20
Ende derselben bemerkt; allein sie durch viele Seiten hindurch
sich zu diesem Vergmigen den Weg zu banen notigen, heist
durch Ermiidung die Frucht derselben verbittern. Die engen
Nahbeutel der Leserinnen nemen nicht wie Jagdtaschen einen
grossen Adler, sondern nur bunte und kleine Kolibritgen ein,
die die wilden Damen dafur an die Oren hangen. Nebenher
anzumerken: der Adler verschlukt das uberflussige Licht mit
[seinen] starken Augen, das lekkere Kolibritgen stelt den Augen
andrer Tiere nach. Wie toricht liess' es iibrigens, wenn der
Schmetterling mit den Federn seiner Fliigel Folianten schreiben 30
wolte? stat der Almanache. Nicht bios das Epigram, sondern
alle Gedichte wachsen an Wiz durch Kleinheit; nicht bios das
Singedicht anlicht der Sage des Schwertfisches, deren Kiirze die
Zane vermeret, sondern auch die ubrigen Gedichte anlichen den
Produkten des Gewachsreichs, wo die Gestrauche mer Mark
als die Baume enthalten. Daher verdienen die Verleger alles Lob,
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 683
die das schlechtere Tuch des Autors mit Gold d. h. den Inhalt
der Seite mit einem breiten weissen Rand bordiren und folglich
beschneiden; ie weniger auf einer Seite steht, desto weniger kan
dem Leser misfallen. Daher taten endlich die Autoren ser wol,
die aus riimlicher Aff ektazion der Kiirze das Buch und den Aus-
druk zugleich abkiirzten und das Publikum mit einer doppelten
Sparsamkeit in ihren Worten und vorziiglich in ihren Gedanken
erfreueten - oder die ihm durch Gedankenstriche die schalen
Gedanken ersparten, die im entgegengesezten Falle den leren
10 Raum hatten ausfiillen miissen.
Dies sind, Hebe Autoren, die noch ungebrauchten Beforde-
rungen der poetischen Narheit; wir lassen die Erfindung neuer
eurem Triebe zur Vervolkomnung und hoffen bios die Be-
schneidung eurer langen Oren und eine gewonliche Verriik-
kung. Unterstiize du, weises Publikum, mit deinen Bitten die
Wirksamkeit unsers Rats und drohe denen, die keine Narren
werden mogen, mit deinem Misfallen. Stelle deinen Lieblingen
den Trieb vor, den du hast, die Franzosen zu verachten, erweise
ihnen zugleich die Unmoglichkeit, diese[r] Nazioh in etwas an-
20 dern als der poetischen Narheit vorzulaufen und sage, was du
schon so oft gesagt, dan in dieser Riiksicht patriotisch sein nichts
heist als narrisch sein - Kurz sage, dan du die poetische Tolheit
weniger unsertwegen, die wir sie belachen mochten, als deinet-
wegen forderst, der du sie lesen, sie loben, sie bewundern, iiber
sie stolz sein und sie endlich darauf auch belachen wilst.
»Teufel! wie gros ist das Gebiet der Dichter! sind wir denn
noch nicht an dem Ende desselben?« So wirst du, ermudeter
Leser, iezt ausrufen; und gerade so riefen auch wir aus, da wir
auf den gewonlichen Granzen des Poetenlandes in eine neue
30 Erweiterung derselben hiniibersahen. Unserm Erstaunen iiber
den neuen Boden glich nur das Erstaunen iiber seine neuen Be-
woner, die durch eine Amazonenkleidung die Oberflache der
eigentlichen Dichter so gut von sich spiegelten, da8 wir sie bei-
nahe fur Manner gehalten. Ihr Schonen! oben da wir das Gliik
hatten, euch fur einige Torheiten zu danken und euch um neue
zu bitten, zolten wir eurem Geschlechte die gehorigen Krazfiisse
684 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
und den Handkus; allein hierunten, wo wir zwar auch das Gltik,
euch fiir Torheiten zu danken, wiederum geniessen, beugen wir
uns vor euch weniger tief und die Hande kiissen wir gar nicht:
denn ihr erscheint als Amazonen, die dem Manne zu viel anli-
chen, um von ihm geschmeichelt zu werden. Sol der Pfau vor
einer Krah^ die von ihm das bunte Kleid geborgt, den Schwanz
neigen? Ja! wenn die Krahe in ihren eignen Federn vor ihm steht;
alsdan fordert es der Wolstand von dem Pfauen, seine schim-
mernden und beleidigenden Talente auf der Erde aufschleifen
zu lassen, von sich nichts zu zeigen als die Fusse und die Federn 10
der Krahe mit der rauhen Stimme zu loben.
Unsre Bitschrift sol vorziiglich das Publikum auf die Selten-
heit der Torheiten aufmerksam machen; wir miissen daher auch
von dem weiblichen Dichterwesen, das man fiir die neueste
Torheit erklart, zeigen, daB es keine ist, aber auch zugleich das
Mittel angeben, es zu einer zu vervolkomnen. Wenn es keine
Torheit, mit dem angebornen Pfunde zu wuchern: so ist es auch
keine, wenn eine Schone dichtet: denn die Natur scheint fast
das andre Geschlecht zum Dichten noch fahiger geschaffen zu
haben als das erste. Die Eigenschaften, wodurch sich unsre Poe- 20
ten ihren Rum verdienen, sind wie bekant Unwissenheit und
Warme; allein wir fragen ieden Stuzer, ob nicht die meisten
Schonen diese beide Talente in einem weit hohern Grade besi-
zen? Der Dichter wird nur gemacht; die Dichterin auch geborcn;
d. h. iener muste sich zur Dichtkunst erst durch das Denken
durchschlagen, fiir welches die Natur den Man mit Basfibern
bezogen zu haben scheint, und seine sehenden Augen wiirden
die Kele zerstreuen, wenn er die Phantasie nicht wie die Nachti-
gal, durch Verfinsterung des Bauers zum Singen aufforderte.
Die Verfinsterung gliikt fast auch den Neuern noch viel besser 30
als den Alten; deren Einbildungskraft immer zu ser mit Verstand
geschwangert war und gleich den Edelgesteinen, zu Nachts das
Licht von sich warf, das sie am Tage eingesogen. Allein alle
diese Schwierigkeiten kent die Dichterin wenig und wenn dem
Manne die Ideen wie die Erbsiinde (nach Leibniz) ahgeboren
sind, so sind sie ihr (nach Lokke) wie die wirkliche Siinde nicht
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 685
angeboren; den fernern Beweis davon wird man mit vieler Ge-
lersamkeit in A's algemeiner Weltgeschichte, und auch in B's
Anatomie des Menschen ausgefiiret finden. Die Erziehung ent-
wikkelt iibrigens das Nichtdenken, das sie der Natur roh ver-
dankt. Man wiirde die Sorgfalt der Eltern und den Fleis derer,
denen sie die Bildung des Madgens iibertragen, vollig verken-
nen, wenn man beiden die wenigen misgeratnen Schonen, wel-
che denken, zu Last legen woke. Denn was konnen sie zur Ver-
volkomnung der freilich ungleich ausgeteilten Fahigkeit, nicht
io zu denken, bessers tun, als dem Madgen die Abbildung der
neusten Damenmoden etwas fruher als das Abcbuch in die
Hande geben, zugleicherzeit seine Fiisse dem Tanzmeister, seine
Hande dem Zeichenmeister, sein Herz einem Kandidaten, seine
Zunge einer Franzosin und was am meisten ist seinen Kopf den
- Autoren anbefelen? - Oder wil man diesen Lermeistern zu-
sammen alle Liebe und alle Fahigkeit zum Nichtdenken abspre-
chen? O glichen ihnen alle Schonen nur halb; so hatten wir der
Homere mer als der Zoilusse. Der Kopf ist der Termometer
des Herzens; mit der.Lerheit des ersten haben wir daher zugleich
20 die Warme des andern erwiesen. In den kleinsten Tieren zirkulirt
das heisseste Blut; gerade so steigt die Warme der Ideen mit
der Kleinheit ihres Tummelplazes. Die Empfindsamkeit, die in
manlichen Kopfen schon langst versiegt ist, sprudelt der Kalte
der Jarszeit ungeachtet noch aus weiblichen hervor. Diesen Be-
weis ihrer Warme wird der Pyrometer noch unterstiizen, wenn
man mit ihm den Wert dessen, was die Manner von der Liebe
drukken lassen, und den Wert dessen, was die Weiber von ihr
sagen, messen wird; wie Urin und Weibermilch dieselbe Warme
aussern, eben so und so weiter. Uberhaupt ist die Erhizung
30 der iezigen Sanger leicht zu erreichen: denn sie scheint halb er-
dichtet zu sein. Bako hat angemerkt, dafi ein gliihendes Eisen
schwacher als ein kaltes klingt; umkleidet man diese Bemerkung
mit einem metaphorischen Sin, so widerlegt sie die Gefiilsan-
massung der Neuern, deren Empfindungen zu laut sind, um
warm zu sein. Das Gefiil gliiht; allein eben darum knistert es
nicht. Auch steigt die Phantasie zu selten auf den Siedpunkt
686 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
und sinkt zu bald, als dafi die Vater em p finds amer Alphabete
nicht den nbrdlichen Volkern anlichen solten, die sich vor andern
durch Fruchtbarkeit auszeichnen. »Aber wenn das andre Ge-
schlecht nicht Dichter, sondern auch Gedichte zu gebaren die
Talente hat; warum nuzt man seinen Kopf in offentlichen Am-
tern nicht? Oder sollen alle Volker Unrecht gehabt haben?«
Welcher Schlus: die Weiber taugen zu keiner Verrichtung, wo-
bei man denkt, ergo taugen sie zu der nicht, wobei man nicht
denkt. Der h. Apostel Paullus verbot ihnen, in der Kirche zu
predigen, allein er verbot ihnen nicht, darinnen zu singen. Zum 10
Pfarrer gehort ein Man, der drei Jare auf einer Universitat gelebt
und folglich ein Gelerter ist; allein der Kantor braucht nie Stu-
dent, sondern hochstens nur Primaner gewesen zu sein. - Die
Schonen beruffen sich selbst auf ihr gutes Herz, um das Dasein
einer guten Kele zu erweisen und nicht selten sagen sie den Re-
zensenten, daB sie zu sanftmiitig sind, um schlecht zu dichten.
In dieser etwas neuen Schlusart geht ihnen der beriimte Linne
vor, welcher die sanftmiitigen Tauben mit den Sangvogeln in
eine Klasse sezt. - » Allein warum fieng denn die Phantasie der
Weiber erst im vorigen Jarzehend zu singen an?« Nicht - wie 20
man daraus folgern wil - weil ihr der Gesang nicht angeboren,
sondern erstlich darum. Die deutsche Poesie entfernte durch
ihre Unvolkommenheiten die Dichterinnen von sich und sie
muste sich erst zu dem Ton vervolkomnet haben, in den die
Schonen einf alien konten. Der deutsche Phobus muste lange
an dem himlischen Tierkreis herumfaren, die Sonne muste in
den Wasserman getreten sein, um Wochenschriften einzuflos-
sen, in den Stier, um Dumheit mit Wut vereinigt zu schenken,
in den Krebs, um die Geniehize zu geben, bis er endlich in die
gemassigte Jungfrau treten konte. - Wer ferner die Fesseln kent, 30
in die man die Schonen noch vor funfzig Jaren schmiedete, der
wird ihren spaten Aufflug begreifen. Sie waren noch mit einer
zu grossen Affenliebe gegen ihre Tochter angestekt, um ihnen
die neun griechischen Madgen vorzuziehen und waren ihren
Mannerfn] zu treu, um mit dem Apollo die Ehe zu brechen.
Sie konten wol ihre Kinder in den Schlaf singen, allein nicht
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 687
das Publikum; sie brachten die Zeit, worin sie Epigrammen
hatten spizen konnen, mit Abstumpfen der Nadeln hin und rei-
nigten sogar ihre Wasche selbst, stat daB sie keine andre als
fremde hatten reinigen d. h. rezensiren sollen. Sie liebten zwar
ihre Mariner auf der Erde, allein sie glaubten noch, daB man
sich im Himmel nicht mer freien wiirde und ihr Christentum
schrankte sich zu ser auf Handlungen ein, als daB sie den unsri-
gen hatten nahe kommen konnen, die, gleich den Peruanerin-
nen, welche in die Kirche gehen, weil sie gerne singen, in dem
10 Christentum den Gegenstand ihrer Verse lieben. Sie spielten
weder mit Karten noch mit Worten;" und da ihre Fiisse stat zu
tanzen nichts konten als gehen, was wunder, wcnn sie auch die
Fiisse ihrer Worte nichts vom Tanzen lerten, sondern bios beim
Gehen in Prose liessen? Kurz dazumal wurden die herlichsten An-
lagen der Dichtkunst durch hausliche Tugenden und durch sim-
peln Menschenverstand ganzlich erstikt; und nur der ganzlichen
Ausrottung der leztern hat Deutschland das Aufflattern seiner
Dichterinnenzuverdanken.Ubrigensgereichtdemselbendervo-
rige Raupenzustand seiner weiblichen Schmetterlinge zu keiner
20 sonderlichenSchande: denn muste selbst Paris frCiher auf dieBei-
ne als auf die Kopfe seiner Weiber stolz sein*, so konnen ia wir
Deutschen iiber die wizigen Kopfe der iezigen Weiber die ar-
beitsamen Hande der vorigen verschmerzen. - Das Dichten der
Schonen lasset noch bessere Beschdnigungen zu. Eine gute Of-
nung eines weiblichen Kopfes entdekt uns nicht bios die Staub-
faden, die poetische Blumen zeitigen konnen, sondern selbst
den Samenstaub, der im Grunde aus tausend kleinen Blumgen
besteht; nicht bios die Geburtswerkzeuge, sondern, gleich dem
H. Haller, den pullus in ovo. So hinterlast z. B. die schone Lek-
30 tiire tausend Blumgen in dem Gehirn, in dessen Nervengeist
man sie frisch erhalt, und die Notwendigkeit, in der Geselschaft
zu schimmern, veranlast die Schone, ihre Sele, so wie ihren
Korper, mit Eselsmilch zwar nicht zu naren aber doch zu wa-
* Rabelais sagt, Paris habe seinen vorigen Namen Lutece von der
weissen Farbe der Beine seiner Weiber bekommen. Die andre, gerade
entgegengesezte Ableitung dieses Namens ist bekanter.
688 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
schen, und gleich den mogolischen Weibern, welche Blumen
in die Haut einschneiden, ihrem Gehirne poetische Verschdne-
rung einzuazen. Nun fragen wir ieden, ob eine solche Blumen-
lese nicht in eine gedrukte Blumenlese eingeschaltet zu werden
verdient, undobihrGeruchnur den Nasen eines kleinen Zirkels
vonFreunden undFreundinnen angehore, die ihn nicht seltenaus
Nachlassigkeit, oder Neid, oder Dumheit ungenossen und un-
geriimt vorbeistreichen lassen. - Wie oft (iberreicht ihnen ein
schoner Geist nicht im Umgange poetische Bouquets, zu denen
die Blumen durch Sicherheit vor kritischen Sensen hoher als 10
die gedrukten emporgeschossen! Sol nun die Schone diese Ge-
schenke nicht wiederum an das Publikum verschenken, wenig-
stens an den Verleger verkaufen durfen! Solten dieses wol selbst
einige Schone glauben, so fordern wir sie hiemit auf, alle die
siissen Schaze, die die Poeten gerne den ungefulten weiblichen
Kopfen, so wie die Bienen ihren Honig holen Baumen, anver-
trauen, unter ihrem eignen Namen zum Besten des bevorteilten
Publikums herauszugeben und sich, wiewol mit Bescheidenheit
Baume zu nennen, die stat der Friichte Honig tragen. Wir iiber-
gehen iibrigens noch tausend zwingende Anlasse zum Dichten 20
- wer wolte z. B. den Kummer, fur den keine Freundinnen
Ableiter abgeben, nicht liber das ganze Publikum herunterreg-
nen lassen - wer woke nicht den Man und die Bekanten, die
das Summen zuwenig ziichtigt, mit Epigrammen stechen - wer
woke nicht seine eigne Langeweile dem Publikum mitteilen,
um sie zu mindern - wer wolte dem Reiz der Abwechselung
widerstehen, bald Bander bald Sylben zu messen, bald sich bald
sein geistiges Kind zu schmiikken, bald die natiirlichen bald
die satirischen Zane weiszupuzen, bald mit dem Facher bald
mit der satirischen Geisel angeneme Schmerzen auszuteilen? p. 30
- allein das, was den Schonen das Dichten unentberlich macht,
die Verfeinerung der Liebe, wollen wir zur Rechtfertigung der-
selben noch beriiren. Der geheimde Rat Kloz hielt, nach Les-
sings Vorwurf, ieden geflugelten Knaben Kir einen Amor; ge-
rade so glaubt das andre Geschlecht ieden Dichter der Liebe
fahig und sieht Gedichte (poetische Blumen) fur Bliiten der
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 689
Liebe an. Es irt sich hierinnen so wenig, und es kiirzet bei einer
Liebe, auf deren gehofte Erwiederung die Schamhaftigkeit die
Entwafnung wagt, alle Vorsorgen fur den Riikzug so gut ab,
daB nur wenige geschwinde Augenb[l]ikke den Widerstand von
der Niederlage trennen. Schon unter dem Treffen muntern poe-
tische Pfeifen und Versemusik die Tapferkeit auf; allein nach
demselben ergozt das Te deum und andre Konzerte das Or am
meisten. Und hier schlagen wir ieden Tadler der Dichterinnen
mit der Frage nieder: ob man wol heiliger huren konne als wenn
10 man poetisch hurt und sich, gleich den Schmetterlingen, auf
poetischen Blumen begattet? Mit welcher Keuschheit umarmet
nicht der Liebhaber seine Geliebte in den Musen, und sie ihri
in dem Apollo? sezt Sezt noch die Impotenz der meisten Dichter
hinzu, denen, wiegewissen Insekten, die Geschlechtsglieder nur
am Kopfe sizen, so mus es ieden freuen, daB sich fur den Kastrat,
der seine Liebe nur singt, eine Kastratin findet, die auch die
ihrige singt. Wie oft werden endlich die, welche der Ort schei-
det, von frankirter Poesie vereinigt; so wie stat der Post der
Wind die ewiggetrenten Blumen kopulirt. Kurz, die weibliche
20 Dichtkunst ist nach unserm Erweis so wenig eine Torheit, daB
wir das andre Geschlecht hiemit auffordern, sie bis dazu zu trei-
ben. Unsre Bitte ist nicht unbillig: denn ihre Erfiillung kostet
demselben nichts als den Vorsaz, zum waren Ziele der Dicht-
kunst eine andre Ban einzuschlagen. Seine Verse sind voriezt
harmonisch und dum und man kan an ihnen, wie iener Prinz
(nach Voltairens Bericht) an ienem Frauenzimmer, nichts als die
Fusseliebcn, welche ihnen, wie dem Teufel, der Pegasus stat des
Kopfes geliehen, womit der Ochs dem bosen Feinde und seinen
Gedichten aushelfen mussen. Wie volkommen sind dagegen die
30 manlichen, die mit verriiktem Inhalt schrekken und auf lauten
Fiissen stolpern gleich den Larven der My-[BlattschluB]
Wir rechnen troz den Naturkiindigern den Vogel Minervens
zu den Strichvogeln und glauben, daB die Warheit so gut wie
die Selen wandere. Hierin bestarkt uns das neuere Beispiel Wiens
besonders. Ein einziges Erdbeben trieb aus dem Grunde einen
Parnas hervor, zu dem der Neid hinaufsieht und von dem der
690 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Stolzherumsieht; einen Parnas, der seinen Boden aus der Unbe-
kantschaft, in der ihn die tausend niedrigen zeither von unterir-
dischen Maulwurfen aufgestossenen Parnasgen liessen, auf ein-
mal reisset, und auf dem selbst iezt die Duodezparnasse in die
Augen fallen. Unsere Litteratur sinkt, wie wir oben aus der
Vergreifung ihrer Natheiten erwiesen; die wienerische steigt, wie
wir aus ihrer Hinarbeitung zu neuen Torheiten dartun werden.
Dieses Lob ihres iezigen Zustandes wollen wir gar nicht zu ei-
nem Tadel des vorigen misgedeutet sehen. Gewis daB Wien
nicht erst von gestern her, sondern schon langst durch den Eras- 10
mus, mit der Gottin, welche dieser Man beinahe zu ser gelobt,
bekant geworden; gewis daB die Lange seiner Oren, die immer
mer fur kiinftige Schellen reifen, eine lange Ernarung vorausse-
zen - nur aber rezensirte Berlin die wienerische Makulatur noch
nicht, und unsre Schriftsteller lasen dieienigen nicht, von denen
sie nicht gelesen wurden; Wien besas schon damals Kopfe, nur
konte man sie in Sachsen und Brandenburg bios im Gemalde
haben, sowie Herodot keine andern als gemalte Phonixe gese-
hen; es konte schon damals Hanswiirste aufweisen, nur spielten
sie noch auf keinem Nazionakeater, sondern bios auf deutschen 20
Teatern. Das adeliche Alter seiner Oren zu zeigen, konten wir
uns auf die theologischen Schriften beruffen, die die Monche
von ieher mit eben soviel Vergniigen zeugten als leibliche Kinder
und die gleich diesen irdischen Geschwistern der Welt unbekant
auf ihren Geburtsortern starben; allein die unwidersprechlich-
sten Beweise, daB die erasmische Gottin die wiener Autoren
vor der Presfreiheit eines vorlaufigen Einflusses gewiirdigt, ge-
bar oder vielmer entband der Tod der Kaiserin, welche wizige
Kopfe in ihre Tranen einsalzten, wie die Salztrager die toden
Kdnige von Frankreich, Schon in diesen Gedichten warf die 30
Narheit gaukelnde Stralen durch Weihrauchswolken der Dum-
heit und wir hatten nicht Unrecht, da wir aus dem erschrekli-
chen nachtlichen Geschrei der Pfauen die Vermutung zogen:
»nun wird bald ein sanfter Regen fallen. « Soke iibrigens ein
Neidischer an dem Dasein dieser Gedichte, die noch fruher als
ihr erhabner Gegenstand verwesten, zweifeln wollen, so ver-
BITrSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 69 1
weisen wir ihn auf die deutsche Geschichte, die die Poesie aus
Dank [fur] die alten Woltaten in Geschichte verwandelt*; diese
wird ihn leren, daB man in Wien beinahe zwei Jare den Tod
der Kaiserin besungen. Im Vorbeigehen konnen wir den hohen
Hauptern, die, gleich den Gipfeln der Baume, den poetischen
Vogelfn] zum Parnasse d. h. zum Geburtsort ihres Gesangs und
ihres Kots dienen miissen, und vorzuglich der oftgedachten
grossen Kaiserin, die zuviel Lob verdiente, urn gereimtes zu
verdienen, und die nicht bios das Opfer der Kelen sondern auch
10 der Magen ihrer Sanger wurde, ein aufrichtiges Bedauern zollen
und das herliche Vorrecht des Narzissus wiinschen, an dessen
Grabe man bios mit Stilschweigen voriibergehen durfte. Diese
Sangereien waren wie gesagt Voriibungen zu den iezigen Vol-
kommenheiten, die immer nur noch Voriibungen zur Narheit
sind und Wien kan wol auf lange Oren, aber noch auf keine
Schellenkappen stolz tun. Unsre Augen wenigstens konten in
seinen Broschiiren nichts entdekken als Dumheiten, die iedoch
viel versprachen und deren man fur zehn Kreuzer nicht merere
fordern konte. Ihnen die Entfernung von den Narheiten, nach
20 denen sie streben, zur Last legen wollen, hiesse vergessen, daB
sie erst seit kurzem etwas Dummes sagen diirfen, das die Mon-
che nicht diktirt, und sollen die Esel, welche die Presfreiheit,
sowie das romische Fest des Gottes Konsus, von ihrer Sklaverei
erloset, sich schon mit dem ersten Versuch auf das Springen
des geiibtern Affen verstehen? Oder wil man aus einzelnen Bo-
gen die Bande beurteilen, die von ienen so angekundigt werden,
wie bei den Weibern die Gebarung des Kindes vom oftern
Zwang zum Harnen? Und wird nicht selbst den Monchen eine
zu lange Enthaltsamkeit den gestatteten Genus der Weiber und
30 der Musen erschweren? Den Fortschrit unsers Parnasses iibri-
gens besser zu mizen war zu einer Zeit unmoglich, wo man
zugleich lernen und schreiben, d. h. zugleich trinken und pissen
muste. Allein wir diirfen hoffen, daB die ^Narheit endlich auf
* Namlich bei den alten Deutschen kam die Geschichte durch die
Poesie auf die Nachwelt; bei uns komt die Poesie durch die Geschichte
auf dieselbe.
692 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
der Dumheit wurzeln werde, so wie, nach einem alten deutschen
Margen, eine Eselin die Hasen gebar, und dies aus folgenden
Griinden: sie aussern erstlich den Stolz, der ihren Fortschritten
den Weg durch die Hindernisse der Vernunft banen mus und
der eben so oft der Vater als das Kind der Grosse ist. Der Mangel
des Stolzes zeugt eben unter uns diesen grossen Mangel der
Narheit, so wie im Gegenteil den Britten Nazionalstolz und
Nazionaltorheit zugleich auszeichnet; mit zu wenig eignem
Winde versehen, um nicht nach ausserer Luft zu schnappen,
bleiben wir bios bei dummen Handlungen stehen, fur deren 10
Billigung unsre Erfarung biirgt, und wagen keine Torheit, deren
Ungewonlichkeit man unter den Namen der Vernunftwidrig-
keit tadeln wiirde. Der Stolz verpanzert, wie sonst der Teufel,
dieienigen, die er besizt, mit Unempfindlichkeit gegen ausserc
Verwundungen und erlast der Dumheit den Zaum fremder Ur-
teile, dernarrisches Springenzuriikhielt. Auf einensolchen Stolz
kan Wien iezt stolz sein; er ist es, der dasselbe auf hohere Stufen
emporwehen wird und dem die Verwandlung eines Esels in
einen Affen ein leichtes ist. Uberdies verspricht er in den wiener
Autoren eine desto grossere Wirkung, da sie denselben in gros- 20
ser Quantitat zu besizen scheinen: denn sie konnen sich eines
solchen Stolzes rumen, daB sie die Morgenrote ihrer Litteratur
schon fur die Abendrote derselben, die grauen Milchhargen des
Barts fur graue Hare des Kopfs halten und gleich dem Fo der
Sineser, stand[en] sie gerade, da sie geboren, machten sieben
Schritte und riefen aus: im Himmel und auf Erden verdient Nie-
mand Vererung als ich. Die seltne Grosse ihres Stolzes leuchtet
auch aus ihrem Verhalten gegen ihre auswartigen Richter her-
vor: denn ihre Abhartung gegen kritische und satirische Geiseln
verrat eine Aufgeblasenheit, in welcher der Dachs das Muster 30
gegeben, der nach dem Plinius, Bissen und Schlagen durch Auf-
blasung seines Korpers trozt. Ja ihr Stolz hat eine solche Ausde-
nung erreicht, daB ihn Angriffe stat auszuleren mit neuem
Winde laden; so wie aussere Wunden die Luft unter die Haut
schiessen und den Korper schwellen lassen. »Berlin beneidet
und hasset Wien, darum tadelt es dasselbe!« so spricht nur der
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 69$
Stolz, dessen Grosse sich durch den Angrif verrat und vermert.
Zwar drohen ihre unlaugbare Unvolkommenheiten diesem
Stolz den Untergang; allein fur seine Dauer steht uns die vortref-
liche Einrichtung des Menschen, der seine Mangel nur dan in
ihrer schlechten Gestalt erblikt, wenn er sie abgelegt und sie
wie fremde richten darf, so wie alle Exkremente des Korpers
nur dan unsern Ekel aufwiegeln, sobald wir sie von uns gegeben
und sie nicht bios dunkel fulen sondern audi deutlich sehen.
Wir diirfen also hoffen, daB bei den genanten die Lerheit nicht
10 die Aufgeblasenheit (iberleben werde, daB sie wenigstens so
lange stolz sein werden, als sie es nicht zu sein notig hatten.
Unsre Hofnung auf die Verwandlung ihrer Dumheit in Narheit
griindet sich auch auf die Grosse ihres Oberhaupts, das freilich
wiirdig ware, nur solche Menschen zu beherschen, die es ge-
schaffen, und das, in doppelter Beziehung Vater des Vaterlands,
nur fur solche Korper wie ein Vater sorgen soke, deren Selen
es gleichsam gezeugt, wie der Weiser im Bienenstokke nur der
Konig seiner Kinder ist. Allein eben dieser Joseph wird, freilich
wider seine Absicht, das Werkzeug der Erfiillung unsrer Bitte:
20 denn er wird gewis noch kiinftig die grosse [n] Taten fortsezen,
die schon iezt soviel kleine Biicher gezeugt und durch fernere
Verdienung des Lorbers dem gelerten Teil seiner Untertanen
Gelegenheit geben, ferner Nieswurz zu verdienen. Die Ausrot-
tung der dummen Monche wird auch noch kiinftig zur Befruch-
tung narrischer Skribenten geraten und Bedlam entvolkert die
Kloster. Er wird das Ungeheuer der kirchlichen Tirannei mit
Schwerd und Federmesser schrekken und den Kriegern und den
Autoren die niizliche Vereinigung wider dasselbe erlauben d. h.
dem Herkules gleichen, der die stymphalischen Vogel, die
30 giildne Frikhte wie Geizhalse bewachten, teils mit Pfeilen erlegte
teils mit Klappern vertrieb. Die Esel werden von den Kanzeln
zu den Schreibpulten fluchten und die Dumheit die Zunge der
Priester mit der Feder der Laien vertauschen: so verstumte zu
Christi Zeiten der Teufel im Munde seiner heidnischen Vererer,
der Priester, aber besas haufiger iudische Laien und gab stat
heiliger Orakel verachtete Narheiten ein. Die Autoren werden
694 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
auf den Weg, den sie der Warheit durch alte Vorurteile, auf
Josephs Geheis hindurchbanen, neue walzen, und den Ochsen
gleichen, deren Hintere die Furchen, welche ihr Kopf fur war-
tenden Samen aufreisset, mit verdauten Kornern besaet und die
Ofnung des Feldes mit Kot fullet. Unsrer Hofnung, daB mit
dem Gipfel des Trons die Wurzel des Parnasses wie wol nach
entgegengesezten Richtungen wachsen werde, burgt die Ver-
gangenheit fur die Warhaftigkeit der Zukunft. Was konte Joseph
grossers tun als das, was die oftgenanten Leute veranlaste, das
Kleinste zu tun: namlich, sie liessen ihre Dinte iiber Gute und 10
Bose regnen, ihr Hintern hinterlies iedem Gegenstand eine
seidne Bekleidung und das Kleinste war so wenig vor ihrer Ver-
kleinerung als das Groste sicher und ihre Lobreden trafen nicht
bios die Kaiserin, sondern auch die Stubenmadgen, ihr Tadel
nicht bios den Pabst, sondern auch ihre Schreibkollegen; der
Bewoner Bedlams riet seinem Nachbarn zu Nieswurz und der
Klang von zehn Kreuzern wiirkte Dissonanz der Schellen von
Kappe zu Kappe; der stinkendste Atem traf endlich auf eine
hungrige Nase, die ihn fur Weihrauch einsog und umgekert
fandderunerlicheMissetaterimmer nocheinen, dener iibersah, 20
namlich seinen unerlichen Henker, an ieder Laus nagten kleinere
Lause und den dummejn] Schafskopf qualten dumre Wurmer;
und der Poet suchte fremde Krallen, und der Rezensent fremde
Flugelgen zu beschneiden. - Der dritte Grund, an den [sich]
unsre Hofnung auf die kiinftige Verstandesverriikkung halt, ist
die Liebe zur Poesie, die man in ihrer Teatermanie leicht wittern
kan. Jezt arbeiten sie noch zu ser fur das Auge, um fur den
Gaumen zu arbeiten und erleuchten ienes auf Unkosten des lez-
tern; so wie das Licht des angeziindeten Branteweins den Wol-
geschmak desselben verzert und das angeneme petrank sich zu 30
Wasser herunterschimmert. Zwar sezen sie der verwundeten
Prose nicht selten die holzernen Beine der Dichtkunst an und
besteigen den Pegasus, den sie am Zaume auf dem schlechtern
Wege gefiiret, auf dem bessern wieder; allein ihrer Begeisterung
felet noch viel zur Narheit, der iedoch bei weiterer Ubung die
Dumheit Plaz machen wird, so wie man ebenfals nur in der
BrrrscHRiFT der deutschen satiriker 695
Jugend der Tonkunst mit der Harmonie geblasner Ochsenhorner
zufrieden war. Der Stral des Apollo (d. h. der Sonne) wird aus
den sorglos verstreuten Eiern die gehirnleren und kleingefiilten
Straussenachund nach schon ausbruten, es ware unbillig, wenn
der Phobus euch zu nichts diente als zur Ersparung des Holzes,
und nicht ausser den Rauchtobak auch poetische Kopfe entziin-
dete; diese Stralen, die Newtons Kopf erleuchteten, werden den
eurigen doch wenigstens verriikken.* Ja, soviel sich wenigstens
aus ihren iezigen Produkten z. B. aus den Traumen iiber den
10 Tod der Kaiserin erraten last, so mag wol manche Narheit schon
das Ei verlassen; nur traut sie sich nicht so unbefiedert in die
Kalte der Vernunft hinaus - der prosaischkriechende Unsin mus
erst eine schmerzliche Verwandlung bestanden haben, eh' eine
hohere Sphare seine schwachlichen Reize dem Verfolger ent-
riikken kan und nur in grosse Fliigel last sich ein kleiner Kopf
verlarven - einen Gedanken, dem Schlaf oder Traum die Augen
geschlossen, schiizen nur viele poetische Bilder gegen den Dolch
der Kritik, so wie den schlaf enden Dalailama dreihundert und
sechzig Bilder bewachen stat eines einzigen Schweizers. - Vor
20 dieser Hofnung zur Tolheit des wienerischen Parnasses wird
der Stolz des deutschen fallen und die, die erst in zwanzig Jaren
die Vernunft besiegen konten, werden die beneiden, die sie
schon in zehn besiegten. Nur mussen alsdan die Wiener zum
Besten ihres Rums fur ein langeres als ein dreitagiges Leben
ihres Unsins sorgen, der zeither, gleich eingeschiften Kolibrit-
gen, nicht einmal die Reise von Autor zum Rezensenten aushielt,
sondern auf der Post verrekte, eh' er in Berlin ankam, daher
auch die Berliner Bibliothek diese Produkte, nicht wie unsre,
einzeln einschart, sondern des Gestanks wegen, wie in der Pesti-
30 lenz, in einen einzigen Graben aufeinanderschlichtet. Ihr Auto-
ren, bittet daher nicht bios fur verstorbne Menschen, sondern
auch fur verstorbne Bucher; und ihr Leser bittet in der vierten
Bitte, gleich den Reichen, nicht um tagliches Brod, sondern
um taglichen Hunger. Die Annaherung eines Absazes erinnert
* Es wird hier auf die Krankheit angespielt, die unter dem Namen
Sonnenstich bekant
696 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
uns, daB auch an uns die Reihe zu bitten komt; allein wir unter-
lassen es, da diese Autoren zu hoflich denken, sich zu einer Sache
durch unsre Bitten auffordern zu lassen, wozu wir sie schon
durch das obige Lob aufgefordert; ia sie scheinen zur Gewarung
dieser Bitte so geneigt, das selbst eine entgegengesezte sie in
dieser Geneigtheit nicht zu storen vermogen wiirde.
Bis hier folgten wir unserm Wege mit Vergniigen; allein iezt
sezen wir ihn mit dem Zittern fort, das dem Pilgrim immer
auf dem Kreuzwege ankomt. Dem Poeten durften wir ins Ge-
sicht sagen, daB er die Ban zur Tolheit mit dem Ziele verwechsle; ic
aber diirfen wir es den Theologen sagen, daB sie aus den ortodo-
xen Landstrassen auf die Fussteigfe] der Vernunft geraten? Viel-
leicht werden nicht bios die intoleranten antworten: »sind wir
verniinftig? sind wir kezerisch?« sondern auch die toleranten
werden lispeln: »verratet doch unsre Armut an teologischen
Torheiten unsern reichen Mitbriidern nicht, die den Mangel mit
Stolz bestrafen.« Uberhaupt verfiirt sie die Anlichkeit der Ge-
stalt zu einer Verwechslung der Satyren mit den Teufeln; daher
sie uns nicht bios mit Dinte anschwarzen, sondern sogleich,
wie Luther, mit dem ganzen Dintenfas beschiessen; daher wir 20
immer durch versteltes Lob zu einem widersprechenden Spot
ausholen und gleich falschen Kramern, unsern Pfeffer durch
Lorbern zu verunstalten gezwungen sind. Um nun dieienigen
intoleranten Theologen, welche zwar an Gottes stat die Siinden
gegen sie, aber aus Bescheidenheit nicht an ihrer eignen verge-
ben mogen, zu Beschiizern unsrer Geisel zu haben, erklaren
wir hiemit, daB unsre Klage iiber Mangel an theologischen Tor-
heiten nicht im geringsten auf sie ziele und auch, fals wir das
Licht der Warheit noch ein wenig anbeten, auch nicht zielen
konne. Ja selbst mit weniger Torheiten musten wir zufrieden 30
sein, weil in dem Widerstand gegen die Aufklarung sich ein
Teil der Krafte zersplittert, die der Orthodoxie sonst ungeteilt
zufielen; um desto mer aber konnen wir uns gliiklich schazen,
daB die Intoleranten dem neuen Strom des Lichts nicht auf Ko-
sten der Satire entgegenschwammen und iiber die Widerlegun-
gen die Torheiten nicht vergessen, ia wir wiirden, waren nicht
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 697
alle Wiinsche Neuiarswiinsche, denen, welche den gewonlichen
theologischen Narheiten abgeschworen, eine baldige Kreuzi-
gung und ihren Henkern eine totale Sonnenfinsternis wiinschen.
Die Gegenstande unsrer Klagen sind also die, welche der alten
in neue Meinungen verlarvten Vernunft ihre vorige Krone in
den Schos zu werfen suchen. Wieviel Horner und Zane konten
wir nicht auf diese Vernunft mit der blossen Bemerkung loshe-
zen, daB diese Vernunft gar nicht neu, ia nicht bios alter als
Sozinsondern auch alter als die Sozinianer ist. Allein wir wollen
10 unsre Feinde nicht gleich dem Hanibal durch [mit] Scheiterhau-
fenfakkeln bewafnete Ochsen schlagen: sondern sie vielmer
durch Griinde auf die Seite der Narheit Ziehen, sobald wir vorher
dargetan, daB sie auf die Seite der Vernunft getreten. Ungeachtet
sie sich noch, aus Furcht, in Feinde der leztern verstellen, so
scheitert doch ihre Verstellung an ihren Handlungen, und das
Gehirn eines LeB verlarvt sich umsonst in das Gesicht eines Tel-
ler's in Zeiz; Teller entdekt doch die Vernunft hinter den nach-
gemachten Minen und schreiet mit Zuversicht auf der Zinne
seines Tempels: »ungeachtet LeB mein Gesicht nachmacht, so
20 hat er doch nicht mein, sondern ein Gehirn und ist ein Wolf
im Schopsenkleid. « Damit wir aber den Schein der Parteilichkeit
vermeiden, wollen wir einige Neuerungen anfiiren, womit sich
die Heterodoxen mit Recht den Verdacht der Verniinftigkeit
zuzogen. Schon ihre Lobreden auf die Duldung riechen nach
Vernunft und denienigen, welche das Edikt von Nantes fur Se-
hende auferwekken, scheint die eigennuzige Sorge fur ihre eig-
nen Augen die tolerante Hand gefiiret zu haben. Ihrer Schuld
wachst neue Schwarze durch den Umstand zu, daB die Ausrot-
tung der Intoleranz die Land und Seemacht der Ortodoxie ver-
30 mindere, indem sie die Feinde derselben vermeret. Wiirde wol
Lessing Gozen den Streit so erschweret haben, wenn ihm sein
Gegner mit der kiinftigen Todesart der Welt hatte drohen diir-
fen? Die Furcht des Scheiterhaufenfeuers, das die Hexenmeister
iezt besprochen haben, die es mit ihrem Fette naren solten, wiirde
die Lippen der Vernunft wenigstens so lange versiegelt erhalten,
bis erst die Empfindung der Folter sie ofnete; und die Theologen
698 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
konten die verniinf tigs ten Einwiirfe widerlegen, indem sie sie
verbrenten. Man sieht also, daft die Toleranzprediger, fals sie
auch der Vernunft niemals nachgeschrieben hatten, schon durch
ihr Jagdverbot alle Verzeihung verscherzet. Aber sie haben noch
iiberdies der Vernunft nachgeschrieben! Und dieses ist denn der
testis ocularis fur den obigen Argwon, daB sie weniger zum
Besten der Freigeister, die die Vernunft misbrauchen, als der
Heterodoxen, die sie brauchen, auf die Ausrottung der Intole-
ranz durch die Wiederholung des katonischen Ausspruchs: cen-
seo Carthaginem esse delendam gedrungen. Die Vernunft, wel- 10
che die Orthodoxen in heterodoxen Biichern riigen, schimmert
selbst durch Distinkzionen hindurch; und denienigen, die alle
vernunftwidrige Dogmen aus der Dogmatik relegiren, aus den
Stellen der Bibel den Unsin exorzisiren, den Kanzelpulten die
Oren beschneiden und sogar der Orgel das Yanen abgewonen,
verschulden den Vorwurf der Orthodoxen, daB sie vernunftig,
und der Satiriker, daB sie nicht narrisch handeln. Wir glauben
also unsre obige Klage durch Griinde gerechtfertigt zu haben;
die wenigen neuen Torheiten, womit diese Abtriinnigen uns
mit ihrer Vernunft auszusonen suchen, wollen wenig sagen und 20
entschadigen uns fur die alten ser schlecht. Eine kurze Anfiirung
dieser Torheiten wird von der Richtigkeit unsers Urteils und
von dem Vertrauen auf unsre Starke zeugen. Ihre erste und (wir
miissen es bekennen) groste Torheit, die sie unserm Spot anbie-
ten, ist unstreitig die, daB ihre Vernunft ihre innere, weltlich-
glanzende Seite mit einer aussern, theologischdunkeln und
schwarzen verpanzert, so wie alte Topfe von innen bunt glasirt,
von aussen geschwarzt und beschmuzt aussehen. Dieienigen
Heterodoxen, die ihrer Sicherheit wegeri die Uniform ihrer
Feinde tragen, und die in ihrem Kopfe die Rechtglaubigkeit, 30
die von seiner Oberflache zuriikgespiegelt wird, zu besizen die
Mine machen, so wie iener Italiener die Irokoer durch einen
Spiegel auf seiner Brust beredete, daB er sie auch im Herzen
trage, diese Heterodoxen machen sich uns durch mer als eine
lacherliche Seite verbindlich. Denn indem sie den Mangel der
Torheiten, den wir ihnen vorgeworfen, durch den Schein der-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 699
selben verbergen, so leidet dabei unsre Geisel wenig, die onehin
nur die Haut, aber nicht das Eingeweide ziichtigen wil und sol,
und indem sie ihren Gegnern anlich scheinen, kizeln sie uns
zu einem nicht viel breiterm [?] Lachen als wenn sie ihnen gleich
waren. Hiezu komt noch, daB sie dadurch die Ordnung der
Dinge umkeren. Man hat es vom Esel gewont, daB er eine L5-
wenhaut stat des Gallakleids urn sich wirft; aber vom Lowen
hat man es nicht gewont, auf seinem Riikken eine Eselshaut
stateines zynischen Mantels liegen zu sehen. Wenn ein hasliches
10 Frauenzimmer sein Gesicht in eine Larve stekt, so handelt es
verniinftig, denn die Ofnung des Visirs wiirde seinen schwach-
sten Teil ieder Verlezung Preisgeben; allein wenn ein schones
eben dasselbe tut, so handelt sie lacherlich, denn iede Larve um-
wolkt ihre Reize und iedes Kleid schwacht sie wenigstens, und
die Schonheit siegt, gleich den Athleten, leichter unbekleidet.
Allein im Grunde scheinen doch manche Heterodoxen weniger
darum Narren, um von uns verspottet, als von ihren Gegnern
geduldet zu werden und eine Eselshaut ist weniger ihr Harle-
kinskleid als ihr Panzer. Zu einem anlichen Zwek verwandte
20 Empedokles die Haut des Tiers, das dem Midas nur die Oren
geliehen. Wenigstens nimt folgende figiirliche Stelle des Laerz
keine bessere Abschelung an: Empedokles, sagt er im Leben
desselben, stelte auf den Spizen der Berge Eselsidle gegen den
iibeln Einflus der Winde in den Hundstagen aus. Freilich ist der
Wiz in dieser Stelle ein wenig gezwungen; allein uns komt es
ia hier auch nicht auf das an, was Laerz gesagt, sondern auf
das, was Empedokles getan. Wenn es unter den neuen Reforma-
toren einige gegeben, die ihre Vernunft hinter ortodoxen Schein
verbergen, so giebt es auch noch andre, die ihre Dumheit hinter
30 einer heterodoxen Mine verstekken. Diese leztern beten, stat
denen nachzubeten, die auch nachbeten, nur denen nach, die
nicht nachbeten und yanen Pasquille auf lange Oren; ihr schwa-
cher Kopf konte neue Ideen nicht verdauen, allein eben darum
aufbewaren und die Gleichheit der Wirkung machte sie einen
verdorbnen Magen mit einem gesattigten verwechseln; kurz sie
werden, gleich Folen mit schwachen Augen, durch zu gutes
700 JUGENDWERKE - 3.ABTEILUNG
Futter blind. Allein so viel auch Lacherliches diese Torheit
brandmalt - denn lacherlich ist es allerdings, wenn ein Esel,
der seine Oren nach den Oren der Pferde zuschneiden lassen,
iiber einen altmodischen Esel, mit dem er noch die Kele teilt,
stolz hinwegsieht und noch obendrein vergist, daB die Dumheit
nicht in langen Oren, sondern im Gehirne wone und daB mit
dem Zeichen nicht immer die Sache weggenommen werde; la-
cherlich ists, wenn der, welcher die Verteidigung der Heterodo-
xie yanei, den einen Esel schilt, der die Widerlegung derselben
wiehert, wenn ein Lilliputer auf den Schultern eines Brobdignak 10
den Gulliver fur einen Lilliputer und sich fur einen Brobdigna-
ken erklart, und wenn einer seinen Magen mit nichts als neuge-
baknetn Brode verderben mag - so lacherlich also, wie gesagt,
diese Torheit scheinen mag, so tragt sie doch weniger Nesseln
als dieienige, welche ihr weichen miissen. Denn von ihrer Neu-
heit pralt iede Verspottung ab, welche auf die Zeit erst zu ver-
schieben, wo der Leser diese Narheit mit belachen helfen wiirde,
weil er sie schon einer fremden aufgeopfert, uns nicht gelegen
ist. Auch steht sie den orthodoxen weit an der Erwiirdigkeit
nach, welche stat des Schattens das Lacherliche so hebt und oft 20
ersezt; wiewol wir damit nicht in Abrede sein wollen, daB die
Zeit sie schon endlich mit antikem Firnis schminken kan. Kaum
Er warning ist endlich die Torheit derer wert, die den rechten
Fus auf den neuen Glauben sezen und den linken auf dem alten
lassen, die die rechte Achsel iiber das, was sie auf der linken
tragen, zukken und Poly pen zwischen der Orthodoxie und ih-
rem Gegenteil abgeben. Ein Esel, dem Ein Or mangelt, gewaret
einen verdruslichen Anblik stat des lacherlichen, wenn er noch
mit seinen zwei Oren erschi enen ware. Das Publikum und selbst
die Heterodoxen werden uns iezt zugeben, daB wir uns iiber 30
ihre Unfruchtbarkeit an Narheiten mit Recht beschweret und
es gar nicht aus parteiischer Vorliebe gegen die Ortodoxen ge-
tan, wenn wir den leztern einen weit grossern Reichtum an la-
cherlichen Eigenschaften zugestanden.
Fur Ausrottung dieser neuen Nieswurz, die sich gewis auf
den christlichen Weinberg wenig schikt, sprechen tausend
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 70 1
Griinde; aus denen wir aber nur einige auslesen. Erstlich scheint
ihr vernunftigen Leute unsre Gewonheit, in Ermanglung einer
Tonne mit dem Schiffe zu spielen, bei eurer Neuerung gar nicht
mit zu Rate gezogen, und unser uraltes Privilegium, iiber ,den
Stand den Spot auszulassen, dem die Person ausweicht, ganzlich
vergessenzuhaben. Unsere Verspottungdes geistlichen Standes
ist daher nicht, wie ihr uns vorwerft, unbillig sondern billig;
denn es stand bei euch, sie durch Torheiten eurer Person vom
Stande abzuwenden und uns der unvermeidlichen Anlichkeit
io mit dem Artaxerxes, der an seinen siindigen Hofleuten nicht
die Leiber, sondern die Kleider peitschen lies, dadurch zu iiber-
heben. Diese grosse Aufrichtigkeit wagen wir bios auf die Hof-
nung (Belonung) hin, daB ihr kunftig, kluger, eure Person nicht
auf Kosten eures Mantels, den ihr wie Joseph faren lasset, aus
unsern Handen retten werdet. Zu dieser Klugheit, eure weisse
Haut mit theologischer Dinte schwarz zu farben, muntern wir
euch durch das Versprechen auf, an eurem schwarzen Rok die
weisse Farbe zu loben.
Damit wir die Aufsezung eurer vorigen Narrenkappe von
20 alien Seiten versuchen, wollen wir unsern angegebnen Grund
mit einigen andern verstarken, die wir von euren Feinde[n],
den Orthodoxen, in der Hofnung entlenen, daB diese abgeniiz-
ten Waffen in unsern Handen nachdruklicher als in den Handen
der genanten Missionaren der Narheit predigen werden. Erstlich
iibertretet ihr durch diese Neuerung alle die Gewonheiten, die
euren Stand seit langen Zeiten her vom Ler- und Werstand un-
terschieden. Sogar die heidnischen Priester, welche sonst den
christlichen in den meisten Eigenschaften nachstehen, scheinen
doch das Hauptgesez ihres Standes, nicht zu denken, wo nicht
30 erf iilt wenigstens gekant zu haben. Denn warum hatten sie sich
auf den Miinzen mit Ochsenschadeln gekront verewigen lassen,
wenn sie damit nicht die passende Anlichkeit ihres Gehirns zu
seiner doppelten Schale hatten andeuten wollen? Sogar das ge-
hornte Opfertier fur ihren hochsten Got scheint auf die Eigen-
schaften der Priester hinzuweisen und Pferde waren so seiten
Opfer und Priester, daB bios Midasse Esel schlachteten. So wie
702 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
man immer spater mit Buchstaben als mit Bildern schrieb, so
gieng's auchhier, und dieschon genanten Hieroglyphen, womit
die heidnischen Priester ihren Kopf silhouettirten, wurden erst
spat von den Buchstaben verdrungen, in denen die christlichen
den ihrigen deutlich kennen lerten. Und hier hatten wir denn
die langstgewiinschte Gelegenheit, das Lob der Theologen in
die Anfurung ihrer torichten Meinungen zu weben; allein die
leztere wiirde einen Quartanten mit Perlenschrift gedrukt aus-
fullen; daher wir mit ihr zugleich das Lob, welches sich auf
sie griindet, zu einer weitlauftigern Behandlung versparen. Ge- 10
nug! daB wir bei euch Heterodoxen die historische Kentnis der
theologischen Narheiten d. h. der Kirchengeschichte vorausse-
zen diirfen. Vielleicht ists uberfliissig, euch zur Erweiterung
eurer Physikotheologie in die offentlichen Bibliotheken zu ver-
weisen, welche die langen durch die Zeit versteinerten Oren
grosser Theologen aufbewaren; vielleicht seid ihr durch euer
Examen mit denen Mitgliedern der Konsistorien bekant gewor-
den, die alt genug sind, um alte Meinungen zu haben d. h. die
zur Zeit, wo die 7. magern Ochsen die sieben an Unsin fetten
Ochsen verschlungen hatten, geboren, fur den Winter des 20
schlafrigen Alters aus den Systemen einsamlen konten. Denn
nicht bios leiblicherweise gilt die Bemerkung von Akkerman,
daB Kinder, die am Tage geboren werden, gute Augen, und
solche, die zu Nachts geboren werden, schlechte erhalten*; auch
geistlich[er]weise kan man sagen, daB Theologen, die mit ihren
Augen das erstemal nicht das Licht der Welt sondern die Finster-
nis derselben zu erblikken das Gliik gehabt, immer Eulenaugen
stat der Luchsaugen in ihren Augenholen getragen. Sobald ihr
uns nun die kanonische Antikheit derienigen torichten Meinun-
gen, die ihr von euch gestossen, zugestehen miisset; so gesteht 3°
ihr zugleich die Felerhaftigkeit eurer Kunheit zu. Denn sagt
selbst, ob es nicht kiin und noch etwas mer ist, Saze, welche
die ganze Kirche seit langen Zeiten wo nicht erwiesen wenig-
* Baldinger's Magazin fiir Arzte. Zweiten Bandfes] sechstes Stiik
1780.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 7O3
stens behauptet, auf welche und fur welche grosse Manner star-
ben, welche nicht bios die Dogmatik in Prose, sondern auch
das Gesangbuch in Versen leret und fur welche Griinde in deut-
scher und lateinischer Sprache vorhanden und die von fleissigen
„ Steinschneidern den steinharten Gehirnen des Pobels mit Miihe
eingeschnitten worden, solchen alten Sazen bios darum alien
Glauben aufzukiindigen, weil ihr Gegenteil, das doch noch nicht
maioren ist, die Vernunft zur Freundin hat? Wenn das Vernunft
heist, so haben sie eure Gegner auch! »Aber die Schwachheit
10 der alten Lersaze brach ia in ein solches Zittern aus -« daB ihr
sie nicht umstossen sondern diese Bewegung fur einen Wink
an euch hattet aufnemen sollen, dem Alter die schuldige Erf urcht
abzutragen und euren gesunden Kopf vor dem grauen zu ent-
blossen. Denn alte Lersaze konnen ia gleich der Erde, die, welche
sie mit Fiissen treten, nicht anders als durch Beben niederwerfen
und gleich einer verpesteten Armee, durch Schwachheiten sie-
gen. »Daraus folgt, daft Luther Unrecht tat, die christliche Kir-
che zu repariren; oder darf nur er mit den Neuerungen ein Mo-
nopolium treiben?« Nein! auch euch gestatten die Konsistorien
20 allerlei Neuerungen in Lesarten, in der Kasuistik, fast mit der
einzigen Einschrankung, daB sie den symbolischen Biichern
nicht entgegen sind - und ferner, warum amet ihr Luther'n nicht
auch darin nach, daB ihr den iezigen Dogmatiken die torichten
Meinungen, welche der grosse Man aus Hochachtung gegen
ihr Methusalem's Alter in den damaligen Systemen unangetastet
lies, mit eurem unererbietigen Widerspruch verschonet? Zumal
da derselbe Unsin, fur den schon sein damaliges Alter bei dem
cholerischen Luther sprach, iezt seit der Oberstehung dieses ge-
farlichen Stufeniars zwei Jarhunderte alter, daher um zwei Jar-
30 hunderte erwiirdiger und unverlezbarer geworden ist. Und
warum schlagt bei euch das Beispiel eurer Gegner so wenig
an, welche die torichtsten Meinungen und Gewonheiten bios
darum in Schuz nemen, weil sie alt und die Kopfe, die sie erfun-
den, schon lange tod sind? Wiirde wol der Taufexorzismus noch
in der Kirchenagende, oder die Texte fur Son- und Feiertage
noch in dem Kalender vorgeschrieben werden ppp. und wiirde
704 JTJGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
wol der Examinator der Vernunft des Kandidaten noch die Ge-
standnisse ihrer Feler abfoltern und auf ieder heterodoxen Farte
das Anathema anschlagen, wenn nicht das Alter die Rechtmas-
sigkeit aller dieser Dinge iiber alien Zweifel hinaussezte? Wenn
die Orthodoxen die Beibehaltung dieser unvernunftigen Dinge
vor ihrer Vernunft mit dem Alter derselben rechtfertigen kon-
nen, so kont auch ihr es und wiirdet es immer gekont haben,
wenn ihr nicht stat der Chronologie die Philosophie iiber theo-
retische Glaubensleren hattet richten lassen und nicht Griinde
iiber Jarszalen erhoben hattet. Nichts ist wol torichter als dieie- 10
nigen Stimmen zu wagen, die von Orenzeugen schon gewogen
worden; da man sie bios zalen soke, um hinter ihren Wert zu
kommen; so wie man nur in der Kindheit der Miinzkunst das
Geld wog, das man iezt zalt. Diese Ermanung, die theologischen
Torheiten beizubehalten, weil sie schon lange beibehalten wor-
den, haben wir euren Gegnern abgeborgt, die sie so oft wieder-
holten, daB ihr euren hartnakkigen Widerstand nicht oft hattet
wiederholen sollen.
Keret wieder zur alten Einfalt zuriik, sagen wir iezt mit den
schweizerischen Theologen, damit euch nach eurem Tode der 20
Teufel nicht holet, welches Schiksal sich ausser einigen mutigen
Offiziren doch niemand weiter wiinscht. Wir sind zwar noch
nicht ganz iiberzeugt, daB alle Denker aus dem Fegfeuer dieser
Welt in die Holle der kiinftigen faren werden; indessen neigt
doch die Mutmassung einiger christlicher Theologen, daB die
Sonne die Holle, und die eines heidnischen (nach Plutarch), daB
der Mond der Himmel sei, den Beifal auf unsre Seite, weil das
Licht der Sonne sich alsdan zum Lichte der Denker, und die
relative Finsternis des Mondes zur Orthodoxie seiner Bewoner
ser gut schikken wiirde. Allein eure Vernunft hat ausser dem 30
argumentum a tuto noch ein neues Argument gegen sich; da
es namlich in unsern Zeiten unmoglich ist, tugendhaft zu sein,
und noch einigermassen moglich, dum zu sein, so dachten wir,
man gienge wenigstens den einzigen iibrigen Weg zum Himmel,
und erlosete mit dem Kopfe das Herz aus der Holle. Der schmale
Weg zum Leben, den eine enge Pforte beschliest, geht iiber so-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 705
viel Hindernisse, soviel Gebirge und Hokker, die iezt die Weg-
reparatur verdoppelt, hinweg, als die Wege in Palastina haben;
dies wird man zugeben - die Pferde aber taugen bios auf ebne
Strasse, und nur die Esel auf gebirgichte Wege; daran ist noch
weniger Zweifel - nun furt die Frage, ob es besser ist, auf dem
Wege zum Himmel ein Pferd zu sein, das den Hals bricht, oder
ein Esel, der unverlezt anlangt, ihre eigne Antwort mit sich.
Im Grunde ist unser Rat, dem Teufel unter der Gestalt eines
Esels zu entwischen, nichts weniger als neu und das Heil von
10 tausend Selen . . . Nur daB sie, wenn wir sagen, man konne
den Kopf zum . . . Farren des Herzens machen, besser so sagen:
der Glaube wirkt Vergebung der Sunden aus. Die vielen Grunde,
auf die sie in ihren Systemen diesen Saz auffuren, sind bekant;
wir sezen daher nur noch die Bemerkung hinzu, daB im A. T.
die Schlange das Sprachror des Teufels, aber dafiir ein Esel das
Sprachror eines Engels gewesen; eine anliche Bemerkung aus
der Mythologie unterdriikken wir fur einen schiklichern Plaz
als den iezigen, den keine Fabeln verunstalten diirfen. Soke die-
ser Rat nicht bei euch zum Vorteile der Dumheit ausschlagen,
20 so entkraftet er wenigstens euren oft wiederholten Vorwand,
daB ihr die Vernunft zu nichts als einer Lokpfeife der Freigeister
brauchet. So namlich: sobald man an den Himmel das Herz
in Kopf, Tugend in Dumheit auszalen darf , so mus der grossere
Teil der sogenanten Freigeister dem Teufel entkommen konnen,
ungeachteter ihn gelaugnet, und in das dritte Stokwerk desieni-
gen Himmels hinaufsteigen, dem er bios zwei gegeben.* Denn
die wenigen Laster, die sich nach dem Ausspruche der Warheit
die meisten, und nach dem Ausspruche der Organe der Warheit,
der Theologen, alle Freigeister auf Rechnung ihres Glaubens
30 verstatten, biisset ihr Kopf zwar nicht dadurch, daB er den Or-
thodoxen, allein doch dadurch, daB er dem Voltaire nachbetet,
welches im Grunde immer auf dasselbe dem Herzen erspriesli-
che Nichtdenken, und auf die Finsternis des Kopfes hinauslauft,
* Der Schulmeister und hernach der Pfarrer sagen den Kindern, daB
es dreierlei Himmel gebe 1) Lufthimmel 2) Sternenhimmel und 3) Freu-
denhimmel.
706 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
die ihm, wie die Finsternis der Stube, Tugend leiht. Denn nicht
das schwarze christliche Kreuz auf dem Rukken macht den Esel
zum Esel, wie manche Orthodoxen behaupten, sondern die lan-
gen Oren, welches manche Freigeister ihrem eignen Gefiil zu-
wider laugnen; wiewol diese leztern sich mit Recht etwas auf
die ansenlichen Gliedmassen einbilden, die sie fur Enkel des Mi-
das erklaren, dessen freies Urteil lange Oren, aber kein Kreuz
belonten und der deswegen der Ourang Outang der Esel ist.
Ein vernunftiger Menschenfreund wird daher denienigen Au-
tor, der mit seinen schlechten freigeisterischen Grundsazen et- ic
was zur Dumheit seiner freidenkenden Leser beitragt, gewis
hoher schazen, als den Autor, der mit orthodoxen Sazen die
Vergrosserung ihrer Dumheit zwar auch beabsichtigt, aber we-
niger erreicht, und es geschieht gewis nicht aus blosser Vorliebe
fur Kollegen, wenn wir in dieser Riiksicht den satyrischen Ver-
fasser der Charlatanerien iiber manche seiner Widerleger hinauf-
sezen. Daraus fliest die wenig bekante Regel fur Gottesgelerte,
ieden auf seinem eignen Stekkenesel den Weg zum Leben zuriik-
legen zu lassen; iibrigens sind wir von den guten Absichten
manches Orthodoxen gewis, daB er die Freigeister, die er zeither 2c
hassen miissen, weil sie gleich den , in seinen Augen
die Schlange spielten, kiinftighin weniger hassen und verfolgen
wird, nachdem wir erwiesen, daB sie auch gleich eben diesem
den Ochsen spielen, und wir konnen hoffen, daB er seinen
Has gegen ihre Schlangenherzen durch seine Liebe gegen ihre
Taubenkopfe abzukulen beginnen werde.
Wir haben erwiesen, daB dem Wol eurer Selen an der Anne-
mung der Orthodoxie nicht wenig gelegen; nun solten wir eben
dasselbe von dem Wol des Korpers erweisen. Und wirklich
liesse sich hieriiber viel Nuzliches auskramen, da die Toleranz 3c
der Obrigkeit, an der nichts als die Augen durch die Intoleranz
verbunden sein mus, die Hande so ser noch nicht gebunden,
daB sie die Behauptung manches dummen Sazes nicht mit Am-
tern besolden und die Laugnung davon nicht auf verschiedne
Arten anden soke, noch nicht so ser, daB ein Heterodoxe[r],
der die symbolischen Biicher beschworen, nur auf Kosten seines
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 7O7
Gewissens, allein nicht mer seines Magens verniinftig zu wer-
den, die Aufklarung seines Kopfes mit nichts als einem Meineid
zu verkaufen und fur die Weisheit nicht mer das Wol seines
Korpers und der Seinigen, sondern nur das kunftige seiner Sele
in Gefar zu sezen notig hatte. Allein ungeachtet die Toleranz
noch nicht so weit um sich gegriffen, so hat man doch in neuern
Zeiten sich zuviele Waff en, welche die Vernunft unter die Bot-
massigkeit des Widerspruchs zwingen, aus den Handen winden
lassen, als daB wir damit drohen konten; dies giebt uns daher
10 die Gelegenheit, von unsrer Ermanung der Heterodoxen, to-
richter zu werden, auf Ermanung der Orthodoxen, ienen ihrer-
seits die Bekerung zu erleichtern, iiberzugehen und sogleich mit
Anpreisung des Mittels der Intoleranz, dessen Wirksamkeit wir
eben in diesem Absaze vermisset, anzufangen.
Jezt heulen die Orthodoxen unter den Wolfen; stat daB sonst
die Heterodoxen unter den Schafen blokten. In den iezigen auf-
geklarten Zeiten verfolgen die Toleranten dieienigen, die sonst
in den finstern Zeiten selbst verfolgten; so wie der Jager am
Tdgedas Wild iagt, das zu Nachts andre Tiere iagt. Also schon
20 der Schmerz iiber das Unrecht, fiir unschadliche und noch dazu
dumme Meinungen mit Spot gemishandelt zu werden, hatte
nach dem Wiedervergeltungsrecht in euch friiher die Gewonheit
auffrischen soil en, schadliche und kluge Meinungen mit andern
als satirischen Geiseln abzutreiben. Zan um Zan, Auge um
Auge. Allein nicht bios der neuen Intoleranz, sondern auch der
neuen Vernunft kont ihr mit nichts als Intoleranz begegnen.
Wie viel diese leztere gegen Aufklarung verschlagt, lert die Kir-
chengeschichte in mer als einem Beispiel. So habt ihr es z. B.
d[em] Kaiser zu danken, daB der iiber den
30 Arianismus die Oberhand behalten; und sein Sabel war es, der
aus derselben Materie eine Bildsaule, die wir nun anbeten, stat
cines Postaments, das den Fiissen eines andern Gottes zum Sche-
mel hatte dienen miissen, hervorgehieben. Sogar den dummen
Meinungen falscher Religionen hilf t die Intoleranz beweisen und
die langen Oren Spaniens hat vor der algemeinen Beschneidung
gewis nur das Inquisizionsgericht bewart, das, fals es nicht in
708 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Madrit, sondern in Hamburg oder Wittenberg residirte und
nicht stat der protestantischen die katolischen Leren verfechtete,
alles Lob verdienen wiirde. Indessen wil in unsern Tagen diese
etwas bittere Arznei sparsam gebraucht sein: nur dieienigen
Meinungen, die iede Schminke der Vernunft ausschliessen, mii-
sten sich in schwarze Ungewitter zusammenziehen, so wie am
Tafelsberg die Wolke, die bei ihrem Ursprunge in Gestalt eines
Ochsenzugs erscheint, nach und nach in stiirmische Winde aus-
bricht. Auch bat die algemeine Verfeinerung sogar euch schon
zu ser nach ihrem Willen gemodelt, als daB wir euch die wilden 10
Esel einer gewissen Provinz, die (nach Delaporte's Bericht) die
Pferde tod beissen, zu bestandigefn] Musterfn] anempfelen
mochten. Vielleicht raten wir zu einem oftern Gebrauch des
kleinen Geschuzes der Intoleranz, das zwar mit weniger Lerm
aber nicht mit geringerm Erfolg Dumheit ausbreitet. Dahin
rechnen wir eine scharfere Zensur, die Kontumaz der Bucher,
der Exorzismus der geistlichen Kinder. Es ist unglaublich, wie
viel verniinftige Gedanken die Dinte guter Zensoren schon er-
sauft; freilich war der Gaumen dieser Leute, die zur Sicherheit
des Publikums die Bucher kosteten, an den kunstlichen Gift 20
noch nicht gewont, dem sie nachspiiren sollen und sie waren
von der Vernunft so ser gereinigt, daB sie Bucher davon reinig-
ten. Jezt felet es noch mer an dummen als parteiischen Zensoren ,
in welchen lezteren iedoch nicht selten die Feindschaft gegen
den Autor Feindschaft gegen die Vernunft erwekt und die iiber-
haupt in den Handen der Geistlichen so niizlich werden konnen
wie in den Handen der Ophiten (Schlangenbruder) die Schlan-
gen, deren Zunge das Brod des Abendmals belekken muste,
eh' es auf die Zunge der Kommunikanten kam. Als einen Teil
der Intoleranz solten wir auch die Bucherkonfiskazion empfelen; 30
allein sie wirkt in ihrem iezigen Zustande so ser ihrer Absicht
zuwider, und hemt die Ausbreitung vernunftiger Schriften so
wenig, daB wir alle Orthodoxen bitten mochten, fernerhin bo-
sen Schriften keinen Hausarrest mer an[zu]k(indigen. Sie
wurdejn] dadurch nicht bios vom Vorwurfe, wider Willen das
Licht verbreitet zu haben, sicher sein, sondern auch, fals sie
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 709
einen zweiten Schrit wagten, die Orthodoxie merklich befor-
dern. Wie namlich? wenn sie kunftig in den catalogus librorum
prohibitorum, dieses Buch des Lebens, in das ieder Autor seinen
Namen geschrieben wunscht, stat verniinf tiger Bucher, die Wi-
derlegungen derselben eintrtigen und orthodoxe Bucher, wie
die Katholiken die Bibel, zu lesen untersagten, damit sie gelesen
wiirden? Unser Rat scheint paradox; aber vielleicht macht eben
dieses Paradoxe seinen Wert. Vielleicht wendet man uns ein,
daB die Konfiskazion zwar einem guten, aber nicht einem dum-
10 men Buche zu Lesern verhelfen konne. Allein hierauf mag die
tagliche Erfarung antworten und dem Unwissenden sagen, daB
schon viele freigeisterische und einfaltige Geburten, deren Na-
belschnur und deren Lebensfaden zu Einer Zeit und mit dersel-
ben [Schere] ware abgeschnitten worden, durch das Verbot ihrer
Lesung mer als ein Stufeniar (Auflage) iiberlebt haben. Wir
glauben daher, daB die Presfreiheit dem Leben der wienerischen
Litteratur einen empfindlichen Stos versezt habe. Desto mer
Lob verdient der Man, welcher die A. D. Bibliothek wenigstens
schon den continuantibus gestattete, um dieLeser dieses gefarli-
20 chen Journals zu mindern. In andrer Riiksicht gefalt uns dieses
Verfaren durch seine lacherliche Seite. »Wer schon 40 Biichsen
Gift erstanden, hat, um sein Geld nicht ausgegeben zu haben,
das Recht, die iibrigen Biichsen gar zu kaufen; und da onehin
die dikken Reichen durch das enge Nadelor der Himmelspforte
schwerlich kommen werden, p.«
Ehe die Orthodoxen dumme Bucher konfisziren, miissen sie
sie machen und die verniinftigen, sobald sie sie immer verbieten,
widerlegen konnen. Und hier stimmen wir denn in die haufigen
Klagen iiber die algemeine Unbekantschaft mit der Polemik ein:
30 denn wer die Eroberungen der Vernunft so wie wir ausgemes-
sen, kan den elenden Zustand des theologischen Zeughauses
schon auf das gewissjeste] erraten und die iezige Aufklarung
hat die Polemik an ihren Verachtern genug geracht. Sie wieder
bei den Orthodoxen in ihren alten Kredit einzusezen, brauchen
wir nichts als an der Beschreibung einer polemischen Schrift
zu zeigen, daB sie der sogenanten Vernunft besser entgegenar-
710 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
beitet als selbst die Intoleranz. Nicht selten werden wir auch
an den Streitschriften andrer Gelerten Anlichkeit mit den theo-
logischen bemerken konnen. Eine polemische Schrift ist nicht
das Werk eines ieden Kopfes und eines ieden Herzens, wie sol-
ches der sonst nicht ungeschikte Lessing neuerlich zu seinem
Schaden erfaren; allein an allefn] den Eigenschaften, die man
von einem Polemiker fordert, werden wir ihre seltne Kraft ge-
gen die Aufklarung den Orthodoxen sichtbar machen. Schon
die Eigenschaft der Lange, auf die Polemiker wie die Generale
bei ihren Rekruten vorziiglich achten, nur mit dem Unter- 10
schiede, daB iene nur auf die Lange der Oren, diese aber auch
auf die Lange des ganzen Kerls dringen, mus gegen den Verstand
der Streiter mit einem guten Vorurteil einnemen: denn sie anli-
chen dadurch dem Tiere, welchem selbst sein groster Feind das
Lob eines seltnen Abscheues vor dem Denken lassen mus. Bei-
laufig ist hieraus begreiflich, warum man die Tapferkeit der
Polemiker und der Soldaten zu messen pflege; und es last sich
damit der bekante Ausdruk rechtfertigen, daB die Tapferkeit
des Polemikers A. in H. eben soviel Fus und Zolle lang sei
wie des bekanten Dragoners G. seine vom **schen Regiment, 20
wiewol eine genauere Untersuchung den Dragoner vielleicht
einige Striche tapferer finden wiirde. Die zweite Regel der Pole-
miker ist, ihr Treffen mit einem Feldgeschrei anzufangen, worin
immer die eifrigsten Nachamer des langorichten Tiers, dessen
Haut man auf die larmende Trommel spant, es am weitesten
bringen. Das Feldgeschrei enthalt iibrigens abgenotigte Klagen
iiber die Gefar der Kirche, iiber das Unheil, das die Schrift des
H. Gegners bei schwachen Gemiitern stiften wird, iiber den
Leichtsin des Gegners und auch Bitten, in so wichtigen Sachen
behutsamer zu gehen und keine unreife Friichte mer zu Markte 30
zu bringen p. Ungeachtet nun eine Tapferkeit, die bios die Oren
verwundet, gegen herzhafte Gegner wenig verfangt, so gilt doch
von furchtsamen der Vers, der die Wirkung der Harmonie schil-
dert
Toreille est le chemin du coeur;
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 711
ia so wie ein gewisses Tier der Starke seiner Feinde nichts als
ein unertragliches Geschrei entgegensezen kan, oder wie die si-
kambrische Kohorte der Romer sich durch den Schal ihrer Waf-
fen fiirchterlich gemacht hatte, so haben geschikte Kezermacher
tiber die Vernunft mer durch das Feldgeschrei als durch das
Treffen gesiegt und die Starke der Fauste mit der Starke der
Kele ersezt. Noch mer betaubt dieser Kunstgrif den Leser und
verschliest sein Or der leisern Stimme dessen, den man bekriegt.
Sonach glauben wir auch von diesem zweiten Geseze der Streit-
10 theologie erwiesen zu haben, daB sie den Fortgang der Aufkla-
rung vereitele. Diese Regel ist ubrigens so wichtig, daB man
sie in einer dritten noch tiefer einzuscharfen fur notig geachtet,
die also heist: man schimpfe seinen Gegenpart so weit es nur
die christliche Liebe erlauben mag; iedoch mus man die
Schlechtheit seines Kopfes aus der Gute seines Herzens, und
die Schlechtheit des Herzens aus der Gute des Kopfes herzuleiten
und zu erweisen suchen. Diese Regel geht indes nicht bios theo-
logische, sondern auch andre gelerte Streitigkeiten an; wie denn
Verlaumdung ein solcher wichtiger Artikel der gelerten Kriegs-
20 kunst ist, daB der beste Gelerte one sie troz seiner iibrigen Waffen
fait und daB der schlechtere, beim Mangel des Obergewers,
durch das blosse Untergewer, durch die zwote Trompete der
Fama siegt, fast so wie das Stinktier seinen unbewafneten Kopf
mit dem bewafneten Hintern beschfizt, die Zane durch den
Harn, und Kraft durch Gestank ersezt, und den Feind, indem
es ihn besudelt, schlagt. Ubrigens macht die Leichtigkeit, womit
sich diese Waffe regieren last, ihren Nuzen noch algemeiner:
denn man findet, daB gelerte Kampfer, von denen Vernunft,
Einbildungskraft, Wiz und Warheit desertirt sind, wenigstens
30 noch das Schimpfen in ihrer Gewalt hatten, und daB streitende
Kopfe, die zum Unterrichte und zum Gefallen verdorben waren,
nur desto empfindlicher beissen konten, so wie schlechtes Bier,
das nimmer naren und berauschen kan, am besten zu Essig taugt.
Doch scheint das Schimpfen sich fur Theologen mer zu schikken
als fur andre Gelerte. Denn erstlich brauchen sie dasselbe gegen
Leute, denen es am meisten schadet. So wiirde es z. B. einem
712 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Juristen wenig oder keinen Nachteil bringen, ihn einen Athei-
stenzu nennen; aber einen Theologen einen Sozinianer zu schel-
ten, das fruchtet mer und entwafnet wo nicht seinen Kopf, we-
nigstens sein Herz. Alle Gattungen der Beschuldigungen,
namlich die falschen und die waren bringt ein Theolog mit gros-
serm Glukke als ein andrer - die falschen, weil der aufgeklarte
Kopf seines Gegners ieden vorgeworfen Flekken warscheinlich
macht - die waren, weil an dem, der wenig Feler hat, ieder.
Feler mer auffalt und daher die Pfeile der Satire mer auf sich
zieht, so wie die weisse Farbe der Scheibe das Treffen ihres
schwarzen Punkts erleichtert. Zweitens darum: da es den Theo-
logen, ungeachtet sie das Salz der Erden sind, an attischen Salze
mangelt, so haben sie vor andern Ursache, dem Leser die ein-
schlafernde Kalte ihrer Streitschriften durch Bitterkeiten, die an
den Wiz wenigstens erinnern, ertraglicher zu machen; aus einem
anlichen Grunde glaubt Unzer in seinem Arzt, daB der Genus
der bittern Kerne des Obstes seine kulenden Eigenschaften weni-
ger schadlich machen wurde. Bei dieser Gelegenheit erlaube
man uns anzumerken, daB ein grosser Teil von uns aus guten
theologischen Streitschriften vielleicht mer Unterricht ge-
schopft als aus Swift's und Pope's Schriften. Denn die Bitterkeit,
auf welche doch der Wert und die Dauer der Satire und des
Biers beruht, ware manchem von uns, der zum Ankauf des
Hopfens nicht die Kasse eines Swifts besizt, unerreichbar geblie-
ben, hatte er nicht aus Streitschriften gelernt, daB Kienrus und
Ochsengalle, welche manche Bauern den Hopfen vertreten las-
sen, die Bucher und den Gerstensaft eben so bitter wie der beste
bohmische Hopfen machen konnen. Die dritte Ursache, warum
Schimpfen den theologischen Schriften so wol last, ist eben die,
mit der wir den Orthodoxen das Studium der Polemik anzu-
empfelen suchen: es widerlegt den Gegner und erschwert der
Vernunft das Siegen. Der Essig, welcher mit alien Giften anbin-
det, entkraftet auch den Gift der Heterodoxie und verwart gegen
ihn den Streiter und den Leser. Den Streiter - denn die Entru-
sting verbreitet.um seine Augen, die eine gewaltsame Ofnung
schon der Verfiirung der geschminkten Vernunft ausgesezt
BTTTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRTKER 713
hatte, die heilsamsten Wolken, das Herz racht sich am Kopfe,
der immer den Willen desselben brach, durch Nachhangung
eines Willens, den der Kopf billigen mus und der Affekt starkt
die Uberzeugung, die der Gegner schwachte, und verpanzert
das weichste Gehirn mit der hartesten Hirnschale und schmiedet
Kraftlosigkeit zu Hartnakkigkeit, wie das dumste Tier, der Esel
namlich, die hartesten Knochen hat. (Der Affekt, der die Einge-
bungen der gesunden Vernunft kaum dulden kan, hasset noch
mer der kranken ihre.) Den Leser - denn die iible Meinung,
10 die man ihm vom Herzen des Gegners eingeflosset, macht ihn
gegen den Kopf desselben so mistrauisch, daB er an den Griinden
desselben weniger das Gewicht, als die Absicht priifet, und da
das Herz des Menschen leichter sympatisirt als sein Kopf, so
resdnirt ienes ortodoxe Beschimpfungen leichter als dieser hete-
rodoxeGriinde. Kurz das Schimpfen, das ein gemassigter Eifer
ausstost, halt von Streiter und Leser, wie das Fluchen vom Wan-
derer, iedes Irlicht ab; daher noch kein Orthodoxer mit den
Grundsazen seiner Gegner besudelt worden, dem das Schimpfen
nur einigermassen gelaufig war, sondern am Ende des Streits
20 noch immer den alten treu befunden worden. -
Wir haben aus den Eigenschaften des Herzens eines Polemi-
kers in der Kiirze dargetan, daB sie die besten Gegenmittel der
iezigen Lustseuche abgeben; noch leichter wird uns dieser Er-
weis von den Eigenschaften seines Kopfes werden. Wir wiirden
uns, zur Ersparung dieses Erweises, auf polemische Schriften
selbst beruffen; wenn wir hoffen durften, daB das Leben dersel-
ben sich iiber ihren Streit verlangern konte. Allein so wie die
Here, die der Bauer im Nordlicht, ihrem Kampus Marzius,
kampfen sieht, mit ihrem. Schlachtfeld und friiher als die Nacht
30 verschwinden, eben so endigen sich gelerte Kriege, die mit ieder
kleinen Erleuchtung entstehen, mit Vergessenheit; nur eine
kurze Zeit ruhen die Bogen, die am Tage wie die Karten gegen
einander zu Felde flogen, zu Nachts eben wie die Karten friedlich
in Ballen nebeneinander: denn bald vertauschen sie das Grab
mit der Holle und den Buchladen mit dem Kaufladen, um in
ihrem Tode noch brauchbarer zu sein als in ihrem Leben. Da
714 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
die Waffen der Dogmatik, welche der Polemiker fiiret, iezt un-
geniizt verrosten; so miissen wir sie vorher bekanter machen.
Vielleicht daB man sie nur vernachlassiget, weil man ihre Kraft
gegen die Aufklarung iibersieht. Die iezige Ausbreitung der He-
terodoxie hat wol, ausser der Annaherung der lezten Zeiten,
vorziiglich die Abname der Kunst, die Begriffe zu trenschiren
d. h. zu distinguiren, zur Ursache. Wie vielen unsinnigen Mei-
nungen hat nicht der Kaiserschnit der Distinkzion das Leben ge-
rettet; Meinungen, die man iezt mit der Feder nicht halb so
gut verteidigt, als man sie sonst mit dem distinguirenden Feder-
messer yerteidigte. Sogar irrige Lersaze machte diese passau-
ische Kunst unuberwindlich; wie viel mer ware! Schon die
Scholastiker liessen die Material [i Jen zu ihren Systemen in
Schneidemulen verarbeiten; Systeme, die nocht iezt so feste sind
wie die Uberreste alter Gebaude, (die man aber eben sowenig
wieunbewonte Schlosser demoliren. mag). Was wunder, wenn
dem theologischen System, das vor dem scholastischen Warheit
voraus hat, Distinkzion noch mer geholfen. (en gros, schnei-
dende Ware) Daher das krusiusische Lergebaude, fals auch alle
seine Stiizen aus ihren rechten Winkeln gleiteten, sich immer
dennoch auf der unbeweglichen Stiize der Distinkzion erhalten
wird. Solten die bestandigen Erschutterungen des or[to]doxen
Lergebaudes kiinftighin noch zu Distinkzionen die Zuflucht zu
nemen notigen, so mus man sich durch die monadenartige Be-
schaffenheit eines Begriffes von seiner Zerteilung [nicht] ab-
schrekken lassen. Denn die Zerschneidung macht aus einem Be-
griffe, der sie nicht zu iiberleben drohte, zulezt doch noch zwei,
so wie dasselbe mit den Polypen geschieht. »Person« und »Sub-
stanz« sind im Grunde nur zwei Kleider fur denselben Begrif;
allein halt nicht ieder,dem es um sein Heil zu tun ist, diesen
Begrif wegen seiner zween Rokke fur zween Begriffe? Last sich
damit nicht wenigstens die Vernunft iiber die Widerspruche im
Dogma der Dreieirdgkeit zufrieden stellen! Man sieht hieraus
daB Distinkzionen den Geistlichen noch mer niizen als den Kon-
sistorien Ehescheidungen, die selbst eine Distinkzion rechtfertigt
- Eine andre veraltete Waffe, welche die Dogmatik sonst der
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 715
Polemik nachtrug, ist die Exegese. Wir wollen zwar nicht laug-
nen, daB man in unsern Tagen fur den Kern dieser Wissenschaft
neue Narung erdacht; allein eben darum miissen wir auch geste-
hen, daB man dariiber die Schale derselben aus der Acht gelassen.
Die Neuern wissen mit dem Sin der Bibel umzugehen, dieses
wusten zwar die Alten weniger, aber dafiir gaben sie sich mer
mit ihren Worten ab und einen einzigen biblischen Dintentrop-
fen paraphrasirte ihr hermenevtische[s] Mikroskopium [in] eine
Welt von Gedanken. Wir halten die Entscheidung iiber den Wert
10 dieser entgegengesezten Verfarungsarten zuriik; indessen miis-
sen [wir] unparteiisch gestehen, daB die Neuern, die nicht am
Ausdruk, sondern am Sinne der Bibel kleben, den . . . anli-
chen, die bios nach den Kerne[n] und nicht nach der siisse[n]
Umkleidung der Kirschen trachten, daB aber die Alten den Nus-
knakern gleichen, die die Schaleri der Niisse zerquetschen, aber
ihren Kern nicht geniessen, oder, fals ein Nusknaker ein zu ko-
misches Bild gewarte, dem Donner, der zwar das Urwerk zu
Schanden richtet, allein dafiir das Gehause verschonet. Den Wert
der seltnern Theologen, die aus einem einzigen Worte der Bibel
20 Sy stem wel ten bilden, stellet wol eine Vergleichung mit den
Pferden, die man Krippenbeisser nent, in ein helleres Licht: die
Krippenbeisser und die genanten Exegeten kauen namlich nicht
am Futter, sondern an der Krippe, worinnen es liegt; allein bei-
den wird die Verminderung des Futters durch Wind ersezt, wo-
mit diese Gewonheit sie aufblast, und durch Abgeschliffenheit
der Zane, welche der Widerstand der Krippe abschleift. Natiir-
lich daB solche Zane in der Polemik Wunder tun miissen! Man
wird nun aus den zwo Waffen, welche die Dogmatik fur die
Polemik schmiedet, auf dieTauglichkeit der leztern, in Riiksicht
30 der iezigen Aufklarung einen Lichtschirm abzugeben, schliessen
konnen. Nur noch einige Beweise,.wie geschikt die theologi-
schen Streiter ihren Defensiv Krieg gegen die Vernunft zu fiiren
wissen. Sie stopfen ihr den Mund durch die Anmerkung: »dieser
Saz ist nicht wider, sondern iiber dich, und enthalt keinen Wi-
dersin, sondern nur Nichtsin!« Auf diese Weise verdammen sie
die Vernunft zwar nicht zum Tode, aber doch, welches nach
7I<5 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
der neuern Jurisprudenz noch besser ist, zu einem ewigen Ge-
fangnis. DaB diese Distinkzion zwischen Widerspruch und Un-
begreiflichkeit die dikste Mauer gegen die rebellische Vernunft
sei, erhellet auch daraus, weil sie sogar die noch ungereimtern
Margen andrer Volker wider die meisten Einwiirfe zu beschiizen
im Stande ware. In Streitschriften tut ferner die Verwirrung
der Begriffe das beste und Ordnung niizet nur in politischen
Kriegen. Haufiger als andre Gelerte liefern die Theologen ihre
Schlachten, gleich den Ariern, zu Nachts; wenigstens wissen
sie sich so zu postiren, daB sie die Sonne im Riikken haben 10
und daher iiber ihre Feinde siegen, welche dieselbe im Gesichte
haben. Endlich sind Sophistereien, die man selbst fur solche
erkent, das Freikor der Polemik. Dies war uns sonst unbekant;
und erst aus den neuern Ausfallen des H. Tellers auf H. Fedder-
sen ersahen wir, daB Scheingrunde d. h. Scheiden one Degen,
den Gegner zwar nicht fallen, aber doch schlagen konnen, und
daB man gleich diesem Theologen nicht bios aus dem Dinten-
fasse Anschwarzung auf den Gegner schiessen, sondern auch
aus der Streusandbiichse in die Augen Sand werfen musse. Na-
her betrachtet sollen freilich theoretische Sophister[e]ien unter 20
uns wenigstens eben so heilig gewesen sein wie unter den ersten
Christen praktische und wenn der Rat des Marquis de Ponds,
den Feind mit papiernen Soldaten zu tauschen und mit der
Schere scheinbare, wie der Schneider mit der seinigen wirkliche
Helden hervorzuschneiden, vielleicht von seiner unfigiirlichen
Seite einem ieden Offizier misfalt, so kan doch seine figurliche
einem Theologen gef alien. Diese Zulassigkeit der Scheingrunde
in der Polemik ist der deutlichste Beweis, daB man mit Streit-
schriften die Aufklarung verhindern konne. (Wir wollen die
schwachern Beweise als Zugabe darwiegen.) Aus diesem und 30
den vorigen Griinden werden uns die Orthodoxen einraumen,
daB Ochsenhdrner, welche bei den alten Kriegern nur Zierraten
der Helme gewesen, bei Gelerten die Helme selbst sind. Mer,
glauben wir, braucht es nicht, die Polemik bei ihnen in Gunst
zu sezen; und die iezige Krisis des Systems wird ihnen die genan-
ten Waffen besser anpreisen als es unsere Beredsamkeit ie zu
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 717
tun vermochte. Soltet ihr also von den Quaker[n], die den Krieg
verdammen, abfallen und kiinftig wider die Gewonheit der er-
sten Christen gelerte Schlachten so liebgewinnen als politische:
so beobachtet den in unsern vernunftigen Zeiten unentberlichen
Kunstgrif, daB ihr wie manche Potentaten der Tapferkeit der
Soldaten durch die Menge derselben aufzuhelfen sucht. Was
wiirde z. B. eine einzige Piece gegen Lessingen ausgerichtet ha-
ben? nicht die Halfte dessen, was unzalige Piecen von Magistern,
Studenten und Fruhpredigern geschrieben ausrichteten. Ihr kont
10 dasselbe an den Fliegen beobachten, die, zu klein das Licht wie
ein Vorhang vom Fenster abzuhalten, bios mit oftern Stulgan-
gen den Scheiben die Durchsichtigkeit und dem Zimmer die
Erleuchtung rauben. Gerade so entzog audi die Menge der Per-
ser durch unzalige Pfeile ihrem Feinde das Licht und (iberschat-
tete ihn wenigstens damit, womit sie ihn nicht toden konten.
Nachstdem dienet auch die Menge der Streiter zu einem Erweis
des Argernisses, dessen Veranlassung ihr dem Gegenpart vor-
riikken wolt. Sobald ein Heterodoxer das Glaubenslicht puzet,
so ofnct ihr die Puzschcrc, damit ieder den Gestank des glim-
20 menden Dochtes rieche und schliesset daraus: »H. A. hat das
Glaubenslicht ausgeblasen, wie aus dem Gestank leicht zu erse-
hen!« Ubrigens schazt man die Gegengriinde der Orthodoxen
und der Konige nach dem Gewicht; ein Alphabet oder 24 Bogen
ist ein 24 Plunder und ein einzelner Bogen eine Musquetenkugel.
One unsre Erinnerung werdet ihr das Deutsche so schlecht
schreiben als es euch geziemt und eure Gedanken in denselben
Betlerrok einkleiden, worein die Einsiedler sich selbst gekleidet.
Und zwar nicht bios der Erbauung wegen, wie diese taten, son-
dern auch darum: der Monsame, den ihr in den Samen des
30 Wortes Gottes mischet, hindert eure feindseligen Leser, den lez-
tern anzugreifen, so wie man die Satkorner durch widrigen Ge-
ruch und Geschmak gegen die Er[d]flohe verwaret. Miisset ihr
ubrigens nicht, sobald ihr eurem Gegenpart vorwerfen wollet,
daB er Wiz fur Griinde, Schimmer fur Licht und deutsche Spra-
che fur deutsche Grundlichkeit verkaufe, von allem Wize rein
sein, den ihr tadelt, und alle Verschonerung der Schreibart mei-
71 8 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
den ia als parodirender Antipode eures Gegners die schlechten
Griinde hinter die schlechte Schreibart verstekken und wie die
Wilden durch ausserliche Haslichkeit einen Schlus auf innerliche
Tapferkeit erschleichen? Daher ihr wie natiirlich die Harmonie
des Periodenbau, die von euren theologischen Schriften so unzer-
trenbar ist wie die Orgel vom Altar und deren sich sogar euer
Feind Semler durch die haufige Lesung eurer Antworten schul^
dig gemacht, aufgeben miisset. Merere Griinde kont ihr bei den
Presbyterianer[n] finden, die die Musik sogar aus der Kirche
verweisen.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 719
[Bruchstucke]
Weisen hervorgeschmolzen, so wie aus den zusammengeflosse-
nen Metallen des zerstorten Korinths das korinthische Erz ent-
stand, das seine edlen Bestandteile weit ubertrift. Allein die
Goldtinktur ist eine Universalarznei, wie das aurum potabile
ein Universalgift; die Alchymie verleiht dem Menschen Ge-
sundheit und Reichtum auf einmal, und vereinigt Geschenke,
die sonst unvereinbar gewesen. Dafi die Erfindung einer Uni-
versalarznei die ganze Arzneikunst untergraben miisse, dies
io scheint niemand, weder ein Alchymist noch ein Arzt, geandet
zuhaben. Und dennoch wird es nicht anders kommen, fals man
nicht die Alchymisten selbst zur Abwendung dieses unerwarte-
ten Ungliiks zu bereden sucht. Diese Uberredung iibernemen
wir selbst, weil uns an dem Wol der Arzte viel gelegen ist,
die nicht nur den Kranken, sondern auch den Satirikern niizen,
die Hypochondrie nicht nur durch die Tugenden, sondern auch
durch die Feler ihrer Kunst heilen und rauf die widerspanstigen
Darmer durch das Zwergfel wirken. Wir wenden uns iezt an
die Gotgeheiligte Bruderschaft selbst und reden sie an wie folget:
20 Adepten!
Das Lachen hat seine Zeit, sagt der Konig Salomo; daher la-
chen wir mannigmal nicht. Eben iezt macht uns eine wichtige
Sache so ernsthaft, als es sich fur Leute schikt, die mit euch
reden wollen. Hoffentlich werdet ihr unsern iezigen Ernst unser
gewonliches Lachen nicht entgelten lassen; da ihr ia selbst nicht
selten den ewigen Ernst wegschmelzet und mannigmal die be-
lacht, die euch belachen.
Freilich anlichen wir euch wenig; ihr habt eure Kunst von
den Engeln und wir die unsrige von dem Teufel, dem man
30 uns wie bekant, anlich malet und ungeachtet wir mit euch Eine
Eigenschaft des Midas teilen, so teilen wir doch die weit bessere
720 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
nicht, Gold zu machen. Allein wenn ihr nur fur Einsicht in
euren Wert die Erlaubnis, mit euch zu reden, schenket, so kont
ihr uns, die wir euch schazen, one euch zu anlichen, und zu
euren Verdienste[n] auf Kosten unsrer Eigenliebe die Augen
aufheben, diese Erlaubnis am wenigsten verweigern. Zwar den
Sin eurer Schriften zu fassen und also zu bewundern miisten
wir Adepten sein; allein konnen wir darum nicht die Worte
derselben bewundern? Ja wenn wir von euren Gedanken, wie
von vornemen Leuten, nichts als das Kleid und nicht selten nur
den Saum des Kleides kiissen, so lassen wir eben dem besten 10
eurer Schriften Gerechtigkeit widerfaren: denn so vortreflich
auch der uns verborgne Sin derselben sein mag, so wird er doch
alzeit weit unter den noch viel schazbarern und viel mer verspre-
chenden Worten derselben bleiben, gerade so wie, um die obige
Vergleichung beizubehalten, ein vornemer Man die Verdienste
seines Kopfs iiber die Verdienste seiner Kleidung zu erheben
bei den besten Anlagen und der grosten Anstrengung vergebens
unternemen wird; oder wie der Kopfpuz einer Dame in franzo-
sischem Wiz iiber den Kopf derselben unendlich weit hervorra-
gen wird. Dafi wir aber nur dem Fokus eures Tiefsins, namlich 20
den Worten, Vererung zollen, ist eine Nachamung der verniinf-
tigen Mode, am Menschen nur den besten Teil zu kiissen und
daher z. B. nicht den vornemen Man, sondern sein Kleid, nicht
den Kopf des Pabstes und der Dame, sondern den Fus des einen
und die Hand der andern, oft nicht die schwarze Hand derselben,
sondern ihren weissen Handschuh, seltner ihren Busen, unter
welchem das Herz ist, als ihre Lippen, auf denen es nicht ist,
und auf dem Bloksberg dem Teufel nicht das Gesicht, sondern
den Hintern zu kiissen. Diesmal trugen (nach einem alten
Sprichwort) die Sakke die Esel, und nicht wir unsre Materie. 30
Ihr habt in dem annulus Platonis - warum nicht des Gyges?
ob dieser annulus iibrigens vinculum oder gestamen sei, lassen
wir vom Plato, wie Plinius vom Prometheus unentschieden -
der Welt die Erfindung der Universalarznei angekiindigt. Besser
kontet ihr euch um die Kranken nicht verdient machen und
von dieser Seite leuchtet iedem der Wert eurer Erfindung ein.
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 721
Allein eure Woltat richtet alle die zu Grunde, die zeither Kranke
geheilet, und auf die bessere Bekantmachung eures Mittels mus
der Sturz der ganzen Arzneikunst unvermeidlich folgen. Ein
Ungluk, das ihr euren Milchbriidern gewis nicht wunschen und
noch weniger zuziehen wollet.
Die iezige Kargheit in Torheiten sol uns dennoch nicht undank-
bar gegen die Freigebigkeit in Bosheiten machen. Freilich ge-
wint der Teufel durch die leztern mer als wir; denn ieder lacht
mit uns im unisonoiiber die Narren, aber vor dem Laster wiirde
io selbst der ewiglachelnde Lamettrie die Lippen zusammenziehen.
Die Menschen haben Recht: denn da sie ihre Torheiten taglich
verandern, aber nicht ihre Laster, da die Hand der Mode wol
dem Kopfe, allein nicht dem Herzen beikommen kan und das
Weib iedem Kalender die parisischen Waff en wechselt, urn die-
selbe eigne Niederlage zu erkampfen, so trift ihr Lacheln iiber
Torheiten immer nur solche, gegen die sie schon neue einge-
tauscht, und ihr Zwergfel opfert seinem Nachbar, dem Herzen,
die Erschutterung durch die altvaterische Tracht desselben, auf.
- So fiirt man z. B. iezt auf dem Parnas die Unsitlichkeit stat
20 der Dumheit ein und ieder isset, fals er kein Jude ist, das Schwein
lieber als den EseL Auch wir legen gern unser Scherbgen des
Beifals zur algemeinen Billigung der schriftstellerischen Un-
zuchtigkeit; nur soke man mer die groben Zoten des Englanders
als die feinen des Franzosen nachamen. Die leztern sezt wiziger
Reiz iiber ieden Spot hinweg. Was hilft es uns nun, wenn ein
feiner Autor zwar der Unzucht huldigt, aber die Entblossung
mit zuvielen Blumen (iberstreuet, und nakte Reize zwar nicht
in Kleider, allein doch in Puz verhiillet, wie die Neuseehollander
ihren Korper nicht bekleiden, sondern schmukken; was hilft
30 es uns, wenn er fur deutsche Lenden erst griechische Huren
auferwekt, die mit attischem Wiz ihre Schande wiirzen; wenn
er zwar durch unzikhtige Gedanken fur den reichen Wollust-
ling, allein noch mer durch ihre wizige Einkleidung fur seinen
Rum sorget, so wie der Eichenbaum dem Schweine seine
722 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Friichte zur Narung, und dem Verdienste die Blatter derselben
zum Lone anbietet; wenn er wie ein anonymischer Teil unsers
Kdrpers, oder wie das Schwein die Unreinlichkeit durch Fet
entschuldigt. — Vielleicht macht uns sein geschiktes Spiel aus
Zuschauern zu Schauspielern; vielleicht entmant sein Buch die
kiinftige Nachkommenschaft - allein eben darum schazt ihn das
deutsche Publikum desto hoher und unser Spot wiirde nur von
ihm auf uns zuriikprallen. Uberhaupt sehen wir gar nicht ein,
warum man das sechste Gebot nur durch Zweideutigkeiten d . h .
nur halb bricht. Einen dummen Gedanken tischt man ganz, und 10
eine Zote nur halb auf; soke man hierinnen den Koch nachamen
wollen, der ebenfals den Schweinskopf halb, und den Kalbskopf
ganz auf die Tafel bringt? Freilich mussen wir einraumen, daB
auch brittische Zoten neulich durch einige menschenfreundliche
Schriftsteller unter uns in einige Aufname gekommen; und man
mus diesen wiirdigen Skribenten allerdings die seltne Geschik-
lichkeit eingestehen, womit sie ihren Herzen die Weichheit und
den Schmuz des Kots zugleich mitteilten, und die Vorsichtig-
keit, wodurch sie den Harn mit Tranen veredelten und womit
sie die doppelten geistigen Zeugungsglieder, die sie mit mereren 20
Insekten gemein haben, so benuzten, daB sie mit dem einen
zwar lunarische Oden, aber doch mit den andern gereimte Zo-
ten, mit dem einen den Geist, mit dem andern den Korper des-
selben schufen. Allein dem alien ungeachtet sind immer noch
unter uns die Bucher leider selten, wodurch man sich den Besuch
des Bordels, wie durch Postillen den Besuch der Kirche, erspa-
ren konte; selten liefern uns die Romane Heldinnen, mit denen
die Einbildungskraft huren konte, so wie iener Jungling eine
weibliche Bildsaule des Praxiteles umarmte und unsre Schonen
haben nur ser selten Gelegenheit, auf ihren Wangen die Rote, 30
die sich zur Ausiibung gewisser getaner Sachen nicht schikt,
bei Beschreibung derselben anzubringen. Diese algemeine
Zuchtigkeit ist desto unerklarbarer, da manche Vater das Gebot
(ibertreten, welches ihre geistigen Kinder halten. Sie solten doch
wenigstens die Huren malen, um sie zu bezalen; so wie umgekert
- verzeiht das spielende Gleichnis! - hinge Maler die Venus beza-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 723
len, urn sie zu malen. An dem Aufkommen grober Zoten ist
uns nur darum soviel gelegen, weil wir Satiriker uberhaupt den
Schmuz gern fur Spot verkaufen; und manche von uns gleichen
den Hirschen, die, nach den Jagern, die Galle unter dem
Schwanze tragen. Selbst Swift ist hierin unser Vorbild; wenig-
stens zog er oft ein feines und ein grobes Hemd zugleich an.
Wir wissen zum Beweis, wie gut schmuzige Zweideutigkeiten
alle iibrigen satirischen Erfor[der]nisse ersezen, nichts bessers
als das Beispiel unsers vortreflichen Kollegen, des Kusters von
10 Rummelsburg, anzufiiren, der, one die geringste Anlage zur
Satire, schon etliche satirische Alphabete geschrieben, die iede
Lesgeselschaft halt. Nur seine Zoten haben ihm eine Bewunde-
rung erobert, deren Grosse nur durch den seltnen Schmuz ge-
rechtfertigt wird. Dieser Kollege schlagt, one Bedenken, so-
gleich die Vorhange vom leidenden Bette auseinander und zeigt
den Augen der Geselschaft den Gegenstand ihrer Oren. An ihm
ist wie an dem Pytagoras, kein Glied golden als der Hintere,
in den er sein hasliches Gesicht verlarvt. Dieses alles hat schon
Aristoteles gesagt: denn er bemerkt, daB den Tieren mit Stacheln
20 am Hintern, vorne Zane felen. - Auch von der Abstellung unsrer
Klage iiber den Eintrag, den die Unziichtigkeit der Dumheit
tut, kan das Beispiel ienes Autors die Moglichkeit erweisen,
Ungeachtet iede Seite eine Zote aufzeigen kan, so weis er auf
ieder der Vernunft auf eine bewundernswiirdige Art auszuwei-
chen, und er last uns in der ihm rumlichen Ungewisheit, ob
sein Kopf oder sein Herz schlechter ist. - Allein auch schon
in altern Zeiten waren die Esel dem Priapus mit geweihet und
unsre Schuster nahen ia die Ochsenhaut mit Schweinsharen zu-
sammen. - Die Zote eines Dummen ist das Orenschmalz eines
30 langen Ores. Allein demallen[un]geachtet sahen wir es lieber,
ihr Autoren, wenn ihr minder unziichtig und dafiir ein wenig
dummer schriebet. Seht auch die Buchbinder nemen zum Ein-
bande eurer Werke seltner Schweinsleder als Schafleder.
724 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Vielleicht seid ihr wol zu bescheiden, das Publikum mit blossen
Werken eurer Erholung belastigen zu wollen; vielleicht zu stolz,
eure Ergiessungen des Herzens durch kalte Richter besichtigen
zu lassen und das, was das Lob der bessern Nachwelt verdient,
dem Tadel der schlechtern Mitwelt Preis zu geben; zu stolz,
zu schreiben, weil so viele schreiben - auf alle diese Griinde
haben wir keine Antwort; allein sie rechtfertigen euch nur, wenn
ihr nichts drukken lasset, nicht aber wenn ihr nichts schreibt.
Miisset ihr denn fur das geheime Gemach und den Kramladen
bios drukken lassen; kont ihr nicht wenigstens fur sie schreiben? 10
Unser Rat war' also der: verkauft eure Manuskripte nur dan
erst an Verleger, wenn sie der Kaufman, der Koch, das Herings-
weib nicht angenommen. Diese Neuerung wiirde dem erstern
das Vergniigen gewaren, seltner betrogen zu werden; den an-
dern die Bequemlichkeit, nie gedrukter Makulatur zu bediirfen
und nie der geschriebnen zu ermarige[l]n, und euch den Stolz,
der Welt genuzt [zu] haben, one getadelt zu werden. Ja diese
Neuerung ware einer noch grossern Erweiterung fahig: denn
wen[n] man z. B. einer Schonen ihre gereimte Lobrede in der
Handschrift iiberreichte, so wiirde sie sie bemizen konnen, 20
nachdem sie sie gelesen und derselbe konte die Hare, die er
gelobt, so lange bilden helfen, bis die poetischen Blumen papier-
nen oder seidnen weichen miissen. Und wie bequem ware es
nicht, wenn dasselbe Manuskript, dessen Vorlesen den freund-
schaftlichen Zirkel aufgemuntert, auch die Fidibus ersparen
halfe und Weihrauch und Tobaksrauch zugleich aushauchte
und auch solche Kopfe erwarmte, die aus Merschaum beste-
hen.
Da wir uns von unsrer Bitte an die Schriftsteller wenig Wir-
kung versprechen konnen, so solten wir uns iezt an die Verleger 30
wenden, welcheder schriftstellerischen Unfruchtbarkeit von ie-
her die Nesteln zu losen am besten gewust. Allein wir tun diese
Bitte nicht, weil wir sie - schon getan haben, ia was noch mer
ist, weil sie schon halb erfult worden. Folgendes ist der Schliissel
zu diesem franzosischen Schlos. Ungefar vor zehn Jaren war
der Mangel unniizer und eintraglicher Biicher auf Kosten unse-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 725
rer Lustigkeit aufs hochste gestiegen und alle Tage kamen uns
Klagen dariiber von Kramern, von Rezensenten, von miissigen
Reichen, von Weibern und von Satirikern zu Oren. Einem unse-
rer Mitbriider trugen wir die Abhelfung dieses Mangels auf,
welcher vor einiger Zeit mit Tod abgegangen. Zu diesem Be-
hufe zeigte er in einem Sendschreiben an alle deutsche Verleger,
dessen Verfertigung ihm ein bertimter reicher Buchhandler,
dem wirhiemitoffentlichgedankthaben wollen, durch die Mit-
teilung seiner vielfaltigen Erfarungen unendlich erleichterte, i)
10 daB ein verniinftiger Buchhandler sich fur den Mangel guter
Biicher nur durch schlechte wenigstens entschadigen konne, 2)
dafi die Vermerung der schlechten Biicher noch in den Kraften
iedes geschikten Verlegers stehe. In der ersten Halfte seines
Sendschreibens, in welcher er eine mer als gemeine Kentnis des
Buchhandels verrat, zeigt er den Verlegern aus guten Griinden,
daB ein Verleger nicht nur ein gutes Buch einem schlechten
nicht vorziehen sondern auch nachsezen miisse; denn die Erbau-
ung und die Aufklarung, die das gute vor dem schlechten voraus
habe, gehore nicht zur Absicht des Verlegers, der als Kaufman
20 nur Bereicherung suche, und als Mensch auf seinen Beutel mer
als auf seinen Kopf und sein Herz bedacht sei; welches leztere
er mit den Beispielen verschiedner Verleger erweiset, deren
Dumheit und Bosheit er als bekant annam. Zum Beweis, wie
wenig Profit aber ein gutes Buch abwerfen konne, flirt er den
Gaumen und den Magen des Publikums an, welche sich von
den schlechten Schriften, an die sie sich seit der Entstehung der
deutschen Litteratur einmal gewonet, unmoglich abbringen
liessen, da die Lesung eines guten Buches das Gedachtnis, den
Verstand, und die iibrigen Selenkrafte auf eine unangeneme
30 Weise anstrengt: ia er fordert endlich ieden Verleger auf, ihm
unter den Schonen, die nun, als ein neuer und grosser Teil des
lesenden Publikums, doch auch eine Stimme haben und ein
Buch eben so gut als einen Kopfpuz rezensieren konnen, dieie-
nige zu zeigen, welche eine philosophische Abhandlung z. B.
den Agathon lieberlase als einen Roman. Den Abgang derieni-
gen schlechten Biicher, die das Herz verderben, sezt er als erwie-
726 JUGENDWERKE ■ 3. ABTETLUNG
sen voraus und merkt nur dabei an, dafi sogar heilige und alte
Frauenzimmer unzuchtige Schriften und sogar heilige Priester
pasquillantische mit grossem Vergniigen lesen; und beruhigt
im Vorbeigehen das Gewissen einiger Verleger iiber den Verlag
solcher Schriften, indem er ser gut erinnert, daB das Gewissen
sich gar nicht in Handlungssachen mischen musse und daB es
zwar in der Kirche, aber nicht im Komtoir predigen diirfe, wo-
bei er auf das Beispiel des grossern Teils der Verleger und Kauf-
leute sich kun beruft, daB unzuchtige Schriften fur einen gewis-
senhaftern Buchhandler immer zehn kaufmannische finden i
wiirdefn] und es also toricht ware, einem andern die Ausbrei-
tung des Giftes und den Gewin zuzuschanzen, daB man endlich
den Himmel den Verlag unziichtiger Bucher iiber den Verlag
dummer verschmerzen machen konne und uberhaupt sich auf
das lerende Beispiel der Obrigkeit verlasse[n] musse, deren zar-
tes Gewissen nie die Konfiskazion unkeuscher Schriften, aber
desto eifriger die Konfiskazion verniinftiger fur notig findet.
Endlich nent er einige Verleger mit Namen, welche sich von
dem Schaden, den ihnen der Verlag vortreflicher Schriften zu-
gezogen, durch den Verlag elender erholet; so wie, sezt er nicht 20
unwizig hinzu, iener Grosse zur Zeit des spanischen Sukzes-
sionskriegs durch Goldminen arm und durch Hospitaler reich
ge word en. Nachdem er in der ersten Halfte den Nuzen schlech-
ter Bucher erwiesen, so schlagt er alien Buchhandlern alte und
neue Mittel [vor], sie zu vermeren. Vorher entlarvt er den
scheinbaren Einwurf , daB die Menge elender Bucher ihren Wert
verringern wiirde. »Nicht im geringsten! antwortet er mit vie-
lem Bedacht: denn ieder Vielschreiber findet auch einen Vielle-
ser, und wenn man alle Bucher lieset, so wiirde man unbillig
handeln, iiber die Menge derselben zu klagen, und den Feler 30
[der] Agypter begehen, die die Heuschrekken aufspeisen und
demungeachtet ihre Anzal schelten. Und sobald man bedenkt,
daB in unsern Tagen ieder Bucher lieset, und die Blinden sie
wenigstens horen, daB das lesende Publikum eine neue Verstar-
kung durch den Pobel, durch Jungemagde, Kutscher, Kinder
und Weiber gewonnen, so wird man eingestehen, daB der
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 727
schlechten Biicher nie zuviele werden konnen, sondern daB die
Zal der schlechten Schriftsteller vielmer mit der Zal der schlech-
ten Leser wachsen miisse.« Die Widerlegung schliest er mit der
Anfiirung einer Stelle aus Sturzens Schriften, der mit ihm glei-
cher Meinung ist. Von den Mitteln, von welchen er die Verme-
rung schlechter Schriften rumet, wollen wir nur einige anzeigen;
die iibrigen kan ein wisbegieriger Leser vom ersten besten
Buchhandler erfaren. Die Lenden unsrer Vorfaren, sagt er denn
erstlich, hinterliessen uns mancheMisgeburten; allein der Staub,
10 der ihre Zerstaubung bedekt und verursacht, entzieht sie der
Lesung, Aus diesem Staube grabt sie nun ein fundirter Verleger
hervor; allein er mus, da das Publikum die Schlechtheit nur
an neuen Biichern schazt, den Beweis der Antikheit, den das-
selbe bei den Biichern, wie Winkelman bei den Figuren, aus
dem Kopfenimt, vorher weg[g]ekopfet und mit einem selbster-
fundnen ersezet haben, eh 1 er auf der leipziger Messe die Misge-
burt bekanter macht, so wie Nero die alten Statiien, die er ent-
haupten lassen, mit seinem eignen Haupte kronte. Er sezt hinzu,
daB ein Verleger dasselbe Buch von einem vornemen Titel zu
20 dem andern erheben konne, ie nachdem der lunarische Wechsel
der Mode die Hiite zuschneidet, unter denen schlechte Biicher
und Kopfe gefallen; worin er vorziiglich das Beispiel ienes Hof-
mans anpreist, der das Haupt eines Bildes seines verstorbnen
Monarchen nach dem Tode desselben von dem Maler, um fur
das Bild des Nachfolgers , iiberwischen und dem ver-
storbnen Rumpf einen lebenden Kopf einimpfen lies. Doch,
sagte er, darf ein Verleger nicht bios alte Biicher durch gef allende
Titel zu guten schminken; vielmer last sich aus seiner Anlichkeit
mit den Hebammen erweisen, daB die Form des Kopfes von
30 einem neugebornen Buche halb auf seine schopferischen Hande
ankomme. Hierauf macht er die wichtige Anmerkung, daB de-
nen alten Misgeburten, an denen sich die Vater neuer versehen,
mit der Umanderung des Titels ein schlechter Gefallen geschahe;
vielmer wurde ihr alter Taufschein fur das Rekommendazions-
schreiben gelten konnen; sie miissen also troz der Mode ihren
Nam en one Reformazion schreiben, gleich gewissen Edelleuten,
728 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
die sich noch Hans schreiben, ungeachtet ieder iezt Johan
schreibt. Er fiirt zum Beispiel die Schriften von Jakob Bohme,
von Eulenspiegel, von Alchymisten, und Robinsonen an, die ein
geschikter Verleger beileibe nicht wie andre schlechte Biicher
wiedertaufen diirfe: denn eben ihrem Titelblat miisse' das Publi-
kum die Bewunderung verabfolgen lassen, auf die die iezigen
beliebten Autoren schon durch gliikliche Nachamungen pranu-
merirt. Beilaufig anzumerken, diesen Wink haben die Verleger
so gluklich benuzt, daB ihnen die Herausgabe der genanten
schlechten Biicher vielen Beifal und Absaz eingetragen. Nun 10
komt er auf ein andres Mittel, in dessen Anpreisung seine Bered-
samkeit bergunter zu stromen scheint. Die schlechten Biicher
zu vermeren, fangt er an, mus man die belletrischen amsiger
vermeren, deren Multiplikazion man zeither iiber die Multipli-
kazion der theologischen vergas. Aus einer genauen Zergliede-
rung der poetischen Vogel entwikkelt er vorher die Vorziige,
mit denen sie den vierfiissigen Tieren den Rang ablaufen und
die der yanende Pelikan vor dem yanenden Esel voraushat; und
da bringt er denn heraus, daB die Ursache, warum Gedichtc
heutzutage die Augen aller Leser, nicht bios derer, die nicht 20
sehen, sondern nur horen, auf sich lenkefn] und warum selbst
ernsthafte Doktoren die Lesung der Dichter nicht unter der
Wiirde ihres Hutes halten, gleich den vorigen pedantischen Ga-
sten (im figurlichen und unfigiirlichen Sinne) , die die Vorlegung
eines Fltigels fiir eine Beleidigung aufnamen, in der wolklingen-
denGedankenlosigkeit der Dichter liege, die dem Leser das Ver-
gniigen der eignen Anstrengung um ein leichtes verschaffe, und
in den wiirzigen Ingredienzen, womit er den Geschmak seiner
Hirnwurst hebt; hieraus erklart er ungemein deutlich, warum
schwache Frauenzimmerkelen lieber einen Pelikan akkompag- 30
niren als einen Esel, deren Gunst der Kanarienvogel nicht selten
dem Schoshund streitig macht. Zur leichtern Absezung dieser
Gattung von schlechten Biichern empfielt er ausser der Kleinheit
ihrer Schale, an der man wie an Uren die Grosse zu lieben aufge-
hort, vorzuglich ihren Ausflug auf das neue Jar, weil alsdan
die verschleierte Natur nicht mit den dichterischen Silhouetten
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 729
derselben konne zusammengehalten werden, weil es Vergniigen
mache im Winter, der gleich dem Plato, mit seinem scharfen
Pfeifen alles iibrige Gepfeife verbant, den Zaunkonig und den
Dichter zu horen, dessen Fingern keine andre Kalte als die vom
Ofen umsonst bekampfte Kalte des Alters das poetische'Orgel-
spielen erschweren kan; weil es ferner ser anomalisch gehandelt
ware, den erwachsnen Kindern die Weihnachtsspielereien erst
auf die Ostermesse zu bescheren, und weil man endlich die poe-
tischen Almanache, die nicht erst seit der Zeit, da sie mit den
10 astronomischen den Namen geteilet, auch das Schiksal teilten,
nur wie Archonten und Planeten ein Jar zu regieren, iarlich ge-
rade wie Kalender one eine andre Veranderung als der Jarszal,
gewisser Tage und der Son- und Mondfinsternisse kan abdruk-
ken lassen. Er legt den Buchh[andlern] vorzuglich die merkanti-
lische Vortreflichkeit der Romane naher, die so leicht zu schrei-
ben sind, daB sie ieder lesen kan, weil man, nach der Vorschrift
des Versuchs tiber den Roman, von Blankenburg, die Hauptsa-
che, namlich die Karaktere bios aus der Luft zu greifen notig
hat, so wie auch die Manner nach einigen Naturkundigern, die
20 Keime der Menschen aus der Luft auffangen und ihre Nach-
kommenschaft in die Lenden einatmen. »Da nun, sezt er mit
Recht hinzu, Romanenschreiber gleich den Merschweinen viel
harnen konnen one viel getrunken (d. h. gelesen) zu haben, so
sen' ich nicht ein, wie mancher Buchhandler Gelersamkeit mit
zu den Erford[er]nissen eines solchen Autors, der diese unnotige
Eigenschaft im Honorarium demungeachtet hoch anrechnet,
zalen, und von dem Gebrauche der iibrigen, immer den unwis-
sendsten zu walen, so unbedachtsam sich entfernen konnen;
welches Vorurteil gewis der Vermerung der Romane mit pha-
30 raonischer Grausamkeit zeither im Wege gestanden. « Auch hier
miissen wir dankbar anerkennen , daB man iezt von diesem Vor-
urteil und folglich auch von seinen Verwiistungen sich losge-
wunden und daB uberhaupt unsre iezigen Zeichner der Men-
schen den Namen Gewandermaler in vieler Riiksicht verdienen,
da sie nicht mer Got, sondern dem Schneider nachschaffen und
stat der Korper Kleider malen. Um auch die schlechten Biicher
73° JUGENDWERKE • 3, ABTEILUNG
andrer Wissenschaften zu vermeren, braucht man, sagt er, nur
einen neuen Format und einen neuen Titel fur die Wiederholung
des Gesagten auszusinnen. Zu diesem neuen Format und diesem
neuen Titel notige aber mer die Nascherei der Kaufer, die an
steinalten Warheiten das Jugendrot der neuen wenigstens durch
Schmmke ersezet lesen wollen, als die Notwendigkeit der Sache,
da ia eben die Repetizion die Mutter solcher Bucher ist. Nach-
dem er zur Ausfullung dieser Bande ein kleines Verzeichnis der
Warheiten, die ihre Geburt gleich dem Fo achttausendmal wie-
derholet und gleich eben diesem Heiligen ihre Poststazionen 10
durch alle gelerte Tiere gemacht, nebst einem andern aus Meu-
sels gelerten Deutschland distillirten Verzeichnis der wenigen
Gelerten geliefert, die zu den schazbarern Repetiruven gehoren,
so schlagt [er] unter andern Masken dieser Wiederholung auch
die Alman[a]che vor, die sich in der Erreichung der Schlechtheit
auf die tiefen Fusstapfen der poetischen verlassen konnen. Den
Samen zu diesem leztern Vorschlage legte in ihm warscheinlich
der Rat eines Gelertejn] im D. Museum, die Kalender zu Schul-
bucherfn] der Ungelerten (oder deutlicher: derer, die Studenten
und Autoren sind) zu machen. Genug! daB die Buchhandler 20
und selbst die Schriftsteller diesem Rat vor andern die Befolgung
schenkten und die astronomischen Platten zum Prasentirteller
aller Wissenschaften machten. »Wennihrnun, redet unser Autor
die Verleger an, von Einer Wissenschaft schlechte Bucher zur
Welt befordert habt, so miisset ihr, anstat euch an diese schein-
bare Erschopfung zu keren, die Kombinazionskunst zu Hulfe
ruffen und verschiedne Wissenschaften in dieselben Bucher zu-
sammengiessen, in deren Benennung euch unser Reichtum an
>Magazin<, >}arbiicher<, >Samlung<, >Journal<, >Tagebiicher<,
>Auszug< die notige Abwechselung anbietet. In solchen Biichern 30
mus, ungeachtet die Kerne immer dieselben bleiben konnen,
den Schalen die Mannigfaltigkeit angedrechselt werden, die man
in der Musik unter dem Nam en variatio schazet. Damit nun
so ein Buch gleich der Arche Noa, der Gasthof alles Lebendigen,
und von der gelerten, wie der Mensch von der natiirlichen Welt,
der microcosmus oder, da in der gelerten alles sich um Einklei-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 731
dung drehet, ein [?] microvestis werde, braucht ihr nichts zu
tun als bald gelbe versteinerte Dime von einem alten Dintenfasse
abzuschaben, bald das Fet, das die Lichter der Welt [?] in den
Leuchter rinnen liessen, zusammenzukrazen, bald aus den Ver-
sa mlungszim me rn von Studenten den Tobakspeichel und das
verschiittete Bier in eure Kanale zu lenken, bald das Yanen einer
Herde von Gedanken durch das Wiehern eines einzigen Motto
anzukiindigen, bald eine Zervelatwurst aufzutischen, wozu die
farende Post das frankirte Rindfleisch, die reitende den Pfeffer
io und Salz, die Landkutsche den Spek und eine Extrapost das
Eselsfleisch gefaren gebracht, bald gar wie die Buchbinder, das
Buch mit lerem Papier zu durchschiessen, auf dem seiner Lerheit
unbeschadet, immer weitgedrukte sinlose und Singedichte ste-
hen konnen, bald Gedanken, unter deren Taufschein der Verfas-
ser sich Robert et Kompagnie unterschreiben soke und deren
Etymologie ins Altertum mkwarts geht, zu adoptiren, bald das
Buch durch Aufname freundschaftlicher Ergiessungen zu einem
gedrukten Stambuche zu machen, bald Anekdoten einzuschal-
ten und Avertissements und Errata und Vacat. Hatten endlich
20 solche Samlungen alle Wissenschaften erschopft, so bleibt euch
noch die hinreichende Zuflucht iibrig, aus Samlungen zu sam-
len.« Unser Autor - man verzeihe uns die unentberliche Weit-
laufigkeit in diesem Auszuge, die man nun gleich wird iiberstan-
den haben - rechnet unter schlechte Schrift[en] mit Recht die
Journale und giebt, da nicht iedem die Verschlechterung dersel-
ben gelaufig sein mochte, die Bedingungen an, an denen sie
sich auf die tiefste Staffel der Schlechtheit ganz sicher herunter-
lassen konnen. Die Erfiillung dieser Bedingungen erspart uns
die Anfurung derselben und die Muster die Regeln. Nur konnen
30 wir einem Gleichnis, das gegen die Natur andrer Gleichnisse
eine Demonstrazion ser gut spielen konte, das Gastfreund-
schaftsrecht auf ein par Tropfen Dinte und ein wenig Papier
nicht verweigern: eine Geselschaft Rezensenten, die auf erhab-
nen Stokwerken horsten, die der Verleger heget, und die entwe-
der auf den felerhaften Oberflus guter oder auf die felerhafte
Kraftlosigkeit schlechter Autoren herunterschiessen, last sich
732 JUGENDWERKE ' 3.ABTEILUNG
nicht wiirdiger beschreiben und anpreisen als in einer Verglei-
chung mit einer Stube vol Kreuzspinnen, die ein Freund der
Seide und ein Feind der Seidenwiirmer zusammengefangen, die
die Dekke in die seidne Fruchtbarkeit ihres Hintern kleiden,
und die an einem Faden auf ihre Narung von blutigen Vogelfe-
dern oder ganzen Fliegen (denen sie ihr weniges Blut abzapfen)
heruntersinken. Aus Mistrauen gegen die angezeigten Mittel,
die schlechten Biicher zu vermeren, schliest er ihr Verzeichnis
mit dem wirksamsten, nicht bios schlechte zu schreiben sondern
auch zu (ibersezen und die deutsche Dumheit mit auslandischer
zu fiittem. Er wiinscht Deutschland zu seinen Ubersezungsma-
nufakturen Gliik und zeigt nicht nur, daB es one diese nicht
einmal den iezigen Schaz von schlechten Buchern wurde auf-
weisen konne[n], sondern er schreibt den Ubersezungen auf ein-
mal ausser Vermerung auch Verschlechterung der schlechten
Biicher zu, Ein deutscher Autor kan uns nichts schenken, als
einen Esel, der die Lowenhaut des alten Adams noch nicht aus-
gezogen; allein der Esel eines auslandischen, den seine Lands-
leute noch mit einer langen Mane in der Nachbarschaft der lan-
gen Oren bekommen, gerat uns, von dem Ubersezer
wiedergeboren, one die auslandische Lowenhaut und mit einer
neuen Eselshaut in die priifenden Hande, und die Leser, die sich
mit einem auslandischen Autor nicht in einem tete-a-tete unter-
halten konnen, gewinnen den betrachtlichen Vorteil, den arm en
Laplander[n] zu gleichen, welche den Saft der Erdschwam-
me, die sie sich nicht kaufen konnen, unter der Gestalt des
Urins von denen auffangen, die ihn getrunken. Endlich schliest
unser Autor sein ganzes Sendschreiben mit einer ernstlichen und
beinahe riirenden Bitte an alle deutsche Verleger, seinen fur den
Handel so wichtigen Vorschlag unparteiisch zu beherzigen,
seine zur Vermerung der schlechten Biicher angeratnen Mittel
dem sichern Probierstein der Erfarung zu unterwerfen und die
ganze Sache mit Zuziehung der armstenund reichsten, der iiing-
sten und altesten unter den Gelerten zu einiger Volkommenheit
zu treiben. Leider erlebte er die Erfiillung seiner Bitte nicht;
aber wir erlebten sie und miissen daher, an seiner stat, den Her-
BITTSCHRIFT DER DEUTSCHEN SATIRIKER 733
ren Buchhandlern das riimliche Zeugnis vor dem ganzen Publi-
kum erteilen, daft sieihre Affenliebe gegen gute und ungangbare
Biicher endlich faren lassen, daB sie zur Vermerung der schlech-
ten Biicher besonders in Ruksicht der belletristen und haupt-
sachlich der Romane weder Brief e noch Kosten gesparet, daft
sie alle Arten von Almanachen, alle Gattungen von Samlungen
selbst schon von Samlungen aus Samlungen muhsam veranstal-
tet ia unter eignem und f rem den Namen iibertrieben angeprie-
sen, one von alien ihren Bemuhungen das geringste mer hoffen
10 zu [konnen] als etwan etwas Geld, und daB sie in der Vermerung
der schlechten Zeitungen sogar die Fruchtbarkeit der Schrift-
steller an schlechten Buchern hinter sich gelassen, so daft es nun
merere Radir- als Federmesser giebt.
Sobald sich Autoren zur Schopfung, und Verleger zur Erhal-
tung schlechter Biicher verstehen; so mussen sich auch die Leser
zur Lesung, wenigstens zur Bezalung derselben verstehen. Sie
dazu anzulokken, braucht man eben keinen neuen Koder auszu-
sinnen; sondern man kan noch immer den krummenden und
kriechenden Wurm an die Angel stekken, der die Leser von
20 ieher gelokt und von ieher betrogen. Unter den Mitteln,
schlechte Biicher an Manner zu bringen, scheint namlich eine
gute Ankiindigung sich immer am meisten hervorzutun. Den
Gebrauch dieses Mittels anzupreisen iiberlassen wir dem, der
ihn leren wird. Es ist aber dieses Herr G. C. A-z, ein verdienter
Satiriker, der zum Besten derer, die das Publikum mit elenden
Buchern zu hintergehen wiinschen, ein Buch iiber die Kunst,
Ankiindigungen zu machen, unter der Feder hat, um es auf
Pranumerazion herauszugeben. Die Ankiindigung sezen wir als
ein Muster in ihrer Art und zur Ausfullung des Raums hieher.
30 »Wieder eine Ankiindigung, liebes Publikum! Aber du must
nicht hinzusezen leider! sondern mit mir ausrufen Gotlob! Denn
der guten Ankiindigungen sind iezt noch nicht so viele, daB
die meinige entberlich ware; und die Kunst, sie zu verfertigen,
ist noch nicht so bekant, daB ein Lermeister entberlich ware.
734 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Unsre guten Ankiindigungen sind noch iiberdies so in den Post-
skripten der Journale p. zerstreuet, daB die wenigen Muster,
die das Lineal der Regeln vertreten konten, erst auf die Hand
eines Samlers warten, bevor sie niizen konnen. Der Wert dieser
Kunst hat iibrigens die Stimme des bessern Teils des Publikums
fur sich. Dieser betrachtliche Ast der Litteratur, aus dem die
arbeitsamen Deutschen in zehn Jaren so schone Zweige und
Bliiten gelokt, hat daher auch auf eine fortgesezte Pflege ein
unlaugbares Recht* Auf die Kultivierung dieses Asts hab' ich
nun den besten Teil meines Lebens gewand und, wenn ich nicht 10
alien Beifal meiner Freunde auf die Rechnung ihrer Liebe schrei-
ben sol, vielleicht nicht one Erfolg gewand. Freilich daB der
Mangel der Vorganger die Feltritte vervielfaltigen muste; allein
ich bin auch schon mit der Ere zufrieden, die Ban gebrochen
zu haben, und begebe mich willig des Rums derer, die sie pfla-
stern werden. Indessen [abgebrochen]
[EINE ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059
OBER DEN MECHANISCHEN WITZ
DES 18. JAHRHUNDERTS]
NACHRICHT 2UM NACHSTEHENDEN [AlJFSAZ]
^ Zu dem Manuskripte, das ichhier mitteile, kam ich im Traume
folgender mas sen. Ich war (iber die bekanten Aussichten in die
Ewigkeit kaum eingeschlummert, als ich im Jar 3059 n. C. G,
eine Reise nach Konstantinopel unternam, um auf der Universi-
tatsbibliothek daselbst, die beinahe an iedem Schalttag of fen
10 stand, wegen eines gewissen seltnen deutschen Buches aus dem
achtzehnten Jarhundert zu fragen. Es fand sich dasselbe zwar
nicht, ungeachtet der Bibliothekar (was bei dergleichen Leuten
eine seltne Tugend ist) mit der sichtbarsten Geduld darnach
suchte; allein dafiir entschadigte mich die Bekantschaft volkom-
men, in die ich mit diesem Manne, eben dem Verfasser der
folgenden Abhandlung, geriet und die ich mit ihm bis an mein
Ende unterhalten werde. Wir wurden bald so vertraulich, daB
wir einander mit unsern Erfindungen unterhielten. Fiir ein be-
sonders Zeichen seiner warmern Freundschaft nem' ich die Vor-
20 lesung des folgenden historischkritischen Aufsazes an; zumal
da er ihn nach einem gewissen Zufal dem Publikum auf immer
zu entziehen gesonnen ist. Ich kan auch den Zufal one Nachteil
meines Freundes wol nennen: er hatte seinen Aufsaz fiir das
konstantinopolitanische Museum (eine Vierteliarsschrift) einge-
sendet; allein man gab ihm denselben wieder zuriik, weil ihm
aus Versehen einige Winke auf ein Honorarium entfuren. Ich
trostete ihn dariiber dadurch (und das Publikum sage selbst,
ob ich unrecht habe) indem ich ihm vorstelte, dafi die Samler
des Museums wenn sie unparteiisch handeln wolten, vor seinem
73 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
bessern aber teueren Aufsaze dem schlechtern aber geschenkten
den Vorzugbescheiden musten: denn das Obergewicht, das sein
abgewiesner vor dem fremden eingeriikten solange als sie fur
Einen Preis kamen allerdings behauptete, miisse sich in dem
Masse vermindern als der Geldpreis des erstern stiege; ich gab
ihm zu bedenken, ob er nicht selbst des entschiednen Vorzugs
vom Wert ungeachtet, den das Pferd vor dem Esel voraus hat,
doch dem leztern, wenn er ihn umsonst bekame, vor dem er-
stern, wenn er es teuer oder auch wolfeil kaufen miiste, das
Schnupftuch zuwerfen wiirde: Vorschlag, einen schlechten 10
Aufsaz one Honorar und einen guten mit [Honorar] hinzuschik-
ken; wiirde ihn mit dem Geschmak und der Unparteilichkeit
aussonen.
Vom Danke des Publikums fur diese schazbare Abhandlung
kan iibrigens wenig auf mich zuriikf alien, der ich sie nur heraus-
gebe und hochstens etwan das geistige Kind ans Licht bringe,
bevor sein Vater als ein opus posthumum nachkomt. Auch leg'
ich weit weniger Wert auf das Verdienst, das mein Gedachtnis,
das einem einzigen Vorlesen den Aufsaz (denn ich habe weder
das Manuskript noch eine Kopie davon) abhoren muste, an der 20
Bekantmachung desselben erworben haben mag, als auf die
Probe, die ich von meiner Freundschaft fur den H. Verfasser
ablege, indem ich mich nicht fur den Verfasser ausgebe: denn
ich weis nicht, ob viele der doppelten Versuchung, sich die
Schopfung eines Werks anzumassen, das wie das folgende sich
auch der beste Kopf gemacht zu haben wimschen kan und dessen
warer Schopfer erst nach etlichen Jartausenden mit seiner Vindi-
kazion angezogen kommen mus, nicht unterlegen hatten; und
aus dieser Unwissenheit mich zu Ziehen ist das Verhalten ienes
Poeten am wenigsten geschikt, der sein gliikliches Gedachtnis, 30
womit er das Gedicht, das er seinen Verfasser vorlesen horete,
auswendig hersagen konte, zu einem Beweise misbrauchte, daB
er es selbst gemacht hatte.
Ubrigens kan sich der Leser desto mer Grundlichkeit und
Warheit versprechen, ie mer den V[erfasser] eine grosse Biblio-
thek und langwieriges Studium in die historischen Geheimnisse
ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059 737
des achten Jarzehends des achtzehnten Jarhunderts einweihen.
Zwar ist er auch in der neuen Geschichte nichts [weniger] als
ein Fremdling und er hat seine politischen Remarquen iiber das
blutige Jarhundert (wie man das neun und zwanzigste Jarhundert
nent) unter der Feder, die Aufsehen machen werden; aber die
litterarische Geschichte des achtzehnten Sakulums ist doch sein
Lieblingsfach und ich scherze daher nicht bios, wenn ich ihn
nicht selten den konstantinopolitanischen Fulda heisse. Niemand
kent die damalige deutsche Sprache besser als er und (damit
10 glaub' ich alles gesagt zu haben) die Schriften der damaligen
Genies, die kaum die Zeitgenossen verstanden, versteht er
volkommen. Er sprach meine Sprache mit mir so fertig als ich
selbst und mein Buch ... las er mit dem ganzen Vergniigen
eines iezigen Lesers. Daher ist freilich auch er wie ieder fur das
ein wenig eingenommen, womit er den meisten Umgang pflegt
und Spuren einer kleinen Parteilichkeit fur sein 8 Jarzehend des
1 8 Sakulums werden scharfsichtigernLesern seiner Abhandlung
wol hin und wieder aufstossen. Aber wie gern wird sie ihm
ieder und vorziiglich der [verzeihen], der seine Entfernung von
20 dem Zeitalter erwagt, das er zu bearbeiten unternommen. Die
Jartausende, die sich zwischen das seinige und das geschilderte
gelagert, vergrossern und verdunkeln wie Nebel die Mumien
der Vergangenheit und die immerwachsende Undurchsichtig-
keit ermattet das Auge. In der Nacht nach dem Untergange
der Gegenwart mussen notwendig die Gedanken der Schriftstel-
ler Glanz gewinnen, wie zu Nachts auf den Markten der See-
stadte die Schuppen der am Tage verkauften Fische flimmern
und schimmern. Die Entfernung der Zeit leiht wie die des Orts
der Fakkel grossern Glanz und der poetischen Musik angene-
30 mern Klang.
Man erlaube mir, meinen Vorbericht erst mit der folgenden
Anmerkung zu schliessen. (Woher komt es, dafi ich der erste
bin der seine Zeitgenossen mit der Nachwelt bekanter macht?)
Es ist unglaublich, in was fur einer Unwissenheit der Zukunft
die ganze iezige gelerte Welt versunken lebt; sie kent alle Zeiten
und bearbeitet alle Teile der Geschichte, aber um den einzigen
738 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Teil, um die Geschichte der Zukunft kiimmert sie sich nicht.
Die vortreflichen Schriftsteller der Nachwelt, die grossen K6-
nige derselben, dieTugendbeispiele derselben, alles das wiirdige
Gegenstande unsrer Wisbegierde, scheinen meinen Zeitgenos-
sen noch gar nicht oder doch nur dem Namen [nach] bekant
zu sein; und [ich] bin warhaftig der erste, der ein Produkt der
kunftigen Zeiten an das Licht stelt. Vielleicht daB dieser der
Nachwelt ser wiirdige Aufsaz auf den Wert derselben aufmerk-
samer macht; vielleicht daB er dan ein Magazin, das die besten
Werke der Nachkommenschaft liefert, erwekt und durch das- 10
selbe die Magazine der spanischen, franzosischen und englischen
Litteratur von ihrer unverdienten Stelle wegdrangt. An was felet
es uns oder vieljmer] guten Autoren mer als an guten Rezensio-
nen? Und woraus entsteht doch mer Unheil, Unterdrukkung,
Neid u.s.w. als aus diesem Mangel? Man klage nicht iiber die
Unmoglichkeit, ihm abzuhelfen; sondern man gestehe sich nur
selbst seine eigne Saumlichkeit, die unparteiischen, mit sovieler
Kritik abgefasten Urteile der Nachwelt iiber unsre guten Auto-
ren (denn der schlechten Biicher Rezensirung freilich iiberlasset
sie uns selber) zu samlen und herauszugeben; und Klopstok mag 2c
es bei sich selbst verantworten, daB er die vortreflichste Rezen-
sion seiner Messiade von einem der besten Kunstrichter des
zwanzigsten Jarhunderts auf Kosten seines Rums dem Publikum
vorenthalt und nur einigen Freunden mitteilt. - Alles was wir
noch in Riiksicht der Nachwelt getan haben, ist das, daB wir
ungedrukte und zukiinftige Biicher konfiszirten. Und doch liegt
es nicht an der Schwierigkeit der Sprache selbst, daB wir nicht
mer getan und zukiinftige auch herausgegeben. Denn wir leben
ia nicht bios in der Gegenwart d. h. wachen nicht bios; auch
nicht bios in der Vergangenheit d. h. schlafen nicht allein: son- 3c
dern wir leben auch in der Zukunft d. h. wir traumen auch.
Nichts ist aber wol geschikter, uns mit der Zukunft bekant
zu machen, als das Traumen; und es ist es noch weit mehr als
die Warsagungsgabe selbst, was man auch zu . . . des ersten
sagen mag. Denn man klare sich nur die Ursachen auf, wodurch
der Traumende nicht nur die Dauer und dadurch die Art der
ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059 739
Zeit in seine Gewalt bekomt und wodurch er in den Stand gesezt
wird, mit seinen eignen bunten glanzenden Augen den Abgrund
des Nicht^ zu erleuchten und daher zu sehen, in dem die Gegen-
wart und Zukunft in einander stromen, und den die ganze Ver-
gangenheit und ihre Beute nicht zu fiillen vermag. Bekantlich
sind die Ursachen: im Traume schlummern alle Sinne, das Licht
der Vernunft ist ganzlich untergegangen und das faule Holz der
Phantasie hat Raum bekommen, ienes Licht durch seinen
Schimmer zu ersezen. Vergleicht man mit dem Traumer den
10 Propheten: so sieht man leicht, daB dieser seinen Namen mit
desto grossern Rechte fure, ie naher er dem erstern komt, daB
aber seine Anlage [zum] Geschichtschreiber der Zukunft mer
ein Ersaz als eine Wirkung seiner geschwachten Verstandes-
krafte sei und daB Inspirirte fur ihre Einfalt durch Blik in die
Feme schadlos gehalten werden; und daher mag sich wol die
ser verstummelte Fabel schreiben, daB Jupiter dem Teresias seine
leibliche Blindheit durch Warsagergabe verschmerzen lassen.
Wenn nun aber doch der Prophet bei alien den Nebeln, die seine
Vernunft aus den entfernten Gegenden aufzieht, bei alien den
20 Hindernissen, die sein gesunder Menschenverstand gebiert,
doch hinlanglich treue Berichte von zukiinftigen Dingen liefert;
wie viel mer mus es nicht der Traumende konnen, der seiner
Vernunft so gewachsen ist, daB sie zu alien Fltigen seiner Phan-
tasie ganzlich stilschweigen mus? Mus er nicht ein Augenzeuge
der Zukunft, wovon der Prophet nur ein Orenzeuge ist, werden,
indem die Bilder seiner Phantasie, diese ungebornen (nicht aber
toden) Schatten, sich in Wesen verwandeln und gleich der Saule
des Pygmalions Belebung gewinnen: so wie nach Luzian die
Bildsaule eines gewiss.en korinthischen Generals zu Nachts ihren
30 Tod am Tage, vergas und mit Gesang die Gassen durchstrich?
Bleiben also auch hier nicht wieder die Alten die kliigern, wenn
sie die, welche weissagen wolten, in den Tempel[n] schlafen
hiessen?- Genug, um ieden, der nicht blind ist, zu uberfiiren,
daB es vorziiglich den Gelerten, die mer als Ungelerte traumen,
an der Gelegenheit nicht fele, ihre his tori schen Kentnisse von
der Nachwelt zu vermeren, zu berichtigen. Die Uberfiirung
740 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
wird wenigstens der folgende Aufsaz volenden; in meinem eig-
nen Beispiel wird man den Blik traumender Augen in die Zu-
kunft weniger verkennen. Und doch bin ich fest iiberzeugt,
daB die Traume aller meiner Nachfolger den meinigen weit hin-
ter sich lassen werden: denn es mus keinen so schlechten Trim-
mer geben als ich, der ich zu dem Traume, worin ich den folgen-
den Aufsaz fand, mich durch ein Buch wie durch ein
berauschendes Opium erst starken muste und am Tage mein
Gesicht an Lavaters dunkJern Aussichten in die entfernte Ewig-
keit hatte iiben miissen, um gliiklicher zu Nachts in den leichtern 10
Aussichten in die nahere Zukunft zu sein; den Edelgesteinen
gar nicht unanlich, die zu Nachts das Licht ausspenden, das
sie am Tage von der Sonne abstalen. - So gerne ich indessen
durch iene Griinde und Beispiel[e] zu Bekantmachungen water
Traume anzuspornen wiinsche: so wenig wil ich doch [fur]
ein[en] Freund der erdichteten gehalten sein. Auch wenn uns da-
mit die Herren Poeten und Satiriker weniger iiberhauft hatten
als sie leider! taten: so wurd' ich doch der Vermerung derselben
schon darum meinen Beifal und meine Unterstiizung abschlagen
miissen, weil sie mit den waren zwar die Vernunftwidrigkeit 20
aber auch weiter nichts gem[ein] haben.
