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Full text of "Joseph Roth Werke 6"

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Joseph Roth Werke 6 

Romane und Erzahlungen 
19 3 6- 1940 



Herausgegeben und mit einem Nachwort 
von Fritz Hackert 



Biichergilde Gutenberg 



Lizenzausgabe fur die Biichergilde Gutenberg, 

Frankfurt am Main und Wien, 

mit freundlicher Genehmigung 

des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Koln 

© 1989 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Koln, 

und Allert de Lange, Amsterdam 

Satz Froitzheim, Bonn 

Druck und Bindearbeiten Pustet, Regensburg 

Printed in Germany 1994 

ISBN 3 7632 2988 4 



INHALT 



Beichteeines Morders (Roman 1936) 1 

Das falsche Gewicht (Roman 1937) 127 

Die Kapuzinergruft (Roman 1938) 225 

Die Geschichte von der 1002. Nacht (Roman 1939) 347 

Die Legende vom heiligen Trinker (Novelle 1939) 515 

Der Leviathan (Novelle 1940) 544 

Die Geschichte von der 1002. Nacht 

(Erste Druckfassung: 1937) 575 

Anhang 777 

Nachwort 807 

Danksagung 815 



BEICHTE EINES MORDERS 

erzdhlt in einerNacht 

Roman 

1936 



Vor einigen Jahren wohnte ich in der Rue des Quatre Vents. Meinen 
Fens tern gegeniiber lag das russische Restaurant »Tari-Bari«. Oft 
pflegte ich dort zu essen. Dort konnte man zu jeder Stunde des Tages 
eine rote Riibensuppe bekommen, gebackenen Fisch und gekochtes 
Rindfleisch. Ich stand manchmal spat am Tage auf. Die franzosischen 
Gasthauser, in denen die altiiberlieferten Stunden des Mittagessens 
streng eingehalten wurden, bereiteten sich schon fur die Nachtmahler 
vor. Im russischen Restaurant aber spielte die Zeit keine Rolle. Eine 
blecherne Uhr hing an der Wand. Manchmal stand sie, manchmal ging 
sie falsch; sie schien die Zeit nicht anzuzeigen, sondern verhohnen zu 
wollen. Niemand sah nach ihr. Die meisten Gaste dieses Restaurants 
waren russische Emigranten. Und selbst jene unter ihnen, die in ihrer 
Heimat einen Sinn fur Piinktlichkeit und Genauigkeit besessen haben 
mochten, hatten ihn in der Fremde entweder verloren, oder sie scham- 
ten sich, ihn zu zeigen. Ja, es war, als demonstrierten die Emigranten 
bewufk gegen die berechnende, alles berechnende und so sehr berech- 
nete Gesinnung des europaischen Westens, und als waren sie bemiiht, 
nicht nur echte Russen zu bleiben, sondern auch »echte Russen« zu 
spielen, den Vorstellungen zu entsprechen, die sich der europaische 
Westen von den Russen gemacht hat. Also war die schlecht gehende 
oder stehengebliebene Uhr im Restaurant »Tari-Bari« mehr als ein zu- 
falliges Requisit: namlich ein symbolisches. Die Gesetze der Zeit 
schienen aufgehoben zu sein. Und manchmal beobachtete ich, dafi 
selbst die russischen Taxi-Chauffeure, die doch gewifi bestimmte 
Dienststunden einhalten mufken, ebensowenig um den Gang der Zeit 
bekummert waren wie die anderen Emigranten, die gar keinen Beruf 
hatten und die von den Almosen ihrer bemittelten Landsleute lebten. 
Derlei beruf slose Russen gab es viele im Restaurant »Tari-Bari«. Sie 
safien dort zu jeder Tageszeit und spat am Abend und noch in der 
Nacht, wenn der Wirt mit den Kellnern abzurechnen begann, die Ein- 
gangstiir schon geschlossen war und nur noch eine einzige Lampe uber 
der automatischen Stahlkasse brannte. Gemeinsam mit den Kellnern 
und dem Wirt verlieften diese Gaste die Speisestube. Manche unter 
ihnen, die obdachlos oder angetrunken waren, lieft der Wirt iiber 



4 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Nacht im Restaurant schlafen. Es war zu anstrengend, sie zu wecken - 
und so gar wenn man sie geweckt hatte, waren sie doch gezwungen 
gewesen, nach einem andern Obdach bei einem andern Landsmann zu 
suchen. Obwohl ich an den meisten Tagen, wie gesagt, selbst sehr spat 
auf stand, konnte ich doch manchmal am Morgen, wenn ich zufallig an 
mein Fenster trat, sehen, daft »Tari-Bari« schon geoffnet war und »in 
vollem Betrieb«, wie der Ausdruck fur Gasthauser lautet. Die Leute 
gingen ein und aus. Sie nahmen dort offenbar das erste Friihstuck und 
machmal sogar ein alkoholisches erstes Friihstuck. Denn ich sah man- 
che taumelnd herauskommen, die noch mit ganz sicheren Fiifien einge- 
treten waren. Einzelne Gesichter und Gestalten konnte ich mir mer- 
ken. Und unter dies en, die auffallig genug waren, um sich mir einzu^- 
pragen, befand sich ein Mann, von dem ich annehmen durfte, daf? er zu 
jeder Stunde des Tages im Restaurant »Tari-Bari« anzutreffen sei. 
Denn sooft ich auch des Morgens ans Fenster kam, sah ich ihn driiben 
vor der Tiir des Gasthauses, Gaste beglekend oder Gaste begnifiend. 
Und sooft ich am spaten Nachmittag zum Essen kam, safl er an irgend- 
einem der Tische, mit den Gasten plaudernd. Und trat ich spat am 
Abend, vor »Geschaftsschlu8« - wie die Fachleute sagen-, im »Tari- 
Bari« ein, um noch einen Schnaps zu trinken, so safi jener Fremde an 
der Kasse und half dem Wirt und den Kellnern bei den Abrechnungen. 
Im Laufe der Zeit schien er sich auch an meinen Anblick gewohnt zu 
haben und mich fur eine Art Kollegen zu halten. Er wiirdigte mich der 
Auszeichnung, ein Stammgast zu sein wie er - und er begriifke mich 
nach einigen Wochen mit dem erkennenden und wortreichen Lacheln, 
das alte Bekannte fureinander haben. Ich will zugeben, daft mich dieses 
Lacheln am Anfang storte - denn das sonst ehrliche und sympathische 
Angesicht des Mannes bekam, wenn es lachelte, nicht geradezu einen 
widerwartigen, wohl aber einen gleichsam verdachtigen Zug. Sein La- 
cheln war nicht etwas Helles, es erhellte also nicht das Geskht, son- 
dern es war trotz aller Freundlichkeit duster, ja, wie ein Schatten 
huschte es iiber das Angesicht, ein freundlicher Schatten. Und also 
ware es mir lieber gewesen, wenn der Mann nicht gelachelt hatte. 
Selbstverstandlich lachelte ich aus Hoflichkeit wieder. Und ich hoffte, 
dafi dieses gegenseitige Lacheln vorlaufig oder sogar fur langere Zeit 
der einzige Ausdruck unserer Bekanntschaft bleiben wiirde. Ja, im stil- 
len nahm ich mir sogar vor, das Lokal zu meiden, wenn der Fremde 
eines Tages etwa anfangen sollte, das Wort an mich zu richten. Mit der 



BEICHTE EINES MORDERS 5 

Zeit aber lieft ich audi diesen Gedanken fallen. Ich gewohnte mich an 
das schattenhafte Lacheln, ich begann, mich fur den Stammgast zu in- 
teressieren. Und bald fuhlte ich sogar den Wunsch nach einer naheren 
Bekanntschaft mit ihm in mir wach werden. 

Es ist an der Zeit, daft ich ihn etwas naher beschreibe: Er war grofi 
gewachsen, breitschultrig, graublond. Mit klaren, manchmal blitzen- 
den, durch Alkohol niemals benebelten blauen Atigen sah er die Men- 
schen geradewegs an, mit denen er sprach. Ein machtiger, sehr gepfleg- 
ter, graublonder, waagerechter Schnurrbart teilte den oberen Teil des 
breiten Angesichts von dem unteren, und beide Teile des Angesichts 
waren gleich grofi. Dadurch erschien es etwas langweilig, unbedeu- 
tend, das heifit: ohne jedes Geheimnis. Hunderte solcher Manner hatte 
ich selbst in Ruftland gesehn, Dutzende solcher Manner in Deutsch- 
land und in den anderen Landern. Auffallend waren an diesem grofien, 
starken Mann die zarten, langen Hande und ein sanfter, stiller, fast 
unhorbarer Schritt und uberhaupt gewisse langsame, zaghafte und vor- 
sichtige Bewegungen. Deshalb kam es mir zuweilen vor, daft sein Ge- 
sicht denn doch etwas Geheimnisvolles barg, insofern namlich, als es 
seine gerade, leuchtende Offenheit nur spielte und daft der Mann die 
Leute, mit denen er sprach, nur deshalb so aufrichtig mit seinen blauen 
Augen anblitzte, weil er sich denken mochte, daft man Grund haben 
konnte, ihm zu mifttrauen, wenn er es etwa nicht tate. Und dennoch 
muftte ich mir bei seinem Anblick immer wieder sagen, daft er, wenn er 
eine so vollendete, allerdings naive Darstellung der personifizierten 
Aufrichtigkeit geben konnte, doch in der Tat ein groftes Maft von Auf- 
richtigkeit besitzen muftte. Das Lacheln, mit dem er mir zuwinkte, war 
vielleicht nur aus Verlegenheit so dunkel: obwohl die groften Zahne 
blitzten und der Schnurrbart golden schimmerte, als verlore er gleich- 
sam wahrend des Lachelns seine graue Mischfarbe und wiirde immer 
blonder. Man sieht, wie mir der Mann immer angenehmer wurde. Und 
bald begann ich sogar, mich auf ihn ein biftchen zu freuen, wenn ich 
vor der Tur des Gasthauses angelangt war, genauso auf ihn wie auf den 
vertrauten Schnaps und auf den vertrauten Gruft des dicken, angeneh- 
men Wirtes. 

Niemals hatte ich im »Tari-Bari« zu erkennen gegeben, daft. ich die 
russische Sprache verstehe. Einmal aber, als ich an einen Tisch mit 
zwei Chauffeuren zu sitzen kam, wurde ich von ihnen gefragt, gerade- 
heraus, welcher Nationalitat ich sei. Ich antwortete, ich sei ein Deut- 



6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

scher. Wenn sie die Absicht hatten, Geheimnisse vor mir zu bespre- 
chen, in welcher Sprache auch immer, so mochten sie das bitte tun, 
nachdem ich wieder fortgegangen ware. Denn ich verstiinde so ziem- 
lich alle europaischen Sprachen. Da aber gerade in diesem Augenblick 
ein anderer Tisch frei wurde, erhob ich mich und liefi die Chauffeure 
allein mit ihren Geheimnissen. Also konnten sie mich nicht mehr fra- 
gen, was offenbar ihre Absicht gewesen war, ob ich auch Russisch 
verstehe. Und man wufite es also weiter nicht. 

Aber man erfuhr es eines Tages, eines Abends vielmehr, oder, urn ganz 
genau zu sein: in einer spaten Nachtstunde. Und zwar dank dem 
Graublonden, der damals gerade gegemiber dem Biifett safi, aus- 
nahmsweise schweigsam und beinahe duster, wenn diese Bezeichnung 
uberhaupt auf inn angewandt werden kann. 

Ich trat kurz vor Mitternacht ein, mit der Absicht, einen einzigen 
Schnaps zu trinken und mich gleich darauf zu entfernen. Ich suchte 
mir also gar nicht erst einen Tisch, sondern blieb an der Theke stehen, 
neben zwei anderen spaten Gasten, die ebenfalls nur auf einen Schnaps 
hereingekommen zu sein schienen, entgegen ihrem ursprunglichen 
Plan aber schon langere Zeit hiergeblieben sein mufken; denn mehrere 
geleerte und halbgeleerte Glaser standen vor ihnen, dieweil es ihnen 
vorkommen mochte, dafi sie erst ein einziges getrunken hatten. So 
schnell vergeht manchmal die Zeit, wenn man in einem Lokal an der 
Theke stehen bleibt, statt sich zu setzen. Sitzt man an einem Tisch, so 
libersieht man in jeder Sekunde, wieviel man genossen hat, und merkt 
an der Anzahl der geleerten Glaser den Gang der Zeiger. Tritt man 
aber in ein Gasthaus ein, nur »auf einen Sprung«, wie man sagt, und 
bleibt auch am Schanktisch stehen, so trinkt man und trinkt und 
glaubt, es gehorte noch alles eben zu jenem einzigen »Sprung«, den 
man zu machen gedacht hatte. Das beobachtete ich an jenem Abend an 
mir selbst. Denn gleich den beiden andern trank auch ich eins und das 
andere und das dritte, und ich stand immer noch da, ahnlich einem 
jener ewig hastigen und ewig saumigen Menschen, die ein Haus betre- 
ten, den Mantel nicht ablegen, die Klinke in der Hand behalten, jeden 
Augenblick auf Wiedersehen sagen wollen und sich dennoch langer 
aufhalten, als wenn sie Platz genommen hatten. Beide Gaste unterhiel- 
ten sich ziemlich leise mit dem Wirt auf russisch. Was an der Theke 
gesprochen wurde, konnte der graublonde Stammgast gewift nur halb 
horen. Er safi ziemlich entfernt von uns, ich sah ihn im Spiegel hinter 



BEICHTE EINES MORDERS 7 

dem Biifettisch, er schien auch gar nicht gesonnen, etwas von dem 
Gesprach zu horen oder gar sich an ihm zu beteiligen. Auch ich tat 
nach meiner Gewohnheit so, als verstiinde ich nichts. Auf einmal aber 
schlug ein Satz gleichsam von selbst an mein Ohr. Ich konnte mich 
seiner gar nicht erwehren. Dieser Satz lautete: »Warum ist unser Mor- 
der heute so finster?« Einer der beiden Gaste hatte diesen Satz ausge- 
sprochen und dabei mit dem Finger auf das Spiegelbild des Graublon- 
den hinter dem Biifett gedeutet. Unwillkurlich wandte ich mich nach 
dem Stammgast um und verriet also, daft ich die Frage verstanden 
hatte. Man musterte mich auch sofort ein wenig mifttrauisch, in der 
Hauptsache aber verbliifft. Die Russen haben, nicht mit Unrecht, 
Angst vor Spitzeln, und ich wollte auf alle Falle verhuten, daft sie mich 
fur einen hielten. Gleichzeitig aber interessierte mich die immerhin un- 
gewohnliche Bezeichnung » unser M6rder« in dem Mafte, daft ich zu- 
erst zu fragen beschloft, warum man den Graublonden so nenne. Ich 
hatte, als ich mich umwandte, bemerken konnen, daft der so unge- 
wohnlich benannte Stammgast die Frage auch gehort hatte. Er nickte 
lachelnd. Und er hatte wohl sofort selbst geantwortet, wenn ich gleich- 
giiltig geblieben und nicht in dieser kurzen Minute der Gegenstand des 
Zweifels und des Mifitrauens geworden ware. »Sie sind also Russe?« 
fragte mich der Wirt. - Nein, wollte ich antworten, aber zu meiner 
Verwunderung erwiderte statt meiner der Graublonde hinter meinem 
Riicken: »Dieser unser Stammgast versteht Russisch und ist ein Deut- 
scher. Er hat immer nur aus Diskretion geschwiegen.« »So ist es«, be- 
statigte ich, drehte mich um und sagte: »Ich danke Ihnen, Herr!« 
»Bitte sehr!« sagte er, stand auf und ging auf mich zu. »Ich heifte 
Golubtschik«, sagte er, »Semjon Semjonowitsch Golubtschik.« Wir 
gaben uns die Hand. Der Wirt und die beiden anderen Gaste lachten. 
»Woher wissen Sie iiber mich Bescheid?« fragte ich. »Man ist nicht 
umsonst bei der russischen Geheimpolizei gewesen«, sagte Golub- 
tschik. Ich konstruierte mir sofort eine phanomenale Geschichte. Die- 
ser Mann hier, dachte ich, sei ein alter Beamter der Ochrana gewesen 
und habe einen kommunistischen Spitzel in Paris umgelegt; weshalb 
ihn auch diese weiftrussischen Emigranten so harmlos und beinahe 
ruhrend »unseren M6rder« genannt hatten, ohne sich vor ihm zu 
scheuen. Ja, vielleicht steckten alle vier unter einer Decke. 
»Und woher konnen Sie unsere Sprache?« fragte mich einer der beiden 
Gaste. - Und wieder antwortete statt meiner Golubtschik: »Er hat im 



5 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Krieg an der Ostfront gedient und war sechs Monate in der sogenann- 
ten Okkupationsarmee!« »Das stimmt!« bestatigte ich. »Er war dann 
spater«, fuhr Golubtschik fort, »noch einmal in Rufiland, will sagen: 
nicht mehr in Rutland, sondern in den Vereinigten Sowjetstaaten, im 
Auftrag einer grofien Zeitung. Er ist Schriftsteller!« Mich verwunderte 
dieser genaue Bericht iiber meine Person nur wenig. Denn ich hatte 
schon ziemlich viel getrunken - und in diesem Zustand kann ich kaum 
noch das Merkwtirdige von dem Seibstverstandlichen unterscheiden. 
Ich wurde sehr hoflich und sagte ein wenig gespreizt: »Ich danke Ih- 
nen fiir das Interesse, das Sie mir so lange bewiesen haben, und fur die 
Auszeichnung, die Sie mir somit schenken!« Alle lachten. Und der 
Wirt sagte: »Er spricht wie ein alter Petersburger Kanzleirat!« Damit 
war nun jeder Zweifel an meiner Person ausgeloscht. Ja, man betrach- 
tete mich sogar wohlwollend, und es folgten vier weitere Runden, die 
wir alle gegenseitig auf unser Wohl tranken. 

Der Wirt ging zur Tiir, versperrte sie, loschte eine Anzahl Lampen und 
bat uns alle, Platz zu nehmen. Die Zeiger der Wanduhr standen auf 
halb neun. Ich trug bei mir keine Uhr, und einen der Gaste nach der 
Zeit zu fragen schien mir unschicklich. Ich machte mich vielmehr mit 
dem Gedanken vertraut, daft ich hier die halbe oder die ganze Nacht 
verbringen wiirde. Eine grofie Karaffe Schnaps stand noch vor uns. Sie 
mufite mindestens, meiner Schatzung nach, zur Halfte geleert werden, 
Ich fragte also: »Warum nannte man Sie so merkwiirdig vorhin, Herr 
Golubtschik?« 

»Das ist mein Spitzname«, sagte er, »aber auch wieder nicht ganz nur 
ein Spitzname. Ich habe namlich vor vielen Jahren einen Mann erschla- 
gen und - wie ich damals glaubte - eine Frau auch.« 
»Ein politisches Attentat?« fragte der Wirt, und es wurde mir also klar, 
dafi auch die andern nichts wuftten, aulkr dem Spitznamen. 
»Keine Spur!« sagte Semjon. »Ich bin in keiner Beziehung eine politi- 
sche Personlichkeit. Ich mache mir iiberhaupt nichts aus offentlichen 
Dingen. Ich Hebe das Private. Nur das interessiert mich. Ich bin ein 
guter Russe, wenn auch ein Russe aus einem Randgebiet - ich bin nam- 
lich im friiheren Wolynien geboren. Aber niemals habe ich meine Ju- 
gendgenossen begreifen konnen, mit ihrer verriickten Lust, unbedingt 
das Leben fiir irgendeine verriickte oder auch meinetwegen normale 
Idee herzugeben. Nein! Glauben Sie mir! Das private Leben, die einfa- 
che Menschlichkeit ist wichtiger, grower, tragischer als alles Offentli- 



BEICHTE EINES MORDERS 9 

che. Und das ist vielleicht fur heutige Ohren absurd. Aber das glaube 
ich, das werde ich bis zu meiner letzten Stunde glauben. Niemals hatte 
ich politische Leidenschaft genug aufbringen konnen, um einen Men- 
schen aus politischen Griinden zu toten. Ich glaube auch gar nicht, daft 
politische Verbrecher besser oder edler sind als andere; vorausgesetzt, 
dafi man der Meinung ist, ein Verbrecher, welcher Art er auch sei, 
konne kein edler Mensch sein. Ich zum Beispiel, ich habe getotet und 
halte mich durchaus fur einen guten Menschen. Eine Bestie, um es glatt 
zu sagen: eine Frau, meine Herren, hat mich zum Mord getrieben.« 
»Sehr interessant!« sagte der Wirt. 

»Gar nicht! Sehr alltaglich«, sagte bescheiden Semjon Semjonowitsch. 
»Und doch nicht so ganz alltagHch. Ich kann Ihnen meine Geschichte 
ganz kurz erzahlen. Und Sie werden sehn, dafi es eine ganz simple 
Geschichte ist.« 

Er begann. Und die Geschichte war weder kurz noch banal. Deshalb 
habe ich beschlossen, sie hier nachzuschreiben. 



»Ich habe Ihnen eine kurze Geschichte versprochen«, begann Golub- 
tschik, »aber ich sehe, dafi ich wenigstens am Anfang weit ausholen 
mufi; und ich bitte Sie also, nicht ungeduldig zu werden. Ich sagte 
Ihnen fruher, dafi mich nur das Privatleben interessiert. Ich mufi dar- 
auf zuriickkommen. Ich will damit sagen, dafi man, wenn man genau 
achtgeben wiirde, unbedingt zu dem Resultat kommen miifke, daft alle 
sogenannten grofien, historischen Ereignisse in Wahrheit zuriickzu- 
fiihren sind auf irgendein Moment im Privatleben ihrer Urheber oder 
auf mehrere Momente. Man wird nicht umsonst, das heifk, ohne pri- 
vate Ursache, Feldherr oder Anarchist oder Sozialist oder Reaktionar, 
und alle grofien und edlen und schimpflichen Taten, die einigermafien 
die Welt verandert haben, sind die Folgen irgendwelcher ganz unbe- 
deutender Ereignisse, von denen wir keine Ahnung haben. Ich sagte 
Ihnen fruher, ich sei Spitzel gewesen. Ich habe mir oft dariiber den 
Kopf zerbrochen, warum gerade ich ausersehen war, ein so fluchwur- 
diges Gewerbe zu betreiben, denn es ruht kein Segen darauf, und es ist 
bestimmt Gott nicht wohlgefallig. Es ist auch noch heute so, der Teu- 
fel reitet mich, ohne Zweifel. Sehn Sie, ich leb' ja heute nicht mehr 
davon, aber ich kann es nicht lassen, nicht lassen. Ganz gewifi gibt es 
einen solchen Teufel der Spionage oder der Spitzelei. Wenn mich einer 
interessiert, wie zum Beispiel dieser Herr hier, der Schriftsteller«, 
Golubtschik deutete mit dem Kopf gegen mich, »so kann ich nicht 
ruhen, so ruht es nicht eher in mir, als bis ich erforscht habe, wer er ist, 
wie er lebt, woher er stammt. Denn ich weifi naturlich noch mehr von 
Ihnen, als Sie ahnen. Sie wohnen da driiben und schauen manchmal des 
Morgens im Neglige zum Fenster hinaus. Na aber, es ist ja auch nicht 
von Ihnen die Rede, sondern von mir. Also fahren wir fort. Es war 
Gott nicht wohlgefallig, aber Sein unerforschter Ratschlu£ hatte es mir 
ja vorgezeichnet. 

Sie kennen meinen Namen, meine Herren, ich sage lieber: meine 
Freunde. Denn es ist besser, >meine Freunde< zu sagen, wenn man er- 
zahlt, nach guter, alter heimatlicher Sitte. Mein Name ist also, wie Sie 



BEICHTE EINES MORDERS II 

wissen: Golubtschik"'. Ich frage Sie selbst, ob das gerecht ist. Ich war 
immer groft und stark, schon als Knabe an Wuchs und Korperkraft 
weit starker als meine Kameraden; und gerade ich muft Golubtschik 
heiften. Nun, es gibt noch etwas: Ich hiefi gar nicht mit Recht so, das 
heiftt: nach naturlichem Recht sozusagen. Denn das war der Name 
meines legitimen Vaters. Indessen: Mein wirklicher Name, mein natiir- 
licher, der Name meines natiirlichen Vaters war: Krapotkin - und ich 
bemerke eben, daft ich nicht ohne lasterhaften Hochmut diesen Na- 
men ausspreche. Sie sehen: Ich war ein uneheliches Kind. Dem Fiirsten 
Krapotkin gehorten, wie Sie wissen werden, viele Giiter in alien Teilen 
Ruftlands. Und eines Tages erfaftte ihn die Lust, auch ein Gut in Woly- 
nien zu kaufen. Solche Leute hatten ja ihre Launen. Bei dieser Gele- 
genheit lernte er meinen Vater kennen und meine Mutter. Mein Vater 
war Oberforster. Krapotkin war eigentlich entschlossen gewesen, alle 
Angestellten des fniheren Herrn zu entlassen. Als er aber meine Mut- 
ter sah, entlieft er alle - mit Ausnahme meines Vaters. Und so kam es 
eben. Mein Vater, der Forster Golubtschik, war ein einfacher Mann. 
Stellen Sie sich einen gewohnlichen, blonden Forster in dem iiblichen 
Gewande des Forsterberufes vor, und Sie haben meinen legitimen Va- 
ter vor Augen. Sein Vater, mein Groftvater also, war noch Leibeigener 
gewesen. Und Sie werden begreifen, daft der Forster Golubtschik gar 
nichts dagegen einzuwenden hatte, daft der Fiirst Krapotkin, sein 
neuer Herr, meiner Mutter haufige Besuche zu einer Stunde machte, in 
der die verheirateten Frauen bei uns zu Lande an der Seite ihrer ange- 
trauten Manner zu liegen pflegen. Nun, ich brauche nichts weiter zu 
sagen: Nach neun Monaten kam ich zur Welt, und mein wirklicher 
Vater hielt sich bereits seit drei Monaten in Petersburg auf. Er schickte 
Geld. Er war ein Fiirst, und er benahm sich genauso, wie sich ein Fiirst 
zu benehmen hat. Meine Mutter hat ihn zeit ihres Lebens nicht verges- 
sen. Ich schliefte das aus der Tatsache, daft sie aufter mir kein anderes 
Kind zur Welt gebracht hat. Das will also heiften, daft sie nach der 
Geschichte mit Krapotkin sich geweigert hat, ihre >ehelichen Pflichten 
zu erfiillen<, wie es in den Gesetzbtichern heiftt. Ich selbst erinnere 
mich genau, daft sie niemals in einem Bett geschlafen haben, der For- 
ster Golubtschik und meine Mutter. Meine Mutter schlief in der 
Kiiche, auf einem improvisierten Lager, auf der ziemlich breiten Holz- 

* Golubtschik heiftt im Russischen: Taubchen, 



12 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

bank, genau unter dem Heiligenbild, wahrend der Forster ganz allein 
das geraumige Ehebett in der Stube einnahm. Denn er hatte genug 
Einktinfte, urn sich Stube und Kiiche leisten zu konnen. Wir wohnten 
am Rande des sogenannten >schwarzen Waldes<~ denn es gab auch 
einen lichten Birkenwald, und der unsrige bestand aus Tannen. Wir 
wohnten abseits und etwa zwei bis drei Werst entfernt vom nachsten 
Dorf. Es hiefi Woroniaki. Mein legitimer Vater, der Forster Golub- 
tschik, war, im Grunde genommen, ein sanfter Mann. Niemals habe 
ich einen Streit zwischen ihm und meiner Mutter gehort. Sie wuftten 
beide, was zwischen ihnen stand. Sie sprachen nicht daruber. Eines 
Tages aber - ich mochte damals etwa acht Jahre alt gewesen sein - 
erschien ein Bauer aus Woroniaki in unserem Haus, fragte nach dem 
Forster, der gerade durch die Walder streifte, und blieb sitzen, als 
meine Mutter ihm sagte, daf5 ihr Mann vor dem spaten Abend nicht 
nach Hause kommen wiirde. >Nun, ich habe 2eit!< sagte der Bauer. 
>Ich kann auch bis zum Abend warten und auch bis Mitternacht und 
auch spater. Ich kann warten, bis ich eingesperrt werde. Und das hat 
noch mindestens einen Tag Zeit!< >Warum sollte man Sie einsperren?< 
fragte meine Mutter. >Weil ich Arina, meine leibliche Tochter Arina, 
mit diesen meinen Handen erwiirgt habe<, antwortete lachelnd der 
Bauer. Ich kauerte neben dem Ofen, weder meine Mutter noch der 
Bauer beobachteten mich im geringsten, und ich habe die Szene ganz 
genau behalten. Ich werde sie auch nie vergessen! Ich werde niemals 
vergessen, wie der Bauer gelachelt und wie er auf seine ausgestreckten 
Hande geblickt hat bei jenen furchterlichen Worten. Meine Mutter, die 
gerade Teig geknetet hatte, lieft Mehl, das Wasser und das halbausge- 
laufene Ei auf dem Kuchentisch, schlug das Kreuz, faltete dann die 
Hande iiber ihrer blauen Schiirze, trat nahe an den Besuch heran und 
fragte: >Sie haben Ihre Arina erwurgt?< >Ja<, bestatigte der Bauer. >Aber 
warum denn, um Gottes willen?< >Weil sie Unzucht getrieben hat mit 
Ihrem Mann, dem Forster Semjon Golubtschik. Heifk er nicht so, Ihr 
F6rster?< Der Bauer sprach auch all das mit einem Lacheln, mit einem 
versteckten Lacheln, das hinter s einen Worten gleichsam hervorblinkte 
wie manchmal der Mond hinter finsteren Wolken. >Ich bin schuld 
daran<, sagte meine Mutter. Ich hore es noch, als ob sie es erst gestern 
gesprochen hatte. Ich habe ihre Worte behalten. (Damals aber verstand 
ich sie nicht.) Sie bekreuzigte sich noch einmal. Sie nahm mich bei der 
Hand. Sie lief? den Bauern in unserer Stube und ging mit mir durch den 



BEICHTE EINES MORDERS 13 

Wald, immerfort den Namen Golubtschik rufend. Nichts meldete 
skh. Wir kehrten ins Haus zuriick, und der Bauer safi immer noch 
dort. >Wollen Sie Griitze?< fragte meine Mutter, als wir zu essen began- 
nen. >Nein!< sagte lachelnd und hoflich unser Gast, >aber wenn Sie zu- 
fallig einen Samogonka im Hause haben - ware ich nicht abgeneigt.< 
Meine Mutter schenkte ihm von unserem Selbstgebrannten ein, er 
trank, und ich erinnere mich genau, wie er den Kopf zuriickwarf und 
wie an seinem von Borsten bewachsenen, zuruckgeworfenen Hals 
gleichsam von aufien zu sehen war, dafi der Schnaps durch die Kehle 
rann. Er trank und trank und blieb sitzen. Endlich, die Sonne ging 
schon unter, es mag ein fruher Herbsttag gewesen sein, kam mein Va- 
ter zuriick. >Ach, PantaIejmon!< sagte er. Der Bauer erhob sich und 
sagte ganz ruhig: >Komm gefalligst hinaus!< >Warum?< fragte der For- 
ster. >Ich habe eben<, antwortete immer noch ganz ruhig der Bauer, 
>Arina erschlagen.< 

Der Forster Golubtschik ging sofort hinaus. Sie blieben lange drauften. 
Was sie da gesprochen haben, weifi ich nicht. Ich weifi nur, dafi sie 
lange draufien blieben. Es mochte wohl eine Stunde sein. Meine Mut- 
ter lag auf den Knien vor dem Heiligenbild in der Kuche. Man horte 
keinen Laut. Die Nacht war hereingebrochen. Meine Mutter ziindete 
kein Licht an. Das dunkelrote Lampchen unter dem Heiligenbild war 
das einzige Licht in der Stube, und niemals bis zu dieser Stunde hatte 
ich mich davor gefurchtet, Jetzt aber furchtete ich mich. Meine Mutter 
lag die ganze Zeit auf den Knien und betete, und mein Vater kam nicht. 
Ich hockte neben dem Ofen. Endlich, es mochten drei oder mehr Stun- 
den vergangen sein, horte ich Schritte und viele Stimmen vor unserem 
Haus. Man brachte meinen Vater. Vier Manner trugen ihn. Der For- 
ster Golubtschik mufi ein ansehnliches Gewicht gehabt haben. Er blu- 
tete an alien Ecken und Enden, wenn man so sagen darf. Wahrschein- 
lich hatte ihn der Vater seiner Geliebten so zugerichtet. 
Nun, ich will es kurz machen. Der Forster Golubtschik hat sich nie- 
mals mehr von diesen Schlagen erholt. Er konnte seinen Beruf nicht 
mehr ausiiben. Er starb ein paar Wochen spater, und man begrub ihn 
an einem eisigen Wintertag, und ich erinnere mich noch genau, wie die 
Totengraber, die ihn holen kamen, dicke, wollene Faustlinge trugen 
und dennoch mit beiden Handen um sich schlagen mufiten, damit es 
ihnen warmer werde. Man lud meinen Vater Golubtschik auf einen 
Schlitten. Meine Mutter und ich, wir safien auch in einem Schlitten, 



14 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

und wahrend der Fahrt spriihte mir der helle Frost mit hunderttausend 
kostlichen, kristallenen Nadeln ins Gesicht. Eigentlich war ich froh. 
Dieses Begrabnis meines Vaters gehort eher zu den heiteren Erinne- 
rungen meiner Kindheit. 

Passons! - wie man in Frankreich sagt. Es dauerte merit lange, und ich 
kam in die Schule. Und aufgeweckt, wie ich war, erfuhr ich bald, dafi 
ich der Sohn Krapotkins war, Ich bemerkte es an dem Benehmen des 
Lehrers und einmal im Fruhling an einem denkwurdigen Tage, an dem 
Krapotkin selber kam, unser Gut zu visitieren. Man schmiickte das 
Dorf Woroniaki. Man hangte Girlanden an beiden Enden der Dorf- 
strafie auf. Man stellte sogar eine Musikkapelle zusammen aus lauter 
Blasern, und dazwischen gab es auch Sanger. Man iibte eine Woche 
vorher, unter der Anleitung unseres Lehrers. Aber in dieser Woche 
liefi mich meine Mutter nicht in die Schule gehn, und nur unter der 
Hand gewissermafien erfuhr ich von all den Vorbereitungen. Eines Ta- 
ges kam Krapotkin wirklich. Und zwar direkt zu uns. Er liefi die Dorf- 
strafie mit Girlanden eine Dorfstrafie mit Girlanden sein und die Musi- 
ker Musikanten und die Sanger Sanger, und er kam directement in 
unser Haus. Er hatte einen schonen dunklen und etwas angesilberten 
Knebelbart, roch nach Zigarren, und seine Hande waren sehr lang, 
sehr mager, sehr trocken, diirr sogar. Er streichelte mich, fragte mich 
aus, drehte mich ein paarmal herum, betrachtete meine Hande, meine 
Ohren, meine Augen, meine Haare. Dann sagte er, meine Ohren wa- 
ren schmutzig und meine Fingernagel auch. Er zog ein elfenbeinernes 
Taschenmesser aus der Westentasche, schnitzte mir in zwei, drei Mi- 
nuten aus einem ganz gewohnlichen Holzbrett einen Mann mit Bart 
und langen Armen (spater horte ich, dafi er ein sogenannter >Kunst- 
schnitzer< gewesen sei), dann sprach er noch leise mit meiner Mutter, 
und dann verliefi er uns. 

Seit diesen Tagen, meine Freunde, wufite ich naturlich ganz genau, dafi 
ich nicht der Sohn Golubtschiks, sondern Krapotkins war. Naturlich 
tat es mir sehr leid, dafi der Fiirst verschmaht hatte, die geschmiickte 
Dorfstrafie zu passieren, die Musik und die Lieder zu horen. Am be- 
sten, so stellte ich mir vor, ware es wohl gewesen, wenn er in einer 
grofiartigen Kalesche, an meiner Seite, von vier schneeweifien Schim- 
meln gezogen, ins Dorf gekommen ware. Ich selbst ware bei dieser 
Gelegenheit als der rechtmafiige, sozusagen gottgewollte Nachkomme 
des Furs ten von alien anerkannt word en, vom Lehrer, von den Bauern, 



BEICHTE EINES MORDERS 1$ 

von den Knechten, sogar von der Obrigkeit, und die Lieder und die 
Musik und die Girlanden hatten eher mir als meinem Vater gegolten. 
Ja, meine Freunde, so war ich damals: anmafiend, eitel, von einer ufer- 
losen Phantasie bedrangt und sehr egoistisch. An meine Mutter dachte 
ich bei dieser Gelegenheit nicht im geringsten. Zwar begriff ich schon 
einigermafien, daft es eine Art Schande war, wenn eine Frau ein Kind 
von einem andern als von ihrem angetrauten Mann bekam. Wichtig 
aber war nicht die Schande meiner Mutter und auch nicht meine 
eigene. Im Gegenteil: Es freute mich, und ich bildete mir viel darauf 
ein, dafi ich nicht nur sozusagen von Geburt an ein besonderes Zeichen 
mit mir herumtrug, sondern auch, daft ich der leibliche Sohn unseres 
Fiirsten war. Und nun aber, nachdem es so zweifellos und klar wie der 
Tag geworden war, argerte mich der Name Golubtschik nur noch 
mehr, und besonders, weil alle ihn so hohnisch aussprachen, seit dem 
Tode des Forsters und seitdem der Fiirst bei meiner Mutter gewesen 
war. Sie sprachen alle meinen Namen mit einem ganz besonderen Un- 
terton aus, so als ware es gar kein ehrlicher, gesetzlicher Name, son- 
dern ein Spitzname. Und das argerte mich um so mehr, als ich ja selbst 
diesen lacherlichen und fur mich gar nicht passenden Namen Golub- 
tschik schon immer als einen Spott- und Spitznamen empfunden hatte, 
auch noch in den Zeiten, in denen man ihn gewissermafien mit harmlo- 
ser Ehrlichkeit auszusprechen pflegte. So wechselten also in meinem 
jungen Herzen damals die Gefiihle in jaher Schnelligkeit, ich fuhlte 
mich gedemiitigt, ja erniedrigt und gleich darauf - oder besser: zu- 
gleich - wieder erhaben und hochmutig, und manchmal drangten sich 
alle diese Gefiihle gleichzeitig in mir zusammen und kampften gegen- 
einander, grausame Ungeheuer, meine Freunde, grausam in einer klei- 
nen Knabenbrust. 

Es war deutlich zu spiiren, daft der Fiirst Krapotkin seine starke, gna- 
dige Hand iiber mir hielt. Zum Unterschied von alien anderen Knaben 
unseres Dorfes kam ich nach W. ins Gymnasium, im elften Jahre mei- 
nes Lebens. An allerhand Anzeichen konnte ich bald bemerken, daft 
den Lehrern auch hier das Geheimnis meiner Geburt bekannt war, und 
ich freute mich nicht wenig dariiber. Aber ich horte auch nicht auf, 
mich iiber meinen unsinnigen Namen zu argern. Ich schofi schnell in 
die Hohe, ich wuchs fast ebensoschnell in die Breite, und ich hiefi 
immer noch Golubtschik. 
Je alter ich wurde, desto mehr krankte ich mich dariiber. Ich war ein 



l6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Krapotkin, und ich hatte, zum Teufel, das Recht, mich Krapotkin zu 
nennen. Ich wollte noch ein biftchen warten. Ein Jahr vielleicht. Viel- 
leicht tiberlegte es sich der Furst in der Zwischenzeit und kam eines 
Tages heriiber und verlieh mir, am liebsten vor den Augen aller Men- 
schen, die mich kannten, seinen Namen, seinen Titel und alle seine 
marchenhaften Besitztiimer, Ich wollte ihm keine Schande machen. 
Ich lernte gut und mit Ausdauer. Man war mit mir zufrieden. Und all 
das, meine Freunde, war doch keine echte Sache, es war doch nur teuf- 
lische Eitelkeit, die mich trieb, und nichts weiter. Bald sollte sie noch 
starker in mir zu wirken anfangen. Bald begann ich mit meiner ersten, 
zwar noch nicht schandlichen Handlung, Sie sollen es sogleich horen. 

Ich hatte mir also vorgenommen, ein ganzes Jahr zu warten, obwohl 
ich mir kurz nach diesem Entschluft vorzuhalten begann, daft ein gan- 
zes Jahr eine viel zu lange Zeit ware. Ich versuchte bald, mir selbst ein 
paar Monate abzuhandeln, denn die Ungeduld plagte mich sehr. Doch 
sagte ich mir zu gleicher Zeit, daft es eines Mannes, der entschlossen 
sei, sehr hoch emporzukommen - fur einen solchen Mann hielt ich 
mich damals, meine Freunde-, daft es seiner unwiirdig sei, ungeduldig 
zu werden und von seinen Entschlussen abzuweichen. Auch fand ich 
bald eine Hilfe fur meine Standhaftigkeit in der aberglaubischen Uber- 
zeugung, daft der Furst auf eine geheimnisvolle, geradezu magische 
Weise schon langst gefuhlt haben miiftte, was ich von ihm fprderte. 
Denn ich bildete mir zuweilen ein, daft ich magische Krafte besafie und 
daft ich iiberdies auf eine natiirliche Weise mit ihm als mit meinem 
leiblichen Vater selbst iiber viele tausend Werst hinweg standig ver- 
bunden ware. Diese Einbildung beruhigte mich und bandigte zeitwei- 
lig meine Ungeduld. Als aber das Jahr verstrichen war, hielt ich mich 
fur doppelt berechtigt, den Fiirsten an seine Pflichten gegen mich zu 
mahnen. Denn daft ich ein ganzes Jahr ausgeharrt hatte, rechnete ich 
mir natiirlich nicht gerade als ein geringes Verdienst an. Bald ereignete 
sich aufterdem etwas, was mir den klaren Beweis dafiir zu liefern 
schien, daft die Vorsehung selbst mein Vorhaben billigte. Es war kurz 
nach Ostern und schon recht voller Friihling. In dieser Jahreszeit 
fuhlte ich immer - und noch heute fuhle ich in den Friihlingsmona- 
ten- eine frische Kraft im Herzen und in den Muskeln und eine ganz 
grofte unberechtigte und torichte Uberzeugung, daft mir alles Unmog- 
liche gelingen musse. Nun ereignete sich der merkwiirdige Zufall, daft 



BEICHTE EINES MORDERS 



ich eines Tages in der Pension, in der ich untergebracht war, der Zeuge 
eines Gesprachs wurde, das zwischen meinem Wirt und einem frem- 
den Mann, den ich nicht sehen konnte, im Nebenzimmer gefuhrt 
wurde. Ich hatte damals viel darum gegeben, den Mann zu sehen und 
selbst mit ihm zu sprechen. Ich durfte aber meine Anwesenheit nicht 
verraten. Offenbar hatte man geglaubt, ich sei nicht zu Hause bezie- 
hungsweise nicht in meinem Zimmer. Man hatte in der Tat auch nicht 
vermuten konnen, daft ich um diese Stunde zu Hause sei, und ich war 
nur zufallig in mein Zimmer gekommen. Mein Wirt, ein Postbeamter, 
unterhielt sich mit dem Fremden im Korridor ziemlich laut. Nach den 
ersten paar Worten, die ich vernahm, begriff ich sofort, daft der 
Fremde jener Beauftragte des Fiirsten sein muftte, der jeden Monat fur 
mich Kost, Quartier und Kleidung bezahlte. Offenbar hatte mein Wirt 
eine Preiserhohung verlangt, und der Beauftragte des Fiirsten wollte 
sie nicht anerkennen. >Aber ich sage Ihnen doch<, horte ich den Frem- 
den sprechen, >daft ich ihn vor einem Monat nicht erreichen kann. Er 
ist in Odessa. Dort bleibt er sechs oder acht Wochen. Er will nicht 
gestort sein. Er offnet keinen Brief. Er lebt da ganz abgeschlossen. Er 
schaut den ganzen Tag aufs Meer und kummert sich um gar nichts. Ich 
wiederhole Ihnen: Ich kann ihn nicht erreichen. < 
>Wie lange soil ich also warten, mein Lieber?< sprach mein Wirt. >Seit- 
dem er hier lebt, nab' ich sechsunddreiftig Rubel ausgegeben, Extra- 
spesen, einmal war er krank, sechsmal war der Arzt hier. Ich hab's 
nicht ersetzt bekommen.< - Ich wuftte - nebenbei gesagt- daft mein 
Wirt log. Ich war niemals krank gewesen. Aber darauf achtete ich da- 
mals natiirlich nicht. Mich regte die belanglose Tatsache, daft Krapot- 
kin in Odessa lebte, in einem abgeschlossenen Haus am Meere, unge- 
heuer auf. Ein grofter Sturm erhob sich in meinem Herzen. Das Meer, 
das abgeschlossene Haus, die Laune des Fiirsten, sechs oder gar acht 
Wochen nichts von der Welt zur Kenntnis zu nehmen: all das belei- 
digte mich schwer. Es war, als hatte sich der Fiirst zuriickgezogen, 
nur, um von mir nichts mehr zu horen und als fiirchtete er mich und 
nur mich auf dieser Welt. 

So ist es also, sagte ich mir. Der Fiirst hat auf dem magischen Wege 
mein en Entschluft vor einem Jahr vernommen. Er hat, aus begreifli- 
cher Schwache, nichts getan. Und nun, da das Jahr zu Ende geht, hat er 
Angst vor mir und verbirgt sich. Ich muft immerhin, damit Sie mich 
ganz kennenlernen, hinzufiigen, daft ich sogar einer leisen Anwand- 



IS ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

lung von Grofimut gegen den Furs ten damals fahig war. Denn er be- 
gann mir bald leid zu tun. Ich war geneigt, ihm seine Flucht vor mir als 
eine verzeihliche Schwache auszulegen. So dreist iiberschatzte ich da- 
mals meine Kraft. War mein ganzer torichter Plan, den Fiirsten zu 
zwingen, eine lacherliche Uberheblichkeit, so war die kindische Grofi- 
mut, mit der ich ihm seine angeblichen Schwachen verzeihen wollte, 
schon krankhaft zu nennen, wie die Arzte sagen wiirden: ein >psycho- 
tischer Zustand<. 

Eine Stunde, nachdem ich das friiher erwahnte Gesprach belauscht 
hatte, fuhr ich zu meiner Mutter, mit dem letzten Rest des Geldes, das 
ich mir durch Stundengeben verdient hatte. Ich hatte sie Weihnachten 
zuletzt gesehen. Als ich sie jetzt wiedersah - sie erschrak iibrigens, weil 
ich so plotzlich ins Haus fiel-, erkannte ich sofort, dafi sie krank und 
sehr gealtert aussah. Im Laufe der wenigen Monate, in denen ich sie 
nicht gesehen hatte, waren ihre Haare grau geworden. Das erschreckte 
mich. Zum erstenmai sah ich deutlich an dem nachsten Menschen, den 
ich auf der Welt besafi, die Zeichen des unerbittlichen Alters. Und weil 
ich noch jung war, bedeutete mir das Alter nichts anderes als den Tod. 
Ja, der Tod war schon mit seinen grausigen Handen (iber den Scheitel 
meiner Mutter gefahren - nun waren ihre Haare welk und silbern. Sie 
wird also bald sterben, dachte ich ehrlich erschuttert. Und schuld 
daran, dachte ich weiter, ist der Fiirst Krapotkin. Denn es lag mir be- 
greiflicherweise daran, den Fiirsten noch schuldiger zu machen, als er 
ohnehin in meinen Augen schon war. Je schuldiger er wurde, desto 
richtiger und berechtigter erschien mein Unternehmen. 
Ich sagte also meiner Mutter, ich sei nur fur ein paar Stunden gekom- 
men, in einer hochst merkwurdigen und geheimen Angelegenheit. Ich 
miisse morgen nach Odessa. Nichts Geringeres sei passiert als die Tat- 
sache, dafi mich der Fiirst rufen liefi. Mir die Botschaft zu iiberbringen, 
sei gestern jener Mann zu meinem Wirt gekommen, der Beauftragte 
des Fiirsten. Sie, meine Mutter, sei der einzige Mensch, zu dem ich ein 
Wort davon verrate. Sie moge also schweigen, betonte ich dumm und 
wichtig. Ich liefi durchblicken, dafi der Fiirst vielleicht krank und im 
Sterben liege. 

Kaum aber hatte ich diese liigenhafte Andeutung gemacht, als meine 
Mutter, die alles ruhig angehort hatte, kauernd auf der holzernen 
Schwelle unseres Hauses, sofort aufsprang. Ihr Angesicht fullte sich 
mit Blut, Tranen rannen iiber ihre Wangen, sie breitete zuerst die 



BEICHTE EINES MORDERS 19 

Arme aus und schlug dann die Hande zusammen. Ich sah, daft ich sie 
erschreckt hatte, begann zu ahnen, was sie jetzt sagen wiirde, und er- 
schrak selbst ungeheuerlich. >Dann mufi ich gleich mit dir!< sagte sie. 
>Komm, komm, schnell, schnell, er darf nicht sterben, er darf nicht 
sterben, ich muft ihn sehn, ich raufi ihn sehn!< So grofi, so erhaben, 
mochte ich sagen, war die Liebe dieser einfachen Frau, die meine Mut- 
ter war. Viele Jahre waren vergangen, seitdem sie den letzten Kufi ihres 
Geliebten gespurt hatte, aber auf ihrem Leib fuhlte sie den Kufi noch 
so lebendig, als hatte sie ihn gestern empfangen. Der Tod selbst hatte 
sie schon gestreichelt, aber selbst die Beriihrung des Todes konnte die 
Beriihrungen des Geliebten nicht verwischen und nicht vergessen ma- 
chen. >Hat er dir geschrieben?< fragte meine Mutter. >Beruhige dich!< 
sagte ich. Und da meine Mutter nicht lesen und schreiben konnte, er- 
laubte ich mir noch eine schandlichere Luge: >Er hat mir mit eigener 
Hand ein paar Zeilen geschrieben, es kann ihm also so schlecht nicht 
gehen!< sagte ich. 

Sie beruhigte sich im Augenblick. Sie kiifite mich. Und ich schamte 
mich nicht, ihren Kuft zu empfangen. Sie gab mir zwanzig Rubel, ein 
ziemlich schweres Hauflein Silber in einem blauen Taschentuch. Das 
steckte ich mir ins Hemd, iiber den Gurtel. 
Ich fuhr schnurstracks nach Odessa. 

Ja, meine Freunde, ich fuhr nach Odessa, ich hatte ein reines Gewis- 
sen, ich empfand keine Reue, ich hatte mein Ziel vor Augen, und 
nichts sollte mich aufhalten. Es war ein strahlender Friihlingstag, als 
ich ankam. Zum erstenmal sah ich eine grofte Stadt. Es war keine ge- 
wohnliche russische grofte Stadt, sondern erstens ein Hafen; und zwei- 
tens waren die meisten Strafien und Anlagen, wie ich bereits gehort 
hatte, ganz nach europaischem Muster angelegt. Vielleicht war Odessa 
mit Petersburg, jenem Petersburg, das ich in meiner Vorstellung trug, 
nicht zu vergleichen. Aber auch Odessa war eine grofte, eine riesen- 
grofte Stadt. Sie lag am Meer. Sie hatte einen Hafen. Und sie war eben 
die erste Stadt, in die ich ganz allein, aus eigenem Willen gereist war, 
die erste wunderbare Station auf meinem wunderbaren Weg >nach 
oben<. 

Ich tastete, als ich den Bahnhof verlieft, nach meinem Geld unter dem 
Hemd. Es war noch vorhanden. Ich nahm ein Zimmer in einem klei- 
nen Gasthaus, in der Nahe des Hafens. Es war meiner Meinung nach 



20 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

notig, moglichst nahe vom Fiirsten zu wohnen. Da er, wie ich gehort 
hatte, in einem Hause >am Meer< wohnte, stellte ich mir vor, es liege 
auch in der Nahe des Hafens. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, 
daft mich der Fiirst, sobald er nur erfahren haben wiirde, daft ich ge- 
kommen sei, notigen miifite, bei ihm zu wohnen. Und dann hatte ich 
es nicht weit gehabt, Ich brannte vor Neugier, die Lage seines geheim- 
nisvollen Hauses zu erfahren. Ich nahm an, daft alle Leute in Odessa 
wissen miifiten, wo der Fiirst wohnte. Aber ich wagte nicht, den Wirt 
meines Gasthofes zu fragen. Es war Angst, die mich hinderte, so offen 
Erkundigungen einzuholen, aber auch eine Art Wichtigtuerei. Schon 
kam ich mir selbst wie ein Fiirst Krapotkin vor, und ich freute mich an 
der Vorstellung, daft ich sozusagen inkognito in einem viel zu billigen 
Hotel unter dem lacherlichen Namen Golubtschik abgestiegen sei. Ich 
beschlofi, mich lieber beim nachsten Polizisten zu erkundigen. 
Zuerst aber ging ich zum Hafen. Ich schlenderte langsam durch die 
lebendigen Strafien der grofien Stadt, verweilte vor alien Schaufen- 
stern, besonders vor jenen, in denen Fahrrader und Messer ausgelegt 
waren, und machte verschiedene Einkaufsplane. Morgen oder iiber- 
morgen konnte ich mir ja alles kaufen, was mir gefiel, sogar eine ganz 
neue Gymnasias ten-Uniform. So dauerte es lange, bis ich an den Ha- 
fen kam. Das Meer war tiefblau, hundertmal blauer als der Himmel 
und eigenthch auch schoner, weil man mit den Handen hineingreifen 
konnte. Und wie die unerreichbaren Wolken iiber den Himmel 
schwammen, so fuhren die schneeweifien grofien und kleinen Schiffe, 
auch sie greifbar, iiber das nahe Meer. Ein groftes, ein unbeschreibli- 
ches Entziicken erfullte mein Herz, und ich vergafi sogar den Fiirsten 
fur eine Stunde. Manche Schiffe warteten im Hafen und schaukelten 
sachte, und wenn ich nahe herantrat, horte ich den zartlichen, uner- 
miidlichen Anschlag des blauen Wassers an weiftes, weiches Holz und 
schwarzes, hartes Eisen. Ich sah die Krane wie grofte, eiserne Vogel 
durch die Luft schweben und ihre Lasten ausspeien in wartende 
Schiffe, aus weitgeoffneten, eisernen braunschwarzen Rachen. Jeder 
von Ihnen, meine Freunde, weift, wie es ist, wenn man zum erstenmal 
in seinem Leben das Meer und den Hafen erblickt. Ich will euch nicht 
mit naheren Schilderungen aufhalten. 

Nach einiger Zeit verspiirte ich Hunger und ging in eine Konditorei. 
Ich war in einem Alter, in dem man, wenn man hungrig wird, nicht in 
ein Gasthaus, sondern in eine Konditorei geht. Ich aft mich satt. Ich 



BEICHTE EINES MORDERS 21 

glaube, daft ich damals Aufsehen mit meiner Genaschigkeit erregt 
habe. Ich fraft ein Zuckerwerk nach dem andern, ich hatte ja Geld in 
der Tasche, trank zwei Tassen stark gezuckerter Schokolade und 
wollte mich gerade entfernen, als plotzlich ein Herr an mein Tischchen 
trat und mir irgend etwas sagte, was ich nicht sofort verstand. Ich 
glaube, ich bin damals im ersten Augenblick sehr erschrocken gewe- 
sen. Erst als der Mann weitersprach, begann ich ziemlich langsam zu 
verstehen. Er sprach iibrigens mit einem fremden Akzent. Ich merkte 
sofort, daft er kein Russe war, und diese Tatsache allein verdrangte 
meinen ersten Schrecken und weckte in mir eine Art Stolz. Ich weift 
nicht recht, warum. Es scheint mir aber, daft wir Russen uns oft ge- 
schmeichelt fiihlen, wenn wir Gelegenheit haben, mit einem Auslander 
zu verkehren. Und zwar verstehen wir unter >Auslander< Europaer, 
jene Menschen also, die viel mehr Verstand haben diirften als wir, ob- 
wohl sie viel weniger wert sind. Es kommt uns zuweilen vor, daft Gott 
die Europaer begnadet hat, obwohl sie nicht an ihn glauben. Vielleicht 
aber glauben sie einfach deshalb nicht an Ihn, weil Er ihnen soviel 
geschenkt hat. Und also werden sie iibermiitig und glauben, sie hatten 
selbst die Welt erschaffen, und sind obendrein noch mit ihr unzufrie- 
den, obwohl sie ja selbst, ihrer Meinung nach, die Verantwortung da- 
fur haben. Siehst du - dachte ich bei mir - wahrend ich den Auslander 
betrachtete - es mufi etwas Besonderes an dir sein, wenn dich ein Eu- 
ropaer so mir nichts, dir nichts anspricht. Er ist viel alter, vielleicht 
zehn Jahre alter als du. Wir wollen ihm hoflich begegnen. Wir wollen 
ihm zeigen, daft wir ein gebildeter russischer Gymnasiast sind und kein 
gewohnlicher Bauer . . . 

Ich betrachtete mir also den Fremden: Er war, was man so einen >Stut- 
zer< nennt. Er hielt ein ganz weiches, feines Panama-Strohhutchen in 
der Hand, eines, wie es gewift in ganz Ruftland nicht zu kaufen war, 
und ein gelbes Rohrstockchen mit silbernem Knauf. Er trug ein gelbli- 
ches Rockchen aus russischer Rohseide, eine weifte Hose mit zarten 
blauen Streifen und gelbe KnopfstiefeL Und statt eines Gurtels schlang 
sich um sein zartes Bauchlein eine halbe, ja weniger: eine Viertelweste 
aus weifiem, geripptem Stoff, zusammengehalten von drei wundervol- 
len, schillernden Perlmuttknopfchen. Aufterordentlich wirkte seine 
geflochtene goldene Uhrkette mit groftem Karabiner in der Mitte und 
vielen zierlichen Anhangseln, einem Revolverchen, einem Messerchen, 
einem Zahnstocher und einem niedlichen, winzigen Kuhglockchen; al- 



22 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

les aus purem Gold. Auch an das Angesicht des Mannes erinnere ich 
mich ganz genau. Er hatte pechschwarze, in der Mitte gescheitelte 
Haare, sehr dicht, eine kurze, knappe Stirn und ein winziges Schnurr- 
bartchen, aufwartsgezwirbelt, so daft die Endchen direkt in die Nasen- 
locher krochen. Die Hautfarbe war eine blasse, bleiche, was man so 
eine >interessante< nennt. Das ganze Mannchen kam mir damals sehr 
nobel vor, ein zierliches Herrchen aus europaischen Regionen. Wahr- 
scheinlich, sagte ich mir, hatte er so einen gewohnlichen Russen, wie 
sie hier in der Konditorei herumsitzen, gar nicht angesprochen. An mir 
aber sieht er sofort mit dem Kennerblick des Europaers, daft ich was 
Besonders bin, ein noch namenloser, aber echter Fiirst, kein Zweifel. 
>Ich sehe<, sagte das fremde Herrchen, >daft Sie hier in Odessa fremd 
sind, mein Herr! Ich bin es auch. Ich bin nicht aus Rufiland. Wir sind 
also in einem gewissen Sinne Genossen, Schicksalsgenossen!< 
>Ich bin erst heute gekommen<, sagte ich. 
>Und ich vor einer Woche!< 
>Woher kommen Sie?< fragte ich. 

>Ich bin Ungar, ich komme aus Budapest^ antwortete er, >gestatten Sie, 
daft ich mich vorstelle: Ich heifte Lakatos, Jeno Lakatos.< 
>Sie sprechen aber ganz gut Russisch!< 

>Gelernt, gelernt, lieber Freund!< sagte der Ungar und pochte dabei mit 
dem Knauf seines Rohrstabchens auf meine Schulter. >Wir Ungarn ha- 
ben ein grofies Sprachtalent!< 

Es war mir unangenehm, sein Stabchen auf meiner Schulter zu fuhlen, 
ich schiittelte es ab, er entschuldigte sich und lachelte, und man sah 
dabei seine glanzenden, weifien und etwas gefahrlichen Zahne und 
noch ein Snickchen vom roten Zahnfleisch daruber. Seine schwarzen 
Augen blitzten. Ich hatte noch nie einen Ungarn gesehn, wohl aber mir 
eine genaue Vorstellung von ihnen gemacht nach all dem, was ich aus 
der Geschichte von ihnen wufite. Ich kann nicht sagen, daft es geeignet 
war, in mir irgendeinen Respekt vor diesem Volk zu wecken, das mei- 
ner Meinung nach noch weniger europaisch war als wir. Es waren 
Tataren, die sich nach Europa hineingestohlen hatten und dort sitzen- 
geblieben waren. Sie waren Untertanen des Kaisers von Osterreich, 
der sie so wenig schatzte, daft er uns Russen zu Hilfe gerufen hatte, als 
sie einst rebellierten. Unser Zar hatte dem osterreichischen Kaiser ge- 
holfen, die rebellischen Ungarn zu unterdrucken. Und vielleicht hatte 
ich mich mit diesem Herrn Lakatos auch nicht naher eingelassen, wenn 



BEICHTE EINES MORDERS 23 

er nicht plotzlich etwas Uberraschendes, mir unwahrscheinlich Impo- 
nierendes begonnen hatte. Er zog namlich aus dem linken Taschchen 
seiner gerippten Viertelweste ein flaches, kleines Flakonchen, be- 
spritzte sich die Rockklappen, die Hande und die breite, blaue, weift- 
punktierte Krawatte, und sofort erhob sich ein siifter Duft, der mich 
fast betaubte. Es waren, wie ich damals wahnte, geradezu himmlische 
Wohlgeriiche. Ich konnte ihnen nicht widerstehen. Und als er mir 
sagte, wir sollten zusammen Nachtmahl essen gehn, erhob ich mich 
sofort und gehorchte. 

Merken Sie daran, meine Freunde, wie grausam Gott mit mir umging, 
als er mir diesen parfumierten Lakatos auf die erste Kreuzung stellte, 
die ich auf meinem Weg zu passieren hatte. Ohne diese Begegnung 
ware mein Leben ein ganz anderes geworden. 

Lakatos aber fuhrte mich geradewegs in die Holle. Er parfiimierte sie 
sogar. 

Wir gingen also, der Herr Lakatos und ich. Erst als wir langere Zeit 
kreuz und quer durch die Straften gegangen waren, bemerkte ich auf 
einmal, daft mein Begleiter hinkte. Er hinkte nur leicht, es war kaum 
zu sehen, es war eigentlich kein Hinken, sondern eher, als zeichnete 
der linke Fuft eine kleine Schleife, ein Ornament, auf das Pflaster. Nie- 
mals seither habe ich solch ein grazioses Hinken gesehn, es war kein 
Gebrechen, eher eine Vollkommenheit, ein Kunststiick - und gerade 
diese Tatsache erschreckte mich sehr. Ich war damals, miifk ihr wissen, 
unglaubig und aufterdem auch noch unermeftlich stolz auf meine Un- 
glaubigkeit. Es schien mir, daft ich sehr gescheit sei, weil ich, trotz 
meinen jungen Jahren, bereits zu wissen glaubte, daft der Himmel aus 
blauer Luft bestehe und keine Engel und keinen Gott enthalte. Und 
obwohl ich das Bediirfnis hatte, an Gott und an die Engel zu glauben, 
und obwohl es mir in Wirklichkeit sehr ieid tat, daft ich im ganzen 
Himmel nur blaue Luft sehen muftte und in alien Ereignissen auf 
Erden lauter blinde Zufalle, konnte ich doch auf mein hochmutiges 
Wissen nicht verzichten und nicht auf den Stolz, den es mir verlieh; 
dermaften, daft ich, trotz meiner Sehnsucht, Gott anzubeten, dennoch 
gezwungen war, mich gleichsam selbst anzubeten. Als ich aber dieses 
graziose, ja einschmeichelnde und liebenswiirdige Hinken meines Ge- 
nossen bemerkte, glaubte ich, im Nu zu fiihlen, daft es ein Abgesandter 
der Holle war, kein Mensch, kein Ungar, kein Lakatos, und ich er- 
kannte auf einmal, daft meine Unglaubigkeit keine vollkommene war 



24 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

und dafi jene Torheit, die ich damals meine >WeItanschauung< nannte, 
sozusagen Lucken besafi. Denn hatte ich auch aufgehort, an Gott zu 
glauben, so waren die Furcht vor dem Teufel und der Glaube an ihn 
doch ganz lebendig und groft in mir geblieben. Und hatte ich auch 
vermocht, die sieben Himmel leerzufegen, so konnte ich doch die 
Holle nicht von all ihren Schrecken saubern. Es war kein Zweifel, dafi 
Lakatos hinkte, und ich gab mir zuerst alle Muhe, mir diese Tatsache 
auszureden, meinen eigenen Augen abzuleugnen, was sie so deutlich 
sahen. Hierauf sagte ich mir, daft auch Menschen selbstverstandlich 
hinken konnen, ich erinnerte mich an alle Hinkenden, die ich kannte, 
an unseren Postboten WassiKj Kolohin zum Beispiel, an den Holzhak- 
ker Nikita Melaniuk und an den Schankwirt von Woroniaki, Stefan 
Olepszuk, Aber je deutlicher ich mir die bekannten Hinkenden ins 
Gedachtnis rief, desto deutlicher wurde auch der Unterschied zwi- 
schen ihrem Gebrechen und dem meines neuen Freundes. Manchmal, 
wenn ich glaubte, er konne es nicht bemerken und merit ubelnehmen, 
blieb ich unauffallig zwei, drei Schritte hinter ihm zuriick und beob- 
achtete ihn. Nein, es war kein Zweifel, er hinkte wirklich. Von hinten 
gesehen, war sein Gang noch merkwiirdiger, seltsamer, zauberischer 
beinahe, es war, als zeichnete er mit dem linken Fufi wirklich unsicht- 
bare, runde, kreisartige Zeichen auf den Boden, und sein linker gelber, 
spitzer und aufterst eleganter Knopfelschuh schien mir plotzlich - aber 
nur sekundenlang - um ein bedeutendes langer zu sein als der rechte. 
Schliefilich hielt ich es nicht aus, und um mir selbst zu beweisen, daft 
ich wieder einen sogenannten >Ruckfall< in meinen alten >Aberglauben< 
erlitten hatte, beschlofi ich, den Herrn Lakatos zu fragen, ob er wirk- 
lich hinke. Ich ging aber sehr vorsichtig zu Werke, iiberlegte die Frage 
ein paarmal und sagte schliefilich: >Haben Sie sich den linken Fufi ver- 
letzt, oder driickt Sie der Stiefel? Es scheint mir namlich, daft Sie hin- 
ken^ Lakatos blieb stehen, hielt mich am Armel fest, damit auch ich 
stehenbleibe, und sagte: >Dafl Sie das erkannt haben! Ich mull schon 
sagen, junger Freund, ein Aug' haben Sie wie ein Adler! Nein! Wirk- 
lich! Sie haben ein merkwurdig gutes Auge! Bisher haben 's nur wenige 
bemerkt. Aber ich kann's Ihnen ja sagen. Wir kennen uns nicht lange, 
aber ich fiihle mich schon ganz als Ihr alter Freund, ein alterer Bruder, 
konnte man sagen. Also ich habe mir den Fufi nicht verletzt, und mein 
Stiefel pafk auch ganz ausgezeichnet. Aber ich bin so geboren, ich 
hinke, seitdem ich gehe, und mit den Jahren habe ich angefangen, sogar 



BEICHTE EINES MORDERS 2$ 

eine Art eleganter Kunst aus meinem Gebrechen zu machen. Ich habe 
reiten und fechten gelernt, ich spiele Tennis, ich mache Hoch- und 
Weitspriinge mit Leichtigkeit, ich kann stundenlang wandern und so- 
gar auf Berge steigen. Auch schwimmen und radfahren verstehe ich 
auf das beste. Wissen Sie, lieber Freund, niemals ist die Natur gutiger, 
als wenn sie uns ein kleines Gebrechen beschert. Wenn ich tadellos 
zur Welt gekommen ware, hatte ich wahrscheinlich gar nichts ge- 
lernt.< 

Wahrend Lakatos all dies sagte, hielt er mich, wie erwahnt, am Armel 
fest. Er stand an eine Hauserwand gelehnt, ich ihm gegeniiber, fast 
mitten auf dem ziemlich schmalen Burgersteig. Es war ein heller, 
frohlicher Abend, die Menschen gingen lassig und frohgemut an uns 
vorbei, die abendliche Sonne vergoldete ihre Gesichter, alle Welt er- 
schien mir anmutig und selig, nur ich war's nicht, und zwar deshalb 
nicht, weil ich mit Lakatos zusammenbleiben muftte. Zuweilen 
glaubte ich, ich muftte ihn im nachsten Augenblick verlassen, und es 
war mir doch so, als hielte er mich nicht nur am Armel fest, sondern 
gewissermaften auch an der Seele; als hatte er einen Zipfel meiner 
Seek erwischt und liefte ihn nicht mehr los. Ich konnte damals weder 
reiten noch radfahren, und auf einmal schien es mir sehr schandlich, 
daft ich beides nicht konnte, obwohl ich doch kein Kriippel war. Nur 
eben: Golubtschik hieft ich, das war schlimmer als ein Kriippel sein, 
fur mich, der ich doch eigentlich ein Krapotkin war und das Recht 
hatte, auf den edelsten Rossen der Welt zu reiten und, wie man zu 
sagen pflegt, in alien Satteln gerecht zu sein. Daft aber dieser Ungar, 
dieser Herr Lakatos, alle edlen und adligen Sportarten beherrschte, 
obwohl er doch als ein Hinkender geboren war, daft er nicht einmal 
Golubtschik hieft und keinesfalls der Sohn eines Fursten war, be- 
schamte mich ganz besonders. Dazu kam, daft ich, der ich immer 
schon meinen lacherlichen Namen wie ein Gebrechen getragen hatte, 
auf einmal zu glauben begann, gerade dieser Name sei imstande, aus 
mir ebenso einen Allerweltskerl zu machen, wie der lahme Fuft des 
Herrn Lakatos ihm verholfen hatte, alle edlen und adligen Sportarten 
zu beherrschen. - Ihr seht, meine Freunde, wie der Teufel arbeitet . . . 
Damals aber sah ich es nicht, ich ahnte es nur, aber es war schon 
mehr als eine Ahnung. Es war etwas zwischen einer Ahnung und 
einer Gewiftheit. Wir gingen weiter. >Jetzt wollen wir essen<, sagte 
Lakatos, >und dann kommen Sie zu mir, in mein Hotel. Es ist ange- 



l6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nehm, wenn man in einer wildfremden Stadt etwas Nahes neben sich 
weifl, etwas Nahes, einen guten Freund, einen jiingeren Bruder.< 
Gut, wir gingen also ess en. Wir gingen in die >Tschornaja< - und, ja, 
wifit ihr, wohin, meine Freunde?« 

Hier machte Golubtschik eine Pause. Er sah den Wirt an. Der Wirt sah 
mit seinen stark hervorquellenden, hellen Augen auf den Erzahler. Bei 
dem Wort »Tschornaja« war es, als entziindete sich in den Augen des 
Wirtes em besonderes Licht, ein ganz besonderes. »Ja, die Tschor- 
naja«, sagte en »Eben die Tschornaja«, fing Golubtschik wieder an. 
»Dort gab es um jene Zeit ein Restaurant, das hiefi genauso wie dieses 
hier, in dem wir jetzt sitzen, namlich: >Tari-Bari< - und der Wirt ist 
derselbe.« 

Der Wirt, der dem Erzahler gegeniibergesessen hatte, erhob sich jetzt, 
ging um den Tisch herum, breitete die Arme aus und umarmte Golub- 
tschik. Sie kiifken sich lange und herzlich. Sie tranken Bniderschaft; 
und auch wir alle, die Zuhorer, hoben die Glaser und leerten sie. 
»Ja, so ist's!« begann Golubtschik wieder. »Dieser Wirt da, mein B ru- 
der, seht ihr, Freunde, in seinem Restaurant hat sozusagen mein Un- 
gliick begonnen. Zigeunerinnen gab es dort, im alten >Tari-Bari< in 
Odessa, groftartige Geigenspieler und Zymbalisten. Und was fur 
Weine, Kinder! Und alles bezahlte der Herr Lakatos. Und ich war 
zum erstenmal in meinem Leben in so einem Lokal. >Trink nur, trink!< 
sagte der Herr Lakatos, Und ich trank. 
>Trink nur!< wiederholte er, Und ich trank weiter. 
Nach einiger Zeit, es mochte schon sehr spat sein, vielleicht lange nach 
Mitternacht — aber in der Erinnerung ist es mir, als sei jene ganze 
Nacht eine einzige lange, lange Mitternacht gewesen-, fragte mich La- 
katos: >Was suchst du eigentlich in Odessa ?< 

>Ich bin gekommen<, sagte ich (aber ich lallte es damals wahrschein- 
lich), >um meinen eigentlichen Vater zu besuchen. Er erwartet mich 
seit mehreren Wochen.< 
>Und wer ist dein Vater ?< fragte Lakatos. 
>Der Furst Krapotkin.< 

Hierauf schlug Lakatos mit der Gabel an das Glas und bestellte noch 
eine Flasche Champagner. Ich sah, wie er sich unter dem Tisch die 
Hande rieb und wie dariiber, iiber dem Tisch, iiber dem weiften Tisch- 
tuch, sein schmales Angesicht aufleuchtete, sich plotzlich rotete und 
voller wurde, als hatte er seine Wangen aufgepustet. 



BEICHTE EINES MORDERS If 

>Ich kenne ihn, Seine Durchlaut meine ich<, so begann Lakatos. >Ich 
kann mir auch schon alles zusammenreimen. Er ist em alter Fuchs, 
dein Herr Papa! Naturlich bist du sein illegitimer Sohn! Gnade dir 
Gott, wenn du auch nur den geringsten psychologischen Fehler 
machst! Machtig und gefahrlich mufit du auftreten! Er ist schlau wie 
ein Fuchs und feig wie ein Hase! Ja, mein Sohn, du bist nicht der erste, 
du bist nicht der einzige! Vielleicht irren Hunderte seiner unehelichen 
Sohne in Rutland herum. Ich kenne ihn. Ich habe Geschafte mit ihm 
getatigt. Hopfengeschafte! Ich bin namlich von Beruf Hopfenhandler, 
mufit du wissen. Also, tritt morgen ein, und lafi dich melden als Go- 
lubtschik, wohlverstanden! Und wenn man dich fragt, was du dem 
Fiirsten zu sagen hast, so sag einfach: eine private Angelegenheit. Und 
stehst du drin, vor ihm, vor seinem schwarzen, groften Schreibtisch, 
der aussieht wie ein Sarg, und er fragt dich: Was wiinschen Sie? - so 
sagst du: Ich bin Ihr Sohn, Fiirst! - Fiirst! sagst du. Nicht: Durch- 
laucht. - Und dann wirst du sehen. Ich traue deiner Klugheit. Ich fuhre 
dich hin. Und ich erwarte dich vor dem Schlofi. Und ist er etwa un- 
freundlich, dein Herr Papa, so sag ihm, dafi wir Mittel haben, Mittel- 
chen. Und du hattest einen machtigen Freund! Verstanden?< 
All dies verstand ich sehr wohl, es rann wie Honig in meinen Kopf, 
und ich driickte Herrn Lakatos die Hand unter dem Tisch, herzlich 
und fest. Er winkte eine der Zigeunerinnen heran, eine zweite, eine 
dritte. Vielleicht waren es noch mehr. Einer jedenfalls, jener, die sich 
an meine Seite gesetzt hatte, verfiel ich vollends. Meine Hand verfing 
sich in ihrem Schofi wie eine Fliege im Netz. Es war heifi, verworren, 
sinnlos, und dennoch eine grofie Seligkeit. Ich erinnere mich noch an 
den bleischweren, grauenden Morgen, an etwas Weiches, Warmes in 
einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, an schrille Glocken im 
Korridor und ganz besonders an einen tief beschamenden, einen 
schamlosen Jammer vor dem neuen Tag. 

Als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Als ich die 
Treppe hinunterging, sagte man mir, das Zimmer sei bezahlt. Von La- 
katos fand ich nur einen Zettel: >Viel Gliick!< stand darauf - und: >Ich 
mu£ sofort verreisen. Gehen Sie selbst hin! Meine Wiinsche begleiten 
Sie!< 
Also ging ich allein zum Schlofi des Fiirsten. 



28 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Das Hans meines Vaters, des Fiirsten Krapotkin, stand einsam, stolz 
und weift am Rande der Stadt. Obwohl es eine breite, gelbe, gut erhal- 
tene Lands trafie vom Strande trennte, schien es mir damals, es liege 
eigentlich hart am Ufer. So blau und machtig war das Meer an jenem 
Morgen, an dem ich dem Hause des Fiirsten entgegenging, daft es aus- 
sah, als schluge es eigentlich immer mit seinen zarthchen Wellen an die 
steinernen Treppen des Schlosses und als sei es nur zeitweihg zuriick- 
gewichen, um die Strafie frei zu lassen. Uberdies war, lange noch vor 
dem Schloft, eine Tafel angebracht, auf der geschrieben stand, daft alien 
Fuhrwerken die Weiterfahrt verboten sei. Es war gewift, daft der Fiirst 
in seiner sommerlichen, hochrmitigen Ruhe nicht gestort sein wollte. 
Zwei Polizisten standen nahe dieser Tafel, sie beobachteten mich, wah- 
rend ich sie kiihl und stolz anblickte, als hatte ich sie selber hierher 
befohlen. Wenn sie mich damals gefragt hatten, was ich hier zu suchen 
habe, ich hatte ihnen geantwortet, daft ich der junge Fiirst Krapotkin 
sei. Eigentlich wartete ich auf diese Frage. Sie aber lieften mich passie- 
ren, folgten mir nur noch eine Weile mit ihren Blicken, ich spiirte ihre 
Augen im Nacken. Je naher ich dem Hause Krapotkins kam, desto 
unruhiger wurde ich. Lakatos hatte versprochen, mich hierher zu be- 
gleiten. Nun hatte ich nur noch seinen Zettel in der Tasche. Laut und 
lebendig tonten in mir noch seine Worte wider: Sag ihm nicht Durch- 
laucht, sondern Fiirst! - Er ist schlau wie ein Fuchs und feig wie ein 
Hase! - Immer langsamer, ja schleppender wurden meine Schritte, und 
auf einmal fiihlte ich auch die grausame Hitze des Tages, der sich sei- 
ner Hohe naherte. Der Himmel war blau, das Meer zu meiner Rechten 
reglos, die Sonne in meinem Riicken unbarmherzig. Gewifi lag ein Ge- 
witter in der Luft, und man merkte es nur noch nicht. Ich setzte mich 
eine Weile an den Wegrand. Aber als ich wieder aufstand, war ich noch 
muder als zuvor. Sehr langsam, die Kehle trocken, mit brennenden 
Fiiften schleppte ich mich vor die strahlende Treppe des Hauses. Weift 
waren die steinernen, flachen Stufen wie Milch und Schnee, und ob- 
wohl sie mit alien Poren die Sonne tranken, stromten sie mir doch eine 
wohltatige Kiihle entgegen. Vor dem braunen, zweifliigeligen Portal 
stand ein machtiger Schweizer in einem langen, sandgelben Mantel, 
mit einer groften schwarzen Miitze aus Barenpelz (trotz der Hitze) 
und einem groften Zepter in der Hand, dessen goldener Knauf blitzte, 
eine Art Sonnenapfel. Ich stieg die flachen Stufen langsam empor. Der 
Schweizer schien mich erst zu erblicken, als ich knapp vor ihm stand, 



BEICHTE EINES MORDERS 29 

klein, verschwitzt und sehr armselig. Aber er riihrte sich auch dann 
nicht, als er mich erblickt hatte. Nur seine groften blauen Kugelaugen 
ruhten auf mir wie auf einem Wurm, einer Schnecke, einem Nichts, 
und als ware ich nicht ein Mensch wie er, ein Mensch auf zwei Beinen. 
So sah er zu mir eine Weile schweigsam herunter. Es war, als fragte er 
mich nur deshalb nicht nach meinem Begehr, weil er von vornherein 
wufite, daft ein so elendes Geschopf die menschliche Sprache gar nicht 
verstehen konnte. Auf meinen Scheitel, durch meinen Miitzendeckel, 
brannte die Sonne furchterlich und totete die paar letzten Gedanken, 
die noch in meinem Gehirn rumorten. Bis jetzt hatte ich eigentlich 
weder Angst noch Bedenken empfunden. Ich hatte einfach nicht mit 
dem Schweizer gerechnet, noch weniger mit einem, der gar nicht den 
Mund auftat, urn nach meinem Begehr zu fragen. Immer noch stand 
ich klein und jammerlich vor dem gelben Koloft und seinem gefahrli- 
chen Zepter. Immer noch ruhten seine Augen, die so rund waren wie 
seine Zepterkugel, auf meiner erbarmungswiirdigen Gestalt. Mir fiel 
keine passende Frage ein, meine Zunge lag trocken, unendlich groft 
und lastend in meinem Munde. Mir fiel damals ein, daft er eigentlich 
vor mir salutieren oder gar die schwere Miitze abnehmen miiftte, der 
Zorn kochte in meiner Brust iiber so viel Schamlosigkeit eines Lakaien, 
eines Lakaien, der in meines eigenen Vaters Diensten stand. Ich mu(l 
ihm befehlen - dachte ich schnell-, die Miitze abzunehmen. Aber statt 
ihm diesen Befehl zu erteilen, zog ich selber vor ihm meine Miitze und 
stand nun noch elender da, barhauptig und wie ein Bettler. Als hatte er 
just darauf gewartet, fragte er mich nunmehr mit einer iiberraschend 
diinnen, fast weiblichen Stimme nach meinem Begehr. - >Ich mochte 
zum Fiirsten!< sagte ich, sehr zag und leise. - >Sind Sie angemeldet?< - 
>Der Fiirst erwartet mich.< - >Bitte!< sagte er etwas lauter und schon mit 
einer mannlichen Stimme. 

Ich trat ein. Im Vestibiil standen zwei sandgelb livrierte Lakaien, mit 
silbernen Litzen und Knopfen, von den Stiihlen auf, sie erhoben sich 
wie durch einen Zauber, als waren sie steinerne Lowen gewesen, wie 
man sie manchmal vor herrschaftlichen Treppen sehen kann. Ich war 
wieder Herr iiber mich geworden, ich zerdriickte meine schone Miitze 
in der Linken, das gab mir ein wenig mehr Festigkeit. Ich sagte, ich 
wolle den Fiirsten sehn und er erwarte mich, und es sei eine private 
Angelegenheit. Man fiihrte mich in einen kleinen Salon, da hing das 
Portrat des alten Krapotkin, wie ich aus der metallenen Plakette ersah, 



30 ROMANE UND ER2AHLUNGEN 

meines Grofivaters also, Ich fiihlte mich schon ganz zu Hause, obwohl 
mein Grofivater ein sehr boses, gelbes, hageres und fremdes Gesicht 
machte. Ich bin Blut von deinem Blute! dachte ich. Mein Grofivater! 
Ich werde euch zeigen, wer ich bin. Ich bin nicht Golubtschik. Ich bin 
euer! Oder, vielmehr, ihr seid mein! 

Indessen hdrte ich ein zartes silbernes Glockchen lauten, nach einigen 
Minuten offnete sich die Tiir, und ein Diener verbeugte sich vor mir. 
Ich stand auf. Ich trat ein. Ich stand im Zimmer des Fiirsten. 
Er mufite vor nicht langer Zeit aufgestanden sein. Er safi hinter seinem 
machtigen schwarzen Schreibtisch, der wirklich aussah wie ein Sarg, in 
dem man Zaren begrabt, bekleidet mit einem weichen silbergrauen, 
flauschigen Morgenrock. 

Sein Angesicht hatte ich nicht genau in der Erinnerung behalten; jetzt 
erst gewahrte ich es. Es war mir jetzt, als sahe ich den Fiirsten zum 
erstenmal in meinem Leben, und diese Erkenntnis bereitete mir einen 
unheimlichen Schrecken. Es war also gewissermafien nicht mehr mein 
Vater, nicht der Vater, auf den ich mich vorbereitet hatte, sondern in 
der Tat ein fremder Fiirst, der Fiirst Krapotkin eben. Er erschien mir 
grauer, magerer, hagerer und langer und grower, obwohl er safi, als ich, 
der ich vor ihm stand. Als er gar fragte: >Was wiinschen Sie von mir?<, 
verlor ich vollends die Sprache. Er wiederholte noch einmal: >Was 
wiinschen Sie von mir?< - Jetzt horte ich genau seine Stimme, sie war 
heiser, und ein wenig bose klang sie, es war, so schien es mir damals, 
eine Art Bellen, als vertrate der Fiirst selber gewissermafien einen sei- 
ner Hofhunde. In der Tat erschien plotzlich, ohne dafi irgendeine der 
zwei Tiiren, die ich im Zimmer des Fiirsten bemerkte, aufgegangen 
ware, ein riesiger Wolfshund; ich wuftte nicht, woher er kam, vielleicht 
hatte er hinter dem machtigen Sessel des Fiirsten gewartet. Der Hund 
blieb unbeweglich, er stand zwischen mir und dem Tisch, sah mich an, 
und auch ich sah ihn unverwandt an und konnte nicht den Blick von 
ihm wenden, obwohl ich doch den Fiirsten, und nur ihn, anschauen 
wollte. Plotzlich begann der Hund zu knurren, und der Fiirst sagte: 
>Ruhe, Slavka!< Er knurrte selbst beinahe wie der Hund. >Also, was 
wiinschen Sie, junger Mann?< fragte der Fiirst zum drittenmal. 
Ich stand immer noch hart an der Tiir. >Treten Sie naher!< sagte Kra- 
potkin. 

Ich ging einen winzigen, einen armseligen winzigen Schritt vor und 
holte Atem. Dann sagte ich: 



BEICHTE EINES MORDERS 31 

>Ich bin gekommen, um mein Recht zu fordern!< 
> Welches Recht ?< fragte der Fiirst. 
>Mein Recht als Ihr Sohn!< sagte ich, ganz leise. 

Es war eine kurze Weile still. Dann sagte der Fiirst: >Setzen Sie sich, 
junger Mann!<, und er wies auf einen breiten Stuhl vor dem Schreib- 
tisch. 

Ich setzte mich, das heifk: Ich verfiel eigentlich diesem verhexten 
Stuhl. Seine weichen Armlehnen zogen mich an und hielten mich fest, 
ahnlich jenen fleischfressenden Pflanzen, die sorglose Insekten anzie- 
hen und vollends vernichten. Ich blieb sitzen, ohnmachtig, und da ich 
safi, kam ich mir noch schmachvoller vor als die ganze Zeit, in der ich 
gestanden hatte. Ich wagte nicht, meine Arme auf die Lehnen zu legen. 
Sie sanken wie gelahmt hinunter, sie hingen zu beiden Seiten des Lehn- 
stuhls hinab, und auf einmal fuhlte ich, wie sie sacht und aufterst blode 
zu baumeln begannen, und ich hatte doch nicht die Kraft, sie festzu- 
halten oder gar wieder an mich zu ziehen. Auf meine rechte Wange 
schien die Sonne stark und blendend, nur mit dem linken Auge konnte 
ich den Ftirsten sehen. Ich lieft aber beide Augen sinken und beschlo£ 
abzuwarten. 

Der Fiirst bewegte ein silbernes Tischglockchen, der Diener kam. >Pa- 
pier und Bleistift!< befahl Krapotkin. Ich riihrte mich nicht, mein Herz 
begann, sehr stark zu pochen, und meine Arme schlenkerten heftiger. 
Der Hund streckte sich behaglich aus und fing an zu grunzen. 
Man brachte das Schreibzeug, der Fiirst hub an: >Also, Ihr Name?< - 
>Golubtschik!< sagte ich. >Geburtsort?< - >Woroniaki.< - >Der Vater?< - 
>Tot!< - >Den Beruf meine ich<, sagte Krapotkin, >nicht den Gesund- 
heitszustand!< - >Er war F6rster!< - >Noch andere Kinder vorhanden?< 
- >Nein!< - >Wo besuchen Sie das Gymnasium ?< - >In W.< - >Sind die 
Zeugnisse gut?< - >Ja!< - >Wollen Sie weiterlernen?< - >Jawohl!< - >D en- 
ken Sie an einen bestimmten Beruf ?< - >Nein!< 

>So!< sagte der Fiirst und legte Papier und Bleistift weg. Er stand auf, 
nun sah ich unter seinem auseinanderklaffenden Morgenrock eine zie- 
gelrote Hose aus tiirkischer Seide, wie mir damals schien, und kaukasi- 
sche, perlenbestickte Sandalen an seinen Fiiften. Er sah genauso aus, 
wie ich mir damals einen Sultan vorstellte. Er naherte sich mir, gab 
dem Hund einen Tritt, das Tier schob sich knurrend zur Seite. Dann 
stand er hart vor mir, und ich fuhlte seinen starken, harten Blick auf 
meinem gesenkten Scheitel wie eine Messerspitze. 



32 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

>Stehen Sie auf!< sagte er. Ich erhob mich. Er iiberragte mich urn zwei 
Kopfe. >Sehen Sie mich an!< befahl er. Ich reckte den Kopf empor. Er 
betrachtete mich eine lange Weile. >Wer hat Ihnen gesagt, daft Sie mein 
Sohn sind?< - >Niemand, ich weifi es schon lange, ich habe es erlauscht 
und erraten!< - >So<, machte Krapotkin, >und wer hat Ihnen gesagt, dafi 
Sie irgendein Recht von mir zu fordern haben?< - >Niemand - ich selbst 
glaube es.< - >Und welches Recht ?< - >Das Recht, so zu heifien.< >Wie zu 
heifien?< >So<, wiederholte ich, denn ich wagte nicht, zu sagen: >so wie 
Sie!< - >Krapotkin wollen Sie heifien, he?< - >Ja!< - >H6ren Sie, Golub- 
tschik<, sagte er, >wenn Sie wirklich mein Sohn sind, so sind Sie mir 
schlecht geraten, das heifit, dumm, total dumm.< Ich fuhlte Spott, aber 
auch zum erstenmal ein wenig Giite in seiner Stimme. >Sie miifken sich 
selbst sagen, junger Golubtschik, daft Sie dumm sind. Gestehen Sie es?< 
- >Nein!< - >Nun, ich werde Ihnen erklaren: In ganz Rutland habe ich 
wahrscheinlich viele Sonne, wer kann es wissen? Ich war lange Jahre 
jung, viel zu lange war ich jung. Sie selbst haben vielleicht schon Sonne. 
Auch ich war einmal Gymnasiast. Meinen ersten Sohn bekam die Frau 
des Schuldieners, meinen zweiten die Tochter desselben Schuldieners. 
Der erste dieser zwei Sonne ist ein ehelicher Kolohin, der zweite ein 
unehelicher Kolohin. An diese beiden Namen, wenn es uberhaupt zwei 
Namen sind, erinnere ich mich, weil es eben die ersten waren. Meinen 
Forster Golubtschik aber hatte ich ganz vergessen, wie so viele andere, 
wie so viele andere. Es konnen doch nicht hundert Krapotkins in der 
Welt herumlaufen, wie? Und nach was fur einem Recht und Gesetz? 
Und gabe es selbst diesbezuglich ein Gesetz, wer garantiert mir, daft es 
wirklich meine Sonne sind? He? Und dennoch sorge ich fur sie alle, 
soweit sie meiner Privatkanzlei bekannt sind. Da ich aber auf Ordnung 
halte, habe ich samtliche diesbezuglichen Adressen meinen Sekretaren 
angegeben. Und nun? Haben Sie was daran auszusetzen?< 
>Ja!< sagte ich. 
>Was denn, junger Mann?< 

Jetzt konnte ich den Furs ten ganz gelassen ansehn. Ich war nun ruhig 
genug, und wenn unsereins ruhig wird, wird es auch frech und unver- 
schamt, und also sagte ich: >Mich gehen meine anderen B ruder gar 
nichts an. Mir handelt es sich nur darum, daft ich mein Recht finde.< 
> Welches Recht? - Sie haben gar kein Recht. Fahren Sie nach Haus. 
Griiften Sie meinetwegen Ihre Mutter. Lernen Sie fleiftig. Und werden 
Sie was Rechtes!< 



BEICHTE EINES MORDERS 33 

Ich machte keinerlei Anstalten wegzugehn. Ich begann, hartnackig 
und ungezogen: >Einmal waren Sie in Woroniaki und haben mir 
Mannchen aus Holz geschmtzt und dann-<, ich wollte von seiner 
Hand sprechen, die hart, hager und vaterlich mein Gesicht gestreichelt 
hatte - da flog plotzlich die Tur auf, der Hund sprang empor, begann 
jubelnd zu bellen, das Angesicht des Fursten verklarte sich, es leuch- 
tete auf. Ein junger Mensch, kaum alter als ich, ebenfalls in Gymnasia- 
sten-Uniform, sprang herein, der Fiirst breitete die Arme aus, kiifke 
den jungen Mann mehrere Male auf beide Wangen, dann endlich 
wurde es still, der Hund wedelte nur noch mit dem Schwanz. Da erst 
erblickte mich der junge Mann. >Herr Golubtschik!< sagte der Fiirst. 
>Mein Sohn!< 

Der Sohn lachte mich an. Er hatte ganz blitzende Zahne, einen breiten 
Mund, einen gelblichen Teint und eine feine, harte Nase. Er sah dem 
Fursten nicht ahnlich, weniger ahnlich als ich, dachte ich damals. 
>Nun, leben Sie wohl!< sagte der Fiirst zu mir. - >Lernen Sie gut!< Er 
streckte mir die Hand hin. Dann aber zog er sie zuriick, sagte: >Warten 
Sie!< und ging zum Schreibtisch. Er zog eine Schublade auf und ent- 
nahm ihr eine schwere goldene Tabaksdose. - >Hier<, sagte er, >nehmen 
Sie das zum Andenken! Gehen Sie mit Gott!< 

Er vergafi, mir die Hand zu geben. Ich dankte nicht, nahm die Dose, 
verneigte mich und verlieft das Haus. 

Aber kaum war ich wieder draufkn, vorbei an dem Schweizer, den ich 
in einer Art Verwirrung und Angst sogar griiftte und der mir nicht 
einmal mit einem Blick erwiderte, als ich bereits genau zu fiihlen 
glaubte, daft mir ein grower Schimpf angetan worden war. Die Sonne 
stand schon hoch im Mittag. Ich fiihlte Hunger - und schamte mich 
seltsamerweise dieses Gefiihls: Es erschien mir niedrig und vulgar und 
meiner unwiirdig. Man hatte mich gekrankt, und siehe da: Ich war nur 
hungrig. Ich war eben vielleicht doch nur Golubtschik, nichts mehr als 
ein Golubtschik. 

Ich ging die hellbesonnte, glatte, sandige Strafte zuriick, auf der ich vor 
kaum zwei Stunden hierhergekommen war, ich lieft den Kopf buch- 
stablich hangen, ich hatte die Empfindung, er kdnnte sich nie mehr 
aufrecht halten, er war schwer und wie geschwollen; als hatte man ihn 
verpriigelt, meinen armen Kopf. Die zwei Polizisten standen immer 
noch an der gleichen Stelle. Auch jetzt sah en sie mir lange nach. Eine 
Weile, nachdem ich sie passiert hatte, vernahm ich einen schrillen Pfiff. 



34 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Er kam von links, vom Ufer des Meeres her, der Pfiff erschreckte, aber 
er erfrischte mich audi gewissermafien, ich hob den Kopf und erblickte 
meinen Freund Lakatos. Munter stand er da, sein hellgelbes, sonniges 
Rockchen schimmerte frohlich, sein Stockchen wedelte mir entgegen, 
sein feines, ebenso sonniges Panamahutchen lag neben ihm, auf dem 
Kies. Er hob es eben auf und naherte sich mir. Munter und ohne sicht- 
bare Beschwer nahm er die ziemlich steile Anhohe, die an dieser Stelle 
die Strafie vom Meer trennte, und in wenigen Minuten stand er schon 
neben mir und reichte mir seine glatte Hand. 

Erst in diesem Augenblick merkte ich, dafi ich immer noch in meiner 
Rechten die Tabaksdose des Fursten hielt, und ich verbarg sie, so flink 
ich konnte, in meiner Tasche. So schnell ich aber auch diese Bewegung 
vollfuhrt hatte, meinem Freund Lakatos war sie nicht entgangen, ich 
merkte es an seinem Blick und an seinem Lacheln. Er sagte zuerst gar 
nichts. Er tanzelte nur frohlich neben mir einher. Dann, als die ersten 
Hauser der Stadt vor uns auftauchten, fragte er: >Nun, es ist gelungen, 
hoffe ich?< - >Nichts ist gelungen<, erwiderte ich, und eine grofie Wut 
erfullte mich gegen Lakatos. >Wenn Sie mich begleitet hatten<, sprach 
ich weiter, >wie Sie mir gestern versprochen hatten, ware alles ganz 
anders gekommen. Sie haben gelogen! Warum schrieben Sie mir, dafi Sie 
verreisen miissen? Warum sind Sie iiberhaupt noch da?< - >Wie?< rief 
Lakatos, >habe ich etwa nichts anderes zu tun? Glauben Sie, ich kiim- 
mere mich um Ihre Affaren? Ich bekam in der Nacht ein Telegramm, ich 
solle abreisen. Es stellte sich aber heraus, dafi ich noch bleiben konne. 
Nun ging ich, als ein guter Freund, hierher, um zu horen, was aus Ihnen 
geworden ist.< - >Nun<, sagte ich, >nichts ist aus mir geworden, oder 
noch weniger, als ich gewesen war.< - >Er hat Sie nicht anerkannt? Er hat 
keine Angst vor Ihnen? Er hat Sie nicht eingeladen?< - >Nein!< - >Er hat 
Ihnen die Hand gegeben?< - >Ja<, log ich. >Und was noch?< - Ich zog die 
Dose aus der Tasche. Ich hielt sie in der ausgestreckten, flachen Hand, 
blieb stehen und lieft sie Lakatos betrachten. Er ruhrte sie nicht an, er 
strich nur mit den Augen um sie sorgfaltig herum. Er schnalzte dabei 
mit der Zunge, spitzte die Lippen, pfiff ein wenig, hiipfte einen Schritt 
vor, dann einen zuriick und sagte schlieftlich: >Grofiartiges Stuck! Ein 
Vermogen wert! Darf ich es anfassen?< - Und schon tippte er mit seinen 
spitzen Fingern auf die Dose. Wir befanden uns bereits knapp vor den 
ersten Hausern der Stadt, ein paar Leute kamen uns entgegen, Lakatos 
flusterte hastig: >Stecken Sie's ein!<, und ich verbarg die Dose. 



BEICHTE EINES MORDERS 35 

>Nun, war er allein, der alte Fuchs?< fragte Lakatos. >Nein!< sagte ich, 
>sein Sohn kam ins 2immer!< - >Sein Sohn?< sagte Lakatos. >Er hat 
keinen. Ich will Ihnen etwas sagen, ich habe vergessen, Sie gestern dar- 
auf aufmerksam zu machen! Es ist nicht sein Sohn. Es ist der Sohn des 
Grafen P., eines Franzosen. Seit der Geburt dieses Jungen lebt die Fiir- 
stin in Frankreich; verbannt sozusagen. Den Sohn mufite sie abliefern. 
So ist es. Ein Erbe mulS einmal sein. Wer sollte dieses Vermogen sonst 
zusammenhalten? Sie etwa? Oder ich ?< 

>Wissen Sie das bestimmt?< fragte ich, und mein Herz begann, heftig zu 
schlagen, aus Freude, aus Schadenfreude, aus Rachsucht, und plotzlich 
fuhlte ich einen brennenden Hafi gegen den Jungen, eine vollkommene 
Gleichgiiltigkeit gegen den alten Fiirsten. Alle meine Gefiihle, meine 
Sehnsucht, meine Wiinsche, hatten auf einmal ein Ziel, ich riistete mich 
plotzlich aufs neue, ich vergaft, daft ich soeben eine Schmach erlitten 
hatte, oder vielmehr: Ich glaubte zu wissen, wer allein schuld war an 
meiner Schmach. Wenn - so dachte ich in jener Stunde - dieser Junge 
nicht ins Zimmer getreten ware, ich hatte den Fiirsten fur mich sicher- 
lich gewinnen konnen. Dieser Junge aber mufi einen Wink erhalten 
haben, er mufi gewuftt haben, wer ich bin, deshalb kam er so plotzlich 
hereingesturmt, der Fiirst ist alt und toricht geworden, dieser sein fal- 
scher Sohn umgarnt ihn tiickisch, dieser Franzose, Sohn einer wurde- 
losen Mutter. 

Es schien mir damals, wahrend ich solches tiberlegte, als wiirde mir 
immer wohler und leichter, das Feuer des Hasses erwarmte mein Herz. 
Ich glaubte endlich, den Sinn meines Lebens und sein Ziel erfaftt zu 
haben. Der tragische Sinn meines Lebens bestand darin, daft ich das 
ungluckliche Opfer eines tikkischen Jungen war. Das Ziel meines Le- 
bens bestand darin, daft ich von dieser Stunde an die Pflicht hatte, den 
tiickischen Jungen zu vernichten. Eine grofte, warme Dankbarkeit ge- 
gen Lakatos erfaftte mich und zwang mich, ihm stumm und fest die 
Hand zu driicken. Er lieft meine Hand nicht mehr los. So gingen wir, 
Hand in Hand, fast zwei Kindern ahnlich, dem nachsten Restaurant 
entgegen. Wir aften ausgiebig, mit kraftigem Appetit. Wir sprachen 
nicht viel. Lakatos zog einige Zeitungen aus der Rocktasche, es war 
wie ein Zauber, ich hatte diese Blatter bis jetzt gar nicht bemerkt. Als 
wir mit dem Essen fertig waren, rief er nach der Rechnung, schob sie 
mir zu, und immer noch in seine Zeitung vertieft, sagte er, ganz neben- 
bei: >Zahlen Sie bitte vorlaufig! Wir verrechnen dann!< 



}6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Ich griff in die Tasche, langte nach meiner Borse, offnete sie und sah, 
daft sie mit einigen Kupfermiinzen gefiillt war, statt des Silbergelds, 
das ich mitgenommen hatte. Ich suchte noch im mittleren Fach, erin- 
nerte mich genau an die zwei Zehn-Rubel-Stiicke, die darin gelegen 
hatten, kramte noch eine Weile, Angst befiel mich, der Schweifi trat 
mir auf die Stirn. Gestern nacht hatte man mich bestohlen, es war 
sicher. Lakatos begann indessen, die Zeitung zusammenzufalten. Nach 
einer Weile fragte er: >Gehen wir?<, sah mich an und schien zu er- 
schrecken. - >Was ist los?< sagte er. >Ich habe kein Geld mehr!< fliisterte 
ich. 

Er nahm mir die Borse aus der Hand, betrachtete sie und sagte endlich: 
>Ja, die Weiber!< 

Dann zog er Geld aus der Brieftasche, zahlte, nahm mich beim Arm 
und begann: >Das macht nichts, das macht bestimmt nichts, junger 
Mann! In Not geraten wir keineswegs, wir haben da einen Schatz in 
der Tasche. Dreihundert Rubel unter Briidern. Zu diesen Briidern 
wollen wir eben jetzt wandern! Dann aber, junger Mann, genug fur 
diesmal mit den Abenteuern! Fahren Sie sofort nach Haus!< 
Arm in Arm mit Lakatos ging ich nun zu den Briidern, von denen er 
gesprochen hatte. 

Wir gingen in das Viertel nahe am Hafen, wo in winzigen und halb 
verfallenen Hausern die armen Juden wohnen. Es sind, glaube ich, die 
armsten und, nebenbei gesagt, auch die kraftigsten Juden der Welt. 
Tagstiber arbeiten sie im Hafen, sie arbeiten wie Krane, sie schleppen 
Lasten auf die Schiffe und loschen die Ladungen, und die Schwacheren 
unter ihnen handeln mit Friichten, Kiirbiskernen, Taschenuhren, Klei- 
dern, reparieren Stiefel, flicken alte Hosen, nun, was eben alles arme 
Juden machen miissen. Ihren Sabbat aber feiern sie, vom Anbruch der 
Freitagnacht an, - und Lakatos sagte: >Gehen wir etwas schneller, denn 
heute ist Freitag, und die Juden horen bald auf, Geschafte zu machen. < 
Wahrend ich so an Lakatos" Seite dahinging, erfaftte mich eine grofte 
Angst, und es war mir, als gehorte mir die Tabaksdose gar nicht, die 
ich nun versetzen ging: als hatte sie mir Krapotkin gar nicht geschenkt, 
sondern als hatte ich sie gestohlen. Aber ich unterdruckte meine Angst 
und machte sogar ein heiteres Gesicht und tat so, als hatte ich bereits 
vergessen, daft man mir das Geld gestohlen hatte, und ich lachte iiber 
jede Anekdote, die Lakatos erzahlte, obwohl ich diese Anekdoten gar 
nicht horte. Ich wartete nur immer darauf, daft er kichere, dann merkte 



BEICHTE EINES MORDERS 37 

ich, daft seine Geschichte zu Ende war, und hierauf lachte ich laut und 
verlegen. Ich ahnte nur von ungefahr, daft die Geschichten bald von 
Frauen, bald von Juden, bald von Ukrainern handelten. 
Wir hielten endlich vor der schiefen Hiitte eines Uhrmachers. Er hatte 
kein Schild, man sah nur an den Radern, Radchen, Zeigern und Ziffer- 
blattern, die im Fenster lagen, daft der Bewohner der Hutte ein Uhr- 
macher war. Es war ein winziger, diirrer Jude mit einem schutteren, 
strohgelben Ziegenbartchen. Als er sich erhob, um uns entgegenzutre- 
ten, bemerkte ich, daft er hinkte, es war ebenfalls ein tanzelndes Hin- 
ken, fast wie das meines Freundes Lakatos, nur nicht ein solch feines 
und vornehmes. Der Jude glich einem traurigen, etwas erschopften 
Bocklein. In seinen kleinen schwarzen Auglein glomm ein rotliches 
Feuerchen. Er hielt die Tabaksdose in seiner mageren Hand, wog sie 
ein wenig und sagte: >Aha, Krapotkin!< und priifte mich dabei mit 
einem flinken Blick, und es war, als woge er mich mit seinen kleinen 
Auglein, wie er eben die Dose auf seinem mageren Handchen gewogen 
hatte. Auf einmal schien es mir, daft der Uhrmacher und Lakatos B ai- 
der seien, obwohl beide Sie zueinander sagten. 
>Also, wieviel?< fragte Lakatos. 
>Wie gewohnlicht< sagte der Jude. 
>Dreihundert?< 
>Zweihundert!< 
>Zweihundertachtzig?< 
>Zweihundert!< 

>Gehn wir!< sagte Lakatos und nahm dem Uhrmacher die Dose aus der 
ausgestreckten Hand. 

Wir gingen ein paar Hauser weiter, da war wieder ein Uhrmacherfen- 
ster wie vorher, und siehe da, als wir eintraten, erhob sich der gleiche 
magere Jude mit gelblichem Bartchen, blieb aber hinter seinem Pult, so 
daft ich nicht sehen konnte, ob auch er hinke. Als ihm Lakatos meine 
Dose zeigte, sagte auch dieser zweite Uhrmacher nur das Wort: >Kra- 
potkin!< - >Wieviel?< fragte Lakatos. - >Zweihundertfunfzig!< sagte der 
Uhrmacher. >Bitte!< sagte Lakatos. Und der Jude zahlte uns das Geld 
aus, in goldenen Zehn- und Fiinf-Rubel-Stiicken. 
Wir verlieften das Viertel. >So, mein Junge!< begann Lakatos. >Jetzt 
nehmen wir einen Wagen und fahren zur Bahn. Sei klug, laft dich nicht 
mehr auf dumme Sachen ein, und behalte dein Geld. Schreib mir gele- 
gentlich, nach Budapest, hier ist meine Adresse.< Und er gab mir seine 



38 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Visitkarte, auf der stand in lateinischen sowie auch in zyrillischen 
Buchstaben: 



JENO LAKATOS 

Hopfenkommissionar 
Firma Heidegger und Cohnstamm, saaz 

Adresse: Budapest, Rakocziutca, 31. 

Es krankte mich tief, dafi er zu mir du sagte, so plotzlich, und deshalb 
sagte ich: >Ich bin Ihnen viel Dank schuldig, aber auch Geld.< 
>Dank nicht!< erwiderte en 
>Also, wieviel?< fragte ich. 

>Zehn Rubel!< sagte er, und ich gab ihm ein goldenes Zehn-Rubel- 
Snick. 

Hierauf winkte er einem Wagen. Wir stiegen ein. Wir fuhren zum 
Bahnhof. 

Wir hatten nicht mehr viel Zeit, der Zug ging in zehn Minuten, man 
hatte schon zum erstenmal gelautet. 

Ich wollte gerade auf das Trittbrett steigen, als plotzlich zwei auffal- 
lend grofte Manner auftauchten, je einer rechts und links von meinem 
Freunde Lakatos. Sie winkten mir, ich stieg aus. Sie nahmen uns in die 
Mitte und fuhrten uns, gewaltig und finster, wieder hinaus vor den 
Bahnhof. Wir alle vier sprachen kein Wort. Wir gingen um das ganze 
grofie Bahnhofsgebaude herum und dann ruckwarts, wo man das Tu- 
ten der rangierenden Lokomotiven vernahm, zu einer kleinen Tur hin- 
ein. Es war das Polizeibiiro. Zwei Polizisten standen an der Tur. Ein 
Beamter safi am Tisch und beschaftigte sich damit, die zahllosen Flie- 
gen zu fangen* die mit einem lauten, unaufhorlichen, durchdringenden 
Gesumm im Zimmer umherflogen und sich auf die weiften Blatter 
setzten, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Sooft er eine 
Fliege gefangen hatte, nahm er sie zwischen Daumen und Zeigefinger 
der Linken und zupfte ihr einen Fliigel aus. Dann tauchte er sie in das 
grofte, weite Tintenfafi aus weifiem, tintenbeflecktem Porzellan. So 
lieft er uns etwa eine Viertelstunde herumstehn, Lakatos, mich und die 
beiden Manner, die uns hierhergebracht hatten. Es war heifi und still. 
Man horte nur die Lokomotiven, den Gesang der Fliegen und den 
schweren, gleichsam schnarchenden Atem der Polizisten. 



BEICHTE EINES MORDERS 39 

Schliefilich winkte mich der Beamte heran. Er tauchte die Feder in das 

Tintenfaft, in dem so viele Fliegenleichen herumschwammen, fragte 

mich nach Namen und Herkunft und Ziel und Zweck meines Aufent- 

halts in Odessa, und nachdem ich alles gesagt hatte, iehnte er sich zu- 

riick, strich seinen schonen, semmelblonden Bart und beugte sich plotz- 

lich wieder vor iiber den Tisch und fragte: >Wieviel Tabaksdosen haben 

Sie eigentlich gestohlen?< 

Ich verstand seine Frage nicht und blieb stumm. 

Er zog die Schublade auf, winkte mir, an seine Seite zu treten, ich ging 

um den Tisch herum an die offene Lade und sah, daft sie ausgefullt war 

mit lauter Tabaksdosen von jener Art, wie ich sie vom Fiirsten bekom- 

men hatte. Ich blieb erschrocken vor dieser Lade stehn, ich begriff gar 

nichts mehr. Es war mir, als sei ich verzaubert worden, ich zog das Billet 

aus meiner Tasche, das ich vor einer halben Stunde gelost hatte, und 

zeigte es dem Beamten, es war lacherlich, so etwas zu tun, ich flihlte es 

sogleich, aber ich war eben ratios, verworren und glaubte wie jeder 

Verworrene, unbedingt etwas Sinnloses tun zu miissen. >Wieviel von 

diesen Dosen haben Sie genommen?< fragte der Beamte noch einmal. 

>Eine<, sagte ich. >Die hat mir der Fiirst gegeben! Dieser Herr weift es< - 

ich zeigte auf Lakatos. Er nickte. Aber in diesem Augenblick sagte der 

Beamte: >Hinaus!< - und Lakatos wurde hinausgefiihrt. 

Ich blieb nun allein mit dem Beamten und einem Polizisten an der Tiir. 

Der aber schien kein lebendiger Mensch, eher ein Pfosten oder etwas 

ahnliches. 

Der Beamte tauchte die Feder wieder ins Tintenfaft, angelte eine tote, 

tropfende Fliege heraus, und es war, als blutete die Fliege Tinte, be- 

trachtete sie und sagte leise: 

>Sie sind der Sohn des Fiirsten?< 

>Ja!< 

>Sie wollten ihn umbringen?< 

>Umbringen?< rief ich. 

>Ja?< fragte der Beamte, ganz leise und lachelnd. 

>Nein! Nein!< schrie ich, >ich liebe ihn!< 

>Sie konnen gehn!< sagte der Beamte zu mir. Ich naherte mich der Tiir. 

Da ergriff mich der Polizist am Arm. Er fiihrte mich hinaus: Da stand 

ein Polizeiwagen mit vergittertem Fenster. Die Wagentiir ging auf. 

Drinnen safi ein Polizist, der zog mich in den Wagen. Wir fuhren ins 

Gefangnis.« 



40 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Hier machte Golubtschik eine lange Pause. Sein Schnurrbart, dessen 
unterer Rand feucht war vom Schnaps, den der Erzahler immer wieder 
in grofien Ziigen trank, zitterte ein wenig. Die Gesichter aller Zuhorer 
waren bleich und unbewegt und, wie mir schien, gleichsam reicher 
geworden an Runzeln und Falten, als hatte jeder der Anwesenden in- 
nerhalb der Stunde, die seit dem Anfang der Erzahlung vergangen sein 
mochte, aufier seiner eigenen Jugend auch noch die Semjon Golub- 
tschiks erlebt. Auf uns alien lastete nunmehr nicht mehr nur unser 
eigenes Leben, sondern auch jener Teil des Golubtschikschen Lebens, 
den wir soeben kennengelernt hatten. Und nicht ohne Schrecken er- 
wartete ich den aller Voraussicht nach furchtbaren Rest dieses Lebens, 
das ich gewissermafien eher zu iiberstehen als anzuhoren haben sollte. 
Durch die geschlossene Tiir horte man jetzt das dumpfe Poltern der 
ersten Gemiisewagen, die zum Markt fuhren, und manchmal den weh- 
miitigen, langgezogenen Pfiff ferner Lokomotiven. 
»Es war nur ein gewohnlicher Polizeiarrest«, begann Golubtschik wie- 
der, »nichts Fiirchterliches. Es war immerhin ein ziemlich bequemes 
Zimmer, mit bneiten Gittern vor dem hohen Fenster, die nichts Dro- 
hendes hatten, etwa so wenig Drohendes wie Gitter vor den Fenstern 
mancher Wohnungen. Es gab auch einen Tisch, einen Stuhl und zwei 
Feldbetten. Aber furchterlich war die Tatsache, dafi, als ich das Arrest- 
zimmer betrat, mein Freund Lakatos sich von einem der Betten erhob, 
um mich zu begrtifien. Ja, er gab mir die Hand genauso frohlich und 
unbefangen, als hatten wir uns zum Beispiel im Restaurant getroffen. 
Ich aber (ibersah seine ausgestreckte Hand. Er seufzte bekummert und 
gekrankt und legte sich wieder hin. Ich setzte mich auf den Stuhl. Ich 
wollte weinen, den Kopf auf den Tisch legen und weinen, aber ich 
schamte mich vor Lakatos, und noch starker als meine Scham war 
meine Furcht, er konnte mich trosten wollen. So saE ich denn, mit 
einer Art versteinerten Weinens in der Brust, stumm auf dem Sessel 
und zahlte die Gitter am Fenster. 

>Seien Sie nicht verzweifelt, junger Herr!< sagte Lakatos nach einer 
Weile. Er stand auf und trat an den Tisch. >Ich habe alles erfahren!< - 
Gegen meinen Willen hob ich den Kopf, bereute es aber sofort. >Ich 
habe meine Beziehungen, auch hier schon. In zwei Stunden spatestens 
sind Sie frei. Und wissen Sie, wem wir dieses Pech zu verdanken ha- 
ben? Raten Sie bitte!< 
>Sagen Sie's doch!< schrie ich. >Qualen Sie mich doch nicht! < 



BEICHTE EINES MORDERS 41 

>Nun, Ihrem Herrn B ruder, oder vielmehr dem Sohn des Graf en P., 
Sie verstehen?< 

Oh, ich verstand, und ich verstand doch nicht Aber der Haft, meine 
Freunde, der Haft gegen den jungen Mann, den Bastard, den falschen 
Sohn meines leiblichen, meines fiirstlichen Vaters, ubernahm gleich- 
sam die Rolle der Vernunft, wie es oft geschieht, und weil ich haftte, 
glaubte ich, auch zu erkennen. In einem Nu, so schien es mir, durch- 
schaute ich ein furchterliches Komplott, das man gegen mich gespon- 
nen hatte. Und zum erstenmal erwachte in mir die Rachsucht, die 
Zwillingsschwester des Hasses, und schneller noch, als der Donner 
dem Blitz zu folgen pflegt, faftte ich den Entschluft, mich einmal be- 
stimmt an dem Jungen zu rachen. Wie - das wuftte ich nicht, aber ich 
fuhlte schon, daft Lakatos der Mann war, mir den Weg zu zeigen, und 
also wurde er mir im gleichen Augenblick sogar angenehm. 
Selbstverstandlich wuftte er, was alles in mir vorging. Er lachelte, ich 
erkannte an seinem Lacheln, daft er alles wuftte. Er beugte sich iiber 
den Tisch so nahe zu mir heruber, daft ich nichts mehr sah als seine 
blitzenden Zahne und dahinter den rotlichen Schimmer seines Gau- 
mens und von Zeit zu Zeit seine rosa Zungenspitze, die mich an die 
Zunge unserer Katze daheim erinnerte. Er wuftte in der Tat alles. Die 
Sache verhielt sich so: Dosen zu schenken, alle von der gleichen, au- 
fterst kostspieligen Art, war eine der vielen Marotten des alten Fiirsten. 
Er lieft sie eigens fur sich herstellen, bei einem Juwelier in Venedig, 
nach dem alten Muster einer Dose, die er, der Fiirst, selbst einmal bei 
einer Versteigerung erstanden hatte. Diese Tabaksdosen, aus schwe- 
rem Gold, mit elfenbeinerner Einlage und mit Smaragdsplittern um- 
kranzt, liebte der Fiirst seinen Gasten zu geben, und er hatte auch 
immer unzahlige dieser Dosen bereit. Nun, es war einfach. Der junge 
Mann, den er fur seinen Sohn hielt, brauchte Geld, stahl die Dosen, 
verkaufte sie von Zeit zu Zeit, und im Laufe der Jahre hatte die Polizei 
bei jeder Untersuchung, die sie bei den Handlern vorzunehmen 
pflegte, eine machtige Anzahl Dosen gesammelt. Alle Welt wuftte, wo- 
her diese Schatze kamen. Auch der Verwalter des Fiirsten, auch seine 
Lakaien wuftten es. Aber wer hatte gewagt, es ihm zu sagen? - Wie 
leicht war es dagegen, einem so bedeutungslosen Jungen wie mir einen 
Diebstahl, ja einen Einbruch sogar zuzumuten; denn was war unser- 
eins im alten Ruftland, meine Freunde? Ein Insekt, eine jener Fliegen, 
die der Beamte in seinem Tintenfaft ersauft, ein Nichts, ein Staubkorn- 



42 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

chen unter der Stiefelsohle eines grofien Herrn. Und dennoch, meine 
Freunde, lafit mich eine Weile abschweifen, verzeiht es mir, dafi ich 
euch aufhalte: Ich wollte heme, wir waren noch die alten Staubkorn- 
chen! Wir waren nicht von Gesetzen, sondern von Launen abhangig. 
Aber diese Launen waren fast eher berechenbar als die Gesetze, Und 
auch noch Gesetze sind von Launen abhangig. Man kann sie namlich 
auslegen. Ja, meine Freunde, die Gesetze schutzen vor der Willkiir 
nicht, denn die Gesetze werden nach Willkiir ausgelegt. Die Launen 
eines kleinen Richters kenne ich nicht. Sie sind schlimmer als gewohn- 
liche Launen. Sie sind einfach miserable Gehassigkeken. Die Launen 
eines grofien Herrn aber kenne ich. Sie sind sogar zuverlassiger als 
Gesetze. Ein grower, ein echter Herr, der strafen kann und Gnade 
iiben, ist durch ein einziges Wort bose zu machen, aber manchmal 
auch durch ein einziges Wort wieder gut. Und wie viele grofie Herren 
hat es schon gegeben, die gar niemals bose geworden waren. Ihre Lau- 
nen waren immer giitige Launen. Die Gesetze aber, meine Feunde, 
sind fast immer bose. Es gibt beinahe kein Gesetz, von dem man sagen 
konnte, es sei etwa gutig, es gibt auf Erden nicht einmal eine absolute 
Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, meine Freunde, gibt es nur in der 
Holle! . . . 

Um also wieder auf meine Geschichte zuruckzukommen: Damals 
wollte ich noch die Holle auf Erden, das heifit, ich dtirstete nach Ge- 
rechtigkeit. Und wer die absolute Gerechtigkeit will, der ist der Rach- 
sucht verfallen. So war ich damals. Ich war Lakatos dankbar, daft er 
mir die Augen geoffnet hatte. Und ich zwang mich, Vertrauen zu ihm 
zu haben, und fragte ihn: >Was soil ich tun?< 

>Sagen Sie mir zuerst, unter uns<, begann er, >haben Sie wirklich nichts 
anderes vorgehabt, als dem Fiirsten zu sagen, daft Sie sein Sohn sind? - 
Mir konnen Sie es ja sagen, niemand hort uns. Wir sind jetzt Leidens- 
gefahrten. Vertrauen gegen Vertrauen. Wer hat Sie zum Fiirsten ge- 
schickt? Gibt es in Ihrer Klasse einen Vertrauensmann der - nun, Sie 
wissen schon: der sogenannten Revolutionare?< 

>Ich verstehe Sie nicht<, sagte ich. >Ich bin kein Revolutionar. Ich will 
einfach mein Recht! Mein Recht!< schrie ich. 

Erst spater sollte ich begreifen, was fur eine Rolle dieser Lakatos 
spielte. Spater erst, als ich selbst fast ein Lakatos geworden war. Da- 
mals aber begriff ich es nicht. Er aber verstand wohl, dafi ich ehrlich 
gesprochen hatte. Er sagte nur: >Nun, dann ist alles gut!< Und er 



BEICHTE EINES MORDERS 43 

mochte sich dabei gedacht haben: Jetzt habe ich mich wieder geirrt. 
Eine schone Summe ist mir da entgangen. 

Eine Weile spater ging die Tiir auf, der Beamte kam, der die Fliegen 
ertrankt hatte, ihm folgte ein Herr in Zivil. Ich erhob mich. Der Be- 
amte sagte: >Ich lasse Sie allein< und ging. Nach ihm ging Lakatos, ohne 
mich anzusehen. Der Herr sagte mir, ich solle mich setzen, er hatte mir 
einen Vorschlag zu machen. Er wisse alles - so begann er. Der Fiirst 
habe eine hohe Stellung und eine grofie Bedeutung. Von ihm hange das 
Wohl Rufilands ab, des Zaren, der Welt, konnte man sagen. Deshalb 
diirfte er niemals gestort werden. Ich sei mit lacherlichen Anspruchen 
gekommen. Die gutige Nachsicht des Fiirsten ailein hatte mich vor 
schwerer Strafe gerettet. Ich sei jung. Also konne mir verziehen wer- 
den, Ailein der Fiirst, der bis jetzt aus Laune den Sohn eines seiner 
Forster erhalten habe und selbst habe studieren lassen, wiinsche nicht 
mehr, an Unwiirdige oder Leichtfertige oder Uniiberlegte - oder wie 
immer ich mich bezeichnen moge - Gnaden zu verschwenden. Infol- 
gedessen sei beschlossen worden, daft ich irgendeinen meiner beschei- 
denen Abkunft entsprechenden Posten einnehmen solle. Ich konnte 
entweder Forster werden wie mein Vater, Gutsverwalter vielleicht ein- 
mal, mit der Zeit, auf einem der Gtiter des Fiirsten, oder auch in den 
Staatsdienst treten, zur Post, zur Eisenbahn gehn, als Schreiber irgend- 
wohin, zu einem Gouvernement sogar, Lauter gutbezahlte und fur 
mich passende Posten. 
Ich antwortete nicht. 

>Hier, unterschreiben Sie!< sagte der Herr und entfaltete vor mir ein 
Papier, auf dem stand, daft ich keinerlei Anspriiche an den Fiirsten zu 
stellen hatte und mich verpflichtete, nie mehr eine Begegnung mit ihm 
zu versuchen. 

Nun, meine Freunde, ich kann meinen Zustand nicht genau beschrei- 
ben. Als ich das Papier las, war ich beschamt, gedemiitigt, aber auch 
hochmutig zugleich, furchtsam und rachsuchtig, durstig nach der Frei- 
heit, aber zugleich auch bereit, Qualen zu erleiden, ein Kreuz auf mich 
zu nehmen, vom Wunsch nach Macht erfiillt und gleichzeitig von dem 
siiften, verfiihrerischen Gefiihl, dafi auch die Ohnmacht eine Seligkeit 
sei sondergleichen. Ich wollte aber Macht haben, um eines Tages alien 
Schimpf rachen zu konnen, den man mir jetzt antat, und zugleich 
wollte ich die Kraft haben, diesen Schimpf ertragen zu konnen. Ich 
wollte, kurz gesagt, nicht nur ein Richer, sondern auch gleichzeitig ein 



44 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Marty rer sein. - Aber noch war ich keins von beiden, das fiihlte ich 
wohl, und der Herr wufite es sicherlich ebenfalls. Er sagte mir, grob 
diesmal: >Also schnell, entscheiden Sie sich!< Und ich unterschrieb. 
>So<, sagte er und steckte das Papier ein. >Was wiinschen Sie nun?< 
Wollte Gott, ich hatte damals gesagt, was mir auf der Zunge lag, nam- 
lich das einfache Wort: Nach Hause! Zur Mutter! Aber in diesem Au- 
genblick ging die Tiir auf, ein Polizeioffizier trat ein, ein eleganter 
Stutzer, mit weifien Handschuhen, mit blitzendem Sabel und blankge- 
putzter, lederner Pistolentasche und einem blanken, blaublitzenden 
Blick aus Eis und Hochniut. Und nur seinetwegen und ohne den 
Herrn anzusehn, sagte ich plotzlich: >Ich will zur Polizei!< 
Dieses unbedachte Wort, meine lieben Freunde, hat mein Schicksal 
entschieden. Erst viel spater habe ich gelernt, dafi Worte machtiger 
sind als Handlungen - und ich lache oft, wenn ich die beliebte Phrase 
hore: >Keine Worte, sondern Taten!< Wie schwach sind die Taten! Ein 
Wort besteht, eine Tat vergeht! Eine Tat vollbringt auch ein Hund, ein 
Wort aber spricht nur ein Mensch. Die Tat, die Handlung ist nur ein 
Phantom, verglichen mit der Wirklichkeit und gar mit der ubersinnli- 
chen Wirklichkeit des Wortes. Die Handlung verhalt sich zum Wort 
ungefahr wie der zweidimensionale Schatten im Kino zum dreidimen- 
sionalen lebendigen Menschen oder, wenn ihr wollt, wie die Photogra- 
phic zum Original. Deshalb auch bin ich ein Morder geworden. Aber 
das kommt spater. 

Vorlaufig geschah folgendes: Ich unterschrieb noch ein Papier im Zim- 
mer eines Beamten, den ich bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Was 
darin stand, weifi ich nicht mehr genau. Der Beamte, ein alter Herr mit 
einem so wiirdigen, so langen, so silbernen Bart, daft sein Angesicht 
dariiber winzig erschien und unbedeutend, als wiichse es aus diesem 
Bart empor, und nicht, als ware aus ihm der Bart gesprossen, gab mir 
eine weiche, gutgepolsterte, gleichsam mit fetter Tucke gepolsterte 
Hand und sagte: >Ich hoffe, Sie werden sich bei uns einleben und hei- 
misch fiihlen! Sie fahren nach Nischnij Nowgorod. Hier haben Sie die 
Adresse des Herrn, bei dem Sie sich melden. Leben Sie wohl!< 
Und als ich schon an der Tiir war, rief er: >Halt, junger Mann!< Ich 
kehrte zuriick an den Schreibtisch. >Merken Sie sich das, junger Mann!< 
sagte er, beinahe schon grollend. >Schweigen, Horchen, Schweigen, 
Horchen!< Er legte den Finger an seine bartuberwucherten Lippen und 
winkte mit der Hand.- 



BEICHTE EINES MORDERS 45 

Ich war somit bei der Polizei, bei der Ochrana, meine Freunde! Ich 
begann, Racheplane zu Schmieden. Ich hatte Macht. Ich hatte Haft. Ich 
war ein guter Agent. Nach Lakatos wagte ich nicht mehr zu fragen. Er 
wird noch oft in meiner Geschichte vorkommen. Erspart mir inzwi- 
schen die Einzelheiten, die ich jetzt zu erzahlen hatte. Es gibt noch 
Widerliches genug in meinem weiteren Leben. 

Erlaftt mir, meine Freunde, die genauen Berichte iiber die gemeinen - 
ja, man kann, man soil sagen: gemeinen Taten, die ich im Verlauf der 
folgenden Jahre begangen habe. Ihr wiftt alle, meine Bruder, was die 
Ochrana gewesen ist. Vielleicht hat sie sogar jemand unter euch am 
eigenen Leibe gespiirt. Auf keinen Fall habe ich es notig, sie genau zu 
beschreiben. Ihr wifk jetzt, was ich gewesen bin. Und wenn es euch 
nicht paftt, so sagt es mir bitte gleich, ich verlasse euch. Hat jemand 
etwas gegen mich? Ich bitte, es zu sagen, meine Herren! Nur glattweg 
zu sagen! Und ich gehe!« 

Aber wir alle schwiegen. Nur der Wirt sagte: »Semjon Semjonowitsch, 
da du einmal angefangen hast, deine Geschichte zu erzahlen, und da 
wir schlieftlich alle, so, wie wir hier sitzen, irgend etwas auf dem Ge- 
wissen haben, bitte ich dich, im Namen unser aller, fortzufahren.« Go- 
lubtschik tat noch einen Schluck und erzahlte weiter: 
»Ich war nicht dumm, trotz meiner Jugend, und also war ich gar bald 
gut angeschrieben bei meinen Vorgesetzten. Zuerst - ich habe verges- 
sen, es zu erzahlen - schrieb ich einen Brief an meine Mutter. Ich sagte 
ihr, daft mich der Furst gut aufgenommen habe und daft er sie herzlich 
griiften lasse. Er habe mir - so schrieb ich weiter - einen groftartigen 
Staatsposten verschafft, und von nun ab wurde ich ihr monatlich zehn 
Rubel schicken. Fur dieses Geld brauche sie sich aber beim Fiirsten 
nicht zu bedanken. 

Als ich diesen Brief schrieb, meine Freunde, wuftte ich schon, daft ich 
meine Mutter niemals mehr sehen wiirde, und ich war auch, so merk- 
wiirdig es scheinen mag, sehr traurig dariiber. Aber etwas anderes, 
Starkeres - so schien es mir damals - rief mich, Starkeres als die Liebe 
zur Mutter, namlich der Haft gegen meinen falschen Bruder. Der Haft 
war so laut wie eine Trompete, und die Liebe zur Mutter war so leise 
und zart wie eine Harfe. Ihr versteht, meine Freunde! . . . 
Ich wurde also, so jung ich auch war, ein groftartiger Agent. Ich kann 
euch nicht alle Gemeinheiten erzahlen, die ich im Laufe jener Zeit be- 



46 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

gangen habe. Aber der und jener unter euch erinnert sich vielleicht 
noch an die Geschichte von dem jiidischen Sozialrevolutionar Salomon 
Komrower, genannt: Komorow - und dies war eine der schmutzigsten 
Taten meines Lebens. 

Dieser Salomon Abramowitsch Komrower war ein zarter Jungling aus 
Charkow, die Politik hatte ihn niemals beschaftigt, er lernte, wie es bei 
Juden gehorig ist, fleiftig Talmud und Thora und wollte so eine Art 
Rabbiner werden. Seine Schwester aber war eine Studentin, sie stu- 
dierte Philosophic in Petersburg, sie verkehrte bei den Sozialrevolutio- 
naren, sie wollte, wie es damals Mode war, das Volk befreien — und 
sie wurde eines Tages verhaftet. Salomon Komrower, ihr B ruder also, 
hat nichts Eiligeres zu tun, als sich bei der Polizei zu melden und anzu- 
geben, er sei schuld, und er allein, an den gefahrlichen Umtrieben sei- 
ner Schwester. Gut! Man verhaftet auch ihn. Man setzt mich in der 
Nacht in seine Zelle. Es war in einem Kiewer Gefangnis, ich erinnere 
mich noch genau an die Stunde - es war knapp vor Mitternacht. Als ich 
eintrat, das heiftt: hineingestofien wurde, ging Salomon Komrower auf 
und ab, auf und ab, er schien mich gar nicht zu bemerken. >Guten 
Abend!< sagte ich, und er antwortete mir nicht. Ich spielte, wie es 
meine Pflicht war, einen alten Verbrecher und legte mich seufzend auf 
die Pritsche. Nach einer Weile horte auch Komrower auf zu wandern. 
Er setzte sich ebenfalls auf seine Pritsche; ich war derlei gewohnt. 
>Politisch?< fragte ich, wie gewohnlich. >Ja!< sagte er. >Wieso?< fragte 
ich weiter. Nun, er war dumm und jung, er erzahlte seine ganze Ge- 
schichte. Ich aber, der ich immer an meinen falschen Bruder, den jun- 
gen Fiirsten Krapotkin, dachte und an meine Rache, iiberlegte mir, ob 
hier nicht endlich eine Gelegenheit gegeben ware, meinen stetig heiften 
Haft zu kiihlen. Und ich begann, dem jungen, ahnungslosen Komro- 
wer einzureden, daft ich einen Ausweg fur ihn und fur seine Schwester 
wtifite: namlich den, den jungen Fiirsten als den Freund seiner Schwe- 
ster anzugeben, und, so sagte ich dem ahnungslosen Juden, wenn ein- 
mal ein Name wie der Krapotkins mit im Spiel ware, sei gar nichts 
mehr zu befurchten. 

In der Tat, ich wuftte damals keineswegs, daft der junge Fiirst tatsach- 
lich revolutionare Kreise aufsuchte und daft er seit langem schon von 
meinen Kollegen genau uberwacht worden war. Meine Gehassigkeit 
und meine Rachsucht hatten also gewissermaften Gliick, kann man sa- 
gen. Denn siehe da: Am nachsten Tag, nachdem man den Juden Kom- 



BEICHTE EINES MORDERS 47 

rower vernommen hatte, kehrte er in Begleitung eines sehr noblen jun- 
gen Marines in Ingenieur-Uniform in die Zelle zuriick. Er war, sozusa- 
gen, mein Bruder: der junge Fiirst Krapotkin. 

Ich begriifite ihn, er erkannte mich natiirlich nicht. Ich begann, mich 
mit gehassigem Eifer urn ihn zu kummern; der Jude Komrower, der 
dort in der Ecke auf seiner Pritsche lag, bedeutete mir gar nichts mehr. 
Und wie es einst Lakatos mit mir gemacht hatte, begann ich, eins urns 
andere, Verrat urn Verrat aus dem jungen Fursten herauszulocken, nur 
mit mehr Erfolg, als es damals Lakatos vergonnt gewesen war. Ja, ich 
erlaubte mir, den jungen Fursten zu fragen, ob er sich noch an die 
Tabaksdosen erinnere, die sein Vater zu verschenken die Gewohnheit 
gehabt habe: Da wurde der Junge zum erstenmal rot, man sah es sogar 
im Halbdunkel der Zelle. So ist es namlich: Der Mann, der vielleicht 
versucht hatte, den Zaren zu stiirzen, wurde rot, als ich ihn an einen 
seiner Knabenstreiche erinnerte. Von nun an gab er mir bereitwillig 
Auskunft. Ich erfuhr, dafi er, just infolge jener torichten Tabaksdosen- 
geschichte, die eines Tages aufgekommen war, sich verpflichtet gefuhlt 
hatte, eine gehassige Stellung gegen die menschliche Ordnung iiber- 
haupt einzunehmen. Er hatte also, wie so viele junge Menschen seiner 
Zeit, die Tatsache, dafi man sein vulgares Verbrechen entdeckt hatte, 
zum Anlaft genommen, ein sogenannter Revolutionar zu werden und 
die Gesellschaft anzuklagen. Er war immer noch hubsch, und wenn er 
sprach und gar wenn er mit seinen blanken Zahnen lachelte, erhellte 
sich gleichsam die Zelle, in der wir safkn. Von tadellosem Schnitt war 
seine Uniform. Von tadellosem Schnitt war sein Angesicht, war sein 
Mund, waren seine Zahne, waren seine Augen. Ich halke ihn. 
Er verriet mir alles, alles, meine Freunde! Es hat keine Bedeutung 
mehr, ich will euch mit Einzelheiten nicht langweilen. Aber es half mir 
nichts, da£ ich alles mitteilte. Nicht der junge Fiirst Krapotkin wurde 
bestraft, sondern der vollig schuldiose Jude Komrower. 
Ich sah noch, wie sie ihm die Kugel und die Kette um das linke Bein 
schmiedeten. Er ging nach Sibirien. Der junge Fiirst aber verschwand 
eines Tages, schneller, als er gekommen war. 

Alle Gestandnisse, die mir der Fiirst gemacht hatte, schrieb man dem 
jungen Komrower zu. 
So war damals die Praxis, meine Freunde! 

Ich war die letzte Nacht mit ihm in der Zelle. Er weinte ein biftchen, 
gab mir dann ein paar Zettel, an seine Eltern, an Freunde und Ver- 



48 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wandte, und sagte: >Gott ist uberall. Ich habe keine Angst! Ich habe 

auch keinen Haft! Gegen niemanden! Sie waren mein Freund und ein 

Freund in der Not! Ich danke Ihnen!< 

Er umarmte und kiifite mich. Heute noch brennt sem Kuft auf meinem 

Angesicht.« 

Bei diesen Worten beriihrte Golubtschik mit dem Finger seine rechte 

Backe. 

»Einige Zeit spater wurde ich nach Petersburg versetzt. Ihr wiftt nicht, 
was fur eine Bedeutung solch eine Versetzung hatte. Man war unmit- 
telbar dem gewaltigsten Mann Rufilands, dem Oberbefehlshaber der 
Ochrana unterstellt. Von ihm hing das Leben des Zaren selbst ab. 
Mein Vorgesetzter war kein geringerer als der Graf W,, ein Pole, heute 
noch traue ich mich nicht, seinen Namen auszusprechen. Er war ein 
ungewdhnlicher Mensch. Alle, die wir in seine Dienste traten, muftten 
in seinem Zimmer vor ihm einen neuen Eid leisten. Ein machtiges sil- 
bernes Kruzifix ragte zwischen zwei gelben Wachskerzen vom 
schwarzen Schreibtisch empor. Schwarze Vorhange verhiillten die Tiir 
und die Fenster. Hinter dem Schreibtisch, auf einem unverhaltnisma- 
fiig hohen schwarzen Sessel, saft der Graf, ein kleines Mannchen, mit 
einem kahlen, von Sommersprossen iibersaten Schadel, mit fahlen, 
blassen Augen, die an getrocknete Vergiftmeinnicht-Blumen erinner- 
ten, mit diirren Ohren wie aus gelblicher Pappe, mit starken Backen- 
knochen und einem halboffenen Mund, der grofte gelbe Zahne sehen 
liefi. Dieser Mann kannte jeden einzelnen von uns Beamten der 
Ochrana genau, er iiberwachte jeden unserer Schritte, obwohl er nie- 
mals sein Buro zu verlassen schien. Er war uns alien unheimlich, und wir 
fiirchteten ihn mehr, als wir selbst gefiirchtet wurden im Lande. Wir 
schworen eine lange Eidesformel vor ihm, in seinem verzauberten Zim- 
mer, und bevor wir ihn verlieften, sagte er immer zu jedem von uns: 
>Also, achtgeben! Kind des Todes! - Ist dir dein Leben lieb?< - Darauf 
antwortete man: >Jawohl, Exzellenz!< - und man war entlassen. 
Eines Tages wurde ich zu seinem Sekretar gerufen, der mir mitteilte, 
daft meiner und noch mehrerer meiner Kameraden eine besondere 
Aufgabe harre. Der grofte Schneider aus Paris, der Herr Charron nam- 
lich - ich horte den Namen zum erstenmal-, sei nach Petersburg ein- 
geladen. Er wolle in einem der Petersburger Theater seine neuen 
Modelle vorfiihren. Einige Groftfiirsten interessierten sich fur die Mad- 



BEICHTE EINES MORDERS 49 

chen. Einige Damen aus der allerhochsten Gesellschaft interessierten 
sich fur die Kleider. Nun aber gelte es, so sagte der Sekretar, eine ganz 
besondere Art von Dienst einzurichten. Weift man vielleicht, wer sich 
unter den Madchen befindet, die jener Herr Charron mitbringen will? 
Konnen sie nicht Waff en, Bomben, unter ihren Kleidern verbergen? 
Und wie leicht hatten sie es! Sie kleiden sich natiirlich immer wieder 
urn, sie gehen von den Buhnen ab in ihre Loge, kommen wieder zu- 
riick, und ein Ungliick ist bald geschehen. Herr Charron hat fiinfzehn 
Madchen angekiindigt. Wir brauchen also fiinfzehn Mann. Vielleicht 
werden sogar die Gesetze der iiblichen Schamhaftigkeit dabei verletzt. 
Das miissen wir in Kauf nehmen. Ob ich dieses arrangieren und kom- 
mandieren wolle, fragte mich der Sekretar. 

Diese besondere, ihr gebt zu, ziemlich ungewohnliche Aufgabe, meine 
lieben Freunde, erfullte mich mit Freude. Ich sehe jetzt, dafi ich nicht 
umhinkann, mit euch von ganz vertraulichen Dingen zu sprechen. Ich 
mufi euch also gestehen, daft ich bis zu jener Stunde niemals wirklich 
verliebt gewesen war, wie es so bei jungen Mannern der Fall zu sein 
pflegt. Meine Beziehungen zu Frauen beschrankten sich darauf, daft 
ich, aufier jener Zigeunerin, die mir mein Freund Lakatos verschafft 
hatte, nur ein paarmal in den sogenannten Freudenhausern Madchen 
sozusagen besessen und bezahlt hatte. Obwohl ich von Beruf schon 
verpflichtet und auch geeignet war, die Welt zu kennen, war ich da- 
mals doch noch jung genug, um mir, lediglich bei der Vorstellung, ich 
wiirde sogenannte Modelle aus Paris zu iiberwachen haben, einzubil- 
den, ich sei auserwahlt, ganz exquisite Damen der groften Pariser Welt 
in ihrer prachtvollen Nacktheit zu bespahen, vielleicht auch, sie zu 
>besitzen<. Ich sagte sofort, ich sei bereit, und ging daran, mir meine 
vierzehn Mitarbeiter auszusuchen. Es waren die elegantesten und 
jiingsten Burschen unserer Sektion. 

Der Abend, an dem der Pariser Schneider mit seinen Modellen und 
unzahligen Koffern in Petersburg anlangte, brachte uns nicht wenig 
Pein. 

Wir waren also am Bahnhof, fiinfzehn im ganzen, und es schien damals 
dennoch jedem einzelnen von uns, als waren wir fiinf oder gar nur 
zwei. Unser allmachtiger Befehlshaber hatte uns den Auftrag gegeben, 
besonders scharf achtzugeben; und all dies lediglich wegen eines 
Schneiders. Wir mischten uns unter die vielen Leute, die ihre Angeho- 
rigen am Bahnhof erwarteten. In jener Stunde war ich iiberzeugt, daft 



50 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ich eine grofiartige und wichtige Aufgabe erfiillte. Ich hatte nichts 
weniger zu tun, als, wer weifi, vielleicht dem Zaren das Leben zu ret- 
ten. 

Als der Zug eintraf und der weltberuhmte Schneider ihm entstieg, sah 
ich sofort, daft sich unser allmachtiger Befehlshaber geirrt hatte. Dies 
war kein Mann, der im Verdacht stehen konnte, Attentate zu bege- 
hen. Er sah wohlgenahrt aus, eitel und harmlos, und zeigte sich heftig 
bemiiht, grofkes Aufsehn zu erregen. Kurz und gut: es war kein sub- 
versives Individuum<. Er war ziemlich grbfi gewachsen, aber infolge 
seiner seltsamen Kleidung schien er eher klein, sogar kurz zu sein. 
Denn seine Kleidungsstiicke flatterten rings um ihn, statt ihn zu be- 
decken, und sie pafiten ihm gar nicht, als hatte er sie von irgendeinem 
Freunde geschenkt bekommen. Er aber hatte sie sich selber ausge- 
dacht, und deshalb erschien er uns, jedenfalls mir, sozusagen doppelt 
verkleidet. Ich wunderte mich dariiber, dafi der Hof des Zaren einen 
solch verkleideten Schneider aus Paris nach Petersburg bestellt hatte; 
und damals begann ich audi, zum erstenmal, an der Sicherheit zu 
zweifeln, an der Sicherheit der Herren, der grofien Herren, zu deren 
Gesellschaft ich so gerne gehort hatte. Bis zu diesem Augenblick 
hatte ich geglaubt, die grofien Herrschaften konnten sich gar niemals 
irren und konnten niemals einen Komodianten nach Petersburg be- 
stellen, damit er ihren Damen die Moden diktiere, die man in Rut- 
land zu tragen habe. Aber nun sah ich es mit eigenen Augen. Der 
Schneider kam mit einem grofien Gefolge an, und nicht nur mit 
einem weiblichen, was ja zu erwarten gewesen ware. Nein! - er hatte 
auch ein paar junge Manner mitgebracht, junge, grolkrtige Manner 
aus Paris, lauter elegante Leute, ausgestattet mit seidenen Krawatten 
und flotten Bewegungen. Sie hiipften freudig und leichtsinnig von 
den Trittbrettern der Waggons, nicht unahnlich verkleideten Spatzen 
oder Zeisigen, und wenig hatte gefehlt, und sie hatten zu zwitschern 
angefangen. In der Tat erschien mir die larmende und frohliche Art, 
in der sie miteinander sofort, unmittelbar nach ihrer Ankunft, zu re- 
den anfingen wie eine sorglose und leichtfertige Unterhaltung zwi- 
schen menschenahnlichen Vogeln oder gewissermafien gefiederten 
Menschen. Sie warteten eine Weile vor den Trittbrettern, hielten die 
Arme ausgestreckt und empfingen die funfzehn Madchen, die nach 
ihnen auszusteigen begannen, zierlich und umstandlich und mit so 



BEICHTE EINES MORDERS 51 

angstlichen Gesichtern und Bewegungen, als hatten sie nicht auf einen 
Bahnsteig zu treten, sondern sich in einen fiirchterlichen Abgrund zu 
sturzen. 

Unter den aussteigenden Frauen gefiel mir eine besonders. Sie trug, 
wie alle Madchen, die der Schneider mitgebracht hatte, eine Nummer. 
Denn alle hatten an ihrer linken Brust eine Zahl, in roter Farbe auf 
blauem Grund gemalt, auf sauberen, viereckigen Seidenlatzchen. Aber 
es sah aus, als waren diese Ziffern eingebrannt, wie man Pferden oder 
Kiihen Zeichen einbrennt. Obwohl sie alle so munter waren, taten sie 
mir unendlich leid: Ich hatte Mitleid mit ihnen, besonders aber mit 
jener, die mir sofort, auf den ersten Blick, gefallen hatte. Sie trug die 
Nummer 9 und hieft, wie ich horte: Lutetia. Aber aus den Passen, die 
ich gleich darauf im Paftbiiro der Bahnhofspolizei durchsah, ergab 
sich, daft sie eigentlich Annette hieft, Annette Leclaire, und - ich weift 
nicht, warum - dieser Name riihrte mich besonders. 
Es ist bei dieser Gelegenheit vielleicht notig, euch ein zweitesmal zu 
versichern, daft ich vorher nie eine Frau wirklich geliebt hatte, das 
heiftt, daft ich die Frauen noch gar nicht kannte. Ich war jung und 
kraftig, und gleichgultig war mir keine; aber mein Herz war keines- 
wegs bereit, meinen Sinnen zu gehorchen. Und so stark meine Sehn- 
sucht auch war, fast alle zu >haben<, so stark war doch auch meine 
Uberzeugung, daft ich nicht imstande sein konnte, auch nur einer ein- 
zigen von ihnen anzugehoren. Und dennoch sehnte ich mich, wie es ja 
die Art der jungen Manner sein muft, nach der einzigen Frau, das 
heiftt, eigentlich nach einer einzigen, die meine Sehnsucht und mein 
Heimweh nach alien zu stillen imstande gewesen ware. Zugleich ahnte 
ich, daft es wahrscheinlich dergleichen Frauen nicht geben konnte, und 
ich erwartete, eben wie es die Art der jungen Manner ist, das soge- 
nannte Wunder. Dieses Wunder schien mir nun eingetroffen zu sein, 
in dem Augenblick, in dem ich Lutetia, die Nummer 9, erblickte. 
Wenn man, wie ich damals, ein junger Mensch voll von der Erwartung 
des Wunders ist, verfallt man allzuschneli dem Glauben, es sei bereits 
eingetroffen. 

Ich verliebte mich also, wie man so zu sagen pflegt, auf den ersten 
Blick in Lutetia. Gar bald schien es mir, sie triage ihre Nummer wie ein 
Schand- und Brandmal, und auf einmal erfiillte mich ein Haft gegen 
dies en exquisiten Schneider, der von den allerhochsten Herrschaften 
eingeladen worden war, seine unglucklichen Sklavinnen vorzufuhren. 



$2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Selbstverstandlich schien mir von all diesen ungliicklichen Sklavinnen 
das Madchen Lutetia mit der Nummer 9 die ungliicklichste zu sein. 
Und als ware der nichtswiirdige, aber keineswegs verbrecherische Mo- 
deschneider in der Tat .ein Sklavenhalter oder Madchenhandler gewe- 
sen, begann ich, iiber die Mittel nachzusinnen, mit denen es mir gelin- 
gen konnte, das Madchen 9 von ihm zu erretten. Ja, ich sah in dem 
Umstand, daft man mich dieses Schneiders wegen nach Petersburg ge- 
schickt hatte, einen besonderen >Wink des Schicksals<. Und ich war 
entschlossen, Lutetia zu retten. 

Ich habe vielleicht vorhin vergessen zu erzahlen, weshalb die Polizeibe- 
horde eines ungewohnlichen, aber immerhin unverdachtigen Schnei- 
ders wegen derartige Vorsichtsmaftregeln angeordnet hatte. Eine 
oder zwei Wochen vorher hatte man namlich auf den Gouverneur von 
Petersburg ein Attentat versucht. Miftlungene Attentate pflegten, wie 
ihr alle wissen werdet, in unserem alten Rutland eine viel schreck- 
lichere Wirkung auszuiiben als gelungene. Gelungene Attentate waren 
gewissermaften unwiderrufliche Gottesurteile. Denn, meine Freunde, 
man glaubte in jener Zeit noch an Gott, und man war sicher, daft nichts 
ohne seinen Willen geschehe. Aber, sozusagen, um dem Allmachtigen 
vorzugreifen, bevor er noch die Gelegenheit haben konnte, jemanden 
von den hohen Herrschaften umzubringen, traf man, wie man so zu 
sagen pflegt, sogenannte Vorsichtsmaftregeln. Es waren torichte, 
manchmal sogar unsinnige Vorsichtsmafiregeln. Man gab uns den Auf- 
trag, die armen, hubschen Madchen besonders scharf zu beobachten, 
in den Pausen, wahrend sie sich umzukleiden hatten, und auch in ih- 
rem privaten Leben tagsiiber im Hotel. Wir hatten den Auftrag, die 
Manner zu beaufsichtigen, mit denen die Madchen, aller Voraussicht 
nach, zu tun haben wiirden, und also waren wir in jenen Tagen eigent- 
lich keine Polizei mehr, sondern eine Art von Gouvernanten. Mich 
aber beschamte diese Aufgabe keineswegs, sie machte mich sogar hei- 
ter. Was alles hatte ich damals, in den ersten glucklichen Stunden mei- 
ner Liebe, nicht fur heiter angesehen? Mein Herz: Ich fuhlte, daft ich 
es bis jetzt verleugnet hatte. Seit dem Augenblick, in dem die Liebe 
darin eingezogen war, glaubte ich, erfahren zu haben, daft es noch da 
war, mein Herz, und daft ich es bis zu dieser Stunde nur verleugnet 
und geschmaht und vergewaltigt hatte. Ja, es war, meine Freunde, ein 
unausprechlicher Genuft, zu fuhlen, daft ich noch ein Herz besaft, und 



BEICHTE EINES MORDERS 53 

mein Verbrechen, es verunstaltet zu haben, zu erkennen. Ganz ge- 
nauso, wie ich es jetzt darstelle, wuftte ich das aber damals noch nicht. 
Aber ich fuhlte schon damals, daft die Liebe anfing, mich gewisserma- 
ften zu erlosen, und daft sie mir das grofte Gliick bescherte, mit Leiden, 
mit Freude und sogar mit Genuft erlost zu werden. Die Liebe namlich, 
meine Freunde, macht uns nicht blind, wie das unsinnige Sprichwort 
behauptet, sondern, im Gegenteil, sehend. Ich erkannte plotzlich und 
dank einer sinnlosen Liebe zu einem gewohnlichen Madchen, daft ich 
bis zu dieser Stunde schlecht gewesen war, und auch, in welchem 
Grade ich schlecht gewesen war. Ich weift, seit jener Zeit, daft der Ge- 
genstand, der in menschlichen Herzen Liebe erweckt, gar keine Be- 
deutung hat im Vergleich zu der Erkenntnis, die uns die Liebe be- 
schert. Wen und was immer man liebt: der Mensch wird dabei sehend 
und keineswegs blind. Ich hatte bis zu dieser Stunde niemals geliebt; 
wahrscheinlich deshalb also war ich ein Verbrecher, ein Spitzel, ein 
Verrater, ein Schurke geworden. Noch wuftte ich nicht, ob mich das 
Madchen lieben wurde. Aber allein schon die Gnade, daft ich imstande 
gewesen war, mich so plotzlich auf den ersten Blick zu verlieben, 
machte mich meiner selbst sicher und schuf mir zugleich Gewissens- 
bisse wegen meiner schandlichen Handlungen. Ich versuchte, dieser 
Gnade einer jahen Verliebtheit wiirdig zu werden. Auf einmal sah ich 
die ganze Niedertracht meines Berufes, und er ekelte mich. Ich begann 
damals zu biiften, es war der Anfang der Bufte, Ich wuftte damals noch 
nicht, um wieviel mehr ich spater noch zu biiften haben sollte. 
Ich beobachtete das Madchen, das man Lutetia nannte. Ich beobach- 
tete es, langst nicht mehr als ein Polizist, sondern als ein eifersiichtiger 
Liebhaber, langst nicht mehr von Berufs wegen, sondern von Herzens 
wegen sozusagen. Und es verschaffte mir eine ganz besondere Wollust, 
es zu beobachten und auch zu wissen, in jedem Moment, daft ich eine 
wirkliche Macht iiber sie hatte. So grausam, meine Freunde, ist die 
menschliche Natur. Selbst dann noch, wenn wir eingesehen haben, daft 
wir schlecht gewesen waren, bleiben wir schlecht. Menschen sind wir, 
Menschen! Schlecht und gut! Gut und schlecht! Nichts anderes als 
Menschen. 

Ich litt wahre Hollenqualen, wahrend ich das Madchen beobachtete. 
Ich war eifersiichtig. Jeden Augenblick zitterte ich, ein anderer, einer 
meiner Kollegen, konnte durch einen Zufall den Auftrag bekommen, 
Lutetia statt meiner zu iiberwachen. Ich war damals jung, meine 



54 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Freunde! Wenn man jung ist, kann es vorkommen, dafi die Eifersucht 
am Beginn der Liebe stent; ja, man kann gliicklich sein, mitten in der 
Eifersucht, und gerade durch die Eifersucht. Das Leid macht uns ge- 
nauso selig wie die Freude. Fast kann man das Gliick vom Leid merit 
unterscheiden. Die wahre Fahigkeit, Gliick vom Leid zu unterschei- 
den, kommt erst im Alter. Und dann sind wir bereits zu schwach, um 
das Leid zu meiden und das Gliick zu geniefien. 

In Wirklichkeit - sagte ich es schon? - hiefi die Geliebte meines Her- 
zens natiirlich nicht Lutetia. Es erscheint euch vielleicht ohne Bedeu- 
tung, dafi ich es erwahne, fur mich aber bedeutete es viel, dafi sie zwei 
Namen trug, einen echten und einen falschen. Ich behielt lange Zeit 
ihren Pafi in der Tasche. Ich brachte den Paft ins Polizeibiiro, schrieb 
selbst die Daten ab, liefi, wie es bei uns iiblich war, das Photo noch 
einmal aufnehmen, nahm zwei Kopien an mich und verwahrte sie in 
einem besonderen Umschlag. Beide Namen bezauberten mich, jeder in 
einer anderen Weise. Beide Namen hatte ich zum erstenmal gehort. Es 
ging vom echten Namen ein sehr warmer, geradezu ein inniger Glanz 
aus und ein prachtiger, geradezu kaiserlicher vom Namen Lutetia. Es 
war beinahe, als liebte ich zwei Frauen statt einer einzigen, und da sie 
beide eins waren, war es mir, als miifke ich die eine doppelt lieben. 
An den Abenden, an denen die Madchen die Kleider des mondanen 
Schneiders - in den Zeitungen nannte man sie die >Schopfungen< oder 
gar die >genialen Schopfungen< - im Theater vorfiihrten, mufiten wir in 
den Ankleidezimmern der Damen stehn. Der Schneider erhob einen 
gewaltigen Protest dagegen. Er ging zu der Witwe des Generals Port- 
schakoff, die um jene Zeit eine grofte Rolle in der Petersburger Gesell- 
schaft spielte und die allein ihn eigentlich veranlafit hatte, nach Rufiland 
zu kommen. Die Generalin war trotz ihrer beriihmten, bedeutenden 
Korpulenz unheimlich eilfertig. Sie besafi die erstaunliche Fahigkeit, an 
einem einzigen Vormittag zwei Groflfiirsten, den General-Gouverneur, 
drei Advokaten und den Intendanten der kaiserlichen Oper aufzusu- 
chen, um sich iiber die Verfiigung unserer Polizei zu beschweren. Aber, 
meine Freunde, was nutzte unter gewissen Umstanden in unserem 
alten, lieben Rutland eine Beschwerde gegen eine Verfiigung? Der Zar 
selbst hatte nichts ausgerichtet - er vielleicht am wenigsten. 
Natiirlich wufite ich von all den Unternehmungen der beflissenen 
Generalswitwe. Ich bezahlte sogar von meinem Gehalt einen Schlitten, 



BEICHTE EINES MORDERS 55 

um ihr iiberallhin folgen zu konnen, und, ebenfalls aus meiner Tasche, 
Trinkgelder fur die Diener und Lakaien, die mir den Inhalt der Unter- 
redungen in all den Hausern uberbrachten. Ich verfehlte nicht, meine 
Erfahrungen sofort meinem Chef mitzuteilen. Ich wurde belobt, aber 
ich schamte mich, dieses Lob zu horen. Ich arbeitete, meine Freunde, 
nicht mehr fur die Polizei. Ich stand in hoheren Diensten; ich stand in 
den Diensten meiner Leidenschaft. 

Ich war wohl in jenen Tagen der geschickteste von alien Beamten, 
denn ich besafi die Fahigkeit, nicht nur schneller zu sein als die eilfer- 
tige Generalin, sondern auch zugleich die sonderbare Fahigkeit, an al- 
ien Orten fast gleichzeitig zu erscheinen. Ich war damals imstande, 
nicht nur Lutetia, sondern auch die Generalin und den beruhmten 
Schneider fast gleichzeitig zu uberwachen. Nur einen sah ich nicht, 
meine Freunde, nur einen nicht: Ihr werdet bald horen, um wen es sich 
handelt. Ich sah also eines Tages, wie der beruhmte Schneider, in einen 
weiten Pelz gehiillt, den er sich noch in Paris hatte bestellen lassen - 
denn es war kein russischer Pelz, sondern einer, wie man sich in Paris 
einen russischen Pelz vorstellt-, ich sah also, wie er in einer Art weib- 
licher Kapotte aus Persianer, mit einer Kapuze aus Blaufuchs, an der 
eine silberne Troddel hing, einen Schlitten bestieg und zur Generalin 
fuhr. Ich folgte ihm, erreichte noch vor ihm den Flur, nahm ihm den 
merkwiirdigen Pelz ab - denn der Portier war seit einigen Tagen mein 
Freund geworden - und wartete im Vorzimmer. Die riistige Generals- 
witwe erstattete ihm einen niederschmetternden Bericht. Es gelang mir 
auch, ihn zu erlauschen. Alle ihre Unternehmungen waren vergeblich 
gewesen. Ich lauschte mit Wollust. Gegen die Ochrana, also gegen 
mich gewissermaften, konnte kein Grofifiirst etwas ausrichten, nicht 
einmal ein jtidischer Advokat. Aber es gab, wie ihr wifk, im alten Rut- 
land drei unfehlbare Mittel - und die verriet sie ihm auch: Geld, Geld, 
Geld. 

Der Schneider war bereit, Geld zu zahlen. Er verabschiedete sich, zog 
wieder seinen sonderbaren Pelz an und stieg in den Schlitten. 
Am ersten Abend, an dem die Vorfiihrung seiner >Schopfungen< statt- 
fand, erschien er auch, freundlich, rundlich und doch zugleich vier- 
schrotig, strahlend und in einem Frack mit weifier Weste, an der wun- 
derliche rote Knopfchen leuchteten, die an Marienkaferchen erinnerten; 
hinter den Kulissen, vor den Garderoben seiner Madchen erschien er. 
Ach, er war unfahig, auch nur den Miserabelsten unter uns zu be- 



$6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

stechen! Mit den Silbermunzen klimperte er in seinen weiten Frackho- 
sentaschen wie ein Monch mit einem Klingelbeutel, und trotz seiner 
ganzen Pracht sah er weniger aus wie einer, der bestechen will, denn 
wie einer, der urn Almosen bittet. Selbst der VerwerfHchste unter uns 
hatte nicht vermocht, von dem Schneider Geld anzunehmen. Es war 
klar: Mit Grofifursten konnte er vielleicht besser verkehren als mit 
Spitzeln. 

Er verschwand. Wir gingen in die Garderoben. 

Ich zitterte. Wenn ich euch sage, dafi ich damals Angst, wirkliche 
Angst empfand, zum erstenmal in meinem Leben die hohlaugige 
Angst, werdet ihr mir aufs Wort glauben. Ich hatte Angst vor Lutetia, 
Angst vor meiner Begierde, sie im Hemd zu sehn, Angst vor meiner 
Wollust, Angst vor dem Unbegreif lichen, dem Nackten, dem Willen- 
losen, Angst vor meiner eigenen Ubermacht. Ich wandte mich urn. Ich 
kehrte ihr den Riicken zu, wahrend sie sich umkleidete. Sie lachte mich 
aus. Wahrend ich ihr also angstvoll den Riicken zukehrte, mochte sie 
wohl, mit dem hurtigen Instinkt der Frauen, der die Furcht und die 
Ohnmacht der verliebten Manner zuallererst wittert, erkannt haben, 
dafi ich einer der unschadlichsten Spitzel des gro£en Zarenreiches sei. 
Aber was rede ich von Instinkt! Sie wufite doch wohl, dafi es meine 
Aufgabe war, sie genau und sogar scharf zu beobachten, und sie sah 
doch, dafi ich mich umgewandt und mich ihr also preisgegeben hatte! 
Schon war ich ihr ausgeliefert! Schon hatte sie mich durchschaut! Ach, 
meine Freunde, es ist besser, sich einem erklarten Feind auszuliefern, 
als eine Frau wissen zu lassen, dafi man sie liebt, Der Feind vernichtet 
euch schnell! - Die Frau aber - ihr werdet bald sehen, wie langsam, wie 
morderisch langsam . . . 

Gut! Ich stand also da, mit dem Angesicht zur Tiir, und betrachtete die 
weifie, langweilige Klinke, als hatte ich den Auftrag erhalten, diesen 
harmlosen Gegenstand zu bewachen. Es war, ich erinnere mich genau, 
ein gewohnlicher Klinkenknopf aus Porzellan. Nicht einmal ein 
Sprung war an ihm zu entdecken. Das dauerte lange. Indessen sang, 
flotete, pfiff und zwitscherte die Geliebte meines Herzens hinter 
meinem Riicken - und vor dem Spiegel, wie ich erriet - ebenso unbe- 
kummerte wie liederliche Weisen, und heller Hohn war in ihrem Sin- 
gen, in ihrem Floten, in ihrem Pfeifen, in ihrem Zwitschern. Lauter 
Hohn! . . . 
Auf einmal klopfte es an der Tiir. Ich wandte mich sofort um und sah 



BEICHTE EINES MORDERS 57 

naturlich Lutetia. Sie safi vor dem ovalen, goldumrahmten Spiegel und 
versuchte, mit einer immensen Puderquaste, ihren Riicken zu pudern. 
Sie war bereits angekleidet. Sie trug ein schwarzes Kleid, der Riicken 
zeigte einen dreieckigen Ausschnitt, an den Randern mit blutroten 
Samtstreifen eingesaumt, und sie versuchte, mit der rechten Hand, mit 
der ubergrofien Quaste, ihren Riicken zu erreichen, um ihn zu pudern. 
Mehr noch, als mich ihre Nacktheit verwirrt hatte, blendete mich in 
diesem Augenblick der beinahe hollische - ich finde keinen andern 
Ausdruck- also der beinahe hollische Zusammenhang dieser Farben. 
Seit jenem Augenblick glaube ich zu wissen, dafi die Farben der Holle, 
in die ich gewifi einmal gelangen werde, aus Schwarz, WeiE und Rot 
bestehen; und an manchen Stellen, an den Wanden der Holle zum Bei- 
spiel, wird hie und da der dreieckige Ausschnitt eines Frauenriickens 
sichtbar; die Puderquaste auch. 

Ich erzahle all dies zu lang, und es dauerte doch nur einen Augenblick. 
Bevor noch Lutetia Herein! rufen konnte, ging die Tiir auf. Und ehe 
ich mich noch umgesehen hatte, begann ich schon zu ahnen, wer der 
Ankommling war. Ihr werdet es erraten, meine Freunde! Wer war 
es? - Es war mein alter Freund, mein alter Freund Lakatos! 
>Guten Abend !< sagte er auf russisch. Hierauf begann er eine langere 
franzosische Ansprache an Lutetia. Ich verstand sehr wenig. Mich 
schien er nicht erkannt zu haben oder nicht erkennen zu wollen. Lute- 
tia wandte sich um und lachelte ihm zu. Sie sagte ein paar Worte, la- 
chelte weiter, halb im Sessel umgewandt, die grofte Quaste in der 
Hand, ich sah sie doppelt, ihr lebendiges Bild und das Spiegelbild. La- 
katos naherte sich ihr, er hinkte immer noch sichtlich. Er trug einen 
Frack und Lackstiefel, und eine rote Blume unbekannter Art loderte in 
seinem Knopf loch. Was mich betrifft, so war ich beinahe wie ausge- 
loscht. Ich hatte das sichere Gefiihl, dafi ich weder fur Lutetia noch fur 
Lakatos ein lebendiger Mensch sei. Fast hatte ich selbst an meiner 
Anwesenheit in dieser Gaderobe gezweifelt, wenn ich nicht genau ge- 
sehen hatte, wie Lakatos seine Frackarmel emporzog - seine Manschet- 
ten schepperten leise - und wie er die Puderquaste aus Lutetias Han- 
den mit zwei spitzen Fingern entgegennahm. Und als machte er sich 
daran, nicht etwa den Riicken einer Frau mit Puder zu bestreuen, son- 
dern einen ganz neuen Frauenriicken zu formen, begann er, mit beiden 
Handen unbegreifliche Kreise in der Luft zu zeichnen, hierauf, sich zu 
biicken, dann, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und den ganzen 



58 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Korper zu recken, urn endlich, endlich den Riicken Lutetias mit der 
Quaste zu beruhren. Er bestrich den Riicken geradezu, wie man zum 
Beispiel eine Mauer tiincht. Es dauerte lange, und Lutetia lachelte — 
ich sah ihr Lacheln im ovalen Spiegel. Endlich wandte sich Lakatos mir 
zu und so selbstverstandlich, als wenn er mich vorher begriifit und 
erkannt hatte, sagte er mir jetzt: >Nun, alter Freund, Sie auch hier?< - 
Und er steckte dabei die Hand in die Hosentasche. Es klimperte und 
klingelte darin von Silber- und Goldmiinzen. Ich kannte den Klang. 
>So miissen wir uns wiederfinden!< sprach er weiter. - Ich antwortete 
nichts. Endlich, nach einem langeren Schweigen, fragte er: >Wie lange 
noch wollen Sie diese Dame belastigen?< 

>Ich belastige sie gegen meinen Willen<, sagte ich. >Ich habe hier 
Dienst!< 

Er hob beide Arme gegen den Plafond und rief : >Dienst! Dienst hat er!< 
Und wandte sich dann gegen Lutetia und sagte etwas leise auf franzo- 
sisch. 

Er winkte mich heran, an den ovalen Spiegel, nahe zu Lutetia, und 
sagte: >Alle Ihre Kollegen sind fort. Alle Damen bleiben unbehelligt. 
Verstanden?< 

>Ich habe Dienst! < erwiderte ich. 

>Ich habe sie alle bestochen!< sagte Lakatos. >Alle Damen sind unbehel- 
ligt! Wieviel verlangen Sie?< 
>Gar nichts!< 
>20, 40, 6o?< 
>Nein?< 
>ioo?< 
>Nein!< 

>Ich habe den Auftrag, nicht weiterzugehn,< 
>Gehn Sie selbst!< sagte ich. 

In diesem Augenblick ertonte das Klingelzeichen. Lutetia verliefi die 
Garderobe. 

>Du wirst es bereuen!< sagte Lakatos. - Er ging hinter Lutetia einher, 
und ich blieb einen Augenblick verwirrt und beklommen zuriick. Es 
roch betaubend nach Schminke, Parfiim, Puder und Frau. Ich hatte 
vorher nichts von all diesen Geriichen gespiirt; oder ich hatte sie nicht 
gemerkt; was weifi ich? Auf einmal aber uberfiel mich dieser vielfaltige 
Geruch wie ein siiftlicher Feind, und es war, als hatte ihn nicht Lutetia 
hinterlassen, sondern mein Freund Lakatos. Es war, als hatten vorher, 



BEICHTE EINES MORDERS 59 

bevor er angekommen war, die Parfums, die Schminke, der Puder, die 
Frau gar nicht gerochen, sondern als hatte erst Lakatos alle diese Gerii- 
che zum Leben erweckt. 

Ich verliefi die Garderobe. Ich sari im Korridor nach. Ich sari eine Biih- 
nengarderobe nach der andern. Ich fand meine Kollegen nirgends. 
Ausgeloscht waren sie, verschwunden, verschlungen. Zwanzig, vier- 
zig, sechzig oder hundert Rubel hatten sie genommen. 
Ich stand hinter den Kulissen, zwischen den zwei diensthabenden Feu- 
erwehrleuten, und ich sah seitwarts einen Teil des erlesenen und sogar 
durchlauchten Publikums, das sich hier versammelt hatte, um einen 
lacherlichen Schneider aus Paris zu begriiften, und das sich zuglekh 
vor seinen armseligen Madchen fiirchtete, die man >Modelle< nannte. 
DermaEen war also die grofie Welt beschaffen - dachte ich bei mir-, 
dafi man einen Schneider bewundert und fiirchtet zugleich. Und Laka- 
tos? Woher kam er? Welcher Wind hatte ihn hierhergetrieben? Er 
machte mir angst. Ich fuhlte deutlich, dafi ich in seiner Gewalt war, ich 
hatte ihn langst vergessen, und er machte mir deshalb doppelte Angst. 
Das heifit: ich hatte ihn eigentlich niemals ganz vergessen; ich hatte ihn 
nur verdrangt, hinausgedrangt aus meinem Gedachtnis, aus meinem 
Bewufksein. Also bekam ich doppelte Angst, oh, keine gewohnliche, 
meine Freunde, so etwa, wie man Angst hat vor Menschen! Erst in 
dieser Stunde und an dieser sonderbaren Art meiner Furcht erkannte 
ich eigentlich, wer Lakatos war. Ich erkannte es, aber es war, als hatte 
ich auch noch Angst vor meiner eigenen Erkenntnis und als mtifite ich 
um jeden Preis trachten, vor mir selber gewissermaften diese Erkennt- 
nis zu verbergen. Es war, wie wenn ich verurteilt ware, eher gegen 
mich selbst zu kampfen und mich vor mir selbst zu wehren, als gegen 
ihn zu kampfen und mich vor ihm zu wehren. Dermafien, meine 
Freunde, erliegt ein Mensch der Verblendung, wenn es der grofte Ver- 
fuhrer will. Man fiirchtet sich gar gewaltig vor ihm, aber man vertraut 
ihm viel mehr als sich selbst. 

Wahrend der ersten Pause stand ich wieder in der Garderobe Lutetias. 
Ich redete mir ein, es sei selbstverstandlich meine Pflicht. In Wirklich- 
keit aber war es ein merkwiirdiges Gefiihl, gemischt aus Eifersucht, 
Trotz, Verliebtheit, Neugier - was wei£ ich? Noch einmal erschien 
Lakatos, wahrend Lutetia sich umkleidete und wahrend ich, genau wie 
vorher, mit dem Riicken zu ihr stand und die Tiir anstarrte. Obwohl 
ich ihm eigentlich den Weg versperrte, schien er mich ebensowenig zu 



60 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

beachten, als ware ich kein Mensch, sondern etwa ein Kleiderkasten. 
Mit einem einzigen, eigentlich eleganten, rundlichen Schwung seiner 
Schultern und seiner Hiiften wich er mir aus. Schon stand er hinter 
dem Riicken Lutetias, und so, dafi sie ihn im Spiegel sehen mufite, vor 
dem sie eben safi. Sein Eintritt erziirnte mich dermafien, dafi ich sogar 
meine Scham iiberwand und meine Liebe vergafi und mich prompt 
umwandte. Da sah ich, wie Lakatos drei Finger an den gespitzten 
Mund legte, eine Art Luftkufi gegen das Spiegelbild der Frau abfeu- 
erte. Dabei sagte er ununterbrochen ein und dasselbe franzosische 
Wort: >Oh, mon amour, mon amour, mon amour! < Das Spiegelbild 
Lutetias lachelte. Im nachsten Augenblick - ich begriff nicht, ich be- 
greife auch heute noch nicht, wie es geschah - legte Lakatos einen 
grofien Straufi dunkler Rosen auf den Tisch vor dem Spiegel - und ich 
hatte ihn doch mit leeren Handen eintreten sehen! Lutetias Spiegelbild 
nickte leicht. Lakatos schickte noch einen Handkufi ab, wandte sich 
um, und mit der gleichen rundlichen Schleife, mit der er mir vorher 
beim Eintritt ausgewichen war, schwang er sich gleichsam um mich 
herum und verliefi das Zimmer. 

Nachdem ich mit eigenen Augen gesehen hatte, dafi man Blumen- 
straufie, die vorher nicht vorhanden gewesen waren, plotzlich hervor- 
zaubern konne, war sozusagen auch meine berufliche Furcht rege gewor- 
den, neben meiner privaten. Wie untrennbare, zusammengewachsene 
Zwillinge hockten sie in meiner Brust, die beiden Angste. Gelang es 
einem Menschen, vor meinen Augen einen Straufi zu erschaffen, aus 
dem Nichts, so konnte es Lutetia oder auch Lakatos ebenso gelingen, 
eine jener Bomben mit nackten Handen herzustellen, vor denen meine 
Vorgesetzten und ihre Auftraggeber sich so fiirchteten. Begreifen Sie, 
ich hatte nicht etwa Sorge um das Leben des Zaren oder der Grofifur- 
sten oder des Gouverneurs. Was gehen mich je die Grofien dieser Welt 
an, und was kummerten sie mich besonders in jenen Tagen! Nein, ich 
zitterte einfach vor der Katastrophe, vor der nackten Katastrophe al- 
lein, obwohl ich noch nicht wufite, welche Gestalt und welches Ge- 
sicht sie tragen wiirde. Unausweichlich erschien sie mir. Unausweich- 
lich schien mir Lakatos ihr Urheber zu sein, ja, ihr Urheber sein zu 
miissen. Ich war nie sehr glaubig von Natur gewesen, und ich zerbrach 
mir nicht den Kopf uber Gott und den Himmel. Aber jetzt begann ich, 
eine Ahnung von der Holle zu bekommen - und ahnlich, wie man erst 



BEICHTE EINES MORDERS 6l 

bei einem Brand nach der Feuerwehr zu rufen beginnt, fing ich in je- 
nen Tagen an, sinnlose, unzusammenhangende, aber sehr innige und 
heifie Gebete zu dem unbekannten Herrn der Welt emporzuschicken. 
Sie nutzten mir wenig, offenbar, weil ich noch zu wenig Priifungen 
erfahren hatte. Ganz andere harrten noch meiner. 
Ich begann, meine Aufmerksamkeit zu verdoppeln. Zehn Tage sollte 
der Schneider aus Paris bei uns bleiben, aber nach drei Tagen schon 
hiefi es, seine Toiletten, oder besser: >Schopfungen<, hatten den Damen 
unserer Gesellschaft dermaften gefallen, daft man seinen Aufenthalt 
noch um weitere zehn zu verlangern gedenke. Welch eine frohe und 
zugleich welch eine verwirrende Kunde, die ich da vernahm! Ich be- 
kam den Auftrag, das seinerzeit bekannte Haus der Frau Luka- 
tschewski zu uberwachen, bei der sich damals die Offiziere der Garni- 
son nach Mitternacht zu versammeln pflegten. Ich kannte es wohl, von 
Berufs wegen, aber nur dem Aufteren nach. Sein Inneres hatte ich noch 
nie gesehen. Ich bekam sogar einen sogenannten Spesenbeitrag von 
dreihundert Rubeln und einen sogenannten Dienstfrack, wie ihn je 
drei unserer Leute von der mondanen Abteilung abwechselnd zu be- 
niitzen pflegten. Der Frack paftte ganz gut. Einen griechischen Orden, 
rotumrahmtes Gold an rotem Seidenband, hangte ich um den Hals. 
Zwei Lakaien der Dame Lukatschewski standen in unsern Diensten. 
Ich postierte mich um zwolf Uhr vor dem Hause. Nachdem ich so 
lange gewartet hatte, bis ich annehmen konnte, daft es endlich die Zeit 
sei, in der man nicht mehr auffiel, ging ich hinein, mit Zylinder, Stock, 
Theaterpelerine, Orden. Den und jenen der Herren in Uniform und 
Zivil, iiber die ich genau unterrichtet war, begriiftte ich wie ein alter 
Bekannter. Sie lachelten mich an, mit dem fatalen und leeren Lacheln, 
mit dem man Freund und Feind und Gleichgultigen in der groften 
Welt begegnet. Eine Weile spater gab mir einer unserer Lakaien einen 
Wink, ihm zu folgen. Ich geriet in eines jener diskreten Zimmer im 
ersten Stock, von denen ihr nicht wifk, welchen Zwecken sie dienen; 
nicht etwa der Liebe oder was man so nennt, sondern den Zeugen und 
den Lauschern, den Zutragern und den Spitzeln. Man konnte durch 
eine ziemlich breite Ritze einer dunnen, tapezierten Bretterwand alles 
sehen und horen. 

Und - ich sah, meine Freunde! - ich sah Lutetia, die Geliebte meines 
Herzens, in der Gesellschaft des jungen Krapotkin. Ach, ich erkannte 
ihn sofort, es war kein Zweifel! Wie hatte ich ihn auch nicht erkennen 



6l ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sollen! Ich war damals derart verworfen, dafi ich schneller imstande 
war, etwas Gehafites wiederzuerkennen als das Geliebte und mir An- 
genehme. Ja, ich iibte mich sozusagen in dieser Beschaffenheit und 
versuchte, mich in ihr zu vervollkommnen. Ich sah also Lutetia, die 
Geliebte meines Herzens, in den Armen des Mannes, von dem ich mir 
friiher einmal eingebildet hatte, er sei mein Feind; in den Armen des 
Mannes, den ich im Verlauf meiner letzten, schmahlichen Jahre fast 
schon vergessen hatte; in den Armen meines verhafiten, falschen Bru- 
ders, des Fiirsten Krapotkin. 

Ihr versteht, meine Freunde, was alles damals in mir vorging: Auf ein- 
mal - ich hatte lange nicht mehr daran gedacht - erinnerte ich mich an 
meinen schimpflichen Namen >Golubtschik<; auf einmal erinnerte ich 
mich daran, dafi ich lediglich der Familie Krapotkin mein elendes Ge- 
werbe zu verdanken hatte; auf einmal glaubte ich, dafi gewifi seinerzeit 
der alte Fiirst in Odessa mich ohne Schwierigkeiten anerkannt hatte, 
wenn nur nicht der Junge mit solch beleidigender Heiterkeit in sein 
Zimmer gesuirzt ware; auf einmal war die alte, torichte Ekelkeit mei- 
ner Jugend wieder wach und die Bitterkeit! Ja, auch die Bitterkeit. Er, 
er war ja gar nicht der Sohn Krapotkins! Ich aber, ich war es gewift. 
Ihm war der Name zugefallen und alles, was dieser Name mit sich 
brachte: der Ruhm, das Ansehn und das Geld; der Ruhm, das Geld, 
die grofie Welt und die erste Frau, die ich liebte. 

Ihr begreift, meine Freunde, was das heiftt: die erste Frau, die man 
liebt. Sie vermag alles. Ich war ein Elender, ich hatte vielleicht damals 
ein guter Mensch werden konnen. Ich wurde kein guter Mensch, 
meine Freunde! In jener Stunde, in der ich Krapotkin und Lutetia er- 
blickte, loderte das Bose, dem ich offenbar von Geburt an schon zube- 
stimmt war und das bis jetzt nur sachte in mir geschwelt hatte, als ein 
offener, grofier Brand empor. Mein Untergang war gewifi. 
Ich wufite damals schon um meinen Untergang, und deshalb eben ge- 
lang es mir, die beiden Gegenstande meiner Leidenschaften: den mei- 
nes Hasses und den meiner Liebe, genau zu beobachten. Niemals sieht 
man so klar und kalt wie in einer Stunde, in der man vor sich den 
schwarzen Abgrund fuhlt. Ich empfand den Hal? und die Liebe zu- 
gleich, in meinem Herzen waren sie ebenso innig vereint wie die bei- 
den im Nebenzimmer: Lutetia und Krapotkin. Ebenso wenig wie die 
beiden Menschen, die ich beobachten konnte, bekampften sich die bei- 



BEICHTE EINES MORDERS 6} 

den Empfindungen; sondern sie vereinten sich in einer Wollust, die 
gewift noch grofier, gewaltiger, sinnlicher war als die fleischliche Ver- 
einigung der beiden. 

Ich empfand keinerlei korperliche Begierde, ja nicht einmal Eifersucht; 
wenigstens nicht Eifersucht in der gewohnlichen Form, in der sie jeder 
von uns wahrscheinlich schon gespurt hat, wenn er zusehen muftte, 
wie ein geliebter Mensch ihm genommen wird, vielmehr, wie sich die- 
ser geliebte Mensch mit Freuden nehmen lafit. Ich war vielleicht nicht 
einmal erbittert. Ich war nicht einmal rachsuchtig. Vielmehr glich ich 
einem kalten und objektiven Richter, der etwa die Verbrecher selbst 
bei der Freveltat beobachten kann, iiber die er spater zu urteilen hat. - 
Ich fallte jetzt schon das Urteil, es lautete: Tod dem Krapotkin! Ich 
wunderte mich nur, daft ich so lange gewartet hatte. Ja, ich merkte, daft 
dieses Todesurteil langst beschlossen, gefertigt und besiegelt in mir 
gelegen hatte. Es war, ich wiederhole es, keine Rachsucht. Es war, 
meiner Meinung nach, die natiirliche Folge der gewohnlichen, der ob- 
jektiven, der sittlichen Gerechtigkeit. Nicht ich allein war das Opfer 
Krapotkins. Nein! Das giiltige Gesetz der sittlichen Gerechtigkeit war 
sein Opfer. Im Namen des Gesetzes sprach ich mein Urteil: Es lautete 
auf Tod. 

Es lebte damals in Petersburg ein gewisser Angeber namens Leibusch. 
Es war ein winziger Mann, keine 120 Zentimeter hoch, nicht einmal 
ein Zwerg, sondern der Schatten eines Zwerges. Er war ein sehr ge- 
schatzter Mitarbeiter meiner Kollegen. Ich hatte ihn nur ein paarmal 
fliichtig gesehen. Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte, obwohl ich 
selbst, wie man zu sagen pflegt, schon mit alien Wassern gewaschen 
war, ein wenig Angst vor ihm. Es gab viele gewissenlose Falscher und 
Betriiger in unserer Gesellschaft, aber keinen gewissenloseren und flin- 
keren als ihn. Im Handumdrehn konnte er zum Beispiel den Beweis 
erbringen, daft ein Verbrecher ein wahres Unschuldslamm sei und ein 
Unschuldiger ein Attentat auf den Zaren vorbereitet habe. Obwohl ich 
bereits so tief gesunken war, meine Freunde, hegte ich doch noch die 
Uberzeugung, daft ich nicht aus purer Schlechtigkeit Boses tat, son- 
dern daft mich das Schicksal dazu verurteilt hatte. Unbegreiflicher- 
weise hielt ich mich immer noch sozusagen fur einen >guten Men- 
schen<. Ich, ich hatte wenigstens noch das Bewufttsein, daft ich Boses 
tat und daft ich mich deswegen vor mir selbst entschuldigen miiftte. 



64 . ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Unrecht hatte man mir zugefiigt. Golubtschik hiefi ich. Alles Recht, 

auf das ich von Geburt aus Anspruch hatte, war mir genommen wor- 

den. In meinen Augen war damals mein Miftgeschick ein ganz und gar 

unverdientes Unheil. Ich hatte gewissermafien ein verbrieftes Recht 

darauf, bose zu sein. Die anderen aber, die mit mir Boses taten, hatten 

dieses Recht keineswegs. 

Gut, ich suchte also unsern Angeber Leibusch auf. Erst in dem Augen- 

blick, in dem ich ihm gegeniiberstand, kam mir alles Schreckliche zum 

Bewufitsein, das ich vorhatte. Seine gelbliche Hautfarbe, seine rotlich 

umrandeten Augen, seine grofien Pockennarben, seine unmenschlich 

winzige Gestalt waren beinahe imstande, mich irrezumachen in 

meinem festen Glauben, ich sei ein Richter und ein Vollstrecker des 

Gesetzes. Ich hatte einige Hemmungen, bevor ich anfing, mit ihm zu 

sprechen. 

>Leibusch<, sagte ich, >du kannst deine Tiichtigkeit beweisen.< Wir be- 

fanden uns damals in einem der Vorzimmer unseres Chefs. Wir waren 

allein, wir hockten nebeneinander auf einem giftgriinen Pluschsofa, 

und mir war's, als ware es bereits eine Anklagebank; ja, ich safi gerade 

auf der Anklagebank in der Stunde, in der ich im Begriffe war, zu 

richten und zu urteilen. 

>Was soil ich noch beweisen?< sagte der Kleine. >Genug habe ich bewie- 

sen!< 

>Ich brauche<, sagte ich, >Material gegen einen gewissen.< 

>Eine hohe Personlichkeit?< 

>Naturlich!< 

>Wer ist es!< 

>Der junge Krapotkin!< 

>Nicht schwer<, sagte der Winzige, >gar nicht schwer!< 

Wie leicht ging das! Der Winzige wunderte sich gar nicht, daft ich 

Material gegen Krapotkin brauchte. Also hatte man gegen Krapotkin 

schon langst Material gesammelt, Beinahe kam ich mir sehr groftmutig 

vor, daft ich noch nichts davon gewufk hatte. Fast war es keine Nied- 

rigkeit, die ich eben zu begehen im Begriff war, sondern eine echte 

richterliche Pflicht. 

>Wann?<fragteich. 

>Morgen um die gleiche Stunde<, sagte der Winzige. 

Er besaft wirklich prachtvolles Material. Die Halfte hatte ausgereicht, 

einem gewohnlichen Russen zwanzig Jahre Katorga zu verschaffen. 



BEICHTE EINES MORDERS 65 

Wir saften im stillen Hinterzimmer einer Teestube, deren Wirt ich 
kannte, und blatterten im Material. Es befanden sich darunter Brief e an 
Freunde, Offiziere und hochgestellte Personen, an bekannte Anarchi- 
sten und an verdachtige Schriftsteller und eine Anzahl auEerst iiber- 
zeugender Photographien. >Hier<, sagte der Winzige, >die und die habe 
ich gefalscht.< 

Ich sah ihn an. In seinem kleinen gelben Gesicht, darin gerade noch 
Augen, Nase und Mund Platz hatten und in dem die dunnen Wangen 
schmahlich eingefallen waren, veranderte sich gar nichts. In diesem 
Antlitz hatten die Zuge gleichsam keinen Raum, sich zu verandern. Er 
sagte: >Dies habe ich gefalscht!< Und: >Dies habe ich gefalscht.< Und: 
>Dies habe ich gefalscht!< Und es bewegte sich kein Zug in seinem 
Angesicht. Ihm war es offenbar gleichgiiltig, ob er die Bilder gefalscht 
hatte oder ob sie echt waren. Bilder waren sie eben. Mehr als Bilder: 
namlich Beweise. Da er seit vielen Jahren erfahren hatte, dafi die fal- 
schen Bilder ebensoviel bewiesen wie die echten, hatte er vollkommen 
verlernt, diese von jenen zu unterscheiden, und beinahe mit einer kind- 
lichen Einfalt glaubte er, die Falschungen, die er selbst ausgefuhrt 
hatte, seien gar keine Falschungen. Ja, ich glaube, er wuftte gar nicht, er 
wufSte iiberhaupt nicht mehr, wodurch sich eigentlich eine gefalschte 
von einer echten Photographie unterscheide, wodurch ein echter Brief 
von einem gefalschten. Es ware unrichtig, wollte man diesen Leibusch, 
diesen Winzigen, etwa zu den Verbrechern zahlen. Ein Verworfener 
war er, schlimmer als ein Verbrecher, boser noch als ich, meine 
Freunde! 

Ich wufke wohl, was ich mit den Briefen und den Bildern anzufangen 
hatte. Mein Haft hatte einen Sinn. Der Winzige aber war kein Hasser 
und kein Richter. Alles, was er Boses tat, war sinnlos, der Teufel gebot 
ihm einfach, Boses zu vollfiihren. Dumm war er wie ein Ganserich, 
aber aufterst schlau in der Art, die schwierigen Dinge zu vollbringen, 
deren Sinn und Zweck er gar nicht verstand. Er verlangte nicht einmal 
einen kleinen irdischen Vorteil. Er tat alles gleichsam aus Gefalligkeit. 
Er verlangte von mir kein Geld, kein Versprechen, keine Zusage. Er 
gab mir das ganze, fur mich so wertvolle Material, ohne das Gesicht zu 
verandern, ohne zu fragen, wozu ich es brauchte, ohne irgend etwas zu 
verlangen, ja, ohne mich selbst zu kennen. Seinen Lohn hatte er bereits 
anderswoher bekommen, so schien es. 
Nun, was ging es mich an? Ich nahm, was ich brauchte; ich fragte 



66 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nicht, woher es kam, noch von wem. Ich nahm es eben von dem Win- 

zigen. 

Kaum eine halbe Stunde spater war ich bei meinem nachsten Vorgesetz- 

ten. Und zwei Stunden hierauf verhaftete man den jungen Krapotkin. 

Er blieb nicht lange in der Haft, meine Freunde, keineswegs lange. Drei 
Tage im ganzen. Am dritten Tage wurde ich zu unserm Gewalthaber 
berufen, und er sagte mir folgendes: 
>Junger Mann, ich hatte Sie fiir kliiger gehalten!< 
Ich schwieg. 

>Junger Mann<, fing er wieder an, >erklaren Sie mir Ihre Dummheit.< 
>Euer Durchlaucht<, sagte ich, >wahrscheinlich habe ich eine Dummheit 
begangen - da Euer Gnaden es doch selber sagen. Aber erklaren kann 
ich sie keineswegs. < 

>Gut<, erwiderte Seine Herrlichkeit, >ich werde sie dir erklaren: Verliebt 
bist du eben. Und ich erlaube mir bei dieser Gelegenheit eine soge- 
nannte philosophische Bemerkung: Merken Sie sich das, junger Mann! 
Ein Mann, der es zu etwas im Leben bringen will, ist niemals verliebt. 
Ein Mann besonders, der das hohe Gluck hat, bei uns tatig zu sein, hat 
uberhaupt kein Gefuhle. Er kann eine bestimmte Frau begehren, - gut, 
ich verstehe das! Aber wenn ihm ein Machtiger im Wege steht, mu8 
unsereins seine Begierde unterdriicken. Horen Sie zu, junger Mann! 
Ich kannte mein Leben lang nur eine Begierde: die, groE und machtig 
zu werden. Ich bin es heute, grofi und machtig. Ich kann Seine Maje- 
stat selbst, unsern Zaren, uberwachen - Gott schenke ihm Gluck und 
Gesundheit. Aber weshalb kann ich das ? Weil ich niemals in meinem 
langen Leben geliebt oder gehafit habe. Auf jede Lust habe ich verzich- 
tet - deshalb habe ich auch niemals mit einem wirklichen Leid Be- 
kanntschaft gemacht. Ich war niemals verliebt; also kenne ich auch 
keine Eifersucht. Ich habe niemals gehaftt; also kenne ich auch keine 
Rachsucht. Ich habe niemals die Wahrheit gesagt; infolgedessen kenne 
ich auch nicht die Genugtuung, die eine gelungene Luge bereitet. Jun- 
ger Mann, richten Sie sich danach! Ich mufi Sie bestrafen. Der Fiirst ist 
machtig, den Affront vergifk er nie. Wegen eines kleinen, lacherlichen 
Madchens haben Sie Ihre Karriere verdorben. Ja, mir selbst haben Sie, 
verstanden!, einen aufierst unangenehmen Tadel verschafft. Ich habe 
lange dariiber nachgedacht, welche Strafe Sie dafiir verdienen. Und ich 
bin zu dem Entschlufi gekommen, Ihnen die strengste aller Strafen 



BEICHTE EINES MORDERS 6j 

aufzuerlegen. Sie werden hiermit verurteilt, dieser lacherlichen Frau zu 
folgen. Ich verurteile Sie sozusagen zu ewiger Liebe. Sie gehen nach 
Paris, als unser Agent. Sie melden sich sofort bei dem Botschaftsrat P. 
Hier sind Ihre Papiere. Gnade Ihnen Gott, junger Mann! Es ist das 
harteste Urteil, das ich in meinem Leben gefallt habe.< 
Damals war ich jung, meine Freunde, und ich liebte! Nachdem Seine 
Herrlichkeit sein Urteil ausgesprochen hatte, geschah mit mir etwas 
Aufterordentliches, etwas Lacherliches: Ich fuhlte mich von einer un- 
bekannten Gewalt auf die Knie gezwungen, ich fiel wahrhaftig auf die 
Knie vor unserm Groftmachtigen, und ich tastete nach seiner Hand, 
um sie zu kiissen. Er entzog sie mir, stand auf, befahl mir, mich sofort 
zu erheben und keine Dummheiten mehr zu machen. Ach! Er war 
groft und machtig, denn er war kein Mensch! Naturlich verstand er gar 
nichts von all dem, was in mir vorging. Er warf mich hinaus. 
Ich sah drauften im Korridor meine Papiere nach. Und ich erstarrte vor 
Seligkeit und Uberraschung. Meine Papiere lauteten auf den Namen 
Krapotkin. Auf dies en Namen war mein Pafi ausgestellt. In einem Be- 
gleitbrief an den Botschaftsrat P. war ich ausdriicklich als einer jener 
Agenten gekennzeichnet, deren Aufgabe es war, die sogenannten sub- 
versiven Elemente Ruftlands in Frankreich zu uberwachen. Welch ein 
haftliches Geschaft, meine Freunde! Und edel erschien es mir damals! 
Wie verworfen war ich! Verworfen und verirrt! Alle Verworfenen sind 
eigentlich Verirrte. 

Kaum zwei Tage spater sollte der mondane Schneider mit all seinen 
Weibern abreisen, in meiner Begleitung. Er wurde mir, kurz vor der 
Abfahrt, vorgestellt. In seinen torichten und eitlen Augen war ich der 
Vertreter des hochadeligen RuElands, ein Fiirst und gleich ein Krapot- 
kin gar — denn er mag sich wirklich eingebildet haben, dalft man ihm 
einen echten Fiirsten als Begleiter mitgegeben hatte. Ich selbst, ich bil- 
dete es mir ein, als ich zum erstenmal einen Pafi auf den Namen Kra- 
potkin in der Tasche wufke. Indessen aber fuhlte ich damals schon, in 
den tiefsten Tiefen meines Herzens, die doppelte, die dreifache 
Schmach, die man mir angetan hatte: Ich war ein Krapotkin, ein Kra- 
potkin von Blut; und ich war ein Spitzel; und ich trug den Namen, der 
mir gebuhrt hatte, lediglich als Polizist. Im hochsten Ma£e unwiirdig, 
hatte ich erkauft und gestohlen, was mir auf eine wiirdige Weise hatte 
zukommen miissen. So dachte ich damals, meine Freunde, und ich 
ware wohl sehr ungliicklich gewesen, ohne die Liebe zu Lutetia. Sie 



68 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

aber, die Liebe meine ich, entschuldigte und verwischte alles. Ich war 
bei Lutetia, neben ihr. Ich begleitete sie. Ich fuhr mit ihr in die Stadt, in 
der sie lebte. Ich wollte sie. Ich begehrte sie mit alien meinen Sinnen. 
Ich brannte nach ihr, wie man sagt. Aber ich achtete vorlaufig nicht auf 
sie. Ich bemuhte mich, gleichgiiltig zu sein, und selbstverstandlich 
hoffte ich, sie wiirde mich von selbst bemerken und mich durch einen 
Blick, eine Gebarde, ein Lacheln wissen lassen, daft sie mich bemerkt 
habe. Sie aber tat gar nichts. Ganz gewifi bemerkte sie mich nicht. Und 
warum auch hatte sie mich bemerken sollen? 

Es waren ubrigens die ersten zwolf Stunden unserer Reise. Weshalb 
auch hatte sie mich in den ersten zwolf Stunden bemerken sollen? 
Wir mufiten eine Umweg machen. Wir fuhren nicht direkt; jene Da- 
men der guten Gesellschaft, die damals zufallig in Moskau waren oder 
standig dort wohnten und die auf keinen Fall den beruhmten Schnei- 
der aus Rufiland fortgehen lassen wollten, ohne wenigstens ihn und 
seine Puppen gesehen zu haben, hatten unbedingt gefordert, er mochte 
sich wenigstens einen Tag in Moskau aufhalten. Gut! Wir hielten uns 
in Moskau auf. Am friihen Nachmittag kamen wir an, wir logierten im 
Hotel Europa. Allen Damen liefl ich dunkelrote Rosenstraufte uberrei- 
chen, alien die gleichen. Nur dem Rosenstraufi, der fur Lutetia be- 
stimmt war, legte ich meine Visitkarte bei. Oh, freilich nicht meine 
rkhtige. Solch eine hatte ich iiberhaupt niemals besessen. Wohl aber 
hatte ich jetzt nicht weniger als funfhundert Visitkarten, falsche, auf 
den Namen Krapotkin. Ich muE sagen, ich zog oft eine aus der Briefta- 
sche und betrachtete sie. Ich weidete mich an ihr. Je langer ich sie 
ansah, desto starker begann ich an ihre Echtheit zu glauben. Ich be- 
trachtete mich selbst in dieser falschen Visitkarte, etwa wie eine Frau 
sich in einem Spiegel betrachten mag, der sie gefalliger erscheinen lafk. 
Und als wiifke ich nicht, daft auch mein Paft ein falscher war, zog ich 
auch ihn manchmal hervor und liefi mir gleichsam durch seine amtliche 
Zeugenschaft bestatigen, dafi meine Visitkarte nicht gelogen habe. 
So dumm und eitel war ich damals, meine Freunde, obwohl mich eine 
noch viel groftere Leidenschaft gefangenhielt. Ja, auch diese meine Lei- 
denschaft, namlich die Liebe, nahrte sich noch von meiner Eitelkeit 
und meiner Dummheit. 

Wir blieben zwei Tage in Moskau, und die Damen der guten Gesell- 
schaft kamen, die aus Moskau und die andern, aus nahen und fernen 



BEICHTE EINES MORDERS 6$ 

Giitern. Es gab im Hotel am Nachmittag eine kurze und sozusagen 
zusammengedrangte Vorfiihrung. Der mondane Schneider war nicht 
im Frack. Er trug seinen violetten Cutaway und ein blafirosa, seidenes 
Hemd und eine Art braunlicher Lackpantoffeln. Die Damen waren 
entzuckt von ihm. Er begnifite sie mit einer langeren Ansprache. Und 
sie erwiderten, indem sie ihn einzeln mit noch langeren Ansprachen 
auszeichneten. Obwohl ich damals nur ein kummerliches Franzosisch 
konnte, merkte ich doch, dafi sich die Damen bemiihten, den Tonfall 
des Schneidermeisters nachzuahmen. Ich hiitete mich, mit ihnen zu 
sprechen. Denn die eine oder die andere hatte wohl erkennen konnen, 
dafi ich kein Krapotkin war - und sei es auch nur an meinem lacherli- 
chen Franzosisch. Im iibrigen kummerten sie sich auch nur um den 
Schneider und um die Toiletten. Um den Schneider noch mehr! Und 
wie gerne hatten sie, aller Weiblichkeit zum Trotz, ebenfalls einen vio- 
letten Cutaway und ein blaftrosa Seidenhemd getragen! 
Genug mit diesen fruchtlosen Betrachtungen! Jede Zeit hat ihre lacher- 
lichen Schneider, ihre lacherlichen Modelle, ihre lacherlichen Frauen. 
Die Frauen, die heute in Rutland die Uniform der Rotgardisten tra- 
gen, sind die Tochter jener Damen, die damals bereit gewesen waren, 
einen violetten Herrenrock anzuziehen, und die Tochter der Rotgardi- 
sten von heute werden vielieicht einmal in der Tat etwas Ahnliches 
tragen miissen. 

Wir verliefien Moskau. Wir kamen an die Grenze. In dem Augenblick, 
in dem wir sie erreichten, in diesem Augenblick erst kam es mir plotz- 
lich zum Bewufksein, dafi mir die Gefahr drohte, Lutetia zu verlieren, 
wenn ich nicht noch schnell etwas unternahm. Was unternehmen? Was 
unternimmt ein verlorener Mann meiner An, der das abscheulichste 
aller Handwerke ausiibt? Ach, meine Freunde, er hat niemals die 
leichte, die beschwingte, die gottliche Phantasie der einfachen Lieben- 
den! Ein Mann meines Schlages hat eine niedrige, eine Polizeiphanta- 
sie. Der Frau, die er liebt, stellt er nach mit den Mitteln, die ihm sein 
Beruf zur Verfiigung stellt. Nicht einmal die Leidenschaft vermag 
einen Menschen meiner Art zu veredeln. - Die Gewalt zu miftbrau- 
chen ist das Prinzip der Menschen meiner Natur! Und, weift Gott, ich 
mifibrauchte sie. 

Ich gab an der Grenze einem meiner Kollegen einen Wink, und er 
verstand ihn sofort. Ihr erinnert euch, meine Freunde, was damals eine 
russische Grenze bedeutete. Es war weniger die Grenze des gewaltigen 



/O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Zarenreiches als die Grenze unserer Willkiir, will sagen: der Willkiir 
der russischen Polizei. Die Macht des Zaren hatte ihre Grenzen, in 
seinem eigenen Schlofi sogar. Unsere Macht aber, die Macht der Poli- 
zei, horte erst an den Grenzen des Reiches auf, und oft - wie ihr bald 
horen werdet - auch noch lange nicht jenseits unserer Grenzen. Im- 
merhin, einem Polizisten bereitete es unermefiliches Vergniigenj ge- 
rade einen harmlosen Menschen zittern zu sehen, zweitens, einem 
Kollegen zu Gefallen zu sein, drittens - und dies ist besonders wich- 
tig-, gerade eine hiibsche, junge Frau in Schrecken zu versetzen. Dies, 
meine Freunde, ist die besondere Art der polizistischen Erotik. 
Mein Kollege begriff mich also sofort. Ich verschwand fur einige Zeit, 
ich wartete im Polizeikabinett. Der Schneider und alle seine Damen 
mufiten sich einer peinlichen Untersuchung unterziehen - und gar 
nichts niitzte diesem mondanen Schneider seine aufterst beredte Zunge 
und seine Berufung auf alle hohen Herrschaften. Man verstand einfach 
kein Franzosisch. Vergeblich rief er auch ein paarmal nach mir, nach 
dem Fiirsten Krapotkin. Ich konnte ihn zwar durch das kleine Fenster- 
chen beobachten, das die Zwischenwand des Polizeizimmers und des 
Revisionssaals unterbrach. Er aber sah mich nicht. Ich biieb unauffind- 
bar. Ich sah, wie er sich inmitten der aufgeregten Schar seiner Madchen 
umhertrieb, wichtig und ratios, weltmannisch und zugleich verloren, 
wichtigtuerisch und zugleich furchtsam, stolz wie ein Hahn, feig wie 
ein Hase, dumm wie ein Esel. Es freute mich, ich gestehe es. Ich hatte 
eigentlich gar keine Zeit haben diirfen, ihn zu beobachten und zu ver- 
achten. Denn ich liebte ja Lutetia! Aber, so bin ich nun einmal geartet, 
meine Freunde! Ich weifi oft selbst nicht, was ich von mir zu halten 
habe . . . 

Aber das ist ja nicht das Wichtigste. Die Hauptsache war, dafl man 
plotzlich, dank der kameradschaftlichen Gesinnung meines Kollegen, 
im Koffer der Lutetia einen Revolver gefunden hatte. Der Schneider 
rannte ratios herum, er rief ein paarmal nach mir, er beschwor meinen 
Namen, wie man Gotter beschwort - und ich zeigte mich nicht. Von 
meinem Guckloch aus sah ich, zufrieden und gemein, ein Gott und ein 
Spitzel, die Lutetia, die blasse, die hilflose. Sie tat, was alle Frauen in 
derlei Situationen tun mussen: sie begann zu weinen. Und ich erin- 
nerte mich, dafi ich sie, durch ein ahnliches Guckloch, kaum zwei Wo- 
chen friiher beobachtet hatte, wie sie in den Armen des jungen Krapot- 
kin selig gewesen war und gelacht hatte. Oh, ich hatte diese besondere 



BEICHTE EINES MORDERS Jl 

Art des Lachens nicht vergessen! Ich empfand, niedrig, wie ich nun 
einmal bin, meine Freunde, eine Genugtuung. Mochte der Zug war- 
ten, zwei Stunden, drei Stunden! Ich hatte Zeit. 

Endlich, nachdem es so weit gekommen war, daft Lutetia, aller Worte 
bar, weinend dem Schneider um den Hals fiel, alle anderen Damen 
rings um beide herumzuflattern begannen, dermaften, daft das Ganze 
ungefahr aussah wie ein tragisches Massaker, ein aufgeregter Hiihner- 
hof und das romantische Abenteuer eines romantischen Schneiders 
zugleich, erschien ich auf der Bildflache. Sofort verneigte sich der 
Kollege vor mir und sagte: >Euer Hochwohlgeboren, zu Ihren Dien- 
sten!< 

Ich sah ihn gar nicht an. Ich fragte - in den Saal hinein-, ohne einen 
der vielen Menschen anzusehen: >Was ist hier eigentlich geschehen?< 
>Euer Hochwohlgeboren<, begann mein Kollege, >man hat hier, im 
Koffer einer Dame, einen Revolver gefunden.< 

>Das ist mein Revolver^ sagte ich, >Die Damen stehen unter meinem 
Schutz.< 

>Wie Sie befehlen!< sagte der Beamte. 
Wir stiegen in den Zug. 

Selbstverstandlich fiel mir - wie ich vorausgesehen hatte - der Schnei- 
der um den Hals, kaum waren wir im Zug. >Wer ist eigentlich jene 
Dame mit dem Revolver ?< fragte ich. >Ein harmloses Madchen<, sagte 
er, >ich kann es mir gar nicht erklaren.< >Ich mochte sie sprechen<, 
sagte ich. >Sofort<, erwiderte er, >ich bringe sie Ihnen.< 
Er brachte sie mir. Und er verlieft uns sofort. Wir blieben allein, Lu- 
tetia und ich. 

Es dunkelte schon, und der Zug schien durch den immer dichter wer- 
denden Abend immer schneller dahinzurasen. Es erschien mir merk- 
wurdig, daft sie mich keineswegs erkannte. Es war, als ware alles dar- 
auf angelegt, mir selbst zu beweisen, wie wenig Zeit ich hatte, mein 
Ziel zu erreichen. Deshalb auch erschien mir angebracht, sofort zu 
sagen: >Wo ist denn nun mein Revolver ?<- 

Statt jeder Antwort - die immerhin noch moglich gewesen ware - fiel 
mir Lutetia in die Arme. 

Ich nahm sie auf meinen Schoft. Und es begannen, im Dunkel des 
Abends, der um uns durch zwei Scheiben hereinfiel, von zwei Seiten 
her - es war gar nicht ein Abend mehr, es waren deren zwei - die 



■Jl ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Liebkosungen, die ihr alle kennt, meine Freunde, und die so oft das 
Unheil unseres Lebens einleiten.« 

Als er an dieser Stelle seiner Erzahlung angelangt war, schwieg Go- 
lubtschik eine lange Weile. Sein Schweigen schien uns deshalb noch 
langer zu dauern, weil er gar nichts trank. Wir anderen alle nippten nur 
an unseren Glasern, aus Scham und Zuruckhaltung, weil Golubtschik 
sein Glas kaum zu beachten schien. Sein Schweigen schien also gewis- 
sermafien ein doppeltes Schweigen zu sein. Ein Erzahler, der seine Ge- 
schichte unterbricht und ein Glas, das vor ihm stent, nicht an die Lip- 
pen fuhrt, erweckt in seinen Zuhorern eine sonderbare Beklemmung. 
Wir alle, die Zuhorer Golubtschiks, fuhlten uns beklommen. Wir 
schamten uns, Golubtschik in die Augen zu sehen, wir stamen bei- 
nahe stupide auf unsere Giaser. Wenn wir wenigstens das Ticken einer 
Uhr vernommen hatten! Aber nein! Keine Uhr tickte, keine Fliege 
summte, und auch von der nachtlichen Strafie her drang kein Gerausch 
durch den dichten, eisernen Rolladen. Wir waren einfach preisgegeben 
der todlichen Stille. Lange, lange Ewigkeiten schienen vergangen seit 
dem Augenblick, in dem Golubtschik seine Erzahlung angefangen 
hatte. Ewigkeiten, sage ich, nicht Stunden. Denn da die Wanduhr in 
diesem Restaurant stillstand und dennoch jeder von uns einen verstoh- 
lenen Blick nach ihr hinwarf, obwohl wir alle wufiten, dafi sie stehe, 
erschien uns alien die Zeit ausgeloscht, und die Zeiger iiber dem wei- 
fkn Zifferbiatt waren nicht mehr schwarz allein, sondern geradezu du- 
ster. Ja, duster waren sie wie die Ewigkeit. Bestandig waren sie in ihrer 
hartnackigen, beinahe niedertrachtigen Stabilitat, und es schien uns, als 
bewegten sie sich nicht deshalb nicht, weil das Uhrwerk stillestand, 
sondern als blieben sie unbeweglich aus einer Art Bosheit und wie um 
zu beweisen, dafl die Geschichte, die uns Golubtschik zu erzahlen im 
Begriffe war, eine ewig gultige, trostlose Geschichte sei, unabhangig 
von Zeit und Raum, von Tag und Nacht. Da also die Zeit stillestand, 
war gleichsam auch der Raum, in dem wir uns befanden, aller seiner 
Raumgesetze ledig; und es war, als befanden wir uns nicht auf der 
festen Erde, sondern auf den ewig schwankenden Wassern des ewigen 
Meeres. Wie in einem Schiff kamen wir uns vor. Und unser Meer war 
die Nacht. 



BEICHTE EINES MORDERS 73 

Jetzt erst, nach dieser langen Weile, tat Golubtschik wieder einen 
Schluck aus seinem Glase. 

»Ich habe (iberlegt«, begann er von neuem, »ob ich euch, meine 
Freunde, ganz genau den weiteren, den detaillierten Fortgang meiner 
Erlebnisse erzahlen soil. Ich unterlasse es lieber. Ich will sofort mit 
meiner Ankunft in Paris anfangen. 

Ich kam also nach Paris. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was da- 
mals fur mich, den kleinen Golubtschik, den Spitzel, der sich selbst 
verachtete, den falschen Krapotkin, den Lieberhaber Lutetias, die 
Stadt Paris bedeutete. Es kostete mich schwere Miine, nicht zu glau- 
ben, daft mein Paft falsch sei und daft meine schmutzige Aufgabe, die 
gefliichteten sogenannten >staatsgefahrlichen Subjekte< zu iiberwa- 
chen, meine eigentliche sei. Es kostete mich eine unwahrscheinliche 
Miihe, mich selbst endgiiltig davon zu iiberzeugen, daft meine Exi- 
stenz verloren und verlogen war, mein Name erborgt, wenn nicht ge- 
stohlen, mein Paft das schandliche Papier eines schandlichen Spitzels. 
In dem Augenblick aber, in dem ich all dies erkannt hatte, begann ich 
mich selbst zu hassen. - Ich hatte mich immer gehaftt, meine 
Freunde! - Nach all dem, was ich euch erzahlt habe, wiftt ihr es ja! - 
Aber der Hafi, den ich jetzt gegen mich empfand, war ein Haft von 
einer anderen Art. Zum erstenmal empfand ich Verachtung gegen 
mich. Vorher hatte ich nie gewuftt, daft eine falsche Existenz, aufge- 
baut auf einem erborgten und gestohlenen Namen, die eigentliche, 
die wirkliche Existenz vernichten konne. Jetzt aber erfuhr ich am 
eigenen Leibe sozusagen die unerklarliche Magie des Wortes; des ge- 
schriebenen, des aufgeschriebenen Wortes. Gewift, ein nichtsnutziger, 
ein gedankenloser Polizeibeamter hatte mir einen Pafi auf den Namen 
Krapotkin ausgestellt; und er hatte sich dabei nicht nur gar nichts ge- 
dacht; er hatte es auch fur selbstverstandlich gehalten, einem Spitzel 
Golubtschik den Namen Krapotkin zu verleihen. Dennoch, es war 
Magie, es ist Magie in jedem gesprochenen, geschweige denn in jedem 
geschriebenen Wort. Durch die einfache Tatsache, daft ich einen Paft 
auf den Namen Krapotkin besafi, war ich ein Krapotkin schlechthin; 
aber zugleich bewies mir dieser Paft noch auf andere, ganz irrationale 
Weise, daft ich ihn nicht nur zu Unrecht, sondern auch zu unredli- 
chen Zwecken erworben hatte. Er war gewissermaften der stetige 
Zeuge meines iiblen Gewissens. Er zwang mich, ein Krapotkin zu 
werden, indes ich nicht aufhoren konnte, ein Golubtschik zu sein, 



74 ROMANE UND ER2AHLUNGEN 

Golubtschik war ich, Golubtschik bin ich, Golubtschik bleuV ich, 
meine lieben Freunde! . . . 

Aufterdem aber - und dieses >aufierdem< ist bezeichnend und wichtig - 
war ich verliebt in Lutetia. Begreift ihr wohl: ich war verliebt, ich, der 
Golubtschik. Sie aber, die sich mir hingegeben hatte, war vielleicht - 
wer kann es wissen - in jenen Fursten Krapotkin verliebt, den ich dar- 
stellen mufite! Fur mich allein war ich also gewissermaften der Golub- 
tschik, wenn auch mit dem festen Glauben, ich sei Krapotkin; fur sie 
aber, fur sie, die damals den Inhalt meines Lebens darstellte, war ich 
Krapotkin, ein Cousin jenes Gardeleutnants, meines Halbbruders, den 
ich hafite und der sie vor mir umarmt hatte. 

Ich sage: vor mir. In dem Alter namlich, in dem ich mich damals be- 
fand, ist der Mensch gewohnt, alle jene Manner mit einem tiefen Haft 
zu hassen, die vor ihm seine geliebte Frau, wie man so zu sagen pflegt, 
>besessen< haben. Wie aber sollte ich gar meinen falschen Halbbruder 
nicht hassen? Den Vater, den Namen und die geliebte Frau hatte er mir 
genommen! Wenn ich iiberhaupt einen Menschen meinen Feind nen- 
nen konnte, so war er es. Ich hatte noch nicht vergessen, wie er in das 
Zimmer meines Vaters - nicht des seinigen - eingebrochen war, um 
mich daraus zu vertreiben. Ich haftte ihn. Ach, wie ich ihn hafite! Wer, 
wenn nicht er, war schuld daran, daft ich das schmutzigste aller Ge- 
werbe ausiibte? Er vertrat mir immer wieder den Weg. Ohnmachtig 
war ich gegen ihn, iibermachtig war er mir gegeniiber. Immer, immer 
stand er gegen mich, ja immer, immer kam er mir zuvor, um gegen 
mich aufzustehn. Nicht der Fiirst Krapotkin hatte ihn gezeugt. Ge- 
zeugt hatte ihn ein anderer. Schon in der Sekunde, in der ihn der an- 
dere gezeugt hatte, hatte er angefangen, mich zu betriigen. Oh, ich 
haftte ihn, meine Freunde! - Und wie ich ihn hafite! 
Erlaftt mir, meine Freunde, die nahere Beschreibung der Umstande, 
unter denen ich der Geliebte Lutetias geworden war. Es war nicht 
schwierig. Es war nicht leicht. Ich liebte damals, meine Freunde, und 
es ist mir also heute schwer zu sagen, ob ich es schwer oder leicht 
hatte, der Geliebte Lutetias zu werden. Es war schwer und leicht, es 
war leicht und schwer - wie ihr wollt, meine Freunde! . . . 

Ich hatte ja damals keine genaue Vorstellung von der Welt und von den 
sonderbaren Gesetzen, welche die Liebe regieren! Zwar war ich ein 
Spitzel, man hatte also denken miissen: ein mit alien Wassern gewa- 



BEICHTE EINES MORDERS 75 

schener Mann! Aber ich war, trotz diesem meinem Beruf und trotz 
alien Erfahrungen, die er mir eingetragen hatte, Lutetia gegenuber ein 
harmloser Dummkopf; Lutetia gegenuber, das heifit alien Frauen, der 
Frau iiberhaupt gegenuber. Denn Lutetia war die Frau kurzweg, 
schlechthin — die Frau iiberhaupt. Sie war die Frau meines Lebens. 
Sie war die Frau, sie war das Weib meines Lebens. 
Es ist leicht, meine Freunde, heute iiber den Zustand zu spotten, in 
dem ich mich damals befand. Heute bin ich alt und erfahren. Heute 
sind wir alle alt und erfahren. Aber jeder von euch wird sich an eine 
Stunde erinnern konnen, in der er jung und tdricht war. Nun, es war 
bei jedem von euch vielleicht nur eine Stunde, nach der Uhr gemessen. 
Bei mir war's eine lange Stunde, eine viel zu lange Stunde! ... - wie ihr 
bald sehen werdet. 

Ich meldete mich, wie man's mir befohlen hatte und wie es meine 
Pflicht war, bei der russischen Botschaft. 

Es war da ein Mann, sag' ich euch, der mir auf den ersten Blick gefiel. 
Er gefiel mir sogar aufierordentlich. Es war ein grower, kraftiger Mann. 
Es war ein ein schoner, kraftiger Mann. Er hatte eher bei der kaiserli- 
chen Garde dienen konnen als bei unserer geheimen Polizei. Menschen 
seinesgleichen hatte ich bis dahin in unserer Gesellschaft noch nicht 
viel gesehen. Ja, ich mufi sagen, es tat mir, nachdem ich kaum eine 
Viertelstunde mit ihm gesprochen hatte, beinahe weh, ihn an der Stelle 
zu wissen, in der er keinesfalls der Niedertracht entgehen konnte. Ja, 
es tat mir weh! So viel echte, schone Ruhe strahlte er aus, wie soil ich 
sagen: eine harmonische Kraft, das Kennzeichen eines wirklichen Her- 
zens. >Sie sind mir angekundigt<, so begriiEte er mich. >Ich weifi, wel- 
chen Unsinn Sie begangen haben. Nun - und jetzt - unter welchem 
Namen gedenken Sie hier zu leben?< - Unter welchem Namen? - Ja, 
ich hatte ja einen, den einzigen, der mir zustand. Ich hieft ja Krapotkin. 
Ich hatte ja Visitkarten. So jammerlich war damals mein Uberlegung. 
Seit einigen Jahren schon hatte ich unzahlige Schurkereien veriibt - 
und nichts, meine Freunde, sollte man glauben, macht einen Menschen 
mehr klug, erfahren, iiberlegen als die Spitzelei. Aber nein, man 
tauscht sich darin. Meine Opfer waren gewift nicht nur edler als ich, 
sondern auch bedeutend kliiger, und auch dem Einfaltigsten unter ih- 
nen ware es unmoglich gewesen, dermaEen eitel und lacherlich und 
kindisch zu sein. Ich war schon mitten in der Holle, ja, ich war schon 



76 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ein hartgesottener Knecht der Holle, und immer noch - ich fiihlte es in 
jenem Augenblick - war mein Schmerz iiber den Namen Golubtschik, 
iiber die Erniedrigung, die ich erfahren zu haben glaubte, meine Sucht, 
um jeden Preis Krapotkin zu werden, die einzige, dumme und blinde 
Triebkraft meines Lebens. Durch List und Gemeinheit, glaubte ich 
immer noch, konnte ich das ausloschen, was ich fur den Schandfleck 
meines Lebens hielt. Aber ich haufte nur Schande iiber Schande auf 
mein armes Haupt. In jenem Augenblick fiihlte ich undeutlich, dafi ich 
Lutetia eigentlich gar nicht aus Liebe gefolgt war und dafi ich mir nur 
zu meiner Rechtfertigung eine starke Leidenschaft eingebildet hatte, 
wie sie edlen Seelen allein zukommt. In Wirklichkeit hatte ich mich 
darein verbissen, Lutetia zu besitzen, wie ich versessen war, nicht 
mehr Golubtschik zu sein. Ich schuf in mir selbst, gegen mich selbst 
also, eine wahnwitzige Torheit nach der anderen, ich tauschte und ver- 
riet mich, wie es meine Aufgabe war, andere zu tauschen und zu verra- 
ten. Ich verstrickte mich selbst in meinen eigenen Netzen, es war zu 
spat. Obwohl ich all dies halb klar, halb unklar dachte, zwang ich mich 
immer noch zu der Luge, an Lutetia sei alles gelegen und ihretwegen 
allein konnte ich nicht auf meinen falschen Namen Krapotkin verzich- 
ten. - >Ich habe ja schon einen Namen<, sagte ich und zeigte meinen 
Pafi. Mein Vorgesetzter sah ihn gar nicht an und sagte: >Junger Freund, 
um mit diesem Namen hier Geschafte zu machen, miiftten Sie ein 
Hochstapler sein. Sie aber haben das bescheidene Gewerbe eines mitt- 
leren Agenten. Aber, Sie mogen private Griinde haben. Es ist wahr- 
scheinlich eine Dame dabei. Hoffen wir, dafi sie jung und hubsch ist. 
Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, dafi junge und hubsche Damen 
Geld brauchen. Und ich bin sehr sparsam. Aufterordentliche Pramien 
zahle ich nur fur aufierordentliche Schuf tigkeiten. Ich werde bei Ihnen 
keine Ausnahme machen. Falsche Papiere, auf andere Namen, konnen 
Sie in beliebiger Anzahl bekommen. Also, gehn Sie! Sie melden sich 
bei mir, wann Sie wollen. Wo sind Sie abgestiegen? - Im Hotel Lou- 
vois, ich weifi es. Noch eines, lernen Sie Sprachen, besuchen Sie Kurse, 
Hochschulen, was Sie wollen. Sie melden sich zweimal in der Woche 
bei mir, hier, in den Abendstunden. Hier ist der Scheck. Daft Sie von 
Ihren Kollegen beobachtet werden, wissen Sie. Also, keine Dummhei- 
ten!< 

Als ich wieder draulkn war, atmete ich auf. Ich fiihlte, dafi es eine 
jener Stunden war, die man, wenn man jung ist, entscheidende nennt. 



BEICHTE EINES MORDERS 77 

Spater, im Leben, gewohnt man sich daran, viele, fast alle Stunden fur 
entscheidende zu halten, Es gibt gewift Krisen und Hohepunkte und 
sogenannte Peripetien, aber wir selbst wissen nichts davon, und wir 
konnen einen Hohepunkt unmoglich von einer gleichgiiltigen Sekunde 
unterscheiden. Wir erfahren hochstens dies und jenes - und auch die 
Erfahrung nutzt uns gar nichs. Erkennen und unterscheiden aber ist 
uns versagt. 

Unsere Phantasie ist immer machtiger als unser Gewissen. Obwohl 
mir also das Gewissen sagte, ich sei ein Schurke, ein Schwachling, ein 
Elender, ich sollte die jammerliche Wirklichkeit nicht verkennen, ritt 
meine Phantasie in einem schrecklichen Galopp mit mir dahin. Mit 
dem ansehnlichen Scheck in der Tasche, von meinem sympathischen 
Vorgesetzten entlassen, der mir jetzt allerdings in dem gleichen Grade 
lastig erschien, wie er mir vorher sympathisch gewesen war, fiihlte ich 
mich frei und ledig in dem freien und ledigen Paris. Abenteuern, herr- 
lichen, ging ich entgegen, der schonsten Frau der Welt und dem mo- 
dernsten aller Schneider. In jener Stunde schien es mir, daft ich endlich 
eine Art des Lebens beganne, nach der ich mich immer schon gesehnt 
hatte. Jetzt war ich fast wirklich ein Krapotkin. Und ich unterdriickte 
die eindringliche, aber fast unhorbare Stimme des Gewissens, die mir 
da sagte, ich ginge jetzt eigentlich einer doppelten Gefangenschaft ent- 
gegen, einer dreifachen gar: erstens der Gefangenschaft meiner Tor- 
heit, meines Leichtsinns, meines Lasters, an die ich aber schon gleich- 
sam gewohnt war; zweitens der Gefangenschaft meiner Liebe; drittens 
der Gefangenschaft meines Berufs. 

Es war ein milder, sonniger Pariser Nachmittag im Winter. Die braven 
Leute saften auf den Terrassen vor den Kaffeehausern, und mit einer 
wonnigen Schadenfreude dachte ich daran, daft sich bei uns in Ruftland 
um die gleiche Jahres- und Tageszeit brave Leute in den heiften und 
dunklen Stuben verkrochen. Ich ging, ohne Ziel, von einem Lokal ins 
andere. Uberall erschienen mir die Menschen, die Wirte, die Kellner 
frohlich und gutherzig, mit jener Gutherzigkeit gesegnet, die nur eine 
standige Freude geben kann. Der Winter in Paris war ein echter Fruh- 
ling. Die Frauen in Paris waren echte Frauen. Die Manner in Paris 
waren herzliche Kameraden. Die Kellner in Paris waren wie frohliche, 
weiftbeschiirzte, flinke Handlanger irgendeines geniefterischen Gottes 
aus der Sagenwelt. - Und in Ruftland, das ich fur immer verlassen zu 



78 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

haben glaubte, war es finster und kalt. Als stiinde ich nicht mehr in 
den Diensten - und in weich abscheulichen Diensten - dieses Landes! 
Dort lebten die Golubtschiks, deren elenden Namen ich nur deshalb 
trug, weil ich dort zufallig zur Welt gekommen war. Dort lebten die 
nicht minder elenden, von Charakter elenden Krapotkins, ein Fiir- 
stengeschlecht, wie es eins nur in Rufiland geben konnte und das Blut 
von seinem Blute verleugnete. Niemals hatte ein franzosischer Kra- 
potkin dermaften gehandelt. Ich war, wie ihr sent, jung, dumm, elend 
und jammerlich damals. Aber ich erschien mir stolz, edel und sie- 
greich, Alles, was ich in dieser prachtigen Stadt erblickte, schien mich 
zu bestatigen, meine Uberzeugungen, meine friiheren Handlungen 
und meine Liebe zu Lutetia. 

Erst als der Abend vollends und meiner Meinung nach viel zu friih 
einbrach, gleichsam mit kunstlicher Gewalt von Laternen allzuschnell 
herbeigeschworen, wurde mir elend zumute, und ich kam mir vor 
wie ein enttauschter Glaubiger, der plotzlich alle Gotter verloren hat. 
Ich fluchtete mich in einen Fiaker und fuhr ins Hotel zuriick. Alles 
erschien mir auf einmal schal und falsch. Und mit aller Gewalt klam- 
merte ich mich an die einzige Hoffnung, die mir noch geblieben war, 
an Lutetia. An Lutetia und an das Morgen. Morgen, morgen sollte 
ich sie sehen. Morgen, morgen! 

Ich begann, was unsereins bei solchen Gelegenheiten zu tun beginnt: 
ich begann zu trinken. Erst Bier, dann Wein, dann Schnaps. Mit der 
Zek fing es an, sich in meinem Herzen aufzuklaren, und in den frii- 
hen Morgenstunden erreichte ich fast die gleiche Seelenfrohlichkeit, 
die mich am Nachmittag zuvor erfullt hatte. 

Als ich, nicht mehr ganz meiner Krafte sicher, auf die Strafie trat, 
graute bereits der winterliche, milde Morgen. Es regnete, sanft und 
behaglich, wie es bei uns in Rutland nur im April regnen kann. Dies 
und meine Verwirrung machten, dafi ich einen Augenblick nicht 
mehr wufke, in welcher Zeit und in welchem Raum ich mich befand. 
Erstaunt und beinahe erschrocken war ich, da ich sah, mit welcher 
Untertanigkeit mich die Dienerschaft des Hotels behandelte. Ich 
mufke mich erst erinnern, dafi ich ja eigentlich der Fiirst Krapotkin 
war. 

Es kam mir, nach einer Weile, draufien im frischen, sanften Morgen- 
regen zum Bewufitsein. Es war, als hatte mich geradezu der sanfte, 
frische Morgenregen zum Furs ten Krapotkin ernannt. Zu einem Pari- 



BEICHTE EINES MORDERS 79 

ser Fiirsten Krapotkin. Das war damals meiner Meinung nach weit 
mehr als ein russischer. 

Es regnete vom Pariser Himmel, sanft und giitig, auf meinen nackten 
Kopf, auf meine muden Schultern. Ich stand lange so vor dem Portal des 
Hotels. Hinter meinem Riicken fuhlte ich den ehrerbietigen, den ange- 
strengt gleichgiiltig tuenden und - dank meinem Berufsinstinkt - auch 
den zugleich nicht ohne Argwohn beobachtenden Blick der Diener- 
schaft. Er tat mir wohl, dieser Blick. Er tat mir wohl, dieser Regen. Der 
Himmel von Paris segnete mich. Schon begann der Morgen von Paris. 
Die Zeitungstrager gingen mit unwahrscheinlich frischem Gleichmut an 
mir voriiber. Das Volk von Paris erwachte. Und ich, als ware ich kein 
Golubtschik, sondern ein echter Krapotkin, ein Pariser Krapotkin, 
gahnte, aus Miidigkeit zwar, aber auch nicht minder aus Hochmut. Und 
hochmiitig, aufterst lassig und geradezu grands eigneural ging ich an den 
ehrfurchtigen und zugleich argwohnischen Blicken der Hoteldiener 
vorbei, deren gekrummte Riicken dem Krapotkin und deren Augen 
dem Spitzel Golubtschik zu gelten schienen. 

Verwirrt und ermattet sank ich ins Bett. An die Fensterbretter trom- 
melte gleichmaftig der Regen. 

Ich begann, wie ich es mir vorgenommen oder, wenn ihr wollt, nur 
eingebildet hatte, ein sogenanntes neues Leben. Mit neuen Kleidern - 
ich lieft mir einen der lacherlichen Schneider kommen, die um jene Zeit 
die sogenannten Herren der Welt einzukleiden pflegten - begann ich, 
eine Art des Lebens zu fiihren, die einem Fiirsten angemessen erschien. 
Eine wahrhaft neue Art des Lebens. Ein paarmal war ich beim Schnei- 
der meiner geliebten Lutetia eingeladen. Ein paarmal lud ich ihn ein. 
Ihr werdet mir glauben, meine Freunde, daft ich heute, da alle meine 
alte Pein dermaften von mir abgefallen ist, daft ich sie euch so offen 
gestehen kann, wie ich es nunmehr tue, daft ich also jetzt keineswegs 
aus Hochmut oder Eingebildetheit erzahle, ich sei damals aufterst 
sprachbegabt gewesen. Ich war sehr sprachbegabt. Innerhalb einer 
Woche sprach ich beinahe ein vollkommenes Franzosisch. Ich unter- 
hielt mich jedenfalls flieftend, wie man sagt, mit dem mondanen 
Schneider und mit all seinen Madchen, die mich von der Reise her 
kannten. Ich unterhielt mich auch mit Lutetia. Gewift, sie erinnerte 
sich meiner, besonders des Zwischenfalls an der Grenze wegen und 
auch wegen meines Namens und schlieftlich wegen der Stunde im 



80 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Coupe. Ich war um jene Zeit nichts anderes als der Trager meines fal- 
schen Namens. Ich war ja langst nicht mehr ich selbst. Ich war nicht 
nur kein Krapotkin mehr, ich war auch kein Golubtschik mehr. Ich 
war wie zwischen Himmel und Erde. Mehr noch: wie zwischen Him- 
mel, Erde und Holle. In keinem von den drei Gebieten fuhlte ich mich 
heimisch. Wo war ich eigentlich? Und was war ich eigentlich? War ich 
Golubtschik? War ich Krapotkin? War ich in Lutetia verliebt? Liebte 
ich sie oder eigentlich meine neue Existenz? War es (iberhaupt eine 
neue Existenz? Log ich, oder sagte ich die Wahrheit? - Um jene Zeit 
dachte ich manchmal an meine arme Mutter, die Frau des Forsters 
Golubtschik, nichts wuftte sie mehr von mir, verschwunden war ich 
aus dem engen Gesichtskreis ihrer armen, alten Augen. Nicht einmal 
mehr eine Mutter hatte ich noch. Eine Mutter! Welcher Mensch in der 
ganzen weiten Welt hatte keine Mutter? Verloren war ich und verwii- 
stet! Aber ein solch Elender war ich damals noch, daft ich selbst aus 
meiner Niedertracht einen gewissen Stolz bezog und daft ich sie, die 
ich selber beging, zugleich als eine Art Auszeichnung betrachtete, die 
mir die Vorsehung angedeihen lieft. 

Ich will mich bemuhen, kurz zu werden. Es gelang mir, nach einigen 
hochst uberflussigen Besuchen bei dem Schneider der groften Pariser 
Welt und nachdem ich die meisten seiner neuen Kleider gesehen und 
gelobt hatte, die er selbst und alle Zeitungen >Kreationen< nannten, 
jene besondere Art des Vertrauens der Lutetia zu gewinnen, das ein 
Versprechen und ein Gelobnis zwischen zwei Menschen bedeutet. 
Eine ganz kurze Zeit spater hatte ich das zweifelhafte Gliick, Gast in 
ihrem Hause zu sein. 

In ihrem Hause! Was ich da >Haus< nenne, war ein armseliges Hotel, 
beinahe ein Stundenhotel, in der Rue de Montmartre. Ein enges Zim- 
mer war's. Die braungelbe Tapete zeigte in unermudlicher Wiederho- 
lung zwei Papageien, einen knallgelben und einen schneeweiften, die 
sich unaufhorlich kiiftten. Sie liebkosten sich. Diese Papageien hatten 
geradezu den Charakter von Tauben. Und auch die Tapete riihrte 
mich; ja, gerade die Tapete. Es erschien mir Lutetias hochst unwiirdig, 
daft sich just in ihrem Zimmer Papageien wie Tauben benahmen - und 
just Papageien. Damals haftte ich Papageien: Ich weift heute nicht 
mehr, warum. (Nebenbei gesagt, hasse ich auch Tauben.) 
Ich brachte B lumen und Kaviar mit, die zwei Gab en, die damals mei- 



BEICHTE EINES MORDERS SI 

ner Meinung nach einen russischen Fiirsten kennzeichnen mochten. 

Wir sprachen mkeinander, innig und lange und ausfiihrlich. >Sie ken- 

nen meinen Vetter?< fragte ich, harmlos und verlogen. >Ja, den kleinen 

Sergej!< erwiderte sie, ebenso harmlos, ebenso verlogen. >Den Hof hat 

er mir gemacht<, erzahlte sie weiter. >Stundenlang! Orchideen hat er 

mir geschickt, denken Sie, mir allein, unter alien meinen Kolleginnen! 

Ich aber machte mir nichts aus ihm! Er gefiel mir einfach nicht!< 

>Mir gefallt er auch nicht!< sagte ich. >Ich kenne ihn seit seiner friihe- 

sten Jugend, und schon damals gefiel er mir nicht.< 

>Sie haben recht<, sagte Lutetia, >er ist ein kleiner Schurke.< 

>Dennoch<, begann ich, >haben Sie sich mit ihm in Petersburg getrof- 

fen, und zwar, wie er mir selbst erzahlt hat, in einem Chambre separee 

bei der alten Gudaneff.< 

>Er liigt, er liigt<, schrie Lutetia, wie nur Frauen schreien konnen, wenn 

sie eine offensichtliche Wahrheit ableugnen wollen. >Nie war ich mit 

irgendeinem Mann in einem Chambre separee! Nicht in Rufiland, 

nicht in Frankreich!< 

>Schreien Sie nicht<, sagte ich, >und lugen Sie nicht! Ich selbst habe Sie 

gesehen. Ich habe Sie gesehen. Sie haben es bestimmt vergessen. Mein 

Vetter liigt nicht.< 

Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, begann Lutetia, jammer- 

lich zu weinen. Ich, der ich es nicht ertrage, eine Frau weinen zu sehn, 

ich lief hinunter und bestellte eine Flasche Cognac. Als ich zuriickkam, 

weinte Lutetia nicht mehr. Sie tat nur so, als ware sie von der Luge, bei 

der ich sie ertappt hatte, aufierst angestrengt und bar aller Lebens- 

krafte. Sie lag auf dem Bett. >Machen Sie sich nichts daraus!< sagte ich. 

>Ich habe Ihnen eine Starkung mitgebracht.< 

Sie erhob sich nach einer Weile. >Sprechen wir nicht mehr von Ihrem 

Vetter!< sagte sie. 

>Sprechen wir nicht mehr von ihm!< stimmte ich ein. >Sprechen wir von 

Ihnen !< 

Und sie erzahlte alles - all das, was ich damals merkwiirdigerweise fur 

absolute, aufkrste Wahrheit hielt, so kurz, nachdem ich sie doch liigen 

gehort hatte! Sie war die Tochter eines Lumpensammlers. Friih ver- 

fiihrt, das heifit im Alter von sechzehn Jahren, ein Alter, das ich heute 

nicht mehr ein >fruhes< zu nennen imstande bin, folgte sie einem Jok- 

key, der sie geliebt und sie in einem Hotel in Rouen sitzengelassen 

hatte. Oh, es mangelte ihr nicht an Mannern! Sie blieb nicht lange in 



82 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Rouen. Und weil sie so auffallend schon gewesen war, hatte sie der 
mondane Schneider bemerkt, der damals auf der Suche nach Modellen 
war, innerhalb des bescheidenen Volkes von Paris . . . Und so war sie 
zu dem mondanen Schneider gekommen . . . 

Sie hatte viel getrunken. Sie log immer noch, ich fuhlte es nach einer 
halben Stunde schon. Aber wo gibt es, meine Freunde, eine Wahrheit, 
die man gerne horen mochte aus dem Munde einer geliebten Frau? 
Und log ich nicht etwa selber? Lebte ich nicht vollkommen eingebaut, 
hatte ich mich nicht behaglich eingenistet in der Luge, dermafien, dafi 
ich nicht nur eine eigene Luge liebte, sondern auch alle fremden Lugen 
zumindest anerkennen und schatzen mufite? Naturlich war Lutetia 
ebensowenig die Tochter eines Lumpensammlers oder Hausmeisters 
oder Schusters oder was weifi ich, wie ich ein Fiirst. Hatte sie damals 
geahnt, wer ich wirklich war, so hatte sie mir wahrscheinlich eingere- 
det, sie sei die uneheliche Tochter eines Barons. Da sie aber annehmen 
mufite, dafi ich mich in den Baronen auskannte, und da sie die Erfah- 
rung besafi, dafi die hochgestellten Herren die Niedrigen und die Ar- 
men mit einer geradezu dichterischen Wehmut betrachten und das 
Marchen von dem Gliick der Armut lieben, erzahlte sie auch mir das 
Marchen von dem Wundcr, das der Armut begegnet. Es klang iibri- 
gens, wahrend sie sprach, kaum unglaubwiirdig. Sie lebte ja schon seit 
langen Jahren in der Luge, in dieser speziellen Luge, und sie glaubte 
zeitweilig an ihre Geschichte. Eine Verlorene war sie, wie ich ein Ver- 
lorener. Die verlorenen Menschen liigen gleichsam unschuldig, wie die 
Kinder. Die verlorene Existenz bedarf des verlogenen Fundamentes. 
In Wirklichkeit war Lutetia die Tochter eines zu seiner Zeit angesehe- 
nen Damenschneiders, und der grofte mondane Schneider, in dessen 
Diensten sie jetzt stand, hatte seine Madchen nicht unter dem geringen 
Volk von Paris gesucht, sondern unter den Tochtern seiner Kollegen, 
natiirlicherweise. 

Und uberdies, meine Freunde: Lutetia war schon. Schonheit erscheint 
immer glaubwiirdig. Der Teufel, der die Urteile der Manner iiber die 
Frauen bestimmt, kampft auf der Seite der Schonen und Gefalligen. 
Einer haftlichen Frau glauben wir selten die Wahrheit, einer hubschen 
alles, was sie erfindet. 

Es ist schwer zu sagen, was mir eigentlich an Lutetia so gefiel. Sie 
unterschied sich auf den ersten Blick wenig von den anderen Madchen 
des Schneiders. Auch sie war geschminkt und wie ein Wesen, zusam- 



BEICHTE EINES MORDERS 83 

mengesetzt aus Wachs und Porzellan, eine Mischung, aus der zu jener 
Zeit die Mannequins gebildet wurden. Heute freilich ist die Welt fortge- 
schritten, und die Damen bestehen in jeder Jahreszeit aus anderen, im- 
mer wechselnden Materien. Auch Lutetia hatte einen unnaturlich klei- 
nen Mund, solange sie schwieg, er glich einer langlichen Koralle. Auch 
ihre Augenbrauen stellten zwei unnaturlich vollkommene Bogen dar, 
nach geradezu geometrischen Gesetzen konstruiert, und wenn sie die 
Augen senkte, sah man unwahrscheinlich lange, mit besonderer Kunst 
geschwarzte Wimpern, Vorhange von Wimpern. Wie sie sich setzte, 
zuriicklehnte, wie sie sich erhob und wie sie ging, wie sie einen Gegen- 
stand anfafke und wiederhinstellte, all das war selbstverstandlich geiibt 
und die Folge zahlreicher Proben. Ihre schlanken Finger sogar schienen 
von einem Chirurgen gedehnt und auf irgendeine Weise geschnitzt wor- 
den zu sein. Sie erinnerten ein wenig an zehn Bleistifte. Sie spielte mit 
ihren Fingern, wahrend sie sprach, betrachtete sie aufmerksam, und es 
sah aus, als suchte sie ihr Spiegelbild in ihren blanken Nageln. Nur 
selten war ein Blick in ihren blauen Augen zu finden. Statt der Blicke 
hatte sie Aufschlage. Wenn sie aber sprach und in den wenigen Sekun- 
den, in denen sie sich vergaft, wurde ihr Mund breit und fast lustern- 
gefrafiig, und zwischen ihren blanken Zahnen erschien fur den Bruchteil 
eines Augenblicks ihre wolliistige Zunge, lebendig, ein rotes und gifti- 
ges Tierchen. In den Mund hatte ich mich verliebt, meine Freunde, in 
den Mund. Alle Schlechtigkeit der Frauen haust in ihren Miindern. Das 
ist, nebenbei gesagt, ja auch die Heimat des Verrats und, wie ihr aus dem 
Katechismus wifk, die Geburtsstatt der Erbsiinde . . . 
Ich liebte sie also. Ich war erschuttert von ihrer verlogenen Erzahlung 
und ebenso erschuttert von dem kleinen Hotelzimmer und der Papa- 
geien-Tapete. Ihrer unwiirdig, besonders gewissermaflen ihres Mundes 
unwurdig, war die Umgebung, in der sie lebte. Ich erinnerte mich an das 
Gesicht des Wirtes unten in der Loge, er sah aus wie eine Art Hund in 
Hemdsarmeln - und ich war entschlossen, Lutetia eine glucklichere, 
eine selige Existenz zu bereiten. - >Wurden Sie mir erlauben<, fragte ich, 
>daft ich Ihnen helfe? Oh, miftverstehen Sie das nicht! Ich habe keinerlei 
Anspriiche! Das Helfen ist meine Leidenschaft<, so log ich, dieweil doch 
das Verderben mein Beruf war, >ich habe nichts zu tun. Ich habe leider 
keinen Beruf. Wurden Sie mir also erlauben . . .?< 
>Unter welchen Bedingungen?< fragte Lutetia und setzte sich im Bett 
auf. 



84 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

>Unter gar keinen Bedingungen, wie ich Ihnen schon sagte.< 
>Einverstanden!< sagte sie. Und da ich Anstalten machte, mich zu erhe- 
ben, begann sie: >Glauben Sie nicht, Furst, dafi ich mich hier ungluck- 
lich fiihle. Aber unser Herr und Meister* den Sie ja kennen, ist sehr oft 
mifigelaunt - und ich habe das Ungliick, von seinen Launen mehr ab- 
zuhangen als die anderen Frauen. Diese, wissen Sie<, und jetzt begann 
ihre Zunge, Gift herzustellen, >haben alle ihre noblen, reichen 
Freunde. Ich aber, ich ziehe es vor, aliein und anstandig zu bleiben. - 
Ich verkaufe mich nicht! < fiigte sie nach einer Weile hinzu und sprang 
dabei aus dem Bett. Ihr Schlafrock, rosa mit blauen Phantasiebliim- 
chen, klaffte auseinander. Nein! - Sie verkaufte sich nicht: sie hatte 
sich mir nur angeboten. 

Von nun an begann die verworrenste Zeit meines Lebens. Ich mietete 
eine kleine Wohnung in der Nahe der Champs-Elysees, eine der Woh- 
nungen, die man in jenen Jahren >kokette Liebesnester< nannte. Lutetia 
selbst richtete sie ein, nach ihrem Geschmack. Es gab wieder Papageien 
an den Wanden - die Art von Vogeln, die mir, wie schon gesagt, ver- 
hafk ist. Es gab ein Klavier, obwohl Lutetia nicht spielen konnte, zwei 
Katzen, vor deren lautlosen und tiickischen, uberraschenden Sprlingen 
ich grofie Angst hatte, einen Kamin ohne Luftzug, in dem das Feuer 
sofort erlosch - und schliefilich, sozusagen als eine besondere Auf- 
merksamkeit fur mich, einen echten russischen Samowar aus Messing, 
den zu behandeln Lutetia mich ausersehen hatte. Es gab ein gefalliges 
Stubenmadchen in einer propren und gefalligen Kleidung - sie sah aus, 
als kame sie aus einer Spezialfabrik fur Stubenmadchen - und schliefi- 
lich, was mich emporte, einen echten, einen lebendigen Papagei, der 
mit unheimlicher Schnelligkeit und geradezu genialem Sinn meinen 
falschen Namen >Krapotkin< gelernt hatte und der mich immer wieder 
also an meine Verlogenheit und Leichtfertigkeit erinnerte. Den Namen 
>Golubtschik< hatte er bestimmt nicht so leicht erlernt. 
Es wimmelte iiberdies in diesem >koketten Nest< Lutetias von Freun- 
dinnen aller Art. Alle bestanden sie aus Porzellan und Wachs. Und ich 
hielt sie nicht auseinander: die Katzen, die Tapeten, den Papagei und 
die Freundinnen. Nur Lutetia erkannte ich noch. Gefangen war ich, 
dreifach und vierfach gefangen! Und zweimal im Tag begab ich mich 
freiwillig in mein sufles, ekelhaftes, verworrenes Gefangnis. 
Eines Abends blieb ich dort - es konnte ja nicht anders geschehen! Ich 



BEICHTE EINES MORDERS 85 

blieb die Nacht dort. Uber dem Kafig des Papageis hing eine schlafrige 
Decke aus rotem Plusch. Die tiickischen Katzen schnurrten wohlig in 
ihren Korben. Und ich schlief, nicht mehr ein Gefangener, sondern 
auch ein fur alle Zeiten Gefesselter; wie man so zu sagen pflegt, in den 
Armen Lutetias. Armer Golubtschik! 

Im Morgengrauen erwachte ich, selig und zugleich unselig. Ich fiihlte 
mich verstrickt und verworfen, und dennoch hatte ich noch nicht die 
Ahnung von Reinheit und Anstandigkeit verloren. Diese Ahnung 
aber, meine Freunde, zart wie ein Lufthauch im friihen Sommermor- 
gen, war starker noch, trotz allem starker als der starke Wind der 
Sunde, der mich umwehte. Unter der Macht dieser Ahnung eben ver- 
liefS ich das Haus Lutetias. Ich wufke nicht, ob ich mich selig oder 
bekummert zu fuhlen hatte. Und in dies em Zweifel schwankte ich, 
ohne Plan und Gedanken, durch die friihen Strafien. 
Lutetia kostete Geld, sehr schnell sah ich es, meine Freunde! (Alle 
Frauen kosten Geld, besonders die liebenden; diese mehr noch als die 
geliebten.) Und ich glaubte zu merken, dafi Lutetia mich liebte. Ich 
war dankbar dafiir, daft irgend jemand auf der Welt mich liebte. Lute- 
tia war iibrigens der einzige Mensch, der mir meinen Krapotkin ohne 
jeden Zweifel glaubte - der an meine neue Existenz glaubte, ja, sie 
bestatigte. Nicht ihr Opfer zu bringen war ich entschlossen, mir selbst 
wollte ich diese Opfer bringen. Mir selbst, dem falschen Golubtschik, 
dem echten Krapotkin. 

Es begann also eine unheimliche Verworrenheit - nicht in meiner 
Seele - die bestand ja schon seit langem-, sondern auch in meinen pri- 
vaten, in meinen materiellen Verhaltnissen. Ich fing an, Geld auszuge- 
ben - mit vollen Handen, wie man sagt. Lutetia brauchte eigentlich 
nicht soviel. Ich selbst brauchte es, fur sie brauchte ich es. Und sie 
begann zu verbrauchen, sinnlos und mit jener siichtigen, ja flucharti- 
gen Leidenschaft, mit denen die Frauen Geld zu verbrauchen pflegen, 
das Geld ihrer Manner und ihrer Liebhaber - beinahe so, als sahen sie 
in dem Geld, das man fur sie ausgibt, das man gar fur sie verschwendet, 
ein bestimmtes Maft des Gefiihls, das die liebenden Manner fur sie 
haben. Ich brauchte also Geld. Sehr bald. Sehr viel. Ich ging, wie es 
meine Pflicht war, zu meinem sympathischen Vorgesetzten - Solo- 
wejczyk hieft er iibrigens, Michael Nikolajewitsch Solowejczyk. 
>Was haben Sie mir zu berichten?< fragte er. Es war gegen neun Uhr 
abends, und es schien mir, es sei niemand mehr, keine Seele, in dem 



56 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

grofien, weiten Haus. Es war sehr still, und man hdrte, wie aus einer 

unerm eft lichen Feme, die verworrenen Gerausche der groften Stadt 

Paris. Dunkel war es im ganzen Zimmer. Die eine Lampe mit griinem 

Schirm auf dem Schreibtisch Solowejczyks sah aus wie der lichte griine 

Kern der abendlichen, kreisrunden Finsternis im Zimmer. 

>Ich brauche Geld!< sagte ich, geborgen in der Finsternis und deshalb 

mu tiger, als ich fruher gedacht hatte. 

>Fiir das Geld, das Sie brauchen<, erwiderte er, >mussen Sie Arbeit lei- 

sten. Wir haben mehrere Aufgaben fur Sie! Es handelt sich nur darum, 

ob Sie imstande sind, oder besser: ob Sie imstande sein wollen, derglei- 

chen Aufgaben durchzufuhren!< 

>Ich bin zu allem bereit!< sagte ich. >Ich bin dazu hergekommen.< 

>Zu allem? wirklich zu allem ?< 

>Zu allem !< 

>Ich glaube es nicht<, sagte der sympathische Solowejczyk. >Ich kenne 

Sie nicht lange - aber ich glaube es nicht! Wissen Sie, um was es sich 

handelt? Es handelt sich um einen gemeinen Verrat, um einen gemei- 

nen Verrat, sage ich. Um einen gemeinen Verrat an wehrlosen Men- 

schen.< - Er wartete eine Weile. - Dann sagte er: >Auch an wehrlosen 

Frauen! . . .< 

>Ich bin es gewohnt. In unserm Beruf . . .< 

Er lieft mich nicht ausreden. >Ich kenne den Beruf!< sagte er und senkte 

den Kopf. Er begann, in den Papieren zu kramen, die vor ihm lagen, 

und man horte nur das Rascheln der Papiere und das allzu gemachliche 

Ticken der Wanduhr. 

>Setzen Sie sich!< sagte Solowejczyk. 

Ich setzte mich, und nun war auch mein Angesicht im Lichtkreis der 

griinen Lampe, gegeniiber dem seinen. Er hob den Blick und sah mich 

starr an. Es waren eigentlich tote Augen, von blinden Augen war etwas 

in ihnen, etwas Trostloses und bereits Jenseitiges. Ich hielt diese Augen 

aus, obwohl ich vor ihnen Angst hatte, denn es war nichts in ihnen zu 

lesen, kein Gedanke, kein Gefiihl, und ich wuftte dennoch, daft es 

eigentlich nicht blinde Augen waren, sondern im Gegenteil sehr 

scharfe. Ich wuftte genau, daft sie mich beobachteten, aber ich ent- 

deckte nicht den Reflex, den ja naturlicherweise jedes beobachtende 

Auge erzeugt. Ubrigens war Solowejczyk der einzige Mensch, bei dem 

ich diese Fahigkeit festgestellt habe: die Fahigkeit namlich, die Augen 

zu maskieren, wie viele andere ihr Angesicht maskieren konnen. 



BEICHTE EINES MORDERS 87 

Ich betrachtete ihn, es dauerte Sekunden, Minuten, mir schienen es 
Stunden zu sein. An seinen Schlafen lichtete sich leicht ergrautes Haar, 
und seine Kinnbacken bewegten sich unermudiich, und es sah aus, als 
kaute er geradezu an seinen Uberlegungen. SchlieElich erhob er sich, 
trat zum Fenster, schlug den Vorhang ein wenig zuriick und winkte 
mich heran. Ich trat zu ihm. >Sehen Sie dort!< sagte er und zeigte mir eine 
Gestalt auf der gegeniiberliegenden Strafienseite. >Kennen Sie ihn?< - Ich 
strengte mich an, ich sah genau hin, aber ich sah nichts anderes als einen 
verhaltnismafiig kleinen, gutburgerlich angezogenen Mann mit aufge- 
schlagenem Pelzkragen und braunem Hut und mit einem schwarzen 
Stock in der Rechten. >Erkennen Sie ihn?< fragte Solowejczyk noch 
einmal. >Nein!< sagte ich. >Also, warten wir eine Weile!< - Gut, wir 
warteten. Nach einer Weile begann der Mann, auf und ab zu gehen. 
Nachdem er so seine zwanzig Schritte hin und zuriickgegangen war, 
durchzuckte es mich wie ein Blitz, wie man so zu sagen pflegt. Meine 
Augen erkannten ihn nicht, mein Gehirn erinnerte sich nicht an ihn, 
aber mein Herz durchzuckte es, es pochte heftiger darin, und es war, als 
hatten plotzlich meine Muskeln, meine Hande, meine Fingerspitzen, 
meine Haare jenes Gedachtnis erhalten, das meinem Gehirn versagt 
geblieben war. Er war es. Das war der halb schleppende und halb tan- 
zelnde Gang, den ich einmal, als ich noch jung und unschuldig gewesen 
war, in Odessa im Bruchteil einer Sekunde und trotz meiner Unerfah- 
renheit sofort gesehen hatte. Es war das erste und einzige Mai in meinem 
Leben, dafi ich bemerkt hatte, ein Hinken konnte ein Tanzeln sein und 
ein Fuft konnte sich verstellen. Ich erkannte also den Mann auf der 
gegeniiberliegenden Strafienseite. Es war kein anderer als Lakatos. 
>Lakatos!< sagte ich. 

>Also!< sagte Solowejczyk und trat vom Fenster zuriick. 
Wir setzten uns beide wieder einander gegeniiber, genauso, wie wir 
vorher gesessen hatten. Den Blick auf die Papiere gesenkt, sagte Solo- 
wejczyk: >Lakatos kennen Sie schon lange?< 

>Sehr lange<, erwiderte ich, >er begegnet mir immer wieder. Ich mochte 
sagen, immer in den entscheidenden Stunden meines Lebens.< 
>Er wird Ihnen noch oft begegnen - wahrscheinlich -<, sagte Solowej- 
czyk. >Ich glaube selten und nur sehr widerwillig an iibernaturliche 
Erscheinungen. Aber bei Lakatos, der mich von Zeit zu Zeit besucht, 
kann ich mich eines gewissen aberglaubischen Gefuhls nicht enthalten!< 
Ich schwieg. Was hatte ich auch sagen sollen? Es schien mir unerbittlich 



55 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

klar, dafi ich unerbittlich gefangen war. Ein Gefangener Solowejczyks? 

Ein Gefangener Lutetias? Ein Gefangener des Lakatos gar? 

Nach einer Pause sagte Solowejczyk: >Er wird Sie verraten und viel- 

leicht vernichten.< 

Ich nahm die aufgezeichneten Befehle entgegen, einen ansehnlichen 

Packen Papier, und ging. 

>Auf Wiedersehn nachsten Donnerstag!< sagte Solowejczyk. 

>Wenn es mir beschieden sein wird, Sie wiederzusehen!< erwiderte ich. 

Mein Herz war beklommen. 

Als ich das Haus verliefi, war Lakatos nicht mehr zu sehen. Weit und 

breit kein Lakatos, obwohl ich fleifiig und griindlich nach ihm suchte, 

eifrig sogar. Ich hatte Angst vor ihm, und ich suchte nach ihm eben 

deshalb so eifrig. Ich fuhlte aber schon, wahrend ich ihn aufzustdbern 

versuchte, daft ich ihn nicht finden wiirde, Ja, ich war dessen sicher, 

dafi ich ihn nicht finden wiirde. 

Wie sollte man den Teufel finden, wenn man ihn sucht. Er kommt, er 

erscheint unverhofft, er verschwindet. Er verschwindet, und er ist 

immer da. 

Seit dieser Stunde fuhlte ich mich nicht mehr vor ihm sicher. Ja, nicht 
allein vor ihm fuhlte ich mich unsicher, sondern auch vor aller Welt. 
Wer war Solowejczyk? Wer war Lutetia? Was war Paris? Wer war ich 
selber? 

Unsicherer noch als vor alien anderen war ich vor mir selber! War es 
mein eigener Wille, der meinen Tag, meine Nacht, alle meine Hand- 
lungen noch bestimmte? Wer trieb mich zu tun, was ich damals tat? 
Liebte ich Lutetia? Liebte ich nicht allein meine Leidenschaft oder aber 
lediglich mein Bedurfnis, mich selbst, meine Menschlichkeit sozusa- 
gen, durch eine Leidenschaft bestatigen zu konnen? Wer und was war 
ich eigentlich: ich, der Golubtschik? Wenn Lakatos da war, horte ich 
auf, Krapotkin zu sein, das schien mir sicher. Auf einmal war es mir 
klar, dafi ich weder Golubtschik noch Krapotkin zu sein imstande war. 
Halbe Tage bald und bald halbe Nachte verbrachte ich bei Lutetia. Ich 
horte langst nicht mehr, was sie mir sagte. Sie redete iibrigens belang- 
lose Dinge. Ich merkte mir viele Ausdrlicke, die mir bis dahin unbe- 
kannt waren, den Tonfall der Worte und der Satze - was meine Fort- 
schritte im Franzosischen betraf, hatte ich ihr viel zu verdanken. Denn 
so ratios ich auch in jenen Tagen war, so vergafi ich doch auch niemals, 



BEICHTE EINES MORDERS 89 

daft es fur mich wichtig werden konnte, >Sprachen zu beherrschen< - wie 
Solowejczyk geraten hatte. Gut, nach wenigen Wochen beherrschte ich 
sozusagen Franzosisch. Zu Hause vergrub ich mich manchmal in engli- 
schen, deutschen, italienischen Biichern, ich betaubte mich geradezu an 
ihnen, und ich bildete mir ein, ich bekame durch sie wirklich eine Exi- 
stenz, eine wirkliche Existenz. Ich las englische Zeitungen, in der Hotel- 
halle zum Beispiel. Und wahrend ich sie las, kam es mir vor, als sei ich 
ein Landsmann jenes weifihaarigen und bebrillten englischen Obersten 
im Lehnstuhl nebenan - eine halbe Stunde lang bildete ich mir ein, ich 
sei ein Englander, ein Oberst aus den Kolonien. Weshalb sollte ich auch 
kein englischer Oberst sein? War ich denn etwa Golubtschik? War ich 
denn etwa Krapotkin? Was und wer war ich eigentlich? 
Jeden Augenblick furchtete ich, Lakatos zu begegnen. Er konnte in die 
Hotelhalle kommen. Er konnte in das grofte Modellhaus des mondanen 
Schneiders kommen, bei dem ich zuweilen vorfuhr, um Lutetia abzuho- 
len. Er konnte mich jeden Augenblick verraten. Er hatte mich sozusa- 
gen in der Hand. Er konnte mich schlieftlich bei Lutetia verraten - und 
das war das schlimmste. In dem Mafte, in dem meine Furcht vor Lakatos 
stieg, wuchs auch meine Leidenschaft fur Lutetia. Eine ubertragene 
Leidenschaft, sozusagen eine Leidenschaft zweiten Ranges. Denn es 
war in Wirklichkeit, meine Freunde, langst, das heiftt seit einigen Wo- 
chen, keine wahre Liebe mehr, es war eine Flucht in die Leidenschaft, 
wie die Mediziner heutzutage bestimmte Krankheitserscheinungen 
mancher Frauen eine >Flucht in die Krankheit< nennen. Ja, es war eine 
Flucht in die Leidenschaft. Sicher, einzig und allein sicher meiner selbst, 
meiner Identitat sozusagen, war ich nur in den Stunden, in denen ich 
Lutetias Korper hielt und liebte. Ich liebte ihn, nicht etwa, weil es ihr 
geliebter Korper war, sondern weil er gewissermaften eine Zuflucht 
war, eine Zelle, eine Klause, ungefahrdet und gesichert vor Lakatos. 
Allerdings geschah leider, was sich notgedrungen ereignen muftte. Lu- 
tetia, die mich ebenso fur unermeftlich reich hielt, wie sie sich selbst fur 
eine Lumpensammlerstochterhalten mochte, brauchte Geld und immer 
mehr Geld. Sie brauchte immer mehr Geld. Es zeigte sich bald, nach 
wenigen Wochen schon, daft sie ebenso schon wie begehrlich war. Oh, 
nicht etwa, daft sie versucht hatte, Geld zuriickzulegen, auf die heim- 
uickische Weise, die viele kleine Biirgerinnen auszeichnet. Nein! Sie 
brauchte in der Tat! Sie verbrauchte! 
Sie war wie die meisten Frauen ihrer Art. Sie wollte nicht >ausnutzen<! 



90 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Aber es wollte in ihr die Gelegenheiten, alle Gelegenheiten, beniitzen. 
Schwach war sie und unermeftlich eitel. Bei den Frauen ist die Eitelkeit 
nicht nur eine passive Schwache, sondern auch eine hochst aktive Lei- 
denschaft, wie bei den Mannern nur das Spiel. Sie gebaren immer aufs 
neue diese Leidenschaft, sie treiben sie an und werden von ihr zugleich 
getrieben. Der Leidenschaft Mutter und Kinder sind sie gleichzeitig. 
Die Leidenschaft Lutetias rift mich mit. Ich hatte bis dahin nicht ge- 
ahnt, wie viel eine einzige Frau auszugeben vermag, und immer in dem 
Glauben, sie gabe >nur das Notwendige< aus. Ich hatte bis dahin nicht 
geahnt, wie ohnmachtig ein liebender Mann - und ich war damals be- 
muht, ein liebender Mann zu sein: was einem wirklich Verliebten 
gleichkommt - gegeniiber den Torheiten einer Frau sein kann. Gerade 
das Torichte und Uberfliissige, das sie tat, erschien mir als das Not- 
wendige und Natiirliche. Und ich will auch gestehen, daft ihre Torhei- 
ten mir schmeichelten, mir gleichsam eine erlogene furstliche Existenz 
bestatigten - ich brauchte Bestatigungen dieser Art. Ich brauchte alle 
diese aufierlichen Bestatigungen, als da sind: Kleider fur mich und fur 
Lutetia, die Untertanigkeit der Schneider, die mir Maft nahmen, im 
Hotel, mit behutsamen Fingern, als ware ich ein zerbrechlicher Gotze; 
die kaum den Mut hatten, meine Schultern und meine Beine mit dem 
Zentimetermafi zu benihren. Ich brauchte, eben weil ich nur ein Go- 
lubtschik war, alles, was einem Krapotkin lastig gewesen ware: den 
Hundeblick in dem Auge des Portiers, die servilen Riicken der Kellner 
und Bedienten, von denen ich nichts anderes zu sehen bekam als die 
tadellos rasierten Nacken. Und Geld, Geld brauchte ich auch. 

Ich begann, moglichst viel zu verdienen. Ich verdiente viel - und ich 
brauche euch nicht zu sagen, auf welche Weise. Manchmal war ich fur 
Lutetia und alle Welt eine Woche lang unauffindbar und sozusagen 
verreist. An solchen Tagen trieb ich mich in den Kreisen unserer politi- 
schen Fliichtlinge herum, in kleinen Redaktionen versteckter und arm- 
seliger Zeitungen, war schamlos genug, kleine Darlehen zu nehmen 
von den Opfern, nach denen ich jagte, nicht weil ich das armselige 
Geld brauchte, sondern um vorzutauschen, daft ich es brauchte, in 
karglichen, verborgenen Stuben die karglichen Mahlzeiten zu teilen 
mit den Verfolgten, den Geschmahten, den Hungrigen; war niedrig 
genug, es hie und da mit der Verfuhrung der Frauen zu versuchen, die 
sich, oft beseligt und manchmal aus einer Art weltanschaulich fundier- 



BEICHTE EINES MORDERS £1 

ten Pflichtbewufitseins, einem Gesinnungsgenossen hingaben - alles in 
allem: ich war, was ich immer im Grunde gewesen war, von Geburt 
und Natur: ein Schurke. Nur hatte ich bis dahin die Schurkerei nicht in 
diesem Mafie ausgeiibt. Ich bewies mir gewissermafien in jenen Tagen 
selbst, daft ich ein Schurke sei, und welch einer! 

Ich hatte Gluck, der Teufel lenkte alle meine Schritte. Wenn ich an 
bestimmten Abenden bei Solowejczyk erschien, konnte ich ihm mehr 
berichten als viele meiner Kollegen. Und ich erkannte an der wachsen- 
den Verachtung, mit der er mich behandelte, dafi ich groftartige Dien- 
ste leistete. >Ich habe Ihre Intelligenz unterschatzt<, sagte er mir ein- 
mal. >Ich habe, nach der Dummheit, die Sie in Petersburg begangen 
haben, gedacht, Sie seien ein kleiner Schurke. Alle Achtung, Golub- 
tschik! Ich werde Sie gut bezahlen.< - Zum erstenmal hatte er mich 
Golubtschik genannt, er wufite wohl, daft es fur mich war wie ein Hieb 
mit einer Nagaika. Ich nahm das Geld, viel Geld, kleidete mich urn, 
fuhr in mein Hotel, sah die Riicken und die Nacken, sah wieder Lute- 
tia, die Nachtlokale, die gemeinen und soignierten Lordgesichter der 
Kellner und vergafi alles, alles. Ich war Fiirst. Ich vergaft sogar den 
furchterlichen Lakatos. 

Ich vergaft ihn zu Unrecht. 

Eines Tages - es war ein milder Friihlingsvormittag, ich saft in der 
Halle des Hotels, und obwohl sie keine Fenster hatte, war es doch, als 
stromte die Sonne gleichsam durch die Poren der Wande, ich war sehr 
heiter und gedankenlos hingegeben der ekelhaften Wollust, die mir das 
Leben bereitete - liefi sich Lakatos bei mir melden. Er war heiter wie 
der Fruhling selbst. Er nahm gewissermaften bereits den Sommer vor- 
aus. Er kam herein wie ein Stiickchen, wie ein menschliches Stiickchen 
des Friihlings, losgelost von der anmutigen Natur, im viel zu hellen 
Uberzieher, mit einer blumeniibersaten Krawatte, in einem hellgrauen 
Halbzylinder, das Rohrstockchen schwenkend, das ich schon so lange 
kannte. >Durchlaucht< und >Fiirst< nannte er mich abwechselnd, und 
manchmal sagte er sogar, nach der Art der kleinen Dienstleute: >Euer 
durchlauchtigste Hochwohlgeboren!< Mit einemmal verfinsterte sich 
fur mich dieser helle Vormittag. Wie es mir die ganze lange Zeit ergan- 
gen sei, fragte mich Lakatos, so laut, daft es alle in der Halle horten und 
der Portier vorne in der Loge. Ich war einsilbig, ich antwortete kaum, 
aus Furcht, aber auch aus Hochmut. >Ihr Herr Vater hat Sie also doch 



92 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

anerkannt?< fragte er mich leise, indem er sich so nahe zu mir heriiber- 

beugte, dafi ich sein Maiglockchen-Parfiim roch, seine Brillantine, die 

in schweren Wellen aus dem Schnurrbart duftete, und dafi ich deutlich 

ein rotliches Glimmen in seinen blanken braunen Augen sah. >Ja!< sagte 

ich und iehnte mich zuriick. 

>Dann wird es Sie freuen<, sagte er, >das, was ich Ihnen mitzuteilen 

habe.< 

Er wartete. Ich sagte nichts. 

>Ihr Herr Bruder ist seit gestern hier!< sagte er gleichmutig. >Er wohnt 

hier in seinem Hause: er hat eine standige Wohnung in Paris. Er will 

hier, wie jedes Jahr, ein paar Monate bleiben. Ich glaube, Sie haben sich 

ausgesohnt?< 

>Noch nicht!< sagte ich und konnte meine Ungeduld und meinen 

Schrecken kaum verbergen. 

>Nun, ich hoffe<, sagte Lakatos, >dafl es jetzt gehen wird. Ich jedenfalls 

stehe Ihnen immer zur Verfiigung.< 

>Danke!< sagte ich. Er erhob sich, verbeugte sich tief und ging. Ich 

blieb sitzen. 

Ich blieb nicht lange. Ich fuhr zu Lutetia. Sie war nicht daheim. Ich 
fuhr in das Atelier des mondanen Schneiders. Mit einem BlumenstrauE 
drang ich vor, wie mit einer geziickten Waffe. Ich konnte sie ein paar 
Augenblicke sehen. Sie wufke noch nichts von der Ankunft Krapot- 
kins. Ich verliefi das Atelier. Ich setzte mich in ein Cafe und bildete mir 
ein, ich konnte durch angestrengtes Nachdenken auf irgendeinen klu- 
gen Einfall kommen. Aber jeder meiner Gedanken war angenagt von 
Eifersucht, Hafi, Leidenschaft, Rachsucht. Bald stellte ich mir vor, es 
ware am besten, ich bate heute noch Solowejczyk darum, mich nach 
Rufiland zuruckzuschicken. Dann wieder uberfiel mich die Angst, die 
Angst davor, mein Leben aufzugeben, Lutetia, meinen erstohlenen 
Namen, alles das, was meine Existenz ausmachte. Ich dachte auch 
einen Augenblick daran, mich umzubringen, aber ich hatte eine grau- 
enhafte Angst vor dem Tode. Viel leichter war es, viel besser, aber 
keineswegs bequemer, den Fiirsten umzubringen. Ihn aus der Welt 
schaffen! Ein fur allemal befreit sein von diesem lacherlichen Bur- 
schen, einem wahrhaft lacherlichen und nutzlosen Burschen. Im glei- 
chen Augenblick aber und gleichsam mit der Logik, die mir mein Ge- 
wissen diktierte, sagte ich mir, dafi, wenn er ein nutzloser Bursche sei, 



BEICHTE EINES MORDERS 93 

ich ein noch schlimmerer, namlich ein boser und schadlicher ware. 
Aber kaum eine Minute spater schien es mir klar zu sein, daf? die Ursa- 
che meiner Schadlichkeit und meiner Schlechtigkeit er allein sei, dieser 
Bursche eben, und dafi ihn zu toten eigentlich eine sittliche Tat sein 
miifite. Denn indem ich ihn ausloschte, totete ich auch die Ursache 
meiner Verderbnis, und ich hatte dann die Freiheit, ein guter Mensch 
zu werden, zu biifien, zu bereuen, meinetwegen ein anstandiger Go- 
lubtschik. Aber damals schon, wahrend ich solches iiberlegte, fuhlte 
ich keineswegs die Kraft in mir zu morden. Ich war, meine Freunde, 
damals noch lange nicht sauber genug, um toten zu konnen. Wenn ich 
daran dachte, einen bestimmten Menschen umzubringen, so war es bei 
mir, in meinem Innern, gleichbedeutend mit dem Entschluft, ihn auf 
irgendeine Weise zu verderben. Wir Spitzel sind keine Morder. Wir 
bereiten lediglich die Umstande vor, die einem Menschen unweigerlich 
den Tod bereiten. Auch ich dachte damals nicht anders, ich konnte gar 
nicht anders denken. Ich war ein Schurke von Geburt und von Natur, 
wie ich euch schon sagte, meine Freunde! . . . 

Unter den vielen Menschen, die zu verraten und auszuliefern damals 
meine schandliche Aufgabe war, befand sich auch eine gewisse Jiidin 
namens Channa Lea Rifkin aus Radziwillow. Niemals werde ich ihren 
Namen, ihren Geburtsort, ihr Gesicht, ihre Gestalt vergessen. Zwei 
ihrer Briider waren in Rutland wegen der Vorbereitung eines Atten- 
tats auf den Gouverneur von Odessa zur Katorga verurteilt worden. 
Sie waren bereits seit drei Jahren in Sibirien, an der Grenze der Taiga, 
wie ich aus den Papieren wufke. Der Schwester war es gelungen, recht- 
zeitig zu fliehen und noch einen dritten Bruder mitzunehmen, einen 
halblahmen jungen Menschen, der den ganzen Tag im Lehnstuhl sitzen 
muftte. Er konnte nur den rechten Arm und das rechte Bein bewegen. 
Es hieft, daft er ein auftergewohnlich begabter Mathematiker und 
Physiker sei und ein ungewohnliches Gedachtnis besitze. Organisa- 
tionsplane und die Formeln, mit deren Hilfe man, auch ohne die kom- 
plizierten technischen Hilfsmittel, Sprengstoffe herstellen konnte, 
stammten von ihm. Bruder und Schwester lebten bei Schweizer Freun- 
den, franzosischen Schweizern aus Genf, einem Schuster und seiner 
Frau. Die russischen Genossen versammelten sich oft in der Werkstatt 
des Schusters. Ich war ein paarmal dort gewesen. Dieses edle jiidische 
Madchen war entschlossen, nach Rutland zuriickzukehren und ihre 



94 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Briider zu retten. Sie nahm alle Verantwortung auf sich. Ihre Mutter 
war gestorben, ihr Vater war krank. Drei unmiindige Geschwister 
blieben ihr noch. In zahlreichen Eingaben an die russische Botschaft 
hatte sie erklart, dafi sie bereit sei, nach Rutland zuriickzukehren, gabe 
man ihr nur die Zusicherung, dafi ihre unschuldigen und nur durch 
ihre, der Schwester, geheime Handlungen schuldig gewordenen Brii- 
der befreit wiirden. Uns, das heifit der russischen Polizei, handeite es 
sich jedenfalls darum, der Frau habhaft zu werden; aber zugleich auch 
darum, die Botschaft keine offiziellen Zusicherungen geben zu lassen. 
Das konnte, das durfte auch eine Botschaft nicht. Jene Channa Lea 
aber >brauchte< man dringend. >Wir brauchen sie<, hieft es in den Zu- 
schriften wortlich. 

Bis zu dem Tage, an dem ich Lakatos' Besuch empfangen hatte, war es 
mir, dem Schurken von Geburt und Natur, dennoch nicht moglich 
gewesen, diese Menschen zu verderben. Diese Menschen, ich meine 
das Madchen und ihren Bruder, waren die einzigen unter all den Rus- 
sen, die zu verraten meine Aufgabe war, welche noch an den Rest mei- 
nes menschlichen Gewissens riihrten. Wenn ich damals iiberhaupt 
noch irgendeine Vorstellung von Todsunde haben konnte, so waren es 
die beiden Menschen allein, die sie in mir zu wecken imstande waren. 
Von dem schwachen, sanften Madchen - wenn es jiidische Engel gibt, 
dann miissen sie eigentlich so aussehen, in dessen Angesicht die Harte 
und die Lieblichkeit sich dermaften vereinigten, dafi man deutlich zu 
sehen vermeinte, die Harte sei eine Schwester der Lieblichkeit -, von 
diesem schwachen und zugleich kraftigen Madchen ging eine zauberi- 
sche Gewalt aus - eine zauberische Gewalt - ich kann es nicht anders 
sagen. Sie war nicht schon - was man so schon heifit in diesem Leben, 
wo wir das Verfuhrerische schon nennen, Nein, diese kleine und unan- 
sehnliche Jiidin beriihrte unmittelbar meine Seele, und sogar auch 
meine Sinne beriihrte sie; denn wenn ich sie ansah, war es, als horte ich 
ein Lied zum Beispiel. Ja, es war, als sahe ich nicht, sondern als horte 
ich etwas Schones, Fremdes, Niegehortes und dennoch sehr Vertrau- 
tes. Manchmal, in stillen Stunden, wenn der lahme Bruder, auf dem 
Sofarand sitzend, in einem Buch las, das auf einem hohen Sessel vor 
ihm aufgeschlagen lag, der idyllische Kanarienvogel friedlich trallerte 
und ein schmaler Streifen guter Friihlingssonne auf den nackten Holz- 
dielen ruhte, safi ich so dem edlen Madchen gegeniiber, betrachtete sie 
still, ihr blasses, breitgebautes, aber abgeharmtes Angesicht, in dem 



BEICHTE EINES MORDERS 95 

gleichsam das Leid aller unserer russischen Juden zu lesen war, und 
war nahe daran, ihr alles zu erzahlen. Ich war gewift nicht der einzige 
Spitzel, den man zu ihr geschickt hatte, und wer weift, wie viele meiner 
Kollegen ich hie und da bei ihr getroffen haben mochte. (Denn wir 
kannten einander nur selten.) Aber ich bin uberzeugt, dafi es alien oder 
den meisten ebenso erging wie mir. Dieses Kind hatte Waffen, denen 
wir unterliegen mufiten. Es handelte sich darum, sie entweder nach 
Rutland zu locken, unter der Vorspiegelung, daft ihre Briider be- 
stimmt freikamen; aber es war naturlich nicht leicht, sie zu tauschen, 
und jedem anderen Versprechen als dem gezeichneten, vom Botschaf- 
ter des Zaren gezeichneten, hatte sie niemals getraut. Es hatte aber 
auch zur Not vielleicht geniigt, von ihr die Namen all ihrer Kameraden 
zu erfahren, die in Rufiland verblieben waren. Aber, meine Freunde, 
ich sagte euch schon, ich sei ein Schuft von Geburt und Natur gewe- 
sen. Im Anblick dieses jungen Madchens nun zerrann meine Schuftig- 
keit, und ich fuhlte manchmal, wie mein Herz weinte, wie es auftaute, 
wortlich genommen. 

Die Monate vergingen, es wurde Sommer. Ich gedachte, mit Lutetia 
irgendwohin abzureisen, Eines Tages erschien in meinem Hotel ein 
weifthaariger, ernst angezogener und sehr feierlicher Mann. Mit sei- 
nem dichten silbernen Haupthaar, mit seinem Ehrfurcht heischenden 
weiften und sauber gestrahlten Backenbart, mit seinem schwarzen, fei- 
nen Stock aus Ebenholz, d ess en silberne, matte Kriicke aus dem glei- 
chen Material gemacht zu sein schien wie sein Haupt- und Barthaar, 
machte er mir den Eindruck eines hohen und makabren Wiirdentra- 
gers am Hofe des Zaren. So, stellte ich mir vor, mufken die kaiserli- 
chen Hofbeamten aussehn, die in der Sterbestunde und beim Begrab- 
nis eines Zaren ihre Funktionen ausiiben. Als ich ihn aber eine langere 
Weile angesehen hatte, schien er mir plotzlich von irgendwoher be- 
kannt. Sein Gesicht, sein dichtes Haar, sein Backenbart und seine 
Stimme tauchten empor aus einer langst versunken geglaubten Kind- 
heit. Und auf einmal, nachdem er mir gesagt hatte: >Es freut mich, Sie 
nach so langen Jahren wiederzusehen, Herr Golubtschik!<, wufke ich 
auch, wer es war. Er mochte uralt sein. Einmal hatte ich seine Stimme 
hinter einer Tiir erlauscht, eine Sekunde lang hatte ich einst im duste- 
ren Hausflur seine silbrige und schwarze Gestait gesehn. Er war der 
Leibsekretar des alten Fursten. Vor Jahren, vor Jahren - wie lang war 
es her - war er zu meinem Pensionsvater gekommen, um fur mich zu 



$6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

bezahlen. Er reichte mir kaum die Hand. Drei kalte, hagere, geradezu 
steinerne Fingerspitzen fiihlte ich fiir den Bruchteil eines Augenblicks. 
Ich bat ihn, sich zu setzen. Als wollte er meinem Stuhl nicht zuviel 
Ehre antun, setzte er sich nur an den allerauftersten Rand, so dafi er 
sich auf seinen Stock zwischen den Knien stiitzen mufke, um nicht 
vom Sessel hinunterzugleiten. Zwischen zwei Fingern hielt er seinen 
feierlichen, schwarzen, steifen Hut. Er ging sofort, wie es im Lateini- 
schen heifit, in medias res. >Herr Golubtschik!< sagte er, >der junge 
Fiirst ist hier. Der alte Herr durfte auch auf der Durchfahrt nach dem 
Siiden eine Weile hierbleiben. Sie haben beiden Herrschaften, unbe- 
rechtigt und sogar auf eine nicht noble Weise - um ein starkeres Wort 
zu unterdriicken -, uberaus viel zu schaffen gemacht. Sie nennen sich 
hier Krapotkin. Sie unterhalten gewisse Beziehungen zu einem Frau- 
lein Dingsda. Sie hat auch mehrere Namen. Der junge Fiirst ist nun 
einmal entschlossen, diese Ihre Beziehung nicht zu dulden. Das ist eine 
Marotte. Aber Nebensache. Der junge Herr ist sehr grofiziigig. Uber- 
legen Sie kurz, und sagen Sie mir gradheraus: Wieviel verlangen Sie, 
um ein fiir allemal aus unserm Gesichtskreis zu verschwinden? Sie ha- 
ben schon einmal erfahren, wie grofi unsere Macht ist. Sie laufen, wenn 
Sie hartnackig bleiben, weit mehr Gefahr als jemals eines der Opfer, 
die von Ihnen verfolgt werden. Ich habe natiirlich nichts gegen Ihren 
Beruf sagen wollen. Er ist, sagen wir, nicht ehrenhaft, aber aufterst 
notwendig, aufierst notwendig - im Staatsinteresse, versteht sich. Un- 
ser Vaterland braucht gewifi Ihresgleichen. Aber der Familie, die ich 
seit vierzig Jahren schon hie und da zu vertreten die Ehre hatte, sind 
Sie einfach unangenehm. Die Familie Krapotkin ist bereit, Ihnen zu 
einer neuen Existenz in Amerika, aber auch in Rutland zu verhelfen. 
Also, iiberlegen Sie, wieviel brauchen Sie?< - Und bei diesen Worten 
zog der silberhaarige Mann seine schwere goldene Uhr aus der Tasche. 
Er behielt sie in der Hand, etwa wie ein Arzt, der den Puis seines 
Patienten fuhlt. - Ich dachte.nach. Ich dachte wirklich nach. Es schien 
mir aussichtslos, vor diesem Mann, vor mir selbst noch Ausfluchte zu 
machen und mir uberflussige und hochst lacherliche, nichtsnutzige 
Atempausen einzureden. Seine Uhr tickte unermudlich. Die Zeit ver- 
rann. Wie lange wurde er noch warten? 

Ich hatte keinen Entschlufi gefalk. Aber der gute Geist, der uns nie 
verlafk, auch nicht, wenn wir Schufte von Geburt und Natur sind, gab 
mir plotzlich die Erinnerung an Channa Lea ein. Und ich sagte: >Geld 



BEICHTE EINES MORDERS $J 

brauche ich nicht. Ich brauche eine Protektion des Fursten. Wenn er 

machtig ist, wie Sie sagen, wird er sie mir verschaffen konnen. Kann 

ich ihn sehen?< 

>Sofort!< sagte der Silberhaarige, steckte die Uhr ein und erhob sich. 

>Kommen Sie mit mir!< 

Die Paris er Privatkalesche des Fursten Krapotkin - des echten - war- 

tete vor dem Hotel. Wir fuhren. Wir fuhren vor die Privatwohnung 

des Fursten. Es war eine Villa im Bois de Boulogne, und in dem La- 

kaien, der einen Backenbart trug wie der Leibsekretar, glaubte ich 

einen jener Diener zu erkennen, die ich vor langen, langen Jahren in 

der Odessaer Sommerresidenz des alten Fursten gesehen hatte. 

Ich wurde angemeldet. Der Sekretar ging vor. Ich wartete eine lange 

halbe Stunde mindestens. Ich saf5, bekummert und verdriickt, unten 

im Vorzimmer, wie ich einst im Vorzimmer des alten Fursten geses- 

sen hatte* Noch weniger war ich gleichsam als der Golubtschik von 

damals. Damals hatte die Welt noch vor mir offengestanden, und 

heute war ich ein Golubtschik, der die Welt bereits verloren hatte. 

Aber ich wuftte es ja. Und es machte mir dennoch wenig aus. Ich 

mufke mich nur zwingen, an Channa Lea Rifkin zu denken, und es 

machte mir gar nichts mehr aus. 

Ich kam endlich ins Zimmer des jungen Fursten. Er sah noch genauso 

aus wie damals, als ich ihn durch den Spalt in der Wand im Chambre 

separee mit Lutetia beobachtet hatte. Ja, er sah noch genauso aus; wie 

soil ich ihn euch beschreiben, ihr kennt den Typ: ein nobler und ver- 

brauchter WindbeuteL Er sah einem Stuck abgebrauchter Seife nicht 

unahnlich, so blaE und fade war seine Haut. Er sah aus wie ein Stiick- 

chen verbrauchter gelber Seife mit einem diinnen schwarzen Schnurr- 

bart. Ich haftte ihn, wie ich ihn seit eh und je gehafit hatte. 

Er ging kreuz und quer durch sein Zimmer, und als ich eintrat, blieb 

er auch nicht einen Augenblick stehen. Er ging weiter herum, als 

hatte der Silberhaarige nicht mich, sondern eine Puppe mitgebracht. 

Er wandte sich auch nicht an mich, sondern an ihn und fragte: >Wie- 

viel?< 

>Ich selbst mochte mit Ihnen verhandeln<, sagte ich. 

>Ich mochte es nicht<, erwiderte er, hielt nicht im Herumwandern 

inne und sah den Sekretar an. >Verhandeln Sie mit ihm!< 

>Ich brauche kein Geld<, sagte ich. >Wenn Sie wirklich so machtig 

sind, wie Sie sagen, so konnen Sie alles von mir haben, wenn Sie zwei 



98 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Manner von der Katorga befreien und ein Madchen vor Strafe. Und 

sofort. Wenn Sie innerhalb einer Woche die beiden befreien !< 

>Ja!< sagte der Sekretar. >Bis dahin aber halten Sie sich moglichst ver- 

borgen. Geben Sie mir die Daten!< 

Ich gab ihm die Daten der Gebriider Rifkin. In ein paar Tagen sollte 

ich Auskunft haben. 

Ich wartete ein paar Tage. Ich wartete, ich mufi sagen, in grofier Unge- 

duld, sozusagen in einer moralischen Ungeduld. Ich sagte: eine morali- 

sche Ungeduld, denn es uberfiel mich damals die Sehnsucht nach der 

Reue, und ich glaubte, gerade damals ware der Augenblick gekommen, 

in dem ich mit einer einzigen sogenannten guten Tat mein ganzes 

schurkisches Leben wettmachen konnte. 

Ich wartete. Ich wartete. 

Endlich erhielt ich eine Einladung, mich in der Privatwohnung des 

Fiirsten einzufinden. 

Der alte, wiirdige Sekretar empfing mich sitzend. Er machte eine einla- 

dende Handbewegung, aber eine nur sehr fliichtige, aber er sagte nicht 

etwa, ich mdchte mich setzen, sondern als verscheuchte er mich viel- 

mehr, wie man eine Fliege verscheucht. 

Aus Trotz setzte ich mich aber und schlug ein Bein iiber das andere. 

Aus Trotz sagte ich auch: >Wo ist der Fiirst?< 

>Fiir Sie nicht zu Hause<, sagte der Alte milde. >Der Fiirst kann sich 

iiberhaupt nicht um politische Dinge kummern, so lafit er Ihnen sagen. 

In schmutzige Sachen lafit er sich nicht ein. Er will auch mit Ihnen 

keine Tauschgeschafte machen. Sie waren iiberdies imstande, ihn an- 

zuzeigen, wie Sie es schon einmal getan haben, und ihn als den Be- 

schiitzer unserer Staatsfeinde hinzustellen. Sie begreifen. Wir konnen 

Ihnen nur Geld anbieten. Wenn Sie es nicht annehmen, haben wir Mit- 

tel, Sie auf eine andere Weise aus Paris wegzuschaffen. Gar so unent- 

behrlich diirften Sie unserm Staat nicht sein. Esgibt sicherlich andere, 

die ebensoviel oder gar mehr leisten.< 

>Ich werde kein Geld nehmen<, erwiderte ich, >und ich werde bleiben.< 

Ich dachte dabei an meinen sympathischen Vorgesetzten Solowejczyk. 

Ihm wollte ich alles ganz genau erklaren. Ihm wollte ich vertrauen. Ich 

hatte dabei vollkommen vergessen, welchen toten Blick Solowejczyk 

mir das letztemal gezeigt hatte. Ich bildete mir ein, Solowejczyk hielte 

zu mir, ja, er liebte mich. 



BEICHTE EINES MORDERS $$ 

Ich beschlofi auch, sofort zu ihm zu gehen. 

Ich erhob mich und sagte feierlich (heute kommt es mir lacherlich 

vor): >Ein echter Krapotkin<, ich betonte das Wort >echter<, >nimmt 

keine Abfindungssumme. Ein falscher bietet sie an.< 

Ich erwartete eine Geste, ein Wort der Emporung aus dem Munde des 

Alten. Aber er riihrte sich nicht. Er sah mich nicht einmal an. Er sah 

nur auf die glatte schwarze Tischplatte, als lagen dort Papiere, als lase 

er im Holz und als stiinde im Holz der Satz geschrieben, den er ein 

paar Sekunden spater aufierte. 

>Gehn Sie<, sagte er, ohne den Blick, geschweige denn sich selbst zu 

erheben, >und tun Sie, was Ihnen bekommlich ist.< 

Das Wort >bekommlich< machte mich erroten. 

Ich ging, ohne Grufi, Es regnete, und ich befahl dem Portier, mir einen 

Wagen zu holen. Noch kam ich mir wie ein Fiirst vor, wahrend ich 

bereits wufite, daE ich wieder der Golubtschik war; hochstens noch 

ein paar Tage konnte ich Krapotkin sein. 

Aber ich war froh, meine Freunde, trotzdem, daft ich in ein paar Tagen 

meine alte Existenz und meinen mir gebiihrenden Namen wiederfin- 

den wiirde. Glaubt mir, ich war froh. Und wenn mich etwas damals 

betriibte, so war es der Umstand, dafi ich der Jiidin Rifkin nicht hatte 

helfen konnen. Hatte ich doch gedacht, es gabe eine Gelegenheit, alles 

Bose wettzumachen, das ich begangen hatte. - Nun! - So hatte ich 

wenigstens meine eigene Existenz gerettet, vielleicht auch ein bifkhen 

gereinigt. 

Ich war froh. 

Als ich ins Hotel kam - es war schon ziemlich spat, und einzelne 
Lampchen brannten schon in der Halle-, sagte man mir, ein Herr er- 
warte mich im Schreibzimmer. 

Ich dachte, es sei Lakatos, und ging, ohne etwas zu sagen, ins Schreib- 
zimmer. Aus dem breiten Sessel hinter einem der Schreibtische erhob 
sich aber keineswegs mein Freund Lakatos, sondern, zu meiner Ver- 
wunderung, der mondane Schneider, der Schopfer der >Kreationen<. 
Es herrschte im Schreibzimmer eine Art Halbdunkel, das noch ver- 
starkt wurde durch die griin beschirmten Lichter an den anderen 
Schreibtischen, statt durch sie geschwacht zu werden. Die Lampchen 
kamen mir vor wie beleuchtete Giftflaschchen. 
In diesem sonderbaren Licht erschien mir das breite, fahle Gesicht des 



100 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Schneiders etwa wie ein Teig im Of en, ein Teig, der aufquillt. Ja, je 

naher er mir kam, desto grofier wurde sein breiiges Angesicht, grower 

und breiter selbst im Verhaltnis zu seinen iibermafiig weiten, weibi- 

schen, flatternden Kleidern. Er verbeugte sich vor mir, und es war, als 

verneigte sich vor mir eine Art quadratischer Kugel. Ich war nicht 

mehr geneigt zu glauben, dafi der Schneider ein leibhaftiger, wirklicher 

Mensch sei. 

>Fiirst<, sagte er, indem er seinen vierschrotigen und zugleich kugeligen 

Oberkorper wieder muhsam erhob, >darf ich eine Kleinigkeit mit Ih- 

nen besprechen?< 

Es kam mir lacherlich vor, dafi man mich immer noch >Furst< nannte, 

aber es beruhigte mich dennoch. Ich bat den mondanen Mann zu sa- 

gen, was er auf dem Herzen hatte. 

>Eine Kleinigkeit, Fiirst <, versicherte er, >eine Lacherlichkeit<, und da- 

bei zog seine rundliche, teigige Hand einen vollendeten Bogen in der 

Luft. - >Es handelt sich um eine kleine Schuld. Es ist mir sehr peinlich, 

ja sogar zuwider. Es handelt sich um die Kleider Fraulein Lutetias.< 

>Was fur Kleider?< fragte ich. 

>Es ist schon zwei Monate her<, sagte der Herr Charron. >Fraulein Lu- 

tetia ist eine besondere Person, Frau, Dame, wollte ich sagen. Es ist 

manchmal schwer, mit ihr auszukommen. Sie ist, ich mufi sagen, eine 

wirkliche Dame, nicht wie die anderen, Obwohl die Tochter eines 

meiner gewohnlichen, was sag 5 ich, eines meiner allergewohnlichsten 

Kollegen, hat sie (mit Recht) Anspriiche wie eine Dame aus den Krei- 

scn unserer vornehmsten Kundschaft. Ich muE gestehen, Fiirst, ich 

mu£ gestehen, ich habe ihr, das heifk Fraulein Lutetia, drei meiner 

besten Modellkleider verkauft, die sie selbst vorgefiihrt hatte. Auch 

ware ich nicht gekommen, um zu storen, wenn ich nicht gerade ge- 

wisse akute Schwierigkeiten im Augenblick zu iiberwinden hatte. < 

>Wieviel?< fragte ich, wie ein echter Fiirst. 

>Achttausend!< sagte Charron prompt. 

>Gut!< sagte ich, wie ein echter Fiirst. Und ich entliefi ihn. 

Nachdem er gegangen war, fuhr ich sofort zu Lutetia. Achttausend 

Francs, um jene Zeit, meine Freunde — es war keine Kleinigkeit fur 

mich, einen armen, armseligen Spitzel. GewifS hatte ich auch vielleicht 

gar nichts tun diirfen. Aber, liebte ich nicht immer noch? War ich nicht 

immer noch gefangen? 

Ich ging zu Lutetia. Sie saft am gedeckten Abendtisch und erwartete 



BEICHTE EINES MORDERS IOI 

mich wie gewohnlich - auch an den Abenden, an denen ich nicht kom- 

men konnte -, wie es sich fur eine sogenannte >ausgehaltene Frau< ge- 

hort. 

Ich gab ihr den iiblichen Kuft, zu dem man sozusagen verpflichtet ist 

gegeniiber einer Frau, die man erhalt. Es war ein Pflichtkuft, wie ihn 

grofte Herren verabreichen. 

Ich aft, ohne Appetit, und ich mufi gestehen, ich sah mit einiger Mift- 

gunst, trotz all meiner Verliebtheit, den gesunden Appetit Lutetias. Ich 

war damals niedrig genug, an die achttausend Francs zu denken. Vieles 

kam noch zusammen. Ich dachte an mich selbst, an den echten Golubt- 

schik. Ein paar Stunden friiher war ich froh gewesen, wieder ein wahrer 

Golubtschik zu sein. Jetzt aber, mit Lutetia am selben Tisch, erfiillte 

mich Bitterkeit dariiber, daft ich ein wahrer Golubtschik sein sollte. 

Zugleich aber war ich doch noch irgendwo ein Krapotkin, und ich hatte 

achttausend Francs zu bezahlen. Als ein Krapotkin hatte ich sie zu 

bezahlen. Auf einmal erbitterte mich, der ich niemals gezahlt und ge- 

rechnet hatte, die Hohe der Summe. Es gibt, meine Freunde, bestimmte 

Augenblicke, in denen das Geld, das man zu zahlen hat, fur eine Leiden- 

schaft, beinahe so wichtig erscheint wie die Leidenschaft selbst und ihr 

Gegenstand. Ich dachte nicht daran, daft ich Lutetia, die Geliebte mei- 

nes Herzens, mit schandlichen und schurkischen Liigen erworben hatte 

Und behalten, sondern ich machte es ihr zum Vorwurf, daft sie meinen 

Liigen glaubte und von ihnen lebte. Ein unbekannter, fremder Zorn 

stieg in mir hoch. Ich liebte Lutetia. Aber ich ziirnte ihr. Bald schien es 

mir, noch wahrend wir aften, sie allein sei schuld an meiner Schuld. Ich 

suchte, forschte, ich grub gleichsam nach Fehlern in ihr. Ich fand, daft es 

einem Betrug glich, wenn sie mir nichts von den Kleidern erzahlt hatte. 

Deshalb sagte ich langsam, wahrend ich ebenso langsam die Serviette 

zusammenfaltete: >Herr Charron war heute bei mir!< 

>Schwein!< sagte Lutetia nur. 

>Warum?< fragte ich. 

>Altes Schwein<, sagte Lutetia. 

>Warum?< wiederholte ich. 

>Ach, was weiftt du!< sagte Lutetia. 

>Ich soil achttausend Francs fur dich bezahlen<, sagte ich, >warum hast 

du's nicht gesagt?< 

>Ich muft dir nicht alles sagen<, erwiderte sie. 

>Doch, alles!< sagte ich. 



102 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

>Nicht Kleinigkeiten!< sagte Lutetia. Sie stiitzte die gefalteten Hande 

unter das Kinn und sah mich an, kampfsiichtig und beinahe bose. 

>Nicht alles!< wiederholte sie. 

>Weshalb nicht?< fragte ich. 

>So!< 

>Washeifit: so?< 

>Ich bin eine Frau!< sagte sie. 

Welch ein Argument! dachte ich, und ich nahm mich zusammen, wie 

man sagt, und sagte: 

>Ich habe nie daran gezweifelt, dafi du eine Frau bist!< 

>Du hast es aber nie verstanden!< sagte sie. 

>Sprechen wir praktisch und sachlich<, sagte ich, immer noch ruhig, 

>warum hast du mir nichts von den Kleidern gesagt?< 

>Kleinigkeit!< erwiderte sie, >was kosten sie schon?< 

>Achttausend!< sagte ich. - Dabei fiirchtete ich - obwohl ich bereits 

entschlossen gewesen war, ein einfacher Golubtschik zu sein-, ich 

hatte nicht so gesprochen, wie ein Furst Krapotkin in der gleichen 

Lage gesprochen hatte. 

>Kleinigkeit!< sagte sie. >Ich bin eine Frau. Ich brauche Kleider!< 

>Warum sagst du mir nichts vorher?< 

>Ich bin eine Frau!< 

>Das weifi ich!< 

>Das weifit du nicht! Sonst wiirdest du dariiber kein Wort verlieren.< 

>Du hattest mir den Besuch Charrons ersparen konnen<, sagte ich, >ich 

mag es nicht. Ich will keinerlei Uberraschungen!< Ich redete immer 

noch so daher wie ein Furst — indessen beschaftigten mich die acht- 

tausend Francs. 

>Willst du noch weiter mit mir streiten?< fragte Lutetia. Und schon 

entziindete sich in ihren schonen, aber seelenlosen Augen, die mir da- 

mals wie Glasmurmeln erschienen, jenes zornige Feuerchen, das ihr 

wahrscheinlich schon alle, ihr, meine Freunde, in den Augen eurer 

Frauen gemerkt haben werdet - in bestimmten Stunden. Wenn Feuer 

ein Geschlecht hat, ich glaube es, es gibt ein ganz gewisses weibliches 

Feuer. Es hat keinen Grund, keine ersichtliche Ursache. Ich habe den 

Verdacht: es glimmt immer in den Seelen der Frauen, und manchmal 

lodert es auf und brennt in den Augen der Frauen: ein gutes und 

gleichzeitig ein boses Feuerchen, Wie man's ansieht. Ich habe jeden- 

falls Angst davor. 



BEICHTE EINES MORDERS IO3 

Lutetia erhob sich, warf die Serviette hin, mit jener wolliistigen Heftig- 

keit, mit der die Frauen so oft spielen und die ebensooft sehr echt ist, 

und sagte noch einmal: 

>Ich lass 5 mir das nicht mehr gef alien! Ich nab* genug!< Und als hatte sie 

es nicht schon ein paarmal gesagt, wiederholte sie: >Du wirst das nie 

verstehen! - Ich bin eine Frau!< 

Auch ich erhob mich. - Ich dachte, unerfahren, wie ich damals war, 

man konne durch eine zartliche Beriihrung eine Frau besanftigen und 

versohnen. Das Gegenteil, meine Lieben, das Gegenteil ist der Fall! 

Kaum hatte ich einen Arm voller Zartlichkeit ausgestreckt, da schlug 

mich die siifte Lutetia, die Geliebte meines Herzens, mit beiden Fau- 

sten ins Gesicht. Zugleich stampfte sie mit beiden Fiiften - eine selt- 

same Eigenschaft, die wir nicht haben, wir Manner, wenn wir schla- 

gen-, und sie schrie dabei: >Zahlen wirst du, zahlen, morgen, morgen 

vormittag, ich verlange es!< 

Wie hatte sich da Fiirst Krapotkin benommen? - meine Freunde. 

Wahrscheinlich hatte er gesagt: Naturlich! - und er ware fortgegangen. 

Ich aber, ich war eben ein Golubtschik, und also sagte ich: >Nein!< und 

blieb. 

Auf einmal lachte Lutetia hell auf, so ein Lachen, wiftt ihr, das man ein 

>Theaterlachen< nennt, das aber gar kein Theaterlachen ist. Die Frauen 

auf der Biihne namlich machen es einfach nur den Frauen im Leben, 

sich selber, nach. Wo hort das sogenannte Leben auf, und wo fangt das 

sogenannte Theater an? 

Sie lachte also, die Geliebte meines Herzens. Es dauerte eine geraume 

Weile. Schlieftlich hat alles ein Ende, wie ihr wiftt, meine Freunde. 

Nachdem Lutetia zu Ende gelacht hatte, sagte sie, plotzlich ganz ernst, 

beinahe tragisch und mit leiser Stimme: >Wenn du nicht zahlst, wird 

dein Cousin zahlen. < 

Es erschreckte mich, was Lutetia gesagt hatte, ja, es erschreckte mich, 

obwohl ich doch vor nichts mehr zu erschrecken hatte. Wenn mein 

sogenannter Bruder schon bei Lutetia gewesen war, so konnte es ihr 

doch nicht lange mehr verborgen bleiben, wer ich wirklich sei. Und 

warum - so fragte ich mich - hatte es ihr auch verborgen bleiben sol- 

len? Hatte ich nicht eben erst, bevor ich hierhergekommen war, ge- 

wiinscht, meine schrecklichen Verkleidungen abzulegen und einfach 

der einfache Golubtschik zu sein? 

Weshalb tat es mir jetzt wieder leid, meine so verwirrende und verwor- 



104 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

rene Existenz aufzugeben? Liebte ich Lutetia in diesem Mafte? Ge- 
niigte ihr Anblick allein, um alle meine Entschlusse umzuwerfen? Ge- 
fiel sie mir denn eigentiich, gerade jetzt in dieser Stunde? Sah ich nicht, 
wie sie log, sah ich nicht, daft sie kauflich war? Ja, ich sah alles, und ich 
verachtete sie auch dafiir. Und vielleicht, ware es nicht mein sogenann- 
ter Bruder gewesen, der mir wieder, gerade hier wieder den Weg ver- 
trat, ich hatte sie verlassen. Ich war edelmiitig gegen ihn gewesen, ich 
hatte sein Geld zuriickgewiesen — und siehe da: jetzt trat mir der 
elende Machtige wieder entgegen. 

Freilich konnte ich diese unermefilich hohe Summe nicht aufbringen, 
nicht einmal ein Drittel. Was hatte ich alles tun miissen, um auf einen 
Schlag auch nur dreitausend Francs zu bekommen und mit Abzahlun- 
gen wenigstens zu beginnen? Und konnte ich, selbst wenn ich be- 
zahlte, es uberhaupt verhindern, daft Lutetia erfuhr, wer ich wirklich 
war? Wenn ich nur Geld hatte, dachte ich damals in meiner Verblen- 
dung, ich wiirde ihr sagen, wer ich wirklich bin, und daft ich ihretwe- 
gen die allerschlimmsten meiner Schurkereien begehe, und auch ein 
Golubtschik kann einen Krapotkin bei jeder Frau wettmachen. So 
dachte ich. Obwohl ich sah, daft sie log und ein Wesen ohne Gewissen 
war, traute ich ihr doch den Edelmut zu, meine Aufrichtigkeit nicht 
nur vertragen, sondern auch schatzen zu konnen. Ich glaubte sogar, 
daft Aufrichtigkeit sie riihren konnte. Die Frauen - und, um gerecht zu 
sein, auch die Manner - aber lieben vielleicht von vornherein aufrich- 
tige Menschen; jedoch aufrichtige Gestandnisse von Liignern und Ver- 
stellern horen sie nicht gern. 

Um aber in meiner Erzahlung fortzufahren: Ich fragte Lutetia, ob sie 
meinen Cousin schon gesehen habe. Nein! sagte sie, er hatte ihr nur 
geschrieben; aber sie erwarte uber kurz oder lang seinen Besuch, wahr- 
scheinlich im Atelier des Schneiders. >Du wirst ihn sofort abweisen!< 
sagte ich. >Ich liebe das nicht!< - >Es ist mir ganz gleichgiiltig, was du 
liebst oder nicht! Uberhaupt, ich nab' dich satt!< - >Liebst du ihn 
denn?< fragte ich, ohne sie anzusehen. - Ich war so toricht zu glauben, 
daft sie mir ja oder nein antworten konnte. Aber sie sagte: >Und wenn 
ich ihn zum Beispiel liebte? - Was dann?< - >Hiite dich!< sagte ich. >Du 
weiftt nicht, wer ich bin, wozu ich imstande bin.< - >2u nichts!< erwi- 
derte sie, trat an den Kafig des abscheulichen Papageis und begann, 
seine karmesinrote Kehle zu kitzeln. Im nachsten Augenblick knarrte 
er auch schon dreimal hintereinander: >Krapotkin, Krapotkin, Krapot- 



BEICHTE EINES MORDERS 10$ 

kin.< Lutetia hatte ihn so abgerichtet. Es war, als wiifke sie eigentlich 
schon alles uber mich und als wollte sie es nur durch den Papagei sagen 
lassen. 

Ich liefi den Papagei aussprechen, aus Hoflichkeit, als ware er ein 
Mensch. Dann sagte ich: >Du wirst sehen, wozu ich fahig bin!< - >So 
zeig's doch!< sagte sie. Sie geriet plotzlich in Zorn, oder sie tat so, als 
sei sie in Zorn geraten. Es schien mir, dafi ihre Haare auf einmal zu 
wehen begannen, und es war doch kein Wind im Zimmer! Zugleich 
straubten sich auch die Federn des Papageis. Sie ergriff die metallene 
Schaukel, auf der der grafiliche Vogel zu hocken pflegte, sobald er sei- 
nen Kafig verlassen hatte, und schlug blind auf mich ein. Die Schlage 
spurte ich wohl, sie schmerzten mich auch, obwohl ich sehr kraftig 
bin. Allein weit starker als die Schlage war die Uberraschung, die 
wohlvertraute Frau, die Geliebte meines Herzens, in eine Art wohl 
iiberlegenden, parfumierten Orkan verwandelt zu sehen, einen verlok- 
kenden Orkan, der mich dennoch reizte, zum Versuch einer Bandi- 
gung reizte. Ich griff nach den Arm en Lutetias, sie schrie vor Schmerz 
auf, der Vogel krachzte schrill, als riefe er Nachbarn gegen mich zu 
Hilfe, Lutetia taumelte, entfarbte sich und sank auf den Teppich. Sie 
rift mich nicht etwa mit, dazu bin ich freilich zu schwer. Aber ich liefS 
mich fallen. Sie umfing mich mit den Armen. So blieben wir vereint, 
lange Stunden, in einem seligen Haft. 

Ich erhob mich, es war noch tiefe Nacht, aber ich fuhite schon den 
Morgen kommen. Ich lieft Lutetia liegen. Ich dachte, sie schliefe. Sie 
aber sagte mit einer zartlichen, lieblichen Kinderstimme: >Komm mor- 
gen bestimmt ins Atelier! Bewahr mich vor deinem Cousin. Ich kann 
ihn nicht leiden! Ich liebe dich!< 

Ich ging nach Hause, durch die stille, allmahlich verbleichende Nacht. 
Ich ging vorsichtig, denn ich erwartete, jeden Augenblick irgendwo 
Lakatos zu treffen. 

Mir war es auch, als horte ich von Zeit zu Zeit einen sachten, schleifen- 
den Schritt, Obwohl ich meinen Freund ftirchtete, glaubte ich doch, 
ihn in dieser Nacht noch dringend zu brauchen. Ich bedurfte, so 
glaubte ich, seines Rates. Und ich wuftte doch, dafi es ein hollischer 
Rat sein mufke. 



106 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Am nachsten Tage, bevor ich zum Schneider, das heifit, eigentlich zu 

Lutetia ging, trank ich ausgiebig. Wahrend ich mich also betaubte, 

glaubte ich, ich wiirde immer klarer und schmiedete immer kliigere 

Plane. 

Der Schneider begriifke mich begeistert. Die Glaubiger - auf den er- 

sten Blick zu erkennen an dem dustern Lacheln und dem beredten 

Schweigen - warteten auf ihn im Vorzimmer. 

Ich wufite nicht genau, was ich sprach. Ich wollte Lutetia sehen. In 

ihrer Garderobe stand sie, zwischen drei Spiegeln, man probierte ver- 

schiedene Stoffe an ihr herum, hullte sie ein und entblofite sie wieder, 

und es sah aus, als wollte man sie mit hundert Nadeln langsam und 

elegant zu Tode martern. 

>Ist er dagewesen?< fragte ich, hinweg iiber die oligen Haare der drei 

Junglinge, die mit den Stoffen und Nadeln hantierten. 

>Nein! Nur Blumen hat er geschicktU 

Ich wollte noch etwas sagen, aber erstens war mir die Kehle zuge- 

schniirt, und zweitens gebot mir Lutetia hinauszugehen. >Heute 

abend!< sagte sie. 

Der Herr Charron erwartete mich schon vor der Tur. >Heute nachmit- 

tag bestimmt!< sagte ich, um nichts mehr mit ihm sprechen zu miissen, 

obwohl ich noch gar keine feste Hoffnung hatte, dafi mir Solowejczyk 

das Geld geben wiirde. 

Ich ging schnell hinaus und fuhr zu Solowejczyk. 

Ich wufke wohl, daft er um jene Stunde selten anzutreffen war, Sein 

Zimmer hatte zwei Vorzimmer, und zwar an den entgegengesetzten 

Seiten je eins. Die Vorzimmer hingen so gleichsam an der Kanzlei wie 

zwei Ohren an einem Kopf. Das eine Vorzimmer war durch eine 

weifie Tur mit vergoldeten Leisten abgeschlossen. Das andere, an der 

gegeniiberliegenden Seite, durch eine schwere grune Portiere abge- 

dichtet. In dem erstgenannten Vorzimmer pflegten die Ahnungslosen 

zu warten, jene, die nichts von den wirklichen Funktionen Solowej- 

czyks ahnten. Im zweiten aber warteten wir, die Eingeweihten. Ich 

kannte nicht alle, nur einige. Durch die Portiere konnten wir alles ho- 

ren, was Solowejczyk mit den Ahnungslosen besprach. Es handelte 

sich um lacherliche Angelegenheiten: Aus- und Einfuhr von Getreide, 

besondere Bewilligungen fur Hopfenkommissionare in der Saison, 

Verlangerung von Reisepassen fur Kranke, Empfehlungen fur Handler 

an fremde Regierungen. Uns, die Eingeweihten, interessierten alle 



BEICHTE EINES MORDERS 10J 

diese Dinge nicht, aber unsere Ohren, zum Lauschen bestimmt, nah- 
men alles auf. Wir hatten leicht mitemander ins Gesprach geraten kon- 
nen, wahrend wir so warteten, aber keiner von uns vermochte etwas 
iiber den Horchzwang, den unsere Berufsohren auf uns ausiibten, und 
also vermieden wir Unterhaltungen, die uns nur am Lauschen gehin- 
dert hatten. Auch mifkrauten wir uns gegenseitig, ja, wir verabscheu- 
ten uns sogar. Sobald Solowejczyk die Ahnungslosen abgefertigt hatte, 
schlug er die grime Portiere zuriick, warf einen Blick in unser Vorzim- 
mer und rief, je nach der Wichtigkeit der Person und des Falles, einen 
von uns zuerst zu sich. In diesem Augenblick mufiten die andern >Ein- 
geweihten< hinaus und iiber den Hof in das andere Vorzimmer, in je- 
nes durch die Tur getrennte, durch die man nichts horen konnte. 
Solowejczyk kam an jenem Nachmktag spat, aber die Ahnungslosen - 
mit denen er iibrigens laut zu sprechen, ja oft sogar zu schreien 
pflegte - fertigte er damals in ganz kurzer Zeit ab - und wir waren 
unser etwa sechs, die auf ihn warteten. Mich rief er zuerst. 
>Sie haben getrunken?< sagte er. >Setzen Sie sich!< 
Freundlich, wie er noch nie zu mir gewesen war, reichte er mir sogar 
eine Zigarette aus seiner grofien, schweren Dose aus Tulasilber. 
Ich hatte mir den Anfang meiner Rede wohl zurechtgelegt, aber seine 
Freundlichkeit betaubte mich gewissermafien, und ich wufke nichts 
mehr. 

>Ich habe nichts Besonderes zu melden!< sagte ich. >Ich habe nur eine 
Bitte: ich brauche Geld!< 

>Freilich<, sagte Solowejczyk. >Der Fiirst ist hier.< Er blies ein paar 
Rauchwolkchen in die Luft. Junger Mann<, begann er, >Sie werden 
diese Konkurrenz nicht auf die Dauer aushalten. Sie werden elend zu- 
grunde gehn.< Er zerhackte, zerlegte das Wort >elend<. Es war ein ewi- 
ges, ein uferloses >elend<. >Sie sind<, fuhr er fort, >ein Mensch, iiber den 
selbst ich< - und zum erstenmal merkte ich an ihm eine Art Eitelkeit - 
>selbst ich<, wiederholte er, >mir noch nicht ganz klar bin. Sie haben 
kein Geld nehmen wollen. Sie wollen die Rifkins auslosen. Aber: Sie 
sind begabt, gewift. Sie sind nicht vollkommen. Wie soil ich sagen, Sie 
sind noch ein Mensch. Sie sind schon ein Schurke - verzeihen Sie das 
Wort, in meinem Munde ist es nicht personlich, es ist sozusagen litera- 
risch. Sie haben noch Leidenschaften. Entscheiden Sie sich.< 
>Ich habe mich entschieden<, sagte ich. 
>Sagen Sie aufrichtig<, fragte Solowejczyk, >wollten Sie eigentlich dem 



108 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Fiirsten eine Falle stellen, indem Sie ihn veranlafiten, sich fiir die Rif- 
kins einzusetzen?< 

>Ja<, sagte ich, obwohl es nicht wahr war, wie ihr wifit. 
>So<, sagte Solowejczyk, >dann sind Sie eben doch vollkommen. Es 
hatte Ihnen nichts geniitzt. Der Fiirst lafk sich nie darauf ein. Aber 
dann konnen Sie auch das Geld haben. Sie bringen also die kleine Rif- 
kin nach Rufiland.< 

>Wie denn?< fragte ich. >Die Leute sind mifitrauisch.< 
>Wie, das ist Ihre Sache<, sagte Solowejczyk. >Sie werden falschen.< 
Ich dnickte die Zigarette in dem schweren, schwarzen, achatnen 
Aschenbecher aus. 

>Ich weifi nicht, wie man falscht<, sagte ich, hilflos, ein Kind. 
Ach, meine Freunde! Vor meinen Augen stand damals das edle Mad- 
chen Rifkin. Vor meinen Augen stand damals auch die Geliebte meines 
Herzens, Lutetia. Vor meinen Augen stand damals der Feind meines 
Lebens, der junge Krapotkin. Vor meinen Augen hinkte plotzKch La- 
katos daher, mit schleifendem Fufi. Alle, alle, so schien es mir, be- 
herrschten mein Leben. Was war es nur? War es noch mein ei genes 
Leben? Gegen alle vier erfullte mich eine jahe Emporung. Eine gleich 
grofte Emporung, meine lieben Freunde, obwohl ich genau wufite, wie 
zwischen ihnen zu unterscheiden, obwohl ich genau wufite, dafi ich 
eigentlich das edle Madchen Rifkin liebte, dafi ich Lutetia begehrte und 
geringschatzte und nur deshalb begehrte, weil ich iiber Krapotkin 
einen kleinen, billigen, elenden Triumph davontragen wollte, und dafi 
ich Lakatos fiirchtete als den leibhaftigen Abgesandten des Teufels, der 
mir, mir besonders, einen kleinen Sonderteufel zugedacht hatte. Es er- 
fullte mich auf einmal eine unsagliche und beseligende Begierde, star- 
ker zu sein als sie alle, gleichsam starker zu sein als meine eigenen 
Gefuhle, die ich ihnen alien entgegenbrachte; starker zu sein als meine 
wirkliche Liebe zu dem edlen Madchen Rifkin; starker als mein Haft 
gegen Krapotkin; starker als meine Gier nach Lutetia; starker als 
meine Furcht vor Lakatos. - Ja, starker als ich selbst wollte ich sein, 
meine Lieben: das heiftt es eigentlich. 

Ich stiirzte mich in das grollte Verbrechen meines Lebens. Ich wufke 
aber noch nicht, wie man es begeht, am sichersten begeht, und ich 
fragte noch einmal zaghaft: >Ich weifi nicht, wie man falscht.< 
Solowejczyk sah mich mit seinen toten, blaftgrauen Augen an und 
sagte: >Ihr alter Freund wird Ihnen vielleicht raten. Gehen Sie hier 



BEICHTE EINES MORDERS IO9 

hinaus.< - Und er wies nicht auf die Tiir hin, sondern auf die Portiere, 
durch die ich hereingekommen wan 

Es ist gewifi, meine Freunde: das Schicksal lenkt unsere Wege, eine 
billige Erkenntnis, alt wie das Schicksal selbst. Wir sehen es zuweilen. 
Meist wollen wir es gar nicht sehen. Auch ich gehdrte zu jenen, die es 
nicht gerne sehen wollten, und allzuoft schloft ich so gar krampfhaft die 
Augen, um es nicht zu sehen, so wie ein Kind in der Finsternis die 
Augen schlieftt, um sich vor der Finsternis ringsum nicht zu furchten. 
Mich aber - vielleicht war ich verflucht, vielleicht auserwahlt, wie man 
will - zwang das Schicksal auf Schritt und Tritt in allzu offensichtli- 
cher, fast schon banaler Weise, die Augen wieder zu offnen. 
Als ich die Botschaft verlieft - sie lag in einer der vornehmsten Straiten, 
wie ihr wissen werdet, neben mehreren anderen Botschaftspalasten-, 
spahte ich nach einem Bistro aus. Denn ich gehore zu den zahlreichen 
Menschen, die nicht im Gehen, sondern beim Sitzen und nur vor 
einem Glase einigermaften Klarheit gewinnen konnen. Ich spahte also 
nach einem Bistro aus, es gab erst etwa vierzig Schritte weiter rechts 
eines, es war ein sogenanntes >Tabac<, - und nicht mehr als zwanzig 
Schritte entfernt ein anderes. Ich wollte nicht ins Tabac, ich wo lite ins 
andere. Ich ging also weiter. Als ich aber vor dem anderen stand, 
kehrte ich aus einem mir ganz und gar nicht mehr erklarlichen Grunde 
wieder um und ging ins Tabac zuriick. Ich setzte mich an einen der 
winzigen Tische in der riickwartigen Abteilung des Ladens. Durch die 
Glastur, die das Biifett von mir trennte, sah ich die Zigarettenkaufer 
kommen und gehen. Ich safi dieser Glastur zugewandt, ich hatte gar 
nicht bemerkt, daft sich hinter meinem Riicken noch eine andere Tiir 
befand, eine gewohnliche holzerne. Ich bestellte einen Marc de Bour- 
gogne und beschloft nachzudenken. 

>Da sind Sie, alter Freund<, horte ich hinter meinem Riicken. Ich 
wandte mich um. Ihr werdet erraten, wer es war, meine Freunde! Es 
war mein Freund Lakatos. 

Ich gab ihm nur zwei Finger, aber er driickte sie so, als war's meine 
ganze Hand. 

Er setzte sich auch sofort, er war heiter, aufgeraumt, seine weiften 
Zahne blitzten, sein schwarzes Bartchen schimmerte blaulich, den 
Strohhut schob er seitlich auf das linke Ohr. Es fiel mir auf, daft er 
heute kein Stockchen trug, zum erstenmal sah ich ihn ohne Stock. 



110 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Noch auffallender war seine Aktentasche, eine Tasche aus rotem Saf- 
fianleder. 

>Gute Nachricht!< sagte er und wies auf die Aktentasche. >Die Pra- 
mien sind erhoht.< 
>WasfurPramien?< 

>Pramien fur Staatsfeinde<, sagte er, als handelte es sich um Pramien 
fur Schnellaufer und Radfahrer - wie es um jene Zeit iiblich war. 
>Ich komme soeben von Herrn Charron<, fuhr Lakatos fort, >er er- 
wartet Sie.< 

>Er mag warten!< sagte ich. Aber ich war unruhig. 
Wahrend Lakatos sein Geback in den Kaffee tauchte - ich erinnere 
mich noch genau, es war ein Kipfel, croissant, wie man es nennt-, 
warf er so nebenbei hin: >Apropos, Sie haben ja hier Freunde, die 
Rifkins.< 

>Ja<, sagte ich schamlos. 

>Ich weifi<, sagte Lakatos, >das Fraulein mufi nach Rufiland. Schwer, 
schwer, solch einen braven Menschen auszuliefern.< - Er schwieg, 
tauchte wieder den Kipfel in den Kaffee und sagte, indem er den auf- 
geweichten Teig schlurfte: >Zweitausend< - und dann, nach einer lan- 
geren Pause: >Rubel!< 

Wir schwiegen ein paar Minuten. Plotzlich stand Lakatos auf, offnete 
die Glastiir, warf einen Blick auf die Wanduhr iiber dem Btifett und 
sagte: >Ich mufi gehen, ich lasse hier Hut und Tasche. In zehn, hoch- 
stens funfzehn Minuten bin ich zuriick.< 
Und schon war er zur Tiir hinaus. 

Mir gegenuber lehnte die feuerrote Tasche Lakatos*. Der Strohhut lag 
neben ihr wie ein Knecht. Das Schlofi der Tasche funkelte wie ein 
goldener, geschlossener Mund. Ein liisterner Mund. 
Eine berufliche - aber nicht allein eine berufliche, sondern auch eine 
Art iibersinnlicher, einer teuflischen Neugier befahl rmr, immer wie- 
der iiber den Tisch zu schielen und die Tasche anzustarren. Ich 
konrite sie offnen, bevor Lakatos wieder hier war. Zehn Minuten! 
hatte er gesagt. - Zehn Minuten! Ich horte durch die geschlossene 
Glastiir das harte Ticken der Wanduhr iiber dem Biifett. Ich fiirchtete 
mich vor der Tasche. Zu beiden Seiten, iiber dem mittleren Schlofi, 
das, wie gesagt, einem Mund ahnlich sah, hatte sie noch zwei kleine 
Schlosser, und die erschienen mit jetzt wie Augen. Ich trank noch 
zwei Doppelte, und schon begannen die Augen der Tasche zu zwin- 



BEICHTE EINES MORDERS III 

kern. Indessen tickte die Uhr, und die Zeit ging, und ich glaubte auf 
einmal zu wissen, wie kostbar die Zeit ist. 

Zuweilen, in manchen Augenblicken, schien es mir, dafl sich die feuer- 
rote Ledertasche des Lakatos von selber gegen mich vorneigte, auf dem 
Stuhl, auf dem sie lehnte. Schliefilich, in einem Augenblick, in dem ich 
wahnte, sie wolle sich mir ganz darbieten, griff ich nach ihr. Ich offnete 
sie. Da ich die Uhr immer noch hart und grausam ticken horte, dachte 
ich daran, dafi Lakatos jeden Augenblick zuruckkommen konnte, und 
ich ging mit ihr in die Toilette. Kam Lakatos inzwischen wieder, so 
konnte ich sagen, ich hatte sie aus Vorsicht mitgenommen. Es war mir, 
als nahme ich sie nicht einfach mit, sondern als entfuhrte ich sie. 
Ich offnete sie mit fiebrigen Fingern. Ich hatte eigentlich schon wissen 
miissen, was sie enthielt — wie hatte ich es auch nicht wissen sollen, 
ich, der ich den Teufel so gut kannte und sein Verhaltnis zu mir. Aber 
wir erkennen, meine Freunde, oft - wie es bei mir der Fall war - mit 
ganz anderen Fahigkeiten als mit den Sinnen oder dem Verstand - und 
aus Faulheit, Feigheit, Gewohnheit wehren wir uns gegen diese Er- 
kenntnis. So erging es damals auch mir. Ich mifitraute meiner richtigen 
Erkenntnis; vielmehr, ich machte noch gewisse Anstrengungen, ihr zu 
mifkrauen. 

Der eine oder andere unter euch, meine Lieben, wird vielleicht erahnen, 
was fur Papiere sich in der Aktentasche des Lakatos befanden: Was 
mich betrifft, ich kannte sie gut, diese Papierchen, von Berufs wegen 
kannte ich sie. Es waren jene gestempelten, unterfertigten Pafiformu- 
lare, die unsere Leute den armen Emigranten einzuhandigen pflegten, 
damit sie nach Rutland heimkehrten. Unzahlige Menschen pflegte 
unsere Gesellschaft auf diese Weise den Behorden auszuliefern. Die 
armen Ahnungslosen fuhren in einer frohlichen Sicherheit heim, mit 
legalen Passen, wie es ihnen schien, an der Grenze aber hielt man sie 
zuriick, und erst nach martervollen Wochen und Monaten kamen sie 
vor das Gericht und hierauf ins Zuchthaus und nach Sibirien. Die Un- 
seligen hatten unsereinem, einem meinesgleichen vertraut. Die Stempel 
waren echt, die Unterschriften waren echt, die Photographien waren 
echt - wie sollten sie zweifeln? Auch wufken nicht einmal die offiziel- 
len Behorden etwas von unseren schandlichen Methoden. Es gab nur 
ganz kleine, ganz winzige Anzeichen, an denen unsere Leute an der 
Grenze die Passe der Verdachtigen von denen der Unverdachtigen un- 
terscheiden konnten. Einem gewohnlichen menschlichen Auge entgin- 



112 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

gen natiirlich diese Anzeichen. Auch anderte man sie haufig. Einmal 
war es ein kleiner Nadelstich an der Photographie des Pafibesitzers; 
dann wieder fehlte ein halber Buchstabe im runden Stempel; das dritte- 
mal war der Name des Pafiinhabers mit einer nachgezeichneten 
Druckschrift aufgeschrieben statt mit der gewohnlichen Schreibschrift. 
Von all dem wufiten die offiziellen Behorden in der Tat nicht mehr als 
die Opfer. Nur unsere Leute an den Grenzen kannten diese teuflischen 
Zeichen. Tadellose Stempel und Stempelkissen, rote und blaue und 
schwarze und violette, fand ich in der Aktentasche des Herrn Lakatos. 
Ich kehrte mit ihr wieder an meinen Tisch zurtick und wartete. 
Nach einigen Minuten kam Lakatos, setzte sich, zog mit einiger Feier- 
lichkeit einen Umschlag aus der Rocktasche und uberreichte ihn mir, 
ohne ein Wort. Wahrend ich mich anschickte, das Kuvert zu offnen, 
das das Siegel unserer Botschaft trug, sah ich, wie er seiner roten Le- 
dermappe eines der Pafiformulare entnahm, und horte ich, wie er Tinte 
und Feder bestellte. In dem Schreiben, das ich las, teilte die kaiserliche 
Botschaft dem Fiirsten Krapotkin mit, daft die besondere Gnade des 
Zaren die Brtider Rifkin befreit habe und dafi auch der Schwester 
Channa Lea Rifkin keinerlei Gefahr drohe, wenn sie nach Rutland 
zuriickkehre. Ich erschrak, meine Freunde, ich erschrak gewaltig. 
Aber ich stand nicht etwa auf, um wegzugehen, ja, ich schob nicht 
einmal das Papier Lakatos zu. Ich sah nur, wie Lakatos, ohne sich um 
mich zu kummern, mit einer schonen, kalligraphischen Kanzleibeam- 
tenschrift den Pafi fiir die Jiidin Rifkin langsam, sorgfaltig, behaglich 
auss teilte. 

Meine Lieben! Ich zittere jetzt, wahrend ich all dies erzahle, vor 
SelbsthafS und Selbstverachtung. Damals aber war ich stumm wie ein 
Fisch und gleichgiiltig wie ein Henker nach seiner hundertsten Hin- 
richtung. Ich glaube, dafi ein tugendhafter Mensch seine edelste Tat 
ebensowenig zu erklaren vermag wie ein Schuft von meiner Art seine 
niedrigste. Ich wufite ja, daft es darum ging, das edelste Madchen, das 
ich kannte, zu verderben. Ich sah schon, mit meinem geiibten Berufs- 
auge, den geheimnisvollen, den teuflischen Nadelstich iiber dem Na- 
men. Ich zitterte nicht, ich ruhrte mich nicht. Ich Unseliger dachte an 
die unselige Lutetia. Und, so wahr ich ein Schurke bin, ich hatte da- 
mals nur vor einem Angst: Ich mufite selbst zu den Rifkins gehen und 
dem Madchen und dem Bruder die tiickisch frohe Nachricht bringen. 
Dermafkn zitterte ich davor, dafi ich mich seltsamer-, das heifk 



BEICHTE EINES MORDERS II3 

schamloserweise von jeder Schuld befreit fiihlte, als Lakatos, nach- 
dem er mit dem Loschblatt sorgfaltig seine Inschriften im Pafi ge- 
trocknet hatte, aufstand und sagte: >Ich gehe selbst zu ihr! Schreiben 
Sie nur zwei Zeilen: Der Uberbringer dieses ist ein Freund, gute 
Reise, auf Wiedersehn in Rutland, Krapotkin.< Zugleich schob er mir 
Tintenfaft und Papier zu und driickte mir die Feder in die Hand. Und 
- meine Freunde - erlaubt ihr noch, daft ich euch Freunde nenne? - 
ich schrieb. Meine Hand schrieb. Noch nie hatte sie so schnell ge- 
schrieben. 

Ohne das Papier zu trocknen, nahm es Lakatos. Es flatterte in seiner 
Hand wie eine Fahne, als er hinausging. Unter seinem linken Arm 
flackerte die rote Tasche. 

All dies ging viel schneller, als ich es zu erzahlen vermag. Knapp fiinf 
Minuten spater sprang ich auf, zahlte hastig und lief vor die Tur, um 
nach einem Wagen zu suchen. Aber es kam kein Wagen. Statt eines 
Wagens sah ich einen Lakaien der Botschaft stracks auf mich zu lau- 
fen. Solowejczyk lieft mich rufen. 

Seibstverstandlich wuftte ich sofort, daft Lakatos gesagt hatte, wo ich 
zu finden sei. Statt nun eine Ausrede zu gebrauchen und nach einem 
Wagen zu suchen, folgte ich dem Diener und ging zu Solowejczyk. 
Ich saft zwar allein im Vorzimmer der Eingeweihten, aber er lieft 
mich lange warten. Es vergingen zehn Minuten, zehn Ewigkeiten, da 
rief er mich erst. Ich begann sofort: >Ich muft fort, es ist ein teures 
Menschenleben, ich muft fort!< 

>Um wen handelt es sich?< fragte er langsam. >Um die Rifkins!< sagte 
ich. >Kenne ich nicht, weift nichts von ihnen<, sagte Solowejczyk. 
>Bleiben Sie sitzen! Sie haben Geld gebraucht. Hier! Fur besondere 
Dienstleistungen!< Er gab mir meinen Lohn! Meine Freunde! Wer nie 
einen Lohn fur einen Verrat erhalten hat, kann das Wort Judaslohn 
fur einen abgebrauchten Ausdruck halten. Ich nicht. Ich nicht. Ich 
nicht. 

Ich lief hinaus, ohne Hut, ich erwischte einen Wagen, ich trommelte 
mit der Faust von Zeit zu Zeit gegen den Rucken des Kutschers, er 
schlug und knallte immer heftiger mit der Peitsche. Wir kamen zum 
Schweizer. Ich sprang ab. Der gute Mann begniftte mich mit einem 
gliicklichen Gesicht. >Sie sind endlich frei und gerettet<, rief er, >Dank 
Ihnen! Sie sind schon zur Bahn. Ihr Sekretar, Durchlaucht, hat sie so- 



114 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

fort mitgenommen. Oh, Sie sind ein edler Mensch!< Er hatte Tranen in 
den Augen, er griff nach meiner Hand, er biickte sich, um sie zu ktis- 
sen, Der Kanarienvogel zwitscherte. 

Ich entrifi ihm die Hand, griifite ihn nicht, stieg wieder in den Wagen 
und fuhr ins Hotel. 

Unterwegs nahm ich den Scheck aus der Tasche und behielt ihn 
krampfhaft in der Hand. Er war mein Siindengeld, aber er sollte mein 
Siihnegeld werden. Es war ein unwahrscheinlich hoher Lohn, heute 
noch schame ich mich, die Zahl zu nennen — obwohl ich euch doch 
alles andere Schandliche erzahle. Keine Lutetia mehr, kein Schneider 
mehr, kein Krapotkin mehr. Nach Rufiland! Mit Geld konnte man sie 
noch an der Grenze erreichen. Meinen Kollegen teiegraphieren. Man 
kennt mich. Mit Geld kann man sie zuriickschicken! Keine lacherli- 
chen Ambitionen mehr! Gutmachen! Gutmachen! Koffer packen und 
nach Rufiland! Retten! Die Seele retten! 

Ich bezahlte das Hotel. Ich liefi die Koffer packen. Ich bestellte zu 
trinken. Ich trank. Ich trank. Eine wilde Frohlichkeit ergriff mich. Ich 
war schon gerettet. Ich telegraphierte dem Chef unserer geheimen 
Grenzpolizei Kaniuk, er mochte die Rifkins aufhalten. Ich packte eif- 
rig, neben dem Personal. 

Kurz vor Mitternacht war ich fertig. Mein Zug ging erst um sieben 
Uhr morgens. Ich griff in die Tasche und faftte einen Schlussel. An 
seiner Form, an seinem Bart erkannten meine Finger, dafi es der 
Schlussel zu Lutetias Wohnung war. Ah, also ein Fingerzeig des guten 
Gottes. Man mufi heute auch zu ihr, gesegnete Nacht, man gesteht und 
erzahlt alles. Man nimmt Abschied und gibt ihr und sich selbst die 
Freiheit. 

Ich fuhr zu Lutetia. Ich glaubte zu spiiren, als ich ins Freie trat, dafi ich 
zuviel getrunken hatte. Ich sah ringsum singende, aufgeregte Men- 
schen. Ich sah Menschen mit Fahnen, aufgeregte Redner, weinende 
Frauen. Damals war, wie ihr wifk, Jaures in Paris erschossen worden. 
Alles, was ich da sah, bedeutete naturlich den Krieg. Ich aber war da- 
mals in mich eingesponnen, ich begriff nichts, ein toricht und trunken 
Taumelnder . . . 

Ich war entschlossen, ihr zu sagen, daft ich sie belogen hatte. Einmal 
auf dem Wege der sogenannten Anstandigkeit angelangt, gab es fur 
mich kein Halten mehr. Ich berauschte mich jetzt geradezu an der 
Anstandigkeit, wie ich mich vorher am Bosen berauscht hatte. Viel 



BEICHTE EINES MORDERS II5 

spater erst erkannte ich, daft derlei Rausche nicht bestandig sein kon- 
nen. Es ist unmoglich, sich an der Anstandigkeit zu berauschen. Die 
Tugend ist immer niichtern. 

Ja, ich wollte alles beichten. Ich wollte mich - ich stellte es mir sehr 
tragisch vor - vor der geliebten Frau meines Lebens erniedrigen, um 
dann Abschied von ihr auf immer zu nehmen. Der noble und fromme 
Verzicht erschien mir in jenem Augenblick weitaus erhabener als die 
verlogene Noblesse, in der ich bis jetzt gelebt hatte, und als die Leiden- 
schaft sogar. Ein Leidender, Erniedrigter, aber ein namenloser Held, 
wollte ich von nun ab durch das Leben irren. Wenn ich bis jetzt ein 
jammerlicher Held gewesen war, so sollte ich von nun ab ein wirkli- 
cher, ein echter werden. 

In dieser gehobenen Diisterkeit - wenn ich so sagen darf - begab ich 
mich zu Lutetia. Ich schlofi auf. Es war die Zeit, in der Lutetia ge- 
wohnt war, meinen Besuch zu erwarten. Ich wunderte mich schon im 
Vorzimmer, daft mir ihr Stubenmadchen nicht entgegenkam, denn 
auch sie pflegte mich um diese Zeit zu erwarten. Alle Tiiren waren 
offen. Man muftte an dem ekelhaften Papagei und an dem Getier ande- 
rer Art vorbei in den erleuchteten Salon, dann in den Toilettenraum 
und schlieftlich in das sanftblau belichtete Schlafzimmer, das Lutetia 
ihr >Boudoir< zu nennen pflegte. Ich zogerte zuerst, ich weift nicht, 
warum. Ich ging mit sachteren Schritten als gewohnlich. Die dritte 
Tur, die des Schlafzimmers, war zugemacht, aber nicht verschlossen. 
Ich offnete zaghaft. 

Im Bett, neben Lutetia, den Arm um ihren Nacken, lag ein Mann, und 
es war, wie ihr euch vielleicht denken konnt, der junge Krapotkin. 
Beide schienen sie so fest zu schlafen, daft sie mich nicht kommen 
gehort hatten. Ich naherte mich dem Bett auf den Zehenspitzen. Oh, es 
war gar nicht meine Absicht, eine sogenannte Szene zu machen. In 
jenem Moment bereitete mir der Anblick, der sich mir bot, einen tiefen 
Schmerz. Aber eifersuchtig war ich keineswegs. In der heroischen Ver- 
zichtsstimmung, in der ich mich damals befand, war mir der Schmerz, 
den mir die beiden bereiteten, beinahe erwiinscht. Er bestatigte gewis- 
sermaften meinen Heroismus und meine Entschliisse. Es war eigentlich 
meine Absicht, sie sanft zu wecken, ihnen Gluck zu wiinschen und 
beiden alles zu erzahlen. Aber es geschah, daft Lutetia erwachte, einen 
schrillen Schrei ausstieft, der den Jungen natiirlich weckte. Ehe ich 
noch etwas sagen konnte, saft er aufrecht im Bett, in einem knall- 



Il6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

blauen, seidenen Pyjama, das seine nackte Brust offen liefi. Es war eine 
weifie, schwachliche, unbehaarte Jiinglingsbrust, eine Knabenbrust, 
ich weifi nicht, warum sie mich in jenem Augenblick so argerte. >Ah, 
Golubtschik<, sagte er - und rieb sich die Augen, >Sie sind immer noch 
nicht abgefertigt? Hat Sie mein Sekretar nicht endgiiltig ausbezahlt? 
Geben Sie mir meinen Rock, nehmen Sie meinetwegen die Briefta- 
sche.< 

Lutetia schwieg. Sie sah mich an. Sie mufite schon alles wissen. 
Da ich mich nicht riihrte und den Fursten nur traurig anblickte, wah- 
rend er, in seiner Dummheit, glauben mochte, ich sahe ihn frech oder 
herausfordernd an, begann er plotzhch zu briillen: >Hinaus, Spitzel, 
Lump, bezahlter, hinaus!< 

Und da ich in dem gleichen Augenblick sah, wie sich Lutetia, nackt, 
mit nackten Brusten, aufrichtete, entbrannten in mir, trotz alien Vor- 
satzen und obwohl ich bereits losgelost war von aller fleischlichen Lust 
sozusagen, erwachte also in mir, sage ich, beim Anblick der nackten 
Frau, die mir, nach den stupiden mannlichen Begriffen, eigentlich >ge- 
horen< mufke, die alte bose Wut. 

Es fiel mir im Augenblick gar nichts ein, nur das Wort Golubtschik 
erfiillte mein Hirn und mein Blut, und mein Hafi fand keinen anderen 
Ausdruck. Die nackte Lutetia verwirrte mich vollends, und lauter 
noch, als der Fiirst Krapotkin geschrien hatte, brullte ich ihm ins Ge- 
sicht: >Golubtschik heifk du\ Nicht ichl Wer weift, mit welchen Go- 
lubtschiks deine Mutter geschlafen hat! Keiner weift es. Mit meiner 
aber hat der alte Krapotkin geschlafen. Und ich bin sein Sohn!< 
Er sprang auf, er fafite mich an der Gurgel, der Schwachling. Schwa- 
cher noch war er, weil er entkleidet war. Seine zarten Hande konnten 
meinen Hals nicht umfassen. Ich stieft ihn zuriick, Er fiel aufs Bett. 
Von nun an weift ich nicht mehr, was eigentlich geschah. Ich hore 
heute noch die schrillen Schreie Lutetias. Ich sehe heute noch, wie sie, 
ganz nackt, schamlos erschien sie mir damals, aus dem Bett springt, um 
den Jungen zu schutzen. Ich weifi nicht mehr, was ich tue. In meiner 
Tasche liegt ein schweres Schlusselbund, an dem ein eisernes Schloft 
befestigt ist, jenes Schloft, das ich aus besonderer Vorsicht an meinem 
Geheimkoffer anbringe, wenn wichtige Papiere darin sind. Ich habe 
keine wichtigen Papiere mehr. Ich bin kein Spitzel mehr. Ich bin ein 
anstandiger Mensch. Man reizt mich. Man zwingt mich zum Mord. 
Ich greife, ohne dafi ich wuftte, was ich tue, in meine Hosentasche. Ich 



BEICHTE EINES MORDERS 117 

schlage los, auf den Kopf Krapotkins, auf den Kopf Lutetias. Ich 
hatte bis zu jener Stunde noch niemais im 2orn geschlagen. Ich weifi 
nicht, wie es andern ergehtj wenn sie Zorn ergreift. Mir jedenfalls 
ging es so, meine Freunde, daft jeder meiner Schlage eine mir bis da- 
hin unbekannte Wollust bereitete. Zugleich glaubte ich fast zu wis- 
sen, daft meine Schlage auch meinen Opfern Wollust bereiteten. Ich 
schlug, ich schlug - ich schame mich nicht, es zu schildern - so 
schlug ich, meine Freunde.« 

Hier erhob sich Golubtschik von seinem Stuhl, und sein Antlitz, zu 
dem wir Zuhorer alle emporblickten, wurde abwechselnd kaseweift 
und violett. Er lieft seine Faust ein paarmal auf den Tisch niedersau- 
sen, die halbgefiillten Schnapsglaser fielen klaglich urn und rollten auf 
den Boden, und der Wirt beeilte sich, die Karaffe zu retten. Obwohl 
er aufgeregt die Bewegungen Golubtschiks beobachtete, fand er doch 
noch die - berufliche - Geistesgegenwart, die Karaffe in seinem 
Schofi zu bergen. Golubtschik rift die Augen zuerst auf, dann schloft 
er sie, hierauf begannen wieder seine Augenlider zu zucken, eine 
diinne Speichelspur bildete einen weifien Saum um seine blaulichen 
Lippen. Ja, genauso muftte er damals ausgesehen haben, als er gemor- 
det hatte. In dies em Augenblick wufiten wir Zuhorer es alle: Er war 
ein Morder . . . 

Er setzte sich wieder, sein Angesicht nahm die gewohnliche Farbe an. 
Er trocknete den Mund mit dem Handriicken, hierauf die Hand mit 
dem Taschentuch und fuhr fort: 

»Ich sah zuerst an der Stirn Lutetias, oberhalb des linken Auges, 
einen tiefen Rift. Das Blut spritzte hervor und uberstromte das Ge- 
sicht und farbte die Kissen. Obwohl Krapotkin, mein zweites Opfer, 
hart danebenlag, gelang es mir dennoch (es war geradezu eine wun- 
derbare Fahigkeit, mit offenen Augen nicht zu sehen, was ich nicht 
schauen wollte), mir einzubilden, er ware gar nicht vorhanden. Ich 
sah nur das stromende Blut Lutetias. Ich erschrak nicht vor meiner 
Untat. Nein! Ich war nur erschrocken iiber den unaufhorlichen Fluft, 
den Uberfluft des Blutes, das in einem menschlichen Schadel enthal- 
ten sein konnte. Es war, als muftte ich bald - wollte ich noch war- 
ten - in dem Blut ertrinken, das ich selbst vergossen hatte. 
Ich bin plotzlich ganz ruhig. Nichts beruhigt mich so sehr wie die 
Sicherheit, daft sie jetzt beide schweigen werden. In alle Ewigkeit 
werden sie schweigen. Es ist ganz still, nur die Katzen kommen ge- 



Il8 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

schlichen. Sie springen auf die Betten. Vielleicht riechen sie das Blut. 

Aus dem Nebenzimmer krachzt der Papagei meinen Namen, meinen 

gestohlenen Namen: >Krapotkin, Krapotkin!< 

Ich s telle mich vor den Spiegel. Ich bin ganz ruhig. Ich betrachte mein 

Gesicht und sage zu meinem Spiegelbild mit lauter Stimme: >Du bist 

ein M6rder!< Ich denke gleich darauf: Du bist ein Polizist! Man muft 

sein Handwerk griindlich kennen! 

Hierauf gehe ich in die Toilette, gefolgt von den lautlosen Katzen. Ich 

wasche meine Hande und mein Schlusselbund und das Schlofi, 

Ich setzte mich an den unangenehm zierlichen Schreibtisch Lutetias 
und schrieb mit verstellter Schrift, mit lateinischen Buchstaben, ein 
paar Worte; sinnlose Worte; sie lauteten: >Wir hatten ohnehin sterben 
wollen. Nun sind wir durch dritte Hand gestorben. Unser Morder ist 
ein Freund meines Liebhabers, des Fiirsten!< 

Es machte mir damals ein besonderes Vergniagen, die Schrift Lutetias 
genau nachzuahmen. Es war {ibrigens nicht schwierig, mit ihrer Tinte 
und ihrer Feder. Sie hatte die Schrift aller kleinen und plotzlich erho- 
benen Kleinbiirgerinnen. Trotzdem verwandte ich eine ungewohnlich 
lange Zeit auf die ganz genaue Nachahmung dieser Schrift. Um mich 
herum schlichen die Katzen. Der Papagei rief von Zeit zu Zeit: >Kra- 
potkin, Krapotkin!< 

Nachdem ich fertig geworden war, verliefi ich das Zimmer. Ich sperrte 
das Schlafzimmmer von aufien zweimal ab, auch die Wohnung zwei- 
mal. Ich ging seelenruhig und gedankenlos die Treppe hinunter. Ich 
griifke hoflich, wie ich gewohnt war, die Hausmeisterin, die trotz der 
spaten Stunde immer noch in der Loge saft und strickte. Sie stand sogar 
auf, denn ich war ein Fiirst — und fiirstliche Trinkgelder hatte sie oft 
von mir bekommen. 

Ich stand noch eine Weile, seelenruhig und gedankenlos, vor dem 
Haustor. Ich erwartete einen Fiaker. Als ein freies Gefahrt vorbeikam, 
winkte ich und stieg ein. Ich fuhr zum Schweizer, bei dem die Rifkins 
gewohnt hatten. Ich weckte ihn und sagte: >Ich muft mich bei Ihnen 
verbergen.< 

>Kommen Sie<, sagte er nur und fiihrte mich in ein Zimmer, das ich bis 
jetzt nicht gekannt hatte. >Hier konnen Sie sicher bleiben<, sagte er. 
Und er brachte mir Milch und Brot. 



BEICHTE EINES MORDERS II9 

>Ich habe Ihnen etwas zu sagen<, sagte ich. >Ich habe nicht aus politi- 

schen Motiven getotet, sondern aus privaten.< 

>Das geht mich nichts an<, erwiderte en 

>Ich habe Ihnen noch mehr zu erzahlen<, sagte ich. >Was denn?< fragte 

er. 

In diesem Augenblick - es war allerdings ganz finster - nahm ich mir 

den Mut zu sagen: >Ich bin ein Spitzel, seit langen Jahren. Heute aber 

habe ich privat gemordet.< 

>Sie bleiben hier bis zum MorgengrauenU sagte er. >Bis dahin - und 

keine Sekunde langer bleiben Sie in diesem Haus.< Und dann, als ware 

in ihm der Engel erwacht, fugte er hinzu: >Schlafen Sie wohl! Und 

Gott verzeihe Ihnen !< 

Ich schlief keineswegs - brauche ich euch das noch zu sagen, meine 

Freunde? Lange noch vor dem Morgengrauen erwachte ich. Ich hatte 

in meinen Kleidern schlaflos dagelegen. Ich mufke das Haus verlassen, 

und ich verliefi es. Ich wanderte ziellos durch die erwachenden Stra- 

ften. Als es acht Uhr von den verschiedenen Turmen schlug, begab ich 

mich auf den Weg nach der Botschaft. Ich hatte nicht falsch gerechnet. 

Ich trat, ohne mich angemeldet zu haben, in das Zimmer Solowej- 

czyks. Ich erzahlte ihm alles. 

Nachdem ich geendet hatte, sagte er: 

>Sie haben sehr viel Ungluck im Leben, aber doch auch ein klein wenig 

Gliick. Sie wissen nicht, was geschehen ist. Es ist Krieg in der Welt. Er 

wird in diesen Tagen ausbrechen. Vielleicht um die Stunde, in der Sie 

Ihre Missetat, oder sagen wir lieber, Ihren Mord begangen haben. Sie 

miissen einriicken! Warten Sie ein halbes Stlindchen. Sie werden ein- 

riicken!< 

Nun, meine Freunde, ich riickte ein, und mit Freuden. Vergeblich 
fragte ich an der Grenze nach den Rifkins. Auch Kaniuk war nicht 
mehr da. Von meinem Telegramm wulke man gar nichts. Euch alien, 
die ihr den Krieg mitgemacht habt, brauche ich nicht zu erzahlen, was 
er war, dieser Weltkrieg. Der Tod war uns alien nahe. Vertraut waren 
wir mit ihm, ihr wilk es, wie mit einem vertrauten Bruder. Die meisten 
von uns fiirchteten ihn. Ich aber, ich suchte ihn. Ich suchte ihn mit 
aller Liebe und mit aller Gewalt. Ich suchte ihn im Schiitzengraben, ich 
suchte ihn auf den Vorposten, zwischen und vor den Stacheldrahten, 
im Kreuzfeuer und beim Sturmangriff, im Giftgas und iiberall sonst, 



120 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wo ihr wollt. Ich bekam Auszeichnungen, aber niemals eine Verwun- 
dung. Der gute Bruder Tod entzog sich mir einfach. Der gute Bruder 
Tod verachtete mich. Ringsherum fielen sie, meine Kameraden. Ich 
beweinte sie keineswegs. Ich beklagte die Tatsache, dafi ich nicht ster- 
ben konnte. Ich hatte gemordet, und ich konnte nicht sterben. Ich 
hatte dem Tod Opfer geschenkt, und er bestrafte mich: Mich, mich 
allein wollte er nicht haben. 

Ich sehnte mich damals nach ihm. Denn ich glaubte damals noch, der 
Tod sei eine Qual, durch die man biifien konne. Spater erst begann ich 
zu ahnen, dafi er eine Erlosung ist. Ich hatte ihn nicht verdient; und 
deshalb war er auch nicht gekommen, mich zu erlosen. 
Es ist iiberflussig, euch, meinen Freunden, die ihr es wifit, von dem 
Unheil zu berichten, das dann iiber Rutland hereinbrach. Es gehort 
nicht zu meiner Geschichte tibrigens. Zu meiner Geschichte gehort nur 
die Tatsache, dafi ich, gegen meinen sehnsuchtigen Willen heil geblie- 
ben, vor der Revolution fluchtete. Ich gelangte nach Osterreich. Ich 
gelangte nach der Schweiz. Erlafit mir bitte die einzelnen Etappen. 
Es zog mich nach Frankreich, es zog mich nach Paris, Es zog mich, 
nachdem mich der Tod verschmaht hatte, nach der Statte meiner jam- 
merlichen Freveltaten, wie jeden Morder. 

Ich kam in Paris an. Es war ein frohlicher Tag, obwohl es Herbst war, 
fast Winter - aber der Winter sieht ja in Paris fast so aus wie bei uns der 
Herbst. Man feierte den Sieg und den Frieden. Was ging mich der Sieg, 
was ging mich der Frieden an? Ich schleppte mich nach dem Hause in 
der Avenue des Champs-filysees, wo ich einst meinen Mord begangen 
hatte. 

Die Hausmeisterin, die alte Hausmeisterin von dazumal, stand noch 
vor der Tiir. Sie erkannte mich nicht. Wie hatte sie mich auch erkennen 
sollen? Ich war grau geworden - grau, wie ich heute bin. 
Ich fragte nach Lutetia - und mein Herz klopfte. 
>Dritter Stock links<, sagte sie. 

Ich stieg die Treppe hinauf. Ich klingelte. Lutetia selbst offnete mir. 
Ich erkannte sie sofort. Sie erkannte mich keineswegs. Sie machte An- 
stalten, mich nicht einzulassen. 

>Ah!< sagte sie nach einer Weile - trat zuriick, schloE die Tiir und off- 
nete sie wieder aufs neue. >Ah!< wiederholte sie und breitete die Arme 
aus. 
Ich weifl nicht, meine Freunde, weshalb ich eigentlich in diese Arme 



BEICHTE EINES MORDERS 121 

fiel. Wir umarmten uns lange und ausftihrlich. Ich hatte die deutliche 
Empfindung, es ereignete sich etwas unerhort Banales, Lacherliches 
und sogar Groteskes. Man denke: die Frau, die ich mit eigenen Han- 
den umgebracht zu haben glaubte, hielt ich in den Armen. 
Nun, meine Freunde, es dauerte nicht lange, und ich erfuhr, ich erlebte 
die hochste, die tiefste - wenn ihr so wollt - aller Tragodien: die Tra- 
godie der Banalitat namhch. 

Ich blieb erstens bei Lutetia. Sie hiefi iibrigens langst nicht mehr so - 
und auch nach dem mondanen Schneider krahte kein Hahn mehr — 
wie man so zu sagen pflegt. Ich blieb bei ihr: aus Liebe, aus Reue, aus 
Schwache: Was kann man wissen, meine Freunde? 
Ich hatte keinen von beiden getotet. Ich hatte wahrscheinlich nur die 
Ri&ins getotet. Vorgestern erst traf ich im Jardin du Luxembourg den 
jungen Fiirsten Krapotkin. Begleitet von seinem backenbartigen, silb- 
rigen und schwarzen Sekretar, der immer noch lebt und, wenn auch 
schabiger und armseliger als einst, dennoch immer noch nicht wie ein 
Begleiter des Fiirsten aussieht, sondern wie sein Leichentrager, ein Lei- 
chenbegleiter sozusagen, ging der junge Fiirst einher, an zwei Stocken 
humpelte er — vielleicht die Folge der Verletzung am Kopfe, die ich 
ihm damals beigebracht hatte. 

>Ah, Golubtschik!< rief er, als er mich erblickte — und es klang anders, 
freudig beinahe. 

>Ja, ich bin es!< sagte ich. >Verzeihen Sie mir!< 

>Nichts, nichts, nichts von der Vergangenheit!< sagte er und richtete 
sich mit Hilfe seiner zwei Stocke zu seiner vollen Grofte auf. >Wichtig 
ist die Gegenwart, die Zukunft!< 

Ich sah sofort, dafi er schwach von Sinnen war, und sagte: >Ja, ja!< 
Plotzlich erglomm ein leichtes Feuerchen in seinen Augen, und er 
fragte: 

>Das Fraulein Lutetia? Lebt sie?< 
^Sie lebt!< sagte ich - und verabschiedete mich hastig. 

Und damit ist eigentlich meine Geschichte zu Ende«, sagte Golub- 
tschik, der Morder. »Ich hatte euch aber noch andere Weisheiten zu 
sagen . . .« 

Es wurde hell, man spiirte es durch die zugemachten Turladen. Durch 
die seltenen Ritzen drang der siegreiche, goldene Sommermorgen zage 
und dennoch kraftig herein - und man horte die erwachenden Gerau- 



122 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sche der Pariser Straften und vor allem das larmende Jubeln der mor- 
gendlichen Vogel. 

Wir schwiegen alle. Langst waren unsere Glaser geleert. 
Auf einmal klopfte es hart und trocken gegen den geschlossenen Rolla- 
den. »Das ist sie!« rief Golubtschik, >unser M6rder< — und im nach- 
sten Augenblick war er verschwunden; er hatte sich unter dem Tisch 
verborgen. 

Der Wirt des »Tari-Bari« ging behabig zur Tur. Er offnete sie. Er 
steckte - und es schien uns eine Ewigkeit zu dauern - den grofien 
Drehschlussel in das Schlofi, und langsam, langsam und larmend stieg 
der eiserne Rolladen empor. Der junge Tag drang voll und siegreich in 
unser iibernachtiges Gestern, Entschlossener noch als der Morgen 
drang eine altliche, diirre Frau in den Laden ein. Sie ahnelte mehr 
einem iibergrofien, hageren Vogel als einer Frau. Eine tiefe, hafiliche 
Narbe iiber dem linken Auge versuchte ein allzu diinner, zu kurzer, 
schwarzer Schleier, lieblos am linken Rand des lacherlichen Hiitchens 
angebracht, vergeblich zu verdecken. Und ihre schrille Stimme, mit 
der sie fragte: »Wo ist mein Golubtschik? Ist er hier? Wo ist er?«, 
erschreckte uns alle dermaflen, dafi wir, auch wenn wir gewollt hatten, 
nicht imstande gewesen waren, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie ver- 
streute noch ein paar haftliche und unmenschlich flinke Vogelblicke - 
und verschwand hierauf. 

Erst eine Weile spater kroch Golubtschik unter dem Tisch hervor. 
»Sie ist fort!« sagte er erleichtert. »Das ist Lutetia.« Und gleich hierauf: 
»Auf Wiedersehn! Meine Freunde! - Auf morgen abend!« Mit ihm 
ging auch der Chauffeur. Draufien wartete schon der erste Gast. Er 
driickte ungeduldig auf die Hupe. 

Der Wirt blieb allein mit mir. »Welche Geschichten hort man doch bei 

Ihnen«, sagte ich. 

»Ganz gewohnliche, ganz gewohnliche«, erwiderte er. »Was ist schon 

seltsam im Leben? Ganz gewohnliche Geschichten hat es zu verteilen. 

Es wird Sie nichts hindern wiederzukommen, wie?« 

»Ganz gewift nicht!« sagte ich. 

Als ich diese Worte aussprach, war ich auch iiberzeugt, dafi ich den 

Wirt und das Gasthaus und den Morder Golubtschik und die anderen 

Stammgaste alle noch oft wiedersehen wiirde. Ich ging. 

Der Wirt hielt es fur notig, mich bis iiber die Schwelle zu begleiten, Es 



BEICHTE EINES MORDERS 123 

sah aus, als zweifelte er noch ein wenig an meiner Absicht, sein Lokal 
auch weiterhin, wie bisher, zu besuchen. »Werden Sie auch wirklich 
wiederkommen?« fragte er noch einmal. »Aber selbstverstandlich!« 
sagte ich. »Sie wissen ja, ich wohne schrag gegeniiber, im Hotel des 
Fleurs Vertes!« »Ich weifi, ich weifi«, sagte er, »aber, es ist mir plotz- 
lich, als seien Sie schon weit fortgezogen.« 

Diese unvermuteten Worte erschreckten mich zwar nicht, aber ich war 
durch sie stark betroffen. Ich fuhlte: sie enthielten irgendeine groftere, 
mir nur noch verhullte Wahrheit. Es war ja nichts anderes als eine 
konventionelle HofKchkeit, daft der Wirt des »Tari-Bari« mich, einen 
alten Stammgast, nach einer durchzechten Nacht bis auf die Strafte 
begleitete. Dennoch hatte diese Handlung etwas Feierliches, unge- 
wohnt, ich mochte sagen: ungerechtfertigt Feierliches. Schon kamen 
von den Hallen die ersten Wagen zuriick. Sie rollten munter dahin, 
obwohl die Kutscher auf den Bocken, ermiidet von der nachtlichen 
Arbeit, schliefen und die Ziigel in ihren schlafenden Handen auch zu 
schlafen schienen. Eine Amsel kam zutraulich knapp vor die groften, 
schlappen Filzschuhe des Wirtes gehiipft. Sie blieb seelenruhig, wie in 
Nachdenken versunken, neben uns stehn, und so, als interessierte sie 
unser Gesprach. Allerhand morgendliche Gerausche erwachten. Tore 
offneten sich knirschend, Fenster klirrten sachte, kehrende Besen 
schlurften mit strengem Kratzen iiber Pflastersteine, und irgendwo 
jammerte ein Kind, das man jah aus dem Schlaf gerissen haben mochte. 
Das ist ja ein Morgen wie alle Morgen, sagte ich mir in meinem Innern. 
Ein gewohnlicher Pariser Sommermorgen! - Und laut sagte ich zum 
Wirt des »Tari-Bari«: »Aber ich ziehe ja gar nicht weg! Fallt mir ja gar 
nicht ein!« - Und ich stiefi dabei ein kleines, zaghaftes Lachen aus - es 
hatte eigentlich ein starkes, iiberzeugendes sein sollen; es kam leider 
nur so kummerlich heraus: eine wahre Mifigeburt von einem La- 
chen . . . 

»Na, dann also auf Wiedersehen!« sagte der Wirt, und ich druckte 
seine weiche, fleischige, eigentlich kasige Hand. 

Ich sah mich nicht mehr nach ihm um. Wohl aber fuhlte ich, da£ er 
wieder in sein Gasthaus zuriickgegangen war. Es war naturlich meine 
Absicht, die Strafte zu iiberqueren, um mein Hotel zu erreichen. Ich 
tat es dennoch nicht. Es schien mir, daft der Morgen noch zu einer 
kleinen Wanderung locke und daft es unangebracht, wenn nicht haft- 
lich sei, in ein kargliches Hotelzimmer zu einer Zeit zu gehn, von der 



124 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

man nicht sagen konnte, sie sei zu friih oder zu spat. Es war kein friiher 

Morgen mehr, und es war noch kein spater. Ich beschloft, ein paarmal 

urn den Hauserblock herumzugehen. 

Ich wufke nicht, wie lange ich so herumgewandert war. Ich behielt, als 

ich endlich vor meinem Hotel stand, von dem ganzen morgendlichen 

Spaziergang nichts mehr in der Erinnerung als ein paar nicht gezahlte, 

keineswegs gezahlte Glocken verschiedener unbekannter Turme. Die 

Sonne lag schon kraftig und durchaus heimisch im Vestibiil. Mein 

Hotelwirt, in rosa Hemdsarmeln, machte den Eindruck, als schwitzte er 

jetzt bereits so, wie er an andern Tagen nur in der Mittagsstunde zu 

schwitzen pflegte. Jedenfalls hatte er, obwohl er im Augenblick gar 

nichts tat, ein sehr beschaftigtes Aussehn. Ich erfuhr auch sofort, 

warum. 

»Endlich ein Gast!« sagte er und zeigte auf drei Koffer, die er neben 

seinem Schreibtisch aufgestapelt hatte. »Sehn Sie sich nur die Koffer 

an«, fuhr er fort, »und Sie werden gleich wissen, was fur ein Gast es ist!« 

Ich sah mir das Gepack an. Es waren drei gelbe, schweinslederne, groft- 

artige Koffer, und ihre messingnen Schlosser leuchteten wie geheime, 

versperrte goldene Miinder. Uber jedem der Schlosser standen in blut- 

roter Schrift die Initialen: »J.L.« 

»Er hat das Zimmer zwolf«, sagte der Wirt. »Knapp neben Ihnen. Feine 

Gaste setze ich immer nebeneinander.« 

Damk gab er mir den SchlusseL 

Ich behielt den Schliissel eine Weile in der Hand und gab ihn dann 

zunick. »Ich moche unten den Kaffee trinken«, sagte ich. »Ich bin zu 

mude, um noch hinaufzugehen!« 

Ich trank den Kaffee im winzigen Schreibzimmer, zwischen einem 

langst ausgetrockneten Tintenfaft und einer Majolikavase, gefullt mit 

Zelluloidveilchen, die an Allerseelen erinnerten. 

Die glaserne Tur ging auf, und herein trat, nein tanzelte, ein eleganter 

Herr. Von ihm ging seltsamerweise ein starker Veilchenduft aus, so dafi 

ich einen Augenblick dachte, die Zelluloidveilchen in der Majolikavase 

seien plotzlich lebendig geworden. Bei jedem Schritt vollzog der linke 

Fuft dieses Herrn - ich sah es deutlich - eine zierliche Schleife. Er war 

ganz hellgrau-sommerlich gekleidet, geradezu in einen silbernen Som- 

mer gehiillt. Blauschwarz leuchteten seine straff in der Mitte gescheitel- 

ten Haare, die so aussahen, als ob nicht ein Kamm, sondern eine Zunge 

sie geglattet hatte. 



BEICHTE EINES MORDERS I25 

Er nickte mir zu, freundlich und zugleich reserviert. 

»Auch einen Kaffee!« rief er durch die Tur, die er offengelassen hatte, 

zum Wirt hinaus. 

Dieses »auch« argerte mich. 

Er bekam seinen Kaffee. Er ruhrte lange, iibermafiig lange, mit dem 

Loffel in der Tasse herum. 

Ich wollte mich eben erheben, da begann er, mit einer Stimme, die 

klang wie Samt und Flote, wie eine Flote aus Samt: 

»Sie sind auch fremd hier, nicht wahr?« 

Es klang in meinen Ohren wie ein Echo, Ich erinnerte mich, dafi ich 

diese gleiche Frage heute - oder war es gestern? - schon gehort hatte. 

Ja, ja! Diese Frage, der Morder Golubtschik hatte sie erwahnt, mochte 

sie in der Nacht erwahnt haben, oder vielleicht auch hatte sie nicht 

wortlich so gelautet! Zugleich entsann ich mich des Namens: »Jeno 

Lakatos«, und ich sah auch die blutroten Initialen auf den gelben Kof- 

fern: »J.L.« 

Statt dem Herrn zu antworten, fragte ich ihn also: 

»Wie lange wollen Sie hierbleiben?« 

»Oh, ich habe 2eit!« sagte er. »Ich verfuge ganz iiber meine 2eit!« 

Der Wirt kam herein, mit einem leeren Meldeformular. Er bat den 

neuen Gast, seinen Namen einzuschreiben. 

»Schreiben Sie«, sagte ich - obwohl er mich gar nicht gefragt hatte und 

in einer Art Anfall von Ungezogenheit, iiber die ich mir heute noch 

keine Rechenschaft geben kann-, »in der Rubrik Familienname: Laka- 

tos; in die Rubrik Vorname: Jeno.« Und ich erhob mich und verbeugte 

mich und ging. 

Am selben Tage noch verliefi ich meine Wohnung in der Rue des 

Quatre Vents. Den Golubtschik habe ich nie mehr wiedergesehn, auch 

nie mehr einen von den Mannern, die seine Geschichte gehort hatten. 



DAS FALSCHE GEWICHT 

Die Geschichte eines Eichmeisters 

Roman 

1937 



I 



Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hiefi Anselm 
Eibenschiitz. Seine Aufgabe bestand darin, die Ma£e und die Gewichte 
der Kaufleute im ganzen Bezirk zu priifen. In bestimmten Zeitraumen 
geht Eibenschutz also von einem Laden zum andern und untersucht 
die Ellen und die Waagen und die Gewichte. Es begleitet ihn ein 
Wachtmeister der Gendarmerie in voller Riistung. Dadurch gibt der 
Staat zu erkennen, dafi er mit Waff en, wenn es notig werden sollte, die 
Falscher zu strafen bedacht ist, jenem Gebot getreu, das in der Heili- 
gen Schrift verkiindet wird und dem zufolge ein Falscher gleich ist 
einem Rauber . . . 

Was nun Zlotogrod betrifft, so war dieser Bezirk ziemlich ausgedehnt. 
Er umfafke vier groftere Dorfer, zwei bedeutende Marktweiler und 
schliefilich das Stadtchen Zlotogrod selbst. 

Der Eichmeister beniitzte fiir seine Dienstwege ein ararisches, einspan- 
niges, zweiraderiges Wagelchen, samt einem Schimmel, fiir dessen Er- 
haltung Eibenschutz selbst aufzukommen hatte. 

Der Schimmel besafi noch ein ansehnliches Temperament. Er hatte 
drei Jahre beim Train gedient und war nur infolge einer plotzlichen 
Erblindung am linken Auge, deren Ursache auch der Veterinar nicht 
erklaren konnte, dem Zivildienst uberstellt worden. Es war immerhin 
ein stattlicher Schimmel, vorgespannt einem hurtigen goldgelben Wa- 
gelchen. Darin saE an manchen Tagen neben dem Eichmeister Eiben- 
schutz der Wachtmeister der Gendarmerie Wenzel Slama. Auf seinem 
sandgelben Helm glanzten die goldene Pickel und der kaiserliche Dop- 
peladler. Zwischen seinen Knien ragte das Gewehr mit dem aufge- 
pflanzten Bajonett empor. Ztigel und Peitsche hielt der Eichmeister in 
der Hand. Sein blonder und weicher, mit Sorgfalt emporgewichster 
Schnurrbart schimmerte ebenso golden wie Doppeladler und Pickel- 
haube. Aus dem gleichen Material schien er gemacht. Von Zeit zu Zeit 
knallte frohlich die Peitsche, und es war, als lachte sie geradezu. Der 
Schimmel galoppierte dahin, mit ehrgeiziger Eleganz und mit dem 
Elan eines aktiven Kavalleriepferdes. Und an heiften Sommertagen, 



130 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wenn die Strafien und Wege des Bezirkes Zlotogrod ganz trocken und 
beinahe durstig waren, erhob sich ein gewal tiger, graugoldener Staub- 
wirbel und hiillte den Schimmel, das Wagelchen, den Wachtmeister 
und den Eichmeister ein. Im Winter aber stand dem Anselm Eiben- 
schiitz ein kleiner, zweisitziger Schlitten zur Verfiigung. Der Schim- 
mel hatte den gleichen eleganten Galopp, Sommer wie Winter. Kein 
graugoldener mehr, sondern ein silberner, ein Schneewirbel hiillte den 
Wachtmeister, den Eichmeister, den Schlitten in Unsichtbarkeit, und 
den Schimmel erst recht, da er fast so weifi war wie der Schnee. 
Anselm Eibenschiitz, unser Eichmeister, war ein sehr stattlicher Mann. 
Er war ein alter Soldat. Er hatte seine zwolf Jahre als langerdienender 
Unteroffizier beim Elften Artillerieregiment verbracht. Er hatte, wie 
man zu sagen pflegt, von der Pike auf gedient. Er war ein redlicher 
Soldat gewesen. Und er hatte niemals das Militar verlassen, wenn ihn 
nicht seine Frau in ihrer strengen, ja unerbittlichen Wexse dazu ge- 
zwungen hatte. 

Er hatte geheiratet, wie es fast alle langerdienenden Unteroffiziere zu 
tun pflegen. Ach, sie sind einsam, die langerdienenden Unteroffiziere! 
Nur Manner sehen sie, lauter Manner! Die Frauen, denen sie begeg- 
nen, huschen an ihnen vorbei wie Schwalben. Sie heiraten, die Unter- 
offiziere, sozusagen um wenigstens eine einzige Schwalbe zu behalten. 
Also hatte auch der langerdienende Feuerwerker Eibenschiitz geheira- 
tet, eine gleichgultige Frau, wie jeder hatte sehen konnen. Es tat ihm so 
leid, seine Uniform zu verlassen. Er hatte Zivilkleider nicht gern, es 
war ihm zumute wie etwa einer Schnecke, die man zwingt, ihr Haus zu 
verlassen, das sie aus ihrem eigenen Speichel, also aus ihrem Fleisch 
und Blut, ein viertel Schnecken-Leben lang gebaut hat. Aber anderen 
Kameraden ging es beinahe ebenso. Die meisten hatten Frauen: aus 
Irrtum, aus Einsamkeit, aus Liebe: Was weifl man! Alle gehorchten 
den Frauen: aus Furcht und aus Ritterlichkeit und aus Gewohnheit 
und aus Angst vor der Einsamkeit: Was weift man! Aber kurz und gut, 
Eibenschiitz verliefi die Armee. Er zog die Uniform aus, die geliebte 
Uniform; verliefi die Kaserne, die geliebte Kaserne. 
Jeder langerdienende Unteroffizier hat ein Recht auf einen Posten. Ei- 
benschiitz, der aus. dem mahrischen Stadtchen Nikolsburg stammte, 
hatte langere Zeit versucht, in seine Heimat als Sequester oder Konzi- 
pist zuriickzugelangen, wenn er schon, dank seiner Frau, gezwungen 
war, die Armee, sein zweites und vielleicht sein eigentliches Nikols- 



DAS FALSCHE GEWICHT 131 

burg, zu verlassen. Man brauchte aber um jene Zeit in ganz Mahren 

weder Sequester noch Konzipisten. Alle Gesuche des Eibenschiitz 

wurden abschlagig beschieden. 

Da ergriff ihn zum erstenmal ein echter Zorn gegen seine Frau. Und er, 

ein Feuerwerker, der so vielen Manovern und Vorgesetzten standge- 

halten hatte, gelobte sich selbst, dafi er von Stunde ab stark gegen seine 

Frau sein wiirde; Regina hiefi sie. In seine Uniform hatte sie sich der- 

einst verliebt - funf Jahre war es im ganzen her. Jetzt, nachdem sie ihn 

in vielen Nachten nackt und ohne Uniform gesehen und besessen 

hatte, verlangte sie von ihm Zivil und Stellung und Heim und Kinder 

und Enkel und was weifi man noch alles! 

Aber der Zorn nutzte gar nichts dem Anselm Eibenschiitz, nachdem er 

die Nachricht erhalten hatte, dafi der Posten eines Eichmeisters in Zlo- 

togrod frei sei. 

Er nistete ab. Er verliefi die Kaserne, die Uniform, die Kameraden und 

die Freunde. 

Er fuhr nach Zlotogrod. 



II 

Der Bezirk Zlotogrod lag im fernen Osten der Monarchic In jener 
Gegend hatte es vorher einen faulen Eichmeister gegeben. Wie lange 
war es her - die Alteren erinnerten sich noch daran-, dafi es iiberhaupt 
Mafie und Gewichte gab! Es gab nur Waagen. Nur Waagen gab es. 
Stoffe mafi man mit dem Arm, und alle Welt weifi, dafi ein Manner- 
arm, von der geschlossenen Faust bis hinauf zum Ellenbogen, eine Elle 
mifit, nicht mehr und nicht weniger, Alle Welt wufite ferner, dafi ein 
silberner Leuchter ein Pfund, zwanzig Gramm wog und ein Leuchter 
aus Messing ungefahr zwei Pfund. Ja, in jener Gegend gab es viele 
Leute, die sich iiberhaupt nicht auf das Wagen und auf das Messen 
verliefien. Sic wogen in der Hand, und sie mafien mit dem Aug'. Es 
war keine giinstige Gegend fur einen staatlichen Eichmeister. 
Es hatte, wie gesagt, vor der Ankunft des Feuerwerkers Anselm Eiben- 
schiitz noch einen anderen Eichmeister im Bezirk Zlotogrod gegeben. 
Aber, was war das fur ein Eichmeister gewesen! Alt und schwach und 
dem Alkohol ergeben, hatte er niemals die Mafie und die Gewichte im 
Stadtchen Zlotogrod selbst gepriift, geschweige denn in den Dorfern 



l}2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

und Marktflecken, die zum Bezirk gehorten. Deshalb hatte er audi, als 
er begraben wurde, ein aufierordentlich schones Leichenbegangnis. 
Alle Kaufleute folgten seinem Sarge: die mit den falschen Gewichten 
wogen, mit dem silbernen und messingnen Leuchter namlich, jene, die 
mit dem Arm von der geschlossenen Faust bis zum Ellenbogen mafien, 
und viele andere, die es ohne Eigennutz und ledighch gewissermafien 
aus Prinzip bitter beklagten, dafi ein Priifer der Gewichte dahingegan- 
gen war, der selber kaum eines besessen haben konnte. Denn die Leute 
in dieser Gegend betrachteten alle jene, welche die Forderungen an 
Recht, Gesetz, Gerechtigkeit und Staat unerbittlich vertraten, als ge- 
borene Feinde. Vorgeschriebene Ma£e und Gewichte in den Geschaf- 
ten zu halten war bereits eine Sache, die man kaum vor dem eigenen 
Gewissen verantworten konnte. Was aber bedeutete erst die Ankunft 
eines neuen, gewissenhaften Eichmeisters! Genauso grof?, wie die 
Trauer gewesen war, mit der man den alten Eichmeister zu Grabe ge- 
tragen hatte, war das Mifitrauen, mit dem man Anselm Eibenschutz in 
Zlotogrod empfing. 

Man sah namlich auf den ersten Blick, dafi er nicht alt, nicht schwach- 
lich, nicht trunksiichtig war, sondern, im Gegenteil, stattlich, kraftig 
und redlich; vor allem: allzu redlich. 



Ill 

Unter solch ungiinstigen Bedingungen trat Anselm Eibenschutz sein 
neues Amt im Bezirk Zlotogrod an. Er kam im Fruhling, an einem der 
letzten Marztage. In der bosnischen Garnison des Feuerwerkers 
Eibenschutz hatten schon die Eichkatzchen linde geschimmert, der 
Goldregen zu leuchten begonnen, die Amseln floteten bereits auf dem 
Rasen, die Lerchen trillerten schon in der Luft. Als Eibenschutz nach 
dem nordlichen Zlotogrod kam, lag noch der weifk, dichte Schnee in 
den Straften, und an den Randern der Dacher hingen die strengen, die 
unerbittlichen Eiszapfen. Eibenschutz ging die ersten Tage einher wie 
ein plotzlich Ertaubter. Er verstand die Sprache des Landes zwar, aber 
es ging ja gar nicht so sehr darum, zu verstehen, was die Menschen 
sagten, sondern was das Land selber sprach. Und das Land redete 
furchterlich: Es redete Schnee, Finsternis, Kalte und Eiszapfen, obwohl 
der Kalender den Fruhling erzahlte und in den Waldern der bosni- 



DAS FALSCHE GEWICHT 133 

schen Garnison Sipolje schon langst die Veilchen bliihten. Hier aber, 
in Zlotogrod, krachzten die Krahen in den kahlen Weiden und Kasta- 
nien. In ganzen Buscheln hingen sie an den nackten Zweigen, und es 
sah aus, als waren sie gar keine Vogel, sondern eine Art gefliigelter 
Friichte. Der kleine Fluft, Struminka hiefi er, schlief noch unter einer 
schweren Eisdecke, und die Kinder glitschten frohlich iiber ihn dahin, 
und ihre Frohlichkeit machte den armen Eichmeister noch trauriger. 
Plotzlich in der Nacht, vom Kirchturm hatte es noch nicht Mitternacht 
geschlagen, horte Eibenschiitz das grofie Krachen der geborstenen Eis- 
decke. Obwohl es, wie gesagt, mitten in der Nacht war, begannen auf 
einmal die Eiszapfen an den Dachrandern zu schmelzen, und die Trop- 
fen fielen hart auf den holzernen Biirgersteig. Ein linder, siifier Wind 
aus dem Siiden hatte sie zum Schmelzen gebracht, er war ein nachtli- 
cher Bruder der Sonne. An alien Hauschen gingen die Laden auf, die 
Menschen erschienen an den Fenstern, viele verlieften auch ihre Hau- 
ser. An einem hellblau leuchtenden Himmel standen kalt, ewig, prach- 
tig die Sterne, die goldenen und die silbernen, und es sah aus, als 
lauschten sie auch von der Hohe dem Krachen und Poltern. Viele Ein- 
wohner zogen sich eilig an, wie man sich sonst nur bei Feuersbriinsten 
anzieht, und zogen zum Flufi. Mit Windlichtern und Laternen stellten 
sie sich an seinen beiden Ufern auf und sahen zu, wie das Eis barst und 
wie der Flufi aus seinem Winterschlaf erwachte. Manche hiipften, in 
kindischer Freude, auf eine der grofien dahintreibenden Schollen, 
schwammen eilig mit ihr davon, die Laterne in der Hand, Griifte noch 
winkten sie mit ihr den am Ufer Zuriickbleibenden, und erst nach 
einer langen Weile sprangen sie wieder ans Ufer. Alle benahmen sich 
ausgelassen und toricht. Zum erstenmal seit seiner Ankunft begann da 
der Eichmeister mit dem und jenem Einwohner des Stadtchens zu 
sprechen. Der und jener fragte den Eibenschiitz, woher er komme und 
was er hier zu machen gedenke. Er gab Auskunft, freundlich und zu- 
frieden. 

Die ganze Nacht blieb er wach, mit den Einwohnern des Stadtchens. 
Am Morgen, als er heimkehrte und sich das Krachen des Eises schon 
besanftigt hatte, fiihlte er sich wieder traurig und einsam. Zum ersten- 
mal verspiirte er jenen Schauder, den Ahnung allein bereiten kann. Er 
fiihlte, daft sich hier in Zlotogrod sein Schicksal erfiillen sollte. Zum 
erstenmal auch in seinem ganzen tapferen Leben hatte er Angst. Und 
zum erstenmal, als er im grauenden Morgen heimkam und sich aufs 



134 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Bett legte, fand er keinen Schlaf. Er weckte seine Frau Regina. Seltsame 
Gedanken kamen ihm, er mufite sie aussprechen. Er hatte eigentlich 
fragen wollen, warum der Mensch so allein sei. Aber er schamte sich 
und sagte nur: »Regina, jetzt sind wir ganz allein !« 
Die Frau safi aufgerichtet in den Kissen, in einem lila Nachtgewand. 
Der Morgen sickerte sparlich durch die Ritzen der Fensterladen. Die 
Frau erinnerte Eibenschiitz an eine Tulpe, die wahrend dieser ersten 
Friihlingsnacht in Zlotogrod zu welken begonnen hatte. »Regina«, 
sagte Eibenschiitz, »ich fiirchte, ich hatte niemals die Kaserne verlassen 
sollen!« 

»Fiir mich sind drei Jahre Kaserne gerade genug«, sagte die Frau, »lafi 
mich jetzt schlafen!« 

Sie fiel auch sofort in die Kissen zuriick. Eibenschiitz stiefi einen Fen- 
sterladen auf und sah hinaus in die Strafie. Aber auch der Morgen war 
welk. Welk war der Morgen. Sogar der Morgen war welk. 



IV 



Ringsherum gab es Kinder. Kinder gab es ringsherum. Der Wachtmei- 
ster der Gendarmerie V/enzel Slama hatte sogar zweimal hintereinan- 
der, innerhalb von zwanzig Monaten, Zwilhnge bekommen. Es wim- 
melte ringsherum von Kindern. Uberall, wo Eibenschiitz hinblickte, 
sah er Kinder. Sie spielten im Rinnstein mit dem schmutzigen Wasser. 
Sie spielten Murmeln im Trockenen. Sie spielten auf den alten Banken 
des kummerlichen Parks in Zlotogrod, ein schwindsiichtiger Park, ein 
Park, im Sterben begriffen. Sie spielten im Regen und im Sturm. Sie 
spielten Ball und Reifen und Kegel. Uberall, wo der Eichmeister Ei- 
benschiitz hinblickte, sah er Kinder, lauter Kinder. Die Gegend war 
fruchtbar, es war kein Zweifel. 

Wenn der Eichmeister Eibenschiitz Kinder gehabt hatte! Es ware alles 
anders gewesen: Ihm zumindest schien es so. 

Sehr einsam war er, und er fiihlte sich fremd und heimatlos in der 
ungewohnten Zivilkleidung, nachdem er zwolf Jahre in seiner dunkel- 
braunen Artillerie-Uniform gehaust hatte. Seine Frau: was war sie 
ihm! - Zum erstenmal fragte er sich, warum und wozu er sie geheiratet 
hatte. Dariiber erschrak er gewaltig. Er erschrak dariiber gewaltig, weil 
er sich selbst niemals zugetraut hatte, daft er iiberhaupt erschrecken 



DAS FALSCHE GEWICHT 135 

konnte. Es kam ihm vor, dafi er, wie man sagt, aus der Bahn geworfen 
sei - und dabei hatte er doch immer wieder und standig seinen rechten 
Weg eingehalten! Aber immerhin, soldatischer Disziplin getreu und 
aus Furcht vor der Furcht, ergab er sich seinem Dienst und seinen 
Pflichten. Niemals vorher hatte man einen dem Staat, dem Gesetz, 
dem Gewicht und dem Mafi so ergebenen Eichmeister gesehen in die- 
ser Gegend. 

Er entdeckte plotzlich, daft er seine Frau nicht liebte. Denn nun, da er 
allein und einsam war, in der Stadt, im Bezirk, im Amt, unter den 
Menschen, verlangte er Liebe und Zutraulichkeit zu Hause, und da sah 
er, dafi nichts davon vorhanden war. Manchmal in der Nacht richtete 
er sich im Bett auf und betrachtete seine Frau. Im gelblichen Schimmer 
des Nachtlampchens, das oben auf dem Kleiderkasten stand und nicht 
nur die Finsternis nicht vertrieb, sondern sogar an eine Art leuchten- 
den Kerns der Nacht im Zimmer erinnerte, erschien die schlafende 
Frau Regina dem Eichmeister Eibenschutz wie eine trockene Frucht. 
Er richtete sich im Bett auf und betrachtete sie ausfuhrlich. Je langer er 
sie ansah, desto einsamer fuhlte er sich. Es war, als ob ihr Anblick 
allein ihm Einsamkeit bereitete. Zu ihm, zu Anselm Eibenschutz, ge- 
horte sie gar nicht, so, wie sie dalag, mit schonen Briisten, mit dem 
ruhigen Kindergesicht und den kiihn geschwungenen Augenbrauen 
und dem lieben, halboffenen Mund und dem kleinen, leichten Schim- 
mer der Zahne zwischen den dunkelroten Lippen. Keine Begierde 
mehr trieb ihn zu ihr wie einst in friiheren Nachten. Liebte er sie noch? 
Begehrte er sie noch? 

Er war sehr einsam, der Eichmeister Anselm Eibenschutz. Bei Tag und 
bei Nacht war er einsam. 



V 

Nachdem er vier Wochen im Bezirk Zlotogrod verbracht hatte, schlug 
ihm der Wachtmeister Wenzel Slama vor, dem Sparverein der alteren 
Staatsbeamten beizutreten. Diesem Verein gehorten Sequester, Konzi- 
pisten und sogar Gerichtsadjunkte an. Alle spielten Tarock und Bak- 
karat. Zweimal in der Woche versammelten sie sich im Cafe Bristol, 
dem einzigen Kaffeehaus im Stadtchen Zlotogrod. Alle Mitglieder des 
Vereins begegneten dem Eichmeister Eibenschutz mit Mifkrauen, und 



l}6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

zwar nicht nur deshalb, weil er ein Fremder und Neuangekommener 
war, sondern auch, weil sie in ihm einen durchaus Redlichen und noch 
nicht Verlorenen vermuteten. 

Sie selbst namlich waren durchwegs Verlorene. Sie lieften sich beste- 
chen und bestachen andere. Sie betrogen Gott und die Welt und die 
Vorgesetzten. Aber auch die Vorgesetzten betrogen wieder ihre hohe- 
ren Vorgesetzten, die in den weiten, grofieren Stadten safien. Im Ver- 
ein der alteren Staatsbeamten betrog einer den andern beim Karten- 
spiel; und nicht etwa aus purer Gewinnsucht, sondern einfach so, aus 
Lust am Betriigen. Anselm Eibenschutz aber betrog nicht. Und was 
seine Freunde noch starker gegen ihn aufregte, war nicht so sehr die 
Tatsache, daft er selbst nicht betrog, sondern vor allem, daft er einen 
Betrug, dem er anheimgef alien war, gleichgultig aufnahm. Also war er 
in der Mitte der anderen noch einsamer. 

Die Raufleute hafiten ihn - mit Ausnahme eines einzigen, von dem 
aber erst spater die Rede sein soil. Die Raufleute hafiten ihn, weil sie 
ihn furchteten. Wenn sie ihn ankommen sahen, in seinem goldgelben 
Wagelchen, den Gendarmen an der Seite, wagten sie selbst, ihre Tiiren 
zu schliefien. Wohl wufiten sie, daft sie gezwungen sein wiirden, die 
Laden zu offnen, sobald der Gendarm dreimal angepocht hatte. Aber 
nein! Sie schlossen die Tiiren lediglich, um den Eichmeister Eiben- 
schtitz zu argern. Denn er hatte schon mehrere Raufleute angezeigt 
und vor Gericht gebracht. 

Wenn er spatabends nach Hause kam, im Sommer verschwitzt, halb 
erfroren im Winter, erwartete ihn mit finsterer Stirn seine Frau. Wie 
hatte er nur so lange Zeit mit einer so fremden Frau zusammenleben 
konnen! Es war ihm, als hatte er sie erst vor kurzem erkannt, und 
immer eine Minute, bevor er ins Haus trat, hatte er Angst, sie wiirde 
sich seit gestern verandert haben konnen und wieder eine andere, neue, 
aber ebenso finstere sein. Gewohnlich safi sie strickend unter dem 
Rundbrenner, in emsiger, gehassiger und erbitterter Demut. Doch war 
sie hubsch anzusehen mit ihrem schwarzen, glatten Scheitel und ihrer 
trotzigen, kurzen Oberlippe, die einen kindlichen Mutwillen vor- 
tauschte. Sie hob nur den Blick, ihre Hande strickten weiter. »Sollen 
wir jetzt essen?« fragte sie. »Ja!« sagte er. Sie legte das Strickzeug hin, 
einen gefahrlichen, giftiggninen Rnauel mit zwei drauenden Nadeln, 
und ein angefangenes Stiickchen Strumpf, das eigentlich aussah wie ein 
Uberrest, ein noch nicht geborenes und schon zerstuckeltes Werk. 



DAS FALSCHE GEWICHT 137 

Triimmer, Triimmer, Triimmer! Eibenschiitz starrte darauf, wahrend 
er die peinlichen Gerausche vernahm, die seine Frau in der Kiiche ver- 
ursachte, und die grelle und gemeine Stimme des Dienstmadchens. 
Obwohl er hungrig war, wiinschte er, die Frau mochte moglichst lange 
in der Kiiche bleiben. Warum gab es keine Kinder im Haus? 



VI 



Ein paarmal in der Woche erhielt er eine umfangliche Post. Gewissen- 
hafter Beamter, der er war, klassifizierte er alle Brief e sauberlich. Die 
Eichmeisterei war in der Bezirkshauptmannschaft untergebracht, im 
Hoftrakt, in einem halbdunklen Zimmerchen. Eibenschiitz safi dort an 
einem schmalen griinen Tisch, ihm gegeniiber ein junger Schreiber, ein 
sogenannter »Vertragsbeamter«, der sehr blond war, geradezu aufrei- 
zend blond und sehr ehrgeizig. Er hiefi Josef Nowak, und Eibenschiitz 
konnte ihn schon des Namens wegen nicht leiden. Denn genau so hatte 
ein verhafker Schulkollege geheifien, dessentwegen Eibenschiitz das 
Gymnasium in Nikolsburg hatte verlassen miissen. Dessentwegen 
hatte er sich so friih zum Militar gemeldet. Dessentwegen - dies aber 
bildete sich der Eichmeister nur ein - hatte er auch geheiratet und ge- 
rade diese Frau Regina. Der Vertragsbeamte war freilich ganz unschul- 
dig am Schicksal des Eibenschiitz. Er war nicht nur aufreizend blond 
und ehrgeizig, sondern auch rachsiichtig. Hinter biegsamen und 
schmeichlerischen Manieren verbarg er eine, dem Eichmeister Eiben- 
schiitz aber wohl erkenntliche Sucht, seinem Vorgesetzten zu schaden. 
Unter den Briefen, die an das Eichmeisteramt kamen, befanden sich 
auch die seinen, mit verstellter Hand geschriebenen. Es waren Droh- 
und Denunziationsbriefe. Sie verwirrten den Eichmeister Eibenschiitz. 
Denn seine peinliche Bedachtsamkeit gebot ihm, jeder Anzeige nach- 
zugehen und jede Drohung dem Gendarmeriekommando anzuzeigen. 
Im stillen gestand er sich selbst, dafi er nicht dazu geschaffen war, 
Beamter zu sein, und gar in dieser Gegend. In der Kaserne hatte er 
bleiben miissen, ja, in der Kaserne. Bei den Soldaten war alles geregelt. 
Man bekam keine Drohbriefe und keine Denunziationen. Die Verant- 
wortung eines jeden Soldaten fur alles, was er tat, und fur alles, was er 
unterlieft, lag irgendwo hoch iiber ihm, er wufke selber gar nicht, wo. 
Wie leicht und frei war das Leben in der Kaserne gewesen! 



138 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Eines Tages nahm er ein paar Drohbriefe in seiner Aktentasche nach 
Hause, obwohl er das Gefiihl hatte, daft er eine Unredlichkeit begehe. 
Aber es drangte ihn, die Briefe seiner Frau zu zeigen, und er konnte 
diesem Drang nicht widerstehen. Er kam also zum Mittagessen, 
piinktlich, wie er nur an den Tagen war, an denen er keine Fahrten in 
die Dorfer des Bezirks unternahm. Je naher er seinem Hauschen kam 
(es lag neben dem des Gendarmeriewachtmeisters Slama am Rande der 
Stadt), desto heifter wurde sein Zorn, und nahe vor der Tiir war es 
bereits eine kochende Wut. Als er gar seine Frau erblickte - sie safi, wie 
gewohnlich, am Fenster mit einem giftgriinen Strickzeug beschaftigt-, 
erwachte in ihm auch noch ein Haft, der ihn selbst erschreckte. Was 
will ich eigentlich von ihr? fragte er sich. Und da er keine Antwort 
geben konnte, wurde er noch zorniger, und als er eintrat, warf er die 
Briefe auf den bereits gedeckten Tisch und sagte mit unheimlich leiser 
Stimme - es war, als schrie er kudos -: »Da lies, was du mir angerich- 
tet hast!« Die Frau legte das Strickzeug weg. Mit gewissenhaften 
Gebarden, als ware sie selbst em Staatsbeamter, offnete sie einen Brief 
nach dem andern. Indessen saft der Eichmeister Eibenschiitz, in Hut 
und Mantel, wie bereit zu einer sofortigen Abreise, wiitend auf seinem 
Stuhl, und je schweigsamer und gewissenhafter seine Frau las, desto 
heifter wurde seine Wut. Er beobachtete ihr Gesicht. Er glaubte 
deutlich zu sehen, daft seine Frau ein hartes, ein leidendes, aber den- 
noch boses Gesicht bekam. In manchen Augenblicken glich sie ihrer 
Mutter. Er erinnerte sich genau an seine Schwiegermutter. Sie lebte in 
Sternberg in Mahren. Als er sie zuletzt gesehen hatte, es war bei der 
Trauung, hatte sie ein grauseidenes Kleid getragen, es war ein Panzer. 
Ihren diirren und welken Leib umschloft es bis zum Halse, als hatte sie 
Pfeile und Lanzen zu befurchten. Ein Lorgnon trug sie vor den Augen; 
wenn sie es ablegte, glich sie einem Ritter, der ein Visier fallen laftt. 
Auch seine Frau liefi ein unsichtbares Lorgnon, ein unsichtbares Visier 
fallen. Sie erhob sich, nachdem sie gewissenhaft alle Briefe gelesen 
hatte und sagte: »Du hast doch keine Angst? Oder hast du etwa 
Angst ?« 

So wenig bekummern sie also die Gefahren, die mich bedrohen, dachte 
da der Eichmeister. Und er erwiderte: »So wenig bekummern dich also 
die Gefahren, die mir drohen? Wozu hast du mich gezwungen, die 
Kaserne zu verlassen? Wozu? Warum?« 
Sie antwortete nicht. Sie ging in die Kuche und kehrte mit zwei Schus- 



DAS FALSCHE GEWICHT 139 

seln dampfender Suppe zuriick. In schweigsamem Groll, aber nicht 

ohne Appetit, aft der Eichmeister Eibenschiitz sein gewohntes Mittag- 

essen. Aus Nudelsuppe bestand es, aus Spitzfleisch und aus Zwetsch- 

kenknodeln. 

Ohne ein Wort zu sagen, verlieft er das Haus und ging ins Amt. Er 

vergaft allerdings nicht, die Drohbriefe wiedermitzunehmen. 



VII 



In dem Dorf Szwaby, das zum Bezirk Zlotogrod gehorte, war Lei- 
busch Jadlowker machtiger als der Wachtmeister der Gendarmerie 
selbst. Man muft wissen, wer Leibusch Jadlowker war: von unbekann- 
ter Herkunft. Man munkelte, daft er vor Jahren aus Odessa gekommen 
und daft sein Name eigentlich nicht der richtige sei. Er besafi die soge- 
nannte Grenzschenke, und man wuftte nicht einmal, auf welche Weise 
er in ihren Besitz gekommen war. Auf eine geheimnisvolle, niemals 
erforschte Weise war der friihere Besitzer, ein alter, silberbartiger 
Jude, umgekommen. Man hatte ihn eines Tages erfroren aufgefunden, 
im Grenzwald, halb schon von Wolfen zerfressen. Kein Mensch, auch 
der Diener Onufrij nicht, hatte sagen konnen, warum und wozu der 
alte Jude mitten im Frost durch den Grenzwald gegangen war. Die 
Tatsache allein bestand, daft er, der keine Kinder hatte, einen einzigen 
Erben besaft, namlich seinen Neffen Leibusch Jadlowker. 
Von Jadlowker ging das Geriicht, er sei aus Odessa gefliichtet, weil er 
einen Mann mit einem Zuckerhut erschlagen hatte. Im ubrigen war es 
kaum ein Geriicht, es war beinahe eine Wahrheit. Leibusch Jadlowker 
erzahlte selbst die Geschichte jedem, der es horen wollte. Er war - so 
erzahlte er - Hafenarbeiter gewesen, und er hatte einen Feind unter 
seinen Kameraden. Und ihn, der ein barenstarker Kerl gewesen sein 
sollte, erschlug eines Abends, wahrend sie gemeinsam Zuckerhiite von 
einem Warenschiff abluden, Jadlowker mit einem jener Zuckerhiite, 
infolge eines Streits. Deswegen auch ware er iiber die Grenze Ruftlands 
gefliichtet. 

Man glaubte ihm alles: daft er ein Hafenarbeiter gewesen war und daft 
er gemordet hatte. Man glaubte ihm nur eines nicht, namlich seinen 
Namen: Leibusch Jadlowker - und man nannte ihn deshalb im ganzen 
Bezirk Zlotogrod einfach »Leibusch, den Wilden«. 



140 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Es gab Grund genug, ihn so zu nennen. Denn seine Grenzschenke war 
der Sammelplatz aller Taugenichtse und Verbrecher. Dreimal in der 
Woche lud selbst der beriichtigte russische Agent fur die American 
Line die Deserteure der russischen Armee in der Grenzschenke Jad- 
lowkers ab, damit sie von da aus weiter nach Holland, nach Kanada, 
nach Siidamerika kamen. 

Wie gesagt: Taugenichtse und Verbrecher verkehrten in der Grenz- 
schenke Jadlowkers; Landstreicher, Bettler, Diebe und Rauber beher- 
bergte er. Und dermafien schlau war er, dafi ihm das Gesetz nicht bei- 
kommen konnte. Immer waren seine Papiere und die seiner Gaste in 
Ordnung. Nichts Nachteiliges, nicht Unsittliches konnten iiber seinen 
Lebenswandel die beruflichen Spitzel berichten, die an der Grenze 
herumwimmelten wie Miicken. Es ging von Leibusch Jadlowker das 
Geriicht herum, dafi er der Urheber aller Verbrechen im ganzen Bezirk 
Zlotogrod sei - und es waren nicht wenig Verbrechen: Morde kamen 
vor, Raubmorde und auch Brandlegungen - von Diebstahlen nicht zu 
reden. Osterreichische Deserteure, die nach Rufiland, russische, die 
nach Osterreich fliichteten, tauschte er gewissermaften aus. Jene, die 
ihn nicht bezahlten, lief? er - so hieft es - wahrscheinlich erschiefien, 
von den osterreichischen oder von den russischen Grenzposten: je 
nachdem! 

Jadlowker hatte nicht nur auf eine ratselhafte Weise seine Konzession 
fiir die Grenzschenke bekommen, sondern auch eine fiir einen Speze- 
reiwarenladen. Und unter »Spezerei« schien er etwas ganz Besonderes 
zu verstehen. Denn er verkaufte nicht nur Mehl, Hafer, Zucker, Ta- 
bak, Branntwein, Bier, Karamellen, Schokolade, Zwirn, Seife, Knopf e 
und Bindfaden, er handelte auch mit Madchen und mit Mannern. Er 
verfertigte falsche Gewichte und verkaufte sie den Handlern in der 
Umgebung; und manche wollten wissen, dafi er auch falsches Geld 
herstelle, Silber, Gold und Papier. 

Natiirlich war er der Feind des Eichmeisters Anselm Eibenschutz. Er 
begriff liberhaupt nicht, wieso und warum ein sonst gesunder und ver- 
niinftiger Mann sich um Staat, Recht und Gesetz kiimmern konnte. Er 
hafite den Eichmeister Eibenschutz, nicht weil dieser ein Eichmeister, 
sondern weil er ein unbegreiflich Ehrlicher war. Jadlowker war unter- 
setzt, vierschrotig, kraftig, unbedenklich. Es ware ihm keineswegs 
schwer gefallen, den Eichmeister und den Gendarmen, wenn sie zu ihm 
kamen, um seine MaCe und Gewichte zu priifen, hinauszuwerfen. Dies 



DAS FALSCHE GEWICHT 141 

aber nicht zu tun, gebot ihm sem siindhaftes Gewissen. Vielmehr trat 
er dem Eichmeister sehr freundlich entgegen, den Haft unterdriickend 
und ihn sogar zeitweilig ausschaltend. Man hatte dem Leibusch Jad- 
lowker schwerlich so viel Kunst der Verstellung zugetraut - baren- 
stark und vierschrotig, wie er einmal war. Die Natur wollte es so, daft 
er schlau sei und auch stark. 

Immer, wenn der Eichmeister Eibenschutz das Wirtshaus in Szwaby 
betrat, gab es Wurst und Rettich und Met und Schnaps und gesalzene 
Erbsen. Der neunziggradige Schnaps war gesetzlich verboten, den- 
noch trank ihn der Wachtmeister mit emsigem Genuft. Franz Slama, 
der Wachtmeister der Gendarmerie, wurde leider leicht besoffen. Es 
war im Grunde gleichgiiltig, ohnehin verstand er ja nichts von Maften 
und Gewichten. Und selbst, wenn er etwas davon verstanden hatte: 
Man konnte die falschen Mafie und Gewichte bei Leibusch Jadlowker 
niemals zu sehen bekommen. Er lieft sie rechtzeitig verschwinden, auf 
eine unfaftbare Weise erfuhr er immer von der Ankunft des Eichmei- 
sters einen Tag fruher. 

In jenen Tagen gerade erfuhr der Eichmeister Eibenschutz eine selt- 
same Veranderung im Benehmen seiner Frau Regina. Die gab nicht 
nur ihre Lust zu Zwistigkeiten auf, sie wurde zusehends zartlicher. 
Er erschrak einigermaften dariiber. Denn wenn er sie auch immer 
noch liebte, gewissermaften, weil sie bereits zu ihm gehorte, und wie 
seinen neuen Beruf, an den er sich so schnell gewohnt hatte, so be- 
gehrte er sie doch langst nicht mehr. Zu deutlich hatte sie ihm und zu 
lange Zeit gezeigt, daft er ihr gleichgiiltig war und zuweilen sogar ver- 
haftt. Seit langem schon war er gewohnt, in der Nacht sofort einzu- 
schlafen, wenn sie in die hart aneinandergeriickten Betten stiegen, 
und langst mehr hatte er keinen Blick fur ihren nackten Korper, 
wenn sie sich vor dem Spiegel auszog, vielleicht in der Hoffnung, er 
wiirde sie noch begehren. Manchmal fragte sie ihn, nackt, wie sie da- 
stand, ob er sie liebe. Sie meinte eigentlich, ob er sie schon finde. »Ja, 
gewift!« sagte er und ergab sich dem Schlaf, gleichsam, um den Ge- 
wissensbissen zu entgehen, die ihm seine Luge noch hatte bereiten 
konnen. 

Deshalb uberraschte, ja erschreckte ihn die Zartlichkeit, die plotzlich 
wiedererwachte, seiner Frau. Er schlief mit ihr, wie in frixheren Jah- 
ren. Am Morgen dann war seine Unlust stark, und er gab ihr fast mit 
Widerwillen einen Kuft, bevor er fortging. Sie stellte sich schlafend, 



142 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

und er wufke genau, dafi es ein Spiel war. Aber das Spiel gehorte zu 
ihr, und er liebte sie immer noch. Er sagte es ihr nicht. 
Vergeblich griibelte er dariiber nach, was sie wohl zu solch erneuter 
Leidenschaft gebracht haben mochte. Eines Tages sollte er die Wahr- 
heit erfahren. 



VIII 

Eines Tages namlich befand sich unter seinen vielen anonymen De- 
nunziationsbriefen ein ungewohnlicher, der folgendermaften lautete: 
»Geehrter Herr Eichmeister, obwohl eines der Opfer Ihrer Strenge 
und demzufolge in ein en Prozefi verwickelt und das wegen eines einzi- 
gen Zehn-Kilo-Gewichtes, erlaube ich mir, Ihnen mitzuteilen, dafi 
Ihre Frau Sie auf hinterhaltige Weise hintergeht und schandlich. Und 
zwar mit Ihrem Herrn Schreiber, Herrn Josef Nowak. Verehrungsvoll 
ergebenst 

X.Y.« 

Anselm Eibenschutz war ebenso langsam, wie er redlich war. Zu oft 
hatte er iiberdies erfahren, daft viele Denunziationen falsche Angaben 
enthielten. Er steckte den Brief in die Tasche und ging nach Hause. 
Zartlich, wie gewohnt seit einigen Tagen, empfing ihn seine Frau. Sie 
hing sogar noch eine Weile langer an seinem Hals. »Ich habe dich 
heute besonders sehnsuchtig erwartet«, sagte sie flusternd. Arm in 
Arm gingen sie an den Efitisch. Wahrend des Essens betrachtete er sie 
genau, und er bemerkte, was ihm offenbar bisher entgangen war, daft 
sie einen ihm unbekannten Ring am kleinen Finger trug. Er nahm ihre 
linke Hand und fragte: »Woher hast du den Ring?« - »Von meinem 
Vater«, sagte sie, »ich habe ihn nie getragen.« Es war ein billiger Ring, 
ein Mannerring, mit einem kunstlichen Saphir, Er sagte weiter: »Wozu 
hast du ihn plotzlich angezogen?« - »So, damit er uns Gluck bringe«, 
sagte sie. »Uns?« - »Uns beiden!« bestatigte sie. 

Plotzlich sah er auch, wie sie sich verandert hatte. Ein neuer, grower 
Schildpattkamm hielt ihren dichten, schwarzblau schimmernden 
Haarknoten zusammen. Grofte goldene Ohrringe, die sie lange nicht 
mehr getragen hatte, Ohrringe, an denen winzige, feine Goldplattchen 
hingen, zitterten sacht an ihren Ohrlappchen. Ihr dunkelbraunes An- 



DAS FALSCHE GEWICHT I43 

gesicht hatte seine ganz jugendliche, geradezu eine jungfrauliche rotli- 

che Tonung wiedergefunden. Eigentlich sah sie wieder aus wie einst, 

wie als Madchen, als er sie kennengelernt hatte, in Sarajewo, wo sie im 

Sommer bei ihrem Onkel, dem Waffenmeister, eingeladen war. 

Mitten in diese seine Betrachtungen, die inn ohnehin schon erschreck- 

ten, fiel ihr Wort unmittelbar, sozusagen ohne Sinn und Verstand. Es 

lautete: »Ich mochte endlich ein Kind haben.« Von wem? wollte er 

fragen, denn er dachte naturlich sofort an den Brief. Aber er sagte nur: 

»Warum jetzt? Du hast dir nie eins gewunscht. Du hast immer gesagt, 

eine Tochter wtirde keine Mitgift haben, und ein Sohn wurde besten- 

falls ein Eichmeister werden miissen wie ich.« 

Sie senkte die Augen und sagte: »Ich Hebe dich so sehr!« 

Er stand auf und kiiftte sie. Er ging ins Amt. 

Es war ein ziemlich weiter Weg, und er erinnerte sich unterwegs, oder 

er glaubte, sich plotzlich erinnert zu haben, daft er den Ring mit dem 

kiinstlichen Saphir einmal, lange war es her, an der Hand des Schrei- 

bers Josef Nowak gesehen hatte. Ihm, dem Eichmeister, waren tiicki- 

sche und schlaue Verhandlungen zuwider. Dennoch beschloft er jetzt, 

tiickisch und schlau vorzugehen. 

Der Schreiber erhob sich wie gewohnt, als der Eichmeister eintrat. Mit 

ungewohnter Freundlichkeit sagte der Eichmeister: »Guten Tag, iieber 

Nowak! Nichts Neues vorgefallen?« - »Nichts Neues!« sagte Nowak 

und machte dabei einen Buckling. Er blieb stehen, bis sich Eibenschutz 

gesetzt hatte. 

Eibenschutz las eine Weile in Papieren, dann sagte er, mit einem Blick 

auf die Hande Nowaks: »Wo ist denn Ihr Ring mit dem Saphir geblie- 

ben, Herr Nowak? Es war ein sehr schoner Ring!« 

Nowak schien nicht im geringsten verlegen. »Ich habe ihn versetzen 

miissen, leider versetzen mussen!« 

»Warum, Geldschwierigkeiten?« fragte der Eichmeister. Da verliefi 

zum erstenmal die Vorsicht den blonden und ehrgeizigen Vertragsbe- 

amten, und er sagte: »Wegen einer Frauengeschichte!« 

»Ja, ja«, sagte der Eichmeister, »als ich so alt war wie Sie, gab es auch 

noch Frauensachen!« 

Zum erstenmal sah der Schreiber seinen Vorgesetzten so freundlich. 

Aber er zweifelte nicht daran, daft man ihn nicht ertappt hatte. 

Diesmal tauschte er sich. Denn mit der Griindlichkeit, die ihm eigen 

war und die ihn zu einem so ausgezeichneten Priifer der Gewichte und 



144 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

der Mafie machte, beschlofi Eibenschiitz, der Sache genau nachzuspu- 
ren. Sein Herz war nicht mehr daran beteiligt. Er hatte nur eine fliich- 
tige Vorstellung davon, dafi seine Ehre beschadigt war - aber auch 
diese Vorstellung stammte lediglich aus der Militarzek her und aus der 
Erinnerung an die Ehrbegriffe seiner Vorgesetzten, der Herren Offi- 
ziere. Es war nur, wie gesagt, eine fliichtige Vorstellung. Ihn, den Red- 
lichen, trieb es vor allem, die ganze Wahrheit zu erforschen, man 
konnte sagen, Mafi und Gewicht der Begebenheiten festzustellen und 
zu priifen. 

Infolgedessen ging er auch ganz langsam und mit gesenktem Haupt 
nach Hause. Und wenn ihn die Leute unterwegs griifiten, tat er so, als 
sahe er sie nicht, aus Angst, sie konnten ihn etwa ansprechen und sto- 
ren. 

Kurz bevor er sein Haus erreichte, hatte er bereits einen ganz be- 
stimmten, sehr methodischen Plan. Und so, wie er nun einmal war, 
stand es fest, daft er genau nach den Planen handeln mufite, die er sich 
zurechtgelegt hatte. 



IX 

Eine Woche spater bemerkte er, dafi seine Frau den Ring mit dem 
falschen Saphir nicht mehr trug. Er sagte seiner Frau gar nichts. 
Eine Woche lang schwieg er, gegen seine Frau und gegen den Josef 
Nowak. Dann aber sagte er unvermittelt zu diesem: »Haben Sie den 
Ring eingelost?« 

»Ja«, antwortete der Schreiber - er heuchelte frohe Genugtuung. 
»Sie brauchten sich nicht zu schamen«, sagte Eibenschiitz. »Ich tate 
Ihnen gern das Geld vorstrecken!« 

»Offen ges tandem , murmelte der Schreiber - und er spielte jetzt Ver- 
wirrung wie vorher Freudigkeit. 

»Aber mit Vergniigen, mit Wonne!« sagte der Eichmeister. Er gab dem 
jungen Mann ein hartes Fiinf-Kronen-Stiick, nachlassig, wie etwa 
einen Bleistift oder eine Zigarette. Dann hub er leutselig an: »Unter 
uns Mannern, Herr Nowak, sagen Sie, wo treffen Sie denn in solch 
einem kleinen Stadtchen die Dame? Das mufi man doch sehen?« 
Erheitert und aufgefrischt durch so viel Freundlichkeit seines Vorge- 
setzten, erhob sich der Vertragsbeamte vom Stuhl. Vor ihm sal? Eiben- 



DAS FALSCHE GEWICHT 145 

schiitz nicht unahnlich einem Schiiler. Es war Spatherbst und spater 
Nachmittag. Zwei ararische Petroleumlampen, gestellt von der Be- 
zirkshauptmannschaft, brannten milde unter ihren griinen, giitigen 
Schirmen. 

»Sehen Sie, Herr Eichmeister«, begann der Schreiber, »im Friihling 
und im Sommer ist es sehr leicht. Man trifft sich da im Grenzwald. 
Ach, wenn ich Ihnen erzahlen wollte, Herr Eichmeister, mit welchen 
Frauen ich da zusammengekommen bin! Aber Sie wissen, daft nir- 
gends so sehr Schweigen geboten ist wie in diesen Affaren. Im Herbst 
und im Winter ist es schwieriger, aus dienstlichen Grunden. Im ganzen 
Bezirk ist nur die Grenzschenke des >wilden Leibusch< als Aufenthalts- 
statte flir Liebende geeignet. Und Sie wissen selbst, Herr Eichmeister, 
daft er ein sehr gefahrlicher Mann ist und daft ich Sie oft dort vertreten 
muft. Das Amtsgewissen vor allem, das Amtsgewissen geht voran!« 
»Das ist sehr brav«, sagte der Eichmeister Eibenschiitz. Und er ver- 
grub sich in seinen dienstlichen Papieren. Am Abend um sechs Uhr, 
als der Dienst zu Ende war, sagte der Eichmeister zu seinem Schreiber: 
»Sie konnen gehen! Und viel Gliick bei den Damen!« 
Der Schreiber machte eine Verbeugung, die beinahe wie der Knicks 
eines kleinen Schulmadchens aussah, und verschwand. 
Der Eichmeister aber blieb noch langer sitzen, allein mit den zwei 
gninbeschirmten Lampen. Es schien ihm, als konnte er mit ihnen spre- 
chen. Wie Menschen waren sie, eine Art lebendiger, milder, leuchten- 
der Menschen. Er hielt eine stille Zwiesprache mit ihnen. »Halte dei- 
nen Plan ein«, sagten sie ihm, griin und giitig, wie sie waren. »Glaubt 
ihr wirklich?« fragte er wieder. »Ja, wir glauben es!« sagten die Lam- 
pen. 

Der Eichmeister Eibenschiitz pustete sie aus und ging nach Hause. Er 
ging durch einen spatherbstlichen, kalten Regen, der ihn noch einsa- 
mer machte, als er war, in ein Haus, in dem ihn eine Luge erwartete, 
die noch diisterer war als dieser Abend, als dieser Regen. 
Als er ankam, war zum erstenmal sein Haus finster. Er schloft die Tur 
auf. Er setzte sich auf das giftgriine Pluschsofa im sogenannten »Salon« 
und wartete im Dunkeln. In diesc Gegend kamen keine Zeitungen von 
gestern und vorgestern, sondern Zeitungen, die mindestens eine Wo- 
che alt waren. Eibenschiitz kaufte sie niemals. Die Vorgange in der 
Welt gingen ihn gar nichts an. 
Das Dienstmadcheri hatte ihn kommen horen. Jadwiga hieft sie. Sie 



146 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

kam herein, breit, selbstgefallig und mikterlich, in das Dunkel des 
Zimmers. Sie berichtete ihm, wahrend sie die Tischlampe entziindete - 
gegen seinen Willen, aber er war zu mude, urn es ihr zu verbieten-, 
dafi die Frau einkaufen gegangen war - und bald zuruckkommen 
wiirde. Und sie hatte auch hinterlassen, er mochte geduldig warten. 
Er drehte den Docht der Lampe ab, so klein, daft es beinahe im Zim- 
mer aussah wie Finsternis. Er dachte an seinen Plan. 
Als seine Frau zuriickkam, erhob er sich, kiifite sie und sagte ihr, er 
ware sehr unruhig gewesen, weil er sie so lange erwartet hatte. Sie hatte 
Pakete in beiden Armen. Sie legte sie ab. Sie setzten sich beide an den 
Tisch. 

Sie afien in einer scheinbar freundlichen und friedlichen Gemeinschaft. 
Der Frau Regina erschien es wenigstens also. Sie benahm sich gefallig, 
diensteifrig sogar. Von Zeit zu Zeit lachelte sie ihrem Mann zu. Er 
bemerkte, dafi sie wieder ihren Ring mit dem falschen Saphir am Fin- 
ger hatte. 

»Du hast deinen Ring wieder! « sagte der Eichmeister. »Das freut 
mich!« 

»Ich glaube«, sagte die Frau Regina und beugte sich tiber den Teller, 
»ich kriege endlich ein Kind!« 

»Endlich?« fragte der Eichmeister Eibenschiitz. »Du wolltest es ja nie! 
Weshalb jetzt?« 

»Gerade jetzt!« sagte sie und schalte dabei sehr vorsichtig eine Orange. 
»Ich habe heute«, begann er - wahrend sie noch den Kopf iiber Messer 
und Frucht gesenkt hielt-, »mit meinem Schreiber, dem Josef Nowak, 
gesprochen. Er ist ein Schiirzenjager, bekannt im ganzen Bezirk. Er 
behauptet, er hatte im Friihling und im Sommer viele Frauen hier ge- 
habt, im Grenzwald, naturlich sagt er nicht, welche. Im Herbst und im 
Winter - sagt er - sei es gefahrlich fur ihn, das Gasthaus Jadlowkers 
aufzusuchen, weil er mich amtlich dort oft vertritt.« 
Die Frau aft gerade ihr letztes Viertel Orange. Sie erhob ihren Blick 
nicht. Sie sagte: »Schrecklich, die Frauen in dieser Gegend!« 
»Er schenkt alien Ringe!« erwiderte der Eichmeister. 
Sie lieE das letzte Stuck Orange fallen und sah auf ihren Ring am linken 
Zeigefinger. Es entstand ein langes Schweigen. 

»Dieser Ring stammt von Josef Nowak«, sagte plotzlich der Eichmei- 
ster. »Ich kenne ihn, ich habe ihn an seiner Hand gesehen.« 
Auf einmal begann die Frau Regina heftig zu weinen. Sie streifte dabei, 



DAS FALSCHE GEWICHT I47 

mitten im Schluchzen, den Ring vom Finger ab und legte ihn vor sich 
auf den Tisch und sagte: »Du weiftt also alles?« - »Ja«, sagte er. »Du 
bist von ihm schwanger. Ich werde meine Mafiregeln treffen.« 
Er stand sofort auf, zog den Mantel an und ging hinaus. Er spannte das 
Wagelchen ein und fuhr los, nach Szwaby, zu Jadlowker. 



X 

Es war spatnachts, als er dort ankam. Und man verwunderte sich nicht 
wenig dariiber. Denn noch nie hatte der Jadlowker den Eibenschutz 
spater als am Nachmittag gesehen. Auch war niemals noch der Eich- 
meister so aufgeraumt und deshalb so absonderlich erschienen. »Wel- 
che Ehre!« rief Jadlowker aus, und er tanzelte trotz seinem ziemlichen 
Gewicht hinter der Theke hervor. »Weiche Ehre!« Zwei Taugenichtse, 
die an einem Tisch in der Ecke safien, jagte Jadlowker davon. Er brei- 
tete ein rot-blau gebliimtes Tuch iiber das Tischchen und rief, ohne 
den Eichmeister nach seinen Wiinschen zu fragen, zur Theke hinuber: 
»Met, ein Viertel, ein Teller Erbsen!« 

Es herrschte ein grofier Larm in der Grenzschenke Jadlowkers. Russi- 
sche Deserteure saEen da, eben erst von dem Grenzschmuggler Kap- 
turak angebracht. Sie steckten noch in ihren Uniformen. Obwohl sie 
ungeheuerliche Mengen Tee und Schnaps tranken und grofte Hand- 
tucher um die Schultern gehangt bekommen hatten, um sich den 
Schweift abzuwischen, machten sie dennoch den Eindruck von Frie- 
renden - so heimatlos fuhlten sie sich bereits, kaum eine Stunde ent- 
fernt von der Grenze ihrer Heimat. Der kleine Kapturak - man nannte 
ihn den »Kommissionar« - betreute sie mit Alkohol. Er bekam von 
Jadlowker fiinfundzwanzig Prozent von jedem russischen Deserteur. 
Die unverhoffte Ankunft des Eichmeisters storte den Wirt Jadlowker 
gar sehr. Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, den Deserteuren, die 
doch den Wunsch hatten, ihre russische Uniformen zu wechseln, 
Stoffe und Anziige anzubieten, fur deren Verkauf er keine Lizenz 
hatte. Einerseits argerte ihn also die Anwesenheit des Eichmeisters, 
andererseits aber freute sie ihn. Endlich hatte er ihn, den Strengen, in 
der Nacht bei sich - und die Nacht war die grofte Freundin des Lei- 
busch Jadlowker. Er rief seine kleine Freundin herunter. 
Seit langen Jahren lebte er mit ihr. Es hieft, auch sie kame aus Rutland, 



148 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

aus Odessa, und sie hatte teilgehabt an mehreren Missetaten Jadlow- 
kers. Ihrer Sprache, ihrem Wesen und ihrem Aussehen nach stammte 
sie ebenfalls aus der sudlichen Ukraine. Schwarz, wild und sanft zu- 
gleich sah sie aus. Jung war sie, das heifk eigentlich: ohne irgendein 
Alter. In Wirklichkeit - was aber niemand in der Gegend wissen 
konnte - war sie eine Zigeunerin und stammte aus Jaslova in Bessara- 
bien. Jadlowker hatte sie eines Nachts aufgetrieben und behalten. 
Eifersiichtig war er zwar von Natur, aber der Liebe der Schwarzen 
sicher und allzu sicher auch seiner eigenen Gewalt uber Frauen und 
Manner. Viele Menschen gehorchten ihm in dieser Gegend, diesseits 
und jenseits der Grenze. Kapturak sogar, der allmachtige Kommissio- 
nar, der die Manner verkaufte wie Rindvieh, an die Reisegesellschaften 
fur Auswanderer nach Kanada, Java, Jamaika, Porto Rico, Australien 
gar: auch Kapturak gehorchte dem Jadlowker. Gekauft hatte er die 
meisten Beamten, die ihm jemals hatten schaden konnen. Erworben 
hatte er lediglich noch nicht den Eichmeister Eibenschutz. Deshalb 
auch fiihrte er seit Eibenschutz' Ankunft einen Kampf gegen ihn. 
Nach der Meinung Jadlowkers hatte jeder Mensch nicht nur eine 
schwache, sondern auch eine verbrecherische Stelle. Er konnte iiber- 
haupt nicht glauben - und wie hatte er auch anders leben konnen!-, 
daft irgendein Mensch in der Welt anders dachte und empfand als er, 
Jadlowker. Er war iiberzeugt, daft alle Menschen, die ehrlich lebten, 
verlogen waren, und er hielt sie fur Komodianten. Die hervorragend- 
sten Komodianten waren die Beamten, dann kamen die gewohnlichen 
anstandigen Menschen, die ohne Amt. Ihnen alien gegenuber muftte 
man Komodie und Anstandigkeit spielen. So hielt es Jadlowker mit 
aller Welt. So hielt er es besonders, und mit einer ganz besonderen 
Anstrengung, mit dem Eichmeister Eibenschutz. 



XI 

Die Frau kam. Die Treppe, uber die sie hinunterstieg, lief seitwarts 
neben der Theke. Sie bahnte sich einen Weg durch das larmende Ge- 
wimmel der Deserteure. Das heifk, der Weg bahnte sich eigentlich vor 
ihr selbst. Am auftersten Ende des Schankraums neben dem Fenster, 
der Treppe gegenuber, saft der Eichmeister Eibenschutz. Er erblickte 
die Frau, als sie auf der ersten Stufe der Treppe stand. Und sofort 



DAS FALSCHE GEWICHT 149 

wuftte er, sie wiirde zu ihm kommen. Er hatte sie nie gesehen. Im 
ersten Augenblick schon, da er sie auf der obersten Treppenstufe gese- 
hen hatte, verspurte er eine Trockenheit in der Kehle, dermaften, daft 
er nach dem Glas Met griff und es in einem Zuge austrank. Es dauerte 
ein paar Minuten, bevor die Frau an seinen Tisch gelangte. Die betrun- 
kenen Deserteure wichen vor ihrem zarten Schritt auseinander, Dunn, 
schlank, schmal, einen zarten weiften Schal um die Schulternj den sie 
mit den Handen festhielt, als ob sie frore und als ob dieser Schal sie 
warmen konnte, ging sie sicher, mit wiegenden Hiiften und straffen 
Schultern. Ihre Schritte waren fest und zierlich, Man horte das leise 
Aufschlagen ihrer hohen Stockel einen Augenblick lang, wahrend die 
larmenden Manner verstummten und die Frau anstarrten. Ihr Blick 
war gleich, von der obersten Stufe an, auf den Eichmeister Eibenschutz 
gerichtet, als schritte ihr Auge ihren Fiifien voraus. 
Als sie auf ihn zutrat, war es ihm, als erfuhre er zum erstenmal, was ein 
Weib sei. Ihre tiefblauen Augen erinnerten ihn, der niemals das Meer 
gesehen hatte, an das Meer. Ihr weiftes Angesicht erweckte in ihm, der 
den Schnee sehr gut kannte, die Vorstellung von irgendeinem phanta- 
stischen, unirdischen Schnee, und ihr dunkelblaues, schwarzes Haar 
liefi ihn an sudliche Nachte denken, die er niemals gesehen, von denen 
er vieileicht einmal gelesen oder gehort hatte. Als sie sich ihm gegen- 
iiber niedersetzte, war es ihm, als erlebte er ein groftes Wunder; als 
setzten sich das unbekannte Meer, ein merkwiirdiger Schnee, eine selt- 
same Nacht an seinen Tisch. Er erhob sich nicht einmaL Er wulke 
wohl, da£ man vor Frauen aufsteht; aber er erhob sich nicht vor einem 
Wunder. 

Dennoch wufke er, daft dieses Wunder ein Mensch war, eine Frau, und 
er wufke auch, daft es die Freundin des Leibusch Jadlowker war. Na- 
tiirlich hatte auch Eibenschutz alle Geschichten von der Freundin Jad- 
lowkers gehort. Er hatte nie in seinem Leben eine bestimmte Vorstel- 
lung von dem gehabt, was man »die Siinde« nennt, aber jetzt glaubte 
er, er wiiftte, wie die Siinde aussehe. So sah sie aus, genau so wie die 
Freundin Jadlowkers, die Zigeunerin Euphemia Nikitsch. 
»Euphemia Nikitsch«, sagte sie einfach und setzte sich und spreizte 
ihren vielfach gefaltelten Rock. Er knisterte leise und eindringlich, 
durch den Larm der Deserteure. 

»Sie trinken nichts?« fragte sie, obwohl sie das frisch geleerte Metglas 
vor Anselm Eibenschutz stehen sah. 



150 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Er horte gar nicht ihre Frage. Er starrte sie an, mit grofien, offenen 

Augen, und dachte, dafi er eigentlich zum erstenmal die Augen wirk- 

lich geoffnet hatte. 

»Sie trinken nichts?« fragte sie noch einmal, aber es war jetzt, als 

wiifite sie schon, dafi Eibenschiitz keine Antwort geben konne. Des- 

halb schnalzte sie kraftig und knallend mit den Fingern. Onufrij kam, 

der Hausknecht. Sie befahl eine Flasche. 

Er brachte eine Flasche Neunziggradigen und eine neue Schussel trok- 

kener Erbsen. Der Eichmeister Eibenschiitz trank, aber nicht, weil es 

ihn danach geliistete! Keineswegs! Er trank nur, weil er seit den paar 

Minuten, in denen die Frau dasafi, vergeblich nach einem passenden 

Wort suchte und weil er hoffte, das Wort wiirde ihm kommen, wenn 

er nur tranke. Er trank also, und es brannte gewaltig in seiner Kehle, 

und er afi daraufhin noch die gesalzenen Erbsen, die das Brennen noch 

verstarkten. Vor ihm safl indessen die Frau, unbeweglich. Mit den 

schlanken dunkelbraunen Fingern, von denen jeder einzelne aussah 

wie eine winzige, schlanke, rosenkopfige, leicht gebrechliche und den- 

noch kraftige Frau, umklammerte sie das Glaschen. Auch ihre Augen 

waren nicht auf den Eichmeister Eibenschiitz gerichtet, sondern auf 

den wasserklaren Schnaps. Eibenschiitz sah ihre langen, auf warts gebo- 

genen seidenschwarzen Wimpern, die schwarzer waren als das Kleid 

der Frau, 

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen!« sagte er auf einmal, und er wurde 

rot dabei, und er zwirbelte mit beiden Handen den Schnurrbart, als 

konnte er auf diese Weise seine plotzliche, lacherliche Rote verbergen. 

»Ich Sie auch nicht«, sagte sie - und es war wie die Stimme einer Nach- 

tigall. In jungen Jahren, in den Waldern rings um Nikolsburg hatte er 

sie manchmal gehort. »Kommen Sie denn oft hierher?« 

»Manchmal im Dienst!« sagte er und horte nicht auf, seinen weichen 

Schnurrbart zu zwirbeln. Er konnte einfach nicht mehr die Hande 

vom Gesicht wegnehmen. 

»Im Dienst?« flotete sie. »Was fiir Dienst?« 

Er lieft die Hande fallen. »Ich bin Eichmeister«, sagte er ernst. 

»Ach so!« sagte sie, leerte ihr Glas, stand auf, nickte und ging wieder 

die Treppe empor. 

Der Eichmeister Eibenschiitz sah ihr nach, dem gefaltelten Rock, der 

auf jedem Treppenabsatz ein zartes, sachtes Rad zu schlagen schien, 

und den schmalen Schuhen, die darunter erschienen. Langst schon 



DAS FALSCHE GEWICHT I51 

schnarchten die Deserteure. Einige hatten ihre Kopfe auf die harten 

Tische gelegt. Andere lagen wie pralle, atmende Sacke unter den Ti- 

schen. Alle schnarchten laut und etwas grausam. 

Er ging zur Theke. Er wollte bezahlen. Hinter der Theke stand Lei- 

busch Jadlowker, und er sagte so drohend und so freundlich: »Herr 

Eichmeister, heute sind Sie mein Gast! Sie zahlen gar nichts!«, daft 

zum erstenmal in seinem Leben den friiheren Feuerwerker Eiben- 

schiitz der Mut verlieft und daft er nur »Gute Nacht« sagte. 

Nach Hause ging er sehr langsam. Er vergafi, daft er sein Wagelchen 

vor dem Wirtshaus stehen gelassen hatte. Dennoch folgte ihm das 

Pferd gehorsam wie ein Hund und zog das Gefahrt hinter sich her. 

Es war schon heller Morgen, als er ankam. Das behabige Dienstmad- 

chen stellte ihm Tee und Brot auf den Tisch. Er schob alles weg. 

Er horte die Schritte seiner Frau. »Guten Morgen!« sagte sie. Sie trat 

auf ihn zu, sie machte Anstalten, ihn zu umarmen. Er erhob sich so- 

fort. 

»Du schlafst von nun ab in der Kuche!« sagte er, »oder du wirst das 

Haus verlassen!« 

Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Wenn dein Bett heute nacht 

nicht in der Kiiche stent, schlafst du morgen nacht bei Nowak oder 

drauften.« 

Er erinnerte sich plotzlich an seinen Wagen, an sein Pferd. Gehorsam 

warteten sie vor dem Gitter des kleinen Gartens. Langst war es schon 

wacher Tag. 

Er fuhr zum Amt, in die Bezirkshauptmannschaft. Und er schrieb mit 

eigener Hand sehr langsam, mit Doppelrand, in der klaren, kindlich- 

kalligraphischen Schrift eines kaiser-koniglichen Feuerwerkers ein 

Gesuch an die Gemeinde, sie mochte den Schreiber Josef Nowak einer 

Nachbargemeinde abgeben. Er sei mit ihm nicht zufrieden. Er wiin- 

sche einen andern. 

Es machte ihm einige Pein, einer Gemeinde ein Schreiben zu schicken. 

Er war immerhin zwolf Jahre Feuerwerker gewesen, und er hatte ein 

Anrecht auf einen richtigen, auf einen echten Staatsbeamtenposten ge- 

habt. Dank seiner Frau aber hatte er diesen gewahlt (er war eigentlich 

ein Gemeindebeamter, den allerdings der Staat bezahlte). 

In dieser Stunde tat es ihm besonders weh, daft er nicht unmittelbar 

dem Staat unterstellt war. 

Er war etwa eine Stunde vor dem Dienst gekommen. Als der Schreiber 



1^2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Nowak eintrat, sagte ihm der Eichmeister: »Sie werden diesen Posten 
verlassen. Ich bin mit Ihnen unzufrieden. Ich habe Ihre Entlassung 
oder Ihre Versetzung soeben beantragt.« 
Der junge, ehrgeizige Mann sagte nur das eine Wort: »Aber-« 
»Schweigen Sie!« rief Eibenschutz, wie er dereinst auf dem Exerzier- 
platz geschrien hatte, als er noch Feuerwerker gewesen war. 
Er tat so, als vertiefte er sich in Akten. In Wirklichkeit aber dachte er 
iiber sein Leben nach. Nowak, gut - so dachte er-, der wird also ver- 
schwinden. Mit meiner Frau habe ich nichts mehr zu tun. Sie wird in 
der Kuche schlafen. Hinauswerfen werde ich sie nicht, ich liebe keine 
Skandale. Und was noch - und was noch? - Ich will nicht mehr zu 
Jadlowker gehen - aufter Dienst, versteht sich. Und wenn ich einmal 
aufier Dienst hingehe, dann nur mit dem Wachtmeister Slama. - Nein, 
aufier Dienst werde ich nicht mehr hingehen. Dabei bleibt es. 



XII 



Dabei blieb es nicht. Zwar wurde der Schreiber Nowak nach Podgorce 
versezt; zwar schlief, neben dem Dienstmadchen, in der Kuche die 
Frau Eibenschutz: aber die dienstlichen Besuche in der Grenzschenke, 
in Begleitung des Wachtmeisters Slama allerdings, mehrten sich auffal- 
lend. 

Der Winter kam, und es war ein unerbittlicher Winter. Die Spatzen 
fielen von den Dachern, liberreifen Fruchten ahnlich, die im Friih- 
herbst von den Baumen fallen. Sogar die Raben und Krahen schienen 
zu frieren, so dicht beieinander hielten sie sich auf den diirren Zwei- 
gen. Das Thermometer zeigte an manchen Tagen zweiunddreiftig 
Grad. In solch einem Winter fallt es einem Menschen einfach schwer, 
ohne Heim zu sein. Allein im grofkn Frost stand der Eichmeister, wie 
der einsam kahle und frierende Baum im Hof der Bezirkshauptmann- 
schaft vor dem Fenster des Amtszimmers. Es war ein neuer Schreiber 
gekommen, ein trager, dicker und gutmutiger Jungling, der sehr lang- 
sam arbeitete, aber Behaglichkeit verbreitete. Am behaglichsten war es 
iiberhaupt im Amtszimmer. Das Ofentiirchen strahlte rotliches Licht 
aus, die beiden Lampen grimes. Die Papiere sogar raschelten vertrau- 
lich. Aber was dann, wenn der Eichmeister Eibenschutz das Amt ver- 
lafk? In seinem kurzen Schafspelz, mit hoch aufgeschlagenem Persia- 



DAS FALSCHE GEWICHT I53 

nerkragen, in den hohen Kniestiefeln steht er da, neben einer der zwei 
Laternen, die vor der Bezirkshauptmannschaft brennen. Sie brennen 
sehr armlich und gelb, die Nachtlampchen, dem leuchtenden Schnee 
im Park gegeniiber. Lange Zeit steht der Eichmeister Eibenschiitz so 
da und iiberlegt. Er iiberlegt, wie es jetzt aussehen wird, wenn er nach 
Hause kommt. Der Ofen ist geheizt, der Tisch gedeckt, der Rundbren- 
ner leuchtet, auf der Ofenbank hockt die gelbe Katze. Verweint und 
finster geht die Frau sofort bei der Ankunft des Mannes in die Kiiche. 
Das Dienstmadchen, auch diese finster und verweint, denn sie teilt 
Tranen und Klagen mit der Hausfrau, schneuzt sich mit dem Schur- 
zenzipfel, mit der linken Hand s teilt sie den Teller vor Herrn Eiben- 
schiitz. Nicht einmal die Katze kommt heran wie einstmals, um sich 
streicheln zu lassen. Auch sie hegt Feindschaft gegen Eibenschiitz. Aus 
ihren gelben Augen leuchtet der Haft. Trotz alledem beschliefk der 
Eichmeister, nach Hause zu gehen. Er stampft entschlossen mit den 
schweren Stiefeln durch den knirschenden Schnee, durch die tote 
Nacht, die von unten her, vom Schnee, erhellt wird. Kein lebendiges 
Wesen wahrzunehmen. Man hat nichts zu befurchten, man braucht 
sich nicht zu schamen, wenn man gelegentlich eine kleine Weile vor 
einem der Hauschen stehenbleibt und durch die Ritzen der Fensterla- 
den in die fremden Wohnungen hineinlugt. Es ist noch friih am 
Abend. Oft sitzen die gliicklichen Leute noch zusammen. Manchmal 
spielen sie Domino. Vater, Miitter, Briider, Schwestern, Kinder und 
Kindeskinder gibt es in den Hausern. Sie essen, sie lachen. Manchmal 
weint ein Kind, aber auch Weinen macht selig, ohne Zweifel! Manch- 
mal bellt ein Hund aus dem Hof, denn er wittert den spahenden Ei- 
benschiitz. Auch dieses Klaffen hat noch etwas Heimliches, Liebliches 
beinahe. - Eibenschiitz kennt nun schon alle Famiiien des Stadtchens 
und wie sie leben. Er bildet sich gelegentlich ein, es sei fur einen Eich- 
meister gut, niitzlich, ja sogar erforderlich, etwas Naheres iiber die 
Kaufleute zu erfahren, »Personalkenntnisse« nennt er das. Nun geht er 
weiter. Jetzt ist er vor dem Haus. Sein Schimmel hort ihn kommen und 
wiehert freundlich. Ein liebes Tier. Der Eichmeister kann sich nicht 
halten, er geht in den Stall, er will den Schimmel nur streicheln, er 
denkt an die gliickliche Zeit beim Militar, an all die Pferde, riickwarts, 
im Hintergebaude der Kaserne, er erinnert sich noch an alle Namen 
und auch an ihre Gesichter. Jakob hat er seinen Schimmel genannt. 
»Jakob!« ruft er leise, als er in den Stall kommt. Der Schimmel hebt 



154 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

den Kopf. Er stampft zwei-, dreimal mit dem rechten Huf auf das 
feuchte Stroh. Eibenschiitz geht heran, eigentlich nur, um ihm »Gute 
Nacht« zu sagen, aber plotzlich kehrt er um, sagt, wie zu einem Men- 
schen: »Einen Moment, bitte!« und geht in den Schuppen, und holt 
den Schlitten und fiihrt das Pferd hinaus und schnallt mit zitternden 
und dennoch sicheren Fingern das Riemenzeug um, und die warme 
Wollhaardecke rollt er um den Leib des Tieres und bindet sie fest. Er 
spannt den Schimmel vor den Schlitten. Er schnallt die Glocke um den 
Hals des Pferdes. Er setzt sich hin, er nimmt die Ziigel in die Hand und 
sagt: »Jakob!« Noch einen hastigen, gehassigen Blick wirft er auf die 
erleuchteten Fenster seiner Wohnung. Wie sehr hafit er die drei 
Frauen, die ihn drinnen erwarten: die Frau zuerst, das Dienstmadchen 
zunachst und schliefilich die Katze. »Jakob!« sagte er, und der Schlit- 
ten gleitet auf seinen zuerst knirschenden, dann sanft und sanfter und 
kudos werdenden Kufen dahin, zum Tor hinaus. Der Schimmel weift, 
wohin. 

Der Frost saust um das Gesicht des Eichmeisters, der Frost ist ein 
stummer Sturm, und die Nacht ist klar, als ware sie aus Glas, aus Kri- 
stall gar. Die Sterne sieht man nicht, denn man achtet wohl auf den 
Weg, aber man fiihlt sie hart und klar, als waren auch sie aile aus Eis, 
uber dem Kopf. Man fuhlt sie so sehr, dafi man sie beinahe sieht, ob- 
wohl man auf den Weg achten mui Man saust dahin. 
Wohin saust man so mit dem Schimmel Jakob? Er weifi den Weg al- 
lein. Er galoppiert nach Szwaby. 

Und wohin in Szwaby? In die Grenzschenke Jadlowkers. Es ist, als 
hatte er auch Sehnsucht, wie sein Herr, nach der Zigeunerin Euphemia 
Nikitsch. 



XIII 

In der Grenzschenke Jadlowkers war es warm und gut und frohlich. 
Man trank, man spielte Karten, man rauchte. Der Rauch stand iiber 
den Hauptern der Manner. Es waren keine Frauen vorhanden, und das 
war gut. Der Eichmeister Eibenschiitz hatte schwer die Anwesenheit 
einer Frau vertragen konnen, es sei denn die der Euphemia Nikitsch. 
Aber sie zeigte sich nicht. Eibenschiitz wufke gar nicht, daft er hierher- 
gekommen war, sie zu sehen. Erst, als er Platz genommen und einen 



DAS FALSCHE GEWICHT 155 

Schluck getan hatte, glaubte er zu wissen, daft er eigentlich hierherge- 
kommen war, um die Frau wiederzusehen. Gelegentlich kam Leibusch 
Jadlowker an seinen Tisch und setzte sich fur eine Weile hin, fliichtig, 
wie sich eine Biene auf Honig setzt, ein Schmetterling auf Blumen. Je 
ernster der Eichmeister Eibenschiitz wurde - und er wurde immer ern- 
ster, je mehr er trank-, desto heiterer erschien ihm Jadlowker. Heite- 
rer erschien er ihm und gehassiger. Er wuftte wohl, der Eichmeister 
Eibenschiitz, daft die meisten Denunziationsbriefe von der Hand Jad- 
lowkers stammten. Sehr wahrscheinlich war es, daft Jadlowker die 
Aufmerksamkeit des Eichmeisters von sich ab und auf andere lenken 
wollte. Er wuftte das, er glaubte, es zu wissen, der Eibenschiitz. Den- 
noch ertrug er die siiftliche Freundlichkeit des Gastwirtes mit uner- 
schiitterlicher Geduld und sogar mit einer andachtigen Sanftmut. Er 
sah das widerliche, breite, stets grinsende Angesicht Jadlowkers an. 
Ein spitzes rotblondes Bartchen zierte es. Man kann sagen: zieren, 
nichts hatte es entstellen konnen. Es war blaft, von einer wachsernen 
Blasse. Zwei winzige gninliche Auglein glommen darin wie Lichter, 
die bereits erloschen sind, und dennoch immer noch Lichter; den Ster- 
nen ahnlich, von denen die Astronomen wissen, daft sie seit Jahrtau- 
senden bereits erstorben sind, und die wir trotzdem immer noch 
leuchten sehen. Das einzig Lebendige war noch der rote Spitzbart. Er 
sah aus wie ein dreieckiges Feuerchen, das etwa iiberraschenderweise 
einer langst tot geglaubten, erloschen geglaubten Materie entspringt. 
»Gehorsamst! Herr Eichmeister! « sagte Leibusch immer wieder, sooft 
er an den Tisch herankam. Es war, als wollte er immer wieder, im 
Laufe eines einzigen Abends, den Eichmeister zum erstenmal gesehen 
haben. Eibenschiitz ahnte in diesem Verfahren eine gewisse Ironie. 
Eine gewisse Ironie mochte Eibenschiitz auch aus der Tatsache erse- 
hen, daft Jadlowker niemals an seinen Tisch kam, ohne eine voile Fla- 
sche in der Hand zu haben. Nun, das konnte noch zu den vorschrifts- 
maftigen Abzeichen eines Wirtes gehoren. Aber, wenn Jadlowker, von 
dem Eibenschiitz genau wuftte, daft er falsche Gewichte hatte, noch 
fragte: »Wie geht es Ihrer gnadigen Frau?«, so glaubte der Eibenschiitz 
es nicht mehr ertragen zu konnen, und um es ertragen zu konnen, 
bestellte er mehr Schnaps. Er trank, er trank, bis zum Morgengrauen. 
Langst schon schnarchten schwer und fiirchterlich die Deserteure un- 
ter den Tisch en und auf den Tischen. Der Morgen graute zwar noch 
nicht, aber er war schon zu ahnen, als sich der Eibenschiitz erhob. 



I$6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Onufrij gab ihm das Geleit. Immer in dem Augenblick, in dem er den 
Schlitten bestieg, fuhlte er sich erleichtert und bedriickt. Wenn er die 
Stadt grenze von Zlotogrod erreichte, graute schon der winterliche 
Morgen. Eibenschiitz kehrte nicht nach Hause zuriick. Er kehrte bei 
dem Barbier Leider ein, und er liefi sich rasieren und den Kopf kalt 
waschen. Er ging dann in das einzige Kaffeehaus der Stadt Zlotogrod, 
es nannte sich Bristol. Er trank einen Kaffee und afi zwei Kip f el, die so 
frisch waren, dafi sie noch nach dem Backer rochen. Hierauf fuhr er ins 
Amt, safi stumpf vor dem leeren Tisch, auf dem begreiflicherweise 
noch keine Post liegen konnte, und erwartete den tragen, fetten Schrei- 
ber mit Ungeduld. Er ging hinaus und wusch sich, so, wie er war, in 
Pelz und Stiefeln, Gesicht und Hande unter der furchterlich kalten 
Pumpe, die im Hof der Bezirkshauptmannschaft dastand, den Pferden 
der berittenen Gendarmerie zu dienen. 

An solchen Morgen dachte der Eichmeister gar nichts oder nur sehr 
wenig. Er dachte daran, dafi es acht Uhr vom Kirchtrum schlagen und 
dafi der neue Schreiber so bald wie moglich kommen miifke. Als es 
endlich acht Uhr vom Kirchturm schlug, ging Eibenschiitz noch hin- 
aus, einen Rundgang durch die Stadt machen. Der Rundgang konnte 
nicht lange dauern, die Stadt war winzig. Er wollte nur nicht vor dem 
Schreiber dagewesen sein. Auch dachte er daran, dafi ihm eine Rund- 
fahrt durch die Stadt und durch den Frost nicht nur das Aussehen, 
sondern auch das Gefiihl eines Menschen geben konnte, der in norma- 
len Verhaltnissen die Nacht durchgeschlafen hatte. 
Er fuhr also los, mit dem Schlitten durch den morgendlich knirschen- 
den Schnee. Er kehrte zuriick. Er fiihrte den Jakob und den Schlitten 
zuerst nach Hause. Dann ging er, nicht ohne einen gehassigen Blkk 
gegen die noch geschlossenen Fensterladen seines Hauses zu werfen, 
zu Fufi ins Amt. 



XIV 



Auch im Amt noch konnte er sich nicht enthalten, an die Freundin 
Jadlowkers zu denken, an die Zigeunerin Euphemia Nikitsch. Auf eine 
seltsame Weise vermischte sich in ihm der berufliche und menschliche 
Ekel vor dem Gastwirt Jadlowker mit der schonen Sehnsucht nach der 
Frau Euphemia. Er wufke selbst nicht, der arme Eichmeister, was ihm 



DAS FALSCHE GEWICHT 157 

da geschah, Es beunruhigte, ja, es erschiitterte sein Gewissen, dai? er 
dermaften stindig, dermaften unerbittlich, dermaften gleichmafiig an 
die gesetzlichen Verfehlungen Jadlowkers denken mufke wie an die 
Schonheit Euphemias. Gleichermafien dachte er an beides und auch 
gleichzeitig. Eins ging nicht ohne das andere. 

Auch dieser harte Winter ging voriiber, und es kam eine Nacht, da 
krachte das Eis wieder iiber dem Fluft Struminka. Und genau wie im 
ersten Jahr, als er angekommen war, aber nunmehr, wie ihm selber 
schien, sehr gealtert und vollkommen verwandelt, erlebte er in einer 
Nacht im Marz das Krachen des Eises iiber dem Fluft und die Aufre- 
gung der Einwohner. Diesmal aber bedeutete ihm der Einbruch des 
Friihlings etwas anderes. Er kam sich sehr gealtert vor, wahrend er so 
das Jahr und die Welt neu werden sah, und keinerlei Hoffnung er- 
wachte in seinem Herzen, wie damals im ersten Jahr seiner Ankunft. 
Auch heute noch, wie im ersten Jahr seiner Ankunft, standen die Leute 
da, an beiden Ufern des Flusses, mit Fackeln und mit Laternen, und sie 
sprangen plotzlich auf die treibenden Eisschollen, und sie hiipften wie- 
der ans Ufer, Es war Fruhling. Friihling war es! - 
Der Eichmeister Eibenschiitz aber ging trostlos nach Hause. Was be- 
deutete ihm schon der Fruhling? Was bedeutete ihm schon der Friih- 
ling? - Drei Tage spater kam seine Frau nieder. In der Kiiche. Es war 
eine leichte Geburt. Kaum war die Hebamme gerufen worden, und 
schon war er da, der Sohn des Josef Nowak. Der Eichmeister Eiben- 
schiitz dachte, daft nur Bastarde so schnell und leicht zur Welt kom- 
men. 

Die Nacht, in der ihm der Sohn des Josef Nowak geboren wurde, 
verbrachte der Eichmeister in der Schenke Jadlowkers. An diesem 
Abend erschien auch wieder an seinem Tisch die Frau Jadlowkers. Wie 
beim erstenmal sagte Euphemia: »Sie trinken nichts?« - »Wenn Sie 
wollen, daft ich trinke, so trinke ich«, antwortete er. Sie schnalzte mit 
den Fingern, und der Diener Onufrij kam und schuttete das Glas des 
Eichmeisters voll. 

Auch sie verlangte nach einem Glas. Man brachte es ihr. Sie trank den 
Neunziggradigen in einem Zug aus. 

Sie naherte ihr Angesicht dem Eichmeister, und ihm war es, als seien 
ihre Ohren mit den groften, leise klirrenden Ohrringen ihm beinahe 
naher als ihre hellen Augen. Er sah sehr wohl ihr schneeweiftes Ge- 
sicht, aber wacher noch als sein Auge war sein Ohr. Er vernahm ganz 



158 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

deutlich das ganz leise Klingeln, das von dem sachten Anschlag der 
goldenen Miinze an den Ohrring her kam, sobald die Frau eine Bewe- 
gung machte. Er dachte dabei, daft ihre Finger hart und stark und 
braun waren, seltsamerweise wuftte er nicht mehr, weshalb er an ihre 
Finger denken mufite, dieweil er ihre Ohren ansah und das Klingeln 
der kleinen Goldmiinzen vernahm. 

Fur die Dauer eines Augenblicks setzte sich auch Leibusch Jadlowker 
an den Tisch. Aber es dauerte nicht langer, als eben ein Schmetterling 
auf einer Blume sitzt. Im nachsten Moment war er weg. Euphemia 
beugte sich zu Eibenschutz hinuber und flusterte: »Ich liebe ihn nicht! 
Ich hasse ihn!« - Hierauf lehnte sie sich zuriick und nippte an ihrem 
Glase. Und an ihren Ohrlappchen klingelte es slifi und sachte. 
Eibenschiitz konnte es nicht mehr aushalten. Er winkte dem Schank- 
diener Onufrij und zahlte und bestieg seinen Schlitten und fuhr nach 
Hause. 

Er erinnerte sich nicht mehr, ob er der Frau Euphemia gute Nacht 
gesagt hatte oder nicht. Es erschien ihm plotzlich sehr wichtig. 
Der Schnee war noch sehr hart, und der kleine Schlitten flog dahin wie 
mitten im Winter. 

Aber von oben her wehte es schon milde und fast schon osterlich her- 
unter, und blickte man zum Himmel empor, so sah man, daft die 
Sterne nicht mehr so kalt und strenge dastanden. Es war, als hatten sie 
sich der Erde ein wenig mehr genahert. Auch ein sehr giitiger, kaum 
spiirbarer Wind gab sich zu erkennen. 

Es gab schon eine ganz gewisse herbe Siifte in der Luft. Der Schimmel 
raste dahin wie noch nie, und dabei hatte Eibenschiitz kaum die Ziigel 
gestrafft. Der Schimmel warf von Zeit zu Zeit den Kopf hoch, wie um 
zu sehen, ob die Sterne schon der Erde naher gekommen waren. Auch 
er fiihlte, daft der Fruhling nahe war. 

Besonders aber fiihlte es der Eichmeister Anselm Eibenschiitz. Wah- 
rend er seinem tristen Heim entgegenglitt, durch den glatten Schnee, 
unter dem milden Himmel, dachte er daran, daft ihn zu Hause ein 
Bastard erwartete. Auch dariiber war er im Grunde sehr froh. Denn 
noch starker dachte er an das Wort, daft ihm Euphemia gesagt hatte: 
»Ich liebe ihn nicht. Ich hasse ihn!« 
Er horte das Klingeln ihrer Ohrringe! 



DAS FALSCHE GEWICHT 159 

XV 

Zu Hause schrie der Saugling. Was ein Wunder! Sauglinge schreien. Sie 
wissen nicht, ob sie Bastarde sind oder nicht. Sie haben ein Recht, zu 
wimmern und zu schreien. Ubrigens tibertonten in Eibenschiitz' Oh- 
ren die leise klingenden Ohrringe der Euphemia auch das laute 
Schreien des Sauglings. Eibenschiitz dachte gar nicht mehr an seine 
Frau und an das Kind des Josef Nowak. 

Als er sein Haus betrat, dachte der Eichmeister nur daran, daft er der 
Hebamme nicht begegnen diirfte. Dies allein war seine Sorge. Aber es 
gelang ihm keineswegs. Sie hatte gehort und gesehen, wie er ankam. 
Und sie ging ihm entgegen mit der beruflichen Frohlichkeit, die ihr 
eigen war, und berichtete ihm alles, was er nicht zu wissen wiinschte: 
daft der Junge prachtig sei und daft sich die Mutter wohl befinde. 
Eibenschiitz dankte ihr gehassig. Immer noch klingelten in seiner 
Erinnerung und in seinem Herzen die goldenen Miinzen an den golde- 
nen Ohrringen. Er fiihlte sich sehr unsicher, sehr unsicher fuhlte er 
sich. Zuweilen war es ihm, als sei er kein Mensch mehr, sondern ein 
Haus, und er ware imstande, seinen nahen Einsturz vorauszuahnen, als 
ware er ein Haus oder eine Mauer: Es barst und brockelte in ihm, 
und er fuhlte kaum noch den Boden unter seinen Fiiften. Er selbst 
schwankte, das ganze Haus schwankte, es schwankte auch der Sessel, 
auf den er sich setzte, um sein Friihstiick einzunehmen. Der Hebamme 
wegen ging er jetzt hinein, in das Schlafzimmer, in dem seine Frau 
Regina seit ihrer Niederkunft wieder untergebracht war. Skandale 
wolite er nicht. Der Hebamme wegen. 

Er sagte zu seiner Frau fliichtig und gehassig: »Guten Morgen« und 
betrachtete den Saugling Josef Nowaks, den ihm die Hebamme mit 
beruflichem Diensteifer entgegenstreckte. Der Saugling wimmerte. Er 
roch zudringlich nach Muttermilch und Urin. Eibenschiitz dankte 
Gott, daft es nicht sein eigener Sohn war. Er empfand ein wenig Scha- 
denfreude dariiber, daft es der Sohn des verhaftten Josef Nowak war. 
Aber lauter noch als die Schadenfreude tonten in seinem Herzen die 
klingelnden Ohrringe. 

Am Nachmittag hatte er eine Dienstfahrt mit dem Wachtmeister Slama 
zu unternehmen, nach Slodky. Sie langweilte ihn, diese Dienstfahrt, 
warum ging es nicht nach Szwaby? Es klingelten sachte die Ohrringe 
der Euphemia. 



l6o ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Der Wachtmeister Slama kam, ihn abzuholen. Man spannte den 
Schimmel vor das Wagelchen. Es war April, kurz nach Ostern. Der 
Himmel mit seinen zartweifkn Wolkchen und seinem hellen Blau war 
jugendlich. Das Windchen, das dem Eichmeister entgegenwehte, war 
geradezu neckisch und ausgelassen. Die Felder zu beiden Seiten der 
Landstrafie begannen eben, frohlich zu griinen, und die Schneereste in 
den Graben waren grau wie Asche. 

»Heute oder morgen kommen die Schwalben!« sagte der Wachtmei- 
ster der Gendarmerie Franz Slama. Es kam dem Eichmeister Eiben- 
schiitz seltsam, aber auch anmutig vor, dafi der Wachtmeister, trotz 
der Pickelhaube auf dem Haupt, trotz dem Gewehr mit dem aufge- 
pflanzten Bajonett zwischen den Knien, von den Schwalben sprach. 
»So spat kommen sie hierher?« 

»Ja«, sagte der Wachtmeister Slama, »es ist ein weiter Weg hierher.« 
Und sie schwiegen. Und das Wagelchen rollte, und das Windchen 
wehte, und iiber der Welt wolbte sich der jugendliche Himmel mit 
seinen zartblauen Wolkchen. 

Es war Freitag, ein Tag, den der Eichmeister nicht liebte: nicht aus 
Aberglauben, sondern weil es im ganzen Bezirk, in der Gegend iiber- 
haupt, ein Markttag war. Da gab es viel zu tun, nicht in den Laden, 
sondern auf den offenen Markten. Die Kunden liefen einfach weg, 
wenn sie Gendarmen und Beamte kommen sahen. 
Es entstand auch diesmal ein grofier Schrecken auf dem Marktplatz 
von Slodky. Als das gelbe Wagelchen am Grenzrand des Marktflek- 
kens erschien, schrie jemand, ein Junge, den man als Posten aufgestellt 
hatte: »Sie kommen! Sie kommen!« Die Weiber lieften die Fische, die 
sie eben hatten kaufen wollen, wieder in die Bottiche fallen. Die frisch- 
geschlachteten, noch blutenden Hiihner fielen mit hartem Schlag auf 
die Tische der Verkaufsstande zuriick. 

Das noch lebende Gefliigel selbst schien zu erschrecken. Hiihner, 
Ganse, Enten und Puten rannten zappelnd, krahend, schnatternd, 
schwerfallig und hastig die Fliigel schlagend, durch die breite, kotige 
Fahrbahn, an deren beiden Seiten die Verkaufsstande aufgestellt wa- 
ren. Wahrend die Kaufer, die doch gar keinen Anlafi hatten, vor der 
Behorde zu fliehen, es lediglich aus Torheit taten, aus Haft und Mift- 
trauen und aus unbestimmter Furcht, iiberlegten die Handler, die ihre 
Standplatze nicht verlassen durften, weil sie sich ja sonst erst recht 
verdachtig gemacht hatten, was zu unternehmen sei. Zuerst schmissen 



DAS FALSCHE GEWICHT l6l 

sie ihre Gewichte in die Strafienmitte, in den silbergrauen Schlamm. Es 
sah fast aus wie eine Schlacht und als bekampften sie sich zu beiden 
Seiten der Marktgasse mit ihren schweren Gewichten. 
Als der einzige unter den Handlern benahm sich kaltbliitig nur der 
Leibusch Jadlowker. Er hatte zwar keine Konzession, in Slodky Fische 
zu verkaufen. Dennoch verkaufte er Fische in Slodky. Stark und breit 
stand er da, neben seinem Bottich, beinahe so breit wie der Bottich. 
Zwar hatte er keine Konzession, aber auch keine falschen Gewichte. 
Das Gesetz kannte er: Ein Eichmeister hatte nichts mit Konzessionen 
zu tun. Mochte er nur kommen. Er beobachtete indessen die Hechte 
und die Karpfen, die sich im Bottich tummelten. Dumme Fische, die 
wahrscheinlich glaubten, sie lebten immer noch in Fliissen. Was weiE 
ein armer Fisch ? 

Ach, und was weifi ein armer Mensch, Leibusch Jadlowker? 
Und kennt er auch alle Gesetze und alle Sitten und Gebrauche und 
Charakteranlagen der Beamten: Es kann ein Augenblick kommen, da 
steht plotzlich ein unbekannter Paragraph auf, und wenn es nicht auf 
den Paragraphen ankommt, so erwacht zum Beispiel eine ungeahnte 
Leidenschaft in einem Beamten. Beamte sind auch Menschen. 



XVI 



Der Eichmeister Eibenschutz war auch nur ein Mensch. Das leise 
Klingeln der Ohrringe Euphemias konnte er nicht loswerden. Manch- 
mal hielt er sich die Ohren zu. Aber es klingelte ja drinnen, nicht drau- 
ften. Es war kaum noch auszuhalten. Man mufke ganz schnell und 
fliichtig sogar den Markt von Slodky kontrollieren, und dann war es 
vielleicht noch Zeit, nach Szwaby zuriickzukutschieren. 
Er fuhr durch den wusten, verwiisteten Markt. Die Rader seines Wa- 
gelchens rollten munter iiber die fortgeworfenen Gewichte hinweg, 
und die Hufe Jakobs gruben sich noch tiefer in den Schlamm. In der 
Mitte des Marktes hielt Eibenschutz an. Stumm und steif, wie Wachs- 
puppen in einem Panoptikum, standen die Handler hinter den Laden- 
tischen. Von einem Laden zum andern ging Anselm Eibenschutz, ne- 
ben ihm der Gendarm. Man zeigte ihm Waagen und Gewichte, echte 
Waagen, echte Gewichte. Ach, er wuftte wohl, dafi es die falschen wa- 
ren, die niemals benutzt wurden. Er priifte die Punzierungen, er unter- 



l62 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

suchte Kummen, Facher, Schubladen, Winkel, Verstecke. Bei der Ge- 
flugelhandlerin Czaczkes fand er sieben falsche Pfund- und Kiloge- 
wichte. Er schrieb sie auf, sie tat ihm leid. Es war eine alte, hagere 
Judin, mit geroteten Augen, einer harten Nase und einem zerknitter- 
ten, pergamentenen Angesicht. Man hatte sich eigentlich wundern 
miissen, wie es moglich war, daft so viele Runzeln auf so sparliche 
Wangenhaute geraten waren. Sie tat ihm leid, die arme Czaczkes. Den- 
noch mufke er sie aufschreiben. Offenbar waren ihre Hande zu kraft- 
los gewesen, um rechtzeitig die Gewichte hinauszuwerfen, wie es die 
andern getan hatten. 

Sie begann sofort zu schreien: »Gewalt! Gewait! Gewalt geschieht 
mir«, so schrie sie sinnlos, mit ihrer heiseren Stimme, es war etwas von 
Zirpen darin, von Krahen, von Schnattern. »Nicht aufschreiben, nicht 
aufschreiben!« rief sie, sie flatterte mit den Armen, raufte sich die 
braune Periicke, die iiber ihren silbergrauen Haaren saft und begann 
sofort, ihre mageren Hiihner, ihre armselige Ware hinauszuschmeiften 
in die Strafienmitte, in den Schlamm. »Diebe, Rauber, M6rder!« schrie 
sie. »Nehmt mir alles, nehmt mir alles! Nehmt mir das Leben!« Aus 
dem Kreischen fiel sie unmittelbar in ein herzzerbrechendes Schluch- 
zen. Es besanftigte sie aber keineswegs, im Gegenteil, es schien sie 
noch zu groflerer Heftigkeit zu reizen. Denn wahrend ihre Tranen aus 
den entziindeten Augen stromten und ihre hageren Wangen iiber- 
stromten wie ein Regen, warf sie noch immer alles hin, was ihr in die 
Hande kam, ein Teeglas, den Loffel, den Samowar. Vergeblich be- 
miihte sich da der Eichmeister Eibenschutz, sie zu besanftigen. Sie griff 
endlich nach dem Messer, mit dem sie das Geflugel zu verschneiden 
pflegte. Sie stiirzte aus ihrem Verschlag heraus, mit dem gezuckten, 
grofien, sageartig gezahnten Messer. Ihre Periicke verschob sich, man 
sah unter den falschen braunen Haaren die echten wirren Knauel ihrer 
grauen Locken, und der Eichmeister wich einen Schritt zuriick, nicht 
des Messers wegen, sondern wegen der Haare. Der Gendarmerie- 
wachtmeister Slama, mit geschultertem Gewehr, stand noch immer re- 
gungslos. 

»Man mufi sie abfuhren!« sagte er. Er ergriff ihre hocherhobene Hand, 
in der das Sagemesser drohte. In diesem Augenblick sturzten alle 
Handler aus ihren Buden hervor. Ein ungeheures Geschrei erhob sich. 
Man hatte glauben konnen, die ganze lebendige Welt schriee und em- 
porte sich gegen die Verhaftung der Frau Soscha Czaczkes. Der 



DAS FALSCHE GEWICHT 163 

Wachtmeister Slama tat ein ubriges: er fesselte die Alte. Und so, 
keifend, schreiend, krachzend unverstandliche und sinnlose Fliiche, 
ging sie dem Gefangnis entgegen, zwischen den beiden Mannern, 
dem Gendarm und dem Eichmeister. 

Was den Eichmeister anbetrifft, so war er sehr aufgeregt. Er hatte 
nicht gewollt, daft man eine arme, torichte judische Geflugelhandle- 
rin einsperrte. Er selbst stammte von Juden ab. Er erinnerte sich 
noch an seinen Grofivater, der einen groften Bart getragen hatte und 
der gestorben war, als er, Anselm, acht Jahre alt gewesen war. Auch 
an das Begrabnis erinnerte er sich. Es war ein jiidisches Begrabnis. 
Eingehullt in die weifkn Leichengewander, ohne Sarg, fiel der alte 
Groftvater Eibenschiitz in das Grab, und sehr schnell wurde es zu- 
geschaufelt. 

Ach, er war in einer gar schlimmen Lage, der Eichmeister Eiben- 
schiitz. Weh, sehr weh tat ihm sein eigenes Schicksal. Das Gesetz 
einzuhalten, war er entschlossen. Redlich war er, redlich, und sein 
Herz war giitig und streng zugleich. Was sollte er machen mit der 
Gute und Strenge zugleich? Zu gleicher Zeit lautete in seinen Ohren 
das goldende Lauten der kleinen Ohrringe der Frau Euphemia. 
Er schritt dahin, als ware er selbst gefesselt. Er mufite sich trotzdem 
noch an dem und jenem Laden aufhalten. Indessen schrie die Frau 
Czaczkes fiirchterlich, und der Gendarm hielt sie an der Kette fest, 
wahrend Eibenschiitz die Waagen und Gewichte kontrollierte, an 
verschiedenen Standen. Er kontrollierte fliichtig und hastig. Es wi- 
dersprach seinem soldatischen und seinem beamtlichen Gewissen, 
aber was hatte er tun sollen? Die Frau schrie, das Volk der Handler 
benahm sich bedrohlich. Er wollte hurtig sein und dennoch gewis- 
senhaft. Er wollte mitleidig, nachsichtig sein, und die Frau schrie 
dennoch, und aufterdem lautete es fortwahrend in den Ohren: die 
Ohrringe der Euphemia. Schlieftlich bat er den Wachtmeister Slama, 
die Frau Czaczkes freizulassen. »Wenn Sie nicht mehr schreien«, 
sagte Slama zur alten Handlerin, »lasse ich Sie frei, wollen Sie?« Ja, 
freilich wollte sie. Sie wurde freigelassen. Und sie rannte davon, den 
Weg zuriick, mit flatternden Armen. Sie glich einem Kranich. 
Schlieftlich gelangte Eibenschiitz vor den Bottich Jadlowkers. »Was 
machen Sie hier?« fragte er. »Haben Sie auch eine Konzession, Fi- 
sche zu verkaufen?« »Nein«, sagte Jadlowker, und sein ganzes brei- 
tes Angesicht lachelte, es war, als lachelte irgendeine kleine, sehr 



164 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

hafiliche Sonne, eine Sonne der Hafilichen. »Nein«, sagte Jadlowker, 

»ich vertrete nur einen Freund, meinen Freund, den Fischhandler 

Schacher.« 

»Papiere?« fragte der Eichmeister. - Er wufite nicht, weshalb ihn 

plotzlich ein so heftiger Zorn gegen den armen Leibusch Jadlowker 

ergrfffen hatte. 

»Sie haben nur Gewichte zu priifen!« sagte Jadlowker, der sich in den 

Gesetzen auskannte. »Sie haben nicht das Recht, nach Papieren zu fra- 

gen!« 

»Sie leisten Widerstand!« sagte der Eichmeister Eibenschiitz. Er wufite 

nicht, weshalb er den Leibusch Jadlowker so hafite. Er wufite nicht, 

warum er immerfort im Herzen, im Gehirn, iiberall, das gefahrliche 

Klingeln der Ohrringe horte. 

Bei dem Wort »Widerstand« trat der Wachtmeister naher. »Wo kom- 

men Sie her?« fragte er den Jadlowker. 

»Ich habe die Grenzschenke in Szwaby«, antwortete Jadlowker, »Das 

weifi ich«, sagte der Wachtmeister Slama. »Ich war schon in Ihrer 

Schenke. Jetzt reden wir dienstlich. Keine Vertraulichkeiten: verstan- 

den?« 

Er stand da, der Wachtmeister Slama, im Abendschein. Die Sonne 

schickte noch den lezten Rest ihrer Kraft iiber den Marktplatz. Sie 

vergoldete auch eine Wolke, die iiber dem Platz dahinschwebte, und 

erweckte zugleich ein gefahrliches Funkeln in der Pickelhaube des 

Gendarmen. Auch sein Bajonett blitzte. 

Man weift nicht, was damals in Leibusch Jadlowker vorging. Er sturzte 

sich plotzlich auf den Gendarmeriewachtmeister, das Fischmesser in 

der Hand. Er stiefi wiiste Verwiinschungen gegen den Kaiser, gegen 

den Staat, gegen das Gesetz und sogar gegen Gott aus. 

Der Eichmeister Eibenschiitz und der Wachtmeister Slama uberwaltig- 

ten ihn endlich. Der Wachtmeister holte diesmal die wirklichen Ketten 

aus der Diensttasche: brave, biedere Ketten. 

So fuhrten sie den Mann nach Zloczow ins Bezirksgefangnis, 

Von Szwaby war keine Rede mehr. Immer noch klang in den Ohren 

des Eichmeisters das sachte Klingeln der Ohrringe der Frau Euphemia. 



DAS FALSCHE GEWICHT 165 

XVII 

In Zloczow hatten der Eichmeister Eibenschutz und der Wachtmeister 
Slama sehr viel und sehr Unangenehmes zu besorgen. Ganz ermattet 
von der Reise, kamen sie an. Es war sehr schwer gewesen, den wilden 
und ziemlich gewichtigen Leibusch Jadlowker, obwohl er gefesselt 
war, in den Wagen zu bringen. Der Gendarm mufite ihm audi die 
Fiifte fesseln. Unterwegs spie Jadlowker bald dem Gendarmen, bald 
dem Eichmeister ins Gesicht. Er safi eingeklemmt zwar zwischen den 
beiden, aber er war kraftiger als beide Manner, und er stiefi gegen sie 
mit dem Ellenbogen dermaften heftig, dalS sie beide fiirchten mufiten, 
von dem kleinen Wagelchen hinunterzuf alien. Nach drei Stunden 
solch muhseliger Fahrt kamen sie endlich in Zloczow an. Der 
Gendarm Slama pfiff, und zwei Gemeindepolizisten und noch ein 
Gendarm kamen, um die Einlieferung des Leibusch Jadlowker zu be- 
werkstelligen. Es war bereits sechs Uhr abends, als sie alle keuchend, 
verschwitzt das Bezirksgericht erreichten. Der Untersuchungsrichter 
war schlechter Laune und hatte gerade SchluE gemacht und wollte 
nach Hause gehen. Er nahm trotzdem ein fluchtiges Protokoll auf. Er 
bestellte den Wachtmeister Slama und den Eichmeister Eibenschutz 
fur den nachsten Morgen. Sie verbrachten die Nacht schlaflos in einem 
Schuppen in der Herberge »Zur goldenen Krone«, wo alle Zimmer 
besetzt waren und wo man Beamte ohnehin nicht gerne sah und beher- 
bergte. 

Am nachsten und auch am ubernachsten Tage gab es nichts anderes als 
Protokolle, Vernehmungen und wieder Protokolle. Es ging dem Eich- 
meister Eibenschutz nicht gut, gar nicht gut. Er hatte das Gefuhl, daft 
er eine grofte und schwere Sache erlebt habe, und was hatte es ihn 
eigentlich bekummern miissen? Was ging ihn eigentlich der Jadlowker 
an? Gewift, man war ein Mensch, man brachte nicht gern jemanden ins 
Unglikk! Das sagte sich auch der Eichmeister Eibenschutz, und das 
sagte er auch dem Wachtmeister Slama. War es nicht moglich, die 
ganze Angelegenheit noch ungeschehen zu machen? »Nein, es ist nicht 
moglich«, sagte Slama. Die Protokolle, der Untersuchungsrichter, all 
die Verhore und schlieftlich das Gestandnis Jadlowkers selbst, daft er 
Gott gelastert hatte und, was noch schlimmer war, den Staat und seine 
Beamten. 
Unterwegs, als sie so briiderlich zuruckfuhren nach Zlotogrod, der 



l66 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Eichmeister und der Wachtmeister, stieg in Eibenschiitz ein leiser 
Neid gegen den Gendarmeriewachtmeister Slama auf, der so selbstver- 
standlich alles nahm, was ihm in den Weg gekommen war. Er kannte 
die Gesetze genausogut wie der Eichmeister. Auch er, der Slama, 
mufite wissen, dafi auf Gotteslasterung und Beamtenbeleidigung min- 
destens zwei Jahre Zuchthaus standen. Aber was machte sich der 
Slama daraus? Und das Merkwiirdige bestand eben darin, dafi sich der 
Slama nidus daraus machte. 

Der Abend dammerte schon, als sie auf die breite Landstrafte nach 
Zlotogrod einbogen. Ein sachtes Windchen wehte dem Wagelchen 
entgegen und kammte die Mahne des Schimmels. Knapp drei Kilome- 
ter vor Zlotogrod gab es einen abzweigenden Landweg, der fiihrte 
nach dem Grenzwaldchen. Nach dem Grenzwaldchen, das hiefi auch 
nach Szwaby, zur Grenzschenke. Der Eichmeister, der die Ziigel hielt, 
verlangsamte den Lauf. Er wartete, bis es ganz dunkel wurde, dann 
sagte er; »Wie ware es, wenn wir nach Szwaby fiihren? Dann konnten 
wir der Euphemia berichten, was mit Jadlowker passiert ist. Es ware 
eigentlich nur eine menschliche Tat.« 

Dem Wort »menschliche Tat« konnte der Wachtmeister der Gendar- 
merie nicht widerstehen. Und obwohl der seine Frau wiedersehen 
wollte und obwohl er morgen schon seinen neuen Dienstweg hatte, 
sagte er: »Gut, nach Szwaby also!« 

Eibenschiitz und Slama hatten sich gerade an den Tisch gesetzt, als 
Euphemia herankam. Sie blieb stehen, sie stiitzte sich mit beiden Fau- 
sten auf den Tisch, sie sah abwechselnd den Eichmeister und den 
Wachtmeister an und sagte: »So habt ihr ihn also hingerichtet. Und ihr 
kommt noch hierher!« - Sehr leise sagte sie das. Sie wandte sich um 
und ging weg, kehrte aber sofort um, setzte sich an den Tisch und 
schnalzte mit den Fingern und bestellte zu trinken. Von ungefahr be- 
gegnete ihr Knie unter dem Tisch dem Knie des Eichmeisters. Im Nu 
zog er es zuriick, aber er wulke auch sofort, daft er damit nichts aus der 
Welt schaffte. Geschehen war geschehen! Jetzt horte er deutlich das 
goldene Klirren der Ohrringe, es klingelte draufkn, es klingelte auch 
drinnen in seinem Herzen. Er sagte laut: »Nun, jetzt sind Sie uns nicht 
mehr bose! Der Jadlowker wird Zuchthaus bekommen! Aber er ist 
selber schuld!« Es war ihm, wahrend er so oben iiber dem Tisch daher- 
redete, als ware er zwei, ein oberer und ein unterer Eibenschiitz. Oben 
trank und sprach er. Unten aber, im guten Dunkel unter dem Tisch 



DAS FALSCHE GEWICHT l6j 

und unter dem Tischtuch, suchte sein sehnsiichtiges Knie die neuerli- 

che Beruhrung mit Euphemia. Er streckte zage einen Fuft vor, aber er 

traf nur den Stiefel des Wachtmeisters, sagte »Pardon!« und sah aus 

den Augenwinkeln, wie Euphemia lachelte. Das verwirrte ihn zwar, 

gab ihm aber auch etwas Mut ein. Also sagte er: »Es tut uns beiden 

sehr leid, Frau Euphemia. Wir konnten aber nicht anders. Es tut uns 

besonders leid, weil Sie jetzt so allein bleiben!« 

»Ich glaube nicht, daft ich lange allein bleibe«, antwortete sie, »zumin- 

dest Sie beide werden sich meiner annehmen.« Dabei sah sie nur den 

Eichmeister an. 

Sie erhob sich und ging der Treppe zu, die Treppe hinauf. Durch alien 

Larm der Schenke horte man noch das leise, siifte Rascheln ihres viel- 

gefaltelten, breiten dunkelroten Rocks. 

Es war spate Nacht, als sie nach Hause fuhren, nach Zlotogrod, der 

Eichmeister und der Gendarm. 

Unterwegs sagte Slama: »Die hatte ich auch gerne!« 

»Ich auch!« sagte Eibenschiitz und bereute es sofort. 

»Haben Sie sie denn noch nicht?« fragte der Gendarm. 

»Was fallt Ihnen ein?« sagte der Eichmeister. 

»Ach, und warum nicht?« sagte der Gendarm. 

»Ich weift nicht«, sagte Eibenschiitz. 

»Auf jeden Fall«, schloft der Gendarm, »ist es gut, daft wir ihn los sind, 

den Jadlowker. Ich schatze: zwei Jahre!« 

Eibenschiitz knallte aus Verlegenheit mit der Peitsche. Der Schimmel 

setzte sich in Galopp. Das Wagelchen glitt weich und hurtig durch den 

feuchten, sandigen Boden des Landweges. Die Sterne glanzten machtig 

und still. Das Windchen wehte. Der Schimmel schimmerte im Dunkel- 

blau der Nacht vor den Augen des Eichmeisters Eibenschiitz. 

Zwei Jahre - dachte er - zwei Jahre Gliick sind ein Leben wert, zwei 

Leben, drei Leben. Er horte das sanfte Klingeln. 



XVIII 

In Zloczow machte man dem Jadlowker keineswegs einen kurzen Pro- 
zeft, wie man sagt, sondern, im Gegenteil, einen sehr langen. Ange- 
klagt war er wegen Ehrenbeleidigung, wegen Amtsbeleidigung, wegen 
gewalttatigen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und, was das 



ROMANE UND ERZAHLUNGEN 



schlimmste war, wegen Gotteslasterung. Der Prozefi dauerte so lange, 
weil die Richter des Landesgerichts lange schon keinen so interessan- 
ten Prozefi gehabt hatten. Die Bezirksgerichte jener Gegend hatten viel 
zu tun. Lappalien und Prozesse. Der hatte jenem kein Geld gezahlt. 
Jener hatte den geohrfeigt. Die Bezirksgerichte in jener Gegend hatten 
viel zu tun. Denn es gab zum Beispiel Menschen, eine gewisse Sorte 
von Menschen, die sich ohrfeigen liefien, freiwillig und mit Wonne. Sie 
besafien die grofie Kunst, ein paar Manner, die ihnen aus dem oder 
jenem Grunde bose gesinnt waren, so lange zu reizen, bis sie Ohrfei- 
gen bekamen. Hierauf gingen sie zum Bezirksarzt. Der stellte fest, dafi 
man ihnen weh getan hatte, und manchmal auch, dafi ihnen ein Zahn 
ausgef alien war. Das nannte man: »Visum rapport«. Hierauf klagten 
sie. Sie bekamen Recht und Entschadigung. Und davon lebten sie jah- 
relang. 

Dies nur nebenbei. Das war auch nur die Sache der Bezirksgerichte. 
Die Landesgerichte aber hatten beinahe gar nichts zu tun in jener Ge- 
gend. Wenn ein Mord oder gar ein Raubmord vorkam, so wurde er 
von der Polizei nicht aufgedeckt. Aber es gab iiberhaupt wenig Morder 
oder gar Raubmorder in jener Gegend. Es gab nur Betriiger. Und da 
sie fast alle Betriiger waren, zeigte keiner den andern an. Das Landes- 
gericht hatte also so wenig zu tun, daft es das Bezirksgericht nahezu 
beneidete. Also war es froh, als es den Fall Jadlowker zu behandeln 
hatte. 

Vor allem gait es, viele Zeugen zu vernehmen. Denn alle Inhaber der 
Standplatze auf dem Markt meldeten sich als Zeugen. Sie bekamen 
namlich die Hin- und Riickreise bezahlt und aufierdem die Zeugenge- 
biihr, eine Krone, sechsunddreifiig Heller, 

Da sie der Meinung waren, dafi sie die voile Zeugengebiihr nicht erhal- 
ten konnten, wenn sie etwas Giinstiges fur den Angeklagten Jadlowker 
aussagen wurden, sagten sie nur Ungiinstiges. Sogar die Frau Czacz- 
kes, die doch eigentlich den ganzen Prozefi verursacht hatte, sagte aus, 
sie sei vom Eichmeister Eibenschikz sowohl als auch vom Gendarme- 
riewachtmeister Slama aufierst giitig und menschlich behandelt wor- 
den. 

Der Staatsanwalt erhob die Anklage wegen Widerstandes gegen die 
Staatsgewalt und wegen Gotteslasterung. 

Der Eichmeister Eibenschutz und der Wachtmeister der Gendarmerie 
hatten es unter Diensteid bestatigt. 



DAS FALSCHE GEWICHT 169 

Der Verteidiger Jadlowkers dagegen gab den Geschworenen zu beden- 

ken, daft ein Eichmeister, eigentlich ein Angestellter der Gemeinde, 

kein Recht hatte, den Jadlowker nach der Konzession zu fragen. Fer- 

ner hatte sich der Eichmeister an der Person des Jadlowker vergriffen, 

indem er sich anmaftte, ihn zu verhaften und ihn sogar zu fesseln. Drit- 

tens ferner hatte Jadlowker mit seiner Gotteslasterung gar nicht Gott 

im allgemeinen, den allmachtigen Gott gemeint, sondern den Gott im 

besonderen: namlich den Gott der Beamten: »Euer Gott!« hatte er 

gesagt. 

Es erwies sich aber leider aufterdem, daft Jadlowker aus Odessa ge- 

fluchtet war und daft er einst, vor vielen Jahren, einen Mann mit einem 

Zuckerhut erschlagen hatte. 

Fur den Gang der Gerichtsverhandlung unbedeutend, wenn auch nicht 

ohne Eindruck, war die Zeugenaussage der Freundin Jadlowkers, des 

Fraulein Euphemia Nikitsch. Die Feierlichkeit des Gerichts verhin- 

derte sie nicht, mit einer geradezu maliziosen Freundlichkeit auszusa- 

gen, daft sie ihren Freund, den Leibusch Jadlowker, immer schon fur 

einen jahzornigen und vor allem unglaubigen Menschen gehalten 

hatte. 

Ohnmachtig, zwischen zwei Wachtern, safi der arme Jadlowker auf 

der Anklagebank. Nicht nur, daft er sich nicht verteidigte, es fiel ihm 

auch gar nicht ein, daft er sich uberhaupt verteidigen konnte. Man 

hatte sein ganzes Leben durchstobert. Man hatte herausgebracht, daft 

er aus Ruftland eingewandert war. Man hatte ferner herausgebracht, 

daft er einst, vor vielen Jahren, einen Mann in Odessa umgebracht 

hatte, mit einem Zuckerhut. 

Er aber hatte mehrere und nicht einen umgebracht, und deshalb 

schwieg er. Er hieft auch gar nicht Jadlowker, sondern Kramrisch. Er 

hatte nur die Papiere und selbstverstandlich auch den Namen eines 

seiner Opfer angenommen. 

Man verurteilte ihn schlieftlich zu zwei Jahren Zuchthaus, verscharft 

durch einen Fasttag in der Woche, am Freitag, an dem er seine Missetat 

begangen hatte. 

Still und entschlossen Heft er sich abfiihren. 



170 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XIX 

Dem Eichmeister Eibenschutz aber war es, als hatte man ihn und nicht 
den Leibusch Jadlowker verurteilt. Weshalb - das wufite er nicht, das 
wufite er keineswegs. Er nahm sich vor, niemals mehr nach der Grenz- 
schenke zu gehen. Er sah sich trotzdem um, nach der Frau Euphemia. 
Aber sie war verschwunden, auf eine merkwiirdige Weise verschwun- 
den. 

Er fuhr sehr schweigsam mit dem Wachtmeister Slama nach Hause. 
Der Weg war weit, etwa dreizehn Kilometer. Unterwegs schwieg der 
Eichmeister, obwohl der Gendarm oft und oft Anstalten machte zu 
reden. Den Wachtmeister Slama namlich hatte der Prozefi aufierst 
munter gemacht, den Eichmeister Eibenschutz indessen aufierst nie- 
dergeschlagen. 

Er befand sich in einer seltsamen Verfassung, der Anselm Eibenschutz: 
Er gedachte mitleidig, ja mit wahrer Trauer des armen Jadlowker; zu- 
gleich aber auch konnte er sich nicht verhehlen, daft ihm die zwei Jahre 
Zuchthaus, die Jadlowker bekommen hatte, eigentlich sehr froh mach- 
ten. Er wufite nicht genau, warum, oder er wufite eigentlich genau, 
warum, und er wollte es sich nur nicht zugestehen. 
Er kampfte mit sich selbst dariiber, ob er es sich, namlich sein genaues 
Wissen, zugestehen sollte oder nicht. Allerhand torichtes Zeug schien 
unterwegs der Gendarmeriewachtmeister Slama zu reden. Niemals 
vorher - so schien es Eibenschutz - hatte Slama soviel Torheiten ge- 
sagt. 

Der Abend war schon eingebrochen. Sie rollten dahin auf der breiten, 
sandigen Landstrafie zwischen zwei Waldern. Sie rollten dahin in 
westlicher Richtung. Die untergehende Sonne, rotlich und gutig, 
schimmerte ihnen geradewegs in die Augen und blendete sie. An bei- 
den Seiten des Weges leuchteten die Tannen der Waldrander, gleich- 
sam von innen heraus, als hatten sie das rotliche Gold der Sonne 
getrunken und strahlten es jetzt aus. Man horte das unermtidliche Pfei- 
fen, das Trillern, das Zwitschern, das Flo ten der Vogel, und man roch 
den scharfen Harzgeruch, den unerbittlichen sufien und herben, der 
den beiden unendlichen Waldern entstromte. Dieser Duft war scharf 
und sufi und bitter zugleich. Den Eichmeister Eibenschutz erregte er, 
und er streichelte sanft mit der Peitsche die rechte Flanke des Schim- 
mels, um ihn anzutreiben. Wozu antreiben? Wo jagte er dahin? Nach 



DAS FALSCHE GEWICHT TJl 

Hause? Hatte er ein Haus? Hatte er noch em Haus? Kreischte nicht 
ein fremder Saugling durch sein Haus? Der Saugling Nowak? - Ach, 
was weifl ein armer Eichmeister! Nackt, ganz nackt kam sich Eiben- 
schutz vor, es war ihm, als hatte ihn das Schicksal ausgezogen. Er 
schamte sich, und das schlimmste war, dafi er eigentlich nicht wufite, 
weshalb er sich schamte. Hatte er friiher den Schimmel angetrieben, so 
bermihte er sich jetzt, seinen Galopp zu ziigeln. Schon glanzten die 
Sterne am Himmel, sehr fern und ganz unverstandlich. Von Zeit zu 
Zeit warf Eibenschutz einen Blick empor. Er versuchte, sich einen 
Trost zu holen, er biederte sich ihnen an gewissermafien. In friiheren 
Jahren hatte er sie niemals beachtet, geschweige denn geliebt. Jetzt war 
es ihm auf einmal, als hatten sie immer teilgenommen an seinem Le- 
ben, von feme zwar, aber immerhin teilgenommen, wie manchmal 
sehr entfernte Verwandte. 
Nun erreichten sie das Stadtchen Zlotogrod. 
»Soll ich Sie absetzen?« fragte Eibenschutz den Gendarmen. 
»Ja gewifi«, sagte der Wachtmeister, »ich bin mude.« 
Der Gendarmeriewachtmeister Slama wohnte am Rande von Zloto- 
grod, dorr, wo der Weg nach Szwaby abzweigte. Eine verwitterte 
Holztafel zeigte mit einem weifkn Pfeil den Weg nach Szwaby an, der 
weifte Pfeil leuchtete, grell beinahe, durch die hellblaue Nacht. 
Der Eichmeister Eibenschutz verabschiedete sich von dem Gendar- 
men. 

Er wollte eigentlich nach Hause fahren, der Eichmeister. Aber der 
Pfeil, der Pfeil, der leuchtete zu sehr. Und also lenkte Eibenschutz sein 
Wagelchen nach Szwaby in die Grenzschenke. 



XX 

Auf die Grenzschenke hatte Jadlowker mehrere Hypotheken aufge- 
nommen. Das stellte sich jetzt heraus. Sofort, nachdem er verurteilt 
word en war, erhob sich im Stadtchen Zlotogrod und iiberhaupt im 
ganzen Bezirk die Frage, wer die Grenzschenke in Szwaby iiberneh- 
men sollte - vorubergehend, versteht sich, offiziell voriibergehend - in 
Wirklichkeit aber fur immer. Denn die Grenzschenke war ein gutes 
Geschaft, und seit langem schon beneidete man den Leibusch Jadlow- 
ker um ihren Besitz. Heute abend versammelten sich die funf Hypo- 



172 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

thekenglaubiger, ohne daft sie sich verabredet hatten, in der Grenz- 
schenke in Szwaby. Alle fiinf kamen sie beinahe zu gleicher Zeit, alle 
fiinf waren sie erschrocken, einander hier zu treffen, Der Reichste un- 
ter ihnen war Kapturak. 

Er war es, der die Deserteure heranfiihrte, er handelte ja mit ihnen. Er 
allein wuftte, was die Geschafte der Schenke genau eintrugen, er war es 
auch, der jenseits der Grenze, auf dem russischen Gebiet, eine ebensol- 
che Schenke besafi. Die anderen Hypothekenglaubiger aber waren 
Laien: ein Korallenhandler namens Piczenik; ein Fischhandler namens 
Balaban; ein Droschkenkutscher namens Manes; und ein Milchhandler 
namens Ostersetzer. 

Alle vier waren weit weniger klug als der kleine Kapturak. Fraulein 
Euphemia Nikitsch saft am Tisch, sie gehorte zum Gasthof, auch auf 
sie bezogen sich die Hypotheken. Alle fiinf Glaubiger sahen sie zwar 
nicht an, wahrend sie unterhandelten, aber alle fiinf wuftten, daft sie da 
sei, vorhanden sei und daft sie zuhore. Alle fiinf gefielen ihr nicht, 
nicht der allzu diirre Piczenik, nicht der allzu dicke Balaban; nicht der 
Grobian, der Kutscher Manes; und nicht der Ostersetzer, weil er pok- 
kennarbig war und sein Bart sparlich und karglich wie der Bart eines 
Ziegenbocks. Am besten gefiel ihr noch, der Euphemia, der winzige 
Kapturak. War er auch klein und hafilich, so war er doch schlauer und 
reicher als die anderen. Neben ihn setzte sie sich. Man trank auf das 
Wohl des verurteilten Jadlowkers. Alle stiefien mit den Glasern an. 
In diesem Augenblick vernahm man das Klingeln eines Wagens, und 
Euphemia wuftte sofort, daft es der Wagen des Eichmeisters war. Sie 
erhob sich. In Wahrheit liebte sie ihn. Sie liebte auch das Geld, die 
Sicherheit, die Schenke, den Laden, der an sie angeschlossen war, und 
auch den armen Jadlowker, der jetzt im Zuchthaus saft, aber diesen nur 
in Erinnerung an die guten Stunden, die sie mit ihm genossen hatte. 
Denn ein dankbares Gemiit hatte sie, wie so viele leichtfertige Men- 
schen. Erinnerungen machten sie iiberhaupt wehmutig und zartlich. 
Sie sprang auf, als sie den Wagen des Eichmeisters horte. 
Schon trat er ein, groft und stattlich wie er war, fast war es, als wiirden 
alle anderen ausgeloscht. Sein buschiger, blonder, geradezu wuchtiger 
Schnurrbart glanzte starker als die drei Petroleumlampen in der Mitte 
des Zimmers. Auch alle fiinf Glaubiger sprangen auf. Er begriifite sie 
kaum. Er setzte sich einfach hin, bewuftt seiner Macht und so, als 
stiinde hinter ihm, unsichtbar, aber immer gegenwartig, der Wacht- 



DAS FALSCHE GEWICHT 173 

meister der Gendarmerie Slama, mit aufgepflanztem Bajonett und mit 
der schimmernden Pickelhaube. 

Das Gesprach erlosch. Bald erhoben sich die Hypothekenglaubiger 
und gingen. Sie sahen verpriigelt aus, und sie erinnerten an Hunde. 



XXI 

Man mufi wissen, dafi die Grenzschenke in Szwaby keine gewohnliche 
Schenke war. Um diese Grenzschenke kummerte sich sogar der Staat. 
Es war offenbar fur den Staat wichtig zu wis sen, wie viele und welche 
Deserteure aus Rutland jeden Tag ankamen. 

Eines Tages kiimmert sich der Staat um dieses und morgen um jenes. 
Er kiimmert sich sogar um die Gefliigelware der Frau Czaczkes; um 
die Gewichte des Balaban; um die schulpflichtigen Kinder Nissen Pic- 
zeniks; um die Impfungen kiimmert sich der Staat, um die Steuern, um 
die Trauungen und um die Scheidungen, um die Testamente und Hin- 
terlassenschaften, um die Schmuggelei und um die Goldfalscher. Wes- 
halb sollte er sich nicht um die Grenzschenke Jadlowkers kiimmern, in 
der alle Deserteure zusammenlaufen? Die Bezirkshauptmannschaft 
hatte ein politisches Interesse daran, die Grenzschenke wohl iiber- 
wacht zu wissen. Sie wandte sich dessentwegen an die Gemeinde Zlo- 
togrod. Und die Gemeinde ZIotogrod bestimmte als vorlaufigen Ver- 
walter der Grenzschenke den Eichmeister Eibenschiitz. 
Die Folge davon war, dafl der Eichmeister Eibenschiitz eine grofie 
Freude empfand und zugleich eine grofie Verlegenheit. Er freute sich, 
und er wufke nicht, warum. Er hatte Angst, und er wufite nicht, wo- 
vor. Als er das Papier erhielt mit der Aufschrift »Streng vertraulich«, in 
dem er von der Gemeinde auf Veranlassung der politischen Behorde 
gebeten wurde, »wahrend der Abwesenheit des Gastwirtes und Ge- 
mischtwarenhandlers Leibusch Jadlowker die Aufsicht iiber dessen 
Wirtschafts- wie sonstigen Betrieb zu iibernehmen«, glaubte er, ein 
Gluck und ein Ungliick hatten ihn zu gleicher Zeit betroffen, und ihm 
war zumute wie etwa einem Manne, der traumt, er stande auf weitem, 
freiem Felde, ausgeliefert zwei Winden zugleich, einem Nordwind und 
einem Siidwind. Das bittere Leid und die siifte Freude atmeten ihn 
gleichzeitig und heftig an. Er konnte das Ansinnen der Gemeinde be- 
ziehungsweise der Bezirkshauptmannschaft freilich ablehnen. In dem 



174 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Schreiben hiefi es: »Es bleibt Ihnen anheimgestellt, auf den Vorschlag 
zustimmend oder ablehnend Bericht zu erstatten.« Dadurch war die 
Lage des Eichmeisters noch schwieriger geworden. Er war nicht ge- 
wohnt zu entscheiden. 2 wolf Jahre hatte er gedient. Er war gewohnt zu 
gehorchen. Ware er doch in der Kaserne, bei der Armee geblieben! 
Er ging ganz langsam, den Hut in der Hand und mit gesenktem Kopf, 
nach Hause. Er hatte lange Zeit, er bildete sich ein, der Weg sei langer 
als gewohnlich. Merkwiirdigerweise empfand er keinen Widerwillen 
gegen sein Haus und das, was es barg: seine Frau und den Bankert. Er 
hatte das Kind, seit jenem Abend, an dem es ihm die Hebamme entge- 
gengebracht hatte, nie mehr gesehen. Auch seine Frau zeigte sich nicht 
in den Stunden, in denen er zu Hause wan Er horte nur manchmal 
durch die geschlossene Tur das Kreischen des Kindes. Es berekete ihm 
eine besondere Freude, es storte ihn keineswegs, seltsamerweise. Er 
schmunzelte sogar vor sich hin, wenn er das Kleine so schreien horte. 
Wenn er schrie, der Kleine, so war es ein Zeichen, dafi er sich argerte. 
Auch seine Mutter argerte sich, auch das Dienstmadchen Jadwiga ar- 
gerte sich. Sie soil ten sich nur alle argern! 

Heute abend drang kein Laut durch die geschlossene Tur. Das Dienst- 
madchen Jadwiga kam wortlos herein, sie brachte die Suppe und das 
Fleisch gleichzeitig - denn Eibenschiitz hatte ihr verboten, zweimal im 
Laufe eines Abends ins Zimmer zu kommen. Er afi hastig und liefi die 
Halfte stehen. Er vermilke das Heulen des Kindes und den beruhigen- 
den Gesang seiner Frau. 

Er zog wahrend des Essens das streng vertrauliche Schreiben aus der 
Tasche und iiberlas es noch einmal. Eine Zeitlang glaubte er, aus den 
Worten, aus den Buchstaben sogar wiirden neue Moglichkeiten, neue 
Deutungen kommen. Nachdem er aber das Schreiben ein paarmal gele- 
sen hatte, muftte er sich sagen, daE es nichts Geheimnisvolles enthielt 
und keinen verborgenen Nebensinn. 

Er mufite sich entscheiden, es war kein Zweifel. Noch standen die Tel- 
ler vor ihm, halbgefullt, zuriickgeschoben und verschmaht. Schon er- 
hob er sich. In den Schuppen ging er und rollte das Wagelchen in den 
Hof, hierauf in den Stall, um den Schimmel Jakob loszubinden. 
Er spannte ein, er fuhr los. Er saft ruhig, die Hande im Schoft auf dem 
Bock. Die Ziigel lagen locker iiber dem Riicken des Gauls; ihr Ende 
war umgeschlungen um die Kurbel der Bremse. Die Peitsche lehnte 
links im ledernen Behalter. 



DAS FALSCHE GEWICHT 175 

Der Schimmel brachte ihn, ohne Zugel, ohne Peitsche, ohne Zuruf in 

angemessener Zeit nach Szwaby, unmittelbar vor die Tiir der Grenz- 

schenke. 

Eibenschiitz fragte sofort nach der Frau Euphemia. Er setzte sich 

nicht, es erschien ihm notwendig, eine Art dienstlicher Haltung einzu- 

nehmen, als ware er mit dem festen Entschlufi hierhergekommen, die 

Leitung der Wirtschaft zu iibernehmen. Dienstliche Haltung - sagte er 

sich-, und er blieb am Ende der Treppe stehen, den Hut auf dem 

Kopfe. Es dauerte, bevor sie herunterkam. Nach einer langen Weile 

horte er auf der Treppe ihren Absatz. Er blickte nicht empor, aber er 

glaubte, deutlich ihren Fufi zu sehen, den schmalen, langen Fuft in den 

schmalen, langen Schuhen. Schon rauschte ihr vielgefalteltes weinrotes 

Kleid. Auf den harten, holzernen, unbedeckten Stufen scholl ihr har- 

ter, fester, gleichmafiiger Schritt. Eibenschiitz wollte nicht hinaufse- 

hen. Viel lieber war es ihm, wenn er sich vorstellte, wie sie ging und 

wie sich die vielen, vielen zarten Falten ihres Kleides bewegten. Noch 

viel mehr Stufen hatte die Treppe haben miissen. Jetzt war sie unten, 

jetzt stand sie schon vor ihm. Er nahm den Hut ab. 

Er sagte, ohne sie genau anzusehen, iiber ihren Kopf hinweg, aber so, 

daft er den blauschwarzen Schimmer ihrer Haare allzu deutlich wahr- 

nahm: »Ich habe Ihnen etwas Besonderes zu sagen!« 

»Sagen Sie es doch!« 

»Nein, etwas ganz Besonderes! Nicht hier!« 

»Gehn wir also hinaus«, sagte sie und schritt voran zur Tiir. 

Der Mond stand grofi und milde iiber dem Hof. 

Der Hund bellte unermiidlich. Der Schimmel stand da, an die Hoftiir 

angebunden, und hielt den Kopf gesenkt, als dachte er nach. Es roch 

betaubend sufi nach Akazien, und es war Eibenschiitz, als kamen alle 

Geriiche dieser Friihlingsnacht von der Frau allein, als hatte sie allein 

dieser ganzen Nacht Diifte und Glanz und Mond zu vergeben und alle 

Akazien der Welt. 

»Ich bin hier dienstlich heute«, sagte er. »Ich vertraue Ihnen, deshalb 

sage ich es Ihnen, Euphemia«, setzte er nach einer Weile hinzu. »Es 

darf keiner der Glaubiger in dieses Haus. Ich bin beauftragt, es zu 

verwalten und zu beaufsichtigen. Wenn Sie wollen, werden wir uns gut 

vertragen.« 

»Natiirlich«, antwortete sie, »warum sollten wir uns nicht grofiartig 

vertragen?« 



Ij6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Es schien dem Eichmeister, dafi ihre Stimme im silbernen Blau der 
Nacht anders klinge als in der Wirtsstube. Die Stimme war laut, klar und 
sanft, sie hatte gleichsam Wolbungen, Bogen, Eibenschutz glaubte, die 
Stimme sehen und beinahe greifen zu konnen. Bald hatte er die Emp- 
findung, sie wolbte sich liber seinem Kopfe und er stiinde hart unter 
ihr. 

Erst eine gute Weile, nachdem sie verklungen war, begriff er, was die 
Stimme gesagt hatte. Sie wiirden sich vertragen. Sie wiirden sich vertra- 
gen. Warum denn nicht? 

»Es ist streng vertraulich«, sagte er. »Verstehen Sie? Werden Sie kei- 
nem ein Wort sagen?« 

»Niemandem ein Wort«, sagte sie und streckte ihm die Hand entge- 
gen, eine weifie, schimmernde Hand. Es war, als schwamme sie durch 
die silberblaue Nacht. 

Er wartete eine Weile, er sah die schimmernde Hand sehr lange an, 
bevor er sie nahm. Sie war kalt und warm zugleich, es schien ihm, sie 
sei innen heifi und ihr Rucken kalt. Er behielt das weifte, schimmernde 
Ding eine langere Weile. Als er es losliefi, lachelte Euphemia. Man sah 
deutlich im Blau der Nacht ihre blanken Zahne. 

Sie wandte sich schnell um, und ihr vielgefaltelter Rock rauschte, ganz 
sachte. Das Kleid hatte ein eigenes Leben, eine Art lebendiges Zauber- 
zelt war es. Es sauselte, es rauschte. 

Als der Eichmeister in die Schenke zuriickkehrte, safien der Wacht- 
meister Slama und der Gauner Kapturak an einem Tisch und spielten 
Tarock. Eibenschutz setzte sich zu ihnen. 

»Armer Mann, der Jadlowker«, sagte Kapturak, »was, Herr Eichmei- 
ster?* 

Eibenschutz antwortete nichts, aber der Gendarm Slama sagte unge- 
duldig: »Sie werden wir auch noch erwischen, Herr Kapturak! Noch 
eine Partie gefallig?« 



XXII 

Die meisten sterben dahin, ohne von sich auch nur ein Kornchen 
Wahrheit erfahren zu haben. Vielleicht erfahren sie es in der anderen 
Welt. Manchen aber ist es vergonnt, noch in diesem Leben zu erken- 
nen, was sie eigentlich sind. Sie erkennen es gewohnlich sehr plotzlich, 



DAS FALSCHE GEWICHT 177 

und sie erschrecken gewaltig. Zu dieser Art Menschen gehorte der 
Eichmeister Eibenschiitz. 

Der Sommer kam plotzlich, ohne Ubergang. Er war heift und trocken, 
und wenn er hie und da ein Gewitter gebar, so verging es schnell und 
hinterlieft eine noch heftigere Hitze. Das Wasser wurde sparlich, die 
Brunnen versiegten. Das Gras auf den Wiesen wurde fruh gelb und 
welk, und selbst die Vogel schienen zu verdursten. Sie waren zahlreich 
in dieser Gegend. Jeder Sommer noch, den Eibenschiitz hier verbracht 
hatte, war erfullt gewesen von ihrem heftigen, schmetternden Gesang. 
In diesem Sommer aber vernahm man sie nur selten, und der Eichmei- 
ster bemerkte zu seinem Erstaunen, dafi er ihren Gesang vermifke, 
Wann hatte er jemals etwas auf den Gesang der Vogel gegeben? 
Warum empfand er auf einmal alle Veranderungen in der Natur? Was 
war ihm denn die Natur sein Leben lang gewesen, dem Feuerwerker 
Eibenschiitz? Klare Sicht oder schwache Sicht. Ein Exerzierplatz. 
Mantel anziehn oder umschnallen. Ausriicken oder nicht ausriicken. 
Die Laufe der Karabiner zweimal am Tag putzen lassen oder nur ein- 
mal. Warum nur fiihlte der Eichmeister Eibenschiitz plotzlich alle Ver- 
anderungen in der Natur? Warum genoft er jetzt das tlefe, sommerli- 
che Griin der groflen, breiten, reichen Kastanienbiatter, und weshalb 
betaubte ihn jetzt der Duft der Kastanien so heftig? 
Sein Kind, das heiflt das Kind des Schreibers Nowak, wurde jetzt im 
Kinderwagen spazierengefuhrt. Er begegnete manchmal seiner Frau im 
kleinen Stadtpark, wenn er ihn durchquerte, urn vom Amt in die Woh- 
nung zu gehen. Es war zu heifi, um auf den Steinen zu marschieren. 
Wenn er seine Frau traf, ging Eibenschiitz eine Weile neben ihr dahin, 
hinter dem Kinderwagen, und sie sprachen kein Wort. Langst empfand 
er keinen Haft, weder gegen die Frau noch gegen das Kind, beide wa- 
ren sie ihm gleichgiiltig, zuweilen fiihlte er sogar Mitleid mit beiden. 
Er ging dahin, hinter dem Wagen, neben der Frau, einfach, weil er 
darauf bedacht war, die Leute im Stadtchen glauben zu lassen, es sei 
alles in Ordnung. Plotzlich kehrte er um, ohne Wort, ohne Grufi, und 
ging nach Hause. Das Dienstmadchen reichte ihm das Essen. Er aE 
hastig und unachtsam. Er dachte schon an den Schimmel, an das Wa- 
gelchen, an die Fahrt nach Szwaby, an die Grenzschenke. 
Er ging hinaus in Schuppen und Stall, er spannte ein, und er fuhr los. 
In goldenen Wolken aus Staub und Sand fuhr er dahin, seine Kehle war 
trocken, die unbarmherzige Sonne stach mit tausend Lanzen auf seinen 



178 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Kopf durch den breitrandigen Strohhut, aber sein Herz war frohlich. 
Oft und oft hatte er vor einem Wirtshaus halten konnen, viele Wirts- 
hauser standen auf seinem Weg. Er hielt nirgends. Durstig und hung- 
rig, wie seine Seele war: so wollte er in Szwaby, in der Grenzschenke 
ankommen. 

Er kam an, es dauerte gute zwei Stunden. Der Schimmel Jakob war 
schon ungeduldig, er liefi die Zunge hangen, er lechzte nach Wasser, 
und seine Flanken zitterten in heifier Erregung. Der Knecht kam, ihn 
auszuspannen. Seitdem Jadlowker eingesperrt war, betrachtete der 
Knecht den Eichmeister Eibenschiitz als den legitimen Besitzer der 
Grenzschenke. Es war ein alter Knecht, ein ruthenischer Bauer. Onu- 
frij hieft er, und taub war er auch. Man hatte glauben konnen, er ver- 
stiinde nichts, aber er begriff alles, vielleicht, weil er so taub und so 
alt war. Manche, die wenig horen, sind imstande, gar viel zu bemer- 
ken. 

Der Eichmeister setzte sich an den Tisch am Fenster. Er trank Met, 
und gesalzene Erbsen afi er dazu. In untertaniger Freundlichkeit na- 
herte sich ihm Kapturak, zu gar keinem anderen Zweck, als um ihm 
guten Tag zu sagen. Der Eichmeister hafite diese untertanige Vertrau- 
lichkeit. Merkwurdigerweise mufite er selbst feststellen, dafi ihn seine 
wachsende Empfindlichkeit gegeniiber den Vorgangen der Natur 
auch empfindlicher machte gegen die Schlechtigkeit der Menschen. Es 
erschien dem Eichmeister ungerecht, dafi Jadlowker verurteilt war, 
wahrend Kapturak frei herumlief. Schade, dafi Kapturak keinen An- 
halt bot, einer Gesetzesiibertretung iiberfuhrt zu werden. Er hatte 
keinen offenen Laden, keine Waagen, keine Gewichte. Eines Tages 
aber wiirde man ihn trotzdem noch fassen. 

Eibenschiitz trank noch eine Weile, dann erhob er sich und befahl der 
Schankmagd, Euphemia zu rufen. Er stellte sich am Ende der Treppe 
auf, um die Frau zu erwarten. 

Immer noch brachte Kapturak jeden Tag, das heifk eigentlich jede 
Nacht, russische Deserteure in die Grenzschenke. Man verdiente viel 
an ihnen, denn sie waren Trostlose und Verzweifelte, und Verzwei- 
felte und Trostlose gaben Geld aus. Aber es gab auch Spitzel unter 
ihnen, die ihre Schicksalsgenossen anzeigten und auch sonst manches 
von den Zustanden an der Grenze anzeigten. Eine polizeiliche Uber- 
wachung zu uben lag nun zwar keineswegs in der Aufgabe eines 
Eichmeisters noch in der Natur des Anselm Eibenschiitz. Er aber gab 



DAS FALSCHE GEWICHT 179 

acht und bemiihte sich, Reden zu horen und Gesichter zu behalten. 
Widerlich war es ihm, und dennoch tat er es. 

Euphemia befand sich nicht oben in ihrem Zimmer, sondern ne- 
benan im offenen Laden, wo sie den Bauern Terpentin, Griitze, Ta- 
bak, Heringe, Sprotten, Lack- und Silberpapier und blaue Farbe 
zum Tiinchen verkaufte. Nur an zwei Tagen in der Woche war der 
Laden geoffnet, am Montag und am Donnerstag. Heute war Don- 
nerstag. Vergeblich wartete Eibenschiitz am Fuft der Treppe. Euphe- 
mia kam zu seiner Uberraschung. 

Sie gab ihm die Hand, und er erinnerte sich, wie diese Hand vor ein 
paar Wochen im Fruhling durch die silberblaue Nacht dahergekom- 
men war, dahergeschwommen war. Er fafite die Hand und hielt sie 
lange, langer, als ihm schicklich erschien, aber was sollte er tun? 
»Was wollen Sie von mir?« fragte Euphemia. 

Er wollte sagen, er sei pflicht- und dienstgemafi hierhergekommen, 
aber er sagte: »Ich wollte Sie wiedersehen!« 

»Kommen Sie in den Laden«, erwiderte sie, »ich habe keine Zeit, 
die Kunden warten.« 
Er ging in den Laden. 

Der goldene Sommerabend war schon angebrochen. Die Deserteure 
in der Schenke sangen. Sie tranken Tee und Schnaps und wischten 
sich den Schweifi von den Gesichtern, nach jedem Schluck. Jeder 
von ihnen hatte ein Handtuch um den Hals hangen. Einen Augen- 
blick hielten sie im Singen ein, als Euphemia und der Eichmeister 
hinausgingen. 

Viele Bauern und Juden warteten in dem kleinen Laden. Sie wollten 
Terpentin, Wachs, Apollokerzen, Schmiergelpapier, Tabak, Heringe, 
Sprotten und blaue Tiinche. Der Eichmeister Eibenschiitz, der so oft 
hierhergekommen war, dienst- und pflichtgemaft, als Vollstrecker 
unerbittlicher Gesetze, um Waagen und MaEe und Gewichte zu 
priifen, befand sich unversehens hinter dem Ladentisch neben Eu- 
phemia. Und als ware er ihr Lehrling, befahl sie ihm, dies und jenes 
zu holen, dies und jenes zu wagen, dies und jenes zu fiillen, diesen 
und jenen zu bedienen. 

Der Eichmeister gehorchte. Was sollte er tun? Er wufke nicht ein- 
mal, dafi er gehorchte. 

Die Kunden gingen. Euphemia und der Eichmeister verliefien den 
Laden. Sie hatten kaum drei Schritte bis zum Wirtshaus zurtickzule- 



l8o ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

gen. Aber es schien dem Eibenschutz, als brauchten sie eine sehr, sehr 
lange Zeit dazu. Die gute, kiihle Sommernacht war schon hereingebro- 
chen. 



XXIII 

Er blieb in dieser Nacht sehr lange in der Grenzschenke, bis zum friihen 
Morgengrauen, bis zur Stunde, in der der Gemeindepolizist Arbisch 
kanij um die Deserteure abzuholen. Zum erstenmal seit vielen Wochen 
war der Himmel an diesem Morgen bewolkt. Die Sonne ging, als Eiben- 
schutz aus dem Tor der Schenke hinausfuhr, rot und klein, einer Orange 
ahnlich, am Himmel auf. In der Luft roch es schon siifS und heiter und 
naft nach dem langsterwarteten Regen. Ein lindes Windchen wehte Ei- 
benschutz entgegen. Obwohl er die ganze Nacht getrunken hatte, war 
er frisch und gleichsam gewichtslos. Sehr jung fuhlte er sich, und es war 
ihm, als ob er bis zu dieser Stunde noch gar nichts erlebt hatte, iiber- 
haupt gar nichts. Sein Leben sollte erst beginnen. 
Er war schon etwa eine Stunde gefahren und mitten auf dem Wege nach 
Hause, als der Regen, sachte zuerst, allmahlich immer starker, zu fallen 
begann. Ringsum atmete alles nasse, linde Gute. Alles unterwegs schien 
sich dem Regen willig zu ergeben. Die Linden am Wege neigten ihre 
Haupter. Die Weidenstraucher zu beiden Seiten der gangbaren Pfade im 
Sumpf von Zubrowka gar schienen sich emporgerichtet zu haben und 
wolliistig im warmen Gerinn zu erschauern. Fast auf einmal setzte auch 
der Gesang der Vogel ein, den der Eichmeister so lange schon vermifit 
hatte. Am lautesten floteten die Amseln. Seltsam - sagte sich der Eich- 
meister - und ungewohnlich war es auch, daft die Vogel mitten durch 
den Regen pfiffen, zwitscherten und trillerten, wahrscheinlich begriift- 
ten sie ihn - dachte er weiter - ebenso wie ich. Aber wie kommt es 
iiberhaupt, daft ich einen Regen begriifte? Was geht mich der Regen an? 
Ich mu6 mich stark verandert haben in dieser Gegend! Was geht mich 
der Regen an? Was kummern mich die Vogel? 

Plotzlich, er wufke selbst nicht, warum, zog er die Zugel an, und der 
Schimmel hielt still. Da sitzt er nun auf dem Bock, der Eichmeister 
Eibenschutz, der Regen stromt auf ihn herab, der weiche Strohhut 
schlappt auf seinem Kopf wie ein nasser Lappen. Er halt still im Regen, 
statt weiterzufahren, wie es sich gehort. 



DAS FALSCHE GEWICHT l8l 

Er kehrt plotzlich um. Er knallt mit der Peitsche, Der Schimmel setzt 

sich in Galopp. Kaum eine halbe Stunde spater ist er wieder in Szwaby. 

Es regnet immer noch in Stromen. 

Eibenschiitz lafit sich ein Zimmer im Gasthof geben. Er erzahlt Onu- 

frij, daft unterwegs der Boden zu aufgeweicht sei und daft kein Mensch 

weiterfahren konne. So mochte er lieber hier den Regen iiberschlafen. 

Man gibt ihm ein Zimmer. Er schlaft leicht und traumlos und erwacht 

erst am Abend. 

Langst hat der Regen aufgehort. Das Laub an den Baumen vor den 

Fenstern ist trocken. Die Steine im Hof der Schenke sind trocken, die 

Sonne ist just im Begriff, im vollen Glanz unterzugehen. Der Himmel 

ist wolkenlos. 

Der Eichmeister geht in die Wirtsstube. 



XXIV 

Er wartet auf Euphemia, sie kommt nicht. Er sitzt da, den Kopf in die 
Hande gestiitzt. Er weifi auch gar nicht recht, was er hier soil. Durch 
den Larm, den die anderen Gaste verursachen, hort er das unerbittli- 
che, harte Ticken der Wanduhr. Allmahlich beginnt er zu glauben, daft 
er nicht freiwillig hierhergekommen ist, sondern daft ihn irgend je- 
mand hierhergebracht hat. Er erinnert sich nur nicht, wer es gewesen 
ist, er weift auch nicht, wer es gewesen sein kann. 
Die Tiir geht auf, man merkt es am Windzug, Kapturak tritt ein. Er 
geht geradewegs an den Tisch des Eichmeisters. »Eine Partie?« fragt 
er. - 

»Gut, spielen wir.« 

Man spielt eine Partie Tarock, eine zweite und eine dritte. Man wartet 
vergeblich auf Euphemia. Man verliert alle drei Partien. 
Verloren ist auch der Tag, verloren ist auch die Nacht. Man weift nicht, 
was man machen soil. Man spricht kein Wort, auch nicht zu Kapturak. 
Man wartet auf Euphemia. Sie kommt nicht. 

Gegen drei Uhr nachts begann ein Deserteur, Ziehharmonika zu spie- 
len. Er spielte das Lied: »Ja lubyl tibia« - und alle begannen zu weinen. 
Sie weinten nach der Heimat, die sie eben selbst aufgegeben hatten. Sie 
hatten mehr Sehnsucht nach der Heimat in diesem Augenblick als 
Sehnsucht nach der Freiheit. 



182 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Allen standen Tranen in den Augen. Trocken blieben nur die Augen 

Kapturaks. Auch eine Ziehharmonika konnte ihn nicht riihren. Er 

selbst brachte die Deserteure iiber die Grenze. Er lebte davon. Er lebte 

von dem Heimweh der Deserteure, von ihrer Sehnsucht nach der Frei- 

heit. 

Selbst der Eichmeister Eibenschutz wurde wehmiitig. Er lauschte der 

Melodie: »Ja lubyl tibia« - und er fiihlte seine Augen feucht werden. 

Kapturak fragte, fast in dem Augenblick, in dem die Ziehharmonika zu 

spielen anfing, ob Eibenschutz nicht eine neue Partie spielen wollte. - 

»Ja«, sagte Eibenschutz, »warum nicht?« Und sie spielten die vierte 

Partie Tarock. Eibenschutz verlor wieder. 

Der Morgen graute schon, als Eibenschutz aufstand. Er ging die 

Treppe hinauf und mufite sich mit beiden Handen am Gelander fest- 

halten. 

Er torkelte in sein Zimmer. In den Kleidern legte er sich aufs Bett, so 

wie einst wahrend der Manover. Er schlief traumlos und ganz ruhig. 

Das erste Vogelgezwitscher weckte ihn. Er erhob sich sofort, zugleich 

auch wufke er, wo er sich befand: in der Grenzschenke, und er ver- 

wunderte sich dariiber keineswegs. 

Er hatte keinerlei Zeug sich zu waschcn. Er konnte sich nicht rasieren. 

Es bekiimmerte ihn. Er kam sich beschmutzt und auch verletzt vor. 

Dennoch ging er hinunter. 

Der kraftige Sommermorgen strdmte heftig durch die gedffneten Fen- 

ster. Auf dem Fuflboden schliefen noch die Deserteure. Auch die Mor- 

gensonne vermochte nicht, sie zu wecken, und nicht der schmetternde 

Gesang der morgendlichen Amseln. 

Mitten zwischen schlafenden Deserteuren, die zu seinen Fiifien lagen, 

safi der Eichmeister Eibenschutz und trank Tee. 

Onufrij bediente ihn. »Wo ist Euphemia?« fragte der Eichmeister. »Ich 

weifi nicht«, sagte Onufrij. »Ich mochte sie sehen«, sagte Eibenschutz. 

»Ich habe ihr etwas Wichtiges zu sagen.« 

»Gut«, sagte Onufrij - und Eibenschutz blieb sitzen. Sie kam auch 

bald, Euphemia. Er schamte sich vor ihr, ungewaschen, wie er war, 

und mit dem Bart von gestern. 

»Ich habe die ganze Nacht auf Sie gewartet«, sagte er. 

»Nun werden Sie mich ja sehen konnen!« antwortete sie. »Sie bleiben 

ja hier?« 

Er hatte gar nicht gewufk, dafi er hierhergekommen war, um hierzu- 



DAS FALSCHE GEWICHT 183 

bleiben. Wie einfach war das. Natiirlich! Was hatte er denn zu Hause 
zu suchen? »Ja, ja«, sagte er zur offenen Tiir hinaus in den jungen 
Morgen. Die Manner auf dem Boden erwachten langsam. Sie hockten 
noch eine Weile stumpf da, dann rieben sie sich die Augen, dann erst 
schienen sie zu merken, daft es Morgen war. Sie erhoben sich und gin- 
gen, einer nach dem anderen, hinaus in den Hof zum Brunnen, um sich 
zu waschen. 

Eibenschutz blieb allein mit Euphemia in der groften Schankstube, die 
sich plotzlich geweitet hatte. Es war, als dehnte sie der Morgen immer 
weiter aus. Es roch nach dem Morgen und auch nach dem Gestern, 
nach den Kleidern und dem Schlaf der Manner und nach Branntwein 
und Met und auch nach Sommer und auch nach Euphemia. Alle Gerii- 
che stiirmten jetzt auf den armen Eibenschutz ein. Sie verwirrten ihn, 
und er unterschied sie doch genau. 

Gar vieles, sehr vieles ging in seinem Kopf durcheinander. Er begriff, 
daft er nichts mehr Vernunftiges sagen konnte, und er mufite doch 
etwas tun, und Euphemia saft neben ihm. Er umfing sie plotzlich und 
kiiftte sie herzhaft und heftig. Dann, als die Manner vom Brunnen sich 
wieder der Tiir naherten, sagte er, schlicht und redlich: »Ich liebe 
dich!«, und schnell stand er auf. Er lieft einspannen. Er fuhr heim, 
seine Sachen holen. 