Einige Anmerkungen zum folgenden Aufsaze werd' ich mir
wol erlauben, one zu fiirchten, daB ich dem Stolze meiner Leser
durch die Mutmassung zu nahe treten konte, daB Anspielungen
p. im }. 3o[59] ihnen wol nicht so gut bekant sein werden als
mir. Nur zu leicht wird man meinen ungelenksamen Stil dem
Stile des H. . . . ansehen: man mus es aber, ein Buch aus der
mit russischen, amerikanischen, tiirkischen [Worten] bereicher-
ten deutschen Sprache des Jars 305(9] in die iezige deutsche des
18 Jarhundertjs] zu verdolmetschen, nie versucht haben, um 30
meiner Ubersezung gar keine Mangel verzeihen zu wollen.
Ich bin gar nicht gesonnen, mich in den Streit tiber die Alten
und Neuern mit Widerlegungen oder Zustimmungen zu men-
gen. Unter zwo Parteien, deren iede der andern nur ihre entge-
ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3O59 741
gengesezten Irtiimer aufdringen wil, walet der Warheitsfreund
am besten keine. Aber da doch manche Irban den waren Weg
oft von feme begleitet, eine andre hingegen von ihm sich vollig
verlauft: so ist vielleicht der Man ser zu wiinschen, der auf die
verschiedne Abweichung der beiden Irwege aufmerksam macht
und er kan eben dies nur tun, wenn er die Mittelstrasse, als
den Standpunkt seiner Vergleichung, nicht verlast. So werd'
ich im gegenwartigen Aufsaze nur einige Data zur Angabe und
Berechnung der Schritte aufstellen, um welche die Freunde des
10 Altertums weniger als die Freunde der Neuern irren. Hatten
iene das, was ich bald zu ihrem Vorteil anfiiren werde, mer
gekant und gebraucht: so wiirden sie vielleicht weniger versucht
worden sein, auf gewissen irrigen Behauptungen so hartnakkig
zu bestehen und williger diesen einige Ubertreibungen Preis ge-
geben haben, deren Entschadigung ihnen nunmer nimmer zu
ihrem Siege felte. Ich wil sagen: sie wiirden den Vorzug, den
unsre Litteratur vor der alten in dem durch Sprache ausgedriikten
Wize unstreitig hat, den Lobrednern unsers Jarhunderts gerne
nicht gelaugnet haben, hatten sie ihnen dafiir alsdan einen noch
20 grossern Vorzug entgegensezen zu konnen gewust, der die
Schriftsteller von 1 770-1 780 wieder hoch iiber unsre hebt und
der ganz im mechanischen in wilkurlichen Zeichen und Hiero-
glyphen geausserten Wize besteht. Und mit historischkriti-
schen Anmerkungen iiber diesen Wiz werd' ich die ernsthaftern
Leserdieser Vierteliarsschriftzuunterhalten wagen. Leider! sind
aber von den Schriften iener Zeit, in denen er vorziiglich
herschte, eigentlich fast gar keine auf uns gekommen - und
auch dies nebst der Schwierigkeit seiner Entzifferung mag die
zeitherige Unwissenheit in etwas entschuldigen - und die noch
30 unversiegten Quellen, woraus ich schopfen mus, sind nicht im-
mer die reinsten. Denn weder die damaligen und uns geblfieb-
nen] Schriften, in denen man ienen mechanischen Wiz nicht ganz
vermisset, noch das Universaliournal, das die Postskripte oder
Anhange mitgerechnet aus 365 Banden besteht, ich meine die
algemeine deutsche Bibliothek, (das sind rtun aber meine Quel-
len alle) konnen uns die richtigsten Begriffe von der Sache ma-
742 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
chen; iene Schriften nicht, weil sie iiber das Bulen um den geisti-
gen Wiz den mechanischen zu ser vernachlassigen, als dafi man
one Unbilligkeit inihre Fortschritte die eingranzen soke, welche
mit ungeteiltem Eifer verfolgten; dieses Journal noch weniger,
weil es kein Freund von dieser damaligen Erfindung zu sein
scheint und folglich nicht die Wtirdigung, die dieser Wiz ver-
dient, erwarten lasset; wie es denn der Nachwelt nicht einmal
den Namen iener wizigen Mechaniker aufbehalten hatte, ware
es ihm moglich gewesen, ihnen dieienige Verewigung desselben
zu verweren, die ein unschuldig Gefangner bewerkstelligt, der 10
seinem Gefangnis seinen eingebrenten, eingeschnittenen, oder
eingekrazten Namen iibergiebt. Indessen folgt hieraus zum
Nachteil der Freunde des Altertums so wenig, daB vielmer die
Gewisheit und Besorgnis, in der Schazung ienes Jarhunderts
auf Kosten desselben zu irren, zur Entschuldigung und zum
Sporn dienen kan, daB wir uns haufig giinstigen Vermutungen
von seinem litterarischen Werte iiberlassen, die wir mit nichts
beweisen konnen.
Den Wiz, der im achten Jarzehend (des achtzehnten Jarhun-
derts; aber man schenke mir im folgenden diesen schleppenden 20
Zusaz) bluhte, nenne ich mechanisch, weil er mit der Anstren-
gung der Sele wenig oder nichts zu tun hatte und hauptsachlich
gewisse Geschiklichkeiten der Hande voraussezte. Ich wil damit
nichts als den Vorzug bezeichnen, der diese neue Art des Wizes
von der alten so ser unterscheidet: denn stat daB die leztere nur
ein Geschenk der Natur, und noch dazu ein seltnes ist, ist erstere
ein Werk der Kunst oder wenn man wil doch eine Gabe der
Natur, die durch die Kunst auch den schwachsten Kopfen kan
beigebracht werden. Z. B. sinreiche Gedankefn] zeugen konnen
nur wenige Giinstlinge des Zufals; aber sinreiche Gedankenstri- 30
che (ein Hauptzweig des mechanischen Wizes) hervorzubringen
ist eine Geschiklichkeit, wozu die Natur alle[n] Handen Anlage
eingepflanzt, die nur einen kurzen Beistand der Kunst erwarten.
Daher kan das Lob der mechanischen Schriftstellerei, daB sie
auch dem niedrigen Volke nicht verungliikte und dazumals
selbst den schwachsten Kopfen, den iiingsten und ungelertesten
ABHANDLUNG AUS DEM JAHRE 3059 743
Leuten mit dem grosten Erfolg von statten gieng, uns nicht
mer wundern und wiirde, ware es auch nicht durch das unver-
dachtige und erzwungne Gestandnis der Feinde dieses Wizes
selbst, doch nicht zweifelhaft sein konnen.
Meine Aufzalung der Zweige des mechanischen Wizes fang'
ich von dem kleinsten an und riikke dan mit ihr zu den grossern
fort. Erstlich der Apostroph: von dem man damals einen ganz
andern und wizigern Gebrauch zu machen wuste, als den, wel-
chen nur unsre iezigen Dichter zu kennen scheinen. Bei uns
10 ist er nichts als das Zeichen der Vokalen, die man dem Wol-
Jdange aufgeopfert. Die mechanischen Schriftsteller brauchten
ihn zu diesem Dienste zwar auch; ia sie wusten die Gelegenhei-
ten, mit ihm die Vokale wegzuschiessen, zum Besten des Ores
so zu vervielfaltigen, dafi die Konsonanzen der Sprache sich
in eben soviele Dissonanzen auflosten, und daB ihr Klang sich
almalig zur Harte stimte, die die damaligen Schriftsteller so gern
den benachbarten Sprachen (der russischen) streitig zu machen
wiinschten. Aber er war nicht bios Pause des Wolklangs.
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE:
Kan die Theologie von der nahern Vereinigung, die einige Neuere
zwischen ihr und der Dichtkunst zu kniipfen angefangen, sick wol
Vortheile versprechen?*
A us dem Franzosischen
* Diese Preisfrage wurde vor ungefahr neun oder zehn Monaten von
einem freundschaftlichen Zirkel schweizerischer Theologen aufgewor-
fen. Ich war so gliiklich, durch den gegenwartigen Aufsaz den Preis
zu erhalten. Ein Geschenk, welches die Geber gewis noch mehr als
den Empfanger ehret und besser einen Zeugen von der Unpartheilich-
keit der erstern, als von dem Verdienste des leztern abgiebt. Denn ich
fuhl' es nur zu gut, daR meine Verdienste um die Auflosung iener Frage
die Unpartheilichkeit, die mich Deutschen den Schweizern vorzog, sehr
wenig rechtfertigen. Bei meinen theologischen Rezensenten kan ich
eben darum auf keine ahnliche Gelindigkeit rechnen. Zwar schmeichle
ich mir, sie werden in gegenwartiger Preisschrift den angenehmen Stil
nicht vollig missen, den man von theologischen Aufsazen einmal ge-
wohnt ist; auch wollen mich meine Freunde iiberreden, dafi ich den
Wiz und die Laune des H. Tellers in Zeiz nicht ganz ungliiklich nachge-
ahmet; allein ich bin demungeachtet nicht weniger uberzeugt, und fiihle
es vielleicht besser als irgend iemand, dafi es mir dafiir mit der theologi-
schen Grundlichkeit nur schlecht gelungen sei und dafi ich nach der
deutlichen Entwiklung und Bestimmung der Ideen, worin man den
Gottesgelehrten mehrere Nachahmer unter den Philosophen wunschen ,
mochte, ohne bemerkenswerthen Erfolg gerungen. Wenn iibrigens ein
Manuskript eine Handlaterne ist, die meistens nur dem Trager leuchtet;
ein abgedruktes Buch hingegen eine Gassenlaterne, die fur mehrere
brent: so darf ich wol nicht um Verzeihung bitten, daB ich meine Preis-
schrift drukken lassen.
Ein gunstiger Wind hat in unsern Tagen auf iedes Feld der Wis-
senschaften den Samen von den Blumen der Dichtkunst gesaet.
Sie bliihen auf den Mistbeten des zynischen Arztes, begossen
mit prophetischem Urin, und bekranzen die Graber der Pazien-
ten; sie duften auf den Plazen, wo sonst unehrliche Leichname
stanken, und auf den Altaren, wo die Rechtgelehrsamkeit keine
Menschen mehr opfert, d. h. auf den Rabensteinen; ia sie wach-
sen sogar schon auf dem enthirnten Schadel des Philosophen
wie Mos auf dem enthirntenSchadel eines Missethaters, oder
wie seidne Blumen auf den gehirnvollen Kopfen unsrer Damen 10
- und in den Schulstaub selbst haben sie ihre Wurzeln geschla-
gen. Was Wunder, da noch iiberdies einmal eine Zeit war, wo
die kaufmannischen Hollander natiirliche Blumen liebten, daB
iezt die gekommen ist, wo die Gottesgelehrten die poetischen
lieben. Algemein namlich polemisiren iezt die Orthodoxen in
poetischer Prose, machen ihr Gefiihl zum Beweis der Glaubens-
geheimnisse, die man sonst durch Distinkzionen erhartete und
nehmen die Vernunft in die Blumenketten der Poesie gefangen.
Keine Frage ist nun also wol natiirlicher und nothiger als die:
ist aber der Orthodoxie diese Aufnahme der Dichtkunst auch 20
niizlich? Da ich diese Frage schon lange vorher, eh' man sie
offentlich beantworten zu lassen, noch im geringsten daran
dachte, mir selbst zu beantworten oft und eifrig suchte: so kan
ich ohne Eitelkeit hoffen, sie iezt mit einiger Befriedigung der
Denker aufzulosen und mit Griinden zu beiahen, die eine Priifung
wenigstens verdienen, ia wenn ich mir nicht zuviel schmeichle,
vielleicht auch aushalten.
Ich werde meinem Zwekke vielleicht nicht schaden, wenn
ich, bevor ich ihm naher trete, einige von den Vortheilen, die
schon sonst die Theologie von der Poesie gezogen, angebe. We- 30
nigstens gewinne ich dadurch iiber den, der die Nuzlichkeit des
Amalgama von beiden Wissenschaften auch wegen der Neuheit
desselben in Zweifel zieht, vielleicht doch so viel, daB er Eine
Stiize seiner Meinung fahren lasset und mir einraumt, daB Theo-
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 747
logie und Dichtkunst friiher Freunde als Feinde gewesen. Es
solte mir nicht schwer werden, die Bestatigung meines Sazes
auch von nichtchristlichen Volkern herzunehmen. Denn aus
welchen andern Handen bekamen wol die Griechen ihre Reli-
gion als aus denen, die die Leier des Apollo spielten? Was war
die Iliade und die Odyssee des Homers ihnen anders als das
A. und N. Testament, wenigstens das Gesangbuch? Und die
Gedichte waren ihrien Predigten, die sie iedoch nicht vergassen.
Die meisten Priester der wilden Volker zeichnen sich nicht min-
io der durch eine schwarmerische Phantasie aus, die ihrer Dogma-
tik iiber den gesunden Verstand des Wilden gewohnlich siegen
hilft; auch wiist' ichkeinen Stifter einer neuen Sekte, dem nicht
die Auxiliartruppen der Einbildungskraft beigestanden hatten.
Allein ich thue vielleicht besser, wenn ich bei der christlichen
Dogmatik stehen bleibe. Schon die Patriarchen unsrer Religion,
die Kirchenvater, wusten ihre dichterischen Talente zur Aus-
breitung ihrer Lehrsaze gliiklich anzuwenden. Sie sahen ein, dafi
im Oberreden die Macht der Dichtkunst da angehe, wo die
der Vernunft aufhoret und dafi nur die erstere die leztere ersezen
20 konne. Daher wird man in den Stellen ihrer Schriften, wo Be-
weise fehlen, Bilder, Allegorien und dergleichen wol schwerlich
vermissen und nur selten wird man sie in der Erbauung ihrer
Lehrgebaude iiber der Vernachlassigung derer Regeln der Ar-
chitektur betreten, welche die Symmetrie fur wirkliche Fenster
durch gemalte, (blinde,) die die Erleuchtung durch Tauschung
ersezen, zu entschadigen rathen. Diese Gefalligkeit der Dicht-
kunst fiir theologische Wahrheiten hat, meines Erachtens, einen
desto grossern Werth, ie unentbehrlicher die damalige Jugend
der leztern eine solche Hulfe machte. Beilaufig! ich wunschte,
30 ein bekanter Franzos wiederholte noch einmal seine Luge, daB
die ersten Christen ohne schonen Geschmak geschrieben. Auch
ohne die geringsten Anspriiche auf patristische Gelehrsamkeit
getraut' ich mir ihn aus alien Kirchenvatern (aus dem Tertullian
und Origenes sogar) mit genug Stellen zu beschamen, in denen
er mir troz seines Scharfsins gewis nichts anders als rhetorische
Blumen soke zeigen konnen. Vielleicht hat auch bios der langst
748 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
widerlegte Vorwurf der Heiden, daB die ersten Christen einen
sonderbaren Abscheu gegen wolriechende Blumen triigen, ihn
verfiihret, ein gleiches von den poetischen Blumen zu behaup-
ten.
Ferner: der Anfang und das Ende der Bibel stammen aus poe-
tischen Federn her und. die Dichtkunst scheint an ihr keine Ver-
schonerungen gespart zu haben. Ich zweifle aber, ob die Poesie
den Theologen einen wichtigern Dienst als diesen erweisen kon-
nen. Denn eben diese poetischen Zierrathen der Bibel schenkten
der Dogmatik die besten Lehrsaze, die namlich, die es mit der
Philosophie oder der gesunden Vernunft aufnamen, und nur
aus den biblischen Metaphern zogen die Gottesgelehrten bald
durch eigentliche Auslegung bald durch mdglichste Ausdeh-
nung derselben die schonsten und von der Vernunft am meisten
abweichenden Dogmen. Wenn ich es sagen darf , so hat die Dog-
matik sogar noch nicht alle Vortheile benuzt, die ihr die biblische
Poesie anbietet, und nach meinen geringen Einsichten ist fur
einen kunftigen Augustin noch eine ziemliche Ernte von Meta-
phern iibrig, durch deren eigentliche Auslegung sich ganz ncuc
Unbegreiflichkeitenerhartenliessen. Z. B. die Poesie des N. T.
nent Christum einen Hohenpriester, einen Konig und einen
Propheten. Nun brauchte man nur das Figurliche als etwas Un-
figurlicheszubehandeln, sohatte man drei Amter Christi. Auch
vermisset man sie, wie denn billig, wol in keiner guten Dogma-
tik. Allein giebt die biblische Dichtkunst nur diese drei Ver-
gleichungen an die Hand? Nent sie den Erloser denn nicht auch
einen Hirten, ein Lam und einen Weinstok? Und aus diesen
Metaphern lassen sich, wenn man sie wie keine behandelt, doch
wol auch eben so gut wie aus den obigen, drei Amter unge-
zwungen herleiten? Indessen besinn* ich mich noch in keiner
Dogmatik ein halbes Duzend Amter angetroffen zu haben. Je-
doch wil ich, um niemand zu beleidigen, hicr weiter nichts sagen,
als man hiite sich, wenigstens nicht der Anzahl der biblischen
Metaphern unsre Armuth an vernunftwidrigen Dogmen schuld
zu geben.
Cocceius fieng im vorigen Jahrhundert an, alle Geschichte
BEANTWORTUNG DER PRETSAUFGABE 749
in der Bibel zu Allegorien zu veredeln. Allein niemand hat dieser
Neuerung das seltne Verdienst, die Geheimnisse oder die Saze
iiber und wider die Vernunft zu vervielfaltigen, ie abgesprochen.
Und dieses Verdienst, welches gehorig zu schazen nur theologi-
sche Augen konvex genug geschliffen sind, hat man der Dicht-
kunst halb mit anzurechnen, ohne deren Hiilfe Allegorien sich
kaum verstehen, geschweige wie hier in die Bibel wiirden tragen
lassen. Auch iezt hatte ich zum Tadeln, wenn ich es liebte, wie-
derum Gelegenheit: denn diese neue Waffe gegen die gesunde
io Vernunft lassen die iezigen Theologen aus einer mir unbegreifli-
chen Nachlassigkeit fast vollig ungebraucht, (das einzige Hohe-
lied Salomonis wird doch keine so grosse Ausnahme machen
sollen,) indessen sie dafiir lieber mit schlechtern und mit abge-
nuzten Waffen fechten. - So viel mag nun von den Vortheilen
genug sein, wozu in den vorigen Zeiten die Dichtkunst dem
Theologen verholfen.
Die Frage, auf deren Beiahung es hier ankomt, ist also: niizt
der Theologie ihre neuere Vermischung mit der Dichtkunst?
DaB unter Theologie die Orthodoxie verstanden werden miisse,
20 glaub' ich voraussezen zu durfen: denn einem Heterodoxen
konte man mit eben so wenig [Recht] als einem Philosophen
den Namen eines Theologen geben. Unter der »neuern Vermi-
schung derselben mit der Dichtkunst« meinet man offenbar die
Methode einiger Theologen, in lauter Bildern und Metaphern
und Deklamazionen oder in poetischer Prose zu schreiben. Und
so ware denn unsre Frage genau genug bestimt! -
Schon das must', soft' ich meinen, bei iedem Theologen ein
giinstiges Vorurtheil fur die Poesie erwekken, dafi sie in nicht
wenigen Stiikken die groste Ahnlichkeit mit der Theologie be-
30 hauptet. Schlagt die erste beste Asthetik auf, sie wird euch in
derEinleitungsagen, das Ziel, welches alle Kunstrichter stekken
und alle Dichter treffen, sei die Verdunklung des gesunden Ver-
standes durch die untern Selenkrafte. Nehmet nun die schlechte-
ste Dogmatik, so wird sie euch gleichfals lehren, daG Mitthei-
lung der Dinge, die sich sowol iiber als gegen die gesunde
Vernunft erheben und auf eine heilsame Weise sie bezahmen
750 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
und vermindern, den Endzwek der Theologie ausmache. Sie,
diese Vernunft, ist folglich der Antichrist oder der Pabst, an
dessen Entthronung dem Theologen und dem Poeten gleichviel
gelegen ist, auf welche sowol der eine hinarbeitet, wenn er durch
ein distinguendum est zwischen vermahlten Begriffen die Ehe
aufhebt, die iener Stadhalter Gottes fur unaufloslich erklart; als
auch der andre, wenn er, ohne vorher bei der oft besagten baby-
lonischen Hure eine Dispensazion gekauft zu haben, Begriffe
in verbotnem Grade kopuJirt. Nur daB freilich beide iiber den
gesunden Menschenverstand mit verschiednen Waffen siegen, 10
nur dafi der Theolog den Sieg zum kiinftigen Gliikke und der
Dichter bios zum gegenwartigen, und der eine zur Besserung
und der andre zur Belustigung braucht. Diese Ahnlichkeit der
Dichtkunst und Theologie, die fast den meisten vor mir entgan-
gen, fiel schon alten Volkern in die Augen, wenn ich anders
ihre Hieroglyphensprache recht entziffere. Denn ohne Ursache
haben wol manche von ihnen den Got der Verse, d. h. die
Sonne, unter dem Bilde eines Ochsen vorstellen zu konnen sich
nicht eingebildet? Ich weis es zwar, daB in der Erklarung des
leztern Sinbilds die Gelehrten sich immer getheilet haben, und 20
freilich auch, da die alten Volker selbst den Ochsen so entgegen-
gesezte Behandlungen erfahren liessen und bald zum hochsten
Got bald zum Opfer des hochsten Gottes machten, theilen haben
mussen; allein was hier der Ochse sagen wil, das wiirde man,
ohne mein Zuthun, doch schon haben errathen konnen, wenn
man nur auf alten Miinzen sich fleissiger umsahe. Denn auf
diesen tragen die Priester immer Ochsenschadel auf dem Kopfe;
gar nicht aber stat einer Krone wie einige meinen: Sondern es
last sich (ware nur hier der schiklichste Ort dazu) sehr wahr-
scheinlich machen, daB man die Hirnschale des heidnischen Prie- 30
sters mit der Hirnschale des Ochsen weniger kronen als verdop-
peln wollen. Auch die Agypter (ibersahen die Ahnlichkeit
zwischen einer theologischen Kehle und einer poetischen Flote
nicht, sondern schlossen eben daher in ihre bekante Verabscheu-
ung der erstern auch die leztere mit ein, wie denn Plutarch aus-
driiklich bezeugt, daB sie den Klang der Trompete hasseten,
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 751
weil er dem Yanen des bei ihnen so verabscheuten Esels ahnlich
tonte. - Einen Einwurf hab ich doch zu befriedigen: denn man
konte mir namlich von Dichter und Theologen den gemein-
schaftlichen Has gegen die Vernunft zwar gerne zugestehen,
so wie man auch (urn das Grosse mit dem Kleinen zu verglei-
chen) von der Fledermaus und dem Maulwurf einen gemein-
schaftlichen Abscheu gegen das Licht einraumt; allein nur den
Unterschied als etwas besonders mir aufriikken, dafi der Theo-
log, gleich dem Maulwurf, in der dunkeln Tiefe grabe, der
io Dichter hingegen, gleich der Fledermaus, in der dunkeln Hohe
fliege. Aber wie kan er, dieser Unterschied, ihrer beiderseitigen
Ahnlichkeit und meiner Behauptung nur das geringste beneh-
men sollen, da derselbe Unterschied des Maulwurfs und der
Fledermaus den Naturforscher Klein nicht abgehalten, beide
Thiere in eine Klasse zu sezen? Wenn iibrigens Plinius* dem
Maulwurfe eine besondere Tauglichkeit fur wahrsagenden Prie-
ster beilegen wil: so mus er sich wol auf die Dienste gar nicht
besonnen haben, die ihnen die Vogel durch Geschrei und Flug
von ieher erwiesen. - Ich werde vielleicht auf Kosten der Kiirze
20 griindlich scheinen; allein mir ist es weniger um Belustigung
als um Belehrung zu thun und ich wil mich Iieber der Weitlauf-
tigkeit als der Seichtigkeit beziichtigen lassen. Denn nur iezt,
nachdem ich unwidersprechlich dargethan, daB die Poesie nicht
minder als die Theologie gegen den kalten Verstand zu Felde
ziehe, darf ich mit einiger Hofnung der Antwort auf die Frage
entgegensehen: wenn nun gar zu den Termen der Theologie
sich die Dichtkunst mit ihren Verhtillungen schlagt, wenn dem
leichten Kopf der erstern die leztere noch gar ihre Fliigel leiht,
mus sie alsdan nicht zu einer neuen Hohe aufsteigen? - Allein
30 dies ist noch das Wenigste.
Ich glaube auch beweisen zu konnen, daB die Poesie die ein-
zige Waffe ist, womit die Orthodoxen den heterodoxen Kongres
aus dem Felde zu schlagen sich noch versprechen diirfen. Zwar
haben sie allerdingS auch noch mit andern Waff en gefochten
* Pirn. H. N. L. XXX. c. 3".
752 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
und die Verzweiflung gab einigen sogar philosophische in die
Hande. Allein man hat leider! auch gesehen, wie wenig sie ge-
wonnen, wie sie vielmehr von den Krankheiten der Feinde an-
gestekt, und mit dem gerechten Verdacht beladen sich zurukge-
zogen, daB ihnen mehr um den Ruhm der Tapferkeit als des
Sieges zu thun gewesen und daB sie durch ihren Widerstand
ihre Niederlage mehr haben beschonigen als verhuten wollen.
Indessen behaupte ich damit gar nicht, daB kein einziger Theo-
log sich der Philosophic gegen unsre Sozinianer bedienet habe,
ohne zum Nachtheil seines Systems von ihr angestekt zu wer-
den. Eine solche Behauptung wiirde gewis die unverzeihlichste
Unbekantschaft mit den Verdiensten derer voraussezen, welche
die Vernunft, die sie wahrend ihrer polemischen Kriege in ihre
Dienste genommen hatten, zu Ende des Streits abzudanken
gleichwol nicht vergassen; welche die Philosophic allerdings,
so wie Gulliver seine Brille*, brauchten, namlich, nicht um da-
mit zu sehen, sondern um damit die Pfeile von Zwergen abzutrei-
ben, und die gewis in aller Ruksicht eine Vergleichung mit dem
schonen Amor verdienen, der in semen Handen Fakkeln tragt
und dessen Augen dennoch von einer Binde geschlossen bleiben,
oder auch mit ienem klugen BHnden, der zu Nachts "mit einer
Lateme gieng, nicht um besser zu sehen; denn er sah auch [am]
Tage nicht, sondern um damit die Angriffe von denen zu verhii-
ten, die nur zu Nachts nicht sehen. Allein die Nachahmung
dieser Theologen mochte nur vielleicht nicht in eines ieden
Kraften stehen; ich wiirde wenigstens keinem dazu rathen, von
dem ich nicht gewis wiiste, daB ihm die Meisterhand eines C-ius
angeboren ware. Da man endlich auch durch Scheiterhaufen-
feuer niemand mehr erleuchten kan, so bleibt folglich nur ein
einziges Mittel, zu erleuchten ubrig, namlich Dichterfeuer.
Uber die Moglichkeit dieser Sache werd ich mich nun schon
etwas mehr ausbreiten miissen: denn so bald ich aber auch das
von der Poesie erwiesen, daB sie die beste Waffe gegen die Hete-
rodoxie und die einzige Stiize der Orthodoxie noch sei, so werd'
ich zu ihrem Lobe nun wol nichts weiter hinzuzusezen brauchen.
* S. Reise desselben nach Lilliput.
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 753
Aus der sogenanten Streittheologie ist bekant, daB Dunkelheit
des Ausdruks zu den ersten Erfordernissen einer guten Widerle-
gung gehore und daB der besten alles fehle, wenn iene fehlet.
Noch immer nab' ich die Gleichnis nicht vergessen, womit H.
Teller in Zeiz diesen Saz, als er sonst in Leipzig dariiber las,
uns Zuhorern zu erlautern pflegte. Wir Theologen, meine Her-
ren, sagte er, gleichen den Ariern, die ihre Schlachten nur im
Finstern lieferten, und wie man oft von seinem argsten Feinde
noch etwas lernen kan, so haben auch wir vom Teufel gelernt,
io daB uberirdische Ideen, so wie er, am besten im Dunkeln sich
zeigen. Diese Einhullung der Gedanken nun, worauf in polemi-
schen Schriften so streng gehalten wird, fordert man nicht weni-
ger von poetischen. Denn da man bemerkt hatte, daB die besten
deutschen Gedichte, die algemein gefielen, doch denen nicht
gefielen, die sie verstanden, und daB ein Schleier aus Worten
poetische Schonheiten nicht nur zu bedekken, sondern auch zu
ersezen fahig ware, so wie der Schleier, den der Maler iiber
ein Gemalde webt, das Gesicht der Figur gleichfals mehr ersezet
als verhullet, so wurde die algemeine Regel festgesezt, daB nur
20 allein Dunkelheit und Entfernung vom gesunden Menschenver-
stande einem poetischen Gedanken Anspruch auf Grosse geben
konte, so wie nur dieienigen Planeten die grossesten sind, die
am weitesten von der Sonne abstehen und am wenigsten ihren
Strahlenausgeseztsind. Daherdie Bemerkung, daB diedichteri-
sche Schopfung nicht eher von statten gehe, als bis an den ganzen
Kopf der Befehl ergangen: es werde Finsternis; der ubrigens durch
folgenden Ausspruch des H. Jugel's eine neue Bestatigung zu-
wachst: »Wenn keine Finsternis der kreatiirlichen Schopfung
Gottes vorhanden gewesen ware, also daB alles aus Licht bestan-
30 den, so hatte nimmermehr keine sichtbare Bildung der Dinge
zum Vorschein kommen konnen.«* - Sonach wird nun wol
* S. Gotfried Jugel's Physica-Mystica und Physica sacra sacratissima
p. Berlin und Leipzig bei George Jakob Dekker 1782 Seit. 233. Dieses
alchymistische Buch verleiht, wie iener Esel des Abderiten Anthrax,
einen so angenehmen Schatten gegen beschwerliches Sonnenlicht und
bestreitet die gesunde Vernunft an manchen Orten mit so vielem
754 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
kaum die Frage mehr sein konnen, ob sich durch die Poesie
die Dunkelheit verdikken lasse, auf die in polemischen Schriften
nur nicht gar alles ankomt und ob man durch sie iiber den Geg-
ner den Vortheil zu gewinnen hoffen diirfe, von ihm nicht ver-
standen zu werden. Denn wem durch Blumen es nicht gelingen
wolte, die Aufspiirung des Ideenganges dem Gegner zu verei-
teln, so wie in geruchvollen blumichten Wiesen der Jagdhund
die Fahrte des Wilds verliert, und wer auf poetischen Stelzen
den Feind nicht eben so gut, wie der Jager auf holzernen den
listigen Fuchs, um die verratherische Spur der Fiisse betriigen
konte, und da, wo die Nebel der Theologie ihn nicht dicht genug
umlarvten, sich nicht mit besserem Erfolg in die Wolken der
Poesie aufschwingen wolte, die im Grunde selbst nichts anders,
als erhohte Nebel sind: von dem Hesse sich iiberhaupt nicht ver-
sprechen, daB er in der dunkeln Schreibart sich durch irgend
ein andres Mittel auszeichnen werde. Doch dies ist nur eine
lere Besorgnis. Vielmehr nehmen sich eben dieienigen Schriften,
wovon iede Seite einem bunten Blumenbete gleicht, durch die
groste Dunkelheit aus und eben mit dem Pinsel der Poesie
wissen manche Theologen dem Lichte, das schon an sich
mit der theologischen Ehrwiirdigkeit sich schlecht vertragt, so
kraftig zu begegnen, daB man die nothige Verfinsterung nur
selten vermisset, beinahe so wie man sonst den Kirchen zu der
Dunkelheit, in die man ihre Wiirde sezte, durch Bemalung der
Fensterscheibenverhali. Zum Beweis wil ich nur das bekante Bei-
spiel meines Vetters anfiihren, der seiner mit vielem Beifal auf-
genommenen Widerlegung des H. Steinbarts durch haufige
Metaphern, Allegorien und Ausruffungen eine solche Dunkel-
Erfolge, daB es wol nicht erst auf meine Em[p]fehlung zu warten
braucht, um von iedem Alchymisten fleissig und mehr als einmal gelesen
zu wer den. Beilaufig mus ich noch erinnern, daB ich in diesem merk-
wiirdigen Buche hie und da auf einen Sin gestossen. Wahrscheinlich
hat er sich durch Unachtsamkeit des Sezers eingeschlichen, an welcher
die unleserliche Hand des H. Verfassers auch nicht ganz unschuldig sein
mag. Der Verleger wird daher bei der zweiten Auflage doch dafiir sor-
gen, daB die wenigen Stellen, wo Drukfehler einen Sin verursachen
konnen, berichtigt werden.
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 755
heit ertheilte, daB er seinen Sieg ohne alle Hiilfe der Exegese
und der Philosophic gewan. Denn wo ihm die Theologie die
sichere Tiefe versagte, fliichtete er auf poetische Hohen; und
bestatigtc auch dadurch die oben besagte Ahnlichkeit des Theo-
logen mit dem Maulwurf, der ebenfals bei Uberschwemmun-
gen seine Locher gegen hohe Baume vertauscht; daher ich oft
meinen Vetter zum Scherze mit einem gewissen Dintenfisch
vergleiche, der seinem Rauber nicht bios durch Auslassung eines
verdunkelnden Safts, sondern durch Auffliegen entkomt. Warum
io H. Steinbart sich auf keine Gegenantwort eingelassen, wird man
wol ohne mich errathen konnen. - Demallenungeachtet liesse
sich die Dunkelheit der Schreibart noch auf eine hohere Stufe
treiben; und ein fleissigeres Studium der alchymistischen Schrif-
ten, deren Liebhaber sich ohnehin bei dem feinern Theil des
Publikums iezt taglich vermehren, mochte darauf vielleicht am
ersten fiihren. Denn bei ihnen allein ist die agyptische Finsternis
noch acht zu haben, wovon sich unsre Poeten nur des Schattens
ruhmen diirfen und wenn der Dichter in diesen kaum seine Flu-
gel genugsam verlarven kan, so vermag der Alchymist in iene
20 sich schon bis auf [den] Kopf, ia sogar bis auf die Ohren zu
vermummen. DaB sich aber nur niemand von der Nachbildung
dieser Finsternis durch das Vorurtheil abschrekken lasse, bios
mit dem Zauberstabe des Alchymisten Moses gelinge sie! Denn
ein Ungeweihter habe nur den Muth, die Fesseln der Kritik
zu zerreissen, die aus iedem Bilde ein Anagramma von Ahnlich-
keiten oder auch ein Farbenklavier zu machen ihn zeither gehin-
dert, so wird er wie der beste Adepte, alle seine unerzognen Ge-
danken J/mtekke«5spielenlassenk6nnen. Und (iberhaupt, dacht'
ich war' es einmal Zeit, daB der Gottesgelehrte von dem Alchy-
30 misten, der von ihm dunkle G^H&ewzuborgen sich schon lange
dieFreiheitnahm, auch hinwiederum dunkle Wortertntlthntt.-*
Der Theologie haben schon viele Gegner lange Ohren zuge-
* Mein Rath erhalt nicht wenig Gewicht von dem Beispiele der M'on-
chein den alten Zeiten, die sich vorziiglich der Alchymie beflissen; und
von dem Ausspruche des Kornelius Agrippa, welcher die Alchymie
die Sch wester der Theologie genant.
756 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG "
schrieben. Ich wil iezt nicht untersuchen, ob der Vorwurf der
Ahnlichkeit mit einem Thiere, das zween der grosten Manner,
La Motte Le Vayer und Biiffon, unter seine Lobredner zahlet,
am Ende nicht gar mehr Lob als Tadel enthalte, sondern ich
wil nur erweisen, daB man vermittelst der Dichtkunst ihn auf
immer vernichten konte, wenn man namlich die langen Ohren
nur zu poetischen Flugelgen auskerbte. Ich mus mich erklaren.
Unsere Gegner verlangen nicht undeutlich Philosophic und
Vernunft von polemischen Schriften und Forderungen dieser
Art entfahren vorziiglich der Berliner Bibliothek nicht selten. 10
Nun kenn' ich die Schlinge zwar wol, worein die Genugthuung
einer so arglistigen Forderung uns gewis verwikkeln wiirde;
allein vielleicht hilft uns die Dichtkunst iene Foderungen auf
eine Art befriedigen, wobei die Schlingen vermieden werden.
Wie namlich, wenn der Theologe zwar nicht Philosophic und
Grunde, aber doch etwas zu liefern anfienge, was ihnen [von]
ieher, wenn nicht vorgezogen, doch gleichgeschazet wurde und
was man die Stelle derselben schon langst und oft vertreten lies,
ich meine Metaphern und iiberhaupt poetischen Schmuk? denn
die Hinlanglichkeit dichterischer Zierrathen, Grunde zu ersezen 20
wird wol niemand in Zweifel ziehen, der nur einmal an sich
die Bemerkung gemacht, daB die Uberzeugung sich eben so
gern fur das Schone als das Erwiesene erklare und ienes willig
fur dieses gelten lasse. Und ich glaube iiberhaupt, daB man den
Zwek der Dichtkunst sehr unter ihrer Wiirde angebe, wenn
man blosse Verschonerung der Vernunft allein zu demselben
macht. Denn auch die Vernunft ersezen kan sie, die Dichtkunst,
so wie die Schminke nicht bios Hdslichkeit, sondern auch Ent-
kraftung (wie die des Tiberius auf dem Krankenbette) verhehlet,
so wie man mit Puder nicht bios der rothen, sondern auch der 30
grauen Farbe der Hare abhilft d. h. in denselben sowol Haslich-
keit, als Schwache verhrvt. Auf meiner Seitestehennochiiberdies
die grosten Autoren aller Volker und aller Zeiten, die alle, vom
Plato an bis zu Voltaire dies so gut yvusten, daB sie Behauptun-
gen, denen der gehorige Sin fehlte, wol selten ohne die nothige
Verschonerung aufstelten, und den Leser alzeit fur die Sprodig-
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 757
keit ihres Verstandes durch die Liebkosungen ihrer Phantasie
entschadigten. Audi befanden sich schon verschiedne Theolo-
gen bei dem Ersaze der Griinde durch Zierrathen, gar nicht
ubel und ich konte deren manche nennen, welche es nie gereuet
hat, sich gleich den Kampfhahnen, gegen ihren Widerpart der
Fliigel mehr als des Kopfs bedient zu haben. Warum reissen in
Pfenningers vortreflichen »Samlungen zu einem christlichen
Magazin« einige Aufsaze ohne den geringsten Beistand der Exe-
gese und Philosophie dennoch die Oberzeugung eines ieden Le-
io sers an sich, und schlagen die Heterodoxen mit einer blossen
Widerlegung, ohnealle Auxiliartruppen von Griinden, dennoch
aufs Haupt? Warum anders als weil durch die Dichtkunst ihr
polemischer Helm, wie des Alexanders seiner, befliigelt worden
ist; weil sie es an Deklamazionen, Bildern und Ausruffungen
nicht fehlen Iassen, durch welche die Griinde zu ersezen andre
nur zu oft vergessen; weil sie der orientalischen Feigheit ieder
ihrer Saze durch orientalischen Phrasenschmuk abhelfen, so wie
morgenlandischeKrieger dieunsrigen zwar nicht an Tapferkeit,
aber dafur bei weiten in glanzender Montirung iibertreffen.
20 Uberhaupt durften die schweizerischen Theologen (ohne eigen-
niizige Schmeichelei sei dies gesagt!) in der Fruchtbarkeit an
Metaphern und rauschenden Gefiihlausgussen und dergleichen
wol den Rang vor den deutschen behaupten, und ich wiirde
diesen betrachtlichen Unterschied zwischen beiden noch an-
schaulicher erharten konnen, untersagte mir die Wiirde meines
Gegenstandes nicht die zu wenig edle Anspielung auf gewisse
Thiere, welche in der blumenreichen Schweiz fetter und hoher
angetroffen werden als in unsern Gegenden. Freilich last sich
nicht verhehlen, dafi ein Genie iiber die Orthodoxie eben so
30 oft als iiber die Kritik wegseze; allein an seinem innern Gefiihl,
an einem gewissen Geist der Dichtkunst hat es am Ende wol
einen eben so guten Leiter als andre an Luther und Kalvin und
der weise Homer hat, meines Erachtens, gar nicht Unrecht,
wenn er in seiner Odyssee behauptet, dafi gewisse Rinder in
Sizilien, die ohne Hirten weiden, von dem Phobus gehiitet wer-
den.
758 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Einer meiner Freunde las den vorhergehenden Absaz und
theilte mir folgenden Einwurf dagegen mit: »Manche orthodoxe
Wahrheiten mogen wol in ihrer Jugend (d. h. zur Zeit der Kit-
chen vater) sich nicht anders als durch bunte Einkleidung um
Proselyten haben bewerben konnen; allein iezt macht schon ihr
Alter ieden Erweis und folglich auch ihre Verschonerung unno-
thig« und das ist zwar auch nicht zu laugnen und ich konte
sogar noch mit dem Ansehen des H. Kants* dienen, der nur
iungen Personen, aber nicht alten einen bunten Anzug gestattet.
Allein nur schade, daB das orthodoxe System iezt wieder an I0
eben so lokkern Wurzeln hangt als damals, da es erst gepflanzet
war, und daB die theologischen Spinweben durch den Staub,
den die Zeit auf sie fallen lassen, fast ganzlich unfahig geworden,
ferner Fliegen zu fesseln. Man wird also wol in die Bediirfnisse
der Zeit, worein die Kirchenvater sich schon einmal gefuget,
sich zum zweitenmale fiigen und der Rtikkehr des Obels mit
der Wiederholung der Kur begegnen mussen. Und das iiberdies
auch noch aus einem neuen Grunde. Denn wenn es wahr ist
(wie denn noch niemand daran gezweifelt) daB der Korper der
Religion nach und nach zu einem theologischen Skelete einge- 20
gangen, so kan es.fiir einen rechtschaffenen Gottesgelehrten wol
kein dringenders Geschafte geben, als ihr das Fleisch durch den
poetischen Schmuk, der es sonst nur hob, iezt zu ersezen. Ein
Geschaft, dazu auch das Beispiel der Anwohner des Oronoko-
flusses schon langst hatte ermuntern soil en, welche sobald die
Verwesung ihren toden Konig ganz entfleischet hat, sein Skelet
mit Gold und Edelgesteinen aufpuzen, wie man damit lebende
Potentaten aufpuzt.
Die Sache ist mir so wichtig - denn die Poesie kan uns noch
einige Zeit fur den Aufschub der Wunder schadlos halten, die, 30
so unentbehrlich sie auch (wie ich mit zween beruhmten Gottes-
gelehrten glaube) zur zweiten Griindung unsers Glaubens sind,
sich doch wol schwerlich yor dem Ende dieses Sakulums bege-
ben diirften - die Sache ist also wie gesagt, mir so wichtig,
* S. Beobachtungen iiber das Gefiihl des Schonen und Erhabnen.
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 759
(und mir, hoff ich, nicht allein) dafl ich ohne Mittheilung eines
gutgemeinten Raths mich von ihr loszureissen nicht fahig bin.
Da sich namlich nur bei wenigen Theologen die Geschiklichkeit
voraussezen lasset, durch poetischen Schmuk die Griinde zu er-
sezen, weil die meisten fast bios durch Distinkzionen sie zu erse-
zen gelernt, so mus man auf Muster denken, die die Vervolkom-
mung hierinnen erleichtern. Vielleicht werd' ich, wenn ich nun
dazu die Schriften der neuern Philosophen vorschlage, sowol
ieden Verniinftigen als auch den Erfolg auf meiner Seite haben.
io Mir wenigstens sind keine Biicher bekant, wo die Phantasie
den Verstand so fleissig ablosete und der Kopf sich in die Flugel
so gluklich verlarvte als eben iene. Sogar an Stellen, wo die
Phantasie auch die Saze, mit welchen die gesunde Vernunft in
offenbarer Feindschaft lebt, unter ihre grossen Flugel in Schuz
nimt, wie eine Henne ihre Kuchlein in Schuz nimt, sind die
Schriften unsrer Philosophen nicht arm; und solche Stellen ha-
ben fur den Theologen doch bei weitem die meiste Brauchbar-
keit. Daher kan man die Lesung derselben ihm so lange nicht
genug empfehlen, als sein poetischer Geist zur Hervorbringung
20 der Deklamazionen, die mit dem gesunden Verstand abwech-
seln sollen, noch fremde Nahrung braucht. Ich wil nicht hoff en,
daB man von mir die arglistige Absicht argwohne unbefestigte
Orthodoxen zur Philosophic anzukodern und ihnen den Apfel
des Erkentnisses unter dem Namen von poetischen Blumen in
die Hande zu spielen. Denn zwar zu Wolf's Zeiten, wo die Phi-
losophic alien ihren Gift noch bei sich fiihrte, hatte mein Rath
vielleicht verdachtig sein konnen; aber in unsern, wo man diesen
Man und seine Nachahmer der Vergessenheit endlich Preis ge-
geben, die seine Sucht nach Griinden wol eher verdient hatte,
30 wurde so ein Argwohn etwas Schlimmeres als Unbekantschaft
mit unserer Litteratur zu erkennen geben. Ich hatte daher nam-
lich die oben angefiihrten Dienste, welche die Dichtkunst der
Theologie geleistet, sehr gut mit dem noch vermehren konnen,
daB sie der Philosophic die zynische Kleidung abgeschwazet und
dafiir ihren eignen kostbaren Schmuk ihr aufgedrungen. Denn
eben der poetische Anzug war fur die Philosophic, urn nicht
760 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
viel zu sagen, ein Sterbekleid, wo nicht gar das Kleid, das den
starken Herkules vergiftete. Dem Poeten folglich einzig und
alleinhat derTheolog die almahlige Ausrottung des Philosophi-
rens zu verdanken. Zwar spielt noch ein gewisser Skeptizismus
die verstorbne Philosophic; allein da er mehr ein Kind des Her-
zens, als des Kopfes ist, und auf den Ruinen der Demonstrazio-
nen vielmehr eben das Wunderbare aufbauet, so konnen Theo-
logen philosophische Schriften auch von dieser Seite genom-
men, ohne den geringsten Schaden lesen.
Allein poetischer Schmuk leihet einer theologischen Schrift 10
ausser der Festigkeit, auch Schonheit; so wie man das Gebaude
mit Kalk nicht nur ntauert, sondern auch tuncht, und damit nicht
nurseinem Innern Haltsamkeit, sondern auch seiner Oberflache
Glanz ertheilt. Nun glaub' ich zwar genie, daB viele Theologen
der Dichtkunst eine solche Ankoderung der Leser lieber gar
wieder zuriikgeben mochten; und zu ihrer Entschuldigung vor-
schiizen werden, daB eine Sprache, welche deutsch, harmonisch
und geschmukt sei, sich schlechterdings mit der Wiirde religio-
ser Schriften nicht vertrage; daB man vielmehr eben deswegen
von ieher in Predigten pp mit dem Hauptendzwek, der gesunden 20
Vernunft todliche Stosse beizubringen, immer noch die Neben-
absicht, auch auf den Bruder derselben, auf den gesunden Ge-
schmak Seitenhiebe zu fiihren, zu verbinden getrachtet, so wie
Merrettig und Zwiebeln den Gaumen sowol als die Augen beis-
sen. Ja ich bin so sehr wie sie selbst (iberzeugt, daB die christliche
Demuth fur theologische Gedanken eben so streng wie fur theo-
logischeLeiber schlechte Kleidung verordne. Allein ich seh' nur
auch nicht ein, warum die Gottesgelehrten dem Geschmakke
der Zeiten, dem sie doch schon ihre vorige zerrissene Eremiten-
kleidung aufgeopfert, noch gar die verstummelte Einkleidung 30
ihrer Saze aufzuopfern sich weigern konnen. Denn leider! ist
es doch nur mehr als zu wahr, daB das iezige, durch Franzosen
verwohnte, weichliche und schwelgerische Publikum die besten
und von dem gewohnlichen Menschenverstand ganzlich abwei-
chenden Schriften doch nur dan erst seiner Lesung und seines
Beifals wiirdigt, wenn ihnen auch das kleinere Verdienst eines
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 76 1
bezaubernden und bilderreichen Stils nicht fehlet - so sehr zieht
maniezt das Angenehme dem Niizlichen vor, und so sehr duldet
man die Belehrung wenigstens nur in der Larve der Belustigung,
gleich den Metallen, welche das Gold so lange verschmahen,
als man es ihnen ohne die Beimischung des Queksilbers (des be-
kanten Sinbildes des Wizes) anbietet. Man kan sich daher urn
die iezt so wenig beliebte Theologie nicht besser verdient ma-
chen als durch ihre Verschonerung: denn nur den Mangel der-
selben allein und keinesweges einen vernunftwidrigen Inhalt
10 hatte man die Abnahme ihrer Liebhaber verantworten lassen
sollen. Und die Theologen, welche das Publikum darum lieber
gar eines ganzlichen Kaltsinnes gegen alle Schriften, die Saze
iiber und wider die Vernunft enthalten, beschuldigen wolten,
begiengen also aus zu vielem Eifer eine kleine Ungerechtigkeit.
Vielmehr mus man ihm bei aller seiner Ausartung doch den
Ruhm noch lassen, daG es Wissenschaften, die auf Verminde-
rung des so haufigen gesunden Menschenverstandes abzielen,
allerdings zu schazen wisse; und ware mir davon auch weiter
kein Beweis als seine neuerliche Liebe zur Alchymie, einer Wis-
20 senschaft, die in der Menge der Unbegreiflichkeiten nun gewis
mit ieder Theologie in der Welt sich messen darf, bekant, so
wiird' ich mich schon durch diesen berechtigt glauben, dasselbe
von aller Gleichgiiltigkeit gegen das Vernunftwidrige loszu-
sprechen. Aber man sehe nur freilich auch, mit welcher Schwar-
merei, mit welcher Bilderverschwendung und Nachahmung der
neuesten Schreibart alchymistische Bucher geschrieben sind. Ja
fanden denn nicht eben die wenigen Schriften, worinnen die
Orthodoxie im goldnen und englischen Einband der Poesie aufge-
treten und die diirren Termen in bliihende Metaphern ausge-
30 schlagen waren, gerade die meisten Leser? Wenn H. Goze in
Hamburg nicht eben so wie H. Teller in Zeiz die Bewunderung
der Lesewelt erregt, so liegt die Schuld nur daran, daft er mit
ihm bios das System, aber nicht auch den Wiz des h. Augustins
gemein zu haben trachtet. Und es haben daher schon vor mir
viele einsichtsvolle Orthodoxen den Wunsch geaussert, dafi es
dem Hern Hauptpastor, diesem wahren theologischen Herku-
7<52 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
les, der schon so manchem heterodoxen Ungeheuer das Lebens-
licht ausgeblasen hat und noch ausblasen wird, gefallen mochte,
kiinftig in einem angenehmen Stile zu verkezern, der gewis sei-
nen Bemiihungen einen weitern Wirkungskreis erofnen wiirde.
Er sage nicht, daB hamburgische Orthodoxie sich mit Leipziger
Belletristerei nicht vereinen lasse. Derm oft genug nab' ich ham-
bur gisches Rindfleisch und Leipziger Lerchen in Einen Magen
gehen sehen; und er wird sich auch selbst aus dem Hoseas auf
die Engel besinnen, an denen sich der Kopf ernes bekanten vier-
fiissigen Thieres sehr wol mit Flugeln vertrug. - Liefe endlich 10
die Anfiihrung meines eignen Beispiels nicht wider die Beschei-
denheit, so kont' ich von meinem Aufsaze iiber die Wunderga-
ben*, den ich mir von meiner Phantasie ohne Einhelfen des
Verstandes diktiren lassen, bemerken, daB er Lesern, deren Ur-
theil gar nicht gleichgiiltig ist, zu gefallen das Gliik gehabt, ia
daB ich zu fernern Arbeiten dieser Art von mehr als Einem Orte
zu schmeichelhaft fur mich bin aufgemuntert worden.
Und nun endlich der lezte Nuzen der Poesie! Sie bringt vor-
namlich das Herz auf die Seite der Theologie, gegen welches
alsdan der Kopf wenig mehr verschlagt und iiber dessen Warme 20
derselbe gern ieden Mangel des Lichts verschmerzt oder besser
vergist. Ich freue mich, daB ich den Leser dieser Lobrede auf
die Poesie hier nicht mit blossem Vernunfteln abzufertigen
brauche, sondern sogleich mit Erfahrungen iiberzeugen kan.
Ich beruffe mich auf die Litteratur- und Kirchengeschichte des
vergangenen Jahrzehends. Nur zu wahr wird ieder Theolog die
traurige Bemerkung finden, daB der Orthodoxie niemals ein
so gewisser Untergang als damals bevorstand. Wie sehnlich sah
sie nach neuen Wolken sich um, die sie, wie sonst Wolken die
homerischefn] Helden, dem Auge des Feindes entzogen! Ganze 30
Herden Wolfe hatten sie in ihren heiligen und dunkeln Hainen
angefallen, als sie ohne Feuer war, sie wegzuschrekken, und so
gar ohne ein Spizbubenpfeifgen, ihre Gefahr zu melden. Aber
* Ich lies ihn in Pfenninger's Samlungen zu einem christlichen Maga-
zin einriikken.
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 763
dank sei es der Diana (dem Mond), die nun bei den Deutschen
den Vater der Verse vertrit, daB sie, die zu Nachts kiisset und
am Tage in den Waldern iagt, diese wilden Thiere theils erlegte
theils verscheuchte und so der Orthodoxie das theure Leben
erhielt. Beilaufig! es war ein sehr gunstiger Zufal, daB die deut-
schen Dichter eben damals gleich den Karaiben, die Luna mehr
als den Phobus verehrten: denn der leztere diirfte die Orthodoxie
gegen die Wolfe, welche die Mythologie zu seinem Lieblings-
thiere macht, in Schuz zu nehmen eben nicht sehr geneigt gewe-
10 sen sein. Also unfigurlich: Die Poeten des vorigen Jahrzehends
hatten gewisse Winkel im Reiche der Moral, worein ihre Augen
sich vorzuglich gern ihres Urins entluden, wie man denn das
auchnoch an gewissen Hausthieren bemerken kan. Ein solcher
Winkel war der Wunsch: »o! wenn ich doch wieder ein Kind
ware!« Ein Wunsch, der sich von dem Befehle der Theologen:
»ieder Christ bestrebe sich der Lange seiner Ohren eine Elle
zuzusezen!« innichts als darin unterscheidet, daB er besser erful-
let wurde. Denn wirklich wurden verschiedne zwar nicht am
Korper, allein doch vor ihrem Greisenalter am Geiste dasienige,
20 was sie wiinschten und die angerufne Luna bewies, daB sie iezt
Kinder eben so gut machen konte als vor Zeiten entbinden, wie
denn selbst einige meiner besten Freunde so gliiklich waren,
den Verstand fruher als die Hare zu verlieren. Allein weiter.
Umsonst riefen die Theologen vorher in unpoetischer Sprache:
nim deine Vernunft gefangen, urn nicht zum bosen Feinde zu
fahren. Aber kaum driikten sie ebendasselbe in poetischer so
aus: »argert dich dein (geistiges) Auge, so reis es aus; bios die
Thrdnendruse, die neben demselben liegt, macht dich selig; bios
aus diesen quilt das Wasser des Lebens, das Weihwasser, dessen
30 Besprengen dich entsiindigt. Und wie die Gottin der Dunziade
rief; meine Kinder, wer am meisten pisset, erhalt den Nachttopf, so
ruffen wir dafiir, wer am meisten (mit den Thranendriisen) pisset,
erhalt das Himmelreich« - kaum war also dieses ausgeruffen, als
die Augen iedes Gehirn in Thranen ersauften und iedes Herz
sich gegen seinen Kopf emporte. Und dazumals sah man daher
denn lauter Heilige, die gleich den gekopften Martyrern, mit
764 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
ihren Kopfen unter dem Arm d. h. Chapeaubas giengen und
einige lebhafte Riimpfe kegelten sogar mit ihren runden Haup-
tern nach den Fiissen der Berliner Bibliothekare. Dazumal tru-
gen auch die Engel in ihren Sanften keine andern Thiere gen
Himmel als die langohrichten, die in Italien selber Sanften tra-
gen, und der Agypter, den man nach seinem Tode enthirnet
hatte, erkante sich in dem Deutschen wieder, dem ebendasselbe
bei seinem Leben wiederfahren war. Nur in der Holle allein
war Licht und das groste Gehirn hatte der Teufel. Beilaufig!
vielleicht ist noch nicht algemein bekant, daft ebendamals der 10
bose Feind, weil er seinem gehor[n]ten Kopf die Beherschung
der klugen Ankomlinge aus unsrer Welt nicht zutraute, den
Rossen Elias nicht bios mit den Fiissen, sondern auch mit dem
Kopfe zu ahnlichen wiinschte und durch diesen frechen Wunsch
seinen Fal wiederholte, so daB ihm zur Strafe auch seine Pferde-
fusse abgesagt und dafiir Ochsenklauen angesezet worden; eine
Nachricht, die gewis weiteres Nachdenken verdient, deren
Richtigkeit iibrigens durch den P. GaBner und durch ein Post-
skript des Briefs Juda, meines wenigen Bediinkens, hinlanglich
ausser Zweifel gesezet worden. 20
Und dies waren denn die Griinde, womit die theologische
Niizlichkeit der Dichtkunst sich beiahen liesse, deren Anzahl
und Scharfe iibrigens eine geschiktere Feder leicht wird vermeh-
ren konnen. Von Einwiirfen dagegen scheinen mir keine son-
derlich wichtig zu sein, ausser zweien, mit deren Widerlegung
ich dan schliessen wil.
Der erste Einwurf, mit dem, ich woke wetten, auch H. Goze
meine obige Bitte an ihn abweisen wiirde, ist gegen die Mog-
lichkeit gerichtet, Theologen an die Bildersprache zu gewohnen:
denn, fahrt der Einwurf fort, fast die meisten kommen durch 30
ihre Lage, durch ihr troknes Studium u.s.w. urn die Warme
und die Phantasie, die allein die Hand in der Bilderschopfung
fiihren konnen; ihre erstarten Finger vermogen hochstens einen
Choral auf der poetischen Orgel langsam zu durchwaten, aber
nicht mit dichterischen Gemsenspningen ein Allegro auf einem
Fliigel zu gallopiren. Und diesen Mangel an Phantasie und
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 765
Warme gesteh' ich auch gerne zu; nur aber die Folge daraus
nicht, die Unfahigkeit zur Poesie namlich nicht. Ich weis wol,
es ist eine iiberalangenommene Meinung, daB nur feurige und
phantasiereiche Kopfe sich auf die Kunst verstiinden, Farbe auf
Farbe aus ihrem Pinsel regnen zu lassen und Bilder iiber Bilder
zu schlichten; allein wird denn diese Meinung auch von der
Erfahrung unterschrieben? und hat man wenigstens nicht viel-
leicht die Handschrift der leztern nachgemacht und zum grosten
Schaden der Dichtkunst nachgemacht, von welcher dadurch
10 mancher gute Kopf sich auf immer abschrekken lassen, der sei-
nes Mangels an Phantasie und Warme ungeachtet mit der Zeit
unsern besten Dichtern sich diirf te beigesellet haben? Ich mochte
daher vielmehr im Gegentheil behaupten, daB zu viel Feuer die
poetischen Blumgen verwelken mache, aber massige Warme
hingegen sie hervorlokke und daB denen, die gern die bemalte
Larve eines Gedanken in noch eine verlarven und ein Bild zum
Vorhange eines andern machen wollen, die Kalte ganz und gar
nicht schade. Man versuch' es nur ohne den Beistand der leztern,
seine Blikke dem Hauptgegenstande untreu zu machen und sie
20 urn die bunten Ahnlichkeiten desselben buhlen zu heissen: so
wird man den Versuch schlecht genug ausfallen sehen. Wenn
man bios warm ist, so kan man den Gegenstand auch nur malen;
allein kaum daB man gleichgiiltige und kalte Augen zur Betrach-
tung desselben mitbringt, ist man schon fahig, stat einer blossen
Abzeichnung desselben seine Verschonerung zu liefern. So kan
die Sonne mit alien ihren Strahlen dem hellen Wasser nichts
als ihr Bild abgewinnen; allein las durch die Abwesenheit ihrer
Warme ihren Spiegel zu Eis gehartet worden sein, so wird er
aus ihren Strahlen stat ihres Bildes einen -bunten, blizenden
30 Schimmer zuriikbilden und auf dem Eise werden Farben spielen,
die dem ungespaltnen Sonnenlichte fehlen. Daher dampfen auch
gute Tragodiensteller die flammenden Leidenschaften des
Schauspielers und Zuschauers mit so vielem Erfolg durch lange
Allegorien und wizige Einfalle; und nach dem Blizen des Wizes
kiihlet sich das Wetter fast alzeit, wie man in den Asthetiken
sich aus[zu]driikken pflegt. Ich selbst besinne mich noch wol
766 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
aus meinen Jugendiahren, (und verschiedne gute deutsche Dich-
ter wollen ebendasselbe an sich wahrgenommen haben) daB mir
die dichterische Erhebung eines Gegenstandes nie besser gelang,
als wenn ich ganz halt fur ihn war, so wie auch die Kalte im
Friihling die Baume hebt. Also schon deswegen ware der Rath
einiger Asthetiker, daB man, um in der Schwulst (oder besser,
deutscher und der Wahrheit gemasser: Grosse und Erhabenheit)
der Bilder etwas zu leisten, durch kunstliche Mittel .eine kiinstli-
che Kalte in sich hervorzubringen suchen musse, die alsdan mit
leichter Miine sich dem Leser mittheilt, ganz und gar nicht zu 10
verachten, wenn er auch, dieser Rath, durch das Ansehen eines
BCiffons gar nicht unterstiizet wiirde, der in seinen Epochen
der Natur allein nordliche Lander der Zeugung kolossalischer
Thiere, Gewachse u.s.w. fahig achtet. Solten wol nicht einige
eben darum den nordischen Ossian dem Homer vorziehen?
Liesse daraus nicht auch einigermassen sich erklaren, warum
Milton, mit dem es noch obendrein in der Menge der Bilder
schon mehr als ein Deutscher aufgenommen, nach Aussage sei-
ner dritten Frau seine meisten Verse im Winter machte? Doch
wil ich das nur fur eine hingeworfene Muthmassung angesehen 20
wissen. Meine Behauptung sol die Theologen zur Dichtkunst
aufmuntern und sie kan folglich nie genug bewiesen werden.
Daher nur noch folgenden lezten Beweis! Wer wird den Alten
wol Feuer fiir den Gegenstand, den sie besangen, absprechen?
wer ihnen nicht vielmehr ein starkeres, als den Neuern zugeste-
hen? Und dennoch finden wir in ihren Schriften den Reichthum
an Bildern und Blumen nicht, auf welchen allein der kaltere
Deutsche entschiedne Ansprikhe machen darf. Folglich
schliesse ich daraus, daB allein die Kalte des Kopfes die Ver-
schwendung poetischer Zierrathen begunstige. Ein Gleichnis 30
- ich weis wol, daB Gleichnisse nichts beweisen; allein doch
erlautern kdnnen sie und vielleicht auch wol ergozen, fals man
sie nur sparsam anbringt und nicht wie einige Englander, den
Leser auf ieder Seite iiber eines stolpern lasset - wird hier wenig-
stens nichts schaden. Man betrachte den Blumaschenkohl, wie
so ohne Farbe ist er nicht im warmen Sommer! wie so bunt macht
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 767
ihn aber nicht der kalte Winter! - Was endlich die Phantasie
anlangt, so wird ihre Entbehrlichkeit zum Dichten, durch das
Beispiel der Manner, die in alien Almanachen singen, und denen
niemand den Namen grosser Dichter streitig macht, mit deren
bekanten Talenten aber dennoch Phantasie sich gar nicht verein-
bar denken lasset, meines Erachtens nun wol entschieden sein.
Der Philosoph zwar, der unter den vorbeieilenden Ideen eine,
wie die Schlange einen Raub, mit festem Blikke unbeweglich
macht und dieser einen durch Bekleidung mit neuen ahnlichen
10 Theilen, die das fluchtige Auge unterhalten mussen, die groste
Anschaulichkeit verschaft, dieser, sag' ich, mag wol ohne Phan-
tasie nicht griibeln konnen; allein wer dem Winde das Beiwort
sauselnd, dem Donner das Beiwort rollendu.s.w. zurEhe geben
wil, dem ist Phantasie nun ganz und gar entbehrlich, wiewol
eben darum Gedachtnis desto weniger. Der Schlus von allem
diesem ist die Widerlegung des obigen Einwurfs, ist also nam-
lich, daB der Mangel an Phantasie und Warme dem Gottesge-
lehrten die poetische und bilderverschwenderische Schreibart
eben so wenig erschweren konne, als er ihm zeither die Dichtung
20 geistlicher Lieder erschwerte.
Die lezte Einwendung ist wichtiger, aber doch nicht unbeant-
wortlich. Da zufolge der Erfahrung, konte man namlich sagen,
der Schlaf figiirlicher und unfigurlicher Weise von der Predigt
angelokt, von dem Gesange aber vertrieben wird, so ware zu
besorgen, daB die Theologie in der Aussaung des Schlafs, dessen
hundertfaltige Fruchte (so gar oft inspirirte Traume) man nicht
sogleich aufs Spiel sezte, durch poelischen Schmuk vielleicht
konne gestoret werden und daB die Poesie wol nur die Augen
der Vernunft aber nicht des Korpers, dessen seine man doch
30 eben so ungern offen sahe als iener ihre, schliessen helfen durfte.
Ein Einwurf , von dem ich selbst gestehe, daB er ohne Nachtheil
meiner Behauptung nicht unbeantwortet bleiben kan. Denn ich
kan selbst nicht laugnen, daB die Einschlaferung des Lesers ei-
nem theologischen Autor und einem Prediger wenigstens eben
so sehr am Herzen liegen musse als die Erbauung desselben.
Und auch ich weis es aus eigner Erfahrung, wie sehr alle Kranke
768 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
und folglich auch Kranke am Geist der Schlaf erquikke; auch
mir sind die Ursachen nicht ganz unbekant, warum man den
Sontag einen Ruhetag genant; auch ich habe einigemale die Hei-
lung der Sele empfunden, die das Schlafen im Tempel gewahrt,
so wie sonst das Schlafen im Tempel des epidaurischen Askulaps
den Kranken heilte; und auch ich kan daher nicht anders als
den Theologen beipflichten, die den Mohnsamen und den Samen
des gotlichen Worts in Paren ausstreuen, und einen Kirchenstuhl
fur einen Gehurtsstuhl der Traume verkaufen. Was aber von der
Kanzel gilt, gilt nun vom Pulte ebenfals, das sich von ihr nur 10
durch den Umfang des Wirkungskreises unterscheidet. Allein
diese Einschlaferung, worauf der Theologie soviel ankomt, ist
sie denn nun mit der Dichtkunst so gar unvereinbar als der obige
Einwurf mehr vorauszusezen, als zu erweisen scheint? Zum
Glukke nicht! Vielmehr last sich aus der Hippokrene der Dichter
der beste Schlaftrunk zubereiten und man hat mehr als ein Bei-
spiel, daB schlaflosen Greisen Gedichte eben so gute Dienste
geleistet als die besten Predigten. Persius rechnet in seiner ersten
Satire einen Schlaf auf dem Parnas unter die Voriibungen eines
Dichters; nun brauch ich wol nicht erst zu melden, daB man 20
ihn zu nichts anderem brauchen konne, als ihn seinen Lesern
mitzutheilen. Was last sich bei den unzahligen Traumefn] in den
Almanachen fur eine andre Absicht denken, als die, die Kaufer
ein zuschla fern? Man lasse sich hierin nicht durch das Geniefeuer
der neuern Verse irre fuhren: denn auch iibermassige Warme
ofnet dem Schlaf das Thor des Mundes so gut als iibermassige
Kalte. Beim ersten Anblik zwar scheint die dichterische Lebhaf-
tigkeit, die man, wenn sie ohne Sylbenmas und Reim auftrit,
sehr schiklich mit dem Namen Raserei belegt, der Einschlafe-
rung wenig Fortgang zu versprechen; allein man spiire dem 30
Scheine nur defer nach, so wird man finden, daB eben die iezige
Bilderverschwendung weit mehr Leser als sonst kalte Reime
in Schlummer miisse wiegen konnen, weil, wie schon Haller
angemerkt, das Einschlafen gern mit einer Art von Verstandes-
verwirrung anfangt. Folglich bleibt den iezigen Poeten bei der
neuen Ahnlichkeit mit dem Opium, den gesunden Verstand
BEANTWORTUNG DER PREISAUFGABE 769
zu entkraften, imrrier auch noch die alte unbenommen, einzu-
schlafern; und es macht den Deutschen nur desto grossere Ehre,
daB sie nicht bios von Addison mit einer Schlafmiize*, sondern
auch [von] Shakespear mit einer Schellenkappe gekronet wur-
den, so wie Bonifazius VIII zu nicht geringer Ehre der Pabste
die Krone derselben verdoppelte. Man wird nun von selbst er-
rathen, daB Theologie und Dichtkunst in nichts als nur in den
Mitteln der Einschlaferung sich unterscheiden konnen; und man
konte folglich, wenn man das Publikum mit einem Kinde ver-
10 gliche, richtig sagen, daB es von dem mutterlichen Busen des
Theologen mit der Milch des Evangeliums in den Schlaf gesau-
get, und von der Ammenkehle des Poeten in den Schlaf gesungen
werde. Eine Vereinigung dieser beiden Mittel aber, welche Ruhe
mus sie nicht bewirken! Nur wiinsch' ich noch, daB alle Leser
den Schlaf, den sie aus den Schwingfedern des Schwanes bekom-
men, auf den Pflaumfedern desselben geniessen mogen! -
* Ich meine den Zuschauer des Addison, der zu den vielen deutschen
Wochenschriften Anlas gab, die, wie Geistliche,ieden die Woche einmal
einschlaferten.
ANHANG FOR MEINE EINFALTIGEN LESER*
* Ich schmeichle mir nicht sehr, wenn ich glaube, daG die vorstehende
oder gar die nachfolgenden Abhandlungen nicht vielen von meinen
Lesern gefallen konnen. Denn diese Vielen sind nun schon so sehr ver-
wohnt, nur dan zu lachen, wenn der Autor vorhcht, dafi sie gar nicht
mehr lachen konnen, wenn sie es allein thun sollen. Sie lieben nichts
Ernsthaftes mehr, daher nicht einmal das scheinbar Ernsthafte der Ironie;
sie lieben den Cervantes nur, weil man ihn zum Marot herabtravestirt
hat; sie beklatschen die iezigen Spasmacher, die unserm Liskov nicht
die Schuhriemen auflosen konnen, den sie nebst dem zweiten franzosi-
schern Liskov, (Rabener) vergessen. Fur einen solchen Geschmak ist
die achte Ironie nicht, und meine schlechte daher noch viel weniger.
Da ich aber doch nicht demiithig oder ungluklich genug bin, zu fiirch-
ten, daB dieses Buch nicht mehrere als nur solche, die klug sind, zu
Lesern werde haben: so hab' ich mich entschlossen, die Hofnung und
den Wunsch, auch von den einfaltigen gelesen zu werden, der Wirklich-
keit durch einen Anhang naher zu bringen, der fur die grosse Anzahl
doch wenigstens leichtere und kurzere Ironien enthalt.
Ein Feuerschaden
Ein mit Dampfen gefulter Luftbal, ein Komet oder Trabant der
Erde, zundete neulich mit seinem Untergange einen Schorstein
und die nahe Wohnung eines wizigen Kopfes an. Dadurch gieng
diesem ungluklichen Menschen der ganze Schaz von wizigen
Einf alien, den er zeither aus unzahligen Biichern und Gesel-
schaften mit unglaublicher Miihe zusammengetragen hatte, in
Rauch auf; Exzerpten, durch deren vorlaufige Durchlesung er
zeither sein kurzes Gedachtnis iedesmal so leicht in den Stand
sezen konnen, die nachste Geselschaft mit eignem Wize zu un- 10
terhalten. Er glaubt daher mit dieser Nachricht die, in deren
Geselschaft er nun einige Zeit langweilig und einfaltig zu schei-
nen sich genothigt sieht, von der Muthmassung, dafi er beides
auch sei, einigermassen wenigstens solange abhalten zu konnen
als er mit dem Ersaze seines Verlustes noch nicht zu Ende ge-
kommen ist, durch den er so fort in den Stand gesezt zu werden
hoffen darf, eine hubsche Anzahl wiziger Einfalle fur seine eig-
nen auszugeben und wieder der alte angenehme Geselschafter
zu werden. Er wiirde es gern sehen, wenn man Gegenwartiges
fur den Brandbrief seines Wizes gelten liesse. 20
Ein Beispiel von der weiblichen Keuschheit und Enthalt-
SAMKEIT
Da ich schon seit vielen Jahren an einer Lobrede auf das ganze
weibliche Geschlecht arbeite und sarnie, so bin ich besonders
auf iede schone Anekdote, iedes schone Tugendspiel aufmerk-
sam, womitichdie Zeugnisse fur den Werth der Schonen etwan
vermehren kan. Darunter gefalt mir eines, das ich im Reisebe-
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 773
schreiber Shaw gelesen, so ausnehmend, da8 ich mir eine vor-
laufige Bekantmachung desselben nicht versagen konnen. Ein
einziger manlicher Palmbaum, sagt dieser glaubwurdige und ge-
naue Beobachter, ist hinreichend, vier ja fiinfhundert weibliche
Palmbaume zu befruchten und zu befriedigen. Man sieht leicht,
daB ein wortreiches Lob hier sehr iibel angebracht ware.
AVERTISSEMENT
Um alien Lesern, die ihre Namen gerne gedrukt sahen, zu wil-
fahren, hat sich ein Man, der hierin auf den Beistand seines
10 Kopfes und Herzens sich verlassen kan, zur Ankiindigung und
Herausgabe eines Buchs entschlossen, worin er nichts als lauter
Namen von Pranumeranten beiderlei Geschlechts zu liefern ver-
spricht. DieThatigkeit, womit das Publikum sich seines Parnas-
ses anzunehmen immer mehr anfangt, und die algemeine Ver-
feinerung, welche den geistigen Vergniigungen den Rang der
verdrangten grobern immer gewisser zusichert, machen dem
Verf. des Werks die schonsten Hofnungen zur Unterstiizung
eines Unternehmens, das dem Parnas und den feinen Vergnii-
gungen nicht minder als seinem Urheber zum grosten Nuzen
20 gereichen mus und dem zur Volendung die giitigen Beitrage
des Publikums unentbehrlich sind. Die Starke und Anzahl der
Bande hangt daher ganz von der Anzahl der Pranumeranten
ab. - Der Verf. ist ein so warmer Freund des weisen Ausspruchs:
rede nicht, sondern handle gleich, daB er unter alien Vorziigen seines
Werks nur diese zween auszuplaudern sich erlauben kan. Da
er erstlich in demselben die volstandigste Anzeige von der Be-
dienung, dem Alter, den meisten Verdiensten eines ieden Pra-
numeranten nebst seiner Silhouette liefern wird: so schmeichelt
er sich, durch dasselbe dem Publikum den volkomnern und.
30 weitlauftigern Addreskalender in die Hande zu geben. - Zweitens:
er glaubt einen guten Anfang, den alzugegriindeten Klagen der
774 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
Rezensenten iiber die Abnahme abzuhelfen, in welche die Mode
der vorigen Gelehrten, das Buch mit einem Namen- und einem
Sachregister auszustatten, bei uns gediehen, durch sein geistiges
Produkt gemacht zu haben, das, wenn es gleich kein Sachregister
enthalt, doch dafiir auch bios aus einem Namenregister besteht.
Weil sonach das Register den Text ersezen wird, so hoft er nicht
eitel zu scheinen, wenn er sein geistiges Kind mit einem gewis-
sen Fische (dem Final) vergleicht, der bios ganz Schwartz - das
swiftische Sinbild des Registers - zu sein scheint.
TODESFALLE
Den 7. dieses hat sich der fromste Rechtsgelehrte alhier, um nicht
zu verhungern, aufgehangen. Man hat die Haut ihm abgezogen,
sie ausgestopft und gegenwartig auf unserm Rathhause neben
den Brecheisen des Nikel Lists aufgestelt, um sie alien Juristen
gratis zu zeigen, die haufenweise herbeieilen, den Ungluklichen
in Augenschein zu nehmen und ein Beispiel an ihm zu nehmen.
Am 18. November wurde PL D. Logon, ein Arzt mit eignen
und neuen Grundsazen, zur Erde bestattet; am 20. Nov, ver-
wechselte er das Zeitliche mit dem Ewigen und iiberlebte sein
Leichenbegangnis kaum zwei Tage. Er war ein so guter Theore- 20
tiker, daB alle Praktiker des Orts die tiefe Ohnmacht, in die
er am verwichnen Montag fiel, einstimmig fur die erwunschte-
ste Gelegenheit erklart hatten, ihn ohne Gegenwehr in das kiihle
Grab zu senken; und dadurch sowol von ihrer Liebe gegen den
Seligen als gegen die hiesigen Einwohner, deren Gesundheit
die gewohnliche Verzogerung der Beerdigungen nur zu hart
schon biissen muste, eine etwarmige Probe abzulegen. Der Kri-
ster, von dem ich dieses habe, horte ihn aus dem Erbbegrabnis
in der Kirche, in welches man ihn beigesezt, ganz vernehmlich
sterben und sprach ihm in seiner lezten Stunde Trost und Er- 30
quikkung zu.
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 775
Am Tage darauf fiel der schon durch verschiedne dichterische
Arbeiten bekante Poet Falzelius in die Sunde des Selbstmords
an seiner Sele. Die unglukliche Liebe, die ihm schon neulich
dieDrohung, sichzuentleiben, auspreste, lies er von unzahligen
Leiden zum Entschlusse, sich zu entselen, anwachsen, den er
nun leider! ausgefuhret. Gegenwartig schwebt sein Geist in Ge-
stalt eines Windes um den Kopf seiner Geliebten und sauselt
seine Klagen ihr so leise zu, daB sie ihn nicht hort. Sonst befindet
sich sein Korper noch ganz gesund und Schlaf und Auslerungen
io gehen ihm nach Wunsch von statten, wie auch die Verdauung.
Uberhaupt merkt man keinen Be- [BlattschluB]
Wasserschaden
Folgender Zufal verdienet zur Warnung der ganzen Kaufman-
schaft weiter bekant gemacht zu werden. Eine der grosten Ziei>
den unserer Handelsstadt war wol der gewesene Kaufman Fagel;
und es scheinet nicht, daB sie seines Gleichen so bald wieder
bekommen werde. Es ist eine alte Bemerkung, daB der Man
von Genie sich dem Fache, wofiir er geboren worden, gewohn-
lich ganz und mit ungetheilten Kraften widmet und fur alles,
20 was nicht in dassclbe schlagt, Gleichgultigkeit und Verachtung
verrath. Wo man daher eine solche edle Partheilichkeit fur ir-
gend eine Beschaftigung antrift, da schliesset man sicher nicht
falsch auf vorziigliche Anlagen zu dieser Beschaftigung. Unser
Fagel hatte sie nun vollig fur die seinige. Er f and (ich schmeichele
ihm hier nicht und seine bittersten Feinde mussen dasselbe sa-
gen) in der ganzen Welt nichts seiner Achtung und Liebe wiirdig
als den Handel; diesem weihte er alle Krafte seines Korpers und
seiner Sele; nur die wenigen Wissenschaften, die auf diesen einen
wichtigen Bezug hatten, lernte er und fur die iibrigen gab er
30 keinen hollandischen Pfeifenstiel - (daher wafen die Gelehrten
die gewohnlichen Gegenstande seiner beissenden und lauten,
776 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
aber gerechten Satire und von seinem Ladendiener hegte er
heimlich eine hohere Meinung als von mir) - diesem endlich
opferte er alle andre Riiksichten auf , und wenn mit ihm sogar
die Religion in Widerstreit gerieth, so entschied er gleichwol
zum Vortheil des Handels; eine Entscheidung, die allerdings
manche nicht so lobenswiirdig als ich befinden mogen, allein
diese verrathen auch dadurch auf einmal ihre ganze Unwissen-
heit in dergleichen Dingen. Eine Meinung, die er mir einmal
anvertraute, stellet uns den ganzen Man leibhaftig vor die
Augen. Er gab mir namlich zu verstehen, (ich sas damals nicht 10
im Armsessel, sondern auf dem Arm desselben, der mir stat
eines Quersattels diente) daB er seines Orts von den Freuden
der Seligen im Himmel die unwurdigen Begriffe nicht hegen
konne, welche die Kanzeln uns gewohnlich davon machen. Mit
horbarer Oberzeugung bat er mich, es ihm doch aufrichtig zu
gestehen, ob ich nicht selber die innerlich verlachte, welche uns
lehren, daB unsere ganze ewige Seligkeit in einem immerwah-
renden Singen und Harpfen und Musiziren bestehe; ein Vergnu-
gen, sezte er hinzu, an welchem unter alien Seligen hochstens
die Kapelmeister einigen Geschmak finden wiirden. Denn er 20
frage mich kek, beschlos er, ob nicht diese ewigen Konzerte
der ganzen ansehnlichern Kaufmanschaft im Himmel vielmehr
hochst langweilig oder gar lacherlich vorkommen mussen? zu
geschweigen, daB wenigstens er nicht bios mit den Ohren, fur
deren gute Werke doch nur allein ein musikalischer Himmel
belohnen wiirde, der (iberdies mit seinem blossen Silberklange
das schon auf der Erde an den bessern Goldklang gewohnte kauf-
mannische Ohr nicht sonderlich erbauen konne, nicht bios mit
den Ohren, sage er, sondern auch mit andern Gliedern Got
diene. Am Ende dieser Frage zog er die Achseln und schnalzte 3c
mit der Zunge ein vernehmliches Mitleiden mit dem hiesigen
Nachmittagsprediger. Er muste auf meine Antwort warten,
weil ich beschaftigt war, meinen iiber die Knie hinausgebognen
Kopf unverriikt zu halten, urn den Abflus meines Speichels nicht
in seinem Falle zii storen; endlich sagte ich aber: was das leztere
anlange, so wisse ich es selbst, daB er nicht bios mit den Ohren,
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 777
sondern auch mit der Nase und nicht selten mit der Zunge tu-
gendhaft sei. Allein das erstere, den Abscheu vor der Musik,
fande ich an den Kaufleuten und sogar an ihm selber nicht; und
berief mich desfals auf die ansehnliche Pranumerazion derselben
zu den hiesigen Winterkonzerten. Auch lies ich ihn mein Be-
fremden merken, wie er so reden konnen, da er selbst dieselben
mit den starksten Beitragen und mit den haufigsten Besuchen
beehret habe. Hier ersuchte er mich mit einiger Heftigkeit, ihn
an diese so verhaste und so oft bereuete Ubereilung nicht mehr
io zu erinnern, zumal da an den Beitragen »die drinnen« (hier wies
er auf ein anstossendes weibliches Zimmer) mehr als er selber
schuld waren. Und was das vorgeworfne Besuchen der Kon-
zerte angehe, so konne er mir auf seine Ehre versichern, daft
er in denselben nie die geringste Ergozung finden konnen und
ihnen das Knarren seiner Wage vorzuziehen nicht anstehen
wiirde; (andern Kaufleuten gehe es eben nicht besser) »allein,
sagte er, bezahlt sind sie einmal und theuer bezahlt, was wil
man anders machen, als man gehet hinein, damit man das Geld
nur nicht ganz zum Fenster hinausgeworfen hat, ob man gleich
20 freilich oft die Langweile darinnen kaum wiirde aushalten kon-
nen, wenn man sie nicht einigermassen wieder mit den Augen
oder dem Gaumen sich vertriebe.« Wir kamen zur Hauptsache
zuriik und meine Leser iezt mit. Da erofnete er mir, dafi er
zu Got das Vertrauen habe, er werde frommen Kaufleuten, fur
die er schon auf der Erde so gesorget, daB er ihren Stand iezt
beinahe iiber die meisten andern erhoben, auch im Himmel die
Freuden nicht versagen, welche ihren Wiinschen angemessen
seien und ohne welche sie den Verlust ihrer irdischen in Ewigkeit
nicht verwinden konten; sei nun das wahr, fuhr er fort, so sei
30 leicht zu errathen, daB unter den Freuden der Seligen eine Art
von Handel den obersten Plaz einnehmen musse. Auch gebe
hieruber die Bibel die unzweideutigsten Winke und die Offen-
barung Johannis lasse sich sogar bis zur Nachricht heraus, daB
in dem ausgebreiteten Handel, der zwischen dem Himmel und
der Holle wiirde getrieben werden, das Wasser den wichtigsten
Artikel werde ausmachen. Mich (ibrigens versicherte er, ob ich
778 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
schon ein Gelehrter sei, so fiirchte er doch nicht, daB ich verdamt
werde, angesehen ich vor andern mich beeifert habe, sowol mei-
nen Verstand als meine Leidenschaften zu schwachen und zu
unterdriikken: sondern er hoffe gewis, mich im Himmel als
einen Schnuriuden wiederanzutref f en . - So ein Man war Herr
Fagel. Allein ware mir seine beilaufige Schilderung nicht zu lang
gerathen: so wiird' ich wol noch hinzufugen, daB, wenn anders
die edeln und volkomnen Metalle ihren Besizer veredeln und ver-
volkotnnen konnen, Fageln niemand, der seinen Reichthum
kante, ein edles Herz und einen volkomnen Verstand absprechen m
konte. Allein wie gesagt der Raum mangelt mir zu diesem Zu-
saze, den ich daher ungern zurukbehalte. Ich weis meinen Leser
mit der erstaunlichen Weitlauftigkeit in der Nebensache nicht
anders wiederauszusohnen als durch eine eben so grosse Kiirze
in der Hauptsache und ich wil dieser das abbrechen was iene
zu viel hat.
Dieser musterhafte Kaufman versah es, ungeachtet er dop-
pelte Handlungsbucher wie Christus angeblich doppelte Ge-
schlechtsregisterfuhrte, gleichwol darin, dafi er sie schlecht auf-
bewahrte: denn sonst wiirde ihn wol nicht das Ungliik betroffen 20
haben, daB ihm vom Wasser des lezten Winters das eine Han-
delsbuch, das er bios zum Gebrauche vor Gericht bestimmet
hatte, ganz und gar verdorben wurde. Dieser Verlust war uner-
sezlich und er dadurch auf einmal ein geschlagner Man. Seine
Furcht vor dem andern Handelsbuche, worin beinahe lauter
wahre Zahlen stehen, fras ihm ordentlich das Herz ab und man
hat sich daher nicht zu wundern, daB man ihn vor einigen Tagen
ertrankt gefunden. Ich wiinschte, diese Erzahlung nittelte man-
chen Kaufman aus der Sorglosigkeit, worin er iiber die Sicher-
heit seiner beiden Handelsbiicher steht, an deren einem oft doch 30
sein ganzer Reichthum hangt. - So eben vernehm' ich, daB die
Auguren aus den Eingeweiden, namlich die Arzte mit ihren
Messern in dem Leichname des Ungliiklichen die Auflosung
der Frage, ob er aus Verzweiflung oder Wansin ersoffen, sollen
gesucht, alkin nicht recht gefunden haben. Man muthmasset
daher stark, daB die Familie ihre Ehre auf eine andre Weise retten
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 779
und mit einigen Zeugen zu beweisen suchen werde, daB ihr
entseelter Anverwandter vor seiner That deutliche Ausserungen
der Verriikkung spiiren lassen, als welche uberhaupt - glaubt
man, wird die ansehnliche Familie, urn ein ehrliches Begrabnis
desselben auszuwirken, vorstellen - in dem ganzen Fagelschen
Geschlechte erblich sei. Ich denke indessen meinen Theil und
schweige; wenigstens weis ich soviel, (und das ist kein gutes
Zeichen) daB der Verstorbne sich schon hie und da sehen und
horen lassen und daB iezt seine Sele ohne den Korper herum-
io wandelt, wie sonst sein Korper ohne die Sele. Got gebe! daB
es gestern zum ersten und leztenmale war, daB mich mein ver-
storbner Freund mit seiner Erscheinung star machte und hernach
mich bestieg und auf mir nach Hause rit. Du lieber Himmel!
mich wandelt der gestrige Schauer iezt wieder an und die Furcht
schuttelt mich dermassen, daB ich nicht im Stande bin, den Pe-
rioden zu schliessen;
Nachricht von einigen neuen Larven, die bei Benstof in
der veitsstrasse zu bekommen sind
(Aus unserer Zeitung)
20 Das hiesige Publikum weis es schon, daB ich mich stets mit
der Vermehrung seines Vergniigens beschaftige: beinahe in ie-
dem der sechs Jahre meines Hierseins bin ich mit neuen Erfin-
dungen hervorgetreten, welche unserer Retoude und dem Pu-
blikum und mir selbst die groste Ehre machten. Mein Vorfahr
lies es hierinnen beim Alten bewenden und unstreitig mag er
seine guten Ursachen dazu gehabt haben; er war sonst ein guter
KopL Ich weis nicht, ob es dem Publikum gelegen ist, daB ich
meinen Vorganger in Neuerungen so weit hinter mir lasse; aber
ich kan fur diese ungewohnliche Fruchtbarkeit meines un-
30 scheinbaren Kopfes wenigstens nicht: schon von Jugend auf san
ich Sachen aus, worauf der Hundertste nicht gefallen ware und
780 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
ich bin oft iiber mich selbst in die groste Verwunderung gera-
then, so daB ich mehr als einmal-zumeinenanwesendenBaronen
sagte: »Sagen Sie mir nur doch, (Sie. sind ia Gelehrte) wienach
es menschmoglich ist, daB einer sich immer was Neues aussin-
nen kan und immer noch mehr, ohne daB es in seinem Verstande
alle wird; das weis ich nun nicht, woher das bei mir gerade
komt: mein Vorfahr z. E. hatte von dergleichen nichts an sich.
Ich glaube, es ist auch nicht alien gegeben.«-
Dames und Herren beschwerten sich zeither mehr als sonst
bei mir iiber ihre Kentlichkeit, der auch die sonderbarsten Mas- 10
ken nicht abhelfen konten, sagten sie. Ich san diesem Ubel lange
nach und brachte doch kein Mittel dagegen heraus. Endlich ge-
rieth ich auf die Muthmassung, ob nicht vielleicht eine Larve,
welche gerade das Widerspiel von dem, der sie traget, ware,
das Mittel abgabe, das ich suchte. Ich machte also an einem
wiirdigen iungen Offizier, der gewohnlich kein anderes Glied
als seine Augen bewafnet, die Probe und schlug ihm zu einer
Redoutekleidung, die mit seinem Karakter so unvertraglich
ware als nur moglich, eine formliche Soldatenriistung vor. Und
siehe! die Probe fiel so gluklich aus, daB wir es nicht besser 20
hatten wiinschen konnen: der ganze Maskensal wurde irre ge-
fuhret und man glaubte algemein, der Offizier sei ein Krieger
und Soldat. - Mein Erstes darauf war, eine unmassige Menge
Larven fur die verschiednen Stande und Mitglieder des hiesigen
Publikums auszudenken und verfertigen zu lassen, von welchen
iede dem Karakter dessen, fur den sie bestimt ist, so sehr wider-
spricht, daB ihn niemand darunter suchen und errathen kan.
Ich glaube also wol versprechen zu diirfen, daB die kunftige
Retoude um gar vieles brillanter als die vorigen ausfallen werde;
Kosten wenigstens hab' ich darauf soviel angewandt, daB ich 30
zufrieden sein darf, wenn mir der zahlreichste Zuspruch nur
die Halfte davon wieder erstattet, und auch gern zufrieden sein
wil, da es bekantermassen nicht das erstemal ist, daB ich die
Ehre der hiesigen Noblesse freiwillig auf Kosten meines leren
Beutels behaupte. - Vielleicht giebt es aufgewekten Herren und
Damen im voraus zu lachen, wenn ich Ihnen sub rosa hinter-
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 78 I
bringe, daB ich selber die Masken mit vermehren werde; ich
werde aber namlich erscheinerr mit zwei langen Hornern auf
dem Haupte, dergleichen Ehemanner zu tragen pflegen; und
hinter dieser narrischen Vermummung wird wol niemand,
glaub* ich, sich einfallen lassen,'den Benstof zu suchen, selbst
meiner Frau werd* ich zum erstenmale unkentlich und liebens-
wiirdig vorkommen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, mich
bei den Lesern und Leserinnen dieses Blattes, wenn der Bal zu
Ende sein wird, zu erkundigen, ob sie nicht wirklich, wie ich
10 vorausgesagt, mich in meiner neuen Larve verkant und wol
gar fiir einen ihrer vornehmen Freunde werden gehalten haben.
Nur mus ich hier im voraus gegen alien Verdacht protestiren,
daB ich mit meinen Hornern eine Satire auf den ganzen Sal her-
umtragen wolle; wahrhaftig ein Verdacht, der mich vollig (wo
Got fiir sei!) urn mein Brod bringen konte: ich werde mich
daher durch genugsame Versicherungen von alien manlichen
Masken, meine Verkleidung fiir keine Satire auf sich zu halten,
vorher sicherstellen oder sonst den ganzen Spas aufgeben. -
Doch ich schreite zu ernsthaftern Sachen und wil iezt einige
20 der neuen Masken etwas naher beschreiben.
Erstlich ist bei mir zu haben eine Retoudekleidung fiir die
wiirdigen Hern Rechtsgelehrten alhier; vorstellend die Gottin
der Gerechtigkeit nebst Zubehor. Der Einfal ist ubrigens nicht
von mir, sondern von einem alten Gelehrten. Dieser stelte mir
vor, daB man iedem Troz bieten konne, eine unkentlichere Ver-
larvung fiir einen Priester der Gerechtigkeit ausfiindig zu machen
als die in die Gottin derselben sei; denn von ieher ware dem
Gotte nichts unahnlicher gewesen als der Priester. Daraus (dies
sind alles seine eignen Worte) miisse man es sich erklaren,
30 warum die alten Priester gewohnlich wenn sie inkognito han-
deln wolten (hier machte der alte Gelehrte mit einigen Zoten
mich roth), sich in ihre Gotheiten verstellet haben. Er entdekte
mir auch Ursachen von dieser Unahnlichkeit zwischen dem
Gotte und dem Priester; ich habe sie aber alle bis auf diese ver-
gessen: der erstere sei namlich ein iiberirdisches, der andre aber
nur ein irdisches Wesen, der erstere unendlich und der andre
782 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
endlich; daher lasse sich zwischen dem Priester der Gerechtigkeit
und zwischen der Gottin derselben schlechterdings keine Ahn-
lichkeit denken. - IndeB mus es doch erst die kiinftige Retoude
ausweisen, ob der alte Gelehrte richtig geschlossen; wiinschen
wil ichs wenigstens zum Vergniigen aller Rechtsgelehrten, wel-
che meinen Bal mit ihrem Besuche zieren werden.
Wre ich hore, so haben sich auch einige Hofleute entschlossen,
den Glanz meiner Retoude mit ihrer Gegenwart vermehren zu
helfen. Ich wiinschte, Ihnen von meinem Danke fiir diese kiinf-
tige Ehre keine so schwache Probe geben zu konnen, als die 10
ist, daB ich fiir Sie eigenhandig einige Masken zurichte, welche
(wenn es mir gliikte) den volkommensten Schelmengesichtern
wenig oder nichts nachgeben diirften und zu deren iedem Zuge
mir beinahe die ausgemachtesten Spizbuben gesessen sind. Ver-
rathen diese Herren mithin nur nicht durch ihre Herschaft iiber
die andern Glieder ihren Werth, so darf ich wol hoffen, daB
sie uns alle, die wir sie nur unter ihren lachelnden, gefalligen
und friedlichen Gesichtern kennen, mit diesen boshaften Larven
tauschen und zu ganz lacherlichen Muthmassungen verleiten
werden. Wenigstens wil mir fiir diese Unkentlichkeit ein hiesi- 20
ger Schauspieler fast Biirge sein; und das, weil er an sich etwas
ahnliches schon erlebt zu haben glaubt. Er erzahlte mir, es sei
gar nichts ungewohnliches, daB manche Zuschauer den fleisch-
farbigen Uberzug, wodurch er den Gliedern, von welchen seine
Rolle es verlangte, den Schein der Naktheit gegeben, fiir seine
eigne nakte Haut genommen hatten. Und ich glaube beinahe,
er hat Recht; aber ich hatte doch nicht sogleich auf diesen einzi-
gen Fal hin cine so hohe Wette, daB der ganze Saal diese Verlar-
vung der Hofleute fiir ihre Entlarvung anzusehen sich werde
vermogen lassen, eingehen sollen. 30
Der Herr, welcher den Baron G. aus Paris hieher begleitete,
lies neulichbei mirnacheinem Nasenfutteral anfragen, von wel-
chem er sich alle Dienste einer ganzen Maske verspricht. Ich
melde ihm hier offentlich, daB die Sache zwar auch angehet
und recht gut angehet; allein ich wiinschte mir die Ehre, mit
ihm einmal unter drei Augen zu sprechen, so wiird' ich ihm
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 783
einen Rath, der sich nicht wol offentlich geben lasset, insgeheim
zu geben wagen, den namlich, daB er das Futteral Futteral sein
liesse, da er auf einem weit kiirzern Weg zur Unkentlichkeit
gelangen konte, wenn er seine Nase entweder zu Hause lassen
oder doch in die Tasche stekken woke.
Bekantermassen trift den reichen Kaufman D. vor andern das
Ungliik, daB er unter ieder Verlarvung errathen wird; auch sieht
er selbst sehr wol ein, daB bios sein glanzender. Wiz und seine
muntern Einfalle es sind, denen er seine Kentlichkeit schuld zu
10 geben hat. Noch hat aber keines seiner Mittel etwas dagegen
verfangen wollen; sogar sein neuliches, warend den ganzen Bal
kein einziges Wort zu sagen, schlug nicht an, sein schimmernder
Wiz blieb damals wie iederzeit sein unzeitiger Verrather - etwas,
das ihm ieder ohne das geringste Talent zum Prophezeien hatte
voraussagen konnen, da der rechte Wiz wie die rechte Gotselig-
keit, sich eben am wenigsten oder gar nicht durch Worte, son-
dern fast bios durch Werke aussert.* Allein demungeachtet ist
die Sache ganz und gar nicht unmoglich; ich glaube sogar die
Retoudekleidung entdekket zu haben, welche diesen wiirdigen
20 Kaufman gegen die Erkennung sicher stellen kan, und das ist
keine andre als eine volkommene Betlerskleidung. DaB sie sein
Ausserliches unkentbar macht, ist das geringste, was sie thut;
aber auch seinem Wize giebt sie ein so unscheinbares, so ge-
schmakloses, so altagliches Ansehen, daB er unsern reichen D.
bei keinem mehr verrathen, aber wol verlaugnen wird, bei den
wenigen ausgenommen, welche in ihrer Wage den Werth eines
* Diese Bemerkung ist an sich so wahr, und gleichwol noch so unbe-
kant! Erwagte man sie mehr, so ware vielleicht den Klagen iiber die
Armuth des deutschen Wizes bald ein Ende gefunden. Derm nur an
30 solchem mangelt es uns, der sich durch Worte aussert; allein von demie-
nigen, der sich in Handlungen auslasset, der nicht auf die Ohren, sondern
auf die andern Sinne wirkt und den wir aus unsern Geselschaften am
reinsten wieder in die litterarische Welt hervorziehen konnen, besizen
wir zum Oberflus und dieser ist eigentlich der wahre deutsche Nazional-
wiz. Einige Schriftsteller suchten inn auch einzufuhren und ich
wiinschte, mehrere waren ihnen gefolget, da die Sache doch so leicht
ist.
784 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Mannes ohne das Beigewicht seiner Kleidung abwiegen und
welche das Verdienst auch in der armsten Gestalt zu erkennen
und zu ehren wissen. Ich wunsche daher ordentlich, Herr D.
Hesse in der kiinftigen Retoude seinem Wize sogar mehr als
sonst denZiigel schiessen; der Spas wurde dan nur desto grosser
sein, daB ihn darum gleichwol niemand erkant hatte. Was die
Betlerskleidung angelangt, so hab' ich schon fiir ihn mit einigen
Kosten eine aufgetrieben.
Ich beschliesse dieses mit der angenehmen Nachricht, daB
ich endlich einmal gewis erfullen kan, was ich schon so oft ver- 10
sprochen und ein Verlangen befriedigen kan, das mir die hiesi-
gen hohen Herschaften schon so haufig zu erkennen gegeben;
und die kiinftige Retoude sol man unfehlbar mit der begehrten
Anzahl Affen gezieret finden, zu welcher ich ohne meine Schuld
schon so lange vergebliche Hofnung machen miissen; ia kan
ich es so weit bringen (Kosten und Miihe werd' ich wenigstens
nicht sparen) so wird die Anzahl der mannlichen und weiblichen
Affen der Anzahl der Damen und Herren vielleicht gleich sein.
Es miiste diese Gleichheit das Vergniigen auf beiden Seiten un-
gemein verm ehren; ich mus aber daher bitten, daB iede Person, 20
welche ihre Gegenwart meinem Maskenballe zu gonnen ge-
denkt, mir davon eine vorlaufige Wissenschaft zukommen
mochte lassen, damit ich bei zeiten fiir iede nach einem Affen
mich umsehe: denn man glaubt es nicht, wie seiten diese auslan-
dischen Thiere sich von Tag zu Tag machen und wie schwer
siezuhabensind. -Jedem mus es wol sein eigehes Gefiihl sagen,
daB die Frohlichkeit bis zu ihrer grost moglichsten Hohe aufko-
chen wurde, wenn man es so weit brachte, daB die verlarvten
Affen und die verlarvten Menschen sich von einander gar nicht
unterscheiden konten; welche lacherliche Misgriffe auf der er- 30
stern, welche zweideutige Weigerungen auf der andern und
welche angenehme Verwirrung auf beiden Seiten wiirden aus
dieser herlichen Verwechselung entstehen! Und ich getraue mir
fast, zu derselben meinen Gonnern einige Hofnung zu geben.
Denn mein Affenlieferant hat mir die Erwartung gemacht, daB
er mich vielleicht mit lauter Affen von der ungeschwanzten Art
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 785
werde versehen konnen; das ist aber gerade die Art, welche
nicht mit den Menschen zu verwechseln sogar beinahe schwer
ist, so daB ich schon auf die Muthmassung gerathen bin, ob
nicht wirklich der Mangel des Schwanzes diese edlern Affen
berechtige, mit den Menschen in Paren zu gehen. - Allein, wenn
das Vergniigen der Verwechselung ungetriibt sein sol, so mii-
sten die bessern Menschen unserer Retoude die Ausserungen
etwas zuriikhalten, welche ihren Vorrang vor meinen schlech-
tern, den Affen, zu sichtbar machen konten; und unter diesen
10 Ausserungen mus ich besonders die wortlichen Zweideutigkei-
ten oder auch Unzweideutigkeiten nennen, als in welchen die
Affen ihre Schwache wol nicht wiirden verhehlen konnen, weil
sie iiberhaupt nur wenig, oder doch auf eine Art sprechen, daB
es einem menschlichen und an vornehmes Lmereden gewohn-
ten Ohre misfallet. Ich meine daher nichts zu verlangen als was
unser samtliches Vergniigen gleichfals fodert, wenn ich Herren
und Damen ersuche, auf der kiinftigen Retoude die wortlichen
Zweideutigkeiten fur diesesmal einzustellen und sich bios auf
thatliche Zweideutigkeiten einzuschranken, dafiir aber auch in
20 diesen leztern sich desto freiern Lauf zu lassen, weil sie in den
Affen die erklartesten und machtigsten Wetlaufer hierinnen zu
iiberholen haben, welche noch dazu bei dieser Gelegenheit alle
Segel aufspannen werden, ihre Ahnlichkeit mit den Menschen
wo moglich zu behaupten; ein seltner Wetstreit, der Menschen
und Affen vergniigen mus. - Ob im Tanzen der Affe nicht einen
kleinen Vorsprung haben mag, ist vielleicht schwer auszuma-
chen; freilich sind seine Fiisse sonderlich zu Spriingen aufgelegt:
allein ich habe die Erwartung von unsern iungen Herren, daB
sie auchhierin die Ahnlichkeit der bessern und schlechtern, der
30 einheimischen und auslandischen Menschen herzustellen und zu
erhalten trachten und ihre Spriinge in eben so viele Beweise
der alten Wahrheit verwandeln werden, daB man das, was die
Natur andern giebt und uns versagt, eben so gut von der Kunst
erstehen konne. -
786 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
WlEDERRUFFUNG 'EINES UNRICHTIGEN GlEICHNISSES
Ich kan in meinem Anhange nicht fortfahren, bevor ich nicht
eine kleine Ungerechtigkeit wieder gutgemacht, die ich in der
vorvorigen Abhandlung gegen die Orthodoxen begangen. Es
entfuhr mir darinnen die eben so unrichtige als ehrenruhrige
Vergleichung der leztern mit den Maulwiirfen; und ich kam
dadurch mit Recht bei iedem billigen Leser in den Argwohn,
daft ich beide fur blind ansehe. Ich nehme daher meinen Irthum
wieder zuriik, den ich nie hatte begehen konnen, war' ich nicht
ein so grosser Fremdling in der Naturgeschichte wie in den ubri- 10
gen Wissenschaften. Ich habe iezt von den neuern Naturfor-
schern gelernet, daB die Maulwiirfe allerdings Augen besizen
und damit wenigstens in ihrer finstern Wohnung sehen; und
nehme daher keinen Anstand mehr, zu gestehen, daB es die Or-
thodoxen keinesweges verdienet haben, mit diesen Thieren ver-
glichen zu werden. Ich darf hoffen, so bereitwillig ich zum Ge-
standnis meines sehr menschlichen Fehlers gewesen bin, so
bereitwillig werden iene auch zur Verzeihung desselben sein
und vielleicht erwagen, daB alle Menschen irren und sogar die
Kardinale, wenn sie den Pabst erschaffen, der wegen seines drei- 20
fachen Gehirns allein nicht irret.
Beforderung
Der hiesige Prof, extraord. G-g, dieser durch aussern Rost und
innern Gehalt gleich sehr bekante Man," begieng am 15. Januar
seinen drei und sechzigsten Geburtstag mit alle dem Vergniigen,
das einem Manne, den der Kummer und das Alter beugt, die
Aussicht in ein giinstigeres Gliik nur machen kan; sein hoher
Gonner aber war es, der auch an diesem Geburtstag wie an
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 787
den (ibrigen nicht vergas, dem armen Professor stat des Ange-
bindes das Versprechen zu geben, ihn zu einer hohern Stelle
zu befodern. Kan ie die Wiederholung eines Versprechens die
Wahrscheinlichkeit seiner Erfiillung vermehren, so hat G-g Ur-
sache (iber dieses vergmigt zu sein, fur dessen Erfiillung eine
vieliahrige Bekraftigung ihm biirgt: denn er darf nun schon
mehr als zwanzig Geburtstage zahlen, woran es ihm gliikte,
aus dem Munde seines Gonners das obige Versprechen wieder-
holet und bestatigt zu horen. Auch machte ihn das, wie man
10 wol denken kan, ganz munter und ordentlich veriiingt und be-
lebte ihn mehr als es bei seinen Jahren, seinem Ernste und seinen
mislichen Vermogensumstanden zu erwarten stand. Mochte er
nur aber auch die nahe Erfiillung dieses alten Versprechens gar
erleben, das gleich einem angenehmen Traume sowol an sich
selbst als auch durch seine Realisirung das groste Vergniigen ge-
wahren kan.
TODESFAL
Am sechsten November wurde H. D. Logon, ein Arzt, der sich
durch viele neue Heilungsarten beriihmt und verhast gemacht,
20 in seinem Erbbegrabnis beigesezt; am siebenten November
verwechselte er das Zeitliche mit dem Ewigen und iiberlebte
also sein Leichenbegangnis nur Einen Tag. Am verwichenen
Montage war es, wo er so gluklich war, in die tiefe Ohnmacht
zu fallen, welche ihm die unangenehmen Empfindungen, die
sonst von einer lebendigen Begrabung unzertrenlich sind, so
wol ersparte. Und man wird es, so wahr es ist, kaum glauben,
daB er diese Benuzung seiner Ohnmacht seinen zween Todfein-
den, seinen Kollegen, zu verdanken hat, deren Has sonach mit
ihm und der Sonne untergegangen zu sein scheinet: denn sie
30 waren es, welche einstimmig darauf drangen, ihn zu begraben,
eh' er aus der Ohnmacht erwachte, indem sie auf das Nachdriik-
788 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
lichste vorstelten, daB man diese gliikliche Gelegenheit, ihn ohne
Gegenwehr zur Erde zu bestatten, mit gutem Gewissen nicht
versaumen konne, besonders da soviele traurige Beispiele vor-
handen waren, wie sehr der Aufschub der Beerdigung iedes
Patienten und der Arzte insbesondere den hiesigen Einwohnern
schon Schaden gethan hattc. - Der Kiister sizt eben iezt bei
mir und versichert mich, daB er den Arzt in der Kirche aus
dem Erbbegrabnis auf das Vernehmlichste sterben horen und
sicb darauf so fort entschlossen habe, sich bei dem Sterbenden
als den Teufel anzustellen, der ihm in der lezten Stunde die siind-
lichen Heilungen vorwiirfe, wodurch er sowol der Kirche a]s
den Arzten das rechtmassige Brod entzogen.
Beitrag zur Geschichte der seltnen Wiederhalle in Ge-
BAUDEN
Es ist bekant, daB es Sale giebt, welche den Schal bald mit wach-
sender bald mit abnehmender Starke wiederholen und verviel-
faltigen; daB es andre giebt, in deren entgegengesezten Winkeln
man Gesprache fiihren kan, die niemand in ihrer Mitte horet;
daB es bei Rouen ein Landhaus giebt, in welchem ein Singender
nur seine Stimme und die Zuhorer nur den Wiederhal derselben 20
vernehmen u.s.w. Das alles weis ieder; allein das Echo, was
erst neulich erfunden worden, scheint mir nicht sehr bekant
zu sein und fast kein Autor hat sich in eine zulangliche Beschrei-
bung desselben eingelassen. Ein Baumeister namlich, der lange
in Italien gereiset, erwirbt sich seinen Unterhalt, daB er Kour-
zimmer bauet, welche alles, was eine Person auf einem erhabnen
Orte darin spricht, so viel mal wiederhallen als Zuhorer sich
in dem Zimmer befinden. Das Echo ist dan gemeiniglich desto
starker und deutlicher, ie erhabner der Standort dessen ist, der
da von herunterspricht; und auf der Spize eines Throns erreget 30
man einen ungleich lautern Wiederhal als auf den Stufen dessel-
ANHANG FUR MEINE EINFALTIGEN LESER 789
ben. Die Vervielfaltigung des Schalles mit den Zuhorern diinkt
mich etwas besonderes an diesem Echo zu sein und die Behaup-
tung der Physiker, daB der Wiederhal leren Raum verlange,
ganz verdachtig zu machen. Ubrigens kerkert dieser geschikte
Architekt seine Kunst nicht in die Kourzimmer gleichsam ein;
er bauet auch in die Kollegien diesen Wiederhal, von welchen
er besonders mit Vergmigen erzahlt, daB in ihnen von dem Tage
seiner Verbesserung derselben an die friedlichste Einmtithigkeit
tiber die wichtigsten Dinge sei herschend geworden. Er bietet
10 seine Erfindung sogar den Rathshausern der kleinen Stadte an,
zu welchen er seinem Echo den Eingang durch das wirklich
grosse Versprechen zu verschaffen sich bemuht, daB in Raths-
stuben mit seinem Wiederhalle nur ein einziger Rathsher wiirde
zu votiren brauchen, da fur die andern, welche indessen entwe-
der mit der Sele oder auch mit dem Leibe abwesend sein konten,
das Zimmer schon das Votum gabe. - Ware dieser Kiinstler
nicht mein Freund, so wiird' ich hier seine Feinde nachdruklicher
als durch die Versicherung zu beschamen mich begniigen, daB
er von den meisten deutschen kleinen Hofen die ruhmlichsten
20 Zeugnisse davon getragen, daB er daselbst in alien Zimmern,
welche entweder der Werth derer; die sich da einfinden, oder
der Unterredungen, die da vorgehen, nur einigermassen wichtig
macht, die daurendsten Denkmalc seiner Kunst zuriikgelassen
habe. Er ist ubrigens iezt hier.
Von einer nachdenklichen Ahndung
Ich hatte vor einem halben Jahre die Ehre, mit dem Hern Hen-
nings, der soviel iiber die Geisterwelt geschrieben, nicht nur auf
der ordinairen Post zu fahren, sondern auch verschiedne gelehrte
und philosophische Worte zu wechseln. Ich erinnere mich noch,
30 daB es mir nach einem hartnakkigen Gefechte gliikte, ihn von
seinem Unglauben an die Geister abwendig zu machen; er
790 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
schwor mir sogar den baldigsten Wiederruf aller seiner Schriften
zu. Gleichwo] schiebt er ihn noch immer auf, ia wie ich hore,
so sol er sie sogar mit noch unglaubigern neuen vermehren.
Ich mus ihn also offentlich angreifen und die Erzahlung von
der nachdenklichen Ahndungsgabe einer Dame, wodurch ich
iiber den H. Professor den Sieg davon trug, hier bekant machen,
damit ich ihn auf eine oder die andere Art iiber diese wichtige
Sache sich zu erklaren veranlasse und zwinge. - Eine Dame
hatte so schwache Nerven und Selenkrafte, daB sie iiber ieden
wichtigen Widerspruch ihres Gemahls in Ohnmacht sank und ro
nie sich weigerte, die Wahrheit (denn daB sie nur diese in iedem
Streite mit ihrem Gemahl verfechte, sagte ihr ihre eigne Emp-
findung deutlich) wie iene schone Marterinnen das Christen-
thum* durch einen kurzen Tod zu besiegeln und zu verherlichen
- so sehr bestatigt sich die Bemerkung Paskal's, daB ein kran-
kelnder Zustand fiir die Aufopferungen und Pflichten des Chri-
sten sichungemein wol schikke. Eine iede Ohnmacht, die nichts
anders als ein wahrer abbrevirter Tod ist, und die Genesung
davon sah nun die gedachte Dame richtig voraus. Man glaube
wenigstens nicht, daB ich mich etwa von ihr tauschen lassen: 20
das lasset sich nicht annehmen, da sie mir die Ahndung alzeit
lange vor der Erfiillung derselben anzuvertrauen die Vorsicht
hatte. »Heute Abend, sagte sie gewohnlich schon zu friih, da
sezt es gewis einmal wieder zwischen uns was - nunmehr mus
er zwar wol, ich hab' den Stof schon beim Schneider. Es ahndet
mich aber ordentlich, daB es doch ohne Ohnmacht nicht abge-
hen wird. Glauben Sie nicht? (Hier schiittele ich alzeit den Kopf)
Nu! sagen Sie nur, ich hab's gesagt. « Und es trift auch wahrhaf-
tig ein. Ihrem Gemahl aber verhehlet sie ihre Ahndung sorgfaltig
und ich glaube nicht, daB diese Zartlichkeit den Tadel des Uber- 30
triebnen verdienet. Denn was sie mir zutrauen kan, der ich die
Voraussehung und die Gegenwart ihres Todes alzeit mit manli-
chem Muthe ertragen, das kan sie ihrem zartlichern Manne nicht
auch zutrauen, den die blosse Gegenwart ihrer Ohnmacht schon
* Denn so nanten die ersten Christen die Damen, welche fiir die
Religion starben.
ANHANG FUR MEINE EINTALTIGEN LESER 791
genug peinigt. Denn oft kan ich ihn nicht einmal aufrichten,
wenn ich sage: »Sein Sie doch gelassener, Sie gleichen sonst
wahrhaft dem unglaubigen und verzweifelnden Thomas mehr
als ich, wie Sie mir vorwerfen, dem spizbiibischen Apostel Ju-
das. Ich sage Ihnen ia, daB die in Got Ruhende mir heute friih
ihren Tod und ihre Auferstehung klar und deutlich voraus ver-
kiindigt hat. In neun Minuten, sagte sie, wil sie sich auferwek-
ken. Sehen Sie? -« Die lezte Ohlung mit Riechwassern* hilft
ihr dan ins wartende Leben gar wieder heriiber und die Krank-
heit nimt unter unsern Blikken ab; diese geschwinde Genesung
verdanken wir grostentheils einer geschikten Anwendung des
medizinischen Grundsazes, daB man die Sele heilen miisse, wenn
der Korper krank ist, und umgekehrt. - Ich wiederhole meine
offentliche Foderung an den H. Hennings, mir und dem Publi-
kum auf eine befriedigende und einleuchtende Weise zu zeigen,
wie man von dieser Voraussehung der Ohnmachten zulangliche
Rechenschaft geben konne, ohne doch eine besondre Kommu-
nikazion der Dame mit den Geistern dabei voraussezen zu miis-
sen. Ist er das im Stande, wo werd 1 ich mich keinen Augenblik
langer bedenken, die Anzahl seiner Proselyten zu vermehren.
Eine Preisaufgabe
Die hiesige Akademie sezt heuer zum erstenmale eine Medaille
von 10. Dukaten zum Preise fur die beste Beantwortung der
Frage aus: Welches sind die vernunftigsten, wichtigsten und nothigsten
Preisfragen, welche die Akademie fur das kiinftige Jahr aufzulosen
geben mus?
* Diese Allegorie ist richtig; denn mit dem Ohle, womit man iezt
den Kranken fur den Himmel wiedertaufet, wolte man ihm in der ersten
Kirche nur Gesundheit ansalben.
BESCHLUS ODER VORREDE;
worin keine Anmerkungen iiber Wiz, Ironie und mich selber gesparet
werden
Ohne den geringsten Grus zu sagen, hab' ich mich vor dem
Publikum prasentirt und so fort niedergesezt. Dieser Mangel
der Vorrede oder diese Unhdflichkeit krankt, ich weis es wol,
meine Leser noch bis auf diesen Augenblik, in welchem ich
die vierte Zeile meines Beschlusses schreibe: denn ieder von
ihnen hatte, als er mein Buch aufschlug, auf eine Begriissung
gezahlet, so wie sie in seinem Stande und seiner Nazion ge- 10
wohnlich ist. Der Jude dachte: »Friede sei mit dir! wird der
Verfasser des Akadabra zu dir sagen« - der Wiener »und zu
dir: Gelobt sei Jesus Christus« - der gemeine Man »und zu mir:
Got griis dich« und der vornehme Man »und zu uns: ganz ge-
horsamster Diener« - noch anders dachte der Kamtschadale,
anders der Mohr und ieder anders vom Menschen bis zum Re-
zensenten herab. - Allein was kan ich fur diese Verrechnung
meiner samtlichen Leser? Denn da einmal der Vorsaz unbeweg-
lich in meinem Kopfe sas, eine Vorrede auszufertigen, die so
lange werden soke wie das Buch selbst: kont' ich mehr thun 20
als daB ich das leztere mit der jriesenlangen Vorrede wenigstens
nicht anfieng, sondern beschlos und, da man ohnehin die mei-
sten spater als das Buch schreibt und drukt, auch einmal eine
spater zu lesen gab? Ich gieng also nichts weniger als darauf
um, den armen Leser um die gewohnliche Autovendoxologie fur
ihn, zu bringen, wie etwan Luther das Vaterunser so lange
darum brachte, als er Augustinermonch war. Ich habe nur die
ganze Experimentalmechanik der Hoflichkeit, den Tanz*der
Zunge, die Verrenkung des Riikgrads und das Scharren der
Fiisse fur den Beschlus meines Werkes auf gesparet: eben so fangt 30
der Schauspieler seine Rolle an, ohne den Hut fur das ganze
BESCHLUSS ODER VORREDE 793
Publikum zu riikken oder sogar nur anzufassen, allein sein Spiel
endigt er (fals er sich durch die ftinf Stufeniahre, d. h. durch
die ftinf Akte so gluklichgefristethat, daB er nicht das Sterbliche
frCiher als seine Theaterkleidung ausziehen mussen) mit einem
anhaltenden Biikling, woran er sich zugleich mit dem Vorhang
zur Erde niederlast und woraus er nicht eher wieder fahret,als
bis dem Parterre von ihm nichts mehr sichtbar ist als die Beine.
Soke aber freilich irgend einer aus der unzahligen Menge derer,
die mein gegenwartiges Buch mit unsaglichem Vergniigen lesen
I0 und wiederlesen und an ihm nichts tadeln werden als die Kurze,
dasselbe nicht gar bis zu diesem Beschlusse, worin ich den Grus
fur ihn aufhebe, durchblattern, so kam' ich zwar damit ungliik-
licher Weise zu spate und ich hatte den Hut vor dem vornehmen
Hern abgenommen, nachdem derselbe schon lange bei mir vor-
iibergegangen: aber das ware des Lesers Schuld; was kan ich
dafur, daB ihn mein Buch nicht so ergozt wie mich selbst und
den Kenner?
Drei Amter mus und sol ich in diesem Schlusse bekleiden.
Das ersteist das hohepriesterliche, d. h. ich fiihle mich verpflich-
20 tet, den Leser dies und das zu lehren; wogegen ich von ihm
erwarte, daB er mir alles Beweisen erlasse und aufs Wort glaube,
wofern er wiinscht, daB ich mein Amt nicht mit Seufzen thun
sol. Ober Ironie und Wiz namlich werd' ich mich in den ver-
schiednen Anmerkungen ausbreiten, deren Gehalt man leicht
errathen kan, wenn man uberlegen wil, wie sehr die Seltenheit
des Grades, worin ich beide zu besizen so gluklich bin, mich
vor andern in den Stand sezen kan, iiber sie aus eignen Erf ahrun-
gen zu sprechen. - Eigentlich hat zwar (dem Titel zufolge) mein
Buch bei dem Leser die Dienste eines Hofnarren genommen;
30 allein wenn Home den Scherz nicht aus der ernsthaften Epopee
herausgeworfen, warum wollen wir nicht umgekehrt zur Er-
wiederung auch den Ernst aus dem Scherze nicht zur Thiire
hinausbeissen? Doch sol den erstern immer oft genug der leztere
ablosen, welchem zu Gef alien ich keine Ausschweifungen spa-
ren werde. Uberhaupt kan der Leser durchaus darauf rechnen,
daB Wiz und Verstand in diesem Beschlusse stets wechselseitig
794 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
ab- und zugehen werden, so daft also die Buhne nie leer bleibt:
denn kaum daB z. B. der gesunde Menschenverstand sich auf
ein Kleines wird beurlaubt haben, so sol schon der Wiz dafiir
aufgetreten sein, wie der Leser es auch am Anfange dieses Be-
schlusses merken miissen, worin der Wiz zur Zeit allein seine
Rolle spielt und solange fortspielen wird, bis weiter unten auch
der Verstand sich sehen lasset.
Das zweite Ehrenamt, das ich anzutreten habe, ist das prophe-
tische. Ich mus namlich verschiedne Prophezeiungen unter meine
Leser austheilen. Der Gegenstand derselben ist niemand anders I0
als ich selbst und mein kleiner geistiger Junge, der an der Mi-
chaelismessediePresse verlassen. Ich habe demselben, ich meine
diesem Buche, die Nativitat gestelt und nachdem ich dem Ein-
flus der Opposizion der Sonne und des Saturns auf die Geburts-
stunde desselben sorgfaltig nachgegangen, auch die bedenkliche
Sonnenfinsternis bei seiner Zeugung wol erwogen, nachstdem
iiber den Fastnachtstag, als an welchem es von der Vatermilch
abgesezt worden, ganz besondere Betrachtungen angestellet
hatte, so hab' ich durch unglaubliche Muhe und tagelange Be-
rechnungen herausgebracht, daB die Aspekten folgendes Schik- 20
sal meines geistigen Kindes aussagen: »Ein geistiges Knablein,
den und den geboren, ist sanfter Natur, thut niemand was zu
Leide, hat Krallen und ein gutes Herz. Macht seinem Vater viel
Ehre und Freude. Fangt seinen eignen Gewiirzhandel an und
hat gutFortun. Wird fremde Lander sehen, hat Gluk bei grossen
Herren und Frauenzimmern, komt spat zu grossem Reichthum
und Ehren. Dasselbe werden beissen die Thiere mit grossen
Ohren, sol sich hiken vor blinden Leuten und schwarzen Schafs-
pelzen. Seine Kleidung sol sein englisch mit Gold besezt und
eine verguldete Veste. Oberlebt alle Stufeniahr und seinen alten 30
Vater und wird endlich lebenssat und nachdem es zum zweiten-
male zum Kinde geworden in einem Alter aufgelost, daB sein
Tod in alien Zeitungen zu lesen sein wird, die von dessen Alter
nicht genug Riihmens machen konnen.«-
Der Leser solte nicht so einfaltig sein, mich zu fragen: wie
komst du Saul unter die Propheten? Denn unter die grossen Pro-
BESCHLUSS ODER VORREDE 795
pheten werd' ich mich audi wol nie verlaufen d. h. unter die
Rezensenten: sondern nur von der Anzahl der kleinen such' ich
zu sein d. h. der Selbstrezensenten. Vielmehr hab' ich mir vor-
genommen, indiesem Beschlusse iiber iene grossern mich mehr
als einmal zu erbossen, mit meinen Fingern durch ihre Barte
zu fahren und damit selbige, wie die Tiirken die ihrigen, zu
kammen und ganz gerade anzuziehen, wie nicht weniger meine
Hand in ihre rothen Hare zu bewegen, um ihren Kopf durch
ein gelassenes Schiitteln zu iiberzeugen, daB ich sowol ihre Hare
als den Sieg und das Recht in Handen habe. Denn der Leser glaube
mir, ein Drittel dieses Prophetenvolks gehort unter die falschen
Propheten, die aus ihren eignen Eingeweiden und aus dem Qe-
schrei gewisser Thiere verhaste Weissagungen gegen uns Auto-
ren ausbringen; und ich scheue mich nicht sie tief unter das
Publikum herabzustossen ia sogar sie fur eben so viele fluchende
Bileame, dieses hingegen fur den redseligen und scharfsichtigen
Esel, den sie bestiegen, und mich fiir den Engel zu erklaren
(wiewol Pater Bougeant meint, daB es der Teufel gewesen) der
dem Esel die Belchrung seines Reiters diktirt.
DaB sich Got erbarm! ich mus das dritte Amt, das konigliche,
niederlegen. Denn ich kan nicht hoffen, im ganzen Beschlusse,
es sogar nur anzutreten, Gelegenheit zu gewinnen, und weis
uberhaupt nicht, was ich oben gedacht habe, daB ich in demsel-
ben zu stehen versicherte, mutmasse aber stark, daB ich diese
Luge ersonnen, um die Ahnlichkeiten in den Amtern zwischen
mir und Christo zur Ehre meines Wizes volzahlig zu machen.
Ich wil ubrigens der Hofnung leben, der Leser werde mir es
zu Gute halten, daB ich mich selbst in ein Amt eingesezt, das
bios metaphorisch ist und das mir nichts zu verwalten giebt;
und werde sich zu Gemuthe fuhren, daB ich nicht nur das Bei-
spiel der Hofdmter, sondern auch der drei Amter meines Gleich-
nisses selbst, welche die Theologen Christo auf dem Wink blos-
ser drei Methapern ausgewirkt, desfals vorschiizen konne und
werde.
Jezt mus eigentlich der Wiz die Fortfuhrung des Spieles dem
Verstande iibergeben. Auch hab' ich schon dreimal mit dem
796 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Hausschliissel hart gepocht (wie es bei Dorfkomodianten und
Prosaisten gewohnlich: denn ansassige Schauspieler und Dichter
klingeln); aber der Verstand lasset sich weder horen noch sehen.
Ich ersuche das samtliche Parterre, mein Klopfen mit dem
Schliisse] durch Trommeln mit den Stokken zu verstarken, da-
mit der Verstand durch unsern erschreklichen Larm an seine
Schuldigkeit erinnert werde. - Unterdessen er unter Weges ist,
merk' ich in der Geschwindigkeit noch an, daB Schauspieler
so wie Heldendichter ihre Materie am liebsten und schiklichsten
in der Mitte anfangen - Ah! da komt er ia, mein Verstand! wie 10
langsam er die Fusse bewegt! wie sehr er die scharfsichtigen
Augen schliesset! Jezt spricht er:
Nichts ist ekelhafter als eine ungerathne Ironie; sogar ein Fal
ins Niedrigkomische ist es nicht halb so sehr und man wil lieber
dem, der sich fur nichts mehr als einen Hanswursten aus[ge]ge-
ben, einzu /awtesLachen, als einem, der sich zu [einem] ernsten
Gesichte anheischig gemacht, ein sichtbares [vergeben]. Leider!
[ist] diese Laune die seltenste unter alien und vorziiglich gegen
uns Deutsche so sprode, deren Spas immer mit ihrem ironischen
Errtste davonlauft. Sie konnen Ironie kaum verstehen, ge- 20
schweige machen; und ir eben so bekantes als ruhmliches
Phlegma macht ihnen nicht nur das erste, sondern auch das lez-
tere schwer: denn wer selten lustig ist, ist's nie mit Masse und
bestatigt die Bemerkung, daB die Begierden, die uns sparsam
iiberfallen, den Meister iiber uns am leichtesten spielen und daB
nichts so enthaltsam macht als Ubersattigung.
Gleichwol sucht man einen Fingerzeig bei den Kunstrichtern
vergebens, die alle das alte Lied wiederholen. Uberhaupt wird
mir iedes Genie zugeben, daB es von seiner Kunst tausendmal
mehr wisse als die meisten Kunstrichter zusammen; und daB 30
es wenigstens das, was sie es lehren, selbst erfinden mtisse, urn
es zu nuzen. Hinter die Magerheit ihrer Lehren komt man nicht
besser, als wenn sie ieder iiber das Fach, das er vorziiglich bear-
beitet, zu Rathe zieht. Wenn man behauptet, daB man nicht
zwo Kiinsten wie zwo Herren dienen konne und iede auf einen
ganzen Man Anspruch mache: so darf man noch richtiger be-
BESCHLUSS ODER VORREDE 797
haupten, dafi auch iede Kunst ihren eignen Kunstrichter heische,
so wie in Agypten iede Krankheit ihren besondern Arzt hatte:
denn die Arten des Geschmaks heben sich nicht weniger auf
als die Arten des Genies. - Zu den wenigen Mustern der Ironie
mocht' ich die wenigstfens] in die Schule schikken, welche ge-
nug gelernt haben, um Schiiler sein zu konnen, welche Kunst-
richter genug sind, um Nachahmer sein zu konnen: denn die
Schonheiten, dieihrnachschaffen wollet, wollen nicht bios emp-
funden, son&em gesehen sein und / in der Kentnis ihres Ursprungs
/ der Nachahmer mus an d Hand / und da seine innere Kraft
zu schwach ist, ihr eigner Leiter [zu sein], weil er nicht wie
das Genie die Blindheit der Schopfungskraft durch die Grosse
derselben leiten kan. Daraus lasset sich der ungliikliche Erfolg
erklaren, womit die Dunsen [?] dem Genie von Gottesgnaden
die Miinze nachschlugen: diese Falschmiinzer hatten wol wie
die in Algier wenigstens ihre rechte Hand verwirken sollen,
wenn man noch hinzudenkt, daB sie Schonheit[en] nicht bios
nachamten sondern auch stahlen, wie die gedachten das Geld
nachpragen und beschneiden, Form und Materie entwenden.
Die Ironie ist wie bekant ein unter den Blumen des Lobes
lauernder TadeL Was ist nun leichter, denkt man, als zu loben
sich stellen? denn man braucht doch nur den Gegenstand seines
vorgeblichen Weihrauchs mit den hoflichen Superlativen so
freigebig als moglich einzuseifen?
KLEINE SATIREN
[VOM VERFASSER DER GRONLANDISCHEN PROZESSE]
Ich glaube nicht bios mit Paskal, daB der Frommigkeit nichts
vortheilhafter ist, als ein kranklicher Korper: sondern ich habe
mich auch durch unzahlige Erfahrungen iiberzeugt, daB der Poet
sich ebenfals nichts bessers wiinschen kan, als eine in einem
seltnen Grade gebrechliche Gesundheit, und daB seinen Flugeln,
auf die seine Vorziige und Obungen sich einschranken, die
Schwachung des ganzen Korpers sogar noch mehr zu statten
kommt, als die bisherige Schwachung seines bloBen Kopfes. Aus
guten Griinden ftihre ich nicht mich selbst zum Beispiel an;
noch weniger eine bekante groBe histerische Dichterin; nur wil
ich dem geneigten Leser etwas ahnliches erzahlen, was mir ein
Pferdeknecht von den Pferden mitgetheilet. Er behauptete nam-
lich, daB die Abschneidung von zwo gewissen Sehnen ihres
Schwanzes volkommen hinreiche, denselben in die gliikliche
Nothwendigkeit einer unaufhorlichen Erhebung zu versezen. Ich
seze voraus, daB der Leser die Anwendung von den Pferden
auf die Poeten selber entdecket. Wird aber dann mein Wunsch,
(iber den man gestern in einer gewissen Geselschaft die Achseln
zukte, der namlich, daB man, wenn es mit der VergroBerung
des deutschen Parnasses ein Ernst sein sol, sich doch einmal
nach Mitteln umsehen mochte, wodurch der pobelhaften Ge-
sundheit unserer Dichter ein guter Stos konte beigebracht wer-
den, wird dieser Wunsch, sag' ich, noch uniiberlegt zu seyn
scheinen? Zwar konnte er manchem vielleicht wenigstens unno-
thig vorkommen, sobald man den Poeten selber glauben wil, die
uns an sich eine Menge Laster vorzahlen, welche von ieher der
Verfeinerung und Entkraftung des Korpers den grosten Vor-
schub gethan; allein man frage dagegen ihre Gedichte, ob auch
diese ihre angebliche Gebrechlichkeiten bestatigen: wenn sie die
Starke verlaugnen, die man doch von einem zum Vortheil der
Phantasie abgemergelten Korper erwarten kann; so liegts am
Tage, daB alle ihre (der Dichter) Aufopferung[gen] der Tugend
die Erfindung eines Mittels noch immer zu wiinschen iibrig
lassen, das ihrem Korper dieienige Unahnlichkeit mit den star-
KLEINE SATIREN 801
ken Korpern der Barden verschaffet, welche erfoderlich ist,
wenn ihre Verse die vollige Ahnlichkeit mit den starken Versen
der Barden erlangen sollen.
Bei tins haben nur die Heiligen, nicht aber die Tugenden, Tern-
pel. Also audi hierinnen stehen die Alten so wie in allem, auf
einer so hohen Stufe iiber uns, daB wir an ihre FiiBe kaum mit
unsern Kopfen reichen. Man nehme z. B. die Tugend, welche
wir unter dem Namen einer edlen Freiheit, einer edlen Unver-
schamtheit kennen. Die Athener bauten ihr einen besondern
io Tempel; und wir? wir erreichen ihr Muster hierin nicht einmal,
geschweige daB wir es iiberholten. Ungeachtet die Tugend der
Unverschamtheit beinahe die einzige ist, die noch nicht aus den
Granzen der feinern Welt verstossen worden, ungeachtet man
sich noch nicht vor ihr, wie vor ihren Gespielinnen, scheuet,
zu ihrem Verehrer sich zu bekermen, ungeachtet es sich mi thin
ohne iibertriebene Voraussezungen erwarten lieBe, daB man der
vorziiglichen Obung dieser oftgedachten Tugend besondere
Orter heiligen wiirde: so hat man doch nicht nur nicht daran
gedacht, fur die Unverschamtheit besondere Tempel aufzufuh-
20 ren, sondern man begniiget sich ohne Bedenken, dieselbe zu-
gleich mit Gott in einem Tempel zu verehren, und lasset sie
mit der Halfte einer Kirche sich behelfen, von der ihre Feindin,
die Schamhaftigkeit, die andere innen hat. - Man versuche nicht,
mir einzuwenden, daB sie doch dafiir von iedem Hausvater und
ieder Hausmutter zu Hause verehret werde, und den Rang einer
Hausgottin genieBe. Denn durch langes Nachspiihren habe ich
in Erfahrung gebracht, daB an diesem ganzen Vorgeben kein
Wort wahr ist. Ich habe z. E. erst vorgestern Abends zu meinem
grosten Erstaunen und Misvergniigen vernommen, daB eine
30 Dame vielmehr die Abgotterei gegen die Schamhaftigkeit zu
Hause aufs hochste treibt. Sie sol insgeheim, (ich kan es aber
kaum glauben) wie gewisse heidnische Priester, sich die Wan-
gen mit kunstlichem B/w^beschmieren (denn das ist die heutige
Art diese Abgottin zu verehren; vor Zeiten musten die ungliik-
802 x JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
lichen Dienerinnen derselben, so gar ihr eignes aufopfern und
sich damit das Gesicht anstreichen) und man wil gesehenhaben,
daB sie das Bild derselben in ihrem Spiegel aufgestellet, und sol-
ches friih und Abends, wie ein Marienbild, ordentlich angebetet
habe. Zwar fiigte der Erzahler etwas hinzu, womit er das Grelle
der Sache zu mildern glaubte; allein eben dadurch vermehrte
er es offenbar. Denn wenn (wie er hinzugefugt) besagte Dame
in ihrer Vertraulichkeit gegen ihre Busenfreundin, Schamhaf-
tigkeit, doch noch einige MaaBe halt, und z. B. nicht sich zu
entkleiden wagt, bevor sie dieselbe von sich entfernet hat, oder 10
noch weniger ihre Freundin zu ihrer BettgenoBin zu machen
sich getraut; so ist dies leider nichts als ein Beweis rnehr, daB
ihre Freundschaft mit derselben nur desto langer bestehen
werde, da keine Vertraulichkeit sie untergrabt und kurze Tren-
nungen sie noch mehr befestigen.
Es lasset sich zwar nicht laugnen, daB der Englander einen Lowen
im Wappen fuhret; allein soke es sofort auch eben so unlaugbar
sein, daB der deutsche Poet sich in die Haut dieses Lowen ver-
kappe? ist nicht vielmehr die ganze Geschichte von dem Esel,
der eine Lowenhaut zur Larve seiner eignen machte, ein Ge- 20
schopf aus dem Fabelreiche? - Aber darum ziehe ich noch nicht
den groBen Einflus in Zweifel (und ich finde nothig es ausdriik-
lich zu erinnern), den unsere eigenen groBen Kopfe auf unsere
kleinen zum grosten Vortheil unsers Parnasses haben. Ich meine,
wir diirfen nicht bios behaupten, daB wir den Englander gar
nicht nachahmen: sondern wir konnen uns auch riihmen, daB
wir dafur in die Fusstapfen unserer eignen Muster desto angstli-
cher treten. Ich verfocht neulich eben dasselbe gegen einen Eng-
lander selbst mit unglaublicher Geschiklichkeit und Hize, und
brach zulezt in das schone Gleichnis aus: so wie, wenn die goldne 30
Morgensonne hervortrit und ihre abschiiBige Bahn hinaufsteigt,
die goldnen Bewohner des Grases, die Insekten, alle sie nachzu-
ahmen beginnen, und nach einigen Versuchen die Spizen des
Grases auch gluklich erklettern; eben so fahrt wohl kein Genie
KLEINE SATIREN 803
bei uns mit seinen lauten Fliigeln in die Hohe, daB nicht sofort
in alien FiiBen der erstaunten Zeugen seines Auffluges eine me-
chanische Begierde nach einer ahnlichen Emporfahrung sich
rege, welche wir gewohnlich durch einen Versuch befriedigen,
uns samtlich durch einen algemeinen gleichzeitigen Sprung wo
moglich zu heben.
Ich weis zwar wol, daB der Geschmak unsers Publikums eine
Schuzschrift eben nicht sehr vonnothen hat und am wenigsten
die meinige; allein ich kan mich doch nicht enthalten, zwo Ahn-
10 lichkeiten bekant zu machen, die ich zwischen ihm und den
Seligenim Himmel wahrgenommen und die mir sehr zu seinem
Vortheile zu sprechen sch einen. Lavater bemerkt namlich im
dritten Theile seiner Aussichten in die Ewigkeit, daB die Seligen
im Stande sein werden, sich zu iedem Riesen aufzublahen und
iede wilkuhrliche Vergrosserung ihres Korpers auszuhalten. Er
sezet und wie mich diinkt nicht ohne Grund, hinzu, daB diese
besondere Ausdehnungsfahigkeit ihrer Statur sie zur Bewoh-
nung aller Welten und zum Umgange mit alien Bewohnern
derselben (sie mogen so gros sein als sie wollen) ausnehmend
20 tauglich mache. Ich mache hievon die figurliche /Anwendung
auf unserPublikum, welches das gewis ist, was die Seligen doch
nur wahrscheinlich sind. Ich bin oft uber den vortref lichen Kopf
desselben in das freudigste Erstaunen gerathen, und es sage mir
selbst (ich iiberlasse mich seiner unpartheiischen Entscheidung),
ob es irgend einen Kopf in Meusels gelehrten Deutschland oder
anderswo kennt, der aus so vielen, so groBen, so verschiednen
Talenten bestehet, und der besonders einen so algemeinen Ge-
schmak besizet, als sein eigener. Denn das Publikum ist im
Stande (und das ist seine erste Ahnlichkeit mit den Seligen),
30 sich iede GroBe zu geben, welche von iedem neuen groBen Kopfe
zur Bedingung ihrer gegenseitigen Unterhaltung gemacht wird;
es hilft sich an der Hand der Kunstrichter so weit auf, daB es
sehr gut horen und verstehen kan was K-k von seinem Munde
herunter redet; es empfindet mit G-e; es philosophirt mit K-t
804 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
und H-r und spottet mit W-d. - Die andere Ahnlichkeit mit
den Seligen machet ihm wo nicht mehr, doch eben so viel Ehre.
Diese konnen sich nach Lavater auch zusammenpressen und
noch weit mehr, als die Teufel sich in Miltons Gedicht, oder
als die Kaufleute die Baumwolle. Den Nuzen von dieser un-
nachahmlichen Verkleinerung sol uns Herr Lavater entdeken;
es ist dieser: daB der Selige, der aus einem Kolos in einen Punkt
zusammengeschrumpfet, die Geselschaft der Riesen nun mit der
Geselschaft der Insekten vertauschen, und denleztern alle natur-
historischen Geheimnisse ihres Wesens in der Gestalt ihres Glei- 10
chen abforschen kan. - Wenn meine Partheilichkeit fur das Pu-
blikum mich nicht ganz tauschet, so kan man ihm die hgurliche
Ahnlichkeit dieser seltenen Zusammenziehung eben so wenig
absprechen als die obige einer seltenen Auseinanderbreitung;
von iener macht es so gar noch ofterern Gebrauch als von dieser.
Ich berufe mich auf das Publikum selbst: findet es nicht eben
so viel Geschmak an den elendesten Wiener Romanen als an
denbesten von W. . Pistes nicht fahig, sich an dem zum zweiten-
male aufgelegten Spotte des Kiisters von Rummelsburg mit ei-
nem besondern Vergniigen zu lezen? und schlieBet es in seine 20
Lektiire der besten Autoren nicht auch die schlechtesten ein?
- Diese seltne Algemeinheit seines Geschmakkes sezet in-
dessen die geschikteste Verkleinerung seines Kopfes voraus,
und sie ist der deutlichste Beweis, daB ihm das Vermogen nicht
fehlt, sich dermassen einzuziehen, daB es endlich in den kleinen
Geselschafter des kleinsten Autors sich verwandelt, oder unfi-
giirlich, von seinem Geschmakke und Scharfsin so viel Preis
zu geben, daB es beide durch unermiidete Verringerung dem
Geschmakke und Scharfsin des schlechtesten Autors endlich
volkommen gleichmachet. Es ist schwer, mit einiger Richtigkeit 30
zubestimmen, ob man dem Publikum seine VergroBerung oder
seine Verkleinerung hoher anrechnen miisse; indessen, wenn
man mich dariiber befragte, so wiirde ich ohne Bedenken die
Parthei der leztern darum nehmen, weil nichts so schwer ist
als zu fremden Begriffen sich herunterlassen. - Das ganze groBe
Verdienst der Autoren, die fur Kinder schreiben, beruhet ia auf
KLEINE SATIREN 805
dieser Schwierigkeit der Herunterkssung. Und ware auch dieses
nicht, so wiirde wenigstens in meinen Augen die Fahigkeit des
Publikums, zu kleinen Autoren herabzusinken, seiner andern,
zu grofien hinaufzusteigen, sehr weit bios darum vorstehen, weil
es selten oder keine Gelegenheitfindet, von der leztern Gobrauch
zu machen, hingegen aber ieden Tag beinahe Anlas hat, sich
von der angenehmen Unentbehrlichkeit der erstern zu iiberzeu-
gen, und zum Besize eines Gaumen sich von neuem Gliik zu
wiinschen, ohne welchem es schlecht im Stande sein wiirde, ans
10 unseren besten neuen Schriften das gehorige Vergniigen zu
schopfen. Ich darf also wohl nicht erst hinzufiigen, dafi dieser
Gaumen dem Publikum sowol als uns kleinen Autoren selber
einen unsaglichen Nuzen verschaffet. .