XXV 

Solang der Sommer dauerte, war Eibenschutz glucklich. Er erfuhr die 
Liebe und alle seligen Veranderungen, die sie einem Manne bereitet. 
Bieder und einfach, wie er war, mit etwas schwerfalligem Gemiit, er- 
lebte er die erste Leidenschaft seines Lebens grundlich, ehrlich, mit 
alien Schauern, Schaudern, Seligkeiten. Nicht nur nachsichtig, auch 
nachlassig iibte er in dieser Zeit seinen Dienst aus. Die langen Sommer- 
tage waren nur kleine Zugaben zu den kurzen, ausgefulken, starken 
Nachten. Was man bei Tage, ohne Euphemia tat, war ohne Belang. 
Nach Hause, zu seiner Frau, kam Eibenschutz kaum einmal in der 
Woche. Er kam aus einer Art von sporadischem Pflichtgefiihl und der 
Leute wegen. Sie wuftten alle, daft er mit der Frau Jadlowkers lebte, 
aber da er so milde und nachlassig geworden war, sahen sie ihn auch 
mit milden oder mindestens mit gleichgiiltigen Augen an. Er kiim- 



184 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

merte sich ubrigens nicht um die Aufgabe, die man ihm aufgetragen 
hatte. Das Gasthaus und den Laden versorgte Euphemia allein, und 
auch um die Papiere der Leute, die iiber die Grenze kamen, kiimmerte 
sie sich, und die Namen trug sie selbst mit ihrer hilflosen Schrift in das 
grofie Buch, in das die Gendarmen nur selten und fliichtig zu blicken 
pflegten. 

Nun, es kam der Herbst. Und wie in jedem Herbst kam der Maroni- 
brater Sameschkin nach Szwaby, Sameschkin aus Uchna in Bessara- 
bien. Er war ein entfernter Verwandter Euphemias; sie sagte es jeden- 
f alls . Es war ihr Geliebter, es war kein Geheimnis, alle Welt wufite es. 
Jadlowker hatte sich mit ihm gut vertragen. Sameschkin kam immer im 
Oktober. Er blieb iiber den Winter. Er kam mit vielen Sacken Kasta- 
nien und mit seinem kleinen Bratofen auf vier mageren schwarzen 
Fiifien. Er sah sehr fremd aus und so, als hatte man auch ihn gebraten. 
Die Sonne von Bessarabien und vom Kaukasus und von der Krim hatte 
ihn so gebraten. Seine kleinen, schnellen Augen erinnerten an die 
Holzkohlen, auf denen er seine Kastanien briet, und sein schmaler, 
langer Schnurrbart, der an eine schongeschwungene Gerte aus Haaren 
gemahnte, war schwarzer noch als der eiserne Ofen. Hande und Ange- 
sicht waren braun wie Kastanien. Auf dem Kopf trug er eine hohe 
Pelzmiitze aus Astrachan und um den Leib einen weiften, stark beruft- 
ten und fettigen Schafspelz. Er hatte grofie, geradezu gewaltige Knie- 
stiefel mit sehr weiten Schaften. In seinem Giirtel steckte ein schwerer 
Stock aus Weichselholz, unten mit einer vierkantigen Eisenspitze ver- 
sehen. Also war er vollkommen ausgenistet fur einen harten Winter 
und fur einen harten Beruf. 

Er war ein gutmutiger, sogar weichherziger Mann. Er redete ein Ge- 
misch von vielen Sprachen, das keiner in dieser Gegend verstand. Man 
nannte ihn hier einfach den »Zigeuner«; und nur wenige wufiten, dafi 
er Sameschkin hieft. Konstantin Sameschkin hiefi er. Fur einen Dreier 
verkaufte er zwanzig Kastanien, pro Stuck verkaufte er seine Ware. Er 
lachelte oft, unter seinem schwarzen Schnurrbart erschienen groft und 
weifi seine Zahne. Sie erinnerten an weifte Klaviertasten. 
Es gab im ganzen Bezirk noch zwei andere Maronibrater, einen sogar 
in Zlotogrod. Aber sie waren nicht so geschatzt wie Sameschkin, der 
Zigeuner. Aus der ganzen Gegend kamen viele Leute, Kastanien bei 
ihm zu kaufen, rohe und gebratene. Die rohen verkaufte er das Pfund 
fur einen Zehner. 



DAS FALSCHE GEWICHT l8j 

Freilich wufite auch Eibenschiitz, daft Sameschkin der Geliebte Eu- 
phemias war. Friiher war Sameschkin mit seinen Kastanien durch an- 
dere Lander, andere Gegenden gezogen. Jeden Winter hatte er woan- 
ders erlebt. Aus biederer Treue zu Euphemia kam er nunmehr seit 
Jahren nach Szwaby. Im Sommer lebte er als Gelegenheitsarbeiter in 
Uchna in Bessarabien. Einmal half er bei den Holzfallern aus, ein an- 
deres Mai bei den Kohlern, manchmal grub er Brunnen, manchmal 
leerte er Mistgruben. Niemals noch hatte er eine grofiere Stadt gesehen 
als Kischinew. Harmlos, wie er war, glaubte er, daft ihm Euphemia 
treu sei. Wahrend des Sommers erzahlte er dem und jenem, jeden 
Herbst ginge er zu seiner Frau. Angestellt sei sie in der Grenzschenke 
in Szwaby und konne nicht iiberall mit ihm hin. Er freute sich herzlich 
auf den Herbst, wie andere auf den Friihling. 

Es half dem armen Eibenschiitz gar nichts, dafi er Sameschkins Gut- 
miitigkeit erkannte. Im Gegenteil: er hatte viel eher gewiinscht, 
Sameschkin ware ein Bosewicht gewesen. Ohnmachtig und mit herzli- 
chem Kummer sah er zu, wie Sameschkin und Euphemia sich begrufi- 
ten. Sie fielen einander in die Arme. Herzhaft und kraftig lagen die 
rostbraunen, groften, schlanken Hande des Zigeuners auf dem Riicken 
Euphemias und prefken sie, und mit wahrhaftigem Entsetzen dachte 
Anselm Eibenschiitz an die guten Briiste Euphemias - sein waren 
sie ja! 

Sameschkin hatte seine Gerate auf einem Karren mitgebracht wie jedes 
Jahr. Den Karren zog ein PudeL Den Pudel und den Karren stellte 
Sameschkin im Schuppen des Gasthofs ab. Vor dem Gasthof stellte er 
sich selbst auf, mit seinem Ofen, mit seinen Kastanien. Es roch sofort 
im ganzen Ort nach Herbst. Es roch nach dem Schafspelz Samesch- 
kins, nach verbrannten Kohlen, am starksten nach den gebratenen Ma- 
roni. Ein Dunst, zusammengesetzt aus all den Geriichen, zog durch 
den Flecken wie ein Bote, Sameschkins Ankunft anzukiindigen. 
Eine Stunde spater auch kamen die Leute aus Szwaby, gebratene Ka- 
stanien einzukaufen. Es sammelte sich ein Haufen um Sameschkin, 
und er verkaufte Kastanien, gebratene und rohe. In der Mitte des 
Haufens gliihten die roten Kohlen, auf denen die Kastanien lagen. Es 
war kein Zweifel mehr, der Winter begann. Der Winter begann in 
Szwaby. 

Der Winter begann. Und damit begann auch das Leid des Eichmeisters 
Eibenschiitz. 



136 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XXVI 

Ja, damals begann das grofie Leiden des Eichmeisters Anselm Eiben- 

schiitz. 

»Du kannst nicht mehr hier wohnen bleiben«, sagte ihm eines Nachts 

Euphemia, »Sameschkin ist gekommen, du weifk!« 

»Was geht mich Sameschkin an, was geht dich Sameschkin an?« 

fragte er. 

»Sameschkin«, sagte sie, »kommt jeden Winter. Ihm gehore ich 

eigentlich.« 

»Deinetwegen«, antwortete der Eichmeister Eibenschiitz, »habe ich 

mein Haus, mein Weib und das Kind aufgegeben.« (Er wagte nicht 

zu sagen: mein Kind.) »Und jetzt«, fuhr er fort, »willst du mich fort- 

schicken?« 

»Es mull so sein!« sagte sie. 

Sie saft aufrecht im Bett. Der Mond leuchtete scharf durch die runden 

Luken der Fensterladen. Er betrachtete sie. Niemals hatte er sie so 

gierig betrachtet. Im Mondlicht erschien sie ihm begehrenswert, als 

hatte er sie noch niemals vorher nackt gesehen. Er kannte sie genau, 

jeden Zug an ihrem Korper, noch besser als die Ziige ihres Ange- 

sichts. 

Warum jetzt? sagte er sich. Warum uberhaupt? Ein grower Zorn ge- 

gen die Frau erhob sich in ihm. Aber je zorniger er wurde, desto 

kostbarer erschien sie ihm auch. Es war, als machte sie sein Zorn mit 

jeder Sekunde reizvoller. Er richtete sich ganz auf, fafke sie an den 

Schultern, ihr Korper leuchtete, er driickte sie mit ubermafiiger Ge- 

walt nieder. So hielt er sie eine Zeitlang fest in den Kissen. Er wufite, 

dafi er ihr weh tat, sie stohnte nicht einmal, und das erbitterte ihn 

heftiger. Er sturzte sich iiber sie, er hatte das wonnige Gefuhl, dafi er 

sie zerstorte, wahrend er sie liebte. Einen Laut des Schmerzes wollte 

er horen, er wartete darauf. Sie blieb still und kalt, es war, als schliefe 

er nicht mit Euphemia, sondern mit einem fernen Abbild von ihr. Wo 

war sie eigentlich? Sie lag schon unten, in den Armen Sameschkins. 

»Sag etwas«, bat er sie. Sie schwieg, wie um seine Vorstellung, daft sie 

nur ein Bild sei, vollkommen zu machen. - »Warum sagst du nichts?« 

- »Ich weifi nicht, ich habe schon alles gesagt!« - »Willst du wirklich 

mit Sameschkin leben?« - »Ich mufi!« - »Warum mufit du?« - »Ich 

weifi nicht.« - »Soll ich fortgehen?« - »Ja!« - »Liebst du mich nicht ?« 



DAS FALSCHE GEWICHT 187 

- »Ich weift nicht.« - »Liebst du Sameschkin?« - »Ich gehore ihm.« - 
»Warum?« - »Ich weift nicht.« 

Sie wandte sich von ihm ab. Sie schlief sofort ein. Es war, als sei sie 
weit weggefahren, ohne Abschied. 

Er lag lange wach und sah den Mond durch die Luke und kam sich 
sinnlos und toricht vor. Sein ganzes Leben war sinnlos. Welch ein bo- 
ser Gott hatte ihn zu Euphemia gebracht? Bald glaubte der Eichmei- 
ster Eibenschutz, daft er irre geworden sei, nur weil ihm der Satz ein- 
gefallen war: »Wer regiert denn iiberhaupt die Welt?« - Seine Furcht 
war so groft, daft er, wie um ihr zuvorzukommen und sein Schicksal 
selbst zu erfiillen, sich im Bett aufrichtete und laut den Satz aussprach: 
»Wer regiert eigentlich die Welt?« - Er war ahnlich einem Menschen, 
der aus Angst vor dem Tode einen Versuch unternimmt, sich zu toten. 
Aber er lebt weiter und fragt sich: Bin ich eigentlich schon tot? - Bin 
ich eigentlich schon wahnsinnig? 

Er erhob sich sehr fruh. Euphemia schlief noch. Er betrachtete sie 
noch einmal lange, das schlafende Abbild der fernen Euphemia. Sie 
schlief, die Hande iiber dem Nacken verschrankt, in einer ungewohn- 
lichen Lage, und es sah beinahe so aus, als wiiftte sie, daft er sie be- 
trachtet. 

Er wusch und rasierte sich, gewissenhaft wie jeden Morgen. Er war 
gewohnt, von seiner Dienstzeit her, des Morgens eine halbe Stunde an 
nichts anderes zu denken als an die Zubereitung seines Gesichts. Er 
putzte Rock, Weste und Hose. Er benahm sich dabei sehr behutsam, 
um Euphemia nicht zu wecken. Er ging daran, seinen Koffer zu pak- 
ken. Aber mitten in dieser Arbeit fiel ihm ein, daft er hier doch noch zu 
tun haben werde. Er Heft den Koffer. Aus dienstlichem Pflichtgefuhl, 
wie er glaubte. Auf den Zehen ging er hinaus. 

Unten in der Schankstube stieft Eibenschutz auf Sameschkin, den Ma- 
ronibrater. Er lachelte ihm entgegen, mit all seinen blendenden Zah- 
nen. Er trank Tee und aft Brot mit Schmalz und salzte es immerfort. Es 
war dem armen Eibenschutz, als streute er dieses Salz auf ihn, auf Ei- 
benschutz, nicht auf das Brot. 

Er bezwang sich und sagte: »Guten Morgen, Sameschkin!« - In diesem 
Augenbiick erfiillte ihn ein heifter Haft gegen Sameschkin. Wie er ihn 
so ansah, langer, den Plappernden und Lachenden, begann er, Euphe- 
mia zu hassen. 
Er hoffte, daft er'Klarheit bekame, wenn er einmal nur fort ware. 



l88 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Es war gut, dafi der Schimmel so klug war, ein kluger Schimmel. Al- 

lein, ohne ihn, hatte Eibenschutz den Weg nicht nach Hause gefun- 

den. 

Er fuhr zuerst ins Amt. Seit vielen Tagen stapelten sich dort Papiere 

auf, die ihn erwarteten. 

Er furchtete sich vor den Papieren, die ihn erwarteten. 



XXVII 

Eine Woche im ganzen wohnte der Eichmeister Anselm Eibenschutz 
zu Hause. Die Frau Regina bekam er nicht zu sehen, das Kind des 
Schreibers horte er manchmal kreischen. 

Eines Tages unterwegs, wahrend er mit dem Wachtmeister Slama auf 
dem Wagelchen saft - sie fuhren nach Bloty-, begann er zu erzahien. 
Es driickte ihm das Herz ab. Er mufite sprechen - und es gab weit 
und breit keinen Menschen, nur den Wachtmeister Slama. Zu wem 
sollte man reden? Ein Mensch muE zu einem Menschen reden. 
Also erzahlte der Eichmeister dem Wachtmeister seine Geschichte. Er 
erzahlte, dafi er bis zur Stunde, in der er Euphemia gekannt hatte, gar 
nicht gewufit hatte, was das Leben bedeute. Und er erzahlte auch 
dem Wachtmeister von dem Betrug seiner Frau mit dem Schreiber Jo- 
sef Nowak. 

Der Gendarmeriewachtmeister war ein sehr einfacher Mensch. Aber 
er verstand alles, was ihm Eibenschutz erzahlte, und zum Zeichen da- 
fur, dafi er es verstehe, nahm er die Pickelhaube ab, als konnte er bar- 
hauptig zuversichtlicher mit dem Kopf nicken. 

Es war dem Eibenschutz sehr leicht urns Herz, nachdem er seine 
ganze Geschichte erzahlt hatte. Er wurde geradezu frohlich; und er 
war so traurig. 

Dem Wachtmeister Slama fiel nichts ein, aber er wufite wohl, dafi 
man etwas Frohliches sagen musse, und er sagte also schlicht und 
ehrlich: »Das wiirde ich nicht aushalten!« 
Er wollte Eibenschutz trosten, aber er machte ihn nur trauriger. 
»Auch ich«, begann Slama, »bin betrogen word en. Meine Frau hat 
sich da - Vertrauen gegen Vertrauen - mit dem Sohn des Bezirks- 
hauptmanns eingelassen. Sie ist an der Geburt gestorben.« 
Eibenschutz, den die ganze Geschichte nicht beriihrte, sagte nur: 



DAS FALSCHE GEWICHT 189 

»Sehr traurig!« Ihn kiimmerte sein eigenes Schicksal. Was ging ihn 
die verstorbene Frau Slama an? 

Der Wachtmeister aber, einmal im Erzahlen und mit aufgerissener 
Herzenswunde, horte nicht auf, von seiner Frau zu berichten. »Da- 
bei waren wir«, sagte er, »zwolf Jahre verheiratet. Und, denken Sie, 
es war gar kein Mann, mit dem sie mich betrogen hat. Es war ein 
Jungling, der Sohn des Bezirkshauptmanns, er war ein Kadetten- 
schuler.« Und als hatte es eine besondere Bedeutung, fugte er nach 
einer Weile hinzu: »ein Kavallerie-Kadettenschiiler aus Mahrisch- 
Weifikirchen.« 

Langst horte Eibenschiitz nicht mehr zu. Es tat ihm aber wohl, daft ein 
Mensch neben ihm redete, ahnlich, wie es manchmal einem wohltut, 
wenn es so daherregnet und man versteht auch die Sprache nicht, die der 
Regen redet. 

Sie hatten in Bloty nur einen Laden zu besuchen, den Milchhandler und 
Gastwirt Broczyner, aber sie blieben den ganzen Tag dort. Man fand bei 
Broczyner im ganzen fiinf falsche Pfundgewichte. Man zeigte den Broc- 
zyner an. Man ging dann in das Wirtshaus, zum gleichen Broczyner. 
Der angezeigte Broczyner kam an den Tisch und versuchte, ein Ge- 
sprach mit dem Eichmeister und dem Wachtmeister anzukniipfen. Aber 
sie waren beide dienstlich und strenge, das heiftt, sie bildeten sich ein, 
daft sie dienstlich und strenge seien. 

Einen ganzen Tag, bis zum spaten Abend, blieben sie dort. Dann sagte 
Eibenschiitz: »Fahren wir nach Szwaby.« Dorthin fuhren sie auch. 
Sie spielten Tarock mit Kapturak. Kapturak gewann immer wieder. Der 
Eichmeister Eibenschiitz hatte auch gewinnen konnen, wenn er nur 
achtgegeben hatte. Er aber dachte an Euphemia und Konstantin 
Sameschkin. 

Endlich, es war schon spat in der Nacht, kamen sie beide an den Tisch, 
Euphemia und Sameschkin. Sie kamen, Arm in Arm, die Treppe hinun- 
ter. Arm in Arm traten sie an den Tisch. Sie erinnerten an Bruder und 
Schwester. Eibenschiitz bemerkte plotzlich, daft sie beide die gleichen 
schwarzblauen Haare hatten. 

Es war ihm auf einmal, als begehrte er die Frau nicht mehr aus Liebe wie 
bisher, sondern aus Haft. Sameschkin lachelte, gutherzig und mit alien 
seinen weiften Zahnen, wie immer. Indessen reichte er freigiebig seine 
rostbraune, grofte, starke Hand. Es sah aus, als verteile er Spenden. 
Er setzte sich. In seiner nicht leicht begreiflichen Sprache erzahlte er, 



190 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

dafi er heute gute Geschafte gemacht hatte. Sogar aus Zlotogrod ware 
man zu ihm gekommen, rohe Kastanien zu kaufen. 
Euphemia safi zwischen den Mannern. Sie schwieg, sie war stumm, 
einer Blume ahnlich, die man an einen Tisch gesetzt hat, statt sie auf 
ihn zu stellen. 

Eibenschiitz betrachtete sie fortwahrend. Er versuchte, ihrem Blick, 
einmal wenigstens, zu begegnen, aber es gelang ihm nicht. Ihre Au- 
gen gingen irgendwo in der Weite spazieren. Weifi Gott, woran sie 
denken mochte! 

Sie begannen aufs neue zu spielen, und Eibenschiitz gewann immer 
wieder. Er schamte sich ein bifkhen, wahrend er das Geld einsteckte. 
Immer noch safi Euphemia am Tisch, eine stumme Blume. Sie leuch- 
tete und schwieg. 

Ringsum herrschte der gewohnliche Larm, den die Deserteure ver- 
ursachten. Sie hockten auf dem Boden und spielten Karten und wur- 
felten. Sobald sie alles verspielt hatten, begannen sie zu singen. Sie 
sangen, wie gewohnlich, das Lied: »Ja lubyl tibia«, falsch und mit 
krachzenden Stimmen. 

Schliefilich erhoben sich Euphemia und Sameschkin. Arm in Arm 
gingen sie hinauf, und der arme Eichmeister Eibenschiitz sah ihnen 
ohnmachtig nach. Es kam ihm schliefSlich in den Sinn, dafi er hier- 
bleiben miifke. Ja, hierbleiben! Er hatte schon ein wenig getrunken, 
der Eichmeister Eibenschiitz. Es schien ihm plotzlich, dafi er Sa- 
meschkin verdrangen konnte, wenn er nur hierbliebe, einfach im Ho- 
tel bliebe. Auch graute es ihm entsetzlich vor der Riickkehr, obwohl 
er gewift war, dafi er seine Frau nicht sehen wiirde noch ihr Kind, das 
Kind des Schreibers Nowak. Plotzlich erschien ihm auch der Wacht- 
meister Slama sehr vertraut. Zu ihm sagte Eibenschiitz: »Sagen Sie, 
soil ich hierbleiben?« 

Der Gendarm dachte nach und griff an den Kopf, und es war, als 
nahme er den Helm noch einmal ab, den er natiirlich langst abgelegt 
hatte. 

»Ich glaube, Sie sollten hierbleiben«, sagte er schlieElich nach einigem 
Nachdenken. Und der Eichmeister Eibenschiitz blieb in der Grenz- 
schenke. 

Spater, ein paar Wochen spater, wufke er selbst nicht mehr, weshalb 
er den Gendarmen Slama um Rat gefragt hatte und weshalb er in der 
Grenzschenke geblieben war. 



DAS FALSCHE GEWICHT I<?I 

Es ging dem Eichmeister Eibenschiitz iiberhaupt sehr schlecht in die- 

ser Zeit. Der Winter kam. 

Vor diesem Winter hatte Eibenschiitz Angst, 



XXVIII 

Ach, was war das fur ein Winter! Seit Jahren hatte man dergleichen 
nicht gesehen! Er kam plotzlich daher, wie ein ganz grower, scharfer 
Herr daherkommt, mit Peitschen. Der Flufi Struminka gefror sofort, 
an einem Tage. Eine dicke Eisschicht iiberzog ihn plotzlich, als hatte 
sie sich nicht aus dem Wasser selbst gebildet, sondern als ware sie von 
irgendwoher gekommen, Gott weifi woher. 

Nicht nur, daft die Spatzen tot von den Dachern fielen, sie erfroren 
auch mitten im Flug. Sogar die Raben und die Krahen hielten sich 
dicht in der Nahe der menschlichen Behausungen auf, um nur ein bifi- 
chen Warme zu ergattern. Vom erst en Tage an hingen die Eiszapfen 
grofi und stark von den Dachern. Und die Fenster sahen aus wie dicke 
Kristalle. 

Ach, wie einsam war da der Eichmeister Eibenschiitz! Den und jenen 
kannte er, zum Beispiel den Wachtmeister Slama und den Kaufmann 
Balaban und den kleinen Kapturak. Aber was bedeuteten sie alle! In 
seiner riesengrofkn Einsamkeit erschienen ihm die paar Menschen, die 
er kannte, wie verlorene Fliegen in einer eisigen Wiiste. Er war sehr un- 
gliicklich, der Eichmeister Eibenschiitz. Auch suchte er gar nicht mehr 
nach den Menschen. Und er fuhlte sich beinahe wohl in seiner Wiiste. 
Jetzt wohnte er wieder in der Schenke. Er wohnte wieder in der Nahe 
Euphemias. Ja, er stand sehr friih auf, um sie kommen zu sehen. Sie 
kam friiher als Sameschkin. Er stand erst eine Stunde spater auf. Gut- 
mutig war er und auch faul, sehr faul. Er liebte das friihe Aufstehn 
nicht, ja, er haftte den Morgen. Ubrigens kamen die Leute, die Maroni 
kaufen wollten, erst am Nachmittag. Was sollte Sameschkin am friihen 
Morgen? Er liebte nun einmal keinen friihen Morgen. 
Dennoch erwartete Eibenschiitz auch ihn geduldig. Es tat dem Eiben- 
schiitz wohl, in der Nahe Sameschkins zu sein. Er begann sogar, 
Sameschkin zu lieben. Immerhin hatte Sameschkin noch etwas von der 
siiften, siifien Warme Euphemias. Und es war so kalt in diesem Win- 
ter! - Und er war so einsam, der Eichmeister Eibenschiitz! 



I92 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Er war so einsam, der Eichmeister Eibenschutz, dafi er manchmal vor 
das grofie, rostbraune Tor der Schenke trat und sich neben Samesch- 
kin, den Maronibrater, stellte, ungeachtet seiner Stellung und seines 
Amtes. Es kamen verschiedene Leute Kastanien kaufen, rohe und ge- 
bratene, und manchmal liefi sich der Eichmeister Eibenschutz sogar 
herbei, den Leuten die Maroni zu verkaufen, wahrend der Zek, in der 
Sameschkin ausgetreten war. Sehr lieb wurde ihm Sameschkin mit der 
Zeit. Er verstand nicht recht, warum, aber Sameschkin wurde ihm 
eben lieb. 
Mit der Zeit begann er ihn zu lieben, wie man einen Bruder liebt. 



XXIX 

Es ging alles gut, oder halbwegs gut, bis zu jenem Tage, an dem das 
Unwahrscheinliche geschah. Es war namlich so, als ob der Winter 
plotzlich aufgehort hatte, ein Winter zu sein. Er hatte einfach be- 
schlossen, kein Winter mehr zu sein. Mit Entsetzen horten die Ein- 
wohner des Bezirks das Eis liber der Struminka krachen, kaum eine 
Woche nach Weihnachten. Laut einer alten Sage, die in der Gegend 
umging, bedeutete dieses Krachen des Eises ein groEes Ungliick fur 
den kommenden Sommer. Alle Menschen waren sehr erschrocken, 
und mit verstorten Gesichtern gingen sie einher. 
Nun, sie hatten recht. Die alte Sage hatte recht. Es begann namlich, ein 
paar Tage nach dem Krachen des Eises, eine fiirchterliche Krankheit in 
der Stadt zu wuten, eine Krankheit, die sonst nur in heifien Sommern 
aufzutreteh pflegte: Es war die Cholera. 

Es taute an alien Enden und Ecken, man hatte sagen konnen, der Friih- 
ling sei schon gekommen. In den Nachten regnete es. Es regnete sachte 
und gleichmafiig, es sah aus wie ein Trost des Himmels, aber es war ein 
falscher Trost des Himmels. Schnell starben die Menschen dahin, 
kaum waren sie drei Tage krank gewesen. Die Arzte sagten, es sei die 
Cholera, aber die Leute in der Gegend behaupteten, es ware die Pest. 
Es ist aber auch gleichgiiltig, was fur eine Krankheit es war. Jedenfalls 
starben die Leute. 

Als das Sterben gar kein Ende mehr nehmen wollte, begann die Statt- 
halterei, viele Arzte und Medikamente nach dem Bezirk Zlotogrod zu 
schicken. 



DAS FALSCHE GEWICHT 193 

Es gab aber viele, die sagten, Arzte und Medikamente wiirden hoch- 
stens schaden und die Verordnungen der Statthalterei seien noch 
schlimmer als die Pest. Das beste Mittel, sich das Leben zu bewahren - 
so sagten sie-, sei der Alkohol. Es begann also ein gewaltiges Trinken. 
Gar viele Leute, die man sonst dort nicht gesehen hatte, kamen jetzt 
nach Szwaby in die Grenzschenke. 

Auch der Eichmeister Eibenschiitz begann, in unmafiiger Weise zu 
trinken. Und zwar nicht so sehr deshalb, weil er die Krankheit und den 
Tod fiirchtete, sondern weil ihm die allgemein gewordene Sucht zu 
trinken sehr gelegen war. Es lag ihm keineswegs daran, der grofien 
Seuche zu entgehen, sondern vielmehr seinem eigenen Leid. Ja, man 
konnte sagen, da£ er geradezu die Seuche begriifite. Denn sie bot ihm 
Gelegenheit, seinen eigenen Schmerz zu mildern, und ihm schien es, er 
sei so riesengrofi, wie es keine Seuche sein konne. Er sehnte sich 
eigentlich nach dem Tode. Die Vorstellung, daE er eines der vielen 
Opfer der Cholera werden konnte, war ihm sehr angenehm, ja sogar 
vertraut. Aber wie den Tod erwarten, wenn man nicht wufke, ob er 
wirklich kommen wiirde, ohne sich zu betauben? 
Also trank der Eichmeister Eibenschiitz. 

Alle, die noch am Leben blieben, ergaben sich dem Schnaps, von den 
Deserteuren nicht zu reden. Drei Glaubiger Jadlowkers hatte die Cho- 
lera schon dahingerafft, und ubrig blieb nur der kleine Kapturak, der 
unverwiistliche Kapturak. Auch er trank, sein gelbes, zerknittertes Ge- 
sicht rotete sich nicht, nichts konnte ihm etwas anhaben, weder die 
Bazillen noch der Spiritus. 

Freilich starben nicht alle, aber viele lagen krank darnieder. 
In der Grenzschenke spielten nur noch der Eichmeister, der Gendarm 
Slama, der Gauner Kapturak und der Maronihandler Sameschkin. Man 
konnte ihn iiberhaupt kaum noch einen Maronihandler nennen. Er 
verkaufte namlich fast gar keine Kastanien mehr. Wie sollte man auch 
Kastanien in einer Gegend verkaufen, in der die Cholera herrschte? 
Und welch eine Cholera! 

Die Leute starben wie die Fliegen. Das sagt man so, in Wirklichkeit 
sterben die meisten Fliegen langsamer als die Menschen. Es dauerte 
drei oder acht Tage, je nachdem, dann wurden die Menschen blau. Die 
Zungen hingen aus den offenen Miindern. Sie taten noch ein paar 
Atemziige, und schon waren sie hiniiber. Was nutzten die Arzte und 
die Medikamente, die man von der Statthalterei geschickt hatte? Eines 



194 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Tages kam von der Militarbehorde der Befehl, das Regiment der Fiinf- 
unddreifiiger moge unverziiglich den Bezirk Zlotogrod raumen, und 
jetzt entstand ein noch grofierer Schrecken. Bis jetzt hatten die armen 
Leute geglaubt, der Tod sei gleichsam nur zufallig durch ihre Hauser 
und Hutten gegangen. Nun aber, da man die Garnison verlegte, war es 
auch von Staats wegen beschiossen und besiegelt, dafi die »Pest«, wie 
sie es nannten, eine dauernde Angelegenheit war. Der Winter wollte 
gar nicht wieder anfangen. Man sehnte sich nach dem Frost, den man 
sonst so gefurchtet hatte. Es kam kein Frost, es kam kein Schnee, es 
hagelte hochstens bisweilen, und meist regnete es. Und der Tod ging 
um und mahte und wiirgte. 

Eines Tages ereignete sich etwas ganz Seltsames. Es fiel namlich ein paar 
Stunden lang ein roter Regen, ein Blutregen, sagten die Leute. Es war 
eine Art rotlichen, ganz feinen Sandes. Er lag zentimeterhoch in den 
Gassen und fiel von den Dachern. Es war, als bluteten die Dacher. 
Da erschraken die Leute noch mehr als damals bei der Verlegung der 
Garnison. Und obwohl noch eine Kommission von der Statthalterei 
nach dem Bezirk Zlotogrod geschickt wurde und obwohl diese gelehr- 
ten Herren den Leuten in der Gemeindestube erklarten, der Blutregen 
sei ein roter Sand, der von weit her, aus der Wuste, durch ein besonde- 
res, aber der Wissenschaft bekanntes Phanomen hierhergekommen sei, 
wich die furchterliche Angst nicht aus den Herzen der Leute. Und sie 
starben noch schneller und jaher als vorher. Sie glaubten, das Ende der 
Welt sei angebrochen; und wer hatte da noch Lust zum Leben haben 
konnen? 

Die Cholera verbreitete sich mit der Schnelligkeit eines Feuers. Von 
Hutte zu Hiitte, von Dorf zu Marktflecken, von da ins nachste Dorf. 
Unversehrt blieben nur die einzelstehenden Gehofte und das Schloft 
des Grafen Chojnicki. 

Unversehrt blieb auch die Grenzschenke in Szwaby, obwohl so viele 
Menschen dort ein- und ausgingen. Es schien, als erstiirben die Bazil- 
len sofort im Dunst des Alkohols, der die Schenke umwolkte. 
Was aber den Eichmeister Eibenschutz betraf, so trank er keineswegs 
etwa aus Angst vor der Epidemic Im Gegenteil: Er trank nicht, weil er 
sich vor dem Sterben fiirchtete, sondern weil er am Leben bleiben 
mufke, am Leben bleiben, ohne Euphemia. Seit einiger Zeit sah er sie 
iiberhaupt nicht. Kapturak und Sameschkin versorgten gemeinsam den 
Laden. Es kamen iiberdies nur wenige Kunden. Weift Gott, was Eu- 



DAS FALSCHE GEWICHT 195 

phemia ganze Tage lang allein in ihrem Zimmer machte. Was machte 
sie nur? 

Eines Nachts, nachdem er sehr viel getrunken hatte, Met und Neun- 
ziggradigen durcheinander, faftte der Eichmeister Eibenschiitz den 
wirren Entschlufi, in ihr Zimmer zu gehen. Sein Zimmer war es doch 
eigentlich. Er konnte es anders nicht mehr aushalten. Je verworrener 
seine Gedanken wurden, desto klarer stand vor seinen Augen das Bild 
der Euphemia. Er hatte sie beinahe mit den Handen greifen konnen, 
die nackte Euphemia, so, wie sie vor ihm dalag. Wenigstens anriihren 
will ich sie, dachte er sich, nur anriihren! Gar keine von den Wonnen, 
die ihr Korper enthalt. Aber anriihren, anriihren! 
»Anriihren! Anriihren!« sagte er auch laut vor sich hin, wahrend er die 
Treppe hinauftorkelte. Die Tur war offen, er trat ein, Euphemia drehte 
ihm den Riicken zu. Sie sal? da im halbdunklen Zimmer und sah zum 
Fenster hinaus. Was mochte sie draufien zu betrachten haben? Es reg- 
nete wie aile Tage. In der finsteren Nacht, im Regen, was suchte sie 
eigentlich hinter den Fenstern ? Ein winziges Naphthalampchen 
brannte. Es stand hoch oben auf dem Kleiderschrank. Es erinnerte 
Eibenschiitz an einen triiben und torichten Stern. 
Warum wandte sie sich nicht um? War er so leise eingetreten? Er war 
unfahig, sich dariiber Rechenschaft zu geben, wie er eingetreten war. 
Er wuftte jetzt nicht einmal mehr, wann es gewesen sein konnte. Er 
schwankte zwar, aber es schien ihm, daft er stehe. Seit Ewigkeiten 
stand er so da. 
»Euphemia!« rief er. 

Sie wandte sich um, sie stand sofort auf, sie kam zu ihm. Sie legte die 
Arme um seinen Hals, rieb ihre Wange an der seinen und sagte: »Nicht 
kiissen! Nicht kiissen!« Sie lieft ihn wieder los. »Es ist traurig, du!« 
sagte sie. Ihre Arme hingen schlaff am Korper, zwei verwundete Flu- 
gel. Sie erschien Eibenschiitz jetzt iiberhaupt wie ein grower, schoner, 
verwundeter Vogel. Er wollte ihr sagen, sie sei ihm das Teuerste auf 
der Welt und er wolle fur sie sterben. Aber er sagte nur, gegen seinen 
Willen: »Ich fiirchte nicht die Cholera! Ich fiirchte nicht die Cholera !« 
Und dabei hatte er so viel schone, zartliche Worte im Herzen fur Eu- 
phemia. Aber die Zunge gehorchte nicht. Die Zunge gehorchte nicht. 
Er fiihlte plotzlich, daft ihm schwindelte, und er lehnte sich gegen die 
Tur. In diesem Augenblick wurde sie aufgestoften, und Eibenschiitz 
fiel nieder. Er wuftte alles, was vorging. Er sah genau, wie Sameschkin 



V)6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

eintrat, zuerst eine Sekunde erstaunt stehenblieb, dann horte er, wie 
Sameschkin mit seiner frohlich grolenden Stimme fragte: »Was macht 
er hier?« und wie Eup hernia antwortete: »Du siehst ja! Er hat .sich 
geirrt, er ist besoffen.« 

Ich bin also besoffen, dachte der Eichmeister Eibenschiitz. Er fuhlte 
sich unter den Armen angefafit, Sameschkin war es sicher nicht, es 
waren starke Arme, und zur Tiir, die noch halb offenstand, hinausge- 
schleppt. Er fuhlte, wie man ihn wieder losliefi, und er horte noch 
deutlich, dafi ihm Sameschkin eine gute Nacht wiinschte. 
Das ist wahrhaftig eine gute Nacht, dachte er. Und er schlief em, wie 
ein Hund, quer vor der Tiir der geliebten Euphemia, neben den Stie- 
feln Sameschkins. 



XXX 

Am Morgen, sehr friih, weckte ihn der Diener Onufrij. Er hatte einen 
Brief fur den Eichmeister, einen Brief mit einem Amtsstempel. Der 
Eichmeister Eibenschiitz erhob sich, zerschlagen und miide, wie er 
war, von der harten, kalten Diele. Er schamte sich ein wenig vor dem 
Diener Onufrij, weil er hier, vor der Schwelle Euphemias, geschlafen 
hatte. Er erhob sich und las den Brief mit dem Amtsstempel Dieser 
Brief war vom Bezirksarzt Doktor Kiniower abgesandt und enthielt 
folgenden Text: 

»Sehr geehrter Herr Eichmeister, pflichtgemafi teile ich Ihnen mit, daft 
Ihr Kind gestern abend gestorben ist. Ihre Frau ist in Lebensgefahr. Sie 
wird, meiner Meinung nach, die folgende Nacht nicht mehr iiberste- 
hen. 

Hochachtungsvoll Doktor Kiniower« 

Der Brief war kaum leserlich, auf einem Rezeptblatt geschrieben, in 
hastiger, medizinischer Schrift. Dennoch erschiitterte sie den Eichmei- 
ster Eibenschiitz. 

Er lieE einspannen, er fuhr nach Hause. 

Er fand seine Frau im Bett, in dem gleichen Bett, in dem er mit ihr 
immer geschlafen hatte. Jetzt war es von Medizinen aller Art umstellt, 
und es roch nach Kampfer, betaubend und erschiitternd. Sie erkannte 



DAS FALSCHE GEWICHT 197 

ihn sofort. Sie war vollkommen verandert. Sie sah blaulich aus, ihre 
Lippen waren beinahe violett. Er erinnerte sich genau an diese Lippen, 
als sie noch rot gewesen waren wie Kirschen, und daft sie ihn gekiiftt 
hatten. Er furchtete sich nicht vor der Krankheit. Was brauchte er den 
Tod zu fiirchten? Seine Frau selbst hatte Angst, ihm die Hand zu ge- 
ben, eine kraftlose, gelbe Hand, ein paarmal streckte sie sich ihm ent- 
gegen, als hatte sie keinen eigenen Willen. Einmal sagte die Frau, 
offenbar mit grower und letzter Kraft: »Mann, ich habe dich immer 
geliebt. Muft ich sterben?« Es erschiitterte den Eichmeister Eiben- 
schiitz, daft sie ihn nicht beim Vornamen, sondern nur »Mann« 
nannte. Er wuftte auch nicht, weshalb es ihn so ergriff. 
Das tote Kind war langst hinausgebracht worden, die Frau wuftte nicht 
einmal, daft es gestorben war. Die Nonne safi reglos am Fufiende des 
Bettes, den Rosenkranz mit dem Kreuz in der Hand. Sie war still wie 
ein Heiligenbild, nur ihre Lippen bewegten sich, und von Zeit zu Zeit 
hob sie die Hand und schlug das Kreuz. Am Kopfende saft Eiben- 
schiitz. Er beneidete die Nonne um ihre Unbeweglichkeit. Er muftte 
immer wieder aufstehen und ein paar Schritte machen und zum Fen- 
ster gehen und in die Triibsal des Regens hinausblicken. Er hatte gern 
seiner Frau etwas Gutes tun wollen. Musik machen zum Beispiel. Als 
Knabe hatte er einmal Geige gespielt. Manchmal ging ein Schuttern 
durch den Korper der Sterbenden. Das ganze breite Bett schiitterte 
und quietschte. Manchmal erhob sie sich steil, wie eine tote Kerze sah 
sie aus in der glatten weiften Jacke. Bald fiel sie wieder zuriick, wie eine 
umgestiirzte Sache umfallt, nicht wie ein Mensch. 
Der Doktor kam. Er konnte nicht mehr helfen. Er konnte nur erzah- 
len, daft das einzige Krankenhaus des ganzen Bezirks langst iiberfullt 
sei. Die Kranken lagen auf dem Boden. Man muftte die Neuerkrankten 
in den Hausern lassen. Er roch eindringlich nach Kampfer und Jodo- 
form. In einer Wolke aus Gestank ging er einher. 
Er ging, Und es wurde sehr einsam im Zimmer. Die Nonne stand 
plotzlich auf, um die Kissen zu richten, und das war wie ein grofies 
Ereignis. Sie setzte sich sofort wieder hin und erstarrte. Der Regen 
sang leise auf den Fensterbrettern. Manchmal horte man auch drauften 
schweres Raderrollen. Es fuhren die zwei Lastfuhrwerke der Ge- 
meinde vorbei, hoch beladen mit Sargen und schwarz iiberdeckt. Die 
Kutscher trugen schwarze Kapuzen, und das regennasse Schwarz 
schimmerte, und obwohl es noch Tag war, waren die Laternen hinten 



198 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

an dem Wagen angeziindet. Sie blinkten triibe und baumelten und 
schaukelten, und man glaubte auch zu horen, daft sie klirrten, obwohl 
es der schweren Rader wegen unmoglich war. Die schweren Pferde 
trugen iiberdies ein Gehange von viel zu zarten Glockchen, die sachte 
wimmerten. Manchmal fuhr der halboffene Wagen der Pfarrei vor- 
uber. Der Priester safi darin mit dem Allerheiligsten. Der lahme Gaul 
trottete langsam dahin, die Rader knirschten deutlich horbar im zahen 
Schlamm. Sehr selten huschte ein Fufiganger vorbei, iiberdacht von 
einem Regenschirm. Auch der sah aus wie eine festgespannte Leichen- 
plache. Im Zimmer tickte die Uhr, die Frau atmete, die Nonne flii- 
sterte. 

Als der Abend zu dammern begann, entziindete die Schwester eine 
Kerze. Einsam stand sie, unwahrscheinlich grofi und einsam in der 
Mitte des Zimmers, in der Mitte auf dem runden Tisch. Ihr Licht war 
spat und gutig. Es schien dem Eichmeister, sie sei das einzig Giitige in 
der Welt. Plotzlich erhob sich die Frau. Sie streckte beide Arme nach 
dem Mann aus und fiel sofort mit einem sehr schrillen Schrei zuriick. 
Die Schwester beugte sich iiber sie. Sie schlug das Kreuz und driickte 
der Toten die Augen zu. 

Eibenschiitz wollte naher treten, aber die Nonne wies ihn zuriick. Sie 
kniete nieder. Ihr schwarzes Kleid und ihre weifte Haube sahen auf 
einmal sehr machtig aus. Sie erinnerte an ein schwarzes Haus mit 
einem verschneiten Dach, und dieses Haus trennte Eibenschiitz von 
seinem toten Weibe. Er driickte seine heifte Stirn gegen die kuhle 
Scheibe und begann, heftig zu schluchzen. 

Er wollte sich schneuzen, suchte nach dem Taschentuch, fand es nicht, 
griff aber nach der Flasche, die er seit Wochen stets bei sich trug, zog 
sie hervor und tat einen tiefen Schluck. 

Sein Schluchzen erlosch sofort. Er ging leise hinaus, ohne Hut und 
Mantel, und stand da, im faulen, fauligen Geriesel des Regens. Es war, 
als regnete ein Sumpf hernieder. 



XXXI 

Es wurde immer schlimmer. Nun war man schon im Anfang des Fe- 
bruars. Und immer noch horte die Seuche nicht auf. Drei Leichenbe- 
statter starben. Die Gemeindediener weigerten sich, in die Totenhau- 



DAS FALSCHE GEWICHT 199 

ser zu gehen. Es kam Anweisung von der Statthalterei, die Straflinge 
als Leichenbestatter zu verwenden. 

Es wurden aus dem grofien Kerker in Zloczow die Straflinge in den 
Bezirk Zlotogrod gebracht. Man band sie, je sechs, mit Ketten zusam- 
men, mit langen Ketten, und klirrend und rasselnd stiegen sie in den 
Zug, von Gendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten begleitet. 
Man verteilte sie iiberall im Bezirk Zlotogrod, je sechs in jedem Flek- 
ken und im Stadtchen zwolf. Man zog ihnen eine besondere Art von 
Manteln mit Kapuzen an, alles mit Chloroform behandelt. In diesen 
sandgelben und sehr schrecklichen Kitteln, mit Geklirr und Gerassel, 
von den Gendarmen bewacht, traten sie in die Hauser und Hiitten, 
und mit Geklirr und Gerassel trugen sie die Sarge hinaus und luden sie 
auf die grofien Leiterwagen der Gemeinde. Sie schliefen auf dem Bo- 
den in den Gendarmeriewachstuben. 

Manchen von ihnen gelang es, an der Cholera zu erkranken. Sie kamen 
ins Krankenhaus, und es war dann so, als ob sie krank waren. Denn in 
Wirklichkeit waren sie gar nicht krank. Manchen gelang es sogar, 
scheinbar zu sterben. Das heiftt, Kapturak veranlafke die Gemeinde- 
schreiber, falsche Tote einzutragen. Von alien Straflingen starb in 
Wirklichkeit nur ein einziger, und der war alt und immer schon krank 
gewesen. Die Kliigsten entkamen. Alle anderen blieben am Leben. Es 
war, als beschixtzten sie die Ketten und die Sehnsucht nach der Freiheit 
vor der Epidemie sicherer als die VorsichtsmafSregeln des Bezirksarz- 
tes Doktor Kiniower. Auch die Deserteure, die aus Rutland kamen, 
steckten sich nicht an. Was konnen schon so winzige Bazillen gegen 
eine so grofie Sehnsucht des Menschen nach der Freiheit? 
Unter den Straflingen, die damals aus dem Zloczower Kerker nach 
Zlotogrod gekommen waren, befand sich auch Leibusch Jadlowker. 
Auch er sank eines Tages nieder, just, wahrend er den Leichenwagen 
begleitete. Er wurde von der Kette losgebunden. Er schleppte sich 
ganz langsam, vom Gendarmen begleitet, zum Zlotogroder Kranken- 
haus. Der kleine Kapturak kam, wie zufallig, des Weges daher. Jad- 
lowker machte sich den Spafi, noch einmal niederzuf alien. Kapturak 
legte den Regenschirm weg, und er und der Gendarm stellten Jadlow- 
ker wieder auf. Kapturak nahm den Regenschirm in eine Hand, und 
den andern Arm steckte er unter den Arm Jadlowkers. Der Gendarm 
ging hinterdrein. Kapturak brauchte nichts zu sagen. Er verstandigte 
sich mit dem Kranken durch schnelle Blicke und durch sehr deutlich 



200 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nuancierte Druckarten des Armes. Wohin mit dir? fragte ein Druck. - 
Sehr gefahrlich, antwortete der Armmuskel Jadlowkers. - Wir werden 
sehen, es kann sich alles glatten, sagte wieder der Arm Kapturaks, ein 
trostlicher Arm. 

So schleppten sie sich langsam zum Spital. Vor dem Eingang bekam 
Jadlowker noch eine Flasche Neunziggradigen. Er verbarg sie hurtig 
und sicher. 

XXXII 

Es war eine sehr schwere Sache mit Jadlowker, und Kapturak zerbrach 

sich den Kopf, auf welche Weise man ihn sterben lassen konnte. Zu 

sehr bekannt war er in der Gegend als der Besitzer der Grenzschenke 

und auch sonst, einfach als Jadlowker. Der Wachtmeister Slama kannte 

ihn und der Eichmeister Eibenschiitz. Aber ein glucklicher Zufall fugte 

es, dafi der Wachtmeister Slama auf Grund seines Gesuches, das er 

beim Ausbruch der Cholera eingereicht hatte, nach Podgorce versetzt 

wurde. Er war Stabswachtmeister geworden und Kommandant eines 

Gendarmeriepostens. 

Auf diese Weise war man wenigstens einen Feind los, aber es blieb 

noch der andere, der Eibenschiitz. Jadlowker und Kapturak beschlos- 

sen, den Eichmeister Eibenschiitz zu vernichten. Auf welche Weise 

vernichtet man den Eichmeister Eibenschiitz? 

Vor allem ging es darum, den Jadlowker zu verbergen. Von den Cho- 

lerakranken im Spital starb nach drei Tagen einer, es war der Bauer 

Michael Chomnik, um den kein Mensch sich kummerte. Kein Hahn 

krahte nach ihm, und ihn begrub man unter dem Namen Leibusch 

Jadlowker, zweiundvierzig Jahre alt, Beruf Gastwirt, geboren in Kolo- 

mea. Nebenbei gesagt, waren auch diese Angaben falsch. Jadlowker 

hiefi nicht Jadlowker, er war nicht zweiundvierzig Jahre alt und auch 

nicht in Kolomea geboren. 

Unter dem Namen Michael Chomnik wurde Jadlowker aus dem Spital 

entlassen, als geheilt. Aber wo ihn unterbringen? 

Kapturak holte ihn zuerst am Spitaltor ab und fuhrte ihn vorderhand 

nach Hause. Er hatte eine geschwatzige Frau, der er nicht traute, die er 

hafke. Deshalb sagte er ihr: »Ein neuer Gast ist gekommen! Mein lie- 

ber Vetter Hudes. Er mufi ein paar Tage hier wohnen.« 

Gut! Was tut man nicht fur einen Vetter? - Selbst in diesen Zeiten? 



DAS FALSCHE GEWICHT 201 

Man stellte sechs Stiihle zusammen, je drei auf einer Seite, und darauf 
bettete man den falschen Hudes. 

Er riihrte sich nicht aus dem Haus. Er schlief lange und aft viel. Kap- 
turak hatte nur ein Zimmer und eine Kiiche. Man afi in der Kiiche. 
Obwohl er nur auf sechs Sesseln schlief, schien der falsche Vetter Hu- 
des das ganze Zimmer einzunehmen. Die Stiihle wurden niemals weg- 
geriickt. Sofort, nachdem er gegessen hatte, ging der Vetter Hudes ins 
Zimmer, um sich hinzulegen. Er schlief sofort ein, satt und unbedenk- 
lich und stark, wie er war. Er schnarchte, und man glaubte, daft die 
Wande bebten. 

Was sollte man mit ihm machen? Kapturak wartete auf die Versetzung 
des Gendarmeriewachtmeisters Slama. 

In den ersten Tagen des Februar war es soweit, und Slama hatte nur 
noch ein paar Tage bis zu seiner Abfahrt. Gewissenhaft, wie er war, 
ging er iiberall hin, um Abschied zu nehmen, trotz der Cholera, und 
sogar von jenen Leuten, die er gerne verhaftet hatte. Zuerst begab er 
sich in die Grenzschenke, um dem Eichmeister Eibenschutz adieu zu 
sagen. Und er erschrak, als er den Eichmeister wiedersah. Eibenschutz 
war verwandelt. Eibenschutz war einfach betrunken. Trotzdem tran- 
ken sie noch zwei, drei Glaschen und nahmen einen herzlichen Ab- 
schied voneinander. Der Eichmeister weinte ein wenig. Der Wacht- 
meister fuhlte eine heftige Running. 

Der kleine Kapturak saft daneben und zog sein Taschentuch und 
wischte sich die Augen. Es waren trockene Augen. Er dachte nur 
daran, wie er Jadlowker verbergen konnte. Bevor der Wachtmeister 
fortging, trat er naher und flusterte: »Wifk ihr, der Jadlowker ist an der 
Cholera gestorben. Sagt nichts der Euphemia! Wir Hypothekare ha- 
ben jetzt das Hotel!« 

»Ich habe hier immer noch die Aufsicht, trotz der Cholera«, sagte der 
Eichmeister Eibenschutz. Und der Wachtmeister Slama knopfte seinen 
Mantel zu, schnallte den Sabel um und stulpte den Helm auf und 
dnickte dem Eichmeister noch einmal die Hand. »So, Jadlowker ist 
also tot!« sagte er mit einiger Feierlichkeit. Es war, als nahme er auch 
von dem vermeintlich Toten Abschied. Vor Kapturak salutierte er nur, 
mit zwei Fingern. Weg war er. Dem Eichmeister Eibenschutz schien 
es, als ware er von Gott und der Welt verlassen. Er sehnte sich nach 
Sameschkin in diesem Augenblick. Aber der schlief oben mit der ge- 
liebten, sehr geliebten Euphemia. 



202 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XXXIII 

Am einundzwanzigsten Februar, genau auf den Tag, brach plotzlich 

ein starker Frost aus, und alle Welt begriifite ihn freudig. 

Der liebe, grausame Gott schickte Cholera und Frost, je nachdem. 

Nach der Cholera begriifiten die Leute den Frost. 

Uber Nacht gefror die Struminka. Der Regen horte plotzlich auf. Der 

Schlamm in der Mitte der Strafie wurde hart und trocken, wie Glas, 

graues, triibes Glas, und von einem sehr klaren, glasernen Himmel 

schien die Sonne, sehr hell, aber auch sehr feme. Auf den holzernen 

Biirgersteigen gefror das Geriesel, der Uberrest des Regens; und die 

Menschen gingen daher mit eisenbeschlagenen Stocken, um nicht aus- 

zugleiten. Ein eisiger Wind wehte: nicht von Nord oder Slid, Osten 

oder Westen, sondern ein Wind, der aus gar keiner Richtung zu kom- 

men schien. Vom Himmel kam er vielmehr. Von oben herab wehte er, 

wie sonst nur Regen oder Schnee von oben herabfallt. 

Uber Nacht erstarb auch die Cholera. Die Kranken wurden gesund, 

und kein Gesunder mehr wurde krank. Man vergafi die Toten - wie 

man immer Tote vergifk. Man begrabt sie. Man beweint sie. Am Ende 

vergifit man sie. 

Das Leben hielt wieder seinen Einzug in den Bezirk Zlotogrod. 

Das Leben hielt wieder seinen Einzug in den Bezirk Zlotogrod, aber 

dem Eichmeister Eibenschiitz war es gleich, ob die Cholera herrschte 

oder nicht. Seit dem Tod seiner Frau trank er, nicht etwa aus Angst vor 

dem Tod, sondern aus Sehnsucht nach dem Tod, 

Er ubertraf alle Trinker. Er wohnte wieder in der Grenzschenke in 

Szwaby, sein Haus in Zlotogrod verwaltete nur die Magd, und er kum- 

merte sich nicht darum, wie sie es verwaltete. Er konnte sich iiber- 

haupt um nichts mehr kummern. 

Er trank, Er geriet in den Alkohol wie in einen Abgrund, in einen 

weichen, verfuhrerischen, sanftgebetteten Abgrund. Er, der zeit seines 

Lebens so fleiftig darauf bedacht gewesen war, sein Aussehen zu pfle- 

gen, aus dienstlichen Griinden, die eigentlich bereits Gebote seiner 

Natur geworden waren, begann jetzt, nachlassig zu werden, in der 

Haltung, im Gang, im Angesicht. Es begann damit, daft er, nachdem er 

eine ganze Nacht durchgetrunken hatte, sich in das Bett legte, ohne 

mehr auszuziehen als Rock und Weste und Schuhe. Er schnallte die 

Hosentrager ab, zu faul war er, noch Hose und S trump fe abzulegen. 



DAS FALSCHE GEWICHT 203 

Von der Kaserne her war er gewohnt gewesen, sich abends vor dem 
Schlafengehen zu waschen und zu rasieren - denn der Dienst begann 
schon urn sechs Uhr friih. Jetzt begann er, zuerst das Rasieren auf den 
Morgen zu verschieben. Als er sich aber erhob, war es schon spat, um 
den Mittag etwa, und er erinnerte sich daran, dafi es manche Leute gab, 
die sich nur jeden zweiten Tag rasierten oder rasieren liefien. Noch 
hatte er die Kraft, sich zu waschen. Noch betrachtete er sich im Spie- 
gel, und nicht etwa, um zu sehen, wie gut er aussehe, sondern viel- 
mehr, um zu erfahren, ob er noch nicht schlecht genug aussehe. Sehr 
oft iiberfiel ihn die hafiliche Lust, nachdem er aufgestanden war, seine 
Zunge genau zu betrachten, obwohl er gar kein Interesse an ihr hatte. 
Und sobald er sich selbst einmal die Zunge sozusagen aus trotziger 
Neugier herausgestreckt hatte, konnte er nicht mehr umhin, sich aller- 
hand Grimassen vor dem Spiegel zu schneiden; und manchmal rief er 
sogar seinem Spiegelbild ein paar wutende Worte zu. Manchmal 
konnte er von der Selbstbetrachtung im Spiegel gar nicht mehr los- 
kommen, es sei denn, er griff nach der Flasche, die immer am Fufiende 
seines Bettes stand. Er schuttete einen Schluck ins Wasserglas, und 
noch einen, und noch einen. Nachdem er drei solcher Schlucke getan 
hatte, schien es ihm, er sei wieder der alte Eichmeister Anselm Eiben- 
schiitz. In Wirklichkeit war er es nicht. Es war ein ganz neuer, ein ganz 
veranderter Anselm Eibenschutz. 

Jeden Tag in der Friih war er gewohnt gewesen, einen heiften Tee mit 
Milch zu trinken. Auf einmal aber, eines Nachts, kam es ihm in den 
Sinn, da£ er Tee mit Milch nicht trinken diirfe, solange Sameschkin da 
sei und er mit Euphemia nicht zusammensein konnte. Erst im Fruh- 
ling erst im Friihling! rief er sich zu. Und er begann, jeden Mor- 
gen, den Tee, den man ihm ins Zimmer brachte, in die Waschschussel 
zu giefien. Denn er schamte sich, und er wollte niemanden merken 
lass en, daft er des Morgens nicht mehr Warmes trinke. Statt des War- 
men nahm er einen Schluck Neunziggradigen. 

Es wurde ihm sofort heifi und wohl, und er sah trotz allem heiter ins 
Leben. Sehr kraftig kam er sich vor, und er glaubte, er konne alles in 
der Welt bezwingen. Sehr stark war er da, der Eichmeister Eiben- 
schutz, und der Maronibrater Sameschkin wxirde auch bald verschwin- 
den. 

Immer, in Uniform wie im Zivil, hatte Eibenschutz sehr viel auf seine 
Bugelfalten achtgegeben. Nun aber, seitdem er in den Hosen schlief, 



204 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

schien es ihm, dafi Biigelfalten nicht nur uberflussig seien: hafilich wa- 

ren sie auch. Uberfliissig und hafilich war es auch, die Stiefel vor die 

Tur zu stellen, damit man sie putze. 

Bei allem sah der Eichmeister Eibenschutz immer noch stattlich aus, 

und nur wenige konnten an ihm irgendeine Veranderung wahrneh- 

men. Es sei denn Sameschkin, der ihm eines Morgens mit all seiner 

ahnungslosen Gutmiitigkeit sagte: »Sie haben einen grofien, einen Rie- 

senkummer, Herr Eibenschutz. « 

Er stand auf und ging, ohne ein Wort. 



XXXIV 

Der arme Eibenschutz mufite bald selbst feststellen, dafi sich merk- 
wiirdige Dinge in seinem Gehirn abspielten. Er bemerkte zum Bei- 
spiel, dd& er die Erinnerung fur die jiingst vergangenen Begebenheiten 
verlor. Er wuftte nicht mehr, was er gestern getan, gesagt und gegessen 
hatte. Es ging schnell abwarts mit ihm, dem stattlichen Eichmeister. Er 
mufite so tun, als erinnerte er sich, wenn er ins Amt kam und der 
Schreiber mit ihm von einer Anordnung sprach, die er gestern gegeben 
hatte, an alles. 

Und er nahm alles zusammen, was er an Klugheit besafi, um nur vom 
Schreiber herauszukriegen, was er gestern gesagt haben konnte. 
Aufterlich sah er immer noch stattlich aus, der Eichmeister Eiben- 
schutz. Npch war er ein junger Mann, im ganzen sechsunddreifiig 
Jahre alt. 

Er hielt sich noch stark und aufrecht, zu Fufi und im Wagelchen. Aber 
in seinem Innern brannte der Schnaps, wenn er ihn getrunken hatte, 
und die Sehnsucht nach dem Schnaps, solange er ihn nicht getrunken 
hatte. In Wirklichkeit gliihte in seinem Innern die Sehnsucht nach 
einem Menschen, irgendeinem Menschen und das Heimweh nach Eu- 
phemia. Ihr Bild saft fest in seinem Herzen, zuweilen hatte er das Ge- 
fuhl, er brauchte sich nur die Brust zu offnen, hineinzugreifen, um das 
Bild hervorzuholen. Und er dachte in der Tat daran, dafi er sich eines 
Tages die Brust offnen wiirde. 

Auch sonst gingen in jener Zeit seltsame Veranderungen in ihm vor, er 
bemerkte sie auch, er bedauerte sie sogar, aber er konnte nicht mehr 
wieder der alte Mensch werden. Er wollte es gerne, und man kann 



DAS FALSCHE GEWICHT 20$ 

sagen: er sehnte sich nach sich selbst noch mehr zuriick, als er sich 
nach andern Menschen sehnte. 

Er wurde immer unerbittlicher und unnachsichtiger im Dienst. Dazu 
trug auch ein wenig der neue Wachtmeister bei, der an die Stelle Slamas 
getreten war, namlich der Wachtmeister Piotrak. Er war rothaarig, und 
es bewahrheitete sich an ihm der alte Aberglaube des Volkes, dafi die 
Rothaarigen bose Menschen seien. Auch der Glanz seiner Augen, ob- 
wohl sie knallblau waren, hatte etwas Rotliches, gleichsam Entziinde- 
tes und Brennendes. Er sprach nicht, sondern es war, als ob er knurrte, 
wenn er etwas sagte. Nur mit Widerwillen setzte er, wie das Gesetz es 
befahl, das Gewehr ab, wenn er in einen Laden trat. Er lachte selten, 
aber er erzahlte dem Eichmeister unaufhorlich lastige Geschichten, mit 
tiefem Ernst. Er brauchte nichts zu sagen, wenn sie zusammen in einen 
Laden eintraten, um Gewichte und Mafie zu prufen. Der Eichmeister 
Eibenschiitz fuhlte seinen Blick, und dieser scharfe blaue und zugleich 
rotliche Blick fiel todsicher auf den verdachtigsten der Gegenstande. 
Eines Tages gar fand der Gendarmeriewachtmeister Piotrak heraus, 
daft man auch die Qualitat der Waren prufen konnte, und der Eichmei- 
ster gehorchte ihm. Er fragte nach den Waren. Er fand verfaulte He- 
ringe und verwasserten Schnaps und von Mausen angenagtes Linoleum 
und feuchte Streichholzer, die nicht brennen konnten, und von Motten 
zerfressene Stoffe und aus Rutland herubergebrachten Samogonka, 
den selbstgebrannten Schnaps, den die armen Bauern herstellten. Er 
hatte nie daran gedacht, daft es zu den Aufgaben eines Eichmeisters 
gehorte, auch die Waren zu prufen, und der Gendarm Piotrak, der ihn 
darauf aufmerksam gemacht hatte, bekarri eine besondere Bedeutung. 
Ganz langsam, ganz sachte glitt der Eichmeister Eibenschiitz in eine 
gewisse Abhangigkeit von dem Gendarmen hinein, er gab sich keine 
Rechenschaft dariiber, aber er fuhlte es doch, und manchmal empfand 
er sogar Furcht vor dem rothaarigen Mann. Und besonders erschrek- 
kend war der Umstand, daft der Gendarm ganz enthaltsam war. Immer 
war er niichtern, und immer war er bose. Auf seinen kurzen, festen 
Fausten standen rotliche Harchen, den Stacheln eines Igels ahnlich. 
Dieser Mann war nicht nur vorschriftsmaftig bewaffnet. Er selbst war 
Waffe. 

Manchmal holte er aus seiner groften schwarzen Diensttasche ein But- 
ter brot mit gerauchertem Schinken, brach es in der Mitte entzwei und 
bot eine Halfte dem Eichmeister Eibenschiitz an. Eibenschiitz nahm 



206 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

es, obwohl er Hunger hatte, mit eimgem Widerwillen. Manchmal hatte 
er die Vorstellung, dafi ein paar der rotlichen Borsten, von denen so 
viele auf den Handeriicken Piotraks wuchsen, auch auf die Butter oder 
auf den Schinken gefallen waren. 

Zugleich fiihlte er auch, daft er ja selbst ein boser Mensch geworden 
war und dafi Piotrak gar nicht so viel iibler war als er selber. Er zog die 
flache Flasche aus seiner riickwartigen Hosentasche und trank einen 
grofien, starken Schluck. Hierauf erschien es ihm, dafi er gar nicht bose 
sei, dafi er streng sein musse, daft er nur seine Pflicht tue - und damit 
basta. Kiihn und ausgefullt von einer gewissen erhitzten Munterkeit 
drang er in die Laden ein, in die groften, in die mittleren, in die kleinen, 
in die kleinsten. Manchmal flohen die sparlichen Kunden, denn sie 
furchteten sich vor der Gendarmerie, vor der Behorde, vor dem Gesetz 
uberhaupt. Aus seiner Diensttasche zog der Gendarm das langliche, 
schwarze, in Seidenrips gebundene Dienstbuch. Sein geziickter Blei- 
stift sah beinahe aus wie sein Bajonett. 

Hinter der Theke stand der Eichmeister Eibenschiitz, und der Kauf- 
mann neben ihm schien verkummert und zusammengeschrumpft (man 
stelle sich eine zusammengeschrumpfte Null neben einer entsetzlichen 
Ziffer vor), Eibenschiitz diktierte dem Gendarmen: »Gramme!« oder: 
»drei Pfunde« oder: »sechs Kilo« oder auch: »zwei Meter«. Er stellte 
die falschen Gewichte vor sich hin, wie man Schachfiguren hinstellt. 
GrofJ und breit stand er da, und er kam sich sehr machtig vor, der 
Vollstrecker des Gesetzes. Der Gendarm notierte, der Handler zit- 
terte. Manchmal kam aus dem Hinterzimmer des Ladens seine Frau 
heraus, sie rang die Hande. 

Alle Menschen fragten sich, warum die Cholera nicht den Eichmeister 
Eibenschiitz getroffen hatte. Denn er wiitete schlimmer als die Cho- 
lera. Durch ihn kam der Korallenhandler Nissen Piczenik ins Krimi- 
nal, der Tuchhandler Tortschiner, der Milchhandler Kipura, der Fi- 
scher Gorokin, die Gefliigelverschleifterin Czaczkes und viele andere. 
Wie die Cholera wiitete er im Land, der Eichmeister Anselm Eiben- 
schiitz, Dann kehrte er heim, das heifk in die Grenzschenke nach 
Szwaby, und trank. 

Es kam vor, wahrend seiner furchterlichen Dienstvisiten, da£ die Frau 
und die Kinder eines Handlers sich vor ihm auf die Knie warfen und 
ihn anflehten, keine Anzeige zu machen. Sie hangten sich an seinen 
Pelz. Sie liefien ihn nicht gehen. Aber der rothaarige Piotrak stand 



DAS FALSCHE GEWICHT 20J 

reglos daneben. An ihn wagte sich kem Weib, kein Kind heran, weil er 
in Uniform war. Eibenschiitz sagte: Warum nicht streichen lassen? 
Wem hat er etwas getan? Alle berauben sie einander in dieser Gegend. 
Lafi ihn streichen, Eibenschiitz! Es war nur der alte, der friihere Eiben- 
schiitz, der so sprach. Der neue Eibenschiitz aber sagte: Gesetz ist 
Gesetz, und hier steht der Wachtmeister Piotrak, und ich war selbst 
zwolf Jahre Soldat, und aufterdem bin ich selbst sehr ungliicklich. Und 
Herz habe ich nicht im Dienst. Und es war, als nickte Piotrak fortwah- 
rend mit dem roten Kopf zu all dem, was da der neue Eibenschiitz 
sagte. 



XXXV 

Ende Februar erhielt Eibenschiitz die Benachrichtigung vom Ableben 
des Straflings Leibusch Jadlowker, zu dessen Beaufsichtigung die poli- 
tische Behorde aus bestimmten Griinden den Eichmeister beauftragt 
hatte. 

Am Abend des gleichen Tages, als hatte er es gewufk, erschien Kap- 
turak nach langer Zeit wieder in der Schenke, Er machte den gewohn- 
ten Buckling und setzte sich an den Tisch, an dem Eibenschiitz, Sa~ 
meschkin, Euphemia und der neue Wachtmeister Piotrak saften. 
Alle Welt spielte Tarock, Kapturak verlor. Dennoch war er ausgelas- 
sen heiter. 

Man verstand nicht, warum. Er sagte au&er den iiblichen dummen 
Wendungen und sinnlosen Spriichen, welche die Tarockspieler ge- 
brauchen, noch neue, frisch erfundene, noch sinnlosere, wie zum Bei- 
spiel: »Das Schwein hat Wind!« - oder: »Ich verliere meine Hosentra- 
ger« - oder gar: »Misthaufen ist Gold« - und ahnliches mehr. Mitten 
zwischen diese Wendungen und wahrend er so saft, als iiberlegte er 
angestrengt, welche Karte er jetzt herauszugeben hatte, sagte er, wie 
zerstreut und in dem Tonfall, in dem er soeben einen seiner unsinnigen 
Sp niche hergesagt hatte: »Herr Eichmeister, es ist Ihnen gelungen? Ihr 
Feind ist tot?« - »Welcher Feind?« fragte Eibenschiitz. »Der Jadlow- 
ker! « Und in diesem Augenblick legte Kapturak eine Karte auf den 
Tisch. »Er war unter den Choleras traflingen«, erzahlte er weiter, »und 
da hat er sich angesteckt. Er verfault seitdem Monate unter der Erde. 
Seine Wiirmer sind schon satt.« Euphemia sagte: »Es ist nicht wahr«, 



208 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sie wurde blafi. »Ja, es ist wahr!« sagte Eibenschiitz, »ich habe die 
amtliche Nachricht.« Euphemia erhob sich ohne ein Wort. Sie ging die 
Treppe hinauf, sich auszuweinen. Sameschkin, als erster, legte die Kar- 
ten hin, und er allein war es, der sagte: »Ich spiele nicht weiter!« Sogar 
der rothaarige Gendarm Piotrak legte die Karten weg, Kapturak allein 
tat noch so, als spielte er gegen sich selbst. Auf einmal legte auch er die 
Karten hin wie in einem plotzlichen Entschlufi und sagte: »Also wer- 
den wir Glaubiger jetzt diesen Gasthof erben, wir sind unser sechs.« 
Dabei sah er den Eichmeister an. 

Es war sehr still am Tisch geworden, der brave Sameschkin konnte es 
kaum ertragen. Er erhob sich und ging zum Spielkasten ans Biifett, um 
einen Dreier hineinzuwerfen. Der Spielkasten begann sofort, den Ra- 
koczimarsch mit grofiartigem Blechgetose auszuspeien. Mitten in dem 
brausenden Larm sagte Kapturak zum Gendarmen: »Wissen Sie, seit- 
dem Sie hier sind, ist unser Eichmeister sehr streng geworden. Alle 
Handler verfluchen ihn, und drei haben schon durch ihn die Konzes- 
sion verloren.« - »Ich tue meine Pflicht«, sagte Eibenschiitz. Er dachte 
dabei an Euphemia und an den alten Eibenschiitz, der er einmal gewe- 
sen war, und an seine tote Frau; und besonders an Euphemia, ja, be- 
sonders an Euphemia dachte er und daran, dafi er eigentlich schon ein 
verlorener Mann war, in dieser verlorenen Gegend. 
»Sie tun nicht immer Ihre Pflicht«, sagte Kapturak sehr leise. Aber in 
diesem Augenblick hatte der Kasten aufgehort zu brausen, und auch 
die leisen Worte klangen also sehr laut. »Wie steht es damit, daft Sie 
einen bestimmten Laden niemals inspizieren? Sie wissen, welchen ich 
meine !« - Eibenschiitz wufke wohl, welchen Laden Kapturak im Sinne 
hatte, aber er fragte: »Welchen denn?« - »Den Singer«, sagte Kap- 
turak. »Wo ist dieser Singer?« fragte der Gendarm Piotrak, »In Zloto- 
grod, mitten in 21otogrod«, erwiderte Kapturak, »gleich neben der Fi- 
scherin Chajes, der Sie vor zwei Wochen die Konzession genommen 
haben!« Der Gendarm warf einen fragenden, mifkrauischen Blick auf 
Eibenschiitz. »Morgen gehen wir nachsehen!« sagte der Eichmeister. 
Plotzlich empfand er grofte Angst vor Kapturak sowohl als auch vor 
dem Gendarmen. Er mufke noch ein Glaschen trinken. 
»Morgen gehen wir nachsehen!« wiederholte en 

Kapturak lachelte lautlos und breit. Seine diinnen Lippen entblofken 
im ganzen vier gelbe Zahne, zwei oben, zwei unten, es war, als zer- 
kaute er mit ihnen sein eigenes Lacheln. 



DAS FALSCHE GEWICHT 20<? 

Es war in der Tat so, daft der Eichmeister Eibenschiitz noch niemals im 
Laden Singer nachgesehen hatte. Es war der einzige im Bezirk, ganz 
gewift. Und trotz seiner groften Redlichkeit und amtlichen Gewissen- 
haftigkeit hatte er es doch absichtlich unterlassen, die Singers zu behel- 
ligen. 

Es war iibrigens ein so armseliger Laden, daft er sich sogar von den 
sehr armseligen dieser Gegend unterschied. Er hatte nicht einmal ein 
Schild, sondern eine gewohnliche Schiefertafel, auf der die Frau Blume 
Singer alle paar Tage und besonders, wenn es geregnet hatte und die 
Schrift unleserlich geworden war, ihren Nam en mit Kreide erneuerte. 
Es war ein winziges Hauschen: Es bestand aus einem Zimmer und 
einer Kiiche, und die Kiiche war zugleich der Laden. Auf einem winzi- 
gen Viereck freien Bodens vor dem Eingang lag ein mittlerer Misthau- 
fen und daneben eine holzerne Bude. Es war die Toilette der Familie 
Singer. In ihrer Nahe, gewohnlich auf dem Miillhaufen, iiber dem jetzt 
eine dicke Kruste Schnee und Eis lag, spielten die beiden Knaben Sin- 
ger in den sparlichen Stunden, in denen sie nicht lernen mufiten. Denn 
sie muftten lernen. Zumindest einer von ihnen sollte einmal das Erbe 
seines Vaters Mendel antreten. 

Ach! Es war gar kein materielles Erbe, Gott bewahre! Es war lediglich 
der Ruf eines Gelehrten und eines Gerechten. Im Zimmer hinter der 
Kiiche und dem Laden lernte Mendel Singer Tag und Nacht, zwischen 
den zwei Betten, von denen jedes an je einer Wand lehnte. In der Mitte 
lagen auf dem Fuftboden die Strohsacke der Kinder. 
Niemals hatte sich Mendel Singer mit etwas anderem befaftt als mit 
heiligen und frommen Worten, und es kamen auch zu ihm viele Schil- 
ler. Er lebte kiimmerlich, aber er brauchte gar nichts. Zweimal in der 
Woche, Montag und Donnerstag, fastete er. An gewohnlichen Tagen 
nahrte er sich nur von Suppe. Er schliirfte sie aus einem holzernen 
Teller, mit einem holzernen Loffel. Am Freitagabend nur aft er Forel- 
len in Sauce mit Meerrettich. Im Stadtchen kannte ihn jedermann. Man 
sah ihn jeden Tag zweimal ins Bethaus rennen, hin und zuriick. Auf 
diinnen Beinen huschte er dahin, in weiften Striimpfen und in Sanda- 
len, iiber die er im Winter schwere Galoschen stiilpte, Sein Mantel 
flatterte. Tief iiber den Augen ruhte die schwere Pelzmiitze, ein ausge- 
franstes Fell. Sein schiitterer Bart wehte. Seine harte Nasenschiene 
stieft gegen die Luft, es sah aus, als wollte sie dem Angesicht einen Weg 
bahnen. Nichts und niemanden sah er. Versunken und verloren war er 



210 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

in seiner Demut und in seiner Frommigkeit und in Gedanken an die 
heiligen Worte, die er schon gelesen hatte, und an die Freude auf jene, 
die noch zu lesen waren. Jedermann achtete ihn, auch die Bauern aus 
der Umgebung kamen, wenn sie in Not waren, ihn um Rat und Fiir- 
sprach zu bitten. Obwohl es schien, dafi er die Welt und die Menschen 
noch niemals gesehen hatte, erwies es sich doch, dafi er die Welt und 
die Menschen verstand. Seine Ratschlage waren trefflich, und seine 
Fiirbitten halfen. 

Um die irdischen Dinge des alltaglichen Lebens kummerte sich seine 
Frau. Bei den wenigen reichen und wohlhabenden Leuten Zlotogrods 
hatte sie sich das Geld fur die Konzession und fur den Einkauf der 
Ware erbettelt. Ach! Welche Waren! Man bekam Zwiebeln, Milch, 
Kase, Eier, Knoblauch, getrocknete Feigen, Rosinen, Mandeln, Mus- 
katniisse und Safran. Aber wie winzig waren die Mengen, und wie 
furchtbar war die Beschaffenheit dieser Lebensmittel! In der kleinen, 
dunkelblau getiinchten Kuche mischte sich alles. Es sah aus, als wenn 
Kinder Verkaufer spielten. Das Sackchen mit den Zwiebeln und dem 
Knoblauch ruhte auf dem grofien Eimer, in dem sich die saure Milch 
befand. Rosinen und Mandeln standen in Haufchen tiber dem Weifi- 
kase, durch ein Fettpapier von ihrem Untergrund geschieden. Neben 
den zwei Rahmtopfchen hockten, eine Art von Wachlowen, die zwei 
gelben Katzen. In der Mitte, vom Plafond herab, hing an einem 
schwarzen, holzernen Haken eine grofle, verrostete Waage. Und die 
Gewichte standen auf dem Fensterbrett. 

So arme Leute gab es in der Gegend nicht, die bei Blume Singer einge- 
kauft hatten. Und dennoch konnten sie immerhin noch leben - so hilft 
Gott den Armen. Ein klein wenig Herz schenkt Er den Reichen, des- 
halb kommt von Zeit zu Zeit einer von ihnen und kauft irgend etwas, 
was er nicht braucht und was er auf der Strafte fortschiitten wird. 



XXXVI 

Dies also war der Laden, in den am nachsten Morgen der Eichmeister 
Eibenschutz mit dem Gendarmen Piotrak eindrang. Obwohl ein star- 
ker Frost herrschte, sammelte sich doch ein gutes Dutzend Leute vor 
dem Laden an, und aus der Judenschule gegenuber liefen die Kinder 
hinaus. Es war etwa acht Uhr morgens, und Mendel Singer kam aus 



DAS FALSCHE GEWICHT 211 

dem Bethaus. Als er die Ansammlung vor dem Hauschen sah, erschrak 
er, denn er furchtete, es brenne bei ihm. Einige der Neugiengen liefen 
ihm entgegen und riefen: »Der Gendarm ist gekommen! Der Eichmei- 
ster ist gekommen!« Er stiirzte hinein. Und er erschrak noch mehr, als 
er vor einem Brand erschrocken ware. Ein leibhaftiger Gendarm mit 
einem Gewehr stand da, indes Eibenschiitz die Waren, die Waage und 
die Gewichte priifte. Die zwei Katzen waren verschwunden. 
Der Rahm war sauer, die Milch geronnen, der Kase wurmig, die Zwie- 
beln faul, die Rosinen verschimmelt, die Feigen verdorrt, die Waage 
haltlos und die Gewichte falsch. Man schritt zur Amtshandlung. Man 
mufke aufschreiben. Als der Gendarm sein grofies schwarzes Kaliko- 
Dienstbuch herauszog, war es Mendel Singer und seiner Frau, als 
zuckte er gegen sie beide die gefahrlichste von alien seinen gefahrlichen 
Waffen. Der Eichmeister diktierte, und der rote Gendarm schrieb. Ein 
Feuer ware eine Kleinigkeit gewesen. 

Die Konventionalstrafe betrug genau zwei Gulden funfundsiebenzig 
Kreuzer. Bevor sie nicht erledigt waren, konnte man den Handel nicht 
weiterfuhren. Der Ankauf einer neuen Waage und neuer Gewichte ko- 
stete weitere drei Gulden. Woher nimmt ein Mendel Singer zwei Gul- 
den funfundsiebenzig und weitere drei? Gott ist sehr giitig, aber Er 
kummert sich nicht um so winzige Betrage. 

All dies iiberlegte Mendel Singer. Deshalb ging er an den Eichmeister 
heran und nahm die Pelzmutze ab und sagte: »Euer Hochgeboren, 
Herr General, ich bitte Sie, streichen Sie alles aus. Sie sehen, ich habe 
Frau und Kinder!« 

Eibenschiitz sah die hageren, erhobenen Hande, die mageren, knochi- 
gen Wangen, den schutteren, armen Bart und die schwarzen, feuchten, 
flehenden Augen. Er wollte etwas sagen. Er will zum Beispiel sagen: 
Es geht nicht, lieber Mann, es ist Gesetz. Er will sogar sagen: Ich hasse 
dieses Gesetz und mich auch dazu. Aber er sagt nichts. Warum sagt er 
nichts? Gott hat ihm den Mund verschlossen, und der Gendarm stofk 
Mendel Singer fort. Ein Blick von ihm geniigt. Ein Blick von ihm ist 
wie eine Faust. Und sie gehen, mit Gewichten, Waage und dem 
schwarzen Buch. 

Wenn die Frau Mendel Singer heute noch etwas verkauft, und sei es 
auch nur eine einzige Mandel, wird sie auf vier Monate eingesperrt. 
Die paar Neugierigen und die Kinder, die drauften gelauert haben, lau- 
fen davon. 



212 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Das hatten wir nicht tun diirfen!« sagt Eibenschiitz zu Piotrak. »Es 

ist trotzdem ein redlicher Mann!« 

»Redlich ist niemand!« sagt der Gendarm Piotrak, »und Gesetz ist Ge- 

setz.« Aber selbst dem Gendarmen ist nicht ganz wohl. 

Sie fuhren ins Amt und hinterlegten die Sachen beim Schreiber und 

hatten beide das Gefiihl, dafi sie etwas trinken mtifiten. Gut! Sie fuhren 

also zur Schenke Litwaks. Es war heute Mittwoch, also Markttag in 

Zlotogrod, und die Schenke war voll von Bauern, Juden, Viehhandlern 

und Rofitauschern. Als sich der Eichmeister und der Gendarm setzten, 

an den grofien Tisch, an dem auf glattgescheuerten Banken schon gute 

zwei Dutzend Leute nebeneinanderhockten, ging zuerst ein verdach- 

tiges Murmeln und Raunen los, dann begann man lauter zu sprechen, 

und irgendeiner nannte den Namen Mendel Singer. 

Im gleichen Augenblick erhob sich ein untersetzter, breitschultriger, 

langbartiger Mann von der Bank gegeniiber. In einem grofSen Bogen 

spie er iiber den Tisch, iiber alle Glaser hinweg, mit meisterlicher Ziel- 

sicherheit genau in das Glas des Eichmeisters. »Alles andere kommt 

noch!« schne er, und ein grofier Tumult entstand. Alle erhoben sich 

von den Banken, und Eibenschiitz und der Gendarm versuchten, iiber 

den Tisch hiniiberzusteigen. Sie erreichten die Tiir aber erst in dem 

Augenblick, in dem der breitschultrige Bartige sie aufgestofien hatte. 

Eine Weile sahen sie ihn noch auf der weifien, beschneiten Landstrafte 

dahinlaufen. Er lief sehr schnell, ein dunkler, geduckter Strich auf dem 

weifien Schnee, dem Tannenwald zu, der zu beiden Seiten die Strafie 

saumte. Er verschwand links, als hatte ihn der Wald verschluckt. 

Es war Nachmittag, es begann schon zu dunkeln. Der Schnee nahm 

eine leicht blauliche Farbung an. 

»Wir werden ihn schon kriegen«, sagte der Gendarm. 

Sie kehrten zuriick. 

Es liefi dem Gendarmen Piotrak wirklich keine Ruhe. Hatte er nicht 

die voile Riistung gehabt und die schweren Winterstiefel, die ihm aber 

das Reglement vorschrieb, so hatte er wohl den Leichtfii&gen verfol- 

gen konnen. Er war aber sicher, daft er ihn noch finden und eruieren 

konnte, und das trostete ihn. Wahrscheinlich war er ein schwerer Ver- 

brecher. Hoffentlich war er ein schwerer Verbrecher. 

Der Gendarm Piotrak verhorte alle Leute in der Schenke, aber kein 

einziger wollte den Missetater kennen. »Er ist nicht aus dieser Ge- 

gend!« sagten die Leute. 



DAS FALSCHE GEWICHT 213 

Eibenschiitz aber hatte das Gefiihl, dafi er den Mann schon ir- 

gendwo gesehen hatte. Er wufite nicht, wo und wann. Nacht 

herrschte in seinem armen Kopf, und es wollte nicht dammern. Er 

trank, damit es lichter werde, aber es wurde nur noch dunkler. 

Ringsum spiirte er eine grofte Gehassigkeit der vielen Menschen, wie 

noch nie vorher. 

Sie erhoben sich endlich, stiegen in den Schlitten und fuhren nach 

Szwaby. »Kapturak wird wissen, wer es war!« sagte unterwegs der 

Gendarm. 

Dem Eichmeister fiel nichts ein. Nach einer Weile sagte er: »Mir ist 

es gleichgiiltig!« 

»Mir nicht!« sagte der hartnackige Piotrak. 



XXXVII 

Seit mehreren Wochen war nun schon der Jadlowker im Hause 
Kapturaks gesessen. Er konnte es nicht aushalten, er machte also 
einen Ausflug. Er hatte gedacht, an einem Markttag in Zlotogrod, in 
der Schenke Litwaks gar, wiirde er gar keinen Bekannten treffen. 
Siehe da: es kamen der neue Gendarm und der alte Feind, der Ei- 
benschiitz. Das war unbedacht, ja leichtsinnig, durch das Ausspuk- 
ken Aufmerksamkeit zu erregen. 

Er nahm einen sehr umstandlichen Weg, um aus dem Wald, in den 
er gefluchtet war, nach dem Hause Kapturaks zuriickzugelangen. 
Der Frost war stark, zum Gliick konnte man sich trauen, iiber die 
Siimpfe zu gehen. Er wartete im Walde, bis die Nacht vollends her- 
eingebrochen war. Dann marschierte er siidwarts, den ganzen Bogen 
lang, den die Siimpfe um das Stadtchen bildeten. Der Frost war 
zwar ein Gliick, aber man fror entsetzlich. Es stach und es peitschte 
den ganzen Korper. Im kurzen Pelz, den Jadlowker trug, fror er ge- 
nauso, als wenn er nur im Hemd gewesen ware. 

Es war schon tiefe Nacht, als er das Haus Kapturaks erreichte. Jetzt 
begann seine Furcht, die er unterwegs mit aller Gewalt unterdriickt 
hatte, ihn mit verdoppelter Starke zu erfullen: namlich die Furcht, 
dafi der Gendarm schon auf ihn warten konnte. Er entschlofi sich, 
ganz leise an den Fensterladen zu pochen. Er atmete auf, als er Kap- 
turak heraustreten sah. Kapturak winkte ihn heran. Eine neue 



214 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Furcht ergriff ihn: konnte man selbst Kapturak trauen? - Wem denn 

sonst? sagte er sich im nachsten Augenblick, und er ging heran. 

Sie traten ein, Kapturak schickte seine Frau hinaus in die Kiiche. »Setz 

dich, Jadlowker«, sagte Kapturak. »Was machst du? Willst du dich 

selbst und mich umbringen? Bist du ein erwachsener Mensch? Bist du 

ein Junge? Machst du Streiche? Schulbubenstreiche?« »Ich konnte 

nicht anders«, sagte Jadlowker. 

»Man hat dich wahrscheinlich erkannt«, sagte Kapturak. »Ich habe den 

Vorfall ja gleich nachher von Litwak erzahlt bekommen. Ich wufite 

sofort, dafi du es bist. Ich habe mir naturlich nichts anmerken lassen. 

Was willst du nun tun?« 

Der halberfrorene und ratlose Jadlowker - seine Ohren brannten ganz 

rot, zu beiden Seiten, rote Lampen - sagte: »Ich weifi nichts !« 

»Ich habe beschlossen«, erklarte Kapturak, »dich einzusperren. Besser 

als im Kerker in Zloczow wirst du es bei mir haben.« 

Wo verbirgt man einen gefahrdeten Gast? Unerfahrene Leute verbergen 

ihn im Keller. Und das ist falsch. Wenn eine Hausdurchsuchung 

kommt, gehen die Gendarmen zuerst in den Keller. Aus einem Keller 

kann man nicht fliehen. Erfahrene Leute aber sperren einen gefahrdeten 

Gast auf dem Dachboden ein. Dahin kommen die Gendarmen zuletzt. 

Aufterdem hort man alles von oben her besser. Drittens gibt es eine 

Dachluke. Man hat frische Luft, und man kann rechtzeitig entkommen. 

So stieg auch Jadlowker die steile Leiter empor, die zum Dachboden 

fiihrte. Einen Stuhl und einen Strohsack, eine Flasche Schnaps und 

einen Krug Wasser bekam er noch. 

Kapturak wunschte ihm gute Nacht, versprach, ihm regelmaftig Essen 

zu bringen, und ging. Aus Vorsicht schob er den Riegel vor, der an der 

Falltur des Dachbodens angebracht war. Als er die Leiter hinunterge- 

stiegen war, blieb er eine Weile stehen und iiberlegte. Er iiberlegte, ob 

er die Leiter wegnehmen sollte oder nicht. Und er entschlofl sich end- 

lich, sie wegzunehmen. Er trug sie in den Hof und lehnte sie an das 

Dach. Er hatte beschlossen, dem Jadlowker Nahrung nur durch die 

Dachluke zu reichen. 

Auf dem Dachboden war es kalt, kalter noch als in der Zelle, und 

Jadlowker rifi den Strohsack am Kopfende auf und steckte sich ganz in 

den Sack hinein, und liber den Kopf stiilpte er den Pelz. Durch die 

offene Dachluke, die nicht zu schliefkn war, schimmerte weifiblau die 

frostklare Nacht. Bevor er einschlief, sah er noch die reglosen Fleder- 



DAS FALSCHE GEWICHT 21$ 

mause, die iiber ihm ringsum an den Wascheschniiren ihren Winter- 
schlaf hielten. Zum erstenmal in seinem Leben hatte der wilde Jadlow- 
ker Angst. Und aus Angst allein verfiel er in einen tiefen, dennoch 
unruhigen Schlaf. 

Friih am Morgen erwachte er, der bittere Hauch des eisigen Morgens 
weckte ihn. Er kroch muhsam aus seinem Sack, tat einen Schluck aus 
der Flasche, zog sich den Pelz an und ging zur Dachluke. Scharen 
frisch erwachter Krahen zogen ihre Kreise um die Dacher, es sah aus, 
als flogen sie nur, um sich zu erwarmen. Er sah die rote Sonne aufgehn, 
sie sah aus wie eine Orange, und bei ihrem Anblick bekam er Hunger. 
Er wuftte, er muftte noch gute zwei Stunden warten, bevor Kapturak 
mit dem Essen kommen wtirde. Er horchte nach der Falltiir hin, gute 
zwei Stunden lang beschaftigte ihn nichts anderes als sein Hunger. Es 
war, als ware der Hunger eine Angelegenheit des Kopfes und nicht des 
Magens. Kapturak erschien endlich mit Tee und Brot, aber nicht an der 
Tur, sondern an der Luke. Alles reichte er sehr langsam hinein, auf 
dem kurzen Weg, die Leiter hinauf, war der Tee schon kalt geworden, 
so grofi war die Kalte. Jadlowker trank und aft hastig. »Nichts 
Neues?« fragte er nur. »Noch nicht«, antwortete Kapturak, stieg wie- 
der die Leiter herunter und stellte sie ein biftchen seitwarts. 
Nachdem Jadlowker gesattigt war, begannen ihn andere Gedanken 
und Empfindungen zu beschaftigen. Er dachte plotzlich und ohne zu 
wissen, warum, an die schonen Karpfen und Hechte, die er auf dem 
Fischmarkt am Donnerstag immer verkauft hatte. Es beschaftigte ihn 
der Gedanke, daft er, um sie zu toten, sie am Schwanz gepackt und 
gegen einen Prellstein gestoften hatte, und dabei erinnerte er sich 
daran, daft man Menschen auf die umgekehrte Weise umbringt. Man 
nimmt einen Stein - es kann auch ein Zuckerhut sein - und stoftt ihn 
gegen den Kopf des Menschen. Seltsame Gedanken kommen einem, 
wenn man auf einem Dachboden eingesperrt ist. Man denkt daran zum 
Beispiel, daft man Feinde im Leben hat, und der groftte aller Feinde ist 
der Eichmeister Eibenschutz, der Urheber alien Unglucks, der Liebha- 
ber der Euphemia obendrein. Sameschkin ist auch ihr Liebhaber, aber 
das gehort in ein anderes Kapitel. Sameschkin hat alte Stammrechte, 
und aufterdem ist er kein Beamter. Und aufterdem hat er Jadlowker 
nicht ins Kriminal gebracht. Wenn der Eibenschutz nicht vorhanden 
ware, so konnte man ruhig leben. Im Fruhling geht Sameschkin weg. 
Der Wachtmeister Slama ist versetzt. Wer erkennt den Jadlowker in 



Zl6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

einem blonden Vollbart? So viele fremde Menschen kommen in diese 
Gegend! Man heifk ja gar nicht Jadlowker. Man hat schon einmal sei- 
nen Namen geandert! Man hat schon Fische beim Schwanz gepackt 
und mit dem Kopf gegen den Prellstein gehauen. Umgekehrt macht 
man es mit den Menschen. Man nimmt einen Zuckerhut und schlagt 
hinterriicks damit auf den Kopf? Aber wo? Aber wann? Eibenschiitz 
ist nicht in der Nacht da, im Hafen von Odessa. 

Wenn Eibenschiitz nicht ware, so konnte man ruhig leben. Er ist aber 
da. Er darf nicht mehr dasein, er darf nicht mehr dasein, denkt Jad- 
lowker. Er darf nicht mehr dasein. Daran denkt er fortwahrend. Die 
Krahen setzen sich manchmal an die Dachluke. Jadlowker wirft ihnen 
einige Speisereste zu. Er sitzt und friert und wartet auf den Fruhling, 
auf die Freiheit und auf die Rache. 



XXXVIII 

Eines Tages geschah etwas Sonderbares: der staatliche Oberforster 
Stepaniuk fand im Grenzwald einen erhangten Mann. Er war kalt, 
starr und blau, als man ihn abschnitt. Der Bezirksarzt Kiniower 
sagte, er sei schon viele Tage tot, vor einer Woche etwa hatte er sich 
erhangt. Es war ein unbekannter Mann, und der Gendarm Piotrak 
verstandigte den Untersuchungsrichter. Der kam aus Zlotogrod. Er 
iiberfuhrte die Leiche ins dortige Schauhaus. Aus dem ganzen Bezirk 
wurden die Einwohner, je ein Dutzend, zu bestimmten Tagen vorge- 
laden, damit sie den Toten agnoszierten. Man hatte sie gar nicht vor- 
zuladen brauchen. Aus Neugier allein stromten sie zusammen. Auch 
Sameschkin, obwohl er nicht vorgeladen war, weil er nicht zum Be- 
zirk gehorte, ging hin, aus Neugier. Er allein aber erkannte den To- 
ten: es war der Pferdehirt Michael Klajka. Vor zwei Jahren hatte man 
ihn eingesperrt. Er hatte zu jenen Straflingen gehort, die man zur Be- 
stattung der Cholerakranken bestimmt hatte. Und es war geschrieben 
und versiegelt, dafi er im Spital an der Cholera verstorben war und an 
dem und dem Tag bestattet. 

Wie? Hatte er sich von den Toten erhoben, um sich dann im Grenz- 
wald zu erhangen? Eine Untersuchung wurde eingeleitet. Auch einige 
Straflinge, die man aus dem Gefangnis holte, erkannten den Mitge- 
fangenen, den Michael Klajka. Es dauerte nur eine Woche, und man 



DAS FALSCHE GEWICHT 21J 

verhaftete zwei Bezirksschreiber, und sie gaben zu, daft sie bestochen 
worden waren und falsche Abgangszeugnisse ausgestellt hatten. Sie ge- 
standen auch, daft Kapturak sie bestochen hatte. 
Man wartete noch eine Woche. Man verstandigte vom Ergebnis der 
Untersuchung den Gendarmeriewachtmeister Piotrak und den Eich- 
meister Eibenschiitz, und man gab ihnen den Auftrag, weiterhin, wie 
bisher, mit Kapturak in der Grenzschenke zu verkehren. Sie verkehr- 
ten auch weiterhin mit ihm und spielten Tarock. Er fuhlte sich ganz 
sicher. Er wufite nichts von der Verhaftung der beiden Bezirksschrei- 
ber, und das Geld, das ihm die Verwandten der totgemachten Straf- 
linge bezahlt hatten, war langst in Sicherheit, jenseits der Grenze, beim 
Geldwechsler Piczemk. 

Ein paar Tage spater, ziemlich friih am Morgen, kurz, nachdem er 
Jadlowker das Fruhstiick auf der Leiter hinaufgetragen hatte, horte er 
ein wohlbekanntes Klingeln, das Klingeln eines Schlittens. Der Schlit- 
ten hielt, das Klingeln zitterte noch eine Weile nach, kein Zweifel, daft 
der Schlitten vor seinem Tor hielt. Ihm ahnte nichts Gutes, was macht 
so friih am Morgen ein Schlitten vor seinem Hause? Er offnete die 
Fensterladen. Im Schlitten safien der Gendarm Piotrak und der Eich- 
meister Eibenschiitz. Er hatte gar keine Zeit mehr, die Leiter umzule- 
gen. Er iiberlegte sehr schnell, daft es besser ware, sofort hinauszulau- 
fen und die grauenhaften Gaste zu begriiften. Er lief also hinaus und 
rief, schon von der Tur her: »Welch eine Uberraschung! Welch eine 
Uberraschung! « 

Beide stiegen ab und Eibenschiitz sagte: »Wir wollten Ihnen einen 
kurzen Besuch machen. Es ist noch zu friih, Litwak hat noch geschlos- 
sen. Wir bleiben nur ein Viertelstiindchen bei Ihnen, wenn Sie erlau- 
ben, Zeit genug, um einen Schnaps und einen Tee zu trinken. Das 
haben Sie doch, wie?« - Es war fur Kapturak kein Zweifel mehr, daft 
sie gekommen waren, weil sie ihn verdachtigten, er beherberge jeman- 
den, oder er verberge zumindest etwas Verdachtiges. Er sagte: »Ich 
gehe den Schnaps holen«, und er verlieft das Zimmer und kletterte sehr 
geschwind die Leiter hinauf. »Sie sind da«, rief er durch die Luke. 
Hinunter ging er nicht mehr die einzelnen Stufen, er glitt hinunter, mit 
Handen und Schenkeln an beiden Leisten der Leiter. Er rannte in die 
Kiiche, um den Schnaps zu holen. Freudig trat er wieder ins Zimmer 
mit der Flasche und drei Glaschen. 
»Haben Sie einen Keller?« fragte der Gendarm Piotrak. 



2l8 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Ja«, sagte Kapturak, »aber den Schnaps habe ich nicht aus dem Keller 
geholt. Es ist zu kalt im Keller.« 
»Woher haben Sie ihn sonst geholt?« fragte Piotrak. 
»Vom Dachboden«, sagte Kapturak und lachelte. Es war, als hatte er 
einen Witz gemacht und als entschuldigte er sich zugleich dafiir, dafi er 
einen gemacht hatte. 

Der rothaarige Gendarm hielt es wirklich fiir einen Witz und lachte. 
Kapturak klopfte sich auf die Schenkel und beugte sich vor. Aus Erge- 
benheit, nicht aus Eitelkek, lachte er mit. Der Gendarm und der Eich- 
meister leerten ihre Glaser und standen auf. »Danke fiir die Bewir- 
tung«, sagten sie wie aus einem Munde. Sie stiegen wieder in den 
Schlitten, Kapturak begleitete sie. Er sah, dafi sie in die Richtung Poz- 
loty dahinglitten. 

Als sie seinen Augen entschwunden waren, nahm er die Leiter aus dem 
Hof und stellte sie wieder in den Hausflur. Er war entschlossen, Jad- 
lowker wegzuschicken, ihm ahnte nichts Gutes. Flink stieg er hinauf 
und offnete die Falltiir und trat ein. Er sah Jadlowker unruhig hin und 
her wandeln, zwischen den Stricken, an denen die Fledermause hingen, 
»Setz dich!« sagte Kapturak, »wir miissen reden!« -Jadlowker wufite 
sofort, worum es sich handelte. »Ich muft also fort«, sagte er, »aber 
wohin?« - »Wohin, das miissen wir eben iiberlegen!« erwiderte Kap- 
turak. »Es scheint, dafi man dich nicht mehr zu den Toten rechnen 
will, daher dieser unerwartete Besuch bei mir. Es tut mir leid, ich mufi 
dich wegschicken. Du muEt selbst zugeben, dafi ich dich wie ein eige- 
nes Kind behandelt habe, obwohl ich dein Glaubiger bin. Und keinen 
Pfennig habe ich von dir genommen!« - »Wohin soil ich gehen?« 
fragte Jadlowker. Er saft jetzt frierend im Pelz auf dem Sessel. Durch 
die kleine, runde Dachluke, die wie ein Schiffsfenster aussah, stiirzte 
der Frost herein, ein grauer Wolf, ein wutender, ein hungriger grauer 
Wolf. Es war dunkel, obwohl die Sonne draufien schien. Aber durch 
die runde Dachluke schickte der eisblaue, unerbittliche Himmel nur 
sparliches Licht auf den Dachboden. Es herrschte da oben eine Art 
frostigen blauen Halbdunkels. Beide Manner sahen fahl aus. 
Wohin? Wohin? - das war die Frage. »Die anderen alle«, sagte Kap- 
turak, »habe ich befreit und habe sie laufen lassen, wohin sie wollten. 
Es war vielleicht ein Fehler. Ich hatte sie vielleicht zusammenhalten 
miissen. Aber mit dir - ich weift nicht, was da geschehen soil. Ich 
glaube, es ist am besten, du gehst nach Szwaby zuriick, nach Hause. 



DAS FALSCHE GEWICHT 219 

Wer sollte dich dort erkennen? Euphemia wird dich nicht verraten, 

und Sameschkin ist ein dummer Kopf, er wird dich nicht erkennen. 

Bleibt noch der Eibenschiitz ubrigl Allerdings, der Eibenschiitz!« - 

»Was macht man also mit ihm?« fragte Jadlowker. Er erhob sich. Er 

konnte unmoglich sitzen bleiben, wenn es sich um Eibenschiitz han- 

delte. 

Kapturak, der die ganze Zeit still gestanden war, begann, auf und ab zu 

wandeln. Es sah so aus, als wollte er es sich warm machen, aber in 

Wirklichkeit fror er gar nicht, es war ihm geradezu heift vor lauter 

Nachdenken. Lange schon hatte in ihm der Gedanke gelebt, daft es in 

dieser Welt besser ware, wenn der Eichmeister Eibenschiitz nicht da 

ware. 

»Der Eibenschiitz muE weg«, sagte er - und blieb stehen. 

»Wieso?« fragte Jadlowker. 

»Zuckerhut!« sagte Kapturak, — nichts anderes. Er blieb eine Weile 

stehen. Dann sagte er: »Wir fahren hinunter, heute abend. Zucker- 

hut!« wiederholte er. »Ich hole dich, Jadlowker! « 

Bevor er den Dachboden verlieft, machte Kapturak noch ein Zeichen 

mit beiden Handen. Es sah aus, als hielte er einen Zuckerhut in den 

Handen und als schliige er ihn auf irgend jemanden nieder. 

Leibusch Jadlowker nickte. 



XXXIX 

Am Abend fuhren sie im Schlitten hinaus, nach Szwaby, Kapturak und 

Jadlowker. Jadlowker hiillte sich in einen Schafspelz mit hohem Kra- 

gen, damit man ihn nicht erkenne. 

Es war bereits finstere Nacht, als sie ankamen und durch das breite, 

offene Tor der Grenzschenke hineinfuhren. Jadlowker pochte an die 

Hintertur, das hochgewolbte, rot angestrichene Tor, das zur Land- 

strafte fuhrte. Kapturak ging geradewegs in die Schenke. 

Es gab wenig Gaste heute, es war Dienstag. Es dauerte lange, ehe Onu- 

frij das Pochen horte und hinausging, um das riickwartige Tor zu off- 

nen. 

»Ich bin es«, sagte Jadlowker, »laft mich schnell hinein. Ist der Gen- 

darm da?« 

»Komm, Herr«, sagte Onufrij, der gar nicht wufke, daft Leibusch Jad- 



220 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

lowker zu den Toten gehorte. »Bist du aus dem Kriminal entkom- 

men?« 

»Ja, mach schnell!« sagte Jadlowker, und dann, als sie an die Laterne 

kamen: »Erkennt man mich?« 

»Nur an der Stimme, Herr!« sagte Onufrij. 

»Wo ist Euphemia?« fragte Jadlowker. 

»Noch im Laden !« fliisterte Onufrij. »Und vor dem Laden steht Sa- 

meschkin mit den Kastanien.« 

»Es ist gut«, sagte Jadlowker. »Geh hinein!«. 

Der Hund, Pavel hiefi er, sah Jadlowker entgegen, mit freudig schnup- 

pernder, erhobener Schnauze und wedelndem Schwanz. »Bell nicht! 

Schrei nicht !« fliisterte ihm Jadlowker zu. Der Hund sprang still und 

schweigsam an ihm hoch und leckte ihm die Hande, 

Jadlowker sah zuerst durch die Fenster, die in den Hof gingen. Die 

Schenke war beinahe leer. Er hatte nicht vergessen, unterwegs aus dem 

Schlitten zu steigen, als sie, Kapturak und er, an der gefrorenen Stru- 

minka vorbeifuhren, und einen der kantigen, grofien Steine auszugra- 

ben, aus dem Schnee, deren es dort eine Unzahl gab. Diesen Stein band 

er ins Taschentuch. 

Er ging vom Fenster zuriick, lauerte vor dem Tor. Eine ungeheuerli- 

che, unwiderstehliche Lust erfullte ihn, zu toten. Er dachte gar nicht 

mehr an den eigentlichen Zweck seines Mordens, sondern nur an das 

Morden selbst. Er dachte gar nicht an seine eigene Sicherheit, sondern 

nur an das Toten. Eine grofte Welle von Wollust, von Hafi und Toten- 

wollen ging durch sein Herz. Erbarmungslos war alles in dieser Nacht 

und in dieser Welt. Fremd, kalt und silbern, in einem frostigen, nahezu 

gehassigen Silber standen heute die Sterne am Himmel. Von Zeit zu 

Zeit sah Jadlowker empor. Heute hafite er den Himmel und die Sterne. 

Und im Kerker hatte er sich so nach ihnen gesehnt! 

Warum hafite er heute den Himmel, der Jadlowker? Glaubt er, daft 

Gott oben sitzt, hinter den Sternen? Vielleicht glaubt er es, aber er will 

es sich nicht zugeben. Immer wieder, immer wieder sagt eine Stimme 

in ihm: Gott ist da. Gott sieht dich. Gott weift, was du vorhast. Aber 

eine andere Stimme in ihm antwortet: Gott ist nicht da, der Himmel ist 

leer, und die Sterne sind kalt und fern und grausam, und du darfst 

machen, was du willst. 

Also wartet Jadlowker auf das bekannte Schlittengeklingel des verhafi- 

ten Eibenschiitz. Das Taschentuch, in dem der Stein eingewickelt liegt, 



DAS FALSCHE GEWICHT 



hat er mit den Zipfeln urn sein Handgelenk gebunden; um das rechte 
Handgelenk. Er wartet. Eibenschiitz wird kommen. 



XL 



Eine halbe Stunde spater kam Eibenschiitz wirklich, leider in Beglei- 
tung des Gendarmen Piotrak. Jadlowker, der gedacht hatte, der Eich- 
meister wiirde allein kommen, sah bereits, dafi er nichts auszurichten 
hatte. Vorerst verbarg er sich im Schatten der Scheune, die am Rande 
des Hofes gegeniiber dem Tor stand, und wartete. Als er sah, dafi der 
Eichmeister den Gendarmen vorausgehen liefi und daft er selbst den 
Schimmel ausspannte, erbebte sein Herz in wonniger, morderischer 
Hoffnung. Bald danach naherte sich auch der Eichmeister dem Stall, 
um den Schimmel anzubinden an den grofien, eisernen Ring, der an 
der Stalltiir angebracht war, 

Wahrend Eibenschiitz den Schimmel anband, stiirzte Jadlowker aus 
dem Stall hervor. Eibenschiitz wollte noch einen Schrei ausstoften, 
aber er sank sofort nieder, der Schrei erstarb in der Kehle. Jadlowker 
schlug mit dem Taschentuch, in dem der kantige Stein eingebettet war, 
gegen die Stirn seines Feindes, des Eichmeisters. Eibenschiitz fiel mit 
gewaltigem, erschreckendem Krach zu Boden. Er war ein schwerer 
Mann, fur so schwer hatte ihn Jadlowker niemals gehalten, Der Schim- 
mel war noch nicht gemigend festgekoppelt gewesen, die Schlinge loste 
sich, und der Gaul begann durch den Hof zu wandern, mit schleifen- 
den Ziigeln. Jadlowker beugte sich zuerst iiber den Eichmeister Eiben- 
schiitz. Kalt und tot war er, keinen Atemzug gab er von sich. Dann 
fafke Jadlowker den Schimmel und koppelte ihn fest an den eisernen 
Ring der Scheunentur. Hierauf kroch er in die Scheune. 
Zwei Stunden spater erst kam der Wachtmeister Piotrak hinaus, um 
nach Eibenschiitz zu sehen. Vor der Scheune fand er den Eichmeister 
anscheinend leblos, und der Gendarm rief den Knecht Onufrij, und sie 
beide schleppten den schweren Kadaver bis zum Schlitten. Onufrij 
holte Stricke, man schnallte den unbeweglichen Mann fest. Quer lag er 
iiber dem winzigen Schlitten. Man spannte den Schimmel an, der Gen- 
darm nahm die ZiigeL Man fuhr nach Zlotogrod, geradewegs ins Kran- 
kenhaus. 
Der Wachtmeister Piotrak glaubte zwar, er fiihre einen Toten; den 



ROMANE UND ERZAHLUNGEN 



Eichmeister, den er so neben dem Stall und der Scheune getroffen 
hatte, hatte der Schlag plotzlich getroffen. Aber dem war nicht so. Der 
Eichmeister begann zwar zu sterben, aber er lebte noch. Was weift er 
davon, der arme Eibenschiitz, da!5 man ihn auf den Kopf mit einem 
Stein geschlagen hat? Was weifi er davon, dafi er mit Stricken auf einen 
Schlitten gebunden ist? Er erlebt, wahrend man ihn fur einen Toten 
halt, etwas ganz anderes: 

Er ist kein Eichmeister mehr, er ist selbst ein Handler. Lauter falsche 
Gewichte hat er, tausend, zehntausend falsche Gewichte. Er steht da, 
hinter einem Ladentisch, die falschen zehntausend Gewichte vor sich. 
Der Ladentisch kann sie gar nicht alle fassen. Und jeden Moment kann 
der Eichmeister kommen. 

Auf einmal klingelt es auch - die Tur hat eine Glocke-, und herein 
kommt der grofie Eichmeister, der grofite aller Eichmeister - so 
scheint es Eibenschiitz. Der grofie Eichmeister sieht ein bifichen aus 
wie der Jude Mendel Singer und ein wenig auch wie Sameschkin. Ei- 
benschiitz sagt: »Ich kenne Sie ja!« Aber der grofie Eichmeister ant- 
wortet: »Es ist mir ganz gleich. Dienst ist Dienst! Wir priifen jetzt Ihre 
Gewichte!« 

Gut, mdgen sie jetzt die Gewichte priifen, sagt sich der Eichmeister 
Eibenschiitz. Falsch sind sie, aber was kann ich dagegen machen? Ich 
bin ein Handler wie alle Handler in Zlotogrod. Ich verkaufe nach fal- 
schen Gewichten. 

Hinter dem grofien Eichmeister steht ein Gendarm mit Helmbusch und 
Bajonett, und den kennt Eibenschiitz gar nicht. Er fiirchtet sich aber vor 
ihm, das Bajonett funkelt zu sehr. Der grofte Eichmeister beginnt, die 
Gewichte zu priifen. Schlieftlich sagt er - und Eibenschiitz ist hochst 
erstaunt: »AUe deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch rich- 
tig, Wir werden dich also nicht anzeigen! Wir glauben, dafi alle deine 
Gewichte richtig sind. Ich bin der Grofie Eichmeister.« 
In diesem Augenblick erreichte der Gendarm das Spital von Zloto- 
grod. Man lud den Eichmeister ab, und als der wachhabende Arzt an- 
kam, sagte er nach einem Augenblick zum Gendarmen Piotrak: »Der 
Mann ist tot! Was bringen Sie ihn noch her?« 



DAS FALSCHE GEWICHT 223 

XLI 

So also starb der Eichmeister Anselm Eibenschiitz, und, wie man zu 

sagen pflegt: Kein Hahn krahte nach ihm. 

Dem Wachtmeister Piotrak gelang es zu erforschen, daft Jadlowker 

den Eichmeister getotet hatte. Kapturak sprach, nachdem man ihn ver- 

haftet hatte und nach einem strengen Verhor, von einer Rankiine Jad- 

lowkers gegen Eibenschiitz. 

Durch Zufall fing man noch zwei andere sogenannte Choleratote, 

namlich den Taschendieb Kaniuk und den Pferdedieb Kiewen. 

Kapturak und Jadlowker saften schon seit acht Tagen im Zloczower 

Untersuchungsgefangnis, als plotzlich das grofte alljahrliche Ereignis 

des Bezirkes Zlotogrod ausbrach. Es krachte namlich das Eis iiber der 

Struminka, und der Fruhling begann. 

Der Maronibrater Sameschkin packte seine Sachen, die Sacke zuerst, 

dann den Ofen, hierauf die Reste seiner Ware, die Kastanien, in einen 

besonderen, ledernen Sack. 

Vor seiner Abfahrt sagte er noch zu Euphemia: »Es ist eine wuste 

Sache, diese Grenze. Willst du mit mir fort fur immer?« 

Euphemia aber dachte an allerhand Moglichkeiten, in der Schenke und 

sonst. »Auf nachstes Jahr«, sagte sie. Aber Sameschkin glaubte es ihr 

nicht mehr. So toricht, wie er den Leuten erscheinen mochte, war er 

nicht. Er ahnte alles, und er beschloft bei sich, nie mehr in diese giftige 

Gegend zu kommen. 

Es war ein groftartiger Friihlingstag, an dem er wegzog. Auf seinem 

Karren stand der Ofen. Um seine Schultern waren die schlaffen Sacke 

geschnallt. Die Lerchen trillerten hoch im Himmel, und die Frosche 

quakten ebenso frohlich unten in den Sumpfen. Und er ging, der gute 

Sameschkin, so fur sich hin, so des Weges dahin. Was ging ihn eigent- 

lich all dies an? 

Nie mehr komme ich hierher, sagte er sich. Und es schien ihm, daft 

ihm die Lerchen und die Frosche recht gaben. 



DIE KAPUZINERGRUFT 
Roman 

i 93 8 



I 

Wir heiften Trotta. Unser Geschlecht stammt aus Sipolje in Slowenien. 
Ich sage: Geschlecht; denn wir sind nicht eine Familie. Sipolje besteht 
nicht mehr, lange nicht mehr. Es bildet heute mit mehreren umliegen- 
den Gemeinden zusammen eine grofiere Ortschaft. Es ist, wie man 
weifi, der Wille dieser Zeit. Die Menschen konnen nicht allein bleiben. 
Sie schlieften sich in sinnlosen Gruppen zusammen, und die Dorfer 
konnen auch nicht allein bleiben. Sinnlose Gebilde entstehen also. Die 
Bauern drangt es zur Stadt, und die Dorfer selbst mochten justament 
Stadte werden. 

Ich habe Sipolje noch gekannt, als ich ein Knabe war. Mein Vater hatte 
mich einmal dorthin mitgenommen, an einem siebzehnten August, 
dem Vorabend jenes Tages, an dem in alien, auch in den kleinsten Ort- 
schaften der Monarchic der Geburtstag Kaiser Franz Josephs des Er- 
sten gefeiert wurde. 

Im heutigen Osterreich und in den fruheren Kronlandern wird es nur 
noch wenige Menschen geben, in denen der Name unseres Geschlechts 
irgendeine Erinnerung hervorruft. In den verschollenen Annalen der 
alten osterreichisch-ungarischen Armee aber ist unser Name verzeich- 
net, und ich gestehe, daft ich stolz darauf bin, gerade deshalb, weil 
diese Annalen verschollen sind. Ich bin nicht ein Kind dieser Zeit, es 
fallt mir schwer, mich nicht geradezu ihren Feind zu nennen. Nicht, 
daft ich sie nicht verstiinde, wie ich es so oft behaupte. Dies ist nur eine 
fromme Ausrede. Ich will einfach, aus Bequemlichkeit, nicht ausfallig 
oder gehassig werden, und also sage ich, daft ich das nicht verstehe, 
von dem ich sagen miiftte, da£ ich es hasse oder verachte. Ich bin fein- 
horig, aber ich spiele einen Schwerhorigen. Ich hake es fur nobler, ein 
Gebrechen vorzutauschen als zuzugeben, daft ich vulgare Gerausche 
vernommen habe. 

Der Bruder meines Groftvaters war jener einfache Infanterieleutnant, 
der dem Kaiser Franz Joseph in der Schlacht bei Solferino das Leben 
gerettet hat. Der Leutnant wurde geadelt. Eine lange Zeit hieft er in der 
Armee und in den Lesebuchern der k.u.k. Monarchic: der Held von 



228 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Solferino, bis sich, seinem eigenen Wunsch gemaft, der Schatten der 
Vergessenheit liber ihn senkte. Er nahm den Abschied. Er liegt in 
Hietzing begraben. Auf seinem Grabstein stehen die stillen und stol- 
zen Worte: »Hier ruht der Held von Solferino. « 
Die Gnade des Kaisers erstreckte sich noch auf seinen Sohn, der Be- 
zirkshauptmann wurde, und auf den Enkel, der als Leutnant der Jager 
im Herbst 1914 in der Schlacht bei Krasne-Busk gefallen ist. Ich habe 
ihn niemals gesehn, wie uberhaupt keinen von dem geadelten Zweig 
unseres Geschlechts. Die geadelten Trottas waren fromm-ergebene 
Diener Franz Josephs geworden. Mein Vater war ein Rebell. 
Er war ein Rebell und ein Patriot, mein Vater - eine Spezies, die es nur 
im alten Osterreich-Ungarn gegeben hat. Er wollte das Reich refor- 
mieren und Habsburg retten. Er begriff den Sinn der osterreichischen 
Monarchic zu gut. Er wurde also verdachtig und mufke fliehen. Er 
ging, in jungen Jahren, nach Amerika. Er war Chemiker von Beruf. 
Man brauchte damals Leute seiner Art in den groftartig wachsenden 
Farbenfabriken von New York und Chikago. Solange er arm gewesen 
war, hatte er wohl nur Heimweh nach Korn gefiihlt. Als er aber end- 
lich reich geworden war, begann er, Heimweh nach Osterreich zu fiih- 
len. Er kehrte zuriick. Er siedelte sich in Wien an. Er hatte Geld, und 
die osterreichische Polizei liebte Menschen, die Geld haben. Mein Va- 
ter blieb nicht nur unbehelligt. Er begann sogar, eine neue slowenische 
Partei zu griinden, und er kaufte zwei Zeitungen in Agram. 
Er gewann einflufireiche Freunde aus der naheren Umgebung des Erz- 
herzog Thronfolgers Franz Ferdinand. Mein Vater traumte von einem 
slawischen Konigreich unter der Herrschaft der Habsburger. Er 
traumte von einer Monarchic der Osterreicher, Ungarn und Slawen. 
Und mir, der ich sein Sohn bin, moge es an dieser Stelle gestattet sein, 
zu sagen, daft ich mir einbilde, mein Vater hatte vielleicht den Gang 
der Geschichte verandern konnen, wenn er langer gelebt hatte. Aber er 
starb, etwa anderthalb Jahre vor der Ermordung Franz Ferdinands. Ich 
bin sein einziger Sohn. In seinem Testament hatte er mich zum Erben 
seiner Ideen bestimmt. Nicht umsonst hatte er mich auf den Namen 
Franz Ferdinand taufen lassen. Aber ich war damals jung und toricht, 
um nicht zu sagen: leichtsinnig. Leichtfertig war ich auf jeden Fall. Ich 
lebte damals, wie man so sagt: in den Tag hinein. Nein! Dies ist falsch: 
Ich lebte in die Nacht hinein; ich schlief in den Tag hinein. 



DIE KAPUZINERGRUFT 229 

II 

Eines Morgens aber - es war im April des Jahres 19 13 - meldete man 
mir, dem noch Verschlafenen, erst zwei Stunden vorher Heimgekehr- 
ten, den Besuch eines Vetters, eines Herrn Trotta. 
Im Schlafrock und in Pantoffeln ging ich ins Vorzimmer. Die Fenster 
waren weit offen. Die morgendlichen Amseln in unserem Garten flote- 
ten fleifiig. Die friihe Sonne durchflutete frohlich das Zimmer. Unser 
Dienstmadchen, das ich bislang noch niemals so friih am Morgen gese- 
hen hatte, erschien mir in ihrer blauen Schiirze fremd - denn ich 
kannte sie nur als ein junges Wesen, bestehend aus Blond, Schwarz 
und Weifi, so etwas wie eine Fahne. Zum erstenmal sah ich sie in einem 
dunkelblauen Gewand, ahnlich jenem, das Monteure und Gasmanner 
trugen, mit einem purpurroten Staubwedel in der Hand - und ihr An- 
blick allein hatte geniigt, mir eine ganz neue, ganz ungewohnte Vor- 
stellung vom Leben zu geben. Zum erstenmal seit mehreren Jahren sah 
ich den Morgen in meinem Haus, und ich bemerkte, dafi er schon war. 
Das Dienstmadchen gefiel mir. Die offenen Fenster gefielen mir. Die 
Sonne gefiel mir. Der Gesang der Amseln gefiel mir. Er war golden wie 
die morgendliche Sonne. Selbst das Madchen in Blau war golden wie 
die Sonne. Vor lauter Gold sah ich zuerst gar nicht den Gast, der mich 
erwartete. Ich nahm ihn erst ein paar Sekunden - oder waren es Minu- 
ten? - spater wahr. Da safi er nun, hager, schwarz, stumm, auf dem 
einzigen Stuhl, der in unserm Vorzimmer stand, und er ruhrte sich 
nicht, als ich eintrat. Und obwohl sein Haar und sein Schnurrbart so 
schwarz waren, seine Hautfarbe so braun war, war er doch inmitten 
des morgendlichen Goldes im Vorzimmer wie ein Stuck Sonne, ein 
Stuck einer fernen sudlichen Sonne allerdings. Er erinnerte mich auf 
den ersten Blick an meinen seligen Vater. Auch er war so hager und so 
schwarz gewesen, so braun und so knochig, dunkel und ein echtes 
Kind der Sonne, nicht wie wir, die Blonden, die wir nur Stiefkinder der 
Sonne sind. Ich spreche Slowenisch, mein Vater hatte mich diese Spra- 
che gelehrt. Ich begnifite meinen Vetter Trotta auf slowenisch. Er 
schien sich dariiber durchaus nicht zu wundern. Es war selbstverstand- 
lich. Er erhob sich nicht, er blieb sitzen. Er reichte mir die Hand. Er 
lachelte. Unter seinem blauschwarzen Schnurrbart schimmerten blank 
die starken, grofkn Zahne. Er sagte mir sofort du. Ich fuhlte: dies ist 
ein Bruder, kein Vetter! Meine Adresse hatte er vom Notar. »Dein 



23O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Vater«, so begann er, »hat mir 2000 Gulden vermacht, und ich bin 

hierhergekommen, urn sie abzuholen. Ich bin zu dir gegangen, urn dir 

zu danken. Morgen will ich wieder heimkehren. Ich habe noch eine 

Sch wester, die will ich jetzt verheiraten. Mit 500 Gulden Mitgift kriegt 

sie den reichsten Bauern von Sipolje.« 

»Und der Rest?« fragte ich. 

»Den behalt' ich«, sagte er heiter. Er lachelte, und es schien mir, als 

strom te die Sonne noch starker in unser Vorzimmer. 

»Was wills t du mit dem Geld?« fragte ich, 

»Ich werde mein Geschaft vergroftern«, erwiderte er. Und als gehorte 

es sich jetzt erst, mir den Namen zu nennen, erhob er sich von seinem 

Sitz, es war eine kiihne Sicherheit, mit der er auf stand, und eine riih- 

rende Feierlichkeit, mit der er seinen Namen nannte. »Ich heifte Joseph 

Branco«, sagte er. 

Da erst fiel mir ein, daft ich in Schlafrock und Pantoffeln vor meinem 

Gast stand. Ich bat ihn zu warten und ging in mein Zimmer, um mich 

anzukleiden. 



Ill 



Es mochte etwa sieben Uhr morgens gewesen sein, als wir ins Cafe 
Magerl kamen. Die ersten Backerjungen trafen ein, schneeweifi und 
nach reschen Kaisersemmeln duftend, nach Mohnstrizzeln und nach 
Salzstangeln. Der frisch gebrannte erste Kaffee, jungfraulich und wiir- 
zig, roch wie ein zweiter Morgen. Mein Vetter Joseph Branco saft ne- 
ben mir, schwarz und sudlich, heiter, wach und gesund, ich schamte 
mich meiner blassen Blondheit und meiner ubernachtigen Mudigkeit. 
Ich war auch ein wenig verlegen. Was sollte ich ihm sagen? Er vergro- 
fierte noch meine Verlegenheit, als er sagte: »Ich trinke keinen Kaffee 
am Morgen. Ich mochte eine Suppe.« Freilich! In Sipolje aft en die Bau- 
ern des Morgens eine Kartoffelsuppe. 

Ich bestellte also eine Kartoffelsuppe. Es dauerte ziemlich lange, und 
ich schamte mich inzwischen, den Kipfel in den Kaffee zu tauchen. Die 
Suppe kam schlieftlich, ein dampfender Teller. Mein Vetter Joseph 
Branco schien den Loffel gar mcht zu beachten. Er fiihrte den dam- 
pfenden Teller mit seinen schwarzbehaarten braunen Handen an den 
Mund. Wahrend er die Suppe schlurfte, schien er auch mich vergessen 



DIE KAPUZINERGRUFT 2}1 

zu haben. Ganz diesem dampfenden Teller hingegeben, den er mit 
starken, schmalen Fingern hochgehoben hielt, bot er den Anblick eines 
Menschen, dessen Appetit eigentlich eine noble Regung ist und der 
einen Loffel nur deshalb unberiihrt lafit, weil es ihm edler erscheint, 
unmittelbar aus dem Teller zu essen. Ja, wahrend ich ihn so die Suppe 
schlurfen sah, erschien es mir beinahe ratselhaft, daft die Menschen 
iiberhaupt Loffel erfunden hatten, lacherliche Gerate. Mein Vetter 
setzte den Teller ab, ich sah, daft er ganz glatt und leer und blank war, 
als hatte man ihn eben gewaschen und gesaubert. 
»Heute nachmittag«, sagte er, »werde ich das Geld abholen.« Was fur 
ein Geschaft er habe - fragte ich ihn-, das er zu vergroftern gedacht 
hatte. »Ach«, sagte er, »ein ganz winziges, das aber den Winter iiber 
einen Menschen wohl ernahrt,« 

Und ich erfuhr also, daft mein Vetter Joseph Branco Friihling, Sommer 
und Herbst ein Bauer war, dem Feld hingegeben, winters war er ein 
Maronibrater. Er hatte einen Schafspelz, einen Maulesel, einen kleinen 
Wagen, einen Kessel, fiinf Sacke Kastanien. Damit fuhr er Anfang No- 
vember jedes Jahr durch einige Kronlander der Monarchic Gefiel es 
ihm aber ganz besonders in einem bestimmten Ort, so blieb er auch 
den ganzen Winter iiber, bis die Storche kamen. Dann band er die 
leeren Sacke um den Maulesel und begab sich zur nachsten Bahnsta- 
tion. Er verlud das Tier und fuhr heim und wurde wieder ein Bauer. 
Ich fragte ihn, auf welche Weise man ein so kleines Geschaft vergro- 
ftern konnte, und er bedeutete mir, daft sich da noch allerhand machen 
liefte. Man konnte zum Beispiel aufter den Maroni noch gebratene Ap- 
fel und gebratene Kartoffeln verkaufen. Auch sei der Maulesel inzwi- 
schen alt und schwach geworden, und man konnte einen neuen kaufen. 
Zweihundert Kronen hatte er schon sowieso erspart. 
Er trug einen glanzenden Satinrock, eine geblumte Pliischweste mit 
bunten Glasknopfen und, um den Hals geschlungen, eine edel gefloch- 
tene, goldene, schwere Uhrkette. Und ich, der ich von meinem Vater 
in der Liebe zu den Slawen unseres Reiches erzogen worden war und 
der ich infoigedessen dazu neigte, jede folkloristische Attrappe fiir ein 
Symbol zu nehmen, verliebte mich sofort in diese Kette. Ich wollte sie 
haben. Ich fragte meinen Vetter, wieviel sie kostete. »Ich weift es 
nicht«, sagte er. »Ich habe sie von meinem Vater, und der hatte sie von 
seinem Vater, und man kauft dergleichen nicht. Aber da du mein Vet- 
ter bist, will ich sie dir gerne verkaufen. « - »Wieviel also?« fragte ich. 



232 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Und ich hatte doch im stillen gedacht, eingedenk der Lehren meines 
Vaters, dafi ein slowenischer Bauer viel zu edel sei, urn sich iiberhaupt 
um Geld und Geldeswert zu kiimmern. Der Vetter Joseph Branco 
dachte lange nach, dann sagte er: »Dreiundzwanzig Kronen.« Warum er 
gerade auf diese Zahl gekommen sei, wagte ich nicht zu fragen. Ich gab 
ihm fiinfundzwanzig. Er zahlte genau, machte keinerlei Anstalten, mir 
zwei Kronen herauszugeben, zog ein grofies, blaukariertes, rotes Ta- 
schentuch heraus und verbarg darin das Geld. Dann erst, nachdem er 
das Tuch zweimal verknotet hatte, nahm er die Kette ab, zog die Uhr aus 
der Westentasche und legte Uhr und Kette auf den Tisch. Es war eine 
altmodische schwere silberne Uhr mit einem Schlusselchen zum Auf- 
ziehen, mein Vetter zogerte, sie von der Kette loszumachen, sah sie eine 
Zeitlang zartlich, beinahe herzlich an und sagte schliefilich: »Weil du 
doch mein Vetter bist! Wenn du mir noch drei Kronen gibst, verkaufe 
ich dir auch die Uhr!« - Ich gab ihm ein ganzes Funfkronenstiick. Auch 
jetzt gab er mir den Rest nicht heraus. Er zog noch einmal sein Taschen- 
tuch hervor, loste langsam den Doppelknoten, packte die neue Miinze 
zu den anderen, steckte alles in die Hosentasche und sah mir dann 
treuherzig in die Augen. 

»Auch deine Weste gefallt mir!« sagte ich nach einigen Sekunden. »Die 
mochte ich dir auch abkaufen.« 

»Weil du mein Vetter bist«, erwiderte er, »will ich dir auch die Weste 
verkaufen.« - Und ohne einen Augenblick zu zogern, legte er den Rock 
ab, zog die Weste aus und gab sie mir iiber den Tisch. »Es ist ein guter 
Stoff«, sagte Joseph Branco, »und die Knopfe sind schon. Und weil du 
es bist, kostet sie nur zwei Kronen fiinfzig.« - Ich zahlte ihm drei 
Kronen, und ich bemerkte deutlich in seinen Augen die Enttauschung 
dariiber, dafi es nicht noch einmal fiinf Kronen gewesen waren. Er 
schien verstimmt, er lachelte nicht mehr, aber verbarg dieses Geld 
schliefilich ebenso sorgfaltig und umstandlich wie die fruheren Munzen. 
Ich besafi nun, meiner Meinung nach, das Wichtigste, das zu einem 
echten Slowenen gehort: eine alte Kette, eine bunte Weste, eine stein- 
schwere, stehende Uhr mit Schlusselchen. Ich wartete keinen Augen- 
blick mehr. Ich zog mir alle drei Dinge auf der Stelle an, zahlte und lieft 
einen Fiaker holen. Ich begleitete meinen Vetter in sein Hotel, er 
wohnte im »Griinen Jagerhorn«. Ich bat ihn, am Abend auf mich zu 
warten, ich wollte ihn abholen. Ich hatte vor, ihn meinen Freunden 
vorzustellen. 



DIE KAPUZINERGRUFT 233 

IV 

Der Form halber, als Ausrede und um meine Mutter zu beruhigen, 
hatte ich Jus inskribiert. Ich studierte freilich nicht. Vor mir breitete 
sich das grofte Leben aus, eine bunte Wiese, kaum begrenzt von einem 
sehr, sehr fernen Horizontrand. Ich lebte in der frohlichen, ja aus gel as- 
senen Gesellschaft junger Aristokraten, jener Schicht, die mir neben 
den Kunstlern im alten Reich die liebste war. Ich teilte mit ihnen den 
skeptischen Leichtsinn, den melancholischen Fiirwitz, die siindhafte 
Fahrlassigkeit, die hochmutige Verlorenheit, alle Anzeichen des Un- 
tergangs, den wir damals noch nicht kommen sahen. Uber den Gla- 
sern, aus denen wir iibermutig tranken, kreuzte der unsichtbare Tod 
schon seine knochigen Hande. Wir schimpften frohlich, wir lasterten 
sogar bedenkenlos. Einsam und alt, fern und gleichsam erstarrt, den- 
noch uns alien nahe und allgegenwartig im groften, bunten Reich lebte 
und regierte der alte Kaiser Franz Joseph. Vielleicht schliefen in den 
verborgenen Tiefen unserer Seelen jene Gewiftheiten, die man Ahnun- 
gen nennt, die Gewiftheit vor allem, daft der alte Kaiser starb, mit je- 
dem Tage, den er langer lebte, und mit ihm die Monarchic, nicht so 
sehr unser Vaterland wie unser Reich, etwas Grofteres, Weiteres, Erha- 
beneres als nur ein Vaterland. Aus unsern schweren Herzen kamen die 
leichten Witze, aus unserem Gefuhl, daft wir Todgeweihte seien, eine 
torichte Lust an jeder Bestatigung des Lebens: an Ballen, am Heurigen, 
an Madchen, am Essen, an Spazierfahrten, Tollheiten aller Art, sinnlo- 
sen Eskapaden, an selbstmorderischer Ironie, an ungezahmter Kritik, 
am Prater, am Riesenrad, am Kasperl theater, an Maskeraden, am B al- 
ien, an leichtsinnigen Liebesspielen in den verschwiegenen Logen der 
Hofoper, an Manovern, die man versaumte, und sogar noch an jenen 
Krankheiten, die uns manchmal die Liebe bescherte. 
Man wird begreifen, daft mir die unerwartete Ankunft meines Vetters 
willkommen war. Keiner meiner leichtfertigen Freunde hatte solch 
einen Vetter, solch eine Weste, solch eine Uhrkette, eine solch nahe 
Beziehung zu der originellen Erde des sagenhaften slowenischen Si- 
polje, der Heimat des damals noch nicht vergessenen, aber immerhin 
bereits legendaren Helden von Solferino. 

Am Abend holte ich meinen Vetter ab. Sein glanzender Satinrock 
machte auf alle meine Freunde einen machtigen Eindruck. Er stam- 
melte ein unverstandliches Deutsch, lachte viel mit s einen blanken, 



234 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

starken Zahnen, liefi sich alles bezahlen, versprach, neue Westen und 
Ketten in Slowenien fur meine Freunde zu kaufen, und nahm gerne 
Anzahlungen entgegen. Denn alle beneideten mich urn Weste, Kette, 
Uhr. Alle hatten sie mir am liebsten den ganzen Vetter abgekauft, 
meine Verwandtschaft und mein Sipolje. 

Mein Vetter versprach, im Herbst wiederzukommen. Wir begleiteten 
ihn alle zur Bahn. Ich besorgte ihm ein Billett zweiter Klasse. Er nahm 
es, ging zur Kasse, und es gelang ihm, es gegen ein Billett dritter umzu- 
tauschen. 

Von dort aus winkte er uns noch zu. Und uns alien brach das Herz, als 
der Zug aus der Station rollte; denn wir liebten die Wehmut ebenso 
leichtfertig wie das Vergniigen. 



V 



Ein paar Tage noch sprachen wir in unserer heiteren Gesellschaft von 
meinem Vetter Joseph Branco. Dann vergafien wir ihn wieder - das 
heifit: wir legten ihn gleichsam vorlaufig ab. Denn die aktuellen Tor- 
heiten unseres Lebens wollten besprochen und gewurdigt werden. 
Erst im Spatsommer, gegen den zwanzigsten August, erhielt ich von 
Joseph Branco in slowenischer Sprache einen Brief, den ich meinen 
Freunden noch am gleichen Abend iibersetzte. Er beschrieb die Kai- 
ser-Geburtstagsfeier in Sipolje, die Feier des Veteranenvereins. Er 
selbst war noch ein zu junger Reservist, um den Veteranen anzugeho- 
ren. Dennoch marschierte er mit ihnen aus, in die Waldwiese, wo sie 
an jedem achtzehnten August ein Volksfest veranstalteten, einfach, 
weil keiner von den alten Leuten noch so kraftig war, die grofie Kessel- 
pauke zu tragen. Es gab funf Hornisten und drei Klarinettblaser. Aber 
was ist eine Marschkapelle ohne Kesselpauke? 

»Merkwurdig«, sagte der junge Festetics, »diese Slowenen! Die Un- 
garn nehmen ihnen die primitivsten nationalen Rechte, sie wehren 
sich, sie rebellieren sogar gelegentlich oder haben zumindest den An- 
schein zu rebellieren, aber sie feiern den Geburtstag des K6nigs.« 
»In dieser Monarchies erwiderte Graf Chojnicki, er war der alteste 
unter uns, »ist nichts merkwiirdig. Ohne unsere Regierungstrottel« (er 
liebte starke Ausdriicke) »ware ganz gewift auch dem aufterlichen An- 
schein nach gar nichts merkwiirdig. Ich will damit sagen, da£ das soge- 



DIE KAPUZINERGRUFT 235 

nannte Merkwiirdige fur Osterreich-Ungarn das Selbstverstandliche 
ist. Ich will zugleich danrit auch sagen, dafi nur diesem verriickten Eu- 
ropa der Nationalstaaten und der Nationalismen das Selbstverstand- 
liche sonderbar erscheint. Freilich sind es die Slowenen, die polnischen 
und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pfer- 
dehandler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Maronibrater 
aus Mostar, die >Gott erhalte< singen. Aber die deutschen Studenten 
aus Briinn und Eger, die Zahnarzte, Apotheker, Friseurgehilfen, 
Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kropfe aus den 
Alpentalern, sie alle singen >Die Wacht am Rhein<. Osterreich wird an 
dieser Nibelungentreue zugrunde germ, meine Herren! Das Wesen 
Osterreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Osterreich ist nicht 
in den Alpen zu finden, Gemsen gibt es dort und Edelweif? und En- 
zian, aber kaum eine Ahnung von einem Doppeladler. Die osterreichi- 
sche Substanz wird genahrt und immer wieder aufgefulit von den 
Kronlandern.« 

Baron Kovacs, junger Militaradel ungarischer Nationalist, klemmte 
das Monokel ein, wie es immer seine Gewohnheit war, wenn er etwas 
besonders Wichtiges sagen zu miissen glaubte. Er sprach das harte und 
singende Deutsch der Ungarn, nicht so sehr aus Notwendigkeit wie aus 
Koketterie und Protest. Dabei rotete sich sein eingefallenes Gesicht, das 
an unreifes, zu wenig gegorenes Brot erinnerte, heftig und unnatiirlich. 
»Die Ungarn leiden am meisten von alien in dieser Doppelmonarchie«, 
sagte er. Es war sein Glaubensbekenntnis, unverriickbar standen die 
Worte in diesem Satz. Er langweilte uns alle, Chojnicki, den Tempera- 
mentvollsten, wenngleich altesten unter uns, erziirnte es sogar. Die 
standige Antwort Chojnickis konnte nicht ausbleiben. Wie gewohnt, 
wiederholte er: »Die Ungarn, lieber Kovacs, unterdriicken nicht weni- 
ger als folgende Volker: Slowaken, Rumanen, Kroaten, Serben, Ruthe- 
nen, Bosniaken, Schwaben aus der Bacska und Siebenburger Sachsen.« 
Er zahlte die Volker an gespreizten Fingern seiner schonen, schlanken, 
kraftigen Hande auf. 

Kovacs legte das Monokel auf den Tisch. Chojnickis Worte schienen 
ihn gar nicht zu erreichen. Ich weift, was ich weifi - dachte er wie 
immer. Manchmal sagte er es auch. 

Er war im iibrigen ein harmloser, sogar zeitweilig guter junger Mann, 
ich konnte ihn nicht leiden. Dennoch bemiihte ich mich redlich um ein 
freundliches Gefiihl fur ihn, Ich litt geradezu darunter, da£ ich ihn 



1}6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nicht leiden mochtej und dies hatte seinen guten Grund: Ich war nam- 
lich in Ko vacs' Sch wester verliebt; Elisabeth hiefi sie; neunzehn Jahre 
war sie alt. 

Ich kampfte lange Zeit vergebens gegen diese Liebe, nicht so sehr des- 
halb, weil ich mich gefahrdet glaubte, sondern weil ich den stillen 
Spott meiner skeptischen Freunde fiirchtete. Es war damals, kurz vor 
dem grofien Kriege, ein hohnischer Hochmut in Schwung, ein eitles 
Bekenntnis zur sogenannten »Dekadenz«, zu einer halb gespielten und 
outrierten Miidigkeit und einer Gelangweiltheit ohne Grund. In dieser 
Atmosphare verlebte ich meine besten Jahre. In dieser Atmosphare 
hatten Gefuhle kaum einen Platz, Leidenschaften gar waren verpont. 
Meine Freunde hatten kleine, ja unbedeutende »Liaisons«, Frauen, die 
man ablegte, manchmal sogar herlieh wie Uberzieher; Frauen, die man 
vergafi wie Regenschirme oder absichtlich liegenliefi wie lastige Pakete, 
nach denen man sich nicht umsieht, aus Angst, sie konnten einem 
nachgetragen werden. In dem Kreis, in dem ich verkehrte, gait die 
Liebe als eine Verirrung, ein Verlobnis war so etwas wie eine Apople- 
xie und eine Ehe ein Siechtum. Wir waren jung. An eine Heirat dachte 
man zwar als eine unausbleibliche Folge des Lebens, aber ahnlich, wie 
man an eine Sklerose denkt, die wahrscheinlich in zwanzig oder drei- 
£ig Jahren notwendig eintreten mufi. Ich hatte viele Gelegenheiten fin- 
den konnen, um mit dem Madchen allein zu sein, obwohl es in jener 
Zeit noch nicht zu den Selbstverstandlichkeiten gehorte, dafi junge Da- 
men allein in Gesellschaft junger Herren ohne einen schicklichen, ge- 
radezu legitimen Vorwand langer als eine Stunde bleiben konnten. 
Nur einige wenige solcher Gelegenheiten nahm ich wahr. Alle auszu- 
nutzen, schamte ich mich, wie gesagt, vor meinen Freunden. Ja, ich 
gab peinlich darauf acht, daft von meinem Gefuhl nichts bemerkt 
wurde, und oft fiirchtete ich, der und jener aus meinem Kreise wiifke 
bereits etwas davon, hier oder dort hatte ich mich vielleicht schon ver- 
raten. Wenn ich manchmal unerwartet zu meinen Freunden stieft, 
glaubte ich aus ihrem plotzlichen Schweigen schlieften zu miissen, daE 
sie soeben, vor meiner Ankunft, von meiner Liebe zu Elisabeth Kovacs 
gesprochen hatten, und ich war verdustert, als hatte man eine verfemte, 
geheime Schwache bei mir entdeckt. In den wenigen Stunden aber, in 
denen ich mit Elisabeth allein war, glaubte ich zu spiiren, wie sinnlos 
und sogar frevlerisch der Spott meiner Freunde war, ihre Skepsis und 
ihre hochmutige »Dekadenz«. Zugleich aber auch hatte ich eine Art 



DIE KAPUZINERGRUFT 237 

Gewissensbisse, als hatte ich mir einen Verrat an den heiligen Prinzi- 
pien meiner Freunde vorzuwerfen. Ich fiihrte also in einem gewissen 
Sinn ein Doppelleben, und es war mir gar nicht wohl dabei. 
Elisabeth war damals schon, weich und zartlich und mir ohne Zweifel 
zugeneigt. Die kleinste, die geringste ihrer Handlungen und Gesten 
riihrte mich tief, denn ich fand, daft jede Bewegung ihrer Hand, jedes 
Kopfnicken, jedes Wippen ihres Fuftes, ein Glatten des Rocks, ein lei- 
ses Hochheben des Schleiers, das Nippen an der Kaffeetasse, eine un- 
erwartete Blume am Kleid, ein Abstreifen des Handschuhs eine deutli- 
che, unmittelbare Beziehung zu mir verrieten - und nur zu mir. Ja, aus 
manchen Anzeichen, die zu jener Zeit wohl schon zur Gattung der 
sogenannten »kuhnen Avancen« gezahlt werden mochten, glaubte ich 
mit einigem Recht entnehmen zu miissen, dafi die Zartlichkeit, mit der 
sie mich anblickte, die scheinbar unwillkurliche und hochst zufallige 
Beriihrung meines Handriickens oder meiner Schulter bindende Ver- 
sprechungen waren, Versprechungen grower, kostlicher Zartlichkeiten, 
die mir noch bevorstiinden, wenn ich nur mochte, Vorabende von Fe- 
sten, an deren kalendarischer Sicherheit gar nicht mehr zu zweifeln 
war. Sie hatte eine tiefe und weiche Stimme. (Ich kann die hellen und 
hohen Frauenstimmen nicht leiden.) Ihr Sprechen erinnerte mich an 
eine Art gedampftes, gezahmtes, keusches und dennoch schwiiles Gur- 
ren, an ein Murmeln unterirdischer Quellen, an das feme Rollen ferner 
Ziige, die man manchmal in schlaflosen Nachten vernimmt, und jedes 
ihrer banalsten Worte bekam fur mich dank dieser Tiefe des Klangs, in 
der es ausgesprochen ward, die bedeutungsvolle, gesattigte Kraft einer 
weiten, und zwar nicht genau verstandlichen, wohl aber deutlich 
erahnbaren verschollenen, vielleicht einmal in Traumen vage erlausch- 
ten Ursprache. 

War ich nicht bei ihr, kehrte ich in die Gesellschaft meiner Freunde 
zuriick, so war ich wohl versucht, ihnen im ersten Augenblick von 
Elisabeth zu erzahlen; ja sogar von ihr zu schwarmen. Aber im An- 
blick ihrer miiden, schlaffen und hohnischen Gesichter, ihrer sichtba- 
ren und sogar aufdringHchen Spottsucht, deren Opfer zu werden ich 
nicht nur furchtete, sondern deren allgemein anerkannter Teilhaber ich 
zu sein wiinschte, verfiel ich sofort in eine stupide, wortlose Schamhaf- 
tigkeit, um kaum ein paar Minuten spater jener hochmiitigen »Deka- 
denz« zu verfallen, deren verlorene und stolze Sohne wir alle waren. 
In solch einem torichten Zwiespalt befand ich mich, und ich wufite 



238 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wahrhaftig nicht, zu wem mich fliichten. Ich dachte zeitweilig daran, 
meine Mutter zu meiner Vertrauten zu machen. Aber ich hielt sie da- 
mals, als ich noch jung war und weil ich so jung war, fur unfahig, 
meine Sorgen zu verstehen. Die Beziehung, die ich zu meiner Mutter 
unterhielt, war namlich ebenfalls keine echte und urspriingliche, son- 
dern der kummerliche Versuch, das Verhaltnis nachzuahmen, das die 
jungen Manner zu ihren Miittern hatten. In ihren Augen waren es 
namlich gar keine wirklichen Mutter, sondern eine Art von Brutstat- 
ten, denen sie ihre Gereiftheit und ihr Leben zu verdanken hatten, 
oder, im besten Fall, so etwas wie heimatliche Landschaften, in denen 
man zufallsmafiig zur Welt gekommen ist und denen man nichts ande- 
res mehr widmete als ein Gedenken und eine Running. Ich aber emp- 
fand zeit meines Lebens eine fast heilige Scheu vor meiner Mutter; ich 
unterdriickte dieses Gefuhl nur. Ich afi nur mittags zu Hause. Wir 
sallen einander still gegentiber, an dem grofSen Tisch im geraumigen 
Speisezimmer, der Platz meines verstorbenen Vaters blieb leer, am 
Kopfende des Tisches, und jeden Tag wurde, den Anweisungen meiner 
Mutter zufolge, ein leerer Teller und ein Besteck fur den fur alle Zeiten 
Abwesenden aufgetragen. Man kann sagen, meine Mutter sei zur 
Rechten des Verstorbenen gesessen, ich zu seiner Linken. Sie trank 
einen goldenen Muskatwein, ich eine halbe Flasche Voslauer. Er 
schmeckte mir nicht. Ich hatte Burgunder vorgezogen. Aber meine 
Mutter hatte es so bestimmt. Unser alter Diener Jacques bediente, mit 
seinen zitternden Greisenhanden, in schneeweifien Handschuhen. Sein 
dichtes Haar war fast von dem gleichen Weill. Meine Mutter all wenig, 
schnell, aber wiirdig. Sooft ich den Blick zu ihr erhob, senkte sie den 
ihrigen auf den Teller - und einen Augenblick vorher hatte ich ihn 
doch auf mir ruhen gefuhlt. Ach, ich spiirte damals wohl, dall sie viele 
Fragen an mich zu richten hatte und daft sie diese Fragen nur unter- 
driickte, um sich die Beschamung zu ersparen, von ihrem Kind, ihrem 
einzigen, angelogen zu werden. Sie faltete sorgsam die Serviette zu- 
sammen. Das waren die einzigen Augenblicke, wahrend deren ich un- 
gehindert ihr breites, etwas schwammig gewordenes Gesicht genau an- 
schauen konnte und ihre schlaffen Hangebacken und ihre runzeligen, 
schweren Lider. Ich sah auf ihren Schofi, auf dem sie die Serviette zu- 
sammenfaltete, und ich dachte daran, andachtig, aber auch zugleich 
vorwurfsvoll, dall dort der Ursprung meines Lebens war, der warme 
Scholl, das Mutterlichste meiner Mutter, und ich verwunderte mich 



DIE KAPUZINERGRUFT 239 

dariiber, dafi ich so stumm ihr gegeniiberzusitzen vermochte, so hart- 
nackig, ja, so hartgesotten, und dafi auch sie, meine Mutter, kein Wort 
fur mich fand und dafi sie sich offenbar vor ihrem erwachsenen, allzu 
schnell erwachsenen Sohn ebenso schamte wie ich mich vor ihr, der alt 
gewordenen, zu schnell alt gewordenen, die mir das Leben geschenkt 
hatte. Wie gern hatte ich zu ihr von meiner Zwiespaltigkeit gespro- 
chen, von meinem Doppelleben, von Elisabeth, von meinen Freunden! 
Aber sie wollte offenbar nichts horen von all dem, was sie ahnte, um 
nicht laut mifibilhgen zu miissen, was sie im stillen geringschatzte. 
Vielleicht, wahrscheinlich, hatte sie sich auch mit dem ewigen, grausa- 
men Gesetz der Natur abgefunden, das die Sonne zwingt, ihren Ur- 
sprung bald zu vergessen; ihre Mutter als altere Damen anzusehen; der 
Briiste nicht mehr zu gedenken, an denen sie ihre erste Nahrung emp- 
fangen haben; stetes Gesetz, das auch die Mutter zwingt, die Fruchte 
ihres Leibes grofi und grofier, fremd und fremder werden zu sehen; 
mit Schmerz zuerst, mit Bitterkeit sodann und schliefilich mit Entsa- 
gung. Ich fuhlte, dafi meine Mutter mit mir deshalb so wenig sprach, 
weil sie mich nicht Dinge sagen lassen wollte, wegen deren sie mir 
hatte grollen miissen. Aber hatte ich die Freiheit besessen, mit ihr iiber 
Elisabeth zu sprechen und von meiner Liebe zu diesem Madchen, so 
hatte ich wahrscheinlich sie, meine Mutter, und mich selbst sozusagen 
entehrt. Manchmal wollte ich in der Tat von meiner Liebe zu sprechen 
anfangen. Aber ich dachte an meine Freunde. Auch an ihre Beziehun- 
gen zu ihren Miittern. Ich hatte das kindische Gefuhl, ich konnte mich 
durch ein Gestandnis verraten. Als ware es iiberhaupt ein Verrat an 
sich selbst, vor seiner Mutter etwas zu verschweigen, und iiberdies ein 
Verrat an dieser Mutter. Wenn meine Freunde von ihren Miittern spra- 
chen, schamte ich mich dreifach: namlich meiner Freunde, meiner 
Mutter und meiner selbst wegen. Sie sprachen von ihren Miittern bei- 
nahe wie von jenen »Liaisons«, die sie sitzen- oder liegengelassen hat- 
ten, als waren es allzu friih gealterte Matressen, und noch schlimmer, 
als waren die Mutter wenig wiirdig ihrer Sonne. 

Meine Freunde also waren es, die mich hinderten, der Stimme der Na- 
tur und der Vernunft zu gehorchen und meinem Gefuhl fur die ge- 
liebte Elisabeth ebenso freien Ausdruck zu verleihen wie meiner kind- 
lichen Liebe zu meiner Mutter. 

Aber es sollte sich ja auch darauf zeigen, dafi diese Siinden, die meine 
Freunde und ich auf unsere Haupter luden, gar nicht unsere personli- 



24O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

chen waren, sondern nur die schwachen Vorzeichen der kommenden 
Vernichtung, von der ich bald erzahlen werde. 



VI 



Vor dieser grofien Vernichtung war mir noch die Begegnung mit dem 
Juden Manes Reisiger beschieden, von dem noch spater die Rede sein 
wind. 

Er stammte aus Zlotogrod in Galizien. Eine kurze Zeit spater lernte 
ich dieses Zlotogrod kennen, und ich kann es also hier beschreiben. Es 
erscheint mir deshalb wichtig, weil es nicht mehr existiert, ebensowe- 
nig wie Sipolje. Es wurde namlich im Kriege vernichtet. Es war einst 
ein Stadtchen, ein kleines Stadtchen, aber immerhin ein Stadtchen. 
Heute ist es eine weite, grofie Wiese. Klee wachst im Sommer dort, die 
Grillen zirpen im hohen Gras, die Regenwiirmer gedeihen dort fett 
geringelt und grofi, und die Lerchen stolen jah herunter, urn sie zu 
fressen. 

Der Jude Manes Reisiger kam eines Tages im Oktober zu einer ebenso 
friihen Morgenstunde zu mir, wie ein paar Monate vorher sein Freund, 
mein Vetter Branco, zu mir gekommen war. Und er kam auf die Emp- 
fehlung meines Vetters Joseph Branco. »Junger Herr«, sagte Jacques, 
»ein Jude mochte den jungen Herrn sprechen.« Ich kannte damals ein 
paar Juden, freilich Wiener Juden. Ich hafite sie keineswegs, und zwar 
gerade deshalb, weil um jene Zeit der positive Antisemitismus der No- 
blesse und der Kreise, in denen ich verkehrte, eine Mode der Hausmei- 
ster geworden war, der Kleinbiirger, der Schornsteinfeger, der Tape- 
zierer. Dieser Wandel war durchaus jenem der Mode analog, der da 
bewirkte, dafi die Tochter eines Rathausdieners genau die gleiche Pleu- 
reuse auf den Sonntagshut steckte, die eine Trautmannsdorff oder eine 
Szechenyi drei Jahre vorher am Mittwoch getragen hatte. Und ebenso- 
wenig wie heute eine Szechenyi die Pleureuse anstecken konnte, die 
den Hut der Magistratsdienertochter zierte, ebensowenig konnte die 
gute Gesellschaft, zu der ich mich zahlte, einen Juden geringschatzen - 
einfach deshalb, weil es bereits mein Hausmeister tat. 
Ich ging ins Vorzimmer, und ich war darauf vorbereitet, einen jener 
Juden zu sehen, die ich kannte und deren Beruf ihren korperlichen 
Aspekt impragniert, ja sogar gebildet zu haben schien. Ich kannte 



DIE KAPUZINERGRUFT 24I 

Geldwechsler, Hausierer, Kleiderhandler und Klavierspieler in Bor- 
dellen. Als ich nun ins Vorzimmer trat, erblickte ich einen Mann, der 
nicht nur keineswegs meinen gewohnten Vorstellungen von einem Ju- 
den entsprach, sondern sie sogar vollkommen zu zerstoren hatte im- 
stande sein konnen. Er war etwas unheimlich Schwarzes und unheinv 
lich Kolossaies. Man hatte nicht sagen konnen, dafi sein Vollbart, sein 
glatter blauschwarzer Vollbart, das braune, harte, knochige Angesicht 
umrahmte. Nein, das Angesicht wuchs geradezu aus dem Bart hervor, 
als ware der Bart gleichsam fruher dagewesen, vor dem Antlitz noch, 
und als hatte er jahrelang darauf gewartet, es zu umrahmen und es zu 
umwuchern. Der Mann war stark und grofi. In der Hand hielt er eine 
schwarze Ripsmiitze mit Schirmrand, und auf dem Kopf trug er ein 
rundes, samtenes Kappchen, nach der Art, wie es manchmal geistliche 
Herren tragen. Er stand so, hart an der Tur, gewaltig, finster, wie eine 
gewichtige Macht, die roten Hande zu Fausten geballt, sie hingen wie 
zwei Hammer aus den schwarzen Armeln seines Kaftans. Er zog aus 
dem inneren Lederrand seiner Ripsmiitze den schmal gefalteten slowe- 
nischen Brief meines Vetters Joseph Branco hervor. Ich bat ihn sich zu 
setzen, aber er lehnte schuchtern ab, mit den Handen, und diese Ab- 
lehnung erschien mir um so schuchterner, als sie mit diesen Handen 
vorgebracht worden war, von denen jede imstande gewesen ware, 
mich, das Fenster, den kleinen Marmortisch, den Kleiderstander und 
iiberhaupt alles, was im Vorzimmer vorhanden war, zu zertrummern. 
Ich las den Brief. Aus dem erfuhr ich, dafi der Mann, der da vor mir 
stand, Manes Reisiger aus Zlotogrod war, ein Kutscher seines Zei- 
chens, Freund meines Vetters Joseph Branco, der auf seiner alljahrli- 
chen Rundreise durch die Kronlander der Monarchic, in denen er die 
Maroni verkaufte, bei ihm, dem Uberbringer des Briefes, Kost und 
freien Aufenthalt genofi, und dafi ich verpflichtet sei, im Namen unse- 
rer Verwandtschaft und unserer Freundschaft, dem Manes Reisiger be- 
hilflich zu sein - in allem, was er von mir wiinschte. 
Und was wiinschte er, der Manes Reisiger aus Zlotogrod? 
Nichts anderes als einen Freiplatz im Konservatorium fur seinen hoch- 
begabten Sohn Ephraim. Der sollte kein Kutscher werden und auch 
nicht im fernen Osten der Monarchic verkommen. Der Ansicht des 
Vaters nach war Ephraim ein genialer Musiker. 

Ich versprach alles. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Freund, 
dem Grafen Chojnicki, der unter all meinen Freunden erstens der ein- 



242 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

zige Galizianer war und zweitens allein imstande, die uralte, die tradi- 
tionelle, die wirksame Widerstandskraft der alten osterreichischen Be- 
amten zu brechen: durch Drohung, Gewaltanwendung, Tucke und 
Hinterlist, die Waff en einer alten, langst versunkenen Kulturwelt: 
eben unserer Welt. 

Am Abend traf ich den Grafen Chojnicki in unserem Cafe Wimmerl. 
Ich wufite wohl, dafi man ihm kaum einen grofieren Gefallen bereiten 
konnte, als wenn man ihn bat, fur einen seiner Landsleute Vergiinsti- 
gungen zu verschaffen. Er hatte nicht nur keinen Beruf, er hatte auch 
keine Beschaftigung. Er, der in der Armee, in der Verwaltung, in der 
Diplomatic eine sogenannte »brillante Karriere« hatte einschlagen 
konnen und der sie geradezu ausgeschlagen hatte, aus Verachtung ge- 
gen die Trottel, die Tolpel, die Pallawatsche, alle jene, die den Staat 
verwalteten und die er »Knodelhirne« zu nennen liebte, machte sich 
ein delikates Vergniigen daraus, Hofrate seine Macht fiihlen zu lassen, 
die wirkliche Macht eben, die gerade eine nicht-offizielle Wiirde ver- 
lieh. Und er, der so freundlich, so nachsichtig, ja entgegenkommend 
Kellnern, Kutschern, Dienstmannern und Brieftragern gegeniiber war, 
der niemals versaumte, den Hut abzunehmen, wenn er einen Wach- 
mann oder einen Portier um irgendeine gleichgultige Auskunft bat, 
bekam ein kaum wiedererkennbares Gesicht, wenn er eine seiner Pro- 
tektionsdemarchen am Ballhausplatz, in der Statthalterei, im Kultus- 
und Unterrichtsministerium unternahm: Ein eisiger Hochmut lag, ein 
durchsichtiges Visier, liber seinen Ztigen. War er noch unten vor dem 
livrierten Portier am Portal einigermaften herablassend, manchmal so- 
gar giitig, so steigerte sich sein Widerstand gegen die Beamten sicht- 
barlich bei jeder Stufe, die er emporstieg, und war er einmal im letzten 
Stock angekommen, machte er den Eindruck eines Mannes, der hier- 
hergekommen war, um ein furchterliches Strafgericht zu halten. Man 
kannte ihn schon in einigen Amtern. Und wenn er im Korridor dem 
Amtsdiener mit einer gefahrlich leisen Stimme sagte: »Melden Sie mich 
beim Hofrat!«, so fragte man nur selten nach seinem Namen, und ge- 
schah es dennoch, wiederholte er, womoglich noch leiser: »Melden Sie 
mich sofort bitte!« Das Wort »bitte!« klang allerdings schon lauter. 
Er liebte iiberdies die Musik, und auch deswegen erschien es mir ange- 
bracht, seine Unterstutzung fur den jungen Reisiger in Anspruch zu 
nehmen. Er versprach sofort, am nachsten Tag schon alles zu versu- 
chen. So prompt war seine Hilfsbereitschaft, dafl ich bereits anfing, 



DIE KAPUZINERGRUFT 243 

mein Gewissen belastet zu fiihlen, und ihn also fragte, ob er nicht viel- 
leicht lieber erst eine Probe fur das Talent des jungen Reisiger haben 
wollte, bevor er sich fiir ihn einsetzte. Er aber geriet daniber in Aufre- 
gung. »Sie kennen vielleicht Ihre Slowenen«, sagte er, »aber ich kenne 
meine galizischen Juden. Der Vater heifit Manes und ist ein Fiaker, wie 
Sie mir eben erzahlen. Der Sohn heifit Ephraim, und all dies geniigt 
mir vollkommen. Ich bin von dem Talent des Jungen ganz uberzeugt. 
Ich weift so was, dank meinem sechsten Sinn, Meine galizischen Juden 
konnen alles. Vor zehn Jahren noch habe ich sie nicht gemocht. Jetzt 
sind sie mir lieb, weil diese Knodelhirne angefangen haben, Antisemi- 
ten zu sein. Ich muE mich nur erkundigen, welche Herren eigentlich 
an den zustandigen Stellen sitzen, und besonders, welche unter ihnen 
Antisemiten sind. Denn ich will sie mit dem kleinen Ephraim argern, 
und ich werde auch mit dem Alten zusammen hingehen. Hoffentlich 
sieht er recht jiidisch aus.« 

»Er tragt einen halblangen Kaftan«, sagte ich. »Gut, gut«, rief Graf 
Chojnicki, »das ist mein Mann. Wissen Sie, ich bin kein Patriot, aber 
meine Landsleute liebe ich. Ein ganzes Land, ein Vaterland gar, ist 
etwas Abstraktes. Aber ein Landsmann ist etwas Konkretes. Ich kann 
nicht alle Weizen- und Kornfelder, alle Tannenwalder, alle Sumpfe lie- 
ben, alle polnischen Herren und Damen. Aber ein bestimmtes Feld, 
ein Waldchen, einen Sumpf, einen Mensschen: a la bonheur! Das sehe 
ich, das greife ich, das spricht in der Sprache, die mir vertraut ist, das 
ist just, weil es einzeln ist, der Inbegriff des Vertrauten. Und im ubri- 
gen gibt es auch Menschen, die ich Landsleute nenne, auch wenn sie in 
China, Persien, Afrika geboren sind. Manche sind mir auf den ersten 
Blick vertraut. Was ein richtiger >Landsmann< ist, das fallt einem als 
Zeichen der Gnade vom Himmel in den Schoft. Ist er aufterdem noch 
auf meiner Erde geboren: a la bonheur. Aber das zweite ist ein Zufall, 
und das erste ist ein Schicksal.« 

Er hob das Glas und rief: »Es leben die Landsleute, meine Landsleute 
aus alien Weltgegenden!« 

Zwei Tage spater schon brachte ich ihm den Fiaker Manes Reisiger ins 
Hotel Kremser. Manes saft knapp auf dem Sesselrand, unbeweglich, 
ein kolossales schwarzes Wesen. Er sah aus, als hatte er sich nicht 
selbst, als hatte ihn irgendein anderer hingesetzt, zufallig, an den Rand, 
und als ware er selbst auflerstande, den ganzen Platz einzunehmen. 
Aufter den zwei Satzen, die er von Zeit zu Zeit und ohne Zusammen- 



244 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

hang wiederholte - namlich: »Ich bitte sehr, die Herren!« und: »Ich 
danke sehr, die Herren!«-, sagte er nichts, und er schien auch ziemlich 
wenig zu verstehen. Es war Chojnicki, der dem Fiaker Manes aus Zlo- 
togrod erzahlte, wie es in Zlotogrod aussehe; denn Chojnicki kannte 
alle Gegenden in Galizien. 

»Also morgen elf Uhr gehn wir, die Geschichte ordnen«, sagte er, 
»Ich danke sehr, die Herren!« sagte Manes. Er schwenkte mit der 
einen Hand die Ripsmiitze und luftete mit der anderen das Kappchen. 
Er verneigte sich noch einmal an der Tiir, die ihm der Portier offenhielt 
und dem er dankbar und begluckt zulachelte. 

In der Tat war ein paar Wochen spater der junge Ephraim Reisiger im 
Konservatorium untergebracht. Der Junge kam zu Chojnicki, um sich 
zu bedanken. Auch ich war damals in Chojnickis Hotel Der junge 
Ephraim Reisiger sah beinahe finster drein, und wahrend er sich be- 
dankte, machte er den Eindruck eines Junglings, der einen Vorwurf 
vorzubringen hat. Er sprach polnisch, ich verstand, dank meinem SIo- 
wenisch, nur jedes dritte Wort. Aber ich begriff, nach den Mienen und 
den Blicken des Graf en Chojnicki, dafi ihm die vorwurf svolle und 
eigentlich arrogante Haltung des Jungen gefiel. 

»Das ist was!« sagte er, nachdem der Junge gegangen war. »Bei uns zu 
Lande sagen die Leute einem nicht: Danke schon! - sondern eher das 
Gegenteil. Es sind stolze Menschen, die galizischen Juden, meine gali- 
zischen Juden! Sie leben in der Vorstellung, dafi ihnen alle Vorzugs- 
stellungen einfach gebiihren. Mit dem grofSartigen Gleichmut, mit dem 
sie auf Stein wiirfe und Beschimpfungen reagieren, nehmen sie die Ver- 
gunstigungen und Bevorzugungen entgegen. Alle anderen emporen 
sich, wenn man sie bes chimp ft, und ducken sich, wenn man ihnen Gu- 
tes tut. Meine polnischen Juden allein beriihrt weder ein Schimpf noch 
eine Gunst. In ihrer Art sind sie Aristokraten. Denn das Kennzeichen 
des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut; und nirgends 
habe ich einen grofteren Gleichmut gesehen als bei meinen polnischen 
Juden !« 

Er sagte meine polnischen Juden in dem gleichen Ton, in dem er mir 
gegeniiber so oft gesagt hatte: meine Giiter, meine van Goghs, meine 
Instrumentensammlung. Ich hatte die deutliche Empfindung, dafi er 
die Juden zum Teil deshalb so schatzte, weil er sie als sein Eigentum 
betrachtete. Es war, als waren sie nicht nach Gottes Willen in Galizien 



DIE KAPUZINERGRUFT 245 

zur Welt gekommen, sondern als hatte er sie sich beim Allmachtigen 
personlich bestellt, wie er sich persische Teppiche bei dem bekannten 
Handler Pollitzer zu bestellen pflegte, Papageien bei dem italieni- 
schen Vogelhandler Scapini und alte, seltene Instrumente bei dem 
Geigenmacher Grossauer. Und mit der gleichen Sorgfalt, mit der glei- 
chen umsichtigen Noblesse, mit der er Teppiche, Vogel, Instrumente 
behandelte, kam er auch seinen Juden entgegen; dermaften, daft er es 
fur seine selbstverstandliche Pflicht hielt, dem Vater des ziemlich ar- 
roganten Jungen, dem braven Fiaker Manes, einen Brief zu schreiben, 
einen Gluckwunsch zur Aufnahme des Ephraim im Konservatorium. 
Denn Chojnicki hatte Angst, der Fiaker Manes konnte ihm mit einem 
Dankbrief zuvorkommen. 

Der Fiaker Manes Reisiger aber, weit davon entfernt, Dankesbriefe 
zu schreiben, und vollkommen unfahig, die Gunst des Schicksals zu 
ermessen, die ihn und seinen Sohn in des Grafen Chojnicki und in 
meine Nahe gebracht hatte, vielmehr zu der Annahme geneigt, daft 
seines Sohnes Ephraim Talent so iibermaftig groft war, daft ein Wie- 
ner Konservatorium begliickt sein muftte, einen solchen Sohn zu be- 
herbergen, besuchte mich zwei Tage spater und begann folgenderma- 
fien: »Wenn einer etwas kann in dieser Welt, wind er etwas. Ich habe 
das meinem Sohn Ephraim immer gesagt. Es ist auch so gekommen. 
Es ist mein einziger Sohn. Er spielt groftartig Geige. Sie miissen ihn 
einmal bitten, daft er Ihnen etwas vorspielt. Und er ist stolz. Wer 
weift, ob er es wirklich tut!« - Es war so, als hatte ich dem Fiaker 
Manes dafur zu danken, daft es mir vergonnt gewesen war, seinem 
Sohn einen Platz im Konservatorium zu verschaffen. »Ich habe gar 
nichts mehr hier in Wien zu suchen«, fuhr er fort, »ich werde morgen 
nach Hause fahren.« 

»Sie miissen«, sagte ich ihm, »noch dem Grafen Chojnicki einen Be- 
such machen, um sich bei ihm zu bedanken.« 

»Ein feiner Herr Graf!« sagte Manes, mit Anerkennung. »Ich werde 
ihm adieu sagen. Hat er meinen Ephraim schon spielen gehort?« 
»Nein!« sagte ich, »Sie sollten ihn darum bitten!« 
Der Zug des Fiakers Manes Reisiger ging um elf Uhr abends, gegen 
acht Uhr kam er zu mir und bat mich, das heiftt: er befahl mir bei- 
nahe, ihn in das Hotel des Grafen Chojnicki zu fuhren. 
Gut, ich fiihrte ihn hin. Chojnicki war dankbar und fast entzuckt. Ja, 
er war sogar genihrt. »Wie groftartig«, rief er, »daft er zu mir kommt, 



246 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

um mir zu danken. Ich habe Ihnen gleich gesagt: So sind unsere Ju- 
den!« 

Schliefilich dankte er dem Fiaker Manes dafiir, daft dieser ihm Gele- 
genheit gegeben hatte, ein Genie der Welt erhalten zu haben. Es horte 
sich an, als ob Chojnicki seit zehn oder seit zwanzig Jahren auf nichts 
anderes gewartet hatte als auf den Sohn des Manes Reisiger und als sei 
ihm nunmehr ein langst gehegter und sorgsam gepflegter Wunsch end- 
lich in Erfiillung gegangen. Er bot sogar Manes Reisiger aus lauter 
Dankbarkeit Geld fur die Riickreise an. Der Fiaker Manes lehnte ab, 
aber er lud uns beide ein, zu ihm zu kommen. Er hatte ein Haus, sagte 
er, drei Zimmer, eine Kiiche, einen Stall fur sein Pferd und einen Gar- 
ten, wo sein Wagen und sein Schlitten stiinden. Oh, er sei gar kein 
armer Fiaker. Er verdiente sogar funfzig Kronen im Monat. Und wenn 
wir zu ihm kommen wollten, wiirde es uns groftartig ergehen. Er 
wiirde schon dafiir sorgen, daft wir nichts zu entbehren hatten. 
Er vergaft auch nicht, Chojnicki und mich daran zu erinnern, daft wir 
geradezu die Pflicht hatten, uns um seinen Sohn Ephraim zu ktim- 
mern. »So ein Genie muft man pflegen!« sagte er beim Abschied. 
Chojnicki versprach es; und auch, daft wir im nachsten Sommer be- 
stimmt nach Zlotogrod kommen wiirden. 



VII 

Hier an dieser Stelle muft ich von einer wichtigen Angelegenheit spre- 
chen, von der ich, als ich dieses Buch zu schreiben anfing, gehofft 
hatte, ich konnte sie umgehen. Es handelt sich namlich um nichts an- 
deres als die Religion. 

Ich war unglaubig, wie meine Freunde, wie alle meine Freunde. Ich 
ging niemals zur Messe. Wohl aber pflegte ich meine Mutter bis vor 
den Eingang zur Kirche zu begleiten, meine Mutter, die zwar vielleicht 
nicht glaubig war, wohl aber »praktizierend«, wie man sagt. Damals 
haftte ich die Kirche geradezu. Ich weift heute, da ich glaubig bin, zwar 
nicht mehr, warum ich sie haftte. Es war »Mode« sozusagen. 
Ich hatte mich geschamt, wenn ich meinen Freunden hatte sagen miis- 
sen, daft ich zur Kirche gegangen sei. Es war keine wirkliche Feindse- 
ligkeit gegen die Religion in ihnen, sondern eine Art Hochmut, die 
Tradition anzuerkennen, in der sie aufgewachsen waren. Zwar wollten 



DIE KAPUZINERGRUFT 247 

sie das Wesentliche ihrer Tradition nicht aufgeben; aber sie - und ich 
gehorte zu ihnen-, wir rebellierten gegen die Formen der Tradition, 
denn wir wuftten nicht, daft wahre Form mit dem Wesen identisch sei 
und daft es kindisch war, eines von dem andern zu trennen. Es war 
kindisch, wie gesagt: aber wir waren damals eben kindisch. Der Tod 
kreuzte schon seine knochigen Hande iiber den Kelchen, aus denen 
wir tranken, frohlich und kindisch. Wir fiihlten ihn nicht, den Tod. 
Wir fiihlten ihn nicht, weil wir Gott nicht fiihlten. Unter uns war Graf 
Chojnicki der einzige, der noch an den religiosen Formen festhielt, 
aber auch nicht etwa aus Glaubigkeit, sondern dank dem Gefiihl, daft 
die Noblesse ihn dazu verpflichtete, die Vorschriften der Religion zu 
befolgen. Er hielt uns andere, die wir sie vernachlassigten, fur halbe 
Anarchisten. »Die romische Kirche«, so pflegte er zu sagen, »ist in 
dieser morschen Welt noch die einzige Formgeberin, Formerhalterin. 
Ja, man kann sagen, Formspenderin. Indem sie das Traditionelle des 
sogenannten >Althergebrachten< in der Dogmatik einsperrt wie in 
einem eisigen Palast, gewinnt und verleiht sie ihren Kindern die Frei- 
heit, ringsum, aufterhalb dieses Eispalastes, der einen weiten, geraumi- 
gen Vorhof hat, das Lassige zu treiben, noch das Verbotene zu verzei- 
hen beziehungsweise zu fuhren. Indem sie Siinden statuiert, vergibt sie 
bereits diese Siinden. Sie gestattet geradezu keine fehlerlosen Men- 
schen: Dies ist das eminent Menschliche an ihr. Ihre tadellosen Kinder 
erhebt sie zu Heiligen. Dadurch allein gestattet sie implicite die Fehler- 
haftigkeit der Menschen. Ja, sie gestattet die Sundhaftigkeit in dem 
Mafte, daft sie jene Wesen nicht mehr fur menschlich halt, die nicht 
siindhaft sind: Die werden selig oder heilig. Dadurch bezeugt die ro- 
mische Kirche ihre vornehmste Tendenz, zu verzeihen, zu vergeben. 
Es gibt keine noblere Tendenz als die Verzeihung. Bedenken Sie, daft 
es keine vulgarere gibt als die der Rache. Es gibt keine Noblesse ohne 
Groftziigigkeit, wie es keine Rachsucht gibt ohne Vulgaritat.« 
Er war der Alteste und Kliigste unter uns, der Graf Chojnicki; aber 
wir waren zu jung und zu toricht, um seiner Uberlegenheit jene Vereh- 
rung zu zollen, die sie gewift verdiente. Wir horten ihm eher gefallig 
zu, und obendrein bildeten wir uns noch ein, daft wir ihm eine Lie- 
benswiirdigkeit erwiesen, indem wir ihm zuhorten. Er war fur uns 
sogenannte Junge ein alterer Hern Spater erst, im Kriege, war es uns 
beschieden zu sehen, um wieviel jiinger er in Wahrheit war als wir. 
Aber spat erst, viel zu spat, sahen wir ein, daft wir zwar nicht jiinger 



248 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

waren als er, sondern einfach ohne Alter, sozusagen unnatiirlich ohne 
Alter. Dieweil er natiirlich war, wiirdig seiner Jahre^ echt und gottge- 
segnet. 



VIII 



Ein paar Monate spater erhielt ich den folgenden Brief von dem Fiaker 
Manes Reisiger: 

»Sehr verehrter Herr! 

Nach der grofien Ehre und der grofien Dienstleistung, die Sie mir er- 
wiesen haben, erlaube ich mir ergebenst, Ihnen mitzuteilen, dafi ich 
Ihnen sehr, sehr dankbar bin. Mein Sohn schreibt mir, dafi er Fort- 
schritte im Konservatorium macht, und sein ganzes Genie habe ich 
Ihnen zu verdanken. Ich danke Ihnen auch von Herzen. Gleichzeitig 
erlaube ich mir ergebenst, Sie zu bitten, ob Sie nicht die grofie Giite 
hatten, hierher, zu uns, zu kommen. Ihr Cousin, der Maronibrater 
Trotta, wohnt immer, das heifit: seit zehn Jahren, bei mir, jeden 
Herbs t. Ich habe mir vorgestellt, dafi es auch Ihnen angenehm ware, 
bei mir zu wohnen. Mein Hauschen ist arm, aber geraumig. 
Sehr verehrter Herr! Nehmen Sie mir gefalligst diese Einladung nicht 
iibel. Ich bin so klein, und Sie sind so grofi! Verehrter Herr! Ich bitte 
auch um Entschuldigung, dafi ich diesen Brief schreiben lasse. Ich 
kann namlich selbst nicht schreiben, aufier meinem Namen. Diesen 
Brief schreibt, auf meinen Willen, der offentlich konzessionierte 
Schreiber unseres Ortes, Hirsch Kiniower, also ein zuverlassiger, or- 
denthcher und amtlicher Mensch. Des sehr verehrten Herrn ergebe- 
ner: 

Manes Reisiger, Fiaker in 21otogrod« 

Der ganze Brief war in sorgfaltiger, kalligraphischer Schrift geschrie- 
ben: »Wie gedruckt« sagte man damals von dieser Art Schrift. Nur die 
Unterschrift, der Name eben, verriet die riihrende Ungelenkigkeit der 
Fiakerhand. Dieser Anblick der Unterschrift allein hatte mir geniigt, 
meinen Entschlufi zu fassen und meine Reise nach Zlotogrod fur den 
nachsten Friihherbst festzusetzen. Sorglos waren wir damals alle, und 
ich war sorglos wie alle die anderen. Unser Leben war vor dem grofien 



DIE KAPUZINERGRUFT 249 

Krieg idyllisch, und schon eine Reise nach dem fernen Zlotogrod 
schien uns alien ein Abenteuer. Und daft ich der Held dieses Abenteu- 
ers sein sollte, war mir selbst eine groftartige Gelegenheit, groftartig 
vor meinen Freunden dazustehen. Und obwohl diese abenteuerliche 
Reise noch so weit vor uns lag und obwohl ich allein sie zu machen 
hatte, sprachen wir doch jeden Abend von ihr, als trennte mich ledig- 
lich eine Woche von Zlotogrod und als hatte ich sie nicht allein, son- 
dern wir alle gemeinsam zu unternehmen. Allmahlich wurde diese 
Reise fur uns alle eine Leidenschaft, sogar eine Besessenheit. Und wir 
begannen, uns das feme, kleine Zlotogrod sehr willkurlich auszuma- 
len, dermaften, daft wir selbst schon, wahrend wir noch Zlotogrod 
schilderten, iiberzeugt waren, wir entwurfen davon ein ganz falsches 
Bild; und daft wir dennoch nicht aufhoren konnten, diesen Ort, den 
keiner von uns kannte, zu entstellen. Das heiEt: mit allerhand Eigen- 
schaften auszustatten, von denen wir von vornherein wuftten, sie seien 
die willkurlichen Ergebnisse unserer Phantasie und keineswegs die rea- 
len Qualitaten dieses Stadtchens. 

So heiter war damals die Zeit! Der Tod kreuzte schon seine knochigen 
Hande iiber den Kelchen, aus denen wir tranken. Wir sahen ihn nicht, 
wir sahen nicht seine Hande. Wir sprachen von Zlotogrod dringlich so 
lange und so intensiv, daft ich von der Furcht erf aft t wurde, es konnte 
eines Tages plotzlich verschwinden oder meine Freunde konnten zu 
glauben anfangen, jenes Zlotogrod sei unwirklich geworden und es 
existierte gar nicht und ich hatte ihnen nur davon erzahlt. Plotzlich 
erfaftten mich die Ungeduld und sogar die Sehnsucht nach diesem Zlo- 
togrod und nach dem Fiaker namens Reisiger. 

Mitten im Sommer des Jahres 19 14 fuhr ich hin, nachdem ich Vetter 
Trotta nach Sipolje geschrieben hatte, daft ich ihn dort erwarte. 



IX 

Mitten im Sommer des Jahres 1914 fuhr ich also nach Zlotogrod. Ich 

kehrte im Hotel »Zum goldenen Baren« ein, dem einzigen Hotel dieses 

Stadtchens, von dem man mir gesagt hatte, es sei einem Europaer ange- 

messen. 

Der Bahnhof war winzig, wie jener in Sipolje, den ich in gewissenhaf- 

ter Erinnerung behalten hatte. Alle Bahnhofe der alten osterreichisch- 



25O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ungarischen Monarchic gleichen einander, die kleinen Bahnhofe in den 
kleinen Provinzorten. Gelb und winzig, waren sie tragen Katzen ahn- 
lich, die winters im Schnee, sommers in der Sonne lagern, gleichsam 
beschiitzt von dem liberlieferten kristallenen Glasdach des Perrons 
und ubenvacht von dem schwarzen Doppeladler auf gelbem Hinter- 
grund. Uberall, in Sipolje wie in Zlotogrod, war der Portier der glei- 
che, der gleiche Portier mit dem erhabenen Bauch, der dunkelblauen, 
friedfertigen Uniform, dem schwarzen Riemen quer iiber der Brust, 
dem Riemen, in dem die Glocke steckte, die Mutter jenes seligen, drei- 
maligen, vorschriftsma&gen Klingelns, das die Abfahrt ankiindigte; 
auch in Zlotogrod, wie in Sipolje, hing am Perron, iiber dem Eingang 
zum Buro des Stations vorstehers, jenes schwarze, eiserne Instrument, 
aus dem wunderbarerweise das feme silberne Klingeln des fernen Tele- 
phons kam, Signale, zart und lieblich, aus anderen Welten, so dafi man 
sich wunderte, daft sie Zuflucht gefunden hatten in einem so schweren, 
wenn auch kleinen Gehause,* auf der Station in Zlotogrod, wie auf der 
in Sipolje, salutierte der Portier den Ankommenden wie den Abreisen- 
den, und sein Salutieren war wie eine Art militarischen Segens; auf 
dem Bahnhof in Zlotogrod, wie auf dem in Sipolje, gab es den gleichen 
»Wartesaal zweiter und erster Klasse«, das gleiche Biifett mit den 
Schnapsflaschen und der gleichen blonden, vollbusigen Kassiererin 
und den zwei riesengrofien Palmen rechts und links vom Biifett, die 
ebenso an Vorweltgewachse erinnerten wie an PappendeckeL Und vor 
dem Bahnhof warteten die drei Fiaker, genauso wie in Sipolje. Und ich 
erkannte sofort den unverkennbaren Fiaker Manes Reisiger. 
Selbstverstandlich war er es, der mich zum Hotel »Zum goldenen Ba- 
ren« fuhr. Er hatte einen schonen, mit zwei silbergrauen Schimmeln 
bespannten Fiaker, die Speichen der Rader waren gelb lackiert und die 
Rader mit Gummi versorgt, so wie sie Manes in Wien bei den soge- 
nannten »Gummiradlern« gesehen hatte. 

Er gestand mir unterwegs, daft er eigentlich nicht so sehr meinetwegen, 
in Erwartung meiner Ankunft, seinen Fiaker renoviert hatte wie aus 
einer Art jener instinktiven Leidenschaft, die ihn zwang, seine Kolle- 
gen, die Wiener Fiaker, genauer zu beobachten und seine Ersparnisse 
dem Gott des Fortschritts zu opfern, zwei Schimmel zu kaufen und 
Gummireifen um die Rader zu tun. 

Der Weg vom Bahnhof zur Stadt war sehr weit, und Manes Reisiger 
hatte lang Zeit, mir die Geschichten zu erzahlen, die ihn so nahe angin- 



DIE KAPUZINERGRUFT 251 

gen. Er hielt dabei mit der linken Hand die Ziigel. Zu seiner Rechten 
stak die Peitsche in ihrem Futteral. Die Schimmel kannten wohl den 
Weg. Es war keineswegs notig, sie zu lenken. Manes brauchte sich gar 
nicht um sie zu kummern. Er safi also nachlassig auf dem Kutschbock, 
hielt die Ziigel sorglos und schlaff in der Linken und neigte sich mir 
mit dem halben Oberkorper zu, wahrend er mir seine Geschichte er- 
zahlte. Beide Schimmel zusammen hatten nur hundertfiinfundzwanzig 
Kronen gekostet. Es waren ararische Schimmel, jeder auf dem linken 
Auge blind geworden, fur militarische Zwecke also unbrauchbar und 
von den in Zlotogrod stationierten Neuner-Dragonern billig abgege- 
ben. Allerdings hatte er, der Fiaker Manes Reisiger, sie niemals so 
leicht kaufen konnen, wenn er nicht ein Liebling des Obersten von 
dem Neuner-Dragoner- Regiment gewesen ware. Es gab im ganzen 
funf Fiaker im Stadtchen Zlotogrod, Die andern vier, die Kollegen 
Reisigers, hatten schmutzige Wagen, faule und lahme alte Stuten, 
krumme Rader und ausgefranste Ledersitze. Die Holzwolle kroch nur 
so wild durch das abgeschabte und lochrige Leder, und es war wahr- 
haftig keinem Herrn, geschweige denn einem Obersten von den Neu- 
ner-Dragonern zuzumuten, daft er sich in solch einen Fiaker setzte. 
Ich hatte eine Empfehlung von Chojnicki an den Garnisonskomman- 
danten, den Obersten Foldes von den Neunern, ebenso wie an den 
Bezirkshauptmann, den Baron Grappik. Gleich morgen, am nachsten 
Tag nach meiner Ankunft also, gedachte ich, beide Besuche zu ma- 
chen. Der Fiaker Manes Reisiger verfiel in Schweigen, er hatte nichts 
mehr Wichtiges zu erzahlen, alles, was wichtig in s einem Leben war, 
hatte er bereits gesagt. Dennoch aber liefi er immer noch die Peitsche 
im Futteral, dennoch hielt er immer noch die Ziigel schlaff und lose, 
dennoch wandte er mir immer noch vom Kutschbock her seinen 
Oberkorper zu. Das standige Lacheln seines breiten Mundes mit den 
starken weiften Zahnen zwischen der nachtlichen, fast schon blauen 
Schwarze seines Schnurrbarts und seines Bartes erinnerte leicht an 
einen milchigen Mond zwischen Waldern, zwischen angenehmen Wal- 
dern eben. So viel Heiterkeit, so viel Giite war in diesem Lacheln, daft 
es sogar die Kraft der fremden, flachen, wehmutigen Landschaft be- 
herrschte, durch die ich fuhr. Denn weite Felder zu meiner Rechten, 
weite Sumpfe zu meiner Linken dehnten sich auf dem Weg zwischen 
der Bahnstation Zlotogrod und dem Stadtchen Zlotogrod, es war, als 
ware es gleichsam in freiwilliger Keuschheit bewuftt feme dem Bahn- 



252 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

hof geblieben, der es mit der Welt verband. Es war ein regnerischer 
Nachmittag und, wie gesagt, am Anfang des Herbstes. Die Gummira- 
der des Fiakers Manes rollten gespenstisch lautlos durch die aufge- 
weichte, ungepflasterte Landstrafie, aber die schweren Hufe der star- 
ken, dereinst ararischen Schimmel klatschten in wuchtigem Rhythmus 
durch den dunkelgrauen Schlamm, und die dicken Kotklumpen spritz- 
ten vor uns her. Es war bereits Halbdunkel, als wir die ersten Hauser 
erreichten. Mitten auf dem Ringplatz, der kleinen Kirche gegeniiber, 
stand, durch eine einsame, traurige Laterne von weitem schon kundge- 
tan, das einzige zweistockige Haus von Zlotogrod: namlich das Hotel 
»Zum goldenen Baren«. Die einsame Laterne davor erinnerte an ein 
Waisenkind, das durch Tranen vergeblich zu lacheln versucht. 
Dennoch, auf so viel Fremdes, mehr als dies: namlich Weites und Ent- 
ferntes, ich mich auch vorbereitet hatte, erschien mir auch das meiste 
heimisch und vertraut. Viel spater erst, lange nach dem grofien Krieg, 
den man den »Weltkrieg« nennt, mit Recht, meiner Meinung nach, 
und zwar nicht etwa, weil ihn die ganze Welt gefiihrt hatte, sondern 
weil wir alle infolge seiner eine Welt, unsere Welt, verloren haben, viel 
spater also erst sollte ich einsehen, daft sogar Landschaften, Acker, 
Nationen, Rassen, Hiitten und Kaffeehauser verschiedenster Art und 
verschiedenster Abkunft dem durchaus naturhchen Gesetz eines star- 
ken Geistes unterliegen miissen, der imstande ist, das Entlegene nahe- 
zubringen, das Fremde verwandt werden zu lassen und das scheinbar 
Ausemanderstrebende zu einigen. Ich spreche vom mifiverstandenen 
und auch mifibrauchten Geist der alten Monarchic, der da bewirkte, 
dafi ich in Zlotogrod ebenso zu Hause war wie in Sipolje, wie in Wien. 
Das einzige Kaffeehaus in Zlotogrod, das Cafe Habsburg, gelegen im 
Parterre des Hotels »Zum goldenen Baren«, in dem ich abgestiegen 
war, sah nicht anders aus als das Cafe Wimmerl in der Josefstadt, wo 
ich gewohnt war, mich mit meinen Freunden am Nachmittag zu tref- 
fen. Auch hier safi hinter der Theke die wohlvertraute Kassiererin, so 
blond und so fiillig, wie zu meiner Zeit nur die Kassiererinnen sein 
konnten, eine Art biedere Gottin des Lasters, eine Siinde, die sich 
selbst preisgab, indem sie sich nur andeutete, lustern, verderblich und 
geschaftstiichtig lauernd zugleich. Desgleichen hatte ich schon in 
Agram, in Olmiitz, in Briinn, in Kecskemet, in Szombathely, in Oden- 
burg, in Sternberg, in Miiglitz gesehen. Die Schachbretter, die Domi- 
nosteine, die verrauchten Wande, die Gaslampen, der Kuchentisch in 



DIE KAPUZINERGRUFT 253 

der Ecke, in der Nahe der Toiletten, die blaugeschiirzte Magd, der 
Landgendarm mit dem lehmgelben Helm, der auf einen Augenblick 
eintrat, ebenso autoritar wie verlegen, und der das Gewehr mit dem 
aufgepfianzten Bajonett schuchtern fast in den Regenschirmstander 
lehnte, und die Tarockspieler mit den Kaiserbarten und den runden 
Manschetten, die sich jeden Tag punktlich um die gleiche Stunde ver- 
sammelten: all dies war Heimat, starker als nur ein Vaterland, weit und 
bunt, dennoch vertraut und Heimat: die kaiser- und konigliche Mo- 
narchic Der Bezirkshauptmann Baron Grappik und der Oberst der 
Neuner-Dragoner Foldes, sie sprachen beide das gleiche naselnde, ara- 
rische Deutsch der besseren Stande, eine Sprache, hart und weich zu- 
gleich, als waren Slawen und Italiener die Griinder und Vater dieser 
Sprache, einer Sprache voller diskreter Ironie und voll grazioser Be- 
reitschaft zur Harmlosigkeit, zum Plausch und sogar zum holden Un- 
sinn. Es dauerte kaum eine Woche, und ich war in Zlotogrod ebenso 
heimisch, wie ich es in Sipolje, in Miiglitz, in Briinn und in unserem 
Cafe Wimmerl in der Josefstadt gewesen war. 

Selbstverstandlich fuhr ich jeden Tag im Fiaker meines Freundes Ma- 
nes Reisiger durch die Gegend. Das Land war in Wirklichkeit arm, 
aber es zeigte sich anmutig und sorglos. Die weit gebreiteten, un- 
fruchtbaren Siimpfe selbst erschienen mir saftig und gtitig und der 
freundliche Chor der Frosche, der aus ihnen emporstieg, als ein Lob- 
gesang von Lebewesen, die besser als ich wufiten, zu welchem Zweck 
Gott sie und ihre Heimat, die Siimpfe, geschaffen hatte. 
In der Nacht horte ich manchmal die heiseren, oft unterbrochenen 
Schreie der hoch fliegenden wilden Ganse. An Weiden und Birken 
hing noch reichlich das Laub, aber von den graven, Ehrfurcht hei- 
schenden Kastanien fielen bereits die sauber gezackten, harten gold- 
gelben Blatter. Die Enten schnatterten mitten in der Strafe, in denen 
unregelmaEige Tiimpel den silbergrauen, nie trocknenden Schlamm 
unterbrachen. 

Ich pflegte am Abend mit den Offizieren des Neuner-Dragoner- Regi- 
ments zu essen; richtiger gesagt: zu trinken. Uber den Kelchen, aus 
denen wir tranken, kreuzte der unsichtbare Tod schon seine knochigen 
Hande. Wir ahnten sie noch nicht. Manchmal blieben wir spat zusam- 
men. Aus einer unerklarlichen Angst vor der Nacht erwarteten wir den 
Morgen. Aus einer unerklarlichen Angst, sage ich eben, weil sie uns 
damals erklarlich zu sein schien; denn wir suchten die Erklarung in der 



254 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Tatsache, dafi wir zu jung waren, um die Nachte zu vernachlassigen. 
Indessen war es, wie ich erst spater sah, die Angst vor den Tagen, 
genauer gesagt, vor den Vormittagen, den klarsten Zeiten des Tages. 
Da sieht man deutlich, und man wird auch deutlich gesehen. Und wir, 
wir wollten nicht deutlich sehen, und wir wollten auch nicht deutlich 
gesehen werden. 

Am Morgen also, um sowohl dieser Deutlichkeit zu entgehen als auch 
dem dumpfen Schlaf, den ich wohl kannte und der einen Menschen 
nach einer durchwachten und durchzechten Nacht uberfallt, wie ein 
falscher Freund, ein schlechter Heiler, ein griesgramiger Gliding und 
ein tuckischer Wohltater, fluchtete ich mich zu Manes, dem Fiaker. 
Oft gegen sechs Uhr fruh kam ich in dem Augenblick an, wo er eben 
aus dem Bett gestiegen war. Er wohnte aufierhalb des Stadtchens, in 
der Nahe des Friedhofs. Ich brauchte ungefahr eine halbe Stunde, um 
zu ihm zu gelangen. Manchmal kam ich just in dem Moment an, in 
dem er gerade aufgestanden war. Sein Hauschen lag emsam, umgeben 
von Feldern und Wiesen, die ihm nicht gehorten, blau geuincht und 
mit einem schwarzgrauen Schindeldach versehen, nicht unahnlich 
einem lebendigen Wesen, das nicht zu stehen, sondern sich zu bewe- 
gen schien. So kraftig war die dunkelblaue Farbe der Wande innerhalb 
des welk werdenden Gningelbs der Umgebung. Wenn ich das dunkel- 
rote Tor aufstiefi, das den Eingang zu der Wohnung des Fiakers Manes 
freigab, sah ich ihn zuweilen gerade aus seiner Hausiir steigen. Vor 
dieser braunen Haustiir stand er da, im groben Hemd, in groben Un- 
terhosen, barhauptig und barfufiig, eine grofie, braune, irdene Kanne 
in der Hand. Er trank immer wieder einen Schluck, dann spuckte er 
das Wasser aus dem Munde in grofiem Bogen aus. Mit seinem gewalti- 
gen schwarzen Vollbart, gerade gegeniiber der eben aufgehenden 
Sonne, in seinem groben Leinen, mit seinen struppigen und wolligen 
Haaren erinnerte er an Urwald, Urmensch, Vorzeit, verwirrt und ver- 
spatet, man wufke nicht, warum. 

Er zog sein Hemd aus und wusch sich am Brunnen. Er pustete gewal- 
tig dabei, spie, kreischte, jauchzte fast, es war wahrhaftig wie ein Ein- 
bruch der Vorwelt in die Nach welt. Dann zog er sein grobes Hemd 
wieder an, und wir gingen beide einander entgegen, um uns zu begrii- 
ften. Diese Begnifiung war ebenso feierlich wie herzlich. Es war eine 
Art von Zeremoniell und, obwohl wir uns fast jeden Morgen sahen, 
immer wieder eine stillschweigende Versicherung der Tatsache, daft 



DIE KAPUZINERGRUFT 255 

weder ich ihn lediglich fiir einen jiidischen Fiaker hielt noch er mich 
lediglich fiir einen einflufSreichen jungen Herrn aus Wien. Manchmal 
bat er mich, die sparlichen Briefe zu lesen, die sein Sohn aus dem Kon- 
servatorium schrieb. Es waren ganz kurze Briefe, aber da er erstens 
nicht schnell die deutsche Sprache begriff, in der ihm der Sohn zu 
schreiben sich verpflichtet fiihlte - weifi Gott aus welchem Grand - 
und zweitens, weil sein zartliches Vaterherz wiinschen mochte, daf5 
diese Briefe nicht zu kurz seien, achtete er darauf, dafi ich sie sehr 
langsam lese. Oft verlangte er auch, daft ich die Satze zwei- oder drei- 
mal wiederhole. 

Das Gefliigel in seinem kleinen Stall begann zu gackern, sob aid er in 
den Hof trat. Die Pferde wieherten, lustern fast, dem Morgen entgegen 
und dem Fiaker Manes. Er schloE zuerst den Pferdestall auf, und beide 
Schimmel steckten gleichzeitig die Kopfe zur Tur heraus. Er kufite sie 
beide, so, wie man Frauen kiifk. Dann ging er in den Schuppen, um 
den Wagen herauszubringen. Hierauf spannte er die Pferde ein. Dann 
schlofi er den Huhnerstall auf, und das Gefliigel zerstreute sich krei- 
schend und flugelschlagend. Es sah aus, als ob sie eine unsichtbare 
Hand iiber den Hof ausgesat hatte. 

Ich kannte auch die Frau des Fiakers Manes Reisiger. Etwa eine halbe 
Stunde spater als er pflegte sie aufzustehen und mich zum Tee einzula- 
den. Ich trank ihn in der blau getiinchten Kiiche, vor dem grofien, 
weiftblechernen Samowar, wahrend Manes geschabten Rettich, Zwie- 
belbrot und Gurken afi. Es roch stark, aber heimlich, heimisch fast, 
obwohl ich niemals diese Art Fruhstiick gegessen hatte; ich liebte da- 
mals eben alles, ich war jung, einfach jung. 

Ich hatte sogar die Frau meines Freundes Manes Reisiger gern, obwohl 
sie zu den - im allgemeinen Sprachgebrauch sogenannten - hafilichen 
Frauen gehorte, denn sie war rothaarig, sommersprossig und sah einer 
aufgequollenen Semmel ahnlich. Dennoch, und trotz ihrer fetten Fin- 
ger, hatte sie eine appetitliche Art, den Tee einzuschenken, ihrem 
Mann das Fruhstiick zu bereiten. Sie hatte ihm drei Kinder geboren. 
Zwei von ihnen waren an den Pocken gestorben. Manchmal sprach sie 
von den toten Kindern, als waren sie noch lebendig. Es war, als gabe es 
fiir sie keinen Unterschied zwischen den begrabenen Kindern und je- 
nem nach dem Wiener Konservatorium abgewanderten Sohn, der ihr 
so gut wie gestorben erscheinen mochte. Ausgeschieden war er eben 
aus ihrem Leben. 



256 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Durchaus lebendig und allzeit gegenwartig aber war ihr mein Vetter, 

der Maronibrater. Hier vermutete ich allerhand. 

Eine Woche spater muftte er kommen, mein Vetter Joseph Branco 

Trotta. 



X 



Eine Woche spater kam er auch. 

Er kam mit seinem Maulesel, mit seinem Ledersack, mit seinen Kasta- 
nien. Braun und schwarz und heiter war er; genau so, wie ich ihn das 
letztemal in Wien gesehen hatte. Es schien ihm offenbar naturhch, 
mich hier wiederzutreffen. Es war noch lange nicht die richtige Saison 
der Maroni angebrochen. Mein Vetter war einfach meinetwegen ein 
paar Wochen fruher gekommen. Auf dem Wege von der Bahn zur 
Stadt safi er auf dem Kutschbock an der Seite unseres Freundes Manes 
Reisiger. Den Maulesel hatten sie hinten mit einem Halfterband an den 
Fiaker gebunden. Der Ledersack, der Bratofen, die Kastanien waren 
zu beiden Seiten des Wagens aufgeschnallt. Also fuhren wir in das 
Stadtchen Zlotogrod ein, aber wir errcgten keinerlei Aufsehen, Man 
war in Zlotogrod gewohnt, meinen Vetter Joseph Branco jedes zweite 
Jahr auftauchen zu sehen. Und auch an mich, den dorthin verirrten 
Fremden, schien man sich bereits gewohnt zu haben. Wir machten also 
keinerlei Aufsehen bei unserm Einzug in das Stadtchen. 
Mein Vetter Joseph Branco stieg, wie gewohnlich, bei Manes Reisiger 
ab. Er brachte mir, eingedenk seiner guten Geschafte, die er im Som- 
mer des vergangenen Jahres mit der Uhr und mit der Kette gemacht 
hatte, noch ein paar folkloristische Kleinigkeiten mit, zum Beispiel 
einen Aschenbecher aus getriebenem Silber, auf dem zwei iibereinan- 
der gekreuzte Dolche zu sehen waren und der heilige alte Nikodemus, 
der mit ihnen gar nichts zu tun hatte, einen Becher aus Messing, der 
mir nach Sauerteig zu riechen schien, einen Kuckuck aus bemaltem 
Holz. Dies alles, so sagte Joseph Branco, hatte er mitgebracht, um es 
mir zu schenken, fur den Fall, daft ich imstande ware, ihm die »Trans- 
portkosten« zu ersetzen. Und ich begriff, was er unter »Transportko- 
sten« verstand. Ich kaufte ihm den Aschenbecher, den Trinkbecher 
und den holzernen Kuckuck ab, noch am Abend seiner Ankunft. Er 
war gliicklich. 



DIE KAPUZINERGRUFT 257 

Um sich die Zeit zu vertreiben, wie er vorgab, in Wirklichkeit aber, um 
jede Gelegenheit auszuniitzen, die ihm etwas Geld eintragen konnte, 
versuchte er von Zeit zu Zeit, dem Fiaker Manes einzureden, daft er, 
Joseph Branco, ein geschickter Kutscher sei, besser als Manes, auch 
fahiger als dieser, Kunden zu finden. Aber Reisiger ging auf derlei Re- 
den gar nicht ein. Er selbst spannte seine Schimmel am friihen Morgen 
vor den Wagen und fuhr, ohne sich um Joseph Branco zu kummern, 
zum Bahnhof und zum Marktplatz, wo seine Kollegen, die anderen 
Fiaker, hielten. 

Es war ein schoner, sonniger Sommer. Obwohl Zlotogrod sozusagen 
kein »richtiges Stadtchen« war, weil es namlich eher einem verkleide- 
ten Dorf ahnlich sah als einem Stadtchen, und obwohl es den ganzen 
frischen Atem der Natur ausstromte, dermaften, daft die Walder, die 
Sumpfe und die Hiigel, von denen es umgeben war, den Marktplatz 
beinahe zu bedrangen schienen und daft man glauben konnte, Wald 
und Sumpf und Hiigel konnten jeden Tag in das Stadtchen ebenso 
selbstverstandlich einkehren wie etwa ein Durchreisender, der vom 
Bahnhof kam, um 1m Hotel »Zum goldenen Baren« abzusteigen, 
schien es meinen Freunden, den Beamten der Bezirkshauptmannschaft 
wie den Herren von den Neuner-Dragonern, daft Zlotogrod eine 
wirkliche Stadt sei; denn sie hatten das Bewufttsein notig, daft sie nicht 
in weltverlorene Ortschaften verbannt seien, und die Tatsache allein, 
daft es eine Bahnstation Zlotogrod gab, vermittelte ihnen das sichere 
Gefuhl, daft sie nicht abseits jener Zivilisation lebten, in der sie aufge- 
wachsen und von der sie verwohnt waren. Infolgedessen taten sie so, 
als miiftten sie ein paarmal in der Woche die sogenannte unzutragliche 
Stadtluft verlassen und in Fiakern jenen Waldern, Sumpfen, Hiigeln 
entgegenfahren, die eigentlich ihnen entgegenkamen. Denn Zlotogrod 
war nicht nur von der Natur erfiillt, sondern sogar auch von seiner 
Umgebung bedrangt. Also geschah es, daft ich ein paarmal in der Wo- 
che mit meinen Freunden im Fiaker des Manes Reisiger in die soge- 
nannte »Umgebung« von Zlotogrod hinausfuhr. »Ausfluge« nannte 
man so was in der Tat. Wir hielten oft vor der Grenzschenke Jadlow- 
kers. Der alte Jadlowker, ein uralter, silberbartiger Jude, saft vor dem 
breiten, machtig gewolbten, rostbraunen, zweiflugeligen Haustor, 
starr und halbgelahmt. Er glich einem Winter, der noch die letzten 
schonen Tage des Herbstes genieften und mitnehmen mochte in jene so 
nahe Ewigkeit, in der es gar keine Jahreszeiten mehr gibt. Er horte 



ROMANE UND ERZAHLUNGEN 



nichts, er verstand kein Wort, er war stocktaub. Aber an seinen groften 
schwarzen und traurigen Augen glaubte ich zu erkennen, daft er gewis- 
sermafien all jenes sah, was die Jungeren nur mit ihren Ohren verneh- 
men konnten, und daft er also sozusagen freiwillig und mit Wonne 
taub war. Die Marienfaden flogen sacht und zartlich iiber ihn dahin. 
Die silberne, aber immer noch warmende Herbstsonne iiberglanzte 
ihn, den Alten, der dem Westen gegeniibersaft, der dem Abend und 
dem Sonnenuntergang entgegensah, den irdischen Zeichen des Todes 
also, so, als erwartete er, daft die Ewigkeit, der er bald geweiht war, zu 
ihm kame, statt ihr entgegenzugehen. Unermiidlich zirpten die Gril- 
len. Unermiidlich quakten die Frosche. Ein grofier Friede herrschte in 
dieser Welt, der herbe Friede des Herbstes. 

Um diese Zeit pflegte mein Vetter Joseph Branco, einer alten Uberlie- 
ferung der Maronibrater der osterreichisch-ungarischen Monarchic ge- 
treu, seinen Stand auf dem Ringplatz von Zlotogrod zu eroffnen. 
Zwei Tage lang zog durch das ganze kleine Stadtchen noch der hart- 
siifte, warme Geruch der gebratenen Apfel. 

Es begann zu regnen. Es war ein Donnerstag. Am nachsten Tag, Frei- 
tag also, klebte die Botschaft schon an alien Strafienecken. 
Es war das Manifest unseres alten Kaisers Franz Joseph, und es hieft: 
»An Meine V6lker!« 



XI 



Ich war Fahnrich in der Reserve. Knapp zwei Jahre vorher hatte ich 
mein Bataillon, die Einundzwanziger-Jager, verlassen. Es schien mir 
damals, daft mir der Krieg durchaus gelegen kame. In dem Augenblick, 
in dem er nun da war und unausbleiblich, erkannte ich sofort - und ich 
glaube, auch alle meine Freunde durften es genauso schnell und so 
plotzlich erkannt haben-, daft sogar noch ein sinnloser Tod besser sei 
als ein sinnloses Leben. Ich hatte Angst vor dem Tod. Das ist gewift. 
Ich wollte nicht fallen. Ich wollte mir lediglich selbst die Sicherheit 
verschaffen, daft ich sterben konne. 

Mein Vetter Joseph Branco und sein Freund, der Fiaker Manes, waren 
beide Soldaten in der Reserve. Auch sie muftten also einnicken. Am 
Abend jenes Freitags, an dem das Manifest des Kaisers an den Wanden 
plakatiert worden war, ging ich, wie gewohnt, ins Kasino, um mit mei- 



DIE KAPUZINERGRUFT 259 

nen Freunden von den Neuner-Dragonern zu essen. Ich konnte ihren 
Appetit nicht begreifen, ihre gewohnte Heiterkeit nicht, nicht ihre to- 
richte Gleichgiiltigkeit gegen die Marschorder nach dem nordostlich 
gelegenen russischen Grenzorte Radziwillow. Ich war der einzige un- 
ter ihnen, der schon die Anzeichen des Todes in ihren harmlosen, so- 
gar frdhlichen, jedenfalls unbewegten Gesichtern erkannte. Es war, als 
befanden sie sich in einer Art euphorischem Zustand, der die Sterben- 
den so haufig begnadet, ein Vorbote des Todes. Und obwohl sie noch 
gesund und munter an den Tischen safien und Schnaps und Bier tran- 
ken und obwohl ich so tat, als nahme ich teil an ihren torichten Scher- 
zen, kam ich mir doch vor wie ein Arzt oder ein Krankenpfleger, der 
seinen Patienten sterben sieht und der sich freut, daft der Sterbende 
noch gar nichts von dem nahen Tode weifi. Und dennoch fuhlte ich auf 
die Dauer ein Unbehagen, wie es vielleicht auch mancher Arzt oder 
mancher Krankenwarter haben mag, im Angesicht des Todes und der 
Euphorie des Sterbenden, in jenem Augenblick also, da sie nicht genau 
wissen mogen, ob es nicht besser ware, dem Todgeweihten zu sagen, 
daft er bald sterben miisse, statt die gunstige Tatsache zu begniften, daft 
er dahingehen wiirde, ohne etwas zu ahnen. 

Infolgedessen verliefi ich die Herren von den Neuner-Dragonern 
schnell und begab mich auf den Weg zu Manes, dem Fiaker, bei dem, 
wie schon gesagt, mein Vetter Joseph Branco wohnte. 
Wie anders waren sie beide und wie wohl taten sie mir nach diesem 
Abend im Kasino der Neuner-Dragoner! Vielleicht waren es die rituel- 
len Kerzen, die im blau getiinchten Zimmer des jiidischen Fiakers Ma- 
nes brannten, ihrem eigenen Tod, frohlich fast, auf jeden Fall aber ge- 
faftt und sicher, entgegenbrannten: drei Kerzen, goldgelb, in grime 
Bierflaschen gesteckt; denn der Fiaker Manes war zu arm, um sich 
auch nur Messingleuchter zu kaufen. Es waren beinahe nur noch 
Stoimpfe von Kerzen, und sie schienen mir das Ende der Welt, von dem 
ich wuftte, daft es sich jetzt zu vollziehen begann, zu symbolisieren. 
Das Tischtuch war weift, die Flaschen von jenem billigen Dunkelgrun, 
das bereits von vornherein die Gewohnlichkeit ihres suffigen Inhalts 
plebejisch und iibermutig anzukundigen scheint, und die sterbenden 
Kerzenreste goldgelb. Sie flackerten. Sie warfen unruhiges Licht iiber 
den Tisch und verursachten ebenso unruhige, gleichsam flackernde 
Schatten an den dunkelblau getiinchten Wanden. Am Kopfende des 
Tisches saft Manes, der Fiaker, nicht mehr in seiner gewohnlichen Fia- 



l6o ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

kerumform, nicht mehr in seinem Schafspelz mit Leibriemen und 
Ripsmiitze, sondern in einem langlichen Liisterrock und mit einem 
schwarzen Pliischkappchen auf dem Kopf. Mein Vetter Joseph Branco 
trug seine gewohnte fette Lederjoppe und, aus Respekt vor seinem 
jiidischen Gastgeber, das griine Tiroler Hiitchen auf dem Kopf. Ir- 
gendwo zirpte schrill ein Heimchen. 

»Jetzt miissen wir alle Abschied nehmen«, begann Manes, der Fiaker. 
Und weit hellsichtiger als meine Freunde von den Neuner-Dragonern 
und dennoch von einem Gleichmut erfullt, beinahe mochte ich sagen: 
geadelt, genauso wie von dem Tod, von dem jeder Mensch geadelt 
wird, der bereit und wurdig ist, ihn zu empfangen, fuhr er also fort: 
»Es wird ein grofier Krieg sein, ein langer, und wer von uns dreien 
zuriickkommt, kann man nicht wissen. Zum letztenmal sitze ich hier 
neben meiner Frau vor dem Frekagsabendtisch, vor den Sabbatkerzen. 
Nehmen wir einen wurdigen Abschied, meine Freunde: du, Branco, 
und Sie, Herr!« Und um einen wirklich wurdigen Abschied zu feiern, 
beschlossen wir, in die Grenzschenke Jadlowkers zu gehen, alle drei. 



XII 

Die Grenzschenke Jadlowkers war immer offen, Tag und Nacht. Es 
war die Schenke der russischen Deserteure, jener Soldaten des Zaren 
also, die von den zahlreichen Agenten der amerikanischen Schiffahrts- 
linien durch Uberredung, List und Drohung gezwungen wurden, die 
Armee zu verlassen und sich nach Kanada einzuschiffen. Freilich gab 
es viele, die freiwillig desertierten. Sie zahlten den Agenten sogar vom 
letzten Geld, das sie iibrig hatten; sie oder ihre Verwandten. Die 
Grenzschenke Jadlowkers gait als ein sogenanntes verrufenes Lokal. 
Aber es war, wie in jener Gegend alle verrufenen Lokale, der ganz 
besonderen Gunst der osterreichischen Grenzpolizei empfohlen, und 
gewissermafien stand sie also gleichermafien ebenso unter dem Schutz 
wie unter dem Verdacht der Behdrden. 

Als wir ankamen - wir waren stumm und bedriickt eine halbe Stunde 
gewandert- war das grofte, rostbraune, doppelfliigelige Tor schon ge- 
schlossen und sogar die Laterne, die davor hing, ausgeloscht. Wir 
mufken klopfen, und der Knecht Onufrij kam, uns zu offnen. Ich 
kannte die Schenke Jadlowkers, ich war schon ein paarmal dort gewe- 



DIE KAPUZINERGRUFT l6l 

sen, ich kannte den ublichen Trubel, der dort zu herrschen pflegte, 
jene besondere Art von Larm, den die plotzlich heimatlos Geworde- 
nen verursachen, die Verzweifelten, alle jene, die eigentlich keine 
Gegenwart haben, sondern die gerade noch auf dem Weg aus der Ver- 
gangenheit in die Zukunft begriffen sind, aus einer vertrauten Vergan- 
genheit in eine hdchst ungewisse Zukunft, Schiffspassagieren in jenem 
Augenblick ahnlich, in dem sie vom festen Land aus in ein fremdes 
Schiff iiber einen schwankenden Steg schreiten, 

Heute aber war es still. Ja, es war unheimlich still. Sogar der kleine 
Kapturak, einer der eifrigsten und lautesten Agenten, der all das viele, 
das er zu verbergen beruflich und von Natur gezwungen war, unter 
einer unheimlichen, geschaftigen Geschwatzigkeit zu verbergen pflegte, 
safi heute stumm in der Ecke auf der Ofenbank, kleiner, winziger, als 
er schon war, und also doppelt unscheinbar, ein schweigsamer Schat- 
ten seiner selbst. Vorgestern erst hatte er eine sogenannte »Schicht« 
oder, wie man sich in seinem Beruf anders auszudriicken pflegte, eine 
»Ladung« von Deserteuren iiber die Grenze gebracht, und jetzt 
klebte das Manifest des Kaisers an den Wanden, der Krieg war da, die 
machtige Schiffsagentur selbst war ohnmachtig, der machtige Donner 
der Weltgeschichte liefi den kleinen, geschwatzigen Kapturak ver- 
stummen, und ihr gewaltiger Blitz reduzierte ihn zu einem Schatten. 
Stumpf und stier saften die Deserteure, die Opfer Kapturaks, vor ih- 
ren Glasern, die nur halb geleert waren. Friiher, sooft ich in die 
Schenke Jadlowkers gekommen war, hatte ich mit dem ganz besonde- 
ren Vergniigen eines jungen, leichtfertigen Menschen, der in den 
leichtsinnigen Ausdrucksformen der anderen, auch der Fremdesten, 
die legitime Bestatigung seiner eigenen Gewissenlosigkeit sieht, die 
Sorglosigkeit der soeben heimatlos Gewordenen beobachtet, die ein 
Glas nach dem anderen leerten und ein Glas nach dem anderen frisch 
bestellten. Der Wirt Jadlowker selbst safS hinter dem Schanktisch wie 
ein Unheilverkunder, zwar nicht ein Bote des Unheils, aber sein Tra- 
ger; und er sah so aus, als hatte er gar nicht die geringste Lust gehabt, 
noch neue Glaser einzuschenken, selbst, wenn seine Gaste es verlangt 
hatten. Was hatte dies alles noch fur einen Sinn? Morgen, iibermorgen 
konnten die Russen dasein. Der arme Jadlowker, der noch eine Woche 
friiher so majestatisch dagesessen war, mit seinem silbernen Spitzbart- 
chen, eine Art Biirgermeister unter den Schankwirten, von der ver- 
schwiegenen Protektion der Behorden ebenso beschattet und gesichert 



l6l ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wie von ihrem ehrenden Mifitrauen, sah heute aus wie ein Mensch, der 
seine ganze Vergangenhek Hquidieren mufi; ein Opfer der Weltge- 
schichte eben. Und die schwere, blonde Kassiererin neben ihm hinter 
der Theke war ebenfalls gleichsam von der Weltgeschichte gekiindigt 
worden, zu einem kurzen Termin. Alles Private war auf einmal in den 
Bereich des Offentlichen getreten. Es reprasentierte das Offentliche, es 
vertrat und symbolisierte es. Deshalb war unser Abschied so verfehlt 
und so kurz. Wir tranken lediglich drei Glas Met, und wir afien 
schweigsam gesalzene Erbsen dazu. Plotzlich sagte mein Vetter Joseph 
Branco: »Ich fahre gar nicht erst nach Sarajevo. Ich melde mich in 
Zloczow zusammen mit Manes !« - »Bravo!« rief ich. Und ich wufite 
dabei, dafi auch ich gern getan hatte wie mein Vetter. 
Aber ich dachte an Elisabeth. 



XIII 



Ich dachte an Elisabeth. Ich hatte nur zwei Gedanken, seitdem ich das 
Manifest des Kaisers gelesen hatte: den an den Tod und den an Eli- 
sabeth. Ich weifi heute noch nicht, welcher von beiden der starkere 
war. 

Verschwunden und vergessen waren im Angesicht des Todes alle 
meine torichten Befiirchtungen vor dem torichten Spott meiner 
Freunde. Ich empfand auf einmal Mut, zum erstenmal in meinem Le- 
ben hatte ich Mut, meine sogenannte »Schwache« zu bekennen. Ich 
ahnte freilich schon, dafi der leichtfertige Ubermut meiner Wiener 
Freunde dem schwarzen Glanz des Todes gewichen sein wiirde und 
daft es in der Stunde des Abschieds, eines solchen Abschieds, keinen 
Platz fur irgendeinen Hohn mehr geben konnte. 
Ich hatte mich auch beim Erganzungsbezirkskommando Zloczow 
melden konnen, wohin der Fiaker Manes zustandig war und zu dem 
sich auch mein Vetter Joseph Branco begeben wollte. In Wirklichkeit 
lag es in meiner Absicht, Elisabeth und meine Wiener Freunde und 
meine Mutter zu vergessen und mich so schnell wie moglich der nach- 
sten Station des Todes auszuliefern, namlich dem Erganzungsbezirks- 
kommando Zloczow. Denn ein starkes Gefuhl band mich an meinen 
Vetter Joseph Branco wie an seinen Freund, den Fiaker Manes Reisi- 
ger. In der Nahe des Todes wurden meine Gefiihle redlicher, gleich- 



DIE KAPUZINERGRUFT 263 

sam reinlicher, ahnlich, wie sich manchmal vor einer schweren Krank- 
heit plotzlich die klaren Einsichten und Erkenntnisse einstellen, der- 
m aft en, daft man trotz der Angst, der Bedrangtheit und der wiirgenden 
Vorahnung des Leidens eine Art stolzer Genugtuung dariiber emp- 
findet, daft man endlich einmal erkannt hat; das Gliick, das man durch 
Leiden erkannt hat, und eine Seligkeit, weil man den Preis der Er- 
kenntnis im voraus erfahrt. Man ist sehr glucklich in der Krankheit. 
Ich war damals ebenso glucklich, in Anbetracht der grofien Krankheit, 
die sich in der Welt ankiindigte: namlich der des Weltkriegs. Ich durfte 
gleichsam alien meinen Fiebertraumen, die ich sonst unterdriickt hatte, 
freien Lauf lassen. Ich war ebenso befreit wie gefahrdet. 
Ich wuftte bereits, daft mir mein Vetter Joseph Branco und sein Freund 
Manes Reisiger lieber waren als alle meine friiheren Freunde, mit Aus- 
nahme des Graf en Chojnicki. Man stellte sich damals den Krieg sehr 
einfach und ziemlich leichtfertig vor. Wenigstens gehorte ich zu jenen 
nicht seltenen Leuten, die glaubten, wir wiirden nach Garnisonen auf- 
marschieren, womoglich geschlossen, und wenn nicht nebeneinander, 
so doch in einer einigermaften erreichbaren Nahe bleiben. Ich stellte 
mir vor, ich wiinschte es mir, daft ich in der Nahe meines Vetters Jo- 
seph Branco und in der seines Freundes, des Fiakers Manes, bleibe. 
Aber es war keine Zeit zu verlieren. Uberhaupt bestand in jenen Tagen 
die Bedrangnis, ja die Bedrangung, in der Tatsache, daft wir keine Zeit 
mehr hatten: keine Zeit mehr, den geringen Raum zu genieften, den 
uns noch das Leben lieft, und auch nicht einmal die Zeit mehr, den Tod 
zu erwarten. Wir wuftten ja damals eigentlich nicht mehr, ob wir uns 
den Tod ersehnten oder das Leben erhofften. Fur mich und meines- 
gleichen waren es damals jedenfalls die Stunden der hochsten Lebens- 
spannung: jene Stunden, in denen der Tod einem nicht erschien wie ein 
Abgrund, in den man eines Tages stiirzt, sondern wie ein jenseitiges 
Ufer, das man durch einen Sprung zu erreichen trachtet; und man 
weift, wie lange die Sekunden dauern, die dem Sprung an ein jenseitiges 
Ufer vorangehn. 

Ich ging zuerst, wie selbstverstandlich, nach Hause zu meiner Mutter. 
Sie hatte offenbar kaum noch erwartet, mich wiederzusehn, aber sie tat 
so, als hatte sie mich erwartet. Es ist eines der Geheimnisse der Mutter: 
Sie verzichten niemals, ihre Kinder wiederzusehn, ihre totgeglaubten 
nicht und auch nicht ihre wirklich toten; und wenn es moglich ware, 
daft ein totes Kind wiederauferstiinde vor seiner Mutter, wiirde sie es 



264 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

in ihre Arme nehmen, so selbstverstandlich, als ware es nicht aus dem 
JenseitSj sondern aus einer der fernen Gegenden des Diesseits heimge- 
kehrt. Eine Mutter erwartet die Wiederkehr ihres Kindes immer: ganz 
gleichgiiltig, ob es in ein femes Land gewandert ist, in ein nahes oder in 
den Tod. 

Also empfing mich auch meine Mutter, als ich ankam, gegen die zehnte 
Stunde vormittags. Wie gewohnlich safi sie da, im Lehnstuhl, vor dem 
eben beendeten Friihstuck, die Zeitung vor dem Angesicht und die 
altmodische Brille mit den oval geformten, stahlgeranderten Glasern 
vor den Augen. Sie nahm die Brille ab, als ich ankam, aber sie liefi die 
Zeitung kaum sinken, »Kiifi die Hand, Mama!« sagte ich, ging auf sie 
zu und nahm ihr die Zeitung aus der Hand. Ich fiel geradezu in ihren 
Schoft. Sie kiifite mich auf den Mund, die Wangen, die Stirn. »Jetzt ist 
Krieg«, sagte sie, als hatte sie mir damit eine Neuigkeit mitgeteilt; oder 
als ware fur sie der Krieg erst in dem Augenblick ausgebrochen, in dem 
ich nach Hause gekommen war, um von ihr, meiner Mutter, Abschied 
zu nehmen. 

»Jetzt ist Krieg, Mama«, antwortete ich, »und ich bin gekommen, um 
Abschied von dir zu nehmen.« - »Und auch«, fiigte ich nach einer Weile 
hinzu, »um Elisabeth zu heiraten, bevor ich in den Krieg gehe.« 
»Wozu heiraten«, fragte meine Mutter, »wenn du ohnehin in den 
Krieg gehst?« Auch hier noch sprach sie, wie eine Mutter spricht. 
Wenn sie ihr Kind - ihr einziges iibrigens - in den Tod ziehen lassen 
muftte, so wollte sie es allein dem Tod uberliefern. Weder den Besitz 
noch den Verlust wollte sie mit einer anderen Frau teilen. 
Seit langem schon mochte sie geahnt haben, daft ich Elisabeth liebte. 
(Sie kannte sie wohl.) Seit langem schon mochte meine Mutter bereits 
gefiirchtet haben, daft sie eines Tages ihren einzigen Sohn verlieren 
wurde - an eine andere Frau-, was ihr vielleicht beinahe noch schlim- 
mer erschien, als ihn an den Tod zu verlieren. »Mein Kind«, sagte sie, 
>>du bist selbst imstande und allein berechtigt, tiber dein Schicksal zu 
entscheiden. Du wills t heiraten, bevor du in den Krieg gehst; ich ver- 
steh's. Ich bin kein Mann, ich habe nie einen Krieg gesehn, ich kenne 
kaum das Militar. Aber ich weift, daft der Krieg etwas Schreckliches ist 
und daft er dich vielleicht umbringen wird. Dies ist die Stunde, in der 
ich dir die Wahrheit sagen kann. Ich mag Elisabeth nicht leiden. Ich 
hatte dich auch unter andern Umstanden nicht gehindert, sie zu heira- 
ten. Aber ich hatte dir niemals die Wahrheit gesagt. Heirate und werde 



DIE KAPUZINERGRUFT 265 

gliicklich, wenn es dir die Umstande erlauben. Und Schlufi damit! Re- 
den wir von anderen Dingen: Wann riickst du ein? Und wo?« 
Zum erstenmal in meinem Leben war ich vor meiner Mutter verlegen, 
ja winzig. Ich konnte ihr nichts anderes antworten als dieses kiimmer- 
liche: »Ich komme bald wieder, Mama!«, das mir heute noch wie eine 
Lasterung nachklingt. 

»Komm zu Mittag, Bub«, sagte sie, als ob gar nichts sonst in der Welt 
los ware und wie sie es immer schon ahnlich gesagt hatte, »wir haben 
heut Schnitzel und Zwetschkenknodel zu Mittag.« 
Es war fur mich eine groftartige Manifestation der Mutterlichkeit: die- 
ser plotzliche Einbruch der friedlichen Zwetschkenknodel in die Be- 
reitschaft des Todes sozusagen. Ich hatte vor Riihrung in die Knie fal- 
len mogen. Aber ich war zu jung noch damals, um Riihrung ohne 
Scham zeigen zu konnen. Und seit jener Stunde weifi ich es auch, dafi 
man ganz reif und zumindest sehr erfahren sein mufi, um Gefiihl zei- 
gen zu konnen, ohne eine Hemmung der Scham. 
Ich kuEte meiner Mutter die Hand wie gewohnt. Ihre Hand - ich 
werde sie niemals vergessen - war zart, schlank, blau geadert. Durch 
die dunkelroten, seidenen Vorhange, zartlich gedampft, stromte das 
Licht des Vormittags in das Zimmer, wie ein stiller, gleichsam zeremo- 
niell verkleideter Gast. Auch die ganz blasse Hand meiner Mutter 
schimmerte rotlich, in einer Art schamhaften Scharlachs, eine geweihte 
Hand in ein em durchsichtigen Handschuh aus gefilterter Vormittags - 
sonne. Und das zaghaft herbstliche Zirpen der Vogel in unserem Gar- 
ten war mir beinahe so heimisch und gleichzeitig beinahe so fremd wie 
die vertraute, vom Rot verschleierte Hand meiner Mutter. 
»Ich habe keine Zeit zu verlieren«, sagte ich nur. 
Ich ging zum Vater meiner geliebten Elisabeth. 



XIV 

Der Vater meiner geliebten Elisabeth war in jener Zeit ein wohlbe- 
kannter, man kann wohl sagen, beruhmter Hutmacher. Er war aus 
einem gewohnlichen »Kaiserlichen Rat« ein nicht ungewohnlicher un- 
garischer Baron geworden. Die geradezu skurrilen Sitten der alten 
Monarchic erforderten manchmal, dafi Kommerzialrate osterreichi- 
scher Provenienz ungarische Barone werden. 



l66 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Der Krieg kam meinem zukiinftigen Schwiegervater durchaus gelegen. 
Er war bereits zu alt, um noch einrucken zu miissen, und jung genug, 
urn aus einem seriosen Hutfabrikanten ein hurtiger Hersteller jener 
Soldatenkappen zu werden, die so viel mehr einbringen und so viel 
weniger kosten als die Zylinder. 

Es war mittags, vom Rathaus schlug es eben zwolf Uhr, als ich bei ihm 
eintrat, und er war gerade von einem fur ihn heiter verlaufenen Besuch 
im Kriegsministerium zuriickgekehrt, Er hatte den Auftrag auf eine 
halbe Million Soldatenkappen bekommen. Auf diese Weise, so sagte er 
mir, konne er, der alternde, hilflose Mann, immerhin noch dem Vater- 
lande dienen. Dabei strahlte er mit beiden Handen immerzu seinen 
graublonden Backenbart, es war, als wollte er gleichsam die beiden 
Halften der Monarchie liebkosen, die zis- wie die transleithanische. Er 
war grofi, kraftig und schwerfallig. Er erinnerte mich an eine Art son- 
nigen Lasttrager, der die Biirde auf sich genommen hatte, eine halbe 
Million Kappen herzustellen, und den diese Biirde weit eher zu er- 
leichtern als zu belasten schien. »Sie riicken also naturlich ein!« sagte er 
mit einer geradezu belustigten Stimme. »Ich glaube annehmen zu kon- 
nen, dafi meine Tochter Sie vermissen wird.« 

In diesem Augenblick fuhlte ich, daft es mir unmoglich sein wiirde, bei 
ihm um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Und mit jener Uberstiir- 
zung, mit der man versucht, das Unmogliche dennoch moglich zu ma- 
chen, und mit jener Hast, zu der mich der immer naher heranriickende 
Tod zwang, die ganze Intensitat meines elenden Lebensrestes auszu- 
kosten, sagte ich dem Hutmacher, unartig und ungedulig: »Ich muil 
sofort Ihr Fraulein Tochter sehen.« 

»Junger Freund«, erwiderte er, »ich weifi, Sie wollen um ihre Hand 
anhalten. Ich weift, dafi Elisabeth nicht nein sagen wird. Also nehmen 
Sie vorlaufig die meine, und betrachten Sie sich als meinen Sohn!« 
Damit streckte er mir seine grofie, weiche und viel zu weifie Hand 
entgegen. Ich nahm sie und hatte die Empfindung, eine Art von trost- 
losem Teig anzuriihren. Es war eine Hand ohne Druck und ohne 
Warme. Sie strafte sein Wort vom »Sohn« Liigen, sie widerrief es so- 
gar. 

Elisabeth kam, und der Hutmacher ersparte mir alle Worte: »Herr 
Trotta geht in den Krieg«, sagte mein Schwiegervater - so, als hatte er 
sagen wollen: Er fahrt zur Erholung an die Riviera- »und er mochte 
dich vorher heiraten.« Er sprach in dem gleichen Tonfall, in dem er 



DIE KAPUZINERGRUFT 267 

eine Stunde vorher im Kriegsministerium mit dem Uniformreferenten 
iiber die Kappen gesprochen haben mochte. Aber Elisabeth war da. Ihr 
Lacheln war da, es schimmerte gleichsam vor ihr daher, mir entgegen, 
ein Licht, aus ihr geboren und anscheinend ein ewiges, sich selbst im- 
mer wieder erneuerndes, ein silbernes Gliick, das zu klingeln schien, 
obwohl es lautlos war. 

Wir umarmten uns. Wir kiiftten uns zum erstenmal, heifi, schamlos 
fast, trotz der Aufmerksamkeit des Vaters, ja vielleicht sogar noch mit 
dem wonnig-frevlerischen Bewufitsein, einen Zeugen unserer Ver- 
schwiegenheit daneben zu wissen. Ich gab mich preis. Ich hatte keine 
Zeit. Der Tod stand schon hinter meinem Riicken. Ich war schon sein 
Kind, mehr noch als der Sohn des Hutmachers. Ich mufke zu meinen 
Einundzwanzigern in die Lands tracer Hauptstrafte. Ich eilte hinaus, 
unmittelbar aus der Umarmung zum Militar; aus der Liebe zum Un- 
tergang. Beides genofi ich mit der gleichen Starke des Herzens. Ich rief 
einen Fiaker und rollte in die Kaserne. 

Ich traf ein paar Freunde und Kameraden dort. Einige von ihnen ka- 
men, wie ich, direkt aus der Umarmung. 



XV 

Direkt aus den Umarmungen kamen sie, und es war ihnen so, als hat- 
ten sie die wichtigsten Kriegspflichten bereits erfullt. Die Trauungen 
waren festgesetzt. Jeder von ihnen hatte irgendein Madchen zu heira- 
ten, selbst wenn es nicht eine standesgemafSe Braut war, sondern eine 
zufallige, wie sie unsereinem in jenen Zeiten aus unbekannten Gegen- 
den, aus unerforschlichen Griinden haufig zugeflogen kamen, Nacht- 
faltern ahnlich, durch offene Fenster in sommerlichen Nachten auf 
Tisch und Bett und Kaminsims flatternd, fluchtig, leichtfertig, hinge- 
bungsvoll, samtene Geschenke einer grofiziigigen, kurzen Nacht. Je- 
der von uns hatte sich gewifi, wenn nur der Friede weiterbestanden 
hatte, gegen eine gesetzliche Bindung an eine Frau gestraubt. Nur 
Thronfolger mufken damals rechtmaftig heiraten. Unsere Vater waren 
mit dreifiig Jahren bereits recht wiirdevolle, oft kinderreiche Familien- 
und Hausbeherrscher gewesen. In uns aber, dem seit Geburt kriegge- 
weihten Geschlecht, war der Fortpflanzungstrieb sichtbar erloschen. 
Wir hatten keinerlei Lust, uns fortzusetzen. Der Tod kreuzte seine 



265 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

knochernen Hande nicht nur iiber den Bechern, aus den en wir tran- 
ken, sondern auch iiber den nachtlichen Betten, in denen wir mit 
Frauen schliefen. Und deshalb eben waren unsere Frauen damals auch 
so zufallig. Uns lag nicht einmal viel an der Lust, die uns Lust be- 
scherte. 

Nun aber, da der Krieg uns plotzlich zu den Erganzungsbezirkskom- 
mandos berief, war es nicht der Gedanke an den Tod, den er zuerst in 
uns erzeugte, sondern der an die Ehre und seine Schwester, die Gefahr. 
Auch das Ehrgefuhl ist ein Betaubungsmittel - und in uns betaubte es 
die Furcht und alle bosen Ahnungen. Wenn Sterbenskranke ihre Te- 
stamente machen und ihre irdischen Angelegenheiten ordnen, so mag 
sie wohl ein Schauder heimsuchen. Aber wir waren ja jung und gesund 
an alien Gliedern! Wir empfanden keinen Schauder, keinen wirklichen, 
es gefiel uns nur, es schmeichelte uns, ihn in den Zurtickbleibenden 
hervorzurufen. Ja, aus Eitelkeit machten wir Testamente; aus Eitelkeit 
liefien wir uns hurtig trauen, in einer Eile, die eine Uberlegung oder 
gar eine Reue von vornherein ausschaltete. Die Trauung liefi uns noch 
edler erscheinen, als wir allein schon durch unser Blutopfer waren. Sie 
machte uns den Tod, den wir zwar furchteten, aber jedenfalls einer 
lebenslanglichen Bindung vorzogen, weniger gefahrlich und hafilich. 
Wir schnitten uns gewissermafien den Rtickzug ab. Und jener erste 
unvergefiliche und stiirmische Elan, mit dem wir in die ersten unseli- 
gen Schlachten zogen, war sicherlich von der Angst vor einer Riick- 
kehr in ein »hausliches Leben« genahrt, vor Mobeln, die gichtig wer- 
den, vor Frauen, die den Reiz verlieren, vor Kindern, die lieblich wie 
Engel zur Welt kommen und sich zu fremden, gehassigen Wesen aus- 
wachsen. Nein, dies alles wollten wir nicht. Die Gefahr war sowieso 
unvermeidlich. Aber um sie uns zu versiiften, liefien wir uns trauen. 
Und also waren wir gewappnet, ihr entgegenzugehen, wie einer noch 
unbekannten, aber bereits freundlich winkenden Heimat . . . 
Dennoch, und obwohl ich wufke, dafl ich genauso fuhlte wie meine 
Kameraden, der Fahnrich in der Reserve Barenfels, der Leutnant Hart- 
mann, der Oberstleutnant Linck, der Baron Lerch und der Kadettaspi- 
rant Dr. Brociner, erschienen sie mir alle, wie ich sie hier aufzahle, 
verglichen mit meinem Vetter Joseph Branco und mit seinem Freund, 
dem jiidischen Fiaker Manes Reisiger, oberflachlich, leichtsinnig, un- 
kameradschaftlich, stupide und weder des Todes wiirdig, dem sie eben 
entgegengingen, noch der Testamente und Trauungen, die sie zu arran- 



DIE KAPUZINERGRUFT 269 

gieren im Begriffe waren. Ich liebte meine Einundzwanziger-Jager, 
gewifi! Die alte kaiser- und konigliche Armee kannte einen eigenen 
Patriotismus, einen Regionalpatriotismus, einen Regiments- und Ba- 
taillonspatriotismus. Mit dem Zugsfiihrer Marek, mit dem Korporal 
Turling, mit dem Gefreiteri Alois Huber war ich wahrend meiner 
Dienstzeit und spater in den alljahrlichen Manovern militarisch aufge- 
wachsen. Und man wachst beim Militar gleichsam noch einmal: Wie 
man etwa als Kind gehen lernt, so lernt man als Soldat marschieren. 
Niemals vergifit man die Rekruten, die zu gleicher Stunde mit einem 
das Marschieren erlernt haben, das Gewehrputzen und die Gewehr- 
griffe, das Packen des Tornisters und das vorschriftsma&ge Zusam- 
menfalten der Decke, das Mantelrollen und das Stiefelputzen und den 
Nachtdienst, Dienstreglement Teil zwei, und die Defimtionen: Subor- 
dination und Disziplin, Dienstreglement erster Teil. Niemals vergiftt 
man dies und die Wasserwiese, auf der man laufen gelernt hat, mit 
angezogenen Ellbogen, und im Spatherbst die Gelenksiibungen, im 
grauen Nebel, der um die Baume ging und jede Tanne in eine blau- 
graue Witwe verwandelte und die Lichtung vor unseren Blicken, auf 
der bald, nach der Zehn-Uhr-Rast, die Feldiibungen beginnen sollten, 
die idyllischen Vorboten des roten Krieges. Nein, das vergifit man 
nicht. Die Wasserwiese der Einundzwanziger war meine Heimat. 
Aber meine Kameraden waren so heiter! Wir saften in dem kleinen 
Gasthaus, das eigentlich keines gewesen war, von Anfang an, von Ge- 
burt sozusagen. Es hatte sich vielmehr im Laufe der langen, undenk- 
lich langen Jahre, in denen unsere Kaserne, die Kaserne der Einund- 
zwanziger-Jager, heimisch und vertraut in dieser Gegend geworden 
war, aus einem gewohnlichen Laden, in dem man Passepoils, Sterne, 
Einjahrigenstreifen, Rosetten und Schuhbander kaufen konnte, zu 
einem Gasthaus entwickelt. Die sogenannten »Posamentierstucke« la- 
gen noch in den Fachern hinter der Theke. Es roch immer noch in dem 
Halbdunkel des Ladens weit eher nach den Pappschachteln, in denen 
die Sterne lagerten, die aus weifSem Kautschuk, die aus goldener Seide, 
und die Rosetten fur Militarbeamte und die Portepees, die wie gebiin- 
delte goldene Rieselregen aussahen, als nach Apfelmost, Schnaps und 
alterem Gumpoldskirchner. Vor dem Ladentisch waren drei, vier 
kleine Tischchen aufgestellt. Sie stammten noch aus unserer Jugend- 
zeit, aus unserer Einjahrigenzeit. Damals hatten wir die Tischchen an- 
gekauft, und die Konzession, Alkohol auszuschenken, hatte der Inha- 



27O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ber des Ladens, der Posamentierer Zinker, lediglich dank der Fiirspra- 
che unseres Bataillonskommandanten, des Majors Pauli, bekommen. 
Zivilisten durften allerdings beim Posamentierer nicht trinken! Die 
Konzession bezog sich lediglich auf Militarpersonen. 
Wir saEen nun wieder zusammen im Posamentiererladen wie einst in 
Einjahrigenzeiten. Und gerade die Unbekummertheit meiner Kamera- 
den, mit der sie heute dem bevorstehenden Sieg ebenso zujubelten, wie 
sie vor Jahren der nahenden Offizierspriifung entgegengetrunken hat- 
ten, beleidigte mich tief. Damals mochte in mir die prophetische Ah- 
nung sehr stark gewesen sein, die Ahnung, dafi diese meine Kameraden 
wohl imstande seien, eine Offizierspriifung zu bestehen, keineswegs 
aber einen Krieg. Zu sehr verwohnt aufgewachsen waren sie in dem 
von den Kronlandern der Monarchic unaufhorlich gespeisten Wien, 
harmlose, beinahe lacherlich harmlose Kinder der verzartelten, viel zu 
oft besungenen Haupt- und Residenzstadt, die, einer glanzenden, ver- 
fuhrerischen Spinne ahnlich, in der Mitte des gewaltigen schwarz- gel- 
ben Netzes saft und unaufhorlich Kraft und Saft und Glanz von den 
umliegenden Kronlandern bezog. Von den Steuern, die mein armer 
Vetter, der Maronibrater Joseph Branco Trotta aus Sipolje, von den 
Steuern, die mein elendiglich lebender jiidischer Fiaker Manes Reisiger 
aus Zlotogrod bezahlte, lebten die stolzen Hauser am Ring, die der 
baronisierten jiidischen Familie Todesco gehorten, und die offent- 
lichen Gebaude, das Parlament, der Justizpalast, die Universitat, die 
Bodenkreditanstalt, das Burgtheater, die Hofoper und sogar noch die 
Polizeidirektion. Die bunte Heiterkeit der Reichs-, Haupt- und Resi- 
denzstadt nahrte sich ganz deutlich - mein Vater hatte es so oft 
gesagt- von der tragischen Liebe der Kronlander zu Osterreich: der 
tragischen, weil ewig unerwiderten. Die Zigeuner der Puftta, die sub- 
karpatischen Huzulen, die jiidischen Fiaker von Galizien, meine eige- 
nen Verwandten, die slowenischen Maronibrater von Sipolje, die 
schwabischen Tabakpflanzer aus der Bacska, die Pferdezuchter der 
Steppe, die osmanischen Sibersna, jene von Bosnien und Herzegowina, 
die Pferdehandler aus der Hanakei in Mahren, die Weber aus dem Erz- 
gebirge, die Miiller und Korallenhandler aus Podolien: sie alle waren 
die groftmiitigen Nahrer Osterreichs; je armer, desto groftmu tiger. So 
viel Weh, so viel Schmerz, freiwillig dargeboten, als ware es selbstver- 
standlich, hatten dazu gehort, damit das Zentrum der Monarchic in der 
Welt gelte als die Heimat der Grazie, des Frohsinns und der Genialitat. 



DIE KAPUZINERGRUFT 27I 

Unsere Gnade wuchs und bliihte, aber ihr Feld war gediingt von Leid 
und von der Trauer. 

Ich dachte, wahrend wir so beim Posamentierer saften, an Manes Reisi- 
ger und an Joseph Branco. Diese beiden: sie wollten gewift nicht so 
grazios in den Tod, in einen graziosen Tod gehen wie meine Batail- 
lonskameraden. Und ich auch nicht; ich auch nicht! Wahrscheinlich 
war ich in jener Stunde der einzige, der die finstere Wucht des Kom- 
menden fiihlte, zum Unterschied und also im Gegensatz zu meinen 
Kameraden. Deshalb also stand ich plotzlich auf und sagte zu meiner 
eigenen Uberraschung folgendes: 

»Meine Kameraden! Ich habe euch alle sehr lieb, so, wie es sein soil, 
immer unter Kameraden, insbesondere aber eine Stunde vor dem 
Tode.« - Hier konnte ich nicht mehr weiter. Das Herz stockte, die 
Zunge versagte. Ich erinnerte mich an meinen Vater - und Gott ver- 
zeih' mir die Siinde!-: ich log. Ich log meinem toten Vater etwas an, 
was er niemals wirklich gesagt hatte, was er aber wirklich gesagt haben 
konnte, Ich fuhr also fort: »Es war einer der letzten Wiinsche meines 
Vaters, daft ich im Falle eines Krieges, den er wohl in allernachster Zeit 
vorausgesehen hatte, nicht mit euch zu unseren teueren Einundzwan- 
zigern einrucke, sondern in ein Regiment, wo mein Vetter Joseph 
Branco dient.« 

Sie schwiegen alle. Niemals in meinem Leben hatte ich solch ein 
Schweigen vernommen. Es war, als hatte ich ihnen ihre leichtfertige 
Freude am Kriege geraubt; ein Spielverderber: ein Kriegsspieiverder- 
ber. 

Deutlich empfand ich, daft ich hier nichts mehr zu suchen hatte. Ich 
erhob mich und reichte alien die Hand. Ich fiihle heute noch die kal- 
ten, enttauschten Hande meiner Einundzwanziger. Sehr weh tat es 
mir. Aber ich wollte mit Joseph Branco zusammen sterben, mit Joseph 
Branco, meinem Vetter, dem Kastanienbrater, und mit Manes Reisiger, 
dem Fiaker von Zlotogrod, und nicht mit Walzertanzern. 
So verlor ich zum erstenmal meine erste Heimat, namlich die Einund- 
zwanziger, mitsamt unserer geliebten Wasserwiese im Prater. 



272 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XVI 

Ich mufite nun Chojnickis Freund, den Oberstleutnant Stellmacher 
vom Kriegsministerium, besuchen. Meine Transferierung zur Land- 
wehr 35 sollte nicht langer dauern als etwa die Vorbereitungen fur 
meine Trauung. Es war mir lieb, dafi ich zwei verschiedene und auch 
verwirrende Demarchen fast gleichzeitig unternehmen durfte. Eine be- 
schleunigte gleichsam die andere. Beide betaubten mich geradezu, ver- 
hinderten mich jedenfalls zugleich, meine Hast mit entscheidenden 
Griinden zu rechtfertigen. Ich wufite in jenen Stunden nichts anderes, 
als dafi eben »alles schnell gehen miisse«. Ich wollte auch nicht ganz 
genau wissen, warum und zu welchen Zwecken. Aber tief in mir rie- 
selte schon, feinem Regen ahnlich, den man durch den Schlaf ver- 
nimmt, die Ahnung, dafi meine Freunde, Joseph Branco und Reisiger, 
irgendwo durch die schlammigen Landstrafien Ostgaliziens westwarts 
dahinzogen, von den Kosaken verfolgt. Wer weifi, vielleicht waren sie 
schon verwundet oder tot? Gut, dann wollte ich wenigstens ihr An- 
denken auf diese Weise ehren, dafi ich in ihrem Regiment diente. Jung 
war ich, und auch vom Krieg hatten wir ja noch keine Ahnung! Wie 
leicht verfiel ich damals der Vorstellung, dafi mir die Aufgabe zufalle, 
den braven Funfunddreifiigern von ihren toten Kameraden Trotta 
und Reisiger wahre und auch ein wenig erfundene Anekdoten zu er- 
zahlen, damit man der beiden nie und nimmer vergesse. Gute, arme 
Bauern dienten bei den Funfunddreifiigern, Feldwebel mit ararischem 
Deutsch, das ihren slawischen Muttersprachen angesetzt war wie die 
Distinktionen den Aufschlagen, goldgelbe Borten auf dunkelgrunen, 
winzigen Feldern, und die Offiziere waren nicht die verwohnten Kin- 
der unserer frohlebigen Wiener Gesellschaft, sondern Sonne von 
Handwerkern, Brieftragern, Gendarmen und Landwirten und Pach- 
tern und Tabaktrafikanten. Unter ihnen aufgenommen zu werden war 
damals fur mich ungefahr soviel, wie fur den oder jenen unter ihnen 
etwa eine Transferierung zu den Neuner-Dragonern Chojnickis be- 
deuten mochte. Es war eine jener Vorstellungen gewifi, die man ge- 
ringschatzig »romantisch« nennt. Nun, weit davon entfernt, mich etwa 
ihrer zu schamen, bestehe ich heute noch darauf, dafi mir diese Zeit 
meines Lebens der romantischen Vorstellungen die Wirklichkeit na- 
hergebracht hat als die seltenen unromantischen, die ich mir gewaltsam 
aufzwingen mufite: Wie toricht sind doch diese iiberkommenen Be- 



DIE KAPUZINERGRUFT 273 

zeichnungen! Will man sie schon gelten lass en - nun wohl: ich glaube, 
immer beobachtet zu haben, daft der sogenannte realistische Mensch in 
der Welt unzuganglich dasteht, wie eine Ringmauer aus Zement und 
Beton, und der sogenannte romantische wie ein offener Garten, in dem 
die Wahrheit nach Belieben ein und aus geht . . . 

Ich mufite also zum Oberstleutnant Stellmacher. In unserer alten 
Monarchic war eine Transferierung vom Heer zur Landwehr, auch nur 
von den Jagern zur Infanterie, eine Art militarischer Staatsakt, nicht 
schwieriger, aber verwickelter als die Besetzung eines Divisionskom- 
mandos. Dennoch bestanden in meiner verschollenen Welt, in der 
alten Monarchic eben, die kostbaren, die kostlichen, die ungeschriebe- 
nen, die unbekannten, unzuganglichen, den Eingeweihten wohlver- 
trauten Gesetze eherner und ewiger als die geschriebenen, die da be- 
sagten, dafi von hundert Petenten lediglich bestimmte sieben giinstig, 
schnell und gerauschlos ihre Wiinsche erfiillt sehen sollten. Die Barba- 
ren der absoluten Gerechtigkeit, ich weifi es, sind dariiber heute noch 
emport. Sie schelten uns Aristokraten und Astheten, jetzt noch; und 
ich sehe ja jede Stunde, wie sie, die Nicht- Aristokraten und Anti- As- 
theten, den Barbaren der stupiden, plebejischen Ungerechtigkeit, ihren 
Brudern, den Weg geebnet haben. Es gibt auch eine Drachensaat der 
absoluten Gerechtigkeit. 

Aber ich hatte ja damals auch gar keine Lust und keine Mu£e nachzu- 
denken, wie gesagt. Ich ging zum Stellmacher, geradewegs durch den 
Korridor, in dem Hauptleute, Majore, Oberste warteten, geradewegs 
durch jene Tiir, auf der »Eintritt verboten« stand - ich, ein kummerli- 
cher, schmachtiger Fahnrich der Jager. »Servus!« sagte Stellmacher, 
iiber Papieren gebeugt sitzend, bevor er mich noch erblickt hatte. Er 
wufke wohl, wie vertraulich man die Leute zu begriifien hatte, die 
durch verbotene Eingange hereingekommen waren. Ich sah seine har- 
ten grauen Borstenhaare, die gelbliche, tausendfach zerknitterte Stirn, 
die winzigen, tiefliegenden Augen, die keine Lider zu haben schienen, 
die hageren, knochigen Wangen und den grofien, herabhangenden, 
schwarzgefarbten, fast sarazenischen Schnurrbart, in dem Stellmacher 
seine ganze Eitelkeit angesiedelt zu haben schien, damit sie ihn gleich- 
sam nicht mehr sonst (weder im Leben noch im Beruf) noch store. Das 
letztemal hatte ich ihn in der Konditorei Dehmel gesehen, am Nach- 
mittag um funf Uhr, mit dem Hofrat Sorgsam vom Ballhausplatz. Wir 
hatten noch nicht die geringste Ahnung vom Krieg, der Mai, der stad- 



274 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

tische Wiener Mai, schwamm in den kleinen, silbergeranderten »Scha- 
len Gold«, schwebte iiber dem Gedeck, den schmalen, schwellend ge- 
fiillten Schokoladestangen, den rosa und griinen Cremeschnittchen, 
die an seltsame, efibare Kleinodien erinnerten, und der Hofrat Sorgsam 
sagte, mitten in den Mai hinein: »Es gibt kan Krieg, meine Herren!« - 
Zerstreut sah jetzt der Oberstleutnant Stellmacher von seinen Papieren 
auf; er sah nicht einmal mein Gesicht, bemerkte nur Uniform, Porte- 
pee, Sabel, genug, um noch einmal »Servus!« zu sagen und gleich dar- 
auf: »Setz dich, ein Moment!« Schliefilich sah er mich genau an: 
»Fesch bist du!« und »Hatt' dich nicht erkannt! In Zivil schaust halt 
etwas knieweich aus!« - Aber es war nicht die sonore, tiefe Stimme 
Stellmachers, die ich seit Jahren kannte - und auch sein Witz war ge- 
zwungen. Noch niemals vorher war ein leichtfertiges Wort aus Stell- 
machers Mund gekommen. Im glanzenden Gestriipp des schwarz- 
gefarbten Schnurrbarts hatte es sich sonst verfangen, um dort lautlos 
unterzugehen. 

Ich trug schnell meine Angelegenheit vor. Ich versuchte auch zu erkla- 
ren, weshalb ich zu den Fiinfunddreifiigern wollte. »Wenn du sie nur 
noch findest!« sagte Stellmacher. »Schlimme Nachrichten! Zwei Regi- 
menter fast aufgerieben, Riickzug katastrophal. Unsere Herren Ober- 
idioten haben uns schon prapariert. Aber gut! Geh hin, schau, dafi du 
sie findest, deine Fiinfunddreiftiger! Kauf dir zwei Sterndl. Du wirst 
als Leutnant transferiert. Servus! Abtreten!« Er reichte mir die Hand 
iiber den Schreibtisch. Seine hellen, fast liderlosen Augen, von denen 
man nicht glaubte, dafi sie jemals Schlaf, Schlummer, Miidigkeit unter- 
jochen, sah en mich an, fern, fremd, aus einer glasernen Weite, keines- 
wegs traurig, nein, trauriger als traurig, namlich hoffnungslos. Er ver- 
suchte zu lacheln. Sein grofies falsches Gebifi schimmerte doppelt wei£ 
unter seinem sarazenischen Schnurrbart. »Schreib mal eine Ansichts- 
karte!« sagte er und beugte sich wieder iiber die Papiere. 



XVII 

Die Pfarrer arbeiteten in jenen Tagen ebenso schnell wie die Backer, 
Waffenschmiede, die Eisenbahndirektionen, die Kappenmacher und 
die Uniformschneider. Wir soilten in der Doblinger Kirche heiraten, 
der Mann lebte noch, der meine Braut dort getauft hatte, und mein 



DIE KAPUZINERGRUFT 275 

Schwiegervater war sentimental, wie die meisten Heereslieferanten. 
Mein Geschenk war eigentlich das Geschenk meiner Mutter. Ich hatte 
gar nicht daran gedacht, dafi Brautgeschenke unumganglich notwendig 
seien. Als ich zum Essen kam, die Knodel hatte ich auch bereits verges - 
sen, safi meine Mutter schon am Tisch. Wie gewohnt, kiifite ich ihre 
Hand, kufite sie meine Stirn. Dem Diener trug ich auf, mir dunkel- 
griine Aufschlage und Leutnantssterne bei Urban in den Tuchlauben 
zu verschaffen. »Du wirst versetzt?« fragte meine Mutter. »Ja, Mama, 
zu den Funfunddreiftigern!« - »Wo stehen die?« - »In Ostgalizien.« - 
»Fahrst du morgen?« - »Ubermorgen!« - »Morgen ist die Trauung?« - 
»Ja, Mama!« 

Es war Sitte in unserem Hause, wahrend des Essens die Speisen zu 
loben, auch wenn sie miftraten waren, und von nichts anderem zu 
sprechen. Auch durfte das Lob keineswegs etwa banal sein, eher schon 
kuhn und weit hergeholt. So sagte ich zum Beispiel, das Fleisch erin- 
nere mich an ein ganz bestimmtes, das ich vor sechs oder acht Jahren, 
ebenfalls an einem Dienstag, gegessen hatte, und das Dillenkraut sei 
geradezu, heute wie damals, mit dem Beinfleisch vermahlt. Vollige 
Sprachlosigkeit spielte ich vor den Zwetschkenknodeln: »Bitte genau 
die gleichen, sobald ich zuriick bin«, sagte ich zu Jacques. »Wie befoh- 
len, junger Herr!« sagte der Alte. Meine Mutter erhob sich, noch vor 
dem Kaffee, eine ungewohnliche Handlung. Sie brachte aus ihrem Ka- 
binett zwei dunkelrote, saffianlederne Etuis, die ich oft gesehen, be- 
wundert und nach deren Gehalt zu fragen ich mich niemals getraut 
hatte. Neugierig war ich zwar immer gewesen, aber zugleich auch selig 
dariiber, zwei unzugangliche Geheimnisse in meiner Nahe zu wissen. 
Jetzt endlich sollten sie mir enthullt werden. Das eine, kleinere Etui 
enthielt das Bild meines Vaters in Email, von einem schmalen Gold- 
streifen umrahmt. Sein grower Schnurrbart, seine schwarzen, gliihen- 
den, fast fanatischen Augen, die schwere, vielfach und sorgsam gefal- 
telte Krawatte um den iiberaus hohen Stehkragen machten ihn mir 
fremd, Vor meiner Geburt mochte er so ausgesehen haben. So war er 
meiner Mutter lebendig, lieb und vertraut. Ich bin blond, blauaugig, 
meine Augen waren immer eher skeptische, traurige, wissende Augen, 
niemals glaubige und fanatische. Aber meine Mutter sagte: »Du bist 
genau wie er, nimm das Bild mit dir!« Ich dankte und bewahrte es. 
Meine Mutter war eine kluge, klarsichtige Frau. Nun wurde mir's klar, 
dafi sie mich niemals ganz genau gesehen hatte. Sie konnte mich gewift 



2j6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

instandig lieben. Sie liebte den Sohn ihres Mannes, nicht ihr Kind. Sie 
war eine Frau. Ich war der Erbe ihres Geliebten; seinen Lenden 
schicksalshaft entsprossen; ihrem Schofi nur zufallig. 
Sie offnete das zweke Etui. Auf schneeweifiem Samt lag ein violetter, 
grofier, sechskantig geschliffener Amethyst, gehalten von einer zart ge- 
flochtenen goldenen Kette, mit der verglichen der Stein allzu wichtig 
erschien, gewalttatig fast. Es war, als hinge nicht er an der Kette, son- 
dern als hatte er sich die Kette angeeignet und zoge sie in seiner Gesell- 
schaft mit, eine schwache, ergebene Sklavin. »Fiir deine Braut!« sagte 
meine Mutter. »Bring es ihr heute!« - Ich kiifite die Hand meiner Mut- 
ter und barg auch dieses Etui in der Tasche. 

In diesem Augenblick meldete unser Diener Besuch, meinen Schwie- 
gervater und Elisabeth. »Im Salon! « befahl meine Mutter. »Den Spie- 
gel!* Jacques brachte ihr den ovalen Handspiegel. Sie sah eine lange 
Weile ihr Gesicht an, regungslos. Ja, die Frauen ihrer Zeit hatten es 
noch nicht notig, mit Schminke, Puder, Kammen oder auch nur nack- 
ten Fingern Kleid, Antlitz, Haar zu richten. Es war, als befehle meine 
Mutter mit dem Blick allein, mit dem sic ihr Spiegelbild jetzt priifte, 
dem Haar, dem Gesicht, dem Kleid distinguierte Disziplin. Ohne daft 
sie eine Hand gertihrt hatte, verschwand plotzlich jede Vertraulichkeit, 
Vertrautheit, und ich selbst fuhlte mich beinahe wie zu Gast bei einer 
fremden, alteren Dame. »Komm!« sagte sie. »Gib mir den Stock!« - 
Der Stock, diinnes Ebenholz mit silbernem Knauf, lehnte neben dem 
Stuhl. Sie brauchte ihn nicht als Stiitze, sondern als Abzeichen ihrer 
Wiirde. 

Mein Schwiegervater im Schluftrock, mit Handschuhen eher bewaffnet 
als ausgestattet, Elisabeth im hochgeschlossenen silbergrauen Kleid, 
ein diamantenes Kreuz an der Brust, grower als sonst und so blaft wie 
die mattsilberne Agraffe an ihrer linken Hiifte, standen beide aufrecht, 
starr beinahe, als wir eintraten. Der Schwiegervater verbeugte sich, 
Elisabeth versuchte einen halben Knicks. Ich kiifke sie unbekummert. 
Der Krieg enthob mich aller uberfltissigen zeremoniellen Verpflich- 
tungen. »Verzeihen Sie den Uberfall!« sagte mein Schwiegervater. »Es 
ist ein angenehmer Besuch! « verbesserte meine Mutter. Sie sah dabei 
Elisabeth an. In ein paar Wochen ware ich wieder daheim, scherzte 
mein Schwiegervater. Meine Mutter saft auf einem schmalen, harten 
Rokokostuhl, aufrecht, wie gepanzert. »Die Menschen«, sagte sie, 
»wissen manchmal wohl, wann sie wegfahren. Sie wissen niemals, 



DIE KAPUZINERGRUFT 277 

warm sie zuruckkommen.« Dabei sah sie Elisabeth an. Sie lieft Kaffee 
in den Salon reichen, Likor und Cognac. Sie lachelte nicht einen Au- 
genblick. Sie heftete in einem bestimmten Moment ihren Blick auf 
meine Blusentasche, in der ich das Etui mit dem Amethyst aufbewahrt 
hatte. Ich verstand. Ich hangte, ohne ein Wort, die Kette um den Hals 
Elisabeths. Der Stein hing iiber dem Kreuz. Elisabeth lachelte, trat 
zum Spiegel, und meine Mutter nickte ihr zu; Elisabeth legte das 
Kreuz ab. Der Amethyst schimmerte in einem gewaltsamen Violett auf 
dem silbergrauen Kleid. Er erinnerte an gefrorenes Blut auf einem ge- 
frorenen Grund. Ich wandte mich ab. 

Wir erhoben uns. Die Mutter umarmte Elisabeth, ohne sie zu kiissen. 
»Du fahrst mit den Herrschaften!« befahl sie mir. »Komm heute 
abend !« fiigte sie hinzu. »Ich will die Stunde der Trauung wissen. Es 
gibt Schleie blau!« Sie winkte mit der Hand, wie Koniginnen mit Fa- 
chern winken. Sie entschwand. 

Im Wagen unten, mein Schwiegervater fuhr im Auto (er nannte mir die 
Marke, und ich behielt sie nicht), erfuhr ich, daft in der Doblinger 
Kirche alles parat sei. Die Stunde, wahrscheinlich zehn Uhr vormit- 
tags, sei noch nicht bestimmt. Unsere Trauzeugen waren Zelinsky und 
Heidegger. Einfache Zeremonie. »Schlicht militarisch«, sagte mein 
Schwiegervater. 

Am Abend, wahrend wir die Schleie blau langsam und vorsichtig ver- 
zehrten, begann meine Mutter, wohl zum erstenmal, seitdem sie Her- 
rin in ihrem Haus war, wahrend des Essens von den sogenannten ern- 
sten Gegenstanden zu sprechen. Ich begann eben, die Schleie zu loben, 
Sie unterbrach mich. »Vielleicht sitzen wir zum letztenmal beisam- 
men!« sagte sie. Mehr nicht. »Du gehst heute aus, Abschied nehmen, 
wie?« - »Ja, Mama!« - »Morgen, auf Wiedersehen!« Sie ging, sie sah 
sich nicht mehr um. 

Freilich ging ich Abschied nehmen. Das heifk: ich irrte eigentlich 
herum, um Abschied zu nehmen. Hier und dort nur traf ich einen 
Bekannten. Die Leute auf den Straiten stiefien von Zeit zu Zeit unver- 
standliche Rufe aus. Es bedurfte einiger Minuten, bevor ich ihren Sinn 
begriff, und die Rufe waren schon verklungen. Manchmal spielte die 
Musik den Radetzkymarsch, den Deutschmeistermarsch und »Heil 
du, mein Osterreich!« Es waren Zigeunerkapellen, Heurigenkapellen 
in kleinbiirgerlichen Lokalen. Man trank Bier. Wenn ich eintrat, erho- 
ben sich ein paar Unteroffiziere, und auch die Zivilisten winkten mir 



278 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

mit den Bierkriigeln zu. Es kam mir vor, dafi ich der einzige Ntich- 
terne in dieser groften Stadt war und deshalb auch fremd in ihr. Ja, die 
vertraute Stadt entzog sich mir, riickte von mir fort, jeden Augenblick 
weiter, und die Strafien und Gassen und Garten, so erfullt und laut sie 
auch waren, schienen mir bereits ausgestorben, so, wie ich sie spater 
sehen sollte, nach dem Krieg und nach unserer Heimkehr. Ich irrte 
herum bis zum Morgengrauen, nahm im alten Bristol ein Zimmer, 
schlief, angestrengt, erhitzt und gegen Gedanken, Plane, Erinnerungen 
unaufhorlich fechtend, ein paar Stunden, ging ins Kriegsministerium, 
bekam giinstigen Bescheid, fuhr in unsere Kaserne, Landstrafier 
Hauptstrafie, und verabschiedete mich von Major Pauli, unserm Ba- 
taillonskommandanten, bekam ein en » of fen en Befehl«, der mich - 
schon hiefi ich: Leutnant Trotta - zu den Fiinfunddreifiigern instra- 
dierte, eilte nach Dobling, erfuhr, da£ ich um zehn Uhr dreifiig getraut 
werden sollte, fuhr zu meiner Mutter und teilte es ihr mit, und dann zu 
Elisabeth. 

Wir gaben vor, dafi Elisabeth mich eine Strecke begleiten sollte. Meine 
Mutter kiifke mich, wie gewohnlich, auf die Stirn, stieg in den Fiaker, 
hart, kalt und schnell, trotz ihrer langsamen Art. Es war ein geschlos- 
sener Wagen. Be vor er sich noch in Bewegung setzte, konnte ich be- 
merken, dafi sie hastig das Rouleau hinter der kleinen Wagenscheibe 
zuzog. Und ich wufite, dafi sie drinnen, im Dammer des Coupes, eben 
zu weinen begann. Mein Schwiegervater kiifite uns beide, munter und 
sorglos. Er hatte hundert uberfliissige Redensarten in der Kehle, locker 
fielen sie heraus, verwehten schnell wie Geriiche. Wir verliefien ihn, 
ein wenig briisk. »Ich lasse euch allein!« rief er uns nach. 
Elisabeth begleitete mich nicht nach dem Osten. Wir fuhren vielmehr 
nach Baden. Sechzehn Stunden lagen vor uns, sechzehn lange, voile, 
satte, kurze, fliichtige Stunden. 



XVIII 

Sechzehn Stunden! Seit mehr als drei Jahren liebte ich Elisabeth, aber 
die vergangenen drei Jahre erschienen mir kurz im Verhaltnis zu den 
sechzehn Stunden, obwohl es doch umgekehrt hatte sein sollen. Das 
Verbotene ist raschlebig, das Erlaubte hat von vornherein in sich schon 
die Dauerhaftigkeit. Aufterdem schien mir auf einmal Elisabeth zwar 



DIE KAPUZINERGRUFT 279 

noch nicht verandert, aber bereits auf dem Weg zu irgendeiner Veran- 
derung. Und ich dachte an meinen Schwiegervater und fand auch ein 
paar Ahnlichkeiten zwischen ihr und ihm. Ein paar ihrer ganz be- 
stimmten Handbewegungen waren sichtbarlich vom Vater ererbt, 
feme und verfeinerte Echos der vaterlichen Bewegungen. Einige ihrer 
Handlungen auf der Fahrt in der elektrischen Bahn nach Baden belei- 
digten mich beinahe. So zog sie zum Beispiel kaum zehn Minuten, 
nachdem sich die Bahn in Bewegung gesetzt hatte, ein Buch aus dem 
Kofferchen. Es lag neben dem Toilettenetui iiber der Wasche - ich 
dachte an Brauthemd-, und die Tatsache allein, dafi ein gleichgixltiges 
Buch auf einem nahezu sakramentalen Gewand liegen durfte, erschien 
mir wiirdelos. Es waren ubrigens gesammelte Skizzen eines jener 
norddeutschen Humoristen, die damals zugleich mit unserer Nibe- 
lungentreue, mit dem Deutschen Schulverein, mit den Hochschuldo- 
zenten aus Pommern, Danzig, Mecklenburg und Konigsberg in Wien 
ihre verregnete Heiterkeit spazierenfuhrten und ihr strapazioses Beha- 
gen zu verbreiten begannen. Elisabeth sah von Zeit zu Zeit aus dem 
Buch auf, blickte mich an, schaute eine Weile zum Fenster hinaus, 
unterdriickte ein Gahnen und las weiter. Auch hatte sie eine Art, die 
Knie iibereinanderzuschlagen, die mir geradezu indezent vorkam. Ob 
das Buch ihr gefalle, fragte ich sie. »Humorvoll!« entschied sie 
schlankweg. Sie reichte mir das Buch, damit ich selbst priife. Ich be- 
gann, eine der torichten Geschichten in der Mitte zu lesen, es war die 
Rede von dem goldigen Humor Augusts des Starken und von einer 
Beziehung zu einer seiner fiirwitzigen Hofdamen. Die zwei Eigen- 
schaftsworter, fur mein Gefuhl durchaus bezeichnend fur preuftische 
und sachsische Seelen, sobald sie sich in Sonntagsrast befinden, geniig- 
ten mir. Ich sagte: »Ja, goldig und furwitzig!« Elisabeth lachelte und 
las weiter. Wir gingen ins Hotel »Zum goldenen L6wen«. Unser alter 
Diener wartete, der einzige, der von unserm Badener Plan wuike. Er 
gestand mir sofort, daft er ihn meiner Mutter verraten hatte. Er stand 
da, an der Endstation der Elektrischen, den steifen Halbzylinder in der 
Hand, den er von meinem Vater geerbt haben mochte, und iiberreichte 
meiner Frau einen Strauft dunkelroter Rosen. Er hielt den Kopf ge- 
senkt, in seinem blanken Scheitel spiegelte sich die Sonne wie ein 
Stern ch en, ein silbernes Kornchen. Elisabeth war still. Wenn sie doch 
nur ein Wort fande! dachte ich. Nichts erfolgte. Die stumme Zeremo- 
nie dauerte unendlich lange. Unsere beiden Kofferchen standen auf 



280 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

dem Trottoir. Elisabeth driickte die Rosen mitsamt ihrer Handtasche 
an die Brust. Der Alte fragte, womit er uns noch dienen konne. Er 
hatte audi herzliche Griifie von meiner Mutter auszurichten. Mein 
Koffer, meine zweite Uniform, meine Wasche seien schon im Hotel. 
»Ich danke dir!« sagte ich. Ich merkte, wie Elisabeth ein wenig zur 
Seite wich. Dieses Ausweichen, ja Abrikken reizte mich. Ich sagte: 
»Begleite uns zum Hotel! Ich mochte noch mit dir sprechen!« - »Zu 
Befehl!« sagte er, hob die Kofferchen und folgte uns. 
»Ich mochte noch mit dem Alten sprechen!« sagte ich zu Elisabeth. 
»In einer halben Stunde!« 

Ich ging mit Jacques ins Kaffeehaus. Er hielt den Halbzylinder auf den 
Knien, ich nahm ihn sachte weg und legte ihn auf den Stuhl nebenan. 
Aus den fernen, blafiblauen, etwas feuchten Greisenaugen stromte mir 
die ganze Zartlichkek Jacques' entgegen, und mir war, als hatte meine 
Mutter in seine Augen eine letzte mutterliche Botschaft fur mich ge- 
legt. Seine gichtigen Hande (ich hatte sie lange nicht nackt, sondern 
nur in weifSen Handschuhen gesehen) zitterten, als sie die Kaffeetasse 
hoben. Es waren alte, gute Dienerhande. Warum hatte ich sie niemals 
beachtet? Die blauen Knotchen saften auf den gekrummten Finger- 
gelenken, die Nagel waren flach, stumpf und vielfach gespalten, der 
Knochen am Gelenk seitwarts verschoben und schien widerwillig den 
steifen Rand der altmodischen Manschettenrollen zu ertragen, und un- 
zahlige Aderchen, blaftblau, bahnten sich, winzigen Fliissen gleich, 
muhsame Wege unter der rissigen Haut des Handruckens. 
Wir safien im Garten des Cafes Astoria. Ein welkes goldenes Kasta- 
nienblatt wirbelte langsam auf den kahlen Schadel Jacques', er fiihlte es 
nicht, seine Haut war eben alt und unempfindlich geworden, ich liefi 
das Blatt dort liegen. »Wie alt bist du?« fragte ich. »Achtundsiebzig, 
junger Herr!« antwortete er, und ich sah einen einzigen, groften gelben 
Zahn unter seinem dichten schneeigen Schnurrbart. »Ich sollte eigent- 
lich in den Krieg ziehen, nicht die Jungen!« fuhr er fort. »Im Jahre 66 
war ich dabei, gegen die PreufSen, bei den Fiinfzehnern.« - »Wo bist 
du geboren?« fragte ich. »In Sipolje!« sagte Jacques. »Kennst du die 
Trottas?« - »Freilich, alle, alle!« - »Sprichst du noch Slowenisch?« - 
»Hab' ich vergessen, junger Herr!« 

»In einer halben Stunde!« hatte ich Elisabeth gesagt. Ich zogerte, nach 
der Uhr zu sehen. Es mochte wohl schon mehr als eine Stunde verflos- 
sen sein, aber die blassen, alten Augen Jacques', in denen sein Herzweh 



DIE KAPUZINERGRUFT 281 

wohnte und das meiner Mutter, wollte ich nicht entbehren. Es war 
mir, aJs hatte ich jetzt die dreiundzwanzig leichtfertig und lieblos ver- 
brachten Jahre meines Lebens wettzumachen, innerhalb einer Stunde, 
und statt wie sonst ein Jungvermahlter die sogenannte neue Existenz 
anzufangen, bestrebte ich mich, vielmehr die verflossene zu korrigie- 
ren. Am liebsten hatte ich wieder bei der Geburt angefangen. Es war 
mir klar, daft ich das Wichtigste versaumt hatte. 2u spat. Ich stand vor 
dem Tod und vor der Liebe. Einen Augenblick - ich gestehe es - 
dachte ich sogar an ein schandliches, schmahliches Man over. Ich 
konnte Elisabeth eine Nachricht schicken, daft ich sofort wegmiisse, 
ins Feld, glattweg. Ich konnte es ihr auch sagen, sie umarmen, Trostlo- 
sigkeit, Verzweiflung spielen. Es war nur die Wirrnis einer kurzen Se- 
kunde. Ich hatte sie sofort iiberwunden. Ich verlieft das Astoria. Treu- 
lich, einen halben Schritt hinter mir, ging Jacques. 
Knapp vor dem Eingang zum Hotel, gerade als ich mich umwenden 
wollte, um mich von Jacques endgiiltig zu verabschieden, horte ich ihn 
rocheln. Ich wandte mich halb um und breitete die Arme aus. Der Alte 
sank an meine Schulter. Sein Halbzylinder kollerte hart iiber die 
Steine. Der Portier trat heraus. Jacques war ohnmachtig, Wir trugen 
ihn in die Halle. Ich bestellte den Arzt und lief hinauf, Elisabeth zu 
verstandigen. 

Sie saft immer noch iiber ihrem Humoristen, trank Tee und schob 
kleine Scheibchen Toast mit Marmelade in ihren lieben roten Mund. 
Sie legte das Buch auf den Tisch und breitete die Arme aus. »Jacques«, 
begann ich, »Jacques . . .« und stockte. Ich wollte das furchterlich ent- 
scheidende Wort nicht aussprechen. Um den Mund Elisabeths aber 
ziingelte ein lusternes und gleichgultiges und frohgemutes Lacheln, das 
ich in diesem Augenblick mit einem makabren Wort allein verscheu- 
chen zu konnen glaubte - und also sagte ich: »Er stirbt!« Sie lieE die 
ausgebreiteten Arme fallen und antwortete nur: »Er ist alt!« 
Man holte mich, der Arzt war gekommen. Der Alte lag schon in sei- 
nem Zimmer im Bett. Sein steifes Hemd hatte man ihm ausgezogen. 
Uber seinem schwarzen Gehrock hing es, ein glanzender Panzer aus 
Leinen. Die gewichsten Stiefel standen wie Wachtposten am Fuftende 
des Bettes. Die Socken aus Wolle, vielfach gestopft, lagen schlaff neben 
den Stiefeln. Soviel bleibt iibrig von einem einfachen Menschen. Ein 
paar Knopfe aus Messing auf dem Nachttisch, ein Kragen, eine Kra- 
watte, Stiefel, Socken, Gehrock, Hose, Hemd. Die alten Fiifk mit den 



282 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

verkrummten Zehen lugten unter dem unteren Deckenrand hervor. 
»Schlaganfall!« sagte der Doktor. Er war eben einberufen worden, 
Oberarzt, schon in Uniform. Morgen sollte er zu den Deutschmei- 
stern. Unsere vorschriftsmaftige gegenseitige militarische Vorstellung 
nahm sich neben diesem Sterbenden aus wie die Inszemerung eines 
Theaterstiicks in Wiener Neustadt etwa. Wir schamten uns beide. 
»Stirbt er?« fragte ich. »Ist es dein Vater?« fragte der Oberarzt. »Unser 
Diener!« sagte ich. Ich hatte lieber mein Vater gesagt. Der Doktor 
schien es bemerkt zu haben. »Er stirbt wahrscheinlich«, sagte er. »In 
dieser Nacht?« Er hob fragend die Arme. 

Der Abend war hurtig heremgebrochen. Man mufite Licht machen. 
Der Doktor gab Jacques eine Kardiazolspritze, er schrieb Rezepte, 
klingelte, schickte nach der Apotheke. Ich schlich mich aus dem Zim- 
mer. So schleicht ein Verrater, dachte ich. Ich schlich auch noch die 
Treppe zu Elisabeth empor, als furchtete ich, jemanden zu wecken. 
Elisabeths Zimmer war geschlossen. Das meine lag daneben. Ich 
klopfte. Ich versuchte zu offnen. Auch die Verbindungstur hatte sie 
abgeschlossen. Ich iiberlegte, ob ich Gewalt anwenden sollte. Aber im 
gleichen Augenblick wufite ich ja auch schon, dafi wir uns nicht lieb- 
ten. Ich hatte zwei Tote: Die erste war meine Liebe. Sie begrub ich an 
der Schwelle der Verbindungstur zwischen unseren zwei Zimmern. 
Dann stieg ich ein Stockwerk tiefer, um Jacques sterben zu sehen. 
Der gute Doktor war immer noch da. Er hatte den Sabel abgeschnallt 
und die Bluse aufgeknopft. Es roch nach Essig, Ather, Kampfer im 
Zimmer, und durch die offenen Fenster stromte der feuchte, welke 
Duft des abendlichen Herbstes. Der Oberarzt sagte: »Ich bleibe 
hier« - und driickte mir die Hand. Ich schickte meiner Mutter ein Te- 
legramm, dafi ich unseren Diener bis zu meiner Abreise noch zuriick- 
halten musse. Wir afien Schinken, Kase, Apfel. Wir tranken zwei Fla- 
schen Nufidorfer. 

Der Alte lag da, blau, sein Atem ging wie eine rostige Sage durchs 
Zimmer. Von Zeit zu Zeit baumte sich sein Oberkorper, seine ver- 
kriimmten Hande zerrten an der dunkelroten, gesteppten Decke. Der 
Doktor feuchtete ein Handtuch an, spritzte Essig darauf und legte es 
dem Sterbenden auf den Kopf. Zweimal stieg ich die Treppe zu Elisa- 
beth empor. Das erstemal blieb alles still. Das zweitemal horte ich sie 
laut schluchzen. Ich klopfte starker. »Lafl mich!« rief sie. Ihre Stimme 
drang wie ein Messer durch die geschlossene Tiir. 



DIE KAPUZINERGRUFT 283 

Es mochte gegen drei Uhr morgens gewesen sein, ich hockte am Bett- 
rand Jacques', der Doktor schlief, ohne Rock, den Kopf in die Hemd- 
armel gebettet, iiber dem Schreibtisch. Da erhob sich Jacques mit aus- 
gestreckten Handen, offnete die Augen und lallte etwas. Der Doktor 
erwachte sofort und trat ans Bett. Jetzt horte ich Jacques' alte, klare 
Stimme: »Bitte, junger Herr, der gnadigen Frau sagen lassen, ich 
komme morgen friih zuriick.« Er fiel wieder in die Kissen. Sein Atem 
besanftigte sich. Seine Augen blieben starr und off en, es war, als 
brauchten sie keine Lider mehr. »Jetzt stirbt er«, sagte der Doktor, 
gerade in dem Augenblick, in dem ich entschiossen war, wiederum zu 
Elisabeth hinaufzugehen. 

Ich wartete. Der Tod schien sich dem Alten nur aufierst sorgsam zu 
nahern, vaterlich, ein wahrer Engel. Gegen vier Uhr morgens wehte 
der Wind ein welkes, gelbes Kastanienblatt durch das offene Fenster. 
Ich hob es auf und legte es Jacques auf die Bettdecke. Der Doktor legte 
mir den Arm um die Schulter, beugte sich dann iiber den Alten, 
horchte, nahm die Hand und sagte: »Ex!« Ich kniete nieder und be- 
kreuzigte mich, zum erstenmal nach vielen, vielen Jahren. 
Kaum zwei Minuten spater klopfte es. Der Nachtportier brachte mir 
einen Brief. »Von der Gnadigen! « sagte er. Das Kuvert war nur halb 
zugeklebt, es offnete sich gleichsam von selbst. Ich las nur eine Zeile: 
» Adieu! Ich gen' nach Haus. Elisabeth. « Ich gab dem fremden Doktor 
den ZetteL Er las ihn, sah mich an und sagte: »Ich verstehe!« Und nach 
einer Weile: »Ich ordne schon alles, mit Hotel und Bestattung und 
Frau Mama. Ich bleibe ja vorlaufig in Wien. Wohin gehst du heut?« - 
»Nach dem Osten!« - »Servus!« 

Ich habe den Doktor nie wiedergesehen. Ich habe ihn auch nie verges- 
sen. Er hieft Grunhut. 



XIX 



Ich ging als »Einzelreisender« ins Feld. Den Brief meiner Frau hatte 
ich im ersten Anfall von Unmut, verletzter Eitelkeit, Rachsucht, Ge- 
hassigkeit vielleicht - was weift ich - zerknullt und in die Hosentasche 
gesteckt. Jetzt zog ich ihn hervor, glattete den Knauel und iiberlas die 
eine Zeile noch einmal. Es war mir klar, dafi ich mich gegen Elisabeth 
versiindigt hatte. Eine Weile spater kam es mir vor, dafi ich mich sogar 



284 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

schwer gegen sie versiindigt hatte. Ich beschlofi, ihr einen Brief zu 
schreiben, ich machte mich auch daran, das Papier aus dem Koffer zu 
holen, aber als ich ausgepackt hatte - man zog damals noch mit leder- 
nen Schreibmappen ins Feld-, stromte mir aus dem leeren blauen Blatt 
gleichsam mein eigener Unmut entgegen. Es war, als mufite das leere 
Blatt eigentHch alles enthalten, was ich noch Elisabeth zu sagen hatte, 
und als mufite ich es abschicken, so glatt und wiist, wie es war. Ich 
schrieb nur meinen Namen darauf. Diese Post gab ich auf der nachsten 
Bahnstation ab. Noch einmal zerkniillte ich den Zettel Elisabeths. 
Noch einmal steckte ich den Knauel in die Tasche. 
Ich war, laut dem »Offenen Befehl«, ausgestellt vom Kriegsministe- 
rium, von Stellmacher unterzeichnet, zum Landwehrregiment Nu- 
mero 35 instradiert, das heifit direkt zum Regiment, nicht etwa zum 
Erganzungsbezirkskommando, das infolge der kriegerischen Ereig- 
nisse aus dem gefahrlichen Gebiet in das Innere des Reiches verlegt 
worden war. Ich sah mich also vor der ziemlich verwickelten Aufgabe, 
mein Regiment, das sich auf dem standigen Riickzug befinden mufite, 
irgendwo in einem Dorf, in einem Wald, in einem Stadtchen, kurz: in 
einer »Stellung« ausfindig zu machen, das heifit ungefahr, als ein Irren- 
der, einzelner zu einer fliichtenden, irrenden Einheit zu stofien. Der- 
gleichen hatten wir freilich in den Manovern niemals gelernt. 
Es war gut, dafi ich dieser Sorge vor allem hingegeben sein mufite. Ich 
fliichtete mich geradezu in sie. Ich brauchte so nicht mehr an meine 
Mutter, an meine Frau, unseren toten Diener zu denken. Mein Zug 
hielt fast jede halbe Stunde an irgendwelchen winzigen, unbedeuten- 
den Stationen. Wir fuhren, ein Oberleutnant und ich, in einem engen 
Abteil, einer Zundholzschachtel sozusagen, etwa achtzehn Stunden, 
bis wir Kamionka erreichten. Von hier ab waren die ordentlichen 
Bahngeleise zerstort. Nur eine provisorische, schmalspurige Bahn mit 
drei ungedeckten, winzigen Lastwaggonchen fiihrte zum nachsten 
Feldkommandoposten, der die augenblickliche Stellung der einzelnen 
Regimenter, auch nur unverbindlich, den »Einzelreisenden« anzuge- 
ben vermochte. Das Bahnchen rollte langsam dahin, der Lokomotiv- 
fiihrer lautete unaufhorlich, denn Scharen von Verwundeten, zu Fufi 
und auf Bauernfuhrwerken, kamen uns auf dem schmalen Weg entge- 
gen. Ich bin - wie ich damals zum erstenmal erfuhr - ziemlich unemp- 
findlich gegen die sogenannten groften Schrecken. So empfand ich zum 
Beispiel den Anblick der Verwundeten, die auf einer Tragbahre lagen, 



DIE KAPUZINERGRUFT 285 

wahrscheinlich, weil ihnen Beine oder FiifJe abgeschossen waren, we- 
niger fiirchterlich als die allein, ungestiitzt dahinwankenden Soldaten, 
die nur einen leichten Streifschufi hatten und durch deren schneewei- 
fien Verband unaufhorlich neues Blut sickerte. Und bei alledem, zu 
beiden Seiten der schmalspurigen Bahn, auf den weiten, schon herbst- 
fahlen Wiesen, zirpten die verspateten Grillen, weil sie ein triigerisch 
warmer Septemberabend verfuhrt hatte zu glauben, es sei immer noch 
oder schon aufs neue Sommer. 

Beim Feldkommandoposten traf ich zufallig den Herrn Feldkuraten 
von den Funfunddreiftigern. Er war ein feister, selbstzufriedener Mann 
Gottes, in einem engen, prallen, glanzenden Priesterrock. Er hatte sich 
auf dem Riickzug verloren, mitsamt seinem Diener, seinem Kutscher, 
seinem Pferd und dem zeltuberspannten Trainwagen, wo er Altar und 
MeEgerate, aber auch eine Anzahl Geflugel, Schnapsflaschen, Heu fiir 
das Pferd und iiberhaupt requiriertes Bauerngut verbarg. Er begriifke 
mich wie einen langentbehrten Freund. Er schien sich vor neuen Irr- 
fahrten zu furchten, er konnte sich auch nicht entschlieften, sein Geflii- 
gel dem Feldkommandoposten zu opfern, wo man sich bereits seit 
zehn Tagen lediglich von Konserven nahrte und von Kartoffeln. Man 
liebte hier den Feldkuraten nicht sonderiich. Aber er weigerte sich, 
aufs Geratewohl oder nur auf ein Ungefahr hin loszuziehen, dieweil 
ich, eingedenk meines Vetters Joseph Branco und des Fiakers Manes 
Reisiger, das Ungefahr dem Warten vorzog. Unsere Fiinfunddreiftiger, 
so lautete die vage Auskunft, sollten drei Kilometer nordlich von Brze- 
zany stehen. Und also machte ich mich mit dem Feldkuraten, seinem 
Wagen, seinem Gefliigel auf den Weg, ohne Landkarte, lediglich mit 
einer handgezeichneten Skizze versehen. 

Wir fanden schlieftlich die Fiinfunddreiftiger, allerdings nicht nordlich 
von Brzezany, sondern erst in dem Flecken Strumilce. Ich meldete 
mich beim Obersten. Meine Ernennung zum Leutnant war bereits 
beim Regimentsadjutanten eingelaufen. Ich verlangte, meine Freunde 
zu sehen. Sie kamen. Ich bat, man mochte sie meinem Zug zuteilen. 
Wie kamen sie! Ich erwartete sie in der Kanzlei des Rechnungsunterof- 
fiziers Cenower, aber es war ihnen nicht gesagt worden, da£ ich es sei, 
der sie hatte kommen lassen. Im ersten Augenblick erkannten sie mich 
gar nicht. Aber im nachsten schon fiel mir Manes Reisiger um den 
Hals, uneingedenk aller militarischen Vorschriften, indes mein Vetter 
Joseph Branco noch immer dastand, in Habt-acht erstarrt, aus Ver- 



286 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wunderung und Disziplin, Er war ein Slowene eben. Manes Reisiger 
aber war ein jiidischer Fiaker aus dem Osten, unbekummert und kein 
Dienstreglement-Glaubiger. Sein Bart bestand aus lauter wilden, har- 
ten Knaueln, der Mann sah nicht uniformiert aus, sondern verkleidet. 
Ich kiifite eines seiner Bartknauel und machte mich daran, auch Joseph 
Branco zu umarmen. Ich selbst, auch ich, vergafi das Militar. Ich 
dachte nur noch an den Krieg, und ich rief vielleicht zehnmal hinter- 
einander: »Ihr lebt, ihr lebt! . . .« Und Joseph Branco bemerkte sofort 
meinen Ehering und wies stumm auf meinen Finger. »Ja«, sagte ich, 
»ich habe geheiratet.« Ich fuhlte, ich sah, dafi sie mehr von meiner 
Heirat und von meiner Frau wis sen wollten, ich ging mit ihnen hinaus, 
auf den winzigen, kreisrunden Ring urn die Kirche von Strumilce. Ich 
sprach aber gar nicht von Elisabeth, bis es mir plotzlich einfiel - und 
wie konnte es mir auch entf alien sein! -, daft ich eine Photographie von 
ihr in der Brieftasche geborgen hatte. Am leichtesten war es wohl, es 
ersparte alles Reden, meinen Freunden das Bild zu zeigen. Ich zog die 
Brieftasche, ich suchte, das Bild war nicht drin. Ich begann nachzuden- 
ken, wo ich es verloren oder vergessen haben konnte, und auf einmal 
glaubte ich mich zu erinnern, dafi ich die Photographie bei meiner 
Mutter zu Hause gelassen hatte. Ein unbegreiflicher, ja ein sinnloser 
Schrecken ergriff mich, als hatte ich das Bild Elisabeths zerrissen oder 
verbrannt. »Ich finde die Photographie nicht«, sagte ich zu meinen 
beiden Freunden. Statt zu antworten, zog jetzt mein Vetter Joseph 
Branco aus seiner Tasche das Bild seiner Frau und reichte es mir. Es 
war eine schone Frau, von stolzer Uppigkeit, in der slowenischen 
Dorftracht, ein Kronchen aus Miinzen iiber dem glatten, gescheitelten 
Haar und eine dreimal geschlungene Kette aus den gleichen Miinzen 
um den Hals. Ihre starken Arme waren nackt, die Hande stemmte sie 
an die Huften. »Das ist die Mutter meines Kindes, es ist ein Sohn!« 
sagte Joseph Branco. »Bist du verheiratet?« fragte Manes, der Fiaker. 
»Wenn der Krieg aus ist, werde ich sie heiraten, unser Sohn heifk 
Branco, wie ich, er ist zehn Jahre alt. Er ist beim Groftvater. Er kann 
herrliche Pfeile schnitzen.« 



DIE KAPUZINERGRUFT 287 

XX 

Wir hatten in den nachsten Tagen, die vor uns lagen, breit und gefah- 
renschwanger, duster und erhaben und ratselhaft und fremd, keine 
Schlachten zu erwarten, ailer Voraussicht nach, sondern lediglich 
Riickziige. Von der Ortschaft Strumilce kamen wir, kaum zwei Tage 
spater, in das Dorf Jeziory und wieder drei Tage hierauf in das Stadt- 
chen Pogrody, Die russische Armee verfolgte uns. Wir zogen uns bis 
Krasne-Busk zuriick. Wahrscheinlich infolge eines nicht rechtzeitig 
eingetroffenen Befehls blieben wir langer dort, als es in der Absicht der 
Zweiten Armee gelegen war. Also iiberfielen uns eines friihen Morgens 
die Russen. Und wir hatten keine Zeit mehr, uns zu verschanzen. Dies 
war die historische Schlacht von Krasne-Busk, bei der ein Drittel unse- 
res Regiments vernichtet wurde und ein zweites in Gefangenschaft ge- 
riet. 

Auch wir wurden Gefangene, Joseph Branco, Manes Reisiger und ich. 
So ruhmlos endete unsere erste Schlacht. 

Ich hatte hier ein kraftiges Bedurfnis, von den besonderen Gefiihlen zu 
berichten, die einen Kriegsgefangenen bewegen. Aber ich weifi wohl, 
welch einer groften Gleichgiiltigkeit solch ein Bericht heutzutage be- 
gegnet. Gerne nehme ich das Schicksal, ein Verschollener zu sein, auf 
mich, aber nicht jenes, der Erzahler der Verschollenen zu werden, Man 
konnte mich kaum noch verstehen, wenn ich es etwa unternahme, 
heutzutage von der Freiheit zu sprechen, von der Ehre, geschweige 
denn von der Gefangenschaft. In diesen Jahren schweigt man besser. 
Ich schreibe lediglich zu dem Zweck, mir selbst klarzuwerden; und 
auch pro nomine Dei sozusagen. Er verzeihe mir die Sunde! 
Gut, wir waren also Kriegs gefangene, unser ganzer Zug. Mit mir blie- 
ben Joseph Branco und Manes Reisiger. Wir waren gemeinsam gefan- 
gen. »Fiir uns ist der Krieg zu Ende«, sagte Manes Reisiger. »Ich war 
noch niemals gefangen«, setzte er manchmal hinzu, »ebenso wie ihr 
beide. Aber ich weift, dafi uns das Leben erwartet und nicht der Tod. 
Ihr beide werdet euch daran erinnern, wenn wir zuruckkommen. 
Wenn ich nur wiifite, was mein Ephraim macht. Der Krieg wird lange 
dauern. Auch mein Sohn wird noch einriicken. Merkt euch das! Manes 
Reisiger aus Zlotogrod, ein gewohnlicher Fiaker, hat es euch gesagt!« - 
Hierauf schnalzte er mit der Zunge. Es knallte wie eine Peitsche. Die 
nachsten Wochen blieb er still und stumm. 



288 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Am Abend des zweiten Oktobers sollten wir getrennt werden. Man 
hatte die Absicht, wie es damals Sitte war und selbstverstandlich, die 
gefangenen Offiziere von der Mannschaft zu trennen. Wir sollten im 
Innern des russischen Landes bleiben, die Personen des Mannschafts- 
standes aber weithin verschickt werden. Man sprach von Sibirien. Ich 
meldete mich nach Sibirien. Bis heute noch weift ich es nicht, ich will 
es nicht wissen, auf welche Weise es Manes Reisiger damals gelungen 
war, auch mich nach Sibirien mitzuschleppen. Noch niemals war, so 
scheint es mir, ein Mann so froh gewesen wie ich, dafi es ihm gelang, 
durch List und Bestechung Nachteile zu erringen. Aber Manes Reisi- 
ger hatte sie eigentlich errungen. Seit der ersten Stunde unserer Kriegs- 
gefangenschaft hatte er den Befehl iiber uns alle, iiber unseren Zug, 
ubernommen. Was lernt man nicht alles, Gottes Gnade vorausgesetzt, 
von Pferden, wenn man ein Fiaker ist! und gar ein jiidischer aus Zloto- 
grod... 

Von den Umwegen und von den geraden Wegen, auf denen wir nach 
Sibirien kamen, erzahle ich nicht. Wege und Umwege verstehen sich 
von selbst. Nach sechs Monaten waren wir in Wiatka. 



XXI 

Wiatka Hegt weit in Sibirien, am LenafluE. Die Reise dauerte ein halbes 
Jahr. Die Tage hatten wir auf diesen weiten Wegen vergessen, unzahlig 
und endlos zugleich reihten sie sich aneinander. Wer zahlt die Korallen 
an einer sechsfachen Schnur? Sechs Monate ungefahr dauerte unser 
Transport. Im September hatte unsere Gefangenschaft begonnen, als 
wir ankamen, war es Marz. Im Wiener Augarten mochten schon die 
Goldregenstraucher bliihen. Bald fing der Holunder an zu duften. 
Hier trieben gewaltige Eisschollen iiber den Fluft, man konnte ihn, 
auch an seinen breitesten Stellen, trockenen Fufies uberschreiten. 
Wahrend des Transportes waren drei Leute von unserem Zug an Ty- 
phus gestorben. Vierzehn hatten versucht zu fliehen, sechs Mann von 
unserer Eskorte waren mit ihnen desertiert. Der junge Kosakenleut- 
nant, der den Transport auf der letzten Etappe kommandierte, lief? uns 
in Tschirein warten: Er mufke die Fluchtlinge wie die Deserteure ein- 
fangen. Er hieft Andrej Maximowitsch Krassin. Er spielte mit mir Kar- 
ten, wahrend seine Patrouillen die Gegend nach den Verschwundenen 



DIE KAPU2INERGRUFT 289 

absuchten. Wir sprachen franzosisch. Er trank den Samogonka, den 
ihm die sparlichen russischen Ansiedler der Gegend brachten, aus 
seiner kurbisformigen Feldflasche, war zutraulich und dankbar fur je- 
den guten Blick, den ich ihm schenkte. Ich liebte seine Art zu lachen, 
die starken, blendenden Zahne unter dem kurzen kohlschwarzen 
Schnurrbart und die Augen, die nur Fiinkchen waren, wenn er sie zu- 
sammenkniff. Er beherrschte das Lachen geradezu. Man konnte ihm 
zum Beispiel sagen: »Bitte, lachen Sie ein bifkhen!«, und im Nu 
lachte er, schallend, grofiziigig, weitherzig. Eines Tages hatten die Pa- 
trouillen die Geflohenen aufgetrieben. EigentHch den Rest der Geflo- 
henen, acht Mann von zwanzig. Der Rest war sicherhch verirrt oder 
irgendwo verborgen oder irgendwo untergegangen. Andrej Maximo- 
witsch Krassin spielte mit mir Tarock in der Bahnhofsbaracke. Er lieft 
die Eskorte mitsamt den Gefangenen nahe an uns herankommen, be- 
stellte ihnen Tee und Schnaps und befahl mir, der ich ja seinen Befeh- 
len ausgeliefert war, die Strafen zu diktieren, fiir die Leute meines 
Zuges sowohl als auch fiir die russischen zwei eingeholten Deser- 
teure. Ich sagte ihm, daft ich das Dienstreglement seiner Armee nicht 
kenne. Er bat mich zuerst, dann drohte er, endlich sagte ich: »Da ich 
nicht weifi, welche Strafen nach Ihren Gesetzen zu verhangen waren, 
verfiige ich, daft alle straflos bleiben.« Er legte seine Pistole auf den 
Tisch und sagte: »Sie sind am Komplott beteiligt. Ich verhafte Sie, ich 
lasse Sie abfiihren, Herr Leutnant!« - »Wollen wir nicht die Partie zu 
Ende spielen?« fragte ich ihn und griff nach meinen Karten. »Ge- 
wifi!« sagte er, und wir spielten weiter, wahrend die Soldaten um uns 
herumstanden, Eskorten und Osterreicher. Er verlor. Es ware mir 
leicht gewesen, ihn gewinnen zu lassen, aber ich hatte freilich die Be- 
sorgnis, daft er es merken konnte. Kindlich, wie er war, bereitete ihm 
das Mifitrauen eine noch grofiere Wollust als das Lachen, und die Be- 
reitschaft, Verdacht zu schopfen, war stets in ihm lebendig. Also lieft 
ich ihn verlieren. Er zog die Augenbrauen zusammen, er sah den Un- 
teroffizier, der die Eskorte kommandierte, schon bose an, so, als 
wollte er im nachsten Augenblick alle acht Mann fiisilieren lassen. Ich 
sagte ihm: »Lachen Sie ein biftchen!« Er lachte los, grofiziigig, weit- 
herzig, mit alien blendenden Zahnen. Ich dachte schon, ich hatte die 
acht gerettet. 

Er lachte etwa zwei Minuten, wurde auf einmal ernst, wie es seine 
Art war, und befahl dem Unteroffizier: »Spangen fiir alle acht! Ab- 



29O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

treten! Ich verfiige dann Weiteres.« Hierauf, nachdem die Manner die 
Baracke verlassen hatten, begann er, die Karten zu mischen. »Revan- 
che!« sagte er. Wir spielten eine neue Partie, Er verlor zum zweiten- 
mal. Er steckte jetzt erst seine Pistole ein, erhob sich, sagte: »Ich 
komme gleich!« und verschwand. Ich blieb sitzen, man entziindete die 
zwei Petroleumlampen, sogenannte Rundbrenner. Die karwasische 
Wirtin wankte heran, ein neues Teeglas in der Hand. Im frischen Tee 
schwamm noch die alte Zitronenscheibe. Die Wirtin war breit wie ein 
Schiff. Sie lachelte aber wie ein gutes Kind, vertraulich und miitterlich. 
Als ich mich anschickte, die alte, hafiliche Zitronenscheibe aus dem 
Glas zu entfernen, griff sie mit zwei giitigen, dicken Fingern hinein 
und holte die Zitrone heraus. Ich dankte ihr mit einem Blick. 
Ich trank den heifien Tee langsam. Der Leutnant Andrej Maximo- 
witsch kam nicht zuriick. Es wurde immer spater, und ich muftte zu 
meinen Leuten zuriick ins Lager. Ich ging hinaus vor die Balkontiir 
und rief ein paarmal seinen Namen. Er antwortete mir endlich. Es war 
eine eisige Nacht, so kalt, daft ich zuerst glaubte, selbst ein Ruf miifite, 
kaum ausgestofien, schon erfrieren und niemals den Gerufenen errei- 
chen. Ich bhckte zum Himmel empor. Die silbernen Sterne schienen 
nicht von ihm selbst geboren, sondern in seine Gewolbe eingeschlagen 
worden zu sein, glanzende Nagel. Ein wuchtiger Wind vom Osten, der 
Tyrann unter den Winden Sibiriens, nahm meiner Kehle den Atem, 
meinem Herzen die Kraft zu schlagen, meinen Augen die Fahigkeit zu 
sehen. Die Antwort des Leutnants auf meinen Ruf, vom bosen Wind 
mir dennoch entgegengetragen, erschien mir wie eine trostliche Bot- 
schaft eines Menschen, nach langer Zeit zum erstenmal vernommen, 
obwohl ich kaum ein paar Minuten draufien in der menschenfeind- 
lichen Nacht gewartet hatte. Aber wie wenig trostlich war diese 
menschliche Botschaft. 

Ich ging in die Baracke zuriick. Eine einzige Lampe brannte noch, Sie 
erhellte den Raum nicht, sie machte seine Finsternis nur noch dichter. 
Sie war gleichsam der leuchtende, winzige Kern einer schweren, kreis- 
runden Finsternis. Ich setzte mich neben die Lampe hin. Plotzlich 
schreckten mich ein paar Schiisse auf. Ich lief hinaus. Die Schiisse wa- 
ren noch nicht verhallt. Sie schienen noch immer unter dem eisigen, 
gewaltigen Himmel dahinzurollen. Ich lauschte. Nichts regte sich 
mehr, aufter dem standigen Eiswind. Ich konnte es nicht mehr ertragen 
und kehrte in die Baracke zuriick. 



DIE KAPUZINERGRUFT 291 

Eine Weile spater kam der Leutnant, bleich, trotz dem Winde die 
Miitze in der Hand, die Pistole ragte aus dem halboffenen Etui. 
Er setzte sich sofort, atmete schwer, knopfte den Blusenkragen auf 
und sah mich mit starren Augen an, als kenne er mich nicht, als hatte er 
mich vergessen und als bemiihte er sich angestrengt, mich zu agnoszie- 
ren. Die Karten wischte er vom Tisch mit dem Armel. Er trank einen 
tuchtigen Schluck aus der Flasche, senkte den Kopf und sagte auf ein- 
mal ganz schnell: »Ich habe nur einen getroffen.« - »Sie haben also 
schlecht gezielt«, sagte ich. Aber ich hatte es anders verstanden. 
»Ich habe schlecht gezielt. Ich liefi sie in einer Reihe antreten. Ich 
wollte sie nur erschrecken. Ich schofS in die Luft. Beim letzten Schuft 
war's, als driickte jemand meinen Arm nieder. Es geschah schnell, es 
ging los, ich weift nicht wie. Der Mann ist hin. Die Leute verstehen 
mich nicht mehr.« 

Man begrub den Mann noch in der gleichen Nacht. Der Leutnant liefi 
eine Ehrensalve abschieften. Seit dieser Stunde lachte er nicht mehr. Er 
sann iiber etwas nach, das ihn unaufhorlich zu beschaftigen schien. 
Wir legten noch etwa zehn Werst unter seinem Kommando zuriick. 
Zwei Tage, bevor ein neuer Transportkommandant uns iibernehmen 
sollte, liefi er mich zu sich in den Schlitten steigen und sagte: »Dieser 
Schlitten gehort Ihnen und Ihren zwei Freunden. Der Jude ist Kut- 
scher. Er wird sich auskennen. Hier ist meine Karte. Ich habe den 
Punkt angekreuzt, an dem Sie aussteigen. Sie werden dort erwartet. Es 
ist mein Freund. Zuverlassig. Niemand wird euch suchen. Ich werde 
euch alle drei als Gefluchtete ausgeben. Ich werde euch hinrichten und 
begraben.« Er driickte mir die Hand und stieg aus. 
In der Nacht fuhren wir los. Der Weg dauerte ein paar Stunden. Der 
Mann wartete. Wir fuhlten sofort, dafi wir bei ihm geborgen waren. 
Wir begannen ein neues Leben. 



XXII 

Unser Gastgeber gehorte zu den alteingesessenen sibirischen Polen. 
Pelzhandler war er von Beruf. Er lebte allein, mit einem Hund unbe- 
stimmter Rasse, mit zwei Jagdgewehren, einer Anzahl selbstgeschnitz- 
ter Pfeifen in zwei geraumigen, mit kiimmerlichen Pelzfellen vollgela- 
gerten Zimmern. Er hieft Baranovitsch, Jan mit Vornamen. Er sprach 



292 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

aufierst selten. Ein schwarzer Vollbart verpflichtete ihn zur Schweig- 
samkeit. Er liefi uns allerhand Arbeiten verrichten, den Zaun reparie- 
ren, Holz spalten, die Schlittenkufen einfetten, die Felle sondieren. 
Wir lernten dort etwas Niitzliches. Aber es war uns schon nach einer 
Woche klar, dafi er uns nur arbeiten liefi, aus Taktgefiihl und auch, 
damit wir in dieser Einsamkeit nicht etwa Handel mit ihm oder unter- 
einander begannen. Er hatte recht. Er schnitzte Stocke und Pfeifen aus 
dem harten, starken Gestriipp, das in der Gegend wachst und das er, 
ich weifi nicht mehr, warum, Nastorka nannte. Er rauchte alle Woche 
eine neue Pfeife ein. Niemals vernahm ich einen Scherz von ihm. 
Manchmal nahm er einen Moment die Pfeife aus dem Mund, um einem 
von uns zuzulacheln. Alle zwei Monate etwa kam ein Mann aus dem 
nachsten Flecken und brachte eine alte russische Zeitung. Baranovitsch 
selbst sah sie nicht an. Ich lernte viel aus ihr, aber iiber den Krieg 
konnte sie uns freilich nicht informieren. Einmal las ich, dafl die Kosa- 
ken in Schlesien einmarschieren. Mein Vetter Joseph Branco glaubte 
es, Manes Reisiger nicht. Sie begannen sich zu streiten. Sie wurden 
zum erstenmal bose aufeinander. Endlich hatte auch sie jener Wahn- 
sinn erfafit, den die Einsamkeit erzeugen mufi. Nun griff Joseph 
Branco, junger und heftiger, wie er war, nach dem Bart Reisigers. Ich 
wusch gerade die Teller in der Kuche. Als ich den Streit horte, trat ich 
mit den Tellern in der Hand ins Zimmer. Meine Freunde horten mich 
weder, noch sahen sie mich. Zum erstenmal, obwohl ich vor der Hef- 
tigkeit meiner damals geliebten Menschen erschrocken war, traf mich 
auch eine jahe Einsicht; ich kann wohl sagen, sie habe mich getroffen, 
von aufien her gleichsam: die Einsicht namlich, dafi ich nicht mehr zu 
ihnen gehorte. Ein ohnmachtiger Schiedsrichter, stand ich vor ihnen, 
nicht mehr ihr Freund, und obwohl ich mir dariiber im klaren war, dafi 
der Wahn der Wiiste sie ergriffen hatte, glaubte ich doch daran, daft ich 
gegen ihn bestimmt gefeit ware. Eine gehassige Gleichgiiltigkeit er- 
fiillte mich. Ich ging zuriick in die Kuche, die Teller waschen. Sie tob- 
ten. Aber als wollte ich sie in ihrem irrwitzigen Kampf nicht storen, 
wie man etwa nebenan schlafende Menschen nicht wecken mag, legte 
ich diesmal behutsam, wie bis jetzt noch nie, einen Teller auf den an- 
dern, damit sie nicht klapperten. Nachdem ich mit meiner Arbeit fertig 
geworden war, setzte ich mich auf den Kuchenschemel und wartete 
ruhig. 
Eine geraume Weile spater kamen sie auch heraus, kamen sie gleichsam 



DIE KAPUZINERGRUFT 293 

zum Vorschein, einer hinter dem anderen. Sie beachteten mich auch 
jetzt nicht. Es schien, als wollte mir jeder von den beiden, und jeder fur 
sich, da sie doch Feinde untereinander waren, seine Geringschatzung 
dafiir bezeugen, daft ich mich in ihren Kampf nicht eingemischt hatte. 
Jeder von beiden machte sich an irgendeine iiberflussige Arbeit. Der 
eine schliff die Messer, aber es sah gar nicht bedrohlich aus. Der andere 
holte Schnee in einem Kessel, zundete das Herdfeuer an, warf kleine 
Spane hinein, setzte den Kessel auf den Herd und sah angestrengt in 
die Flamme. Es wurde gemachlich warm. Die Warme strahlte das ge- 
geniiberliegende Fenster an, die Eisblumen wurden rotlich, blau, vio- 
lett zuweilen, vom Widerschein des Feuers. Die vereisten Wassertrop- 
fen auf dem Boden, knapp unter dem Fenster, begannen zu schmelzen. 
Der Abend drang herein, das Wasser brodelte im Kessel. Bald kam 
Baranovitsch von einer seiner Wanderungen zuriick, die er an man- 
chen Tagen, man wuftte nicht, aus welchen Grunden, zu unternehmen 
pflegte. Er trat ein, den Rock in der Hand, die Faustlinge steckten im 
Giirtel. (Er hatte die Gewohnheit, sie vor der Tiir auszuziehen, eine 
Art Hoflichkeit.) Er gab jedem von uns die Hand, mit dem gewohnten 
Gruft: »Gebe Gott Gesundheit.« Dann nahm er die Pelzmutze ab und 
bekreuzigte sich. Er ging in die Stube hinein. 

Spater aft en wir, wie gewohnlich, zu viert. Keiner sprach ein Wort. 
Man horte den Pendelschlag der Kuckucksuhr, die an einen zufallig 
aus fremden Landen verirrten Vogel denken lieft. Man wunderte sich, 
daft sie nicht erfroren war. Baranovitsch, der an unser allabendliches 
Geschwatz gewohnt war, forschte verstohlen in unsern Gesichtern. Er 
erhob sich endlich, plotzlich, nicht so langsam wie sonst und gleichsam 
unzufrieden dariiber, daft wir ihn heute enttauscht hatten, sagte: »Gute 
Nacht!« und ging ins zweite Zimmer. Ich raumte den Tisch ab, blies 
die Petroleumlampe aus. Die Nacht schimmerte durch die vereisten 
Scheiben. Wir legten uns schlafen. »Gute Nacht!« sagte ich, wie im- 
mer. Niemand antwortete. 

Am Morgen, wahrend ich Spane spaltete, urn den Samowar zu heizen, 
kam Baranovitsch in die Kuche. Unvermutet schnell begann er zu 
sprechen: »Sie haben sich also doch geschlagen«, sagte er. »Ich habe 
die Wunden gesehen und das Schweigen begriffen. Ich kann sie nicht 
mehr behalten. In diesem Hause muft Friede sein. Ich habe schon ein 
paarmal Gaste gehabt. Sie blieben alle genauso lang, wie sie Frieden 
hielten. Ich habe nie einen gefragt, wer er sei, woher er komme. Es 



294 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

konnte auch ein Morder sein. Mir war er ein Gast. Ich handle nach 
dem Sprichwort: Gast im Hause, Gott im Hause. Der Leutnant, der 
dich hergeschickt hat, kennt mich schon lange. Auch ihn habe ich ein- 
mal hinausweisen mussen wegen einer Schlagerei. Er nimmt's mir 
nicht iibel. Dich mochte ich behalten. Du hast dich gewifi nicht ge- 
schlagen. Aber die andern wiirden dich anzeigen. Du mufit also mit.« - 
Er schwieg. Ich warf die brennenden Spane in die Ofenrohre des Sa- 
mowars und legte einiges lockere Zeitungspapier dariiber, damit die 
Spane nicht erloschen. Als der Samowar zu singen anfing, begann Ba- 
ranovitsch wieder: »Fliehen konnt ihr nicht. In dieser Gegend, bei die- 
ser Jahreszeit, bleibt kein Mensch lebendig, der hier herumirrt. Also 
bleibt euch nichts anderes iibrig, als nach Wiatka zu fahren. Nach 
Wiatka«, wiederholte er, zogerte und setzte hinzu: »ins Lager. Viel- 
leicht wird man euch bestrafen, schwer, leicht oder gar nicht. Die 
Unordnung dort ist grofi, der Zar ist weit, seine Gesetze sind verwor- 
ren. Meldet euch beim Wachtmeister Kumin. Er ist machtiger als der 
Lagerkommandant. Ich gebe euch Tee und Machorka mit, die gibst du 
ihm. Merk's dir: Kumin. « - Das Wasser siedete, ich schiittete Tee in 
den Tschajnik, goft Wasser drauf und stellte den Tschajnik auf die Sa- 
mowarrohre. - Zum letztenmal! dachte ich. Ich hatte keine Angst vor 
dem Lager. Es war Krieg, alle Gefangenen mufken ins Lager. Aber ich 
wuftte nun, daft Baranovitsch ein Vater war, sein Haus meine Heimat 
war, sein Brot das Brot meiner Heimat. Gestern waren mir meine be- 
sten Freunde verlorengegangen. Heute verlor ich eine Heimat. Zum 
zweitenmal verlor ich eine Heimat. Damals wuftte ich noch nicht, dafi 
ich die Heimat nicht zum letztenmal verloren hatte. Unsereins ist ge- 
zeichnet. 

Als ich mit dem Tee in die Stube kam, safien Reisiger und Joseph 
Branco schon zu beiden Seiten des Tisches. Baranovitsch lehnte an der 
Tur, die zur Nebenstube fuhrte. Er setzte sich nicht, auch als ich sein 
Glas hinstellte. Ich schnitt selbst das Brot und verteilte es. Er trat an 
den Tisch, trank im Stehen seinen Tee, afi im Stehen sein Brot. Dann 
sagte er: »Meine Freunde, ich habe eurem Leutnant gesagt, weshalb ich 
euch nicht mehr behalten darf. Nehmt euren Schlitten, nehmt ein paar 
Felle unter die Rocke, es wird euch warmen. Ich begleite euch bis zu 
der S telle, wo ich euch abgeholt habe.« 

Manes Reisiger ging hinaus, ich horte, wie er den Schlitten sofort liber 
den knirschenden Schnee des Vorhofs fuhrte. Joseph Branco hatte 



DIE KAPUZINERGRUFT 295 

nicht sofort begriffen. »Aufstehen, einpacken!« sagte ich. Zum ersten- 
mal tat es mir weh, dafi ich kommandieren mufite. 
Als wir fertig waren und eng aneinandergeprefit in dem kleinen Schlit- 
ten saften, sagte Baranovitsch zu mir: »Steig ab, ich habe noch etwas 
vergessen.« - Wir gingen ins Haus zuriick. Zum letztenmal umfafite 
ich Kiiche, Stube, Fenster, Messer, Geschirr, den angebundenen 
Hund, zwei Gewehre, die aufgestapelten Felle mit verstohlenen Blik- 
ken, vergeblich geheimen, denn Baranovitsch bemerkte sie wohl. 
»Hier«, sagte er und gab mir einen Revolver. »Deine Freunde wer- 
den«, er vollendete den Satz nicht. Ich steckte die Pistole ein. »Kumin 
wird dich nicht untersuchen. Gib ihm nur den Tee und die Machorka.« 
Ich wollte danken. Aber wie kummerlich hatte da ein Dank geklun- 
gen! Ein Dank aus meinem Munde! Es fiel mir ein, wie oft im Leben 
ich das Wort »Danke!« leichtfertig ausgesprochen hatte. Ich hatte es 
geradezu entweiht. Wie hohl hatte es in Baranovitschs Ohren geklun- 
gen, mein gewichtsloses Dankeswort. Und sogar mein Handedruck 
ware etwas Leichtgewichtiges gewesen - und uberdies zog er die 
Faustlinge an. Erst als wir an der Stelle angekommen waren, an der er 
uns einmal abgeholt hatte, streifte er den rechten Faustling ab, driickte 
uns die Hand, sagte sein gewohntes »Gebe Gott Gesundheit!« und rief 
dem Grauen ein kraftiges »Wjo!« zu, so, als furchtete er, wir konnten 
stehenbleiben. Er kehrte uns den Riicken zu. Es schneite. Er ver- 
schwand mit der Schnelligkeit eines Gespenstes im dichten Weift. 
Wir fuhren ins Lager. Kumin fragte nichts. Er nahm Tee und Ma- 
chorka und fragte nichts. Er trennte uns. Ich kam in die Offiziersba- 
racke. Manes und Joseph Branco sah ich zweimal in der Woche, wenn 
wir Exerzieriibungen machten. Sie s alien einander nicht an. Wenn ich 
manchmal an einen herantrat, um ihm etwas von meinem sparlichen 
Tabak zu geben, sagte mir jeder von ihnen, dienstlich und auf deutsch: 
»Danke gehorsamst, Herr Leutnant.« - »Geht's?« - »Jawohl!« - Eines 
Tages fehlten sie beide, als man im Hof die Namen verlas. In der Ba- 
racke, auf meiner Pritsche, fand ich abends einen Zettel, mit einer 
Stecknadel auf mein Kissen geheftet. Drauf stand, in der Schrift Joseph 
Brancos: »Wir sind fort. Wir fahren nach Wien.« 



2^6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XXIII 

Ich traf sie wirklich in Wien, erst vier Jahre spater. 
Am Weihnachtsabend des Jahres 1918 kehrte ich heim. Elf zeigte die 
Uhr am Westbahnhof. Durch die Mariahilfer Strafie ging ich. Ein kor- 
niger Regen, mifiratener Schnee und kiimmerlicher B ruder des Hagels, 
fiel in schragen Strichen vom mifigiinstigen HimmeL Meine Kappe war 
nackt, man hatte ihr die Rosette abgerissen. Mein Kragen war nackt, 
man hatte ihm die Sterne abgerissen. Ich selbst war nackt. Die Steine 
waren nackt, die Mauern und die Dacher. Nackt waren die sparlichen 
Laternen. Der kornige Regen prasselte gegen ihr mattes Glas, als wiirfe 
der Himmel sandige Kiesel gegen arme, grofie Glasmurmeln. Die 
Mantel der Wachtposten vor den offentlichen Gebauden wehten, und 
die Schofie blahten sich trotz der Nasse. Die aufgepflanzten Bajonette 
erschienen gar nicht echt, die Gewehre hingen halb schief an den 
Schultern der Leute. Es war, als wollten sich die Gewehre schlafen 
legen, miide wie wir, von vier Jahren Schiefien. Ich war keineswegs 
erstaunt, dafi mich die Leute nicht griifiten, meine nackte Kappe, mein 
nackter Blusenkragen verpflichteten niemanden. Ich rebellierte nicht. 
Es war nur jammerlich. Es war das Ende. Ich dachte an den alten 
Traum meines Vaters, den von einer dreifaltigen Monarchic, und dafi 
er mich dazu bestimmt hatte, einmal seinen Traum wirklich zu ma- 
chen. Mein Vater lag begraben auf dem Hietzinger Friedhof, und der 
Kaiser Franz Joseph, dessen treuer Deserteur er gewesen war, in der 
Kapuzinergruft. Ich war der Erbe, und der kornige Regen fiel iiber 
mich, und ich wanderte dem Hause meines Vaters und meiner Mutter 
zu. Ich machte einen Umweg. Ich ging an der Kapuzinergruft vorbei. 
Auch vor ihr ging ein Wachtposten auf und ab. Was hatte er noch zu 
bewachen? die Sarkophage? das Andenken? die Geschichte? Ich, ein 
Erbe, ich blieb eine Weile vor der Kirche stehen. Der Posten kiim- 
merte sich nicht urn mich. Ich zog die Kappe. Dann ging ich weiter 
dem vaterlichen Hause zu, von einem Haus zum andern. Lebte meine 
Mutter noch? Ich hatte ihr zweimal von unterwegs meine Ankunft 
angezeigt. 

Ich ging schneller. Lebte meine Mutter noch? Ich stand vor unserm 
Haus. Ich lautete. Es dauerte lange. Unsere alte Portiersfrau offnete 
das Tor. »Frau Fanny!« rief ich. Sie erkannte mich sofort an der 
Stimme. Die Kerze flackerte, die Hand zitterte. »Man erwartet Sie, wir 



DIE KAPUZINERGRUFT 297 

erwarten Sie, junger Herr. Nachtelang schlafen wir beide nicht, die 
gnadige Frau oben auch nicht.« - Sie war in der Tat so angezogen, wie 
ich sie friiher nur an Sonntagvormittagen gesehen hatte, niemals 
abends nach der Sperrstunde. Ich nahm zwei Stufen auf einmaL 
Meine Mutter stand neben ihrem alten Lehnstuhl, in ihrem hochge- 
schlossenen schwarzen Kleid, die silbernen Haare hoch aus der Stirne 
gekammt. Riickwarts iiber den rund gelegten zwei Zopfen ragte der 
breite Bogenrand des Kammes, grau wie das Haar. Den Kragen und 
die engen Armel umrandeten die wohlvertrauten, weiften, schmalen 
Saume. Den alten Stock mit der Silberkriicke hob sie empor, eine Be- 
schworung, gegen den Himmel hob sie ihn hoch, gleichsam, als ware 
ihr Arm nicht lang genug fur einen so gewaltigen Dank. Sie riihrte sich 
nicht, sie erwartete mich, und ihr Stillstehen schien mir wie ein Schrei- 
ten. Sie beugte sich iiber mich. Sie kiifite mich nicht einmal auf die 
Stirn. Sie stutzte mit zwei Fingern mein Kinn hoch, so daft ich das 
Gesicht hob, ich sah zum erstenmal, daft sie so viel grower war als ich. 
Sie biickte mich lange an. Dann geschah etwas Unwahrscheinliches, ja 
etwas Erschreckendes, mir Unfaftbares, fast Uberirdisches: Meine 
Mutter hob meine Hand, biickte sich ein wenig und kiiftte sie zweimal. 
Ich zog schnell und verlegen den Mantel aus. »Den Rock auch«, sagte 
sie, »er ist ja naft!« Ich legte auch die Bluse ab. Meine Mutter bemerkte, 
daft mein rechter Hemdarmel einen langen Rift hatte. »Zieh das He'imd 
aus, ich will es flicken«, sagte sie. »Nicht«, bat ich, »es ist nicht sau- 
ber.« Niemals hatte ich in unserem Hause sagen diirfen, etwas sei 
dreckig oder schmutzig. Wie rasch diese zeremonielle Ausdrucksweise 
wieder lebendig wurde! Jetzt erst war ich zu Hause. 
Ich sprach nichts, ich sah nur meine Mutter an und aft und trank, was 
sie fur mich vorbereitet, auf hundert listigen Wegen wahrscheinlich 
erschlichen hatte. Alles, was es sonst damals fur keinen in Wien gege- 
ben hatte: gesalzene Mandeln, echtes Weizenbrot, zwei Rippen Scho- 
kolade, ein Probeflaschchen Cognac und echten Kaffee. Sie setzte sich 
ans Klavier. Es war offen. Sie mochte es so stehengelassen haben, seit 
einigen Tagen, seit dem Tag, an dem ich ihr meine Ankunft mitgeteilt 
hatte. Wahrscheinlich wollte sie mir Chopin vorspielen. Sie wuftte, daft 
ich die Liebe fur ihn als eine der wenigen Neigungen von meinem 
Vater geerbt hatte. An den dicken, gelben, bis zur Halfte abgebrannten 
Kerzen in den bronzenen Leuchtern am Klavier merkte ich, daft meine 
Mutter jahrelang die Tasten nicht mehr angeruhrt hatte. Sie pflegte 



298 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sonst jeden Abend zu spielen, und nur an Abenden und nur bei Ker- 
zenlicht. Es waren noch die guten dicken und nahezu saftigen Kerzen 
einer alten Zeit, wahrend des Krieges hatte es derlei bestimmt nicht 
mehr gegeben. Meine Mutter bat mich um Streichholzer. Es war eine 
plumpe Schachtel, sie lag auf dem Kaminsims. Braun und vulgar, wie 
sie dalag, neben der kleinen Standuhr mit dem zarten Madchengesicht, 
war sie fremd in diesem Raum, ein Eindringling. Es waren Schwefel- 
holzer, man mufite warten, bis sich ihr blaues Flammchen in ein gesun- 
des, normales verwandelte. Auch ihr Geruch war ein Eindringling. In 
unserem Salon hatte immer ein ganz bestimmter Duft geherrscht, ge- 
mischt aus dem Atem ferner, schon im Verbluhen begriffener Veilchen 
und der herben Wiirze eines starken, frisch gekochten Kaffees. Was 
hatte hier der Schwefel zu suchen, 

Meine Mutter legte die lieben alten weilkn Hande auf die Tasten. Ich 
lehnte neben ihr. Ihre Finger glitten iiber die Tasten hin, aber aus dem 
Instrument kam kein Ton. Es war verstummt, einfach gestorben. Ich 
begriff nichts. Es muftte ein seltsames Phanomen sein; von Physik ver- 
stand ich nichts. Ich schlug selbst auf einige Tasten. Sie antworteten 
nicht. Es war gespenstisch. Neugierig hob ich den Klavierdeckel hoch. 
Das Instrument war hohl: die Saiten fehlten. »Es ist ja leer, Mutter! « 
sagte ich. Sie senkte den Kopf. »Ich hatte es ganz vergessen«, begann 
sie ganz leise. »Ein paar Tage nach deiner Abreise hatte ich einen selt- 
samen Einfall. Ich wollte mich zwingen, nicht zu spielen. Ich nab' die 
Saiten entfernen lassen. Ich weifi nicht, was mir damals durch den 
Kopf gegangen ist. Ich weifi wirklich nicht mehr. Es war eine Sinnen- 
verwirrung. Vielleicht sogar eine Geistesstorung. Ich habe mich jetzt 
erst erinnert.« 

Die Mutter sah mich an. In ihren Augen standen die Tranen, jene Art 
Tranen, die nicht flieften konnen und die wie stehende Gewasser sind. 
Ich fiel der alten Frau um den Hals. Sie streichelte meinen Kopf. »Du 
hast ja so viel Kohlenru£ in den Haaren«, sagte sie. Sie wiederholte es 
hintereinander ein paarmal. »Du hast ja so viel Kohlenruft in den Haa- 
ren! Geh und wasche dich!« 

»Vor dem Schlafengehen«, bat ich. »Ich will noch nicht schlafen ge- 
hen«j' sagte ich, wie einst als Kind. Und: »Lafi mich noch etwas hier, 
Mama!<< 

Wir setzten uns an das kleine Tischchen vor dem Kamin. »Ich habe 
beim Aufraumen deine Zigaretten gefunden, zwei Schachteln Agypti- 



DIE KAPUZINERGRUFT 299 

sche, die du immer geraucht hast. Ich habe sie in feuchte Loschblatter 
gepackt. Sie sind noch ganz frisch. Willst du rauchen? Sie liegen am 
Fenster.« 

Ja, das waren die alten Hundert-Packungen! Ich besah die Schachteln 
nach alien Seiten. Auf dem Deckel der einen stand, von meiner Schrift, 
gerade noch zu entziffern, der Name: Friedl Reichner, Hohenstaufen- 
gasse, Ich entsann mich sofort: Es war der Name einer hiibschen Trafi- 
kantin, bei der ich offenbar diese Zigaretten gekauft hatte. Die alte 
Frau lachelte. »Wer ist es?« fragte sie. »Ein nettes Madchen, Mama! 
Ich habe sie nie wieder aufgesucht.« - »Jetzt bist du zu alt geworden«, 
antwortete sie, »um Trafikantinnen zu verfuhren. Und aufterdem 
gibt's diese Zigaretten gar nicht mehr . . .« Zum erstenmal horte ich, 
wie meine Mutter eine Art von Scherz versuchte. 
Es war wieder still eine Weile. Dann fragte meine Mutter: »Hast du 
viel gelitten, Bub?« - »Nicht viel, Mutter.« - »Hast dich nach deiner 
Elisabeth gesehnt?« (Sie sagte nicht: »deiner Frau«, sondern: »deiner 
Elisabeth« - und sie betonte das »deiner«.) - »Nein, Mama!« - »Liebst 
sie noch?« - »Es ist zu weit, Mama!« - »Du fragst gar nicht nach ihr?« 
- »Ich hab's eben tun wollen!« - »Ich hab' sie seiten gesehn«, sagte 
meine Mutter. »Deinen Schwiegerpapa haufiger. Vor zwei Monaten 
war er zuletzt hier. Sehr betriibt und dennoch voller Hoffnung. Der 
Krieg hat ihm Geld gebracht. Daft du gefangen bist, haben sie gewuftt. 
Ich glaub', sie hatten es vorgezogen, dich in der Gefallenenliste zu 
sehen oder unter den Vermiftten. Elisabeth . . .« 
»Ich kann mir's denken«, unterbrach ich. 

»Nein, du kannst dir's nicht denken«, beharrte meine Mutter. »Rate, 
was aus ihr geworden ist?« 

Ich vermutete das Schlimmste oder das, was in den Augen meiner 
Mutter als das Schlimmste gelten mochte. 
»Eine Tanzerin?« fragte ich. 

Meine Mutter schuttelte ernst den Kopf. Dann sagte sie traurig, bei- 
nahe duster: »Nein - eine Kunstgewerblerin. Weift du, was das ist? Sie 
zeichnet - oder vielleicht schnitzt sie gar - verriickte Halsketten und 
Ringe, so moderne Dinger, weiftt du, mit Ecken, und Agraffen aus 
Fichtenholz. Ich glaube auch, daft sie Teppiche aus Stroh flechten 
kann. Wie sie hier zuletzt war, hat sie mir einen Vortrag gehalten, wie 
ein Professor, iiber afrikanische Kunst, glaube ich. Einmal gar hat sie 
mir, ohne um Erlaubnis zu fragen, eine Freundin mitgebracht. Es 



300 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

war-«, meine Mutter zogerte em Weile, danri entschlofi sie sich end- 

lich zu sagen: »Es war ein Weibsbild mit kurzen Haaren.« 

»Ist das alles so schlimm?« sagte ich. 

»Schlimmer noch, Bub! Wenn man anfangt, aus wertlosem Zeug etwas 

zu machen, was wie wertvoll aussieht! Wo soil das hinfuhren? Die 

Afrikaner tragen Muscheln, das ist immer noch was anderes. Wenn 

man schwindelt - gut. Aber diese Leute machen noch aus dem Schwin- 

del einen Verdienst, Bub! Verstehst du das? Man wird mir nicht einre- 

den, dafi Baumwolle Leinen ist und dafi man Lorbeerkranze aus Tan- 

nenzapfen macht.« 

Meine Mutter sagte all dies ganz langsam, mit ihrer gewohnlichen stil- 

len Stimme. Ihr Gesicht rotete sich. 

»Hatte dir eine Tanzerin besser gefallen?« 

Meine Mutter iiberlegte eine Weile, dann sagte sie zu meiner heftigen 

Verwunderung: 

»Gewift, Bub! Ich mocht' keine Tanzerin zur Tochter haben, aber eine 

Tanzerin ist ehrlich. Auch noch lockere Sitten sind deutlich. Es ist kein 

Betrug, es ist kein Schwindel. Mit einer Tanzerin hat deinesgleichen 

ein Verhaltnis meinetwegen. Aber das Kunstgewerbe will ja verheiratet 

sein. Verstehst du nicht, Bub? Wenn du dich vom Krieg erholt hast, 

wirst du's selber sehen. Jedenfalls mufit du deine Elisabeth morgen 

friih aufsuchen. Und wo iiberhaupt werdet ihr wohnen? Und was wird 

aus eurem Leben iiberhaupt? Sie wohnt bei ihrem Vater. Um wieviel 

Uhr willst du morgen geweckt werden?« 

»Ich weift nicht, Mama!« 

»Ich fruhstiicke um acht!« sagte sie. 

»Dann sieben bitte, Mama!« 

»Geh schlafen, Bub! Gute Nacht!« 

Ich kiifite ihr die Hand, sie kiifite mich auf die Stirn. Ja, das war meine 

Mutter! Es war, als ob nichts geschehen ware, als ware ich nicht aus 

dem Krieg eben erst heimgekehrt, als ware die Welt nicht zertriim- 

mert, als ware die Monarchic nicht zerstort, unser altes Vaterland mit 

seinen vielfaltigen unverstandlichen, aber unverriickbaren Gesetzen, 

Sitten, Gebrauchen, Neigungen, Gewohnheiten, Tugenden, Lastern 

noch vorhanden. Im Hause meiner Mutter stand man um sieben Uhr 

auf, obwohl man vier Nachte nicht geschlafen hatte. Gegen Mitter- 

nacht war ich angekommen. Jetzt schlug die alte Kaminuhr mit dem 

miiden, zarten Madchengesicht drei. Drei Stunden Zartlichkeit geniig- 



DIE KAPUZINERGRUFT 301 

ten meiner Mutter. Geniigten sie ihr? - Sie erlaubte sich jedenfalls 
keine Viertelstunde mehr, meine Mutter hatte recht; ich schlief bald 
mit dem trostreichen Bewufitsein ein, dafi ich zu Hause war, mitten in 
einem zerstorten Vaterland, in einer Festung schlief ich ein. Meine alte 
Mutter wehrte mit ihrem alten schwarzen Knickstock die Verwirrun- 
gen ab. 



XXIV 

Noch hatte ich keinerlei Angst vor dem neuen Leben, das mich erwar- 
tete, wie man heutzutage sagt: Ich »realisierte« es noch nicht. Ich hielt 
mich vielmehr an die kleinen, stundlichen Aufgaben, die mir auferlegt 
waren: und ich glich etwa einem Menschen, der, vor einer betrachtli- 
chen Treppe stehend, die er emporzusteigen gezwungen ist, deren er- 
ste Stufe fur die gefahrlichste halt. 

Wir hatten keinen Diener mehr, nur ein Dienstmadchen. Der alte 
Hausmeister vertrat bei uns den Diener. Ich schickte ihn gegen neun 
Uhr fruh mit Blumen und einem Brief zu meiner Frau. Ich kiindigte 
meinen Besuch fur elf Uhr vormittags an, wie ich es fur gehorig hielt. 
Ich »machte Toilette«, wie man zu meiner Zeit noch zu sagen pflegte. 
Meine Zivilkleider waren intakt. Ich machte mich zu Fuft auf den Weg. 
Ich kam eine Viertelstunde vor elf an und wartete im Kaffeehaus ge- 
genliber. Um elf Uhr piinktlich lautete ich. »Die Herrschaften sind 
nicht zu Hause !« sagte man mir. Blumen und Brief waren abgegeben 
worden. Elisabeth hatte mir sagen lassen, ich mochte sie sofort in ih- 
rem Biiro in der Wollzeile aufsuchen. Ich begab mich also in die Woll- 
zeile. 

Ja, Elisabeth war da. An der Tur verkiindete eine kleine Tafel: Atelier 
Elisabeth Trotta. Ich schreckte vor meinem Namen zuriick. 
»Servus!« sagte meine Frau. Und: »La£ dich anschaun!« Ich wollte ihr 
die Hand kiissen, aber sie driickte meinen Arm herunter und brachte 
mich dadurch allein schon aus der Fassung. Es war die erste Frau, die 
meinen Arm hinunterdruckte, und es war meine Frau! Ich verspiirte 
etwas von jenem Unbehagen, das mich immer bei dem Anblick von 
Anomalien und von menschliche Bewegungen vollfuhrenden Mecha- 
nismen befallen hatte: zum Beispiel von irren Kranken oder von 
Frauen ohne Unterleib. Es war aber dennoch Elisabeth. Sie trug eine 



302 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

hochgeschlossene grune Bluse mit Umlegekragen und langer, mannli- 
cher Krawatte. Ihr Gesicht war noch von dem zarten Flaum bedeckt, 
die Biegung des Nackens, wenn sie den Kopf senkte, erkannte ich 
noch, das nervose Spiel der kraftigen, schlanken Finger auf dem Tisch. 
Sie lehnte in einem Biirostuhl aus zitronengelbem Holz. Alles hier war 
zitronengelb, der Tisch und ein Bilderrahmen und die Verschalung der 
breiten Fenster und der nackte Fufiboden. »Setz dich nur auf den 
Tisch !« sagte sie. »Nimm von den Zigaretten. Ich bin noch nicht voll- 
kommen eingerichtet.« Und sie erzahlte mir, daft sie alles selbst aufge- 
baut habe. »Mit diesen beiden Handen«, sagte sie und zeigte dabei 
auch ihre beiden schonen Hande. Und in dieser Woche noch kamen 
der Rest des Mobiliars und ein orangefarbener Fenstervorhang, und 
Orange und Zitrone gingen wohl zusammen, SchKefilich, als sie mit 
ihrem Bericht fertig war - und sie sprach immer noch mit ihrer alten, 
etwas heiseren Stimme, die ich so gehebt hatte!-, sagte sie: »Was hast 
du die ganze Zeit getrieben?« - »Ich habe mich treiben lassenU erwi- 
derte ich. »Ich danke dir fur die Blumen«, sagte sie. »Du schickst Blu- 
men. Warum hast du nicht telephoniert?« - »Bei uns gibt's kein Tele- 
phon!« - »Also, erzahl!« befahl sie - und ztindete sich eine Zigarette 
an. Sie rauchte so, wie ich es s either bei vielen Frauen gesehen habe, die 
Zigarette in einem verzogenen Mundwinkel ansteckend, wodurch das 
Angesicht den Ausdruck jener Krankheit bekommt, die von den Medi- 
zinern facies partialis genannt wird, und mit einer schwer erworbenen 
Unbekummertheit. »Ich erzahle spater, Elisabeth«, sagte ich. - »Wie 
du willst!« erwiderte sie. »Schau dir meine Mappe an.« Sie zeigte mir 
ihre Entwurfe. »Sehr originell!« sagte ich. Sie entwarf allerhand: Tep- 
piche, Schals, Krawatten, Ringe, Armbander, Leuchter, Lampen- 
schirme. Alles war kantig. »Verstehst du?« fragte sie. »Nein!« - »Wie 
solltest du auch!« - sagte sie. Und sie sah mich an. Es war Schmerz in 
ihrem Blick, und also fiihlte ich wohl, daE sie unsere Brautnacht 
meinte. Auf einmal glaubte ich auch, eine Art Schuld zu fiihlen. Aber 
wie sollte ich sie ausdriicken? 

Die Tiir wurde aufgerissen, und etwas Dunkles wehte herein, ein Stuck 
Wind, eine junge Frau mit schwarzen, kurzen Haaren, schwarzen, 
grofien Augen, dunkelgelbem Gesicht und starkem Schnurrbartflaum 
iiber roten Lippen und kraftigen, blanken Zahnen. Die Frau schmet- 
terte etwas in den Raum, mir Unverstandliches, ich stand auf, sie setzte 
sich auf den Tisch. »Das ist mein Mann!« sagte Elisabeth. Ich begriff 



DIE KAPUZINERGRUFT 303 

erst ein paar Minuten spater, dafi es »Jolanth« war. »Du kennst Jo- 
lanth Szatmary nicht?« fragte meine Frau. Ich erfuhr also, dafi es eine 
beriihmte Frau war. Noch besser als meine Frau verstand sie alles zu 
entwerfen, was das Kunstgewerbe unbedingt zu erfordern schien. Ich 
entschuldigte mich. Ich hatte in der Tat weder in Wiatka noch unter- 
wegs auf dem Transport den Namen Jolanth Szatmary vernommen. 
»Wo ist der Alte?« fragte Jolanth. 
»Er mull bald kommen!« sagte Elisabeth. 

Der Alte war mein Schwiegervater. Bald darauf kam er auch. Er stiefi 
das ubliche »Ah!« aus, als er mich sah, und umarmte mich. Er war 
gesund und munter. »Heil zuruck!« rief er so triumphierend, als hatte 
er selbst mich heimgebracht. - »Ende gut, alles gut!« sagte er gleich 
darauf. Beide Frauen lachten. Ich fiihlte mich erroten. »Gehn wir es- 
sen!« befahl er. »Sieh her«, sagte er zu mir, »dies habe ich alles mit 
meinen beiden Handen aufgebaut!« - Und er zeigte dabei seine 
Hande her. Elisabeth tat so, als suchte sie nach ihrem Mantel. 
Also gingen wir essen, das heifk: wir fuhren eigentlich, denn mein 
Schwiegervater hatte freilich seinen Wagen und einen Chauffeur. »Ins 
Stammlokal!« befahl er. Ich wagte nicht zu fragen, welches Restau- 
rant sein Stammlokal war. Nun, es war mein altes, wohlvertrautes, in 
dem ich mit meinen Freunden so oft gesessen hatte, eines jener alten 
Gasthauser von Wien, in denen die Wirte ihre Gaste besser kannten 
als ihre Kellner und in denen ein Gast kein zahlender Kunde war, 
sondern ein geheiligter Gast. 

Nun aber war alles verandert: Fremde Kellner bedienten uns, die mich 
nicht kannten und denen mein leutseliger Schwiegervater die Hand 
gab. Auch hatte er hier seinen »Extratisch«. Ich war sehr fremd hier, 
fremder noch als fremd. Denn der Raum war mir vertraut, die Tape- 
ten waren mir Freunde, die Fenster, der rauchgeschwarzte Plafond, 
der breite griine Kachelofen und die blaugeranderte Vase aus Steingut 
mit den verwelkten Blumen auf dem Fenstersims. Fremde aber be- 
dienten mich, und mit Fremden saft ich und aft ich an einem Tisch. 
Ihre Gesprache verstand ich nicht. Mein Schwiegervater, meine Frau 
Elisabeth, Jolanth Szatmary sprachen von Ausstellungen; Zeitschrif- 
ten wollten sie griinden, Plakate drucken lassen, internationale Wir- 
kungen erzielen - was weift ich! »Wir nehmen dich mit hinein!« sagte 
mein Schwiegervater von Zeit zu Zeit zu mir; und ich hatte keine Ah- 
nung, wohin er mich mit »hineinnehmen« wollte. Ja, die Vorstellung 



304 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

allein schon, ich konnte »hineingenommen werden«, bereitete mir 
Pein. 

»Anschreiben!« rief mein Schwiegervater, als wir fertig waren. In die- 
sem Augenblick tauchte hinter der Theke Leopold auf, der Grofivater 
Leopold. Vor sechs Jahren schon hatten wir ihn Grofivater Leopold 
genannt. »Grofipapa!« rief ich, und er kam hervor. Er mochte schon 
mehr als siebzig zahlen. Er ging auf den zittrigen Beinen und den aus- 
warts gekehrten Ftifien, die ein Kennzeichen langgedienter Kellner 
sind. Seine hellen, erblafiten, rotgeranderten Augen hinter dem wak- 
kelnden Pincenez erkannten mich sofort. Schon lachelte sein zahnloser 
Mund, schon spreizten sich seine weifien Backenbartfliigel. Er 
glitschte mir entgegen und nahm meine Hand zartlich, wie man einen 
Vogel anfafit. »Oh, gut, dafi Sie wenigstens da sind!« krahte er. 
»Kommen Sie bald wieder! Werde mir die Ehre nehmen, den Herrn 
selbst zu bedienen!« Und ohne sich um die Gaste zu kiimmern, rief er 
zu der Wirtin hinter der Kasse hiniiber: »Endlich ein Gast!« - Mein 
Schwiegervater lachte. 

Ich mufite mit meinem Schwiegervater sprechen. Jetzt iiberblickte ich, 
so schien es mir, die ganze Treppe, vor der ich stand. Unzahlige Stufen 
hatte sie, und immer steiler wurde sie. Freilich, man konnte Elisabeth 
verlassen und sich nicht mehr um sie kiimmern. An diese Moglichkeit 
dachte ich aber damals gar nicht. Sie war meine Frau. (Auch heute 
noch lebe ich in dem Bewufitsein, dafi sie meine Frau ist.) Vielleicht 
hatte ich mich gegen sie vergangen; sicherlich sogar. Vielleicht auch 
war es die alte, nur halb erstickte Liebe, die mich glauben liefi, es triebe 
mich lediglich mein Gewissen. Vielleicht war's mein Verlangen, das 
torichte Verlangen aller jungen und jugendlichen Manner, die Frau, die 
sie einmal geliebt, spater vergessen haben und die sich verandert hat, 
um jeden Preis noch einmal zuriickzuverwandeln; aus Eigensucht. Ge- 
nug, ich mufite mit meinem Schwiegervater sprechen, hierauf mit 
Elisabeth. 

Ich traf den Schwiegervater in der Bar des alten Hotels, in der man 
mich sehr wohl kennen mufite. Um sicher zu sein, machte ich dort eine 
halbe Stunde vorher eine Art Rekognoszierung. Ja, sie lebten noch alle, 
zwei Kellner waren heimgekehrt und der Barmann auch. Ja, man erin- 
nerte sich sogar noch, dafi ich ein paar Schulden hatte - und wie wohl 
tat auch dieses mir! Alles war still und sanft. Das Tageslicht fiel milde 
durch das Glasdach. Es gab kein Fenster. Es gab noch alte, gute Ge- 



DIE KAPUZINERGRUFT 305 

tranke aus der Zeit vor dem Krieg. Als mein Schwiegervater kam, be- 
stellte ich Cognac. Man brachte mir den alten Napoleon, wie einst. 
»Ein TeufelsbubU sagte mein Schwiegervater. Nun, das war ich kei- 
neswegs. 

Ich sagte ihm, dafi ich nunmehr mein Leben regeln miisse, unser Leben 
vielmehr. Ich sei, so sagte ich, keineswegs gesonnen, das Entschei- 
dende hinauszuschieben. Ich miifite alles sofort wissen. Ich sei ein sy- 
stematischer Mensch. 

Er horte alles ruhig an. Dann begann en »Ich will dir alles offen sagen. 
Erstens weift ich nicht, ob Elisabeth noch geneigt ware, mit dir zu 
leben, das heifit, ob sie dich liebt; das ist deine, das ist eure Sache. 
Zweitens: Wovon willst du leben? Was kannst du uberhaupt? Vor dem 
Krieg warst du ein reicher junger Mann aus guter Gesellschaft, das 
heifit aus jener Gesellschaft, der mein Bubi angehort hat.« 
»Bubi!« - Es war mein Schwager. Es war Bubi, den ich nie hatte leiden 
mdgen. Ich hatte ihn ganz vergessen. »Wo ist er?« fragte ich. »Gefal- 
len!« antwortete mein Schwiegervater. Er blieb still und trank mit 
einem Zug das Glas leer. »i9i6 ist er gefallen«, fiigte er hinzu. Zum 
erstenmal erschien er mir nahe und vertraut. 

»Also«, fuhr er fort, »du hast nichts, du hast keinen Beruf. Ich selbst 
bin Kommerzialrat und sogar geadelt. Aber das bedeutet jetzt nichts. 
Die Heeresverwaltungsstelle ist mir noch Hunderttausende schuldig. 
Man wird sie mir nicht zahlen. Ich habe nur Kredit und ein wenig Geld 
auf der Bank. Ich bin noch jung. Ich kann was Neues, was Grofies 
unternehmen. Ich versuche es jetzt, wie du siehst, mit dem Kunstge- 
werbe. Elisabeth hat bei dieser beriihmten Jolanth Szatmary gelernt. 
>Werkstatt Jolanth<; unter dieser Marke konnte der Kram in die ganze 
Welt hinaus. Und aufierdem«, setzte er traumerisch hinzu, »habe ich 
noch ein paar Eisen im Feuer,« 

Diese Wendung geniigte mir, um mir ihn aufs neue unsympathisch zu 
machen. Er hatte es wohl gefuhlt, denn er sagte gleich darauf: »Ihr 
habt kein Geld mehr, ich weifi es, deine Frau Mutter ahnt es noch 
nicht. Ich kann dich irgendwo mit hineinnehmen, wenn du magst. 
Aber sprich zuerst mit Elisabeth. Servus!« 



}06 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XXV 

Ich sprach also zuerst mit Elisabeth. Es war, als griibe ich etwas aus, 
was ich selbst der Erde iibergeben hatte, Trieb mich ein Gefuhl, zog 
mich Leidenschaft zu Elisabeth hin? Von Geburt und Erziehung dazu 
geneigt, Verantwortungen zu tragen, und auch aus einem starken Wi- 
derstand gegen die Ordnung, die rings um mich herrschte und in der 
ich mich nicht auskannte, fuhlte ich mich gezwungen, vor allem Ord- 
nung in meinen eigenen Angelegenheiten zu schaffen. 
Elisabeth kam zwar zur verabredeten Stunde in jene Konditorei im 
Innern der Stadt, wo wir uns friiher, in der Zek meiner ersten Verliebt- 
heit, getroffen hatten. Ich erwartete sie an unserm alten Tisch. Erinne- 
rung, sogar Sentimentalitat ergriff mich. Die marmorne Tischplatte 
muftte, so schien es mir, noch einige Spuren unserer, ihrer Hande auf- 
weisen. Gewifi eine kindische, eine lacherliche Idee. Ich wufite es, aber 
ich zwang mich zu ihr, zwangte mich geradezu in sie ein, gewisserma- 
fien, um zu dem Bediirfnis, »Ordnung zu schaffen in meinem Leben«, 
noch irgendein Gefiihl fugen zu konnen und also meine Aussprache 
mit Elisabeth nach beiden Seiten hin zu rechtfertigen. Damals machte 
ich zum erstenmal die Erfahrung, dafi wir nur fluchtig erleben, hurtig 
vergessen und fluchtig sind wie kein anderes Geschopf auf Erden. Ich 
hatte Angst vor Elisabeth; den Krieg, die Gefangenschaft, Wiatka, die 
Riickkehr hatte ich fast schon ausgeloscht. Alle meine Erlebnisse 
brachte ich nur mehr noch in Beziehung zu Elisabeth, Und was bedeu- 
tete sie eigentlich, verglichen mit dem Verlust meiner Freunde Joseph 
Branco, Manes Reisiger, Jan Baranovksch und meiner Heimat, meiner 
Welt? Nicht einmal meine Frau war Elisabeth, nach dem Wort und 
dem Sinn der btirgerlichen wie der kirchlichen Gesetze. (In der alten 
Monarchic hatten wir uns leicht scheiden lassen konnen, geschweige 
denn jetzt.) Hatte ich noch Verlangen nach ihr? Ich sah auf die Uhr, In 
fiinf Minuten mufke sie dasein, und ich wiinschte, sie mochte zumin- 
dest noch eine halbe Stunde zogern. Vor Angst aft ich die kleinen 
Schokoladetortchen aus Zichorie und Zimt, die unsere Augen allein 
bestechen, aber unseren Gaumen nicht tauschen konnten. (Es gab kei- 
nen Schnaps in der Konditorei.) 

Elisabeth kam. Sie kam nicht allein. Ihre Freundin Jolanth Szatmary 
begleitete sie. Ich hatte natiirlich erwartet, daft sie allein kommen 
wiirde. Als aber auch Jolanth Szatmary erschien, wunderte ich mich 



DIE KAPUZINERGRUFT 307 

gar nicht dariiber. Es war mir klar, daft Elisabeth ohne diese Frau merit 
gekommen ware, nicht hatte kommen konnen. Und ich verstand. 
Ich hatte keinerlei Vorurteile, o nein! In der Welt, in der ich groft 
geworden war, gait ein Vorurteil beinahe als ein Zeichen der Vulgari- 
tat. Allein, das als verboten Geltende offentlich zu demonstrieren er- 
schien mir billig. Wahrscheinlich hatte Elisabeth eine Frau, in die sie 
nicht verliebt war, zu unserer Zusammenkunft nicht mitgehen lassen. 
Hier muftte sie gehorchen. 

Erstaunlich war die Ahnlichkeit der beiden, obwohl sie so verschieden 
geartet waren und so verschieden von Gesicht. Dies kam von der Ahn- 
lichkeit ihrer Kleidung und ihrer Gebarden. Man hatte sagen konnen, 
sie seien einander ahnlich wie Sch western oder vielmehr wie B ruder. 
Wie Manner zu tun pflegten, zogerten sie vor der Tur, welche von 
beiden der andern den Vortritt lassen solle. Wie Manner zu tun pfle- 
gen, zogerten sie noch am Tisch, welche von beiden sich zuerst setzen 
sollte. Ich machte auch nicht einmal einen schuchternen Versuch mehr, 
der einen und der andern die Hand zu kiissen. Ich war ein lacherliches 
Ding in ihren Augen, Sohn eines kummerlichen Geschlechts, einer 
fremden, geringgeschatzten Rasse, zeit meines Lebens unfahig, die 
Weihen der Kaste zu empfangen, der sie angehorten, und der Geheim- 
nisse teilhaft zu werden, die sie hiiteten. Ich war noch in den infamen 
Vorstellungen begriffen, daft sie einem schwachen, gar einem inferio- 
ren Geschlecht angehorten, und frech genug, diese meine Vorstellun- 
gen durch Galanterie deutlich zu machen. Entschlossen und geschlos- 
sen s aft en sie neben mir, als hatte ich sie herausgefordert. Zwischen den 
beiden war ein stummer, aber sehr deutlicher Bund gegen mich gultig. 
Er war sichtbar. Auch wenn ich das Gleichgultigste sagte, tauchten sie 
ihre Blicke ineinander, wie zwei Menschen, die schon langst gewuftt 
haben, welcher Art ich sei und welcher Aufterungen fahig. Manchmal 
lachelte die eine, und den Bruchteil einer Sekunde spater wiederholte 
sich das gleiche Lacheln um die Lippen der anderen. Von Zeit zu Zeit 
glaubte ich zu bemerken, daft Elisabeth sich mir zuneigte, mir einen 
verstohlenen Blick zu schenken versuchte, als hatte sie mir beweisen 
wollen, daft sie eigentlich zu mir gehore und daft sie nur der Freundin 
gehorchen musse, gegen Willen und Neigung. Wovon hatten wir zu 
sprechen? Ich erkundigte mich nach ihrer Arbeit. Ich vernahm einen 
Vortrag iiber die Unfahigkeit Europas, Materialien, Intentionen, Ge- 
nialitat des Primitiven zu erkennen. Notwendig war es, den ganzen 



308 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

verirrten Kunstgeschmack des Europaers auf den rechten, natiirlichen 
Weg zu bringen. Der Schmuck war, soviel ich verstand, ein Nutzge- 
genstand. Ich zweifelte nicht daran. Ich sagte es auch. Auch gab ich 
bereitwillig zu, dafi der Kunstgeschmack der Europaer verirrt sei. Ich 
konnte nur nicht einsehen, weshalb lediglich dieser verirrte Kunstge- 
schmack allein schuld sein soilte an dem ganzen Weltuntergang; viel- 
mehr sei er doch eine Folge, sicherlich nur ein Symptom. 
»Symptom!« rief die Frau Jolanth. »Ich nab' dir gleich gesagt, Elisa- 
beth, dafi er ein unheilbarer Optimist ist! Hab 5 ich ihn nicht auf den 
ersten Blick erkannt?« - Dabei legte Frau Jolanth ihre beiden kleinen, 
breiten Hande auf die Hand Elisabeths. Bei dieser Bewegung glitten 
die Handschuhe der Frau Jolanth von ihrem Schoft auf den Boden, ich 
biickte mich, aber sie stiefi mich heftig zuriick. »Verzeihen Sie«, sagte 
ich, »ich bin ein Optimist.« 

»Sie mit Ihren Symptomen!« rief sie aus, Es war mir klar, dafi sie das 
Wort nicht verstand. 

»Um acht Uhr spricht Harufax iiber freiwillige Sterilisierung«, sagte 
Frau Jolanth. »Vergifi nicht, Elisabeth! Jetzt ist sieben.« 
»Ich vergess' nicht«, sagte Elisabeth. 

Frau Jolanth erhob sich, mit einem schnellen Blick befahl sie Elisabeth, 
ihr zu folgen. »Entschuldige!« sagte Elisabeth. Gehorsam folgte sie der 
Frau Jolanth in die Toilette, 

Sie blieben ein paar Minuten weg, Zeit genug fur mich, um mir dariiber 
klarzuwerden, dafi ich die Verwirrung nur noch steigerte, wenn ich 
darauf beharrte, »Ordnung in mein Leben zu bringen«. Ich geriet nicht 
nur allein in die Verworrenheit, ich vergrd&erte sogar auch noch die 
allgemeine. So weit war ich mit meinem Uberlegen, als die Frauen zu- 
riickkamen. Sie zahlten. Ich kam gar nicht dazu, die Kellnerin zu 
rufen. Aus Angst, ich konnte ihnen zuvorkommen und ihre Selbstan- 
digkeit beeintrachtigen, hatten sie die Kellnerin unterwegs auf dem 
kurzen Wege zwischen Toilette und Kassa sozusagen arretiert. Elisa- 
beth driickte mir ein zusammengerolltes Stiickchen Papier beim Ab- 
schied in die Hand. Fort waren sie zu Harufax, zur Sterilisierung. Ich 
rollte den kleinen Zettel auf. »Zehn Uhr abends Cafe Museum, allein«, 
hatte Elisabeth darauf geschrieben. Die Verwirrung soilte kein Ende 
nehmen. 

Das Kaffeehaus stank nach Karbid, das heifk nach faulenden Zwiebeln 
und Kadavern. Es gab kein elektrisches Licht. Es fallt mir aufierst 



DIE KAPUZINERGRUFT 309 

schwer, mich bei penetranten Geriichen zu sammeln. Geruch ist star- 
ker als Gerausch. Ich wartete stumpf und ohne die geringste Lust, Eli- 
sabeth wiederzusehen. Ich hatte auch gar keine Lust mehrj »Ordnung 
zu schaffen«. Es war, als ob das Karbid mich endgiiltig von der wirkli- 
chen Riickstandigkeit meines Bemuhens, Ordnung zu schaffen, uber- 
zeugt hatte, Ich wartete nur noch aus Galanterie. Aber sie konnte nicht 
langer dauern als die sogenannte Polizeistunde. Und eigentlich fand 
ich nun diese Einrichtung, gegen die ich mich sonst emport hatte, als 
ein aufiergewohnliches Entgegenkommen der Behorden. Gewifi wull- 
ten sie, was sie taten, diese Behorden. Sie zwangen unsereinen, unsere 
unpassenden Eigenschaften abzulegen und unsere heillosen Mifiver- 
standnisse zu berichtigen. 

Dennoch kam Elisabeth, eine halbe Stunde vor Schlufi. Sie war hubsch, 
wie sie so hereinstiirmte, etwas gejagtes Wild, in ihrem halbkurzen 
Biberpelz, Schnee in den Haaren und in den langen Wimpern und 
schmelzende Schneetropfen auf den Wangen. Es sah aus, als kame sie 
aus dem Wald zu mir gefluchtet. 

»Ich nab* der Jolanth gesagt, daE Papa krank ist«, begann sie. Und 
schon standen Tranen in ihren Augen. Sie begann zu schluchzen, Ja, 
obwohl sie einen mannlichen Kragen mit Krawatte unter dem offenen 
Pelz zeigte, schluchzte sie. Behutsam nahm ich ihre Hand und kiifite 
sie. Elisabeth war keineswegs mehr in der Stimmung, meinen Arm hin- 
unterzudriicken. Der Kellner kam, schon ubernachtig. Nur zwei Kar- 
bidlampen brannten noch. Ich dachte, sic wiirde einen Likor bestellen. 
Aber sie wiinschte sich freilich Wurstel mit Kren, Weinende Frauen 
haben Appetit, dachte ich. Aufkrdem rechtfertigte der Kren die Tra- 
nen. Der Appetit riihrte mich. Die Zartlichkeit iiberfiel mich, die ver- 
raterische, verhangnisvolle, mannliche Zartlichkeit. Ich legte den Arm 
um ihre Schultern. Sie lehnte sich zuriick, mit einer Hand die Wurstel 
in den Kren tauchend. Ihre Tranen rannen noch, aber sie hatten 
ebensowenig Bedeutung wie die schmelzenden Schneetropfen auf dem 
Biberpelz. 

»Ich bin ja deine Frau«, seufzte sie. Aber es klang eher wie ein Jauch- 
zen. 

»Gewift«, erwiderte ich. Brixsk setzte sie sich wieder aufrecht hin. Sie 
bestellte noch ein Paar Wurstel mit Kren und Bier, 
Da man nun auch die vorletzte Karbidlampe ausloschte, mufken wir 
trachten, das Kaffeehaus zu verlassen. »Jolanth erwartet mich«, sagte 



310 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Elisabeth vor der Tur des Cafes. »Ich werde dich begleiten«, sagte ich. 
Wir gingen still nebeneinander her. Em lassiger, gleichsam verfaulen- 
der Schnee fiel hernieder. Die Laternen versagten, auch sie faul. Ein 
Kornchen Licht bargen sie in ihren glasernen Gehausen, geizig und 
gehassig. Sie erhellten die Strafien nicht, sie verfinsterten sie. 
Als wir das Haus der Frau Jolanth Szatmary erreichten, sagte Elisa- 
beth: »Hier ist es, auf Wiedersehen!« Ich verabschiedete mich. Ich 
fragte, warm ich kommen durfe. Ich machte Anstalten umzukehren. 
Plotzlich streckte mir Elisabeth beide Hande entgegen. »Lafi mich 
nicht«j sagte sie. »Ich gehe mit dir.«- 

Nun, ich nahm sie mit. Ich konnte mit Elisabeth in keines jener Hau- 
ser eintreten, in denen man mich aus vergangenen Zeiten vielleicht 
noch kennen mochte. In dieser grofien, verwaisten, finsteren Stadt 
irrten wir wie zwei Waisenkinder umher. Elisabeth hielt sich fest an 
meinem Arm. Durch ihren Pelz spiirte ich ihr flatterndes Herz. 
Manchmal blieben wir unter einer der sparlichen Laternen stehen, 
dann sah ich in ihr nasses Gesicht. Ich wufite nicht, ob es Tranen wa- 
ren oder Schnee. 

Wir waren, kaum dafi wir es wuftten, am Franz-Josephs-Kai angelangt. 
Ohne dafi wir es wufiten, gingen wir iiber die Augartenbriicke. Es 
schneite immer noch, faul und hafilich, und wir sprachen kein Wort. 
Ein winziges Sternlicht leuchtete uns von einem Haus in der Unteren 
Augartenstrafte entgegen. Wir wufiten beide, was der Stern ankiindi-' 
gen wollte. Wir gingen ihm entgegen. 

Die Tapeten waren giftgriin, wie gewohnlich. Es gab keine Beleuch- 
tung. Der Portier ziindete eine Kerze an, lieft ein paar Tropfen ab- 
schmelzen und klebte sie auf den Nachttisch. Uber dem Waschbecken 
hing ein Handtuch. Eingestickt darin waren mitten in einem griinen, 
kreisrunden Kranz die Worte »Griifi Gott!« mit blutrotem Faden. 
In diesem Zimmer, in dieser Nacht liebte ich Elisabeth. »Ich bin gefan- 
gen«, sagte sie mir. »Die Jolanth hat mich gefangengenommen. Ich 
hatte damals nicht weggehen sollen, in Baden, als Jacques gestorben 
ist.« 

»Du bist nicht gefangen«, sagte ich. »Du bist bei mir, du bist meine 
Frau.« 

Alle Geheimnisse ihres Korpers suchte ich zu erforschen, und ihr Kor- 
per hatte deren viele. Ein jugendlicher Ehrgeiz - ich hielt ihn damals 
fur einen mannlichen - gebot mir, alle Spuren auszuloschen, die Jo- 



DIE KAPUZINERGRUFT 311 

lanth zuriickgelassen haben kdnnte. War es Ehrgeiz? War es Eifer- 
sucht? 

Langsam kroch der winterliche Morgen iiber die giftgriine Tapete. 
Elisabeth weckte mich. Sie sah sehr fremd aus, wie sie mich so an- 
blickte. Schrecken in den Augen und Vorwurf; ja, auch Vorwurf war 
in ihren Augen. Ihre strenge Krawatte, silbergrau, hing, einem kleinen 
Schwert ahnlich, iiber der Sessellehne. Sie kiifite mich sachte auf die 
Augen, fuhr plotzlich auf und schrie: »Jolanth!« 
Wir kleideten uns hastig an, in einer unnennbaren Scham. Der fruhe 
Tag war schaurig. Es regnete winzige Hagelkorner. Wir hatten einen 
weiten Weg. Die Tramways verkehrten noch nicht. Wir gingen eine 
Stunde gegen den kornigen Regen bis zum Haus Elisabeths. Sie streifte 
die Handschuhe ab. Ihre Hand war kalt. »Auf Wiedersehen!« rief ich 
ihr nach. Sie wandte sich nicht um. 



XXVI 

Es war acht Uhr. Meine Mutter saft schon beim Fruhstiick, wie an 
alien Tagen. Der Ritus unserer Begegnung vollzog sich wie gewohn- 
lich. »Guten Morgen, Mama!« Meine Mutter uberraschte mich heute 
mit einem »Servus, Bub!« Langst hatte ich diesen burschikosen Gruft 
nicht mehr aus ihrem Munde vernommen. Wann mochte sie ihn wohl 
zuletzt gebraucht haben? Vor zehn, vor funfzehn Jahren vielleicht, als 
ich noch Gymnasiast war, in den Ferien, wenn ich am Friihstiickstisch 
sitzen konnte. Damals pflegte sie noch manchmal den harmlosen 
Scherz hinzuzufugen, der ihr selbst sehr pointiert erscheinen mochte, 
Sie sagte namlich, auf den Sessel deutend, auf dem ich saft: »Nun, 
driickt dich die Schulbank?« Einmal hatte ich »Jawohl, Mama!« geant- 
wortet, und ich. durfte dann drei Tage nicht mehr am Tisch sitzen. 
Sie ging heute sogar dazu iiber, sich liber die Marmelade zu beschwe- 
ren. »Ich begreife nicht«, sagte sie, »woher die so viele Ruben herneh- 
men! Koste, Bub! Es ist gesund, haben sie geschrieben. Hoi sie . . .« Sie 
unterbrach sich, sie sprach Fliiche niemals ganz aus. Ich aft Ruben und 
Margarine und trank Kaffee. Der Kaffee war gut. Ich bemerkte, daft 
mir unser Dienstmadchen aus einer anderen Kanne einschenkte, und 
ich begriff, daft die alte Frau den guten, muhselig erschlichenen Meinl- 
Kaffee fur mich aufbewahrt hatte und sich selbst mit ihrem bitteren 



312 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Zichorienzeug begnugte. Aber ich konnte mir nicht anmerken lassen, 

dalR ich es wufite. Meine Mutter litt nicht, dafi man ihre kleinen strate- 

gischen Ziige durchschaute. Man mufite sich blindstellen. Ihre Eitel- 

keit war so grofi, dafi sie zuweilen sogar rachsiichtig werden konnte. 

»Du hast also deine Elisabeth getroffen«, begann sie unmittelbar. »Ich 

weifi es, dein Schwiegervater war gestern hier. Wenn ich mir ein wenig 

Miihe gebe, verstehe ich ihn vollkommen. Er war zirka zwei Stunden 

hier. Er hat mir erzahlt, dafi du mit ihm gesprochen hast. Ich hah' ihm 

gesagt, dafi ich es von dir erfahren konnte, aber er hat sich nicht aufhal- 

ten lassen. Du willst also dein Leben ordnen - hab' ich gehort. Was 

sagt Elisabeth dazu?« 

»Ich war mit ihr zusammen.« 

»Wo? Warum nicht hier?« 

»Ich hab's nicht gewufit, Mama. Es war zu spat.« 

»Er will dich also irgendwo mit hineinnehmen, sagte er. Du kannst 

nichts. Du kannst keine Frau ernahren. Ich weifi nicht, wo er dich 

hineinzunehmen gedenkt, immerhin mufttest du irgendeine Beteili- 

gung aufbringen. Und wir haben nichts. Es ist alles in Kriegsanleihe 

angelegt. Verloren also, wie der Krieg. Uns bleibt dieses Haus. Man 

konnte, meinte er, eine Hypothek aufnehmen. Du konntest einmal mit 

unserm Doktor Kiniower sprechen. Aber wo soils t du arbeiten, und 

was sollst du arbeiten? Verstehst du was von diesem Kunstgewerbe? 

Dein Schwiegervater versteht sehr viel davon. Sein Vortrag war noch 

ausiiihrlicher als der von deiner Elisabeth. Und was ist das fur eine 

Frau Professor Jolanth Keczkemet?« 

»Szatmary, Mama!« verbesserte ich. 

»Meinetwegen Szekely«, gab meine Mutter zu. »Aber wer ist das?« 

»Sie hat kurze Haare, Mama, und ich kann sie nicht leiden.« 

»Und Elisabeth ist ihre Freundin?« 

»Eine sehr gute Freundin!« 

»Eine sehr gute, sagst du?« 

»Jawohl, Mama!« 

»Aha!« sagte sie. »Dann lafi das, Bub. Ich kenne derlei Freundschaften 

vom Horensagen. Es geniigt mir. Ich nab' manches gelesen, Bub! Du 

ahnst nicht, wieviel ich weift; ein Freund ware besser gewesen. Frauen 

sind kaum abzuschaffen. Und seit wann gibt's Frauen, die Professoren 

sind? Und von welcher Wissenschaft ist diese Keczkemet Professor ?« 

»Szatmary, Mama!« verbesserte ich. 



DIE KAPUZINERGRUFT 313 

»Meinetwegen: Lakatos«, sagte meine Mutter nach einiger Uberle- 
gung. 

»Also, was willst du gegen einen weiblichen Professor, Bub? Ein Ring- 
kampfer oder ein Schauspieler, das ist was anderes!« 
Wie wenig hatte ich meine Mutter gekannt! Diese alte Frau, die nur 
einmal in der Woche in den Stadtpark ging, um zwei Stunden lang 
»Luft zu schopfen« und zu dem gleichen Zweck nur einmal im Monat 
im Fiaker bis zum Praterspitz zu fahren pflegte, wufite sogar iiber das 
sogenannte Verkehrte Bescheid. Wieviel mochte sie lesen, wie klar 
mufite sie uberlegen und denken - in den langen, einsamen Stunden, 
die sie zu Hause verbrachte, auf ihren schwarzen Stock gestiitzt, wan- 
delnd von einem unserer dunkel-gedampften Zimmer ins andere, so 
einsam und so reich, so ahnungslos und so wissend, so weltfremd und 
so weltklug! Aber ich mufke Elisabeth verteidigen, was konnte meine 
Mutter denken, wenn ich es nicht tate! Es war meine Frau, ich kam 
soeben aus unserer Umarmung, noch fuhlte ich in der Hohlung meiner 
Hande die glatte Kuhle ihrer jungen Briiste, noch atmete ich den Duft 
ihres Korpers, noch lebte das Spiegelbild ihres Angesichts mit den be- 
seligten, halbgeschlossenen Augen in meinen eigenen, und auf meinem 
Munde ruhte das Siegel ihrer Lippen. Ich mufke sie verteidigen - und 
wahrend ich sie verteidigte, begann ich, sie aufs neue zu lieben. 
»Diese Frau Professor Szatmary«, sagte ich, »kann nichts gegen mich. 
Elisabeth liebt mich, ich bin dessen sicher. Gestern zum Beispiel . . .« 
Meine Mutter lieft mich nicht ausreden: »Und heute?« fiel sie ein. 
»Heute ist sie wieder bei der Professor Halaszy!« 
»Szatmary, Mama!« 

»Ich geb' nichts auf derlei Namen, Bub, das weiftt du, korrigiere mich 
nicht immerzu! Gedenkst du, mit Elisabeth zu leben, so mullt du sie 
erhalten. Du muftt also, wie dein Schwiegervater sagt, eine Hypothek 
auf unser Haus aufnehmen. Dann mufit du dich irgendwo mit hinein- 
nehmen lassen, wie dein Schwiegervater sagt. Was sag' ich: unser 
Haus? Es ist dein Haus! Dann mull diese Professorin mit dem verflix- 
ten Namen sich damit begniigen, neue Korallen aus Tannenzapfen her- 
zustellen - in Gottes Namen! Im Parterre haben wir noch eine Woh- 
nung frei, vier Zimmer, glaub' ich, der Hausmeister weifi es. Ich nab' 
noch etwas auf der Bank, ich teile mit dir, frag den Doktor Kiniower 
wieviel! Kochen konnen wir gemeinsam. Kann Elisabeth kochen?« 
»Ich glaube nicht, Mama!« 



314 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Ich hab's einmal gekonnt«, sagte meine Mutter, »ich werd* mich wohl 
schon ennnern! Hauptsache ist, dafi du mit Elisabeth leben kannst. 
Und sie mit dir!« 

Sie sagte nicht mehr: deine Elisabeth, ich hielt es fur ein Zeichen be- 
sonderer mutterlicher Gnade. 

»Geh in die Stadt, Bub. Such deine Freunde auf! Vielleicht leben sie 
noch. Was glaubst du? Wenn du in die Stadt gingst?« 
»Jawohl, Mama!« sagte ich, und ich ging zu Stellmacher ins Kriegsmi- 
nisterium, um mich nach meinen Freunden zu erkundigen. Stellmacher 
mufite immer vorhanden sein. Mochte das Kriegsministerium jetzt 
auch nur noch ein Staatssekretariat sein! Stellmacher war gewifi vor- 
handen. 

Er war vorhanden, alt, eisgrau und gebeugt. Er safi da, hinter dem alten 
Schreibtisch, in seinem alten Zimmer. Aber er war in Zivil, in einem 
seltsamen, allzu weiten Anzug, der um seinen Korper schlotterte und 
aufterdem noch gewendet war. Von Zeit zu Zeit griff er mit zwei Fin- 
gern zwischen Hals und Kragen. Das steife Leinen storte ihn. Seine 
Manschetten storten ihn. Er stiefi sie immer wieder am Tischrand in 
die Armel zuriick. Er wufke einigermafien Bescheid: Chojnicki lebte 
noch, er wohnte auf der Wieden; Dworak, Szechenyi, Hallersberg, 
Lichtenthal, Strohhofer spielten jeden Tag Schach im Cafe Josefinum 
in der Wahringer Strafie. Stejskal, Halasz und Griinberger waren ver- 
schollen. Ich ging zuerst zu Chojnicki auf der Wieden. 
Er safl in seinem alten Salon, in seiner alten Wohnung. Er war kaum zu 
erkennen, denn er hatte sich den Schnurrbart rasieren lassen. »Warum, 
wozu?« fragte ich ihn. »Damit ich wie mein Diener aussehe. Ich bin 
mein eigener Lakai. Ich offne mir selber die Tur. Ich putze mir selbst 
die Stiefel. Ich klingle, wenn ich was brauche, und komme selbst her- 
ein. Herr Graf befehlen? - Zigaretten! - Hierauf schicke ich mich in 
die Tabak-Trafik. Essen kann ich noch umsonst bei der Alten.« - Dar- 
unter verstand man in unserm Kreis die Frau Sacher. »Wein bekomme 
ich noch beim Dicken.« - Darunter verstand man in unserm Kreis den 
Lautgartner in Hietzing. »Und der Xandl ist vernickt im Steinhof«, so 
schlofi Chojnicki seinen tristen Bericht. 
»Verruckt?« 

»Total vernickt. Jede Woche besuch* ich ihn. Das Krokodil«, es war 
der Onkel der Bruder Chojnicki, Sapieha, »hat die Giiter mit Beschlag 
belegt. Er ist der Kurator Xandls. Ich habe gar kein Einspruchsrecht. 



DIE KAPUZINERGRUFT 315 

Diese Wohnung ist verpfandet. Noch drei Wochen kann ich hier blei- 
ben. Und du, Trotta?« 

»Ich will eine Hypothek auf unser Haus nehmen. Ich hab' geheiratet, 
du weifit. Ich mufi eine Frau erhalten.« - »Oh, oh, geheiratet!« rief 
Chojnicki, »Das hab' ich auch. Aber meine Frau ist in Polen. Moge 
Gott sie dort erhalten, lange und gesund. Ich hab e mich entschlossen«, 
fuhr er fort, »dem Allmachtigen alles zu iiberlassen. Er hat mir die 
Suppe eingebrockt, die Untergangssuppe, und ich weigere mich, sic 
auszuloffeln.« Er schwieg eine Weile, dann hieb er mit der Faust auf 
den Tisch und schrie: »An allem seid ihr schuld, ihr, ihr«, er suchte 
nach einem Ausdruck, »ihr Gelichter«, fiel ihm endlich ein, »ihr habt 
mit euren leichtfertigen Kaffeehauswitzen den Staat zerstort. Mein 
Xandl hat's immer prophezeit. Ihr habt nicht sehen wollen, dafi diese 
Alpentrottel und die Sudetenbohmen, diese kretinischen Nibelungen, 
unsere Nationalitaten so lange beleidigt und geschandet haben, bis sie 
anfingen, die Monarchic zu hassen und zu verraten. Nicht unsere 
Tschechen, nicht unsere Serben, nicht unsere Polen, nicht unsere Ru- 
thenen haben verraten, sondern nur unsere Deutschen, das Staats- 
volk,« 

»Aber meine Familie ist slowenisch«, sagte ich. 

»Verzeih«, sagte er leise. »Ich hab 5 nur keine Deutschen in der Nahe. 
Einen Sudetendeutschen her!« schrie er plotzlich wieder, »und ich er- 
wiirge ihn! - Gehn wir, suchen wir ihn auf! Komm! - Wir ziehen ins 
Josefinum.« 

Dworak, Szechenyi, Hallersberg, Lichtenthal und Strohhofer saften 
dort, die meisten noch in Uniform. Sie alle gehorten der alten Gesell- 
schaft an. Die Adelstitel waren verboten, was machte es? »Wer mich 
nicht beim Vornamen kennt«, sagte Szechenyi, »hat iiberhaupt keine 
gute Erziehung genossen!« - Sie spielten unermiidlich Schach. - »Wo 
ist der Sudet?« rief Chojnicki. »Hier bin ich!« sagte der Sudet. Er war 
ein Kiebitz. Papa Kunz, alter Sozialdemokrat, Redakteur des Partei- 
blatts und jeden Augenblick bereit, historisch zu beweisen, daft die 
Osterreicher eigentlich Deutsche seien. »Beweisen Sie!« rief Szeche- 
nyi. Papa Kunz bestellte einen doppelten Sliwowitz und machte sich 
an seinen Beweis. - Niemand horte ihm zu. - »Gott strafe die Sude- 
ten! « schrie Chojnicki, der eben eine Partie verloren hatte. Er sprang 
auf und lief mit erhobenen und geballten Fausten auf den alten Papa 
Kunz los. Wir hielten ihn zuruck. Schaum stand vor seinem Munde, 



}l6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Blut rotete seine Augen. »Markomannische Quadratschadel!« rief er 
endlich. Es war der Gipfel seiner Rage. Jetzt wurde er zusehends sanf- 
ter. 

Ich fiihlte mich wohl, ich war wieder zu Hause. Wir hatten alle Stand 
und Rang und Namen, Haus und Geld und Wert verloren, Vergangen- 
heit, Gegenwart, Zukunft. Jeden Morgen, wenn wir erwachten, jede 
Nacht, wenn wir uns schlafen legten, fluchten wir dem Tod, der uns zu 
seinem gewaltigen Fest vergeblich gelockt hatte. Und jeder von uns 
beneidete die Gefallenen. Sie ruhten unter der Erde, und im nachsten 
Fruhling wiirden Veilchen aus ihren Gebeinen wachsen. Wir aber wa- 
ren heillos unfruchtbar heimgekehrt, mit lahmen Lenden, ein todge- 
weihtes Geschlecht, das der Tod verschmaht hatte. Der Befund der 
Assent-Kommission war unwiderruflich. Er lautete: »Fiir den Tod un- 
tauglich befunden.« 



XXVII 

Wir gewohnten uns alle an das Ungewdhnliche. Es war ein hastiges 
Sich-Gewohnen. Gleichsam ohne es zu wissen, beeilten wir uns mit 
unserer Anpassung, wir liefen geradezu Erscheinungen nach, die wir 
hapten und verabscheuten. Wir begannen, unsern Jammer sogar zu 
lieben, wie man treue Freunde liebt. Wir vergruben uns geradezu in 
ihn. Wir waren ihm dankbar, weil er unsere kleinen, besonderen, per- 
sonlichen Kummernisse verschlang, er, ihr grofier Bruder, der grofie 
Jammer, dem gegeniiber zwar kein Trost standhaken konnte, aber 
auch keine unserer taglichen Sorgen. Man wiirde meiner Meinung nach 
auch die erschreckende Nachgiebigkeit der heutigen Geschlechter ge- 
geniiber ihren noch schrecklicheren Unterjochern verstehen und ge- 
wifi auch verzeihen, wenn man bedachte, dafi es in der menschlichen 
Natur gelegen ist, das gewaltige, alles verzehrende Unheil dem beson- 
deren Kummer vorzuziehen. Das ungeheuerliche Unheil verschlingt 
rapide das kleine Ungliick, das Pech sozusagen. Und also liebten wir in 
jenen Jahren den ungeheueren Jammer. 

Oh, nicht, dafi wir nicht imstande gewesen waren, noch ein paar kleine 
Freuden vor ihm zu retten, sie ihm abzukaufen, abzuschmeicheln, ab- 
zuringen. Wir scherzten oft und lachten oft. Wir gaben Geld aus, das 
uns zwar kaum noch gehorte, das aber auch kaum noch einen Wert 



DIE KAPUZINERGRUFT 317 

hatte. Wir borgten und verborgten, liefien uns schenken und ver- 
schenkten, blieben schuldig und bezahlten anderer Schulden. So ahn- 
lich werden einmal die Menschen einen Tag vor dem Jungsten Gericht 
leben, Honig saugend aus den giftigen Blumen, die verldschende 
Sonne als Lebensspenderin preisend, die verdorrende Erde kussend als 
die Mutter der Fruchtbarkeit. 

Der Friihling nahte, der Wiener Fruhling, dem keines der weinerlichen 
Chansons jemals etwas anhaben konnte. Keine einzige von den popu- 
lar gewordenen Melodien enthalt die Innigkeit eines Amselrufs im Vo- 
tivpark oder im Volksgarten. Kein gereimter Liedertext ist so kraftig 
wie der liebenswiirdig grobe, heisere Schrei eines Ausrufers vor einer 
Praterbude im April. Wer kann das behutsame Gold des Goldregens 
besingen, das sich vergeblich zu bergen sucht zwischen dem jungen 
Grim der nachbarlichen Straucher? Der holde Duft des Holunders 
nahte schon, ein festliches Versprechen. Im Wienerwald blauten die 
Veilchen. Die Menschen paarten sich. In unserem Stammkaffee mach- 
ten wir Witze, spielten wir Schach und Dardel und Tarock. Wir verlo- 
ren und gewannen wertloses Geld. 

Fur meine Mutter bedeutete der Fruhling so viel, daft sie, vom fiinf- 
zehnten April angefangen, zweimal monatlich in den Prater fuhr, hicht 
nur einmal wie im Winter. Es gab nur noch wenige Fiaker. Die Pferde 
starben vor Altersschwache. Viele schlachtete man und aft sie als Wiir- 
ste. In den Remisen der alten Armee konnte man die Bestandteile der 
zertrummerten Fiaker sehen. Gummiradler, in denen die Tschirsch- 
kys, die Pallavicinis, die Sternbergs, die Esterhazys, die Dietrichsteins, 
die Trautmannsdorffs einst gefahren sein mochten. Meine Mutter, vor- 
sichtig, wie sie von Natur aus war, und noch vorsichtiger durch das 
Alter geworden, hatte mit einem der wenigen Fiaker »akkordiert«. Er 
kam punktlich zweimal im Monat um neun Uhr morgens. Manchmal 
begleitete ich meine Mutter, besonders an den Tagen, an denen es reg- 
nete. In der Unbill - und ein Regen war fur sie schon eine - wollte sie 
nicht allein sein. Wir sprachen nicht viel in dem stillen, giitigen Dam- 
mer unter der aufgeschlagenen Regenplache. »Herr Xaver«, sagte 
meine Mutter zum Fiaker, »erzahlen S' mir was.« Er wandte sich uns 
zu, er liefi ein paar Minnuten lang die Pferde dahintraben und erzahlte 
allerhand. Sein Sohn war ein Studierter, aus dem Krieg heimgekehrt, 
aktiver Kommunist. »Mein Sohn sagt«, erzahlte der Herr Xaver, »daft 
der Kapitalismus erledigt ist. Er sagt nicht mehr Vater zu mir. Er nennt 



318 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

mich: Fahr'n ma, Euer Gnaden! Er ist ein guter Kopf. Er weifi, was er 
will. Von meinen Pferden versteht er nix.« Ob sie auch Kapitalist sei, 
fragte meine Mutter. »Freilich«, sagte der Herr Xaver, »alle, die nicht 
arbeiten und dennoch leben, sind Kapitalisten.« - »Und die Bettler?« 
fragte meine Mutter. »Die arbeiten nicht, fahren aber auch nicht im 
Fiaker zum Praterspitz, >wia S6<, gnadige Frau!« antwortete der Herr 
Xaver. Meine Mutter sagte zu mir: »Jakobiner!« Sie hatte gedacht, in 
dem Dialekt der »Besitzenden« gesprochen zu haben. Aber der Herr 
Xaver verstand. Er wandte sich um und sagte: »Ein Jakobiner ist mein 
Sohn.« Hierauf knallte er mit der Peksche. Es war, als hatte er sich 
selbst Bravo geklatscht, wegen seiner geschichtlichen Bildung. 
Meine Mutter wurde iiberhaupt von Tag zu Tag ungerechter, beson- 
ders seit dem Tage, an dem ich die Hypothek aufgenommen hatte. 
Kunstgewerbe, Elisabeth, die Frau Professor, kurze Haare, Tschechen, 
Sozialdemokraten, Jakobiner, Juden, Biichsenfleisch, Papiergeld, Bor- 
senpapiere, mein Schwiegervater: dies alles waren die Gegenstande ih- 
rer Verachtung und ihrer Gehassigkeit. Unser Advokat, der Doktor 
Kiniower, der ein Freund meines Vaters gewesen war, hiefi, der Ein- 
fachheit halber der Jude. Unser Dienstmadchen war die Jakobinerin. 
Der Hausmeister war ein Sansculotte, und Frau Jolanth Szatmary hiefi 
Keczkemet schlechthin. Eine neue Personlichkeit tauchte in unserem 
Leben auf, ein gewisser Kurt von Stettenheim, geradewegs aus der 
Mark Brandenburg gekommen und um jeden Preis entschlossen, das 
Kunstgewerbe in der Welt zu verbreiten. Er sah aus wie einer jener 
Manner, die man heutzutage gutrassig nennt. Man versteht darunter 
eine Mischung von internationalem Tennismeister und landschaftlich 
zu fixierendem Rittergutsbesitzer, mit einem leichten Einschlag von 
Ozean oder Reederei, Derlei Menschen kommen aus dem Baltikum, 
aus Pommern, aus der Luneburger Heide gar. Wir hatten verhaltnis- 
maftig noch Gliick. Unser Herr von Stettenheim kam nur aus der Mark 
Brandenburg. 

Er war gro£ und sehnig, blond und sommersprossig, er trug den un- 
vermeidlichen Schmift an der Stirn, das Kennzeichen der Borussen, 
und das Monokel so wenig selbstverstandlich, dafi man es nur noch 
selbstverstandlich nennen konnte. Ich selbst gebrauche zuweilen ein 
Monokel, der Bequemlichkeit halber, ich bin zu eitel, um eine Brille zu 
tragen. Allein es gibt Gesichter aus Pommern, aus dem Baltikum, aus 
der Mark Brandenburg, in denen das Monokel den Anschein erweckt, 



DIE KAPUZINERGRUFT 319 

ein drittes iiberfliissiges Auge zu sein, keine Hilfe dem natiirlichen 
Aug', sondern dessen glaserne Maske. Wenn der Herr von Stettenheim 
das Monokel einklemmte, sah er so aus wie die Frau Professor Jolanth 
Szatmary, sobald sie eine Zigarette anzundete. Wenn Herr von 
Stettenheim sprach oder gar wenn er sich ereiferte, lief sein Kains- 
schmift auf der Stirn blutrot an; und der Mann ereiferte sich iiberflus- 
sig. Denn in einem verwunderlichen Gegensatz zu seinem Eifer stan- 
den die Worte, mit denen er ihn ausdriickte, wie zum Beispiel: »Also, 
ich kann Ihnen sagen, ich war einfach starr«; oder: »Ich sage immer: 
nur nicht verzweifeln«; oder: »Ich wette zehn zu eins und gebe Ihnen 
meine Hand darauf!« Und dergleichen mehr. Offenbar hatte unsere 
Hypothek meinem Schwiegervater nicht geniigt. Herr von Stettenheim 
versprach, sich am Atelier Elisabeth Trotta reichlich zu beteiligen. Ein 
paarmal brachte uns mein Schwiegervater zusammen. Hatte er doch, 
eben wegen der Hypothek, mich in das Kunstgewerbe endlich »hin- 
eingenommen!« Mufke er mich doch zumindest unserm dritten 
Kompagnon vorstellen. - »Ich kenne einen Grafen Trotta! « rief Herr 
von Stettenheim, nachdem wir kaum die ersten zwei Satze gewechselt 
hatten. - »Sie irren«, sagte ich, »es gibt nur baronisierte Trottas; wenn 
sie noch leben!« - »Gewifl, entsinne mich, war Baron, der alte 
Oberst.« - »Sie irren sich noch«, sagte ich. »Mein Onkel ist Bezirks- 
hauptmann.« - »Bedaure!« erwiderte Herr von Stettenheim. Und sein 
Schmift lief blutrot an. 

Herr von Stettenheim hatte die Idee, unsere Firma »Jolan-Werkstatte« 
zu nennen. So wurde sie auch im Register eingetragen. Elisabeth zeich- 
nete fleiftig, sooft ich ins Bliro kam. Sie zeichnete unbegreifliche Sa- 
chen, wie zum Beispiel neunzackige Sterne auf den Wanden eines Ok- 
taeders oder eine zehnfingerige Hand, die in Achat ausgefiihrt und der 
»Segen Krishnamurtis« heifien sollte; oder einen roten Stier auf 
schwarzem Grund, der »Apis« hiefi, ein Schiff mit Dreiruderern, das 
»Salamis« genannt wurde, und eine Schlange als Armband, namens 
Kleopatra. Die Frau Professor Jolanth Szatmary hatte diese Einfalle, 
diktierte ihr diese Plane. Im iibrigen herrschte zwischen uns beiden die 
diisterkeitsschwangere, hafkrachtige, konventionelle Freundlichkeit, 
auf deren Grund unserer beider Eifersucht ruhte. Elisabeth liebte 
mich, ich war dessen gewift, Angst hatte sie vor der Frau Professor 
Jolanth, eine jener Angste, die sich die moderne Medizin mit Erfolg zu 
definieren und erfolglos zu erklaren bemuhte. Seitdem Herr von 



320 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Stettenheim als dritter Teilhaber in unsere »Jolan-Werkstatte« einge- 
treten war, betrachteten mich mein Schwiegervater und die Frau Pro- 
fessor als eine storende Erscheinung, ein Hindernis auf dem Weg des 
Kunstgewerbes, zu jeder niitzlichen Leistung unfahig und keinesfalls 
wiirdig, in die kiinstlerischen und geschaftlichen Plane unserer Firma 
eingeweiht zu werden. Ich war lediglich noch der Ehemann Elisabeths. 
Herr von Stettenheim entwarf Prospekte in alien Weltsprachen und 
verschickte sie auch in alle Weltrichtungen. Und je sparKcher die Ant- 
worten einliefen, desto hitziger wurde sein Eifer. Die neuen Vorhange 
kamen, nach zwei zitronengelben Stiihlen, ein Sofa, zitronengelb, mit 
schwarzen Zebrastreifen, zwei Lampen mit sechswandigen Schirmen 
aus japanischem Papier und eine Landkarte aus Pergament, auf der alle 
Lander und Stadte durch Stecknadeln kenntlich gemacht wurden - 
alle, auch jene, die unsere Firma nicht belieferte. 
An den Abenden, an denen ich Elisabeth abholte, sprachen wir weder 
von Stettenheim noch von der Frau Professor Jolanth Szatmary, noch 
vom Kunstgewerbe. Es war zwischen uns ausgemacht. Wir verlebten 
sufie, satte Friihlingsnachte. Kein Zweifel: Elisabeth liebte mich. 
Ich hatte Geduld. Ich wartete. Ich wartete auf den Augenblick, in dem 
sie mir aus freien Stiicken sagen wiirde, daft sie ganz zu mir wollte. 
Unsere Wohnung im Parterre wartete. 

Meine Mutter fragte mich niemals nach den Absichten Elisabeths. Von 
Zeit zu Zeit liefi sie einen Satz fallen wie zum Beispiel: »Sobald ihr 
eingezogen seid«; oder: »Wenn ihr bei mir wohnt«; und derlei. 
Ende des Sommers stellte es sich heraus, dafi unsere »Jolan-Werkstat- 
ten« gar nichts eintrugen. Aufierdem hatte mein Schwiegervater mit 
den »vielen Eisen im Feuer« kein Gliick gehabt. Er hatte auf Mark 
spekuliert, durch die Vermittlung des Herrn von Stettenheim. Die 
Mark fiel. Ich sollte eine zweite, weit hohere Hypothek auf unser 
Haus aufnehmen. Ich sprach mit meiner Mutter, sie wollte nichts da- 
von wissen. Ich erzahlte es meinem Schwiegervater. - »Du bist unfa- 
hig, ich hab's immer gewufit«, sagte er. »Ich werde selbst hingehn.« 
Er ging zu meiner Mutter, nicht allein, sondern mit dem Herrn von 
Stettenheim. Meine Mutter, die vor fremden Menschen Angst und so- 
gar Abscheu empfand, bat mich zu warten, Ich blieb also zu Hause. 
Das Verwunderliche ereignete sich, der Herr von Stettenheim gefiel 
meiner Mutter. Wahrend unserer Verhandlung, in unserm Salon, 
glaubte ich sogar zu bemerken, wie sie leise Ansatze machte, sich vorn- 



DIE KAPUZINERGRUFT 321 

iiber zu beugen, wie um seine reichlichen und iiberfliissigen Redens- 
arten deutlicher zu vernehmen. - »Charmant!« sagte meine Mutter. 
»Charmant!« wiederholte sie ein paarmai, und zwar bei den gleichgul- 
tigsten Phrasen des Herrn von Stettenheim. Er, auch er, hielt einen 
Vortrag iiber das Kunstgewerbe im allgemeinen, die Erzeugnisse der 
»Jolan-Werkstatten AG« im besonderen. Und meine gute, alte Mutter, 
die gewifi auch jetzt noch ebensowenig von dem Kunstgewerbe begriff 
wie vor langer Zek nach dem Vortrag Elisabeths sagte immer wieder: 
»Jetzt versteh' ich, jetzt versteh' ich, jetzt versteh 5 ich!« 
Herr von Stettenheim besafi den Geschmack zu sagen: »Das Ei des 
Kolumbus, gnadige Frau!« - Und wie ein Echo wiederholte meine 
Mutter gehorsam: »Das Ei des Kolumbus! - Wir nehmen noch eine 
zweite Hypothek auf.« 

Unser Advokat Kiniower wehrte sich zuerst. »Ich warne Sie!« sagte er. 
»Ein aussichtsloses Geschaft. Ihr Herr Schwiegervater, ich weift es, hat 
gar kein Geld mehr. Ich habe mich erkundigt. Dieser Herr von 
Stettenheim lebt von den Darlehen, die Sie aufnehmen. Er behauptet, 
am Tattersall im Berliner Tiergarten beteiligt zu sein. Mein Berliner 
Kollege teilt mir mit, daft es nicht wahr ist. So wahr ich ein Freund 
Ihres seligen Vaters war: Ich sage Ihnen die Wahrheit. Die Frau Pro- 
fessor Jolanth Szatmary ist ebensowenig Professor wie ich. Sie hat 
keine von den Wiener oder Budapester Akademien jemals besucht. Ich 
warne Sie, Herr Trotta, ich warne Sie.« 

Der »Jude« hatte kleine, schwarze, tranende Augen hinter dem schie- 
fen Z wicker. Die eine Halfte seines grauen Schnurrbarts war auf warts 
gezwirbelt, die andere hing trostlos hinunter. Also aufterte sich gewis- 
sermaften sichtbar die Zwiespaltigkeit seines Wesens. Er war imstande, 
nach einer langeren, diisteren Rede, in der er von meinem sicheren 
Untergang gesprochen hatte, plotzlich mit dem Ruf zu schlieften: 
»Und doch geht alles noch gut aus! Gott ist ein Vater!« Diesen Satz 
wiederholte er iiberhaupt bei jeder verwickelten Angelegenheit. Dieser 
Enkel Abrahams, der Erbe eines Segens und eines Fluches, leichtfertig 
als Osterreicher, schwermutig als Jude, gefiihlvoll, aber genau bis zu 
jener Grenze, an der ein Gefuhl anfangen kann, Gefahr zu werden, 
klarsichtig trotz einem wackligen und schiefsitzenden Zwicker, war 
mir mit der Zeit lieb geworden wie ein Bruder. Oft kam ich in seine 
Kanzlei, ohne Grund, ohne Not. Auf seinem Arbeitstisch standen die 
Photographien seiner zwei Sonne. Der altere war gefallen. Der jiingere 



322 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

lernte Medizin. »Er hat soziale Rosinen im Kopf!« sagte der alte Dok- 
tor Kiniower. »Und urn wieviel wichtiger ware ein Heilmittel gegen 
Krebs! Ich fiirchte, ich hab' selber einen, hinten, in der Niere. Wenn 
mein Sohn schon Medizin studiert, sollte er an seinen alten Vater den- 
ken, nicht an die Erlosung der Welt. Genug der Erloser! Aber Sie wol- 
len ja das Kunstgewerbe erlosen! Ihre Frau Mama wollte das Vaterland 
erlosen. Sie hat das ganze betrachtliche Vermogen in Kriegsanleihen 
angelegt. Eine lacherliche Lebensversicherung bleibt noch. Ihre Frau 
Mama bildet sich wahrscheinlich ein, sie reichte fur ein beschauliches 
Alter aus. Zwei Monate konnte sie knapp davon leben. Sie haben kei- 
nen Beruf. Sie werden wohl auch keinen finden. Aber wenn Sie nicht 
etwas zu verdienen anfangen, werden Sie untergehn. Ich rate Ihnen: 
Sie haben ein Haus, machen Sie daraus eine Pension. Versuchen Sie's 
Ihrer Frau Mama begreiflich zu machen. Diese Hypothek ist nicht die 
letzte, die Sie aufnahmen. Sie werden noch eine dritte und eine vierte 
brauchen. Glauben Sie mir! Gott ist ein Vater!« 

Herr von Stettenheim kam oft zu meiner Mutter, selten kundigte er 
sich vorher an. Meine Mutter empfing ihn immer warmherzig, manch- 
mal sogar begeistert. Mit staunendem Kummer sah ich zu, wie die alte, 
verwohnte und strenge Frau heiter nachsichtig die grobschlachtigen 
Scherze, die billigen Wendungen, die aufreizenden Handbewegungen 
annahm, billigte, lobte und wertschatzte. Herr von Stettenheim hatte 
die Gewohnheit, seine linke Hand nach einer briisken, erschreckenden 
Streckung des Ellbogens vor die Augen zu fiihren, um nach der Stunde 
auf seiner Armbanduhr zu sehn. Mir schien es immer, als hatte er einen 
glucklicherweise nicht vorhandenen Nachbarn zu seiner Linken gesto- 
flen. Wie eine Gouvernante pflegte er, wenn er die Kaffeetasse hob, 
den kleinen Finger der rechen Hand zu spreizen, just jenen Finger, an 
dem er seinen wuchtigen Wappenring trug, ein Wappen, das aussah 
wie ein Insekt. Er sprach in jener gutturalen Stimme gewisser Preufien, 
die aus einem Kamin eher als aus einer Kehle zu kommen scheint und 
auch das Bedeutende hohl macht, das sie manchmal aufiern. 
Und just dieser Mann gefiel meiner lieben alten Mutter. »Charmant!« 
nannte sie ihn. 



DIE KAPUZINERGRUFT 323 

XXVIII 

Er bestach auch mich allmahlich und ohne daft ich es zuerst merken 
konnte. Ich brauchte ihn, ich brauchte ihn einfach meiner Mutter we- 
gen. Er stellte die Verbindung her zwischen unserem Haus und Elisa- 
beth. Auf die Dauer konnte ich nicht zwischen beiden Frauen stehen 
und selbst zwischen dreien, wenn ich die Frau Professor mitrechnete. 
Seitdem Herr von Stettenheim die iiberraschende Zuneigung meiner 
Mutter gefunden hatte, kam Elisabeth zuweilen in unser Haus, Meine 
Mutter hatte nur angedeutet, daft sie die Frau Professor nicht zu sehen 
wiinschte. Ubrigens entfernte sie sich zusehends von Elisabeth. Auch 
dies war zum Teil ein Verdienst des Herrn von Stettenheim, und auch 
dadurch bestach er mich. Ich gewohnte mich an seine unerwarteten 
Alliiren (sie erschreckten mich immer seltener), an seine Rede, die im- 
mer um zwei, drei Starken lauter war, als es der Raum erforderte, in 
dem er gerade sprach. Es war, als wufite er iiberhaupt nicht, daft es 
kleine und grofiere Raume gibt, ein Zimmer und eine Bahnhofshalle 
zum Beispiel. Im Salon meiner Mutter sprach er mit jener um ein paar 
Grade zu hastigen Stimme, mit der manche einfachen Menschen zu 
telephonieren pflegen. Auf der Strafte schrie er geradezu. Und da er 
nur inhaltslose Redensarten gebrauchte, klangen sie noch einmal so 
laut. Lange Zeit wunderte ich mich dariiber, daft meine Mutter, der 
jeder starkere Ton, jedes uberfliissige Gerausch, jede Straftenmusik 
und sogar Konzerte im Freien korperliche Schmerzen verursachten, 
die Stimme des Herrn von Stettenheim ertragen und sogar charmant 
finden konnte. Erst ein paar Monate spater konnte ich durch einen 
Zufall die Ursache dieser Nachsicht erfahren. 

Eines Abends kam ich zu einer ungewohnten Stunde nach Hause. Ich 
wollte meine Mutter begriiften, ich suchte sie. Das Madchen sagte mir, 
daft sie in der Bibliothek sitze. Die Tur unseres Bibliothekzimmers, 
das an den Salon grenzte, stand offen, ich brauchte nicht anzuklopfen. 
Meinen Gruft uberhorte die alte Frau offenbar. Ich dachte zuerst, sie 
sei uber dem Buch eingeschlafen. Sie saft iiberdies mit dem Rucken zu 
mir, mit dem Gesicht zum Fenster. Ich ging naher, sie schlief nicht, sie 
las und blatterte sogar eine Seite um, in dem Augenblick, in dem ich an 
sie herantrat. »Guten Abend, Mama!« sagte ich. Sie sah nicht auf. Ich 
beriihrte sie. Sie erschrak. »Wie kommst du jetzt daher?« fragte sie. - 
»Auf einen Sprung, Mama, ich wollte mir die Adresse Stiasnys heraus- 



324 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

suchen.« - »Der hat lang nichts mehr von sich horen lassen. Ich glaub', 
er ist gestorben.« Der Doktor Stiasny war Polizeiarzt, jung wie ich, 
meine Mutter mufite mich mifiverstanden haben. - »Ich mem' den 
Stiasny«, sagte ich. - »Gewifi, ich glaub' vor zwei Jahren ist er gestor- 
ben. Er.war ja schon mindestens achtzig!« - »So, gestorben!« wieder- 
holte ich - und ich wufite nun, daft meine Mutter schwerhorig war. 
Lediglich dank ihrer Disziplin, jener ungewohnlichen Disziplin, die 
uns Jiingeren nicht mehr von Kindheit an auferlegt worden war, gelang 
ihr diese ratselhafte Starke, ihr Gebrechen wahrend jener Stunden zu 
unterdriicken, in denen sie mich zu Hause erwartete, mich und andere. 
In den langen Stunden, in denen sie wartete, bereitete sie sich auf das 
Horen vor. Sie selbst mufite ja wissen, dafi sie das Alter mit einem 
seiner Schlage getroffen hatte. Bald - so dachte ich - wird sie. ertaubt 
sein, wie das Klavier ohne Saiten! Ja, vielleicht war damals schon, als 
sie in einem Anfall von Verwirrung die Saiten hatte herausnehmen las- 
sen,, in ihr eine Ahnung ihrer nahenden Taubheit lebendig gewesen 
und eine vage Furcht, dafi sie bald nicht mehr exakte Tone wiirde ver- 
nehmen konnen! Von alien Schlagen, die das Alter auszuteilen hatte, 
mufite dieser fur meine Mutter, ein wahres Kind der Musik, der 
schwerste sein. In diesem Augenblick erschien sie mir fast uberirdisch 
grofi, entruckt war sie in ein anderes Jahrhundert, in die Zeit einer 
langst versunkenen heroischen Noblesse. Denn es ist nobel und hero- 
isch, Gebrechen zu verbergen und zu verleugnen. 
Deshalb also schatzte sie Herrn von Stettenheim. Sie verstand offenbar 
ihn am deuthchsten, und sie war ihm dankbar. Seine Banalitaten ermu- 
deten sie nicht. Ich verabschiedete mich, ich wollte in mein Zimmer, 
die Adresse Stiasnys holen. »Darf ich um acht Uhr kommen, Mama?« 
rief ich jetzt schon mit erhobener Stimme. Es war etwas zu laut gewe- 
sen. - »Seit wann schreist du so?« fragte sie. »Komm nur, wir haben 
Kirschknodel, allerdings Kornmehl.« 

Ich suchte krampfhaft den Gedanken an die Pension zu verdrangen. 
Meine Mutter als Inhaberin einer Pension! Welch eine abstruse, ja ab- 
surde Idee! Ihre Schwerhorigkeit erhohte noch ihre Wiirde. Jetzt horte 
sie vielleicht gar nicht mehr das Aufklopfen ihres eigenen Stocks, nicht 
einmal mehr ihre eigenen Schritte. Ich begriff, warum sie so nachsich- 
tig unser Madchen behandelte, das, blond, beleibt und schwerfallig, zu 
polternden Handlungen neigte, ein braves, stumpfesKind aus der Vor- 
stadt., Meine Mutter mit Pensionaren! Unser Haus mit zahllosen Klin- 



DIE KAPUZINERGRUFT 325 

geln, die mir heute schon um so lauter in den Ohren schrillten, als 
meine Mutter ja nicht imstande sein wiirde, ihre ganze Frechheit zu 
vernehmen. Ich hatte sozusagen fur uns beide zu horen und fur uns 
beide beleidigt zu sein. - Aber welch einen andern Ausweg konnte es 
geben? - Der Doktor Kiniower hatte recht. Das Kunstgewerbe ver- 
schlang eine Hypothek nach der anderen. 

Meine Mutter kummerte sich nicht darum, Ich allein hatte also, wie 
man zu sagen pflegt, die Verantwortung. Ich - und eine Verantwor- 
tung! Nicht, dafi ich feige gewesen ware! Nein, ich war einfach unfa- 
hig. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, aber Angst vor einem Buro, 
einem Notar, einem Posthalter. Ich konnte nicht rechnen, zur Not 
noch addieren. Meine Multiplikation schon schaffte mir Pein. Ja! Ich 
und eine Verantwortung! 

Der Herr von Stettenheim indessen lebte unbekummert, ein schwerfal- 
liger Vogel. Er hatte immer Geld, er borgte nie, er lud im Gegenteil alle 
meine Freunde ein. Wir mochten ihn nicht, freilich. Wir verstummten 
alle, wenn er plotzlich im Kaffeehaus erschien. Aufierdem hatte er die 
Gewohnheit, jede Woche mit einer anderen Frau zu kommen. Er griff 
sie iiberall auf, alle Sorten: Tanzerinnen, Kassiererinnen, Naherinnen, 
Modistinnen, Kochinnen. Er machte Ausfliige, kaufte Anziige, spielte 
Tennis, ritt im Prater. Eines Abends trat er mir aus unserem Haustor 
entgegen, gerade als ich heimkehren wollte. Er schien es eilig zu haben, 
der Wagen wartete auf ihn. »Ich muE fort!« sagte er und warf sich in 
den Wagen. 

Elisabeth saft bei meiner Mutter. Offenbar war sie mit dem Herrn 
von Stettenheim zusammen hierhergekommen. In unserer Wohnung 
spurte ich etwas Fremdes, es war wie ein auftergewohnlicher, unge- 
wohnlicher Geruch. Hier muftte etwas Unerwartetes passiert sein, 
wahrend meiner Abwesenheit. Die Frauen sprachen miteinander, als 
ich ins Zimmer trat, aber es war jene Art erzwungener Unterhaltung, 
der ich sofort anmerkte, daft sie nur zu meiner Irrefuhrung bestimmt 
war. 

»Ich bin Herrn von Stettenheim vor dem Haustor begegnet«, begann 
ich. - »Ja«, sagte Elisabeth, »er hat mich hierher begleitet. Er war eine 
Viertelstunde mit uns.« - »Er hat Sorgen, der Arme!« sagte meine 
Mutter. - »Er braucht Geld?« fragte ich. - »Das ist es!« antwortete 
Elisabeth. »Es hat heute Krach bei uns gegeben! Um dir's gleich zu 
sagen: Die Jolanth hat Geld verlangt. Man hat's ihr geben miissen. Es 



}l6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ist das erstemal, dafi sie Geld verlangt hat. Sie lafit sich namlich schei- 
den. Stettenheim braucht es dringend, dieses Geld. Mein Vater hat in 
diesen Tagen Zahlungen, sagt er. Ich habe Stettenheim hierher beglei- 
tet.« - »Meine Mutter hat ihm Geld gegeben?« - »Ja!« - »Bargeld?« - 
»Einen Scheck!« - »Wie hoch?« - »2ehntausend!« Ich wufke, dafi 
meine Mutter nur noch wertlos werdende, immer wertloser werdende 
funfzigtausend Kronen bei der Bank Efrussi liegen hatte, laut Bericht 
des »Juden«. 

Ich begann, was ich noch niemals fruher gewagt hatte, auf und ab 
durchs Zimmer zu wandeln, vor den strengen und erschrockenen Au- 
gen meiner Mutter. Zum erstenmal in meinem Leben wagte ich, in 
ihrer Anwesenheit meine Stimme zu erheben. Ich schrie beinahe. Je- 
denfalls war ich heftig. Mein ganzer, lang aufgesparter Groll gegen 
Stettenheim, gegen Jolanth, gegen meinen Schwiegervater iiberwaltigte 
mich; er - und auch der Groll gegen meine eigene Bestechlichkeit. 
Auch Groll gegen meine Mutter mischte sich darein, Eifersucht auf 
Stettenheim. Zum erstenmal wagte ich vor meiner Mutter einen ver- 
ponten und lediglich im Kasino beheimateten Ausdruck: »Der Sau- 
preufi«, sagte ich. Ich erschrak selbst dariiber. 

Ich erlaubte mir noch mehr: Ich verbot meiner Mutter, noch einmal 
Schecks ohne meine Einwilligung auszustellen. Ich verbot auch in 
einem Atem Elisabeth, noch einmal meiner armen Mutter irgendwel- 
che Leute, die Geld brauchten, zuzufuhren; »Irgendwelche daherge- 
laufenen Leute«, sagte ich wortlich. Und da ich mich selbst kannte und 
sehr wohl wufke, dafi ich nur ein paarmal in drei Jahren imstande 
ware, meinen Willen, meine Abscheu, ja meine aufrichtige Meinung 
liber Menschen und Zustande zu zeigen, versetzte ich mich bewuftt in 
eine noch grofiere Rage. Ich schrie: »Auch die Professorin will ich 
nicht mehr sehn!« Und: »Vom Kunstgewerbe will ich nichts mehr wis- 
sen. Um alles zu ordnen, Elisabeth! Du ziehst hierher, mit mir.« 
Meine Mutter sah mich aus ihren grofien, traurigen Augen an. Offen- 
bar war sie iiber meinen plotzlichen Ausbruch ebenso erschrocken wie 
erfreut. »Sein Vater war auch so!« sagte sie zu Elisabeth. Heute glaube 
ich es auch, es ist moglich, daft damals mein Vater aus mir sprach. Ich 
hatte das Bedurfnis, das Haus zu verlassen. 

»Sein Vater«, sprach meine Mutter weiter, »war manchmal wie ein Ge- 
witter. Er hat so viel Teller zerbrochen! So viel Teller, wenn er bose 
war!« - Sie breitete beide Arme aus, um Elisabeth eine Vorstellung von 



DIE KAPUZINERGRUFT 327 

der Anzahl der Teller zu geben, die mem Vater zerbrochen hatte. »Je- 
des halbe Jahr!« sagte meine Mutter. »Es war eine Krankheit, beson- 
ders im Sommer; wenn wir nach Ischl gingen und man die Koffer 
packte. Das konnte er nicht leiden. Der Bub auch nicht«, fiigte sie 
hinzu, obwohl sie mich noch niemals in einer Zeit beobachtet hatte, in 
der Koffer gepackt zu werden pflegen. 

Ich hatte sie in die Arme nehmen mogen, die arme, alte, langsam ertau- 
bende Frau. Es war gut so. Sie vernahm nicht mehr die Gerausche der 
Gegenwart. Sie horte jene der Vergangenheit, die zerschmetterten Tel- 
ler meines erbosten Vaters zum Beispiel. Sie begann auch, wie es oft 
bei schwerhorig werdenden, alteren Menschen vorzukommen pflegt, 
das Gedachtnis zu verlieren. Und es war gut so! Wie wohltatig ist die 
Natur! Die Gebrechen, die sie dem Alter schenkt, sind eine Gnade. 
Vergessen schenkt sie uns, Taubheit und schwache Augen, wenn wir 
alt werden; ein bifkhen Verwirrung auch, kurz vor dem Tode. Die 
Schatten, die er vorausschickt, sind kiihl und wohltatig. 



XXIX 

Mein Schwiegervater hatte, wie viele Menschen seiner Art, auf den 
Sturz des franzosischen Franken spekuliert. Es war eine falsche Speku- 
lation. Von den »vielen Eisen im Feuer« blieb ihm kein einziges mehr. 
Auch die »Jolan-Werkstatte« brachte gar nichts ein. Vergeblich war 
das ganze zitronengeibe Mobiliar. Umsonst die Entwiirfe der Frau 
Professor Jolanth Szatmary. Nichts galten mehr die unverstandlichen 
Zeichnungen meiner Frau Elisabeth. 

Mein stets behender Schwiegervater verlor sein Interesse am Kunstge- 
werbe. Er wandte sich plotzlich dem Zeitungsbetrieb zu; »Zeitungs- 
wesen« fing man damals nach deutschem Muster in Osterreich zu sa- 
gen an. Er beteiligte sich an der sogenannten Montags-Zeitung. Auch 
dort wollte er mich »mit hineinnehmen«. Er gab Borsentips, wie man 
sagt. Er verdiente dabei. Von unserem Haus blieb uns, nach Abzug der 
Hypotheken, kaum noch ein Drittel. Und als man das neue Geld ein- 
fiihrte, erwies es sich, daft von dem Guthaben meiner Mutter in der 
Bank Efrussi kaum ein paar tausend Schilling verblieben waren. 
Als erster verschwand der Herr von Stettenheim aus unserer Welt. Er 
»machte sich aus dem Staube«, eine Wendung, die er selbst so oft und 



328 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

gerne angewendet hatte. Er schrieb nicht einmal einen Abschiedsbnef. 
Er telegraphierte nur: »Dringendes Rendezvous. Kehre wieder! Stet- 
tenheim.« Die Frau Professor Jolanth Szatmary hielt am langsten aus. 
Seit Wochen schon war das famose Atelier mit den zitronengelben 
Mobeln vermietet an die Irak GmbH, die mit persischen Teppichen 
handelte. Seit Wochen schon war mein Schwiegervater im Begriff, sein 
Haus an die Gemeinde Wien zu verkaufen. Die halbe Welt hatte sich 
verandert, aber die Frau Jolanth Szatmary blieb, wo sie gewesen war: 
im Hotel Regina. Sie war entschlossen, keine einzige ihrer Gewohn- 
heiten, Sitten und Gebrauche aufzugeben. Immer noch machte sie Ent- 
wiirfe. Ihre Scheidung war gelungen: Ihr Mann zahlte ihr monatlich. 
Oft sprach sie davon, nach San Franzisko zu gehen. Fremde Erdteile 
lockten sie an. Europa war ihrer Meinung nach »verpatzt«. Aber sie 
ging nicht. Aber sie wich nicht. Zuweilen erschien sie mir in Schreck- 
traumen. Ja, in Schrecktraumen erschien sie mir als eine Art Hollen- 
weib, dazu bestimmt, das Leben Elisabeths und mein eigenes zu ver- 
nichten. Warum blieb sie noch immer? Wozu machte sie noch ihre 
Entwurfe? Weshalb ging Elisabeth regelmaftig jeden Tag zu ihr? Ins 
Hotel, um sich uberflussige, nicht mehr, niemals mehr zu verwen- 
dende Entwurfe abzuholen? 

»Ich bin wie in ein Loch gefallen!« gestand mir Elisabeth eines Tages. 
»Ich liebe dich!« sagte sie. »Die Frau lafit mich nicht los; ich weifi 
nicht, was sie treibt.« - »Wir wollen mit meiner Mutter sprechen!« 
sagte ich. Wir gingen zu mir nach Hause, in unser Haus gingen win 
Es war schon spat, aber meine Mutter wachte noch. »Mama«, sagte 
ich, »ich habe Elisabeth hergebracht.« - »Gut!« sagte meine Mutter, 
»sie soil nur bleiben!« 

Zum erstenmal schlief ich mit Elisabeth in meinem Zimmer, unter un- 
serm Dach. Es war, als steigerte mein vaterliches Haus selbst unsere 
Liebe, als segnete es sie. Immer werde ich die Erinnerung an diese 
Nacht behalten, eine wahre Brautnacht, die einzige Brautnacht meines 
Lebens. »Ich will ein Kind von dir«, sagte Elisabeth, halb schon im 
Schlaf. Ich hielt es fur eine gewohnliche Zartlichkeit. Des Morgens 
aber, als sie erwachte - und sie erwachte zuerst-, umfing sie meinen 
Hals, und es war ein sachlicher, fast verletzend sachlicher Ton, in dem 
sie mir sagte: »Ich bin deine Frau, ich will schwanger von dir sein, ich 
will von der Jolanth weg, sie ekelt mich, ich will ein Kind.« 
Seit jenem Morgen blieb Elisabeth in unserm Hause. Von der Frau 



DIE KAPUZINERGRUFT 329 

Professor Jolanth Szatmary kam noch ein kurzer Abschiedsbrief. Sie 
fuhr nicht nach San Franzisko, wie sie gedroht hatte, sondern nach 
Budapest, wo sie hingehoren mochte. - »Wo bleibt denn die Frau Pro- 
fessor Keczkemet?« fragte hie und da meine Mutter. - »In Budapest, 
Mama!« - »Sie wird noch kommen!« prophezeite meine Mutter. 
Meine Mutter sollte recht behalten. 

Wir wohnten nun alle in einem Haus, und es ging ziemlich gut. Meine 
Mutter tat mir sogar den Gefallen, ihre Gehassigkeiten zu unterlassen. 
Sie sprach nicht mehr vom »Juden«, sondern vom Doktor Kiniower, 
wie alle Jahre vorher. Er beharrte obstinat auf seiner Idee: Wir sollten 
eine Pension griinden. Er gehorte zu jenen sogenannten praktischen 
Menschen, die aufterstande sind, eine sogenannte produktive Idee auf- 
zugeben, auch wenn die Menschen unfahig sind, sie auszufuhren. Er 
war ein Realist, das heifit: genauso hartnackig, wie man es nur Phanta- 
sten nachzusagen pflegte. Er sah nichts mehr als die Nutzlichkeit eines 
Projektes; und er lebte in der tlberzeugung, dafi alle Menschen, ganz 
gleichgiiltig, welcher Art, gieichermafien imstande waren, nutzliche 
Projekte auszufuhren. Es war, wie wenn ein Schneider zum Beispiel 
praktische Mobelstucke angefertigt hatte - ohne die Dimensionen der 
Hauser, der Turen, der Zimmer in Betracht zu ziehen. So griindeten 
wir eine Pension. Mit dem Eifer, mit dem etwa ein Verses sener die 
patentierte Anerkennung einer seiner Erfindungen betreibt, bemiihte 
sich der Doktor Kiniower um unsere Konzession, die wir dazu beno- 
tigten. »Sie haben ja so viele Freunde!« sagte er zu mir, »Sie haben 
zwolf Zimmer im ganzen zu vermieten. Ihrer Frau Mutter bleiben 
zwei. Ihnen und Ihrer Frau vier. Sie brauchen nur noch ein Dienst- 
madchen, ein Telephon, acht Betten und Klingeln.« - Und ehe wir es 
uns noch versehen hatten, brachte er Dienstmadchen, Telephon, In- 
stallateure, gemietete Betten. Es gait auch, Mieter zu finden. Choj- 
nicki, Steskal, Halasz, Griinberger, Dworak, Szechenyi, Hallersberg, 
Lichtenthal, Strohhofer: Sie waren alle sozusagen obdachlos gewor- 
den. Ich brachte sie in unsere Pension. 

Der einzige, der die Miete von vornherein bezahlte, war der Baron 
Hallersberg. Sohn eines bedeutenden Zuckerfabrikanten in Mahren, 
huldigte er dem in unserem Kreis durchaus fremden Luxus der Penibi- 
litat. Er borgte nicht, und er verlieh nichts. Tadellos gebiirstet, gebii- 
gelt, akkurat lebte er zwischen uns, intim mit uns, geduldet von uns 
wegen seiner Sanftmut, seiner diskreten Manieren und seiner vollende- 



330 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ten Humorlosigkeit, »Unsere Fabrik hatte jetzt schwere Zeiten«, 
konnte er zum Beispiel sagen. Und gleich darauf begann er, mit Blei- 
stift und Papier die Sorgen seines Vaters zu berechnen. Er erwartete 
auch von uns, dafi wir besorgte Gesichter machten, und wir erwiesen 
ihm den Gef alien. »Ich mufi mich einschranken«, pflegte er dann zu 
sagen. 

Nun, in unserer Pension schrankte er sich auch ein. Er bezahlte 
prompt und alles im voraus. Er hatte Angst vor Schulden, Rechnungen 
- »es hauft sich an«, liebte er zu sagen- und uns alle schatzte er gering, 
weil wir es zuliefien, dafi es sich »anhaufe«. Dennoch beneidete er uns 
gleichzeitig um diese Fahigkeit, sich es »anhaufen« zu lassen. Am be- 
sten von uns alien konnte es Chojnicki. Ihn beneidete Hallersberg 
auch am meisten. 

Zu meiner Uberraschung war meine Mutter iiber diese unsere »Pen- 
sion« entziickt. Offenbar erheiterte es sie, dafi Installateure in blauen 
Anziigen durch unsere Zimmer wimmelten, dafi sie Glocken schrillen 
horte und laute frohliche Stimmen. Offenbar schien es ihr, dafi sie ein 
neues Leben beginnen wiirde, von Anfang an, sozusagen ein Leben 
aufs neue. Mit munteren Schritten, mit einem heiteren Stock, ging sie 
durch die Zimmer, die drei Stockwerke unseres Hauses hinauf und 
hinunter. Ihre Stimme war laut und heiter. Ich hatte sie noch niemals 
so gesehen. 

An den Abenden schlief sie manchmal in ihrem Lehnstuhl ein. Der 
Stock lag zu ihren Fiifien wie ein treuer Hund. 
Aber die »Pension marschierte« - wie Kiniower sagte. 



XXX 

In unserm Hause schlief ich nun, an der Seite meiner Frau. Es envies 
sich bald, dafi sie einen ausgepragten Sinn fur die sogenannte Hauslich- 
keit besafi. Sie war geradezu von Qrdner- und Sauberkeitswahn beses- 
sen, wie viele Frauen. Mit dieser verhangnisvollen Neigung verwandt 
war auch ihre Eifersucht. Damals erfuhr ich zum erstenmal, warum die 
Frauen Hauser und Wohnungen mehr lieben als ihre Manner. Sie be- 
reiten also, die Frauen, die Nester fur die Nachkommenschaft zuerst. 
Sie spinnen mit unbewufiter Tucke den Mann in ein nicht zu entwir- 
rendes Netz von kleinen, taglichen Pflichten ein, denen er nicht mehr 



DIE KAPUZINERGRUFT 331 

entrinnen wird. In unserm Hause schlief ich nun, an der Seite memer 
Frau. Mein Haus war's. Meine Frau war sie. 

Ja! Das Bett wird ein verschwiegenes Haus mitten im sichtbaren, offe- 
nen Hause, und die Frau, die uns darin erwartet, wird geliebt, einfach, 
weil sie da ist und vorhanden. Da ist sie und vorhanden, zu jeder 
Nachtzeit, wann immer man auch nach Hause kommt. Infolgedessen 
liebt man sie. Man liebt das Sichere. Man liebt insbesondere das War- 
tende, das Geduldige. 

Wir hatten jetzt zehn Telephonapparate in unserm Haus und etwa ein 
Dutzend Klingeln. Ein halbes Dutzend Manner in blauen Blusen ar- 
beitete an unseren Wasserleitungen. Fur alle Ins talk tionen und fur den 
Umbau unseres Hauses streckte der Doktor Kiniower das Geld vor. 
Fur meine Mutter war er langst nicht mehr der Jude schlechthin. Er 
war zum »braven Menschen« avanciert. 

Im Herbst bekamen wir einen unerwarteten Besuch: Es war mein Vet- 
ter Joseph Branco. Er kam des Morgens, genauso, wie er zum ersten- 
mal eingetroffen war, und so, als ob gar nichts in der Zwischenzeit 
geschehen ware; als hatten wir keinen Weltkrieg iiberstanden; als ware 
er nicht mit Manes Reisiger und mir in der Gefangenschaft, bei Ba- 
ranovitsch und spater im Lager gewesen; als ware unser Land nicht 
zerf alien: so kam er an, mein Vetter, der Maronibrater, mit seinen Ka- 
stanien, mit seinem Maulesel, schwarz von Haaren und Schnurrbart, 
braun von Angesicht und dennoch goldig leuchtend wie eine Sonne, 
wie jedes Jahr und als ob nichts geschehen ware, war Joseph Branco 
hierhergekommen, um seine gebratenen Kastanien zu verkaufen. Sein 
Sohn war gesund und munter. Er ging in Dubrovnik zur Schule. Die 
Schwester war gliicklich verheiratet. Der Schwager war seltsamerweise 
nicht gefallen, 

Sie hatten zwei Kinder, zwei Buben: Zwillinge; und beide hiefien sie, 

der Einfachheit halber: Branco. 

Und was mit Manes Reisiger geschehen sei, fragte ich. - »Ja, das ist 

eine schwere Sache«, antwortete mein Vetter Joseph Branco. »Er war- 

tet unten, er wollte nicht mit heraufkommen.« 

Ich lief hinunter, um ihn zu holen. Ich erkannte ihn nicht sofort: Er 

hatte einen eisgrauen, wilden Bart. Er sah so aus wie der Winter, dar- 

gestellt in primitiven Marchenbuchern. Warum er nicht sofort herauf- 

gekommen sei, fragte ich ihn. »Seit einem Jahr schon, Herr Leutnant«, 



332 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

antwortete er, »wollte ich Sie besuchen. Ich war in Polen, in Zloto- 
grod. Ich wollte wieder der Fiaker Manes Reisiger werden. Aber, was 
ist die Welt, was ein Stadtchen, was ein Mensch, was gar ein Fiaker 
gegen Gott? Gott hat die Welt verwirrt, das Stadtchen Zlotogrod hat 
er vernichtet. Krokus und Gansebliimchen wachsen dort, wo unsere 
Hauser gestanden haben, und meine Frau ist auch schon tot. Eine Gra- 
nate hat sie zerrissen; wie andere Zlotogroder auch. Also bin ich nach 
Wien zuruckgekommen. Hier ist wenigstens mein Sohn Ephraim.« 
Jawohl! Sein Sohn Ephraim! Ich erinnerte mich wohl an den Wunder- 
knaben und wie ihn Chojnicki in die Musikakademie gebracht hatte. 
»Was macht er jetzt?« fragte ich Manes, den Fiaker. 
»Mein Ephraim ist ein Genie«, antwortete der alte Fiaker. »Er spielt 
nicht mehr! Er hat es nicht notig, sagt er. Er ist Kommunist. Redakteur 
der >Roten Fahne<. Er schreibt prachtige Artikel. Hier sind sie.« 
Wir gingen in mein Zimmer. Der Fiaker Manes Reisiger hatte alle Arti- 
kel seines genialen Sohnes Ephraim in der Tasche, einen ansehnlichen 
Packen. Er verlangte von mir, daft ich sie ihm vorlese. Ich las einen 
nach dem andern mit lauter Stimme vor. Elisabeth kam aus dem Zim- 
mer, spater versammelten sich bei mir, wie gewohnhch an jedem 
Nachmittag, auch unsere Pensionare, meine Freunde. - »Ich darf 
eigentlich nicht in Wien bleiben«, sagte Manes Reisiger. »Ich habe eine 
Ausweisung.« - Sein Bart spreizte sich, sein Angesicht leuchtete. - 
»Mein Sohn Ephraim hat mir einen falschen Paft verschafft. Hier ist 
er.« - Er zeigte dabei seinen falschen osterreichischen Paft, strich sich 
mit den Fingern durch den Bart und sagte: »Illegal!« und blickte stolz 
in die Runde. 

»Mein Sohn Ephraim«, begann er wieder, »braucht nicht mehr zu spie- 
len. Er wird Minister, wenn die Revolution kommt.« 
Er war so iiberzeugt, daft die Weltrevolution kommen wiirde, wie von 
der Tatsache, daft jede Woche im Kalender ein rotgedruckter Sonntag 
verzeichnet stand. 

»In diesem Jahr sind die Kastanien schlecht geraten«, sagte mein Vetter 
Joseph Branco. »Auch sind viele wurmig. Ich verkaufe jetzt gebratene 
Apfel als Maroni.« 

»Wie seid ihr uberhaupt herausgekommen?« fragte ich. 
»Gott hat geholfen!« erwiderte der Fiaker Manes Reisiger. »Man hat 
das Gliick gehabt, einen russischen Korporal zu toten. Joseph Branco 
hat ihm ein Bein gestellt und einen Stein auf den Kopf geschlagen. 



DIE KAPUZINERGRUFT 333 

Dann zog ich mir seine Uniform an, nahm sein Gewehr und fiihrte 
Joseph Branco bis nach Shmerinka. Und da war die Okkupationsar- 
mee, Branco meldete sich sofort. Er hat auch noch kampfen miissen. 
Ich bin bei einem guten Juden geblieben, in Zivil. Branco hat die 
Adresse gehabt. Und wie der Krieg aus war, ist er zu mir gekommen.« 
»Prachtige Armee!« rief Chojnicki, der eben ins Zimmer getreten war, 
um, wie jeden Tag, Kaffee mit mir zu trinken. - »Und was macht Ihr 
Sohn Ephraim, der Musiker?« 

»Er braucht keine Musik mehr«, antwortete Manes Reisiger, der Fia- 
ker, »er macht die Revolution. « 

»Wir haben schon ein paar«, sagte Chojnicki. »Nicht, dafi Sie glauben, 
ich hatte etwas dagegen! Aber die Revolutionen von heute haben einen 
Fehler: Sie gelingen nicht. Ihr Sohn Ephraim ware vielleicht besser bei 
der Musik geblieben !« 

»Man braucht jetzt ein Visum fur jedes Land extra! « sagte mein Vetter 
Joseph Branco. »Zeit meines Lebens hab 5 ich so was nicht gesehn. Je- 
des Jahr hab ich uberall verkaufen konnen: in Bohmen, Mahren, Schle- 
sien, Galizien« - und er zahlte alle alten, verlorenen Kronlander auf. 
»Und jetzt ist alles verboten. Und dabei hab' ich einen Pafi. Mit Photo- 
graphic « Er zog seinen Pafi aus der Rocktasche und hielt ihn hoch und 
zeigte ihn der ganzen Runde, 

»Dies ist nur ein Maronibrater«, sagte Chojnicki, »aber sehn Sie her: es 
ist ein geradezu symbolischer Beruf. Symbolisch fur die alte Monar- 
chic Dieser Herr hat seine Kastanien uberall verkauft, in der halben 
europaischen Welt, kann man sagen. Uberall, wo immer man seine 
gebratenen Maroni gegessen hat, war Osterreich, regierte Franz Jo- 
seph, Jetzt gibt's keine Maroni mehr ohne Visum. Welch eine Welt! 
Ich pfeif auf eure Pension. Ich gehe nach Steinhof, zu meinem Bru- 
der!« 

Meine Mutter kam, man horte ihren harten Stock schon auf der 
Treppe. Sie hielt es fur schicklich, jeden Nachmittag piinktlich um funf 
Uhr in unserem Zimmer zu erscheinen. Bis jetzt hatte kein einziger 
unserer Pensionare etwas gezahlt. Einmal hatte Chojnicki, ein zweites- 
mal hatte Szechenyi einen schuchternen Versuch gemacht, ihre Rech- 
nungen zu verlangen. Meine Mutter hatte ihnen darauf gesagt, da£ der 
Hausmeister die Rechnungen machc Aber es stimmte nicht. Es war 
eigentlich die Aufgabe Elisabeths. Sie nahm Geld von dem und jenem 
entgegen, wie es sich traf, und sie bestritt unsere Auslagen, wie es sich 



334 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

tr'af. Die Klingeln schrillten den ganzen Tag. Wir hatten nunmehr zwei 
Madchen. Sie lief en wie die Wiesel drei Stockwerke auf und ab. 
Ringsum im ganzen Viertel hatten wir Kredit. 

Meine Mutter freute sich iiber die Klingeln, die sie noch vernehmen 
konnte, den Larm, den unsere Gaste veranstalteten, und den Kredit, den 
ihr Haus genofi. Sie wufke nicht, die arme, alte Frau, daf? es gar nicht 
mehr ihr Haus war. Sie glaubte immer noch, es sei das ihrige, weil es in 
unserem Zimmer still wurde, wenn sie herunterkam, mit ihren weifien 
Haaren und ihrem schwarzen Stock. Heute erkannte sie Joseph Branco, 
und sie begriifke auch Manes Reisiger. Sie war uberhaupt, seitdem wir 
die Pension eroffnet hatten, leutselig geworden. Sie hatte auch Wild- 
fremde willkommen geheifien. Sie wurde nur immer schwerhoriger, 
und es schien, als vernichtete langsam das Gebrechen ihren Verstand, 
und zwar nicht etwa deshalb, weil das Gebrechen sie quake, sondern 
deshalb, weil sie so tat, als store es sie nicht, und weil sie es verleugnete. 



XXXI 

Im April des folgenden Jahres bekam Elisabeth ein Kind. Sie brachte es 
nicht in der Klinik zur Welt. Meine Mutter verlangte, forderte, befahl, 
dafi sie zu Hause gebare. 

Ich hatte das Kind gezeugt, verlangt, gefordert, befohlen. Elisabeth 
hatte es gewunscht. Ich liebte damals Elisabeth, und also war ich eifer- 
suchtig. Ich konnte - so bildete ich mir damals ein - die Frau Professor 
Jolanth Szatmary aus der Erinnerung Elisabeths nicht anders verdran- 
gen oder ausloschen als dadurch, dafi ich ein Kind zeugte: das sichtliche 
Zeugnis meiner Ubermacht. Vergessen und ausgeloscht war die Frau 
Professor Jolanth Szatmary. Aber auch ich, der alte Trotta, war halb 
vergessen und halb ausgeloscht. 

Ich war nicht der Trotta mehr, ich war der Vater meines Sohnes. In der 
Taufe nannte ich ihn Franz Joseph Eugen. 

Ich darf sagen, dafl ich mich vollends verandert habe seit der Stunde, in 
der mein Sohn geboren wurde. Chojnicki und alle Freunde, die in unse- 
rer Pension wohnten, erwarteten mich in meinem 'Zimmer im Parterre 
so aufgeregt, als waren sie selbst im Begriffe gewesen, Vater zu werden. 
Um vier Uhr morgens kam das Kind zur Welt. Meine Mutter kiindigte 
es mir an. 



DIE KAPUZINERGRUFT 335 

Es war mein Sohn, ein blutrotes, hafiliches Lebewesen, mit viel zu 
grofiem Kopf und Gliedmafien, die an Flossen erinnerten. Dieses Lebe- 
wesen schrie ohne Unterlafi. Im Nu gewann ich es lieb, dieses Lebewe- 
sen, meinen Lenden entsprossen, und sogar des billigen Stolzes konnte 
ich mich nicht erwehren, dafi ich einen Sohn und keine Tochter gezeugt 
hatte. Ja, ich beugte mich, um besser zu sehen, iiber sein winziges Ge- 
schlecht, das aussah wie ein geringer roter Beistrich. Kein Zweifel: es 
war mein Sohn. Kein Zweifel: ich war sein Vater. 
Viele Millionen und Milliarden von Vatern hat es gegeben, seitdem die 
Welt besteht. Ich war einer unter den Milliarden. Aber in dem Augen- 
blick, in dem ich meinen Sohn in die Arme nehmen durfte, erlebte ich 
einen fernen Abglanz jener unbegreiflich erhabenen Seligkeit, die den 
Schopfer der Welt am sechsten Tag erfullt haben mochte, als Er sein 
unvollkommenes Werk dennoch vollendet sah. Wahrend ich das win- 
zige, schreiende, haftliche und blutrote Ding in meinen Armen hielt, 
fuhlte ich deutlich, welch eine Veranderung in mir vorging. So klein, so 
haftlich, so rotlich das Ding in meinen Armen auch war: von ihm 
strdmte eine unsagbare Kraft aus. Es war mehr: es war, als hatte sich in 
diesem weichen, warmen Korperchen all meine Kraft aufgespeichert 
und als hielte ich mich selbst in den Handen und das Beste meiner selbst. 
Die Mutterlichkeit der Frauen ist ohne Grenzen. Meine Mutter nahm 
ihren eben angekommenen Enkel so auf, als hatte sie ihn selbst ausgetra- 
gen, und auf Elisabeth ubertrug sie den Rest ihrer Liebesfahigkeit, der 
ihr noch verblieben war. Erst da sie einen Sohn von mir, von meinen 
Lenden bekommen hatte, war sie ihre Tochter geworden. In Wirklich- 
keit war Elisabeth niemais mehr als die Mutter ihres Enkels. 
Es war, als ob sie nur diesen Enkel abgewartet hatte, um sich zum 
Sterben bereitzumachen. Sie begann zu sterben, darf ich wohl sagen, 
langsam, wie die Zeit ihres Lebens gewesen war. Eines Nachmittags 
erschien sie nicht mehr in unserm Zimmer im Parterre. Eines unserer 
beiden Dienstmadchen berichtete, meine Mutter hatte Kopfweh. Es war 
kein Kopfweh: Meine Mutter hatte der Schlag getroffen. Sie war rechts- 
seitig gelahmt. 

Also blieb sie, jahrelang, uns alien eine geliebte, treu behiitete Last. 
Dennoch freute ich mich noch jeden Tag, wenn ich sie des Morgens am 
Leben traf. Es war eine alte Frau, wie leicht konnte sie sterben! 
Meinen Sohn, ihren Enkel, brachte man ihr jeden Tag. Sie lallte nur: 
»Kleiner«. Sie war rechtsseitig gelahmt. 



336 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XXXII 

Eine treu behiitete, geliebte Last war mir meine Mutter. Ich hatte mein 
Lebtag memals eine Neigung fiir irgendeinen Beruf gefuhlt, jetzt hatte 
ich endlich zwei Beruf e: Ich war ein Sohn, und ich war ein Vater. Stun- 
denlang safi ich neben meiner Mutter. Wir mufiten einen Krankenwarter 
aufnehmen, die alte Frau war schwer von Gewicht. Man mufite sie jeden 
Tag ins Zimmer tragen, zum Tisch. Sie hinzusetzen bedeutete schon 
Arbeit. Manchmal verlangte sie auch von mir, durch die Zimmer gerollt 
zu werden. Sie wollte sehen und horen. Seitdem sie krank war, schien es 
ihr, dafi sie vieles, daft sie alles versaumte. Ihr rechtes Auge war halb 
geschiossen. Wenn sie den Mund auftat, war es, als triige sie eine eiserne 
Klammer um die rechte Lippenhalfte. Sie konnte iibrigens nur einzelne 
Worte hervorbringen, zumeist Hauptworter. Manchmal sah es fast so 
aus, als hiitete sie eifersiichtig ihren Wortschatz. 

Sobald ich meine Mutter verlassen hatte, ging ich in das Zimmer mei- 
nes Sohnes. Elisabeth, in den ersten Monaten eine hingebungsvolle 
Mutter, entfernte sich allmahlich von unserem Sohn. Franz Joseph Eu- 
gen hatte ich ihn getauft, fiir mich und Elisabeth nannte ich ihn Geni. 
Elisabeth begann mit der Zeit, oft und ohne Grund das Haus zu verlas- 
sen. Ich wuftte nicht, wohin sie ging - und ich fragte sie auch nicht 
danach. Sie ging, mochte sie gehen! Ich fuhlte mich sogar wohl, wenn 
ich allein, ohne sie, mit meinem Buben blieb. - »Geni!« rief ich - und 
sein rundes braunes Gesicht leuchtete. Ich wurde immer eifersuchti- 
ger. Es geniigte mir keineswegs, daft ich ihn gezeugt hatte, am Uebsten 
hatte ich gewunscht, ich hatte ihn auch ausgetragen und geboren. Er 
kroch durch das Zimmer, flink wie ein Wiesel. Schon war er ein 
Mensch - und noch ein Tier und noch ein Engel. Ich sah jeden Tag, ja 
jede Stunde, wie er sich veranderte. Seine braunen Lockchen wurden 
dichter, der Glanz seiner groften hellgrauen Augen starker, die Wim- 
pern reicher und schwarzer, die Handchen selbst bekamen ihre eige- 
nen Gesichter, die Fingerchen wurden schlank und kraftig. Die Lippen 
bewegten sich immer eifriger, und immer eiliger lallte das Ziinglein 
und immer verstandlicher. Ich sah die ersten Zahnchen spriefien, ich 
vernahm Genis erstes wissendes Lachen, ich war dabei, wie er zum 
erstenmal zu laufen anfing, dem Fenster, dem Licht, der Sonne entge- 
gen, mit einem plotzlichen Elan, wie in einer jahen Erleuchtung; es 
war eher eine zwingende Idee als ein physiologischer Akt. Gott selbst 



DIE KAPUZINERGRUFT 337 

hatte ihm die Idee geschenkt, daft der Mensch aufrecht gehen konne. 
Und siehe da: mein Bub ging aufrecht. 

Ich wuftte lange Zeit nicht, wo Elisabeth Stunden und manchmal Tage 
verbrachte. Sie sprach oft von einer Freundin, einer Schneiderin, einem 
Bridgeklub. Unsere Pensionare zahlten sparlich und selten, mit Aus- 
nahme Hallersbergs. Wenn Chojnicki durch irgendeinen Zufall Geld 
aus Polen bekam, bezahlte er die Miete sofort fur drei, vier Pensionare. 
Unser Kredit im Viertel war unbeschrankt. Ich verstand nichts von 
den Rechnungen, Elisabeth behauptete, daft sie die Bucher fiihrte. 
Aber eines Tages, wahrend ihrer Abwesenheit, kamen der Fleischer, 
der Backer, der Kaffeehandler, Glaubiger, die Geld von mir verlang- 
ten. Ich hatte nur mein Taschengeld, Elisabeth pflegte mir jeden Tag, 
bevor sie das Haus verliefi, ein paar harte Munzen zuriickzulassen. 
Manchmal sahen wir uns tagelang nicht. Ich ging mit unseren Freun- 
den ins Cafe Wimmerl. Zu Chojnickis Pflichten gehorte es, die Zeitun- 
gen zu lesen, Referate liber die Politik zu halten. Jeden Sonntag fuhr er 
nach Steinhof, seinen verriickten Bruder zu besuchen. Er sprach mit 
ihm uber Politik. Er berichtete uns: »Privat ist mein armer Bruder 
komplett verr(ickt«, sagte Chojnicki. - »Was die Politik betrifft, gibt es 
keinen zweiten, der so gescheit ware wie er. Heute zum Beispiel hat er 
mir gesagt: >Osterreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation. Es 
ist eine Religion. Die Klerikalen und klerikalen Trottel, die jetzt regie- 
ren, machen eine sogenannte Nation aus uns; aus uns, die wir eine 
Ubernation sind, die einzige Ubernation, die in der Welt existiert hat. 
Mein Bruder<, sagte mein Bruder zu mir, und er legte mir die Hand auf 
die Schulter, >wir sind Polen, hore ich. Wir waren es immer. Warum 
sollten wir nicht? Und wir sind Osterreicher: Warum wollten wir 
keine sein? Aber es gibt eine spezielle Trottelei der Ideologen. Die 
Sozialdemokraten haben verkiindet, daft Osterreich ein Bestandteil der 
deutschen Republik sei; wie sie uberhaupt die widerwartigen Entdek- 
ker der sogenannten Nationalitaten sind. Die christlichen Alpentrottel 
folgen den Sozialdemokraten. Auf den Bergen wohnt die Dummheit, 
sage ich, Josef Chojnicki. < 

Und zu glauben«, berichtete Chojnickis Bruder weiter, »daft dieser 
Mann verriickt ist! Ich bin iiberzeugt: er ist es gar nicht. Ohne den 
Untergang der Monarchic ware er gar nicht verriickt geworden!« So 
schloft er seinen Bericht. 
Wir schwiegen nach derlei Reden. Uber unserem Tisch lagerte eine 



338 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

schwiile Stille, sie kam gar nicht aus unserm Innern, sie kam von oben 
her. Wir beweinten nicht, wir verschwiegen sozusagen unser verlore- 
nes Vaterland. Manchmal begannen wir plotzlich, ohne Verabredung, 
alte Militarlieder zu singen. Lebendig waren wir und leibhaft vorhan- 
den. Aber Tote waren wir in Wirklichkeit. 

Eines Tages begleitete ich Chojnicki nach Steinhof zu dem allwochent- 
lichen Besuch bei seinem Bruder. Der verriickte Chojnicki ging im 
Hof spazieren, er lebte in der geschlossenen Abteilung, obwohl er kei- 
nerlei Neigung zu irgendeiner Gewaltsamkeit zeigte. Er kannte seinen 
Bruder nicht. Als ich aber meinen Namen Trotta nannte, war er sofort 
klar. - »Trotta«, sagte er. »Sein Vater war vor einer Woche hier. Der 
alte Bezirkshauptmann Trotta. Mein Freund, der Leutnant Trotta, ist 
bei Krasne-Busk gefallen. Ich liebe euch alle! Alle, alle Trottas.« Und 
er umarmte mich. 

»Meine Residenz ist Steinhof«, fuhr er fort. »Von nun ab, seitdem ich 
hier wohne, ist es die Haupt- und Residenzstadt von Osterreich. Ich 
bewahre hier die Krone. Ich bin dazu ermachtigt. Mein Onkel Ledo- 
chowski pflegte zu sagen: >Dieser kleine Josef wird ein grofter Mann,< 
Jetzt bin ich es. Er hat recht behalten.« 

Chojnicki begann jetzt, unverstandliches Zeug zu reden. Er verlangte 
seinen Strumpf. Er strickte, seitdem er im Irrenhaus war, mit uner- 
miidlichem Eifer. »Ich stricke die Monarchies sagte er von Zeit zu 
Zeit. Als ich den Versuch machte, mich von ihm zu verabschieden, 
sagte er; »Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen.« - »Ich heifte 
Trotta«, sagte ich. - »Trotta«, erwiderte er, »war der Held von Solfe- 
rino. Er hat dem Kaiser Franz Joseph das Leben gerettet. Der Trotta 
ist schon lange tot. Mir scheint, Sie sind ein Sch windier, « 
An dem gleichen Tage erfuhr ich auch, weshalb meine Frau so lange 
und so oft vom Hause wegblieb, warum sie unser Kind allein lieft und 
meine arme gelahmte Mutter. Als ich namlich nach Hause kam, traf ich 
dort die beiden einzigen Menschen, die ich wirklich haftte: die Frau 
Professor Jolanth Szatmary und den Herrn Kurt von Stettenheim. 
Es stellte sich heraus, daft sie schon seit Wochen wieder in Wien 
waren. Es stellte sich heraus, daft sie das Kunstgewerbe aufgegeben 
hatten. Sie waren nunmehr ganz dem Film hingegeben; Alexander Ra- 
binowitsch - »der bekannte Rabinowitsch, Sie kennen ihn nicht?«~, 
erzahlte der Herr von Stettenheim, hatte eine »Firma« in Wien gegriin- 
det; wieder einmal eine Firma! Es stellte sich heraus, daft Elisabeth 



DIE KAPUZINERGRUFT 339 

absolut keine Mutter bleiben wollte: sie wollte unbedingt erne Schau- 

spielerin werden. Der Film rief sie, und sie fiihlte sich zum Film beru- 

fen. 

Eines Tages verschwand sie auch, und sie hinterlieft mir den folgenden 

Brief: 

»Mein lieber Mann, Deine Mutter hafit mich, und Du liebst mich 

nicht. Ich fuhle mich berufen. Ich folge Jolanth und Stettenheim. Ver- 

zeih mir. Der Ruf der Kunst ist machtig. - Elisabeth« 

Diesen Brief zeigte ich meiner gelahmten Mutter. Sie las ihn zweimal. 

Dann nahm sie meinen Kopf mit ihrer noch gesunden linken Hand 

und sagte: »Bub! - B-b-bub!« sagte sie. Es war, als gratulierte sie mir 

und als bedauerte sie mich gleichzeitig. 

Wer weift, wieviel Kluges sie gesagt hatte, wenn sie nicht gelahmt ge- 

wesen ware. 

Mein Kind hatte keine Mutter mehr. Die Mutter meines Kindes war in 

Hollywood, eine Schauspielerin. Die Grofimutter meines Sohnes war 

eine gelahmte Frau. 

Sie starb im Februar. 



XXXIII 

In den ersten Tagen des Monats Februar starb meine Mutter. Sie starb 
so, wie sie gelebt hatte: nobel und still. Dem Priester, der gekommen 
war, um ihr die letzte Olung zu geben, sagte sie: »Machen Sie schnell, 
Hochwiirden! Der liebe Gott hat nicht so viel Zeit, wie die Kirche sich 
zuweilen einbildet.« Der Priester machte es in der Tat sehr schnell. 
Dann Heft meine Mutter mich kommen. Sie lallte nicht mehr, Sie 
sprach gelaufig wie in alten Zeiten, als ware ihre Zunge niemals ge- 
lahmt gewesen. - »Wenn du jemals Elisabeth wiedersiehst«, so sagte 
sie zu mir, »aber ich glaube, es wird nicht passieren, so sage ihr, daft ich 
sie niemals habe leiden mogen. Ich sterbe, aber ich halte nichts von 
jenen frommen Menschen, die im Sterben liigen und edelmutig wer- 
den. Jetzt bring mir deinen Sohn, damit ich ihn noch einmal sehe.« 
Ich ging hinunter, ich brachte meinen Sohn, groft und ziemlich schwer 
war er schon, ich freute mich iiber sein Gewicht, wie ich ihn so die 
Stufen hinauftrug. Meine Mutter umarmte, kiiftte ihn und gab ihn mir 
zunick. 



340 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Schick ihn weg«, sagte sie, »weit fort! Hier soil er nicht aufwachsen. 
Geh weg!« fiigte sie hinzu, »ich will allein sterben.« Sie starb noch in 
der gleichen Nacht, es war die Nacht der Revolution. Die Schiisse 
knallten durch die nachtliche Stadt, und Chojnicki erzahlte uns beim 
Abendessen, dafi die Regierung auf die Arbeiter schiefie. - »Dieser 
Dollfufi«, so sagte Chojnicki, »will das Proletariat umbringen. Gott 
strafe mich nicht: ich kann ihn nicht leiden. Es liegt in seiner Natur, 
sich selbst zu begraben. Das hat die Welt noch nicht gesehen! . . .« 
Als meine Mutter begraben wurde, am Zentralfriedhof, zweites Tor, 
schofi man immer noch in der Stadt. Alle meine Freunde, das heifk alle 
unsere Pensionare, begleiteten meine Mutter und mich. Es hagelte, ge- 
nauso wie in jener Nacht, in der ich heimgekehrt war. Es war der 
gleiche bose, kornige Regen. 

Wir begruben meine Mutter um zehn Uhr vormittags. 
Als wir aus dem zweiten Tor des Zentralfriedhofs hinaustraten, er- 
blickte ich Manes Reisiger. Hinter einem Sarg schritt er einher, und 
ohne ihn zu fragen, gesellte ich mich zu ihm. Zum dritten Tor fiihrte 
man den Sarg, in die israelitische Abteilung. 

Ich stand vor dem offenen Grabe. Nachdem der Rabbiner sein Gebet 
gesprochen hatte, trat Manes Reisiger vor und sagte: »Gott hat ihn 
gegeben, Gott hat ihn genommen, gelobt sei Sein Name in Ewigkeit. 
Der Minister hat Blut vergossen, und auch sein Blut wird vergossen 
werden. FlielSen wird es wie ein reiftender Strom. « - Man versuchte, 
Manes Reisiger zuriickzuhalten, aber er fuhr fort, mit starker Stimme: 
»Wer totet«, so sagte er »wird getotet. Gott ist grofi und gerecht.« - 
Hierauf brach er zusammen. Wir fiihrten ihn abseits, indes sein begab- 
ter Sohn Ephraim begraben wurde. Er war ein Rebell, er hatte geschos- 
sen und war getotet worden, 

Joseph Branco kam noch von Zeit zu Zeit in unser Haus. Er hatte kein 
anderes Interesse mehr als seine Maroni. Sie waren faul in diesem Jahr, 
wurmig, und er, Joseph Branco, konnte nur noch gebratene Apfel ver- 
kaufen. 

Ich verkaufte das Haus. Ich behielt nur noch die Pension. 
Es war, als hatte der Tod meiner Mutter alle meine Freunde aus unse- 
rem Haus vertrieben. Sie zogen fort, einer nach dem anderen. Wir tra- 
fen uns nur noch im Cafe Wimmerl. 

Mein Sohn allein lebte noch fur mich. »Wer totet«, sagte Manes Reisi- 
ger, »wird getotet. « 



DIE KAPUZINERGRUFT 341 

Ich kiimmerte mich nicht mehr urn die Welt. Meinen Sohn schickte ich 
zu meinem Freund Laveraville nach Paris. 
Allein blieb ich, allein, allein, allein. 
Ich ging in die Kapuzinergruft. 



XXXIV 

Auch am Freitag erwartete ich sehnsiichtig meinen geliebten Abend, in 
dem allein ich mich zu Hause fiihlte, seitdem ich kein Haus und kein 
Heim mehr hatte. Ich wartete wohl, wie gewohnt, in seine Obhut ein- 
zugehen, die gutiger war bei uns in Wien als die Stille der Nachte, nach 
dem Schluft der Kaffeehauser, sobald die Laternen trist wurden, matt 
von dem unniitzen Leuchten. Sie sehnten sich nach dem saumigen 
Morgen und ihrem eigenen Erloschen. Ja, miide waren sie immer, 
iibernachtige Lampen, sie wollten den Morgen haben, um einschlafen 
zu konnen. 

Ach, ich erinnerte mich oft daran, wie sie die Nachte meiner Jugend 
durchsilbert hatten, die freundlichen Tochter und Sonne des Himmels, 
Sonnen und Sterne, freiwillig herabgeschwebt, um die Stadt Wien zu 
beleuchten. Die Rocke der Madchen vom Strich in der Karntner Stra£e 
reichten noch bis zu den Knocheln. Wenn es regnete, rafften diese 
siifJen Geschopfe die Kleider hoch, und ich sah ihre aufregenden 
Knopf elschuhe. Dann trat ich bei Sacher ein, meinen Freund Sternberg 
zu sehen. In der Loge safi er, immer in der gleichen, und der letzte 
Gast war er. Ich holte ihn ab. Wir hatten eigentlich zusammen nach 
Hause gehen sollen, aber jung waren wir, und auch die Nacht war jung 
(wenn auch schon fortgeschritten), und die Straftenmadchen waren 
jung, insbesondere die altlichen, und jung waren die Laternen . . . 
Wir gingen also gleichsam durch unsere eigene Jugend und die jugend- 
liche Nacht. Die Hauser, in denen wir wohnten, erschienen uns wie 
Griifte oder bestenfalls Asyle. Die nachtlichen Polizisten salutierten 
uns, Graf Sternberg gab ihnen Zigaretten. Oft patrouillierten wir mit 
den Wachleuten durch die leere und bleiche Strafienmitte, und manch- 
mal ging eines jener siifien Geschopfe mit uns und hatte einen ganz 
anderen Schritt als sonst auf dem gewohnten Trottoir. Damals waren 
die Laternen seltener und auch bescheidener, aber weil sie jung waren, 
leuchteten sie starker, und manche wiegten sich heiter im Winde . . . 



34 2 ROMANE UND ER2AHLUNGEN 

Spater, seitdem ich aus dem Kriege heimgekehrt war, nicht nur gealtert, 
sondern auch vergreist, waren die Wiener Nachte verrunzelt und ver- 
welkt, altlichen, dunklen Frauen gleich, und der Abend ging nicht in sie 
ein wie friiher, sondern er wich ihnen aus, erblafke und entschwand, ehe 
sie noch angeriickt kamen. Man mufite diese Abende, die hurtigen und 
beinahe furchtsamen, sozusagen fassen, bevor sie zu verschwinden im 
Begriffe waren, und ich erreichte sie am liebsten in den Parks, im Volks- 
garten oder im Prater und ihren letzten, siifiesten Rest noch in einem 
Cafe, in das sie einzusickern pflegten, zart und gelinde, wie ein Geruch. 
Auch an diesem Abend also ging ich ins Cafe Lindhammer, und ich tat 
so, als ware ich keineswegs aufgeregt wie die anderen. Sah ich mich doch 
seit langem schon, seit der Heimkehr aus dem Krieg, als einen zu Un- 
recht Lebenden an! Hatte ich mich doch langst schon daran gewohnt, 
alle Ereignisse, die von den Zeitungen »historische« genannt werden, 
mit dem gerechten Blick eines nicht mehr zu dieser Welt Gehorenden zu 
betrachten! Ich war lange schon ein vom Tode auf unbeschrankte Zeit 
Beurlaubter! Und er, der Tod, konnte jede Sekunde meinen Urlaub 
unterbrechen. Was gingen mich noch die Dinge dieser Welt an? . . . 
Dennoch bekiimmerten sie mich, und besonders an jenem Freitag. Es 
war, als ginge es darum, ob ich, ein vom Leben Pensionierter, meine 
Pension in Ruhe weiterverzehren sollte, wie bis jetzt, in einer verbitter- 
ten Ruhe; oder ob mir auch noch die genommen wiirde, diese arme, 
verbitterte Ruhe, man konnte sagen: der Verzicht, den ich mir ange- 
wohnt hatte, eine Ruhe zu nennen. Dermafien, daft oft in den letzten 
Jahren, wenn dieser oder jener meiner Freunde zu mir kam, um mir zu 
sagen, jetzt sei endlich die Stunde da, in der ich mich um die Geschichte 
des Landes zu kiimmern hatte, ich zwar den ublichen Satz sagte: »Ich 
will meine Ruh* haben!« - aber genau wuftte, daft ich eigentlich hatte 
sagen sollen: »Ich will meinen Verzicht haben!« Meinen lieben Ver- 
zicht! Auch der ist nun dahin! Nachgefolgt ist er meinen unerfullt ge- 
bliebenen Wiinschen . . . 

Ich setzte mich also ins Cafe, und wahrend meine Freunde an meinem 
Tisch immer noch von ihren privaten Angelegenheiten sprachen, emp- 
fand ich, der ich durch ein ebenso unerbittliches wie gnadiges Schicksal 
jede Moglichkeit eines privaten Interesses ausgeschaltet sah, nur noch 
das allgemeine, das mich zeit meines Lebens so wenig anging und dem 
ich zeit meines Lebens auszuweichen pflegte . . . 
Ich hatte schon wochenlang keine Zeitungen mehr gelesen, und die 



DIE KAPUZINERGRUFT 343 

Reden meiner Freunde, die von den Zeitungen zu leben, ja geradezu 
von Nachrichten und Geriichten am Leben erhalten zu sein schienen, 
rauschten ohne jede Wirkung an meinem Ohr vorbei, wie die Wellen 
der Donau, wenn ich manchmal am Franz-Josephs-Kai safi oder auf 
der Elisabeth-Promenade. Ich war ausgeschaltet; ausgeschaltet war 
ich. Ausgeschaltet unter den Lebendigen bedeutet so etwas Ahnliches 
wie exterritorial. Ein Exterritorialer war ich eben unter den Lebenden. 
Und auch die Aufregung meiner Freunde, selbst an diesem Freitag 
abend, schien mir uberflussig; bis zu jener Sekunde, da die Tiir des 
Cafes aufgerissen wurde und ein seltsam bekleideter junger Mann an 
der Schwelle erschien. Er trug namlich schwarze Ledergamaschen, ein 
weifies Hemd und eine Art von Militarmutze, die mich gleichzeitig an 
eine Bettschussel und an eine Karikatur unserer alten osterreichischen 
Kappen erinnerte; kurz und gut: nicht einmal an eine preufiische 
Kopfbedeckung. (Denn die Preufien tragen auf ihren Kopfen keine 
Hike und keine Kappen, sondern Bedeckungen.) Ich war, feme der 
Welt und der Holle, die sie fur mich darstellte, keineswegs geeignet, 
die neuen Mutzen und Uniformen zu unterscheiden, geschweige denn, 
sie zu erkennen. Es mochte weifte, blaue, grune und rote Hemden ge- 
ben; Hosen, schwarz, braun, griin, blau lackiert; Stiefel und Sporen, 
Leder und Riemen und Gurtel und Dolche in Scheiden jeder Art: Ich 
jedenfalls, ich hatte fur mich beschlossen, seit langem schon, seit der 
Heimkehr aus dem Kriege schon, sie nicht zu unterscheiden und sie 
nicht zu erkennen. Daher also war ich zuerst mehr als meine Freunde 
uber die Erscheinung dieser Gestalt iiberrascht, die, wie aus der im 
Souterrain gelegenen Toilette emporgestiegen, dennoch aber durch die 
Stra&ntiir hereingekommen war. Ein paar Augenblicke lang hatte ich 
tatsachlich geglaubt, die mir wohlbekannte, im Souterrain gelegene 
Toilette lage plotzlich drauften, und einer der Manner, die sie bedien- 
ten, ware eingetreten, um uns zu verkiinden, daft alle Platze bereits 
besetzt seien. Aber der Mann sagte: »Volksgenossen! Die Regierung 
ist gestiirzt. Eine neue deutsche Volksregierung ist vorhanden!« 
Seitdem ich aus dem Weltkrieg heimgekehrt war, in ein verrunzeltes 
Vaterland heimgekehrt war, hatte ich niemals den Glauben an eine Re- 
gierung aufgebracht; geschweige denn: an eine Volksregierung. Ich ge- 
hore heute noch - kurz vor meiner wahrscheinlich letzten Stunde darf 
ich, ein Mensch, die Wahrheit sagen - einer offenbar versunkenen Welt 
an, in der es selbstverstandlich schien, dafi ein Volk regiert werde und 



344 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

dafi es also, wollte es nicht aufhoren, Volk zu sein, sich nicht selber 
regieren konne. In meinen tauben Ohren - ich hatte oft gehort, dafi sie 
»reaktionar« geheifien werden - klang es so, als hatte mir eine geliebte 
Frau gesagt, sie brauchte mich keineswegs, sie konnte mit sich selbst 
schlafen und mufke es sogar, und zwar einzig zu dem Zweck, um ein 
Kind zu bekommen. 

Insbesondere deshalb iiberraschte mich der Schrecken, der bei der An- 
kunft des seltsam gestiefelten Mannes und seiner seltsamen Verkiin- 
dung alle meine Freunde ergriff. Wir hatten, alle zusammen, kaum drei 
Tische eingenommen. Einen Augenblick spater blieb ich, nein, fand 
ich mich allein. Ich fand mich tatsachlich allein, und es war mir einen 
Augenblick so, als ob ich mich tatsachlich lange selbst gesucht und 
mich selbst uberraschend allein gefunden hatte. Alle meine Freunde 
standen namlich von ihren Sitzen auf, und statt, wie es zwischen uns 
seit Jahren ublich gewesen war, mir vorher »Gute Nacht!« zu sagen, 
riefen sie: »Ober, zahlen!« Aber da unser Ober Franz nicht kam, rie- 
fen sie dem jiidischen Cafetier Adolf Feldmann zu: »Wir zahlen mor- 
gen!« - und sie gingen, ohne mich noch einmal anzusehen. 
Immer noch glaubte ich, sie kamen wirklich morgen, um zu zahlen, 
und der Ober Franz sei im Augenblick in der Kiiche oder sonst ir- 
gendwo aufgehalten und einfach deshalb nicht so prompt wie gewohn- 
lich erschienen. Nach zehn Minuten aber kam der Cafetier Adolf Feld- 
mann hinter seiner Theke hervor, im Uberrock und einen steifen Hut 
auf dem Kopf, und sagte mir: »Herr Baron, wir nehmen Abschied fur 
immer. Wenn wir uns einmal irgendwo in der Welt wiedersehen soil- 
ten, werden wir einander erkennen. Morgen kommen Sie bestimmt 
nicht mehr her. Wegen der neuen deutschen Volksregierung namlich. 
Gehen Sie heim, oder gedenken Sie hier sitzen zu bleiben?« 
»Ich bleibe hier, wie alle Nachte«, antwortete ich. 
»Dann leben Sie wohl, Herr Baron! Ich losche die Lamp en aus! Hier 
sind zwei Kerzen!« 

Und damit ziindete er zwei bleiche Kerzen an, und ehe ich mir noch 
von meinem Eindruck, er hatte mir Totenkerzen angeziindet, eine Re- 
chenschaft geben konnte, waren alle Lichter im Cafe erloschen, und 
blafi, mit einem schwarzen, steifen Hut auf dem Kopf, ein Totengraber 
eher als der joviale, silberbartige Jude Adolf Feldmann, iibergab er mir 
ein wuchtiges Hakenkreuz aus Blei und sagte: 
»Fiir alle Falle,.Herr Baron! Bleiben Sie ruhig bei Ihrem Schnaps! Ich 



DIE KAPUZINERGRUFT 345 

lasse den Rollbalken zu. Und wenn Sie gehen wollen, konnen Sie ihn 
von innen aufmachen. Die Stange stent rechts neben der Tur.« 
»Ich mochte zahlen«, sagte ich. 
»Dafiir ist heute keine Zeit!« erwiderte er. 

Und schon war er verschwunden, und schon horte ich vor der Tur den 
Rollbalken niederrollen. 

Ich fand mich also allein am Tisch, vor den zwei Kerzen. Sie klebten 
am falschen Marmor, und sie erinnerten mich an eine Art weifter, auf- 
rechter, angeziindeter Wurmen Ich erwartete jeden Augenblick, daft 
sie sich bogen, wie es Wiirmern eigentlich geziemt. 
Da es mir unheimlich zu werden begann, rief ich: »Franz, zahlen!« - 
wie sonst an jedem Abend. 

Aber nicht der Ober Franz kam, sondern der Wachhund, der ebenfalls 
Franz hieft und den ich eigentlich nie hatte leiden mogen. Er war von 
sandgelber Farbe und hatte triefende Augen und einen schleimigen 
Mund. Ich liebe Tiere nicht und noch weniger jene Menschen, die 
Tiere lieben. Es schien mir mein Lebtag, daft die Menschen, die Tiere 
lieben, einen Teil der Liebe den, Menschen entziehen, und besonders 
gerechtfertigt erschien mir meine Anschauung, als ich zufaliig erfuhr, 
daft die Deutschen aus dem Dritten Reich Wolfshunde lieben, die 
deutschen Schaferhunde. »Arme Schafe!« sagte ich mir da. 
Nun aber kam der Hund Franz zu mir. Obwohl ich sein Feind war, 
rieb er sein Gesicht an meinem Knie und bat mich gleichsam um Par- 
don. Und die Kerzen brannten, die Totenkerzen, meine Totenkerzen! 
Und von der Peterskirche kamen keine Glocken. Und ich habe nie eine 
Uhr bei mir, und ich wuftte nicht, wie spat es war, 
»Franz, zahlen!« sagte ich zum Hund, und er stieg auf meinen Schoft. 
Ich nahm ein Stiickchen Zucker und reichte es ihm. 
Er nahm es nicht. Er winselte nur. Und hierauf leckte er mir die Hand, 
der er das Geschenk nicht abgenommen hatte. 

Jetzt blies ich eine Kerze aus. Die andere loste ich vom falschen Mar- 
mor los und ging zur Tur und stieft mit der Stange den Rollbalken von 
innen auf. 

Eigentlich wollte ich dem Hund entgehen und seiner Liebe. 
Als ich auf die Strafte trat, die Stange in der Hand, um den Rollbalken 
wieder hinunterzuziehen, sah ich, daft mich der Hund Franz nicht ver- 
lassen hatte. Er folgte mir. Er konnte nicht bleiben. Es war ein alter 
Hund. Mindestens zehn Jahre hatte er dem Cafe Lindhammer gedient, 



346 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wie ich dem Kaiser Franz Joseph; und jetzt konnte er nicht mehr. Jetzt 

konnten wir beide nicht mehr. »Zahlen, Franz !« sagte ich zu dem 

Hund. Er erwiderte mir mit einem Winseln. 

Der Morgen graute iiber den wildfremden Kreuzen. Ein leiser Wind 

ging und schaukelte die greisen Laternen, die noch nicht, in dieser 

Nacht nicht, erloschen waren. Ich ging durch leere Strafien, mit einem 

fremden Hund. Er war entschlossen, mir zu folgen. Wohin?- 

Ich wufite es ebensowenig wie er. 

Die Kapuzinergruft, wo meine Kaiser liegen, begraben in steinernen 

Sargen, war geschlossen. Der Bruder Kapuziner kam mir entgegen und 

fragte: »Was wiinschen Sie?« 

»Ich will den Sarg meines Kaisers Franz Joseph besuchen«, erwiderte 

ich. 

»Gott segne Sie!« sagte der Bruder, und er schlug das Kreuz iiber 

mich. 

»Gott erhalte . . .!« rief ich. 

»Pst!« sagte der Bruder. 

Wohin soil ich, ich jetzt, ein Trotta? . . . 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 

Roman 

!939 



I 



Im Fruhling des Jahres 18 . . begann der Schah-in-Schah, der heilige, 
erhabene und grofte Monarch, der unumschrankte Herrscher und Kai- 
ser aller Staaten von Persien, ein Unbehagen zu fuhlen, wie er es noch 
niemals gekannt hatte. 

Die beriihmtesten Arzte seines Reichs konnten seine Krankheit nicht 
erklaren. Der Schah-in-Schah war aufs hochste beunruhigt. 
In einer schlaflosen Nacht lieft er den Obereunuchen Patominos 
kommen, der ein Weiser war und der die Welt kannte, obwohl er den 
Hof nie verlassen hatte. Zu diesem sprach er so: 

»Ich bin krank, Freund Patominos. Ich fiirchte, ich bin sehr krank. 
Der Arzt sagt, ich sei gesund, aber ich glaube ihm nicht. Glaubst du 
ihm, Patominos ?« 

»Nein, ich glaube ihm auch nicht!« sagte Patominos. 
»Glaubst du also auch, daft ich schwer krank bin?« fragte der Schah. 
»Schwer krank - nein - das glaube ich nicht !« erwiderte Patominos. 
»Aber krank! Krank jedenfalls, Herr! Es gibt, Herr, viele Krankheiten. 
Die Doktoren sehen sie nicht, weil sie darauf abgerichtet sind, nur die 
Krankheiten der korperlichen Organe zu beachten. Was aber nutzt 
dem Menschen ein gesunder Leib mit gesunden Organen, wenn seine 
Seele Sehnsucht hat?« 

»Woher weiftt du, daft ich Sehnsucht habe?« 
»Ich erlaube mir, es zu ahnen.« 
»Und wonach sehne ich mich?« 

»Das ist eine Sache«, erwiderte Patominos, »iiber die ich eine Weile 
nachdenken muftte.« 

Der Eunuch Patominos tat so, als dachte er nach, dann sagte er: 
»Herr, Eure Sehnsucht zielt nach exotischen Landern, nach den Lan- 
dern Europas zum Beispiel.« 
»Eine lange Reise?« 

»Eine kurze Reise, Herr! Kurze Reisen bringen mehr Freude als lange. 
Lange Reisen machen krank. « 
»Und wohin?« 



350 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Herr«, sagte der Eunuch, »es gibt vielerlei Lander in Europa. Es 
hangt alles davon ab, was man eigentlich in dies en Landern sucht.« 
»Und was glaubst du, dafi ich suchen miifite, Patominos?« 
»Herr«, sagte der Eunuch, »ein so elender Mensch wie ich weifi nicht, 
was ein grofier Herrscher suchen konnte.« 

»Patominos«, sagte der Schah, »du weifit, dafi ich schon wochenlang 
keine Frau mehr angeruhrt habe.« 
»Ich weifi es, Herr«, erwiderte Patominos. 
»Und du glaubst, Patominos, das sei gesund?« 

»Herr«, sagte der Eunuch und erhob sich dabei ein wenig aus seiner 
gebiickten Stellung, »man mu(! sagen, dafi Menschen meiner besonde- 
ren Art nicht viel von derlei Dingen verstehen.« 
»Ihr seid zu beneiden.« 

»Ja«, erwiderte der Eunuch und richtete sich zu seiner ganzen fulligen 
Grofie auf. »Die anderen Manner bedaure ich von ganzem Herzen.« 
»Warum bedauerst du uns, Patominos ?« fragte der Furst. 
»Aus vielen Griinden«, antwortete der Eunuch, »besonders aber des- 
halb, weil die Manner dem Gesetz der Abwechslung unterworfen sind. 
Es ist ein trugerisches Gesetz: denn es gibt gar keine Abwechslung.« 
»Wolltest du damit gesagt haben, dafi ich dieser bestimmten Abwechs- 
lung halber irgendwohin fahren sollte?« 

»Ja, Herr«, sagte Patominos, »um sich zu iiberzeugen, dafi es keine 
gibt.« 

»Und dies allein wiirde mich gesund machen?« 

»Nicht die Uberzeugung, Herr«, sagte der Eunuch, »aber die Erleb- 
nisse, die man braucht, um zu dieser Uberzeugung zu gelangen!« 
»Wie kommst du zu diesen Erkenntnissen, Patominos ?« 
»Dadurch, dafi ich verschnitten bin, Herr!« erwiderte der Eunuch und 
verneigte sich wieder. 

Er riet dem Schah-in-Schah zu einer weiten Reise. Er schlug Wien vor. 
Der Herrscher erinnerte sich: »Mohammedaner waren dort schon vor 
vielen Jahren gewesen.« 

»Herr, es gelang ihnen damals leider nicht, in die Stadt zu kommen. 
Auf dem Stephansturm stiinde sonst heute nicht das Kreuz, sondern 
unser Halbmond!« 

»Alte Zeiten, alte Geschichten. Wir leben in Frieden mit dem Kaiser 
von Osterreich.« 
»Jawohl, Herr!« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 351 

»Wir fahren!« befahl der Schah. »Die Minister verstandigen!« 

Und es geschah, wie er befohlen hatte. 

Im Waggon erster Klasse zuerst, spater im riickwartigen Teil des Schif- 

fes, herrschend iiber den Frauen, safi der Obereunuch Kalo Patomi- 

nos, Er blickte auf die rotgliihende untergehende Sonne. Er breitete 

den Teppich aus, warf sich auf den Boden und begann, das Abendge- 

bet zu murmeln. Man erreichte unerkannt Konstantinopel. 

Das Meer war sanft wie ein Kind, Das Schiff schwamm sacht und lieb- 

lich, es selbst ein Kind, in die blaue Nacht hinein. 



II 



Ein paar Tage kreuzte das brautliche Schiff des Schahs im blauen Meer. 
Denn man getraute sich nicht, dem groften Herrn zu sagen, daft man 
auf eine Antwort des persischen Botschafters in Wien warten miisse. 
Nach anderthalb Tagen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl 
er sich um den Kurs des Schiffes nicht kummerte, konnte er doch nicht 
umhin, zu bemerken, daft immer wieder das gleiche Stuck der Kiiste 
auftauchte, die er eben verlassen hatte. Auch ihm schien es allmahlich 
sonderbar, daft ein so starkes Schiff so viel Zeit brauchte, um ein so 
kleines Meer zu durchqueren. Er lieft den Groftwesir kommen und 
deutete ihm an, daft er unzufrieden sei mit der Langsamkeit der Uber- 
fahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht genau. Denn, traute er 
schon keinem seiner Diener, solange er sich auf fester Erde befand, so 
traute er ihnen noch weniger, wenn er auf dem Wasser umher- 
schwamm. Gewift war man auch zur See in Gottes Hand, aber auch ein 
wenig in der des Kapitans. Uberhaupt, sooft er an den Kapitan dachte, 
wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapitan gar nicht, besonders, 
weil er sich nicht erinnern konnte, ihn schon jemals gesehen zu haben. 
Er war namlich aufterst mifttrauisch. Selbst die Manner, die ihm hei- 
misch und wohlvertraut waren, verdachtigte er leicht und gerne; wie 
erst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte? 
Ja, er war dermaften mifttrauisch, daft er nicht einmal sein Mifttrauen 
zu erkennen zu geben wagte - in der kindischen und machtigen Herrn 
oft eigenen Uberzeugung, sie seien noch schlauer als ihre Diener. Des- 
halb deutete er jetzt dem Groftwesir auch nur vorsichtig an, daft ihm 
dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vorkomme. Der Groftwe- 



352 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sir aber, der wohl erkannte, daft der Schah sein Mifttrauen nicht aus- 
driicken wolle, gab keineswegs zu erkennen, daft er Mifttrauen spure. 
»Herr«, sagte der Grofiwesir, »auch mir erscheint es unverstandlich, 
daft wir so lange Zeit brauchen, um das Meer zu iiberqueren.« 
»Ja«, bestatigte der Schah, als ob er selbst erst durch diese Bemerkung 
des Grofiwesirs auf die allzu langsame Fahrt aufmerksam gemacht 
worden ware, »ja, du hast recht: warum fahren wir so langsam?« 
»Man miiftte, Herr, den Kapitan befragen!« sagte der Grofiwesir. 
Der Kapitan kam, und der Schah fragte: »Wann erreichen wir endlich 
die Kiiste?« 

»Grofimachtiger Herr«, erwiderte der Kapitan, »das Leben Eurer Ma- 
jestat ist uns alien heilig! Heiliger ist es uns als unsere Kinder, heiliger 
als unsere Mutter, heiliger als die Pupillen unserer Augen. Unsere In- 
strumente kiindigen einen Sturm an, so friedselig das Meer auch im 
Augenblick erscheinen mag. Wenn Eure Majestat an Bord sind, miis- 
sen wir tausendfach achtgeben. Was gibt es Wichtigeres fur unser 
Leben, fur unser Land, fur die Welt als das geheiligte Leben Eurer 
Majestat? - Und unsere Instrumente kiindigen leider Sturm an, Maje- 
stat! « 

Der Schah sah nach dem Himmel. Er war blau, straff gewolbt, strah- 
lend. Der Schah dachte, daft ihn der Kapitan beliige. Er sagte es aber 
nicht. Er sagte nun »Mir scheint, Kapitan, daft deine Instrumente gar 
nichts taugen!« 

»Gewift, Majestat«, antwortete der Kapitan, »auch Instrumente sind 
nicht immer zuverlassig!« 
»Ebenso wie du, Kapitan«, sagte der Schah. 

Auf einmal bemerkte er ein winziges, weifies Wolkchen am Rande des 
Horizonts. Die Wahrheit zu sagen: es war kaum ein Wolkchen, es war 
ein Schleierchen, eigentlich nur der Hauch von einem Wolkchen. Auch 
der Kapitan hatte es im gleichen Augenblick erspaht - und schon 
hoffte er, ein Wunder sei ihm zu Hilfe gekommen und er und seine 
Luge und seine verlogenen, umgelogenen Instrumente wiirden in den 
Augen des Herrn aller Glaubigen plotzlich gerechtfertigt sein. 
Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn; so winzig und hauch- 
diinn das Wolkchen auch war, so verstarkte es doch den Zorn des 
Schahs. Er hatte sich schon so daran gefreut, daft er Groftwesir und 
Kapitan auf einer niedertrachtigen Luge ertappt hatte — und jetzt kam 
die Natur selbst — gebar ein Wolkchen (und wie leicht konnten rich- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 353 

tige Wolken daraus werden!) und gab am Ende noch den lugenden 
Instrumenten recht! Mit grimmer Aufmerksamkeit beobachtete der 
Schah die unaufhdrlich wechselnden Formen des Wolkleins. Bald lok- 
kerte es sich. Der Wind zerfranste es ein bifkhen. Dann aber ballte es 
sich noch fester als vorher zusammen. Nun sah es aus wie ein Schleier, 
in einen Knauel verdichtet. Dann dehnte es sich in die Lange. Dann 
schlieftlich wurde es dunkler und fester. Der Kapitan stand immer 
noch hinter dem Riicken des Schahs. Auch er betrachtete die wech- 
selnden Formen der kleinen Wolke, aber keineswegs grimmig, sondern 
mit trostlichem Herzen. Ach, aber: wie trog ihn sein Sinn! Jah und 
wiitend wandte sich der Schah um, und sein Angesicht erschien dem 
Kapitan wie eine Art gefahrlicher violetter Hagelwolke. »Ihr tauscht 
euch alle«, begann der machtige Herr ganz leise, mit einer Stimme, die, 
beinahe tonlos, aus unbekannten Griinden der Seele kam. »Ihr tauscht 
euch alle, wenn ihr glaubt, dafi ich eure Manover nicht durchschaue. 
Die Wahrheit sagst du mir nicht! Was erzahlst du mir von deinen In- 
strumenten? Was fur einen Sturm verkiinden sie? Mein Auge ist noch 
lange so sicher wie deine Instruments Ringsum ist der Himmel klar 
und blau, selten noch habe ich einen so klaren und blauen Himmel 
gesehen. Mach deine Augen auf, Kapitan! Sag selbst, siehst du auch ein 
einziges, noch so geringes Wolkchen am Horizont?« 
Der Schrecken des Kapitans war grofi, aber gewaltiger noch war sein 
Erstaunen. Und noch grower als sein Schrecken und sein Staunen war 
seine Ratlosigkeit. War der Zorn des Herrn echt oder gespielt? Stellte 
ihn der Herr auf die Probe? Wer konnte es wissen? Er hatte niemals in 
der Nahe des Schahs gelebt, er kannte nicht seine Gewohnheiten. Der 
und jener hatte dem Kapitan gelegentlich erzahlt, daft- der Schah 
manchmal den Erzurnten spielte, um den Grad der Aufrichtigkeit zu 
erkennen, dessen seine Diener fahig sein konnten. Ungliicklicherweise 
dachte der arme Kapitan gerade jetzt an diesen einen, im allgemeinen 
durchaus nicht kennzeichnenden Charakterzug des Herrn, und er ent- 
schloft sich, aufrichtig zu sein. »Herr«, sagte er, »die Augen Eurer Ma- 
jestat haben soeben die Wolke dort am Horizont gesehen. « Und er 
trieb, der unselige Kapitan, seine Kiihnheit so weit, daft er sogar den 
Finger ausstreckte und nach dem Wolkchen wies, das inzwischen eine 
richtige schwarzblaue Wolke geworden war, die mit unheimlicher Eile 
dem Schiffe naher trieb. 
»Kapitan!« donnerte der Schah, »willst du mich lehren, den Himmel 



354 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

anzusehn? Nennst du jenes lichte Nebelchen dort eine Wolke? Spiirst 
du nicht die Strahlen der Sonne ?« 

In dies em Augenblick aber ereignete sich etwas Unerwartetes. Die 
Wolke, sie war in einigen Sekunden eine tiefe, regentrachtige blau- 
schwarze Gewitterwolke geworden, hatte soeben die Sonne erreicht, 
und sie verfinsterte die Welt. 

Der Kapitan streckte beide Arme aus, und iiber seine zitternden Lip- 
pen kam kein Wort mehr. Es sah aus, als wollte er sagen: Herr, zu 
meinem Bedauern bin ich gezwungen, den Himmel sprechen zu lassen. 
Er schickt sich eben an, statt meiner Eurer Majestat zu antworten. 
Zwar hatte auch der Schah selbstverstandlich gesehn, wie sich die 
Sonne verfinsterte. Noch wufke er nicht genau, ob er sich freuen sollte 
iiber die Ehrlichkeit seiner Diener, die ihm in der Tat genauen und 
wahrheitHchen Bericht iiber den nahenden Sturm gegeben hatten, oder 
ob er sich argern sollte dariiber, dafi er seinem eigenen Mifitrauen erle- 
gen war. Er fiihlte, dafl er in Gefahr war, seine Verwirrung zu verraten. 
Dies durfte auf keinen Fall geschehen - und deshalb befahl er: »Zeig 
mir deine Instrumente, Kapitan !« 

Wahrend sie das Deck entlanggingen, der Schah voran, der Kapitan 
hinterdrein, verfinsterte sich der Himmel noch mehr, soweit man se- 
hen konnte, mit Ausnahme eines schmalen blauen Streifens im Nord- 
osten. Im Westen waren die Wolken ganz bose und violett, im Zenit 
des Himmels wurden sie etwas milder und heller, im Osten lichteten 
sie sich zu einer geradezu als giitig zu empfindenden Blasse. Der Kapi- 
tan, drei Schritte hinter dem Schah, geriet in eine wahrhaftige, ehrliche 
Furcht. Diesmal war es nicht wie vorher Angst vor dem Herrscher und 
vor der eigenen Luge, sondern Furcht vor Allah, dem Herrn der Welt, 
und vor dem Sturm, den er so leichtsinnig vorausgesagt hatte. Zum 
erstenmal hatte der Kapitan die Ehre, den Schah-in-Schah auf seinem 
Schiff zu beherbergen. Was wufite er von den Gesetzen der Diploma- 
tie, der brave Kapitan? Seit zwanzig Jahren kreuzte er die Meere, im- 
mer auf diesem kaiserlichen Dampfer Achmed Akbar. Viele Stiirme 
hatte er erlebt, in seiner Jugend war er noch auf Segelschiffen gefahren, 
und auf Segelschiffen hatte er die Seefahrt zuerst kennengelernt. Nie- 
mals seit seinem Regierungsantritt hatte dieser Schah das Bedurfnis 
empfunden, ein Meer zu iiberqueren. Ihn, den armen Kapitan, traf die 
gefahrliche Auszeichnung, den machtigen Herrn zum erstenmal iiber 
Wasser zu fiihren. »Wir diirfen nicht in der vorgeschriebenen Zeit Eu- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 355 

ropas Kiiste erreichen«, hatte ihm der Grofiwesir gesagt. - »Seine Ma- 
jestat haben einen hochst ungeduldigen Charakter und wollen ihre 
Wiinsche erfiillt haben, kaum sind sie ausgesprochen. Aber es gibt, 
verstehn Sie, Kapitan, diplomatische Hindernisse, Wir miissen erst die 
Antwort Seiner Exzellenz unseres Botschafters abwarten. So lange 
miissen wir trachten, nahe der Kiiste herumzukreuzen. Wenn es Seiner 
Majestat einfallen sollte, Sie zu fragen, so sagen Sie, dafi Sie Sturm 
befiirchten.« 

So hatte der Grofiwesir gesprochen. Und siehe da: der Sturm war 
wirklich im Anzug. Und die Instrumente hatten ihn doch gar nicht 
angekiindigt. Einfach die Luge hatte ihn angekiindigt, einfach die 
Luge! Glaubig war der Kapitan, und Allah furchtete er. 
Sie kamen in die Kabine des Kapitans. Es gab da wenig Instrumente, 
insbesondere aber keine, die etwas vom nahenden Sturm aussagen 
konnten. Es gab nur eine grofie Bussole, englisches Fabrikat, festge- 
schraubt auf einer runden Tischplatte. Der Schah beugte sich dariiber. 
»Was ist das, Kapitan ?« fragte er. »Majestat, eine Bussole !« sagte der 
Kapitan. »Aha«, sagte der Schah. »Andere Instrumente hast du 
nicht ?« - »Hier nicht, Majestat, sie sind daneben, im Zimmer des Inge- 
nieurs!« - »Also Sturm?« fragte der Schah. Er hatte keine Lust mehr, 
andere Instrumente zu sehn, und aufkrdem wiinschte er sich ehrlich 
einen Sturm herbei. »Wann wird endlich dieser Sturm kommen?« 
fragte er giitig. »Ich schatze, nach Sonnenuntergang!« sagte der Kapi- 
tan. 

Der Schah ging, hinter ihm der Kapitan. Als sie auf das Verdeck traten, 
war der Tag bereits fast so finster wie eine richtige Nacht. Der Offizier 
vom Dienst kam eilig heran, er lief, er galoppierte. Er meldete dem 
Kapitan irgend etwas, in Ausdnicken, die der Schah noch niemals ge- 
hort hatte. Er ging auch weiter, ohne sich um die beiden zu kiimmern. 
Er trat an die Reling und betrachtete mit aufrichtigem Vergniigen den 
wiitenden Gischt der ansturmenden, zuriickweichenden und immer 
wieder ansturmenden Wogen. Das Schiff begann zu schwanken. Die 
Welt begann zu schwanken. Die Wogen waren griine, schwarze, blaue 
und graue Zungen mit schneeweifkn Randern. Ein gewaltiges Unbe- 
hagen ergriff plotzlich den Schah. Ein unbekanntes Ungeheuer wiihlte 
und wand sich in seinen Eingeweiden. Einmal, er erinnerte sich, er war 
noch ein Knabe gewesen und krank, sehr krank, hatte er ein ahnliches 
Ubel verspiirt. 



356 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Den Kapitan ergriff eine doppelte Aufregung: Erstens war sein Herr 
unpafilich; und zweitens naherte sich eben jener Sturm, den er so 
leichtfertig vorausgelogen hatte. Der Kapitan wufite nicht mehr, um 
was er sich eifriger kummern miisse: um den Sturm oder das Unbeha- 
gen des Herrn. 

Er entschlofi sich, seine Aufmerksamkeit dem Schah zuzuwenden. 
Dies war um so eher angebracht, als er ohnehin befohlen hatte, sofort 
moglichst dicht an die Ktiste zuriickzukehren. Ausgestreckt, in meh- 
rere Decken gehullt, lag der Schah auf dem Verdeck. Der Leibarzt, den 
er so haEte und der, seiner Meinung nach, der einzige Mensch war, 
dem er nie mehr in diesem Leben entrinnen konnte, stand gebeugt 
liber dem kranken Herrn. Er tat, was selbstverstandlich war: er flofite 
dem Schah Baldrian ein. Die ersten, schweren Regentropfen fielen auf 
den weichen Samt des Zelts, das man dem Schah gebaut hatte. Der 
Wind lie£ leise die Ringe erklirren, die des Zeltes Wande mit den drei 
metallenen Staben verbanden. Der Schah fuhlte sich wohier. Er wufke, 
dafi es draufien blitzte, und den Donner horte er mit wonnigem Beha- 
gen. Seine Ubelkeiten verschwanden, kein Wunder! Das Schiff stand 
still, kaum zwei Seemeilen von der Kuste. Nur das Meer klatschte in 
regelmaftiger Wut gegen die Flanken. 

Dieser Sturm war dem Grofiwesir als eine besondere Gnade des Him- 
mels geschickt worden. In hurtigen Booten erreichten Sekretare Kon- 
stantinopel, mitten in der Nacht. In den gleichen hurtigen Booten 
kehrten sie am nachsten Tage, gegen neun Uhr morgens, zuriick. Der 
Schah schlief noch. Sie brachten das Telegramm des Wiener Botschaf- 
ters: in Wien erwarte man die Majestat. Alles ware zum Empfang be- 
reit . . . 

Auch der Sturm erstarb. Eine neue, gewaschene Sonne leuchtete stark 
und froh, wie einst, vormals, am ersten Tag ihrer Erschaffung. 
Auch der Kapitan leuchtete. Auch der Groftwesir leuchtete. Mit Voll- 
dampf glitt das Schiff dahin, Europa entgegen. 



Ill 

Seine Kaiser- und Konigliche Apostolische Majestat empfing die 
Kunde von dem Besuch des Schahs gegen acht Uhr morgens. Es waren 
gerade knapp zweihundert Jahre vergangen, seitdem der grausamste 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 357 

aller Mohammedaner gegen Wien herangeriickt war. Damals hatte ein 
wahres Wunder Osterreich gerettet. Wek schrecklicher noch ais einst 
die Tiirken bedrohten jetzt die Preufkn das alte Osterreich - und ob- 
wohl sie fast unglaubiger waren als die Mohammedaner - denn sie 
waren ja Protestanten -, tat Gott gegen sie keine Wunder. Es gab kei- 
nen Grund mehr, die Sonne Mohammeds mehr zu fiirchten als die 
Protestanten. Jetzt brach eine andere, schreckKchere Epoche an, die 
Zeit der Preufien, die Zeit der Janitscharen Luthers und Bismarcks. 
Auf ihren schwarzweiften Fahnen - beides Farben der strengen 
Trauer- war zwar kein Halbmond zu sehn, sondern ein Kreuz; aber es 
war eben ein eisernes Kreuz. Auch ihre christlichen Symbole noch wa- 
ren todliche Waffen. 

All dies dachte der Kaiser von Osterreich, als man ihm von dem bevor- 
stehenden Besuch des Schahs berichtete. Ahnliches dachten auch die 
Minister des Kaisers. Man raunte in Wien, man munkelte in den Kanz- 
leien, vor den Tiiren, hinter den Turen, in den Kabinetten, in den Kor- 
ridoren, in den Redaktionsstuben, in den Cafehausern und sogar in 
den Chambres separees. Allenthalben bereitete man sich auf den Be- 
such des Schahs vor. 

Am Tage, an dem der Zug des Schah-in-Schah im Wiener Franz-Jo- 
sephs-Bahnhof einlief, sperrten vier Ehrenkompanien und zweihun- 
dert Wachleute zu Fuft und zu Pferde die Straften ab. Die fiirsorgli- 
che Gastfreundschaft Seiner Kaiser- und Koniglichen Apostolischen 
Majestat hatte dafiir gesorgt, dafi alle Wagen des Zuges, der den per- 
sischen Herrscher nach Wien brachte, weifi gestrichen waren, in 
einem brautlichen Weifi, wie das Schiff, das der Schah in Konstanti- 
nopel bestiegen, hatte. Auf dem Perron stand eine Kompanie des Re- 
giments der Hoch- und Deutschmeister. Der Kapellmeister Josef 
Nechwal befahl die persische Nationalhymne. Tschinellen und Kes- 
selpauke und die sogenannten Tschandressen machten mehr Larm, als 
die persische Nationalhymne unbedingt erfordert hatte. Die Kessel- 
pauke, aufgebiirdet auf dem sonst so geduldigen und musikalischen 
Maulesel, wollte auch nicht zunickbleiben; und der Maulesel bebte 
von Zeit zu Zeit, er revoltierte gleichsam; aber weder der Pauker 
merkte es noch der Kapellmeister Josef NechwaL Der dachte an die 
Orden im Schaufenster Tillers. 

Der Kaiser fiihlte sich unbehaglich in der fremden Uniform. Es war 
iiberdies heifi: einer jener friihreifen Maitage, die den Hochsommer 



358 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

vorwegzunehmen scheinen. Das Glasdach iiber dem Perron gliihte. 

Die Hymne gefiel dem Kaiser durchaus nicht. Mit deutlichem Respekt 

horte er sie an - mit ostentativem Respekt . . . 

Als der Schah ausstieg, umarmte ihn der Kaiser fluchtig. Der Schah 

schritt die Ehrenkompanie ab, Der Kapellmeister kommandierte das 

»Gott erhalte«. Die Perser erstarrten. 

Man stieg in die Kutschen, man fuhr ab. Hinter den blauen Mauern der 

Soldaten schrien die Leute: »Hoch, hoch, hoch!« Die Rosse der berit- 

tenen Polizisten wurden bose, und gegen den Willen der Reiter schlu- 

gen sie aus und verletzten zweiundzwanzig Neugierige. Der Polizeibe- 

richt im »Fremdenblatt« sprach von »drei Ohnmachtsfallen«. 



IV 

Diese drei Ohnmachtsfalle storten die Freude der Wiener Bevolkerung 
an dem groften Schah der Perser keineswegs. Alle Menschen, die seiner 
Ankunft zugesehen hatten und gesund geblieben waren, auch die der 
Ohnmacht, kehrten begliickt nach Hause zuriick; genauso begliickt, 
als wenn ihnen personlich eine Freude bes chert worden ware. Auch 
die Bahnarbeiter und die Gepacktrager waren gliicklich und schwitz- 
ten sehr. Denn der grofte Schah von Persien war mit zahlreichen und 
schweren Koffern angekommen. Sie fiillten nicht weniger als vier nor- 
male Lastwaggons, die man aber in Triest vergessen hatte an den braut- 
lich weifien Hofzug seiner Majestat anzuhangen. Der Adjutant des 
Hofzeremonienmeisters, Kirilida Pajidzani, lief den Perron auf und ab. 
Hinter ihm rannte der Stationsvorstand Gustl Burger einher. Im 
Amtszimmer des Stationsvorstands steppte unermudlich der Morseap- 
parat. Der arme Stationsvorstand Burger verstand keinen Ton von dem 
Franzosisch, das der Adjutant des persischen Hofzeremonienmeisters 
daherredete. Der einzige Mensch, der in dieser verzweifelten Situation 
hatte helfen konnen, stand beneidenswert gelangweilt vor dem Biifett 
im Restaurationssaal erster Klasse. Es war der Rittmeister Baron Tait- 
tinger, von den Neuner-Dragonern, auf unbestimmte Frist von seinem 
Regiment detachiert und zugeteilt der Hof- und Kabinettskanzlei zur 
sogenannten »speziellen Verwendung«. Der Baron lehnte am Biifett, 
mit dem Riicken zum Fenster, wandte sich aber von Zeit zu Zeit um 
und betrachtete mit grausigem Behagen den lacherlichen Stationschef 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 359 

und semen persischen Kameraden, den Kirilida Pajidzani. Taittinger 
nannte ihn schon im stillen fur sich den »Janitscharen«. Die Uhr iiber 
dem Biifett zeigte schon die dritte Nachmittagsstunde. Um halb fiinf 
war Taittinger mit der Frau Kronbach verabredet, bei Hornbichl. Ihr 
Mann war Seidenfabrikant, Kommerzialrat, sie wohnte in Dobling. 
Frau Kronbach war seine Leidenschaft, so bildete er sich ein. Er hatte 
sich einmal gesagt, sie ware seine Leidenschaft, er hatte sie zu seiner 
Leidenschaft ernannt, und er bewies es sich selbst, indem er ihr treu 
blieb. Sie war - um es gleich zu sagen - nicht seine erste, sondern seine 
zweite Leidenschaft. 

Er lehnte also, der Rittmeister Taittinger, am Biifett. Er sah von Zeit 
zu Zeit durch das Fenster, dann wieder auf die Uhr iiber dem blonden 
Fraulein, das ihn bediente und das er fur einen der Apparate hielt, die 
zur Erledigung des Eisenbahndienstes unentbehrlich sind. Er freute 
sich, daft drauften die beiden so aufgeregt umherliefen, der »Jani- 
tschare« und der Stationsvorstand. Er muftte leider warten, bis die 
Koffer des Schahs von Persien kommen wiirden, und Frau Kronbach 
muftte auch warten; dies war schlimm. Aber man konnte nichts ma- 
chen. 

Endlich, es war schon halb vier, der Rittmeister begann gerade, am 
vierten Hennessy zu nippen, fuhr mit gewaltigem Brausen, als ware er 
ein echter Expreft, ein Extrazug ein, der lediglich aus vier Waggons 
bestand. Sie enthielten das Gepack des Schahs von Persien. 
Erst in diesem Augenblick sturzte Taittinger auf den Perron. Er hielt 
den Stationsvorstand an und sagte: »Sie mussen schnell machen! Schon 
ein Skandal, daft die Herrschaften so lang warten mussen! Seine Maje- 
stat sind vor anderthalb Stunden gekommen! Seine Majestat warten 
aufgeregt. Blamage! Was fur eine Blamage, Herr Stationsvorstand! « 
Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Baron an seinen 
persischen Kameraden Kirilida Pajidzani und sagte in jenem flieftenden 
Franzosisch, das eigentlich wie ein kaiser-konigliches Franzosisch 
klang und lediglich aus Vokabeln zu bestehen schien: »Wie punktlich! 
Wie punktlich! Unsere Eisenbahn ist doch die piinktlichste der 
Welt!«- Bahnarbeiter und Gepacktrager eilten herbei. Der Stations- 
vorstand selbst kommandierte sie; dieweil der Rittmeister seinem per- 
sischen Kameraden erstaunliche, echt orientalische Wunder in Wiener 
Nachtlokalen anpries. 
Der Perser horte zu, lachelnd, mit dem giitigen Lacheln, das gleichgul- 



360 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

tige Manner von Welt immer anlegen, wenn es sich darum handelt, 
Nachsicht zu verbergen. An diesem giitigen Lacheln erkannte der 
Baron auf einmal, mit wem er es zu tun hatte. Dieser »Janitschare« war 
ja gar keiner. Er verstromte die alte liebe, gutvertraute Luft der welt- 
mannischen Luge; und der Baron fuhlte sich sofort bei ihm heimisch. 
Der Baron nannte den Perser schon im stillen »charmant« - das hoch- 
ste Lob, das er zu vergeben hatte. Es gab fur ihn namlich nur drei 
Klassen von Menschen: an der Spitze standen die »Charmanten«; dann 
kamen die »Gleichgultigen«; die dritte und letzte Klasse bestand aus 
»Langweiligen«. Kirilida Pajidzani - das stand fest - gehorte zu den 
» Charm anten«. Und plotzlich konnte der Baron auch den schwierigen 
Namen so fliefiend aussprechen, als hatte er seit seiner Kindheit persi- 
sche Spielgenossen gehabt. »Herr Kirilida Pajidzani«, sagte der Ritt- 
meister, »es tut mir leid, dafi Sie so lange aufgehalten worden sind. 
Diese Eisenbahnen! Diese Eisenbahnen! Glauben Sie mir! Wir werden 
schon den Verantwortlichen finden!« 

Um dem Perser zu zeigen, dafi er keine leeren Worte mache, ging er 
auf den Stationsvorstand zu und sagte mit erhobener Stimme: »Sauerei 
das, Herr Stationsvorstand entschuldigen schon das harte Wort!«- 
»Herr Rittmeister«, erwiderte der Vorstand, »das ist richtig eine Saue- 
rei, eine Triester Sauerei namlich. « - »Triest oder nicht, is 5 ganz 
wurscht«, sagte der Rittmeister noch etwas lauter. »Hauptsach' is', dafi 
Seine Majestat vor zwei Stunden angekommen sind, und die Koffer 
sind immer noch nicht an Ort und Stelle!« Der Stationsvorstand Bur- 
ger, der allmahlich anfing, seine Versetzung zu befiirchten, zwang sich 
zu einer anmutigen und unbesorgten Freundlichkeit. Schnell fiel ihm 
das einzig passende Wort ein, und er sagte: »Die allerhochsten Koffer 
sind ja endlich da, Herr Baron! « - »Da, da«, hohnte der Rittmeister, 
»aber eben nicht an Ort und Stelle!« 

Noch eine halbe Stunde dauerte es, bevor die zweiundzwanzig wuchti- 
gen Koffer seiner persischen Majestat verladen waren. Dann erst 
konnte der Baron den Bahnhof verlassen. Glucklicherweise wartete 
noch der Wagen, den man dem Adjutanten des Grofiwesirs zur Verfii- 
gung gestellt hatte. Mit einer vortrefflich gespielten Schiichternheit 
sprach Taittinger zu Kirilida Pajidzani: »Wenn ich bitten darf, ich 
mochte mich gerne anschlieften, ich mufi bis zu einem bestimmten 
Punkt — « 
Der Perser liefi ihn gar nicht weiterliigen, sondern sagte sofort: »Ich 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 361 

wollte Sie selbst um die Ehre bitten, Sie genau an den Punkt begleiten 
zu diirfen, an den Sie Ihr Dienst befiehlt!« 

Sie stiegen ein. Und die Koffer rollten voran, auf drei Lastwagen, mit 
schweren Pingauer Schimmeln bespannt. Unterwegs erhob sich der 
Rittmeister, tippte dem livrierten Kutscher auf die Schulter und sagte: 
»Halten S' erst bei Hornbichl!« 

Der Kutscher hob zum Zeichen des Einverstandnisses die Peitsche. Sie 
nickte Ja! in der Luft und gab noch einen leisen Knall. Erleichtert und 
heiter lieft sich Taittinger wieder in die Polster fallen, neben den »char- 
manten« persischen Kameraden. 

Bei Hornbichl blieb der Wagen stehn. Der Baron ging in den Garten, 
hinter die Hecke rechts in den »Liebeswinkel«, wie er seit zehn Jahren 
schon diesen Tisch zu nennen gewohnt war. Die Frau des Kommer- 
zialrats Kronbach wartete seit einer Viertelstunde. Zum erstenmal sah 
sie ihren Geliebten in der Parade-Uniform - ihre Beziehungen waren 
noch nicht alter als vier Monate. Der Helm mit der goldenen Rippe 
blendete sie, und sie vergaft alle Vorwurfe, die sie sich in den funfzehn 
Minuten sorgsam zurechtgelegt hatte. »Endlich, endlichU hauchte sie. 



V 



In den nachsten Tagen verlieft der Rittmeister Taittinger den charman- 
ten Kirilida iiberhaupt nicht mehr. Es erwies sich in diesen Stunden, 
daft der charmante Kirilida alles wuftte, mehr als der Groftwesir. Alles 
konnte man mit ihm besprechen. Man erfuhr zum Beispiel, daft der 
Groftwesir dem Trunk gar nicht in dem Mafte abgeneigt war, wie man 
es hatte glauben miissen. Im Gegenteil: der Groftwesir neigte dazu, 
unaufhorlich gegen die Gesetze des Korans zu verstoften. 
Innerhalb von zwei Nachmittagen wuftte der Rittmeister Taittinger bei 
weitem mehr und Wichtigeres, als der Professor Friedlander, der be- 
kannte Orientalist, den man als Fachberater dem Festkomitee beigege- 
ben hatte, in seinem langen Leben erfahren konnte. Der Professor 
Friedlander trank namlich nicht. Und das kam davon, wenn man nicht 
trinkt, dachte der Baron Taittinger. 

Ach, der Professor Friedlander selbst wuftte kaum noch, wo er seine 
Wissenschaft hintun sollte. Es fehlte nur noch wenig, und er hatte an- 
gefangen, an der Richtigkeit seines Memorandums zu zweifeln, dem 



362 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

doch ganz exakte, iiber jeden Zweifel erhabene Forschungen zugrunde 
gelegt waren. So erfuhr der Professor von Baron Taittinger jetzt erst, 
nach zwanzig Jahren Orientalistik, dafi manche Mohammedaner trin- 
ken, sogar der Grofiwesir selbst. Sein Adjutant, der Herr Kirilida, mit 
dem Friedlander einmal zusammenkam, in der Gesellschaft Taittin- 
gers, hatte keine Ahnung von der persischen Literatur. Sogar vom 
Obereunuchen behauptete der Baron Taittinger, daft er sich heimlich 
von den Lakaien des Schlosses normale Bierkriigl vom Wiesenthaler 
vis-a-vis kommen lasse und dafi er sie trinke wie etwa ein normaler 
christlicher Schneider. Verwirrender noch als die Erzahlungen Taittin- 
gers aber waren die Artikel unbefugter Journalisten. Sie enthielten 
haarstraubende Unwahrheiten iiber das Leben in Persien und die per- 
sische Geschichte. Vergeblich bemiihte sich der Professor Friedlander, 
den diversen Chefredakteuren durch briefliche Dementis die Wahrheit 
mitzuteilen. Die Folge seiner Interventionen war nur die, dafi die Jour- 
nalisten in sein Seminar sowie auch in seine Wohnung kamen, um In- 
terviews iiber Persien zu bekommen. Die Journalisten kamen sogar in 
seine Vorlesungen. 

Die Militarparade in Kagran storte leider ein hef tiger Regen. Unter 
einem zugigen Zelt, dessen drei scharlachrote Leinwande denervierend 
klapperten, sich blahten und die Regentropfen durchsickern liefien, 
hielt es der Schah nicht langer als eine Viertelstunde aus. Er war kein 
begeisterter Anhanger militarischer Spektakel. Wahrend er mit zer- 
streuten Blicken dem grofiartigen Galopp der Ulanen zusah, der wie 
eine Art gezahmten Sturms iiber das feuchte Griin der Wiesen dahinra- 
ste, fiihlte er die unerbittlichen Wassertropfen in aufregend regelmafti- 
gen Abstanden auf seine hohe braune Pelzmutze fallen und auf den 
scharlachroten Kragen seiner nachtschwarzen Pelerine. Er fiirchtete 
aufterdem fur seine Gesundheit. Den europaischen Arzten traute er 
noch weniger als seinem judischen Ibrahim. Eingesperrt und umzin- 
gelt war er von fremden Generalen, die den Regen nicht scheuten, 
Wind und Wetter gewohnt sein mochten. Die Kavalleristen schwenk- 
ten die Sabel. Die Militarmusik schmetterte aus nassen Trompeten, 
donnerte auf durchnaftten Kalbfellen. Jetzt sollte noch die Infanterie 
kommen, hierauf die Artillerie. Nein! Er hatte genug. Er erhob sich, 
gleichzeitig mit ihm der Groftwesir, dessen Adjutant, die ganze Suite. 
Der Schah verlieft das Zelt, der Regen stromte, er allein biickte sich 
unter den nassen Schlagen, alle anderen, die er im stillen verfluchte, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 363 

folgten ihm aufrecht, als gingen sie unter klarem Sonnenschein daher. 
Er wandte sich in die Richtung, wo er den rettenden Wagen vermutete. 
Mit dem sicheren Instinkt eines Gefahrdeten fand er auch alsbald die 
Stelle, wo die Wagen warteten, Ohne sich umzusehn, stieg er ein. Alle 
anderen Herren ebenfalls. Auf der Tribune lib rig blieben zwei Gene- 
rale, die, vertieft in das militarische Spektakel, die Soldaten dem Schah 
vorzogen. Es war eine verregnete Parade. Dennoch bekamen an die- 
sem Tage die Soldaten der Wiener Garnison Schweinebraten, Salzkar- 
toffeln, Erbsen und Pilsner und pro Mann je ein Packchen ungarischer 
Zigaretten, genannt »Schmalspurige«. 

Auch am nachsten Tag regnete es, aber das hatte keine Bedeutung 
mehr. Denn das Schauspiel fand in der Spanischen Reitschule statt. Da 
man einen Tag vorher bemerkt zu haben glaubte, dafi der exotische 
Souveran die kalte Luft nicht leiden konnte, hatte man die Loge in der 
Reitschule mit dicken, wirklichen persischen Teppichen gepolstert, 
Schirasgeweben, uralten Stoffen aus den Gemachern der Burg, dicken 
Kissen aus rotem Samt, und auch die Fugen an den Tiiren hatte man 
mit diinnen Lederleisten vernagelt, damit es nicht ziehe. Es herrschte 
nahezu eine unertragliche Schwiile im Raum, obwohl er so weit war, 
Der Schah warf seine Pelerine ab. Die schwere Pelzmutze lastete 
furchterlich auf seinem Kopf. Mit dem rosa seidenen Taschentuch 
wischte er sich von Zeit zu Zeit den Schweift von der Stirn. Die Herren 
in seiner Begleitung taten das gleiche, teils, um zu zeigen, dafi es auch 
ihnen heifi war, teils, weil ihnen wirklich heift war. Diesmal aber ver- 
lieft der Schah von Persien nicht seine Loge. Zweitausendachthundert 
Pferde zahlte sein eigener Stall in Teheran. Ausgewahlter noch und 
weitaus kostbarer waren sie als die Frauen seines Harems. Dort, in den 
Stallungen des Schahs, gab es arabische Hengste, deren Riicken leuch- 
teten wie braunes Gold; Schimmel aus der beruhmten Zucht von Jeph- 
tahan, deren Haare weich und sanft waren wie Daunen und Flaum; 
agyptische Stuten, Geschenke aus dem Gehoft des machtigen Imam 
Arasbi Sur; kaukasische Steppenpferde, Geschenke des Zaren aller 
Russen; schwere pommersche Braune, fur schweres Geld gekauft beim 
geizigen Konig von Preufien; halbwilde Tiere noch, frisch geliefert aus 
der ungarischen Pufka, unzuganglich jeder menschlichen Hand, jedem 
menschlichen Zuspruch, und widerspenstig abschuttelnd die besten 
persischen Reiter. 
Aber was waren alle diese Tiere, verglichen mit den Lipizzanern der 



364 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

kaiser- und koniglichen Spanischen Reitschule. Die Militarkapelle, 
aufgebaut auf der Estrade gegeniiber der kaiserlichen Loge, spielte 
nach der persischen Hymne das »Gott erhalte«. Ein Reiter in persi- 
scher Tracht, wie sie der Schah nur auf den Portrats seiner Ahnen gese- 
hen hatte und niemals in Persien, eine hohe Lammfellmutze auf dem 
Kopf, durch die sich goldene, geflochtene, dicke Schniire zogen, einen 
blauen, golddurchstickten kurzen Mantel quer iiber eine Schulter ge- 
hangt, in hohen, rohledernen roten Stiefeln mit goldenen Sporen, ein 
krummes Turkenschwert an der Seite, ritt zuerst in die Arena. Den 
Schimmel, auf dem er safi, zierte ein blutrotes Gehange. Ein Herold, in 
weifter Seide, in weifien Eskarpins, in roten Sandalen, ging ihm voran. 
Alsbald begann der Schimmel, zu einer persischen Melodie, die aber 
dem Schah unbekannt-bekannt vorkam, sie stammte vom Kapellmei- 
ster Nechwal, wahrhaft geistreiche Bewegungen zu vollfiihren. In den 
Schenkeln, in den Hufen, im Kopf, im Hinterteil: uberall wohnte die 
Grazie. Kein Wort, kein Laut! Keine Rede von einem Kommando! 
Befahl der Reiter dem Schimmel, befahl der Schimmel dem Reiter? 
Lautlos war es ringsum. Aile Menschen hielten den Atem an. Obwohl 
sie so nahe der Arena safkn, daft sie beinahe Tier und Reiter hatten 
greifen konnen, blickten sie auf das Schauspiel durch Lorgnons und 
Operngucker. Nicht nahe genug konnte es sein. Der Schimmel spitzte 
die Ohren: Es war, als delektierte er sich an der Stille. Sein groftes, 
dunkles, feuchtes, kluges Auge musterte von Zeit zu Zeit die Herren 
und Damen im Ring, vertraut und stolz und priifend — und keines- 
wegs Beifall erwartend wie ein Schimmel im Zirkus. Einmal nur hob er 
den Blick zu der Loge Seiner Majestat, des Herrn von Persien, als 
wollte er fluchtig zur Kenntnis nehmen, fur wen er hierher beordert 
sei. In stolzem Gleichmut hob er den rechten Vorderfufi, leicht nur, als 
griifite er einen Gleichgesteliten. Hierauf drehte er sich einmal um sich 
selbst, weil es die Musik so zu erfordern schien. Hierauf trat er sacht 
mit den Hufen den roten Teppich, setzte plotzlich beim Klang der 
Tschinellen zu einem verbluffenden, aber edlen und noch im gespielten 
Ubermut mafivollen Sprung an, blieb plotzlich stehen, wartete eine 
Sekunde lang auf den suften Ton der Flote, um dann, da sie endlich 
kam, ihr zu gehorchen und in einem zarten, geradezu samtenen Trab 
in lediglich angedeutetem Zickzack den Launen des Orients gleichsam 
nachzugeben. Eine kurze Weile schwieg die Musik. Und in dieser Zeit 
der Stille horte man nichts mehr als den sachten, zartlichen Aufschlag 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 365 

der Hufe auf den Teppich. Im grofien Harem des persischen Schahs 
hatte - soweit er sich erinnern konnte - noch keine einzige seiner 
Frauen so viel Anmut, Wiirde, Grazie, Schonheit bewiesen wie dieser 
Lipizzaner Schimmel aus dem Gestiit seiner Kaiser- und Koniglichen 
Apostolischen Majestat. 

Ungeduldig nur wartete der Schah den Rest des Programms ab: die 
stille Eleganz der anderen Tiere, die ihm hierauf vorgefiihrt wurden; 
ihre graziose Klugheit; ihre schlanken, wunderbaren, zur Hingabe, 
Briiderlichkeit, Liebe lockenden Leiber; ihre kraftige Milde und ihre 
siifie Kraft: Der Schah dachte nur an den Schimmel. 
Er sagte dem Grofiwesir: »Kauf den Schimmel!« 
Der Grofiwesir eilte nach den Stallungen. Der Stallmeister Tiirling 
aber sagte mit der Wiirde eines kaiser- und koniglichen Ministers: 
»Exzellenz, wir verkaufen nichts. Wir schenken nur - wenn Seine Ma- 
jestat unser Kaiser es erlaubt.« 
Seine Majestat zu fragen, getraute sich keiner. 



VI 



Man erhob sich. In einer Viertelstunde begann der Ball. 
Im Redoutensaal warteten, in zwei Reihen aufgestellt, die Damen und 
Herren auf die Ankunft der Monarchen. Hie und da drang ein ver- 
schamtes Hiisteln aus der Brust eines alteren Herrn. Es war ein Hii- 
steln, das sich seiner selbst schamte, mehr noch als die Hustenden, die 
seidene Taschentiicher vor die Miinder hielten. Hie und da fliisterte 
eine Dame der andern etwas zu. Es war eigentlich kein Fliistern, es war 
gerade noch ein Hauchen, und dennoch klang es in dieser Stille bei- 
nahe wie ein Zischen. 

In dieser Stille vernahm man das sachte Aufstoften des schweren, 
schwarzen Stabes auf den roten Teppich wie ein ordentliches Klopfen. 
Alles blickte auf. Durch die von unsichtbaren Handen aufgerissenen 
Fliigel der weifien, goldumrahmten Doppeltlir kamen die Majestaten. 
Am entgegengesetzten Ende intonierte die Hofkapelle die persische 
Hymne. Der Schah griifite nach orientalischer Art, die Hand an Stirn 
und Brust fiihrend. Die Damen vollfiihrten den Hofknicks, und die 
Herren verbeugten sich tief. Wie durch ein Feld geknickter Ahren 
schritten die Majestaten, der Gast und der Gastgeber. Beide lachelten, 



}66 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

wie es die Uberlieferung befiehlt. Sie lachelten nach rechts und links, 
obwohl kein Mensch ihre Freundlichkeit sehen konnte. Sie lachelten 
blonden und schwarzen Damenfrisuren zu, blanken Mannerglatzen 
und straff gestriegelten Schekeln. 

Dreihundertzweiundvierzig Wachskerzen in silbernen Kandelabern 
erleuchteten und erhitzten den Saal. Der grofie kristallene Kronleuch- 
ter, der in der Mitte hing, trug nicht weniger als achtundvierzig. Die 
Kerzenflammchen spiegelten sich tausendfaltig in dem blanken Tanz- 
Oval des Parketts, so dafi es aussah, als ware der Boden gleichsam von 
unten her beleuchtet. Der Kaiser und der Schah safien auf einer schar- 
lachrot uberkleideten Etage, in zwei breiten Stiihlen aus spiegelndem 
Ebenholz, die aussahen wie geschnitzt aus schwarzer Nacht. Neben 
dem Kaiser von Osterreich stand der Hofzeremonienmeister. Sein 
schwerer, goldbestickter Kragen sog, trank, schlang ungesattigt das 
goldene Licht der Kerzen, strahlte es wider, glanzte, glitzerte, raffte 
gierig das Licht und verstreute es wieder grofimutig, wetteiferte gera- 
dezu mit den Kandelabern und iibertraf sie noch. Neben dem Schah 
stand der Grofiwesir, in schwarzer Uniform. Sein schwarzer Schnurr- 
bart hing furchterlich-majestatisch, wuchtig und schwer iiber seinem 
Mund. Er lachelte von Zeit zu Zeit in regelmafiigen Abstanden und so, 
als dirigierte irgendeine fremde Macht seine Gesichtsmuskeln. Dem 
Rang und der Wurde nach wurden die Damen und Herren der persi- 
schen Majestat vorgestellt. Er sah die Frauen genau an, mit seinen kin- 
dischen, gliihenden Augen, in denen alles enthalten war, was seine ein- 
fache Seele zu vergeben hatte: die Gier und die Neugier, die Eitelkeit 
und die Lusternheit, die Lieblichkeit und die Grausamkeit, die Klein- 
lichkeit und die Majestat trotz allem auch. Die Damen spiirten den 
gierigen, den neugierigen, den liisternen, den eitlen, den grausamen 
und majestatischen Blick des Schahs von Persien. Sie erschauerten 
leicht. Sie liebten den Schah, ohne es zu wissen. Sie Hebten seine 
schwarze Pelerine, seine rote, silberbestickte Mutze, seinen krummen 
Sabel, seinen Groftwesir, seinen Harem, alle seine dreihundertfunf- 
undsechzig Frauen, seinen Obereunuchen sogar und ganz Persien: den 
ganzen Orient liebten sie. 