Es ist sehr befremdend, aber leider! auch eben so sehr gewis,
dafi gerade in unserem Zeitalter, wo das schone Geschlecht unser
hasliches vollig gedemuthiget hat, so viele Spotter sich gegen
dasselbe erheben, und man soke anfangs nicht vermuthen, dafi
der reizende Theil der Menschheit in der litterarischen Welt eine
so ganz andere Stelle als in der feinen spielen werde. Soke unter
20 den Veranlassungen zu diesem Betragen des Schriftstellers, die
ein anderer aufzahlen mag, auch eine bekante Geneigtheit mit
sein, sich in der Person des Schriftstellers fur das zu rachen,
was ihm als Menschen wiederfahrt; soke er mithin in seinem
gedrukten Spotte eine Entschadigung fur seine wirklichen Er-
niedrigungen suchen, die er der guten Lebensart nicht hatte ab-
schlagen konnen: so ist soviel gewis, dafi dies ganze Betragen
dem Schriftsteller weiter keine Ehre machet. - Die Damen iibri-
gens miissen sich mit Geselschaft trosten: denn es gehet dem
Teufel ebenfals nicht besser, dem man mit der Feder in der Hand
30 alle die Ehrfurcht versaget, die ihm sogleich zu Dienste stehet,
wenn man mit ihm unter vier Augen und des Nachts zu sprechen,
das nur gar zu seltne Vergniigen hat. Die Fiirsten selbst haben
in unsern Tagen kein anderes SchiksaL Denn wenn hat iemals
806 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
der so sehr verkante Despotismus sichtlichere Wurzeln geschla-
gen und groBere Bliithe getragen, wenn hat er kiihlere, braunere
und langere Schatten geworfen als iezt? Allein wenn hat man
gleichwohl mehr gegen ihn geschrieen und ihn verunglimpfet,
als eben auch iezt? Man lese nur die Franzosen. - Ich werde
mich also nicht mehr entschuldigen, daB ich von dem spotten-
den Haufen der Skribenten mich ganz absondere: sondern ich
wil sogleich in einige der warmsten Lobeserhebungen des scho-
nen Geschlechtes ausbrechen, die einen matten Nachgeschmak
von denen geben konnen, die ich ihm unter das Gesicht mit 10
einer Art gewohnlich mache, daB ich mir und ihm eine schone
Rothe abiage.
Ich fange mein Lob mit einer wolgerathenen Rechtfertigung
einer gewissen weiblichen Mode an, die zwar zu alt sein mag,
verspottet, aber noch gar nicht zu alt ist, gerechtfertiget zu wer-
den. Em gewisser Herr, den ich nicht nennen darf, erofnete
mir, daB eine gewisse Dame, welche der Leser sogleich errathen
wird, ihm offentlich mit einer Miene der Unbekantschaft be-
gegne, die den Sieg vollig verlaugne, den er iibcr ihre tugend-
hafte Verstellung davon getragen zu haben sich riihmen diirfte; 20
und er versicherte mich, das einzige, was ihn noch iiber ihre
Vergessenheit seines Triumphes beruhige, sei ein starker Zwei-
fel an ihrem Gedachtnisse uberhaupt, der ihm zum Gliik fur
seinen Stolz heute bei der unverhoften Nachricht, daB er nicht
der erste, sondern der neunte Sieger sei, dem es bei ihr so gehe,
zu Sinne geschossen. - Ich schmeichle mir aber, die Dame besser
und ohne Unkosten ihres Gedachtnisses rechtfertigen zu kon-
nen, und ersuche daher den Leser, sich von der Sache folgende
Vorstellung zu machen: die besagte Dame hat wie iede, ihren
Genius, den einige ihre Tugend, andre ihre Keuschheit oder 30
auch ihre Schamhaftigkeit nennen. Er mag indessen ihre Freun-
din heissen. Diese Freundin hat sich in das Herz der Dame einge-
miethet, dessen zwo Kammern sich allerdings, wie es mir
scheint, zu Ankleidezimmern oder doch zu Koulissen fur sie
sehr gut schikken. Der obige Herr komt nun und erlaubet sich
die Freiheit, bei aller der Hoflichkeit, die er der Dame erweist,
KLEINE SATIREN 807
verschiedene unbesonnene Worte fallen zu las sen, die ihrer
Freundin gar nicht gleichgiiltig sein konnen. Endlich vergiBt
er sich gegen diese so sehr, daB sie iiber seine Ungebiihr nicht
anders als erziirnen kan, und wirklich in der ersten Hize aus
den zwo Herzkammern der Dame herausfahrt und unter Beglei-
tung des Bluts aiif ihre Wangen eilet. Hier glaubte sie vielleicht
sich versteket und sicher genug, weil der Zinober, hinter dem
sie lauerte, einerlei Farbe mit ihrer natiirlichen und zornigen
hatte, so wie etwa die Raupe durch die Gleichfarbigkeit mit
10 ihrem Nahrungsblatte dem Hunger des Vogels entwischet. Al-
leinihr Widersacher, der fremde Herr, entdekte oder muthmaste
gleichwol ihre Nachbarschaft und nahert boshafter Weise seine
Lippen und Zahne den Wangen, um seine darauf sizende Feindin
(denn man mufi das Argste vermuthen) zu erbeissen. Ich zweifle
nicht, er wiirde es volfuhrt haben, wenn sie (die Freundin, wie
ich die Schamhaftigkeit, oder Keuschheit zu nennen fur gut be-
funden) nicht sogleich der Vorstellungen der Dame ungeachtet,
die bisher den kaltblutigen Zuschauer gespielet, sich entschlos-
sen hatte, von derselben sich so lange zu entfernen bis der Herr
20 es miide wiirde, auf sie zu warten, und selbst den Abtrit nahme.
Die Nachricht von den Mitteln iibrigens, welche die Dame in
der Abwesenheit ihrer Freundin gefunden, den Muth des Herrn
so gut zu demiithigen und seine Kraft e so gut zu entwafnen,
daB sie ihre Freundin noch in seinem Beisein ohne Gefahr einer
neuen Veriagung zuriik zu rufen wagen konte, wird meinen
Lesern sehr gleichgiiltig sein, und ist auch schon in andern
Schriften volstandig zu finden. Mit Fleis nab' ich bisher mit
kaltem Blute erzahlet. Nun aber vermag ich die Frage nicht
langer zuriik zu halten: Konte der Herr die Dame empfindlicher
30 beleidigen als in einer Freundin, die mit ihr in die Schule gegan-
gen, die mit ihr aufgewachsen, die ihre Reize sonst lange mit
Schonheitsw asset und Schminke unentgeldlich aufgepuzt, die ihr
treuer als Gluk, Liebhaber und Schooshunde gewesen, und die
sie liberal hinter dem Rukken lobte? Geh' ich zu weit, wenn
ich daher behaupte, daB die Dame in ihrer beschimpften Busen-
freundin sich mit allem Rechte volhg eben so sehr beleidiget
808 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
finden konte als eine andre sich in ihrem Schoshunde angegriffen
achtet, wenn man gegen denselben sich so sehr vergisset, daB
man entweder den Gebrauch eines weichen Hundekiissens von
ihm machet, oder seine Pfote nicht mit der Hand, sondern mit
dem FuBe driikket? Eine Unachtsamkeit gegen die Dame selbst
konte vielleicht noch beschoniget werden; aber die gegen eine
Freundin derselben gehet ihre Eigenliebe naher an, da ieder sei-
nen Freund noch weit mehr als sich selber liebet, wie schon
Zizero aus dem Grunde versichert, weil man fur den Freund
Tugenden in Gefahr sezet, die man bios dem eignen Vortheile
nie aufgeopfert hatte. Man verzeihe mir diese anscheinende
Weitlauftigkeit iiber die GroBe der oftgedachten Beleidigung:
konte ich wol anders als nach dieser Vorbereitung dem Leser
die hohe Meinung von der Dame beibringen, die ich ihm iezt
hoffentlich beibringe, wenn ich ihm melde, daB sie diese uner-
horte Beleidigung dem fremden Herrn gleichwol von Herzen
verziehen hat, daB sie nicht auf Rache gesonnen, daB sie so gar
gleich dem Christen oder gleich dem Zasarj dem nichts aus
dem Gedachtnisse zu kommen pflegte, als fremde Beleidigun-
gen, sich offentlich gegen den Feind ihrer Freundin angestellet,
als ob sie sein Vergehen und sogar inn selbst ganz vergessen
hatte? - Ich bin gewis, in meinem Leser ist nun an die Stelle
seiner vorigen zweideutigen Meinung von ihr eine vortheilhaf-
tere getreten, und vielleicht hat selbst mancher unbedachtsame
Lacher seinen voreiligen Spot iiber ihre edle Vergessenheit wie-
der zurukgenommen. Wenn wir noch dazu sezen, daB der
fremde Herr gar schon der neunte Gegenstand ihrer Verzeihung
gewesen, so werden wir vielleicht wol kaum mehr in Zweifel
sein, ob sie dem Petrus vorzuziehen ist, der nur siebenmal des
Tages seinem Nachsten vergeben mag; ia wir konnen, ohne
mit unserer Partheilichkeit fur sie iiber die Granzen der Wahrheit
zu gehen, aus den Proben ihrer Versohnlichkeit das Vertrauen
fassen, daB es ihr mit der Zeit sogar leicht ankommen werde,
es in der Befolgung eines gewissen Gebotes des neuen Testa-
mentes so weit zu bringen, daB sie nicht nur den Bakkenstreich,
den ihre Freundin empfangen, vergiebt, sondern auch zu einem
KLEINE SATIREN 809
zweiten einladet und aufmuntert. - Zwar wil mich der fremde
Herr versichern, daB sie kurz nach dem Abtritte ihrer Freundin,
in eine edle Hize und Erbitterung gegen ihn gerathen und um
dieselbe zu rachen, auf seine eigne (denn in den manlichen Her-
zen wohnen auch solche Freundinnen) ahnliche Anfalle zu thun
Versuche gemacht; allein diese boshafte Versicherung sol dem
Glanze ihrer nachherigen Versohnlichkeit nichts entziehen,
wenn der Leser erstlich zu bedenken beliebet, daB sie diese Rache
nur in dem ersten Anstosse eines unschuldigen Eifers fur ihre
10 gemishandelte Freundin genommen; und zweitens, daB sie ge-
wis iiberzeugt war, mit solchen Angriffen dem fremden Herrn
nicht im geringsten zu misfallen, als von welchem in derganzen
Stadt bekant ist, daB er der vermeintlich angefalnen Freundin
das Logis in seinen zwo Herzkammern schon seit vielen Jahren
aufgekiindiget, und sogar sich hie und da verlauten lassen, er
muthmasse immer mehr, das Bewustsein, sie einmal beherber-
get zu haben, sei eine bloBe lere, lacherliche Tauschung.
Die Agypter pflegen bekantermaBen, um das Bild ihrer verstor-
benen Freunde gewisser zu verewigen, es auf Mumien zu malen.
20 So ausgemacht dieses scheint, so grundlos ist doch, was einige
mit eignen Augen gesehen zu haben schworen, daB auf der Gasse
lebendige weibKche, alte Mumien herumwandeln, die mit drei
Farben (weis, roth und schwarz) auf ihr lebendiges Gesicht ihr
verstorbenes aufgetragen und gemalet, und ihrer unsterblichen.
Haslichkeit eine Kopie von ihrer langstverblichenen Schonheit
anvertrauet und einverleibet haben sollen. Ich wiinschte, daB
man uns mit solchen tiikkischen Zeugnissen kiinftighin zu ver-
schonen belieben, und iiberhaupt meine goldne Bemerkung
mehr in Erwegung ziehen mochte, daB eine Luge nur den ergo-
30 zet, der sie saget, aber selten die andern, die sie horen, und
niemals die, welche sie trift.
8 10 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
Wiirden nicht die Poeten weit besser fahren, wenn sie stat ihres-
gleichen die Zukkerbakker nachahmten? Es ware schlim, wenn
ich dem Leser erst einkauen miiste, daB ich es mit dieser
Frage ernstlich meine. In der That, die Kunstrichter wiirden derri
Parnasse eine Menge schlechter Poesien ersparet haben, wenn
sie es mit mehr Eifer den Dichtern eingescharfet hatten, daB
ieder Schrit, den sie aus der Bahn ihrer gedachten Muster thun,
sie den schlimsten Verirrungen blosstellen werde und musse.
Hatte man ihnen z. B. die Gelees (oder das sogenannte Gefrorne)
zur Nachahmung vorgeleget, welche dem Gaumen des Kenners
mit Siissigkeit und Kalte so unbeschreiblich schmeicheln: wiirden
dann die Gedichte so selten sein, die einen oder den andern Reiz
oder gar beide in einem betrachtlichen Grade vereinigen? wiirde
man dann noch aus fremden Sprachen die Produkte holen miis-
sen, welche dem feinern Leser sowol in der Sussigkeit als Kalte
die groste Geniige leisten konnen? Ich wundre mich daher nur,
daB doch unsere anakreontischen Dichter ihre Werke mit diesen
zwo Volkommenheiten noch immer in einigem Grade, und
mit der Volkommenheit der Kalte sogar in einem nicht gem ei-
nen, zu adeln im Stande warcn.
FLUCHTIGE MUTHMASSUNGEN UBER DIE
MENSCHLICHEN TUGENDEN
Die grossen Manner des Alterthums sind, wiewol weder ihr
Leib noch ihre Sele auf unsere Zeiten gekommen, unserer Be-
wunderung doch nicht ganz entzogen worden: sondern sie ha-
ben uns durch Reprasentanten, in denen wir sie noch ehren und
nachahmen konnen, ihre eigne Stelle ersezet, indem sie namlich
auf die Nachwelt ihre Namen vererbten, an die wir iezt die Be-
wunderung richten konnen, der sie selbst leider! unzuganglich
sind. - Soken nun die Tugenden fur uns nicht wenigstens eben
so gut als diese grossen Manner, die blossen Kopien derselben,
gesorget haben? Und solten sie uns nicht eine ahnliche Entscha- 10
digung, iiber die wir ihre Abwesenheit leichter verschmerzen
konnen, hinterlassen haben? Zum Gliik bediirfen wir nicht diese
Frage zu verneinen: denn wirklich hat keine einzige von alien
den Tugenden, die vor sechstausend Jahren - denn bekanter-
massen ist Adam zwar der Stamvater unsere's Menschenge-
schlechts, aber doch bios ein Spading eines andern uralten, das
vor undenklichen Zeiten her die Erde in Geselschaft der Tugen-
den bewohnet hatte - von unserer Welt Abschied nahmen und
in eine unverderbte (ibergiengen, es vergessen, uns vorher zu
Erben ihres Namens einzusezen; und man mag nun Offenherzig- 20
keit, oder Grosmuth, oder Keuschheit, oder Freundschaft oder
sogar Enthaltsamkeit nehmen, so sind das doch lauter Tugen-
den, deren Namen noch offenbar in dem Munde, dem Herzen
und den Schriften des bessern und grossern Theils der Menschen
ihren Plaz behaupten und die Achtung und Gastfreundschaft
geniessen, die wir diesen Tugenden selbst nicht mehr erzeigen
konnen. Diese Betrachtung (ibrigens ist vielleicht nicht unge-
schikt, die diistern Empfindungen, denen uns der Anblik der
iezigen Lasterhaftigkeit nur zu oft Preis giebt, einigermassen
wieder zu zerstreuen; mir wenigstens hat sie iederzeit meine 30
Zufriedenheit mit der ganzen Welt wiedergegeben und ich
wurde dem nicht danken, der mir kiinftig mit Griinden, waren
sie auch die richtigsten, diese lezte Quelle meiner Zufriedenheit
verstopfte. Konte ich daher auch auf den Leser diese Beruhigung
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 813
verbreiten, so hatte ich den Endzwek erreichet, den ich mir
bei dem folgendem weitlauftigern Beweise vorsezte, daB wir
allerdings schazbare Anlagen zur Tugend unter unserem Be-
schlusse und in unserem Munde haben und daB die Linie derer
edeln Nam en der Tugenderi, welche iene oft belobten Volker
unausgesezet auf der Zunge hatten, audi bei uns noch nichts
weniger als erloschen ist.
Die Natur hat unsern verschiednen Gliedmassen verschiedne
Dienste angewiesen. Der Kopf ist bestimt, zu denken oder wenn
10 er dieses nicht thut, wenigstens zu dichten; die Hande, uns zu
beschiizen, zu nahren und zu verschonern, wie auch zuweilen
den Nebenmenschen zu schlagen und ihm das Seinige vorsichtig
zu entwenden; das Herz, unter alle das Blut auszutheilen u.s.w.
Keinem von diesen alien aber ist eine so edle Bestimmung be-
schieden als erstlich der Zunge, die das unentbehrliche und kost-
bare Werkzeug ist, womit wir die edelsten Thaten ausiiben und
unsere tugendhaften Entschliessungen in Handlungen verwan-
deln; als hernach zweitens dem Gesichte, welchem unsere Anla-
gen zur Tugend (oder wie einige sich ausdriikken unser Gewis-
20 sen) eingepflanzet und anvertrauet sind und worauf die
angebornen und unveranderlichen Grundgeseze der Moral ein-
gegraben stehen, nach denen die Zunge, so viel es die menschli-
che Schwachheitzulasset, sich richtet; wie man etwa an schonen
Grossen und Banditen sehen kan, an denen die Zunge wol nie
das Gesicht veflaugnet und Liigen straft, sondern meistens das
Versprechen der Tugendhaftigkeit erfullet, das ienes unsern
Augen machet. - Eh' ich dieses, was ich mir vorlaufig angezei-
get, gar beweise, mus ich eine Warming vorausschikken, fur
die mir der Leser nicht genug danken kan: man lasse namlich
30 bei der Aufsuchung des Sizes unserer Tugend doch das Herz
ganzlich aus den Augen, als welches hierin ausser der einzige[n]
Rolle, die ich ihm schon angewiesen, namlich die, die Werk-
zeuge unserer Tugend mit Blut zu versorgen, weite.r keine zu
spielen hat. Denn giebt es ia einige Menschen, (und man wil
es freilich behaupten) die durch ihre Tugend den Irthum zu be-
statigen scheinen, daB bei derselben das Herz mit im Spiel sein
8 14 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
miisse: so halte man sie bios fur Ausnahmen, welche der alge-
meinen Erfahrung durchaus keinen Abbruch thun diirfen, die
uns die* iibrigen Menschen als Windbuchsen kennen lehret, die
zwar auch wie Feuergewehre eine Zundpfanne (das Herz) besi-
zen, allein von ihr nicht den geringsten Vortheil fur ihre Schiisse
ziehen konnen, weil sie mit Wind, und nicht mit Fetter schiessen.
Und daB sogar auch iene Ausnahme'n nicht sehr haufig sind,
wird der geneigte Leser (seine eigne Erfahrung sei mein Richter)
schon langst aus der Verwunderung geschlossen haben, in die
er gerath, wenn er auf eine von diesen Ausnahmen stosset, und 10
welche wirklich nicht geringer ist als die, in welche ihn der
seltne Anblik eines Genies oder einer grossen Schonheit sezet.
Die Philosophen sagen uns, daB die Menschen vor den Thie-
ren nichts voraus haben als die Spracheund daB diese allein unsere
Ideen so weit iiber die thierischen erhebet. Mich diinkt, die Phi-
losophen hatten weiter gehen und behaupten konnen, daB die
Sprache einen ahnlichen Dienst auch unsern Tugenden leiste, die
ohne die Verbesserung durch sie denen der Thiere den Preis
wol nie wiirden abgelaufen haben. In die Natur der Taube ist
Sanftmuth, in des Hundes seine Treue, in die des Lowen Edel- 20
muth u.s.w. verwebet und ich sehe nicht ein, warum man sich
sehr bedenket, denen Handlungen der Thiere, bei denen ein
gutes Temperament zum Grunde lieget, den Namen der Tugen-
den einzuraumen, und warum man die Abstuffung, in der man
alle Volkommenheiten durch die ganze Schopfung fortgefiihret
glaubet, gerade bei den moralischen abbricht und von ihnen
allein laugnet, daB sie sich auch weiter herab zu den Thieren
fortziehen und da in uniibersehbare Grade sich verlieren. Allein
so sehr ich auf der einen Seite geneigt bin, diesem moralischen
Werthe der Thiere, der sich auf Handlungen einschranket, das 30
versagte Recht zu geben, so weit bin ich doch auf der andern
entfernet, gegen den Vorzug blind zu sein, auf dem wir soviele
Stufen iiber sie hinwegsteigen und der kein geringerer als dieser
ist, daB wir zum Dienste unseres tugendhaften Temperaments
nicht iene schlechtern Glieder, Hande, Fiisse pp., sondern das
edlere und gefiihlv oiler e, namlich die Zunge in BeWegung sezen,
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 815
und durch den Mund den edlen Regungen der Lunge Luft ver-
schaffen und kurz die bessern und geistigern Geschopfe unsers
Willens in eben so guten und geistigen Korpern, namlich in
Worten zur Welt bringen konnen - sol ich erst hinzusezen, daB
aber das Thier wegen des Mangels der Sprache ewig unter die-
sem Grade der moralischen Vervolkommung bleiben mus? In-
dessen ist es gleichwol sehr nach meinem Geschmakke, wenn
ich bei Hern C. G. Berger Iese, daB die Thiere sonst wirklich
im Besize von diesen menschlichen Volkommenheiten der
10 Zunge waren, von denen sie nur durch ihren Sundenfal herabge-
sunken. Der Glaube an eine ehmalige Sprachfahigkeit der Thiere
. war schon eine meiner Lieblingsmeinungen, eh* ich sie noch
von Hern Berger bewiesen las und nicht sowol dem Plato als
der Bibel verdank' ich sie, deren Winke hieriiber so leicht auszu-
legen sind, daB man in der That sich ein wenig wundern mus,
wie die grosten Manner so lange neben das Ziel hatten vorbei
schiessen konnen. Denn das erste Buch Mose machet uns mit
einer Schlangebekant, die (wenn wir nicht unsere Augen Liigen
strafen wollen) so gut wic einer von uns alien, sprechen konnen
20 und es hat uns eine Rede von ihr aufbehalten, aus der ich, wiewol
ich aller orientalischen Sprachen, vollig unkundig bin, doch ver-
mittelst meiner gesunden Vernunft soviel sehr deutlich sehe,
daB sie das Hebraische, welches sogar unsere geschiktesten Kan-
didaten wegen seiner ausserordentlichen Schwierigkeiten nicht
mehr zu erlernen vermogen, mit einer seltnen Leichtigkeit und
in einer besondern Reinheit gesprochen; und es ware zum Vor-
theil aller Damen sehr zu wiinschen, (wiewol ich mir wenig
Hofnung dazu mache) daB unsere Autoren fur Damen und un-
sere Papageien ihre Sprache nur halb so rein und deutlich reden
30 lernten als die Schlange die ihrige sprach. Natiirlich hatte (wie
ich dem Leser nicht erst sagen darf) nicht diese allein die Gabe
der Sprache: keinem einzigen Thiere fehlte sie und die Affen
und Fische waren damals so wenig stum als iezt die Menschen,
die ihnen in anderen Stiikken gleichen. Folglich war in iener
goldnen Zeit auch des Thieres Zunge zu den tugendhaften Be-
wegungen und Handlungen geschikt und aufgeleget, die iezt
8l6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
nur die unsrige adeln; und in diese Sprach- oder Tugendfahigkeit
mus man das Ebenbilddcs Menschen sezen, das dieThiere damals
noch an sich trugen. Allein ungliiklicher Weise verloren sie es,
wie wir das gotliche, beinahe ganz, wenn ich einige schwache
Ziige ausnehme, die sich davon noch in den Papagaien, Staren
pp. erhalten haben. Die Schlange namlich, die wegen ihrer ge-
schwindern und mithin moralisch bessern Zunge das Bundes-
haupt der (ibrigen Thiere vorstellen muste und durch die Art,
wie sie sich aus der Probe ihres Gehorsams zog, das Schiksal
aller andern entscheiden soke, fras unbesonnener Weise von dem 10
verbotenen Baume und verdarb durch seine Frucht sich und
alien iibrigen Thieren die Sprach- und Tugendwerkzeuge ganz
und gar, wie es der Augenschein noch ieden Tag uns sehen
lasset. Dieses stehet zwar nicht alles in der Bibel; allein ich trage
es ia doch hinein und nun wird es hoffentlich der Leser darin
stehen finden: es ist dieses (beilaufig zu sagen) eine Geschiklich-
keit, in der ich wimschte, daB mehrere mir nachschliigen und
zu der man iunge Theologen mehr als zu etwas anderem wegen
ihres eignen urid des Nuzens ihrer Lehrsaze anfiihren solte, weil
doch wirklich die Kunst, in der Bibel auszulegen was schon 20
da ist, gegen meine, in sie etwas hineinzuspielen was noch gar
nicht da ist, in keine Betrachtung weder des Nuzens noch der
Schwierigkeit zu kommen verdienet, so wie etwan die Kaldaer,
welche die Traume des Nebukadnezars bios auszulegen ver-
standen, unerreichbar weit von dem Daniel zurukgelassen
wurden, der sie vorher errathen und erschaffen konte eh' er sie
deutete.
Ich gehe in Begleitung des muntern Lesers von den Thieren
zu den Wilden fort, deren schimpfliche Nachbarschaft mit ienen
so wie ihr geraumiger Abstand von uns sich nur gar zu deutlich 30
aus ihrer Unfahigkeit oder wenigstens aus ihrer Verdrossenheit
zu denienigen Thatigkeiten zu errathen giebt, welche der
menschlichen Zunge von der Tugend vorgeschrieben werden.
Fast immer sezet der Wilde an den Plaz der feinen Worte nichts
als rohe Handlungen, weil seiner naturlichen Tragheit die An-
strengung des Geistes, die zu ienen gehoret, beschwerlicher an-
UBER DIE MENSCHLICHEN.TUGENDEN 817
komt als die Anstrengung des Korpers, welche diese erfodern.
1st es daher zu verwundern, wenn vor Zeiten Pabste selber diese
Ahnlichkeit der Wilden mit den Thieren so auffallend gefunden,
daB sie dieselben ohne Bedenken in die Klasse der Affen herun-
tersezten* an welchen sich eine ahnliche Stumheit und eine ahnli-
che Beweglichkeit der iibrigen Glieder zeiget? Ich kan auch die-
ses Urtheil der Pabste oder vielmehr des Pabstes Zacharias nicht
so lacherlich finden als es einige zu thun beliebten: denn ich
sehe, daB dasselbe offenbar wenig oder nicht von dem verschie-
10 den ist, das die Wilden selber iiber sich fallen, wenn sie die
Thiere fur wahre Menschen erklaren. Aus allem ergiebet sich
soviel, daB die Tugend der wilden Volker noch nahe an die
der Thiere stosse und diese selten so weit zuruklasse, oder der
unsrigen so nahe komme, daB sie stat blosser Handlungen Reden
und Worte hervorarbeitete.
Denn diese hohere Tugend ist beinahe bios ein Werk der Ver-
feinerung und wenn die Wilden iezt hie und da anfangen (ich
wunsche nur, daB diese Nachricht sich bestatiget), von ihrer
Zunge einen haufigern und tugendhaftern Gebrauch zu machen
20 als vorhin, so diirften wol wir Europaer unsern Umgang mit
ihnen fur die erste Ursache dieser Verbesserung, die allein sie
fur die von uns erlittenen Drangsale und Ungerechtigkeiten
reichlich schadlos halten kan, ohne Selbstpartheilichkeit ausge-
ben konnen. Eben so saget auch Buff on, daB die Hunde das
Bellen lediglich unter polizirten Volkern erlernet haben, unter
wilden aber (in warmen Lander n) in der Sprachlosigkeit verblei-
ben, fur die ihr Fleisch, das dort genossen werden kan und unse-
rem guten Schafiltisch in keinem Stiikke weichet, eine schlechte
Vergiitung gewahret. - Uberhaupt mus ich eine Anmerkung
30 machen, die meines Erachtens allein hingereichet hatte, den
milzsuchtigen Streit iiber den entschiednen grossen Werth der
Verfeinerung auf einmal abzuthun: namlich in eben dem Grade,
als die Menschen sich aufklaren und denken lernen, wird es
ihnen einleuchtend, daB fast liberal die Sache gegen ihren Namen
in gar keine Betrachtung zu kommen verdienet, und in eben
diesem Grade wachset ihre Willigkeit, diesem den Vorzug vor
8l8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
iener zu lassen - und diese Willigkeit erstrekken sie nicht auf
geringfiigige, sondern auch auf die wichtigsten Dinge bis sogar
auf Kentnisse und Tugend. Hoffentlich sol es mir an Beispielen
nicht mangeln. An keinem einzigen Hofe fehlen den Amtern,
deren Verwaltung unthulich, lacherlich oder veraltet ist, wol
die Namen oder die Manner, die sie mit dem grosten Ruhme
verwesen. - Die Hofe erlassen sich die Wirklichkeit der Versiche-
rungen und Entschuldigungen, die sie sich gegenseitig bei ge-
wissen Umstanden machen, einander gern: aber es sei feme/
daB die von beiden Sei ten verziehene Grundlosigkeit derselben 10
sie auch gegen deren Nennung gleichgiiltig machen soke; viel-
mehr haben sie stets Nachlassigkeiten in der leztern mit den
blutigsten Kriegen geahndet. - Es ware schlim fur die Philoso-
phic, wenn ihr ganzer Reichthum sich auf blosse Begriffe ein-
schrankte, die im Grunde nur fur eine blosse Zulage zu ihrem
weit grosseren Schaze gelten konnen, der lediglich aus Wortern
bestehet. Noch,schlimmer ware es fur dieienigen Philosophen,
die zu neuen Erfindungen untiichtig sind, wenn ihnen die Natur
mit der Fruchtbarkeit an diesen auch zugleich die weit muhlosere
Fruchtbarkeit an Namen versaget hatte, durch welche alte Erfin- 20
dungen mit dem Scheine neuer und eigner aufgestuzet werden
konnen. - Einem ieden, seine Sache mag auch noch [so] sehr
die Richter fur sich und das Recht wider sich haben, liessen
gleichwol die Geseze, in Betrachtung daB oft die ungerechteste
Sache aus Schuld des Advokaten oder des Richters verloren ge-
hen kan, zur lezten Zuflucht die wolthatige Erlaubnis (ibrig,
dieselbe Klage, die unter einem Namen verloren worden, unter
einem andern wieder anzufangen und hernach zu gewinnen.
- Der Theolog hat von ieher bei allem Eifer, mit dem er seine
Feder zur Vertheidigung der Wahrheit in Bewegung sezte, sie 30
dennoch von dem warmen Schuze ausgeschlossen, in den er
nur gewisse Worter auinahm, als zu deren Ausbreitung er weder
Kriege noch Flammen sparte. - Ferner: man kan zum Ruhme
der deutschen Akademien ohne Zweifel annehmen, daB fast auf
alien gewisse Professoren dazu besoldet werden, daB sie iedes
halbe Jahr das Versprechen, Kollegien in alien Wissenschaften
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 819
zum Besten armer Studenten gratis zu lesen, sowol gedrukt als
geschrieben von sich geben und erneuern. - Welcher Freund
des Wizes wird nicht .an unsern guten Schriften den Titel dem
iibrigen Inhalte vorziehen? so wie einer, der in Italien Spuren
der romischen Grosheit suchet, sie nicht an den Italianern selber
sondern in ihren Namen suchen und finden wird, als welche
meistens »Zasar« oder »Kato« oder »Zizero« pp. heissen; oder
so wie ich neulich von einem sehr weitlauftigen Anverwandten
von mir, an dem ich lange alle Zeichen der Gottesfurcht vermi-
to ste, auf einmal besser zu denken anfieng, da ich mit besonderem
Vergniigen wiewol nicht ohne Miihe ersah, daB er mit seinem
Namen, den ich an dem Galgcn geschlagen erblikte, sich Furch-
tegot schreibe. - Es ist sehr schwer, ich hatte beinahe gesaget
unmoglich, iiber ein Buch ein strenges oder gelindes, ein nach-
theiliges oder vortheilhaftes Urtheil mit einiger Richtigkeit zu
fallen, so lange man iiber den Namen seines Verfassers noch
nicht zur Gewisheit gekommen ist; wenigstens las ich neulich
zweihundert neue Biicher mit innigem Vergniigen, die mir iezt,
da ich die Namen ihrer Verfasser ausgeforschet habe, nichts
20 anders als unsinnig und abgeschmakt vorkommen konnen, so
wie ich vor vierzehn Tagen den Fuchs, den ich in der von einem
meiner warmsten Freunde mir aufgehefteten Meihung, in ihm
einen Hasen zu speisen, mit mehr als gewohnlichem Appetite
aufgezehret hatte, kaum daB mir der wahre Namen meiner
Speise hihterbracht war, sogleich mit unglaublichem Ekel wie-
der von mir spie; ein Ekel, der sich iezt zu meinem grosten
Verdrusse auch auf alle Hasen erstrekket. Oder auch umgekeh-
ret brauche ich bei guten Biichern nichts als eine vorlaufige
Nachricht vom Namen ihres Verfassers, um so fort in den Stand
30 gesezet zu sein, aus ihnen das Vergniigen zu schopfen, das sie
mir und iedem andern, an welchem die Natur einen feinen Gau-
men nicht ganz vergessen hat, so reichlich anbieten: - und nur,
um zu keinem Verdachte der Eitelkeit Ursache zu geben, unter-
lasseiches hier, von meinem korperlichen Gaumen ein Gleiches
zu riihmen, den ich ohne Bedenken iiber ieden andern Gaumen,
hatte man ihn auch von zwei und dreissig Ahnen geerbet, hin-
820 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
wegseze, weil ich ihn alzeit vermittelst einer Zurechtweisung
durch den Linnaus sehr Ieicht dahinbringe, daB er sich an den
Insekten und dem Ungeziefer, das auf vornehmen Tafeln zum
Frasse fur ahnliche figiirliche Frosche, Schnekken u.s.w. aufge-
tragen wird, ausserordentlich labet und lezet. - Der Offizier
von guter Geburt, guter Erziehung und gesunden Grundsazen
wird eben so viel Bedenken tragen, sich der Ausubung der Tu-
genden, worinnen die eigentliche Ehre bestehet, mit Preisge-
bung seines Lebens zuunterziehen, als er mit Vergniigen iede
Gelegenheit ergreiffen wird, fur den Namen der Ehre, fur welche 10
er ein eben so feines Gefuhl als fur die Karten hat, erstochen
oder erschlagen zu werden und sich zum Martyrer desselben
machen zu lassen. - Ich konte der Beispiele noch weit mehrere
zusammentragen, aber hoffentlich reichen auch schon diese zu,
von den nur zu oft verkanten Wirkungen der Aufklarung einen
unpartheiischern Begrif zu geben.
Keinen geringern Einflus nun aussert die Aufklarung oder
Verfeinerung auch auf unsere Tugenden. Denn so wie sie alle
Sinnen entkraftet und alle Glieder brandschazet, um den Kopf
im Denken durch die Krafte des ganzen Korpers zu unterstiizen, 20
so machet sie auch mit der Tugend gemeinschaf[t]liche Sache
und entnervet zu ihrem Behuf Hande und Fusse, driikket und
sauget das Herz aus, fanget sogar dem Gehirne die Lebensgeister
ab und entwendet dem ganzen Korper die durch ihn verstreueten
Krafte zur Tugend, um sie alle auf die - Zunge zu Haufe zu
fiihren, iiber deren gliikliche Leichtigkeit, edle Thaten zu edlen
Thaten zu fiigen und iede Viertelstunde mit einer neuen tugend-
haften Thatigkeit, mit der sie sowol dem Nebenmenschen als
ihrem eigenen Besizer den grosten Nuzen verschaffet, zu be-
zeichnen, man sich dan freilich nicht mehr zu verwundern hat. 30
Nur einige Beispiele. Der Verfeinerung des Korpers und der
Sele haben wir es zu danken, dafl nun die Damen nicht mehr
selten sind, die der vertu, den sentiments und dem honneur
Plaz auf ihrer Zunge geben und sogar bei den sieghaftesten Ver-
suchungen, hatten sie auch schon iiber den bessern Theil ihres
Wesens den Meister gespielet, doch der Keuschheit noch den
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 821
besten, die Zunge, unerobert erhalten; eine Tugendhaftigkeit,
von der uns Crebillon in iener Dame, die ein Bet zum Schauplaz
und einen Marquis zum Ohrenzeugen des ausserordentlichen
Sieges machte, den ihre Zunge iiber den untugendhaften Wider-
stand der Gelegenheit und iiber das feige Beispiel ihres ubrigen
Selbsts davontrug, ein sehr schones nur vielleicht aber zu vol-
kommenes Bild entworfen hat. - Hatte weiter die Verfeinerung
nicht die Krafte der aussern Glieder, die wir sonst zur Rettung
des Elenden aufboten, samtlich in die Zunge zuriikgezogen,
io wiirden wol iezt die Beispiele von Personen so haufig sein als
sie gotlob! wirklichsind, welche eben dieses sonst so menschen-
feindliche Glied ganzlich der Wolthatigkeit und dem Dienste
der Ungliiklichen widmen? Wenigstens wiirden wir dan in die
Zahl dieser Menschenfreunde dieienigen nicht sezen kdnnen,
die dem Merkur (dem Got der erlaubten und der unerlaubten
Handelschaft) ihren Kopf und ihre Hande heiligen; und die
gleichwol iezt ihr besseres Glied, das die Alten sonst eben ihm
geweihet hatten, die Zunge, gerade seiner Feindin, der Freige-
bigkeit, geloben und den Leitungen derselben iiberlassen. -
20 Die Verfeinerung bedienet sich ausser unsrer Schwachung
noch eines andern und gliiklichern Mittels, tugendhafte Hand-
lungen zu tugendhaften Reden zu veredeln und zu entmannen.
Es giebt namlich eine gewisse Aufklarung, die weniger das Licht
als der Schimmer gewahret und welche die einzige ist, die Perso-
nen von hohem Range angemessen, zutraglich und wilkommen
ist. Diese Aufklarung stellet gleich dem brennenden Brandte-
wein, in den man Salz geworfen, alle Gegenstande, worauf ihr
Schimmer fallet, und besonders die menschlkhen Tugenden in
einer angenehmen Todtenfarbe dar und bildet die moralischen
30 Skeptiker an den Hofen, welche die Tugend so geschikt zu zer-
gliedern und ihr die Reize so scharf abzulosen und abzuziehen,
die Siinde hingegen mit so modischen Schonheiten aufzupuzen,
mit so naturlicher und schamhafter Rothe neu zu bewerfen und
mit so unschuldigen goldnen Augen auszulegen wissen, daB
wirklich dadurch der ganze Unterschied der Gestalt, den die
Empfindung anfangs zwischen beiden finden wollen, gliiklich
822 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
aufgehoben und fiir den Unparthehschen nun weiter keine
Griinde mehr vorhanden sind, warum er die erstere lieber als
die andere umarmen soke. Noch weit mehr aber ist iene Philoso-
phic zu der einem weisen Manne so anstandigen Kalte und
Gleichgiiltigkeit gegen Laster und Tugend behiilflich, wenn
man von ihr in iedem besondern Falle Gebrauch machet: denn
ich behaupte, daB ein geschikter Kopf, sobald er sich iiber sein
Gefiihl hinweggesezet, aus iedem vorkommenden Falle eben
so viel Umstande, welche die eine Entschliessung, als solche,
welche die entgegengesezte rechtfertigen, auszuklauben ver-
mag; und ich sage hiemit nichts als was die Juristen schon langst
in Ausiibung gebracht, wenn sie durch einen scharfsinnigen aber
bescheidenen Gebrauch des Grundsazes: »der kleinste Umstand
andert die Sache« von Fallen, welche das Gesez offenbar unter
seinen Worten mit begriffen hatte, sehr gut ins Klare sezten,
daB es sie keinesweges darunter begriffen haben konne. Ist man
aber einmal so gluklich, daB man den moralischen Werth der
Handlungnicht mehr herausbringen kan: dan ist man geborgen;
denn man hat dem sogenanten (mir Iacherlichen) Gewissen sei-
nen Willen gelassen und es mus nun der Begierde und der Lei-
denschaft zurukken und Plaz machen, welche das votum deci-
sivum giebt. Ich glaube dieses als den einzigen Weg (wenigstens
wiinschte ich einen andern zu kennen) den Lesern empfehlen
zu diirfen, auf welchen man, ohne das Gewissen im geringsten
zu verunreinigen, von seinen Tugenden in lauter Handlungen
ausruhen kan, die an sich betrachtet den Strang ganz wol verdie-
nen mogen. Oberhaupt diinkt mich lasset sich dieser Philoso-
phic die Tiichtigkeit wol nicht absprechen, kalte und denkende
Manner durch die vortheilhafte Beleuchtung, die sie ihren laster-
haften Entschlussen giebt, einigermassen fiir den freilich glan-
zendern Firnis zu entschadigen, womit die warmere Leiden-
schaft eines andern solche iiberstreichen wiirde. - Ich brauche
kaum zu erinnern, daB die Verfeinerung durch diese Kalte die
Sache der Tugend nicht' wenig befodere: denn indem sie alle
Warme aus der Nachbarschaft der Zunge, aus Kopf und Herz
gluklich vertreibet, blaset sie dieselbe auf die Zunge selbst zu-
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 823
sammen und erwarmet diese in eben dem Grade fiir die Tugend,
in welchem sie das Herz dafiir kalter machet. Vielleicht klaV
ich dieses durch ein Gleichnis auf . In einem eingefrornen Wein-
fasse hat der Frost bios die geringern, geistlosen aber zahlrei-
chern Theile des Weines verhartet und die wenigen geistigern
und hizigen in einen kleinen Raum zusammengetrieben; allein
alle Kenner lassen sich uber das Feuer eines solchen Weines mit
ausserordentlichenLobspriichenheraus. Sezet nicht eben so die
Kalte fiir die Tugend, sobald sie sich einmal aller Glieder eines
10 Mannes bemeistert hat, die Zunge desselben in den gliiklichen
Stand, von ihr mit der grosteri Warme zu sprechen und es hierin
ienenschwachern Geschopfen weit zuvorzuthun, die uber die
durch ihr ganzes Wesen verstreute Tugendwarme gerade das
Wichtigste vernachlassigen namlich den Ausbruch derselben in
- Worte?
Vielleicht hab' ich schon mehr gesaget als es nothig war, um
Leser, die selbst mit denken, zu iiberzeugen, daB die Verfeine-
rung der hohern Tugend und ihrer Ausubung durch Worte wi-
der die algemeine Meinung unglaublich vortheilhaft und gewis-
20 sermassen unentbehrlich sei. Indessen mus ich es doch noch
an einem auffallenden Beispiel den Leser bemerken lassen, wie
wenig da, wo die niedere Tugend, die sich mit Handlungen
abgiebet, herschend ist, die Verfeinerung bestehen konne.
Namlich sogar der feinere und vornehme Man mus den Karak-
ter, durch den er sich vom Pobel unterscheidet, auf einige Zeit
ablegen und vergessen, wenn er zu einer tugendhaften Handlung
sich herunterlassen wil. Eben er, der z. B. die Wolthaten, die
er euch durch seine Zunge (das Werkzeug der hohern Tugend)
zufliessen lasset, mit so vielen Feinheiten zu begleiten und zu
30 erhohen weis, eben er mus sich beinahe zur Pobelhaftigkeit und
Grobheit zwingen, sobald er mit seinen Handen (den Werkzeu-
gen der niedern Tugend) dem Geringern eine Wolthat ertheilet
- ein deutliches Anzeichen, wie sehr der feine Man sich durch
tugendhafte Handlungen aus seinem Elemente verirre, und ein
bedeutender Wink an ihn, sie lieber ganz den niedern Standen
zu iiberlassen, die ohnehin zu etwas Edlerem wenig Ansaz zei-
824 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
gen. - Ubrigens mag der Leser selbst den Ausspruch thun, ob
es fur tugendhafte Handlungen ein sehr giinstiges Vorurtheil
erwekken konne, wenn man siehet, daB sie nirgends als bei ge-
ringen und unaufgeklarten Leu ten angetroffen werden; ich fur
meine Person habe schon Parthei genommen.
Jezt soke ich von der Zunge auf das Gesicht ubergehen; allein
ich habe noch vorher dem Leser erstaunlich vieles zu sagen,
durch das ich nicht ohne Grund verhoffe, die magern Kentnisse
desselben auf einen merklich bessern Fus zu sezen.
Erstlich mus ich eine Klage des Helvetius wieder aufwarmen.
Denn so wird man es nennen, wenn ich bittere Beschwerden
iiber die Nachlassigkeit fuhren werde, mit der man die Kinder
zur Tugend anleitet. Es ist sonderbar, daB man sie alles lehret
und nur die leztere nicht. Man kann aber zur Entschuldigung
wenigstens nicht die Unreife der Kinder zu einem solchen Un-
terrichtc vorschuzen: denn ihre Zungen, welche die schwersten
Wissenschaften so leicht zu fassen und sich ihrer Kentnisse zur
rechten und gesezten Zeit so reichlich wieder in erwachsene
Ohren zu entledigen vermogen, sind mi thin auch nicht zu iung
und zu unfahig, mit dem besten Erfolge zu tugendhaften Bewe-
gungen und Geschiklichkeiten abgerichtet zu werden; und oft
wenn ich unmiindige Kinder in f einen Geselschaften, denen sie
iezt beinahe so unentbehrlich geworden als den Pantomimen,
schwere und sogar einem Erwachsenen nicht Schande machende
Proben von ihrer praktischen Einsicht in die Komplimentir-
kunst ablegen horte: so konte ich mich nicht enthalten zu den-
ken: eben so fruchtbar als an Komplimenten wiirden diese un-
miindigen Zungen auch an alien Tugenden sein, wenn man sie
auch zu diesen angefuhret hatte. Und dan lasse ich einen heimli-
chen Seufzer iiber das Schiksal der Tugend fahren. - Auch darf
ich wol noch hinzusezen, daB die Tugend doch warlich wichtig
genug ist, daB man das Kind in die moglichstfruhe Bekantschaft
mit derselben bringe und in das Siegellak seines Herzens, bevor
es hart und kalt geworden, ihren Namen driikke; und die feinere
Welt verlache mich immer, ich werde dennoch stets behaupten,
daB alle Tugenden und besonders die modischen wegen ihrer
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 825
ungemeinen Wichtigkeit, den Zungen der Kinder gelaufig ge-
macht zu werden, vollig eben so sehr verdienen als nur immer
ein modisches Kartenspiel verdienen mag, den Fingern dersel-
ben beigebracht zu werden. Warum machet man sich nicht we-
nigstens die neuen Fusstapfen mehr zu Nuze, die einer unserer
grosten Padagogen hierin nachgelassen? Ich meine unter diesem
Padagogen mich selber. Ich habe namlich den Unterricht im
Spiel mit dem Unterrichte in der Tugend bei meinen Kindern
sehr geschikt verbunden. Etwas Volstandiges von dieser Ver-
io bindung kan ich zwar hier nicht mittheilen und ich mus den
ungeduldigen Leser deshalb auf meinen iezt auf der ordinairen
Post zu habenden Traktat hievon vertrosten, der hoffentlich in
kurzem seinen Verleger finden wird, da er nun schon von
mehr als einem Schokke derselben abgewiesen worden. Indes-
sen mag doch ein schoner Gedanke desselben (Siehe Seit. 31.)
hier stehen und den Leser auf das Ganze lustern machen: Sie
miissen, sag' ich zur kleinen Jeannette wiewol in einer kindi-
schern Einkleidung, tugendhafte Reden eben so geschikt an die
S telle tugendhafter Handlungen zu sezen wis sen als Spielmarken
20 an die Stelle des Spielgeldes: denn so wie keine verniinftige und
dabei sparsame Dame dem Hern, bei dem sie verlor, den Ge-
winst wol in etwas anderem auszahlen wird als in Spielmarken,
und wie sie auch hier das Privilegium ihres Geschlechtes, frei
auszugehen, geltend machen wird, es miiste denn der Chapeau
(auf deutsch der Hut, denn der Man ist des Weibes Hut und
gleichet dem Chapeau parasol des Hern Hautrey) aus einem
unersatlichen Geize weder nach dem Privilegium noch nach der
Galanterie etwas fragen wollen; eben so mus sie den tugendhaften
und der Schonheit und Schwache ihres Geschlechtes gleich sehr
30 angemessenen Gebrauch, den sie von ihrer Zunge machet, wei-
. ter auf keine andern Glieder ausdehnen. - Den Knaben ermahne
ich, sich fur die Wolthaten, die er vermittelst seiner Zunge dem
Nebenmenschen angedeihen lasset, wieder an dem Beutel des-
selben durch das Spiel bezahlet zu machen, das noch keinen
zu Grunde gehen lassen, der sich nun unermudet beflissen, dem
gesunknen Gliikke stets die Hand und die empfindsamen Finger
826 JUGENDWERKE * 3.ABTEILUNG
zum Aufstehen zu bieten. Davon nehme ich Anlas, ihm vorzu-
halten, daB er fur die sichtbaren Nachlassigkeiten, die sich die
Damen im Spiele unter dem Schuze unserer galanten Versohn-
lichkeit beigehen lassen, sich nur durch unsichtbare einigermassen
wieder entschiidigen konne, wodurch man nicht sogleich (wie
nur Einfaltige glauben) den Namen eines Beutelschneiders ver-
dienet, indem sieoffenbar mehr auf die Auslerung als Abschnei-
dung des Beutels abgesehen sind. - Auf diese seine und von
mir so oft bewunderte Art weis der gedachte, des Drukkes so
wiirdige Traktat die Kinder im Spiel und in der Tugend auf 10
einmal zu unterweisen und sie in dem erstern Belohnungen und
Aufmunterungen fur die leztere bemerken und samlen zu lassen .
Wenn der Dichter nicht Unrecht gehabt zu singen:
ein Wahn, der uns begliikt
1st eine Wahrheit werth, die uns zu Boden driikt;
so darf ich dreist mein System von der menschlichen Tugend
iiber iedes andere und der Wahrheit vielleicht sonst nahere stel-
len: denn ich kenne wenigstens keines, aus dem eine grossere
Zufriedenheit mit unsern Tugenden und mit unsern Anlagen
dazu sich schopfen liesse wie aus meinem. Wir wollen uns bei 20
alien Moralisten nach unserem moralischen Werthe erkundigen,
so werden sie uns samlich mit der Versicherung von sich lassen,
daB wir gerade soviel Tugenden haben als man etwa nach Mo-
liere vonnothen hat, um nicht gehangen zu werden - und dazu
braucht man nun von Tag zu Tag zumal bei der Vorsprache
modischer Laster immer wenigere. Horen wir hingegen auf
mich, so war die Welt wol nie mit einer so reichlichen Anzahl
Tugenden versorget als eben in unsern Tagen, selbst die Zeiten
vor Adams Geburt nicht ausgenommen. Denn der Leser iiber-
zahle nur die fremden und seiner eignen Handlungen Eines Ta- 30
ges, die mein System unter die edlen sezet, so wird er finden,
daB deren eine erstaunliche Menge sind, und daB er allein mit
der Zunge mehr Gutes gethan, als eine ganze Kirche vol mit
andern Gliedern. Am Morgen hat er einen ungliiklichen Freund
durch ein uneigenmiziges Versprechen einer Hiilfe, die sogar
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 827
iiber seine eignen Krafte gehet, wieder aufgeheitert. Zu Mittage
hat er den Grol gegen einen alten Feind so gluklich zum Schwei-
gen gebracht, dafi er ihm ohne Anstos zu der vortheilhaften
Veranderung seiner GliiksUmstande gratuliren und mit ihm die
herzliche Sprache der Versohnlichkeit fertig reden konnen. Im
Konzerte lies er den Regungen der Weihherzigkeit, die von der
Musik erwachte, vor den Ohren des Hern, der Dame und der
zwo iungen Schonen, die er alle vorher seinem Berufe nach
(denn er ist ein Lotteriekollekteur) mit unglaublicher Miihe (iede
10 Person insbesondere) beredet hatte, ihr weniges Geld in einem
Zahlenlotto sehr gut anzulegen, den freiesten Lauf und trieb
den schamlosen Spot, dem er durch seine Empfindungen sich
Preis gab, durch nichts als eine edle Gleichgultigkeit zuriik. Und
so denn weiter fort bis zu Nachts um zwolf Uhr. Eben so
viele, wo nicht mehrere gute Handlungen hat der Leser auch
seine Bekanten veruben sehen. Noch mehr: sogar eben die Tu-
genden, die andre Systeme fur die seltensten erklaren, machet
meines zu den gewohnlichsten, und Uneigenniizigkeit, Stand-
haftigkeit, Offenherzigkeit, die nach einigen wirklich der Astraa
20 sollen nachgezogen sein, kan man nach meinen Grundsazen
nichts als gerade fur die treuesten Gespielinnen unserer Zungen
ansehen; wenigstens verlieren sich die Unbesonnenen immer
mehr, die durch ihr eignes prahlerisches Zeugnis sich selbst aus
der Zahl der Tugendhaften stossen. Aber was auf einmal fur
unsere Tugend entscheidet, ist unstreitig dieses: Die Schriftstel-
ler, auf deren Vortheil (beilaufig zu sagen) in guten Staaten ganz
besonders soke gesehen werden, weil sie offenbar (aber man
erwaget dieses nicht genug) nicht zum Lehr-, sondern zu dem
weit niizlichern und grossern Niihrstande miissen geschlagen
30 werden, haben sich durch glukliche Fiigungen in unsern Tagen
ungemein vermehret und noch weit mehr sie die Bucher. Bei
dieser gliiklichen Schaar schreibender Wesen vertrit nun die Fe~
der die Stelle der Zunge und die Tugenden, deren Werkzeug
bei andern diese ist, sezen wir in Wirklichkeit durch iene. All ein
mit einer edlen Kekheit darf ich versichern, dafi wir Schrif tsteller
beinahe keine einzige Aufopferung (und ich nehme hievon auch
828 _ JUGENDWERKE ' .3. ABTEILUNG
nichts aus als wizige Einfalle) scheuen, welche der Tugend von
unserem Kiele dargebracht werden mus. Welche reine Unei-
genniizigkeit, welche patriarchische Offenherzigkeit, welchen
deutschen Freiheitssin legen wir nicht in unsern Werken an den
Tag, in den prosaischen sowol als in den poetischen! Die Tole-
ranz, die vielleicht schwerer zu beobachten ist als man denket,
ist gleichwol unter uns kein Phonix und sie m angel t keiner einzi-
gen von unseren Schriften als bios den Rezensionen und Wider-
legungen. Wenn man dem Bekkaria nachsaget, daft er einmal
um die widerrechtliche Folterung des Anfiihrers der Rauber an-
gehalten, die seine Gemahlin in einige Gefahr gesezet hatten:
so mus man auch auf der andern Seite nicht zu ruhmen verges-
sen, daB er vorher einen Traktat ediret hat, worin er eben dieser
Folter das Wort gar nicht redet und in den er vielmehr aus alien
Autoren die Griinde mit unglaublicher Miihe zusammengetra-
gen, die sowol die Grausamkeit als die Untauglichkeit dieses
alten Mittels zur Entdekkung der Wahrheit ins Licht zu sezen
dienen. Man siehet hieraus wenigstens soviel, daB wir Schrift-
steller in iedem unserer geistigen Kinder der Welt einen Sokrates
erziehen und schenken und daB es folglich beinahe soviele Tu-
gendhafte als Bucher giebt.
Auch hat mein System vor andern die Aufmunterung zur
Tugend und die Erleichterung derselben voraus. Man er-
schwerte uns bisher durch unreife Foderungen den Aufflug zum
Himmel muthwillig. Und wie konte es auch besser kommen?
Einmal hatten die Moralisten die Schranken, in welche die Natur
unsere Tugend eingeschlossen, in der besten aber nicht in der
verniinftigsten Absicht vernikket. Es schien ihnen nicht mehr
wiirdig genug, daB wir dem Himmel von uns nichts als die
Zunge opfern solten, so wie etwan die Anwohner der Hudsons-
bay von allem Viehe nichts speisen als die Zunge. Sondern sie
schlugen vor, zu Rekruten der Tugend auch die iibrigen Glieder
auszuheben, die doch alle - an das hatten aber die ehrsamen
Moralisten nicht gedacht - schon langst, schon in ihrer zartesten
Jugend unter die Fahneirgend einer Leidenschaft- das eine Glied
unter eine Sturm-, das andere unter eine Wetter-, das dritte unter
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 829
eine Feuer-, das vierte unter eine Kirchfahne- geschworen hatten.
Daraus entstanden nun in alien Fallen, wo die Tugend sich nicht
mit der Leidenschaft auf billige Bedingungen sezen wolte, die
traurigsten Verwirrungen, weil das Gliedmas dan nicht mehr
wuste, welchem von den zween Herren es gehorchen soke, von
denen ieder das Gegentheil befahl. Natiirlich wurde ieder dieses
einheimischen Haders sehr bald sat und die Entschlossensten
machten es wie iener vornehme Herr, der mir allegorisch versi-
cherte: er hatte der Tugend die zwo Kammern seines Herzens
10 zwar gerne gegonnet, weil er selbige ohnehin wirklich zu nichts
zu brauchen wuste; allein sie habe, so lange sie darinnen gewoh-
net, taglich ein solches Keif en verfuhret, (nicht zu gedenken,
daB sie das Miethegeld oder den Hauszins niemzh zu rechter Zeit
abgetragen,) daB er ihr wider Willen das Quartier aufsagen miis-
sen: iezt habe er es aber an ein Paar wolgezogne, iunge und
(der Kleidung nach) reiche Teufel vermiethet. Und in der That
verdenk' ich niemand diesen Entschlus, wenn ich mich in seine
Lage seze. Denn der Leser iibcrleg' es selbst: ob ich z. B. meine
Zufriedenheit wol auf einen bessern Fus sezen wurde, wenn
20 ich der Bescheidenheit, der ich gern einen Plaz in meinen Schrif-
ten ledig lasse, auch den abtrate, den in meinem Kopfe der
Hochmuth behauptet; und soviel kan ich schon ohne prophe-
tische Einsichten voraussagen, daB ich bei meinen knappen Ver-
mogensumstanden in allem Betrachte schlecht fahren wurde,
wenn ich oder meine Hande auch nur die geringste Ruksicht
auf die seltne Uneigennuzigkeit nahmen, von der iibrigens
meine Zunge und mein Kiel unausgesezet (allein ohne meinen
Schaden) so sehr Profession machen. Kurz der Versuch und
die Foderung einiger Philosophen, die Tugenden selber stat ihrer
30 Namen, womit man sich so lange die Welt stehet schon begnuget
hat, in den Gang zu bringen, ist um nichts verniinf tiger und
billiger als iene Neuerung einiger Philosophen in Lagado, die
(wie Gulliver in seinen Reisen erzahlet) urn ihre Lunge nicht
abzunuzen, im Gesprache die Dinge selbst anstat ihrer Benennun-
gen gebrauchten und iedesmal in Sakken die Gegenstande getra-
gen brachten, von und mit welchen sie einander unterhalten
83O JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
wolten. Irre ich mich nicht ganzlich, so hat Swift vielleicht hinter
dieser allegorischen Maske sogar eben den gedachten Moralisten
einen blutigen Hieb versezen wollen, den sie iibrigens nur zu
sehr verdienen. - Allein nun mein System! Dieses fiihret uns
zur Tugend auf einen merklich glattern und abschiissigern Weg.
Die edelste Handlung lasset sich mit einem Paar Bewegungen
der Zunge oder der Feder abthun und keine Neigung.wird da-
durch beeintrachtiget. Man kan vermittelst der Sprachwerk-
zeuge den Better mit einer reichlichen Gabe erquikken, ohne
durch unzeitige Wolthatigkeit entweder dem Eigennuze oder der 10
Obrigkeit des Ortes anstossig zu werden. Kein Alter, kein Stand,
keine Beschaftigung, kein Geschlecht und kurz nichts versperret
uns mehr den Weg zu unserer Veredlung. Besonders aber sind
die hohern Stande der Ausiibung der meisten Tugenden giinstig.
Daher ist der Posten eines Ministers so beneidenswerth; er, der
sonst zu denen Tugenden, die man sich durch andere Glieder
erwirbet, so sehr Muth und Gelegenheit benimt, wie sehr er-
muntert und hilft er nicht zu denen, bei welchen die Sprach-
werkzeuge Geburtshiilfe verrichten? Schauet auf zu dem erha-
benen Marine, wie er da stehet, und bald hier die wehrlose 20
Unschuld mit dem Versprechen des Schuzes oder der Errettung
aufgerichtet von sich lasset, bald dort dem unpolirten Ver-
dienste, das sich seine Belohnung unbesonnener Weise durch
eine arbeitsame Anschwellung derselben erschweret hatte, ein
der schopferischen Phantasie desselben so angemessenes und
wilkommenes Geschenk mit einigen bunten Traumen machet,
welche das besagte Verdienst mehr laben und bezahlen als alle
Wirklichkeit. Hier erwartet von seinem Munde ein Tapferer die
Belohnung der neuesten Wunden und dort giebt er dem abge-
mergelten Lande die bluhende Gestalt wieder - vor den Ohren 30
seines allergnadigsten Hern. Mochte dieser grosse Man nur aber
auch ein Horrohr besizen, das den entferntesten Seufzern des
Elends den Weg zu seinem Ohre bahnte; weil er sonst das
Sprachrohr sich ganz vergeblich angeschaffet, durch welches er
Linderung auf sie auszugiessen wiinschet.
Indessen wil gleichwol mein System von der menschlichen
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 83 I
Tugend nicht so ganz mit der Meinung harmoniren, die wir
uns gewohnlich von unserer Wiirde machen. Und ich fiihle das
selbst; allein ich weis, woher es komt. Von Jugend auf horen
und lesen wir von gewissen Patagonen der Tugend, von einem
Sokrates, Aristides, Kato, Antonin u.s.w., iiber deren Ver-
wandschaft mit uns wir Zwerge aufgeblasen werden und die
auch allerdings der menschlichen Natur viele und mehr Ehre
als alle franzosische Philosophen machen wiirden, wenn man
nur die Kleinigkeit erst ausser Zweifel gesezet hatte, dafi sie
10 - wirklich existiret haben. Allein zum Beweise ihrer Wirklich-
keit ist nur ungluklicher Weise wenig Hofnung und keine Mog-
lichkeit vorhanden. Man lese, allein man priife auch die Griinde,
welche der einsichtsvolle Pater Hardouin zum Behufe des Sazes
beigebracht, daB die Schriften, die wir den sogenanten Alten
zuschreiben, von Monchen des dreizehnten Jahrhunderts abge-
fasset worden. Die Wahrscheinlichkeit dieses Sazes ist von die-
sem Originalkopfe beinahe bis zur Handgreiflichkeit getrieben.
Ob es aber dan mit der Existenz der Tugendhaften, von denen
diese unterschobnen Schriften Erwahnung thun, anders als mis-
20 lich stehen konne, wird dem Leser seine eigne unpartheiische
Empfindung sagen. Doch wozu diese Ermiidung mit schwer-
falligen, historischen Untersuchungen? Man stelle nur die innere
Moglichkeit dieser Tugend-Muster selbst auf die Probe: sie wird
sie schlecht bestehen. Denn wie? die Existenz von Mannern ware
moglich, die in sich durch blosse Grundsaze eine immerwah-
rende sanfte Warme fiir die Tugend unterhielten, da doch sogar
wir, die wir unsere wilden Vorfahren so weit hierinnen zuriik-
lassen, alle unsere Tugend auf gahlinge Anstosse von guten
Trieben einschranken und schon mehr als zu gliiklich sind, wenn
30 wir es nur dahinbringen, dafi aus der Menge der Leidenschaften,
die iiber unsere Handlungen die nachsichtigste Aufsicht fuhren,
sich dan und wan eine hervordranget, die uns verminftigere
und der Tugend giinstigere Befehle zu volstrekken giebt? Wie
ferner? die Existenz eines Mannes wie Epiktet soke sich denken
lassen, der die Forderungen der stoischen Moral befriediget
hatte, da wir nicht einmal der christlichen sehr viel Gehor zu
832 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
geben im Stande sind, welche doch in allem Betrachte nicht
so geistig, nicht so urieigenniizig und nicht so schwer als die
stoische ist? Und es soke nicht ungereimt sein, Leute uns als
Meister der Tugend abzuschildern, welche doch meistens von
dem hochsten Range und von dem grosten Verstande waren?
- Es bleibt uns mithin kein anderer Ausweg aus diesen Wider-
spruchen offen, als daB wir (iber das Dagewesensein dieser Tu-
gendmuster unglaubig die Achseln ziehen. Denn die bekante
Ausflucht einiger Franzosen gefallet mir nicht, welche den Alten
stat des Daseins besser ihre Tugenden absprechen zu konnen 10
glaubten und z. B. die Ernsthaftigkeit und Strenge des Kato
an den Pranger stelten oder die Bereitwilligkeit des Sokrates
zum Tode in eine Furcht vor den Schwachheiten des Alters
verun[e]delten. Oder gefallet etwa doch meinem Leser das
gelbe, bittere, kriechende Unkraut, das mit seinen morderischen
Wurzeln die Wurzel der Eiche umstrikket und auszehret, urn
vielleicht den Gipfel derselben, dem es von unten die Nahrung
abschneidet, entkraftet sinken zu sehen? O meine Freunde lasset
uns nicht einmal die Schilderungen von diesen grossen Man-
nern, die nie gewesen, aus Neid beschimpfen, sondern lasset 20
uns den Agyptern gleichen, welche die Abbildung des vortrefli-
chen Phonix anbeteten, ungeachtet er weder unter ihnen noch
iiberhaupt existirte. Denn wir haben gegriindete Hofnung, es
diesen tugendhaften Undingen doch einmal noch gleichzuthun
und sie zu realisiren, und das sobald als wir werden - gestorben
sein. Unser ieziges Leben ist namlich eine bestandige Erziehung
und so wie es das erste und wichtigste Augenmerk eines guten
Unterrichtes ist, das Kind mit Namen und Wortern, zu welchen
ihm erst das reifere Alter die Begriffe und die Sachen schenket,
zu bereichern und zu iiberschutten, eben so leget unsere Bestim- 30
mung es uns hienieden auf, uns um den unverganglichen Schaz
von den Namen der Tugenden zu bemuhen und ihn nicht in
unser Gedachtnis zu begraben, sondern auf der Zunge wuchern
zu lassen. Allein so wie in dem Kinde zulezt die Worter zu Sa-
chen reifen, eben so werden auch wir endlich doch einmal nam-
lich nach dem Tode die Tugenden zugewogen bekommen, zu
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 833
deren Eintauschung wir uns hier mit einer grossen Menge ihrer
Nam en oder moralischen Papiergeldes sehr vorsichtig versehen
und belasten.
Der Leser solte iiber meine Fruchtbarkeit nicht so murren
als er iezt wirklich thut; ich kan unmoglich schon mit den ver-
sprochenen Betrachtungen iiber das menschliche Gesicht, her-
vorplazen: sondern ich mus ihn vorher noch mit einigen Ein-
schrankungen des Vorigen unterhalten, welche dazu dienen
sollen, alles das, was ich bisher von der Zunge geaussert und
10 bewiesen habe, vollig umzustossen.
Denn es gehoret das zartlichste und aufmerksamste Gefiihl
fur die Schiklichkeiten iedes Augenblikkes dazu, um der Zunge
nicht Tugenden entwischen zu lassen, welche dem andern unge-
legen kommen konnen. So erinnere ich mich noch ganz wol
aus meinen iiingern Jahren, da8 ich einmal dem Ansehen, in
welchem ich bei einigen Dame[n] stand, einen unheilbaren und
unverschmerzlichen Stos durch einige Zweideutigkeiten ver-
sezte, welche freilich die Muthmassung zu sehr begunstigten,
daB meine Zunge der Keuschheit obliege, ungeachtet ich doch
20 damals nicht vergessen hatte, ein Raar feine - Waden anzuziehen.
In unsern Tagen wiirde man noch mehr Anstos an iedem Gesel-
-schafter nehmen, der die Ausserungen der Zunge, welche unter
dem Namen keuscher Handlungen verhasset sind, nicht genug-
sam zuriikhielt. Selbst das schone Geschlecht machet in diesem
Falle keinen Gebrauch von unserer Nachsicht, die stets seinen
Abweichungen von der Mode zu Dienste stehet, sondern es
fallet gern in den algemeinen Ton der Zeit mit ein, mit welchem
altvaterische Ziichtigkeit der Sprachwerkzeuge von Herzen
schlecht zusammenstimmen wiirde; wiewol darum dennoch
30 keine rechtschaffene Dame den Versuch einer geschikten Ver-
schwisterung der Mode mit der Tugend unterlassen und keine
franzosische es vergessen wird, in dem Busen auf welchem stat
des veralteten Kruzifixes ein wol getroffener Priapus lieget, ein
weiches Herz fur das Bild der Tugend aufzusparen, das der Cha-
peau demselben einpraget wiewol leider in der rachsiichtigen
Absicht, die Tugend in ihrem Bilde zu beflekken und zu beleidi-
834 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
gen*; so wie etwan die irlandischen Damen das Bild des TwiB,
der sie in seiner Reisenbeschreibung verkleinert hatte, auf den
Boden ihrer Nachttopfe malen liessen, um sich taglich an dem
armen TwiB rachen zu konnen und ihn in effigie zu ersaufen.
- Oder ferner: kein Gesunddenkender wird sich die Tugend
der Menschenfreundlichkeit bei alten Richtern, noch die der
Versohnlichkeit bei iungen Offizieren anmassen und es war auch
ein fataler Verstos von mir, daB ich neulich bei einer hohen
(iedoch nicht erhabenen) Standesperson mich als cinen philoso-
phischen Verachter des Ranges anstelte, wiewol ich gegen die- 10
selbe keine Demuthigung vergas, welche den gefahrlichen Ein-
druk dieser Anstellung unkraftig machen konte. Daraus lasset
sich die Warnung ziehen, der Zunge keine edle Handlung zu
gestatten, welche nicht mit den gewohnlichen schlechten oder
guten Handlungen dessen, vor dem wir sie ausuben, eine
schmeichelhafte Ahnlichkeit und Verwandschaft hat. - Allein
wer denket gesezt genug, dieser Warnung eine pflichtmassige
Handlung aufzuopfern, so wie man einem Freunde einen wizi-
gen Einfal aufopfern sol? Haben nicht die meisten sich so wenig
in der Gewalt, daB sie den iiberfliissigen Kraften, welche ihre 20
Zunge zu einer tugendhaften Thatigkeit auffodern, duch un-
zeitige schone Handlungen Luft machen, welche der, so sie
anhoret, gar nicht erwartet und verlanget; so wie etwan
eine verderbte Orgel den Wind, womitman sie erfullet hat,
nicht wie eine gute durch stumme Ofnungen auslasset, son-
dern sofort mit ihm hie und da zerstreuete Pfeifen schreien
machet, ohne die Finger des Spielers zu erwarten, die ihr vor-
her die Tone anweisen miissen, die er -gern zu h'oren ver-
langet.
* Das folgende Gleichnis wird passender und bitterer ausfallen, wenn 30
ich den Leser erinnere, daB ich das Herz oder die Sele der meisten franzo-
sischen Damen an dem Orte ansassig glaube, an welchen schon Zechini
sie verlegte, siehe Bjornstahls Reisen B. II. Seit. 196. Daher kan auch
eine H-, wie die liaisons dangereuses sie schildern, ihrem Herzen oder
ihrer Sele Gefiihl und Empfindung ohne Bedenken zuschreiben, wiewol
auf eine unfigurliche Weise.
USER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 835
Ich darf daher aus diesen Schwierigkeiten wenigstens soviel
schliessen, daB die Tugenden sich gar nicht ins gemeine Leben
schikken, sondern bios in die Kirche gehdren, alwo man sie
ungehindert taufen d. h. mit einem Namen belegen oder ausiiben
kan, so wie im Gegentheil die Laster, die ihr Leben auf sechs
Tage brachten, alda begraben liegen: beilaufig! ich schon allein
komme ieden Sontag mit einer seltnen Menge Laster, die ich
in den sechs Wochentagen entweder selbst gezeuget oder von
andern adoptiret und hernach nach den gesundesten Grundsazen
10 gros gezogen hatte, beladen in die Kirche, wo ich sie unter vie-
lem Klagen, unter einem algemeinen Leichengesang und unter
der Leichenpredigt des Priesters lebendig verscharre und in ihr
Erbbegrabnis beiseze, wiewol sie aus solchem bald wieder auf-
erstehen, um mich, ihren Todtengraber, aus der Kirche nach
meiner Wohnung zu begleiten. - Die Rabbinen sagen, der
Mensch erhalte am Sabbath eine neue Sele, die so lange bei ihm
sich aufhalt als der Sabbath wahret. Und das kan sehr wol sein,
wenn man es namlich so nimt: das menschliche Herz bestehet
aus zwo gut cingerichteten Kammern, mit deren ciner sich die
20 Sele, die wir stets bei uns fuhren, die sich aber mit ganz andern
und wichtigern Dingen zu bef assen hat als mit Tugenden, behel-
fen mus, von denen hingegen die andere unaufhorlich fur die
gcdachte Schabbessele leer und off en stehet, die auch an keinem
Sontage ermangelt, sie zu beziehen noch sie eher wieder verlasset
als bis sie die Zunge in den schonsten und fiir blosse^Wochentage
zu kostbaren Handlungen wol geiibet hat. Oberhaupt diinkt
mich solten wir fiir die ubriggebliebenen Namen der Tugenden
eine Hochachtung tragen, die es uns nie erlaubte, sie durch eine
Einmischung in unsere profanen Gesprache zu entheiligen: und
30 wir solten diesen Tadel desto weniger iezt mehr zu verdienen
fortfahren, da wir einen ahnlichen schon bei dem Namen Gottes
nicht mehr verdienen, gegen den wir mit einer solchen Ehr-
furcht erfiillet sind, daB wol keiner mehr von uns es wagen
wird, denselben vor den Ohren einer ausgesuchten Gcselschaft
zu nennen, so wie auch die Juden den Namen Jehova aus Ehrer-
bietung niemals iiber ihre Zunge kommen lassen. 1st es daher
836 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
wol zu weit gegangen, wenn ich vorschlage, daB man kiinftighin
ieden, dessen Zunge edle Handlungen an andern Orten als in
der Kirche und in einer unheiligern Kleidung als in der sontagli-
chen verrichtete, zu einer besondern und abschrekkenden Strafe
ziehen mochte? Wenigstens sah ich doch schon in Manheim,
daB das Gebet sich ganz wol auf einen mechanischen Fus ver-
richten lasset. Mit dem ersten Trommelschlag fahret alda ieder
Man unter dem Gewehr nach seinem Hut, mit dem zweiten
betet er und mit dem dritten mus er sein Gebet geendiget und
den Hut aufgesezet haben. Soke sich nun da einer so sehr verges- 10
sen, daB er langer betete als man trommelt, so diirfte er wol
seiner Strafe nicht entwischen kdnnen.
Allein ich gehe iezt noch viel viel weiter und werde nicht
eher ruhig sein als bis ich meinen Saz so sehr eingeschranket,
daB von ihm gar nichts mehr (ibrig ist; es ist dieses nichts als
die Pflicht eines ieden guten Philosophen. Ich gerathe namlich
mit mir selbst in Widerspruch und behaupte deshalb, daB ich
ganz und gar nicht abzusehen vermag, wie man nur mit einigem
Grunde die Ausubung der Tugenden mit der Zunge, gesezet
man schrankte sie auch nur auf die Kirche ein, zur Rechtschaf- 20
fenheithat unentbehrlich finden konnen. Vielmehr kan ich nach
einem langen Nachdenken nicht anders als der Meinung sein,
daB es unserem Karakter und unserer Ausbildung weit ange-
messener sein wurde, wenn wir nun, da die Tugenden doch
einmal sich Bei Nacht und Nebel hinterlistiger Weise von uns
davon gemacht, auch die Namen derselben ihnen nachziehen
liessen und einen nach dem andern in groster Geheim mit seinem
Abschiede beschenkten. Denn wir stellen uns meines Erachtens
nur dem unbesonnenen Hohne bios, wenn wir dem Bilde der
abgeschiedenen Tugend mit einer Hochachtung begegnen, die 30
sich nur gegen sie selbst gebrauchen liesse; wie Alexander dem
Gemalde des vortreflichen Buzephals, als derselbe verrekket war,
Futter aufstekken lassen. Wir gehen den Lachern besser aus dem
Wege, wenn wir stat des Alexanders die Katholiken nachahmen.
Diese fangen an einzusehen, daB sie die Anbetung, die sie sonst
den lebendigen Heiligen und Martyrern mit dem grosten Rechte
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 837
erwiesen, nicht ganz eben so schiklich an ihre Bilder richten
und lassen sie daher almahlich unterbleiben, so wie wir es mit
den Bildern oder Namen der Tugenden auch machen solten.
- Freilich miissen wir alsdan Sorge tragen, dafl unsere Recht-
schaffenheit unter dieser Kalte gegen die Namen dcr Tugenden
nicht leide und wenn wir es dahin bringen, uns von der ungliik-
lichen Nothwendigkeit, Gutes zu thun und zu reden, unverseh-
ret loszuwinden, so diirfen wir dennoch nicht auch von der
Verbindlichkeit uns loszahlen, Gutes zu denken und zu wollen.
10 Aber dan thun wir auch alles und mehr als zu viel, wenn wir
dieser leztern nachleben. In magnis voluisse sat est. Wer bei
dem Anblikke eines Elenden denket: wie gern half ich dir!,
der hat, soke er auch bei diesem Gedanken weder Hand noch
Zunge regen oder beide wenigstens zum grosten Schaden eines
andern Nebenmenschen regen, alles gethan, was die Moral von
ihm erwarten kan: ia sogar noch weit mehr; denn er hat iezt
eine edle That verrichtet und doch dabei nicht um die Bewunde-
rung des Haufens gebuhlet, sondern sie derselben willig vorent-
halten, indem er sie namlich ins Geheim, nur in seinem Kopfe
20 und vor dem belohnenden Richterstuhle seines Gewissens aus-
ubte; eine solche unsichtbare uns nicht den geringsten Nuzen
bringende gute Handlung ist beilaufig ein grosser Einwurf ge-
gen die Philosophen, die unsere besten Handlungen fur eigen-
niizig erklaren. Was aber eine mit den blossen Gedanken verubte
Tugend am meisten adelt, ist wol dieses, daB der grobe Maden-
sak, der Korper, daran keinen Antheil hat und sie folglich mit
seinem Einflus nicht besudeln kan. Es ist dieses eine Staff el der
moralischen Volkommenheit, zu der ich nur wenige hinaufzu-
ziehen hoffen darf: denn was mich betrift, so steh' ich schon
30 langst darauf . Die Rabbinen haben angemerket, daB unsere Sele,
so lange wir schlafen, in dem Himmel verweile und den Teufel
ihre Stelle in dem Korper ersezen lasse. Allein wir sind nicht
bios im Schlafe und zu Nachts so tugendhaft, sondern wir leuch-
ten, gleich dem Sterne der drei Weisen aus Morgenland, auch
am Tage. Diesem zufolge bin ich gleichfals selten bei mir selbst
und meine Sele wandelt fast stets im Himmel und verrichtet
838 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
da ohne den Widerstand des Leibes die schonsten Handlungen;
der Teufel aber hat auf mein vorheriges Ersuchen alzeit die Ge-
wogenheit, den Korper fortzubeselen, seine Glieder zu regieren
und in demselben des Amtes der abwesenden Sele so gut zu
warten als er kan und das heist sehr gut. Wie bei mir, so mus
es natiirlicher Weise noch mehr bei grossern Heiligen sein; und
ie augenscheinlicher daher die Handlungen, welche ihr grober
Korper thut, dem Einflusse eines Teufels zusagen und anpassen:
desto richtiger lasset sich muthmassen, daB die Sele iiber das
Irdische hinweggestiegen sei und sich entkorpert ihren guten 10
Trieben iiberlasse. - Wegen meiner Satiren verdammc daher
niemand mich: aber man halte sich desfals an den Teufel; denn
der machet sie eigentlich und saget sie meinen Fingern in die
Feder. Allein er soke es nicht thun und mich, warend ich mich
gerade im Widerspiele des Spottes hervorthue, nicht in einen
so zweideutigen Kredit bei iedem Rechtschaffenen sezen.
Nicht bios die Volkommenheit der Sprachwerkzeuge machet
die gute Schauspielerin; ein guter und iunger Dramaturg verlan-
get von ihr auch Schonheit des Gesichts. Eben so wird der
Mensch auf dem Schauplaze des Lebens die von der Natur ihm 20
ertheilte Rolle gut spielen, wenn zu seiner tugendhaften Zunge
auch ein tugendhaftes Gesicht sich gattet. Beide leisten aber ein-
ander die unzertrenlichste Geselschaft. Die Physiognomie des
Thieres versprichtkeineTugend, so wie seine Zunge auch keine
hat. In den niedern ungebildeten Standen sehen die Menschen
vollig so roh, so unregelmassig, so eigenniizig und so zuriik-
stossend aus als sie sprechen. In den mitlern bricht zwar das
Gesicht nicht halb so sehr wie in den vorgedachten die Strahlen,
welche die Tugend durch dasselbe wirft; allein es machet doch
noch nicht wie in den hohern, das Laster unsichtbar; sondern 30
in denselben stosset ihr auf das in hizigen Getranken eingepo-
kelte Gesicht des Saufers, auf das phlegmatische aufgegohrne
des Fressers, auf das Anagrammatische des Jahzornigen und auf ..
das Schweins- und Affenartige des Unkeuschen. Die Verstel-
lung erstrekket sich hier nur auf die Gesinnungen, aber nicht
auf die Leidenschaften;. wenigstens strafen diese durch das Auge
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 839
und die Stimme und durch das unwilkiihrlich ausgestrekte La-
cheln das glanzende Gesicht Liigen, dessen erschlafte Muskeln
iiberdies die unbandigen Mienen nicht lange im Ziigel zu halten
vermogen, so wie eben diese aus Ermattung in der ruhigern
Anstellung (Simulatio, entgegengesezet der Verstellung) die
Haut, wie ein nachgebendes Hosenband die Hose, sich herun-
terschieben und sie das, was siebedekken solte, entblossen las-
sen. Die Zunge hingegen bleibet in diesen Standen hinter den
hohern in gar keiner Tugend zuriik; vielmehr entschadigen sie
10 in Riiksicht der moralischen Volkommenheiten das Auge vol-
kommen durch das Ohr und haben stat der Farben-Khviere die
starker eindringenden Ton klaviere aufzuzeigen. - Wo sol ich
aber die Gelehrten hinrechnen? Denn ihr Gesicht spricht mei-
stens weder von Tugend noch Laster, sondern nur von Kentnis-
sen; weil ihre Leidenschaften (ich rede von solchen in kleinen
Stadten und von einsamen in grossen) weder Gelegenheit noch
Starke genug erhalten, sich einen Weg auf ihren Gesichtern zu
bahnen, auf denen alle Mienen mit stehendbleibenden Schriften
abgedrukket sind. Dagegen glaub' ich aber auch in meinem
20 z. B., so viele altvaterische Zierlichkeit zu spiiren, daB ich es
beinahe mit einem Buchdrukkerstok vergleichen darf; wiewol
dasselbe, wenn ich es zu einem Gonner hintrage, auch aussiehet
wie ein Dank- und Buspsalm zugleich. - Ich komme nun auf
die Gesichter der Grossen, von denen ich nicht zuviel Gutes
sagen kan: denn sie scheinen eine Silhouette von den meisten
Tugenden aufgefangen zu haben, als solche vor ihnen vorbei
und von der Erde hinwegflogen. Und hier mus ich eine beilau-
fige, aber vielleicht nicht unschikliche Frage thun: warum haben
dieienigen Philosophen, die uns und vorzuglich die Hofe mit
30 milzsuchtigen Griinden aus dem vormaligen Besize aller Tu-
genden so gern gestossen hatten, aus dem Bilde und dem Ab-
drukke, der sich von diesen und besonders von einer algemeinen
Menschenliebe noch iezt auf den Gesichtern der Hofleute vorfin-
det, nicht den natiirlichen Schlus gezogen, daB doch wirklich
einmal die Originale dieser Kopien, die Tugenden selbst, miis-
sen da gewesen sein? Denn nahmen nicht Biiffon und Bailly
84O . JUGENDWERKE : 3. ABTEILUNG
aus den Abdriikken, die von seltnen indianischen Gewachsen Leib-
niz auf Steinenm Deutschland und Jiissieu auf Steinen in Frankreich
bemerket hatte, schikliche Veranlassung her, zu muthmassen,
daB mithin diese Friichte der heissem Lander wol selbst einmal
in Frankreich und Deutschland miissen haben fortkommen
konnen und daB daher beiden vor vielen tausend Jahren die
Warme musse'beigewohnet haben, die zur Pflege dieser herlichen
Gewachse erfoderlich war, bei uns Europaern aber nicht mehr
anzutreffen ist? - Ich frage noch einmal: warum schliessen die
Philosophen nicht auch so? 10
Aber zur Sache! Das Gesicht traget erstlich die grossen oder
kleinen Anlagen, durch welche wir zur Tugend beruffen wer-
den, und verdienet in dieser Riiksicht allerdings den Namen
einer moralischen Produktenkarte, Und hier behalt der Physio-
gnom in der grosten Ausdehnung Recht, wenn er saget, daB
dasselbe keine Tugend verspreche, welche der, dem es angeho-
ret, nicht realisire. Denn ich beziehe mich auf die altagliche Er-
fahrung: kiindigteiemals der Riikken einer Nase dauerhafte und
kiihne Tapferkeit an, welche sich nicht wirklich bei der Zunge
gefunden hatte? hat euch das Gesicht eines Grossen zu einem 20
Beistande Hofnunggemachet, den euch nicht bald seine Sprach-
werkzeuge leisteten? und wo sind die Lippen, welche den Hang
zur Menschenliebe, den sie durch ihre Gesta/f bekennen, in ihrer
Bewegung verlaugnen? Schwerlich wird endlich der sehr schmei-
chelhafte Kupferstich von meinem Gesichte, den ich meinem
neuesten und besten Werke vorangestellet, zu einer Tugend sich
anheischig machen, welche nicht der Leser von dem Werke
selbst in die schonste Wirklichkeit gesezet fande; und der Kup-
ferstich wird ein moralisches Namen-, aber auch das Werk ein
moralisches Sachregister sein. - Wenn der Leser mit dieser Be- 30
trachturig iiber die Zuverlassigkeit der menschlichen Gesichter,
noch eine iiber die Menge derer, denen solche Versprechungen
der Tugend angeboren werden, zu verkniipfen beliebet: so wird
er wenig mehr gegen [den] Schlus daraus, daB die Anzahl der
Tugendhaften nicht geringe sei, einzuwenden haben.
Aber nicht genug! sie ist nicht nur gros: sondern sie wird
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN
auch taglich noch grosser und grosser. Denn sogar dieienigen,
an denen entweder die Natur das Gesicht verwahrloset und ver-
unzieret oder die selbst die Anlagen desselben durch Laster zer-
riittet haben, sogar diese halten das ihrige zur Tugend an und
bieten zur Verbesserung ihres Aussern desto mehrere Krafte
auf, da sie wenige oder beinahe keine mit der Umanderung
ihres Innern beschaftigen, als an der sie mit dem grosten Rechte
vollig verzweifeln. Man erlaube mir, mich uber die Hofleute
- denn auf diese nab' ich gezielet - ein wenig weitlauftiger her-
10 auszulassen: der Gelegenheiten, sie zu rechtfertigen, und der
Unpartheiischen, die diese niizen, sind ia ohnedies so wenige!
Man darf zur Ehre unserer Tage ohne Zweifel voraussezen,
daB sowol die kleinen als die grossen Hofe keinen Man mehr
einschliessen, in dessen Kopfe nicht die franzosische Philosophic
vortreflich ausgeraumet hatte und der nicht alle Tugend fur
Spielwerk und nicht die Sele fur den Korper ansahe. Sondern
die meisten Einwohner derselben wissen es sehr gut, daB das,
was sie ihr Ich nennen, entweder gar nicht existirt oder doch
einer Ausbesserung sowol nicht fahig als nicht wiirdig ist. Sie
20 nehmen daher alle Krafte ihres geringfiigigen Ichs zusammen,
um bios ihrem andern Ich, dem Korper, fur dessen Vorziiglich-
keitund Existenzihnen ihre eignen Sinne und fremde Zeugnisse
biirgen, zu einiger Hohe aufzuhelfen und an ihm die gluklichen
Anlagen in den Gang zu bringen, die ihn auf einen hohern Fus
zu sezen dienen, namlich die Anlagen zum Wiz und zur Tugend.
Den Stempel dieser leztern driikken sie aber dem Korper nicht
darum auf, um mit dieser korperlichen Ahnlichkeit einen Fiir-
sten zu bestechen, der auch von innen tugendhaft ist; liber einen
so schmuzigen Eigennuz sind sie zu weit hinweg: sondern sie
30 thun es aus ganz andern wiewol vollig unbekanten, darum aber
nicht minder ruhmlichen Absichten: denn den tugendhaften
Anstrich ihres Gesichts lassen sie auch unter einem lasterhaften
Hern nicht fahren, der sie dafiir durch ein desto grosseres Ver-
trauen belohnet, weil selbst die schlimsten Fiirsten zu Werkzeu-
gen ihrer Fehlgriffe mit Wissen niemals eben so schlimme Die-
ner auslesen und in alien Fallen, wo sie es gleichwol schienen,
842 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
es nur in der irrigen Meinung thaten, daB die Einwilligung des
Vertrauten in seine lasterhafte Bestimmung nicht aus Eigennuz
und Verdorbenheit, sondern aus einem verblendeten oder rich-
tigen Diensteifer fur seinen Hern entspringe. Daher stellet ieder
einsichtsvolle Giinstling sich als iiberzeuget an von der Pflicht-
massigkeit seiner ziigellosen Folgsamkeit und giebt seinen Ge-
horsam gern auf Kosten der Grosse desselben fur tugendhaft
aus. - Sonder Zweifel lieget diese Betrachtung bei dem schonen
Bonmot zum Grunde, das neulich dem Teufel, als er mich
abends unverhoft iiberraschte, augenbliklich eingefallen zu sein 10
das Ansehen haben soke, wiewol ich von sichern Handen weis,
daB er es schon lange vorher in der Holle geschmiedet und auf
den Kauf gearbeitet hatte: »es scheinet sehr, sagte der Teufel,
daB die Fiirsten und Hofdamen mir von den Hofleuten nichts
wollen zukommen lassen als die - Sele, den Leib aber sich und
der Tugend zuwenden; so wie die Perser (nach dem Strabo und
nach mir) glaubten, daB die Gotheit an den Opferthieren nichts
fur sich aussondere als die Sele und den Priestern das Ubrige
Preisgebe.«
Das Gesicht wird aber erstlich zur Tugend gebildet, wenn 20
mankeine niedrigen Bewegungen der Leidenschaften auf demsel-
ben aufkommen lasset und unedlen Regungen der Muskeln zu
gebiethen weis. Es ist dieser erste Grad der Tugend eins und
dasselbe mit der Unterdriikkung der Begierden und mit der
Herschaft iiber sich oder das Gesicht, welche die Stoiker mit
so vieler Warme predigen. Daher sind die Grossen die einzigen
Stoiker und Weisen noch, sind es aber auch in dem Grade, daB
sie, wahrend eine menschenfeindliche Wuth ihr Inneres aufrei-
bet, dennoch von ihrem Gesichte ieden Einflus dieser Verwii-
stung abwenden und unter alien Stiirmen iiber die weise Ruhe 30
desselben gehorig wachen konnen; so zerschmelzet der Bliz
zwar das Gehwerk der Uhr, aber ihr Gehause kan er nicht bescha-
digen, oder so mus er, wahrend er die harten Knochen zertrum-
mert, das weiche Fleisch um selbige unversehret lassen. Diese
Unveranderlichkeit des Gesichts ist aber zu den Intriguen des
Hofs so unentbehrlich als zur Tugend und mithin auch in diesem
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 843
Betrachte nicht genug anzuloben. Denn wenn das Hofleben ein
immerwahrendes Kartenspiel ist, (was war' es aber anders?) so
mussen, sol das Spiel nicht fade, nicht falsch und langweilig
werden, alle Karten durchaus einander auf der aussern §eite vol-
kommen ahnlich sehen und bleiben und der aufrichtige Spieler
mus hinter das, was sie bedekket, nicht durch eine diebische
Aufmerksamkeit auf die Oberflache, sondern nur durch ein zar-
tcs Gefuhl, durch verborgne Zurukspieglungen und durch den
pantomimischen Beistand dessen, der den blossen Zuschauer spie-
10 let, zu kommen sich gestatten konnen. Obrigens lasset sich hier
eine Frage aufwerfen, zu deren Beiahung ich mich sehr hirineige:
ob namlich daraus, daB die Leidenschaften auf hofmannischen
Gesichtern Verstekkens spielen, nicht vielleicht zu schliessen sei,
daB die Hofleute von gar keinen geplaget werden? Ein Schlus,
der wenigstens das Beispiel des Lord Kaimes fur sich hat, wel-
cher die Menge der Kinder morde d. h. der Unterdrukkungen der
Friichte der Unkeuschheit fur ein gliikliches Zeichen der
Keuschheit eines Volkes d. h. der Abwesenheit der Bastarte halt.
Noch hoher hat dasicnige Gesicht es in der Tugend gebracht,
20 das nicht bios von keinen Affekten mehr beunruhiget wird, das
auch schon einer langen Reihe edler Entschlusse Plaz gegeben.
Wichtiger Fortschrit, den man nur unter der Anleitung der ge-
duldigen Selbstbeschauung und des fremden Beispiels machen
kan! -
Erstlich unter der Anleitung des Beispiels! Denn der Einflus
ist erstaunlich, welchen dieses auf uns hat. Unvermerkt und
unwilkuhrlich (ibersezet man sein eigenes Gesicht in dessen sei-
nes, den man oft und gern siehet. Daher sehen die alten Bedien-
ten (nach Lichtenberg) so aus wie ihre Hern; daher ist die Mei-
30 nung Lavater's wahrscheinlich, daB zwischen der Physiognomic
und den Werken des Malers Ahnlichkeit der Schonheit sei: denn
die Antike wird sich seiner Phantasie und seinem Gesichte zu-
gleich einpragen, und indem er die Gestalt einer Prinzessin ver-
schonert, wird er seine eigne verschonern. Was konte die Natur
also der Tugend fur ein besseres Mittel, geschwind und leicht
auf dem Gesichte festen Fus zu fassen, geben als unsere Nachah-
844 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
mungsbegierde? Und hier merk' ich mit Vergniigen an, daB
die so sehr verschrienen Weltleute es gewis nicht sind, die von
diesem Mittel am wenigsten Gebrauch zum Vortheil ihrer Bes-
serung machen. Vielmehr sind sie es gerade, welche oft eben
darum der Geselschaft der Tugendhaften und des schonen Ge-
schlechtes nachgehen, um durch sichtliche Beispiele ihrem Ge-
sichte die zartern Ziige der Tugend bekanter, gelaufiger und
eigner zu machen; eine Benuzung der Geselschaft, durch die
sie eben so sehr von dem Alzibiades sich unterscheiden, dem
es bei seinem lernbegierigen Umgange mit Sokrates nicht um 10
des sen Tugend, sonde rn um dessen Uberredungskunst zu thun ge-
wesen, als sie den falschen Perlen sich nahern, welche von achten
Muscheln mit einer achten Perlenhaut veredelt und uberkleistert
werden*. Em solcher Man wird auch vom Schauspieler gern
seine Physiognomie bearbeiten und von ihm zum Tugendhaf-
ten, wie Zizero zum Redner, sich bilden lassen. Ja, ich kenne
einen, der mit Lavaters Fragmenten nicht der Wolfarth seines
Kopfes, sondern der seines Herzens rieth und in ihnen weniger
fremde Gesichter beurtheilen als sein eignes verbessern lernte:
denn seit der Lesung derselben hat der untere Theil seines Ge- 20
sichts (die langlichten Augen und die Augenlieder waren leider!
durch nichts von ihrem persiflirenden, menschenverachtenden
und stolzen Spotte abzubringen) sehr merklich an Menschenliebe
zugenommen, die iiberhaupt von der Gesichterkunde vorziig-
lich befodert wird und werden sol.
Gleichwol thut erst die Selbstbeschauung hier das Hauptsach-
lichste. Diese verrichtet man vor einem venezianischen Spiegel,
oder auch vor einem schlechtern: nur mus er uns unsere Fehler
offenherzig vorwerfen und beichten; denn der Spiegel ist das
Gewissen der Grossen, das man wie das Gehirn, in das grosse 30
und in das kleine eintheilet. Den grossen Spiegel oder das grosse
Gewissen hanget man zu Hause an einen Nagel; das kleine fiihret
* Bekantlich legen die Sineser falsche aus Perlenmutter gearbeitete
Perlen in die geofneten Muscheln, die im Friihlinge aus dem Meere
heraufkriechen. Das andere Jahr finden sie die falschen Perlen mit der
gedachten Haut bekleidet in ihnen.
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 845
man stets bei sich entweder in dem Etuis oder auf der Tabatiere.
Wie gesagt, den Spiegel besuchet man, um sich von ihm die
unmodischen Fehler und Laster, die in unsere Mienen sich ein-
geschlichen, vorhalten zu lassen und audi zuweilen, um uns an
der Ubersicht unserer Besserung zu vergniigen. Allein der
Weltman lasset von dem Spiegel, der sein einziger auf rich tige
Freund am Hofe ist und zwar seiner Sele, aber doch nie seinem
Korper schmeichelt, nicht, wie das Kind vom Vater, sich seine
Unarten bios nachmachen: sondern er leget sie auch ab und
10 beniizet die freundschaftliche Erinnerung soviel er kan. Bald
sezet er an die Stelle eines grellen Zuges einen sanftern; bald
erforschet er die Zusammenstimmung eines neuen mit den iibri-
gen; bald durchlauft er mit eilfertiger Anstrengung die pantomi-
mische Tonleiter aller Tugenden und ubet sein Gesicht in den
Verwandlungen des Proteus; bald sucht er zwischen ienem und
der Zunge das Band fester zusammenzuziehen und sich immer
mehr dem holfeldischen Sezinstrument zu nahern, das die Noten
zugleich timet und sezet und alles, was es dem Ohre sagt, fur
das Auge niederschreibet; bald stellet er bios die hochste An-
20 strengung Eines Muskels auf die Probe und lehret sein Gesicht
gleich uns Autoren, doppelte Ausruffungs- und Fragezeichen
machen. Indessen kan er nicht alle Tugenden aus deutschen und
englischen Gesichtern in sein franzosisches iibersezen: sondern
es ist hier ein sehr wichtiger Unterschied zwischen ihnen vor-
handen. Einige zielen auf unsere eigne, andere auf fremde Wol-
farth;derphysiognomischeAusdruk der ersternnahert sich mehr
der Erhabenheit und erwekket bios Bewunderung, der Ausdruk
[der] leztern hingegen ist Schonheit und erreget Liebe. Muth und
Selenstarke z. B. gehoren zu den erstern und Ziehen daher, weil
30 sie bios ihrem Besizer und oft auf unsere Kosten vortheilhaft
sind, so wenig etwas anders als Bewunderung nach sich, dafi
uns ein zu starker Ausdruk derselben oft sogar gehassig ist. Die
Menschenliebe gehoret zu den leztern und ihr Ausdruk wird
uns wegen der Vorsprache der Selbstsucht auch mit der Entstel-
lung durch Wollust und Schwache gleichwol noch schon und
liebenswiirdig vorkommen; und die Schonheit kan mit alien
846 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Lastern bestehen, die niemand als dem Urheber selber schaden.
Das erstere Geschlecht ist zu den Tugenden der erstern Art,
das zweite mehr zu denen der leztern gebildet; dieses ist daher
geselliger, uneigenniiziger, mittheilender, gesprachiger, eitler
(nicht stolzer) und verbindlicher als wir und da gute Lebensart
im Grunde nichts ist als ein naturlicher Anstrich von den geselli-
gen Tugenden, so scheinet es mithin zu derselben und zum Hofe
ordentlich geboren zu sein. - Niemand wird also im Ernste
und verniinftiger Weise andern Tugenden als den schonen und
menschenfreundlichen Aufenthalt auf seinem Gesichte verstat- 10
ten. Denn soviel ich noch hofmannische Gesichter in Kupfer
gestochen sah, so hatten sie doch alle das Ansehen einer Dedika-
zion, es schien als wenn sie einem den ganzen Man mit Leib
und Sele dediziren woken.
Ubrigens nennen einige unbekante Schriftsteller diese morali-
sche Aufstuzung des Gesichts die Reparatur desselben zum Ein-
zuge der Tugend; und ich pflichte ihnen darum bei, weil ich
wirklich bei einigen solchen gut tapezirten Menschen gegriin-
dete Hofnung hatte, an ihnen die Einmiethung der Tugend sel-
ber zu erleben, wiewol sie imgluklicher Weise zu fruh durch 20
den Tod hinweggeraffet wurden, der eine im 70. und der andre
im 8 1 . Jahre seines Alters. Daher kan es auch ganz und gar nichts
verschlagen, wenn es der Tugend beliebet, den Menschen
gleichwol nicht zu beziehen, zu welchem ihr das blinde und
gemalte Thor des Gesichts (d.h. die tugendhafte Miene) den
Eingang angeboten; und die, welche zu unsern Bemuhungen,
unsere Gesichter in Portrdts der Tugend zu verwandeln, aus kei-
nem bessern als diesem Grunde sauer sehen, weil wir diese Ab-
bildungen nicht mit der Tugend selbst beselen konnen, diese
scheinen auf eine merkwiirdige Art den Tiirken zu gleichen, 30
die ebenfals die Verfertigung ernes ieden Bildes verdammen, weil
man solches mit keiner Sele begaben kan, Sie fugen sogar hinzu,
am iiingsten Tage werde ieder Maler von seinen Gemalden um-
ringet werden, die alle eine Sele von ihm fodern wurden. Viel-
mehr lasset es sich auch sonst erharten, daB es eben so wol an-
gehe, in effige from zu sein, als in effigie gehangen zu werden.
UBER DIE MENSCHLICHEN TUGENDEN 847
Vielleicht driikke ich mich aber durch diese Metapher bestimter
aus: da die Tugenden (nach Plato) die Fliigel der Sele sind, so
heisset mit einem tugendhaften Gesichte den Mangel derselben
verhehlen meines Erachtens nichts schlimmers als gewissen Ka-
fern ahnlich sein, an welchen der Mangel der Flugel sehr gut
durch bunte und schimmernde Fliigeldekken ersezet wird. Oder
noch anders: ein aufrichtiges Gesicht ist ein Spiegel, in dem
sich bios anwesende Tugenden abmalen; allein ein hofmanni-
sches gleichet einem Krystal- oder Zauberspiegel, welcher zu-
10 kunftige gute Handlungen zeiget und verkiindigt und es saget
nicht, was man gethan hat, sondern was man einmal (z.B. nach
dem Tode) thun wird und ist sonach fiir kein moralisches Arnte-
sondern fiir ein moralisches Saatregister anzusehen. Indessen be-
liebe der Leser dennoch hier in die genaueste Uberlegung zu
nehmen, was ich von einem Hofmanne auf meine Erofnung,
daB ich das Bild der Menschenliebe auf seinem Gesichte fiir
ein sehr gutes Vexirbild hielte, zur Ant wort vernommen und
aus besonderer Gefalligkeit hier mittheile: er treibe, versezte er,
mit der Tugend einen Kommissionshandel; daher lege er auf
20 seinem Gesichte stets einige Musterproben von Tugenden zur
Schau aus: verlange nun iemand von ihm ausser der Probe auch
ein ganzes Stiik, so besize er zwar nie dergleichen selbst, allein
er wisse schon seine Leute, die mit solcher Ware in Uberflus
versehen seien und ihm daher damit sehr wol aushelfen konnen.
»D. h., schlos er lachelnd, ich zeuge selten oder nie eine gute
That; find' ich aber eine, die eine Waise ist und zu der kein
Vater sich bekennet, so adoptive ich sie freiwillig und vertrete
bei ihr gern Vaterstelle: auch ist es mir angenehmer, ein gut
gerathenes Pflegekind meinen Namen tragen zu sehen, als eine
30 Misgeburt, die ich selbst inkognito gezeuget, sich nach selbigem
nennen zu horen.«
Soviel von den menschlichen Tugenden, welche so wol von
unserer Zunge als von unserem Gesichte in groster Menge Got
geopfert werden. Was die Laster anlanget, womit wir uns mit
dem Teufel abfinden, so bringen wir selbige in natura und durch
die iibrigen Glieder dem bosen Feinde dar. Ich glaube, in beiden
848 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Stiikken verfehlen wir die Fusstapfen der Agypter nicht sehr
weit, die ebenfals den guten Gottern Weihrauch und Bilder von
Opferthieren, den bosen aber wirkliches und ungestaltetes Vieh zu
schenken und zu opfern pflegten.
Allein ich mus hier, so ungern auch ich und die Leser es sehen,
abbrechen und meine wichtigern Geschafte wieder vornehmen.
Kaum kan ich mich ohnehin fur den Verlust der Zeit, die ich
an diesen Aufsaz verwandt, das Bewustsein, mit dem ich die
Feder niederlege, genugsam entschadigen, dafi ich namlich so-
wol von unsern redenden als zeichnenden Kilnsten in der Tugend 10
vielleicht auf eine Weise diirfte gehandelt haben, deren sich wol
die beriihmteste Feder nicht zu schamen brauchte: und ich
glaube, dieses Lob, das ich mir iezt zufliessen lassen, gilt von
meinem Stile nicht weniger als von meinen Gedanken.
Verfasser der gronlandischen Prozesse.
ZERSTREUTE BETRACHTUNGEN
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN,
AUF VERANLASSUNG DER SWIFTISCHEN ANWEISUNG ZU
DEMSELBEN
Ich werde alles, was ich mit den folgenden Betrachtungen errei-
chen will, erreicht haben, wenn es mir gelingt, darin uber den
vollig verkannten Werth unsers dichterischen Nationalbathos ei-
nen und den andern AufschluB zu gewahren, der die einseitigen
und milzsiichtigen Urtheile iiber denselben, welche jetzt zum
grosten Nachtheile unsers Parnasses immer weiter um sich zu
greifen drohen, zu berichtigen dienet. Noch zufriedner wiirde
ich mit der Wirkung dieses geringen Versuches seyn diirfen,
wenn er eine geschicktere Feder anfrischte, dem Niedrigen in
der Dichtkunst die vorige Gunst des Publikums und das beyzei-
ten wieder zu verschaffen, soil anders der Genius des Bathos
die ausgeschlagene Hand von unserm Genie sowohl als von un-
serm Geschmacke nicht ganzlich abziehen. Mein AnlaB ist die
Ubersetzung von Swifts Kunst, in der Poesie zu sinken, welche
man dem achten Theile der Manheimer Ausgabe von Pope's
Werken einverleibet hat. Sehen meine Leser diesen swiftischen
Aufsatz noch mit dem grossen Haufen fur eine Satyre auf das
poetische Bathos an, so muB es ihnen sonderbar vorkommen,
daB ich da von den AnlaB zu einem Lobe darauf entlehnet. Allein,
ich muB es ihnen hier gestehen, daB ich jene Abhandlung, wenn
ich mir nicht selber alien Gaumen fur die Satyre absprechen will,
fiir keine kann gelten lassen; sie ist fur das Niedrige der Dicht-
kunst nichts weniger und nichts mehr, diinkt mir, als was
Home's Grundsatze der Critik fiir das Erhabene derselben. Man
lese nur das Original mit einem unbefangenen Auge; vielleicht
findet man, daB es wirklich kein einziges komisches Wort ent-
halt, sondern vielmehr bis zum Pedantischen feyerlich ist. Doch
zwar auch nur das Original: denn die deutsche Obersetzung
ist von ihrem Verfasser in dem verzeihlichen Wahne, daB er
eine Ironie zu verdolmetschen habe, mit einigen der spaBhafte-
sten Worter angeputzet worden. So wenig indessen diese lau-
nichte Verschonerung sich in einen ernsthaften, unironischen
Aufsatz des Dechanten schickte, so sehr wiirde sie doch seinen
satyrischen Stucken anpassen; und ich wiinschte daher von Her-
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 85 I
zen (und gewiB das Publikum auch), daB ein Mann von der
gehorigen Starke in der schweren komischen Sprache, deren
Wesen ich nicht bios in eine geschickte Vermischung steinalter
und pobelhafter Worter mit nagelneuen, sondern auch in eine
haufige Anbringung lacherlicher Holzschnitte setze, fur den
Dank der Nation die Muhe iibernahme, von dem swiftischen
Satyr die ernsthafte Larve abzuheben und das Gesicht desselben
dafur mit einem komischen Anstrich zu verbramen und gleich-
sam einzuseifen. Ich frage das Publikum selbst, ob es iiber ihn
10 in der ernsthaften Gestalt, die ihm der alte Ubersetzer Waser
gelassen, sehr lachen konne? 1st es nicht seine erste Forderung,
an einen deutschen Ironiker wenigstens, daB er die Versteckung
seiner Satyre in die Grenzen des Musters einschranke, das ein
Kind ihm giebt, wenn es sich unter seine eigne Schiirze verstek-
ket, und der suchenden Mutter auf die Spur durch den Zuruf
hilft: wo bin ich? Oder hat der sonst vortrefliche Wieland Recht
gethan, und hat man es ihm sehr gedanket, daB er seinen SpaB
in einen Ernst verkappte, daB, die wenigen Leser ausgenommen,
welche dachten, die iibrigen alle und die lustigsten sogar vor-
20 ziiglich, an der ganzen Satyre nicht das geringste Vergniigen
finden konnten, sondern genothigt waren, sich von der Ernst-
haftigkeit des Herrn Autors einigermassen in dem Lachen des
Pedrillo zu erholen, als in welches sie noch mit dem ihrigen
einfallen konnten? Und kann man es wohl fur mdglich halten,
daB der Verfasser der physiognomischen Reisen dem betrognen
Publikum, das seine modischlaunichte Sprache fiir die Satyre
selber ansah, wovon sie doch nur die ironische Larve war, so
wie auch gemeine Leute fiir den Stachel der Biene die Scheide
desselben halten, den Beyfall, den es nun nicht mehr widerrufen
30 kann, wiirde abgelocket haben, wenn er eine ernsthafte Sprache
zum Deckmantel seines Scherzes hatte gewahlet gehabt? - Derm
uberhaupt ist es gottlob! ausgemacht, daB der biedere Deutsche
und vorziiglich der offenherzige Jiingling und Pobel in seinen
Abscheu vor aller Verstellung auch die ironische einschliest.
Auch hat man uns schon den ironischen Kandide und Don Qui-
xotte in einer niedrigkomischen Umkleidung geschenket, von
852 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
deren Beytrag zur Verstandlichkeit derselben der einstimmige
Bey fall der Nation das vortheilhaf teste ZeugniB ablegt. Allein,
mir diinkt, Swift verdienet diese Entlarvung wenigstens nicht
minder, ja, er ist vielmehr versteckter, ernsthafter und iiber-
haupt satyrischer als beyde, und daher einer Travestierung noch
weit bediirftiger und wiirdiger. - Dieser grosse Mann, der die
Nachwelt zwar zur Erbin seines Narrenhauses eingesetzt, allein
seine dornichte Geissel, von welcher gleichwol die ganze Besse-
rung der Bewohner desselben abhanget, sich, wie andere Predi-
ger ihre Bibel, oder die gemeinen Leute ihre ausgefallenen 10
Zahne, aus einem unbegreif lichen Eigensinn, ins Grab mit geben
lassen, wo sienun ohne Nutzen fur die Welt und ihn vermodert.
- Aber, was mach' ich jetzt? ich mache den Lobredner der deut-
schen Ironie, und habe mir doch bios vorgesetzt, den des deut-
schen Bathos zu machen?
Die dichterische Welt bietet, wie die natiirliche, ihrem Be-
wohner drey verschiedene Regionen zum Spielraum seiner
Gliedmassen an. Die erste ist im Ather, in welchen die wenigen
unglucklichen MiBgeburten hinaufgewehet werden, die sich
nach dem RathschluB der unerforschlichen Natur mit groBen 20
Fliigeln an Kopfund Fussen schleppen. Die zweyte und mittlere
ist auf dem festen Boden, welcher den theatralischen Schritten
und Sprungen der unzahligen Wesen, die nichts als Menschen
und die Mitteldinge zwischen fliegenden MiBgeburten und nie-
derfahrendenGenies sind, zum Schauplatz dienet. Die letzte Re-
gion ist unter dieser und in der Tiefe, zu welcher sich die seltnen
Geister hinunterschwingen, die von MiBgeburten und Men-
schen sich durch eine besondere Grosse und Schwere ihres Kop-
fes und ihrer Fiisse und meistens auch durch sonderbare insek-
tenartige Gliedmassen, welche ihrem Gewichte den Weg bahnen 30
und graben, auf das sichtbarste unterscheiden. Man merket
wohl, daB ich den Letztern den Vorzug gebe. Die Erstern sind
die schlechtesten, und ich nannte sie mit vielem Bedachte MiB-
geburten: denn die Flugel an Kopf und Fussen verrathen ihre
traurige Verwandtschaft mit den Thieren, so wie ihre Unahn-
lichkeit mit den riickenbeflugelten Engeln nur gar zu deutlich,
USER DAS DICHTERISCHE SINKEN 853
und es bleibt schwer zu begreifen, wie ein Geistlicher vor dem
Richterstuhle der Casuistik, die jedem aus der Art der Menschen
geschlagenen Kopfe die Taufe verweigert, seine Entheiligung
der letztern an solchen Kopfen, wie Milton's, Popen's u.s.w.
ihre waren, mit etwas anderem entschuldigen konne, als hoch-
stens mit der Unsichtbarkeit des jungen Auswuchses. - Die
mittlern, die zwar nicht nieder, aber auch mcht auffahren,
sondern gehen, werden mehr geschatzet, und jeder ist ihr
Freund; allein, wie gesagt, den Vorzug vor beyden behaupten
10 doch bey alien Volkern die Letztern, die in den ParnaB wie in
ein Bergwerk einfahren. Ich glaube fiir diesen Vorzug einige
Griinde gefunden zuhaben, die mit dem Verdienste der Neuheit
auch das Verdienst des Gewichts vereinigen; allein, ehe ich sie
aufstelle, will ich den Leser vorher mit einer anmuthigen Alle-
gorie von dem dichterischen Bathos erf rischen, welche vielleicht
mit der kunstrichterlichen Trockenheit dieses Aufsatzes einen
sehr gefalligen Absatz machet.
Die Allegorie ist nicht von mir, sondern von Klopstock, und
kann im erstenGesangederMeBiade nachgelesen werden. Indes-
20 sen hat noch niemand sie darin entdecket, und Klopstock selber
kann den allegorischen Knoten nicht auflosen, den er doch ge-
schiirzet. Ich wiirde daher die unbesonnenste Eitelkeit verra-
then, wenn ich vorgabe, daB, was scharfere Augen iibersehen,
gleichwohl ich homuncio erblicket hatte. Nein! sondern ich will
hier offentlich die Entzifferung dieser Allegorie dem Herrn
Professor Kramer in Kiel, der sie mir in einem Privatschreiben
mitgetheilet, wieder zustellen. Und das um so viel mehr, da
ich vielleicht mit dieser Probe seiner Spahkraft das Publikum
auf den Schatz aufmerksamer machen kann, den es an diesem
30 Kopfe besitzet. Ich weiB es zwar, man hat ihn sehr getadelt,
daB er oft den grosten Schonheiten seines commentirten Origi-
nals den eifersuchtigenSchleyerabzunehmenunterlassen; allein,
ich habe nur immer geglaubt und in verschiedenen Recensionen
es auch ohne Bedenken herausgesagt, daB er fiir die unterlassene
Enthullung derer Schonheiten, von welchen doch noch immer
wenigstens der Kenner die Florkappe abzuheben vermag, durch
854 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
die weit muhsamere Entdeckung sowohl dererjenigen, die der
scharfsichtige Kenner und Klopstock selbst, als auch derer, wel-
che der Einfaltige nicht erblicket hatte, sogar seinen strengsten
Richter vollkommen miisse entschadigen konnen. Verdienet
daher seine Entschleierung der Schonheiten von der letztern Art
das frankirte Lob meines neulichen Briefes nicht, das so lautet:
»Nein! keinen Markzieher (wie Sie Ihre Bescheidenheit bereden
will): sondern einen wahren Korkzieher besitzen an Ihnen die
klopstockischen Verse «? Gleichwohl wiirde es jeder mit mir
lieber sehen, wenn ein so fahiger Kopf das Alter der eignen 10
Schopfung nicht in blossem Gommentiren hinbrachte, sondern
wenigstens zuweilen das eine Ende seines langen Pinsels, das
Schonheiten nurzeiget, mit dem andern ablosete, das Schonhei-
ten auch malet. - Hier ist aber seine Erklarung der gedachten
Allegoric Klopstock dichtet eine Sonne, welche in der Tiefe
der Erde leuchtet. Nach meinem Freunde Kramer geht des
Dichters Meynungdahin: so wie die aufsteigenden Poeten einen
Phobus haben, der am Himmel den Namen der Sonne fuhret,
so strahle auch fur die niedersteigenden einer, auf welchem ihre
Niederfahrt in die Tiefe allezeit Hake mache. Ich will, setzt er 20
dabey hinzu, Ihrer Wahl zwischen den beyden Sonnen zwar
nicht vorgreifen, aber meine wenigstens ist dem untern Phobus,
den jeder erreichet, ungleich gewogener als dem obern entfern-
ten, dem man sich nichts als hochstens nahern kann. Man kann
nicht richtiger urtheilen; und ich wiinschte urn so mehr, alle
unsere Dichter machten Herrn Kramers Wahl zu ihrer eignen,
da der modische Abbruch, den ihr Gehirn, ihr Gesicht und ihr
Leben von ihren korperlichen Erholungen langst gelitten, sie
zu einem so langwierigen und schweren Geschafte, wie der Auf-
flug zur Sonne ist, wahrscheinlich wohl ganz unfahig gemachet 30
haben muB. Klopstock saget weiter, dafi man zu dieser Sonne
den Eingang durch den Nordpol nehme. Was ist das anders,
fragt Herr Kramer, als eine bildliche Vorstellung der Kalte, wo-
mit ein Dichter den Niederflug anfanget? Er laugnet aber darum
nicht, daB sie bald der Erwarmung weiche, die mit der Arbeit
des Sinkens und mit der Tiefe so sehr zunimmt. Mein Freund
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 8$5
beschliesset seine Entzifferung mit dem leichtesten Theile der
Allegorie: daB nemlich auf dieser Sonne auch die Seelen friihver-
storbener Kinder wohnen; denn Kinder sind das bekannte Bild
der Bucher. Die Seek eines Buches heisset der Witz, die Phahta-
sie und das Gefuhl desselben. Man habe sich daher nicht zu
verwundern, bemerket Herr Kramer mit Recht, daB unsere be-
sten Schriften von alien diesen Gaben wenig oder nichts, zum
mindesten nicht sehr lange blicken lassen, da den meisten von
dem fruhzeitigen Rufe der Natur das Leben wieder abgefordert
to wird, und manche schon vor der Geburt d. h. vor dem Drucke
denGeistaufgeben; wenigstens schleiche, versichert er, von sei-
nen Satyren auf Wielanden und Herdern nur der papierne Kor-
per herum, und der witzige Geist derselben sey langst zu dem
untern Phobus eingegangen (nicht aber, wie Ariost saget, zu dem
Monde) allwo er denselben nach dem Tode wieder anzutreffen
hoffe: allein, daher konne man auch einem Autor die gute Mey-
nung von seinem eignen Kinde nicht verdenken, weil ihm allein
am besten bekannt seyn muB, wie groB der Witz und Scharfsinn
desselben war, ehe es beyde durch und nach dem Drucke verlo-
20 ren.
Jetzt muB der Leser den allegorischen Witz verlassen, und
mich wieder auf meiner kritischen Untersuchung begleiten.
Wenn ich den sinkenden Dichtern den Vorsitz vor den steigen-
den anweise, so thue ich es wahrlich nicht aus Vorliebe fur jene,
und aus Vorurtheilen gegen diese, sondern aus Griinden; moch-
ten die, welche mir widersprechen, der Sache nur halb so lange
nachgesonnen haben als ich! Denn, ich glaube erstlich die Ge-
schichte selbst auf meiner Seite zu haben. Aus ihr lasset sich
erweisen, daB alle kultivirte Volker sich zum dichterischen Fluge
30 weit besser und fruher angeschicket, als zum dichterischen Falle
und lange mit alien Vollkommenheiten des Erhabnen sich Ruhm
erworben haben, ehe sie in den Stand gesetzet wurden, nur mit
einigen betrachtlichen Verdiensten im Niedrigen hervorzutre-
ten. Die Romer musten sich lange Zeit mit einem Lukrez und
Catull , liber deren staten , unhorbaren und ruhigen Flug ich nicht
in das gewohnliche pedantische Entziicken gerathen kann, be-
856 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
gniigen, ehe die Zunahme der Verfeinerung ihre dichterischen
Frtichte zum Fallen reif machte. Denn kaum waren diese es zu
Horazens Zeiten; nur Mazenas, dessen Talente die Gesellschaft
von zween ertraglichen Dichtern entwickelte, betrat und traf
den abschufiigen Weg zum Niedrigen. Und gleichwohl wurden
damals diese FuBstapfen noch von wenigen aufgesucht; erst
spater hin fieng man allgemein an, mit dem hohen Kothurn sie
auszuftillen, zu vertiefen und zu erweitern. Eben so nahm das
franzosische Genie schon unter Ludwig XIV. mit wachsernen
Fliigeln den hohen Anlauf zu seinem jetzigen spaten aber ruhm- ro
lichen Sturze unter Ludwig XVI. Selbst unsere Litteratur hat
erst die hohern Stufen zuriicklegen mussen, ehe sie auf die ge-
genwartigen kam: denn, ich kann, ungeachtet des Stolzes auf
meine Nation, die Fortschritte im Bathos, auf welche das vorige
und jetzige Jahrzehend mit Rechte trotzet, gleichwohl dem vor-
vorigen noch nicht zugestehen, als worin wir zum jetzigen Sinken
bios ausholten.
Ich fahre in meinem Beweise fort, und bezeige die groste
Verwunderung, daB die Freunde des Erhabnen Feinde des Ba-
thos seyn konnen, da das erstere in der innigsten Verwandtschaft 20
mit dem andern stehet, und beyde mit einander in wechselsei ti-
ger Begleitung gehen; mir diinkte daher vielmehr immer, daB
man den erhabenen Dichter nicht erheben konne, ohne zugleich
den niedrigen mitzupreisen. Ich will mich aber iiber die Ver-
wandtschaft derselben naher erklaren. Ich betriige mich hoffent-
lich in der guten Meynung von den Feinden des Bathos nicht,
wenn ich ihnen zutraue, daB sie der Wahrheit das Opfer der
Unpartheylichkeit bringen, und auch unsern niedrigsten Dichtern
einige Grade von Schwulst zugestehen werden. Ich kann auch
dieses GestandniB mit Recht von jedem erwarten und fordern, 30
der auf einige Bekanntschaft mit unsern Oden und Trauerspielen
und unserer Prose Anspruch macht. Es fragt sich nun aber, ob
ein richtiger kritischer Maasstab den Unterschied zwischen
Schwulst und Erhabenheit wohl so groB befinde, als ihn einige
machen wollen? oder, wenn er es aber ist, ob er nicht vielmehr
zum Vortheile der Schwulst ausfalle, welche nur ein hoheres
USER DAS DICHTERISCHE SINKEN 857
Stockwerk iiber dem Erhabenen ist? Ich sollte es meynen. Der
Dichter, der noch unter der Oberherrschaft des gesunden Ge-
schmackes steht, muB in der Erhokung seiner Gedanken sich
unter den willkiihrlichen Grenzen halten, die ihm jener ohne
den geringsten Grund vorzuschreiben beliebt hatte; ein Despo-
tismus, der eine auffallende Ahnlichkeit mit einem andern der
romischen Kayser hat, welche fur die Gebaude eine Hohe, iiber
die sie nicht hinausgehen durften, festsetzten. Der Dichter hin-
gegen, der sich von der Eigenmacht des gesunden Geschmacks
10 losgewickelt hat, unterwirft auch seine poetischen Gedanken
den Einschrankungen desselben nicht, sondern an den Grenzen
des Erhabenen fangt er seine Erhebung erst recht an, und lasset
sie weit iiber das Erhabene hervorragen; - es ist dies eine Frey-
heit, welche der freye Deutsche in der Poesie eben so eifrig
zuerhalten suchen muB, als in der Baukunst, der unsere Gesetze
in der Auffiihrung der Hauser die freyeste Hand lassen, und
keine Erhohung derselben untersagen, die unsern Gassen den
Vortheil einer kiihlen Dunkelheit vers chaff en kann.
Ich bin aber noch nicht da, wohin ich will: denn es ist erst
20 die Natur des Zusatzes zu erwagen iibrig, durch welchen der
niedrige Dichter das Erhabne zum Range des Schwulstigen
erhebt.
Wenn man das erhabene Bild, das einen erhabnen Gegenstand
vorstellet, so lange verfolget und ausmalet, bis man den niedri-
gen Zug, der in keinem korperlichen Bilde einem satyrischen
Kopfe lange verborgen bleiben kann, darin ausgefunden und
mit erhabnen Farben angedeutet hat; so kann man sich gewiB
versprechen, durch den niedrigen Zusatz das Erhabne bis an
die Grenzen des Schwulstigen gefiihret zu haben*. Man kann
30 vorlaufig daraus eine Rechtfertigung unserer sinkenden Dichter
ziehen, daB sie die steigenden nachahmen. Denn, alles was sie
* Wenn Young sagt: Gott schlug aus der Finsternifi den Funken, die
Sonne, heraus; so ist das noch bios erhaben; denn, urn cs schwulstig
zu machen, miiste ein guter Dichter das unterstrichne Niedrige dieses
Gleichnisses in vielen erhabenen Worten aufdecken, und in ein sehr
glanzendes Licht stellen.
858 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
von ihnen entlehnen, ist doch offenbar bios das Erhabene d. h.
das, was sichallein unserm Geschmacke am wenigsten empfieh-
let; aber der schwiilstige Zusatz, wodurch sie den Werth des
Raubes um die Halfte erhohen, gehoret ilinen allein, und aller
Dank, den das Publikum dafiir saget, gebiihret ihnen ungethei-
let. In der That, wenn alle Nachahmungen, wie die jetztgedach-
ten, der Art waren, daB sie ihr Original verschonerten, und
durch Zusatze von Schwulst und Niedrigkeit fur das Publikum
angenehmer machten, so wie etwan nach Helvetius Thorheiten
und Kleinfugigkeiten den grossen Mann bey dem neidischen P6- 10
bel in Gunst und Ansehen setzen, so wiirden die Nachahmungen
bald verschrien zu werden aufhoren. Ich hatte oben noch sagen
sollen, daB nicht bios der erhabene Vorwurf durch eine niedrige
Verschonerung, sondern auch der niedrige durch eine erhabene
und unangemessene schwulstig dargestellet werde. Genug, daB
in bey den Fallen die Paarung zwischen dem Niedrigen und Er-
habenen den Contrast zuwege bringt, der schlechter dings erfor-
derlich ist, die wohlthatige Empfindung des Lachens zu erregen.
Hat aber einmal der Odendichter, Tragodiensteller und poe-
tische Prosaschreiber dem Leser ein Lacheln abgeschmeichelt, 20
dann hat er alles gethan, was man mit Recht von ihm verlangen
kann; verfehlet er aber freylich dieses, so hat er auch alles verfeh-
let.
Allein, es kommt mir beynahe vor, als wenn man iiber die
warme Freundschaft, die Schwulst und Satyre mit einander ge-
kniipfet haben, noch nicht viel nachgedacht hatte. Wenigstens
miiste man doch sonst aus derselben trefliche Auflosungen man-
cher schweren Aufgaben hergeholet haben. Man hatte sich z. B.
daraus erklaret, warum es so schwer sey, die Spotter unserer
erhabenen Dichter mit einiger GewiBheit von den Nachahmern 30
derselben zu unterscheiden, und den ahnlichen Fehler der Na-
turforscher zu vermeiden, welche die Satyrs mit den Affen ver-
wechseln. Von der Schwierigkeit dieser Unterscheidung kann
ich dem geneigten Leser selbst ein Beyspiel erzahlen. Nemlich
ein guter aber erhabener Dichter verlieB Deutschland, das er
mit einem sogenannten Meisterstiicke beschenket hatte, kurz
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 859
nach dem Abdrucke desselben. Ich meines Ortes habe zwar
daran nie viel Vergniigen finden konnen; aber warum ich es
gleichwohl um wie viel nicht hatte missen wollen, ist, daB seine
Erscheinung eine unubersehbare Menge der schwiilstigsten
Kopfe, die nur jemals vielleicht einen Parnas geadelt haben,
gliicklicherweise erweckte. Der Dichter kam wieder zuriick,
aber es hatte ihm von den unerwarteten Wirkungen seines Pro-
ducts eine Nachricht nicht einmal getraumt. Ich brachte also
mit vielen Kosten drey und f unfzig auszeichnende Nachahmun-
10 gen desselben zusammen, und versprach mir und ihm von der
Oberraschung damit das groste Vergniigen: denn von seinem
rechtschaffenen Herzen konnte ich erwarten, daB er iiber die
bessern Werke, von denen seines nur der AnlaB war, mehr Ver-
gniigen als Neid empfinden werde. Allein, wie erstaunte ich,
da er mir ganz kaltsinnig wieder sagte, er hatte geglaubt, um
seine Nation wenigstens keinen Spott verdienet zu haben, und
er miisse sich besonders wundern, wie Weygand so viele Satyren
auf einmal gegen ihn verlegen konnen. Umsonst widersprach
ich lange seinem Irrthume; erst mit den Journalen brachte ich
20 ihn zurechte, welche durch ihr Lob keinen Zweifel iibrig liessen,
dafi die Nachahmungen fiir wirkliche Nachahmungen zu halten.
Sollte dieser Dichter sich auf die Bekanntschaft des Menschen,
von dem er dieses hier lieset, nicht sogleich besinnen konnen:
so will ich ihn nur erinnern, daB ich der bin, dem er gewohnlich
aus Scherz mehr Ahnlichkeit mit dem Teufel zuschrieb, als sich
fiir einen Menschen vielleicht wohl schickt, und der seine Ver-
wechselung der Nachahmer und Spotter mit der folgenden des
Alexanders verglich. Der Held riihrte nemlich auf seinem indi-
schen Feldzuge mit seinem kriegerischen Schauspiele die Affen
30 einer Gegend dergestalt, daB sie gleich Kindern sich samtlich
entschlossen, »Soldatens« zu spielen. Zu fruh stand ein ganzes
mit Priigeln bewafnetes Heer von Affen da, das Alexander in
der Dammerung fiir ein feindlkhes von Indianern hielte, bis er
bey hellem Lichtc zu seinem grosten Vergniigen entdeckte, daB
die Gewafneten keine Menschen, sondern Affen waren, und
mehr Auxiliartruppen als Feinde zu seyn die Miene hatten.
860 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
Die Nachbarschaft der Schwulst und des Lachens lasset sich
auch noch durch andere Wahrnehmungen ausser Zweifel setzen;
wie z. B. durch die, daB unsere schwulstigsten Dichter, wenn
sie wollen, zugleich auch die scharfsten Spotter seyn konnen.
Eine Wahrnehmung glaub' ich, von der sich iiberhaupt ein vor-
treflicher Gebrauch zum VortheiJ unseres Parnassus machen
liesse, in dessen Lobspriiche fur die Menge seiner schwiilstigen
Dichter man nun schon lange genug den Vorwurf der Gering-
zahligkeit seiner satyrischen einmischte. Denn gar nicht an die-
sen letztern, sondern nur an den Anlassen, ihre Talente in Bewe- 10
gung zu setzen, fehlet es uns. Schlimmes Wetter, iible Gliicks-
und Gesundheitsumstande und bittere Feindschaften, - das sind
aber jene gliicklichen und seltenen Anlasse. Wer mithin diese
zu vervielfaltigen ein Mittel erfande, und besonders mehrere
und heftigere Feindschaften unter den schonen und schwiilstigen
Geistern anzustiften ein Arkanum mittheilte: der wiirde unserer
Litteratur in jedem schwiilstigen Dichter einen herrlichen Spot-
ter geschenket haben; ich erstaune iiber die Menge Dichter, wel-
che dannihre Hohe verlassen und mit einer Geissel die Erdenbe-
wohner besuchen wiirden. Wenn ich mich nicht irre, so ist es 20
mit den Dichtern gar kein anderer Fall als mit den Insecten.
Denn diese erhalten sich gleichfalls nur so lange in der obern
Luft als es schones Wetter ist; driickt aber der herannahende Re-
gen sie mit Diinsten, so fallen sie samtlich so fort in unsern
Bezirk herab, und stechen da Menschen und Vieh. Ich darf hof-
fen, daB man mein GleichniB nicht misdeuten, und nicht aus
der Niedrigkeit des Gegenstandes, wo von ich es hergenommen,
einen unzeitigen Argwohn, daB ich die Dichter damit verklei-
nern wollen, schopfen werde. Dieser Verdacht wiirde um so
mehr mich kranken, weil ich gerade die entgegengesetzte Ab- 30
sicht hatte, unsern Dichtern mit einem anstandigen, edeln und
ein wenig schmeichelhaften Bilde eine Ehre zu erweisen. Denn
das mit Gold besetzte Kleid hat in mir von den Insecten nach
und nach eine so hohe Meynung erzeuget, daB ich sie kaum
von einem golden und reichgekleideten Menschen groBer hege.
Und ware auch dies nicht, so wiirde mich noch immer das Bey-
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 86l
spiel der weisen Egypter schiitzen konnen, die auf ihren Obelis-
ken (nach Winkelmann) einen Kafer zum Bilde der Sonne ge-
nommen. Denn kann den Phobus oder Apollo dieses Bild nicht
entehren, so muB die Sohne desselben jcde Ahnlichkeit mit
den Insecten und mit den Kafern insbesondere, die, wie sie,
sich in die Erde hinunter graben, sogar adeln.
Die Ahnlichkeit der Schwulst und Laune befestige ich noch
mit der auffallenden, aber mir treflich zu passe kommenden
Bemerkung, daB in unsern Tagen, wo die poetischen Flugel bey-
io nahe so lang wie Konigshande gewachsen sind, auch zugleich
die Krallen der Satyre sich verlangert haben. Seit Sternes Zeiten
hat es wohl aufgehort zweifelhaft zu seyn, daft die Laune, und
besonders die sternische, einen Nationalzug im deutschen Cha-
racter ausmache. Ich habe wenigstens drithalbhundert Stuck
Romanen, voll der scharfsten Laune, aufgekauft, die satyrischen
Vorreden und satyrischen Noten der Ubersetzer gar nicht ge-
rechnet, die als Zugabe mit unter laufen mogen. Aus diesen
besteht beynahe meine halbe Bibliothek und ihnen hab' ichs
grostentheils zu danken, daB ich das Handwerk eines Biicher-
20 verleihers bis zur Zeit noch nicht aufgeben miissen; und etwan
den iibrigen Dichtern im Bathos noch, die ich daher auch bios
wegen ihrer ungemeinen Nutzbarkeit und nicht aus Interesse hier
vertheidige und lobe. Nie aber habe ich von einem ahnlichen
satyrischen Reichthume der Engelander oder Franzosen gehort
odergelesen, und den Beweis vom Gegentheil war' ich wirklich
begierig zu sehen. Durch den vereinigten Beystand der Verleger
und Leser ist es sogar, darf ich dreist behaupten, so weit gedie-
hen, daB man Satyre und Galle zum Merkmale eines Schriftstel-
lers nach der Mode mit eben der Sicherheit machen kann, mit
30 der man aus der GroBe der Gallenblase und aus der Menge der
Galle bey dem Rindvieh schlieBet, daB es mit der Seuche ange-
steckt ist.
Ich habe bewiesen, daB das Schwulstige eine geschickte Ver-
bindung des Niedrigen mit dem Erhabenen ist. Mithin fallet
die Scheidewand von selbst iiber den Haufen, welche der Kunst-
richter, ohne Befehl der Natur, zwischen den steigenden und
862 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
sinkenden Dichtern gezogen, und Klopstock behalt ganz recht,
wenn er in obengedachten Allegorien saget, daB die Sonne am
Himmel mit der Sonne in der Erde zusammen wirke, d. h. daB
der obere Phobus, in Gesellschaft des untern, den Dichter be-
geistre. Von dieser Verwandschaft des Niedrigen und Erhabe-
nen sieht man in der korperlichen Natur schon Ahnlichkeiten.
Aus derselben Ofnung des Saamenkorns sprieBet die Wurzel,
die nach unten und das Stammchen das nach oben gehet; bey dem
Cometen spielet dasselbe Anhangsel bald den Schwartz, bald
den Bart, je nachdem es der Stand gegen die Sonne erlaubt. 10
Man kann daher den Gedichten des Herrn Haschke im deutschen
Museum. das Verdienst einer seltnen Erhebung beylegen, ohne
die Wahrheit nicht nur ohne auch den Sprachgebrauch im ge-
ringsten zu beleidigen: denn die Etymologen lehren uns, daB
vom Worte Teuche (unser jetziges Tiefe) durch eine gewohnli-
che Vorsetzung des S das Wort Steuchen, d. h. Steigen, gebildet
worden; und so kann man, umgekehrt, dem Flugennserer besten
Dichter den Namen des Falles geben, wenn man auch keinen
Milton hier zum Vorganger hatte, der das Aufsteigen eines Engels
zur Sonne nicht wtirdiger zu schildern weiB, als daB er es ein 20
Herabfahren zu derselben nennt; eine Fcinheit, die Addison ohne
alle Ursache meisterte.
Ich mochte nicht gerne das Ansehen haben, als ob ich die
Uberzeugung des Lesers nur zu erschleichen suchte; ich lege
ihm daher noch einen Grund fur die Vorziiglichkeit der sinken-
den Dichter vor, von dem ich mir viel verspreche: den, daB
diese mit dem vorziiglichsten Theile ihrer Geschicklichkeit
schon gebohren werden miissen, die steigenden .aber oft die
Halfte ihres Werths von der Kunst erst nachgezahlt bekommen;
ein Unterschied, der sehr zum Vortheil der sinkenden Dichter 30
bey jedem sprechen muB, der sich nicht ganz von den Urtheilen
des Adels entfernt, welcher seine angebohrnen Verdienste seinen
erworbenen so weit vorziehet. Man gebe mir zu einer maBigen
Phantasie nur so viel Scharfsinn als man nothig hat, um von
den Winken der Kritik und der Muster Gebrauch machen zu
konnen: so verspreche ich Werke zu liefern, die ein angebohrnes
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN s 863
Ubergewicht der Einbildung vorauszusetzen scheinen sollen;
und die Phantasie, die nie von der Erde bios mit ihren Fliigeln,
aufgekommen ware, steiget unter unsern Blicken, wenn sie den
Flug von der kleinen Anhohe der Muster und Regeln anfangen
konnen. Ich erlautere mich mit LeBings Beyspiele: war dessen
Phantasie nicht so genau und fast karg gegen seinen Scharfsinn
abgewogen, so wiirde die Geburtsstunde seiner Meisterstiicke
nicht erst in der Bliithe des letztern, sondern schon in der Bliithe
der erstern geschlagen haben. - Allein nicht so verhalt es sich
10 mit dem Dichter, der im Sinken hervorsticht; dieser wird ge-
bohren und nicht gemacht, so wie die Fische, die zeitlebens
dieTiefebewohnen sollen, mit den Schwimmblasen verschonet
bleiben. Denn von dem, was den niedrigen Dichter eigentlich
zum niedrigen Dichter macht, verdanket er das meiste der Natur
und wenig der Kunst, ich meyne das dichterische VerhaltniB
der Seelenkrafte unter einander, das man gewohnlich in Starke
der Phantasie und in Schwache des Verstandes und Leerheit des
Gedachtnisses setzet. Ich fasse diese Anlagen in dem kurzen,
und von keinem verachtlichen Nebenbegriffe begleiteten Aus-
20 drucke -»Einfalt« zusammen; ein Wort, an dessen bessern Be-
deutung der Leser von einigen Neuern schon muft gewohnet
seyn. Doch vorher vom GedachtniB! Man hat dasselbe sehr gut
mit einer Wachstafel verglichen; je weniger diese nun mit frern-
den Eindriicken und gelehrten Buchstaben besudelt worden,
je reiner, je weisser sie mithin ist, desto besser schickt sie sich
fur den unschuldigen Dichter: Jemehr er seinen ideenhungrigen
Geist Fasttage haltcn laBt, desto aufgelegter wird er zu Entziik-
kungen, und desto vertrauter mit den Eingebungen des Phobus,
so wie man sich sonst durch leibiiches Fasten zu den Mysterien
30 des Apollo einweihte. Je weniger er Ideen hat, desto mehr bildet
er an denen, die er hat, und desto angelegner lark er sich ihre
Aufblasung seyn, weil er anders den Kopf und den Vers nicht
fiillen kann. Will man Beyspiele von Poeten, deren Phantasie
das Opfer des iiberfullten Gedachtnisses geworden, so kann man
sie sogar an erhabenen Dichtern finden, wie z. B. an Milton
und Kowley, deren Gedachtnis nicht selten ihre Phantasie so
864. JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
arg bepackte, daB sie unter ihren Schatzen sich kaum aufzurich-
ten, noch weniger aufzuschwingen vermochten; so wie oft der
in der Wdrme zerflossene Honig sich auf die Fliigel der Bienen,
die ihn eingetragen, leget, und den Gebrauch derselben ihnen
verleidet. Wenn es so ist, wer wird nicht mit mir wiinschen,
daB man von den Dichtern alle Kenntnisse, wie von den Bienen
alien Honig, entfernen mochte? - Was die Einfalt anlanget, so
mag ihre allgemein eingestandene Ahnlichkeit mit langen Ohren
ein Beweis ihrer Unentbehrlichkeit zum Dichten seyn: derm
eine kurze Bearbeitung der Kunst kerbet die langen Ohren in 10
poetische Flugelchen aus; und je groBer die Ohren sind, f desto
groBere und schwerere Fliigel geben sie. Allein diese Unwissen-
heit (um wieder zu meiner Sache zuriickzukehren) muB sie nicht
schlechterdings angebohren werden? Denn kann sie der Mensch
sich selber geben? Oder verlieret er nicht taglich einen Theil
von ihr, so wie von seiner angebohrnen Unschuld?
Zwar wird die Nachwelt vielleicht noch ein Mittel fur die
Dichter erfinden, den Verstand zum Besten der Phantasie zu
entkraften, wenn man das anders nach einer ahnlichen Entdek-
kung fur die Fink en zu erwarten berechtigt ist, denen man durch 20
das Blenden der Augen das Singen erleichtert; allein jetzt vermis-
sen wir dies Mittel noch gar sehr: wenigstens leisten die hitzigen
Getranke, die unfigurlichen Umarmungen der Musen noch bey
weiten das nicht, was ich mir von kiinftigen Entkraftungen des-
selben verspreche.
Ich habe alles gelesen was man gegen Dichter im Bathos vor-
gebracht; und ich finde, daB es grostentheils auf Klagen iiber
ihreDunkelheithinauslauft. Es ist aber sonderbar, daB mir diese
Klagen nur dem Dichter Ehre und dem Leser Schande zu ma-
chen geschienen, und ich bewunderte den letztern nicht, daB 30
er Verse, die jener mit so vieler Leichtigkeit macht, mit so vieler
Miihe lieset, so wie ich, umgekehrt, einen bekannten Dichter
nicht sehr bewundern kann, in dessen Versen die Muhsamkeit
der Schopfung mit der Leichtigkeit der Lesung einen sonderba-
ren Absatz machet.