Der Herr von Persien aber liebte in dieser Stunde ganz Wien, ganz 
Osterreich, ganz Europa, die ganze christliche Welt. Niemals in sei- 
nem so liebes- und frauenreichen Leben hatte er diese Erregtheit ge- 
fiihlt, - auch vor vielen Jahren nicht, als er, ein Knabe noch und kaum 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT }6j 

mannbar geworden, zum erstenmal die Frau erkannt hatte. Weshalb 
waren ihm in seinem heimischen Harem die Weiber gleichgiiltig und 
sogar lastig gewesen, und weshalb schien es ihm hier, in Wien, daft die 
Frauen ein wunderbares, ihm noch vollig unbekanntes Volk bildeten, 
ein seltsames Geschlecht, das es erst gait zu entdecken? Sein dunkel-. 
braunes Angesicht rotete sich sachte, seine Pulse schlugen heftiger, 
winzige Schweifiperlen standen auf seiner glatten, faltenlosen, jugend- 
lichen, unschuldigen bronzenen Stirn. Er fuhrte sein seidenes griines 
Tuch flink an die Augen. Er steckte es wieder in die tiefe Tasche, die 
im Innern seines Armels angebracht war, und seine schlanken, biegsa- 
men Finger begannen, immer schneller mit der kleinen Schnur aus gro- 
ften blaulichen Gurdi-Perlen zu spielen, die sein linkes Handgelenk 
umschmeichelten. Auch diese sonst so kiihlen Steine, die den Fingern 
immer kiihle Beruhigung bereitet hatten, schienen ihm heute heift und 
Unrast ausstromend. Ihm waren bis jetzt nur nackte und verhiillte 
Frauen bekannt gewesen: Korper und Gewander. Zum erstenmal sah 
er Verhiillung und Nacktheit auf einmal. Ein Kleid, das gleichsam von 
selbst fallen zu wollen schien und das dennoch am Korper haftenblieb: 
Es glich einer unverschlossenen Tur, die dennoch nicht aufgeht. Wenn 
die Frauen den Hofknicks vollfuhrten, erhaschte der Schah im Bruch- 
teil einer Sekunde den Ansatz der Brust, hierauf den hellen Schimmer 
des Flaums iiber dem weiften Nacken. Und der Augenblick, in dem die 
Damen mit beiden Handen die Schofte hoben, bevor sie ein Knie zu- 
nickstreckten, hatte fur ihn etwas unnennbar Keusches und zugleich 
unsagbar Siindhaftes, es war ein Versprechen, das man nicht zu halten 
gedachte. Lauter unverschlossene Tiiren, die man nicht offnen kann, 
dachte der Herr von Persien, der machtige Besitzer des Harems. Jede 
also halboffene und gleichzeitig abgesperrte Frau, jede einzelne war 
lockender als ein ganzer Harem, angefiillt mit dreihundertfunfund- 
sechzig ratsellosen, geheimnislosen, gleichgultigen Leibern. Wie uner- 
gnindlich muftte die Liebeskunst der Abendlander sein! Welch ver- 
trackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhullen! 
Was gab es in der Welt, das geheimer und entbloftter zugleich sein 
konnte als das Antlitz einer Frau! Ihre halbgesenkten Augenlider ver- 
rieten und verbargen, versprachen und verwehrten, enthiillten und 
verweigerten. Was war der Glanz der Diademe, die sie im Haar trugen, 
gegen den schwarzen, braunen, blonden Glanz dieser ihrer Haare 
selbst, und wieviel Farbentonungen gab es innerhalb dieser Farben! 



368 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Dieses Schwarz war blau wie eine Hochsommernacht und jenes hart 
und matt wie Ebenholz; dieses Braun war golden wie der letzte Grufi 
des versinkenden Abends und jenes rotlich wie das edle Ahornblatt im 
spaten Herbst; dieses Blond war heiter und leichtfertig wie der Gold- 
regen im Fruhlingsgarten und jenes matt und silbrig wie der erste Reif 
einer fruhen Morgenstunde im Herbst. Und zu denken, dafi jede ein- 
zelne dieser Frauen einem einzigen Mann gehorte oder bald angehoren 
wiirde! Jede einzelne ein behiiteter Edelstein! 

Nein! Daran wollte der Schah in diesem Augenblick nicht denken. 
Peinliche, schadliche Einfalle! Er war nach Europa gekommen, um das 
Einzige zu genieften, um das Vielfaltige zu vergessen, das Gehutete zu 
rauben, das hier herrschende Recht zu brechen, einmal nur, ein einzi- 
gesmal der Wollust des unrechtmafiigen Besitzes teilhaft zu werden 
und die ganz besondere, raffinierte Art der Europaer, der Christen, der 
Abendlandischen auszukosten. Als der Tanz begann - es war zuerst 
eine Polka-, verwirrten sich seine Sinne vollends. Er schlofi sekunden- 
lang seine grofien, schonen, goldbraunen, unschuldsvollen Rehaugen, 
er schamte sich selbst der Gier und der Neugier, die er in ihnen leuch- 
ten wufite. Alle gefielen ihm. Aber nicht das Geschlecht begehrte er. 
Er hatte Heimweh nach der Liebe, das ewige mannliche Heimweh 
nach der Vergotterten, der Gottlichen, der Gottin, der Einzigen. Alle 
Freuden, die ihm das Geschlecht der Frauen gewahren konnte, hatte er 
ja bereits genossen. Ihm fehlte nur noch eins: der Schmerz, den nur die 
Einzige bereiten kann. 

Er schickte sich also an zu wahlen, Immer mehr von den Frauen im 
Saal schied er aus. Bei der und jener glaubte er, mehr oder weniger 
verborgene Fehler entdeckt zu haben. Es blieb schliefilich eine, die 
Einzige: es war die Grafin W. Alle Welt kannte sie. 
Blond, hell, jung und mit jenen Augen begnadet, von denen man sagen 
konnte, sie seien eine merkwurdige Art von Veilchen mit VergifSmein- 
nichtblick, war sie seit drei Jahren, seit ihrem ersten Ball, der Gesell- 
schaft eine Augenweide, den Mannern ein ebenso begehrtes wie verehr- 
tes Wesen. Sie gehorte zu jenen Madchen, die in den langstvergangenen 
Tagen ohne jedes andere Verdienst als das der Anmut Verehrung genos- 
sen und Anbetung erwarben. Man sah ein paar ihrer Bewegungen, 
fuhlte sich reich beschenkt und war uberzeugt, daft man ihr Dank schui- 
dig sei. 
Sie war ein spat gezeugtes Kind. Ihr Vater konnte schon zu den greisen 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 369 

Dienern der Monarchic gezahlt werden. Er lebte einsam und lediglich 
seiner Mineraliensammlung ergeben auf seinem Gut in Parditz in Mah- 
ren. Manchmal vergaft er Frau und Tochter. In einer jener Stunden, in 
denen er gerade einen recht seltenen Malachit von einem Freund aus 
Bozen zugeschickt erhalten und seine Familie vollig vergessen hatte, 
lieft sich ein ihm unbekannter Sektionschef vom Finanzministerium 
melden. Es war der Graf W. Es war keineswegs, wie der Alte schon 
gehofft hatte, etwa ein Liebhaber von Mineralien, sondern lediglich 
der seiner Tochter. Jeden gewohnlichen Quarzstein hatte der alte Herr 
von Parditz wenigstens durch die Taschenlupe betrachtet. Den jungen 
Mann aber, der seine Tochter begehrte, sah er nur einen Augenblick 
durch das Lorgnon an. »Bitte!« sagte er ohne weiteres, » werden Sie 
gliicklich mit Helene.« 

Die junge Frau liebte ihren Mann, obwohl sie eine manchmal siifte, 
zuweilen lastige Erinnerung an den charmanten, zu besonderer Ver- 
wendung abkommandierten Baron Taittinger behalten hatte. Damals, 
als sie noch ein Madchen gewesen war und obwohl sie einen durchaus 
gerechten Blick fur all seine Vorziige gehabt hatte - sogar, wenn er 
sprach, schien es, als ob er tanzte-, war er ihr in dem Mafte gefahrlich 
erschienen, daft sie eines Tages begann, ihm mit frostiger Laune zu 
begegnen. Der arme Taittinger hatte zwar Phantasie genug, um sich 
einzubilden, daft er heftig und rettungslos verliebt sei, aber nicht so 
viel Ausdauer, wie in jenen Tagen dazu gehort hatte, das libliche Re- 
sultat hef tiger Liebesbemuhungen abzuwarten. Er war ein Kavallerist, 
zur besonderen Verwendung abkommandiert, hochmutig auch und, 
besonders nach einer Stunde mit dem Madchen, in der es ihm gesagt 
hatte, er moge vorlaufig gehn und sie sei nicht aufgelegt, mit ihm noch 
weiter zu sprechen, vollkommen iiberzeugt, daft es viele solcher Mad- 
chen schlieftlich gabe und daft seine Ehre auch etwas wert sei und viel- 
leicht mehr. 

Es war also, wie er sich sagte, endgiiltig, »ein Bruch«, und dies machte 
ihn dermaften »melancholisch«, daft er sich eines Tages entschloft, zu 
Fuft durch Sievering zu wandern. Was kummerte ihn Sievering? Es 
war noch schlimmer als langweilig: es war namlich »fad«. Einen Tag 
spater allerdings war es »charmant« geworden. - Das kam von der 
Mizzi SchinagL 



370 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

VII 

Leider liegen die Tage, in denen unsere Geschichte spieit, schon so 
weit zuriick, daft wir nicht mehr mit Sicherheit festzustellen vermogen, 
ob der Baron Taittinger recht hatte, als er der Meinung war, die Mizzi 
Schinagl sehe aus wie eine ZwillingsscWester der Grafin W. 
Er hatte, traurig und geradezu verzweifelt durch Sievering schlen- 
dernd, den lacherhchen Entschlufi gefafit, eine Tonpfeife zu kaufen. 
Und er trat in den Laden des Alois Schinagl ein. Er war darauf vorbe- 
reitet gewesen, einen alteren, wiirdigen Mann im Laden vorzufinden. 
Die Tiir hatte eine grelle Alarm glocke. Auch sie tiberraschte den Baron 
Taittinger nicht. Wohl aber iiberraschte, ja erschreckte es ihn, dafi statt 
des alten Pfeifenhandlers, den er erwartet hatte, ein Wesen hinter dem 
Ladentisch erschien, das er bereits sehr wohl zu kennen glaubte: wenn 
es nicht die Grafin W. personlich war, so war es gewifi ihre Schwester. 
Er beschlofi zuerst, langere Zeit die Pfeifen zu priifen, von denen er 
allerdings gar nichts verstand. 

Es waren lacherliche Pfeifen und lacherliche Preise. Wahrend er vor- 
gab, die Pfeifen zu priifen, jede einzelne an den Mund fiihrte, durch 
jede hindurchblies - so wie er es einmal gesehn zu haben glaubte, als er 
seinen gottseligen Herrn Papa, den alten Hofrat Taittinger, zum Pfei- 
fenkaufen in Olmiitz begleitet hatte-, beobachtete er verstohlen, aber 
inbriinstig das zarte Gesicht der Doppelgangerin. Ja, kein Zeifel, sie 
sah aus wie die Grafin W.: das gleiche Veilchenauge mit dem Vergifi- 
meinnichtblick; der gleiche Haaransatz uber der niederen Stirn; der 
gleiche aschblonde Knoten im Nacken - man sah ihn, sooft sich das 
Madchen umwandte, um nach neuen Pfeifen auf den Regalen an der 
Wand zu suchen; der gleiche Augenaufschlag und das gleiche siiEe und 
zugleich mokante Lacheln; die gleichen scharfen Eckzahne, die sich 
bei jedem Lacheln enthtillten; die gleichen Handbewegungen und die 
gleichen lieben Griibchen an den Armen, zu beiden Seiten der Ellen- 
bogen. 

Die goldenen Knopfe der Rittmeister-Uniform verbreiteten einen im- 
mer starkeren Glanz im Laden, je defer der Abend wurde. Man hatte 
noch ganz deutlich die Pfeifen sehen konnen, aber dem Madchen, der 
Doppelgangerin der Grafin W., wurde es unbehaglich, allein, wie sie 
war mit dem fremden Offizier, und sie entziindete den Rundbrenner 
uber dem Pult, rechts vom Verkaufstisch. Das Licht flackerte und 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT }Jl 

blakte zuerst. Taittinger kaufte fiinfzehn nutzlose Tonpfeifen. Er 

fragte noch: »Was ist eigentlich Ihr Herr Vater, liebes Fraulein?« 

»Der Ofensetzer Alois Schinagl!« sagte das Madchen. »Pfeifen 

macht er auch, aber nur nebenbei. Aber die meiste Kundschaft sind 

halt die Leut', die Ofen brauchen. Zu uns kommt selten einer ins 

Geschaft, Pfeifen haben die Leut' alle eh schon.« 

»Ich komme«, sagte der Baron Taittinger, »morgen noch einmal. Ich 

brauche viele Pfeifen.« 

Er kam am nachsten Tag mit dem Diener, und er kaufte nicht weni- 

ger als sechzig Pfeifen. 

Drei Tage spater kam er wieder nach Sievering, er fand es »char- 

mant«. Es war Samstag, drei Uhr nachmittags, und Mizzi begriifite 

ihn wie einen alten Bekannten, obwohl Taittinger diesmal in Zivil 

war. Es war warm und golden drauften. Mizzi schloft den Laden 

und stieg in den Fiaker und man fuhr zum Kronbauer. 

Man fuhr zum Kronbauer und erzahlte drei Stunden spater dem 

fremden Herrn, daft man eigentlich schon so gut wie verlobt war. 

Verlobt war man mit Xandl Parrainer, Friseur und Penickenmacher. 

Jeden Sonntag ging man mit ihm aus. 

Das waren Geschichten, die den Taittinger gar nicht kummerten 

und die er auch nur halb verstand. Eigentlich glaubte er, dieses 

brave Madchen wolle ihm einen guten Barbier empfehlen. »Schick 

ihn nur zu mir«, sagte er, »schick ihn nur! Herrengasse 2, erster 

Stock. « 



VIII 

Sehr bald fand Taittinger, daft ihn die Mizzi langweilte. Eines Tages 

teilte sie ihm mit, daft sie schwanger sei, und dieser Zustand war 

schlimmer als langweilig: namlich fad. 

Die Folge dieser Erkenntnis war, daft Taittinger zum Notar ging. 

Taittinger liebte weder die Grafin W. mehr noch die Schinagl, die 

ihr ahnlich sah. Er liebte nur noch, wie gewohnlich, sich selbst. 

Wie es in jenen Tagen die Sitte befahl, riet der Notar zu einer Pfaid- 

lerei. Alle Herren, deren Geschafte er verwaltete, hatten Pfaidlereien 

eingerichtet. Alle Damen befanden sich noch heute wohl dabei. 

Der Baron nahm also einen Urlaub von zwei Monaten und reiste in 



37^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

die Bacska, zu einem Onkel seiner Mutter, wo ihn keine Post erreichen 

konnte. 

Es erreichte ihn auch kein einziger der heftigen Liebesbriefe, die Mizzi 

Schinagl unentwegt schrieb. Sie schrieb diese Liebesbriefe an die ein- 

zige Adresse Taittingers, die sie kannte: an die Herrengasse 2. Der 

Doktor Maurer, der Sekretar Taittingers, der die Schriften auseinan- 

derzuhalten wufite, zerrifi die Briefe, ohne sie gelesen zu haben. 

AIs der Baron Taittinger aus der Bacska zuriickkehrte, war die Pfaidle- 

rei der Mizzi Schinagl in der Porzellangasse bereits eingerichtet und im 

Gange. Mizzi Schinagl war im neunten Monat. 

Sie gebar einen Sohn, und sie nannte ihn Alois Franz Alexander. Alois 

Franz hieft der natiirliche Vater; Xandl hiefi der Brautigam, der Fri- 

seur. 

Die Pfaidlerei ging gut, der Friseur war immer noch bereit, Mizzi zu 

heiraten. Auch hatte sie selbst durchaus Verlangen nach einem ruhigen 

und ehrlichen Dasein. Allein, es ging in ihr, dieweil sie derlei vernunf- 

tige Plane iiberlegte, auch die Liebe durch das Herz und durch den 

Kopf, und es war die Liebe zu Taittinger. Ihr Kind schien ihr grofiartig 

geraten. Nicht einen Augenblick vermochte sie die Hoffnung aufzuge- 

ben, dafi der Baron Taittinger kommen wiirde, um die Frucht seiner 

Lenden zu sehen. Aber der Taittinger kam nicht. 

AIs Xandl drei Jahre alt war, lernte Mizzi Schinagl auf einer Bank im 

Schonbornpark, durch Zufall sozusagen, eine geschwatzige und gefal- 

lige Frau kennen, die ihr sagte, es gabe da ein Haus auf der Wieden, da 

ware man gut aufgehoben - und noble Menschen verkehrten dort - 

und was ware schon eine Pfaidlerei - und was ware das iiberhaupt 

schon fur ein Leben so, mit einem Kind und unverheiratet und mit 

einer Pfaidlerei. Was war das fur ein Leben? Mizzi Schinagl hatte es 

schon oft selber gedacht, wortlich das gleiche. 

»Was sind das fur noble Menschen, die dort verkehren?« fragte Mizzi 

Schinagl. 

»Die nobelsten«, erwiderte die fremde Frau. »Namen kann ich Ihnen 

auch sagen. Ich mufi nur die Liste holen.« 

Sie eilte dahin und brachte die Liste. 

Die Mizzi wufite selbst nicht, weshalb sie zur Frau Matzner am nach- 

sten Tage ging. Was kummerte sie die Frau Matzner? Was hatte sie 

jemals von der Frau Matzner gehort? Es war Sommer, Spatsommer. Es 

war auch sehr heifi. Verspatete, immer noch leichtsinnige Amseln flo- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 373 

teten auf dem immer noch griinen Rasen, zwischen dem Kopfstein- 
pflaster. Es schlug sechs Uhr, als sie vor dem Hause der Josephine 
Matzner stand. »Josephine Matzner, Masseurin, liter Stock, dreimal 
lauten« war unten gedruckt. Sie lautete dreimal. 

Ein geradezu niederschmetternder Duft von Maiglockchen, von Flie- 
der, von Veilchen, von Verbenen, von Reseda schlug Mizzi entgegen. 
Noch eh* sie wuftte, was mit ihr geschah, stand sie in dem sogenannten 
rosa Salon: Aus rosa Seide waren die Vorhange vor den Fenstern; aus 
rosa Seide die Vorhange vor der Tiir; aus rosa Rosen bestand die Ta- 
pete; in eine Rosenknospe aus Porzellan ging selbst der Knopf der 
Turklinke aus, 

Eines Tages, eines Abends vielmehr, kommt er, der geliebte Taittinger. 
Seit vielen Jahren ist er im Haus der Josephine Matzner heimisch. 
Als er die Mizzi Schinagl in diesem Hause erblickte, war er durchaus 
nicht erstaunt, wie es wahrscheinlich viele andere Manner an seiner 
Stelle gewesen waren, sondern er strengte sich an, eine den Umstanden 
angemessene Frage zu finden. Er erinnerte sich nicht mehr, auf welche 
Weise sein Notar die Mizzi Schinagl abgefunden hatte, ob durch eine 
Wascherei, Naherei oder Pfaidlerei. Dagegen glaubte er sich genau 
erinnern zu konnen, daft Fraulein Schinagl ein Kind weiblichen Ge- 
schlechts von ihm bekommen hatte, und eine hofliche Frage nach dem 
Befinden dieser Kleinen hielt er wohl fur angebracht. »Griift Gott!« 
sagte er also. »Was macht unsere Kleine?« 

»Wir haben einen Buben!« sagte die Mizzi, und sie errotete zum er- 
stenmal wieder nach langen Jahren, als hatte sie nicht etwa die pure 
Wahrheit gesagt, sondern eine Luge. 
»Ach ja, es ist ein Bub!« sagte der Baron. »Entschuldige!« 
Eine Weile spater bestellte er Champagner, um mit Mizzi auf das Wohl 
dieses Buben, seines Buben, zu trinken. Er horte nicht mehr alles, was 
die Mizzi vom Buben erzahlte. Er horte nicht, daft er gut unterge- 
bracht war bei Frau Schyschka, einer Frau, die zwar aus Bielitz-Biala 
stammte, aber dennoch durchaus zuverlassig war. Sie verwaltete auch 
die Pfaidlerei, die ganz gut ging. Insoweit war Mizzi Schinagl zufrie- 
den. Sie trug ein tiefausgeschnittenes weiftes Seidenkleid, und von Zeit 
zu Zeit nestelte sie an ihrem rechten Strumpfband, offenbar um sich zu 
iiberzeugen, daft ihr Geld, ein Zehnguldenschein, den sie heute erwor- 
ben hatte, noch vorhanden war. Obwohl sie wuftte, daft der Baron nur 



374 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

aus Gewohnheit zu der Josephine Matzner gekommen war, begann sie 
sich nach zwei Glasern Champagner einzureden, er sei ihretwegen al- 
iein gekommen. Alsbald schien es auch dem Rittmeister so, daft er der 
Mizzi wegen heute den Weg hierher genommen hatte. Der Baron hatte 
ein kleines Herz, aber es war ebenso schnell geriihrt wie vergefilich. Er 
mochte die Mizzi noch sehr gerne, und er fragte sich, warum er sie 
eigentlich verlassen habe. Er begehrte sie sogar, aber es gab nur ein 
gewaltiges Hindernis: Es schien ihm einfach unschicklich, eine Frau zu 
kaufen, die man umsonst gehabt hatte, sozusagen umsonst, abgesehen 
von der Pfaidlerei. Es war ebenso unschicklich, wenn nicht noch un- 
schicklicher, eines der anderen Madchen zu nehmen, sozusagen vor 
den Augen der Mizzi. In der Hoffnung, dafi er dadurch alien peinli- 
chen Uberlegungen entgehen konnte, gab er der Mizzi zuerst ein 
Geldstiick, ein goldenes Fiinfguldenstuck. Sie nahm es in die Hand, 
spuckte darauf und sagte: »Gehn wir hinauf, zu mir, ich hab' ein nettes 
Kabinett!« 

Der Baron ging ins Kabinett und blieb dort bis Mitternacht, in Erinne- 
rungen versunken. Er versprach, oft wiederzukommen, und er hielt 
auch sein Versprechen. Er wufke nicht, ob ihn ein Fluch trieb oder ein 
Segen; ob er eigentlich die Grafin liebte oder die Mizzi; ja ob er iiber- 
haupt liebte; ob er iiberhaupt noch der alte Taittinger war. Es fehlte 
nur noch wenig, und er ware imstande gewesen, sich selbst in die dritte 
und letzte Kategorie der Menschen einzureihen: in die Kategorie der 
»Langweiligen«. 



IX 

Der machtige Herr von Persien, der Herr der dreihundertfunfund- 
sechzig Frauen und der funftausenddreihundertzehn Rosen von Schi- 
ras war nicht gewohnt, ein Begehren, geschweige denn eine Begierde 
zu unterdriicken. Kaum hatte sein Auge die Grafin W. auserkoren, 
und schon winkte er dem Groftwesir. Der Groftwesir neigte sich iiber 
die Sessellehne. »Ich hab' dir was zu sagen«, fliisterte der Schah. »Ich 
mochte«, sagte der Schah weiter, »die kleine junge Frau heute, die sil- 
berblonde, du weifk, welche ich meine.« 

»Herr«, wagte der Groftwesir zu erwidern, »ich weift, welche Eure 
Majestat meinen. Aber es ist, es ist — « Er wollte »unmoglich« sagen, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 375 

aber er wufite wohl, dafi solch ein Wort das Leben kosten konnte. Also 

sagte er: » — es ist hierzulande sehr langsam!« 

»Heute!« sagte der Schah, dem nichts von dem, was er befohlen hatte, 

unausfuhrbar erschien. 

»Heute!« bestatigte der Minister. 

Der Tanz war eine Weile unterbrochen. Der Herr und der Diener be- 

gaben sich wiirdig und langsam zu ihren Platzen zuriick. Der Kaiser 

lachelte ihnen freundlich entgegen. Die Musik setzte wieder ein. Der 

Tanz begann aufs neue. 

Vor Mitternacht erhoben sich die Majestaten. Sie verschwanden, die 

doppelfliigelige Tiir hinter den Thronsesseln verschlang sie. 

Der Schah wartete in einem Nebenraum. Ihm gegeniiber und so, dafi 

er sie genau betrachten kann, steht eine Diana aus Silber auf einem 

schwarzen, runden Brett, Sie scheint ihm das getreue Abbild der be- 

gehrten Frau zu sein. Alles in diesem Raum erinnert iiberhaupt an die 

begehrte Frau: der dunkelblaue Diwan, die seidene blafiblaue Tapete, 

der Flieder in der schlankhalsigen Majolikavase, der kristallene Luster 

sogar, der wunderbare Schwung des vierfu&gen Leuchters mit den 

vier schlanken Armchen und das silberne Ornament auf dem tief- 

blauen, samtenen Teppich zu Fiifien des Herrn von Persien. Man war- 

tet, man waited Und der Schah ist nicht gewohnt zu warten. 

Er mufi leider warten. Kaum zwanzig Meter von ihm entfernt findet 

eine Konferenz statt, deren Teilnehmer sind: der Groftwesir, der Hof- 

zeremonienmeister und der Adjutant Seiner Majestat. Man beschliefit, 

auch den Polizeiprasidenten herbeizurufen. Und man sieht trotzdem 

keinen Ausweg: Der Grofiwesir mochte seinen Freund, den Adjutan- 

ten Kirilida Pajidzani, zur Seite haben, er wird ihn suchen lassen, er 

laik ihn schon suchen. Man findet ihn nicht, den jungen, lebensluster- 

nen, schonen Pajidzani. 

Was steht zur Debatte? Es handelt sich darum, ob man die Gesetze des 

Anstands oder ob man die Gesetze der Gastfreundschaft verletzen 

darf. 

Der Hofzeremonienmeister lehnte mit wiirdiger Entschiedenheit ab; 

der Adjutant des Kaisers ebenfalls. Es war selbstverstandlich. Es kam 

fur keinen von den beiden Herren in Betracht, etwa Seine Majestat in 

Kenntnis zu setzen von dem sonderbaren Wunsch des hohen Gastes. 

Aber es kam auch nicht in Betracht, dem hohen Gast einen Wunsch zu 

verweigern. 



yjd ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Der Polizeiprasident sagte schliefilich, dafi man einen geeigneten Mann 

finden miisse, einen vom privaten Festkomitee. Und kaum war das 

Wort vom »privaten Festkomitee« gefallen, als der Hofzeremonien- 

meister den Namen Taittinger ausrief. 

Man beschlofi, eine Pause eintreten zu lassen. Zwei Herren begaben 

sich in den blauen Raum zum wartenden Schah. Er safi wurdig in sei- 

nem Sessel, spielte mit seinem Perlenarmband und fragte nur: 

»Wann?« - »Es handelt sich nur darum«, log der Groftwesir, »die 

Dame zu finden. Im Gewirr des Festes ist sie verschwunden. Wir su- 

chen sie mit alien Kraften.« 

»Mit alien Kraften« suchte man indessen nicht die vom Schah ersehnte 

Dame, sondern den Taittinger. 

Der Schah winkte mit der Hand, er sagte nur: »Ich warte!« 

Es war Geduld und Nachsicht, aber auch Drohung in der Stimme der 

Majestat. 

Einer der mondanen Spitzel, deren Aufgabe es war, das Gehn und 
Kommen, die Sitten und Gewohnheiten, die Unsitten und die Unarten 
und die Freundschaften und die Beziehungen der Herrschaften zu be- 
obachten, meldete dem Polizeiprasidenten, dafi sich der Baron Taittin- 
ger seit einer Stunde im Vestibiil befinde, in der Kammer des Lakaien, 
beschaftigt mit der Tochter Wesselys, des Kommandierenden der Gar- 
deroben. Der Polizeiprasident ging unverziiglich an den angegebenen 
Ort. Der zur besonderen Verwendung abkommandierte Rittmeister 
erhob sich, als es klopfte. Er ging zur Tur. Er fiirchtete sich keineswegs 
etwa vor der Schande, auf einer jener Missetaten ertappt zu werden, 
die nicht nur selbstverstandlich waren, sondern sogar geboten erschie- 
nen: Es handelte sich ihm darum, vor der Welt zu verbergen, dafi er 
sich mit der Wessely abgab, der Tochter des Garderobemeisters. Er 
wuftte nicht, der arme Taittinger, daft der Geheime Vondrak ihn langst 
schon beobachtete. 

Taittinger richtete seine Bluse und ging zur Tur. Er erkannte den Poli- 
zeiprasidenten, schloft daraus, daft man bereits von der kleinen Wes- 
sely wufke, und bemuhte sich infolgedessen auch gar nicht mehr, die 
Tur hinter sich zuzuziehn, als er in den Korridor trat. 
»Baron, ich bitte Sie, sofort!« sagte der Polizeiprasident. 
»Servus!« rief Taittinger zur offenen Tiir hinein der Wessely zu. 
Er fragte, wahrend er neben dem Polizeiprasidenten die flachen Stufen 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 377 

emporstieg, nicht, warum man ihn gerufen hatte. Er ahnte schon, daft 
es sich urn eine aufierst schwierige Angelegenheit handeln wiirde, eine 
Angelegenheit im Zusammenhang mit seiner Verwendung. 
Ja, nicht umsonst hatte man ihn seinerzeit abkommandiert. In ge- 
wohnlichen Situationen versagte er vielleicht; in auftergewohnlichen 
funktionierte seine Phantasie. Dort, wo die drei Herren entgeistert und 
ratios waren, im kleinen Zimmer, erschopft vom Nachdenken, bleich 
aus Furcht, beinahe krank vor Ratlosigkeit, erschien der Rittmeister 
Taittinger munter wie ein junger Wind. Und nachdem ihm die andern 
in angstlich gefliistertem Franzosisch ihre Sorgen erzahlt hatten, rief 
er, wie gewohnlich, als safte er beim Tarock, in seinem ararischen 
Deutsch, das an alle Kronlander der Monarchic gleichzeitig zu erin- 
nern schien: »Aber meine Herren! Das ist ja sehr einfach!« 
Alle drei horchten auf. 

»Es ist sehr einfach!« wiederholte Taittinger. Im Nu, in der gleichen 
Sekunde, in der er gehorte hatte, daft es sich urn die Grafin W. han- 
delte, war in ihm ein ihm bis dahin noch fremd gewesener Haft er- 
wacht, eine Art erfinderischer Rachsucht, einer aufterst erfinderischen, 
einer phantasiereichen, einer geradezu dichterischen Rachsucht. Sie 
sprach aus ihm: »Meine Herren !« sagte er. »Es gibt viele, unzahlige, es 
gibt unzahlige Frauen in Wien! Seine Majestat, der Schah - ich will 
nicht sagen, daft er einen schlechten Geschmack hat, im Gegenteil, 
ganz im Gegenteil! Aber seine Majestat hat begreiflicherweise niemals 
Gelegenheit gehabt zu erfahren, was es fur — fur — sagen wir, Anna- 
herungen gibt.« 

Er dachte an sich und selbstverstandlich an Mizzi Schinagl. Es schien 
ihm auf einmal - und zum erstenmal in seinem unbeschwerten, leicht- 
fertigen Leben schien es ihm, daft er Herz und Seligkeit fur immer 
verloren habe. Ein unerklarlicher Haft gegen die Grafin W. ergriff ihn, 
und es erfullte ihn der ihm selbst noch weniger erklarliche Wunsch, 
der Schah mochte sie wirklich besitzen. Eine nie gekannte Wirrnis wii- 
tete in seiner Seele: Wahrend er noch wiinschte, die Frau, die er geliebt 
hatte und die er in diesem Augenblick aufs neue zu lieben glaubte, 
mochte schandlicherweise dem Perser ausgeliefert werden, begehrte er 
auch schon und im gleichen Augenblick, diesen schimpflichen Vor- 
gang um jeden Preis zu vermeiden. Er erfuhr plotzlich, daft er immer 
noch unglucklich liebte; daft er rachsiichtig war - aus ungliicklicher 
Liebe; daft er aber zugleich den Gegenstand seiner Rachsucht und sei- 



378 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ner Liebe zu bewahren hatte, als gehorte er ihm allein; dafi er nicht 
einmal die Doppelgangerin der geliebten Frau, die Schinagl namlich, 
ausliefern durfte; und dafi er dennoch, auf einem Umweg zwar, aber 
dennoch, verraten, verkaufen, beschamen und beschimpfen miifite. 
»Es ist leicht, meine Herren«, sagte er, und wahrend er dieses aus- 
sprach, schamte und freute er sich zugleich, »es ist leicht, Doppelgan- 
ger im Leben zu finden. Fast jeder von uns - nicht wahr, meine Her- 
ren? - hat einen. Die Damen haben Doppelgangerinnen, warum auch 
nicht? Die Damen haben Doppelgangerinnen - nun, sagen wir: auch 
unter den kasernierten Damen. Der Herr Polizeiprasident wird wis- 
sen, was ich meine! - Dadurch ersparen wir uns sehr viel Arger. Ich 
meine, wir ersparen uns eine aufkrst peinliche, um nicht zu sagen: 
penible Belastigung Seiner Majestat, alle Ratlosigkeit, alle Unfreund- 
lichkeit.« Er hielt »penibel« fiir starker als »peinlich«. 
Die Herren verstanden im Nu, um was es sich handelte. Sie sahen nur, 
ein wenig besorgt, den Grofiwesir an, der aber sein konstantes, hofli- 
ches Lacheln nicht aufgab. Er wollte - man begriff es - nicht zugeben, 
dafi auch er verstanden hatte. Auch er bewunderte die ingeniose Phan- 
tasie des Rittmeisters. »Die Herren sind einig?« fragte er auf franzo- 
sisch, gleichsam um zu unterstreichen, dafi er nicht imstande gewesen 
sei, das Deutsch Taittingers zu verstehen. »Darf ich meinem Herrn 
Nachricht geben?« 

»Wir werden die Dame bald ausfindig machen, Exzellenz!« sagte Tait- 
tinger und verneigte sich. 

Fiinf Minuten spater sahen die beharrlich Neugierigen, die trotz der 
spaten Stunde auf der Strafie warteten, in der vagen und armen Hoff- 
nung, einen Grafen, einen Fiirsten, einen Erzherzog gar in eine der 
Kutschen und Fiaker einsteigen zu sehen, nicht weniger als achtzehn 
Herren in Zylinder und Frack herauskommen. Ach, es waren keine 
Prinzen. Es waren die Geheimen von der Spezial-Abteilung, die »Spe- 
zis«, wie man sie nannte, die Kenner, Beobachter und Spitzel der 
Oberwelt, der Halbwelt und der Unterwelt. Die zwei Wachleute, die 
vor dem Eingang patrouillierten, erkannten sie wohl. Die Wachman- 
ner pfiffen, die Gummiradler kamen heran. Die Herren stiegen ein. 
Alle diese Manner kannten die Damen und die Herren aller drei Wel- 
ten, wie gesagt: der Ober-, der Halb- und der Unterwelt. Ihr Anfuhrer 
war ein gewisser Sedlacek. Er hatte vor der Abfahrt dem Polizeiprasi- 
denten versichert: »Keine Angst, Exzellenz! In einer halben Stunde, in 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 379 

einer Stunde hochstens, ist die Frau Grafin hier, ich will sagen: ihre 
Zwillingsschwester.« Man konnte sich auf Sedlacek verlassen. Er 
brauchte keine Photographien. Alle Gesichter hatte er im Kopf. Er 
kannte die Grafin W. Er kannte den Baron Taittinger. Er kannte die 
hoffnungslose Liebe des Rittmeisters zu der Grafin. Er kannte auch die 
Art, in der sich Taittinger getrostet hatte. Er kannte Mizzi Schinagl, 
ihren heutigen Aufenthaitsort und nicht nur das: ihre Herkunft, den 
Laden in Sievering und ihren Vater. Dennoch hatte er, ganz im Gegen- 
satz zu dem Baron, die deutliche Empfindung, daft Mizzi Schinagl der 
von der persischen Majestat so ersehnten Grafin sehr wenig ahnlich 
sah, insbesondere, weil sie sich wahrscheinlich im Hause der Frau 
Matzner arg verandert hatte. Immerhin: sie blieb noch zu verwenden, 
fur den Fall, daft seine Leute nicht ein noch ahnlicheres Modell ausfin- 
dig machen konnten. 

Alles schien - vorlaufig wenigstens - in Ordnung gebracht worden zu 
sein, und fur die Dauer einer Stunde, oder einer halben Stunde zumin- 
dest, hofften die in die Affare verwickelten beziehungsweise mit ihr 
vertrauten Herren, ein wenig aufatmen zu konnen. Da aber geschah 
etwas in den Annalen der kaiser- und koniglichen Hofgeschichte noch 
nie Dagewesenes: Der Gast des Kaisers von Osterreich erschien wie- 
der im Saal. Man teilte es sofort dem Kapellmeister mit, und sofort 
auch intonierte die Kapelle die persische Nationalhymne. Wie Blei 
legte sie sich auf alle Glieder. 

Er aber sah nichts, horte nichts, griiftte nicht. Nach einigen Minuten 
mischte er sich einfach unter die Gaste. Er wandelte durch den Saal. Er 
bemerkte gar nicht, daft ihm die Leute auswichen und daft sie ganze 
breite Straften vor ihm bildeten und daft sich gleichsam die Welt vor 
ihm spaltete. Unentwegt spielte die Musik Walzer von Strauft, aber ein 
Unmut lahmte alle Anwesenden. 

Der Baron Taittinger hatte ihn sofort erspaht. Er wuftte sofort, nach 
wem der Schah Ausschau hielt. Die Zeit rann unaufhaltsam, bald muft- 
ten die »Spezis« kommen. Es muftte auf jeden Fall verhindert werden, 
daft der Schah innerhalb der nachsten halben Stunde etwa in ein Ge- 
sprach mit der Grafin geriet. Man konnte diesen Schah jedenfalls nicht 
aus dem Redoutensaal entfernen. Man muftte also die Grafin nach 
Hause schicken. 

Um das Allerschlimmste zu verhiiten, beschloft der Baron, mit dem 
Grafen W. zu sprechen. 



380 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Er naherte sich dem kleinen Tisch, an dem der Graf allein safi. Er 
tanzte nicht gern. Er spielte nicht gern. Er trank nicht einmal gern, 
Eifersucht war seine einzige Leidenschaft. Er freute sich an ihr, er lebte 
von ihr. Es bereitete ihm ein wiistes Vergniigen, wenn er so zusah, wie 
seine junge Frau dahintanzte. Er haftte die Manner. Es schien ihm, dafi 
sie alle auf seine Frau lauerten. Von alien Mannern, die er kannte, war 
und blieb ihm der Rittmeister Taittinger der Hebste, der einzig liebe. 
Den hatte er bereits erledigt, vernichtet, er kam nicht mehr in Betracht. 
Taittinger ging unmittelbar auf die Hauptsache ein. 
»Graf«, sagte er, »ich mufi mit Ihnen ernstlich sprechen. Unser persi- 
scher Gast ist verliebt in Ihre Frau!« 

»Nun?« sagte der kaltbliitige Graf. »Es ist kein Wunder. Viele lieben 
sie, lieber Baron!« 

»Ja aber, lieber Graf, der Schah, wissen Sie, nun Sie kennen ja den 
Orient!« Er schwieg eine lange Weile. Er sah inbriinstig, gewalttatig 
und doch zugleich auch flehentlich das kalte, stumpfe, blonde Gesicht 
des Grafen an, eine Art blonden Karpfens . . . 

»Sie kennen ja den Orient! « begann er, schon verzweifelt, von neuem. 
»Der Orient interessiert mich nicht«, sagte der Stumpfe, und seine 
blafiblauen Augen suchten nach der schonen Frau. 
Um Gottes willen! dachte Taittinger. Weifi der wirklich nicht, was der 
Schah will? Wie kann er so gleichgiiltig sein? Er ist ja sonst so eifer- 
suchtig. 

»Wissen Sie, der Schah geht mich gar nichts an!« sagte der Graf. »Auf 
die Orientalen bin ich nicht eifersuchtig.« 

»Gewifl, gewifi! Nein, nein!« rief der Rittmeister. Nie in seinem Leben 
hatte er sich in solch einer peniblen Situation befunden. Ubrigens be- 
gann in ihm schon der stille Vorwurf zu nagen, dafi er sich ja selbst in 
diese penible Situation gebracht hatte! Er spurte auf einmal die zu- 
dringliche Hitze der Kerzen, einen leuchtenden Wiistensturm, und die 
eigene Torheit, die ihm aufterdem eine innere Hitze verursachte. Schon 
fing er zu schwitzen an, aus Angst hauptsachlich. Es mufite heraus, er 
konnte es nicht langer zuriickhalten. Und in einem wahren Anfall von 
Attackengeist sprudelte er den Satz heraus: »Ich meine, man mufi die 
Grafin fur eine Weile aus dem Saal retten!« 

Der Graf, der eben noch so stumpf und fade dagesessen war, wurde rot 
im Gesicht. Ein boser Zorn verdunkelte seine hellen, blassen Auglein. 
»Was erlauben Sie sich?« rief er. Taittinger blieb sitzen. »Bitte, mich 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 381 

ruhig anzuhoren«, sagte er. Er nahm seine letzten Krafte zusammen und 
fuhr fort: »Es handelt sich darum, die Ehre Ihrer Frau, Ihre, die Ehre all 
dieser Damen hier im Saal zu behiiten. Der Herr aus Teheran darf heute 
der Grafin keinesfalls mehr begegnen. Sehen Sie hin, wie er beutegierig 
durch den Saal wandelt. Er ist der Gast Seiner Majestat. Er ist ein 
gekrontes Haupt. Er ist auch ein politischer Gast. Seine Schamlosigkei- 
ten konnen wir nur durch eine List abwenden. In einer halben, einer 
Viertelstunde«, der Rittmeister sah auf die Uhr, »ist alles geregelt. Ich 
beschwore Sie, Graf, bleiben Sie ruhig, erlauben Sie mir, mit der Grafin 
fiinf Minuten zu sprechen.« 

Der Graf setzte sich, kalt und wieder blaft, wie er von Natur war. »Ich 
werde sie holen!« sagte der Rittmeister. 
Er erhob sich sofort, erleichtert und trotzdem Bangnis im Herzen. 



X 



Lange noch war das Schwerste nicht uberwunden. Es war nicht leicht, 
einer Frau in passenden Worten die Tatsache mitzuteilen, daft sie der 
Schah sozusagen als Gastgeschenk begehrte. Der Frau konnte man die 
ganze Geschichte keineswegs erzahlen. Der Polizeiprasident, der sich 
mit dem Minister des Innern unterhielt, wandte sich dem Rittmeister 
freundlich zu, und so, als hatte er ihn seit Tagen nicht mehr gesehn. Der 
Minister bat um Entschuldigung und entfernte sich sofort. Der Rittmei- 
ster fragte: »Ist der Sedlacek schon zuriick?« Das Angesicht des Polizei- 
prasidenten verriet hochstes Erstaunen. 

Eine Sekunde spater begriff Taittinger schon, worum es sich handelte. 
Der Polizeiprasident wollte von nichts wissen, bis ans Ende seines Le- 
bens wurde er von nichts wissen wollen. Der Rittmeister sagte nur: »Ich 
komme sofort !« und entfernte sich, so schnell es die Umstande erlaub- 
ten. Er begriff zwar, daft der Polizeiprasident partout leugnen wiirde, 
aber er ahnte noch lange nicht, was fur Folgen der ganze Plan haben 
sollte. Er ging geradewegs auf die Grafin zu. »Ihr Mann schickt mich«, 
sagte er. 

Nun, es ging vorlaufig alles gut. Der Wagen fuhr vor. Die Grafin W. und 
ihr Mann stiegen ein. Bevor der Graf noch dem Kutscher etwas sagen 
konnte, rief Taittinger mit einer verzweifelten Geistesgegenwartigkeit 
zum Bock empor: »Nach dem Prater! Die Herrschaften wollen Luft!« 



382 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Gleich darauf, als die laudos en Rader schon im Rollen waren und man 
lediglich das elegante, sachte Trappeln der beiden Braunen horte, 
schamte sich der Rittmeister seines erbarmlichen Zurufs. Ich habe 
wirklich zuviel getrunken, dachte er, oder ich bin von Sinnen. 
Aber er war nicht von Sinnen: er hatte richtig vorausgesehen. Denn es 
war keineswegs notwendig, dem Geheimen Franz Sedlacek ausfiihrli- 
che Anweisungen zu geben und Einzeiheiten zu beschreiben. Er besafi 
Phantasie genug. 

We der er noch seine Untergebenen hatten im Laufe einer kurzen 
Stunde ein Frauenzimmer - oder, wie sich Sedlacek ausdriickte: »eine 
Person« - ausfindig machen konnen, die man der Majestat statt der 
von ihr auserkorenen Dame hatte darreichen konnen. Es blieb Sedla- 
cek nur ubrig: die Mizzi Schinagl aus dem bekannten Hause der Jose- 
phine Matzner. 

Eilig hatte er sie den Armen eines alten Forsters entrissen und so, wie 
sie war, im knallroten Kleidchen, das bis zu den Strumpfbandern 
reichte, im Fiaker mitgenommen. Unterwegs hatte er Zeit genug, sie 
zu instruieren. »Du darfst den Mund nicht aufmachen«, sagte er. 
»Wenn er dich fragt, wie du heifk, so sag: Helene. Stell dich pats chert 
an. Du weifit von nix, eine Dame bist du, verstanden? Kannst dich 
iiberhaupt noch erinnern, wie's mit dem ersten war? Streng deinen 
dummen Schadel an und denk nach! - Mach's jetzt gleich vor, aber 
naturlich! Nur das Benehmen, mein' ich. Ich bin im Dienst. Also?« 
Sedlacek liefi die Kleine im Fiaker, unter aufgeschlagenem Dach. Vor 
dem einsamen Wagen, der abseitsstand, zehn Meter entfernt von den 
andern Fiakern, patrouillierte ein Wachmann. Mizzi Schinagl fror. 
Man mufite ihr eine Ballrobe beschaffen, blafiblau, Seide, tief ausge- 
schnitten, ein Korsett, Perlen und ein Diadem. An alles dachte Sedla- 
cek. Seit einer Viertelstunde schon stoberten seine Leute, vier begabte 
Manner, im Garderoberaum des Burgtheaters herum. Der Nachtwach- 
ter leuchtete ihnen mit der Laterne. Vier nobel gekleidete Gespenster 
in Fracken, Stocke in der Hand, Zylinder auf den Kopfen, rumorten 
sie mitten zwischen dem nachtlichen, verschlafenen Wirrwarr der 
theatralischen Requisiten. Alles, was seiden zu sein schien und blaft- 
blauer Farbe war, raff ten sie zusammen. Sie hatten die Hosentaschen 
voll falscher Perlen, funkelnder, feuriger Diademe, kiinstlicher Blu- 
men, vergiftmeinnichtblauer Strumpfbander, glitzernder Agraffen. Es 
ging alles sehr schnell, wie sonst nur sehr wenige Angelegenheiten im 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 383 

Staat und in den Landern zu gehn pflegten. Nur noch eine kurze 
Weile - und das gefallige Madchen Schinagl sah fur fremde und orien- 
talische Augen beinahe so aus wie eine Dame. Sie wartete in der Gar- 
derobe des Hofbeamten zweiter Klasse, Anton Wessely, dessen Toch- 
ter Taittinger vor kurzem erst so briisk hatte verlassen miissen. 
Alles weitere vollzog sich unter Sedlaceks geradezu nobler Leitung 
und mit Hilfe des wendigen Adjutanten Kirilida Pajidzani. In einem 
geschlossenen Wagen, dem Sedlacek im Fiaker folgte, brachte man die 
persische Majestat in das Haus der Frau Matzner. Wenn einer der 
Stammgaste in jener Stunde zufallig vorbeigekommen ware, hatte er 
denken miissen, das Haus, ja die ganze Gasse seien verzaubert. Es 
schlief das Haus, und es schlief die Gasse, und ausgeloscht waren die 
Laternen, und ausgeloscht schien die Welt, Nur der teilnahmslose, 
schmaie Ausschnitt des Himmels iiber den Dachern war wach, und 
seine silbernen Sterne glitzerten. 

Auch das Innere des Hauses Matzner war nicht wiederzuerkennen. 
Alle Pensionarinnen safien eingesperrt in ihren Zimmern. Frau Matz- 
ner bewahrte die Schliissel. In ihrem aschgrauen, hoch- und festver- 
schlossenen Kleid, mitten in dem Zwielicht, das sie selbst so miihsam 
hergestellt hatte, dank allerhand Schleiern und Tiichern, damit das 
allzu gewohnliche Dekor nicht deutlich zum Vorschein komme, erin- 
nerte sie an ein nach langen Jahren, Jahrhunderten des Todes wieder 
aufgescheuchtes Gespenst einer verschwiegenen Kammerzofe. Mit 
einer tiefen Verbeugung empfing sie das ankommende Paar, die Mizzi 
und die Majestat. Kein Laut war horbar, und nichts war deutlich sicht- 
bar. Seine Majestat, der Schah, mufite glauben, daft er in eines jener 
verzauberten okzidentalen Schlosser geraten sei, von denen ihm seine 
wunschselige Phantasie seit Jahren schon in Teheran so viel verspro- 
chen hatte. Der Schah glaubte es in der Tat. Weitaus kindischer noch 
als etwa ein beliebiger europaischer Christ, der in jenen Jahren nach 
Persien kam und der die Geheimnisse des sogenannten Orients ent- 
deckt zu haben glaubte, wenn es ihm nur gelungen war, eine der aller 
Welt offenstehenden Freudenstatten zu sehn, war Seine Majestat in 
dieser Nacht begeistert von den Geheimnissen des Abendlandes, die er 
endgiiltig entschleiert zu haben glaubte. - Es ist also nicht so - sagte er 
sich in seiner bezauberten Einfalt- daft hierzulande diese groftartigen 
Frauen lediglich ihren Mannern gehoren! Zwar gibt es - so sagte er 
sich weiter - hierzulande keine Harems; aber um wieviel schoner, zau- 



384 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

berischer, reizvoller ist die Liebe ohne Harem! . . . Man kauft die Frau 

nicht man bekommt sie sogar geschenkt! Wahrend sie, diese 

Abendlander, die Tugend predigen, die Monogamie, entschleiern sie 
ihre Weiber nicht nur — nein, sie verleihen sie auchlt 
In dieser Nacht war Seine Majestat, der Schah von Persien, iiberzeugt, 
dafi die Liebeskunst des Abendlandes weitaus raffinierter war als die 
seiner Heimat. In dieser Nacht genoft er alle jene Wonnen, die einem 
begierigen Mann die gewohnte, heimische Art der Liebe niemals ge- 
wahren kann, sondern die ungewohnte, ungewohnliche, fremdartige. 
Die Methoden, die Sedlacek, der Geheime, der Mizzi Schinagl angera- 
ten hatte, kamen dem Herrscher von Persien exotisch vor. Er war eben 
kein Europaer, er hatte einen Harem, gefullt von dreihundertfunfund- 
sechzig Frauen. So viele Nachte hat das Jahr. Hier aber, im Hause der 
Josephine Matzner, besafi er nur eine einzige. 

Die ganze Nacht wartete der Sedlacek im Fiaker. Oh! Er war nicht 
einer von jenen unzuverlassigen, schwachen Charakteren, die imstande 
waren, etwa einzuschlafen, bevor noch ihr Dienst vollendet war. Im 
Gegenteil, niemals noch war ihm der Schlaf so fern, niemals noch war 
sein Auge so wach gewesen! Es war das Gebot seiner Natur. Er hatte 
keinerlei Rekompensation zu erwarten; keine Auszeichnungen; und 
kein Avancement. Dunkle Dinge hatte er zu vollbringen, ewig im Ge- 
heimen sollten sie bleiben! Nicht auf irgendeinen Lohn wartete er! 
Als der Schah am nachsten Morgen erwachte, fand er neben sich nie- 
manden mehr im Bett. Er sah sich erstaunt, beinahe erschrocken um. 
Vom dunkelgriinen Baldachin, unter dem er lag, hing an einer gefloch- 
tenen Schnur eine Quaste. Sie war sehr schabig - abgeniitzt. Er zog an 
ihr, in der vagen Hoffnung, sie wiirde wohl irgendwo ein Gerausch 
verursachen. Er hatte sich keineswegs getauscht; es war eine Klingel. 
Viele andere Manner hatten sich ihrer schon bedient. 



XI 



Ein gutiger blauer Morgenhimmel wolbte sich iiber der Stadt. Der Tau 
in den Garten verstromte einen frischen, munteren Duft, der sich mit 
dem warmen und herben der jungen, neugeborenen Brote und Sem- 
meln in den Korben der Backerjungen vermischte. 
Es war ein Fruhlingsmorgen von strahlender Lieblichkeit, Der arme 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 385 

Schah sah nichts davon. Er rollte, eher bewacht als begleitet, von zwei 
aufmerksamen Herren seiner Suite, in einem geschlossenen Wagen 
durch die lachelnden Strafien. Er war schlechter Laune. Das Abenteuer 
der letzten Nacht hinterliefi in ihm zwar eine angenehme Erinnerung, 
aber er hatte in seiner gesunden Einfalt an ein feierlich-grofies Erlebnis 
gedacht; geradezu eine Veranderung seines Herzens; seiner Art, zu 
sehen, zu horen und zu fiihlen. Es war, die Wahrheit zu sagen: die 
Enttauschung seines Lebens. Er hatte sich eine Art groEartiger Feier 
vorgestellt, und es war nur ein kleines Fest gewesen. Was wufke er 
jetzt mehr von der europaischen Liebe als vorher? Er liebte die Stadt 
nicht mehr, wie noch gestern abend. Uberhaupt erschien ihm der ver- 
gangene Abend wie ein glanzendes Blendwerk. Je langer die Fahrt dau- 
erte, je strahlender der Tag heranreifte, desto starker verdiisterte sich 
die Seele der Majestat, und desto grower wurde ihre Bitterkeit. Er erin- 
nerte sich an die weisen Worte seines Obereunuchen, der ihm gesagt 
hatte, da£ die Lust und die Neugier nur Tauschung seien. Er hatte sehr 
viel Bitterkeit im Herzen und auch eine Art Sehnsucht nach Reue. Es 
ist ihm ahnlich zumute wie einem Knaben, der vor einer Stunde sein 
neuestes Spielzeug zerbrochen hat. 

Zu seinen Begleitern sprach er kein Wort. Wenn uberhaupt irgend et- 
was, so hatte er am liebsten sagen mogen, daft zum Beispiel die Welt, 
die vor einigen Stunden noch so reich gewesen war, jetzt plotzlich leer 
geworden sei. Aber schickte sich das fur ihn, den Herrn und den 
Schah? 

Den Obereunuchen lieft er - kaum war er angekommen - zu sich ru- 
fen. Wie es ihm hier gefalle, fragte der Schah, wahrend er gemachlich 
eine halbe Orange ausloffelte. Es war ein warmer, heimischer, fast 
konnte man sagen, persischer Geruch im Zimmer, von dem starken 
Kaffee, den die Majestat eine Weile vorher getrunken hatte. Man 
kochte ihn auf einem kleinen, lieblichen, offenen Flammchen, in einer 
besonderen tonernen Schale. Das Feuerchen brannte noch; es sah aus 
wie ein Opferfeuer. 

Der Obereunuch sagte, ihm gefalle es hier, wie iiberall, wenn er nur in 
der Nahe seines Herrn sein konne. Alter Liigner, dachte der Schah. Es 
tat ihm dennoch wohl, Schmeicheleien zu horen. Er sagte: »Ich hatte 
Lust, dir zur Strafe fur deine Liigen von nun ab das Leben zu verbit- 
tern.« - »Der Herr ist immer gnadig«, sagte der Eunuch, »auch seine 
Strafe verbittert mir das Leben nicht !« - »Wie befinden sich meine 



386 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Frauen?« fragte der Schah. »Herr«, antwortete der Eunuch, »sie essen 
gut, sind gesund, schlafen bequem, in geraumigen und bequemen Bet- 
ten. Nur eines macht sie ungliicklich: dafi ihr Gebieter sie nicht be- 
sucht!« - »Ich will keine Frau mehr sehn, ein Jahr nicht mehr. Ich bin 
auch mit der Europaerin nicht gliicklich geworden. Du allein hast es 
vorausgesagt. Mufi man verschnitten sein, um klug zu werden?« - 
»Herr«, erwiderte der Verschnittene, »ich kenne auch torichte Eunu- 
chen und weise normale Manner. « Es war eine Beleidigung, der Schah 
spiirte es wo hi. »Was tatest du, wenn du enttauscht warest?« fragte die 
Majestat. »Ich wiirde mich kranken, und ich wiirde zahlen, Hern Ent- 
tauschungen sihd kostspielig.« 

»Gewifi, ja!« sagte die Majestat und liefi sich die Wasserpfeife geben 
und blieb eine lange Weile still. 

Innerhalb dieser langen Weile hatte er sich schon entschlossen, wieder 
heimzureisen. Es pafite ihm nicht mehr. Er fuhlte sich durch das 
Abendland gekrankt. Es hielt nicht, was er sich davon versprochen 
hatte. Diisterkeit breitete sich iiber sein weiches gelbliches Gesicht, 
und es erschien, eine Sekunde lang, greisenhaft, trotz der jugendlich 
glanzenden Schwarze des Bans. 

»Wenn du nicht verschnitten warest, hatte ich vielleicht mit dir tau- 
schen mogen«, sagt der Schah. Der Eunuch verneigte sich tief. »Du 
kannst gehen!« sagte der Herrscher; rief aber gleich darauf: »Nein, 
bleiben.« 

»Bleib!« wiederholte er noch einmal, als furchtete er, selbst sein Ver- 
schnittener konnte ihm entgleiten. Dieser allein und kein anderer aus 
der Suite des Schahs war fahig, die delikateste und zugleich prachtigste 
aller Auszeichnungen zu verleihen. Eunuchen sind ritterlich. 
»Dir obliegt es«, sagte der Schah, »der Dame dieser Nacht ein Ge- 
schenk zu iiberbringen. Achte darauf, dafi es wiirdig sei unserer Maje- 
stat, aber auch deines bewahrten Geschmacks. Achte darauf, dafi kei- 
ner von unserer Begleitung dich sieht. Das Haus und den Namen mu£t 
du ausfindig machen. Ich will nichts mehr von der Sache wissen. Ich 
verlasse mich auf dich!« 
»Mein Herr darf es!« sagte der Obereunuch. 

Er hatte schon delikatere und diffizilere Dinge in seinem Leben voll- 
bracht. Seit seiner Ankunft lebte er in gutem Einvernehmen mit Die- 
nern und Lakaien, und langst wufke er zwischen Geldsiichtigen und 
Bestechlichen, Klugen und Brauchbaren und Dummen zu unterschei- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 387 

den, Er kannte die Sprache des Landes nicht, aber alle Welt verstand 
seine Sprache: Es war die Sprache des Goldes und die der Zeichen. 
Man verstand den Obereunuchen vortrefflich. 

Es war einfach, den Weg zu Mizzi Schinagl zu finden. Alle Leute 
vom Gesinde wufken, wo der Schah die Nacht zugebracht hatte. 
Schwieriger aber war es, ein Geschenk zu finden, das, wie dem Ober- 
eunuchen befohlen war, wiirdig sein sollte der Macht des Herrschers 
und seines eigenen Geschmacks. Er uberlegte lange. Er kannte die 
Dame nicht. Nach seinen Vorstellungen muike sie einen hohen Rang 
haben. Er entschloft sich fur drei schwere Perlenketten. Ihr Wert 
schien ihm angemessen als Preis. In Begleitung des Hoflakaien 
Stephan Lackner fuhr er am nachsten Nachmittag vor das Haus der 
Matzner. 

Man war hier auf diesen Besuch nicht vorbereitet. Frau Matzner 
selbst war noch im Schlafrock und der Klavierspieler Pollak in lan- 
gen, flauschigen Unterhosen und Pantoffeln. Der Obereunuch, im 
europaischen Anzug, dunkelblau und dermafkn zuriickhaltend ge- 
kleidet, dafi seine Diskretion schon beinahe aussah wie ein Versuch 
sich zu verbergen, war keineswegs toricht genug, um nicht sofort zu 
erkennen, wo er sich befinde. Es bedurfte weder europaischer Erfah- 
rungen noch auch eines ausgesprochenen Geschlechts, um das Ge- 
werbe der Frau Matzner zu erkennen. Es tat ihm leid um die kost- 
lichen Perlen in der silbernen Kassette. 

Man holte die Mizzi. Sie kam, noch unfrisiert, mit fluchtig aufge- 
stecktem Haar, das wie zerfranst aussah, das Gesicht stark gepudert 
und schon im fllichtig angezogenen roten Kleid. Ein paar Hafteln 
riickwarts standen offen. Das veranlafke sie, hart an der Tiir zu stehn, 
durch die sie eingetreten war; wie ein Verurteilter stand sie da, der 
die erlosenden Schusse erwartet. 

In dieser Haltung nahm sie den OrchideenstrauE entgegen, die sil- 
berne Kassette und den langen, unverstandlichen Spruch des dicken 
dunkelblauen Herrn. Sie nickte, sie schluckte ein paarmal. Nicht ein- 
mal die Matzner war da, deren Blick sie vielleicht ermuntert hatte. 
Frau Josephine wollte sich schnell umziehn. Als sie endlich eintrat, 
gewappnet und zu alien Abenteuern bereit, war die ganze Zeremonie 
leider schon beendet, der dunkelblaue Herr bereits im Riickzug begrif- 
fen. Er erkannte Josephine Matzner trotz ihrer Verwandlung sofort, 
und er zog seine Borse und reichte sie mit einer leichten Verneigung 



388 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

der Hausfrau. Die Borse wog leicht. Kein Wunder: sie enthielt ledig- 
lich Goldmiinzen. 

Als der Obereunuch am nachsten Tage seinem Herrn den Vollzug des 
Befehls meldete, fragte der Schah, ob die Dame etwas gesagt habe. 
»Herr«, erwiderte der Diener, »sie wird Euch nie vergessen. Dies war 
ersichtKch, obwohl ich ihre Sprache nicht verstanden habe.« 



XII 



Viele Menschen dachten noch lange an den Schah, Gluckliche und Un- 
zufriedene. Denn er hatte seine Orden und Geschenke nach eigener 
Willkiir verteilt, ohne auf den Gesandten zu horen und ohne auf den 
Rang und die Wiirde der Beschenkten und Ausgezeichneten zu achten. 
Der einzige wirklich Ungluckliche war der Rittmeister Taittinger. Er 
wurde namlich einen Tag nach der Abreise des hohen Gastes von der 
»besonderen Verwendung« dispensiert und zu seinem Regiment zu- 
riickbeordert. 

Die ganz fatale Geschichte versank in der Vergessenheit; das heifit: in 
den Geheimarchiven der Polizei. Es wird also niemals mehr zu erf ah - 
ren sein, warum der arme Taittinger so schnell in seine Garnison zu- 
nickmufke. 

In der kleinen schlesischen Garnison blieb dem Baron nichts anderes 
iibrig, als uber seine fatale Geschichte nachzudenken. Er hatte Einsicht 
genug: er kam sozusagen zu einer Art oberflachlicher Einkehr und 
fallte uber sich ein, seiner Meinung nach, aufterst hartes Urteil: er fand, 
daft er durchaus nicht mehr »charmant« war. 

Von nun ab begann er auch zu trinken. Er dachte ein paarmal daran, 
der Grafin W. zu schreiben und sie um Verzeihung zu bitten, weil er 
sie dem Perser verraten hatte. Aber er zerrift den ersten, den zweiten, 
den dritten Brief. Hierauf trank er noch mehr. 

Sehr oft traumte er von jener Stunde, in der er die Stiege hinunterge- 
gangen und dem Spitzel mit dem gelufteten Zylinder begegnet war. 
Zugleich sah er sich auch die glatte, steinerne Rampe hinuntergleiten. 
Die Frauen freuten ihn nicht mehr, der Dienst langweilte ihn, die Ka- 
meraden liebte er nicht, der Oberst war fad. Die Stadt war fad, das 
Leben war noch schlimmer als fad. Es gab im Vokabular Taittingers 
dafiir keinen Ausdruck. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 389 

Er glitt und sank. Er fiihlte sich auch gleiten und sinken. Er hatte gerne 
mit jemandem dariiber gesprochen, mit Mizzi Schinagl zum Beispiel, 
von der er auch manchmal traumte. Aber es war ihm, als sei er zu 
stumm und zu stumpf, um das Richtige und Wahre sagen zu konnen. 
Er schwieg also. Und er trank. 

Indessen dauerte der grofte Rausch der Mizzi Schinagl kaum drei Wo- 
chen. Berauscht war ubrigens auch das ganze Haus der Frau Josephine 
Matzner. Berauscht war ganz Sievering, als es vom alten Pfeifenhand- 
ler Schinagl erfuhr, daft seine Tochter zum Gefolge des Schahs von 
Persien nunmehr gehorte und nach Teheran zu fahren gedenke. Denn 
dermaften umgeformt kam die Kunde von dem morgenlandischen 
Abenteuer der Mizzi nach Sievering; Der Zwischentrager und Geruch- 
tetrager gab es viele. Die erste Nachricht brachte der Friseur Xandl. 
Zuerst glaubte man ihm nicht; er krankte sich dariiber so sehr, dafi er 
die Mizzi anflehte, selber zu ihrem Vater zu gehn. Sie tat es endlich. Sie 
fuhr im Zweispanner von Als sie einstieg, setzte sich der Friseur Xandl 
an ihre Seite, und er blieb auch langere Zeit auf seinem Platze. Aber als 
sie sich Sievering naherten, wechselte er den Platz: Er setzte sich Mizzi 
gegeniiber auf den Rlicksitz. 

Das Wiedersehen war herzlich, ja herzerschutternd. Der alte Schinagl 
weinte. Es waren kaum sechs Monate seit dem Tage vergangen, an dem 
er ganz Sievering versichert hatte, daft er seine Tochter verstofien habe 
und dafi er entschlossen sei, sie nie mehr im Leben wiederzusehn. Aber 
was kann der Mensch gegen die Gewalt des Goldes? Man sah den alten 
Schinagl die verstoftene Tochter umarmen. 

Als Mizzi Schinagl den Laden ihres Vaters verliefi, bildeten die Leute 
drauften eine kleine Gasse. Die Schinagl war lieblich und riihrend an- 
zusehn, in ihrem dunkelgrauen Kostum, mit ihrem grofkn Hut aus 
blauem Tuch und dem hellgrauen Sonnenschirm in der Hand. Keine 
andere Herrscherin hatten die Leute aus Sievering dem befreundeten 
persischen Lande wiinschen konnen. Sie lachelte, sie griifke, sie stieg 
ein, und ihr gegeniiber nahm wieder der Friseur Xandl auf dem Riick- 
sitz Platz. Die Peitsche des Kutschers knallte diskret und munter. Da- 
hin, dahin, in die Stadt zuriick rollte der Fiaker, und Mizzi winkte mit 
einem weifien Handschuh. Der alte Schinagl stand vor der Tiir und 
weinte. 
Das war keineswegs die einzige erhebende Stunde im neuen Leben der 



390 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Mizzi Schinagl. Es gab deren viele. Die Tage bestanden aus lauter erha- 
benen und erhebenden Stunden. 

Die Perlen lagen in der Bank Efrussi, sie machten anscheinend keine 
Sorgen. Wenn aber das Gliick iiber ein armes, hilfloses Madchen mit 
einer Gewalt hereinbricht, mit der sonst nur Katastrophen zu kommen 
pflegen, wieviel mufi so ein armer Mensch nachdenken! Man mufi ein 
neues Leben einrichten. Man mufi den kleinen Xandl in ein Internat 
geben, damit einmal ein rechter Mensch aus ihm werde - ein nobler 
Herr soil er werden! Wie kann man die Matzner entlohnen? Wie den 
Brautigam Xandl? Sollte man in Wien bleiben? Soil man nicht lieber in 
eine andere Stadt? Ins Ausland vielleicht? Von Monte Carlo horte 
man, las gelegentlich in der »Kronen-2eitung«, von Ostende, von 
Nizza, von Ischl, von Zoppot, von Baden-Baden, von Franzensbad, 
von Capri, von Meran! Ach, wie grofi war die Welt! Die Schinagl 
wufite zwar nicht, wo alle diese Orte lagen, wohl aber wufite sie, dafi 
es in ihrer Macht lag, sie alle zu erreichen. Ihr plotzlicher Reichtum 
regte alle anderen auf; sie selbst aber erschiitterte er. Wirre Vorstellun- 
gen von Kurorten, Mobeln, Hausern, Schlossern, Lakaien, Pferden, 
Theatern, noblen Herren, Hunden, Gartenzaunen, Wettrennen, Lot- 
tonummern, Kleidern und Schneidern erfullten die Nachte, wenn sie 
wachte, und ihre Traume, wenn sie schlief. Die Kunden bediente sie 
langst nicht mehr. Josephine Matzner gab ihr Ratschlage, obwohl sie 
selbst von dem allzu gewaltsamen Gliick betaubt war, das ihre Pensio- 
narin getroffen hatte. Immerhin hatte sie noch genug Vernunft behal- 
ten, um Mizzi die besten Ratschlage zu geben. 

»Heirate den Xandl«, so riet Frau Matzner, »er wird einen grofien 
Laden, einen Salon, in der innern Stadt eroffnen. Einen Teil steckst du 
in die Pfaidlerei. Einen Teil in mein Unternehmen. Alles notariell. Dei- 
nen Sohn gibst du zum Stift in Graz. Und wenn dich der Xandl lang- 
weilt, nimmst dir einen Liebhaber! Geld hast du wie Heu, wenn du's 
richtig anstellst. Sonst gibst du's aus, weg ist es in zwei Jahren. Lafi dir 
raten, ich will dir gut!« 

Mizzi Schinagl aber war keineswegs in der Lage, vernunftigem Rat zu 
folgen. Sie dachte manchmal an einen Mann, es war der unerreichbare 
Rittmeister Taittinger. Sie stellte sich gerne vor, dafi er den Dienst 
quittieren konnte und sie heiraten, jetzt, wo sie so reich war. 
Der Juwelier Gwendl schatzte den Wert der Perlen auf ungefahr funf- 
zigtausend Gulden. Das Bankhaus Efrussi hatte zehntausend darauf 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 391 

geliehen. Auch dieses Konto erschreckte und betaubte die arme Schi- 
nagl. Tausend Gulden in Banknoten trug sie immer im Strumpf. Hun- 
dert Gulden hatte sie in zehn Goldstucken im Taschchen. Hundert 
weitere Gulden in Silber verwahrte die Frau Matzner. 
Eines Tages schien es der Mizzi, daft sie Taittinger sehen miisse. Dieser 
Gedanke kam mit solcher Gewalt, dafi sie einen Fiaker nahm, zu 
Griinberg am Graben fuhr und vier Kleider auf der Stelle kaufte. Drei 
liefi sie sich nach Hause schicken und jenes, das ihr am schonsten 
diinkte, zog sie an. Sie fuhr in die Herrengasse, in das wohlbekannte, 
liebe Haus. Sie erfuhr, dafi der Rittmeister zu seinem Regiment zu- 
riickversetzt worden war. Eine noch grofiere Verwirrung erfiillte sie. 
Es schien ihr, dafi sie ohne den berauschenden und betaubenden 
Gluckssturm des Goldes den Geliebten ihres Herzens, den einzigen 
geliebten Mann behalten hatte. 

Nunmehr beschaftigte sie der Gedanke, dafi sie in die Garnison Tait- 
tingers miisse. Sie sagte der Frau Matzner, dafi sie fahren miisse. »Erst 
wirst du ihm schreiben«, sagte die Matzner. »Man fallt nicht so mit der 
Tiir ins Haus. Man wirft sich auch nicht einem so mir nix, dir nix an 
den Hals, jetzt, wo du mehr bist als er.« 

Mizzi Schinagl schrieb, dafi sie reich geworden sei und dafi sie Heim- 
weh nach Taittinger habe; und wann sie kommen konne. 
Der Baron Taittinger erhielt diesen Brief in der Regimentskanzlei. Die 
Schrift kam ihm bekannt vor; aber seit einigen Wochen empfand er 
just gegen die bekannten Schriftzuge einen Widerwillen. Er steckte den 
ungeoffneten Brief in die Tasche. Er beschlofi, ihn am Abend zu iesen. 
Aber er kam erst gegen drei Uhr morgens ins Bett, geradewegs aus 
dem Cafe Bielinger. Und er fand den Brief erst zwei Tage spater wie- 
der — und auch nur, weil ihm der Bursche die Taschen geleert hatte. 
Dem Baron schien es allzu fatal, Mizzi Schinagl wiederzubegegnen. Sie 
erinnerte ihn an seine leichtsinnige Missetat. Am liebsten hatte er die 
ganze Episode einfach aus seinem Leben geloscht. Aber kann man Ge- 
schichten aus dem Leben wegradieren? 

Der Rittmeister Taittinger sagte also dem Rechnungsunteroffizier Ze- 
nower - es war einer der wenigen »Charmanten« im Regiment-, er 
mochte sozusagen dienstlich dem Fraulein Mizzi Schinagl per Adresse 
Matzner mitteilen, dafi der Herr Rittmeister aus Gesundheitsgriinden 
in Urlaub gegangen sei und erst in sechs Monaten wieder zum Regi- 
ment einriicken wiirde. 



}$2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Mizzi Schinagl weinte iange und ausfiihrlich, als sie diesen Brief er- 
hielt. Es schien ihr, daft ihr Leben endgtiltig ausgeloscht sei — und just 
in dem Augenblick, in dem es erst hatte anfangen sollen. Sie beschlofi, 
ihren Sohn zu holen und ihn vorlaufig auch zu behalten. Er war viel- 
leicht ein Trost. 

Und sic zog nach Baden. Sie mietete ein Haus in der Schenkgasse fur 
zwei Jahre. Die Perlen kaufte der Juwelier Gwendl. Das Geld verwal- 
tete der Notar Sachs. Funfhundert Gulden bekam der alte Schinagl. 
Funfhundert Gulden bekam die Frau Matzner. Funfhundert Gulden 
bekam der Friseur Xandl. Tausend Gulden erhielt der Schneider 
Griinberg am Graben. Alle Welt war zufrieden: ausgenommen die 
Mizzi Schinagl selbst. 



XIII 

Es erwies sich namlich nach einiger Zeit, daft der Kurort Baden keine 
giinstige Wirkung auf das Gemut der Mizzi ausiiben konnte. Es gab 
viele Griinde dafiir. Vor allem gab es Trabrennen. Mizzi Schinagl 
konnte nicht zu Hause bleiben. Sie war niemals fruher bei irgendwel- 
chen Rennen gewesen. Jetzt schien es ihr, dafi sie zu jedem gehen 
musse. Es war, als zwange sie irgendeine hollische Gewalt, das Schick- 
sal immer wieder herauszufordern, das Schicksal, das einmal einen so 
seligen Gluckssturm iiber sie hatte wehen lassen. 
Ohne jede Kenntnis der mannlichen Natur, wie sie es nach einem Auf- 
enthalt in einem sogenannten offentlichen Hause sein mufke, wo man 
ebensowenig von der wirklichen Welt erfahrt wie in einem Pensionat 
fur junge Madchen, beurteilte Mizzi die Manner, die ihr begegneten, 
nach den Maflstaben, die fur die Einstundengaste im Hause Matzner 
vielleicht gerade noch giiltig gewesen waren. Es konnte also nicht feh- 
len, dafi sie Hochstapler und Taugenichtse fur solide Herrschaften aus 
guter Gesellschaft hielt. Sie war einsam. Sie hatte Heimweh nach dem 
Haus der Frau Matzner. Sie schrieb jeden Tag Ansichtskarten, an ihren 
Vater, an Frau Matzner, an jede von deren achtzehn Pensionarinnen 
und an das Regiment Taittingers, mit dem Vermerk auf dem Um- 
schlag: »Bitte bestimmt iibergeben. Danke, Schinagl.« 
Sie schrieb immer das gleiche: sie lebe herrlich, sie geniefie endlich die 
Welt. Von Taittinger kam keine Antwort. Frau Matzner antwortete 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 393 

hie und da mit einer verniinftigen, gewohnlichen Postkarte, mit Rat- 
schlagen und Mahnungen. Die Pensionarinnen des Hauses Matzner 
antworteten alle zusammen auf einem blauen, goldgeranderten Brief- 
bogen, der also anfing: »Wir freuen uns, daft es Dir gutgeht, und den- 
ken oft an Dich.« - Folgten die Unterschriften: Rosa, Gretl, Vally, 
Vicky und alle andern, dem Alter nach und der Rolle gemaft, die sie im 
Hause Matzner spielten. Jede dieser Korrespondenzen erwartete Mizzi 
mit Sehnsucht, las sie mit einer seltsamen Spannung: Es war mehr eine 
Folter als eine Freude. 

Was die Manner betrifft, so kummerte sich Mizzi um sie nur deshalb, 
weil sie der festen Uberzeugung war, das Leben sei ohne Manner 
ebensowenig moglich wie ohne Luft. Als sie noch arm und im Hause 
der Matzner und ratios gewesen war, hatte sie sich Geld zahlen lassen 
miissen. Jetzt konnte sie umsonst lieben. Es tat ihr wohl, umsonst zu 
lieben. Manchmal gab sie den Herren Geld. Manche liehen sich sozu- 
sagen Geld fur »Unternehmungen«. Kein einziger von diesen Mannern 
gefiel ihr. Manner waren ihr tagliches, nachtliches Brot gewesen. Sie 
glich einem armen Wild, das sich selbst seine Jager sucht. 
Ihr Heimweh nach dem Sohn war einmal so groft gewesen - und jetzt 
schien es ihr vergeblich und verschwendet. Er gefiel ihr nicht, ihr 
Sohn. Er behinderte sie in der Hauptsache deshalb, weil sie ihn iiber- 
allhin mitnehmen zu miissen glaubte: in die Cafes, zu den Rennen, in 
die Hotelhallen, zu den Theatervorstellungen, zu den Mannern, zu den 
Spazierfahrten. Mit seinen viel zu groften, hervorquellenden, wasser- 
blauen Augen priifte der Kleine die neuen Welten, still, mit einer un- 
heimlich stummen Gehassigkeit. Niemals weinte er. Und Mizzi Schi- 
nagl, die sich erinnerte, daft sie selbst als Kind sehr oft geweint hatte, 
und der iibrigens ein wohltatiger Instinkt sagte, daft Kinder, die nicht 
weinen, bose Menschen werden, versuchte oft, ihn ohne Ursache zu 
schlagen, nur, damit er zu weinen beginne. Er lieft sich schlagen; er 
schien uberhaupt keinen Schmerz zu empfinden, der Kleine. Obwohl 
er noch sehr wenig sprechen konnte, war doch aus dem wenigen, das 
er hervorbrachte, deutlich sichtbar, daft er nichts andres zu wiinschen 
entschlossen war, als was er im Augenblick ndtig zu haben glaubte: ein 
Stuck Papier, ein Ziindholz, ein Schnurchen, ein Spielzeug, einen 
Stein. 

Nach einigen Wochen gestand sich Mizzi, daft ihr Sohn ihr fremder 
war als jedes fremde Kind. Dies war die zweite Enttauschung ihres 



394 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Lebens seit dem erschrecklichen Glucksfall; und schmerzlicher als jene 
Kunde von der Abkommandierung des Rittmeisters Taittinger. Auch 
sein Kind war gleichsam abkommandiert. 

Sie eilte, lange noch, ehe die Saison zu Ende war, mit dem Kind nach 
Graz. Sie wollte es eigentlich loswerden. Sie nahm sich vor, ihren Bu- 
ben nach der Art unterzubringen, in der die Kinder aus der guten Ge- 
sellschaft untergebracht waren. Sie hatte mehrere Adressen. Sie ging 
aber keineswegs in alle Hauser, die man ihr angegeben hatte, sondern 
in das erste, das auf ihrem Blatt verzeichnet stand. Also kam ihr Bub, 
der Xandl Schinagl, in das Erziehungsheim fur minderjahrige Knaben, 
verbunden mit Gartenschule, zum Gymnasialprofessor Weifibart. 
Und Mizzi Schinagl, einmal auf der Richtung nach dem Stiden begrif- 
fen, konnte sich weder in Graz aufhalten noch auch nach Baden zu- 
riick. Sie war der Meinung, es sei zu schabig, in Graz zu bleiben, in der 
Nahe ihres Sohnes, ohne ihn wiederzusehn; und wiedersehn wollte sie 
ihn nicht; vorlaufig nicht. Nach Baden konnte sie auch nicht zuruck: 
Es erwartete sie dort Lissauer, der sie schon so viel gekostet hatte. Gott 
allein wuftte, warum sie mit ihm zusammengelebt hatte, die letzten 
drei Wochen! 

Es peinigte sie nicht nur, dafi dieser Mann wartete, sondern auch, dafi 
alle anderen Manner zu warten schienen. Alle warteten auf sie: nur 
nicht der Taittinger. Der wartete nicht! 

Es fiel ihm auch nicht ein, auf Mizzis Heimkehr zu warten. Als er sah, 
da£ sie nicht zuriickgekehrt war, fuhr er nach Wien, ging zur Frau 
Matzner und lieft sich die Adresse der Mizzi geben. Er sagte, er habe 
ihr eine wichtige Nachricht von Taittinger zu geben. 
Er war entschlossen, die Schinagl nicht mehr zu verlassen, ja, ihr, so- 
weit es ging, zu folgen. Er fuhr also nach Meran. 
Mizzi Schinagl freute sich, als sie ihn auf der Promenade erblickte. In 
seinen strahlenden Pejachevich-Hosen, im blauen Jackett, in den dun- 
kelgelben, weichen Knopfelschuhen erweckte er ihr zartliches Gefiihl 
und auch eine Art von Reue. Sie hatte Angst! Sie hatte Angst vor ihrem 
eigenen Reichtum, Angst vor dem neuen Leben, zu dem er sie ver- 
pflichtete, Angst vor der grofien Welt, in die sie sich besinnungslos 
begeben hatte, und am meisten Angst vor den Mannern. Im Hause der 
Josephine Matzner war sie alien Mannern, bekannten, fremden, exoti- 
schen, heimischen, Herren und Pulchern iiberlegen gewesen. Dort war 
ihr Boden, dort war ihre Heimat. Sie besafi weder die Fahigkeit noch 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 395 

die Ubung, mit Mannern umzugehen, die nicht gekommen waren, um 
sie zu kaufen. Sie wufke wohl, ihre gierigen BHcke zu deuten, ihre 
Zeichen, sie erriet wohl ihre verhullten Reden und ihre kindischen 
Witze. Allein, sie war hilflos, heimatlos, sie schaukelte dahin, ohne 
Steuer, ohne Segel, ohne Ruder auf dem Meer der Welt, und Angst 
hatte sie, eine unnennbare, namenlose Angst. Nach etwas Bekanntem 
suchte sie, nach etwas halbwegs Vertrautem. Sie war geneigt, etwas 
Bekanntes als Wohlvertrautes zu begriiEen. So begnrfke sie Franz Lis- 
sauer. 

Er mufke ahnen, was in ihrem Herzen vorging, dank dem sicheren 
Instinkt, den gewisse Wesen in dem Augenblick aufbringen und sogar 
erzeugen, in dem ihnen eine Gefahr winkt, eine Nahrung, eine Lust 
oder eine Beute. Er grufke fliichtig mit seinem sonnenfarbenen Pana- 
mahut und sagte zerstreut: »Ach, du bist auch hier?« 
»Ich bin so selig!« antwortete sie, — und sie umarmte ihn. 
In diesem Augenblick stand sein Plan fest. Es war die alte Geschichte 
mk den Brusseler Spitzen. 

Um jene Zeit waren Brusseler Spitzen ebenso geschatzt wie Juwelen - 
und zuweilen heifier noch von den Frauen ersehnt. 
Es gab infolgedessen zahlreiche Nachahmungen der beruhmten Spit- 
zen. Mit den bestgelungenen handelte der Freund Lissauers, Xavier 
Ferrente, dessen Ware, obwohl er selbst aus Triest stammte, von einem 
andern, fremden und ziemlich enfernten Hafen anzukommen pflegte: 
namlich aus Antwerpen. Also waren sie »deklariert«, wie es in der 
Fachsprache hieft. In Wirklichkeit kamen sie aus der Pfaidlerei Schir- 
mer in der Wienzeile. Wenn Lissauer iiberhaupt arbeitete, so bestand 
diese Arbeit darin, dafi er seinem Freund Ferrente Abnehmer und so- 
genannte grofie Abnehmer verschaffte, Zwischenhandler und unter 
den grofteren Zwischenhandlern noch welche kleineren. Dafiir bekam 
er »Provisionen« von Fall zu Fall, aber niemals »Beteiligungen«. »Be- 
teiligen kannst du dich nur mit Kapital«, sagte Ferrente. »Ohne Geld 
keine Welt«, fixgte er hinzu. Es war eine gelaufige Weisheit der Ta- 
rockspieler vom Cafe Steidl. 

Jetzt endlich, nachdem er so lange Jahre »fast umsonst fur Ferrente 
geschuftet hatte« - wie Lissauer manchmal sagte-, erblickte er eine 
Moglichkeit, sich mit einem Kapital an den Spitzen zu beteiligen; mit 
dem Kapital der Schinagl. 



396 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Nachdem er diesen Entschlufi gefafit hatte, begann Lissauer, Mizzi 
Schinagl offensichtlich zu vernachlassigen. Er machte Ausfliige mit 
einem gewissen Fraulein Korngold, schickte der Frau Glaeser Blu- 
men, lustwandelte auf der Promenade mit der Brandl, hielt seine Ver- 
abredungen mit der Schinagl unpunktlich oder iiberhaupt nicht ein 
und gab ihr zu verstehen, daft sie ihm gar nichts bedeute. Ja, hie und 
da sagte er sogar, daft er bald aus bestimmten Grunden abzureisen 
gedenke. 

Nachdem er dieses Betragen ein paar Tage lang fortgesetzt hatte, fuhr 
er nach Innsbruck und depeschierte der Schinagl: »In wichtigen Ver- 
handlungen verreist, erwarte mich morgen abend.« 
Am Abend des nachsten Tages kam er auch. Er war nicht nur freund- 
lich und gefallig wie seit langem nicht mehr; er schien gar liebevoll. 
Zugleich aber zeigte er auch ein aufgeregtes Gehaben. »Ein grofter 
Gliicksfall«, sagte er. Er sprach in atemloser Freudigkeit. Endlich sei 
er auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. »Wirst du heiraten?« 
Es war Mizzis erster Einfall. Wie sollte man sonst plotzlich ein rei- 
cher Mann werden? 

»Heiraten?« sagte Lissauer, »ja, vielleicht!« Er tat, als ob er nach- 
dachte. 

Von Briisseler Spitzen wufite Mizzi Schinagl so viel, daft sie teuer wa- 
ren - und gar nichts mehr. Sie ware kaum imstande gewesen, einen 
Musselinvorhang von einem Brautschleier zu unterscheiden. In ihrer 
eigenen Pfaidlerei war sie nicht ofter als funfmal gewesen. Sie sari 
aber ein, daft eine Spitze, die man fur fiinf Gulden fiinfzig verkaufte 
und die man fur einen Gulden achtzig einkaufen konnte, eine ange- 
nehme Ware sein konnte. »Wir teilen«, sagte Lissauer. »Halbpart! 
Gemacht?« »Gemacht«, sagte die Schinagl, und sie dachte gar nicht 
mehr an die Spitzen. Man begann, die groften Lichter in der Hotel- 
halle auszuloschen. Eine unsagliche Traurigkeit stromte die weifte 
Pracht der Treppen und des Gelanders aus, die blutrote, plotzlich 
schwarzlich scheinende Pracht der Teppiche. Die riesigen Palmen in 
den riesigen Topfen schienen eben vom Friedhof gekommen zu sein. 
Auch ihre dunkelgninen Blatter wurden schwarzlich und erinnerten 
an eine Art verstorbener und verwelkter Waffen aus uralten Zeiten. 
Das Gaslicht in den Kandelabern surrte griinlich und giftig, und der 
grofte, rotliche, in falsche Bronze eingerahmte Spiegel zeigte Mizzi 
Schinagl, sooft sie fluchtig und furchtsam hineinblickte, eine andere 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 397 

Mizzi Schinagl, eine, die sfe selbst nicht kannte, niemals gesehn zu 
haben glaubte, eine Mizzi Schinagl, die es niemals gegeben hatte. 
Sie wurde sehr traurig. Durch ihre einfache Seele huschte fur ein paar 
Minuten ein hurtiger Abglanz jenes Lichts, das die Kliigeren und Ein- 
sichtigen so selig und so traurig macht: das Licht der Erkenntnis. Sie 
erkannte, wie trostlos und vergeblich alles war: nicht nur die Spitzen, 
nicht nur der Lissauer, nicht nur ihr Vermogen, sondern auch ihr Sohn 
und der Taittinger, und ihre Sehnsucht nach Heim, Liebe, Mann und 
die falsche Liebe ihres Vaters und alles, alles . . . Und aus ihrem eigenen 
Herzen kam ein wuster Hauch, wie aus dem Eiskeller daheim in Sieve- 
ring, als sie noch ein kleines Madchen gewesen war und fest geglaubt 
hatte, dort unten warteten der Winter und alle die bosen Winde. 
In dieser Nacht ging Lissauer niit ihr ins Zimmer, denn er wufite frei- 
lich, dafi er sich ihrer jetzt auf jede Weise versichern miisse. Mizzi 
Schinagl spiirte es. Sie war miide; miide und gleichgiiltig. 
In der Nacht, wahrend sie wach lag, fafite sie den Entschlufi, am nach- 
sten Tag zuriickzufahren. Zuriick? - Wohin? Das Haus der Josephine 
Matzner war noch eine Heimat gewesen. Das gab's nicht mehr. Sie 
erinnerte sich an den schweren Atem, den siifilich parfumierten Bart, 
die braunlichgelbe Haut, die weichen Hande, das unheimliche Augen- 
weifi des Herrschers von Persien, des Urhebers ihres Glucks. Sie be- 
gann, sachte zu weinen. Es war ein bewahrtes Schlafmittel. - 
Als der Morgen graute, schlief sie ein. 



XIV 



Eine lange Zeit bemerkte niemand aus der Umgebung der Frau Jose- 
phine Matzner, dafi sich zugleich mit ihrem Korper auch ihr Wesen 
veranderte. Man sah nur, dafi sie alterte. Sie selbst wufite es, obwohl sie 
selten in den Spiegel sah. Sie hatte gleichsam den Spiegel im Kopf, wie 
manche Menschen die Uhr im Kopf haben. Wenige Jahre vorher be- 
hagte ihr noch gelegentlich eines der tappischen und handgreiflichen 
Komplimente, das ihr der und jener ihrer Stammgaste zu machen 
pflegte. Es waren sinnlose Komplimente. Weder sollten sie irgendein 
Begehren des Gastes andeuten, noch auch erweckten sie irgendeinen 
Wunsch im Herzen der Frau Josephine Matzner. Sie hatten also 
eigentlich in alle Ewigkeit fortgesetzt werden konnen, ebenso wie be- 



398 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

stimmte konventionelle Brauche innerhalb der Gesellschaft unabhan- 
gig sind vom Alter derjenigen, die sie ausiiben. Aber siehe da, was 
geschah? - Auch diese symbolischen Komplimente, deren Gegenstand 
die Frau so lange Jahre gewesen war, wurden nunmehr immer seltener; 
und eines Abends horten sie ganz auf. Es war bemahe so, als ob sich 
die Herren verabredet hatten. Als der letzte Gast verschwunden war, 
die Madchen schon schlafen gingen und der Kapellmeister sich den 
Frack auszog, sah sie noch fur einen fluchtigen Augenblick in den 
Spiegel hinter der Kassa. Ja, alles war so, wie sie es bereits seit langem 
wufite: Zwischen den grauen Haaren spiel te noch ein hafilicher Schim- 
mer der friiheren, aufreizenden, pikanten Rote. Zwei dicke Falten sa- 
15en, gleichsam ohne Grund, iiber der Nasenwurzel. Die Lippen waren 
trocken, rissig und blaulich. Die Augen unter stark gerunzelten Lidern 
waren wie zwei winzige, ausgelaugte Teiche. Der Kopf ging unmittel- 
bar in die Schultern iiber, als safie er gar nicht auf dem Hals. Und auf 
den Briisten, unter dem dichten Puderstaub, lauerten gelblichrotliche 
Flecke, Insekten nicht unahnlich. 

Seit dieser Nacht erfuhr Frau Matzner, dafi das Leben vorbei war. Sie 
hatte sich niemals Illusionen gemacht. Sie war gesonnen, das Alter 
ebenso mutig anzupacken, wie sie einst ihre Jugend, ihren Beruf, ihre 
Manner, ihr Geschaft angepackt hatte, Jede Stunde ihres Lebens hatte 
sie sich genaue Rechenschaft iiber sich abgelegt. Sie kannte sogar die 
Teufel, denen sie zeit ihres Lebens ausgeliefert war, und hatte sie fast 
alle bei Namen nennen konnen. Aber einen jener Teufel des Alters 
kannte sie nicht, der sich oft zu den einsamen Greisinnen schleicht, 
ihre Herzen verhartet und ihre modernen Sinne mit einer neuen Wol- 
lust erfiillt: die Geldgier. Sie fuhlte nicht, wie sie immer geiziger und 
geldgefrafiiger wurde. 

Es ereignete sich freilich auch sonst etwas, was ihr selbst den Anschein 
eines berechtigten Geizes oder einer Sparsamkeit vortauschen durfte: 
Das Haus »ging« nicht mehr, Wie oft wechseln die Moden in der Welt! 
Das Haus der Matzner kam aus der Mode. Zwei neue erstanden, eins 
in der Nahe der Wollzeile und ein anderes in der Vorderen Zollamts- 
strafte. Auch die Madchen, die der Frau Matzner treu blieben, wurden 
alt - und die jungen wurden treulos. Wo waren die Zeiten dahin, wo 
Frau Matzner noch sagen konnte: »Meine Kinder sind alle Gold!« und 
wo diese goldenen Kinder sie mit den frohlichen Stimmen junger V6- 
gelchen »Tante Finchen« oder »Finerl« riefen? Jetzt sagte man »Frau 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 399 

Matzner«, und die Kinder erinnerten nicht mehr an Gold, eher an das 
Kupfer, das sie noch dem Hause eintrugen. »Es kommt nur noch kreu- 
zerlweis'!« stohnte die Matzner. 

In der Nacht war sie wach. Wenn sie sich hinlegtc, hatte sie das Ge- 
fiihl, daft sic sich wehrlos machte, weil die Angste es gleichsam leichter 
hatten, sich von oben her iiber sie zu stiirzen. Sie erhob sich also wie- 
der und keuchte zum Lehnstuhl. Sie stohnte oft, in dem Glauben, daft 
es sie erleichtern konnte, aber sie sagte sich sofort: Wie schlecht mui! 
es mir gehn, wenn ich, die Josephine Matzner, schon zu stohnen an- 
fange. Sie nahm auch hie und da ein Schlafmittel, aber den Angsten, 
der Furcht, der Bangnis konnte man keins eingeben! - Sie sah sich 
schon im Armenhaus am Alsergrund; im Greisenasyl in der Bacher- 
gasse; am Krippentisch der Barmherzigen Briider; als Aushilfe, die 
Fuftboden scheuernd bei der Milchfrau Dworak; schlieftlich vor der 
Polizei, vor dem Gericht und sogar im Kriminal. Denn es schien ihr 
klar, daft die Not allmahlich so gewaltig werden miiftte, daft sie 
schlieftlich gezwungen ware zu stehlen. Und sie sah sich stehlen, und 
sie empfand schon die Angst des Diebes vor dem Ertapptwerden. 
Immer haufiger ging sie zu ihrem Bankier, Herrn Efrussi. Sein Vermo- 
gen, seine kluge Ruhe, seine Redlichkeit, sein Ruf, sein Alter: alles 
trostete sie. Er war ein stiller Greis, von einer berechnenden Gut- 
herzigkeit (der einzigen, die auf Erden kein Unheil anrichtet). Frau 
Josephine Matzner saft vor ihm in dem unbequemen Stuhl, in dem 
altmodischen Kontor, sehr tief (der Bankier Efrussi benutzte noch das 
hochgelegene Pult mit dem winzigen Sitzpolster ohne Lehne, das an 
einer metallenen Schraube befestigt war). Halb saft er, halb stand er an 
seinem Pult. Er drehte sich Frau Josephine Matzner zuliebe herum. So 
tief er aber auch sein Polster herunterschrauben mochte, er blieb doch 
in einer betrachtlichen Hohe iiber dem Kopf der Besucherin. Es war 
auch keine Rede davon, daft er ihr Gesicht hatte sehen konnen, denn 
ein grofter Hut bedeckte den Kopf, und lediglich an dem leisen Zittern 
der violetten Pleureusen konnte Efrussi erkennen, ob Frau Matzner 
zustimmte oder ablehnte. »Sie haben ja«, wiederholte er bereits zum 
funfundzwanzigsten Male, »>Albatros< fur fiinftausend, fur dreitau- 
sendfunfhundert Staatslose, mit zehntausend sind Sie an der Pfaidlerei 
beteiligt, mit zweitausend an der Backerei Schindler, Ihr eigenes Ge- 
schaft ist - ich weift nicht, wieviel wert - Ihr Notar wird es wissen. Sie 
wissen es auch. Sie sind dreiundfiinfzig Jahre alt.« Hier unterbrach 



400 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Frau Matzner: »Zweiundfunfzig, Herr Efrussi!« - »Um so besser«, fuhr 
er fort, »also selbst, wenn Ihr Geschaft nicht geht und Sie wollen nicht 
nur Coupons schneiden, so arbeiten Sie noch gute acht Jahre in voller 
Blute, in der Pfaidlerei meinetwegen. Griinden Sie ein Modistenge- 
schaft - kaufen Sie eins - Sie haben Geschmack.« Immer brachte der 
Anblick der Pleureusen den Bankier Efrussi auf die Modisten-Idee. 
»Ist das auch ganz sicher, Herr Kaiserlicher Rat?« fragte Josephine 
Matzner. 

»Ich kann's Ihnen beweisen«, sagte Efrussi, und, wie gewohnlich, be- 
wegte er das Tischglockchen. Wie gewohnlich kam der Buchhalter. Er 
offnete die Biicher. Stumpf blickte Josephine Matzner auf die blauen 
Zahlen, roten Streifen, griinen Striche: Trostlich war all dies. Sie erhob 
sich, sie nickte, sie sagte: »Herr Kaiserlicher Rat, Sie haben mir einen 
Stein vom Herzen genommen«; und sie ging endlich. 
Einmal fiel es ihr ein, dafi sie in der Pfaidlerei der Mizzi SchinagI nach 
dem Rechten sehen miisse. Bevor sie noch in den vertrauten Laden 
trat, schien ihr irgend etwas auf den ersten Blick verandert. Unheil 
ahnte sie. Sie sah zwei neue, goldgerahmte Spiegel im Fenster und an 
der Glastiir eine grofie Tafel mit der Inschrift: »Echte Briisseler Spit- 
zen«. Und ihr Herz stockte, als sie im Innern des Ladens den Herrn 
Lissauer erblickte. Sie kannte diese Art Gaste ihres Hauses; »Kunden« 
war die richtige Bezeichnung fur diese Leute. »Wir haben uns lange 
nicht gesehen, Herr von Lissauer! « sagte sie, »ja, alle Welt hat uns 
verlassen. Wir sind den Herren nicht modern genug. Es geht wohl viel 
solider bei mir zu als in der Vorderen Zollamtsstrafie zum Beispiel.« 
»Wissen Sie, man wird alter und ernster!« sagte Lissauer. »Und dann, 
Sie sehen ja! Ich arbeite hier fleiftig!« 

Ja, sie sah es wohl. Mit einem der hurtigen und scharfen Rundblicke, 
derentwegen man sie in den friiheren Jahren so gefurchtet hatte - in 
ihrem eigenen Hause, in den Laden, in denen sie einzukaufen pflegte, 
in der ganzen Gegend und selbst im Bezirkskommissariat, wo sie alle 
Wachleute und alle Geheimen kannte, uberflog sie jetzt den ganzen 
Laden. War das iiberhaupt noch eine Pfaidlerei? Wo waren die kleinen, 
niedlichen Schachtelchen mit den Knopfen und Knopfchen aller Art, 
Farbe, Form und Grofie? Wo die lieblichen und doch so soliden Haf- 
teln und Hakchen? Wo die Prachtstiicke der Pfaidlerei, die groftartigen 
sogenannten Besatzstucke? Wo alle diese unwichtigen, gewichtlosen 
Dingerchen, die man eigentlich nur so mit fuhrte, eine Art nebensach- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 401 

licher Begleiterscheinungen der wirklichen, der ernsten Ware, ohne die 
aber keine einzige Schneiderin in der Umgebung auskommen konnte. 
Und was sollten diese Briisseler Spitzen? Wer in dieser Gegend, wer 
von dieser Kundschaft konnte Briisseler Spitzen kaufen? Ihr, der Frau 
Josephine Matzner, brauchte man nicht zu erklaren, was Briisseler 
Spitzen waren! Sie konnte sich nicht enthalten, Herrn Lissauer zu sa- 
gen: »Sie haben ja den Laden ganz schon ausgeraumt!« - »Ausge- 
raumt? Ausgeraumt? So nennen Sie > s?« rief der junge Mann. Und mit 
dem geschwatzigen Eifer, der ihm eigen war und der ihm schon recht 
viel unbegreifliche Erfolge eingetragen hatte, begann er, der Frau 
Matzner auseinanderzusetzen, welchen Aufschwung das Geschaft ge- 
nommen hatte und wieviel er schon an den Spitzen verdient habe und 
noch zu verdienen gedenke. Wie so mancher, dem eine Unredlichkeit 
langere Zeit Gedeih und Verdienst eintragt, vergaft auch Lissauer zu- 
weilen die Vorsicht iiber der Eitelkek. Obwohl er wuftte, daft er nicht 
befugt gewesen war, den Anteil der Matzner in das Geschaft mit den 
Spitzen zu stecken, schien es ihm doch sicher in seinem torichten Op- 
timismus, daft die Matzner nicht nur mit ihm einverstanden sei, son- 
dern sich auch schon als seine Komplizin betrachtete. Er verdrangte 
die peinliche Erinnerung an die Tatsache, daft die Biicher nicht in Ord- 
nung waren, und ferner, daft er selbst ein Drittel der Einnahmen ver- 
wendet hatte. Mizzi Schinagl verlangte nie eine Aufklarung. Weshalb 
sollte die Matzner eine verlangen? 

Frau Matzner konnte eine leichte Ubelkeit nicht mehr ganz verbergen. 
Sie lehnte sich an den Ladentisch und verlangte nach einem Glas Was- 
ser und nach einem Sessel. Sie trank in kleinen Ziigen und lag halb 
ausgestreckt im Sessel, trotz dem Mieder, das ihren Korper morderisch 
umpanzerte. Sie erholte sich langsam. Sie zog die Hutnadel aus dem 
gewaltigen Strohdach, das sie bedeckte, und, indem sie die Waffe gegen 
Lissauer kehrte, sagte sie: »Lissauer, ich mochte die Biicher sehn. Ich 
werde mit meinem Notar sprechen.« 

Lissauer holte die Biicher herbei. Noch einmal sah die arme Matzner 
schwarze Ziffern, blaue Ziffern, griine Striche, rote Linien; aber dies- 
mal war sie nicht beruhigt. »Und wo ist das Kapital?« fragte sie. »Und 
die Gewinne?« - »Das Kapital arbeitet, Frau Matzner«, sagte Lissauer 
ganz leise. Er klappte die Biicher zu und sprach noch weiter. Sie horte 
nicht mehr alles. Sie vernahm nur noch ein paar Worte wie »neue Zei- 
ten, moderne Geschaftsmethoden, kein totes Kapital« und derglei- 



402 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

chen. Sie dachte mit Schrecken daran, dafi ihre zehntausend Gulden 
verloren waren. 

Unverziiglich verabschiedete sie sich, ohne die ausgestreckte Hand 
Lissauers zu beachten. Sie ging zur Post. Es war hochste Gefahr. Die 
Hutnadel hielt sie immer noch in der Hand. Der Riesenhut wackelte. 
Sie iiberwand die Angst vor einer aufterordentlichen Geldausgabe. Sie 
depeschierte nach Baden an Mizzi Schinagl. »Sofort herkommen«, te- 
legraphierte sie, iiberlegte eine Weile und steckte den Bleistift zwi- 
schen die Lippen. Mizzi Schinagl wiirde einfach nicht kommen. Was 
nutzte die teure Depesche? Schon war die Matzner zu einer einfachen 
Postkarte bereit, als ihr einer jener guten Liigengeister, die so lange 
ihre Handlungen bestimmt hatten, eine mitzliche Idee eingab. »Tait- 
tinger erwartet Dich morgen«, depeschierte sie. 

Natiirlich kam Mizzi Schinagl in den ersten Morgenstunden. Nach 
sehr langer Zeit betrat sie wieder das Haus der Matzner. Alles war ihr 
fremd geworden. In der Erinnerung hatte sie es sich nicht nur kostbar, 
sondern auch glanzend vorgestellt. Nun war sie lange an glanzende 
Raume und Hauser gewohnt. Das Haus der Matzner war armseiig, 
sogar schabig, mit seinen erblindeten Spiegeln, dem Salonkandelaber, 
von dem schon so viele Kristalle abgef alien waren und der an einen 
teilweise entlaubten Baum erinnerte, den grofien grauen Mottenlo- 
chern im roten Pliisch des Diwans, der abgesprungenen falschen Bron- 
zeverschalung an dem Rahmen des Spiegels, dem ausgefransten Sei- 
dendeckchen iiber dem zerkratzten polierten Deckel des Fortepianos 
und den verstaubten Gardinen an den Fenstern. Aber was bedeuten 
Erinnerungen gegen die Erwartung? Bald sollte sie Taittinger sehn. Sie 
hatte im Taschchen das letzte Bild seines Sohnes und die letzten, aller- 
dings sehr kummerlichen Schulzeugnisse. Das sittliche Betragen war 
»nicht entsprechend« und der Fleift »hinreichend«. Bis jetzt hatte der 
Sohn noch jede Klasse repetiert. Der Mizzi war der Junge gleichgultig. 
Weihnachten hatte sie ihn zuletzt besucht. An der Bahn verlangte er 
zuerst einen Kakao, und sie ging mit ihm in den Wartesaal. Den Kakao 
trank er mit Appetit, den Koffer offnete er sofort und nahm die oben- 
auf liegenden Geschenke an sich. Dann schlofi er den Koffer und rief : 
»Zahlen!« - So war ihr Sohn. Aber in der letzten Nacht hatte sie ein 
Dutzend Geschichten erfunden, die sie Taittinger erzahlen wollte: 
Xandl war ein guter Turner, ein goldenes Herz, ein begabter Sanger. 
Und einmal hatte er sogar ein Kind vor dem Ertrinken errettet. Dies 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 403 

war auch keine erfundene Geschichte. Xandl hatte in der Tat ein Kind 
aus dem Wasser gefischt; genauso, wie er Frosche, Fische und Eidech- 
sen zu fangen gewohnt war. 

Ja, all dies wollte Mizzi Schinagl erzahlen. Es schien ihr, dafi sie etwas 
lange wartete. Frau Matzner lieft sie warten. Endlich kam sie, in voller 
Rustung, nicht wie sonst am Vormittag im Schlafrock, sondern ge- 
schniirt, gepudert, frisiert. Die Umarmung war fluchtig, der Kufi trok- 
ken und kalt. »Der Taittinger kommt nicht !« sagte die Matzner sofort. 
»Dienstlich verhindert!« 

Mizzi Schinagl atmete schwer und setzte sich wieder. »Aber, aber«, 
begann sie, schwieg eine Weile und fand endlich einen schwachen 
Trost: »Er wollte mich doch sehen?« - »Ja«, sagte die Matzner. »Aber 
vorlaufig ist er eben dienstlich verhindert. Du kannst ihm ja schreiben! 
Hast ja seine Adresse.« 

Mizzi saft noch da, die Matzner stand vor ihr, drohend, einem Gendar- 
men ahnlich. 

»Ich nab* dir was Ernstes zu sagen«, begann sie. »Du hast mich betro- 
gen, du und dein Lissauer. Ihr habt mich beraubt, ihr habt mich begau- 
nert. Alles fur meine Giite. Wie eine Mutter war ich zu dir. Goldkind 
hab' ich dich genannt. Mein Geld habt ihr verprafit. Du begleitest mich 
auf der Stelle. Wir gehn zum Notar. Weh dir, wenn du weglaufst!« 
In Mizzi Schinagl war nichts mehr lebendig. Das Gehirn schien ihr tot 
und das Herz auch, und nur eines lebte in ihr: eine grofte Furcht ohne 
Namen. Auch die Furcht gibt manchmal Erleuchtungen, und also fiel 
Mizzi Schinagl die Geschichte mit den Spitzen ein, und sie erinnerte sich 
an alle Papiere, die sie von Lissauer bekommen und unterschrieben 
hatte, ohne sie zu lesen, und es tauchte in ihrer Erinnerung auch ein 
langst gehorter, langst verschollener Satz auf, den Lissauer einmal ge- 
auftert hatte, in einer zartlichen Sekunde; und der Satz lautete: »Wenn 
man mich erwischt, spent man dich ein!« Nun, es war soweit. 
Sie erhob sich, sie ging. Eine Verhaftete bereits, schritt sie willenlos 
neben der unerbittlichen Matzner dahin. 



404 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XV 

Neue Krafte stromten der Frau Josephine Matzner in den folgenden 
Wochen zu. Diese Krafte machten sie zwar keineswegs jiinger, son- 
dern verstarkten umgekehrt die aufteren Zeichen ihres rapide heran- 
stiirmenden Alters. Sie selbst aber merkte es nicht und fiihlte sich 
lekht, gesund, vergniigt und verjiingt. Es schien ihr, daft sie eine wich- 
tige Aufgabe zu erfullen habe, die Aufgabe namlich, ihr Geld zu retten 
oder, was ihr noch besser gefiel, obwohl es sie zugleich schmerzte, 
dieses verlorene Geld zu rachen. Ein groftartiger, gehassiger Elan er- 
fullte sie, warmte sie, heizte sie geradezu. Ein kochender Zorn trieb 
sie. Ihre Tage, ihre Nachte waren verandert, der alte gutmutig, harmlos 
und sinnlos schludrige Rhythmus ihres Lebens verwandelt. Sie schlief 
gut und traumlos einen gesunden Schlaf, sie erwachte neu gestarkt an 
jedem Morgen und zu allerhand Taten bereit. Sie offenbarte eine er- 
staunliche Fahigkeit, Gesetze zu begreifen, auszulegen, mit Advokaten 
zu sprechen und sie genau zu verstehen. Sie hatte jetzt deren zwei, der 
Sicherheit halber: den Hof- und Gerichtsadvokaten Doktor Egon Sil- 
berer und den nebensachlichen Doktor Gollitzer, der eine Art Winkel- 
advokat war und den sie eigentlich weniger des Prozesses selbst wegen 
brauchte als zu lustvollem und zugleich lehrsamem Zeitvertreib. Denn 
der Hof- und Gerichtsadvokat Doktor Silberer hatte kaum eine halbe 
Stunde fur sie - dreimal in der Woche- und der Gollitzer stand ihr 
taglich lange zur Verfiigung. Eigentlich hielt sie sich diesen Gollitzer 
aus Mifttrauen gegen Silberer. Der Gollitzer war es, der sie aufklarte, 
wie man grofte und angesehene Advokaten zu behandeln habe. Er war 
es, der sie iiber das Privatleben der Richter aufklarte, iiber die Chan- 
cen, die das Gesetz bot, und iiber die geheimen Tucken, die es enthielt. 
In seiner diisteren Kanzlei, in der Wasagasse 43 im dritten Stock, be- 
gann sie allmahlich sich zu einer Art juristischer Kanaille heranzubil- 
den. Liiste erlebte sie da, wie sie keine je gekannt hatte. 
Der verbotenen und selbst verponten Liiste hatte sie bereits viele ken- 
nengelernt, aber die wahre Wollust lernte sie jetzt erst kennen, in der 
Wasagasse, als sie erfuhr, daft eben jene Gesetze, die sie instinktiv zeit 
ihres Lebens gefiirchtet hatte, ihr gefiigig werden konnten wie ge- 
zahmte Hunde. Zeit ihres Lebens hatte sie in der falschen Vorstellung 
gelebt, daft Frauen ihresgleichen aufterhalb der Gesetze lebten, ausge- 
liefert auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen oder der iiblen Laune 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 405 

jedes beliebigen Polizeikommissars. Auf dem Grund ihrer Seek hatte 
immer schon das Heimweh nach einer legalen Existenz geschlummert. 
Lange Jahre schon hatte sie gehofft, einmal, wenn sie Geld haben 
wiirde, im wohltatigen, biirgerlichen Schatten der Gesetze leben zu 
konnen; irgendwo weit weg von ihrem Hause, das sie giinstig, im gtin- 
stigen Augenblick zu verkaufen gedacht hatte; zu leben als die »Pri- 
vate« Josephine Matzner, ohne Beruf, ohne Gefahr und mit sehr viel 
Geld ausgestattet. Aber jetzt war Gefahr, daft kein Geld bleiben 
wiirde. Kein Geld! Nach einem ganzen langen Leben jenseits der Ge- 
setze! Welch ein entsetzlicher Zustand fur eine alternde Frau, die ge- 
hofft hatte, endlich im Alter in den geschiitzten Bezirk der Burgerlich- 
keit eintreten zu konnen! - Nun, und trotzdem: die Gesetze sprachen 
fur sie, beide Advokaten waren dessen sicher. Nicht mehr als eine ab- 
seitige oder ausgestoftene Person verkehrte die Frau Josephine Matz- 
ner mit den Gesetzen: sondern als ihre Herrin und Nutzniefierin sozu- 
sagen. 

Aufier dem Winkeladvokaten Gollitzer stand ihr auch ihr alter Freund, 
der Geheime Sedlacek, zur Seite. Oh, sie verkehrte langst nicht mehr 
mit ihm so wie fruher; nicht mehr als eine vogelfreie Person gewisser- 
mafien, sondern als eine beinahe gleichberechtigte. Viele Stunden ver- 
brachte sie mit Sedlacek in seinem Biiro auf dem Schottenring. In- 
dessen liefen seine Leute herum, in der Stadt, im Reich. Eine grofie 
Geschichte: gefalschte Briisseler Spitzen; in Wien hergestellt, von hier 
nach Triest geschickt; von dort nach Antwerpen; von dort nach Wien 
zuriick. Auch Sedlacek war alt geworden und mude, Seine »mondane« 
Beschaftigung behagte ihm nicht mehr. Seine drei Kinder - lauter Bu- 
ben - wuchsen mit unheimlicher Schnelligkeit. Mit unheimlicher 
Schnelligkeit alterte seine Frau. Mit unheimlicher Schnelligkeit alterte 
auch er selbst, er selbst. Er brauchte eine »fette AffaY«, um befordert 
zu werden und endlich stillsitzen zu konnen, in der Polizeidirektion 
Graz, Innsbruck, Linz, Briinn, Prag oder Olmiitz. Er war in Koslo- 
witz geboren, und obwohl er so lange schon in Wien gelebt hatte und 
von Berufs wegen in die hochsten Spharen vorgestofien war, erschien 
ihm jetzt, da er alterte, Olmiitz wieder als eine gluckliche, grofie, aber 
auch nicht allzu grofte Stadt: grad' so eine, wie er sie brauchte. Als 
Oberinspektor wollte er pensioniert werden. 

Es war eine Geschichte, durchaus geeignet, aufgebauscht zu werden, 
und das Schicksal selbst, so schien es dem Geheimen Sedlacek, hatte 



406 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ihm von Anfang an diese Affare zugewiesen. Wie lange war es her! Der 
Schah von Persien (von dem auch Sedlacek einen Orden bekommen 
hatte, auf Vorschlag des Polizeiprasidenten, fiir seine Verdienste urn 
die personliche Sicherheit des hohen Gastes) bereitete sich schon fiir 
eine zweite Reise nach Wien vor, so sagten die Zeitungen. Der Polizei- 
reporter Lazik von der »Kronen-Zeitung«, ein intimer Freund Sedla- 
ceks, fand, daft es gerade jetzt angebracht und auch im Interesse des 
Polizisten angebracht sei, die Geschichte zu einer Art Skandalaffare 
ausarten zu lassen. Diese Geschichte enthielt alle Elemente, die zu 
einer Skandalaffare notwendig waren: das Milieu, die marchenhafte 
Herkunft des Vermogens, die man allerdings nur andeutungsweise, 
aber immerhin reizvoll genug erklaren konnte; die glanzenden paar 
Jahre der Mizzi Schinagl und nunmehr ihren Untergang; die aben- 
teuerliche Personlichkeit Lissauers; die Bedeutung der Briisseler Spit- 
zen im allgemeinen; Enthiillungen iiber den seit langen Jahren von der 
Triestiner Firma betriebenen Schwindel; schlieftlich die geniale Wach- 
samkeit der Wiener Polizei, beziehungsweise des Inspektors Sedlacek. 
Ubergenug Stoff fiir den Polizeireporter Lazik! . . . 
Es herrschte damals defer und ubermiitiger Frieden in der Welt. In den 
Zeitungen der Monarchic las man Hof- und Personalnachrichten, Be- 
richte iiber die Vorbereitungen zum nachsten Fiakerball, Feuilletons 
iiber den Kahlenberg, iiber die Katakomben der Stephanskirche, iiber 
landliche Feste in Agram, Aussichten fiir die Tabaksernte der braven 
Schwaben im Banat, Manoverberichte aus der Umgebung von Lem- 
berg, Schilderungen eines Kinderfestes im Prater unter dem Protekto- 
rat einer Kaiserlichen Hoheit, von Kegelvereinsfesten der Schlachter- 
meisterj Tischler, Schuster; und was dergleichen mehr an friedlichen, 
heiteren, sinnlosen Ereignissen in der nahen Welt und in der weiten 
vorkommen mochte. Gerichts- und Kriminalaffaren von Bedeutung 
kamen in jener Zeit selten vor, und die Polizeireporter safien in Grin- 
zing beim Schopfner haufiger als im Cafe am Schottenring neben der 
Polizeidirektion. Die Geschichte von den Briisseler Spitzen, in bruch- 
stiickhaften Fortsetzungen jeden Tag mitgeteilt, aufgeputzt, aufge- 
frischt, in niedlichen Glossen kommentiert, wurde eine echte Sensa- 
tion. 

Der Prozefi dauerte allerdings nur zwei Tage. Es war Anfang Septem- 
ber, der klare Sommer ging briiderlich in einen klaren Herbst iiber. Im 
Gerichtssaal herrschte noch eine bedeutende Hitze. Der Zuhorer gab 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 407 

es viele. Aus der Untersuchungshaft wurde nur einer der Angeklagten 
vorgefiihrt: Franz Lissauer. Sein Triestiner Auftraggeber war ver- 
schwunden. Auf freiem Fuft belassen hatte man Fraulein Mizzi Schi- 
nagl. Sie kam, begleitet von ihrem Anwalt. Die beriihmte Firma Seid- 
mann, die seit vielen Jahren mit echten Briisseler Spitzen handelte und 
sich geschadigt fiihlte, erhob Anspruch auf Schadenersatz. Auch diese 
Firma, ebenso wie die Frau Matzner, vertrat der Hof- und Gerichtsad- 
vokat Doktor Silberer. Es bestand alle Aussicht, daft Mizzi Schinagl 
den Rest ihres Vermogens verlieren wiirde. Der Verteidiger Lissauers 
bemuhte sich nachzuweisen, daft die Schinagl dank ihrer weiblichen 
Damonie ihren leichtsinnigen Geiiebten verfiihrt hatte. Dunkel war 
ihre Vergangenheit. Durch einen marchenhaft-orientalischen Glucks- 
fall zu einer reichen Frau geworden, hatte sie innerhalb weniger Jahre 
in verbrecherischer Verschwendung den groftten Teil ihres Vermogens 
verbraucht, ihr Kind - ein uneheliches natiirlich - fast verkommen las- 
sen, nur einmal jahrlich fluchtig besucht, und schlieftlich, wie es ja 
nicht anders moglich ist, einen verliebten Mann zu einem Werkzeug 
degradiert und zum Verbrechen verfiihrt. 

Mizzi Schinagl begriff sehr wenig von den Vorgangen und Reden im 
Gerichtssaal. Zuweilen kam ihr alles sogar harmlos vor, harmloser 
noch als dereinst in der Schule. Sie erinnerte sich, so ahnlich war es 
auch einst in der Klasse gewesen, in der Volksschule. Man stand auf, 
wenn man gefragt wurde, und man wuftte nicht auf alle Fragen zu 
antworten, nur auf einige. Bei besonders schwierigen fluchtete man in 
sich selbst hinein. Ein Knauel steckte im Hals, Tranen kamen in die 
Augen, man muftte sich schneuzen, die Augenlider taten weh vom 
scharfen Salz der Tranen. Alles wiederholte sich hier. Sie weinte, 
schwieg oft, sagte aus Verlegenheit und Verzweiflung »Ja!«, wenn der 
Staatsanwalt sie hereinlegen wollte, und »Nein!«, wenn ihr Verteidiger 
sie retten wollte. Sie wunderte sich nur iiber die grausame Unerbitt- 
lichkeit der Manner, dieses ratselhaften mannlichen Geschlechts iiber- 
haupt, das sie ja eigentiich langst zu kennen glaubte, wenn uberhaupt 
Erfahrungen Kenntnis verleihen. Aber diese Manner trugen ja auch 
Roben, und sie sahen seltsam aus, wie Kaplane manchmal und auch 
wie feierliche Zwitter. Ganz anders gekleidet, waren sie einst in den 
Salon der Matzner gekommen. 

Der Verteidiger Lissauers fragte seinen Klienten: »Wie oft hat die 
Mizzi Schinagl groftere Summen angefordert?« - »Mindestens jede 



408 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Woche einmal!« sagte er prompt. »Und warum mufiten Sie es herschaf- 
fen?« Lissauer schwieg und senkte den Kopf. »Haben Sie keine falsche 
Scham!« rief der Anwalt. »Die Schinagl hatte sich Ihnen sonst verwei- 
gert!« Lissauer seufzte. »Es ist nicht wahr!« schrie Mizzi Schinagl 
schrill. Aber die Verzweiflung hat keine angenehme Stimme. Sie khngt 
wie die Stimme der Verlogenheit. 

Es war der wichtigste Tag im Leben der Frau Josephine Matzner. Auf 
die Frage nach Stand und Beruf antwortete sie: ledig, Kassiererin. »Ein- 
getragen als Besitzerin eines Freudenhauses auf der Wieden«, verbes- 
serte der Vorsitzende. Undank hatte sie erlebt, lauter Undank - sagte 
Frau Matzner. Alle Madchen hatte sie immer gut behandelt. Sie begann 
zu weinen. Sie verlangte vom hohen Gerichtshof nichts mehr als ihr 
Geld. Sie bat um Milde. Ihre Pleureusen, violett und heute von einem 
lila Papagei am Hutrand festgehalten, schwankten dennoch wie in 
einem starken Sturm. Rechts und links stamen zwei scharfe Hutnadel- 
spitzen, bhtzten bedrohlich. Wuchtig und geschwollen hing das Retikiil 
aus blaftblauer Seide am linken Arm. Diamanten funkelten an den Ohr- 
lappchen. 

»Sie konnen gehn!« sagte der Vorsitzende. Er hatte sie mitten im Satz 
unterbrochen. Sie war noch betaubt vom Widerhall ihrer eigenen 
Worte. Sie verstand nicht sofort. »Es ist genug! Sie konnen gehen!« 
wiederholte der President. Sie begriff endlich, verneigte sich tief, erhob 
sich wieder und rief: »Ich bitte um Gnade!« 
Ohne sich umzusehen, ging sie hinaus. 

Inspektor Sedlacek wurde diskret darauf hingewiesen, daft er dienstlich 
verpflichtet sei, iiber den Ursprung des Schinaglschen Geldes zu 
schweigen. Er berichtete - und sein Herz erwarmte sich dabei ein we- 
nig-, daft er beruflich die Angeklagte seit langem zu beobachten ge- 
zwungen sei. Er traue ihr nur Leichtsinn zu, kein bewufttes Verbrechen. 
Die Anspriiche auf Schadenersatz beliefen sich, alles in allem, auf rund 
vierundzwanzigtausend Gulden. Mizzi Schinagls Anwalt erklarte, daft 
seine Klientin mit den flinfzehntausend, iiber die sie noch verfugte, 
gutstehe. Er rettete ihr auf diese Weise fiinftausend, von denen sie nach 
Abzug seines Honorars noch leben konnte. 

Sie wurde dennoch verurteilt. Lissauer bekam drei Jahre Zuchthaus, die 
Schinagl sechzehn Monate Gefangnis. 

Sie weinte nur. Sechs Monate, ein Jahr, zehn Jahre oder lebenslanglich, 
das war ihr in diesem Augenblick gleichgiiltig. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 409 

Ihr Verteidiger versprach ihr, alles zu tun, damk sie friiher frei werde. 
»Ich will ja gar merit !« sagte sie. 

Sie weinte nicht mehr, auf der ganzen langen Fahrt vom Landesgericht 
bis zur Strafanstalt. Es roch nach feuchter, schmutziger Wasche und 
nach Spiilwasser und Suppenresten im Korridor. Man zog sie aus, in 
einem kleinen Zimmer, stellte sie auf eine Waage und unter ein Zenti- 
metermafi. Die Barmherzige Schwester brachte ihr den blauen Kittel. 
Sie zog sich an. Sie sah gleichgiiltig, wie eine andere Nonne das schone 
dunkelblaue englische Straftenkosuim, die hohen Kndpfelschuhe mit 
den Lackspitzen und das rosa Retikiil in eine Pappschachtel packte 
und daran eine Blechmarke hangte. Sie mufke sich hinsetzen, mit dem 
Riicken zur Tur. Sie horte die Tur aufgehen, sie wagte nicht sich um- 
zusehn. Etwas Metallenes, Klapperndes, Klirrendes kam von hinten an 
sie heran, kaltes Eisen und eine warme Hand ruhrten gleichzeitig an 
ihren Kopf. 

Sie stiefi einen grellen Schrei aus. Die Nonne nahm ihre beiden Hande. 
Ringsum fielen ihre aschblonden, jungen Haare in Biischeln und Flok- 
ken nieder. Es wurde kuhl an der Kopfhaut. Kamme und Nadeln 
raumte die Schwester auf. 

Man brachte ihr eine blaue Haube, die mulke sie anziehn. Sie sah sich 
nach einem Spiegel um. Nirgends ein Spiegel. Dies verwunderte sie. 
Man hiefi sie aufstehen. Sie erhob sich. Am Arm der Schwester hing 
sie, ihre Sandalen klapperten auf dem Stein des Korridors. Schlussel 
klirrten. Graues Licht sickerte aus seltenen, hoch angebrachten Luken, 
man horte irgendwo in der Welt einen Vogel zwitschern. 
Die Zelle 23 war leer, obwohl zwei Betten dastanden. »Wahlen Sie, 
Kind!« sagte die Schwester, sie hatte keinen anderen Trost zu bieten als 
die Freiheit der Wahl zwischen der rechten und der linken Pritsche. 
Mizzi Schinagl fiel auf die linke hin. Sie schlief sofort ein. 
Eine Stunde spater weckte sie jemand. Es war der weibliche Haftling 
Magdalene Kreutzer, ehemals Seilakrobatin, derzeit Karussellbesitze- 
rin im Prater, wie Mizzi Schinagl bald erfahren sollte. 



410 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XVI 

Auch zwei Tage noch nach dem Prozeft hatte die Frau Matzner reich- 
lich Gelegenheit, sich an ihrem plotzlichen Ruhm zu delektieren. 
Noch war sie halb betaubt von den Tagen, die sie im Gerichtssaal des 
Landesgerichts verbracht hatte, von dem Verb or, von ihrer Aussage 
und von ihrem groftartigen und groftherzigen Appell an die Gnade der 
Richter, und schon begann sie, in allerhand verworrenen, aber trostli- 
chen Vorstellungen von ihrer eigenen Zukunft zu schwelgen. Nur 
knappe zwei Tage nach der Beendigung des Prozesses durfte die Frau 
Matzner in diesem seligen Reich des Rausches und der Traume verwei- 
len, gerade so lange, wie die Zeitungen Lust hatten, der Sensation 
Nachrufe zu widmen, in immer kleineren Artikelchen allerdings. Frau 
Matzner scheute keine Kosten, sie kaufte alle Blatter. Aber auch Nach- 
barn und Bekannte brachten ihr Ausschnitte. Am dritten Tage aber 
erstarb, wie durch einen bosen Zauber, die Rede von den Briisseler 
Spitzen, und soviel Zeitungen die Frau Matzner auch an diesem Tage 
kaufte, nirgends fand sich auch nur ein Wort, das nur von feme an den 
Prozeft hatte erinnern konnen. Es war der Frau Matzner, als ware sie 
in eine entsetzlich starre Stille eingetreten, wie sie auf Friedhofen in der 
Nacht herrschen mochte und in den Katakomben. Nein! nicht einfach 
eingetreten war sie in diese makabre Stille, hineingestoften hatte man 
sie. Sie erlitt die grausamen und bitteren Gefuhle aller Verlassenen und 
Verratenen, das verbliiffte Staunen zuerst, die verstandnislose Ver- 
wunderung, die triigerische Hoffnung, daft man selber nur traume, die 
schmerzliche Erkenntnis, daft man dennoch wache, die Verbitterung, 
die Ohnmacht und schlieftlich die Rachsucht. Sie versteckte die schno- 
den Zeitungen, in denen nichts enthaiten war, damit sie keines ihrer 
Madchen in die Hand bekame. Sie ging hinunter in die Gasse, blieb 
eine Weile noch vor dem Haustor stehn, um sich ihre Haltung wieder- 
zugeben, die sie in all den Wochen getragen hatte, denn es schien ihr, 
daft sie gebrochen und verkiimmert aussehe. Vor allem sollte man es 
ihr nicht ansehn. Sie ging in verschiedenen Laden einkaufen, obwohl 
sie gar nichts notig hatte. Aber es trieb sie, die Leute zu sehen und zu 
erforschen, ob auch sie schon etwas von der todlichen und gehassigen 
Stille ausstromten, die in den Zeitungen waltete. Sie brauchte keine 
Brezeln - langst war ihr Appetit erloschen, und sie glaubte, sie wiirde 
niemals mehr im Leben einen Bissen notig haben. Sie brauchte die 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 411 

Hafteln nicht - sie dachte nicht daran, alte Kleider auszubessern. Sie 
brauchte keinen Schuhknopfer, kein neues Miederband, keinen Steck- 
kamm und keine Haselniisse. Aber sie kaufte alle diese Sachen ein, sie 
errichtete geradezu Barrikaden aus Paketen in Zeitungspapier rings um 
sich, aus diesem gesinnungslosen, verraterischen Zeitungspapier. Ihr 
Blick fiel auf das Stanitzl, in dem die Niisse eingepackt waren: Da 
stand es fett gedruckt: »Der Prozeft um die Briisseler Spitzen«. Drei 
Tage war es her - und schon packte man Haselniisse in jene Blatter! 
Nicht auszudenken, welches andere Schicksal noch diesen Blattern 
vorbehalten war! In gleichformige Rechtecke geschnitten, hingen sie 
biindeiweise an Nageln in den Toiletten der Schenken und der Cafes. 
Frau Matzner bemuhte sich noch, mit den Handlern in ihrem gewohn- 
ten, herablassenden Hochmut zu sprechen. Allein es schien ihr, dafi sie 
nicht den grofiartigen Eindruck mehr machte wie bisher. Eine gewisse 
Familiaritat in der Ausdrucksweise aller Leute war nicht zu verkennen. 
Dank ihrer geiibten und gepflegten Empfindlichkeit gab sie sich Re- 
chenschaft dariiber; und schon begann sie zu furchten, sie sei sogar 
noch weniger geworden, als sie vorher gewesen war. 
»Nun, Sie haben ja alles erreicht«, sagte Efrussi zu ihr. »Alles er- 
reicht«, sagte der Mann. Er dachte offenbar nur an das Geld . . . 
Ein paar Wochen spater beschlofS sie zu resignieren. Das Haus war 
nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie kaufte den Sekt nicht mehr beim 
Hoflieferanten Weinberger, sondern bei Baumann in Mariahilf. Wozu 
auch? Wie sparlich waren jetzt noch die alten, guten Kunden. Und 
selbst diese erschienen ihr verwandelt, geradezu verkummert. Sie wa- 
ren nur noch vergilbte und verblafke Abbilder ihrer selbst. Die Gaste 
waren erbleicht, die Korper und Gesichter der altlichen Madchen ver- 
fielen zusehends, der Frack des Klavierspielers wurde grunlich, die Ta- 
peten schalten sich langsam von den Wanden, das Sofa seufzte, wenn 
man sich nur hinsetzte, auf dem Spiegel hauften sich die blinden 
Flecke, und sogar die Putzfrau Clementine Wastl hatte schon die 
Gicht. Es war nichts mehr zu machen. Frau Matzner unterwarf sich 
dem grausamen Gebot der Zeit. Sie verkaufte das Haus. Es wurde eine 
billige Filiale des mondanen Hauses in der ZollamtsstraEe. 
Der Abschied machte sie nicht einmal wehmutig. In einer Abend- 
stunde, im herbstlichen Halbdunkel, innerhalb der knappen Zeit- 
spanne, die zwischen dem Erloschen des Tages und dem Aufleuchten 
der Laternen lag, rollte sie im Fiaker davon. Sie sah sich nicht mehr 



412 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

um. Die Madchen gehorten ihr nicht mehr. Sie unterstanden bereits 
der Zollamtsstrafie. 

Es schien zuerst der Frau Matzner, dafi sie bereits mit dem Leben ab- 
geschlossen habe, aber sie tauschte sich und fiihlte selbst, dafi sie sich 
getauscht hatte. Denn anstatt, wie es ihre Absicht gewesen war, sich in 
den Schutz der weltfremden Stille zuriickzuziehen, irgendwohin in 
eine Provinz, wo kein Mensch sie kannte, beschlofi sie plotzlich, in 
Wien zu bleiben, und zwar mitten in Wien, in der innern Stadt. Auf 
eine natiirliche Weise vermengten sich in ihr Geiz und Geldsucht mit 
der Furcht, sie ware, abgesondert von der Welt, dem Tod und dem 
Alter noch schneller ausgeliefert; und jener: sie konnte die Heimstatte 
ihres Kapitals verlieren. Es schien ihr, dafi sie einen Verrat an ihrem 
Geld beginge, wenn sie es verliefie; es wtirde verwaist bleiben, ein hilf- 
loses Kind. Nein, sie wollte nicht weg! Sie mietete sich im Gegenteil im 
Herzen der Stadt ein, in der Jasomirgottgasse. 

Sie war ein wenig heimatlos in den ersten Tagen, und obwohl sie die 
innere Stadt seit ihrer Jugend sehr wohl kannte, kam es ihr zuweilen 
vor, sie sei gar nicht in Wien. Die Laden waren anders, die Schilder 
anders. Selbst die Tiere, die Pferde, die Hunde, die Katzen und die 
Vogel unterschieden sich von den Tieren der Wieden. Es war, als 
konnte es einer Amsel aus dem ersten Bezirk gar niemals einfallen, ihre 
Nahrung im vierten zu suchen. Auch hatte sie ein wenig Angst vor 
ihren zwei Zimmern, die ihr viel zu geraumig und viel zu kostspielig 
eingerichtet erschienen. Kein einziger Gegenstand in dieser Wohnung 
kam ihr nahe und vertraut genug vor. Beim Anblick eines jeden M6- 
belstiicks mufite sie daran denken, dafi sie fur alles die sogenannte Ab- 
niitzungsgebuhr zahlte, und obwohl die Hohe dieser Gebiihr von 
vornherein ausgemacht war, uberfiel sie immer von neuem die Angst, 
die Mobelstucke nlitzten sich bei jeder Beriihrung nicht nur viel zu 
wenig ab, sondern die Gebiihr steige auch noch, dank einer unerklarli- 
chen Tiicke des Mietvertrags. Um sich in der fremden Umgebung ein 
bifichen heimischer zu fuhlen, holte sie sich funfhundert Gulden in bar 
vom Bankhaus Efrussi ab, die Halfte in Gold, die Halfte in Banknoten. 
So wufite sie wenigstens, dafi etwas Gutes sie erwartete, wenn sie am 
Abend nach langen und nutzlosen Wanderungen durch die Strafien, 
nach schlafrigen Stunden, die sie im Stadtpark oder im Rathauspark 
auf einer Bank verbracht hatte, nach Hause zuriickkehrte. Eine Ma- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 413 

jorswitwe, die zu ihrem Schwiegersohn nach Graz iibersiedelt war, 
hatte ihr die Wohnung vermietet. Frau Matzner erbte etwas von dem 
sozialen Ansehn, das die Besitzerin der Wohnung bei dem Hausmei- 
ster und bei den Parteien und deren Dienstboten genossen hatte. Sie 
war zwar lain Meldezettel eine »Ledige« - aber auch eine »Private«. 
Wohlhabend sah sie aus. Niemand kannte sie. Sie hatte freundliche 
Manieren, ein halbes Dutzend guter Kleider und drei Hutschachteln 
und eine brave Leibwasche aus gutem Leinen. Die Hausmeisterin hielt 
die Zimmer in Ordnung. Sie suchte manchmal in den Schubladen nach 
Briefen oder Papieren. Nicht einmal eine Photographie fand sich, auch 
kein Sparkassenbuch. Man gab schliefilich das Suchen auf und be- 
schloft, die neue Mieterin fur eine alleinstehende, vermogende, diskrete 
Person zu halten, iiber die man schon eines Tages etwas Naheres erfah- 
ren wiirde. 

In dem alten Koffer, den sie von ihren Eltern geerbt hatte, einem soli- 
den, eisenbeschlagenen Koffer auf Radern, bewahrte Frau Matzner das 
Geld auf, die Banknoten in einer Brief tasche, die Goldstiicke in einem 
silbernen Netzbeutel. Wenn sie heimkam, zog sie den Schliissel aus 
dem Retikul, offnete das Vorhangeschloft, schob die eiserne Stange aus 
den Osen und klappte den schweren Kofferdeckel auf. Sie offnete die 
Brieftasche, dann den Silberbeutel, atmete auf, gramte sich dann, daft 
es zu wenig sei, iiberlegte hierauf, daft es ja eigentlich nur ein geringer 
Bruchteil ihres Vermogens sei, und atmete wieder erleichtert, Sie legte 
den Hut ab, klappte den Koffer zu, verschloft ihn und ging hinunter 
zur Hausmeisterin, die ihr jeden Abend das Kleid aufzuknopfeln 
pflegte. Dann, die seidene Pelerine umgehangt, ging sie wieder in den 
ersten Stock. Es fiel ihr regelmaftig noch auf der Treppe ein, daft sie 
eigentlich viel zu leichtsinnig war, wenn sie das ganze Geld in der Bank 
liegen lieft. Man hatte mehr nach Hause nehmen konnen. Sie beschloft, 
morgen wieder bei Efrussi vorzusprechen. Aber dazu bedurfte es eines 
auftergewohnlichen Mutes. Regelmaftig kehrte sie wieder um und be- 
stellte durch die Hausmeisterin ein Kriigl Lager, Okocimer oder Pils- 
ner — zum Einschlafen, wie sie sagte; in Wirklichkeit, um sich heute 
schon Mut fur morgen anzutrinken. 

Am nachsten Vormittag saft sie im Kontor Efrussi. Aber sie hatte kei- 
nen Mut mehr. Die sanfte, kluge Stimme Efrussis, der hoch iiber ihr 
auf seinem Drehstuhl hockte, fiel sachte auf ihren groften Hut. Sie 
hatte auch gar kein Mifttrauen mehr. Und gar keine Angst mehr um ihr 



414 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Geld. »Wenn Sie hundertundzwanzig alt werden, Frau Matzner«, 
pflegte Efrussi zu sagen, »werden Sie auch nicht verhungern und noch 
eine anstandige feine Leich 5 haben, mit vier Rappen und Bespann, 
wenn Sie wollen, und vererben konnen Sie auch noch was!« 
»Dank' schon! Dank' fur die Auskunft!« sagte dann Frau Matzner. 
»Empfehl , mich, Herr Kaiserlicher Rat!« Sie naherte sich seinem 
Drehstuhl und reichte ihm aus der Tiefe die Hand hinauf. Sie ging, 
wenn es warm war, in den Stadtpark zum Rondell und setzte sich ne- 
ben das Barometerhauschen. An solch trostlichen Tagen begab sie sich 
spater in die Schwemme des Gasthauses Kriegl in der Wipplinger- 
strafie. 

Der Herbst dieses Jahres blieb lange warm, gutig und silbern. Im Re- 
staurant des Volksgartens spielte am Nachmittag die Regimentskapelle 
der Hoch- und Deutschmeister. Die Kapelle begann um funf Uhr 
piinktlich zu »konzertieren«. Aber wenn man eine Viertelstunde frii- 
her kam und den Kaffee mit Schlag bestellte, bezahlte man nicht den 
Aufschlag von fiinf Kreuzern fur die Musik, sondern nur dreiftig 
Kreuzer und funfzehn fur ein Stuck Gugelhupf. Es war ertraglich, 
wenn auch eine Art Verschwendung. Aber diese Militarkapeile vermit- 
telte der Frau Matzner dafur auch eine unbezahlbare Wollust: die 
Wollust der Wehmut. Es waren gleichsam die dichterischen Stunden 
im Leben der Frau Josephine Matzner, das heifit jene, in denen sie die 
schrecklichen und giitigen Schauer der Traurigkeit fuhlte, einen wohl- 
tatigen Schmerz, eine trostliche und zugleich schauderhafte Gewifi- 
heit, daft alles vorbei sei. Sie konnte alle Bitternis genieften. Sie konnte 
in aller Bitternis schwelgen. Die Musik spielte langstvergessene Melo- 
dien, Polkas, Mazurkas, aus der Zeit, in der Josephine Matzner noch 
ein Backfisch, noch ein junges Madchen gewesen war, noch gehofft 
hatte, die Frau des Stationsvorstands Anger zu werden. Sie liebte ihn 
nicht mehr, seit langem nicht mehr, wie sollte sie auch! Aber ihre Ju- 
gend liebte sie und selbst noch die Art, in der sie diese ihre Jugend 
vergeudet hatte. Alle anderen Madchen, die sie spater bei der Jenny 
Lakatos in Budapest bei der »Arbeit« kennengelernt hatte, waren ir- 
gendwo untergegangen. Auch an alle diese Madchen dachte sie mit 
Wehmut. Sie allein war imstande gewesen, sich eine »Existenz« zu 
schaffen. Sie »war wer« und sie »konnte was«. Und jetzt? - Ach, die 
Musik der Hoch- und Deutschmeister weckte sufie und zarte Vergan- 
genheiten, machte das Alter milde, die Bitternis lieblich, vergoldete 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 415 

den Kummer, und wenn sie zu Ende war und die uniformierten Musi- 
kanten Pulte, Noten, Instrumente zusammenpackten, blieb immer 
noch die Musik, die sie gespielt hatten, eine lange Weile in der Luft, als 
hatten sie die Melodien in den Wolken gelassen, und die Baume im 
Volksgarten, mit welken goldenen Blattern schon, rauschten im Ein- 
vernehmen mit den innern Stimmen der Frau Matzner, in briiderlicher, 
trostlicher Ratlosigkeit: Und jetzt? Und jetzt? 

Eines spaten Nachmittags, als sich Frau Matzner dem Genufi des Kaf- 
fees, des Gugelhupfs und der Musik auslieferte, horte sie plotzlich eine 
Stimme: »Griift Gott, Tame Fini!« - Die naselnde, hochmiitige 
Stimme eines Herrn aus guter Gesellschaft, stellte sie fest, mitten in 
ihrer Vertraumtheit. Sie sah auf. Ja, es war ein Herr, ein wohlbekann- 
tes Gesicht, sie konnte sich zuerst nicht erinnern, wem es gehorte. Sie 
erhob sich jah, die Erinnerung rift sie hoch, sie erhob sich so, als ware 
sie noch in ihrem Salon oder an der Kassa gesessen. Ja, ja, das war er: es 
war der Baron Taittinger - allerdings in Zivil. Sein griines Jagerhiit- 
chen hatte er nicht abgenommen. Er lachelte nun Die Zahne blinkten 
noch wie ehemals. Aber just an diesem unveranderten Blinken er- 
kannte Frau Matzner, daft sich etwas verandert hatte; eine Sekunde 
spater wuftte sie es auch: Der Schnurrbart des Rittmeisters war fast 
grau geworden; meliert konnte man sagen . . . 

Die Frau Matzner blieb stehen, aus altem Respekt vor dem Rittmei- 
ster, aber auch aus einer Art Ehrfurcht vor dem verwandelten Schnurr- 
bart. Der Baron sah sich schnell urn, und da er in der naheren Umge- 
bung kein bekanntes Gesicht sah, sagte er: »Ist's erlaubt, Frau Matz- 
ner?« und setzte sich. Er nahm das griine Hiitchen ab, und jetzt sah 
Frau Matzner, daft der Kopf des Barons noch grauer war als der 
Schnurrbart - beinahe weift. Sie setzte sich noch immer nicht, jetzt 
mehr aus Verbluffung als aus Respekt. Gingen die Jahre so schnell? 
Oder gingen die Jahre des einen schneller als die des anderen? Oder 
war der Baron krank oder ungliicklich? »Nehmen S' doch Platz!« sagte 
er, und sie setzte sich, steif und behutsam, auf den Stuhlrand und 
stutzte sich mit den Ellenbogen am kleinen Tisch. Dies erschien ihr 
damenhaft und den Umstanden angemessen. 

»Nun, ist's immer noch lustig bei Ihnen?« begann der Rittmeister. 
»Bei mir? Das Haus ist verkauft, Herr Baron, ich bin nicht mehr die 
alte Tante Fini, ich bin auch die >Frau Matzner< nicht! Ich bin wieder 
das Fraulein Matzner wie vor zwanzig Jahren! Ich wohne in der Jaso- 



416 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

mirgottgasse und bin eine Ledige und Private, und kein Hahn kraht 
nach mir. Ach, Herr Baron, die alten Zeiten! Was? Und jetzt die Ein- 
samkeit!« 

Sie machte eine Pause und seufzte. 

»Reden S' nur! Reden S' nur!« sagte der Rittmeister munter, als er- 
warte er nach dieser Einleitung lauter heitere Geschichten. 
Frau Matzner erzahlte in exakter Reihenfolge. Sie erstattete beinahe 
einen militarischen Bericht. Als sie die Geschichte von den Spitzen 
erzahlte, stockte sie ein paarmal. »Mizzi Schinagl, Herr Baron wissen 
ja — «, sagte sie und schwieg wieder eine Weile. 

Ja, ja! Der Name Mizzi Schinagl erweckte allerhand unbehagliche Ge- 
fiihle im Rittmeister. 

»Ich hab' noch das hohe Gericht um Gnade gebeten«, erzahlte die 
Matzner weiter. Sie erwartete ein wenig Bewunderung, ein wenig An- 
erkennung nur, ein kleines, armes Wort, einen zustimmenden Blick. 
Aber der Rittmeister hatte offenbar diesen wichtigen Satz uberhort. Er 
starrte plotzlich hinauf in die vergilbten Baumkronen. Als hatte er es 
mit einem Blick herabgeholt, wirbelte leicht und langsam ein breites 
Kastanienblatt aus diirrem Gold nieder und blieb auf dem breiten Hut- 
rand der Matzner liegen. Er betrachtete das gelbe Blatt auf dem violet- 
ten Samt. Warum kam ihm jetzt Kagran in den Sinn? Warum plotzlich 
Kagran? 

»Jetzt sitzt sie!« sagte die Matzner und seufzte wieder. 
Ja, er erinnerte sich. Es war ein paar Wochen her, da hatte er in der 
Kanzlei einen Zettel unterschreiben miissen. Es war ein rekomman- 
dierter Brief, eine wohlbekannte Schrift, und ein roter Stempel auf dem 
Kuvert sagte: »Gelesen, passiert!« Dieser Stempel roch nach einer 
»langweiligen Geschichte«, viel intensiver noch als die Schrift. Es war 
ein blaugrunes, hafilich billiges Kuvert, es erinnerte an Armut und Ge- 
setz zugleich. Der Rittmeister hatte unterschrieben, zerstreut den Brief 
geoffnet und nur einen Blick auf den Aufdruck am Kopfrand des Blat- 
tes geworfen. »Weibliche Strafanstalt Kagran« stand darauf. Er war 
weiter nicht neugierig. Er war nie im Leben besonders neugierig gewe- 
sen. Solch ein Brief, mit solch einer lacherlichen, erbarmlichen und vor 
allem langweiligen Aufschrift gehorte zu den unerklarlichen Erschei- 
nungen, die den Baron Taittinger von Zeit zu Zeit verfolgten, wie zum 
Beispiel die Briefe seines Okonomen Brandl, die Rechnungen des 
Oberkellners Reitmayer, irgendwelche uberfliissigen Mitteilungen des 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 417 

Biirgermeisters aus Oberndorf, wo sich sein Gut befand. Es waren 
beinahe okkulte Erscheinungen. Sie hatten nichts mit der Liebe zu tun, 
nichts mit der Wiener Gesellschaft, nichts mit dem Dienst, nichts mit 
den Pferden. All dies war gar nicht mehr langweilig: es war schon 
»ennuyeux«! - der hochste Grad von Langeweile. 
»Reden S' nur, reden S 3 nur!« sagte er, fest entschlossen, nicht mehr 
zuzuhoren. Er hatte sich nach langen Wochen wieder einmal aufge- 
rafft, nach Wien zu fahren. Wieder einmal, wie so oft seit der fatalen 
Affare mit dem Schah und seiner briisken Riickversetzung zum Regi- 
ment, hatte ihn das starke, gefahrliche und ratselhafte Weh gepackt, fiir 
das er keinen Namen wufke. Es war eine ungewohnliche Mischung aus 
Schmerz, Scham, Sehnsucht, Liebe und Verlorenheit. In solchen Mo- 
menten bekam der Rittmeister eine deutliche Vorstellung von seiner 
Leichtfertigkeit, und die Reue nagte an ihm; fast fiihlte er korperlich 
ihre scharfen Zahne. Vergeblich fragte er sich, warum er dies getan im 
Leben, jenes unterlassen oder versaumt hatte. Sinnlos erschien ihm al- 
les, was er seit seiner Ausmusterung erlebt hatte. Er versuchte, seine 
Erinnerungen gewaltsam in die Kadettenschule, zur Mutter, zum Va- 
ter zuriickzulenken, aber sie gehorchten ihm nicht, rannten vorwarts 
und stockten immer vor der Grafin W, dem Schah, dem charmanten 
Kirilida Pajidzani und dem grauslichen Sedlacek mit dem Zylinder, 
stockten zuerst und kreisten hierauf um diese vier Menschen. Diese 
schmahliche Geschichte war langst begraben, kein Mensch kannte sie, 
der Oberst nicht und nicht die Kameraden. Aber was nutzte es Taittin- 
ger selbst? Es gab eine Episode in seinem Leben, von der er zu keinem 
Menschen jemals sprechen durfte. Sie kreiste im Blut wie irgendein 
Fremdkorper, kam von Zeit zu Zeit in die Gegend des Herzens, driickte 
es, stach es, bohrte darin. In solchen Stunden gab es nur drei Auswege: 
Entweder man floh nach Wien, an die Statte des Glanzes und den Ge- 
burtsort der Schande; oder man betrank sich; oder- oder: Man erschofi 
sich. Krieg ware ein Ausweg gewesen. Weit und breit aber herrschte ein 
satter, behabiger, libermutiger Frieden in der Welt . . . 
Ja, jetzt wufke er's: Nun hatte ihm also die Mizzi aus dem Gefangnis 
geschrieben - ihm - aus dem Gefangnis - es war ahnlich wie damals 
der familiare Gru£ des ekelhaften Geheimen Sedlacek. Es konnte sich 
jeden Moment eine solche Peinlichkeit wiederholen. Und wie sie ver- 
hiiten? Sowenig der arme Taittinger auch von den Gesetzen der zivilen 
Welt verstehen mochte, soviel wufke er doch, dafi es einem Gefange- 



418 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nen erlaubt war, Briefe in die freie Welt hinauszusenden. Der Gefang- 
nisdirektor las sie. Er hatte auch den letzten Brief der Schinagl gelesen. 
Taitdnger betrachtete immer noch das heruntergewirbelte goldgelbe 
Blatt auf dem violetten Hutrand der Matzner. Ach, er neigte keines- 
wegs zu poetischen Empfindungen. Jetzt in dieser Sekunde aber be- 
gann er, irgendeine merkwiirdige, lacherliche Zartlichkeit fiir das arm- 
selige Blattchen zu empfinden. Es kiindete den Herbst, gewifi! Wie oft 
hatte er schon welke Blatter den Herbst kiinden gesehn! Dieses Blatt 
aber, dieses besondere, kiindigte ihm, speziell ihm, dem Taittinger, sei- 
nen speziellen Herbst an. Ihn frostelte. 

Er horte plotzlich Sabelklirren, bekam Angst, dafi ihn bekannte Kame- 
raden am Tisch der Matzner sehen konnten, zog die Uhr und sagte 
unvermittelt, mitten in das von Seufzen begleitete, unermiidliche Re- 
den der Matzner hinein: »Ich muft gehn. Wir treffen uns morgen um 
diese Zeit — aber wo?« Er iiberlegte eine Weile - wo war man still und 
ungesehen? - Ja, ja, er erinnerte sich und sagte: »Bei Griitzner! 1st 
Ihnen recht, Frau Matzner ?« - »Ganz wie Herr Baron belieben«, ant- 
wortete sie. Er rief: »Zahlen!« und setzte das Hiitchen auf. Er zahlte 
auch fiir die Matzner, und sie beobachtete mit kummervollem Entset- 
zen, dafi der Kellner die fiinf Kreuzer Aufschlag berechnete, wo sie 
doch eine Viertelstunde vor der Musik gekommen war! 
Taittinger reichte ihr lassig vier Fingerspitzen. Sie erhob sich mit einer 
Verbeugung: Da fiel das Blatt vom Hut auf den Tisch. 
Dann verschwand der Baron im Dunkel des Volksgartens, 



XVII 



Zum erstenmal in seinem Leben sollte der Baron Taittinger erfahren, 
was es hiefi: Schritte unternehmen. Beim Militar unternahm man keine 
Schritte. Alles war geregelt. Es gab keine Komplikationen, und wenn 
es welche gab, so waren sie die Folgen gewisser Vorschriften und Be- 
stimmungen, welche die Macht hatten, die Verwicklungen, die sie 
schufen, auch gleichzeitig zu losen. Im zivilistischen Leben aber hatte 
man sehr oft Schritte zu unternehmen. Man mufke sich von Zeit zu 
Zeit irgend etwas richten, denn die Gesetze hatten anscheinend nicht 
die Aufgabe, das Leben der Menschen zu regeln, sondern im Gegen- 
teil, es in Unordnung zu bringen. Derlei Uberlegungen liefSen den 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 419 

Rittmeister in dieser Nacht nicht schlafen. Er erwachte friih, der 
Herbstmorgen dammerte eben heran. Gestern noch hatte er an den 
Polizeiarzt Doktor Stiasny gedacht, der in Taittingers Dragonerregi- 
ment als Reserve-Oberarzt jedes Jahr zu den Ubungen einriickte. Es 
ware Taittinger ganz unmoglich gewesen, etwa den ihm von feme be- 
kannten Oberkommissar Baron Handl aufzusuchen, aus dem einfa- 
chen Grunde, weil er diesen namlich noch niemals in Uniform gesehen 
hatte. Mit Doktor Stiasny war man immerhin schon im Kasino geses- 
sen, beim Domino. 

Unbehagen bereitete dem armen Taittinger die Pohzeidirektion. Er 
war in Zivil, und es konnte nicht fehlen, daft ihn die zwei Wachleute 
vor dem Eingang respektlos musterten, daft ihn die Spitzel, von denen 
es in den Korridoren wimmelte, mit fliichtigen, aber sehr eindringli- 
chen Blicken verfolgten. Jeden Augenblick hatte er Sedlacek, den Ge- 
heimen, treffen konnen. Es war »penibel« und »langweilig«. Auf einer 
braunen Bank, mit irgendwelchen Personen, die er als Bittsteller klas- 
sifizierte, muftte er eine qualvolle Viertelstunde warten. »Herr Doktor 
laftt bitten!« sagte endlich der Beamte. 

»Ah, Baron! « sagte der Polizeiarzt und stand auf. Er war rund, wohl- 
beleibt, auf kurzen Beinen kam er dem Rittmeister eilig entgegen. Tait- 
tinger hatte ihn sich anders vorgestellt. Es fiel ihm ziemlich schwer, ihn 
wieder so zu sehen, wie er sich ihn ertraumt hatte. Im Zivil trug der 
Doktor Stiasny einen Zwicker an einem schwarzen Bandchen - und 
das irritierte den Rittmeister. »Servus, Doktor! « sagte er mit einer ge- 
qualten Stimme. Der Doktor war eben im Spital gewesen, er roch nach 
Jod und Chloroform, wie eine Apotheke, In seiner oberen Westenta- 
sche schimmerte die scharfe Quecksilberspitze des Fieberthermome- 
ters. Verwirrt setzte sich Taittinger. Der Doktor fragte nach dem Be- 
finden der Regimen tskameraden. Der Rittmeister sagte immer wieder: 
»Dank' schon, glanzend!« - Und: »Was ein Doktor doch fur ein Ge- 
dachtnis hat!« Ihm selbst entfielen die meisten Namen, sobald er nur 
den Bahnhof der Garnison betrat, um wegzufahren. 
Es war eine wahre Marter, so lange zu warten, bevor er mit seinem 
Anliegen herausriicken konnte. Und wie sollte man anfangen? »Da is 
so ein Madel, Doktor, weiftt, so ein Siindenfall, und die is jetzt bei 
euch«, so fing er an, und der Doktor Stiasny glaubte schon, es handele 
sich um eine der sogenannten »geheimen Krankheiten« oder gar um 
eine verbotene »Hebammen-Sache«, wie er zu sagen pflegte. Es be- 



420 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

durfte erst eines ausfiihrlichen Verhors, bevor der Doktor Stiasny den 
Sachverhalt aus den abrupten Satzen Taittingers zusammenflicken 
konnte. Es war ihm, als miifite er kurze Fadenstiickchen aneinander- 
kniipfen. Als er endlich begriff, wunderte er sich zwar ein wenig, war 
aber doch erleichtert und bereit, noch an diesem Vormittag mit dem 
Rittmeister nach Kagran hinauszufahren. »Nein, lieber Doktor, sofort 
bitte!« sagte Taittinger. Er ware nicht imstande gewesen, eine halbe 
Stunde langer zu warten. Auf einmal, da er knapp vor diesem langwei- 
ligen Kagran stand, schien er alle Schrecken schon im voraus zu spii- 
ren, mit denen es ihn erwartete. Er! In ein Gefangnis! Es war schauer- 
lich! Der Doktor Stiasny sagte es so leicht vor sich hin! Freilich, nicht 
jeder Mensch war Polizeiarzt und ging jeden Tag in Gefangnisse. Man 
mufite die ganze Angelegenheit schnell hinter sich bringen. 
Wahrend der Fahrt nach Kagran im Fiaker war Taittinger stillbekum- 
mert. Dabei fuhren sie geradezu im Galopp. Als sie anlangten, hatten 
ihn Langeweile, Kummer und Bangnis dermaften mitgenommen, daft 
er fast den Zustand der Gleichgultigkeit erreichte. 
Der Gefangnisdirektor Regierungsrat Smekal hatte goldgeranderte 
Brillen - nicht einmal sie schockierten den unseligen Taittinger. Er 
wurde vorgestellt. Er gab die Hand. Er tat alles, was zu tun war, und 
hatte nur eine nebelhafte Vorstellung von allem, was sich mit ihm und 
was sich rings um ihn zutrug. Wie aus weiter Feme horte er den Ge- 
fangnisdirektor sagen, daft es ihm unmoglich sei, gewissen Straflingen 
das Brief schreiben zu untersagen. Jawohl! Es war ihm unmoglich. Er 
verstand sehr wohl die »Difficultaten« des Herrn Baron, - aber, wie 
gesagt: »die Vorschriften«! . . . Und er wollte auch auf den Haftling 
Schinagl in dem Sinne einwirken, daft sie nicht mehr schreibe, aufier an 
ihren Vater in Sievering und ihren Sohn in Graz, Und am einfachsten 
sei es wohl: der Herr Baron spricht selbst mit ihr. Dagegen ist keine 
Vorschrift. Der Regierungsrat Smekal kann den Haftling Mizzi Schi- 
nagl sofort holen lassen, selbst hierher in die Kanzlei, er selbst geht fur 
eine halbe Stunde, grad' jetzt, inspizieren. Ehe noch Taittinger recht 
verstanden hatte, sagte der Doktor Stiasny: »Ausgezeichnet!«, und 
wahrend eine seltsame, nie gekannte Mattigkeit aus Blei und Trauer 
sich iiber den armen Taittinger senkte, klingelte der Regierungsrat 
schon, gab er schon einen Auftrag, nahm er schon den Hut vom Ha- 
ken, sagte er schon: »Also in einer halben Stunde, Herr Baron! « -, und 
auch der Doktor Stiasny sagte: »Ich gehe inzwischen in den Hof!« -, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 421 

und schon waren beide Herren verschwunden. Nicht einmal die Tur 
hatte man auf- und zugehn gehort. 

Und schon war Taittinger allein, im Zimmer des Direktors, zwischen 
fremden Tabellen an den Wanden, friedlichen griinen Aktenfaszikeln 
und allerdings einem stahlernen Tintenfafi gegeniiber, das seinen 
schwarzen, hollischen Rachen hollisch aufgeklappt hatte. 

Ein Aufseher kam herein, salutierte, ging wieder hinaus. Durch die 
offengebliebene Tur trat Mizzi Schinagl in die Kanziei. Sie erschrak 
sichtlich. Sie machte zuerst eine Wendung, als wollte sie wieder in den 
Korridor zuriick, schien sich zu besinnen, blieb stehen, hart an der 
Schwelle, und bedeckte das Angesicht mit den Handen. Man hatte ihr 
nur gesagt, sie miisse zum Herrn Direktor. Als sie Taittinger erblickte, 
hatte sie zuerst das Gefuhl, dafi sie fliehen miisse wie bei einer Kata- 
strophe, und gleich darauf die schreckKche Gewiftheit, dafi ihr alle 
Auswege versperrt seien. Eine heifie Freude durchstromte sie, hierauf 
eine ebenso heifie Scham. Sie stand so ein paar lange Sekunden, die 
Hande vor den Augen. Es war ihr, als wiirde sie, wenn sie die Hande 
fallen liefte, Taittinger nicht mehr sehen konnen; verschwunden ware 
er dann. Und sie hielt mit den Handen hinter den geschlossenen Li- 
dern seinen Anblick fest, mit Gewalt. Sie lieft endlich die Hande fallen, 
aber ihre Augen waren noch geschlossen. Sie fiihlte, dafi sie im nach- 
sten Moment weinen miifke, gramte sich dariiber, wiinschte es sich 
aber auch gleichzeitig. 

Taittinger war ratios wie noch nie in seinem Leben. Er stand auf, aber 
er ging nicht auf die Schinagl zu, sondern zur Wand und starrte gedan- 
kenlos auf eine sinnlose Tabelle. Seine Hande spielten mit dem griinen 
Hiitchen und mit den grauen Handschuhen. Es dauerte ein paar Minu- 
ten, ehe er seine gewohnte, nariirliche leichtfertige Gleichgiiltigkeit 
wiederbekam, den nonchalanten Gleichmut. »Ja, da bist du ja, liebe 
Mizzi! Laft dich anschaun! Wie geht's dir?« sagte er mit seiner alten, 
zartlichen, naselnden Heiterkeit. Lieblich klang sie der Mizzi, und um 
besser zu horen, offnete sie auch die Augen. »Setz dich, Mizzi!« sagte 
Taittinger, und sie gehorchte und saE da, auf der Stuhlkante, die 
Hande im SchoE gefaltet wie ein Schulmadchen. Er dachte, es ware 
wohl angebracht, ein kleines Kompliment zu sagen; aber das konnte 
man ja nicht unter diesen Umstanden. Du siehst aber gut aus zum 
Beispiel, war gewrft deplaciert. »Dank' schdn«, stotterte die Mizzi, 



422 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»dafi du - dafi Herr Baron gekommen sind, bitte um Entschuldigung 
fur den Brief.« Ja, naturlich, der Brief, das war ja der Grund, weshalb 
er hier war; aber nett mufite das gesagt werden. »Es ist so nett«, sagte 
Mizzi fast tonlos, »zu kommen, wenn ich drum bitte und ins Ungliick 
geraten bin. Das ist so, so — edel!« Sie hatte unter grower Anstren- 
gung dieses Wort gefunden, und wie plotzlich befreit, brach ein Strom 
von Schluchzen aus ihrem Herzen. Taittinger naherte sich ihr elastisch, 
durch das Wasser der Tranen sah sie ihn herankommen, ein Engel im 
grauen Strafienanzug schwebte heran. Als er hart vor ihr stand, wufite 
er noch immer nicht, was er sagen sollte. Eine unbekannte Stimme 
diktierte ihm plotzlich, eine Stimme, die er noch niemals vernommen 
hatte. Er sprach ihr nach: »Es freut mich ja, wenn ich einen netten 
Brief bekomme. Ich lese sofort, noch in der Kanzlei. Weifit, im 
Grunde bin ich ja ein ganz guter Kerl.« Er wollte noch fortfahren, er 
wollte sogar noch sagen, daft er um recht viele Briefe bitten moge, aber 
da weigerte sich auf einmal seine Zunge, und er erinnerte sich, dafi er ja 
eigentlich genau das Gegenteil hatte sagen wollen. Deshalb schien es 
ihm angebracht, den nachsten Satz mit einem Aber zu beginnen. »Aber 
es is namlich so, weifk«, fuhr er fort, »daft der Zenower, der Rech- 
nungsunteroffizier, mein 5 ich, der kriegt so einen Haufen Post jeden 
Tag, und er macht mal so was Fremdes auf, in der Eile, und deshalb 
auch nab' ich alle meine Freunde und Bekannten gebeten, mir nix mehr 
zu schreiben, aufier - aufter« - er stockte, jene unbekannte Stimme 
wurde plotzlich. ganz stark, gewaltsam fast diktierte sie ihm, und er 
sprach ihr nach: »unter H.v.T. poste restante!« 

»H.v.T.«, wiederholte Mizzi, »poste restante.« Er blickte jetzt auf ihr 
dunkelblaues Haubchen, er stand vor ihr, seine Knie beruhrten ihren 
gestreiften, langen Kittel. Die Haube argerte ihn, sie war aus dem stei- 
fen, faserigen Gewebe, aus dem man Sacke macht, und er erinnerte sich 
an die Grafin Helene W. und an das Haar der beiden Frauen, und er 
zog plotzlich, mit einer briisken Bewegung, mit zwei Fingern die 
Haube herunter. Im gleichen Augenblick bedeckte Mizzi Schinagl mit 
beiden Handen ihren Kopf. Sie fing wieder an, bitterlich zu schluch- 
zen. In starren, unregelmaftigen, stachligen Bundeln starrte das Haar 
der Mizzi empor, und Taittinger hatte Miihe, nicht wieder einen 
Schritt zuriickzutreten. Schrecken und Mitleid erfullten, uberfluteten 
ihn. Ja, Mitleid! Zum erstenmal empfand er Mitleid in seinem Leben. 
Es war ihm zumute, wie einem, der vor seinem eigenen Gliick er- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 423 

schrickt. Er streichelte die stachligen Biischel mit einer verschamten 
Hand, und er wunderte sich dariiber, daft er es tat. Nicht mehr der 
alte Taittinger war er, er verlor sich, er fiel, und das Fallen bereitete 
ihm eine neue, unbekannte Wonne und glich einem Schweben. 
»Wann kommst du heraus?« fragte er und stiilpte wieder die greuli- 
che Haube iiber Mizzis armen Kopf. »Ich weift nicht«, schluchzte 
sie. »Am liebsten war's, ich bleib' hier!« - »Ich werd' schaun, was 
ich tun kann!« sagte Taittinger. »Dank' schdn, Herr Baron!« sagte 
Mizzi. 

Er war nicht mehr imstande, sie anzusehn. Es schien ihm auf einmal, 
daft er schuld war: Er wuftte nur nicht, wieso, warum. Die Schinagl 
fuhlte es vielleicht. Sie erhob sich mit einem plotzlichen Ruck. »Darf 
ich gehn, Herr Baron ?« fragte sie, und es war Wiirde und Anmut in 
ihrem Aufstehn, in ihrem Blick, in ihrer Stimme. 
»H.v.T. poste restante«, sagte Taittinger. Ihre holzbesohlten Sandalen 
klapperten, auf dem holzernen Boden der Kanzlei zuerst, dann lauter, 
harter, auf den Steinen des Korridors. Taittinger sah sich nicht mehr 
um. Er stand der Wand zugekehrt und starrte gedankenlos auf die un- 
sinnigen Tabellen. 

Er erinnerte sich jetzt erst, daft er nach dem Sohn hatte fragen miis- 
sen. Wo befand sich der eigentlich? - Oh, er hatte keineswegs etwa 
das Gefuhl einer Verpflichtung! Es schmerzte ihn einfach, daft er 
das Gebot der Hoflichkeit verletzt hatte. Zugleich erinnerte er sich 
dunkel daran, daft zum Beispiel der Leutnant Wander, der ein un- 
eheliches Kind hatte, jeden Monat eine bestimmte Summe dafiir 
zahlen muftte. Weshalb er, Taittinger, bis jetzt niemals etwas fur den 
Jungen bezahlt hatte, konnte er sich nicht erklaren. Das hing mit 
den unbegreiflichen »Gesetzen« zusammen. Aber es schmerzte ihn 
etwas, er wuftte nicht genau, was es war. Er fuhlte nur, daft er nie- 
mals die geschorenen Haare der Mizzi Schinagl vergessen konnte. 
Auch seine rechte Hand schien eine Art Gedachtnis bekommen zu 
haben. Auch die Innenflache seiner rechten Hand wiirde immer die 
Erinnerung behalten an die stachligen, harten Haarbuschel der Mizzi 
Schinagl. 

Als er mit Doktor Stiasny wieder im Wagen saft und in die Stadt 
zuriickfuhr, begann er, gegen seinen Willen, von sinnlosen Dingen 
zu reden, muntere, aufgeraumte, geradezu kindische Angelegenhei- 
ten zu erzahlen; aus seiner Jugend. Ein paar Augenblicke horte er 



424 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sich selbst sprechen, und es war ihm, als sei er schon alt, und er emp- 
fand das Lacherliche seiner Reden, und er iibte Nachsicht mit sich 
selbst, und er bestand aus zwei Taittingers; einem jungen und torich- 
ten und einem alten und kliigeren. 

In einer traurigen Verwirrung fuhr er am Nachmittag zum Rendez- 
vous mit der Matzner. Er lieft sich die Geschichte von den Spitzen und 
den ganzen Prozefi ausfuhrlich erzahlen. Zu seiner eigenen Verbluf- 
fung verstand er so gar die geschaftlichen Vorgange. 
Es ekelte ihn ein wenig vor der Frau Matzner. Zum erstenmal empfand 
er den Unterschied zwischen Langeweile und Ekel. Er war sogar im- 
stande, sich iiber die Gewissensruhe der Matzner zu wundern, da er 
erkannte, dafi allein ihre Geldgier den Prozefi verursacht hatte. Er 
fuhlte sich auf eine merkwiirdige Art abgestofien und angezogen zu- 
gleich, rettungslos verwickelt in eine »fremde Geschichte«. Als die 
Matzner im Laufe ihres Berichts den Namen Sedlacek fallenliefi, ergiff 
den Rittmeister auch Angst. Und er zahlte schnell und ging und Kefi 
die Matzner ratios zuriick. »Meine Adresse, Herr Baron«, rief sie und 
schrieb auf die Riickseite eines Kuverts, das sie hastig aus dem Tasch- 
chen herausgezogen hatte, ihre Adresse auf. 
Der Rittmeister steckte sie hoflich in die Brieftasche. 
Die Matzner blieb noch bis in den spaten Abend. Die abendliche 
Herbstluft war klar, streng und herb. Als die Matzner sich erhob, um 
zur Pferdebahn zu gehn, fuhlte sie einen leichten Schwindel im Kopf 
und einen frostigen Schauer im Herzen. Sie glaubte, dies mache der 
Wein, den sie nicht gewohnt war, und auch die Aufregung, die ihr der 
Baron bereitet hatte. Unterwegs in der Pferdebahn nahm sie sich vor, 
einen Kamillentee zu trinken. 



XVIII 

Auch am nachsten Tag setzte die Matzner ihr gewohntes Leben fort. 
Sie erwachte nicht ohne Munterkeit. Eine Zeitung las sie nicht mehr, 
seit dem Tage, an dem sie endgiiltig eingesehen hatte, dafi ihr das Inter- 
esse der Welt nicht mehr gait. Die zwiefache Begegnung mit dem 
Baron gewahrte ihr heute noch einigen Trost. Die wichtigsten Neuig- 
keiten aus der »Kronen-Zeitung« und aus dem »Neuigkeits-Weltblatt« 
brachte ihr die Hausmeisterin, die gegen neun Uhr morgens aufrau- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 425 

men kam. Obwohl sie nur sparliche Trinkgelder gab und als ledig ge- 
meldet war, nannte sie die Hausmeisterin doch Gnadige Frau. (Meist 
vermied sie die Anrede.) 

Dieser Tag also unterschied sich vorlaufig noch nicht von alien verflos- 
senen. Die hellen, giitigen, herbstlichen Tage hielten immer noch an. 
Die Matzner machte, wahrend ihr die Hausmeisterin das Kleid zuhaf- 
telte, den Stundenplan. Zuerst wollte sie zur Bank Efrussi, hierauf zum 
Notar und schlieftlich in die Polizeidirektion, um wieder einmal den 
Inspektor Sedlacek zu sehn. Es war ihrer Meinung nach wichtig, dem 
Sedlacek mitzuteilen, daft sie mit dem Baron Taittinger zusammenge- 
kommen war. 

Auf der Strafie aber, als sie der milde, silberne und hoffnungsreiche 
Atem dieses gnadigen Herbstes umfing, erschien ihr Sedlacek immer 
wichtiger. Dringlicher wurde auch ihr Wunsch, sich der Zusammen- 
kunft mit dem Baron vor irgend jemandem ruhmen zu konnen, der so 
etwas zu schatzen wufite. Und sie lenkte ihren entschlossenen Schritt 
zum Schottenring ins Cafe Wirzl, wo Inspektor Sedlacek mit den Poli- 
zeireportern von elf bis eins Tarock zu spielen pflegte. Wer kann genau 
wissen? Alles ist moglich. Es kann sein, daft der Baron in einer wichti- 
gen Angelegenheit nach Wien gekommen ist; in Zivil: Warum war er 
in Zivil? Es kann sein, daft Sedlacek schon etwas Naheres weift. Es 
kann auch sein, daft es fur ihn wichtig ist, etwas zu erfahren. Oft genug 
ist er in das Haus der Matzner gekommen, um sich zu erkundigen, wer 
von den Herrschaften gestern nacht dagewesen war. Die Herren Re- 
dakteure saften auch im Cafe, Lazik unter ihnen. Es konnte sein, daft 
auch die Zeitungen Gefallen oder Interesse an der Geschichte der 
Matzner finden wiirden. 

Im Cafe Wirzl war Pause zwischen zwei Partien. Sedlacek und seine 
Tischgenossen aften Prager Wiirstl mit Kren und tranken einen Schnitt 
Extra. Man begriiftte Frau Matzner mit einem herzlich-lauten »Lang 
nicht gesehn, Tante Fini!« Sie bekam einen Schale Gold mit Mohnkip- 
fel und begann, wahrend sie den knusprigen Kipfel mit hdrbarem Ge- 
nuft im Munde zersplitterte, ihre Geschichte mit den Worten: »Also, 
Herr Sedlacek, staunen werden S'i Sitz' ich da unschuldig im Volks- 
garten - wer kommt da auf einmal? Die Musik spielt grad: >Droben wo 
die Wolklein stehn< — wer kommt da daher? . . .« 
»Schau, schau!« sagte der Inspektor immer wieder, Der Redakteur La- 
zik notierte das Datum der Abreise Taittingers auf der Manschette, fur 



426 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

alle Falle. »Dank' Ihnen sehr!« sagte Sedlacek. Die Matzner erhob sich. 

Sie glich einem Ballon, der soeben Ballast abgeworfen hat und stolz 

und frei in die hoheren Regionen steigen darf. Sie schwebte zur Tiir 

hinaus. Sie ging zu Efrussi. 

Aber der Kaiserliche Rat war heute nicht im Geschaft, zum erstenmal 

seit dreiEig Jahren. Der Buchhalter, ein veranderter, beinahe fremd 

aussehender Mann heute, empfing die Frau Matzner. Er teilte der 

Matzner mit, dafi der Kaiserliche Rat gestern nacht plotzlich in die 

Klinik gebracht worden sei, eben operiert werde, der Blinddarm sei es 

und eine Sache von Tod und Leben. 

»Und was geschieht mit dem Geld?« rief die Matzner. 

»Welches Geld?« fragte der Buchhalter. 

»Meins, meins!« schrie sie und fiel in den Sessel, wuchtig, als hatte sie 

plotzlich ein doppeltes Gewicht bekommen. 

»Ruhe, beruhigen Sie sich«, sagte der Buchhalter. »Die Bank bleibt die 

Bank, Frau Matzner, auch im schlimmsten Fall, was Gott verhuten 

moge! Ihr Geld bleibt Ihr Geld!« 

»Ich werd' lieber selbst in die Klinik fahren«, sagte sie. »Ich werd' 

mich erkundigen.« Sie hatte schon Tranen in der Stimme und ein zu- 

sammengeprefites Herz. Ein wiister Nebel wallte vor ihren Augen. 

»Die Adresse, die Adresse!« rief sie. Man gab ihr die Adresse. Sie war, 

obwohl die Fiifk zitterten, das Herz gewaltig pochte, wie durch ein 

Wunder in einem Nu draufien, schon winkte sie dem Fiaker. »Klinik 

Haselmeyer«, schrie sie schrill, als riefe sie: »Feuer!« 

Sie kam knapp eine Viertelstunde, nachdem der Kaiserliche Rat Efrussi 

an den Folgen der Blinddarmoperation gestorben war. Man sagte es 

ihr, kalt und geschaftlich, wie es die Art ist in Kliniken. 

Ohnmacht uberfiel sie. Sie erwachte im Inspektionszimmer, im bitter- 

scharfen Wind des Ammoniaksalzes. Sie wankte am Arm der Schwe- 

ster die Treppe hinunter. Ihre Fiifie fuhlten noch den Boden, ihre 

rechte Hand noch den Schirmgriff, ihre linke noch das Retikul. Aber 

ihre Gedanken hatten gar keinen Halt mehr. Wie ein Schwarm wildge- 

wordener Vogel stoben sie durcheinander, in einer Art von lautlosem 

Larm, stiefkn gegeneinander mit Kopfen und Fliigeln, verschwanden 

plotzlich und kehrten wieder, in erneuter Verwirrung. Das Herz 

klopfte nicht mehr, es wuchtete, es schaukelte, auf und nieder, auf und 

nieder. Jemand fragte die Matzner nach ihrer Adresse. Jemand setzte 

sie in einen Wagen. Jemand iibergab sie der Hausmeisterin. Man fuhrte 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 427 

sie in die Wohnung, legte sie auf das Sofa. Sie hatte noch Geistesgegen- 
wart genug zu sagen: »Lassen S s mich allein, ich will schlafen!« Man 
Heft sie allein. Sie ging zum Koffer und sah nach dem Geld. Sie nahm es 
an sich, das Portefeuille und die silberne Netzborse. Sie steckte beides 
in den Strumpf. Das silberne Beutelchen fiihlte sie angenehm, es glitt 
von der Wade zum Knochel hinunter, ein liebes Tierchen. Sie lieft sich 
in den Lehnstuhl fallen. Sie schlief ein mit dem innigen Wunsch, eine 
Woche, einen Monat, ein ganzes Jahr zu schlafen. 
Aber sie erwachte am Abend des gleichen Tages, die Sonne war noch 
nicht untergegangen. Ihre Stirn brannte, ihre Schlafen waren taub und 
bleiern. Ein kalter Schauer nach dem andern durchjagte ihren Korper. 
Sie erhob sich, keuchte zur Tiir, machte sie auf, nahm alle Kraft zu- 
sammen und rief: »Frau Smelik, Frau Smelik!« und wunderte sich 
noch selbst, daft sie noch eine Stimme hatte. Die Hausmeisterin kam, 
loste die Miederbander, und alsbald glich der Korper der Frau Matzner 
einer formlosen, in weiftes Leinen gefaftten, uberquellenden Masse aus 
unbestimmter Substanz. Die Strumpfe lieft sie nicht anriihren. 
Es schien der Frau Smelik, daft es an der Zeit sei, den Doktor zu rufen. 
Sie sagte es auch der Matzner, obwohl sie erkannt zu haben glaubte, 
daft die Kranke gar nichts mehr richtig begreifen konnte. Sie irrte sich. 
Die Matzner fragte nur: »Was kostet eine Visite?« - »Einen halben 
Gulden!« sagte die Hausmeisterin, »das weift ich vom letztenmal, wie 
er bei der Frau Majorin gewesen ist.« - »Meinetwegen, holen S* ihn!« 
sagte die Matzner. Sie dachte nur noch daran, die Strumpfe mit dem 
Geld ohne Zeugen auszuziehn und im Bett zu verstecken, unter dem 
Kissen. 

Der Doktor kam. Die Matzner lag schon ausgekleidet im Bett, sie 
fiihlte nur noch kaum den Strumpf mit dem Geld unter dem Kissen. Es 
schien ihr, daft sie schon eine unglaublich lange Zeit dalag und auf 
irgend etwas wartete. Ihr Gesicht brannte, zeitweilig hatte sie die 
Empfindung, daft ihr Kopf nicht mehr zu ihrem Korper gehorte: denn 
dieser war kalt, ein Eisklumpen. Endlich horte sie den Schliissel, 
dachte eine Weile nach, wen sie eigentlich erwartet hatte und wer jetzt 
kommen konnte, und vermochte nicht, sich daran zu erinnern. Sie sah 
wohl, daft die Hausmeisterin mit einem fremden Herrn eintrat, und 
wuftte wohl, daft es die Hausmeisterin war und ein fremder Herr — 
aber es schien ihr zugleich auch, daft Mizzi Schinagl eintrete und hinter 
ihr der Baron Taittinger. Welch eine veranderte Welt! Zu zweit und zu 



428 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

dritt gar kamen jetzt die Leute an, und man kannte sich nicht mehr aus. 
Der Doktor - oder war es der Baron Taittinger - winkte der Hausmei- 
sterin - oder war es die Mizzi? - hinauszugehen und naherte sich dem 
Bett und zog ein glanzendes Ding aus der Westentasche. Die Matzner 
schrie auf. Alsbald beruhigte sie sich, wie eingeschlafert vom Geruch 
von Zigarren und Karbol, den der Doktor ausstromte. 
Er tastete an ihr herum, klopfte, horchte, griff nach ihrer Hand. Seine 
Beriihrungen waren ebenso peinlich wie wohltuend, ebenso angenehm 
wie beschamend, sie beruhigten und besanftigten das Gemiit der Matz- 
ner zu gleicher Zeit. Der Doktor entfernte sich. Wie ein dunkler Ne- 
belfleck stand er irgendwo iiber dem Waschbecken und platscherte 
kindisch im Wasser. Noch einmal ging die Tiir, die Hausmeisterin er- 
schien wieder, und diesmal war sie es wirkiich und nicht eine zweifel- 
hafte, verwandelte Mizzi. Und der Doktor war auch der Doktor und 
hatte nidus mit dem Baron Taittinger zu tun. Und die Matzner horte 
klar und deutlich, was der Doktor zur Hausmeisterin sagte: namlich 
dieses: »Rippenfellentzundung! Sie hat hohes Fieber. Ich schicke eine 
Schwester. Sie wird in einer halben Stunde etwa dasein. Konnen Sie so 
lange hierbleiben?« - »Ja, Herr Doktor!« sagte die Hausmeisterin. Sie 
blieb da. Sie setzte sich ans Bett, hart neben die Matzner. Das Gesicht 
der Hausmeisterin zerfloft, verschwamm, zerrann in einem grauen 
Brei. Als die Schwester schliefilich eintraf, wufite die Matzner gar 
nichts mehr. Sie erzahlte kindische Ereignisse aus ihrer Kindheit. 
Am nachsten Morgen ging es ihr besser. Sie lieft dem Doktor gar keine 
Zweifel daruber: Sie fragte ihn sofort, wieviel sein Besuch koste. 
»Einen halben Gulden !« sagte er. Nun - meinte sie - wenn er glaube, 
daft er noch haufiger wiederkommen musse, so ware es besser, man 
wiirde gleich akkordieren. Und um ihn weicher zu stimmen, erzahlte 
sie auch, daft der jahe Tod ihres Bankiers Efrussi sie in Gefahr bringe, 
»das Letzte« zu verlieren. Ja, sagte der Doktor sanft, er wiirde nur 
noch ein paarmal wiederkommen miissen und den Priester brauchte 
man auch nicht zu holen. Akkordieren wiirde man besser nach der 
volligen Gesundung. 

Solange der Doktor im Zimmer war, blieb die Matzner heiter. Als er 
aber gegangen war, behielt sie von allem, was er gesagt hatte, nicht 
mehr in Erinnerung als ein Wort vom Priester. Und plotzlich erschien 
ihr der brave Doktor falsch und verlogen, tiickisch und ein Kiinder des 
nahen Todes. Ein Geistlicher! Seit vielen, vielen Jahren hatte sie nicht 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 429 

daran gedacht. Ein Geistlicher! Sie erinnerte sich an ihre erste Kom- 
munion. »Jessas!« hatte sie oft im Leben gerufen und auch: »Jessas - 
Mariaundjosef« - ohne sich etwas dabei zu denken. Weshalb hatte der 
Doktor vom Priester gesprochen? Weshalb hatte er gesagt, man 
brauchte noch nicht an ihn zu denken? Und wenn er es gesagt hatte, 
war es nicht ein Beweis dafur, daft es umgekehrt just an der Zeit sei, an 
ihn zu denken? - Der Tod? war er nahe? - Was war der Tod? - Eine 
Art Kommunion, aber in Schwarz wahrscheinlich statt in Weifi. 
Die Matzner aft nur ein wenig Graupensuppe, schlief ein, traumte von 
ihrer Kommunion, von ihren Eltern und hierauf vom Prozeft, vom 
Richter, vom Staatsanwalt, von den Advokaten, von den Geschwore- 
nen. Laut rief sie ein paarmal: »Ich bitte um Gnade.« - Am Abend 
stieg das Fieber. Kurz vor Mitternacht bat sie um den Priester. Es war 
ein einfacher Mann. Mitten aus dem Schlaf geweckt, war er noch sim- 
pler als am Tage. Er hatte seit langem nicht mehr Sterbende versehen, 
insbesondere nicht fiebernde Kranke. Er begriff nicht alles, was ihm 
die Matzner sagte. 

So fragte sie ihn zum Beispiel, ob er glaubte, daft der Beruf, den sie ihr 
Lebtag ausgeiibt habe, sie zur Holle verdamme. Und als er sie fragte, 
was fur einen Beruf sie denn ausgeiibt habe, sagte sie, sie sei Besitzerin 
des Hauses Matzner auf der Wieden gewesen. Er verstand nicht und 
sagte, Hausbesitz sei keine Siinde. Sie sagte ihm ferner, daft sie ledig 
sei. Auch das war keine Siinde, in seinen Augen. Sie wurde miide und 
schloft die Augen, und es schien dem Pfarrer, daft sie eingeschlafen sei. 
Sie aber war wach, und trotz ihrem Fieber konnte sie auch klar den- 
ken. Die ungeheure Furcht vor dem Tode verjagte ihre Wirrnisse. Die 
Furcht vor dem Jenseits klarte ihr Gehirn, heiterte ihre Seele auf. In 
der kiimmerlichen und trostlosen Vorstellung, die sie zeit ihres Lebens 
vom Gewicht der Schuld gehabt hatte und von den Moglichkeiten, es 
abzuwalzen oder auch nur ein wenig zu erleichtern, war Geld eines der 
ersten Mittel, mit deren Hilfe man siihnen konnte. Wahrend sie die 
Augen also geschlossen hielt, uberlegte sie nuchtern, daft man Siinden 
durch Gaben ablosen konne. Das ganze sundhafte Leben, das Freu- 
denhaus und den Prozeft, durch den Mizzi Schinagl ins Gefangnis ge- 
raten war, die kleinen tiickischen, ungerechtfertigten Abziige, die sie 
dann und wann ihren Pensionarinnen aufgerechnet hatte, und was es 
sonst fur Siinden geben mochte, die im Katechismus verzeichnet stan- 
den, einfache Siinden, wie iible Nachrede zum Beispiel und gottesla- 



43° ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sterliche Aufierungen, von denen es in ihrem Leben nur so wimmelte. 
Sie war auch schon entschlossen, dem Hochwiirdigen Herrn zu sagen, 
dafi sie ihr Geld fiir wohltatige Zwecke hinterlassen wolle und einen 
Teil, zur Wiedergutmachung, fiir die Mizzi Schinagl, die doch alles 
verloren haben mufite. Ja, alles Geld! Obwohl der Bankier Efrussi 
schon tot war - sie gedachte, ihn droben irgendwo wieder aufzusu- 
chen- und trotz ihrem Mifitrauen gegen den doppelten Buchhalter, 
mufite ja etwas noch in der Bank geblieben sein! Etwas, nicht viel! Furs 
Begrabnis mufke freilich etwas bleiben. Es soil ein schones Leichenbe- 
grabnis werden, dachte sie und setzte sich in den Kissen auf. Sehr 
schnell und fliefiend, als rezitierte sie etwas seit langem auswendig Ge- 
lerntes, erzahlte sie dem Hochwiirdigen Herrn, daft sie ein Drittel ih- 
res Geldes den Armen, ein Drittel der Kirche, ein Drittel der Mizzi 
Schinagl hinterlassen wolle. Morgen wollte sie ihren Notar kommen 
lassen, gleich in der Friih. Der Pfarrer nickte. Sie fragte ihn mit einem 
verborgenen Mifkrauen in der Stimme, was seiner Meinung nach ein 
Leichenbegangnis erster Klasse koste, mit vier Rappen. Das miifite, 
sagte der Hochwiirdige Herr, die »Pietas« wissen, das Leichenbestat- 
tungsunternehmen, und es ware leicht, es zu erfahren. Er bekame je- 
denfalls nicht mehr als einen Gulden fiir die Totenmesse, es ware eine 
Gebiihr. Nun war sie auch bereit zu sterben, und der Pfarrer begann 
sein Werk. »In Reue und Demut beichte ich meine Siinden«, sagte die 
Matzner mit klingender Stimme wie ein Schulmadchen. 
Sie fiel wieder in die Kissen und schlief sofort ein. Sie schlief ruhig und 
traumlos die ganze Nacht. Am Morgen erwachte sie mit geringem Fie- 
ber, munter wie einst in ihren gesunden Tagen und von Tatkraft er- 
fiiilt. Sie lieft sofort den Notar kommen, es sollte kein Geld gespart 
werden, die Hausmeisterin durfte einen Fiaker nehmen. Es war, als 
bereitete sich die Matzner zum Tod so vor wie andere zu grofieren 
»Transaktionen«. Sie liefi sich eine blaue Nachthaube reichen und das 
Nachtkamisol mit der blaftblauen Borte. So empfing sie den Notar. 
Sie fragte ihn zuerst, was mit dem Geld geschehen sein moge, das in 
der Bank des seligen Efrussi gesteckt hatte - und der Notar beruhigte 
sie: Es gab gar keine Gefahr. Das Geld war sicher. Die Matzner ver- 
langte nun, daft der Notar ein Testament aufsetze, und sie machte die 
Angaben, dem Versprechen getreu, das sie gestern nacht dem Pfarrer 
gegeben hatte. Der Notar notierte auf ein Blatt Papier, zog Tinte und 
Feder aus seiner Ledertasche und setzte sich an den Tisch. Er schrieb 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 431 

zuerst die ublichen Formeln mit seiner langsamen, bedachtigen wie 
gestochenen Schrift. Als er zu den Ziffern kam, wandte er sich um und 
fragte die Frau Matzner: »Ist es Ihnen audi klar, wie groft Ihr Vermo- 
gen ist?« Sie wuftte es nicht. »Es sind genau«, sagte der Notar und 
blatterte noch einmal in den Papieren, »zweiunddreiftigtausend Gul- 
den und funfundachtzig Kreuzer. Tausend Gulden haben Sie vor zwei 
Wochen bei Efrussi abgehoben!« - »Wieviel?« fragte die Matzner. 
»Zweiunddreiftigtausendfiinfundachtzig!« wiederholte der Notar. 
So viel Geld — und sie muftte sterben! Warum war sie iiberhaupt 
krank geworden? War die ganze Krankheit nicht nur ein wiister 
Traum? Was wissen schon die Doktoren? War es nicht lediglich ein 
grauenhafter Schrecken infolge des Todes Efrussis? Wer sagte, daft sie 
iiberhaupt sterben muftte? Wo stand es geschrieben? Und wenn sie 
noch zwanzig oder sagen wir nur noch zehn Jahre zu leben hatte - war 
da noch nicht Zeit genug, ein Testament zu machen? »Sind Sie sicher, 
Herr Notar?« fragte sie. »Ganz sicher«, bestatigte er. - Sie lehnte sich 
in den Kissen zuriick und dachte eine Weile nach, eine sehr, sehr lange 
Weile, wahrend der Notar die gezuckte Feder einen Zentimeter liber 
dem Papier hielt. 

Sie hatte sich endlich entschlossen. Sie stiitzte sich auf und sagte, ein 
biftchen verschamt: »Ich mochte nur die tausend Gulden hinterlassen, 
die ich hier im Hause habe, vorlaufig! Wenn's notig ist, werd' ich Sie 
nochmals bitten lassen. Zu drei teilen, Herr Notar! 300 fur die Armen, 
300 fur die Kirche, 300 fur die Mizzi Schinagl. 100 bleiben fur aller- 
hand Kosten.« Sie wuftte nicht, was »allerhand Kosten« sein mochten, 
sie sagte es so hin. Es schien ihr, daft sie damit den Eindruck einer 
gewissen Groftziigigkeit erweckte. »Allerhand Kosten!« sagte der No- 
tar, »das muft man spezifizieren.« - Und er schlug vor: »Leichenbe- 
gangnis und Grabstein!« Zwei Worte, die der Matzner, der eben noch 
Todbereiten, in diesem Augenblick furchterlich klangen. 
Und schon schrieb er, der Notar, langsam, aber auch unerbittlich. Un- 
durchsichtig war sein Korper, sein Kopf, sein Angesicht. Er mochte 
sich allerhand denken - oder auch gar nichts. Er war ein Beamter, er 
war ein versperrtes Amt. Was weift man, was alles in einem verschlos- 
senen Amt vorgeht, in einem kaiser-koniglichen Notariat? 
Die Matzner hielt den Atem an. Sie kostete die ganze Feierlichkeit des 
Vorgangs aus - und zugleich ihre heimliche Gewiftheit, daft sie noch 
fur langere Zeit zu leben hatte. Sie machte sozusagen ein Probesterben. 



4}2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Alle Welt - der Hochwiirdige Herr von gestern mit inbegriffen - 
freute sich schon auf lhren Tod. Sie allein wufite, dafi sie noch am 
Leben bleiben wurde. Und was sollte das fur ein Leben werden! Das 
Leben einer Neugeborenen, aus dem Jenseits Heimgekehrten! 
»Und der Rest Ihres Vermogens?« fragte der Notar. 
»Dariiber sprechen wir noch!« sagte die Matzner. Sie unterschrieb 
mit der Feder, die ihr der Notar hinhielt. Er packte das Papier um- 
standlich in ein dickes, leinengefuttertes Kuvert. Dieses versiegelte er. 
Kerze und Siegellack holte er aus der Aktentasche. Vor der brennen- 
den Kerze, die an Tod erinnerte, schlofi die Matzner die Augen. Sie 
offnete sie erst, als sie den Notar pusten horte. »Auf Wiedersehn!« 
sagte der Notar. Sie lachelte ihm zu. 

Sie afi eine Graupensuppe, mit starkem Appetit, und verlangte selbst 
nach etwas Festerem. Ein grofies Veriangen nach einem Gulasch und 
einem Krugl Okocimer iiberkam sie. Sie war nicht krank, gar nicht 
krank. Sie gedachte nur noch eine Weile, ein, zwei Tage noch, eine 
Kranke zu spielen. Am Abend aber, als der Doktor wiederkam, er- 
kannte sie ihn nicht. Schweifi stand in dicken Perlen auf ihrer Stirn. 
Die Haube driickte mit dem strammen Gummiband. Sie hatte das 
Gefuhl, als triige sie eine Krone, und bat flehentlich: »Nehmt mir die 
Krone ab!« - und in der verschwommenen Erinnerung an die gestrige 
Absolution fiigte sie hinzu: »Die Dornenkrone!« - Aber man hatte 
nicht acht auf das, was sie sagte. Das Thermometer zeigte 40 Grad. 
Plotzlich schrie sie auf. Sie fiihlte einen schneidenden Schmerz im 
Riicken, als wenn man ihr ein Schwert, doppelt geschliffen, durch die 
Rippen gestoften hatte. Sie offnete weit den Mund, der Atem ging ihr 
aus, sie wollte etwas rufen: Luft oder Fenster — aber sie vergafi es 
sofort. Es wurde ihr sehr heifi, eine unnennbare Furcht ergiff sie, sie 
trommelte mit den Fingern auf der Bettdecke. Sie verdrehte die Au- 
gen. Der Doktor schickte die Schwester nach Sauerstoff in die Apo- 
theke, er bereitete die Morphiumspritze vor. Die Schwester kam mit 
den Ballons. In diesem Augenblick erhob sich die Matzner im Bett 
und fiel sofort wieder zuriick. Ein leichtes Zucken bewegte ihre Au- 
genlider, und auch ihre Finger flatterten auf der Bettdecke. Dann fiel 
ihre rechte Hand uber die Lehne. Der Friede kam iiber die Josephine 
Matzner. 

Man begrub sie an einem der ersten regnerischen Tage dieses Herb- 
stes. Es war ein Leichenbegangnis dritter Klasse, zwei Rappen ohne 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 433 

galonierte Diener. Den Vorschriften gemaft veroffentlichte der Notar 

in den Zeitungen die iibliche Notiz: »Erben gesucht!« 

Es meldete sich zwei Monate spater ein Neffe der Matzner, Hopfen- 

bauer in Saaz, wohlhabend und ohne jedes Gefuhl der Dankbarkeit 

gegen das Schicksal wie gegen die Tante. 

Die Weibliche Strafanstalt in Kagran bekam die Mitteilung, daft der 

Haftling Mizzi Schinagl als Erbin der verstorbenen Ledigen Josephine 

Matzner in den Besitz von dreihundert Gulden gekommen sei. 

Die Notiz in den Zeitungen las der Polizeireporter Lazik. In seinem 

einfallsreichen Gehirn formte sich ein ganz bestimmter Plan. Er sprach 

dariiber mit seinem Freund, dem Oberinspektor Sedlacek, am Schot- 

tenring im Cafe Wirzl. 



XIX 



Weit und breit herrschte ein tiefer, geradezu grausam tiefer Friede, und 
die offizielle Polizeikorrespondenz, die auch noch die banalsten Vor- 
falle mitzuteilen pflegte, umfaftte kaum zweieinhalb Seiten taglich. Das 
Kartell der Polizeireporter safi niedergedriickt im Cafe Wirzl, er- 
schopft von der unertraglichen Ruhe, gelahmt von dem ereignislosen 
Frieden und ohne die geringste Hoffnung auf eine Sensation. Sooft die 
Tiir aufging, blickten die Manner von ihren Karten auf. Wenn einer 
der Geheimen eintrat, die bei Wirzl aus- und eingingen, sah man ihm 
mit angespannten Blicken entgegen, als konnten die Augen schon er- 
lauschen, was die Ohren noch nicht vernahmen. »Gibt's was?« fragten 
funf, sechs Manner auf einmal. Der Geheime nahm den steifen Hut 
nicht ab; ein Zeichen, daft er sich nicht zu setzen gedachte, daft er 
nichts zu erzahlen hatte. Die Kopfe senkten sich wieder in trostloser 
Lethargie iiber die Karten. Der einzige Reporter Lazik nur verfolgte 
im stillen eine ganz bestimmte Idee. Es war ihm nichts anzusehn. Auch 
er tat so, als ob er genauso wie die anderen ermattet ware von der 
Aussichtslosigkeit in diesen miserabel ruhigen Zeiten. Indessen aber 
spann er Faden um Faden, flocht sie zu Maschen und zertrennte sie 
wieder, knupfte Entlegenes zu bruderlichen Knoten, schnitt anderer- 
seits auch wieder auseinander, was eigentlich zusammenhing, denn er 
brauchte die einzelnen Glieder einer bestimmten Gedankenfamilie fur 
andere Ketten, Bande und Verwandschaften. Er allein spurte einen Zu- 



434 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sammenhang zwischen dem Tod des Bankiers Efrussi und dem der 
Josephine Matzner. Wenn er sich recht erinnerte, so hatte seinerzeit 
der Bankier Efrussi die beriihmten Perlen der Schinagl belehnt und 
sogar wahrscheinlich nach Antwerpen verkauft. Direkte Zusammen- 
hange zwischen Perlen, Persien, dem Schah, der Matzner, dem Efrussi 
und der Schinagl konnte man zwar keineswegs herstellen, aber gerade 
die indirekten waren ja der Miihe wert und versprachen Erfolg. Ferner 
war damals in den unappetitlichen Betrug, dessen Opfer der torichte 
Muselman geworden war, auch der Baron Taittinger verwickelt. Gut, 
dafi die selige Matzner noch kurz vor ihrem jahen Ende im Cafe Wirzl 
gewesen war! Der »Stoff« war reichlich vorhanden. Lazik, aufpassen! 
sagte Lazik. 

Eines Vormittags, wahrend sie so bei ihrem depressiven Tarock safien, 
tat Lazik von ungefahr einen schweren Seufzer. »Was ist los?« fragte 
Keiler, »willst du wieder Gedichte schreiben?« Es war eine Beleidi- 
gung in diesem Kreise. Es gab noch ein paar Journalisten, die sich an 
einen verschollenen Gedichtband Laziks erinnerten. »Man wird wirk- 
lich wehmiitig«, sagte Lazik, »wenn man so an den Tod denkt. Wie 
lang ist es eigentlich her, dafi die gottselige Matzner dagesessen is, und 
jetzt nagen schon die Wiirmer an ihr. Das viele Geld, das sie hinterlas- 
sen hat!« Die anderen nickten nun »Es war Zeit, dafi sie stirbt«, sagte 
Sedlacek. »Es waren neue Zeiten. Da hat sie nicht mehr hineingepafit. 
Das Haus in der Zollamtsstrafie hat ihr den Rest gegeben.« - »Der 
Hohepunkt ihres Lebens«, sagte Lazik, »war der Schah. Erinnerst dich 
an die Perlen? Wo sind die eigentlich hingekommen?« »Bei Efrussi«, 
antwortete Sedlacek. »Und auch der ist schon tot!« »Ja, wenn wir jetzt 
so eine Geschichte hatten«, begann wieder Lazik. »Kommt der Schah 
nimmer wieder?« - »Ich glaub', es war im >Fremdenblatt< schon die 
Rede von ihm, der Doktor Auspitzer hat einmal schon davon in der 
Redaktion gesprochen.« - »Uns ist nichts bekannt«, sagte Sedlacek. Er 
sprach das »Uns« sehr nachdriicklich betont, beinahe feierlich aus. 
»Efrussi hat die Perlen sicher verkauft ?« fragte Lazik harmlos, rief 
gleich darauf: »K6nig! Bube!« und klatschte die Karten auf den Tisch, 
um in diesem Gerausch die Wichtigkeit untergehen zu lassen, die er 
seiner Frage beimafi. »Er hat sie dem Gwendl in Kommission gegeben. 
Monatelang waren sie im Schaufenster. Ich hab' sie mir oft angeschaut, 
mit unserem Juwelenspezialisten, Inspektor Farkas. Eines Tages waren 
sie weg!« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 435 

Das Gesprach erstarb. Man spielte weiter. Die gewohnte Apathie 
senkte sich wieder iiber das Cafe, wie eine schwere Sommerschwule 
zuriickkehrt nach einem kleinen triigerischen und folgenlosen Wind- 
chen. 

Lazik verlor fiinfundzwanzig Kreuzer an Keiler. Er hatte verlieren 
wollen. Er war aberglaubisch. Vor jeder schwierigen Aufgabe opferte 
er den Gottern. Er erhob sich plotzlich. »Ich bin heut eingeladen«, 
sagte er. Und schon war er, ohne Grufi, verschwunden. 
Er ging zuerst in die Wasagasse, um seine Freunde zu tauschen, denn 
er wufke, daft es ihre Natur war, wie ja auch die seine, vor die Tur zu 
treten und dem Fortgehenden nachzuspahen, um wenigstens die Rich- 
tung zu kennen, die er eingeschlagen hatte. Dann bog er in die Wahrin- 
ger Strafie ein, sprang auf die Pferdebahn, erreichte den Opernring und 
stieg ab. Er ging in die Karntner Strafie zum groften Juwelier Gwendl. 
Er verlangte Herrn Gwendl personlich zu sprechen. Herr Gwendl 
kannte ihn wohl. Er safi im Hintergrund des Ladens, im schmalen 
griintapezierten Kontor vor schwarzen Kasten und Kastchen, die ihre 
sanften dunkelblausamtenen Rachen zeigten und alle glitzernde, 
schimmernde, jubelnde Pracht, die sie verschlungen hatten. Er ver- 
schlofi alle Etuis, legte die Lupe weg und empfing den Redakteur La- 
zik. 

»Habe die Ehre, Herr Kommerzialrat!« sagte Lazik. 
»Herr Redakteur!« sagte der Kommerzialrat Gwendl. »Womit kann 
ich Ihnen dienen? Zigarre gefallig? Bitte, Platz zu nehmen« - und wah- 
rend der Kommerzialrat sich biickte, um aus der unteren Lade die Vir- 
ginier herauszuholen - die Trabukos lagen in den oberen fur bessere 
Gaste bestimmt - Geschaftsfreunde und Kunden von Adel zum Bei- 
spiel-, beobachtete er mit einem wachsamen Auge die Hande Laziks. 
Und er atmete auf, als endlich die Zigarrenkiste auf dem Tisch stand. 
Man redete zuerst von Neuigkeiten, deren es wenig gab, in diesen stil- 
len Zeiten. Es sei denn, daft man in der Redaktion des »Fremdenblatts« 
letzthin von einem neuerlichen Besuch des Schahs von Persien gespro- 
chen hatte. 

Die Erwahnung dieses Souverans erweckte im Kommerzialrat Gwendl 
hochst angenehme Erinnerungen. Sie bezogen sich auf die Perlenkette 
der Schinagl, die Efrussi dem Gwendl in Kommission gegeben hatte. 
Im Laden hatte sie lange vergeblich gewartet. Der Kommissionar Heil- 
pern aus Antwerpen hatte sie schliefilich mitgenommen. Der Juwelen- 



43^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

handler Perlester hatte sie gekauft. Zweitausend Gulden hatten sie ver- 
dient, zu zweit. Fiinfzigtausend Gulden waren die Perlen wert gewe- 
sen. Fur sechzigtausend - so sagte man in Fachkreisen - hatte sie der 
Perlester verkauft. Tausend Gulden waren immerhin keineswegs zu 
verachten. Ja, da kam also der Schah von Persien wieder. Nun, weifi 
Gott, es konnte noch einmal etwas zu verdienen geben. Der Kommer- 
zialrat Gwendl wurde heiter. »Herr Kommerzialrat wissen vielleicht«, 
begann Lazik - er begann gewohnlich in der dritten Person-, »Herr 
Kommerzialrat wissen wahrscheinlich, wo diese beruhmten Perlen ge- 
blieben sind?« 

Der Kommerzialrat erzahlte, was er wuftte. Aber er versprach, sich bei 
dem Kollegen Perlester nach dem weiteren Schicksal der Perlen zu er- 
kundigen. In einer Woche konnte Lazik genauere Auskunft holen. 
Man sprach noch von Wind und Wetter, von der Hofgesellschaft und 
vom schlechten Gang der Geschafte, in dieser Jahreszeit, wo doch 
sonst in alien vergangenen Jahren das Geschaft »gebluht« hatte, wie 
Gwendl sagte. 

»Nun, bald ist Weihnachten!« sagte Lazik. 

Und er schied mit dieser Feststellung von dem getrosteten Juwelier, 
der langsam zu hoffen begann, dafi der mohammedanische Schah just 
und ausgerechnet zu den christlichen Festtagen nach Wien kommen 
konnte. Seine offenen Augen sahen ein Traumland, einen Orient voller 
Weihnachtsbaume. 

Nach einigen Tagen wufke Lazik, welchen Weg die Perlen des Schahs 
genommen hatten. Aber er beschloft, den Lesern der »Kronen-Zei- 
tung« nicht sofort und etwa auf eine so plumpe Weise, wie es sein 
phantasieloser Kollege Keiler getan hatte, die ganze Geschichte vorzu- 
tragen. Diese Geschichte mufSte im Gegenteil sorgfaltig komponiert 
werden; komponiert muftte sie werden. 

Er kiindigte eine Serie von Artikeln an, unter dem Titel: »Die Perlen 
von Teheran. Hinter den Kulissen der groften Welt und der Halb- 
welt«. Er begann mit einer einfachen Feststellung, wie es gelegentlich 
oft bedeutende Romanciers zutun pflegen: namlich mit der Nachricht, 
daft Josephine Matzner - Lazik schrieb: »eine gewisse Josephine Matz- 
ner« - kiirzlich gestorben sei. Und nach der ublichen rhetorischen 
Frage: »Wer war diese Josephine Matzner?« erfolgte die Beschreibung 
des Hauses, seit seiner Griindung im Jahre 1857, seiner Pensionarinnen 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 437 

und seiner Besucher und Stammgaste aus der grofien Lebewelt, ohne 
Namen allerdings, aber mit unmiftverstandlichen Kennzeichnungen. 
Die Serie dieser Artikel wurde gleichzeitig in kleinen Heftchen ver- 
kauft, im Zeitungsdruck zwar, aber mit einem bunten Umschlag, auf 
dem ein sympathisch halbentkleidetes Madchen auf einer giftgriinen 
Chaiselongue zu sehen war. Sie war ganz Buntheit und Erwartung. Sie 
lag da matt und angriffsbereit zugleich. Die Hefte wurden in den Ta- 
baktrafiken und in Papierladen verkauft. Gymnasiasten, Waschermad- 
chen und Hausmeister kauften, selbst wenn sie die Artikel in der 
»Kronen-Zeitung« bereits gelesen hatten. Es war lange noch keine 
Rede von den Perlen, die der Titel jeden Tag verhieft. 
In diesen Wochen kam Lazik nur fur ein paar Minuten taglich in das 
Cafe Wirzl. Er konnte die Kollegen und die Geheimen nicht recht 
leiden. Er spiirte, daft sie ihn ein wenig beneideten, aber auch, daft sie 
ihn nicht mehr wie einen vollig Gleichberechtigten behandelten. Sie 
waren keine »Dichter«. Sie entfalteten keine »Phantasie«. Sie hatten 
»Nachrichten«, grofte, kleinere, sensationelle, aber niemals »Geschich- 
ten«. In Zeiten der Diirre, wie sie jetzt herrschten, klaubten sie be- 
scheiden die bescheidenen Tagesneuigkeiten auf, eine Messerstecherei, 
eine Geburt von Drillingen, einen Fenstersturz aus dem vierten Stock. 
Lazik hatte geradezu einen Verrat an dem Metier begangen. Er kam 
nicht einmal als Kiebitz beim Tarock noch in Betracht. 
Er hatte oft davon getraumt, auf einmal viel Geld zu verdienen und 
den Beruf aufzugeben. Er naherte sich den Sechsundfiinfzig, er hatte 
nur noch wenig Zahne im Mund, und sein Kopf war kahl. Seine Frau 
war in jungen Jahren gestorben, seine Tochter lebte bei seiner Schwe- 
ster in Podiebrad. Er hatte keine Sorgen, aber Note, kleine Schulden, 
peinliche Glaubiger, Zinsen, die gefahrlkh anschwollen, Kellner, die 
nicht mehr kreditierten. Ach! und seine Seele diirstete nach den Kost- 
lichkeiten, die in den oberen Spharen vorhanden waren. Er liebte das 
teure Leben, die Rennen, die stillen Restaurants, in denen die stolzen 
Kellner bedienten und die stolzen Herrschaften mit kiihlen Gesich- 
tern, herben und maftvollen Gebarden Speise und Trank genossen, um 
dann in geschlossenen Kutschen heimzukehren in ihre noch kiihleren, 
noch mehr geschlossenen Hauser. Immer, wenn Lazik das Cafe Wirzl 
verlieft, die Geheimen und die Kollegen und die fettigen Spielkarten 
und den Geruch aus Kaffee, Okocimer, billigen Zigarren und warmen 
Salzstangeln, schien es ihm, daft er sich etwas vergeben habe und daft er 



43$ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

eigentlich gesunken sei. Es war klar: Sein Weg hatte nach unten ge- 
fuhrt: vom Dichter, der sogar ein Stuck im Burgtheater eingereicht 
hatte, iiber den Gerichtssaalstenographen zum Polizeireporter, der in 
Fachkreisen »Unterlaufel« genannt wurde. Zum erstenmal seit dreiftig 
Jahren stand der Name Bernhard Lazik gedruckt - nicht einmal in der 
Zeitung, sondern auf dem bunten Titelblatt der klemen Heftchen. La- 
zik schickte sie seiner Schwester und seiner Tochter nach Podiebrad. 
Was blieb von ihm iibrig? Eine Notiz in Nonpareille in der »Kronen- 
Zeitung«: »Gestern verschied unser langjahriger Mitarbeiter . . .« und 
Schlufi. Und ein paar Ellen auf dem Wahringer Friedhof. Das »Kabi- 
nett«, das er in der Rembrandtstrafte bewohnte, war nicht viel gerau- 
miger. Auch war es nicht heller als ein Grab, denn es »ging« in den 
Hausflur. Sparen hatte er niemals gekonnt. Er verlor das Diirftige, das 
er verdiente, beim Rennen und im Spiel. Man zahlte ihm zwei Kreuzer 
die Zeile. Ein »Coup«! sagte er sich manchmal - Lazik, nur ein einzi- 
ger »Coup«! 

Nach ein paar Tagen, in denen er sich sehr einsam vorkam und sogar 
ein wenig bitter wurde, weil es ihm schien, daft nicht er seine Bekann- 
ten zu meiden angefangen hatte, sondern umgekehrt, daft er von ihnen 
gemieden werde, begann er, jeden Morgen in der »Sicherheit« die Mel- 
dezettel der neuangekommenen Hotelgaste zu studieren. Von alien 
»oberen Zehntausend«, die heimisch gewesen waren im Hause der 
Matzner, interessierte ihn lediglich der Baron Taittinger. Noch wufite 
Lazik nicht genau, unter welchem Vorwand er zum Rittmeister 
kommen wiirde; noch auch, was er ihm eigentlich vorschlagen wollte. 
Er wufite nur, daft er mit Taittinger wiirde sprechen mlissen; ferner, 
daft am funfzehnten November die dreihundert Gulden fallig waren, 
die er dem Brociner, dem »Blutsauger«, schuldig war. In diesen Tagen 
war es Lazik, als befande er sich auf einem Kreuzweg seines Lebens. 
Ein formloser Groftenwahn umnebelte sein Gehirn und liefi ihn zu- 
weilen glauben, daft er jetzt oder niemals seine entscheidenden Ent- 
schliisse zu treffen habe. 

Eines Tages fand er tatsachlich in der »Sicherheit« den Meidezettel des 
Rittmeisters. Er wohnte, wie immer, im Imperial. Lazik machte sich 
sofort auf den Weg, ehe er noch recht wuftte, was er dem Baron zu 
sagen haben wurde, ja, ehe er sich noch dessen bewuftt geworden war, 
daft er wirklich den Weg zum HotelTmperial eingschlagen hatte. Er 
hatte ein paar seiner bunten Heftchen in der Tasche, und er zog sie 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 439 

unterwegs immer wieder hervor, betrachtete seinen Namen auf dem 
Titelblatt, Schwarz und fett stand er knapp unter dem giftgriinen Sofa, 
auf dem das Madchen ruhte. Er dachte auch an die dreihundert Gul- 
den, die am fiinfzehnten November fallig waren. Und der »Blutsau- 
ger« Brociner erschien ihm haftlicher und gefahrlicher als sonst, ob- 
wohl er ihn seit zwei Jahren genau kannte und die Kunst besafi, ihn zu 
besanftigen - »ihm die Giftzahne auszubrechen«, wie er es nannte. 
Es war dem Baron Taittinger iiberaus unangenehm, Besuche zu emp- 
fangen. Er liebte die ihm bekannten Personen nicht sonderlich, sie wa- 
ren meist langweilig. Auch die nicht langweiligen konnten zumindest 
»fad« werden, wenn man sich nicht auf sie gehorig vorbereitet hatte. 
Als man ihm die Visitkarte Laziks reichte, erschrak er zuerst. Eine 
aufterst peinliche Vorstellung erweckte in ihm schon der Name Lazik 
allein. Unter dem Namen Bernhard Lazik stand das Wort »Redak- 
teur«. Es war einer jener Berufe, die der Baron Taittinger fur »omi- 
nose« hielt. Aufier der Armeezeitung las Taittinger kein Blatt. Ja, wenn 
er gelegentlich in einer Tabaktrafik Zigaretten einkaufte, mufke er den 
Blick abwenden von den hafilich aufgestapelten, nach frischer Druk- 
kerschwarze penetrant riechenden Zeitungen. Er wufke nicht genau, 
was sie enthielten und wozu sie eigentlich vorhanden waren. Wenn er 
gelegentlich in einem Cafe einen jener Herren sah, die vor einem Berg 
eingespannter Zeitungen saften, erfafke ihn beinahe Zorn. Jetzt sollte 
er sogar einem leibhaftigen Redakteur begegnen! Unausdenkbar! Er 
legte die Visitkarte wieder auf die metallene Platte und sagte zum 
Ober: »Ich bin nicht zu sprechen!« - Er atmete auf. 
Aber es vergingen kaum drei Minuten, und schon stand vor ihm ein 
Mann, kahlkopfig, mit aschgrauem Angesicht und einem grauen, trist 
herabhangenden Schnurrbart. »Ich bin der Redakteur Bernhard La- 
zik«, sagte der Fremde. Seine Stimme war gebrechlich und erinnerte 
den Rittmeister an ein wehmutiges verstimmtes Spinett, auf dem er 
irgendwo, irgendwann, in seiner Kindheit vielleicht, gespielt haben 
mochte. 

»Was wollen S' denn von mir?« fragte Taittinger. 

»Ich mocht', Herr Baron mochten mich anhoren«, antwortete Lazik. 
»Im eigenen Interesse«, fugte er noch hinzu, noch leiser, beinahe schon 
weinerlich. 

»Ja, - und?« sagte Taittinger - und er war entschlossen, iiberhaupt 
nicht zu horen. 



440 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Wenn Herr Baron gestatten«, begann Lazik, »die Geschichte ist nicht 
einfach. Es handelt sich um eine poiizeiliche Angelegenheit, im Ver- 
trauen gesagt — « 

»Ich wiinsche nichts Vertrauliches«, unterbrach der Rittmeister. Ob- 
wohl er sich vorgenommen hatte, gar nicht zuzuhoren, mufite er doch 
jeden Laut dieses wehmiitigen Mannes in sein Ohr dringen lassen. Eine 
merkwiirdige Kraft hatte diese Stimme. »Vertrauen, Herr Baron, nab' 
ich auch nicht sagen wollen«, sprach die Stimme weiten »Da ist nam- 
lich vor kurzem die gewisse Josephine Matzner gestorben« — der 
Name schlug mit einiger Wucht an das Ohr Taittingers, er empfand 
ihn wie den Anprali eines korperlichen Gegenstands an die Schlafe. 
»Ah, die ist gestorben?« fragte er. Eine kleine Freude leuchtete in La- 
ziks Augen auf. »Gestorben«, fuhr er fort, »und ehe man es noch glau- 
ben konnte! Und der Schinagl, die jetzt sitzt, hat sie eine Kleinigkeit 
hinterlassen. Viel zu wenig bei dem grofien Vermogen.« Lazik schwieg 
eine Weile. Er wartete. Der Rittmeister sagte zwar nichts, aber er ver- 
riet so deutlich ein interessiertes Schweigen, daft Lazik sich geradezu 
aufgemuntert fiihlte. Seine Stimme wurde starker. Er stand zwar im- 
mer noch vor dem Tischchen in der Halle und glich immer noch einer 
Art von Dienstmann, aber er wagte doch schon, mit beiden Handen 
die lederne Lehne des leeren Stuhls anzufassen. Es war, als diirfte er 
jetzt wenigstens schon seine Hande Platz nehmen lassen. Taittinger 
bemerkte es, unwiliig zuerst, aber im nachsten Augenblick auch schon 
nachsichtig. Er gestand sich zwar noch nicht, daft ihn der omindse 
Mensch interessierte, wenn auch in einer lastigen Weise. Aber er fand, 
dafi es auffallend werden konne, wenn der Kerl noch lange aufrecht 
bliebe. Und er sagte: »Setzen Sie sich!« Lazik safi bereits. Er hatte sich 
so hurtig hingesetzt, dafi Taittinger seine Einladung bereute. Sein sil- 
bernes Zigarettenetui lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Er hatte Lust, 
sich eine Zigarette anzustecken, aber da safi nun dieser Kerl - mufite 
man ihm nicht auch eine anbieten? Taittinger wufke genau, wie man 
Gleichgestellte, Hohergestellte, Subalterne und Diener behandelt; mit 
Redakteuren aber konnte er sich keinen Rat schaffen. Er entschlofi 
sich, nach langerer Uberlegung, zuerst selbst eine Zigarette anzuzun- 
den und dann erst dem Redakteur eine anzubieten. 
Lazik rauchte langsam und ehrfurchtig, als ware just die »Agyptische« 
eine besonders kostliches Kraut. Er zog seine Heftchen aus der Tasche 
und legte sie auf den Tisch. »Die geb 5 ich jetzt heraus, Herr Baron!« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 44I 

sagte er, »bitte, nur den Anfang anzuschaun!« - »Ich les' keine 
Buchln«, sagte Taittinger. »Dann darf ich wohl vorlesen?« fragte La- 
zik. Und ehe noch eine Antwort erfolgte, begann er zu lesen. Jetzt is' 
schon eh alles gleich, dachte Taittinger. Aber, siehe da; gleich nach 
dem Satz: »Wer war diese Josephine Matzner?« wurde er neugierig wie 
ein Kind. Mit unverhohlenem Vergniigen beugte er sich vor, vernahm 
die Geschichte von der Griindung des Hauses Matzner, und an den 
charakteristischen Kennzeichen, die der Verfasser den Anfangsbuch- 
staben der Stammgaste beigefiigt hatte, erkannte er zu seiner groften 
Freude den und jenen seiner fruheren Freunde und Genossen, die 
»Langweiligen«, die »Gleichgultigen« und die »Charmanten«. Wenn 
Lazik eine Pause machte und bescheiden, fast bekummert fragte: 
»Darf ich weiter?«, munterte ihn Taittinger auf: »Lesens S' nur, lesen 
S' nur, Herr.« - »Dies ist die erste Folge!« sagte der Autor, als er das 
erste Heftchen vorgelesen hatte. »Verkaufen S' mir die Biichln!« sagte 
der Rittmeister. - »Herr Baron erlauben, dafi ich sie gratis offeriere«, 
sagte Lazik, und schon klopfte er an den metallenen Tischrand mit 
einem Bleistift und befahl dem Kellner: »Tinte und Feder!« Und schon 
stand alles da, und Lazik tauchte die Feder ein und schrieb in jedes der 
drei Heftchen die Widmung: »Herrn Rittmeister Baron Taittinger ehr- 
furchtsvoll gewidmet vom Verfasser Bernhard Lazik«. 
»Dank' schon!« sagte der Baron. »Schicken S 5 mir die nachsten. Ich les 5 
sie gern.« 

»Sehr geschmeichelt, Herr Baron«, erwiderte der Verfasser. »Aber es 
ist ein Problem, ich zerbrech' mir den Kopf, wie ich die Biicher weiter 
fortsetzen soll.« 

»Aber, wie denn?« rief Taittinger. »Sie sind ja grofiartig unterrichtet, 
eingeweiht, mocht' man sagen!« 

»Gewi£, gewi£, Herr Baron«, antwortete Lazik. »Aber das kosr* halt 
was, und ich such 5 eben Interessenten! Ich such 5 , kurz gesagt, etwas 
Geld, um meine angefangene Arbeit fortsetzen zu konnen. Ja, das Le- 
ben fur unsereins ist schwer!« Lazik seufzte. Sein Kopf fiel auf die 
linke Schulter. Taittinger hatte Mitleid mit ihm, er bot ihm eine Ziga- 
rette an. Der Kerl ist gar nicht langweilig, dachte er. »Wieviel brauchen 
S' denn fur Ihre Buchln?« fragte er. Lazik dachte zuerst an tausend 
Gulden, und ein jaher, froher Schreck durchzuckte sein Herz. Drei- 
hundert Gulden dem Blutsauger Brociner, dann bleiben siebenhun- 
dert, es war ein »Coup«, es war der »Coup«, Lazik! Gleich darauf 



44 2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

verdoppelte seine habsiichtige Phantasie die Summe. Zweitausend! 

sagte die Phantasie. Er sah die Summe in Ziffern und in Buchstaben, 

geschrieben und gedruckt und als bares Geld in zwanzig blauen Hun- 

dertguldenscheinen. Er fuhlte, wie seine Hande heifi und feucht wur- 

den, und gleichzeitig einen Frost, die ganze Wirbelsaule entlang einen 

eisigen Faden. Er zog das Taschentuch, eine Bewegung, die Tatittinger 

mififiel und vor der er am liebsten die Augen geschlossen hatte, trock- 

nete die Hande unter dem Tisch und flusterte: »Zweitausend, Herr 

Baron !« 

»Zweitausend Gulden kostet das?« fragte Taittinger. Er kannte nicht 

genau den Wert des Geldes, aber er wufite zum Beispiel, was ein Pferd 

kostete, was eine Uniform, was ein Fafi Burgunder, was ein Fafkhen 

»Napoleon«. Vor Jahren hatte er einmal tausend Gulden in Monte 

Carlo verloren. Aber so kleine, diinne »Buchln«! - Nun, der Kerl war 

nicht langweilig; das nicht! Wenn er noch die Leute mit Namen nen- 

nen wiirde! Das ware was! 

»Ja, warum nennen S' denn die Leut' nicht mit dem Namen, sondern 

nur mit Anfangsbuchstaben?« fragte der Rittmeister. 

»Weil dann, weil dann — Herr Baron - Herr Baron selber drin vor- 

kommen mufiten!« flusterte Lazik. 

»Naturlich ich nicht! « sagte Taittinger. 

Nie in seinem Leben - das ihm iibrigens in diesem Augenblick sehr 

lang erschien und reich an Erlebnissen - hatte er Hafi empfunden. 

Plotzlich aber, jetzt in dieser Stunde, fuhlte er zum erstenmal Wollust 

in der Vorstellung, dafi der und jener der ihm verhafiten »Langweili- 

gen« in einem so hiibschen, bunten Buchl mit Namen und Rang ver- 

zeichnet stehn konnte; auch Bitterkeit empfand er gegen die »Lang- 

weiligen«, die ihn von Wien in die Garnison zunickversetzt hatten. Es 

war eine unschuldige, kindliche Bitterkeit, ein Witz, eine Laune eher 

als ein Hafi.- 

»Ich kann auch die Herren nennen, wie Herr Baron wiinschen!« sagte 

Lazik. 

»Gut!« sagte der Baron. »Groftartig!« 

Lazik blieb still. Sein Herz klopfte gewaltig, seine Glieder waren 

plotzlich schwer wie Blei, und zugleich fuhlte er doch, wie seine Ge- 

danken leicht, verwirrte Vogelschwarme, in seinem armen Kopf her- 

umschwirrten. Sie schwirrten herum, zweitausend Gedanken, jeder 

Gedanke ein Gulden, zweitausend Gulden. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 443 

Der Baron Taittinger fragte: »Zweitausend, was?« 
»Jawohl, HerrBaron!« hauchte Lazik. 
»Die holen S' sich morgen!« sagte Taittinger. 

Lazik stand miihsam auf. Er verneigte sich tief und murmelte: »Zu 
ewiger Dankbarkeit verpflichtet, Herr Baron !« 

»Griifi Gott!« sagte Taittinger. Er steckte die drei Heftchen in die Ta- 
sche. 

Nach gewohnter Weise, wie er es schon oft getan hatte, depeschierte er 
an den »Iangweiligen« Okonomen: »2ooo Imperial«. 
Die zweitausend kamen, aber mit einer Begleitdepesche: »BefohIenes 
anbei, dringlicher Brief unterwegs.« 

Diese Depesche zerrift der Baron aus uniiberwindlichem Ekel vor der 
Wendung: »dringlicher Brief«. Er steckte das Geld in ein Kuvert, be- 
fahl dem Portier, es dem »Herrn von gestern nachmittag« auszuhandi- 
gen, und stieg in einen Zweispanner. Er war lange nicht mehr in Grin- 
zing gewesen. Morgen mufke er in die Garnison zuriick. 



XX 

Sonst pflegte Taittinger in der Eisenbahn sofort einzuschlafen. Heute 
las er in den Heftchen Laziks, und sogar in der ersten Nummer, die 
ihm der Verfasser ja bereits vorgelesen hatte. Er stelle sich vor, dafl alle 
Welt diese Heftchen mit dem gleichen begeisterten Behagen lesen 
mufke. Morgen wollte er im Regiment von seiner literarischen Entdek- 
kung erzahlen und eventuell im Kasino einiges vorlesen, freilich in Ab- 
wesenheit des Obersten. Unter solch heiteren Gedanken verging die 
Zeit bis zur Ankunft in der Garnison. 

Es war Abend, als er ausstieg. Ein diinner, langweiliger und kalter Re- 
gen rieselte sacht und zudringlich hernieder und umgab die armseligen 
gelblichen Petroleumlampen auf dem Perron mit einem nassen Dam- 
men Auch im Wartesaal erster KJasse lauerte eine seelenbedriickende 
Triibnis, und die Palme auf dem Biifett lieft die schweren, schlanken 
Blatter hangen, als stunde auch sie im herbstlichen Regen. Zwei Gas- 
lampen, Neuerung und Stolz der Bahnstation, hatten schadhafte Netze 
und verbreiteten ein ewig wechselndes grunlich-trubes Licht. Ein 
jammerliches Surren ging von ihnen aus, ein Wehklagen. Auch die 
weifie Hemdbrust des Obers Ottokar zeigte verdachtige Flecke unbe- 



444 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

kannter Herkunft. Der metallene Glanz des Rittmeisters brach sieg- 
reich in all diese Triibsal. Der Ober Ottokar brachte einen Hennessy 
»zur Erwarmung« und die Speisekarte. »Heut gibt's Suppe mit Leber- 
knoderln, Herr Baron !« - »Halten S' die Goschen!« sagte Taittinger 
frohlich. Immer, wenn er dergleichen sagte, wiinschte er eigentlich das 
Gegenteil, und das wufite Ottokar auch. Deshalb bot er auch noch ein 
miirbes Beinfleisch mit Kren an und Zwetschkenknodel, extra ge- 
kocht. »Die Goschen halten und servieren!« sagte Taittinger. Der Co- 
gnac erheiterte ihn noch mehr und verstarkte seinen Appetit. Er erhob 
sich, um jetzt erst seinen Mantel abzulegen. Ottokar eilte hinzu. Aus 
der rechten Manteltasche lugten die bunten Rander der Lazikschen 
Werke hervor, Ottokars liisternes Auge erhaschte sie sofort. »Ge- 
schichten aus der grofien Welt und aus der Halbwelt«, erlaubte sich 
der Ober zu sagen. Wenn der Rittmeister einmal »Halten S' die Go- 
schen!« gesagt hatte, durfte man mit ihm iiber alles sprechen. »Ah, Sie 
lesen auch, Ottokar?« fragte Taittinger. »Jeden Morgen die >Kronen- 
2eitung<, Herr Baron, erlaube mir ergebenst zu bemerken! Da stehn 
die Geschichten eh drin, und frischer noch, direkt wie vom Backer! « 
»Ach so, ach so«, sagte Taittinger nur. Er aft mit gesundem Vergntigen, 
fand das Beinfleisch »famos« und die Zwetschkenknodel »direkt inter- 
essant«, trank zum Schwarzen einen Sliwowitz und beschlofi, vorlau- 
fig im Wartesaal sitzenzubleiben, bis zur Ankunft des Wiener Abend- 
zuges, der erst um n Uhr47 kam und manchmal noch den oder jenen 
verspateten Kameraden brachte, wenn auch meist nur Offiziere des 
Landwehrregiments, mit dem die Dragoner die Garnison teiiten. Es 
gab manchmal solche Launen, solche Abende. Solange man sich noch 
auf der Station befand, war man gleichsam noch nicht in die Garnison 
zuriickgekehrt. Es regnete drauften auch ekelhaft. Die Fiaker taugten 
wenig in dieser Stadt, und das Pflaster war nicht ordentlich. Man blieb 
lieber sitzen. Ottokar konnte Patiencen legen, Taittinger selbst hielt es 
fur unschicklich. Ottokar legte fur ihn, stehend, ihm gegeniiber, vor- 
geneigt und nachdenklich, die Serviette iiber der Schulter, als war's 
eine Kelle. Dazwischen redete Ottokar. Er war noch jung, er gedachte, 
»sich zu verbessern«, er hatte in Wien Kellner gelernt, er wollte bald 
nach Wien zuriick. In Wien passierten noch Geschichten, wie sie da in 
den Buchln und in der »Kronen-Zeitung« beschrieben waren. Ja, und 
manche Herrschaften waren so genau beschrieben, daft man sie sogar 
erkannte. »Da schau her! Man erkennt sie!« rief Taittinger. Ja, sagte 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 445 

Ottokar. Der Herr Hanfl - es war der Pachter der Bahnhofs restaurants 
erster, zweiter und dritter Klasse - wiiftte alles. Er war seinerzeit, als 
der Schah Wien besucht hatte, Restaurateur auf der Wieden gewesen. 
Er kannte das Haus, die Geschichte von den Perlen, der ganze Bezirk 
hatte damals von nichts anderem gesprochen. »Ja, und sogar Herrn 
Baron«, sagte Ottokar unbedacht, schwieg und tat so, als dachte er 
plotzlich angestrengt iiber den Ausgang der Patience nach. 
»Was haben Sie da gesagt?« fragte Taittinger. 

Es half nichts, der Ottokar muftte erzahlen. So war es also, man kannte 
Taittingers Geschichte. Ottokar muftte sogar den Restaurateur aus 
dem Kontor holen. Der Restaurateur, Herr Hanfl, erzahlte Einzelhei- 
ten, sagte aber nichts Gewisses iiber den Baron selbst. Er erzahlte mit 
dem aufgeraumten Behagen der Menschen, die schon lange auf eine 
Gelegenheit gewartet haben, um etwas mitzuteilen, was sie allein nur 
wissen konnen. »Woher kennen S' denn die Geschichte ?« fragte Tait- 
tinger schlieftiich. Der Restaurateur beugte sich etwas vor - viel zu 
viel, dachte Taittinger - und flusterte beinahe so, wie man mit einge- 
weihten Komplizen zu fliistern pflegt: »Der Herr Inspektor Sedlacek 
ist mein spezieller Freund, Herr Baron!« 

Auf einmal schien es dem Rittmeister, daft sich die Welt verwandelt 
habe, oder vielmehr, daft sie sich ihm in ihrer ganzen grauenhaften 
Gestalt zu entschleiern beginne. In seinem ganzen Leben gab es eine 
einzige peiniiche Affare. Seit vielen Jahren wiirgte sie ihn, ein ekelhaf- 
ter, harter Bissen, den man nicht verschlucken kann und auch nicht 
wieder ausspucken. Zu keinem Menschen in der Welt konnte er von 
dieser Affare sprechen. Jetzt kam sie ihm entgegen, diese Affare, die 
Bahnhofrestaurateure kannten sie bereits. Wahrscheinlich sprachen 
auch die Kameraden, zumindest diese hinterhaltigen Landwehroffi- 
ziere von der Affare. Die scheuftliche Gestalt des Geheimen Sedlacek 
sah Taittinger, und jenen Augenblick auf der Treppe erlebte er wieder, 
den leicht geliifteten Zylinder iiber dem ordinaren Antlitz mit den 
glashellen Augen, die an blaftblaue Lampchen erinnerten, mit dem 
hochgezwirbelten Schnurrbart voil sanfter goldbrauner Frechheit, un- 
ter dem die starken, langen gelben Pferdezahne sichtbar wurden. 
Der Restaurateur sprach noch weiter, aber Taittinger horte nicht mehr 
zu. Er vernahm plotzlich, was er bis nun nicht zur Kenntnis genom- 
men hatte, das triibselige Trommeln des Regens auf das glaserne Per- 
rondach und das wehklagende Surren der giftgriinen Gaskandelaber. 



446 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Obwohl Hanfl noch mitten im angeregten Erzahlen war, erhob sich 
Taittinger, liefi sich den Mantel anziehn, setzte die Kappe auf, befahl, 
man mochte ihm Reisetasche und Rechnung zum »Schwarzen Elefan- 
ten« schicken, und ging fast schon wie ein verlorener Mann hinaus. 
Ware merit sein Sporenklirren gewesen, man hatte glauben konnen, er 
sei verschamt hinausgeglitten. 

Die Kaiser-Joseph-Strafie, die vom Bahnhof geradewegs in die Mine 
der Stadt zum Rathaus fiihrte, war still, der kalte Regen allein be- 
wohnte sie. Allein mit dem Regen und der Strafie war der Rittmeister 
Taittinger. 

Schlimme oder auch nur ernstere Ahnungen und Vorgefiihle waren 
ihm unbekannt gewesen bis zu dieser Stunde. Unangenehme, das heiftt 
langweilige Stimmungen konnte er in musterh after Weise leicht ver- 
scheuchen. Diesmal gab er sich ihnen preis, wie dem Regen und der 
Nacht und der Kaiser-Josef-Strafte. Friiher hatte er immer noch, sooft 
er aus Wien zuriickkam, einen kleinen Sprung ins Kasino gemacht, um 
sich >>wiedereinzuleben«. Heute aber fluchtete er beinahe ins Hotel 
»Zum schwarzen Elefanten«. Die Oberleutnants Stockinger und Felch 
wohnten auch dort. Taittinger wollte ihnen um keinen Preis begegnen. 
Er ging sofort in sein Zimmer. Er machte nicht die gewohnte grofte 
Nachttoilette, die er seit funfzehn Jahren wie einen erhabenen Ritus zu 
vollfuhren pflegte. »Lafi das!« sagte er zum Burschen, der in gewohn- 
ter Weise Kamm und Burste, Zahnpasta, Pomade fur die Haare, das 
Netz, das den Scheitel zu bewahren hatte, Vaseline und Kakaobutter 
auf dem Stuhl auszubreiten begann. Der Rittmeister liefi sich nur die 
Stiefel ausziehn. »Geh schlafen!« sagte er dann. Er legte sich aufs Bett, 
in Hosen, in Strumpfen. Er wagte nicht sich auszuziehn, verstand 
selbst nicht, warum er zum erstenmal in seinem Leben Angst vor der 
Nacht hatte. Er wollte gleichsam den Tag, den Abend noch ausdehnen. 
Er hatte Angst vor dieser Nacht. Ich werde ja nicht einschlafen kon- 
nen, dachte er. Aber er schlief sofort ein. Er fiel in Schlaf, als hatte man 
ihn betaubt. 

Dennoch war seine Furcht vor dieser Nacht berechtigt gewesen, denn 
ihm traumte zum erstenmal nach langer Zeit teils Fiirchterliches, teils 
unsaglich Trauriges. So sah er sich zum Beispiel die marmorne, rotbe- 
kleidete Treppe hinuntergehn und Sedlacek ihm entgegenkommen und 
den Zylinder liiften; aber er selbst, der Taittinger, war auch zugleich 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 447 

der Sedlacek; er selbst liiftete den Zylinder; er selbst kam sich ent- 
gegen. Er ging die Treppe hinauf, er ging sie aber auch gleichzeitfg 
hinunter. Plotzlich stand er in der Kanzlei des Direktors, in der 
Strafanstalt in Kagran, und der Poiizeiarzt fragte ihn: »Was fehlt Ih- 
nen? Warum geben Sie mir keinen Bericht iiber die Zustande in 
meinem Regiment ?« Er konnte nicht antworten, der arme Taittin- 
ger. Er furchtete auch, daft der Polizeiprasident jeden Augenblick 
hereinkommen konnte und sagen: »Den Baron Taittinger kenne ich 
gar nicht. « Ferner erschien auch die Grafin Helene W. und hatte 
einen rasierten Kopf, genau wie die Mizzi Schinagl, und sie ver- 
langte alle ihre Briefe zuriick. Er konnte nur sagen, daft es ein 
schrecklicher Irrtum sei, niemals habe er von der Grafin irgendwel- 
che Briefe erhalten, schon bestimmt keine rekommandierten. »Bitte, 
Grafin«, sagte er, »fragen Sie den Rechnungsunteroffizier 2enower.« 
»Zu spat, zu spat!« rief sie, und er erwachte. Der Bursche hatte ihn 
geweckt. 

Es war spat, drei Viertel sieben, er fand keine Zeit mehr, sich rasieren 
zu lassen. Zwei Korporale, Leschak und Kaniuk, hatte er fur heute 
zum Rapport befohlen, weil sie vorvorgestern unrasiert auf dem Exer- 
zierplatz erschienen waren. Das dienstliche, das soldatische Gewissen 
plagte den Rittmeister. Einerlei, er muftte hinein, in Stiefel, Rock, 
Tschako und schnell zur Kaserne. Sie saften schon in den Satteln, die 
ganze Eskadron. Es war keine Zeit mehr, die Namen zu verlesen. Es 
regnete sacht und unerbittlich, wie es gestern abend geregnet hatte. 
Der Regen verband das Gestern mit dem Heute, als ob dazwischen 
kein neuer Sonnenaufgang stattgefunden hatte! als wiirde nie mehr 
eine neue Sonne aufgehn! . . . 

Das Regiment formierte sich, das breite, schwarz-gelb gestreifte Dop- 
peltor ging auf, man ritt hinaus. Im Sattel erst fuhlte Taittinger wieder 
die erwachende Wirklichkeit. Er konnte jetzt erst erkennen, daft er 
alles Grausige nur getraumt hatte. Durch den Sattel noch und noch 
durch die Schafte seiner Stiefel fuhlte er die Warme und das Blut des 
Pferdes, das er ritt. Heute saft er gut auf seiner braunen Stute. Wally 
hieft sie. Er liebte sie, obwohl sie lange nicht so intelligent war wie sein 
Schimmel Pylades. So hatte er ihn getauft, denn er lebte in der Mei- 
nung, daft Pylades ein griechischer Philosoph gewesen sei. Wally war 
langsam, storrisch manchmal, man muftte ihr lange zureden. Ein sach- 
ter Druck der Schenkel geniigte niemals. Launisch war sie halt, nicht 



44^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

umsonst ein Frauenzimmer und urplotzlich aus Tragheit in Ubermut 
umsiedelnd. Aber man liebte sie eben. 

AIs er auf der Waldwiese absaft, war er fast schon wieder der alte, der 
gewohnliche Taittinger. Er nahm den Rapport ab, die Unrasierten be- 
strafte er sehr streng, je drei Tage Einzelarrest. »Eine Schande fiir 
eine Charge, unrasiert!« sagte er. Er befuhlte dabei unwillkiirlich sein 
eigenes stachliges Kinn. Der Dienstfuhrende Prokurak sah es wohl. 
Einerlei! Jetzt kamen Gelenksiibungen, Reitubungen, Karabiner-Ex- 
erzieren. Rittmeister Taittinger war heute aufterst »sekkant«! 
Vier Stunden spater allerdings, nach dem Einriicken in die Kaserne, 
stand er wieder geradezu veriegen, fast kleinlaut in der Rechnungs- 
kanzlei. Es war ein rekommandierter Brief da. Schon wieder. Man 
muftte den Zettel unterschreiben. Rechnungsunteroffizier Zenower 
machte ein so erschreckend ernstes Gesicht heute, anders als sonst bei 
rekommandierten Briefen. Der Brief war auch sehr dick und schwer. 
Wenn man ihn in den Papierkorb hatte fallen lassen, so hatte es ein 
ordentlich unbehagliches und unpassendes Gerausch gegeben. Auf 
dem gelben Kuvert stand »Burgermeisteramt Oberndorf«. Lieber 
jetzt als spater, sagte sich der Baron Taittinger. Er rift den Umschlag 
auf. Er begann zu lesen. 

Dem amtlichen Schreiben des Burgermeisters, der Taittinger mitteilte, 
daft sich ein Minderjahriger namens Alexander Alois Schinagl im 
Burgermeisteramt gemeldet habe und unter der Angabe, der uneheli- 
che Sohn des Herrn Rittmeister Baron Taittinger zu sein, nach der 
Adresse dieses seines naturlichen Vaters gefragt habe und nach der 
seiner Mutter, der unverehelichten Mizzi Schinagl, lag ein Brief des 
Okonomen bei. Dies war eigentlich kein Brief, sondern eine Art ma- 
thematischer Schulaufgabe, wie man sie den Kadetten in Mahrisch- 
Weiftkirchen tuckischerweise aufzugeben pflegte. Lediglich den aller- 
letzten Satz begriff Taittinger, der also lautete: »Infolge des oben 
Geaufierten erlaube ich mir respektvoll und ergebenst, Herrn Baron 
mkzuteilen, daft nur seine unverzugliche Ankunft hierorts noch 
einige Moglichkeiten bzw. Aussichten bieten konnte.« - Beide Briefe 
beschloft Taittinger dem guten, klugen Zenower zu geben. Er wuftte 
schon seit langem, daft er Zenower brauchen wiirde. »Lieber Zeno- 
wer! « sagte er, »Sie haben doch Zivil?« - »Jawohl, Herr Baron !« - 
»Also, seien §' so freundlich, ziehen S J es heute an, und so gegen 
sechs, nach dem Befehl, erwart' ich Sie im Extrastiiberl vom >Schwar- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 449 

zen Elefanten<. Und sagen S' mir dann genau, was die Leut J eigentlich 
von mir wo!len.« 



XXI 



Am Abend, nach dem Befehl, kam Zenower in Zivil ins Extrastiiberl. 
Und er sah noch ernster aus als in Uniform. Zum erstenmal sah ihn 
Taittinger in Zivil. Es war gar nicht der Rechnungsunteroffizier Zeno- 
wer mehr, kein Untergebener, audi kein Vorgesetzter, aber audi 
ebenso kein Zivilist, sondern irgendein Wesen zwischen Welten, zwi- 
schen Rassen, eigenanig, unverstandlich, aber auf jeden Fall duster 
und Unheil atmend. Man mufite einen tiefen Schluck tun, immerhin 
gab es einige Zuversicht. »Lieber Zenower! « begann Taittinger, »trin- 
ken Sie Cognac ?« - Es war Taittinger, als hinge jetzt sein Wohlergehn 
von der Bereitwilligkeit Zenowers ab, Cognac zu trinken. »Gewifi, 
Herr Baron!« sagte Zenower. Er lachelte sogar. Merkwiirdig, wie sich 
die Leute verwandelten. Zenower war durchaus nicht langweilig, 
durchaus nicht subaltern, durchaus nicht gleichgiiltig. Ware er nicht so 
streng gewesen, man hatte ihn sogar zu den »Charmanten« zahlen 
konnen. Sie tranken den Cognac. »Nun«, fragte Taittinger, und er 
fuhlte genau, daft ihn der Cognac noch nicht mutiger gemacht hatte, 
»was konnen Sie mir Gutes sagen, Zenower ?« - Man sah piotzlich 
Zenowers echtes Angesicht. Es war hart und kalt, harter und kalter 
stieg es aus dem weiften Zivilkragen als aus den griinen Aufschlagen 
des hochgeschlossenen Blusenkragens. Unzahlige Falten gab es auf der 
hohen Stirn, noch viel mehr Runzeln unter den Lidern und an den 
Schlafen. Ja, seine Haare selbst schienen piotzlich ergraut. Es war ein 
alterer, strenger, besonnener Herr. 

»Herr Baron«, sagte der besonnene Herr, »ich habe Ihnen leider nichts 
Gutes zu berichten. Wollen Sie mir bitte genau zuhoren, Herr Baron ?« 
»Gewif$, gewi£!« sagte Taittinger. 

»Also: Punkt eins betrifft den Burgermeister. Er teilt mit, da£ sich 
Alexander Alois Schinagl, entlaufen der Anstalt in Graz und von der 
Gendarmerie aufgegriffen, bei ihm gemeldet habe. Der junge Schinagl 
ist vierzehn Jahre alt. Er kam in Begleitung des Zugfiihrers der Gen- 
darmerie Eichholz zum Burgermeister. Die Anstalt in Graz war seit 
sechs Monaten nicht bezahlt, Der Leiter der Anstalt brachte in Erfah- 



45° ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

rung, dafi seine Mutter, Fraulein Schinagl, augenblicklich sich in der 
Strafanstalt Kagran befinde. Sie schrieb ihm auch auf seine direkte An- 
frage, da8 Herr Baron Taittinger der natiirliche Vater des Jungen sei, 
sie auch in der Anstalt besucht habe und gewifi fur das Kind sorgen 
werde. Der Junge mufi diesen Brief gestohlen haben. Er fand sich in 
seinem Anzug. Er leugnete dennoch und fragte nach dem Aufenthalt 
der Mutter. Sein Vormund ist der Vater des Frauleins Mizzi Schinagl. 
Er befindet sich jetzt im Altersversorgungsheim in Lainz. Er ist bei- 
derseitig gelahmt, sein Laden in Sievering ist sequestriert. Er lafit dem 
Biirgermeister mitteilen, dafi der Herr Baron Taittinger, der Vater des 
Jungen, bis jetzt keine Alimente bezahlt hat. - Inzwischen hat der Biir- 
germeister, in Anbetracht der Umstande, den Jungen Ihrem Okono- 
men iibergeben, damit kein grofierer Skandal entstehe. Man wartet auf 
Ihre Entscheidung, Herr Baron !« 

»Die Mizzi hat niemals Alimente verlangt«, sagte Taittinger. 
»Schade! - was soil ich also, Zenower?« 

»Wenn ich raten darf, den Jungen nach Graz zuriickschicken lassen 
und dort vorlaufig die Schuld bezahlen. Sie betragt dreihundert Gul- 
den etwa.« 

»Ja, lieber Zenower, das will ich tun.« 

»Nun Punkt zwei, Herr Baron«, sagte Zenower. Er wartete eine 
Weile. »Punkt zwei ist sehr unangenehm. Der Verwalter bittet um 
Entschuldigung, halt es aber fur seine Pflicht, Herrn Baron mitzutei- 
len, dafi nach der letzten Sendung von zweitausend Gulden nach Wien 
etwaige weitere Abhebungen von Bargeld gefahrlich werden konnten. 
Herr Baron haben in den letzten vier Jahren funfundzwanzigtausend 
verbraucht. Es bleiben an Bargeld etwa funftausend. Dreizehntausend 
sind fur die Auslosung der Wechsel Ihres Herrn Cousins, des Barons 
Zernutti, gezahlt worden.« 

»Ein langweiliger Mensch, der Zernutti !« sagte Taittinger. 
»Man kann's auch so nennen«, erwiderte Zenower. Er hatte den Ritt- 
meister gern, so wie er war, mit all seiner munteren Herzlosigkeit, den 
kiimmerlichen paar Gedanken, fur die der Schadel ein viel zu geraumi- 
ger Aufenthaltsort schien, mit seinen winzigen Liebhabereien und kin- 
dischen Leidenschaften und den zwecklosen Bemerkungen, die ohne 
Zusammenhang in die Welt aufs Geratewohl aus seinem Munde ka- 
men. Er war ein mittelmaEiger Offizier, die Kameraden waren ihm 
gleichgiiltig, die Soldaten, die Karriere. Zenower verstand keineswegs 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 451 

die innere Mechanik, die ein Lebewesen wie den Baron zu lauter sinn- 
losen, leeren und ihm selbst schadlichen Handlungen antrieb. Fur Ze- 
nower, der sich iiber Welt und Menschen mehr Gedanken machte als 
das ganze Regiment, den Obersten eingeschlossen, blieb Taittinger ein 
Ratsel der Natur. Wenn er wenigstens ausgesprochen dumm gewesen 
ware! Wenn er wenigstens ausgesprochen bose gewesen ware! Wenn er 
ein leidenschaftlicher Spieler oder Liebhaber gewesen ware! Wenn er 
wenigstens sichtbar gelitten hatte unter der Versetzung! Und dennoch, 
sagte sich Zenower, muft er unglucklich sein. Vielleicht gar hat er ein 
so starkes Ungluck erlebt, dafi es ihm jede menschliche Art zu denken 
und zu fiihlen verschlagt! Vielleicht auch wartet auf ihn solch ein Un- 
gluck, und er weifi es schon eigentlich und gleitet ihm entgegen. Wie 
konnte man denn sonst beim Anhoren derartiger Nachrichten gleich- 
giiltig bleiben? Da sitzt man nun, sagt einem erwachsenen Mann, daft 
er kein Geld mehr habe - und er antwortet nur: »Ein langweiliger 
Mensch, der Zernutti!« 

»Es steht schlimm um das Gut«, fuhr Zenower fort. »Die Hypothe- 
kenbelastung betragt dreiftigtausend - soviel ich der Darstellung ent- 
nehme - ebenfalls zum Teil aus Schuld des Cousins. Er diirfte, soviel 
ich verstehe, seinen rechtmaftigen Anteil langst iiberzogen haben. Ihr 
seliger Herr Onkel hatte offenbar bestimmt, daft Ihr Herr Vetter Bar- 
geld abheben oder gar Darlehen aufnehmen ohne Ihre Zustimmung 
nicht diirfe. 1st es so, Herr Baron ?« 

»Ja, es wird schon stimmen!« sagte Taittinger. »Ich nab' immer ja ge- 
sagt, er war auch immer zu langweilig. Alles gibt er fur Buben aus, 
sagen Sie Zenower, begreifen Sie, was man fur ein Vergniigen an Bu- 
ben haben kann?« 

»Nein, Herr Baron«, sagte Zenower hart, »aber es ist nicht wichtig. 
Wichtiger ist, daft Ihr Gut seit drei Jahren nichts mehr eingetragen hat. 
Vor zwei Jahren haben Sie den kleinen Fichtenwald abholzen lassen. 
Der Holzfaller ist fallit gangen, es ist bei der Anzahlung geblieben. Vor 
einem Jahr war der grofte Schneefall im Mai, die Saat verdorben. In 
diesem Jahr ist die Ernte kummerlich. Das Wohnhaus ist schadhaft 
geworden, seit iiber zehn Jahren hat kein Mensch mehr dort gelebt. 
Von dem Zustand der Tiere nicht zu reden. Man brauchte zwei Gaule, 
es ist kein Geld da.« 

»Lauter Pech!« sagte Taittinger, klatschte in die Hande und bestellte 
noch zwei Cognacs. 



45^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Er trank in zwei grofien Ziigen. Er schwieg. Schon begann eine leise 

Bitterkeit gegen Zenower in ihm aufzusteigen. Aber eine grofte Verlas- 

senheit fiihlte er ebenfalls und zugleich auch eine Spur von Dankbar- 

keit. Da war doch einer, der nahm alles Brieflesen und Uberlegen und 

Nachdenken auf sich. Er war ein kluger Mann, der Zenower. Wahr- 

scheinlich machte er es jetzt so mit ihm, wie alle klugen Leute seit dem 

Mathematikprofessor Hauptmann Jellinek in der Kadettenschule mit 

Taittinger zu verfahren pflegten: Zuerst schreckten sie mit langweili- 

gen Dingen, zermurbten einen, urn einen dann wieder aufzurichten, 

mit guten und gesunden Ratschlagen. Man brauchte ja nicht wirklich 

zermurbt zu sein, man mufite nur so tun, ais ware man's, dann wurde 

alles wieder gut. 

Diesmal aber hatte sich Taittinger verrechnet. Denn als er, das Schema 

anwendend, das ihm immer bei den Gescheiten geniitzt hatte, den 

Rechnungsunteroffizier fragte: 

»Was soli ich also tun?«, antwortete Zenower: »Ihnen ist nicht zu hel- 

fen, Herr Baron!« - Welch eine merkwiirdige Abart der Gescheiten, 

dieser Zenower. 

Eine lange Weile schwiegen beide. Dann bestellte Taittinger eine Fla- 

sche weifien Bordeaux. Er sah auf die Wanduhr, es war noch eine 

Stunde Zeit bis zum Nachtmahl. 

Als er vom ersten Glas getrunken hatte, begann Zenower: »Herr 

Baron, erlauben Sie mir, alles aufrichtig zu sagen?« - Taittinger 

nickte. - »Dann also: Sie konnten fiir den Augenblick den Schimmel 

verkaufen!« 

»Wen? den Py lades ?« rief Taittinger, »eher die Wally!« 

»Nein, sie bringt nicht genug, und dann wird doch der Schimmel dran- 

miissen. Dann mull man Geld fiir die zwei Gaule haben, Sie miissen 

Urlaub nehmen, auf das Gut fahren, das Haus reparieren lassen, mit 

den Hypothekaren sprechen, mit dem Biirgermeister, dem kleinen 

Schinagl einen neuen Vormund besorgen. Ich glaube, ein Urlaub von 

drei Monaten, Herr Baron! Fiir den Herrn Vetter diirfen Sie nichts 

mehr unterschreiben, das versteht sich; Wenn sie all dies nicht tun, 

sehe ich eine triibe Zukunft. Sie werden sich zur Infanterie transferie- 

ren lassen mussen!« 

»Zur Landwehr, was?! Ich kann nicht marschieren, lieber Zenower!« 

»Das ist alles «, sagte Zenower. Auch er sah auf die Uhr. »Erlauben Sie, 

daft ich mich verabschiede, Herr Baron! « - »Nein, Zenower, Sie blei- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 453 

ben!« sagte Taittinger, und er hatte dabei den flehenden Blick eines 
Knaben, den man in ein fins teres Zimmer stofien will. »Bitte!« sagte 
Zenower. 

Der Rittmeister ging zum Rechen, wo sein Mantel hing, und holte die 
bunten Buchln Laziks hervor. »Kennen Sie das, lieber Zenower?« 
Zenower blatterte in den Heftchen, las hier und dort und klappte sie 
wieder zu und sagte: »Grauslich, Herr Baron !« - »Im Gegenteil!« rief 
Taittinger. Und er erzahlte, dafi alle Personen, die da vorkamen, »glan- 
zend getroffen« seien, Er selbst habe den Verfasser Lazik kennenge- 
lernt. Und die letzten zweitausend Gulden habe er eben dem Verfasser 
gegeben. 

»Das ist noch schlimmer als alles andere!« sagte Zenower. 
Er ahnte schon nach dem Titel allein, worum es sich handelte. Auch er 
kannte die Geschichten, die man rings um Taittinger spann, seit dem 
Tage fast, an dem er zum Regiment heimgekehrt war. Als langerdie- 
nender, wohlerfahrener Unteroffizier kannte er wohl jene besondere 
Abart menschlicher Schwachen, die manche Angehorige der Armee 
kennzeichnete, die phantasiereiche Schadenfreude. Langst noch bevor 
Taittinger riicktransferiert worden war, hatten manche Herren im Re- 
giment ohne Wohlwollen Geschichten von ihm erzahlt, deren Un- 
glaubwiirdigkeit sichtbar war. Man beneidete ihn wegen seines Postens 
in Wien. Dann aber, als er wieder Soldat war wie alle anderen, begann 
man sich zu fragen, aus welchen Griinden er seiner besonderen Ver- 
wendung enthoben worden war. Manches erzahlte der Bahnhofrestau- 
rateur. Der Ober Ottokar machte Andeutungen, seitdem die Artikel in 
der »Kronen-Zeitung« erschienen. »Haben Sie ihm das Geld etwa ge- 
geben, damit er Sie nicht in dem Zusammenhang nenne?« fragte Zeno- 
wer. »Nein«, antwortete Taittinger, »was weift er denn von mir?« - 
»Gibt's denn etwas, was Ihnen schaden und was er wissen konnte, 
Herr Baron ?« 

Taittinger antwortete nicht. Es war noch schlimmer als gestern abend 
im Wartesaal. Er hatte tagsiiber den gestagen Abend bereits vergessen, 
trotz der beiden Briefe. Er bedauerte schon, daft er Zenower um Aus- 
kiinfte gebeten hatte. Besser ware es wohl gewesen, man hatte, langjah- 
rigen Erfahrungen treu, die Briefe gar nicht zur Kenntnis genommen. 
Es hatte sich aber dennoch etwas geandert, in der letzten Zeit, man 
wufite nur nicht genau, was. Man konnte sich gerade noch zur Not 
erinnern, wann diese Veranderung ahgefangen hatte: Man konnte sich 



454 ROMANE UND ERZAHLUNGBN 

genau erinnern: Sie war in dem Augenblick eingetreten, in dem Taittin- 
ger den rasierten Kopf der Mizzi Schinagl erblickt hatte. Ja, so war es. 
Es war alles so schwierig und so heillos verworren! Selbst wenn er die 
Kraft besessen hatte, Zenower alles zu erzahlen - auch die »Affare« -, 
er hatte es in diesem Augenblick nicht vermocht, aus Unfahigkeit, 
auch nur zwei Satze logisch aneinanderzureihen. »Wenn Sie gestatten, 
Herr Baron - ich werde vielleicht gehn«, horte er Zenower sagen. 
»Nein!« rief er, »bleiben Sie um Gottes willen! Ich kann nur im Au- 
genblick nicht sprechen. Ich mufi iiberlegen, lieber Zenower !« Aber er 
uberlegte gar nichts. Seine Augen waren leer, zwei blaue Glasmur- 
meln. Auch das Nichtiiberlegen war sehr anstrengend. Er trank, 
rauchte, versuchte ein paarmal vergeblich zu lacheln, strengte sich an, 
einen Witz, ein heiteres Wort, eine Ankedote zu finden, und nichts 
half, und er schamte sich zugleich, dafi er so vertrackt schweigen 
muftte. Ja, im Kasino, mit seinesgleichen, fiel ihm in jeder Situation 
irgend etwas Passendes ein. Mit seinesgleichen! Er klammerte sich an 
dieses Wort, es erklarte ihm, dafi er eigentlich in solche Verlegenheiten 
geriet, weil Zenower halt nicht »seinesgleichen« war. Fur einen Au- 
genblick glaubte er, Gleichgewicht, Festigkeit, Haltung wiedergefun- 
den zu haben, und mit jener hochmutigen Freundlichkeit, mit der er 
zu Subalternen sprechen konnte, sagte er: »Erzahlen S' doch was, lie- 
ber Zenower, aus Ihrem Leben zum Beispiel.« - »Mein Leben ist ganz 
uninteressant, Herr Baron!« sagte Zenower. »Ich diene heute das drei- 
zehnte Jahr. Ich war Goldmacher von Beruf. Das ist lange her. Ich bin 
nicht verheiratet. Ich bin seinerzeit zum Militar gegangen, freiwillig, 
mit zweiundzwanzig, weil das Madchen, das ich geliebt hatte, einen 
andern geheiratet hat.« - »Das ist nicht nett!« warf Taittinger ein. »Ja, 
Herr Baron, das war der einzige Schmerz meines Lebens, auch der 
letzte.« - »Kurios!« rief der Rittmeister. »Leben denn Ihre Eltern 
noch?« - »Ich habe keine! Meine Mutter ist fruh gestorben. Sie war 
Kochin. Von meinem Vater weift ich nichts, ich bin ein uneheliches 
Kind.« - »Interessant«, wiederholte Taittinger, »und Sie sind so ganz 
allein aufgewachsen?« - »Im stadtischen Waisenhaus in Miiglitz, dann 
kam ich mit sechzehn in die Lehre.« - »Sie. sind ein kluger Mann, Ze- 
nower^ sagte der Rittmeister. »Warum machen Sie denn eigentlich 
nicht die Rechnungspriifung?« - »Ich will's auch«, sagte Zenower. 
»Obwohl ich ja nicht hoher kommen kann als bis zum Rechnungs- 
hauptmann. Aber da gibt's noch Schwierigkeiten wegen der uneheli- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 455 

chen Geburt. Ich hah' aber einen Freund, Rechnungsrat im Kriegsmi- 
nisterium.« - »Na, es wird schon gehn!« trostete Taittinger. »Interes- 
santes Leben haben Sie, Zenower! Sie sind eigentlich, wie nennt man 
das: ein Kind aus dem Volke! Das hatt/ ich nie gedacht.« - »Ja«, sagte 
Zenower, »ein Kind aus dem Volke. Ich stelP mir wenig darunter vor. 
Ich weift nur, dafi ich das Kind einer Kochin bin!« - Taittinger erin- 
nerte sich an die alte Kochin seines vaterlichen Hauses. Karoline hiefi 
sie. Sie war alt und weinte immer, dreimal jahrlich, wcnn Taittinger 
nach Hause kam, zu Ostern, in den Sommerferien und zu Weihnach- 
ten. Plotzlich aber sagte er - und er wufke gar nicht, dafi er so laut 
sprach: »Lieber Zenower, vorher hab 5 ich gedacht, ich kann mit Ihnen 
eigentlich nicht ganz frei sprechen. Jetzt weifi ich, warum: Ich schame 
mich namlich vor Ihnen, ich beneide Sie, und ich wiirde ganz gern mit 
Ihnen tauschen!« Er erschrak selbst vor diesem Satz, vor seiner Auf- 
richtigkeit, vor allem aber iiber die Schnelligkeit, mit der er vermocht 
hatte, Rechenschaft iiber seine Gedanken abzulegen. Er hatte sich auf 
einer Wahrheit ertappt; und zum erstenmal nach langen Jahren wurde 
er rot, wie er einst, als Knabe, rot geworden war, wenn man ihn auf 
einer Luge ertappt hatte. Zenower sagte: »Herr Baron, Sie brauchen 
niemanden zu beneiden und mit niemandem zu tauschen, wenn Sie nur 
immer aufrichtig zu sich selbst sind. - Und heute auch zu mir!« fiigte 
er hinzu. »Ja, Zenower«, sagte der Rittmeister. Er fuhlte eine grofte 
Trauer und eine starke Heiterkeit zugleich. »Ich treffe Sie nach dem 
Essen bei Sedlak, wo ich oft sitze, wissen Sie? Wollen sie kommen? In 
zwei Stunden verlasse ich das Kasino.« Er driickte Zenowers grofie 
Hand, sie fuhlte sich an wie ein einziger, warmer, sehr lebendiger Mus- 
kel. Er fuhlte, dafi etwas Gutes und Starkes von ihr ausging und etwas 
Beredtes und Horbares. Es war, als ob die Hand Zenowers Gutes ge- 
sagt hatte. 