Denn um kurz zu seyn, die schwiilstigen Dichter konnen fur
USER DAS DICHTERISCHE SINKEN 865
ihre Dunkelheit wenig oder nichts, und man muB sich sehr hii-
ten, daB man die ihrige nicht mit der Dunkelheit einiger Alten
und des Pope verwechsele, und hernachauf diese Verwechslung
etwan ein ahnliches Verdammungurtheil griinde. Persius und
Pope konnen allerdings auf keine Weise ihre Dunkelheit ent-
schuldigen; ihre Gedanken sind offenbar so dicht auf einander
geschlichtet, daB keinLicht dazwischen fallen konnte. Aber kann
man eben dasselbe unsern dunkeln Dichtern vorwerfen? - ver-
binden sie nicht mit einer groBen Sparsamkeit in Worten wenig-
10 stens keine kleinere Sparsamkeit in Gedanken? und.konnten sie
ihre Kiirze glucklicher aufklaren als durch ihre Leerheit? Frey-
lich, dem undenkenden Leser verursachet schon dieses zu viel
Miihe; aber mir diinkt, ein guter Dichter muB doch auch ein
wenig auf den Geschmack der denkenden Leser Rucksicht neh-
men, die es ihm desto groBern Dank wissen, wenn er, sobald
er Nichts saget, es in so wenig Worten als moglich saget, und
dasselbe groBe Nichts, das aus tausend Kopfen das Gehirn ver-
dranget, in wenige Strophen zusammenpresset. Andere wollen
unsere Dichter wegen einer leeren Schwulst dunkcl gcfundcn
20 haben, und diesen antworte ich: es ist wahr, der Mangel des
Sinnes macht eben so unverstandlich als der UberfluB desselben;
doch - ich will mich an einem Gleichnisse erklaren. Man ofne
eine aufgetriebene Schweinsblase, so findet man, bios mit einem
gemeinem Auge, nichts als Wind. Allein wird einNaturforscher
nicht mehr darinnen entdecken? Allerdings: Er wird himmli-
schen Ather in Menge gewahr werden, wovon der Wind bios
das Vehikulum und der Korper ist. Aus dem Euler aber wird
er sich noch vielleicht besinnen, daB es wenig braucht, diesen
Ather in Licht und Feuer zu erhohen. So ist es nun nicht nur
30 mit einer aufgeschwollenen Blase, sondern auch mit ^aufge-
schwollenen Versen beschaffen. Ein fliichtiger und unvorberei-
teter Blick findet nichts als Luft, ein eingeweihter hingegen in
der Luft noch hohen Ather. Daher ist unter alien litter arischen
Lacherlichkeiten die wohl die lacherlichste, daB man die Schuld
seiner eignen zu kurzen Ohren auf die unhorbare unverstandli-
che Sprache der Dichter schieben will. Ich will noch einmal
866 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
dem Leser etwas erzahlen, weil ihm meine obige Erzahlung,
wie ich ihm leicht abmerken konnen, so sehr zu gefallen das
Gliick gehabt. Ich verfochte neulich die Verstandlichkeit der
Sprache der Thieve gegen einen kalten Philosopher!. Ich stellte
ihm vor, daB sie unter einander sich sehr leicht verstehen konn-
ten, ohne es darum uns Menschen zu seyn. Der Philosoph blieb
bey seinem Wahne und ich wiirde mich zuletzt wohl gar haben
entschlieBen mussen, ihn von demselben durch meine jahzorni-
gen Hande zu befreyen, war' es mir nicht noch mit dem folgen-
den gelungen. Ich legte ihm die Frage vor: ob er von der Sprache 10
gewisser neuerer Dichter ein Wort verstiinde? Er muste es ver-
neinen; gleichwohl, sagte ich, verstehen sie sich unter einander
sehr wohl, und so - senior] ich - verstehen sich auch die Thiere.
Er wandte zwar noch die Sprachlosigkeit von einigen der letz-
tern vor, allein ich kam wieder auf die Dichter zuriick, und
erinnerte, daB auch diese seit einiger Zeit sich einander ungleich
weniger durch gedruckte Sprache als durch gedruckte Panto-
mime verstandlich machten, und daB sie, nachdem sie gefunden,
wie unsicher und miBlich es war, in die Worte den Sinn vor
den Ungeweihten. einzusperren, nun wenig oder gar keinen 20
mehr in dieselben legen. Gleichwohl wissen Adepten den Ver-
stand in den Gedankenstrichen, doppelten Ausrufungs- und
Fragezeichen, Apostrophen u.s.w., als in welche er sich aus den
Worten zuriickgezogen, sehr wohl zu finden. Ich ersuchte ihn,
dieses auf die Thiere anzuwenden, die ebenfalls an die Stelle
der Sprache die Bedeutsamkeit pantomimischer Korperbewe-
gungen setzen, und gab ihm zu bedenken, ob nicht die Schmei-
cheleyen, die ein Hund fur den andern in gewisse Schwingungen
seines Schwanzes leget, den Augen eines andern Hundes so ver- '
standlich sey[e]n, als es den Ohren der Dame dielauten Schmei- 30
cheleyen sind, die ihr die Schleppe nachrauschet. - Ich iiberlasse .
es unsern Dichtern selbst, von diesem Gesprache den Gebrauch
zu machen, den sie fur ihre Rechtfertigung am vortheilhaftesten
befinden. - Die Aufhaufung und Ineinanderschiebung der Me-
taphern wird auch von einigen uns als eine Ursache der Dunkel-
heit des Sinnes vorgerucket. Allein es ist wohl nicht der Miihe
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 867
werth, darauf zu antworten. Denn es sollte sich doch, denk'
ich, von selbst verstehen, daB, wo Metaphern sind, audi nur
von diesen und nicht vom Sinne die Rede seyn kann. Sind jene
bunt und deutlich, so hat der Dichter das seinige gethan; ob
der Sinn darunter groB oder klein, und vollends, ob er dunkel
oder deutlich sey, ist hochst gleichgultig, da er sogar, ohne den
geringsten Schaden, ganz wegbleibenkann. Denn das wolle der
Himmel nicht! daB man jemals anfinge, die Gegenwart oder
gar die DeutJichkeit des Sinnes durch Aufopferung der Meta-
10 phern zu erkaufen; das verhiite der Genius des poetischen Ba-
thos, daB sich je die Dichter auf irgend eine Weise das Joch der
alten Kiinstler aufbiirden lieBen, welche die Lesbarkeit der Auf-
schriften nicht zu theuer zu bezahlen glaubten, wenn sie deshalb
bios den kahlen weissen, und niemals schonen bunten und fleckig-
ten Marmor dazu wahlten.
Unter den Vorziigen der grabenden Dichter verdienet der
wenigstens eine beylaufige Erwahnung, daB sie aus der Tiefe
edle und vollkommene Metalle hervorziehen; ich ziele auf keine
figurlichen, sondern auf unfigurliche, die sowohl den Poeten
20 als ihren Schuldnern zum grosten Nutzen gereichen, so wie un-
serer Nation zum grosten Ruhme: denn die GroBe des Hono-
rariums, womit man jetzt die gangbaren Muster im Bathos auf-
wiegt, wird, meines Erachtens, immer der starkste Beweis mit
bleiben, daB unsere Litteratur ihr goldnes Alter hat.
Ich habe einige Hofnung, daB man nach meiner Apologie
die grobsten Vorurtheile fahren lasset, womit man gegen die
Dichter im Bathos eingenommen war. Vielleicht bemerket man
sogar die Begiinstigung nicht mit Gleichgultigkeit, welche ih-
nen aus einem fleiBigen Gebrauche der swiftischen Anweisung
30 zum Sink en erwachsen wird, und die ich ihnen gewiB davon
verspreche. Denn vielleicht waren sie nieso im Stande, wie jetzt,
die ganze Nutzbarkeit dieser Anweisung zu erschopfen. Muster
in alien Arten von Bathos richten jetzt den guten Kopf zum
Sinken ab; alles, was wir noch zu erwarten brauchen, sind Re-
geln dazu, und wenn Swifts seine nicht die besten sind, so sind
sie doch auch nicht die schlechtesten, weil sie grostentheils aus
868 JUGENDWERKE ' 3.ABTEILUNG
englischen Poeten, gegen deren Geschmack wir nichts einwen-
den konnen, gezogen worden. Die Befolgung dieser Regel ist
der einzige, aber wichtigste Schritt, den wir zu unserm Ziele
noch thun mussen. Denn man wird es mich nie bereden, daB
alle Riesenarme aller unserer Genies nur etwas Vollendetes auf-
zufuhren vermogen werden, wenn sie ihre Krafte nicht an ge-
wisseRegelnlenken. Von denFuBstapfen, (unddas sindRegeln),
welche friihere Genies selber eingedriickt, mufi sich das spatere
den Weg anweisen lassen, wenn es nicht seine vorsetzliche Aus-
beugung mit langwierigen Verirrungen biissen will; und wenn 10
man vorschiitzt, daB unsere grosten Kopfe im Bathos selbst
das Gegentheil behauptet haben, so glaube man nur auf mein
Wort, daB man sie nicht recht verstanden. Ich will aber das
MiBverstandniB aufklaren. Unsere Genies mogen in noch so
allgemeinen Ausdriicken gegen alle Regeln eifern: so begreifen
sie unter ihrer Verachtung doch nur diejenigen, welche die
Kunst zu steigen lehren, und es ist ihnen nie eingefallen, ihren
Ungehorsam auch auf die ausdehnen zu wollen, bey denen man
sinkenlexnet. Wie viele Satyren auf diese vermeyntliche Ausdeh-
nung werden jetzt auf einmal stumpf ! Denn in diesen Schranken 20
ist nichts verminftiger als ihr HaB gegen kritische Gesetze; sie
wollen sinken und man will ihnen dazu Vorschriften aufdringen,
die ganz gut seyn mogen, allein nur wenn man steigen will;
sie suchen, gleich guten Philosophen, die tiefste Tiefe, und man
zahlet ihnen die Handgriffe vor, womit man seine eigene Fliigel
in Schwung bringet und lenket - Was ist unverniinftig, wenn
es dies nicht ist? - Ihre Gegner, die Kunstrichter, vermutheten
vielleicht selbst so etwas:, denn warum thaten sie zuletzt den
Vorschlag, dem niedrigen Adel der Dichter, d. h., dem sinken-
den solle, wofern er nur der Kunst einen Zutritt in seine Werke 30
gestattet, dafiir erlaubet seyn, iiber dieselbe eine bunte Decke
zu ziehen und sie zu verbergen, (artem celare, sagt Horaz). Wie
man doch in der Enge, wohin man sich getrieben siehet, vor
der Niederlage sich windet und wiirget! Ihr lieben Kunstrichter
und du kleiner Horaz auch mit! Die Versteckung der Kunst rathet
denen an, die sich einmal mit ihr schleppen miissen; allein seyd
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 869
froh, daB ihr Genies besitzet, welche iiber diese zweydeutige
Bemantelung hinaus seyn konnen, welche die Maitresse (die
Kunst) voider Frau (der Natur), nicht hinter dem Betschirm
zu verstecken nothig haben, weil sie selbige besser gar nicht
eingelassen. Es ist unstreitig wohl gethan, das Schlechte zu ver-
bergen; allein es ist noch besser, es gar nicht zu haben. Nur
die Alten musten sich zu dem erstern bequemen, weil sie das
letztere - bios ein pedantischer Verehrer derselben kann mir
widersprechen - nicht kannten. Ich glaube, unsere Kopfe ver-
10 dienen fur diese Neuerung das Lob noch in einem weit hohern
Grade, das der Kiinstler des goldenen tunderischen Homes fur
eine ahnliche erhalten. Vor ihm war man uneinig, ob man den
Figuren entblofite oder bedeckte Geschlechtsglieder geben miisse,
und die Kliigsten zogen die Bedeckung vor. Unser nordische
Kiinstler war noch kluger als beyde, er liefi sie an den Figuren
dieses benihrnten Homes ganz und gar hinweg. Ich will mich
an einem einheimischen Bilde erklaren. Ich setze voraus, daB
die Papilloten, die den Seitenhaaren die Rollungen der Mode
gelauhg machen, den kritischen Regeln gleichen, welche das
20 Genie werk bilden und erziehen sollen. Nun ersuche ich den Le-
ser, meinen Schuster genau zu betrachten, und mir hernach auf-
richtig wieder zu hinterbringen, was er an der Frisur desselben
wahrgenommen. Er wird unfehlbar an jeder Seite des Kopfes
zwo gerade ausgehende Papilloten entdecken, an deren Gestalt
sich ein delikates Auge ordentlich stechen muB. Gleichwohl
weiB sein Kopf, so lange er getragen wird, von keinen Locken,
sondern die Papilloten, die bey andern dieselben bilden, ersetzen
sie bey ihm; in dies em abscheulichen Haarputz gehet er ohne
Bedenken herum und misset Stiefel an. Der Stutzer hingegen
30 machet von der Papillote den Gebrauch eines Mittels, das Haar
zu locken, und es unter dem gliihenden Eisen unversehrt zu erhal-
ten; er traget sie hochstens zu Nachts. Wer endlich philosophi-
scher denkt als beyde, erspart sich die langsame Verschonerung
und begniigt sich mit Locken, wie sie aus fliichtigen Kammstri-
chen herausf alien. Meinem Schuster, den ich so lacherlich ge-
macht, gleichen die pedantischen Poeten, in deren Werken die
87O JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Kunst die Stelle der Natur einnimmt und das Mittel den End-
zweck vertritt. Dem Stutzer gleichen die griechischen und ro-
mischen, welche den Beystand der Kunst annehmen aber ver-
hehlen; und dem Kliigsten die neuern Genies, die den Beystand
ganz ausschlageri und mit ihrer Schopfung nur desto geschwin-
der fertig werden. - So weit hatte ich geschrieben als ich es
einem Candidaten der Theologie lesen lieB, der mich fur die
Mittheilung mit einigen mehr wahren als feinen Schmeicheley-
en, und hernach mit einem Gleichnisse belohnte. Er versicherte
mich, die sachsischen Theologen hatten einmal in einem ahnli- 10
chen Streit mit dem bertihmten Hafenreffer iiber die Frage gele-
gen: ob Chris tus in seiner Menschheit wohl die Verhehlung
( KQvtyi<; ) oder die Entausserung (kzvwok;) seiner Gottlichkeit be-
obachtet habe; die Sachsen, welche die Entausserung verfoch-
ten, hatten den Sieg davon getragen, und so, setzte er hinzu,
werde und solle auch die Entausserung der Kritik und Kunst iiber
die Verbergung derselben die Oberhand behalten.
Also, wie gesagt, in diesem Sinne wird jeder mit den Genies
eins seyn, daft sie bey der geringsten Macht, die sie der Kritik
iiber sich einraumten, um ihre besten Gedanken, um alle Origi- 20
nalitatkommen, undkurz, Uhren mit abgeschnittenen Gewich-
ten ahnli ch werden wiirden. Allein, wenn sie sich gegen die
Kettendev Regeln erklaren, welche gleich Hemm- oder Sperrket-
ten ihren Wagen der Psyche vom Parnasse in seine Tiefe ge-
schwinder und leichter herunter zu rollen verhindern: miissen
sie denn darum auch gleich diejenigen Ketten verwerfen, woran
der Wagen vom Lastvieh fortgezogen wird, und gleich behaup-
ten, daft sie sich bios ihrem naturlichen Gewichte iiberlassen
wollten? Vielleicht leidet auch ihr gewohnlicher Nachdruck
diese unzeitige Ausdehnung. Allein man hatte denselben aus 30
ihren Schriften berichtigen soil en, welche uns ihren Abscheu
vor Regeln in den richtigen Schranken zeigen. Derm in den mei-
sten derselben sanken sie nach gewissen Mustern. Mustern aber
seine unbandigen Krafte unterwerfen, heist lebendigen personi-
fizirten Regeln sich unterwerfen. Nur daft man, Trotz aller Vor-
sicht, hiebey nicht vollig ausser Gefahr ist, sich in der Wahl
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 87 1
der Muster zu betrugen; und es waren daher gewiB nicht die
schlechtesten Kopfe unserer Nation, die ihren Sturz nach gar
keinem Beyspiele einzurichten sich entschlossen; so wie diejeni-
geri Affen von den Naturkiindigern insgesamt fiir die kliigsten
erklaret werden, welcheden Menschenzm wenigsten spielen und
nachahmen. Allein immer bleibt der Natur die Kunst unentbehr-
lich, und das angebohrne Gewicht eines Autors kann bey aller
seiner Schwere noch eine Vermehrung annehmen. Brauchen
nicht alle Schwermiithige, ihres schweren Blutes ungeachtet,
10 noch die Vorsicht, ihrem Sinken im Wasser, durch eingestecktes
Bley, gleichsam Fltigel zu geben? 1st es nicht von denPharisaern
bekannt, daB sie, um aus Andacht ihre Kopfe gegen die Erde
besser und langer gebogen zu erhalten, ungeachtet dieselben mit
Bley genug dazu versehen waren, gleichwohl noch eine betracht-
liche Quantitat von diesem Metall in ihren Miitzen trugen? Oder
ist es mit dem poetischen Sinken anders? - Ich schlieBe hieraus
nichts, als daft Swifts Abhandlung das herrlichste Mittel werden
kann und werden soil, unsere Litteratur empor zu bringen, und
unsern Genies den Geschmack an den Regeln einzufloBen. Viel-
20 leicht wider legen unsere Sanger kiinftig durch einen willigen
Gehorsam gegen dieselben den abgenutzten Spott und die oft
gesungenen Klagen uber ihre Regellosigkeit. Vielleicht thun
diese Regeln das angebohrne Gewicht, das sie freylich nie ersez-
zen, ja vielleicht kaum vermehren konnen, wenigstens leiten; und
schon das ist genug, so wie auch die Holzhauer mit den Seilen,
(damit spiele ich auf die Ketten der Regeln an), die sie an den
Gipfel eines hohen Baums anbinden, den Fall desselben nicht
bewirken, aber doch lenken.
Ich habe nun ausgcredet, und Ciberlasse es dem Publikum, aus
30 meiner Rechtfertigung des dichterischen Bathos den Nutzen zu
schopfen, den ich darin versteckt habe, und in derselben die
Grunde zur Beforderung desselben aufzusuchen. Ich rede hier
dasjenige Publikum an, das in kleinen Stadten ausschlieBend
diesenNamen fiihret; ich meyne das niedrige und gewissermaa-
^cn den Pobel. Mit dem feinern ausgebildeten Publikum hab
ich nichts zu schaffen. Seine Kalte und sein Phlegma gegen das
872 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
deutsche Bathos ist beriichtigt und getadelt genug. Es mag auch
kiinftighin sich an einer Dichtkunst laben, die mit seinem Stande
gleich sehr erhaben ist, so wie es aber auch fortfahren mag, uns
niedrige Dichter an derselben durch vortheilhaften Undank zu
rachen. Aber nur die Gunst des niedrigen Publikums suche ich
einer Dichtkunst auszuwirken, welche sich sowohl fur dasselbe
schickt. Meines Erachtens sollte die Stimme desselben allein ge-
horet werden und jede andere uberschreyen; nicht bios, weil
es bey weitem die groBere Anzahl ausmachet, sondern weil iiber
die Dichtkunst, welche nach unsern neusten und besten Astheti- 10
kern lauter Volkspoesie seyn soil, auch nur das Volk entscheiden
kann. Eine Ode, z. B., miBfalle mithin dem abgeschliffnen
Gaumen so sehr als sie wolle, sobald sie nur dem Pobel nicht
miBfallet: so hat man noch kein Recht, ihr das Zeichen der Ver-
werflichkeit, ja nicht einmal der Zweydeutigkeit aufzudrucken.
Es ist dies so wahr, daB ich mich deshalb kaum auf den seel.
Abt zu berufen fur nothig halte, der den Sitz des besten Ge-
schmacks in den niedern Standen sucht. An den Pobel wende
ich mich daher, und stelle ihm vor, daB nun das Schicksal unserer
niedrigen Dichter auf ihn ankommt, daB es in seiner Gewalt 20
stehet, durch seinen Beutel, seine Augen und seine Federn sie
bey ihrem jetzigen Gliicke zu beschutzen, oder ihnen gar die
Oberherrschaft in die Hande zu spielen, und (iberhaupt der Vor-
mund unseres Genies zu seyn, an welches uns Herr Adelung
den Anspruch, bios wegen unserer groBen Korper, abspricht,
welche doch, wie er hatte sehen sollen, gerade im Gegentheil
bey unserm poetischen Sinken die Wirkung eines Bleygewichts
verrichten. Ich stelle dem Pobel ferner vor, daB sich ihm jetzt
die beste Gelegenheit zur wirksamen Unterstiizzung des Bathos
anbietet, da der Buchhandel im grosten Flore stehet, da unser 30
niedriger Genius zu neuen Kraften aus seinem Winterschlafe auf-
gewacht ist, da wir beynahe eine verschwenderische Anzahl
schwerer Kopfe unter unserm Beschlusse haben, Und da ihr all-
gemeiner Wetteyfer im Sinken ein gewisses Bonmot nicht Lii-
gen straft, das ich zu dem Herrn Professor Lichtenberg sagte
und jetzt erzahlen will. Ich hatte die Ehre, mit ihm, da wir
UBER DAS DICHTERISCHE SINKEN 873
uns in England aufhielten, nach Greenwich zu fahren. Unter-
weges stritten wir lange iiber den Werth der deutschen und der
englischen Genies. Vielleicht nahm ich die Parthie der erstern
mit zu vieler Warme; allein mir diinkte, Lichtenberg sprang
doch auch ein wenig von der strengen Wahrheit ab, da er den
Wetteyfer der englischen Musenpferde mit dem Wetteyfer der
Pferde zu Newmarket in Vergleichung zu stellen beliebte. In
Greenwich besahen wir das dasige Seehospital, worin ein Wett-
rennen auf Tischen uns beyde in das groste Erstaunen und Ver-
io gniigen setzte. Der Leser irret, wenn er etwan vermuthet, daB
es lilliputische Pferde, dergleichen Gulliver auf seinem Tische
hatte, gewesen: sondern es waren Lause, mit denen die Matrosen
ein brillantes Wettrennen angestellet hatten. Ich will meinen Le-
ser[n] weder mit dem unbeschreiblichen Geschrey , noch mit den
Summen, die dabey verloren oder gewonnen wurden, und die
man in der Hitze der Hofnung oft bis zum Werthe eines Haar-
kamms steigerte, beschwerlich fallen: sondern nur sogleich sa-
gen, daB ich davon AnlaB nahm, den Witz des Herrn Professor
Lichtenberg mit meinem nicht ungeschickt zuriickzuschlagen,
20 indem ich ihm auf deutsch erofnete, daB mir dieses Wettrennen
des Ungeziefers das glucklichste und edelste Bild von den Wett-
laufen des Ruhmes und des Genies zu seyn schiene, in denen
die deutschen schonen Geister einander zu (iberholen suchen,
so wie die larmenden Matrosen, deren jeder sein Gluck den
Fiissen eines Insectes anvertraute, den Anfiihrern der litterari-
schen Partheyen glichen. Der Verfolg des Gesprachs gehoret
nicht hieher: nur bitte ich noch den, der mit dem Schmeichel-
haften, das meine Vergleichung mit unserm Parnas enthalt, etwa
nicht zufrieden ist, zu erwagen daB die meines Herrn Gegners
30 noch ungleich schmeichelhafter fur den englischen gewesen.
Ich werde mich mehr als zu gliicklich schatzen, wenn ich
mit diesem Aufsatze den niedrigen Dichtern vielleicht einen
Schild oder auch einen Helm gegen die satyrischen Pfeile, die
von alien Seiten auf sie abgeschossen werden, in die Hande ge-
geben habe; und ich werde mich dafiir hinlanglich belohnet fuh-
len, durch das Bewustseyn, der gerechten und angefochtenen
874 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Sache beygestanden zu haben, und durch die Hofnung, die sin-
kenden Dichter und ihre Werke vielleicht vermehren zu helfen,
als welche mir in meiner Lesebibliothek das meiste Geld eintra-
gen: und nur dieses letztere war der eigentliche Anlatf meiner
Vertheidigung derselben, gar nicht aber niedriger Eigennutz.
[VON DER GOTTLICHKEIT DER FURSTEN]
Ich weis recht wol, was ich wage, daft ich in unsern Tagen,
wo man mit einer bewundernswiirdigen Ubereinstimmung den
Fiirsten die Menschwerdung anzumuthen sucht, [fiir] die Rechte
ihrer hohern Natur das Wort fuhre. Ich erwarte auch fiir meinen
freimiithigen Widerspruch von denen, welche die Fiirsten
nichtfs] lieber als herabsezen, den ruhmlichen Vorwurf , daB ich
die feile Vergotterung derselben den ausgearteten Alten nach-
spreche. Allein die Sache der Wahrheit geht mir iiber alles und
io auch iiber meine eigne Ehre; dazu gewinnet sie doch iiber kurz
oder lang iiber die Mode die Oberhand und es konte dan viel-
leicht auch kommen, daB man den eilfertigen Spot wiederruft,
womit man sich an dem Freunde derselben vergieng. Vielleicht
ist sogar, wenn ich nicht zuviel hoffe, diese gliikliche Zeit, wo
man die Gotlichkeit der gekronten Haupter nicht mehr in Zwei-
fel ziehen wird, schon nahe. Es gehe der Despotismus derselben,
(ich brauche das Wort im besten Verstande) der von ieher die
Menschen ihre hohere Natur kennen Iehren, nur in gleichem
Schritte fort und nicht zuriik, so hoff ich, meines Alters unge-
20 achtet noch selber ihre algemeine Vergotterung zu erleben.
Vielleicht diirften dan manche Skribenten, die mich zum Marty-
rer dieser Abgotter machen, die Opfer derselben zu werden sich
entschliessen miissen. Ichmus iiberhaupt hier einen auffallenden
Widerspruch aufdekken. Es ist namlich ausserst sonderbar, daB
in unsern Tagen, wo die Thronen so sehr unter unsern Blikken
in die Breite und Hohe wachsen, wo die koniglichen Arme sich
so sehr verlangern und sogar vervielfaltigen und wo kurz die
starksten Zeugen von der Gotlichkeit sich in immer grosserer
Anzahl einstellen, daB sag' ich, gleichwol die Zal derer Skriben-
30 ten noch gros ist und beinahe wie es scheint, eben da rum grosser
wird, welche von der Natur derselben die unwiirdigsten und
876 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
oft ruchlosesten Meinungen ausstreuen, daB mit dem Beweise
ihrer Gotlichkeit zugleich die Zweifel daran und mit dem Des-
potismus die Zal derer anwachst, welche die . . . verschreien.
In der ganzen grellen Gestalt erscheinct dieser Widerspruch in
Frankreich, welches den Montesquieu p. getragen, die die gotli-
chen Rechte auf die bitterste Art angegriffen und die Sache der
menschlichen Freiheit so gut verfochten haben als der Wiz eine
schlechte kan. Die Ursache dieses Widerspruchs mag ich nicht
aufsuchen, weil ich besorge, daB sie der menschlichen Natur
nicht sonderlich Ehre machen mochte. - Allein ich wende mich 10
nun zum Beweise, daB die Fiirsten wahre Gotter sind. Unter
den erstern versteh' ich, wie man leicht errathen kan, iedes We-
sen, was sich mit einer Krone bedekken und auf einen Thron
sezen darf: doch mus ich den Rektor magnifikus ausnehmen,
der auch auf einer Art von Thron sizet; aber die Fiirsten nehme
ich nicht aus, ungeachtet man ihren Siz sonst nur einen Stuhl
nante: denn man gestehet algemein, daB ihm der Name Thron
mehr gebuhre, so wie umgekehrt der pabstliche Stuhl seinen
Namen mehr verdient, dem man ein Bein nach dem andern
ausziehet und von dem ich den Verlust des dritten beinah noch 20
zu erleben gedenke.
Eh' ich weiter gehe, mus ich vor alien Dingen sagen, was
ich unter dem Namen Gotter verstehe. Und hier verhehF ich
dem Leser nicht, daB ich ein volkommener Manichaer bin. Der
Unterschied, den sie unter den Gottern festsezen, die sie in gute
und hose eintheilen, dunkt mich eine der unwidersprechlichsten
Wahrheiten zu sein. Auchist er ein Glaubensartikel der meisten
wilden Volker. Selbst unsere Theologen, deren Ausspruch
hieriiber doch wol das meiste Gewicht haben mus, scheinen,
ob sie es gleich nicht ausdriiklich sagen, auch einen bosen Got 30
zu glauben; ihr Teufel steht wenigstens in nichts dem urspriing-
lichen bosen Wesen nach, das die Wilden glauben. Ich kan mich
hierbei der Anmerkung nicht enthalten, daB wir unsre meisten
Behauptungen auch bei den Wilden und Irglaubigen, wenn wir
wolten, aber nur in einer rohern Gestalt antreffenkonten. Daher
fuhrten auch sonst die Theologen die Beweise mit so vielem
VON DER GOTTLICHKEIT DER FURSTEN 877
Gluk, daB die ganze Theologie in der alten Gotterlehre verkap-
pet stekke. Denn daran ist wirklich nicht zu zweifeln so wie
an dem Schlus daraus, daB der Theologie durch diese entdekte
Ubereinkunft nicht wenig Glaubwiirdigkeit zuwachse. Unfehl-
bar wiirde ein Grieche diesen richtigen Schlus, wenn er dieselbe
Ubereinstimmung seiner mythologischen Irthiimer mit den
theologischen Wahrheiten wahrgenommen hatte, mit dem ganz
unrichtigen erwiedert haben, daB daher vielmehr iene durch
diese gar sehr bestatigt wiirden. - Diese Eintheilung der gotli-
10 chen Wesen ist mir indeB zu meinem Beweise unentbehrlich.
Denn unter der ersten Klasse konte ich den Regenten keinen
Plaz ertheilen und hoffentlich traut mir auch kein Leser soviel
Unsin zu. Auch giebt es deren nicht mehr als eines. Dazu ist
sogar das Dasein dieses einzigen noch sehr zweifelhaft, ia, wenn
anders die Weltleute hier ein Wort mitsprechen konnen, die doch
die franzosische Philosophic wol innen haben, vollig unbewie-
sen und unwahrscheinlich. Oberdies wiird' es mislich um die
Achtung der Fursten stehen, wenn man ihnen nicht deren mehr
zusprechen wolte als Got iezt gewohnlich erhalt. Ich bin daher
20 vollig uberzeugt, daB man in Zukunft keine andern Gotter ver-
ehren und glauben wird als die Fursten und so wie [man] eine
Zeitlang iiber den guten die bosen vergas, iiber die bosen den
guten vergessen wird. Man sieht demnach wol, daB ich die Re-
genten in keine andere als in die Klasse der Gotter aufgenommen
wissen wil, welche im ganzen Morgenland unter dem Namen
boser Wesen so bekant und fiirchterlich sind. Doch kan ich einige
der iezigen Regenten (deren Namen ich mit Fleis errathen lasse,
weil ich vor nichts einen so eingesessenen Abscheu trage als
vor Statsgefangnissen) nicht wol zu diesen Gottern mit schlagen;
30 vielmehr kan ich sie ohne Nachtheil der Wahrheit fur nichts
als fur blosse Stadthalter des guten Gottes erkennen. Ich werde
im Folgenden die Volkommenheiten sorgfaltig aufsuchen und
volstandig zu Haufe fiihren, welche die alten Skribenten den
bosen Gottern beilegen; ich werde dan iedesmal zeigen, daB
man sie in aller Ausdehnung alien Regenten, die ihres Namens
wiirdig sind, nicht absprechen konne: so darf [ich], mislingt
878 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
mir nicht alles, mit einigem Grunde hoffen, daB es der Leser
nicht mehr fiir einen Ausbruch von poetischer Lobrednerei,
noch fiir eine abgottische Schmeichelei, noch fiir ein der Ironie
wegen ubertriebnes Lob, sondern fiir eine platte Wahrheit halten
werde, daB ich behaupte, daB die Regenten wahre Gotter sind;
Gotter, welche diese Erde vor andern Welten zu dem schonsten
Schauplaze ihres Ruhms und ihrer Wirksamkeit ausgelesen,
welche uns von ihrem Dasein durch erstaunjiche[n] Verande-
rungen der Welt iiberzeugen, zu deren Ehre wir alle GJiedmassen
und nicht bios Zungen und Riikken in die heftigsten Bewegun- 10
gen zu sezen verb unden sind und welche uns gar wol in dieser
Welt einen reins ten Vorschmak von der Holle geben konnen,
die sie fiir uns in der kunftigen aufheben.
ACHTE SAMLUNG MEINER BESTEN
BONSMOTS;
nebst einer Rede iiber die Bonsmots, in wekhe noch eine Rede uber
den Fus eines Hasen eingeschaltet warden
Es mus mir unangenehm sein, daB ohne mein Vorwissen von
Zeit zu Zeit Samlungen von Bonsmots ans Licht treten, die
man fur die meinigen ausgiebt und die doch grostentheils von
fremden Verfassern herriihren; und erst vorgestern hatte ich die
Krankung, eine solche Samlung von zwei Bogen auf dem Tische
eines Biicherkramers fur gemeine Leute, neben Traum-, Histo-
rien- und Liederbiichelgen mit ausgeleget zu sehen, welche fur
sieben Kreuzer gelassen wurde. Ich versicherte ihn, daB ich nicht
ein einziges Bonmot von alien denen, die mir darin zugeschrie-
ben wiirden, fur meines anerkente; allein er blieb dabei, »das 10
miisse er besser wissen als ich, ob ich sie gemacht: denn er habe
sich sein ganzes Leben durch mit besonderem Fleisse und gewis
nicht ohne Gliik auf die Kentnis der Namen von den Verfassern
seiner Piecen geleget; daher ware es auch mir nicht sehr zu verar-
gen, wenn ich nicht so genau wie er den Verfasser meiner Schrif-
ten anzugeben vermochte. « - Dieser Vorfal und noch mehr die
Bitten meiner Freunde haben mich bewogen, selber eine Sam-
lung von meinen Bonsmots zu veranstalten und durch eine achte
den unachten insgesamt das Handwerk auf einmal zu legen.
Ich ubergebe sie hier dem Publikum und darf um desto mehr 20
erwarten, daB es an der wahren ein ziemliches Vergniigen finden
werde, da es dessen schon so viel an den untergeschobnen ge-
funden. Die Rede iiber die Bonsmots, die ich hier voranstellen
werde, sol hoffentlich die Samlung selber mehr zieren als verun-
zieren. Ich habe sie neulich vor einer Geselschaft guter Freunde
gehalten und sie wurde sowol von ihnen als von mir mit dem
grosten Vergniigen angehoret: doch hier lese man sie selbst.
Meine Herren!
Eh' ich meine Rede iiber die Bonsmots anfange oder vielmehr
fortseze, diirfte es wol nicht iiberfliissig sein, daB ich Ihnen ent- 30
dekke, warum ich meine Miize auf dem Kopfe lasse; denn in
der That, eigentlich soke ich sie abnehmen: die ganze Welt
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 8 8 I
spricht nie anders als Chapeaubas und ein grosser Theil der Leh-
rer der Redekunst behauptet sogar, daB ein Redner, der nicht
auf einen ganz altaglichen, sondern einen etwas ungewohnli-
chern Beifal ausgehe, nicht nur nicht den Hut, sondern auch
nicht einmal den iCop/aufhaben diirfe. Und ich werde vielleicht
selbst in dieser Stunde mehr als einmal Anlas nehmen, ohne
Kopf zu reden. Ich komme aber davon ab, daB ich Ihnen sage,
daB meine Muze unter die sogenanten Krdutermiizen gehoret,
welche die Gelehrten haufig tragen, um sich das Gedachtnis
10 zu starken. Mit der gegenwartigen f risen' ich nun auch meines
auf, das einen solchen Helm so wenig entbehren kan, daB, fals
einer von Ihnen mir diese Muze iezt mit Gewalt abnahme, ich
dan nicht abzusehen vermochte, wie ich dan noch ein Wort
weiter sagen konte: mein Gedachtnis wiirde auf einmal meine
mit so vieler Miihe memorirte Rede iiber die Bonsmots fahren
lassen und ich muste wirklich von diesem Stuhle, den ich unter
einigen Hofnungen bestiegen, wieder hinunterspringen, ohne
ein Wort mehr herausgebracht zu haben als etwan
Meine Herren!
20 Allerding lasset sich iiber die Bonsmots sehr viel sagen. Denn
man kan nicht bios verschiedene wichtige Griinde aufstel-
len, welche zum Vortheile derselben sprechen, sondern auch
einige triftige Beweise beibringen, die ihren Unwerth meines
Bediinkens volkommen ausser Zweifel sezen. Hoffentlich sol
man bei mir weder die ersten noch die andern vermissen; und
wenn ich iezt werde bewiesen haben, daB das Bonmotisiren
gut und sehr gut ist: so werd' ich im andern Theile meiner Rede
darthun, daB dieses gar nicht wahr ist und daB der erste Theil
sich nicht so hoch gegen die Wahrheit hatte auflehnen sollen
30 als er es leider! ietzt sogleich wirklich thun wird. Was die iibrigen
viele Theile anlangt, die ich meiner Rede noch ansezen werde:-so
kan ich iezt noch nicht voraussehen und voraussagen, was ich in
ihnen vielleicht sagen durfte, doch soviel soke ich beinahe aller-
dings prophezeienkonnen, daB ich darin wol etwas sagen werde.
Man kan diinkt mich das Bonmotisiren nicht genug loben,
882 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
wenn man bios seine gute oder seine Sommerseite vor Augen
behalt. Wer sich auf dasselbe verstehet, komt liberal, wo es nur
Ohren giebt, solten es auchkeine kurzen sein, ohne sonderliche
Beschwerde fort und er kan wie der Papagai, bios mit seiner
Zunge leicht sich Brod und einen Bauer schaffen. Denn man
stelle ihn z. B. in die Schenke, so wird er sich in kurzem an
der langsten Tafel zum Amte eines Mannes, der den beisizenden
Bauern das Bier kredenzet, emporgeschwungen haben; und las-
set er sich selbst einen Krug einschenken, so wird die ganze
Geselschaft - er darf es nur verlangen - gern soviel zusam- 10
menschiessen als er fur seine Zeche nicht bezahlen mag. Zuge-
schweigen daB der Wirth ihn lieben wird, weil er die Gaste
lustig macht; wiewol dieser ihn dabei doch heimlich geringscha-
zet, weil er seinen Aufwand nicht mit eignem Vermogen be-
streitet. Man verpflanze den Bonmotisten in die Bedientenstube:
so hat er es in seiner Gewalt, sich unter seinen Mitarbeitern
durch die Musik des Lachens, die er zu ihren Klagliedern iiber
die Herschaft komponirt, algemein beliebt zu machen und ich
wolte beinahe wetten, der Lakai thut zuweilen einen Gang fur
ihn, der Koch ruft ihn zum Kosteri oder spielt ihm Speisen unter 20
dem Vorwand ihrer Verdorbenheit in den Magen und wer weis
was das Kammermadgen fur ihn thut, es miiste denn Empfind-
samkeiten lesen. Allein ich mus ihm nun die Livree ausziehen
und ihm ein hollandisches Tuchkleid anthun, damit ich ihn ohne
daB es mir und ihm Schande macht, in ein vornehmes Speise-
zimmer schikken kan. Ich habe ihn so weit gebracht, daB er
iezt an einer ansehnlichen Tafel angesessen ist; wir wollen nun
sehen, meine Herren, ob es ihm denn auch da gelingt? Wenig-
stens braucht er nun schon da das Tischgeld in nichts auszahlen
als in Bonsmots und wie ich merke zahlet man ihn selbst unter 30
die feinsten Gerichte zum mindesten unter die Schaugerichte
und er wird so gut mit aufgetischet als der ungerupfte Pfau.
Sie werden noch wiinschen, meine Herren, unsern Bonmotisten
auf einem hohern Posten, auf dem eines Gesandten z. B., zu
finden, um zu sehen, ob ihm auch da sein Wiz so sehr zu statten
komt wie liberal. Und dahinauf konnen wir ihn spielend befo-
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 883
dern, wenn wir ihn nur an irgend eine Dame von Einflus ein
wolgerathenes Bonmot (noch besser war* es, wenn er es in ein
Madrigal transponirte) einzugeben zwingen. Mochten doch
weniger selten sich dieses wichtigen Postens so wurdige Manner
bemachtigen als unser Bonmotist (wie es sich iezt ganz wider
unser Vermuthen zeigt) unstreitig ist! Denn nur selten wird ein
GesandterdieBerichte, die er ieden Posttag an seinen Hof ablas-
set, mit einem so breiten Rand von wizigen Flittergold einfassen
als unsrer ganz unlaugbar thut, der sogar (wenn wir noch ge-
10 rechter urtheilen wollen) in den seinigen Wahrheit und Kent-
nisse so weit der schimmernden Einfassung zuzuriikken nothigt,
daB sie zulezt kaum mehr zu sehen sind; und er schreibet seine
apostolischen Briefe so schdn, daB er beinahe nur noch nothig
hat, sie eng zu schreiben^ um zuwege zu bringen, daB sein Hof
das Porto derselben sehr gern bezahlt. Ubrigens bringt er alle
Hofdamen auf die Meinung, daB er einen grossen Verstand be-
size, und verschiedene Hofleute auf die, daB er keinen habe;
und ich wolte ihm beinahe versprechen, daB es ihm leichter
als iedem andern sein wurde, sich bei einem ganzen Hofe in
20 den Ruf eines Mannes zu sezen, der das gute Herz langst bei
Seite geleget und der den Personen, die oft mit gesundcr Ver-
nunft lastig zu fallen drohen, durch mehr nicht als einige Worte
den Mund verschliessen konne. - Man seze ferner unsern Bon-
motisten entweder als Professor auf den medizinischen Lehr-
stuhl oder als offentlicher Wurmdoktor auf ein unbewegliches
Pferd - auf beiden wird er scherzen und damit sich Zulauf er-
schreien. - Warum wollen [wir] ihn nicht auch einen Zeitungs-
schreiber werden lassen? Er wird wahrhaftig dem Amte eines
Geheimschreibers der Fama keine Schande machen, es sei nun,
30 daB er ausgeschriebene Liigen mit seinen Scherzen begleite oder
daB er sie damit erseze. - Ich wiirde sagen, er konne eine Stelle
neben den grosten Wienerischen Schriftstellern erhalten, wenn
ihn nicht ein weit wiirdigeres Ziel an sich zoge, das, unsern
besten komischen Schauspielern zur Seite zu sizen, indem er
durch grobe Einfalle, die er in seine Rolle aus dem Stegreif ver-
schwenderisch einstreuet, der Armuth oder dem Reichthum
884 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
derselben an feinen des Dichters abhilft. Das wird man mir gerne
glauben, daB niemand mehr als er im Stande ist, durch Zwei-
deutigkeiten das Vergnugen einer ganzen Retoude zu machen
und den Tanz durch seine Unterhaltung beinahe eine ganze halbe
Stunde aufzuschieben; aber mit mehr Schwierigkeit werd' ich
Sie das iiberreden, was doch eben so wahr ist, daB er, wenn
er gehangen werden sol, vor iedem andern die Hofnung voraus
hat, sich noch durch em glukliches Bonmot dem Strange zu
entziehen: wenigstens liefert die Universalhistorie uns hievon
die auffallendsten Beispiele, besonders die orientalische Univer- 10
salhistorie. - Endlich verstehet er sich wol am besten auf die
Verfertigung guter Schmeicheleien - dieser kostlichen Mundpo-
made, wenn der andere viel gesprochen und die Lippen lange
sehr angestrenget hat, so wie es fur das schone Geschlecht eine
Handpomade giebt, den Handkus namlich. Denn der beschei-
denste Man verzeihet die iibertriebenste Schmeichelei, die wizig
ist: der Wiz derselben erleichtert ihm die Miihe, welche sonst
Schmeicheleien so lastig macht, sie namlich auf eine Art zu be-
an tworten, die den Zuhorer und den Verfasser derselben fur
diesen Einbus ihrer Eigenliebe wieder schadlos halt und er kan 20
sich mit vie] em Glukke stellen als ob ihn nur das Wizige, aber
nicht das Schmeichelhafte des Bonmots vergniige und als ob er
gar den Verfasser desselben stark in Verdacht habe, derselbe
habe das leztere bios gesagt, um das erstere anzubringen. - Mit
einem scherzhaften Einfal trostet man gemeine Leute weit kraf-
tiger als mit einem ganzen Phalanx von Griinden; dieser iiber-
waltigt ihren Unmuth nie, aber iener kan ihn zerstreuen. Ich
hatte auch immer in dieser Lobrede auf die Bonsmots, die ich
nun beschliesse, den Vortheil mit anf (ihren kdnnen, daB sie nicht
vorher, eh' die Zunge sie ediret, die Zensur passiren miissen; 30
Sie werden sich aber, meine Herren, verschiedener Bonsmots
von mir erinnern, an denen Sie merklich fur ihr Vergnugen
eben dadurch gewonnen haben, daB sie ans Licht oder vielmehr
in die Luft getreten sind, ohne der Aufschrift im geringsten
wiirdig zu sein: »mit Erlaubnis der Obern«.
Ich habe den Bonsmots Weihrauch genug nun angeziindet;
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 885
es ist Zeit, dafi ich auch meinen Teufelsdrek hervornehme und
anbrenne, um den gehorigen Gestank dem Wolgeruche nach-
steigen zu lassen. In der That meine Herren, gegen die Bonsmots
lasset sich erstaunlich viel sagen, aber noch weit mehr gegen
dieBonmotisten. Einblosser ganzer Bonmotist ist ein erbarmli-
cher Man: denn er kan in keiner Einsiedelei gluklich leben, weil
da niemand lacht und niemand belacht wird. Ich ersuche Sie
daher auch, meine Herren, wenn Sie mit einem solchen Manne
in Geselschaft sind, iiber alles, was er sagt, ungezwungen zu
10 lachen: er ist sonst den ganzen Abend ein geschlagener Man
und Sie sind schuld an seinem Elende. Den blossen Bonmotisten
freuet in der ganzen, vor ihm an einem Sommermorgen aufge-
schlagnen, und wie die goldnen Titelblatter alter geschriebener
Biicher glanzenden Natur nichts als ihre Ahnlichkeiten mit der
menschlichen Thorheit, aus denen er einige gute Gleichnisse
zu verfertigen gedenkt; so fanden iene Irokesen nichts in ganz
Paris ihrer Bewunderung wurdig als etwan die Garkiichen in
der Strasse de la Houchette. Er kan von alien Dingen nichts
brauchen als ihre Gebrechen und wenn er nach der Sonne siehet,
20 so ists ihm nicht um ihren Glanz, sondern um ihre Flekken
und Beschattungen zu thun; er macht aus den maiestatischen
Bildergruppen, die die Natur von sich in sein Gehirn geworfen,
kein Altarblat, sondern Vexirbilder und verwandelt geschikt
Dekkenstiikke in Dosenstiikke. Die Freundschaft ist nicht seine
Hausgottin und er ist allein, wenn er ernsthaft ist. Er zertriim-
mert die Wahrheit selbst, wenn es darauf ankomt, aus ihr den
Schimmer eines Kontrastes oder einer Ahnlichkeit zu schlagen,
so wie man die Peylaischen Lichtgen zerbricht, damit sie auf
Einen Augenblik zu glanzen anfangen. Der Anblik der Volkom-
30 menheiten erhebet seine Sele nicht; sondern sie befindet sich
bei demselben ausser ihrem Elemente. Kurz meine Herren, sa-
gen Sie zuweilen ein Bonmot, aber werden Sie keine Bonmoti-
sten und lassen Sie den Wiz nichts als hochstens den Zizisbeo
der Wahrheit sein. Denn iiberdies ist nicht die Wahrheit, der
gesunde Verstand und die gesunde Empfindung ein Falhut, der
die Wunden von unserem Haupte abhalt, der Wiz hingegen nur
886 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
ein Chapeaubashut, der den Kopf erfrieren lasset und den man
traget, weil es die Leute sehen? ist nicht iene ein Panzerhemd,
das beschiizet, und dieser nur ein feines Oberhemd, das verzieret?
oder iene eine FeU- und dieser eine Puzkilche? und endlich iene
eine Bouteilk alter Wein, welcher starkt und dieser eine blosse
Riechflasche, aus der man nicht trinken kan und die man nur
mit der Nase geniesset, oder auch ein Riechsak, an dem sich
ein Frauenzimmer labet, da iene hingegen ein Strohsak ist, (ich
konte auch sagen ein Kernsak, wenn es bekanter ware, daB die
gemeinen Leute an gewissen Orten stat Stroh Obstkerne zum 10
BetausfuHen , nehmen) auf dem man ausruhet, schlaft und
traumt? Ja ist nicht selbst in allem diesem, was ich iezt gesagt,
das Wahre, das darinnen liegt, unendlich besser als der Wiz,
in den ich es kleiden wollen? Wenigstens komt es mir so vor.
Ich habe im ersten Theile meiner Rede die Vortreflichkeit
ernes Bonmotisten zu retten gesucht und im zweiten mir MCihe
gegeben, sie wieder zu laugnen. Es ware lacherlich, wenn ich
mir iezt das unzeitig bescheidne Ansehen geben wolte als ob
ich nur im geringsten zweifelte, daB Sie sowol dem ersten als
dem zweiten Theile von ganzem Herzen beipflichten: vielmehr 20
muntert eben das Vergniigen, das ich aus Ihrer Beistimmung
schopfe, mich zum Versuche auf, meine Rede noch mit einigen
Theilen zu vermehren; und ich wil iezt, ohne fernere Vorrede,
meiner Zunge ihren Lauf lassen: zulezt wollen wir denn schon
miteinander sehen, in was fur Facher die Kostbarkeiten beizuse-
zen sind, die die regellosen Bewegungen meiner Zunge etwan
ans Land herausgespiihlet. Denn meine Herren ich kan sehr
leicht bestimmen, was ich sagen wolte, wenn ich nur einmal
so weit bin, daB ich es gesagt habe.
Aber ich habe ia noch nicht mit Einem Worte erklaret, was 30
ein Bonmot eigentlich ist; und bis ich diese Erklarung zu Stande
bringe, hab' ich immer Zeit genug, mich auf etwas, das ich
Ihnen sage, zu besinnen. Ich denke also iezt stilschweigend uber
den Verfolg dieser Rede nach; meine Zunge aber mag Ihnen
indessen eine gute Realdefinizion von den Bonsmots mittheilen
und ich hoffe, sie sol sich aus diesem Geschafte auch ohne den
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 887
Beistand des Gehirns gut ziehen: ist sie nicht alt genug, um
allein zu laufen?
Ein Bonmot ist nichts mehr und nichts weniger als ein Ta-
schenspielerstiikgen, dessen Gliik auf seiner Geschwindigkeit
beruhet und das die phlegmatischen Augen zu Narren hat. Doch
kan es auch mit ienem Tische verglichen werden, den H. Loriot
(wie Bjornstahl im ersten Theile berichtet) unversehends aus
dem Boden mit den besten Speisen gedekt emporzusteigen no-
thigt. Am besten ists indessen, man nent es einen deus oder
10 auch diabolus ex machina. Lieber Himmel! ich erstaune ganz,
wenn ich die Geschwindigkeit erwage, mit der der Bonmotist
zu einer wizigen Ahnlichkeit, die vielleicht im entferntesten
Welttheile seines Kopfes liegt, mehr hinspringet als hinreiset;
und ich kan mich nicht enthalten, zu wiinschen, daB man auch
an den Wagen der Psyche Schritzahler (Podometer) anzuschnal-
len versuchen mochte: denn man wiirde dan den Weg sehr leicht
berechnenkonnen, den sie zum Bonmot zuriikgeleget. Wer sich
die Sache so vorstellet: im Kopfe des Bonmotisten halten die
Ideen, gleich Grazien, einander alle bei der Hand - iezt springt
20 der elektrische Funken des Wizes auf die erste, aber eh' man
A sagt hat er schon das ganze Heer durchlaufen und ist zur
lezten hinausgef ahren - wer sich die Sache so vorstellet, (wenig-
stens stelle ich sie mir so vor,) der weis von der ganzen Sache
gerade so wenig als der Geist, der nach dem Dolaus der Unter-
handlerund Mittelsmanzwischen meiner Sele und meinem Ma-
gen ist und er unterscheidet sich von den beruhmtesten Philoso-
phen in nichts als daB er das in Metaphern erklaret, was diese .
durchTermenerklaren . . . Meine Herren! ich habe nun beinahe
sechs Minuten inne gehalten und ich dachte, Sie hatten mir Beifal
30 genug geklatschet; ich weis zwar wol, daB ich einen sechsminu-
tigen mehr als zu sehr verdiene, ia ich wil nicht laugnen, daB
Sie vielleicht gar nicht unrecht thaten, wenn Sie so lange klatsch-
ten als ich rede; wie gesagt, dieses tadele ich an sich nicht: allein,
meine Herren, meine lieben Herren, die Wande haben Ohren.
Wenigstens hat das halbe Duzend Rezensenten, das sich iezt
zur Meszeit oben auf dem Boden aufhalt und theils von Korrigi-
888 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
ren theils von schriftstellerischer Handarbeit ernahret, wenig-
stens hat doch dieses Ohren und vielleicht keine kleinen. Sezen
Sie nun, das obige halbe Duzend hat Ihr Beklatschen, wider
das ich an sich (ich wiederhoT es noch einmal) gar nichts habe,
vernommen und das hat es gewis; wie wird es wol Ihren lobred-
nerischen Handen mitspielen, wenn es meine Rede (vielleicht
wusten Sie auch nicht einmal, daB ich sie zum Druk befodern
wil) zur Rezensur bekomt? Sie wird es noch mehr tadeln als
mich: denn dem Beifalle hat es beinahe einen noch grausamern
Tod geschworen als dem Schonen und ich habe schon mehrmals 10
mich belustigt, daB ich das Beifalklatschen nattirlich nach-
machte, auf welches alle sechse sogleich ganz erbost aus ihren
Lochern hervorkrochen, fast so wie die Iltisse durch das verhaste
Wezen eines Messers ans Licht gezogen werden. Darum mus
ich an Sie die Bitte thun, (und hoffentlich werden Sie ihr Plaz
geben) mit alien fernern Beifal mich zu verschonen; ich verspre-
che, daB ich selbst an Ihrer stat mir ihn ertheilen werde und
gewisse Veranderungen meines Gesichts sollen Ihnen dieienigen
Stellen meiner Rede sichtbar genug bezeichnen, bei denen ich
innerlich sage: »iezt werden diese geschmakvollen Herren dir 20
in ihrem Herzen leisen aber aufrichtigen Beifal zuklatschen
und sie sind gewis vor Vergniigen iiber dich ganz ausser
sich. «
Die Schnelligkeit, mit der Bonsmots im Kopfe aufschiessen,
ist Ursache, daB nicht immer die Wizigsten die meisten sagen
konnen. Es giebt Leute, die einen glanzenden und einen grossen
Wiz besizen, aber einen, der Zeit haben wil, eh' er einen Schrit
thut. Diese solten sich meines Bediinkens bei ieder Gelegenheit,
wo sie ein ungebildetes Bonmot in ihrem Kopfe hiipfen fiihlen,
wie die Elisabeth ihr Kind, eine halbe Stunde Bedenkzeit zur 30
Geburt des Bonmots ausbitten; oder hah' ich denn nicht selbst,
ungeachtet mein Wiz weit unter ihrem ist, neulich dem H. A.
bei seiner Abreise versprochen: »mit der nachsten Post gedenk'
ich Ihnen ein Bonmot auf diesen hochst lacherlichen Vorfal
zu ubermachen, das ich wahrend dieses Termins, um Sie noch
mehr zu iiberraschen, aus dem Stegreife verfertigen werde«?
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 889
Und dieses macht den Unterschied des Englanders und Franzo-
sen. Dieser ist nicht wiziger als iener; im Gegentheil es hat gar
noch kein Franzos soviel und so glanzenden Wiz gehabt als ein
Pope oder Young: nur aber ist die Sache so: der Englander ist
im Buche, der Franzos in der Geselschaft wizig; der Wiz des
einen ist ein Ziehbrunnen, aus dem das Wasser mit Miihe her-
aufgehoben wird, der des andern ein Springwasser, das in die
Hohe schiest und schimmert und platschert - und das aus dem
natiirlichen Grunde, weil der englische besser als der franzosi-
10 sche ist; iener arbeitet ganze Massen von Ahnlichkeiten heraus,
dieser bringt es auf einmal selten weiter als zu Einer; iener schaft
vielfiissige Vergleichungen, dieser etwan eine Antithese; iener
bewegt sich mehr mit den grossen Flugeln der Phantasie, dieser
mehr mit dem Springstok des Scharfsins. Die Geburten des er-
stern sind daher zu gros, als daB er sie mit Leichtigkeit und
Schnelligkeit gebiihren konte. Die Phantasie, die ihn wie gedacht
auf ihre Fliigel nimt, kan dieselben nicht in Einem Augenblik
auseinanderbreiten und sie mus zu ihrem Aufschwung erst aus-
holen - vollends gar in Geselschaft, wo sie eigentlich sich nicht
20 regen kan, wo alles sie fesselt und ihr der Spielraum fehlet -
denn ieden Dichter driikt ein Visitenzimmer wie ein Gefangnis
- wie wil sie da dem Wiz beispringen? Der ist also da auch
tod und giebt kein Zeichen des Lebens von sich. Sezen Sie hinzu,
daB der Englander in der That zu wenig redet; in Einem fort
aber reden, ist das sicherste Mittel, ein Bonmot zu sagen, auch
wenn man es nicht zur Absicht hatte. Durch die Zunge wird
das Gehirn ofter in Bewegung gebracht als durch dieses iene;
alle Ideen werden durch den aussern Larm munter und einige
kommen zulezt aus dem Flugloche heraus, ich meine zum
30 Munde. Wenn Pythagoras unter seinen Schiilern auch einfaltige
hatte (und die philosophische Geschichte scheinet dieses nicht
zu verneinen): so ist hundert gegen eins zu wetten, daB er sie
durch sein immerwahrendes Predigen des Stilschweigens erst
recht verdorben und in Stokbohmen verwandelt hat, da er doch
aus ihnen, fals er sie nur halbwege zur Bewegung der Zunge
angehalten hatte, mit leichter Miihe wenigstens iezige deutsche
89O JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
- Damen hatte Ziehen konnen. Manche Leute schaffen nur Ge-
danken, um sie zu sagen und mit ihrer Zunge stehet allemal
auch zugleich ihr Verstand stille.
Sie sehen daraus auch noch, daB iiberhaupt Geschwindigkeit
und Ungefahr dem Wize nicht so zugehoren als man gewohnlich
meint und es giebt sogar gewisse Kunstgriffe, die ihm nachzu-
helfen dienen, gewisse Briikken, auf denen er zu den entfernten
Ahnlichkeiten hiniibergelanget und die er nacbher wieder ab-
bricht. Man hat eine Gedachtniskunst; man soke auch eine Erfin-
dungskunst erfinden. Denn es giebt wirklich eine und ieder alte 10
Autor bedienet sich im Stillen gewisser Handgriffe, womit er
seinem Kopfe die Schopfung von manchen Schonhei ten erleich-
tert oder ersparet. Allein er gesteht sie nicht; sein Ruhm litte
darunter zu sehr. - Das Gedachtnis des Gelehrten ist ein Gastbet,
das entfernte Ideen aufnimt und in dem sie schlafen; meine Her-
ren, wenn nun diese Ideen auch erwachen - so weit bringt es
vielleicht der langsame Wiz noch - was hilft es aber, solange
als der Betaufhelfer mangelt, an welchem die Ideen sich gar auf-
richten miissen? Solche Betaufhelfer mus der Gelehrte liberal
an seinem Kopfe herum zu befestigen suchen: sonst bringt er, 20
bei allem Reichthume an Stof zu entfernten Ideenverbindungen,
niemals ein Einziges Bonmot hervor. Er hat in unsern Tagen
aufgehdret, bios vor dem Pulte Gedanken zu haben: er mus
auch aufhoren, bios vor diesem Einfalle zu haben; er mus, werm
er dem andern Tobak prasentiren wil, nicht erst in eine grosse
Miihle zu gehen brauchen, sondern eine kleine Rappeemuhle
so fort aus der Tasche ziehen konnen; er mus liberal eine Hand-
presse bei sich tragen, womit er in der Geschwindigkeit der Ge-
selschaft mit einer saubergedrukten Piece aufwarten kan; und
endlich, warum wil er seine Unfruchtbarkeit im Umgange da- 30
mit entschuldigen, dafi er Feder und Dinte in der Studierstube
gelassen, da er doch billig eine tragbare Schreibfeder mit Dinte
sich solte angeschaffet haben, die iibrigens bei H. Scheller in
Leipzig gern zu haben ist?
Meine Herren! da ich vor nichts mehr mich so angstlich in
Acht nehme - und meines Bediinkens soke ieder, er sei Schreiber
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 89 1
oder Redner, es thun - als vor dem zu gewohnlichen Fehler,
daB man sich selber nicht verstehet: so ersuche ich Sie iezt, mir
zu sagen, was ich etwa mit demienigen haben wollen, was ich
in der lezten Viertelstunde gesprochen; da Sie mich verstehen,
so sah' ichs sehr gern, wenn Sie mich so weit brachten, daB
auch ich mich verstande. Ubrigens konte es wahrend der Zeit,
daB mein Gehirn in den wichtigsten aber auch abstraktesten
Untersuchungen begriffen in meinem Kopfe da sas, sehr wol
geschehen sein, daB meiner Zunge mehr als einmal Dinge ent-
10 fahren waren, die eigentlich keinen rechten Sin geben; allein
ist es auch so etwas ungewohnliches, daB man mit Verstand
zu reden vergisset, bios weil er fiir sich zu scharf denket? oder
ist nicht vielmehr das einzige Kenzeichen, aus dem man zuwei-
len noch mit einiger Richtigkeit zu vermuthen im Stande ist,
daB einer Philosophic d. h. einen Kopf habe, oft dieses, wenn
er von Zeit zu Zeit ohne denselben zu sprechen scheint?-
Was die Bonmotisten nun selber anlangt, so giebt es deren
wol nicht mehr als zweierlei; leibliche und geistige. Der geistli-
che fasset seinen Scherz in Worte, der leibliche in Handlungen;
20 der erste greift den Gegenstand seines Spottes mit der Zunge
an, der andere mit den Handen und andern Gliedmassen. Ich
glaube ein guter Hanswurst ist das wahre Muster von einem
Bonmotisten, an dem nichts scherzet als der Korper. Gliikli-
cherweise sind die korperlichen Bonmotisten unter den Deut-
schen gar nicht selten; es giebt wenige Geselschaften, die nicht
einen oder etliche Manner aufzuweisen hatten, denen man eine
unerschopfliche Fruchtbarkeit an den wizigsten korperlichen
Bonsmots dergleichen z. B. sind »einem andern einen Hasenfus
indie Tasche spielen oder auch Schiespulver in die Tobakspfeife
30 und besondere Thiere in das Bier u.s.w.« auf den ersten Blik
einraumen mus. Gliiklich preis' ich die Geselschaft, der ein sol-
cher Man zu Theil geworden; noch gliiklicher, wenn sie auch
noch einen Schmarozer hat, der seinen Korper gern ienem zur
Handhabung uberlasset: denn wenn die Hasen mangeln, so ists
dochalzeiteineschlechtejagd, man mag auch soviele Jagdhunde
haben als man wil. - Wichtig ist ubrigens die Bemerkung, daB
892 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
diese Art von Wiz, die gleich dem wahren Christenthum oder
dem Unchristenthum, sich nicht in Worten, sondern in Werken
zeigt, der eigentliche deutsche Nazionalwiz ist; unser Geist thut
an Bonsmots es bei weitem unserem Korper nicht gleich und
ich wiinschte sehr, man hatte das etwas mehr bedenken wollen
als man leider! gethan: man wurde alsdan vielleicht das un-
fruchtbare Unternehmen, mit dem Franzosen in der Art des
Wizes, die ihm gerade die gelaufigste ist, namlich im geistigen
oder wortlichen, gleichen Schlag halten zulernen, vielleicht langst
aufgegebenund dafiir mit mehr Eifer das betrieben haben, dem- 10
ienigen Wize den Schwung zu geben, in welchem unsere Anlage
uns begiinstigt, dem korperlichen namlich. Unsere wizigen
Schriftsteller haben uns wol zu diesem Wechsel mit unserem
Wize gerathen und sie haben durch das Beispiel ihrer Schriften,
in welchen eine ganz neue Art des korperlichen Wizes mit vollen
Handen gestreuet war, ich meine Holzschnitte, besondere Let-
tern, Apostrophen u. dergl., auf das auffallendste gezeiget, daB
uns noch zum Anbau ein Feld des Wizes off en stehet, dessen
Bearbeitung uns nicht fehlschlagen und gleichwol wenig oder
gar keinen Wiz geistiger Art verlangen wurde; aber ich scheue 20
mich fast zu gestehen, wie lange und wie wenig der Rath und
das Beispiel dieser Autoren gefruchtet.
Jezt werden Sie wol verstehen, was ich meinte als ich einst
den Streit, den ich mit einem Franzosen iiber den Wiz seiner
und meiner Nazion gefiihret, mit den Worten abbrach: » Mon-
sieur, ich war lange in Frankreich; aber ich mus gestehen, ich
habe in der ganzen Zeit nicht halb so viele Bonsmots gehoret,
als ich bei uns an einem einzigen Aprilabende in einer vergniig-
ten Geselschaft von Stummen sehen kan und schon oft gesehen
habe; und ich trage selbst bestandig einen alten Hasenfus bei 30
mir (hier zog ich ihn aus der Tasche) - Sehen Sie, dieser Fus
da ist die Hauptstiize meines geselschaftlichen Wizes; ich rede
nie viel und oft gar nichts, aber dennoch bin ich das Leben und
die Sele verschiedener Geselschaften alhier, die den feinen Wiz
iiber alles schazen. Aber Sie wissen wol nicht, daB ich diesen
Ruhm bios dem geschikten Gebrauch des Hasenfusses, den ich
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 893
Sie eben sehen lassen, verdanke? Ich habe einmal iiber diesen
oft besagten Fus eine Rede gehalten, die mir ausnehmend gefal-
len: diese Rede sezet nun das, was ich Ihnen iezt gesagt, in ein
vortrefliches Licht. Ich wil sie Ihnen doch - ich habe ohnehin
nichts zu thun - iezt auf der Stelle wieder halten. Belieben Sie
nur etwan sechs Schritte von mir zuriik zu treten und ich wil
versuchen, mich auf diesen hohen Kinderstuhl zu schwingen,
damit ich iiber Sie gehorig hervorrage: leider! ist es nur gar
zu oft die geringste Sorge der Redner, sich so zu postiren, daB
stat der Rede wenigstens der Stuhl sie iiber den Zuhorer erhebe;
und doch verlieret auch die erhabenste Rede auf einem niedrigen
Stuhl. Ich hoffe aber, ich meines Orts size so hoch genug und
schiesse merklich iiber Sie vor. - Das waren aber so vdllig meine
damaligen Worte:
>Meine Herren!
Sie haben mich mit der grosten Hoflichkeit ersucht, Sie mit
einer lobenswiirdigen Lobrede auf den Hasenfus, den ich hier
in Handen halte und von Zeit zu Zeit mit einigem Anstand
schwenke, aus dem Stegreif zu bewirthen und zu lezen. Und
in der That verdienet dieser Fus, ohne welchen mir allem Anse-
hen nach Ihre Aufheiterung und Belustigung diesen Abend nicht
so ganz ausserordentlich gelungen ware, eine geschikte Lobrede
mehr als zu sehr: doch verdiene auch ich nicht weniger eine
und ich werde daher suchen, iezt mich und den Hasenfus zu-
gleich zu loben und in des Ieztern Lorberkranz meinen eignen
mit einzuflechten . - Ich kan nicht bergen, daB ich meinem Gros-
vater vollig beipflichte, der mir den gegenwartigen Hasenfus
stat eines Pathengeschenkes mit den besondern Worten zustekte:
ich binde dir hier, mein Pathgen, meine satirische Ader ein:
verliere diesen Fus - er ist von einem sogenanten Festhasen,
den ich am Charfreitage geschossen - niemals, so wirst du liberal
wilkommen sein; aber ohne ihn — wenigstens ist es schwer,
wenn man nur mit der Zunge und nicht mit ihm bewafnet ist,
eine gute Geselschaft dreimal zum Lachen zu bringen: denn was
hangt man dem andern an den Rok, was stekt man ihm in die
Tasche, was legt man ihm unter den Teller, wenn es dieser
894 JUGENDWERKE ■ 3. ABTE1LUNG
Fus nicht ist? Vielleicht zwar dies und das; allein der Hase wird
derm doch dabei immer gar sehr vermisset. - Das sagtc mein
Grosvater; ich aber schreite ohne Verzug zu wizigen Verglei-
chungen des Hasenbeines fort. Verschaffe ich namlich nicht mit
diesem Fusse meinem geselschaftlichen Wize einen seltnen
Glanz und eine besondere Politur, so wie eben mit diesem Fusse
der Gold schmidt beides dem Silberzeug ertheilt? ist er nicht der
Schildhalter, nicht der Anker meines Wizes? thut er ihm nicht
Hand- und Spandienste? Ich behaupte sogar, der gegenwartige
Hasenfus ist nicht bios der Beinharnisch der Boksfusse meines Sa- 10
tyrs, sondern auch der Kothurn, der ihn hebt. Man sage was
man wil, gewisse Griinde lassen mir es nie ausreden, daB dieser
Fus meinem Wize, der seine Insekten- Springfusse langst verlo-
ren, stat eines angesezten Fusses von Silber oder doch stat eines
holzernen Beines dienet. Und wie oft hab' ich nicht selbst in
dieser Geselschaft die Thorheit und den Eigendunkel mit diesem
Fusse sanft gekrazet und verwundet? Ich wiinschte nur, ich hatte
die Liste der Erschlagenen und Blessirten, die meinen neulichen
wizigen Si eg in der Stube unserer Wochnerin begleiteten und
ausmachten, bei mir stekken: ich irre sehr oder Sie wurden dan 20
nimmer zweifelhaft bleiben, ob ich, mit meinem Hasenfusse
wie mit einem Seitengewehre bewafnet, nicht vielleicht mehr
Feinde schlage als wenn ich in der Hand den Eselskinbakken
Simsons, oder am Arme die eiserne Faust des Berlichingen hatte.
Man bemerke ferner, daB ein Wiz, den man in einem Hasenfusse
aufbewahret und herumtragt, einem Wize, der seinen Aufent-
haltnur im Kopfe genommen, in gewissem Betrachte vorzuzie-
hen sei. Denn nichts kan man leichter verlieren, leichter verder-
ben als diesen und eine schlechte Verdauung kan eine
Sonnenfinsternis im Gehirne bewirken; aber der Hasenfus und 30
der Wiz darinne ist so vielem Mondswechsel, so vielen Gefahren
nicht blosgestellet: freilich weis ich wol, daB ich, wenn Sie alle
zu meiner Entwafnung zusammentraten, endlich auch mein
Hasengliedmas und meinen darein verstekten Wiz muste fahren
lassen - wahrhaftig ich wiirde dan in dieser Welt wenig mehr
reden oder schreiben! - allein Sie thun es nicht. Dem Beinfras
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 895
ist ubrigens gliiklicherweise ein todter Fus auch nicht unterwor-
fen. - Voltaire gedenkt eines Prinzen, der in eine gewisse Dame
sich verliebte und zwar nur in ihre Fiisse; stellen Sie sich mich
unter dem Bilde eines Hasen vor: so wird es Ihnen mehr ein-
leuchten, daB auch an mir kein Glied - ich nehme den Kopf
am wenigsten aus - sich durch soviel Wiz empfehle als nur dieser
Fus, den ich in Handen halte und der Kunstrichter, der nur
auf Schonheit des Geistes und nicht der Gestalt zu sehen pflegt,
kan in der That unter alien Gliedern, die ich von Hasen mir
10 einverleibet, doch eigentlich nur auf den Fus seine Liebe wer-
fen. - Auch fodere ich Sie zu Zeugen auf, daB seit dem Besize
desselben keinem meiner Gleichnisse, die ich doch nicht sparsam
ausspende, das vierte Bein gefehlet: sezte ich nicht iedem, das
hinkte, den Fus des Hasen an? Dieienigen Syllogismen, denen
ich durch ihn zu Hiilfe kam und zum dritten Fusse verhalf, so
wie das Alter nach dem Odip den Menschen dreibeinicht und
zum delphischen Dreifus machet, wil ich gar nicht erwahnen;
nur an die unzahligen Syllogismen wil ich erinnern, die ich ver-
mittelst des Hasenfusses in den Stand scztc, auf vier Fussen zu
20 laufen. - Ex ungue leonem; d. h. aus dem blossen Lowenfusse
merket man schon, daB man auf einem alten Grosvater- oder
Lehnstuhl sizet; oder noch deutlicher und richtiger: wenn man
von einem Geselschafter auch weiter nichts wiiste als daB er
einen Hasenfus stets in der Tasche oder in den Handen - diese
sind dan die Waffentrdger seines satirischen Wizes - fiihret: so
konte man doch daraus schon muthmassen, daB er ein wiziger
Kopf sein wird. - Schluslich haben die Evangelisten mit ver-
schiednen Thieren sich in Kupfer stechen lassen, Markus mit
einem Lowen, Johannes mit einem Adler, Matthaus mit einem
30 Engel und Lukas mit einem Ochsen; was mich anlangt, so werd'
ich, wenn ich fur das nachste Stiik der A. deutschen Bibliothek
mich kopieren lassen werde, dem Maler zugleich mit einem
Hasen sizen und ich werde in alien meinen achten Portraiten
den linken Arm uber ihn wie iiber einen Schoshund legen. Denn
(iberhaupt giebt es wol kein edleres Thier, als den Hasen, der
unsere tapfersten und in die schreklichsten Lowenhaute montir-
896 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
ten Krieger sowol mit dem Herzen als den Loffeln beschenket,
versorget und ausriistet, und der seine Hare unsern Hiiten leihet
und sonach unsere Kopfe eben so oft schmiikket und warmet
als er sie fiillet. - Soviel hab' ich ungefahr zum Lobe des Hasen-
fusses sagen wollen. Uberfliissig werd' ich dafur belohnet sein,
wenn es mir gelungen ist, Ihnen und vielleicht auch den deut-
schen Autoren durch diesen Fus wie durch den Arm eines Post-
zeigers den Weg zum wahren Wize gewiesen zu haben. Solten
Sie aber schon Wiz haben, so werd' ich wenigstens mich freuen,
daB ich Sie veranlasset, demselben gar noch diesen nothigen 10
Fus anzustrikken oder in einer andern Metapher Ihrem Wize diese
Vorgespan oder Ihrem Satyr diesen Legestachel* der Bonmots
anzuschaffen. Ich stekke iezt den Springstab, oder diesen Fus,
an welchem ich meinen Wiz so lange und so heftig springen
lassen, endlich in die Tasche und fasse das Lob des Hasenfusses
in die nachdriikliche Frage zusammen: warum fuhren denn so
algemein gerade die vorziiglichsten Menschen, die in deri fein-
sten Geselschaften den Ton angeben, die in den vornehmsten
Speisesalen essen und die von dem schonen Geschlechte am mei-
sten geachtet und geliebet werden, den Namen Hasenfiisse? We- 20
nigstens kan dieser Name doch nicht beschimpfen sollen, da
ich selbst durch die gegenwartige Rede den Namen eines wahren
Hasenfusses verdienet zu haben meine.<«
Ich habe vielleicht zu lange von den korperlichen Bonmotisten
geredet; eh' ich aber endlich zu den geistlichen ubergehe, wil
ich fur die ein Paar Worte verlieren, die zwischen beiden das
Mittel halten und bei denen zu einem Bonmot die Sele und
der Leib zugleich mit wirkt. Z. B. der Hofmarschal Tax macht
iezt eine Anmerkung, der man ohne Anstand den Rang eines
Bonmots verstattet. Wizig ist sie indessen eigentlich gar nicht: 30
alles, was seine Sele dabei that, war nur, sie mit einem etwanni-
gen Sinne auszusteuern; allein nun legte sein Korper die zweite
Hand an sie und ersezte ihr alien den Wiz, der zu einem Bonmot
* Legestachel heisset bekantlich der Stachel am Hintern der Insekten,
womit sie einen Aufenthalt fur ihre Eier graben und womit sie sie legen.
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 897
ihr etwan abgieng, reichlich durch die Pantomime, mit der er
sie gebar und durch seine Kleidung, die durch die Augen die
Ohren bestach. Und iezt erst ist aus der Anmerkung des H. v.
Tax ein Bonmot gewordqn, das vielleicht gern und gut zwei
Tage am Hofe herumlauft. Ich nante erstlich die Kleidung: denn
es giebt gar kein so leichtes und dabei so untriigliches Mittel,
iiber die Einkleidung, die irgend iemand seinen Gedanken anle-
get, ein richtiges Urtheil zu fallen, als daB man acht hat, wie
er seinen eignen Korper einkleidet, oder wenn er ein Frauenzim-
10 mer ist, ob es seine Wangen roth traget, ob es seiner Haut die
Farbe der Unschuld kauft und ob es wol nicht schon gar unter
der vorigen Regierung gedienet. Nach dem Korper schazet man
das Weib, nach dem Kleide den Man. Als vor sechs Monaten
der Minister fiel, erinnere ich mich, daB verschiedne feine Her-
ren bei unserem Hofschneider wizige Einkleidungen der Re-
marquen bestellten, die sie iiber ihn machen wolten: gleichwol
sagte sein Nachfolger das beste Bonmot; allein ich weis auch
von guter Hand, daB er es sich halb von Paris kommen lassen.
Meine Herren, hier hatte ich vielleicht auffallenden Anlas zu
20 allerlei Anmerkungen iiber die sogenanten Prachtgeseze, die wol
offenbar auf nichts anders als unsere vollige Entkleidung ausge-
hen; allein ich weis zu gut, wenn man schweigen mus, als daB
ich iiber eine so kuzlichte Materie mehr bemerkte als etwan
dies, daB freilich zu wiinschen ware, unsere Obern liessen uns
die almalige Vervolkomnung unserer Kleider und folglich unse-
rer Bonsmots mit den gehorigen Einschrankungen zu und ver-
statteten dem Weteifer aller Stande, iiber einander im Wize her-
vorzuscheinen, lieber alien volligen freien Lauf. - Zur
Pantomime, die ich noch ferner den korperlichen Mitarbeitern
30 an einem wizigen Einfal beigesellet, rechne ich den ganzen An-
stand, womitmanden Korper, das Gesicht, den Stok, die Dose,
die Uhr oder gar nichts traget und halt. Das Gesicht ist iiber-
haupt der Prasentirteller unserer Worte besonders der Scherze;
und sogar der lustige Schriftsteller gefallet uns nicht eher als
bis wir ihm in unserm Kopf ein Gesicht stiikweise geliehen ha-
ben: er fahrt libel dabei, wenn wir hernach entdekken, daB er
898 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
gar nicht so aussiehet als wir ihn uns vorgestellet. Ich gehe viel-
leicht zu weit, aber ich getraute mir fast zu wetten: wenn man
sich die Miihe gabe, vom Kammerhern Fiou, an welchem unsere
Damen nichts zu Keben vorgeben ajs den aufgewekten Kopf,
etwan die Haltung seiner Figur, den Stok, die Tabatiere und
zuweilen den Facher genau zu scheiden, und darauf nachzuse-
hen, wie viel in ihm etwa noch Wiz zuriikgeblieben: so wiirde
man mit Erstaunen finden, daB in der That gar nichts mehr
da ware. Auf dieses Experiment griindet sich eine andere Muth-
massung von mir, die im Anfange befremdend genug ist. Sie 10
kennen alle denromischen Schauspieler Roszius, der den Korper
des Zizero zum grosten Redner der damaligen Zeit gebildet.
Dieser Man wuste in die Pantomime seiner Rolle soviel Ausdruk
hineinzulegen, daft er mit den Worten selber kaum eben soviel
sagte und seine Zunge zulezt audi gar abdankte, weil iedes Glied
an ihm schon eine war: nur muste alzeit ein Sklave seine Panto-
mime mit den Worten, die dazu gehorten, akkompagniren. Ich
soke nicht meinen, daB unsere iezigen Korper diese Beredsam-
keit ganz und gar verlernet hatten: und mich diinkt, zwar nicht
unter den Schauspielern, aber doch unter Hofleuten giebt es 20
solche Rosziusse noch gewis. Wenigstens hatte ich bei der neuli-
chen Parforcejagd die Ehre einem gewissen Hern bekant zu wer-
den, dessen Worte und Bonsmots so wenig eine Vergleichung
mit den korperlichen Bewegungen, wodurch er sie veredelte
und ersezte, aushielten, daB ich wirklich schworen wolte, die
Bonsmots, die er ausdiinstet, wiirden wenig an Wiz verlieren,
wo nicht gar daran gewinnen, wenn er es einmal versuchte,
sie ohne den Beistand der Sprachwerkzeuge zur Welt zu bringen
und wizig und stum zugleich zu sein: zum mindesten wolte
ich doch dafur stehen, wenn er zwar nur Gestus machte, seinem 30
Reitknecht aber doch erlaubte, wie Roszius dem Sklaven, sie
mit denen Worten, ohne die man sie gewohnlich nicht gern
lasset, zu begleiten: ich wolte, sag' ich, dafur stehen, daB er
durch diese Annahme eines Sprechers, die ihm die Krafte, die
er seither immer zwischen Rede und Gestus theilen mussen,
nun bios auf die leztern zu wenden gestattete, nicht nur seine
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 899
Bonsmots gar nicht verschlimmern - denn alien den geistigen
Wiz, den er ihnen sonst etwa mit seiner Zunge zugetheilet, be-
kamen sie nun eben so gut von des Reitknechts seiner - sondern
auch so gar ansehnlich verbessern wiirde: denn ware ihnen nicht
eine verbesserte Pantomime zugewachsen? »Unser Herr von
Saflouhours (denn von diesem sprech' ich) ist seit einiger Zeit
wirklich ein ganz anderer Herr geworden. Sonst war er zwar
auch schon wizig; aber so sehr als ers iezt ist und bios seit der
Zeit ist, da er stum geworden und seinen Reitknecht fur sich
10 denken und reden lasset, so sehr war ers doch niemals. Und
noch darzu, so feuert seine Satire in Einer Minute wol fiinimal. «
So wird man liberal sagen und sich gar nicht irren. Ich soke
freilich von dem Antheile, den ich der geselschaftlichen Panto-
mime d. h. der Bewegung der Hande, Augen, Minen, Achseln
u.s.w. an den wizigen Einf alien zuschreibe, nicht so gar lang
reden; allein ein merkwiirdiges Beispiel von der Grosse dieses
Antheils kan ich doch auch nicht Ihnen entziehen, zumal da
es von mir selber hergenommen ist. Sie konnen mich iezt hof-
fentlich alle sehen, meine Herren: hab' ich nun Unrecht, wenn
20 ich behaupte, daB die Natur den Madensak, meinen Korper,
weder durch Verdienste des Zeuges, noch der Naht und des
Schnittes besonders ausgezeichnet? und scheint es Ihnen nicht
auch, daB sie mich ihre Freigebigkeit gegen meinen Geist, die
iibrigens, besonders in den Gaben des Tiefsins, sehr gros sein
mag und die ich auch noch nie gelaugnet, durch eine eben so
grosse Kargheit gegen meinen Korper wirklich ein wenig zu
theuer hat bezahlen lassen? Denn wie viel fehlet, daB ich dem
Elephanten eben so sehr an Plumpheit der Glieder ahnliche, als
ich ihm an Gewandtheit des Geistes gleiche? Die Pflichten eines
30 Redners unters*agen mir zwar, mich auf diesem Kriipel- und
Rednerstuhle umzuwenden und Ihnen das Gesagte dadurch zu
beweisen, daB ich Ihnen den Riikken zukehre, und ich mus mich
bios mit der Hofnung begniigen, daB Sie die erste Gelegenheit,
mich ohne mein Vorwissen von hinten zu sehen, dazu anwenden
werden, an meinem Bukkel die Grosse zu entdekken, die Sie
bisher bios an meinem Kopfe und seinen Gaben bemerket; allein
900 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
diese Pflichten verbieten mir doch nicht, (denn sie heissen es
mir) Ihnen meine Redners Gestus vorzumachen, um Sie damit
wo moglich zu (iberfuhren, daB ich mich ganz ohne Grazie be-
wege . . . Diese Gestus nun - ich habe sie Ihnen iezt vorgemacht
- die einige meiner giitigen Freunde fur einen Beruf zur Kanzel
ausgeben, die aber ich nur Primanern anempfehlen mochte -
denn ich in meinem Rektorate brachte wirklich keinem meine
Gestus bei, den sie nicht eben so gut liessen als die Valedikzions-
rede, womit er sie begleitete und die ich gleichfals machte -
diese Gestus wolt' ich sagen thaten mir sonst in alien feinen 10
Geselschaften unermeslichen Schaden und waren die einzigen
Ursachen, warum ich mich mit allem Wize des Geistes bei nie-
mand in das Ansehen eines Bonmotisten zu sezen vermochte
als etwa nur bei mir selbst. Gluklicher Weise legte mir einmal
ein iunger Herr die simple Frage vor: wie viel ich denn wol,
wenn man den wenigen Wiz, der an meinem Geiste schimmerte,
hinwegnahme, noch Wiz iibrig zu behalten hofte, um auf den
Namen eines guten Geselschafters Anspruch machen zu kon-
nen?- Seit dieser Frage san ich auf bessere Mittel, ein aufgewek-
ter Geselschafter zu werden; und ich ward es endlich auch wirk- 20
lich. Ich richtete namlich einen Affen von meiner Statur und
Gesichtsgestalt mit unglaublicher Miihe zu alien den korperli-
chen Bewegungen und Geberden ab, dit man etwa zu einem
guten Bonmotisten fodern kan. Ich stellete ihn gewohnlich vor
mich hin und begleitete seine Bewegungen mit einigen Worten:
oft unterlies ich auch sogar dieses und die Bonsmots des Affen
wurden dadurch gar nicht dunklenoder schlechter. Dem Affen
verdank' ich meinen ganzen Kredit bei den hiesigen Damen;
weil er ihnen mit seinem Riikken, seinen Handen und seinen
Augen die wizigsten Schmeicheleien sagte, neben denen ich fast 30
nurzum Scherz die gehorigen Erlauterungsworte herlaufen lies.
Ich bin daher auch iiberzeugt, daB meine Bonsmots sehr durch
den Druk verlieren musten: der Affe wird ihnen immer fehlen;
es musten denn die f einern Leser sie vor dem Spiegel deklamiren .
- Wie sehr ware auch andern Mannern, die mit mir den Geist
und den Korper des Asops gemein zu haben so ungliiklich sind,
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 901
ein solcher Affe zu wtinschen, durch den sie ihren Wiz der fei-
nern Geselschaft mittheilten! Nur sind Affen nicht immer fur
Geld zu haben und bei wizigen Kopfen ist iiberdies selbst nicht
einmal Geld zu haben. Wenn daher Personen, die mit den no-
thigsten Eigenschaften eines Affen versehen waren (und an sol-
chen fehlet es uns gewis nicht: ich nenne aber nur die gereisten
Deutschen) sich bei wizigen Kopfen, die sich nicht wizig zu
geberden wissen, fur Affen vermiethen wolten; wenn sie durch
ihren korperlichen Wiz dem geistigen Wize derselben nachhal-
10 fen, und wenn sie diese unpolirten Baren liberal dadurch emp-
fohlen, daB sie die Affen derselben abgaben - wenn freilich alles
dieses geschahe: so wiirde der Ruhm vieler Personen sehr dabei
gewinnen, und meiner auch: denn ich habe die ganze Sache zu-
erst in Vorschlag gebracht.
Der Werth einiger anderer Bonmotisten lauft dahinaus, daB
sie fremde Einfalle anbringen, nicht aber eigne erfinden, und
ihr Gedachtnis macht ihren Wiz. Ich erinnere mich nie ohne
Vergniigen, daB ich einen gewissen fiirstlichen Rath auf ein hal-
bes Jahr zum troknen einfaltigen Geselschafter machte, indem
20 ich ihm seine Bonsmotssamlung entwandte: doch hatte ich sie
ihm kaum wiedergegeben, so war er schon der alte wizige Kopf
wieder. - Noch ein anderer grabt sein Salz aus dem vortreflichen
Vade Mekum. Wenn ich mit diesem in einer Geselschaft zusam-
menzutreffen hoffe, so stekke ich das Vade Mekum zu mir:
denn wahrend er die ganze Tafel mit den Scherzen desselben
erheitert, so siz' ich stil und unbeweglich da und lese mit groster
Aufmerksamkeit in meinem Vade Mekum die Scherze nach,
die er der Geselschaft daraus vorleget und verschaffe meinem
Vergniigen an ihrem Wize noch durch die beilaufige Verglei-
30 chung einen ansehnlichen Zuwachs, die ich zwischen der ver-
schiednen Weise anstelle, womit er und womit der Herausgeber
des Vade Mekums den namlichen Einfal erzahlen: beinahe so
machte ichs schon als Primaner, wenn ich in der Kirche war,
wo ich immer in meinem Testamente die Spriiche griechisch
nachlas, die der Pr^diger deutsch anfuhrte; eben so kauft man
auch Opernbuchelgen, um die Oper den Sangern nachzulesen
902 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
und lasset die Augen dieLtikken ausftillen, die das Ohr gelassen.
Aber ich bin es sat, langer zu reden: sonst wiird* ich noch
viel von den Bonmotisten sagen, die ihr ganzes Leben durch
eine gewisse Zahl Bonsmots wiederkauen und sie mit stehend-
bleibenden Schriften drukken; oder von den Wortspielern, die nur
Worte paren und den Sin gleichsam an zwei Orten eingepf arret
sein lassen; oder von denen, die sich bios mit einer eklen Fortse-
zung guter Scherze abgeben, so wie gewisse Schriftsteller
fremdc gute Biicher fortsezen, die ieden Einfal zur Selen- und
Mundwanderung uin eine ganze Tafel herum, verdammen und 10
die, wie die Mittagsglokke, das lange Gelaute noch mit dem
Anschlagen verlangern; oder von denen, die das Wizige alzeit
so sagen zu miissen glauben, daB man es nicht verstehen kan,
die nur deutlich sprechen, wenn sie uns mchts merkwiirdiges
sagen wollen und die der Meinung sind, dafi ieder Schleier eine
Schonheit anmelde, daes doch auch Leichenschkier giebt, die ein-
gefallene und ausgeloschte Reize bedekken; oder von denen,
die ihren Stand und ihren Reichthum mit ihrem Wize in ein
Biindnis treten lassen, die den Geselschafter, der in den erstern
beiden unter ihnen ist, auch im dritten unter sich verlangen, 20
ihm die Bewunderung und Wiederholung der Scherze, die von .
ihnen gehen, abdringen und sonach servitutem cloaci auflegen;
oder von denen, die das Salz nicht zum Wurzen, sondern zum
Einbaizen anwenden, die iedes Visitenzimmer in ein Geiselge-
wolbe* verwandeln und die durch die Hohe ihres Standes, von
der sie ihre satirischen Pfeile auf den Untern abdriikken, sie
defer in die Wunde eintreiben als ihre schlechte Scharfe allein
thun konte**; oder endlich noch von andern Bonmotisten kont'
ich reden, die mir iezt gar nicht einfallen.
* So nent man in den Klostern den Ort, wo die Monche und Nonnen 30
sich wegen ihrer Stinden gciseln lassen.
** wiewol dieses im Grunde wirklich zu loben ist: denn die Natur
weiset sie selbst dazu an, der Stumpfheit ihres Wizes durch die Hohe
seines Herabwurfs abzuhelfen, weil von einem Vornehmern auch die
stumpfeste Verspottung schmerzet. Im Ganzen genommen ist iedoch
der Wiz der Hohen und Grossen auch der scharfste und am meisten
im Feuer gehartet: so hangen an den hohen Baumen bios die harten
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 903
Schliislich ist noch anzumerken, wie es bei den Alten ver-
schiedene Floten gab - sie hatten Jungferfloten, Knabenfloten,
Mansfloten, Hochzeitiloten, und Trauerfloten - und wie es bei
uns verschiedene Biere giebt - wir haben Gesellenbier, Meister-
bier, Arntebier, Hochzeitbier und Kindtaufsbier - oder wie der
Lowe ein grimmiges Thier ist, also hat man verschiedene Bons-
mots, Sommer- und Winterbonsmots, Retouden- und Tafel-
bonsmots, Konigs- und Kriegerbonsmots und solche, die am
Hochzeittage geboren werden, und Kavalier- und Damenbons-
10 mots. Nur von den leztern wil ich anmerken, daB ich sie nicht
wol leiden kan und die Damen brauchten einen, der sich bei
ihnen erholen wil, eben nicht gerade damit zu unterhalten. Son-
dern da es nun doch in unsern Tagen einmal zu einem ausge-
machten Grundsaze gediehen, daB man, urn sich recht zu erho-
len, ordentlich narrisch werden musse - »denn von keiner
andern Kappe (man sage mir nichts von der Schlafkappe) kan
eine Bischofsmuze abgeloset werden als von der Narren- und
Schellenkappea sagt der Bischof - »und von keiner andern die
schwere Kronen sagt der Regent - »und von keiner andern der
20 Helm« sagt der Hauptman, der schon so lange bei mir liegt und
mich beinahe aufgezehret - »uiid von keiner andern der Doktor-
hut« sagt der Doktor- »und von keiner andern meine Taufmuze«
die Dame - »und (wenn ich den Lorberkranz ausnehme) auch
sonst von keiner andern meine grosse Krautermuze« sag' ich end-
lich - da wir also - aber ich wunschte, Sie horten mich nicht,
sondern lasen mich, damit Sie diesen langen Perioden noch ein-
mal iiberlesen konten - algemein eins sind, die Erholung mit
der Narheit zu vermengen: so wunschte ich lieber, die Damen
befoderten die Erholung matter Herren stat der Bonsmots durch
30 Erzahlung arabischer und hamiltonischer Mahrgen und saugten
damit die alten Selen derselben, wie sonst ihre iungen: denn
sucht nicht eben so ein gros gewachsener Mensch, der die
Schwindsucht hat, den Busen seiner Amme wieder und wird
Fruchte, welche auf den Untenstehenden mit dem doppelten Eindruk
der Harte und der Hohe fallen. An niedrigen Baumen findet man bios
weiche Fruchte, wie die Naturforscher langst bemerkt.
904 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
zum saugenden Kinde, urn wenigstens nicht so bald ins Him-
melreich zu kommen? -
1. Satirische Bonsmots,
dte tch bet vermischten gelegenhetten gesagt
Ich mache eine Ausnahme von den gewohnlichen Spottern, die
niemand so sehr mit ihren Bitterkeiten verfolgen als Apotheker
und Arzte; und ich habe auch Ursache, sie nicht aufzubringen,
da sie an meinem alten Korper, dem sie immer unentbehrlicher
werden, so leicht Rache nehmen konnen. Daher ergrif ich in
meiner lezten schweren Krankheit ieden Anlas, meinen Doktor 10
zu loben, mit dem grosten Vergmigen. Ich nante z. B. die Arz-
neiglaser nie anders als meine Gesundheitsglaser*; und gab damit
fein zu verstehen, daB ich ganz der Meinung ware, iene thaten
der Gesundheit eben so ansehnliche Dienste als diese. Und fast
allemal, eh' ich meine Mixtur verschlukte, pflegte ich zu ihm
mit unvergleichlicher Munterkeit zu sagen: »auf Dero Wolsein,
Herr Doktor. «
Man warf in meinem geringen Beisein einmal' die Frage auf:
»warum unsere Geseze nicht auch wie die agyptischen, dem
Ehebrecher die Nase nahmen?« Ich antwortete sehr gut: »weil
die Ehebrecherin sie ihm schon meistentheils selber nimt.« Dar-
auf brachen wir alle in die grosten Lobeserhebungen unserer
Geseze aus, welche dem Ehebrecher stat der Nase gern nur das
Vermogen nehmen.
Als ich einstens sah, daB man eine hole Zzhnhdc mit B/e/ausful-
* Gesundheitsglaser nent man bekantlich dieienigen, woraus man
des andern Gesundheit trinkt und seine eigne vertrinkt.
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 905
lete, um sie nicht schmerzhaften Beriihrungen blosgestellet zu
lassen: rief ich ohne Bedacht auf einraal aus: »Solte nicht ieder
von Ihnen, meine Herren, in dessen Kopfe Blei das Gehirn er-
ganzet oder auch ersezet, dariiber ganz ausserordentlich froh
sein, und dem Himmel dafiir danken, daB sein Kopf doch nicht
hoi ist? Denn in der That er wiirde die Leerheit des Kopfes nie
■ anders als mit Misvergniigen empfinden konnen. Was mich an-
belangt, so wuste ich, im Falle ich den Stein der Weisen verlore,
der in dem meinigen den Plaz des Gehirnes eingenommen,
10 wahrhaftig nichts, was ich lieber an diese Stelle des Gehirnes
sezen wiirde als BleL« Ich habe mir aber dadurch einige Feinde
gemacht und mehr als einer von diesen Anwesenden hat mir
schon gedrohet, meiner und dieses Buches in den besten gelehr-
ten Zeitungen gar nicht zu schonen.
Ich weis nicht wen ich den Hof einen Himmel nennen horte;
genug ich pflichtete ihm volkommen bei, indem ich sagte: daft
er gar wol ein Himmel genant werden konne in mehr als einerlei
Betracht, ia in der That in dreierlei Betracht: denn in eben soviele
Stokwerke theilen fast die Schulmeister insgesamt den Himmel
20 ein, namlich in den Luft- oder Wolken-, in den Sternen- und in
den Freudenhimmel. Warum wolle man nun aber nicht den Hof
erstlich einen Luft-, Wind- und Wolkenhimmel nennen, da man
ihm doch nicht nur alle Arten von Luft, sondern auch einen
seltenen Oberflus daran allerdings zugestehen miisse? oder
zweitens einen Sternenhimmel, da wenigen Rokken daselbst die
schonsten Ir- und Wandehterne fehlen, welche leider! so weit
von uns andern Leuten abstehen, daB ihr Licht seit ihrer Schop-
fung gar noch nicht zu uns herunterkommen konnen? und end-
lich drittens auch einen Freudenhimmel, da es da von Freuden
30 ganz wimmele, die noch kein Auge von uns gesehen und noch
kein Ohr von uns gehoret habe? Ich fiigte endlich hinzu, soviel
sei wenigstens gewis, daB ein Hof ein wahrer limbus patrum*
* Der limbus patrum ist der Ort, wo die Selen der frommen Juden,
die vor Christi Geburt gestorben, hingekommen sind.
906 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
sei, in dem lauter rechtschaffene Manner, die keine Christen
waren, so lange sich aufhielten, bis sie von dieser Welt hinweg
in den Himmel abgeruffen wiirden.
Einbekanter und mit Recht geschazter Almanachsdichter fragte
mich, wie er sein Bandgen ungedrukter Gedichte wol am
schnelsten und besten von den vielen Flekkcn saubern konne,
die es noch besudelten. » Auf eben die Art, wie man die kostliche
und unverbrenliche Asbestleinwand reinigt, wenn sic beschmu-
zet worden - sagte ich - man braucht sie namlich nur ins Feuer
zu werfen.« Allein diese Reinigung stand ihm nicht an und der 10
einzige Vortheil, den seine Gedichte von meinem Rathe zogen,
war der, daB ich ihm dadurch Anlas gab, sie mit einigen sehr
beissenden Epigrammen zu vermehren, die alle auf mich abzie-
len und ohne Schonung die Fehler meiner Nase aufdekken.
Das folgende ist zwar kein Bonmot, aber doch eine schone Rede.
Ich fuhr vor funf Jahren mit noch sechs andern Belletristen auf
der Donau nach Wien, des festen Vorsazes, mich da zu erschies-
sen: ich wolte meinen Tod mit einigen Nebenumstanden beglei-
xen und aufstuzen, welche mir die Bewunderung der ganzen
Stadt Wien erwerben solten: denn ich war vollig entschlossen, 20
mein Leben durch einen sonderbaren Tod in ein vortheilhaftes
Lichtzu sezen. Allein im bekanten Donaustrudel lief en wir alle
Gefar, zu ersaufen; man gab schon alles verloren und meine
poetischen Gefahrten, weit entfernt, sich eine so gunstige Gele-
genheit, Bilder zu kiinftigen dichterischen Beschreibung eines
Schifbruchs einzusamlen, zu Nuze zu machen, iiberliessen sich
einer unempfindlichen Trostlosigkeit: nur ich behielt Fassung
genug, auf einen alten Tisch zu steigen und darauf folgende
merkwurdige Rede an die sechs trostlosen Belletristen zu halten:
»Meine Herren! ich wil geschwind reden, damit ich nicht mein 30
Leben friiher endige als meine Rede. In acht Minuten sind wir
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 907
ohne Zweifel alle ersoffen. Aber warum Sie deswegen Ihre Hei-
terkeit verlieren, das seh' ich nicht ein. Sie haben meines Bediin-
kens leicht sterben: denn Ihr Name lebt doch, wenn anders die
vielen Almanache, in die Sie ihn verpflanzet, auf Unsterblichkeit
desselben rechnen lassen konnen. Dazu solten Sie vielmehr die-
sen ungewohnlichern Tod durch Schifbruch als eine Gelegenheit
wilkommen heissen, in der andern Welt durch eine geschikte
Bcsingung desselben, durch ein Leichenkarmen auf Ihren Kor-
per Ihre poetischen Talente zu zeigen. Allein ich soke untrostli-
10 cher sterben, weil ich unberiihmt sterbe: denn ich gehe erst eben
nach Wien, um einigen Nachruhm zu hinterlassen, indem ich
da boshafter Weise Hand an mein eignes Leben geleget und
mich erschossen hatte. Gleichwol ziere ich sowol meine Minen
als meinen Gang mit alien Zeichen der bewundernswiirdigsten
Gelassenheit; aber schwer fallet es mir indessen doch, - ich ver-
hehr es nicht - daB ich ersaufen mus eh' ich mich erschossen
habe. Leben oder vielmehr sterben Sie wol!« Gluklicherweise
ersof ich damals nicht nur nicht, sondern ich crschos mich auch
nicht nachher: denn ich gerieth auf einen andern Weg, wodurch
20 ich meinen Ruhm auf immer befestigte, namlich auf das Bii-
cherschreiben, von dem wir beide, ich und mein Name, nun
ganz gemachlich leben.
Ich war einmal in einer Geselschaft Gelehrten, die alle an dem
Obel der Zerstreuung siechten. Jeder sprach als wenn er allein
ware und wir behandelten einander samtlich als Abwesende.
Diese Zerstreuung nuzte ich, um einige sehr gute Betrachtungen
iiber die Zerstreuung anzustellen; und ich rief endlich aus, daB
die ganze Geselschaft, von der nichts als die Korper anwesend
waren, zusammenfuhr: »meine abwesenden Herren, das Ge-
30 sprach ist meines Bediinkens gleich dem Brief schreiben ein vor-
trefliches Mittcl, (denn schwerlich giebt es ein besseres) sich
mit Abwesenden zu untcrhalten und mit ihnen Gedanken und
Worte zu wechseln.«
908 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Fur etwas mehr als ein blosses Bonmot und (es gerade heraus
zu sagen) fur eine ausserst gliikliche kritische Muthmassung
mochte ich iene Frage gehalten wissen, die ich mir in einem
Zimmer vol Damen entfahren lassen: ob namlich nicht vielleicht
Goz von Berlichingen die ersten Blechhandschuhe getragen und
erfunden habe? und ob sich dieses nicht wenigstens aus dem
Umstande vermuthen lasse, daB er eine eiserne Hand gefuhret,
als welche er sonder Zweifel in einen Blechhandschuh wird ein-
gefassethaben, urn sie theils vor dem Erfrieren, theils vor Wun-
den, teils auch vor dem Roste zu beschirmen?
Ich kenne wenige Personen, welche von den Ahnlichkeiten, die
sie umgeben, einen so gliiklichen Gebrauch zum Ausdrukke
ihrer Empfindungen zu machen verstehen als ich: Nur Ein Bei-
spiel. Ich und mein Gesicht, wir waren neulich in das sechzigste
Jahr unsers Alters getreten, als wir beide so gluklich waren,
die Liebe einer gewissen Schonen, die gewis einmal sehr iung
gewesen, (wenn mich mein Gedachtnis und ihre eigne Versiche-
rung nicht betriigt) und von deren Gesichte zwo Ausgaben vor-
handen waren, eine auf feinem weissen Schreib- und eine andere
auf schlechtem Drukpapier, auf uns zu ziehen. Ich hatte ihre 20
Empfindungkaum gemerkt, als ich mich in meinen alten Tagen
entschlos, sie zu erwiedern: aber sie merkte diese Erwiederung
nicht und harmte sich iiber meine Kalte. Einst stellete ich mich
auf einen grossen Pechkuchen und lies mich elektrisiren. Nun
bin ich aber (das mus ich von mir ruhmen) gar nicht der Man,
der mit dem Ather, der sich in ihm zusammenhauft, etwan sehr
geizte: alle Anwesende lies ich aus mir elektrische Funken in
groster Menge ziehen und die gedachte Schone durfte mich an
zwei Orten, an dem Kinne und an dem linken Goldfinger beriih-
ren. Diese Beriihrung begleitete ich mit einer Vergleichung, 30
die ich eben gelobet habe: »Scheinet es nicht, sprach ich zu ihr,
daB es mit dem elektrischen Feuer, das ich von mir lasse, nur
gerade so beschaffen ist wie mit dem Liebesfeuer, womit ich
ein weibliches Herz in Brand stekke? Denn beide Arten von
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 909
Funken machen nicht bios der Person, in die ich sie fahren lasse,
sondern auch mir, aus dem sie fahren, gar viele Schmerzen.«
Vorgestern zu Nachts besuchte mich der Teufel einmal wieder;
denn ich hatte ihn lange nicht gesehen. Ich bat ihn, wahrend
ich meine bekante Lobrede auf den Engel Michael zu Ende
brachte, sich die Zeit auf meiner Hausorgel zu vertreiben; und
ich hatte hier Gelegenheit zu bemerken, daB der Teufel (viel-
leicht wegen seiner Pferdefiisse) das Pedal sehr gut treten kan.
Endlich kamen wir ins Gesprach. Er trat mit dem Versprechen
10 hervor, sich mir in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Ich muste
ihm meinen Stiefelknechthinlangen, auf welchem er zu meinem
grosten Erstaunen ohne Muhe seine beiden Pferdefiisse auszog.
»Das sind nur meine Halbstiefel oder mein Kothurn und mein
Sokkus; in der That aber sind es die Brautigamsschuhe, die ich
an meiner Hochzeit mit den Yahoos getragen.« Er stieg vom
Stiefelknecht herab und erschien nun mit seidnen Strumpfen
und iibersilberten Schuhschnallen. »In der That, Sie haben sich
iezt auf einen merklich schonern Fus gesezet, Herr Teufel «: die-
ses Wortspiel machte ich. Eben so leicht schuttelte er hierauf
20 seine graslichen Horner herab, an denen er mich bemerken lies,
daB sie eigentlich ein Paar gute Puherhomer waren, die einem
Jager wie ihm unentbehrlich sind. » Ziehen Sie doch einmal mei-
nen krummen Schwanz gerade« sagte er zu mir. Da ich es thun
wolte, gieng er ihm aus und blieb mir in den Handen stekken;
fast so wie mirs in meiner Jugend mit alien Schwanzen der Vogel
wiederfuhr, die ich daran erhaschen wolte. Wir trugen den
Schwanz mit einander ans Licht und hier entdekte sichs, daB
er dem Hanswurst gestohlen war, der in dem leztern Jahrmarkte
damit den Teufel vorgestellet hatte, Noch nicht genug: der Teu-
30 fel fieng endlich an, almahlich seine Haut aufzuknopfen. Die
Knopfe waren alle innen angebracht und giengen von der Achsel
an bis zur Kniescheibe. Die behaarte schwarze Haut fiel von
ihm herunter und er sprang mit den Worten aus derselben: »es
ist dieses Gcwand zwar eine gute Seeuniform; aber ich werde
9IO JUGENDWERKE • 3, ABTEILUNG
es kiinftighin doch nur stat eines Pudermanteh brauchen.« Der
Leser wird begierig sein zu wissen, wie nun der Teufel nach
dieser Entkleidung aussah: ich weis aber nichts zu sagen als daB
er gerade so aussah wie ein ordentlicher Mensch: doch hatte
er in seinen Mienen viel von einem ostindischen Sklavenhandler;
welches ich zu seinem Ruhme nicht verschweigen wollen. -
Ich habe aber schon einigemale horen mussen, daB diese Er-
scheinung und Entlarvung des Teufels hie und da in Zweifel
gezogen wird; ich ersuche daher die ganze Welt, mich mit ihrem
Besuche zu beehren: vielleicht bin ich dienstfertig genug, ihr 10
die zwei Pferdefusse und die zwei Pulverhorner wirklich vor-
zuzeigen. Den Schwanz aber hab' ich dem Hanswurste wieder-
zugestellet und aus der Haut hab' ich mir ein Paar warme Pelz-
striimpfe arbeiten lassen, von denen ich freilich nicht
voraussagen kan, ob es ihnen die Welt wird noch ansehen kon-
nen, daB sie sonst dem bosen Feinde zugehoret: ich kan es freilich
noch wol. - Allein die Absicht, warum ich dieser Begebenheit
hier einen Plaz verstattet, hatt' ich beinahe aus den Augen verlo-
ren, namlich um dem Leser die Bonsmots, die ich dabei gesagt,
mittheilen zu konnen: und hier thut es mir leid, daB ich ihm 20
kein einziges vorsezen kan, weil ich sie ungliiklicherweise alle
vergessen habe. Daher sen* ich iezt wol ein, daB ich ihm auch
die Begebenheit nicht hatte mittheilen sollen.
Bei einigen Personen sind die Speisen nur die Dekorazion des
Speisesales und sie essen, wie die Schauspieler auf dem Theater,
nur um der Zuschauer willen. Ich sas auch einmal an einer sol-
chen Tafel, wo mehr der Stolz als der Magen genahret wird;
allein ich sah bios auf den Vortheil des leztern und hielt meine
Sattigungnur schlecht in den Schranken der modischen Lebens-
art. Um aber doch nicht ganz ohne Rechtfertigung zu siindigen, 30
brachte ich dies vor: »mich diinkt einem Christen, der in neuem .
Bunde lebt und der das Zeremonialgesez langst von sich abge-
schiittelt, mus das doch erlaubt sein was man schon einem
h. David im alten Bunde gern verzieh. Ungliiklicherweise hab*
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 911
ich auch wie der Psalmist David, aus Hunger die Schaubrodte
angegriffen und sehr daran gezehret. Es komt nun darauf an,
ob es mir eben so wie ihm verziehen wird; und ich wiinschte
iezt freilich, meine unrechtmassige Sattigung wieder aufheben
und ganz hungrig von der Tafel weggehen zu konnen.« Die
unfigiirlichen und wahren Schaugerichte kamen alsdan auch und
ich nahm da von Anlas, folgendes noch beizubringen: »meiner
Meinung lassen sich die Schaugerichte fiiglich wol nicht in meh-
rere als in zwo Arten eintheilen: in Schaugerichte, die man essen
10 kan und die der Koch zubereitet, und in Schaugerichte, die man
nicht wol essen kan und die von einem Kunstdrech[s]ler und
Konditor am besten gekocht werden: die Schaugerichte der er-
sten Art geniessen nur die Bedienten, als welche sie noch ver-
dauen konnen; die von der andern Art werden von der Herschaft
selbst genossen, welche wie ein platonischer Liebhaber, sehr
wol vom Anschauen des geliebten Gegenstandes zu leben ver-
mag.« Der Leser wird muthmassen, daB man einen Menschen,
der wie ich mit sovieler Ungezogenheit isset und spricht, sofort
wird zurThur hinausgeworfen haben; aber zum GKik fiir mich
20 ist an dem allem, was ich geprediget zu haben mich iezt riihmte,
nicht ein Wort wahr: ich habe, so etwas mundlich zu sagen,
den englandischen Muth gar nicht, sondern nur den deutschen,
es gedrukt zu sagen.
Ich betrachtete mit einem Freunde die heiligen drei Konige aus
dem Morgenlande und er bezeugte seine Verwunderung, daB
immer einer von ihnen wie ein Mohr gemalet und abgebildet
zu werden pflege. »Ich wundere mich auch, sagt' ich, aber nur
dariiber, daB unter drei Konigen nicht mehr als Einer schwarz
ist. «
30 Ein iunger, reicher, aufgeblasener Laffe prahlte damit, daB man
ihn in alle Geselschaften verlange »und ich kan doch, sezte er
hinzu, auf einmal nicht mehr als in einer sein. Ich mochte zu
9-12 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
manchen Zeiten meinen Fiissen wirklich ein Paar Flugel wiin-
schen, wie Merkur sie hat - nicht urn von Ihnen etwan wegzu-
fliegen, meine Herren, denken Sie das nicht von mir - sondern
nur um liberal hinfliegen zu konneri. « Ich fiel ihm bei: »Einiger-
massen entschadiget uns zwar die Munterkeit Ihrer Fiisse fur
Ihre Fliigellosigkeit; aber doch wunscht' ich selbst, Sie konten
fliegen und Sie verdienen vielleicht eben so sehr Flugel als der
Distelsamen nur immer, der dadurch den Feldern erst recht nuz-
bar wird.*«
In einer Geselschaft geschminkter Damen wurde iiber die
Schwierigkeit, Nazionalkleidungen einzufiihren, allerlei gesagt;
ich laugnete diese Schwierigkeit, weil sogar schon verschiedne
Gliedmassen der Damen zu einer Nazionaltracht sich von selbst
bequemet hatten. »Haben nicht, fragt* ich, die Damen wangen
schon langst eine algemeine Nazionalkleidung angenommen?
alle vornehme Wangen durch ganz Europa hindurch tragen sich
roth.«
2. SCHMEICHELHAFTE BONSMOTS, DIE ICH GESAGT
Ich gieng mit der Frau von G. in ihrem Garten spazieren, der
so schon ist wie sie selbst. Dieser machte ich folgende Schmei- 20
chelei: »Die Katholikenbehaupten, daB das Paradies noch stehe
und von der Siindfluth nicht mit weggeschwemmet worden:
ich glaube das selbst - wenn sie aber noch sagen, daB sich darin-
nen Henoch und Elias bis zur Wiederkunft des Antichrists auf-
halten: so ist das nicht wahr; denn meines Wissens ist niemand
darinnen als ich und Sie.« Dieses Bonmot kan alien zu einer
* Die Flugel des Distelsamens helfen dieses arge Unkraut durch den
Wind auf alle Akker verbreiten.
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 91 3
Richtschnur dienen, die Besizern schoner Garten auf eine wizige
Weise schmeicheln wollen; ia man kan dasselbe wortlich nach-
ahmen.
Ein nicht sehr tapferer Edelman schlug auf seinen rostigen De-
gen, den er in vielen Jahren nicht gezogen hatte, und sagte:
»ich weis nicht, warum die Leute sich vor diesem Ding da so
fiirchten; es thut ihnen doch nichts zu Leide, wenn ich es nicht
bewege.« Um ihm zu schmeicheln, fiel ich ihm bei und sagte:
»Vielleicht haben sie gleichwol nicht sehr Unrecht, wenn sie
io sich vor diesem Dinge fiirchten: denn die Wunden, die es verse-
zen kan, sind nicht am leichtesten zu heilen, wie ich mir von
einem sehr geschikten Feldscherer sagen lassen*.«
Ich hatte neulich die Ehre, unter einem halben Duzend Damen
zu sein, die sich alle herzlich liebten: denn unter den Hofleuten
ist die Freundschaft kaum so innig und rein als unter den Damen.
Wir wurden miide, in Einem fort verniinftig zu reden, und fien-
gen daher an, die alte Frage iiber den Werth beider Geschlechter
zu verhandeln. Ich nahm die Parthei des weiblichen mit aller
nur erlaubten Heftigkeit. »So wiinschten Sie also wol eine Dame
20 geworden zu sein?« Auf diese schalkhafte Frage gab ich die auf-
richtige Antwort: »um alles in der Welt nicht: ich konte ia dan
keine mehr lieben.«
Teh weis nicht, in welcher Geselschaft die Anmerkung gemacht
wurde, daB die Amazonen sich die rechte Brust weggeschnitten,
um Pfeil und Bogen leichter zu handhaben. Ich versezte sogleich:
»das lass' ich zwar gelten; aber ich wolte doch wetten, hatten
* Bckantermassen sind keine Wunden schmerzhafter und gefahrli-
cher als die, welche mit stumpfen und rostigen Waff en geschlagen wer-
den.
914 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
sie mit dem Bogen Amors auf die Manner geschossen, diese
Verstumlung ware nicht nothig gewesen und sie wiirden sie
mit den Pfeilen Kupido's eben so gut getroffen haben, ungeach-
tet ihr Busen ganz gewesen ware.«
Eine sehr blatternarbigte Dame klagte uber die vielen Feinde,
mit denen ein schones Gesicht zu kampfen habe, und endigte
zulezt mit den Worten »und gar die Blattern! die groste Schon-
heit besiegt die nicht. « - »Dennoch, erwiederte ich, kenne ich
eine gewisse Schonheit (Sie haben sie vielleicht noch ofter als
ich gesehen), die sich von diesen wichtigen Feinden wenigstens 10
nicht so leicht besiegen lies, sondern ihnen starken Widerstand
entgegensezte: das beweisen die vielen ruhmlichen Narben von
vornen, die sie seitdem an sich herurntragt. « Sie lachelte; ich
vermuthe daher, dafi sie mich verstanden.
3. BONSMOTS, DIE ICH IM TRAUME UND SCHLAFE GESAGT
Mir traumte einmal, ich hatte mich aus Verdrus iiber die Rezen-
senten gehangen. Endlich kamen Leute, die sich aus gewissen
Vorurtheilen noch bedachten, mir durch schleunige Abschnei-
dung das halbverlorne Leben zu retten: diese munterte ich zu
meiner Belebung durch folgendes Bonmot auf: » Wenn ihr nicht
geschwind den Strik zerschneidet, so zerschneidet die Parze,
die ihr noch von der Schule her kennen soltet, den Faden meines
Lebens.« Indessen ist die Schonheit dieses Einfals nicht der ein-
zige Bewegungsgrund zu seiner Mittheilung: ich wolte vielmehr
mit demselben noch von den Tragodienstellern den Tadel der
Unnaturlichkeit abschieben, womit die Rezensenten sie so gerne
belegen, wenn sie sterbenden Personen die bliihendsten Meta-
phern und die wizigsten Einfalle in den Mund spielen. Denn
mein Beispiel kan einigermassen beweisen, daB dieses nichts
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 9 I 5
weniger als unnatiirlich und unmoglich ist: hieng ich nicht schon
am Aste, hatte ich nicht schon die Sprache vollig und das Leben
beinahe verloren und (was die Sache noch um vieles wunderba-
rer machet, weil der Traum uns sonst gar wenige verniinftige
Dinge sagen lasset) war ich nicht im Traume, als ich dennoch
mit einem der schonsten Bonsmots mich horen lies? Wenn ein
Tragodiensteller eben dieses einen aufgehangnen aber doch wa-
chenden und seiner Zunge noch machtigen Helden hatte sagen
lassen: wie wiirde nicht ieder iiber Unnatiirlichkeit geschrieen
io haben?
Mirtraumteeinmal, ichsasseauf dem Geburtsstuhle meiner Frau,
und der wiirde zu einem Kinderstuhle ; und der Kinderstuhl
wiirde zu einem Furstenstuhle (aber dergleichen giebts ia in un-
sern Tagen nicht mehr: der Kinderstuhl wird also wol vielmehr
zum romischen Stuhle geworden sein) und der romische wiirde
zu einem Kirchenstuhle ; und der wurde, da ich aufwachte, zu
m einem alten Lehnstuhle, auf dem ich am Tage schlafe; und der
Lehnstuhl wurde, sobald ich die Feder ergrif und diese Erzah-
lung fur meine Leser niederschrieb, der Lehrstuhl der ganzen
20 Welt, der er noch ist. Die fiinf Bonsmots, mit denen ich die
fiinf Verwandlungen meines Stuhls begleitet, darf ich dem Leser
wol nicht erst erzahlen, da er sie ohne Zweifel schon unter der
Lesung meines Traums sich hat traumen lassen.
Mir traumte, ich hatte bei dem Fiirsten ** um den Kammerhern-
schlussel angehalten und mein Gesuch mit folgenden Griinden
unterstiizet: ich brauchte einen solchen Schliissel, weil ich erstlich
einen Hauptschlusselbr&uchte, um den Geldkasten eines gewissen
Kaufmans zu meinem grosten Nuzen aufzusperren, den ich
sonst entweder mit einem Dieterich oder gar mit einem Brechei-
30 sen zu erofnen genothiget ware - ich miiste zweitens einen haben,
weil meine Siinden und vorziiglich meine Schwachheitssiinden
unzahlig waren und ich also keine Stunde ohne einen Loseschlils-
gi6 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
sel leben konte, zumal da mir der Teufel mit dem Bindeschlussel
drohte - ich miiste drittens einen haben, weil ich das Schlos (des
Stilschweigens) langer auf meinem Munde zu tragen miide ware
und iiberhaupt mich entschlossen hatte, kiinftighin gar sehr viel
und noch weit mehr zu reden als andere oder auch ich selbst
denken, dieses Schlos aber Iasse sich, wie ich an meinen Vettern
gemerket, durch diesen Schliissel am besten aufschliessen - und
viertens und Ieztens miiste ich durchaus einen Kammerhern-
schliissel haben, weil ich sonst (wie ich doch gesonnen ware)
unmoglich in Deutschland die Schlafgemacher und in Indien 10
und Italien die Schlosser der infibulirten Weiber leicht aufzusper-
ren im Stande sein wiirde. Der Fiirst bewilligte meine Bitte,
weil sie (was noch nie erhoret worden) in vier Bonsmots abge-
fasset war. Der Leser merkt aber ohne mein Erinnern, daB auch
dieser leztere Periode mit zum Traume gehoret: denn in der
That welcher Regent wiirde Bonsmots mit Kammerhernschliis-
seln belohnen? Diese miissen grossern Verdiensten bleiben. Ich
wil zwar nicht sagen, daB sie bios dem grosten Verdienste, das
sich ein Man wenn nicht um das Vaterland, doch um den Vater
desselben nur erwerben kan, als ein ausschliessender Lohn ge- 20
weihet sein solten, ich meine ienes Verdienst, wenn man in dem
Vater des Vaterlandes die Liebe gegen den schwachern, zartli-
chern und schonern Theil seiner Unterthanen nach besten Kraf-
ten begiinstiget, es sei nun daB man ihr Docht zum Ursprunge
oder Ohl zur Nahrung liefere; denn in der That die Gelegenheit
zu diesem Verdienste fallet nur gar zu Wenigen zum Loos und
der Kammerhern wiirde zu wenig werden, wenn ihrer nur so
viel als dieser Gluklichen werden soke; aber das mocht' ich doch
wiinschen, daB dieser Schliissel wenigstens nicht an Rokke ohne
alles Verdienst (sowol der Farbe als des Zeugs) geheftet wiirde, 30
ia wenn ich Fiirst ware, ich wiirde mit ihm nur die beehren,
denen man algemein ausgemachte Verdienste im Reiten zuge-
stiinde: dennbedenket man es denn gar nicht, daB dieser Schliis-
sel seinen ursprunglichen Endzwekken nach ein Uhrschliissel
sein sol, der das abgelaufne Verdienst wieder aufziehet, und
nicht etwan bios ein gemeiner, sondern ein ganz besonderer
SAMMLUNG MEINER BESTEN BONMOTS 9 1 7
Uhrschliissel, dergleichen nur der vom londonschen Uhrma-
cher Thorogoed erfundne ist, durch den kein Staub beim Auf-
ziehen ins Uhrwerk komt, und den man von der rechten zur
Hnken und von der linken zur recbten und ohne Gefahr, die
Feder zu sprengen, drehen darf? -
Mir traumte einmal, ich sprache mit einem Morder und Rauber,
der sich ungefahr so lobte und rechtfertigte: »Die einzige Beru-
higung, die ich mit aus der Welt zu nehmen hoffe, ist die, daB
ich meiner Mordthaten ungeachtet doch niemals in meinem
10 ganzen Leben iemand Unrecht gethan oder wissentlich wider
mein Gewissen gehandelt habe. Ich habe in meiner Jugend in
einem europaischen Kriegsrecht gelesen, daB nichts widerrecht-
lichers sei, als mit gehaktem Blei auf den Feind zu schiessen.
Dieses Verbot hab' ich wol nie aus den Augen gelassen, und
ich darf mich riihmen, daB ich keinen von alien den vielen Rei-
senden, die ich todgeschossen, anders als durch gute Biichsen-
kugeln erleget habe. « War' ich nicht erwacht, so hatt' ich ctwas
darauf geantwortet. Gleichwol sez' ich das, was ein Rauber ge-
sagt, unter meine Bonsmots: denn ich bin der Meinung, daB,
20 weil alles nur in meinem Kopfe vorgieng, es eben so yiel ist,
als ob das, was der Rauber sagte, von mir selbst gesprochen
worden und ich hatte cs ihm gewissermassen diktiret.
UNPARTHEIISCHE BELEUCHTUNG
UND ABFERTIGUNG
der vorzuglichsten Einwiirfe womit Ihro Hochwurden meine'auf der
neulichen Masker ade gedusserte Meinung von der Unwahrscheinlich-
keit meiner Existenz schon zum zweitenmale haben umstossen wollen;
auf Verlangen meiner Frcunde abgef asset unci zum Druk befor-
dert vom Teufel. Hof, im Vierlingschen Verlage, gedrukt in
diesem Jahr*
* Ich habe mich oben bei dem Lescr zwar entschuldigt, daB ich eine
Arbeit, welche der Teufel drukkenlassen, unter die meinigen aufnehme;
aber ich hatte unstreitig besser gethan, lieber diesen urn die Verzeihung
eines Nachdruks zu bitten, bci welchem iener (wie ich bescheiden genug
bin, zu gestehen) vielmehr gewinnen mus. - Den auswartigen Leserri,
die vielleicht den Namen des Superintendenten, gegen welchen der Teu-
fel die Feder ergriffen, nicht kennen, weil ihn Meusel »in seinem gelehr-
ten Deutschland« ganz vergessen hat, dienet zu wissen, daB er sich Sta-
pelhaselius schreibt. Der Leser wird iibrigens ohne mein Erinnern schon
merken, daB die Stadt Hof, welche der Teufel als semen Verlagsort
namhaft macht, nur eine scherzhafte Erdichtung sein sol; denn es giebt
bekantermassen keine Stadt dieses Namens und man wird sich also die
vergebliche Miihe ersparen, darnach eine Reise mit den Fingern auf
der Landkarte zu unternehmen. Die Buchhandlung aber, welche der
Titel noch nent, existirt wirklich und ist in Hof.
Dedikazion an den Hern von W..t...r....h..s..n
Ich war nicht so gluklich, Ew. Exzellenz xmttr meinen Zuhorern
auf der neulichen Retoude zu sehen; daher mdcht' ich Sie wenig-
stens an der Spize meiner Leser finden. Und bin ich anders (wie
ich doch sehr zu vermuthen berechtigt bin) der erste Teufel, .
der eine Zuschrift macht, so wird die Neubegierde, zu wissen,
wie stark der bose Feind, der Vater der Liigen, auch im Dedizi-
ren sein moge, Ew. Exzellenz gewis zu meinem Leser machen.
Um Ihre Neubegierde aber nicht zu misbrauchen: schikke ich
Ihnen nur die Zuschrift ohne das Anhangsel, mit welchem mein
Verleger sie verkauft. Der pedantische, polemische und lang-
weilige Ton, worin dasselbe den Superintendent Stapelhaselius
widerlegt, wiirde bei Ihnen nicht sehr zu seinem Vortheil spre-
chen; und es ist uberhaupt nur der Aufmerksamkeit derer, die
es verfluchen werden, aber spnst keinen Dreier werth, wiewol
es im Buchladen nicht unter viere erlassen werden kan. Daher
mir nichts unangenehmer sein wiirde als wenn Ew. Exzellenz
es doch aus demselben sich bringen liessen.
Das Dediziren, sagt Furetiere, hat ein Betler erfunden. Er wil
damit wol nur sagen: »ein Poet«; denn die Ahnlichkeit, welche
beide miteinanderim Singen, Bettelnund Stehlenhaben, gestattet
es wenigstens recht gut, unter dem einen den andern zu verste-
hen. Lasset man nun den Dichter fur den Erfinder der Zuschrif-
ten gel ten, so kan man aus dem, was Horaz singt,
poetis
Quidlibet audendi semper fuit potestas
auf das Natiirlichste erklaren und rechtfertigen, warum ordent-
licher Weise kein wahres Wort in denselben steht; die Tugenden
etwa ausgenommen, welche darin an dem Mazen gefunden und
gepriesen werden. Denn was diese anlangt, so werden wol nur
Wenige nicht zugeben, daB sie im vollesten Masse und in groster
Menge ohne sonderlichen Nachtheil der Wahrheit dem Gonner
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 92 1
zugeschlagen werden konnen. Sovielweis schon doch fast ieder
und hat es langst vergessen, daB der Zueigner, der nur einmal
Eine Tugend seines Gonners, namlich die Freigebigkeit, vollig
ausser Zweifel sezen kan, sogleich das Dasein der (ibrigen als
volkommen erwiesen vorauszusezen und nach dem eben so be-
kanten als wahren Grundsaze des Stoikers berechtigt ist, »daB
wer Eine Tugend hat, die iibrigen alle besize.«
Allein nur ein anders ist ein Poet, ein anders der Teufel; und
ich bin nichts weniger als wie der Dichter ein armer Teufel.
10 Auch die.gemeinsten Leute werden es Ew. Exzellenz sagen kon-
nen, daB dieienigen unter den Geistern so wie unter den Men-
schen aus der Lotterie des Reichthums das grosse Los gezogen,
die man die bosen nent; und woke ich alle die Personen anfiih-
ren, die ich gegen einen mit rother Dinte (und nicht mit Blut,
wie doch einige wollen: denn damit werden nur Friedenstraktate
unter zeichnet und ausgestrichen) geschriebnen Schein mit Scha-
zen gleichsam uberschuttet habe, so wiirden Sie iiber meinen
Reichthum so wie uber meine Uneigenniizigkeit vielleicht in
einiges Erstaunen gerathen. Ich kan daher zwar den Schriftstel-
20 lern, die mich wie der Kaiser Wenzel den Henker zu Gevattern
bitten und mir ihr geistiges Kind venchreiben und zueignen wiir-
den, eine Erkentlichkeit vom grosten Gehalte versprechen (und
ich wiinsche diesem Winke zu ihrem und zu meinem Besten
seine Wirkung); allein iiber die Nothwendigkeit, sie nachzuah-
men, bin ich eben darum so weit hinaus, daB ich mir vielmehr
die Freiheit nehmen wiirde, Ew. Exzellenz selbst mit einigen
Hekthalern fur die Lesung meiner Dedikazion zu danken; hatten
mir sie nicht die Akademien, um sie in Medaillen umzuschmel-
zen, alle abgenommen.*
30 * Der Teufel mag wissen, was er hier wil; ich nicht. Denn zwischen
Hekthalern und Medaillen ist auch nicht die kleinste Ahnlichkeit. Viel-
mehr ist der Unterschied unter ihnen, daB iene (wie schon der Pobel
weis) den Geldschaz durch ihre Gegenwart vermehren, diese aber einen
armen und ehrgeizigen Gelehrten nichts weniger als reicher machen.
- Im Vorsaze des Perioden wird auf die alte Meinung angespielet, daB
die-Eltern die Sele eines Kindes dem Teufel, gegen einen betrachtlichen
Selenverkauferlohn, verschreiben konnen.
922 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Demungeachtet ist man gar noch nicht zu argwohnen berech-
tigt, daB diese Zuschrift in eine schlechte und wahre umschlagen
werde, bios weiJ ich sie gratis darzureichen gesonnen bin. Denn
man solte doch bedenken, daB der Teufel von ieher ein Vater
der Lugen gewesen und mithin es noch zu sein wenigstens in
einer Dedikazion nicht verlernen werde. Doch vielleicht darf
ich Ew. Exzellenz von der Zahl derer, die so wenig von mir
erwarten, ausnehmen; vielleicht bin ich in Ihren Augen soviel
werth, daB Sie mir zutrauen, ich werde Ihnen in der Zuschrift
Eigenschaften genug beilegen, von denen Sie wenig oder keine 10
Spuren an sich entdekken und die vielleicht noch kein Dedikator
seinem Gonner zu leihen gewagt. Ich wil auch in der That Ihr
Lob anheben, und ohne langerc Vorrede diese Gelegenheit mit
dem grosten Vergnugen ergreifen, vor dem ganzen Publikum
die schmeichelhafte Luge zu sagen, daB das verdachtige Licht
unsers achtzehnten Jahrhunders noch nicht den freien Eingang
in den Kopf Ew. Exzellenz gefun'den, den ihm mein Widersacher
Stapelhaselius zum grosten Nachtheile seines Kopfes und seiner
Seligkeit zugestanden, und daB die Aufklarung, die Ihren
Wohnort so gefahrlich macht, sich gliiklicherweise noch nicht 20
bis zu Ihnen verstiegcn, so wie auch die Morgensonne die tiefen
Thaler fruhcr bescheinet als die Gipfel der Berge. Auch mus
ich weiter, wenn ich der Unwahrheit nichts vergeben wil, Ihnen
das Lob beilegen, daB wenigstens die bessern Rechtsgelehrten
und Richter, welche zu sehr Christen sind, urn die heidnische
Abgottin Themis oder Gerechtigkeit anzubeten und zu verehren,
und die die Geseztafeln derselben wenn nicht gleich dem Moses
in Trummer schlagen, doch gleich der Zeit bis zur Unlesbarkeit
abfeilen, mit Ew. Exzellenz auf das Volkommenste zufrieden
sind und wol keinen Entscheidungen begieriger entgegensehen 30
und entgegenarbeiten als den Ihrigen. Und es ist keine blosse Wir-
kung meiner Freundschaft, die ich (wie ich mich, die Unwahr-
heit zu sagen, riihmen darf) mit Ihnen stets gepflogen, wenn
ich hier offentlich erklare, daB ich wenigstens nie iene betagten
und unfranzosischen Grazien in Ihrem Betragen und Anstand
vermisset, ohne welche kein Gelehrter in Geselschaft erscheint
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 923
und welche ganz sichtbar beweisen, daft er mit den feinsten
in allerlei Leder eingebundenen Geselschaftern auf einem ver-
traulichen Fus stehe und daB er sich in der politesten gedrukten
Welt lange umgesehen: denn wahrhaftig ich wurde ia dieses
Lob nicht wagen, kont' ich mich desfals nicht auf Ihre Feinde
und auf die Gottin der Unwahrheit, die mandoch am wenigsten
im Verdachte einer lobrednerischen Partheiligkeit fur Sie haben
kan, und sogar auf mich selbst mit der grosten Kekheit beruf-
fen.*
10 Inzwischcnhab' ich durch diese Zuschrift nicht bios zu Ihretn,
sondern auch zu meinem Lobe etwas beitragen wollen. Ich wolte
Sie namlich darin urn ein Beigewicht fiir die Wagschale ange-
sprochen haben, in der die Griinde liegen, womit ich meine
Nichtexistenz unterstuze. Denn leider! hab' ich nur mehr als
zu viele Ursache zu befiirchten, daB man in einer Sache, die
mich so nah angeht wie meine Nichtexistenz, meine eigne Aus-
sageblos von schlechtem und zweideutigem Gewichte befinden
und mich fur einen blossen Hauszeugen meiner Nichtexistenz
gelten lassen wird. Was wil ich aber damit gegen die Theologen
20 ausrichten, die meine Existenz mit Aussagen von Ohren- und
Augenzeugen und mit Dokumenten aus Kaldaa belegen kon-
* Die Romanenleser lassen sich durch mich dem Hern Satan gehor-
samst empfehJen und ihn hoflichst crsuchen, die Perioden ein andermal
zu viertheilen und nicht in der Riesenlange aufzutischen, iiber welche
sie, die Romanenleser, sich an dem obigen beinahe halb tod geargert,
wenigstens ganz ausser Athem gelesen haben. Glaubt er durch die Lange
derselben die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der Gedanken
zu erleichtern und zu erzwingen: so lassen sie ihm sagen, daB sie gar
nicht gesonnen sind, mit dieser Aufmerksamkeit sich zu belastigen oder
30 (iberhaupt mehr dabei zu denken, als sein eigner Schwanz, der ohnehin
als das Ende der Fortsezung des Gehirns schon mehr als zu vi'el denkt.
Denn wolten sie doch denken: so wiirden sie nicht lesen, sondern die
weiblichen Geschlechts wiirden sprechen und die manlichen Geschlechts
wiirden schweigen; verharten iibrigens gleichwol mit unabanderlicher
Hochachtung
Sr. des Hern Satans Hochwolgeboren und Hochwiirden
gehorsamste Diener und Dienerinnen
A-Z.
924 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
nen? Wahrhaftig nicht viel. Man sol z. B. nur die iezige anstos-
sige Erhellung so vieler Kopfe als einen Beweis meiner verbor-
genen Wirksamkeit und Existenz anfuhren; was kan ich dan
thun? etwan vielleicht vorstellen, daB man dem Teufel etwas
beimisset, was lediglich der Gottin der Weisheit und Wahrheit
schuld zu geben ist? Allein das wird man mir nur so wenig
glauben als die gemeinen Leute es dem Naturforscher glauben,
daB die nachtlichen Stimmen im Walde, die sie dem wilden
Jager d. h. auch dem Tew/e/zuschreiben, nichts als die Stimmen
der Eulen d. h. der Vogel der Weisheit sind; und ich weis es i
schon, ich werde predigen mogen, was ich wil, H. Stapelhase-
lius bleibt doch dabei, daB das bedenkliche Licht, wodurch der
Kopf Ew. Exzellenz ihm so verhast geworden, stark vermuthen
lasse, daB ich darin meinen Wohnsiz aufgeschlageh; so wie et-
wan der Engellander Swinden den Ort des Lichts, die Sonne,
fur den Aufenthalt der Teufelhielt. Aber eine ganz andere Wen-
dung wiirde meine Sache nehmen, wenn ich zu Zeugen, daB
der Teufel an der Erleuchtung der Kopfe vollig unschuldig ist,
nicht mehr bios mich allein, sondern auch diese Kopfe selber
aufruffen diirfte: denn deren Aussage konte man wol nicht ver- 20
werfen. Wie also, wenn Ew. Exzellenz zu erklaren beliebten,
daB Ihre Einsichten, woriiber meine Feinde mit mir so hadern,
nichts weniger als Geschenke des Satans, sondern reife Friichte
eines unmeineidigenN achdenkens und einer langen Lektiire sind?
- Wenigstens war eine solche Erklarung von Ihnen der Haupt-
endzwek dieser ganzen Zuschrift.
Eigentlich bin ich iezt mit meiner Dedikazion zu Ende; aber
ich darf Ew. Exzellenz den Zank nicht verhalten, den ich eben
mit der Gottin der Wahrheit iiber die Lange derselben hatte
und den wir mit gegenseitigen Thatlichkeiten beschlossen. Die 30
angeregte Gottin, die mich iiberhaupt stets angefeindet, rechnete
mir eine gute Menge von Ihren Verdiensten vor, deren Meldung
und Lob ich in dieser Zuschrift nicht hatte vergessen sollen.
Sie werden es kaum glauben, aber sie kan es nicht laugnen,
daB sie eine wiewol fluchtige Erwahnung des wolthatigen Ein-
flusses, den Sie auf den Wolstand Ihres, Wohnorts durch den
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 925
Gebrauch Ihrer hohen Vorrechte schon so lange gehabt, mir
zumuthen wollen; ohne auch nur im geringsten zu bedenken,
daB alles das, was ich von Ihnen (ihr zufolge) bekant machen
sol, ia schon langst bekant und (so zu sagen) fast schulkundig
ist und gesezt es war' es auch noch nicht, doch einen zu grossen
Raum ausfiilte, um dessen in einer Zuschrift genug zu finden.
Durch diese hinkende Zumuthung schien ein ungerechter
Zweifel an meinem Dedikazionstalent so sichtbar hindurch, dafi
ich meine Antwort nicht langer an mir halten konte. Der Zorn
10 hatte schon lange den Hahn der Nase aufgezogen und mein
ganzes Gesicht schusfertig gemacht. »Ich mus es besser wissen,
fuhr ich gelassen los und die Wahrheit an, als Sie, wie man
eine Dedikazion abfast. Ich habe deren in meinem Leben wol
uber hunderttausend gemacht oder doch machen helfen - o!
noch viel viel mehrere! - und Sie haben wol, so lang Sie in
Kupfer gestochen werden, noch kein halbes Schok zum Druk
befordert. Es verlangt auch kein Dedikator Ihren mehr hinderli-
chen als forderlichen Beistand. Ich besorge nur ohnehin, dafi
ich Ihnen zuviel freie Hand in meiner Zuschrift an Se. Exzellenz
20 gelassen: und stosset daher wirklich meinen Leser[n] soviel
Wahres auf, daB sie es fur Luge halten miissen, so sind Sie allein
mit Ihrem Einreden daran Schuld und ich werde iiber Sie
schreien.« Vielleicht hab' ich die gute Wahrheit ein wenig zu
hart angelassen; denn sie versezte mir auch sogleich mit ihrem
Palmzweig* einen so empfindlichen Hieb auf mein Steisbein,
daB ich in der ersten Aufwallung meine Hande ihren Haren
naherte, ihre Sonne in Besiz nahm und diesen grossen Weltkorper
auf funfzig Schritte weit von uns so leicht wegschmies, wie
den harten Kase, womit der Italianer zum Andenken des romi-
30 schen Diskus kegelt. - Und das ware denn eine aufrichtige Er-
zahlung von meiner beriihmten Schlagerei mit der Wahrheit,
von der im Publikum so viele falsche Zusaze herumschleichen.
Ich steure mich indessen ganz auf die Hofnung, daB Ew. Exzel-
lenz sich nicht durch die Freundschaft, die Sie mit meiner Wi-
* Die Alten bilden die Wahrheit ab mit einem Palmzweig in der
rechten Hand, und mit einer Sonne auf dem Haupte.
926 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
dersacherin aufgerichtet, Ihre unpartheiischen Augen werden
zudriikken lassen: und dan weis ich gewis, daB Sie mein ganzes
Verfahren (das iahzornige Kegeln mit der Sonne wil ich gern
ausnehmen) vollig billigen werden.
Nur beriihren wil ich endlich noch einen andern Zwist mit
der Wahrheit, in welchem iedoch mein Recht ein wenig zwei-
deutiger sein mag. Sie wil es namlich durchaus nicht schiklich
fin den, daB ich mich unterschreibe als Ew. Exzellenz ganz un-
terthanigsten Diener. Und ich bin ganz fur das Gegentheil; und
fiihre ihr zu Gemiithe, ob ich, der so viele Diener unter den
Menschen zahlet, den anders als ehren konne, zu dessen Diener
ich mich bekenne. Am Besten thu' ich indessen doch, Sie selbst
um die Auflosung der peinlichen Frage zu ersuchen: in welchem
Falle ich kliiger handle, wenn [ich] mich nenne oder nicht nenne
Ew. Exzellenz
ganz unterthanigsten Diener
den Teufel.
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 9 2 7
Die Widerlegung selbst
Ungefahr vor drei Wochen hab' ich, der Teufel, auf der Retoude
einige Zweifel gegen meine eigne Existenz mit der Bescheiden-
heit, die iedem Gelehrten geziemt und die ich nicht selten iiber-
treibe, an den Tag zu legen gewaget; aber ich sahe nicht voraus,
daB von diesem unschuldigen Skeptizismus H. Superintendent
Stapelhaselius den ungliiklichen Anlas nehmen wiirde, mich
zweimal sehr hart anzugreifen. Das erstemal that er's in einer
anderthalb Bogen starken Schrift, die er den Titel fiihren lasset:
io Unentbehrliches Gegengift gegen den neuesten Anti-Egoismus des Sa-
tans, oder die Grunde, womit der Teufel in eigner Person an einem
offentlichen Orte seine Existenz . abzuldugnen sich erfrecht hat, zum
Besten der Schwachen und Einfaltigen aufeine schwache und einfaltige
Weise in ihrer ganzen Blosse dargestellet von P. Q. R. Stapelhaselius
Superintendent pp. - Zum grosten Gliik fur meine und seine
Ehre las dieses Schriftgen niemand als der Verfasser, der Kor-
rektor und ich; obendrein las ich es nur im Manuskripte, der
Korrektor horte es gar nur, der sich es von mir vernehmlich
vorsagen lies, urn die Korrekturbogen darnach zu andern. Allein
20 eben deswegen spielte mein Gegner unsern Hader vor den Rich-
terstuhl des Pobels , der nicht Augen zum Lesen , aber wol Ohren
zum Horen in seinem Kopfe fuhret, und er wiederholte in der
Predigt am Sontage Invokavit seine ungelesene Widerlegung.
Nun aber leiden es die Pflichten, die ich meinem guten Namen
- meinem noch einzigen und grosten Gute in der Welt - schuldig
bin, durchaus nicht mehr, meine Gegenwehr noch langer durch
ein fortgeseztes Stilschweigen aufzuschieben: denn vorziiglich
in diesem leztern Angriffe vergas er so sehr alle Schonung gegen
mich, daB er mich vor einer ganzen christlichen Versamlung
30 ohne Scheu mit Namen nante, meiner immer nur in den
schimpflichsten Ausdriikken (dergleichen sind »Vater der Lu-
gen, alte Schlange p.«) gedachte und mir besonders meine
928 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Klauen empfindlich vorriikte, fur die ich doch nichts kan und
an denen er gewis sich sehr versiindigte, weil man mit den Na-
turfehlern seines Nachsten kein Gespotte treiben sol. Ich kan
dieses alles mit meiner Pergamenttafel gehorig dokumentiren,
als in welche ich eine Kopie von meiner Abkanzelung auf der
Stelle eintrug: denn ich war damals gluklicher Weise gerade sel-
ber in der Kirche, als er mich armen Teufel von der Kanzel
warf und sas in dem mit N ro 103. bezeichneten Stuhle in der
Gestalt eines geschikten Advokaten, wie sich vielleicht der Klin-
gelvater noch entsinnen wird. An meine nachgeschriebene Pre- I0
digt wiird' ich mich auch zu halten wissen, fals ich die Sache
auf den Weg einer scharfern Untersuchung einleiten soke: denn
das hab' ich noch gar nicht verredet, da mir zumal alle meine
Freunde vereint anliegen, mit dem Hern Stapelhaselius einen
langen Iniurienprozes anzufangen und an hohern Orte,wo man
hoffentlich dem Teufel zu seinem Recht verhelfen wiirde, um
eine offentliche Ehren[er]klarung nachzusuchen. Doch den
Streit des Burgers mit dem Burger noch bei Seite! Jezt hat es
bios der Gelehrte mit dem Gelehrten zu tun.
Eh' ich indessen zeige, wie unzureichend er die Zweifel, die 20
ich gegen meine Existenz gemacht, aufgeloset: scheint es nothig
zu sein, daB ich mir die Miihe gebe, die Leser uberhaupt in
eine genauere Bekantschaft mit uns Teufeln zu bringen. Denn
es ist unglaublich, was fur einfaltige Meinungen meine Leser
von uns noch haben. DaB man uns existiren lasset, das ist noch
der geringste und verzeihlichste Irthum; aber von unserer Natur,
von unserem Wohnorte, von unsern Beschaftigungen hat man
auch noch kein wahres Wort gepredigt und geschrieben und
es scheinet die Zoographie der Teufel ordentlich bisher nur darum
in so ungeschikte Hande gefallen zu sein, damit ich mir desto 30
grossern Ruhm erwiirbe, wenn ich eine gute liefere. Die besten
Dienste wird meine genauere Nachricht von den Teufeln aber
wol den Theologen thun, welche sie sofort den symbolischen
Biichern einverleibenkonnen, damit sie stat der herausgeworfe-
nen Irthumer von ihren Mitbriidern entweder beschworen oder
unterschrieben werde: indessen wtinschte ich lieber, sie warteten
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 929
mit dieser Ausbesserung ihres Glaubenssystems.gar noch bis
zur Erscheinung meines grossern Werks; denn die volstandigern
und interessantern Nachrichten von Gebrauchen, Kunstwerken,
Kultur und Religion der Teufel werd' ich dem Publikum erst
in diesem bescheren.
Wir Teufel sind nicht geschafj en: denn sonst wurden wir existi-
ren; aber wir sind gezeuget und die menschlichen Selen sind un-
sere Eltern. Da mir der Leser die Moglichkeit eines Dinges,
das weder ist noch nicht ist*, hoffentlich schon aufs Wort gern
10 glauben wird: so lass' ich den Beweis derselben bei der blossen
Versicherung bewenden, daB ich diese Moglichkeit vielleicht
so lebhaft fuhle als man dergleichen. abstrakte Dinge nur fiihlen
kan. -
Soviel ich weis, bin ich der erste, der von einem Mitteldinge
zwischen dem Sein und dem Nichtsein Erwahnung thut. Ich
habe aber das Nichts bios vermittelst des Kaiserschnittes der Di-
stinkzion von diesem Mitteldinge so gliiklich entbunden. Ich
wiinschte daher, die Theologen machten von meiner ganz neuen
Distinkzion zwischen dem Sein und dem Nichtsein kiinftighin
20 einigen Gebrauch: sie wiirde gewis der Orthodoxie nicht schad-
lich sein, der es ohnehin iezt an geschikten Unterscheidungen
zu mangeln scheint und die vielleicht besonders von solchen
Distinkzionen, welche ihrem Todfeind, dem Saze »eine-Sache
* Hier scheint sich der Teufel zu widersprechen; allein er scheint
es auch nur. Auf der Maskerade erklarte er sich dahin, daB er nicht
existire; hier aber, daB er weder existire noch nicht existire. Dieser
Widerspruch fiel mir sehr auf und ich sprach deshalb im Namen meiner
samtlichen Leser den Teufel selber um die Auflosung desselben hoflich
an, die er mir auch mit dem grosten Vergniigen ertheilte. Ich sol namlich
30 den Lesern wieder sagen, er sei, wiewol ein Mittelding zwischen dem
Nichts und dem Etwas, doch dem erstern naher als dem leztern ver-
wandt; und habe daher, weil ihn die Armuth der menschlichen Sprachen
mit keinem besondern Namen fCir diese nahere Verwandschaft versor-
genkcinnen, sich lieber ein Unding als ein Ding genant, da die erste
Benennung, wenn gleich nicht ganz richtig, doch der Wahrheit naher
als die andere sei. Diese Belehrung begleitete er mit einem ungewohnli-
chen Gestanke, den er an seine eigene Stelle treten lies und den er sich
abgewohnen soke.
93° JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
lean nicht zugleich sein und nicht sein« so nah ans Leben greifen
wie meine obige, nicht sehr viele aufzuzeigen hat. Allein ich
weis es wol, man legt iezt beinahe gar keinen Werth auf gute
Distinkzionen mehr. Daher komt es aber auch, daB die Sache
der Orthodoxie taglich etliche Schritte weiter zuriikgehet. Sie
biisset einen Sieg nach dem andern ein, nicht weil sie etwan
vernunftwidrige Saze verficht, sondern weil sie diese Saze nicht
mehr auf eine vernunftwidrige Weise vertheidigt. Denn in der
That unsere Gottesgelehrten scheinen es ein wenig zu sehr ver-
gessen zu haben, daB der gesunde Mensch[en]verstand nur mit 10
solchen orthodoxen Waffen vortheilhaft angefallen werde, die
mit denen ganz ungleicher Art sind, womit er sich wehrt und
daB der vernunftwidrigste Prozes mus verspielet werden, wenn
er auf eine andere als vernunftwidrige Art gefiihret wird. Der
orthodoxe Zwerg David kan in der riesenmdsigen Riistung Sauls
dem heterodoxen Riesen Goliath nur wenig oder nicht[s] anha-
ben. Unter iene vernunftwidrigen und siegreichen Waffen, von
welchen dieiezigenGottesgelehrtenihre Hande so unklug abge-
zogen, gehoren nun eben die Distinkzionen, von denen man,
ohne sie etwan uber die Gebiihr zu schazen, sehr gut behaupten 20
kan, daB sie ihres Gleichen gar nicht haben, wenn es auf Entwaf-
nung, Gefangennehmung und Hinrichtung des gesunden Ver-
standes ankomt. Deskartes sagte; gebt mir Materie und Bewe-
gung, ich wil euch eine Welt machen. Ich sage: gebt mir so viele
Distinkzionen als ich begehre, ich wil durch ihre Hiilfe Syste-
mentempel hersezen und auffiihren, welche so hoch sein sollen,
daB sie den Auditorien der Vernunft das Licht vollig verbauen:
beilaufig! diese Verbauung kan mir niemand wehren, angesehen
der Vernunft Servitus luminum* gegen die Rechtglaubigkeit
obliegt. — " 30
Ich habe nun die Materie von den theologischen Distinkzio-
nen in moglichster Kiirze abgethan; ich gehe daher weiter und
lasse mich iezt iiber diese Materie auch mit entgegengesezter
* Servitus luminum ist wenn es der andere leiden mus, daB ich ihm
das Licht verbaue.
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 9$ I
Ausfuhrlichkeit heraus. Obrigens gehoret es unter meine herb-
sten Krankungen mit, daB ich merken mus, wie gar noch weit
mein sonst einnehmender Stil vom wahren philosophischen ab-
stehe: denn aller meiner Bemuhungen ungeachtet mus ich doch
taglich horen, daB mich beinahe die meisten meiner Leser ver-
stehen; eine Nachricht, die mir unmoglich wilkommen sein kan,
der ich so gut weis, daB von Schriften, die wie philosophische
und wie meine zur Erleuchtung des ganzen Menschengeschlechts
sich anheischig machen, eine nicht gewohnliche Dunkelheit der
io Schreibart mit so vielem Rechte erwartet und gefordert wird,
so wieetwan ein geschikter Operateur, wahrend er dem Pazien-
ten den grauen Staar sticht, das Zimmer durch die Fenstervor-
hange verfinstert. Indessen wil ich wenigstens nichts sparen,
was in meinem Vermogen stehet, um im Folgenden die Materie
von den Distinkzionen mit soviel Kunst zu verhandeln, daB
ich so wol meine Leser als mich selbst vollig ausser Stand seze,
zu wissen was ich haben wil.
EinTheolog distinguirt, wenn er an einem einfachen Begriffe
unahnliche Theile ausspiirct; d. h. wenn er Eine Idee fur zwo
20 ausgiebt und die namliche unter andern Namen wiederkommen
lasset; d. h. endlich - um am dunkelsten zu sein - wenn er zu
Einem Kinde ein kleines Heer Gevattern bittet, um es auf meh-
rere Namen taufen zu lassen. Die Operazion dabei ist naturlich
und leicht. Man sezt namlich das Bestreben, den Theilen eines
Begriffes nachzuforschen, so lange fort bis die Phantasie, die
sich bei keinem lange aufzuhalten vermag, an die Stelle des Be-
grifs, auf welchen allein man. sie heften wollen, einen andern,
den man fur den alten ansieht, geschikt untergeschoben hat;
eben so verdoppeln sich die Gegenstande vor dem leiblichen
30 Auge, wenn es lange auf ihnen verweilet. In dieser Ruksicht
kan man gar wol wenn nicht beweisen doch behaupten, daB
die Begriffe gleich der Materie ins Unendliche theilbar sind.
Die Vortheile nun, welche dem Theologen diese Trenschirkunst
gewahret, stechen in die Augen: durch sie verschaft er sich die
unschazbare Freiheit, ohne Bedenken einem Subiekte iedes Pra-
dikat ankleben zu diirfen, das er nur wil, widersprache es dem-
932 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
selben auch gerade zu; denn er hebt diesen Widerspruch straks
dadurch gliiklich, da8 er am Subiekte einen neuen Namen aus-
fiindig macht, welchem ienes Pradikat nicht mehr widerspricht.
- Da ich von dieser schweren Materie mit sovielem Glukke
dunkel geschrieben: so kan ich ohne Anstand zu dem Versuche
fortgehen, von ihr auch verstandlich zu schreiben und die Vor-
hange konnennun aufgezogen werden und das Licht kan wieder
hereingeschossen kommen. Ich wil namlich eine gewisse gutge-
sezte Rede (ein Priester am Vorgebiirge der Nasen hat sie abge-
fasset und gehalten) mittheilen, wekhe die orthodoxe Brauch- 10
barkeit der Distinkzionen ausser Zweifel sezet, indem sie bios
durch deren Vermittelung den gesunden Menschenverstand mit
einer Behauptung aussohnet, mit der er sonst in der grosten
Zwietracht lebte. So sagte der Priester:
Lieben Freunde!
»Ihr batet mich neulich, ich mochte euch eure Skrupel iiber
die grosse Wahrheit, die ich zuerst herausgebracht, benehmen,
die namlich daB drei Nasen richtig zusammenaddiret eigentlich
nicht mehr thun als HweNase. Ich wiinschte freilich, ihr glaubtet
wichtige Wahrheiten, von deren Zahl auch diese ist, ohne alien 20
Beweis und auf mein blosses Wort; indessen wil ich euerer nicht
sehr glaubigen Bitte doch wilfahren, und ich werde den Beweis,
den ich euch von iener Wahrheit gebe, ohnehin schon so
schwach einzurichten wissen, dafi er soviel ist wie gar keiner
und da(3 euer Glaube bei diesem Eingrif der Vernunft wenig
leidet. Die Stiize, mit welcher meine Behauptung von den Nasen
fallen und stehen mus, ist ein gewisser sonderbarer Unterschied
unter den Nasen. Es giebt deren namlich zwo Klassen, die der
substanziellen und die der personlichen Nasen. Sonach wiirde mein
Saz wol auch bestimter und richtiger so gefasset: drei personliche 30
Nasen geben weder mehr noch weniger als Eine substanzielle..
- Zwei Gottesgelehrten haben indessen vorgeschlagen, den
Ausdruk >personliche Nase< lieber in den >Nasensubstratum<
umzusezen. Ich kan zwar ihre Neuerungen nicht alzeit billigen,
allein diese Wiedertaufe konte, dunktmich, kaum gliiklicher sein:
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 933
denn nicht nur daB diese kleine Veranderung des Namens die
Schwierigkeiten alle aus dem Wege raumt, worauf unsere Frei-
denker darin wollen gestossen sein, sondern sie lasset auch auf
diese geheimnisvolle Lehre ein reichliches Licht fallen, das ihr
in den schwachsten Kopf Zugang verschaffen mus. Zudem hat
der neue Name noch den Vorzug, dafi er keineswegs mehr zu
denken als der alte giebt, wenn vielleicht nicht gar noch weniger.
Inzwischen ist die Sache mit der blossen Distinkzion noch
gar nicht abgethan: sondern ich mus euch eben erst die Verschie-
io denheiten namhaft machen, die mir zu dieser Distinkzion zwi-
schen den Nasen Befugnis geben. Ich dekke sie euch auch gerne
auf, weil ihr zumal selbst wol schwerlich darauf kamet. Der
Unterschied beider Nasen besteht namlich - und das macht
eben, dafi man ihn so schwer auffindet - ganz und gar nicht
in ihren Eigenschaften: vielmehr ist die eine volkommen so ge-
formt, so lang, so schwer und so gebogen als die andern und
mathematische Punkte sehen sich kaum gleicher als sie; sondern
worin er eigentlich besteht und gesucht sein wil, ist, daB die
eine Nase den Namen substanzielle und die andern den Namen
20 personliche tragen. Indessen reichen aber auch diese zwo Benen-
nungen meines Bediinkens volkommen hin, durch die Un-
gleichheit ihres Lauts der Gleichheit der Nasen abzuhelfen und
eine Verwechselung derselben, welche ihre gleichen Eigen-
schaften sonst so unvermeidlich machen, gluklich abzuwenden.
Vielleicht freuet euch die Nachricht, daB ich zum Besten eures
Gedachtnisses und zum Nachtheil eures Verstandes ein Dreimal-
eins in benanten Zahlen aufgesezt, das so lautet:
Eine personliche Nase ist Eine substanzielle Nase
Zwo personliche Nasen sind Eine substanzielle Nase
30 Drei personliche Nasen sind auch Eine substanzielle Nase.
Dieses neue Einmaleins soltet ihr eurem alten in unbenanten
Zahlen beibinden; und ich sahe das gerne. Vielleicht schlagt mir
auch noch etwas Wichtigeres nicht fehl. Ich gehe namlich schon
lange darauf urn, den weltlichen Arm dahin zu vermogen, daB
er euch mein neues Einmaleins zu beschworen nothigt. Denn
nent mir selbst ein Unterpfand euerer Uberzeugung von der
934 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Wahrheit meines Einmal ems, das wichtiger ware als ein Eid-
schwur: kont ihr mir ein heiligers geben, so wil ich es wahlen.
Allein selbst die Scheme kennet bei dem Liebhaber kein besseres
Unterpfand der Treue als eben ienes Beschworen; und man hat
auch noch kein Beispiel, daB eine dabei iibel gefahren und der
Liebhaber seinen Schwur etwan gebrochen hatte.
Ubrigens nab' ich eine geistliche Schaferei und ihr seid meine
geistlichen Schafe; allein zu euerer Schande mus ichs sagen, daB
meine Herde von verschiedenen Schafen verunreinigt wird,
welche mehr Verstand verrathen als sich fur ein Schaf wol 10
schikt. Diesen raudigen Thieren werd' ich also auch wol
schwerlich die Einheit mehrerer Nasen einreden; und die kleinli-
che Eitelkeit, homines emunctae naris scheinen zu wollen, wird
sie verleiten, meinen vernunftwidrigen Behauptungen kein Ge-
hor zu geben. Aber den bessern unter euch ertheile ich den wol
durchdachten Rath, von dem ihr in der Folge manchen Vortheil
ziehen konnet, gehet selten oder niemals euerer eignen simdhaf-
ten Nase* nach: ihr seid geistliche Braute, die Nase mus euer(e]
Brautfiihrerin werden und euch etwan in die Kirche bringen.**
An andere Orte folgt ihr aber nie; sondern erinnert euch stets, 20
daB sie auch einmal in ein B-l gefuhret, wo ihr in die groste
Gefahr geriethet, ohne sie wieder aus demselben herauszuge-
hen.*** Zur Ehre euerer und meiner Einsichten wil ich es zwar
* Fur die wenigen Leser, die die obige leichte Allegorie nicht enthiil-
sen konnen, schreib' ich diese Noten. Der Priester oben meint unter
der Nase die Vernunft und den gesunden Menschenverstand: daher rath
er, beide selten oder niemals in Glaubenssachen zu Wegweisern anzu-
nehmen.
** Hochstens, fahrt er fort, kan man sich der menschlichen Vernunft
bedienen, um sie etwas sagen zu lassen, das dem Glauben zum Vortheil 30
gereicht. (Auf ihrem Zeugnis beruhet das Ansehen der Offenbarung:
ist dieses einmal festgegriindet, so saget diese lauter Dinge aus, welche
die Vernunft fur einen schlechten Zeugen erklaren; welches indessen
nichts schadet: denn die Theologen iibertreiben es gewis nicht, wenn
sie fodern, daB bei uns die groste historische Wahrscheinlichkeit, daB
die Apostel alzeit Recht haben, iiber die Gewisheit, daB 3 nicht 1 ist,
das Obergewicht behaupten sol.)
*** d. h. Aber sonst mus man die Vernunft nicht horen, weil sie
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 935
nichthoffen, allein angenommen nur, daB ihr vor meinem Rathe
euere Ohren verstopfet: so mus ich euch erofnen, daB ich in
diesem Falle mir ein Gewissen daraus machen wurde, wenn
ichnicht so fort einige Anstalten trafe, die Rettung euerer arm en
Sele mit der Aufopferung euerer Nase zu erkaufen: ich wiirde
daher ohne Anstand an die Personen, die ihr Schwerd nicht um-
sonst tragen, einBitschreiben des Inhalts ablassen, daB man euch
dieses Gliedmas, das ihr, stat es gehorig mit schonen Korallen
anzupuzen, gleich den Wilden zur Auswitterung und zum Ver-
io f olge irref uhrender Fusstapfen erniedrigt, bis an die Wurzel abzu-
losen und dem Teufel diesen Schleichweg zu dem Size euerer
Sele abzuschneiden belieben mochte. Und von einem so einsichts-
vollen weltlichen Arm wie der unsrige ist darf ich alle Hulfe
erwarten, fals nur die Griinde, womit ich mein Ansuchen um
selbige unterstiizen werde, wirklich so stark sind als sie mir
vorkommen . Wenigstens hoff ich sol doch das ihn in Bewegung
bringen, wenn ichihm das Beispiel der Turk en verschlagen vor-
halte, die in der ahnlichen Meinung, daB der Teufel sich in unver-
stummelte Bildsaulen begebe und verkorpere, alien und sogar
20 den schonsten Kunstwerken fleissig nach der Nase stehen: durch
diese Verstumlung glukt es ihnen fast allemal, den Teufel zu
verhindern, daB er sich in die Bildsaule nicht einmiethet. Oder
wisset ihr selbst die Obrigkeit zur Absagung euerer Nasen mit
etwas starkerem zu ermuntern als durch diese Beruffung auf
das Verfahren der weisen Tiirken? konnet ihr fur dieselbe etwas
nachdriiklichers vorbringen als daB gerade die von euch, denen
entweder die Natur die Nase erlassen oder die Kunst sie genom-
men, vom Teufel am wenigsten verunreinigt werden, stat daB
andere durch griechische und heidnische Nasen den bo sen Feind
30 in sich lokken und in sich Ziehen? Ich habe einmal gelesen, daB
Tagliacozzi, gewesener Professor der Anatomie in Bologna,
Leuten, deren Nasen preshaft waren oder verloren gegangen,
manchmal sich geirret hat und einigemal so sehr, daB sie an ihrer eignen
Wahrheit verzweifelte; worauf die Allegorie hier zielet. Allein ich mag
keine Noten mehr machen; ich wil lieber glauben, daB alle meine Leser
meine Verstandesgaben besizem
93 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
frische ansezte, die er aus fremden Hintern verfertigte: nur blie-
ben sie nicht langer bekleiben als derienige lebte, von dessert
Fleisch sie genommen waren. Dies brachte mich neulich auf
einen sehr nuzlichen Entschlus. Ich erbiethe mich namlich, den
Stof zu den Nasen, welche an die Stelle euerer angebornen, fals
diese euch die Obrigkeit abnimt, treten miissen, unentgeldlich
aus meinem H- brechen zu lassen; und die iibrigen Prediger,
die das Nasendreimaleins mitpredigen,hab' ich ein Gleiches zu
thun beredet. - Ach lieben Leute! wenn mir so die Gefahren
zu Sinne schiessen, die gegen euer Selenheil zusammentreten, 10
wenn ich besonders an die Nieswurz denke, die sich durch eure
Nase so leicht in den Kopf einschleichen kan: so mus ich sehr
laut ausruffen: Wie vie[l]mal, nicht bios dreimal, gliiklicher als
ihr ist iene menschliche Misgeburt in Dresden, der an der Stelle
der Nase ein langer Schwartz sas. Die Natur steuerte .sie mit
einem Vorzug aus, den ihr erst von der Kunst erbetteln musset,
indem ihr, wie ich euch gerathen, euere kezerischen Nasen able-
get und dafiir aus orthodoxen Hintern euch bessere ausste-
chet«. —
Das ist die Rede des Priesters. Wenn ich nun von mir auf 20
meine Leser schliessen darf,. so glauben sie iezt alle die Einheit
dreier personlicher Nasen so fest wie ihr Dasein selber. Was
fur ein sonderbares Mittel aber hat denn mich und die Leser .
vermocht, von der gesunden Vernunft zu einer Behauptung
(iberzutreten, die in der ganzen Theologie an Ungereimtheit
nicht ihres Gleichen hat? Wir sehen alle, daB es eine Distinkzion
gewesen; und daraus folgt meines Bediinkens zum Vortheile
der Distinkzionen genug. Ich habe oft zu meinen Freunden ge-
sagt: »Distinkzionen sind der Stein der Weisen, die Quadratur
des Zirkels, die Universalarznei fur ieden, der etwas gegen den 30
gesunden Menschenverstand behaupten wil und sind besonders
in einer Inauguraldisputazion von ausgemachtem Nuzen. Seht!
bios vermittelst guter Distinkzionen wil ich die Widerspruche
der ungereimtesten Religionen in der Welt auf eine wirklich
befriedigende Weise auflosen, ihren Widersin zu Nichtsin erheben
und ihre Gegner wenn nicht zur Uberzeugung doch zum Stille-
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 937
schweigen bringen. « Lachten meine Freunde iiber meine An-
massung: so erinnerte ich sie nur daran, daB ich es eben alzeit
gewesen, der den Priestern aller ausserchristlichen Religionen
die Distinkzionen eingeblasen, womit sie selbige so gut verthei-
digten. Wenn nun Distinkzionen schon fur auswartige Religio-
nen, welche doch von der Wahrheit eben so sehr als von der
Vernunft abgehen, eine leuchtende Pomade abgeben, welche
macht, daB sie mit vielem Lichte um sich werfen: so frag' ich,
welche Dienste miissen sie der deutschen Orthodoxie erst thun,
10 die vollends mit der Wahrheit so sehr (ibereinkomt als sie mit
dem gesunden Menschenverstande streitet? Ich glaube, die um-
ziehen sie mit einem ordentlichen Heiligenschein und der dienen
sie stat guter Altarlichter. - Diese lange Ausschweifung wird
mir niemand verargen, weil sie doch die trefliche Absicht hatte,
die theologischen SchneidemuhXcn, die man iiber die modischen
H^Wmiihlen bisher ganz vergessen, wo moglich wieder in den
Gang zu bringen und den Orthodoxen zu bewegen, daB er alte
gute Waff en wieder hervorsucht. H. Stapelhaselius wiederholt
es so oft, daB der Teufel einen besondern Grol gegen die Recht-
20 glaubigkeit in sich hege: der Leser hake doch meine obigen Be-
muhungen, ihr durch Distinkzionen wieder in die Hohe zu hel-
fen mit dieser Versicherung meines Gegners zusammen und
entscheide dan, ob sie etwan Grund hat.
Ich komme zu den obigen Worten zuriik: die Teufel werden
nicht von Got geschaffen, sondern von menschlichen Selen ge-
zeuget. Denn fahr' ich iezt fort, man mus sich den menschlichen
Kopf wie einen Bienenkorb denken. Mitten darin sizt der Weisel
oder die Biemnkonigin, ich meine die menschliche Sele. Wir
Teufel sind die Drohnen oder manlichen Bienen und haben uns
30 um sie in beliebigen Entfernungenherumgelagert. Die Men-
schen nennen uns aber nur die Bilder der aussern Dinger denn
in diese luftigen Gestalten verkorpert - in der Gabe, uns in alles
was wir wollen zu verkleiden, thun wir Teufels es wol den
meisten Geistern zuvor - wandeln wir gewohnlich vor der Sele
auf und nieder. Zuweilen nehmen wir auch diese Bilder und
Schattenrisse, welche von den aussern Dingen (wie Epikur zu-
938 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
erst bemerkte) ab- und ins Gehirn hineingeworfen werden, dop-
pelt und mehrfach um, wie etwan die europaischen Weiber
mehrere Rokke und die iapanischen mehrere Westen auf einmal
anlegen: in dieser dikken und minder durchsichtigen HiiHe sieht
uns dan die Sele fur ein wirkliches ausseres Ding (auch sogar
vor dem Sonnenlichte der Sinnen) an und sagt liberal: »ich habe
was gesehen« und fahret (welches sonderbar ist) vor Wesen zu-
sammen, mit denen sie doch unter einem Dache wohnt und
die mit ihr unter dem Schlafe des Korpers Verstekkens spielen.
Wie klaglich ists daher, wenn einige unser Dasein aus solchen 10
Geistererscheinungen beweisen wollen! Denn wie ich eben ge-
zeiget, sieht man ia bei keiner etwas Wirkliches oder uns selbst,
sondern nur die Bilder vom Wirklichen, die wir Spasses halber
um uns geworfen; wiewol ich nicht laugne, daB wir es wirklich
zuweilen in der muthwilligen Absicht thun, den Menschen
weiszumachen, daB wirexistiren. - Im menschlichen Kopfe nun
verfuhren wir Jahr ein Jahr aus ein Gelarme, ein Geschnurre
und ein Wesens, das ganz unglaublich sein wiirde, kont' ich
mich hierin nicht auf den eignen Kopf eines ieden Lesers selbst
beruffen. Denn bald baden wir uns in Nervensaft, um schon zu 20
werden, so wie die Weiber sich sonst eben darum in Eselsmilch
badeten; bald sezen wir die Gehirnfibern in harmonische
Schwingungen und bringen der Sele ein Standgen; bald dampfen
wir im sogenanten Unterleibe soviel Tabaksrauch in den Kopf
hinauf, daB der Weisel oben kaum zu bleiben weis; und was
dergleichen erlaubte Zeitvertreibe mehr sind. Doch ist das nur
Nebensache. Denn unser Dichten und Trachten ist eigentlich
auf Parung mit dem Weisel gestellet, welche uns bei weitem
am meisten beschaftigt, weil sie erst den muhsamen Sieg iiber
die vielen Weigerungen desselben voraussezet. Diese Mishellig- 30
keit riihret namlich von unserer schwarzen Farbe her, gegen wel-
che die menschliche Sele eine naturliche Antipathie verrath, die
kaum beim indianischen Hahn hef tiger gegen die rothe sein kan.
Unserer Vermahlung mit der Sele gehen daher gewis iedesmal
soviele Praliminarien voraus als gewohnlich einer Vermahlung
zwischen den Spinnen oder auch einer zwischen hohen Haup-
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 939
tern. Denn weitsogar gefehlt, daB es ihre Sprodigkeit erweichen
soke, wenn wir Bienen uns in den poetischen Blumen der Phanta-
sie solange herumwalzen, daB wir uns ihr mit Blumenstaub ganz
weis gepudert prasentiren konnen: so haben wir noch einen lasti-
gen Schrit zu thun eh' wir zum Ziele gelangen; wir mussen
ihr erst noch einen Liebestrank eingeben, in welchem sie ihren
Verstand und ihren Abscheu vor unserer Farbe zugleich ver-
trinkt. Es wird derselbe (Nervensaft glaub* ich nennen ihn bei
euch die Arzte) bekantlich aus dem Dampfe kochender Wasser-
io adern zubereitet. Die Wirkung dav*on aber hat wol ihres Glei-
chen nicht. Denn ein oder ein Paar Spizglaser vol sind vollig
zulanglich, den Verstand aus der Sele fortzuschaffen und an sei-
ner Stelle die inbriinstigste aber keuscheste Liebe gegen den
Teufel in sie einzulassen, der den Trank hergab. 1st es einmal
so weit, so wird ohne weitern Anstand sofort von beiden Seiten
zur Begattung geschritten, an welcher die Menschen Siissigkei-
ten schmekken wollen, deren Empfindung sich sogar bis auf
die Aussenseite des Bienenkorbes verbreitet; wenigstens horte
ich manchen von diesem oder ienem Menschen sagen: »er mus
20 wieder einen Streich ausgedacht haben: er sieht so freudig aus. «
- Wahrend der Begattung wird von Einem Theile der Teufel
ein Kreis um das thatige Ehepaar geschlossen, um alles Licht
von ihm abzuhalten, weil es die Brautnacht verderben wiirde;
der andere Theil halt die guten Engel fest, (auch eine Art Bienen
und auch mit zum Bienenstok gehorig) welche das Beilager mit
Einspruchen zu storen drohen und wirklich schon mehr als ein-
mal bios durch ihre strahlende Gestalt die kraftlose Sele in einen
Schrekken gesezet haben, der sie auf der Stelle unvermogend
machte, ihre wolltistigen Anstrengungen weiter fortzusezen.
30 Und hier solt' ich wol den Leser an die wichtigen Verdienste
erinnern, die ich mir um die Beschirmung der Orthodoxie er-
worben, indem ich nicht nur einmal die guten Engel (die Men-
schen nennen sie wol Toleranz und Menschenliebe) in gefangli-
cher Haft gehalten, welche Mine und Anstalt machten, der
Parung gewisser Teufel mit Priesterselen betrachtliche Hinder-
nisse in den Weg zu legen; einer Parung, aus welcher doch die
940 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
machtigsten Verfechter der angefochtenen Wahrheit hervorge-
hen miissen, namlich Verkezerungsgeist, Has und Intoleranz.
Allein ich weis zu wol, wie schlecht man mich fur diese glanzen-
den Verdienste belohnet; ich werde daher auch inskiinftige, bei
diesem Mangel an Aufmunterung, mir wenig mehr Miihe urn
den Erwerb neuer solcher Verdienste geben. Indessen war doch
niemand so gar unglaublich undankbar als mein oft angeregter
Gegner, H. Stapelhaselius. Wirds der Leser glauben, dieser Man
hat die Kinder aus seiner Begattung mit dem Teufel des ortho-
doxen Hasses, die, ohne rrfeine Dazwischenkunft, durch den 10
Engel der christlichen Liebe so gut als hintertrieben war, in sei-
ner Widerlegung auf mich selber losgelassen und angehezet.
Niemand weis aber die Miihe, welche der Widerstand des Engels
mir machte: es kam ia zwischen uns sogar zum Raufen und
Schlagen; der Engel sezte sich zur Wehre, ich faste ihn bei den
Fliigeln, er mich bei den Hornern und ich wiirde sonach noch
bis iezt mit ihm gefochten haben, hatt' ich merit meinen Schwanz
zu Hiilfe geruffen, der seinen Waden verschiedene empfindliche
Streiche zuwedelte und so den Sieg mir zuschlug.
Bald nach der Hochzeit wird die Sele oder Bienenkonigin 20
von einem iungen gesunden und wolgebildeten Satan entbun-
den, dessen Gestalt meine obige Vergleichung desselben mit
einer Biene vollig rechtfertigt. Er hat namlich einen Schwanz,
wie die Biene etwas ahnliches, den Stachel; er hat zwei Horner,
wie die Biene auch; er hat zwei Paar Krallen, wie die Biene
vollig eben soviel, man muste denn ihr drittes Paar mit in An-
schlag bringen; er hat (wie Rabbinen schon sagen) Fltigel, die
Biene ebenfals; er ist schwarz, und die Farbe der Biene ist? -
zwar iezt golden; allein auch bekam sie diese Farbe erst als einen
Lohn vom Jupiter, den ihre Vorf ahren (wie Virgil singt) in seiner 30
Kindheit mit Honig aufazten. Denn sonst sahen die Bienen (wie
die Fabel lehret) eisenfarbig aus. Der Leser betrachte nun den
Teufel mit ein wenig mehr als gewohnlicher Aufmerksamkeit,
so wird es ihm nicht entgehen, daB wirklich die Schwarze des-
selben eben gar sehr ins Eisenfarbige spielet. Daher komt es
wol, daB die Bibel den Konig der Teufel gemeiniglich Belzebub
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 941
d. h. einen Konig der Fliegen nent. Man sieht auch, wie nahe
der Doktor Baynyard einer richtigen Vorstellung von uns war,
der sich den Teufel wie eine grosse Brumfliege dachte. — Der
iunge Satan nun, (wenn die Menschen einen sehen, so sagen
sie: das ist eine Siinde) komt, wie die Mohren, mit der Farbe
der Unschuld, mit der weissen auf die Welt, doch reift sie bald
zur schwarzen, zur kohlschwarzen; alsdan kan die Mutter ihr
Kind nicht mehr riechen noch schmekken. Einige wenige indeB
werden mit der schwarzen Farbe auch schon geboren und glei-
io chen denen Blumen, die schon in der Knospe mit alien den
Farben gepuzet sind, welche die Sonne hernach aufdekket. Die
Menschen kennen und schazen diese scharzgebornen Teufel un-
ter den Namen schwarzer Laster. Seltner schenkt die Sele der
Geisterwelt einen stummen Teufel, der meistens gleich nach sei-
ner Geburt in ein fettes Schwein fahret. Doch mogen sie in
den iezigen Tagen haufiger sein; wenigstens hor' ich immer,
daB die stummen Siinden es geworden und darunter meint man
doch wol solche Teufel. Was todgeborne Satane, Embryonen
und Misgeburten anlangt, so hekt die Sele nur dan und wan
20 dergleichen. Ich darf nicht vergessen, daB die Selen in weiblichen
Korpern meistens Teufel zeugen, die an Gestalt und Gaben den
Affen sehr gleichkommen; der Manner ihre aber sind immer
wahre ausgemachte Teufel. - Ich hatte oben doch mit erinnern
sollen, daB im Bienenstokke gewohnlich Ein Teufel ist, dem
die Sele das Schnupftuch vor andern zuwirft; und daB diesen
Vorzug immer der behauptet, der die meisten von den obenge-
dachten kochenden Wasserquellen besizet und mithin die Sele
am freigebigsten mit Liebestrankenbedienen und beriikken kan.
In einigen Bienenstokken sind diese Guter unter alle gleich ver-
30 theilet und sie haben unter einander eine Reiheschank; heute be-
sauft sich die Sele bei dem, morgen beim Nachbar und geht
sonach mit ihren Gunstbezeugungen unter dem ganzen Heer
hausiren und giebt sich wol zulezt, wie man davon schon un-
laugbare Beispiele hat, gar einem guten Engel Preis, der ihr
etwan gerade ein wenig Nervensaft zutrank.
Etwas sehr wunderbares und darum nicht weniger ausge-
942 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
machtes ist es, daB man den obern Theil des menschlichen Bie-
nenstoks bios mit ein wenig Wasser geschikt zu besprengen und
gleichsam zu taufen braucht, urn der Bienenkonigin darin die
Jungferschaft auf der Stelle wiederzu vers chaff en, hatte sie auch
bei alien Teufeln schon geschlafen. Ich habe selbst lange an der
Wirkung dieser Taufe gezweifelt; aber seitdem ich an dem Was-
ser eines gewissen Franzosen eine ahnliche wahrgenommen , kan
ich iene mit Recht nicht mehr in Zweifel ziehen. Er verfertigt
und verkauft ein sonderbares Arkanum unter dem Namen Jung-
ferschaftsessig (vinaigre de virginite), von dessen Gebrauch er al- 10
len Dam en, sowol verehlichten als unverehlichten die Wiederge-
burt der Jungferschaft mit so klaren und so nachdriiklichen
Worten verspricht, daB man die franzosische Glaubwiirdigkeit
mit der griechischen verwechseln muste, wenn man dennoch
glauben woke, der Franzos luge und sein Essig mache wirklich
keine Jungfern. - Allein andere glauben die Bienenkonigin wie-
der zu verjungfern, wenn sie mit vielen Zeremonien den Bienen-
stok von aussen um ein Spahngen beschneiden und sie nennen
ihr Beschneidemesser das Inokulirmesser, das dem Stokke bessere
Friichte einimpfet. Und diese werden mit Recht von iedem - 20
Beichtvater, hatt' ich mich bald versprochen, ich wolte aber
sagen von iedem - Bienenvater verlacht: denn alles, womit sie
diese unbegreifliche Umschaffung der Sele wahrscheinlich ma-
chen konnen, lauft etwan dahinaus, daB die Abyssinier, (wie
Paw erzahlt) etwas ahnliches vom Korper behaupten und die
Beschneidung einer Frau fur die Wiedergeburt ihrer Jungferschaft
ansehen.*-
Uber die Erzeugung des Menschen hat man noch gar nichts
gesundes vorgebracht. Der Leser urtheile selbst, wie.weit alle
Hypothesen dariiber die Wahrheit verfehlet, da keine die fol- 30
* Jezt merk' ich erst, daft der Teufel sich oben uber die Beschneidung
der Juden aufhalt. Ich wiinschte aber, er hatt' es nicht gethan: er billigte .
weiter oben mit so vielem Rechte unsere Taufe, ich sehe aber nicht
ein, wie er demungeachtet iene misbilligen kan, die doch die Vorlauferin
von dieser ist. Vielleicht loset man das Rathsel auf, wenn man annimt,
daft der Teufel im Grunde ein heimlicher - Atheist ist.
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 943
gende und einzige richtige Erklarung von der Erzeugung giebt:
wenn eine Bienenkonigin eine neue erzeugt, zu der sich die klei-
nen von iener hervor[ge]brachten Teufel oder Bienen schlagen;
wenn dieser kleine Staat im Staat seinen Bienenstok an einem
schonen Sommertage verlasset, von dem man dan sagt, er
schwdrmet; und wenn selbiger sich in einem neuen anlegt: so kan
man sagen, der Mensch hat ein Kind gezeugt.
Inzwischen ist wol nichts ausgemachter, als daB die fiinf Sinne
die Fluglocher sind, wodurch die Teufelgen fliegen, wenn sie
io ihre Honig- und ihre Giftblase mit den Exkrementen der Blumen
zu fiillen fortgehen oder aus der erstern ihren Weisel zu azen
wiederkommen. Jede solche Honigmalzeit ist ein LiebesmaU das
ihre Mutter zu neuen Begattungen mit ihnen anfrischt und
starkt. Sind aber endlich die Blumen verbliiht und die Honigzel-
len erschopft: so erleichtern alle Teufel die geschwollene Gift-
blase auf ihre Mutter und dringen alle mit ihren langen Stacheln
auf sie ein, um mit Pein ihrem Unvermogen die Fortsezung
der Parungen abzudringen, welche sie ihr sonst mit Honig ab-
schmeichelten. Dem Spiele macht ein zaundiirrcr Man ein Ende,
20 der mit einem krummen sensenartigen Zeidelmesser den Honig
auszunehmen gegangen komt und in der ersten Erbossung iiber
das Siissigkeiten verprassende Pak die Bienenmutter samt ihren
Kinderfn] durch Tabaksrauch in die - Holle iagt, die ich iezt
nicht ohne Anmuth naher zu beschreiben gedenke.«
Nein! ich mus dem Teufel den Pinsel aus den Krallen reissen,
den er misbraucht, um uns so schwarz abzumalen als wir ihn
gewohnlich. Denn der Menschen, die Ausnahmen von seiner
Allegorie sind, giebt es so viele, daB sie aufhoren, nur blosse
Ausnahmen zu sein. Sogar die, welche den Menschen so verach-
30 ten, daB sie auch sich selber nicht ausnehmen, widerlegen sich
durch sich selbst. Der Theil ihres Wesens, der auf einen andern
Theil desselben mit soviel Verachtung heruntersieht, stehet eben
darum hoher und von der Tiefe des schlechtern entfernt und
sie mussen an sich wenigstens ihre Selbst verachtung hochscha-
zen. Nein also! denn du sonderbares Geschopf, du Mensch, so
944 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
unbegreiflich thoricht du bist; so unaufhorlich deine Narren-
schellen, gleich einer schlagenden Minutenuhr, mit Klingeln ie-
den Ruk der Zeit begleiten, so hat die Natur doch fur deine
Neigungen besser gesorgt und du bist nur eben so schwach
als gut. Ich hatte daher sehr gewiinscht, lieber Satan, du moch-
test unsere schlechte Seite lieber in einer andern Allegorie ent-
worfen haben als in der mit den Bienen, diesen holden unbe-
scholtenen Thieren. Warum nicht lieber in einer mit den
Wespen, die keinen Honig geben und andern nichts aus sich
mittheilen als stechenden Gift? Denn ich hatte so gerne unsere 10
gute Seite durch iene bessern Thiere dargestellet; und wiewol
ich es auch iezt thun werde, so kan ich doch nur die wenigen
Blumen pfliikken, die du etwan am Rande der Wiese, worm
du alien Schmuk hinweggeerndtet, noch stehen lassen, wie die
Maher gemeiniglich thun.
Ich habe es von einer sichern aber unsichtbaren Hand, daB
es eine gewisse Art von Bienen oder Engel giebt, mit welchen
besondere Menschenselen dieienigen Engel zeugen, die unter
uns den Namen schone Thaten fiihren. Mancher menschliche
Bienenstok ist oft wirklich mit sovielen Engeln musivisch aus- 20
geleget, dar3 er innen aussieht, wie ein Tempel, wie ein Pan-
theon, wie ein Himmel. Solche Bienen versammelten sich unter
deinem Schlummer auf dem Flugbret deines Bienenstoks, auf
deinen Lippen, lieber Plato, als du noch ein Kind warest; aber
die Bienen blieben da nicht sizen, sondern giengen, als du ge-
wachsen und mehr in die Hbhe als in die Tiefe gewachsen warest
- bei den meisten Menschen ist es aber umgekehrt und an ihrer
Sele wachsen, wie nach Martinets Bemerkung an ihrem Korper,
die untern Theile starker als die obern - gar weiter in den Bienen-
stok hinein. Uberhaupt, Plato, war dein Leben, nicht wie bei 30
den meisten ein dummer dikker mitternachtlicher Traum, nicht
wie bei einigen ein hellerer Morgentrzum, sondern wie bei den
besten eine noch hellere Schlaftrunkenheit, und mit deinem Zuge
nach oben, der zwar auch die Fusse sich in den Koth verirren
lasset, allein der auch ihre Heraushebung erleichtert, komst du
mir wie einer in den Steinsalzbergwerken vor, der wie seine
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 945
Mitarbeiter geboren^und erzogen unter der Erde, zwar auch in
den Himmel, der dw/derselben liegt, nie gewandelt, allein doch
an der Ein- und Ausfarth Strahlen eines reinern Lichtes aufge-
fangen. Nothwendig wird dieser Man gewisse Ausdehnungen
in seinem Busen fiihlen, die ihm sein Salzbergwerk zu enge
machen und ihn aus der Erde auferstehen heissen. Wie gesagt,
so komst du mir vor, lieber Plato! Ich versage dir mit alien
Alten den Namen des Gotlichen nicht, aber bios, weil noch
niemand als du in deiner Republik so gut von der Tugend ge-
10 schrieben, die allein gotlich ist, und weil noch niemand so gut
als du gezeiget, daB unser Korper, in welchem unser Ich wie
in einer beweglichen Bildsaule stekt, ein Geistesgefangnis ist,
das ich iedoch meiner Allegorie zu Folge besser ein Weiselgefang-
nis* nenne, und daB die diistre, unreine und dikke Erdenathmo-
sphare, die uns belastet und in der wir uns miide waten, das
heilige Grab ist, das edle Thaten eine Zeitlang einschliesset. -
Die Anmerkung ist sehr nothig, daB oft das zu schone und
warme Wetter in menschlichen wie in andern Bienenstokken
dem Honig, welchen die Bienen oder Engel fur den Weisel, fur
20 die Zellen und die Jungen eintragen, die Festigkeit nimt und
ihn zergehen macht. Das ist ein grosses Ungliik: denn der zer-
flossene Honig hangt sich an die Flugel der Bienen, leimt sie
an die Hintertheile derselben an und hindert so den Flug.**
Bienenverstandige haben an meiner stat schon angemerkt,
daB die Bienenstokke, welche ihren Stand in der Abend- und
Morgensonne haben, die fleissigsten sind und ruhmen daher das
Lickt zum Honigbau iiber alle Massen; und alle Alten sagen uns
dasselbe: allein die iezigen Poeten wenden alles an, uns diese
wichtige Anmerkung aus dem Gedachtnis zu bringen und su-
30 chen uns zu (iberreden, daB man zur Tugend so wenig Licht
bediirfe als zum Dichten.
* So nent man ein gewisses Behahnis von Drath, in welches man
den iungen Weisel sperret, wenn er nicht im Bienenkorbe bleiben wil.
** d. h. der haufige Genus des sinlichen Vergniigens entkraftet die
Tugend.
94$ JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Gliiklich ist der, in welchem es von Engeln wimmelt! Denn
sie singen ihm Abends ein Wiegenlied, das die Geister seiner
verstorbnen Kinderiahre aus dem Gedachtnisse auferwekt, wel-
che ihn dan im Traume besuchen und mit ihm, weil der Schlaf
wie das Alter wieder zum Kinde veriiingt, wie mit ihres Glei-
chen spielen. Ich hake dafiir, gliiklicher ist ein solcher, der Engel
oder Bienen zeugt, als ich, der ich bios stechende Wespen oder
Teufel d. h. Satyrs in die Welt seze. Aber ganz ungliiklich ware
der, der auch langer spottete als er die Feder hielte und der nicht
zuweilen vor dem Angesichte der schuldlosen und erhabnen 10
Natur die menschlichen Kleinigkeiten und ihre Lacherlichkeiten
und den Spot dariiber auf einmal vergasse: der Stachelschwein-
mensch in London warf doch seine natiirlichen Stacheln ab,
wenn es kalt wurde; und in dieser Mausezeit pflegte er auch
seine Gattin zu umarmen.
Vom Sokrates kan ich bei dieser Gelegenheit vielleicht etwas
neues mittheilen. In der Nacht vor dem Tage, da er starb, sol
er (hat mich wenigstens sein Genius berichtet) im Traume durch
neue Vermahlungen die Zahl seiner Engel vermehret und mit-
hin, da er ihre Geburt nicht erlebte, mit Bewohnern einer bes- 20
sern Welt schwanger die ungerechte verlassen haben. So tonet
zuweilen eine einsame Biene im Mondschein umher und ziehet
aus den Lindenbliithen, die sie am liebsten kostet, zu Nachts
noch Honig, weil ihr der Tag zur Einsamlung desselben zu kurz
geworden.
Genug aber nun! Denn das weis ieder von selbst, daB der
Bienenvater im Herbst den Honig aus den Bienenstokken schnei-
det und im Winter (des Todes) sie unter die Erde begrabt, wo es
warmer sein sol und wo die Bienen ausruhen. In verschiedenen
Bienenbiichern hab' ich dabei noch gelesen, daft dieses Begraben 30
ihn en so wenig Schaden thut, daB im Friihling der ganze
Schwarm sich mit groster Munterkeit wieder heraus in die Hohe
erhebt; indessen ganz gewis weis ich doch das nicht und ich
habe auch selber noch keine Erfahrung dariiber angestellet;
meine Leser mogen daher lieber mit dem Bienenvater selbst
aus der Sache sprechen. -Der Teufel kan aber iezt wieder auftre-
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 947
ten, den ich so lange verdrangte, weswegen ich mich bei den
Lesern wol entschuldigen mus. Er theile uns denn seine verspro-
chenen Nachrichten von der Holle giitigst mit, auf welche ich
selbst (ich laugne es nicht) ein wenig begierig zu sein mich nicht
erwehren kan.
»Ich habe mich schon oft iiber die Magerheit der Nachrichten
gewundert, welche die Menschen von der Holle haben, und
noch mehr iiber ihre unglaubliche Nachlassigkeit, genauere ein-
zuziehen. Wenigstens liesse die Warme, mit der sie diesen Ort
10 zum Ziel yon alien ihren Schritten und Spriingen erheben, ein v e
ganz andere Neubegierde, ihn kennen zu lernen, erwarten und
man soke anfangs glauben, es musse ihnen an der Kentnis dieses
Zieles nicht weniger gelegen sein als an seiner Erreichung.
Gleichwol haben sie iiberhaupt nicht mehr als zwei gute Reise-
beschreiber von diesem Orte aufzuzeigen, und das ist Klopstok
und Schwedenborg. Der erstere ist nicht einmal ein rechter
Geograph der Holle, sondern nur ein Landschaftsmaler derselben.
Nur der andere, Schwedenborg hat allenfals ihren kunftigen
Biischingen etwas vorgearbeitet und wirklich eine ziemlich
20 richtige Karte von ihr aufgenommen. Ungleich mehr Glauben
als der Heldendichter verdient er auch: denn er scheuete aus
Liebe zur Wahrheit die gefahrliche Reise nach der Holle nicht,
hielt sich lange da auf, pflog besonders mit mir einen taglichen
Umgang, der seinen Kentnissen noch mehr als den meinigen
zu statten kam - es hatte es daher wol die gute Lebensart, ich
wil nicht sagen die Dankbarkeit erfodert, daft er auf irgend eine
gleichgultige Weise in der Vorrede zu seinen Werken die doch
nicht ganz geringen Dienste namhaft gemacht hatte, die ich ihm
bei seinem Aufenthalte in der Holle that - und schos in ihre
30 entferntesten Winkel die gliiklichsten Blikke. Obrigens ist sein
Dagewesensein hinlanglich durch den Verlust seines Verstan-
des* ausser Zweifel gesezet. Unter seinen erheblichern Verdien-
* Denn bekantermassen ist es eine der ansehnlichsten Revenuen der
Teufel, daft ieder Mensch, der noch bei lebendigem Leibe die Holle
besichtigt und bereiset, seinen Verstand stat des Abzuggeldes da zuriik-
948 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
sten um die Holle wollen wir auch seinen ihm zur andern Natur
gewordenen Abscheu vor allem Wunderbaren und Abentheuer-
lichen, auf welches andere Reise[be]schreiber ordentlich Jagd
•machen, um hernach die Leser darauf zu Gaste zu bitten, nicht
vergessen. Denn ich kan es meinen Lesern versichern - sie diirfen
ihm daher in allem blindlings glauben -, daB auch nicht ein ein-
ziger Umstand aus seiner Feder geflossen, den er etwa selbst
ersonnen und von dem er sich nicht vorher mit eignen Augen
(des Geistes, nicht des Korpers) auf das Genaueste unterrichtet
gehabt hatte: vielleicht hat noch kein Reisebeschreiber so wenig 10
als er, seiner Phantasie oder gar seinem Verstande dem Gedacht-
nisse ins Wort zu fallen erlaubt. Nur daher komt auch in seiner
Reisebeschreibung iene auffallende Ahnlichkeit der Holle mit
der Erde, welche gewis ein anderer Reisebeschreiber, der weni-
ger als Schwedenborg auf den Vortheil der Wahrheit und mehr
auf den Vortheil der Unterhaltung sah, mit lauter zwar wunder-
baren aber ersonnenen Unahnlichkeiten wiirde vertauschet ha-
ben. Ich vermisse diese patriotische Verlaugnung des Kopfes
nur selbst bei Klopstok ein wenig zu sehr: unter seinem von
Farben geschwollenen Pinsel (denn make Schwedenborg ia zu- 20
weilen, so that ers doch nur mit dem umgekehrten Ende des
Pinsel s) hat die Holle beinahe ihre meisten Ahnlichkeiten mit
der Erde eingebiisset; Ahnlichkeiten, fur welche der Leser durch
die Aufstuzung mit Unahnlichkeiten nur schlecht entschadigt
wird, die zwar schon genug aussehen, allein zum Ungliik fur
ihre Wirklichkeit nur keinen andern Schopfer haben als - des
H. Klopstoks eignen phantasiereichen Kopf.
Die Holle ist in dem grossen Kometen, der sich durch seinen
Schwanz vielleicht mehr Ruhm auf euerer Erde erworben als
Alzibiades sich durch den abgehakten Schwanz seines Hundes. 30
Denn er hat damit euer Erdgen einmal mit Wasser getauft und
ist schon auf dem Wege, es noch einmal, aber mit Feuer zu
lassen mus; so wie der Lady Montague fur die Betretung des Serails
etwas abgefodert wurde, das iedoch, nach ihrem scharfsinnigen Sohne
zu urtheilen, nichts weniger als ihr Verstand war; doch hat sie vielleicht
auf dieser Weiberschaubiihne auch nur um freien Einlas selbst mitgespielet .
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 949
taufen, um entkorperte frische Verdamten Manschaft auf sich
einzuschiffen.* Die Kalte daselbst glaubt niemand, wer nicht
selbst da war; die Hize aber ist gar nicht auszuhalten, da sie
zumal noch durch unsere eigne Korper vergrossert wird. Denn
die durchsichtigen Leiber aller Teufel sind natiirliche volkom-
mene Brenspiegel, welche mit den Strahlen, die von den Sonnen,
von guten glanzenden Engeln und selbst von der Wahrheit auf
sie fallen, andere Teufel stechen und sengen . Es ist ein sonderba-
res Schauspiel, wenn man so sieht, wie das ganze Hollenheer
io von einer wechselseitigen Flucht getrieben wird; wie ieder Teu-
fel eine ganze Holle von Feuer auf sich tragt und von sich wirft
und wie besonders die grossen Teufel daherwandeln wie feuer-
speiende Berge. Was im Himmel Licht ist, das ist in der Holle
Feuer, und stat der Heiligenscheine, die dort die Haupter zieren,
sind hier Pechhauben, die um die Kopfe brennen. Ich kan aber
nicht beschreiben, was fur Vergniigen die Gelehrten, welche
die Erde der Holle schenkt, an uns lebendigen Brenspiegeln fin-
den, mit denen sie Versuche zu machen der damit verbundnen
Qualen ungeachtet gar nicht sat werden konnen; und ein grosser
20 Experimentalphysiker versicherte mich neulich, er mochte um
wie viel nicht wieder auf die Erde, wo die Brenspiegel, selbst
die biiffonschen nicht ausgenommen noch so in der Wiege lagen
und einengeschiktenkentnishungrigenEmpedokles wenig oder
nicht versengten und verbrenten: ich meines Orts wil es alien
noch lebenden Gelehrten auch gern gonnen, daB sie das Vergnii-
gen dieser Versuche habhaft werden und in die Holle kommen.
- Demungeachtet wird es mir der Leser willig glauben, daB
unsere brenspiegelartigen Korper uns unsern Umgang derge-
stalt verleiden und beschwerlich machen, daB es in der Holle
30 ordentlich fur die Probe einer mehr als gewohnlichen Freund-
schaft gilt, wenn zwei einander selten besuchen und sich ihre
Nachbarschaft ersparen, so wie im Gegentheil gegenseitige An-
naherung und Umarmung (etwas ahnliches von diesem findet
* Der Teufel zielet auf Whistons Kometen, der an der Siindfluth
schuld ist und am Feuer des tungsten Tages schuld sein wird.
950 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
man doch bei euch auch, namlich unter eueren Hofleuten) fur
das untriiglichste Merkmal des bittersten Hasses angesehen
wird. - Ihr sprechet immer von feurigen Pfeilen, womit die
Liebe die Herzen anschiesset; aber ihr sprechet nur von meta-
phorischen. Bei uns hingegen wird wirklich mit unfigurlichen
geschossen, so wie auch die Erdschnekken auf einander ordent-
liche Pfeile als Boten der Liebe ablassen: mit den Strahlen nam-
lich, die der brenspiegelhafte Korper absendet, geben die Teufel
einer aus euerer Welt gegangenen Bienenkonigin, indem sie sich
nahern, ihre Liebe zu verstehen; ie mehrere Teufel (Laster) eine 10
Sele also aus euerer Welt in die Holle hinuberbringt, des to
schlimmer hat sie es folglich, weil um sie so viele Kinder buhlen
und in sie sich oft ein ganzer Kreis von gliihenden Feuerkegeln
einbohret. - Bei dieser Gelegenheit kan ich Potentaten, die Feu-
erwerke so sehr lieben, daB sie beinahe ihre Unterthanen kaum
starker lieben, eine Nachricht mittheilen, die sie freuen mus:
die Fiirsten namlich, die ihre Regierung auf der Erde mit den
meisten Feuerwerken gezieret hatten, verwandeln sich in der
Holle gewissermassen selber in schone Feuerwerke, welche in
alien Farben und sogar in der schwarzen brennen. Schoners giebt 20
es vielleicht nichts als den Anblik von einem oder etlichen der-
gleichen furstlichen Feuerwerken, an welchen sich besonders
der Name des Fiirsten, auf der Stirne mit blutrothen Buchstaben
flammend, ungemein ausnimt.
Mir ist es sogar unbekant nicht, daB verschiedene Leser liber
diese und ahnliche Ungereimtheiten, die ich von der Holle er-
zahle, die unglaubigen Achseln ziehen werden; vielmehr wurde
mir gerade das Gegentheil bei dem Skeptizismus unserer Zeiten
unerwartet kommen: aber fiir Spotter und Denker, an denen
Hopfen und Malz nun wol verloren ist, schreib' ich auch der- 30
gleichen Ungereimtheiten nicht: sondern nur zum Besten des
kleinen verachtlichen Haufgens derer, welche eben so edel als
selten denken, hab' ich mir die uneigenniizige Miihe genom-
men, die obigen Widersinnigkeiten von der Holle ans Licht zu
stellen, weil ich hoffen kan, daB diese sie vielleicht in ihrem
Glauben an Ungereimtheiten noch mehr zu bestarken dienen
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 95 1
und daB ich ihnen die Skrupel, die sie doch zuweilen sich iiber
alten Unsin machen mogen, vielleicht gliiklich durch neuen be-
nehme. Jezt aber weiter!
Jeder Teufel unternimt zur Zeit, wo sein Temperament die
Witterung auf der Holle nicht mehr ertragen kan, einen Zug
nach der Erde. Auf sie walfahrten z. B. im Mai die hizigen Teu-
fel der Wollust, um den Frost bei uns voriibergehen zu lassen.
Ein sonderbares Phanomen ist es beilaufig, daB keine Teufel
schlimmer sind als die, welche eben von der Erde zuriikgekom-
io men sind. Ich habe oft daniber nachgesonnen; und finde die
Muthmassung immer wahrscheinlicher, daB an dieser Ver-
schlimmerung die Tugendbeispiele vielleicht nicht am unschul-
digsten sind, womit die Teufel euere Erde so gefiillet und ver-
schonert erblikken. Der Leser kan dariiber weiter nachdenken;
er erwage aber doch eine ahnliche Bemerkung von Pockocke
wol, daB ieder Muselman von seiner Walfarth nach Mekka, dem
heiligen Grabe der Tiirken, um ein gut Theil schlechter zuruk-
kehret als er hinzog und daB die, welche am haufigsten da gewe-
sen, ordentlich auch die schlimsten sind. Es macht dem Christen
20 ausserordentlich viel Ehre, daB er auch hierin vor dem Tiirken
voraus ist und daB die katholischen Walfahrten dem Laster stat
Vorschub Abbruch thun. Denn vielleicht haben mehrere mit
mir die Bemerkung gemacht, die mich nie betrogen, daB wol
nichts geschikter als so eine Walfarth ist, die Frommigkeit so
wie den Korper ganz von neuem aufleben zu lassen; und ich
iibertreibe es vielleicht nicht, wenn ich glaube, daB eine Walfarth
nach Maria Taferl fiir die Verbesserung der weiblichen Herzen
und besonders fiir die Keuschheit von eben so wichtigen und
guten Folgen ist als eine nach Paris fiir die moralische Verbesse-
30 rung der manlichen nur immer haben mag. Wenn ich diese unge-
meine Nuzbarkeit der Walfarthen iiberlege - sie sind in der That
wahre Selenwanderungen und etwan fiir den Kirchenstaat das,
was der Umlaufdcs Geldes fiir den politischen ist - und etwan
noch dies darzu, daB die Wienerinnen sich die iahrliche Erlaubnis
zu einer Reise nach Maria Taferl im Heirathskontrakt versichern
lassen: so find' ich es unbegreiflich, wie man noch soviel vom
952 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Verfal der weiblichen Keuschheit schwazen kan und wie man
wenigstens die obgedachten Wie[ne]rinnen nicht von diesem
Vorwurfe ausnimt. - Was ubrigens die verschlimmerten Teufel
anlangt, so schwizen sie doch gar bald in der Holle die Bosartig-
keit aus, welche sie auf der Erde einsogen; so wil man in Neapel
bemerkt haben, da8 den Wachteln der Gift, den sie bei ihrer
Wiederkunft aus Afrika mit sich fiihren, durch einen achttatigen
Aufenthalt in Italien gar leicht benommen werde. - Einige Phi-
losophen konnen diese Durchziige der Teufel durch die Erde
nicht mit dem Saze reimen, daB die Erde ein Tempel Gottes 10
ist; allein sie vergessen vielleicht, daB durch gewisse Kirchen
ein Durchgang gehet, der iedem den Durchzug erlaubet, wenn
er auch kein sontagliches Kleid anhat.
Hier kan ich sehr schiklich und ungezwungen den Anlas mit
denHarenherziehen, dem Leser zu entdekken, daB das gedachte
Italien seine Hsbergwerke nicht nothiger hat als die Holle die
ihrigen. Denn wo wolten wir sonst nicht bios Kiihlung fur den
Durst hernehmen? sondern auch woraus wolten wir unsere
Hauser auffuhren? In Rusland hat man schon einmal einen Pal-
last von Eis gebauet; und bei uns giebt es gar keine andern Bau- 20
materialien. Wenn wir daher die Redensart: er hat sein Haus ver-
soffen euch Menschen nachbrauchen: so nehmen wir sie im
eigentlichsten Sinne. Denn das namliche Eis ist unsere Wohnung
und unser Trank und ich hab' es wol ofters erlebt, daB der,
dem alles Eis seines Kellers ausgegangen war, zulezt den Eiskel-
ler selbst angrif und auch diesen durch die Gurgel iagte: so ist
es oft derselbe Baum, in dessen Hohlung der Bienenschwarm
wohnt und in dessen BKithen er saugt.
Ich darf hoffen, daB die Linie iener schazbaren Christen noch
nicht ganz erloschen ist, welche von euch mit dem sehr unge- 30
rechten Namen Scheinhtilige gebrandmalet werden; ein Namen,
den sie schon deswegen nicht verdienen, weil ihre geheimern
Handlungen mehr als zuwol beweisen, daB sie gar nicht scheinen,
heilig zu sein. Diesen wenigen Reliquien der verstorbnen Hei-
ligkeit, welche gewis auch nach ihrem Tode ihren Gottesdienst
noch fortzusezen wiinschen aber wenig hoffen werden, erweis'
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 953
ich unfehlbar durch die Versicherung den grosten Gefallen, daB
sie die Holle, fals sie nur daselbst im Winter anlangen, mit Kir-
chen von Els ganz iiberdekket und ordentlich gepflastert finden
werden. Fur Selen, welche das Tempelbesuchen unter ihre
wichtigsten und fromsten Geschafte zahlen und die das Horen
der Predigten dem Befolgen derselben so weit vorziehen, lean
es doch unmoglich gleichgiiltig sein, zu erfahren, daB sie auch
in der Holle, diese frommen Bediirfnisse zu befriedigen Gele-
genheit antreffen sollen; ich mache mir vielmehr Rechnung, daB
10 diese Versicherung vielleicht manchen guten Christen anfri-
schet, darauf zu denken, wie er seinen iezigen Wohnort, wo
ihm der Spot seinen Gottesdienst von Tag zu Tag nur mehr
versalzet, sobald als moglich gegen die Holle vertauschen moge,
wo er unter den Teufeln seinem Got doch ungestorter dienen
kan. - Zu dieser Menge von Kirchen kommen wir aber, weil
ieder Teufel gehalten ist, fur iede neue Kolonie von Selen, um
die er die Holle verstarkt, einen besondern Tempel zu geloben
und zu erbauen: dafur darf er auch iiber seine Kirche das Jus
patronatus exerziren; eine Gewohnheit, die die ersten Christen
20 von uns entlehnet haben und der verschiedene Edelleute auf
der Erde manchen Ruhm verdanken. Daher komt es auch, daB
ieder Patronatsteufel die vakanten Stellen des Organisten und
Klingelbeutelvaters mit beliebigen Subiekten besezt.
Mehrere als diese zwo Stellen sind in unsern Kichen auch
nicht zu vergeben; denn das Predigers Amt versieht der Orga-
nist. Ich wil mich erklaren. Ein Teufel hat namlich eine Erfin-
dung gemacht, auf welche die Holle mit Recht stolz ist; ich
meine die bei uns so beriihmte Predigerorgel, welche auf Veran-
lassung eines leichten Drehens ganz gut ausgearbeitete Predigten
30 halt; Predigten, welche Licht in den Kopf und Warme in das .
Herz zu bringen selten unterlassen. Ich seh' es leider! wol voraus,
daB mein Leser iezt einfaltig genug ist, sich diese Orgel mit
der Gabe der Sprache zu denken; ich mus es ihm also ausdriiklich
melden, daB sie keine Vokal- sondern nur Instrumentalmusik
machen kan. Aber eh* ich die Orgel beschreibe, wird es dem
Leser gefallen, in meiner Begleitung ein wenig defer in das We-
954 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
sen der Predigten einzugehen; und fals er auf diesem Hinunter-
steigen zum Brunnen, worin die Wahrheit sizt, etwan fallen
woke, so halte er sich nur an mich, ich werd' ihn gerne halten.
Wenn man den Ursachen, warum gute Predigten in dem Zu-
horerso betrachtliche und heilsame Veranderungen anzurichten
im Stande sind, etwas genauer nachspiiret: so entdekket sichs,
daB der blosse Sin ihrer Worte nicht von der Zahl iener Ursachen
ist, denen wir nachforschen, sondern daB der Schal ihrer Worte
alle iene wolthatigen Wirkungen allein zu Stande bringt. Auch
frage man sich nur selbst: welche Predigten haben dein Gewissen 10
am nachdriiklichsten aus seinem Mittagsschlafgen gewekket,
ohne dadurch den Schlaf deines Korpers zu storen? in welchen
waren die Ermahnungen fur dich am beweglichsten? welche
dir die faslichsten? Und man wird sich nicht laugnen konnen:
daB es allerdings stets die gewesen sind, welche die Gemein-
schaft mit dem gesunden Menschenverstande ganzlich aufgeho-
ben und an seine Stelle die heiligsten Schalle hatten rukken las-
sen, die meines Erachtens auch die einzige zulassige Kirchenmusik
sind. Ich habe vor etlichen Jahren eine Gastpredigt gehoret, wel-
che durch gewisse an das Ohr und Herz ungewohnlich drin- 20
gende Schalle, womit sie den Sin theils erganzte theils ersezte,
die Herzen und Ohren von uns Zuhorern insgesamt in eine Be-
bungund Stimmung brachte, die so ungewohnlich lang anhielt,
daB sie eben so lange als der Klingelsak fortklang d. h. der Ein-
druk dieser schallenden Predigt dauerte wenigstens noch eine
gute Viertelstunde noch als das Amen schon gesaget war: denn
der Sak - die Kirche war sehr vol - klingelte eine Viertelstunde
langer als die Predigt, die er, wie bei den Alten den Deklamator
die Blasinstrumente, akkompagniret hatte. Ein Teufel, der die
Gleichnisse sehr liebt, sagte ungemein artig: mit der italienischen '30
Komodie sei es auch nicht anders; denn oft habe er beinahe
das ganze Parterre mit deutschen Zuhorern bedekt gefunden,
davon kein einziger ein italienisches Wort verstand: namlich
nicht um den Sin, sondern um den Klang der gespielten Stiikke,
der durch den Beistand einer italienischen Kehle ienen auch
leicht (ibertreffen kan, sei es ihnen zu thun gewesen. - Obrigens
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 955
ist das was ich hier sage, so unbekant nicht. Die Resonanzboden,
welche an den Dekken mancher Kirchen angebracht sind, um
den Eindruk der Predigt auf die Ohren zu verdoppeln, lassen
mich vielmehr stark vermuthen, daB ihre alten Erbauer, welche
so sehr fur die Verstarkung des Schalles sorgten, die Wahrheit
auch schon mussen gekant haben, daB die Predigt, um schneller
zu dem Herzen zu gehen, nicht den Um- und Irweg durch den
Kopf, sondern den nahern Weg durch die Ohren nehmen miisse.
Ja bei einem alten Alchymisten, den ich nicht nennen mag und
io kan, find' ich sogar in seiner unschiizbaren »Homiletik« folgende
Stelle: »und in den Sprachzimmern des Himmels sollen bios Kir-
chenstiikke gehoret werden, die Klavier- aber nicht, die Singstukke
sind, und auf Erden sollen die Glaubigen wie im Himmel die
algemeine Sprachereden: denn die Prediger sind die Stadtmusikan-
ten der Christenheit, « Diese Stelle hat ihre alchymistischen Dun-
kelheiten fur profane Leser, welche daher meinen Kommentar
daruber nicht entbehren konnen: die Sprachzimmer des Him-
mels sind die Kirchen (der Autor hat bei alien Anspielungen
bestandig seinen Hauptsaz im Auge, daB in den Kirchen nicht
20 die Kunst zu denken, sondern nur die redenden Kiinste getrieben
werden sollen); Kirchenstiikke sind Predigten; Klavierstukke
sind die Predigten, welche blosse Tone ohne Sin enthalten; Sing-
stukke sind die Predigten, die auch noch Gedanken enthalten
und die er eben auf den Kanzeln nicht geduldet wissen wil; unter
der algemeinen Sprache, an deren Erfindung Leibniz arbeitete,
meint er blosse Tone ohne Sin, welche von alien Menschen
in der Welt gleich gut verstanden werden; wenn ein Prediger
nun solche Predigten halt, so ertheilet ihm unser Autor den
ehrenvollen Namen eines Stadtmusikanten der Christenheit
30 d. h. eines Mannes, der zu bestimten Zeiten offentlich ganze
Stadte und Dorfer mit lieblichen Tonen ergozet. - Ich weis zu
Predigten wie ich sie haben wil, keine bessern Muster vorzu-
schlagen als die Kirchengebete selbst, in welchen nach meinem
Bediinken wenig vakante Stellen des gesunden Menschenver-
standes, die nicht sofort mit den langsten, biblischen und gesalb-
ten Wortern besezet waren, anzutreffen sind und worin die
956 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
Worte, welche im Besize der Ehrwurdigkeit und der Unver-
standlichkeit sind, zuweilen ordentlich mit vollem Halse
gestreuet werden.
Vielleicht erscheinet nach diesen Bestimmungen der Giite ei-
ner Predigt die vormalige Einmischung lateinischer Worte in ei-
nem weit vortheilhaftern Lichte als sonst; und man wird mit
mir sehr an dem Nuzen zweifeln, den einige uns von der Neue-
rung verheissen, das Deutsche, das der Zuhorer nicht versteht,
an die Stelle das Lateins einzufuhren, das er doch auch nicht
versteht. Es ist sogar die Frage, ob diese Neuerung nicht viel- 10
mehr der Erbauung Eintrag thut: denn ich habe oft ausdriiklich
wahrgenommen, daB unverstandliche lateinische Worte ver-
mittelst ihrem auslandischen Schalle den Zuhorer weit mehr
bewegen, bessern und erleuchten als unverstandliche deutsche.
Fur ieden Freund der Religion - und fur einen solchen geb'
ich mich aus - muste es eine ausserst angenehme Erscheinung
sein, daB neulich gewisse katholische Lander in die gefahrliche
Abschaffung der lateinischen Kirchensprache nicht willigten,
sondern sich gegen sie auf das Ernstlichste und (soviel ich weis)
auch so gluklich sezten, daB sie das kostbare Kirchenrecht noch 20
iezt behaupten, in einer fremden Sprache zu beten, so wie die
Bedienten in einer fremden (in der franzosischen namlich) flu-
chen. ,
Ich mus noch eine beilaufige Anmerkung machen. Man hat
schon oft den Predigten Einformigkeit vorgeworfen; ich glaube
aber, man hat sich eben so oft geirret und man hat meinen Saz
nicht genug erwogen, daB auf den Schal der Worte in ihnen
nicht das Wenigste ankomt. Denn spricht man namlich von
der Einformigkeit ihrer Gedanken, so ist zwar niemand bereiter
als ich, sie zuzugeben; allein ich habe vielleicht auch besser als 30
irgend iemand gezeiget, daB man diese Einformigkeit in keiner
Riiksicht tadeln konne, weil das Meiste an dem Klange und
in der That sehr wenig an den Gedanken einer Predigt gelegen
ist, welche man vielleicht gar - ich bin oft auf diesen Einfal
gekommen - in Zukunft ganz darin auslassen konte und die
wenigstens fur nichts mehr als fur blosse Zugaben zu den Wor-
LTNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 957
ten gelten konnen. Einformigkeit der Worte aber kan wol nie-
mand unsern guten Predigten im Ernst schuld geben, welche
eben alien ihren Ruhm darein sezen, daB sie es zu einer gross ern
Mannigfaltigkeit, Abwechselung und Anzahl von Worten als
von Gedanken bringen. Hab' ich nicht sogar erst gestern eine
trefliche Anzugspredigt - nur der Korper des Geistlichen hielt
an die Gemeinde seine Anzugspredigt, der Verstand desselben
hielt hingegen zugleich an sie seine Abschiedspredigt- mit son-
derbarem Vergniigen gelesen, in welcher sich nicht mehr als
io ein Einziger Gedanke zuweilen sehen lies, der aber iedesmal
in einem frischen Worterkleid erschien? Und die groste Ehre,
die man einer heiligen Wahrheit anthun kan, ist wol auch, daB
man sie so oft als moglich die Kleider wechseln lasset; so wie
eine Agypterin die Freundin, welche sie besucht, desto schmei-
chelhafter ehret, eine ie grossere Zahl von Kleidern sie ihr an-
beut, ihre Umkleidung zu vervielfaltigen. Man nennet die Ge-
danken Selen der Worte, ihrer Leiber. Aristo teles sagt aber von
der Freundschaft, daB sie Eine Sele in mehrerern Leibern woh-
nen mache. Wen mus es nun wol nicht freuen, wenn er siehet,
20 daB die Freundschaft, welche von Predigern gewichen, sich
doch in ihre Predigten gefliichtet, daB namlich das Band der
Freundschaft (ein Gedankenstrich ist oft dieses Band) oft ein
ganzes Heer von Worten dergestalt umschlungen halt und eines
und desselben Sinnes macht, daB man von ihnen mit mehr unfi-
gurlichem Recht als von Menschen sagen kan, in ihnen alien,
soviele auch deren sind, ist nicht mehr als Eine Sele d. h. nur
Ein Gedanke? -
Beruhet aber nun auf den Klang der Predigten wirklich soviel
als ich bisher zu beweisen getrachtet: so haben wir Teufel durch
30 unsere Predigerorgeln das Predigtwesen auf einen sehr merklich
bessern Fus gesezt. Das Maschinenwerk einer solchen Orgel
ist ungleich volkommener und kimstlicher als das der Drehor-
geln, in welchen die Savoyarden zur Meszeit die Spharenmusik
der Gasse auf dem Riikken herumtragen und ist folgendes. Auf
einer langen Walze, die wol so gros als der Weberbaum des
Goliaths sein mag und die neulich ein Wizling den Heubaum
95 8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
des Futters, das wir unsern Zuhorern vorstekken, zu nennen
beliebte, sind in taktmassigen Entfernungen grosse und kleine
Stifte eingenagelt, mit deren iedem die umlaufende Walze be-
sondere Tangenten anschlagt. Der Apostel Judas, den ich seiner
Arbeitsamkeit wegen hier offentlich riihmen mus, unterzog sich
auf Bitten eines Teufels mit dem grdstem Vergniigen dem Ge-
schafte, einen ganzen Jahrgang Predigten in Musik zu sezen und
sonach in einen Jahrgang Chorale zu transponiren. Diese musi-
kalischen Predigten, die man wol (und der Apostel Judas wiinscht
es wirklich) mit keinen andern Typen drukken konte als mit 10
Breitkopfs musikalischen, (bei euch giebt es nur mudkalische
Texte) trug der scharfsinnige Erfinder dieser Orgel (aber warum
wil ichs langer laugnen, daB ich er selber bin?) auf ihre Walze
ausserst geschikt und gliiklich iiber. Beschreiben aber werd' ich
es dem Leser nicht, mit welchem Beifalle ich die erste Predigt
aborgelte, auf einem Orgelstuhle stat auf einem Predigtstuhle si-
zend. Komt er indessen (wie wir alle hoffen) nach seinem Tode
selbst in die Holle, so kan er sichs erzahlen lassen, wie sehr
sowol Teufel als Verdamte durch die harmonischen Ermahnun-
gen meiner Orgel wechselsweise bald zur Niedergeschlagenheit 20
iiber ihre Siinden bald zur Verwunderung iiber mein gliikliches
Genie sind hingerissen worden. Ein ganzes Jahrhundert sprach
man damals in der Holle beinah' von nichts als meiner Orgel;
die Poeten entlehnten von ihr neue Ahnlichkeiten und annehm-
liche Bilder, sogar Damenstrumpfe und Koeffuren a Tourgues
prechantes erschienen, die noch iezt mit wenigen Veranderun-
gen getragen werden und ich hob mich damals auf die Staffel
meines Ruhms, auf der ich nun seit sovielen Jahrhunderten stehe
und worauf ich iiber meine meisten Mitbriider so weit hervor-
rage. Indessen wenn es mir erlaubt ware, in dem Oberflusse 30
von Weihrauch, womit ich fur meine Erfindung uberschiittet
wurde, doch auch gegen den kleinsten Abbruch desselben nicht
gleichgiiltig zu sein: so wiird' ich wtinschen, daB man den Apo-
stel Judas, der doch wahrhaftig bei der ganzen Sache nichts that
als die Buchstaben in Noten veredeln - was ieder andere Ver-
damte eben so gut hatte thun konnen - ein wenig weniger als
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 959
mich mochte erhoben haben: denn meines Bediinkens war ich
doch allein der wiirdigste Gegenstand alles damaligen Lobes.
Obrigens thue ich es aus ganz reinen Absichten, daB ich mich
hier so lobe; und ich wiirde es dem Leser entweder gar nicht
oder doch nur sehr verbliimt zu verstehen gegeben haben, daB
meine Erfindung einer predigenden Orgel .eine Starke in der
Mechanik verrathe, die vielleicht nur H. von Kempele mit mir
gemein hat, und tiberhaupt eine Vorziiglichkeit des Scharfsinnes
und der Beurtheilungskraft vorausseze, auf die ich mit Recht
io stolz bin, ich wiirde das , sag* ich, wol nicht gethan haben, wenn
ich nicht wiiste, daB ich mit diesem Gestandnisse meines geisti-
gen Werths den Theologen vortreflich zu Passe kame, welche
zum Behuf ihres Systems dem Teufel einen grossen Verstand
beilegen mussen.
Es machte mir aber noch viele Miihe, bis ich dem musikali-
schen Stamme meiner Orgel auch die Predigten auf ganze und
halbe Feiertageeinimpfte; hiezu kamen noch einige Kontrovers-
predigten, die vielleicht wiirdig sind, einen Hahn in Miinchen
- diese lebendige polemische Gewehrfabrik - zum Verfasser zu
20 haben, ein Man, der gewis langst verdienet hatte, zu dem Posten
eines Kontroverspredigers in der Holle erhoben zu werden und
dem niemand den Namen eines wahren Schildhalters, oder eines
grossen Standbaums des achten Monchthums absprechen wird,
wer seinen geist- und fetreichen Korper kent - und endlich sind
es kaum zwei Jahrhunderte, daB ich mit meiner Orgel ganz zu
Stande kam und ihr noch die ganze Passion in den Stiften ein-
schlug, welche ich aus den Nageln geschmiedet hatte, womit
(wieich mir wenigstens von den katholischen Schmidten, wel-
che die Nagel machten, sagen lassen) die Romer Christum ans
30 Kreuz nagelten. -
Ich weis es doch, (so wenig es sich auch der Leser merken
lasset,) daB er heimlich nichts mehr wiinschet als auch von der
Handhabung meiner Orgel etwas zu erfahren. Ich wil daher
auch dariiber, wieiiber alles, keine Worte sparen. Man kan leicht
errathen, daB der Organist bald dieses bald ienes Register ziehen
wird, weil er sich nach den geistigen Bedurfnissen derer richten
960 " JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
mus, die er zu erbauen, zu belehren und zu bewegen hat. Den
Tremulanten wird er also nicht schnurren lassen, wenn er Chri-
stenfeude erregen wil; noch das Zymbal schreien, urn die Zuho-
rer in Traurigkeit zu senken: aber umgekehrt wird er verfahren.
- Ich habe es ferner selbst zu oft empfunden, wie viel eine Predigt
durch eine unaufhorliche Einschaltung von allerlei Versen des
Gesangbuches gewint, als daB ich meiner Orgel den Weg zu die-
sem Gewinste hatte verbauen sollen: sondern ich habe wirklich
in ihr das Register der Vogelgesang genant* angebracht, mit des-
sen bisherigen Eindriikken auf die Ohren und Herzen meiner 10
Zuhorer ich auch ganz wol zufrieden sein kan. - Allein mehr
fragt sichs, ob es mir wol eben so sehr gelungen ist, zu dem
verschwenderischen Zitiren des Worts Gottes, das man an man-
chen menschlichen Predigern so schazet, meine Orgel tiichtig
zu machen? Und ich getraue mir es nicht, so gerade zu zu beia-
hen, wie wol ich wirklich auf so etwas sah, da ich in derselben
das kostbare Register, die Menschenstimme , mit vielen Kosten
bauete: auch nahm ich wahr, daB der bekante Teufel, der Chri-
stum mit Spriichen versuchte, nach diesem Register, wenn er
am Sontage Invokavit eine Predigt spielet, haufiger als wir an- 20 ■
dern und (was ich eben bemerken wolte) zu sichtbarem Vortheil
unserer Erbauung greifet. - Auf dem Manual meiner Orgel spie-
len, heisset das Evangelium predigen; das Pedal aber brummet
das harte Gesez: indessen wird kein geschikter Organist eines
von beiden allein gehen lassen: besonders wird er sich noch hii-
ten, daB er nicht etwan mit dem Evangelium zu spat in das
Gesez einfalle. - Der Sovoyard orgelt das namliche Stiik immer
von neuem; gerade so lasset ein Organist bei uns dieselbe Predigt
zu wiederholtenmalen hintereinander von der musikalischen
Drehscheibe laufen: denn mit iedem Umdrehen der Walze ist 30
sie eigentlich einmal aus. Bei uns ist diese Wiederholung am be-
kantesten und beliebtesten unter dem musikalischen Kunstna-
men Variatio.
* ist bekantlich ein Register aus drei Pfeifen, welcheim Wasser, worin
sie stehen, durch den von oben einblasenden Wind harmonische Bewe-
gungen erregen.
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 96 1
Der Leser schmeichelt sich zuviel, wenn er sich einbildet, daB
ich bios seiner Neugierde zu Gefallen meine Instrumentalpredi-
ger so weitlauftig und geschikt beschrieben habe. Sondern ich
habe durch eine umstandliche Auseinanderlegung derselben nur
den Patronatsherschaften zeigen wollen, was sie sich von ihnen
eigentlich zu versprechen haben. Denn ich wil es nur iezt heraus-
gestehen, da8 ich darauf umgehe, mit meinen Orgeln auch auf
der Erde die bisherigen Prediger zu verdrangen. Und von den
hohen Personen, deren Pflicht und bestandige Sorge es ist, die
10 geistlichen Stellen nicht an die ersten besten, sondern an wiirdige
Subiekte zu vergeben, darf ich meines Bediinkens auch wol nicht
fiirchten, daB sie meine Orgeln bei Befoderungen iibergehen
werden: indessen wird es doch nichts schaden, wenn sie noch
folgendes erwagen. Entweder sie miissen behaupten, was ich
oben widerleget, daB der Zuhorer konne geriihret und gebessert
werden, es mag mit dem Klange der Predigt so mislich als es
wolle stehen: oder sie miissen, wenn sie dieses, wie leicht zu
erachten, nicht mogen werden, auch mit mir gestehen, daB
meine Orgeln nicht bald genug auf die christlichen Predigtstiihle
20 gesezet konnen werden, weil sie in dem Klange es den Kehlen
der bisherigen Priester in aller Absicht zuvorthun. Der Ton,
den eine blosse Luftrohre von sich geben kan, mus in mehr
als einer Ruksicht rauh, prosaisch und tief unter dem weit fei-
nern, poetischen Klange sein, den eine gute Orgelpfeife macht.
Daher komt es freilich denn auch (und wie ist es wol anders
moglich!) daB euere Geistlichen lauter tauben Ohren predigen:
bei meinen Orgeln ist das nicht und es vergehet kein Sontag,
daB sie nicht Pazienten, die sich am Tarantelgifte der Siinde
krank und todt tanzen wiirden, durch ihren Klang wieder zu
30 rechte bringen und gleich der Leier des Orpheus steinerne Her-
zen erweichen und moralische Thiere bezahmen. Ich denke doch
nicht, daB es in unsern Tagen noch Leute giebt, welche den
Aberglauben so weit treiben, daB sie meine Orgeln abweisen,
bios weil alsdan die Predigten nicht mehr aus Kehlen, sondern
aus Pfeifen kommen wiirden: wenigstens gehoret gewis der
Adel, der geistliche Stellen besezen darf, nicht unter die Zahl
962 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
iener Leute und er wird nicht anders als gleichgiiltig gegen eine
Anderung sein, die ia nicht die Predigten selbst, sondern nur
den Kanal, durch welchen sie fliessen, betrift. Meines Erachtens
fragt er wol gar, warum sol dieser Karial denn gerade eine Kehle
sein? Sehen wir nicht schon, daB die Natur den Gesang nicht
auch bei alien Thieren in die Kehle, sondern bei den Insekten
in andere Glieder verlegt? Die Heuschrekke z. B. bewirkt das
Vergniigen, das sie unsern Ohren macht, bios durch eine Trom-
mel unter dem Bauche, und ist sonach ein geborner Bauchredner,
andere thun es wieder durch eine auf dem Riikken, wo eben 10
der Sovoyarde und der Organist bei uns seine Orgel tragt. Man
wende dieses nun auf die Prediger an. Allein ich sage sogar
noch weit mehr; ich behaupte auch, es ist wol nichts schiklicher
und niizlicher als mein Vorhaben, auf den Kanzeln stat der bis-
herigen Vokalmusik meine Instrumentalmusik einzufuhren und
ich beruffe mich hierin auf die Griechen, welche (wie Plutarch
im Gastmahl der sieben Weisen meldet) aus vielen Griinden der
Meinung waren, daB sich in die Tempel Tone aus Holz und
Stein viel besser als Tone aus menschlichen Kehlen schikken.
Aus dieser Vorliebe gegen die Instrumentalmusik gedenk' ich 20
auch in meinem fasciculo programmatum sehr ungezwungen
herzuleiten, warum sie den Deklamator allezeit mit einem musi-
kalischen Instrumente wenigstens akkompagnirten. Indessen
thu' ich auch nicht mehr als bios den zweiten Schrit, wenn ich
meine Orgeln das Deklamiren der Prediger nicht begleiten, son-
dern ersezen lasse. -
Allein ich weis wol, die Natur und die Menschen machen
keinen Sprung und zur algemeinen Einfuhrung meiner geistli-
chen Bus- Wekker werden iezt nur wenige Kirchspiele reif genug
sein. Man wird meine Saemaschinen, wodurch ich den Samen 30
des gotlichen Worts mit einem reichlichen Zusaze von Mohnsa-
men aussae, ich meine die oft gedachten Orgeln viel zu maschi-
nenartig finden, um ihnen die Kanzeln anzuvertrauen. Daher
werd' ich wol vor der Hand und auf Rechnung reiferer Zeiten
noch von der Einfuhrung derselben ablassen mussen. Allein ich
wiinschte doch auch nicht, daB man darum gar nicht an der
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 963
Beschleunigung iener bessern Zeiten arbeitete: wenigstens soke
man, weil man die vakanten Kanzeln mit blossen Maschinen
zu fullen sich aus Vorurtheilen iezt noch nicht iiberreden lasset,
doch bei dem H. v. Kempele sprechende Figuren bestellen und
einstweilen diese auf die Kanzeln steigen lassen: vielleicht ge-
wohnte man sich mit der Zeit daran, zulezt auf denselben auch
blosse leblose Maschinen zu sehen. Die Befolgung meines Raths
wiirde gewis sowol fur die Selen der Zuhorer als fur meinen
Beutel von den ersprieslichsten Folgen sein: denn ich habe mir
10 schon vom H. v. Kempele die Volmacht ausgewirkt, alsdan
mit seinen Redemaschinen einen ausgebreiteten Kommissions-
handel zu treiben, und wie ich ho re ist dieser grosse Mechaniker
- er gieng aber auch bei mir lange in die Schule und profitirte
viel bei mir - auch gesonnen, durch eine betrachtliche Provision
Ehre bei mir, seinem alten Lehrmeister, einzulegen.
Wie ein talentreicher Kopf alles zu seinem Nuzen kehret! Ich
war neulich in Agypten und holte einen geschikten Derwisch
in die Holle ab. Ich traf ihn gerade als er in einem Haus stand
und verschiedene male in ein langes Ochsenhorn sties, theils
20 um die Leute an den iiingsten Tag theils um sie an seine Absicht,
,ein Almosen zu bekommen, harmonisch zu erinnern. Ich be-
schlos sogleich, sobald ich in die Holle zurukkame, von dieser
Sitte der Derwische einen gemein- und e^emiuzigen Gebrauch
zu machen. Meine Ankunft traf gliiklicherweise auch gerade
in das Ende des Kircheniahres; um desto schiklicher konte ich
meinen Entschlus ins Werk richten. Ich nahm also meine predi-
gende Orgel auf den Riikken, gieng damit in das Haus meines
nachsten Nachbars, zog die Posaunenstimme und lies sie eine
kurz-aber wol^ezteBuspredigtin moglichster Schnelle halten;
30 ich aber sang zur Predigt das bekante Buslied: »Ihr lieben Teufel
insgemein, wenn wolt ihr euch bekehren« p. - Da ich fertig
war, trat der Hausherr heraus, gegen den ich mich so auslies:
»Ich habe durch gegen wartigen Posaunenbas ein christliches
Haushalten nur anfrischen wollen, an den iiingsten Tag und
dessen Posaunen zu denken und mir meine Sanggebiihren zu
geben.«
964 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Auch von den Persern hab' ich eine sehr verniinftige Ge-
wohnheit geborgt. Sie lassen alle Morgen einen Man herumge-
hen, der die Trommel schlagt, um die Eheleute nicht an den
iiingsten Tag, sondern nur daran zu erinnern, daB sie Eheleute
sind und daB das Ehebet kein Krankenbet oder Eisfeld oder Wit-
wensiz, sondern eine Munzstatte der Menschheit ist. Mercier hat
von Paris ebenfals bemerkt, daB das Gerausche, welches die Wa-
gen der Vornehmen machen, die zu Nachts um i nach Hause
fahren, manchen kleinen Pariser aus dem Nichts geruffen. Zu
solchen Elek[t]risirmaschinen der Eheleute brauch' ich nun in der 10
Holle meine predigenden Orgeln auch. Alle Morgen namlich
lass' ich den Nachtwachter, gerade eh' er abdankt, eine durch
die Gassen tragen und durch ein erbauliches Stiik, das er von.
ihr abdrehet, die Leute strassenweise in hernhutische Eheiibun-
gen bringen; und mich diinkt, ist die Morgenstunde sowol die
schiklichste zum Studieren als gewahlteste dazu, meine Orgel
solche Hochzeitpredigten halten zu lassen.
Wenn aber etwas im Stande ist, die Patronatsherschaften und
nochhoherc Ortezubewegen, daB sie meinen Orgeln die Voka-
zionen zu den wichtigsten Pfarstellen ins Haus schikken: so ists 20
gewis dieses (oder gar nichts ists im Stande), daB durch meine
neuen Prediger alle Kanzeln von Kezern und Denkern mehren-
theils gesaubert wiirden. Denn meinen Predigern mogen noch
so viele Gebrechen vorgeworfen werden (und das der Selenlo-
sigkeit hab' ich selbst am ersten geriigt und bemerkt): so sind
sie doch gotlob vom grosten unter alien frei, namlich vom Ge-
brechen der Heterodoxie, an dem ich leider nur selber sieche.
Jedes Stiftgen, das ich eingeschlagen, iede Pfeife, die ich einge-
sezt, trift mit den symbolischen Buchern auf eine sonderbare
Weise zu und ist ein ordentliches Echo derselben. Zum Uberflus 30
sollen die Konsistorien meine Orgeln noch examiniren. Finden
sie gleichwol irgend etwas Heterodoxes an ihnen, das sich troz
meiner sorgfaltigsten Aufsicht in sie eingeschlichen hatte: so
bin ich erbotig, sie zurukzunehmen und die Kosten allein zu
tragen. Ich sah' es daher weiter gar nicht ungern, wenn ein Kon-
sistorialrath mit einer orthodoxen Stimpfeife zu mir kame. Wir
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 965
wolten alsdan Pfeife vor Pfeife vor uns nehmen, beim Floten-
werk anfangen und beim Schnarwerk aufhoren: es wiirde sich
dan gewis bald zeigen, daB iede Orgelpfeife der Stimpfeife vol-
kommen entsprache. War' indessen ia eine kezerisch verstimt,
so wiirde es ia ein Leichtes sein, sie nach der Stimpfeife zu ver-
bessern, indem ich, wie geschikte Orgelmacher thun, ihr durch
einen geringen Einbug des Mundes den rechten Ton wieder
verschafte. - Ich weis gewis, ieder wird den Tag segnen, wo
es durch die Einfiihrung meiner Orgeln so weit komt, daB die
10 gesalbten und getauften Glokken der christlichen Kirche (so nenn*
ich die Prediger) nicht mehr mit unharmonischen Sumsen zusam-
mengelautet werden, sondern daB durch das ganze Land zwi-
schen alien Predigern (d. h. nun zwischen meinen Orgeln) eine
vorherbestimte Harmonie regiert. -
Vielleicht wiirde ein anderer den Vortheil nicht iibergehen,
daB meine Orgeln von Jahr zu Jahr denselben Jahrgang Predigten
halten; denn auf ihren Walzen hat nicht mehr als Einer Plaz.
Zu verachten ist aber auch dieser Vortheil weiter gar nicht; er
ist das Mittel, das die Konsistorien langst hatten suchen sollen,
20 der algemein eingerissenen Uppigkeit, in iedem frischen Jahre
neue Predigten aufzutischen, ein Ende zu machen. Ich kenne
wahrhaftig keine Unart, welche mit alien Einrichtungen euerer
Voreltern mehr stritte als diesen iahrlichen Wechsel der Predig-
ten. Euere frommen Vorfahren sezten fiir iedes frische Jahr bios
in der Absicht die Evangelien des vorigen fest, damit auch in
iedem frischen Jahre die Predigten des vorigen wiederholet wiir-
den; denn sie hoften, daB die Nachwelt nicht bios so verstandig
sein wiirde, um die Prediger fiir die Wahl eines andern Textes
als dessen, der im Kalender steht, zur Strafe zu Ziehen, (das
30 thut sie nun allenfals noch) sondern daB sie auch sich gleich
genug bleiben werde, um auch keinen, der iiber den namlichen
Text eine andere Predigt als die voriahrige zu halten sich unter-
fangt, ungeziichtigt durchzulassen. Einige bessere Pri ester mo-
gen sich zwar auftreiben lassen, welche diesen iahrlichen Predig-
tenwechsel wirklich nicht zu schulden kommen lassen; allein
viele nun wol nicht. Wenigstens konte doch diese einem Chri-
966 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
sten so anstandige Geniigsamkeit mit Einem Jahrgange Predig-
ten durch das ganzeLeben hindurch, vermittelst der Einfiihrung
meiner Orgeln noch viel viel algemeiner werden. Steht aber
mein Mittel den Konsistorien nicht an: so mogen sie (es ist ihre
Pflicht) zum mindesten auf ein anderes, den iahrlichen Predig-
tenwechsel abzustellen, denken: ein solches ware etwan, wenn
sie ein besonderes Predigtbuch ausfertigten oder auslasen, das
von alien Kanzeln eines ganzen Landes von Jahr zu Jahr miiste
hergesagt oder abgelesen werden. Die Gemeinden haben urn
so mehr Recht, auf diese kleine Wolthat zu zahlen und sie von 10
ihnen ordentlich zu fodern; da sie schon eines ahnlichen Luxus
Abstellung ihnen verdanken. Man si eh t wol, daB ich auf die
gedrukten Kirchengebete ziele: derm daB diese nicht auch wie die
gewohnlichen Kalender iahrlich wechseln, sondern wie immer-
wahrende Kalender von Jahr zu Jahr dieselben bleiben, das hat
man bios den Konsistorien zu danken. Ich wiinschte, daB man
sie, welche die Nothwendigkeit von iahrlicher Unveranderlich-
keit der Kirchengebete so gut eingesehen, auch von der ahnli-
chen Nothwendigkeit lauter mit stehenden Schriften gedrukter
Predigten iiberzeugen konte. 20
Es giebt gewisse Volksprediger, welche durch einen gewissen
tandelnden, spielenden und zuweilen kindischen Ton sich der-
gestalt bei dem Landman eingeschmeichelt haben, daB er sich
wol schwerlich sie nehmen lasset und daB er ohne Bedenken
meinebessern Orgeln ausschlagt Ich habe also nichts darwider,
wenn man dem Selenwole desselben vor der Hand wenigstens
so zu rathen sucht, daB man zu seinen Predigern stat meiner
Orgeln, die wirklich zu wenig auf den Volkston gestimt sein
mogen, gute Sakpfeifen beruft.
Ausserst hart wiirde es mir aber fallen, gieng[e] mein Proiekt 30
ganz und gar zuriik. Denn auf Rechnung, mit meinen Predigern
auf der Erde den besten Abgang zu finden, hab' ich eine grosse
Orgel- und Predigerfabrik angelegt und bin daher mit Ware
ordentlich iiberladen. Sez' ich nicht wenigstens tausend Stiikke
an die hohere Geistlichkeit und an den Adel ab: so seh' ich mich
in der traurigen Nothwendigkeit, meine besten Prediger um
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 967
einen Spotpreis an die Sovoyarden zu verstechen. - Mochte mir
doch besonders der Wunsch nicht zu Wasser gemacht werden,
daB mein Gegner, der H. Superintendent Stapelhaselius, sobald
als moglich stiirbe! Nicht aus Rachsucht, sondern aus der un-
schuldigen Begierde wunsch' ich es, eine kostbare Superinten-
dentenorgel, die mit unvergleichlichem Wollaut predigt, unter-
zubringen: ein Werk, zu dessen Lobe ich nur das anmerken darf ,
daB ich alle Pfeifen mit unsaglichem Aufwand aus guten Esels-
beinen drehte, die (schon nach Plutarch) die wolklingendsten
10 Blasinstrumente geben. - Was schluslich das vakante Filial in
Veitsdorf anlangt: so erwart' ich nur, welchen Tag der dasige
Kirchenpatron anberaumen wil, um meine Orgel die Gastpre-
digt ablegen zu horen. Wenn alsdan der Rathsher aus der Kirche
geht, so wird er seinen gelehrtern Sohn fragen: »Nun! wie hat
dir unser neuer Prediger gefallen«; und alsdan wird der Sohn
zu meiner Ehre antworten: »ich mus sagen, mir sehr wol! Be-
sonders hat das an ihm meinen ganzen Beifal, daB es ihm doch
nicht wie andern an Wind gebricht. Denn sage er mir selber,
Her Vater, ist nicht das, was doch den eigentlichen Werth einer
20 guten Predigt macht und was keiner ohne ihren grosten Nach-
theil fehlen kan, ist nicht das die Einblasung von oben oder die
Inspirazion? Es macht daher dem Teufel wirklich Ehre, daB er
gerade fur die Hauptsache, fur die Inspirazion bei unserem Pre-
diger am meisten gesorgt.«
Ich komme wieder auf die hollischen Kirchen von Eis. Ich
lies oben ein Wort von der Stelle eines Klingelbeutelvaters fallen.
Meines Wissens ist aber das bei euch ein Man, der unter der
Predigt an einem langen Stab einen nicht von Geld, sondern
(wie bei den stummen Betlern) von Glokgen klingelnden Beutel
30 unter der christlichen Gemeinde herumbietet und in ihn aus ih-
ren erbauten Handen Tempelmiethzins oder Himmeh-Weggeld
, sammelt; bei uns hingegen thut er ganz etwas anders. In den
hollischen Kirchen empfangt er nicht, sondern er giebt und nicht
die Zuhorer, sondern der Prediger mus es bezahlen, daB sie
ihn anhoren. Diese kleine Ausgabe verschaft uns den grossen
Vortheil, daB unsere Kirchefn] nie leer stehen: denn wer wird
968 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
nicht gerne seine religiosen Kentnisse und sein Geld vermehren?
wer wird nicht fur das Heil seiner Sele und seines Beutels sorgen?
Beide aber finden eben in unsern Kichen ihre Rechnung; beson-
ders mus ich hier die sogenanten Scheinheiligen bei uns ruhmen,
welche keine Kirche versaumen und wahrhaftig lieber einen
kleinen Geldprofit, den sie etwan zu Hause machen konten,
in die Schanze schlagen und dafur den grossern Geldprofit, den
ihnen die Kralle eines gehornten und geschwanzten Klingelva-
ters fur die Anhorung des Predigers in die Hande driikt, geniig-
sam hinnehmen als daB sie des Zeitlichen wegen aus einer erbau- 10
lichen Predigt bleiben solten. Ich wiinschte, man nahme diese
Gewohnheit auch auf der Erde an und gabe iedem Kirchengan-
ger fur die Anhorung einer Predigt etwas gewisses . Ich bin iiber-
zeugt, lase man nach dem Amen stat der Einlage des vorigen
Sontags ungefahr folgende Erinnerung ab: »eine christliche Ge-
meinde wird ersucht, sich kiinftigen Sontag zahlreich in unsern
Tempel einzustellen: denn es wird diesesmal iedem die Anho-
rung der sehr wichtigen Predigt des Hern Diakoni Fax iiber
die Uneigennuzigkeit des Christen, stat daB sonst nur ein leich-
ter Kreuzer gegeben wurde, mit einem guten Bazen bezahlet 20
werden« - lase man dieses Versprechen ab: so wiirde gewis der
reichliche Anflus der Zuhorer am nachstfolgenden Sontage be-
weisen, daB es gotlob schon noch Christen giebt, denen die
Sorge um ihre Sele am Herzen liegt und denen eine gute Predigt
iiber die christliche Uneigennuzigkeit etwas sehr wilkommenes
ist. Warum wil man nicht einen Besuch der Kirche so sehr be-
lohnen als in Paris dem Akademisten die Beiwohnung einer
Sizung bezahlet wird? Ein Akademist hat fur iede namlich einen
doppelten Lohn; der erste ist das Vergniigen, das ihm das Be-
wustsein uneigenniiziger Bemiihungen um die Aufklarung der 30
Menschheit giebt; der andere ist der Silbefpfennig, den ihm die
Akademie dafur giebt. Mochte man doch (iberhaupt einmal ein-
sehen, daB die Tugend gar nicht wie die Geldliebe ihre eigne
Belohnung mit sich fiihre, sondern sie erst vom Beutel des an-
dern erwarte! Mochte man doch es nicht langer bezweifeln, daB
in eueren Tagen, wo alle Menschen sich unter die mit vorneh-
UNPAJtTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 969
men und heraldischen Raubthieren gestikte Fahne des Eigennuzes
und der Geldliebe begeben haben, unmoglich iemand auf die
Tugend, wenn sie nur in ihrer nakten Maiestat auftrit, nur einen
kalten Blik noch viel weniger wahre Liebe werfen kan! Denn
ia nur dan, wenn man ihr, der Tugend, die blauen Augen aus
dem Kopfe gestochen und dafiir goldene hineingedrukt; wenn
man ihr die weissen Zahne aus dem Munde geholet und die
Zahnladen mit silbernen gefiillet, wenn man ihr die warmen
Fiisse abgesagt und sie auf metallene gestellet; wenn man sogar
10 ihren Hintern, wie Pythagoras seinen, mit Gold ausgeleget: dan
nur erst kan man sich einige Hofnung machen, daB es dem Mad-
gen nicht an Liebhabern fehlen werde, die alle zu den silbernen
Fiissen desselben ihre Herzen legen und in seinen goldnen Augen
Liebe werden lesen wollen; seitdem es blind, zahnlos, lam und
krupelhaft geworden, wird keiner mehr, es zu ehlichen, sich
weigern, da sich wol mit seiner Haslichkeit, aber nicht mit seiner
Schonheit Handel treiben lasset und nur seine fremden Glieder
bei dem Goldschmid vortheilhaft abgesezet werden. - Wenn
man noch nicht glaubt, das Geld, den Sporn zum Laster, in
20 einen Sporn zur Tugend verwandeln zu miissen: so hore man
noch folgendes: Man klopfe in der Aukzion dreimal mit dem
Schliissel und ruffe: wer mag die Tugend? Seht! sie ist doch
schon! - der ganze Aukzionssaal wird sich gewis nicht regen.
Man fiige noch hinzu: auch hat sie gleich den Juden im belagerten
Jerusalem, sehr viel Gold im Magen, das sie verstekken wil.
Wahrhaftig nun werden alle Verntinftige sich in sie verlieben
und sie nach Hause nehmen und ihr den Magen aufschneiden
und ihr das Gold und das Leben rauben wollen. So sah' ich
oft die Kinder eine mit dem Schnupftuch gefassete Biene behut-
30 sam auseinanderzerren, ihr den hervorhangenden vollen Honig-
magen abreissen, ihn mit der Zunge aufknakken und seinen
Honig schmausen; allein die Bienenvater liessen sie alzeit hart
deswegen an.
Von unsern eisigten Kirchen bemerk' ich noch dieses, daB
sie, sobald angenehmes warmes Wetter einfallet, straks alle abge-
brochen werden, so wie einige nordamerikanische Volker den
970 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Got Matkomek nur im Winter anbeten. Der zerschlagene Tem-
pel wird alsdan unter die Gemeinde, sowol Teufel als Christen,
unpartheiisch ausgetheilt und ieder geht mit einem ziemlichen
Stiik da von nach Hause: doch pflegen bei weitem die meisten
ihre Porzion Eis auf der Stelle zu vertrinken und da das hollische
sehr berauscht, so ist es etwas gewohnliches, daB vom Tranke
der Kirche die ganze Holle tol und vol besoffen ist.
Endlich ist es aber einmal Zeit, die Widerlegung des H. Sta-
pelhaselius, zu der ich einen so langen Anlauf genommen, selber
anzutreten. Indessen da ich nun schon die Leser so weit gebracht,
daB sie wissen, wie und wo wir Teufel unsere Nichtexistenz
zubringen: so kostet es nichts als noch einen zweiten Schrit,
sie auch von unserer Nichtexistenz selber zu iiberzeugen. Ober-
haupt hat mein H. Gegner ein gar zu misliches Unternehmen
gewagt: er widerlegt in mir eigentlich nichts geringers als die
ganze gelehrte Holle selbst. Denn die Rede, die ich neulich auf
der Maskerade hielt und iiber die er den Meister zu spielen hoft,
ist nicht ein Abkomling meines Kopfes, sondern ein unerlaubter
Auszug aus den unzahligen Abhandlungen, die bei unserer Aka-
demie, deren President zu sein ich die Ehre habe, iiber die Preis-
frage eingelaufen waren: » welches sind die besten Griinde, aus wel-
chen das Nkhtsein der Teufel sich behaupten lasset? Die beste
Beantwortung wird die Akademie der Teufel mit einer noch
grossern Pastete kronen als des H. Grey in England seine war,
welche doch sechs Schuh im Umfang hatte und auf vier Radern
gefahren wurde.«
Wenn alle Griinde des H. Stapelhaselius meinen Unglauben
an meine Existenz auch nicht im geringsten entkraften konten:
so sind nur die schwachen Griinde selber schuld, aber nicht eine
rechthaberische Abgeneigtheit, mich von ihm bekehren zu las-
sen. Mein Gewissen giebt mir das beruhigende Hauszeugnis,
daB ich die Schrift meines Gegners ganz in der Verfassung gele-
sen, welche ein Theolog von seinen Lesern zur Erleichterung
ihrer Oberredung fodert. Oder kan der billigere und iiber den
theologischen Pobel erhabene Gottesgelehrte mehr verlangen
als daB man, so lange man ihn lieset, dem gesunden Verstande
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTrGUNG 97 1
abzutreten befiehlet, weil dieser immer sein Widerbellen dazwi-
schen wirft, wenn man gerade im Begrif ist, sich mit dem Autor
iiber die wichtigsten Wahrheiten zu sezen? Das hab' ich aber
nun gethan und bei dem ersten Blatte meinen Verstand mit ei-
nem Wink bei Seite geschaft. Der erste und vielleicht wichtigste
Vortheil, den ich sogleich von seiner wilkommenen Entfernung
zog, war ein gewisses Gefiihl einer gliiklichen Bereitwilligkeit,
das Alter eines Wahrheitsgrundes bei mir etwas gelten zu lassen
und mich in die Behauptung meiner Existenz zu fugen, weil
io sie wirklich unter den altesten Sazen mit obenanstehet: denn,
sagte ich zu mir, mit den theologischen Sazen und mit den hol-
landischen Dukaten ists sichtbar eine und dieselbe Sache. Einem
neuen Dukaten diirfen kaum zwei As gen am Gewichte fehlen;
ein alter hingegen wird gern genommen, wenn er auch dreie
zu leicht wiegen soke. Eben so siehet man es ungern, wenn ein
theologischer Saz, der noch nicht langst erst auf die Bahn ge-
kommen, gar zu schlecht bewiesen werden kan und man ver-
zeiht es ihm kaum, wenn er auch nur um einige Griinde zu
leicht befunden wird; ein alter Saz aber leget seine Jahre und
20 seine Griinde in die namliche Wagschale und macht wie bei
den Arabern ein Zeuge, seine Behauptung mit seinem so gar
sehr langen und ehrwiirdigen Barte leicht wahrscheinlich.
Wahrheit und Liigen werden gleich dem Weine, immer besser
und lieblicher, ie alter sie werden. Ich glaube daher, dafi ich
wol durch nichts so sehr den Dank einer ganzen Welt ^verdienet
habe als durch mein neuliches Werk, das unter dem Titel » Topo-
graphische und historische Rathswage der WahrheiH algemein bekant
ist. Denn der Versuch ist mir iiberaus gluklich gerathen, den
ich darin machte, die Grade der Wahrscheinlichkeit eines Sazes
30 nach der Entfernung des Ortes, wo er zuerst aufkam, und nach
der Lange der Zeit, die er alt ist, mit einer etwas mehr als ge-
wohnlichen Genauigkeit zu berechnen und anzugeben. Beson-
ders kan ich mein Werk schwachen Skeptikern nicht genug an-
empfehlen und ihnen zu Gef alien nab* ich mich auch
hauptsachlich daran gemacht: denn aus der Verlegenheit, in die
sie so oft gerathen, den Ausschlag zwischen zween wahrschein-
972 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
lichen entgegengesezten Meinungen nicht ausfiindig machen zu
konnen, wird sie ein einziger Blik auf meine Wage ziehen, indem
sie an den Unterschied, den sie zwischen dem Geburtstage und
Geburtsorte der beiden Saze finden, sich halten und darnach
ihre Uberzeugung abmessen. Von iungen Theologen verdient
es sogar ordentlich studiert zu werden und auch bei polemischen
Vorlesungen konte man es stat der bisherigen Anleitungen ganz
wol zum Grunde legen. Uberhaupt mus ich gestehen, daB mein
Verstand, der in der gegenwartigen Widerlegung nur im lezten
Viertel ist, in ienem Werke als Volmond erscheine und ich habe 10
es beinahe bios unternommen, um eine Probe zu machen, wie
weit mein Verstand seine eigne Ubertreffung wol treiben konne;
mit Vergniigen meld' ich, daB die Probe so ausgefallen, daB
mein Verstand und meine Einsichten den Namen und Rang
eines Sternes verdienen, der sowol die drei Weisen aus Morgen-
land als die (ibrigen Weisen zu Wasser und zu Land am besten
fiihren kan und doch dabei ein wolfeiler Zizerone ist. - Ein
Man aber, der vom Werthe alter Saze so grosse Begriffe hegt
wie ich, der hat nicht das Ansehen, daB er seine Uberredung
einem Theologen schwierig machen werde: wenn also gleich- 20
wol H. Stapelhaselius mich von meiner Existenz nicht uberfuh-
ren konnen, so sieht man wol, an wem von uns beiden die
Schuld nicht liegt.
Mein FL Widersacher halt sich lange bei der angeblichen
Nothwendigkeit auf, daB ich meine Existenz schon dadurch be-
weise, daB ich sie laugne; er komt dreimal darauf zuriik. Es
ist wahr, dieser Einwurf wuchs ihm gleichsam in die Hand;
aber er hatte doch eine gewisse alte Regel aus dem gelehrten
Kriegsrecht auch nicht ganz aus den Augen sezen sollen, die
namlich: mit Einwiirfen, die sich sofort selbst anbieten, mus 30
man den Gegner verschonen, weil man vermuthen mus, daB
sie auch diesem sich werden angeboten haben. Gerade so hier.
Denn ich habe ihn auch selbst sehr wol vorausgesehen, den obi-
gen Stapelhaseliussischen Einwurf; nur sah ich aber auch noch
dies voraus, daB er vielmehr meine Nichtexistenz im Grunde
nicht wenig zu bestatigen dienet. Hat namlich in der That noch
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 973
kein Wesen sein eignes Dasein in Zweifel gezogen: so ist es
ia hochst wahrscheinlich, daB ich, der es allein gethan, meine
ganz besondern Griinde haben miisse, eine so unerhorte Aus-
nahme zu machen. Warum vertrauet H. Stapelhaselius in Din-
gen, die mich selbst angehen, nicht meinem Verstande, von
dem er in seinen Katechisazionen den Kindern sonst so wtirdige
und grosse Begriffe beibringt, sich nicht lieber als seinem eignen
an, der durch den Siindenfal Adams so sehr geschwachet und
zerruttet ist? Auch in mir spricht das Selbstgefuhl so laut fur
10 meine Existenz als in irgend einem Wesen; die Schliisse miissen
daher sehr einleuchtend und zwingend sein, die mich gleichwol
von einem so beredten Gefuhle abfallig machen konten - dieses
ungefahr hatte man aus meinem Anti-Egoismus schliessen sol-
len, allein wie ich sehe that mans nicht. - Ganz ohne Nachdenken
hat ubrigens Stapelhaselius das Kartesianische cogito ergo sum
in die Sache gewirret: es beweiset, wie ieder merkt, zuviel und
mithin gar nichts; denn ich kan eben damit auch darthun, daB
mein FL Gegner predige, ohne eigentlich zu existiren, oder daB
er sein eignes Dasein schon dadurch laugne, daB er meines be-
20 hauptet, welches doch nicht wahr ist. Kurz er hatte seines so
leichten Einwurfs sich schamen sollen; wenigstens scham' ich
mich der fernern Widerlegung desselben.
Aber sein zweiter Einwurf ist von ganz anderem Schrot und
Korn und der verdienet alle meine Aufmerksamkeit volkom-
men. H. Stapelhaselius ziehet namlich den Rabbi Bechai, den
Rabbi Salomon u. a. an, welche insgesamt versichern, daB Noah
ein Paar Teufel mit in seine Arche genommen, um sie der Was-
serprobe zu entziehen, auf welche dam als das Leben des ganzen
Erdbodens gestellet werden soke. »Wie wil aber, ruft hier mein
30 Gegner aus, der bose Feind sagen, daB er nicht existire, da doch
seine ersten Eltern nicht nur existirten, sondern auch nicht ersof-
fen?« Hierauf antwortet der bose Feind: darum sagt ers, weil
er gewis weis, daB iene zwei schwarze Wesen, von welchen
die Rabbinen reden, seine ersten Eltern gar nicht waren, sondern
etwas ganz anderes. Denn kurz ienes angebliche Paar Teufel
ist ein Paar - Neger, das Noah mit in den Kasten gepakt. Das
974 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
kan niemand so gut wissen als ich; derm in unserer Familie ist
es eine bestandige Tradizion- Tradizion ist ein Spedizionshandel
der Vorwelt mit der Nachwelt - gewesen, daB unsere ersten
Eltern mit ihren Augen einen Neger und eine Negerin in der
Arche gesehen. Der erstere, sezt man noch hinzu, war der Lakai
des Noah*; er muste dem Patriarchen die Stiefel ausziehen, die
Nachtigal und den Spiz futtern und zu heiligen Zeiten das Haar
aufbrennen. Dafiirbekam der Neger nichts; allein er durfte auch
ohne das geringste Fahrgeld gratis in dem Kasten fahren; die
alten Tarokkarten (und wahrend der langweiligen Sundfluth 10
wurde doch nicht wenig gespielet) fielen auch alle in seinen Beu-
tel und er genos dabei noch (iberdies den Vortheil, den er sich
ausbedungen, daB er, wenn er etwas verbrochen hatte, nicht
vom Noah, sondern nur von dessen Sohne Cham ausgescholten
und gezuchtigt werden durfte; ein Vortheil, den man den iezigen
Bedienten gluklicher Weise ohne ihr Anhalten gewahret, an
welchen man miindliche Strafen, um sie zu mildern, fast allezeit
nur von den Kindern volstrekken lasset. Der Erzvater nahm
den Neger eigentlich seiner Farbe wegen in die Dienste; er ra-
sonnirteaberso: »daichso wichtige Griinde habe, die Schwarze 20
der Haut dieses Negers fur ein naturliches Kleid derselben und
(wenn ich genau reden wil) fiir eine angeborne Livree zu halten:
so brauch' ich ia nicht erst eine genahte ihm zu geben, sondern
ich kan ihn ganz gut nakt oder richtiger bekleidet gehen lassen. «
- Die Negerin war die Kammerfrau der Madame Noah und
sprang ihr bei, wenn sie Toilette machte; doch fiel dieses auch
weg, als die Seekrankheit die Madame auf ein langwieriges Kran-
kenlager warf. Es kan sein, was man bei uns sagt,daB sie ihr
»die Gedichte im Geschmak des Grecourts« vorgelesen, ich
* Man kan daraus schliessen, daB der Geschmak des Noah doch nicht 30
roh gewesen, sondern sich sehr dem Geschmakke unserer Grossen in
der Holle genahert, die gern ein schwarzes Wesen in ihrem Gefolge haben
und zum Kammermohren entweder einen schwarzgekleideten Priester
oder einen in ganzer Trauer nehmen. Hierinnen ahnlichen den Teufeln
auch die Grossen auf der Erde, welche immer zwei Schwarze in ihren
Diensten haben, einen Schwarzen von innen und einen von aussen. (Diese
Note ist vom Teufel.)
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 975
glaub* es aber noch nicht; derm ich wolte wetten, die Noahin
las diese keuschen Hurenlieder nur unter zwei Ohren, damit
sie niemanden anstossig wiirde als bios sich. Das wil ich aber
. eher glauben, daB hingegen die Negeriri in den Siegwart ein
wenig zu verliebt gewesen und durch ihre iiberflussigen Thra-
nen das Wasser der Siindfluth nur noch starker machte. Soke
es wol Grund haben, was neulich die Frau des Noah irgendwo
gestanden haben sol, daB sie namlich die unpunktirte Ausgabe
ihres Gesichts lediglich den Handen der Negerin verdanke, die
10 auf ihm alien schwarzen punctis salientibus der Haslichkeit mit
einem Vergrosserungsglas nachspiirte und sie geschikt ver-
tilgte?*
Bei dieser Gelegenheit wil ich dem Leser eine hiibsche Ab-
handlung iiberreichen, welche ein iunger Anverwandter von
mir verfertigt hat; sie verrath seine grossen Anlagen wenn nicht
zu einem Gelehrten, doch zu einem Autor. Sie beweiset viel-
leicht griindlicher als alle Schriften, die bisher dariiber geschrie-
ben worden, daB die Neger eigentlich die Teufel sind, deren
Existenz die Theologen verfechten und daB alle Eigenschaften,
20 die man diesen beilegt, sich an ienen finden; iezt begreift man
vielleicht auch besser, wie die Rabbinen oben die Neger in der
Arche Teufel nennen konten. Er fangt so an ohne Dedikazion
und Vorrede:
»Es komt, geneigter Leser, nicht sowol auf die Gedanken,
die ein Autor in die Welt schikt, als auf sein Gesicht, mit dessen
Stichersiebegleitet, an, oberseinGliik machen sol. Hoffentlich
findet der Leser, daB ich diese wichtige Bemerkung nicht aus
der Acht gelassen, da ich das gegenwartige Geisteskind gebar.
Er wird weder an den Gedanken der gegenwartigen Abhand-
30 lung die Seichtigkeit schwer entdekken, welche von der weni-
gen Miihe zeugen kan, die ich an sie verschwendet, noch an
* Der Teufel wird oben von wenigen Damen verstanden werden,
wenn ich die etlichen ausnehme, deren eignes Gesicht ein Kommentar
zur obigen dunklen Stelle ist und die von ihrem Bilde im Spiegel den
Gebrauch eines Kupferstiches machen konnen, der ihnen die Sache an-
schaulich macht.
97<5 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
meinem vorangestochenen Gesichte den Unterschied iiberse-
hen, der zwischen diesem und meinem angebornen ist und der
die grosse Sorgfalt am besten ausser Zweifel sezen kan, die ich
auf die Verschonerung meines Kupferstiches verwandt. Es ist
mehr Wahrheit als Selbstlob, wenn ich versichere, daB ich die
Stirn an meinem Gesichte auf dem gegenwartigen Kupferstich
wenigstens um 3 . Linien hdher und um 4V2 breiter machen las-
sen als sie auf dem Gesichte ist, das meinen Kopf zudekt; und
ich wiinschte, der Leser nahme doch einmal meine Person selbst
in Augenschein: er wiirde dan mir gewis beipflichten, daB ich 10
in natura meine Lippen nicht mit der Halfte der sonderbaren
Grazie schliesse und ziehe, mit der ichs doch im Kupferstiche
thue. Kurz ich mochte um wieviel nicht mein gestochenes Ge-
sicht gegen mein angebornes tauschen. Der Leser kan mir dem-
nach nicht vorwerfen, daB ich ihm zuwenig Wiz und Scharfsin
aufgetischet: mich diinkt, das Gesicht von mir, das ich hier ans
Licht stelle, besonders seine obern Theile versprechen und ent-
halten von beiden mehr [als] zu viel und in der That mehr,
als ich sogar selber habe. Ich habe daher gestern sehr wol gesagt,
daB ich in effigie wiziger und verniinftiger schreibe als irgend 20
ein Teufel in der Holle und auf Erden, Indessen ist es doch
nicht unmoglich, daB meine kiinftigen Gesichter - denn alles
schreitet in seinen Volkommenheiten weiter - das gegenwartige
gar sehr im Wize und Scharfsin (iberholen; da selbst die zwote
Auflage meines Portraits verschiedenes vor dieser ersten voraus
haben wird. Ich gedenke besonders meinem kiinftigen Gesichte
durch die Muster der Alten aufzuhelfen, die man iezt viel zu
wenig nachahmt und kopiert, und ich werde dasselbe vielleicht
aus den besten Antiken zusammensezen. Meine Nase wird im
griechischen Stile schreiben; Zizero sol mir seine satirischen Lip- 30
pen vorstrekken; Sokrates wird mich mit einer denkenden Stirne
versehen; den Plato wil ich um seine beredten Augen ansprechen
und er schlagt mir sie gewis nicht ab; Midas hat sich schon
von selbst zur Absclineidung seiner treflichen Ohren erboten,
damit ich das zu leise Lob, das mir das Publikum giebt, leichter
und verstarkter vernehmen konne; und ein manliches Kin wil
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 977
ich schon wo mausen. Ein solches Gesicht von mir (wenn ich
es wirklich zu Stande bringe) ware dan eine sonderbare Quintes-
senz vom ganzen menschlichen Wiz und Scharfsin und wurde
noch mehr studieret zu werden verdienen als die Alten, nach
denen ich es bildete. Aber das sehen eben unsere Gelehrten auf
der Holle nicht ein: werglaubtwolnurz. B., daB meininKupfer
gestochenes Gesicht ein Pranumerazionsschein ist, den ich dem
Leser iiber meinen Wiz und Verstand ausfertige, oder die Ad-
dresse oder das Inventarium meines Geistes, oder ein Sternbild,
io das aus den Strahlen meiner Talente zusammengeflossen, oder
ein Assekuranzbrief auf meine zerbrechlichen Gaben, oder ein
Adelsbrief, der den Adel meines Herzens erhartet, oder endlich
auch bios ein Stekbrief, der den Leser meine unsichtbare Sele
kennen lehret? Noch mehr aber ist ein anderer Fehler unserer
Gelehrten zu tadeln, iiber den ich schon lange vergebliche Be-
schwerde gefuhret, der, daB sich so selten einer mit seinen natur-
lichen Hornern vor der Algemeinen hollischen Bibliothek in
Kupfer stechen lasset: berechtigen sie dadurch nicht wider ihre
eigne Absicht zu dem Argwohn, als ob sie ihrer Horner sich
20 gar schamten; eines Hauptschmuks, zu dem sich doch die gro-
sten Ehemanner der Erde und der Holle vielmehr Gliikwun-
schen und den der grosse Alexander, der schon auf der Erde
sein Bild damit bekronen lies , hier auf seinem angebornen Kopfe
mit sovielem Vergniigen tragt? Wenigstens hab' ich mich nicht
im geringsten geschamet, auf dem gegenwartigen Kupferstiche
gehornet zu erscheinen; und in den kunftigen Stichen, die mich
in Lebensgrosse darstellen sollen, werd' ich auch nicht einmal
suchen, meinen feinen Schwanz zu verstekken. - Jezt komt
meine Abhandlung von den Negern endlich selber: billige Leser
30 werden dem Tadel, daB sie viel zu wenig Wiz und Scharfsin
habe, hoffentlich schon wol an meiner stat durch das Lob zu
begegnen wissen, daB dafiir mein Kupferstich sogar Oberflus
von Wiz und Scharfsin verspreche.
Die Teufel, sagt man auf der Erde algemein, tragen sich
schwarz: es lasset sich noch daniber disputiren, ob sie es thun,
um doch auch etwas aus Paris nachzuahmen, wo die Advokaten
97^ JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
schwarz gehen; vielmehr glaub' ich, thun sie es wol, um sich
inEngeldesLichtsd. h. in^ctoar^gekleidetePriester zu verstel-
len, mit deren Schwarze sie wenigstens ihre Aussenseite aufstaf-
firen wollen, weil sie nicht ihr Inneres damit zieren konnen.
Bei den Negern finden wir nun wirklich iene Schwarze, die
den Teufel eigentlich macht; sie gehen in ganzer Trauer iiber
ihren Abfal von Got: denn sie treten alle weis d. h. als gute Engel
ins Dasein und werden erst mit der Zeit schwarz und bos. Man
sieht beilaufig auch mit, daB den Europaerfn] wegen der weissen
Farbe ihrer Haut der Name guter Engel gebiihret, welche noch 10
nicht gefallen sind und ihre anerschaffene Reinigkeit unbeflekt
bewahret haben; auf sie mus man daher alles ziehen,was die
Bibel von den guten Engeln sagt und es lasset sich daraus auch
leicht begreiffen, wie der Verfasser der Offenbarung Johannis
unter den Seraphinen und Cherubinen die Hollander habe mei-
nen konnen. -
Noch mehr. Die Reisebeschreiber melden uns, daB verschie-
dene Neger zu ihrem Got und Schopfer, den sie sich wie die
Kardinale den Pabst, selber schaffen, den Teufel gewahlet. Auf
dieser Spur fusse man doch weiter. Modelt nicht iedes Volk 20
nur nach seinem eignen Werthe seinen Got und fiihret es nicht
auf ihn bios die Vorzuge zu Hause, die es selbst in hohem Grade
besizet und schazet? Daher ist auch mancher Got ein ordentliches
Quodlibet von Volkommenheiten. Wenn nun die Neger den
Teufel fur ihren Got d. h. fur den personifizirten Inbegrif ihrer
eignen Vorzuge erkennen: konnen sie es wol merklicher zu ver-
stehen geben, daB sie selber auch Teufel sind, wiewol nur endli-
che und unvolkommene? Zwar liesse es sich allenfals horen,
wenn man einwurfe: >vielleicht aber entlehnten sie die kiihnen
Ziige, woraus sie den Teufel zusammengemalt, nicht von sich 30
selbst, sondern von weit hohern Modellen, ich meine von ihren
westindischen Herren.< Allein diese Vermuthung, so sehr sie
vielleicht dem stolzen Europaer schmeicheln mag, widerspricht
doch ganzlich der Wahrheit, Denn es ist nur gar zu bekant,
daB der Negersklave iiberhaupt wenig Achtung fur seine weis-
sen Peiniger tragt, noch weniger aber gar soviel als er fur sie
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 979
wirklich haben muste, wenn er sie zum Bilde seines Gottes,
des Teufels, sizen lassen soke, so wie etwan iene Dame den.
haslichen Pelisson bat, ihrem Maler zu einem Kopfe des Teufels
zu sizen. Verdienen freilich thun die Europaer diese Achtung
wol unstreitig und ihr Betragen gegen die Negersklaven verrath
nichts, was nicht auch fur den teuflischen Got derselben sich
schikteundsich auf den Teufel nicht ganz wol ubertragen Hesse:
indessen kan ich doch nicht verhehlen, daB sie die Ehre der
Weissen bei den schwarzen Schatten und Silhouetten der
io Menschheit noch weit nachdriiklicher behaupten und noch weit
giiltigere Titel auf den Namen der Teufel sich erwerben konten,
wenn sie ihre Strenge gegen die Neger nur um ein wenig noch
vermehren und Amerika aus einer blossen Folterbank und einem
Gerichtsplaz derselben gar in ein Theatrum anatomicum von
ihnen verwandeln woken. Wenigstens haben sie doch den stol-
zen Neger mit alien Peinigungen, Beraubungen und Verstum-
lungen bisher noch nicht zum Gestandnis bringen konnen, daB
sie Milchbruder oder gar Briider seines grossen Gottes, des Teu-
fels, sind und er halt sie immer fiir nichts als fur blosse Diener
20 und Werkzeuge desselben. - Der scharfsinnige Venezianer Ca-
donizi hat erwiesen, daB die Verdamten in der Holle von zwei
Henkern gemartert werden, von den Teufeln und von den Thier-
selen: man erlaube mir solange als die Europaer ihren Beruf,
die gewissermassen verdamten Neger zu peinigen, nicht besser
abwarten, ihnen den Namen Teufel standhaft zu verweigern
und begniige sich mit dem blossen Ehrentitel wilder und reis-
s en der Thiere.
Selbst der menschliche Sprachgebrauch scheinet dafiir zu
sprechen, daB die schwarzen Menschen Teufel sind. Wie oft,
30 hort man nicht gemeine Leute von einem untadelichen Grossen
sagen: >der Teufel weicht nicht von ihm oder der Schwarze be-
gleitet alle seine Tritte und Schritte.t Jeder sieht wol, daB das
soviel als dieses sagen wolle: >der Mohr weicht nicht von ihm
und trit ihm liberal hinten nach<; und mit dem Ausdrukke: >er
ist ein Diener des Teufels< wil man in der That weder mehr
noch weniger zu verstehen geben als man mit dem gabe >er
980 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
ist Hen von einem guten Kammermohren<. Sonach nennen
schon die gemeinen Leute die schwarzen Menschen Teufel.
Den Aufenthalt der Teufel verlegen alle gute Geographen in
die heisse Holle; und auch nicht ohne Grund: denn die Neger
bewohnen in der That ein Land, das wegen seiner Hize den
Namen der Holle verdienet: und an den wenigen Wohnorten
derselben, wo es ia nicht so warm ist, wissen ihre europaischen
Herren schon Einrichtungen und Verfugungen zu treffen, wel-
che die Ahnlichkeit mit der Holle volkommen wieder erganzen.
Man rtihmet von den Teufeln algemein, daB sie gleich den 10
Fiirsten besondere Rechte an die edlen Metalle haben und Gold
und Silber mit ihren Krallen austheilen: uns, die einige mit den
Teufeln verwechseln, kan man damit gar nicht meinen, weil
wir nie den Menschen Geld geben; aber wol auf die Neger passet
es, welche den Eingeweiden der Erde Ofnung verschaffen und
ihr den Goldkoth abklystiren d. h. in den Goldbergwerken gra-
ben. Ich halte den Umstand, daB die Neger den Europaern zu
mehrerem Gelde helfen, fur den wichtigsten Beweis, daB sie
Teufel sind: iibrigens ist es fur die gesamte Menschheit besser,
wenn die Erde Gold als wenn sie Fruchte hergiebt: denn ienes 20
ist kontante Zahlung oder Zahlung zur Kassa, diese hingegen
gleichen einer Zahlung durch Assignazion.
Die Schrift sagt: Die guten Engel dienen den Frommen. Allein
hier mangelt etwas; es soke noch heissen (und in einer seltnen
Handschrift aus dem 3. Jahrhundert, welche die vatikanische
Bibliothek auf der Holle in ihrem Beschlusse hat, heisset es auch
wirklich so): und die bosen Engel dienen den Frommen auch.
Was sind mithin die Neger, welche in der That den Europaern
dienen? Naturlich nichts anders als Teufel, so wie diese nichts
anders als Fromme oder Christen. Da diese Teufel auch bei den 30
Hollandern Dienste genommen: so ergiebt sich daraus ein ganz
unerwarteter Beweis des alten Sazes, daB die Hollander nicht
bios Hollander, sondern auch Christen sind; auch kan ich den
Leser ganz wol ersuchen, diesen Saz, fals ihm bessere Beweise
desselben unbekant sind, auf mein blosses Wort hin zu glauben.
Ubrigens sezt es wol die algemeine Ubereinstimmung aller
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 98 I
polizirten Europaer am besten ausser Zweifel, daB die Neger
aus der Zahl der Menschen ausgestrichen werden mussen;
muthmasse ich anders diese Ubereinstimmung nicht zu rasch
aus dem doch durchgangig gebilligten Unterschiede, mit dem
sie ihre Nebenmenschen und mit dem sie hingegen die Neger
zu behandeln so genau acht haben. Zum mindesten lasset es
sich doch von Holland erharten, daB es die Neger fur schwarze
Engel ansieht: denn man hore folgende Anekdote. Vor einiger
Zeit hatte ein Kaufman (so tief fiel er unter seinen kaufmanni-
10 schen Karakter!) in den hollandischen Niederlassungen in Suri-
nam eine ganze Plantage von Schwarzen taufen lassen. Holland
schwieg dazu nicht, sondern verfallete ihn dafiir in die (mich
diinkt gemilderte) Strafe von funfzehn tausend Thalern. Diese
Bestrafung lasset sehr vermuthen, daB sie gar wol einsehen,
wie wenig die Neger zu den Menschen gezahlet werden mussen
und wie unwerth sie daher der Taufe sind: indessen konte die
Strafe wo noch ein wenig scharfer sein. Denn ich kenne wenig-
stens kein Verbrechen, das grosser ware als das, das Sakrament
der Taufe an Kopfen.zu entheiligen, welche auf den Riimpfen
20 boser Geister stehen und denen zur volligen Ahnlichkeit mit
dem Teufel nichts fehlet als ein gutes Paar Horner: und der
ungliikliche Kaufman beschimpfte die Taufe in aller Riiksicht
mehr als die Lappen thun, welche selbige doch nur Hunden er-
theilen.
Mit sovielem Verstande ich auch den Beweis von der Teufel-
heit der Neger gefiihrethabe: so glaub' ich doch, eine geschiktere
Feder konte sie noch weit besser ins Klare sezen; und zu wiin-
schen war' es auch recht sehr. Denn solange der Irthum von
der Menschheit der Neger noch nicht von Grunde ausgerottet
30 ist, so lange mus man das alte Lied anhoren, daB der Negerskla-
venhandel eine der grosten Statsschulden der Menschheit, eine
zwote Siinde gegen den h. Geist und das gegen den Scheiterhau-
fen der Inquisizion sei, was gegen das Fegefeuer die Holle ist.
Und doch macht den Europaern vielleicht nichts mehr Ehre
als eben dieses geschmahte Betragen derselben gegen die Neger,
wenn man nur diese nicht mehr in die Klasse der Menschen
982 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
lasset. Denn der seltene Grad, in welchem ihre Herren sie peini-
gen, ist dan kein Beweis von Grausamkeit mehr, wol aber ein
bleibendes Denkmal von einer Menschenliebe und Gelindigkeit,
die man vielleicht nur in europaischen Busen findet; indem die
Europaer aus dem Schlozer u. a. ganz leicht erharten konnen,
daB sie nie die Neger (ob sie gleich gedurft hatten) wie Teufel
behandelt, sondern stets zu mitleidig gewesen, sie anders als
nur wie das Vieh zu behandeln. - Zwar sollen die Sklaven auf
der Insel Frankreich nicht so gut wie das Vieh gehalten werden,
weil man da nur sie, aber keine Hirschen schiessen darf; allein 10
ich glaube nur, das leztere ist wol nicht wahr. Denn fur so einfal-
tig halte man doch den Leser nicht, (er halt sich selbst nicht
daftir) daB man ihn zu bereden hoft, der Europaer schone da
den Neger nicht einmal so sehr als der grausame Lowe ihn
schont, der in der blutdiirstigen Wahl zwischen einem Thiere
und einem Neger sich alzeit zum Nachtheile des erstern bestimt
und den leztern laufen lasset. Freilich mehr als das Wildpret,
kan man auch nicht verlangen, daB man dort die Sklaven schone,
und die Jagdverbote miissen zu gewissen erlaubten Zeiten so
gut in Riiksicht dieser als in Ruksicht ienes aufgehoben werden 20
diirfen. Ich sehe sogar wol, daB man auch ausser der erlaubten
Zeit - so wie etwan die Jager sich zu Ostern und Pfingsten
gewisse kurze Ubertretungen des Jagdverbots erlauben, urn so-
genante Festhasen zu schiessen - den Negern Vogelfreiheit schen-
ken konne und daB es besonders an hohen Festtagen ein unschul-
diger und christlicher Zeitvertreib sein mag, einige oder mehrere
Sklaven - welche H, Lichtenberg mit allem Recht menschliches
Schwarzwildpret nent - mit guten Biichsen zu erlegen. Ubri-
gens schliess' ich freilich noch nicht gern.«
So weit mein hofnungsvoller Anverwandter. 30
H. Stapelhaselius, zu dem ich iezt wieder zurukkomme, eifert
mit einer unanstandigen Heftigkeit gegen meine angebliche
Frechheit, mich von allem Antheile an den menschlichen Siinden
loszusagen. Meinetwegen eifere er immerhin: nur dtirft' er doch
auch dieses uberlegen: nach seinen Grundsazen bin ich noth-
wendig es auch, der die Menschen mit Feindseligkeit erfullet
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 983
und sie zu den Ausbriichen derselben in Hader und Z wist hinzie-
het. Demnach frag' ich ihn vor den Augen des ganzen menschli-
chen Publikums: warum schamet er sich dieser Behauptung
nicht, die er an sich selber widerleget findet? Denn er antworte
mir aufrichtig: hab' ich d. h. hat der Teufel ihm den unchristli-
chen Grol eingeplanzet, den er auf alien Seiten seiner Broschure
gegen mich an den Tag leget? hab' ich ihm die ehrenriihrigen
Beschimpfungen vorgesprochen, womit er mich vim meinen
Kredit bei Rechtschaffenen zu bringen sucht? und hab' ich ihm
io die griine Galle eingeflosset, womit er in seiner Schrift sowol
als in seiner Predigt meine unschuldige Schwarze zu vermehren
und verfalschen trachtet? hab' ich das wirklich oder nicht viel-
mehrersichselbst?Dochunstreitig das leztere, man miiste denn
lieber annehmen, daB ich mit dem H. Stapelhaselius meine eigne
Verkleinerung abgeredet und mich mit ihm gegen mich selbst
verbunden hatte: iiber so eine einfaltige Voraussezung ist aber
meines Erachtens das Publikum doch hinweg. Es ist das alles,
was ichbehaupte, so deutlich, so unwiderleglich; und gleichwol
mus ich mehr davon reden. Denn unter den unzahligen Ver-
20 laumdungen, die man liberal gegen den Teufel ausstreuet, ist
diese gewis die liebloseste, daB ich die Theologen in ihren hefti-
gen Federduellen als Spiesgesel und Sekundant begleiten, in ihnen
den unchristlichen Feuereifer gegen anders Denkende entziinden
und anfachen und mit ihnen die cholerischen geistigen Wechsel-
kinder* zeugen sol, welche man unter dem Namen Streitschrif-
ten furchtet. Ich sag* es aber frei heraus: das ist eine verdamte
Luge, und eine gehassige Anschuldigung, fur die ich alle Genug-
thuung begehre. Denn man hat nicht mehr Grund, den bosen
aberguten Feind fur einen Soufleur der verkezernden Theologen
30 auszugeben als der einfaltige P. Boucheant hatte, es auch mir
anzudichten, daB der Esel des Bile am s reden lernte, welches ihn
doch ein Engel bekantlich gelehret. Um aber mich auf einmal
vonallem Verdachteloszumachen, erbieteich, der Teufel, mich
* Wechselkinder (Kielkropfe, Teufelskinder) sind unformliche Ge-
stalten, welche nach den gemeinen Leuten der Teufel stat schonerer
unterschiebt. Man kent sie daran, daB sie schwer sind und doch mager.
984 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
hier offentlich, iiber alle Theologen, sie mogen zur hohern oder
niedern Geistlichkeit gehoren, welche sich vom Genius der
Menschenliebe verlaufen haben, die miihsame Vormundschaft
ohne das geringste Entgeld bios zum Besten der Orthodoxie
und meines Ruhms zu iibernehmen und alles was ich lean zu
thun, urn ihnen die polemische Galle abzufuhren, die hervorste-
chenden Fingernagel abzukiirzen und iiberhaupt ihr ganzes We-
sen auf einen menschenfreundlicbern Fus zu sezen: ich hoffe,
rneine Bemiihungen um ihre Menschwerdung soil en sie mir nicht
ganz mislingen lassen. Hobbes sagte einmal: »stekte der Teufel, 10
wenn ich in einem tiefen Brunnen lage, seinen gespaltnen Fus
hinab, so wiird' ich ohne Bedenken in denselben eingreifen,
damit er mich heraushobe.« Da ich aber noch weit mehr fur
die Theologen thun wil und mich entschlossen habe, in die ko-
thige Grube der Intoleranz, worin sie zu ganzen Nestern sizen,
zu ihrer Rettung stat meines kurzen Fusses meinen langen
Schwanz hinunterzusenken: so darf ich ia wol mir Recht erwar-
ten, daB sie samtlich mit unglaublicher Begierde an ihn sich
anschlingen und fest anhalten werden, damit ich, wenn ich mich
vorher vor meinen eigenen Schweif eingespant hate, erne Traube 20
nach der andern unbeschadigt an das Tageslicht herausfahre;
dem Fuchse etwan gleich, der an seinem Schwanze, den er stat
einer Angel ins Wasser geworfen, die anbeissenden Krebse dar-
aus hervorlangt, die er, um sie dem troknen Tode auf einem
fremden Elemente zu entziehen, so fort auffrisset, oder auch
den Ratten, die sich ihres Schwanzes stat eines Stechhebers be-
dienen, um den Wein almahlig aus dem Fasse auszutunken und
vielleicht auch ienem Fuchse ein wenig, an dessen Schwanz der
messenische Feldher Aristomenes sich aus seinem unterirdischen
Gefangnis so gluklich herausfand. 30
Auf so schwachen Fiissen stehet denn meine Existenz noch
bis auf diesen Augenblik, aller Bemiihungen meines H. Gegners
ungeachtet. Er kan aber glauben, daB ich ihm diese Vergeblich-
keit derselben gar nicht gonne; es ware mir ia selber lieber und
vortheilhafter, wenn ich existirte und wiiste ich, daB es etwas
halfe, ich wiirde sogar ohne Bedenken den H. Superintendenten
UNPARTETISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 985
Stapelhaselius selbst um meine Erschaffung angehen, so wie in
einem gewissen spanischen Schauspiele Adam sich vor Got dem
Vater mit der Bitte auf die Knie warf, ihn aus dem Nichts her-
vorzubringen. Allein ich weis wol, das Nichts wird noch lange
mit mir schwanger gehen, eh' es mich gebieret, und sobald
werd' ich mir wenigstens keine Rechnung machen diirfen, mit
meinen Freunden ausser meinen bisherigen Namenstag, auch
noch wie andere Wesen einen Geburtstag feierlich begehen zu
konnen. Untrostlich bin ich dariiber indessen' auch nicht: von
10 Epikur und Voltaire hab' ich hierin ein anstandigeres Betragen
gelernt. So wie diese zwei Manner - diese herlichen Doppel-
oder Schusterlichter der iezigen Erde - den Tod ihres Wesens
leicht iiber das Leben ihres Namens verschmerzten: so wil ich
mich dadurch beruhigen, daB fur mein Nichtsein mich die Exi-
stenz und Unsterblichkeit meines Namens (Teufel) reichlich
schadlos halt: zulezt komm' ich doch wol einmal zum Erstaunen
aller Wesen als die Nachgeburt meines Namens ins Dasein hervor.