XXII 

Die Gaststube Sedlaks lag hinter den Bahnschranken, gegeniiber den 
sogenannten Sandbergen, man brauchte eine halbe Stunde, um sie zu 
erreichen. Gutspachter trafen sich dort, Getreidehandler, Gestiits- 
zuchter und von den gehobenen Standen lediglich manchmal die zwei 
Veterinare. Man war sicher, keiner Uniform in dieser Gaststube zu 



45^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

begegnen. Es begann sachte zu schneien, als Taittinger das Kasino ver- 
liefi. »Entschuldigung, ich hab J ein Rendezvous«, sagte er dem Ober- 
leutnant Zschoch in der Tur. »Wie heifit sie?« fragte Zschoch, aber 
Taittinger horte nicht mehr. Es war der erste Schnee dieses Jahres. 
Taittinger, auf den weder die gewohnlichen noch die unerwarteten 
Naturereignisse jemals irgendeinen Eindruck gemacht hatten, empfand 
zum erstenmal eine knabenhafte Freude an den weichen, sanften, giiti- 
gen Flocken, die lassig und vertraumt auf seine Kappe und auf seine 
Schultern fielen und auf die ganze breite Strafie, die zu den Sandbergen 
fuhrte. Es schien ihm bedeutsam, dafi heute der erste Schnee fiel. Mun- 
ter ging er durch den dichten weiften Schleier. Der Bahnschranken war 
geschlossen, er mufke lange warten. An jedem anderen Tag hatte er die 
Bahn »langweilig« genannt. Heute aber wartete er sogar geniefierisch. 
Er hatte das Gefiihl, man wurde starker eingeschneit, so im Stehen. Ein 
endloser Schleppzug rollte vorbei. Was wohl in diesen stummen Wag- 
gons enthalten sein mochte? Waren 's Tiere, Holz, Eierkisten, Getrei- 
desacke, Bierfasser? Was mir doch fur Gedanken heute kommen! sagte 
sich Taittinger. Es gibt so viele Dinge auf der Welt, von denen unser- 
eins keine Ahnung hat! So Leute wie der Zenower, dessen Mutter eine 
Kochin war und die im Waisenhaus aufgewachsen sind, wissen sehr 
viel. Der Schleppzug nahm noch immer kein Ende. Die Giiterwagen 
konnten auch Gepack enthalten, wie damals die vielen Koffer der per- 
sischen Majestat, die so spat angekommen waren. Der charmante Kiri- 
lida Pajidzani fiel Taittinger ein. Was machte der jetzt in Teheran? 
Vielleicht schneite es dort auch. Glucklich war dieser Pajidzani. Er 
hatte keine Affare auf dem Gewissen, keine Mizzi Schinagl, keinen 
langweiligen Cousin Zernutti, keine rekommandierten Briefe, keinen 
Okonomen, keinen Gutsverwalter! - Jetzt war der Zug vorbei, der 
Bahnschranken ging in die Hohe, als kampfte er langsam, miihselig 
gegen die leichte Last des Schnees. Ich werde ihm erzahlen, beschlofi 
Taittinger, in dem Augenblick, in dem er die zwei Fenster der Gast- 
stube durch den Schnee aufleuchten sah. 

Zenower safi schon da, er las in den bunten Heftchen, Taittinger er- 
kannte sie vom Eingang aus. Er griff in die Manteltasche, unwillkiir- 
lich, er dachte, es waren seine Heftchen, die dort auf dem Tisch Zeno- 
wers lagen. Aber nein! Zenower las andere Biichln. »Ach, Sie haben 
sich bekehrt?« fragte Taittinger. »Sind , s die gleichen wie meine?« - 
»Nein, Herr Baron, im Gegenteil! Es sind in der kurzen Zeit seit Ihrer 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 457 

Riickkehr schon zwei neue Heftchen erschienen. Leider!« - »Lassen S' 
schaun«, sagte Taittinger. »Spater, Herr Baron«, sagte Zenower, »es ist 
unerfreulich. Fur Sie unerfreulich!« 

Sie tranken Voslauer; wie schnell der Zenower sich veranderte. Noch 
am Nachmittag hatte er anders ausgesehen. Es war nicht das Zivil, das 
ihn veranderte, er trug ja noch den gleichen braunen Zivilanzug. Er war 
etwas junger als der Rittmeister, aber seine schiitteren, hellblonden 
Haare schimmerten schon grau unter dem Licht des grofien Rundbren- 
ners, und der helle Soldatenblick in den grauen Augen war weg, war in 
der Kaserne geblieben, mit Sabel, Kappe, Uniform. Es waren traurige, 
bekummerte und priifende Augen, die jetzt den Rittmeister anblickten. 
Er konnte sie kaum ertragen. Er konnte sich nicht entschliefien, sie 
»langweilig« zu nennen. Er wufke iiberhaupt nicht, wo er eigentlich den 
Zenower einreihen sollte. Der pafite in keine Kategorie: weder zu den 
»Charmanten« noch zu den »Gleichgultigen«. Was alles in diesem Ze- 
nower steckte, wufke man ebensowenig wie den Inhalt der geschlosse- 
nen Giiterwagen vor einer Weile. Und dennoch tat es gut, mit ihm 
zusammenzusitzen, und alles Grausliche, das er sagte, klang eigentlich 
wie Trostliches. 

»Sie sind der erste Mensch«, begann der Baron, »dem ich endlich die 
>Affare< erzahlen kann.« »Nicht no tig, Herr Baron«, sagte Zenower, 
»ich kenne sie schon. Sie steht da drin, in dem Biichl, fiir jeden sichtbar, 
der zu lesen weift. Sie sind nicht genannt, aber genau beschrieben.« 
Taittinger wurde blafi. Er stand auf, er setzte sich wieder. Er griff nach 
dem Blusenkragen. 

»Bleiben Sie ruhig, Herr Baron«, sagte Zenower. »Ich habe vorlaufig 
alle Blichln in den hiesigen Tabaktrafiken zusammengekauft.« Und er 
zog einen grofien Packen aus der Tasche. »Man rauE iiberlegen. Aber 
ich sehe keinen Ausweg. Um deutlich zu sein: dieser Lazik ist nicht 
schuchtern. Er schreibt: >die hohe Kuppelei< zum Beispiel. Man konnte 
glauben, sehr hohe Personlichkeiten, auch Sie, Herr Baron, seien ein- 
fach Nutzniefkr. Es ist schrecklich.« 

Er schwieg lange. Taittinger trank hastig, aber in kleinen Schluckchen. 
Er hatte das Bedurfnis, wenigstens die Hande nicht untatig zu lassen. Er 
wollte etwas sagen, etwas weitab Liegendem gewissermafkn mit Wor- 
ten entfliehen. Aber gegen seinen Willen sprach er die schreckliche 
Phrase aus, die unaufhorlich in seinem Hirn klang: »Ich bin verloren, 
lieber Zenower! « 



458 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Zenowers traurige Augen ertrug er jetzt ganz ohne Miihe. Sie waren 
sein Trost, sein einziger. »Verloren, Herr Baron, das ist es nicht. Sie 
kennen nicht Verlorene. Die Welt, in der Sie leben, verzeihen Sie, ist 
nicht die Welt, in der man wirklich verloren sein kann. Die wirkliche 
Welt ist sehr grofi, und sie hat ganz andere Moglichkeiten der Verlo- 
renheit. Aber es ist ja noch nichts, auch in Ihrem Sinne, nichts verlo- 
ren. Sie sind nur gefahrdet. Dieser Journalist ist gewift gefahrlich, aber 
sehr dumm. Es muE leicht sein, ihn unschadlich zu machen. In die gute 
Gesellschaft kommen diese Heftchen gewift nicht. Was die Leser be- 
trifft, ist es ganz gleich. Aber die Gefahr besteht, daft der Verfasser 
selbst zu den Herrschaften kommt - wie er zu Ihnen gekommen ist. 
Ich glaube nicht, daft andere ihm auch Geld geben. Aber er selbst hegt 
derlei Hoffnungen. Er kann sich mit Recht auf Sie berufen.« 
»Was soil ich tun, lieber Zenower ?« 

Der Rittmeister sah aus wie ein ergrauter Knabe. Er kaute an seinen 
Lippen. Er betrachtete seine Finger, als untersuchte er, ob es noch 
seine eigenen seien, oder schon fremde, die Hande eines Verlorenen. 
»Erlauben Sie mir, mit Lazik zu sprechen«, sagte Zenower. »Ich werde 
morgen urn drei Tage Urlaub bitten.« 

Gewift, alles klarte sich auf. Taittinger gewann seine alte Heiterkeit 
wieder. Zenower, dieser Kluge, Gute, er wird fahren, sprechen, alles 
ordnen. Auch die andern Sachen. Den kleinen Schinagl schickt man 
nach Graz. Auf dem Gut ordnet sich schon alles. Man verkauft Pyla- 
des. Morgen gleich nach dem Exerzieren ein Sprung zur Post, poste 
restante liegt wahrscheinlich ein Brief von der Mizzi aus Kagran. Man 
hat von nun an keine Angst vor Briefen, vor Unterschriften, kurz, vor 
all den grauenhaften Ereignissen, die sich aufterhalb der Kaserne, des 
Kasinos, des Hotels Imperial in Wien und der »Gesellschaft« abspie- 
len. Taittinger war nunmehr »ehrlich« iiberzeugt, daft er seit gestern 
um viele Jahre alter, urn viele und bittere Erfahrungen reicher gewor- 
den sei und viele Hindernisse uberwunden habe; alles dank diesem 
Zenower. Und zu denken, daft es ein Kind aus dem Volke war! 
»Das Volk ist gut!« sagte Taittinger laut. 

»Sie kennen es nicht«, sagte Zenower, »das Volk! Das Volk besteht aus 
Menschen. Der Mensch ist gut und schlecht.« Damit erhob er sich, so 
entschieden, daft Taittinger keine Zeit mehr fand, ihn noch um eine 
halbe Stunde zu bitten. Jetzt, wie der Zenower so dastand, im Zivil- 
mantel mit samtenem schwarzem Kragen, steifem Hut und Hand- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 459 

schuhen in der Linken, den Stock iiber den Arm gehangt, erinnerte er 
Taittinger zum drittenmal nicht mehr an den Zenower. Noch einmal 
verandert war er, fremd, streng und lieb und - allerdings - auch ein 
bifichen wieder langweilig. Aber seine Hand war stark, warm und be- 
redt, wie am Abend, und nachdem er fort war, fiihlte Taittinger Heim- 
weh nach ihm. Es verdroft ihn auch, daft man ihn allein gelassen hatte. 
Er trank noch eine Flasche, sah die letzten Gaste gehn, Hoffnung und 
Trost bluhten wieder auf in seinem Herzen. Es wird sich alles ordnen, 
dachte er. Es schneite immer noch, immer dichter, was hatte man jetzt? 
November. Der Schnee erinnerte an Weihnachten und also dachte 
Taittinger: Bis Weihnachten wird sich alles ordnen! 
In dieser Nacht schlief er gut, unbekummert und traumlos. 
Am Morgen lag der Schnee schon hoch, fest und gefroren. Die Hufe 
des Pylades, den er heute ritt, sentimental und aus Abschiedsschmerz, 
glitschten gefahrlich iiber das leergefegte Kopfpflaster. Die Trompeten 
bliesen verhalten, verschleiert und betaubt. »Pylades«, sagte der Ritt- 
meister, als er auf dem Exerzierplatz absafi, »Pylades, es ist das letzte- 
mal!« Er klopfte den Hals des Schimmeis, holte ein Stuck Zucker aus 
dem Patronentaschchen, steckte es zwischen die Zahne des Tiers und 
hielt lange die gehohlte Hand vor die warmen, weichen Niistern und 
die dankbare, grofte, heift-kiihle Zunge. Er fiihlte, daft er nicht mehr 
die Kraft haben wiirde, noch heute auf Pylades wieder in die Kaserne 
einzuriicken. Er befahl dem Wachtmeister, das Pferd zuriickzuschik- 
ken. Er iibergab Obrleutnant Zschoch die Eskadron. In der Zehn- 
Uhr-Pause ging er fort, meldete sich bei Major Festetics ab und schritt 
schnell der Stadt zu, immer schneller, mit moglichst viel Gerausch, um 
die Wehmut zu betauben und auch die leise Angst vor den Briefen, die 
am Poste-restante-Schalter auf ihn warten mochten. 
Es war nur ein Brief, schon drei Wochen alt und mit dem ekelhaften 
Kagraner Stempel. Er lautete: 

»Hochverehrter Herr Baron! Es war so auftergewdhnliche Ehre sowie 
herzliche Freude bei mir, in meinem Herzen, daft Herr Baron an mich 
gedacht haben. Es geht mir gut, auch sind die Schwestern gut und 
arbeite ich jetzt in der Naherei, wo man auch singen darf. Ich werde 
bald entlassen, und heute ist noch im Oktober, Hochachtungsvoll und 
mit Liebe voll, empfiehlt sich Mizzi Schinagl.« 



4^0 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Taittinger las den Brief zweimal, in der Posthalle, denn er war auf 
einem grauen, porosen Papier geschrieben, aus dem man Tiiten macht, 
und die Ziige waren von grofien Klecksen unterbrochen und entstellt. 
Taittinger war geriihrt, vom Brief, noch mehr von seiner eigenen 
Kraft, ihn abgeholt und zweimal gelesen zu haben, am meisten aber 
wegen des Abschieds von Py lades. In Tartakowers »Friihstucksstube« 
starkte er sich mit Hering und Sliwowitz. Er wollte noch in die Kanz- 
lei, Zenower sehn, vor seiner Abreise nach Wien. Er beschlofi, nicht im 
Kasino Mittag zu essen, sondern draufien bei Sedlak. Die Luft war 
glashell und hart und umwehte angenehm frostig die stiffen Wehmuts- 
gefiihle des Rittmeisters. Die Sonne warmte den Riicken, durch die 
dicke Litewka spiirte man sie. Es schien alles in der Welt gut und ge- 
ordnet. Uberraschungen gab es nicht mehr. Es war, als hatte man ge- 
stern mit Zenower das Schlimmste nicht nur besprochen, sondern auch 
iiberwunden. Es war ungefahr wie nach der Priifung. 



XXIII 

Leider stiirzte das Ungliick mit einer so jahen Rasanz liber den armen 
Taittinger herein, dafi er keine Zeit mehr hatte, aus der Munterkeit, in 
der er sich schon ganz heimisch fuhlte, in die Verzweiflung himiberzu- 
wechseln. Er hatte nicht einmal Zeit zu erschrecken. In einer Art von 
Gebanntheit, wortlos und ohne Verstandnis, horte er die Meldung Ze- 
nowers in der Kanzlei. Es war wieder der alte Rechnungsunteroffizier 
Zenower, in Uniform. Er stand Habt-acht, als der Rittmeister eintrat, 
er hatte wieder seinen dienstlichen, hellen Disziplinblick, und mit sei- 
ner gewohnlichen dienstlichen Stimme sagte er: »Herr Rittmeister, 
melde gehorsamst, dafi ich vom Herrn Oberst drei Tage Urlaub erhal- 
ten habe; melde gehorsamst, dafi der Herr Oberst befohlen haben, 
Herr Rittmeister mochten sich unverziiglich in der Kanzlei melden; 
der Herr Oberst wartet!« »Ruht!« kommandierte Taittinger. »Sie kon- 
nen sich setzen, Zenower !« Er selbst setzte sich auf den Schreibtisch. 
»Was will er denn, der Alte?« Eine feme Ahnlichkeit mit dem Zivil- 
blick von gestern schimmerte fur eine Sekunde im Auge Zenowers: 
»Herr Baron, der Herr Oberst ist sehr aufgeregt. Er hat heute einen 
rekommandierten Brief vom Kriegsministerium bekommen, ich hab 5 
ihn gesehn, auf dem Tisch des Stabswachtmeisters. Herr Baron — « 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 461 

Weiter kam der Rechnungsunteroffizier Zenower nicht. »Na, so reden 
S' doch!« sagte Taittinger. Noch einmal sprang Zenower in die Habt- 
acht-Stellung: »Herr Rittmeister, melde gehorsamst, daft der Herr 
Oberst befohlen haben, Herr Rittmeister mochten unverzuglich in die 
Kanzlei.« 

»Aha, verstehe!« murmelte Taittinger, obwohl er noch immer nichts 
verstand. Er ging hinaus, iiberquerte den Hof. Der Alte lauerte manch- 
mal an seinem Fenster, hinter der Gardine. Man mufite den Hof mit 
beflissenen Schritten iiberqueren und jeden Grufi der Soldaten, die sich 
im Hof befanden, reglementmafiig beantworten. Vielleicht hat er ge- 
hort - sagte sich Taittinger - dafi ich den Pylades abgeben will. Der 
Schimmel hat ihm immer schon gefallen. 

Er trat in die Kanzlei. Der Oberst Kovac war kaum zu erkennen. Er 
war ein kleiner, rundlicher, feister Mann mit einem runden Schadel, 
rotlicher Nase, grauem, kurzem Schnurrbart und winzigen schwarzen 
Augen, die eigentlich nur aus Pupillen zu bestehen schienen. Seine 
kurzen Armchen, die trotzdem in noch kiirzeren Armeln steckten, 
gingen unmittelbar in rote, feiste Hande iiber, die an eine Art haut- 
iiberzogener Hammer erinnerten. Jetzt aber erschien der Oberst Ko- 
vac geradezu mager. Seine Nase war blaulich-blafi, seine Hande fast 
weift. Quer iiber seiner kurzen Stirn, in die das stachlige Dreieck der 
grauen Haarbiirste vorstieft, stand eine starke, geschwollene blaue 
Ader, die sichtbare Kiinderin eines verborgenen auflergewohnlichen 
Grolls. Der Oberst trat vor seinen Schreibtisch, stemmte eine Hand in 
die Hiifte und betrachtete aufmerksam den Rittmeister, der unbeweg- 
lich war wie ein buntes Monument! Der Alte sagte nicht: Ruht, ge- 
schweige denn: Servus. Es begann Taittinger allmahlich unheimlich zu 
werden. Er konnte nicht nachdenken. Die Fiinkchenaugen des Ober- 
sten glitten an Taittinger auf und ab, auf und ab. Es dauerte wohl eine, 
zwei, drei Minuten. Es war so still, dafi man die eigene Taschenuhr 
und die des Obersten ticken horte. 

Endlich sagte der Oberst - und er sprach erstaunlich leise: »Herr Ritt- 
meister, kennen Sie einen Graf en W., Sektionschef im Finanzministe- 
rium?« Taittinger fiihlte die Knie kalt werden, iiber dem Rand der 
Stiefelschafte begann das Eis, es waren gar keine Knie mehr. Es war 
schwer, aufrecht zu bleiben, wenn die Schenkel auf Eisklumpen safien. 
»Jawohl, Herr Oberst! « - »Und kennen Sie einen, einen, einen gewis- 
sen Redakteur Bernhard Lazik?« - »Jawohl, Herr Oberst !« »Wissen 



4^2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sie jetzt, warum Sie hier stehn?« - »JawohI, Herr Oberst!« - »Ruht!« 
befahl der Oberst. Der Rittmeister streckte den rechten Stiefel vor. 
»Sie konnen sich setzen!« sagte Kovac und zeigte auf den nackten, 
holzernen Stuhi. »Danke respektvollst!« sagte Taittinger. Er wartete. 
»Setzten S' sich! hab' ich gesagt!« schrie Kovac. Der Rittmeister setzte 
sich. Der Oberst ging auf und ab, kreuz und quer iiber den groften 
Teppich. Von Zeit zu Zeit verschrankte er die Arme, loste sie wieder, 
ballte die Fauste, steckte sie in die Hosentaschen, klimperte mit 
Schlusseln, zog die Schliissel hervor, drehte sie im Kreis am Ring um 
den Daumen, steckte sie wieder ein. Er schien immer schmaler, blasser 
und unwirklicher zu werden. Der Novembernachmittag warf seine er- 
sten Dammer in die Kanzlei, und nur der blanke Widerschein des fri- 
schen Schnees, der aus dem Hof durch die Fenster drang, konnte sie 
noch abschwachen. 

»So reden S y doch endlich!« schrie der Oberst auf. Es war ein Briillen 
und ein Kreischen zugleich. »Erklaren Sie, Herr Rittmeister! « 
»Herr Oberst!« sagte Taittinger, »es ist die fatale Affare, wegen der ich 
zum Regiment zuriickgekommen bin.« 

»Fatal, fatal !« schrie der Oberst. »Schrecklich ist sie, unselig, ein-«, er 
fand endlich das Wort: »ein Skandal! Ja! Nicht fatal, sondern Skandal! 
Und mir das! Unsern, nein, Herr Rittmeister, meinen Neunern! Nicht 
Ihren, o nein! Ich dulde, dulde derlei, derlei Herren nicht bei mir. Ich 
bin ein einfacher Frontoffizier, jawohl, einfacher Frontoffizier! Ich 
war nie detachiert. Ich hab' keine Freunderln in Wien. Ich kenn' keine 
Exzellenzen! Jawohl, so wahr ich der Oberst Joseph Maria Kovac bin, 
einfacher Oberst, verstehen Sie, Herr Rittmeister, das werden Sie bii- 
ften! Hier, solche Briefe!« - Der Oberst trat hinter den Schreibtisch 
und schwang den Brief des Kriegsministeriums in der hoch erhobenen 
Faust. »Wissen Sie, was da steht?« - »Nein, Herr Oberst! « sagte Tait- 
tinger. Jetzt stand schon der Schweift auf seiner Stirn. Die Fufie brann- 
ten in den Stiefeln, aber iiber den Schaften, in den Knien herrschte der 
Frost. Das Herz pochte so stark, daft man seine Schlage wahrscheinlich 
durch das dicke Tuch der Bluse sehen muftte. »Also horen Sie, Herr 
Rittmeister! Als Sie von Ihrer besonderen Verwendung zum Regiment 
zuriickkamen, wuftte ich natiirlich, daft Sie einen faux pas begangen 
hatten. Die Geschichte war begraben. Jetzt aber! Sie konnen's nicht 
lassen, diese Unterrockgeschichten, Sie sind, Sie sind — Also, Sie be- 
geben sich in die Gesellschaft eines Individuums, eines Individuums, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 463 

sag' ich - und geben ihm zweitausend Gulden, und Sie beteiligen sich 
an seinem Schmutz, an seinem Dreck, Dreck sag' ich - und der KerJ 
geht zum Sektionschef W. und will von ihm auch Geld und sagt, was 
Sie schon gezahlt haben, und der Herr Sektionschef ist leider gelahmt, 
Paralyse, sag' ich, seit zwei Monaten, und die Frau Grafin kommt in 
die Scheiftbiichln, und er kann sich nicht mit Ihnen schlagen, und das 
tat' er auch nicht als Gesunder, und er schreibt's seinem Freund, dem 
Herrn Kriegsminister, Seiner Exzellenz personlich - personlich sag' 
ich - und ich, und ich! Seitdem unsere Armee besteht — ich sag' nichts 
mehr! Ich steh' Ihnen zur Verfugung, Herr Rittmeister!« 
Taittinger sprang auf. »Herr Oberst!« rief er. »Habt acht!« befahl Ko- 
vac. Und dann: »Ruht! Setzen!« Taittinger setzte sich wieder. 
Der Oberst schrie so laut, daft man es in alien Korridoren des linken 
Fliigeltrakts horte. Der Adjutant, Oberleutnant von Dengl, stand eine 
Weile vor der Tiir, ein paar Akten in der Hand und den heutigen Ta- 
gesbefehl parat, um in jedem Augenblick sagen zu konnen, er sei eben 
im Begriffe gewesen anzuklopfen. Der Standesfuhrer, Wachtmeister 
Steiner, und seine zwei Kanzleischreiber horten durch die Verbin- 
dungstiir jedes Wort, obwohl sie so taten, alle drei, als seien sie vertieft 
in Standesregister, Desertierungsanzeigen, Meldungen der Gendarme- 
rie und Conduitelisten. Sogar im Hof, in der Kantine, verstummte der 
Larm der kartenspielenden Unteroffiziere. Die glasklare, frostige Luft 
dieses Novemberabends vermittelte deutlich jeden Laut der briillenden 
Oberstenstimme. Es war die grollende Stimme des Kasernengottes, ein 
Naturereignis allererster Ordnung. Man wuftte sofort, daft es sich um 
Taittinger handelte; nicht nur deshalb, weil man ihn zum Obersten 
hatte gehen sehn; ach nein! Man hatte die Heftchen Laziks gelesen, 
nicht in alien Tabaktrafiken hatte Zenower sie aufgekauft! Ein gewalti- 
ger Schrecken und eine grofte Betrubtheit beherrschte alle, obwohl ih- 
nen der Baron Taittinger immer gleichgiiltig gewesen war. Er paftte 
nicht zum Regiment, er paftte nicht in die Kaserne. All die baurischen 
Menschen des Regiments, die aus der Bukowina, aus der Slowakei, aus 
der Bacska stammten und niemals einen Wiener Salon gesehen hatten, 
bekamen, wenn sie den Baron Taittinger ansahen, die iiberzeugende 
Vorstellung, daft er in einen Salon gehore. Dennoch konnten sie sich 
jetzt genau denken, wie er leiden muftte, dank jener soldatischen Soli- 
darity die aus Schwadronen und Regimentern eigentlich Familien 
macht, aus Vorgesetzten Vater oder altere Briider, aus Untergebenen 



4^4 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Sonne, aus Rekruten Enkel, aus Wachtmeistern Onkel und Oheime 
und aus Korporalen Vettern. Es wurde still in der Kantine, und die 
Karten lagen reglos und spiegelblank auf den Tischen. 
Der Oberst indessen schwieg plotzlich, und sein Schweigen war noch 
furchterlicher als vorher sein Geschrei. Er hatte seine Stimme und sei- 
nen Sprachschatz erschopft. Er, auch er, fuhlte seine Knie frieren und 
wanken, er mufite sich setzen. Er vergrub den Kopf in beiden Handen 
und sagte mehr zu seinen Papieren auf dem Schreibtisch als zu Taittin- 
ger: »Der Abschied, Herr Rittmeister! Der Abschied, sag' ich! Ich will 
kein Ehrengericht! Horen Sie! Ich will mitteilen, daft Sie den Abschied 
genommen haben. Der Regimentsarzt, der Doktor Kallir, ich hab' 
schon mit ihm gesprochen, weift genau, wie schlimm es um Ihre Ge- 
sundheit stent. Ihre Nerven sind angegriffen, Sie haben den Verstand 
verloren. Den Abschied! Ich wiinsche keine Transferierung mit dieser 
Conduitenliste, verstehen Sie, Herr Rittmeister?« 
Der Rittmeister Taittinger stand auf: »Jawohl, Her Oberst! Ich werde 
morgen um den Abschied bitten! « 

Dem Obersten wurde weh urns Herz. Er wollte aufstehen, er fuhlte 
sich zu schwach. Er streckte Taittinger die Hand iiber den Tisch hin 
und sagte: »Leb wohl, Taittinger!« 



XXIV 

Sie saften die ganze Nacht bei Sedlak, Taittinger und der Rechnungs- 
unteroffizier Zenower, Auch er, Zenower, war betaubt von der 
Schnelligkeit des Schicksals. Auch er, das Kind der Kochin, war ein 
Kind der Armee. Auch er, obwohl er das wahre Leid der Welt aufter- 
halb der Kasernen kannte, war nicht imstande, den Schmerz Taittin- 
gers geringzuschatzen; und er war auch betriibt, wie heute alle, vom 
Obersten bis zu den Rekruten. Es gab gewift viel Ungliick auf Erden. 
Aber hier war ein sichtbares, ein greifbares Ungliick der Kaserne, in 
der man schlief und aft und lebte. Gestern noch hatte er dem Rittmei- 
ster etwas sagen, raten, helfen konnen. Heute war er stumm. Taittinger 
war stumm. Manchmal sagte er nur: »Denken Sie doch, Zenower! . . .« 
Aber er wuftte nicht, was Zenower eigentlich zu denken hatte. Die 
Wanduhr tickte, ihre schwarzen Zeiger drehten sich unermudlich, 
gleichmaftig glitten sie an den Ziffern vorbei und hielten sich nicht auf, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 465 

als waren's nur Minutenstriche, und beide Manner blickten oft gleich- 
zeitig nach der Uhr, und beide empfanden mit der gleichen Deutlich- 
keit beim Anblick der unveranderlichen Zeitgesetze die menschliche 
Ohnmacht, auch alien andern Gesetzen gegeniiber, den bekannten und 
den unbekannten. Die Stunden gingen, Teile des Lebens. Eine, zwei, 
drei oder auch zehn Stunden seines Lebens hatte Taittinger vertan oder 
verraten; es war nichts mehr zu reparieren. 

Die letzten Gaste gingen, das Petroleum im glasernen Rundbrenner 
verringerte sich zusehends. Sie liefien Kerzen bringen und Wein und 
blieben sitzen. Man sah, als die Lampe vollends erlosch, den silbernen 
Schimmer des Schnees vor den Fenstern. Der frostige Wind sang dunn 
und hell durch die Nacht, und die Scheiben klirrten leise. Obwohl sie 
einander nichts Bestimmtes gesagt hatten, wufiten sie doch beide, dafi 
es gait, das erste Morgengrauen abzuwarten. Mitten in der Nacht 
konnte keiner den andern verlassen. Sie warteten. 
»Ich werde Sie begleiten, Herr Baron«, begann endlich Zenower. »Sie 
werden morgen Urlaub nehmen. Ich werde mit Ihnen nach Wien fah- 
ren. Ich hatte sowieso langst zu meinem Freund miissen, dem Ober- 
rechnungsrat. Ich glaube, da& ich im Januar noch die Priifung machen 
kann.« - »Ja, gewifi!« sagte Taittinger. 

Der Wirt Sedlak schlief hinrer der Theke. Manchmal sprach er etwas 
Undeutliches aus dem Schlaf. Zenower sagte: »Der hat einen gesegne- 
ten Schlaf! « Aber Taittinger, der gar nicht zugehort hatte, antwortete: 
»Ja, er hat einen ganz guten V6slauer!« - »Am liebsten trink' ich ja ein 
gutes Bier!« sagte Zenower. Dann war es wieder still. Vergeblich blie- 
ben ihre Bemiihungen, in ein gleichgultiges Gesprach zu fluchten. Sie 
dachten nicht an das, was sie sagten, sie sprachen nur so, um die Uhr 
nicht zu horen, es waren sinnlose Beschworungen, zusammenhanglose 
Phrasen, torichte, kleine Verlogenheiten. Die zwei Kerzen waren 
schon bis zum letzten Drittel abgebrannt, als draufien, vor den Fen- 
stern, der Schnee blaulich zu werden begann, der Gesang des Frostes 
heftiger, der Himmel blasser. Zenower ging an die Theke, weckte Sed- 
lak, zahlte. 

Sie gingen langsam der Stadt zu, in die Kaserne. »Morgen bin ich in 
Zivil, fur immer!« sagte Taittinger, als sie in die Kaserne eintraten und 
der Posten salutierte. »Zum letztenmal salutiert er!« sprach er weiter. 
Was ist es schon viel Groses! dachte Zenower, wenn man nicht mehr 
salutiert wird! - Aber er fiihlte auch zugleich, dafi es eine ungerechte 



466 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Uberlegung war. Es war ein Leben, das hier zu Ende ging. Wie ein 
Sterbender den Korper ablegt, so zieht ein Soldat die Uniform aus. 
Zivil, Zivil: das war ein unbekanntes, vielleicht ein schreckliches Jen- 
seits. 

Um neun Uhr war Offiziersrapport. Den »Urlaub aus Gesundheits- 
griinden« bekam Taittinger sofort. Der Dienstzettel des Regimentsarz- 
tes Doktor KalHr verkiindete ausdrucklich eine gefahrliche Nervenzer- 
riittung. Sie enthob Taittinger auch der Pflicht, sich vom Regiment zu 
verabschieden. Um zwei Uhr vierzig am Nachmittag stieg er in den 
Zug, in Zivil, mit Zenower. Um sechs Uhr kamen sie an. Zenower 
schrieb das Abschiedsgesuch. Im Schreibzimmer des Hotels Prinz Eu- 
gen schrieb Taittinger es ab, mit seiner dienstlichen, steilen Schrift, vier 
Finger Abstand von oben, drei Finger Abstand vom Rand. Er unter- 
schrieb sehr langsam: »Alois Franz Baron von Taittinger, Rittmeister.« 
Es glich gar nicht seiner gewohnten Unterschrift, so langsam und vor- 
sichtig hingemalt waren seine Buchstaben. Es war ihm, als ware es gar 
nicht sein Name. Einen fremden Namen unterschrieb er. 
In der Halle wartete Zenower. Er nahm das Gesuch, suchte lange darin 
zu lesen und den Anschein zu erwecken, als miifke er es vorsichtig 
priifen, nur, um nicht den Rittmeister bald wieder ansehn zu miissen. 
Schliefilich faltete er es zusammen. 

Taittinger sagte: »Jetzt bin ich kein Vorgesetzter mehr, ZenowerU 
Er zog die Uhr aus der Westentasche, eine goldene Uhr, sie stammte 
aus dem Juwelierladen des Kommerzialrats Gwendl, auf der Ruckseite 
eingraviert waren die Initialen Taittingers und die seines Onkels. Es 
war ein Geschenk des Onkels, anlafilich der Ausmusterung in Mah- 
risch-Weiftkirchen. »Nehmen Sie die Uhr!« sagte Taittinger. Zum er- 
stenmal schenkte er etwas her - aufler Geld und Blumen hatte er noch 
niemals etwas hergegeben. Zenower sah ihn lange an, zog seine eigene, 
eine umfangreiche silberne, und sagte: »Nehmen Sie diese, Herr 
Baron !« 
Dann, als er sah, daft Taittinger wartete, die silberne Uhr in der flachen 

Hand, fugte er hinzu: »Wenn Sie einen Freund brauchen « 

»Ich fahre heute noch aufs Gut!« sagte Taittinger. Er liefi die Uhr in 
die Westentasche gleiten. Er tat sehr geschaftig. »Nicht wahr? Sie erle- 
digen das Gesuch! Verkaufen Sie beide Pferde. Ich mag sie nicht. 
Schreiben Sie bald. Danke Ihnen sehr, lieber Zenower! Meine Adresse 
haben Sie ja!« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 467 

»Gute Reisel« sagte Zenower und erhob sich. 

»Mein Gepack!« rief der Baron. Er fuhr zur Ostbahn. 



XXV 

Das Gut Taittingers war nicht leicht zu erreichen. Es lag im Bezirk 
Ceterymentar, eingefangen zwischen den tiefverschneiten Karpaten. 
Man mufke zweimal umsteigen. Vom Bahnhof Ceterymentar waren 
noch sechseinhalb Kilometer bis zum Gut emporzufahren, hierauf 
noch anderthalb wieder hinunter. Es hiefi Zamky, aber Taittinger hatte 
es immer schon die Mausefalle genannt, auch als Knabe schon, wenn 
ihn der Onkel in den Ferien eingeladen hatte. Der Biirgermeister 
Wenk war ein Deutscher, einer der wenigen versprengten sachsischen 
Kolonisten, die in der Gegend wohnten. Der Okonom stammte aus 
Mahren, die Bauern waren Karpatorussen, der bereits ertaubte Lakai 
ein Ungar, der aber vollends vergessen hatte, aus welcher Gegend er 
hierhergekommen war, wann und zu welchen Zwecken. Das letzte, 
was er in der Erinnerung behalten hatte, war die Rebellion in Budapest 
und der Tod seines Herrn, des alten Barons. Der Forster war ein Ru- 
thene aus Galizien, der Wachtmeister der Gendarmerie ein Prefibur- 
ger: der einzige Mensch weit und breit, mit dem Taittinger manchmal 
in der Schenke ein paar Reden fuhren konnte. 

Es war Anfang Dezember. Der Frost hauste ringsum auf den Gipfeln 
und auch unten im Gut. Die Raben hingen reglos und schwarz an den 
verschneiten Tannen. Wenn sie nicht urplotzlich aufflatterten und ge- 
waltig zu krachzen anfingen, konnte man zuweilen glauben, sie seien 
verzauberte Friichte. Man hatte das Wohnhaus nur fliichtig reparieren 
konnen (so schnell war Taittinger gekommen, und so wenig Geld war 
(iberdies vorhanden). Der Okonom bezahlte den Handwerkern aufter- 
dem nur die Halfte des Ausbedungenen - und sie kannten ihn gut 
genug, um zu wissen, dafi sie den versprochenen Rest »nach Weih- 
nachten« nimmer sehen wiirden. Ubrigens gab es zweimal Weihnach- 
ten, fur die Romisch-Katholischen und fur die Russischen! Das Dach 
bekam hier und dort ein paar neue Schindeln, behielt aber die alten 
Locher. Als man nach so langen Jahren wieder zu heizen begann, bo- 
gen sich die alten Tiirleisten, die Fensterrahmen, kein Riegel pafke 
mehr und kein Schloft, und es seufzte und krachte in den grofien, 



468 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

schweren Schranken, in denen sich die Leisten und die Facherbretter 
krummten. Schief an halbgelockerten Haken hingen im Schreibzim- 
mer die alten, finsteren Ahnenbilder der Familie Zernutti. Im iibergro- 
ften Speisezimmer wucherte der Schwamm. Grofte braune, blaue und 
weifte Pappendeckel fiillten die hohlen Fensterrahmen der Veranda. In 
der Kuche nisteten zwei uralte Kroten, die der Lakai Joszi futterte mit 
den sparlichen Winterfliegen, die hervorkrochen, wenn der Herd ge- 
heizt wurde, und die Joszi auch im Nu erspahte. Es war eine peinliche 
Uberraschung gewesen, als der Baron ankam. Aber man hatte gedacht, 
er wurde hochstens eine Woche bleiben, den unehelichen Sohn weg- 
schicken, sich ein wenig umsehn und wieder abfahren. Als man aber 
von dem Wachtmeister erfuhr, daft Taittinger die Absicht habe zu blei- 
ben, ja, daft er den Dienst gar quittiert habe, begann man den Baron zu 
hassen, mit dem besonderen Haft, den die Furcht eingibt. Sie kannten 
ihn nicht genau. Leichtsinnig war er bis jetzt gewesen, das stand fest: 
Korn und Weizen und das Waldchen und das Geld hatte er verschleu- 
dert. Aber jetzt, wo er offenbar um seine Armut wuftte, war er nicht 
vorsichtig geworden? Hatte er nicht deshalb die Armee verlassen? 
Wenn er wollte - er hatte so viel Rechenschaft zu fordern. Was war aus 
dem Weinkeller geworden? Wer hatte bald Heuschrecken, bald 
schlechte Ernten erfunden, den Fallit des Waldkaufers? 
Es ist gleich der erste Abend in der Herberge, das Schlafzimmer ist 
angeblich noch nicht fertig, Taittinger muE im Gasthof schlafen. Ein 
paar Bauern sitzen noch da, an dem groften, breiten braunen Tisch, 
neben dem nackten, groften Lehmofen. Janko, der Wirt, schleicht um 
den Baron herum, obwohl er weift, daft Taittinger weder etwas sagen 
will noch auch neugierig ist, irgend etwas zu vernehmen. Die Bauern 
sind gewohnt, laut zu sprechen oder aber zu schweigen. Leise zu spre- 
chen verstehen sie nicht. Laut sprechen konnen sie nicht wegen des 
Barons. Sie konnen gerade noch von Zeit zu Zeit die Pfeifen ausklop- 
fen, aber auch nicht wie sonst an den Tischrandern, sondern an den 
Stiefelschaften unter dem Tisch. Wie nun der Wachtmeister eintritt, 
stramm vor dem Baron stehenbleibt und der Baron ihn einladt sich zu 
setzen und ihm die Hand gibt und mit ihm sogar trinkt, wird es voll- 
ends still um die Bauern und in ihnen. Sie senken die Kopfe und blik- 
ken nur gelegentlich verstohlen nach dem Tisch des Herrn. Der Baron 
und der Wachtmeister sprechen deutsch, man versteht jedes zehnte 
Wort, aber man hatte ja Angst, auch zu horen, selbst wenn die beiden 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 469 

slowakisch oder ruthenisch sprechen wiirden. Taittinger halt es fur 
selbstverstandlich, daft die Bauern so stumm sind. Seitdem er das Gut 
hat, aber auch friiher, war er im ganzen vielleicht zehnmal hier, und 
immer waren die Bauern so kudos gewesen. Der Wachtmeister aber 
weift, wie sie poltern, und er sagt dem Baron: »Sie schweigen so aus 
Angst vor Herrn Baron!« Angst - vor mir! denkt Taittinger. »Ich tu 
ihnen ja nix!« sagte er. »Ja, grad deswegen, Herr Baron!« meint der 
Wachtmeister. »Das 1st penibel!« sagt Taittinger. Der Wachtmeister 
geht hinuber und sagt den Bauern auf slowakisch, der Herr Baron 
wiinschte, sie sollten nicht seinetwegen schweigen. Das ist nahezu ein 
Befehl. Sie reden etwas, zu zweit, zu dritt, Dinge, die sie gar nicht 
hatten sagen wollen. Dann verfallen sie wieder in Schweigsamkeit. Der 
Wirt bringt Gulasch und Bier. Taittinger und der Gendarm essen. 
Auf einmal geht die Tur auf, und ein junger Mann tritt ein und geht 
geradeswegs auf Taittinger zu. Der Baron hort zu essen auf, halt noch 
Messer und Gabel und sieht auf den jungen Mann, den er nicht zu 
kennen glaubt. »Servus, Xandl!« sagt der Wachtmeister. Alle Bauern 
wissen, daft es der uneheliche Sohn des Barons ist, und sehen auf. Die 
mit dem Riicken zu Taittinger gesessen sind, wenden sich um. Der 
Baron wird ihnen zwar nicht vertrauter, aber die Neugier ist machtiger 
als die Angst; und die Schadenfreude entschadigt reichlich. Jetzt miiftte 
noch einer der vielen Glaubiger herankommen. Die Bauern wissen, 
daft der Gutsherr verschuldet ist. »Ihr Sohn?« fragt Taittinger den 
Wachtmeister. »Nein«, sagt der junge Mann, »Ihr Sohn bin ich, Herr 
Baron !« - »Ah«, sagt Taittinger, »Sie sind der SchinaglU - »Ja!« sagt 
der Junge. Taittinger sieht ihn genau an. Er tragt einen grtinen Samtan- 
zug, hat kurze Armel und viel zu grofte, rote, aufgesprungene Hande 
und unappetitliche Nagel. Der Kopf konnte angehen, Taittinger be- 
miiht sich, irgendeine Ahnlichkeit zwischen sich selbst und dem jun- 
gen Mann zu entdecken. Es geht nicht, beim besten Willen nicht. Der 
Junge hat rotgeranderte Augen aus blauem Porzellan, er verzieht den 
Mund unaufhorlich, seine Ohren gliihen rot, sein Kopf ist kahlrasiert, 
so daft man die Haarfarbe nicht erkennen kann, seine biaue, tintenbe- 
fleckte Kappe mit dem schabigen, verrunzelten Lackschirm knetet er 
unaufhorlich mit den haftlichen Fausten. Er kann nicht einen Augen- 
blick still sein. Er tritt von einem Fuft auf den andern, manchmal wippt 
er im Stehen. Taittinger hat noch niemals ein ahnliches Lebewesen ge- 
sehn. Er denkt schon daran, morgen abzureisen. 



47° ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Ja, Herr Schinagl«, sagt er, »was wiinschen Sie?« Er hat seine ge- 
wohnte, die alte Baron- und Rittmeister-Stimme, eine sehr langsame, 
lassige, dennoch scharf trompetende Stimme. Der Junge wippt einen 
Schritt zuriick. »Ich mocht' wissen, wie es der Mutter geht!« Er spricht 
sehr laut, Taittinger empfindet, daft die Stimme gleichsam rot ist, gero- 
tet wie die Fauste und wie die Ohren. Der Kerl ist unausstehlich, denkt 
er und schiebt das Gulasch weg und trinkt Bier. »Was wollen Sie?« 
fragt der Baron noch einmal. »Wissen, wie's der Mutter geht!« wieder- 
holt der Xandl. Der Baron denkt nach, aber nicht iiber das Befinden 
der Mizzi Schinagl, sondern dariiber, ob er sagen soil: Ihrer Frau Mut- 
ter oder Ihrem Fraulein Mutter! Es kommt ihm nicht in den Sinn, daft 
man einfach sagen konnte: Ihrer Mutter. 

»Ich hab' lang nichts mehr von Fraulein Schinagl gehort«, sagt er 
schliefilich. 

»Aber ihre Adresse?« fragt der Junge. 
»Sie sind doch in Graz in der Schule?« fragt der Baron. 
»Ja, aber hinausgeschmissen haben s' mich. Meine Mutter hat auch 
nicht bezahlt. Ich hab' auch was angestellt, und ich indent' auch gar 
nicht zuriick! « 

Der Wachtmeister hat unbeirrt sein Gulasch aufgegessen, sein Kriigl 
ausgetrunken, jetzt bestellt er noch ein Bier, tut einen gewaltigen 
Schluck, lauft plotzlich blaurot an und wischt sich den Schnurrbart mit 
einem fast ebenso rotblauen Taschentuch trocken. Dann erhebt er sich, 
steckt das Taschentuch ein und schlagt Xandl ins Gesicht. Der Junge 
torkelt. Der Wachtmeiter setzt sich und sagt ruhig: »Xandl, du wirst 
mit dem Herrn Baron so reden, wie es sich gebiihrt, oder ich fuhr' dich 
ab, und du kommst zwei Jahre spater erst aus dem Kriminal. Weiftt du, 
wie du dich zu benehmen hast?« 
»Jawohl, Herr Wachtmeister !« 
»Also bitte den Herrn Baron um Verzeihung!« 
»Ich bitte um Verzeihung, Herr Baron«, sagt Xandl. 
Die Bauern lachen schallend im Chor und klatschen sich auf die Schen- 
kel. 

»Also, Herr Wirt«, ruft der Baron, »geben S' dem Jungen was zu es- 
sen. Driiben!« fiigt er hinzu. »Wenn Sie gegessen haben, gehen S' 
heim, zum Herrn Okonomen, und sagen ihm, daft Sie morgen nach 
Graz zuriickfahren!« 
»Dank' schon, Herr Baron, mocht' noch etwas bitten!« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 47I 

»Ja?« 

»Ob ich zu Weihnachten wieder herkommen durft'?« 
»Ja!« sagt der Baron. 

»Erlauben mir schon die Freiheit, Herr Baron«, sagt der Wachtmei- 
ster, »aus dem wird nix Rechts.« 
»Ist nicht seine Schuld!« antwortet der Baron. 

»Ich weift schon«, meint der Wachtmeister, »die hohen Herrschaften 
denken immer viel zu gut von derlei Gesindel. Unser Herr Bezirks- 
hauptmann, wenn ich ihm politisch subversive Elemente angebe, sagt 
immer, es wird nicht so schlimm sein.« 

»Er ist ein Kind aus dem Volke!« sagt Taittinger, er denkt dabei an 
Zenower und daft dieser auch ein uneheliches Kind war, vielleicht auch 
von irgendeinem Taittinger. Wer weift, es ist alles so verworren. 
Der Xandl hat gegessen, erhebt sich, geht, bleibt noch einmal stehn, 
sagt: »Bitte um Entschuldigung!« und reicht dem Baron ein Kuvert 
und macht einen schauerlich unappetitlichen Knix und geht. Taittinger 
gibt dem Wachtmeister das Kuvert: »Was will er?« 
Der Wachtmeister liest vor: »Sehr geehrter Herr Baron, der Herr 
Okonom ist unehrlich, und der Biirgermeister weift es. Die Frau des 
Okonomen hat alle Tischtiicher, Servietten und Leintucher mit der 
Krone und die grofte Fischterrine mit dem Portrat einer Kaiserin. Dies 
erlaubt sich Ihnen mitzuteilen aus Dankbarkeit Xandl Schinagl.« - »Es 
ist leider wahr!« sagt der Wachtmeister. Taittinger sagt: »Da kann man 
nix machen!« Er starrt in die Luft. Er weift schon, er ist nicht fur diese 
Welt gemacht. 

Seit dieser ersten Begegnung mit seinem Sohn weift Taittinger, daft er 
sein Gut haftt, die ganze Gegend, das Haus, das Andenken an den 
toten Onkel Zernutti, dessen Sohn, den langweiligen Vetter, die Berge, 
den Winter, den Okonomen, das gestohlene Geschirr, sogar den tau- 
ben Joszi. Man heizte nicht ausgiebig. Mitten in der Nacht, wenn das 
Feuer im Schlafzimmer ausging, wurde es plotzlich, ohne Ubergang, 
frostig und naft, die Kissen und die Leintucher schwitzten feuchte 
Kalte aus und rochen nach faulem Heu. Weihnachten nahte, ein un- 
leidliches Fest, erfullt von heuchlerischen Wunschen aller bosen Men- 
schen, von gierig ausgestreckten, siichtigen Handen, von verkleideten 
Bauernbuben und Engeln aus Papier — und Weihnachten dauerte in 
dieser Gegend, dank dem russischen Kalender, etwa drei Wochen. 
Nun hatte dieser junge Schinagl noch gedroht hierherzukommen. 



47 2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Ohne den Wachtmeister war es unmoglich, den Jungen anzusehn. 
Beide Pferde waren verkauft, das nachste Semester fur den Schinagl 
bezahlt, der Baron Taittinger hatte eigentlich noch Geld genug, um 
eimge Wochen in Wien zu leben. Bescheiden allerdings, nicht im Ho- 
tel Imperial. Jede Nacht, wenn Taittinger die Herberge Jankos ver- 
liefi, um den bitterkalten Leidensheimweg anzutreten, hatte er so viel 
Sliwowitz getrunken, daft er uberzeugt war, er konnte heute noch 
packen, morgen fruh einspannen lassen und wegfahren. Aber als er 
sein Haus betrat und die Kerze zuerst, dann die Lampe entzundete, 
ergriffen ihn Furcht und Ekel vor den nachtlkhen Schatten der M6- 
bel, vor dem Schwamm an den Wanden, vor den Gerauschen der 
knackenden Tiiren und Fenster. Er legte sich schnell hin, solange das 
Feuer im Of en noch hielt, verfiel in unruhigen Schlaf, erwachte spat, 
trank einen Kaffee aus Zichorie, hierauf einen bleichen Landwein, 
kleidete sich an, streifte gedankenlos und ziellos durch die Gegend, 
sehnte sich nach dem Abend, ging in die Herberge, erwartete den 
Wachtmeister, sprach kaum ein Wort mit dem Biirgermeister und 
dem Okonomen, die gelegentlich auch eintraten, und trank sich neu- 
erlich einen kummerlichen Zweistundenmut an, der gerade noch fur 
den Heimweg reichte. Der Baron Taittinger gehorte zu den nicht 
seltsamen Menschen, die, in der Disziplin des Militars herangewach- 
sen, vom Schicksal genauso Befehle und Anweisungen erwarteten wie 
von vorgesetzten Stellen. 

Eines Tages kam auch soldi eine Weisung. Der Rittmeister Taittinger 
hatte sich am vierzehnten Dezember, 9 Uhr 30 vormittags, vor der 
Superarbitrierungskommission im Zweiten Wiener Garnisonsspital 
zu stellen. Dies war die Folge seines Gesuches um einen langeren Ur- 
laub aus Gesundheitsgrunden. Man hatte nicht wenig Eile, diesen 
Rittmeister loszuwerden. Sonst pflegten Befunde nicht so schnell zur 
Superarbitrierung zu fuhren! Freilich war Taittinger gekrankt. Er 
fuhlte Wehmut, Schmerz, Selbstverachtung. 

Am zehnten Dezember schon fuhr er weg. Dem Okonomen sagte er 
vor der Abreise: »So, im Februar bin ich wieder hier! Da wird alles 
anders!« Dem Gendarmeriewachtmeister beim Abschied am Bahnhof 
sagte er: »Ich verlass' mich drauf, daft Sie diesen Buben, den Schinagl, 
nach Graz zuruckschicken. Er kann eine Woche beim Okonomen 
bleiben!« - Als der Stationsvorstand das Zeichen zur Abfahrt gab, 
winkte ihm Taittinger vom Fenster freundlich zu, Dankbarkeit im 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 473 

Herzen, als hatte der Beamte, lediglich des Barons wegen, den Zug 
abfahren lassen. 

Im Februar komm' ich wieder, dachte er - und erfullt von einer voll- 
kommen grundlosen Sicherheit, sagte er sich auch: Im Februar bin 
ich ein ganz anderer Mensch; und: Im Februar ist ja schon beinah 
Fruhling. 

Er dachte, daft es gut ware, in Wien auch den guten, lieben Zenower 
wiederzusehn, und er telegraphierte von Preftburg aus, wo er umzu- 
steigen hatte: »Erwarte Sie dringendst Wien, Prinz Eugen.« Er ging 
voller Hoffnung der Superarbitrierung entgegen. 
Sein »Befund« lautete: Herzerweiterung, hochgradige Neurasthenie, 
Herzmuskelschwache, zu aktivem Dienst vorlaufig ungeeignet. Er 
war nicht einmal untersucht worden. Der Generalstabsarzt im Zwei- 
ten Wiener Garnisonsspital hatte nur: »Servus!« gesagt und das Pa- 
pier unterschrieben. 

»Alles Gute, Rittmeister!« sagte er dann noch. Es war eine Kondo- 
lenz. 

So also! Das war der Abschied von der Armee. Baron Taittinger ging 
die Wahringer Strafie entlang, er ging achtlos durch den geschmolze- 
nen, kotigen Schnee, zum erstenmal kein Soldat mehr, seit er denken 
konnte, zum erstenmal kein Soldat. Was denn sonst? Ein Zivilist 
eben. Es gibt lauter Zivilisten auf der Strafte, aber die sind es schon 
lange. Er aber ist sozusagen ein Rekrut unter den Zivilisten. Der Ab- 
schied liegt gefaltet in der Brieftasche. 

Es ist nicht leicht, so mir nichts, dir nichts ein Zivilist zu werden. Ein 
Zivilist hat vielleicht Vorgesetzte, aber keine Hoheren. Ein Zivilist 
kann hingehn, wohin es ihm beliebt und zu welcher Zeit auch immer. 
Ein Zivilist ist nicht unbedingt verpflichtet, seine Ehre mit der Waffe in 
der Hand zu verteidigen. Ein Zivilist kann aufstehen auch ohne Bur- 
schen: Einen Wecker hat ein Zivilist. Man geht, als wolle man sich im- 
mer noch zivilistischer machen, achtlos durch den kotigen Schnee, 
biegt links ein, in den Schottenring und will sich im Cafe niederlassen. 
Man sieht nicht mehr wie fruher fluchtig durch die Scheiben, ob das 
Lokal standesgemaft ist. Ein Zivilist kann sich alles erlauben. 
Taittinger tritt also in ein beliebiges Cafe am Schottenring, in der 
Nahe der Polizeidirektion. Es ist ein kleines, ein sogenanntes Volks- 
cafe. An einem der wenigen Tische sitzen sechs Manner mit Huten. 
Alle mit steifen Hiiten. Sie spielen Tarock. Geht mich nichts an! 



474 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

denkt Taittinger und sieht in den triiben Wintertag hinaus und trinkt 
Kaffee mit Schlagsahne. 

Noch ein Gast kommt. Taittinger nimmt wohl zur Kenntnis, dafi ir- 
gendwer eingetreten ist, aber nicht anders, als wie man eine Fliege zur 
Kenntnis nimmt. 

Der Mann setzt seinen Hut nicht ab, er salutiert mit einem Finger und 
setzt sich zu den Tarockspielern und beginnt zu kiebitzen. In dem 
Augenblick, wo Taittinger »Zahlen!« ruft, springt der Mann auf und 
sieht sich um. Taittinger glaubt, ihn irgendwo gesehen zu haben. Er 
zieht den Hut. Er kommt naher und sagt: »Herr Baron erkennen mich 
nicht? Herr Baron hier?« 

Ja, das ist der Mann von den Buchln, Taittinger weifi es sofort. »Darf 
ich Platz nehmen?« fragt Lazik, und er sitzt auch schon. Und er er- 
zahlt auch schon: »Diese Welt heutzutage! Ich habe sie ganz durch- 
schaut, diese Feiglinge, diese Schufte! Diese noblen Herrschaften! Je- 
der von ihnen hat mindestens ein Menschenleben auf dem Gewissen, 
Morder sind es, privilegierte Morder. Orden und Geld und Ehre haben 
sie. Sehen Sie, Herr Baron, wie ich heruntergekommen bin.« Und La- 
zik stand auf, zupfte an seiner Hose, klappte den Rock um und zeigte 
das zerfranste Unterfutter, hob den Fufi und deutete auf das zerrissene 
Oberleder, beriihrte den Kragen und sagte: »Seit einer Woche nab* ich 
ihn nicht gewechselt.« »Das ist schlimm!« sagte Taittinger. »Herr 
Baron sind ein Engel. Herr Baron, Sie waren der einzige, der gut zu 
mir war«, sagte Lazik. »Ich mochte Ihnen die Hande kiissen, Herr 
Baron. Erlauben Sie mir die Gnade, Ihnen die Hande zu kiissen. « La- 
zik beugte sich vor, Taittinger verwahrte die Hande in den Taschen. 
»Nein, ich verstehe, ich bin nicht wiirdig«, sagte Lazik. »Aber ich darf 
Ihnen von der himmelschreienden Ungerechtigkeit erzahlen, ja?« - 
»Ja!« sagte der Baron. »Also da bin ich mit meinen Buchln zu dem 
Grafen W. gegangen, gelahmt ist er jetzt, Gott sei Dank, eine himmli- 
sche Gerechtigkeit gibt's noch. Und ich red' mit ihm, wie ich seinerzeit 
mit Herrn Baron gesprochen hab\ Aber der Herr Graf hat leider noch 
einen gesunden Arm, und den streckt er aus und klingelt, und der 
Diener kommt, und der Graf sagt: >Den Sekretar< - und der Sekretar 
kommt, und der Graf sagt: >Behandeln Sie den Herrn, wie es sich ge- 
buhrt.< Ich sprech' ahnungslos, ein unschuldiges Kind, mit dem Sekre- 
tar - und wie ich nach Haus komm, steht der Rothbucher von der 
Brigade da und sagt: >Lazik, ich muft dich verhaften!< - Also, kurz und 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 475 

gut, die Buchln sind beschlagnahmt und verboten, aus der Zeitung 
schmeiften s' mich hinaus, jetzt leb' ich nur noch von den Jiingln drti- 
ben, sie sind auch von der Brigade !« 
»Schlimm, Herr Redakteur!« sagte Taittinger. 

»Herr Baron sind noch so lieb, mich so zu betiteln«, sagte Lazik, Tra- 
nen glucksten schon horbar in seiner Kehle. »Wenn ich mich revan- 
chieren darf: Ich hab' hier so eine kleine Vertretung von Medikamen- 
ten.« Er zog Tubchen und Pulverchen aus den Taschen. »Man ist 
schlaflos, manchmal, ich weift, Herr Baron, und der Doktor ver- 
schreibt's nicht!« 

In diesem Moment erhoben sich die sechs Manner, griiftten mit den 
ernsten, steifen Hiiten, und der letzte sagte: »Entschuldigung!«, 
steckte die Tuben und Pulver in die Tasche und befahl Lazik: 
»Komm!« - Lazik erhob sich, verbeugte sich und folgte den Mannern. 
Der Kellner kam an den Tisch. »Bitte um Verzeihung, Herr Baron, ich 
soil vom Herrn Oberinspektor Sedlacek (Herr Baron haben ihn nicht 
erkannt, sagt er) ausrichten, daft der Redakteur Lazik mit Kokain han- 
delt und die Polizei beniitzt ihn und - und, sollt' ich sagen, daft Herr 
Baron ihn nicht unterstiitzen sollten!« 

»Danke!« sagte Taittinger. Er trat hinaus, wmkte einem Fiaker, befahl: 
»Kagran!« 

Als er die Strafanstalt betrat und sich beim Direktor melden lieft, hatte 
er das Gefuhl, daft er hierhergekommen sei, um sich freiwillig einsper- 
ren zu lassen. Er war noch immer der alte Direktor, er erkannte Tait- 
tinger sofort. »Ich lasse Herrn Baron hier«, sagte er wie damals. »Nein, 
bitte!« sagte Taittinger so bestimmt, daft der Direktor sitzenblieb. »Ich 
mochte das Fraulein Schinagl nicht allein sprechen!« 
Man machte die Tiir auf, die Schinagl kam, sie blieb an der Schwelle 
stehn wie damals, sie schlug auch die Hande vors Gesicht, Taittinger 
ging ihr entgegen. »Griift Gott, Mizzi!« sagte er. Mizzi erblickte den 
Direktor hinter dem Schreibtisch, erschrak und machte einen ungelen- 
ken Knicks. »Kommen S' naher, Mizzi!« sagte der Direktor- und zum 
Baron: »Sie ist sehr brav! Im Marz wird sie frei!« »Was wirst du ma- 
chen?« fragte Taittinger. »Oh, Herr Baron sind so gut!« sagte Mizzi. 
Sie erschien Taittinger anders als das letztemal. Er schob ihre Haube 
empor, das Haar quoll blond und voll hervor. Der Direktor sagte: 
»Wir sind nicht so grausam, Herr Baron !« 
»Dank J schon, Herr Rat!« sagte Mizzi und versuchte noch einmal 



4j6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

einen verfehlten Knicks, Sie zog ein Taschentuch aus dem blauen Kleid 
und wischte sich die Augen. Aber ihre Augen waren trocken, der 
Baron sah es wohl. Nichts riihrte sich in seinem Herzen. Es war nicht 
so wie das letztemal. Er wollte gut sein, vielleicht war die Schinagl nur 
wegen des Direktors so verandert oder wegen der nachgewachsenen 
Haare. »Dein Sohn war bei mir!« sagte Taittinger. »Ich nab' ihn wieder 
nach Graz zuriickgeschickt!« - »Der Xandl!!« rief Mizzi. »Wie sieht er 
aus?« - Leider nicht wie ich, wollte Taittinger antworten, aber er sagte: 
»Ganz gut, recht gut!« - Mizzi begann wirklich zu weinen, aber dies- 
mal wischte sie sich die Augen mit den Handknocheln trocken. Sie war 
iibrigens schnell fertig mit dem Weinen. Mit einer harten, gleichgulti- 
gen, metallenen Stimme bat sie um die Erlaubnis, gehen zu durfen. 
»Bitte!« sagte Taittinger. Sie wurde abgefuhrt. 

»Die fiihlt sich ganz wohl, Herr Baron! « sagte der gefallige Direktor. 
»Gewift, das sieht man!« sagte Taittinger. »Sie sind sehr hebenswur- 
dig.« - »Immer zu Diensten, Herr Baron!« Der Direktor erhob sich. 
»Immer zu Diensten!« wiederholte er. 

Der Fiaker wartete. Taittinger hatte das deutliche Gefiihl, dafi etwas 
zerbrochen sei. Zugleich kam es ihm auch vor, daft er durchaus nicht 
imstande sei, nie und nimmer imstande sein wiirde, die verworrene 
Welt zu begreifen. Es war genauso wie einst in Mahrisch-Weifikirchen 
vor der mathematischen Schulaufgabe. Er war kein Soldat mehr, und 
er war noch kein Zivilist. Hing es damit zusammen? Er wufke nicht, 
ob ein Mensch gut sei oder nicht. Er hatte, wiirde man ihn danach 
gefragt haben, nicht sagen konnen, ob Lazik gut, schwach, gemein sei, 
ob Mizzi brav, verdorben, bose, nicht einmal, ob ihr Sohn - sein Sohn, 
dachte er nebenbei - ein Luder sei oder noch kein Verlorener. - Wenn 
wenigstens der Zenower schon da ware. 

Es war offenbar ein ereignisreicher Tag, das Wort schicksalsschwer, 
das er einmal irgendwo gelesen hatte, kam dem Baron in den Sinn. 
Man sagte ihm im Hotel, daft der Herr Leutnant Zenower eben ange- 
kommen sei. 

Zum viertenmal verandert war Zenower in der Offiziersuniform, 
fremder noch als in Zivil. Jetzt, da er nicht mehr die Streifen des 
Wachtmeisters trug, sondern die jugendliche Distinktion des Leut- 
nants, erschien er alt, weit alter, als er in Wirklichkeit war. Er selbst 
mochte es wohl spiiren. Er ging nicht soldatisch mehr einher, er sah 
aus, wie Reserve aussieht: ein wenig verkleidet. Es war nicht Zivil, und 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 477 

es war auch keine Montur. Ein Rechnungsleutnant hat keine Sporen. 
Man glaubt, nachdem man dreizehn Jahre lang Sporen getragen hat, 
entweder, dafi man Zivil tragt, oder aber, daft man gar nicht geht. Es ist 
fast, als hatte man keine Fiifte! All dies erzahlte Zenower mit einem 
echten, beinahe bittern Ernst. Taittinger begriff ihn vollkommen. Bei 
der Parade-Uniform hatte man keinen Tschako mehr, sondern einen 
Krappenhut, wie ein Bezirkskommissar. Taittinger verstand diesen 
Schmerz. Es dauerte noch lange, ehe sie aufhoren konnten, gemeinsam 
das tiefe Unrecht zu verdammen, das ein lacherliches Reglement den 
Rechnungsoffizieren zufugte. Die ganze angeborene Klugheit nutzte 
Zenower nichts. Dreizehn Jahre Kavallerie waren genauso stark wie 
die Natur. Man war ein Rechnungsleutnant. Man war ein altlicher 
Leutnant. 

Es konnte nicht fehlen, daft sie in dieser Nacht noch Bruderschaft tran- 
ken. Arm in Arm kehrten sie in das Hotel zuriick. Der Rechnungsleut- 
nant Zenower hatte am nachsten Tag in eine entfernte Garnison abzu- 
gehn, just dorthin, wo ein Rechnungsleutnant gebraucht wurde. Es 
war das Vierzehnte Jagerbataillon, weit weg von aller Welt, in Brody, 
an der russischen Grenze. 

Man erwachte spat, hatte kaum noch Zeit, miteinander zu sprechen, 
vor allem wieder in den familiaren Duzton der gestrigen Nacht heim- 
zufinden. »Wer weift, wann ich dich wiedersehe!« sagte der Baron. 
»Wer weift, ob ich dich wiedersehe!« sagte Zenower. Sie umarmten 
sich und kiiftten sich auf beide Backen. 

Der Baron blieb verlassen zuriick, ein Waisenknabe. Er lieft sich ge- 
hen. Seine Nachlassigkeit gewann allmahlich auch einen bestimmten 
Rhythmus. Er traf keine alten Freunde mehr. Er genoft stundenlange 
Gedankenlosigkeit, Gange ohne Ziel, Essen ohne Appetit, Trank ohne 
Lust, eine Frau ohne Freude, sinnlose Einsamkeit mitten im geschafti- 
gen Getriebe und zuweilen den Rausch ohne Frohlichkeit. 
Manchmal dachte er an Mizzi Schinagl und an den Marz. Eines 
Abends schrieb er an den Gefangnisdirektor. Er erfuhr, dafi die Schi- 
nagl am funfzehnten Marz entlassen werden sollte. Weder empfand er 
etwas Besonderes fur die Mizzi noch auch etwas gerade fur den funf- 
zehnten Marz. Es war wenigstens ein Datum, ein fester Punkt, eine 
Grenze. Die ruhelosen Gedanken hielten manchmal vor diesem Da- 
tum inne; vor einem Schranken. 



47^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XXVI 

Dieses Jahr brachte einen friihen Friihling. Im Marz warmte bereits 
eine maienhafte Sonne. Mit einer jahen, iibersatten Kraft bliihte der 
Goldregen in den Garten. Die Amseln ubertonten alle Gerausche der 
Stadt. Zusehends breiter und wuchtiger wurden die hellgriinen Blatter 
der Kastanien, und ihre Kerzen dufteten herb, stolz, weifi und ragend. 
Sogar die hurtigen Schwalben schienen in diesem Jahr zutraulicher zu 
sein. Hart uber den Kopfen der Passanten schossen sie vorbei, friedli- 
che Pfeile des Himmels. Vom Kahlenberg wehte ein standiger, sachter 
Atem in die Stadt. Die Mauern und das Pflaster erwiderten ihm dank- 
bar und zartlich mit ihrem eigenen, besondern Atem. Und wenn der 
Abend kam, konnte man von jedem Punkt der Stadt das giitige Rot der 
Sonne die Spitze des Stephansturms liebkosen sehn. Es roch nach er- 
wachendem Holunder, nach dem frischen Brot der Backerladen, deren 
Tiiren weit offen standen, nach dem Hafer in den Sacken vor den Fia- 
kergaulen, nach jungen Zwiebeln und Radieschen von den Markten. 
An einem solchen Tage, morgens urn neun Uhr vierzig, wurde Mizzi 
Schinagl aus der Weiblichen Strafanstalt entlassen. Ihre Entlassung war 
fur Taittinger seit Wochen ein Grund gewesen, nicht so bald auf das 
Gut zuriickzukehren. 

Manchmal, wenn er so allein safi, in einem der fruhreif erbliihten Gast- 
hausgarten der Wiener Vorstadte, der Wein ihn traurig gemacht hatte 
und die Luft zugleich heiter, fiihrte er stumme Zwiesprache mit sich 
selber. Er stellte sich Fragen, auf die er keine Antwort wufke. Nicht 
sein Gewissen plagte ihn! Ob die Mizzi durch seine Schuld ins Haus 
der Matzner gekommen war oder nicht, beschaftigte ihn schon deshalb 
nicht, weil er nichts Betriibliches im Schicksal einer verlorenen Frau 
sehen konnte. Er kannte nur heitere, sorglose Freudenmadchen, denen 
das Leben viel mehr Spaft zu bereiten schien als zum Beispiel den 
Frauen der Ministerialrate, der Sektionschefs, als den versauerten und 
bosen Tabaktrafikantinnen, als verweinten Kochinnen, von Mannern 
verlassenen Biirgerstochtern. Im librigen hatte er durch seine ekelhafte 
»Affare« der Mizzi ein paar gute, sogar marchenhafte Jahre verschafft; 
durch die gleiche »Affare«, dank der er selbst seinen Glanz, seine Sorg- 
losigkeit und um ein Haar Ehre und Namen verloren hatte. Weshalb 
also kummerte er sich noch um die Mizzi? Liebte er sie? - Auch dies 
nicht. Das Herz gehorte zu den verkummerten Organen Taittingers. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 479 

Er wufke keine Antwort. Er fuhlte nur irgendeine unbegreiflkhe und 
unlosliche Beziehung zur Mizzi, zur »Affare«. Unbegreiflich war aJJ 
dies zwar, aber, so schien es ihm, beschlossen und besiegelt. Gegen 
Beschlossenes und Besiegeltes war einfach nichts zu machen. 
Er konnte sich einer gewissen feierlichen Stimmung nicht enthalten, als 
er am Morgen des funfzehnten Marz nach Kagran hinausfuhr. Er 
wufite selbst nicht mehr, dafi er allein es sich vorgenommen hatte, die 
Schinagl abzuholen. Ihm schien es, daf? ihm irgendein Zeremoniell 
diese torichte Handlung diktiere. Ubrigens war die Fahrt im Fiaker 
durch den iippigen Triumph dieses Morgens durchaus geeignet, Tait- 
tingers aufkeimende Uberlegungen in einem heiteren Rausch aufzulo- 
sen. 

So kam er, als ware es das Selbstverstandlichste, in die Kanzlei des 
Gefangnisdirektors, um die Schinagl abzuholen. Sie wurde infolgedes- 
sen eine halbe Stunde fruher aus der Zelle geholt. Sie trug den braunen 
Mantel, in dem man sie im vergangenen Herbst eingeliefert hatte. Den 
grofien Filzhut mit den Glaskirschen hielt sie in der Hand, aus Angst, 
er konnte in der Zwischenzeit unmodern geworden sein. Ihr immer 
noch kurzes, iippig nachgewuchertes, schones Haar leuchtete mit fri- 
schem Gianz, und ihr gebleichtes Angesicht erschien schmal, edel ge- 
radezu. Jetzt sieht sie wirklich wie die Helen' aus! dachte Taittinger. 
»Ich kann mir die tibliche Sittenpredigt ersparen«, sagte lachelnd der 
Direktor. »Mizzi Schinagl, der Herr Baron kummert sich in so edler 
Weise um Sie, da£ ich bestimmt weift, ich werd' Sie hier nicht mehr 
wiedersehn. Herr Baron, ich steh' Ihnen immer zur Verfiigung!« 
Auf Taittinger wartete draufien der Wagen. »Wohin willst du?« fragte 
er. Mizzi aber sah sich erst bekiimmert um, offenbar vermifite sie je- 
manden. »Ich muf^ noch warten«, sagte sie, »die Leni kommt noch. Sie 
haben mich zu fruh herausgeholt!« Es war ein Vorwurf. Die Freiheit, 
der Fruhling, der wartende Gummiradler und der Baron schienen der 
Mizzi keine Freude zu machen. »Wer ist die Leni?« fragte Taittinger. 
»Meine Freundin, Herr Baron!! Wir waren alle beide in der Zelle. Die 
Leni wegen Beihilfe zur Fruchtabtreibung, die ist ein sauberes Weibs- 
snick, die Leni, wir waren gut miteinander, sie ist schon vor vier Wo- 
chen freigekommen. Die halt Wort, die kommt sicher.« 
In diesem Augenblick sah der Baron auch etwas Stattliches, Greiles 
und Winkendes eilig herannahen. Jetzt konnte man diese Erscheinung 
schon vernehmen. Schrille Rufe wehten vor ihr einher. Immer deutli- 



480 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

cher erkannte man, dafi sie den Namen »Mizzi« rief und daft es sich 
um ein weibliches Wesen handelte, in einem gelben, rohseidenen Ko- 
stiim, mk einem hellgriinen, radgroften Hut, mit schwarzen, hervor- 
quellenden Locken, in gelben Knopfstiefeln, mit Regenschirm, Boa 
und Pompadourtaschchen. Es war Magdalene Kreutzer, konzessio- 
nierte Karussellbesitzerin im Prater. Die Frauen kufken sich innig. »Sie 
sind der Herr Baron, weif? eh schon, mir brauchn S' nix mehr zu sag'n, 
i weift eh schon alles von der Mizzi. Und das ist der Wagen, da steig'n 
m'r ein und fahren erst zu deinem Papa, der is gelahmt, sonst war 5 er 
hergekommen!« Und ehe Taittinger noch wufite, was eigentlich vorge- 
fallen war, saft er schon auf dem Riicksitz, Mizzi und Leni gegeniiber, 
schuchtern und aufierst unbequem, mit hochgezogenen Knien. Er 
senkte den Kopf. Uber ihn hinweg rasten unverstandliche Redensar- 
ten, zuckten Ausrufe wie grelle Blitze, klatschte Gelachter wie heiterer 
Platzregen, in einem Dialekt, den er noch niemals so intensiv und in 
solcher Nahe vernommen hatte und der an Raderrrollen, Miauen und 
Hornerblasen zugleich erinnerte. Endlich erreichte man Sievering. 
Hier war Mizzi einmal grofiartig vorgefahren, als »Kebsweib« des per- 
sischen Kaisers. Die Hausmeisterin freilich lebte noch, der Friseur 
Xandl war verheiratet und nach Briinn verzogen. Der Laden war wie- 
der geoffnet (er gehorte jetzt einem jungen Mann). Nur fur diesen Tag 
war der alte Schinagl aus dem Heim in Lainz entlassen worden, denn 
er wollte seine Tochter nichts von seiner »Schande« wissen lassen. 
Drinnen, hart neben der offenen Tur, safi der gelahmte alte Schinagl. 
Im dunklen Hintergrund schimmerten die weiften Meerschaumpfeifen 
wie Knochen von Skeletten. Auch im Baron erweckte der Laden einige 
Erinnerungen. Hier hatte er die Mizzi zum erstenmal gesehn. Der alte 
Schinagl konnte nur die Arme bewegen. Auch seine Zunge war hilflos, 
er stotterte, stohnte und schneuzte sich schliefllich mit unerwarteter 
Kraft. Aus Verlegenheit kaufte Taittinger fiinf Pfeifen. Die Haumeiste- 
rin fragte, ob sie Tabak holen diirfe. Aus Verlegenheit sagte er: »Ja, 
bitte, danke vielmals!« - Ob die Mizzi nun hierbleiben wollte? stam- 
melte der Alte. »Nein!« entschied Magdalene Kreutzer. Es war langst 
beschlossen. Die Mizzi wohnte, um sich ein bisserl zu »renovieren«, 
vorlaufig im Hause der Kreutzer, Klosterneuburger Strafte. Sie hatte 
auch gedruckte Visitkarten im Pompadourtaschchen, sie kramte eine 
hervor, gab sie dem Taittinger und sagte: »Nicht verschmeiften, Herr 
Baron, wir erwarten Sie morgen, Sonntag, dritter Stock links, Tur 21, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 481 

nicht verges sen, nachmittag funf. Bitte nicht zu spat kommen, Herr 
Baron !« Damit verabschiedete sie Taittinger. Er verneigte sich, sagte 
dem Fiaker die Adresse der Kreutzer, bezahlte die Fahrt der Frauen im 
voraus und verlor sich in der nachsten Seitengasse, wo ihm eine Cafe- 
terrasse trostlich entgegenwinkte. 

Er verschmift die Adresse nicht, er vergaft auch nicht die Stunde, er 
hielt alles Abgemachte ein ? wie immer. Mit einiger Bangnis stand er am 
Sonntag vor der Tur 21, roch er Sauerkraut, Katzen und trocknende 
Kinderwasche, horte er Stimmen aus alien Zimmern, unter, iiber, ne- 
ben sich, auch die Stimme der Mizzi unterschied er jetzt. Er zog ent- 
schlossen an der Klingelschnur, er trat unmittelbar in ein Zimmer, das 
aus rotem Pliisch, griinem Tischtuch, gelben Vasen, Torten, Orangen, 
Kaffeetassen und einem enormen Guglhupf bestand. In sommerlichen 
weiften, schwarzgetupften Kleidern safien beide Frauen wie Sch we- 
stern da. Schwarz die eine, goldblond die andere. Er tat alles, was sie 
ihm befahlen: er aft Guglhupf, schleckte Eingemachtes, trank Kaffee, 
hierauf Himbeerwasser, rauchte eine Trabuko, obwohl er nur Zigaret- 
ten vertrug, horte zu, verstand nichts, dachte auch nichts und bekam 
Sodbrennen. Er entschloft sich, nach der Toilette zu fragen, wurde in 
die Kiiche geleitet, in einen unerkennbaren Raum gesperrt, begnligte 
sich damit, Wasser aus der Blechkanne in die Muschel zu gieften und 
wieder hinauszugehn. Er hatte sich kaum wieder hingesetzt, als die 
Klingel ertonte. Ein Ungeheuer trat ein, nicht von dieser Welt. Es erin- 
nerte an einen Kutscher, an einen Schlachtermeister und ein angeklei- 
detes Monument. Es war Ignaz Trummer, der Freund der Magdalene 
Kreutzer. So stellte er sich vor, und von allem, was er im nachsten 
Augenblick noch hersagte, mit einer Geschwindigkeit, die weder sei- 
nen korperlichen Ausmaften noch seiner grollenden Stimme entsprach, 
verstand Taittinger nur, daft er sich sehr geehrt fuhle. Er aft, trank, 
sprach, rauchte, trank, aft und sprach. »Wos habt's denn nur?« fragte 
er schlieftlich. »Und fahr ma endli aussa?« - »Um Gottars wolln!« rief 
er ohne Grund von Zeit zu Zeit und dann wieder: »Haarfix no amoi!« 
Es war nicht mehr einfach der Wiener Dialekt. Es war, wie wenn ein 
Bar den Versuch gemacht hatte, italienisch zu sprechen. 
Die Pferdebahn war uberfullt, der Trummer, Haarfix no amoi, bestand 
darauf, daft sie zu Fuft in den Prater gingen, ins »Geschaft«, - er meinte 
das Karussell. Gehorsam schritt Taittinger neben dem Ignaz dahin, die 
Frauen gingen voran. Wenn man sich an den Dialekt gewohnte, 



482 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

konnte man bald einiges begreifen. Trummer kannte die grofie Welt, er 
war in der Tat einmal Kutscher gewesen, beim Graf en Zamborski. 
Nach dem Tode des Alten war er Pferdehandler geworden. Dann hatte 
er leichtsinnig gehandelt und einer militarischen Pferde-Assentkom- 
mission Schwierigkeiten gemacht, einem Freunde zuliebe, und ein an- 
deres Tier geschickt statt des assentierten, und so »Sperenzchen« ge- 
macht. Na, der Herr Baron kennen ja auch so G'schichten, vom Arar 
halt, und so ist man jetzt beteiligt am Karussell der Magdalene Kreut- 
zer, und ein gutes Geschaft war's; man konnt' jetzt eventuell das 
Wachsfigurenkabinett billig kaufen. Das ist was Nobles und direkt 
hohe Kunst, musealische . . . 

Das Karussell war in der Tat stattlich, es bestand aus Pferden, Wagen, 
Schlitten und Booten. Es drehte sich um eine grofie Statue aus buntem 
Pappmache, einer Jungfrau, mit zwei weizenblonden Zopfen, Riesen- 
armen, einer turmhohen Frisur und einer Riesenkrinoline. Auch diese 
Jungfrau selbst drehte sich um die eigene Achse. Aus ihrem Innern 
ertonte eine Drehorgel. Das Karussell stand auf einem runden, holzer- 
nen Unterbau. Eine Tiir in diesem holzernen Rund ging auf, die Frauen 
traten ein, Taittinger mufite folgen, selbst das Ungetum kam seltsamer- 
weise durch die kleine Tiir. Jetzt stand man unten, uber sich den Larm 
der Menschen, die Musik der Orgel, das Gerassel der Ketten, an denen 
die Fahrzeuge schlenkerten. Es war dunkel und feucht. Ein Esel, grau 
wie der Dammer in diesem Raum, drehte sich unaufhorlich im Kreis, 
einem Hafersackchen nach, das unerreichbar vor ihm baumelte. Das 
Tier erhielt das Karussell in Betrieb, Schani feuerte es manchmal an, 
dermafien, dafi es zu galoppieren begann, als war's ein Gaul. »Mir san 
keine Unmenschen«, erklarte die Kreutzer, »mir hab'n noch an andern 
Esel, zum Ablosen!« Sie klemmten sich alle wieder durch die kleine Tiir 
an die Luft. Auf den Befehl Trummers mufiten sie ins »Zweite Cafe«. 
Die Militarmusik spielte, die Leute lachten, weifi, frohlich, verschwitzt, 
in einer bewufklosen Gemeinsamkeit. Die Luft war dennoch leicht, 
wiirzig, elegant beinahe, eine gesittete Luft, und selbst in der Lautheit 
blieben die Menschen diskret. Ihre Ausrufe klangen wie Aufmunterun- 
gen, an die Betriibten gerichtet, Wunsch der Frohlichen, nur Frohliches 
ringsum zu sehen. Taittinger wurde heiter. 

Die Kreutzer fragte ihn, ob er schon ein Panoptikum gesehen habe. 
Gewifi, sagte er, und er erzahlte angeregt, was er dort alles gesehen 
hatte. Zum Beispiel den Blaubart, den Schwerverbrecher Zingerl, den 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 483 

Rauberhauptmann Krasnik aus Siebenbiirgen, die Komitadschis aus 
Bosnien, die zusammengewachsenen Zwillinge. »Der Herr Baron«, 
sagte Trummer, diesmal hochdeutsch und feierlich, »haben ein sche- 
niales Kopfvermogen.U Niemals hatte Taittinger derlei Komplimente 
gehort. Wann er wieder in Uniform erscheinen wiirde, wollte die 
Mizzi wissen. An Kaisers Geburtstag, sagte Taittinger. Er wufite, daft 
er log. Aber er wollte aller Welt eine Freude machen. Eigentlich war 
dies alles hier ja Volk. Sie waren ganz charmant, die »Kinder aus dem 
Volke«, sogar das Ungetiim, der Trummer. 

Um Mizzis zertrummerte Existenz wieder aufzurichten, war es notig, 
ihr jetzt die einzig giinstige Gelegenheit zu verschaffen; das war das 
Panoptikum, Die Frau Kreutzer meinte, daft der Baron nichts dagegen 
haben konnte. Taitinger sagte audi: »Aber, wie denn!« Nun sei es ja 
einfach, man miiftte sich nur nicht anschwindeln lassen und einen rich- 
tigen Preis erzielen. 
»Is zu villi !« rief Trummer. 

Nicht, wenn der Baron was beitragen wollte, statt der Alimente sozu- 
sagen, wo doch die Mizzi selber den Buben groftgezogen hat und sogar 
so nobel, wie es sich gehort fur das Kind eines solchen Vaters. 
So, dachte Taittinger. Auf diese Weise bin ich endlich diese langweili- 
gen Alimente los. »Selbstverstandlich!« sagte er. »Im Rahmen meiner 
M6glichkeiten«, er sagte die Phrase nicht aus Vorsicht, sondern weil 
sie so serios klang, »will ich der Mizzi helfen!« 

Leider geschah im nachsten Augenblick etwas auftergewohnlich Pein- 
liches. Der Oberleutnant Teuffenstein von den Elfer-Ulanen ging, 
Arm in Arm mit seiner Braut, Fraulein Hoffmann von Nagyfoteg, 
vorbei und rief: »Da ist er ja! Taittinger! « - Es war eine furchterliche 
Situation, um ganz genau zu sein, eine »unkommode«. »Ich wohne im 
Prinz Eugen!« sagte er zu seiner Tischgesellschaft. »Bitte, morgen nach 
mir zu fragen.« Er vergaft sogar zu zahlen, stand auf, eilte dem Teuf- 
fenstein entgegen, wurde von ihm an einen andern Tisch gezogen, 
trank Wein, muftte lachen, Anekdoten horen, erzahlen, daft er sich auf 
sein Gut beschranke. »Weiftt«, sagte er, »es ist immerhin ein Vermo- 
gen, und es war' sonst rettungslos verloren.« 

Spat in der Nacht ging er einsam durch den Prater. Der Staub wirbelte 
immer noch in der Luft. Durch die Hauptallee trommelten zartlich die 
eleganten Hufe der Pferde vor den lautlosen Gummiradlern. »Ret- 
tungs-los-ver-loren, rettungs-los, return gs -los «, trommelten die Hufe. 



484 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Aus den Biischen am Alleerand kam das liisterne Fliistern der Verlieb- 
ten. Eine Blumenfrau bot ihm Veilchen an. Er kaufte fiinf Straufie und 
behielt sie gedankenlos, bis ihm das erste Madchen in den Weg kam. Er 
gab der Kleinen die Blumen und ging mit ihr ins Hotel zur Nordwest- 
bahn. Denn er hatte Angst vor der einsamen Nacht. 



XXVII 

Der Prater offenbarte am Vormittag die gesittete Lieblichkeit eines 
Parks, die geheimnisvolle Stille eines Waldes und die riihrige Bewegt- 
heit ernes Vorfeiertages. 

Man sah damals den Baron Taittinger haufig in der Hauptallee zu Fufi. 
Vor vielen Jahren - eine Welt lag dazwischen - war er diesen Weg 
geritten, auf dem Riicken des Pylades. 

Manchmal ging der Baron den Rand der Reitallee entlang. An ihm 
vorbei trabten und galoppierten die Herrschaften. Manche erkannte er, 
ohne sie erst gesehn zu haben, am Rhythmus und am Schritt der Tiere, 
an der Reiter Art, im Sattel zu sitzen, Ziigel und Peitsche zu halten, an 
der Kriimmung der Riicken. Dies hier war die Stute Glans-Ei-re pasz. 
Dort ritt Tibor von Daniel. Driiben griifite eben Emilio Casabona sei- 
nen Landsmann, den Graf en Pogaccio. Das Pferd des Bankiers von 
Goldschmidt war ein Brauner aus dem Gestiit des Grafen Khun-He- 
dervary, es war seine zweitausend Gulden wert. Dagegen ritt die Sei- 
lern und Aspang eine hafiliche Stute mit plumpem Gang und viel zu 
breitem Hinterteil. Mit griindlichem Ernst machte Taittinger jeden 
Vormittag derlei Feststellungen. Er ging nirgends mehr hin, er kannte 
immer noch alle. Es kam ihm vor, dafl es seine Aufgabe sei, sie in 
»Evidenz zu halten«. Manchmal beunruhigte ihn die Abwesenheit 
eines Kavaliers, der schon zwei Tage nicht in der Allee erschienen war. 
Dann ging er bis zum Spitz und setzte sich ins Gasthaus, wo viele von 
den Reitern abzusteigen pflegten. Viele erkannten ihn. Was denn mit 
ihm geschehen sei, fragten sie, und er antwortete immer mit der glei- 
chen lugnerischen Phrase: »Ich bin ganz verbauert!« - So sagte er. Es 
sei schauderhaft auf dem Gut, aber seine Anwesenheit ware unbedingt 
notwendig. Weltfremd und menschenscheu sei er geworden. In einen 
Salon traue er sich nicht mehr. Und das Leben habe fur ihn jeden Sinn 
verloren. »Jetzt endlich solltest du heiraten!« sagte der alte Baron Wil- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 485 

mowsky, Mitglied des Herrenhauses und seit Jahren leidenschaftlich 
beflissen, altliche Herren mit jungen Madchen aus verschuldeten Fa- 
milien zu verheiraten. Er gestand freimutig, daft er keine andere Politik 
betreibe und anerkenne als Familienpolitik. »Ich hatte damals die He- 
len' heiraten sollen!« sagte Taittinger. »Sie ist recht ungliicklich!« ant- 
wortete Wilmowsky, »Graf W. ist paralytisch. Der junge Tschirschky 
macht ihr den Hof. Ihr Mann war immer schon ein bisserl teppert.« 
Die Vormittage waren auf diese Weise meist der Aristokratie gewid- 
met. Die Nachmittage aber weihte der Baron dem »Volk«, ebenfails im 
Prater. Er kam oft am Karussell vorbei, unterhielt sich mit der Mizzi, 
mit der Kreutzer und mit Herrn Trummer, ging mit ihnen gerne zur 
Militarmusik, ins Zweite Cafehaus, und lieft sich den Stand der Ver- 
handlungen iiber das Wachsfigurenkabinett berichten. Er fand Gefal- 
len am Panoptikum uberhaupt. Wachsfiguren waren ganz sympa- 
thisch; netter als ein Karussell auf alle Falle. Trummer sagte, es gehore 
ein ordentliches Stuck Geld dazu, die Geschichte Himmel-Herr-Gott- 
sakra no amoi! richtig zu machen. Allerdings waren dann die Ver- 
dienstchancen unabsehbar. Manchmal kam es vor, daft Mizzi Schinagl, 
als hatte sie sich plotzlich wieder einer langst vernachiassigten Pflicht 
entsonnen, mit der Kreutzer oder dem Trummer den Platz tauschte, 
hart an den Baron heranriickte und leise seine Hand streichelte. Das 
erstemal erschrak er und wurde plotzlich schweigsam. Dann gewohnte 
er sich an seine Ausrede: Es macht eh nix, die Mizzi ist brav; es sind 
uberhaupt alles brave Leute. Es waren halt ihre »volkstumlichen Sit- 
ten«. Allmahlich gefielen ihm diese Sitten sogar. Es ging eine freund- 
liche Warme von Mizzi Schinagl aus, an so kuhlen Friihlingsabenden. 
Warme Erinnerungen erwachten, Erinnerungen an ihren Korper, an 
manche seiner geheimen Merkmale, an seine verborgenen Liisternhei- 
ten, an seine wolliistigen Geschenke. Storende Gebarden vollfiihrte die 
Mizzi freilich. Sie merkte sie aber selbst zuerst und begann allmahlich, 
sich ihrer zu enthalten. Sie bandigte ihre Lebhaftigkeit, schlug nicht 
mehr die Hande vors Gesicht, wenn sie lachte, und schrie nicht mehr 
auf, wenn sie erschrak. All dies zwang sie sich ab, den Trost im Her- 
zen, den sie einst in der Schule parat gehalten hatte: Es dauert ja doch 
nur vier Stunden. Sehr wirres und widerspruchsvolles Zeug huschte 
durch ihren Kopf. Sie hatte sich auch in der Anstalt lediglich bestraft 
gefuhlt, ebenfails wie einst in der Schule; aber keineswegs etwa ent- 
wurdigt. Jetzt aber in der Freiheit empfand sie, daft ihr zu Unrecht 



486 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ein Schimpf anhaftete. Zu Unrecht! Denn worin war sie schuldig? Sie 
iiberlegte angestrengt und schritt mit der Genauigkek, deren nur Belei- 
digte und Geschmahte fahig sind, Jahr fur Jahr, Handlung fur Hand- 
lung ihres bisherigen Lebens ab. Am Anfang stand Taittinger. Vorher 
war nichts als der unbestimmte Dammer des vaterlichen Ladens gewe- 
sen. Ein Glanzumflossener trat plotzlich ein. Sterne hat er am Kragen, 
Sonnen am Rock und einen silbernen, schmalen Blitz an der Hiifte. 
Man hatte brav den Friseur Xandl geheiratet, wenn der Strahlende 
nicht gekommen ware! Man ware zur Matzner nicht gekommen! Man 
ware auch nicht ein Kebsweib geworden und mit Perlen beschenkt. 
Perlen bringen Ungliick! Schuld war der Taittinger. 
Unfahig, wie sie war, lange Zeit zu schweigen, sprach sie ihre Gedan- 
ken vor der Kreutzer aus. Sie erntete Zustimmung. Den Bankert er- 
wahnte die Kreutzer. Es war Taittingers Pflicht, Mutter und Sohn zu 
erhalten. Ignaz Trummer kam herbeL Er war der gleichen Meinung. 
»Alle Menschen san gleich« - von dieser Pramisse ging er aus. »Unse- 
resgleichen wird >vurgeladen<, wann er kane Alimenter zahlt - und 
ujegerl, was noch fur Tanz! Zarwuzeln kennt ma si!-« Trummer 
dachte an seine drei unehelichen Kinder. Was fur Scherereien! Ihn hat- 
ten die Mutter nauirlich verklagt. In zwei Fallen war es ihm gelungen, 
die Vaterschaft abzuleugnen. Das dritte Kind, ein Madchen, hatte er 
bei seiner alten Tante in Krieglach untergebracht. Da war es in einen 
Waschkessel gefallen und verbriiht. Derlei »Sperenzln« machte man 
den noblen Herren nicht. Es war nur selbstverstandlich, wenn der 
Baron das Wachsfigurenkabinett der Mizzi zum Prasent machen taY! 
Und das war 5 noch auch fur all das Ausgestandene eine mittelmafiige 
Entschadigung. 

»Ich lieb' ihn halt immer noch!« gestand die Schinagl. Sie liebte ihn in 
der Tat. Manchmal glaubte sie, dafi sie dem Taittinger noch einmal 
folgen konne, wie einst, vom Vater fort in die Herrengasse und hierauf 
ins Haus der Matzner gehen und ein Kind haben und Ungliicksperlen 
bekommen und noch einmal eingesperrt werden. Sie bereute nichts 
von all dem. Auch das Heimweh nach ihm, seinen Handen, seinem 
Geruch, seinen Nachten, seiner Liebe zehrten an ihrem Herzen. Sie 
verlangte nach ihm; und es erschien ihr selbst merkwiirdig, in klaren 
Augenblicken, dafi ihr dieses Verlangen nicht allein die Liebe befahl, 
sondern auch Rachsucht. Vergeltung wollte sie iiben. Sie gehorte zu 
Taittinger. Weshalb blieb er ihr fern? 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 487 

Sie wuftte, daft er am Vormittag im Prater zu spazieren pflegte; sie 
machte sich einmal auf, um ihm zu begegnen. Sie erblickte ihn zuerst 
aus der Feme, weit vor ihr ging er, seinen Rucken erkannte sie und 
seinen Gang. Dunn und zart ging er dahin, mitten zwischen den star- 
ken Baumen, es riihrte sie zu Tranen; iiber seine Art dahinzugehn al- 
lein hatte sie weinen mdgen. Es war eigentlich wunderschon, dem 
Herrn zu folgen, nur seinen Rucken zu sehen und zu lieben und seinen 
Schatten, wenn er dann und wann die Allee verlieft und in der sonnigen 
Strafte weiterging. Sie nannte ihn in Gedanken: den Herrn, den Baron, 
den Rittmeister. Auch im stillen wagte sie nicht, ihn Franz zu nennen - 
aus korperlicher Angst. Wenn sie »Franz« dachte, fuhr ein Schwert 
durch ihr Herz. 

Es war gut, daft sie ihm nicht zufallig entgegengekommen war; das 
hatte sie vielleicht nicht ausgehalten. Sie wollte auch schon umkehren, 
damit er ihr heute, heute nicht, heute noch nicht begegne; das Umkeh- 
ren aber konnte noch etwas Zeit haben. Sie ging, ohne es zu wissen, 
immer schneller. Jetzt konnte sie schon seinen Schritt horen. Plotzlich 
blieb er stehn, wandte sich schnell um und erblickte sie. Er hatte ge- 
fuhlt, daft man ihm folgte. 

Er lieft sie herankommen. »Weiftt, Mizzi, Uberraschungen hab' ich 
nicht gern!« - Er war ehrlich, er haftte Uberraschungen. Weihnachts- 
geschenke, die er nicht selbst gewunscht und gleichsam bestellt hatte, 
haftte er, vernichtete oder verior er auch sofort. Er empfand Uberra- 
schungen als vulgar, ebenso wie Schreckrufe, lautes Weinen einer Frau, 
gerauschvolles Tarockspiel im Cafe, Streit zwischen Mannern auf der 
Strafte. »Es ist ein Zufall, bitt' um Entschuldigung, Herr Baron! « log 
die Mizzi. »Ich nab* gedacht, Herr Baron reiten?« - »Ich nab' kein 
Pferd, Mizzi. Auf gemieteten Pferden reit' ich nicht! - Wohin gehst 
denn?« - Er war beinahe schon mifttrauisch. »Nix, so halt«, sagte 
Mizzi. »Nun, geh zuriick, setz dich zu Steinacker in den Garten, trink 
ein Bier. Ich komm' in einer Stunde!« Er wandte sich um und ging. 
Er hatte aber in Wahrheit keine Lust mehr an diesem Spaziergang. 
Auch mied er die Reiter. Er kehrte um. Ein wenig Mitleid riihrte sich 
fur die Mizzi. Er schamte sich auch dieses Mitleids. Alles ware gut, 
wenn sie nur nicht diesen vertrackten Sohn hatte! Er erinnerte sich 
plotzlich, daft es ja sein Sohn war. Schuldig fiihlte er sich nicht - kei- 
neswegs. Aber es war ein Faktum: Unleugbar war der Xandl sein Sohn, 
und die Mizzi konnte nichts dafiir - oder nur sehr wenig. Als er das 



488 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Gasthaus Steinacker betrat, hatte er fast schon ein freundliches Ge- 
sicht. Es war ein etwas vorweggenommener Nachmittag des Barons. 
Die Mizzi eroffnete schon gegen elf die Abteilung Volk. Automatisch 
erwachte auch das Interesse Taittingers an den Wachspuppen. Es sei 
viel Geld no tig. Wieviel? Das wiifite der Trummer. Und wieviel sie 
selbst habe, fragte Taittinger. Mizzi gestand lediglich die von der 
seligen Matzner ererbten 300 Gulden. Was von der Pfaidlerei iibrigge- 
blieben war, verschwieg sie. Noch in der Zelle hatte ihr die Kreutzer 
geraten, von diesem »Notgroschen« keiner Seele etwas zu sagen, nicht 
einmal dem Trummer. Am allerwenigsten dem Sohn. Aber es war 
nicht nur der gute Rat der Leni, den sie jetzt befolgte, sondern auch die 
Stimme ihres Herzens. Seit ihrer Haft hatte sie eine grauenhafte Angst 
vor dem Alter und vor der Not. Es war, als ob der ganze Leichtsinn, 
dessen sie (iberhaupt fahig gewesen war, aufgezehrt, geschmolzen 
ware, gleichzeitig mit dem Geld; der ganze Vorrat an Unbekummert- 
heit, Vertrauensseligkeit, Ubermut und Grofiziigigkeit verbraucht. 
Ubrig blieb auf dem Grunde ihrer Seele die natiirliche, lediglich durch 
die Jugend verhiillt gewesene Angst vor dem Zufall des bittern Lebens, 
Sehnsucht nach der garantierten Sicherheit, warme Liebe zu Hab und 
Gut, eifersuchtige Zartlichkeit fur Zuriickgelegtes, Aufgespartes und 
Verborgenes, kurz, der ewige, den Frauen ihrer Art angeborene Glau- 
ben an Sparkasse und Assekuranz. Sie empfand keine Scham. Dieses 
Verschweigen war geradezu eine moralische Pflicht. Ebenso war es ein 
moralisches Gebot, Taittinger zahlen zu lassen. Das Geld, das er fur sie 
ausgab, nahrte noch ihre Liebe zu ihm. Die zwekausend Gulden lagen 
in der Post, und das Sparkassenbuchl, eingewickelt im Taschentuch, 
auf dem Grunde des Koffers. Und der Kofferschliissel hing um den 
Hals, neben dem Kruzifix und dem Medaillon mit der heiligen The- 
rese. »Dreihundert sind gewift zu wenig«, meinte Taittinger, dem die 
Ehrfurcht vor den Wachsfiguren schon zu tief eingegraben war, 
ebenso wie die Geringschatzung des Geldes. Dergleichen Wachsfigu- 
ren konnten gar nicht billig sein. Gewift, gewift, er begriff es. »Ich 
werd' mir erlauben, dir mit etwas auszuhelfen«, sagte er. »Oh, dank' 
schon! Das ist so lieb, so nobel, ganz Ihre Art, Herr Baron!« - Und sie 
fafke schon mit ihren beiden Handen nach seiner Rechten: und ehe er 
noch eine Bewegung der Abwehr machen konnte, beugte sie sich iiber 
seine Hand und kiifke sie innig. Er war erschrocken, verzweifelt, 
machtlos. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 489 

Plotzlich brach Mizzi in Tranen aus. Dies steigerte Taittingers Unwil- 
len, aber es riihrte auch an sein Herz, fast so wie damals, als Mizzi in 
der Kanzlei des Gefangnisdirektors zu weinen angefangen hatte. »Sie 
haben mich noch ein bifichen lieb?« (ragte Mizzi. »Ja, ja, sicherlich«, 
sagte Taittinger, mit der festen Zuversicht, dafi die Tranen innehalten 
wiirden. Aber das Gegenteil ereignete sich: sie stromten noch heifier 
und dichter. Es wahrte allerdings nicht mehr lange. Mizzi erhob ihr 
Gesicht. Ihr zerzaustes Haar, der verbogene Hut, das zerkniillte Ta- 
schentuch, das treuherzige Blau der Augen, die zwischen den verwein- 
ten Lidern geradezu kindlich erschienen, gefielen dem Baron eigentlich 
und machten ihm die Frau vertraut. Sie fuhlte es sofort, und mit der 
Schnelligkeit, mit der ein Adler nach langem, lauerndem Kreisen auf 
die Beute hinunterstiirzt, sobald er deren schwachen Augenblick ge- 
kommen weift, fragte sie: »Darf ich heute zu Ihnen kommen - 
abends?« »Heut nicht!« sagte der Taittinger. Er liebte nichts Unvorbe- 
reitetes. »Morgen? Ubermorgen? Wann?« »Ja, morgen!« sagte Taittin- 
ger, »das heifit, wenn ich nicht plotzlich abgehalten bin!« 



XXVIII 

Er hatte wirklich noch eine vage Hoffnung auf irgendein Ereignis, das 
geeignet ware, ihn abzuhalten. Aber solch ein Ereignis traf nicht ein, 
und die Mizzi Schinagl kam, wie abgemacht. Er gewohnte sich schneil 
an sie, wie uberhaupt an das meiste, an das Gute, an das Schlimme, an 
das »Charmante« und an das »Langweilige«, das ihm zustiefi. Er fand 
bei Mizzi vertraute Warme wieder und entdeckte ihre wohlbekannten 
Geheimnisse. Mizzi kam immer haufiger. Sie fiitterte die wiederer- 
wachte Gewohnheit eifrig. Sie liebte inbriinstig, wie einst, als es ange- 
fangen hatte. Und wie einst ergab sie sich zuweilen jenen gefahrlichen 
Traumen, von denen sie wuftte, dafi sie toricht waren und das Erwa- 
chen aus ihnen eine wiiste Bitterkeit. Lacherliche Traume, giitig in ih- 
rer Fliichtigkeit und beseligend noch in der Enttauschung, die sie 
selbst ankiindigten: Der Baron wird alt werden, vielleicht auch ein bifi- 
chen krank. Oh, nicht viel! Vielleicht eine ganz kleine, voriiberge- 
hende, Pflege erfordernde Lahmung. Dann pflegt man ihn, gehort ihm 
ganz, nicht nur so, sondern auch als Opfer. Dann wird er immer alter, 
und er braucht die Mizzi - und dann wird sie seine Frau. Eine Nacht 



49° ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

lang war sie schon einmal Grafin gewesen. Die letzten zehn Jahre ihres 
Lebens konnte sie ganz gut Baronin sein. 

An einem dieser Tage bekam der alte Schinagl - da er noch Vormund 
seines Enkels war - vom Direktor der Grazer Anstalt die Verstandi- 
gung, dafi man nicht mehr in der Lage sei, den Xandl zu behalten; er 
miifite so fort nach Wien zur Mutter oder sonst irgendwohin. Weder 
sein sittliches Betragen noch sein Fleifi, noch auch seine Begabung 
wiirden ihm gestatten, noch eine andere Anstalt, in der Steiermark we- 
nigstens, zu besuchen. Der Aite schickte den Brief seiner Tochter. So- 
wohl die Magdalene Kreutzer als auch der Trummer waren der Mei- 
nung, dafi ein Kind zur Mutter gehore und ein Bankert niemals in eine 
Anstalt. In die Lehre sollte er einfach, da konnte etwas Anstandiges 
aus ihm werden. Es war ubrigens ein Wink des Himmels, ein Finger- 
zeig Gottes, wie's geschrieben steht und der Katechet immer schon 
gesagt hat. Der Vater war hier, an Ort und Stelle. Dem sagt man nix. 
Der Bub kommt einfach her. Dann schickt man ihn zum Herrn Baron, 
am besten morgens. Da bin ich, was soil ich nun machen? Da bin ich, 
Herr Vater! Vielleicht schickt er ihn aufs Gut, wer kann's wissen? Der 
Baron hat manchmal so Launen, Himmel sakra no amoi! 
Eine Woche spater, am Morgen, als Taittinger das Hotel verlassen 
wollte, meldete man ihm den jungen Mann, Schinagl. Der grausliche 
Junge hatte einen starken Eindruck im armen Taittinger hinterlassen. 
Er wufite jetzt, ganz gegen seine Natur, im Nu, urn wen es sich han- 
delte. »Holen Sie ihn!« befahl er. »Aber wenn er noch einmal hierher- 
kommt, schmeifien S' ihn 'naus!« 

Ja, das war der grausige Junge, grofier als das letztemal, das Maul 
schiefer, die Augenrander roter. Sein eigener Sohn! Sein eigener Sohn 
sah genauso aus, als wenn sich die Natur liber den Baron hatte lustig 
machen wollen. Die Stirn war ahnhch, der Haaransatz, das Kinn, die 
Augenbrauen, der Schnitt der Augen. »Guten Morgen !« sagte der 
Junge. Er hielt die Miitze in der Hand. Er war verandert, bedeutend 
haftlicher geworden, aber es war dennoch beinahe so, als ob man ihn 
gestern erst gesehen hatte. »Herr Schinagl ?« fragte Taittinger. »Die 
Mutter hat g'sagt, ich soil guten Morgen wunschen!« - »Danke, gru- 
fkn Sie Fraulein Schinagl !« sagte Taittinger und winkte einem Fiaker. 
Ein schrecklicher Tag war angebrochen. Wohin fahren? - »Nach Ba- 
den !« rief Taittinger, besann sich aber gleich darauf, in der Karntner 
Strafie schon, und sagte: »Zur Polizeidirektion!« Er stieg aus, zahlte, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002, NACHT 49 1 

hatte nicht den Mut, den Polizeiarzt aufzusuchen, mit dem er eigent- 
lich den Fall Schinagl hatte besprechen wollen. Er wanderte ziellos 
durch die Strafien. Als es zwolf von den Tiirmen schlug, kam er just an 
der Burg vorbei, eine Sekunde vor der Wachablosung. Der Leutnant 
der Deutschmeisterkompanie kommandierte: »Kurzer Schritt!«, weil 
die Uhr im Burghof noch nicht den Mittag zu verkunden begonnen 
hatte. Der Tambour hob sein Zepter, die letzten Klange des Radetzky- 
marsches erstarben wehmutig und weckten schon ein schwaches Echo 
unter der Wolbung des Burgtors. Jetzt drohnte die Uhr im Hof, jetzt 
trommelte es sachte, wie wenn Sammetpfdtchen auf das Kalbfell schlii- 
gen, jetzt erscholl drinnen das »Gewehr heraus!«. Jetzt erschien ir- 
gendwo hinter einem Vorhang der Kaiser selbst. Eine unsagliche Trau- 
rigkeit bemachtigte sich Taittingers. Zum erstenmal nach langer Zeit 
empfand er wieder Heimweh nach der Uniform und Schmerz um die 
Armee. Die Kapelle spielte den Donauwalzer. Das Volk im Burghof 
glaubte an einem der Fenster den Kaiser erblickt zu haben. Hike und 
Hande erhoben sich. Im Hurrageschrei erstarb beinahe die Musik. Die 
Fruhlingssonne lag milde iiber der Burg und lachelte: eine junge Mut- 
ter. Das »Gott erhalte« erklang, Taittinger durchrann der alte wohlbe- 
kannte Schauer, der Soldatenschauer, der Hymnenschauer. Er stand 
da, den Hut in der Hand; er hatte lieber salutiert. 
Auf dem Weg zum »Deutschen Haus«, wo er heute mittag essen 
wollte, iiberlegte er ernstlich, ob er nicht wieder in die Armee eintreten 
sollte. Er hatte kein Geld mehr. Gut! Auch die Landwehr war ihm 
lieb. Den Befund konnte man wieder andern. Sein Freund Kalergi saft 
im Kriegsministerium. Fur die Dauer einer Stunde oder zwei sah der 
Rittmeister a.D. die ganze Vergeblichkeit seines Lebens. Das Gut, die 

Mizzi, das Volk im Prater, diese Kreutzer und dieser Trummer! 

Und auch die Wachsfiguren weckten nicht mehr das geringste Inter- 
esse. Einmal hatte er schon eine Pfaidlerei gekauft, jetzt wird er freilich 
noch ein Panoptikum beschaffen mtissen, aber dann ist's aus. Den la- 
cherlichen Rest des Guts verkaufen! Und zuriick zur Heimat! Heim in 
die Armee! Er wollte noch im Hotel ein wenig nachdenken. Er ging 
nach Haus, er setzte sich in die Halle. 

Der Portier kam und meldete ihm, da£ der junge Mann von heute 
morgen wieder da sei, in Begleitung der Dame, die jeden Tag komme, 
und man wisse nicht, was zu tun sei. Sie mochten beide herkommen, 
sagte Taittinger, - Sie kamen. Taittinger hatte sich vorgenommen, 



49^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nicht aufzustehen, aber er erhob sich: es hob ihn voiri Sessel hoch. Er 
war unfahig, vor einem Wesen in Frauenkleidern sijzen zu bleiben. 
(Wenn sich ihm ein Kleid aus irgendeinem der Mode-Schaufenster ge- 
nahert hatte, ware er ebenfalls aufgestanden.) Er lachelte sogar. Er bat, 
Platz zu nehmen. Mizzi Schinagl zog den Brief des Schuldirektors aus 
dem Sackchen und zeigte ihn Taittinger. Hierauf nahm sie auch das 
Taschentuch in die Hand. Sie praparierte schon das Weinen. Taittinger 
las ein paar Zeilen und legte den Brief auf den Tisch. Mizzi ruhrte 
schon mit dem Tuch an die Augen. Und schon mit heftig schluchzen- 
der Stimme stiefi sie den Satz hervor: »Der Bub ist ganz mifiraten!« Es 
war ein deutlicher Vorwurf. Das Werk Taittingers war mifllungen. 
»Liebes Fraulein Schinagl«, sagte Taittinger, »wie alt ist Ihr Sohn?« 
»Er wird jetzt grad' achtzehn, morgen!« 
»Ah, gratuliere!« sagte Taittinger zu Xandl. 
»Was wollen Sie jetzt anfangen?« fragte Taittinger, 
»Ich denk', und der Herr Trummer sagt's auch, er soil zu meinem 
Vater, im Geschaft helfen, und dann erbt er vielleicht das Geschaft, 
und der Vater ist ja krank!« 

»Morgen nicht«, sagte Xandl, »morgen ist mein Geburtstag!« 
»Da will ich Ihnen auch gleich was schenken«, sagte Taittinger, »da 
brauchen Sie sich morgen nicht noch einmal hierher zu bemiihen!« Er 
zog einen Hundertguldenschein aus der Brieftasche, Xandl faitete ihn 
zusammen und behielt ihn in der Faust. »Danke!« sagte er, »Sag: 
Dank' schon, Herr Baron !« rief Mizzi. »Ja«, sagte Xandl, »dank' 
schon, Herr Baron !« - Es war eine Weile still. Dann sagte Xandl plotz- 
lich: »Geh' ma, Mizzi!« und erhob sich. 

»Ich mufi auch fort!« sagte Taittinger, sah auf die Uhr und erhob sich. 
Er nahm den Hut und ging zuerst. 

»Gib mir das Geld!« sagte Mizzi zu ihrem Sohn auf der Strafte. »Fallt 
mir grad' ein!« rief Xandl. »So'n Hunderter is nix fur Frauenzimmer 
wie du!« Er ging noch neben ihr ein Stiickchen weiter, aber bei der 
nachsten Querstrafte bog er ein, ohne ein Wort zu sagen. »Xandl, 
Xandl !« rief Mizzi. Er wandte sich nicht um. Sie ging zu Fufi, durch 
die Rotenturmstrafie, am Franz-Josephs-Kai mufke sie sich setzen. Es 
war still um diese Stunde. Man horte das gute Murmeln der Donau 
hinter den dichten Goldregenbiischen. Zutrauliche Amseln kamen zur 
Mizzi auf die Bank. Sie kamen um Atzung, den Strafienmusikanten 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 493 

ahnhch, die einsammeln gehn, nachdem sie ihr Liedchen gespielt ha- 
ben. Mizzi erhob sich, sie wollte im Cafe nebenan einen Kipfel holen, 
urn die Vogel zu fiittern. Sie hatte fiir Vogel die Zarthchkeit aller klei- 
nen Frauen, deren riihrselige Dankbarkeit fiir die Zutrauiichkeit der 
Tiere. Sie zerbrockelte langsam und sparsam einen Kipfel, urn die Am- 
seln moglichst lange in der Nahe zu wissen. Sie konnte heme nicht 
allein sein. Sie wollte auch schnell zur Kreutzer und zum Trummer 
zuriick. Sie sprach leise zu den Amseln. Sie erzahlte ihnen, wie 
schlimm der Xandl sei, seit dem Augenblick seiner Ankunft. (»Und so 
goldig is er gewesen, wie er zur Welt gekommen is - und spater auch, 
wie er noch die Locken g'habt hat. Und so g'freut hat's mi, wann er 
mir Mutter gesagt hat. Und jetzt sagt er mir nimmer Mutter, Mizzi 
sagt er halt und Frauenzimmer, Frauenzimmer!«) Sie begann bitterlkh 
zu weinen. Sie hatte das Gefuhl, daft sie erst seit der Ankunft des Bu- 
ben zum erstenmal Erniedrigungen erfahren habe. Im Haus der Jose- 
phine Matzner hatte man sie freilich mifibraucht, aber niemals be- 
schimpft. Auch bei dem obligaten wochenthchen Besuch beim Arzt, 
auf der »Sitte«, hatte sie nie Krankungen gefiihlt, und spater auch 
nicht, weder in der Untersuchungshaft noch im Gefangnis. Ihr eigenes 
Kind mufke kommen, um sie zu schanden. Sie empfand in diesem Au- 
genblick das ganze Gewicht des Wortes: schanden. Dieses Wort - wie 
wunderlich - gehorte, seit sie denken konnte, zu ihrem taglichen 
Sprachschatz - jetzt erst begriff sie seine wuchtige Bedeutung. Sie er- 
hob sich, sah sich um, es war kein Wachmann in der Nahe. Sie traute 
sich auf den Rasen, trat an die Brlistung des Donau-Kanals und sah 
hinunter auf den Flufi. Vor ein paar Jahren hatte sich die rothaarige 
Karolin' in die Donau geworfen, etwas weiter oben, bei der Augarten- 
briicke; man hat sie nie gefunden. Die Matzner hat damals gesagt, daft 
die Donau nicht gerne Leichen hergibt. Sie schleppt sie bis zum Meer. 
Der Mizzi schauderte vor solch einem Tod; je langer sie auf das dahin- 
eilende Wasser blickte, desto starker wurde der Schauder; aber sie be- 
gann zugleich auch, ihre Furcht zu lieben. Sie liebte ihre Furcht vor 
dem nassen Tode. Als sie unten, am Kai-Ufer, den Helm eines Wach- 
manns aufblinken sah, kehrte sie auf die Bank zuriick. 
Sie hatte Sehnsucht nach dem Gefangnis. Dort war sie nicht so allein 
gewesen, die Zelle war klein. Aber hier draufien war die Welt grofi, 
eine kleine Frau war tausendfach einsam. Die Einsamkeit war so grofi 
wie die Welt, Die Kreutzer war eine Freundin, aber sie hatte ihren 



494 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Trummer. Wo gibrs eine Freundin, auf die man sich verlassen kann, 
wenn sie einen Mann liebt? Den Baron konnte man niemals haben. 
Das einzige, was man von ihm behalten konnte, war der Xandl - und 
der lief ihr weg, fur den war sie keine Mutter. Wenn man nur vergessen 
konnte, wie goldig er einmal gewesen ist. Vielleicht tat's ihm schon 
leid, und er erwartete seine Mutter wie jeden Nachmittag im Karussell. 
Sie ging in den Prater, sie ging langsam. Je spater sie kam, desto siche- 
rer war Xandl schon dort. Aber Xandl kam erst spat, am Abend, er 
roch nach Bier und Schnaps. Er war stiller als sonst. In seinen Augen 
blinkte ein kleines, fremdes Licht. Sie zdgerte lange, bevor sie ihn nach 
dem Hunderter fragte. Aber schliefilich war die Vorstellung, daft sie 
wenigstens siebzig Gulden retten konnte, unbezwinglich. »Hier ist 
es!« sagte Xandl. Er zog ein Biischel Zehnguldenscheine hervor. 
»2wanzig Gulden nab' ich ausgegeben. Ich hab' ein Bizykl angezahlt, 
morgen will ich's holen.« - »Gib mir den Rest!« Xandl steckte das 
Geld wieder ein. Er ging hinunter, den Esel ein biftchen anzutreiben 
und mit Schani zu sprechen. Er wollte auch seinen Reichtum zeigen. 
Schani brauchte Geld. Er hatte einen silbernen Ring mit einem echten 
Stein, aber Xandl traute weder dem Silber noch dem Juwel. Der ein- 
zige Wertgegenstand, den Schani besafl, war ein Revolver. Er verkaufte 
ihn, samt zwanzig Patronen, dem Xandl fur fiinf Gulden. Morgen 
sollte man den Revolver ausprobieren, auf der Wasserwiese, wo die 
Soldaten exerzierten und wo die Schiisse keinem Wachmann verdach- 
tig erscheinen konnten. Herr Trummer zwangte sich eben durch den 
kleinen Eingang, im Augenblick, da der Handel abgeschlossen wurde. 
Er sah die Scheine, fragte, woher sie kamen, nannte den Baron einen 
Teppen, ein narrisches Gewachs, befahl Xandl, das Geld sofort ihm 
oder der Mutter zu geben. Sonst wollte er den Wachmann holen; we- 
gen des Revolvers wiirden beide Buben eingesperrt. »Aber den Revol- 
ver behalt' ich«, sagte Schinagl konziliant. Er behielt den Revolver und 
lieferte das Geld aus. Trummer sagte der Mizzi, er wiirde es aufheben, 
solang der Bub im Hause sei. Ihm konne er's nicht stehlen wie der 
Mutter. Mizzi hielt das Geld fur verloren, und sie wurde noch trauri- 
ger. 

Sie suchte ein paar Tage nach Taittinger. Er kam nicht mehr in den 
Prater. Im Hotel traf sie ihn nicht. Sie ging in die Konditorei Schaub in 
der Petersgasse, wo sich die noblen Herren zuweilen trafen. Da saft er 
auch, mit zwei Offizieren. Sie wagte nicht, an ihn heranzugehn, nicht 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 495 

einmal, sich an einen anderen Tisch zu setzen. Sie blieb draufien. Sie 
ging vor der Tur auf und ab. Taittinger kam endlich, er war allein: 
»Pardon, Mizzi«, sagte er, »ich hab' in diesen Tagen zu tun. Eine Wo- 
che noch. Grirft Gott!« 

Er betrieb mit einer Energie, die er nie an sich gekannt hatte, seine 
Riickkehr zur Armee. In einer Woche wollte er vor der arztlichen 
Kommission erscheinen. Urn zur Infanterie transferiert zu werden, 
brauchte er noch einen Kurs von sechs Monaten. Er war jugendlich 
aufgeregt wie ein Kadett. Er hatte, wie gesagt, einen heiften Eifer, aber 
unselig kindliche Vorstellungen von dem Eifer der militarischen admi- 
nistrativen Behorden. Er glaubte, es ginge im Kriegsministerium so zu 
wie im Regiment, der Vorgesetzte befahl, der Subalterne gehorchte. 
Am Nachmittag wurde der Regiments befehl verlesen, und am nach- 
sten Tag vollfuhrte sich alles so, wie es im Befehl gestanden hatte. Aber 
so war es nicht in den Kanzleien des Ministeriums. Man sprach nicht 
zueinander, man korrespondierte. Taittingers Gesuch konnte auch der 
Oberstleutnant Kalergi nicht vor der verworrenen Wanderung bewah- 
ren, die alle Schriftstucke in der alten k.u.k. Monarchic zuriicklegen 
mufken. Der »Akt Taittinger« wuchs und schwoll an, wahrend er 
wanderte. Er hatte noch lange nicht jene Uppigkeit erreicht, die ihm 
gestattet hatte, zum Oberstleutnant Kalergi zuriickzukehren. Und 
mochte dieser auch noch so aufmerksam die Kreuz- und Querfahrten 
des Aktes iiberwachen, dieser entschlupfte immer, just in den Augen- 
blicken, in denen er ihn gerade erwischt zu haben glaubte. 
Nein, Baron Taittinger kam noch lange nicht vor die arztliche 
Kommission. 



XXIX 

An einem dieser Tage erhielt er den hochst peinlichen Besuch seiner 
»Freunde aus dem Volke«. Sie kamen gemeinsam diesmal, das Fraulein 
Kreutzer und der Herr Trummer. Taittinger safi in der Halle und sah 
sie mit einem gelinden Schrecken anriicken. Herr Trummer kam zuerst 
und fragte nach dem Baron. Im gleichen Augenblick sah er auch schon 
Taittinger vor seiner Kaffeetasse. Er schwenkte den feierlichen 
schwarzen Hut. Es sah aus, als gabe er Signale mit einer Trauerfahne. 
Er wandte sich sofort wieder dem Ausgang zu und winkte Magdalene 



49^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Kreutzer heran. Er war wiirdig schwarz gekleidet, die Kreutzer som- 
merlich bunt. Neben dem dunklen Ernst des Mannes erinnerte sie an 
ein wandelndes Gartenbeet, das vom Tod personlich betreut wird. Sie 
waren nun einmal da, Taittinger fand sich damit in einigen Sekunden 
ab, Er konnte nicht ieugnen, daft er selbst schon daran gedacht hatte, 
sie an einem dieser Tage aufzusuchen. 

Sie setzten sich sofort, sahen einander lange an, iiberlegten gleichsam 
mit den Augen, wer von ihnen zuerst sprechen sollte. Schliefilich fin- 
gen sie gleichzeitig an, hochdeutsch und mit dem gleichen Satz: »Es ist 
ein groftes Malheur passiert!« - »Was ist geschehn?« fragte Taittinger. 
»Ein Malheur! « wiederholte die Kreutzer - und sie weinte auch schon. 
»Ruhe, Leni!« befahl Trummer. Er nahm das Wort, verfiel nach zwei 
hochdeutschen Satzen wieder in den Dialekt, wurde unsicher, fragte 
immerzu: »verstanden?« - und muftte schKeftlich innehalten. Frau 
Kreutzer begann die Geschichte wieder von neuem. Das Weinen 
steckte noch in ihrer Kehle, farbte ihre Rede, erinnerte an das Miauen 
einer Katze und an Messerschleifen zugleich und hie und da an den 
durchdringenden Aufschrei einer Gabel, die auf einem Teller ausglei- 
tet. Sie betaubte Taittinger dermaften, daft er zehn Minuten lang gar 
nichts begriff. Dazu kam, daft sie selbst nicht immer zu wissen schien, 
was sie eben erzahlt hatte, denn von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihre 
Rede mit der Frage: »Wos hab' ich jetzt gesagt?« - worauf Taittinger 
schwieg und Herr Trummer wieder von vorn anfing. Jetzt, nachdem er 
sich entschlossen hatte, durchwegs beim Dialekt zu bleiben, gelang es 
ihm auch, einen Zusammenhang in den Bericht zu bringen. Es verging 
immerhin eine Viertelstunde, bevor Taittinger begriff, daft der Xandl 
etwas Schreckliches angestellt hatte - und zwar infolge der Schuld des 
Barons. 

»Schuld hob* i g'sogt!« wiederholte Trummer. 

»Allen gehorsamen Respekt, Herr Baron«, warf die Kreutzer ein, 
»aber man kann dem Buben doch kein Vermogen in die Hand geben!« 
»Was hat er denn damit angestellt?« fragte der Baron. Alles ist falsch, 
was ich mache, dachte er. Jetzt hab' ich ihm das Geld gegeben, damit 
ich Ruh' hab', und das Gegenteil ist der Fall. 

»An Murd hat er begangen!« sagte Trummer, »aber Gott sei Dank: an 
mir. Und i leb' noch! I leb' noch lang!« 

»Wieso, einen Mord?« fragte Taittinger. »Geschossen hat er halt!« 
sagte die Leni. Und sie erzahlte, noch einmal, daft Trummer das rest- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 497 

liche Geld vom Hunderter dem Xandl abgenommen hatte; den Revol- 
ver hatte der Xandl behalten. »Vorgestern abend nun, wie der Trum- 
mer das Geld vom Karussell wie gewohnt zusammenzahlt und sich 
nach Mitternacht auf den Heimweg macht, kommt ihm der Xandl ent- 
gegen und verlangt nicht nur sein Geld, sondern einen ganzen Hun- 
derter. Der Trummer holt aus zum Schlagen. Da zieht der Xandl den 
Revolver und sagt: >Hande hoch<. Aber der Trummer, der hat noch nie 
Angst vor so einem Hascherl von Rauber gehabt und gibt dem Xandl 
einen Stofi, der Bub fallt hin, und der SchuE geht los, und nun schieftt 
der Xandl wie ein Wilder noch die anderen Patronen ab, so platt auf 
der Erde liegt er und schiefk hinauf, und da 1st auch gleich die Polizei 
da. Und jetzt sitzen wir alle >in der Tinten<.« 

»Lesen S' denn gar nie a Blattl?« fragte Trummer. Er war beleidigt. Seit 
gestern stand die ganze Geschichte ausfuhrlich in der Zeitung; auch 
sein Verhor im Polizeikommissariat Leopoldstadt. Heute hat ihn so 
ein Journalist sogar gezeichnet, und sein Portrat kommt morgen in die 
Offentlichkeit. So war's. Die Mizzi safi den ganzen Tag auf der Polizei. 
Es wird ein grofier Prozeft werden, hat der Herr Kommissar gesagt, 
und die Delikte - »Dalikter«, sagte Trummer - hieften: versuchter 
Raubiiberfall und Mordversuch. Auch die Mizzi ist verhort worden, 
und sie hat ausgesagt und erzahlt, wer der Vater ist. - Und da stent's 
auch schwarz auf wei£ in der Zeitung - Trummer holte ein Blatt her- 
aus und deutete auf einen Satz. Taittinger las: »Der junge Attentater ist 
die uneheliche Frucht einer echt romantischen Liebesbeziehung zwi- 
schen der jungen Mizzi Schinagl und dem Dragoneroffizier von Adel, 
der zur besten Wiener Gesellschaft gehort, einem Baron . . .« Hier ka- 
men drei Sterne. 

Der arme Taittinger blieb versteinert sitzen. »Hatten §' nur nicht die- 
ses Siindengeld gegeben, Herr Baron !« sagte die Kreutzer. Sie hatte 
sich fest vorgenommen, dem narrischen Baron die Wahrheit zu sagen. 
Sie stellte alles Fiirchterliche dar, das nicht nur den Buben, sondern 
auch die Mizzi und den Taittinger selbst erwartete, wenn es zum Pro- 
zefi kam. Der Advokatursschreiber Pollitzer, ein Bekannter der Kreut- 
zer, hat alles gesagt, wie es kommen mud. »In anderen Landern, in 
Amerika zum Beispiel«, so hat Pollitzer gesagt, »werden Jugendliche 
ganz anders vom Gericht behandelt. Aber bei uns in Osterreich ist 
alles riickstandig.« »Weirs wahr is\« grollte Trummer. »Weil die 
Herrn kan blauen Dunst haben. Himmel Hergott sakra no amoi!« 



498 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Taittinger iiberlegte, aber er wufite ja schon langst, dafi ihn noch nie- 
mals eine Uberlegung zu irgendeinem verniinftigen Ziel gefiihrt hatte, 
Es gait vor allem, die beiden loszuwerden. Er bediente sich also einer 
Methode, die einst beim Militar in vielen Fallen geholfen hatte, wenig- 
stens eine vorlaufige Beruhigung herbeizufiihren. Er erhob sich und 
sagte: »Ich werde das Notige veranlassen!« Mit dem Bewufitsein, alles 
erreicht und dem Baron eine Niederlage beigebracht zu haben, verlie- 
fien die Kreutzer und der Trummer das Hotel. 

Im Laufe der nachsten Tage aber mufite Taittinger die Erfahrung ma- 
chen, dafi er durchaus nicht imstande war, »das Notige zu veranlas- 
sen«. Die Sache Schinagl-Trummer war bereits dem Untersuchungs- 
richter anvertraut, als Taittinger den Polizeiarzt aufsuchte. »Weifit 
du«, sagte der Doktor Stiasny, »bei uns, bei der Polizei, da lafit sich 
immer noch was machen. Bei uns, weifit du, da gibt's sozusagen Ab- 
treibungen, da sind die Geschichten noch Embryos. Aber du bist zu 
spat gekommen! Beim Untersuchungsrichter reift die Frucht langsam, 
aber sicher und unaufhaltsam. Und da gibt's auch nix zu machen. Du 
kannst grad noch verhindern, dafi beim Prozefi dein Name genannt 
wird, direkt oder indirekt. Das ubernehm ich gerne: Der Doktor Blum 
von der Gerichtssaalkorrespondenz ist mein Freund. Auch wenn von 
dir die Rede sein sollte, im Verlauf des Prozesses, so kommt nix davon 
in die Zeitungen. Lieber Baron, das ist alles, was ich fur dich machen 
kann.« 

Der Oberstleutnant Kalergi meinte ebenfalls, dafi die Affare unrettbar 
verloren sei. Taittinger begriff nicht ganz, weshalb es schwieriger sein 
sollte, etwas beim Gericht zu unternehmen als bei der Polizei. »Ein 
Richter, weifit du«, so belehrte ihn Kalergi, »ist etwas anderes als ein 
Beamter der Polizei. Die sind so was wie die Engel unter den Beamten. 
Aber dich geht ja die ganze Geschichte nur insoweit an, als sie deinem 
Gesuch um Wiederaufnahme in die Armee schaden kann. Fahr weg! 
Vorlaufig! Ich sorg 5 schon dafiir, dafi alles gutgeht.« 
Nein, Taittinger fuhr nicht weg. Eine seltsame Bangnis hielt ihn zu- 
riick. Beinahe war es schon eine Furcht des Gewissens. Schon fuhlte er 
sich schuldig und unlosbar verbunden mit fremden Schicksalen und 
Angelegenheiten. Er fuhlte selbst, dafi eine grofie Veranderung in ihm 
vorgegangen war, er wufite nicht genau, wann sie angefangen hatte. 
Vielleicht damals, als Sedlacek ihm auf der Treppe entgegengekommen 
war. Vielleicht fruher schon, im Laden Schinagls in Sievering. Viel- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 499 

leicht spater dann, als er die Mizzi im Gefangnis besucht hatte. Viel- 
leicht gar erst nach dem Abschied von der Armee. Er war jetzt sogar 
imstande, die gleichgiiltige Heiterkeit seiner fruheren Jahre zu erkla- 
ren: Ahnungslosigkeit war es gewesen. Manchmal kam es ihm vor, daft 
er lange Jahre gleichsam mit verbundenen Augen an wiisten und ge- 
fahrlichen Abgriinden vorbeigewandert und lediglich deshalb nicht ge- 
stiirzt ware, weil er sie nicht gesehn hatte. Viel zu spat hatte er sehen 
gelernt. Grofte und kleine Gefahren sah er jetzt iiberall. Gedankenlos 
begangene Handlungen, harmlos ausgefiihrte, harmlose Einfalle, 
leichtsinnig hingeworfene Redensarten und aus purer Gleichgiiltigkeit 
unterlassene Maftregeln rachten sich fiirchterlich. Langst war die Welt 
nicht so einfach mehr wie friiher; besonders nicht mehr seit der 
Stunde, in der man die Uniform abgelegt hatte. Langst gab es nicht nur 
drei einfache Kategorien von Menschen mehr: Charmante, Gleichgiil- 
tige und Langweilige, sondern vor aliem: Unerkennbare. Wie leicht 
hatte vor Jahren das nette Verhaltnis mit der netten Mizzi ausgeschaut, 
eine der vielen angenehmen Episoden, unbedeutend wie eine gute 
Mahlzeit, ein angenehmer Ritt, eine Einladung zur Jagd, eine Flasche 
Champagner, ein zweiwochentlicher Urlaub. Die Erlebnisse sahen da- 
mals, als man ihnen begegnete, bunt, heiter, schwebend aus, Man hielt 
sie an einem Faden wie Luftballons, solange sie Freude bereiteten. 
Dann, wenn sie anfingen langweilig zu werden, Heft man den Faden 
los. Sie schwebten freundlich in die Luft, man sah ihnen noch dankbar 
eine Weile nach, dann mochten sie irgendwo in den Wolken zerplat- 
zen. Aber einige waren gar nicht zerplatzt. Tuckisch unsichtbar hatten 
sie sich lange Jahre irgendwo aufgehalten, alien Naturgesetzen zum 
Trotz. Mit Ballast gefullt, fieien sie jetzt, wuchtige Gewichte, auf den 
armen Kopf Taittingers zuruck. 

Er wehrte sich nicht mehr gegen das sinnlose Pflichtgefuhl, das ihn 
jeden Tag antrieb, in den Prater zu gehn und der Mizzi, der Kreutzer 
und dem Trummer von den Mifterfolgen seiner »Demarchen« zu be- 
richten. Er konnte nichts gegen das qualende Bewufttsein, daft er an 
allem schuld war: an der Existenz Xandls, an den hundert Gulden, an 
der Grauslichkeit des Buben. Er sank - er fuhlte es wohl - in der Wert- 
schatzung des »Volkes« (denn die drei Personen waren fur ihn das 
»Volk«). »Wann i die Groftkopferten so kenna taY wie Sie!« sagte der 
Trummer. »Es g'hort nur Kurasch dazu!« meinte die Kreutzer. »Mein 
armer Bub!« schrie die Mizzi. Sie weinte leicht, schnell und gehassig. 



500 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Nicht der Kummer, sondern der Haft gebar ihre Tranen. Alle drei bil- 
deten eine feindliche Front gegen Taittinger. Selbst er, der ebenso un- 
fahig war, irgendein Mifttrauen zu empfinden, wie er aufters tande ge- 
wesen ware, etwa einer Pferdebahn nachzulaufen oder sich nach einem 
fremden Gegenstand, der auf seinem Weg lag, zu biicken: Selbst er 
entdeckte hie und da die flinken Blicke, die geheimnisvollen, die zwi- 
schen den drei Reprasentanten des Volkes liber seinen Kopf hinweg 
ausgetauscht wurden. Manchmal wurde »das Volk« auch direkt. Es 
sprach deutlich durch den Mund der Magdalene Kreutzer: »Ja, wann 
S' immer die Alimente gezahlt hatten!« und: »Mit so aner Pfaidlerei 
abfinden, wann man ein ehrliches Madchen verfuhrt hat!« - Die Ge- 
ringschatzung der drei ging so weit, daft sie nur noch selten und immer 
seltener in den Dialekt verfielen. Sie schufen gewissermaften eine hoch- 
deutsche Distanz zwischen sich und dem Baron. Er war nicht mehr 
wiirdig, Dialekt zu vernehmen. 

»Mir werden uns schon selber helfen!« sagte bedeutsam eines Tages die 
Kreutzer. 

Sie hatte einen groftartigen Einfall, wie es ihr schien. Mit Hilfe Pollit- 
zers, der fur zwei Gulden funfzig jedes gewiinschte und gebrauchte 
Gesuch abzufassen bereit ist, schreibt man an Seine Majestat person- 
lich: ein Gnadengesuch. In der Hof- und Kabinettskanzlei - sagt Pol- 
litzer - wird alles sorgfaltig gepriift. Man schreibt, daft die arme Mizzi 
von Baron Taittinger verfuhrt und mit einem Kind ohne Alimente sk- 
zengelassen wurde. Der Junge ist leichtsinnig und ohne Vater aufge- 
wachsen. Man vernichtet sein bliihendes Leben. Die allerhochste 
Gnade des Kaisers allein kann einen Knaben, einen Staatsbiirger, einen 
kunftigen treuen Soldaten vor der unbarmherzigen Strenge des Geset- 
zes retten. Zuerst meinte der Pollitzer zwar, daft man mit diesem Ge- 
such noch Zeit hatte bis zur Gerichtsverhandlung. Allein er dachte an 
die zwei Gulden funfzig - und sagte nur: »Ich schreib's - aber auf Ihre 
eigene Verantwortung!« Und er schrieb. 

Eine Viertelstunde, bevor Seine Majestat der Kaiser seine tagliche Spa- 
zierfahrt durch die Straften der Stadt Wien unternahm, kamen die Ge- 
heimen an die Kreuzungen und Straftenecken - nicht etwa, um nach 
Verdachtigen Ausschau zu halten, sondern im Gegenteil, um ihre uni- 
formierten Kollegen, die Wachleute im Straftendienst, zu warnen. 
Die Spazierfahrt des Kaisers ist ahnlich wie einer der gewohnten und 
vertrauten Feiertage: Man kennt sie schon lange, aber man erwartet sie 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 501 

wie etwas Unbekanntes. So kennen die Menschen auch den Friihling 
zum Beispiel, und sie begriifien ihn doch jedes Jahr mit der gleichen 
begierigen Freude. Die Geschaftsleute schliefSen ihre Laden und stellen 
sich am Strafknrand auf. In den grofien Warenhausern, die einige 
Stockwerke einnehmen, reifien die jungen Verkauferinnen, Naherin- 
nen, Modistinnen, ewig neugierige, ewig flatterhafte, nach Abwechs- 
lung liisterne, friihlingshaft genaschige Kinder Wiens, alle Fenster auf. 
Eine halbe Stunde lang ist Feiertag: Der Kaiser fahrt vorbei. 
Da hort man auch schon seinen Wagen, die zwei schlanken Braunen, 
die hurtig und sachte, mit empfindlichen Hufen, das Pflaster zu lieb- 
kosen scheinen, wahrend sie es treten. Auf dem Bock sitzt der Li- 
vrierte in kleiner Gala, und der Kutscher halt die Peitsche lediglich als 
Zeichen seiner Wiirde und seines Amtes. Denn kaiserliche Pferde 
brauchen keine Peitsche. Die Pferde des Kaisers wissen immer, was sie 
zu tun haben, und auch, wen sie dahinfuhren. Es ist, als ob sie es auch 
gar nicht notig gehabt hatten, vor den kaiserlichen Wagen eingespannt 
zu werden: Von selbst haben sie sich Ziigel und Geschirr angelegt. Sie 
geben dem Kutscher Richtung und Rhythmus an; nicht er ihnen. 
An diesem Tage stiirzte, als die Pferde vom Ring in die Mariahilfer 
Strafte einbogen, eine Frau aus der dichten Reihe der »Hoch«- und 
»Vivat«-Rufenden, war in einer Sekunde am Trittbrett des Wagens an- 
gelangt und warf einen Brief hinein, der dem Adjutanten auf den 
Schoft fiel. Ahnliche Vorfalle hatten sich oft ereignet, der Kaiser 
kannte sie bereits. Es waren Gnadengesuche, geschriebene Hilferufe 
seiner Untertanen. Er hatte schon viele gelesen, viele gutgeheifien, viele 
abgelehnt. Genauso aber, wie er derlei Begebenheiten fur gewohnliche, 
selbstverstandliche Folgen seines Amtes halten mochte, so erschienen 
seinen Dienern diese heftigen und iiberraschenden Bitten um Gnade 
aufierst gef ahrlkhe Symptome einer anarchistischen und bedrohlichen 
Freiheit. Die Geheimen sturzten hervor, zwei, drei, vier, funf; zu viel 
Manner fur eine einzige Frau. Der Hut fiel ihr vom Kopf, das Pompa- 
dourtaschchen aus der Hand. Ein Polizist hob beides auf. Der Kaiser 
war schon weit fort. Man brachte die Frau in die Wachstube in die 
Neubaugasse, untersuchte sie genau, wie es die Vorschrift befahl, 
nahm ihre Personalien auf. Es war Mizzi Schinagl. Sie wurde entlassen. 
Man sagte ihr, dafi sie von nun ab unter besonderer polizeilicher Bewa- 
chung stehe und gewartig sein miisse, jeden Moment vorgeladen zu 
werden. All dies bekummerte die Mizzi nicht. Sie wufite, wie alle Welt, 



502 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

dafi sie zwei Tage Arrest oder funf Gulden Strafe zu bekommen hatte. 
Die Kreutzer und der Trummer, die mit der Mizzi gekommen waren, 
um ihr Mut zu machen, begleiteten sie triumphierend in den Prater. 
»Deinem Baron sagst nix!« befahl Trummer. Der Baron war bereits ein 
erklarter Feind, fur vogelfrei erklart sozusagen. Wenn er zu friih von 
dem Gnadengesuch der Mizzi erfuhr, war er imstande, das Geld fur das 
Wachsfigurenkabinett zu verweigern. 

Mizzi Schinagl litt unter einigen peinlichen Empfindungen, wegen der 
Angaben, die sie im Gesuch gemacht hatte. Allein, sie sagte sich, daft sie 
ihren Sohn, ihr einziges Kind, ihr »Alles auf der Welt« retten muftte. 
Eine Mutter bin ich eben! sagte sie sich. Sie beschloft, spater erst, in zwei 
Tagen vielleicht, Taittinger von ihrer Tat zu berichten. Spater erst: so- 
bald das Panoptikum bezahlt ware. In zwei, drei Tagen sollte man 
abschlieften; im Cafe Zirrnagl, im Artisten-Cafe in der Praterstrafte, wie 
es eine alte Uberlieferung den Budenbesitzern vorschrieb. 



XXX 

Um funf Uhr nachmittags sollte Taittinger ins Cafe Zirrnagl kommen. 
Seit vier Uhr erwarteten ihn die Schinagl, die Kreutzer und der Trum- 
mer. Jeden von den dreien beherrschte die Furcht, der Baron konnte es 
sich im letzten Augenblick iiberlegen und also ausbleiben oder, was 
noch schlimmer war, gestern schon weggefahren sein. Man hatte ihn 
fester halten miissen! dachte die Kreutzer. 

Aber da kam er schon im Fiaker. Sie kannte seine Gewohnheit. Er liebte 
es nicht, an dem Ort vorzufahren, an dem er aussteigen sollte. Sie hatte 
Zeit genug, die breite Strafte zu (iberqueren und ihn noch rechtzeitig zu 
erreichen. 

»Ich bin hoffentlich nicht zu spat?« fragte Taittinger. »Hast du hier auf 
mich gewartet?« Er sah auf die Uhr, er war piinktlich wie immer. »Ich 
muft was schnell vorher erzahlen!« sagte Mizzi. Sie hatte gar keine 
Angst mehr vor dem Widerwillen des Barons gegen heftige und intime 
Bewegungen. Sie glaubte in diesem Augenblick zu fiihlen, daft er allein, 
von alien Menschen in der Welt er allein, ihr vertraut war. Ihr Geliebter 
war er. Sie liebte ihn mehr als ihren Sohn und ihren Vater. Sie wuftte es 
jetzt ganz genau. »Was gibt's denn, was gibt's denn?« fragte er. Er lieft 
sich in die Seitengasse fuhren. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 503 

»Ich mdcht' nicht, dafi du das Kabinett kaufst«, begann sie. Sie sagte 
du, es schien ihr selbstverstandlich, sie sprach zum erstenmal so zu 
ihm, am Tage, wie sonst nur in der Dunkelheit vertrauter Nachte. Sie 
habe selbst noch Geld genug und sie brauchte ja audi seine Hilfe 
nicht. Sie hatte nur die Ratschlage der Kreutzer befolgt, aber dies sei 
schlecht von ihr. Sie wollte nichts mehr Schlechtes anstellen. Und 
aufterdem hatte sie noch ein Gnadengesuch gemacht, fur den Xandl, 

ja- 

»Nein, Hebe Mizzi«, sagte er, mit einer Stimme, die sie nicht kannte. Er 
befreite seinen Arm. Seine Stimme kam von weitem, jede Silbe war 
eine zuschlagende metallene Tur. Die Satze schnappten ein wie einst 
der Riegel an der Zellentiir draufien. »Nein, ich zahle meine Schulden. 
Du hast dann eine sichere Existenz und der Junge auch, wenn er ein- 
mal herauskommt! - Gehn wir!« sagte er - und sie folgte ihm, einen 
halben Schritt hinter ihm, so schnell ging er dahin. Ihr Herz klopfte 
nicht mehr, obwohl sie jetzt eilen mufite, und ihr Kopf war leer, ausge- 
hdhlt und dennoch schwer. Wie eine fremde Last saft er auf ihrem 
Hals. 

Nur schnell fertig werden, dachte Taittinger, als er ins Cafe Zirrnagl 
eintrat. Da safien sie schon, der Besitzer des Panoptikums und der 
Makler und noch einer, den Taittinger noch nicht kannte. Es war der 
juristische Beirat, der den Vertrag aufsetzen sollte, der Pollitzer. Tait- 
tinger strengte sich gar nicht an, um die einzelnen Phasen des Ge- 
sprachs zu begreifen. Er bemiihte sich lediglich, die Verwirrung zu 
unterdriicken, die nicht aus ihm selber kam, sondern die von alien Sei- 
ten auf ihn einstromte, eindrang wie Wind, Gestober, Staub und Eisre- 
gen zugleich. 

Er hatte noch kaum seinen Kaffee angeruhrt, und schon mahnte der 
Pollitzer zum Aufbruch. Taittinger fragte, ob man endlich fertig sei. 
»Leider nicht, Herr Baron!« sagte Pollitzer, der hier das Wort fiihrte 
und den alle »Herr Doktor« nannten. »Wir miissen mit dem alten Per- 
coli sprechen, er wohnt nur zwei Hauser weiter. Herr Baron ziehen es 
vielleicht vor, uns hier zu erwarten?« Nein, dagegen wehrte sich etwas 
in Taittinger. Er konnte hier nicht allein bleiben, obwohl er auch etwas 
Unbehagen vor Pollitzers Lavalliere-Krawatte, vor seinem Schlapphut, 
seiner bunten Samtweste und den vielen Papieren in seiner Rocktasche 
empfand. Er ging zwei Hauser weiter. Er folgte dem Trupp, gehorsam 
wie ein Haustier und mit verdoppelter, weil muhsam gezahmter Unge- 



5O4 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

duld. Er stieg die drei Treppen empor. Er trat hinter den andren durch 
eine finstere Kiiche in ein helles, von einem Glasdach iiberdecktes Ate- 
lier. Der alte Neapolitaner blieb sitzen. 

Den Vertrag hatte Pollitzer mitgebracht, der alte Tino Percoli ver- 
pflichtete sich darin, die Aktualitaten der letzten Monate nachzulie- 
fern, gegen einen VorschufS von hundert Gulden. Er durfte innerhalb 
der Monarchic keine gleichen Modelle anbieten, an das Berliner Pan- 
optikum erst in einem Abstand von zwei Wochen. Ausgenommen war 
das Musee Grevin in Paris und iiberhaupt das Ausland. »Den Vertrag 
behalt' ich bis morgen«, sagte Percoli. »Morgen nachmittag! Ich will 
ihn allein durchlesen.« 

»Ich bitte um die Freundlichkeit, das durchzulesen, was Herrn Baron 
betrifft«, sagte Pollitzer. Taittinger mufke noch einmal ins Cafe. 
Es envies sich, dafi er siebenhundert Gulden in bar zu erlegen hatte, 
fur den Rest - achthundert rund - garantierte er. Man brachte ihm 
Tinte und Feder. Er unterschrieb mit fester und heiterer Hand. Es kam 
ihm vor, dafi er gewaltige Lasten abgeworfen, das Gewissen befreit 
hatte, Sorgen entronnen war, alien moglichen Verwicklungen und 
Peinlichkeiten. Er nahm geradezu herzlichen Abschied von alien. Er 
versprach, Sonntag zur Neueroffnung des Panoptikums zu kommen. 
Es sollte einen neuen Namen tragen. Pollitzer hatte vorgeschlagen: 
»Das Welt-Bioscop«. Der Name gefiel alien Beteiligten. Man ging trin- 
ken. Man machte nicht einmal den Versuch, den Baron einzuladen. 
Mizzi Schinagl begann plotzlich zu weinen. »Warum?« fragte man. 
»Ach so, vor Freude«, erwiderte sie. 

Die Eroffnung des neuen »Gro£en Welt-Bioscop-Theaters« fand statt 
unter dem Andrang des spektakelsiichtigen Publikums der Reichs- 
haupt- und Residenzstadt. 

Der arme Taittinger hatte gar keine Moglichkeit fernzubleiben. Er lieft 
das ganze Programm iiber sich ergehen. 

Der Vorhang ging leise kreischend auf, und Taittinger sah mafilos er- 
schrocken die Mizzi auf einem roten Thron. Es war in der Tat unmog- 
lich zu erkennen, ob sie wachsern oder lebendig war. Eine schwere, 
gelb, silbern und zugleich auch blaulich schimmernde, dreifach ge- 
schlungene Kette aus schweren, grofien Perlen zierte ihren wachsernen 
Hals und den wachsernen Ausschnitt der Biiste. Wuchtige Diamanten 
hingen an ihren Ohrlappchen. Zauberlicht kam aus einem Rundbren- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT $0$ 

ner, der sich hinter einem blauen Schleier verbarg, an der Decke. Auf 

dem Kopf trug die »Lieblingsfrau des Schahs« einen tiirkischen Halb- 

mond, gestutzt und gehalten von zwei silbernen, schmalen Pfeilen, 

zwischen denen das Haar in goldener Fiille wucherte. Reglos saft die 

Mizzi - war sie es wirklich? - auf ihrem roten Thron. 

Ja, es war die Mizzi. Sie begann jetzt mit ihrer gewohnlichen Stimme 

zu sprechen: »Seine Majestat der Schah von Persien ist sehr gut zu mir, 

einmal war ich ein armes Kind aus dem Wiener Volke. Ich herrsche 

iiber alle Frauen des Harems, und mich hat er am liebsten. Ich ge- 

denke, noch lange Jahre zu herrschen, und ich grufie Wien, die Wie- 

nerstadt und das Wiener Volk und den alten Steffl!« 

Alle klatschten. Mit hurtigem Gerassel schloft sich der Vorhang. 

»Diese Vision ist zu Ende!« verkiindete Trummer. 

Alle Welt drang nun zum Vorhang vor. Die Verwirrung benutzte Tait- 

tinger. Er ging. Er floh. 



XXXI 

Langsam zuerst, vorsichtig und dann immer heftiger begannen die Zei- 
tungen, nach langen Jahren wieder einmal von Persien zu sprechen, 
dem befreundeten Konigreich im nahen Orient und von Seiner Maje- 
stat dem Schah, dessen letzter Besuch in Wien dem Volk von Oster- 
reich, ja alien Volkern der Monarchic noch in Erinnerung sein mufke. 
Russische Aspirationen, englische Winkelziige, franzosische Intrigen 
berichteten die Korrespondenten aus Petersburg, London und Paris. 
Das »Fremdenblatt« schickte einen Journalisten nach Teheran. Er er- 
zahlte von persischen Sitten, persischen Frauen, persischen Garten, 
von der persischen Armee, von persischen Bauern. Nach einigen Arti- 
keln glaubte sich ein Wiener ebenso heimisch in Teheran wie in Dob- 
ling, Grinzing, in der Leopoldstadt und am Alsergrund. 
Nichts steht in den Zeitungen iiber Persien, was nicht eine besondere 
Bedeutung hatte, eine besondere politische Bedeutung. Die Politiker, 
die Diplomaten, die Journalisten wissen es: Der Schah von Persien 
wird noch einmal nach Wien kommen. 

Am Ballhausplatz durchstobert man die Protokolle. In der Hof- und 
Kabinettskanzlei Seiner Majestat forscht man nach dem geringsten 
Vorfall, der sich seinerzeit, beim letzten Besuch des Schahs von Per- 



506 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sien, ereignet hatte. Man blatterte auch in den alten Archiven der Wie- 
ner Sicherheitspolizei. 

In diesen Tagen hatte Lazik den glanzenden, um nicht zu sagen: unbe- 
zahlbaren Einfall, das neue »Welt-Bioscop-Theater« im Prater um eine 
Aktualitat zu bereichern. Alle Zeichnungen, Skizzen und Portrats der 
»Kronen-Zeitung« vom Besuch der persischen Majestat besafi er noch. 
Zehn Gulden zahlte Mizzi Schinagl fur die Idee. 
Es war kein Zweifel: Die Reichshaupt- und Residenzstadt bereitete 
sich auf einen Empfang der persischen Majestat vor. Alle Redaktionen 
wufiten es. Bald wufiten es alle Amtsdiener, alle Hoflakaien, alle Kut- 
scher, alle Dienstmanner, alle Wachleute. (Zuletzt erfuhren es, wie ge- 
wohnlich, die fremden Diplomaten.) 

Tino Percoli stellte fiir funfzig Gulden die »brennende Aktualitat « her: 
den Schah von Persien, den Grofiwesir und dessen Adjutanten und den 
Obereunuchen. Die Haremsfrauen waren iiberflussig. (Zur Not 
konnte man sie aus dem bereits fertigen Harem des Sultans in das neu 
zu errichtende »Persische Zimmer« ubernehmen.) In der Hof- und 
Kabinettskanzlei, im Ministerium des Innern und im Ministerium fiir 
Verkehr und Handel, in der Wiener Polizei und in der von Triest, im 
Triestiner Hafen und in der Direktion der Sudbahn: iiberall war man 
parat. Winzige Radchen, unverstandige, im unverstandlichen Betrieb 
des vielfaltigen Reiches, begannen die kleinen Beamten, mit sinnlosem 
Eifer zu surren, zu suchen, zu schreiben, zu schwirren, Berichte zu 
erstatten, Berichte entgegenzunehmen. Man erinnerte sich, dafi die 
Koffer Seiner persischen Majestat einst eine unverzeihliche, fast irrepa- 
rable Verspatung erhtten hatten. An alles erinnerte man sich. Alles 
grub man aus: Zeremonielle, Namen, Programm des Hof balls, des 
Empfangs, die Offiziere des seinerzeit an der Franz-Josephs-Bahn ge- 
stellten Ehrenregiments, die Oberstenuniform des persischen Elitere- 
giments, dessen Inhaber der Kaiser war. Man erinnerte sich auch an 
den Rittmeister Baron Alois Franz von Taittinger, der seinerzeit, 
zwecks besonderer Verwendung, von seinem Regiment detachiert ge- 
wesen war. Und einer der besonders eifrigen Beamten, Werkzeug des 
Schicksals und ahnungslos, wie die Werkzeuge des Schicksals sein sol- 
len, folgte gewissenhaft den Spuren, die Taittingers Taten und Untaten 
hinterlassen hatten, und berichtete getreulich, was er erfahren hatte, 
der Polizei. Auch hier gab es eifrige Werkzeuge des Schicksals, und sie 
schickten Berichte an das Kriegsministerium. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 507 

Um jene Zeit befand sich der Akt Taittinger in den Handen des 
Kriegsministerialrats Sackenfeld. Schon war er im Begriff gewesen, die 
Uberprufungskommission zu bestimmen und das Datum, an dem sich 
der Rittmeister vor ihr prasentieren sollte, als er den Bericht bekam mit 
der Uberschrift: »Streng geheim, betrifft Taittinger«. Er ging mit dem 
Akt und dem Bericht zum Oberstleutnant Kalergi in den linken Trakt. 
Es war beiden Herren klar, daft man jetzt, im Augenblick, an Taittin- 
gers Gesuch nicht denken durfe. 

Man mufke es dem Baron sagen. Oberstleutnant Kalergi schnallte den 
Sabel um und ging. 

Er traf Taittinger im Hotel; einen verbitterten, veranderten und, wie es 
Kalergi schien, sehr schnell gealterten Taittinger. Das runde Tischchen 
in der Hotelhalie, an dem er saE, war von einem riesigen, viereckigen 
Plakat iiberdeckt, das der Baron bekummert studierte. Er erhob sich 
schwerfallig. Obwohl Taittinger keinen Stock hatte, schien es Kalergi, 
als suitzte er sich auf einen unsichtbaren Stock. Kalergi setzte sich. 
Taittinger unterlieft die ubliche Frage nach Wohlergehen und Gesund- 
heit und Frau. 

»Du kennst ja mein ganzes Leben, Kalergi«, begann er sofort. »Du 
weiftt ja die blode Geschichte mit der Schinagl und dann die Affare. 
Und von meinem Sohn hab' ich dir audi erzahlt. - Jetzt also, vor zwei 
Wochen, hab 5 ich alles geregelt. Ich hab 1 das Panoptikum bezahlt, du 
weifk, das neue >Welt-Bioscop-Theater<. Ihr Sohn, das heiftt: mein 
Sohn, Xandl heifk er - das wirst du auch wissen, ist wegen Raubmord- 
versuchs, glaub 5 ich, eingesperrt-.« 

»Ah, die Geschichte !« sagte Kalergi. »Die hab' ich gelesen!« 
»Ja, also!« fuhr Taittinger fort. »Jetzt hab' ich naturlich, bevor ich wie- 
der in die Armee geh\ entschieden Schluft machen wollen mit den al- 
ten bidden Geschichten. Und jetzt aber, vor einer Viertelstund' eben, 
bringt mir der Trummer, es fuhrt zu weit, dir zu erklaren, wer er ist - 
aber er ist ein Freund der Mizzi -, dies Plakat - und morgen wird's in 
alien Zeitungen stehn, an alien Wanden kleben.« Taittinger schob das 
Plakat dem Oberstleutnant Kalergi zu, der las: 

»Das neue >Welt-Bioscop-Theater< zeigt aus Anlafi der Wiederkehr 
Seiner Majestat des Schahs von Persien naturgetreu und nachgebildet: 
r. Die Ankunft des groften Schahs mit seinen Adjutanten am Franz- 
Josephs-Bahnhof (Hofzug verkleinert). 



508 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

2. Den Harem und den Obereunuchen von Teheran. 

3. Die Kebsfrau von Wien, ein Kind des Volkes aus Sievering, dem 
Schah zugefuhrt von hochsten Personlichkeiten und seitdem Be- 
herrscherin des Harems in Persien. 

4. Restliche Suite des Schahs von Persien. « 

Oberstleutnant Kalergi faltete sorgfaltig das grofie Plakat zusammen, 

sehr langsam, ohne aufzusehn. Er hatte Angst, den verzweifelten Blick 

Taittingers anzuschauen. Aber er war gekommen, um ihm die Wahr- 

heit zu sagen. Er wollte anfangen. Er glattete noch ein wenig das gefal- 

tete Plakat und iiberlegte die ersten Worte. 

»Ich bin ungeduldig«, sagte Taittinger. »Verstehst du das? Ich hab' 

mein ganzes Leben leichtsinnig gehandelt, ich seh*s jetzt, aber es ist zu 

spat. Schau her - heut nab* ich mich im Spiegel angeschaut und hab' 

gesehn, dafi ich alt bin. Jetzt grad' vor dem Plakat ist mir eingefallen, 

dafi ich immer blod gewesen bin. Vielleicht hatt' ich die Helen' heira- 

ten sollen. Jetzt gibt's nix mehr fiir mich als die Armee. - Was weifit du 

Neues von meiner Sache?« 

»Eben deswegen bin ich gekommen«, sagte der Oberstleutnant. 

»Naund?« 

»Ja, Heber Freund! Die alte Geschichte, die Affare, wie du sagst! Ich 

nab* eben die Sache mit dem Sackenfeld besprochen. Du mufit warten, 

der Tepp von Teheran kommt uns dazwischen. Die Polizei grabt die 

alten Akten aus, und grad' jetzt kommst du wieder vor. Ich kann nur 

sagen: abwarten!« 

»Ich kann also nicht jetzt — ?« 

»Nein«, sagte Kalergi. »Deine blode Geschichte ist wieder da. Lieber 

ruhrt man nicht dran.« 

Taittinger sagte nur: »So« und »Danke!« Dann blieb er eine kurze 

Weile still. Es war schon spat am Abend, man entziindete die Lichter 

in der Halle. »Ich bin ein Verlorener«, sagte Taittinger. Er schwieg 

eine Weile und fragte dann schrill, mit einer Stimme, die nicht aus ihm 

selbst kam: »Also ist nichts mit dem Gesuch?« 

»Vorlaufig nichts! « erwiderte Kalergi. »Warten wir ab, bis die persi- 

sche Geschichte aus ist.« - Und, um den Freund wieder in das normale 

Leben zuriickzufuhren, fugte Kalergi hinzu: »Gehn wir zum >Anker< 

essen!« - und sah auf die Uhr. 

»Ja, ich muiS mich nur waschen!« sagte Taittinger. »Wart einen Augen- 

blick! Ich geh' ins Zimmer.« Er stand auf. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 509 

Funf Minuten spater horte Kalergi einen Schufi. Mit langem Echo 

tonte er wider auf Treppen und Korridoren. 

Man fand den Baron tot neben dem Schreibtisch. Offenbar hatte er 

versucht, etwas aufzuschreiben. Der Revolver lag noch in seiner Rech- 

ten. Der Schadel war zerschmettert. Die Augen quollen hervor. Der 

Oberstleutnant Kalergi schlofi sie muhsam. 

Man begrub Taittinger mit den iiblichen militarischen Ehren. Ein Zug 

schofi die Ehrensalve ab. Am Leichenzug nahmen teil: der Direktor 

des Hotels Prinz Eugen, Mizzi Schinagl, Magdalene Kreutzer und 

Ignaz Trummer, der Oberstleutnant Kalergi und der Ministerialrat 

Sackenfeld. 

Auf dem Riickweg fragte der Ministerialrat: »Weshalb hat er sich 

eigentlich umgebracht? Sie waren ja sozusagen dabei?« 

»Halt so!« antworte Kalergi. »Ich glaub', er hat sich verirrt im Leben. 

Derlei gibt's manchmal. Man verirrt sich halt!« 

Dies war der einzige Nachruf auf den ehemaligen Rittmeister, den 

Baron Alois Franz von Taittinger. 



XXXII 

Diesmal hatte der Kapellmeister Nechwal von der Regimentskapelle 
der Hoch- und Deutschmeister kaum drei Tage Zeit, die persische Na- 
tionaihymne mit seinen Leuten ordentlich einzuiiben. So plotzlich war 
der Befehl gekommen. Man iibte also auch aufterhalb der Dienststun- 
den. 

Der Tag, an dem die persische Majestat anlangte, war ein giitiger 
blauer Friihlingstag; einer jener Wiener Fruhlingstage, von denen das . 
kindliche Gemiit der Bevolkerung annahm, daE lediglich ihre Stadt 
imstande ware, dergleichen hervorzubringen. Die vorgeschriebenen 
drei Ehrenkompanien, eine am Perron aufgestellt, die zwei anderen 
vor dem Bahnhof Spalier bildend, vor der Menge der Neugierigen, der 
Jubelwiitigen und der Beflissenen, sahen in ihren blauen Uniformen 
wie ein integraler ararischer Bestandteil des spezifischen Wiener Friih- 
lings aus. Es war ein Friihlingstag ahnlich jenem weit zuruckliegenden, 
an dem der Schah zum erstenmal nach Wien gekommen war; so ahn- 
lich wie ein spater geborener Bruder dem altern. 
Diesmal hatte den Schah nicht die Unruhe des Blutes nach dem Okzi- 



510 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

dent gebracht, auch nicht die Neugier und kein ratselhaftes Verlangen 
nach Abwechslung. Seit einigen Monaten namlich lebte er in einer 
vollkommenen Seligkeit mit einer neu angekauften vierzehnjahrigen 
Inderin Jalmana Kahinderi, einem Geschopf aus Sanftheit und Wonne, 
ein braunes Reh, ein gutes Tier von den fernen Ufern des Ganges. Sie 
allein hatte der Schah diesmal mitgenommen und ihretwegen allein 
auch den Obereunuchen. Es war langst ein neuer Grofiwesir vorhan- 
den (den friiheren hatte seine Majestat aus plotzlichem Unwillen in 
eine mediokre Pension geschickt). Aber der Adjutant war der gleiche 
geblieben; es war immer noch der leichtlebige Kirilida Pajidzani, Lieb- 
ling des Schahs geworden im Laufe der Jahre und, verhaltnismaflig 
noch jung, dennoch befordert zum General mit dem Honorartitel 
eines Kommandanten der gesamten Reiterei. 

Der arme Taittinger freilich lag seit zehn Tagen im Grabe, und die 
Wurmer nagten schon an seinem Sarg. Statt seiner war ein anderer 
Kavallerie-Offizier, diesmal ein Ulane, zur besonderen Verwendung 
nach Wien versetzt, ein Pole namens Stanislaus Zaborski, der seinen 
Dienst ernster nahm, sei es auch nur, um den Herrschaften zu bewei- 
sen, dafi der Ruf der polnischen Unzuverlassigkeit keineswegs berech- 
tigt sei. Der Oberleutnant Zaborski stand auch nicht wie einst der 
charmante Taittinger im Bahnhofsrestaurant am Biifett, sondern auf 
dem Perron neben dem Giiterwagen. Das Gepack war diesmal auch 
ordnungsgemaft angekommen. Er stellte sich ordnungsgemafi Seiner 
Exzellenz dem Adjutanten des Groftwesirs, dem General Kirilida Pa- 
jidzani, vor. Pajidzani, an dessen Schlafen und diinnen Koteletten 
schon mattes Silber schimmerte, entsann sich des lustigen Rittmeisters 
Taittinger und fragte, ob der noch in Wien geblieben sei. »Exzellenz«, 
erwiderte der Oberleutnant Zaborski, »der Herr Rittmeister ist vor 
zehn Tagen plotzlich gestorben!« Pajidzani hatte ein oberflachliches 
Herz und ein hartes Gemut, aber auch Angst vor dem Tod, besonders 
vor einem plotzlichen. Er sagte: »Der Herr Rittmeister war doch noch 
jung?« - und dachte gleichzeitig daran, daft er selbst noch jung war. - 
»Es war ein plotzlicher Tod, Exzellenz!« wiederholte Zaborski. 
»Herzschlag?« insistierte Pajidzani. »Nein, Exzellenz!« - »Also 
Selbstmord?« - Zaborski antwortete nicht. Pajidzani atmete auf. 
Seit einigen Jahren unterhielt Pajidzani mit dem Obereunuchen bei- 
nahe briiderliche Beziehungen. Beide hatten sie eifrig daran gearbeitet, 
den Grofiwesir unmoglich zu machen. Es gelang ihnen, nun waren sie 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT JII 

auf Tod und Leben Verbiindete. Pajidzani war zwar nicht Grofiwesir 
geworden, aber immerhin General. Der Obereunuch hatte den harm- 
losen Kirilida Pajidzani gerngewonnen. Es war ein Mann nach seinem 
Herzen. Ungefahrlich, horig, leichtfertig, hilflos manchmal und fiir je- 
den Rat dankbar; gelegentlich ein williges Werkzeug. Ein vorzuglicher 
Freund! 

Zwei Tage schon nach ihrer Ankunft schlenderten beide in europai- 
schem Zivil durch die hellen Fnihlingsstrafien. Sie betrachteten die 
bunten Laden, kauften sinnlose Dinge ein, Spazierstocke, Opernguk- 
ker, Stiefel, Westen und Panamahute, Regenschirme und Hosentrager, 
Pistolen, Munition, Jagdmesser, Brieftaschen und Lederkoffer. Als sie 
durch die Karntner Strafie kamen, blieb der Obereunuch gebannt, ver- 
bliifft, beinahe erschrocken vor dem Schaufenster des Hoflieferanten 
Gwendl stehen. Auf einem breiten dunkelblauen Kissen aus Samt 
leuchteten opalen wie eine Hagelwolke, weift wie der Schnee auf den 
Gipfeln der heimatlichen Berge und blaulichrosa zugleich wie ein ge- 
witterschwangerer Himmel drei Reihen schwerer grofier Perlen, die 
dem Eunuchen vertraut waren wie Schwestern. Unvergleichlich war 
sein Blick fiir Edelsteine. Rubine, Smaragde, Saphire, Perlen, die er 
einmal mit der Hand, ja einmal nur mit den Augen betastet hatte, 
konnte er niemals vergessen. Diese Perlen - er wufke, woher sie ka- 
men. Diese Perlen hat er einmal auf Befehl seines Herrn in ein be- 
stimmtes Haus gebracht. »Du hast mir gestern«, sagte der Obereunuch 
zum General, ohne den Blick von den Perlen zu losen, »von dem Dra- 
goneroffizier erzahlt, der sich das Leben genommen hat!« - »Ja«, sagte 
Pajidzani. - »Nun, das ist ganz gut!« sagte der Obereunuch. »Komm 
mit! Du mufk dolmetschen! Ich will den Handler drin sprechen.« 
Sie gingen in den Laden, sie verlangten den Besitzer. Der General 
nannte Rang und Namen. Der Hofjuwelier Gwendl kam wiirdig die 
steile Treppe herunter. 

»Wir sind vom Gefolge Seiner Majestat des Schahs«, sagte der Obereu- 
nuch. - Und der General ubersetzte. »Woher stammen die Perlen in 
Ihrem Schaufenster?« 

Gwendl antwortete, der Wahrheit gemafj, daft er sie zuerst vom Bank- 
haus Efrussi erhalten, nach Amsterdam verkauft habe. Jetzt waren sie 
ihm wieder in Kommission zuriickgegeben worden. »Was kosten sie?« 
fragte der Obereunuch - und Pajidzani ubersetzte. »2weihunderttau- 
send Gulden!« sagte Gwendl. »Ich werde sie zuriickkaufen«, sagte der 



512 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Eunuch. Er zog einen schweren blauen Lederbeutel, loste langsam die 
dicken Schniire, die den Beutelhals umschlangen, und schiittete den 
Inhalt auf den Tisch, lauter goldene Reindln. Es waren fiinfzigtausend 
Gulden. Er verlangte, daft die Perlen morgen fur ihn bereitgelegt wiir- 
den und dafi sie sofort, im gleichen Augenblick noch, aus dem Schau- 
fenster verschwanden. Er brauchte die Bestatigung nicht, die Gwendl 
zu schreiben sich anschickte. Er sah den Zettel eine Sekunde an, zerrifi 
ihn und Kefi die weifien Papierschnkzel auf die rotlichen Dukaten nie- 
derfallen. »Morgen um diese Zeit bin ich hier!« sagte der Obereunuch 
- Pajidzani iibersetzte es. 
»Warum hast du das getan?« fragte der General. 
»Ich liebe diese Perlen !« antwortete der Obereunuch. 
Pajidzani blieb an der Ecke der Karntner Strafie und des Stephansplat- 
zes stehen. Hier lehnte eine grofie, holzerne Plakatwand. Eine bunte, 
von persischen Fahnchen eingerahmte rote Inschrift auf schwarzem 
Grunde lautete: 

»Der Schah, Seine Majestat, der Herr der glaubigen Perser und Anbe- 
ter Mohammeds in Naturahnlichkeit. - Der Harem von Teheran. - 
Die Geheimnisse des Orients. - Alles im >Grofien Welt-Bioscop-Thea- 
ter< Prater-Hauptallee!« 
»Fahren wir!« sagte Pajidzani. 



XXXIII 

Nach alter Gewohnheit liefi der Schah am Morgen den Obereunuchen 

rufen. 

Die Majestat schlurfte den gewohnten Karluma-Tee. Die Pfeife lehnte 

am Tisch, lang wie ein Wanderstab; sie schien von selbst zu rauchen. 

»Gestern hast du die Welt gesehn!« begann der Schah. »Was meinst 

du? 1st sie verandert seit dem letztenmal, da wir hier waren ?« 

»Alles verandert sich, Herr«, antwortete der Eunuch. »Und alles bleibt 

sich dennoch gleich. Dies ist meine Meinung!« 

»Hast du alte Bekannte vom letzten Besuch her wiedergesehen?« 

»Nur einen, Herr, eine Frau!« 

»Was fiir eine?« 

»Herr, sie war deine Geliebte, eine Nacht. Und ich hatte die unermefi- 

liche Ehre, ihr dein Geschenk zu uberbringen.« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 513 

»Denkt sie noch an mich? Hat sie von mir gesprochen?« 

»Ich weift es nicht, Herr! Sie hat nicht von dir gesprochen.« 

»Was hast du ihr damals geschenkt?« 

»Die schonsten Perlen, die ich in den Kisten gefunden habe, Es war ein 

wiirdiges Geschenk. Aber . . .« 

»Aber?« 

»Sie hat es nicht behalten. Ich habe die Perlen gestern im Schaufenster 

eines Ladens gesehn, Ich habe sie zuriickgekauft.« 

»Und wie ist die Frau?« 

»Herr, sie ist nicht wert, daft von ihr gesprochen werde.« 

»Und damals? War sie damals mehr wert?« 

»Damals, mein Herr, war es anders. Eure Majestat waren j linger, auch 

damals sah ich, wer sie war. Ein armes Madchen. Nach den Sitten des 

Westens eine kaufliche Ware.« 

»Sie hat mir aber damals gefallen!« 

»Herr, es war nicht dieselbe; es war nur eine ahnliche!« 

»So bin ich also blind ?« 

»Wir sind alle blind«, sagte der Obereunuch. 

Dem Schah ward es unbehaglich. Er schob den Honig, die Butter, die 

Fnichte beiseite. Er dachte nach, das heiftt, er gab sich den Anschein, 

als dachte er nach, aber sein Kopf war leer, ein ausgehohlter Kurbis. 

»So, also, so!« sagte er, Und dann: »Sie hat mir dennoch Freuden gege- 

ben!« 

»Wohl, wohl, das ist so!« bestatigte der Eunuch. 

»Sag mir noch«, begann der Schah wieder, » sag's mir auf rich tig: 

glaubst du, ich irre mich, ich irre — in andern — wichtigeren Dingen 

auch ?« 

»Herr, wenn ich aufrichtig sein mufi: es ist gewifi! Du irrst, denn du 

bist ein Mensch!« 

»Wo gibt es Sicherheit?« fragte der Schah. 

»Driiben!« sagte der Obereunuch, »driiben, wenn man tot ist.« 

»Hast du Angst vor dem Tod?« 

»Ich erwarte ihn, lange schon. Ich wundere mich, daft ich noch lebe!« 

»Geh!« sagte der Schah, rief aber im nachsten Augenblick: »Bring mir 

die Perlen zuriick!« 

Der Eunuch verneigte sich und glitt hinaus, ein behabiger Schatten. 



514 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

XXXIV 

Eine Woche spater verliefi der Schah die Reichshaupt- und Residenz- 
stadt. Der Kapellmeister Nechwal dirigierte die Regimentskapelle der 
Hoch- und Deutschmeister auf dem Perron. Die Ehrenkompanie pra- 
sentierte das Gewehr. Der Oberleutnant Zaborski nahm einen herzli- 
chen Abschied vom General Kirilida Pajidzani. Die kleine Jalmana Ka- 
hinderi stieg in einen diskret angehangten Waggon, in Begleitung eines 
alten, behabigen, immer noch munter scheinenden Herrn. Seine Maje- 
stat der Kaiser verabschiedete sich mit geiibter Herzlichkeit vom frem- 
den Monarchen. Hinter dem Fenster im Biiro des Stationsvorstands 
zeichnete der Illustrator der »Kronen-2eitung« die Abschiedszene, 
eventuelles Thema fiir den Maestro Tino Percoli oder einen seiner 
Nachfolger. 

Was das »Welt-Bioscop-Theater« betraf, so durfte es am Tag nach der 
Abreise der persischen Majestat wiederaufmachen. Mizzi Schinagl saft 
zuweilen an der Kassa, mit Perlen behangt. Manchmal dachte sie an 
den Prozefi, der ihrem Xandl bevorstand. Manchmal ging sie ins Un- 
tersuchungsgefangnis, um ihm einige starkende Sachen zu bringen, 
Kase, Salami und, hinter dem wohlwollenden Rucken des Aufsehers, 
auch Zigaretten. Niemals kam sie mit der Empfindung zunick, daft 
Xandl ihr Sohn sei und sie seine Mutter. 

Sehr selten, aber dafiir auch immer heftiger, dachte sie an den geliebten 
Taittinger. Dann wurde sie traurig. Da es aber keineswegs in ihrer 
Natur lag, traurig zu bleiben, zwang sie sich mit frohlicher Gewalt- 
samkeit, an die zweitausend Gulden zu denken, die sicher in der Post- 
sparkasse lagen, und an das gute Geschaft, das sie mit dem »Welt- 
Bioscop-Theater« machte. Sie war gesund, munter, manchmal auch 
ausgelassen. Sie gehorte zu jenen Frauen, die man ihrer knusprigen 
Fulle wegen »resch« nennt. Und sie hielt manchmal Ausschau nach 
einem Mann. 

Der alte Tino Percoli, der dem »Welt-Bioscop« immer noch Wachsfi- 
guren lieferte und der die Geschichte der Mizzi Schinagl kannte, 
pflegte manchmal zu sagen: »Ich konnte vielleicht Puppen herstellen, 
die Herz, Gewissen, Leidenschaft, Gefiihl, Sittlichkeit haben. Aber 
nach dergleichen fragt in der ganzen Welt niemand. Sie wollen nur 
Kuriositaten in der Welt; sie wollen Ungeheuer. Ungeheuer wollen 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 

Novelle 

1939 



I 



An einem Friihlingsabend des Jahres 1934 stieg ein Herr gesetzten Al- 
ters die steinernen Stufen hinunter, die von einer der Briicken iiber die 
Seine zu deren Ufern fuhren. Dort pflegen, wie fast aller Welt bekannt 
ist und was dennoch bei dieser Gelegenheit in das Gedachtnis der 
Menschen zuriickgerufen zu werden verdient, die Obdachlosen von 
Paris zu schlafen, oder besser gesagt: zu lagern. 

Einer dieser Obdachlosen nun kam dem Herrn gesetzten Alters, der 
iibrigens wohlgekleidet war und den Eindruck eines Reisenden machte, 
der die Sehenswiirdigkeiten fremder Stadte in Augenschein zu nehmen 
gesonnen war, von ungefahr entgegen. Dieser Obdachlose sah zwar 
genauso verwahrlost und erbarmungswiirdig aus wie alle die anderen, 
mit denen er sein Leben teilte, aber er schien dem wohlgekleideten 
Herrn gesetzten Alters einer besonderen Aufmerksamkeit wiirdig; 
warum, wissen wir nicht. 

Es war, wie gesagt, bereits Abend, und unter den Briicken an den 
Ufern des Flusses dunkelte es starker als oben auf dem Kai und auf den 
Briicken. Der obdachlose und sichtlich verwahrloste Mann schwankte 
ein wenig. Er schien den alteren, wohlangezogenen Herrn nicht zu 
bemerken. Dieser aber, der gar nicht schwankte, sondern sicher und 
geradewegs seine Schritte dahinlenkte, hatte schon offenbar von wei- 
tem den Schwankenden bemerkt. Der Herr gesetzten Alters vertrat 
geradezu dem verwahrlosten Mann den Weg. Beide blieben sie einan- 
der gegeniiber stehen. 

»Wohin gehen Sie, Bruder?« fragte der altere, wohlgekleidete Herr. 
Der andere sah ihn einen Augenblick an, dann sagte er: »Ich wufite 
nicht, daft ich einen Bruder hatte; und ich weifi nicht, wo mich der 
Weg hinfuhrt.« 

»Ich werde versuchen, Ihnen den Weg zu zeigen«, sagte der Herr. 
»Aber Sie sollen mir nicht bose. sein, wenn ich Sie um einen unge- 
wohnlichen Gefallen bitte.« 
»Ich bin zu jedem Dienst bereit«, antwortete der Verwahrloste. 



516 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Ich sehe zwar, dafi Sie manche Fehler machen. Aber Gott schickt Sie 
mir in den Weg. Gewift brauchen Sie Geld, nehmen Sie mir diesen Satz 
nicht iibel! Ich habe zuviel. Wollen Sie mir aufrichtig sagen, wieviel Sie 
brauchen? Wenigstens fur den Augeriblick?« 

Der andere dachte ein paar Sekunden nach, dann sagte er: »Zwanzig 
Francs. « 

»Das ist gewifi zu wenig«, erwiderte der Hern »Sie brauchen sicherlich 
zweihundert.« 

Der Verwahrloste trat einen Schritt zuriick, und es sah aus, als ob er 
fallen sollte, aber er blieb dennoch aufrecht, wenn auch schwankend. 
Dann sagte er: »Gewif5 sind mir zweihundert Francs lieber als zwan- 
zig, aber ich bin ein Mann von Ehre. Sie scheinen mich zu verkennen. 
Ich kann das Geld, das Sie mir anbieten, nicht annehmen, und zwar aus 
folgenden Griinden: erstens, weil ich nicht die Freude habe, Sie zu 
kennen; zweitens, weil ich nicht weifi, wie und wann ich es Ihnen 
zuriickgeben konnte; drittens, weil Sie auch nicht die Moglichkeit ha- 
ben, mich zu mahnen. Denn ich habe keine Adresse. Ich wohne fast 
jeden Tag unter einer anderen Briicke dieses Flusses, Dennoch bin ich, 
wie ich schon einmal betont habe, ein Mann von Ehre, wenn auch 
ohne Adresse. « 

»Auch ich habe keine Adresse«, antwortete der Herr gesetzten Alters, 
»auch ich wohne jeden Tag unter einer anderen Briicke, und ich bitte 
Sie dennoch, die zweihundert Francs - eine lacherliche Summe tibri- 
gens fur einen Mann wie Sie - freundlich anzunehmen. Was nun die 
Riickzahlung betrifft, so mufi ich weiter ausholen, um Ihnen erklarlich 
zu machen, weshalb ich Ihnen etwa keine Bank angeben kann, wo Sie 
das Geld zuriickgeben konnten. Ich bin namlich ein Christ geworden, 
weil ich die Geschichte der kleinen heiligen Therese von Lisieux gele- 
sen habe. Und nun verehre ich insbesondere jene kleine Statue der 
Heiligen, die sich in der Kapelle Ste Marie des Batignolles befindet und 
die Sie leicht sehen werden. Sobald Sie also die armseligen zweihundert 
Francs haben und Ihr Gewissen Sie zwingt, diese lacherliche Summe 
nicht schuldig zu bleiben, gehen Sie bitte in die Ste Marie des Batig- 
nolles, und hinterlegen Sie dort zu Handen des Priesters, der die Messe 
gerade gelesen hat, dieses Geld. Wenn Sie es tiberhaupt jemandem 
schulden, so ist es die kleine heilige Therese. Aber vergessen Sie nicht: 
in der Ste Marie des Batignolles. « 
»Ich sehe«, sagte da der Verwahrloste, »daft sie mich und meine Ehren- 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 517 

haftigkek vollkommen begriffen haben. Ich gebe Ihnen mein Wort, 

daft ich mein Wort halten werde. Aber ich kann nur sonntags in die 

Messe gehen.« 

»Bitte, sonntags«, sagte der altere Herr. Er zog zweihundert Francs 

aus der Brieftasche, gab sie dem Schwankenden und sagte: »Ich danke 

Ihnen !« 

»Es war mir ein Vergniigen«, antwortete dieser und verschwand als- 

bald in der tiefen Dunkelheit. 

Denn es war inzwischen unten finster geworden, indes oben, auf den 

Brticken und an den Kais, sich die silbernen Laternen entziindeten, um 

die frohliche Nacht von Paris zu verkiinden. 



II 



Auch der wohlgekleidete Herr verschwand in der Finsternis. Ihm war 
in der Tat das Wunder der Bekehrung zuteil geworden. Und er hatte 
beschlossen, das Leben der Armsten zu fiihren. Und er wohnte des- 
halb unter der Briicke. 

Aber was den anderen betrifft, so war er ein Trinker, geradezu ein 
Saufer. Er hieft Andreas. Und er lebte von Zuf alien, wie viele Trinker. 
Lange war es her, daft er zweihundert Francs besessen hatte. Und viel- 
leicht deshalb, weil es so lange her war, zog er beim kummerlichen 
Schein einer der seltenen Laternen unter einer der Brucken ein Stiick- 
chen Papier hervor und den Stumpf von einem Bleistift und schrieb 
sich die Adresse der kleinen heiligen Therese auf und die Summe von 
zweihundert Francs, die er ihr von dieser Stunde an schuldete. Er ging 
eine der Treppen hinauf, die von den Ufern der Seine zu den Kais 
hinauffuhren. Dort, das wuftte er, gab es ein Restaurant. Und er trat 
ein, und er aft und trank reichlich, und er gab viel Geld aus, und er 
nahm noch eine ganze Flasche mit, fur die Nacht, die er unter der 
Briicke zu verbringen gedachte, wie gewohnlich. Ja, er klaubte sich 
sogar noch eine Zeitung aus einem Papierkorb auf. Aber nicht, um in 
ihr zu lesen, sondern um sich mit ihr zuzudecken. Denn Zeitungen 
halten warm, das wissen alle Obdachlosen. 



ROMANE UND ERZAHLUNGEN 



III 



Am nachsten Morgen stand Andreas friiher auf, als er gewohnt war, 
denn er hatte ungewohnlich gut geschlafen. Er erinnerte sich nach lan- 
ger Uberlegung, daft er gestern ein Wunder erlebt hatte, ein Wunder. 
Und da er in dieser letzten warmen Nacht, zugedeckt von der Zeitung, 
besonders gut geschlafen zu haben glaubte, wie seit langem nicht, be- 
schlofi er auch, sich zu waschen, was er seit vielen Monaten, namlich in 
der kalteren Jahreszeit, nicht getan hatte. Bevor er aber seine Kleider 
ablegte, griff er noch einmal in die innere linke Rocktasche, wo, seiner 
Erinnerung nach, der greifbare Rest des Wunders sich befinden muftte. 
Nun suchte er eine besonders abgelegene Stelle an der Boschung der 
Seine, um sich zumindest Gesicht und Hals zu waschen. Da es ihm 
aber schien, daft iiberall Menschen, armselige Menschen seiner Art 
eben (verkommen, wie er sie auf einmal selbst im stillen nannte), seiner 
Waschung zusehen konnten, verzichtete er schliefilich auf sein Vorha- 
ben und begniigte sich damit, nur die Hande ins Wasser zu tauchen. 
Hierauf zog er sich den Rock wieder an, griff noch einmal nach dem 
Schein in der linken inneren Tasche und kam sich vollstandig gesaubert 
und geradezu verwandelt vor. 

Er ging in den Tag hinein, in einen seiner Tage, die er seit undenkli- 
chen Zeiten zu vertun gewohnt war, entschlossen, sich auch heute in 
die gewohnte Rue des Quatre Vents zu begeben, wo sich das russisch- 
armenische Restaurant Tari-Bari befand und wo er das kargliche Geld, 
das ihm der tagliche Zufall beschied, in billigen Getranken anlegte. 
Allein an dem ersten Zeitungskiosk, an dem er vorbeikam, blieb er 
stehen, angezogen von den Illustrationen mancher Wochenschriften, 
aber auch plotzlich von der Neugier erfaftt, zu wissen, welcher Tag 
heute sei, welches Datum und welchen Namen dieser Tag trage. Er 
kaufte also eine Zeitung und sah, daft es ein Donnerstag war, und erin- 
nerte sich plotzlich, daft er an einem Donnerstag geboren worden war, 
und ohne nach dem Datum zu sehen, beschloft er, diesen Donnerstag 
gerade fur seinen Geburtstag zu halten. Und da er schon von einer 
kindlichen Feiertagsfreude ergriffen war, zogerte er auch nicht mehr 
einen Augenblick, sich guten, ja edlen Vorsatzen hinzugeben und nicht 
in das Tari-Bari einzutreten, sondern, die Zeitung in der Hand, in eine 
bessere Taverne, um dort einen Kaffee, allerdings mit Rum arrosiert, 
zu nehmen und ein Butterbrot zu essen. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 519 

Er ging also, selbstbewufit, trotz seiner zerlumpten Kleidung, in ein 
biirgerliches Bistro, setzte sich an einen Tisch, er, der seit so langer 
Zeit nur an der Theke zu stehen gewohnt war, das heifk: an ihr zu 
lehnen. Er setzte sich also. Und da sich seinem Sitz gegeniiber ein Spie- 
gel befand, konnte er auch nicht umhin, sein Angesicht zu betrachten, 
und es war ihm, als machte er jetzt aufs neue mit sich selbst Bekannt- 
schaft. Da erschrak er allerdings. Er wuftte auch zugleich, weshalb er 
sich in den letzten Jahren vor Spiegeln so gefurchtet hatte. Denn es war 
nicht gut, die eigene Verkommenheit mit eigenen Augen zu sehen. 
Und solange man es nicht anschauen muftte, war es beinahe so, als 
hatte man entweder uberhaupt kein Angesicht oder noch das alte, das 
herstammte aus der Zeit vor der Verkommenheit. 
Jetzt aber erschrak er, wie gesagt, insbesondere, da er seine Physiogno- 
mic mit jenen der wohlanstandigen Manner verglich, die in seiner 
Nachbarschaft safien. Vor acht Tagen hatte er sich rasieren lassen, 
schlecht und recht, wie es eben ging, von einem seiner Schicksalsge- 
nossen, die hie und da bereit waren, einen Bruder zu rasieren, gegen 
ein geringes Entgelt. Jetzt aber gait es, da man beschlossen hatte, ein 
neues Leben zu beginnen, sich wirklich, sich endgiiltig rasieren zu las- 
sen. Er beschloft, in einen richtigen Friseurladen zu gehen, bevor er 
noch etwas bestellte. 

Gedacht, getan - und er ging in einen Friseurladen. 
Als er in die Taverne zuriickkam, war der Platz, den er vorher ein- 
genommen hatte, besetzt, und er konnte sich also nur von feme im 
Spiegel sehn. Aber es reichte vollkommen, damit er erkenne, daft er 
verandert sei, verjiingt und verschont. Ja, es war, als ginge von seinem 
Angesicht ein Glanz aus, der die Zerlumptheit der Kleider unbedeutend 
machte und die sichtlich zerschlissene Hemdbrust - und die rot-weifi 
gestreifte Krawatte, geschlungen um den Kragen mit rissigem Rand. 
Also setzte er sich, unser Andreas, und im Bewufksein seiner Erneue- 
rung bestellte er mit jener sicheren Stimme, die er dereinst besessen 
hatte und die ihm jetzt wieder, wie eine alte liebe Freundin, zuriickge- 
kommen schien, einen »cafe, arrose rhum«. Diesen bekam er auch, 
und, wie er zu bemerken glaubte, mit allem gehorigen Respekt, wie er 
sonst von Kellnern ehrwiirdigen Gasten gegeniiber bezeugt wird. Dies 
schmeichelte unserm Andreas besonders, es erhohte ihn auch, und es 
bestatigte ihm seine Annahme, daft er gerade heute Geburtstag habe. 
Ein Herr, der allein in der Nahe des Obdachlosen saft, betrachtete ihn 



520 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

langere Zeit, wandte sich um und sagte: » w /ollen Sie Geld verdienen? 
Sie konnen bei mir arbeiten. Ich iibersiedle namlich morgen. Sie konn- 
ten meiner Frau und audi den Mobelpackern helfen. Mir scheint, Sie 
sind kraftig genug. Sie konnen doch? Sie wollen doch?« 
»Gewifi will ich«, antwortete Andreas. 

»Und was verlangen Sie«, fragte der Herr, »fur eine Arbeit von zwei 
Tagen? Morgen und Samstag? Denn ich habe eine ziemlich grofte 
Wohnung, miissen Sie wissen, und ich beziehe eine noch groftere. Und 
viele Mobel habe ich auch. Und ich selbst habe in meinem Geschaft zu 
tun.« 

»Bitte, ich bin dabei!« sagte der Obdachlose. 
»Trinken Sie?« fragte der Herr. 

Und er bestellte zwei Pernods, und sie stiefien an, der Herr und der 
Andreas, und sie wurden miteinander auch iiber den Preis einig: Er 
betrug zweihundert Francs. 

»Trinken wir noch einen?« fragte der Herr, nachdem er den ersten 
Pernod geleert hatte. 

»Aber jetzt werde ich zahlen«, sagte der obdachlose Andreas. »Denn 
Sie kennen mich nicht: Ich bin ein Ehrenmann. Ein ehrlicher Arbeiter. 
Sehen Sie meine Hande!« - Und er zeigte seine Hande her. - »Es sind 
schmutzige, schwielige, aber ehrliche Arbeiterhande.« 
»Das hab' ich gern!« sagte der Herr. Er hatte funkelnde Augen, ein 
rosa Kindergesicht und genau in der Mitte einen schwarzen, kleinen 
Schnurrbart. Es war, im ganzen genommen, ein ziemlich freundlicher 
Mann, und Andreas gefiel er gut. 

Sie tranken also zusammen, und Andreas zahlte die zweite Runde. 
Und als sich der Herr mit dem Kindergesicht erhob, sah Andreas, daft 
er sehr dick war. Er zog seine Visitenkarte aus der Brieftasche und 
schrieb seine Adresse darauf. Und hierauf zog er noch einen Hundert- 
francsschein aus der gleichen Brieftasche, tiberreichte beides dem An- 
dreas und sagte dazu: »Damit Sie auch sicher morgen kommen! Mor- 
gen friih um acht! Vergessen Sie nicht! Und den Rest bekommen Sie! 
Und nach der Arbeit trinken wir wieder einen Aperitif zusammen. Auf 
Wiedersehn! lieber Freund!« - Dann ging der Herr, der dicke, mit dem 
Kindergesicht, und den Andreas verwunderte nichts mehr als dies, daft 
der dicke Mann die Adresse aus der gleichen Tasche gezogen hatte wie 
das Geld. 
Nun, da er Geld besaft und noch Aussicht hatte, mehr zu verdienen, 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 521 

beschlofi er, sich ebenfalls eine Brieftasche anzuschaffen. Zu diesem 
Zweck begab er sich auf die Suche nach einem Lederwarenladen. In 
dem ersten, der auf seinem Weg lag, stand eine junge Verkauferin. Sie 
erschien ihm sehr hubsch, wie sie so hinter dem Ladentisch stand, in 
einem strengen schwarzen Kleid, ein weifies Latzchen iiber der Brust, 
mit Lockchen am Kopf und einem schweren Goldreifen am rechten 
Handgelenk. Er nahm den Hut vor ihr ab und sagte heiter: »Ich suche 
eine Brieftasche. « Das Madchen warf einen fliichtigen Blick auf seine 
schlechte Kleidung, aber es war nichts Boses in ihrem Blick, sondern 
sie hatte den Kunden nur einfach abschatzen wollen. Denn es befanden 
sich in ihrem Laden teure, mittelteure und ganz billige Brieftaschen, 
Um uberfliissige Fragen zu ersparen, stieg sie sofort eine Leiter hinauf 
und holte eine Schachtel aus der hochsten Etagere. Dort lagerten nam- 
lich die Brieftaschen, die manche Kunden zuruckgebracht hatten, um 
sie gegen andere einzutauschen. Hierbei sah Andreas, dafi dieses Mad- 
chen sehr schone Beine und sehr schlanke Halbschuhe hatte, und er 
erinnerte sich jener halbvergessenen Zeiten, in denen er selbst solche 
Waden gestreichelt, solche Fufie gekufk hatte; aber der Gesichter erin- 
nerte er sich nicht mehr, der Gesichter der Frauen; mit Ausnahme 
eines einzigen, namlich jenes, fiir das er im Gefangnis gesessen hatte. 
Indessen stieg das Madchen von der Leiter, offnete die Schachtel, und 
er wahlte eine der Brieftaschen, die zuoberst lagen, ohne sie naher an- 
zusehen. Er zahlte und setzte den Hut wieder auf und lachelte dem 
Madchen zu, und das Madchen lachelte wieder. Zerstreut steckte er die 
neue Brieftasche ein, aber das Geld liefi er daneben liegen. Ohne Sinn 
erschien ihm plotzlich die Brieftasche. Hingegen beschaftigte er sich 
mit der Leiter, mit den Beinen, mit den Fiifien des Madchens. Deshalb 
ging er in die Richtung des Montmartre, jene Statten zu suchen, an 
denen er friiher Lust genossen hatte. In einem steilen und engen Gafi- 
chen fand er auch die Taverne mit den Madchen. Er setzte sich mit 
mehreren an einen Tisch, bezahlte eine Runde und wahlte eines von 
den Madchen, und zwar jenes, das ihm am nachsten saft. Hierauf ging 
er zu ihr. Und obwohl es erst Nachmittag war, schlief er bis in den 
grauenden Morgen - und weil die Wirte gutmixtig waren, lieften sie ihn 
schlafen. 

Am nachsten Morgen, am Freitag also, ging er zu der Arbeit, zu dem 
dicken Herrn. Dort gait es, der Hausfrau beim Einpacken zu helfen, 
und obwohl die Mobelpacker bereits ihr Werk verrichteten, blieben 



522 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

fur Andreas noch genug schwierige und weniger harte Hilfeleistungen 
iibrig. Doch spiirte er im Laufe des Tages die Kraft in seme Muskeln 
zuriickkehren und freute sich der Arbeit. Denn bei der Arbeit war er 
aufgewachsen, ein Kohlenarbeiter, wie sein Vater, und noch ein wenig 
ein Bauer, wie sein Grofivater. Hatte ihn nur die Frau des Hauses nicht 
so aufgeregt, die ihm sinnlose Befehle erteilte und ihn mit einem einzi- 
gen Atemzug hierhin und dorthin beorderte, so daft er nicht wufke, 
wo ihm der Kopf stand. Aber sie selbst war aufgeregt, er sah es ein. Es 
konnte auch ihr nicht leichtfallen, so mir nichts, dir nichts zu iibersie- 
deln, und vielleicht hatte sie auch Angst vor dem neuen Haus. Sie stand 
angezogen, im Mantel, mit Hut und Handschuhen, Taschchen und 
Regenschirm, obwohl sie doch hatte wissen miissen, daf? sie noch 
einen Tag und eine Nacht und auch morgen noch im Haus verbleiben 
musse. Von Zeit zu Zeit mufite sie sich die Lippen schminken, Andreas 
begriff es vortrefflich. Denn sie war eine Dame. 

Andreas arbeitete den ganzen Tag. AIs er fertig war, sagte die Frau des 
Hauses zu ihm: »Kommen Sie morgen punktlich urn sieben Uhr friih.« 
Sie zog ein Beutelchen aus ihrem Taschchen, Silbermiinzen lagen 
darin. Sie suchte lange, ergriff ein Zehnfrancsstiick, liefi es aber wieder 
ruhen, dann entschlofi sie sich, fiinf Francs hervorzuziehen. »Hier ein 
Trinkgeld!« sagte sie. »Aber«, so fiigte sie hinzu, »vertrinken Sie's 
nicht ganz, und seien Sie punktlich morgen hier!« 
Andreas dankte, ging, vertrank das Trinkgeld, aber nicht mehr. Er ver- 
schlief diese Nacht in einem kleinen Hotel. 

Man weckte ihn um sechs Uhr morgens. Und er ging frisch an seine 
Arbeit. 



IV 



So kam er am nachsten Morgen fruher noch als die Mobelpacker. Und 
wie am vorigen Tage stand die Frau des Hauses schon da, angekleidet, 
mit Hut und Handschuhen, als hatte sie sich gar nicht schlafen gelegt, 
und sagte zu ihm freundlich: »Ich sehe also, daft Sie gestern meiner 
Mahnung gefolgt sind und wirklich nicht alles Geld vertrunken ha- 
ben.« 

Nun machte sich Andreas an die Arbeit. Und er begleitete noch die 
Frau in das neue Haus, in das sie ubersiedelten, und wartete, bis der 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 523 

freundliche, dicke Mann kam, und der bezahlte ihm den versproche- 
nen Lohn. 

»Ich lade Sie noch auf einen Trunk ein«, sagte der dicke Herr. »Kom- 
men Sie mit.« 

Aber die Frau des Hauses verhinderte es, denn sie trat dazwischen und 
verstellte geradezu ihrem Mann den Weg und sagte: »Wir miissen 
gleich ess en. « Also ging Andreas allein weg, trank allein und afi allein 
an dies em Abend und trat noch in zwei Tavernen ein, um an den The- 
ken zu trinken. Er trank viel, aber er betrank sich nicht und gab acht, 
dafi er nicht zuviel Geld ausgabe, denn er wollte morgen, eingedenk 
seines Versprechens, in die Kapelle Ste Marie des Batignolles gehen, 
um wenigstens einen Teil seiner Schuld an die kleine heilige Therese 
abzustatten. Allerdings trank er gerade so viel, dafi er nicht mehr mit 
einem ganz sicheren Auge und mit dem Instinkt, den nur die Armut 
verleiht, das allerbilligste Hotel jener Gegend finden konnte. 
Also fand er ein etwas teureres Hotel, und auch hier zahlte er im vor- 
aus, weil er zerschlissene Kleider und kein Gepack hatte. Aber er 
machte sich gar nichts daraus und schlief ruhig, ja, bis in den Tag hin- 
ein. Er erwachte durch das Drohnen der Glocken einer nahen Kirche 
und wufite sofort, was heute fur ein wichtiger Tag sei: ein Sonntag; 
und dafi er zur kleinen heiligen Therese miisse, um ihr seine Schuld 
zuriickzuzahlen. Flugs fuhr er nun in die Kleider und begab sich 
schnellen Schrittes zu dem Platz, wo sich die Kapelle befand. Er kam 
aber dennoch nicht rechtzeitig zur Zehn-Uhr-Messe an, die Leute 
stromten ihm gerade aus der Kirche entgegen. Er fragte, wann die 
nachste Messe beginne, und man sagte ihm, sie fande um zwolf Uhr 
statt. Er wurde ein wenig ratios, wie er so vor dem Eingang der Kapelle 
stand. Er hatte noch eine Stunde Zeit, und diese wollte er keineswegs 
auf der Strafie verbringen. Er sah sich also um, wo er am besten warten 
konne, und erblickte rechts schrag gegeniiber der Kapelle ein Bistro, 
und dorthin ging er und beschlofi, die Stunde, die ihm ubrigblieb, ab- 
zuwarten. 

Mit der Sicherheit eines Menschen, der Geld in seiner Tasche weifi, 
bestellte er einen Pernod, und er trank ihn auch mit der Sicherheit 
eines Menschen, der schon viele in seinem Leben getrunken hatte. Er 
trank noch einen zweiten und einen dritten, und er schiittete immer 
weniger Wasser in sein Glas nach. Und als gar der vierte kam, wufke er 
nicht mehr, ob er zwei, funf oder sechs Glaser getrunken hatte. Auch 



524 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

erinnerte er sich nicht mehr, weshalb er in dieses Cafe und an diesen 
Ort geraten sei, Er wufite lediglich noch, dafi er hier einer Pflicht, einer 
Ehrenpflicht, zu gehorchen hatte, und er zahlte, erhob sich, ging, im- 
merhin noch sicheren Schrittes, zur Tur hinaus, erblickte die Kapelle 
schrag links gegenuber und wufite sofort wiederum, wo, warum und 
wozu er sich hier befinde. Eben wollte er den ersten Schritt in die 
Richtung der Kapelle lenken, als er plotzlich seinen Namen rufen 
horte. »Andreas!« rief eine Stimme, eine Frauenstimme. Sie kam aus 
verschiitteten Zeiten. Er hielt inne und wandte den Kopf nach rechts, 
woher die Stimme gekommen war. Und er erkannte sofort das Ge- 
sicht, dessentwegen er im Gefangnis gesessen war. Es war Karoline. 
Karoline! Zwar trug sie Hut und Kleider, die er nie an ihr gekannt 
hatte, aber es war doch ihr Gesicht, und also zogerte er nicht, ihr in die 
Arme zu fallen, die sie im Nu ausgebreitet hatte. »Welch eine Begeg- 
nung«, sagte sie. Und es war wahrhaftig ihre Stimme, die Stimme der 
Karoline. 

»Bist du allein?« fragte sie. 
»Ja«, sagte er, »ich bin allein.« 
»Komm, wir wollen uns aussprechen«, sagte sie. 
»Aber, aber«, erwiderte er, »ich bin verabredet.« 
»Mit einem Frauenzimmer?« fragte sie. 
»Ja«, sagte er furchtsam, 
»Mit wem?« 

»Mit der kleinen Therese«, antwortete er. 
»Sie hat nichts zu bedeuten«, sagte Karoline. 

In diesem Augenblick fuhr ein Taxi vorbei, und Karoline hielt es mit 
ihrem Regenschirm auf, Und schon sagte sie eine Adresse dem Chauf- 
feur, und ehe sich es noch Andreas versehen hatte, safi er drinnen im 
Wagen neben Karoline, und schon rollten sie, schon rasten sie dahin, 
wie es Andreas schien, durch teils bekannte, teils unbekannte Strafien, 
weifi Gott, in welche Gefilde! 

Jetzt kamen sie in eine Gegend aufierhalb der Stadt; lichtgriin, vor- 
fruhlingsgriin war die Landschaft, in der sie hielten, das heifit der Gar- 
ten, hinter dessen sparlichen Baumen sich ein verschwiegenes Restau- 
rant verbarg. 

Karoline stieg zuerst aus; mit dem Sturmesschritt, den er an ihr ge- 
wohnt war, stieg sie zuerst aus, iiber seine Knie hinweg. Sie zahlte, und 
er folgte ihr. Und sie gingen ins Restaurant und safien nebeneinander 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 525 

auf einer Banquette aus grunem Pliisch, wie einst in jungen Zeiten, vor 
dem Kriminal. Sie bestellte das Essen, wie immer, und sie sah ihn an, 
und er wagte nicht, sie anzusehen. 
»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?« fragte sie. 
»Uberali, nirgends«, sagte er. »Ich arbeite erst seit zwei Tagen wieder. 
Die ganze Zeit, seitdem wir uns nicht wiedergesehen haben, habe ich 
getrunken, und ich habe unter den Bnicken geschlafen, wie alle unser- 
eins, und du hast wahrscheinlich ein besseres Leben gefuhrt. - Mit 
Mannern«, fiigte er nach einiger Zeit hinzu. 

»Und du?« fragte sie. »Mktendrin, wo du versoffen bist und ohne Ar- 
beit und wo du unter den Briicken schlafst, hast du noch Zeit und 
Gelegenheit, eine Therese kennenzulernen. Und wenn ich nicht ge- 
kommen ware, zufallig, warest du wirklich zu ihr hingegangen.« 
Er antwortete nicht, er schwieg, bis sie beide das Fleisch gegessen hat- 
ten und der Kase kam und das Obst. Und wie er den letzten Schluck 
Wein aus seinem Glase getrunken hatte, uberfiel ihn aufs neue jener 
plotzliche Schrecken, den er vor langen Jahren, wahrend der Zeit sei- 
nes Zusammenlebens mit Karoiine, so oft gefuhlt hatte. Und er wollte 
ihr wieder einmal entfliehen, und er rief: »KelIner, zahlen!« Sie aber 
fuhr ihm dazwischen: »Das ist meine Sache, Kellner!« Der Kellner, es 
war ein gereifter Mann mit erfahrenen Augen, sagte: »Der Herr hat 
zuerst gerufen.« Andreas war es also auch, der zahlte. Bei dieser Gele- 
genheit hatte er das ganze Geld aus der linken inneren Rocktasche 
hervorgeholt, und nachdem er gezahlt hatte, sah er mit einigem, aller- 
dings durch Weingenuft gemildertem Schrecken, daft er nicht mehr die 
ganze Summe besaft, die er der kleinen Heiligen schuldete. Aber es 
geschehen, sagte er sich im stillen, mir heutzutage so viele Wunder 
hintereinander, daft ich wohl sicherlich die nachste Woche noch das 
schuldige Geld aufbringen und zuriickzahlen werde. 
»Du bist also ein reicher Mann«, sagte Karoiine auf der Strafte. »Von 
dieser kleinen Therese laftt du dich wohl aushalten.« 
Er erwiderte nichts, und also war sie dessen sicher, daft sie recht hatte. 
Sie verlangte, ins Kino gefuhrt zu werden. Und er ging mit ihr ins 
Kino. Nach langer Zeit sah er wieder ein Filmstuck. Aber es war schon 
so lange her, daft er eines gesehen hatte, daft er dieses kaum mehr ver- 
stand und an der Schulter der Karoiine einschlief. Hierauf gingen sie in 
ein Tanzlokal, wo man Ziehharmonika spielte, und es war schon so 
lange her, seitdem er zuletzt getanzt hatte, daft er gar nicht mehr recht 



526 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

tanzen konnte, als er es mit Karoline versuchte. Also nahmen sie ihm 
andere Tanzer weg, sie war immer noch recht frisch und begehrens- 
wert. Er safi allein am Tisch und trank wieder Pernod, und es war ihm 
wie in alten Zeiten, wo Karoline auch mit anderen getanzt und er allein 
am Tisch getrunken hatte. Infolgedessen holte er sie auch plotzlich und 
gewaltsam aus den Armen eines Tanzers weg und sagte: »Wir gehen 
nach Hause!« Fafite sie am Nacken und liefi sie nicht mehr los, zahlte 
und ging mit ihr nach Hause. Sie wohnte in der Nahe. 
Und so war alles wie in alten Zeiten, in den Zeiten vor dem Kriminal. 



Sehr friih am Morgen erwachte er. Karoline schlief noch. Ein einzelner 
Vogel zwitscherte vor dem offenen Fenster. Eine Zeitlang blieb er mit 
offenen Augen lie gen und nicht langer als ein paar Minuten. In diesen 
wenigen Minuten dachte er nach. Es kam ihm vor, daft ihm seit langer 
Zeit nicht so viel Merkwiirdiges passiert sei wie in dieser einzigen Wo- 
che. Auf einmal wandte er sein Gesicht um und sah Karoline zu seiner 
Rechten. Was er gestern bei der Begegnung mit ihr nicht gesehen hatte, 
bemerkte er jetzt: Sie war alt geworden: blafi, aufgedunsen und schwer 
atmend schlief sie den Morgenschlaf alternder Frauen. Er erkannte den 
Wandel der Zeiten, die an ihm selbst vorbeigegangen waren. Und er 
erkannte auch den Wandel seiner selbst, und er beschlofi, sofort aufzu- 
stehen, ohne Karoline zu wecken, und ebenso zufallig, oder besser 
gesagt, schicksalshaft wegzugehen, so wie sie beide, Karoline und er, 
gestern zusammengekommen waren. Verstohlen zog er sich an und 
ging davon, in einen neuen Tag hinein, in einen seiner gewohnten 
neuen Tage. 

Das heiftt, eigentlich in einen seiner ungewohnten. Denn als er in die 
linke Brusttasche griff, wo er das erst seit einiger Zeit erworbene oder 
gefundene Geld aufzuheben gewohnt war, bemerkte er, da£ ihm nur 
noch mehr ein Schein von fiinfzig Francs verblieben war und ein paar 
kleine Miinzen dazu. Und er, der schon seit langen Jahren nicht ge- 
wufk hatte, was Geld bedeute, und auf dessen Bedeutung keineswegs 
mehr achtgegeben hatte, erschrak nunmehr, so wie einer zu erschrek- 
ken pflegt, der gewohnt ist, immer Geld in der Tasche zu haben, und 
auf einmal in die Verlegenheit gerat, sehr wenig noch in ihr zu finden. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 527 

Auf einmal schien es ihm, inmitten der morgengrauen, verlassenen 
Gasse, daft er, der seit unzahligen Monaten Geldlose, plotzlich arm 
geworden sei, weil er nicht mehr so viele Scheine in der Tasche ver- 
spiirte, wie er sie in den letzten Tagen besessen hatte. Und es kam 
ihm vor, dafi die Zeit seiner Geldlosigkeit sehr, sehr weit hinter ihm 
zuriicklage und dafi er eigentlich den Betrag, welcher den ihm ge- 
biihrenden Lebensstandard aufrechterhalten sollte, ubermiitiger sowie 
auch leichtfertiger Weise fur Karoline ausgegeben hatte. 
Er war also bose auf Karoline. Und auf einmal begann er, der niemals 
auf Geldbesitz Wert gelegt hatte, den Wert des Geldes zu schatzen. 
Auf einmal fand er, dafi der Besitz eines Funfzigfrancsscheins lacher- 
lich sei fur einen Mann von solchem Wert und daft er iiberhaupt, um 
auch nur iiber den Wert seiner Personlichkeit sich selbst klarzuwer- 
den, es unbedingt notig habe, iiber sich selbst in Ruhe bei einem Glas 
Pernod nachzudenken. 

Nun suchte er sich unter den nachstliegenden Gaststatten eine aus, 
die ihm am gefalligsten schien, setzte sich dorthin und bestellte einen 
Pernod. Wahrend er ihn trank, erinnerte er sich daran, daft er eigent- 
lich ohne Aufenthaltserlaubnis in Paris lebte, und er sah seine Papiere 
nach. Und hierauf fand er, dafi er eigentlich ausgewiesen sei, denn er 
war als Kohlenarbeiter nach Frankreich gekommen, und er stammte 
aus Olschowice, aus dem polnischen Schlesien. 



VI 

Hierauf, wahrend er seine halbzerfetzten Papiere vor sich auf dem 
Tisch ausbreitete, erinnerte er sich daran, daft er eines Tages, vor vie- 
len Jahren, hierhergekommen war, weil man in der Zeitung kundge- 
macht hatte, daft man in Frankreich Kohlenarbeiter suche. Und er 
hatte sich sein Lebtag nach einem fernen Lande gesehnt. Und er hatte 
in den Gruben von Quebecque gearbeitet, und er war einquartiert ge- 
wesen bei seinen Landsleuten, dem Ehepaar Schebiec. Und er liebte 
die Frau, und da der Mann sie eines Tages zu Tode schlagen wollte, 
schlug er, Andreas, den Mann tot. Dann saft er zwei Jahre im Krimi- 
nal. 

Diese Frau war eben Karoline. 
Und dieses alles dachte Andreas im Betrachten seiner bereits ungultig 



528 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

gewordenen Papiere. Und hierauf bestellte er noch einen Pernod, denn 
er war ganz unglucklich. 

Als er sich endlich erhob, verspurte er zwar eine Art von Hunger, aber 
nur jenen, von dem lediglich Trinker befallen werden konnen. Es ist 
dies namlich eine besondere Art von Begehrlichkeit (nicht nach Nah- 
rung), die lediglich ein paar Augenblicke dauert und sofort gestillt 
wird, sobald derjenige, der sie verspiirt, sich ein bestimmtes Getrank 
vorstellt, das ihm in diesem bestimmten Moment zu behagen scheint. 
Lange schon hatte Andreas vergessen, wie er mit Vatersnamen hiefi. 
Jetzt aber, nachdem er soeben seine ungiiltigen Papiere noch einmal 
gesehen hatte, erinnerte er sich daran, dafi er Kartak hiefie: Andreas 
Kartak. Und es war ihm, als entdeckte er sich selbst erst seit langen 
Jahren wieder. 

Immerhin grollte er einigermafien dem Schicksal, das ihm nicht wie- 
der, wie das letztemal, einen dicken, schnurrbartigen, kindergesichti- 
gen Mann in dieses Cafehaus geschickt hatte, der es ihm moglich ge- 
macht hatte, neues Geld zu verdienen. Denn an nichts gewohnen sich 
die Menschen so leicht wie an Wunder, wenn sie ihnen ein-, zwei-, 
dreimal widerfahren sind. Ja! Die Natur der Menschen ist derart, dafi 
sie sogar bose werden, wenn ihnen nicht unaufhorlich all jenes zuteil 
wird, was ihnen ein zufalliges und voriibergehendes Geschick verspro- 
chen zu haben scheint. So sind die Menschen — und was wollten wir 
anderes von Andreas erwarten? Den Rest des Tages verbrachte er also 
in verschiedenen anderen Tavernen, und er gab sich bereits damit zu- 
frieden, dal? die Zeit der Wunder, die er erlebt hatte, vorbei sei, end- 
giiltig vorbei sei, und seine alte Zeit nun wieder begonnen habe. Und 
zu jenem langsamen Untergang entschlossen, zu dem Trinker immer 
bereit sind - Nuchterne werden das nie erfahren! -, begab sich Andreas 
wieder an die Ufer der Seine unter die Briicken. 

Er schlief dort, halb bei Tag und halb bei Nacht, so wie er es gewohnt 
gewesen war seit einem Jahr, hier und dort eine Flasche Schnaps auslei- 
hend bei dem und jenem seiner Schicksalsgenossen — bis zur Nacht 
des Donnerstags auf Freitag. 

In jener Nacht namlich traumte ihm, dafi die kleine Therese in der 
Gestalt eines blondgelockten Madchens zu ihm kame und ihm sagte: 
»Warum bist du letzten Sonntag nicht bei mir gewesen ?« Und die 
kleine Heilige sah genauso aus, wie er sich vor vielen Jahren seine 
eigene Tochter vorgestellt hatte. Und er hatte gar keine Tochter! Und 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 529 

im Traum sagte er zu der kleinen Therese: »Wie sprichst du zu mir? 
Hast du vergessen, daft ich dein Vater bin?« Die Kleine antwortete: 
»Verzeih, Vater, aber tu mir den Gef alien und komm iibermorgen, 
Sonntag, zu mir in die Ste Marie des BatignoIles.« 
Nach dieser Nacht, in der er diesen Traum getraumt hatte, erhob er 
sich erfrischt und wie vor einer Woche, als ihm noch die Wunder ge- 
schehen waren, so als nahme er den Traum fur ein wahres Wunder. 
Noch einmal wollte er sich am Flusse waschen. Aber bevor er seinen 
Rock zu diesem Zweck ablegte, griff er in die linke Brusttasche in der 
vagen Hoffnung, es konnte sich dort noch irgend etwas Geld befinden, 
von dem er vielleicht gar nichts gewuftt hatte. Er griff in die linke 
innere Brusttasche seines Rocjkes, und seine Hand fand dort zwar kei- 
nen Geldschein, wohl aber jene lederne Brieftasche, die er vor ein paar 
Tagen gekauft hatte. Diese zog er hervor. Es war eine aufierst billige, 
bereits verbrauchte, umgetauschte, wie nicht anders zu erwarten. 
Spaltleder. Rindsleder. Er betrachtete sie, weil er sich nicht mehr erin- 
nerte, daft, wo und wann er sie gekauft hatte. Wie kommt das zu mir? 
fragte er sich. Schlieftlich offnete er das Ding und sah, daft es zwei 
Facher hatte. Neugierig sah er in beide hinein, und in einem von ihnen 
war ein Geldschein. Und er zog ihn hervor, es war ein Tausendfrancs- 
schein. 

Hierauf steckte er die tausend Francs in die Hosentasche und ging an 
das Ufer der Seine, und ohne sich um seine Unheilsgenossen zu kum- 
mern, wusch er sich Gesicht und den Hals sogar, und dies beinahe 
frohlich. Hierauf zog er sich den Rock wieder an und ging in den Tag 
hinein, und er begann den Tag damit, daft er in ein Tabac eintrat, um 
Zigaretten zu kaufen. 

Nun hatte er zwar Kleingeld genug, um die Zigaretten bezahlen zu 
konnen, aber er wuftte nicht, bei welcher Gelegenheit er den Tausend- 
francsschein, den er so wunderbarerweise in der Brieftasche gefunden 
hatte, wechseln konnte. Denn so viel Welterfahrung besaft er schon, 
daft er ahnte, es bestiinde in den Augen der Welt, das heiftt in den 
Augen der maftgebenden Welt, ein bedeutender Gegensatz zwischen 
seiner Kleidung, seinem Aussehen und einem Schein von tausend 
Francs. Immerhin beschloft er, mutig, wie er durch das erneuerte 
Wunder geworden war, die Banknote zu zeigen. Allerdings, den Rest 
der Klugheit noch gebrauchend, der ihm verblieben war, um dem 
Herrn an der Kasse des Tabacs zu sagen: »Bitte, wenn Sie tausend 



53° ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Francs nicht wechseln konnen, gebe ich Ihnen auch Kleingeld. Ich 
mochte sie aber gerne gewechselt haben.« 

Zum Erstaunen Andreas' sagte der Herr vom Tabac: »Im Gegenteil! 
Ich brauche einen Tausendfrancsschein, Sie kommen mir sehr gele- 
gen.« Und der Besitzer wechselte den Tausendfrancsschein. Hierauf 
blieb Andreas ein wenig an der Theke stehen und trank drei Glaser 
Weifrwein; gewissermafien aus Dankbarkeit gegeniiber dem SchicksaL 



VII 

Indes er so an der Theke stand, fiel ihm eine eingerahmte Zeichnung 
auf, die hinter dem breiten Rucken des Wirtes an der Wand hing, und 
diese Zeichnung erinnerte ihn an einen alten Schulkameraden aus Ol- 
schowice. Er fragte den Wirt: »Wer ist das? Den kenne ich, glaube 
ich.« Darauf brachen sowohl der Wirt als auch samtliche Gaste, die an 
der Theke standen, in ein ungeheures Gelachter aus. Und sie riefen 
alle: »Wie, er kennt ihn nicht! « 

Denn es war in der Tat der grofte Fufiballspieler Kanjak, schlesischer 
Abkunft, alien normal en Menschen wohlbekannt. Aber woher sollten 
ihn Alkoholiker, die unter den Seine-Briicken schliefen, kennen, und 
wie, zum Beispiel, unser Andreas? Da er sich aber schamte, und insbe- 
sondere deshalb, weil er soeben einen Tausendfrancsschein gewechselt 
hatte, sagte Andreas: »Oh, natiirlich kenne ich ihn, und es ist sogar 
mein Freund. Aber die Zeichnung schien mir miftraten.« Hierauf, und 
damit man ihn nicht weiter fragte, zahlte er schnell und ging. 
Jetzt verspurte er Hunger. Er suchte also das nachste Gasthaus auf und 
aft und trank einen roten Wein und nach dem Kase einen Kaffee und 
beschlofi, den Nachmittag in einem Kino zu verbringen. Er wufite nur 
noch nicht, in welchem. Er begab sich also im Bewufttsein dessen, dafi 
er im Augenblick so viel Geld besalk, wie jeder der wohlhabenden 
Manner, die ihm auf der Strafte entgegenkommen mochten, auf die 
grofien Boulevards. Zwischen der Oper und dem Boulevard des Capu- 
cines suchte er nach einem Film, der ihm wohl gefallen mochte, und 
schlieftlich fand er einen. Das Plakat, das diesen Film ankiindigte, 
stellte namlich einen Mann dar, der in einem fernen Abenteuer offen- 
bar unterzugehen gedachte. Er schlich, wie das Plakat vorgab, durch 
eine erbarmungslose, sonnverbrannte Wiiste. In dieses Kino trat nun 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 53I 

Andreas ein. Er sah den Film vom Mann, der durch die sonnver- 
brannte Wiiste geht. Und schon war Andreas im Begriffe, den Helden 
des Films sympathisch und inn sich selbst verwandt zu fuhlen, als 
plotzlich das Kinostiick eine unerwartet gliickliche Wendung nahm 
und der Mann in der Wiiste von einer vorbeiziehenden wissenschaft- 
lichen Karawane gerettet und in den Schofi der europaischen Zivilisa- 
tion zuriickgefiihrt wurde. Hierauf verlor Andreas jede Sympathie fur 
den Helden des Films. Und schon war er im Begriff, sich zu erheben, 
als auf der Leinwand das Bild jenes Schulkameraden erschien, dessen 
Zeichnung er vor einer Weile, an der Theke stehend, hinter dem Riik- 
ken des Wirtes der Taverne gesehen hatte. Es war der grofte Fuftball- 
spieler Kanjak. Hierauf erinnerte sich Andreas, daft er einmal, vor 
zwanzig Jahren, mit Kanjak zusammen in der gleichen Schulbank ge- 
sessen hatte, und er beschlofi, sich morgen sofort zu erkundigen, ob 
sein alter Schulkollege sich in Paris aufhielte. 

Denn er hatte, unser Andreas, nicht weniger als neunhundertachtzig 
Francs in der Tasche. 
Und dies ist nicht wenig, 



VIII 

Bevor er aber das Kino verlieft, fiel es ihm ein, daft er es gar nicht notig 
hatte, bis morgen friih auf die Adresse seines Freundes und Schulka- 
meraden zu warten; insbesondere in Anbetracht der ziemlich hohen 
Summe, die er in der Tasche liegen hatte. 

Er war jetzt, in Anbetracht des Geldes, das ihm verblieb, so mutig 
geworden, daft er beschloft, sich an der Kasse nach der Adresse seines 
Freundes zu erkundigen, des beruhmten Fuftballspielers Kanjak. Er 
hatte gedacht, man muftte zu diesem Zweck den Direktor des Kinos 
personlich fragen. Aber nein! Wer war in ganz Paris so bekannt wie 
der Fuftballspieler Kanjak? Der Tursteher schon kannte seine Adresse. 
Er wohnte in einem Hotel in den Champs-Elysees. Der Tursteher 
sagte ihm auch den Namen des Hotels; und sofort begab sich unser 
Andreas auf den Weg dorthin. 

Es war ein vornehmes, kleines und stilles Hotel, gerade eines jener 
Hotels, in denen Fuftballspieler und Boxer, die Elite unserer Zeit, zu 
wohnen pflegen. Andreas kam sich in der Vorhalle etwas fremd vor, 



j}2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

und auch den Angestellten des Hotels kam er etwas fremd vor. Immer- 

hin sagten sie, der beriihmte Fuftballspieler Kanjak sei zu Hause und 

bereit, jeden Moment in die Vorhalle zu kommen. 

Nach ein paar Minuten kam er auch herunter, und sie erkannten sich 

beide sofort. Und sie tauschten im Stehen noch alte Schulerinnerungen 

aus, und hierauf gingen sie zusammen essen, und es herrschte grofie 

Frohlichkeit zwischen beiden. Sie gingen zusammen essen, und es er- 

gab sich also infolgedessen, dafi der beriihmte Fufiballspieler seinen 

verkommenen Freund folgendes fragte: 

»Warum schaust du so verkommen aus, was tragst du iiberhaupt fur 

Lumpen an deinem Leib?« 

»Es ware schrecklich«, antwortete Andreas, »wenn ich erzahlen 

wollte, wie das alles gekommen ist. Und es wurde auch die Freude an 

unserem glucklichen Zusammentreffen bedeutsam storen. Lafi uns 

dariiber lieber kein Wort verlieren. Reden wir von was Heiterem.« 

»Ich habe viele Anziige«, sagte der beriihmte Fufiballspieler Kanjak. 

»Und es wird mir eine Freude sein, dir den einen oder den anderen 

davon abzugeben. Du hast neben mir in der Schulbank gesessen, und 

du hast mich abschreiben lassen. Was bedeutet schon ein Anzug fur 

mich! Wo soil ich ihn dir hinschicken?« 

»Das kannst du nicht«, erwiderte Andreas, »und zwar einfach deshalb, 

weil ich keine Adresse habe. Ich wohne namlich seit einiger Zeit unter 

den Briicken an der Seine. « 

»So werde ich dir also«, sagte der Fufiballspieler Kanjak, »ein Zimmer 

mieten, einfach zu dem Zweck, dir einen Anzug schenken zu konnen. 

Komm!« 

Nachdem sie gegessen hatten, gingen sie hin, und der Fufiballspieler 

Kanjak mietete ein Zimmer, und dieses kostete fiinfundzwanzig 

Francs pro Tag und war gelegen in der Nahe der groftartigen Kirche 

von Paris, die unter dem Namen »Madeleine« bekannt ist. 



IX 



Das Zimmer war im funften Stock gelegen, und Andreas und der Fuft- 
ballspieler mufken den Lift bemitzen. Andreas besaft selbstverstand- 
lich kein Gepack. Aber weder der Portier noch der Liftboy noch sonst 
irgendeiner von dem Personal des Hotels verwunderte sich dariiber. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 533 

Denn es war einfach ein Wunder, und innerhalb des Wunders gibt es 

nichts Verwunderliches. Als sie beide im Zimmer oben standen, sagte 

der Fufiballspieler Kanjak zu seinem Schulbankgenossen Andreas: 

»Du brauchst wahrscheinlich eine Seife.« 

»Unsereins«, erwiderte Andreas, »kann auch ohne Seife leben. Ich ge- 

denke hier acht Tage ohne Seife zu wohnen, und ich werde mich trotz- 

dem waschen. Ich mdchte aber, dafi wir uns zur Ehre dieses Zimmers 

sofort etwas zum Trinken bestellen.« 

Und der Fufiballspieler bestellte eine Flasche Cognac. Diese tranken 

sie bis zur Neige. Hierauf verlieften sie das Zimmer und nahmen ein 

Taxi und fuhren auf den Montmartre, und zwar in jenes Cafe, wo die 

Madchen safien und wo Andreas erst ein paar Tage vorher gewesen 

war, Nachdem sie dort zwei Stunden gesessen und Erinnerungen aus 

der Schulzeit ausgetauscht hatten, fuhrte der Fufiballspieler Andreas 

nach Hause, das heifit in das Hotelzimmer, das er ihm gemietet hatte, 

und sagte zu ihm: »Jetzt ist es spat. Ich lasse dich allein. Ich schicke dir 

morgen zwei Anziige. Und - brauchst du Geld?« 

»Nein«, sagte Andreas, »ich habe neunhundertachtzig Francs, und das 

ist nicht wenig. Geh nach Hause !« 

»Ich komme in zwei oder drei Tagen«, sagte der Freund, der Fufiball- 

spieler. 



X 

Das Hotelzimmer, in dem Andreas nunmehr wohnte, hatte die Num- 
mer neunundachtzig. Sobald Andreas sich allein in diesem Zimmer be- 
fand, setzte er sich in den bequemen Lehnstuhl, der mit rosa Rips 
uberzogen war, und begann, sich umzusehn. Er sah zuerst die rotsei- 
dene Tapete, unterbrochen von zartgoldenen Papageienkopfen, an den 
Wanden drei elfenbeinerne Knopfe, rechts an der Tiirleiste und in der 
Nahe des Bettes den Nachttisch und die Lampe dariiber mit dunkel- 
griinem Schirm und ferner eine Tiir mit einem weiften Knauf, hinter 
der sich etwas Geheimnisvolles, jedenfalls fur Andreas Geheimnisvol- 
les, zu verbergen schien. Ferner gab es in der Nahe des Bettes ein 
schwarzes Telephon, dermaften angebracht, dafi auch ein im Bett Lie- 
gender das Horrohr ganz leicht mit der rechten Hand erfassen kann. 
Andreas, nachdem er lange das Zimmer betrachtet hatte und darauf 



534 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

bedacht gewesen war, sich auch mit ihm vertraut zu machen, wurde 
plotzlich neugierig. Denn die Tiir mit dem weiften Knauf irritierte ihn, 
und trotz seiner Angst und obwohl er der Hotelzimmer ungewohnt 
war, erhob er sich und beschlofi nachzusehen, wohin die Tiir fiihre. Er 
hatte gedacht, sie sei selbstverstandlich verschlossen. Aber wie grofi 
war sein Erstaunen, als sie sich freiwillig, beinahe zuvorkommend, off- 
nete! 

Er sah nunmehr, daft es ein Badezimmer war, mit glanzenden Kacheln 
und mit einer Badewanne, schimmernd und weift, und mit einer Toi- 
lette, und kurz und gut, das, was man in seinen Kreisen eine Bedurfnis- 
anstalt hatte nennen konnen. 

In diesem Augenblick auch verspiirte er das Bedurfnis, sich zu wa- 
schen, und er liefi heifies und kaltes Wasser aus den beiden Hahnen in 
die Wanne rinnen. Und wie er sich auszog, um in sie hineinzusteigen, 
bedauerte er auch, daft er keine Hemden habe, denn wie er sich das 
Hemd auszog, sah er, daft es sehr schmutzig war, und von vornherein 
schon hatte er Angst vor dem Augenblick, in dem er wieder aus dem 
Bad gestiegen und dieses Hemd anziehen miiftte. 
Er stieg in das Bad, er wuftte wohl, daft es eine lange Zeit her war, 
seitdem er sich gewaschen hatte. Er badete geradezu mit Wollust, er- 
hob sich, zog sich wieder an und wuftte nun nicht mehr, was er mit 
sich anfangen sollte. 

Mehr aus Ratlosigkeit als aus Neugier of mete er die Tiir des Zimmers, 
trat in den Korridor und erblickte hier eine junge Frau, die aus ihrem 
Zimmer gerade herauskam, wie er eben selbst. Sie war schon und jung, 
wie ihm schien. Ja, sie erinnerte ihn an die Verkauferin in dem Laden, 
wo er die Brief tasche erstanden hatte, und ein biftchen auch an Karo- 
line, und infolgedessen verneigte er sich leicht vor ihr und griiftte sie, 
und da sie ihm antwortete, mit einem Kopfnicken, faftte er sich ein 
Herz und sagte ihr geradewegs: »Sie sind schon. « 
»Auch Sie gefallen mir«, antwortete sie, »einen Augenblick! Vielleicht 
sehen wir uns morgen.« - Und sie ging dahin im Dunkel des Korri- 
dors. Er aber, liebebedurftig, wie er plotzlich geworden war, sah nach 
der Nummer ihrer Tiir, hinter der sie wohnte. 

Und es war die Nummer siebenundachtzig. Diese merkte er sich in 
seinem Herzen. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 535 

XI 

Er kehrte wieder in sein Zimmer zuriick, wartete, lauschte und war 
schon entschlossen, nicht erst den Morgen abzuwarten, um mit dem 
schonen Madchen zusammenzukommen. Denn, obwohl er durch die 
fast ununterbrochene Reihe der Wunder in den letzten Tagen bereits 
iiberzeugt war, daft sich die Gnade auf ihn niedergelassen hatte, 
glaubte er doch gerade deswegen, zu einer Art Ubermut berechtigt zu 
sein, und er nahm an, daft er gewissermaften aus Hoflichkeit der Gnade 
noch zuvorkommen miiftte, ohne sie im geringsten zu kranken. Wie er 
nun also die leisen Schritte des Madchens von Nummer siebenund- 
achtzig zu vernehmen glaubte, offnete er vorsichtig die Tur seines 
Zimmers einen Spaltbreit und sah, daE sie es wirklich war, die in ihr 
Zimmer zuruckkehrte. Was er aber freilich infolge seiner langjahrigen 
Unerfahrenheit nicht bemerkte, war der nicht geringzuschatzende 
Umstand, daft auch das schone Madchen sein Spahen bemerkt hatte. 
Infolgedessen machte sie, wie sie es Beruf und Gewohnheit gelehrt 
hatten, hastig und hurtig eine scheinbare Ordnung in ihrem Zimmer 
und loschte die Deckenlampe aus und legte sich aufs Bett und nahm 
beim Schein der Nachttischlampe ein Buch in die Hand und las darin; 
aber es war ein Buch, das sie bereits langst gelesen hatte. 
Eine Weile spater klopfte es auch zage an ihrer Tur, wie sie es auch 
erwartet hatte, und Andreas trat ein. Er blieb an der Schwelle stehen, 
obwohl er bereits die Gewiftheit hatte, daft er im nachsten Augenblick 
die Einladung bekommen wiirde naherzutreten. Denn das hubsche 
Madchen riihrte sich nicht aus ihrer Stellung, sie legte nicht einmal das 
Buch aus der Hand, sie fragte nur: »Und was wiinschen Sie?« 
Andreas, sicher geworden durch Bad, Seife, Lehnstuhl, Tapete, Papa- 
geienkopfe und Anzug, erwiderte: »Ich kann nicht bis morgen warten, 
Gnadige.« Das Madchen schwieg. 

Andreas trat naher an sie heran, fragte sie, was sie lese, und sagte auf- 
richtig: »Ich interessiere mich nicht fiir Biicher.« 

»Ich bin nur voriibergehend hier«, sagte das Madchen auf dem Bett, 
»ich bleibe nur bis Sonntag hier. Am Montag muft ich namlich in 
Cannes wieder auftreten.« 
»Als was?« fragte Andreas. 

»Ich tanze im Kasino. Ich heifte Gabby. Haben Sie den Namen noch 
nie gehort?« 



53^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Gewifi, ich kenne ihn aus den Zeitungen«, log Andreas - und er 
wollte hinzufiigen: mit denen ich mich zudecke. Aber er vermied es. 
Er setzte sich an den Rand des Bettes, und das schone Madchen hatte 
nichts dagegen. Sie legte sogar das Buch aus der Hand, und Andreas 
blieb bis zum Morgen in Zimmer siebenundachtzig. 



XII 



Am Samstagmorgen erwachte er mit dem festen Entschlufi, sich von 
dem schonen Madchen bis zu ihrer Abreise nicht mehr zu trennen. Ja, 
in ihm bluhte sogar der zarte Gedanke an eine Reise mit der jungen 
Frau nach Cannes, denn er war, wie alle armen Menschen, geneigt, 
kieine Summen, die er in der Tasche hatte (und insbesondere die trin- 
kenden armen Menschen neigen dazu), fur grofte zu halten. Er zahlte 
also am Morgen seine neunhundertachtzig Francs noch einmal nach. 
Und da sie in einer Brieftasche lagen und da diese Brieftasche in einem 
neuen Anzug steckte, hielt er die Summe um das Zehnfache vergro- 
ftert. Infolgedessen war er auch keineswegs erregt, als eine Stunde spa- 
ter, nachdem er es verlassen hatte, das schone Madchen bei ihm eintrat, 
ohne anzuklopfen, und da sie ihn fragte, wie sie beide den Samstag zu 
verbringen hatten, vor ihrer Abreise nach Cannes, sagte er aufs Gerate- 
wohl: »Fontainebleau.« Irgendwo, halb im Traum, hatte er es viel- 
leicht gehort. Er wufke jedenfalls nicht mehr, warum und wieso ihm 
dieser Ortsname auf die Zunge gekommen war. 

Sie mieteten also ein Taxi, und sie fuhren nach Fontainebleau, und dort 
erwies es sich, dafi das schone Madchen ein gutes Restaurant kannte, in 
dem man gute Speisen speisen und guten Trank trinken konnte. Und 
auch den Kellner kannte sie, und sie nannte ihn beim Vornamen. Und 
wenn unser Andreas eifersiichtig von Natur gewesen ware, so hatte er 
wohl auch bose werden konnen. Aber er war nicht eifersiichtig, und 
also wurde er auch nicht bose. Sie verbrachten eine Zeitlang beim Es- 
sen und Trinken und fuhren hierauf, noch einmal im Taxi, zuriick nach 
Paris, und auf einmal lag der strahlende Abend von Paris vor ihnen, 
und sie wufken nichts mit ihm anzufangen, eben wie Menschen nicht 
wissen, die nicht zueinander gehoren und die nur zufallig zueinander 
gestoften sind. Die Nacht breitete sich vor ihnen aus wie eine allzu 
lichte Wiiste. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 537 

Und sie wufiten nicht mehr, was miteinander anzufangen, nachdem sie 
leichtfertigerweise das wesentliche Erlebnis vergeudet hatten, das 
Mann und Frau gegeben ist. Also beschlossen sie, was den Menschen 
unserer Zeit vorbehalten bleibt, sobald sie nicht wissen, was anzufan- 
gen, ins Kino zu gehen. Und sie saften da, und es war keine Finsternis, 
nicht einmal ein Dunkel, und knapp konnte man es noch ein Halbdun- 
kel nennen. Und sie drikkten einander die Hande, das Madchen und 
unser Freund Andreas. Aber sein Handedruck war gleichgiiltig, und er 
litt selber darunter. Er selbst. Hierauf, als die Pause kam, beschloft er, 
mit dem schonen Madchen in die Halle zu gehen und zu trinken, und 
sie gingen auch beide hin, und sie tranken. Und das Kino interessierte 
ihn keineswegs mehr. Sie gingen in einer ziemlichen Beklommenheit 
ins Hotel. 

Am nachsten Morgen, es war Sonntag, erwachte Andreas in dem Be- 
wufttsein seiner Pflicht, daft er das Geld zuriickzahlen musse. Er erhob 
sich schneller als am letzten Tag und so schnell, daft das schone Mad- 
chen aus dem Schlaf aufschrak und ihn fragte: »Warum so schnell, 
Andreas ?« 

»Ich muft eine Schuld bezahlen«, sagte Andreas. 
»Wie? Heute am Sonntag?« fragte das schone Madchen. 
»Ja, heute am Sonntag«, erwiderte Andreas. 
»Ist es eine Frau oder ein Mann, dem du Geld schuldig bist?« 
»Eine Frau«, sagte Andreas zogernd. 
»Wie heiftt sie?« 
»Therese.« 

Daraufhin sprang das schone Madchen aus dem Bett, ballte die Fauste 
und schlug sie auch beide Andreas ins Gesicht. 

Und daraufhin floh er aus dem Zimmer, und er verlieft das Hotel. Und 
ohne sich weiter umzusehn, ging er in die Richtung der Ste Marie des 
Batignolles, in dem sicheren Bewufttsein, daft er heute endlich der klei- 
nen Therese die zweihundert Francs zuriickzahlen konnte. 



XIII 



Nun wollte es die Vorsehung - oder wie weniger glaubige Menschen 
sagen wurden: der Zufall-, daft Andreas wieder einmal knapp nach der 
Zehn-Uhr-Messe ankam. Und es war selbstverstandlich, daft er in der 



53$ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Nahe der Kirche das Bistro erblickte, in dem er zuletzt getrunken 
hatte, und dort trat er auch wieder ein. 

Er bestellte also zu trinken. Aber vorsichtig, wie er war und wie es 
aile Armen dieser Welt sind, selbst wenn sie Wunder iiber Wunder 
erlebt haben, sah er zuerst nach, ob er wirklich auch Geld genug be- 
safie, und er zog seine Brieftasche heraus. Und da sah er, daft von 
seinen neunhundertachtzig Francs kaum noch mehr etwas iibrig war. 
Es blieben ihm namlich nur zweihundertfunfzig. Er dachte nach und 
erkannte, daft ihm das schone Madchen im Hotel das Geld genom- 
men hatte. Aber unser Andreas machte sich gar nichts daraus. Er 
sagte sich, daft er fur jede Lust zu zahlen habe, und er hatte Lust ge- 
nossen, und er hatte also auch zu bezahlen. 

Er wollte hier abwarten, so lange, bis die Glocken lauteten, die Glok- 
ken der nahen Kapelle, um zur Messe zu gehen und um dort endlich 
die Schuld der kleinen Heiligen abzustatten. Inzwischen wollte er 
trinken, und er bestellte zu trinken. Er trank. Die Glocken, die zur 
Messe riefen, begannen zu drohnen, und er rief: »Zahlen, Kellner!«, 
zahlte, erhob sich, ging hinaus und stiefi knapp vor der Tur mit 
einem sehr groften breitschultrigen Mann zusammen. Den nannte er 
sofort: »Woitech.« Und dieser rief zu gleicher Zeit: »Andreas!« Sie 
sanken einander in die Arme, denn sie waren beide zusammen Koh- 
lenarbeiter gewesen in Quebecque, zuammen beide in einer Grube. 
»Wenn du mich hier erwarten wills t«, sagte Andreas, »zwanzig Mi- 
nuten nur, so lange, wie die Messe dauert, nicht einen Moment lin- 
ger! « 

»Grad nicht«, sagte Woitech. »Seit wann gehst du iiberhaupt in die 
Messe? Ich kann die Pfaffen nicht leiden und noch weniger die Leute, 
die zu den Pfaffen gehn.« 

»Aber ich gehe zur kleinen Therese«, sagte Andreas, »ich bin ihr 
Geld schuldig.« 

»Meinst du die kleine heilige Therese?« fragte Woitech. 
»Ja, die meine ich«, erwiderte Andreas. 
»Wieviel schuldest du ihr?« fragte Woitech. 
»Zweihundert Francs !« sagte Andreas. 
»Dann begleite ich dich!« sagte Woitech. 

Die Glocken drohnten immer noch. Sie gingen in die Kirche, und wie 
sie drinnen standen und die Messe gerade begonnen hatte, sagte Woi- 
tech mit flusternder Stimme: »Gib mir sofort hundert Francs! Ich 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 539 

erinnere mich eben, daft mich driiben einer erwartet, ich komme sonst 

ins Kriminal!« 

Unverziiglich gab ihm Andreas die ganzen zwei Hundertfrancsscheine 

die er noch besaft, und sagte: »Ich komme sofort nach.« 

Und wie er nun einsah, daft er kein Geld mehr hatte, um es der Therese 

zuruckzuzahlen, hielt er es auch fiir sinnlos, noch langer der Messe 

beizuwohnen. Nur aus Anstand wartete er noch funf Minuten und 

ging dann hiniiber in das Bistro, wo Woitech auf ihn wartete. 

Von nun an blieben sie Kumpane, denn das versprachen sie einander 

gegenseitig. 

Freilich hatte Woitech keinen Freund gehabt, dem er Geld schuldig 

gewesen ware. Den einen Hundertfrancsschein, den ihm Andreas ge- 

borgt hatte, verbarg er sorgfaltig im Taschentuch und machte einen 

Knoten darum. Fiir die andern hundert Francs lud er Andreas ein, zu 

trinken und noch einmal zu trinken und noch einmal zu trinken, und 

in der Nacht gingen sie in jenes Haus, wo die gef alii gen Madchen sa- 

ften, und dort blieben sie auch alle beide drei Tage, und als sie wieder 

herauskamen, war es Dienstag, und Woitech trennte sich von Andreas 

mit den Worten: »Sonntag sehen wir uns wieder, um dieselbe Zeit und 

an der gleichen Stelle und am selben Ort.« 

»Servus!« sagte Andreas. 

»Servus!« sagte Woitech und verschwand. 



XIV 

Es war ein regnerischer Dienstagnachmittag, und es regnete so dicht, 
daft Woitech im nachsten Augenblick tatsachlich verschwunden war. 
Jedenfalls schien es Andreas also. 

Es schien ihm, daft sein Freund verlorengegangen war im Regen, ge- 
nauso, wie er ihn zufallig getroffen hatte, und da er kein Geld mehr in 
der Tasche besaft, ausgenommen fiinfunddreiftig Francs, und ver- 
wohnt vom Schicksal, wie er sich glaubte, und der Wunder sicher, die 
ihm gewift noch geschehen wiirden, beschloft er, wie alle Armen und 
des Trunkes Gewohnten es tun, sich wieder dem Gott anzuvertrauen, 
dem einzigen, an den er glaubte. Also ging er zur Seine und die ge- 
wohnte Treppe hinunter, die zu der Heimstatte der Obdachlosen 
fuhrt. 



54° ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Hier stiefi er auf einen Mann, der eben im Begnffe war, die Treppe 

hinaufzusteigen, und der ihm sehr bekannt vorkam. Infolgedessen 

griifite Andreas ihn hoflich. Es war ein etwas alterer, gepflegt ausse- 

hender Herr, der stehenblieb, Andreas genau betrachtete und schliefi- 

lich fragte: »Brauchen Sie Geld, lieber Herr?« 

An der Stimme erkannte Andreas, dafi es jener Herr war, den er drei 

Wochen vorher getroffen hatte. Also sagte er: »Ich erinnere mich 

wohl, dafi ich Ihnen noch Geld schuldig bin, ich sollte es der heiligen 

Therese zuriickbringen. Aber es ist allerhand dazwischengekommen, 

wissen Sie. Und ich bin schon das dritte Mai daran verhindert gewesen, 

das Geld zuriickzugeben.« 

»Sie irren sich«, sagte der altere, wohlangezogene Herr, »ich habe 

nicht die Ehre, Sie zu kennen, Sie verwechseln mich offenbar, aber es 

scheint mir, dafi Sie in einer Verlegenheit sind. Und was die heilige 

Therese betrifft, von der Sie eben gesprochen haben, bin ich ihr derma- 

fien menschlich verbunden, dafi ich selbstverstandlich bereit bin, Ihnen 

das Geld vorzustrecken, das Sie ihr schuldig sind. Wieviel macht es 

denn?« 

»Zweihundert Francs «, erwiderte Andreas, »aber verzeihen Sie, Sie 

kennen mich ja nicht! Ich bin ein Ehrenmann, und Sie konnen mich 

kaum mahnen. Ich habe namlich wohl meine Ehre, aber keine Adresse. 

Ich schlafe unter einer dieser Bnicken.« 

»Oh, das macht nichts!« sagte der Herr. »Auch ich pflege da zu schla- 

fen. Und Sie erweisen mir geradezu einen Gefallen, fur den ich nicht 

genug dankbar sein kann, wenn Sie mir das Geld abnehmen. Denn 

auch ich bin der kleinen Therese soviel schuldig !« 

»Dann«, sagte Andreas, »allerdings stehe ich zu Ihrer Verfugung.« 

Er nahm das Geld, wartete eine Weile, bis der Herr die Stufen hinauf- 

geschritten war, und ging dann selber die gleichen Stufen hinauf und 

geradewegs in die Rue des Quatre Vents in sein altes Restaurant, in das 

russisch-armenische Tari-Bari, und dort blieb er bis zum Samstag- 

abend. Und da erinnerte er sich, dafi morgen Sonntag sei und dafi er in 

die Kapelle Ste Marie des Batignolles zu gehen habe. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 541 

XV 

Im Tari-Bari waren viele Leute, denn manche schliefen dort, die kein 
Obdach hatten, tagelang, nachtelang, des Tags hinter der Theke und 
des Nachts auf den Banquetten. Andreas erhob sich am Sonntag sehr 
fruh, nicht so sehr wegen der Messe, die er zu versaumen gefurchtet 
hatte, wie aus Angst vor dem Wirt, der ihn mahnen wiirde, Trank und 
Speise und Quartier fur so viele Tage zu bezahlen. 
Er irrte sich aber, denn der Wirt war bereits viel friiher aufgestanden 
als en Denn der Wirt kannte ihn schon seit langem und wufite, daft 
unser Andreas dazu neigte, jede Gelegenheit wahrzunehmen, um Zah- 
lungen auszuweichen. Infolgedessen mufite unser Andreas bezahlen, 
von Dienstag bis Sonntag, reichlich Speise und Getranke und viel mehr 
noch, als er gegessen und getrunken hatte. Denn der Wirt vom Tari- 
Bari wufite zu unterscheiden, welche von seinen Kunden rechnen 
konnten und welche nicht. Aber unser Andreas gehorte zu jenen, die 
nicht rechnen konnten, wie viele Trinker. Andreas zahlte also einen 
grofien Teil des Geldes, das er bei sich hatte, und begab sich dennoch 
in die Richtung der Kapelle Ste Marie des Batignolles. Aber er wufite 
wohl schon, dafi er nicht mehr geniigend Geld hatte, um der heiligen 
Therese alles zurtickzuzahlen. Und er dachte ebenso an seinen Freund 
Woitech, mit dem er sich verabredet hatte, genau in dem gleichen 
Mafie wie an seine kleine Glaubigerin. 

Nun also kam er in der Nahe der Kapelle an, und es war wieder leider 
nach der Zehn-Uhr-Messe, und noch einmal stromten ihm die Men- 
schen entgegen, und wie er so gewohnt den Weg zum Bistro einschlug, 
horte er hinter sich rufen, und plotzlich fuhlte er eine derbe Hand auf 
seiner Schulter. Und wie er sich umwandte, war es ein Polizist. 
Unser Andreas, der, wie wir wissen, keine Papiere hatte, wie so viele 
seinesgleichen, erschrak und griff schon in die Tasche, einfach um sich 
den Anschein zu geben, er hatte etwelche Papiere, die richtig seien. 
Der Polizist aber sagte: »Ich weifi schon, was Sie suchen. In der Tasche 
suchen Sie es vergeblich! Ihre Brieftasche haben Sie eben verloren. 
Hier ist sie, und«, so fugte er noch scherzhaft hinzu, »das kommt da- 
von, wenn man Sonntag am fruhen Vormittag schon so viele Aperitifs 
getrunken hat! . . .« 

Andreas ergriff schnell die Brieftasche, hatte kaum Gelassenheit genug, 
den Hut zu liiften, und ging stracks ins Bistro hinuber. 



54^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Dort fand er den Woitech bereits vor und erkannte ihn nicht auf den 
ersten Blick, sondern erst nach einer langeren Weile. Dann aber be- 
griifke ihn unser Andreas um so herzlicher. Und sie konnten gar nicht 
aufhoren, beide einander wechselseitig einzuladen, und Woitech, hof- 
lich, wie die meisten Menschen es sind, stand von der Banquette auf 
und bot Andreas den Ehrenplatz an und ging, so schwankend er auch 
war, um den Tisch herum, setzte sich gegeniiber auf einen Stuhl und 
redete Hoflichkeiten. Sie tranken lediglich Pernod. 
»Mir ist wieder etwas Merkwiirdiges geschehen«, sagte Andreas. »Wie 
ich da zu unserem Rendezvous heriibergehen will, fafit mich ein Poli- 
zist an der Schulter und sagt: >Sie haben Ihre Brieftasche verloren.< 
Und gibt mir eine, die mir gar nicht gehort, und ich stecke sie ein, und 
jetzt will ich nachschauen, was es eigentlich ist.« 
Und damit zieht er die Brieftasche heraus und sieht nach, und es liegen 
darin mancherlei Papiere, die ihn nicht das geringste angehen, und er 
sieht auch Geld darin und zahlt die Scheine, und es sind genau zwei- 
hundert Francs. Und da sagt Andreas: »Siehst du! Das ist ein Zeichen 
Gottes. Jetzt gehe ich himiber und zahle endlich mein Geld!« 
»Dazu«, antwortet Woitech, »hast du ja Zeit, bis die Messe zu Ende 
ist. Wozu brauchst du denn die Messe? Wahrend der Messe kannst du 
nichts zuriickzahlen. Nach der Messe gehst du in die Sakristei, und 
inzwischen trinken wir!« 
»Naturlich, wie du willst«, antwortete Andreas. 

In diesem Augenblick tat sich die Tiir auf, und wahrend Andreas ein 
unheimliches Herzweh verspurte und eine grofte Schwache im Kopf, 
sah er, daft ein junges Madchen hereinkam und sich genau ihm gegen- 
iiber auf die Banquette setzte. Sie war sehr jung, so jung, wie er noch 
nie ein Madchen gesehen zu haben glaubte, und sie war ganz himmel- 
blau angezogen. Sie war namlich blau, wie nur der Himmel blau sein 
kann, an manchen Tagen, und auch nur an gesegneten. 
So schwankte er also hiniiber, verbeugte sich und sagte zu dem jungen 
Kind: »Was machen Sie hier?« 

»Ich warte auf meine Eltern, die eben aus der Messe kommen; die 
woilen mich hier abholen. Jeden vierten Sonntag«, sagte sie und war 
ganz verschiichtert vor dem alteren Mann, der sie so plotzlich ange- 
sprochen hatte. Sie fiirchtete sich ein wenig vor ihm. 
Andreas fragte darauf: »Wie heiften Sie?« 
»Therese«, sagte sie. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 543 

»Ah«, rief Andreas darauf, »das ist reizend! Ich habe nicht gedacht, 
dafi eine so grofte, eine so kleine Heilige, eine so grofie und so kleine 
Glaubigerin mir die Ehre erweist, mich aufzusuchen, nachdem ich so 
lange nicht zu ihr gekommen war.« 

»Ich verstehe nicht, was Sie reden«, sagte das kleine Fraulein ziemiich 
verwirrt. 

»Das ist nur Ihre Feinheit«, erwiderte hier Andreas. »Das ist nur Ihre 
Feinheit, aber ich weii? sie zu schatzen. Ich bin Ihnen seit langem zwei- 
hundert Francs schuldig, und ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie 
Ihnen zuriickzugeben, heiliges Fraulein !« 

»Sie sind mir kein Geld schuldig, aber ich habe welches im Taschchen, 
hier, nehmen Sie und gehen Sie. Denn meine Eltern kommen bald.« 
Und somit gab sie ihm einen Hundertfrancsschein aus ihrem Tasch- 
chen. 

All dies sah Woitech im Spiegel, und er schwankte auf aus seinem Ses- 
sel und bestellte zwei Pernods und wollte eben unseren Andreas an die 
Theke schleppen, damit er mittrinke. Aber wie Andreas sich eben an- 
schickt, an die Theke zu treten, fallt er um wie ein Sack, und alle Men- 
schen im Bistro erschrecken und Woitech auch. Und am meisten das 
Madchen, das Therese heifit. Und man schleppt ihn, weil in der Nahe 
kein Arzt und keine Apotheke ist, in die Kapelle, und zwar in die 
Sakristei, weil Priester doch etwas von Sterben und Tod verstehen, wie 
die unglaubigen Kellner trotzdem glaubten; und das Fraulein, das The- 
rese heiftt, kann nicht umhin und geht mit. 

Man bringt also unsern armen Andreas in die Sakristei, und er kann 
leider nichts mehr reden, er macht nur eine Bewegung, als wollte er in 
die linke innere Rocktasche greifen, wo das Geld, das er der kleinen 
Glaubigerin schuldig ist, liegt, und er sagt: »Fraulein Therese !« - und 
tut seinen letzten Seufzer und stirbt. 

Gebe Gott uns alien, uns Trinkern, einen so leichten und so schonen 
Tod! 



DER LEVIATHAN 

Novelle 
1940 

I 

In dem kleinen Stadtchen Progrody lebte einst ein Korallenhandler, 
der wegen seiner Redlichkeit und wegen seiner guten, zuverlassigen 
Ware weit und breit in der Umgebung bekannt war. Aus den fernen 
Dorfern kamen die Bauerinnen zu ihm, wenn sie zu besonderen Anlas- 
sen einen Schmuck brauchten. Leicht hatten sie in ihrer Nahe schon 
noch andere Korallenhandler gefunden, aber sie wufken, dafl sie dort 
nur alltaglkhen Tand und billigen Flitter bekommen konnten. Deshalb 
legten sie in ihren kleinen, ratternden Wagelchen manchmal viele 
Werst zuriick, um nach Progrody zu gelangen, zu dem beriihmten Ko- 
rallenhandler Nissen Piczenik. 

Gewohnlich kamen sie an jenen Tagen, an denen der Jahrmarkt statt- 
fand. Am Montag war Pferdemarkt, am Donnerstag Schweinemarkt. 
Die Manner betrachteten und priiften die Tiere, die Frauen gingen in 
unregelmafiigen Gruppen, barfufi und die Stiefel iiber die Schultern 
gehangt, mit den bunten, auch an triiben Tagen leuchtenden Kopftii- 
chern in das Haus Nissen Piczeniks. Die harten, nackten Sohlen trom- 
melten gedampft und frohlich auf den hohlen Brettern des holzernen 
Biirgersteigs und in dem weiten, kuhlen Flur des alten Hauses, in dem 
der Handler wohnte. Aus dem gewolbten Flur gelangte man in einen 
stillen Hof, wo zwischen den unregelmafiigen Pflastersteinen sanftes 
Moos wucherte und in der warmen Jahreszeit einzelne Graslein spros- 
sen. Hier kamen den Bauerinnen schon die Hiihner Piczeniks freund- 
lich entgegen, voran die Hahne mit den stolzen Kammen, die so rot 
waren wie die rotesten Korallen. 