Der erste Gebrauch, den ich dan von meiner Wirklichkeit
machte, ware, daB ich in folgendes Gleichnis ausbrache: gerade
20 so wird ein katholisches Kind, das durch eine Spriize im Mutter-
leibe getauft worden, spater geboren als benamset und gelangt
zur Geburt wirklich etwas spater als zur Wiedergeburt.
Eh' ich schliesse mus ich von der Predigt meines Gegners
wiewol ungern sagen, daB sie mir schlecht gefallen. Nicht ihre
erbarmlichen Gedanken mein' ich, sondern die harten Namen,
womit sie mich belegt. Sie schildert mich von so schwarzen
- Seiten und stosset mich so tief unter mich selber hinab, daB
ich bei ihrer Anhorung ordentlich ganz dariiber erschrak und
zulezt zu zweifeln began, ob ich wol wirklich der Teufel oder
30 nicht vielmehr gar der Advokat, dessen Gestalt ich wie schon
gedacht, in seinem Kirchenstuhle angenommen hatte, sei: ich
verleztedaherverschiedeneTheile meines Scheinkorpers so sehr
ich konte; da ich nun wie natiirlich nichts davon empfand, so
schlos ich, daB ich nicht der Advokat, dem dieser Korper ange-
hore, sondern der Teufel sei, der nur in den Schein desselben
sich verstellet hatte. - Uberhaupt meine Herren Menschen, der
986 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Teufel ist es nun im hochsten Grade sat und miide, euch die
Rolle des Schwarzwildprets langer vorzuspielen, das ieder von
euch hezt; er wird inskunftige seiner Ehre mit empfindlichen
Mitteln Schuz zu verschaffen wissen und ohne Anstand ieden
von euch holen, der ihn nicht lobt. Derm verdient hab' ichs
doch wol nicht, daB z. B. der Edelman mein Bild zu meiner
heimlichen Krankung verstummelt in seinem Wappen fuhrt; oder
daB die Inquisizion bei iedem Autodafee mich in effigie verbrent
und einaschert*; oder daB iede euerer Damen mir, wenn ich
etwan schlafe, die Horner, die ich wie Bacchus die seinigen ab- J0
und anlegen kan, geschikt entwendet und sie ihrem schlafenden
Manne aufbindet, hernach aber, wenn der Man sich iiber die
schwere Verzierung erbosset, mich als den Thater angiebt und
zwischen mir und den Mannern dadurch oft den grosten Kaltsin
und wochenlange Misverstandnisse verursachet. Ja womit hast
du es verdienet, unschuldiger Schwanz, daB die Kupferstecher
dir ein Stiik um das andere ablosen und deine riikwartsgehende
Verkiirzung sich so frei herausnehmen als warst du ein modi-
scher Zopf? Und bis auf den heutigen Tag weis ich es auch
noch nicht, womit ich dich, lieber Luther, so aufbrachte, daB 2 o
du mich fur das Schwarze deines Ziels ansahest und stat der
Dinte dein Dintenfas gluklich auf mich richtetest und schossest,
ohne vorher fluchtig zu erwagen, daB dein ubereilter Schus zwar
an der Wand, woran du mich erbliktest, einen ewigen Heiligen-
schein, den ieder Reisende besieht, aber an meinem kohlschwar-
zen Pelze wegen der bleichen Dinte einen unausloschlichen
weislichten Flek zuriiklassen werde? - - Leider lies es H. Stapel-
hasel nicht einmal bei einem Dintenschusse bewenden; er ziikte
auch das Federmesser und machte die Schuswunden noch gros-
ser durch Stichwunden. 30
Das Evangelium des Sontags (Invokavit) gab ihm Anlas, iiber
meine exegetischen Kentnisse ein nachtheiliges Urtheil zu fallen
und aus meiner Auslegung der Spriiche, mit denen ich darin
* Auf die papiernen Miizen der zu verbrennenden Kezer wird ge-
wohnlich der Teufel gemalet, dessen Bild hernach zugleich mit dem
Kezer in Rauch aufgeht.
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 987
Christum versuchte, bemiihte er sich den Schlus zu ziehen, daB
meine Exegese wol nicht weit her sei. Auch schon andere Kan-
zeln haben mir den namlichen Vorwurf gemacht, den ich mithin
um so mehr gliiklich abzulehnen habe. - Vorher bitte ich die
Leser, sich irgendwo eine Bibel nur auf einige Minuten vor-
strekken zu lassen und darin das Evangelium, welches meine
Verdrehungen der Bibelstellen enthalten sol, aufmerksam aber
mit Augen nachzulesen, die nicht gegen mich gewafnet sind.
Es wird ihnen gewis nicht entwischen, daB ich selten oder nie-
10 mals mich an den sachlichen Sin der Bibelstellen, wol aber immer
an den wortlichen gehalten.* Und meines Erachtens ist ia doch
dies der Weg, den die Theologen selber in der Auslegung der
Bibel gehen; ich darf sogar behaupten, daB sie ihn vielleicht
nicht einmal betreten hatten, diesen richtigen Weg, wenn ich
nicht in meiner Versuchung Christi sie zuerst darauf geleitet
hatte. Hab* ich diese Auslegungsweise nicht auch den Juristen
- mit ihnen bin ich iiberhaupt nahe verwandt, weil ich (wie
Prokop schon gemeldet) der leibliche Vater ihres Justinians ge-
wesen - beigebracht, welche mir nicht ^enug dafiir zu danken
20 wissen? Denn wie sehr werden nicht dadurch, daB sie die Geseze
wie ich die Bibel auslegen, die Prozesse verlangert? - Zwar ha-
ben einige neuere Theologen diesen orthodoxen Weg verlassen
und sich, weil sie die Schale der Bibelstellen nicht verdauen kon-
ten, lieber mit dem blossen Kern derselben abgespeiset, gewissen
Vogeln den Kirschbeissern ahnlich, welche nicht die siisse Hulk,
* Unter dem sachlichen Sin der Bibel meint der Teufel den wahren
Sin, den man entdekt durch die Wunschelmthen des Zusammenhangs,
der alten Gebrauche, der Sprachkentnisse u.s. w. Durch diese Auslegung
bringt man aber wenig mehr aus der Bibel heraus als was man schon
30 vorher aus den Alten wuste und kein guter Theolog wird daher vielen
Werth auf sie legen. Der wortliche Sin der Bibel hingegen ersezet das,
was ihm an der Richtigkeit abgehet, mehr als zu wol durch seine Frucht-
barkeit an Lehrsazen, die fur die ganze Rechtglaubigkeit von ungemeiner
Wichtigkeit sind, als z. B. der herliche Lehrsaz von der Genugthuung.
Man sieht zugleich, daB es nicht genug ist, wenn ein Theolog bios den
wahren Sin in der Bibel zu entdekken versteht; er mus auch wissen,
in ihr den falschen aufzufinden.
988 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
sondern bios den Kern der Kirschen schmausen; allein ich glaube
dabei kan die Rechtglaubigkeit unmoglich gewinnen und aller
der wichtigen Dogmen, die sich nicht auf den Sin, sondern auf
die Einkleidungbiblischer Ausspriiche griinden, mus sie dadurch
nothwenig verlustig werden. Zum Gliik fiir die Orthodoxie
sind doch nicht alle Theologen auf der Liste dieser Neulinge
und selbst meinem H. Gegner mus ich das Lob ertheilen, daB
er noch von der Zahl der bessern Theologen ist und sich mehr
an die Einkleidung als an den eigentlichen Sin eines Bibelspru-
ches halt; hierin ist er und noch einige wenige gewis den holzer- 10
nen Nusknakern nicht unahnlich, welche den Kern der Nusse
gleichfals nichtverzehren, sondern sich nur mit der Aufknikung
der Schale abgeben, oder vielleicht noch ahnlicher dem Zigau-
ner, der das abgenuzte durchraucherte Tobaksrohrgen in Er-
manglung des Tabaks zulezt selbst angreift und es eben so gut
als den Ranch, dessen Vehikulum es sonst war, sich schmekken
lasset und wirklich auch ahnlich den Armen in Frankreich, die
vor zeiten ihren Hunger nicht mit Speisen, sondern mit Tellem
stilten*. Meine Freunde klagen taglich iiber meine Unfrucht-
barkeit an Gleichnissen; ich wil daher diese treflichen Ausleger 20
noch mit etwas namlich mit den Pferden in Vergleichung stellen ,
welche den Namen Krippenbeisser fuhren. Diese namlich iiben
ihr Gebis an der Krippe und lassen das Futter, das sie enthalt,
dariiber stehen und kauen Holz lieber als Hafer. Ein Roskam,
der bios meiner Physiognomic wegen mein Freund geworden
und meinen wolgewachsenen Pferdefus bis zur Podolatrie**
hochschazet, nent mir drei Griinde, warum Krippenbeisser an-
dern Pferden weit vorstehen. Erstlich brauchen sie wenig Futter,
weil sie sich mit Holz zufrieden stellen: denn eben, weil man
ihnen wenig zu fressen gab, gewohnten sie sich daran, von der 30
* Denn eine runde Scheibe Brod vertrat die Stelle eines Tellers und
diese konten die Armen wol essen. Jezt aber wiirde ein Silberservice etwas
so ungeniesbares sein als die Schauessen der Grossen; zum Gliik bekom-
men sie keines von beiden, sondern sie miissen auf eine weit wolfeilere
Weise verhungern.
** So nante man sonst das abgottische Kussen der pabstlichen
Fiisse.
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 989
Krippe zu zehren; der Roskam wil aber andern die Berechnung
iiberlassen, wieviel dadurch an Futter bis zum Tode des Pferds
ersparet werde. Zweitens schlukt der Krippenbeisser unter dem
Benagen des Holzes eine ungewohnliche Menge Wind; mein
Freund fragt aber, ob dieser nicht durch Aufblahung das man-
gelnde Luder fiir ieden, der gesunde Augen hat, volkommen
erseze? Endlich ist das gewis nicht der geringste Vortheil, daB
die Zahne des Pferdes an der harten Krippe auf das Schonste
zu- und abgeschliffen werden. Man kan dieses fuglich auf die
10 obigen Exegeten anwenden: denn alle drei Vortheile haben sie
mit den Krippenbeissern gemein; ihre Anhanglichkeit an den
biblischen Wortsin macht, daB sie alle iene beschwerlichen Mit-
tel zur Entdekkung des wahren gar nicht vonnothen haben und
daher weit weniger Kentnis oder Selenspme brauchen, daB sie
ferner ungemein an himlischem Ather oder Wind zunehmen, der
ihre Magerheit durch Aufblasung verbirgt und daB sie endlich
ihre polemischen Zahne, womit sie urn sich und nach den Ke-
zern schnappen und beissen, sonderbar abwezen und schar-
fen.
20 »Leider! ist es nur gar zu gewis, daB der Teufel ein heimlicher
Heterodox ist« Diesen abscheulichen Vorwurf macht mir mein
Gegner ohne Scham und Scheu. Das (gesteh' ich) glaubte ich
nun nicht zu verdienen und ich bin dariiber schon in verborgene
Thranen ausgebrochen. Zwar hab' ich mich nie um ein geistli-
ches Amt beworben und werd' es auch schwerlich iemals thun;
iiberhaupt zieh' ich von der ganzen Rechtglaubigkeit nicht den
geringsten Nuzen: aber ich meine ihr dennoch Dienste genug
geleistet zu haben, um einer glimpflichern Begegnung werth
zu sein und um vielleicht mit ihren eifrigsten Verfechtern in
30 Paren zu gehen. Denn was thun denn die besten Orthodoxen,
was thut selbst Teller in Zeiz so grosses zum Behuf der Recht-
glaubigkeit? Sie enthirnen etwan schwache Kopfe unter dem
Vorwande, sie zu trepaniren, und stekken in diesen, sobald sie
sie verfinstert und des Sonnenlichts beraubet haben, dafur das
orthodoxe Nachtlicht auf, das aus Schopsenfet gezogen worden.
Soviel thue ich nicht; aber ich thue weit mehr; ich lasse ihnen
990 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
die Eroberung schlechter Kopfe und greife dafiir lieber grosse
an und unterwerfe diese der Orthodoxie. Die Arzte mogen sa-
gen was sie wollen, ich weis es doch (die Alten, die Juden und
alle unpolizirte Nazionen pflichten mir bei) daB ich, der Teufel,
es bin, der die grosten und feurigsten Denker, von welchen
man fiir das orthodoxe System alles zu befahren hatte, nahe
vor der giftigen Reife ihrer ganzen Kraft in den sichern Zustand
des Wahnwizes versezet und sie aus eigner Volmacht als Gefan-
gene des Bedlams und der Kirche anhalt und aufgreift. Man
lean sich daraus einen kleinen Begrif von der Empfindung ma- 10
chen, mit der ich es anhoren mus, wenn die Priester mir, der
ich gerade allein der iezigen Vermehrung der Kopfe mich noch
ein wenig entgegenstelle und dem man alle bisherige Verminde-
rung derselben noch zu danken hat, es schuld geben, daB der
Kopfe von Tag zu Tag mehrere werden. Denn man wird doch
nicht zu dieser Beschuldigung durch einen gewissen unschuldi-
gen Spas veranlasset worden sein, den ich mir ie zuweilen er-
laube? Manchmal namlich thue ich an einem Delinquenten, um
den Scharfrichter, der an ihm sein Meisterstiik kopft, in eine
possierliche Verlegenheit und in Irthum zu bringen, den Kopf 20
vervielfaltigen. Oder sol ich wirklich glauben, daB meine Ankla-
ger nicht wissen, daB diese Kopfe nur scheinbare sind, die nicht
langer als der wahre dauern? - Dazu beweisen auch noch andere
Griinde, daB ich weit grossere Verdienste um die Rechtglaubig-
keit als die Theologen habe. Ich schwache soviel als moglich
die menschlichen Kopfe, ohne doch davon den geringsten Vor-
theilzu ziehen, man miiste denn das Bewustsein uneigenniiziger
wolthatiger Anstrengungen fiir einen rechnen. Bei den Theolo-
gen aber ist das ganz anders: wenn diese das namliche thun,
so gewinnen sie weit mehr dabei. Von ieher hat man ihnen 30
die geistliche Augenlosigkeit der Menschen als die Bedingung
ihres Gliiks empfohlen, um sie zur Verbreitung derselben anzu-
frischen. Freilich dan ists kein Wunder und in der That nur
wenig Verdienst, daB sie die Ausrottung der geistlichen Augen
mit so vielem Eifer betreiben. Und ist es wol mit den gezahmten
Habichten anders? Da man ihnen die ganze Zeit ihrer Bezah-
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 991
mung den Fras in den Augenhohlen von ausgestopftem Wildpret
auftischet: so stossen sie, sobald sie aus den Handen des Tragers
losgelassen werden, gleich auf die Augen des Wilds und graben
sie aus. - Und warum wil man denn gar nicht bedenken, daB
ich der Theologie mit weit wenigern Kraften beizuspringen im
Stande bin als die Gottesgelehrten, welchen alles, Gelehrsam-
keit, Einflus und sogar der wekliche Arm zu Dienste stehen,
wenn sie fur ihre Wissenschaft etwas thun wollen? Es war nicht
diegrosteHeldenthatdes Riesen Gullivers, daB er die Feuersbrunst
io des kaiserlichen Pallasts in Lilliput mit seinem Harne loschte;
so mus es wahrhaftig auch fiir den Riesen in Hamburg, fur
Goeze, gar nichts schweres gewesen sein, den Brand dev christli-
chen Kirche, worein Lessing sie stekte, mit seinem Urin, den
erdarauf lies, sogleich zu dampfen (denn mit Urin konnen seine
damaligentStreitschriften gar wol verglichen werden, wenn man
sie mit dem weit grossern Werth derer zusammenhalt, die er
erstkunftig wird drukken lassen). Ich Zwerg wiirde mich daher
damals weit verdienter urn die brennende Kirche gemacht ha-
ben, hatt' ich auch nur einige unkraftige Sprizen herbeigefahren;
20 allein nicht einmal das konte ich, sondern bios mit dem unent-
geldlichen Vorsaze muste ich mich begniigen, fals die christliche
Kirche ia abbrente, zum Aufbau einer neuen in der ganzen Welt
um Beisteuer kollektiren zu laufen.
Stapelhasel sagt in einer Note: »Wil es der Teufel auf sich
nehmen, etwas zu behaupten, was im geraden Widerspruch mit
den symbolischen Biichern stehet? Oder glaubt er, daB er es
besser wisse als sie, ob er existire?« Das gar nicht! Aber ich
glaube, wenigstens so lange meine Existenzbestreiten zu diirfen,
als man sie mich noch nicht beschworen lassen: denn zu einem
30 Inhume wiird' ich mich alzeit lieber entschliessen als zu einem
Meineide.
Endlichzanket mich mein Gegner aus, daB ich, zur Laugnung
meinerExistenz, in meiner eignen Gestalt und auf einem offent-
lichen Tanzboden auftrat. Indessen kan ich doch dieses mit mehr
als einem giiltigen Beispiel entschuldigen und ich habe hierin
einen Kiister zum Vorganger. In Salzburg namlich warf sich
992 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
der dasige Kiister auf Befehl des Geistlichen in meine Gestalt,
welche ich ihm meines Wissens doch nicht einmal geliehen hatte,
trat unter der Kanzel auf eine Zitazion des Predigers zum
Schrekken der ganzen Gemeinde hervor und suchte sie durch
meine angebliche Aussenseite von meiner Wirklichkeit zu uber-
fuhren. Ich selbst erstaunte iiber meine unbegreifliche Verdop-
pelung und die Furcht zog verschiedene meiner Hare in die
Hohe, wie bei einem Menschen, der sich selber siehet. Ich frage
aber nur, durfte man meine Gestalt zum Dienste einer Luge
dingen; warum solte ich sie nicht noch weit lieber zur Steuer 10
der Wahrheit brauchen durfen?
So weit meine Antwort. - Ich sehe aber wol voraus, FL Sta-
pelhaselius wird sich in alien Geselschaften beschweren, daB ich
sie nicht wenigstens lateinisch abgefasset; und von Herzen wiin-
schen wollen, ich mocht' ihm lieber, solt' es auch um der
Schwachen willen sein, seine Bestrafung gar geschenket haben:
er wird die Zigauner nachahmen, welche die Streiche, womit
man ihre Dieberei betrafen will, mit einem unschuldigen Kinde
auffangen, damit man aus Mitleiden mit diesem ihnen die Ziich-
tigung erlasse, die sie fehltreffen machen. Allein.,fur fremdes 20
Argernis kan er, aber nicht ich. Denn ich habe das Glaubenslicht
gewis sehr geschikt gepuzet: nur er ofnet die Lichtpuze und
verschaffet dem Gestanke des glimmenden Dochtes Ausbruch,
um hernach schreien zu konnen: »der bose Feind hat das Glau-
benslicht ganz ausgeblasen, wie aus dem ungewohnlichen Ge-
stanke leicht zu ersehen.«
Kunftighin werd' ichindessen schwerlich mehr als Autor auf-
treten, sondern mich lieber in eine wolthatige Einsamkeit zu-
rukziehen, wo ich mit dem geringen Pfunde meiner Kentnisse
weit besser zu wuchern und der Welt solang sie noch stehen 30
mag, als ein geschikter Advokat zu dienen gedenke. Ich beur-
laube mich daher von meinen Lesern nicht ohne eine gewisse
Running und lasse zu einem langern Andenken ihnen einen Ge-
stankzuriik, der vielleicht ubler als gewohnlich riecht: zufrieden
nur, daB ich doch durch zwei sonderbare Werke mich verewigt,
welche zu einem neuen Sprichwort Anlas geben konnen: »Sogar
UNPARTEIISCHE BELEUCHTUNG UND ABFERTIGUNG 993
der Teufel hat zwei grosse Dinge volbracht; er hat die Briikke
in Regenspurg gebauet; er hat Stapelhaseln widerlegt!«
VOLSTANDIGE MITTHEILUNG
der schlechten, aberwizigen, unwahren und uberflussigen Stellen, die
ich in meinem nock ungedrukten »satirischen Organon« aus Achtung
fur den Geschmak und fur das Publikum ausgestrichen habe
Die Beispiele von denen Genies, die ihre Werke durch einen
zu angstlichen Gebrauch der Feile entkrafteten und verunzierten,
sind bei weitem seltner als die von solchen, welche den ihrigen
durch eine zu sparsame Anwendung derselben Schaden und
Eintrag thaten. Oberdieses konte man an ienen, die dem Ge-
schmakke zu sehr frohnten, weiter nichts tadeln als daB sie zu-
weilen matter schrieben; sie gefielen aber doch alzeit auch dan
noch. Diesen hingegen, die sich iiber den Geschmak vollig hin-
wegsezten, konte man vorwerfen, daB sie zuweilen auch ganz
schlecht schrieben und manchmal also gar nicht gefielen. Die
guten Kopfe konnen daher nichts bessers thun als recht viel
in ihren Werken ausstreichen; ia den schlechten rath' ich sogar,
alles in ihren auszustreichen. Mochte doch ieder schone Geist
michzum Muster nehmen und ienen goldnen Spruch: »der Poet
mus der Gottin Kritik alzeit einige Tropfen von der Hippokrene
libiren, damit er sich in ihr nicht zu sehr berausche!« stat eines
Feuersegens an die Thiir seines Museums annageln! Denn ich
kan sagen, daB ich mit diesem Spruche, der (beilaufig anzumer-
ken) unter den wenigen scharfsinnigen Gedanken, die mir zu-
weilen entfahren, gewis die erste Stelle verdienet, bisher alzeit
das Feuer des Genies von mir so gluklich abgewendet als der
Bauer mit seinem Segen anderes Feuer von sich.
Allein ich habe noch ein besseres Mittel, das Feilen unter un-
sern Autoren in Gang zu bringen, in Bereitschaft; und das ist
der folgende Vorschlag: kunftighin mus ieder Autor verpflichtet
sein, iedes neueBuch, womit er die Welt bevolkert, mit etlichen
Bogen zu verstarken, auf denen alle die schlechten, unsinnigen,
aberwizigen Gedanken, die er in demselben weggestrichen und
verbessert hat, zusammengedranget zu finden sind. Jeder sieht
ein, daB solche Anhangsel - Korrekturbogen kan ich sie zierlich
nennen - ungemein tauglich sein wurden, das Publikum mit
eignen Augen sehen zu lassen, wie sehr der Verfasser an seinem
Produkte gefeilet und wie ungleich schlechter es ursprunglich,
MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN 997
da es erst aus seinen Handen kam, gewesen als es iezt ist, da
ers nach der Wiedergeburt desselben zum offentlichen Vergnii-
gen herausgegeben. Mein Vorschlag ist ubrigens so gar neu
nicht als er einigen scheinen konte. Denn grosse Dichter z. B.
Voltaire, Bodmer u. s. w. haben wirklich schon ihre Werke mit
dergleichen Verzeichnissen der schlechten Gedanken, deren Plaz
sie darin mit bessern ausgefiillet hatten, freiwillig vergrossert:
es kan aber nicht schwer sein, unsere Dichter zu iiberzeugen,
daB hierinnen zwischen ihnen und zwischen grossen Dichtern
10 gar kein Unterschied sei. Ich verschweige noch den beilaufigen
Vortheil, der mit meinem Vorschlage verbunden ist, den, daB
dadurch die Bogenzahl einen ansehnlichen und unerwarteten
Zuwachs erhielte: mich diinkt namlich, die Absicht, die Dikke
des Buches ohne seinen Werth zu vermehren, hat man bisher
durch die gewohnliche reiche Einstreuung langer Gedankenstri-
chebei weitem nicht so gut erreichet als man sie unfehlbar durch
meinen vor[ge]schlagnen Anhang der ausgestrichnen schlechten
Gedanken erreichen wird. - Noch wil ich offenherzig gestehen,
wem ich meinen vortreflichen Vorschlag eigentlich zu danken
20 . habe; es ist ein preussischer Kavallerist, der mich darauf brachte,
so wie Pythagoras auf Veranlassung eines Schmidts den mathe-
matischen Magister erschuf. Er erzahlte mir, wie sehr man bei
den Reutern von seinem Regimente auf die Abpuzung ihrer
Pferde sahe; und fiigte hinzu, daB sie ihre Sorgfalt darinne durch
die Vorzeigung des Pferdestaubes ausser Zweifel sezen miisten.
Bei den Pferden fallet mir alzeit das Musenpferd der Dichter
(zuweilen auch das Stekkenpferd des Sterne) ein. So wars auch
iezt und es schos mir auf einmal der Gedanke durch den Kopf:
wie? wenn man die Dichter des deutschen Reichs zu einer ahnli-
30 chen Reinhaltung des Musenpferdes anhielte? wenn man ihnen
auflegte, den Beweis, daB sie dasselbe gehorig gesaubert, durch
die offentliche Darlegung des Kothes oder Staubes zu fiihren,
von dem sie selbiges gereiniget? -
Er gefiel mir auch so sehr, dieser Gedanke, daB ich mich sofort
entschlos, der ganzen gelehrten Republik ein Beispiel seiner
Ausfiihrung zu geben und die erste Probe davon an meinem
99$ JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
noch ungedrukten Werke »satirisches Organon« betitelt zu ma-
chen. Und hier ist sie. - Das folgende Verzeichnis enthalt eine
volstandige Samlung von allem Kothe und alien Unreinigkei-
ten, die ich meinem iungen gehornten ziegenfiissigen Satyr
theils durch Waschen theils durch Striegeln theils auch durch
Schaben abgenommen. Hoffentlich ist es nicht blosse Tau-
schung meiner Eigenliebe, wenn ich mir verspreche, daB diese
Unreinigkeiten nicht nur einem geschmakvollen Buchhandler
Lust zum Verlage des ganzen satirischen Bokkes, sondern auch
vielleicht das Publikum ein wenig begierig auf die volstandige 10
Erscheinung desselben machen werden. Auch soke mir das ge-
ringste Vergniigen, das die Leser an den hier mitgetheilten Feh-
lern meines Produktes fanden, sogar Aufmunterung sein, mich
derselben ordentlicher Weise mit Absicht zu befleissigen, urn
von Zeit zu Zeit das Publikum mit solchen Lieferungen ausge-
strichner einfaltigen, unwizigen und sinlosen Gedanken nach
besten Kraften befriedigen und laben zu konnen; und ich habe
schon lange den heimlichen Wunsch in mir herumgetragen, daB
ein kompetenter Kunstrichter meine Vermuthung, daB ich viel-
leicht einigen Ansaz zur Hervorbringung von Fehlern haben 20
diirfte und mich mit grosserer Begiinstigung meines Genies auf
diese als auf Schonheiten legen wiirde, diese Vermuthung, von
der ich doch immer ungewis sein mus, ob ich sie nicht vielleicht
nur aus einer zu guten Meinung von mir selber glaube, durch
seine Beistimmung besiegeln und ausser Zweifel sezen mochte,
weil ich alsdan, uber meine Anlagen besser belehret, aufhoren
wiirde, mit vergeblichem Ringen nach Schonheiten mich ferner
zu peinigen, und dariiber den Ruhm der Fruchtbarkeit an Feh-
lern, den ich mir durch ein zwekmassiger angewandtes Genie
so leicht erwerben konte, zum grosten Nachtheil des deutschen 30
Parnasses ferner zu verpassen und zu verscherzen. Wie gesagt,
haben die folgenden ausgestrichnen schlechten Stellen meines
kunftigen Werkes das Gliik, dem Leser nicht vollig zu misfallen:
so werd' ich inskiinftige iiber dasselbe mit der scharfsten Feile
herfahren und darin ungleich mehrere Stellen durchstreichen
als stehen lassen, um nur desto mehrere zur Presse zu verdam-
MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN 999
men und die Zahl der undurchstrichnen guten Stellen zu verrin-
gern, dieich zulezt wol gar ganzlich unterdriikken werde. Denn
man sage mir doch warum nicht? Vielmehr ist es Pflicht, daB
der Mensch seine litterarischen Tugenden so wie seine moralischen
nicht zur prahlhaften Schau stelle, sondern beide sorgfaltig ver-
hehle; aber seine Fehler hingegen, es mogen nun solche seiner
Schriften oder seines Herzens sein, nicht heuchlerisch verstekke
und am wenigsten vor dem Lesepublikum geheim hake, als
welches vermdge seiner bewahrten und innigen Freundschaft
io mit dem Autor das groste Recht an den Anblik aller Gebrechen
desselbenhat. Wie in manchen Orten Italiens die Frauenzimmer
den Kleiderschmuk, den sie angeleget, den offentlichen Augen
nicht gonnen und nur den simpeln schwarzen Rok, den sie iiber
ihn werfen, aus Demuth sehen lassen: so wil ich, um mir die
Verlaugnungen des litterarischen Ruhmes gelaufig zu machen,
iede Stelle meines Buches, die sich nur im geringsten entweder
durch treffenden Wiz, oder durch tiefgedachte Wahrheit oder
auch durch prosaischen Wolklang auszeichnet, dem Publikum
vorenthalten wenigstens unverschlimmcrt nicht iibergeben,
20 ohne mich von dieser Verheimlichung meines Werthes durch
das vereinigte Bitten aller Rezensenten, Verleger und Freunde
abbringen zu lassen; solche Stellen hingegen, an denen ich sitli-
che Schiefheit entweder des Gedankens oder des Ausdruks ge-
wahr werde oder die sonst dem Geschmakke des Publikums
anpassen, werd' ich nie anstehen, zu meiner Demuthigung ans
Licht zu bringen und mit sehr scharfen Lettern und auf sauberem
Papier drukken zu lassen; dergestalt, daB aus meinem mit trok-
ner und nasser Dinte zugleich versehenen Dintenfasse, wie aus
der Biichse der Pandora, nur das Schlimme hervorgehen und
30 die Hofnung hingegen in ienem wie in dieser, auf dem Boden
sizen bleiben wird. Denn ich bin iiberdies durch die murrische
Aufnahme, die eines meiner gedrukten Werke wegen zuvieler
Vortreflichkeit erlitten, allerdings schon ein wenig gewiziget
worden und ich werde nie aufhoren, mir und alien Autoren
die ausgemachte Bemerkung vorzuhalten, daB das groste Un-
gliik, was geistigen, so wie leiblichen Eltern wiederfahren kan,
IOOO JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
das ist, wenn ihre Kinder oder ihre Biicher viel Verstand haben:
denn der ist das untruglichste Zeichen, dafi sie nicht lang leben
werden. - Kurz und gut: die nordische Rothgans iagt kleinere
Rothganse solange herum, bis sie vor Furcht den Mist fahren
lassen, welchen habhaft zu werden die grosse Gans sie geiaget
hatte. Nun ist zwar das Publikum die grosse Gans und der Autor
die kleine, und ienes verfolgt ihn solange bis er seiner Exkre-
mente sich entlediget, welche dasselbe mit der grosten Begierde
auffangt; allein es fehlet doch noch viel, daB das, was ich in
diesen zwei Perioden gesagt, ein passendes Gleichnis sein soke. 10
- Hier ist aber endlich das solange angekiindigte Verzeichnis
der ausgestrichnen Schlechtheiten:
Seit. 3. strich ich folgendes aus: »Ich habe zwar nichts gegen
den Stirnmesser des H. Lavaters, mit dem man die Sele, (wie
bisher die Korper der Rekruten,) ziemlich genau messen kan;
allein ich brauche doch lieber bei Damen meinen Schleppenmes-
ser, den ich an ihre Schleppen anlege, um aus der Lange dersel-
ben die Lange ihrer Ohren zu erfahren; eine Operazion, die sich
auf das mich diinkt nicht genug bekante Axioma griindet, daB
die Ohren einer Dame stets so lange wie ihre Schleppe sind; 20
so wie auch die Ohren des Elephanten einerlei Lange mit seinem
Schwanze haben. « Hier ist die Behauptung und der Wiz ganz
falsch; und ich mochte so etwas um wieviel nicht drukken las-
sen.
Seit. 6. Die folgende Stelle: »Denn man ziehet schon ein Bein
nach dem andern aus dem romischen Stuhle heraus, so daB ich
besorge, der Stuhl fallet zulezt gar um und die Herauszieher
schlagen sich mit seinen Beinen ohne die geringste Schonung.
Saget man, dieser alte Stuhl ruhe ia wie ein Grosvater- oder
Lehnstuhl auf Lowenfussen: so antwort' ich darauf, daB diese 30
nur von Holz sind und niemand im geringsten mehr krazen
konnen« - diese Stelle nab' ich nicht bios ausgestrichen, sondern
auch ausradiret: sie verrath eine unbedachtsame und gefahrliche
Einmischung in politische Handel, die fur einen Deutschen sich
gar nicht schikt, als der verbunden ist, bei der Betrachtung der
politischen Welt laut und zu wiederholten Malen auszuruffen:
MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN IOOI
»es ist alles sehr gut und die politische Welt ist nach meiner
Einsicht die beste Welt.«
Seit, 7. war folgende Note: »Die Erde ist das Sinbild ihrer
Bewohner. Nach Deskartes ist sie so gut eine Sonne, wie die,
welche ihr leuchtet; allein sie ist nur eine mit einer dikken Rinde
umhiilte und verlarvte Sonne. So sind vielleicht auch wir von
keinem schlechtern Stoffe als bessere Geister iiber uns; allein
der grobe Korper umziehe.t und verschliest die Sonne in uns.«
Durch diese Note hatte ich mich gegen mein erstes Gesez im
10 Schreiben verstossen, namlich dieses, das Publikum mit alien
Gedanken, die ernsthaft sind oder die mehr die weisse als
schwarze Seite des Menschen (denn er gleicht gewissen agypti-
schen Statuen, die halb aus weissem und halb aus schwarzen
Marmor gearbeitet sind) zeigen, wo moglich zu verschonen;
daher strich ich sie billig hinweg.
Eben so machte ich es auch mit der folgenden, Seit. 33. und
aus dem namlichen Grunde: »Wie sich in den englischen Garten
nachgeahmte Ruinen befinden, so giebt es auch gewisse Men-
schen in unserer Welt, die fur dieselbe zu grossind und kunstliche
20 Ruinen einer bessern zu sein scheinen« - Vielleicht sind einige
mit meiner Strenge gegen diesen Gedanken nicht so ganz zufrie-
den, allein ich mus hier dem Weltman Beifal geben, der ihn
las und die Hinwegnahme desselben ohne Einschrankung bil-
ligte.
Seit. 101. hies es so: »Die Affen tragen in ihrem Kopfe einen
gewissen Stein (Affenstein wird er genant) der gegen viele
Krankheiten helfen sol; allein wenn nun ein Affe krank ist, was
hilft ihm der Stein, den sein Kopf verschliest und zu dem er
lebendig nicht gelangen kan? So ists nun gerade auch mit dem
30 vortreflichen Steine der Weisen, der zwar die herlichsten Hei-
lungskrafte sowol als Bereicherungskrafte besizet, der aber dem
Alchymisten selber, als in dessen Kopfe er sich aufhalt, nicht
den geringsten Nuzen schaft: denn wie kan dieser ihn aus dem-
selben, ohne Gefahr seines Lebens herausbannen? Er mus ihn
nothwendig mit sich in die Ewigkeit nehmen.« Ich habe dieses
wie vieles andere ohne den geringsten Grund durchstrichen:
1002 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNO
denn ich glaube, es kan nicht schaden, wenn man von Zeit zu
Zeit Handlungen, die sehr wenig Vernunft verrathen, zu bege-
hen sich iibt.
Seit. 1 10 durchstrichich: »Wirhaben die Franzosen nachgeah-
met und auch nicht nachgeahmet: die deutsche Litteratur liegt
noch in der Paradewiege, nur die deutsche Tugend liegt schon
auf dem Paradebet.«
Seit. 200. durchstrich ich: »Der Tod ist kein Punkt, sondern
nur ein Abtheilungszeichen im menschlichen Dasein, ist ein Ge-
dankenstrich, der zwo Welten verbindet: auch ist das kiinftige 10
Leben mit fortlaufender Signatur des iezigen gedrukt.«
Seit. 201. durchstrich ich: »Einige Leute sterben von unten
hirtauf und manche werden von unten hinauf geradert, allein
das ist ein langsamer Tod. Die Keuschheit einer Dame hingegen
stirbt von oben herab und doch auch langsam.«
Seit. 202. hies es: »Die Katholiken haben ganz Recht, es giebt
einen limbus patrum und einen limbus infantum: denn ist nicht
ein Hospital der erstere und ein Findelhaus der andere?« Diesen
Saz konte ich nicht wol stehen lassen, da ich bald an ihm merkte,
daB er wahr ist. 20
Seit. 222 stand: »Die Eva ist das Postskript des Adams: ich
sage damit dem schonen Geschlechte etwas schmeichelhaftes.
Denn ich ziele hierunter auf ienen Hofman, der wie Bako erzah-
let in den Briefen an seinen Hern das Wichtigste alzeit fur das
Postskript aufsparte.« Aber mit dieser Schmeichelei hatte ich
die Liebe aller Schonen verscherzen konnen: denn es ist bekant,
daB sie ausser der Wahrheit nichts so sehr hassen als die Schmei-
chelei.
Seit. 299 durchstrich ich: »Die vornehmen Personen mit de-
nen ich umgehe, wissen es schon, daB es einmal meine Art ist, 30
ihnen nicht zum neuen Jahre zu gratuliren, ohne zugleich ihnen
zum alten zu kondoliren. « Denn von diesem alien ist auch nicht
Eine Sylbe wahr.
Die Seiten 312 und 313. hatte ich auch durchstrichen und
zur Einrukkung hieher bestimmet, weil sie ganz vol Zoten wa-
ren. Allein da ich nach mehr Erfahrung fand, daB ein Buch
MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN 1003
sclten ohne sie viel Leser sich vcrsprechen darf und daB es deren
berauben nichts anders heist als es entmannen: so woke ich auch
nichtden Sonderlingzu meinem eignen Nachtheil machen, son-
dern ich unterpunktirte wieder alle durchstrichnen schmuzigen
Stellen, damit sie der Sezer meines kiinftigen Werkes so gut
als alles tibrige drukken moge. Daher darf sich der Leser auf
mein Wort die Hofnung machen, um die gedachten Zoten gewis
nicht verkiirzet zu werden; und unter alien guten Stellen, die
ich von meinem Werke zum Drukke befodern werde, werden
10 ihm die rehabilitirten Zweideutigkeiten* hoffentlich das lauterste
Vergniigen gewahren.
Seite628. hies es so, wenri ich anders rechtlese: »Das Schiksal
gab iedem menschlichen Wesen auf seinem Wege zum Grabe
eine Wolke zur Begleitung; und ieder von uns gehet mit einer
andern Wolke verhullet. Uber diese siehet keiner hinaus und
sie lagert sich bestandig zwischen ihn und die Wahrheit. 1st sie
schwarz, so ist er ungliiklich und glaubt von ihr umzogen, mit-
ten im Sonnenschein der Natur, es sei Nacht: ist sie hingegen
erleuchtet, so ist er gliiklich und freuet sich, wie es in der Wolke
20 so schon spielet und flimmert. Sie lieget iiber seinem ofnen
Grabe und scheint es zu fiillen. Er trit getauschet in dasselbe
und nun zieht sie sich auf; und er siehet den Schlund, in den
er sinkt, und die hellen, weiten Gefilde der Wahrheit und Tu-
gend, die er ohne Genus verlasset.« - Weiter unten stand noch
Folgendes: »Wir sind wahrscheinlich alle irrig; aber ieder halt
nur den andern dafiir: denn wir gleichen Leuten, die in Staub-
wolken gehen. Jeder von diesen glaubt, hart an ihm sei der Staub
am dtinsten, bei denen hingegen, die in einiger Entfernung vor
oder hinter ihm herziehen, sei derselbe ganz dicht und undurch-
30 sichtig.« - Alles dieses hab' ich ohne Anstand durchstrichen,
theils weil es mir offenbar fur eine Satire zu erhaben schien,
theils weil ich schon das namliche auf einigen zwanzig Seiten
nur mit andern Worten gesaget hatte und ich, was den Nuzen
* Einen rehabititiren heisset in Frankreich bekantlich die Verdam-
mung, die ein Kriminalgericht iiber ihn gefallet, widerruffen.
1004 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
der Tavtologie anlangt, so weit von andern Autoren abgehe,
daB ich nicht gern das auf ein und zwanzig Seiten sage, was
ich fiiglich mit der grosten Weitschweifigkeit auf zwanzig brin-
gen kan.
Vom ganzen Lobe der Halbgelehrten auf der 8oo ten Seite strich
ich nur dieses aus: »Einen Esel, meine Herren, der seine zwei
langen Ohren hat, kan man meines Erachtens doch noch zur
Noth ausstehen; allein einer, der mit Einem einzigen herumge-
het, weil er sich zur Verbesserung seiner Gestalt das andere ab-
nehmen lassen, ein solcher Esel mit Einem Ohre - das ist mei- 10
nem Gesichte ein unertraglicher Anblik.« Meine Leser werden
die Ursache, warum ich es ausgestrichen, zu errathen glauben;
allein ich musihnen sagen, daB ich es ohne alle Ursache gethan.
Eine ganze Menge anderer Stellen seze ich gar nicht hieher,
die so neu, so wahr, und so verniinftig waren, daB ich sie noth-
wendig wegstreichen muste, wenn ich nicht wolte, daB es an
meiner Stat der Zensor thun soke.
Dafiir wil ich aber den Leser mit einigen andern schlechten
Stellen und einzelnen schlechten Ausdriikken entschadigen,
womit ich mein oftgedachtes Werk noch zu verunzieren um 20
desto weniger unterlassen werde, weil ich sie ohne alle Scho-
nung daraus wieder wegzustreichen gedenke. Als z. B. ihm
werd* ich einverleiben und wiederum nehmen
den Gedanken: »bald hat der bessere bald der schlechtere Theil
unsers Wesens die Oberhand und wir gleichen den Noten in
der Musik, von denen bald der Kopf bald auch der Schwanz
oben ist«
den Ausdruk: »die Zeit verstekket ihre grauen und langen
Fltigel unter goldne, blizende Fliigeldekken«
den Gedanken: »die Phantasie oder der Pegasus ist das Sattel- 30
pferd am Wagen der Psyche«
den Ausdruk: »wir haben der Zeit, wie dem Vieh auf der
Weide, Glokken angehangen, um es aus dem Klingeln zu horen,
wenn die eine oder das andre sich fortbeweget: damit sie uns
nicht unvermerkt entfliehen«
den Ausdruk: »das Feuer der Leidenschaften besprechen«
MITTEILUNG DER SCHLECHTEN STELLEN ( IOO5
diePhrasis: »weibliche Galakleidung ein Taggarn und weibli-
ches Negligee ein Nachtgarn«
die ganz unverstandliche Phrasis: »so handeln heisset mit dem
Falhut Chapeaubas gehen«
den Saz: »die Damen haben die Kuche gegen den Kamin ver-
tauschet und sind aus Kiichenstukken schone Kaminstukke gewor-
den«
dieBehauptung: »was Nurnberg fur Amerika ist, das ist Paris
fur Europa«*
10 die Vergleichung: »es ist Krieg heisset mit andern Worten:
die Menschheit frisset, gleich gewissen nicht recht begrabnen
und unruhigen Todten, sich selbst«
den Unsin: »unsere Einsichten sind nicht selten die Lichter,
die wir urn den Sarg, in dem unser todtes Vergnugen liegt, gestellet
haben «
und die Vermuthung: »auch ein regierendes Kind, wenn es
nur die Krone friiher als den Bart bekomt, kan diinkt mich
iiber wichtige Feinde den Sieg erhalten und friihzeitige Lorbern
einernten, so gut als nur irgend ein grosgewachsener Fiirst; und
20 das zwar auch durch Hiilfe kluger und tapferer Generale: auch
traumte mir wol einmal, daB eines von einem Gangelwagen auf
einen Triumphwagen gehoben worden«
Aber genug der schlechten Gedanken und der schlechten Aus-
driikke! Von diesem weggestrichnen schlechten Theile meines
Werkes werden nun unfehlbar die Kunstrichter samt und son-
ders Gelegenheit hernehmen,. iiber meine noch ungedrukte Sa-
tire die gehorigen Rezensionen ans Licht zu stellen; so wie die
bekante Prager Bucherkommission auch alle dieienigen Theile
der A. deutschen Bibliothek zu lesen verbot, die g. G. erst ktinf-
30 tig erscheinen sollen. Wenigstens war dieses die Absicht, warum
ich mit Einem und dem schlechtern Theile derselben hervortrat;
und die vorstehenden aberwizigen, einfaltigen und unsinnigen
* Bekantlich nehmen die Seefahrer gewohnlich Niirnbergische Pup-
penwaren mitzu Schiffe, um sie den Wilden anzuhangen. Die parisischc
Kleiderpuppenware wird hingegen nicht an Europens wildern, sondern
feinern Tbeil versandt.
1006 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Gedanken sind gleichsam die Exkremente meines geistigen Kin-
des, die ich den Rezensenten ins Haus schikke, damit sie daraus
ersehen, daB dasselbe noch ganz frisch und gesund und von
alien Gebrechen vollig frei ist. Das war meine Pflicht; ihre ist
es nun, mir iiber den Zustand desselben ein giinstiges visum
repertum auszufertigen. Und sie konnen das sehr wol. Denn
ex ungue leonem; d. h. aus der Lange der Fingernagel siehet
man sogleich, daB der Besizer derselben kein gemeiner, sondern
ein vornehmer Sineser ist oder unfigurlich aus den hier mitge-
theilten langen Nageln meiner Satire konnen die Rezensenten 10
nicht anders als schliessen, daB sie sich vor alien ihres Gleichen
ganz besonders auszeichnen miisse, da sie so vortrefliche Hiilfs-
mittel zum Krazen und Verwunden besizet. - Auch wird man
mir es gerne glauben, daB die vorstehenden Fehler nicht derie-
nige Theil meines ungedrukten Werkes sind, der mir am leichte-
sten zu machen ankam; vielmehr hab' ich in diesen den meisten
Fleis und Wiz verstekket, so wie gewis Vaukanson eben so viel
Miihe hatte, den Hintern seiner holzernen Ente so weit zu brin-
gen, daB er Auswurf Von sich gab, als die Kehle derselben, daB
sie Tone von sich gab. Aus diesen und noch vielen andern Grun- 20
den, die ich a'nfuhren konte, erhellet die Verbindlichkeit der
Rezensenten mehr als zu wol, mich wegen einer noch unge-
drukten Arbeit mit mehr als gewohnlichen Lobspruchen zu er-
heben und mir meinen Weihrauchslohn ein halb Jahr voraus
zu pranum[er]iren, wie man es oft dem Gesinde mit dem Gelde
thut. Ich wil gar nicht erwahnen, daB ein Buch tadeln eh' es
noch im Druk geboren worden sovid ware, als dem Donner
ahnlichen, der einmal ein Kind im Mutterleibe (nach Plinius)
erschmis und schwarz machte, wiewol ohne den geringsten
Schaden seiner Mutter, der Marzia. Ich ersuche die Kunstrichter 3°
noch einmal, mich zu loben und meinern noch unbekanten
Kinde , wie die Athener dem unbekanten Got, einen schonen Altar
zu sezen und ihm Weihrauch darauf anzuziinden. -
Nachdenklicher aber wahrer Bericht
von einer hochst rnerkwurdigen Erscheinung der
WEISSEN FRAU
und von den Ursachen,
warum sie in der Erde gar nicht ruhen kan
Ich laugne es gar nicht, daB H. Prof. Hennings in Jena, der be-
kante Erbfeind der Gespenster, unter unsern besten Philosophen
die erste Stelle verdienet und der Nuzen, den der Scharfsin seiner
Werke unserem Kopfe, der Styl derselben unserem Geschmakke
und ihre Dikke seinem eignen Beutel schaft, lasset sich wol nicht
verkennen: vielleicht bestreitet er das Dasein der Gespenster mit
eben so viel Geschiklichkeit als meine Grosmutter es sonst ver-
focht. DaB ich zur Fahne eines solchen Mannes mich auch ge-
schlagen, dies macht mir also gewis keine Schande; und ich
bekenne es daher auch gern, es ist kaum 14. Tage, daB ich noch 10
wirklich weder an Gespenster noch - denn beides ist im Grunde
wol nicht weit aus einander - an Got selber glaubte. Zum gro-
sten Gliik fiir meine Sele bin ich aber von diesem furchterlichen
Gespensterunglauben durch einen ganz sonderbaren Vorfal gro-
stentheils wieder hergestellet und ich nahere mich immer mehr
einer volligen Heilung, seit dem ich mit gewissen alten Damen
ordentliche wochentliche Zusammenkiinfte halte, worinnen ie-
des Mitglied seine besondere Geistergeschichte - die alteste und
unwahrscheinlichste erklar' ich gemeiniglich fiir die glaublichste
und nachdenklichste - erzaWen mus, die ich sofort in mein Gei- 20
sterflorilegium* eintrage. Der Vorfal, den ich meine, ist die
Erscheinung der weissen Frau, iiber welche iezt in unserer wizi-
gen Stadt soviel gesprochen und - was uns wol am wenigsten
zur Schande gereicht- so wenig gedacht wird. Ich bin eigentlich
der Urheber vom ganzen Geriichte: denn ich habe die weisse
Frau zuerst gesehen und sie meinen Freunden angemeldet. Ich
darf daher hoffen, daB unser Publikum mit dem grosten Ver-
gniigen lesen werde, was ich ihm von dieser ausserordentlichen
Begebenheit etwan mittheile, zumal da vielleicht niemand ein-
nehmender und geschikter erzahlet als ich. 30
* So nenne ich ein gewisses Buch, in das ich iiber tausend Geisterge-
schichten aus den beruhmtesten Autoren und aus dem Munde der glaub-
wiirdigsten Kinderwarterinnen mit unglaublicher Miihe zusammenge-
ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOO9
Am vorvorigen Sontage gieng ich wie gewohnlich noch eh'
ich meinen Morgensegen verrichtet hatte in die Sp-, urn die
Friihpredigt anzuhoren; ich kam aber um eine ganze Viertel-
stunde zu friih. Aus Langerweile gieng ich im Chor herum und
zahlte mit mehr als gewohnlicher Aufmerksamkeit die Orgel-
pfeifen. Schon da rauschte es etlichemal und das leztemal sehr
stark; weil ich indessen glaubte, es ware der Teufel, der mit
mir Verstekkens spielen woke - denn das thut der alte Schalk
fast allemal, wenn er sehr aufgeraumt ist - so kehrte ich mich
10 weiter nicht daran, sondern zahlte fort. Plozlich aber wurde
es auf den Schnarpfeifen, die ich eben zum zweitenmale iiber-
zahlte, unter starkem Gerausche ganz hel: ich war schon im
Begrif, dem bosen Feinde seine unzeitige Spashaftigkeit ernst-
lich zu verweisen, und kehrte mich um, als ich zu meinem gro-
sten Erstaunen eine von Fus bis auf den Kopf in feinen weissen
Atlas gekleidete Frau vor mir stehen sah. Vielleicht blieb ich
nicht ganz in meiner philosophischen Fassung; allein soviel lies
mir mein Erschrekken gleichwol noch Besonnenheit - und mich
diinkt, macht mir dieses Betragen wahre Ehre -, daB ich schleu-
20 nig meinen Stok in einer Stellung, worin ich, der Stok und
der Boden einen rechtwinklichten Triangel formirten, gegen
die Erde hielt, mich sehr geschikt um mich bewegte und so
im Drehen einen akkuraten Zirkel beschrieb, Durch dieses my-
stische Manoeuvre brachte ich mich vollig in Sicherheit und
die weisse Frau konte mir nun, fals ich nur immer in meinem
Zirkel mich hielt, wenig oder nichts anhaben. Zum Uberflus
zog ich noch, aber mit unbeweglicher Steifigkeit, Hermes sma-
ragdene Tafelund der Sch wester Mosis Praktika* aus der Tasche.
tragen und dessen durchgangige Richtigkeit ich eben so wol beschworen
30 wolteals der symbolischen Biicher ihre, wenn ich mich ordiniren liesse.
* Zwo beriihmte alchymistische Schriften, welche schon wegen ihrer
ungemein[en] Dunkelheit mehr als zu wol verdienen, von iedem Gold-
macher gelesen und bewundert zu werden, dem es nicht ganz unbekant
ist, daft gute Alchymisten ihre Gedanken gern in Schatten sezen und
hierin den Eseln nachschlagen und nacheifern, welche (nach dem Plinius)
ihr Wochenbet gern im Fin stem aufschlagen und ihre Jungen immer
an dunkeln Ortern zu gebahren suchen. Sonst aber bin ich mit iedem
IOIO JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Aus der ersten las ich 9 Worte leise, aus der andern 63 vernehm-
lich. Jezt hatte ich Muth und Schirm genug, um den Geist herz-
haft anzureden: »Ich wiinschte, fieng ich an, Frau weisse Frau,
mein Schwiegersohn, der H. Pfarrer in T. ware hier bei uns;
der wiirde Sie geschikt beschworen und meinen Muth nicht
wenig auffrischen. Aber was bewegt Sie denn eigentlich, nach
dem Tode herumzugehen und mich da auf dem Chor mitten
unter meiner unschuldigen Paginirung der Schnarpfeifen so hef-
tig zu erschrekken? 1st etwan in der Stadt H-f etwas vorgegan-
gen, was Ihr keine Ruhe lasset? Wie?« 10
Sie schiittelte; und ich fuhr sogleich fort:
»Das hab' ich gleich vermuthet: denn weder am Lehr- noch
am Nahr- ia auch nicht einmal am Wehrstande derselben ist
das Geringste auszusezen und besonders ist da die edle Neugier-
de algemein, welche man an den Nachtigallen so schazet, wenn
man auf ihren Fang ausgehet. Aber wie stehts mit der andern
Stadt, die ich nicht nennen wil und die man auf guten Spezial-
karten hart an den Granzen von Utopien findet? Lasset in der
Sie etwan was nicht ruhen? (Sie nikte) Nun so rede Sie!«
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen 20
bis die Predigten daselbst etwas besseres hervorbringen als
Schlaf.
ich: Was mich anlangt, liebe Frau weisse Frau, so mus ich
hierin ganz anders denken und in diesem Punkte hat Sie gewis
nicht Recht. Denn der Schlaf, der Kranke am Leibe schon so
erquikket und lezet, kan Kranke am Geiste - und das sind wir
Zuhorer leider alle und iede Kirche ist ein geistliches Kranken-
haus, wiewol auch oft ein Inokulazionshospital, in welchem die
Stinden erst eingeimpfet werden - wol nicht anders als recht
sehr laben oder gar heilen; und oft bin ich mit einer Sele, die 30
an Gewissensbissen siechte und ganz mat darnieder'lag, in die
Kirche gegangen und habe eine Sele, die so frisch und munter
Alchymisten einig, dafi er Recht hat, ein Mitglied des rosenkreuzerschen
Ordens desto hoher zu halten, ie weniger es gesunden Menschenver-
stand verrath, so wie die Agypter den Maulwurf mit Anbetung beehr-
ten, weil er keine Augen ihnen zu haben schien.
ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOII
wie mein Pudel war, wiederherausgebracht - welches aber wol
nicht geschehen ware, wenn ich nicht in Einem fort darin ge-
schlafen hatte; eben so, liebe Frau weisse Frau, genasen sonst
die Kranken, wenn sie in dem Tempel des epidaurischen Asku-
laps schliefen. Ich wil daher vielmehr wiinschen, daB es uns
nie an solchen Predigern fehlen moge, die den Mohnsamen mit
dem Samen des gotlichen Worts stets geschikt zu vermengen
wissen, um beide in Paren von der Kanzel herunter auszusaen:
zumal da ohnehin der Sontag ein Ruhetag sein sol.
io die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen
bis die Prediger daselbst nicht mehr ihre Predigten zu Impromp-
tus machen und nicht mehr vorgeben, sie bekamen sie von
oben herab.
ich: Freilich seh' ich selbst nicht ein, warum gerade sie allein
auf diese ausserordentliche Unterstiizung rechnen, da der Gene-
ral, der Richter, der Arzt u. s. w. sie oft eben so sehr verdienen
und von nothen haben; allein sie meinen es auch nicht so. Son-
dern sie wollen, da oben und unten relative Begriffe sind und
iedes von beiden des andern Namen tragen kan, mit dem Aus-
20 drukke »sie bekamen ihre extemporisirten Predigten von oben
herab« offenbar nicht mehr als so viel sagen »sie bekommen sie
von unten herauf«; vermuthlich also aus dem Unterleibe, wo es
nie an geistreichen Diinsten gebricht. Sonach ist einePredigt aus
dem Stegreife wol ein angenehmer Nebel, der von der Erde auf-
steigt; aber nicht einer, der vom Himmel herabsinkt. Und zu-
dem, liebe Frau weisse Frau, gesezt, daB der extemporisirende
Prediger Gedanken, welche blosse Zoglinge des Unterleibes
sind, fur Abkomlinge des Himmels ansahe: wie verzeihlich
ware nicht diese Verwechselung! Urtheilet der gemeine Man
30 nicht eben so? Wenn er namlich von der plozlichen Erscheinung
des Ungeziefers, das ein starker Reg en zuweilen aus seinen unter-
irdischen Schlupfwinkeln hervorlokt, sich keine Rechenschaft zu
geben weis: so schliesset er sofort, es ware vom Himmel hcrun-
tergefallen und prophezeiet sich aus dem Frosche- oder Mausse-
oder Wurmerregen allerhand Bedenkliches.
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen
IOI2 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
bis die Prediger daselbst, welche sonst so sehr gegen Satiren
eifern, nichtmehrselbstkeinePasquilleauf derKanzel machen.
ich: Urn wieder meine Meinung Ihr unverholen zu gestehen,
so bekenn' ich, daB sie nach meiner Einsicht gar nicht Unrecht
thun, wenn sie iiber alle Satiren den Stab brechen. Denn sage
Sie selbst, Hebe Frau weisse Frau, kan sich wol iemals das Ge-
schaft eines Spotters mit den Pflichten eines Christen vertragen?
so wenig als Christus und Belial: vielmehr bin ich iiberzeugt,
daB ieder Satirenschreiber mit Haut und Haar zur Holle fahrt
und gewisser massen schon iezt lebendig brent; der Teufel ver- 10
stand sich daher auf seinen Vortheil neulich gar nicht libel, da
er mir vorstelte, es geschahe ihm ein weit grosserer Gefallen,
wenn ich als ein Satirenschreiber, als wenn ich als ein blosser
Advokat zu ihm fahren woke. Allein das werd' ich nun wol
bleiben lassen, und ich gedenke als ein blosser ehrlicher und
rechtschaffener Advokat - hochstens kauf ich mir etwan noch
einen Titel - den ubrigen Weg zur Holle, den der Teufel auch
repariren lassen soke, in aller Gotseligkeit und Ehrbarkeit gar
zuriikzulegen. - Auch kan ich einem Prediger das Pasquilliren
nicht verdenken. Denn offenbar macht er seine Pasquille in kei- 20
ner schlimmen Absicht, sondern vielmehr bios um dadurch an
denen, die ihn durch personliche Anlasse gegen sich erbittert
haben, eine erlaubte Rache auf der Kanzel zu nehmen. Das
Schwerdt ist ihm entrissen, womit sonst der Bischof seine
Feinde ziichtigte; es bleibt ihm daher kein anderes Werkzeug
seiner Rache ubrig als sein Kopf und die Zunge darin. Und
ists mit den Pferden anders? Auch diese hat man um den Schwartz
verkiirzet, womit sie sonst in die Fliegen, die sie slacken, einhie-
ben; daher miissen sie sich gegen sie iezt bios mit ihrem Kopfe
wehren: allein alle Pferdverstandige sind auch mit dieser Ab- 30
schwanzung sehr unzufrieden.
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen
bis die Prediger daselbst einander nicht mehr ihre Beichtkinder
abfangen.
ich: Ich bin mit den meisten dortigen Geistlichen bekant,
die auf Werbung frischer Beichtrekruten liegen; allein ich wiirde
ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOI3
liigen, wenn ich sagen wolte, daB sie mir ie tadelhaft vorgekom-
men ware; denn ich iiberlegte alzeit dieses: Wenn die Juden und
Parsen nur einigen Grund hatten, die grossere Menge der Kinder
an einem Vater vorziiglich zu schazen und dem die meisten An-
spriiche auf Gotgefalligkeit und Achtung zuzugestehen, der die
meisten Kinder hatte; so erhellet es schon aus der Benennung
Bcichtvater, daB es unter seine ersten Pflichten gehoret, an der
Vermehrung seiner Beichtkinder unverdrossen zu arbeiten und
ieden auch noch so zweideutigen Weg gerne einzuschlagen, der
10 die Erreichung dieses Endzweks verheisset. Es ist daher nicht
einmal genug, daB er Beicht&rWerbald adoptiretbzld sich erziehet:
sondern er mus auch in die Hauser gehen und da weder erlaubte
noch unerlaubte Mittel sparen, die Beichtkinder andern Vatern
nicht ungeschikt zu entfuhren, sie zum Emanzipiren zu bereden
und sie unter seine Kirchfahne schworen zu las sen. Noch mehr
verlanget dies wol sein zeitlicher Vortheil: denn der Beichtstuhl
ist fur ihn ein fruchtbarer Geburtsstuhl des Geldes und er wiirde
ubel fahren, wenn er nicht suchte, iiber die Vermehrung seiner
geistlichen Kinder die Vermehrung seiner leiblichen zu ver-
20 schmerzen. - Sieht Sie, so denken ich und andere verstandige
Manner iiber die geistlichen Selenkaufer.
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen
bis die Justiz daselbst kein Blut mehr saugt.
ich: Und meines Wissens thut sie das auch nicht. Das Mark
zieht sie wol den Partheien aus den Beinen, wie denn das
Schwerdt der Gerechtigkeit unter die besten Markzieher gehoret;
allein daB sie ihnen auch das Blut abzapfte, davon hab' ich noch
nichts vernomraen. Aber wol hab' ich im Gegentheil aus dem
Munde verschiedenerdasigerRichter selbst gehoret, daB sie iiber
30 nichts strenger als den Grundsaz hielten: man mus die Schafe zwar
schdren, aber nicht schinden; und so weit sie daher auch zuweilen
die Scharung trieben, indem sie den Schafen alle Wolle mit dem
Schwerdte der Themis glat wegrasirten und selbige hernach nakt
wieder laufen liessen: so haben sie sich doch allezeit so sehr
wol bezahmet, daB sie noch niemand wirklich geschunden, son-
dern ieden vielmehr mit ganzer, heiler wiewol unbedekter Haut
10 14 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
von sich gelassen. Was wil Sie sagen, Hebe Frau weisse Frau,
man siehet da auf den Vortheil der streitigen Partheien sogar
dermassen, daB man selten einen Termin zum Vergleiche anstel-
let, bios weil man ihnen die Terminskosten ersparen und erhal-
ten wil; sondern man giebt sich die groste Miihe, ihnen Lust
zu einem vortheilhaften Prozesse einzuflossen: ia wenn er end-
lich eingefadelt ist, so unterliisset man noch nicht, ihn in eine
Lange zu ziehen, welche den Richtern alle Zeit und Gelegenheit
schenket, ihre Entscheidung mit der grosten Behutsamkeit und
Oberlegung abzuwagen, damit ia keine Parthei auch nur zu dem 10
geringsten Schaden komme. Indessen hat mir doch mein Barbier
etwas Sonderbares von den Advokaten mitgetheilet. Er hatte
namlich unter dem Galgen (so sagte er) und an andern Orten
verschiedene Hirnschadel derselben aufgesamlet. Diese Advo-
katenkopfe brauchte er einmal von ungefahr zu grossen Schropf-
kopfen »und zu meiner grosten Verwunderung zogen sie wirk-
lich gut: seit der Zeit bedien' ich mich ihrer ofters, zumal da
ich mit ihnen sowol nasse als trokne Kopfe sezen kan; aber frei-
lich mus ein Advokat erst verstorben sein, eh' man mit seinem
Kopfe die Leute schropfen kan. Ich habe daher oft gewiinscht, 20
man mochte mir hohern Orts die Erlaubnis ertheilen, alien le-
bendigen Advokaten, deren Hirnschadel mir zu Schropfkopfen
brauchbar schienen, die Kopfe zum Besten meines Metier ab-
nehmen und sie zu blutziehenden Werkzeugen verarbeiten zu
diirfen.« So sagte mein Barbier; allein ich fiirchte sehr, daB er
ein wenig gelogen. - Ubrigens solte Sie wissen, daB man von
der Justiz, gesezt man wiirde von ihr auch offenbar mishandelt,
dennoch alles ohne Gegenwehr erdulden wird, wenn man klug
denkt; denn es ist mit ihr wie mit den Blutigeln, welche nur
desto starker saugen, wenn man sie ungliiklicherweise etwan 30
verlezet hat.
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen
bis der Adel daselbst nicht mehr auf seinen Adelsbrief sich mehr
einbildet als ein anderer auf den wahren Adel der Sele, sondern
bis er dem Adel besserer Stadte nachahmet.
ich: Ich gesteh' es Ihr wieder frei heraus, wenn ich von Adel
ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOI5
ware, ich sahe keinen Biirgerlichen gern iiber die Achsel an und
die Herablassung, der ich, wenn ich von ihm borgen wolte,
nicht wol iiberhoben sein konte, wiird' ich wenigstens wieder
dadurch gutzumachen und zu widerruffen suchen, daft ich ihm
nicht das Geringste bezahlte. Ich wiirde sogar mit iedem
Edelman, der den Umgang der Biirgerlichen nicht so streng
vermiede als ich, mein wiziges Gespotte treiben und ihn bei
meines Gleichen einsichtsvol verkleinern. Alle meine vaterliche
Gewalt wiird' ich in Bewegung sezen, urn meine Kinder zu
10 verhindern, sich in den Kaufmans- und Gelehrtenstand herunter
zu verlieren: brachte ich sie dadurch in Gefahr, Hungers zu ster-
ben, so wiird' ich mir schon sehr gut zu helfen wissen und etwan
so zu ihnen sagen: »beruhiget euch, lieben Kinder! Es schadet
euch nichts, wenn ihr verhungert. Aber der Welt schadets, daB
sie so kalt gegen verdienstvolle Leute und insbesondere gegen
euch ist, die ihr soviel Verdienste von euren Vorfahren und
vorziiglich von mir geerbet habt. Indessen schikk' ich euch doch
nicht so ganz hiilflos in die Welt: sondern die adeliche Feder
auf eurem Hute geb' ich euch zu einer guten Stiize in alien Unfal-
20 len mit. Wenn es euch an einem Obdach fehlet, so kont ihr
euch unter euerem Stambaum stellen, der euch Schatten genug
verleihen wird. Hungert es euch, so schauet zu euerem Stam-
baum hinauf; an diesem hangen soviel Fruchte als etwan nothig
sind, euch sat zu machen. Fragt iemand nach dem Reichthume
und den Schazen eures Kopfes: so antwortet nichts, zieht aber
stilschweigends euren Adelsbrief aus der Tasche und langt ihn
dem Manne mit den Worten hin: >sieht er, Heber Freund! wir
haben zwar nichts gelernt und dieser Adelsbrief ist gewisser
massen unser testimonium paupertatis spiritualis; allein eben
30 diesen Adelsbrief konnen wir iiberal stat einer kromischen Pro-
duktenkarte unsers Kopfes aufzeigen und stat eines Tauf- und
Todtenscheins unserer Verdienste. < - Und das hat auch seine vol-
lige Richtigkeit. Denn dieser Brief ist ein Assekuranzbrief \ den
wir von unsern Ahnen haben, welche auf meine und eure Ver-
dienste, fals sie etwan auf der Farth des Lebens Schifbruch leiden
solten, Assekuranz geleistet haben. Oder stellet euch die Sache
10 1 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
noch anders vor. Ihr wisset, ich habe euch oft zum Stolze auf
die Tapferkeit unsers vierten Ahnen (in aufsteigender Linie) auf-
gemuntert, dem im Kriege alle Glieder abgeschossen worden
und dessen holzerne Beine hier vor euch hangen, so wie ihr
iezt auch auf meinem Gesichte ein Denkmal, das ich meiner
sonderbaren Tapferkeit in verliebten Kriegen gesezet, vor euch
habt, namlich meine wachserne Nase. Verlangt nun mein Furst
Tapferkeit von mir: so verfahr' ich so. Mein Adelsbrief ist ein
Wechselbrief; ich bin der Trassierer desselben; mein Ahne ist der
Trassat und der Furst der Prasentant. Sonach zahlet also mein 10
Ahne die verlangte Tapferkeit fur mich aus; da es aber hier vier
Quartiere hinaufgehet, so werde ich wol vier Wechselbriefe stel-
len mussen, einen Prima-, einen Secunda-, einen Tertia- und
einen Quartawechsel. - Endlich, lieben Kinder, musset ihr auch
einen Adelsbrief fur einen Spedizionsbriefhzhen, der die uralten
Verdienste begleitet, die an mich addressiret sind und die ich
weiter zu euch spediren mus und die ihr hernach noch weiter
an eure Kinder befodert. Indessen geht nun! Ich wiinschte wol,
ich kont' euch unsern Adelsbrief an den Hals hangen: denn so
lage doch iedem euer ganzer Werth sogleich offen dar, so wie 20
man aus den Zettelgen, die der Apotheker an den Hals der Arz-
neiglaser befestigt, ohne Miihe ersiehet, daB etwas Heilsames
und Geschmakwidriges in ihnen stekket.«* So wiird' ich, war'
ich von Adel, zu meinen Kindern sagen: da ich's aber nicht
bin, so sage ichs zu Ihr, liebe Frau weisse Frau.
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen
bis dem Schlosser, der meinen Sarg beschlagen, das gar nachge-
* Meines Bediinkens leuchtet es aus dieser langen Rede mehr als zu
wol ein, daB man, weit entfernt, gewissen eben so unzeitigen als unbilli-
gen Satiren auf den adelichen Stolz Gehor zu geben, vielmehr alles an-
wenden soke, den Ahnenstolz noch mehr zu unterhalten und anzufri-
schen; und iedem Edelmanne soke, eh' er furstlicher Page wird, zu
wiederholten malen eingescharfet werden, daB er ein Wesen ist, das
sich von einem Biirgerlichen in allem, in korperlichen und Selenkraften,
in der Kleidung und sogar in der Orthographie ganz besonders unter-
scheidet.
ERSCHEINUNG DER WEISSEN FRAU IOI7
zahlet wird, was er dariiber zuviel gefodert und was man ihm
unbilligerweise abgebrochen.
ich: Dafiir werd' ich sorgen: denn ich wil hoffen, daB Sie,
als ein Geist, nicht Kiget. Unwahrscheinlich komt mir diese Ab-
brechung freilich vor: denn in der gedachten Stadt ist es sonst
eine algemein beobachtete und gewis nicht unverniinftige Ge-
wohnheit, den Arbeitern des Sarges gar nichts abzubrechen,
sie mogen noch so viel dariiberschlagen, weil' man aus vielen
Erfahrungen gefunden, daB im Falle des Abbruchs alzeit iemand
10 nachgestorben. Auch gereichet diese Gewohnheit so wol den
Arbeitern, die iibersezen, als auch den Leidtragenden, welche
iibersezet werden, zum grosten Vortheile und Ruhm.
die weisse frau: Ich kan nicht ruhen und werde nicht ruhen
bis alle diese Foderungen zusammen erfiillet und vorher zu Je-
dermans Wissen in dem Hofer Intelligenzblatte bekant gemacht
werden: denn dieses wird auch auswarts gelesen.
ich: Wenn Sie auf die Erfullung Ihrer Foderungen passen wil:
■so besorg' ich, Sie gehet wenigstens so lange herum als der
ewige Jude. . . .
20 Jezt fieng es an zu lauten. Die weisse Frau verschwand. Ich
fiel in Ohnmacht und wurde von vier Alumnen (denen ich dafiir
in meinem Testamente, wenn sie geistlich studieren, ein schones
Legat vermachen werde) fur tod aus der Kirche geschleppet.
Und noch iezt machen mir weder meine Erben noch mein Dok-
tor Hofnung zum Aufkommen, zumal da der heftige Durchfal,
den meine Furcht mir zugezogen - vor der Erscheinung war
ich drei Tage festen Leibes und sie hob sonach meine Verstop-
fung und meinen Gespensterunglauben auf einmal - mehr zuzu-
nehmen als nachzulassen scheint. Ich wiinschte sehr, noch im
30 alten Jahre Todes zu verfahren, damit das Leichenbegleit hubsch
ansehnlich ware, wenn ich am Sontage nach dem neuen Jahre
mich mit einem ganzen Chore begraben Hesse. - Schliislich thut
es mir leid, daB ich so drohen mus; aber ich kan wahrhaftig
nicht anders: wenn man namlich in der gedachten Stadt den
obigen Foderungen der weissen Frau nicht binnen meinem
Kranksein wilfahret; so gen' ich, sobald ich tod bin, ebenfals
IOl8 JUGENDWERKE • }. ABTEILUNG
herum und zwar vielleicht in Geselschaft der weissen Frau. Ich
werde sie dan am rechten Arme fiihren und auch als Gespenst
so gehen wie ich Zeit meines ganzen Lebens gieng - namlich
ohne Kopf.
J. P. F. Hasus.
VOM KAUFMAN VAGEL
Fragmente ftir den kiinftigen Biographen seines Lebens.
Dieser Kaufman war eine sonderbare Zierde unserer Stadt und
ich wiinschte, daB er nicht tod ware: seines Gleichen bekomt
sie wol sobald nicht wieder. Schon eh' er in die Welt getreten
war, weissagte der Nativitatsteller der hiesigen Gegend, daB
er sich entweder auf das Handeln oder auf das Stehlen legen
wiirde; und seiner Mutter traumte im lezten Monate ihrer
Schwangerschaft, daB sie eine Misgeburt unter dem Herzen
io triige, welche gleich dem Riesen Geryon nichts hatte als Hande
und nichts thate als nehmen. Seine Warterin hat mir erzahlet,
daB er sich nicht wie andere Kinder durch den Schal und durch
Klappernbesanftigen lassen, sie miisten denn von Sf/fcergewesen
sein. Seine kleinen Briider betrogen zuweilen, gaben aber zu-
weilen auch den Armen ein Almosen; er hingegen stahl niemals
und schenkte niemals und hielt weder auf Betrug noch auf Mit-
leid sonderlich viel; er billigte es daher in seinen altern Jahren
sehr, daB die Obrigkeit hie und da nicht bios das Stehlen, son-
dern auch das Almosengeben untersagte. Er pflegte oft zu sagen:
20 »man mus die Hand alzeit geofnet aus dem Beutel Ziehen, so
wie aus dem Klingelbeutel.« Einmal sagte er sogar: »die Natur
hat das menschliche Herz in einen doppelten Beutel gethan, in
den Herzbeutel und in den Geldbeutel.«
Acht Wochen vor seinem Tode war ich an einem schonen
Sommerabend mit ihm in seinem Gartenhaus beisammen. Das
Gefuhl der Schonheiten um mich her lies ich in eine Lobrede
auf das menschliche Schiksal ausstromen: wenn ia, sagte ich,
unser Leben eine Pilgrimschaft sein sol, so ist sie doch so
ang[e]nehm wie eine Walfarth nach Maria TaferL Da ich endlich
30 fertig war, sagte er gelassen, indem er die Pfeife anblies: »Ach
ia! es war' alles noch gut, wenn nur die Natur die Diatengelder
IO20 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
fur unsere Reise durchs Leben nicht so gar karg zugeschnitten
hatte. «
Folgender Zug von ihm hat mich immer besonders frappirt.
Er lag im zwolften Jahre an den Blattern darnieder. Der Arzt
erzahlte einmal (und er horte es mit) daB in der Babarei die
Blattern, welche man zum Inokuliren nahme, gewohnlich mit
Konfituren oder Niissen bezahlet wiirden. Das merkte sich un-
ser VageL Zwei Tage darauf wolte man ihm etliche Blattern
ablosen, um sie einem Nachbarskinde einzuimpfen: aber er wei-
gerte sich, dieses zuzulassen und stelte bestandig vor »so ganz t
gratis konne man wol die Blattern nicht von ihm begehren:
sie waren seine einzige eigne Manufakturware und er hatte sie
mit vieler Muhe und Plage auf seinem Leibe hervorgetrieben:
er gedachte vielmehr mit seinen Blattern einen kleinen Handel
anzufangen.«
Er begrif weiter nicht schwer; aber das Rechnen wurd' ihm
doch am leichtesten. Indessen halt' ich dafiir, daB es besser ist,
wenn der Mensch nicht rechnen kan: wenigstens trug es einem
gewissen Hern zwei tausend Gulden ein, daB er sich auf die
Arithmetik wenig verstand. Denn auf soviel ungefahr belief sich 20
der Verstos, den er in der Rechnung gemacht hatte, die er iiber
Vormundschafts- und andere Gelder fiihren miissen. Freilich
zulezt wurde er iiber diese Verrechnung gerichtlich zur Rede
gestellet; allein er nahm mich zu seinem Advokaten an und ich
machte die Sache aufs Beste. In seiner Vertheidigung, die ich
einreichte, legte ich ihm ungefahr die Entschuldigung in den
Mund, »daB er fur seinen Rechnungsverstos wenig oder nichts
konne; denn nicht mit seinen Fingern, sondern mit der neuen
Rechenmaschine des H. Hahn, die ihm theuer zu stehen gekom-
men, hab' er die Rechnung iiber viel besagte Gelder gefuhret. 30
Habe nun diese einige Fehler (wiewol er seines Orts hieran noch
stark zweifele) zu Schulden kommen lassen: so wisse man ho-
hern Ortes wol, daB nicht er dafiir zur Strafe zu ziehen sei,
sondern die Maschine oder auch H. Hahn, der sie so schlecht
gemacht und es konne wirklich nichts schaden, wenn man be-
sagten H. Hahn gerichtlich anwiese, kiinftighin Rechenmaschi-
VOM KAUFMANS VAGEL 1 02 1
nen zu liefern, welche sich nicht um zwei tausend Gulden frank,
verrechnen. Er aber lebe vielmehr der Hofnung, die Zufrieden-
heit seiner Richter eben durch die Uneigenniizigkeit verdient
zu haben, daB er eine Rechnung, worin ieder freiwillige Verstos
seinem Beutel fremde Schaze zuleitete, doch nicht selber uber-
nommen, sondern sie lieber einer unpartheiischern Maschine
ganz iiberlassen wollen.«
Indessen hatte sich unser guter Kaufman Vagel beinahe in
seinem acht und zwanzigsten Jahre seiner Geliebten wegen
io durch einen Schus aus der Welt geschaft; nicht, weil er sie nicht
bekommen konte: sondern weil er sie bekommen hatte; denn
da er nachrechnete, fand er, daB sie ihm nur kaum die Halfte
von dem Brautschaz zugebracht, den er von ihr erwartet hatte
und daB ihre Anverwandten ihn schandlich betrogen, welche
ihm seine Frau weit reicher und dummer abgemalet hatten als
sie wirklich war. »Und Geld ist doch, sagte er, das Agio, das*
die Frau dem Manne geben mus, weil sie nicht volwichtig ist. «
Es ist eine sehr bewahrte Anmerkung, daB der Man von Genie
sich dem Fache, fur das er geboren worden, immer mit unge-
20 theilten Kraften weihe und alles andere, was nicht darein schlagt,
mit Gleichgultigkeit und Verachtung vernachlassige: selten fin-
det man diese edle Partheilichkeit fur eine Wissenschaft ohne
die Begleitung von vorzuglichen Anlagen zu eben dieser Wis-
senschaft und ich bin selbst ein auffallender Beleg zur Wahrheit
dieser Bemerkung. Ich ausserte namlich in meiner Jugend (und
noch immer) eine so sonderbare Gleichgultigkeit und vielleicht
Abgunst gegen die Moral, daB ich alle meine Bekante veranlaste,
mir vorzuglicheTalentezur/wn'-spfWettzzu weissagen: nun find'
ich doch wirklich, daB dieses eingetroffen; denn ich bin einer
30 der geschiktesten Juristen geworden, die ich kenne. Eine alte
Zigaunerin prophezeiete aus meinem thatigen Hasse gegen die
Moral auch noch dieses, daB ich durch meine Geschiklichkeit
zwar viele Diebe vom Galgen retten wiirde, allein nur mich
selbst nicht: ich glaube aber, diese Weissagung lasset sich mit
der meiner Freunde noch wol zusammenreimen; denn der giil-
tigsteTitel, den einer zum Namen eines geschikten Juristen auf-
1022 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
zuzeigen haben kan, ist eben das, wenn man algemein von ihm
ruhmt, daB er verdiene, gehangen zu werden. - Eine solche
Vorliebe hatte nun unser Vagel fur die Kaufmanschaft gerade;
er fand wenige Dinge in der Welt seiner Achtung und Liebe
so wiirdig als den Handel: diesem widmete er alle Krafte seines
Korpers und seiner Sele; diesem zu[ge]fallen gab er sich mit
einigen Wissenschaften ab, weil sie auf ihn sich bezogen, stat
daB er fur die ubrigen schwerlich einen hollandischen Pfeifenstiel
gegeben hatte (daher waren auch die Gelehrten die gewohnli-
chen Gegenstande seiner gerechten und lauten Satire und von 10
seinem Ladendiener hegte er heimlich eine ganz andere und bes-
sere Meinung als von mir); und dem Handel endlich schlug
er kein Opfer ab, so gros es auch war, selbst wenn mit demselben
die Religion in Streit gerieth, lies er niemals ihn den Kurzern
ziehen. Mich diinken dies Ziige zu sein, aus welchen der Man
von Genie satsam hervorleuchtet, der fur nichts in der Welt
warm ist als fur das Fach, in das seine Krafte passen.
Man horte aber gar noch folgende Inauguraldisputazion, die
ich einst mit ihm hatte. Unsere Unterhaltung hatte gerade die
vertraulichste Wendung genommen, wie ich denn aus dem 20
Armsessel mich auf den Arm desselben begeben hatte, wo ich
wie auf einem Quersattel sas, als wir unser Gesprach tiber den
Himmel (und dessen Haus), der dem Menschen auf dieser Welt
beschieden ist, wenn er in einer Kutsche sizt, fahren liessen und
uns von dem Himmel unterhielten, worunter oder worein der
Mensch in der andern Welt zu kommen hoft. Hier lies er sich
merken, daB er seines Orts ganz andere Begriffe von den Freu-
den der Seligen hege als die sind, welche die Kanzel davon giebt.
Mit horbarer Uberzeugung bat er mich, es ihm doch unverholen
zu sagen, ob ich nicht selber innerlich die verlachte, welche un- 30
sere ganze ewige Seligkeit in ein immer wahrendes Singen,
Harpfen und Musiziren sezen. »An einer solchen Seligkeit, solt'
ich meinen, konnen nur Kapelmeister einiges Vergniigen finden:
was aber die ganze dasige ansehnlichere Kaufmanschaft anlangt,
so wil ich wetten, daB ihr dieser harmonische Himmel gar nicht
gefallet. Furkaufmannische Ohren kan auch (iberdies der himli-
VOM KAUFMANN VAGEL 1023
sche SilberklsLng wenig Reize haben: sie sind schon an den bes-
sern Goldkhng auf der Erde verwohnt. Und was sagen Sie dazu:
warum sollen im Himmel denn bios meine Ohren belohnet
werden, da ich doch auch mit andern Gliedern gute Werke ver-
richtet zu haben hoffe?« Am Ende dieser Frage zog er die Ach-
seln und schnalzte mit der Zunge ein vernehmliches Mitleiden
mit dem hiesigen Nachmittagsprediger. Er muste indessen ein
wenig auf meine Antwort warten, weil ich beschaftigt war,
meinen uber die Knie hinausgebognen Kopf unverriikt zu hal-
io ten, um den Abflus meines Speichels nicht in seinem Falle zu
unterbrechen. Endlich sagte ich aber: das wisse ich wol, dafi
nicht bios seine Ohren den Himmel zu erben verdienten, da
auch seine andern Glieder from gewesen; ich selbst wiirde kiinf-
tighin, wenn ich in Noth geriethe, von seiner Zunge manche
wolthatige Unterstiizung empfangen. Allein nur den Abscheu
vor der Musik, den fand' ich an den Kaufleuten und an ihm
sclber nicht: ich berief mich deshalb auf die ansehnliche Pranu-
merazion derselben zu den hiesigen Winterkonzerten. Auch
verhehlte ich ihm mein Befremden nicht, daB er von der Musik
20 so reden konnen, da er selbst die Konzerte mit den starksten
Beitragen und mit den haufigsten Besuchen beehret habe. Hier
crsuchte er mich mit einiger Heftigkeit, ihn an diese so verhaste
und so oft bereuete Ubereilung nicht mehr zu erinnern, fur die
er ohnehin weniger [Blattschlur]]
Ober meine schlechte nahrung
Ich wiinschte, in meinem Wohnorte war* es etwan so wie in
Hof; und es kan sich doch vielleicht nach dieser Stadt bilden,
wenn ich es ihm hier offentlich vorwerfe. Ich mus mich namlich
ohne Scheu beschweren, daB ich alzeit an meine Obere denke,
wenn ich esse; selten ist meine Nahrung so gut, daB ich mich
des hiesigen Adels dabei gar nicht erinnerte. Denn ware kein
Adel hier, fehlte es uns an obern und untern Polizeibedienten
vdllig und hatten wir keine Leute, die iiber die Fleischer herschen
konnen: so durft' ich mich nicht bios von den Vordertheilen 10
des Schlachtviehes erhalten, ich asse zuweilen etwas fettes und
schmakhaftes und am vorigen Sontage hatte ich mit einer Och-
senzunge meine eigne lezen konnen. Aber da der Herr***
hier weilet, der ein guterLykurg und Gesezgeberfiir die Fleischer
ist: so war die-Zunge schon in seinem Topfe, eh' ich sie begehrte;
auch glaubt' ich seinem Munde, der auf dem Rathhause so viel
zu sagen hat, die Ochsenzunge von Herzen gonnen zu m lis sen.
Wer sonach in meinem Wohnorte kein Amt verweset: der ge-
langt zu keinem guten Bissen und ich bin, da ich von Tag zu
Tag magerer werde, schon oft auf den Gedanken gerathen, 20
wirklich nach einem Ehrenposten zu trachten, um so wol das
gemeine Wesen als meinen Magen vollig zu begliikken.
Frisch ordnete die Thiere nach ihren Nahrungsmitteln; ich
glaube, es sind einige Wochen, daB ich die Honorazioren unserer
Stadt nach der Verschiedenheit ihrer Kost klassifiziren wollen.
Und in der That, wenn man einen geschlachteten Mastochsen
lange und genau betrachtet, mus man nicht bekennen, daB er
einen volstandigen Addreskalender vorstelt, wie etwan der
Hechtskopf eine ganze Passionshistorie? »Jenes Stiik dort, das
wol das beste sein mag - sag' ich oft, wenn ich zusehe - ist 30
fur den Herrn*** geschaffen; dieser ganz gute Ballen ist das
UBER MEINE SCHLECHTE NAHRUNG 1025
Agio des Herrn**; was den Brustkern anlangt, so ist der der-
massen fet, daB sich irgend ein Diener der Polizei ihn zueignen
darf . « Und so entspricht iedes gute Glied des Viehes ordentlich
einem guten Gliede des gemeinen Wesens; das Magere fallet
denen anheim, die keinen Amtern vorstehen und ich kan mich
mit einigen Knochen behelfen, die ich baar bezahle, stat daB
Hohere das Fet sich borgen diirfen.
Indessen, meine Herren, hab' ich zwar nicht vier Magen, aber
Einen liihr' ich doch wirklich; und der verlangt ohne Bedenken
10 Fleisch, das fur die beste Welt sich schikt. Da ich und der Konig
Eine Woche alt waren: so nahmen wir beide mit derselben Nah-
rung vorlieb, namlich mit Milch; iezt sind wir zwar beide er-
wachsen und machen unsern Anverwandten die groste Ehre:
aber unsere Magen solten sich demungeachtet nicht von einan-
der trennen und der Konig von Spanien mus entweder einige
. von seinen hundert Schiisseln fahren lassen, oder ich fange an,
die meinigen zu vermehren. Seine Sele sucht sich nicht von mei-
ner durch eine bessere Nahrung auszuzeichnen; warum wil sein
Korper dadurch sich iiber meinen erheben? Das, was ich vom
20 Konige von Spanien iiberhaupt gesagt habe, wend' ich iezt auf
unsere Honorazioren an, auf die es vollig passet.
Dazu verdienen diese in andern Dingen sonst diesen Tadel
gar nicht. Sie suchen durch keine ekle Wahl der Kost fiir ihre
Sele sich vor dem Pobel auszunehmen; sie lassen sich gern mit
dem ersten besten Buche abspeisen und wissen es wol, daB die
wahre Demuth von ihnen fodere, in der Ernahrung des Geistes
sich willig von denen tiberholen zu lassen, die keine Amter ha-
ben. Eine so edle Denkungsart liesse etwas erwarten; und doch
trachten eben diese Personen, die gewis nicht zur Unterhefe
30 des Pobels, sondern zur Qber- oder Spundhefe des gemeinen We-
sens gehoren, den Pobel, dem sie Vorzuge des geistigen Frasses
nicht misgonnen, durch den leiblichen zu (iberbieten und pralen
mit keinem andern Theile ihres Wesens als mit dem schlech-
tern.
Freilich ist das Essen etwas, wodurch sich die hohern Stande
besonders hervorthun miissen; wo die Weisheitszahrte ausgefal-
1026 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
len, da kan die Speise nie zu weich und kostlich sein und dem
Konige in Frankreich wird sogar - weil dies alles wahr ist -
noch einige Zeit nach seinem Tode Essen vorgesezet. Allein
wenn ich etwas Gutes geniesse: so bitt* ich mein ganzes Haus
dazu zu Gaste und es schmekt mir allein sehr schlecht; bei den
Manichaern war es daher ein Ordensgesez, nie allein zu essen.
Warum wollen nun die Vater unserer Stadt nicht uns, die wir
ihre wahren Kinder sind, einen Theil ihrer guten Bissen mit
vorlegen? Allein sie sagen zu uns, was Augustin in Riiksicht
des Abendmals empfiehlt: crede - et manducasti. Sonst stromet 10
von den Bergen den Thalern fette Erde zu; aber im gemeinen
Wesen werden die Thaler von den Bergen nicht gemastet, son-
dern ausgesogen!
Was die Edelleute anlangt, so solten diese selten etwas gutes
zu sich nehmen und iiberhaupt sehr karg leben. Denn da es
wol die Geschafte der meisten Edelleute verlangen, den ganzen
Tag hindurch nicht wenig zu schworen - bald deferirt ihnen
der Kutscher das juramentum credulitatis, bald der Jagdgenosse
das purgatorium, bald ieder das suppletorium - und da man
doch nach dem Gerichtsgebrauche nur nuchtern schworen darf: 20
so konnen sie nicht selten genug essen, um oft genug ihre Eide
zu leisten. Allein an diesen wichtigen Punkt denkt, wie es
scheint, kein Mensch.
Die grosten Philosophen ziehen die Hofnung dem Genusse
vor; und in der That findet ieder grosseres Vergniigen an der
Hofnung als andemEmpfangedesGeldes. Daher wird einMez-
ger weit mehr von vornehmen als geringen Personen ergozet;
denn iene lassen ihn Geld schon erwarten, diese geben es ihm
bios und er bedienet daher die erstern weit besser als die leztern.
Man siehet wol, dafi die Schuld meiner schlechten Nahrung 30
auf mich selbst mit fallet, weil ich sie zu selten borgte; und
wahrhaftig in Zukunft durft' ich kliiger verfahren und so gut
nichts bezahlen, als wenn ich von Adel ware.
Ach! wenn ich meinen Magen mit meinen Kentnissen ver-
gleiche und an das alte Testament und die Honorazioren denke:
so ruf ich aus: sonst brachten die Raben den Propheten Speise,
UBER MEINE SCHLECHTE NAHRUNG IO27
iezt aber stehlen sie ihnen selbige sogar. - Und das sogar Raberi,
die in weissen Kleidern gehen.
J. P. F. Hasus.
[MENSCHEN SIND MASCHINEN DER ENGEL]
Wenn wir sehr aufgeklaret sein musten, um die stolze Einbil-
dung aufzugeben, daB die ganze Welt bios unsertwegen existire
und daB die Sterne in der That nichts anders als die messingen
Hirnmelknopfe waren, welche an der Himmelhaut der Kutsche
oder Welt, die uns fahret, glanzten: so mag es noch weit mehr
Erhellung unserer Kopfe bediirfen, eh' wir uns bereden lassen,
daB wir bios gewisser hoherer Geschopfe wegen hienieden le-
ben, die wir Engel nennen und daB diese die wahren Bewohner
dieser Erde, wir aber nur der Hausrath derselben sind. Inzwi- 10
schen ist es rrieine Absicht, von diesem leztern Saz so gut als
moglich Beweise darzulegen: ich wiinsche wahrhaftig, daB eine
Behauptung iedem einleuchte, die so sehr geschikt ist, unsere
wahre Bestimmung ans Licht zu bringen, unserm Stolze zu ge-
bieten und den Begrif vielleicht ein wenig zu erhohen, den die
Welt von mir hat.
Die Thatigkeit, in der wir auf dieser Erde sind, die Handlun-
gen, die wir zu Stande bringen, tragen insgesamt so wenig zu
unserm Wole bei, daB man langst hatte zweifeln sollen, ob denn
unsere Geschaftigkeit bios unsern eignen Absichten diene: wie 20
augenscheinlich ist es, daB diese Amsigkeit, die wider unser
Gluk anlauft, dem Glukke anderer Wesen frohnet, deren Hande
uns als Werkzeuge fuhren! Als ich vor einigen Jahren in meine
Schreibtafelschrieb; »du kraftloser Schatte, armes Menschenge-
schlecht, in der Welt, wo du allein zu schalten wahnst, drangen
und bewegen sich tausend unsichtbare Hande, welche die deini-
gen nur stat der Handschuhe gebrauchen!« so sah ich noch nicht
ein, welch ein weiterer und wahrerer Sin in dieser Metapher
liege! Denn es ist keine poetische Redensart, sondern kahle nakte
Wahrheit, daB wir Menschen blosse Maschinen sind, deren sich 30
hohere Wesen, denen diese Erde zum Wohnplaz beschieden
worden, bedienen.
MENSCHEN SIND MASCHINEN DER ENGEL 1029
Als die Engel unsere Erde zuerst betraten: so hatten sie noch
bei weitem die unzahligen Menschenmaschinen nicht, zu denen
sie sich iezt Gliik wiinschen konnen; nach und nach erst erfanden
sie [bald] diese bald iene Maschine oder wie wir zu sagen pflegen,
Menschen, bis almahlig die Zahl ihrer Maschinen so heran
wuchs, daB sie iezt fur alle Bedurfnisse die herlichsten Maschi-
nen oder Menschen zeigen.
Ein Engel verfertigte auch, wiewol mehr der Seltenheit und
, des Vergniigens als des Nuzens wegen, herliche Schachmaschir-
io nen und ieder meiner Leser mus dergleichen Wesen gesehen
haben, die das Schach, ohne das geringste Zuthun eines Engels,
bios durch einen Mechanismus, der in ihrem Kopfe angebracht
ist, spielen konnen; sie bewegen den rechten Arm von selbst,
sie schiitteln sogar - das ist unerhort - den Kopf zu einem fal-
schen Zuge des Gegners und thun, wenn der Konig schach mat
ist, um alles in der Welt keinen Zug mehr. Der Leser wird leicht
wahrnehmen, wie ahnlich dies en Schachmaschinen die bekante
ist, die H. v. Kempele erfand und die man wol gar bewundert;
ich glaube aber, es ist ausserordentlich leicht, etwas nachzuma-
20 chen, wenn man ein volkommenes Model schon vor sich hat
und den Ruhm einer Erfindung an sich zu reissen, wenn ein
anderer ihn erworben. H. v. Kempele war so gluklich, sich an
lebendige Schachmaschinen, die die Engel schon ganz ausgear-
beitet hatten, halten und sie in der seinigen nachkopiren zu kon-
nen, was Wunder, daB es ihm gerieth, da es ein Wunder gewesen
ware, hatte es ihm fehlgeschlagen. Demungeachtet bleibt auch
immer ein gewaltiger Unterschied unter beiden Maschinen und
das Werk des Engels sticht iiber das eines Menschen bei weitem
hervor. Jenes besteht aus Fleisch und Blut - das Blut kan kein
30 Chymiker nachmachen, dieses aus blossem Holz und einem
Metalle.
Die Engel waren es lange iiberdrussig, s[elbst] zu beten; sie
sahen wol alle ein, daB es einerlei ware, ob man mit seiner eignen
oder einer fremden Stimme, ob man mit seinen Sprachwerkzeu-
gen oder mit einer andern Maschine betete; allein sie konten
die Maschine [nicht] erfinden, die an ihrer stat betete. Endlich
IO3O JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
brachte einer - wiewol einige mehrere angeben und Leibniz und
Newton streiten noch urn die Ehre des ersten Einfals - eine
zusammen, die noch besser war als man sie verlanget hatte.
Ein Engel, der beten wil, giebt bios dieser Maschine einen Stos,
so fangt sie an, ein schones Gebet abzutonen, das der Engel
sich zurechnet. Ich wil iibrigens damit nicht von den Kalmukken
stilschweigends behaupten, dafi sie die Erfindung der Betma-
schine von den Engeln gestohlen; sie konnen gar wol auf densel-
ben Einfal gerathen sein, ungeachtet er schon tausend Jahr in
der Welt war, wie wir das Pulver erfanden, ungeachtet es die 10
Sineser schon hatten.
Vor einigen Jahren wurde von H. Changeux in Paris (Magazin
des Buch- und Kunsthandels 12 St. 1780) der sogenante Baro-
metrograph erfunden, der die Veranderungen der Schwere der
Luft nicht bios wie ein gewohnliches Barometer angiebt, son-
dern sie auch auf eine Woche lang Tag und Nacht aufschreibet:
diese Maschine sol, wie es nur zu deutlich scheint, die Gelehrten
brodlos und entbehrlich machen, die bisher die Buchhalter der
Atmosphare waren und von iedem Tage eine Biographie ausfer-
tigten. Ich glaube aber schwerlich, dafi der Barometrograph des 20
Changeux den Barometrograph der Engel verdrangt. Denn
diese Barometrographen, die sich von den Engeln herschreiben,
- die Gelehrten - sind viel besser. Die Maschine des Ch. ftihret
iiber die Veranderungen der Luft das Protokol nur 8 Tage lange;
die Maschinen der Engel hingegen sezen diese Niederschriften
so lange, als sie zusammengefugt verbleiben, fort und man hat
Gelehrte aufzuweisen, die noch im achtzigsten Jahre "d[em]
Barometer nachschrieben. Dazu geben die Gelehrten - welches
die [Maschinen des Ch.] offenbar nicht konnen - die Wetterbe-
obachtungen hernach in den Druk. 30
Die Maschinen der Erde miissen fast alzeit den Maschinen
der Engel den Vorrang lassen und man thut ienen nicht zu viel,
wenn man behauptet, daB sie, so wie die Schonheiten der Erde
nach Plato blosse Abdriikke der Schonheiten im Himmel sind,
MENSCHEN SIND MASCHINEN DER ENGEL IO31
blosse Nachahmungen und schwache Kopien der Maschinen
sind, die die Engel erdacht: ienes Frauenzimmer z. B., das Kla-
vier [spielt], ist hochstens eine glukliche Kopie der weiblichen
Maschinen, die das Klavier schlagen und die Tone mit Bewe-
gungen begleiten, die offenbar Riihrung zu verrathen scheinen.
VORREDE[*]
Wahrhaftig dieses Leben ist zu wichtig als daB ich lang an der
Vorrede kunsteln und zimmern diirfte; zumal da ich sogar schon
eine Viertelstunde iiber ihren Anfang nachgesonnen.
Oft wenn ich in denen Kreisen Deutschlands, fur die dieses
Buch etwan geschrieben sein mag, herumgieng, rief ich aus,
daB einige es horten: wenn komt der Dadalus, der den Statuen,
die hier im Lehr-, im Wehr- und im Nahrstande theils zum
Nuzen theils zur Freude aufgestellet stehen, die Augen of net
und die heruntersinkenden Hande aufrichtet! Noch ist der Da- 10
dalus nicht da; noch ist vielleicht nicht einmal sein Vorlaufer
da und da man diesen Landern gewisse Wahrheiten offenbar
noch nicht hundertmale geprediget: so kan man von ihnen auch
gar nicht begehren, daB sie selbige schon annehmen. Biicher
wie dieses gehoren unter die ersten Schneeflokken, die nach
einem Augenblikke zergehen, welche aber doch die Unterlage
derer sind, die langer bestehen. Der Himmel lasset dan almahlig
mehrere Biicher auf dergleichen Lander fallen, die sie fruchtba-
rer und warmer machen und auf einen guten Friihling vorberei-
ten. 20
Verschiedene wiirdige Manner, die in verschiedenen Amtern
und Wissenschaften arbeiten, haben sich der Ausbildung dieses
Biichelgens unterzogen; was mich anlangt, so sieht man nur
gar zu wol, daB ich mich darin zum kurzweiligen Rathe brau-
chen lassen, welches, wie es scheint, mein Beichtvater nicht
mehr leiden wil.
Da die Rezensenten iiberhaupt geschikt sind und daher sich
iiber die englischen Hunde weit genug erheben, bei denen es
ein Fehler ist, das Wild am Kopfe anzufallen: so ahmen sie diese
Hunde wenig nach und sezen ohne Bedenken dem Buche, wenn 30
[* Zu den »Mixturen fur Menschenkinder aus alien Standen« (1786).
Die Vorrede wurde nicht akzeptiert.]
VORREDE 1033
es ihnen keine andere Blosse giebt, am Kopfe oder Titel zu,
woran sie mit ungemeinem Gliikke zerren. Gliiklicher Weise
giebt unseres ihren Zahnen mit andern unbewahrten Stellen so
viel zu thun, daft sie den Titel wol entrathen konnen, der sonst
gut genug ist: denn an unsern Mixturen - leider trit iezt ieder
Autor mit einem Kongresse aller Wissenschaften auf und die
Mixturen haben sich aus den Apotheken in die Buchladen ge-
fliichtet - mag vielleicht die Verschiedenheit der Ingredienzien
von der Verschiedenheit der Apotheker, die sie praparirten, ent-
10 schuldigt werden.
Obrigens darf ich hoffen, daB uns niemand die eben so bos-
hafte als lacherliche Absicht zutrauen werde, mit diesen Mixtu-
ren irgend eine lebendige Sele auf Gottes Erdboden heilen zu
wollen: wenigstens glauben wir ein so verdachtiges Zutrauen
durch die Miihe gar nicht zu verdienen, die wir anwenden, die
Gesundheit einiger Menschen algemein glaublich zu machen,
indem wir es ieden sehen lassen, daB unsere Mixturen wenig
oder nichts gegen sie verfangen: denn das ware eben sehr gut
und so wie es ein Zeichen der korperlichen Gesundheit der Rasen-
20 den ist, wenn die starksten Arzneien sie nicht sehr angreifen,
so wiirde es noch weit mehr ein Beweis ihrer geistigen sein und
es soke mich dieses freuen.
Unter den Arbeitern dieses Buches hat keiner gelogen als et-
wan zuweilen ich und sogar das nur zum Spas. Alle Beispiele
des Unsins und der Bosheit, die wir hier erzahlet haben, sind
leider nicht auf unserem, sondern auf dem Miste gewachsen,
der von ieher das menschliche Unkraut zeugte und diingte und
wir konten wenn es nothig ware, alle beigebrachten Thatsachen
mit volwichtigen Beweisen versorgen. Zu wiinschen war' es
30 daher sehr, - und wir ersuchen selbst darum, da wir es vergessen
haben, weil man Namen schlecht merket - daB ieder, von dem
hier etwan eine schlimme oder einfaltige Handlung mitgetheilet
wird, es selbst bekant und glaublich machte, daB man ihn ge-
meint, und sich dabei ordentlich nente: so etwas wiirde ihm
keine Schande, uns aber viele Ehre und beiden doch wirklichen
Nuzen bringen.
1034 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
Freilich-und darauf schieb* ichs eben grostentheils, daB diese
Vorrede mcht unsterblich wird - bleibt es immer das schlimste
bei der ganzen Sache, daB dieses Buch alsdan auf gar kein Land
passet: denn em Land, wo nicht die Kopfe, sondern die Ohren
gros sind, wo es keine Prozesordnung giebt, wo die Kehle der
Juden das Sprach- und Horrohr in den Kollegien ist, wo die
schonen Kiinste unter die verbotenen und die verlornen geho-
ren, wo einige Obere gerade so wenig Verstand besizen, daB
sie siindigen konnen und wo man Leibes Nahrung und Noth-
durftso sehrliebt, daB die Leute Christum, wenn er die Besesse- 10
nen noch einmal heilte, anflehen wiirden, ihre Saue doch mit
den Teufeln zu verschonen und diese lieber, wenn es ia keine
andere Auskunft gabe, etwan in sie selber ziehen zu heissen -
em solches Land sag' ich, ist ein Ding, das man wol in Utopien
oder auf dem Uranus, aber gewis nicht auf unsern Spezialkarten
auftreiben wird und ich habe es wenigstens bisher noch immer
fruchtlos aufgesucht.
Inzwischen so ziehedennhin, liebes Kind, und wenn du einen
Menschen auf deinem Wege ausfundig machst - es steht iedoch
nicht zu hoffen, da Diogenes nicht einmal mit der Laterne einen 20
auskundschaften konnen - so griisse ihn von unsertwegen sehr.
Wenn du aber einem Edelman begegnest, so stelle dich an
als ob du dich besser als irgend iemand auf die Jagd- und Forst-
gerechtigkeiten, desgleichen auf das peinliche Recht und die
schwarze Kunst verstiindest, damit er dich sehr wol ausstehen
kan. Tragt er gar einen Stern: so nenne denselben eine wahre
Nebensonne des Fiirsten und einen richtigen Stern der Weisen,
wenigstens spreche ziemlich deutlich vom Perihelium.
Es ware freilich ein Ungluk, wenn du auf einen Rezensenten
trafest: geschieht es aber einmal, so halte einen solchen Tag fur 30
einen ungluklichen, wie die Romer es machten, wenn ihnen
ein Verschnittener zuisties; inzwischen bitte den Kapaun dennoch
zu krahen und uns wie dem Petrus unsere litterarischen Sunden
zu Gemuthe zu fiihren.
Wenn du auf einen Hofman gerathst: so thue als wenn du
ein wenig lacheltest und iibrigens gar nichts verstandest.
VORREDE IO35
Wenn du einen Theologen inne wirst: so bete einen guten
Feuersegen.
Keinem schlechten Juristen wirst du nicht begegnen; denn
diese lesen wenig: wenn du daher nur auf einen gewohnlichen
Advokaten stossest, so ertheil' ihm einen Trost und such' ihn
zu bereden, daB seine Furcht vor dem Hangen in effigie in der
That eine leere Tauschung ist, weil die Geseze einen Man, den
sein entkraftetes Gehirn urn alien seinen Willen gebracht, we-
nigstens nicht mit Vorsaz hangen.
Holet dich ein Esel ein: so gieb dich fiir keineii Evangelisten
aus, da mit er dich nicht als dein Thier begleite, gesteh* ihm
aber, daB die Menschen die Herschaft iiber die Thiere langst ver-
loren haben.
Komt dir endlich ein Hase nach: so sag' ihm zum Spasse mei-
nen Namen
J. P. F. Hasus.
ZEITUNGEN
Ich habe es oft in meinen iungern Jahren gesagt, daB die Zeitun-
gen etwas Gutes sind; aber ich konte es nicht glauben bis iezt.
Eine Zeitung soke ieder lesen und sie schikt sich fur den grosten
Theil der Menschen. Ein Mensch, der iiber einer Zeitung sizet,
hat immer den Vortheil, daB er gedrukte Buchstaben, die in
der Turkei noch so selten sind, vor sich hat, daB er sie betrachten
und iiber ihren Zusammenhang nachsinnen kan. Ferner kan ein
Mensch aus den Zeitungen tiefe Einsichten in die gegenwartigen
Staatskabinete schopfen und [vom] franzosischen Hofe reden 10
als wenn er mit da ware und iiber verschiedene italianische die
Achsel ziehen. Ja wenn er die Zeitung recht lieset, so kan man
ihm von ihr auch versprechen, daB er in Furcht und in Hofnung
von Zeit zu Zeit wird gesezet werden; zwei Gemuthsbewegun-
gen, die viel werth sind und die auf dem Theater nicht zu theuer
verkauft werden. Auch kan endHch ieder, der Zeitungen lieset,
von den Zeitungen reden und der Ruhm eines guten Geselschaf-
ters ist nicht so geringfiigig, daB man ihn durch das Wenige,
was man fur eine Zeitung giebt, zu theuer zu bezahlen furchten
diirfte. Ich kante einen Man, der seine Bekanten nur an den 20
Tagen, wo die Zeitung kam, zu besuchen wagte, weil er dan
etwas zu reden mitbringen konte. Allein wenn ich noch soviel
zum Lobe der Zeitungen sage, so bin ich doch einen Fehler
derselben nicht in Abrede, den ieder tadelt aber niemand abstel-
let. Man kan namlich den Zeitungen vorwerfen, daB sie sich
an das, was wirklich geschieht, zu genau halten und iiber dem
angstlichen Kopiren der Natur die Erfindung ganz vergessen.
Und doch thut der, der bios wirkliche Erzahlungen liefert, nur
der halben Pflicht eines Zeitungsschreibers Geniige; ein vol-
komner wird auch Erfindungen zu einem Geschafte machen 30
und wie ein Tragodiensteller nur Lob verdient, wenn er uns
ZEITUNGEN 1037
die historische Begebenheit nicht so giebt wie sie vorgefallen
ist sondern sie mit seinen Erfindungen ausschmiikt und ausdeh-
net, so kan ein Zeitungsschreiber, der das Geschehene nicht
durch eigne Zusaze vergrossert, nie gef alien, Ich habe daher
schon geglaubt, eine Zeitung, die sich von den bisherigen da-
durch auszeichnete, daB sie lauter erfundene Thatsachen zu
Markte brachte, ware etwas, das wir noch nicht haben und das
Liebhaber finden konte.
Wie man horet, so sol iezt in einem von den 5 Welttheilen eine
10 Zeitung gedrukt werden, die unpartheiisch und wahrhaft ist;
man riihmet noch mehr von dieser Zeitung; es ware aber zu
wiinschen, daB sie existirte: diese Beschreibung scheinet aber
diesen Wunsch nicht sehr zu begiinstigen.
Einer sol die Vorzimmer, welche mit Hofleuten angefiillet sind,
mit den Zimmcrn vol Spiegeln verglichen haben, welche ma-
chen, daB man unter vielen Menschen zu sein glaubt, ungeachtet
nur einer da ist.
Ein Fiirst hielt die Hand an d[as] Barometer und machte das
Queksilber sehr steigen. »Ew. Durchlaucht haben mit Ihrer
20 Hand eben so die Franzosen steigen lassen. « Oder: ich wiinschte,
ich ware Queksilber, damit ich auch stiege.
Geschichte
1 Kapitel
Ware ich wie die Apostel an alien Orten der ganzen Welt gewe-
sen: so wiirde ich es wissen, ob noch ein Man existirt, der iiber
den Bonmotisten, dessen Leben ich iezt schreibe, hinausraget;
IO38 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
ich darf abe'r doch vermuthen, daft wol keiner existiret. Er hatte
so viel Wiz, daB ich wolte, er hatte sein Leben sfelber] beschrie-
ben, weil ich am wenigsten dazu tauge. »Man thue mich, sagt
er, in keine Universalhistorie, wo ich wie [in] einer Stadt leben
wiirde; man wiirde mich nicht kennen und ich wiirde zu wenig
bemerkt werden; aber in eine Biographie oder auch Zeitung
verpflanze man mich, die ich fur ein Dorf halte, wo mich ieder
kent und wo d[er] Leute nicht so viel sind. Ja in einer Biographie
- wenn mir iemand eine schenkte, - wil ich leben so lange mein
Athem aus und eingeht,« Hier schenk' ich ihm eine.
Einer drohte ihm. Er: »Glaubwiirdige Schriftsteller haben be-
. hauptet, daB die Patagonen die Gespenster sehr furchteten. Wie
gliiklich bin ich, daB ich kein Riese, sondern ein Zwerg bin:
denn sonst wiirden Sie Furcht einiagen. « Er war alzeit willens,
Biicher zu schreiben; er wolte eines machen von der Statur me-
taphorischer Ideen, er wolte eines schreiben, worin er beweisen
wolte, daB zwar Wesen die Existenz hatten, daB aber die Exi-
stenz s[elbst] nirgends existirte.
MIXTUREN
FUR MENSCHENKINDER AUS ALLEN STANDEN,
von verschiedenen Verfassern
^vxriq urcQEiov -
Ptolomaische Bibliothek.
Erklarung der Titelvignette
Es ist eine Apotheke fur Menschen und Vieh. Man wird, wie
ich hoffe, alles in ihr bekommen konnen, was man sonst in
guten Apotheken sucht, gepulverte Missethaterkopfe, Eselsblut
gegen die Narheit, Album graecum, desgleichen die »Mixturen
fur Menschenkinder aus alien Standen« und noch weit mehr.
Verschiedene gutdenkende Personen, worunter sogar Doktoren
sind, laufen, wie man sieht, mit langen Stangen ganz erbosset
in die Apotheke hinein, und sind offenbar gesonnen, alle Arznei-
glaser, weil sie zu selten vergiften, ganz geschickt zu zerschla- 10
gen: hiezu werden sie von einem Rechtsgelehrten, der mit einem
Buttel an der Thure stent, nicht wenig angefrischt, besonders
da er so sehr schreiet: von Rechtswegen. Hinten im Eck stehet
ein Mann mit einer Pechfakkel, den ich fur einen Geistlichen
ansehe; er ist Willens, die ganze Apotheke in Brand zu stekken
- und dann verbrennen nur gar zu gewis auch die »Mixturen
fur Menschenkinder aus alien Standen« mit.
Katalog der Vorlesungen, die in unserer Stadt fur das
KUNFTIGE HALBE JAHR WERDEN GEHALTEN WERDEN
I. Vorlesungen der theologischen Fakultat
Alle Abende lesen tiber die schwersten Stellen der Schrift, drei
geschikte Kaufmannsdiener und ein junger Baron, der in Ferney
gewesen. Das Auditorium ist auf den hiesigen Koffeehausern,
publice.
Der Zensor der theologischen Schriften lieset ein sehr schones
Kollegium iiber die Menschenliebe als eine Einleitung zu seiner
verbesserten Kunst, Kezer zu machen.
MIXTUREN * KATALOG DER VORLESUNGEN IO4I
Uber die theologische Moral halt die ganze Stadt die schon-
sten theoretischen Vorlesungen, von denen man sich wahren
Nuzzen verheisset: die praktischen Ubungen darin werden, wie
man schon seit vielen Jahren gethan, auch heuer ausgesezet blei-
ben. Auch scheinen sie eine Geschaftigkeit zu verlangen, die
sich mit dem menschlichen Triebe nach Ruhe gar nicht vertragt,
den Paskal einen Uberrest des gottlichen Ebenbildes nennt, und
den man daher mehr beleben als entnerven muB.
Ubungen im theologischen sowol als im politischen Disputi-
10 ren werden beinahe alle hiesigen Schuster in den bekanten
Schenken anstellen; sie kosten nichts als etwan das Bier, das
man selber trinkt. Indessen wird kein einziger Saz von ihnen
durch den Scheiterhaufen unterstiizet, und auch die wichtigsten
und dunkelsten Wahrheiten glauben die Meister des loblichen
Schusterhandwerks dennoch durch die blosse geschikte Bewe-
gung eines Stuhlbeins oder eines Bierkrugs gut genug zu erlau-
tern und zu verfechten; ein Meister des loblichen Schusterhand-
werks scheinet es seiner fur unwiirdig zu halten, den weltlichen
Arm zu Widcrlegungen zu gebrauchen, zu denen sein eigner
20 zulangt.
Die Vorlesungen, die man von Alters her iiber die Sonn- und
Festtagsevangelien jede Woche einmal im Auditorium, die Kir-
che genannt, zu halten pflegte, und fur die man nichts zu bezah-
lenbraucht, als was der Famulus fur die Stuhle auspresset, sollen
auch dieses Halbjahr auf die gehorige gelehrte, philologische
und schwere Manier gehalten werden, wenn sich nur so viele
Zuhorer zusammenbringen lassen, als nothig sind, ein Publi-
kum zu formiren, wozu indessen drei Personen unentbehrlich
sind. Allein man weis wol, daB dieses nicht zu hoffen steht:
30 denn schon seit langer Zeit hat man nicht mehr zusammen ge-
bracht als zwei, den Professor namlich und seinen Famulus,
hochstens noch den Teufel, den man aber wegen seiner Unsicht-
barkeit nicht gut fur eine Person nehmen kan. Gleichwol hat
man nicht umhin gekont, dem alten Gebrauche sein Recht zu
geben, und diese Vorlesungen wenigstens anzukiindigen.
Der hiesige Herr Superintendent kan diesesmal leider! nicht
IO42 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
lesen, weil er unlangst durch einen ungliiklichen Zufall nicht
nur seine Krautermiize, wodurch er sein Gedachtnis starket,
sondern auch seine Hefte, durch die er solches ersezet, verloren
hat und nun nichts mehr weis, als s einen Nam en und Titel,
die selbigen begleiten. Inzwischen verspricht er einen Mann an
seiner stat zu stellen, der doch lesen will, ob er gleich nichts
versteht.
Einige Advokaten haben sich zusammengethan, um uber das
Katechisiren und den Katechismus geschikt zu lesen. Wenn
hierinnen eine lange Obung vor Gericht, Fragartikel fur die 10
Zeugen zu stellen, einige Geschiklichkeit gewahren kan: so
glauben sie darauf nicht ungultige Anspriiche zu machen.
II, Vorlesungen der juristischen Fakultat
Uber das allgemeine Staatsrecht werden alle Tage von 10 bis 1 1
sowol Vorlesungen als Disputiriibungen gehalten. Das Audito-
rium ist auf dem Paradeplaz. Auch hat unser Fiirst das stehende
Heer von gut montirten Professoren, die er bios dazu besoldet,
um uber das Dorf- und Bauern- Faust- Strand- Kriegs- und
Mezenrecht besser durchdachte Vorlesungen zu halten, als man
sonst horet, noch neuerlich um etliche Regimenter verstarkt. 20
Wie sonst zu den Priestern, so sind zu diesen Professoren Leute
ganz untiichtig, die einen Fehl am Leibe haben; auf die Sele
sieht man, wie bei alien Professoren zum Gliikke nicht so sehr.
Diese von der Minerva, der Gottin der Wissenschaften und des
Krieges, bewafnete Professoren, die in den finstern Zeiten, wo
Theologie und Rechtsgelahrheit noch beisammen waren, beide
mit guten Beweisen versahen und beschirmten, und die noch
in der Rechtswissenschaft das Wahre gern ins Licht, und das
Irrige gern in Schatten und Rauch zu sezen pflegen, diese Profes-
soren wird jeder gute Fiirst, war' es auch zum Nachtheil seiner 30
Lander, stets zu vermehren suchen. Obrigens wird nach keinem
fremden Kompendium, sondern nach den eignen Sazen des Fiir-
sten gelesen.
MIXTUREN ■ KATALOG DER VORLESUNGEN IO43
Eine Geselschaft Diebe erbietet sich zu eben so geschikten
als theuren Vorlesungen iiber die juristische Praxis, wenn die
gehorige Anzahl Zuhorer, die zu diesem Kollegium nothig ist,
sich aufbringen lasset. Das Auditorium wiirde im Parterre des
hiesigen Schauspielhauses sein; und die Zeit der Vorlesung von
6 Uhr Abends bis um 8. Sie sind zwar ein wenig theuer, doch
nehmen sie statt des Kollegiengeldes auch gern Uhren und Etuis
etc.; auch wollen sie von ganz Armen gar nichts haben, und
verdienen daher vielleicht, dar3 man sie im gemeinen Wesen
io als Armenadvokaten anstelle.
Uber das Gesandschaftsrecht lieset diesesmal ein Spion, der
auch denen, die der praktischen Wappen- und Siegelkunde obzu-
liegen willens sind, seinen Beistand anbietet, Privatissime.
Er wiinschet sehr, daB er nicht gehangen werde, damit er
ein so nuzliches Kollegium recht oft moge lesen konnen.
Der schon erwehnte Herr Superintendent glaubt sich die
Schwachheit seines Kopfes nicht hindern lassen zu miissen, ein
nuzliches Kollegium iiber den HexenprozeB zu lesen; auch von
den Prozessen, die man in Lausanne mit den Insekten, und die
20 zuweilen die Landstande mit ihrem Fiirsten fiihren, wird er gern
die wenigen Kenntnisse mittheilen, die ihm davon beiwohnen.
Ein Hofmann wird lesen iiber die Kunst, den Fiirsten nicht
nur Akten zu referiren, sondern auch Klagen des Volks.
III. Vorlesungen der medizinischen Fakultdt
In den beriihmtesten Soupees werden verschiedene wizige Her-
ren anatomische Kollegien iiber den Menschen lesen. Sie haben
den lebendigen Kadaver eines gefalnen rechtschaffenen Mini-
sters kauflich an sich gebracht. Diesen werden sie geschikt zer-
gliedern, und ihre vornehmen Zuhorer mit der Darlegung einer
30 seltenen Menge Fehler belustigen, die sie mit dem Anatomir-
messer an dem besagtenManne entweder entdecken oder doch
erzeugen werden. Nicht nur Arme, sondern auch Reiche und
1044 JUGENDWERKE * 3. ABTEILUNG
Vornehrae werden sie anatomiren; und Iebendig, wie es Hero-
philus mit den Missethatern auch machte. Wie die Arzte an den
Hunden die Menschen Iebendig zergliedern lernen: so haben
auch sie in derZerlegunglasterhafterPersonen sichlange vorher,
und nicht ohne Gliik getibet, eh' sie zur Zermezelung tugend-
hafter iibergiengen, und sie hoffen, durch jene so weit gebracht
zu sein, daB sie in dieser etwas vermogen.
Obrigens haben sie eine maBige Menge sehr schoner Praparate
von den guten Handlungen und guten Nam en, die sie mit vielem
Fleisse zerschnitten, in ihrem Beschlusse. Sie versprechen sich ro
noch eine besondere Unterhaltung fur ihre Zuhorer von den
mit W^WausgestopftenKorpern, mit denen sie ihr anatomisches
Theater zieren, und die beinahe jedermann bey dem ersten An-
blicke fiir Iebendig und beseelet zu halten sich tauschen lasset;
sie sind aber wirklich tod und ohne Sele, ob sie gleich sprechen,
denn sie sind die eignen Leiber der gedachten Herren Professo-
ren selbst.
Beilaufig! In eben diesen Speissalen werden einige reiche Ren-
tirer stat der Menschen, Speisen trenschiren; und keine anderen
Thiere zergliedern, als unmenschliche, die zum Essen taugen. 2 o
Einer von ihnen sucht seines Gleichen in den Querschnitten;
doch auch in den Oberschnitten dtirfte mancher von ihm noch
lernen konnen.
Die hier anwesenden landesherrlichen Kommissarien werden
nach Anleitung des Kalenders anzeigen, welche Tage gut sind,
zum Aderlassen, Purgieren und Schropfen eines ganzen Landes,
wie auch zum Holzfallen, zum Geldausgeben und so weiter.
Sie werden aber aus dem Gesechsterschein, den die Zusammen-
kunft gewisser Sterne auf den Rokken jezt formiret, sehr weit-
lauftig beweisen, daB gerade eben die Tage dazu gut sind, an 30
denen sie es beweisen. Sie machen sich auf den groBten Beifall
Rechnung; mussen aber im voraus anmerken, daB sie kein Testi-
monium paupertatis paBiren lassen konnen, sondern die ausge-
sezten Kollegiengelder von den Landstanden aufs scharfste ein-
treiben werden, weil der Ftirst damit, wenn nicht der Armee
den riikstandigen Sold, doch wenigstens seiner Sangerin die zu
MIXTUREN ' KATALOG DER VORLESUNGEN IO45
pranumerirende Gage zu bezahlen gedenkt. Ihr Auditorium
wird zuweilen in Speisesalen sein.
Die hiesigen Biittel und ihre Hunde werden das im halben
Jahrc angefangene Kollegium iiber physiognomicen forensem
gar zu Ende lesen.
Die gewohnlichen Vorlesungen iiber die Diatetik haben an
alien vornehmen Tafeln ihren Fortgang; und die Koche bleiben
noch die Famuli.
Ein guter Dentist, der erst angekommen, sucht sich durch
10 eine Anleitung zu empfehlen, den Leuten die Weisheitszahne,
sie mogen noch so gesund sein, vermittelst des englischen Schlus-
sels gluklich auszunehmen. Er hoft nicht ohne den Zuspruch
junger Personen zu verbleiben, die einst Minister werden wollen,
und die wissen, wie sehr der Pobel, dem man seine Weisheits-
zahne nicht ausgebrochen, immer um sich beisset.
IV. Vorlesungen der philosophischen Fakultdt
Uber die Politik lieset wie gewohnlich der hiesige Zeitungs-
schreiber. Ober die Wahrscheinlichkeitslehre der Direkteur des
hiesigen Zahlenlotto's; man bezahlet dafur soviel als man will,
20 und jeder, er sei ein Vornehmer oder Gemeiner, ein Reicher
oder Armer, ein Studierter oder keiner, kan dieses Kollegium
horen. Diesem diirften vielleicht stat der Prolegomenen einige
Vorlesungen iiber die Regula Falsi und iiber die Rechtschaffen-
heit der Italiener, die sich von den Beutelschneidern so sehr
absondern, und nur das Geld ohne den Beutel begehren, voraus
geschikket werden.
DieMarqueursderhiesigenKoffeehauserladenjeden ein, ihren
Vorlesungen iiber die Mechanik, die sie vor der Billardtafel hal-
ten werden, auch kiinftighin den alten Beifal zu gdnnen. Sie
30 hoffen nicht, daB ein ordentlicher Student seine Zeit dieser Be-
schaftigung entziehen, und sie dafur auf unniizere Dinge wenden
werde.
Ober die natiirliche Magie und iiber die Alchymie d. h. iiber
IO46 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
die Kunst, Schminke, Seufzer, Weihrauch und Worte in gutes
Dukatengold zu verwandeln, werden die Sangerinnen unsers
Theaters gern Vorlesungen halten, so wenig Zuhorer auch jede
auf einmal haben mag. Sie sind ubrigens weit entfernt, den
weiblichen professoribus ordinariis,* die eben hieriiber in dazu
privilegirten Hausern lesen, den Zulauf abfangen zu wollen,
und sie wissen gar wohl, daB sie nur Professores extraordinarii
sind. Die Prima Donna lieset in ihrem eignen Hause, das ihr
ein Kaufmann geschenkt, zu alien Stunden desTages, und sogar
auch der Nacht, so wie die Sonne in Gronland zuweilen gar i
nicht untergehet, und mit ihren Reizen den schlafenden und den
wachenden Menschen erquikket. Sie werden alle Ovids artem
amandi zum Leitfaden nehmen. Da die Weisheit gewohnlich
die Gesundheit untergrabt, und da besonders die alchymisti-
schen Versuche kranklich machen, so furchten sie nicht, dafi
jemand sich von ihren alchymistischen Prozessen, wobei zuwei-
len in der Phiole ein ordentlicher Mensch erschaffen wird, bios
durch die Kranklichkeit entfernen werde lassen, die ihm davon
drohet und die dem Geiste seine Verbesserung durch die Ver-
schlimmerung des Korpers immer so sehr vergallet. 20
Ein geschikter Stuzer hat sich entschlossen, an den Nachtti-
schen iiber die Universalhistorie der Frisuren und Bandschleifen
ein Privatissimum zu lesen, desgleichen iiber die Zeiten, wenn
man die wichtigsten Kleidungsstiikke, wenn man z. B. Waden,
Briiste, natiirliche Wangenrothe und andere zum Anzug gehori-
ge und vor der Naktheit beschirmende Stiikke erfunden. Auch
erbietet er sich mit seinen heraldischen Kentnissen, jedem zur
Hand zu gehen, der sich dem wichtigen Zeitpunkt nahert, wo
er das Siegel wahlet, das er durch sein ganzes Leben auf alien
seinen Briefen fuhret. Endlich lieset er das beste Kollegium iiber 30
die Experimentalphysik, allein keinem Menschen als nur sich
selbst. Die Versuche stellet er an seinem eignen Leibe an; z. B.
an diesem hat er gefunden, daB der EBig, wenn man ihn haufig
trinkt, ziemlich mager macht und die Taille sehr verbessert -
* d. i. den Huren
MIXTUREN ■ KATALOG DER VORLESUNGEN IO47
oder urn die verlorne Kunst der agyptischen Einbalsamirung
wieder aufzufinden, pokelt er seinen Leichnam und besonders
den Kopf desselben alle Tage in wohlriechende Wasser ein, die
ihn auch wirklich so gut konserviren, daB er bisher noch keinen
andern Gestank von sich gegeben, als angenehmen. So lange
er noch beilaufig zu sagen, nicht wie ein Todter riecht und nur
wie einer aussiehet; so lange kan er auch hoffen, das Ausfahren
seiner Sele, ungeachtet er langst gestorben ist, noch einige Zeit
zu verzogern: Denn nach der Meinung der Agypter verlasset
10 die Sele den todten Korper erst, wenn er in die Faulung iiberge-
het. Und sind denn auch nicht bei unsern Kopfen noch diese
geistigen Geruche Zeichen, daB aus ihnen noch nicht alles geistige
verflogen?
Ein alter Mann wird tiber die romischen Alterthiimer lesen,
um den Hunger noch einige Jahre langer zu ertragen. Er wil
iede Antiquitat mit den gehorigen Zeichnungen, Gemmen, Pa-
sten und Biisten erlautern. Wenn er z. B. von der Freiheit reden
wird, die sonst die Romer verehrten: so wil er eine Paste aufzei-
gen, worauf sie mit einem Hute in der rechten und mit einem
20 SpieB in der linken Hand gebildet zu sehen ist; und so wird
er ferner von alien iibrigen Tugenden, von der Wahrheit, von
der offentlichen Sicherheit, von dem Adel und von alien andern
Antiquitaten dieses alten und grossen Volks durch vorgewiesene
Gipsabbildungen moglichst genaue und anschauliche Begriffe
beizubringen trachten. Ich besorge aber beinahe, der alte Mann
findet gar keinen Zuhorer, und er wird den Hunger langer ertra-
gen wollen, als dieser ihn.
Ubrigens giebt auch ein Tanzmeister alien FiiBen Unterricht,
die in-schonen Pas am Hofe emporzusteigen oder im Felde davon
30 zu laufen Willens sind; ein Bereiter lieset uber das Reiten sizend
auf dem Reitstuhl des Gennete; ein Papagai lieset uber die Rede-
kunst, ein Affe uber die Gestus, die man dazu macht und ein
Franzos liber alle Wissenschaften in der ganzen Welt.
Und ich selbst lese gleichfalls uber etwas: denn ich halte nicht
nur eine vorlaufige aus einem aufrichtigen Herzen geflossene
Lobrede auf alle vergangene, gegenwartige und zukiinftige Pro-
IO48 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
fessoren dieser und der andern Welten, sondern auch eine asthe-
tische Vorlesung iiber die schwere Kunst zu satyrisiren. Ich lege
bei derselben meine eignen Satyren zum Grunde, in denen ich
viel attisches Salz zu finden verspreche. Mochte ich sie doch
das wahre englische Salz nennen! Denn dieses ist viel werth und
heilet sehr. Man braucht sie daher nicht zu lesen; da ich schon
uber sie lese, und ich glaube, sie iedem Verleger vortheilhaft
genug zu machen, indem ich ihnen Zuhorer stat der Leser an-
werbe.
ElNIGE GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN 10
gegen die noch immer fortdauernde Unart, nur dann zu Bette zu gehen,
wenn es Nacht geworden
Ein Herr von vielem Verstande behauptete neulich, ich hatte
keinen. Dieser Vorwurf frischet mich an, mich selbst zu loben.
So wie bei den Rdmern ein Angeklagter ausser den Sachwaltern,
die ihn bios vertheidigten, auch noch zehn sogenannte laudato-
rs aufstellen durfte, die ihn lobten; so kann mir iene Beschuldi-
gung einen sehr schiklichen Anlas zu einer kleinen Selbstrezen-
sion gewahren, und bios der obgedachte Herr wiirde Schuld
sein, wenn ich das Lob, das ich mir iezt zuwerfen will, etwan 20
iibertriebe. Ich kann wol sagen, daB der ganze Planet, worauf
wir leben - meine Freunde behaupten es auch von den (ibrigen
Wandelsternen, und wollen es damit bescheinigen, weil wegen
der allgemeinen Verbindung keinem Planeten etwas Gutes zu-
flieBen konnte, wo ran nicht auch die andern Theil nahmen -
von meiner geringen Feder die erheblichsten Vortheile gezogen,
die er, wie es scheint, anstandiger hatte vergelten diirfen, als
er gethan. Wenn das Geniefeuer, das ganz Deutschland neulich
ergriffen hatte, iezt gliiklich gedampfet ist, so ist der Antheil
meiner Feder daran so beschaffen, daB ich davon reden darf; 30
denn sie zeigte sich dabei als eine gute Handsprize. Wenn ferner
MIXTUREN * GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO49
die deutsche Litteratur sich iezt urn fiinf mehr als mittelmaBige
Romane, und urn drei wahrhaft polemische Schulprogrammen
reicher befindet, so kann man dieses Verdienst wol Niemand
anders", als meiner Feder beilegen, da aus ihr eben der muster-
hafte Origihalroman, den die erstern vollig nachgeahmet, und
das sonderbare, blasphemische System, das die leztern lateinisch
angefochten, geflossen ist. Wenn weiter die Wiener ausser ihren
Magen auch ihre Selen zu iiberladen anf angen, und zehn Kreuzer
weiter nicht ansehen, wenn es darauf ankommt, ihrem Ver-
io stande ein etwas gutes Gericht zu kaufen; wenn die Gesundbrun-
nen Deutschlands keine Falgruben oder kein h. Grab, oder kein
Thai Josaphat der Keuschheit mehr sind; wenn die Kammerali-
sten iezt allgemein darauf aus sind, nicht sowohl den Fursten,
als das Land zu bereichern, wenn es seit einiger Zeit die Angele-
genheit aller christlichen Staaten geworden, die Monchsorden
und die stehenden Armeen auf einmal abzudanken, weil beide
entvolkern und mussig gehen; wenn statt der Richter iezt die
Gerechtigkeit zu unserem Erstaunen auf den Ri enters tiihlen sizt;
wenn der geizige und rauberische Luxus nach und nach sich
20 in ein Ding verwandelt, von dem man in den hohern Standen
kaum mehr noch als den Namen ubrig findet; wenn die Fakulti-
sten allmahlig einsehen, daB sie dennoch besser fahren, wenn
sie die Franzosen nicht mehr nachahmen, sondern ihre Perioden
noch langer machen als ich diesen, dessen Nachsaz schon
kommt: so scheint es, daB es bios meine Feder ist, der man
diese allgemeine Verbesserung, diese wohlthatige Veranderung
eines so grossen Wandelsterns wie unserer ist (indem der Mond
5omal kleiner ist) lediglich zu verdanken habe. Vielleicht urthei-
let man iezt uber unsere guten Schriftsteller weit richtiger und
30 einstimmiger als sonst; aber kann man es wol vergessen, wem
man diese bessere Beurtheilung zuzurechnen habe? Namlich
wieder meine oft besagte Feder war es, die durch unzahlige gute
Rezensionen, die ich allzeit mit vieler Miihe erst aus vielen an-
dern zusammentragen mussen, das ganze Publikum beiderlei
Geschlechts gliiklich dahin gebracht, daB es nun liber den Gehalt
unserer groBer Kopfe, die besten Urtheile fallet. Sonach ist sie
IO5O JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
beinahe der Stimmesser von ganz Deutschland, der indessen von
Lavaters seinem sich merklich unterscheidet, oder auch ein all—
gemeiner Honigvisirer, der den Honigschaz eines ieden Autors
soerforschet, daB man sich darauf verlassenkann. In der vorigen
Messe gab ein beriihmter Poet vortrefliche Gedichte unter sei-
nem Namen heraus. Diese hat er mir gestohlen, und sie sind
achte Abkommlinge meiner Feder; mithin diirfte man wol mit
dem Lobe, das man ihm dafur gegeben, besser mich belegen.
Auch habe ich langst vermuthet, daB meine Schreibfeder zu
einer poetischen Reisfeder vielen Ansaz haben miisse. In den Flii- 10
geln von Wachs, auf denen die osterreichische Litteratur sich
so gluklich in die Hohe gehoben, stak, wie man glaubt, meine
Feder auch mit, und zeichnete sich als eine sehr lange Schwingfe-
der aus, und wichtige Punkte der Staatswissenschaft sezte sic
fiir zehn Kreuzer ganz gut ins Klare. Selbst in Paris hatte sie
erhebliche Dinge leisten konnen, wenn ich langer da geblieben
ware. Wenigstens soil ich das aus dem vermuthen, was mir
in einer weit kiirzern Anwesenheit in London gelang, wiewol
ich dem Leser von einem Geheimnis, iiber das die Staatskunst
ihre Dekken zieht, mehr nicht verrathen darf, als hdchstens so- 20
viel, daB meine Feder einem englischen Minister (seine lange
Hand wird ihn sogleich offenbaren, denn er lasset sie, wie es
scheint, mit in die Kriegsmaschienen gegen die Chur- und Fiir-
stenallianz eingreifen) wochentlich zweimal durch ihre Bewe-
£H«gNachricht gab, ob der Pobel an den bewuBten Koder ange-
bissen; einer Senkfeder glich sie sonach da, die auf dem Wasser
schwimmt, und durch ihre Bewegung dem Fischer entdekt, daB
der Koder und die Angel unten gluklich verschlungen worden . -
Dieses sind, wieichglaube, beinahe die merkwurdigsten Ver-
dienste meiner Feder, die ich iener Feder weit vorziehe, welche 30
der Erzengel Michael in seinem Duelle mit dem Teufel aus sei-
nem Fliigel sich schlug und die hernach Tezel mit besonderem
Vergniigen liberal vorwies. Und diese Verdienste sind es, auf
die ich michberufe, wenn ich mich ohne Scheu fiir den Schuzen-
gel, oder Vormund, oder Sekundanten des grosten Theils der ge-
sitteten Welt ausgebe.
MIXTUREN ' GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO5I
Daher glaub' ich mein so ruhmliches Leben mit folgender
guten Abhandlung beschliessen und kronen zu miissen.
Es ist leider nur zu sehr bekant, daB wir die Tageszeiten vollig
umkehren und troz des Widerstrebens unserer Natur aus Tag
Nacht und aus Nacht Tag machen. Den Tag, welchen die Natur
uns zum Schlafen bescheerte und dessen erster Endzwek es ist,
unsere entkrafteten Glieder durch kurze Kanzleiferien auf neue
Anstrengungen vorzubereiten, bringen wir in einem unzeitigen
Wachen zu: die Nacht hingegen, die eben die Fruchte unserer
10 Erholung einernten soke und in der alle Raubthiere wieder an
ihre alte Arbeit gehen, verzetteln wir unter Schnarchen und
Traumen. Und ich wiiste fast nicht, wen ich dieses doppelten
Misbrauches der Tageszeiten nicht beschuldigen solte: selbst die
feinere Welt trift, wiewol ungleich weniger, als die ungesittete,
dieser Vorwurf noch. Denn es lasset sich wol nicht laugnen,
daB sogar die, die im algemeinen Ruf des besten Tones stehen,
doch mitten am Tage um 12 Uhr schon aus dem Bette laufen
und kaum daB die Nacht noch voruber ist, schon um 4 Uhr
wieder darein eilen. Indessen wird doch niemand audi diesen
20 kleinen Anfang der Verbesserung, den die Vornehmen gemacht,
verschmahen; besonders wenn man weiB, daB sonst der Mis-
brauch noch viel hoher getrieben wurde und daB in England
wirklich eine Zeit war, wo man um 10 Uhr Vormittags zu Mit-
tag und um 5 Uhr zu Abend speiste, d. h. wo man gerade um
die Zeit soupirte, in der man iezt diniret, so wie man iezt noch
das h. Abend- oder Nachtmzl in ein Mittagsmzl verkehret: es ist
aber nur gar zu klar, daB Leute, die am Tage assen, audi am
Tage wachten. *
Die Natur sei auch hier unser Schwabenspiegel und unsere re-
30 gula falsi, nach der wir rechnen; von ihr selbst wollen wir horen,
ob sie die Nacht wol zum Schlafen verordnet habe. Und hier
diinkt mich, hatte sie vielweniger fur die Erleuchtung derselben
sorgen miissen, war' es ihr Wille gewesen, daB wir sie verschlie-
fen. Eine einzige Sonne bekam der Tag, aber tausend Sonnen
gehen fiir die Nacht auf, und das blaue endlose Meer des Athers
scheint in einen Staubregen von Licht zu uns herabzusinken.
1052 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Wie viele StraBenlaternen schimmern nicht die ganze lange
MilchstraBe hinauf und hinunter? Diese werden noch obendrein
- wodurch sie einigermaBen iiber unsere Gassenlaternen hervor-
ragen- auch angeziindet, es mag immerhin Sommer sein, oder
der Mond scheinen. Indessen schmukt sich die Nacht nicht bios
mit dem Mantel voll Sterne, in dem die Alten sie abbilden,
und den ich mit schlechtem Grunde ihren geistlichen Ornat, oder
(welches ich nicht hoffen will) gar ihren Herzogsmantel nenne,
sondern sie treibt ihre Verschonerung noch viel weiter, und
ahmt die Damen in Spanien nach. Gleich diesen, welche im 10
Dunkeln die Brillanten durch Johanniswurmgen ersezzen, und
ihren Kopfpuz mit deren Schimmer einfassen, bestekket die
Nacht den untern Theil ihres Mantels, an dem keine Sterne glan-
zen, auch mit solchen Thiergen, und die Kinder nehmen sie
oft. Ich muB auch an den Mond denken, diese Brautfakkel der
Verliebten, der sich von der Sonne Stralen borgt, um sie uns
zu geben; hierin verdient er beilaufig mehr von unsern Autoren
kopiret zu werden, bei denen es dem Anschein nach immer
seltner wird, daB sie gute Gedanken einem groBen Mann (mit
den Augen oder mit den Ohren) geschikt entwenden, und als- 20
dann fur ihre eigenen verkaufen. - Es war offenbar der Wille
der Natur, daB wir den Schlaf bis an den Taghinaussezzen sollten,
wenn sie dem Monde so viele Vorzuge vor der Sonne gab;
darum lud sie in die Stralen der leztern so viel Hize, um uns
vom Freien in unser Bett zu scheuchen und darum machte sie
den Schimmer des erstern so annehmlich, um uns vom Schlafe
wegzulokken. Auch giebt es mehrere Grunde, daB an der Sonne
wenig ist. Den Alten war eine Verfinsterung des Mondes weit
erschreklicher als eine an der Sonne. Der Mond schaltet iiber
das ganze Pflanzenreich, iiber die Witterung und iiber das Meer; 30
der EinfluB der Sonne ist unkraftiger und eingeschrankter; ein
Unterschied, iiber den ich oft sehr nachgesonnen und der um
desto merkwiirdiger ist, da (wie aus dem Plato mehr als zu
wol bekant) der Mond so sehr viel weiter als die Sonne von
der Erde absteht. Es macht ferner dem Monde Ehre, daB die
Erde in seinem Dienste ist und ihm liberal nachlaufen mus, wie
MIXTUREN • GUTGEMEITMTE ERINNERUNGEN IO53
man es von einem wolabgerichteten Kamrnermohren, Trabanten
oder Zizisbeo verlangen kan. In den Mond hat ein Priester des
Saturns (nach Plutarch) und noch neuerlich Herr Herder das
Elysium verlegt; aber von der Sonne wiist' ich nichts, ausser
etwan, daB sie der Englander Swinden fur den Aufenthalt der
Verdamten und Teufel erklart.
Dieses sahen die schonsten Geister des vorigen Jahrzehends
vollkommen ein; sie fuhrten daher gleich den Tiirken den Mond
auf ihren Fahnen, machten ihn zum geheitnen Sekretatr ihrer ver-
10 liebten Bitten, und opferten ihm Verse, Schlaf und Thranen
gern auf. Diese Sekte, um deren Untergang ich vielleicht mit
mehr Recht trauere, als Montesquieu um der stoischen ihren,
hatte wahrscheinlich viel dazubeitragen konnen, die Nacht wie-
der in ihre alten Rechte einzusezzen, und der schlafenden Welt
die Augen zu omen, und sie hat mich vorzuglich auf meinen
Vorschlag gebracht.
Indessen darf ichs zur Steuer der Wahrheit nicht verhehlen,
daB es bei alien Vorziigen des Mondes doch noch zu wunschen
ist, er war' ein wenig groBer. Vielleicht erklart sich daraus iene
20 sonderbare Behauptung der Rabbinen, daB Gott eine Sunde ge-
than, da er den Mond kleiner als die Sonne schuf . Was iibrigens
den Menschen am meisten iiberreden kann, nicht die Sonne zum
Gefahrten und zum Zeichen seines Wachens zu machen, ist un-
streitig dies: daB im neuen Jerusalem (nach der Offenbarung
Johannis) oder im Himmel, wo bekanntlich Niemand schlaft,
auch keine Sonne ist.
In meinen iiingern Jahren hab' ich ein poetisches Lob auf die
Nacht zu Papier gebracht, das Stellen hat, die den Leser riihren
miissen, und vielleicht so weit bringen, daB er niemals schlaft,
30 als nur am Tage. Ich singe folgendermaBen:
»Zu Nachts gehen wir alle mit einer traumenden Sele umher,
und eine wollustige Trunkenheit fullet unser ganzes Wesen.
Unsere Entwiirfe und Hofnungen schlagen ihre Fliigel auf, die
wic Ikarus seine zusammenfallen, wenn sie die Sonne bescheint:
so erheben gewisse Ameisen sich zu Nachts auf Fliigeln, die
ihnen der erste Stral der Sonne nimmt. Gleich dem Traum er-
1054 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
warmt die Nacht unsere Brust mit Offenherzigkeit und Muth.
So wie einer, der auf den Alpen steht, eine reinere und hohere
Welt um sich f unlet, in welche die ziehenden Banden, die uns
an den Koth der Erde kniipfen, nicht hinaufreichen, und wo
ein freier und wolkenloser Spielraum die Fliigel der Sele auf-
nimmt, so ruhen die Thiere im Menschen zahm vor dem Ange-
sichte des aufgedekten Himmels, die kiinftige Welt tritt im
nachtlichen Schimmer herunter zur Gegenwartigen, und statt
der gliihenden Leidenschaften, die sonst in unserem Busen ste-
chen und sengen, driikken sich iezt mildere und wehmuthigere 10
Empfindungen an das voile Herze an. Der Tag, den wir iiber
uns in fremden Welten sehen, erinnert den Geist in der Finsternis
unten, daB er auch dorthin gehore, und daB er von seinen seli-
gern Verwandten verstoBen hier lebe, und in der nachtlichen
Stunde, wo von den Korpern alle Reize abf alien, geht mit den
hohern Sonnen auch im Menschen die Sonne auf, und der Edel-
stein unsers Wesens wirft durch die Finsternis den vermehrten
Glanz: so schlieBet die Wunderblume, zu uns verpflanzt, in der
Nacht ihre Bluthen auf, weil es dann in ihrer Heimath taget,
von der wir sie geschieden haben.« 20
Ein guter Leser gehe, eh' er fortlieset, einigemale die Stube
auf und nieder; ein schlechter aber kann ohne Bedenken sofort
nachsehen, was ich von den Vortheilen des nachtlichen Wachens
vorbringen werde.
Ein groBer Theil des Aberglaubens, an dem die Landleute
siechen, ist, wie man angemerkt, auf die Rechnung ihres haufi-
gern Umgangs mit der Natur zu schreiben; die groBen Ein-
driikke derselben machen sie geneigter, iiberall hohere und
geistige Wesen vorauszusezzen und zu furchten. Diese Anmer-
kung ist richtig; denn man gebe nur auf die Hof- und Weltleute 30
noch Acht. Woher nehmen wol diese iene gesunde und mannli-
che Denkungsart, die sie von ieder aberglaubigen Idee unbesu-
delt erhalt und die sogar den Gedanken eines hochsten Wesens
aus ihnen ausfegt? Offenbar verdanken sie diese Gesundheit ih-
res Kopfes ihrer volligen Entfernung von der Natur und so
hoch ich sie auch schaze, so weiB ich doch gewiB, sie wiirden
MIXTUREN " GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN 1055
sich entweder gar nicht oder doch weit weniger von der allge-
meinen Schwachheit, an Gott und Tugend zu glauben, losge-
wikkelt haben, wenn ihre Lebensart ihnen eine vertraulichere
Bekantschaft mit dem grossen Scbauspiele der Natur, das iener
Schwachheit so vielen Vorschub thut, auferleget hatte. Ich lernte
vorgestern einen Atheisten auf dem Kaffeehause kennen, der
vortreflichist; aber ich sage doch von ihm voraus, daB er einmal
sein ganzes Glaubenssystem ohne Scham verlaugnet und ab-
schworet, wenn inn jemand frCih aus dem Bette zieht und auf
10 einen Ort hinstellet, wo er den Aufgang des Morgens und der
Sonne sehen kan. Ich glaube zwar nicht, daB ein ganzer Hof
alle seine gesunden Grundsazze aufgeben wiirde; aber der Hof-
prediger wiirde doch einige in die Flucht schlagen konnen, nicht
wenn er vor demselben in der Hofkapelle rasendgewordene Phi-
losophic predigte, sondern wenn er eine Peitsche nahme und
den ganzen Hof damit wie eine Schaferei in das freie Feld triebe
und da alle Selen weiden Hesse. - Hier hoff ich m einen Vorschlag
des Tagschlafes von einer Seite zu zeigen, die ihn, wie es scheint,
empfehlen muB; denn zogen wir in der That von ihm den Vor-
20 theil, daB er den Atheismus, zumal in den niedern Standen,
noch mehr emporbrachte, so verdiente er gewiB die Beherzi-
gung eines ieden. Ich geb' es aber alien Lesern zu bedenken,
ob nicht, wenn es mir wirklich gliikt, am Tage alien Personen
aus dem Nahr- Wehr- und Lehrstande die Augen zuzudriikken
und zu Nachts hingegen sie mit Stubenarrest zu belegen und
durch diese Scheidewand und die Finsternis alle frommen Ein-
driikke der Natur von ihnen abzuwenden, ob nicht, sag' ich,
dann wirklich die groste Hofnung vorhanden, einen gewissen
kaltblutigen Atheismus, von dem das Gliik der Menschheit so
30 sehr abhangt, bald weiter ausgebreitet und so wol in den niedern
Standen haufiger gepflanzt, als in den hohern tiefer gewurzelt
zu sehen?
Allein nicht nur den Atheismus, sondern auch, was noch mehr
ist, den Wachsbau begunstigt mein Vorschlag.
Leider ist auch das einer von den Nachtheilen der Reforma-
zion des Luthers mit, daB sie den Wachsbau so wie den romi-
IO56 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
schen Stuhl, auf einen schlimmen Fus gesezt; und fur diesen
Verlust werden wir durch alien Gewinst, den die Aufklarung
und Tugend davon hatte, nur schlecht entschadigt: denn geistli-
che Vortheile konnen nic den zeitlichcn die Wage halten und
geschikte Reisebeschreiber sehen nicht darauf, wie viel Tugend
und Aufklarung in einem Lande ist, wol aber wie viel Manufak-
turen darin gegenwartig gehen und wie es mit dem Aktivhandel
eigentlich stehet. Die lutherische Religion hat den Vertrieb des
Wachses, der auf den katholischen Altaren von so vielem Be-
lange ist, dermassen eingeschrankt, daB geschikte Bienenvater 10
zuweilen gewiinschet, edel- und muthigdenkende Personen
mochten wenigstens ihre Gesichter in die Nothwendigkeit,
wachserne Nasen aufzuladen, weit ofter als bisher geschehen,
sezen, um durch die Vermehrung der wachsernen Nasen dem
Wachsbaue die Verminderung der wachsernen Altarlichter wie-
der zu vergiiten und das gemeine Wesen iiber die seltnere From-
migkeit durch die Unkeuschheit in etwas zu trosten. Allein da
ieder H - weder kan noch mag: so ist vielleicht mein Vorschlag
einbessererWeg,demVerluste, dender Absazdcs Wachses durch
Luther gelitten, gluklich wieder beizukommen. Denn wenn man 20
allgemein anfienge, den ganzen Tag dem Schlaf zu opfern, um zu
Nachts ordentlich wachen zu konnen, so wiirde man hoffentlich
keine geringe Anzahl Wachslichter yerbrauchen miissen.
Sonach sezzet uns mein Vorschlag in den Stand, des Tages-
lichtes vollig zu entrathen; ich sehe daher nicht ab, warum der
Leser nicht sofort seine Fenster vermauren lasset, und ich er-
warte wirklich auf meiner bevorstehenden Reise durch
Deutschland, deren zu drukkende Beschreibung ich wohl nach
der GroBe meiner Reiseschulden vergroBern diirfte - vor keinen
Fenstern vorbeizufahren, als hochstens vor blinden. - Besonders 30
findet England seine vollige Rechnung bei meiner angerathenen
Umkehrung der Tageszeiten. Denn der Burger sieht sich da-
durch des Zolles, den er bisher fur die Fenster, die er eher hatte
zubauen sollen, entrichten miissen, gluklich iiberhoben. Noch
mehr nuz' ich der Regierung; diese kann nun statt der Fenster
die Lichter hoch verzollen lassen; eine Abgabe, die zum Gliik
MIXTUREN ' GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO57
noch weit mehr einbringt, und die besonders den Armen am
meisten zur Last fallen durfte, als welche wohl fur dergleichen
Burden starkere und mehr abgehartete Schultern haben, als die
zartern Reichen. — Ein geschikter Mann inacht stets gern statt
der Kartenhauser Projekte. Da ich, wie es den Anschein hat,
einer bin: so wundere ich mich gar nicht, daft" ich neulich
hohern Orts ein wohlthatiges Projekt eingereicht, dessen Wir-
kung noch zu erwarten steht. Das Projekt ist dies, »daB es den
Grundsazzen einer gesunden Politik wohl nicht sehr entgegen
10 ware, wenn man das Sonnenlicht mit einer maBigen Auflage be-
schwerte, ohnejedochdenen, die diesen Zoll umfahren wollten,
die Freiheit zu nehmen, sich in finstere sonnenlose Orter zu
begeben, die man sonst Gefangnisse nennt.« Ich kann nichts
dafur, wenn noch kein Regent aus dem Sonnenlicht ein Regale
gemacht, aber BefugniB hat er vollig dazu. Denn der Sachsen-
spiegel verordnet, daB alle Schaze, die unter der Erde defer
als ein Pflug geht, liegen, dem Regenten gebiihren, und die
Astronomiethut dar, daB die Sonne zu Nachts zuverlassig tiefer
unter der Erde, als ein Pflug hinlangt, zu stehen pflcge; daher
20 eignet das Staatsrecht dem Regenten die Sonne zu freiem Ge-
brauche zu, und er kann mit ihren Stralen machen was er will;
wie denn der Fiirst Josua sie wie seinen Fakkeltrager behandelte,
und sieeinmal bis in die Nacht vor sich stehen lieB; des Hiskias
nicht zu gedenken, der einmal den ganzen Sonnenwagen gar
hinter sich zu gehen nothigte. Auch ist sonst eine ganz auffal-
lende Verbindung der Sonne mit den Regenten. Denn ieder
Fiirsfist ein Wegweiser oder Meilenzeiger der Sonne.* Hat nicht
der Tod oder die Geburth eines Fiirsten einen bedenklichen Ein-
fluB auf die Sonne?** Kommt es nicht ganz und gar auf den
30 Willen eines Fiirsten an, ob und wie lange sie dem Lande, wor-
iiber er gebietet, scheinen soil?*** Steht es nicht in der Willkiihr
* Der Fitrst der Natsches zeiget alle Morgen, wenn er aufgestanden,
der Sonne den Weg, den sie am Tage zu gehen hat.
** Die Geburt und der Tod groBer Konige (z. B. des Romulus) wur-
den sonst immer von Sonnenfinsternissen begleitet.
*** Gewisse Volker bitten ihre Fiirsten urn Sonnenschein und gutes
Wetter.
IO58 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
iedes Fiirsten, noch heute die Sonne zu heirathen, und dadurch
mitihr die Herrschaft iiber die Welt zu theilen?* Indessen miiste
er vorher an den gehorigen Orten eine Ehedispensation einho-
len. Denn ist nicht ferner ein Fiirst der leibhafte Vetter der
Sonne?** Und endlich, ist nicht das Lob der Regenten und der
Sonne eine zulassige Ausschweifung, fur die mich gar kein
Kunstrichter zur Strafe ziehen darf?
Wenn wir alle am Tage schliefen: so glaub' ich wurde man
es endlich dahin bringen, daft wir bios zu Nachts in die Kirche
giengen. Dies ware in unsern Tagen, wo man lieber iiber Frei- m
geister als iiber Prediger einschlaft, ein herlicher Dienst fur Kir-
chen und Filiale. Denn zu Nachts geht ieder gern in die Kirche
und die Fruhmetten an Weihnachts- und Ostertagen, diese
Kompetenzstiikke, die manche Protestanten aus dem Konkurse
ihrer vorhergehenden Religion gerettet haben, werden von der
ganzen Stadt geliebt und besucht: es lasset sich leicht berechnen,
wie viele Christen der nachtliche Gottesdienst an sich ziehen
wiirde und die Menge derer, die gern den nachtlichen Lustbar-
keiten dienen, macht die besten Hofnungen dazu. Der Grund,
warum gute Christen dem nachtlichen Gottesdienst den Vorzug 20
vor dem taglichen geben, scheint darin zu liegen, weil die From-
migkeit bei ienem ihre Rechnung wirklich besser als bei diesem
findet. Denn besteht sie, wie es ieder glaubt, fast ganz in der
Nachahmung Gottes, der die Menschen erschaft und begliikt:
so giebt gewis der nachtliche Gottesdienst guten Christen be-
sondere Gelegenheit zur Erschaffung und Beglukkung der
Menschen und komt also der Frommigkeit ungemein zu Passe.
Daher heisset man in Wien eine Messe, die zu Mitternacht gehal-
ten wird, eine Hurenmesse, weil der Laie, indem der Priester
das eine Sakrament auf dem Altar zu sich nimt, gleichfals etwas, 30
das sich fur die Heiligkeit des Ortes schikt, vorzunehmen sucht
und das andere Sakrament, das der Ehe, geniesset und austheilt.
* Kaligula vermahlte sich mit dem Monde, der bei den Romern eine
Dame war; da aber die Sonne bei uns eine ist, so kann man wohl nur
mit dieser, aber nicht mit ienem die Kaligula' s kopuliren.
** Alle orientalische Konige nennen sich Vettern der Sonne.
MIXTUREN • GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN 10 59
In der That hatte man langst die Frage aufwerf en mogen, warum
sich alles, was in der Kirche fur die Ehen der Menschen gethan
wird, bios darauf einschrankt, daB sie der Priester bestatigt?
An die Vollziehung derselben darin scheinen nur Wenige ge-
dacht zu haben; und doch ist selbst nach einigen Juristen ihre
Besiegelung und Bestatigung in der That mit ihrer Vollziehung
ganzlich eins: dazu scheinet so etwas, da die ganze Natur ein
von Gott selbst gebauter Tempel ist, wol sich bios fur eine Kir-
che zu schikken, als welche nur Menschenhande aufgefiihret.
10 Es hat mich daher iederzeit gekrankt, wenn ich sehen muste,
daB alles, was man in der Kirche fur die Erbauung that, darauf
hinauslief, daB man liebaugelte, daB man sich einen Gegenstand
seiner Liebe auslas, daB man den Prasentirteller des Herzens,
denBusen, auskramte, daB man Zusammenkunfte verabredete,
und daB man einander an der Kirchthure begegnete; und ich
habe oft gewiinschet, man mochte weiter gehen, am meisten
aber mich iiber die Priester heimlich gewundert, die dazu nicht
die Hand boten, sondern vielmehr ganz davon abzogen. Indes-
sen war vielleicht auch das sehr schuld, daB es Tag war; und
20 eben darum wiinschte ich an seine S telle die Nacht bringen zu
konnen, in der ia auch unsere alten wilden Vorfahren ihren Got-
tern opferten.
Der Areopag zu Athen fallete seine Urtheile zu Nachts, und
bestrafte mithin zu eben der Zeit, in der man gewohnlich siin-
digt. »Denn, sagte er, am Tage ist es nicht moglich, schone
Gesichter ohne Partheilichkeit zu richten. « Warum aber unsere
Richter sich noch ganz und gar nicht nach diesem Muster ge-
richtet, das begreif ich nicht genug, denn fast iedes Geschaft
ihres Amtes nehmen sie am Tage vor, bios vielleicht die Folter
30 ausgenommen, die aber leider aber auch zum groBten Nach-
theile schuldiger Missethater sich beinahe zu verlieren drohet.
Unsere Alten dachten besser, und hielten zu Nachts Gericht;
wir aber haben nichts von ihnen beibehalten, als dies, daB wir
die Partheien »bei rechter friiher Tageszeit« vorladen. Recht-
schaffene Richter indessen, die es nur ein wenig noch fur ihre
Pflicht erkennen, vor Gericht mehr die Person, als die Sache
IO60 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
anzusehen, mogen es selbst entscheiden, ob sich wohl zum Rich-
ten und Lossprechen schoner Gesichter schiklichere und gunsti-
gere Stunden erwahlen lassen, als die nachtlichen? Denn sind
nicht unsere Damen eben zu Nachts am schonsten, welche gleich
den Gemalden in kein vortheilhaf teres Lichtgcsezzet werdenkon-
nen, als in ein sparsames? Und wird man ihnen, wenn man sie
zum Beweise lasset, nicht die Nachtzeit dazu anberaumen miissen,
als in welcher sie eben mit ihfen Reizen, sie mogen sie nun
den bildenden oder bios den zeichnenden Kiinsten verdanken, ihre
Sache am gluklichsten fuhren? Auch wiirde die Nacht sowohl 10
das Vergniigen vermehren, wenn eine zwote Phryne durch Ent-
bloBung eines bekleideten Busens ihre Sache gewanne, als das
Misvergniigen vermindern, wenn eine zwote Kalpurnia sich fiir
den Verlust ihres Prozesses durch Aufdekkung des entgegenge-
sezten Theiles rachte.*- Dazu kommt noch, daB der Richter
zuweilen Haare auf seiner Periikke tragt, die dem Kopfe eines
Missethaters, den er an den Galgen gebracht, sind abgenommen
worden; ich nehme daher an, daB gute Richter noch mehrere
Dinge mit den Missethatern gemein haben als die Haare; ich
schlieBe daher sofort, daB unter die Rauber und Morder vorziig- 20
lich gute Richter derselben gehoren. Ware ubrigens das leztere
falsch, so seh' nicht wohl ab, wie ich neulich hatte behaupten
konnen, daB man die Abschaffung der Todesstrafen zwar Mor-
dern und Dieben zu Gute kommen lassen konnte, daB man sie
aber wohl nicht auch auf gute Richter ausdehnen diirfe. Sezte
ich ubrigens meinen Vorschlag vollig durch, so wiirden, wie
ich hoffe, die Diebe nur am Tage rauben; allein eben darum
muB man wiinschen, daB es alsdann die Richter nicht auch noch
am Tage thaten, sondern iene nur zu Nachts ordentlich ver-
dammten und nachahmten. Denn ist es wohl sehr anstandig, 30
daB der Ungelehrte ein Nachtraubvogel, der Gelehrte oder Richter
hingegen ein Tagraubv ogel ist? Mich diinkt vielmehr, der umge-
kehrte Fall reimet sich weit mehr mit unserer Moral und unserer
* Kalpurnia, Zasars Eheweib, hob wie wir alle wissen, aus Unmuth
iiber den verlohrnen Prozes die Rokke vor den Richtern auf, und zeigte
keinen cu] de Paris.
MIXTUREN • GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN I06l
Denkungsart. Iezt blaset und singet der hiesige Nachtwachter
- denn ich arbeite wie bekannt, gleich den Heringsfischern und
den H- nur zu Nachts. - Er scheinet mir ordentlich einen Ver-
weis zu geben, daB ich meinem Leser die beste Stiizze, worauf
mein Vorschlag ruht, zu zeigen vergessen. Es ist eine weise
Einrichtung unserer Voreltern, dafi gewisse Leute unter dem
Namen Nachtwachter bios dazu angestellet und besoldet wer-
den, mit einem Horn oder mit einer groBen Klapper oder auch
, mit einer Glokke auf dem Kopf , und mit einer guten BaBstimme
10 zu Nachts ordentlich so viel Larm zu machen, als etwan vonno-
then ist, um die schnarchenden Burger dahin zu bringen, daB
sie die miiBigen Augen aufschlieBen und sehen, daB die Nacht
schon wirklich eingebrochen, und daB es hohe Zeit ist, die Ar-
beit wieder vor die Hand zu nehmeri. Sonach merkt man freilich
wol, daB der Endzwek, worauf ein redlicher Nachtwachter aus-
geht, nichts weniger als Einschlaferung der Stadte, Marktflek-
ken, Dorfer und Gassen sein kann; ein Engel ist er, der mit
einer Posaune die schlafenden Todten aus ihren warmen Gra-
bern ins Leben und Wachen ruft; ein Hahn ist er, der uns aus
20 einem theuern Schlummer kraht; ein lebendiger Wekker ist er,
den wir nicht einmal erst am Tage zuvor aufzuziehen brauchen
und der sich mit den Wekkern des P. Morgues, die auch Licht
und Feuer machen und die Fensterladen omen konnen, ganz
wol vergleichen darf; und endlich eine Lokpfeife zu wachenden
Arbeiten ist sein Horn. Allein leider find' ich nur nicht, daB
seine Instrumental- und Vokalpredigten noch iemand aus dem
Bette gezogen hatten und seine Ermunterungen sind, ungeachtet
sie doch von keinem geistlichen Tagwachter und keiner Kanzel
kommen, wider die besten Absichten der Obrigkeit so gut als
30 vollig verloren. Mochte ich durch dieses die Obrigkeit veranlas-
sen, kraftigern Gegenmitteln gegen das nachtliche Schlafen
nachzudenken - dergleichen waren z. B. wenn man die Leute
mit Kanonen aus dem Schlafe schosse, wenn man auf Akade-
mien den Studenten und in andern Stadten den Primanern die
Gassen zu einem wolangebrachten Tumulte frei liesse. Indessen
sieht man doch daraus, daB die Obrigkeit schon langst an der
1062 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Ausfiihrung meines Vorschlags, amTagezu schlafen, gearbeitet
und daB sie gar nicht schuld ist, wenn noch so viele Leute zu
Nachts schlafen.
Die Aken machten durch eine sinnreiche Erdichtung die
Freundschaft, das Alter, das Mitleiden und den Betrug zu Kindern
der Nacht, wie man aus dem Zizero wol weis. Und in der That,
wenn man nicht zu blind gegen die Verdienste der grossen Welt
ist, die die Nacht nicht verschlaft, sondern verlebt, so mufi man
bekennen, daB die Nacht wirklich dergleichen Kinder zeugen
kan. Die Freundschaft ist, wenn man seinen Augen und Ohren 10
nicht mistrauen will und den Werth der aussern freundschaftli-
chen Ausserungen zu schazen weiB, zwar liberal herschend,
aber doch am meisten in der grossen Welt. Das nachtliche Wa-
chen macht zweitens alt: sonst wurde man mit Miihe erst im
achtzigsten Jahre alt; iezt gelanget ieder in der grossen Welt nach
dreissig Jahren schon ganz wol zu einem ehrwiirdigen Alter;
sonst fallete der Tod die Leute in ihren besten siebzigiahrigen
Kraften, iezt schonet er starke zwanzigiahrige Personen und ladt
nur die auf den Leichenwagen, die ganz verwelket sind und
sich stark den Vierzigen nahern. Auch sind die haslichen Da- 20
mengesichter ein guter Beweis, daB man in der feinen Welt zu
Jahren komt; denn die Haslichkeit ist immer das ausgehangte
Schild des Alters: ist aber einmal das Gesicht der Damen alt,
so ist wol auch ein gleiches von ihrem Rumpfe zu vermuthen.
Indessen, wie gesagt, dem Nachtleben hat man dieses beizumes-
sen. - Das Mitleiden ist unter feinen Personen sehr haufig und
stark, weil es da haufigere Gegenstande desselben giebt und mit-
hin mehr Gelegenheit, es zu uben und anzufachen. Am Hofe
haben alle mit ihrem Verstande, mit ihrem Wize, mit ihrem
Geschmakke ein allseitiges Mitleiden . - Was den Betrug anlangt: 30
so raumen auch Leute, die sonst eben keine Lobredner der arti-
gen Personen sind, ihn dennoch gern denselben ein.
Mochten iene Satiriker, die sich so gern iiber das nachtliche
Wachen der feinern Stande lustig machen, hier die wichtige
Lehre von mir annehmen, kunftighin mit ihrem Gelachter nur
gegen Thorheiten zu Felde zu Ziehen! Verniinftige Personen
MIXTUREN • GUTGEMEINTE ERINNERUNGEN IO63
diirften vielleicht dieses unbedachtsame Gespotte iiber die
Nachtwachen der GroBen ohne Bedenken in Eine Klasse mit
ienem Unfug der Studenten sezzen, die gleichfalls unter vorneh-
men Fenstern schreien: Licht weg! Sie wiirden aber, diinkt mich,
weit besser und verstandiger fahren, wenn sie mir nachtraten,
und das vornehme Leben beim Lichte vielmehr gut genug erho-
ben, es sei nun, daB sie unsere Vornehmen mit den Bergleuten
verglichen, die oft lebenslang bei Grubenlichtem sehen, oder mit
den Schuzheiligen, vor den en unaufhorlich Kerzen brennen
io miissen, oder es sei auch, daB sie selbige mit ienem Konigc
in Agypten verglichen, der auf AnlaB eines Orakels, das sein
Leben auf sechs Jahre einschrankte, durch Lichter die Nacht
in Tag verwandeln lies, um sein kurzes Leben zu verdoppeln.
Die lezte Vergleichung ware die beste: denn wirklich lebt an
Leuten von Welt sowohl der Korper als die Sele gar zu wenig,
und eine Vervielfaltigung dieses Lebens durch Nachtlichter kann
iederkaum anders als gutheiBen. Ein solches zwekmaBiges Lob
mdchte vielleicht etwas sein, das den Satirikern wahre Ehre
machte, die ihr Talent zum Spotte noch besser anlegten, wenn
20 sie damit die Thorheit des Tagwachens bestritten, und endlich
auch wol den Pobel in die FuBtapfen der GroBen einlenkten.
Dann wiirde die ganze Welt bald auf einen bessern FuB zu stehen
kommen- an den Damen wiirden neue Reize ausschlagen, und
statt daB die italienischen bisher zu Nachts ihr Gesicht in eine
Larve eingeschlossen, es schon zu erhalten, wiirden alle das
namliche am Tage thun - die Rauber wiirden gemachlicher steh-
len konnen, wir aber wiirden so gliiklich wie die Sineser werden,
bei denen zu Nachts weit weniger als am Tage gestohlen wird
- am ganzen Tage wiirde die Ruhe und die Stille iiber der Welt
30 liegen, die sonst nur der allgemeine Mittagsschlaf in gewissen
Landern ausbreitet - die Sonnenstrahlen wiirden darum noch
immer nicht ohne alien Nuzzen sein, sondern ein zweiter h. Ai-
chartus konnte doch noch seine Hands chuhe in Ermangelung
" eines Nagels daran hangen - besonders wiirde ich zu meinem
groBten Vergniigen auf meinen Tagspazziergangen durch
nichts in meiner tiefsinnigen Aufmerksamkeit gestohret wer-
IO64 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
den, als hochstens durch wenige schlafende und auf den Dachern
hangende - Tagwandler, und etwan wtird' ich zuweilen auf hie
und da zerstreuete kniende Astronomen stoBen, die hinter lan-
gen Rohren einer sichtbaren Sonnenverfinsterung zusahen.
Indessen hat man mich von verschiedenen Orten sehr gebe-
ten, doeh nicht ganz die hohern und die niedern Stande iiber
einen Kamm zu scheren. Und wirklich glaub' ich selber, war'
es nicht sehr gut, wenn der vornehme und der gemeine Mann
d. h. der hohe und der niedrige Adel der Menschheit ganz in
denselbigen Stunden schliefen. Wenigstens wurde es der Philo- 10
sophie und dem gesunden Menschenverstande viel gemaBer
sein, wenn wir den gem einen Pobel zu Nachts, nur den vorneh-
men hingegen am Tage zu Bette brachten. 1st es mit den Thieren
anders? Alle pflanzenfressenden wachen und arbeiten am Tage,
und alle fleischfressenden thun beides zu Nachts. Die Schotten
glauben sogar noch bis auf diese Stunde, daB die guten Geister
am Tage, und nur die bosen lieber zu Nachts erscheinen; ein
Wahn, der viel Wahrheit enthalt, wenn man statt der Geister
Menschen sezt.
Besonders freuet's mich, daB das, was ich iezt gesagt, mit 20
dem Beitritt des groBen Linnaus geadelt wird, dieses geschikten
Buchhalters der Natur, der dem Buche der Natur ein geschiktes
Namenregister angehangen, oder auch einen Addre skalender aller
lebenden Wesen. Ich ziehe iezt aus einem langen Brief, den
er an mich ablies, die verdeutschte Stelle aus, die ich hier brau-
che. »Unbegreiflich ist es mir immer, wie man bei meiner Ein-
theilung der Menschen in Tag- und in Nachtmenschen es doch
nicht merken konnen oder mogen, daB ich unter den Nacht-
menschen nichts weniger als die Affen gemeint, da es, wie es
scheint, doch so leicht zu errathen ist, daB ich darunter vielmehr 30
auf die Vornehmen und GrojJen ziele. Denn diese sind eben (nach
alien Beobachtungen der Okulisten) mit dem Nachtgesichte , wie
der Pobel mit dem Taggesichte* behaftet; und die fliichtigste
* Das Taggesicht (Hemeralogie) ist, wenn der Kranke bei Tage gut,
zu Nachts aber aller Lichter ungeachtet nichts zu sehen vermag; das
Nachtgesicht ist der umgckehrte Fehler.
MIXTUREN ' ABGERISSENE EINFALLE IO65
Vergleichung stellet es dar, daB die sogenannte grope Welt, die
den Tag nicht liebt und nicht sieht, urspriinglich aus Gronland
hergekommen, wo die Sonne oft so lange abwesend ist, wie
ein Zugvogel, gerade so sind die Ungarn mit den Laplandern
verschwistert. Selbst Ihre neulichen okulistischen Erfahrungen
bewahren dieses zum Theil sehr.« Inzwischen weis ich iezt,
wie ich gern gestehe, nur die Schwanze, die Linnaus seinen
Nachtmenschen zulegt, nicht recht mit den vornehmen Perso-
nen zu vereinigen, die er darunter benennt. Ich habe doch mit
10 vielen vornehmen und oft sehr angenehmen Personen Umgang
gepflogen: allein gleichwol hab' ich noch nie etwas an ihnen
verspuret, das einen guten Naturforscher einigermaBen befugen
konnte, sie lieber zu den geschwanzten als zu den ungeschwdnzten
Affen zu zahlen.
Ober die vornehmen Nachtwachen ist wol niemand so erbo-
Bet wie D. Franklin; er hat sie sogar einmal in einer hohnischen
Satire an den Pranger gestellet; seiner Meinung nach fressen
sie dem gemeinen Wesen zu viel Wachs und Talg weg. Einst,
da ich sie gegen ihn verfocht, lieB ich ein Bonmot fallen, von
20 dem man sich wundern muB, daB es, so viel ich weis, noch
nicht dem Mercure de France einverleibet worden. »Ach! sagt'
ich, aus bloBer Sucht, sich vom Pobel abzusondern, thun es
die Grossen gar nicht; und es ware nur zu wiinschen, die Sonne
am Himmel gienge wie die Sonne in der Oper ungefahr Abends
zwischen 6 und 7 Uhr auf ; wahrhaftig die ganze vornehme Welt
schliefe dann von Herzen gern am lichten hellen - Tage.«
Meiner abgerissenen Einfalle erste Lieferung
Es giebt sehr viele Praparate, Leichname, Statuen, ausgestopfte
Menschenhaute, Mumien und groBe franzosische Puppen; und
30 doch giebt es wenig Menschen.
1066 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Die Gesezze haben einem Madgen die Iniurienklage wegen eines
Kusses nur in dem Falle zugelassen, wenn es ihn wieder seinen
Willen bekam. Allein, nimmt man nicht offenbarmit dieserEin-
schrankung auf der einen Seite alles wieder, was man auf der
andern zu geben schien? Denn der Fall, daB eine Schone den
Kus, der ihr aufgedrungen worden, nicht vorher verlangt hatte,
ist genau erwogen, gar nicht moglich. Wenn daher dieses Gesez
den Schonen wirklich Vortheil bringen soil: so muB es, wie
es scheint, schon so verbessert werden, daB alien Damen auch
dann die Iniurienklage verstattet sein soil, wenn i em and sie mit 10
ihrer eignen Einwilligung gekiisset hatte.
Unser Leben, das sagen die groBten Fakultisten, ist ein bloBer
Kinderstand: nur ist der eine ein Wechsel- der andere aber ein
Prophetcn- und Sonntagskind; im andern Leben erst werden
wir, wenn wir den Korper, dieses Fliigelkleid abgeleget, ma-
ioren sein, und vielen Verstand zeigen. Und doch wollen man-
che sich iezt schon, eh' sie todt sind, als Manner betragen. Wie
wir namlich bei unsern Kindern das Gedachtnis am ersten reifen
sehen, und mithin am ersten zu beschaftigen suchen: so ist dieses
auch bei uns groBen Kindern die reifste Selenkraft, die wir vor-
ziiglich warten sollten, weil die ubrigen (z. B. der Verstand)
erst im Himmel oder im Treibhaus der Holle in Brute ausschla-
gen. Kann man also wol von seiner ganzen Bestimmung hienie-
den weiter abkommen, als wenn man eifrig Dingen obliegt,
die doch wenig oder nichts dazu beitragen, daB man ein groBer
GedachtniBgelehrter wird, sondern die lediglich nur unsern
Verstand verbessern und liben?
Ein Autor, der den Leser nicht einschlafen lasset, gleichet nur
gar zu sehr einem romischen Tyrannen, der die Missethater
durch die Veriagung ihres Schlafes qualte und todtete; und es 30
macht der Empfindsamkeit unserer meisten Autoren wahre
Ehre, daB sie hierin mitleidiger denken.
MIXTUREN * ABGERISSENE EINFALLE IO67
Das Mitleiden ist etwas, das einen Konig nicht kleiden will.
Dennerist ein wahrer Vater des Vaterlandes, und die Untertha-
nen sind seine achten Kinder. So wie nun ein verstandiger Vater
nie Mitleiden mit seinen Kindern, wenn sie fallen oder sich ver-
wunden, verrathen wird, weil dieses sie verzartelt, und ihre
Empfindlichkeit vergroBert: so wird sich auch ein kluger Regent
allzeit hiiten, einiges Mitleiden mit den Unglucksfallen seiner
Unterthanen, es sei durch Worte oder durch Thaten an den
Tag zu legen, und er wird vielmehr ganz kalt und gleichgultig
10 gegen ihre Wider wartigkeiten zu sein wissen. Ein rechtschaffe-
ner Edelmann, der nur ein kleiner Regent ist, wird es auch nicht
anders machen.
Ein Tyran fallet den Geist friiher als den Korper an; ich meine,
er sucht seine Sklaven vorher dumm zu machen, eh' er sie elend
macht, weil er weis, daB Leute, die einen Kopf haben, ihre
Hande damit regieren, und sie gegen den Tyrannen aufheben.
Der Henker ahmt ihn nach, und verbindet dem Missethater die
Augen, bevor er ihn foltert.
Meiner abgerissenen Einfalle zwote Lieferung
20 Herr K-th lasset seinen Namen abdrukken, urn ihn groB und
beriihmt zu machen; ich glaube aber, er konte ihn noch groBer
machen, wenn er ihn in einen -Kurbisschnitte. Dennder Kiirbis
und der Name eines Kiirbis wiichsen dann zum groBten Ver-
gniigen u'nsers Planetensystems mit einander groB.
Gewisse Wilde vcrehren den guten Gott, damit er ihnen niizze,
und den Teufel, damit er ihnen nicht schade; wir Christen keh-
ren es urn, und gehorchen dem guten Gott, um von ihm nicht
1068 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
gestraft zu werden, und dem Teufel, urn Nuzzen von ihm zu
ziehen .
Ich hinterbringe hiermit den Burgermeistern, da8 sie bisher ohn
alien Grund so sehr vor der Folter in Sorge gestanden: denn
es darf sie niemand auf dieselbe spannen, sowol ihrer Wurde
als ihres Fettes wegen.
Mit Recht sagt das Sprichwort: Wenn groBe Herren sich raufen,
so miissen die Unterthanen die Haare hergeben. Denn man seze
auch, diese groBen Herren triigen gliiklicher Weise Periikken
und fielen in diese einander: so muB man doch bedenken, daB
die Periikken lediglich aus Haaren, die man todten oder hingerich-
teten Unterthanen abgeschoren, gewebet worden. Man kan die-
ses daher die Ton sur des Unterthanen heissen, der das Geliibde
der Armuth, der Enthaltsamkeit, und des Gehorsams thut, um sei-
nen Herrn dadurch in den Stand zu sezen, die drei entgegenge-
sezten Geliibde zu leisten und zu halten. Daher die alte Monchs-
regel: Monachi est plorare, non docere.
Soke man nicht von einem gewohnlichen Advokaten wie von
einem Frauenzimmer Unwissenheit der Rechte vermuthen diir-
fen? Und warum macht er sich diese Rechtswohlthat so selten 20
zu Nuze?
Aesop behauptet freilich, daB Prometheus den Teig, woraus
er uns arme Niirnberger-Puppen knetete, mit Thranen statt des
Wassers angefeuchtet; allein ich habe Grund zu glauben, daB
er liigt. Denn ich will hoffen, daB er die Dam en mit Schonheits-
wasser, die Stabsofficiers mit Couragewasser oder mit einem Lie-
bestrunk, die Monche mit kostbaren Weihwasser eingemacht.
Auch hatte Prometheus so geschikt fortfahren sollen als er ange-
MIXTUREN " ABGERISSENE EINFALLE IO69
fangen; allcin er versah es ganzlich, und sorgte schlecht fur seine
Ehre, da er in mein Wesen, offenbar Scheide- Bitter- und Hader-
w asser einwirkte, und in das des armen Lesers gar einen starken
Schlaftrunk.
Ein Geistlicher sagte zu mir: »seinen geistlichen Ornat konteich
sehr gut fiir das Sterbe- und Todtenkleid seiner Laster ansehen. «
- »Glucklicher Weise, versezte ich, ist das vollig richtig, und
ioh habe auch stets nicht anders geglaubt, als daB Dero Laster
den Juden gleichen, die sich ihr Sterbekleid schon viele Jahre
10 vor ihrem Tode machen lassen, und es am langen Tage wirklich
anlegen. Dero Laster thun es sogar ieden Sonntag, und erinnern
sich daran, daB ihr Leben nur 70, und wenns hoch komt, 80 Jahre
wahret.«
Gleich der Obrigkeit in Riicksicht der Missethater, sehen es die
Kochinnen, wenn sie Geflugel abschlachten, ungern, daB einer
zusieht der mitleidig ist: »Es kan, sagen sie, dann nicht wohl
ersterben.« O ihr Scharfrichter der Thiere, die von euch mehr
als 10 Verfolgungen erdulden muBten, ihr Koche, friiher wiir-
den vielmehr eure arme Opfer sterben, wenn ihr eben mitleidi-
20 ger waret, und nicht ihre Martern vermehret, um unser Vergnii-
gen zu vermehren.
Wenn es schon die Pflicht eines Advokatens ist, fur den zu eifern
und zu fechten, der eine sehr ungerechte Sache hat: so kan es
noch weit weniger seiner Bestimmung entgegen sein, eine ge-
rechte zu beschiizzen. Ich glaube daher nicht den Posten eines
Advokaten, auf den man mich gestellt, entehret zu haben, wenn
ich zuweilen das Corpus juris zum Zeughaus gebrauchet, woraus
ich Waffen zum Schuzze einer guten Sache genommen. So hab'
ich zum Bei spiel die Rechtsregel: »Was man verschenken darf,
30 das hat man auch das Recht zu verkaufen,« so gut angewendet,
1070 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
daB ich neulich mit ihr sowol der Billigkeit, als den GroBen
Frankreichs einen wirklichen Dienst erwies. Ich sagte namlich:
da doch offenbar ieder Landesherr das Recht besizt, die wich-
tigsten Amter vollig gratis zu vergeben - denn man sieht es
leider alle Tage, daB Personen, die nichts haben, als ein wenig
uberfliiBigen Verstand, den kein Geld veredelt, dennoch bedeu-
tende Amter erobern - so muB er, wenn iene Rechtsregel rich-
tig ist, ia auch nothwendig zugleich das Recht haben, die Amter
bios verkaufen und sie vom Aukzionsproklamator dem Meist-
bietenden zuschlagen zu lassen. Dieser SchluB hat, wie ich ver-
nehme, dem ganzen Frankreich, wo der Amterhandel so sehr
bliihet, wohlgefallen und es fiir mich eingenommen.
Aelian behauptet, die Klaue eines Habichts zoge Gold an sich.
Ich lieB mir demnach einen Habicht und Gold kommen; fand
aber die sympathetische Anziehung nicht, die ich erwartete. Ich
muthmaBte, daB Aelian die Sache vielleicht figurlich nehme.
Ich lieB mich daher einen frischen Versuch nicht dauern und
verschafte mir eine figurliche Habichtsklaue. Neben diese legte
ich einen alten Louisd'or und in einiger Entfernung einen
schlecht vergoldeten - Szepter; und zu meinem groBten Ver- 20
gniigen zog die Klaue das Metall und den Szepter nicht nur an,
sondern sie - woriiber wir uns alle nicht genug verwundern
konten - grif auch sogar damach. Solche Erfahrungen zieren,
diinkt mich, den wahren Philosophen, und man soke ihrer meh-
rere machen und beschreiben, weil sonst nicht zu hoffen stent,
daB man es noch vor Ablauf des Jahrhunderts in der finstern
Lehre von der Sympathie zu etwas erheblichen bringen werde.
Der Leser probier es inzwischen doch selber mit den Habichts-
klauen, ob sie sein Gold, wenn er es ihnen hinhalt, wirklich
sympathetisch an sich ziehen. 30
Mein Mitleiden mit dem Herrn v. D. war stets aufrichtig und
gut gemeint; denn er hat zu viel Plage und ist dabei unschuldig
MIXTUREN * ABGERISSENE EINFALLE IO71
wie ein Kind. Wodurch hat seine Sele es verdienet, daB sie ihren
Milchbruder, den Korper alle Tage verschonern muB? Der Friseur
zwikket seine tadellosen Haare alle Morgen - und das ist auch
in den Gerichtsstuben die gewohnliche Zeit der Folter - mit
gliihenden Zangen und thut ihm einen Pudermantel urn, den
ich seinen danischen Mantel oder doch Marterkittel nenne; die Juris-
prudenz foltert doch nur gesunde Glieder, aber der Schuster
Ieget seinen siechen Fiissen statt der spanischen Stiefel enge
Schuhe an; seine ganze Lebensgeschichte ist eine wohlgemachte
10 Passionsgeschichte, indem ihm der Schneider statt des Purpur-
mantels des Herodes, zur Schmach ein modisches Narrenkleid
anzieht, das ihn zu lacherlich macht, indem ihn der Friseur ferner
mit einer Dornenkrone von Haarnadeln verwundet, indem er
weiter sich selbst Essig zu trinken giebt, urn eine magere Taille
zu bekommen und indem er endlich so den ganzen Tag gekreu-
zigt wird, bis er Abends das Haupt neigt, und - einschlaft, Wer
dieses martervolle Leben eines Menschen, der seine groBten
Siinden alzeit bis auf den Traum hinaus verschoben und mit
Wissen noch keine Sele betriibt oder umgebracht, mit einiger
20 Aufmerksamkeit in Erwagung zieht: der verfallet auf allerlei
sonderbare Gedanken iiber das Wesen des Herrn v. D. und aller
Stuzer tiberhaupt - denn ihnen ist alien ein gleiches herbes Schik-
sal beschieden - und ist zulezt lieber geneigt zu glauben, daB die
Stuzer insgesamtnur empfindungslose Maschinen sind, als daB
es Wesen gabe, die bei aller ihrer Unschuld dennoch so sehr
gepeinigt wurden; wenigstens geben diesem Schlusse die Karte-
sianer viel Gewicht, welche aus einem ahnlichen Grunde die
Thiere fur Maschinen erklarten, weil sich, wenn sie wirklich
empfanden, ihre vielen Martern nicht mit ihrer Unschuld rei-
30 men liessen. Auch haben daher schon manche Satiriker wirklich
behauptet, daB die Stuzer bios Maschinen sind.
1072 ' JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
Meiner ABGERISSENEN ElNFALLE LEZTE Lieferung
Die Autoren sind mir lieber als die H-. Diese geben ihre Schwan-
gerschaft fur eine Wassersucht aus; iene aber kehren es um und
behaupten, daB sie ein wohlgebildetes Buchlein im Kopfe tra-
gen, ungeachtet in der That nichts da ist als ein wenig viel Was-
Wir loben zuweilen noch ein englisches Buch und yergniigen
uns noch an dem Schimmer und den Stralen desselben, indessen
es vielleicht in England selbst langst untergegangen ist: so be-
haupten einige Astronomen, daB wir auf der Erde manchen Fix-
stern schimmern sehen kdnnen, der, wahrend daB sein Licht
zu uns herunterreiste, sich aus dem Himmel verlor.
Das Laster ist der Ballast unsers Erdballes und es wird zu seiner
Zeit schon ausgeworfen und versenket werden.
Aus der Kirchengeschichte sind die Monotheletisten ganz wohl
bekannt. Es waren Kefeer, die Christo, der nach seinen zwo Na-
turen zwei Willen hat, nur Einenzuschreiben. Meines Erachtens
ist es aber nicht gut, daB man diese Kezer fur seltener halt als
sie wirklich sind. Denn ich kenne selber Monotheletisten, wel-
che es, wiewohl bios von den Damen und Regenten beschwd-
ren wollen, daB diese stets nur Einen Willen hatten. Und doch
ware dieses die fatalste Monotonie in der Sele; auch beweiset
es die Erfahrung satsam, daB wenigstens die Damen allezeit zwei
Willen, einen menschlichen und einen gottlichen, einen bosen
und guten, wirklich hegen, un'd keine Sache verlangen, die
sie nicht auch zugleich, wenigstens im nachsten Augen-
blikke, nicht wollten; und die Einheit der Handlung ist etwas,
das sie so sehr wie der beste englische Tragodienschreiber zu
MIXTUREN ' ABGERISSENE EINFALLE 1073
verachten streben. Gleich korperlichcn Missgeburten sind ihre
Selen mit zwei Kopfen versehen.
Wenn ich einmal ins Gleichnismachen komme, so weis ich we-
der Ende noch Ziel, und das oft iiber die namliche Sache. Sag'
ich z. B. vom Gesichte einer Dame, die sich schminkt, sind
zwo Ausgaben vorhanden, eine ohne, und eine mit illuminirten
Kupfern: so bin ich*iicht vermogend, damit schon aufzuhoren;
sondern ich sage noch: Die Schamrothe wird auf solchen ge-
schminkten Gesichtern in effigie gehangen - ich nenne die
io Schminke die Titelvignette des Gesichts - und den Kopf eine
gute Portratbiichse, die das Portrat der Dame, das sie selbst
gemalet, enthalt, daher einige die Damen zu den besten Portrat-
malern gesellen - ich glaube gar, ich fange dann an die Schminke
die lezte Ohlung der sterbenden Schonheit zu heissen - ia ich
werfe den Jiinglingen, die diese zwei Blumenstukke auf dem Ge-
sichte anbeten, den Bilderdienst vor - und lasse nur dann mit
der Sache vollig nach, wenn ich die Farbenhandler die Monti-
rungslivranten der weiblichen Wangen geheissen habe.
Die Schonheit zieht uns Manner an; ist sie aber, gleich einem
20 armirten Magnete, noch mit Golde oder Silber bewafnet, so
zieht sie uns, wie es scheint, noch sechsmal starker an.
Es giebt Lander, wo man Leibesnahrung und Nothdurft so sehr
liebt, dafi die Einwohner Christum, wenn er noch einmal Beses-
sene heilte, ersuchen wiirden, ihre Schweine doch mit den Teu-
feln zu verschonen, und diese lieber, wenns ia keine andere Aus-
kunft gabe, etwan in sie selber Ziehen zu heissen.
Wie man das Vieh auf die Akker treibet, das Getreide abzuf res-
sen, damit es nicht zu stark schiesse: so treibe man doch die
1074 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
samtlichen Rezensenten auf unsere Autoren und lasse ihre schar-
fen Zahne die Auswuchse des Genies ganz gut beschneiden.
Der morderische Traum
Da ich zum erstenmale las, daB die Taucher zuweilen einander
unter dem Wasser ermorden, so rief ich aus: Also auch dieses
Element besudelt der Mensch mit seinen Sunden? Was soli ich
aber iezt sagen, wenn er sogar den schuldlosen Traum - den
Wiederhall der Kindheit und den Freund der Leidenden - in
ein Werkzeug des Todes zu verwandeln sucht. Herr A. predigte
mit einigem Beifall; Herr B. kam an die Stelle eines verstorbenen 10
C. und predigte mit noch grosserem. Von A., zu dessen Ab-
schilderung mir gar wol der Teufel sizen konte, lasset sich nichts
anders erwarten, als der rachsuchtigste Neid dartiber. Ernst, da
der Herr B. von der Kanzel in die Sakristei herunterkam, re-
dete A. ihn so an: »Sie haben heute wieder eine herrliche Predigt
gehalten . . . Aber ich muB Ihnen doch meinen gestrigen Traum
erzahlen. Mir traumte, Ihr Vorfahrer C. erschien mir; er freute
sich, an Ihnen einen so vortref lichen Nachfolger bekommen
zu haben, und lobte Sie so, daB es mich riihrte; aber, sagte er
zulezt, ich will ihn bald nachholen.« Die Absicht dieses erdich- 20
teten Traumes lasset sich errathen; auch granite sich B. sehr
dariiber, aber er starb nicht daran.
Ende
Jeder Kalender hat seinen Kalenderanhang; die vornehmste
Dame hat ihre Schleppe, vor die sie eingespant ist; die Welt
hatihren iiingsten Tag; die schonste Musik verstummt in einem
MIXTUREN " ENDE IO75
Endetriller; der Monch, der noch so oft die Iezte Olung ertheilte,
empfangt sie endlich selbst; nach Einer Stunde hat die beste
Predigt (eine langere wird im Brandenburgischen mit zwei Tha-
lern bestraft) und die schmerzlichste Foltet ein Ende - Warum
sollte nun, da alle Wesen mit einem schonen Ende prangen,
dieses Buch allein nicht sein ordentliches Ende haben? Ich wiiste
wenigstens keine Ursache als etwan die, daB dieses Buch noch
kein Ende hat, sondern in der nachsten Messe fortgesezet wird.
Ober die religionen der welt
Von einem Latitudinarier
»Gott hatte bey allem seine Hand
im Spiele: Nur bey unsern Irrthu-
mern nicht?«
Lefling.
Die Vervollkommnung unserer Krafte ist der Zweck unsers Da-
seyns, und Religion und Tugend sind nichts als bloBe Mittel
dazu. Die Verschiedenheit der Religionen ist nur Verschieden-
heit der Mittel zu verschiednen Graden und Arten der menschli- 10
chen Vollkommenheiten. Wenn aber die hochste Vollkommen-
heit des Ganzen verschiedne Grade der Vollkommenheit der
einzelnen Theile nothig macht: Warum sollen nicht alle Irrthii-
mer eben so nothwendig und nikzlich in der geistigen Welt
seyn, als Schmerzen in der physischen - und wenn jedes Ubel
im Grunde nicht ein Obel, sondern nur einkleineres Gut, jedes
Laster im Grunde nicht ein Laster, sondern nur eine geringere
Tugend ist: Warum wollen wir eine Religion falsch und ver-
dammlich nennen, deren Anzahl wahrer Lehrsatze im Grunde
nur minder gros, deren Wirkungen nur minder heilsam sind. - 20
Wenn sich der Gronlander anstatt des Glanzes der Sonne nur
mit dem Lichte der Nordscheine begniigen muB: so sind wir
weise genug, Gottes Weisheit in dieser Einrichtung zu bemer-
ken; wenn er aber anstatt der Erleuchtung der Wahrheit nur
den falschen Schimmer eines angenehmen Irrthums kennt:
Warum wollen wir nicht noch weiser seyn, urn Gottes Weisheit
in dieser Einrichtung nicht zu verkennen? - Man hat zur Recht-
fertigung der Vorsehung so oft den Nutzen der physischen
Obel gezeigt; ich wolte lieber, man hatte den Nutzen der morali-
UBER DIE RELIGIONEN IN DER WELT IO77
schen besser gezeigt, und das Laster und den Irrthum mehr mit
einem philosophischen als andachtigen Auge betrachtet. -
Ich will einiges vom Nutzen der vielen Religionen sagen. -
Betrachtet einen Wilden, der keine, nicht die schlechteste Reli-
gion kennt: Was thut er? Er fischt, er jagt, er nahrt sich, er
kriegt und befriedigt einige thierische Begierden und den Hang
nach Thorheiten. Er ist so wenig Mensch, daB er sich kaum
vom Thier unterscheidet. Er ist unbesorgt wegen der Zukunft,
und vergiBt sie im GenuBe des Gegenwartigen. Seine Begierden
10 haben nichts als die schlechtesten Liiste zum Endzweck, und
das Gefuhl eines gegenwartigen Bediirfnisses ist kaum stark ge-
nug, ihn zur Abhelfung desselben thatig zu machen. Aber wir
wollen ihn einen Gott in der Sonne sehen, und eincn Himmel
hinter den Wolken erwarten lassen. Nun hat er sich sichtbar
verbessert - er betet an. Er will sich die Liebe seines Gottes
erwerben; er schreibt sich gewisse Pflichten vor; er legt in seine
Handlungen mehr Endzweck: er giebt seinen Begierden mehr
Ausdehnung, und richtet seine Wirksamkeit starker auf die Zu-
kunft. Das Gefuhl der Abhangigkeit macht ihn behutsamer und
20 chrerbietiger; bevorstehende Gefahren erwecken in ihm Bewe-
gungen der Furcht vor seinem Gott, und iiberwundne entzucken
ihn zu Ausbruchen des Danks gegen denselben; die Hofnung
eines andern Lebens starkt seinen Muth im Streite, und seine
Stanclhaftigkeit unter den Grausamkeiten seiner Besieger. Die
Menschen, welche vorher nur Gegenstande seiner Geschlechts-
lust, seiner Furcht u. s. w. waren, theilen nun mit ihm die Anbe-
tung desselben Gottes, die Annehmung derselben Irrthumer, die
Hofnung desselben Himmels. - Seine Meynungen konnen
falsch,lacherlichund abgeschmacktseyn: Was thut's?Wird nicht
30 eben dadurch die Ideensphare seines Geistes mehr erweitert , und
die Bilder seiner Phantasie mehr vervielfaltigt? Er kann nun tu-
gendhaf t seyn; er kann wenigstens lasterhaf t seyn: Vorher konnt*
er keines von beyden seyn. Es ist vielleicht besser, Gesetzeiiber-
treten als keine haben, irre und riickgehen als stillcsitzcn, und
lasterhaft als gar nichts seyn. Da das Laster nichts als die Wir-
kung der unverhaltnismaBigen Ausbildung der Seelenkrafte ist:
IO78 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
so ist der unfehlbar der Vollkommenheit naher, welcher eine
Seelenkraft mehr als die andre ausbildet, als derjenige, der keine
ausbildet, und es gehort mehr Kultur des Geistes dazu, sich
das Verbot einer Sache vorzustellen, die Wichtigkeit desselben
durch Scheingrundc zu entkraften, die That zu wahlen und aus-
zufuhren, als alles dieses nicht zu thun, und sich ohne eigne An-
strengung bios den Wirkungen zu iiberlassen, welche jeder Ge-
genstand der niedrigern Begierde in dem begehrenden Wesen
erregt. Vielleicht ist die Moral der nicht christlichen Religionen
ein Gewebe von unmitzen Forderungen; aber sieht man denn 10
nicht, daB eben dadurch ihre Verehrer in einer niitzlichen Folg-
samkeit geiibt werden, daB weniger das Ausserliche der be-
fohlnen Handlung, als das Innerliche ihres Urhebers zu dem
Nutzen geschlagen werden miisse, den jede Religion bey ihrem
Verehrer bewirkt, und daB der, welcher die Tugend in ihrer
falschen Gestalt anbetet, auch fahig sey, sie in ihrer wahren an-
zubeten? - » Aber die Vbrschriften der meisten nichtchristlichen
Religionen sind nicht bios unniitzlich; sie sind auch schadlich;
sie gebieten nicht bios das Ungereimte, sondern auch das Laster.
Wenn der Nichtchrist z. B. sein Kind seinem Gott zu einem 20
Opfer verbrennt - befordert dann seine Religion, die diese Un-
til enschlichkeit verlangt, seine Tugend? « Man kann hierauf ant-
worten, wenn man frey antworten darf: Vergleicht einmal jene
bekannte Handlung des Abrahams mit der verabscheuten
Handlung des Nichtchristen - jene soil dadurch nichts von ihrer
Giite, aber wol diese etwas von ihrer Abscheulichkeit verliehren.
Warum wird der Abraham, welcher seinen Sohn als ein Brand-
opfer nach dem Befehle Gottes schlachten will, so sehr erhoben?
Darum: Er wahlt unter kollidirenden Pflichten diejenige, welche
die wichtigste und also allein Pflicht ist; er opfert der Liebe seines 30
Schopfers die Liebe seines Sohnes auf, und ist taub gegen die
Stimme der vaterlichen Empfindung, um der Stimme des gebie-
tenden Schopfers zu gehorchen; ja er ist bereit einen Sohn zu
tod ten, der nicht bios sein Sohn, sondern die Stiitze seines Al-
ters, der Zeuge seiner Tugend, der Lohn seiner Rechts chaff en-
* heit, und der Erf tiller seiner Hofnungen ist. Betrachtet den Hei-
UBER DIE RELIGIONEN IN DER WELT IO79
den, der sein Kind opfert; er thut beynahe dasselbe. Sein Priester
befiehlt ihm sein Kind in den Armen des Gotzenbilds zu ver-
brennen, in welchem er die sichtbare Gestalt seines Gottes anbe-
tet. Er unterdriickt nun die vaterlichen Empfindungen durch
die Starke der religiosen; und ziehet in dem scheinbaren Wider-
sp ruche seiner Pflichten diejenige vor, die ihm die wichtigste
scheint und die die schwerste ist. - Kurz er beweiset gegen seinen
Gott eifrige Liebe. Aber warum tadelt man ihn doch? Deswe-
gen, weil er diese Liebe gegen einen Gott aussert, der nicht
to der wahre ist, d. h. der mit keinem jiidischen oder christlichen
Namen benennt, und von seinen Verehrern nicht unter einem
korperlichen Phantasienbild, sondern unter einer wirklichen,
sinnlichen Figur gedacht und angebetet wird?* Jener Heide ist
tugendhaft, aber er irrt; er verschwendet die Beweise seiner
Liebe und Aufopferungen nur dem Wesen, das er kennt. Aber
sollen die Verirrungen seines Verstandes die Tugenden seines
Herzens strafbar machen? Soil ihn Gott fur lasterhaft erklaren,
bios weil er gegen einen falschen tugendhaft gehandelt hat? -
Ich weis nichts davon - ich weis, daB jene Handlung beym
20 Abraham eine Tugend ist; aber daB dieselbe Handlung bey ei-
nem Abgotter ein schwarzes Verbrechen ist, das glaub* ich nicht.
- Eben dasselbe laBt sich in Riicksicht der iibrigen Laster sagen,
die die nichtchristlichen Religionen zu gebieten scheinen. » Aber
so las sen sich alle Verbrechen rechtfertigen. Ihr Urheber braucht
nur gute Absichten zu haben, um ungestraft bos handeln zu
konnen. « Allein setzt das Gegentheil, und die Verwirrung wird
noch groBer! Wenn zur Gute meiner Handlungen noch etwas
anders als meine Absichten erfodert wird, wenn das Aussere
der That meine Moralitat bestimmt: So ist meine Tugend ein
30 Raub der aussern Umstande; so bin ich niemals gewis, ob ich
eine gute Handlung verrichte, denn ich weis ja nicht, ob sie
der Zufall gut laBt; so hangt meine Zuf riedenheit von dem unge-
wissen Erfolge meiner Tugenden, und mein moralischer
* Bey dem erstern steht die sinnliche Abbildung des Gottes bios im
Kopf, bey dem andern steht sie ausser demselben auf einem Postament
von Stein.
I080 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Wachsthum von dem of tern Daseyn eines glucklichen Zufalls
ab. Wenn die Moralitat meiner Handlungen nicht in meinen
Absichten gegrundet ist, so weis ich niemals, ob mein Herz
gut ist, denn mein Verstand kann irren, kann meinen redlichen
Eifer durch die unwahre Darstellung des begehrten Gegenstan-
des bis zur Umarmung des Lasters tauschen. Wir zweifeln oft
mit Recht, ob wir weise sind; macht uns doch nicht eben so
zweifelhaft, ob wir gut sind - und laBt uns nicht durch unsre
Irrthiimer unsre Tugenden anklagen, sondern durch diese jene
entschuldigen. - Doch ich komme zu weit ab. 10
In den meisten Religionen findet man diese Hauptsatze: es
ist ein Gott und ein Leben nach dem Tode; in jeder findet man
sie anders ausgedriickt, in andre Bilder verkleidet, mit andern
Begriffen vermischt; allein in alien findet man ihren heilsamen
EinfluB auf die Tugend. - Jeder leiht seinem Gott die Eigen-
schaften, die er an sich am meisten schatzt; eben so jedes Volk.
Jedes legt aber den Vollkommenheiten den meisten Werth bey,
die es am nothigsten braucht, die es am langsten gekannt hat.
Dasjenige Volk, dem durch immerwahrende Kriege die kriege-
rischen Tugenden sind nothig und schatzbar gemacht worden, 20
wird der Leibesstarke (iberall den Vorrang lassen; es wird also
aus seinem Gott einen Herkules machen, es wird aus demselben
das Ideal der groBten Tapferkeit machen, um ihn mehr anbeten,
um mehr von ihm hoffen zu konnen. Je weniger nun eine Nazion
aufgeklart ist; je weniger sie sich aus dem Stande der Wildheit
und Barbarey herausgearbeitet hat; je weniger ihr Klima und
ihre Verbindungen mit andern erlauben, die Sorgen fur die Be-
diirfnisse des Korpers mit den Sorgen fur die Bediirfnisse des
Geistes zu vertauschen, und den Werth der geistigern Vollkom-
menheiten durch die Bearbeitung derselben kennen zu lernen: 30
desto geringere Eigenschaften wird das Ideal bekommen, das
sie sich von Gott bildet; desto leichter wird sie ihm Fehler beyle-
gen, die sie an sich schatzt; destomehr werden ihre Begriffe
vom gottlichen Wesen widersprechend werden; und desto han-
figer wird sie sein Bild in der Schopfung vervielfaltigt, und sogar
in geringern Dingen abgedruckt glauben. - Wird aber dadurch
UBER DIE RELIGIONEN IN DER WELT I08l
der Verehrung des Schopfers etwas entzogen? - Liebt der India-
ner Gott, den er in der Sonne anbetet, nicht eben so sehr nach
. seinen Kraften, fiihlt er die GroBe des GroBten nicht eben so
sehr nach seinen Kraften als der Philosoph, welcher sich Gott
nach reinen Vernunftbegriffen, als den Inbegrif alles Voll-
kommnen, als die Quelle aller Wesen denkt? Oder soil jener
weniger tugendhaft seyn, weil er Gott die Vollkommenheiten
nicht giebt, die er nicht kennt, und von ihm nicht groBer denkt,
als er kann? Oder deswegen, weil er anstatt eines dunkeln Bildes
10 in der Phantasie, das entweder ein korperliches oder gar keines
ist, das glanzende Bild, die Sonne wahlt, und nicht Kraft genug
hat, sich den Schopfer noch vortreflicher als sein vortreflichstes
Werk vorzustellen? -
Der Satz von einem Leben nach dem Tode ist bey aller seiner
Verunstaltung eben so nutzlich wie der vom Daseyn Gottes.
Jedes Volk bildet sich seinen Himmel nach dem Theil der Erde,
den es bewohnt; es erwartet da die Freuden, die es durch sein
Klima u.s.w. zwar kennen lernte, aber nicht oft, nicht reichlich
genoB. Jedes muB also im Himmel eine andre Gliickseligkeit
20 suchen, weil jedes eine andre auf der Erde kennt; und dasjenige,
welches nur mit den Reizen der sinnlichen Wolliiste bekannt
ist, wird im Himmel den GenuB reiner und geistiger Vergnii-
gungen weder erwarten noch begehren. Der alte Deutsche
schrankte seine Wiinsche bios auf einen Himmel ein, der seinen
Durst mit vortreflichem Biere stillte, das er aus den Handen
schoner Madchen bekam, und aus den Hirnschadeln seiner
Feinde trank. Allein alle diese Vorstellungen von der Gliickse-
ligkeit eines andern Lebens sind nicht unwirksam, sondern Be-
weggriinde zu gewissen Handlungen bey denen, deren kleine
30 Sele nur kleine Wiinsche erzeugt, und durch nichts als die Hof-
nung, sie zu erreichen, in Bewegung gesetzt wird. WenneinSo-
krates fur einen Himmel stirbt, wo er Tugend und Weisheit er-
wartet; so stirbt ein MuhammedanerfiirdasParadies, das ihm die
groBten Wolliiste der Sinne verspricht, und der Negersklave fur
das Land, das ihm seine Bekannten und seine alten Freuden wie-
der giebt. - Das ubrige laBt sich hinzusetzen, was ich sagen will.
1082 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Die Religionen andern sich mit den Volkern; beyde steigen
mit einander. Selbst das Judenthum stieg von einer Stufe der
Geistigkeit zur andern; und die christliche Religion sogar blieb
nicht immer dieselbe. Diese glanzte anfangs nur schwach aus
den Ruinen des Judenthums hervor, und vermehrte ihr Licht
mit ihren Anhangern. Sie klimmt, nach der MuthmaBung eines
groBen Marines, noch jetzt zu der Reinheit der natiirlichen Reli-
gion hinauf; und es ist wahrscheinlich, daB wir im Himmel ein-
mal zuviel seyn werden, um noch Christen zu seyn. - Warura
solleh wir aber einen gleichen stufenweisen Fortgang des Lichts 10
bey andern Religionen nicht annehmen? Konnen nicht manche
nichtchristliche Religionen in dem VerhaltniB zur natiirlichen
stehen, in welchem die judische zur christlichen stand? Bahnte
nur das Judenthum dem Christenthum den Weg? Kann die Vor-
sehung auf keine andern als jiidischen Irrthumer Christuswahr-
heiten bauen? Gewis, mit einem scharfern Auge wiirde man
bemerken, daB das VerhaltniB aufeinanderfolgender, nicht-
christlicher Religionen zu einander eben so merkwiirdig ist, als
das der jiidischen und christlichen. - Allein das Wenige was
wir wissen, hindert uns iiberall und also auch hier, das Obrige 20
zu wissen.
VERGLEICHUNG DES ATHEISM MIT DEM
FANATISM
Beyde erzeugen gleich schadliche Wirkungen, und sind nur in
ihrem Ursprunge verschieden. Der Atheist irrt, weil er selbst
denkt, der Fanatiker, weil er bios mit dem andern denkt. Jener
gelangt mit Muhe auf einen Irrweg, welcher einen Mann fo-
dert, der auch die steilsten Hohen der Wahrheit erklimmt; dieser
hat seinen Irrthum einer Schwache zu danken, die halb die Wir-
kung seines Kopfs, und halb die Wirkung seines Herzens ist.
io Neben dem Wege zur Wahrheit liegt auf der einen Seite die
abschuBige Bahn zum Fanatism, und auf der andern die steile
Hohe zum Atheism; in jene darf man so zu sagen nur fallen,
auf diese muB man steigen; allein man kann auch leichter von
dieser zuriickkehren, als von jener. Ein Atheist muB ein Philo-
soph, ein Fanatiker ein schlechter Theolog seyn. Die Vervoll-
kommung der Philosophic macht daher den Atheism, die Ver-
vollkommung der Theologie den Fanatism unmoglich - Beyde
Ungeheuer hat die Nacht gebohren; beyde sind Feinde des Ta-
ges. Der Aberglaube hat nie einen groBen Mann zum Anhanger
20 gehabt, ausser in dem Zeitpunkt, wo der groBe anfangt, klein
zu werden. - Der Atheism hat einen Spinosa gehabt. Man kann
den Gotteslaugner durch Griinde widerlegen; der Aberglaubige
nimmt keine an. So wie man leichter ein falschsehendes Auge
verbessern, als ein blindes heilen kann; eben so ist's leichter,
einen verniinftig machen, der seine Vernunft iibel anwendet,
als einen, der keine hat. Der Atheist verehrt einen Gott nicht,
den er nicht glaubt; der Fanatiker verehrt einen falsch, den er
nicht kennt; auf der einen Seite scheint's besser zu seyn, sich
keine als sich entehrende Begriffe vom hochsten Wesen machen;
30 auf der andern ist's niitzlicher, einen Irrthum hegen, der unsre
anderweitigen Beweggriinde zur Tugend verstarkt, als einen,
IO84 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG
der die Ausiibung jeder guten That von dem Ausspruche unsers
Eigennutzes abhangig macht. Der Gotteslaugner begeht nie das
Laster darum, weil er's mit der Tugend verwechselt, sondern
weil er's zur Erreichung seiner Absichten tauglich findet - cr
verehrt bios die Tugenden, zu welchen ihn die Gesellschaft
zwingt, welche sein Eigennutz anrath, und die Giite seines Tem-
peraments hervorbringt. Der Fanatiker wird viele Laster bege-
hen, weil er sie fur Tugenden halt; er wird aus Pflicht bose
seyn, und sich nicht selten aus Liebe zum Himmel der Holle
wiirdig machen - allein er wird nicht das Bose thun, weil es 10
die Larve der Nutzlichkeit tragt, noch das Gute unterlassen,
weil es seinen Neigungen widerstreitet. Der Atheist ist ein bes-
serer Burger als der Fanatiker, weil er toleranter ist. Ich weis
nicht, ob ein Staat von Atheisten moglich ist; aber ich weis,
daB ein Staat von Fanatikern schon wirklich war - in jenem
mdgt' ich nicht Freund, aber in diesem noch weniger Feind
seyn. Der Aberglaubige hat Autodafe's errichtet; man hat von
ihm genug Boses gesagt, wenn man nur dies gesagt hat. Der
Atheist hat es nie gekonnt; allein es scheint auch nicht, daB er's
je wiirde gewolt haben; er ist ein Philosoph; er verbrennt daher, 20
wenn er intolerant ist, lieber die Bucher als die Korper seiner
Gegner, und findet am andern mehr seine Dummheit als seine
Ketzerey. Der Fanatiker glaubt den Andersdenkenden hassen
zu diirfen, weil er ihn der Holle wiirdig halt; der Atheist aussert
mitleidigen Stolz gegen den, dessen Meynungen er fur Beweise
seiner Dummheit ansieht. Der Atheist sucht Proselyten zu ma-
chen, weil er jeden Proselyten fiir einen Sklaven an dem Triumph-
wagen seines Systems halt; der Fanatiker bekehrt aus Pflicht
und heiligem Eifer; dieser klagt iiber das bose Herz des andern,
und glaubt an ihm den Dienst des Teufels schon auf der Erde 30
verrichten zu diirfen; jener klagt iiber den schwachen Verstand
des andern, und bestraft ihn durch Spott und Verachtung. Der
Fanatiker ist allzeit zu warm, der Atheist immer zu kalt - dieser
hat weder groBe Laster noch groBe Tugenden, jener zeichnet
sich oft durch beyde zugleich aus. Die Menschenliebe des Fana-
tikers ist eingeschrankt, aber oft feurig; die des Atheisten hat
ATHEISM UND FANATISM IO85
ihre Ausdehnung ihrer Kalte zu danken. Man kann eher den
schadlichen Wirkungen eines Atheisten, als eines Fanatikers
Einhalt thun. Denn jener handelt aus einem Eigennutz, welcher
zeitliche Vortheile zum Endzweck hat; er fiirchtet den Tod als
das groBte Ubel; er vermeidet ihn durch die Aufopferung seiner
schatzbarsten Vergniigungen, durch die Ubernehmung der
grofken Leiden; es giebt also eine Strafe fur ihn, die ihm furch-
terlicher als die Ertragung jedes Ubels, als die Beraubung jedes
Vergniigens seyn muB. Allein wer will denjenigen vom Laster
10 abhalten, der sich durch einen Befehl Gottes zur Ausiibung des-
selben berechtigt glaubt; wo ist eine Strafe fur das Verbrechen,
das mit dem Himmel belohnt wird, und wo sind die Schranken
fiir den, der seinen Muth durch heitere Aussichten bis zur Kuhn-
heit erhebt, seine Standhaftigkeit durch die Hofnung iibernatur-
licher Einfliisse bis zur Unempfindlichkeit stahlt, und in seinem
Plan den Tod selbst zum sichersten Mittel zur Erreichung seines
Endzwecksmacht? — DieMenschheithatdie Schlage des Fana-
tism tief genug gefiihlt, der im Gewande der Religion Verbre-
chen auf Verbrechen haufte, der aus Begierde nach dem kunfti-
20 gen Himmel die gegenwartige Welt in eine Holle verwandelte,
der seine Gestalt in die Jahrbucher der Welt mit blutigen Ziigen
gezeichnet hat. Welches ist nun das groBte Ubel, Atheism oder
Fanatism? Voltaire antwortet wahr und schon: L/Atheisme et
le Fanatisme sont les deux poles d'un univers de confusion et
d'horreur. La petite zone de la vertu est entre ces deux poles;
marchez d'un pas ferme dans ce sender, croyez un dieu bon,
et soyez bons. -
EIN NICHTCHRISTLICHER WEISER
Ein Weiser - wenn jemand auf der Erde diesen Nahmen verdient
- verlies das gesellschaftliche Leben, und begrub sich in die Ein-
samkeit; den Zufluchtsort derer, die das Leben kennen lernen,
eh' sie es geendigt haben; den halben Weg vom Leben zum
Grabe; den Abend nach einem schwulen Tage. -
Er war in einem Lande, wo der Weise eines von den Thieren
aus der neuen Welt ist, wo man die Lange des Gehorwerkzeugs
zum MaaB des Verstandes bestimmt; wo nichts als die Erhaben-
heit des Buckels zu erhabnen Ehrenstellen befordert. Dieser 10
Weise beleidigte mit seiner Weisheit die Machtigen und die Prie-
ster des Landes, die sich in den Schatten der Unwissenheit setz-
ten, und unter den dicken Wolken der Dummheit Schutz fur
ihren Kopf gegen den brennenden Strahl der Wahrheit suchten.
Er beleidigte auch diejenigen, die sich nicht durch das Licht
des Klugern, sondern durch den Szepter des Machtigern, wie
gewisse Thiere, durch den Priigel ihres Treibers, woken leiten
lassen. Darum floh er in die Einsamkeit.
Sein GedachtniB hatte genug in der Welt eingesammlet, um
seinem Verstande Nahrung in der Einsamkeit zu geben. Er hatte 20
andern geniitzt; darum wok* er auch sich nikzen, - er war der
Gesellschaft andrer wiirdig; darum war er auch der seinigen
wiirdig. Er woke in der Einsamkeit das vergessen, was nirgends
als in der Welt niitzt - die Gelehrsamkeit; er woke in der Ein-
samkeit das lernen, was am meisten jenseit des Grabes niitzt
- die Weisheit. - Darum suchte er die Einsamkeit.
Sein Herz war in dem Getummel der Gesellschaft von tausend
Seiten gedriickt, gestoBen, verletzt und verwundet worden -
darum suchte es Heilung im SchooBe der Einsamkeit. Er hatte
viel verlohren; aber er hatte es noch nicht beweinen konnen, 30
- er hatte die Menschen begraben, die ihn liebten; darum floh
er die, die ihn haBten, und suchte die Einsamkeit.
EIN NICHTCHRISTLICHER WEISER IO87
Diese Einsamkeit war so still, wie sein Herz, so traurig, wie
seine Gedanken - in ihr wohnten nur Freuden, die sich mit dem
Flore der Schwermuth verhullten, nur die Leiden, die das Herz
sanft bewegten, die aus keiner Leidenschaft flossen, und der
Vernunft selbst eine mannliche Thrane abzwangen.
In dieser Einsamkeit, wo unser Weiser den unbegreiflichen
Schopfer in seinem ersten und schonsten Tempel anbetete; wo
jeder Gegenstand seinen Geist zum Denken, oder sein Herz zum
Empfinden reizte; wo ihn der Friihling durch seine Pracht an
10 den schonern Himmel, und der Herbst durch seine Verwiistung
an das finstre Grab erinnerte; - in dieser Einsamkeit schlich oft
der Gedanke an das Leben und den Tod durch seine Sele. Er
hatte oft genug gedacht, um tiber gewisse Dinge nicht wie andre
zu denken, und nur zu haufig geirrt, um mit dem Zweifel nicht
bekannt zu seyn. Einstmals, da in einem nachtlichen Spatzier-
gang seine traurigen Betrachtungen durch die Dunkelheit der
Nacht etwas Feyerliches, und durch die Stille derselben unge-
wohnliche Nahrung erhielten, einstmals dacht* er so bey sich:
»Was war ich, eh' mir noch mein Daseyn durch Schmerzen
20 bekannt wurde? Was bin ich jetzt? Was werd* ich seyn? - Dieses
Teh, das sich unbekannt, das sich furchterlich ist, was war es
vor der vergangenen Ewigkeit? Wie ist es das meinige gewor-
den? War ein ewiges Nichts sein ewiger Aufenthalt? Nein, ich
kann es nicht denken, - ich kann niemals Nichts gewesen seyn,
denn ich war ewig ein Etwas fur den Gedanken Gottes; sein
Blick auf mich, schuf mich. Aber was war ich, da ich ein geisti-
ger Punkt in der unendlichen Ideenwelt Gottes war? War ich
vielleicht ein Staubgen in dem ewigen Wesenchaos? Vielleicht
das ewige Spiel eines unaufhorlichen Wechsels von Wirkung
30 und Gegenwirkung eines Atomenuniversums? - Ich bin also
ewig, und kenne den Theil meines Daseyns nicht, der bey wei-
tem der langste war? Kenne die unendliche Reihe von Zu-
standen nicht, die die endliche Reihe, der jetzigen gebahren?
Meine jetzige Existenz ist mir unbegreiflich; meine vorige wi-
dersprechend - ich wanke zwischen dem Widerspruch eines
ewigen Nichts, das in der Zeit Etwas ist, und zwischen dem
1088 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Widersp ruche eines ewigen Etwas, das anfangt in der Zeit zu
seyn, ohne Stiitze herum, und wechsele mit meinen Widersprii-
chen nichts als die Foltern des Zweifels und des Staunens. -
Aber ist mir wohl die Zeit bekannter als die Ewigkeit? Das
Gegenwartige deutlicher als das Vergangne? Nein, mein voriges
und jetziges Daseyn ist bios ein Wechsel unbegreiflicher Zu-
stande. Unbekannt mit meiner aussern Hiille, und meinem in-
nern Wesen; ein Herr und ein Sklave eines Korpers, der mich
zum Verwandten des Thiers macht, und mir in den Abstuf ungen
der groBten bis zu den kleinsten Thieren immer noch Ahnlich- 10
keit mit der Menschheit, und die furchtbare Moglichkeit einer
unendlichen Heraberniedrigung meines Wesens zeigt; der Raub
entgegengesezter Triebe; der Ball korperlicher und geistiger
Versuchungen; das Spiel einer unbegreif lichen Abwechselung
von Tugend und Laster, von Weisheit und Thorheit, von
Freuden und Quaalen, von Starke und Schwache; fur vieles zu
gros, fur vieles zu klein; nie dem Thiere ganz gleich in meinem
Fallen, nie demselben ganz unahnlich in meinem Steigen; unbe-
lehrt von geringern und hohern Wesen, iiberlassen meinen Irr-
thiimern und unbekannt mit allem, ja beynahe mit meinen 20
Rathseln - bin ich hier, staune, forsche, hoffe, fiirchte und lerne
den Tod fruher kennen, als mein Leben. Den Tod kennen ler-
nen? O wiiBte ich jetzt, was er ware, sah' ich ihn, eh' ich ihn
fuhlte, kennte ich das unbekannte Land, eh' ich diese Erde und
diesen Korper verlieBe! - Vielleicht driick' ich meine Augen
zu einem ewigen Traume zu? Aber vielleicht ist das jetzige Leben
ein Traum, den meine Phantasie zu Nachts, und meine Sinne
am Tage traumen - ein Traum, der mit meinem Leben ver-
schwindet und aus dem mich der Tod zu einem ewigen Wachen
stort? Meine KenntniB ist klein, und meine Hofnung gros; ich 30
weis nichts vom andern Leben; aber ich weis etwas von dem,
der mich zu diesem gebildet hat. O Unbegreiflicher! Dessen
Licht dich uns verhullt, dessen GroBe unsern Verstand zum de-
miithigen Staunen niederdriickt, dessen Giite durch ihre
Unendlichkeit dem Herzen kaum einen stummen Dank zu wa-
gen erlaubt, - wenn einst der letzte Schmerz meine aussere Hiille
EIN NICHTCHRISTLICHER WEISER IO89
zerstohrt; wenn dieses Herz die letzte Minute meines Lcbens
schlagt, den letzten Seufzer preBt, die letzte Hofnung wait;
wenn es dunkel um mich, und kalt in mir wird; wenn die Ge-
spenster der Furcht und des Vorurtheils der sterbenden Vernunft
den lang erkampften Sieg entreissen, und meine Gedanken wie
bewegliche Schatten der sinkenden Sele vorschweben; wenn
endlich der Tod mein Wesen erschuttert, und mir das Gefiihl
und den Gedanken des Sterbens durch das Sterben raubt, und
wenn ich dann bin, was ich nie gewesen war, o! dann sey deine
10 Hiilfe groBer als meine Schwachheit - dann schiitze mit deiner
Giite den Geist, der dir noch nicht danken kann - dann erhelle
das dunkle Land des Todes durch deine Liebe, und giefie in
mein verandertes Ich mit der Empfindung seines Daseyns die
Empfindung deiner Giite aus! -« Seine Zweifel endigte nichts
als der Tod, der vielleicht seine Hofnungen nicht endigte, son-
dern erfullte. -
UBER DIE
PERRUCKEN UND SCHWARZEN ROCKE
DER GEISTLICHEN
Der Witz ist wenig zu sagen, abscheulich genug, und hat iiber-
haupt am wenigsten unter uns alien Verstand und Menschen-
liebe. Jeder Autor, der ihn in sein Buch einlasset, verdienet,
wie ich und verschiedene Rezensenten besorgen, den Tadel der
Ziererey und Affektazion auf alle Weise; daher hat er auch bis
auf diese Stunde sich die Achtung der bessern Menschen, die
ihn noch nicht haben, vergeblich zu erwerben gesucht. Woltest 10
du, Genius des witzigen Englandes, dich nur horen lassen: so
weis ich gewis, du hieBest den Witz ohne Bedenken wahres
Platzgold, das stark in die Ohren fallet, sonst aber schlechte
Miinze ist, und in der That nicht zu falschen Louisd'ors tauget.
Ich woke, der Witz ware selber da: Vielleicht gab' er sich selbst
den Nahmen einer bunten Spielmarke der Wahrheit, oder stellte
sich gar mit dem Papiergelde in eine passende Vergleichung. -
Wenn schon dem Witze so viel vorzuwerfen ist: so verdienet
die Satyre vielleicht gar nicht einmal, daB man ihrer gedenkt,
oder nur eine Satyre auf sie ausarbeitet. Wahrhaftig, wenn ich 20
der Teufel ware: so wiirde ich ein sehr gutes Werk verrichten,
und die meisten Satyriker wirklich holen; die ganze Welt wiirde
mir dieses ausserordentlich danken, und ich hatte dann ein Opus
supererogationis aufzuweisen; die schwachen Seiten der Men-
schen, deren es so viele giebt, wiirden dann nicht mehr auch
die leidende Wetterseite derselben seyn mussen; man wiirde
dann keine andern Schacher mehr finden als bios buBfertige;
alle Steckbriefe wiirden sich in vollkommene AblaBbriefe ver-
wandeln; alle Thronen, Richterstuhle und Kanzelstiihle wiirden,
welches man vorjetzt vergeblich versucht, aufs Beste besetzet 30
seyn, und die ganze Welt wiirde aufrichtig die ganze Welt loben,
und ich mich selbst mit.
PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO9I
1st es daher ein Wunder, wenn ich mich bey dieser offenbaren
Schadlichkeit des Witzes und der Satyre, beyder sehr zu ent-
schlagen suche, und besonders in meinen witzigen und satyri-
schen Aufsatzen ihnen wenig Platz zu fassen verstatte? Es ware
aber sehr zu wiinschen, daft auch unsere schlechten Autoren
hierin in meine FuBtapfen zu treten sich entschlossen: vielleicht
wiirde man ihnen dann seltener den Vorwurf eines grossen Wit-
zes und einer guten Satyre zu machen nothig haben.
' Vorzuglich bedenk' ich alles dieses genug, wenn ich eine Feder
10 schneide, um mit ihr etwas Gutes iiber die Geistlichen hinzu-
schreiben. »Lieber Hasus, sag' ich vorher zu mir selbst, denke
wohl darauf, was du vor hast, und wenn du nicht vollig gewis
vorher versichert bist, daB dir nicht das Geringste von Witz
in deinem Aufsatze entfahren wird: so stehe davon lieber ab;
wir beyde werden sonst verbrannt, und die Rezensenten stechen
uns mit ihren Bienenstacheln ganz todt.« Alsdann beobacht'
ich ein anderes und behutsames Verfahren, und stelle mich vor
meinen Schriftkasten, in dem bios Schreibelettern stehen, wie ge-
wohnlich hin. In diesen Kasten - ich schJieBe aber vorher die
20 Augen zu - greif ich mit einigem Anstand, und hebe nach und
nach aus ihm so viele Buchstaben heraus, als zu einem guten
Aufsatze etwan vonnothen sind, welches ein guter Kunstrichter
leicht bestimmet. Dann ist der Aufsatz, wie es scheint, so weit
gebracht, daB er ohne weiteres Kiinsteln in die Druckerey schon
reisen kann, um da durch Drucklettern erst recht vervielfaltigt
zu werden. Es ist wohl natiirlich, daB. solche Arbeiten nicht
anders als gut ausfallen konnen: denn der Zufall machet sie of-
fenbar, welcher wie bekannt einer unserer besten Schriftsteller
ist; daher gute Atheisten ihm nicht nur die Schopfung der Welt,
30 sondern auch der Iliade zuschreiben, und gerne fur beyde ihm
das Macherlohn nicht verweigern. Man diirfte sich nun das
reichliche Lob, worn it man bisher meine theologischen Aufsatze
belegte, leicht erklaren konnen, da sie namlich von keiner unge-
schicktern Hand herkommen, als von der, die man schon seit
tausend Jahren in der schonen Iliade zu bewundern, nicht ermu-
den will.
1092 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Auch der folgende Aufsatz stammt aus mcinem Schriftkasten
ab, der wie es scheint der Futterkasten aller Seelen, ein Spruch-
kastgen fur Fromme, ein moserischer Zettelkasten fur mich, und
der Briitofen der beBten und jiingsten Wahrheiten ist. Ich will
freylichhoffen, daB in diesem Aufsatze Witz und Wahrheit genug
vermieden worden: allein hatte sich dergleichen in ihn dennoch
eingeschlichen, so weis eine billige theologische Welt zu wohl,
daB bios dem Schriftkasten und dem Zufalle davon die Schuld
zu geben ist, als daB sie dafiir mich unschuldiger Weise zur Re-
chenschaft Ziehen und verbrennen soke.
Man bedenkt es zu wenig oder gar nicht, daB man den Rock
(d. h. den Stand) verschonen miisse, wenn man den Mann anfal-
let, so wie man in Siberien die Zobelthiere ohne Verwundung
ihres kostbaren Felles zu erschieBen sucht, welches auch mit
bleyernen Bolzen gar leicht zu thun ist, und daB nur schlechtden-
kende Satyriker mit ihren Pfeilen Rock und Mann zugleich
durchlochern. Was thun aber gleichwohl die anders, welche
schlecht genug denken konnen, um durch Satyren den Rock
oder die Kleidung der Geistlichen anzufechten? Ein guter Staat
soke so etwas eigentlich gar nicht leiden; wenigstens, will ich 20
es nicht leiden, sondern auf der Stelle die beste Schutzschrift
fur ihre Kleidung - sie ist zugleich die anziiglichste Schmah-
schrift auf die gedachten Satyriker - frohlich ausarbeiten.
Das vorzuglichste Geschaft der Geistlichen ist, wie bekannt,
unaufhorlich mit den Teufeln zu fechten, und die besten Religi-
onskriege mit ihnen zu fuhren. Denn leider horen ja die Teufel
bis auf diese Stunde noch nicht auf, geschickt auf die Universal-
monarchie der Seelen Jagd zu machen, und sie hatten sogar schon
einigemale einen Stadthalter in Rom. Glucklicher Weise sind
unzahlige Geistliche mit verschiedenen Windbuchsen da, und 30
auch mit gutem Feuergewehr;* diese jagen den Teufeln die besten
Seelen ab, lassen Avokatorien ausgehen, und singen schon oft
* Der Verf. meynt vermuthlich nur einen Pater Merz und seine
Gesellen.
PERUCKEN DER GEISTLICHEN 1093
genug das Te Deum statt eines Kanzelliedes: gewis verdienen
diese kiihnen Streiter es wenig, daB der Satan sie so oft wider
alle Billigkeit als seine Sklaven fortfuhret, und es ware zu wun-
schen, ich hatte soviel Geld, wie irgend ein Konig, so wiirde
ich gern diese armen Christensklaven aus der Barbarey loskaufen.
Ich will aber zeigen, warum ihre Montur schwarz ist - sie ist
es namlich, weil die ihres Feindes es gleichfalls ist. Denn es
ist bekannt, daB der Satan und alle schwarze Husaren, die er
unter seine Fahne geworben, sehr viel aus der Schwarze machen,
ro und ihr ganzes Wesen gern damit tingiren.* Warum solten nun
hier die Geistlichen nicht zu einer vollig unschuldigen Kriegslist
ihre Zuflucht nehmen diirfen? Wenn sie namlich sich anstellen
- und das ist leicht - als ob sie selbst mit unter die Schwarzen
gehorten: so spielen sie dem Satan einen verdammten Streich;
sie rekognosciren seine Starke unangetastet, und thunihm unter
dem Deckmantel seiner Parthey manchen Schaden. Am besten
fahren freylich die Geistlichen dabey, die mit dieser Farbe nicht
bios ihren Rock, sondern auch ihr Wesen aufputzen; diese ver-
mag der Satan dann vollends gar nicht von seinen Freunden
20 zu unterscheiden, und sie konnen mit aller Gemachlichkeit hin-
ter seine Starke und seine Geheimnissc gelangen: aber auch die-
jenigen Pries ter, an denen nur der Rock schwarz ist, machen
dem Teufel ein Blendwerk vor, der sie hernach ohne Bedenken
zu den Advokaten schlaget, die an manchen Orten (in Paris)
in einem schwarzen Anzuge herumlaufen.
Man kann hier bemerken, daB die gewohnlichen Schutzredner
der geistlichen Kleidung ihrer Sache wahren Abbruch thun,
wenn sie die Unterscheidung von andern zur Absicht dieses
Anzugs machen. Wie? Der schwarze Rock soil die Montur seyn,
30 die einen Prediger von andern auszeichnet? Wenn das ist: so
unterscheide ich mich auch von andern Menschen, wenn ich
zuweilen narrisch bin. Aber dieses Unterscheidungszeichen
hanget ja an alien; in der Trauer geht man schwarz; an den ersten
* Diese Schwarze haben nicht wir Christen zuerst am Teufel be-
merkt, sondern schon die Heiden gaben sie ihrem Teufel dem Pluto;
seine Priester und seine Opferthiere waren daher schwarz.
1094 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG
Festtagen traget sich der Zuhorer so gut schwarz, wie sein Pre-
diger; selbst der Stutzer gauckelt in schwarzen FliigeUecken
herum; obrigkeitliche Personen, und an vielen Orten die Advo-
katen zieren sich mit einem schwarzen Gefieder, und sogar die
Haut ganzer Volker ist mit dieser Farbe uberschattet. Mich
diinkt, was ich mit jedem gemein habe, das kann mich nicht
mehr von jedem unterscheiden. Zum Gliicke ist auch eine so
lacherliche Absicht den Geistlichen niemals in den Sinn gekom-
men, und sie wiirden gewis einen bessern Weg, sie zu erreichen,
, einzuschlagen verstanden haben. Ich wolte wetten, sie hatten 10
dann alle zur weiBen Kleidung gegriffen; diese tragt fast nie-
mand, als zuweilen die Frauenzimmer und als die Unschuld,
die noch dazu nur selten erscheint. Die weiBe Farbe ist die Flagge
des Christen thums, und in seinem Wappen die schicklichste
Tinktur; daher giengen auch in ihr die Pries ter der Alten und
der ersten Christen, desgleichen sieben Tage lang die Neuge-
tauften; und sie riihret so sehr, daB mich verschiedene Frauen-
zimmer, nachdem es andere mit weifier Schminke vergeblich ver-
suchet, mit weifler Kleidung zu ihrem groBten Vergniigen
wirklich gefangen haben. Also wie gesagt, hatten sich die 20
Geistlichen durch den Rock ausnehmen wollen: so hatten sie
sich weiBe Kleider bestellet, wenigstens waren sie doch wahr-
haftig gleich den Schornsteinfegern am Sonntage weis erschie-
nen.
Mit wahrem Vergniigen nehme ich wahr, daB ich nicht nur
sehr geschickt die geistliche Kleidung von der Andichtung, daB
sie unterscheiden sollen, wirklich losgemacht, sondern, daB ich
auch ganz gut ihre wahre Bestimmung ins Licht gesetzt, namlich
einc spashafte Ahnlichkeit mit dem Teufel zu verleihen, der
von den Geistlichen stets angefallen wird: So behauptet der 30
groBe Origenes, daB die ersten Eltern sich in die Haut der
Schlange gekleidet, die sie beriicket hatte. Allein es ware (iberaus
schlecht von mir gedacht, wenn ich schon aufhoren wolte: Ich
entdecke daher noch gar viele und wirklich gute Bestimmungen
an der geistlichen Kleidung.
Denn sie macht ferner auf eine auffallende Weise jeden, der
PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO95
sie tragt, ausnehmend heilig, welches mir lieb seyn kann. Uber-
haupt ist zwischen einem Rock und einer Seek fast gar kein
Unterschied, und die Giite des einen laBet sich ohne die Giite
der andern vielleicht nicht denken. Daher haben freylich die
offenbar Recht, die behaupten, daB das ganze jiingste Gericht
darin bestehe, daB wir samtlich von den Engeln in ein groBes
Gewandhaufi gefahren werden, wo das Tuch, das jeder bey sei-
nen Lebzeiten getragen, genau und uripartheyisch befiihlet und
geschatzet wird, und daB nur diejenigen wirklich verdammt
10 wiirden, die als Bocke schlechte Tuchwolle und keine spanische,
und mithin kein Kleid der Tugend anhatten. Daher ahmet man
am Hofe das jiingste Gericht sehr nach, und sieht die Person
nicht an, sondern bios den Rock; selten wird da ein guter Rock
verkannt, und man schatzet zu alien Zeiten an ihm Witz und
Verstand sehr. Was das schone Geschlecht anlangt: so flieBet
die Schonheit, womit es uns das Herz abgewinnet, und uns
vor sich auf die Knie niederdruckt, ganzlich aus seinem Anzug
her, und keine wohlgekleidete Dame wird es in Abrede seyn,
daB sie schon genug ist, und vielleicht fast zu viel Leim an sich
20 traget, um die Fliigel des Amors an ihrem Korper als einer Leim-
stange ordentlich anzukleben. Wird nun Verstand und Schon-
heit vom Anzuge ganz und gar verliehen: wie viel leichter From-
migkeit, die so weit unter beyden stehet! Daher ist es zur Tugend
gar nicht vonnothen, daB man ein stark besetztes buntes Kleid
anhabe; sondern es ist schon vollig hinJanglich, wenn man nur
einen gewohnlichen schwarzen Rock anzieht; dieser schenket
vielleicht mehr Heiligkeit als ein ganzer Ozean von Weihwasser,
und man kann es fast fur einerley ansehen, den alten Adam
aus- oder einen schwarzen Rock anziehen. Den Grund davon
30 auszuspiiren, dazu gehoret vielleicht die beste Nase; ich glaube
aber doch, nicht ganz von der Wahrheit abzukommen, wenn
ich behaupte, daB die Sache vollig so ist: Die schwarze Farbe
- das hat Newton so lange er lebte, gesagt - schluckt die meisten
Strahlen ein, und giebt die wenigsten von sich; nun bestehet
offenbar der Geist der Frommigkeit in etwas Ahnlichem, in
einem innern Lichte, das sich nicht mittheilet, und dessen Ver-
IO96 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
steckung die meisten mit dem Nichtdenken augenscheinlich
verwechseln; es kann also, wo der schwarze Rock ist, diese in-
nere Beschaffenheit der Seele, da der Korper auf die Seele einen
allmachtigen EinfluB hat, und da sie sich nach ihren taglichen
Empfindungen modelt, wohl nicht lange aussen bleiben. Dazu
kommt die Erfahrung, die auf alles dieses ein besonderes No-
tariatssiegel druckt. Man ziehe namlich einem wohldenkenden
Geistlichen - in vielen Fallen gliickt die Probe - das Priesterkleid
aus, und thue ihm einen Uberrock, der aber eine andere Farbe
haben muB, fertig urn, und bringe ihn dann nach dieser Reduk- 10
tion in eine Gesellschaft, welche werth ist, aufgehangen zu wer-
den: Wenn er da nicht noch mehr spaBet, schworet, larmet, ver-
laumdet als sie: so bin dafiir ich werth aufgehangen zu werden;
aber ich kann hoffen, daB er noch schlimmer ist. Und dennoch
riihret diese ganze Veranderung desselben, die den Grundsatz
nemo fit repente turpissimus genugsam widerleget, von einer
blofien Veranderung seiner Kleidung her: Denn man gehe nur
weiter, und gebe ihm den schwarzeii.Rock wieder und heb' ihn
auf die Kanzel: so wird ein wahrer Heiligenschein aus seinem
Kopfe dringen, seine Zunge wird die Luft, in die heiligsten Be- 20
wegungen setzen, er wird die Tugend mit den holdesten Farben
vor die Augen eben dieser schlimmen Gesellschaft mahlen und
iiberhaupt so reden, daB ich den Klingelbeutel nicht mehr hore,
und ganz geriihrt wieder fortgehe. So giebt es einige Vogel,
die ihren fremden Gesang allezeit vergessen, wenn sie sich mausen,
und die ihre Kehle mit ihrem Gefieder andern. Ich wiinschte
nur, der Leser zoge jetzt einen alten schwarzen Rock zum SpaBe
an, so wiirde er finden daB ich recht habe, und daB er dadurch
von seiner alten Bosheit, Intoleranz und andern Fehlern auf der
Stelle genug verlohren habe. Wenigstens erinnere ich mich noch 30
wohl, daB ich einmal, da ich einen Freund zu Grabe begleitete
- mir einen schwarzen Rock borgen muBte, und in ihm herum-
gieng: Lieber Himmel! Warum machst du mich nicht alle Tage
so, wie ich damals im gedachten Rocke war, indem ich einen
schlechten Satyriker abgab, an verschiedene Sterne dachte, und
den Tod, dessen Glieder auf dem Gottesacker umherlagen, gern
PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO97
ansah und anfiihlte ... Wahrhaftig, der alte Rock wirkt so in
mich, daB ich jetzt wieder weine . . .
Es ist so schwer, ein Geistlicher zu seyn, es fodert so viele
Verlaugnungen in dem fortreiBenden Wirbel der Freuden und
Beyspiele, daB wir alle ausserordentlich froh seyn solten, daB
nur ein schwarzer Rock im Stande ist, ein so seltenes und wichti-
ges Wesen zu erschaffen. Ich denke jetzt an die Kleider und
an das SchweiBtuch Pauli: Ich wolte, ihr waret Mode, oder es
konnte euch der Doktor statt des Doktorhutes kaufen; denn
10 ihr konntet jeden heilen, der euch angrif , und das kann der beBte
Doktorhut selten. Aber wir konnen doch etwas kaufen, das euch
noch iibertrift; wir konnen namlich uns einen schwarzen Rock
erhandeln, der die Seele wieder herstellet: Denn mancher Geistli-
cher verrichtet lediglich mit seinem Rocke die groBten Wunder
der geistlichen Kuren an sich und an andern. Gliicklich sind
also wohl die meisten Lander, da in ihnen leicht dergleichen
Rocke zu haben sind: man braucht nur ein ordinirtes Wesen
hineinzustecken; so hat man ein groBes Pflaster gegen gefahrli-
che Wunden des Geistes.
20 Wenn ich mich nicht irre, so ist der Baron O'Cahill ein liber-
aus verstandiger Mann; denn er giebt den Rath, die Artilleri-
sten mit einer schwarzen Montur zu begaben, weil sie dann
noch erschrecklicher seyn wurden, und weil - diesen letzten
Grund fiige ich hinan - auch dann ihre Gestalt mehr ihrem Ge-
schaft entsprache. Ich wolte, dieser Baron ware da bey mir;
er wiirde es gewis gern sehen, daB ich seiner Meynung bin,
und ein gleiches sogar von den Geistlichen behaupte, die ja eben-
falls mit den Teufeln kriegen, und vor Zeiten noch mehr den
Artilleristen glichen, indem sie nicht mit Kanonen, sondern gar
30 mit Scheiterhaufen verwiisteten.
Ich gebe denen meinen ganzen Beyfall, welche die schwarze
Kleidung dem traurigen Geschafte eines Priesters angemessen
finden. Denn in der That, es sey, daB man ein Christ ist, oder
daB man Christen macht, so thut man allezeit etwas (iberaus
trauriges. Man stirbt dadurch der Welt sehr ab, und legt sich
liber diesen Tod in Halbtrauer. Leider ist jene richtigere Vorstel-
IO98 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
lung vom Christen thume, die dasselbe zu einer Ponitenzpfarre
machte, und die christliche Kirche als ein ordentliches Trauer-
haus vorstellet, jetzt eben nicht mehr haufig, und wird es immer
weniger; aber um destomehr diirfte man dafur zu sorgen haben,
daB die einzigen Oberbleibsel jener Vorstellung, namlich die
traurige Schwarze des geistlichen Anzugs sich nicht endlich auch
verliehren. Ja man konnte auf diesem Wege noch den zweyten
Schritt thun: denn da der Geistliche von dem Gegenstande, den
er behandelt, wie ein Chamaleon seine Farbe entlehnet; so thate
er wohl, wenn er sie eben so oft anderte. Denn wie die Altare 10
zu Weyhnachten und Ostern weiB, zur Fastenzeit griin, in der
Marterwoche schwarz, und zu Pfingsten roth gekleidet werden:
so soke ein Geistlicher gleichfalls von den verschiedenen Festen
seine Kleider farben lassen. Warum predigt er am BuBtage
Nachmittags in derselben Farbe, in der er Vormittags auftrat,
da er dochhier iiber das Arte, und dort iiber das Neue Testament
prediget? Nicht so die Rhapsodisten, die die Odyssee in blauer
Kleidung, und die Iliade in rother absangen. Ja was mich anlangt:
so wiirde ich die Sache gar zu weit treiben; ich wiirde, wenn
ich in meiner Predigt zuerst das Gesetz und hernach das Evange- 20
Hum vorzustellen hatte, wahrhaftig in die FuBstapfen jenes be-
kannten Mannes treten, dessen Kleid zum Unterfutter ein Tuch
von anderer Farbe hatte; ich wiirde namlich mit einem ahnlichen
Kleide die Kanzel besteigen, damit ich, wenn der erste Theil
in einem gesetzlichen schwarzen Kleide gehalten ware, dann
nur das Kleid umwenden, und mit einem rothen zum zweyten
und evangelischen Theile schreiten konnte, wo ruber gewis je-
der, und ich selbst recht sehr lachen wiirde.
Dieses sind die wenigen Griinde, die mich bisher abgehalten,
mit dem Geschrey gegen die geistliche Kleidung auch das mei- 30
nige zu vereinigen, und nach denen ich nicht anders, als der
Meynung seyn kann, daB die Geistlichen, so gut wie sonst ihre
Biicher, schwarz eingebunden seyn miiBen . . . Aber auch ihre
Perriicken verdienen meinen ganzen Beyfall.
Denn sie und der groBe Hannibal setzen solche aus gleicher
Absicht auf; um namlich den Feind zu uberlisten. Hannibal
PERUCKEN DER GEISTLICHEN IO99
machte durch sie, sich bey dem Rekognosciren vor den Romern
unkenntlich; die Geistlichen bewirken durch sie bey den Welt-
menschen, daB diese sie fur keine Geistliche ansehen, welches
ihnen fast allemal gelingt, da die Materie und die Bestimmung
der Perriicken zugleich mit dem Laster in Verbindung stehen.
In der That siehet ein schweitzerischer oder englischer Prediger
mit seinem eignen ungeschmuckten Haare viel zu ehrwiirdig
und zu simpel aus, und man vermisset an ihm sehr diese Decke
Mosis von hinten, welche seinem Kopfe den Heiligenschein so
10 gutnehmen konnte. Hingegen, wenn man auf den Kopfen un-
serer Geistlichen dieses architektonische Laubwerk siehet, so
freuet man sich merklich, daB erstlich wenigstens die Aussen-
seite lhres Kopfes - denn die alten Theologen verfluchten die
Perriicken - sich mit poetischen Figuren verzieret, und etwas von
der Kultur znnimmt, und daB sie zweytens wie Narren aussehen,
statt, daB die Damen mit ihrem Kopfputze bios wie Narrinnen
ihnen vorkommen. Zu wiinschen aber war* es, daB sie nicht
auf dem halben Wege ihrer Verschonerung stehen blieben, son-
dern auch mit den iibrigen Erfindungen der Mode sich umhien-
20 gen, da sogar schon Juden ihnen das Beyspiel geben, und in
Berlin jetzt allgemein, trotz ihren alten Rabbinen sich Haarbeu-
tel anbinden lassen. Soke man beylaufig aber in Zukunft nicht
mehr darauf denken, Menschen, deren Haare zu Perriicken tau-
gen, an den Galgen zu hangen: so seh' ich in der That gar nicht
ab, wie kiinftig, da die Lustseuche immer mehrern kahlen
Hauptern aus der groBen Welt schone Perriicken aufsetzet, die
Geistlichen noch in einem anstandigen Kopftracht erscheinen
wollen, und ich besorge, es fehlet zuletzt ausser den Kopfen auch
an Perriicken selbst, die in der That wahre aus Haaren gewirkte
30 Kopfe sind. Die Obrigkeit bedenke dieB nur nicht zu spat, und
sage selbst, ob sie es wol gestatten konne, daB die Unkeuschheit
der Eitelkeit ihren Kopfputznimmt, und inn selber aufsetzet.
Dazu kommt noch, daB es einem Geistlichen, dem der wohl-
feile Ankauf seiner Kleidung viel zu wenig Kosten macht, ein
wenig sehr erschweret wiirde, das Geliibde der Armuth zu hal-
ten, wenn nicht der hohe Preis der Perriicken dieser Ersparung
1 100 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
einigermaBen wieder das Gleichgewicht hielte, und sie tragen
.gewis viel dazu bey, daB selten einer etwas hat. Wenn die Per-
riicken noch gar den Nutzen hatten, daB sie den Geistlichen
weniger Biicher zu kaufen erlaubten, so sprache fiir ihre Beybe-
haltung ein neuer Grund und auch Manner, die sonst nicht ge-
linde und modisch denken, wiirden es nicht miBbilligen, daB
die Perriicken die Kopfe ein wenig zieren, da sie selbige auch
zugleich oft ein wenig verfinstern.
J. P. F. Hasus.
[DIE ZUKUNFT DER THEOLOGIE]
»Ich woke, ich hatte der Zukunft den Ring des Gyges niemals
abgezogen: ich hatte gerade den Doktor Seiler gelesen; ich war
aber hernach sehr niedergeschlagen.« Diese unvorsichtige Aus-
serung entfuhr mir neulich in einem Synodus, wo wir gut genug
iiber den Propheten Daniel disputiret hatten. Ich glaubte nicht,
daB man sie bemerken wiirde; aber zu meinem grosten Misver-
gniigen mus ich horen, daB man sie recht wol auffieng. Denn
yon alien Seiten wird nun in mich gesezt, ich mochte doch das,
io was ich von dem kunftigen Schiksale der Theologie herausge-
bracht zu haben schiene, nicht geflissentlich verhehlen, sondern
alles zum Unterrichte so vieler theologischer Seelen redlich an
den Tag geben.
Wahrhaftig es ist sehr gut, daB nicht iede Hand den Betvorhang
vor der schlafenden Zukunft zuriikzuschlagen vermag: wenige
Menschen waren gesezt genug, um den Anblik da von auszuhal-
ten. War' es wol zu wiinschen, daB unsere Orthodoxen, deren
Lebensgeist die Rechtglaubigkeit ist, welche die symbolischen
Buch.tr fur die Konsensbucher der Wahrheit halten und welche
20 die Hofnung ihres Werthes, ihres Gliiks und ihrer Tugend vollig
auf ihren orthodoxen Glauben sezen, daB diese etwas von der
Zerstorung auskundschaften mochten, welche die Zukunft ih-
ren Lehrgebauden und ihrem salomonischen Tempel wirklich
drohet? Sie wiirden sich wahrhaftig zu sehr dariiber betriiben
und mit Schaden bemerken, daB einem Orthodoxen keine
Weissagungen vortheilhaft sind als bios die aus dem - alten Te-
staments. Desto leichter wird man sich vorstellen konnen, wie
ungern ich daran gehe, mit Prophezeiungen, die vollig wider
die Orthodoxen ausfallen, endlich hervorzukommen und es
30 ware mir wirklich am liebsten, wenn sie solche gar nicht lasen.
Zwar ziehen einige (iberhaupt das ganze Vermogen der Men-
1 102 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
schen, die Zukunft zu errathen, in Zweifel - wie wenig sind
diese beilaufig von den Sozinianern unterschieden, welche sogar
Got dieses Vermogen absprechen -;■ allein.es ist nur gar zu gewis,
daB ieder grosse Man ein wahres Wettermangen ist, das die kiinf-
tige Witterung empfindet und ich gabe selber etwas darum,
wenn mir dieses gefahrliche Talent versaget ware. Es ist aber
bekant genug, daB ich es in einem hohen Grade besize, seitdem
ich nach Paris gefahren; ich wurde da mit dem Marquis Puyse-
gur vertraut und kam durch ihn und einen Magnet ganz leicht
in kurzem so weit, daB ich in heftigen Entziikkungen die ganze 10
Zukunft vor mir unbewolkt und stark beleuchtet schauen kan.
VOM VERBOTE DER EINFUHR AUSLANDISCHER
SUNDEN
Es sind kaum dreissig Jahre, daB die Heterodoxen uns alien in
der Eile verboten, kiinftighin mehr Siinden von dem Teufel,
es sei nun daB er existirte oder daB er wie die Tugenden gar
nicht ware, anzunehmen und zu kaufen: »durch diese Einfuhr
fremder Ware aus der Holle, sezten sie aus guter Absicht hinzu,
geht sicher viel Geld (d. i. Tugend) ausser Landes, das wir be-
halten konten, wenn wir uns die Siinden, die wir am nothigsten
io brauchen, selbst zu fabriziren suchten und zu diesem Behufe
die besten Fabriken auf dieser elenden Erde anlegten.« Da ich
das horte: so billigte ich es wenig und machte die auifallende
Anmerkung: »wenn wirklich niemand mehf mit Lastern, es
mogen nun schwarze, oder schimmernde oder boue de Paris
farbige sein, handeln darf, die er vom Teufel bekommen, und
wennz. B. der Spieler seine Vol ten, der Hernhuter seinen geist-
lichen Stolz, die Hofdame ihre unehliche Treue gegen fremde
Manner, der Prediger den Elenchus seiner Predigten und ich
sogar meine Satiren, selber machen mussen:« Ich wolte gar aus-
20 reden und hinzufugen: »wahrhaftig man wird zu spat einsehen,
daB davon ein algemeiner Mangel an teuflischen Lastern die
Folge sein wird«; allein mein orthodoxer Nachbar fiigte es ploz-
lich hinzu. Inzwischen trieb man das Verbot hernach durch und
der Teufel wurde keiner einzigen Siinde mehr los; gleichwol
that das, zum Erstaunen unzahliger Menschen, dem menschli-
chen Handel mit Siinden nicht den geringsten Schaden und Hu-
rerei, Diebstahl, Liigen, Falschheit waren als ob gar nichts vor-
gefallen ware, noch wie alzeit bei iedem Menschen ordentlich
zu haben: allein die ganze Sache - dies giebt auf einmal Licht
30 - war folgendergestalt. Schon vor diesem Verbote namlich und
von ieher hatten die Menschen alle ihre dem Teufel zugeschrie-
benen Siinden wirklich selbst und in ihren eignen Manufakturen
1 104 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
zubereitet - wie etwan die Katholiken heilige Reliquien vom
Verrather Judas oder vom Esel, der Christum getragen, selbst
zu zimmern und nicht erst durch Tradizion und Kommissions-
handel zu bekommen pflegen - aber sie hatten nur auf ihrer
Siindenware die Fabrikzeichen der achten des Teufels nachge-
stochen und waren nicht immer so ungliiklich, daB sie nicht
manchen Satiriker beriikket und ihm ihre Siinden wirklich fiir
wahre des Teufels verkaufet hatten. - Wem fallet hiebei nicht
das schone Wien mit Vergniigen ein? Jeder besorgte da, als man
auslandische Ware einzufuhren verbot, daB hollandische, engli- ro
sche. pp. Tticher auf einmal aus den Kaufladen verschwinden
wiirden; allein es verschwanden bios ihre auslandischen Namen
und die namlichen Tiicher wurden nun als Klagenfurther, Bra-
banter Ware weggemessen.
Wahrhaftig es ist leicht moglich, daB ich mich noch diesen
Augenblik heftig dariiber eifere, daB man sonst dem Menschen
viel zu wenig Ehre anthat und die moralischen Thiere unter
denselben, die Deskartes die physischen, fiir blosse Maschinen
ausgab. Ich woke, ich ware damals auf einer Kanzel gestanden;
ich hatte ohne Bedenken alien damaligen grossen Theologen 20
widersprochen, die den Menschen zu einer Marionette, an deren
Faden bald der h. Geist bald der Teufel zoge, hatten herunterse-
zen wollen. Und dabei wiirde ich mich gluklich auf den Eilhar-
dus Lubinus bezogen haben.
Es ware daher recht sehr zu wiinschen, die geneigten Leser
insgesamt hatten nur das Geringste von der Meinung dieses Lu-
binus, der zu Anfange des vorigen Jahrhunderts lebte, zufalliger
Weise gehoret: sie wiisten alsdan sehr wol, daB er namlich der
Meinung gewesen, alles Bose entsprange eigentlich vom Nichts
und ware auch sicher Nichts. Wenn dieser vollig Recht hatte: 30
so brauchten wir gar nicht erst den Teufel um Beistand zum
Siindigen anzusprechen. Denn ieder von uns hat gluklicher
Weise sein erhebliches Stiik Feld im grossen Raum des Nichts
im Besiz und iedem ist, dem einen weniger, dem andern mehr
davon zu Theil geworden. Es fehlet uns also gar nicht an Stof,
um uns durch die Erschaffung guter Siinden vor leblosen Wesen,
EINFUHR AUSLANDISCHER SUNDEN 1105
die zu so etwas und zu tausend andern Dingen vollig verdorben
sind, allenthalben genugsam auszunehmen. Hat etwan der
Theolog A. sehr Lust, sich durch eine intolerante Handlung,
oder [der] Jurist B., sich durch eine rabbulistische und der Arzt
C, sich durch eine mo[r]derische von alien seinen Kollegen
iiberaus zu unterscheiden? Gut, sie konnen sich helfen; sie be-
wahren alle drei viel von diesem Nichts in ihrem Kopfe auf:
dieses konnen und mussen sie nun iezt nuzen. Grosses Nichts!
du bist also gar nicht die Glaze der Natur, oder ein leerer Zere-
10 monienwagen, den die Metaphysik hinter den besezten fahrenden
Weltkugeln dareingehen lasset: sondern du bist vielmehr - aus-
serdem daB ich dich iezt gar zu einem personifizirten Wesen
erhobenhabe-derwahre Eierstok, aus dem diebesten, niizlich-
sten und bekantesten Handlungen, die die ganze Welt in Nah-
rung und Sporteln sezen, allein ausgehekket werden mussen! -
Und selbst iezt, grosses Nichts! wenn du nicht wares t und
nicht auf dem gegenwartigen Stuk Papier dich aufhieltest - wie
konte ich (denn alsdan ware das Papier schon vol) es iezt vol
machen und hier einen ganz unnothigen Schwanz beifiigen, in-
20 dem ich folgendes zu sagen nicht unterlasse: man kan mir glau-
ben, die Welt ist auf ihre Bekehrung seit einigen Jahrtausenden
besonders bedacht und wil sich schlechterdings nichts hindern
lassen, den alten Adam augenbliklich auszuziehen, sobald nur
der Komet, der diese Welt anziinden und verwandeln sol, wird
da sein: dan werd' ich selber eine Freude dariiber haben und
sie so wenig zu massigen wissen, dafi ich wahrend dem ganzen
iiingsten Tage wenig andere Dinge als muntere Bonsmots vor-
bringen diirfte, unter denen folgendes den auferstandenen sowol
als den verwandelten Rezensenten am meisten gef alien wird:
30 »endlich komt die langerwartete Flekkugel der besudelten
Menschheit und Erdkugel und ihr lieben Christen insgemein,
nun kont ihr euch geschwind bekehren.« Der Komet ist die
Flekkugel.
REISEPASSE IM ANDERN LEBEN
Da ich von den Gronlandern mit Vergniigen las, daB ihre Prie-
ster den Todten Reisepasse geben, in denen der h. Petrus um
ihren Einlas mit verbindlichen Worten angesprochen wird: so
machte ein Freund von mir, der mit ins Buch sah, die Anmer-
kung: er glaube nicht, daB so etwas beim Petrus von besonderer
Wirkung sei. Ich dachte augenbliklich nach und versezte: diese
und dergl. Sachen konne man wol nicht wissen, solange man
nicht offentlich oder in der Stille begraben worden. »Und es
sol mir ein wahres Vergniigen machen, wenn ich Sie nach mei- 10
nem Tode erschrekken und Ihnen von der ganzen Sache den
besten Bericht abstatten kan«. Zum Gliik entschlief ich noch
diesen Abend und meiner Seele wurde, wahrend der Korper
tod da lag, ein hinlanglicher Unterricht dariiber zu Theil.- Zu
fruh stand ich auf und nahm meinen Korper und brachte ihn,
indem meine Seele mit ihren wolgewachsenen Beinen ganz
leicht in seine fuhr - diese sind sonach die blossen Stiefel der
geistigen Beine, die Hande sind ihre Handschuhe und was sind
selbst seine dikken Beine und deren Verwandschaft anders als
anpassende Unterziehhosen fur den Hintern der Seele? selbst 20
ihrem Gesicht ziehet sie gegen die Kalte das Gesicht des Korpers
an und seine Haare sind so beschaffen, daB die Seele sie, in Er-
manglung eines eignen Haares, zu einer Stuzperiikke brauchen
kan. Mit meinem Schaden mus ich es iezt erfahren, daB es die
Rezensenten bei dem Publikum herausgebracht, daB den Auto-
ren lange Parenthesen ganzlich untersaget sind. Denn was anders
als dieses Verbot konte mich iezt hindern, der einsichtigstc
Schuzredner des ganzen weiblichen Geschlechts zu werden, in-
dem ich auf der Stelle zu behaupten nicht vergasse, daB einer,
der den Damen ihre grosse Sorgfalt fur ihren Korper zu veriibeln 30
wagt, es schlecht zu bedenken scheine, daB der Korper das beste
REISEPASSE IM ANDERN LEBEN IIO7
Kleid der Seele ist und daB wenn die Kleider des Kleids so vieler
Sorgfalt wurdig sind, es das der Seele noch weit mehr verdienen
miisse?- wirklichso weit, daB er vor meinem Freunde erschien,
so daB ich nach meinem Tode ihm die ausfuhrlichste Nachricht
von den Reisepassen ertheilen konte, die iezt der Leser gleichfals
zu unserm wechselsweisen Vergmigen bekommen sol.
Ich stand neben dem Petrus und war daher leicht im Stande,
alles zu horen und zu sehen. Zuerst kam ein rechtschaffener
Hofbedientegegarigen: er iiberreichte dem Petrus, indem er mir
10 einen erheblichen Theil seines Buklings mit zukommen lies,
ein Empfehlungsschreiben, das ihm der regierende Minister stat
Geldes geschenket hatte. Petrus las es mit einer Mine, die halb
auf das Papier und halb auf den Hofbedienten gerichtet war
(und ich hielt die Ekke des Papieres mit) und sagte: er miisse
erstaunen, da dieses Schreiben nicht an ihn, sondern an den Mi-
nister eines andern Hofes gerichtet sei. Der Hofbediente: er habe
es mit Wissen gethan, er hoffe aber, es schade allenfals nicht.
Der Petrus erklarte ihm, daB die Hofbedientenseele in diescm
Schreiben unter die schwarze Wasche der Menschheit gezahlet
20 sei und daB ihm darin mehr Fehler schuld gegeben wiirden -
als, fieng ich an, ein guter Tragodiensteller seinem Helden
schenken wird, da er keine ganz unvolkomnen Karaktere schil-
dern darf - Der Hofbediente wuste in seinem Erstaunen nicht,
wen von uns dreien er anschauen soke. Endlich unterbrach es
Petrus: »es solle ihm lieb sein: denn ware er besser von diesem
Minister geschildert worden oder hatte ihn derselbe gar mit
Lobspriichen versehen: so wiirde er nicht umhingekont haben,
eine schlimme Meinung von ihm zu fas sen; so aber konne er
in Gottes Namen eintreten.« Ich wil mich gern eines Bessern
30 belehren lassen; aber solte es denn ganz unmoglich sein, daB
die Minister zuweilen rechtschaffenen Leute[n] solche Uri as-
brief e unter der Gestalt von Empfehlungen aufnothigen, um
mit geringen Kosten ihres irdischen Wols etwas Wichtiges fur
ihr geistiges zu thun, indem sie sie durch diese Verunglimpfung
bei dem Petrus in den besten Kredit sezen und den Pasquin
zu einer Ehrensaule gebrauchen?
DUMHEIT SCHIKT SICH AUF ALLE WEISE
FUR DAS GEMEINE VOLK
Allerdings ist die grosse Welt der geschikte Zeremonienmeister
der geringen; sie giebt wahre Prachtgeseze, welche den Puz nicht
wie die gewohnlichen einschranken, sondern verandern und
vermehren und zum Anstande richtet sie fahige Korper mit be-
sonderem Glukke ab: allein ich bin fest iiberzeugt, daB auch
der Philosoph zuweilen bei ihr in die Schule gehen wenigstens
bospitiren konte; es ist gar nichts seltenes, bei ihr Meinungen
anzutreffen, die man drukken konte und die den Beifal eines 10
ieden, der ihnenbeipflichtet, leicht erhalten durften. Unter diese
hervorstechenden Meinungen darf man auch die mit stellen,
daB die Dumheit dem Pobel sehr wol lasse; diese ist unter den
Grossen gewis kein rarer Vogel und ich habe sie bei ihnen zuerst
gehoret: iiberhaupt nehmen sie sich dadurch recht sehr vor dem
Pobel aus, daB sie ihn nicht, wie er sie, bewundern, sondern
vollig verachten.
Verstandiger Aphthonius! der du ohne die geringste Hiilfe
des Peuzers, allein die aphthonianische Chrie erfunden! Ich
wiinschte, ich hatte sie nicht ganzlich vergessen und sasse noch 20
in tertia; so ware so wol ich als der Leser -iezt gliiklich genug:
ich wiirde dan meinen Saz gehorig durchzufuhren und nicht
nur mit dem laus auctoris anzufangen, sondern auch mit der
conclusio ganz aufzuhoren wissen.
Uberhaupt ist es schon an sich sehr anstossig und wirklich
auffallend, daB der Pobel Verstand haben wil, da Leute auf ihn
gern Verzicht thun, die weit besser sind und die Gewicht genug
haben. Wahrhaftig Personen, welche gar nicht zum gemeinen,
sondern zum vornehmen Pobel, nicht zur Unterhefe, sondern
zur Ober- oder Spundhefe des gemeinen Wesens gehoren, welche 30
auf Ehrenstufen mit Anstand stehen, die so gut wie lange Stelzen
DUMMHEIT SCHICKT SICH AUF ALLE WEISE 1109
sind, und welche in dem theuersten Anzuge einhergehen, dieser
vornehme Pobel hat vom Werthe der Aufklarung einen richti-
gen Begrif, weis sie mit Vergniigen zu entrathen und wil sich
den Kopf nicht aus Verzweiflung einstossen, wenn er denselben
verloren hat - und gleichwol verlangt der ubrige Pobel, der
doch so sehr geringer als der vornehme ist, sich hierin ganz
besonders vor diesem auszunehmen und wil ohne Scham einen
Verstand und siehet offenbar auf einen wolgemachten Kopf auf?
Der hohe Adel des Pobels, der sich durch seine Zufriedenheit
10 mit iedem Schiksale seines Verstandes zuweilen den schimpf-
lichsten Unannehmlichkeiten blosstellet, ist doch iron, da(3 er
nur Verstand in irgend einem Grade besizet; und der niedrige
Adel desselben, von dem niemand, nicht einmal seine Obern
Verstand begehren und fodern, dieser ringet und iaget wie nar-
risch darnach? Dieses kan sich unmoglich schikken und Mitglie-
der der Akademie, die hierin dem Pobel ihre Stimme geben,
sind sehr zu tadeln . . . Ich wolte, irgend eine geschikte rhetori-
sche Figur ware da: diese wiirde meinen obigen Grund in ein
weit lebhafteres Licht zu sezen verstchen und es konte wol sein,
20 daB sie sich vollig so ausdriikte: » die besten Wesen sind blind und
sehen wenigstens bios Lugen; der Amor, der oft schlaue Leute
iiberlisten mus und der die besten Augen zubindet, ist so gut
als stokblind; die Gerechtigkeit, die in ihrem Leben mehr als einen
Aktenstok durchsehen mus, siehet wenigstens wie ein Nacht-
wandler durch zugedriikte Augen; das Gluk, das doch die Ho-
norazioren eines ieden Orts und die grosten Standspersonen zu
bewachen, zu versorgen und zu unterstiizen hat, thut es gleich-
wol alles hinter einer Augenbinde; Fakultisten, die liber Leben
und Tod gutachten, stehen diesem schliipferigen Geschafte nicht
30 selten ohne Scharfsin vor; Apotheker, die leicht die Nachrichter
der Arzte werden konnen, wissen oft von der Semiofik der Re-
zepte soviel wie von der Semiotik der Krankheiten; gross e Kri-
minalrichter , die doch kein Schmerzengeld bezahlen, konnen
gleichwol den Quistorp nicht auswendig und foltern gern einen
Engel, den sie nicht hangen dtirfen; gutdenkende Leute in Husa-
renmontur, welche ieden nur zum Husar anwerben, sind so ein-
I HO JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
faltig, daB sie nicht das geringste davon merken, daB ihre Rekru-
ten, sobald sie zum Regimente kommen, schlechte Infanteristen
werden mussen; sogar Schauspieler, die niemals einen Prinzen-
hofmeister besessen oder besoldet oder geniizet haben, treten
gleichwol das grosse Amt eines Fiirsten vor vielen hundert Zu-
schauern an und nehmen die grosten Szepter in ihre gichtbrii-
chige Hande, wie die Universalhistorie oft wahrgenommen; ia
H. Hasus selbst, der einigermassen narrisch ist und der in ver-
schiedenen Fachern der Gelehrsamkeit noch wenig gethan, der
schreibt ohne Bedenken den gegenwartigen Beweis, daB Dum-
heit sich auf alle Weise fur den Pobel schikke. Wenn nun solche
Leute ohne alien Verstand arbeiten; ihr lieben Fragzeichen, ein-
fache und doppelte insgesamt! sagt mir, wie kan der Pobel sich
seiner anmassen wollen, der keine rationes dubitandi et deci-
dendi, keine Pillen, keine Todesurthel, keine Rekruten, keinen
Fiirsten und nicht einmal einen Aufsaz zu machen verbunden
ist, in welchem ganz gut bewiesen wird, daB die Dumheit sich
vollig fur ihn schikke?«
BRIEF AN EINEN
ANGEHENDEN SCHAUSPIELER,
mit einigen Warnungen vor der Verhunzung des lustigen Trauerspiels
oder der hohern Komodie
M[ein] H[err!]
Ich habe Ihrem H. Vater die ganze Sache vorgestellet. Ich
glaube, er hatte wahrhaftig das Kodizil noch gemacht, so tol
war er: da ich ihm aber vorhielt, er soke sich doch nur recht
in Ihre Lage denken und untersuchen, ob Sie wol bei Ihren
io Schulden, bei Ihrem zerstreuten Leben und bei Ihrer Unwissen-
heit - ich schilderte ihm das alles iiberaus gros ab - etwas anders
hatten werden konnen als ein Komodiant: so anderte er doch
die Mine und hernach die Sprache und er erkent Sie (Sie diirfen
mir trauen) am Ende gewis wieder fur seinen Sohn. Zulezt that
ich gar einen guten Spas hinzu: »Es wird weder Sie noch Ihren
H. Sohn reuen, daft er, der bisher keine Stunde des Tags sich
als ein Gelehrter oder Sparsamer erwies, nun sehr oft von 6 Uhr
bis um 9. bald der erste bald der andre in hohern Grade wird
sein mussen, wenn man den Gelehrten von Lessing und den
20 Geizigen von Moliere anders noch giebt: sinds aber diese Stiikke
nicht, so sind andre da.«
Wenn der Wiirzkramer nicht Kigt, der Sie in der Ostermesse
spielen sah: so konnen Sie keine mittelmassige Fahigkeit zum
Theater haben; allein darum konnen Sie doch nicht iede Ausbil-
dung von sich weisen. DaB Sie Lessing nicht lesen, das heiss*
ich sfelber] gut; er schreibt den Schauspielern Riiksichten vor,
ohne die sie sich auch Lob genug erzwingen konnen und es
kostete die groste Mtihe, seine Lehren zu fassen und zu volfuh-
ren. Aber daraus folgt nicht, daft* es Ihnen nicht in d[ie] Lange
30 Schaden brachte, wenn Sie auch das Studium der Litteratur und
II 12 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
Theater Zeitungund die dramatischen Abhandlungen in Roma-
nen auf die Seite schoben. Die Theater Zeitung ist gut und sagt
Sachen liber das Theater, die alzeit gut ins Ohr fallen; und die
dramatischen Abhandlungen in Romanen sind so gut und fast
noch besser als ihre Verfasser sie bei ihrem Mangel an Beobach-
tung nur machen konten: und wie sehr solten die Rezensenten
sich schamen, daB sie hieriiber nicht eins sind. Nur ists schlim
und nicht sehr verzeihlich, daB so wenige dramatische Abhand-
lungen liefern: zum wenigsten konnen sie nicht die Schwierig-
keit der Unternehmung vorwenden, da es eine leichte Sache 10
ist und man solche Abhandlungen ohne Menschenkentnis ma-
chen kan. / Ich seze mich daher oft hin und entwerfe fur das
Theater manche Beobachtungen und Vorschriften, die man
vielleicht bei manchem nicht findet, dem man dafiir iibrigens
blosse Theater und Weltkentnis nicht abstreiten kan. Nach und
nach brachte ich einen ganzen Band zusammen. / Mich wun-
derts iiberhaupt, daB der grosse Mangel dramatischer Vor-
schriften keinen schlim mern Einflus auf die Schauspiele noch
geaussert hat. Uber manche z. B. die lustigen Trauerspiele hat
man noch gar keine giildnen Regeln; ia die Kritiker ziehen fast 20
alle auf dem irrigsten Wege und sjelbst] das Wort lustiges Trau-
erspiel must' ich mir erst dazu erfinden nach der Art der weiner-
lichen Komodie. Ich wil Ihnen hieriiber meine Bemerkungen
schreiben: Sie thaten mir dan einen Gefallen, wenn Sie sie
etw[an] einem Buchhandler in Leipzig (Weigand) wiesen und
ihn durch diese Probe zum Verlage zu bereden suchten; und
vielleicht lassen Sie nachher die Schlusse, die [ich] daraus bringe,
auch auf dem Theater nicht ohne Unterstuzung.
Das lustige Trauerspiel, welches vielleicht die feinste Komo-
die in der Welt ist, konnen die Deutschen sich vor vielen Volkern 30
anmassen, so wie den Hanswurst: sie erfanden und erzogen es
und London und Paris that dabei soviel als nichts. Gleichwol
oder vielmehr eben darum - denn der Deutsche schazet ia nie
das hoch, was er selber hat und ihm schmekket wie den Kindern
und Dieben fremdes Brod besser als eignes; nur von einer Reise
nach London und Paris weissagt er seinem Geiste wahre Nah-
BRIEF AN EINEN ANGEHENDEN SCHAUSPIELER III3
rung und zieht wie viele Okonomen die Viehweide der Stalfiit-
terung vollig vor - also eben darum legte man bisher auf das
lustige Trauerspiel so wenig Gewicht, dafi ich in der Stube her-
umgehen und erst [auf] einen Nam en fur dasselbe sinnen muste.
Denn seinbisherigerName - burgerliches, historisches p. Trau-
erspiel hies mans - war so gut als keiner; ia nicht einmal so
gut: denn unter Einem Namen kan man doch wahrhaftig nicht
das wahre Trauerspiel, das Thranen regnet, und das lustige
Trauerspiel, das Lachen abgewint und das sich iiber die Komodie
10 in nichts als der Feinheit des Lacherlichen erhebt, zusammen-
schliessen wollen und es ist doch ein Unterschied der Wirkung
den ieder spurt, ob ich einem ordentlichenTrauerspiel von Gothe
oder Ifland, oder ob ich einem sogenanten von seinen Nach-
ahmern zuhore und zusehe: ienes beweget mein Herz, dieses, fals
es gut ist, mein Zwergfel und ich kan iiber beide nur sehr entge-
gengesezte Thranen vergiessen. Schlim ists, dafi Heilige und
Muhfammed] sonst sogar Thiere von den Todten auferwekken
konten, und dafi keiner von uns alien nicht einmal den besten
Menschen wieder belcften kan; licb[cr] Lord Kaimes und Lessing,
20 ware nur das nicht, so machte ich [euch] beide lebendig, damit
die Welt und Deutschland wieder 2 Kunstrichter hatte. Freilich
werden viele denken, ich hielte fiir beide die Welt noch schadlos:
allein [ich] mochte, ich wiiste warum und in wie weit.
Es mus fiir einen, der nicht denkt, unerwartet sein, dafi gerade
das verbesserte Trauerspiel der Anlas zur Erfindting der feinen
Komodie war; und doch ists nicht anders. Ohne den Druk der
gothischen T[rauerspiele] und die Ubersezung d[er] Sha-
kesp[eareschen] war' uns sicher die Erfindung noch lange (ia
wer kan dafiir biirgen, ob nicht auf immer) unvergont geblieben:
30 denn diesen beiden miissen wir ausser dem Ruhm ihres inneren
Gehalts, noch das Lob eines zufalligen Verdienstes bewilligen
und ihre tragische Stimme wekte uns verschiedene komische
Genies aus dem Schlafe. Ich suche damit gar nicht den komi-
schen Genies mit einer d'Alembertschen Tiikke das Verdienst
dabei abzuakkern; - in der That dem Gothe das Lob einer Erfin-
dung zuschlagen, zu der [er] hochstens der Anlas und das Werk-
II 14 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
zeug war, ware eben so ungerecht als iene Strafe auf der andern
[Seite?], mit der ein franzosisches Gesez die belegt, die ohne
Vorwissen die Instrumente der Falschmiinzer geschmiedet hat-
ten - allein miissen nicht die komischen Genies sfelber] gestehen,
daB iene [?] Tragodie viel zu ihrer Erschaffung des lustigen
Trauerspiels beitragen konte, indem sie, weil Anspannung auf
der einen Seite den Menschen bald zum Gegentheil hinuber
biegt, weil, so wie der Schmerz oft der Hof um die Sonne des
.Vergniigens ist, auch umgekehrt . . . Oder konnen nicht, so
wie Milton den ersten praexistirenden Keim zu seinem Helden- 10
gedicht aus einer italienischen Komodie aufschnapte, eben so
umgekehrt iene erhabnen Trauerspiele die puncta salientia zu
lustigen Trauerspielen geliehen oder befruchtet haben? So be-
haupten die alten Theologen, der Teufel wurfe zuweilen
menschlichen Samen in ein Thier, das ihn alsdenn in eine Misge-
burt ausbildet, iiber die man sehr lachen konte wenn man
woke. / So geben Landplagen und p. dem satfirischen] Hofman
mehr Vergniigen als Misvergniigen und machen ihn zu einem
nur desto munterern Geselschafter des* Fiirsten. Leonard da
Vinci fragtfe] die Landschaftsmaler warum sie nicht genau die 20
regellosen Flekken an Mauern und Wanden besahen, da solche
Flekken oft die besten Ideen zu den bestgeordneten Landschaften
erregen konten. Warum sol ich nun glauben, daB ihr nicht diese
Erinnerung genuzet und manche Keime des Lacherlichen mit-
genommen und begossen habt? Ich wil iezt beide Trauerspiele
zusammenhalten und in dieser Vergleichung auf die Keime, An-
lasse des Lacherlichen weisen, die ienes von diesem genommen,
wie Plutarch seine Helden vergleicht: ich gebe dadurch zugleich
eine kleine Theorie von dem lustigen Trauerspiele und mache
iiberhaupt dadurch meinen Aufsaz sehr gut. Auch begegne ich 30
dadurch am besten dem Wahne, daB sie Parodien dieser Trauer-
spiele; denn die Parodie macht das Trauerspiel lacherlich und
liebt niedrige Szenen, dies thut das lustige Trauerspiel nicht:
bios dem erschlaften und graslich kalten Paris ist die Parodie
eigen, iener Affe hinter dem Prediger.
Freilich das komische Genie hat das lustige Trauerspiel schon
BRIEF AN EINEN ANGEHENDEN SCHAUSPIELER II 1 5
von der Natur her: sonst konte die Veranlassung zum Lacherli-
chen immer vor ihm liegen, er wiirde sie nie benuzen, noch
minder ein lustiges Trauerspiel daraus entfalten. Daher sind sie
von der Natur mit allem Auss[ern] des komischen Talents aus-
gestattet; sie sind - wie Sulzer und [Addison anmerken] - die
ernsthaftesten Leute von der Welt, wie alle grosse Lacher und
selbst indem sie ihre Tragodie machen, bewohnet ein so lacher-
licher Ernst ihr Gesicht, wie er bei iedem ist, der sfelber] nicht
lachet, um es andere desto mehr zu machen. Auch ihrer Trago-
10 die wissen sie die Larve und das Kleid des Ernstes so fest anzu-
knupfen, daB nur feinere Kenner den Spas dadurch sehen kon-
nen, und daB wol mancher Einfaltige sich tauschen lasset und
nicht weis, ob er lachen oder weinen sol. Denn nicht ieder weis
wie Klinger und gar Schiller die zwei Talente Yoriks zu vereinen
und wirklich in demselben Stiikke den Kenner durch Running
und Lacheln zugleich zu befriedigen: aber man kan sie eher be-
wundern als nachahmen und die gewohnlichen Kopfe bleiben
am besten bei dem Lachen.
In der eigentlichen Tragodie miissen nicht zu wenig Fiirstcn
20 ihr Spiel treiben: besonders glauben die Pariser, bios die Grossen
konten am besten Schrekken und Mitleiden erregen und ein
ehrlicher Burger kan da eher . . . Millionen erwerben als in einer
Tragodie vorkommen. Zulezt muste d[ie] Krit[ik] ein besonde-
res Nebengebaude auffuhren, das die Biirgerlichen fur sich ge-
miethetund das bis auf diese Stunde das biirgerliche Trauerspiel
heisset.* Unsere komischen Kopfe bemachtigen sich nun der
Grossen als gute Schildhalter des Lacherlichen, als polirte Mar-
morblokke, um daraus den Satyr und die Krote zu holen: denn
ein Grosser dient zum Lachen und Weinen gleich sehr und
30 gleicht dem . . . Sylbenmaas, das in London zu feierlichen und
in Paris zu burlesken Versen gebraucht wird. Zwar war schon
* Auch die Komodie wird von keinem Burger geziert und die Gros-
sen haben es nicht gern, daB iemand anders lacherlich gemacht werde
ausser ihnen: wie der Mensch das Endliche durch das Unendliche erkent,
so komt es ihnen vor, man konne durch ihre Thorheiten auch die des
gemeinen Volks kennen lernen.
II 1 6 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
den Franzosen der Schaz von Lacherlichem bekant, der aus den
Grossen zu holen ware; und die Grossen sjelber], die weil sie
sjelber] gern lustig sind, in einer Komodie so viel Lacherliches
als moglich verlangten, legten sfelber] den Dichtern das Gebot
auf, nur iiber sie zu lachen; p. allein die Franzosen nuzten dieses
Emanzipazions-[?] und Gnadeniahr wol weniger als sie konten:
ich fragte einmal einen Englander darum, ob die franzosische
Komodie Lachen errege; [er sagte] er konne es zwar nicht beia-
hen aber auch [nicht] verneinen: denn er habe unter der Komodie
zu fest geschlafen. Ich bilde mir ein, daB unsere Kfomodien] 10
zwei bessere Wege giengen, von den Grossen einen lacherlichen
Gebrauch zu machen. Sie gaben [ihnen] eine niedrige pobelhafte
Sprache, wie Skarron und Blumauer, liessen sie stat der Zwei-
deutigkeiten Zoten, stat der Schwiire Fliiche sagen: mit einem
solchen Kontrast [?] konten sie das Lachen kaum verfehlen: denn
so wie ich nichts ehrwiirdigeres, weiseres p. kenne als Fiirsten
und ihre herabgehende Tonleiter (niedersteigende Zeichen), so
weis ich mir auch keine grossere Disharmonie zu denken, als
solche Personen eine Sprache reden zu lassen, die vielmehr denen
angemessen ware, die ihnen ganz unahnlich waren. (Wiener, 20
Prager Tragodien)
Ich untersuche nicht, ob daher wirklich e[inige] Rezjensenten]
auf den Schlus verfielen, daB unsre Trauerspiele die Sprache
der grossen Welt [so gut nachahmten] als in unsern Tagen die
Sprache der Thiere: wahrhaftig ihre Kentnis ihrer Sprache ist
nicht ungewisser als die ihres Innern und man diirfte, wie ich
glaube, diese doch als einen Biirgen von iener gelten lassen,
so wie ein Reisebeschreiber, der die Sitten eines Volks be-
schreibt, sicher auch seine Sprache reden kan und ein Lexikon
derselben mit beidrukken lassen konte, wenn er wolte.* Fassen 30
* An Stummen den Affekt studieren; und an den Thieren, die die
Stummen der Erde sind; die mus der Schauspieldichter und -spieler
studieren. Daher sind die Thiergarten pathognomische Kupferstiche zu
den physiognomischen Fragmenten, Gemaldeausstellung, Ohren-
beicht, Konduitenliste, Zeugenrotull, vererzte Laster, verzogne Name,
Inizialschrift.