Man mufite dreimal an die eiserne Tur klopfen, an der ein eiserner 
Kloppel hing. Dann offnete Piczenik eine kleine Luke, die in die Tur 
eingeschnitten war, sah die Leute, die Einlafi heischten, schob den Rie- 
gel zuriick und liefi die Bauerinnen eintreten. Bettlern, wandernden 
Sangern, Zigeunern und den Mannern mit den tanzenden Baren pflegte 
er durch die Luke ein Almosen zu reichen. Er mufke recht vorsichtig 
sein, denn auf alien Tischen in seiner geraumigen Kiiche wie im Wohn- 



DER LEVIATHAN 545 

zimmer lagen die edlen Korallen in grofSen, kleinen, mittleren Haufen, 
verschiedene Volker und Rassen von Korallen durcheinandergemischt 
oder audi bereits nach ihrer Eigenart und Farbe geordnet. Man hatte 
nicht zehn Augen im Kopf, um jeden Bettler zu beobachten, und 
Piczenik wuftte, daft die Armut die unwiderstehliche Verfuhrerin zur 
Siinde ist. Zwar stahlen manchmal audi wohlhabende Bauerinnen; 
denn die Frauen erliegen leicht der Lust, sich den Schmuck, den sie 
bequem kaufen konnten, heimlich und unter Gefahr anzueignen. Aber 
bei den Kunden driickte der Handler eines seiner wachsamen Augen 
zu, und ein paar Diebstahle kalkulierte er audi in die Preise ein, die er 
fur seine Ware forderte. 

Er beschaftigte nicht weniger als zehn Fadlerinnen, hubsche junge 
Madchen, mit guten, sicheren Augen und feinen Handen. Die Mad- 
chen safien in zwei Reihen an einem langen Tisch und angelten mit 
zarten Nadeln nach den Korallen. Also entstanden die schonen, regel- 
maftigen Schntire, an deren Enden die kleinsten Korallen, in deren 
Mitte die groEten und leuchtendsten steckten. Bei dieser Arbeit sangen 
die Madchen im Chor. Und im Sommer, an heiften, blauen und sonni- 
gen Tagen, war im Hof der lange Tisch aufgestellt, an dem die fadeln- 
den Frauen saften, und ihren sommerlichen Gesang horte man im gan- 
zen Stadtchen, und er ubertonte die schmetternden Lerchen unter dem 
Himmel und die zirpenden Grillen in den Garten. 
Es gibt viel mehr Arten von Korallen, als die gewohnlichen Leute wis- 
sen, die sie nur aus den Schaufenstern oder Laden kennen. Es gibt 
geschliffene und ungeschliffene vor allem; ferner flach an den Randern 
geschnittene und kugelrunde; dornen- und stabchenartige, die wie Sta- 
cheldraht aussehn; gelblich leuchtende, fast wei^rote Korallen von der 
Farbe, wie sie manchmal die oberen Rander der Teerosenblatter zei- 
gen, gelblichrosa, rosa, ziegelrote, rubenrote, zinnoberfarbene und 
schliefilich die Korallen, die aussehen wie feste, runde Blutstropfen. Es 
gibt ganz- und halbrunde; Korallen, die wie kleine Fafkhen, andere, 
die wie Zylinderchen aussehen; es gibt gerade, schiefgewachsene und 
sogar bucklige Korallen. Es gibt Sterne, Stacheln, Zinken, Bluten. 
Denn die Korallen sind die edelsten Pflanzen der ozeanischen Unter- 
welt, Rosen fur die launischen Gottinnen der Meere, so reich an For- 
men und Farben wie die Launen dieser Gottinnen selbst. 
Wie man sieht, hielt Nissen Piczenik keinen offenen Laden. Er betrieb 
das Geschaft in seiner Wohnung, das heifk: er lebte mit den Korallen, 



54^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Tag und Nacht, Sommer und Winter, und da in seiner Stube wie in 
seiner Kiiche die Fenster in den Hof gingen und obendrein von dich- 
ten, eisernen Gittern geschutzt waren, herrschte in dieser Wohnung 
eine schone, geheimnisvolle Dammerung, die an Meeresgrund erin- 
nerte, und es war, als wiichsen dort die Korallen, und nicht, als wiirden 
sie gehandelt. Ja, dank seiner besonderen, geradezu geflissentlichen 
Laune der Natur war Nissen Piczenik, der Korallenhandler, ein rot- 
haariger Jude, dessen kupferfarbenes Ziegenbartchen an eine Art rotli- 
chen Tangs erinnerte und dem ganzen Mann eine frappante Ahnlich- 
keit mit einem Meergott verlieh. Es war, als schufe oder pflanzte und 
pfliickte er selbst die Korallen, mit denen er handelte. Und so stark 
war die Beziehung seiner Ware zu seinem Aussehen, dafi man ihn nicht 
nach seinem Namen im Stadtchen Progrody nannte, mit der Zeit die- 
sen sogar vergaft und ihn lediglich nach seinem Beruf bezeichnete. Man 
sagte zum Beispiel: Hier kommt der Korallenhandler - als gabe es in 
der ganzen Welt aufier ihm keinen anderen. 

Nissen Piczenik hatte in der Tat eine familiare Zartlichkeit fur Koral- 
len. Von den Naturwissenschaften weit entfernt, ohne lesen und 
schreiben zu konnen - denn er hatte niemals eine Schule besucht, und 
er konnte nur unbeholfen seinen Namen zeichnen-, lebte er in der 
Uberzeugung, daft die Korallen nicht etwa Pflanzen seien, sondern le- 
bendige Tiere, eine Art winziger roter Seetiere — und kein Professor 
der Meereskunde hatte ihn eines Besseren belehren konnen. Ja, fur 
Nissen Piczenik lebten die Korallen noch, nachdem sie gesagt, zer- 
schnitten, geschliffen, sortiert und gefadelt worden waren. Und er 
hatte vielleicht recht. Denn er sah mit eigenen Augen, wie seine rotli- 
chen Korallenschniire an den Busen kranker oder kranklicher Frauen 
allmahlich zu verblassen begannen, an den Busen gesunder Frauen 
aber ihren Glanz behielten. Im Verlauf seiner langen Korallenhandler- 
Praxis hatte er oft bemerkt, wie Korallen, die blaft - trotz ihrer Rote - 
und immer blasser in seinen Schranken gelegen waren, plotzlich zu 
leuchten begannen, wenn sie um den Hals einer schonen, jungen und 
gesunden Bauerin gehangt wurden, als nahrten sie sich von dem Blut 
der Frauen. Manchmal brachte man dem Handler Korallenschniire 
zum Riickkauf, er erkannte sie, die Kleinodien, die er einst selbst gefa- 
delt und behutet hatte - und er erkannte sofort, ob sie von gesunden 
oder kranklichen Frauen getragen worden waren. 
Er hatte eine eigene, ganz besondere Theorie von den Korallen. Seiner 



DER LEVIATHAN 547 

Meinung nach waren sie, wie gesagt, Tiere des Meeres, die gewisserma- 
fien nur aus kluger Bescheidenheit Baume und Pflanzen spielten, um 
nicht von den Haifischen angegriffen oder gefressen zu werden. Es war 
die Sehnsucht der Korallen, von den Tauchern gepfliickt und an die 
Oberflache der Erde gebracht, geschnitten, geschliffen und aufgefadelt 
zu werden, um endlich ihrem eigentlichen Daseinszweck zu dienen: 
namlich der Schmuck schoner Bauerinnen zu werden. Hier erst, an 
den weiften, festen Halsen der Weiber, in innigster Nachbarschaft mit 
der lebendigen Schlagader, der Schwester der weiblichen Herzen, leb- 
ten sie auf, gewannen sie Glanz und Schonheit und iibten die ihnen 
angeborene Zauberkraft aus, Manner anzuziehen und deren Liebeslust 
zu wecken. Zwar hatte der alte Gott Jehovah alles selbst geschaffen, 
die Erde und ihr Getier, die Meere und alle ihre Geschopfe. Dem Le- 
viathan aber, der sich auf dem Urgrund aller Wasser ringelte, hatte 
Gott selbst fur eine Zeitlang, bis zur Ankunft des Messias namlich, die 
Verwaltung iiber die Tiere und Gewachse des Ozeans, insbesondere 
iiber die Korallen, anvertraut. 

Nach all dem, was hier erzahlt ist, konnte man glauben, daft der Hand- 
ler Nissen Piczenik als eine Art Sonderling bekannt war. Dies war 
keineswegs der Fall. Piczenik lebte in dem Stadtchen Progrody als ein 
unauffalliger, bescheidener Mensch, dessen Erzahlungen von den Ko- 
rallen und dem Leviathan ganz ernst genommen wurden, als Mittei- 
lungen eines Mannes vom Fach namlich, der sein Gewerbe ja kennen 
muftte, wie der Tuchhandler Manchesterstoffe von deutschem Perkal 
unterschied und der Teehandler den russischen Tee der beruhmten 
Firma Popoff von dem englischen Tee, den der ebenso beruhmte Lip- 
ton aus London lieferte. Alle Einwohner von Progrody und Umge- 
bung waren iiberzeugt, daft die Korallen lebendige Tiere sind und daft 
sie von dem Urfisch Leviathan in ihrem Wachstum und Benehmen 
unter dem Meere bewacht werden. Es konnte nicht daran gezweifelt 
werden, da es ja Nissen Piczenik selbst erzahlt hatte. 
Die schonen Fadlerinnen arbeiteten oft bis spat in die Nacht und 
manchmal sogar nach Mitternacht im Hause Nissen Piczeniks. Nach- 
dem sie sein Haus verlassen hatten, begann der Handler selbst, sich mit 
seinen Steinen, will sagen: Tieren, zu beschaftigen. Zuerst priifte er die 
Ketten, die seine Madchen geschaffen hatten, hierauf zahlte er die 
Haufchen der noch nicht und der schon nach ihrer Rasse und Grofte 
geordneten Korallen, dann begann er, selbst zu sortieren und mit sei- 



548 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nen rotlich behaarten, starken und feinfuhligen Fingern jede einzelne 
Koralle zu befuhlen, zu glatten, zu streicheln. Es gab wurmstichige 
Korallen. Sie hatten Locher an den Stellen, an denen Ldcher keines- 
wegs zu brauchen waren. Da hatte der sorglose Leviathan einmal nicht 
aufgepafit. Und um ihn zurechtzuweisen, ziindete Nissen Piczenik 
eine Kerze an, hielt ein Stuck roten Wachses iiber die Flamme, bis es 
heifi und flussig ward, und verstopfte mittels einer feinen Nadel, deren 
Spitze er in das Wachs getaucht hatte, die Wurmbohrungen im Stein. 
Dabei schiittelte er den Kopf, als begriffe er nicht, daft ein so machtiger 
Gott wie Jehovah einem so leichtsinnigen Fisch wie dem Leviathan die 
Obhut iiber die Korallen hatte uberlassen konnen. 
Manchmal, aus purer Freude an den Steinen, fadelte er selbst Korallen, 
bis der Morgen graute und die Zeit gekommen war, das Morgengebet 
zu sagen. Die Arbeit ermudete ihn keineswegs, er fuhlte keinerlei 
Schwache. Seine Frau schlief noch unter der Decke. Er warf einen kur- 
zen, gleichgultigen Blick auf sie. Er hafite sie nicht, er liebte sie nicht, 
sie war eine der vielen Fadlerinnen, die bei ihm arbeiteten, weniger 
hiibsch und reizvoll als die meisten. Zehn Jahre war er schon mit ihr 
verheiratet, sie hatte ihm keirie Kinder geschenkt - und das allein ware 
ihre Aufgabe gewesen. Eine fruchtbare Frau hatte er gebraucht, frucht- 
bar wie die See, auf deren Grund so viele Korallen wuchsen. Seine Frau 
aber war wie ein trockener Teich. Mochte sie schlafen, allein, so viele 
Nachte sie wollte! Das Gesetz hatte ihm erlaubt, sich von ihr scheiden 
zu lassen. Aber inzwischen waren ihm Kinder und Frauen gleichgultig 
geworden. Er liebte die Korallen. Und ein unbestimmtes Heimweh 
war in seinem Herzen, er hatte sich nicht getraut, es bei Namen zu 
nennen: Nissen Piczenik, geboren und aufgewachsen mitten im tief- 
sten Kontinent, sehnte sich nach dem Meere. 

Ja, er sehnte sich nach dem Meere, auf dessen Grund die Korallen 
wuchsen, vielmehr, sich tummelten - nach seiner Uberzeugung. Weit 
und breit gab es keinen Menschen, mit dem er von seiner Sehnsucht 
hatte sprechen konnen, in sich verschlossen mufke er es tragen, wie die 
See die Korallen trug. Er hatte von Schiffen gehort, von Tauchern, von 
Kapitanen, von Matrosen. Seine Korallen kamen in wohlverpackten 
Kisten, an denen noch der Seegeruch haftete, aus Odessa, Hamburg 
oder Triest. Der offentliche Schreiber in der Post erledigte ihm seine 
Geschaftskorrespondenz. Die bunten Marken auf den Briefen der fer- 
nen Lieferanten betrachtete er ausfuhrlich, bevor er die Umschlage 



DER LEVIATHAN $49 

wegwarf. Nie in seinem Leben hatte er Progrody verlassen. In diesem 
kleinen Stadtchen gab es keinen Fluft, nicht einmal einen Teich, nur 
Siimpfe ringsherum, und man horte wohl unter der griinen Oberflache 
das Wasser glucksen, aber man sah es niemals. Nissen Piczenik bildete 
sich ein, daft es einen geheimen Zusammenhang zwischen dem verbor- 
genen Gewasser der Siimpfe und den gewaltigen Wassern der groften 
Meere gebe - und daft auch tief unten, in den Siimpfen, Korallen vor- 
handen sein konnten. Er wuftte, daft er, wenn er diese Ansicht jemals 
geaufiert hatte, zum Gespott des Stadtchens geworden ware. Er schwieg 
daher und erwahnte seine Ansicht nicht. Er traumte manchmal davon, 
daft das grofte Meer - er wuftte nicht welches, er hatte niemals eine 
Landkarte gesehen, und alle Meere der Welt waren fur ihn einfach das 
grofte Meer - eines Tages Rufiland iiberschwemmen wiirde, und zwar 
just jene Halfte, auf der er lebte. Dann ware also die See, zu der er 
niemals zu gelangen hoffte, zu ihm gekommen, die gewaltige, unbe- 
kannte See mit dem unmeftbaren Leviathan auf ihrem Grunde und mit 
all ihren siiften und herben und salzigen Geheimnissen. 
Der Weg von dem Stadtchen Progrody zum kleinen Bahnhof, in dem 
nur dreimal in der Woche die Ziige ankamen, fiihrte zwischen den 
Siimpfen vorbei. Und immer, auch wenn Nissen Piczenik keine Koral- 
lensendungen zu erwarten hatte, und selbst an den Tagen, an denen 
keine Ziige kamen, ging er zum Bahnhof, das heiftt zu den Siimpfen. 
Am Rande des Sumpfes stand er eine Stunde und langer und horte das 
Quaken der Frosche andachtig, als konnten sie ihm vom Leben auf 
dem Grunde der Siimpfe berichten, und glaubte manchmal in der Tat, 
allerhand Berichte empfangen zu haben. Im Winter, wenn die Siimpfe 
gefroren waren, wagte er sogar, seinen Fuft auf sie zu setzen, und das 
bereitete ihm ein sonderbares Vergniigen. Am faulen Geruch des 
Sumpfes erkannte er ahnungsvoll den gewaltig herben Duft des groften 
Meeres, und das leise, kiimmerliche Glucksen der unterirdischen Ge- 
wasser verwandelte sich in seinen hellhorigen Ohren in ein Rauschen 
der riesigen griinblauen Wogen. Im Stadtchen Progrody aber wuftte 
kein Mensch, was alles sich in der Seele des Korallenhandlers abspielte. 
Alle Juden hielten ihn fur ihresgleichen. Der handelte mit Stoffen und 
jener mit Petroleum; einer verkaufte Gebetmantel, der andere Wachs- 
kerzen und Seife, der dritte Kopftiicher fur Bauerinnen und Taschen- 
messer; einer lehrte die Kinder beten, der andere rechnen, der dritte 
handelte mit Kwaft und Kukuruz und gesottenen Saubohnen. Und ih- 



550 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nen alien schien es, Nissen Piczenik sei ihresgleichen - nur handele er 
eben mit Korallen. Indessen war er - wie man sieht - ein ganz Beson- 
derer. 



II 



Er hatte arme und reiche Kunden, standige und zufallige. Zu seinen 
reichen Kunden zahlte er zwei Bauern aus der Umgebung, von denen 
der eine, namlich Timon Semjonowitsch, Hopfen angepflanzt hatte 
und jedes Jahr, wenn die Kommissionare aus Niirnberg, Saaz und Ju- 
denburg kamen, eine Menge glucklicher Abschliisse machte. Der an- 
dere Bauer hiefi Nikita Iwanowitsch. Der hatte nicht weniger als acht 
Tochter gezeugt, von denen eine nach der anderen heiratete und von 
denen jede Korallen brauchte. Die verheirateten Tochter - bis jetzt 
waren es vier - bekamen, kaum zwei Monate nach der Vermahlung, 
Kinder - und es waren wieder Tochter - und auch diese brauchten 
Korallen; als Sauglinge schon, um den bosen Blick abzuwenden. Die 
Mitglieder dieser zwei Familien waren die vornehmsten Gaste im 
Hause Nissen Piczeniks. Fur die Tochter beider Bauern, ihre Enkel 
und Schwiegersohne hatte der Handler den guten Schnaps bereit, den 
er in seinem Kasten aufbewahrte, einen selbstgebrannten Schnaps, ge- 
wlirzt mit Ameisen, trockenen Schwammen, Petersilie und Tausend- 
giildenkraut. Die anderen, gewohnlichen Kunden begnugten sich mit 
einem gewohnlichen gekauften Wodka. Denn es gab in jener Gegend 
keinen richtigen Kauf ohne Trunk. Kaufer und Verkaufer tranken, da- 
mit das Geschaft beiden Gewinn und Segen bringe. Auch Tabak lag in 
Haufen in der Wohnung des Korallenhandlers, vor dem Fenster, von 
feuchten Loschblattern iiberdeckt, damit er frisch bleibe. Denn die 
Kunden kamen zu Nissen Piczenik nicht, wie Menschen in einen La- 
den kommen, einfach, um die Ware zu kaufen, zu bezahlen und wieder 
wegzugehn. Die meisten Kunden hatten einen Weg von vielen Werst 
zuriickgelegt, und sie waren nicht nur Kunden, sondern auch Gaste 
Nissen Piczeniks. Er gab ihnen zu trinken, zu rauchen und manchmal 
auch zu essen. Die Frau des Handlers kochte Kascha mit Zwiebeln, 
Borschtsch mit Sahne, sie briet Apfel am Rost, Kartoffeln und im 
Herbst Kastanien. So waren die Kunden nicht nur Kunden, sondern 
auch Gaste im Hause Piczeniks. Manchmal mischten sich die Bauerin- 



DER LEVIATHAN 551 

nen, wahrend sie nach passenden Korallen suchten, in den Gesang der 
Fadlerinnen; alle sangen sie zusammen, und sogar Nissen Piczenik be- 
gann, vor sich hinzusummen; und seine Frau riihrte im Takt den Lof- 
fel am Herd. Kamen dann die Bauern vom Markt oder aus der 
Schenke, um ihre Frauen abzuholen und deren Einkaufe zu bezahlen, 
so muftte der Korallenhandler auch mit ihnen Schnaps oder Tee trin- 
ken und eine Zigarette rauchen. Und jeder alte Kunde kiiftte sich mit 
dem Handler wie mit einem Bruder. 

Denn wenn wir einmal getrunken haben, sind alle guten und redlichen 
Manner unsere Bruder und alle lieben Frauen unsere Schwestern - und 
es gibt keinen Unterschied zwischen Bauer und Handler, Jud' und 
Christ; und wehe dem, der das Gegenteil behaupten wollte! 



Ill 



Jedes neue Jahr wurde Nissen Piczenik unzufriedener mit seinem 
friedlichen Leben, ohne daft es jemand in dem Stadtchen Progrody 
gemerkt hatte. Wie alle Juden ging auch der Korallenhandler zweimal 
jeden Tag, morgens und abends, ins Bethaus, feierte die Feiertage, fa- 
stete an den Fasttagen, legte Gebetriemen und Gebetmantel an, schau- 
kelte seinen Oberkorper, unterhielt sich mit den Leuten, sprach von 
Politik, vom Russisch-japanischen Krieg, uberhaupt von allem, was in 
den Zeitungen stand und was die Welt bewegte. Aber die Sehnsucht 
nach dem Meere, der Heimat der Korallen, trug er im Herzen, und aus 
den Zeitungen, die zweimal in der Woche nach Progrody kamen, lieft 
er sich, da er sie nicht entziffern konnte, etwaige maritime Nachrichten 
zuerst vorlesen. Ahnlich wie von den Korallen hatte er vom Meer eine 
ganz besondere Vorstellung. Zwar wuftte er, daft es viele Meere in der 
Welt gab, das wirkliche, eigentliche Meer aber war jenes, das man 
durchqueren muftte, um nach Amerika zu gelangen. 
Nun ereignete es sich eines Tages, daft der Sohn des Barchenthandlers 
Alexander Komrower, der vor drei Jahren eingeruckt und zur Marine 
gekommen war, auf einen kurzen Urlaub heimkehrte. Kaum hatte der 
Korallenhandler von der Ruckkehr des jungen Komrower gehort, da 
erschien er auch schon in dessen Hause und begann, den Matrosen 
nach alien Geheimnissen der Schiffe, des Wassers und der Winde aus- 
zufragen. Wahrend alle Welt in Progrody iiberzeugt war, daft sich der 



552 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

junge Komrower lediglich infolge seiner Dummheit auf die gefahrli- 
chen Ozeane hatte verschleppen lassen, betrachtete der Korallenhand- 
ler den Matrosen als einen begnadeten Jungen, dem die Ehre und das 
Gluck zuteil geworden waren, gewissermafien ein Vertrauter der Ko- 
rallen zu werden, ja, ein Verwandter der Korallen. Und man sah den 
fiinfundvierzigjahrigen Nissen Piczenik mit dem zweiundzwanzigjah- 
rigen Komrower Arm in Arm liber den Marktplatz des Stadtchens 
streichen, stundenlang. Was will er vom Komrower? fragten sich die 
Leute. Was will er eigentlich von mir? fragte sich auch der Junge. 
Wahrend des ganzen Urlaubs, den der junge Mann in Progrody ver- 
bringen durfte, wich der Korallenhandler fast nicht von seiner Seite. 
Sonderbar erschienen dem Jungen die Fragen des Alteren, wie zum 
Beispiel diese: 

»Kann man mit einem Fernrohr bis auf den Grund des Meeres sehen?« 
»Nein«, sagte der Matrose, »mit dem Fernrohr schaut man nur in die 
Weite, nicht in die Tiefe.« 

»Kann man«, fragte Nissen Piczenik weiter, »wenn man Matrose ist, 
sich auf den Grund des Meeres fallen lassen ?« 

»Nein«, sagte der junge Komrower, »wenn man ertrinkt, dann sinkt 
man wohl auf den Grund des Meeres.« 
»Der Kapitan kann's auch nicht ?« 
»Auch der Kapitan kann es nicht. « 
»Hast du schon einen Taucher gesehen?« 
»Manchmal«, sagte der Matrose. 

»Steigen die Tiere und Pflanzen des Meeres manchmal an die Oberfla- 
che?« 

»Nur die Fische und die Walfische, die eigentlich keine Fische sind.« 
»Beschreibe mir«, sagte Nissen Piczenik, »wie das Meer aussieht.« 
»Es ist voller Wasser«, sagte der Matrose Komrower. 
»Und ist es so weit wie ein grofies Land, eine weite Ebene zum Bei- 
spiel, auf der kein Haus steht?« 

»So weit ist es - und noch weiter! « sagte der junge Matrose. »Und es 
ist so, wie Sie sagen: eine weite Ebene, und hier und da sieht man ein 
Haus, das ist aber sehr selten, und es ist gar kein Haus, sondern ein 
Schiff.« 

»Wo hast du die Taucher gesehen?« 

»Es gibt bei uns«, sagte der Junge, »bei der Militarmarine, Taucher. 
Aber sie tauchen nicht, um Perlen oder Austern oder Korallen zu fi- 



DER LEVIATHAN 553 

schen. Es ist eine militarische Ubung, zum Beispiel fur den Fall, daft 
ein Kriegsschiff untergeht, und dann miiftte man wertvolle Instru- 
mente oder Wafien herausholen.« 
»Wieviel Meere gibt es in der Welt?« 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte der Matrose, »wir haben 
es zwar in der Instruktionsstunde gelernt, aber ich habe nicht achtge- 
geben. Ich kenne nur das Baltische Meer, die Ostsee, das Schwarze 
Meer und den grofien Ozean.« 
»Welches Meer ist das tiefste?« 
»Weift ich nicht. « 

»Wo finden sich die meisten Korallen?« 
»Weifi ich auch nicht.« 

»Hm, hm«, machte der Korallenhandler Piczenik, »schade, daft du es 
nicht weiftt.« 

Am Rande des Stadtchens, dort, wo die Hauschen Progrodys immer 
kummerlicher wurden, bis sie schliefilich ganz aufhorten, und die 
weite, bucklige Strafte zum Bahnhof begann, stand die Schenke Pod- 
gorzews, ein schlecht beleumundetes Haus, in dem Bauern, Taglohner, 
Soldaten, leichtfertige Madchen und nichtswiirdige Burschen verkehr- 
ten. Eines Tages sah man dort den Korallenhandler Piczenik mit dem 
Matrosen Komrower eintreten. Man reichte ihnen kraftigen, dunkel- 
roten Met und gesalzene Erbsen. »Trink, mein Junge! Trink und ift, 
mein Junge!« sagte Nissen Piczenik vaterlich zu dem Matrosen. Dieser 
trank und aft fleifiig, denn so jung er auch war, so hatte er doch schon 
einiges in den Hafen gelernt, und nach dem Met gab man ihm einen 
schlechten, sauren Wein und nach dem Wein einen neunziggradigen 
Schnaps. Wahrend er den Met trank, war er so schweigsam, daft der 
Korallenhandler furchtete, er wiirde nie mehr etwas von dem Matro- 
sen iiber die Wasser horen, sein Wissen sei einfach erschopft. Nach 
dem Wein aber begann der kleine Komrower, sich mit dem Wirt Pod- 
gorzew zu unterhalten, und als der Neunziggradige kam, sang er mit 
lauter Stimme ein Liedchen nach dem anderen, wie ein richtiger Ma- 
trose. »Bist du aus unserem lieben Stadtchen?« fragte der Wirt. »Ge- 
wift, ein Kind eures Stadtchens - meines - unseres lieben Stadtchens«, 
sagte der Matrose, ganz so, als ware er nicht der Sohn des behabigen 
Juden Komrower, sondern ein ganzer Bauernjunge. Ein paar Tage- 
diebe und Landstreicher setzten sich an den Tisch neben Nissen Picze- 
nik und den Matrosen, und als der Junge das Publikum sah, fuhlte er 



554 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sich von einer fremdartigen Wiirde erfiillt, so einer Wiirde, von der er 
gedacht hatte, nur Seeoffiziere konnten sie besitzen. Und er munterte 
die Leute auf: »Fragt, Kinderchen, fragt nur! Auf alles kann ich euch 
antworten. Seht, diesem lieben Onkel hier, ihr kennt ihn wohl, er ist 
der beste Korallenhandler im ganzen Gouvernement, ihm habe ich 
schon vieles erzahlt!« Nissen Piczemk mckte. Und da es ihm nicht 
behaglich in dieser fremdartigen Gesellschaft war, trank er einen Met 
und noch einen. Allmahlich kamen ihm all die verdachtigen Gesichter, 
die er immer nur durch eine Turluke gesehen hatte, ebenfalls mensch- 
lich vor wie sein eigenes. Da aber die Vorsicht und das Mifitrauen tief 
in seiner Brust eingewurzelt waren, ging er in den Hof hinaus und barg 
das Sackchen mit dem Silbergeld in der Miitze. Nur einige Miinzen 
behielt er lose in der Tasche. Befriedigt von seinem Einfall und von 
dem beruhigenden Druck, den das Geldsackchen unter der Miitze auf 
seinen Schadel ausiibte, kehrte er wieder an den Tisch zuriick. 
Dennoch gestand er sich, dafi er eigentlich selber nicht wufite, warum 
und wozu er hier in der Schenke mit dem Matrosen und den unheimli- 
chen Gesellen safi. Hatte er doch sein ganzes Leben regelmafiig und 
unauffallig verbracht, und seine geheimnisvolle Liebe zu den Korallen 
und ihrer Heimat, dem Ozean, war bis zur Ankunft des Matrosen und 
eigentlich bis zu dieser Stunde memandem und niemals offenbar ge- 
worden. Und es ereignete sich noch etwas, was Nissen Piczenik aufs 
tiefste erschreckte, Er, der keineswegs gewohnt war, in Bildern zu 
denken, erlebte in dieser Stunde die Vorstellung, dafi seine geheime 
Sehnsucht nach den Wassern und allem, was auf und unter ihnen lebte 
und geschah, auf einmal an die Oberflache seines eigenen Lebens ge- 
langte, wie zuweilen ein kostbares und seltsames Tier, gewohnt und 
heimisch auf dem Grunde des Meeres, aus unbekanntem Grunde an 
die Oberflache emporschieftt. Wahrscheinlich hatten der ungewohnte 
Met und die durch die Erzahlungen des Matrosen befruchtete Phanta- 
sie des Korallenhandlers dieses Bild in ihm geweckt. Aber er erschrak 
und wunderte sich dariiber, dafi ihm derlei verriickte Einfalle kommen 
konnten, noch mehr als uber die Tatsache, daft er auf einmal imstande 
war, an einem Tisch in der Schenke mit wiisten Gesellen zu sitzen. 
Diese Verwunderung und dieser Schrecken aber vollzogen sich gleich- 
sam unter der Oberflache seines Bewufkseins. Inzwischen horte er 
sehr wohl mit eifrigem Vergnugen den marchenhaften Erzahlungen 
des Matrosen Komrower zu. »Auf welchem Schiff dienst du}« fragten 



DER LEVIATHAN 555 

ihn die Tischgenossen. Er dachte eine Weile nach - sein Schiff hiefi 
nach einem bekannten Admiral aus dem neunzehnten Jahrhundert, 
aber der Name schien ihm so gewohnlich in diesem Augenblick wie 
sein eigener, Komrower war entschlosscn, gewaltig zu imponieren - 
und er sagte also: »Mein Kreuzer heifit >Mutterchen Katharina<. Und 
wiftt ihr, wer das war? Ihr wiftt es natiirlich nicht - und deshalb werde 
ich es euch erzahlen. Also, Katharina war die schonste und reichste 
Frau von ganz Ruftland, und deshalb heiratete sie der Zar eines Tages 
im Kreml in Moskau und fuhrte sie sofort mit Schlitten - es war ein 
Frost von 40 Grad -, mit einem Sechsgespann direkt nach Zarskoje 
Selo. Und hinter ihnen fuhr das ganze Gefolge in Schlitten - und es 
waren so viele, daft die ganze Landstrafte drei Tage und drei Nachte 
verstopft war. Eine Woche nach dieser prachtigen Hochzek kam der 
gewalttatige und ungerechte Konig von Schweden in den Hafen von 
Petersburg, mit seinen lacherlichen, holzernen Kahnen, auf denen aber 
viele Soldaten standen - denn zu Lande sind die Schweden sehr tap- 
fer-, und nichts weniger wollte dieser Schwede, als ganz Ruftland er- 
obern. Die Zarin Katharina aber bestieg unverzuglich ein Schiff, eben 
den Kreuzer, auf dem ich diene, und beschoft eigenhandig die blodsin- 
nigen Kahne des schwedischen Konigs, daft sie untergingen. Und ihm 
selbst warf sie einen Rettungsgiirtel zu und nahm ihn spater gefangen. 
Sie lieft ihm die Augen herausnehmen, aft sie auf, und dadurch wurde 
sie noch kliiger, als sie vorher gewesen war. Den Konig ohne Augen 
aber verschickte sie nach Sibirien.« 

»Ei, ei«, sagte da ein Taugenichts und kratzte sich am Hinterkopf, »ich 
kann dir beim besten Willen nicht alles glauben.« 
»Wenn du das noch einmal sagst«, erwiderte der Matrose Komrower, 
»so hast du die kaiserlich-russische Marine beleidigt, und ich muft dich 
mit meiner Waffe erschlagen. So wisse denn, daft ich diese ganze 
Geschichte gelernt habe in unserer Instruktionsstunde, und Seine 
Hochwohlgeboren, unser Kapitan Woroschenko selbst, hat sie uns er- 
zahlt.« 

Man trank noch Met und mehrere Schnapse, und der Korallenhandler 
Nissen Piczenik bezahlte. Auch er hatte einiges getrunken, wenn auch 
nicht soviei wie die anderen. Aber als er auf die Strafte trat, Arm in 
Arm mit dem jungen Matrosen Komrower, schien es ihm, daft die 
Straftenmitte ein Fluft sei, die Wellen gingen auf und nieder, die sparli- 
chen Petroleumlaternen waren Leuchttiirme, und er muftte sich hart an 



556 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

den Rand halten, um nicht ins Wasser zu fallen. Der Junge schwankte 
furchterlich. Ein Leben lang, fast seit seiner Kindheit, hatte Nissen 
Piczenik jeden Abend die vorgeschriebenen Abendgebete gesagt, das 
eine, das bei der Dammerung zu beten ist, das andere, das den Ein- 
bruch der Dunkelheit begriifit. Heute hatte er zum erstenmal beide 
versaumt. Vom Himmel glitzerten ihm die Sterne vorwurfsvoll entge- 
gen, er wagte nicht, seinen Blick zu heben. Zu Hause erwartete ihn die 
Frau und das (ibliche Nachtmahl, Rettich mit Gurken und Zwiebeln 
und ein Schmalzbrot, ein Glas Kwafi und heifier Tee. Er schamte sich 
mehr vor sich selbst als vor den andern. Es war ihm von Zeit zu Zeit, 
wahrend er so dahinging, den schweren, torkelnden jungen Mann am 
Arm, als begegnete er sich selbst, der Korallenhandler Nissen Piczenik 
dem Korallenhandler Nissen Piczenik - und einer lachte den anderen 
aus. Immerhin vermied er aufierdem noch, andern Menschen zu be- 
gegnen. Dieses gelang ihm. Er begleitete den jungen Komrower nach 
Hause, fuhrte ihn ins Zimmer, wo die alten Komrowers saften, und 
sagte: »Seid nicht bose mit ihm, ich war mit ihm in der Schenke, er hat 
ein wenig getrunken.« 

»Ihr, Nissen Piczenik, der Korallenhandler, wart mit ihm in der 
Schenke?« fragte der alte Komrower. 

»Ja, kh!« sagte Piczenik. »Guten Abend !« Und er ging nach Hause. 
Noch safien alle seine schonen Fadlerinnen an den langen vier Tischen, 
singend und Korallen fischend mit ihren feinen Nadeln in den zarten 
Handen. 

»Gib mir gleich den Tee«, sagte Nissen Piczenik zu seiner Frau, »ich 
mufi arbeken.« 

Und er schlurfte den Tee, und wahrend sich seine heiften Finger in die 
grofien, noch nicht sortierten Korallenhaufen gruben und in ihrer 
wohltatigen, rosigen Kiihle wiihlten, wandelte sein armes Herz iiber 
die weiten und rauschenden Strafien der gewaltigen Ozeane. 
Und es brannte und rauschte in seinem Schadel. Er nahm aber ver- 
niinftigerweise die Miitze ab, holte das Geldsackchen heraus und barg 
es wieder an seiner Brust. 



DER LEVIATHAN 557 

IV 

Und es naherte sich der Tag, an dem der Matrose Komrower wieder 
auf seinen Kreuzer einrucken muftte, und zwar nach Odessa - und es 
war dem Korallenhandler weh und bang urns Herz. In ganz Progrody 
ist der junge Komrower der einzige Seemann, und Gott weifi, wann er 
wieder einen Uriaub erhalten wird. Fahrt er einmal weg, so hort man 
weit und breit nichts mehr von den Wassern der Welt, es sei denn, es 
stent zufallig etwas in den Zeitungen. 

Es war spat im Sommer, ein heiterer Sommer iibrigens, ohne Wolke, 
ohne Regen, von dem ewig sanften Wind der wolynischen febene be- 
lebt und gekuhlt. Zwei Wochen noch - und die Ernte begann, und die 
Bauern aus den Dorfern kamen nicht mehr zu den Markttagen, Koral- 
len bei Nissen Piczenik einzukaufen. In diesen Wochen war die Saison 
der Korallen. In diesen Wochen pflegten die Kundinnen in Scharen 
und in Haufen zu kommen, die Fadlerinnen konnten mit der Arbeit 
kaum nachkommen, es gab nachtelang zu fadeln und zu sortieren. An 
den schonen Vorabenden, wenn die untergehende Sonne ihren golde- 
nen Abschiedsgruft durch die vergitterten Fenster Piczeniks schickte 
und die Korallenhaufen jeder Art und Farbung, von ihrem wehmuti- 
gen und zugleich trostlichen Glanz belebt, zu leuchten begannen, als 
trlige jedes einzelne Steinchen ein winziges Licht in seiner feinen Hdh- 
lung, kamen die Bauern heiter und angeheitert, um die Bauerinnen 
abzuholen, die blauen und rotlichen Taschentucher gefiillt mit Silber- 
und Kupfermunzen, in schweren, genagelten Stiefeln, die auf den Stei- 
nen des Hofes knirschten. Die Bauern begriifken Nissen Piczenik mit 
Umarmungen, Kiissen, unter Lachen und Weinen, als fanden sie in 
ihm einen lang nicht mehr geschauten, langentbehrten Freund nach 
Jahrzehnten wieder. Sie meinten es gut mit ihm, sie liebten ihn sogar, 
diesen stillen, langaufgeschossenen, rothaarigen Juden mit den treu- 
herzigen und manchmal vertraumten, porzellanblauen Auglein, in 
denen die Ehrlichkeit wohnte, die Redlichkeit des Handelns, die Klug- 
heit des Fachmanns und zugleich die Torheit eines Menschen, der nie- 
mals das Stadtchen Progrody verlassen hatte. Es war nicht leicht, mit 
den Bauern fertig zu werden. Denn obwohl sie den Korallenhandler als 
einen der seltenen ehrlichen Handelsleute der Gegend kannten, dachten 
sie doch immer daran, daft er ein Jude war. Auch machte ihnen das 
Feilschen einiges Vergniigen. Zuerst setzten sie sich behaglich auf die 



558 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Stiihle, das Kanapee, die zwei breiten holzernen und mit hohen Pol- 
stern bedeckten Ehebetten. Manche lagerten sich auch mit den Stiefeln, 
an deren Randern der silbergraue Schlamm klebte, auf die Betten, das 
Sofa und auch auf den Boden. Aus den weiten Taschen ihrer sackleine- 
nen Hosen oder von den Vorraten auf dem Fensterbrett holten sie den 
losen Tabak, rissen die weifien Rander alter Zeitungen ab, die im Zim- 
mer Piczeniks herumlagen, und drehten Zigaretten - denn auch den 
Wohlhabenden unter ihnen schien Zigarettenpapier ein Luxus. Ein 
dichter blauer Rauch von billigem Tabak und .grobem Papier erfiillte 
die Wohnung des Korallenhandlers, ein goldig durchsonnter, blauer 
Rauch, der in kleinen Wolkchen durch die Quadrate der vergitterten 
und geoffneten Fenster langsam in die Strafie zog. In zwei kupfernen 
Samowaren - auch in ihnen spiegelte sich die untergehende Sonne - 
kochte heifies Wasser auf einem der Tische in der Mitte des Zimmers, 
und nicht weniger als fiinfzig billige Glaser aus grunlichem Glas mit 
doppeltem Boden gingen reihum von Hand zu Hand, gefiillt mit 
dampfendem braungoldenem Tee und mit Schnaps. Langs t, am Vormit- 
tag noch, hatten die Bauerinnen stundenlang den Preis der Korallenket- 
ten ausgehandelt. Nun erschien der Schmuck ihren Mannern noch zu 
teuer, und aufs neue begann das Feilschen. Es war ein hartnackiger 
Kampf, den der magere Jude allein gegen eine gewaltige Mehrzahl gei- 
ziger und mifitrauischer, kraftiger und manchmal gefahrlich betrunke- 
ner Manner auszufechten hatte. Unter dem seidenen schwarzen Kapp- 
chen, das Nissen Piczenik im Hause zu tragen pflegte, rann der 
Schweift die sparlich bewachsenen, sommersprossigen Wangen hinun- 
ter, in den roten Ziegenbart, und die Harchen des Bartes klebten an- 
einander, am Abend, nach dem Gefecht, und er muEte sie mit seinem 
eisernen Kammchen strahlen. Schlieftlich siegte er doch iiber alle seine 
Kunden, trotz seiner Torheit. Denn er kannte von der ganzen grofkn 
Welt nur die Korallen und die Bauern seiner Heimat - und er wufite, 
wie man jene fadelt und sortiert und wie man diese iiberzeugt. Den 
ganz und gar Hartnackigen schenkte er eine sogenannte »Draufgabe« - 
das heiftt: er gab ihnen, nachdem sie den von ihm zwar nicht sofort 
genannten, aber im stillen ersehnten Preis gezahlt hatten, noch ein 
winziges Korallenschnurchen mit, aus den billigen Steinen hergestellt, 
Kindern zugedacht, um Armchen und Halschen zu tragen und unbe- 
dingt wirksam gegen den bos en Blick mifigiinstiger Nachbarn und 
schlechtgesinnter Hexen. Dabei mufke er genau auf die Hande seiner 



DER LEVIATHAN 559 

Kunden achtgeben und die Hohe und den Umfang der Korallenhaufen 
immer abschatzen. Ach, es war kein leichter Kampf ! 
In diesem Spatsommer aber zeigte sich Nissen Piczenik zerstreut, 
achtios beinahe, ohne Interesse fur die Kunden und das Geschaft. 
Seine brave Frau, gewohnt an seine Schweigsamkeit und sein merk- 
wiirdiges Wesen seit vielen Jahren, bemerkte seine Zerstreutheit und 
machte ihm Vorwurfe. Hier hatte er einen Bund Korallen zu billig 
verkauft, dort einen kleinen Diebstahl nicht bemerkt, heute einem al- 
ten Kunden keine Draufgabe geschenkt; gestern dagegen einem neuen 
und gleichguitigen eine ziemlich wertvolle Kette. Niemals hatte es 
Streit im Hause Piczeniks gegeben. In diesen Tagen aber verliefl die 
Ruhe den Korallenhandler, und er fuhlte selbst, wie die Gleichgultig- 
keit, die normale Gleichgultigkeit gegen seine Frau sich jah in Wider- 
willen gegen sie wandelte. Ja, er, der niemais imstande gewesen ware, 
eine der vielen Mause, die jede Nacht in seine Fallen gingen, mit eige- 
ner Hand zu ertranken - wie alle Welt es in Progrody zu tun pflegte -, 
sondern die gefangenen Tierchen dem Wassertrager Saul zur endgiilti- 
gen Vernichtung gegen ein Trinkgeld iibergab: er, dieser friedliche 
Nissen Piczenik, warf an einem dieser Tage seiner Frau, da sie ihm die 
ublichen Vorwurfe machte, einen schweren Bund Korallen an den 
Kopf, schlug die Tiir zu, verlieft das Haus und ging an den Rand des 
groften Sumpfes, des entfernten Vetters der groften Ozeane. 
Knapp zwei Tage vor der Abreise des Matrosen tauchte plotzlich in 
dem Korallenhandler der Wunsch auf, den jungen Komrower nach 
Odessa zu begleiten. Solch ein Wunsch kommt plotzlich, ein gewohn- 
licher Blitz ist nichts dagegen, und er trifft genau den Ort, von dem er 
gekommen ist, namlich das menschliche Herz. Er schlagt sozusagen in 
seinem eigenen Geburtsort ein. Also war auch der Wunsch Nissen 
Piczeniks. Und es ist kein weiter Weg von solch einem Wunsch bis zu 
seinem Entschluft. 

Und am Morgen des Tages, an dem der junge Matrose Komrower ab- 
reisen sollte, sagte Nissen Piczenik zu seiner Frau: »Ich muft fur ein 
paar Tage verreisen.« 

Die Frau lag noch im Bett. Es war acht Uhr morgens, der Korallen- 
handler war eben aus dem Bethaus vom Morgengebet gekommen. 
Sie setzte sich auf. Mit ihren wirren, sparlichen Haaren, ohne Perixcke, 
gelbliche Reste des Schlafs in den Augenwinkeln, erschien sie ihm 
fremd und sogar feindlich. Ihr Aussehn, ihre Uberraschung, ihr 



560 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Schrecken schienen seinen Entschlufi, den er selbst noch fur einen toil- 
kuhnen gehalten hatte, vollends zu rechtfertigen. 
»Ich fahre nach Odessa!« sagte er, mit aufrichtiger Gehassigkeit. »In 
einer Woche bin ich zuriick, so Gott will!« 

»Jetzt? Jetzt?« stammelte die Frau zwischen den Kissen. »Jetzt, wo die 
Bauern kommen?« 

»Grade jetzt!« sagte der Korallenhandler. »Ich habe wichtige Ge- 
schafte. Pack mir meine Sachen!« 

Und mit einer bosen und gehassigen Wollust, die er niemals friiher 
gekannt hatte, sah er die Frau aus dem Bett steigen, sah ihre hafilichen 
Zehen, ihre fetten Beine unter dem langen Hemd, auf dem em paar 
schwarze, unregelmafiige Punkte hingesprenkelt waren, Zeichen der 
Flohe, und horte er ihren altbekannten Seufzer, das gewohnte, bestan- 
dige Morgenlied dieses Weibes, mit dem ihn nichts anderes verband als 
die feme Erinnerung an ein paar zartliche, nachtliche Stunden und die 
hergebrachte Angst vor einer Scheidung. 

Im Innern Nissen Piczeniks aber jubelte gleichzeitig eine fremde und 
dennoch wohlvertraute Stimme: Piczenik geht zu den Korallen! Er 
geht zu den Korallen! In die Heimat der Korallen geht Nissen Picze- 
nik! ... 



V 



Er bestieg also mit dem Matrosen Komrower den Zug und fuhr nach 
Odessa. Es war eine ziemlich umstandliche und lange Reise, man 
muftte in Kiew umsteigen. Der Korallenhandler safi zum erstenmal in 
seinem Leben in der Eisenbahn, aber ihm ging es nicht wie so vielen 
anderen, die zum erstenmal Eisenbahn fahren. Lokomotive, Signal, 
Glocken, Telegraphenstangen, Schienen, Schaffner und die fluchtige 
Landschaft hinter den Fenstern interessierten ihn nicht. Ihn beschaf- 
tigte das Wasser und der Hafen, denen er entgegenfuhr, und wenn er 
iiberhaupt etwas von den Eigenschaften und Begleiterscheinungen der 
Eisenbahn zur Kenntnis nahm, so tat er es lediglich im Hinblick auf 
die ihm noch unbekannten Eigenschaften und Begleiterscheinungen 
der Schiffahrt. »Gibt es bei euch auch Glocken?« fragte er den Matro- 
sen. »Lautet man dreimal vor der Abfahrt eines Schiffes? Pfeifen und 
tuten die Schiffe wie die Lokomotiven? Muft das Schiff wenden, wenn 



DER LEVIATHAN 561 

es zuriickfahren will, oder kann es ganz einfach rikkwarts schwim- 
men?« 

Gewifi traf man, wie es auf Reisen ja immer vorkommt, unterwegs 
Passagiere, die sich unterhalten wollten und mit denen man dies und 
jenes besprechen mufke. »Ich bin Korallenhandler«, sagte Nissen 
Piczenik wahrheitsgemafi, wenn man ihn nach der Art seiner Ge- 
schafte fragte, Fragte man ihn aber weiter: »Was wollen Sie in 
Odessa ?«> so begann er zu liigen. »Ich habe dort grofiere Geschafte 
vor«, sagte er. »Das interessiert mich«, sagte plotzlich ein Mitreisen- 
der, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Auch ich habe in Odessa grofiere 
Geschafte vor, und die Ware, mit der ich handle, ist sozusagen mit 
Korallen verwandt, wenn auch vie! feiner und teurer als Korallen!« 
»Teurer, das kann sein«, sagte Nissen Piczenik, »aber feiner ist sie kei- 
neswegs.« »Wetten, daft sie feiner ist?« rief der andere. »Ich sage 
Ihnen, es ist unmoglich. Da braucht man gar nicht zu wetten!« »Nun«, 
triumphierte der andere, »ich handle mit Perlen!« »Perlen sind gar 
nicht feiner«, sagte Piczenik. »Aufierdem bringen sie Ungliick.« »Ja, 
wenn man sie verliert«, sagte der Perlenhandler. Alle anderen began- 
nen, diesem sonderbaren Streit aufmerksam zuzuhoren. Schlieftlich 
offnete der Perlenhandler seine Hose und zog ein Sackchen voller 
schimmernder, tadelloser Perlen hervor. Er schuttete einige auf seine 
flache Hand und zeigte sie alien Mitreisenden. »Hunderte von Austern 
miissen aufgemacht werden«, sagte er, »ehe man eine Perle findet. Die 
Taucher werden teuer bezahlt. Unter alien Kaufleuten der Welt geho- 
ren wir Perlenhandler zu den angesehensten. Ja, wir bilden sozusagen 
eine ganz eigene Rasse. Sehen Sie mich zum Beispiel. Ich bin Kauf- 
mann erster Gilde, wohne in Petersburg, habe die vornehmste Kund- 
schaft, zwei GrofSfursten zum Beispiel, ihre Namen sind mein Ge- 
schaftsgeheimnis, ich bereise die halbe Welt, jedes Jahr bin ich in Paris, 
Brussel, Amsterdam. Fragen Sie, wo Sie wollen, nach dem Perlenhand- 
ler Gorodotzki, Kinder werden Ihnen Auskunft geben.« 
»Und ich«, sagte Nissen Piczenik, »bin niemals aus unserem Stadtchen 
Progrody herausgekommen - und nur Bauern kaufen meine Korallen. 
Aber Sie werden mir alle hier zugeben, daft eine einfache Bauerin, an- 
getan mit ein paar Schniiren schoner, fleckenloser Korallen, mehr dar- 
stellt als eine Groftfiirstin. Korallen tragt iibrigens hoch und nieder, sie 
erhohen den Niederen, und den Hohergestellten zieren sie. Korallen 
kann man morgens, mittags, abends und in der Nacht, bei festlichen 



562 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Ballen zum Beispiel tragen, im Sommer, im Winter, am Sonntag und 
an Wochentagen, bei der Arbeit und in der Ruhe, in frohlichen Zeiten 
und in der Trauer. Es gibt viele Arten von Rot in der Welt, meine 
lieben Reisegenossen, und es steht geschrieben, daft unser jiidischer 
Konig Salomo ein ganz besonderes Rot hatte fur seinen koniglichen 
Mantel, denn die Phonizier, die ihn verehrten, hatten ihm einen ganz 
besonderen Wurm geschenkt, dessen Natur es war, rote Farbe als Urin 
auszuscheiden. Es war eine Farbe, die heutzutage nicht mehr da ist, der 
Purpur des Zaren ist nicht mehr dasselbe, der Wurm ist namlich nach 
dem Tode Salomos ausgestorben, die ganze Art dieser Wiirmer. Und 
seht ihr, mir bei den ganz roten Korallen kommt diese Farbe noch vor. 
Wo aber in der Welt hat man je rote Perlen gesehn?« 
Noch niemals hatte der schweigsame Korallenhandler eine so lange 
und so eifrige Rede vor lauter fremden Menschen gehalten. Er schob 
die Miitze aus der Stirn und wischte sich den Schweifi. Er lachelte die 
Mitreisenden der Reihe nach an, und alle zollten sie ihm den verdien- 
ten Beifall. »Recht hat er, recht!« riefen sie alle auf einmal. 
Und selbst der Perlenhandler mufite gestehen, daft Nissen Piczenik in 
der Sache zwar nicht recht habe, aber als Redner fur Korallen ganz 
ausgezeichnet sei. 

Schliefilich erreichten sie Odessa, den strahlenden Hafen, mit dem 
blauen Wasser und den vielen brautlich-weiflen Schiffen. Hier wartete 
schon der Panzerkreuzer auf den Matrosen Komrower wie ein vaterli- 
ches Haus auf seinen Sohn. Auch Nissen Piczenik wollte das Schiff 
naher besichtigen. Und er ging mit dem Jungen bis zum Wachtposten 
und sagte: »Ich bin sein Onkel, ich mochte das Schiff sehn.« Er ver- 
wunderte sich selbst iiber seine Kuhnheit. Ach ja: es war nicht mehr 
der alte kontinentale Nissen Piczenik, der da mit einem bewaffneten 
Matrosen sprach, es war nicht der Nissen Piczenik aus dem kontinen- 
talen Progrody, sondern ein ganz neuer Mann, so etwa wie ein 
Mensch, dessen Inneres nach aufien gestiilpt worden war, ein sozusa- 
gen gewendeter Mensch, ein ozeanischer Nissen Piczenik. Ihm selbst 
schien es, daft er nicht aus der Eisenbahn gestiegen war, sondern gera- 
dezu aus dem Meer, aus der Tiefe des Schwarzen Meeres. So vertraut 
war er mit dem Wasser, wie er niemals mit seinem Geburts- und 
Wohnort Progrody vertraut gewesen war. Uberall, wo er hinsieht, 
sind Schiffe und Wasser, Wasser und Schiffe. An die blutenweiften, die 
rabenschwarzen, die korallenroten - ja die korallenroten - Wande der 



DER LEVIATHAN 563 

Schiffe, der Boote, der Kahne, der Segeljachten, der Motorboote 
schlagt zartlich das ewig platschernde Wasser, nein, es schlagt nicht, es 
streichelt die Schiffe mit hunderttausend kleinen Wellchen, die wie 
Zungen und Hande in einem sind, Ziinglein und Handchen in einem. 
Das Schwarze Meer ist gar nicht schwarz. In der Feme ist es blauer als 
der Himmel, in der Nahe ist es griin wie eine Wiese. Tausende kleiner, 
hurtiger Fischchen springen, hiipfen, schliipfen, schlangeln sich, schie- 
fien und fliegen herbei, wirft man ein Stiickchen Brot ins Wasser. Wol- 
kenlos spannt sich der blaue Himmel iiber den Hafen. Ihm entgegen 
ragen die Maste und die Schornsteine der Schiffe. »Was ist dies? - Wie 
heifk man jenes?« fragt unaufhorlich Nissen Piczenik. Dies heifit Mast 
und jenes Bug, hier sind Rettungsgiirtel, Unterschiede gibt es zwischen 
Boot und Kahn, Segel und Dampfer, Mast und Schlot, Kreuzer und 
Handelsschiff, Deck und Heck, Bug und Kiel. Hundert neue Worte 
stiirmen geradezu auf Nissen Piczeniks armen, aber heiteren Kopf ein. 
Er bekommt nach langem Warten (ausnahmsweise, sagt der Ober- 
maat) die Erlaubnis, den Kreuzer zu besichtigen und seinen Neffen zu 
begleiten. Der Herr Schiffsleutnant selbst erscheint, um einen jiidi- 
schen Handler an Bord eines Kreuzers der kaiserlich-russischen Ma- 
rine zu betrachten. Seine Hochwohlgeboren, der Schiffsleutnant, la- 
cheln. Der sanfte Wind blaht die langen schwarzen Rockschofie des 
hageren roten Juden, man sieht seine abgewetzte, mehrfach geflickte, 
gestreifte Hose in den matten Kniestiefeln. Der Jude Nissen Piczenik 
vergifk sogar die Gebote seiner Religion. Vor der strahlenden weifl- 
goldenen Pracht des Offiziers nimmt er die schwarze Mtitze ab, und 
seine roten, geringelten Haare flattern im Wind. »Dein Neffe ist ein 
braver Matrose!« sagen Seine Hochwohlgeboren, der Herr Offizier. 
Nissen Piczenik findet keine passende Antwort, er lachelt nur, er lacht 
nicht, er lachelt lautlos. Sein Mund ist off en, man sieht die groflen 
gelblichen Pferdezahne und den rosa Gaumen, und der kupferrote Zie- 
genbart hangt beinahe iiber die Brust. Er betrachtet das Steuer, die 
Kanonen, er darf durch das Fernrohr blicken - und weifi Gott, die 
Feme wird nahe, was noch lange nicht da ist, ist dennoch da, hinter 
den Glasern. Gott hat den Menschen Augen gegeben, das ist wahr, 
aber was sind gewohnliche Augen gegen Augen, die durch ein Fernglas 
sehn? Gott hat den Menschen Augen gegeben, aber auch den Verstand, 
damit sie Fernrohre erfinden und die Kraft dieser Augen verstarken! - 
Und die Sonne scheint auf das Verdeck, bestrahlt den Riicken Nissen 



564 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Piczeniks, und dennoch ist ihm nicht heifi. Denn der ewige Wind weht 

iiber das Meer, ja, es scheint, daft aus dem Meer selbst ein Wind 

kommt, ein Wind aus den Tiefen des Wassers. 

Schliefilich kam die Stunde des Abschieds. Nissen Piczenik umarmte 

den jungen Komrower, verneigte sich vor dem Leutnant und hierauf 

vor den Matrosen und verliefi den Panzerkreuzer. 

Er hatte sich vorgenommen, sofort nach dem Abschied vom jungen 

Komrower nach Progrody zuriickzufahren. Aber er blieb dennoch in 

Odessa. Er sah den Panzerkreuzer abfahren, die Matrosen gnifken ihn, 

der am Hafen stand und mit seinem blauen, rotgestreiften Taschentuch 

winkte. Er sah noch viele andere Schiffe abfahren, und er winkte alien 

fremden Passagieren zu. Denn er ging jeden Tag zum Hafen. Und je- 

den Tag erfuhr er etwas Neues. Er horte zum Beispiel, was es heifit: 

die Anker lichten, oder: die Segel einziehn, oder: Ladung loschen, 

oder: Taue anziehn und so weiter. 

Er sah jeden Tag viele junge Manner in Matrosen anzugen auf den 

Schiffen arbeiten, die Masten emporklettern, er sah die jungen Manner 

durch die Strafien von Odessa wandeln, Arm in Arm, eine ganze Kette 

von Matrosen, die die ganze Breite der Strafie einnahm - und es fiel 

ihm schwer aufs Herz, dafi er selbst keine Kinder hatte. Er wiinschte 

sich in dies en Stunden Sonne und Enkel - und es war kein Zweifel - er 

hatte sie alle zur See geschickt, Matrosen waren sie geworden. Indessen 

lag, unfruchtbar und haftlich, seine Frau daheim in Progrody, Sie ver- 

kaufte heute an seiner Statt Korallen. Konnte sie es iiberhaupt? Wufite 

sie, was Korallen bedeuten? 

Und Nissen Piczenik vergaft schnell im Hafen von Odessa die Pflich- 

ten eines gewohnlichen Juden aus Progrody. Und er ging nicht am 

Morgen und nicht am Abend ins Bethaus, die vorgeschriebenen Ge- 

bete zu verrichten, sondern er betete zu Hause, sehr eilfertig und ohne 

echte und rechte Gedanken an Gott, und wie ein Grammophon betete 

er lediglich, die Zunge wiederholte mechanisch die Laute, die in sein 

Gehirn eingegraben waren. Hatte die Welt jemals solch einen Juden 

gesehn? 

Zu Haus in Progrody war indessen die Saison fur Korallen. Dies 

wufke Nissen Piczenik wohl, aber es war ja nicht mehr der alte konti- 

nentale Nissen Piczenik, sondern der neue, der neugeborene ozeani- 

sche. 

Ich habe Zeit genug, sagte er sich, nach Progrody zuriickzukehren! 



DER LEVIATHAN 56$ 

Was hatte ich dort schon zu verlieren! Und wieviel habe ich hier noch zu 

gewinnen! 

Und er blieb drei Wochen in Odessa, und er verlebte jeden Tag mit dem 

Meer, mit den Schiffen, mit den Fischchen frdhliche Stunden. 

Es waren die ersten Ferien im Leben Nissen Piczeniks. 



VI 

Als er wieder nach Hause nach Progrody kam, bemerkte er, daft ihm 
nicht weniger als hundertsechzig Rubel fehlten, Reisespesen mit einge- 
rechnet. Seiner Frau aber und alien andern, die ihn fragten, was er so 
lange in der Fremde getrieben habe, sagte er, dafi er in Odessa »wichtige 
Geschafte« abgeschlossen hatte. 

In dieser Zeit begann die Ernte, und die Bauern kamen nicht mehr so 
haufig zu den Markttagen. Es wurde, wie alle Jahre in dies en Wochen, 
stiller im Hause des Korallenhandlers. Die Fadlerinnen verliefien schon 
am Vorabend sein Haus. Und am Abend, wenn Nissen Piczenik aus 
dem Bethaus heimkehrte, erwartete ihn nicht mehr der helle Gesang der 
schonen Madchen, sondern lediglich seine Frau, der gewohnte Teller 
mit Zwiebeln und Rettich und der kupferne Samowar. 
Dennoch - in der Erinnerung namlich an die Tage in Odessa, von deren 
geschaftlicher Fruchtlosigkeit kein anderer Mensch aufier ihm selber 
eine Ahnung hatte - fugte sich der Korallenhandler Piczenik in die 
gewohnlichen Gesetze seiner herbstlichen Tage. Schon dachte er daran, 
einige Monate spater neuerdings wichtige Geschafte vorzuschiitzen und 
in eine andere Hafenstadt zu reisen, zum Beispiel Petersburg. 
Materielle Not hatte er nicht zu furchten. Alles Geld, das er im Verlauf 
seines langjahrigen Handels mit Korallen zuruckgelegt hatte, lag, 
unaufhorlich Zinsen gebarend, bei dem Geldverleiher Pinkas War- 
schawsky, einem angesehenen Wucherer der Gemeinde, der unbarm- 
herzig alle Schulden eintrieb, aber piinktlich alle Zinsen auszahlte. Kor- 
perliche Not hatte Nissen Piczenik nicht zu furchten; und kinderlos 
war er und hatte also fur keine Nachkommen zu sorgen. Weshalb da 
nicht noch nach einem der vielen Hafen reisen? 

Und schon begann der Korallenhandler, seine Plane fur den nachsten 
Fruhling zu spinnen, als sich etwas Ungewohnliches in dem benachbar- 
ten Stadtchen Sutschky ereignete. 



$66 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

In diesem Stadtchen, das genauso klein war wie die Heimat Nissen 
Piczeniks, das Stadtchen Progrody, eroffnete namlich eines Tages ein 
Mann, den niemand in der ganzen Gegend bis jetzt gekannt hatte, 
einen Korallenladen. Dieser Mann hiefi Jeno Lakatos und stammte, 
wie man bald erfuhr, aus dem fernen Lande Ungarn. Er sprach Rus- 
sisch, Deutsch, Ukrainisch, Polnisch, ja, nach Bedarf und wenn es zu- 
fallig einer gewiinscht hatte, so hatte Herr Lakatos auch Franzosisch, 
Englisch und Chinesisch gesprochen. Es war ein junger Mann, mit 
glatten, blau-schwarzen, pomadisierten Haaren - nebenbei gesagt, der 
einzige Mann weit und breit in der Gegend, der einen glanzenden, 
steifen Kragen trug, eine Krawatte und ein Spazierstockchen mit gol- 
denem Knauf. Dieser junge Mann war vor ein paar Wochen nach 
Sutschky gekommen, hatte dort Freundschaft mit dem Schlachter Ni- 
kita Kolchin geschlossen und diesen so lange behandelt, bis er sich 
entschloft, gemeinsam mit Lakotos einen Korallenhandel zu beginnen. 
Die Firma mit dem knallroten Schiid lautete: N. Kolchin & Compa- 
gnie. 

Im Schaufenster dieses Ladens leuchteten tadellose rote Korallen, 
leichter zwar an Gewicht als die Steine Nissen Piczeniks, aber dafiir 
um so billiger. Ein ganzer grower Bund Korallen kostete einen Rubel 
funfzig, Ketten gab es fur zwanzig, funfzig, achtzig Kopeken. Die 
Preise standen im Schaufenster des Ladens. Und damit ja niemand an 
diesem Laden vorbeigehe, spielte drinnen den ganzen Tag ein Phono- 
graph heiter grolende Lieder. Man horte sie im ganzen Stadtchen und 
weiter - in den umliegenden Dorfern. Es gab zwar keinen grofien 
Markt in Sutschky wie etwa in Progrody. Dennoch - und trotz der 
Erntezeit - kamen die Bauern zum Laden des Herrn Lakatos, die Lie- 
der zu horen und die billigen Korallen zu kaufen. 
Nachdem dieser Herr Lakatos ein paar Wochen sein anziehendes Ge- 
schaft betrieben hatte, erschien eines Tages ein wohlhabender Bauer 
bei Nissen Piczenik und sagte: »Nissen Semjonowitsch, ich kann nicht 
glauben, dafi du mich und andere seit 20 Jahren betriigst. Jetzt aber 
gibt es in Sutschky einen Mann, der verkauft die schonsten Korallen- 
schnure, funfzig Kopeken das Stuck. Meine Frau wollte schon hinfah- 
ren - aber ich habe gedacht, man miisse zuerst dich fragen, Nissen 
Semjonowitsch.« 

»Dieser Lakatos«, sagte Nissen Piczenik, »ist gewifi ein Dieb und ein 
Schwindler. Anders kann ich mir seine Preise nicht erklaren. Aber ich 



DER LEVIATHAN 567 

werde selbst hinfahren, wenn du mich auf deinem Wagen mitnehmen 
willst.« 

»Gut!« sagte der Bauer. »Uberzeuge dich selbst.« 
Also fuhr der Korallenhandler nach Sutschky, stand eine Weile vor 
dem Schaufenster, hone die grolenden Lieder aus dem Innern des La- 
dens, trat schlieftlich ein und begann, mit Herrn Lakatos zu sprechen. 
»Ich bin selbst Korallenhandler«, sagte Nissen Piczenik. »Meine Wa- 
ren kommen aus Hamburg, Odessa, Triest, Amsterdam. Ich begreife 
nicht, warum und wieso Sie so billige und schone Korallen verkaufen 
konnen.« 

»Sie sind von der alten Generation^ erwiderte Lakatos, »und, ent- 
schuldigen Sie mir den Ausdruck, ein bifichen zuriickgeblieben.« 
Wahrenddessen kam Lakatos hinter dem Ladentisch hervor - und Nis- 
sen Piczenik sah, daft er etwas hinkte. Offenbar war sein linkes Bein 
kiirzer, denn er trug am linken Stiefel einen doppelt so hohen Absatz 
wie am rechten. Er duftete gewaltig und betaubend - und man wuftte 
nicht, wo eigentlich an seinem schmachtigen Korper die Quelle all sei- 
ner Diifte untergebracht war. Blauschwarz wie eine Nacht waren seine 
Haare. Und seine dunklen Augen, die man im ersten Moment fur sanft 
hatte halten konnen, gliihten von Sekunde zu Sekunde so stark, dafi 
eine merkwurdige Brandrote mitten in ihrer Schwarze aufgliihte. Un- 
ter dem schwarzen, gezwirbelten Schnurrbartchen lachelten weift und 
schimmernd die Mausezahnchen des Lakatos. 
»Nun?« fragte der Korallenhandler Nissen Piczenik. 
»Ja, nun«, sagte Lakatos, »wir sind nicht verriickt. Wir tauchen nicht 
auf die Griinde der Meere. Wir stellen einfach kiinstliche Korallen her. 
Meine Firma heiftt: Gebriider Lowncastle, New York. In Budapest 
habe ich zwei Jahre mit Erfolg gearbeitet. Die Bauern merken nichts. 
Nicht die Bauern in Ungarn, erst recht nicht die Bauern in Rutland, 
Schone, rote, tadellose Korallen wollen sie. Hier sind sie. Billig, wohl- 
feil, schon, schmuckend. Was will man mehr? Echte Korallen konnen 
nicht so schon sein!« 

»Woraus sind Ihre Korallen gemacht?« fragte Nissen Piczenik. 
»Aus Zelluloid, mein Lieber, aus Zelluloid!« rief Lakatos entziickt. 
»Sagen Sie mir nur nichts gegen die Technik! Sehn Sie: in Afrika wach- 
sen die Gummibaume, aus Gummi macht man Kautschuk und Zellu- 
loid. 1st das Unnatur? Sind Gummibaume weniger Natur als Korallen? 
1st ein Baum in Afrika weniger Natur als ein Korallenbaum auf dem 



568 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Meeresgrund? - Was nun, was sagen Sie nun? - Wollen wir zusammen 
Geschafte machen? - Entscheiden Sie sich! - Von heute in einem Jahr 
haben Sie infolge meiner Konkurrenz alle Ihre Kunden verloren - und 
Sie konnen mit alien Ihren echten Korallen wieder auf den Meeres- 
grund gehn, woher die schonen Steinchen kommen. Sagen Sie: ja oder 
nein?« 

»Lassen Sie mir zwei Tage Zeit«, sagte Nissen Piczenik. Und er fuhr 
nach Hause. 



VII 



Auf diese Weise versuchte der Teufel den Korallenhandler Nissen 
Piczenik zum erstenmal. Der Teufel hieft Jeno Lakatos aus Budapest, 
und er fuhrte die falschen Korallen im russischen Lande ein, die Koral- 
len aus Zeiluloid, die so blaulich brennen, wenn man sie anziindet, wie 
das Heckenfeuer, das ringsum die Holle umsaumt. 
Als Nissen Piczenik nach Hause kam, kiiftte er gleichgultig sein Weib 
auf beide Wangen, begriiftte die Fadlerinnen und begann, mit einiger- 
maften verwirrten, vom Teufel verwirrten Augen, seine lieben Koral- 
len zu betrachten, die lebendigen Korallen, die lange nicht so tadellos 
aussahen wie die falschen Steine aus Zeiluloid des Konkurrenten Jeno 
Lakatos. Und der Teufel gab dem redlichen Korallenhandler Nissen 
Piczenik den Gedanken ein, unter die echten Korallen falsche zu mi- 
schen. 

Also ging er eines Tages zur Post und diktierte dem offentlichen 
Schreiber einen Brief an Jeno Lakatos in Sutschky, so daft dieser ihm 
ein paar Tage spater nicht weniger als zwanzig Pud falscher Korallen 
schickte. Nun, man weift, daft Zeiluloid ein leichtes Material ist, und 
zwanzig Pud falscher Korallen ergeben eine Menge von Schniiren und 
Biinden. Nissen Piczenik, vom Teufel verfiihrt und geblendet, mischte 
die falschen Korallen unter die echten, dermaften einen Verrat iibend 
an sich selbst und an den echten Korallen. 

Ringsum im Lande hatte die Ernte bereits begonnen, und es kamen fast 
keine Bauern mehr, Korallen einzukaufen. Aber an den seltenen, die 
hie und da erschienen, verdiente Nissen Piczenik jetzt mehr, dank den 
falschen Korallen, als er vorher an den zahlreichen Kunden verdient 
hatte. Er mischte Echtes mit Falschem - und das war noch schlimmer, 



DER LEVIATHAN 569 

als wenn er lauter Falsches verkauft hatte. Denn also geht es den Men- 
schen, die vom Teufel verfuhrt werden: an allem Teuflischen ubertref- 
fen sie noch sogar den Teufel. Auf diese Weise iibertraf Nissen Picze- 
nik den Jeno Lakatos aus Budapest. Und alles, was Nissen Piczenik 
verdiente, trug er gewissenhaft zu Pinkas Warschawsky. Und so sehr 
hatte der Teufel den Korallenhandler verfuhrt, daft er eine wahre Wol- 
lust bei dem Gedanken empfand, daft sein Geld sich vermehre und 
Zinsen trage. 

Da starb plotzlich an einem dieser Tage der Wucherer Pinkas War- 
schawsky, und Nissen Piczenik erschrak und ging sofort zu den Erben 
des Wucherers und verlangte sein Geld mit Zinsen. Er bekam es auch 
auf der Stelle, nicht weniger als fiinftausendvierhundertundfunfzig Ru- 
bel und sechzig Kopeken. Von diesem Geld bezahlte er seine Schulden 
an Lakatos, und er forderte noch einmal zwanzig Pud falscher Koral- 
len an. 

Eines Tages kam der reiche Hopfenbauer zu Nissen Piczenik und ver- 
langte eine Kette aus Korallen fur eines seiner Enkelkinder, gegen den 
bosen Blick. 

Der Korallenhandler fadelte ein Kettchen aus lauter falschen, aus Zel- 
luloid-Korallen zusammen, und er sagte noch: »Dies sind die schon- 
sten Korallen, die ich habe.« 

Der Bauer bezahlte den Preis, der fur echte Korallen angebracht war, 
und fuhr in sein Dorf. 

Sein Enkelkind starb eine Woche, nachdem man ihm die falschen Ko- 
rallen um das Halschen gelegt hatte, einen schrecklichen Erstickungs- 
tod, an Diphtheric Und in dem Dorfe Solowetzk, wo der reiche Hop- 
fenbauer wohnte (aber auch in den umliegenden Dorfern), verbreitete 
sich die Kunde, daft die Korallen Nissen Piczeniks aus Progrody Un- 
gluck und Krankheit brachten - und nicht nur jenen, die bei ihm einge- 
kauft hatten. Denn die Diphtherie begann in den benachbarten Dor- 
fern zu wiiten, sie raffte viele Kinder hinweg, und es verbreitete sich 
das Gerucht, daft die Korallen Nissen Piczeniks Krankheit und Unter- 
gang bringen. 

Infolgedessen kamen den Winter iiber keine Kunden mehr zu Nissen 
Piczenik. Es war ein harter Winter. Er hatte im November eingesetzt, 
er dauerte bis zum spaten Marz. Jeder Tag brachte einen unerbittlichen 
Frost, der Schnee fiel selten, selbst die Raben schienen zu frieren, wie 
sie so auf den kahlen Asten der Kastanienbaume hockten. Sehr still war 



570 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

es im Hause Nissen Piczeniks. Er entliefi eine Fadlerin nach der ande- 
ren. An den Markttagen begegnete er zuweilen dem und jenem seiner 
alten Kunden. Aber sie griifiten ihn nicht. 

Ja, die Bauern, die ihn im Sommer gekiiik hatten, taten so, als kennten 
sie den Korallenhandler nicht mehr. 

Es gab Froste bis zu vierzig Grad. Das Wasser in den Kannen der 
Wassertrager gefror auf dem Wege vom Brunnen zum Hause. Eine 
dicke Eisschicht bedeckte die Fensterscheiben Nissen Piczeniks, so 
daf$ er nicht mehr sah, was auf der Strafie vorging. Grofie und schwere 
Eiszapfen hingen an den Staben der Eisengitter und verdichteten die 
Fenster noch mehr. Und da kein Kunde mehr zu Nissen Piczenik kam, 
gab er daran nicht etwa den falschen Korallen die Schuld, sondern dem 
strengen Winter. Indessen war der Laden des Herrn Lakatos in 
Sutschky immer uberfullt. Und bei ihm kauften die Bauern die tadello- 
sen und billigen Korallen aus Zelluloid und nicht die echten bei Nissen 
Piczenik. 

Vereist und glatt wie Spiegel waren die Strafien und Gassen des Stadt- 
chens Progrody. Alle Einwohner tasteten ihre Wege entlang mit eisen- 
beschlagenen Stocken. Dennoch stiirzten so manche und brachen Hals 
und Bein. 

Eines Abends stiirzte auch die Frau Nissen Piczeniks. Sie blieb lange 
bewufklos liegen, ehe sie mitleidige Nachbarn aufhoben und ins Haus 
trugen. 

Sie begann bald, sich heftig zu erbrechen, der Feldscher von Progrody 
sagte, es sei eine Gehirnerschutterung. 

Man brachte die Frau ins Spital, und der Doktor bestatigte die Dia- 
gnose des Feldschers. 

Der Korallenhandler ging jeden Morgen ins Krankenhaus. Er setzte 
sich an das Bett seiner Frau, horte eine halbe Stunde ihre wirren Re- 
den, sah in ihre fiebrigen Augen, auf ihr sparliches Kopfhaar, erinnerte 
sich an die paar zartlichen Stunden, die er ihr geschenkt hatte, roch den 
scharfen Duft von Kampfer und Jodoform und kehrte wieder heim 
und stellte sich selbst an den Herd und kochte Borschtsch und Kascha 
und schnitt sich selbst das Brot und schabte sich selbst den Rettich und 
kochte sich selbst den Tee und heizte selbst den Ofen. Dann schuttete 
er auf einen seiner vier Tische alle Korallen aus den vielen Sackchen 
und begann, sie zu sortieren. Die Zelluloidkorallen des Herrn Lakatos 
lagen gesondert im Schrank. Die echten Korallen erschienen Nissen 



DER LEVIATHAN 571 

Piczenik langst nicht mehr wie lebendige Tiere. Seitdem dieser Lakatos 
in die Gegend gekommen war und er selbst, der Korallenhandler Picze- 
nik, die leichten Dinger aus Zelluloid unter die schweren und echten 
Steine zu mischen begonnen hatte, waren die Korallen, die in seinem 
Hause lagerten, erstorben. Jetzt machte man Korallen aus Zelluloid! 
Aus einem toten Material machte man Korallen, die aussahen wie leben- 
dig und noch schoner und vollkommener waren als echte und leben- 
dige! Was war, damit verglichen, die Gehirnerschiitterung der Frau? 
Acht Tage spater starb sie, infolge der Gehirnerschiitterung, gewift! 
Aber nicht mit Unrecht sagte sich Nissen Piczenik, daft seine Frau nicht 
an der Gehirnerschiitterung allein gestorben war, sondern auch, weil ihr 
Leben von dem Leben keines andern Menschen auf dieser Welt abhan- 
gig gewesen war. Kein Mensch hatte gewiinscht, daft sie am Leben 
bleibe, und also war sie auch gestorben. 

Nun war der Korallenhandler Nissen Piczenik Witwer. Er betrauerte 
die Frau in vorgeschriebener Weise. Er kaufte ihr einen der dauerhafte- 
sten Grabsteine und lieft ehrende Worte in diesen einmeifieln. Und er 
sprach morgens und abends das Totengebet fur sie. Aber er vermiftte sie 
keineswegs. Essen und Tee bereiten konnte er selber. Einsam fiihlte er 
sich nicht, sobald er mit den Korallen allein war. Und ihn bekummerte 
lediglich die Tatsache, daft er sie verraten hatte, an die falschen Schwe- 
stern, die Korallen aus Zelluloid, und sich selbst an den Handler Laka- 
tos. 

Er sehnte sich nach dem Fruhling. Und ais er endlich kam, erkannte 
Nissen Piczenik, daft er sich umsonst nach ihm gesehnt hatte. Sonst 
pflegten, jedes Jahr, noch vor Ostern, wenn die Eiszapfen um die Mit- 
tagsstunde zu schmelzen begannen, die Kunden in knarrenden Wagel- 
chen oder in klingenden Schlitten zu kommen. Fur Ostern brauchten sie 
Korallen. Nun aber war der Fruhling da, immer warmer briitete die 
Sonne, jeden Tag wurden die Eiszapfen an den Dachern kiirzer und die 
schmelzenden Schneehaufen am Straftenrand kleiner — und keine Kun- 
den kamen zu Nissen Piczenik. In seinem Schrank aus Eichenholz, in 
seinem fahrbaren Koffer, der, machtig und mit eisernen Gurten verse- 
hen, neben dem Ofen auf seinen vier Radern stand, lagen die edelsten 
Korallen in Haufen, Biinden und Schniiren. Aber kein Kunde kam. Es 
wurde immer warmer, der Schnee verschwand, der linde Regen regnete, 
die Veilchen in den Waldern sprossen, und in den Sumpfen quakten die 
Frosche: aber kein Kunde kam. 



57^ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Urn diese Zeit bemerkte man auch zum erstenmal in Progrody eine 
gewisse merkwurdige Veranderung im Wesen und Charakter Nissen 
Piczeniks. Ja, zum erstenmal begannen die Einwohner von Progrody 
zu vermuten, daE der Korallenhandler ein Sonderbarer sei, ein Son- 
derling sogar - und manche verloren den hergebrachten Respekt vor 
ihm, und manche lachten ihn sogar offentlich aus. Viele gute Leute 
von Progrody sagten nicht mehr: »Hier geht der Korallenhandler 
vorbei«, sondern sie sagten einfach: »Nissen Piczenik geht eben vor- 
bei - er war ein grower Korallenhandler. « 

Er selbst war daran schuld. Denn er benahm sich keineswegs so, wie 
es die Gesetze und die Wiirde der Trauer einem Witwer vorschrei- 
ben. Hatte man ihm noch seine sonderbare Freundschaft fur den 
Matrosen Komrower nachgesehen und den Besuch in der beriichtig- 
ten Schenke Podgorzews, so konnte man doch nicht, ohne weiterhin 
schwersten Verdacht gegen ihn zu schopfen, seine Besuche in jener 
Schenke zur Kenntnis nehmen. Denn jeden Tag beinahe seit dem 
Tode seiner Frau ging Nissen Piczenik in die Schenke Podgorzews. 
Er begann, Met mit Leidenschaft zu trinken. Und da ihm mit der 
Zeit der Met zu siift erschien, liefi er sich noch einen Wodka beimi- 
schen. Manchmal setzte sich eines der leichtfertigen Madchen neben 
ihn. Und er, der nie in seinem Leben eine andere Frau gekannt hatte 
als seine nunmehr tote Ehefrau, er, der niemals eine andere Lust ge- 
kannt hatte als die, seine wirklichen Frauen, namlich die Korallen, 
zu liebkosen, zu sortieren und zu fadeln, er fuhlte sich manchmal in 
der wiisten Schenke Podgorzews anheimgefallen dem billigen wei- 
fien Fleisch der Weiber, seinem eigenen Blut, das der Wiirde seiner 
burgerlichen und geachteten Existenz spottete, und der grofiartigen, 
heifien Vergessenheit, die die Leiber der Madchen ausstromten. Und 
er trank, und er liebkoste die Madchen, die neben ihm saften, 
zuweilen sich auf seinen Schofi setzten. Wollust empfand er, die 
gleiche Wollust wie etwa beim Spiel mit seinen Korallen. Und mit 
seinen starken, rotbehaarten Fingern tastete er, weniger geschickt, 
sogar lacherlich unbeholfen, nach den Brustwarzen der Madchen, 
die so rot waren wie manche Korallen. Und er verfiel - wie man zu 
sagen pflegt - schnell, immer schneller, von Tag zu Tag beinahe. Er 
fuhlte es selbst. Sein Gesicht wurde magerer, sein hagerer Riicken 
kriimmte sich, Rock und Stiefel putzte er nicht mehr, den Bart 
strahlte er nicht mehr. Mechanisch verrichtete er jeden Morgen und 



DER LEVIATHAN 573 

Abend seine Gebete. Er fiihlte es selbst: Er war nicht mehr der Koral- 

lenhandler schlechthin, er war Nissen Piczenik, einst ein grower KoraJ- 

lenhandler. 

Er spiirte, dafi er noch ein Jahr, noch ein halbes Jahr spater, zum Ge- 

spott des Stadtchens werden miifke - und was ging es ihn eigentlich 

an? Nicht Progrody, der Ozean war seine Heimat. 

Also fafite er eines Tages den todlichen Entschluft seines Lebens. 

Vorher aber machte er sich eines Tages nach Sutschky auf - und siehe 

da: Im Laden des Jeno Lakatos aus Budapest sah er alle seine alten 

Kunden, und sie lauschten den grolenden Liedern des Phonographen 

andachtig, und sie kauften Zelluloidkorallen, zu fiinfzig Kopeken die 

Kette. 

»Nun, was habe ich Ihnen vor einem Jahr gesagt?« rief Lakatos Nissen 

Piczenik zu. »Wollen Sie noch zehn Pud, zwanzig, dreifiig?« 

Nissen Piczenik sagte: »Ich will keine falschen Korallen mehr. Ich, 

was mich betrifft, ich handle nur mit echten.« 



VIII 



Und er fuhr heim nach Progrody und ging in aller Stille und Heimlich- 
keit zu Benjamin Broczyner, der ein Reisebureau unterhielt und mit 
Schiffskarten fur Auswanderer handelte. Es waren vor allem Deser- 
teure und ganz arme Juden, die nach Kanada und Amerika auswandern 
mufken und von denen Broczyner lebte. Er verwaltete in Progrody die 
Vertretung einer Hamburger Schiffahrtsgesellschaft. 
»Ich will nach Kanada fahren!« sagte der Korallenhandler Nissen 
Piczenik. »Und zwar so bald wie moglich.« 

»Das nachste Schiff hei^t >Phonix< und geht in vierzehn Tagen von 
Hamburg ab. Bis dahin verschaffen wir Ihnen die Papiere«, sagte Bro- 
czyner. 

»Gut, gut!« erwiderte Piczenik. »Sagen Sie niemandem etwas davon.« 
Und er ging nach Hause und packte alle Korallen, die echten, in seinen 
fahrbaren Koffer. 

Die Zelluloidkorallen aber legte er auf das kupferne Untergestell des 
Samowars, ziindete sie an und sah zu, wie sie blaulich und stinkend 
verbrannten. Es dauerte lange, mehr als fiinfzehn Pud falscher Koral- 
len waren es. Es gab dann einen gewaltigen Haufen schwarzgrauer, 



574 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

geringelter Asche. Und um die Petroleumlampe in der Mitte des Zim- 
mers schlangelte und ringelte sich der graublaue Rauch des Zelluloids. 
Dies war der Abschied Nissen Piczeniks von seiner Heimat. 
Am 21. April bestieg er in Hamburg den Dampfer »Phonix« als ein 
Zwischendeckpassagier. 

Vier Tage war das Schiff unterwegs, als die Katastrophe kam: Viel- 
leicht erinnern sich noch manche daran. 

Mehr als zweihundert Passagiere gingen mit der »Phonix« unter. Sie 
ertranken naturlich. 

Was aber Nissen Piczenik betrifft, der ebenfalls damals unterging, so 
kann man nicht sagen, er sei einf ach ertrunken wie die anderen. Er war 
vielmehr - dies kann man mit gutem Gewissen erzahlen - zu den Ko- 
rallen heimgekehrt, auf den Grund des Ozeans, wo der gewaltige Le- 
viathan sich ringelt. 

Und wollen wir dem Bericht eines Mannes glauben, der durch ein 
Wunder - wie man zu sagen pflegt - damals dem Tode entging, so 
rmissen wir mitteilen, daft sich Nissen Piczenik lange noch, bevor die 
Rettungsboote gefiillt waren, iiber Bord ins Wasser stiirzte zu seinen 
Korallen, zu seinen echten Korallen. 

Was mich betrifft, so glaube ich es gerne. Denn ich habe Nissen Picze- 
nik gekannt, und ich biirge dafiir, daft er zu den Korallen gehort hat 
und dafi der Grund des Ozeans seine einzige Heimat war. 
Moge er dort in Frieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft 
des Messias. 



DIE GESCHICHTE VON 
DER1002NACHT 

Erste Druckfassung: i$}j 



Vorbemerkung 



Im Jahr 1937 verschickte der hollandischc Verlag De Gemeenschap, 
Bilthoven, eine Anzahl Probe- bzw. Werbe-Exemplare der ersten 
Druckfassung von Roths Roman Die Geschichte von der 1002. Nacbt. 
Zwei Stuck tauchten im Antiquariatshandel wieder auf und befinden 
sich heute in der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a.M., und in der 
Harvard University Library. Auf dieser Fassung basiert die polnische 
Ubersetzung: Jozef Roth I Historia nocy 1002 /Powiesc I Warszawa: 
Roj i$}j. Um den deutschen Erstdruck besser zuganglich zu machen 
und ein Beispiel dafiir zu liefern, welche Probleme die Publikation 
deutschsprachiger Literatur in den Exillandern belasteten, ist die Fas- 
sung mit alien Fehlern und Irrtumern - auch Eigentiimlichkeiten der 
Herstellungsbedingungen - hier wortgetreu wiedergegeben. Weil ihr 
Umfang die Editorischen Anmerkungen sprengen wiirde, schliefk die 
Romanversion das Erzahlwerk ab und leitet zum Anhang iiber. 



ERSTESKAPITEL. 

Im Friihling des Jahres 18.. begann der Schah-in-Schah, der heilige, 
erhabene und grosse Monarch, der unumschrankte Herrscher und 
Kaiser aller Staaten von Persien, ein Unbehagen zu fuhlen, wie er es 
noch niemals gekannt hatte. 

Zeit seines Lebens war er von einem riistigen Gleichmut erfiillt gewe- 
sen, von einer sicheren Lebenskraft und von einem leichtsinnigen 
Glauben an die Bestandigkeit seiner Macht. Obwohl er sich fur einen 
bedeutenden Erben seiner grossen Vorfahren hielt, war er dennoch 
geneigt, jenen Ereignissen keine Bedeutung zuzumessen, die ihm viel- 
leicht Gelegenheit hatten geben konnen, seine Tugenden zu beweisen. 
Es war ihm, im Gegenteil, angenehm, die sogenannten historischen 
Gelegenheiten zu unterschatzen, damit er sie versaume. Es fiel ihm 
leichter, aus der riihmlichen Vergangenheit seiner Vorfahren eine 
kindliche Zuversicht zu beziehen, als seinem Stern zu vertrauen. Er 
liebte das Leben im allgemeinen; sein eigenes im besonderen. Er hatte 
recht, alles in allem: es war namlich ein angenehmes Leben. Es war das 
Leben des grossen Schah-in-Schah. 

Weshalb empfand er nun ein seltsames Unbehagen? Weshalb versetzte 
ihn gerade dieser Friihling des Jahres 18. . in eine solch unerklarliche 
Unruhe? - Es war ein gewohnlicher Friihling, wenn man ihn mit den 
anderen, vorhergegangenen, verglich. Im Februar duftete der Flieder 
in Teheran; Anfang Marz begannen die Rosen von Schiras zu duften. 
In den Biischen des weiten Parks floteten die Nachtigallen, wie jedes 
Jahr. Das Heulen der herrenlosen Hunde in den Vollmondnachten 
drang, wie sonst jedes Jahr, durch die offenen Fenster des Schlafge- 
machs, in dem der Schah-in-Schah ruhte. Und die siissesten Bliiten des 
Orients, die violettblau, ins rosa spielende Aziris, die stachlichen Kar- 
gophylleen und Kompositen, die Astragolus und die Acau-Stolimon 
schickten ihren erregenden und gleichzeitig einschlafernden Duft in 
die engen und weiten Strassen der Residenz. Also war es bisher auch 
jedes Jahr gewesen. 
Weshalb also empfand der Schah gerade in diesem Jahr ein so seltsames 



578 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Unbehagen? Weshalb waren seine Nachte unruhig? Weshalb gefielen 
ihm die 365 Frauen seines Harems, »Zenana« genannt, nicht mehr, ob- 
wohl er doch ein Mann von jungen Jahren war? Und es waren doch 
auserlesene Frauen! . . . Aus alien Landern der Welt hatte man sie ge- 
holt. Es waren dumme und kluge und solche, die man weder als 
dumm, noch als klug hatte bezeichnen konnen. Es gab im Harem des 
Sultans dicke und diinne Weiber und solche, die man weder als dick 
noch als dunn hatte bezeichnen konnen. Es gab schwarze, blonde und 
braune, einige, deren Haut an Kupfer erinnerte und andere, die wie aus 
goldener Bronze gegossen schienen und andere, blonde mit lilienweis- 
sen Korpern. Im »Zenana« gab es uppige Frauen, deren kiihne Briiste 
und Huften an gesegnete Gefilde denken lassen konnten und die ver- 
schwenderische Gute der Natur verrieten, und diinne, sehnige Mad- 
chen, die an die fruhlingshaften jungfrauhchen Aecker erinnerten, in 
welchen man aber schon die Sehnsucht nach dem fruchtbaren Sommer 
verspiiren kann. Es gab Frauen aus Asien, Frauen aus Kleinasien, 
Frauen aus Europa, Frauen aus Afrika, Frauen aus Australien - und 
die stolzen rothautigen Nachkommen langst ausgestorbener Indianer- 
stamme, deren Korperfarbe an eine in rosa Wolken untergehende 
Sonne gemahnte. Es gab im Harem junge Madchen, zart, wie jene Bir- 
ken des Nordens - die der Schah allerdings nicht kannte - silbern und 
beinahe durchsichtig. Es gab sommerliche Frauen, die der allerletzte 
Glanz ihrer Schonheit verschuchterte und zugleich ermutigte. Es gab 
auch herbstliche Frauen, die den todlichen Reiz ihrer goldenen Verwe- 
sung ausstrahlten, und auch Greisinnen, Grossmlitter, die dennoch 
immer nicht die Hoffnung aufgaben, eine Nacht, eine einzige nachtli- 
che Stunde nur, dem Schah wieder gehoren zu konnen. Es gab drei- 
hundertfunfundsechzig Frauen in der Zenana des Schahs! So viele 
Nachte hat das Jahr! 

ZWEITES KAPITEL. 

In diesem Friihling erschrak der Schah selbst zuweilen vor seinem Wi- 
derwillen gegen die dreihundertfunfundsechzig Frauen. Es schien ihm 
gewiss: irgend eine Krankheit rumorte in seinem Korper. 
Was macht der Schah-in-Schah wenn er sich krank fuhlt? - Er lasst 
seinen Leibarzt kommen, den Jussuf ben Ibrahim d' Acosta, einen por- 
tugiesischen Juden. Der Doktor findet keine organischen Krankheiten. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 579 

Die Leber ist gut, die Nieren lassen nidus zu wiinschen ubrig, das 
Herz ist, obwohl es dem Schah soviel Aengste bereitet, ohne TadeL - 
Was fehlt ihm also, dem grossen Schah? 
»Was fehlt mir?« - fragt er den Leibarzt. 

»Ich finde nichts, gar nichts« - sagt der Doktor - »wirklich gar nichts, 
Majestat!« 

Das Unbehagen, so sehr es ihn auch beschwerte, war dem Schah im 
Laufe der wenigen Wochen ziemlich angenehm, sogar vertraut gewor- 
den, und sein Hochmut verbot ihm, es nur als eine Einbildung gelten 
zu lassen. 

»Wirklich gar nichts ?« - fragte er. 
»Nichts, Majestat!« - sagte d'Acosta. 
»Was ist also zu tun?« - fragte der Herrscher. 
»Was Eure Majestat zu tun belieben« sagte der Arzt. 
Er wurde entlassen, keineswegs gnadig. 

In dieser Nacht konnte der Schah nicht schlafen. Er durchblatterte 
mehrere europaische illustrierte Zeitschriften. Die Texte zu lesen be- 
reitete ihm keinen Spass, obwohl er Sprachen studiert hatte. Nur die 
Bilder betrachtete er. Sie erweckten in ihm wunderbare Vorstellungen: 
das christliche Europa war ein wahrhaft exotischer Erdteil. Die Man- 
ner dort trieben Monogamie. Die Frauen waren nicht kauflich, Unver- 
schleiert zeigten sie sich auf den Strassen. Kaiser und Konige, die Kol- 
legen des Schahs, liessen sich photographieren. Eunuchen gab es nicht 
in den Landern Europas. Das Kreuz herrschte in diesen Landern: es 
waren exotische Lander. 

Hatte der Schah die Kraft aufgebracht, die Texte unter den Illustratio- 
nen zu lesen, so hatte er seiner mutwilligen und verfiihrerischen Phan- 
tasie nicht so viel Macht eingeraumt. Aber er ahnte, dass diese Texte, 
wenn er sie einmal zu betrachten geruhen wiirde, ihm seine ganze 
Freude an den Bildern nehmen mussten. 

Noch graute der Morgen nicht, und schon hatte der Schah einen guten 
Einfall. 

Er erhob sich von seinem breiten Lager, das fast ein Drittel des Schlaf- 
raumes einnahm und das aus sanftgriinen, mit feinen Daunen gepol- 
sterten Decken bestand. / Man hatte sagen konnen, es sei eine Wiese 
mit Daunen gefuttert. Ueber seinem Haupte wolbte sich ein blaugrii- 
ner Baldachin, von silbernen Sternen besat, zwischen denen die Mond- 
sichel herrschte, als Wachterin, streng und milde. Zu beiden Seiten, in 



580 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Griffnahe des liegenden Herrn aller Herrscher, hingen zwei griine 
seidene Kordeln, die in silbernen Quasten ausgingen. / Jede von ih- 
nen, zog man an ihr, loste ein ieises Glockenzeichen aus. Zog der 
Schah an der Kordel zu seiner Rechten, so erschien der Befehlshaber 
seiner Leibgarde. Beriihrte der Herrscher die linke, so kam der Ober- 
Eunuch, Kalo Patominos, ein Grieche aus Mazedonien, iiber sechzig 
Jahre alt, seit seinem vierten Lebensjahr dem Hofe verkauft und erge- 
ben. Er war zwar behabig, aber nicht fett. Der Eunuch Patominos 
war ein Weiser, und er kannte die Welt, obwohl er noch niemals den 
Hof verlassen hatte. 

Der Schah zog an der Kordel zur Linken: Patominos trat ein. 
Der Schah sass aufrecht im Bett, zu beiden Seiten brannten die 
Nachttischlampen, ein Geschenk des beriihmten englischen Weltrei- 
senden Yandring, Berichterstatter des Manchester Guardian. 
Der Eunuch verneigte sich, wie es die Vorschrift gebot. Weder an sei- 
nem blassgelben, gedunsenen Gesicht, noch an seinen fahlen Augen 
hatte man sehen konnen, dass er soeben aus dem Schlaf geweckt wor- 
den war. 

Er blieb in gebiickter Stellung, auch wahrend der Schah zu ihm 
sprach: 

»Ich bin krank, Freund Patominos. Ich furchte, ich bin sehr krank. 
Der Arzt sagt, ich sei gesund, aber ich glaube ihm nicht. Glaubst D u 
ihm, Patominos ?« 

»Nein, ich glaube ihm auch nicht!« sagte Patominos. 
»Glaubst Du also auch, dass ich schwer krank bin?« fragte der Schah. 
»Schwer krank - nein - das glaube ich nicht!« erwiderte Patominos. 
»Aber krank! Krank jedenfalls, mein Herr! Es gibt, mein Herr, viele 
Krankheiten. Die Doktoren sehen sie nicht, weil sie darauf abgerich- 
tet sind, nur die Krankheiten der korperlichen Organe zu beachten. 
Was aber nutzt dem Menschen ein gesunder Leib mit gesunden Or- 
ganen, wenn seine Seele Sehnsucht hat?« 
»Woher weisst Du dass ich Sehnsucht habe?« - 
»Ich erlaube mir, es zu ahnen«, 
»Und wonach sehne ich mich?« 

»Das ist eine Sache« - erwiderte Patominos - »iiber die ich eine Weile 
nachdenken miisste.« 
»Denk nach!« befahl der Schah. 
Der Eunuch Patominos tat so, als dachte er nach, dann sagte er: 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 581 

»Mein Herr, Eure Sehnsucht zielt nach exotischen Landern, nach den 
Landern Europas, zum Beispiel.« 
»Eine lange Reise?« 

»Eine kurze Reise, Herr! Kurze Reisen bringen mehr Freude als 
lange. Lange Reisen machen krank.« 
»Und wohin?« 

»Herr« - sagte der Eunuch. - »es gibt vielerlei Lander in Europa. Es 
hangt alles davon ab, was man eigentlich in diesen Landern sucht." 
»Und was glaubst Du, dass ich suchen miisste, Patominos?« 
»Herr« - sagte der Eunuch - »e'm so elender Mensch, wie ich, weiss 
nicht, was ein grosser Herrscher suchen konnte.« 
»Patominos« - sagte der Schah - »Du weisst, dass ich schon wochen- 
lang keine Frau mehr angeriihrt habe.« 
»Ich weiss es, Herr«, erwiderte Patominos. 
»Und Du glaubst, Patominos, das sei gesund?« 

»Herr« - sagte der Eunuch und erhob sich dabei ein wenig aus seiner 
gebuckten Stellung - »man muss sagen, dass Menschen meiner beson- 
deren Art nicht viel von derlei Dingen verstehen.« 
»Ihr seid zu beneiden.« 

»Ja« - erwiderte der Eunuch und richtete sich zu seiner ganzen fulli- 
gen Grosse auf. »Die anderen Manner bedaure ich von ganzem Her- 
zen.« 

»Warum bedauerst Du uns, Patominos?« - fragte der Fiirst. 
»Aus vielen Griinden« - antwortete der Eunuch, »besonders aber 
deshalb, weil die Manner dem Gesetz der Abwechslung unterworfen 
sind. Es ist ein trugerisches Gesetz: denn es gibt gar keine Abwechs- 
lung. « 

»Wolltest Du damit gesagt haben, dass ich dieser bestimmten Ab- 
wechslung halber irgendwohin fahren sollte?« 

»Ja, Herr« - sagte Patominos - »um sich zu iiberzeugen, dass es keine 
gibt.« 

»Und dies allein wiirde mich gesund machen ?« 

»Nicht die Ueberzeugung, Herr« - sagte der Eunuch - »aber die Er- 
lebnisse, die man braucht, um zu dieser Ueberzeugung zu gelangen!« 
»Wie kommst Du zu diesen Erkenntnissen, Patominos ?« 
»Dadurch, dass ich verschnitten bin, Herr!« - erwiderte der Eunuch 
und verneigte sich wieder. 
»Was haltst Du von den europaischen Frauen, Patominos ?« 



582 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Wenig, Herr!« 
»Warum?« 

»Weil sie nicht im Harem wohnen und nicht von meinesgleichen be- 
wacht werden. Man sagt bei uns, in Mazedonien: ein Hund, den man 
nicht beaufsichtigt lasst auch Rauber in den Hof seines Herrn.« 
Der Schah erhob sich, stieg aus dem Bett und steckte die Fiisse in die 
roten Pantoffeln aus Saffianleder. Er stand da, im weissen langen 
Nachthemd, mit krausen schwarzen ungeordneten Haaren, in den ro- 
ten Pantoffeln. Er lachte noch einmal kurz und schallend. Der Eunuch, 
tief gebiickt, sah von seinem ganzen Herrscher nur den weissen Saum 
des langen Hemdes und die roten Pantoffeln. 
»Setz' Dich!« - befahl der Schah. 

Patominos liess sich auf den Boden nieder. Auch der Schah setzte sich, 
so wie er war, im Hemd. Einander gegeniiber hockten sie nun, mit 
unterschlagenen Beinen. 

»Was haltst Du von Paris ?« - fragte der Schah. »Wie, wenn wir hin- 
fiihren?« 

»Eine schone Stadt« - sagte der Eunuch. 
»Was haltst Du von London« - fragte der Schah. 
»Auch eine schone Stadt!« - sagte der Eunuch. 
»Was haltst Du von Berlin ?« - fragte der Schah. 
»Auch dies ist eine schone Stadt!« - sagte Patominos. 
»Und in welche von diesen drei Stadten ratst Du mir zu gehn?« 
»In keine von diesen drei, Herr!« 
»Und weshalb, Patominos ?« 

»Ich weiss es nicht ganz genau, oder nicht ganz gescheit zu sagen, 
Herr« - erwiderte Patominos. »Ich glaube, der Herr Grossvezir und 
die Herren Minister werden es erklaren konnen.« 
Der Schah iiberlegte: »Gut!« sagte er, »Ich will mich entscheiden. Lass 
mir das kleine Bad bereiten!« 

Der Eunuch Patominos neigte sich vor, Er besass, trotz seiner Fiille, 
eine flinke Geschmeidigkeit. Es gelang ihm, blitzschnell aus der kau- 
ernden Stellung die untergeschlagenen und gekreuzten Fiisse ruck- 
warts auszustrecken und also in eine Kniestellung zu gelangen. Zu- 
gleich beriihrte er mit dem Kopf den Boden. Einen Augenblick sah er 
aus, wie ein kleines rundliches Gebirge aus rotlichem Samt. Der Schah 
erhob sich, schuttelte einen Pantoffel ab und streckte den rechten Fuss 
vor. Patominos kiisste den fettigen weissen Leisten des Fusses, be- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 583 

trachtete inbriinstig die kurzen Zehen und den grossen hasslichen 
Ballen neben dem grossen Zeh. Dann erhob er sich. Riicklings ging 
er hinaus. 

Zwei braune Diener, in blauen Samtrocken, rote Feze auf den Kop- 
fen, weisse, wallende, am Knochel festgebundene Hosen an den Bei- 
nen, kamen, auf nackten Sohlen; auf kraftigen, sehnigen Fiissen, die 
beweglich und geschmeidig waren wie Hande. Sie streckten die 
Arme aus, als wollten sie den Schah ins Bad fiihren, aber sie beriihr- 
ten ihn nicht. Sie taten nur so, als fuhrten sie ihn an seinen Armen 
zur Tur hinaus, ins Bad. Lauwarm war es. Es war im Mosaikboden 
eingegraben. Seine Wande bestanden aus blaulichem Porphyr; der 
Boden aus silberbedeckten pergamentenen Plattchen. Aus goldenen 
Hahnen stromte heisses, laues und kaltes Wasser. 
Nachdem nun der Schah gebadet, gesalbt und angezogen war, be- 
schloss er, den Grossvezir und die Minister kommen zu lassen. 
Zuerst kam der Grossvezir. Er hatte lange warten miissen. Es lag 
durchaus nicht in seiner Natur, zu warten. Nein, es lag nicht in sei- 
ner Natur! Er liebte den Schah wenig; noch weniger schatzte er ihn. 
Er stammte aus dem unterjochten Land Albanien. In seinem Blut 
kochte noch der Hass seiner Grossvater, die der Grossvater des 
Schahs gepeitscht hatte - eine Art Auszeichnung sozusagen, die le- 
diglich Widerspenstige aus nobelstem Stamme zuweilen treffen 
konnte. Unter all den Arten, die es in der Welt gibt, Schande zu 
haufen auf ein mannliches Herz, war diese vielleicht die Eh re unter 
den Schanden. Den Grossvezir aber schmerzten zuweilen noch die 
Schlage, die seine Ahnen getroffen hatten, obwohl er selbst seit sei- 
ner Kindheit aller Gnaden des persischen Hofes teilhalft geworden 
war. Er hatte alle europaischen Hauptstadte besucht, alle Sprachen 
gelernt und auch die Jurisprudenz an der Wiener Universitat stu- 
diert, wo er von seinen Landsleuten, den weniger rebellischen Stu- 
denten aus Albanien, allerdings gemieden worden war: ein Pestkran- 
ker. Nun, er war aber zu eigensuchtig und zu ehrgeizig, um darun- 
ter zu leiden, Er hatte einfach keine Zeit, zu leiden. Seine Nachte 
liessen ihm keine Zeit. Seine Nachte verschlangen die Tage, manch- 
mal schien es ihm, als verschlangen sie ganze Wochen und Monate. 
Ueberall, in alien Hausern, in denen die Nacht Konigin war, kannte 
man den Mohammed Philippos Kanergio. Er studierte im Halb- 
schlaf, und er freute sich des Lebens in volliger Wachheit: er besass 



584 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

genau jenes Mass an Wiirdelosigkeit, das ihn berechtigte, ein hoher 
Wiirdentrager zu werden. 

Spater aber begann er, wie schon gesagt, den Schimpf zu fiihlen, der 
seinen Vatern angetan worden war, Er wusste, dass er ein unbedeuten- 
der Staatsmann war und, dass ihn mehrere Minister an Klugheit, Takt 
und Scharfsinn ubertrafen. In der Spittelgasse, im bekannten Haus der 
Rosa Rabenlechner, war er zehn Jahre friiher ein bedeutender Gast 
gewesen; ebenso in der Wollzeile, bei der Dame Kriegl; ebenso im 
Hause der Witwe Falleiner, wo man die jungsten Backfische zu servie- 
ren pflegte. Oft, mitten in der Triibsal der Geschafte, der Berichter- 
stattungen, der Vortrage und der Konferenzen iiberfielen den Gross- 
vezir die Erinnerungen an seine Jugend; sehr geschatzte und trotzdem 
ein weinig lastige Gespenster. Sie gewaltsam zu vertreiben, war ebenso 
schwieng, wie es suss war, sich ihnen hinzugeben. Eigentlich bestand 
darin seine Tatigkeit: im Kampf mit den geliebten Gespenstern: ein 
wonniger Kampf! 

Auch bezog der Gross vezir aus diesen Erinnerungen einen Teil jener 
Haltung, die er notig hatte, um seine auftere Wiirde zu wahren und die 
Mangel zu verdecken, die ihm sein Amt so schwer machten. Keiner, 
auch der Schah nicht, kannte die europaische Welt so gut wie er. Aus- 
serdem f unite er sich den Persern iiberlegen - und zwar justament, weil 
er eben ein Albaner war. 

Schon wusste er durch den Obereunuchen, dass der Schah den 
Wunsch hatte, eine grossere Reise zu unternehmen. Solch ein Verlan- 
gen verstand er gut. Zwar war er jiinger als der Schah - / hat der Schah 
denn iiberhaupt ein Alter - / aber auch er, der Jiingere, begriff schon 
sehr wohl die Unlust, den Widerwillen, den Abscheu sogar, die die 
beruhmten, im Koran und in der christlichen Welt viel gepriesenen 
Freuden des Harems nach langen Jahren der Gewohnung einem alte- 
ren Mann bereiten mussten. Auch er, der Grossvezir, besass einen Ha- 
rem. Die Frauen hatte der Grossvezir selbst ausgewahlt, einzeln, eine 
nach der andern. Dies hielt er, nebenbei gesagt, fur eine fortschrittliche 
Methode; und er bildete sich ein, in spielerischen und verspielten Stun- 
den, dass er deswegen allein schon der fortschrittliche Mann seines 
Landes sei. Auch in seinem Harem gab es Frauen verschiedener Art 
und Rasse. Auch in seinem Harem gab es die goldbronzenen, die kup- 
ferschwarzen, die schneeweissen, die kaffeebraunen, die gelben Leiber, 
die blauschwarzen nachtlichen Haare der Inderinnen, die dichtgekrau- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 585 

selten, aufwartsragenden, niemals zu bandigenden Haare der Negerin- 
nen, das sanfte Puppenhaar der Mongolinnen und die goldblonden, 
allerdings mit Henna gefarbten Haare der Europaerinnen, die zumeist 
aus Budapest stammten. Auch den Grossvezir langweilte sein Harem. 
Er hatte eine ganz bestimmte, beinah' europaische Vorstellung von der 
Liebe. Die Rosa Rabenlechner, die Witwe Falleiner, die Dame Kriegl 
und all das, was sich in diesen drei Hausern abspielte, hatte er niemals 
vergessen, ebenso wenig wie die zufalligen Bekanntschaften keuscher, 
aber auch gefalliger Madchen, die den jungen Kanergio mit einer bie- 
deren, gutbiirgerlichen Leidenschaft fur die fiirstlichen Geschenke be- 
dachten, die er ihnen hatte zukommen lassen. Der Grossvezir gefiel 
sich in seinem Glauben, dass ihn die verschiedenen Madchen noch im- 
mer in einer dankbaren, ja geradezu tragisch dankbaren Erinnerung 
behalten hatten. Er hatte zu viel von der christlich-ritterlichen Vorstel- 
lung mitgenommen, die damals noch die Herzen und die Kopfe der 
europaischen Mannlichkeit erfiillte. Er glaubte an die unwandelbare 
Treue, die ihm so viele kleine Madchen von der Wiener Mariahilfer- 
strasse geschworen hatten, liebe, winzige Verkauferinnen aus grossen 
Warenhausern, herzensgute, liebe Tochter der Gewerbetreibenden; 
der Ofensetzer, der Schuster, der Flickschneiden Ach! er wusste nicht, 
der grosse Grossvezir, dass die kleinen Madchen inzwischen alter ge- 
worden waren, ihre alten Schwure vergessen und neue geleistet hatten 
- oh! wieviel neue Schwure! Ihm schien es, dass alle auf ihn warteten. 
So, wie er sie einst verlassen hatte, warteten sie alle heute noch auf ihn. 
Seit langem schon wiinschte er sich den Tag herbei, an dem er in einen 
Urlaub von mittlerer Dauer geschickt werden konnte. Er hatte ein paar 
schuchterne Versuche gemacht, solch einen Urlaub zu erreichen. Der 
Schah war keineswegs geneigt, ihm einen zu gewahren. Der Schah-in- 
Schah verriet seine Gedanken keineswegs - und, wenn er manchmal 
sagte: »ich kann Dich nicht entbehren!« - so vernahm der Grossvezir 
eigentlich Folgendes: »Obwohl Du so mittelmassig bist, und ich Dich 
eigentlich sehr wohl entbehren konnte, entlasse ich Dich doch nicht 
nach Deinem geliebten Europa. Ich furchte mich vor Deinem Stellver- 
treter, der kliiger ist als Du. Ich brauche einen mediokren Grossve- 
zir! . . « 

Alle dies ixberlegte der Grossvezir Kanergio, wahrend er auf den Schah 
wartete. Er wartete stehend, obwohl in den Raum, in dem er sich be- 
fand, ringsum an den Wanden viele hoch iibereinander geschichtete 



586 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Teppiche zum Ruhen einluden. Ein Diener des Schahs setzt sich nicht. 

Schritte, die sich naherten, konnte man nicht horen; so dicht waren die 

Teppiche und so weich die Pantoffeln. Auch dem aufmerksamsten 

Ohr hatte kein Gerausch ankiindigen konnen, wann es Zeit ware, sich 

zu erheben. 

Plotzlich - ohne dass man etwas vernommen hatte - erschien der Herr. 

Der Grossvezir legte die Hand an Stirn, Herz und Fusspitze. Der 

Schah blieb eine Weile stehen, die schwere rostrote Portiere hinter dem 

Rxicken. Er stand da im weissen Gewand aus leuchtender Seide, die zu 

knistern schien, wenn man sie auch nur ansah, in roten Sandalen, einen 

leichten seidenen griinen Ueberwurf um die Schultern, den krummen 

kurzen Sabel an rotem Gehange an der Hiifte. Er sagte: 

»Wir fahren, mein Freund!« 

»Wir werden fahren, Herr!« - sagte der Grossvezir. 

»Wohin, mein Freund?« 

»Wohin mein Herr befehlen!« 

»Ich wiinsche zuerst einen Rat und dann erst Gehorsam!« 

»Es ist schwer, zu raten, Herr!« 

»Es ist die Aufgabe des Grossvezirs!« 

»Wenn es befohlen ist, weiss ich einen Rat: wir werden in die Residenz 

des Kaisers von Oesterreich-Ungarn fahren!« 

»Mohammedaner waren dort schon, vor vielen Jahren!« 

»Herr, es gelang ihnen damals leider nicht, in die Stadt zu kommen. 

Auf dem Stefansturm stiinde sonst heute nicht das Kreuz, sondern un- 

ser Halbmond!« 

»Alte Zeiten, alte Geschichten, Grossvezir. Wir leben in Frieden mit 

dem Kaiser von Oesterreich.« 

»Jawohl, Herr!« 

»Wir fahren !« - befahl der Schah - »die Minister verstandigen!« 

Sobald der Schah-in-Schah den Entschluss gefasst hatte, zu fahren, war 

er auch kaum noch mehr imstande, die Raume seines Palastes, die Ge- 

sichter seiner Diener zu ertragen und die Gewohnheiten seines Tages. 

Alles argerte und langweilte ihn. Er war ein Herr; und es argerte ihn, 

dass er seine Entschlusse nicht im Nu ebenso ausgefiihrt sah wie zum 

Beispiel seine Befehle. Weshalb stand er nicht jetzt schon, sofort, im 

Bahnhof? Weshalb stieg er nicht jetzt schon, sofort, in seinen schnee- 

weissen kaiserlichen Zug? Ja, weshalb stieg er nicht jetzt schon, in der 

nachsten Sekunde, in Wien aus? Ach! was niitzte solch eine Macht, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 587 

wenn alles nicht so schnell ging, wie man es brauchte? - Es argerten 
ihn die grossen Fensterbogen und das farbige Mosaik des steinernen 
Bodens und die Waffen seiner Ahnen an den Wanden und die Teppi- 
che an den grossen Ringen, vor den Turen aufgehangt, und der Blick in 
den Park, in dem die alten langweiligen Palmen so protzig, starr und 
wie verirrt neben den europaischen Linden standen, und der ewig plat- 
schernde Springbrunnen im Vorsaal und die Papageien im Vogelhaus, 
deren Geschrei man zuweilen bis in den Palast horen konnte. Alles 
argerte den Schah-in-Schah. 

In einer Art von Selbstzerfleischungssucht begab er sich an den Ort, 
der ihm seit langerer Zeit die eigentliche Quelle seiner Qualen zu sein 
schien, namlich in den Zenana. Obwohl es noch friih am Tage war, 
herrschte in den Raumen des kaiserlichen Harems eine abendliche 
Dammerung, gemischt aus Gold und Rot, herstammend aus dem gold- 
durchwirkten Rot der seidenen Vorhange, welche die starke Sonne 
sanftiglich filtrierten. Als er eintrat, klatschte der Obereunuch im Vor- 
saal in die Hande. Unsichtbare Eunuchen bewegten silberne Glock- 
chen, unzahlige, silberne, lacheinde und zugleich auch strenge Glock- 
chen. Als der Schah den zweiten Saal betrat, sah er lauter Frauenriik- 
ken, schmale, zarte, breite, fette, diinne, sehnige, reizvolle, hassliche, 
abstossende, runde und eckige Schultern, nackte und verhiillte Schen- 
kel. Soweit er sich erinnern konnte, befahl das Gesetz auf jede Reise, 
die er unternahm, sechzehn Frauen mitzufuhren. Zuerst war er ent- 
schlossen gewesen, die vorgeschriebenen sechzehn auszuwahlen. Jetzt 
aber, da er sie sah, ergriff ihn zum ersten Mai ein ganz ungewohntes, 
ein fremdes Unbehagen, ein Ungeheuer von einem Unbehagen. Zum 
ersten Mai kam dem Schah der Gedanke, dass diese Frauen Herzen 
hatten, menschliche Herzen; dass mehrere unter ihnen Mutter seiner 
Kinder waren; er erinnerte sich plotzlich, dass diese und jene Frau ihn 
mit warmer Herzlichkeit empfangen und umarmt hatte. Er befahl den 
Frauen, aufzustehn. Die alteren, fetten und hasslichen versuchten, mit 
den Armen die fallenden schweren Briiste zu verdecken. Die jungen, 
schlanken mit frischen, ragenden Briisten ausgestatteten, standen auf- 
recht und mit dem aufreizenden, sichtbaren, sicheren Gefuhl, dass sie 
selber schon und ihre Schwestern hasslich seien. Den Schah erfullte 
Hass gegen die aufrechten, jungen und stolzen Frauen. Er stampfte mit 
dem Fuss auf den Boden. Der Eunuch kam heran. »Die sechzehn alte- 
sten und dicksten wahlst Du aus!« - befahl der Schah. »Sie fahren mit 



555 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

mir!« - Nachdem er dieses leise gesagt hatte, sprach er mit lauter 
Stimme zu den Frauen: »Die sechzehn schonsten unter Euch mogen 
vortreten!« 

»Die altesten!« wiederholte der Schah leise zum Eunuchen. Der Eu- 
nuch ging durch die Reihen. Mit dem Zeigefinger beriihrte er die 
Frauen an den Schultern. Sie traten vor, eine nach der anderen. Der 
Schah lachelte ihnen zu. Sie hatten gelbe und grellrot geschminkte und 
weissgepuderte und schwammige Gesichter. Sie sahen aus wie sech- 
zehn Schwestern des Eunuchen. Eine gutmutige Negerin, in deren 
wirrem Haar bereits silberne tausendfach gekrauselte Harchen zu se- 
hen waren, erweckte irgendwelche feme Erinnerungen im Herzen des 
Schahs, traurig und suss zugleich. Er ging an sie heran, streichelte ihr 
hartes, knisterndes Haar und ihr weiches, fettes, hangendes Kinn. 
»Hab > ich Dich gekannt?« - fragte er. »Herr« - sagte die Frau, und 
nichts weiter. »Hast Du Kinder?« - fragte er. »Zwei, Herr!« - »Wie 
alt?« »Achtzehn und siebzehn!« - »2u meiner Leib garde !« - sagte der 
Schah zum Eunuchen. 

Hierauf verliess er den Harem, ohne noch einen Blick auf die Frauen 
zu werfen. 

DRITTESKAPITEL. 

Es kam ihm plotzlich vor, dass er noch sehr viel, unausdenklich viel, 
vor seiner uberstiirzten Reise zu tun habe. Sein Befehl zur unerbittli- 
chen Eile erreichte, kaum hatte er ihn erteilt, die angestrengt lauschen- 
den, auf die verbliiffenden Launen des Herrn allzeit vorbereiteten 
Ohren des Grossvezirs und der Minister. Alle iiberraschenden Ent- 
schliisse ihres Herrn hatten sie immer gar gewaltig erschreckt. Die wa- 
ren gewohnt, jeden Tag zu segnen, der keinen Entschluss des Schahs 
geboren hatte. Dieses Mai aber erschraken sie noch mehr als gewohn- 
lich. Wo fand man noch die Zeit, den Botschafter in Wien zu verstan- 
digen, dass der Herr entschlossen war, den Kaiser zu besuchen? Wie 
machte man es moglich, eine Antwort rechtzeitig zu bekommen? Es 
gelang weder dem Grossvezir, noch den Ministern, zum Schah-in- 
Schah vorzudringen. Er ahnte wohl, dass sich allerhand Schwierigkei- 
ten aus seinem Entschluss ergeben mussten. Es gab leider noch andere 
souverane Lander. Es gab leider Botschafter. Es gab leider Formalita- 
ten. Er furchtete sich vor den Formalitaten. Wozu hatte er iibrigens 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 589 

Grossvezir und Minister? Es war ihre Aufgabe, seine Entschliisse aus- 

zufuhren. 

»Der Herr packt«: das hiess natiirlich nicht, dass der Schah-in-Schah 

wirklich packte. Er sah nur mit kindischer Begeisterung zu, wie seine 

riesenhaften Diener, mit nackten Oberkorpern, gewaltig auf- und ab- 

schwellenden Mu skein, mit wuchtigen Han den Teppiche rollten, und 

schwere, wuchtige Koffer aufhoben, Gewander, Sabel, Lanzen, ver- 

stauten, gewaltige Armleuchter aus Gold und Silber, und schliesslich 

drei Kisten mit Orden fullten: lauter Geschenke, zugedacht den exoti- 

schen Menschen Europas. 

Der Schah sah fleissig zu. Von Zeit zu Zeit klopfte er dem und jenem 

seiner Diener auf die muskulose schwitzende Schulter, Er gefiel sich in 

der Vorstellung, dass er auf immer verreise. Der Palast wurde ausge- 

raumt. Ein neues Leben sollte beginnen. Er wusste noch nicht genau, 

was fur ein Leben. Ein neues abenteuerliches Leben war es einfach. 

Er verbot Parade und Offizielle Abfahrt. Er wollte keine Musik und 

keine Nationalhymne; vor allem keine National-Hymne! Er hasste die 

Nationalhymne. Er liess den Leibschneider kommen / auch der war 

ein Grieche, ein gewisser Kondopulos / und befahl, dass man ihm die 

europaischen Gewander anprobiere. Der Schneider Kondopulos 

brachte acht Anziige mit und acht europaische Hike. Den tauben- 

grauen Anzug und den sandgelben Panamahut wahlte der Herr fur die 

Reise. 

Und es geschah, wie er befohlen hatte, 

Im Waggon erster Klasse zuerst, spater im riickwartigen Teil des Schif- 

fes, herrschend iiber den Frauen, sass der Ober-Eunuch Kalo Patomi- 

nos. Er blickte-auf die rotgliihende untergehende Sonne. Er breitete 

den Teppich aus, warf sich auf den Boden und begann, das Abendge- 

bet zu murmeln. Man erreichte unerkannt Konstantinopel. 

Das Meer war sanft, wie ein Kind. Das Schiff schwamm sacht und 

lieblich, es selbst ein Kind, in die blaue Nacht hinein f 

VIERTESKAPITEL. 

Ein paar Tage kreuzte das brautliche Schiff des Schahs im blauen Meer. 
Denn man getraute sich nicht, dem grossen Herrn zu sagen, dass man 
auf eine Antwort des persischen Botschafters in Wien warten miisse. 
Nach anderthalb Tagen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl 



590 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

er sich um den Kurs des Schiffes nicht kummerte, konnte er doch nicht 
umhin, zu bemerken, dass immer wieder das gleiche Stuck der Kiiste 
auftauchte, die er eben verlassen hatte. Auch ihm schien es allmahlich 
sonderbar, dass ein so starkes Schiff so viel Zeit brauchte, um ein zo 
kleines Meer zu durchqueren. Er Hess den Grossvezir kommen und 
deutete ihm an, dass er unzufrieden sei mit der Langsamkeit der 
Ueberfahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht genau. Denn, traute 
er schon keinem seiner Diener, solange er sich auf fester Erde befand, 
so traute er ihnen noch weniger, wenn er auf dem Wasser umher- 
schwamm. Gewiss war man auch zur See in Gottes Hand, aber auch 
ein wenig in der des Kapitans. Ueberhaupt, so oft er an den Kapitan 
dachte, wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapitan gar nicht, 
besonders, weil er sich nicht erinnern konnte, ihn schon jemals gese- 
hen zu haben. Er war namlich ausserst misstrauisch. Selbst die Man- 
ner, die ihm heimisch und wohlvertraut waren, verdachtigte er leicht 
und gerne; wie erst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich 
nicht erinnerte? Ja, er war dermassen misstrauisch, dass er nicht einmal 
sein Misstrauen zu erkennen zu geben wagte - in der kindischen und 
machtigen Herrn oft eigenen Ueberzeugung, sie seien noch schlauer 
als ihre Diener. Deshalb deutete er jetzt dem Grossvezir auch nur vor- 
sichtig an, dass ihm dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vor- 
komme. Der Grossvezir aber, der wohl erkannte, dass der Schah sein 
Misstrauen nicht ausdriicken wolle, gab keineswegs zu erkennen, dass 
er Misstrauen spure. 

»Herr« - sagte er - »auch mir erscheint es unverstandlich, dass wir so 
lange Zeit brauchen, um das Meer zu iiberqueren«. 
»Ja« - bestatigte der Schah, als ob er selbst erst durch diese Bemerkung 
des Gross vezirs auf die allzu langsame Fahrt aufmerksam gemacht 
worden ware - »ja, Du hast recht: warum fahren wir so langsam?« 
»Man musste, Herr, den Kapitan befragen!« - sagte der Grossvezir. 
Der Kapitan kam, und der Schah fragte »Wann erreichen wir endlich 
die Kiiste?« 

»Grossmachtiger Herr« - erwiderte der Kapitan - »das Leben Eurer 
Majestat ist uns alien heilig! Heiliger ist es uns als unsere Kinder, heili- 
ger als unsere Mutter, heiliger als die Pupillen unserer Augen. Unsere 
Instrumente kiindigen einen Sturm an, so friedselig das Meer auch im 
Augenblick erscheinen mag. Wenn Eure Majestat an Bord sind, miis- 
sen wir tausendfach achtgeben. Was gibt es Wichtigeres fur unser Le- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 591 

ben, fur unser Land, fur die Welt, als das geheiligte Leben Eurer Maje- 
stat? - Und unsere Instrumente kiindigen leider Sturm an, Majestat!« 
Der Schah sari nach dem Himmel. Er war blau, straffgewolbt, strah- 
lend. Der Schah dachte, dass ihn der Kapitan beliige. Er sagte es aber 
nicht. Er sagte nur: »Mir scheint, Kapitan, dass Deine Instrumente gar 
nichts taugen!« 

»Gewiss, Majestat,« - antwortete der Kapitan - »auch Instrumente 
sind nicht immer zuverlassig!«. 
»Ebenso wie Du, Kapitan « - sagte der Schah. 

Auf einmaal bemerkte er ein winziges, weisses Wolkchen am Rande 
des Horizonts. Die Wahrheit zu sagen: es war kaum ein Wolkchen, es 
war ein Schleierchen, eigentlich nur der Hauch von einem Wolkchen. 
Auch der Kapitan hatte es im gleichen Augenblick erspaht - und schon 
hoffte er, ein Wunder sei ihm zu Hilfe gekommen, und er und seine 
Luge und seine verlogenen, umgelogenen Instrumente wiirden in den 
Augen des Herrn aller Glaubigen plotzlich gerechtfertigt sein. 
Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn: so winzig und hauch- 
diinn das Wolkchen auch war, so verstarkte es doch den Zorn des 
Schahs. Er hatte sich schon so daran gefreut, dass er Grossvezir und 
Kapitan auf einer niedertrachtigen Luge ertappt hatte — und jetzt kam 
die Natur selbst — gebar ein Wolkchen / und wie leicht konnten rich- 
tige Wolken daraus werden! / und gab am Ende noch den liigenden 
Instrumenten recht! Mit grimmer Aufmerksamkeit beobachtete der 
Schah die unaufhorlich wechselnden Formen des Wolkleins. Bald lok- 
kerte es sich. Der Wind zerfranste es ein bisschen. Dann aber ballte es 
sich noch fester als vorher zusammen. Nun sah es aus, wie ein Schleier, 
in einen Knauel verdichtet. Dann dehnte es sich in die Lange. Dann 
schliesslich wurde es dunkler und fester. Der Kapitan stand immer 
noch hinter dem Rucken des Schahs. Auch er betrachtete die wech- 
selnden Formen der kleinen Wolke, aber keineswegs grimmig, sondern 
mit trostlichem Herzen. Ach, aber: wie trog ihn sein Sinn! Jah und 
wiitend wandte sich der Schah urn, und sein Angesicht erschien dem 
Kapitan wie eine Art gefahrlicher violetter Hagelwolke. »Ihr tauscht 
Euch alle« - begann der machtige Herr ganz leise, mit einer Stimme, 
die beinahe tonlos, gleichsam aus unbekannten Griinden der Seele 
kam. »Ihr tauscht Euch alle, wenn Ihr glaubt, dass ich Eure Manover 
nicht durchschaue. Die Wahrheit sagst Du mir nicht! Was erzahlst Du 
mir von Deinen Instrumenten? Was fur einen Sturm verkiinden sie? 



592 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Mein Auge ist noch lange so sicher wie Deine Instrumente. Ringsum 
ist der Himmel klar und blau, selten noch habe ich einen so klaren und 
blauen Himmel gesehen. Mach' Deine Augen auf, Kapitan! Sag' selbst, 
siehst Du auch ein einziges, noch so geringes Wolkchen am Hori- 
zont?« 

Der Schrecken des Kapitans war gross, aber gewaltiger noch war sein 
Erstaunen. Und noch grosser als sein Schreicken und sein Staunen war 
seine Ratlosigkeit. War der Zorn des Herrn echt oder gespielt? Stellte 
ihn der Herr auf die Probe? Wer konnte es wissen? Er hatte niemals in 
der Nahe des Schahs gelebt, er kannte nicht seine Gewohnheiten. Der 
und jener hatte dem Kapitan gelegentlich erzahlt, dass der Schah 
manchmal den Erziirnten spielte, urn den Grad dre Aufrichtigkeit zu 
erkennen, dessen seine Diener fahig sein konnten. Ungliicklicherweise 
dachte der arme Kapitan gerade jetzt an diesen einen, im allgemeinen 
durchaus nicht kennzeichnenden Charakterzug des Herrn und er ent- 
schloss sich, auf rich tig zu sein. »Herr« - sagte er - »die Augen Eurer 
Majestat haben soeben die Wolke dort am Horizont gesehen. « Und er 
trieb, der unselige Kapitan, seine Kuhnheit so weit, dass er sogar den 
Finger ausstreckte und nach dem Wolkchen wies, das inzwischen eine 
richtige, schwarzblaue Wolke geworden war, die mit unheimlicher 
Eile dem Schiffe nahertrieb. 

»Kapitan!« - donnerte der Schah - willst Du mich lehren, den Himmel 
anzusehn? Nennst Du jenes lichte Nebelchen dort eine Wolke? Spiirst 
Du nicht die Strahlen der Sonne?« 

In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas Unerwartetes. Die 
Wolke, sie war in einigen Sekunden eine tiefe, regentrachtige, blau- 
schwarze Gewitterwolke geworden, hatte soeben die Sonne erreicht 
und sie verfinsterte die Welt. 

Der Kapitan streckte beide Arme aus, und iiber seine zitternden Lip- 
pen kam kein Wort mehr. Es sah aus, als wollte er sagen: »Herr, zu 
meinem Bedauern bin ich gezwungen, den Himmel sprechen zu lassen. 
Er schickt sich eben an, statt meiner, Eurer Majestat zu antworten.« 
Zwar hatte auch der Schah selbstverstandlich gesehn, wie sich die 
Sonne verfinsterte. Noch wusste er nicht genau, ob er sich freuen sollte 
iiber die Ehrlichkeit seiner Diener, die ihm in der Tat genauen und 
wahrheitlichen Bericht iiber den nahenden Sturm gegeben hatten, oder 
ob er sich argern sollte dariiber, dass er seinem eigenen Misstrauen 
erlegen war. Er fuhlte, dass er in Gefahr war, seine Verwirrung zu 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 593 

verraten. Dies durfte auf keinen Fall geschehen - und deshalb befahl 
er: »Zeig' mir Deine Instrumente, Kapitan!« 

Wahrend sie das Deck entlang gingen, der Schah voran, der Kapitan 
hinterdrein, verfinsterte sich der Himmel noch mehr, soweit man se- 
hen konnte, mit Ausnahme eines schmalen blauen Streifens im Nord- 
osten. In Westen waren die Wolken ganz bose und violett, in Zenith 
des Himmels wurden sie etwas milder und heller, im Osten lichteten 
sie sich zu einer geradezu als giitig zu empfindenden Blasse. Der Kapi- 
tan, drei Schritte hinter dem Schah, geriet in eine wahrhaftige, ehrliche 
Furcht. Diesmal war es nicht, wie vorher, Angst vor dem Herrscher 
und vor der eigenen Luge, sondern Furcht vor Allah, dem Herrn der 
Welt, und vor dem Sturm, den er so leichtsinnig vorausgesagt hatte. 
Zum ersten Mai hatte der Kapitan die Ehre, den Schah-in-Schah auf 
seinem Schiff zu beherbergen. Wass wusste er von den Gesetzen der 
Diplomatic, der brave Kapitan? Seit zwanzig Jahren kreuzte er die 
Meere, immer auf diesem kaiserlichen Dampfer Achmed Akbar. Viele 
Stiirme hatte er erlebt, in seiner Jugend war er noch auf Segelschiffen 
gefahren, und auf Segelschiffen hatte er die Seefahrt zuerst kennen ge- 
lernt. Niemals seit seinem Regierungsantritt hatte dieser Schah das Be- 
durfnis empfunden, ein Meer zu iiberqueren. Ihn, den armen Kapitan, 
traf die gefahrliche Auszeichnung, den machtigen Herrn zum ersten 
Mai uber Wasser zu fiihren. »Wir diirfen nicht in der vorgeschriebenen 
Zeit Europas Kiiste erreichen«, hatte ihm der Gross vezir gesagt. - 
»Seine Majestat haben einen hochst ungeduldigen Charakter und wol- 
len ihre Wiinsche erfiillt haben, kaum sind sie ausgesprochen. Aber es 
gibt, verstehn Sie, Kapitan, diplomatische Hindernisse. Wir miissen 
erst die Antwort seiner Exzellenz, unseres Botschafters abwarten. So- 
lange miissen wir trachten, nahe der Kiiste herumzukreuzen. Wenn er 
seiner Majestat einfallen sollte, Sie zu fragen, so sagen Sie, dass Sie 
Sturm befiirchten.« 

So hatte der Grossvezir gesprochen, Und siehe da: Der Sturm war 
wirklich im Anzug. Und die Instrumente hatten inh doch gar nicht 
angekiindigt. Einfach die Luge hatte ihn angekiindigt, einfach die 
Luge! Glaubig war der Kapitan und Allah fiirchtete er. 
Sie kamen in die Kabine des Kapitans. Es gab da wenig Instrumente, 
insbesonders aber keine, die etwas vom nahenden Sturm aussagen 
konnten. Es gab nur eine grosse Bussole, englisches Fabrikat, festge- 
schraubt auf einer runden Tischplatte. Der Schah beugte sich dariiber. 



594 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Was ist das, Kapitan?« - fragte er. »Majestat, eine Bussole!« - sagte 
der Kapitan. »Aha« - sagte der Schah. »Andere Instrumente hast Du 
nicht?« - »Hier nicht, Majestat, sie sind daneben, im Zimmer des Inge- 
nieurs!« - »Also Sturm?« - fragte der Schah. Er hatte keine Lust mehr, 
andere Instrumente zu sehn, und ausserdem wiinschte er sich ehrlich 
einen Sturm herbei. »Wann wird eindlich dieser Sturm kommen?« - 
fragte er glitig. »Ich schatze, nach Sonnenuntergang!« - sagte der Kapi- 
tan. 

Der Schah ging, hinter ihm der Kapitan. Als sie auf das Verdeck traten, 
war der Tag bereits fast so fmster, wie eine richtige Nacht. Der Offi- 
zier vom Dienst kam eilig heran, er lief, es war fast, als ob er galop- 
pierte. Er meldete dem Kapitan irgend etwas, in Ausdriicken, die der 
Schah noch niemals gehort hatte. Er ging auch weiter, ohne sich um die 
beiden zu kummern. Er trat an die Reeling und betrachtete mit auf- 
richtigem Vergniigen dem wiitenden Gischt der anstiirmenden, zu- 
riickweichenden und immer wieder ansturmenden Wogen, Das Schiff 
begann zu schwanken. Die Welt begann zu schwanken. Die Wogen 
waren griine, schwarze, blaue und graue Zungen, mit schneeweissen 
Randern. Ein gewaltiges Unbehagen ergriff plotzlich den Schah. Ein 
unbekanntes Ungeheuer wuhlte und wand sich in seinen Eingeweiden. 
Einmal, er erinnerte sich, er war noch ein Knabe gewesen und krank, 
sehr krank, hatte er ein ahnliches Uebel verspiirt. 
Den Kapitan ergriff eine doppelte Aufregung: erstens war sein Herr 
unpasslich; und zweitens naherte sich eben jener Sturm, den er so 
leichtfertig vorausgelogen hatte. Der Kapitan wusste nicht mehr, um 
was er sich eifriger kummern miisse: um den Sturm oder das Unbeha- 
gen des Herrn. Er entschloss sich, seine Aufmerksamkeit dem Schah 
zuzuwenden. Dies war um so eher angebracht, als er ohnehin befohlen 
hatte, sofort moglichst dicht an die Kiiste zuriickzukehren. Ausge- 
streckt, in mehere Decken gehullt, lag der Schah auf dem Verdeck. Der 
Leibarzt, den er so hasste, und der, seiner Meinung nach, der einzige 
Mensch war, dem er nie mehr in diesem Leben entrinnen konnte, stand 
gebeugt iiber dem kranken Herrn. Er tat, was selbstverstandlich war: 
er flosste dem Schah Baldrian ein. Die ersten schweren Regentropfen 
fielen auf den weichen Sammet des Zelts, das man um den Schah ge- 
baut hatte. Der Wind liess leise die Ringe erklirren, die des Zeltes 
Wande mit den drei metallenen Staben verbanden. Der Schah fuhlte 
sich wohler. Er wusste, dass es draussen blitzte, und den Donner horte 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 595 

er mit wonnigem Behagen. Seine Uebelkeiten verschwanden, kein 
Wunder! Das Schiff stand still, kaum zwei Seemeilen von der Kiiste. 
Nur das Meer klatschte in regelmassiger Wut gegen die Flanken. 
Dieser Sturm war dem Grossvezir als eine besondere Gnade des Him- 
mels geschickt worden. In hurtigen Booten erreichten Sekretare Kon- 
stantinopel, mitten in der Nacht. In den gleichen hurtigen Booten 
kehrten sie am nachsten Tage, gegen neun Uhr morgens, zuruck. Der 
Schah schlief noch. Sie brachten das Telegramm des Wiener Botschaf- 
ters: in Wien erwarte man die Majestat. Alles ware zum Empfang be- 
reit . . . 

Auch der Sturm erstarb. Eine neue, gewaschene Sonne leuchtete stark 
und froh, wie einst, vormals, am ersten Tag ihrer Erschaffung. 
Auch der Kapitan leuchtete. Auch der Grossvezir leuchtete. Mit Voll- 
dampf glitt das Schiff dahin, Europa entgegen. 

FUENFTES KAPITEL. 

Seine Kaiser- und Konigliche Apostolische Majestat empfing die 
Kunde von dem Besuch des Schahs gegen acht Uhr morgens. Es waren 
gerade knapp zweihundert Jahre vergangen, seitdem der grausamste 
aller Mohammedaner gegen Wien herangeriickt war. Damals hatte ein 
wahres Wunder Oesterreich gerettet. Weit schrecklicher noch als einst 
die Turken bedrohten jetzt die Preussen das alte Oesterreich - und 
obwohl sie noch unglaubiger waren, als die Mohammedaner - / denn 
sie waren ja Protestanten - / tat Gott gegen sie keine Wunder. Es gab 
keinen Grund mehr, die Sohne Mohammeds mehr zu furchten als die 
Protestanten. Jetzt brach eine andere, schrecklichere Epoche an, die 
Zeit der Preussen, die Zeit der Janitscharen Luthers und Bismarcks. 
Auf ihren schwarzweissen Fahnen - beides Farben der strengen 
Trauer- war zwar kein Halbmond zu sehn, sondern ein Kreuz; aber es 
war eben ein eisernes Kreuz, Auch ihre christlichen Symbole noch wa- 
ren todliche Waffen. 

All dies dachte der Kaiser von Oesterreich, als man ihm von dem be- 
vorstehenden Besuch des Schahs berichtete. Aehnliches dachten auch 
die Minister des Kaisers. Ihnen alien war der Halbmond viel sympathi- 
scher als ein Kreuz aus Eisen und als der eiserne Druck einer gepanzer- 
ten preussischen Hand. Man raunte in Wien, man munkelte in den 
Kanzleien, vor den Tiiren, hinter den Turen, in den Kabinetten, in den 



55>6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Korridoren, in den Redaktionsstuben, in den Cafehausern und sogar 
in den Chambres separees. Allenthalben bereitete man sich auf den 
Besuch des Schahs vor. Es war mehr als lediglkh ein hoher Gast: es 
war ein exotischer. In den harmlos neugierigen, standig der Ueberra- 
schung zugeneigten Gemutern der Wiener Menschen bildete sich ein 
freundschaftliches Gefu'hl fur den guten, braven Herrn eines gewalti- 
gen Harems. Man dachte an Serail, Moscheen, Turbans, Feze und Al- 
lah Akbar. Mit aussergewohnlichem Eifer iibte Josef Nechwal, der be- 
riihmte und beliebte Kapellmeister des Wiener Hoch- und Deutsch- 
meister-Regiments die persische Nationalhymne - und alle anderen, 
weniger beruhmten, weniger beliebten Kapellmeister der Wiener Gar- 
nison iibten sie auch. Die Militarkapellen hatten zwei Stunden Nach- 
proben am Nachmittag - und die anderen Mannschaften drei Stunden 
Nachexerzieren am Nachmittag, in den Kasernenhofen. 
Man iibte iibrigens nicht nur die persische Nationalhymne - die 
ohnehin schon sehr schwer war - sondern auch noch andere orientali- 
sche Weisen, besonders die von Bizet. Der beriihmte und beliebte Ka- 
pellmeister Josef Nechwal trieb seine gastfreundliche Gesinnung sogar 
so weit, dass er den kiihnen, geradezu kavalleristischen Entschluss 
fasste, in drei Tagen einen persischen Marsch zu komponieren; den 
Titel hatte er schon vom ersten Augenblick an; er lautete: »Abschied 
des Janitscharen«. Oboen und Tschinellen hatten darin eine hervorra- 
gende Rolle. Im stillen hoffte der Kapellmeister Nechwal - nicht mit 
Unrecht, wie man spater sehn wird - auf einen persischen Orden. Es 
gab deren viele, man konnte sie in der Karntnerstrasse betrachten, im 
Schaufenster des Juweliers Tillerer. Ein goldener Halbmond an rotem 
Samtband stach dem Kapellmeister Nechwal in die Augen. 
Der Hof Schneider Seiner K. u. K. Apostolischen Majestat bekam vom 
Hofzeremonienmeister den Auftrag, die persische Uniform nachzu- 
sehn. Der Kaiser war Regimentsinhaber des persischen Regiments 
Nummer35. Es war edelste Kavallerie, die Sohne Akki Akkas, des 
Reformators der persischen Reiterei. Es war eine knallblaue Uniform, 
mit schweren goldenen Tressen, mit breiten blutroten Hosenstreifen, 
geflochtenen goldenen Schniiren an der Bluse und wuchtigen Gold- 
fransen an den Aermeln. 

Am Tage, an dem der Zug des Schah-in-Schah im Wiener Franz-Jo- 
sephs-Bahnhof einlief, sperrten vier Ehrenkompagnien und zweihun- 
dert Wachleute zu Fuss und zu Pferde die Strassen ab. Die fursorgliche 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 597 

Gastfreundschaft Seiner Kaiser- und Koniglichen Apostolischen Maje- 
stat hatte dafiir gesorgt, dass alle Wagen des Zuges, der den persischen 
Herrscher nach Wien brachte, weiss gestrichen waren, in einem braut- 
lichen Weiss, wie das Schiff, das der Schah in Konstantinopel bestiegen 
hatte. Auf dem Perron stand eine Kompagnie des Regiments der 
Hoch- und Deutschmeister. Der Kapellmeister Josef Nechwal befahl 
die persische Nationalhymne. Tschinellen und Kesselpauke und die 
sogenannten »Tschandrassen« machten mehr Larm als die persische 
Nationalhymne unbedingt erfordert hatte. Die Kesselpauke, aufgebiir- 
det auf dem sonst so geduldigen und musikalischen Maulesel, wollte 
auch nicht zuriickbleiben; und der Maulesel bebte von Zeit zu Zeit, er 
revoltierte gleichsam; aber weder der Pauker merkte es, noch der Ka- 
pellmeister Josef Nechwal. Der dachte an die Orden im Schaufenster 
Tillerers. 

Der Kaiser iiihlte sich unbehaglich in der fremden Uniform. Es war 
iiberdies heiss: einer jener friihreifen Maitage, die den Hochsommer 
vorweg zu nehmen scheinen. Das Glasdach iiber dem Perron gluhte. 
Die Hymne gefiel dem Kaiser durchaus nicht. Mit deutlichem Respekt 

horte er sie an - mit ostentativem Respekt 

Als der Schah ausstieg, umarmte ihn der Kaiser fluchtig. Der Schah 
schritt die Ehrenkompagnie ab. Der Kapellmeister kommandierte das 
»Gott erhalte!« Die Perser erstarrten. 

Man stieg in die Kutschen, man fuhr ab. Hinter den blauen Mauern der 
Soldaten schrien die Leute: »Hoch, hoch, hoch!« Die Rosse der berit- 
tenen Polizisten wurden bose und gegen den Willen der Reiter schlu- 
gen sie aus und verletzten zweiundzwanzig Neugierige. Der Polizeibe- 
richt im »Fremdenblatt« sprach nur von »drei Ohnmachtsfallen«. 

SECHSTESKAPITEL. 

Diese drie Ohnmachtsfalle storten die Freude der Wiener Bevolkerung 
an dem grossen Schah der Perser keineswegs. Alle Menschen, die sei- 
ner Ankunft zugesehen hatten und gesund geblieben waren, kehrten 
begliickt nach Hause zuriick; genau so begluckt, als wenn ihnen per- 
sonlich eine Freude beschert worden ware. Nur die Bahnarbeiter und 
die Gepacktrager waren keineswegs glucklich. Denn der grosse Schah 
von Persien war mit zahlreichen und sehr schweren Koffern angekom- 
men. Sie fiillten nicht weniger als vier normale Lastwaggons, die man 



598 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

aber am Triestiner Bahnhof vergessen hatte, an den brautlich weissen 
Hofzug Seiner Majestat anzuhangen. Der Adjutant des Hofzeremo- 
nienmeisters, Kirilida Pajidzani, lief den Perron auf und ab. Hinter 
ihm rannte der Stationsvorstand Gustl Burger einher. Im Amtszimmer 
des Stationsvorstands steppte unermiidlich der Morseapparat. Der 
arme Stationsvorstand Burger verstand keinen Ton von dem Franzo- 
sisch, das der Adjutant des persischen Hofzeremonienmeisters daher- 
redete. Der einzige Mensch, der in dieser verzweifelten Situation hatte 
helfen konnen, stand beneidenswert gelangweilt vor dem Biifett im 
Restaurationssaal erster Klasse. Es war der Rittmeister Baron Taittin- 
ger, von den Neuner Dragonern, auf unbestimmte Frist von seinem 
Regiment detachiert und zugeteilt der Hof- und Kabinettskanzlei zur 
sogenannten »speziellen Verwendung«. Der Baron lehnte am Biifett, 
mit dem Riicken zum Fenster, wandte sich aber von Zeit zu Zeit um 
und betrachtete mit grausigem Behagen den lacherlichen Stationschef 
und seinen persischen Kameraden, den Kirilida Pajidzani. Taittinger 
nannte ihn schon im stillen, fur sich, den »Janitscharen«. Die Uhr iiber 
dem Biifett zeigte schon die dritte Nachmittagsstunde. Um halb fiinf 
war Taittinger mit der Frau Kronbach verabredet, bei Hornbichl, in 
Gersthof. / Ihr Mann war Seidenfabrikant, Kommerzialrat, sie wohnte 
in Dobling. Frau Kronbach war seine Leidenschaft, so bildete er sich 
ein. Er hatte sich einmal gesagt, sie ware seine Leidenschaft, er hatte sie 
gleichsam zu seiner Leidenschaft ernannt, und er bewies es sich selbst, 
indem er ihr treu blieb. Sie war - um es gleich zu sagen - nicht seine 
erste, sondern seine zweite Leidenschaft. / 

Er lehnte also, der Rittmeister Taittinger, am Biifett. Er sah von Zeit 
zu Zeit durch das Fenster, dann wieder auf die Uhr iiber dem blonden 
Fraulein, das ihn bediente, und das er fur einen der Apparate hielt, die 
zur Erledigung des Eisenbahndienstes unentbehrlich sind. Er freute 
sich, dass draussen die beiden so aufgeregt umherliefen, der »Janit- 
schar« und der Stationsvorstand. Er musste leider warten, bis die Kof- 
fer des Schahs von Persien kommen wiirden, und Frau Kronbach 
musste auch warten; dies war schlimm. Aber man konnte nichts raa- 
chen. 

Endlich, es war schon halb vier / der Rittmeister begann gerade, am 
vierten Hennessy zu nippen / fuhr mit gewaltigem Brausen, als ware er 
ein echter Express, ein Extrazug ein, der lediglich aus vier Waggons 
bestand. Sie enthielten das Gepack des Schahs von Persien. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 599 

Erst in diesem Augenblick stiirzte Taittinger auf den Perron. Er hielt 
den Stationsvorstand an und sagte: »Sie miissen schnell machen! Schon 
em Skandal, dass die Herrschaften so lang warten miissen! Seine Maje- 
stat sind vor anderthalb Stunden gekommen! Seine Majestat warten 
aufgeregt. Blamage! Was fur eine Blamage, Herr Stationsvorstand! « 
Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Baron an seinen 
persischen Kameraden Kirilida Pajidzani und sagte in jenem fliessen- 
den Franzosisch, das eigentlich wie ein kaiser-konigliches Franzosisch 
klang und lediglich aus Vokabeln zu bestehen schien: »Wie piinktlich! 
Wie piinktlich! Unsere Eisenbahn ist doch die piinktlichste der Welt!« 
- Bahnarbeiter und Gepacktrager eilten herbei. Der Stationsvorstand 
selbst kommandierte sie; dieweil der Rittmeister seinem persischen 
Kameraden erstaunliche echt orientalische Wunder in Wiener Nacht- 
lokalen anpries. 

Der Perser horte zu, lachelnd, mit dem giitigen Lacheln, das gleichgul- 
tige Manner von Welt immer anlegen, wenn es sich darum handelt, 
Nachsicht zu verbergen. An diesem giitigen Lacheln erkannte der 
Baron auf einmal, mit wem er es zu tun hatte. Dieser »Janitschare« war 
ja gar keiner. Er verstromte die alte liebe, gutvertraute Luft der welt- 
mannischen Liige; und der Baron fiihlte sich sofort bei ihm heimisch. 
Der Baron nannte den Perser schon im stillen: »charmant« - das hoch- 
te Lob, das er zu vergeben hatte. Es gab fur ihn namlich nur drei Klas- 
sen von Menschen: an der Spitze standen die »Charmanten«; dann 
kamen die »Gleichgiiltigen«; die dritte und letzte Klasse bestand aus 
»Langweiligen«. Kirilida Pajidzani - das stand fest - gehorte zu den 
» Charm anten«. Und plotzlich konnte der Baron auch den schwierigen 
Namen so fliessend aussprechen, als hatte er seit seiner Kindheit persi- 
sche Spielgenossen gehabt. »Herr Kirilida Pajidzani« sagte der Ritt- 
meister »Es tut mir leid, dass Sie so lange aufgehalten worden sind. 
Diese Eisenbahnen! Diese Eisenbahnen! Glauben Sie mir! Wir werden 
schon den Verantwortlichen finden!« 

Um dem Perser zu zeigen, dass er keine leeren Worte mache, ging er 
auf den Stationsvorstand zu und sagte mit erhobener Stimme. »Sauerei 
das, Herr Stationsvorstand, entschuldigen schon das harte Wort!« - 
»Herr Rittmeister« - erwiderte der Vorstand - »das ist richtig eine 
Sauerei, eine Tries ter Sauerei namlich. « - »Triest oder nicht, is' ganz 
wurscht« - sagte der Rittmeister noch etwas lauter. »Hauptsach' is', 
dass Seine Majestat vor zwei Stunden angekommen sind, und die Kof- 



600 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

fer sind immer noch nicht an Ort und Stelle!« Der Stationsvorstand 
Burger, der allmahlich anfing, seine Versetzung zu befurchten, zwang 
sich zu einer anmutigen und unbesorgten Freundlichkeit. Schnell fiel 
ihm das einzig passende Wort ein, und er sagte: »Die allerhochsten 
Koffer sind ja endlich da, Herr Baron!« - »Da, da« - hohnte der Ritt- 
meister - »aber eben nicht an Ort und Stelle!« 

Er hatte leider recht, der Baron, die allerhochsten Koffer waren zwar 
da, aber sie befanden sich noch nicht an Ort und Stelle. Langst schon 
warteten die Diener des Schlosses in L., wo man seine persische Maje- 
stat einquartiert hatte, auf dem Giiterperron. Der sie befehligte, war 
der »Majordomus« - so nannten ihn selbst die Diener, die keine Ah- 
nung hatten von dem historischen Glanz, den dieser Titel ausstrahlte - 
der »Majordomus« Xaver Wagerl. Er allein wusste, was die Koffer 
bargen. Sie mussten schwer sein. Er beneidete weder die Bahntrager, 
noch seine Untergebenen. Zweiundzwanzig Koffer waren es, alle aus 
Ebenholz, schimmernd wie blauschwarze Nachte, viereckige blau- 
schwarze Nachte, gefesselt und umgurtet von silbernen Reifen. Wuch- 
tige Schlosser unbekannter, in Wien noch nie gesehener Art hingen, 
wie stahlerne Siegel, an den Deckeln. Schwer, schwer, schwer mussten 
diese Koffer sein. Gold und Silber enthielten sie, nutzlose Schwerter, 
historische Schilde und - was das Wichtigste war - Orden, Orden, 
Orden: Grosse Halbmonde, kleine Halbmonde, den Orden Firdusi 
am blauen Band, am blassblauen, am weissen; den Orden Bludonzir 
am griinen Band; die Medaille, die der selige Vater des eben angekom- 
menen Herrschers geschaffen hatte, und die als der hochste der Orden 
gait: es war der Mirzadi-Orden. Kleinere gab es daneben: den einfa- 
chen Schah-Orden, den Orden der Frommen, den Orden der Gerech- 
ten, den Orden der Braven und den der Gefalligen, den Schiras-Orden 
und den ganz ordinaren Teheran-Orden. Xaver Wagerl wusste sie alle. 
Er hatte sich vorbereitet, griindlicher noch als der Hofzeremonienmei- 
ster Seiner K. und K. Apostolischen Majestat. Er wusste auch, dass 
man an hohen, hochsten, ja, allerhochsten Stellen befurchtete, dass der 
exotische Monarch, in der selbstverstandlichen Unkenntnis der euro- 
paischen Grade und Range, die schreckliche Laune haben konnte, den 
Subalternen die hochsten Orden zu verleihen, den hochgestellten 
Wurdentragern dagegen die niederen. Mit den Exotischen kannte man 
sich nicht aus. 
Noch eine halbe Stunde dauerte es, bevor die zweiundzwanzig wuchti- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6oi 

gen Koffer seiner persischen Majestat verladen waren. Dann erst 
konnte der Baron den Bahnhof verlassen. Gliicklicherweise wartete 
noch der Wagen, den man dem Adjutanten des Grossvezirs zur Verfu- 
gung gestellt hatte. Mit einer vortrefflich gespielten Schuchternheit 
sprach Taittinger zu Kirilida Pajidzani: »Wenn ich bitten darf, ich 
mochte mich gerne anschliessen, ich muss bis zu einem bestimmten 
Punkt — «. 

Der Perser Hess ihn gar nicht weiter liigen, sondern sagte sofort: »Ich 
wollte Sie selbst um die Ehre bitten, Sie genau an den Punkt begleiten 
zu durfen, an den Sie Ihr Dienst befiehlt!« 

Sie stiegen ein. Und die Koffer roll ten voran, auf drei Lastwagen, mit 
schweren Pinzgauer Schimmeln bespannt. Unterwegs erhob sich der 
Rittmeister, tippte dem livrierten Kutscher auf die Schulter und sagte: 
»Haltens erst bei Hornbichl, in Gersthof!« 

Der Kutscher hob zum Zeichen des Einverstandnisses die Peitsche. Sie 
nickte: Ja! in der Luft und gab noch einen leisen Knall. Erleichtert und 
heiter liess sich Taittinger wieder in die Polster fallen, neben den 
»charmanten« persischen Kameraden. 

Bei Hornbichl in Gersthof blieb der Wagen stehn. Der Baron ging in 
den Garten, hinter die Hecke rechts, in den »Liebeswinkel«, wie er seit 
zehn Jahren schon diesen Tisch zu nennen gewohnt war. Die Frau des 
Kommerzialrats Kronbach wartete seit einer Viertelstunde. Zum er- 
sten Mai sah sie ihren Geliebten in der Parade-Uniform / - ihre Bezie- 
hungen waren noch nicht alter als vier Monate. / Der Helm mit der 
goldenen Rippe blendete sie und sie vergass alle Vorwiirfe, die sie sich 
in fiinfzehn Minuten sorgsam zurechtgelegt hatte. »Endlich, endlich!« 
- hauchte sie. 

SIEBTES KAPITEL. 

Ein kleines, internes und intimes Festkomitee war bestimmt worden, 
das Programm jener Vergmigungen vorzubereiten, die den exotischen 
Herrscher in Wien erwarten sollten. Ueber die selbstverstandlichen 
und sozusagen obligaten Vergniigungen herrschte keinerlei Meinungs- 
verschiedenheit: Von selbst verstand sich eine Vorstellung in der Spa- 
nischen Reitschule; von selbst verstand sich ein Ball im Redoutensaal; 
von selbst verstand sich ein Korso im Prater; von selbst verstand sich 
ein Fest im Wiener Rathaus; von selbst verstanden sich: ein Fackelzug, 



602 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

eine Militarparade, ein Manover in der Wachau, eine Lampionfeier im 
Park von Schonbrunn, ein Defilee der Wiener Garnison auf der Ring- 
strasse, ein Besuch in der Stephanskirche und ein Empfang der mo- 
hammedanischen Geistlichkeit aus den noch nicht okkupierten, bald 
zu okkupierenden Landern: Bosnien und Herzegowina. 
Was aber verstand sich nicht, was aber verstand sich keineswegs von 
selbst? 

Das Festkomitee, dessen Aufgabe es war, alle jene Vorbereitungen zu 
treffen, die sich nicht von selbst verstanden, setzte sich aus verschie- 
denartigen Mannern zusammen, die einander nicht leiden mochten: 
man sah da den alten Grafen Festetics, den Fiirsten Walldorf, den Ge- 
neral von Lautenbacher, den man in eingeweihten Kreisen den »Stabs- 
trottel« nannte, den polnischen Grafen Chojnicki, zwei Sektionschefs 
aus dem Ministerium des Kaiserlichen Hauses und der Auswartigen 
Angelegenheiten und schliesslich den uns bereits bekannten, als unent- 
behrlich betrachteten, von seinem Neuner Dragoner-Regiment deta- 
chierten und zu besonderer Verwendung nach Wien abkommandier- 
ten Rittmeister Baron Taittinger. 

Der Rittmeister kam erst gegen neun Uhr abends. Graf Festetics selbst 
war heute beordert worden, die alien unbeobachtet gebliebene, auf Al- 
ierhochsten Befehl unbeobachtet gebliebene Ausladung des Harems 
und des Ober-Eunuchen am Bahnhof zu iiberwachen. »Freilich,« - so 
erzahlte er - »waren sie alle verschleiert, und nix, kein Stiickerl war 
von Ihnen zu sehn. Die sechs Kutschen waren geschlossen. In die sie- 
bente und letzte hat sich der Ober-Eunuch gesetzt, ganz allein. Hat, 
nebenbei gesagt, ganz gewohnlich ausgeschaut, beinah' wie unsereins, 
wenn man nicht gewusst hatt', was mit ihm los ist, eigentlich. Tragt 
einen Panamahut und Ueberzieher, wie unsereins. Aber wir konnen 
doch nicht, wir muss en doch — «. 

In diesem Augenblick trat der Rittmeister ein. Und er erganzte den 
halbvollendeten Satz des Grafen: »Wir mussen der Majestat noch ganz 
was anderes bieten als den Harem, den er sich selber mitgebracht hat.« 
Gewiss, alle waren damit einverstanden, dass man dem Schah etwas 
Besonderes bieten musse. Was konnte man Besonderes einem Monar- 
chen bieten, in dessen Garten die herrlichsten und kraf tigs ten Rosen 
der Welt gliihten, in dessen Gemachern dreihundertfunfundsechzig 
Frauen der Winke ihres Herrn gewartig waren, Tag und Nacht, und 
dem - oh, Jammer! - sein Glaube verbot, Wein zu trinken!« »Nicht 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 603 

einmal ein Kriigl Schwechater kann man ihm anbieten!« - scherzte 
Taittinger. Er verlor die Contenance nicht. Er wusste, dass er in alien 
Din gen, die recht weit entfernt waren vom Ernst des Lebens, eine er- 
staunliche Geistesgegenwart zu entwickeln vermochte. Wahrschein- 
lich brauchte der Besitzer eines Harems Abwechslung. Ja, gerade der 
Herr eines Harems brauchte Abwechslung, Mit dem intuitiven Sinn 
fur Liiste und Laster, fur frohliche Siinden und nutzlosen Zeitvertreib 
erkannte der Baron die geheimsten Wunsche eines unbekannten Ge- 
niessers aus fremden Zonen. »Charmanter Junge!« sagte er plotzlich 
laut, ohne es zu wollen. 

Die Herren schlossen die Sitzung und beraumten die nachste fur iiber- 
morgen an, im sogenannten »blauen Zimmer« bei Sacher. 
Viel langer beriet an diesem Abend das andere, das wiirdige, das offi- 
zielle Komitee: Der Hofzeremonienmeister, der Polizei-prasident, der 
Statthalter, der Garnisonskommandant von Wien, der Kultus- und 
Unterrichtsminister, der Chef der Sicherheitspolizei und der Biirger- 
meister. Es gab viele heikle Fragen zu losen, die sich aus der exotischen 
Besonderheit des Schahs von Persien folgerichtig ergaben. So, zum 
Beispiel konnte man sich nicht dariiber einig werden, zu welchen der 
vorgeschriebenen Veranstaltungen die Damen des persischen Herr- 
schers einzuladen waren. »Im Redoutensaal ausgeschlossen« - sagte 
der Hofzeremonienmeister. »Die Damen« - sagte er mit der gleichgiil- 
tigen, kaum horbaren Stimme, durch die nur von Zeit zu Zeit ein lau- 
ter, naselnder Ton drang, ein sachter malizioser Trompetenstoss, »die 
Damen gehoren lediglich und hochstens unter freien Himmel«. Aber 
wie sollte man sie titulieren? Welche Anrede gebiihrte ihnen? Sicher- 
lich waren sie doch verschleiert? Und reichten sie etwa die Hand? Und 
welchen Platz wies man ihnen an? Sass der Obereunuch neben, hinter 
oder vor ihnen? Und wie war der Titel des Obereunuch en? Der Poli- 
zei-prasident wagte einen Witz. Er behauptete, in Wien selbst mehrere 
Eunuchen zu kennen; einige von Ihnen hatten ein verbrieftes Recht auf 
den Titel: »Exzellenz«. Worauf alle auf den Minister blickten. Und 
eine todliche Stille entstand. Verfeindet seit Jahren waren Minister und 
Polizeiprasident. 

War es eine Beleidigung einer mohammedanischen Majestat, wenn 
man in seiner Anwesenheit Wein und Sekt trank? Dies fragte der Gar- 
nisonskommandant; und er sah bekummert aus. Man konnte die Bu- 
fette verbergen, meinte der Chef der Sicherheitspolizei. Dass die Da- 



604 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

men den Hofknix vor dem Schah machten, war selbstverstandKch. 

Aber die Herren? Keiner der anwesenden Herren hatte jemals Persien 

gesehn. Auch der Kultus- und Unterrichtsminister wusste nichs vom 

Orient. / Er war Jurist von Beruf, und Strafrecht war seine Speziali- 

tat. / »Wir miissen einen Spezialisten haben« - sagte er - »und ich 

weiss auch einen. Ich lass' mir morgen den Professor Friedlander vom 

orientalischen Institut kommen,« 

»Den buckligen, meinen Exzellenz ?« - fragte der Polizeiprasident, um 

den Minister zu argern. 

»Ja, den« - sagte der Minister - »ein Professor ist halt nicht so gewach- 

sen, wie ein Wachmann.« 

Auch diese Sitzung wurde vertagt. Man ging auseinander. 

ACHTES KAPITEL. 

Der Professor Heinrich David Friedlander, korrekter Uebersetzer 
vorderasiatischer Urtexte, in Fachkreisen bekannter Entdecker »erster 
Fassungen«, trat nicht ohne Angst in das Kabinett der Exzellenz. Er 
hatte alien Grund dazu. Seit funfzehn Jahren war er nur ausserordent- 
licher Professor. Wenn er iiberhaupt irgend etwas von seiner hochsten 
vorgesetzten Behorde zu erwarten hatte, so war es eine Unannehm- 
lichkeit, vielleicht gar einen Tadel. Die ausgesuchte Freundlichkeit des 
Ministers erschreckte den Professor noch mehr. »Eine delikate und 
diskrete Sache« - begann der Minister und erklarte seine Wiinsche. 
Der Professor Friedlander schien ein wenig beruhigt. Er gestand es 
auch bald. Er gestand, dass, er sich nicht gerne in offentliche, gar hoch- 
offizielle Angelegenheiten mische, und dass vielleicht sein Kollege, der 
ordentliche Professor M., weitaus besser geeignet sei. Er selbst habe 
einigermassen Bedenken, um nicht zu sagen: Angst. - Aha, der Buk- 
kel! - dachte der Minister und gleich darauf fiel ihm ein, dass dieser 
Professor Friedlander von seinem Kollegen, dem »ordentlichen« Pro- 
fessor, gesprochen hatte. »Mein lieber Herr Professor« - sagte der Mi- 
nister - »wenn's nach mir gegangen ware, Sie waren langst schon or- 
dentlicher, Ordinarius meinetwegen. Aber auch ich bin nicht allmach- 
tig.« - Er schwieg, seuftze dann und sass wie ein niedergeschlagener 
Mann am Schreibtisch. »Ich weiss, Exzellenz« - sagte Friedlander - 
»auch ein Minister ist nicht allmachtig.« - »Minister, Minister« - sagte 
die Exzellenz - »ich sasse lieber iiber meinem lieben Strafrecht. Aber 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 605 

immerhin, es gibt so Gelegenheiten, wo ich meine alten Wiinsche 
durchsetzen kann. Und da werd' ich halt alles, alles tun, was in meiner 
Macht stent, fur Sie, Herr Professor. Ich verspreche es Ihnen. Halten 
Sie was von Titeln, a propos?« - »Wie sollte ich, Exzellenz!« - rief der 
Professor Friedlander, fast gequalt und halb schon begliickt. »Das ist ja 
glanzend!« - rief der Minister. »Auch ich halte nichts davon. Aber im 
Leben braucht man Sie halt. Also Geheimrat sind Sie bestimmt, Herr 
Professor. Und einen Dolmetsch brauchen wir, fur Seine Majestat, den 
Schah. Wissen Sie einen geeigneten, mit Manieren?« 
Der Professor war entlassen. Er ging ins Seminar. Er wahlte einen Dol- 
metsch, einen Lieblingsschuler, bekam aber zu seinem Schrecken 
gleich am nachsten Tage die Anweisung, sich auch selbst zur Verfii- 
gung zu halten. In zwolf Stunden sollte sein Memorandum iiber die 
Sitten persischer Fursten fertig sein. Nicht langer als zwanzig Seiten. 
Dieser Zwang zur Kiirze beunruhigte ihn und ausserdem der Gedanke 
an s einen langst nicht mehr hoffahigen Frack. Er eilte, er lief, er 
sturmte nach Hause. 

NEUNTES KAPITEL. 

Die Hofkapelle dirigierte in jenen Tagen der Liebling der Gotter und 
des Hofes und des Wiener Volkes. Ueberall in der Welt spielte man 
seine Melodien. Ueberall in der Welt kannte man sein Angesicht, seine 
Gewohnheiten, seine Schwachen, seine Liebhabereien, seine Lieb- 
schaften sogar. Er gehorte zum Hof und zum Reich, genau so wie der 
Stephansdom, zum Beispiel; wie das Schloss in Schonbrunn; wie der 
Prater und wie die Kapuzinergruft; wie die Oper und die Burg; wie die 
Krone selbst. 

Man benauchrichtigte ihn erst sehr spat von der Ankunft des Schahs. 
Der Hofzeremonienmeister schickte ihm, knapp drei Tage, bevor der 
Empfangsball stattfinden sollte, einen der iiblichen knappen Dienst- 
zettel, als hatte es sich um einen ganz gewohnlichen Ball gehandelt. 
Er liess sich infolgedessen beim Hofzeremonienmeister melden. Und 
wie es seine Art war und einem Meister seines Grades geziemte, sagte 
er unmittelbar: »Exzellenz, ich dirigiere nicht. « 
Der Hofzeremonienmeister sagte nur: »Gut, wen bestimmen Sie?« 
»Exzellenz« - sagte der Kapellmeister - »bestimmen Sie selbst! « 
»Mein lieber Herr Hofkapellmeister« - sagte die Exzellenz, aufreizend 



606 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

lachelnd, als ware Musik das letzte in der Welt: »ich verstehe nix von 
Persien: weder die Sitten noch die Melodien kenn' ich. Aber von seiner 
Exzellenz, dem Herrn Kultus- und Unterrichtsminister weiss ich, dass 
er sich den buckligen ausserordentlichen Professor Friedlander hat 
kommen lassen - und sicher weiss der auch was von der persischen 
Musik. Bevor Sie einen Stellvertreter bestimmen, Herr Hofkapellmei- 
ster - sprechen Sie lieber mit dem Professor Friedlander. Ich glaub' 
nicht, dass Seine Majestat es gern sehen tate, wenn Sie sich bei solch 
einer Gelegenheit vertreten lassen wollten.« 

Also bekam der Professor Friedlander in diesen Tagen viel zu tun. Er 
hatte nicht nur das Memorandum fur seine Exzellenz den Kultus- und 
Unterrichtsminister ausgearbeitet, sondern auch fur den Hof kapell- 
meister ein ausserst langwieriges Studium der persischen Musik. 
Aber was waren das alles fur kummerliche Muhen, verglichen mit je- 
nen, die den Damen der Gesellschaft vorbehalten blieben - und ihren 
Schneidern und den vielhundert kleinen Madchen, die fur diese 
Schneider arbeiteten. Es konnte keine Rede davon sein, dass man etwa 
die Roben anlegte, die man bereits einmal getragen hatte. Es konnte 
noch weniger die Rede davon sein, dass man sie etwa umarbeitete. Es 
konnte ferner keine Rede davon sein, dass man den armen kleinen 
Madchen Ueberstunden bezahlte. Aber es konnte ebensowenig davon 
die Rede sein, dass etwa diese armen kleinen Madchen sich aufgelehnt 
hatten. Im Gegenteil: sie arbeiteten mit einem doppelten Eifer. Denn 
in ihnen alien, den lieblichen Madchen des Volkes, wiitete seit Ankunft 
des exotischen Monarchen eine ratselhafte Lust, zu arbeiten. Was ging 
sie der Schah von Persien an und was der Empfangsball im Redouten- 
saal? Und was wussten sie anderes von dem persischen Schah, als dass 
er einen Harem besass, ein Muselmann war, ein sehr grosser Herr, und 
dass er zweiundzwanzig Koffer, gefullt mit Edelsteinen, nach Wien 
gebracht hatte? Denn davon hatten die Zeitungen berichtet, berichte- 
ten sie noch weiter jeden Tag. Zweiundzwanzig Koffer mit Edelstei- 
nen! Wie sollte man da nicht arbeiten? Wie sollte man da nicht an sich 
selber denken, wahrend man die Roben fur die Damen der Allerhoch- 
sten Gesellschaft herstellte, bestimmt, vor dem Besitzer des Harems 
gezeigt zu werden? - Jeder einzige muhselige Stich, den man da voll- 
brachte, war ein Werk, getan zu Ehren des Schahs. Die Juwelen, die er 
mitgebracht hat, gehoren uns freilich nicht, uns Madchen! - Von An- 
gesicht zu Angesicht werden wir ihn freilich nicht sehen, wir Mad- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6oj 

chen! - Die Roben, die wir nahen, werden wir allerdings nicht selber 
tragen! Auch kaufen wird er uns nicht, der gross e Schah - und wir 
mochten doch gelegentlich gern in seinem Harem leben! Aber jeder 
Stich, den wir nahen, ist fur ihn, den Herrn des Harems mit den drei- 
hundertfunfundsechzig Frauen, den Herrn der zweiundzwanzig Kof- 
fer, gestern angekommen, gefullt mit Juwelen; deshalb nahen wir ar- 
men Madchen, deshalb nahen wir, deshalb nahen wir . . . 
Seit zwei Tagen hat die Frau des Kommerzialrats Kronbach den Baron 
Taittinger nicht mehr gesehn. Der Rittmeister Taittinger verlasst nam- 
lich den charmanten Kirilida uberhaupt nicht mehr. Er erweist sich, in 
diesen Stunden, dass der charmante Kirilida alles weiss, mehr als der 
Grossvezir, Alles kann man mit ihm besprechen. Man erfahrt zum Bei- 
spiel, dass der Grossvezir dem Trunk gar nicht in dem Masse abgeneigt 
ist, wie man es glauben konnte, wenn man an die Gesetze des Korans 
glauben konnte. Im Gegenteil: der Grossvezir neigt dazu, unaufhor- 
lich gegen die Gesetze des Korans zu verstossen. Man wird ihn einla- 
den. Kirilida ist ein charmanter Mensch. 

Innerhalb von zwei Nachmittagen wusste der Rittmeister Taittinger 
bei weitem mehr und Wichtigeres, als der Professor Friedlander in sei- 
nem langen Leben erfahren hatte. Der Professor Friedlander trank 
namlich nicht. Und das kam davon; wenn man nicht trinkt; - so dachte 
der Baron Taittinger. 

Ach, der Professor Friedlander selbst wusste kaum noch, wo er seine 
Wissenschaft hintun sollte. Es fehlte nur noch wenig, und er hatte an- 
gefangen, an der Richtigkeit seines Memorandums zu zweifeln, dem 
doch ganz exakte, iiber jeden Zweifel erhabene Forschungen zu 
Grunde gelegt waren. So erfuhr der Professor von Baron Taittinger 
jetzt erst, nach zwanzig Jahren Orientalistik, dass manche Mohamme- 
daner trinken, sogar der Grossvezir selbst. Sein Adjutant, der Herr 
Kirilida, mit dem Friedlander einmal zusammenkam, in der Gesell- 
schaft Taittingers, hatte keine Ahnung von der persischen Literatur. 
Sogar vom Ober-Eunuchen behauptete der Baron Taittinger, dass er 
sich heimlich von den Lakeien des Schlosses normale Bierkriigl vom 
Wiesenthaler vis a vis kommen lasse und dass er sie trinke, wie etwa ein 
normaler christlicher Schneider. Verwirrender aber noch als die Erzah- 
lungen Taittingers aber waren die Artikel unbefugter Journalisten. Sie 
enthielten haarstraubende Unwahrheiten iiber das Leben in Persien 
und die persische Geschichte. Vergeblich bemuhte sich der Professor 



608 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Friedlander, den diversen Chefredakteuren durch briefliche Dementis 
die Wahrheit mitzuteilen. Die Folge seiner Interventionen war nur die, 
dass die Journalisten in sein Seminar, sowie auch in seine Wohnung 
kamen, urn Interviews iiber Persien zu bekommen. Die Journalisten 
kamen sogar in seine Vorlesungen. 

Drei Tage nach der Ankunft des hohen Gastes erschienen auch seine 
Portrats in den Schaufenstern der Papierladen, der Blumenhandler, in 
den Gasthausern, in den Cafes. Fliegende Handler verkauften im Pra- 
ter runde Taschenspiegel, auf deren Riickseite das bunte Konterfei des 
Schahs von Persien zu sehen war, Allerdings fehlten ihm die Pupillen. 
Diese Pupillen, zwei schwarze Schrotkugelchen, rollten unter der 
Glasscheibe den runden Rand des Spiegels entlang, und der Kaufer 
hatte das Vergniigen, sie in die leeren Augenhohlen der exotischen Ma- 
jestat hineinzubalancieren. Papierfahnchen in den persischen Farben 
und Rosinen in Ttiten, auf denen »garantiert Teheran« gedruckt stand, 
trugen damals nicht nur minderjahrige, sondern auch ausgewachsene 
Wiener in emporgereckten Handen. 

Die Militarparade in Kagran storte leider ein heftiger Regen. Unter 
einem zugigen Zelt, dessen drei scharlachrote Leinwandwande dener- 
vierend klapperten, sich blahten und die Regentropfen durchsickern 
liessen, hielt es der Schah nicht langer als eine Viertelstunde aus. Er 
war kein begeisterter Anhanger militarischer Spektakel. Wahrend er 
mit zerstreuten Blicken dem grossartigen Galopp der Ulanen zusah, 
der wie eine Art gezahmten Sturms iiber das feuchte Griin der Wiesen 
dahinraste, fuhlte er die unerbittlichen Wassertropfen in aufregend re- 
gelmassigen Abstanden auf seine hohe braune Pelzmutze fallen und 
auf den scharlachroten Kragen seiner nachtschwarzen Pelerine. Er 
furchtete ausserdem fur seine Gesundheit. Den europaischen Aerzten 
traute er noch weniger als seinem jiidischen Ibrahim. Eingesperrt und 
umzingelt war er von fremden Generalen, die den Regen nicht scheu- 
ten, Wind und Wetter gewohnt sein mochten. Die Kavalleristen 
schwenkten die Sabel. Die Militarmusik schmetterte aus nassen Trom- 
peten, donnerte auf durchnassten Kalbfellen. Jetzt sollte noch die In- 
fanterie kommen, hierauf die Artillerie. Nein! Er hatte genug. Er er- 
hob sich, gleichzeitig mit ihm der Grossvezir, dessen Adjutant, die 
ganze Suite. Der Schah verliess das Zelt, der Regen stromte, er allein 
biickte sich unter den nassen Schlagen, alle anderen, die er im Stillen 
verfluchte, folgten ihm aufrecht, als gingen sie unter klarem Sonnen- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 609 

schein daher. Er wandte sich in die Richtung, wo er den rettenden 
Wagen vermutete. Mit dem sicheren Instinkt eines Gefahrdeten fand er 
auch alsbald die Stelle, wo die Wagen warteten. Ohne sich umzusehn, 
stieg er ein. Alle anderen Herren ebenfalls. Auf der Tribune iibrig blie- 
ben zwei Generale, die, vertieft in das militarische Spektakel, die Sol- 
daten dem Schah vorzogen. Es war eine verregnete Parade. Dennoch 
bekamen an diesem Tage die Soldaten der Wiener Garnison Schweine- 
braten, Salzkartoffeln, Erbsen und Pilsner und pro Mann je ein Pak- 
chen ungarischer Zigaretten, genannt: »Schmalspurige«. 
Auch am nachsten Tag regnete es, aber das hatte keine Bedeutung 
mehr. Denn das Schauspiel fand in der Spanischen Reitschule statt. Da 
man einen Tag vorher bemerkt zu haben glaubte, dass der exotische 
Souveran die kalte Luft nicht leiden konnte, hatte man die Loge in der 
Reitschule mit dicken wirklichen persischen Teppichen gepolstert, 
Schirasgeweben, uralten Stoffen aus den Gemachern der Burg, dicken 
Kissen aus rotem Samt, und auch die Fugen an den Tliren hatte man 
mit diinnen Lederleisten vernagelt, damit es nicht ziehe. Es herrschte 
nahezu eine unertragliche Schwiile im Raum, obwohl er so weit war. 
Der Schah warf seine Pelerine ab. Die schwere Pelzmutze lastete 
furchterlich auf seinem Kopf. Met dem rosa seidenen Taschentuch 
wischte er sich von Zeit zu Zeit den Schweiss von der Stirn. Die Herr- 
ren in seiner Begleitung taten das Gleiche, teils, um zu zeigen, dass es 
auch ihnen heiss war, teils, weil ihnen wirklich heiss war. Diesmal aber 
verliess der Schah von Persien nicht seine Loge. Zweitausendachthun- 
dert Pferde zahlte sein eigener Stall in Teheran. Ausgewahlter noch 
und weitaus kostbarer waren sie als die Frauen seines Harems. Dort, in 
den Stallungen des Schahs, gab es Arabische Hengste, deren Riicken 
leuchteten wie braunes Gold; Schimmel aus der beriihmten Zucht von 
Jephtahan, deren Haare weich und sanft waren wie Daunen und 
Flaum; agyptische Stuten, Geschenke aus dem Gehoft des machtigen 
Imam Arasbi Sur; kaukasische Steppenpferde, Geschenke des Zaren 
aller Russen; schwere, pommersche Braune, fur schweres Geld gekauft 
beim geizigen Konig von Preussen; halbwilde Tiere noch, frisch gelie- 
fert aus der ungarischen Puszta, unzuganglich jeder menschlichen 
Hand, jedem menschlichen Zuspruch, und widerspenstig abschiittelnd 
die besten persischen Reiter. 

Aber was waren alle diese Tiere, verglichen mit den Lipizzanern der 
kaiser- und koniglichen Spanischen Reitschule. Die Militarkapelle, 



6lO ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

aufgebaut auf der Estrade gegeniiber der kaiserlichen Loge, spielte 
nach der persischen Hymne das »Gott erhalte«. Ein Reiter in persi- 
scher Tracht, wie sie der Schah nur auf den Portrats seiner Ahnen gese- 
hen hatte / und niemals in Persien / eine hohe Lammfellmutze auf dem 
Kopf, durch die sich goldene, geflochtene, dicke Schniire zogen, einen 
blauen, golddurchstickten kurzen Mantel quer liber eine Schulter ge- 
hangt, in hohen, rohledernen roten Stiefeln mit goldenen Sporen, ein 
krummes Tiirkenschwert an der Seite, ritt zuerst in die Arena. Den 
Schimmel, auf dem er sass, zierte ein blutrotes Gehange. Ein Herold, 
in weisser Seide, in weissen Escarpins, in roten Sandalen, ging ihm 
voran. 

Alsbald begann der Schimmel, zu einer persischen Melodie, die aber 
dem Schah unbekannt-bekannt vorkam / sie stammte vom Kapellmei- 
ster Nechwal / wahrhaft geistreiche Bewegungen zu vollfuhren. In den 
Schenkeln, in den Hufen, im Kopf, im Hinterteil: iiberall wohnte die 
Grazie. Kein Wort, kein Laut! Keine Rede von einem Kommando! 
Befahl der Reiter dem Schimmel, befahl der Schimmel dem Reiter? 
Lautlos war es ringsum. Alle Menschen hielten den Atem an. Obwohl 
sie so nahe der Arena sassen, dass sie beinahe Tier und Reiter hatten 
greifen konnen, blickten sie auf das Schauspiel durch Lorgnons und 
Operngucker. Nicht nahe genug konnte es sein. Der Schimmel spitzte 
die Ohren: es war, als delektierte er sich an der Stille. Sein grosses, 
dunkles, feuchtes, kluges Auge musterte von Zeit zu Zeit die Herren 
und Damen im Ring, vertraut und stolz und dennoch priifend — und 
keineswegs Beifall erwartend wie ein Schimmel im Zirkus. Ein Mai nur 
hob er den Blick zu der Loge Seiner Majestat, des Herrn von Persien, 
als wollte er fliichtig zur Kenntnis nehmen, fur wen er hieher beordert 
sei. In stolzem Gleichmut hob er den rechten Vorderfuss, leicht nur, 
als griisste er einen Gleichgestellten. Hierauf drehte er sich einmal um 
sich selbst, weil es die Musik so zu erfordern schien. Hierauf trat er 
sacht mit den Hufen den roten Teppich, setzte plotzlich beim Klang 
der Tschinellen, zu einem verbluffenden, aber edlen und noch im ge- 
spielten Uebermut massvollen Sprung an, blieb plotzlich stehen, war- 
tete eine Sekunde lang auf den siissen Ton der Flote, um dann, da sie 
endlich kam, ihr zu gehorchen und in einem zarten, geradezu samte- 
nen Trab in lediglich angedeutetem Zickzack den Launen des Orients 
gleichsam nachzugeben. Eine kurze Weile schwieg die Musik. Und in 
dieser Zeit der Stille horte man nichts mehr als den sachten zartlichen 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6ll 

Aufschlag der Hufe auf den Teppich. Im grossen Harem des persi- 
schen Schahs hatte - soweit er sich erinnern konnte - noch keine ein- 
zige seiner Frauen so viel Anmut, Wiirde, Grazie, Schonheit bewiesen 
wie dieser Lipizzaner Schimmel aus dem Gestiit seiner Kaiser- und 
Koniglichen Apostolischen Majestat. 

Ungeduldig nur wartete der Schah den Rest des Programms ab: die 
stille Eleganz der anderen Tiere, die ihm hierauf vorgefuhrt wurden; 
ihre graziose Klugheit; ihre schlanken, wunderbaren, zur Hingabe, 
Briiderlichkeit, Liebe lockenden Leiber; ihre kraftige Milde und ihre 
siisse Kraft: der Schah dachte nur an den Schimmel. 
Er sagte dem Grossvezir: »KauP den Schimmel!« 
Der Grossvezir eilte nach den Stallungen. Der Stallmeister Turling 
aber sagte mit der Wiirde eines kaiser- und koniglichen Ministers: 
»Exzellenz, wir verkaufen nichts. Wir schenken nur - wenn Seine Ma- 
jestat, unser Kaiser es erlaubt.« 
Seine Majestat zu fragen getraute sich keiner. 
Der Lipizzaner blieb in der Reitschule. 

ZEHNTESKAPITEL. 

Lange noch, bevor der Ball beginnen sollte, standen die biederen und 
neugierigen Einwohner von Wien vor der Burg. Sie hatten seltsame 
Vorstellungen von den Ereignissen, die sie zu sehn bekommen wur- 
den. Sie hatten seltsame, durchaus unrichtige, im Gegenteil: vollig ver- 
worrene Vorstellungen von diesem Ball und von dem, was sie davon 
zu sehn bekommen sollten. Sie bekamen nichts anderes davon zu sehn 
als lauter geschlossene Wagen. 

Um neun Uhr abends begann die Tafel. An der Rechten des Kaisers 
sass der Schah. Seinetwegen hatte man die orientalischen Speisen vor- 
bereitet, die dem Kaiser von Oesterreich keineswegs schmeckten: Reis 
mit Curry, Lammfleisch am Spiess, in Salz un Pfeffer iiberbraten, 
massvoll verkohlt und dennoch immer noch blutig; noch einmal Reis 
mit gebackenen Pflaumen; hierauf gekochtes Huhn, und noch einmal 
Reis, uberschuttet mit geriebenen Mandeln und Rosinen; endlich kam 
eine seltsame Gans, gefiillt mit Truffeln und Kandiszucker - und dazu 
trank man Wasser: Giesshiibler. Der Kaiser sari schliesslich, mit ehrli- 
chem Vergniigen, das Kompott ankommen, gekochte Pflaumen und 
Birnen: endlich etwas Gekochtes! . . . 



6l2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Der Kaiser hasste Gastmahler. Er liebte es, rasch zu essen und einfach, 
wie einer der Gewohnlichsten seiner Untertanen. Er liebte Suppe, 
Rundfleisch, Knodel, Apfelkompott. Sein Essen dauerte kaum langer 
als zehn Minuten. Er liebte ein frisches Kriigl Bier, mit recht viel 
Schaum. Lediglich dank einer iibergrossen, wahrhaft kaiserlichen Ue- 
berwindung wiirgte er jetzt eine der fremdartigen Speisen nach der 
anderen hinunter. Freilich musste er sich noch dazu mit seinem Gast 
unterhalten, und auf franzosisch. So manche Antwort blieb ihm der 
Schah schuldig. Er aber der Kaiser von Oesterreich-Ungarn, tat so, wie 
es einer Apostolischen Majestat gemass ist: er tat so, als ob ihm Ant- 
wort zuteil geworden ware. Alle Teilnehmer dieser Tafel waren liber- 
zeugt, dass sich der Kaiser und der Schah ausgezeichnet unterhielten. 
Da geschah, als die gekochten Pflaumen kamen, etwas Niedagewese- 
nes: der Schah spuckte die Kerne auf den Fussboden, Wichtig war, 
dass fur die Dauer einer Sekunde nur - aber welch einer schrecklichen 
Sekunde! - alle Teilnehmer der Tafel plotzlich aufsahen, als der Schah 
den ersten Kern ausgespuckt hatte, vor sich hin, mitten zwischen die 
gespreizten Knien. Der einzige, der keine Verbliiffung verriet, war der 
Kaiser. Er sah nicht einmal auf. Als hielte er es fur ein selbstverstand- 
liches Gehaben, spie auch er den ersten Pflaumenkern auf den Boden, 
den zweiten, den dritten — und so lange, bis der Schah aufgehort hatte 
zu essen. Und alle taten nach dem Beispiel des Kaisers. 
Man erhob sich. In einer Viertelstunde sollte der Ball beginnen. 
Im Redoutensaal warteten, in zwei Reihen aufgestellt, die Damen und 
Herren auf die Ankunft der Monarchen. Hie und da drang ein ver- 
schamtes Hiisteln aus der Brust eines alteren Herrn. Es war ein Hii- 
steln, das sich seiner selbst schamte, mehr noch als die Hustenden, die 
seidene Taschentiicher vor die Miinder hielten. Hie und da fliisterte 
eine Dame der andern etwas zu. Es war eigentlich kein Fliistern, es war 
gerade noch ein Hauchen, und dennoch klang es in dieser Stille bei- 
nahe wie ein Zischen. 

In dieser Stille vernahm man das sachte Aufstossen des schweren 
schwarzen S tabes auf den roten Teppich wie ein ordentliches Klopfen. 
Alles blickte auf. Durch die von unsichtbaren Handen aufgerissenen 
Fliigel der weissen, goldumrahmten Doppeltiir kamen die Majes taten. 
Am entgegengesetzten Ende intonierte die Hofkapelle die persische 
Hymne. Der Schah griisste nach orientalischer Art, die Hand an Stirn 
und Brust fuhrend. Die Damen vollfiihrten den Hofknix, und die Her- 



DIE GESCHICHTE VON DER I0O2 NACHT 613 

ren verbeugten sich tief. Wie durch ein Feld gekmckter Aehren schrit- 
ten die Majestaten, der Gast und der Gastgeber. Beide lachelten, wie es 
die Ueberlieferung befiehlt. Sie lachelten nach rechts und links, ob- 
wohl kein Mensch ihre Freundlichkeit sehen konnte. Sie lachelten 
blonden und schwarzen Damenfrisuren zu, blanken Mannerglatzen 
und straff gestriegelten Scheiteln, 

Dreihundertzweiundvierzig Wachskerzen in silbernen Kandelabern 
erleuchteten und erhitzten den Saal. Der grosse kristallene Kronleuch- 
ter, der in der Mitte hing, trug nicht weniger als achtundvierzig. Die 
Kerzenflammchen spiegelten sich tausendfaltig in dem blanken Tanz- 
Oval des Parketts, sodass es aussah, als ware der Boden gleichsam von 
unten her beleuchtet. Der Kaiser und der Schah sassen auf einer schar- 
lachrot iiberkleideten Etage, in zwei breiten Stiihlen aus spiegelndem 
Ebenholz, die aussahen, wie geschnitzt aus schwarzer Nacht. Neben 
dem Kaiser von Oesterreich stand der Hofzeremonienmeister. Sein 
schwerer goldgestickter Kragen sog, trank, schlang ungesattigt das gol- 
dene Licht der Kerzen, strahlte es wieder, glanzte, glitzerte, raffte gie- 
rig das Licht und verstreute es wieder grossmiitig, wetteiferte geradezu 
mit den Kandelabern und iibertraf sie noch. Neben dem Schah stand 
der Gross vezir, in schwarzer Uniform. Sein schwarzer Schnurrbart 
hing furchterlich-majestatisch, wuchtig und schwer iiber seinem 
Mund. Er lachelte von Zeit zu Zeit in regelmassigen Abstanden und so, 
als dirigierte irgend eine fremde Macht seine Gesichtsmuskeln. Dem 
Rang und der Wiirde nach wurden die Damen und Herren der persi- 
schen Majestat vorgestellt. Er sah die Frauen genau an, mit seinen kin- 
dischen, gliihenden Augen, in denen alles enthalten war, was seine ein- 
fache Seele zu vergeben hatte: die Gier und die Neugier, die Eitelkeit 
und die Liisternheit, die Lieblichkeit und die Grausamkeit, die Klein- 
lichkeit und die Majestat / trotz allem auch. / Die Damen spiirten den 
gierigen, den neugierigen, den liisternen, den eitlen, den grausamen 
und majestatischen Blick des Schahs von Persien. Sie erschauerten 
leicht. Sie liebten den Schah, ohne es zu wissen, Sie liebten seine 
schwarze Pelerine, seine rote, silberbestickte Miitze, seinen krummen 
Sabel, seinen Grossvezir, seinen Harem, alle seine dreihundertfunf- 
undsechzig Frauen, seinen Obereunuchen sogar und ganz Persien: den 
ganzen Orient liebten sie. 

Der Herr von Persien aber liebte in dieser Stunde ganz Wien, ganz 
Oesterreich, ganz Europa, die ganze christliche Welt. Niemals in sei- 



6l4f ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nem so Liebes- und Frauenreichen Leben hatte er diese Erregtheit ge- 
fiihlt, - auch vor vielen Jahren nicht, ais er, ein Knabe noch und 
kaum mannbar geworden, zum ersten Mai die Frau erkannt hatte. 
Weshalb waren ihm in seinem heimischen Harem die Weiber gleich- 
giiltig und sogar lastig gewesen, und weshalb schien es ihm hier, in 
Wien, dass die Frauen ein wunderbares ihm noch vollig unbekanntes 
Volk bildeten, ein seltsames Geschlecht, das es erst gait zu entdek- 
ken? Sein dunkelbraunes Angesicht rotete sich sachte, seine Pulse 
schlugen heftiger, winzige Schweissperlen standen auf seiner glatten, 
faltenlosen, jugendlichen, unschuldigen bronzenen Stirn. Er fiihrte 
sein seidenes griines Tuch flink an die Augen. Er steckte es wieder in 
die tiefe Tasche, die im Innern seines Aermels angebracht war, und 
seine schlanken biegsamen Finger begannen, immer schneller mit der 
kleinen Schnur aus grossen blaulichen Gurdi-Perlen zu spielen, die 
sein linkes Handgelenk umschmeichelten. Auch diese sonst so kiihlen 
Steine, die den Fingern immer kuhle Beruhigung bereitet hatten, 
schienen ihm heute heiss und Unrast ausstromend. Ihm waren bis 
jetzt nur nackte und verhiillte Frauen bekannt gewesen: Korper und 
Gewander. Zum ersten Mai sah er Verhiillung und Nacktheit auf ein- 
mal. Ein Kleid, das gleichsam von selbst fallen zu wollen schien, und 
das dennoch am Korper haften blieb: es glich einer unverschlossenen 
Tiir, die nicht aufgeht. Wenn die Frauen den Hofknix vollfuhrten, er- 
haschte der Schah im Bruchteil einer Sekunde den Ansatz der Brust, 
hierauf den hellen Schimmer des Flaums iiber dem weissen Nacken. 
Und der Augenblick, in dem die Damen met beiden Handen die 
Schosse hoben, bevor sie ein Knie zuriickstreckten, hatte fur ihn et- 
was unnennbar Keusches und zugleich unsagbar Siindhaftes, es war 
ein Versprechen, das man nicht zu halten gedachte. Lauter unver- 
schlossenr Turen, die man nicht offnen kann, - dachte der Herr von 
Persien, der machtige Besitzer des Harems. Jede also halboffene und 
gleichzeitig abgesperrte Frau, jede einzelne, war lockender als ein 
ganzer Harem, angefiillt mit dreihundertfunfundsechzig ratsellosen, 
geheimnislosen, gleichgiiltigen Leibern. Wie unergriindlich musste 
die Liebeskunst der Abendlander sein! Welch vertrackte Raffiniert- 
heit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhiillen! Was gab es in der 
Welt, das geheimer und entblosster zugleich sein konnte, als das Ant- 
litz einer Frau! Ihre halbgesenkten Augenlieder verrieten und verbar- 
gen, versprachen und verwehrten, enthiillten und verweigerten. Was 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6l$ 

war der Glanz der Diademe, die sie im Haar trugen, gegen den schwar- 
zen, braunen, blonden Glanz dieser ihrer Haare selbst, und wieviel 
Farbentonungen gab es innerhalb dieser Farben! Dieses Schwarz war 
blau wie eine Hochsommernacht und jenes hart und matt wie Eben- 
holz; dieses Braun war golden wie der letzte Gruss des versinkenden 
Abends und jenes rotlich wie das edle Ahornblatt im spaten Herbst; 
dieses Blond war heiter und leichtfertig wie der Goldregen im Friih- 
lingsgarten und jenes matt und silbrig wie der erste Reif einer friihen 
Morgenstunde im Herbst. Und zu denken, dass jede einzelne dieser 
Frauen einem einzigen Mann gehorte oder bald angehoren wiirde! Jede 
einzelne ein behiiteter Edelstein! 

Nein! Daran wollte der Schah in diesem Augenblick merit denken. 
Peinliche, schadliche Einfalle! Er war nach Europa gekommen, um das 
Einzige zu geniessen, um das Vielfaltige zu vergessen, das Gehiitete zu 
rauben, das hier herrschende Recht zu brechen, ein Mai nur, ein einzi- 
ges Mai der Wollust des unrechtmassigen Besitzes teilhaft zu werden 
und die ganz besondere, raffinierte Art der Europaer, der Christen, der 
Abendlandischen auszukosten. Als der Tanz begann - es war zuerst 
eine Polka - verwirrten sich seine Sinne vollends, Er schloss sekunden- 
lang seine grossen, schonen, goldbraunen unschuldsvollen Rehaugen, 
er schamte sich selbst der Gier und der Neugier, die er in ihnen leuch- 
ten wusste. Alle gefielen ihm. Aber nicht das Geschlecht begehrte er. 
Er hatte Heimweh nach der Liebe, das ewige mannliche Heimweh 
nach der Vergotterten, der Gottlichen, deir Gottin, der Einzigen. Alle 
Freuden, die ihm das Geschlecht der Frauen gewahren konnten, hatte 
er ja bereits genossen. Ihm fehlte nur noch eins: der Schmerz, den nur 
die Einzige bereiten kann. 

Er schickte sich also an, zu wahlen. Immer mehr von den Frauen im 
Saal schied er aus. Bei der und jener glaubte er, mehr oder weniger 
verborgene Fehler entdeckt zu haben. Es blieb schliesslich eine, die 
Einzige: es war die Grafin W. / Alle Welt kannte sie. / 
Blond, hell, jung und mit jenen Augen begnadet, von denen man sagen 
konnte, sie seien eine merkwiirdige Art von Veilchen mit Vergissmein- 
nichtblick, war sie seit drei Jahren, seit ihrem ersten Ball, der Gesell- 
schaft eine Augenweide, den Mannern ein ebenso begehrtes, wie ver- 
ehrtes Wesen. Sie gehorte zu jenen Madchen, die in den langstvergan- 
genen Tagen ohne jedes andere Verdienst als das der Anmut Vereh- 
rung genossen und Anbetung erwarben. Man sah ein paar ihrer Bewe- 



6l6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

gungen; fiihlte sich reich beschenkt und war uberzeugt, dass man ihr 
Dank schuldig seL 

Sie war ein spat gezeugtes Kind. Ihr Vater konnte schon zu den greisen 
Dienern der Monarchic gezahlt werden. Er lebte einsam und lediglich 
seiner Mineraliensammlung ergeben auf seinem Gut in Parditz in Mah- 
ren. Manchmal vergass er Frau und Tochter. In einer jener Stunden, in 
denen er gerade einen recht seltenen Malachit von einem Freund aus 
Bozen zugeschickt erhalten und seine Familie vollig vergessen hatte, 
liess sich ein ihm unbekannter Sektionschef vom Finanzministerium 
melden. Es war der Graf W. Es war keineswegs, wie der Alte schon 
gehofft hatte, etwa ein Liebhaber von Mineralien, sondern lediglich 
der seiner Tochter. Jeden gewohnlichen Quarzstein hatte der alte Herr 
von Parditz wenigstens durch die Taschenlupe betrachtet. Den jungen 
Mann aber, der seine Tochter begehrte, sah er nur einen Augenblick 
durch das Lorgnon an. »Bitte!« ■=- sagte er, ohne weiteres » werden Sie 
glucklich mit Helene«. 

Die junge Frau liebte ihren Mann, obwohl sie eine manchmal susse, 
zuweilen lastige Erinnerung an den charm anten, zu besonderer Ver- 
wendung abkommandierten Baron Taittinger behalten hatte. Damals, 
als sie noch ein Madchen gewesen war, und obwohl sie einen durchaus 
gerechten Blick fur al seine Vorzuge gehabt hatte - sogar, wenn er 
sprach, schien es,als ob er tanzte - war er ihr in der Masse gefahrlich 
erschienen, dass sie eines Tages begann, ihm mit frostigen Launen zu 
begegnen. Der arme Taittinger hatte zwar Phantasie genug, um sich 
einzubilden, dass er heftig und rettungslos verliebt sei, aber nicht so 
viel Ausdauerj wie in jenen Tagen dazu gehort hatte, das tibliche Re- 
sultat hef tiger Liebesbermihungen abzuwarten. Er war ein Kavallerist, 
zur besonderen Verwendung abkommandiert, hochmutig auch und, 
besonders nach einer Stunde mit dem Madchen, in der es ihm gesagt 
hatte, er moge vorlaufig gehn und sie sei nicht aufgelegt, mit ihm noch 
weiter zu sprechen, vollkommen uberzeugt, dass es viele solcher Mad- 
chen schliesslich gabe und dass seine Ehre auch etwas wert sei und 
vielleicht mehr. 

Es war also, wie er sich sagte, endgiiltig »ein Bruch« und dies machte 
ihn dermassen »melancholisch«, dass er sich eines Tages entschloss, zu 
Fuss durch Sievering zu wandern. Was kummerte ihn Sievering? Es 
war noch schlimmer als langweilig: es war namlich »fad«. Einen Tag 

spater allerdings war es »charmant« geworden. Das kam von der 

Mizzi Schinagl. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6lJ 

ELFTESKAPITEL. 

Leider liegen die Tage, in denen unsere Geschichte spielt, schon so 
weit zuriick, dass wir nicht mehr mit Sicherheit festzustellen vermo- 
gen, ob der Baron Taittinger recht hatte, als er der Meinung war, die 
Mizzi Schinagl sehe aus wie eine Zwiliingssch wester der Graf in W. 
Er hatte, traurig und geradezu verzweifelt durch Sievering schlen- 
dernd, den lacherhchen Entschluss gefasst, eine Tonpfeife zu kaufen. 
Und er trat in den Laden des Alois Schinagl ein. Er war darauf vorbe- 
reitet gewesen, einen alteren wiirdigen Mann im Laden vorzufinden. 
Die Tur hatte eine grelle Alarmglocke. Auch sie uberraschte den Baron 
Taittinger nicht. Wohl aber uberraschte, ja erschreckte es ihn, dass 
statt des alten Pfeifenhandlers, den er erwartet hatte, ein Wesen hinter 
dem Ladentisch erschien, das er bereits sehr wohl zu kennen glaubte: 
wenn es nicht die Grafin W. personlich war, so war es gewiss ihre 
Sch wester. Er beschloss zuerst, langere Zeit die Pfeifen zu priifen von 
denen er allerdings gar nichts verstand. 

Es waren lacherliche Pfeifen, und lacherliche Preise. Wahrend er vor- 
gab, die Pfeifen zu priifen, jede einzelne an den Mund fuhrte, durch 
jede hindurchblies - so wie er es einmal gesehn zu haben glaubte, als er 
seinen gottseligen Herrn Papa, den alten Hofrat Taittinger, zum Pfei- 
fenkaufen in Olmiitz begleitet hatte - beobachtete er verstohlen, aber 
inbriinstig das zarte Gesicht der Doppelgangerin. Ja, kein Zweifel, sie 
sah aus wie die Grafin W.: das gleiche Veilchenauge mit dem Vergiss- 
meinnichtblick; der gleiche Haaransatz uber der niederen Stirn; der 
gleiche aschblonde Knoten im Nacken - man sah ihn, so oft sich das 
Madchen umwandte, um nach neuen Pfeifen auf den Regalen an der 
Wand zu suchen; der gleiche Augenaufschlag und das gleiche siisse 
und zugleich mokante Lacheln; die gleichen weissen blendenden Eck- 
zahne, die sich bei jedem Lacheln enthiillten; die gleichen Handbewe- 
gungen und die gleichen lieben Griibchen an den Armen, zu beiden 
Seiten der Ellenbogen. 

Die goldenen Knopfe der Rittmeister-Uniform verbreiteten einen im- 
mer starkeren Glanz im Laden, je tiefer der Abend wurde. Man hatte 
noch ganz deutlich die Pfeifen sehen konnen, aber dem Madchen, der 
Doppelgangerin der Grafin W., wurde es unbehaglich, allein, wie sie 
war mit dem fremden Offizier, und sie entziindete den Rundbrenner 
uber dem Pult, rechts vom Verkaufstisch. Das Licht flackerte und 



6l8 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

blackte zuerst. Taittinger kaufte fiinfzehn nutzlose Tonpfeifen. Er 
fragte noch: »Was ist eigentlich Ihr Herr Vater, liebes Fraulein?« 
»Der Ofensetzer Alois Schinagl!« sagte das Madchen. »Pfeifen macht 
er auch, aber nur nebenbei. Aber die meiste Kundschaft sind halt die 
Leut', die Oefen brauchen. Zu uns kommt selten einer ins Geschaft, 
Pfeifen haben die Leut' alle eh schon.« 

»Ich komme« - sagte der Baron Taittinger - »morgen noch einmal. Ich 
brauche viel Pfeifen. « 

Er kam am nachsten Tag, mit dem Diener, und er kaufte nicht weniger 
als sechzig Pfeifen. 

Drei Tage spater kam er wieder nach Sievering, er fand es »charmant«. 
Es war Samstag, drei Uhr nachmktags, und Mizzi begriisste ihn wie 
einen alten Bekannten, obwohl Taittinger diesmal in Zivil war. Es war 
warm und golden draussen. Mizzi schloss den Laden und stieg in den 
Fiaker und man fuhr zum Kronbauer. 

Man fuhr zum Kronbauer und erzahlte drei Stunden spater dem frem- 
den Herrn, dass man eigentlich schon so gut wie verlobt war. Verlobt 
war man mit Xandl Parrainer, Friseur und Peruckenmacher. Jeden 
Sonntag ging man mit ihm aus. 

Das waren Geschichten, die den Taittinger garnicht kummerten und 
die er auch nur halb verstand. Eigentlich glaubte er, dieses brave Mad- 
chen wolle ihm einen guten Barbier empfehlen. »Schick* ihn nur zu 
mir« - sagte er - »schick' ihn nur! Herrengasse 2, erster Stock«. 

ZWOELFTES KAPITEL. 

Sehr bald fand Taittinger, dass ihn die Mizzi langweilte. Eines Tages 

teilte sie ihm mit, dass sie schwanger sei und dieser Zustand war 

schlimmer als langweilig: namlich fad. 

Die Folge dieser Erkenntnis war, dass Taittinger zum Notar ging. 

Taittinger liebte weder die Grafin W. mehr, noch die Schinagl, die ihr 

ahnlich sah. Er liebte nur noch, wie gewohnlich, sich selbst. 

Wie es in jenen Tagen die Sine befahl, riet der Notar zu einer Pfaidle- 

rei. Alle Herren, deren Geschafte er verwaltete, hatten Pfaidlereien 

eingerichtet. Alle Damen befanden sich noch heute wohl dabei. 

Der Baron nahm also einen Urlaub von zwei Monaten und reiste in die 

Bacska, zu einem Onkel seiner Mutter, wo ihn keine Post erreichen 

konnte. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6l£ 

Es erreichte ihn auch kein einziger der heftigen Liebesbriefe, die Mizzi 
Schinagl unentwegt schrieb. Sie schrieb diese Liebesbriefe an die ein- 
zige Adresse Taittingers, die sie kannte; an die Herrengasse %. Der 
Doktor Maurer, der Sekretar Taittingers, der die Schriften auseinander 
zu halten wusste, zerriss die Briefe, ohne sie gelesen zu haben. 
Als der Baron Taittinger aus der Bacska zuruckkehrte, war die Pfaidle- 
rei der Mizzi Schinagl in der Porzellangasse bereits eingerichtet und im 
Gange. Mizzi Schinagl war im neunten Monat. 

Sie gebar einen Sohn und sie nannte ihn Alois Franz Alexander. Alois 
Franz hiess der natiirliche Vater; Xandl hiess der Brautigam, der Fri- 
seur. 

Die Pfaidlerei ging gut, der Friseur war immer noch bereit, Mizzi Schi- 
nagl zu heiraten. Auch hatte sie selbst durchaus Verlangen nach einem 
ruhigen und ehrlichen Dasein. Allein es ging in ihr, dieweil sie derlei 
verniinftige Plane iiberlegte, auch die Liebe durch das Herz und durch 
den Kopf, und es war die Liebe zu Taittinger. Ihr Kind schien ihr 
grossartig geraten. Nicht einen Augenblick vermochte sie die Hoff- 
nung aufzugeben, dass der Baron Taittinger kommen wiirde, um die 
Frucht seiner Lenden zu sehen. Aber der Taittinger kam nicht. 
Als Xandl drei Jahre alt war, lernte Mizzi Schinagl auf einer Bank im 
Schonbornpark, durch Zufall sozusagen, eine geschwatzige und gefal- 
lige Frau kennen, die ihr sagte, es gabe da ein Haus auf der Wieden, da 
ware man gut aufgehoben - und noble Menschen verkehrten dort - 
und was ware schon eine Pfaidlerei - und was ware das iiberhaupt 
schon fur ein Leben, so, mit einem Kind und unverheiratet und mit 
einer Pfaidlerei. Was war das fur ein Leben? Mizzi Schinagl hatte es 
schon oft selber gedacht, wortlich das Gleiche. 

»Was sind das fur noble Menschen, die dort verkehren?« - fragte 
Mizzi Schinagl. 

»Die nobelsten« - erwiderte die fremde Frau. »Namen kann ich ihnen 
auch sagen. Ich muss nur die Liste holen.« 
Sie eilte dahin und brachte die Liste. 

Die Mizzi wusste selbst nicht, weshalb sie zur Frau Matzner am nach- 
sten Tage ging. Was kummerte sie die Frau Matzner? Was hatte sie 
jemals von der Frau Matzner gehort? Es war Sommer, Spatsommer. Es 
war auch sehr heiss. Verspatete, immer noch leichtsinnige Amseln flo- 
teten auf dem immer noch griinen Rasen, zwischen dem Kopfstein- 
pflaster. Es schlug sechs Uhr, als sie vor dem Hause der Josephine 



620 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Matzner stand, »Josephine Matzner, Masseurin, liter Stock, dreimal 
Lauten« war unten gedruckt. Sie lautete drei-Mal. 
Ein geradezu niederschmetternder Duft von Maiglockchen, von Flie- 
der, von Veilchen, von Verbenen, von Reseda schlug Mizzi entgegen. 
Noch eh* sie wusste, was mit ihr geschah, stand sie in dem sogenannten 
rosa Salon: Aus rosa Seide waren die Vorhange vor den Fenstern; aus 
rosa Seide die Vorhange vor der Tiir; aus rosa Rosen bestand die Ta- 
pete: in eine Rosenknospe aus Porzellan ging selbst der Knopf der 
Turklinke aus. 

DREIZEHNTES KAPITEL. 

Eines Tages, eines Abends vielmehr, kommt er, der geliebte Taittinger. 
Seit vielen Jahren ist er im Haus der Josephine Matzner heimisch. 
Als er die Mizzi Schinagl in diesem Hause erblickte, war er durchaus 
nicht erstaunt, wie es wahrscheinlich viele andere Manner an seiner 
Stelle gewesen waren, sondern er strengte sich an, eine den Umstanden 
angemessene Frage zu finden. Er erinnerte sich nicht mehr, auf welche 
Weise, sein Notar die Mizzi Schinagl abgefunden hatte, ob durch eine 
Wascherei, Naherei oder Pfaidlerei. Dagegen glaubte er sich genau 
erinnern zu konnen, dass Fraulein Schinagl ein Kind weiblichen Ge- 
schlechts von ihm bekommen hatte, und eine hofliche Frage nach dem 
Befinden dieser Kleinen hielt er wohl fur angebracht. »Griiss Gott!« 
-sagte er also - »Was macht unsere Kleine?« 

»Wir haben einen Buben!« - sagte die Mizzi und sie errotete zum er- 
sten Mai wieder nach langen Jahren, als hatte sie nicht etwa die pure 
Wahrheit gesagt, sondern eine Luge. 

»Ach ja, es ist ein Bub!« - sagte der Baron. »Entschuldige!« 
Ein Weile spater bestellte er Champagner, um mit Mizzi auf das Wohl 
dieses Buben, seines Buben, zu trinken. Er horte nicht mehr alles, was 
die Mizzi vom Buben erzahlte. Er horte nicht, dass er gut unterge- 
bracht war bei Frau Schyschka, einer Frau, die zwar aus Bielitz-Biala 
stammte, aber dennoch durchaus zuverlassig war. Sie verwaltete auch 
die Pfaidlerei, die ganz gut ging. Insoweit war Mizzi Schinagl zufrie- 
den. Sie trug ein tiefausgeschnittenes weisses Seidenkleid und von Zeit 
zu Zeit nestelte sie an ihrem rechten Strumpfband, offenbar um sich zu 
iiberzeugen, dass ihr Geld, ein Zehnguldenschein, den sie heute erwor- 
ben hatte, noch vorhanden war. Obwohl sie wusste, dass der Baron 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6ll 

nur aus Gewohnheit zu der Josephine Matzner gekommen war, begann 
sie sich nach zwei Glasern Champ agner einzureden, er sei ihretwegen 
allein gekommen. Alsbald schien es auch dem Rittmeister so, dass er der 
Mizzi wegen heute den Weg hieher genommen hatte. Der Baron hatte 
ein kleines Herz, aber es war ebenso schnell geruhrt wie vergesslkh. Er 
mochte die Mizzi noch sehr gerne und er fragte sich, warum er sie 
eigentlich verlassen habe. Er begehrte sie sogar, aber es gab nun ein 
gewaltiges Hindernis: er schien ihm einfach unschicklich, eine Frau zu 
kaufen, die man umsonst gehabt hatte, sozusagen umsonst, abgesehen 
von der Pfaidlerei. Es war ebenso unschicklich, wenn nicht noch un- 
schicklicher, eines der anderen Madchen zu nehmen, sozusagen vor den 
Augen der Mizzi. In der Hoffnung, dass er dadurch alien peinlichen 
Ueberlegungen entgehen konnte, gab er der Mizzi zuerst ein Geldstiick, 
ein goldenes Funfguldenstiick. Sie nahm es in die Hand, spuckte darauf 
und sagte: »Gehn wir hinauf, zu mir, ich hab' ein nettes Kabinett!« 
Der Baron ging ins Kabinett und blieb dort bis Mitternacht, in Erinne- 
rungen versunken. Er versprach, oft wieder zu kommen, und er hielt 
auch sein Versprechen. Er wusste nicht, ob ihn ein Fluch trieb oder ein 
Segen; ob er eigentlich die Grafin liebte oder die Mizzi; ja ob er iiber- 
haupt liebte; ob er iiberhaupt noch der alte Taittinger war. Es fehlte nur 
noch wenig, und er ware imstande gewesen, sich selbst in die dritte und 
letzte Kategorie der Menschen einzureihen: in die Kategorie der »Lang- 
weiligen«. 

VIERZEHNTES KAPITEL. 

Der machtige Herr von Persien, der Herr der dreihundertfunfundsech- 
zig Frauen und der funftausenddreihundertzehn Rosen von Schiras war 
nicht gewohnt, ein Begehren, geschweige denn eine Begierde zu unter- 
driicken. Kaum hatte sein Auge die Grafin W. auserkoren, und schon 
winkte er dem Grossvezir, Der Grossvezir neigte sich iiber die Sessel- 
lehne. »Ich nab* Dir was zu sagen«, flusterte der Schah. »Ich mochte« - 
sagte der Schah weiter - »die kleine junge Frau heute, die silberbonde, 
Du weisst, welche ich meine«. 

»Herr« - wagte der Grossvezir zu erwidern - »ich weiss, welche Eure 
Majestat meinen. Aber es ist, es ist — « Er wollte: »unmoglich« sagen, 
aber er wusste wohl, dass solch ein Wort das Leben kosten konnte. Also 
sagte er: » — es ist hierzulande sehr langsam!« 



622 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Heute!« sagte der Schah, dem nichts von dem, was er befohlen hatte, 
unausfiihrbar erschien. 
»Heute!« bestatigte der Minister. 

Der Tanz war eine Weile unterbrochen. Der Herr und der Diener be- 
gaben sich wiirdig und langsam zu ihren Platzen zunick. Der Kaiser 
lachelte ihnen freundlich entgegen. Die Musik setzte wieder ein. Der 
Tanz begann aufs neue. 

Vor Mitternacht erhoben sich die Majestaten. Sie verschwanden, die 
doppelfliigelige Tiir hinter den Thronsesseln verschlang sie. 
Der Schah wartete in einem Nebenraum. Ihm gegeniiber und so, dass 
er sie genau betrachten kann, steht eine Diana aus Silber auf einem 
schwarzen runden Brett. Sie scheint ihm das getreue Abbild der be- 
gehrten Frau zu sein. Alles in diesem Raum erinnert iiberhaupt an die 
begehrte Frau: der dunkelblaue Divan, die seidene blassblaue Tapete, 
der Flieder in der schlankhalsigen Majolikavase, der kristallene Luster 
sogar, der wunderbare Schwung des vierfiissigen Leuchters mit den 
vier schlanken Aermchen und das silberne Ornament auf dem tief- 
blauen samtenen Teppich zu Fiissen des Herrn von Persien. Man war- 
tet, man waited Und der Schah ist nicht gewohnt, zu warten. 
Er muss leider warten. Kaum zwanzig Meter von ihm entfernt findet 
eine Konferenz statt, deren Teilnehmer sind: der Grossvezir, der Hof- 
zeremonienmeister und der Adjutant Seiner Majestat. Man beschliesst, 
auch den Polizeiprasidenten herbeizurufen. Und man sieht trotzdem 
keinen Ausweg: der Grossvezir mochte seinen Freund, den Adjutan- 
ten Kirilida Pajidzani zur Seite haben, er wird ihn suchen lassen, er 
lasst ihn schon suchen. Man findet ihn nicht, den jungen, lebensliister- 
nen, schonen Pajidzani. 

Was steht zur Debatte? Es handelt sich darum, ob man die Gesetze des 
Anstands, oder ob man die Gesetze der Gastfreundschaft verletzen 
darf. Gewiss: mit allerhand Ueberraschungen hatte man gerechnet, als 
man am Ballhausplatz erfuhr, dass, wie sich der Sektionschef Skubl 
ausdriickte, »ein wilder Kaiser« im Begriffe sei, nach Wien zu 
kommen. Wenn es ihm zum Beispiel eingefallen ware, nach Petersburg 
zu fahren, statt nach Wien, man hatte ihm die wildesten Wiinsche nicht 
nur erfullt, sondern auch sogar womoglich nahegelegt. Aber es gab 
leider keinen Ausweg! Wir befinden uns nicht in Petersburg, sondern 
in Wien, Seine Majestat, der Kaiser treibt die Gastfreundschaft wirk- 
lich weit genug, wenn er die Pflaumenkerne auf den Boden spuckt, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 623 

weill sein seltsamer Gast es tut. Dies dachten die drei europaischen 
Herren, und der persische Wurdentrager dachte es auch. Sie standen 
ratios in einem kleinen runden Nebengemach des Redoutensaals. Es 
brannten nur zwei Armleuchter, zu beiden Seiten der schneeweissen 
goldgerahmten Tiir; der Lakei, der sie zu bewachen hatte, war beim 
Eintritt der Herren verschwunden. Vielleicht horchte er. Alle Teilneh- 
mer dieser ausserst peniblen Konferenz entfernten sich instinktiv von 
der Tiir. Sie senkten die Stimmen, sie flusterten beinahe schon. Sie 
sprachen franzosisch. Es war nicht etwa nur eine reine Hoflichkeit 
dem Orientalen gegeniiber, sondern auch eher eine Art Scham iiber 
den Inhalt dieser Konferenz. In einer fremden Sprache klang die Pein- 
lichkeit der Unterredung gleichsam verschleiert. 

Der Hofzeremonienmeister lehnte mit wiirdiger Entschiedenheit ab; 
der Adjutant des Kaisers ebenfalls. Es war selbstverstandlich. Es kam 
fur keinen von den beiden Herren in Betracht, etwa Seine Majestat in 
Kenntnis zu setzen von dem sonderbaren Wunsch des hohen Gastes. 
Aber es kam auch nicht in Betracht, dem hohen Gast einen Wunsch zu 
verweigern. 

Der Polizeiprasident sagte schliesslich, dass man einen geeigneten 
Mann finden miisse, einen vom privaten Festkomitee. Und, kaum war 
das Wort vom »privaten Festkomitee« gef alien, als der Hofzeremo- 
nienmeister den Namen: Taittinger ausrief. 

Man beschloss, eine Pause eintreten zu lassen. Zwei Herren begaben 
sich in den blauen Raum, zum wartenden Schah. Er sass wiirdig in 
seinem Sessel, spielte mit seinem Perlenarmband und fragte nur: 
»Wann?« - »Es handelt sich nur darum« - log der Grossvezir - »die 
Dame zu finden. Im Gewirr des Festes ist sie verschwunden. Wir su- 
chen sie mit alien Kraften.« 

»Mit alien Kraften,« suchte man indessen nicht die vom Schah ersehnte 
Dame, sondern den Taittinger. 

Der Schah winkte mit der Hand, er sagte nur: »Ich warte!« - 
Es war Geduld und Nachsicht, aber auch Drohung in der Stimme der 
Majestat. 



624 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

FUENF2EHNTES KAPITEL. 

Einer der mondanen Spitzel, deren Aufgabe es war, das Gehn und 
Kommen, die Sitten und Gewohnheiten, die Unsitten und die Unarten 
und die Freundschaften und die Beziehungen der Herrschaften zu be- 
obachten, meldete dem Polizeiprasidenten, dass sich der Baron Tait- 
tinger seit einer Stunde im Vestibul befinde, in der Kammer des La- 
keien, beschaftigt mit der Tochter Wesselys, des Kommandierenden 
der Garderoben. Der Poiizeiprasident ging unverzuglich an den ange- 
gebenen Ort. Der zur besonderen Verwendung abkommandierte Ritt- 
meister erhob sich, als es klopfte. Er ging zur Tun Er fiirchtete sich 
keineswegs etwa vor der Schande, auf einer jener Missetaten ertappt zu 
werden, die nicht nur selbstverstandlich waren, sondern sogar geboten 
erschienen: es handelte sich ihm darum, vor der Welt zu verbergen, 
dass er sich mit der Wessely abgab, der Tochter des Garderobemei- 
sters. Er wusste nicht, der arme Taittinger, dass der Geheime Vondrak 
ihn langst schon beobachtete. 

Taittinger richtete seine Bluse und ging zur Tiir. Er erkannte den Poli- 
zeiprasidenten, schloss daraus, dass man bereits von der kleinen Wes- 
sely wusste, und bemuhte sich infolgedessen auch gar nicht mehr, die 
Tiir hinter sich zuzuziehn, als er in den Korridor trat. 
»Baron, ich bitte Sie, sofort!« - sagte der Poiizeiprasident. 
»Servus!« rief Taittinger zur offenen Tiir hinein, der Wessely zu. 
Er fragte, wahrend er neben dem Polizeiprasidenten die flachen Stufen 
emporstieg, nicht, warum man ihn gerufen hatte. Er ahnte schon, dass 
es sich um eine ausserst schwierige Angelegenheit handeln wiirde, eine 
Angelegenheit im Zusammenhang mit seiner Verwendung. 
Ja, nicht umsonst hatte man ihn seinerzeit abkommandiert. In ge- 
wohnlichen Skuationen versagte er vielleicht; in aussergewohnlichen 
funktionierte seine Phantasie. Dort, wo die drei Herren entgeistert und 
ratios waren, im kleinen Zimmer, erschopft vom Nachdenken, bleich 
aus Furcht, beinahe krank vor Ratlosigkeit, erschien der Rittmeister 
Taittinger munter, wie ein junger Wind. Und, nachdem ihm die andern 
in angstlich gefliistertem Franzosisch ihre Sorgen erzahlt hatten, rief 
er, wie gewohnlich, als sasse er beim Tarock, in seinem ararischen 
Deutsch, das an alle Kronlander der Monarchic gleichzeitig zu erin- 
nern schien: »Aber meine Herren! Das ist ja sehr einfach!« 
Alle drei horchten auf. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 625 

»Es ist sehr einfach!« - wiederholte Tafttinger. - Im Nu, in der glei- 
chen Sekunde, in der er gehort hatte, dass es sich um die Grafin W. 
handelte, war in ihm ein ihm bis daher noch fremd gewesener Hass 
erwacht, eine Art erfinderischer Rachsucht, einer ausserst erfinderi- 
schen, einer phantasiereichen, einer geradezu dichterischen Rachsucht. 
Sie sprach aus ihm: »Meine Herren!« - sagte er - »Es gibt viele, unzah- 
lige, es gibt unzahlige Frauen in Wien! Seine Majestat, der Schah- ich 
will nicht sagen dass er einen schlechten Geschmack hat, im Gegenteil, 
ganz im Gegenteil! Aber seine Majestat hat begreiflicher Weise niemals 
Gelegenheit gehabt, zu erfahren, was es fur — fur — sagen wir, Anna- 
herungen gibt.« 

Er dachte an sich und selbstverstandlich an Mizzi Schinagl. Es schien 
ihm auf einmal - und zum ersten Mai in seinem unbeschwerten, leicht- 
fertigen Leben schien es ihm, dass er Herz und Seligkeit fur immer 
verloren habe. Ein unerklarlicher Hass gegen die Grafin W. ergriff ihn, 
und es erfiillte ihn der ihm selbst noch weniger erklarliche Wunsch, 
der Schah mochte sie wirklich besitzen. Eine niegekannte Wirrnis wti- 
tete in seiner Seele: wahrend er noch wiinschte, die Frau, die er geliebt 
hatte und die er in diesem Augenblick aufs neue zu lieben glaubte, 
mochte schandlicher Weise dem Perser ausgeliefert werden, begehrte 
er auch schon und im gleichen Augenblick, diesen schimpflichen Vor- 
gang um jeden Preis zu vermeiden. Er erfuhr plotzlich, dass er immer 
noch unglucklich liebte; dass er rachsuchtig war - aus ungliicklicher 
Liebe; dass er aber zugleich den Gegenstand seiner Rachsucht und sei- 
ner Liebe zu bewahren hatte, als gehorte er ihm allein; dass er nicht 
einmal die Doppelgangerin der geliebten Frau, die Schinagl namlich, 
ausliefern durfte; und dass er dennoch, auf einem Umweg zwar, aber 
dennoch, verraten, verkaufen, beschamen und beschimpfen miisste. 
»Es ist leicht, meine Herren« - sagte er, und wahrend er dieses aus- 
sprach, schamte und freute er sich zugleich - »es ist leicht, Doppelgan- 
ger im Leben zu finden. Fast jeder von uns nicht wahr, meine Herren? 
- hat einen. Die Damen haben Doppelgangerinnen, warum auch nicht? 
Die Damen haben Doppelgangerinnen - nun, sagen wir: auch unter 
den kasernierten Damen. Der Herr Polizeiprasident wird wissen, was 
ich meine! - Dadurch ersparen wir uns sehr viel Aerger. Ich meine, wir 
ersparen uns eine ausserst peinliche, um nicht zu sagen: penible Bela- 
stigung Seiner Majestat, alle Ratlosigkeit, alle Unfreundlichkeit.« / Er 
hielt »penibel« fur starker als »peinlich« /. 



626 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Die Herren verstanden im Nu, um was es sich handelte. Sie sahen nur, 
em wenig besorgt, den Gross vezir an, der aber sein konstantes, hofli- 
ches Lacheln nicht aufgab. Er wollte - man begriff es - nicht zugeben, 
dass auch er verstanden hatte. Auch er bewunderte die ingeniose Phan- 
tasie des Rittmeisters. »Die Herren sind einig?« fragte er auf franzo- 
sisch, gleichsam um zu unterstreichen, dass er nicht imstande gewesen 
sei, das Deutsch Taittingers zu verstehen. »Darf ich meinem Herrn 
Nachricht geben?« 

»Wir werden die Dame bald ausfindig machen, Exzellenz!« sagte Tait- 
tinger und verneigte sich. 

Fiinf Minuten spater sahen die beharrlich Neugierigen, die trotz der 
spaten Stunde auf der Strasse warteten, in der vagen und armen Hoff- 
nung, einen Grafen, einen Fiirsten, einen Erzherzog gar in eine der 
Kutschen und Fiaker einsteigen zu sehen, nicht weniger als achtzehn 
Herren in Zylinder und Frack herauskommen. Ach, es waren keine 
Prinzen. Es waren die »Geheimen« von der Spezial-Abteilung, die 
»Spezis«, wie man sie nannte, die Kenner, Beobachter und Spitzel der 
Oberwelt, der Halbwelt und der Unterwelt. Die zwei Wachleute, die 
vor dem Eingang patrouillierten, erkannten sie wohl. Die Wachman- 
ner pfiffen, die Gummiradler kamen heran. Die Herren stiegen ein. 
Alle diese Manner kannten die Damen und die Herren aller drei Wel- 
ten, wie gesagt: der Ober-, der Halb- und der Unterwelt. Ihr Anfuhrer 
war ein gewisser Sedlacek. Er hatte vor der Abfahrt dem Polizeiprasi- 
denten versichert: »Keine Angst, Exzellenz! In einer halben Stunde, in 
einer Stunde hochstens, ist die Frau Graf in hier, ich will sagen: ihre 
Zwillingsschwester: Man konnte sich auf Sedlacek verlassen. Er 
brauchte keine Photographieen. Alle Gesichter hatte er im Kopf. Er 
kannte die Grafin W. Er kannte den Baron Taittinger. Er kannte die 
hoffnungslose Liebe des Rittmeisters zu der Grafin. Er kannte auch die 
Art, in der sich Taittinger getrostet hatte. Er kannte Mizzi Schinagl, 
ihren heutigen Aufenthaltsort und nicht nur das: ihre Herkunft, den 
Laden in Sievering und ihren Vater. Dennoch hatte er, ganz im Gegen- 
satz zu dem Baron die deutliche Empfindung, dass Mizzi Schinagl der 
von der persischen Majestat so ersehnten Grafin sehr wenig ahnlich 
sah, insbesondere, weil sie sich wahrscheinlich im Hause der Frau 
Matzner arg verandert hatte, Immerhin: sie blieb noch zu verwenden, 
fur den Fall, dass seine Leute nicht ein noch ahnlicheres Modell ausfin- 
dig machen konnten. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 627 

Alles schien - vorlaufig wemgstens - in Ordnung gebracht worden zu 
sein, und fur die Dauer einer Stunde, oder einer halben Stunde zumin- 
dest, hofften die in die Affare verwickelten, beziehungsweise mit ihr 
vertrauten Herren, ein wenig aufatmen zu konnen. Da aber geschah 
etwas in den Annalen der kaiser- und koniglichen Hofgeschichte noch 
nie Dagewesenes: Der Gast des Kaisers von Oesterreich erschien wie- 
der im Saal. Man teilte es sofort dem Kapellmeister mit, und sofort 
auch intonierte die Kapelle die persische Nationalhymne. Wie Blei 
legte sie sich auf alle Glieder. 

Er aber sah nichts, horte mchts, griisste nicht. Nach einigen Minuten 
mischte er sich einfach unter die Gaste. Er wandelte durch den Saal. Er 
bemerkte gar nicht, dass ihm die Leute auswichen und dass sie ganze 
breite Strassen vor ihm bildeten, und dass sich gleichsam die Welt vor 
ihm spaltete. Unentwegt spielte die Musik Walzer von Strauss aber ein 
Unmut lahmte alle Anwesenden. 

Der Baron Taittinger hatte ihn sofort erspaht. Er wusste sofort, nach 
wem der Schah Ausschau hielt. Die Zeit rann unaufhaltsam, bald 
mussten die »Spezis« kommen. Es musste auf jeden Fall verhindert 
werden, dass der Schah innerhalb der nachsten halben Stunde etwa in 
ein Gesprach mit der Grafin geriet. Man konnte diesen Schah jeden- 
falls nicht aus dem Redoutensaal entfernen* Man musste also die Gra- 
fin nach Hause schicken. 

Um das Allerschlimmste zu verhuten, beschloss der Baron mit dem 
Graf en W. zu sprechen. 

Er naherte sich dem kleinen Tisch, an dem der Graf allein sass. Er 
tanzte nicht gern. Er spielte nicht gern. Er trank nicht einmal gern. 
Eifersucht war seine einzige Leidenschaft. Er freute sich an ihr, er lebte 
von ihr. Es bereitete ihm ein wustes Vergniigen, wenn er so zusah, wie 
seine junge Frau dahintanzte. Er hasste die Manner. Es schien ihm, 
dass sie alle auf seine Frau lauerten. Von alien Mannern, die er kannte, 
war und blieb ihm der Rittmeister Taittinger der Liebste, der einzig 
Liebe. Den hatte er bereits erledigt, vernichtet, er kam nicht mehr in 
Betracht. 

Taittinger ging unmittelbar auf die Hauptsache ein. 
»Graf W.« - sagte er, - »ich muss mit ihnen ernstlich sprechen. Unser 
persischer Gast ist verliebt in Ihre Frau!« 

»Nun?« - sagte der kaltbliitige Graf. - »Es ist kein Wunder. Viele 
lieben sie, lieber Baron !« 



628 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Ja, aber, lieber Graf W., der Schah, wissen Sie, nun, Sie kennen ja den 

Orient! « Er schwieg erne lange Weile. Er sah inbriinstig, gewalttatig 

und doch zugleich auch flehentlich das kalte, stumpfe blonde Gesicht 

des Grafen an, eine Art blonden Karpfens . . . 

»Sie kennen ja den Orient! « - begann er, schon verzweifelt, von 

Neuem. 

»Der Orient interessiert mich nicht« - sagte der Stumpfe, und seine 

blassblauen Augen suchten nach der schonen Frau. 

Um Gottes Willen! - dachte Taittinger. Weiss der wirklich nicht, was 

der Schah will? Wie kann er so gleichgultig sein? Er ist ja sonst so 

eifersuchtig. 

»Wissen Sie, der Schah geht mich gar nichts an!« - sagte der Graf. Auf 

die Orientalen bin ich nicht eifersuchtig. 

»Gewiss, gewiss! Nein, Nein!« rief der Rittmeister. Nie in seinem Le- 

ben hatte er sich in solch einer peniblen Situation befunden. Uebrigens 

begann in ihm schon der stille Vorwurf zu nagen, dass er sich ja selbst 

in diese penible Situation gebracht hatte! Er spiirte auf einmal die zu- 

dringliche Hitze der Kerzen, einen leuchtenden Wiistensturm, und die 

eigene Torheit, die ihm ausserdem eine innere Hitze verursachte. 

Schon fing er zu schwitzen an, aus Angst hauptsachlich. Es musste 

heraus, er konnte es nicht langer zuruckhalten. Und in einem wahren 

Anfall von Attackengeist sprudelte er den Satz heraus: »Ich meine, 

man muss die Grafin fur eine Weile aus dem Saal retten!« 

Der Graf, der eben noch so stumpf und fade dagesessen war, wurde rot 

im Gesicht. Ein boser Zorn verdunkelte seine hellen blassen Aeuglein. 

»Was erlauben Sie sich?« - rief er. Taittinger blieb sitzen. »Bitte, mich 

ruhig anzuhoren« - sagte er. Er nahm seine letzten Krafte zusammen 

und fuhr fort: »Es handelt sich darum, die Ehre Ihrer Frau, Ihre, die 

Ehre all dieser Damen hier im Saal zu behiiten. Der Herr aus Teheran 

darf heute der Grafin keinesfalls mehr begegnen. Sehen Sie hin, wie er 

beutegierig durch den Saal wandelt. Er ist der Gast Seiner Majestit. Er 

ist ein gekrontes Haupt. Er ist auch ein politischer Gast. Seine Scham- 

losigkeiten konnen wir nur durch eine List abwenden. In einer halben, 

einer Viertelstunde« - der Rittmeister sah auf die Uhr - »ist alles gere- 

gelt. Ich beschwore Sie, Graf, bleiben Sie ruhig, erlauben Sie mir, mit 

der Grafin funf Minuten zu sprechen.« 

Der Graf setzte sich, kalt und wieder blass, wie er von Natur war. »Ich 

werde Sie holen!« - sagte der Rittmeister. 

Er erhob sich sofort, erleichtert und trotzdem Bangnis im Herzen. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 629 

SECHZEHNTES KAPITEL. 

Lange noch war das Schwerste nicht iiberwunden. Es war nicht leicht, 
einer Frau in passenden Worten die Tatsache mitzuteilen, dass sie der 
Schah sozusagen als Gastgeschenk begehrte. Der Frau konnte man die 
ganze Geschichte keineswegs erzahlen. Der Polizeiprasident, der sich 
mit dem Minister des Innern unterhielt, wandte sich dem Rittmeister 
freundlich zu und so, als hatte er ihn seit Tagen nicht mehr gesehn. Der 
Minister bat um Entschuldigung und entfernte sich sofort. Der Ritt- 
meister fragte: »Ist der Sedlacek schon zuriick?« Das Angesicht des 
Polizeiprasidenten verriet hochstes Erstaunen. »Wovon sprechen Sie, 
Baron ?« - fragte er mit der teiinahmslosen Stimme, die manchmal 
Schwerhorigen eigen ist. »Ja, die Geschichte mit der W. - wir haben ja 
eben alles besprochen!« »Lieber Baron,« - sagte der Polizeiprasident - 
»wir haben gar nichts besprochen. Ich habe seit Tagen nicht die Ehre 
gehabt, Ihnen zu begegnen!« Und da er die schreckerfullten, starren 
und kindisch dummen Augen Taittingers sah, fiigte er mitleidig hinzu: 
»Das kommt vor! Ich kenn' derlei Zustande aus meiner eigenen Ju- 
gend. Ja, ich war auch Kavallerist. Sie wissen es vielleicht. Also, heut- 
zutage besonders — mit dem Sekt komm* ich off en gestanden auch 
nicht immer zurecht. Passen's auf, da sag' ich doch vorgestern einem 
meiner Sekretare: Wo ist denn der Akt, den ich Ihnen vor funf Minu- 
ten gegeben habe? - Und es stellt sich heraus, dass der betreffende 
Sekretar mich vor einer Woche zuletzt gesehen hat.« 
Eine Sekunde spater begriff Taittinger schon, warum es sich handelte. 
Der Polizeiprasident wollte von nichts wissen, bis ans Ende seines Le- 
bens wiirde er von nichts wissen wollen. Der Rittmeister sagte nur: 
»Ich komme sofort !« und entfernte sich, so schnell es die Umstande 
erlaubten. Er begriff zwar, dass der Polizeiprasident partout leugnete, 
aber er ahnte noch lange nicht, was fur Folgen der ganze Plan haben 
sollte. Er ging geradewegs auf die Grafin zu. »Ihr Mann schickt 
mich« - sagte er. 

Sie war dermassen verbliifft, dass sie noch zehn Minuten spater, als sie 
schon mit Ihrem Mann und Taittinger in dem kleinen runden Zimmer 
stand, in dem kaum eine Stunde vorher die »penible« Unterhaltung 
stattgefunden hatte, sehr wenig begriff. Sie begriff nicht, warum sie 
nach Hause gehen sollte. Es gefiel ihr hier ausserordentlich. »So gut 
hab' ich mich schon lang' nicht mehr unterhalten!« - sagte sie mit ihrer 



6}0 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

schweren, ein wenig heiseren Stimme, die aus den charmanten Tiefen 
ihrer Seele zu kommen schien und in die sich Taittinger einst zu aller- 
erst verliebt hatte. »Ich wiisste nicht, warum ich gehen sollte!« - Und 
mit dem Freimut, der sie so reizvoll kleidete und den sie infolgedessen 
iibertrieb, sodass sie gelegentlich sogar beinahe das Kasino streifte, 
fiigte sie hinzu: »Merkwiirdig, dass der sich noch verliebt, mit seinem 
Harem ?« - »Weil es Ihresgleichen in der Welt nicht gibt!« - sagte Tait- 
tinger und senkte die Augen. Er dachte an Mizzi Schinagl. »Wir konn- 
ten schiesslich ein halbes Stiindchen spazieren fahren!« - schlug der 
Graf vor, langsam und gleichgiiltig, »Gewiss, gewiss! - dann ist er be- 
stimmt fort. Sein Adjutant hat's mir eben gesagt!« - log Taittinger. Er 
hatte gewaltige Angst, Sedlacek konnte noch nicht zuriick sein. Er 
sagte beflissen - es war ihm in diesem kleinen Raum jetzt womoglich 
noch heisser als vorher im grossen Saal -; »Ich geh' gleich veranlassen, 
dass der Wagen vorfahrt! Ich bitt' um ErlaubnisU 
Und schon klingelten seine Sporen, und schon war er draussen. 
Er kam gerade in dem Augenblick die Treppe hinunter, als Sedlacek 
ihm entgegentrat. 

»Alles da, Herr Baron« - sagte Sedlacek und hielt den Zylinder drei 
Zentimeter hoch iiber dem Kopf. »In der Garderobe der Wessely« - 
fiigte der Spez hinzu - nicht ohne einen maliziosen Unterton in der 
Stimme, durch den sich Taittinger einigermassen degradiert fuhlte. 
Dass Polizisten ihn anredeten, wenn auch mit geliiftetem Zylinder, er- 
weckte in dem Baron Taittinger die Vorstellung, dass er irgendwohin, 
in unbekannte finstere Abgriinde abgleite. Es war ihm auch in diesem 
Augenblick, als ginge er nicht die Treppe hinunter, sondern als 
rutschte er vielmehr die glatte steinerne Rampe hinab. 
Nun, es ging vorlaufig alles gut. Der Wagen fuhr vor. Die Grafin W. 
und ihr Mann stiegen ein. Bevor der Graf noch dem Kutscher etwas 
sagen konnte, rief Taittinger mit einer verzweifelten Geistesgegenwar- 
tigkeit zum Bock empor: »Nach dem Prater! Die Herrschaften wollen 
LuftU 

Gleich darauf, als die lautlosen Rader schon im Rollen waren und man 
lediglich das elegante sachte Trappeln der beiden Braunen horte, 
schamte sich der Rittmeister seines erbarmlichen Zurufs. Ich habe 
wirklich zu viel getrunken, dacht er, oder ich bin von Sinnen. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 631 

SIEBZEHNTES KAPITEL. 

Es war keineswegs notwendig, dem Geheimen Franz Sedlacek aus- 
fiihrliche Anweisungen zu geben und Einzelheiten zu beschreiben. Er 
besass Phantasie genug. 

Weder er, noch seine Untergebenen hatten im Laufe einer kurzen 
Stunde ein Frauenzimmer - oder, wie sich Sedlacek ausdriickte: »eine 
Person« - ausfindig machen konnen, die man der Majestat statt der 
von ihr auserkorenen Dame hatte darreichen konnen. Es blieb Sedla- 
cek nur iibrig: die Mizzi Schinagl aus dem bekannten Hause der Jose- 
phine Matzner. 

Eilig hatte er sie den Armen eines alten Forsters entrissen und so, wie 
sie war, im knallroten Kleidchen, das bis zu den Strumpfbandern 
reichte, im Fiaker mitgenommen. Unterwegs hatte er Zeit genug, sie 
zu instruieren. »Du darfst den Mund nicht aufmachen« - sagte er. 
»Wenn er Dich fragt, wie Du heisst, so sag': Helene. StelP Dich pat- 
schert an. Du weist von nix, eine Dame bist Du, verstanden? Kannst 
Dich iiberhaupt noch erinnern, wie's mit dem Ersten war? Streng 5 Dei- 
nen dummen Schadel an und denk' nach! - Mach's jetzt gleich vor, 
aber natiirlich! Nur das Benehmen, mein' ich. Ich bin im Dienst, 
Also?« 

Sedlacek liess die Kleine im Fiaker, unter aufgeschlagenem Dach. Vor 
dem einsamen Wagen, der abseits stand, zehn Meter entfernt von den 
andern Fiakern, patroullierte ein Wachmann. Mizzi Schinagl fror. 
Man musste ihr eine Ballrobe beschaffen, blassblau, Seide, tief ausge- 
schnitten, ein Korsett, Perlen und ein Diadem. An alles dachte Sedla- 
cek. Seit einer Viertelstunde schon stoberten seine Leute, vier begabte 
Manner, im Garderoberaum des Burgtheaters herum. Der Nachtwach- 
ter leuchtete ihnen mit der Laterne. Vier nobel gekleidete Gespenster 
in Fracken, Stocke in der Hand, Zylinder auf den Kopfen, rumorten 
sie mitten zwischen dem nachtlichen, toten verschlafenen Wirrwar der 
theatralischen Requisiten. Alles, was seiden zu sein schien und blass- 
blauer Farbe war, rafften sie zusammen. Sie hatten die Hosentaschen 
voll falscher Perlen, funkelnder feuriger Diademe, kunstlicher Blumen, 
vergissmeinnichtblauer Strumpfbander, glitzernder Agraffen. Es ging 
alles sehr schnell, wie sonst nur sehr wenige Angelegenheiten im Staat 
und in den Landern zu gehn pflegten. Nur noch eine kurze Weile - 
und das gefallige Madchen Schinagl sah fur fremde und orientalische 



6}2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Augen beinahe so aus wie eine Dame. Sie wartete in der Garderobe des 
Hofbeamten zweiter Klasse, Anton Wessely, dessen Tochter Taittin- 
ger vor kurzem erst so briisk hatte verlassen miissen. 
Alles weitere vollzog sich unter Sedlaceks geradezu nobler Leitung 
und mit Hilfe des wendigen Adjutanten Kirilida Pajidzani. In einem 
geschlossenen Wagen, dem Sedlacek im Fiaker folgte brachte man die 
persische Majestat in das Haus der Frau Matzner. Wenn einer der 
Stammgaste in jener Stunde zufallig vorbeigekommen ware, hatte er 
denken miissen, das Haus, ja, die ganze Gasse seien verzaubert. Es 
schlief das Haus, und es schlief die Gasse, und ausgeloscht waren die 
Laternen, und ausgeloscht schien die Welt. Nur der teilnahmslose 
schmale Ausschnitt des Himmels uber den Dachern war wach, und 
seine silbernen Sterne glitzerten. 

Auch das Innere des Hauses Matzner war nicht wieder zu erkennen. 
Alle Pensionarinnen sassen eingesperrt in ihren Zimmern. Frau Matz- 
ner bewahrte die Schlussel. In ihrem aschgrauen, hoch- und festver- 
schlossenen Kleid, mitten in dem Zwielicht, das sie selbst so muhsam 
hergestellt hatte, dank allerhand Schleiern und Tuchern, damit das 
allzu gewohnliche Dekor nicht allzu deutlich zum Vorschein komme, 
erinnerte sie an ein nach langen Jahren, Jahrhunderten des Todes wie- 
der aufgescheuchtes Gespenst einer verschwiegenen Kammerzofe. Mit 
einer tiefen Verbeugung empfing sie das ankommende Paar, die Mizzi 
und die Majestat. Kein Laut war horbar, und nichts war deutlich sicht- 
bar. Seine Majestat, der Schah, musste glauben, dass er in eines jener 
verzauberten okzidentalen Schlosser geraten sei, von denen ihm seine 
wunschselige Phantasie seit Jahren schon in Teheran so viel verspro- 
chen hatte. Der Schah glaubte es in der Tat. Weitaus kindischer noch 
als etwa ein beliebiger europaischer Christ, der in jenen Jahren nach 
Persien kam, und der die Geheimnisse des sogenannten Orients ent- 
deckt zu haben glaubte, wenn es ihm nur gelungen war, eine der aller 
Welt offen stehenden Freudenstatten zu sehn, war Seine Majestat in 
dieser Nacht begeistert von den Geheimnissen des Abendlands, die er 
endgiiltig entschleiert zu haben glaubte. - Es ist also nicht so - sagte er 
sich - in seiner bezauberten Einfalt - dass hierzulande diese gross- 
artigen Frauen lediglich ihren Mannern gehoren! Zwar gibt es - so 
sagte er sich weiter - hierzulande keine Harems; aber um wie viel 
schoner, zauberischer, reizvoller - ist die Liebe ohne Harem! . . . Man 
kauft die Frau nicht — man bekommt sie sogar geschenkt! Wahrend 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 633 

sie, diese Abendlander, die Tugend predigen, die Monogamie, ent- 
schleiern sie ihre Weiber nicht nur — nein, sie verleihen sie 

auch!! 

In dieser Nacht war Seine Majestat, der Schah von Persien, uberzeugt, 
dass die Liebeskunst des Abendlandes weitaus raffinierter war als die 
seiner Heimat. In dieser Nacht genoss er alle jene Wonnen, die einem 
begierigen Mann die gewohnte, heimische Art der Liebe niemals ge- 
wahren kann, sondern die ungewohnte, ungewohnliche, fremdartige. 
Die Methoden, die Sedlacek, der Geheime, der Mizzi Schinagl angera- 
ten hatte, kamen dem Herrscher von Persien exotisch von Er war eben 
kein Europaer, er hatte einen Harem, gefiillt von dreihundertfiinfund- 
sechzig Frauen. So viele Nachte hat das Jahr. Hier aber im Hause der 
Josephine Matzner, besass er nur eine Einzige. 

Die ganze Nacht wartete der Sedlacek im Fiaker. Oh! Er war nicht 
einer von jenen unzuverlassigen schwachen Charakteren, die imstande 
waren, etwa einzuschlafen, bevor noch ihr Dienst vollendet war. Im 
Gegenteil, niemals noch war ihm der Schlaf so fern, niemals noch war 
sein Auge so wach gewesen! Es war das Gebot seiner Natur. Er hatte 
keinerlei Rekompensation zu erwarten; keine Auszeichnungen; und 
kein Avancement. Dunkle Dinge hatte er zu vollbringen, ewig im Ge- 
heimen sollten sie bleiben! Nicht auf irgend einen Lohn wartete er! 
Als der Schah am nachsten Morgen erwachte, fand er neben sich nie- 
mand mehr im Bett. Er sah sich erstaunt, beinahe erschrocken um. 
Vom dunkelgriinen Baldachin, unter dem er lag, hing an einer gefloch- 
tenen Schnur eine Quaste. Sie war sehr schabig - abgeniitzt. Er zog an 
ihr, in der vagen Hoffnung, sie wiirde wohl irgendwo ein Gerausch 
verursachen. Er hatte sich keineswegs getauscht; es war eine Klingel. 
Wie viele andere Manner vor dem Schah hatten sich ihrer schon be- 
dient! 



ZWEITES BUCH 



ACHTZEHNTES KAPITEL. 

Ein giitiger, blauer Morgenhimmel wolbte sich iiber der Stadt. Der 
Tau in den Garten verstromte einen frischen, munteren Duft, der sich 
mit dem warmen und herben der jungen, neugeborenen Brote und 
Semmeln in den Korben der Backerjungen vermischte. 
Es war ein Friihlingsmorgen von strahlender Lieblichkeit. Der arme 
Schah sah nichts davon. Er rollte, eher bewacht, als begleitet, von zwei 
aufmerksamen Herren seiner Suite, in einem geschlossenen Wagen 
durch die lachelnden Strassen. Er war schlechter Laune. Das Aben- 
teuer der letzten Nacht hinterliess in ihm zwar eine angenehme Erin- 
nerung, aber er hatte in seiner gesunden Einfalt an em feierlich-grosses 
Erlebnis gedacht; geradezu eine Veranderung seines Herzens; seiner 
Art, zu sehen, zu horen und zu fiihlen. Es war, die Wahrheit zu sagen: 
die erste Enttauschung seines Lebens. Er hatte sich eine Art grossarti- 
ger Feier vorgestellt, und es war nur ein kleines Fest gewesen. Was 
wusste er jetzt mehr von der europaischen Liebe als vorher? Er liebte 
die Stadt nicht mehr, wie noch gestern abend. Ueberhaupt erschien 
ihm der vergangene Abend wie ein glanzendes Blendwerk. Je langer 
die Fahrt dauerte, je strahlender der Tag heranreifte, desto starker ver- 
diisterte sich die Seele der Majestat und desto grosser wurde ihre Bit- 
terkeit. Er erinnerte sich an die weisen Worte seines Obereunuchen, 
der ihm gesagt hatte, dass die Lust und die Neugier nur Tauschung 
seien. Er hatte sehr viel Bitterkeit im Herzen und auch eine Art Sehn- 
sucht nach Reue. Es ist ihm ahnlich zumute, wie einem Knaben, der 
vor einer Stunde sein neuestes Spielzeug zerbrochen hat. 
Zu seinen Begleitern sprach er kein Wort. Wenn {iberhaupt irgend- 
etwas, so hatte er am liebsten sagen mogen, dass, zum Beispiel, die 
Welt, die vor einigen Stunden noch so reich gewesen war, jetzt plotz- 
lich leer geworden sei. Aber schickte sich das fur ihn, den Herrn und 
den Schah? 

Den Obereunuchen liess er - kaum war er angekommen - zu sich 
rufen. Wie es ihm hier gefalle, fragte der Schah, wahrend er gemachlich 
eine halbe Orange auslofflete. Es war ein warmer, heimischer, fast 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 635 

konnte man sagen: persischer Geruch im Zimmer, von dem starken 
Kaffee, den die Majestat eine Weile vorher getrunken hatte. Man 
kochte ihn auf einem kleinen, lieblichen, offenen Flammchen, in einer 
besonderen, tonernen Schale. Das Feuerchen brannte noch; es sah aus 
wie ein Opferfeuer. 

Der Obereunuch sagte, ihm gefalle es hier, wie iiberall, wenn er nur in 
der Nahe seines Herrn sein konne. Alter Lugner - dachte der Schah. 
Es tat ihm dennoch wohl, Schmeicheleien zu horen. Er sagte: »Ich 
hatte Lust, Dir zur Strafe fur Deine Liigen von nun ab das Leben zu 
verbittern.« - »Der Herr ist immer gnadig« - sagte der Eunuch - »auch 
seine Strafe verbittert mir das Leben nicht!« »Wie befinden sich meine 
Frauen?« - fragte der Schah. »Herr«, antwortete der Eunuch - »sie 
essen gut, sind gesund, schlafen bequem, in geraumigen und bequemen 
Betten. Nur eines macht sie ungliicklich: dass ihr Gebieter sie nicht 
besucht!« - »Ich will keine Frau mehr sehn, ein Jahr nicht mehr. Ich 
bin auch mit der Europaerin nicht gliicklich geworden. Du allein hast 
es vorausgesagt. Muss man verschnitten sein, um klug zu werden?« - 
»Herr« - erwiderte der Verschnittene - »Ich kenne auch torichte Eu- 
nuchen und weise normale Manner. « Es war eine Beleidigung, der 
Schah spiirte es wohl. »Was tatest Du, wenn Du enttauscht warest?« - 
fragte die Majestat. »Ich wiirde mich kranken und ich wiirde zahlen, 
Herr. Enttauschungen sind kostspielig.« 

»Gewiss, ja!« sagte die Majestat und liess sich die Wasserpfeife geben 
und blieb eine lange Weile still. 

Innerhalb dieser langen Weile hatte er sich schon entschlossen, wieder 
heimzureisen. Es passte ihm nicht mehr. Er fiihlte sich durch das 
Abendland gekrankt. Es hielt nicht, was er sich davon versprochen 
hatte. Diisterkeit breitete sich iiber sein weiches, gelbliches Gesicht, 
und es erschien, eine Sekunde lang, greisenhaft, trotz der jugendlich- 
glanzenden Schwarze des Barts. 

»Wenn Du nicht verschnitten warest, hatte ich vielleicht mit Dir tau- 
schen mogen« - sagte der Schah. Der Eunuch verneigte sich tief. »Du 
kannst gehen!« sagte der Herrscher; rief aber gleich darauf: »Nein, 
bleiben!« 

»Bleib!« wiederholte er noch einmal, als furchtete er, selbst sein Ver- 
schnittener konnte ihm entgleiten. Dieser allein und kein anderer aus 
der Suite des Schahs war fahig, die delikateste und zugleich prachtigste 
aller Auszeichnungen zu verleihen. Eunuchen sind ritterlich. 



6}6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

»Dir obliegt es« - sagte der Schah - »der Dame dieser Nacht ein 
Geschenk zu uberbringen. Achte darauf, dass es wiirdig sei unserer 
Majestat, aber auch Deines bewahrten Geschmacks. Achte darauf, 
dass keiner von unserer Begleitung Dich sieht. Das Haus und den 
Namen musst Du ausfindig rnachen. Ich will nichts mehr von der 
Sache wissen. Ich verlasse mich auf Dich!« 
»Mein Herr darf es!« sagte der Obereunuch. 

Er hatte schon delikatere und diffizilere Dinge in seinem Leben 
vollbracht. Seit seiner Ankunft lebte er in gutem Einvernehmen mit 
Dienern und Lakeien, und langst wusste er zwischen Geldsiichtigen 
und Bestechlichen, und Klugen und Brauchbaren und Dummen zu 
unterscheiden. Er konnte die Sprache des Landes nicht, aber alle 
Welt verstand seine Sprache: es war die Sprache des Goldes und die 
der Zeichen. Man verstand den Obereunuchen vortrefflich. 
Es war einfach, den Weg zu Mizzi Schinagl zu finden. Alle Leute 
vom Gesinde wussten, wo der Schah die Nacht zugebracht hatte. 
Schwieriger aber war es, ein Geschenk zu finden, das, wie dem 
Obereunuchen befohlen war, wiirdig sein sollte der Macht des 
Herrschers und seines eigenen Geschmacks. Er iiberlegte lange. Er 
kannte die Dame nicht. Nach seinen Vorstellungen musste sie einen 
hohen Rang haben. Er entschloss sich fur drei schwere Perlenketten. 
Ihr Wert schien ihm angemessen als Preis. In Begleitung des Hofla- 
keien Stephan Lackner fuhr er am nachsten Nachmittag vor das 
Haus der Matzner. 

Man war hier auf diesen Besuch nicht vorbereitet. Frau Matzner 
selbst war noch im Schlafrock und der Klavierspieler Pollak in lan- 
gen flauschigen Unterhosen und Pantoffeln. Der Obereunuch, im 
europaischen Anzug, dunkelblau und dermassen zuriickhaltend ge- 
kleidet, dass seine Diskretion schon beinabe aussah wie ein Versuch, 
sich zu verbergen, war keineswegs toricht genug, um nicht sofort zu 
erkennen, wo er sich befinde. Es bedurfte weder europaischer Er- 
fahrungen, noch auch eines ausgesprochenen Geschlechts, um das 
Gewerbe der Frau Matzner zu erkennen. Es tat ihm leid um die 
kostlichen Perlen in der silbernen Kassette. 

Man holte die Mizzi. Sie kam, noch unfrisiert, mit fluchtig aufge- 
stecktem Haar, das wie zerfranst aussah, das Gesicht stark gepudert 
und schon im fluchtig angezogenen roten Kleid. Ein paar Hafteln 
riickwarts standen offen. Das veranlasste sie, hart an der Tiir zu 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6}J 

stehn, durch die sie eingetreten war; wie ein Verurteilter stand sie da, 
der die erlosenden Schiisse erwartet. 

In dieser Haltung nahm sie den Orchideenstrauss entgegen, die sil- 
berne Kassette und den langen unverstandlichen Spruch des dicken 
dunkelblauen Herrn. Sie nickte, sie schluckte ein paar Mai. Nicht ein- 
mal die Matzner war da, deren Blick sie vielleicht ermuntert hatte. 
Frau Josephine wollte sich schnell umziehn. Als sie endlich eintrat, 
gewappnet und zu alien Abenteuern bereit, war die ganze Zeremonie 
leider schon beendet, der dunkelblaue Herr bereits im Riickzug begrif- 
fen. Er erkannte Josephine Matzner trotz ihrer Verwandlung sofort 
und er zog seine Borse und reichte sie mit einer leichten Verneigung 
der Hausfrau. Die Borse wog leicht. Kein Wunder: sie enthielt ledig- 
lich Goldmunzen. 

Als der Obereunuch am nachsten Tage seinem Herrn den Vollzug des 
Befehls meldete, fragte der Schah, ob die Dame etwas gesagt habe. 
»Herr,« erwiderte der Diener, »sie wird Euch nie vergessen. Dies war 
ersichtlich, obwohl ich ihre Sprache nicht verstanden habe«. 

NEUN2EHNTES KAPITEL. 

Viele Menschen dachten noch lange an den Schah, Gliickliche und Un- 

zufriedene. Denn er hatte seine Orden und Geschenke nach eigener 

Willkiir verteilt, ohne auf den Gesandten zu horen und ohne auf den 

Rang und die Wurde der Beschenkten und Ausgezeichneten zu achten. 

Der einzige wirklich Ungliickliche war der Rittmeister Taittinger. Er 

wurde namlich einen Tag nach der Abreise des hohen Gastes von der 

»besonderen Verwendung« dispensiert und zu seinem Regiment zu- 

riickbeordert. 

Die ganze fatale Geschichte versank in der Vergessenheit; das heisst: in 

den Geheimarchiven der Polizei. Es wird also niemals mehr zu erf ah - 

ren sein, warum der arme Taittinger so schnell in seine Garnison zu- 

riick musste. 