BRIEF AN EINEN ANGEHENDEN SCHAUSPIELER III7
sie nicht ihren buschichten Pinsel an und zeichnen die Gross en
so hin, daB der gemeinste Man sich erinnert, wen er vor sich
siehtPDenndieNiedern sind die Originale zu den Versteinerun-
gen in der grossen Welt und man trift die Leerheit eines Hof-
mans, wenn man seinen Bedienten kopiret; wie man sonst Got-
ter und Evangelisten mit den Abzeichen der Thiere make und
bildete: so sezet d[as] kfomische] G[enie] vollig mit Ziigen vom
Pobel das Bild der Grossen zusammen. Man sagt, der Bediente
sei gewonlich der Abdruk des Hern; daher kan es wol eines
io Autors lezte Sorge nicht sein, den Hern durch Bedientenziige
kentlich zu machen, wie Basedow rath, in die grossen Buchsta-
ben mit rother Dinte die kleinen hineinzumalen, damit die Abc-
schuler wiisten, wie ieder grosse hiesse. Wer das laugnet: der
miiste von alien Rezensenten behaupten, sie hatten mehr aus
erkaufter Schmeichelei als mit Grunde an so vielen G[enies] ge-
priesen, daB sie die grosse Welt offenbar aus der pobelhaften
hatten kennen lernen wie Sonnenfinsternisse im beflorten Spie-
gel. Aber wie? studiert nicht wirklich der gute lustige T[rauer-
spieldichter] seinen Hauswirth, seinen Stubenkameraden (wenn
20 man nicht annehmen wil, er sei von der Universitat schon nach
Hause), seine Geliebte, den Kaufman, dessen Informator er ist,
und verschiedene Personen, die ihm aufwarten, mit Fleisse und
oft genug? oder wagt er, ohne diese Beobachtung der niedern
Welt, sich an die Schilderung der hohern?
Das komische Trauerspiel bewirbt sich urn die Belustigung
durch vornehme Personen auch durch das entgegengesezte der
pobelhaften Sprache, durch eine aufgedunsene.
Am schwersten wird man denken, werd' ich zu beweisen
wissen, daB die . . riihrenden Szenen sie mit dem Samen zu
30 lacherlichen bereichert haben; allein [man] wird am Ende mer-
ken, daB ich nicht nur dieses dargethan, sondern auch noch gute
psychologische Ausschweifungen [?] beigebracht, die am mei-
sten niizen.
[FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD*]
[* Aus dem dritten Teil von Rousseaus Nouvelle Heloise.]
Lettre XXI
Sein Vergniigen suchen und seinen Schaden fliehen das ist das
Recht der Natur, sobald man nicht dabei den andern versehrt.
Sobald unser Leben fur uns ein Ubel und fur niemand ein Gut
ist: so ist es erlaubt, sich von ihm loszuwikkeln. Giebt es in
der Welt einen gewissen Grundsaz: so mus es dieser sein und
wenn man ihn umrisse, so gab' es keine menschliche Handlung
mehr die man nicht zu einem Verbrechen machen konte.
Was versezen nun darauf unsere Sophisten? Zuerst sehen sie
das Leben fur eine Sache an die uns nicht selber gehoret, da 10
sie uns geschenkt ist: aber eben weil sie uns geschenkt ist: so
gehoret sie uns. Hat ihnen Got nicht zwei Arme verliehen?
Gleichwol lassen sie sich den einen und wenns sein mus beide
absagen, sobald sie den kalten Brand befurchten. Der Fal ist
fur einen der die Unsterblichkeit der Seele glaubt vollig der
namliche; denn wenn ich meinen Arm der Rettung einer vor-
ziiglichern Sache, meines Korpers aufopfere: so opfere ich mei-
nen Korper der Rettung einer noch vorzuglichern Sache, mei-
nem Wolsein auf. Alle Geschenke die uns der Himmel
zugetheilet, sind ihrer Natur nach Giiter fur uns: aber eben sie 20
sind nur gar zu sehr zu einer Ausartung ihrer Natur geneigt
und der Schopfer verkniipfte sie noch mit der Vernunft, damit
uns diese unter ienen wahlen lehrte. Wenn uns unsere Vernunft
nicht zur Wahl der einen und zur Verwerfung der andern befugt:
zu was dienet sie denn den Menschen?
Diesen so schwachen Einwurf kehren sie auf tausend Arten
herum . Sie halten den Menschen auf der Erde fur einen Soldaten
auf seinemPosten. Got, sagensie, hatdichin diese Weltberufen:
warum entweichest du ohne seine Erlaubnis aus ihr? Aber dich
selbst hat er ia auch in deine Stadt berufen, warum wanderst 30
du denn ohne seine Erlaubnis aus ihr? Liegt nicht allemal diese
Erlaubnis in dem Obelbefinden? An welchen Ort er mich hinbe-
FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 121
rufe, ob in einen Korper oder auf die Erde, so sol ich doch
da nur solang verweilen als ich mich wol befinde; und mich
fortbegeben, sobald ich schlim daran bin. Seinen Befehl mus
ich dazu erwarten, ich gesteh' es: aber wenn ich den naturlichen
Tod sterbe, so befiehlt mir Got nicht das Leben zu verlassen,
sondern er nimt mirs; nur dan wenn er mirs unertraglich macht,
befiehlt er mir es abzudanken an. Im ersten Falle widerstrebe
ich aus alien Kraften, im zweiten erwerb* ich das Verdienst der
Folgsarnkeit.
io Glauben Sie wol, daB manche Leute ungerecht genug sind,
urn den freiwilligen Tod als einen Aufruhr gegen die Vorsehung
auszuschreien als wenn man sich ihren Gesezen zu entfiihren
dachte? Denn man horet auf zu leben, nicht um ihnen auszuwei-
chen sondern um ihnen zu gehorchen. Wie, hat denn Got nur
uber meinen Korper Gewalt? Giebts eine Stelle im Universum,
wo ein Wesen nicht unter seinen Handen steht und wird er weni-
ger iiber mich gebieten, wenn mein ausgereinigtes Wesen einfa-
cher und dem seinigen ahnlicher sein wird? Nein, seine Giite
und seine Weisheit sind meine Hofnung, und wenn ich glauben
20 konte, daB der Tod mich seiner Macht entzoge: so mocht' ich
nicht mehr sterben.
Folgendes ist eines von den Sophismen des Phadon, der ubri-
gens mit erhabnen Wahrheiten glanzet. Wenn dein Sklave, sagt
Sokrates zum Zebes, sich entleibte: wiirdest du ihn nicht, fals
du kontest, fiir diesen ungerechten Raub deines Guts heimsu-
chen? Guter Sokrates! gehoret man denn Got nimmer zu, wenn
man tod ist? Nicht das, sondern so hattest du sagen sollen: wenn
du deinen Sklaven mit einem Anzuge belastest, der ihm in seinen
Dienstleistungen fiir dich beschwerlich fallet: wiirdest du ihn
30 strafen, daB er diesen Anzug weggeworfen, um besser seine
Pflicht zu thun? Der Irthum liegt darin, daB man diesem Leben
zu viele Wichtigkeit beilegt, gerade als hieng' unser Dasein von
ihm ab und als ware man nach dem Tode nichts mehr. Unser
Leben ist nichts in den Augen Gottes, es ist nichts in den Augen
der Vernunft, es sol nichts sein in den unsrigen, und wenn wir
unsern Korper raumen, so legen wir bios ein lastiges Gewand
1 1 22 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
von uns. Ists der Miihe werth dariiber so ein Geschrei zu ma-
chen? Milord, diese Eiferer sind nicht redlich: zugleich grausam
und absurd in ibren Schlussen, vergrossern sie dieses vorgebli-
che Verbrechen so als wenn man sich sein Dasein raubte und
bestrafen es so als wenn man ewig existirte.
Was den Phadon bet rift, der ihnen das einzige scheinbare Ar-
gument dargereicht, womit sie fechten; so beriihrt er die Frage
nurim Vorbeigehen. Sokrates, den ein ungerechtes Urtheil ver-
damt hatte in einigen Stunden sein Leben einzubiissen, hatte
gewis nicht von nothen muhsam auszumachen obs ihm erlaubt 10
sei, es sich zu nehmen; und ein Beweis, daB dieses unsterbliche
Werk keinen guten Einwand gegen den Selbstmord vortragt,
ist daB es Kato zweimal in der namlichen Nacht durchlas, da
er ihn begieng.
Diese namlichen Sophisten fragen, ob iemals das Leben ein
Ubel sein konne? Aber wenn man dieses Gewimmel von Irthii-
mern, Foltern und Lastern iiberschauet womit es liberladen ist:
so mochte man vielmehr fragen, ob es iemals ein Gut war? Un-
aufhorlich fallet das Laster den Tugendhaften an und er hat die
Wahl, ob er die Beute eines Lasterhaften oder ein Lasterhafter 20
selbst werden wil. Kampfen und Leiden ist sein Loos; ubelthun
und leiden ist des Bosen Loos: in allem ubrigen gehen sie ausein-
ander und sie theilen nichts mit einander als die Leiden des Le-
bens. Was macht wol hienieden das vorzuglichste Geschaft des
Weisen aus als das daB er sich in sich selbst zusammenziehe
und sich wahrend seines Lebens todt zu sein bestrebe? Ist nicht
das einzige Mittel durch das uns die Vernunft von den Obeln
der Menschheit loshilft, dieses daB sie uns von alien irdischen
Gegenstanden und von allem was in uns sterblich ist abreisset
und uns zu den edelsten Betrachtungen fliegen lehret? Wenn 30
unsere Leidenschaften und unsere Irthumer alle unsere Leiden
formen: mit welcher Begierde sollen wir nicht nach einem Zu-
stand schmachten, der uns von beiden scheidet? Was thun iene
sinliche Menschen die so unbedachtsam ihre Schmerzen durch
ihre Freuden verdoppeln? Sie zertrummern so zu sagen ihr Da-
sein, um es auf der Erde auszubreiten; sie vervielfaltigen die
FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 123
Last ihrer Ketten durch die Zahl ihrer Neigungen; sie haben
keine Freuden die sich nicht mit tausend bittern Beraubungen
schlossen; ie mehr sie empfinden, desto mehr leiden sie; ie mehr
sic sich ins Leben hineinarbeiten, desto ungliiklicher machen
sie sich.
Aber ich wil auch im Algemeinen einraumen daB es fur den
Menschen ein Gut sei bekiimmert auf der Erde zu kriechen:
ich begehre nicht daB das ganze Menschengeschlecht sich mit
algemeiner Einstimmung niedermache und diese Erde in ein
io wiistes Grab verkehre. Ach es giebt schon Ungliikliche, die zu
sehr zur Abtretung von der algemeinen Bahn privilegiret sind
und fur welche Verzweiflung und herbe Schmerzen den Reise-
pas der Natur ausmachen. Und von diesen da war' es eben so
unsinnig zu glauben daB ihr Leben ein Gut sei als es vom Sophi-
sten Possidonius war, unter den Foltern der Gicht zu laugnen
daB es ein Obel sei. So lang uns das Leben Vergntigungen tragt,
hat es unsere Wiinsche auf seiner Seite und nur die Empfindung
des tiefsten Elends kan in uns iiber iene Begierde zum Leben
obsiegen: denn die Natur hat uns alle mit einem Scheu vor dem
20 Tode bewafnet und dieser Scheu ubertiincht eben noch unserem
Auge das Jammerliche der menschlichen Lage. Man halt lange
ein miihseliges und schmerzhaftes Leben aus eh' man den Ent-
schlus es aufzugeben fasset: aber wenn einmal der Ekel zu leben
den Abscheu zu sterben iibermannet: alsdan ist offenbar das Le-
ben ein Obel und man kan sich seiner nicht zu bald entledigen.
Also ob man gleich nicht den genauesten Punkt anweisen kan
wo es aufhort ein Gut zu sein: so weis man doch sehr gewis
zum mindesten, daB es lange ein Obel ist eh' es uns als eines
vorkomt und bei iedem Verniinftigen geht das Recht von dessen
30 Abdankung lange vor der Versuchung dazu voraus.
Das ist aber noch nicht alles. Nachdem sie gelaugnet daB das
Leben ein Obel sei, um uns das Recht zu rauben, es zu verlassen:
so sagen sie wieder darauf, daB es ein Obel sei, um uns vorzu-
riikkcn, daB wir es nicht zu erdulden vermogen. Ihnen zufolge
ist es Feigheit wenn man sich von seinen Leiden und Plagen
loswindet und nur Feige todten sich selbst. O Rom, Besiegerin
1 1 24 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
der Welt, was fur ein Haufe von Feigen erwarb dir die Herschaft
dariiber! Zwar Arria, Lukrezia, Eponina mogen darunter geho-
ren, es waren Weiber. Aber Brutus, aber Kassius und du der
du mit den Gottern die Ehrfurcht der staunenden Erde theiltest,
grosser und gotlicher Kato, dessen heiliges und ehrwiirdiges
Bild die Romer mit einem heiligen Eifer und die Tyrannen mit
Zittern erfulte, deine stolzen Bewunder[er] sahen wol nicht vor-
aus, daB eines Tages feile Rhetoren in der staubenden Ekke einer
Schule erharten wiirden, daB du nur ein Feiger gewesen, weil
du dem siegenden Laster die Huldigung der Tugend in Ketten 10
abschlugest. Aber sage mir, unerschrokkener Held, der du dich
mit sovielem Muth aus der Schlacht davonmachest, urn noch
langer die Last des Lebens auszudauern: wenn ein brennender
Funke auf die beredte Hand hinspringt, warum ziehst du sie
so hurtig zuriik? Wie? hast du nicht so viel Muth das Brennen
des Funken zu verschmerzen? Das nicht, sagst du, aber es ver-
bindet michnichts zur Ertragung desselben; und mich, wer ver-
bindet mich zur Ertragung des Lebens? Hat der Vorsehung die
Zeugung eines Menschen mehr gekostet als die eines Funken
und sind nicht beide ihr Werk? 20
Ohne Zweifel ist es Muth, Obel denen man nicht entrinnen
kan mit Bestandigkeit zu tragen: aber Tolheit ists, die freiwillig
auszuhalten, aus denen man sich ohne Sunde Ziehen kan und
eine unnothige Erduldung eines Obels ist oft selbst ein Ubel.
Wer sich nicht aus einem schmerzhaften Leben durch einen
schnellen Tod zu erlosen wagt: gleicht einem, der eine Wunde
lieber einfressen als unter das heilsame Eisen des Wundarztes
kommen lasset. Kom, verehrungswerther Parisot, nim mir die-
ses Bein ab, das mich sonst hinrichtet. Ich wil dich ohne Zukken
schneiden sehen und mich gern fur feig von dem Kiihnen schel- 30
ten horen, der das seinige, aus Scheu der Operazion, lieber her-
unterfaulen lasset.
Ich gesteh' es, es giebt Pflichten gegen den andern, die nicht
iedem Menschen das Schalten mit seinem Leben vergonnen:
aber wie viele wol? Es mag sein daB eine obrigkeitliche Person,
auf der das Heil des Vaterlandes ruht, daB ein Hausvater, der
FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1125
seinen Kindern Ernahrung schuldig ist, daft ein Schuldner, der
seine Glaubiger verdiirbe, sich ihrer Pflicht Preisgeben, oder
daB tausend andere burgerliche und hausliche Verhaltnisse einen
ungliiklichen Rechtschaffenen das Ungliik zu leben, fortzutra-
gen zwingen, um das noch grossere Ungliik ungerecht zu wer-
den, abzuwehren: ists aber deswegen in ganz verschiedenen Fal-
len erlaubt, auf Kosten eine Menge Elender ein Leben zu
bewahren, das keinem niizet als dem der zu sterben scheuet?
Todte mich, mein Sohn, sagt der abgelebte Greis zu seinem
10 Sohne, der ihn tragt und unter der Biirde zittert: die Feinde
kommen: kampfe neben deinen Briidern, rette deine Kinder,
und lasse deinen Vater nicht lebendig in die Hande derer stiirzen
deren Eltern er fras. Wenn auch der Hunger, die Leiden, das
Elend - hausliche und schlimmere Feinde als die Wilden - einem
Ungliiklichen verstatteten, in seinem Bette das Brod einer Fa-
milie aufzunagen, die kaum welches fur sich erwirbt: warum
solte aber denn nicht wenigstens der, der einsam auf der Erde
lebt, der auf dessen ungluklichem Dasein kein Gut mehr bliihen
kan, nicht das Recht geniessen, aus einem Aufenthalt zu ziehen,
20 wo seine Klagen lastig sind und seine Leiden unfruchtbar?
In der That warum soke man sich weniger vom Leben als
der Gicht befreien diirfen? Kommen nicht beide aus derselben
Hand? Wenn es peinlich ist, zu sterben: macht uns denn das
Nehmen der Arznei etwan Vergniigen? Wie viele ziehen nicht
den Tod den Arzneimitteln vor? Ein Beweis daB die Natur sich
gegen eins so gut wie gegen das andere straubt. Man zeige mir
doch, in wiefern es mehr verstattet sein kan, sich von voriiberei-
lenden Ubeln durch Arzneien loszuhelfen, als von einem unheil-
baren Ubel durch den Tod und in wiefern es weniger sundlich
30 ist, Quinquina gegen das Fieber als Opium gegen den Stein
zu brauchen. Sehen wir auf den Gegenstand: so sollen uns beide
vom Ubelbefinden retten; sehen wir auf die Mittel: so sind beide
gleich natiirlich; sehen wir auf das natiirliche Widerstrauben:
so ists auf beiden Seiten; sehen wir auf den Willen des Schopfers:
was fur ein Ubel wil man denn bekampfen, das nicht aus seinen
Handen abran? Welchem Schmerze wil man ausbeugen, den
1 126 JUGENDWERKE ' 3. ABTEILUNG
er nicht auf uits abgesandt? Und welches ist die Granze wo sich
seine Herschaft endigt und wo man ungestraft widerstreiten
darf? Ist uns also die Veranderung keiner Lage verstattet, weil
alles so ist wie ers gewolt? Mus man nichts in der Welt thun,
aus Furcht seine Geseze zu durchbrechen; wiewol wir sie wir
mogen thun was wir wollen niemals zerrutten konnen? Nein,
der Beruf des Menschen ist edler und grosser. Got hat uns nicht
beseelt, um unbeweglich in einem ewigen Quietismus zu blei-
ben. Sondern er verlieh uns die Freiheit, um das Gute zu thun,
das Gewissen, um es zu wollen, die Vernunft, um es zu wahlen. 10
Er erhob uns zum Richter unserer eignen Handlung. Er schrieb
in unser Herz: thue das was dir heilsam und niemand schadlich
ist. Wenn ich fuhle, dan es mir gut ist, zu sterben: so kampf
ich ia gegen seinen Befehl, wenn ich dan auf meinem Leben
beharre (en m'opmiatrant a vivre): denn indem er veranlasset,
daB ich den Tod wunsche, so schreibt er mir ia vor, daB ich
ihn suche.
Wenn die Christen entgegengesezte Meinungen vertheidigen:
so zogen sie diese weder aus Prinzipien ihrer Religion, noch
aus der Bibel, sondern bios aus heidnischen Philosophen. Lak- 20
tanz und Augustin, die zuerst diese neue Lehre verfochten, wo-
von weder Christus noch die Apostel ein Wort gesagt, steiften
sich bios auf das von mir schon bestrittene Rasonnement des
Phadon: so dafi die Christen mehr dem Ansehen des Plato als
des Evangeliums glauben. In der That, wo trift man in der Bibel
ein Verbot oder auch nur eine Misbilligung des Selbstmords
an und ists nicht seltsam, daB diese soviele Beispiele des Selbst-
mords ohne ein Wort des Tadels berichtet? Noch mehr; der
des Simsons wird durch ein Wunder autorisiret, das ihn an sei-
nen Feinden racht. Geschah dieses Wunder, um ein Verbrechen 30
zu rechtfertigen und hatte dieser Mensch, der seine Starke durch
Wollust verscherzte, sie bios zur Begehung eines gebilligten La-
sters wieder erlangt, als wenn Got selbst die Menschen hatte
blenden wollen?
Du solst nicht todten, sagt der Dekalogus. Was folgt daraus?
Nimt mans nach dem Buchstaben: so darf man weder Inquisiten
FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD II27
noch Feinde todten, und Moses der iiber so viele den Stab gebro-
chen, verstande sein eignes Verbot sehr schlecht. Giebts einige
Ausnahmen: so ist die erste sicher zu Gunsten des freiwilligen
Todes, weil er rein von Gewalt und Ungerechtigkeit ist.
Aber, sagt man, duldet die Obel die euch Got zusendet; ver-
wandelt euer Leiden in euer Verdienst. Allein der Mensch keucht
unter tausend Obeln, sein Leben ist aus Schmerzen zusammen-
gewebt und er scheint zu leben, um zu leiden. Die Vernunft
befiehlt, denen Obeln, denen er entweichen kan, zu entweichen
10 und die Religion die niemals eine Gegnerin der Vernunft ist,
versiegelt dies. Aber wie klein ist ihre Summe gegen die, unter
denen er gezwungen seufzet. Aus der leztern Erduldung kan
er sich ein Verdienst machen; der Schopfer nimt als eine freiwil-
lige Gabe den erzwungnen Tribut an den er uns auflegt und
rechnet die Verzicht auf dieses Leben, zum Vortheile des kiinfti-
gen auf. Die Natur belastet den Menschen mit seiner wahren
Busse: steht er das geduldig aus was er auszustehen genothigt
ist, so hat er das Seinige gethan, und wenn er stolz genug ist,
mehr thun zu wollen: so ist er ein Nar, der Einsperrung, oder
20 einBetriiger, derBestrafung verdient. Wir wollen uns also ohne
Skrupel des Lebens selber entlasten, sobald es zu einem Obel
ausartet, weil es von uns abhangt es zu thun. Wenn das hochste
Wesen ein Opfer begehrt: ist denn Sterben keines? Wir wollen
ihm den Tod darbieten den er uns durch die Stimme der Ver-
nunft abfodert und ruhig in seinen Schoos den Geist ausgiessen
den er uns abverlangt. pp.
Antwort des Englanders
Lettre XXII
Junger Mensch, eine Leidenschaf t verfiihrt dich; sei bescheidner;
30 rathe nicht, indem du Rath verlangst. Ich kenne andere Leiden
als die deinigen. Ich habe eine feste Seek, ich bin ein Englander,
1 1 28 JUGENDWERKE ■ 3.ABTEILUNG
ich kan sterben: denn ich kan leben und als ein Man tragen.
Ich sah den Tod in der Nahe und schau' ihn zu gleichgultig
an, um ihn erst aufzusuchen.
PP-
Um deine Sophistereien auf einmal einzureissen, frag' ich dich
nur das. Du glaubst das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der
Seele, die Freiheit des Menschen; gleichwol dachtest du ohne
Zweifel nicht, daB der Mensch bios zum Ungefahr auf die Welt
gerufen worden, bios um zu leben, zu leiden und zu sterben.
Hat es keinen moralischen Zwek und Gegenstand? Diese An- 10
wort ist die auf das iibrige.
Doch wir wollen diese algemeinen Maximen bei Seite lassen,
mit denen man soviel Gepra[n]ge macht ohne oft eine zu befol-
gen; denn es stosset in der Anwendung allemal eine besondere
Bedingung auf, die alles so andert, daB man sich von dem Ge-
horsam gegen eine Regel losspricht, die man andern vorschreibt,
und es ist bekant, daB ieder der algemeine Regeln festsezt, meint,
sie verbanden ieden ausser ihm.
Es ist dir also, wie du sagst, erlaubt, aufzuhoren zu leben.
Der Beweis davon ist sonderbar: weil du Lust hast, zu sterben. 20
Das ist eine bequeme Schlusart fur Verbrecher: es giebt keine
Schandthat mehr, die sie nicht werden durch die Begierde ent-
schuldigen, sie zu veriiben: und sobald als der Sturm der Leiden-
schaft iiber den Abscheu des Lasters siegt, wird ihnen die Be-
gierde zu siindigen zugleich zum Recht dazu.
Du darfst also aufhoren zu leben? Ich mochte wissen ob du
angefangen? Wie? bist du auf die Erde gesezt, um da nichts
zu thun? Legte dir der Himmel nicht mit dem Leben zugleich
Pflichten zur Erfiillung auf? Wenn du dein Tagwerk vor dem
Abend volendet hast: so raste am iibrigen Theil des Tages: aber 30
was kanst du denn dem ewigen Richter antworten der dich um
Rechenschaft von deiner Zeit befragt? Ich habe ein Madgen ver-
fuhrt, und einen Freund betriibt. Ungltiklicher! finde mir den
Gerechten aus der sich genug gelebt zu haben ruhmen kan: damit
ich von ihm lerne, wie man das Leben mus getragen haben,
um berechtigt zu werden, es abzuwerfen.
FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 1 29
Du zahlest die Leiden der Menschheit auf und errothest iiber
eine Aufwarmung hundertmal gesagter Gemeinplaze nicht und
nenst das Leben ein Obel. Aber forsche in der Reihe der Dinge
Giiter aus, in die nicht Obel gemenget sind. Kanst du aber des-
wegen sagen, daB es kein Gut im Universum gebe und kanst
du das was von Natur bose ist mit dem verwechseln was es
nur zufallig ist? Du hast es selbst gesagt, das passive Leben des
Menschen ist nichts und geht nur einen Korper an aus dem
er bald fortwandert: aber sein thatiges und moralisches Leben
10 welches auf sein ganzes Sein einfliesset, besteht in der Obung
seines Willens. Das Leben ist ein Obel fur den gliiklichen Bose-
wicht und ein Gut fur den ungliiklichen Rechtschaffenen: denn
nicht eine vorubereilende Modifikazion sondern seine Bezie-
hung auf seinen Zwek macht es gut oder schlim.
Dich ekelt zu leben und du sagst: das Leben ist ein Ubel.
Bald oder spat wirst du beruhigt sein und wirst sagen, das Leben
ist ein Gut. Du wirst richtiger reden ohne besser zu rasonniren:
denn nichts wird sich verandert haben als du. Verandere dich
also heute und weil alles Ubel bios in der schlimmen Beschaffen-
20 heit deiner Seele liegt: so bessere deine regellosen Begierden
und brenne dein Haus nicht an, um dir die Miihe zu ersparen,
es anzuordnen.
Ich leide, sagst du mir: hangt es von mir ab, nicht zu leiden?
Das heist erstlich, den Streitpunkt versezen; denn nicht da von
ist die Rede, ob du leidest, sondern ob das Leben fur dich ein
Ubel ist. Du leidest; also must du suchen nicht mehr zu leiden.
Wir wollen sehen, ob deswegen der Tod zu Hiilfe gerufen wer-
den mus.
Beschaue einen Augenblik den Fortschrit der Obel der Seele,
30 der dem Fortschritte der Obel des Korpers entgegengesezt ist,
so wie die Natur dieser zwei Substanzen selbst. Die korperlichen
Obel wurzeln ein, beherschen und zertrummern durch Veral-
tung diese sterbliche Maschine. Allein die andern, die aussern
und fluchtigen Bekummernisse eines unsterblichen Wesens zer-
stieben unmerklich und lassen demselben die ursprungliche
Form die nichts andern kan. Traurigkeit, Langweile, Verzweif-
1130 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
lung sind Schmerzen von geringer Dauer, die niemals in der
Seele Wurzel schlagen; und die Erfahrung strafet stets iene bit-
tere Empfindung Liigen, die unsern Leiden Unaufhorlichkeit
andichtet. Ich sage noch mehr; ich kan nicht glauben, daB die
Laster die uns verderben, defer unserem Geiste einwohnen als
seine Kiimmernisse: ich glaube nicht nur, daB sie mit dem Leib
vergehen der sie veranlasset, sondern ich zweifle auch nicht,
daB nicht ein langeres Leben zur Besserung der Menschen zu-
reiche und daB nicht mehrere Jahrhunderte von Jugend uns nicht
lehren daB es nichts besseres gebe als die Tugend. 10
Da die meisten physischen t)bel mit der Zeit nur wachsen:
so konnen heftige korperliche Schmerzen wenn sie unheilbar
sind, einen Menschen zum Disponiren iiber sich befugen: denn
wenn seine Fahigkeiten durch den Schmerz zerriittet werden
und das Ubel ohne Heilung ist, so ist ihm der Gebrauch seiner
Vernunft und seines Willens entzogen; er hort auf ein Mensch
zu sein, eh' er stirbt und er thut indem er sich das Leben ab-
schneidet, nichts als daB er gar aus einem Korper Abschied
nimt der ihn belastet und in dem seine Seele schon nicht mehr
ist. 20
Aber so ists nicht mit den Schmerzen der Seele, die so stechend
sie auch sind, doch immer ihre Heilung bei sich fuhren. In der
That was macht ein Obel manchmal unausstehlich? seine Dauer.
Die Operazionen des Wundarztes sind gewohnlich schmerzli-
cher als die Leiden von denen sie helfen: allein der Schmerz
des Ubels ist fortwahrend, der der Operazion voriiberlaufend
und man wahlt diesen. Was ist also fur eine Operazion gegen
Ubel vonnothen die ihre eigne Dauer austilgt, die allein sie uner-
traglich machen konte? Ists verntinftig, mit solchen gewaltsa-
men Hiilfsmitteln gegen Ubel auszuriikken die sich selbst vertil- 30
gen? Wenn einer Werth auf Standhaftigkeit der Seele legt und
die Jahre nur das wenige schazt das sie werth sind: welches von
den beiden Mitteln, aus den Klauen des Schmerzes zu kommen,
wird er wahlen, den Tod oder die Zeit? Warte: so wirst du
geheilt werden. Wilst du mehr?
Erwage wol, iunger Mensch, was sind 20, 30 Jahre fur ein
FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD II3I
unsterbliches Wesen. Das Leiden und das Vergmigen flattert
wie Schatten davon; das Leben verrint in einem Augenblik, es
ist nichts fur sich selbst, sein Werth liegt in seinem Gebrauche.
Bios das Gute das man gcthan blcibet und bios durch dieses
ist ienes etwas.
Sage also nicht mehr, es ist ein Obel zu leben, da es von
dir abhangt daB es ein Gut sei und da wenn es ein Obel ist
gelebt zu haben, dieses ein neuer Grund fur dich ist, noch mehr
zu leben. Sage nicht mehr, es ist dir erlaubt zu sterben: denn
10 eben so gut kontest du sagen, es sei dir erlaubt, nicht Mensch
zu sein, dich gegen den Schopfer deines Wesens aufzubaumen
und deine Bestimmung zu betriigen.
Du sprichst von den Pflichten einer Obrigkeit und eines
Hausvaters und da sie dir nicht aufgeleget sind, glaubst du dich
von allem befreiet. Aber die Geselschaft der du deine Erhaltung,
deine Talente, deine Einsichten verdankst; das Vaterland dem
du angehorest, die Ungliiklichen die deiner nothig haben: bist
du denen nichts schuldig? Unter den Pflichten die du in deinem
Briefe aufzahlst, vergissest du nur die des Menschen und des
20 Burgers. Wo ist der tugendhafte Patriot der sich weigert, sein
Blut einem fremden Fiirsten zu verkaufen, weil ers nur fur sein
Vaterland vergiessen darf und der nun gegen Befehl der Geseze
es aus Verzweiflung versprizen wil? Die Geseze, iunger Mensch,
verachtet sie der Weise? Der unschuldige Sokrates woke aus
Achtung fur sie nicht aus seinem Gefangnis fliehen; und
du nimst keinen Anstand, sie zu verlezen, um ungerecht aus
dem Leben zu fliehen; und doch fragst du, was thu' ich schlim-
mes?
Du wilst dich durch Beispiele rechtfertigen. Du wagst die
30 Romer zu nennen! Du und Romer! Stehet es dir zu, diese Namen
auszusprechen? Sage mir, starb Brutus als ein verzweifelnder
Liebhaber und zerris Kato fur eine Frau sein Eingeweide? Kleiner
und schwacher Mensch, was ist fur ein gemeinschaftliches Maas
zwischen dieser grossen Seele und deiner! Ich furchte diesen
grossen Namen durch seine Apologie zu entweihen. Bei diesem
ehrwiirdigen Namen mus ieder Freund der Tugend in den Staub
1 13 2 JUGENDWERKE • 3.ABTEILUNG
seine Stirne legen und durch Stilschweigen den Namen des gro-
sten der Menschen verehren.
Wie iibel sind deine Beispiele ausgelesen und wie niedrig ur-
theilest du von den Romern, wenn du denkst, daB sie sich fur
berechtigt hielten, sich das Leben zu nehmen sobald.es ihnen
lastig wurde. Betrachte die schonen Zeiten der Republik und
forsche ob du Einen tugendhaften Burger sich so der Last seiner
Pflichten, selbst nach den ungliiklichsten Schiksalen entledigen
siehst. Kam Regulus da er nach Karthago kehrte, den Foltern
die ihn erwarteten durch den Tod zuvor? Wie bewunderte nicht 10
der Senat selbst den Muth des Konsuls Varro, daB er seine Nie-
derlage Ciberleben konnen? Warum liessen sich so viele Generale
freiwillig den Feinden ausliefern, sie denen die Schande so mar-
tervol und der Tod so leicht war? Deswegen weil ihr Blut, ihr
Leben, ihre lezten Seufzer dem Vaterlande gehorteri und weil
weder Schande noch Ungliik sie von dieser heiligen Pflicht ent-
fernen konten. Aber als die Geseze zerstohret und der Staat ein
Raub der Tyrannen waren: so fiel iedem seine naturliche Freiheit
und seine Rechte iiber sich wieder anheim. Da Rom nicht mehr
war: so wars Romern erlaubt aufzuhoren zu sein; sie hatten alle 20
ihre Pflichten auf der Erde erfiillet, sie hatten kein Vaterland
mehr und bekamen das Recht sich die Freiheit zu geben die
sie ihrem Vaterlande nicht mehr geben konten. Nachdem sie
ihr Leben angewandt hatten, dem verscheidenden Rom zu die-
nen und fur die Geseze zu kampfen: so starben sie gros und
tugendhaft wie sie gelebt hatten und ihr Tod wurde noch ein
Tribut fiir den Ruhm des romischen Namens, damit man in
keinem von ihnen das unedle Schauspiel eines einem Usurpateur
dienenden freien Burgers erblikke.
Aber du, wer bist du? Was hast du gethan? Suchst du in deiner 30
Dunkelheit eine Entschuldigung? Spricht dich deine Schwache
von deinen Pflichten los und bist [du] darum weil du weder
Name noch Rang in deinem Vaterlande hast, weniger seinen
Gesezen untergegeben? Es steht dir wol vom Sterben zu reden,
wahrend du die Anwendung deines Lebens deinen Mitmenschen
schuldig bist. Lerne daB ein Tod wie du ihn vorhast schandlich
FUR UND WIDER DEN SELBSTMORD 1 133
und diebisch ist. Er ist ein Diebstahl am menschlichen Ge-
schlechte. Ehe du dieses verlasse[s]t, so geb' ihm wieder was
es fur dich gethan. » Aber ich gehore niemand, ich bin der Welt
unniiz. « Philosoph der Mode! Weist du nicht daB du nicht einen
Schrit auf der Erde thun kanst ohne da einige Pflichten fur dich
anzutreffen und daB ieder Mensch schon dadurch der Mensch-
heit nuzt, daB er existirt?
Hore mich, iunger Unbesonnener! ich liebe dich, ich habe
Mitleiden mit deinen Verirrungen. Wenn in deinem Herzen
io noch das geringste Gefiihl der Tugend wohnt: komm' damit
ich dich das Leben lieben lehre. Jedesmal daB eine Versuchung
dich aus dem Leben hinausschrekken wil, so sag* zu dir selbst:
»ich wil noch eine gute Handlung thun eh' ich sterbe. « Such'
irgend einen Durftigen auf den du unterstiizen, irgend einen
Ungliiklichen den du trosten, irgend einen Unterdriikten den
du beschirmen kanst. Wenn diese Betrachtung dich heute zu-
rukhalt: so wird sie dich auch morgen, auch iibermorgen und
dein ganzes Leben zuriikhalten. Halt sie dich nicht zuriik: so
stirb, du bist nur ein Bosewicht.
MEINE BEANTWORTUNG
der Berliner Preisaufgabe: »ob man den Pobel aufkldren durfe«; als
ich fur die Algetn. deutsche Bibliothek abgezeichnet wurde
Es steht einem nachsichtigen Publikum zu, mir nicht deswegen
aufsazig zu werden, daft ich seit siebzehn Wochen keine Sylbe
fur dasselbe drukken lassen: sondern lieber mit wahrer Kaltblu-
tigkeit zu erwagen, daB ich selbst (und kein Feind) mir vor
Weihnachten bei Belgrad die kiirzeste von den plastischen Natu-
ren, die der Himmel aus dem Arm der Menschen zum Biicher-
schreiben auswachsen lasset, namlich den Daumen so zer- 10
schossen, daB ich weder den Degen noch die Feder weiter halten
konte. Dafiir fuhr' ich iezt die leztere (mein durchschossener
Ammanuensis ist nun wie neugeboren) mit desto grosserer Lust
und diese Lust sol mich hoff ich schon antreiben, aus alien Kraf-
ten und vielleicht mehr zu schreiben als man ohne den Schus
von mir hatte hoffen konnen.
Es kan niemand im Ernste laugnen, daB ich mich niemals
mehr erbosse als wenn mich ein verniinf tiger Man abmalet und
ich wiirde dem Henker eben so gern als einem Zeichner sizen,
ob gleich der eine eben so wol meinen Kopf haben wil als der 20
andere. Gleichwol wurd' ich genothigt, zweimal zu sizen, das
erstemal fur den Dosendekkel meiner Frail, auf dem mich der
Tabak so gelb gefarbet, daB ich zu meinem Verdrus aussehe
wie der Neid und die Eifersucht, das zweitemal fur die A.
deutsche Bibliothek, die keinen gelb machf sondern hochstens
schwarz. Ich konte mir, wahrend meine zeichnende Frau mein
Gesicht anschauete, recht gut dadurch die Zeit vertreiben, daB
ich ihres auch anschauete und mich darein halb wo nicht mehr
wie bekant verliebte so wie ein Viertel in meines. Allein da
mich die alg. deutsche Bibliothek (ich sol vorn an ihrer Hausthiir 30
mit dem gestochnen Kopfe wie die gewohnlichen Maskaroni
MEINE BEANTWORTUNG 1 135
aus der Mauer herausspringen* abzeichnen lies und ich dabei
gar keine Moglichkeit absah, mich in den Maler, der wie das
Chaos aussah, gewissermassen zu verlieben; da ich (iberhaupt
erst recht bedachte, daft man es mir algemein zumuthen wiirde,
vorder A. d. B. nichtauszusehenwieeinkrankes Schaf, sondern
scharfsinnig genug; da ich endlich dabei nicht blieb sondern den
Saz iiberlegte, daB nichts in der gelehrten Welt so leicht Scharfsin
im Gesichte erzeuge als Scharfsin im Gehirn: so nahm ich mir
den Augenblik vor, den leztern in auffallendem Masse zu haben
io und mit ihm unter dem Abmalen einen Aufsaz von einem Tief-
sin zu knaten, dergleichen noch wenig Pranumeranten und Sub-
skribenten gesehen. »Es miiste der Bose oder ein noch schlim-
merer Feind dabei interessiret sein, wenn ich nicht so
scharfsin [n]ig aussehen wolte als ich schreibe« fein Blatt fehlt]
wil, zumal mit dem Worte Pobel, weil die meisten Lexikogra-
phen ihn in den hohern und in den niedrigen eintheilen, wie
etwan den Adel: unmoglich kan einer, wenn er nicht die Ober-
oder Spundhefe der Menschheit ganzlich mit der Unterhefe der-
selben verwechseln wil, Leute von Stande zu einem andern als
20 dem vornehmen Pobel schlagen und sogar ihre Bedienten von
beiden Geschlechtern werf* ich zu dem edlern PobeL Mithin
stehet die Akademie auf und fraget alle Gelehrte die etwas fran-
zosisch konnen: sol man erstlich den vornehmen Pobel aufkla-
ren? Ich wiirde ihr wenn ich franzosisch konte, diese Frage durch
nichts beantwortet haben als durch eine zweite: sol man die
Thiere aufklaren? Ich wolte deswegen, der vornehme Pobel
sasse hier und liefe in meinem Helvetius die Ursachen, warum
die Thiere ewig dem Menschen den Vorrang des Verstandes
lassen, langsam durch und applizirte sie alle auf sich. Helvetius
30 sagt: die Thiere miissen bei alien ihren menschlichen Anlagen
* Sulzer sagt, diese an den Schlussteinen der.Bogen ausgehauenen
Menschenkopfe kommen von der Gewohnheit der Barbaren her, den
Kopf des erlegten Feindes als Puz oben an der Hausthiir einzupfahlen
und man musse sie abbringen. Vergleichungen, Metaphern, Allegorien
und Blumen sind verhast.
II3<5 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
diimmer als die Menschen bleiben, weil sie ein kurzeres Leben,
bessere Bekleidung und Bewafnung, mithin wenigere Bediirf-
nisse als die Menschen haben; dem Verstande des Affen thut
nochinsbesondere, schreibt er, seine unaufhorende Beweglich-
keit und Springsucht wahren Schaden, weil sie aller Langweile,
dieser Mutter und Saugamme der geistigen Vervolkommung
ein Ende macht. (de Tesprit disc. [I] ch. [i]) 1st aber unter diesen
Obeln eines, das nicht tiber den Schultern des vornehmen Pobels
lage? Ich kan den Hern Maler nicht irre machen, wenn ich die
rechte Hand massig herumstrekke und frage, wer fiihrt ienes 10
voruberblizende Impro[m]ptu von Leben, wer wird ausser den
Thieren mit Pelz- und Seidenldeidern geboren, wer findet auf
iedem Plaze einen vollen Tisch und ein voiles Bet, in seinen
Windeln Ordensbander, in seiner Wiege eine reiche Heirath,
und um sich eine ganze Welt zum Angebinde fur seinen Ge-
burtstag, als eben mem' ich der sogenante feinere Pobel? Er
ist recht schlim daran: denn wenn ich gar auf das Obige vom
Affen gerathe und nur von weiten hinsehe, wie die vornehmsten
Korper als weiche Balle unter einem Tabakskollegium von Zer-
streuungen, von Festins, von Opern, von Feuerwerken, von 20
Dinees, von Soupees, von Thierhazen, im schwarzen Balhause
der grossen Welt hiniiber und heriiber und in die Queere ge-
schlagen werden, und wie iedem von freundschaftlichen Han-
den iede Minute einsamer Langweile, wo seine dunkellebhaften
Ideen ihren groben Bodensazkonten fallen lassen, abgeiaget und
entfuhret wird: so wiinscht' ich, ich wiirde nicht gerade abge-
malet, um nur meine Hande gewaltsam in ein Funfek vor Ver-
wunderung aufrichten zu diirfen, daB bei einem solchen Gusre-
gen von Lustbarkeiten, wovon das Achtel unser einen, wenn
man auch soviel Verstand besasse wie ein Affe, zu zwingen hin- 30
langte, daB man nicht mehrerern bekame, doch noch iemand
in der grossen Welt seine fiinf Sinnen hat oder gar sechs . Warlich
und wahrhaftig!
Eine der besten Schilderungen die mir noch von dieser Seite
des feinen Pobels in die Hande fiel, ist wol die, die ich in meiner
Jugend, wo ich mich mehr des Trunkes und der Satire beflis,
MEINE BEANTWORTUNG 1137
in einem Zustande von beiden aus meiner eignen Feder vorlies
und ich kan sie vielleicht darum auswendig, weil ich sie nicht
so selten oder so gleichgiiltig durchlas als manche thun.
»Wenn die Scholastiker und Pabstler, schrieb ich, mit den
schwersten Schliissen darthun, dafi der Mensch drei Seelen be-
herberge, dafi die erste, die vegetative, den Fotus aus dem Groben
haue, um darauf durch ihren Untergang der sensitiven Plaz zu
machen, dafi diese zweite so lange bilde und modellire bis sie
durch die dritte, die vernunftige, weggetrieben werde, und dafi
10 diese vernunftige lebenslang verweile: so haben sie unmoglich
Unrecht; allein sie miissen doch vorher die ganze Seelenprozes-
sion umwenden und durch diese Evoluzion die Hypothese den
Leuten aus der grossen Welt ganz anpassen. Namlich so: die
vernunftige Seele zieht offenbar zuerst in unsern Tagen ein und
kein Glied als der Kopf hat in der Kindheit so viele Krankheiten
und Vorzuge. Ein vornehmes Kind hat hoff ich mehr wahren
Wiz als seine 50 Pathen, die viel alter sein miissen, und rasonnirt
passabel iiber alien Teufel: den Teufel selber aber rasonnirts ne-
benher mit weg. Ein paar Monate vor dem 15 Jahre gelangt
20 die vernunftige Seele zum Ausgange aus Agypten d. i. aus dem
Kinde und rukt sterbend der sensitiven zu. Ich erschrekke vor
dem brennenden aussaugenden langen Tage der Wollust bei die-
sem Solstizio. Wahrhaftig ich seh' es mit Augen, die sensitive
Seele hat grosse und kleine Blasebalge unter dem Arm und eine
Windlade unter dem Fusse und drukt sie damit, um nur mit
32 Stiirmen die Blutkohle des Menschen zu Einer schiessenden
Flamme aufzuwehen. Auf ieder Ader, auf iedem Nerven klebt
das bunt schimmernde Vergniigen und driikt vorn einen aus-
schliirf enden Saugestachel und hinten einen Eiervollen Legestachel
30 hinein. Im 30 Jahre, wo ihn die Leidenschaften wie die Ameisen
einen Maulwurf skelettirt da liegen lassen, in eben diesem Jahre
wo der Jude das Hohelied Salomonis erst lesen darf, an dem
der besagte Jiingling sich langst heiser gesungen, grunt zogernd
die vegetabilische Seele her aus und erloset mich von der langern
Biographie dieses matten Menschen. Dennnichts mus mich nun
mehr gegen ihn aufbringen als dafi er so welk und zahe wie
113 8 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Leder ist: er ist ia klar ein ausgebranter aschenvoller Vulkan,
oder der lange diirre Brandpfahl zum Denkmal des weggesengten
herlichen Gebaudes und weswegen sol ich ein Geheimnis daraus
machen, wenn ichs hindern kan, so hindere ichs, daB man ihn
nicht einmal zum Kanzleikopisten annimt, obgleich sein Vater
gewis ein ehrenbraver Man gewesen.«
Der Maler sagte, es geschahe ihm ein wahrer Gefallen, wenn
ich auf etwas Ironisches dachte, um eine ernsthafte Mine zu
bekommen; denn er seines Orts pass' auf eine furs Portrait.
Das lenkt uns ia alle, sagt' ich, recht ungezwungen dem zwei- 10
ten Theile der berlinischen Frage zu: ob man den niedrigen Pobel
aufklaren musse?
Ich und unser alter Edelman, den niemand besser trift als der
H. Maler, mochten kaum npch einen Buchsenschus fern von
Altkazenellenbogen fahren, als der Edelman unter andern auch
die Frage der Akademie (er wuste ubrigens gar nicht, daB die
Frage oder die Akademie in der Welt sei) in den Mund bekam
und sie auf der Stelle so aufloste: der gemeine Man durfe Sontag
und Werkeltag nicht mehr Verstand haben als er brauche, um
sein Testament zu machen. Da man nun dazu gerade so viel 20
braucht als ein Stupider hat: so driikte mein ehemaliger Prinzipal
meine Meinung stark genug aus; aber beweisen mus ich sie hier
selbst - denn die Gerichtshern miissen allemal eine Meinung
haben und die Gerichtshalter miissen sie ordentlich beweisen.
Ich wiiste keine einzige Metapher, auf die die altesten und
neuesten Staatslehrer das Staatsrecht gliiklich gegriindet haben,
die sich nicht liberal mit meinem Saze reimte, daB das Volk
immer den Beinamen des Karls des Einfaltigen behaupten musse.
Wenn sie z. B. inzwischen sagen (sagte M. l'Academicien),
der Staat sein eine Maschine — 30
so ists ganz gut. Denn etwas schlechteres sol und darf er nicht
sein; und etwas be^seres, das ist schon der Fiirst. Unvolkommen
ist allerdings eine solche Staatsmaschine niemals, wenn der Re-
gent gerade an ihr das, weswegen man sich solche ungeheuern
Maschinen anschaft, nicht vermisset; wenn z. B. der ehrgeizige
an dem seinigen eine drostattsche (indet, die ihn und seinen Na-
MEINE BEANTWORTUNG 1 1 39
men durch, in, mit und unter der Luft emportragt, wenn der
essende eine Koch- und papini(inische, der kriegerische eine ent-
hauptende und Donnermaschine an dem seinigen besizet: allein
damit kan keiner von uns dreijen] sich iezt bemengen, sondern
bios die Maschinenmeister aller Staaten. Es ist mir (ibrigens
recht gut bekant, daB unbedeutende Publizisten in Regenspurg
ein sehr schmales Traktatgen kontefn] drukken lassen, worin
man die Maschinenhaftigkeit unserer Staaten ganz gut bestritte
und sich nichts daraus macHte, am Ende auf den Saz zu fallen,
io daB einige von ihnen gleich der Schachmaschine des Kempele
ihre unzahligen Rader, Walzen, Gewichte und Rollen wirklich
bios zum Spas und Schein und dazu hatten, um eben zu verber-
gen, daB ein Kind allein die Hand im Spiele habe: allein da in
beiden die Rader und alle Gelenke einer Maschine, obgleich ohne
Nuzen, doch da sind, so beweiset der Einwurf ia nicht, daB
sie keine, sondern hoffentlich nur daB sie elende Maschinen sind.
Aber das konten sie eben nicht einmal bleiben, wenn iedes
Staatsmitglied eben so gut seinen Kopf vol Aufklarung aufsezen
diirfte als hatt' er noch eine Krone oben darauf zu thun. Ich
20 bitte Sie beide, meine Herren, urns Himmels Willen, sinnen
Sie geselschaftlich nach und malen Sie lieber nicht weiter, ob
ein Staatsmitglied die treibende und getriebene kleine Maschine
in der grossen Maschine bleiben kan, wenn man Licht nimt
und ienes damit beseelet, wenn das holzerne Rad sich in [ein]
lebendiges augenvolles Feuerrad verwandelt, dergleichen Jesaias
selbst gesehen, kurz wenn in iedem stat des Fiirsten auch eine
Seele regiert?
Allerdings, sagte M. l'Afacademicien], ists damit vorbei und
aus den Maschinen werden nichts als Menschen.
30 Also wenn sie, wie Sie gotlob zugestehen, das (was man be-
weinen mochte) wirklich werden: was wird aus der geheimen
Landesregierung und mit den Kabinetsordres? Nichts, sag* ich
und fahre in meinem Sorites weiter, als etwas Unerwartetes
undjammerliches; die eisemeFHege, die Regiomontan ausdrech-
selte und die schmeichelnd auf eines Kaisers Hand sich niederlies,
wird nun vollig beseelt und sticht und beschmuzt die gedachte
1 1 40 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
Hand und ist iiicht zu fangen - kurz der Schwann lebendiger
Fliegen ist weder amts- noch schriftsassig und im Kleinen der
Adel aus den Faustrechts Zeiten. Noch einma] kurz: die gerade
und lezte Folge des Sorites ist die: daB Wesen, die ein Zeigefinger
und der Daum des Regierungssekretairs, oder die 24 Lettern
des Hofbuchdrukkers, ein Papierschnizgen von einem Regle-
ment, soviel Dinte als zum Namen des Fiirsten gehort in ewige
Vibrazionen und in alle mdgliche Richtungen schnellen konten,
ohne die dii ex machina, namlich Vernunft, Gerechtigkeit, p.
nur im geringsten nothig zu haben, so lange iene noch Maschi- 10
nen waren, daB sag' ich solche Wesen, sobald sie Menschen
geworden, nur gar zu klar durch nichts zu regieren stehen als
durch den - verfluchten Antimachiavell.
Ich meine namlich in dem Falle, wenn mans vorher mit Regi-
mentern und grobem und kleinem Geschiiz umsonst probiert
hatte und die Leute durchaus nichts annehmen und horen als
- Vernunft oder ihr altes Parlament.
Allerdings treten auch Staatslehrer auf den Katheder, die Ver-
stand genug haben und es fur schlecht erklaren, den armen Un-
terthan zu einer Maschine zu verkehren, den man nach bessern 20
Grunden urid mit mehr Menschenliebe vielmehr fur einen Skla-
ven gelten lassen dtirfte.
Eben das wolt' ich Ihnen einwerfen und dabei den alten Hob-
bes vorschieben, sagte M. rA[cademicien].
Allein eine heitere Friihviertelstunde kan es iedem Akademi-
sten und auch andern aufdekken, daB nichts daran ist; wahrhaftig
ich wundere mich tiber mehrere Publizisten, daB sie die schrei-
ende Unvertraglichkeit der Volksaufklarung mit der Volksskla-
verei schlechter einsehen als ich, und ich ware zu entschuldigen
wenn ich mir etwas darauf einbilden konte, daB ich schon, da 30
ich dem Erzamt eines Prinzenhofmeisters vorstand und mit mei-
nem Eleven die Alten las, ihn gebeten, die namlichen Grundsaze
an diesen zu bemerken und nachzuahmen. Sehen Sie nicht, sagt'
ich zu ihm, daB die Sparter, dieses glanzende Volk von Fiirsten,
weder sich in ihrer Freiheit, noch die Heloten in ihrer Sklaverei
erhalten konten, wenn sie nicht den leztern alle menschliche
MEINE BEANTWORTUNG II4I
Bildung untersagten? Ja sie musten so weit gehen, daB sie das
Singen und Lesen grosser seelenerhebender Oden ihnen nicht
verstattenkonten. NunlegteichdemPrinzen die wichtige Frage
an das Herz unter dem Stern, ob er nun den Tadel der Biicher-
konfiskazionen fur so gegriindet halten konne als er haufig sei
und ob sie wirklich das schlechteste Mittel seien, die Freiheit
deren Soufleurund Spiritus familiaris von ieher die Aufklarung
[zehn Blatter fehlen]
[Amor, der oft] mit den feinsten Leuten zu schaffen hat und
10 durch schone Augen scharfsichtige Augen erblinden lasset, hat sel-
ber sicher keine mehr und ich schliesse das aus seiner Binde
langst - die Gerechtigkeit, die in ihrem Leben mehr als einen
Aktenstok durchsehen mus und 100 Beweise durch Augen-
schein zu fiihren hat, schauet wie ein Nachtwandler bios durch
zugedrukte Augen hindurch - das Gluk, das die Karten und
Amter austheilet und fur die wichtigsten Stiizen des Staats selbst
wieder eine Stiize ist und das der Kopf angesehener Personen
zu seinem curator absentis angenommen, schliesset deswegen
die Augen nicht auf - Clairvoyanten, iiber die die Welt vor Ver-
20 wunderung fast rasend werden wil und die es doch selbst nicht
sind sondern mehr Verstand (so wie mehr Vergnugen) haben
als vier zusammengekochte Fakultaten auf einmal, brachtens
gar nicht so weit, wenn sie bios stokblind dalagen und nicht
auch schlafend dazu - Fakultisten, die iiber Leben und Tod gut-
achten, stehen diesem schlupferigen Geschafte nicht selten ohne
Scharfsin vor, und doch mit Leichtigkeit - Apotheker, die in
dem namlichen Fache arbeiten, konnen gar nicht die Rezepte
lesen und wissen von der Semiotik derselben nichts, und der
der sie schrieb weis von der Semiotik der Krankheiten nichts,
30 und doch geben beide keinen Heller fur Schmerzengeld aus -
Schauspieler, die niemals einen Prinzenhofmeister oder ein Re-
gierungskollegium geniizet haben, treten das almachtige Amt
eines Fiirsten vor der ganzen Residenzstadt an und fassen die
schwersten Szepter in ihre gichtbruchigen Hande, wie die Uni-
versalhistorie gar oft wahrgenommen und protokolliret -
1142 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
H. Hasus selbst, der einigermassen narrisch ist und niemals sich
hfinstelt?] und iiber so viele Facher der Gelehrsamkeit etwas
Gescheutes lieset als bios im Traum wo er ein Buch oft fast
eher lieset als ers noch gemacht, der fiihret ohne Bedenken einen
ellenlangen Beweis, daB Dumheit dem Pobel besonders anpasse,
und wil den noch gelehrtern Academicien niederfechten und
das Ganze als einen wakkern Aufsaz dem deutschen Merkur
zufahren. Wenn nun solche und noch bessere Leute ohne Ver-
stand auskommen und fet dabei werden: so mag ich nicht an
der Stelle des Menschen sein ders zu verantworten hat, warum 10
er mit den 4 bis 5 Pfunden Gehirn, womit ihn Got begabt,
so schlecht wucherte, daB ers nicht herausgebracht, mit wie
noch weniger Recht der Pobel seine Obern um Verstand an-
schreien wil, er der bekantlich keine natiirliche Kinder - keine
Referate- keine Gliiklichen - keine Weissagungen - keine ratio-
nes dubitandi et decidendi - keine Brech- und Purgirmittel -
keinen Furs ten und nicht einmal einen ellenlangen Aufsaz iemals
zumachenbraucht, worin nicht iibel dargethan wird, daB Dum-
heit ausserordentlich fur ihn passe . . .«
Diese schwache Iniurie machte den Akademiker ganz leben- 20
dig und er fieng zu meinem Schrekken an zu fragen: »nach wel-
chem Recht wirft sich der kleinere Theil zum Austheiler der
Kentnisse und des Schiksals des grossern auf? und befugt ihn
das Recht des korperlich oder geistig Starkern zu etwas anderem
als zum Schuzedes Schwachern, oder zur noch grossern Schwa-
chung desselben? Beweiset der Umstand, daB es von ieher an-
ders in der Welt gewesen, wol, daB es so sein diirfen und immer
[so] sein werde? Konte man nicht mit dem Vorwande, das Volk
konne die Aufklarung misbrauchen, sie iedem andern Stande
auch abschlagen und wird sie nicht von den hohern Standen 30
grausam gemisbraucht? Und wenn der Mangel gewisser Vor-
kentnisse diesen Misbrauch durchaus nothwendig macht:
warum hebt man nicht mit ienem diesen auf? Warum zittert
man vor dem Orkan, unter welchem alzeit ganze Lander von
der Finsternis sich mit bebender Erde ins Licht hinheben; und
zittert doch nicht vor dem Orkan des Krieges, mit dem man
MEINE BEANTWORTUNG 1 143
oft nur Kleinigkeiten kaufet? Oder sol das Volk getauscht wer-
den, damit es gelaufiger regieret werde, anstat daB es regiert
wird, um nicht immer getauscht zu bleiben? Und wo werden
Befehle der Vernunft gehorsamere Ohren finden als an Kopfen
vol Vernunft? Wenn man nicht glauben wil, daB das Ganze der
Menschheit wie das der Thiere immer und ewig sich an Einem
nakten Felsen ansauge und daB nur wenige Individuen der Vol-
kommenheit mit einigen Schritten entgegenziehen: wie wil man
doch immer die namliche iezige Unempfanglichkeit des Volks
io fur Aufklarung, voraussezen und der Zukunft zutrauen? Und
wenn man glaubet, daB es einmal besser mit ihm werde, warum
wil man selbst nichts thun, damit es fruher so werde?? pp.«
Jezt bin ich schon fertig, sagte der Maler.
Wenn das ist, sagt' ich: so konnen Ihre neue Beweismittel,
die Sie erst nach dem Praklusionstermin beibrachten, auf keiner-
lei Weise mehr Plaz greifen, da ohnehin schon ad octuplicas
verhandelt worden. Lass' ich mich wieder malen: so konnen
Sie ohnbeschwert den Prozes unter einer andern Akzion [von]
neuem anhangig machen.
20 Mich verlangt nur zu erf ahren, ob die vidimirte Kopie meines
Kopfes der Alg. deutsch. Bibliothek gefallet - und ob das Origi-
nal: denn ich send' ihr iezt die eine mit der Reichspost, und
das andere mit gar keiner.
J. P. F. Hasus.
hinlAngliche winke
wie mein epitaphium sein sol
Wenn Sulzer Klagen ausstosset, daB man die wenigen Denkma-
ler verdienter Manner nicht wie die Alten an Plaze des Vergnii-
gens, an offentliche Spaziergange, sondern auf Gottesakker auf-
sezet, wo kein Teufel hinkomt: so stoss' ich Klagen aus, daB
man das nicht einmal thut, und wenn ich nicht selbst daran
dachte und etwas ansehnliches in meinem Testamente bios dazu
auswiirfe, daB mir fur mein Geld ein prachtiges Epitaphium,
von dem ich iezt angeben mus wie ichs haben wil, gehauen und 10
gesezet wiirde: so dachte in der ganzen Ballei keine Seek daran
und das thut mir die Wahrheit zu sagen recht wehe. Nicht dem
verdienstvollen Man sondern nur seinen Bewunderern fallet
seine Verkennung so hart und aus wessen Seele eine grosse That
erwachsen kan, bei dem sez' ich schon eine innere grosse voraus,
den Sieg iiber die Ruhmbegierde, wie man den Ruhm einerntet,
wo man ihn verachtet. Man wende das nicht auf mich an, son-
dern nur auf sich.
Wenn ein kiinftiger Reisender vor meinem Epitaphium vor-
beireitet (denn aus der Landstrasse schauet man in den Gottesak- 20
ker hinein und meines schimmert leicht in die Augen) und eine
Reisebeschreibung halb in der Tasche und ganz im Kopfe hat:
so entsinn' er sich, daB ich ihn hier ersucht habe, seiner Reisebe-
schreibung, die ich wegen des guten Styls kaufen wiirde wenn
ich nicht tod ware, dadurch einen ausserordentlichen Glanz zu
geben, daB er stat seiner eignen elenden Beschreibung des E[pi-
taphiums], meine folgende eigne hineinbringt oder es gar blei-
ben lasse: denn hier ist sie ia schon.
Der wesentliche Zwek eines Grabmals ist, einen Menschen
lustig zu machen; es ist glaub' ich der lezte Spas eines Marines 30
auf dieser Welt.
WIE MEIN EPITAPHIUM SEIN SOLL II45
Es miissen deswegen die Rezensenten, die halberhoben auf
dem Grabstem nisten sollen, durchaus in 2 Arten von poetischen
Figuren dargestelt sein. Dieienigen Rezensenten, die als Teufel
gehauen werden, welche sich mit der Fama urn meine Seele
schlagen, gehen in dies[er] Gestalt nach der einen poetischen
Figur. Die andere ist, daft ich eben soviele Rezensenten als ana-
tomische Professoren hinmeiseln Iasse, die mit ihren Handen
und Messern in meinen Leichnam dringen und wissen wollen,
wo das Obel ihm sizt: von der Anatomie konnen sie nichts wis-
10 sen, gleich den Wurmern die unter dem Stein meinen Leichnam
anatomiren, mehr um sat als weise zu werden.
Es gehoret in meinen Plan, die 4 Fakultaten sollen versteinert
werden und da ihre 8 Hande iiber die Kopfe zusammenschlagen,
daft meine eignen wirklich faulen und folglich der Welt nichts
mehr liefern als wachserne Fingernagel, wie der ungelehrteste
Tode auch thut. Jede sol ausser dem Liripipium auf ihrem Kopf
eines in der Hand halten, als ob sie willens ware, es mir aufzuse-
zen (wegen der Menge meiner Verdienste) und als ob sie es
bedauerte, daft es nicht mehr geht: allein es ist nicht zu spat
20 und ich bin ia noch am Leben und kan tausend Liripfipien] auf-
thun.
Stat des a/co oder •>•** sol meine glandula pinealis oben ihren
Plaz haben, da ich ihr alles zu danken habe, meinen Ruhm und
diese Beschreibung und wenn diese Druse nicht soviel Vergnu-
gen wie andere giebt, so doch mehr Weisheit und macht gut
was andere verderben. Thranendrtise Zirbeldriise. Ich kehre
mich in der Erde um, wenn man nicht errath, warum ich die
medizinische Fakultat mit einer Garnitur von Weisheitszahnen
aller Gelehrten giirte, sondern auf Vermuthfung] des Spasses
30 fait. Garben Gehirnfibern - Spizglas vol Nervensaft - Ather.
Alle meine Schneider - denn ich sezte nach und nach die ganze
Gilde in Arbeit, nicht in Nahrung - sollen hinter mir her sein
und nach meinem Rokke fangen: ich weis nicht erst seit gestern,
daft sie es nicht nur wie die Damen bei Voltaire thun 26/CI3.,
sondern auch um mir den Rok abzupfanden, weil ich aus der
Welt gegangen und ihn zu zahlen vergessen - im Himmel sol
1 1 46 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
die Bibliothek von G6tt[ingen] stehen, damit die Leute sehen
was ich fur Lust habe.
Der Steinhauer mus kein Nar sein und nicht seine Anatomie
und meine Muskeln vorzeigen wollen: denn dan wiird' ich mit
meinen vorspringenden austretenden Muskeln aussehen wie ge-
schunden; ich seh' aber ganz anders aus und regiere einen scho-
nen gebohnten Korper seit meiner Zeugung.
Ich that' es gern und brachte meine Frau - denn sie lebt noch
und ob ich gleich aus guten Absichten sie einmal in Stein hauen
und in einen Sarg einbetten lies: so wolte es doch ihre Nerven 10
nicht genug angreiffen und ich hatte noch den unniizen Hauer
zuzahlen- iammernd und heulend auf diese steinerne Gemalde-
gallerie dessen, was ich wirklich bin, ich sag ich that' es; aber
es ist kein Plaz fur sie und wie viel weniger fur die ganze halbe
Welt, ob [ich] sie gleich darauf hinwiinschte und es doch zu
versuchen rathe.
LAUNIGTE PHANTASIE
Es miissen schon viele Kunstrichter auf der Welt gewesen seyn,
die recht gute Griinde angaben, warum das musical ischeVhantz-
siren, das ohne Tact mit den entferntesten Tonarten und Emp-
findungen wechselt, und worin Emmanuel Bach vortrefliche
Proben setzte, nicht im Mindesten einem verniinftigen und un-
sterblichen Wesen mehr vergonnt seyn kann, als das Launigte,
an das ich mich jetzt einmal mache: lebten keine solche Kunst-
richter, so kann ich weiter nichts dafur, und ich konnte deswe-
gen keinen Ehebruch begehen und sie insgesarnmt vorlaufig
zeugen. - Obrigens ist das Phantasiren bekanntlich so schwer, 10
daB, so wie vielen nur im hitzigen Fieber und Wahnsinn bey
einer Verdoppelung aller korperlichen und geistigen Krafte die
ErinnerunggriechischerBeweisstellen, die Composition ganzer
Gedichte und Reden etc. vonstatten gieng, gewohnlich auch
das Phantasiren nur in solchen Krankheiten besonders gerath,
die den Kopf beseelen, indem sie ihn ungemein verwirren.
Meine Anlage dazu, (das fuhr ich selbst so gut wie ein anderer)
will wenig sagen, und ich konnte mich bios deswegen nicht
als Jesuit in Antwerpen niederlassen, und da an den Actis Sanc-
torum mitschreiben, an denen (sie sind ein einaugiger Biicher- 20
cy elope und ein Hierozoicon) vielleicht etwas ist. Ich besinne
mich zwar aus Hallers Physiologie recht wohl darauf, daB er
ein Beyspiel eines Wahnsinns anfiihrt, der wie ein eisernes Stuck
bis in die fiinfte Generation uberriickte: allein es muB In- und
Auslander ein wenig Wunder nehmen, daB da mein GroBvater
im Grunde gar nicht recht bey sich war, sich die Sache auf mei-
nen Vater doch nur sehr gedampft vererben wolte, indem viele
Buchhandler dafiir haften konnen, daB ihn in seinem Leben nie-
mals etwas hohers befiel, als die dythrambische Poesie; bey mir
erschlafte diese Anlage noch weit mehr, und die Wahrheit zu 30
gestehen ausserordentlich, und die poetische Pulsader schoB in
mir zu einer schlechten satyrischen Blutader aus; bey meinen
Kindern soke die Welt nicht einmal wenige Rudera davon er-
w art en, und es konnen, sorg' ich nicht seit gestern, aus ihnen
LAUNIGTE PHANTASIE 1 149
niemals etwas anders werden, als Erwachsene; und ich merk'
es ganz wohl, es soil eine ausserordentliche Schulstrafe des Him-
mels fur mich seyn, daB er mich vollig ausfindig machen lasset,
daB mein armer Urenkel sich, wenn er gezeugt worden, gar
als ein essender Pralat aus der Welt hinaussitzen werde. So kann
sich in der beBten und narrischten Familie am Ende ein entsetzli-
ches Phlegm a einlagern.
Wenn ich in der folgenden Phantasie auf die entlegensten
Ideen gut genug durch chromatische Ausweichungen ubersteige,
10 und dabey keinen Augenblick mich gegen die Kunst des reinen
Satzes verstosse: so ists mir ganz lieb, und ich thu' es herzlich
gern; denn die Bestimmung des Menschen auf diesem ganzen
Erdglobus ist es ja wohl mit, daB er von Zeit zu Zeit einen
ganznetten Aufsatz aushecke, es sey nun fiir ein philosophisches
Wochenblatt oder fiir eine Monatsschrift, oder fiir die gegen-
wartige.
Ich woke, es ware, so wie es ein corpus evangelicum giebt,
auch ein corpus humanum zu haben: es soke mir dann eine
unschuldige Lust seyn, ihm - da der Mensch weit weniger belei-
20 digt werden darf, als die Menschen - einige Trillionen grava-
mina einzuberichten, unter denen die Zertriimmerung des ge-
wesenen corpus humanum (der Illuminaten, dieses neuen
pythagoraischen Bundes) nicht das letzte Gravamen ware, son-
dern das allererste. Es half aber gar nichts.
Daher wunsch' ich zuweilen bey muBigen Stunden, der Teu-
fel soil vor der Hand das Meiste holen, und besonders sich selbst,
da er nicht mehr Jesu, sondern der Gesellschaft Jesu so viele
Reiche der Welt anbeut, und dadurch den armen angebotenen
Reichen die krankendsten Streiche zu spielen denkt.
30 Man wird erfahren; wenn man mir 3 Terzen Zeit verstattet,
so kann ich hoffentlich auf eine alte Idee verfallen: Die menschli-
che Seele braucht nach Chladenius nicht mehr Zeit zum Tritte
auf einen alten Gedanken; aber zum Sprunge auf einen klaren
will sie 30 Terzen nach Bonnet durchaus haben. Da ich nicht
II50 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
auf einen klaren, sondern alten kommen wolte: so konnt' ich
auf die versprochene Idee in der kurzen Zeit, daB ich dariiber
rede, ganz gut gerathen; sie war mir bios neu, als wir, ich und
Herr Nicolai, in Bayern aufeinander mit Vergniigen stieBen,
und ich sie ihm etwan so vorlegte: »Es kann unmoglich an klei-
nen deutschen Landgen fehlen, die die Originale wenigstens die
Copien von Eldorado, wenn ich anders diesen schimmernden
Namen Landern geben darf, die gewiB nichts geringers sind,
als wahre englische oder chinesische Garten, im GroBen. Denn
so wie diese die Miniatiirbilder der Physiognomie der Natur 10
sind, und den stadtischen Palast mit einer kiinstlich wilden
Einode umringen: so sind jene Lander fast gar diese abcopirte
Natur selber, und selten fehlet einem prachtigen Landhause,
das etwan dem Hofe angehoret, die Nachbarschaft der schon-
sten, natiirlichen unbebauten Wiisten und Wildnisse, die den
Bauerngehoren.* Wie ferner die englischen Garten, wenigstens
ihre Originale die sinesischen, die Gestalt der Natur, durch ein-
gef aline, halb abgebrannte Gebaude, durch aufgestellte Galgen
und Torturwerkzeuge, durch Beschreibung der schrecklichsten
Begebenheiten auf steinernen Pfeilern, copiren: so mocht' ich 20
wol ausser Ihnen manchen fragen, obesnichtnochso gluckliche
und diesen Garten nachgearbeitete Lander gebe, in denen nie-
dergebrannte Wohnungen, Ruinen und Galgen fur die Bewoh-
ner der letztern, jedem Postwagen vielleicht so zahlreich entge-
gen laufen, daB sie die lange und wohlthatige Hand leicht
verrathen, die sie zu solchen Thiergarten umgeandert; und noch
dazu, so ist das alles keine kindische Kiinsteley, sondern wahre,
ernsthafte Natur selbst. Was die schrecklichen Begebenheiten
anlangt, so muBte bios der Satan sein Spiel dabey haben, wenn
* Schon unsere Vorfahren verheerten gern die nachste sie umzin- 30
gelnde Strecke, und hielten die Begranzung durch eine Wiiste, fur ein
Zeichen der Tapferkeit. Und wohnet denn alien unsern Fursten noch
so wenig von der vorigen Tapferkeit bey, daB k einer den Muth hatte,
seinen Thron mit einer kleinen runden Wiiste einzufassen, in der iibri-
gens zum SpaBe seine Unterthanen (als Colonisten) leben und sterben
konnen?
LAUNIGTE PHANTASIE H5I
sie die Landeszeitung nicht eben so riihrend erzahlen wolte, als
ein gedachter Pfeiler.« Ich sagte oben, ich hatte das dem Hrn.
Nicolai so vorgeredet: allein ich erinnere mich jetzt des Gegen-
theils gar wohl, und ich muB etwan nur gelogen haben.
Es ist nicht gut, daB noch keine Regierung wahren und nicht
Zeitungsruhm sich dadurch einzusammeln getrachtet hat, daB
sie etwan jeden Durchreisenden gezwungen hatte, mit Vergnii-
gen (er miiBte denn sagen, er ware gar nicht beschnitten) auf
einezahme Schweinshaut zu springen, und auf ihr zu schworen,
10 er wolle, sobald er iiber die Granze ware, wenig oder nichts
von allem was er disseits derselben gesehen, aussagen, die ver-
minftigsten Buchhandler mochten ihm bieten was sie wolten,
so wie wirklich jeder der die Bastille wieder raumt, nichts von
ihrer Geschichte auszuplaudern schworen muB. Ich sage, diese
Frey las sung der Federn soke ihre Granzen haben, und die unge-
bundentste PreB- und Maskenf reyheit konnte, dunkt mich nicht
mehr begehren, als daB ihr etwan nicht verwehret sey, einen
Staat, seine unbekannten Obern und jeden Holzwurm im
Throne bis zum Hofbuchdrucker herunter, der das Werkgen
20 verlegen kann, nach Wohlgef alien und ein wenig sehr zu loben:
diese ErlaubniB des Lobs ist ein Grad von PreB f reyheit, den
die Staatsinquisition in Venedig niemals verstattet; daher es
kommt, daB jeder sie ungern lobet. Aber iiber das Lob hinaus
ist jeder Buchstabe, den der Setzer dazu nimmt, giftig und allge-
mein schadlich; Regierungscollegien verschmahen wie die
Mahlerstuben vielseitiges Licht, und viele Fenster storen in bey-
den alles Arbeiten. Gerade die beBten und menschenfreundlich-
sten und niitzlichsten Schritte - der Zuschauer verspiirt den
Nutzen f reylich nicht, aber die handelnde Person empfindet ihn
30 lebhaft, wenigstens an sich, - die oft eben darum die grausam-
sten scheinen, gehoren unter die Wohlthaten, die eine Regierung
gern heimlich und im Dunk ein thut, und wenn es nothig ware,
einem ganzen Lande eine Art von Tortur anzuthun- Staatslehrer
solten wissen, daB das oft gar nicht abzuwenden steht - so kann
ich mich noch immer nicht iiberreden, daB nicht, so wie die
Kriminalisten zur Folter einzelner Personen die natiirliche Nacht
1 1 52 JUGENDWERKE - 3. ABTEILUNG
anberaumen, auch zu der mehrerer Menschen eine gewisse fi-
giirliche Dunkelheit so vortheilhaft sey, als nur irgend etwas.
Denn was sieht man, wenn die PreBfreyheit ihre unnothigen
Leichenfackeln anbrennt und hintennach tragt? Todte und Trau-
ernde und Arzte in Trauerwagen - das macht aber hernach
die Welt ungemein verdriiBlich, und kein Mensch will mehr
auf ihr heruinlaufen.
Es istklaglich, daB meine vielen und vornehmen Feinde uber-
all berumgehen und daraus erharten werden, ich fragte im
Grunde nach der Wahrheit fast gar nichts. Allein konnen sie 10
wol das Factum verscharren, daB ich die Frage »was ist Wahr-
heit« schon langst in Prag nicht auf der Klosterbibliothek, son-
dern im Kloster selber gethan, da ich bey einer recht guten thea-
tralischen Vorstellung des Leidens Christi am Charfreytage
niemand anders machen konnte, als den bekannten Pontius Pila-
tus, derim Originale, wieichhoreinder Schweitz so erbarmlich
ersoffen seyn soil, daB die halbe Christenheit gar nichts mehr
wider ihn haben soke? Wir wollen alle nichts mehr wiinschen,
als. daB seine gedachte vidimirte Copie ganz anders und besser
fahre, die so gut ist und so eifrig vor hat, noch unzahlige Jahre 20
das sitzende Publicum mit nichts anderm aufzuheitern und voll-
zupacken als mit recht passenden Phantasien, wovon der Anfang
der gegenwartigen gewiB eine eben so gute Probe seyn mag,
wie folgende Fortsetzung.
Das Wort Phantasie ist wider meine Erwartung im Stande
mich auf die Cirrhaer zu fiihren, deren Geschichte verniinftige
Autoren gar wol fahig machen kann, solche zu erzahlen. Solon
belagerte sie, und schnitt ihnen, damit sie verdursteten, alles
Wasser ab. Es muB wahrscheinlich geregnet haben," weilihm
seine Absicht ganz zu Wasser wurde. Deswegen gab er der Stadt 30
ihren PlistusfluB wieder zuriick, nachdem er in dem FluBe vor-
her einige Sacke NieBwurz hatte zergehen lassen. Als dieser laxi-
rende Strom in die Stadt rann: so trank die ganze durstige Besat-
zung daraus, vom Gesundesten bis zum Kranksten, und die
Lazaretharzte und Regimentsfeldscheerer am ersten: wahrhaf-
tig, ein ruhrender Autor, der den Vorfall aus der Universalhi-
LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 53
storie herausschneidet, und dann nach beBtem Vermogen er-
zahlt, kann sich des Mitleidens daruber schwerlich erwehren,
und nothigt durch nichts dem Leser Gegenthranen ab, als durch
seine eignen. Denn mir ist nun vollig, als sah' ich nach wenigen
Stunden die ganze Stadt, die den Effect durch Fasten vollends,
beschleunigt, auf dem Nachtstuhle ansaBig; eine Compagnie
wundert sich (aber zur Unzeit dunkt mich) iiber den Durchfall
der andern und auch iiber ihren eignen, und wenige Geistliche
(ich besorge gar keine) konnen sich so lange hinsetzen, daB sie
io ein angemessenes Gebet gegen den ganzen Vorfall zu Papier
bringen konnten. Und wenn etwas den originellen Jammer ver-
mehren kann, muB es nicht das seyn, daB nun Solon - denn
die Stadt war jetzt so gut offen, wie eines jeden Leib - die Of-
nung der erstern benutzt, und an der Spitze des Todes herein-
prallet, und gar nicht da wie David mit dem Saul in der Hohle
hausen und etwan einen Rockzipfel nehmen will, sondern alles
iibrige dazu, und end! ich eine Garnison anpackt, die sich nicht
in Positur setzen kann wenn sie auch wolte, und deren bravste
und erfahrenste Leute bey so gestalten Sachen weiter nichts ver-
20 richten konnen als ihre Nothdurft? . . . Es falle mich doch kein
angesehener Kunstrichter fur den Bericht einer Geschichte an,
bey der ichs so gut meyne, wie wenige, und aus der ich fur
Jung und Alt vorziiglich das moralische Apophthegma zu
schopfen vorhabe, daB nur eine Stadt durch Niefiwurz fiel, die
iibrigen aber ohne sie.
Indem ich jetzt von ungefahr die ungleiche Zahl m einer Jahre
und meiner Werke iiberlege (der letztern sind bekanntlich zu
wenig) so bin ich erst im Stande die Wunde auszumessen, welche
von der Siindfluth der sammtlichen Gelehrsamkeit dadurch ge-
30 schlagen wurde, daB kein Mensch mehr so lange lebt, wie Me-
thusalem. Wenn diese Abkiirzung des menschlichen Lebens
hauptsachlich (wie es wenigstens die gangbare Meynung ist)
zur Verhiitung der Vielschreiberey veranstaltet worden: so er-
reicht sie ihren Zweck nur gar zu gut; wahrhaftig Manner, die
bey einem patriarchalischern Alter ganze alexandrinische Bi-
bliotheken hatten niederschreiben konnen, treibens jetzt iiber
1 1 54 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
80, 90 Bande selten. Man glaube mir, ich hatte dann vielleicht
eine ganze Rathsbibliothek in Druck geben konnen, wo nicht
mehr; allein meine Hauptabsicht, warum ich das sage, ist, die
mir bekannte Welt ein wenig auf die besondern Folgen davon
aufmerksam zu machen. Ich mache mir Hofnung, wenn ich
eine solche Vielschreiberey, die Voltairens seine uberholte, mit
einer Sparsamkeit verbande, die der seinigen gleich kame: so
konnt* ich am Ende oder noch eher so reich, wie der verstorbene
Advokat Didius werden, der auf das romische Reich, da die
romischen Soldaten es in die Auction geschickt hatten, das 10
hochste Gebot that. Ich kaufte mir mit meinen Honorarien ein
kleineres, und ich hoffe, es ware vollig zu haben: denn wahrhaf-
tig, die Nachwelt wiirde sich wundern, wenn man wie bisher
die Menschen bios nach dem Stuck- und Handverkauf (beym
Neger- und Soldatenhandel) und niemals en gros und Lander-
weise verhandeln wolte. Ichregiertenachher mein erschriebenes
Land den ganzenTag, Sommer und Winter beym allerelendesten
Wetter; wiewohl ich das alles bis auf diese Stunde unmoglich
glauben kann: denn es ist ja bekannt genug, wie wenig Zeit
mir zum Regieren verbliebe, da ich die meiste damit hinbrachte, 20
daB ich einen Tractat iiber die Regierungskunst zusammen-
flickte, aus welchem das meiste dem aufmerksamen Publicum
hier vorgelegt zu werden verdient. Ich wiirde meinen Tractat
verdrufilich mit der Bemerkung anfangen, wie ausserordentlich
schlecht es ware, wenn iiber die Regierungskunst andere Perso-
nen als solche, die sie selbst iibten, Tractate edirten. Ich wiirde
darin fragen, ob wol groBe Manner von der Nachbarschaft des
Thrones zu weit abwohnen konnten, und ob sie sich nicht am
beBten als Granzwildpret ausnahmen, wie auch in der physi-
schen Welt die groflten Planeten gerade am meisten von der Sonne 30
ablagen: ich wiirde gestehen, ich sahe den Widerspruch mehr
in den Worten, als in der Sache, wenn ich nicht bios wie bisher
seltene Bucher in Bibliotheken, sondern auch ihre Verf asset, da-
mit beyde dablieben, in einige Ketten legen und zeitig solche
Proteusse/e55e/«lieBe, nicht damit sie weissagten, sondern damit
sie schwiegen; ich wiirde hinzusetzen, ich wiirde auch ohne das
LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 5 5
Beyspiel der franzosischen Regierung auf diesen Plan verfallen
seyn. Ich wiirde ein frisches Capitel anfangen, und darin ganz
trocken bekennen, wie wenig mir an meinem Hofe alle andere
ausser solche Leute gefielen,. die nichts thaten als leben, und
die nicht durch Geschafte sich zum Vergniigen verdiirben, son-
dern die schweren mieden; so wie auch die Alten den Gottern
nur Opferthiere zufiihrten, die noch keine Arbeit gethan hatten.
Ich wiirde gleichgultig fortfahren und sagen, ich wiirde leider
bald genug aufhoren. Ich wiirde mich gegen den geistigen An-
io thropomorphism in Riicksicht der Fursten* mit einem Eifer set-
zen, von dem ich fur mein Leben gern wissen mogte, ob er
mir nicht bey alien das Ansehen eines auffallenden Kauzes giebt.
Ich wiirde in das Land der Wahrheiten nicht sowol als der Ideen
gehen, und daraus mit mehrerern Beweisen heimkomrrien, daB
es bey den niedrigern Posten des Staates gar nicht gleich gelte,
wer sie besetze, sondern bios bey den hohern und wichtigern;
einer Ministerstelle musse man daher habhaft, einer Dorfschul-
zenstelle aber wurdig seyn, und der bloBe Zufall (d. i. die Erb-
folge) konne in den bessern Staaten unmoglich bey einer andern
20 Stelle allein Sitz und Wahlstimme haben, als bios bey der Beset-
zung der hochsten oder des Thrones; die unbedeutenden und
zahlreichern Staatsbedienten seyn die Mauersteine des Staatsge-
baudes, deren Figur, wenn Liicken wegbleiben sollen, nicht
gleichgultig sey, die Vornehmern aber seyn die wahren Saulen
des Staats, die gleich den Saulen unserer Palaste gar nichts trii-
gen, und ihm nur zur Zierde eingemauert standen, und die man
nicht mit den Saulen der Alten vermengen muBte, auf denen
oft ein ganzer Tempel lag: ich wiirde dabey anmerken, dies
sey nicht zur Bekehrung anderer Lander gesagt, sondern viel-
30 mehr zu ihrer Rechtfertigung. Ich wiirde endlich des Tractats
noch satter als jetzt seines Auszugs werden und hinschreiben,
er sey gar aus. - Obrigens ist es gewiB nicht von vernimftigen
Kunstrichtern zu erwarten, daB sie es seyn wiirden die mirs
* Dies nothigt mich zu einer langen und verniinftigen Note, die am
Ende des Aufsatzes erscheinen soil.
H5 6 JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
verdachten, wenn ich als Regent sie halbdtodt priigeln, oder in
den Karren spannen lieBe, sobald sie meinen Tractat nicht mit
der geringsten Unpartheylichkeit recensirten, sondern vielmehr
mit Tadel. - Es ware zu wiinschen, ich brachte dann von mei-
nem Ehrgeitze soviel auf den Thron, daB es meinen Kopf unter
seiner goldnen Last aufrecht halten konnte, wenn ich zu meinem
Vergniigen durch eine besondere Cabinetsordre befahle, es solte
wochentlich eine gewisse Stunde ausdriicklich dazu ausgewor-
fen werden, in der man durchs ganze Land bios von mir, den
zwey Haupttheilen, woraus ich bestehe, von meinen verschie- 10
denen Verhaltnissen, Wirkungen, Attributen, GedachtniBideen,
Verstande, Anstande und Style sprechen miiBte, ausgenommen
Gebahrende, Wahnsinnige und Sterbende. War' ich aber endlich
selber von der Zahl der Letztern: so wiird' ich dieses Privilegium
nicht auf mich ausdehnen, sondern mit meinem Thronfolger
vor wenigen GroBen des Reichs so von mir reden: »Ich konnte
gar keinen andern Grund haben, warum ich dich herrufen lassen,
als den,, daB du sehen sollest, wie lustig und humoristisch ein
Regent mit Tod abgehen kann, dessen langes Leben bios eine
lange Bestrebung war, dasselbe mit nicht ungiinstigen Recen- 20
sionen der gangbarsten Journale vermittelst des Buchermachens
aufzuschmucken, und dadurch in der That zu verlangern. Fange
mithin deine Regierung mit einem ungemein guten Tractate
an, ich meyne nicht mit einem den du schlieBest, sondern den
du schreibest, und gieb vorher meine meisten letzten Reden
in Druck, deren ich, wenn ich nur noch zweymal vier und zwan-
zig Stunden lebe, so viele schon zu fuhren suchen werde, daB
ungefahr ein diinner Octavband daraus wird.« Dann werd ich
das werden, was ich jetzt bin . . .
Unter die erheblichsten Unglucksfalle, die mich diese Woche 30
heimgesucht, setz' ich diesen mit, daB ich den vorhergehenden
langen Absatz gemacht und herausgegeben; denn ich kann da-
durch die gelehrte und auch die Lesewelt halb zum Vorwurfe
berechtigen, ich schriebe offenbar nicht auf alien Blattern gleich
vortreflich: dieser Vorwurf macht einen fingerlangen Dorn in
der groBen Dornenkrone aus, die ich als Autor iiberall auf mir
LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 57
herumtrage, und muB in meiner Geschichte mit vorkom-
men.
Als der Bischof Ulphilas die Bibel ins Gothische verdoll-
metschte: so HeB er die Biicher der Konige vollig aus, und thats
aus einem Grunde, den Philostorgius deutlich angiebt: ich
wiirde den heutigen Tag nicht vergessen, wenn mir mein Ober-
setzer die Bitte gewahrte, die ich jetzt, er mag mich iibersetzen
in was er will, an ihn thue, alles was in dieser Phantasie nur
im geringsten an die Fursten streift, ganz in seiner Obersetzung
10 zu iiberspringen (weil ich mit dem geringsten zornigen Scepter
ohne Miihe zu erschlagen ware) und lieber von dem leerbleiben-
den Raum dadurch einen wahrhaft guten Gebrauch zu machen,
daB er in ihn folgende Stellen fliessend hineinverdollmetschet:
Unsere in die Zukunft fliegende Blicke stoBen sich iiberall
an Mauern, woran sie herunterf alien: ich weiB der Tod ist ge-
sonnen, uns die Mauerkrone (corona muralis) zu schencken; allein
eh' ers thut, miissen wir diese Mauern mit einigen guten Fresco-
gemal&en, die darauf die Zukunft hinmahlen, die jene verbauen,
desgleichen mit Wandtapeten aufputzen, wie ich nicht besser
20 weiB. Da ich ebenfalls die Zukunft weniger sehen als traumen
kann: so sorg' ich, ich farbe solcher Frescogemalde mehr als
sich fur einen erzognen Europaer schicket auf die Mauer hin,
und das thate mir besondern Schaden. Fur ein solches Kalkpor-
trat und fiir eine Aussicht, nicht in die Ewigkeit sondern in
die Zeit, geb' ich dieses aus. Ich stelle mir oft das Vergniigen
und den allgemeinen Nutzen vor, der gewiB nicht ausbliebe,
wenn auf einmal unsere Fursten, besonders die Kleinsten, wirk-
lich anfiengen Soldaten zu halten. Man halte mich nicht gleich
anfangs ganzlich in meiner Reverie auf, daB man uns beyden
30 entgegenstellt, es ware halb unmoglich, weil es an allem, beson-
ders an Uniform, Lohnung und Leuten fehle, denen man beyde
gebenkonnte. DennesistGottlob, vielmehr alles nachErforder-
niB da und noch weit mehr. Es sind besonders fleissige Unter-
thanen da, denen die MuBe des Soldatenlebens eine wahre Erho-
lung seyn miiBte, und die iiberhaupt der Werber schon
deswegen fast alle in den Verhack und in die Brandmauer des
1 1 58 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Vaterlandes verwandeln soke, weil sie dann dasselbe um desto
leichter zu beschiitzen hatten, je weniger eben dadurch darin
zu beschiitzen iibrig bliebe; so wie an vielen Orten der ar-
beitsanie Landmann die fruchtbare Erde meistens aus dem Acker
herausfahret und aus ihr einen Wall um denselben aufwirft, der
das Wenige, was auf der zuriickgebliebenen unfruchtbaren auf-
wachset, vollkommen gegen alle Thiere beschirmt. Es ware
eben so zwecklos als langweilig, wenn ich hier mich und den
Leser und den Recensenten mit der Wiederholung der bekannten
Griinde qualen wolte, warum die Unterthanen sicher bios um 10
des Fiirsten und nicht um ihrentwillen da sind, und Manner,
die nur einigermaBen gelesen und gesessen, sind eben so wenig
irri Stande zu glauben, daB die unermeBlichen Sterne bios fur
den Menschen strahlen, als daft die herrlichen Seelenkrafte, die
in den Gehirnfibern eines Unterthans angebracht sind, sein Ge-
dachtniB, das kein Kiinstler nachzuarbeiten vermag, sein tiefsin-
nig combinirter symmetrischer Gliederbau, wovon die Glieder-
manner erbarmliche Reprasentanten sind, besonders der Geist
in seinem Kopfe, der die chymischen Geister, den Salmiakgeist
etc. ganz ubertrift, daB alle diese Wunder sag* ich, nicht fur 20
fiirstliche Personen, sondern bios fur den elenden, hungrigen
Untherthan selbst existiren, den wenige achten konnen: wahr-
haftig der besagte Unterthan kann nicht einmal eine gute Copie
von einem Menschen (Statue, Bild, Marionette) bezahlen und
besitzen, wie soke er vollends auf den Besitz des Originals (das
ist er selbst) Anspruch machen konnen, und kann er oder der
Furst es kaufen?
In Absicht der Uniform ist hoffentlich jede Kriegskasse in
dem Zustande, daB sie recht gut ein Tuch dazu anzuschaffen
vermag, durch das Sonne, Mond und die groBern Fixsterne hau- 30
fig scheinen konnen. Es ist nicht zu wiinschen, daB es dicker
sey, da die Kalte und das Holz zugleich abnimmt. Es ist mir
recht gut bekannt, daB Zimmermann die Tapferkeit der nordli-
chen Volker von der Kalte ihres Klima ableitet, und daB man
aus dieser Ableitung und aus der Abnahme der klimatischen
Kalte auf die Abnahme der Tapferkeit nur gar zu gern fortschlie-
LAUNIGTE PHANTASIE 1159
Bet; allein sparsame Kriegscommissare werden, hoff ich, stets
die natiirliche Kalte durch die kiinstliche zu erganzen wissen,
und die Kerls durch die kiirzeste und dunneste Montirung der-
massen kalt halten, daB sie sich vor weiter nichts fiirchten, als
vor der Holle, deren Warme auch ihnen bekannt ist. Je schlechter
iibrigens Lohnung, Wohnung und das Ubrige zu haben ist,
destomehr miissen es Proviantcommissarien und andere zu be-
kommen trachten, damit man den Soldaten gegen die Obel
und Entbehrungen des Kriegs abharte, und in diesem ihn keinem
io Ungemach entgegenfiihren konne, das ihn nicht schon der
Friede kennen lehren. Was gab den Spartern jene Liebe fur den
Krieg, und jene Gleichgultigkeit fur seine Plagen? Sie wurden
im Frieden wie Hunde gehalten: bekanntlich aber halt man
Hunde meistens so schlimm, wie verschiedene Soldaten.
Ein auffallendes Beyspiel von Tapferkeit stell' ich in einer
Tragodie auf, an der ich noch schreibe, und welche man den
Menschen anpreisen soke. Ich stifte einen betrunkenen Corporal
an, daB er schworet, (wiewohl auch dann das Parterre es nicht
wird glauben wollen,) »er seines Orts werde alle Wochen zwey-
20 mal verwundet, und zwar mit einigem Ruhme, da die Wunden
von vornen waren, und die Narben sahe man noch, und zwar
geschahe ihm das allemal von seinen herzhaftesten Cameraden
wenn sie ihn - rasirten. « Der Kerl dient unter einem Landgraf en.
Der Corporal setzt noch hinzu: »Wer nicht das Geld hatte,
eineCompagniePudelhunde aufzurichten, denen (iberhaupt das
Manovre entsetzlich miihsam (weil sie fast ohne alien Verstand
waren) beyzubringen ware: der fiihre weit besser und verniinfti-
ger, wenn er bios Menschen anwiirbe, die nachher vor Fremden,
die keine Feinde waren, prachtig paradirten, und er ware hof-
30 fentlich der Mann schon dazu, der die nothigsten Handgriffe
einzupriigeln verstande. « Ich bin gesonnen, den benarbten Cor-
poral in der Mitte des ftiniten Acts todtschiefien zu lassen.
»Ichkonnte, sagt' ich zu meinem Freunde O., diese Phantasie
in den Druck geben.«
»Warum?« sagte er.
J. P. F. Hasus.
Il60 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
Note vom geistigen Anthropomorphism, in Rucksicht der
Fursten
Robinet brachte mich darauf. Er entdeckte und bekampfte (in
seinem Buche de la nature T.IL) den geistigen Anthropomor-
phism zuerst. Ich will seine Hauptsatze mit meinen Worten her-
setzen: »Wie der korperliche Anthropomorphism das gottliche
Wesen mit einem menschlichen Korper umhiille: so pfropfe der
geistige ihm die Eigenschaften der menschlichen Seele ein. Man
diirfe aber das nicht. Denn der Unterschied zwischen den
menschlichen und gottlichen Vollkommenheiten bestehe nicht 10
im Mehr oder Weniger, sondern in der Art, in der Unendlich-
keit. Man konne mithin dem hochsten Wesen keinen Verstand,
keine Giite, keine Gerechtigkeit, kein Handeln nach Absichten
zuschreiben, weil das alles bloBe Vollkommenheiten der endli-
chen Wesen seyn, die man unmoglich auf ein hochstes iibertra-
gen konne. « Das ist ungefahr der Focus des neuen umgekehrten
Strahlenkegels, den dieser Philosoph auf uns alle fallen lassen.
Fiir Ketzermacher oder Atheistenmacher (welches nicht zwey-
erley ist) wird es gut seyn, wenn ich erinnere, daB Robinet gar
nicht auch den Namen des gottlichen Wesens zugleich mit den 20
(ibrigen Eigenschaften wegwerfe, sondern ihn ordentlich ste-
hen, und mithin jedem noch genug dabey zu denken (ibrig
lasse.
Ich habe einen ahnlichen Kampf mit denen zu bestehen, die
in den geistigen Anthropomorphism der Fursten fallen. Es ist
hier in einer bloBen Note gar nicht der nothige Raum da, es
vollstandig auszufiihren, daB die Metapher, die die Fursten Got-
ter nennt, dem Auge der Vernunft als ein eigentlicher Ausdruck
vorkomme, und ich muB den Leser vollig auf meine ungedruck-
ten »politischen und despotischen Nebenstunden« verweisen, 30
wo ich ihn hieriiber ganz befriedigt habe. Wahrhaftig einer blo-
Ben Metapher wegen, wiirden die Romer ihren Kaysern keine
Tempel gebauet haben, noch weniger den Proconsuln. Mich
diinkt wenigstens, ausdrikklich dazu besoldete offentliche Leh-
LAUNIGTE PHANTASIE 1 1 6 1
rer des allgemeinen Staatsrechts solten es wissen, daB zwischen
einem Fiirsten und seinen Unterthanen gar keine Ahnlichkeit
und keine Vergleichung start habe, da die letztern keine Freyheit,
und mi thin kein eignes Ich, kein Gut und gar nichts haben,
da ganze Millionen derselben sich nicht zutrauen, daB ihre zu-
sammengesetzten Kopfe in corpore zu ihrer Selbstbeherrschung
auslangen, die sie deswegen einem fremden fiirstlichen geben,*
da endlich das Gluck ganzer Tausende kein zu hoher PreiB fur
das Gluck des Einzigen ist. Wir konnen also zwischen den Vor-
io ziigen des Fiirsten und der Unterthanen unmoglich einen Un-
terschied annehmen, der bios im Grade bestande, so daB etwan
der Fiirst nur weiser, besser etc. war als diese: er muB in der
Art liegen. Ist es also nicht offenbarer Anthropomorphism, der
den Fiirsten zu einem volligen Menschen macht, wenn ein Autor
(gesetzt auch er sey ein Genie) seinen Verstand, seine Tugend,
seine Gerechtigkeit zugleich mit seinem Buche einem Fiirsten
zuschreibt, auf den sich solche bios biirgerliche Vorziige so we-
nig, als auf den robinetischen Gott ohne AnstoB ubertragen las-
sen, am wenigsten in einer Dedication, die lieber schmeicheln
20 als beleidigen will? Robinet laugnet, daB das hochste Wesen
nach Endzwecken handele: eben so ists bios ein Zeichen der
menschlichen Schwachheit, die von dem fiirstlichen den Gedan-
ken der Endzwecke nicht trennen kann. Robinet sagt, Gott
konne unmoglich seine unendliche Weisheit und Giite im Uni-
versumausdriicken: wie unmoglich das namliche einem wahren
Regenten ist, beweiset nicht bios die Metaphysik, sondern auch
die Reisebeschreibungen. Wir wollen also nicht mehr hohere
Wesen dadurch verkleinern; daB wir sie durch die Beylegung
solcher Vorziige zu erheben denken, die bios von uns iibergetra-
30 gen sind.
Ich bekenne, ich nahm unter dem Ausdruck Regent meistens
auf den Orient Riicksicht, wo es noch Fiirsten in eigentlicher
Bedeutung giebt, anstatt daB bey uns oft gerade die beBten mit
* Daher reicht der unendliche Verstand eines Herrschers hin, es mag
sich die Summe der Unterthanen noch so sehr vermehren, und ich
glaube, Ein Regent ware fahig, iiber die ganze Erde zu regieren.
1 1 62 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
solchen Unterthanenvorziigen, z. B. Giite, Verstand etc. sich
entstellen: allein gestand derm nicht schon Ludwig der Vier-
zehnte dem GroB sultan hierin den Vorzug vor sich selber zu?
DIE MORDERISCHE MENSCHENFREUND-
LICHKEIT
Wenn der Bauer gesund ist, so sucht man ihm nichts zu nehmen
als Haab und Gut; wenn er krank wird, so trachtet man ihm
gar nach dem Leben - an ienem erkent er seine Feinde, an diesem
seine Freunde. Ich meine hier keinen Bader, der eine todliche
Aderlas und einen guten Groschen will; keinen Apotheker, der
stat der Arzeneien Rezepte macht: sondern ich meine Pfarrer,
Edel- und Amtleute, die den Landmann todten, um zu beweisen
10 daB sie ihn haben heilen wollen, und die den Himmel zu verdie-
nen suchen, indem sie andere darein iagen.
Wenn ich bei einem Dorfhonorazior einer Haus- oder Reise-
apotheke begegne: so fahr' ich zusammen, weil ich weis, es
steht die Batterie und die Todtenorgel vor mir, womit der Tod
in ein ganzes Dorf feuert. Denn sie ist offenbar geladen mit
der Schweerschen Essenz, mit den hallischen Arzeneien, mit
dem ailhaudischenPulver, mit dem rothen Pulver, mitTheriak,
mit starkenden Magentropfen, mit Wund und Lebenstropfen,
mit - Giften. Diese Arzeneien, die ein guter Arzt iezt selten
20 und dann nur gegen langwieriges Leben verordnet, probiert der
Dorfhonorazior an iedem Kranken Nummer nach Nummer
durch, und rufet sie fur Universal arzeneien aus, ob es gleich
nicht einmal Universalgifte giebt. Es siehet nicht, daB er an
Universalarzeneien glaubt, bios weil er an Universalkrankhei-
ten glaubt und z. B. von Fiebern nicht anders weis als daB sie
wie die Weiber in kalte und hizige eingetheilet werden. Er sieht
nicht, daB man wenn's Universalarzeneien gabe nichts verminf-
tigers thun konte als alle Doktorhiite zerschlizen, und alle Apo-
theken umschiessen und mich und diesen anmuthigen Aufsaz
30 ausserordentlich auslachen, weil eine Universal arzenei - und
der Dorfhonorazior denkt gar, er verwahre sie zu Duzenden
II64 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
- besser und wolfeiler ware als selbst ein Kirchengebet fur
Kranke, das wenns 100 mal geholfen, doch i mal nicht hilft.
Der Dorfhonorazior sieht zu meinem Jammer nicht, und soke
doch sehen, daB iene Arzeneien, warens auch die besten, unter
den Handen eines andern als eines Arztes schlechterdings zu
Gift ausarten miissen und nur etwan so oft heilen wie der Bliz,
der zuweilen Gelahmte und Schwachsichtige kurirte und die
iibrigen erschlug. Denn nicht die Ausforschung einer Arzenei
erschweret die Rolle des Arztes - eme Krankheit umringt er mit
einem Kongres von Mitteln - sondern die Ausforschung der i
Krankheit, die so schwierig ist, daB selbst funf Jahre Kolle-
gien horen, Doktorhut und Bucher kaufen das Genie dazu nicht
ersezen konnen: was hat nun der Dorfhonorazior (Ausnahmen
abgezogen) statt der funf Jahre, statt des Doktorhutes, statt der
Bucher, statt des Genies? - nichts als einen alten Loffel, womit
er dem Tode wie mit einer Ladeschaufel die Kanone ladt.
Der Dorfhonorazior sieht noch nicht, daB er nichts sieht son-
dern will mir den Sieg auf diesem Intelligenz Blatte durch den
Einwurf nehmen: »der Landmann hat eine wahre Natur von
Eisen, die was vertragt. « Nun so wird er auch die Krankheits- 20
materie vertragen, wenigstens leichter als deine Arzenei. Aber
es ist nicht einmal wahr. Der Landmann vertragt alles, Hunger,
Arbeit, Wetter, Wunden - aber nur Krankheit nicht. Eben seine
Starke, seine Oberfullung mit dichtem Blute werfen ihn aus
bekannten medizinischen Grunden dem Tode desto schneller
unter die Sense; wenn der epidemische Todesengel (Ruhr, Faul-
fieber, Scharlachfieber etc.) herumfliegt; so schleicht er vor den
mit Blute bestrichenen Hausern der vornehmen ausgequetsch-
ten Stacker und Juden vorbei und lasset diese, die fiir Nerven-
schwache nicht stehen konnen, sitzen: aber in die agyptische 30
Hiitte des starken Bauers bricht er ein und hauset da nicht wie
ein Christ, sondern wie ein Turk. Eine nervenschwache, hyste-
rische, bleichsuchtige Frau kan langer leben als irgend ein Leser
dieses Intelligenzblattes und ich mochte sie nicht: aber bey einer
feurigen rothwangigen wie z. B. bey des gegenwartigen Verfas-
sers seiner ist auf etwas bessers zu passen, und ich habe deswegen
MORDERISCHE MENSCHENFREUNDLICHKEIT 1 165
gern in die Todtenlotterie eingesezt; so wie eine dicke saftvolle
Pflaume vom ersten Winds tos fallet, aber eine welke zusam^
mengerunzelte - die schiitter der Teufel ab.
Wider mein Gefiihl werd' ich lustig und es machens die Stad-
ter: denn die Dornen, womit man den Landmann gewohnlich
nicht gekrbnt sondern gar umpanzert erblickt, lassen warlich we-
nig Lust zum Scherz. Ich wollte noch sagen, daft da gerade die
obengedachten Krankheiten dem Landmann am gewohnlich-
sten und gefahrlichsten sind, weil sein dichteres Blut das Fieber
10 so leicht bis zur Auflosung treibet und da mithin ihn schwachen
fast so viel wie ihn heilen ist, daB sag' ich iene stark ende und
hizige Arzeneien gerade das Holz sind, das man einem flammen-
den Gebaude unterstellet, um es zu befestigen und wodurch
man eben der Gluth zuschuret. Ja gesetzt, iene Arzeneien scha-
detennichts: so schaden sie doch dadurch, daM sie den Kranken
durch eine lugende Hofnung vom Rathfragen des Dokters ent-
fernen .
Es ist sonderbar, den Chirurg wagt niemand zu spielen, aber
■ ieder den Arzt: und doch ist die Heilung einer Wunde zehnmal
20 leichter, bestimter und gefahrloser als die eines Fiebers. - Noch
2 Fragen und eine Antwort auf eine dritte.
Der Landmann hat durch Erbschaft so viele medizinische
morderische Irthtimer von seinen 32 oder 64 Ahnen bekommen
- z. B. die von der Heilsamkeit des Brantweins in der Ruhr,
des Warmhaltens in Fiebern und Blattern etc. -: war' es denn
eine Todsiinde und vollig gegen die s*ymbolischen Biicher und
gegen die Kanzel, wenn auf der letztern, oder auch unten der
Landgeistliche solche Irthiimer bekriegte, da man zumal gar
nicht einwenden und sagen kan, es waren theologische?
30 Da adeliche Gutsbesitzer so oft die Gemeine zusammenheis-
sen und ihr so viel billige Befehle erofnen lassen: warum wollen
sie nicht einmal eine unschuldige Ausnahme wagen und ihr in
Epidemien einen unbilligen Befehl ertheilen lassen - namlich
zum H. Doktor zu gehen? Und wenn neulich iemand schon
einen solchen gab: warum geben ihn nicht mehrere?
Da ich also von euch, ihr Dorfhonoratiores, nichts unchristli-
1 1 66 JUGENDWERKE • 3. ABTEILUNG
ches begehre und hoffentlich euch nicht ansinne, daB ihr dem
Landmann etwas zu leben, sondern nur ihn leben lasset; da ich
nicht die Absicht sondern die Wirkung eurer Menschenliebe
anfeinde: was werdet ihr heute am Freytage nach der Lesung
dieses Blattes thun? - lachen* und den Pachter, der's euch mitge-
bracht, fragen wo er die Schweersche Essenz hat, und morgen
das Intelligenz Comtoir, wer doch der narrische Kerl ist, der
R.
* Die 5 Personen die dieses Bktt auf dem Lande - in dieser ganzen
Gegend - lesen, lachen gewifi nicht, und die lachen, lesen es nicht.
Intelligenz Comtoir.
I
WAS DER TOD 1ST
Der Engel Raziel, der den enterbten und gesunknen Adam tro-
stete, war oft beim Tode der armen Menschen und trug zuweilen
die abgeriBne kalte Frucht in einen hohern warmern Garten:
darum sehnte er sich, einmal selbst den menschlichen Tod zu
fuhlen. Ein Kreis von freundschaftlichen Engeln versprach ihn
nach dem Augenblick des Todes mit ihrem Lichthimmel zu
umringen, damit er wiiBte, daB es der Tod gewesen.
Er schlug wie ein elektrischer Stral sich in den Leichnam eines
io ungliicklichen unbekanten Rechtschaffenen, dessen Untergang
gewesen war nicht wie der der Sonne, die sich prachtig vor
dem Angesicht der wachenden Natur ins Meer wirft, daB rothe
Wellen am Horizonte hinaufschlagen, sondern wie der Unter-
gang des Mondes der still um Mitternacht hinter einem falben
Gewolke versinkt; und er fiillte das welke und miide Gehirn
des Armen mit einem belebenden Feuer: aber niemand merkte,
daB nun aus dem Korper nicht der Rechtschaffene, sondern ein
Engel handle. Jezt flogen seine Gedanken nimmer, sondern wa-
teten durch die Atmosphare des Gehirns; und eine schwule Luft
20 driickte ihn; die Gegenstande legten fur ihn die herbstliche ver-
fliessende Duftgestalt ab und stachen auf ihn mit einbrennenden
Farben; er empfand alles dunkler, aber sturmischer und eingrei-
fender; der Hunger riB an ihm, der Durst brante an ihm: - ist
das der Tod der Menschen? sagte er. Da er aber keine Engel
und keinen umflammenden Lichthimmel sah: so merkte er wol,
daB das bloB das Leben derselben sei.
Abends lagen seine Fantasienbilder nicht mehr im Sonnen-
schein, sondern in einem dampfenden Feuer und Bilder vom
Tage rollten lebendig und wie Gespenster vor ihn, und eine
30 unsinnige unbandige Sinnenwelt stieg vor seinen Gedanken auf,
und auf seinem Haupte lag ihm (so kamen ihm die Vorboten
u68
JUGENDWERKE ■ 3. ABTEILUNG
des Schlafes vor) ein quetschender Erdball, bis endlich hinter
dem dicken Leichenschleier des Schlafes sich der den Himmel
nachaffende Traum mit einem zaubernden KuBe um ihn klam-
merte: da rannen (schiens ihm) die Erde und sein Korper von
ihm ab und der verlassene Lichthimmel mit seinen Engeln stralte
ihn an. »Das war denn der Tod, da ich mich niederlegte« sagte
er im Traum: aber da er wieder mit seinem eingeklemten Men-
schenherz aufwachte und die Erde noch erblickte, so sagte er:
das ist doch nicht der Tod, sondern bloB der Schlaf und der
Traum des Menschen, ob ich gleich den Lichthimmel und Engel 10
gesehen.
Der verstorbne Rechtschaffene hatte doch einen Freund,
woran ich oben nicht dachte, da ich ihn unglucklich nante: aber
der Freund wuBte nicht, daB den Korper seines entwichnen
Freundes bloB ein Engel beseele. Der Engel liebte ihn mit
freundschaftlicher Eifersucht und labte sich mit dem Augen-
blick wo er diesem einmal sagen konte, er hatte in Einem Kor-
per zwei Freunde geliebet. Du diisteres Menschenherz von Erde,
sagte er, wie kont' in dir das atherische Gewachs der Freund-
schaft aufgehen und dich mit seinen heiligen Wurzeln umschlin- 20
gen, und auf dir mit einem Blumenkelche prangen, in dem der
niedergef aline Himmel mit seinen Reizen wohnt. Der Engel
wunschte, der Freund stiirbe mit ihm in den Himmel: aber er
starb friiher. Als nun die harte nakte Statue ohne den einwoh-
nenden Gott umlag und der Tod durch das versteinerte Antliz
heraussah und starrte und mit der kalten gelben Hand den Le-
bendigen anfaBte - als dem Engel schmerzhaftes Sehnen nach
dem Freunde und trauriges Blut das Herz auseinander driickte,
und zulezt das schwellende Auge in eine brennende Thrane zer-
riB: so dacht' er, er flosse mit der Thrane weg und stiirbe so; 30
allein es umfing ihn kein Lichthimmel, und er seufzete, daB
das der Tod noch nicht sei, sondern nur der Schmerz uber einen
fremden Tod.
Der Korper des Rechtschaffenen legte ihn auf alle die Dornen,
in die die hohern Stande mit vereinten Druck den niedrigen
tiefer eintreten und einriitteln; die Krallen vornehmer Wapen-
WAS DER TOD 1ST 1 1 69
thiere sah er am wehrlosen Raube hacken und pfliicken, und
diesen horte er vergeblich stohnen. Da durchschoB der Stich
des menschlichen Hasses zum erstenmale sein englisches Herz:
derin sicher nezet und schwarzt das Laster mit Gift die Spize
dieses Pfeils. Er fuhlte eine innere Verwiistung und ZerreiBung
und sagte: der menschliche Tod thut wehe. Aber er sah keine
Engel: doch begrif er nicht, warum das Laster nicht den Geist
zernagc und ermorde.
Allein da er einmal in einer Abendstunde las die Beispiele
10 der menschlichen Tugend, wie der Mensch unter dem Anbellen
seiner eignen Bedurfnisse, unter tiefen Wolken und hinter lauter
Nebeln auf dem einschneidenden Lebensweg doch mit dem
Blick auf die Sonne am hochsten Himmel, auf die Pflicht, fur
Eltern, fur Kinder, fur Freunde, fur Burger gebende und fuh-
rende und helfende Arme ausstrecke, und nichts bei sich als
die Hofnung trage, gleich der Sonne in der alten Welt unterzu-
gehen, um wieder in der neuen aufzugehen: so schlug seine Ent-
zuckungsflamme uber das geborgte irdische Gebaude hinaus,
die murben Bande des Korpers gingen auseinander und der
20 tiefste aber voriiberfliegende Schlummer deckte vor ihm den
Lichthimmel und die Engel auf, deren Stralenstrom ihm uber
den umgefallnen irdischen Damm entgegenwallte. »Bist du
wieder da, du spielender Traum?« sagte er: aber sein verstorbner
Freund umschlang ihn unter dem Lacheln des Himmels, mit
dem begeisterten Kufi und sagte: Das war der Tod, du Erd-
und Himmelsfreund!
J. P. F. Hasus.
BEITRAG ZUR'MYTHOLOGIE,
oder von der Gotlichkeit der Fursten
Da ich mich seit 8 Jahren vollig mit der Ubersezung und Vered-
lung des Montfaucon begebe: so stoss' ich zuweilen auf Stellen
im weiten mythologischen Felde, die vollig unbewachsen und
unbearbeitet vor mir liegen. Ich kan mich aber hier auf nichts
einlassen als auf den Punkt, dessen Bearbeitung ich durch [den]
Titel verheissen.
Er ist leider schwer und keine Seele woke sich noch iiber
ihn hermachen, meine ausgenommen. 10
Es ware mir angenehm, wenn ich sagen konte, daB die Wahr-
heit von der Gotlichkeit der Fursten schon langst geboren wor-
den und unter uns gelebet habe: allein ich bekenne ungern, der
Beiname Gotter, den ihnen das gemeine Leben, die Bibel und
die Alten zuweilen gaben, granzet noch sehr an das Metaphori-
sche und ist hochstens eine Ahndung der Gotlichkeit, deren Be-
weis ich iezt drukken lasse. Freilich sieht man auch hier mit
Vergniigen, wie die Philosophie keine Wahrheit ausscharren
konne, die nicht der gemeine Menschenverstand vorher gewit-
tert hatte und iede Wahrheit, die iezt durch unsere Mittagslinie 20
mit ihren Stralen geht, gab den Alten schon eine Morgenrothe
von sich: allein H. Dutens schos hieriiber unbeschreiblich fehl
und erboste mich haufig zu seinem Schaden.
Um mit keinem Gelehrten in einen Wortstreit zu gerathen:
merk' ich zum Oberflus noch an, daB alle Volker die Gotter
in zwei Kasten und Kurien zerschneiden, in gute und bose. Ein
Reallexikon wiirde sich dabei aufhalten, daB die Morgenlander
den guten Got , den bosen genant, die Griechen
und Romer die guten die obern, und die bosen die untern und
daB wir die leztern Teufel getauft. Ich laufe dariiber hinweg 30
und fiihre auch das kaum an, daB da ich als ein erwachsener
BEITRAG ZUR MYTHOLOGIE 1 1 7 1
Christ nur Einen guten Got glauben wil, ich natiirlicher Weise
die Fiirstennur in die zweite Gotterklasse riikken kan, die ganz
geraumig ist. Ich hoffe ein wenig, wenn ich aus der Definizion
und den Beschreibungen die uns die Alten von den untern oder
bosen Gottern gegonnet, nichts als Eigenschaften herausbringe
die wahre Regenten zu alien Zeiten wirklich besessen, wenn
ich endlich die Metaphysik und noch ein paar andere eben so
verntinftige Wissenschaften dahin vermag dafi sie die Gotlich-
keit der Regenten vollig erweisen: ich hoffe sag' ich daB man
mich dan nicht mehr zu denen spannen und gatten werde, die
aus abgottischer Schmeichelei oder dichterischem Paroxysmus,
aber nicht aus verniinf tiger Oberzeugung wie ich die Fiirsten
Gotter nennen.
Da ich dieses Aufsazes wegen alle Wochen zweimal auf die
Rathsbibliothek laufe und Schreibtafel und Bleistift in die Tasche
stekke (weil der Rath alle Dinte untersagt), um mir den Natalis
Comes reichen zu lass en und da den Artikel von den untern
Gotternunter lauter Vergleichungen mit den Regenten zu exzer-
piren: so mein' ich, sol mein Aufsaz durch diese Gelehrsamkeit
nichts verlieren.
[BEWEIS, DASS EHEBRUCHE NICHT MOGLICH
SIND]
Der Obersezer des goldnen Esels wil das Argernis seiner bisheri-
gen unziichtigen Obersezungen dadurch auf einmal abthun, daB
er eine von den in England edirten Ehebruchsverhoren des geist-
lichen Gerichtes versucht und im englischen Original kommen
Kupfer dabei, woriiber die grosse Welt vor Lust ausser sich
kommen soke: in der Ubersezung sols auch so werden. Der
wichtige Punkt bleibt und ich darf ihn nicht vergessen, daB ich
eine Vorrede dazu seze, worin ich so gut ich kan beweise, daB 10
es gar keine Ehebriiche giebt und geben kan. Da der Ubersezer
so lange daran arbeiten wil wie ... an seiner Ubersezung des
Kurt, namlich 30 Jahre: so wird mir das viel zu lange, da ich
die Vorrede schon fertig liegen habe, und es ist besser, wenn
die Vorrede die sonst nach dem Buche gedrukt wird, iezt einige
30 Jahre voraus in Druk komt, oder in die Litteratur und Vol-
kerkunde. Ein guter Autor lasset gern eine Arbeit 2 mal drukken
und eh ich meine Gedichte zusammen herausgebe: lass* ich sie
einzeln in dem Almanach erscheinen.
Mache hier, liebes Publikum, die Bemerkung, daB ein thatiger 20
Autor keine Kanzleiferien erlebt; wenn er nicht s[elbst] ein Buch
macht, so schreibt er doch eine Vorrede zu einem das ein anderer
gemacht: aber freilich befindet sich die Welt besser dabei als
er.
Ich baue eine Vorrede an dieses Buch, weniger um durch
meinen Namen ihm Gewicht zu geben als um den Anstos,
den 100 Leser an den Ehebriichen darin nehmen werden, da-
durch wegzubringen, daB ich beweise, Ehebriiche - einfache
und doppelte, mit vornehmen und niedfrigen] p. - seien gar
nicht moglich geschweige wirklich und weiter hab' ich nichts 30
EHEBRUCHE 1 173
[am Rande: Jezt wird die Sitte bei den Fiirsten beschrieben
- dan Ursachen, wie sichs herab zog.]
. . . Aus den mitlern Zeiten haben wir [Liicke] daB iemand
heirathet. Nur nennen wir [mit einem] Solozismus, den ich bis
iezt nicht begreiffe, [den] Prokurator Eheman, und die wahren
Ehemanner Liebhaber: es wiirde an den Nam en -nidus liegen,
allein die Kanonisten wisse'n langst, was sie ihnen fur Verwir-
rungen gemacht.
NACHBEMERKUNG
Elf Jahre nach AbschluB der Ausgabe von Jean Pauls Werken
in sechs Banden, die inzwischen in dritter Auflage vorliegt, le-
gen wir hier den ersten Band einer dreibandigen Sammlung
der Jugendwerke und der vermischten Schriften (II. Abteilung)
vor, durch die das Werk Jean Pauls so vollstandig veroffentlicht
und erschlossen werden soil, wie es auBerhalb der von Eduard
•Berend edierten Historisch-kritischen Ausgabe noch nie er-
schienen ist. Zahlreiche Anfragen und Bitten von Lesern und
Rezensenten haben den Verlag und den Herausgeber dazu be-
wogen, in das Wagnis einer solchen Erganzungsausgabe zu wil-
ligen. Ein weiterer Grund fur die Herausgabe ist, daB gerade
in allerletzter Zeit das Interesse an Jean Pauls satirischen Fruh-
schriften sich ungewohnlich verstarkt hat - Wolfgang Harich
meint in seinem jiingst erschienenen Buch uber Jean Paul, die
Satiren stellten den eigentlichen Schliissel zu Jean Pauls Schrift-
stellerei dar - und daB auch eine Reihe seiner kleineren Schriften
und Aufsatze neu in die Diskussion geraten ist.
Der erste Band enthalt Jean Pauls Fruhschriiten von seinen
Schulreden und seinen ersten »Obungen im Denken« an bis
hinzu den satirischen Aufsatzen, die der »Auswahl aus des Teu-
fels Papieren« von 1789 vorausgehen. Mit Ausnahme der
»GronlandischenProzesse«, die 1783 in zwei Bandcheti erstmals
und dann in einer nicht sehr gliicklichen Bearbeitung noch ein-
mal 1822 erschienen sind, und einer kleinen Zahl von Zeit-
schriftenaufsatzen. sind die meisten dieser Stiicke zu Lebzeiten
nicht publiziert worden und haben sich nur in Jean Pauls sorgfal-
tig gehutetem NachlaB erhalten. Zum Teil wurden diese Auf-
satze und Satiren in den verschiedenen Sammlungen von Jean
Pauls samtlichen Werken im 19. Jahrhundert veroffentlicht,
zum groBen Teil erstmals in den ersten Banden der NachlaB-
Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe. - Der zweite
1 176 NACHBEMERKUNG
Band bringt dann die satirischen Schriften bis zum Erschei-
nungsjahr der »Unsichtbaren Loge« (1793), vor allem die beiden
wichtigsten Sammlungen: »Auswahl aus des Teufels Papieren«
(ersch. 1789) und die zu Lebzeiten ungedruckte »Baierische
Kreuzerkomodie« (geschr. 1789). Damit ist der AnschluB von
den Jugendschriften zu den in den Banden der I. Abteilung be-
reits erschienenen Werken hergestellt. Die zweite Halfte des
Bandes und der ganze dritte Band erganzen die asthetischen,
padagogischen und politischen Schriften aus Band 5 der I. Ab-
teilung urn die dort fehlenden »Vermischten Schriften«, vor al-
lem urn die zahlreichen und groBenteils sehr bedeutenden Auf-
satze, die Jean Paul zum Teil noch selbst in Sammlungen*
zusammengefaBt hat (»Herbstblumine«, »Museum«, »Kleine
Biicherschau«) und die zum andern Teil nach seinem Tod in
die verschiedenen Gesamtausgaben aufgenommen worden sind.
Mit AbschluB unserer II. Abteilung wird damit Jean Pauls
Oeuvre, soweit es irgend Werk-Charakter besitzt, vollstandig
vorgelegt sein.
Wahrend in den bisherigen Banden unserer Ausgabe der
Grundsatz einer gemaBigten Angleichung von Orthographie
und Interpunktion an den heute iiblichen Gebrauch herrschte
(bei selbstverstandlicher Wahrung von Jean Pauls Lautstand und
von seinen oft eigenwilligen grammatikalischen Marotten),
s tell ten sich fur die Herausgabe seiner Jugendschriften schwer
zu entscheidende Textprobleme: Der junge Jean Paul hat sich
fast noch als Schiiler eine ebenso bizarre wie konsequent ge-
handhabtePrivat-Orthographiezugelegt, die mit geringfugigen
Abweichungen durch alle Jahre des uns betreffenden Zeitraums
beibehalten wurde. Und zumindest im Fall der »Gronlandischen
Prozesse« haben sich auch Verlag und Druckerei weitgehend
an diese Eigentumlichkeiten Jean Pauls gehalten. Fur die aus
dem hahdschriftlichen NachlaB Jean Pauls veroffentlichteri
Texte schien es uns, da unsere Ausgabe auch als Studienausgabe
gedacht ist, notwendig geboten, uns in der Textgestaltung
streng an die der Historisch-kritischen Ausgabe anzuschlieBen.
Eduard Berend hat in den ersten drei Banden der zweiten Abtei-
t NACHBEMERKUNG 1 1 77
lung der Historisch-kritischen Ausgabe (1928 ff.) die Herstel-
lung eines authentischen Textes auf mustergiiltige Weise gelei-
stet. Eine Oberpriifung oder Nachbesserung auf Grund der in
der Staatsbibliothekjn Ost-Berlin aufbewahrten Manuskripte
konnte hier ausscheiden, zumal sicher kein Jean Paul-Kenner
derzeit iiber eine auch nur annahernd vergleichbare Kenntnis
des Materials und Sicherheit im editorischen Metier verfiigt.
Fur die handschriftlichen Texte beriicksichtigt unsere Ausgabe
also buchstabengetreu die Orthographie und die Interpunktion
des jungen Jean Paul, entsprechend der Fassung der Historisch-
kritischen Ausgabe. (Uber die Eigenarten Jean Pauls vgl. die
Einleitung zum abschlieftenden Kommentarband.)
Fur die gedruckten Schriften Jean Pauls bot sich zunachst die
Orientierung an den bisherigen Banden unserer Ausgabe an,
d. h. Zugrundelegung der letzten noch vom Autor durchgese-
henen Ausgabe und eine vorsichtige Modernisierung in Ortho-
graphie und Interpunktion. Von seinem Erstlingswerk, den
»Gronlandischen Prozessen«, hat Jean Paul spat, 1822, eineneue
Fassung erscheinen lass en. Er schreibt dazu in einem Brief vom
12. Nov. 1820: »An diesem Erstling meiner Schriftstellerei hab'
ich viel zu erziehen. Das Erziehen besteht im Beschneiden, denn
eine UmgieCung nach der Form meiner jetzigen Geschopfe ware
kaum moglich, und sogar unangenehm, da die Eigentumlichkeit
des ganzen Jugendwerks aufgeopfert wiirde. Es mag denn als
eine Sammlung satirischer Einfalle gelten.« Jean Paul hat seine
Absicht, das Buch zu erweitern und mit neuen Satiren zu ergan-
zen, zwar aufgegeben, im ganzen aber doch stilistisch und in-
haltlich erheblich geandert, was sicher nicht zum Vorteil des
Buchs gedient hat. Oberdies ist der Druck dieser zweiten Auf-
lage, fur die Jean Paul nicht selbst Korrektur gelesen hat, er-
barmlich schlecht ausgefallen. - Die »Auswahl aus des Teufels
Papieren« (1789) ist zu Jean Pauls Lebzeiten nicht wieder aufge-
legt worden. Wohl hat Jean Paul bereits 1797 sich an eine Neu-
bearbeitung seiner Sammlung gemacht. Diese geriet ihm aber
unter der Hand zu einem ganz neuen Werk, den »Palingenesien«
(1798), das in keiner Weise als Neubearbeitung der »Teufelspa-
1 178 NACHBEMERKUNG
piere« aufgefaBt werden kann. Erst fur die Reimersche Gesamt-
ausgabe wollte Jean Paul in den Wochen und Tagen vor seinem
Tod die »Auswahl aus des Teufels Papieren« noch einmal
durcharbeiten. Er ist damit jedoch nur mehr bis zum SchluB
der »Ersten Zusammenkunft mit dem Leser« gekommen. Da-
nach hat der Herausgeber, Richard Spazier, die stilistische
Oberarbeitung nach Jean Pauls Richtlinien durchgefuhrt.
In diesem Fall hat sich bereits Eduard Berend entschlossen,
»die Originalausgabe von 1789 zugrunde zu legen und der Rei-
merschen Ausgabe nur da zu folgen, wo sie offenbare Druckfeh-
ler verbessert«. Fur die » Gronlandischen Prozesse« dagegen halt
sich die Historisch-kritische Ausgabe, obwohl Berend lange ge-
schwankt hat, ob er nicht der geschlosseneren ersten Fassung
folgen solle, an die spate Redaktion. Hier waren wir der Auffas-
sung, daft im Rahmen einer vollstandigen Darbietung des -
liberdies chronologisch geordneten - Friihwerks von Jean Paul
die erste Fassung den Vorzug verdient. DaB Jean Paul aus der
Erfahrung seines langen Schriftstellerlebens fur die Durchsicht
seines ungelenken Erstlings eine Fulle von Einzelverbesserungen
(Glattung allzu ruppig geratener Bemerkungen, konsequente
Durchfuhrung eines irohischen Prinzips etc.) einbringen
konnte, scheint uns gering zu wiegen gegemiber der Moglich-
keit, in den » Gronlandischen Prozessen« in ihrer Urfassung die
Anfange Jean Pauls studieren zu konnen.
Daraus ergab sich eine weitere Konsequenz, namlich auch
in Orthographie und Zeichensetzung die Einheitlichkeit von
Jean Pauls Jugendwerk durch die Textfassung unserer Ausgabe
nicht zu gefahrden. Wir folgen also auch fur die gedruckten
Texte der Jugendschriften den jeweiligen Erstdrucken und ver-
bessernnur offenkundigeDruckfehler. Natiirlich ergibt das eine
gewisse UngleichmaBigkeitinsofern, als wir bei den gedruckten
Schriften die Orthographie des Setzers, nicht die Jean Pauls vor
uns haben. Andererseits hat sich, wie schon erwahnt, der Setzer
der » Gronlandischen Prozesse« zumindest sehr eng an Jean Pauls
Gepflogenheiten gehalten, und ahnliches gilt fur einige der Auf-
satze. Da nur die Wahl blieb, durchgehend zu normalisieren
NACHBEMERKUNG 1179
oder uns durchgehend an die Vorlagen zu halten, glaubten wir
diese kleineren Unebenheiten in Kauf nehmen zu konnen. Fur
die Abteilung der »Vermischten Schriften« gilt dann selbstver-
standlich wiederum das Prinzip der ersten sechs Bande unserer
Ausgabe. - Die 3. Abteilung dieses Bandes, die »Satirischen
Schriften iy83-88«, hat Herr Wilhelm Schmidt-Biggemann
editorisch betreut, dem hier besonderer Dank fiir die zuverlas-
sige Arbeit gebiihrt.
September 1974 Norbert Miller
Als Druckvorlage fur die Texte auf den S. 9-368 der vorliegen-
den Ausgftbe dienten »Jean Pauls Sam cliche Werke« (Hi s to-
ri sch-kritische Ausgabe), hg. von Eduard Berend; und zwar der
1. Band, Ausgearbeitete Schriften 1779-1782, der 2. Abteilung,
Weimar 1928. Die »Gronlandischen Prozesse« (S. 371-582)
wurden nach der Erstausgabe Berlin 1783 f. abgedruckt. Fiir
die Texte auf den S. 585-1038 diente der 2. Band, Ausgearbei-
tete Schriften 1783-1785, der 2. Abteilung der HkA, Weimar
193 1 als Vorlage - mit Ausnahme der Schrift »Kleine Satiren«
(S. 799-810), dienach dem Erstdruck in: »Fiir Aeltere Litteratur
und Neuere Lecture. Quartal-Schrift«, hg. von Canzler und
Meiftner, 2. Jg., 3. Quartal, Leipzig 1784, S. 48-66 gegeben
wurde, und der »Zerstreuten Betrachtungen iiber das dichteri-
sche Sinken« (S. 849-874), cji e ebenfalls nach dem Erstdruck,
in: »Litteratur und Volkerkunde. Ein periodisches Werk«,
5. Bd., Dessau 1784, S. 294-322, abgedruckt sind. DieBeitrage
Jean Pauls zu den »Mixturen« (S. 1039-1075) wurden nach der
Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1786 abgedruckt. Fiir die Schrif-
ten »Ober die Religionen in der Welt«, »Vergleichung des
Atheism mit dem Fanatism«, »Ein nichtchristlicher Weiser«,
»Ober die Perriicken und schwarzen Rocke der Geistlichen«
(S. 1076-1100) diente die Sammlung »Raffinerien fiir raffini-
rende Theologen«, hg. von E. F. Vogel, 2. Bd., Frankfurt und
Leipzig 1786 als Druckvorlage. Die Texte auf den S. 1101-1146
sind wiederum nach der HkA, dem 3. Band der 2. Abteilung,
Weimar 1932 abgedruckt. Die »Launigte Phantasie«
(S. 1147-1162) wurde nach dem Erstdruck in: »Neue Litteratur
und V61kerkunde«, 2. Jg., 1. Bd., Dessau und Leipzig 1788,
S. 418-437 gegeben; »Die morderische Menschenfreundlich-
keit« (S. 1163-1166) nach dem »H6fer Intelligenzblatt« vom
19. Sept. 1788, 39. Stuck. Der Aufsatz »Was der Tod ist«
(S. 1167-1169) wurde nach der Vorlage. im »Deutschen Mu-
seum« 1788, 2. Bd., Nr. 6, Dezember, S. 552-555 abgedruckt.
Die beiden letzten Texte ab S. 1170 folgen wieder der HkA,
dem 3. Band der 2. Abteilung.
Ausfuhrliche Bemerkungen zu Druckvorlage, Textgestalt
und Entstehungsgeschichte der einzelnen Schriften werden im
gesondert erscheinenden Kommentarband enthalten sein.
Carl Hanser Verlag
INHALTSVERZEICHNIS
Erste Abteilung. Erste schriftstellerische Versuche 1779-1782 . . 7
Schulreden 9
I. [Ober den Nutzen des fruhen Studiums der Philosophic] . 10
II. [Ober den Nutzen undSchadenderErfindungneuerWahr-
heiten] 22
Obungen im Denken. Erster Band 35
November 1780
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I. Untersuchung. Wie unser Begrif von Got beschaffen ist 37
II. Untersuchung. Von der Harmonie zwischen unsern wah-
ren und irrigen Sazzen 39
III. Untersuchung. Ein Ding ohne Kraft ist nicht moglich . 40
mi. Untersuchung. Ist die Welt ein Perpetuum Mobile? . . 41
, V. Untersuchung. 'Was algemeines fiber's Physiognomiren 43
VI. Untersuchung. Unsere Begriffe von Geistern, die anders
als wir sind 45
VII. Untersuchung. Wie sich der Mensch, das Tier, die
Pflanz' und die noch geringern Wesen vervolkomnen . . 47
Bemerkungen I-XVIII 54
Dezember 1780
VIII. Untersuchung. Ober die Religionen in der Welt ... 62
Villi. Untersuchung. Jeder Mensch ist sich selbst Masstab,
wonach er alles aussere abmist 69
X. [Untersuchung], Ober Narren und Weise - Altags Zeug! 75
Bemerkungen XVIIII-XL 76
Mai 178 1
XI. Untersuchung. Man belont die Tugend zu wenig in der
Welt, und bestraft's Laster zu ser . . ■ 88
XII. Untersuchung. Ober Narren und Weise, Dumkopf und
Genie's 91
XIII. Untersuchung. Die Warheit- ein Traum ....... 95
Bemerkungen XXXXI-LII 102
Zusazze, oder Verbesserungen 109
INHALT 1 1 83
Abelard und Heloise 117
Abelard's Brief an Wilhelrn 118
Mein eigen Urteil iiber den Abelard 172
Etwas liber den Menschen 173
Tagbuch meiner Arbeiten , 195
Auf das Augustmonat 1781 196
Auf das Septembermonat 1781 233
[Rhapsodien] 255
I. Ober die Religionen in der Welt 256
II. Unterschied zwischen dem Narren und dem Dummen . 260
III. Von der Dumheit 266
IIII. Von dem unzeitigen Tadel der Feler des andern 275
V. Abgerissene Gedanken iiber den grossen Man 277
VI. Vom Menschen 279
VII. Etwas iiber Leibnizzens Monadologie 287
VIII. Von der Dankbarkeit '. . 288
Villi. Vergleichung des Ateism mit dem Fanatizism .... 291
X. Allerlei. 1-2 1 294
Ober die Liebe 303
[Bruchstiick aus einem Aufsatz iiber Leben und Tod] . . . . 305
Das Lob der Dumheit 307
Vorrede 308
Das Lob der Dumheit 310
Zweite Abteilung. Gronlandische Prozesse 178 3-1784 369
Gronlandische Prozesse, oder Satirische Skizzen 371
[Erstes Bandchen]
I. Ober die Schriftstellerei 372
II. Ober die Theologen 426
III. Ober den groben Ahnenstolz 438
IIII. Ober Weiber und Stuzer 445
V. Fragment aus einem zweiten Lobe der Narheit 466
VI. Ober die Konfiskazion der Biicher 469
Beschlus 471
Zweites Bandgen (
Vorrede 487
I. Unpartheiische Entscheidung des Streits iiber das Verhaltnis
zwischen dem Genie und den Regeln; als eine Probe von der
Il84 INHALT
kiirzlich entdeckten Tauglichkeit des Wizes, die Stelle des
Verstandes, in Aufsuchung der Wahrheitzu vertreten . . . 493
Griinde fur die Wichtigkeit der Regeln 494
Griinde gegen die Wichtigkeit der Regeln 497
II. Beweis, daB man den Korper nicht bios fiir den Vater der
Kinder, sondern auch der Biicher anzusehen habe, und dafl
vorziiglich die grosten Geistesgaben die rechte Hand zur
glandula pinealis gewahlet 506
III. Epigram matischaphor is tische Klagen eines Rezensenten
an und iiber die Autoren, welche die Rezensionen ihrer
Werke entweder selbst verfertigen, oder doch mit nichts als
einem Exemplar bezahlen 527
IIII. Bitschrift aller deutschen Satiriker an das deutschePubli-
kum, enthaltend einen bescheidnen Erweis von des sen
ieziger Armuth an Thorheiten, nebst Bitten und Vorschla-
gen, derselben zum Besten der deutschen Satire abzuhelfen 532
Vorrede zum nachstehenden Aufsaze 532
IIII. Bitschrift aller deutschen Satiriker 534
V. Epigrammen ' 570
Dritte Abteilung. Satirische Schriften 1783-1788 583
Gesprache 585
Epigrammen. 1-46 594
Bitschrift der deutschen Satiriker an das Publikum 603
[Bruchstiicke] 719
[Eine Abhandlung aus dem Jahre 3059 iiber den mechanischen
Witz des 18. Jahrhunderts] 735
Nachricht zum nachstehenden [Aufsaz] 73 5
Beantwortung der Preisaufgabe: Kan die Theologie von der
nahern Vereinigung, die einige Neuere zwischen ihr und der
Dichtkunst zu kniipfen angefangen, sich wol Vortheile ver-
sprecheri? 745
Anhang fiir meine einfaltigen Leser 771
Ein Feuerschaden 772
Ein Beispiel von der weiblichen Keuschheit und Enthaltsam-
keit . . .( 772
Avertissement 773
Todesfalle 774
Wasserschaden 775
INHALT 1 1 8 5
Nachricht von einigen neuen Larven, die bei Benstof in der
Veitsstrasse zu bekommen sind 779
Wiederruffung eines unrichtigen Gleichnisses 786
Beforderung 786
Todesfal 787
Beitrag zur Geschichte der seltnen Wiederhalle in Gebauden 788
Von einer nachdenklichen Ahndung 789
Eine Preisaufgabe 791
Beschlus oder Vorrede; worin keine Anmerkungen iiber Wiz,
Ironie und mich selber gesparet werden 792
Kleine Satiren [vom Verfasser der Gronlandischen Prozesse] . 799
Fliichtige Muthmassungen iiber die menschlichen Tugenden 811
Zerstreute Betrachtungen iiber das dichterische Sinken, auf
Veranlassung der swiftischen Anweisung zu demselben . . 849
[Von der Gottlichkeit der Fiirsten] 875
Achte Samlung meiner besten Bonsmots; nebst einer Rede
iiber die Bonsmots, in welche noch eine Rede iiber den Fus
eines Hasen eingeschaltet worden 879
1. SatirischeBonsmots, dieichbei vermischtenGelegenheiten
gesagt 904
2. Schmeichelhafte Bonsmots, die ichgesagt 912
3. Bonsmots, die ich im Traume und Schlafe gesagt 914
Unpartheiische Beleuchtung und Abfertigung der vorziiglich-
sten Einwiirfe womit Ihro Hochwurden meine auf der neu-
lichen Maskerade geausserte Meinung von der Unwahr-
scheinlichkeit meiner Existenz schon zum zweitenmale haben
umstossen wollen; auf Verlangen meiner Freunde abgefasset
und zum Druk befordert vom Teufel 919
Dedikazion an den Hern von W..t...r....h..s..n . ...... 920
Die Widerlegung selbst 927
Volstandige Mittheilung der schlechten, aberwizigen, unwahren
und iiberfliissigen Stellen, die ich in meinem noch ungedruk-
ten »satirischen Organon« aus Achtung fur den Geschmak
und fur das Publikum ausgestrichen habe 995
Nachdenklicher aber wahrer Bericht von einer hochst merkwiir-
digen Erscheinung der weissen Frau und von den Ursachen,
warum sie in der Erde gar nicht ruhen kan 1007
Vom Kaufman Vagel. Fragments fur den kiinftigenBiographen
seines Lebens 1019
1 1 86 INHALT
Ober meine schlechte Nahrung 1024
[Menschen sind Maschinen der Engel] 1028
Vorrede [zu den »Mixturen fur Menschenkinder aus alien
Standen«] 1032
Zeitungen 1036
Geschichte 1037
Mixturen fiir Menschenkinder aus alien Standen, von verschie-
denen Verfassern 1039
Erklarung der Titelvignette 1040
Katalog der Vorlesungen, die in unserer Stadt fiir das kiinftige
halbe Jahr werden gehalten werden 1040
I. Vorlesungen der theologischen Fakultat 1040
II. Vorlesungen der juristischen Fakultat 1042
III. Vorlesungen der medizinischen Fakultat 1043
IV. Vorlesungen der philosophischen Fakultat 1045
Einige gutgemeinte Erinnerungen gegen die noch immer
fortdauernde Unart, nur dann zu Bette zu gehen, wenn es
Nacht geworden 1048
Meiner abgerissenen Einfalle erste Lieferung 1065
Meiner abgerissenen Einfalle zwote Lieferung 1067
Meiner abgerissenen Einfalle lezte Lieferung 1072
Der morderische Traum . . : 1074
Ende 1074
Ober die Religionen in der Welt. Von einem Latitudinarier . . . 1076
Vergleichung des Atheism mit dem Fanatism 1083
Ein nichtchristlicher Weiser 1086
■Ober die Perriicken und schwarzen Rodke der Geistlichen . . 1090
[Die Zukunft der Theologie] 1101
Vom Verbote der Einfuhr auslandischer Siinden 1103
Reisepasse im andern Leben 1106
Dumheit schikt sich auf alle Weise fiir das gemeine Volk . . . 1108
Brief an einen angehenden Schauspieler, mit einigen Warnungen
vor der Verhunzung des lustigen Trauerspiels oder der hohern
Komodie mi
Fiir und wider den Selbstmord 11 19
Antwort des Englanders 1127
Meine Beantwortung der Berliner Preisaufgabe: »ob man den
Pobel aufklaren diirfe«; als ich fiir die Algem. deutsche Biblio-
thek abgezeichnet wurde 1134
INHALT 1 1 87
Hinlangliche Winke wie mein Epitaphium sein sol ...... 1144
Launigte Phantasie 1147
Die morderische Menschenfreundlichkeit 1163
Was der Tod ist 1167
Beitrag zur Mythologie, oder von der Gotlichkeit der Fiirsten 1170
[Beweis, daB Ehebriiche nicht moglich sind] 1172
Nachbemerkung 1175
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