In der kleinen, schlesischen Garnison blieb dem Baron nichts anderes 

iibrig, als uber seine fatale Geschichte nachzudenken. Er hatte Einsicht 

genug: er kam sozusagen zu einer Art oberflachlicher Einkehr und 

fallte liber sich ein, seiner Meinung nach, ausserst hartes Urteil: er 

fand, dass er durchaus nicht mehr »charmant« war. 

Von nun ab begann er auch, zu trinken. Er dachte ein paar Mai daran, 



638 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

der Grafin W. zu schreiben und sie urn Verzeihung zu bitten, weil er 
sie dem Perser verraten hatte. Aber er zerriss den ersten, den zweiten, 
den dritten Brief. Hierauf trank er noch mehr. 

Sehr oft traumte er von jener Stunde, in der er die Stiege hinunterge- 
gangen und dem Spitzel mit dem geliifteten Zylinder begegnet war. 
Zugleich sah er sich auch die glatte steinerne Rampe hinuntergleiten. 
Die Frauen freuten ihn nicht mehr, der Dienst langweilte ihn, die Ka- 
meraden liebte er nicht, der Oberst war fad. Die Stadt war fad, das 
Leben war noch schlimmer, als fad. Es gab im Vokabular Taittingers 
dafiir keinen Ausdruck. 

Er glitt und sank, Er f unite sich auch gieiten und sinken. Er hatte gerne 
mit Jemanden dariiber gesprochen, mit Mizzi Schinagl zum Beispiel, 
von der er auch manchmal traumte. Aber es war ihm, als sei er zu 
stumm und zu stumpf, um das Richtige und Wahre sagen zu konnen. 
Er schwieg also. Und er trank. 

ZWANZIGSTES KAPITEL. 

Drei Wochen ungefahr dauerte der grosse Rausch Mizzi Schinagls. Be- 
rauscht war iibrigens auch das ganze Haus der Frau Josephine Matz- 
ner. Berauscht war ganz Sievering, als es vom alten Pfeifenhandler 
Schinagl erfuhr, dass seine Tochter zum Gefolge des Schahs von Per- 
sien nunmehr gehorte und nach Teheran zu fahren gedenke. Denn der- 
massen umgeformt kam die Kunde von dem morgenlandischen Aben- 
teuer der Mizzi nach Sievering. Der Zwischentrager und Geriichtetra- 
ger gab es viele. Die erste Nachricht brachte der Friseur Xandl. Zuerst 
glaubte man ihm nicht; er krankte sich dariiber so sehr, dass er die 
Mizzi anflehte, selber zu ihrem Vater zu gehn. Sie tat es endlich. Sie 
fuhr im Zweispanner vor. Als sie einstieg, setzte sich der Friseur Xandl 
an ihre Seite und er blieb auch langere Zeit auf seinem Platze. Aber als 
sie sich Sievering naherten, wechselte er den Platz: er setzte sich Mizzi 
gegeniiber auf den Riicksitz. 

Das Wiedersehen war herzlich, ja, herzerschiitternd. Die Hausmeiste- 
rin Werdlak war anwesend und Franz Naglstock, der Adressenschrei- 
ber vom ersten Stock. Alle Welt sah jetzt, dass der Friseur recht gehabt 
hatte. Der alte Schinagl weinte. Es waren kaum sechs Monate seit dem 
Tage vergangen, an dem er ganz Sievering versichert hatte, dass er seine 
Tochter verstossen habe und dass er entschlossen sei, sie nie mehr im 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 639 

Leben wiederzusehn. Aber was kann der Mensch gegen die Gewalt des 
Goldes? Man sah den alten Schinagl die verstossene Tochter umarmen. 
Die Hausmeisterin Werdlak schluchzte. Einige Nachbarn, so der 
Schornesteinfeger Tiirkl, der Maurermeister Geisbart, die Witwe 
Dangl und die Hebamme Gerdiner sammelten sich vor der Tun Der 
Zweispanner wartete vor dem Hause, mit dem stoischen und beruhi- 
genden Gleichmut, den wartende Fiaker haben. Nur von Zeit zu Zeit 
wieherten die Pferde und stampften mit den Hufen - gleichsam den 
Leuten zu Gefallen. 

Der Schornsteinfeger Tiirkl gab vor, zu wissen, dass Mizzi das Haupt 
der Kebsweiber in Teheran geworden seL Er wusste auch das Datum 
anzugeben, an dem sie wegfahren sollte, es war der zweite September 
dieses Jahres, Alles hatte er von seinem Freund in L. dem Hoflakeien 
Stephan Lackner. 

Als Mizzi Schinagl den Laden ihres Vaters verliess, bildeten die Leute 
draussen eine kleine Gasse. Die Schinagl war lieblich und riihrend an- 
zusehn, in ihrem dunkelgrauen Kostiim, mit ihrem grossen Hut aus 
blauem Tuch und dem hellgrauen Sonnenschirm in der Hand. Keine 
andere Herrscherin hatten die Leute aus Sievering dem befreundeten 
persischen Lande wunschen konnen. Sie lachelte, sie griisste, sie stieg 
ein, und ihr gegeniiber nahm wieder der Friseur Xandl auf dem Riick- 
sitz Platz. Die Peitsche des Kutschers knallte diskret und munter. Da- 
hin, dahin, in die Stadt zuriick rollte der Fiaker, und Mizzi winkte mit 
einem weissen Handschuh. Der alte Schinagl stand vor der Tur und 
weinte. 

Das war keineswegs die einzige erhebende Stunde im neuen Leben der 
Mizzi Schinagl. Es gab deren viele. Die Tage bestanden aus lauter erha- 
benen und erhebenden Stunden. 

Die Perlen lagen in der Bank Ephrussi, sie machten anscheinend keine 
Sorgen. Wenn aber das Gliick iiber ein armes, hilfloses Madchen mit 
einer Gewalt hereinbricht, mit der sonst nur Katastrophen zu kommen 
pflegen, wieviel muss so ein armer Mensch nachdenken! Man muss ein 
neues Leben einrichten. Man muss den kleinen Xandl in ein Internat 
geben, damit einmal ein rechter Mensch aus ihm werde - ein nobler 
Herr soil er werden! Wie kann man die Matzner entlohnen? Wie den 
Brautigam Xandl? Sollte man in Wien bleiben? Soil man nicht lieber in 
eine andere Stadt? Ins Ausland vielleicht? Von Monte Carlo horte 
man, las gelegentlich in der »Kronenzeitung«, von Ostende, von 



640 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Nizza, von Ischl, von Zoppot, von Baden-Baden, von Franzensbad, 
von Capri, von Meran! Ach, wie gross war die Welt! Die Schinagl 
wusste zwar nicht, wo alle diese Orte lagen, wohl aber wusste sie, dass 
es in ihrer Macht lag, sie alle zu erreichen. Ihr plotzlicher Reichtum 
regte alle anderen auf ; sie selbst aber erschiitterte er. Wirre Vorstellun- 
gen von Kurorten, Mobeln, Hausern, Schlossern, Lakeien, Pferden, 
Theatern, noblen Herren, Hunden, Gartenzaunen, Wettrennen, Lot- 
tonummern, Kleidern und Schneidern erfullten ihre Nachte, wenn sie 
wachte, und ihre Traume, wenn sie schlief. Die Kunden bediente sie 
langst nicht mehr. Josephine Matzner gab ihr Ratschlage, obwohl, sie 
selbst von dem allzu gewaltsamen Gliick betaubt war, das ihre Pensio- 
narin getroffen hatte. Immerhin hatte sie noch genug Vernunft behal- 
ten, um Mizzi die besten Ratschlage zu geben. 

»Heirate den Xandl« - so riet Frau Matzner - »er wird einen grossen 
Laden, einen Salon, in der innern Stadt eroffnen. Einen Teil steckst Du 
in die Pfaidlerei. Einen Teil in mein Unternehmen. Alles notariell, Dei- 
nen Sohn gibst Du zum Stift in Graz. Und wenn Dich der Xandl lang- 
weilt, nimmst Dir einen Liebhaber! Geld hast Du, wie Heu, wenn 
Du's richtig anstellst. Sonst gibst Du's aus, weg is es in zwei Jahren. 
Lass Dir raten, ich will Dir gut!« 

Mizzi Schinagl aber war keineswegs in der Lage, vermiftigem Rat zu 
folgen. Sie dachte manchmal an einen Mann, es war der unerreichbare 
Rittmeister Taittinger. Sie stellte sich gerne vor, dass er den Dienst 
quittieren konnte und sie heiraten, jetzt, wo sie so reich war. 
Der Juwelier Gwendl schatzte den Wert der Perlen auf ungefahr funf- 
zigtausend Gulden. Das Bankhaus Ephrussi hatte zehntausend darauf 
geliehen. Auch dieses Konto erschreckte und betaubte die arme Schi- 
nagl. . Tausend Gulden in Banknoten trug sie immer im Strumpf. Hun- 
dert Gulden hatte sie in zehn Goldstiicken im Taschchen. Hundert 
weitere Gulden in Silber verwahrte die Frau Matzner. 
Eines Tages schien es der Mizzi, dass sie Taittinger sehen musse. Die- 
ser Gedanke kam mit solcher Gewalt, dass sie einen Fiaker nahm, zu 
Griinberg am Graben fuhr und vier Kleider auf der Stelle kaufte. Drei 
Hess sie sich nach Hause schicken und jenes, das ihr am schonsten 
diinkte, zog sie an. Sie fuhr in die Herrengasse, in das wohlbekannte 
liebe Haus. Sie erfuhr, dass der Rittmeister zu seinem Regiment zu- 
riickversetzt worden war. Eine noch grossere Verwirrung erfullte sie. 
Es schien ihr, dass sie ohne den berauschenden und betaubenden 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 641 

Gliickssturm des Goldes den Geliebten ihres Herzens, den einzigen 
geliebten Mann behalten hatte. 

Nunmehr beschaftigte sie der Gedanke, dass sie in die Garnison Tait- 
tingers miisse. Sie sagte der Frau Matzner, dass sie fahren miisse. »Erst 
wirst Du ihm schreiben« - sagte die Matzner. »Man fallt nicht so mit 
der Tur ins Haus. Man wirft sich auch nicht einem so mir nix, dir nix, 
an den Hals, jetzt, wo Du mehr bist als er.« 

Mizzi Schinagl schrieb, dass sie reich geworden sei und dass sie Heim- 
weh nach Taittinger habe; und wann sie kommen konne. 
Der Baron Taittinger erhielt diesen Brief in der Regimentskanzlei. Die 
Schrift kam ihm bekannt vor; aber seit einigen Wochen empfand er 
just gegen die bekannten Schriftzuge einen Widerwillen. Er steckte den 
ungeoffneten Brief in die Tasche. Er beschloss, ihn am Abend zu lesen. 
Aber er kam erst gegen drei Uhr morgens ins Bett, geradeswegs aus 
dem Cafe Bielinger. Und er fand den Brief erst zwei Tage spater wie- 
der — und auch nur, weil ihm der Bursche die Taschen geleert hatte. 
Dem Baron schien es allzu fatal, Mizzi Schinagl wieder zu begegnen. 
Sie erinnerte ihn an seine leichtsinnige Missetat. Am liebsten hatte er 
die ganze Episode einfach aus seinem .Leben geloscht. Aber kann man 
Geschichten aus dem Leben wegradieren? 

Der Rittmeister Taittinger sagte also dem Rechnungsunteroffizier Ze- 
nower - es war einer der wenigen »Charmanten« im Regiment - er 
mochte sozusagen dienstlich dem Fraulein Mizzi Schinagl per Adresse 
Matzner mitteilen, dass der Herr Rittmeister aus Gesundheitsgriinden 
in Urlaub gegangen sei und erst in sechs Monaten wieder zum Regi- 
ment einrucken wiirde. 

Mizzi Schinagl weinte lange und ausfuhrlich, als sie diesen Brief er- 
hielt. Es schien ihr, dass ihr Leben endgiiltig ausgeloscht sei — und 
just in dem Augenblick, in dem es erst hatte anfangen sollen. Sie be- 
schloss, ihren Sohn zu holen und ihn vorlaufig auch zu behalten. Er 
war vielleicht ein Trost. 

Und sie zog nach Baden. Sie mietete ein Haus in der Schenkgasse fur 
zwei Jahre. Die Perlen kaufte der Juwelier Gwendl. Das Geld verwal- 
tete der No tar Sachs. Fimfhundert Gulden bekam der alte Schinagl, 
Funfhundert Gulden bekam die Frau Matzner. Funfhundert Gulden 
bekam der Friseur Xandl. Tausend Gulden erhielt der Schneider 
Griinberg am Graben. Alle Welt war zufrieden: ausgenommen die 
Mizzi Schinagl selbst. 



642 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Es erwies sich namlich nach einiger Zeit, dass der Kurort Baden keine 
gunstige Wirkung auf das Gemiit der Mizzi ausiiben konnte. Es gab 
viele Griinde dafiir. Vor allem gab es Trabrennen. Mizzi Schinagl 
konnte nicht zu Hause bleiben. Sie war niemals friiher bei irgend wel- 
chen Rennen gewesen. Jetzt schien es ihr, dass sie zu jedem gehen 
musse. Es war, als zwange sie irgendeine hollische Gewalt, das Schick - 
sal immer wieder herauszufordern, das Schicksal, das ein Mai einen so 
seligen Gliickssturm uber sie hatte wehen lassen. 
Ohne jede Kenntnis der mannlichen Natur, / wie sie es nach einem 
Aufenthalt in einem sogenannten offentlichen Hause sein musste, wo 
man ebenso wenig von der wirklichen Welt erfahrt wie in einem Pen- 
sionat fur junge Madchen /, beurteilte Mizzi die Manner, die ihr be- 
gegneten, nach den Masstaben, die fiir die Einstundengaste im Hause 
Matzner vielleicht gerade noch giiltig gewesen waren. Es konnte also 
nicht fehlen, dass sie Hochstapler und Taugenichtse fiir solide Herr- 
schaften aus guter Gesellschaft hielt. Sie war einsam. Sie hatte Heim- 
weh nach dem Haus der Frau Matzner. Sie schrieb jeden Tag Ansichts- 
karten, an ihren Vater, an Frau Matzner, an jede von deren achtzehn 
Pensionarinnen und an das Regiment Taittingers, mit dem Vermerk 
auf dem Umschlag: »Bitte bestimmt iibergeben, Danke, Schinagl«. 
Sie schrieb immer das Gleiche: sie lebe herrlich, sie geniesse endlich die 
Welt. Von Taittinger kam keine Antwort. Frau Matzner antwortete 
hie und da mit einer vernunftigen gewohnlichen Postkarte, mit Rat- 
schlagen und Mahnungen. Die Pensionarinnen des Hauses Matzner 
antworteten alle zusammen auf einem blauen, goldgeranderten Brief- 
bogen, der also anfing: »Wir freuen uns, dass es Dir gut geht, und 
denken oft an Dich.« - Folgten die Unterschriften: Rosa, Gretl, Vally, 
Vicky und alle andern, dem Alter nach und der Rolle gemass, die sie im 
Hause Matzner spielten. Jede dieser Korrespondenzen erwartete Mizzi 
mit Sehnsucht, las sie mit einer seltsamen Spannung: es war mehr eine 
Folter als eine Freude. 

Was die Manner betrifft, so kummerte sich Mizzi um sie nur deshalb, 
weil sie der festen Ueberzeugung war, das Leben sei ohne Manner 
ebensowenig moglich wie ohne Luft. Als sie noch arm und im Hause 
der Matzner und ratios gewesen war, hatte sie sich Geld zahlen lassen 
rmissen. Jetzt konnte sie umsonst lieben. Es tat ihr wohl, umsonst zu 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 643 

lieben. Manchmal gab sie den Herren Geld. Manche liehen sich sozu- 
sagen Geld fur »Unternehmungen«. Kein einziger von diesen Mannern 
gefiei ihr. Manner waren ihr tagliches, nachtliches Brot gewesen. Sie 
glich einem armen Wild, das sich selbst seine Jager sucht. . . 
Ihr Heimweh nach dem Sohn war einmal so gross gewesen - und jetzt 
schien es ihr vergeblich und verschwendet. Er gefiei ihr nicht, ihr 
Sohn. Er behinderte sie in der Hauptsache deshalb, weil sie ihn iiber- 
allhin mitnehmen zu miissen glaubte: in die Cafe's, zu den Rennen, in 
die Hotelhallen, zu den Theatervorstellungen, zu den Mannern, zu den 
Spazierfahrten. Mit seinen vielzugrossen, hervorquellenden, wasser- 
blauen Augen priifte der Kleine die neuen Welten, still, mit einer un- 
heimlich stummen Gehassigkeit. Niemals weinte er. Und Mizzi Schi- 
nagl, die sich erinnerte, dass sie selbst als Kind sehr oft geweint hatte, 
und der iibrigens ein wohltatiger Instinkt sagte, dass Kinder, die nicht 
weinen, bose Menschen werden, versuchte oft, ihn ohne Ursache zu 
schlagen, nur, damit er zu weinen beginne. Er Hess sich schlagen; er 
schien uberhaupt keinen Schmerz zu empfinden, der Kleine. Obwohl 
er noch sehr wenig sprechen konnte, war doch aus dem Wenigen, das 
er hervorbrachte, deutlich sichtbar, dass er nichts andres zu wiinschen 
entschlossen war, als was er im Augenblick notig zu haben glaubte: ein 
Stuck Papier, ein Ziindholz, ein Schnurchen, ein Spielzeug, einen 
Stein. 

Nach einigen Wochen gestand sich Mizzi, dass ihr Sohn ihr fremder 
war als jedes fremde Kind. Dies war die zweite Enttauschung ihres 
Lebens, seit dem erschrecklichen Gliicksfall; und schmerzlicher als 
jene Kunde von der Abkommandierung des Rittmeisters Taittinger. 
Auch sein Kind war gleichsam abkommandiert. 

Sie eilte, lang' noch, ehe die Saison zu Ende war, mit dem Kind nach 
Graz. Sie wollte es eigentlich los werden. Sie nahm sich vor, ihren 
Buben nach der Art unterzubringen, in der die Kinder aus der guten 
Gesellschaft untergebracht waren. Sie hatte mehrere Adressen. Sie ging 
aber keineswegs in alle Hauser, die man ihr angegeben hatte, sondern 
in das erste, das auf ihrem Blatt verzeichnet stand. Also kam ihr Bub, 
der Xandl Schinagl, in das Erziehungsheim fur minderjahrige Knaben / 
verbunden mit Gartenschule /, zum Gymnasialprofessor WeissnagL 
Und Mizzi Schinagl, einmal auf der Richtung nach dem Siiden begrif- 
fen, konnte sich weder in Graz aufhalten, noch auch nach Baden zu- 
riick. Sie war der Meinung, es sei zu schabig, in Graz zu bleiben, in der 



644 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Nahe ihres Sohnes, ohne ihn wieder zu sehn; und wiedersehn wollte 
sie ihn nicht; vorlaufig nicht. Nach Baden konnte sie auch nicht zu- 
riick: es erwartete sie dort namlich der Franz Lissauer, der sie schon so 
viel gekostet hatte. Gott allein wusste, warum sie mit ihm zusammen- 
gelebt hatte, die letzten drei Wochen! 

Es peinigte sie nicht nur, dass dieser Mann wartete, sondern auch, dass 
alle anderen Manner zu warten schienen. Alle warteten auf sie: nur 
nicht der Taittinger. Der wartete nicht! 

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Es fiel aber auch dem Lissauer nicht ein, auf Mizzis Heimkehr zu war- 
ten. Als er san, dass sie nicht zuruckgekehrt war, fuhr er nach Wien, 
ging zur Frau Matzner und liess sich die Adresse der Mizzi geben. Er 
sagte, er habe ihr eine wichtige Nachricht von Taittinger zu geben. 
Lissauer hatte keine festen Einnahmen, seitdem ihn die Paula verlassen 
hatte, die Freundin des Generaldirektors Auspkzer. Jetzt ging sie mit 
dem Burstin - und es blieb Lissauer nichts iibrig, als sich um die Schi- 
nagl zu kummern. Die Zufalle waren ihm freundlich. Sie standen auf 
seinen Wegen wie Meilensteine auf den Wegen der Wanderer, 
Er war entschlossen, die Schinagl nicht mehr zu verlassen, ja, ihr, so- 
weit es ging, zu folgen. Er fuhr also nach Meran. 
Mizzi Schinagl freute sich, als sie ihn auf der Promenade erblickte, in 
seinen strahlenden Pajacewitsch-Hosen, im blauen Jakett, mit den 
dunkelgelben weichen Knopfelschuhen, erweckte er ein zartliches Ge- 
fiihl in ihr und auch eine Art von Reue. Sie hatte Angst! Sie hatte Angst 
vor ihrem eigenen Reichtum, Angst vor dem neuen Leben, zu dem er 
sie verpflichtete, Angst vor der grossen Welt, in die sie sich besin- 
nungslos begeben hatte, und am meisten Angst vor den Mannern. Im 
Hause der Josephine Matzner war sie alien Mannern, bekannten, f rem- 
den, exotischen, heimischen, Herren und Piilchern iiberlegen gewesen. 
Dort war ihr Boden, dort war ihre Heimat. Sie besass weder die Fahig- 
keit, noch die Uebung, mit Mannern umzugehn, die nicht gekommen 
waren, um sie zu kaufen. Sie wusste wohl, ihre gierigen Blicke zu deu- 
ten, ihre Zeichen, sie erriet wohl ihre verhullten Reden und ihre kindi- 
schen Witze. Allein, sie war hilflos, heimatlos, sie schaukelte dahin, 
ohne Steuer, ohne Segel, ohne Ruder auf dem Meer der Welt, und 
Angst hatte sie, eine unnennbare, namenlose Angst. Nach etwas Be- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 645 

kanntem suchte sic, nach etwas halbwegs Vertrautem. Sie war geneigt, 

etwas Bekanntes als Wohlvertrautes zu begriissen. So begriisste sie 

Franz Lissauer. 

Er musste ahnen, was in ihrem Herzen vorging, dank dem sicheren 

Insdnkt, den gewisse Wesen in dem Augenblick aufbringen und sogar 

erzeugen, in dem ihnen eine Gefahr winkt, eine Nahrung, eine Lust 

oder eine Beute. Er griisste fluchtig mit seinem sonnenfarbenen Pana- 

mahut und sagte zerstreut: »Ach, Du bist auch hier?« 

»Ich bin so selig!« antwortete sie, — und sie umarmte ihn. 

In diesem Augenblick stand sein Plan fest. Es war die alte Geschichte 

mit den Briisseler Spitzen. 

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Um jene Zeit waren Briisseler Spitzen ebenso geschatzt wie Juwelen - 
und zuweilen heisser noch von den Freuen ersehnt. 
Es gab infolgedessen zahlreiche Nachahmungen der beruhmten Spit- 
zen. Mit den bestgelungenen handelte der Freund Lissauers, Xavier 
Ferrente, dessen Ware, obwohl er selbst aus Triest stammte, von einem 
andern, fremden und ziemlich entfernten Hafen anzukommen pflegte: 
namlich aus Antwerpen. Also waren sie »deklariert«, wie es in der 
Fachsprache hiess. In WirkKchkeit kamen sie aus der Pfaidlerei Schir- 
mer in der Wienzeile. Wenn Lissauer iiberhaupt arbeitete, so bestand 
diese Arbeit darin, dass er seinem Freund Ferrente Abnehmer und so- 
genannte grosse Abnehmer verschaffte, Zwischenhandler und unter 
den grosseren Zwischenhandlern noch welche kleineren. Dafur bekam 
er »Provisionen« von Fall zu Fall, aber niemals »Beteiligungen«. »Be- 
teiligen kannst Du Dich nur mit Kapital« - sagte Ferrente. »Ohne 
Geld keine Welt« - fiigte er hinzu. Es war eine gelaufige Weisheit der 
Tarockspieler vom Cafe Steidl. 

Jetzt, endlich, nachdem er so lange Jahre »fast umsonst fur Ferrente 
geschuftet hatte« - wie Lissauer manchmal sagte - erblickte er eine 
Moglichkeit, sich mit einem Kapital an den Spitzen zu beteiligen; mit 
dem Kapital der Schinagl. 

Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, begann Lissauer, Mizzi 
Schinagl offensichtlich zu vernachlassigen. Er machte Ausfliige mit 
einem gewissen Fraulein Korngold, schickte der Frau Glaeser Blumen, 
lustwandelte auf der Promenade mit der Brandl, hielt seine Verabre- 



646 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

dungen mit der Schinagl unpiinktlich oder iiberhaupt nicht ein und gab 
ihr zu verstehen, dass sie ihm gar nichts bedeute. Ja, hie und da sagte er 
sogar, dass er bald, aus bestimmten Griinden, abzureisen gedenke. 
Nachdem er dieses Betragen ein paar Tage lang fortgesetzt hatte, fuhr 
er nach Innsbruck und depeschierte der Schinagl: »In wichtigen Ver- 
handlungen verreist, erwarte mich morgen abends. « 
Am Abend des nachsten Tages kam er auch. Er war nicht nur freund- 
lich und gefallig, wie seit langem nicht mehr; er schien gar liebevoll. 
Zugleich aber zeigte er auch ein aufgeregtes Gehaben. Ein grosser 
Glucksfall, sagte er. Er sprach in atemloser Freudigkeit. Endlich sei er 
auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. »Wirst Du heiraten?« - Es 
war Mizzis erster Einfall. Wie sollte man sonst plotzlich ein reicher 
Mann werden? 

»Heiraten?« - sagte Lissauer - »ja, vielleicht!« Er tat, als ob er nach- 
dachte. 

Von Briisseler Spitzen wusste Mizzi Schinagl so viel, dass sie teuer 
waren - und gar nichts mehr. Sie ware kaum imstande gewesen, einen 
Musselinvorhang von einem Brautschleier zu unterscheiden. In ihrer 
eigenen Pfaidlerei war sie nicht ofter als fiinf Mai gewesen. Sie sah aber 
ein, dass eine Spitze, die man fur fiinf Gulden funfzig verkaufte und 
die man fur einen Gulden achtzig einkaufen konnte, eine angenehme 
Ware sein konnte. »Wir teilen« - sagte Lissauer. »Halbpart! Ge- 
macht?« »Gemacht« - sagte die Schinagl, und sie dachte gar nicht mehr 
an die Spitzen. Man begann, die grossen Lichter in der Hotelhalle aus- 
zuloschen. Eine unsagliche Traurigkeit stromte die weisse Pracht der 
Treppen und des Gelanders aus, die blutrote, plotzlich schwarzlich 
scheinende Pracht der Teppiche. Die riesigen Palmen in den riesigen 
Topfen schienen eben vom Friedhof gekommen zu sein. Auch ihre 
dunkelgriinen Blatter wurden schwarzlich und erinnerten an eine Art 
verstorbener und verwelkter Waffen aus uralten Zeiten. Das Gaslicht 
in den Kandelabern surrte grunlich und giftig, und der gross e, rotliche, 
in falsche Bronze eingerahmte Spiegel zeigte Mizzi Schinagl, sooft sie 
fluchtig und furchtsam hineinblickte, eine andere Mizzi Schinagl, eine, 
die sie selbst nicht kannte, niemals gesehn zu haben glaubte, eine Mizzi 
Schinagl, die es niemals gegeben hatte. 

Sie wurde sehr traurig. Durch ihre einfache Seele huschte fur ein paar 
Minuten ein hurtiger Abglanz jenes Lichts, das die Kliigeren und Ein- 
sichtigen so selig und so traurig macht: das Licht der Erkenntnis. Sie 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 647 

erkannte, wie trostlos und vergeblich alles war: nicht nur die Spitzen, 
nicht nur der Lissauer, nicht nur Ihr Vermogen, sondern auch ihr Sohn 
und der Taittinger, und ihre Sehnsucht nach Heim, Liebe, Mann, und 
die falsche Liebe ihres Vaters und Alles, Alles. . . Und aus ihrem eige- 
nen Herzen kam ein wiister Hauch, wie aus dem Eiskeller daheim, in 
Sievering, als sie noch ein kleines Madchen gewesen war und fest 
geglaubt hatte, dort unten warteten der Winter und alle die bosen 
Winde. 

In dieser Nacht ging Lissauer mit ihr ins Zimmer, denn er wusste frei- 
lich, dass er sich ihrer jetzt auf jede Weise versichern mlisse. Mizzi 
Schinagl spiirte es. Sie war miide; mud und gleichgultig. 
In der Nacht, wahrend sie wach lag, fasste sie den Entschluss, am 
nachtsten Tag zuriickzufahren. Zuriick? - Wohin? Das Haus der Jose- 
phine Matzner war noch eine Heimat gewesen. Das gab's nicht mehr. 
Sie erinnerte sich an den schweren Atem, den susslich parfumierten 
Bart, die braunlich-gelbe Haut, die weichen Hande, das unheimliche 
Augen -Weiss des Herrschers von Persien, des Urhebers ihres Glucks. 
Sie begann, sachte zu weinen. Es war ein bewahrtes Schlafmittel. - 
Als der Morgen graute, schlief sie ein. 



DRITTESBUCH 



VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Eine lange Zeit bemerkte niemand aus der Umgebung der Frau Jose- 
phine Matzner, dass sich zugleich mit ihrem Korper auch Ihr Wesen 
veranderte. Man sah nur, dass sie alterte. Sie selbst wusste es, obwohl 
sie selten in den Spiegel sah. Sie hatte gleichsam den Spiegel im Kopf, 
wie manche Menschen die Uhr im Kopf haben. Wenige Jahre vorher 
behagte ihr noch gelegentlich eines der tappischen und handgreiflichen 
Komplimente, das ihr der und jener ihrer Stammgaste zu machen 
pflegte. Es waren sinnlose Komplimente. Weder sollten sie irgendein 
Begehren des Gastes andeuten, noch auch erweckten sie irgendeinen 
Wunsch im Herzen der Frau Josephine Matzner. Sie hatten also 
eigentlich in alle Ewigkeit fortgesetzt werden konnen, ebenso wie be- 
stimmte konventionelle Brauche innerhalb der Gesellschaft unabhan- 
gig sind vom Alter derjenigen, die sie ausiiben. Aber siehe da, was 
geschah? - Auch diese symbolischen Komplimente, deren Gegenstand 
die Frau so lange Jahre gewesen war, wurden nunmehr immer seltener; 
und eines Abends horten sie ganz auf. Es war beinahe so, als ob sich 
die Herren verabredet hatten. Als der letzte Gast verschwunden war, 
die Madchen schon schlafen gingen und der Kapellmeister sich den 
Frack auszog, sah sie noch fur einen fliichtigen Augenblick in den 
Spiegel hinter der Kassa. Ja, alles war so, wie sie es bereits seit langem 
wusste: zwischen den grauen Haaren spielte noch ein hasslicher 
Schimmer der fruheren, aufreizenden, pikanten Rote. Zwei dicke Fal- 
ten sassen, gleichsam ohne Grund, liber der Nasenwurzel. Die Lippen 
waren trocken, rissig und blaulich. Die Augen unter stark gerunzelten 
Lidern waren wie zwei winzige ausgelaugte Teiche. Der Kopf ging 
unmittelbar in die Schultern iiber, als sasse er gar nicht auf dem Hals. 
Und auf den Briisten, unter dem dichten Puderstaub, lauerten gelb- 
lich-rotliche Flecke, Insekten nicht unahnlich. 

Seit dieser Nacht erfuhr Frau Matzner, dass das Leben vorbei war. Sie 
hatte sich niemals Illusionen vorgemacht. Sie war gesonnen, das Alter 
ebenso mutig anzupacken, wie sie einst ihre Jugend, ihren Beruf, ihre 
Manner, ihr Geschaft angepackt hatte. Jede Stunde ihres Lebens hatte 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 649 

sie sich genaue Rechenschaft uber sich abgelegt. Sie kannte sogar die 
Teufel, denen sie Zeit ihres Lebens ausgeliefert war und hatte sie fast 
alle bei Namen nennen konnen. Aber einen jener Teufel des Alters 
kannte sie nicht, der sich oft zu den einsamen Greisinnen schleicht, 
ihre Herzen verhartet und ihre modernden Sinne mit einer neuen Wol- 
lust erfiillt: die Geldgier. Sie fuhlte nicht, wie sie immer geiziger und 
geldgefrassiger wurde. 

Es ereignete sich freilich auch sonst etwas, was ihr selbst den Anschein 
eines berechtigten Geizes oder einer Sparsamkeit vortauschen durfte: 
das Haus »ging« nicht mehr. Wie oft wechseln die Moden in der Welt! 
Das Haus der Matzner kam aus der Mode. Zwei neue erstanden, eins 
in der Nahe der Wollzeile und ein anderes in der Vorderen Zollamts- 
strasse. Auch die Madchen, die der Frau Matzner treu blieben, wurden 
alt - iind die jungen wurden treulos. Wo waren die Zeiten dahin, wo 
Frau Matzner noch sagen konnte: »Meine Kinder sind alle Gold!« und 
wo diese goldenen Kinder sie mit den frohlichen Stimmen junger V6- 
gelchen »Tante Finchen« oder »Finerl« riefen? Jetzt sagte man »Frau 
Matzner«, und die Kinder erinnerten nicht mehr an Gold, eher nur 
noch an das Kupfer, das sie noch dem Hause eintrugen. 
»Es kommt nur noch Kreuzer'l-weis'!« - stohnte die Matzner. 
In der Nacht war sie wach. Wenn sie sich hinlegte, hatte sie das Ge- 
fuhl, dass sie sich wehrlos machte, weil die Aengste es gleichsam leich- 
ter hatten, sich von oben her liber sie zu stiirzen. Sie erhob sich also 
wieder und keuchte zum Lehnstuhl. Sie stohnte oft, in dem Glauben, 
dass es sie erleichtern konnte, aber sie sagte sich sofort: »Wie schlecht 
muss es mir gehn, wenn ich, die Josephine Matzner, schon zu stohnen 
anfange.« Sie nahm auch hie und da ein Schlafmittel, aber den Aeng- 
sten, der Furcht, der Bangnis konnte man keins eingeben! - Sie sah sich 
schon im Armenhaus am Alsergrund; im Greisenasyl in der Bacher- 
gasse; am Krippentisch der Barmherzigen Briider; als Aushilfe, die 
Fussboden scheuernd bei der Milchfrau Dworak; schliesslich vor der 
Polizei, vor dem Gericht und sogar im Kriminal. Denn es schien ihr 
klar, dass die Not allmahlich so gewaltig werden miisste, dass sie 
schliesslich gezwungen ware, zu stehlen. Und sie sah sich stehlen, und 
sie empfand schon die Angst des Diebes vor dem Ertapptwerden. 
Immer haufiger ging sie zu ihrem Bankier, Herrn Ephrussi. Sein Ver- 
mogen, seine kluge Ruhe, seine Redlichkeit, sein Ruf, sein Alter: Alies 
trostete sie. Er war ein stiller Greis, von einer berechnenden Guther- 



65O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

zigkeit, (der einzigen, die auf Erden kein Unheil anrichtet). Frau Jose- 
phine Matzner sass vor ihm in dem unbequemen Stuhl, in dem altmo- 
dischen Kontor, sehr tief, (der Bankier Ephrussi benutzte noch das 
hochgelegene Pult mit dem winzigen Sitzpolster, ohne Lehne, das an 
einer metallenen Schraube befestigt war). Halb sass er, halb stand er an 
seinem Pult. Er drehte sich Frau Josephine Matzner zuliebe herum. So 
tief er aber auch sein Polster herunterschrauben mochte, er blieb doch 
in einer betrachtlichen Hohe iiber dem Kopf der Besuchenn. Es war 
auch keine Rede davon, dass er ihr Gesicht hatte sehen konnen, denn 
ein grosser Hut bedeckte den Kopf, und lediglich an dem leisen Zittern 
der violetten Pleureusen konnte Ephrussi erkennen, ob Frau Matzner 
zustimmte oder ablehnte. »Sie haben ja« - wiederholte er bereits zum 
fiinfundzwanzigsten Male - »Albatros« fur fiinftausend, fur drekau- 
sendfiinfhundert Staatsloose, mit zehntausend sind Sie an der Pfaidle- 
rei beteiligt, mit zweitausend an der Backerei Schindler, Ihr eigenes 
Geschaft ist - ich weiss nicht, wieviel wert- Ihr Notar wird es wissen. 
Sie wissen es auch. Sie sind dreiundfunf zig Jahre alt« - Hier unterbrach 
Frau Matzner: »Zweiundfiinfzig, Herr Ephrussi!« - »Um so besser« - 
fuhr er fort - »also selbst, wenn Ihr Geschaft nicht geht und Sie wollen 
nicht nur Coupons schneiden, so arbeiten Sie noch gute acht Jahre in 
voller Blute, in der Pfaidlerei meinetwegen. Griinden Sie ein Modi- 
stengeschaft - kaufen Sie eins - Sie haben Geschmack -«. Immer 
brachte der Anblick der Pleureusen den Bankier Ephrussi auf die Mo- 
disten-Idee. 

»Ist das auch ganz sicher, Herr kaiserlicher Rat?« fragte Josephine 
Matzner. 

»Ich kann's Ihnen beweisen« - sagte Ephrussi und, wie gewohnlich, 
bewegte er das Tischglockchen, Wie gewohnlich kam der Buchhalter. 
Er offnete die Biicher. Stumpf blickte Josephine Matzner auf die 
blauen Zahlen, roten Streifen, griinen Striche: trostlich war all dies. Sie 
erhob sich, sie nickte, sie sagte: »Herr kaiserlicher Rat, Sie haben mir 
einen Stein vom Herzen genommen«; und sie ging endlich. 
Einmal fiel es ihr ein, dass sie in der Pfaidlerei der Mizzi Schinagl nach 
dem Rechten sehen miisse. Bevor sie noch in den vertrauten Laden 
trat, schien ihr irgendetwas auf den ersten Blick verandert. Unheil 
ahnte ihr. Sie sah zwei neue goldgerahmte Spiegel im Fenster und an 
der Glastiir eine grosse Tafel mit der Inschrift: »Echte Briisseler Spit- 
zes. Und ihr Herz stockte, als sie im Innern des Ladens den Herrn 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 651 

Lissauer erblickte. Sie kannte diese Art Gaste ihres Hauses; »Kunden« 
war die richtige Bezeichnung fiir diese Leute. »Wir haben uns lange 
nicht gesehen, Herr von Lissauer! « - sagte sie, »ja, alle Welt hat uns 
verlassen. Wir sind den Herren nicht modern genug. Es geht wohl viel 
solider bei mir zu als in der Vorderen Zollamtsstrasse, zum Beispiel.« 
»Wissen Sie, man wird alter und ernster!« - sagte Lissauer. »Und dann, 
Sie sehen ja! Ich arbeite hier fleissig!« 

Ja, sie sah es wohl. Mit einem der hurtigen und scharfen Riindblicke, 
derentwegen man sie in den friiheren Jahren so gefurchtet hatte - in 
ihrem eigenen Hause, in den Laden, in denen sie einzukaufen pflegte, 
in der ganzen Gegend und selbst im Bezirkskommissariat, wo sie alle 
Wachleute und alle Geheimen kannte, uberflog sic jetzt den ganzen 
Laden. War das iiberhaupt noch eine Pfaidlerei? Wo waren die kleinen 
niedlichen Schachtelchen mit den Knopfen und Knopfchen aller Art, 
Farbe, Form und Grosse? Wo die lieblichen und doch so soiiden Haf- 
teln und Hackchen? Wo die Prachtstucke der Pfaidlerei, die gross- 
artigen sogenannten Besatzstiicke? Wo all diese unwichtigen, gewicht- 
losen Dingerchen, die man eigentlich nur so mitfuhrte, eine Art neben- 
sachlicher Begleiterscheinungen der wirklichen, der ernsten Ware, 
ohne die aber keine einzige Schneiderin in der Umgebung auskommen 
konnte. Und was sollten diese Briisseler Spitzen? Wer in dieser Ge- 
gend, wer von dieser Kundschaft konnte Briisseler Spitzen kaufen? 
Ihr, der Frau Josephine Matzner, brauchte man nicht zu erklaren, was 
Briisseler Spitzen waren! Sie konnte sich nicht enthalten, Herrn Lis- 
sauer zu sagen: »Sie haben ja den Laden ganz schon ausgeraumt!«- 
»Ausgeraumt? Ausgeraumt? So nennen Sie's?« - rief der junge Mann. 
Und mit dem geschwatzigen Eifer, der ihm eigen war und der ihm 
schon recht viel unbegreifliche Erfolge eingetragen hatte, begann er, 
der Frau Matzner auseinanderzusetsen, welchen Aufschwung das Ge- 
schaft genommen hatte, und wieviel er schon an den Spitzen verdient 
habe und noch zu verdienen gedenke. Wie so mancher, dem eine Un- 
redlichkeit langere Zeit Gedeih und Verdienst eintragt, vergass auch 
Lissauer zuweilen die Vorsicht iiber der Eitelkeit. Obwohl er wusste, 
dass er nicht befugt gewesen war, den Anteil der Matzner in das Ge- 
schaft mit den Spitzen zu stecken, schien es ihm doch sicher, in seinem 
torichten Optimismus, dass die Matzner nicht nur mit ihm einverstan- 
den sei, sondern sich auch schon als seine Komplizin betrachtete. Er 
verdrangte die peinliche Erinnerung an die Tatsache, dass die Bucher 



652 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nicht in Ordnung waren und ferner, dass er selbst ein Drittel der Ein- 
nahmen verwendet hatte. Mizzi Schinagl verlangte nie eine Aufkla- 
rung. Weshalb sollte die Matzner eine verlangen? 
Frau Matzner konnte eine leichte Uebelkek nicht mehr ganz verber- 
gen, Sie lehnte sich an den Ladentisch und verlangte nach einem Glas 
Wasser und nach einem Sessel. Sie trank in kleinen Ziigen und lag halb 
ausgestreckt im Sessel, trotz dem Mieder, das ihren Korper morderisch 
umpanzerte. Sie erholte sich langsam. Sie zog die Hutnadel aus dem 
gewaltigen Strohdach, das sie bedeckte, und, indem sie die Waffe gegen 
Lissauer kehrte, sagte sie: »Lissauer, ich mochte die Biicher sehn. Ich 
werde mit meinem Notar sprechen.« 

Lissauer holte die Biicher herbei. Noch einmal sah die arme Matzner 
schwarze Ziffern, blaue Ziffern, griine Striche, rote Linien; aber dies- 
mal war sie nicht beruhigt. »Und wo ist das Kapital?« - fragte sie. 
»Und die Gewinne?« »Das Kapital arbeitet, Frau Matzner« - sagte 
Lissauer ganz leise. Er klappte die Biicher zu und sprach noch weiter. 
Sie horte nicht mehr Alles. Sie vernahm nur noch ein paar Worte wie: 
»Neue Zeiten, moderne Geschaftsmethoden, kein totes Kapital«, und 
dergleichen. Sie dachte mit Schrecken daran, dass ihre zehntausend 
Gulden verloren waren, 

Unverzuglich verabschiedete sie sich, ohne die ausgestreckte Hand 
Lissauers zu beachten. Sie ging zur Post. Es war hochste Gefahr. Die 
Hutnadel hielt sie immer noch in der Hand. Der Riesenhut wackelte. 
Sie iiberwand die Angst vor einer ausserordentlichen Geldausgabe. Sie 
depeschierte nach Baden an Mizzi Schinagl: »Sofort herkommen« tele- 
graphierte sie, iiberlegte eine Weile und steckte den Bleistift zwischen 
die Lippen. Mizzi Schinagl wiirde einfach nicht kommen. Was nutzte 
die teure Depesche? Schon war die Matzner zu einer einfachen Post- 
karte bereit, als ihr einer jener guten Liigengeister, die zo lange ihre 
Handlungen bestimmt hatten, eine niitzliche Idee eingab. »Taittinger 
erwartet Dich morgen«, depeschierte sie. 

Natiirlich kam Mizzi Schinagl in den ersten Morgenstunden. Nach 
sehr langer Zeit betrat sie wieder das Haus der Matzner. Alles war ihr 
fremd geworden. In ihrer Erinnerung hatte es sich nicht nur kostbar, 
sondern auch glanzend darges tellt. Nun war sie lange an glanzendere 
Raume und Hauser gewohnt. Das Haus der Matzner war armselig, 
sogar schabig, mit seinen erblindeten Spiegein, dem Salonkandelaber, 
von dem schon so viele Kristalle abgefallen waren, und der an einen 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 653 

teilweise entlaubten Baum erinnerte, den grossen grauen Motten- 
lochern im roten Pliisch des Divans, der abgesprungenen falschen 
Bronzeverschalung an dem Rahmen des Spiegels, dem ausgefransten 
Seidendeckchen iiber dem zerkratzten poherten Deckel des Fortepia- 
nos und den verstaubten Gardinen an den Fenstern. Aber was bedeu- 
ten Erinnerungen gegen die Erwartung? Bald sollte sie Taittinger sehn. 
Sie hatte im Taschchen das letzte Bild seines Sohnes, und die letzten, 
allerdings sehr kummerlichen Schulzeugnisse. Das sittliche Betragen 
war »nicht entsprechend« und der Fleiss »hinreichend«. Bis jetzt hatte 
der Sohn noch jede Klasse repetiert. Der Mizzi war der Junge gleich- 
gliltig. Weihnachten hatte sie ihn zuletzt besucht. An der Bahn ver- 
langte er zuerst eineri Kakao, und sie ging mit ihm in den Wartesaal. 
Den Kakao trank er mit Appetit, den Koffer offnete er sofort und 
nahm die obenauf liegenden Geschenke an sich. Dann schloss er den 
Koffer und rief: »Zahlen!« - So war ihr Sohn. Aber in der letzten 
Nacht hatte sie ein Dutzend Geschichten erfunden, die sie Taittinger 
erzahlen wollte: Xandl war ein guter Turner, ein goldenes Herz, ein 
begabter Sanger. Und emmal hatte er sogar ein Kind vor dem Ertrin- 
ken errettet. Dies war auch keine erfundene Geschichte. Xandl hatte in 
der Tat ein Kind aus dem Wasser gefischt; genau so, wie er Frosche, 
Fische und Eidechsen zu fangen gewohnt war. 

Ja, all dies wollte Mizzi Schinagl erzahlen. Es schien ihr, dass sie etwas 
lange wartete. Frau Matzner liess sie warten. Endlich kam sie, in voller 
Rustung, nicht wie sonst am Vormittag im Schlafrock, sondern ge- 
schniirt, gepudert, frisiert. Die Umarmung war fluchtig, der Kuss 
trocken und kalt. »Der Taittinger kommt nicht! « - sagte die Matzner 
sofort. »Dienstlich verhindert!« 

Mizzi Schinagl atmete schwer und setzte sich wieder. »Aber, Aber« - 
begann sie, schwieg eine Weile und fand endlich einen schwachen 
Trost: »Er wollte mich doch sehen?« »Ja« - sagte die Matzner. »Aber 
vorlaufig ist er eben dienstlich verhindert. Du kannst ihm ja schreiben! 
Hast ja seine Adresse.« 

Mizzi sass noch da, die Matzner stand vor ihr, drohend, einem Gen- 
darmen ahnlich. 

»Ich hab 5 Dir was Ernstes zu sagen« begann sie. »Du hast mich betro- 
gen, Du und Dein Lissauer. Ihr habt mich beraubt, Ihr habt mich be- 
gaunert. Alles fur meine Giite. Wie eine Mutter war ich zu Dir. Gold- 
kind nab' ich Dich genannt. Mein Geld habt Ihr verprasst. Du begleis- 



654 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

test mich auf der Stelle. Wir gehn zum Notar. Wen Dir, wenn Du 

weglaufst!« 

In Mizzi Schinagl war nichts mehr lebendig. Das Gehirn schien ihr tot 

und das Herz auch, und nur eines lebte in ihr: eine grosse Furcht ohne 

Nam en. Auch die Furcht gibt manchmal Erleuchtungen, und also fiel 

Mizzi Schinagl die Geschichte mit den Spitzen ein, und sie erinnerte 

sich an alle Papiere, die sie von Lissauer bekommen und unterschrie- 

ben hatte, ohne sie zu lesen, und es tauchte in ihrer Erinnerung auch 

ein langst gehorter, langst verschollener Satz auf, den Lissauer einmal 

geaussert hatte, in einer zartlichen Sekunde; und der Satz lautete: 

»Wenn man mich erwischt, spent man Dich auch ein!« Nun, es war so 

weit. 

Sie erhob sich, sie ging. Eine Verhaftete bereits schritt sie willenlos 

neben der unerbittlichen Matzner dahin. 

FUENFUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Neue Krafte strdmten der Frau Josephine Matzner in den folgenden 
Wochen zu. Diese Krafte machten sie zwar keineswegs junger, son- 
dern verstarkten, umgekehrt, die ausseren Zeichen ihres rapide heran- 
stiirmenden Alters. Sie selbst aber merkte es nicht und fiihlte sich 
leicht, gesund, vergniigt und verjungt. Es schien ihr, dass sie eine wich- 
tige Aufgabe zu erfullen habe, die Aufgabe namlich, ihr Geld zu retten 
oder, was ihr noch besser gefiel, obwohl es sie zugleich schmerzte, 
dieses verlorene Geld zu rachen. Ein grossartiger gehassiger Elan er- 
fiillte sie, warmte sie, heizte sie geradezu. Ein kochender Zorn trieb 
sie. Ihre Tage, ihre Nachte waren verandert, der alte, gutmiitig, harm- 
los und sinnlos schludrige Rhytmus ihres Lebens verwandelt. Sie 
schlief gut und traumlos einen gesunden Schlaf, sie erwachte neuge- 
starkt an jedem Morgen und zu allerhand Taten bereit. Sie offerbarte 
eine erstaunliche Fahigkeit, Gesetze zu begreifen, auszulegen, mit Ad- 
vokaten zu sprechen und sie genau zu verstehen. Sie hatte jetzt deren 
zwei, der Sicherheit halber: Den Hof- und Gerichtsadvokaten Doktor 
Egon Silberer und den nebensachlichen Doktor Gollitzer, der eine Art 
Winkeladvokat war und den sie eigentlich weniger des Prozesses selbst 
wegen brauchte, als zu lustvollem und zugleich lehrsamem Zeitver- 
treib. Denn der Hof- und Gerichtsadvokat Doktor Silberer hatte kaum 
eine halbe Stunde fur sie - drei Mai in der Woche - und der Gollitzer 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 655 

stand ihr taglich lange zur Verfiigung. Eigentlich hielt sie sich diesen 
Gollitzer aus Misstrauen gegen Silberer. Der Gollitzer war es, der sie 
aufklarte, wie man grosse und angesehene Advokaten zu behandeln 
habe. Er war es, der sie iiber das Privatleben der Richter aufklarte, iiber 
die Chancen, die das Gesetz bot und iiber die geheimen Tiicken, die es 
enthielt. In seiner diisteren Kanzlei, in der Wasagasse43, im dritten 
Stock, begann sie allmahlich sich zu einer Art juristischer Canaille her- 
anzubilden. Liiste erlebte sie da, wie sie keine je gekannt hatte. 
Der verbotenen und selbst verponten Liiste hatte sie bereits viele ken- 
nen gelernt, aber die wahre Wollust lernte sie jetzt erst kennen, in der 
Wasagasse, als sie erfuhr, dass eben jene Gesetze, die sie instinktiv Zeit 
Ihres Lebens gefurchtet hatte, ihr gefugig werden konnten wie ge- 
zahmte Hunde. Zeit ihres Lebens hatte sie in der falschen Vorstellung 
gelebt, dass Frauen ihresgleichen ausserhalb der Gesetze lebten, ausge- 
liefert auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen oder der iiblen Laune 
jedes beliebigen Polizeikommissars. Auf dem Grund ihrer Seele hatte 
immer schon das Heimweh nach einer legalen Existenz geschlummert. 
Lange Jahre schon hatte sie gehofft, einmal, wenn sie Geld haben 
wiirde, im wohltatigen biirgerlichen Schatten der Gesetze leben zu 
konnen; irgendwo weit weg von ihrem Hause, das sie giinstig, im giin- 
stigen Augenblick zu verkaufen gedacht hatte; zu leben als die »Pri- 
vate« Josephine Matzner, ohne Beruf, ohne Gefahr und mit sehr viel 
Geld ausgestattet. Aber jetzt war Gefahr, dass kein Geld bleiben 
wiirde. Kein Geld! Nach einem ganzen langen Leben jenseits der 
Gesetze! Welch ein entsetzlicher Zustand fur eine alternde Frau, die 
gehofft hatte, endlich, im Alter, in den geschiitzten Bezirk der Biirger- 
lichkeit eintreten zu konnen! - Nun, und trotzdem: die Gesetze spra- 
chen fur sie, beide Advokaten waren dessen sicher. Nicht mehr als eine 
abseitige oder ausgestossene Person verkehrte die Frau Josephine 
Matzner mit den Gesetzen: sondern als ihre Herrin und Nutzniesserin 
sozusagen. 

Ausser dem Winkeladvokaten Gollitzer stand ihr auch ihr alter 
Freund, der Geheime Sedlacek, zur Seite. Oh, sie verkehrte langst 
nicht mehr mit ihm so wie friiher; nicht mehr als eine vogelfreie Person 
gewissermassen, sondern als eine beinahe gleichberechtigte. Viele 
Stunden verbrachte sie mit Sedlacek in seinem Bureau auf dem Schot- 
tenring. Indessen liefen seine Leute herum, in der Stadt, im Reich. Eine 
grosse Geschichte: gefalschte Briisseler Spitzen; in Wien hergestellt, 



6$6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

von hier nach Triest geschickt; von dort nach Amsterdam; von dort 
nach Wien zuriick. Auch Sedlacek war alt geworden und miide. Seine 
»mondane« Beschaftigung behagte ihm nicht mehr. Seine drei Kinder - 
lauter Buben - wuchsen mit unheimlicher Schnelligkeit. Mit unheimli- 
cher Schnelligkeit alterte seine Frau. Mit unheimlicher Schnelligkeit 
alterte auch er selbst, er selbst. Er brauchte eine »fette Affar«, urn be- 
fordert zu werden und endlich still sitzen zu konnen, in der Polizeidi- 
rektion Graz, Insbruck, Linz, Briinn, Prag oder Olmiitz. Er war in 
Koslowitz geboren und, obwohl er so lange schon in Wien gelebt hatte 
und von Berufs wegen in die hochsten Spharen vorgestossen war, er- 
schien ihm jetzt, da er alterte, Olmiitz wieder als eine gliickliche, 
grosse, aber auch nicht allzugrosse Stadt: grad* so eine, wie er sie 
brauchte. Als Oberinspektor wollte er pensioniert werden. 
Es war eine Geschichte, durchaus geeignet, aufgebauscht zu werden, 
und das Schicksal selbst, so schien es dem Geheimen Sedlacek, hatte 
ihm von Anfang an diese Affare zugewiesen. Wie lange war es her! Der 
Schah von Persien (von dem auch Sedlacek einen Orden bekommen 
hatte, auf Vorschlag des Polizeiprasidenten, fur seine Verdienste, um 
die personliche Sicherheit des hohen Gastes) bereitete sich schon fur 
eine zweite Reise nach Wien vor, so sagten die Zeitungen. Der Polizei- 
reporter Lazik von der »Kronenzeitung«, ein intimer Freund Sedla- 
ceks, fand, dass es gerade jetzt angebracht und auch im Interesse des 
Polizisten angebracht sei, die Geschichte zu einer Art Skandalaffare 
ausarten zu lassen. Diese Geschichte enthielt alle Elemente, die zu 
einer Skandalaffare notwendig waren: das Milieu, die marchenhafte 
Herkunft des Vermdgens, die man allerdings nur andeutungsweise, 
aber immerhin reizvoll genug erklaren kohnte; die glanzenden paar 
Jahre der Mizzi Schinagl und nunmehr ihren Untergang; die abenteu- 
erliche Personlichkeit Lissauers; die Bedeutung der Briisseler Spitzen 
im allgemeinen; Enthtillungen iiber den seit langen Jahren von der 
Triestiner Firma betriebenen Schwindel; schliesslich die geniale Wach- 
samkeit der Wiener Polizei, beziehungsweise des Inspektors Sedlacek. 
Uebergenug Stoff fur den Polizeireporter Lazik! . . 
Es herrschte damals tiefer und ubermiitiger Frieden in der Welt. In den 
Zeitungen der Monarchic las man: Hof- und Personalnachrichten, Be- 
richte iiber die Vorbereitungen zum nachsten Fiakerball, Feuilletons 
iiber den Kahlenberg, iiber die Katakomben der Stefans-Kirche, iiber 
landliche Feste in Agram, Aus sich ten fur die Tabaksernte der braven 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 657 

Schwaben im Banat, Manoverberichte aus der Umgebung von Lem- 
berg, Schilderungen eines Kinderfestes im Prater unter dem Protekto- 
rat einer Kaiserlichen Hoheit, von Kegelvereinsfesten der Schlachter- 
meister, Tischler, Schuster; und was dergleichen mehr an friedlichen, 
heiteren, sinnlosen Ereignissen in der nahen Welt und in der weiten 
vorkommen mochte. Gerichts- und Kriminalaffaren von Bedeutung 
kamen in jener Zeit selten vor, und die Polizeireporter sassen in Grin- 
zing beim Schopfner haufiger als im Cafe am Schottenring, neben der 
Polizeidirektion. Die Geschichte von den Briisseler Spitzen, in bruch- 
stiickhaften Fortsetzungen jeden Tag mitgeteilt, aufgeputzt, aufge- 
frischt, in niedlichen Glossen kommentiert, wurde eine echte Sensa- 
tion. 

Der Prozess dauerte allerdings nur zwei Tage. Es war Anfang Septem- 
ber, der klare Sommer ging bniderlich in einen klaren Herbst iiber. Im 
Gerichtssaal herrschte noch eine bedeutende Hitze. Der Zuhorer gab 
es viele. Aus der Untersuchungshaft wurde nur einer der Angeklagten 
vorgefiihrt: Franz Lissauer. Sein Tries tiner Auftraggeber war spurlos 
verschwunden. Auf freiem Fuss belassen hatte man Fraulein Mizzi 
Schinagl. Sie kam, begleitet von ihrem Anwalt. Die beriihmte Firma 
Seidmann, die seit vielen Jahren mit echten Briisseler Spitzen handelte 
und sich geschadigt fiihlte, erhob Anspruch auf Schadenersatz. Auch 
diese Firma, ebenso wie die Frau Matzner, vertrat der Hof- und Ge- 
richtsadvokat Doktor Silberer. Es bestand alle Aussicht, dass Mizzi 
Schinagl den Rest ihres Vermogens verlieren wiirde. Der Verteidiger 
Lissauers bemuhte sich, nachzuweisen, dass die Schinagl dank ihrer 
weiblichen Damonie ihren leichtsinnigen Geliebten verfiihrt hatte. 
Dunkel war ihre Vergangenheit. Durch einen marchenhaft - orientali- 
schen Gliicksfall zu einer reichen Frau geworden, hatte sie innerhalb 
weniger Jahre in verbrecherischer Verschwendung den grossten Teil 
ihres Vermogens verbraucht, ihr Kind - ein uneheliches natiirlich - fast 
verkommen lassen, nur ein Mai jahrlich fliichtig besucht, und schliess- 
lich, wie es ja nicht anders moglich ist, einen verliebten Mann zu einem 
Werkzeug degradiert und zum Verbrechen verfiihrt. 
Mizzi Schinagl begriff sehr wenig von den Vorgangen und Reden im 
Gerichtssaal. Zuweilen kam ihr alles sogar harmlos vor, harmloser 
noch, als dereinst in der Schule. Sie erinnerte sich, so ahnlich war es 
auch einst in der Klasse gewesen, in der Volksschule. Man stand auf, 
wenn man gefragt wurde, und man wusste nicht auf alle Fragen zu 



658 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

antworten, nur auf einige. Bei besonders schwierigen fliichtete man in 
sich selbst hinein. Ein Knauel steckte im Hals, Tranen kamen in die 
Augen, man musste sich schneuzen, die Augenlider taten weh vom 
scharfen Salz der Tranen. Alles wiederholte sich hier. Sie weinte, 
schwieg oft, sagte aus Verlegenhek und Verzweiflung »Ja!«, wenn der 
Staatsanwalt sie hereinlegen wollte, und »Nein!« wenn ihr Verteidiger 
sie retten wollte. Sie wunderte sich nur iiber die grausame Unerbitt- 
lichkeit der Manner, dieses ratselhaften mannlichen Geschlechts iiber- 
haupt, das sie ja eigentlich langst zu kennen glaubte, wenn iiberhaupt 
Erfahrungen Kenntnis verleihen. Aber diese Manner trugen ja auch 
Roben und sie sahen auch seltsam aus, wie Kaplane manchmal und 
auch wie feierliche Zwitter. Ganz anders gekleidet waren sie einst in 
den Salon der Matzner gekommen. 

Der Verteidiger Lissauers fragte seinen Klienten: »Wie oft hat die 
Mizzi Schinagl grossere Summen angefordert?« »Mindestens jede Wo- 
che ein Mal!« sagte er prompt, »Und warum mussten sie es herschaf- 
fen?« Lissauer schwieg und senkte den Kopf. »Haben Sie keine falsche 
Scham!« rief der Anwalt. »Die Schinagl hatte sich Ihnen sonst verwei- 
gert!« Lissauer seufzte. »Es ist nicht wahr!« schrie Mizzi Schinagl 
schrill. Aber die Verzweiflung hat keine angenehme Stimme. Sie klingt 
wie die Stimme der Verlogenheit. 

Es war der wichtigste Tag im Leben der Frau Josephine Matzner. Auf 
die Frage nach Stand und Beruf antwortete sie: ledig und Kassierin. 
»Eingetragen als Besitzerin eines Freudenhauses auf der Wieden« - 
verbesserte der Vorsitzende. Undank hatte sie erlebt, lauter Undank - 
sagte Frau Matzner. Alle Madchen hatte sie immer gut behandelt. Sie 
begann, zu weinen. Sie verlangte vom hohen Gerichtshof nichts mehr 
als ihr Geld. Sie bat um Milde. Ihre Pleureusen, violett und heute von 
einem lila Papagei am Hutrand festgehalten, schwankten dennoch wie 
in einem starken Sturm. Rechts und links starrten zwei scharfe Hut- 
nadelspitzen, blitzten bedrohlich. Wuchtig und geschwollen hing das 
Retikul aus blassblauer Seide am linken Arm. Diamanten funkelten an 
den Ohrlappchen. 

»Sie konnen gehn!« - sagte der Vorsitzende. Er hatte sie mitten im Satz 
unterbrochen. Sie war noch betaubt vom Widerhall ihrer eigenen 
Worte. Sie verstand nicht sofort. »Es ist genug! Sie konnen gehen!« 
wiederholte der President. Sie begriff endlich, verneigte sich tief, erhob 
sich wieder und rief: »Ich bitte um Gnade!« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 659 

Ohne sich umzusehen, ging sie hinaus. 

Inspektor Sedlacek wurde diskret darauf hingewiesen, dass er dienst- 

lich verpflichtet sei, iiber den Ursprung des Schinaglschen Geldes zu 

schweigen. Er berichtete - und sein Herz erwarmte sich dabei ein we- 

nig - dass er beruflich die Angeklagte seit langem zu beobachten ge- 

zwungen sei. Er traue ihr nur Leichtsinn zu, kein bewusstes Verbre- 

chen. 

Die Anspriiche auf Schaden-Ersatz beliefen sich, alles in allem, auf 

rund vierundzwanzigtausend Gulden. Mizzi Schinagls Anwalt er- 

klarte, dass seine Klientin mit den fiinfzehntausend, iiber die sie noch 

verfiigte, gutstehe. Er rettete ihr auf diese Weise fiinftausend, von de- 

nen sie nach Abzug seines Honorars noch leben konnte. 

Sie wurde dennoch verurteilt. Lissauer bekam drei Jahre Zuchthaus die 

Schinagl sechs Monate Gefangnis. 

Sie weinte nur. Sechs Monate, ein Jahr, zehn Jahre oder lebenslanglich: 

das war ihr in diesem Augenblick gleichgiiltig. 

Ihr Verteidiger versprach ihr, alles zu tun, damit sie fruher frei werde. 

»Ich will ja gar nicht!« - sagte sie. 

Sie weinte nicht mehr, auf der ganzen langen Fahrt vom Landesgericht 

bis zur Strafanstalt. Es roch nach feuchter schmutziger Wasche und 

nach Spulwasser und Suppenresten im Korridor. Man zog sie aus, in 

einem kleinen Zimmer, stellte sie auf eine Waage und unter ein Zenti- 

metermass. Die barmherzige Schwester brachte ihr den blauen Kittel. 

Sie zog sich an. Sie sah gleichgiiltig, wie eine andere Nonne das schone, 

dunkelblaue englische Strassenkostiim, die hohen Knopfelschuhe mit 

den Lackspitzen und das rosa Retikul in eine Pappschachtel packte 

und daran eine Blechmarke hangte. Sie musste sich hinsetzen, mit dem 

Riicken zur Tun Sie horte die Tiir aufgehen, sie wagte sich nicht um- 

zusehn. Etwas Metallenes, Klapperndes, Klirrendes kam von hinten an 

sie heran, kaltes Eisen und eine warme Hand ruhrten gleichzeitig en 

ihren Kopf. 

Sie stiess einen grellen Schrei aus. Die Nonne nahm ihre beiden Hande. 

Ringsum fieien ihre aschblonden jungen Haare in Biischeln und Flok- 

ken nieder. Es wurde kiihl an der Kopfhaut. Kamme und Nadeln 

raumte die Schwester auf. 

Man brachte ihr eine blaue Haube, die musste sie anziehn. Sie sah sich 

nach einem Spiegel um. Nirgends ein Spiegel. Dies verwunderte sie. 

Man hiess sie aufstehn. Sie erhob sich. Am Arm der Schwester hing sie, 



660 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ihre Sandalen klapperten auf dem Stein des Kprridors. Schliissel klirr- 

ten. Graues Licht sickerte aus seltenen, hoch angebrachten Lucken, 

man horte irgendwo in der Welt einen Vogel zwitschern. 

Die Zelle 23 war leer, obwohl zwei Betten dastanden. »Wahlen Sie, 

Kind!« - sagte die Schwester, sie hatte keinen andern Trost zu bieten 

als die Freiheit der Wahl zwischen der rechten und der linken Pritsche. 

Mizzi Schinagl fiel auf die linke hin. Sie schlief sofort ein. 

Eine Stunde spater weckte sie jemand. Es war der weibliche Haftling 

Magdalene Kreutzer, ehemals Seilakrobatin, derzeit Karussellbesitze- 

rin im Prater, wie Mizzi Schinagl bald erfahren sollte. 

SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Auch zwei Tage noch nach dem Prozess hatte die Frau Matzner reich- 
lich Gelegenheit, sich an ihrem plotzlichem Ruhm zu delektieren. 
Noch war sie halb betaubt von den Tagen, die sie im Gerichtssaal des 
Landesgerichts verbracht hatte, von dem Verhor, von ihrer Aussage 
und von ihrem grossartigen und grossherzigen Apell an die Gnade der 
Richter, und schon begann sie, in allerhahd verworrenen, aber trostli- 
chen Vorstellungen von ihrer eigenen Zukunft zu schwelgen. Nur 
knappe zwei Tage nach der Beendigung des Prozesses durfte die Frau 
Matzner in diesem seligen Reich des Rausches und der Traume verwei- 
len, gerade so lange, wie die Zeitungen Lust hatten, der Sensation 
Nachrufe zu widmen, in immer kleineren Artikelchen allerdings. Frau 
Matzner scheute keine Kosten, sie kaufte alle Blatter, Aber auch Nach- 
barn und Bekannte brachten ihr Ausschnitte. Am dritten Tage aber 
erstarb, wie durch einen bosen Zauber, die Rede von den Briisseler 
Spitzen und, soviel Zeitungen die Frau Matzner auch an diesem Tage 
kaufte, nirgends fand sich auch nur ein Wort, das auch nur von feme 
an den Prozess hatte erinnern konnen. Es war der Frau Matzner, als 
ware sie in eine entsetzlich starre Stille eingetreten, wie sie auf Friedho- 
fen in der Nacht herrschen mochte und in den Katakomben. Nein! 
nicht einfach eingetreten war sie in diese makabre Stille, hineingestos- 
sen hatte man sie. Sie erlitt die grausamen und bitteren Gefiihle aller 
Verlassenen und Verratenen, das verbliiffte Staunen zuerst, die ver- 
standnislose Verwunderung, die trugerische Hoffnung, dass man sel- 
ber nur traume, die schmerzliche Erkenntnis, dass man dennoch wa- 
che, die Verbitterung, die Ohnmacht und schliesslich die Rachsucht. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 66l 

Sie versteckte die schnoden Zeitungen, in denen nichts enthalten war, 
damit sie keines ihrer Madchen in die Hand bekame. Sie ging hinunter, 
in die Gasse, blieb eine Weile noch vor dem Haustor stehn, um sich 
ihre Haltung wiederzugeben, die sie in all den Wochen getragen hatte, 
denn es schien ihr, dass sie gebrochen und verkiimmert aussehe. Vor 
allem sollte man es ihr nicht ansehn. Sie ging in verschiedene Laden 
einkaufen, obwohl sie gar nichts notig hatte. Aber es trieb sie, die 
Leute zu sehen und zu erforschen, ob auch sie schon etwas von der 
todlichen und gehassigen Stille ausstromten, die in den Zeitungen wal- 
tete. Sie brauchte weder Brezeln - langst war ihr Appetit erloschen, 
und sie glaubte, sie wiirde niemals mehr im Leben einen Bissen notig 
haben. Sie brauchte die Hafteln nicht - sie dachte nicht daran, alte 
Kleider auszubessern. Sie brauchte keinen Schuhknopfer, kein neues 
Miederband, keinen Steckkamm und keine Haselnusse. Aber sie kaufte 
alle diese Sachen ein, sie errichtete geradezu Barrikaden aus Paketen in 
Zeitungspapier rings um sich, aus diesem gesinnungslosen, verrateri- 
schen Zeitungspapier. Ihr Blick fiel auf das Skarnizl, in dem die Niisse 
eingepackt waren: da stand es fett gedruckt: der Prozess um die Briis- 
seler Spitzen. Drei Tage war es her - und schon packte man Haselnusse 
in jene Blatter! Nicht auszudenken, welches andere Schicksal noch die- 
sen Blattern vorbehalten war! In gleichformige Rechtecke geschnitten 
hingen sie biindelweise an Nageln in den Toiletten der Schenken und 
der Cafe's. 

Frau Matzner bemuhte sich noch, mit den Handlern in ihrem gewohn- 
ten herablassenden Hochmut zu sprechen. Allein es schien ihr, dass sie 
nicht den grossartigen Eindruck mehr machte wie bisher. Eine gewisse 
Familiaritat in der Ausdrucksweise aller Leute war nicht zu verkennen. 
Dank ihrer geiibten und gepflegten Empfindlichkeit gab sie sich Re- 
chenschaft dariiber; und schon begann sie, zu furchten, sie sei sogar 
noch weniger geworden, als sie vorher gewesen war, vor dem Prozess. 
»Nun, Sie haben ja alles erreicht«, 'sagte Ephrussi zu ihr. »Alles er- 
reicht« sagte der Mann! Er dachte offenbar nur an das Geld . . . 
Ein paar Wochen spater beschloss sie, zu resignieren. Das Haus war 
nicht mehr aufrecht zu erhalten, Sie kaufte den Sekt nicht mehr beim 
Hoflieferanten Weinberger, sondern bei Baumann in Mariahilf. Wozu 
auch? Wie sparlich waren jetzt noch die alten guten Kunden. Und 
selbst diese erschienen ihr verwandelt, geradezu verkiimmert. Sie wa- 
ren nur noch vergilbte und verblasste Abbilder ihrer selbst. Die Gaste 



662 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

waren erbleicht, die Korper und Gesichter der altlichen Madchen ver- 
fielen zusehends, der Frack des Klavierspielers wurde griinlich, die Ta- 
peten schalten sich langsam von den Wanden, das Sopha seufzte, wenn 
man sich nur hinsetzte, auf dem Spiegel hauften sich die blinden 
Flecke, und sogar die Putzfrau Clementine Wastl hatte schon die 
Gicht. Es war nichts mehr zu machen. Frau Matzner unterwarf sich 
dem grausamen Gebot der Zeit. Sie verkaufte das Haus. Es wurde eine 
billige Filiale des mondanen Hauses in der Zollamtsstrasse. 
Der Abschied machte sie nicht einmal wehmutig. In einer Abend- 
stunde, im herbstlichen Halbdunkel, innerhalb der knappen Zeit- 
spanne, die zwischen dem Erloschen des Tages und dem Aufleuchten 
der Laternen lag, rollte sie im Fiaker davon. Sie sah sich nicht mehr 
um. Die Madchen gehorten ihr nicht mehr. Sie unterstanden bereits 
der Zollamtsstrasse. 

SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Es schien zuerst der Frau Matzner, dass sie bereits mit dem Leben 
abgeschlossen habe, aber sie tauschte sich und sie fuhlte selbst, dass sie 
sich getauscht hatte. Denn anstatt, wie es ihre Absicht gewesen war, 
sich in den Schutz der weltfremden Stille zuriickzuziehen, irgendwo- 
hin, in eine Provinz, wo kein Mensch sie kannte, beschloss sie plotz- 
lich, in Wien zu bleiben und zwar mitten in Wien, in der innern Stadt. 
Auf eine naturliche Weise vermengten sich in ihr Geiz und Geldsucht 
mit der Furcht, sie ware, abgesondert von der Welt, dem Tod und dem 
Alter noch schneller ausgeliefert und jener: sie konnte die Heimstatte 
ihres Kapitals verlieren. Es schien ihr, dass sie einen Verrat an ihrem 
Geld beginge, wenn sie es verliesse; es wiirde verwaist bleiben, ein 
hilf loses Kind. Nein, sie wollte nicht weg! Sie mietete sich, im Gegen- 
teil, im Herzen der Stadt ein, in der Jasomirgottstrasse. 
Sie war ein wenig heimatlos, in der ersten Tagen und, obwohl sie die 
innere Stadt seit ihrer Jugend sehr wohl kannte, kam es ihr zuweilen 
vor, sie sei gar nicht in Wien. Die Laden waren anders, die Schilder 
anders. Selbst die Tiere, die Pferde, die Hunde, die Katzen und die 
Vogel unterschieden sich von den Tieren der Wieden. Es war, als 
konnte es einer Amsel aus dem ersten Bezirk gar niemals einf alien, ihre 
Nahrung im vierten zu suchen. Auch hatte sie ein wenig Angst vor 
ihren zwei Zimmern, die ihr viel zu geraumig und viel zu kostspielig 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 66} 

eingerichtet erschienen. Kein einziger Gegenstand in dieser Wohnung 
kam ihr nahe und vertraut genug vor. Beim Anblick eines jeden Mo- 
belstiicks musste sie daran denken, dass sie fur alles die sogenannte 
»Abniitzungsgebiihr« zahlte, und obwohl die Hohe dieser Gebiihr 
von vornherein ausgemacht war, iiberfiel sie immer von neuem die 
Angst, die Mobelstiicke niitzten sich bei jeder Beriihrung nicht nur viel 
zu weinig ab, sondern die Gebiihr stiege auch noch, dank einer uner- 
klarlichen Tiicke des Mietvertrags. Urn sich in der fremden Umgebung 
ein bisschen heimischer zu fuhlen, holte sie sich funfhundert Gulden in 
bar vom Bankhaus Ephrussi ab, die Halfte in Gold, die Halfte in Bank- 
notes So wusste sie wenigstens, dass etwas Gutes sie erwartete, wenn 
sie am Abend nach langen und nutzlosen Wanderungen durch die 
Strassen, nach schlafrigen Stunden, die sie im Stadtpark oder im Rat- 
hauspark auf einer Bank verbracht hatte, nach Hause zuruckkehrte. 
Eine Majorswitwe, die zu ihrem Schwiegersohn nach Graz iibersiedelt 
war, hatte ihr die Wohnung vermietet. Frau Matzner erbte etwas von 
dem sozialen Ansehn, das die Besitzerin der Wohnung bei dem Haus- 
meister und bei den Parteien und deren Dienstboten genossen hatte. 
Sie war zwar laut Meldezettel eine »Ledige« - aber auch eine »Private«. 
Wohlhabend sah sie aus. Niemand kannte sie. Sie hatte freundliche 
Manieren, ein halbes Dutzend guter Kleider und drei Hutschachteln 
und eine brave Leibwasche aus gutem Leinen. Die Hausmeisterin hielt 
die Zimmer in Ordnung. Sie suchte manchmal in den Schubladen nach 
Briefen oder Papieren. Nicht einmal eine Photographie fand sich, auch 
kein Sparkassenbuch. Man gab schliesslich das Suchen auf und be- 
schloss, die neue Mieterin fiir eine alleinstehende, vermogende, dis- 
krete Person zu halten, iiber die man schon eines Tages etwas Naheres 
erfahren wiirde. 

In dem alten Koffer, den sie von ihren Eltern geerbt hatte, einem soli- 
den eisenbeschlagenen Koffer auf Radern, bewahrte Frau Matzner das 
Geld auf, die Banknoten in einer Brieftasche, die Goldstiicke in einem 
silbernen Netzbeutel. Wenn sic heimkam, zog sie den Schliissel aus 
dem Retikiil, offnete das Vorhangeschloss, schob die eiserne Stange 
aus den Oesen und klappte den schweren Kofferdeckel auf. Sie offnete 
die Brieftasche, dann den Silberbeutel, atmete auf, gramte sich dann, 
dass es zu wenig sei, iiberlegte hierauf, dass es ja eigentlich nur ein 
geringer Bruchteil ihres Vermogens sei und atmete wieder erleichtert. 
Sie legte den Hut ab, klappte den Koffer zu, verschloss ihn und ging 



664 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

hinunter zur Hausmeisterin, die ihr jeden Abend das Kleid aufzu- 
knopfeln pflegte. Dann, die seidene Pelerine umgehangt, ging sie wie- 
der in den ersten Stock. Es fiel ihr regelmassig noch auf der Treppe ein, 
dass sie eigentlich viel zu leichtsinnig war, wenn sie das ganze Geld in 
der Bank liegen liess. Man hatte mehr nach Hause nehmen konnen. Sie 
beschloss, morgen wieder bei Ephrussi vorzusprechen. Aber dazu be- 
durfte es eines aussergewohnlichen Mutes. Regelmassig kehrte sie wie- 
der um und bestellte durch die Hausmeisterin ein Kriigl Lager, Okoci- 
mer oder Pilsner — zum Einschlafen, wie sie sagte; in Wirklichkeit, 
um sich heute schon Mut fur morgen anzutrinken. 
Am nachtsten Vormittag sass sie im Kontor Ephrussi. Aber sie hatte 
keinen Mut mehr. Die sanfte kluge Stimme Ephrussis, der hoch liber 
ihr auf seinem Drehstuhl hockte, fiel sachte auf ihren grossen Hut. Sie 
hatte auch gar kein Misstrauen mehr. Und gar keine Angst mehr um 
ihr Geld. »Wenn Sie hundertundzwanzig alt werden, Frau Matzner« - 
pflegte Ephrussi zu sagen - »werden Sie auch nicht verhungern und 
noch eine anstandige feine Leich' haben, mit vier Rappen und Be- 
spann, wenn Sie wollen, und vererben konnen Sie auch noch was!« 
»Dank' schon! Denk fur die Auskunft!« - sagte dann Frau Matzner. 
»EmpfehP mich, Herr kaiserlicher Rat!« - Sie naherte sich seinem 
Drehstuhl und reichte ihm aus der Tiefe die Hand hinauf. Sie ging - 
wenn es warm war, in den Stadtpark zum Rondell und setzte sich ne- 
ben das Barometerhauschen. An solch trostlichen Tagen begab sie zich 
spater in die Schwemme des Gasthauses Kriegl in der Wipplinger- 
strasse. 

Der Herbst dieses Jahres blieb lange warm, glitig und silbern. Im Re- 
staurant des Volksgartens spielte am Nachmittag die Regimentskapelle 
der Hoch- und Deutschmeister. Die Kapelle begann um fiinf Uhr 
punktlich zu »konzertieren«. Aber wenn man eine Viertelstunde fru- 
her kam und den Kaffee mit Schlag bestellte, bezahlte man nicht den 
Aufschlag von fiinf Kreuzern, sondern nur dreissig Kreuzer und fiinf - 
zehn fur ein Stuck Guglhupf. Es war ertraglich, wenn auch eine Art 
Verschwendung. Aber diese Militarkapelle vermittelte der Frau Matz- 
ner dafur auch eine unbezahlbare Wollust: die Wollust der Wehmut. 
Es waren gleichsam die dichterischen Stunden im Leben der Frau Jose- 
phine Matzner, das heisst: jene, in denen sie die schrecklichen und 
giitigen Schauer der Traurigkeit fiahlte, einen wohltatigen Schmerz, 
eine trostliche und zugleich schauderhafte Gewissheit, dass alles vorbei 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 665 

sei. Sie konnte alle Bitternis geniessen. Sie konnte in aller Bitternis 
schwelgen. Die Musik spielte langst vergessene Melodien, Polkas, Ma- 
zurkas, aus der Zeit, in der Josephine Matzner noch ein Backfisch, 
noch ein junges Madchen gewesen war, noch gehofft hatte, die Frau 
des Stationsvorstands Anger zu werden. Sie liebte ihn nicht mehr, seit 
langem nicht mehr, wie sollte sie auch! Aber ihre Jugend liebte sie und 
selbst noch die Art, in der sie diese ihre Jugend vergeudet hatte. Alle 
anderen Madchen, die sie spater bei der Jenny Lakatos in Budapest, bei 
der »Arbeit«, kennen gelernt hatte, waren irgendwo untergegangen. 
Auch an alle diese Madchen dachte sie mit Wehmut. Sie allein war 
imstande gewesen, sich eine »Existenz« zu schaffen. Sie »war wer« und 
sie »konnte was«. Und jetzt? - Ach, die Musik der Hoch- und 
Deutschmeister weckte siisse und zarte Vergangenheiten, machte das 
Alter milde, die Bitternis lieblich, vergoldete den Kummer, und wenn 
sie zu Ende war und die uniformierten Musikanten Pulte, Noten, In- 
strumente zusammenpackten, blieb immer noch die Musik, die sie ge- 
spielt hatten, eine lange, lange Weile in der Luft, als hatten sie die 
Melodien in den Wolken gelassen, und die Baume im Volksgarten, mit 
welken, goldenen Blattern schon, rauschten im Einvernehmen mit den 
innern Stimmen der Frau Matzner, in briiderlicher, trostlicher Ratio - 
sigkeit: Und jetzt? Und jetzt? 

Eines spaten Nachmittags, als sich Frau Matzner dem Genuss des Kaf- 
fees, des Guglhupfs und der Musik auslieferte, horte sie plotzlich eine 
Stimme: »Griiss' Gott, Tante Fini!« - Die naselnde hochmiitige 
Stimme eines Herrn aus guter Gesellschaft, stellte sie fest, mitten in 
ihrer Vertraumtheit. Sie sah auf, Ja, es war ein Herr, ein wohlbekann- 
tes Gesicht, sie konnte sich zuerst nicht erinnern, wem es gehorte. Sie 
erhob sich jah, die Erinnerung riss sie hoch, sie erhob sich so, als ware 
sie noch in ihrem Salon oder an der Kassa gesessen. Ja, ja, das war er: es 
war der Baron Taittinger - allerdings in Zivil. Sein griines Jagerhiit- 
chen hatte er nicht abgenommen. Er lachelte nur. Die Zahne blinkten 
noch wie ehemals. Aber just an diesem unveranderten Blinken er- 
kannte Frau Matzner, dass sich etwas verandert hatte; eine Sekunde 
spater wusste sie es auch: der Schnurrbart des Rittmeisters war fast 
grau geworden; meliert konnte man sagen. . , 

Die Frau Matzner blieb stehn, aus altem Respekt vor dem Rittmeister, 
aber auch aus einer Art Ehrfurcht vor dem verwandelten Schnurrbart. 
Der Baron sah sich schnell um und, da er in der naheren Umgebung 



666 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

kein bekanntes Gesicht sah, sagte er: »Ist's erlaubt, Frau Matzner?« 

und setzte sich. Er nahm das griine Hiitchen ab, und jetzt sah Frau 

Matzner, dass der Kopf des Barons noch grauer war als der Schnurr- 

bart - beinahe weiss, Sie setzte sich noch immer nicht, jetzt mehr aus 

Verbliiffung als aus Respekt. Gingen die Jahre so schnell? Oder gingen 

die Jahre des Einen schneller als die des Anderen? Oder war der Baron 

krank oder ungliicklich? »Nehmen's doch Platz!« - sagte er, und sie 

setzte sich, steif und behutsam, auf den Stuhlrand und stiitzte sich mit 

den Ellenbogen am kleinen Tisch. Dies erschien ihr damenhaft und 

den Umstanden angemessen. 

»Nun, ist's immer noch lustig bei Ihnen?« begann der Rittmeister. 

»Bei mir? Das Haus ist verkauft, Herr Baron, ich bin nicht mehr die 

alte Tante Fini, ich bin auch die »Frau Matzner« nicht! Ich bin wieder 

das Fraulein Matzner, wie vor zwanzig Jahren! Ich wohne in der Jaso- 

mirgottstrasse und bin eine Ledige und Private, und kein Hahn kraht 

nach mir, Ach, Herr Baron, die alten Zeiten! Was? Und jetzt die Ein- 

samkeit!« 

Sie machte eine Pause und seufzte. 

»Reden 's nur! Reden's nur!« - sagte der Rittmeister munter, als er- 

warte er nach dieser Einleitung lauter heitere Geschichten. 

Frau Matzner erzahlte in exakter Reihenfolge. Sie erstattete beinahe 

einen militarischen Bericht. Als sie die Geschichte von den Spitzen 

erzahlte, stockte sie ein paar Mai. »Mizzi Schinagl, Herr Baron wissen 

ja — « sagte sie und schwieg wieder eine Weile. 

Ja, ja! Der Name Mizzi Schinagl erweckte allerhand iinbehagliche Ge- 

fxihle im Rittmeister. 

»Ich nab' noch das hohe Gericht um Gnade gebeten« - erzahlte die 

Matzner weiter. Sie erwartete ein wenig Bewunderung, ein wenig An- 

erkennung nur, ein kleines, armes Wort, einen zustimmenden Blick. 

Aber der Rittmeister hatte offenbar diesen wichtigen Satz uberhort. Er 

starrte plotzlich hinauf in die vergilbten Baumkronen. Als hatte er es 

mit einem Blick herabgeholt, wirbelte jetzt leicht und langsam ein brei- 

tes Kastanienblatt aus durrem Gold nieder und blieb auf dem breiten 

Hutrand der Matzner liegen. Er betrachtete das gelbe Blatt auf dem 

violetten Samt. Warum kam ihm jetzt Kagran in den Sinn? Warum 

plotzlich Kagran? 

»Jetzt sitzt sie!« - sagte die Matzner und seufzte wieder. 

Ja, er erinnerte sich. Es war ein paar Wochen her, da hatte er in der 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 667 

Kanzlei einen Zettel unterschreiben mussen. Es war ein rekomman- 
dierter Brief, eine wohlbekannte Schrift, und ein roter Stempel auf dem 
Couvert sagte »Gelesen, passiert!« - Dieser Stempel roch nach einer 
»langweiligen Geschichte«, viel intensiver noch, als die Schrift. Es war 
ein blaugriines hasslich billiges Couvert, es erinnerte an Armut und 
Gesetz zugleich. Der Rittmeister hatte unterschrieben, zerstreut den 
Brief geoffnet und nur einen Blick auf den Aufdruck am Kopfrand des 
Blattes geworfen. »Weibliche Strafanstalt, Kagran« - stand darauf. Er 
war weiter nicht neugierig. Er war nie im Leben besonders neugierig 
gewesen. Solch ein Brief, mit solch einer lacherlichen, erbarmlichen 
und vor allem langweiligen Aufschrift gehorte zu den unerklarlichen 
Erscheinungen, die den Baron Taittinger von Zeit zu Zeit verfolgten, 
wie zum Beispiel die Briefe seines Oekonomen Brandl, die Rechnun- 
gen des Oberkellners Reitmayer, irgendwelche uberflussigen Mittei- 
lungen des Biirgermeisters aus Oberndorf, wo sich sein Gut befand. Es 
waren beinahe okkulte Erscheinungen. Sie hatten nichts mit der Liebe 
zu tun, nichts mit der Wiener Gesellschaft, nichts mit dem Dienst, 
nichts mit den Pferden. All dies war gar nicht mehr langweilig: es war 
schon ennuyeux«! der hochste Grad von Langweile. 
»Reden's nur, reden's nur!« - sagte er, fest entschlossen, nicht mehr 
zuzuhoren. Er hatte sich nach langen Wochen wieder einmal aufge- 
rafft, nach Wien zu fahren. Wieder einmal, wie so oft seit der fatalen 
Affare mit dem Schah und seiner briisken Riickversetzung zum Regi- 
ment, hatte ihn das starke, gefahrliche und ratselhafte Weh gepackt, fur 
das er keinen Namen wusste. Es war eine ungewohnliche Mischung 
aus Schmerz, Scham, Sehnsucht, Liebe und Verlorenheit. In solchen 
Momenten bekam der Rittmeister eine deutliche Vorstellung von sei- 
ner Leichtfertigkeit, und die Reue nagte an ihm; fast fuhlte er korper- 
lich ihre scharfen Zahne. Vergeblich fragte er sich, warum er Dies ge- 
tan im Leben, Jenes unterlassen oder versaumt hatte. Sinnlos erschien 
im Alles, was er seit seiner Ausmusterung erlebt hatte. Er versuchte, 
seine Erinnerungen gewaltsam in die Kadettenschule, zur Mutter, zum 
Vater zuriickzulenken, aber sie gehorchten ihm nicht, rannten vor- 
warts und stockten immer vor der Grafin W., dem Schah, dem char- 
manten Kirilida Pajidzani und dem grauslichen Sedlacek mit dem Zy- 
linder, stockten zuerst und kreisten hierauf um diese vier Menschen. 
Diese schmahliche Geschichte war langst begraben, kein Mensch 
kannte sie, der Oberst nicht und nicht die Kameraden. Aber was 



668 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nutzte es Taittinger selbst? Es gab eine Episode in seinem Leben, von 
der er zu keinem Menschen jemals sprechen durfte. Sie kreiste im Blut, 
wie irgendein Fremdkorper, kam von Zeit zu Zeit in die Gegend des 
Herzens, driickte es, stach es, bohrte darin. In solchen Stunden gab es 
nur drei Auswege: entweder man floh nach Wien, an die Statte des 
Glanzes und den Geburtsort der Schande; oder man betrank sich; 
oder - oder: man erschoss sich. Krieg ware ein Ausweg gewesen. Weit 
und breit aber herrschte ein satter, behabiger, ubermiitiger Frieden in 
der Welt... 

Ja, jetzt wusste er's: nun hatte ihm also die Mizzi aus dem Gefangnis 
geschrieben - ihm - aus dem Gefangnis - es war ahnlich, wie damals 
der familiare Gruss des ekelhaften Geheimen Sedlacek. Es konnte sich 
jeden Moment eine solche Peinlichkeit wiederholen. Und wie sie ver- 
hiiten? So wenig der arme Taittinger auch von den Gesetzen der zivi- 
len Welt verstehn mochte, so viel wusste er doch, dass es einem Gefan- 
genen erlaubt war, Briefe in die freie Welt hinauszusenden. Der 
Gefangnisdirektor las sie. Er hatte auch den letzten Brief der Schinagl 
gelesen. Taittinger betrachtete immer noch das heruntergewirbelte 
goldgelbe Blatt auf dem violetten Hutrand der Matzner. Ach, er neigte 
keineswegs zu poetischen Empfindungen. Jetzt, in dieser Sekunde 
aber, begann er, irgendeine merkwurdige, lacherliche Zartlichkeit fur 
das armselige Blattchen zu empfinden. Es kiindete den Herbst, gewiss! 
Wie oft hatte er schon welke Blatter den Herbst kiinden gesehn! Die- 
ses Blatt aber, dieses besondere, kiindigte ihm, speziell ihm, dem Tait- 
tinger, seinen speziellen Herbst. Ihn frostelte. 

Er horte plotzlich Sabelklirren, bekam Angst, dass ihn bekannte Ka- 
meraden am Tisch der Matzner sehen konnten, zog die Uhr und sagte 
unvermittelt, mitten in das von Seufzern begleitete unermiidliche Re- 
den dre Matzner hinein: »Ich muss gehn. Wir treffen uns morgen um 
diese Zeit — aber wo?« Er liberlegte eine Weile - wo war man still und 
ungesehen? - Ja, ja, er erinnerte sich und sagte: »Bei Griitzner! 1st 
Ihnen recht, Frau Matzner?« - »Ganz wie Herr Baron belieben« - 
antwortete sie. Er rief: Zahlen! und setzte das Hiitchen auf. Er zahlte 
auch fur die Matzner, und sie beobachtete mit kummervollem Entset- 
zen, dass der Kellner die fiinf Kreuzer Aufschlag berechnete, wo sie 
doch eine Viertelstunde vor der Musik gekommen war! 
Taittinger reichte ihr lassig vier Fingerspitzen. Sie erhob sich mit einer 
Verbeugung: da fiel das Blatt vom Hut auf den Tisch. 
Dann verschwand der Baron im Dunkel des Volksgartens. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 669 

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Zum ersten Mai in seinem Leben sollte der Baron Taittinger erfahren, 
was es hiess: »Schritte unternehmen«. Beim Militar unternahm man 
keine Schritte. Alles war geregelt. Es gab keine Komplikationen und, 
wenn es welche gab, so waren sie die Folgen gewisser Vorschriften und 
Bestimmungen, welche die Macht hatten, die Verwicklungen, die sie 
schufen, auch gleichzeitig zu losen. Im zivilistischen Leben aber hatte 
man sehr oft »Schritte zu unternehmen«. Man musste sich von Zeit zu 
Zeit irgendetwas richten, denn die Gesetze hatten anscheinend nicht 
die Aufgabe, das Leben der Menschen zu regeln, sondern, im Gegen- 
teil, es in Unordnung zu bringen. Derlei Ueberlegungen liessen den 
Rittmeister in dieser Nacht nicht schlafen. Er erwachte fruh, der 
Herbstmorgen dammerte eben heran. Gestern noch hatte er an den 
Polizeiarzt Doktor Stiasny gedacht, der in Taittingers Dragonerregi- 
ment als Reserve-Oberarzt jedes Jahr zu den Uebungen einriickte. Es 
ware Taittinger ganz unmoglich gewesen, etwa den ihm von feme be- 
kannten Oberkommissar Baron Handl aufzusuchen, aus dem einfa- 
chen Grunde, weil er diesen namlich noch menials in Uniform gesehen 
hatte, Mit Doktor Stiasny war man immerhin schon im Kasino geses- 
sen, beim Domino. 

Unbehagen bereitete dem arm en Taittinger die Polizeidirektion. Er 
war in Zivil, und es konnte nicht fehlen, dass ihn die zwei Wachleute 
vor dem Eingang respektlos musterten, dass ihn die Spitzel, von denen 
es in den Korridoren wimmelte, mit fluchtigen, aber sehr eindringli- 
chen Blicken verfolgten. Jeden Augenblick hatte er Sedlacek, den Ge- 
heimen treffen konnen. Es war »penibel« und »langweilig«. Auf einer 
braunen Bank, mit irgendwelchen Personen, die er als »Bittsteller« 
klassifizierte, musste er eine qualvolle Viertelstunde warten. Herr 
Doktor lasst bitten! - sagte endlich der Beamte. 

»Ah, Baron!« sagte der Polizeiarzt und stand auf. Er war rund, wohl- 
beleibt, auf kurzen Beinen kam er dem Rittmeister eilig entgegen. Tait- 
tinger hatte ihn sich anders vorgestellt. Es fiel ihm ziemlich schwer, ihn 
wieder so zu sehen, wie er sich ihn ertraumt hatte. Im Zivil trug der 
Doktor Stiasny einen Zwicker an einem schwarzen Bandchen - und 
das irritierte den Rittmeister. »Servus, Doktor! « - sagte er mit einer 
gequalten Stimme. Der Doktor war eben im Spital gewesen, er roch 
nach Jod und Chloroform, wie eine Apotheke. In seiner oberen 



67O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Westentasche schimmerte die scharfe Quecksilberspitze des Fieber- 
thermometers. Verwirrt setzte sich Taittingen Der Doktor fragte 
nach dem Befinden der Regimentskameraden. Der Rittmeister sagte 
immer wieder »Dank' schon, glanzend!« - Und: »Was ein Doktor 
doch fur ein Gedachtnis hatU Ihm selbst entfielen die meisten Na- 
men, sobald er nur den Bahnhof der Garnison betrat, urn wegzufah- 
ren. 

Es war eine wahre Marter, so lange zu warten, bevor er mit seinem 
Anliegen herausriicken konnte. Und wie sollte man anfangen? »Da 
is so ein Madel, Doktor, weisst, so ein Sundenfall, und die is jetzt 
bei Euch« - so fing er an, und der Doktor Stiasny glaubte schon, es 
handelte sich um eine der sogenannten »geheimen Krankheiten«, 
oder gar um eine verbotene »Hebammen-Sache« - wie er zu sagen 
pflegte. Es bedurfte erst eines ausfiihrlichen Verhors, bevor der 
Doktor Stiasny den Sachverhalt aus den abrupten Satzen Taittingers 
zusammenflicken konnte. Es war ihm, als miisste er kurze Faden- 
stiickchen aneinanderkniipfen. Als er endlich begriff, wunderte er 
sich zwar ein wenig, war aber doch erleichtert und bereit, noch an 
diesem Vormittag mit dem Rittmeister nach Kagran hinauszufahren. 
»Nein, lieber Doktor, sofort bitte!« - sagte Taittinger. Er ware nicht 
imstande gewesen, eine halbe Stunde langer zu warten. Auf einmal, 
da er knapp vor diesem langweiligen Kagran stand, schien er alle 
Schrecken schon im Voraus zu spiiren, mit denen es ihn erwartete. 
Er! In ein Gefangnis! Es war schauerlich! Der Doktor Stiasny sagte 
es so leicht vor sich hin! Freilich, nicht jeder Mensch war Polizei- 
arzt und ging jeden Tag in Gefangnisse. Man musste die ganze An- 
gelegenheit schnell hinter sich bringen. 

Wahrend der Fahrt nach Kagran, im Fiaker, war Taittinger still-be- 
kummert. Dabei fuhren sie geradezu im Galopp. Als sie anlangten, 
hatten ihn Langeweile, Kummer und Bangnis dermassen mitgenom- 
men, dass er fast den Zustand der Gleichgultigkeit erreichte. 
Der Gefangnisdirektor Regierungsrat Smekal hatte goldgeranderte 
Brillen - nicht einmal sie chokierten den unseligen Taittinger. Er 
wurde vorgestellt. Er gab die Hand, Er tat Alles, was zu tun war, und 
hatte nur eine nebelhafte Vorstellung von allem, was sich mit ihm und 
was sich rings um ihn zutrug. Wie aus weiter Feme horte er den Ge- 
fangnisdirektor sagen, dass es ihm unmoglich sei, gewissen Straflingen 
das Briefschreiben zu untersagen. Jawohl! Es war ihm unmoglich. Er 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6jl 

verstand sehr wohl die »Difficiiltaten« des Herrn Baron, aber, wie ge- 
sagt: »die Vorschriften«. Und er wollte auch auf den Haftling SchinagJ 
in dem Sinne einwirken, dass sie nicht mehr schreibe, ausser an ihren 
Vater in Sievering und ihren Sohn in Graz. Und am einfachsten sei es 
wohl: der Herr Baron spricht selbst mit ihr. Dagegen spricht keine 
Vorschrift. Der Regierungsrat Smekal kann den Haftling Mizzi Schi- 
nagl sofort holen lassen, selbst hieher, in die Kanzlei, er selbst geht fur 
eine halbe Stunde, grad' jetzt, inspizieren. Ehe noch Taittinger recht 
verstanden hatte, sagte der Doktor Stiasny: »Ausgezeichnet!« und 
wahrend eine seltsame, nie gekannte Mattigkeit aus Blei und Trauer 
sich liber den armen Taittinger senkte, klingelte der Regierungsrat 
schon, gab er schon einen Auftrag, nahm er schon den Hut vom Ha- 
ken, sagte er schon: »Also, in einer halben Stunde, Herr Baron!« - und 
auch der Doktor Stiasny sagte: »Ich gehe inzwischen in den Hof!« - 
und schon waren beide Herren verschwunden. Nicht einmal die Tiir 
hatte man auf- und zugehn gehort. 

Und schon war Taittinger ailein, im Zimmer des Direktors, zwischen 
fremden Tabellen an den Wanden, friedlichen griinen Aktenfaszikeln 
und, allerdings, einem stahlernen Tintenfass gegeniiber, das s einen 
schwarzen hollischen Rachen hollisch aufgeklappt hatte. 

NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL. 

Ein Aufseher kam herein, salutierte, ging wieder hinaus. Durch die 
offengebliebene Tur trat Mizzi Schinagl in die Kanzlei. Sie erschrak 
sichtlich. Sie machte zuerst eine Wendung, als wollte sie wieder in den 
Korridor zuriick, schien sich zu besinnen, blieb stehen, hart an der 
Schwelle, und bedeckte das Angesicht mit den Handen. Man hatte ihr 
nur gesagt, sie musse zum Herrn Direktor. Als sie Taittinger erblickte, 
hatte sie zuerst das Gefuhl, dass sie fliehen musse, wie bei einer Kata- 
strophe und gleich darauf die schreckliche Gewissheit, dass ihr alle 
Auswege versperrt seien. Eine heisse Freude durchstromte sie, hierauf 
eine ebenso heisse Scham. Sie stand so ein paar lange Sekunden, die 
Hande vor den Augen. Es war ihr, als wurde sie, wenn sie die Hande 
fallen liesse, Taittinger nicht mehr sehen konnen; verschwunden ware 
er dann. Und sie hielt mit den Handen hinter den geschlossenen Li- 
dern seinen Anblick fest, mit Gewalt. Sie liess endlich die Hande fal- 
len, aber ihre Augen waren noch geschlossen. Sie fiihlte, dass sie im 



6jl ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nachsten Moment weinen miisste, gramte sich dariiber, wiinschte es 
sich aber auch gleichzeitig. 

Taittinger war ratios, wie noch nie in seinem Leben. Er stand suf, aber 
er ging nicht auf die Schinagl zu, sondern zur Wand und starrte gedan- 
kenlos auf eine sinnlose Tabelle. Seine Hande spielten mit dem griinen 
Hiitchen und mit den grauen Handschuhen. Es dauerte ein paar Minu- 
ten, ehe er seine gewohnte, natiirliche leichtfertige Gleichgiiltigkeit 
wieder bekam, den nonchalanten Gleichmut. »Ja, da bist Du ja, liebe 
Mizzi! Lass' Dich anschaun! Wie geht's Dir?« - sagte er mit seiner 
alten, zartlichen, naselnden Heiterkeit. Lieblich klang sie der Mizzi, 
und um besser zu horen, offnete sie auch die Augen. »Setz' Dich, 
Mizzi !« sagte Taittinger, und sie gehorchte und sass da, auf der Stuhl- 
kante, die Hande im Schoss gefaltet wie ein Schulmadchen. Er dachte, 
es wahre wohl angebracht, ein kleines Kompliment zu sagen; aber das 
konnte man ja nicht, unter diesen Umstanden. Du siehst aber gut aus, 
zum Beispiel, war gewiss deplaciert. »Dank' schon«, stotterde die 
Mizzi, »dass Du - dass Herr Baron gekommen sind, bitte um Ent- 
schuldigung fur den Brief«. Ja, natiirlich, der Brief, das war ja der 
Grund, weshalb er hier war; aber nett musste das gesagt werden. »Es 
ist so nett« - sagte Mizzi fast tonlos - »zu kommen, wenn ich drum 
bitte und ins Ungluck geraten bin. Das ist so, so — edel!« Sie hatte 
unter grosser Anstrengung dieses Wort gefunden, und wie plotzlich 
befreit, brach ein Strom von Schluchzen aus ihrem Herzen. Taittinger 
naherte sich ihr elastisch, durch das Wasser der Tranen sah sie ihn 
herankommen, ein Engel im grauen Strassenanzug schwebte heran. 
Als er hart vor ihr stand, wusste er noch immer nicht, was er sagen 
sollte. Eine unbekannte Stimme diktierte ihm plotzlich, eine Stimme, 
die er noch niemals vernommen hatte. Er sprach ihr nach: »Es freut 
mich ja, wenn ich einen netten Brief bekomme. Ich lese sofort, noch in 
der Kanzlei. Weisst, im Grunde, bin ich ja ein ganz guter Kerl.« Er 
wollte noch fortfahren, er wollte sogar noch sagen, dass er um recht 
viele Briefe bitten moge, aber da weigerte sich auf einmal seine Zunge, 
und er erinnerte sich, dass er ja eigentlich genau das Gegenteil hatte 
sagen wollen. Deshalb ■schien es ihm angebracht, den nachsten Satz mit 
einem: Aber zu beginnen. »Aber es is namlich so, weisst« - fuhr er fort 
- »dass der Zenower, der Rechnungsunteroffizier, mein' ich, der kriegt 
so einen Haufen Post jeden Tag, und er macht mal so was Fremdes auf, 
in der Eile, und deshalb auch hab' ich alle meine Freunde und Bekann- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6j} 

ten gebeten, mir nix mehr zu schreiben, ausser - ausser« - er stockte, 
jene unbekannte Stimme wurde plotzlich ganz stark, gewaltsam fast 
diktierte sie ihm, und er sprach ihr nach: »unter H. v. T. poste re- 
stante!« 

»H. v. T.« wiederholte Mizzi »poste restante«. Er blickte jetzt auf ihr 
dunkelblaues Haubchen, er stand vor ihr, seine Kniee beruhrten ihren 
gestreifen, langen Kittel. Die Haube argerte ihn, sie war aus dem stei- 
fen, faserigen Gewebe, aus dem man Sacke macht, und er erinnerte sich 
an die Grafin Helene W. und an das Haar der beiden Frauen, und er 
zog plotzlich, mit einer briisken Bewegung, mit zwei Fingern die 
Haube herunter. Im gleichen Augenblick bedeckte Mizzi Schinagl mit 
beiden Handen ihren Kopf. Sie fing wieder an, bitterlich zu schluch- 
zen. In starren, unregelmassigen, stachligen Biindeln starrte das Haar 
der Mizzi empor, und Taittinger hatte Miihe, nicht wieder einen 
Schritt zuriickzutreten. Schrecken und Mitleid erfullten, iiberfluteten 
ihn. Ja, Mitleid! Zum ersten Mai empfand er Mitleid in seinem Leben. 
Es war ihm zu Mute, wie einem, der vor seinem eigenen Gliick er- 
schrickt. Er streichelte die stachligen Biischel mit einer verschamten 
Hand, und er wunderte sich dariiber, dass er es tat. Nicht mehr der alte 
Taittinger war er, er verlor sich, er fiel, und das Fallen bereitete ihm 
eine neue, unbekannte Wonne und glich einem Schweben. »Wann 
kommst Du heraus?« fragte er und stiilpte wieder die greuliche Haube 
iiber Mizzis arm en Kopf. »Ich weiss nicht« - schluchzte sie. »Am lieb- 
sten war's, ich bleib hier!« - »Ich werd' schaun, was ich tun kann!« - 
sagte Taittinger. »Dank' schon, Herr Baron!« sagte Mizzi. 
Er war nicht mehr im Stande, sie anzusehn. Es schien ihm auf ein Mai, 
dass er schuld war: er wusste nur nicht, wieso, warum. Die Schinagl 
fuhlte es vielleicht. Sie erhob sich mit einem plotzlichen Ruck. »Darf 
ich gehn, Herr Baron ?« - fragte sie, und es war Wurde und Anmut ih 
ihrem Aufstehn, in ihrem Blick, in ihrer Stimme. 
»H. v. T.«, »poste restante« - sagte Taittinger -. Ihre holzbesohlten 
Sandalen klapperten, auf dem holzernen Boden der Kanzlei zuerst, 
dann lauter, harter, auf den Steinen des Korridors. Taittinger sah sich 
nicht mehr um. Er stand der Wand zugekehrt und starrte gedankenlos 
auf die unsinnigen Tabellen. 

Er erinnerte sich jetzt erst, dass er nach dem Sohn hatte fragen miissen. 
Wo befand sich der eigentlich? - O, er hatte keineswegs etwa das Ge- 
fuhl einer Verpflichtung! Es schmerzte ihn einfach, dass er das Gebot 



6j4 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

der Hoflichkeit verletzt hatte. Zugleich erinnerte er sich dunkel daran, 
dass, zum Beispiel, der Leutnant Wander, der ein uneheliches Kind 
hatte, jeden Monat eine bestimmte Summe dafiir zahlen musste. Wes- 
halb er, Taittinger, bis jetzt niemals etwas fur den Jungen bezahlt hatte, 
konnte er sich nicht erklaren. Das hing mit den unbegreiflichen »Geset- 
zen« zusammen. Aber es schmerzte ihn etwas, er wusste nicht genau, 
was er war. Er fuhlte nur, dass er niemals die geschorenen Haare der 
Mizzi Schinagl vergessen konnte. Auch seine rechte Hand schien eine 
Art Gedachtnis bekommen zu haben. Auch die Innenflache seiner rech- 
ten Hand wiirde immer die Erinnerung behalten an die stachligen harten 
Haarbuschel der Mizzi Schinagl. 

Als er mit Doktor Stiasny wieder im Wagen sass und in die Stadt zu- 
rlickfuhr, begann er, gegen seinen Willen, von sinnlosen Dingen zu 
reden, muntere, aufgeraumte, geradezu, kindische Angelegenheiten zu 
erzahlen; aus seiner Jugend. Ein paar Augenblicke horte er sich selbst 
sprechen, und es war ihm, als sei er schon alt, und er empfand das 
lacherliche seiner Reden, und er iibte Nachsicht mit sich selbst, und er 
bestand aus zwei Taittingers: einem jungen und torichten und einem 
alten und klugeren. 

In einer traurigen Verwirrung fuhr er am Nachmittag zum Rendez-vous 
mit der Matzner. Er liess sich die Geschichte von den Spitzen und den 
ganzen Prozess ausfuhrlich erzahlen. Zu seiner eigenen Verbliiffung 
verstand er sogar die geschaftlichen Vorgange. 

Es ekelte ihn ein wenig vor der Frau Matzner. Zum ersten Mai empfand 
er den Unterschied zwischen Langeweile und Ekel. Er war sogar im- 
stande, sich liber die Gewissensruhe der Matzner zu wundern, da er 
erkannte, dass allein ihre Geldgier den Prozess verursacht hatte. Er 
fuhlte sich auf eine merkwiirdige Art abgestossen und angezogen zu- 
gleich, rettungslos verwickelt in eine »fremde Geschichte«. Als die 
Matzner im Laufe ihres Berichts den Namen Sedlacek fallen liess, ergriff 
den Rittmeister auch Angst. Und er zahlte schnell und ging und liess die 
Matzner ratios zuriick. »Meine Adresse, Herr Baron« - rief sie und 
schrieb auf die Ruckseite eines Couverts, das sie hastig aus dem Tasch- 
chen herausgezogen hatte, ihre Adresse in der Jasomirgottstrasse auf. 
Der Rittmeister steckte sie hoflich in die Brieftasche. 
Die Matzner blieb noch bis in den spaten Abend. Die abendliche 
Herbs tluft war klar, streng und herb. Als die Matzner sich erhob, um 
zur Pferdebahn zu gehn, fuhlte sie einen leichten Schwindel im Kopf 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 675 

und einen frostigen Schauer im Herzen. Sie glaubte, dies mache der 
Wein, den sie nicht gewohnt war und auch die Aufregung, die ihr der 
Baron bereitet hatte. Unterwegs, in der Pferdebahn, nahm sie sich vor, 
einen Kamillentee zu trinken. 

DREISSIGSTES KAPITEL. 

Auch am nachsten Tage setzte die Matzner ihr gewohntes tagliches 
Leben fort. Sie erwachte nicht ohne Munterkeit. Eine Zeitung las sie 
nicht mehr, seit dem Tage, an dem sie endgultig eingesehen hatte, dass 
ihr das Interesse der Welt nicht mehr gait. Die zwiefache Begegnung 
mit dem Baron gewahrte ihr heute noch einigen Trost. Die wichtigsten 
Neuigkeiten aus der »Kronenzeitung« und aus dem »Neuigkeits-Welt- 
blatt« brachte ihr die Hausmeisterin, die gegen neun Uhr morgens auf- 
raumen kam. Obwohl sie nur sparliche Trinkgelder gab und als ledig 
gemeldet war, nannte sie die Hausmeisterin doch: gnadige Frau. (Meist 
vermied sie die Anrede.) 

Dieser Tag also unterschied sich vorlaufig noch nicht von alien ferflos- 
senen. Die hellen giitigen herbstlichen Tage hielten immer noch an. 
Die Matzner machte, wahrend ihr die Hausmeisterin das Kleid zuhaf- 
telte, den Stundenplan. Zuerst wollte sie zur Bank Ephrussi, hierauf 
zum Notar und schliesslich in die Polizeidirektion, um wieder einmal 
den Inspektor Sedlacek zu sehn. Es war ihrer Meinung nach wichtig, 
dem Sedlacek mitzuteilen, dass sie mit dem Baron Taittinger zusam- 
mengekommen war. 

Auf der Strasse aber, als sie der milde, silberne und hoffnungsreiche 
Atem dieses gnadigen Herbstes umfing, erschien ihr Sedlacek immer 
wichtiger. Dringlicher wurde auch ihr Wunsch, sich der Zusammen- 
kunft mit dem Baron vor irgend Jemanden riihmen zu konnen, der so 
etwas zu schatzen wusste. Und sie lenkte ihren entschlossenen Schritt 
zum Schottenring, ins Cafe Wirzl, wo Inspektor Sedlacek mit den 
Polizeireportern von elf bis eins Tarock zu spielen pflegte. Wer kann 
genau wissen? Alles ist moglich. Es kann sein, dass der Baron in einer 
wichtigen Angelegenheit nach Wien gekommen ist; in Zivil: warum 
war er in Zivil? Es kann sein, dass Sedlacek schon etwas Naheres weiss. 
Es kann auch sein, dass es fur ihn wichtig ist, etwas zu erfahren. Oft 
genug ist er in das Haus der Matzner gekommen, um sich zu erkundi- 
gen, wer von den Herrschaften gesternnacht da gewesen war. Die Her- 



676 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ren Redakteure sassen auch im Cafe, Lazik unter ihnen. Es konnte 

sein, dass auch die Zeitungen Gefallen oder Interesse an der Ge- 

schichte der Matzner finden wiirden. 

Im Cafe Wirzl war Pause zwischen zwei Partien. Sedlacek und seine 

Tischgenossen assen Prager Wurstl mit Kren und tranken ein Schnitt 

Extra. Man begriisste Frau Matzner mit einem herzlichlauten »Lang- 

nicht gesehn, Tante Fini!« Sie bekam eine Schale Gold mit Mohnkipfl 

und begann, wahrend sie den knusprigen Kipfl mit horbarem Genuss 

im Munde zersplitterte, ihre Geschichte mit den Worten: »Also, Herr 

Sedlacek, staunen werden's! Sitz' ich da unschuldig im Volksgarten - 

wer kommt da auf einmal? Die Musik spielt grad: Droben wo die 

Wolklein stehn — wer kommt da daher?. . .« 

»Schau, schau!« - sagte der Inspektor immer wieder. Der Redakteur 

Lazik notierte das Datum der Abreise Taittingers auf der Manschette, 

fur alle Falle. »Dank' Ihnen sehr!« - sagte Sedlacek. Die Matzner er- 

hob sich. Sie glich einem Ballon, der soeben Ballast abgeworfen hat 

und stolz und frei in die hoheren Regionen steigen darf. Sie schwebte 

zur Tur hinaiis. Sie gmg zu Ephrussi. 

Aber der kaiserliche Rat war heute nicht im Geschaft, zum ersten Mai 

seit dreissig Jahren. Der Buchhalter, ein veranderter, beinahe fremd 

aussehender Mann heute, empfing die Frau Matzner. Er teilte der 

Matzner mit, dass der kaiserliche Rat gestern nacht plotzlich in die 

Klinik gebracht worden sti, eben operiert werde, der Blinddarm sci es 

und eine Sache von Tod und Leben. 

»Und was geschieht mit dem Geld?« - rief die Matzner. 

»Welches Geld?« - fragte der Buchhalter. 

»Meins, meins!« - schrie sie und fiel in den Sessel, wuchtig, als hatte sie 

plotzlich ein doppeltes Gewicht bekommen. 

»Ruhe, beruhigen Sie sich« - sagte der Buchhalter. »Die Bank bleibt 

die Bank, Frau Matzner, auch im schlimmsten Fall, was Gott verhuten 

moge! Ihr Geld bleibt Ihr Geld!« 

»Ich werd' lieber selbst in die Klinik fahren« - sagte sie. »Ich werd' 

mich erkundigen«. Sie hatte schon Tranen in der Stimme und ein zu- 

sammengepresstes Herz. Ein wiister Nebel wallte vor ihren Augen. 

»Die Adresse, die Adresse!« rief sie. Man gab ihr die Adresse. Sie war, 

obwohl die Fusse zitterten, das Herz gewaltig pochte, wie durch ein 

Wunder in einem Nu draussen, schon winkte sie dem Fiaker, Klinik 

Haselmeyer, schrie sie schrill, als riefe sie »Feuer!« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 677 

Sie kam knapp eine Viertelstunde, nachdem der kaiserliche Rat 
Ephrussi an den Folgen der Blinddarmoperation gestorben war. Man 
sagte es ihr, kalt und geschaftlich, wie es die Art ist, in Kliniken. 
Ohnmacht uberfiel sie. Sie erwachte im Inspektionszimmer, im bitter- 
scharfen Wind des Ammoniaksalzes. Sie wankte am Arm der Schwe- 
ster die Treppe hinunter. Ihre Fiisse fuhlten noch den Boden, ihre 
rechte Hand noch den Schirmgriff, ihre linke noch das Retikiil. Aber 
ihre Gedanken hatten gar keinen Halt mehr. Wie ein Schwann wildge- 
wordener Vogel stoben sie durcheinander, in einer Art von lautlosem 
Larm, stiessen gegeneinander mit Kopfen und Fliigeln, verschwanden 
plotzlich und kehrten wieder, in erneuerter Verwirrung. Das Herz 
klopfte nicht mehr, es wuchtete, es schaukelte, auf und nieder, auf und 
nieder. Jemand fragte die Matzner nach ihrer Andresse. Jemand setzte 
sie in einen Wagen. Jemand iibergab sie der Hausmeisterin. Man fuhrte 
sie in die Wohnung, legte sie auf das Sopha. Sie hatte noch Geistesge- 
genwart genug, zu sagen: »Lassen's mich allein, ich will schlafen!« 
Man liess sie allein. Sie ging zum Koffer und sah nach dem Geld. Sie 
nahm es an sich, das Portefeuille und die silberne Netzborse. Sie 
steckte beides in den Strumpf. Das silberne Beutelchen fuhlte ange- 
nehm, es glitt von der Wade zum Knochel hinunter, ein liebes Tier- 
chen. Sie liess sich in den Lehnstuhl fallen. Sie schlief ein, mit dem 
innigen Wunsch, eine Woche, einen Monat, ein ganzes Jahr zu schla- 
fen. 

Aber sie erwachte am Abend des gleichen Tages, die Sonne war noch 
nicht untergegangen. Ihre Stirn brannte, ihre Schlafen waren taub und 
bleiern. Ein kalter Schauder nach dem andern durchjagte durch ihren 
Korper. Sie erhob sich, keuchte zur Tur, machte sie auf, nahm alle 
Kraft zusammen und rief: »Frau Smelik, Frau Smelik!« und wunderte 
sich noch selbst, dass sie noch eine Stimme hatte. Die Hausmeisterin 
kam, loste die Miederbander, und alsbald glich der Korper der Frau 
Matzner einer formlosen, in weisses Leinen gefasste uberquellende 
Masse aus unbestimmter Substanz. Die Striimpfe liess sie nicht anriih- 
ren. 

Es schien der Frau Smelik, dass es an der Zeit sei, den Doktor zu rufen. 
Sie sagte es auch der Matzner, obwohl sie erkannt zu haben glaubte, 
dass die Kranke gar nichts mehr richtig begreifen konnte. Sie irrte sich. 
Die Matzner fragte nur: »Was kostet eine Visite?« - »Einen halhen 
Gulden!« sagte die Hausmeisterin, »das weiss ich vom letzten Mai, wie 



678 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

es bei der Frau Majorin gewesen ist.« »Meinetwegen, holen's ihn!« 
sagte die Matzner. Sie dachte nur noch daran, die Striimpfe mit dem 
Geld ohne Zeugen auszuziehn und im Bett zu verstecken, unter dem 
Kissen. 

Der Doktor kam. Die Matzner lag schon ausgekleidet im Bett, sie 
fiihlte nur noch kaum den Strumpf mit dem Geld unter dem Kissen, Es 
schien ihr, dass sie schon eine unglaublich lange Zeit dalag und auf 
irgend etwas wartete. Ihr Gesicht brannte, zeitweilig hatte sie die 
Empfindung, dass ihr Kopf nicht mehr zu ihrem Korper gehore; denn 
dieser war kalt, ein Eisklumpen. Endlich horte sie den Schlussel, 
dachte eine Weile nach, wen sie eigenthch erwartet hatte und wer jetzt 
kommen konnte und vermochte nicht, sich daran zu erinnern. Sie sag 
wohl, dass die Hausmeisterin mit einem fremden Herrn eintrat und 
wusste wohl, dass es die Hausmeisterin war und ein fremder Herr — 
aber es schien ihr zugleich auch, dass Mizzi Schinagl eintrete und hin- 
ter ihr der Baron Taittinger. Welch eine veranderte Welt! Zu zweit und 
zu dritt gar kamen jetzt die Leute an, und man kannte sich mehr aus. 
Der Doktor - oder war es der Baron Taittinger - winkte der Hausmei- 
sterin - oder war es die Mizzi? - hinauszugehn, und naherte sich dem 
Bett und zog ein glanzendes Ding aus der Westentasche. Die Matzner 
schrie auf. Alsbald beruhigte sie sich, wie eingeschlafert von dem Ge- 
ruch aus Zigarren und Karbol, den der Doktor ausstromte. 
Er tastete an ihr herum, klopfte, horchte, griff nach ihrer Hand. Seine 
Beriihrungen waren ebenso peinlich, wie wohltuend, ebenso ange- 
nehm, wie beschamend, sie beunruhigten und besanftigten das Gemiit 
der Matzner zu gleicher Zeit. Der Doktor entfernte sich. Wie ein 
dunkler Nebelfleck stand er irgendwo, iiber dem Waschbecken und 
platscherte kindisch im Wasser. Noch einmal ging die Tiir, die Haus- 
meisterin erschien wieder, und diesmal war sie es wirklich und nicht 
eine zweifelhafte verwandelte Mizzi. Und der Doktor war auch der 
Dokter und hatte nichts mit dem Baron Taittinger zu tun. Und die 
Matzner horte klar und deutlich, was der Dokter zur Hausmeisterin 
sagte; namlich dieses: »Rippenfellentziindung! sie hat hohes Fieber. 
Ich schicke eine Schwester. Sie wird in einer halben Stunde etwa da 
sein. Konnen Sie so lange hierbleiben?« - »Ja, Herr Doktor! « - sagte 
die Hausmeisterin. Sie blieb da. Sie setzte sich ans Bett, hart neben die 
Matzner. Das Gesicht der Hausmeisterin zerfloss, verschwamm, zer- 
rann in einem grauen Brei. Als die Schwester schliesslich eintraf, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 679 

wusste die Matzner gar nichts mehr. Sie erzahlte kindische Ereignisse 
aus ihrer Kindheit. 

Am nachsten Morgen ging es ihr besser. Sie liess dem Doktor gar keine 
Zweifel dariiber: sie fragte ihn sofort, wieviel sein Besuch koste. 
»Einen halben Gulden !« sagte er. Nun - meinte sie - wenn er glaube, 
dass er noch haufiger wieder kommen musse, so ware es besser, man 
wiirde gleich akkordieren. Und um ihn weicher zu stimmen, erzahlte 
sie auch, dass der jahe Tod ihres Bankiers Ephrussi sie in Gefahr bringe 
»das Letzte« zu verlieren. Ja, sagte der Dokter sanft, er wiirde nur 
noch ein paar Mai wieder kommen miissen, und den Priester brauchte 
man auch nicht zu holen. Akkordieren wiirde man besser nach der 
volligen Gesundung. 

Solange der Doktor im Zimmer war, blieb die Matzner heiter. Als er 
aber gegangen war, behielt sie von Allem, was er gesagt hatte, nichts 
mehr in Erinnerung als sein Wort vom Priester, Und plotzlich erschien 
ihr der brave Doktor falsch und verlogen, tuckisch und ein Kiinder des 
nahen Todes. Ein Geistlicher! Seit vielen, vielen Jahren hatte sie nicht 
daran gedacht. Ein Geistlicher! Sie erinnerte sich an ihre erste 
Kommunion. »Jessas!« hatte sie oft im Leben gerufen und auch: »Jes- 
sas - Marand Joseph« - ohne sich etwas dabei zu denken. Weshalb 
hatte der Doktor vom Priester gesprochen? Weshalb hatte er gesagt, 
man brauchte noch nicht an ihn zu denken? Und wenn er es gesagt 
hatte, war es nicht ein Beweis dafiir, dass es - umgekehrt just an der 
Zeit sei, an ihn zu denken? - Der Tod? war er nahe? - Was war der 
Tod? - Eine Art Kommunion, aber in schwarz wahrscheinlich, statt in 
weiss. 

Die Matzner ass nur ein wenig Graupensuppe, schlief ein, traumte von 
ihrer Kommunion, von ihren Eltern und hierauf vom Prozess, vom 
Richter, vom Staatsanwalt, von den Advokaten, von den Geschwore- 
nen. Laut rief sie ein paar Mai: »Ich bitte um Gnade«. - Am Abend 
stieg das Fieber. Kurz vor Mitternacht bat sie um den Priester. Es war 
ein einfacher Mann. Mitten aus dem Schlaf geweckt, war er noch simp- 
ler als am Tage. Er hatte seit langem nicht mehr Sterbende versehen, 
insbesondere nicht fiebernde Kranke. Er begriff nicht Alles, was ihm 
die Matzner sagte. 

So fragte sie ihn, zum Beispiel, ob er glaube, dass der Beruf, den sie ihr 
Lebtag ausgeiibt habe, sie zur Holle verdamme. Und, als er sie fragte, 
was fur einen Beruf sie denn ausgeiibt habe, sagte sie, sie sei Besitzerin 



680 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

des Hauses Matzner auf der Wieden gewesen. Er verstand nicht und 
sagte, Hausbesitz sei keine Siinde. Sie sagte ihm ferner, dass sie ledig 
sei. Auch das war keine Siinde, in seinen Augen. Sie wurde mude und 
schloss die Augen, und es schien dem Pfarrer, dass sie eingeschlafen 
sei. Sie aber war wach, und trotz ihrem Fieber konnte sie auch klar 
denken. Die ungeheure Furcht vor dem Tode verjagte ihre Wirrnisse. 
Die Furcht vor dem Jenseits klarte ihr Gehirn, heiterte ihre Seele auf. 
In der kummerlichen und trostlosen Vorstellung, die sie Zeit ihres Le- 
bens vom Gewicht der Schuld gehabt hatte und von den Moglichkei- 
ten, es abzuwalzen oder auch nur ein wenig zu erleichtern, war Geld 
eines der ersten Mittel, mit deren Hilfe man suhnen konnte. Wahrend 
sie die Augen also geschlossen hielt, uberlegte sie nuchtern, dass man 
Siinden durch Gaben ablosen konne. Das ganze siindhafte Leben, das 
Freudenhaus und den Prozess, durch den Mizzi Schinagl ins Gefangnis 
geraten war, die kleinen tuckischen ungerechtfertigten Abziige, die sie 
dann und wann ihren Pensionarinnen aufgerechnet hatte und was es 
sonst fur Siinden geben mochte, die im Katechismus verzeichnet stan- 
den, einfache Siiden, wie iible Nachrede zum Beispiel und gotteslaster- 
liche Aeusserungen, von denen es in ihrem Leben nur so wimmelte. Sie 
war auch schon entschlossen, dem Hochwiirdigen Herrn zu sagen, 
dass sie ihr Geld fur wohltatige und kirchliche Zwecke hinterlassen 
wolle und einen Teil, zur Wiedergutmachung, fur die Mizzi Schinagl, 
die doch Alles verloren haben musste. Ja, alles Geld! Obwohl der Ban- 
kier Ephrussi schon tot war - sie gedachte, ihn droben irgendwo wie- 
der aufzusuchen - und trotz ihrem Misstrauen gegen den doppelten 
Buchhalter, musste ja etwas noch in der Bank geblieben sein! Etwas, 
nicht viel! Furs Begrabnis musste freilich etwas bleiben. Es soil ein 
schones Leichenbegangnis werden, dachte sie und setzte sich in den 
Kissen auf. Sehr schnell und fliessend, als rezitierte sie etwas seit lan- 
gem auswendig Gelerntes, erzahlte sie dem Hochwiirdigen Herrn, 
dass sie ein Drittel ihres Geldes den Armen, ein Drittel der Kirche, ein 
Drittel der Mizzi Schinagl hinterlassen wolle. Morgen wollte sie ihren 
Notar kommen lassen, gleich in der Friih. Der Pfarrer nickte. Sie fragte 
ihn mit einem verborgenen Misstrauen in der Stimme, was seiner Mei- 
nung nach ein Leichenbegangnis erster Klasse koste, mit vier Rappen. 
Das musste, sagte der Hochwiirdige Herr, die »Pietas« wissen, das 
Leichenbestattungsuriternehmen, und es ware leicht, zu erfahren. Er 
bekame jedenfalls nicht mehr als einen Gulden fur die Totenmesse, es 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 68l 

ware eine Gebiihr. Nun war sie auch bereit, zu sterben, und der Pfar- 
rer begann sein Werk. »In Reue und Demut beichte ich meine Siinden« 
- sagte die Matzner mit klingender Stimme, wie ein Schulmadchen. 
Sie fiel wieder in die Kissen und schlief sofort ein. Sie schlief ruhig und 
traumlos die ganze Nacht. Am Morgen erwachte sie mit geringem Fie- 
ber, munter, wie einst in ihren gesunden Tagen und von Tatkraft er- 
fullt. Sie liess sofort den Notar kommen, es sollte kein Geld gespart 
werden, die Hausmeisterin durfte einen Fiaker nehmen. Es war, als 
bereitete sich die Matzner zum Tod so vor, wie andere zu grosseren 
»Transaktionen«. Sie liess sich eine blaue Nachthaube reichen und das 
Nachtkamisol mit der blassblauen Borde. So empfing sie den Notar. 
Sie fragte ihn zuerst, was mit dem Geld geschehen sein moge, dass in 
der Bank des seligen Ephrussi gesteckt hatte - und der Notar beruhigte 
sie: es gab gar keine Gefahr. Das Geld war sicher. Die Matzner ver- 
langte nun, dass der Notar ein Testament aufsetze, und sie machte die 
Angaben, dem Versprechen getreu, das sie gestern nachts dem Pfarrer 
gegeben hatte. Der Notar notierte auf ein Blatt Papier, zog Tinte und 
Feder aus seiner Ledertasche und setzte sich an den Tisch. Er schrieb 
zuerst der ublichen Formeln mit seiner langsamen, bedachtigen wie 
gestochenen Schrift. Als er zu den Ziffern kam, wandte er sich um und 
fragte die Frau Matzner: »Ist es Ihnen auch klar, wie gross Ihr Vermo- 
gen ist?« Sie wusste es nicht. »Es sind genau«, - sagte der Notar und 
blatterte noch einmal in den Papieren: »zweiunddreissigtausend Gul- 
den und ftinfundachtzig Kreuzer. Tausend Gulden haben Sie vor zwei 
Wochen bei Ephrussi ahgehoben!« »Wieviel?« fragte die Matzner. 
»Zweiunddreissigtausend, funfundachtzig!« wiederholte,der Notar. 
So viel Geld — und sie musste sterben! Warum war sie iiberhaupt 
krank geworden? War die ganze Krankheit nicht nur ein wiister 
Traum? Was wissen schon die Doktoren? War es nicht lediglich ein 
grauenhafter Schrecken infolge des Todes Ephrussis? Wer sagte, dass 
sie iiberhaupt sterben musste? Wo stand es geschrieben? Und wenn sie 
noch zwanzig, oder sagen wir, nur noch zehn Jahre zu leben hatte - 
war da noch nicht Zeit genug, ein Testament zu machen? »Sind Sie 
sicher, Herr Notar ?« - fragte sie. »Ganz sicher«, bestatigte er. - Sie 
lehnte sich in den Kissen zuriick und dachte eine Weile nach, eine sehr, 
sehr lange Weile, wahrend der Notar geduldig die geziickte Feder 
einen Zentimeter iiber dem Papier hielt. 
Sie hatte sich endlich entschlossen. Sie stutzte sich auf und sagte, ein 



682 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

bisschen verschamt: »Ich mochte nur die tausend Gulden hinterlassen, 
die ich hier im Hause habe, vorlaufig! Wenn's notig ist, werd' ich Sie 
nochmals bitten lassen. Zu drei Teilen, Herr Notar! 300 fur die Ar- 
men, 300 fur die Kirche, 300 fur die Mizzi Schinagl. 100 bleiben fur 
allerhand Kosten«. Sie wusste nicht, was »allerhand Kosten« sein 
mochten, sie sagte es so hin. Es schien ihr, dass sit damit den Eindruck 
einer gewissen Grossziigigkeit erweckte. » Allerhand Kosten!« sagte 
der Notar, »das muss man spezifizieren«. Und er schlug vor: »Lei- 
chenbegangnis und Grabstein!« Zwei Worte, die der Matzner, der 
eben noch todbereiten, in diesem Augenblick furchterKch klangen. 
Und schon schrieb er, der Notar, langsam, aber auch unerbittlich. Un- 
durchsichtig war sein Korper, sein Kopf, sein Angesicht. Er mochte 
sich allerhand denken - oder auch gar nichts. Er war ein Beamter, er 
war ein versperrtes Amt. Was weiss man, was alles in einem verschlos- 
senen Amt vorgeht, in einem kaiser- koniglichen Notariat? 
Die Matzner hielt den Atem an. Sie kostete die ganze Feierlichkeit des 
Vorgangs aus - und zugleich ihre heimliche Gewissheit, dass sie noch 
langere Zeit zu leben hatte. Sie machte sozusagen ein Probesterben. 
Alle Welt - der Hochwurdige Herr von gestern mitinbegriffen - freute 
sich schon auf ihren Tod. Sie allein wusste, dass sie noch am Leben 
bleiben wurde. Und was sollte das fur ein Leben werden! Das Leben 
einer Neugeborenen, aus dem Jenseits Heimgekehrten! 
»Und der Rest Ihres Vermogens?« - fragte der Notar. 
»Dariiber sprechen wir noch!« - sagte die Matzner. Sie unterschrieb 
mit der Feder, die ihr der Notar hinhielt. Er packte das Papier um- 
standlich in ein dickes leinengefiittertes Couvert. Dieses versiegelte er. 
Kerze und Siegellack holte er aus der Aktentasche. Vor der brennen- 
den Kerze, die an Tod erinnerte, schloss die Matzner die Augen. Sie 
offnete sie erst, als sie den Notar pusten horte. »Auf Wiedersehn!« - 
sagte der Notar. Sie lachelte ihm zu. 

Sie ass eine Graupensuppe, mit starkem Appetit, und verlangte selbst 
nach etwas festerem. Ein grosses Verlangen nach einem Gulasch und 
einem Krugl Okocimer uberkam sie. Sie war nicht krank, gar nicht 
krank. Sie gedachte nur noch eine Weile, ein, zwei Tage noch, eine 
Kranke zu spielen. Am Abend aber, als der Doktor wiederkam, er- 
kannte sie ihn nicht. Schweiss stand in dicken Perlen auf ihrer Stirn. 
Die Haube driickte sie mit dem strammen Gummiband. Sie hatte das 
Gefuhl, als triige sie eine Krone, und sie bat flehentlich: »Nehmt mir 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 683 

die Krone ab!« - und in der verschwommenen Erinnerung an die ge- 
strige Absolution fugte sie hinzu: »Die Dornenkrone!" - Aber man 
hab nicht acht auf das, was sie sagte. Das Thermometer zeigte 40 Grad. 
Plotzlich schrie sie auf. Sie fuhite einen schneidenden Schmerz im 
Rucken, als wenn man ihr ein Schwert, doppelt geschliffen, durch die 
Rippen gestossen hatte. Sie offnete weit den Mund, der Atem ging ihr 
aus, sie wollte etwas rufen: Luft oder Fenster — aber sie vergass es 
sofort. Es wurde ihr sehr heiss, eine unnennbare Furcht ergriff sie, sie 
trommelte mit den Fingern auf der Bettdecke. Sie verdrehte die Augen. 
Der Doktor schickte die Schwester nach Sauerstoff in die Apotheke, er 
bereitete die Morphiumspritze vor. Die Sch wester kam, mit den Bal- 
lons. In diesem Augenblick erhob sich die Matzner im Bett und fiel 
sofort wieder zuriick, Ein leichtes Zucken bewegte ihre Augenlieder, 
und auch ihre Finger flatterten auf der Bettdecke. Dann fiel ihre rechte 
Hand uber die Lehne. Der Friede kam liber die Josephine Matzner. 
Man begrub sie an einem der ersten regnerischen Tage dieses Herbstes. 
Es war ein Leichenbegangnis dritter Klasse, 2 Rappen ohne galonierte 
Diener. Den Vorschriften gemass veroffentlichte der Notar in den Zei- 
tungen die ubliche Notiz: »Erben gesucht!« 

Es meldete sich zwei Monate spater ein Neffe der Matzner, Hopfen- 
bauer in Saaz, wohlhabend und ohne jedes Gefuhl der Dankbarkeit 
gegen das Schicksal wie gegen die Tante. 

Die »weibliche Strafanstalt« in Kagran bekam die Mitteilung, dass der 
Haftling Mizzi Schinagl als Erbin der verstorbenen Ledigen Josephine 
Matzner in den Besitz von dreihundert Gulden gekommen zei. 
Die Notiz in den Zeitungen las der Polizeireporter Lazik. In seinem 
einfallsreichen Gehirn formte sich ein ganz bestimmter Plan. Er sprach 
dariiber mit seinem Freund, dem Oberinspektor Sedlacek, am Schot- 
tenring, im Cafe Wirzl. 



VIERTESBUCH 



EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Weit und brek herrschte ein defer, geradezu grausam defer Friede, und 
die offizielle Polizeikorrespondenz, die auch noch die banalsten Vor- 
falle mitzuteilen pflegte, umfasste kaum zweieinhalb Seiten taglich. 
Das Kartell der Polizeireporter sass niedergedriickt im Cafe Wirzl, er- 
schopft von der unertraglichen Ruhe, gelahmt von dem ereignislosen 
Frieden und ohne die geringste Hoffnung auf eine Sensadon. So oft die 
Tiir aufging, blickten die Manner von ihre'n Karten auf. Wenn einer 
der Geheimen eintrat, die bei Wirzl aus- und eingingen, sah man ihm 
mit angespannten Blicken entgegen, als konnten die Augen schon er- 
lauschen, was die Ohren noch nicht vernahmen. »Gibt's was?« fragten 
fiinf, sechs Manner auf einmal. Der Geheime nahm den steifen Hut 
nicht ab; ein Zeichen, dass er sich nicht zu setzen gedachte, dass er 
nichts zu erzahlen hatte. Die Kopfe senkten sich wieder in trostloser 
Lethargie iiber die Karten. Der einzige Reporter Lazik nur verfolgte 
im Stillen eine ganz bestimmte Idee. Es war ihm nichts anzusehn. 
Auch er tat so, als ob er genau so wie die anderen ermattet ware, von 
der Aussichtslosigkeit in diesen miserabel ruhigen Zeiten. Indesen aber 
spann er Faden um Faden, flocht sie zu Maschen und zertrennte sie 
wieder, kniipfte Entlegenes zu bruderlichen Knoten, schnitt anderer- 
seits auch wieder auseinander, was eigentlich zusammenhing, denn er 
brauchte die einzelnen Glieder einer bestimmten Gedankenfamilie fur 
andere Ketten, Bande und Verwandschaften. Er allein spiirte einen Zu- 
sammenhang zwischen dem Tod des Bankiers Ephrussi und dem der 
Josephine Matzner. Wenn er sich recht erinnerte, so hatte seinerzeit 
der Bankier Ephrussi die beruhmten Perlen der Schinagl belehnt und 
sogar wahrscheinlich nach Antwerpen verkauft. Direkte Zusammen- 
hange zwischen Perlen, Persien, dem Schah, der Matzner, dem 
Ephrussi und der Schinagl konnte man zwar keineswegs herstellen, 
aber gerade die indirekten waren ja der Muhe wert und versprachen 
Erfolg. Ferner war damals in den unappetitlichen Betrug, dessen Opfer 
der torichte Muselmann geworden war, auch der Baron Taittinger ver- 
wickelt. Gut, dass die selige Matzner noch kurz vor ihrem jahen Ende 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 685 

im Cafe Wirzl gewesen war! Der »Stoff« war reichlich vorhanden. La- 
zik aufpassen! - sagte Lazik. 

Eines Vormittags, wahrend sie so bei ihrem depressivem Tarock sas- 
sen, tat Lazik von ungefahr einen schweren Seufzer. »Was 1st los?«- 
fragte Keiler - »willst Du wieder Gedichte schreiben?« Es war eine 
Beleidigung in diesem Kreise. Es gab noch ein paar Journalisten, die 
sich an einen verschollenen Gedichtband Laziks erinnerten. »Man 
wird wirklich wehmutig«, sagte Lazik, »wenn man so an den Tod 
denkt. Wie lang' ist es eigenlich her, dass die gottselige Matzner dage- 
sessen is, und jetzt nagen schon die Wiirmer an ihr. Das viele Geld, das 
sie hinterlassen hat!« - Die anderen nickten nur. »Es war Zeit, dass sie 
stirbt« - sagte Sedlacek. »Es waren neue Zeiten. Da hat sie nicht mehr 
hineingepasst. Das Haus in der Zollamtsstrasse hat ihr den Rest gege- 
ben.« »Der Hohepunkt ihres Lebens« - sagte Lazik - »war der Schah, 
Erinnerst Dich an die Perlen? Wo sind die eigentlich hingekommen?« 
»Bei Ephrussi« antwortete Sedlacek. »Und auch der ist schon tot!« »Ja, 
wenn wir jetzt so eine Geschichte hatten« - begann wieder Lazik. 
»Kommt der Schah nimmer wieder?« - »Ich glaub', es war im »Frem- 
denblatt« schon die Rede von ihm, der Doktor Auspitzer hat einmal 
schon davon in der Redaktion gesprochen«. - »Uns ist nichts bekannt« 
- sagte Sedlacek. Er sprach das »Uns« sehr nachdriicklich betont, bei- 
nahe feierlich aus. »Ephrussi hat die Perlen sicher verkauft?« fragte 
Lazik harmlos, rief gleich darauf: »K6nig! Bube!« und klatschte die 
Karten auf den Tisch, um in diesem Gerausch die Wichtigkeit unterge- 
hen zu lassen, die er seiner Frage beimass. »Er hat sie dem Gwendl in 
Kommission gegeben. Monatelang waren sie im Schaufenster. Ich nab' 
sie mir oft angeschaut, mit unserem Juwelenspezialisten, Inspektor 
Farkas. Eines Tages waren sie weg!« 

Das Gesprach erstarb. Man spielte weiter. Die gewohnte Apathie 
senkte sich wieder liber das Cafe wie eine schwere Sommerschwule 
zuriickkehrt nach einem kleinen triigerischen und folgenlosen Wind- 
chen. 

Lazik verlor flinfundzwanzig Kreuzer an Keiler. Er hatte verlieren 
wollen. Er war aberglaubisch. Vor jeder schwierigen Aufgabe opferte 
er den Gottern. Er erhob sich plotzlich. »Ich bin heut' eingeladen« - 
sagte er. Und schon war er, ohne Gruss, verschwunden. 
Er ging zuerst in die Wasagasse, um seine Freunde zu tauschen, denn 
er wusste, dass es ihre Natur war, /wie ja auch die seine/ vor die Tur zu 



686 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

treten, und dem Fortgehenden nachzuspahen, um wenigstens die 
Richtung zu kennen, die er eingeschlagen hatte. Dann bog er in die 
Wahringerstrasse ein, sprang auf die Pferdebahn, erreichte den Opern- 
ring und stieg ab. Er ging in die Kartnerstrasse zum grossen Juwelier 
Gwendl. 

Er verlangte Herrn Gwendl personlich zu sprechen. Herr Gwendl 
kannte ihn wohl. Er sass im Hintergrund des Ladens, im schmalen 
griintapezierten Kontor vor schwarzen Kasten und Kastchen, die ihre 
sanften dunkelblau samtenen Rachen zeigten, und alle glitzernde, 
schimmernde, jubelnde Pracht, die sie verschlungen hatten. Er ver- 
schloss alle Etuis, legte die Lupe weg und empfing den Redakteur La- 
zik. 

»Habe die Ehre, Herr Kommerzialrat!« - sagte Lazik. 
»Herr Redakteur!« - sagte der Kommerzialrat. Gwendl. »Womit kann 
ich Ihnen dienen? Zigarre gefallig? Bitte, Platz zu nehmen« - und wah- 
rend der Kommerzialrat sich biickte, um aus der unteren Lade die Vir- 
ginier herauszuholen - /Die Trabukos lagen in der oberen fur bessere 
Gaste bestimmt, - Geschaftsfreunde und Kunden von Adel zum Bei- 
spiel/ - beobachtete er mit einem wachsamen Auge die Hande Laziks. 
Und er atmete auf, als er endlich die Zigarrenkiste auf dem Tisch ste- 
hen hatte. 

Man redete zuerst von Neuigkeiten, deren es wenig gab, in diesen stil- 
len Zeiten. Es sei denn, dass man in der Redaktion des »Fremdenblatt« 
letzthin von einem neuerlichen Besuch des Schahs von Persien gespro- 
chen hatte. 

Die Erwahnung dieses Souverans erweckte im Kommerzialrat Gwendl 
hochst angenehme Erinnerungen. Sie bezogen sich auf die Perlenkette 
der Schinagl, die Ephrussi dem Gwendl in Kommission gegeben hatte. 
Im Laden hatte sie lange vergeblich gewartet. Der Kommissionar Heil- 
pern aus Antwerpen hatte sie schliesslich mitgenommen, Der Juwelen- 
handler Perlester hatte sie gekauft. 2000 Gulden hatten sie verdient, zu 
zweit. Fiinfzigtausend Gulden waren die Perlen wert gewesen. Fur 
sechzigtausend - so sagte man in Fachkreisen - hatte sie der Perlester 
verkauft. Ja, Antwerpen war ein internationaler Markt; Wien war kei- 
ner. Tausend Gulden waren immerhin keineswegs zu verachten. Ja, da 
kam also der Schah von Persien wieder. Nun, weiss Gott, es konnte 
noch einmal etwas zu verdienen geben. Der Kommerzialrat Gwendl 
wurde heiter. »Herr Kommerzialrat wissen vielleicht« - begann Lazik 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 687 

- er' begann gewohnlich in der dritten Person - »Herr Kommerzialrat 

wissen wahrscheinlich, wo diese beriihmten Perlen geblieben sind?« 

Der Kommerzialrat erzahlte, was er wusste. 

Aber er versprach, sich bei dem Antwerpener Kollegen Perlester nach 

dem weiteren Schicksal der Perlen zu erkundigen. In einer Woche 

konnte Lazik genauere Auskunft holen. 

Man sprach noch von Wind und Wetter, von der Hofgesellschaft und 

vom schlechten Gang der Geschafte, in dieser Jahreszeit, wo doch 

sonst, in alien vergangenen Jahren, das Geschaft »gebluht« hatte, wie 

Gwendl sagte. 

»Nun, bald ist Weihnachten!« - sagte Lazik. 

Und er schied mit dieser Feststellung von dem getrosteten Juwelier, 

der langsam zu hoffen begann, dass der mohammedanische Schah just 

und ausgerechnet zu den christlichen Festtagen nach Wien kommen 

konnte. Seine offenen Augen sahen ein Traumland, einen Orient voller 

Weihnachtsbaume. 

ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Nach einigen Tagen wusste Lazik, welchen Weg die Perlen des Schahs 
genommen hatten. Aber er beschloss, den Lesern der »Kronenzei- 
tung« nicht sofort und etwa auf eine so plumpe Weise, wie es sein 
phantasieloser Kollege Keiler getan hatte, die ganze Geschichte vorzu- 
tragen. Diese Geschichte musste, im Gegenteil, sorgfaltig komponiert 
werden; komponiert musste sie werden. 

Er kiindigte eine Serie von Artikeln an, unter dem Titel: »Die Perlen 
von Teheran. Hinter den Kulissen der grossen Welt und der Halb- 
welt«. Er begann mit einer einfachen Feststellung, wie es gelegentlich 
oft bedeutende Romanciers zu tun pflegen: namlich mit der Nachricht, 
dass Josephine Matzner - Lazik schrieb: »eine gewisse Josephine 
Matzner« - kurzlich gestorben sei. Und nach der iiblichen rhetori- 
schen Frage: »Wer war diese Josephine Matzner ?« erfolgte die Be- 
schreibung des Hauses, seit seiner Griindung im Jahre 1857, seiner 
Pensionarinnen und seiner Besucher und Stammgaste aus der grossen 
Lebewelt, ohne Namen allerdings, aber mit unmissverstandlichen 
Kennzeichnungen. Die Serie dieser Artikel wurde gleichzeitig in klei- 
nen Heftchen verkauft, im Zeitungsdruck zwar, aber mit einem bunten 
Umschlag, auf dem ein sympathisch halbentkleidetes Madchen auf 



688 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

einer giftgriinen Chaiselongue zu sehen war, Sie war ganz Buntheit 
und Erwartung. Sie lag da, matt und angriffsbereit zugleich. Die Hefte 
wurden in den Tabaktrafiken und in Papierladen verkauft. Gymnasia- 
sten, Naherinnen, Waschermadchen und Hausmeister kauften, selbst 
wenn sie die Artikel in der »Kronenzeitung« bereits gelesen hatten. Es 
war lange noch keine Rede von den Perlen, die der Titel jeden Tag 
verhiess. 

In diesen Wochen kam Lazik nur fur ein paar Minuten taglich in das 
Cafe Wirzl. Er konnte die Kollegen und die Geheimen nicht recht 
leiden. Er spurte, dass sie ihn ein wenig beneideten, aber audi, dass sie 
ihn nicht mehr wie einen vollig Gleichberechtigten behandelten. Sie 
waren keine »Dichter«. Sie entfalteten keine »Phantasie«. Sie hatten 
»Nachrichten«, grosse, kleinere, sensationelle, aber niemals »Ge- 
schichten«. In Zeiten der Diirre, wie sie jetzt herrschten, klaubten sie 
bescheiden die bescheidenen Tagesneuigkeiten auf, eine Messersteche- 
rei, eine Geburt von Drillingen, einen Fenstersturz aus dem vierten 
Stock. Lazik hatte geradezu einen Verrat an dem Metier begangen. Er 
kam nicht einmal als Kiebitz beim Tarock noch in Betracht. 
Er hatte oft davon getraumt, auf Ein mal Geld zu verdienen und den 
Beruf aufzugeben. Er naherte sich den Sechsundfiinfzig, er hatte nur 
noch wenig Zahne im Mund, und sein Kopf war kahl. Seine Frau war 
in jungen Jahren gestorben, seine Tochter lebte bei seiner Schwester in 
Podiebrad. Er hatte keine Sorgen, aber Note, kleine Schulden, peinli- 
che Glaubiger, Zinsen, die gefahrlich anschwollen, Kellner, die nicht 
mehr kreditierten. Ach! und seine Seele durstete nach den Kostlichkei- 
ten, die in den oberen Spharen vorhanden waren. Er liebte das teure 
Leben, die Rennen, die stillen Restaurants, in denen die stolzen Kell- 
ner bedienten und die stolzen Herrschaften mit kiihlen Gesichtern, 
herben und massvollen Gebarden, Speise- und Trank genossen, um 
dann in geschlossenen Kutschen heimzukehren in ihre noch kuhleren, 
noch mehr geschlossenen Hauser. Immer, wenn Lazik das Cafe Wirzl 
verliess, die Geheimen und die Kollegen und die fettigen Spielkarten 
und den Geruch aus Kaffee, Okocimar, billigen Zigarren und warmen 
Salzstangeln, schien es ihm, dass er sich etwas vergeben habe, und dass 
er eigentlich gesunken sei. Es war klar: sein Weg hatte nach unten 
gefuhrt: vom Dichter, der sogar ein Stuck im Burgtheater eingereicht 
hatte, iiber den Gerichtssaalstenographen zum Polizeireporter, der in 
Fachkreisen »Unterlaufel« genannt wurde. Zum ersten Mal seit dreis- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 689 

sig Jahren stand der Name Bernhard Lazik gedruckt - nicht einmal in 
der Zeitung, sondern auf dem bunten Titelblatt der kleinen Heftchen. 
Lazik schickte sie seiner Schwester und seiner Tochter nach Podie- 
brad. Was blieb von ihm iibrig? Eine Notiz in Nonpareille in der 
»Kronenzeitung«: »Gestern verschied unser langjahriger Mitarbei- 
ter. . .« und Schluss. Und ein paar Ellen auf dem Wahringer Friedhof. 
Das »Kabinett« das er in der Rembrandstrasse bewohnte, war nicht 
viel geraumiger. Auch war es nicht heller als ein Grab, denn es »ging« 
in den Hausflur. Sparen hatte er niemals gekannt. Er verlor das Diirf- 
tige, das er verdiente, beim Rennen und im Spiel. Man zahlte ihm zwei 
Kreuzer die Zeile. Ein »Coup«! sagte er sich manchmal - Lazik, nur 
ein einziger »Coup«! 

Nach ein paar Tagen, in denen er sich sehr einsam vorkam, und sogar 
ein wenig bitter wurde, weil es ihm schien, dass nicht er seine Bekann- 
ten zu meiden angefangen hatte, sondern umgekehrt, dass er von ihnen 
gemieden werde, begann er, jeden Morgen in der »Sicherheit« die Mel- 
dezettel der neuangekommenen Hotelgaste zu studieren. Von alien 
»Oberen Zehntausend« die heimisch gewesen waren im Hause der 
Matzner, interessierte ihn lediglich der Baron Taittinger. Noch wusste 
Lazik nicht genau, unter welchem Vorwand er zum Rittmeister 
kommen wurde; noch auch, was er ihm eigentlich vorschlagen wollte. 
Er wusste nur, dass er mit Taittinger wiirde sprechen miissen; ferner, 
dass am funfzehnten November die dreihundert Gulden fallig waren, 
die er dem Brociner, dem »Blutsauger« schuldig war. In diesen Tagen 
war es Lazik, als befande er sich auf einem Kreuzweg seines Lebens. 
Ein formloser Grossenwahn umnebelte sein Gehirn und liess ihn zu- 
weilen glauben, dass er jetzt oder niemals seine entscheidenden Ent- 
schlusse zu treffen habe. 

Eines Tages fand er tatsachlich in der »Sicherheit« den Meldezettel des 
Rittmeisters. Er wohnte, wie immer, im »Imperial«. Lazik machte sich 
sofort auf den Weg, ehe er noch recht wusste, was er dem Baron zu 
sagen haben wiirde; ja, ehe er sich noch dessen bewusst geworden war, 
dass er wirklich den Weg zum Hotel Imperial eingeschlagen hatte. Er 
hatte ein paar seiner bunten Heftchen in der Tasche und er zog sie 
unterwegs immer wieder hervor, betrachtete seinen Namen auf dem 
Titelblatt. Schwarz und fett stand er knapp unter dem giftgrtinen So- 
pha, auf dem das Madchen ruhte. Er dachte auch an die dreihundert 
Gulden, die am funfzehnten November fallig waren. Und der »Blut- 



69O ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sauger Brociner« erschien ihm hasslicher und gefahrlicher als sonst / 
obwohl er ihn seit zwei Jahren genau kannte und die Kunst besass, ihn 
zu besanftigen - »ihm die Giftzahne auszubrechen« - wie er es 
nannte/. 

Es war dem Baron Taittinger uberaus unangenehm, Besuche zu emp- 
fangen. Er liebte die ihm bekannten Personen nicht sonderlich, sie wa- 
ren meist langweilig. Auch die nicht-langweiligen konnten zumindest 
»fad« werden, wenn man sich nicht auf sie gehorig vorbereitet hatte. 
Als man ihm die Visitkarte Laziks reichte, erschrak er zuerst. Eine 
ausserst peinliche Vorstellung erweckte in ihm schon der Name: Lazik 
allein. Unter dem Namen Bernhard Lazik stand das Wort: »Redak- 
teur«. Es war einer jener Berufe, die der Baron Taittinger fur ami- 
nos e« hielt. Ausser der Armeezeitung las Taittunger kein Blatt. Ja, 
wenn er gelegentlich in einer Tabaktrafik Zigaretten einkaufte, musste 
er den Blick abwenden von den hasslich aufgestapelten, nach frischer 
Druckerschwarze penetrant riechenden Zeitungen. Er wusste nicht ge- 
nau, was sie enthielten und wozu sie eigentlich vorhanden waren. 
Wenn er gelegentlich in einem Cafe einen jener Herren sah, die vor 
einem Berg eingespannter Zeitungen sassen, erfasste ihn beinahe Zorn. 
Jetzt sollte er sogar einem leibhaftigen Redakteur begegnen! Unaus- 
denkbar! Er legte die Visitkarte wieder auf die metallene Platte und 
sagte zum Ober: »Ich bin nicht zu sprechen!« - Er atmete auf. 
Aber es vergingen kaum drei Minuten, und schon stand vor ihm ein 
Mann, kahlkopfig, mit aschgrauem Angesicht und einem grauen, trist 
herabhangenden Schnurrbart. »Ich bin der Redakteur Bernhard La- 
zik* - sagte der Fremde. Seine Stimme war gebrechlich und erinnerte 
den Rittmeister an ein wehmutiges verstimmtes Spinett, auf dem er 
irgendwer, irgendwann, in seiner Kindheit vielleicht, gespielt haben 
mochte. 

»Was wollen 7 s denn von mir?« - fragte Taittinger. 
»Ich mocht', Herr Baron mochten mich anhoren« - antwortete Lazik. 
»Im eigenen Interesse« - fugte er hinzu, noch leiser, beinahe schon 
weinerlich. 

»Ja, - und?« sagte Taittinger - und er war entschlossen, uberhaupt 
nicht zu horen. 

»Wenn Herr Baron gestatten«, begann Lazik, »die Geschichte ist nicht 
einfach. Es handelt sich um eine polizeiliche Angelegenheit, im Ver- 
trauen gesagt — « 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 691 

»Ich wiinsche nichts Vertrauliches« - unterbrach der Rittmeister. Ob- 
wohl er sich vorgenommen hatte, gar nicht zuzuhoren, musste er doch 
jeden Laut dieses wehmiitigen Mannes in sein Ohr dringen lassen. Eine 
merkwiirdige Kraft hatte diese Stimme. »Vertrauen, Herr Baron, nab* 
ich auch nicht sagen wollen« - sprach die Stimme weiter. »Da ist nam- 
lich vor kurzem die gewisse Josephine Matzner gestorben« — der 
Name schlug mit einiger Wucht an das Ohr Taittingers, er empfand 
ihn wie den Anprall eines korperlichen Gegenstands an die Schlafe. 
»Ah, die ist gestorben?« - fragte er. Ein kieine Freude leuchtete in 
Laziks Augen auf. »Gestorben« fuhr er fort, »und ehe man es noch 
glauben konnte! Und der Schinagl, die jetzt sitzt, hat sie eine Kleinig- 
keit hinterlassen. Viel zu wenig bei dem grossen Vermogen.« Lazik 
schwieg eine Weile. Er wartete. Der Rittmeister sagte zwar nichts, aber 
er verriet so deutlich ein interessiertes Schweigen, dass Lazik sich gera- 
dezu aufgemuntert fiihlte. Seine Stimme wurde starker. Er stand zwar 
immer noch vor dem Tischchen, in der Halle und glich immer noch 
einer Art von Dienstmann, aber er wagte doch schon, mit beiden Han- 
den die lederne Lehne des leeren Stuhls anzufassen. Es war, als diirfte 
er jetzt wenigstens schon seine Hande Platz nehmen lassen. Taittinger 
bemerkte es, unwillig zuerst, aber im nachsten Augenblick auch schon 
nachsichtig. Er gestand sich zwar noch nicht, dass ihn der ominose 
Mensch interessierte, wenn auch in einer lastigen Weise. Aber er fand, 
dass es auffallend werden konne, wenn der Kerl noch lange aufrecht 
bliebe. Und er sagte: »Setzen Sie sich!« Lazik sass bereits. Er hatte sich 
so hurtig hingesetzt, dass Taittinger seine Einladung bereute. Sein sil- 
bernes Zigarettenetui lag aufgeschlagen auf dem Tisch, Er hatte Lust, 
sich eine Zigarette anzustecken, aber da sass nun dieser Kerl - musste 
man ihm nicht auch eine anbieten? Taittinger wusste genau, wie man 
Gleichgestellte, Hohergestellte, Subalterne und Diener behandelt; mit 
Redakteuren aber konnte er sich keinen Rat schaffen. Er entschloss 
sich, nach langerer Ueberlegung, zuerst selbst eine Zigarette anzuziin- 
den und dann erst dem Redakteur eine anzubieten. 
Lazik rauchte langsam und ehrfurchtig, als ware just diese »Aegypti- 
sche« ein besonders kostliches Kraut. Er zog seine Heftchen aus der 
Tasche und legte sie auf den Tisch. »Die geb' ich jetzt heraus, Herr 
Baron! « - sagte er »bitte, nur den Anfang anzuschaun!« - »Ich les* 
keine BuchPn!« - sagte Taittinger. »Dann darf ich wohl vorlesen?« 
fragte Lazik. Und ehe noch eine Antwort erfolgte, begann er zu lesen. 



692 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Jetzt is schon eh alles gleich - dachte Taittinger. Aber, siehe da; gleich 
nach dem Satz: »Wer war diese Josephine Matzner?« wurde er neugie- 
rig wie ein Kind. Mit unverhohienem Vergnugen beugte er sich vor, 
vernahm die Geschichte von der Griindung des Hauses Matzner, und 
an den charakteristischen Kennzeichen, die der Verfasser den Anfangs- 
buchstaben der Stammgaste beigefiigt hatte, erkannte er zu seiner gros- 
sen Freude den und jenen seiner friiheren Freunde und Genossen, die 
»Langweiligen«, die »Gleichgultigen« und die »Charmanten«. Wenn 
Lazik eine Pause machte, und bescheiden, fast bekummert fragte: 
»Darf ich weiter?« - munterte ihn Taittinger auf: »Lesen 's nur, lesen *s 
nur Herr«. - »Dies ist die erste Folge!« - sagte der Autor, als er das 
erste Heftchen vorgelesen hatte. »Verkaufen 's mir die Biichln!« sagte 
der Rittmeister. - »Herr Baron erlauben, dass ich sie gratis offeriere« - 
sagte Lazik, und schon klopfte er an den metallenen Tischrand mit 
einem Beistift und befahl dem Kellner: »Tinte und Feder!« Und schon 
stand alles da, und Lazik tauchte die Feder ein und schrieb in jedes der 
drei Heftchen die Widmung: »Herrn Rittmeister Baron Taittinger ehr- 
furchtsvoll gewidmet vom Verfasser Bernhard Lazik«. 
»Dank' schon !« - sagte der Baron. »Schicken's mir die nachsten. Ich 
les' sie gern.« 

»Sehr geschmeichelt, Herr Baron« - erwiderte der Verfasser. »Aber es 
ist ein Problem, ich zerbrech' mir den Kopf, wie ich die Bucher weiter 
fortsetzen soll.« 

»Aber, wie denn?« - rief Taittinger. »Sie sind ja grossartig unterrichtet, 
eingeweiht, indent' man sagen!« 

»Gewiss, gewiss, Herr Baron« - antwortete Lazik. »Aber das kost' 
halt was, und ich such' eben Interessenten! Ich such', kurz gesagt, et- 
was Geld, um meine angefangene Arbeit fortsetzen zu konnen. Ja, das 
Leben fur unsereins ist schwer!« Lazik seufzte. Sein Kopf fiel auf die 
linke Schulter. Taittinger hatte Mittleid mit ihm, er bot ihm eine Ziga- 
rette an. Der Kerl ist gar nicht langweilig - dachte er. »Wieviel brau- 
chen's denn fur Ihre Bucheln?« fragte er. Lazik dachte zuerst an tau- 
send Gulden, und ein jaher froher Schreck durchzuckte sein Herz. 
Dreihundert Gulden dem Blutsauger Brociner, dann blieben sieben- 
hundert, es war ein »Coup«, es war der »Coup«, Lazik! Gleich darauf 
verdoppelte seine habsuchtige Phantasie die Summe. »Zweitausend!« - 
sagte die Phantasie. Er sah die Summe in Ziffern und in Buchstaben, 
geschrieben und gedruckt und als bares Geld in zwanzig blauen Hun- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 693 

dertguldenscheinen. Er fiihlte, wie seine Hande heiss und feucht wur- 

den und gleichzeitig einen Frost, die ganze Wirbelsaule entlang, einen 

eisigen Faden. Er zog das Taschentuch, eine Bewegung, die Taittinger 

missfiel und vor der er am liebsten die Augen geschlossen hatte, trock- 

nete die Hande unter dem Tisch und fliisterte: »Zweitausend, Herr 

Baron !« 

»Zweitausend Gulden kostet das?« - fragte Taittinger. Er kannte nicht 

genau den Wert des Geldes, aber er wusste zum Beispiel, was ein Pferd 

kostete, was eine Uniform, was ein Fass Burgunder, was ein Fasschen 

»Napoleon«. Vor Jahren hatte er einmal tausend Gulden in Monte 

Carlo verloren. Aber so kleine diinne »Bucheln«! - Nun, der Kerl war 

nicht langweilig; das nicht! Wenn er noch die Leute mit Namen nen- 

nen wiirde!« Das ware was! 

»Ja, warum nennen's denn die Leut'nicht mit Namen, sondern nur mit 

Anfangsbuchstaben?« - fragte der Rittmeister. 

»Weil dann, weil dann - — Herr Baron - Herr Baron selber drin vor- 

kommen mussten!« fliisterte Lazik. 

»Naturlich, ich nicht!« - sagte Taittinger. 

Nie in seinem Leben - das ihm iibrigens in diesem Augenblick sehr 

lang erschien und reich an Erlebnissen - hatte er Hass empfunden. 

Plotzlich aber, jetzt, in dieser Stunde, fiihlte er zum ersten Mai Wollust 

in der Vorstellung, dass der und jener der ihm verhassten »Langweili- 

gen« in einem so hubschen bunten Buchl mit Namen und Rang ver- 

zeichnet stehn konnte; auch Bitterkeit empfand er gegen die »Lang- 

weiligen«, die ihn von Wien, in die Garnison zuriickversetzt hatten. Es 

war eine unschuldige, kindliche Bitterkeit, ein Witz, eine Laune eher - 

als ein Hass. - 

»Ich kann auch die Herren nennen, wie Herr Baron wiinschen!« sagte 

Lazik. 

»Gut!« - sagte der Baron. »Grossartig!« 

Lazik blieb still. Sein Herz klopfte gewaltig, seine Glieder waren 

plotzlich schwer wie Blei und zugleich fiihlte er doch, wie seine Ge- 

danken leicht, verwirrte Vogelschwarme, in seinem armen Kopf her- 

umschwirrten. Sie schwirrten herum, zweitausend Gedanken, jeder 

Gedanke ein Gulden, zweitausend Gulden. 

Der Baron Taittinger fragte: »Zweitausend, was?« 

»Jawohl, HerrBaron!« hauchte Lazik. 

»Die holen' sich morgen!« sagte Taittinger. 



694 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Lazik stand miihsam auf. Er verneigte sich tief und murmelte: »Zu 

ewiger Dankbarkeit verpflichtet, Herr Baron !« 

»Griiss Gott!« - sagte Taittinger. Er steckte die drei Heftchen in die 

Tasche. 

Nach gewohnter Weise, wie er es schon oft getan hatte, depeschierte er 

an den »langweiligen« Oekonomen: »20oo Imperials 

Die zweitausend kamen, aber mit einer Beglekdepesche: »Befohlenes 

anbei, dringlicher Brief unterwegs.« 

Diese Depesche zerris der Baron aus unuberwindlichem Ekel vor der 

Wendung: »dringlicher Brief«. Er steckte das Geld in ein Couvert, 

befahl dem Portier, es dem »Herrn von gestern nachmittag« auszuhan- 

digen, und stieg in einen Zweispanner. Er war lange nicht mehr in 

Grinzing gewesen. Morgen musste er in die Garnison zuriick. 

DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Sonst pflegte Taittinger in der Eisenbahn sofort einzuschlafen. Heute 
las er in den Heftchen Laziks, und sogar in der ersten Nummer, die 
ihm der Verfasser ja bereus vorgelesen hatte. Er stellte sich vor, dass 
alle Welt diese Heftchen mit dem gleichen begeisterten Behagen lesen 
musste. Morgen wollte er im Regiment von seiner liter arischen Ent- 
deckung erzahlen und eventuell im Kasino einiges vorlesen, freilich in 
Abwesenheit des Obersten. Unter solch heiteren Gedanken verging 
die Zeit bis zur Ankunft in die Garnison. 

Es war Abend, als er ausstieg. Ein dunner langweiliger und kalter Re- 
gen rieselte sacht und zudringlich hernieder und umgab die armseligen 
gelblichen Petroleumlampen auf dem Perron mit einem nassen Dam- 
mer. Auch im Wartesaal erster Klasse lauerte eine seelenbedriickende 
Triibnis, und die Palme auf dem Biifett liess die schweren schlanken 
Blatter hangen, als stiinde auch sie im herbstlichen Regen. Zwei Gas- 
lampen, Neuerung und Stolz der Bahnstation, hatten schadhafte Netze 
und verbreiteten ein ewig wechselndes grunlich-trubes Licht. Ein jam- 
merliches Surren ging von ihnen aus, wie ein Wehklagen. Auch die 
weisse Hemdbrust des Ober Ottokar zeigte verdachtige Flecke unbe- 
kannter Herkunft. Der metallene Glanz des Rittmeisters brach sieg- 
reich in all diese Triibsal. Der Ober Ottokar brachte einen Hennessy 
»zur Erwarmung« und die Speiskarte. »Heut gibt's Suppe mit Leber- 
knoderln, Herr Baron !« - »Halten , s die Goschen!« - sagte Taittinger 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 695 

frohlich. Immer, wenn er dergleichen sagte, wiinschte er eigentlich das 
Gegenteil, und das wusste Ottokar auch. Deshalb bot er auch noch ein 
miirbes Beinfleisch mit Kren an und Zwetschkenknodel, extra ge- 
kocht. »Die Goschen halten und servieren!« sagte Taittinger. Der Ko- 
gnak erheiterte ihn noch mehr und verstarkte seinen Appetit. Er erhob 
sich, um jetzt erst seinen Mantel abzulegen. Ottokar eilte hinzu. Aus 
der rechten Manteltasche lugten die bunten Rander der Lazikschen 
Werke hervor, Ottokars liisternes Auge erhaschte sie sofort. »Ge- 
schichten aus der grossen Welt und aus der Halbwelt« - erlaubte sich 
der Ober zu sagen. Wenn der Rittmeister einmal »Halten's die Go- 
schen!« gesagt hatte, durfte man mit ihm iiber Alles sprechen. »Ah, Sie 
lesen auch, Ottokar?« fragte Taittinger. »Jeden Morgen die »Kronen- 
zeitung«, Herr Baron, erlaube mir ergebenst zu bemerken! Da stehn 
die Geschichtn eh' drin, und frischer noch, direkt wie vom Backer! « 
»Ah, so, ach so« - sagte Taittinger nur. Er ass mit gesundem Vergnii- 
gen, fand das Beinfleisch »famos« und die Zwetschkenknodel »direkt 
interessant«, trank zum Schwarzen einen Sliwowitz und beschloss, 
vorlaufig im Wartesaal sitzen zu bleiben, bis zur Ankunft des Wiener 
Abendzuges, der erst um n Uhr 47 kam und manchmal noch den oder 
jenen verspateten Kameraden brachte, wenn auch meist nur Offiziere 
des Landwehrregiments, mit dem die Dragoner die Garnison teilten. 
Es gab manchmal solche Launen, solche Abende. Solange man sich 
noch auf der Station befand, war man gleichsam noch nicht in die Gar- 
nison zuruckgekehrt. Es regnete draussen auch ekelhaft. Die Fiaker 
taugten wenig in dieser Stadt, und das Pflaster war nicht ordentlich. 
Man blieb lieber sitzen. Ottokar konnte Patiencen legem Taittinger 
selbst hielt es fur unschicklich. Ottokar legte fur ihn, stehend, ihm 
gegeniiber, vorgeneigt und nachdenklich, die Serviette iiber der Schul- 
ter, als war's eine Kelle. Dawischen redete Ottokar. Er war noch jung, 
er gedachte, »sich zu verbessern«, er hatte in Wien Kellner gelernt, er 
wollte bald nach Wien zuriick. In Wien passierten noch Geschichten, 
wie sie da in den Biichl'n und in der »Kronenzeitung« beschrieben 
waren. Ja, und manche Herrschaften waren so genau beschrieben, dass 
man sie sogar erkannte. »Da schau her! Man erkennt sie!« rief Taittin- 
ger. Ja, sagte Ottokar. Der Herr Hanfl - es war der Pachter der Bahn- 
hofrestaurants erster, zweiter und dritter Klasse - wusste alles. Er war 
seinerzeit, als der Schah Wien besucht hatte, Restaurateur auf der Wie- 
den gewesen. Er kannte das Haus, die Geschichte von den Perlen, der 



6$6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ganze Bezirk hatte damals von nichts anderem gesprochen. »Ja, und 
sogar Herrn Baron« - sagte Ottokar unbedacht, schwieg und tat so, als 
dachte er plotzlich angestrengt iiber den Ausgang der Patience nach. 
»Was haben Sie da gesagt?« fragte Taittinger. 

Es half nichts, der Ottokar musste erzahlen. So war es also, man 
kannte Taittingers Geschichte. Ottokar musste sogar den Restaurateur 
aus dem Kontor holen. Der Restaurateur, Herr Hanfl, erzahlte Einzel- 
heiten, sagte aber nichts Gewisses iiber den Baron selbst. Er erzahlte 
mit dem aufgeraumten Behagen der Menschen, die schon lange auf 
eine Gelegenheit gewartet haben, um etwas mitzuteilen, was sie allein 
nur wissen konnen. »Woher kennen's denn die Geschichte ?« - fragte 
Taittinger schliesslich. Der Restaurateur beugte sich etwas vor - viel zu 
viel dachte Taittinger - und fliisterte beinahe so, wie man mit einge- 
weihten Komplizen zu flustern pflegt: »Der Herr Inspektor Sedlacek 
ist mein spezieller Freund, Herr Baron !« 

Auf einmal schien es dem Rittmeister, dass sich die Welt verwandelt 
habe, oder vielmehr, dass sie sich ihm in ihrer ganzen grauenhaften 
Gestalt zu entschleiern beginne. In seinem ganzen Leben gab es eine 
einzige peinliche Affare. Seit vielen Jahren wurgte sie ihn, ein ekelhaf- 
ter harter Bis sen, den man nicht verschlucken kann und auch nicht 
wieder ausspucken. Zu keinem Menschen in der Welt konnte er von 
dieser Affare sprechen. Jetzt kam sie ihm entgegen, diese Affare, die 
Bahnhofs restaurateurs kannten sie bereits. Wahrscheinlich sprachen 
auch die Kameraden, zu mindest diese hinterhaltigen Landwehroffi- 
ziere von der Affare. Die scheussliche Gestalt des Geheimen Sedlacek 
sah Taittinger, und jenen Augenblick auf der Treppe erlebte er wieder, 
den leicht geliifteten Zylinder iiber dem ordinaren AntHtz mit den 
glashellen Augen, die an blassblaue Lampchen erinnerten, mit dem 
hochgezwirbelten Schnurrbart voll sanfter goldbrauner Frechheit, un- 
ter dem die starken, langen, gelben Pferdezahne sichtbar wurden. 
Der Restaurateur sprach noch weiter, aber Taittinger hone nicht mehr 
zu. Er vernahm plotzlich, was er bis nun nicht zur Kenntnis genom- 
men hatte, das triibselige Trommeln des Regens auf das glaserne Per- 
rondach und das wehklagende Surren der giftgriinen Gaskandelaber. 
Ohwohl Hanfl noch mitten im angeregten Erzahlen war, erhob sich 
Taittinger, liess sich den Mantel anziehn, setzte die Miitze auf, befahl, 
man mochte ihm Reisetasche und Rechnung zum »Schwarzen Elefan- 
ten« schicken und ging fast schon wie ein verlorener Mann hinaus. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 697 

Ware nicht sein Sporrenklirren gewesen, man hatte glauben konnen, er 

sei verschamt hinausgeglitten. 

Die Kaiser-Josephstrasse, die vom Bahnhof geradeswegs in die Mitte 

der Stadt, zum Rathaus fiihrte, war still, der kalte Regen allein be- 

wohnte sie. Allein mit dem Regen und der Strasse war der Rittmeister 

Taittinger. 

VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Schlimme oder auch nur ernstere Ahnungen und Vorgefuhle waren 
ihm unbekannt gewesen bis zu dieser Stunde. Unangenehme, das 
heisst: langweilige Stimmungen konnte er in musterhafter Weise leicht 
verscheuchen. Diesmal gab er sich ihnen preis, wie dem Regen und der 
Nacht und der Kaiser Josephstrasse. Friiher hatte er immer noch, so 
oft er aus Wien zurikkkam, einen kleinen Sprung ins Kasino gemacht, 
um sich »wieder einzuleben«. Heute aber fliichtete er beinahe ins Ho- 
tel »2um schwarzen Elefanten«. Die Oberleutnants Stockinger und 
Felch wohnten auch dort. Taittinger wollte ihnen um keinen Preis be- 
gegnen. Er ging sofort in sein Zimmer. Er machte nicht die gewohnte 
grosse Nachttoilette, die er seit fiinfzehn Jahren wie einen erhabenen 
Ritus zu vollfuhren pflegte! »Lass das!« sagte er zum Burschen, der in 
gewohnter Weise Kamm und Biirste, Zahnpasta, Pomade fur die 
Haare, das Netz, das den Scheitel zu bewahren hatte, Vaseline und 
Kakaobutter auf dem Stuhl auszubreiten begann. Der Rittmeister liess 
sich nur die Stiefel ausziehn. »Geh' schlafen!« - sagte er dann. Er legte 
sich aufs Bett, in Hosen, in Strumpfen. Er wagte sich nicht auszuziehn, 
er verstand selbst nicht, warum er zum ersten Mai in seinem Leben 
Angst vor der Nacht hatte. Er wollte gleichsam den Tag, den Abend 
noch ausdehnen. Er hatte Angst vor dieser Nacht. Ich werde ja nicht 
einschlafen konnen - dachte er. Aber er schlief sofort ein. Er verfiel in 
Schlaf, als hatte man ihn betaubt. 

Dennoch war seine Furcht vor dieser Nacht berechtigt gewesen, denn 
ihm traumte zum ersten Mai teils Furchterliches, teils unsaglich Trau- 
riges. So sah er sich zum Beispiel die marmorne rotbekleidete Treppe 
hinuntergehn und Sedlacek ihm entgegenkommen und den Zylinder 
luften; aber er selbst, der Taittinger, war auch zugleich der Sedlacek; er 
selbst liiftete den Zylinder; er selbst kam sich entgegen. Er ging die 
Treppe hinauf, er ging sie aber auch gleichzeitig hinunter. Plotzlich 



698 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

stand er in der Kanzlei des Direktors, in der Strafanstalt in Kagran, 
und der Polizeiarzt fragte ihn: »Was fehlt Ihnen? Warum geben Sie mir 
keinen Bericht iiber die Zustande in meinem Regiment ?« Er konnte 
nicht antworten, der arme Taittinger. Er fiirchtete auch, dass der Poli- 
zeiprasident jeden Augenblick hereinkommen konnte und sagen: Den 
Baron Taittinger kenne ich gar nicht. Ferner erschien auch die Graf in 
Helene W. und hatte einen rasierten Kopf, genau wie die Mizzi Schi- 
nagl, und sie verlangte alle ihre Briefe zuriick. Er konnte nur sagen, 
dass es ein schrecklicher Irrtum sei, niemals habe er von der Grafin 
irgendwelche Briefe erhalten, schon bestimmt keine rekommandierten. 
»Bitte, Grafin, « sagte er, »fragen Sie den Rechnungsunteroffizier Ze- 
nower«. »2u spat, zu spat!« rief sie, und er erwachte. Der Bursche 
hatte ihn geweckt. 

Es war spat, dreiviertel Sieben, er fand keine Zeit mehr, sich rasieren 
zu lassen. Zwei Korporale, Leschak und Kaniuk, hatte er fur heute 
zum Rapport befohlen, weil sie vorvorgestern unrasiert auf dem Exer- 
zierplatz erschienen waren. Das dienstliche, das soldatische Gewissen 
plagte den Rittmeister. Einerlei, er musste hinein, in Stiefel, Rock, 
Tschako und schnell zur Kaserne. Sie sassen schon in den Satteln, die 
ganze Eskadron. Es war keine Zeit mehr, die Namen zu verlesen. Es 
regnete sacht und unerbittlich, wie es gestern abend geregnet hatte. 
Der Regen verband das Gestern mit dem Heute, als ob dazwischen 
kein neuer Sonnenaufgang stattgefunden hatte! Als wiirde nie mehr 
eine neue Sonne aufgehn! . . . 

Das Regiment formierte sich, das breite, schwarzgelb gestreifte Dop- 
peltor ging auf, man ritt hinaus. Im Sattel erst fuhlte Taittinger wie der 
die erwachende Wirklichkeit. Er konnte jetzt erst erkennen, dass er 
alles Grausige nur getraumt hatte. Durch den Sattel noch und noch 
durch die Schafte seiner Stiefel fuhlte er die Warme und das Blut des 
Pferdes, das er ritt. Heute sass er gut auf seiner braunen Stute. Wally 
hiess sie. Er liebte sie, obwohl sie lange nicht so intelligent war wie sein 
Schimmel Pylades. / So hatte er ihn getauft, denn er lebte in der Mei- 
nung, dass Pylades ein griechischer Philosoph gewesen sei. / Wally war 
langsam, storrisch manchmal, man musste ihr lange zureden. Ein sach- 
ter Druck der Schenkel geniigte niemals. Launisch war sie halt, nicht 
umsonst ein Frauenzimmer und urplotzlich aus Tragheit in Uebermut 
umsiedelnd. Aber, man liebte sie eben. 
Als er auf der Waldwiese absass, war er fast schon wieder der alte, der 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 6$$ 

gewohnliche Taittinger. Er nahm den Rapport ab, die Unrasierten be- 
strafte er sehr streng, je drei Tage Einzelarrest. »Eine Schande fur eine 
Charge, unrasiert!« - sagte er. Er befiihlte dabei unwillkurlich sein 
eigenes stachliches Kinn. Der Dienstfuhrende Prokurak sah es wohl. 
Einerlei! Jetzt kamen Gelenksiibungen, Reitubungen, Karabiner-Exer- 
zieren. Rittmeister Taittinger war heute ausserst »sekkant!« 
Vier Stunden spater allerdings, nach dem Einriicken in die Kaserne, 
stand er wieder geradezu verlegen, fast kleinlaut in der Rechnungs- 
kanzlei. Es war ein rekommandierter Brief da. Schon wieder. Man 
musste den Zettel unterschreiben. Rechnungsunteroffizier Zenower 
machte ein so erschreckend ernstes Gesicht heute, anders als sonst bei 
rekommandierten Brief en. Der Brief war auch sehr dick und schwer. 
Wenn man ihn in den Papierkorb hatte fallen lassen, so hatte es ein 
ordentliches unbehagliches und unpassendes Gerausch gegeben. Auf 
dem gelben Couvert stand »Burgermeisteramt Oberndorf«. Lieber 
jetzt, als spater - sagte sich der Baron Taittinger. Er riss den Umschlag 
auf. Er begann zu lesen. 

Dem amtlichen Schreiben des Biirgermeisters, der Taittinger mitteilte, 
dass sich ein Minder jahriger namens Alexander Alois Schinagl im Bur- 
germeisteramt gemeldet habe und unter der Angabe, der uneheliche 
Sohn des Herrn Rittmeisters Baron Taittinger zu sein, nach der 
Adresse dieses seines nauirlichen Vaters gefragt habe und nach der sei- 
ner Mutter, der unverehelichten Mizzi Schinagl, lag ein Brief des Oe- 
konomen bei. Dies war eigentlich kein Brief, sondern eine Art mathe- 
matischer Schulaufgabe, wie man sie den Kadetten in Mahrisch-Weiss- 
kirchen tiickischer Weise aufzugeben pflegte. Lediglich den allerletz- 
ten Satz begriff Taittinger, der also lautete: »Infolge des oben Geaus- 
serten erlaube ich mir respektvoll und ergebenst, Herrn Baron mitzu- 
teilen, dass nur seine unverziigliche Ankunft hierorts noch einige 
Moglichkeiten bezw. Aussichten bieten konnte.« - Beide Brief e be- 
schloss Taittinger, dem guten klugen Zenower zu geben. Er wusste 
schon seit langem, dass er Zenower brauchen wiirde. »Lieber Zeno- 
wer! « - sagte er - »Sie haben doch Zivil?« - »Jawohl, Herr Baron! « - 
»Also, sind's so freundlich, Ziehen's heute an, und so gegen sechs, nach 
dem Befehl, erwart 5 ich Sie im Extrastiibl vom Schwarzen Elefanten. 
Die Erlaubnis fur das Zivil schreiben's sich selbst. Und sagen Sie mir 
dann genau, was die Leut 5 eigentlich von mir wollen.« 



700 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

FUENFUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Am Abend, nach dem Befehl, kam Zenower, in Zivil, ins Extrastiiberl. 
Und er sah noch ernster aus als in Uniform. Zum ersten Mai sah ihn 
Taittinger in Zivil. Es war gar nicht der Rechnungsunteroffizier Zeno- 
wer mehr, kein Untergebener, auch kein Vorgesetzter, aber auch 
ebenso kein Zivilist, sondern irgend ein Wesen zwischen Welten, zwi- 
schen Rassen, eigenartig, unverstandlich, aber auf jeden Fall duster 
und Unheil atmend- Man musste einen tiefen Schluck tun, immerhin 
gab es einige Zuversicht. »Lieber Zenower!« - begann Taittinger - 
»trinken Sie Kognak?« - Es war Taittinger, als hinge jetzt sein Wohler- 
gehn von der Bereitwilligkeit Zenowers ab, Kognak zu trinken. »Ge- 
wiss, Herr Baron !« - sagte Zenower, Er lachelte sogar. Merkwiirdig, 
wie sich die Leute verwandelten. Zenower war durchaus nicht lang- 
weilig, durchaus nicht subaltern, durchaus nicht gieichgultig. Ware er 
nicht so streng gewesen, man hatte ihn sogar zu den »Charmanten« 
zahlen konnen. Sie tranken den Kognak. »Nun« - fragte Taittinger 
und er fiihlte genau, dass ihn der Kognak noch nicht mutiger gemacht 
hatte - »Was konnen Sie mir Gutes sagen, Zenower?« - Man sah plotz- 
lich Zenowers echtes Angesicht. Es war hart und kalt, harter und kal- 
ter stieg es aus dem weissen Zivilkragen als aus den griinen Aufschla- 
gen des hoch geschlossenen Blusenkragens. Unzahlige Falten gab es 
auf der hohen Stirn, noch viel mehr Runzeln unter den Lidern und an 
den Schlafen. Ja, seine Haare selbst schienen plotzlich ergraut. Es war 
ein alterer, strenger, besonnener Herr. 

»Herr Baron« - sagte der besonnene Herr - »ich habe Ihnen leider 
nichts Gutes zu berichten. Wollen Sie mir, bitte, genau zuhoren, Herr 
Baron ?« - »Gewiss, gewiss!« - sagte Taittinger. 

»Also: Punkt eins, betrifft den Biirgermeister. Er teilt mit, dass sich 
Alexander Alois Schinagl, entlaufen der Anstalt in Graz und von der 
Gendarmerie aufgegriffen, bei ihm gemeldet habe. Der junge Schinagl 
ist vierzehn Jahre alt. Er kam in Begleitung des Zugfiihrers der Gen- 
darmerie Eichholtz zum Biirgermeister. Die Anstalt in Graz war seit 
sechs Monaten nicht bezahlt. Der Leiter der Anstalt brachte in Erfah- 
rung, dass seine Mutter, Fraulein Schinagl, augenblicklich sich in der 
Straf anstalt Kagran befinde. Sie schrieb ihm auch, auf seine direkte 
Anfrage, dass Herr Baron Taittinger der natiirliche Vater des Jungen 
sei, sie auch in der Anstalt besucht habe und gewiss fur das Kind sor- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT JOI 

gen werde. Der Junge muss diesen Brief gestohlen haben. Er fand sich 
in seinem Anzug. Er leugnete dennoch und fragte nach dem Aufent- 
halt der Mutter. Sein Vormund ist der Vater des Frauleins Mizzi Schi- 
nagl. Er befindet sich jetzt im Altersversorgungsheim in Lainz. Er ist 
beiderseitig gelahmt, sein Laden in Sievering ist sequestriert. Er lasst 
dem Burgermeister mitteilen, dass der Herr Baron Taittinger, der Va- 
ter des Jungen, bis jetzt keine Alimente bezahlt hat. - Inzwischen hat 
der Burgermeister, in Anbetracht der Umstande, den Jungen Ihrem 
Oekonomen iibergeben, damit kein grosserer Skandal entstehe. Man 
wartet auf Ihre Entscheidung, Herr Baron !« 

»Die Mizzi hat niemals Alimente verlangt« - sagte Taittinger. »Schade! 
- was soli ich also, 2enower?« 

»Wenn ich raten darf, den Jungen nach Graz zuruckschicken lassen 
und dort vorlaufig die Schuld bezahlen. Sie betragt dreihundert Gul- 
den etwa.« 

»Ja, lieber Zenower, das will ich tun.« 

»Nun Punkt zwei, Herr Baron« - sagte Zenower. Er wartete eine 
Weile. »Punkt zwei ist sehr unangenehm. Der Verwalter bittet um 
Entschuldigung, halt es aber fur seine Pflicht, Herrn Baron mitzutei- 
len, dass nach der letzten Sendung von zweitausend Gulden nach Wien 
etwaige weitere Abhebungen von Bargeld gefahrlich werden konnten. 
Herr Baron haben in den letzten vier Jahren etwa fiinfundzwanzigtau- 
send verbraucht. Es bleiben an Bargeld etwa funftausend. Dreizehn- 
tausend sind fur die Auslosung der Wechsel Ihres Herrn Cousins, des 
Barons Zernutti gezahlt worden.« 

»Ein langweiliger Mensch, der Zernutti« - sagte Taittinger. 
»Mann kann's auch so nennen«, erwiderte Zenower. Er hatte den Ritt- 
meister gern, so wie er war, mit all seiner munteren Herzlosigkeit, den 
kummerlichen paar Gedanken, fur die der Schadel ein viel zu geraumi- 
ger Aufenthaltsort schien, mit seinen winzigen Liebhabereien und kin- 
dischen Leidenschaften und den zwecklosen Bemerkungen, die ohne 
Zusammenhang in die Welt aufs Geradewohl aus seinem Munde ka- 
men. Er war ein mittelmassiger Offizier, die Kameraden waren ihm 
gleichgultig, die Soldaten, die Karriere. Zenower verstand keineswegs 
die inriere Mechanik, die ein Lebewesen, wie den Baron, zu lauter 
sinnlosen, leeren und ihm selbst schadlichen Handlungen antrieb. Fur 
Zenower, der sich uber Welt und Menschen mehr Gedanken machte, 
als das ganze Regiment, den Oberst eingeschlossen, blieb Taittinger 



JOZ ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ein Ratsel der Natur. Wenn er wenigstens ausgesprochen dumm gewe- 
sen ware! Wenn er wenigstens ausgesprochen bose gewesen ware! 
Wenn er ein leidenschaftlicher Spieler oder Liebhaber gewesen ware! 
Wenn er wenigstens sichtbar gelitten hatte unter der Versetzung! Und 
dennoch, - sagte sich Zenower, - muss er ungliicklich sein. Vielleicht 
gar hat er ein so starkes Ungliick erlebt, dass es ihm jede menschliche 
Art zu denken und zu fiihlen verschlagt! Vielleicht auch wartet auf ihn 
solch ein Ungliick, und er weiss es schon eigentlich und gleitet ihm 
entgegen. Wie konnte man denn sonst, beim Anhoren derartiger 
Nachrichten gleichgultig bleiben? Da sitzt man nun, sagt einem er- 
wachsenen Mann, dass er kein Geld mehr habe - und der antwortet 
nur: Ein langweiliger Mensch, der Zernutti! 

»Es steht schlimm um das Gut« - fuhr Zenower fort. »Die Hypothe- 
kenbelastung betragt dreissigtausend - soviel ich der Darstellung ent- 
nehme - ebenfalls zum Teil aus Schuld des Cousins. Er durfte, soviel 
ich verstehe, seinen rechtmassigen Anteil langst iiberzogen haben. Ihr 
seliger Herr Onkel hatte offenbar bestimmt, dass Ihr Herr Vetter Bar- 
geld abheben oder gar Darlehen aufnehmen ohne Ihre Zustimmung 
nicht durfe. 1st es so, Herr Baron?« 

»Ja, es wird schon stimmen!« - sagte Taittinger. »Ich nab' immer »ja« 
gesagt, er war auch immer zu langweilig. Alles gibt er fur Buben aus, 
sagen Sie Zenower, begreifen Sie, was man fur ein Vergniigen an Bu- 
ben haben kann?« 

»Nein, Herr Baron« - sagte Zenower hart - »aber es ist nicht wichtig. 
Wichtiger ist, dass Ihr Gut seit drei Jahren nichts mehr eingetragen hat. 
Vor zwei Jahren haben Sie den kleinen Fichtenwald abholzen lassen. 
Der Holzhandler ist fallit gegangen, es ist bei der Anzahlung geblie- 
ben. Vor einem Jahr war der grosse Schneefall im Mai, die Saat verdor- 
ben. In diesem Jahr ist die Ernte kummerlich. Das Wohnhaus ist 
schadhaft geworden, seit iiber zehn Jahren hat kein Mensch mehr dort 
gelebt. Von dem Zustand der Tiere nicht zu reden. Man brauchte zwei 
Gaule, es ist kein Geld da.« 

»Lauter Pech!« - sagte Taittinger, klatschte in die Hande und bestellte 
noch zwei Kognaks. 

Er trank in zwei grossen Ziigen. Er schwieg. Schon begann eine leise 
Bitterkeit gegen Zenower in ihm aufzusteigen. Aber eine grosse Ver- 
lassenheit fiihlte er ebenfalls und zugleich auch eine Spur von Dank- 
barkeit. Da war doch einer, der nahm alles Brieflesen und Ueberlegen 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 703 

und Nachdenken auf sich. Es war ein kluger Mann, der Zenower. 
Wahrscheinlich machte er es jetzt so mit ihm, wie alie klugen Leute, 
seit dem Mathematikprofessor Hauptmann Jellinek in der Kadetten- 
schule mit Taittinger zu verfahren pflegten: Zuerst schreckten sie 
mit langweiligen Dingen, zermiirbten einen, um ihn dann wieder 
aufzurichten, mit guten und gesunden Ratschlagen. Man brauchte ja 
nicht wirklich zermiirbt zu sein, man musste nur so tun als ware 
man's, dann wurde alles wieder gut. 

Diesmal aber hatte sich Taittinger verrechnet. Denn als er, das 
Schema anwendend, das ihm immer bei den Gescheiten geniitzt 
hatte, den Rechnungsunteroffizier fragte: 

»Was soil ich also tun?« antwortete Zenower: »Ihnen ist nicht zu 
helfen, Herr Baron! « - Welch eine merkwiirdige Abart der Geschei- 
ten, dieser Zenower. 

Eine lange Weile schwiegen beide. Dan bestellte Taittinger eine Fla- 
sche weissen Bordeaux. Er sah auf die Wanduhr, es war noch eine 
Stunde Zeit bis zum Nachtmahl. 

Als er vom ersten Glas getrunken hatte, begann Zenower: »Herr 
Baron, erlauben Sie mir, Alles aufrichtig zu sagen?« - Taittinger 
nickte. - »Dann also: Sie konnten fur den Augenblick den Schimmel 
verkaufen!« 

»Wen? den Pylades?« - rief Taittinger - »eher die Wally!« 
»Nein, sie bringt nicht genug, und dann wird doch der Schimmel 
dran mussen. Dann muss man Geld fur die zwei Gaule haben, Sie 
mussen Urlaub nehmen, auf das Gut fahren, das Haus reparieren 
lassen, mit den Hypothekaren sprechen, mit dem Burgermeister, 
dem kleinen Schinagl einen neuen Vormund besorgen. Ich glaube, 
ein Urlaub von drei Monaten, Herr Baron! Fur den Herrn Vetter 
diirfen Sie nichts mehr unterschreiben, das versteht sich. Wenn Sie 
all dies nicht tun, sehe ich eine triibe Zukunft. Sie werden sich zur 
Infanterie transferieren lassen mussen !« 

»Zur Landwehr, was?! Ich kann nicht marschieren, lieber Zeno- 
wer! « 

»Das ist alles« - sagte Zenower. Auch er sah auf die Uhr. »Erlauben 
Sie, dass ich mich verabschiede, Herr Baron !« »Nein, Zenower, Sie 
bleiben!« - sagte Taittinger, und er hatte dabei den flehenden Blick 
eines Knaben, den man in ein finsteres Zimmer stossen will »Bitte!« 
- sagte Zenower. 



704 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Der Rittmeister ging zum Rechen, wo sein Mantel hing, und holte die 
bunten Biichln Laziks hervor. »Kennen Sie das, Heber 2enower?« 
Zenower blatterte in den Heftchen, las hier und dort und klappte sie 
wieder zu und sagte: »Grauslich, Herr Baron!« »Im Gegenteil!« - rief 
Taittinger. Und er erzahlte, dass alle Personen, die da vorkamen, 
»glanzend getroffen« seien. Er selbst habe den Verfasser Lazik kennen 
gelernt. Und die letzten zweitausend Gulden habe er eben dem Verfas- 
ser gegeben. 

»Das ist noch schlimmer als alles Andere!« sagte Zenower. 
Er ahnte schon, nach dem Titel allein, worum es sich handelte. Auch er 
kannte die Geschichten, die man rings um Taittinger spann, seit dem 
Tage fast, an dem er zum Regiment heimgekehrt war. Als langerdie- 
nender wohlerfahrener Unteroffizier kannte er wohl jene besondere 
Abart menschlicher Schwachen, die manche Angehorige der Armee 
kennzeichnete, die phantasiereiche Schadenfreude. Langst noch bevor 
Taittinger riicktransferiert worden war, hatten manche Herren im Re- 
giment ohne Wohlwollen Geschichten von ihm erzahlt, deren Un- 
glaubwiirdigkeit sichtbar war. Man beneidete ihn wegen seines Postens 
in Wien. Dann aber, wie er wieder Soldat war wie alle anderen, begann 
man, sich zu fragen, aus welchen Griinden er seiner besonderen Ver- 
wendung enthoben worden war. Manches erzahlte der Bahnhof restau- 
rateur. Der Ober Ottokar machte Andeutungen, seitdem die Artikel in 
der »Kronenzeitung« erschienen. »Haben Sie ihm das Geld etwa gege- 
ben, damit er Sie nicht in dem Zusammenhang nenne?« - fragte Zeno- 
wer. »Nein«, antwortete Taittinger, »was weiss er denn von mir?« - 
»Gibt's denn etwas, was Ihnen schaden und was er wissen konnte, 
Herr Baron ?« 

Taittinger antwortete nicht. Es war noch schlimmer, als gestern abend 
im Wartesaal. Er hatte tagsiiber den gestrigen Abend bereits vergessen, 
trotz der beiden Briefe. Er bedauerte schon, dass er Zenower um Aus- 
kiinfte gebeten hatte. Besser ware es wohl gewesen, man hatte, lang- 
jahrigen Erfahrungen treu, die Briefe gar nicht zur Kenntnis genom- 
men. Es hatte sich aber dennoch etwas geandert, in der letzten Zeit, 
man wusste nur nicht genau, was. Man konnte sich gerade noch zur 
Not erinnern, wann diese Veranderung angefangen hatte: man konnte 
sich genau erinnern: sie war in dem Augenblick eingetreten, in dem 
Taittinger den rasierten Kopf der Mizzi Schinagl erblickt hatte. Ja, so 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 70$ 

Es war alles so schwierig und so heillos verworren! Selbst, wenn er die 
Kraft besessen hatte, Zenower ailes zu erzahlen, - auch die »Affare« - 
er hatte es in diesem Augenblick nicht vermocht, aus Unfahigkeit, 
auch nur zwei Satze logisch aneinanderzureihen. »Wenn Sie gestatten, 
Herr Baron - ich werde vielleicht gehn«, horte er Zenower sagen. 
»Neinl« rief er, »bleiben Sie um Gottes Willen! Ich kann nur im Au- 
genblick nicht sprechen. Ich muss iiberlegen, lieber Zenower! « - Aber 
er iiberlegte gar nichts. Seine Augen waren leer, zwei blaue Glasmur- 
meln. Auch das Nichtiiberlegen war sehr anstrengend. Er trank, 
rauchte, versuchte ein paar Mai vergeblich, zu lacheln, strengte sich an, 
einen Witz, ein heiteres Wort, eine Anekdote zu finden, und nichts 
half, und er schamte sich zugleich, dass er so vertrackt schweigen 
musste. Ja, im Kasino, mit seinesgleichen, fiel ihm in jeder Situation 
irgendetwas Passendes ein. Mit seinesgleichen! Er klammerte sich an 
dieses Wort, es erklarte ihm, dass er eigentlich in solche Verlegenheiten 
geriet, weil Zenower halt nicht »seinesgleichen« war. Fur einen Au- 
genblick glaubte er, Gleichgewicht, Festigkeit, Haltung wiedergefun- 
den zu haben, und mit jener hochmiitigen Freundlichkeit, mit der er 
zu Subalternen sprechen konnte, sagte er: »Erzahlen ? s doch was, lieber 
Zenower, aus Ihrem Leben zum Beispiel.« - »Mein Leben ist ganz 
uninteressant, Herr Baron!« - sagte Zenower. »Ich diene heute das 
dreizehnte Jahr. Ich war Goldmacher von Beruf. Das ist lange her. Ich 
bin nicht verheiratet. In bin seinerzeit zum Militar gegangen, freiwillig, 
mit 11, weil das Madchen, das ich geliebt hatte, einen andern geheiratet 
hat.« »Das ist nicht nett!« - warf Taittinger ein. »Ja, Herr Baron, das 
war der einzige Schmerz meines Lebens, auch der letzte,« - »Kurios!« 
rief der Rittmeister. »Leben denn Ihre Eltern noch?« - »Ich habe 
keine! Meine Mutter ist friih gestorben. Sie war Kochin. Von meinem 
Vater weiss ich nichts, ich bin ein uneheliches Kind.« - »Interessant« - 
wiederholte Taittinger - »und Sie sind so ganz allein aufgewachsen?« - 
»Im stadtischen Waisenhaus, in Miiglitz, dann kam ich mit sechzehn in 
die Lehre.« - »Sie sind ein kluger Mann, Zenower« - sagte der Rittmei- 
ster. »Warum machen Sie denn eigentlich nicht die Rechnungspru- 
fung?« »Ich will's auch«, sagte Zenower. »Obwohl ich ja nicht hoher 
kommen kann als bis zum Rechnungshauptmann. Aber da gibts noch 
Schwierigkeiten wegen der unehelichen Geburt. Ich hab' aber einen 
Freund, Rechnungsrat im Kriegsministerium.« »Na, es wird schon 
gehn!« trostete Taittinger. »Interess antes Leben haben Sie, Zenower! 



J06 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Sie sind eigentlich, wie nennt man das: ein Kind aus dem Volke! Das 
hatt* ich nie gedacht.« - »Ja« - sagte Zenower, »ein Kind aus dem 
Volke. Ich stell' mir wenig darunter vor. Ich weiss nur, dass ich das 
Kind einer Kochin bin!« - Taittinger erinnerte sich an die alte Kochin 
seines vaterlichen Hauses. Karoline hiess sie. Sie war sehr alt und 
weinte immer, drei Mai jahrlich, wenn Taittinger nach Hause kam, zu 
Ostern, in den Sommerferien und zu Weihnachten. Plotzlich aber 
sagte er - und er wusste gar nicht, dass er laut sprach: »Lieber Zeno- 
wer, vorher hab' ich gedacht, ich kann mit Ihnen eigentlich nicht ganz 
frei sprechen. Jetzt weiss ich warum: ich schame mich namlich vor 
Ihnen, ich beneide Sie, und ich wiirde ganz gern mit Ihnen tauschen!« 
Er erschrak selbst vor dies em Satz, vor seiner Aufrichtigkeit, vor allem 
aber iiber die Schnelligkeit, mit der er vermocht hatte, Rechenschaft 
iiber seine Gedanken abzulegen. Er hatte sich auf einer Wahrheit er- 
tappt; und zum ersten Mai nach langen Jahren wurde er rot, wie er 
einst, als Knabe, rot geworden war, wenn man ihn auf einer Luge er- 
tappt hatte. Zenower sagte: »Herr Baron, Sie brauchen niemanden zu 
beneiden und mit niemanden zu tauschen, wenn Sie nur immer auf- 
richtig zu sich selbst sind. - Und heute auch zu mir!« - fiigte er hinzu. 
»Ja, Zenower« - sagte der Rittmeister. Er fuhlte eine grosse Trauer und 
eine starke Heiterkeit zugleich. »Ich treffe Sie nach dem Essen bei Sed- 
lak, wo ich oft sitze, wissen Sie? Wollen Sie kommen? In zwei Stunden 
verlasse ich das Kasino.« Er driickte Zenowers grosse Hand, sie fuhlte 
sich an wie ein einziger, warmer, sehr lebendiger Muskel. Er fuhlte, 
dass etwas Gutes und Starkes von ihr ausging und etwas Beredtes und 
Horbares. Es war, als ob die Hand Zenowers Gutes gesagt hatte. 

SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Die Gaststube Sedlaks lag hinter den Bahnschranken, gegeniiber den 
sogenannten »Sandbergen«, man brauchte eine halbe Stunde, um sie zu 
erreichen. Gutspachter trafen sich dort, Getreidehandler, Gestiits- 
ziichter und von den gehobenen Standen lediglich manchmal die zwei 
Veterinare. Man war sicher, keiner Uniform in dieser Gaststube zu 
begegnen. Es begann. sachte zu schneien, als Taittinger das Kasino 
verliess, »Entschuldigung, ich hab' ein Rendezvous«, sagte er dem 
Oberleutnant Zschoch in der Tiir. »Wie heisst sie?« - fragte Zschoch, 
aber Taittinger horte nicht mehr. Es war der erste Schnee dieses Jahres. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 707 

Taittinger, auf den weder die gewohnlichen, noch die unerwarteten 
Naturereignisse jemals irgendeinen Eindruck gemacht hatten, empfand 
zum ersten Mai eine knabenhafte Freude an den weichen, sanften, gii- 
tigen Flocken, die lassig und vertraumt auf seine Kappe und auf seine 
Schultern fielen und auf die ganze breite Strasse, die zu den Sandber- 
gen fuhrte. Es schien ihm bedeutsam, dass heute der erste Schnee fiel. 
Munter ging er durch den dichten weissen Schleier. Der Bahnschran- 
ken war geschlossen, er musste lange wart en. An jedem andern Tag 
hatte er die Bahn »langweilig« genannt. Heute aber wartete er sogar 
geniesserisch. Er hatte das Gefiihl, man wiirde starker eingeschneit, so, 
im Stehen. Ein endloser Schleppzug rollte vorbei. Was word in diesen 
stummen Waggons enthalten sein mochte? Waren's Tiere, Holz, Eier- 
kisten, Getreidesacke, Bierfasser? Was mir doch fur Gedanken heute 
kommen! - sagte sich Taittinger. Es gibt so viele Dinge auf der Welt, 
von denen unsereins keine Ahnung hat! So Leute, wie der Zenower, 
dessen Mutter eine Kochin war und die im Waisenhaus aufgewachsen 
sind, wissen sehr viel. Der Schleppzug nahm noch immer kein Ende. 
Die Giiterwagen konnten auch Gepack enthalten, wie damals die vie- 
len Koffer der persischen Majestat, die so spat angekommen waren, 
Der charmante Kirilida Pajidzani fiel Taittinger ein. Was machte der 
jetzt, in Teheran? Vielleicht schneite es dort auch. Glucklich war dieser 
Pajidzani. Er hatte keine Affare auf dem Gewissen, keine Mizzi Schi- 
nagl, keinen langweiligen Cousin Zernutti, keine rekommandierten 
Briefe, keinen Oekonomen, keinen Gutsverwalter! -Jetzt war der Zug 
vorbei, der Bahnschranken ging in die Hdhe, als kampfte er langsam, 
miihselig gegen die leichte Last des Schnees. Ich werde ihm erzahlen, 
beschloss Taittinger, in dem Augenblick, in dem er die zwei Fenster 
der Gaststube durch den Schnee aufleuchten sah. 
Zenower sass schon da, er las in den bunten Heftchen, Taittinger er- 
kannte sie vom Eingang aus. Er griff in die Manteltasche, unwillkur- 
lich, er dachte, es waren seine Heftchen, die dort auf dem Tisch Zeno- 
wers lagen. Aber nein! Zenower las andere Biichln. »Ach, Sie haben 
sich bekehrt?« fragte Taittinger. »Sind's die gleichen wie meine?« - 
»Nein, Herr Baron, im Gegenteil! Es sind in der kurzen Zeit seit Ihrer 
Riickkehr schon zwei neue Heftchen erschienen. Leider!« - »Lassen's 
schau'n!« - sagte Taittinger. »Spater, Herr Baron« sagte Zenower - »es 
ist unerfreulich. Fur Sie unerfreulich!« 
Sie tranken Voslauer; wie schnell der Zenower sich veranderte. Noch 



708 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

am Nachmittag hatte er anders ausgesehen. Es war nicht das Zivil, das 
ihn veranderte, er trug ja noch den gleichen braunen Zivilanzug. Er 
war etwas jiinger als der Rittmeister, aber seine schiitteren hellblonden 
Haare schimmerten schon grau unter dem Licht des grossen »Rund- 
brenners«, und der helle Soldatenblick in den grauen Augen war weg, 
war in der Kaserne geblieben, mit Sabel, Kappe, Uniform. Es waren 
traurige, bekiimmerte und priifende Augen, die jetzt den Rittmeister 
anblickten. Er konnte sie kaum ertragen. Er konnte sich nicht ent- 
schliessen, sie »langweilig« zu nennen. Er wusste iiberhaupt nicht, wo 
er eigentlich den Zenower einreihen sollte. Der passte in keine Katego- 
rie: weder zu den Charmanten, noch zu den Gleichgultigen. Was alles 
in diesem Zenower steckte, wusste man ebensowenig, wie den Inhalt 
der geschlossenen Giiterwagen vor einer Weile. Und dennoch tat es 
gut, mit ihm zusammen zu sitzen, und alles Grausliche, das er sagte, 
klang eigentlich wie Trostliches. 

»Sie sind der erste Mensch«, begann der Baron, »dem ich endlich die 
»Affare« erzahlen kann«. »Nicht notig, Herr Baron,« sagte Zenower, 
»ich kenne sie schon. Sie steht da drin, in dem Buchl, fur jeden sicht- 
bar, der zu lesen weiss. Sie sind nicht genannt, aber genau beschrie- 
ben«. Taittinger wurde blass. Er stand auf, setzte sich wieder. Er griff 
nach dem Blusenkragen. 

»Bleiben Sie ruhig, Herr Baron« - sagte Zenower. »Ich habe vorlaufig 
alle Buchln in den hiesigen Tabaktrafiken zusammengekauft«, Und er 
zog einen grossen Packen aus der Tasche. »Man muss iiberlegen. Aber 
ich sehe keinen Ausweg. Um deutlich zu sein: dieser Lazik ist nicht 
schuchtern. Er schreibt: »die hohe Kuppelei« zum Beispiel. Man 
konnte glauben, sehr hohe Personlichkeiten, auch Sie, Herr Baron, 
seien einfach Nutzniesser. Es ist schrecklich.« 

Er schwieg lange. Taittinger trank hastig, aber in kleinen Schluckchen. 
Er hatte das Bediirfnis, wenigstens die Hande nicht untatig zu lass en. 
Er wollte etwas sagen, etwas weitab Liegendem gewissermassen mit 
Worten entfliehen. Aber gegen seinen Willen sprach er die schreck- 
liche Phrase aus, die unaufhorlich in seinem Hirn klang: »Ich bin ver- 
loren, lieber Zenower!« 

Zenowers traurige Augen ertrug er jetzt ganz ohne Miihe. Sie waren 
sein Trost, sein einziger. »Verloren, Herr Baron, das ist es nicht. Sie 
kennen nicht Verlorene. Die Welt, in der Sie leben, verzeihen Sie, ist 
nicht die Welt, in der man wirklich verloren sein kann. Die wirkliche 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 709 

Welt ist sehr gross, und sie hat ganz andere Moglichkeiten der Verlo- 
renheit. Aber es ist ja noch nichts, auch in Ihrem Sinne, riichts verlo- 
ren. Sie sind nur gefahrdet. Dieser Journalist ist gewiss gefahrlich, aber 
sehr dumm. Es muss leicht sein, ihn unschadlich zu machen. In die 
gute Gesellschaft kommen diese Heftchen gewiss nicht. Was die Leser 
betrifft, ist es ganz gleich. Aber die Gefahr besteht, dass der Verfasser 
selbst zu den Herrschaften kommt - wie er zu Ihnen gekommen ist. 
Ich glaube nicht, dass Andere ihm auch Geld geben. Aber er selbst 
hegt derlei Hoffnungen. Er kann sich mit Recht auf Sie berufen.« 
»Was soil ich tun, lieber 2enower?« 

Der Rittmeister sah aus, wie ein ergrauter Knabe. Er kaute an seinen 
Lippen. Er betrachtete seine Finger, als untersuchte er, ob es noch 
seine eigenen seien, oder schon fremde, die Hande eines Verlorenen. 
»Erlauben Sie mir, mit Lazik zu sprechen,« sagte Zenower. »Ich werde 
morgen um drei Tage Urlaub bitten. « 

Gewiss, alles klarte sich auf. Taittinger gewann seine alte Heiterkeit 
wieder. Zenower, dieser Kluge, Gute, er wird fahren, sprechen, Alles 
ordnen. Auch die andern Sachen. Den kleinen Schinagl schickt man 
nach Graz. Auf dem Gut ordnet sich schon Alles. Man verkauft Pyla- 
des. Morgen, gleich nach dem Exerzieren ein Sprung zur Post, poste 
restante Hegt wahrscheinlich ein Brief von der Mizzi aus Kagran. Man 
hat von nun an keine Angst vor Briefen, vor Unterschriften, kurz, vor 
all den grauenhaften Ereignissen, die sich ausserhalb der Kaserne, des 
Kasinos, des Hotels Imperial in Wien und der »Gesellschaft« abspie- 
len. Taittinger war nunmehr »ehrlich« iiberzeugt, dass er seit gestern 
um viele Jahre alter, um viele und bittere Erfahrungen reicher gewor- 
den sei und viele Hindernisse uberwunden habe; Alles dank diesem 
Zenower. Und zu denken, dass es ein Kind aus dem Volke war! 
»Das Volk ist gut!« - sagte Taittinger laut. 

»Sie kennen es nicht« - sagte Zenower - »das Volk! das Volk besteht 
aus Menschen. Der Mensch ist gut und schlecht.« - Damit erhob er 
sich, so entschieden, das Taittinger keine Zeit mehr fand, ihn noch um 
eine halbe Stunde zu bitten. Jetzt, wie der Zenower so da stand, im 
Zivilmantel mit samtenen schwarzen Kragen, steifem Hut und Hand- 
schuhen in der Linken, den Stock liber den Arm gehangt, erinnerte er 
Taittinger zum dritten Mai nicht mehr an den Zenower. Noch einmal 
verandert war er, fremd, streng und lieb und - allerdings - auch ein 
bisschen wieder langweilig. Aber seine Hand war stark, warm und be- 



710 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

redt, wie am Abend und, nachdem er fort war, fiihlte Taittinger Heim- 
weh nach ihm. Es verdross ihn auch, dass man ihn allein gelassen hatte. 
Er trank noch eine Flasche, sah die letzten Gaste gehn, Hoffnung und 
Trost bliihten wieder auf in seinem Herzen. Es wird sich alles ordnen, 
dachte er. Es schneite immer noch, immer dichter, was hatte man jetzt? 
November. Der Schnee erinnerte selbstverstandlich an Weihnachten 
und also dachte Taittinger: »Bis Weihnachten wird sich alles ordnen!« 
In dieser Nacht schlief er gut, unbekummert und traumlos. 
Am Morgen lag der Schnee schon hoch, fest und gefroren. Die Hufe 
des Pylades, den er heme ritt, sentimental und aus Abschiedsschmerz, 
glitschten gefahrlich iiber das leergefegte Kopfpflaster. Die Trompeten 
bliesen verhalten, verschleiert und betaubt. »Pylades«, sagte der Ritt- 
meister, als er auf dem Exerzierplatz absass, »Pylades, es ist das letzte 
Mal!« Er klopfte den Hals des Schimmels, holte ein Stuck Zucker aus 
dem Patrontaschchen, steckte es zwischen die Zahne des Tiers und 
hielt lange die gehohlte Hand vor die warmen weichen Nustern und 
die dankbare, grosse, heiss-kuhle Zunge. Er fiihlte, dass er nicht mehr 
die Kraft haben wiirde, noch heute auf Pylades wieder in die Kaserne 
einzuriicken. Er befahl dem Wachtmeister, das Pferd zuruckzuschik- 
ken. Er iibergab Oeberleutnant Zschoch die Eskadron. In der Zehn- 
uhrpause ging er fort, meldete sich bei Major Festetics ab und schritt 
schnell der Stadt zu, immer schneller, mit moglichst viel Gerausch, um 
die Wehmut zu betauben und auch die leise Angst vor den Briefen, die 
am poste-restante-Schalter auf ihn warten mochten 
Es war nur ein Brief, schon drei Wochen alt und mit dem ekelhaften 
Kagraner Stempel. Er lautete: 

»Hochverehrter Herr Baron! Es war so aussergewohnliche Ehre, so- 
wie herzliche Freude bei mir, in meinem Herzen, dass Herr Baron an 
mich gedacht haben. Es geht mir gut, auch sind die Schwestern gut und 
arbeite ich jetzt in der Naherei, wo man auch singen darf. Ich werde im 
Marz entlassen und heute ist noch im Oktober. Hochachtungsvoll und 
mit Liebe voll empfiehlt sich Mizzi Schinagl.« 

Taittinger las den Brief zwei Mai, in der Posthalle, denn er war auf 
einem grauen porosen Papier geschrieben, aus dem man Tiiten macht, 
und die Ziige waren von grossen Klecksen unterbrochen und entstellt. 
Taittinger war geriihrt, vom Brief, noch mehr von seiner eigenen 
Kraft, ihn abgeholt und zwei Mai gelesen zu haben, am meisten aber 
wegen des Abschieds von Pylades, In Tartakowers »Friihs tucks s tube « 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 7II 

starkte er sich mit Hering und Sliwowitz. Er wollte noch in die Kanz- 
lei, Zenower sehn, vor seiner Abreise nach Wien. Er beschloss, nicht 
im Kasino Mittag zu essen, sondern draussen bei Sedlak. Die Luft war 
glashell und hart und umwehte angenehm frostig die siissen Wehmuts- 
gefiihle des Rittmeisters. Die Sonne warmte den Rikken, durch die 
dicke Litewka spiirte man sie. Es schien alles in der Welt gut und ge- 
ordnet. Ueberraschungen gab es nicht mehr. Es war, als hatte man 
gestern, mit Zenower, das Schlimmste nicht nur besprochen, sondern 
auch iiber wunden. Es war ungefahr wie nach der Priifung. 

SIEBENUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Leider suirzte das Ungliick mit einer so jahen Rasanz iiber den armen 
Taittinger herein, dass er keine Zeit mehr hatte, aus der Munterkeit, in 
der er sich schon ganz heimisch fuhlte, in die Verzweiflung hiniiberzu- 
wechseln. Er hatte nicht einmal Zeit zu erschrecken. In einer Art von 
Gebanntheit, wortlos und ohne Verstandnis, horte er die Meldung Ze- 
nowers in der Kanzlei. Es war wieder der alte Rechnungsunteroffizier 
Zenower, in Uniform. Er stand Habt-Acht, als der Rittmeister eintrat, 
er hatte wieder seinen dienstlichen hellen Disziplinblick, und mit sei- 
ner gewohnlichen dienstlichen Stimme sagte er: »Herr Rittmeister, 
melde gehorsamst, dass ich vom Herrn Oberst drei Tage Urlaub erhal- 
ten habe; melde gehorsamst, dass ich morgen vormittag fahren werde; 
melde gehorsamst, dass der Herr Oberst befohlen haben, Herr Ritt- 
meister mochten sich unverzuglich in der Kanzlei melden; der Herr 
Oberst wartet!« »Ruht!« kommandierte Taittinger. »Sie konnen sich 
setzen, Zenower! « Er selbst setzte sich auf den Schreibtisch. »Was will 
er denn, der Alte?« Eine feme Aehnlichkeit mit dem Zivilblick von 
gestern schimmerte fur eine Sekunde im Auge Zenowers: »Herr 
Baron, der Herr Oberst ist sehr aufgeregt. Er hat heute einen rekom- 
mandierten Brief vom Kriegsministerium bekommen, ich hab' ihn ge- 
sehn, auf dem Tisch des Stabs wachtmeisters. Herr Baron — « Weiter 
kam der Rechnungsunteroffizier Zenower nicht. »Na, so reden's 
doch!« sagte Taittinger. Noch einmal sprang Zenower in die Habt- 
Acht-Stellung: »Herr Rittmeister, melde gehorsamst, dass der Herr 
Oberst befohlen haben, Herr Rittmeister mochten unverzuglich in die 
Kanzlei. « 
»Aha, verstehe!« murmelte Taittinger, obwohl er noch immer nichts 



712 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

verstand. Er ging hinaus, iiberquerte den Hof. Der Alte lauerte manch- 
mal, an seinem Fenster, hinter der Gardme. Man musste den Hof mit 
beflissenen Schritten iiberqueren und jeden Gruss der Soldaten, die 
sich im Hof befanden, reglementmassig beantworten. Vielleicht hat er 
gehort - sagte sich Taittinger - dass ich den Pylades abgeben will. Der 
Schimmel hat ihm immer schon gefallen. 

Er trat in die Kanzlei. Der Oberst Kovac war kaum zu erkennen. Er 
war ein kleiner, rundlicher, feister Mann mit einem runden Schadel, 
rotlicher Nase, grauem kurzem Schnurrbart und winzigen schwarzen 
Augen, die eigentlich nur aus Pupillen zu bestehen schienen. Seine 
kurzen Aermchen, die trotzdem in noch kiirzeren Aermeln steckten, 
gingen unmittelbar in rote feiste Hande iiber, die an eine Art hautiiber- 
zogener Hammer erinnerten. Jetzt aber erschien der Oberst Kovac ge- 
radezu mager. Seine Nase war blaulich Mass, seine Hande fast weiss. 
Quer iiber seiner kurzen Stirn, in die das stachlige Dreieck der grauen 
Haarbiirste vorstiess, stand eine starke geschwollene blaue Ader, die 
sichtbare Kiinderin eines verborgenen aussergewohnlichen Grolls. Der 
Oberst trat vor seinen Schreibtisch, stemmte eine Hand in die Hiifte 
und betrachtete aufmerksam den Rittmeister, der unbeweglich war, 
wie ein buntes Monument! Der Alte sagte nicht: Ruht, geschweige 
denn: Servus. Es begann Taittinger ailmahlich unheimlich zu werden. 
Er konnte nicht nachdenken. Die Fiinkchenaugen des Obersten glitten 
an Taittinger auf und ab, auf und ab. Er dauerte wohl eine, zwei, drei 
Minuten. Es war so still, dass man die eigene Taschenuhr und die des 
Obersten ticken horte. 

Endlich sagte der Oberst - und er sprach erstaunlich leise: »Herr Ritt- 
meister, kennen Sie einen Graf en W., Sektionschef im K. u. K. Finanz- 
ministerium?« Taittinger fiihlte die Kniee kalt werden, iiber dem Rand 
der Stiefelschafte begann das Eis, es waren gar keine Kniee mehr. Es 
war schwer, aufrecht zu bleiben, wenn die Schenkel auf Eisklumpen 
sassen. »Jawohl, Herr Oberst !« - »Und kennen Sie einen, einen, einen 
gewissen Redakteur Bernhard Lazik?« - »Jawohl, Herr Oberst! « 
»Wissen Sie jetzt, warum Sie hier stehn?« - »Jawohl, Herr Oberst!« - 
»Ruht!« - befahl der Oberst. Der Rittmeister streckte den rechten Stie- 
fel vor. »Sie konnen sich setzen!« - sagte Kovac und zeigte auf den 
nackten holzernen Stuhl. »Danke respektvollst!« - sagte Taittinger. Er 
wartete. »Setzen sich!, nab' ich gesagt!« schrie Kovac. Der Rittmeister 
setzte sich. Der Oberst ging auf und ab, kreuz und quer iiber den 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 713 

grossen Teppich. Von Zeit zu Zeit verschrankte er die Arme, loste sie 
wieder, ballte die Fauste, steckte sie in die Hosentaschen, klimperte 
mit Schliisseln, zog die Schliissel hervor, drehte sie im Kreis am Ring 
um den Daumen, steckte sie wieder ein. Er schien immer schmaler, 
blasser und unwirklicher zu werden. Der November-Nachmittag warf 
seine ersten Dammer in die Kanzlei, und nur der blanke Widerschein 
des frischen Schnees, der aus dem Hof durch die Fenster drang, konnte 
sie noch abschwachen. 

»So reden's doch endlich!« - schrie der Oberst auf. Es war ein Briillen 
und ein Kreischen zugleich. »ErkIaren Sie, Herr Rittmeister!« 
»Herr Oberst! « - sagte Taittinger - »es ist die fatale Affare, wegen der 
ich zum Regiment zuriickgekommen bin.« 

»Fatal, fatal !« schrie der Oberst. »Schrecklich ist sie, unselig, ein,« - 
»er fand endlich das Wort: »ein Skandal! Ja! Nicht fatal, sondern Skan- 
dal! Und mir das! Unsern, nein, Herr Rittmeister, meinen Neunern! 
Nicht Ihren, Oh, nein! Ich dulde, dulde derlei, derlei Herren nicht bei 
mir. Ich bin ein einfacher Frontoffizier, jawohl, einfacher Frontoffi- 
zier! Ich war nie detachiert. Ich hab' keine Freunderln in Wien. Ich 
kenn' keine Exzellenzen! Jawohl, so wahr ich der Oberst Joseph Maria 
Kovac bin, einfacher Oberst, verstehen Sie, Herr Rittmeister, das wer- 
den Sie biissen! Hier, solche Briefe!« - Der Oberst trat hinter den 
Schreibtisch und schwang den Brief des Kriegsministeriums in der 
hoch erhobenen Faust. »Wissen Sie, was da stent ?« - »Nein, Herr 
Oberst! « - sagte Taittinger. Jetzt stand schon der Schweiss auf seiner 
Stirn. Die Fiisse brannten in den Stiefeln, aber iiber den Schaften, in 
den Knieen, herrschte der Frost. Das Herz pochte so stark, dass man 
seine Schlage wahrscheinlich durch das dicke Tuch der Bluse sehen 
musste. »Also horen Sie, Herr Rittmeister! Als Sie von Ihrer besonde- 
ren Verwendung zum Regiment zuriickkamen, wusste ich naturlich, 
dass Sie einen faux pas begangen hatten. Die Geschichte war begraben. 
Jetzt aber! Sie konnens nicht lassen, diese Unterrockgeschichten, Sie 
sind, Sie sind — Also, Sie begeben sich in die Gesellschaft eines Indivi- 
duums, eines Individuums, sag' ich - und geben ihm zweitausend Gul- 
den, und Sie beteiligen sich an seinem Schmutz, an seinem Dreck, 
Dreck sag' ich - und der Kerl geht zum Sektionschef W. und will von 
ihm auch Geld und sagt, was Sie schon gezahlt haben, und der Herr 
Sektionschef ist leider gelahmt, Paralyse, sag' ich, seit zwei Monaten, 
und die Frau Grafin kommt in die Scheissbiichln, und er kann sich 



714 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nicht mit Ihnen schlagen, und das taY er auch nicht als Gesunder, und 
er schreibt's seinem Freund, dem Herrn Kriegsminister, Seiner Exzel- 
lenz personlich - personlich sag' ich - und ich, und ich! Seitdem unsere 
Armee besteht — ich sag' nichts mehr! Ich steh Ihnen zur Verfiigung, 
Herr Rittmeister!« 

Taittinger sprang auf. »Herr Oberst!« rief er. »Habt Acht!« befahl Ko- 
vac. Und dann: »Ruht! Setzen!« Taittinger setzte sich wieder. 
Der Oberst schrie so laut, dass man es in alien Korridoren des linken 
Flugeltrakts horte. Der Adjutant, Oberleutnant von Dengl-Dengen- 
bach, stand eine Weile vor der Tur, ein paar Akten in der Hand und 
den heutigen Tagesbefehl parat, um in jedem Augenblick sagen zu 
konnen, er sei eben im Begriffe gewesen, anzuklopfen. Der Standes- 
fiihrer, Wachtmeister Steiner, und seine zwei Kanzlei-Schreiber horten 
durch die Verbindungstiir jedes Wort, obwohl sie so taten, alle drei, als 
seien sie vertieft in Standesregister, Desertierungsanzeigen, Meldungen 
der Gendarmerie und Conduitelisten. Sogar im Hof, in der Kantine, 
verstummte der Larm der kartenspielenden Unteroffiziere. Die glas- 
klare frostige Luft dieses November- Abends vermittelte deutlich jeden 
Laut der briillenden Oberstenstimme. Es war die grollende Stimme des 
Kasernengottes, ein Naturereignis allererster Ordnung. Man wusste 
sofort, dass es sich um Taittinger handelte; nicht nur deshalb, weil man 
ihn zum Obersten hatte gehen sehn; ach nein! Man hatte die Heftchen 
Laziks gelesen, nicht in alien Tabaktrafiken hatte Zenower sie aufge- 
kauft! Ein gewaltiger Schrecken und eine grosse Betriibtheit be- 
herrschte Alle, obwohl ihnen der Baron Taittinger immer gleichgiiltig 
gewesen war. Er passte nicht zum Regiment, er passte nicht in die 
Kaserne. All die baurischen Menschen des Regiments, die aus der Bu- 
kowina, aus der Slovakei, aus der Bacska stammten und niemals einen 
Wiener Salon gesehen hatten, bekamen, wenn sie den Baron Taittinger 
ansahen, die (iberzeugende Vorstellung, dass er in einen Salon gehore. 
Dennoch konnten sie sich jetzt genau denken, wie er leiden musste, 
dank jener soldatischen Solidaritat, die aus Schwadronen und Regi- 
mentern eigentlich Familien macht, aus Vorgesetzten Vater oder altere 
Briider, aus Untergebenen Sohne, aus Rekruten Enkel, aus Wachtmei- 
stern Onkel und Oheime und aus Korporalen Vettern. Es wurde still 
in der Kantine, und die Karten lagen reglos und spiegelblank auf den 
Tischen. 
Der Oberst indessen schwieg plotzlich, und sein Schweigen war noch 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 715 

fiirchterlicher als vorher sein Geschrei. Er hatte seine Stimme und sei- 
nen Sprachschatz erschopft. Er, auch er, fuhlte seine Kniee frieren und 
wanken, er musste sich setzen. Er vergrub den Kopf in beiden Handen 
und sagte mehr zu seinen Papieren auf dem Schreibtisch als zu Taittin- 
ger: »Der Abschied, Herr Rittmeister! Der Abschied, sag' ich! Ich will 
kein Ehrengericht! Horen Sie! Ich will mitteilen, dass Sie den Abschied 
genommen haben. Der Regimentsarzt, der Doktor Kallir, ich hab' 
schon mit ihm gesprochen, weiss genau, wie schlimm es um Ihre Ge- 
sundheit steht. Ihre Nerven sind angegriffen, Sie haben den Verstand 
verloren. Den Abschied! Ich wiinsche keine Transferierung mit dieser 
Conduitenliste, verstehen Sie, Herr Rittmeister?« 
Der Rittmeister Taittinger stand auf: »Jawohl, Herr Oberst! Ich werde 
morgen um den Abschied bitten !« 

Dem Obersten wurde weh urns Herz. Er wollte aufstehn, er fuhlte sich 
zu schwach. Er streckte Taittinger die Hand iiber den Tisch hin und 
sagte: »Leb' wohl, Taittinger!« 

ACHTUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Sie sassen die ganze Nacht bei Sedlak, Taittinger und der Rechnungs- 
unteroffizier Zenower. Auch er, Zenower, war betaubt von der 
Schnelligkeit des Schicksals. Auch er, das Kind der Kochin, war ein 
Kind der Armee, Auch er, obwohl er das wahre Leid der Welt ausser- 
halb der Kasernen kannte, war nicht imstande, den Schmerz Taittin- 
gers gering zu schatzen; und er war auch betriibt, wie heute Alle, vom 
Obersten bis zu den Rekruten. Es gab gewiss viel Ungliick auf Erden. 
Aber hier war ein sichtbares, ein greifbares Ungliick der Kaserne, in 
der man schlief und ass und lebte. Gestern noch hatte er dem Rittmei- 
ster etwas sagen, raten, helfen konnen. Heute war er stumm. Taittinger 
war stumm. Manchmal sagte er nur: »Denken Sie doch, Zenower! . . .« 
Aber er wusste nicht, was Zenower eigentlich zu denken hatte. Die 
Wanduhr tickte, ihre schwarzen Zeiger drehten sich unermudlich, 
gleichmassig glitten sie an den Ziffern vorbei und hielten sich nicht auf, 
als waren's nur Minutenstriche, und beide Manner blickten oft gleich- 
zeitig nach der Uhr und beide empfanden mit der gleichen Deutlich- 
keit beim Anblick der unveranderlichen Zeitgesetze die menschliche 
Ohnmacht, auch alien andern Gesetzen gegeniiber, den bekannten und 
den unbekannten. Die Stunden gingen, Teile des Lebens. Eine, zwei, 



Jl6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

drei oder auch zehn Stunden seines Lebens hatte Taittinger vertan oder 
verraten; es war nichts mehr zu reparieren. 

Die letzten Gaste gingen, das Petroleum im glasernen Rundbrenner 
verringerte sich zusehends. Sie liessen Kerzen bringen und Wein und 
blieben sitzen. Man sah, als die Lampe vollends erlosch, den silbernen 
Schimmer des Schnees vor den Fenstern. Der frostige Wind sang diinn 
und hell durch die Nacht, und die Scheiben klirrten leise. Obwohl sie 
einander nichts Bestimmtes gesagt hatten, wussten sie doch beide, dass 
es gait, das erste Morgengrauen abzuwarten. Mitten in der Nacht 
konnte keiner den anderen verlassen. Sie warteten. 
»Ich werde Sie begleiten, Herr Baron« - begann endlich Zenower. »Sie 
werden morgen Urlaub nehmen. Ich werde mit Ihnen nach Wien fah- 
ren. Ich hatte sowieso langst zu meinem Freund miissen, dem Ober- 
rechnungsrat. Ich glaube, dass ich im Januar noch die Priifung machen 
kann.« - »Ja, gewiss!« - sagte Taittinger. 

Der Wirt Sedlak schlief hinter der Theke. Manchmal sprach er etwas 
Undeutliches aus dem Schlaf. Zenower sagte: »Der hat einen gesegne- 
ten Schlaf! « Aber Taittinger, der gar nicht zugehort hatte, antwortete: 
»Ja, er hat einen ganz guten V6slauer!« - »Am liebsten trink' ich ja ein 
gutes Bier!« - sagte Zenower. Dann war es wieder still. Vergeblich 
blieben ihre Bemuhungen, in ein gleichgultiges Gesprach zu fluchten. 
Sie dachten nicht an das, was sie sagten, sie sprachen nur so, um die 
Uhr nicht zu horen, es waren sinnlose Beschworungen, zusammen- 
hanglose Phrasen, torichte kleine Verlogenheiten. Die zwei Kerzen 
waren schon bis zum letzten Drittel abgebrannt, als draussen, vor den 
Fenstern, der Schnee blaulich zu werden begann, der Gesang des Fro- 
stes heftiger, der Himmel blasser. Zenower ging an die Theke, weckte 
Sedlak, zahlte. 

Sie gingen langsam der Stadt zu, in die Kaserne. »Morgen bin ich in 
Zivil, fur immer!« sagte Taittinger, als sie in die Kaserne eintraten und 
der Posten salutierte. »Zum letzten Mai salutiert er!« sprach er weiter. 
Was ist es schon viel Grosses! - dachte Zenower, wenn man nicht 
mehr salutiert wird! - Aber er fiihlte auch zugleich, dass es eine unge- 
rechte Ueberlegung war. Es war ein Leben, das hier zu Ende ging. Wie 
ein Sterbender den Korper ablegt, so zieht ein Soldat die Uniform aus. 
Zivil, Zivil: das war ein unbekanntes, vielleicht ein schreckliches Jen- 
seits. 
Um neun Uhr war Offiziersrapport. Den »Urlaub aus Gesundheits- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT JIJ 

griinden« bekam Taittinger sofort. Der Dienstzettel des Regimentsarz- 
tes Doktor Kallir verkiindete ausdriicklich eine gefahrliche Nerven- 
Zerrtittung. Sie enthob Taittinger auch der Pflicht, sich vom Regiment 
zu verabschieden. Um zwei Uhr vierzig, am Nachmittag, stieg er in 
den Zug, in Zivil, mit Zenower. Um sechs Uhr kamen sie an. Zenower 
schrieb das Abschiedsgesuch. Im Schreibzimmer des Hotels Prinz Eu- 
gen schrieb Taittinger es ab, mit seiner dienstlichen, steilen Schrift, vier 
Finger Abstand von oben, drei Finger Abstand vom Rand. Er unter- 
schrieb sehr langsam: » Alois Franz Baron Von Taittinger, Rittmei- 
ster.« Es glich gar nicht seiner gewohnten Unterscrfrift, so langsam 
und vorsichtig hingemalt waren seine Buchstaben. Es war ihm, als 
ware es gar nicht sein Name. Einen fremden Namen unterschrieb er. 
In der Halle wartete Zenower. Er nahm das Gesuch, suchte lange darin 
zu lessen und den Anschein zu erwecken, als miisste er es vorsichtig 
priifen, nur, um nicht den Rittmeister bald wieder ansehn zu miissen. 
Schliesslich faltete er es zusammen. 

Taittinger sagte: »Jetzt bin ich kein Vorgesetzter mehr, Zenower! « 
Er zog die Uhr aus der Westentasche, eine goldene Uhr, sie stammte 
aus dem Juwelierladen des Kommerzialrats Gwendl, auf der Riickseite 
eingraviert waren die Initialen Taittingers und die seines Onkels. Es 
war ein Geschenk des Onkels, anlasslich der Ausmusterung in Mah- 
risch-Weiskirchen. »Nehmen Sie die Uhr!« - sagte Taittinger. Zum 
ersten Mai schenkte er etwas her - ausser Geld und Blumen hatte er 
noch niemals etwas hergegeben, Zenower sah ihn lange an, zog seine 
eigene, eine umfangreiche silberne, und sagte: »Nehmen Sie diese, 
Herr Baron!« 
Dann, als er sah, dass Taittinger wartete, die silberne Uhr in der fla- 

chen Hand, fugte er hinzu: »Wenn Sie einen Freund brauchen « 

»Ich fahre heute noch aufs Gut!« - sagte Taittinger. Er liess die Uhr in 

die Westentasche gleiten. Er tat sehr geschaftig. »Nicht wahr? Sie erle- 

digen das Gesuch! Verkaufen Sie beide Pferde. Ich mag sie nicht. 

Schreiben Sie bald. Danke Ihnen sehr, lieber Zenower! Meine Adresse 

haben Sie ja!« 

»Gute Reise!« - sagte Zenower und erhob sich. 

»Mein Gepack!« - rief der Baron. Er fuhr zur Ostbahn. 



FUNFTES BUCH 



NEUNUNDDREISSIGSTES KAPITEL. 

Das Gut Taittingers war nicht leicht zu erreichen. Es lag im Bezirk 
Ceterymentar, eingefangen zwischen den tiefverschneiten Karpathen. 
Man musste zwei Mai umsteigen. Vom Bahnhof Ceterymentar waren 
noch sechseinhalb Kilometer bis zum Gut emporzufahren, hierauf 
noch anderthalb wieder hinunter. Es hiess Zamky, aber Taittinger 
hatte es immer schon die Mausefalle genannt, auch als Knabe noch, 
wenn ihn der Onkel in den Ferien eingeladen hatte. Der Biirgermeister 
Wenk war ein Deutscher, einer der wenigen versprengten sachsischen 
Kolonisten, die in der Gegend wohnten. Der Oekonom stammte aus 
Mahren, die Bauern waren Karpathorussen, der bereits ertaubte Lakai 
ein Ungar, der aber vollends vergessen hatte, aus welcher Gegend er 
hiehergekommen war, wann und zu welchen Zwecken. Das Letzte, 
was er in der Erinnerung behalten hatte, war die Rebellion in Budapest 
und der Tod seines Herrn, des alten Barons. Der Forster war ein Ru- 
thene aus Galizien, der Wachtmeister der Gendarmerie ein Pressbur- 
ger: der einzige Mensch weit und breit, mit dem Taittinger manchmal 
in der Schenke ein paar Reden fuhren konnte. 

Es war Anfang Dezember. Der Frost hauste ringsum auf den Gipfeln 
und auch unten im Gut. Die Raben hingen reglos und schwarz an den 
verschneiten Tannen. Wenn sie nicht urplotzlich aufflatterten und ge- 
waltig zu krachzen anfingen, konnte man zuweilen glauben, sie seien 
verzauberte Friichte. Man hatte das Wohnhaus nur fluchtig reparieren 
konnen, (so schnell war Taittinger gekommen und so wenig Geld war 
iiberdies vorhanden). Der Oekonom bezahlte den Handwerkern aus- 
serdem nur die Halfte des Ausbednngenen - und sie kannten ihn gut 
genug, um zu wissen, dass sie den versprochenen Rest »nach Weih- 
nachten« nimmer sehen wiirden. Uebrigens gab es zwei Mai Weih- 
nachten, fur die Romisch-Katholischen und fur die Russischen! Das 
Dach bekam hier und dort ein paar neue Schindeln, behielt aber die 
alten Locher. Als man nach so langen Jahren wieder zu heizen begann, 
bogen sich die alten Tiirleisten, die Fensterrahmen, kein Riegel passte 
mehr und kein Schloss, und es seufzte und krachte in den grossen 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 719 

schweren Schranken, in denen sich die Leisten und die Facherbretter 
krummten. Schief an halbgelockerten Haken hingen im Schreibzim- 
mer die alten finsteren Ahnenbilder der Familie Zernutti. Im (ibergros- 
sen Speisezimmer wucherte der Schwamm, Grosse braune, blaue und 
weisse Pappendeckel fullten die hohlen Fensterrahmen der Veranda. In 
der Kuche nisteten zwei uralte Kroten, die der Lakai Joszi futterte mit 
den sparlichen Winterfliegen, die hervorkrochen, wenn der Herd ge- 
heizt wurde, und die Joszi auch im Nu erspahte. Es war eine peinliche 
Ueberraschung gewesen, als der Baron ankam. Aber man hatte ge- 
dacht, er wiirde hdchstens eine Woche bleiben, den unehelichen Sohn 
wegschicken, sich ein wenig umsehn und wieder abfahren. Als man 
aber von dem Wachtmeister erfuhr, dass Taittinger die Absicht habe, 
zu bleiben, ja, dass er den Dienst gar quittiert habe, begann man den 
Baron zu hassen, mit dem besonderen Hass, den die Furcht eingibt. Sie 
kannten ihn nicht genau. Leichtsinnig war er bis jetzt gewesen, das 
stand fest: Korn und Weizen und das Waldchen und das Geld hatte er 
verschleudert. Aber jetzt, wo er offenbar urn seine Armut wusste, war 
er nicht vorsichtig geworden? Hatte er nicht deshalb die Armee verlas- 
sen? Wenn er wollte - er hatte so viel Rechenschaft zu fordern. Was 
war aus dem Weinkeller geworden? Wer hatte bald Heuschrecken, 
bald schlechte Ernten erfunden, den Fallit des Waldkaufers? 
Es ist gleich der erste Abend in der Herberge, das Schlafzimmer ist 
angeblich noch nicht fertig, Taittinger muss im Gasthof schlafen. Ein 
paar Bauern sitzen noch da, an dem grossen, breiten braunen Tisch, 
neben dem nackten grossen Lehmofen. Janko, der Wirt, schleicht um 
den Baron herum, obwohl er weiss, dass Taittinger weder etwas sagen 
will, noch auch neugierig ist, irgendetwas zu vernehmen. Die Bauern 
sind gewohnt, laut zu sprechen, oder aber zu schweigen. Leise zu spre- 
chen verstehen sie nicht. Laut sprechen konnen sie nicht wegen des 
Barons. Sie konnen gerade noch von Zeit zu Zeit die Pfeifen ausklop- 
fen, aber auch nicht, wie sonst, an den Tischrandern, sondern an den 
Stiefelschaften, unter dem Tisch. Wie nun der Wachtmeister eintritt, 
stramm vor dem Baron stehen bleibt, und der Baron ihn einladt, sich 
zu setzen und ihm die Hand gibt und mit ihm sogar trinkt, wird es 
vollends still um die Bauern und in ihnen. Sie senken die Kopfe und 
blicken nur gelegentlich verstohlen nach dem Tisch des Herrn. Der 
Baron und der Wachtmeister sprechen deutsch, man versteht jedes 
zehnte Wort, aber man hatte ja Angst, auch zu horen, selbst wenn die 



720 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

beiden slovakisch oder ruthenisch sprechen wiirden. Taittinger halt es 
fiir selbstverstandlich, dass die Bauern so stumm sind. Seitdem er das 
Gut hat, aber auch friiher, war er im ganzen vielleicht zehn Mai hier, 
und immer waren die Bauern so lautlos gewesen. Der Wachtmeister 
aber weiss, wie sie poltern, und er sagt dem Baron: »Sie schweigen so, 
aus Angst vor Herrn Baron!« »Angst - vor mir!« denkt Taittinger. 
»Ich tu ihnen ja nix!« sagt er. »Ja, grad deswegen, Herr Baron!« - 
meint der Wachtmeister. »Das ist penibel!« - sagt Taittinger. Der 
Wachtmeister geht hiniiber und sagt den Bauern auf slovakisch, der 
Herr Baron wiinschte, sie sollten nicht seinetwegen schweigen. Das ist 
nahezu ein Befehl. Sie reden etwas, zu zweit, zu dritt, Dinge, die sie 
gar nicht hatten sagen wollen. Dann verfallen sie wieder in Schweig- 
samkeit. Der Wirt bringt Gulasch und Bier. Taittinger und der Gen- 
darm essen. 

Auf einmal geht die Tiir auf, und ein junger Mann tritt ein und geht 
geradeswegs auf Taittinger zu. Der Baron hort zu essen auf, halt noch 
Messer und Gabel und sieht auf den jungen Mann, den er nicht zu 
kennen glaubt. »Servus, Xandl!« sagt der Wachtmeister. Alle Bauern 
wissen, dass es der uneheliche Sohn des Barons ist und sehen auf. Die 
mit dem Riicken zu Taittinger gesessen sind, wenden sich um. Der 
Baron wird ihnen zwar nicht vertrauter, aber die Neugier ist machtiger 
als die Angst; und die Schadenfreude entschadigt reichlich. Jetzt 
musste noch einer der vielen Glaubiger herankommen. Die Bauern 
wissen, dass der Gutsherr verschuldet ist. »Ihr Sohn?« - fragt Taittin- 
ger den Wachtmeister. »Nein« - sagt der junge Mann - »Ihr Sohn bin 
ich, Herr Baron!« - »Ah« - sagt Taittinger - »Sie sind der Schinagl!« - 
»Ja!« - sagt der Junge. Taittinger sieht ihn genau an. Er tragt einen 
griinen Samtanzug, hat kurze Aermel und viel zu grosse, rote, aufge- 
sprungene Hande und unappetitliche Nagel. Der Kopf konnte angehn, 
Taittinger bemiiht sich, irgendeine Aehnlichkeit zwischen sich selbst 
und dem jungen Mann zu entdecken. Es geht nicht, beim besten Wil- 
len nicht. Der Junge hat rotgeranderte Augen aus blauem Porzellan, er 
verzieht den Mund unaufhorlich, seine Ohren gliihen rot, sein Kopf ist 
kahl rasiert, so dass man die Haarfarbe nicht erkennen kann, seine 
blaue, tintenbefleckte Kappe mit dem schabigen, verrunzelten Lack- 
schirm knetet er unaufhorlich mit den hasslichen Fausten. Er kann 
nicht einen Augenblick still sein. Er tritt von einem Fuss auf den an- 
dern, manchmal wippt er im Stehen. Taittinger hat noch niemals ein 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT J 11 

ahnliches Lebewesen gesehn. Er denkt schon daran, morgen abzu- 

reisen. 

»Ja, Herr Schinagl«, sagt er, »was wiinschen Sie?« - Er hat seine ge- 

wohnte, die alte Baron-und-Rittmeisterstimme, eine sehr langsame, 

lassige, dennoch scharf trompetende Stimme. Der Junge wippt einen 

Schritt zurlick. »Ich mocht' wissen, wie es der Mutter geht!« Er 

spricht sehr laut, Taittinger empfindet, dass die Stimme gleichsam 

rot ist, gerotet, wie die Fauste und wie die Ohren. Der Kerl ist un- 

ausstehlich - denkt er und schiebt das Gulasch weg und trinkt Bier. 

»Was wollen Sie?« - fragt der Baron noch einmal. »Wissen, wie's 

der Mutter geht!« - wiederholt der Xandl. Der Baron denkt nach, 

aber nicht iiber das Befinden der Mizzi Schinagl, sondern dariiber, 

ob er sagen soil: Ihrer Frau Mutter oder Ihrem Fraulein Mutter! Es 

kommt ihm nicht in den Sinn, dass man einfach sagen konnte: Ihrer 

Mutter. 

»Ich hab* lang nichts mehr von Fraulein Schinagl gehort«, sagt er 

schliesslich. 

»Aber ihre Adresse?« - fragt der Junge. 

»Sie sind doch in Graz, in der Schule?« fragt der Baron. 

»Ja, aber hinausgeschmissen haben's mich. Meine Mutter hat auch 

nicht bezahlt. Ich hab auch was angestellt und ich mocht' auch gar 

nicht zuriick!« 

Der Wachtmeister hat unbeirrt sein Gulasch aufgegessen, sein Kriigl 

ausgetrunken, jetzt bestellt er noch ein Bier, tut einen gewaltigen 

Schluck, lauft plotzlich blaurot an und wischt sich den Schnurrbart 

mit einem fast ebenso rotblauen Taschentuch trocken. Dann erhebt 

er sich, steckt das Taschentuch ein und schlagt Xandl ins Gesicht. 

Der Junge torkelt. Der Wachtmeister setzt sich und sagt ruhig: 

»Xandl, Du wirst mit dem Herrn Baron so reden, wie es sich ge- 

biihrt, oder ich fuhr' Dich ab, und Du kommst zwei Jahre spater 

erst aus dem Kriminal. Weisst Du, wie Du Dich zu benehmen 

hast?« 

»Jawohl, Herr Wachtmeister!« 

»Also bitte den Herrn Baron um Verzeihung!« 

»Ich bitte um Verzeihung, Herr Baron« - sagt Xandl. 

Die Bauern lachen schallend im Chor und klatschen sich auf die 

SchenkeL 

»Also, Herr Wirt,« ruft der Baron, »geben's dem Jungen was zu es- 



722 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sen. Driiben!« - fiigt er hinzu. »Wenn Sie gegessen haben, gehen's 
heim, zum Herrn Oekonomen, und sagen ihm, dass Sie morgen nach 
Graz zuriickfahren!« 

»Dank' schon, Herr Baron, mocht' noch etwas bitten!« 
»Ja?« 

»Ob ich zu Weihnachten wieder herkommen durft' ?« 
»Ja!« - sagt der Baron. 

»Erlauben mir schon die Freiheit, Herr Baron«, sagt der Wachtmei- 
ster, »aus dem wird nix Rechts.« 
»Ist nicht seine Schuld!« antwortet der Baron. 

»Ich weiss schon«, meint der Wachtmeister - »die hohen Herrschaften 
denken immer viel zu gut von derlei Gesindel. Unser Herr Bezirks- 
hauptmann, wenn ich ihm polkisch subversive Elemente angebe, sagt 
immer, es wird nicht so schlimm sein.« 

»Er ist ein Kind aus dem Volke!« - sagt Taittinger, er denkt dabei an 
Zenower und dass dieser auch ein uneheliches Kind war, vielleicht 
auch von irgendeinem Taittinger. Wer weiss, es ist alles so verworren. 
Der Xandl hat gegessen, erhebt sich, geht, bleibt noch einmal stehn, 
sagt: »Bitte um Entschuldigung!« und reicht dem Baron ein Couvert 
und macht einen schauerlich unappetitlichen Knix und geht. Taittinger 
gibt dem Wachtmeister das Couvert: »Was will er?« 
Der Wachtmeister liest vor: »Sehr geehrter Herr Baron, der Oekonom 
ist unerhlich und der Biirgermeister weiss es. Die Frau des Oekono- 
men hat alle Tischtiicher, Servietten und Leintiicher mit der Krone und 
die grosse Fischterrine mit dem Portrat einer Kaiserin. Dies erlaubt 
sich Ihnen mitzuteilen aus Dankbarkeit Xandl Schinagl.« - »Es ist lei- 
der wahr!« - sagt der Wachtmeister. Taittinger sagt: »Da kann man nix 
machen!« Er starrt in die Luft. Er weiss schon, er ist nicht fur diese 
Welt gemacht. 

VIERZIGSTES KAPITEL. 

Seit dieser ersten Begegnung mit seinem Sohn wusste Taittinger, dass 
er sein Gut hasste, die ganze Gegend, das Haus, das Andenken an den 
toten Onkel Zernutti, dessen Sohn, den langweiligen Vetter, die Berge, 
den Winter, den Oekonomen, das gestohlene Geschirr sogar, den tau- 
ben Joszi. Man heizte nicht ausgiebig. Mitten in der Nacht, wenn das 
Feuer im Schlafzimmer ausging, wurde es plotzlich, ohne Uebergang, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 723 

frostig und nass, die Kissen und die Leintucher schwitzten feuchte 
Kalte aus und rochen nach faulem Heu. Weihnachten nahte, ein un- 
leidliches Fest, erfullt von heuchlerischen Wiinschen aller bosen Men- 
schen, von gierig ausgestreckten siichtigen Handen, von verkleideten 
Bauernbuben und Engeln aus Papier — und Weihnachten dauerte in 
dieser Gegend, dank dem russischen Kalender, etwa drei Wochen. 
Nun hatte dieser junge Schinagl noch gedroht, hierherzukommen. 
Ohne den Wachtmeister war es unmoglich, den Jungen anzusehn. 
Beide Pferde waren verkauft, das nachste Semester fiir den Schinagl 
bezahlt, der Baron Taittinger hatte eigentlich noch Geld genug, urn 
einige Wochen in Wien zu leben. Bescheiden allerdings, nicht im Hotel 
Imperial. Jede Nacht, wenn Taittinger die Herberge Jankos verliess, 
um den bitterkalten Leidens-Heimweg anzutreten, hatte er so viel Sli- 
wowitz getrunken, dass er iiberzeugt war, er konnte heute noch pak- 
ken, morgen friih einspannen lassen und wegfahren. Aber als er sein 
Haus betrat und die Kerze zuerst, dann die Lampe entziindete, ergrif- 
fen ihn Furcht und Ekel vor den nachtlichen Schatten der Mobel, vor 
dem Schwamm an den Wanden, vor den Gerauschen der knackenden 
Turen und Fenster. Er legte sich schnell hin, solange das Feuer im 
Ofen noch hielt, verfiel in unruhigen Schlaf, erwachte spat, trank einen 
Kaffee aus Zichorie, hierauf einen bleichen Landwein, kleidete sich an, 
streifte gedankenlos und ziellos durch die Gegend, sehnte sich nach 
dem Abend, ging in die Herberge, erwartete den Wachtmeister, sprach 
kaum ein Wort mit dem Burgermeister und dem Oekonomen, die ge- 
legentlich auch eintraten, und trank sich neuerlich einen kummerlichen 
Zweistundenmut an, der gerade noch fiir den Heimweg reichte. Der 
Baron Taittinger gehorte zu den nicht seltsamen Menschen, die, in der 
Disziplin des Militars herangewachsen, vom Schicksal genau so Be- 
fehle und Anweisungen erwarteten wie von vorgesetzten Stellen. 
Eines Tages kam auch solch eine Weisung. Der Rittmeister Taittinger 
hatte sich am vierzehnten Dezember, 9 Uhr 30 vormittags, vor der Su- 
' perarbitrierungskommission im Zweiten Wiener Garnisonsspital zu 
stellen. Dies war die Folge seines Gesuches um einen langeren Urlaub 
aus Gesundheitsgrunden. Man hatte nicht wenig Eile, diesen Rittmei- 
ster loszuwerden. Sonst pflegten Befunde nicht so schnell zur Superar- 
bitrierung zu fuhren! Freilich war Taittinger gekrankt. Er fuhlte Weh- 
mut, Schmerz, Selbstverachtung. 
Am zehnten Dezember schon fuhr er weg. Dem Oekonomen sagte er 



724 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

vor der Abreise: »So, im Februar bin ich wieder hier! Da wird alles 
anders!« Dem Gendarmeriewachtmeister beim Abschied am Bahnhof, 
sagte er: »Ich verlass' mich drauf, dass Sie diesen Buben, den Schinagl, 
nach Graz zuriickschicken. Er kann eine Woche beim Oekonomen 
bleiben!« - AIs der Stationsvorstand das Zeichen zur Abfahrt gab, 
winkte ihm Taittinger vom Fenster freundlich zu, Dankbarkeit im 
Herzen, als hatte der Beamte, lediglich des Barons wegen, den Zug 
abfahren lassen. 

Im Februar komm* ich wieder - dachte er - und erfullt von einer voll- 
kommen grundlosen Sicherheit sagte er sich auch: Im Februar bin ich 
ein ganz anderer Mensch; und: Im Februar ist ja schon beinah* Friih- 
ling. 

Er dachte, dass es gut ware, in Wien auch den guten, lieben Zenower 
wiederzusehn, und er telegraphierte von Pressburg aus, wo er umzu- 
steigen hatte: »Erwarte Sie dringendst Wien, Prinz Eugen«. Er ging 
voller Hoffnung der Superarbitrierung entgegen. 

EINUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

Der »Befund« des Rittmeisters Baron Taittinger lautete: Herzerweite- 
rung, hochgradige Neurasthenie, Herzmuskelschwache, zu aktivem 
Dienst vorlaufig ungeeignet. Er war nicht einmal untersucht worden. 
Der Generals tabsarzt im Zweiten Wiener Garnisonsspital hatte nur: 
»Servus!« gesagt und das Papier unterschrieben. 
» Alles Gute, Rittmeister!« sagte er dann noch. Es war eine Kondolenz. 
So also! Das war der Abschied von der Armee. Baron Taittinger ging 
die Wahringerstrasse entlang, er ging achtlos durch den geschmolze- 
nen kotigen Schnee, zum ersten Mai kein Soldat mehr, seit er denken 
konnte, zum ersten Mai kein Soldat. Was denn sonst? Ein Zivilist 
eben. Es gibt lauter Zivilisten auf der Strasse, aber die sind es schon 
lange. Er aber ist sozusagen ein Rekrut unter den Zivilisten. Der Ab- 
schied liegt gefaltet in der Brieftasche. 

Es ist nicht leicht, so mir nichts, dir nichts ein Zivilist zu werden. Ein 
Zivilist hat vielleicht Vorgesetzte, aber keine Hoheren. Ein Zivilist 
kann hingehn, wohin es ihm beliebt und zu welcher Zeit auch immer. 
Ein Zivilist ist nicht unbedingt verpflichtet, seine Ehre mit der Waffe 
in der Hand zu verteidigen. Ein Zivilist kann aufstehn auch ohne Bur- 
schen: einen Wecker hat ein Zivilist. Man geht, als wollte man sich 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 725 

immer noch zivilistischer machen, achtlos durch den kotigen Schnee, 
biegt links ein, in den Schottenring und will sich im Cafe niederlassen. 
Man sieht nicht mehr, wie fruher, fluchtig durch die Scheiben, ob das 
Lokal standesgemass ist. Ein Zivilist kann sich alles erlauben. 
Taittinger tritt also in ein beliebiges Cafe am Schottenring, in der Nahe 
der Polizeidirektion. Es ist ein kleines, ein sogenanntes Volkscafe. An 
einem der wenigen Tische sitzen sechs Manner mit Hiiten. Alle mit 
steifen Hiiten. Sie spielen Tarock. Geht mich nichts an! - denkt Tait- 
tinger und sieht in den triiben Wintertag hinaus und trinkt Kaffee mit 
Schlagsahne. 

Noch ein Gast kommt. Taittinger nimmt wohl zur Kenntnis, dass ir- 
gendwer eingetreten ist, aber nicht anders, als wie man eine Fliege zur 
Kenntnis nimmt. 

Der Mann setzt seinen Hut nicht ab, er salutiert mit einem Finger und 
setzt sich zu den Tarockspielern und beginnt zu kiebitzen. In dem 
Augenblick, wo Taittinger: Zahlen! ruft - springt der Mann auf und 
sieht sich um. Taittinger glaubt, ihn irgendwo gesehen zu haben. Er 
zieht den Hut. Er kommt naher und sagt: »Herr Baron erkennen mich 
nicht? Herr Baron hier?« 

Ja, das ist der Mann von den Buchln, Taittinger weiss es sofort. »Darf 
ich Platz nehmen?« fragt Lazik, und er sitzt auch schon. Und er er- 
zahlt auch schon: »Diese Welt, heutzutage! Ich habe sie ganz durch- 
schaut, diese Feiglinge, diese Schufte! Diese noblen Herrschaften! Je- 
der von ihnen hat mindestens ein Menschenleben auf dem Gewissen, 
Morder sind es, privilegierte Morder. Orden und Geld und Ehre haben 
sie. Sehen Sie, Herr Baron, wie ich heruntergekommen bin.« Und La- 
zik stand auf, zupfte an seiner Hose, klappte den Rock um und zeige 
das zerfranste Unterfutter, hob den Fuss und deutete auf das zerrissene 
Oberleder, beruhrte den Kragen und sagte: »Seit einer Woche hab' ich 
ihn nicht gewechselt«. »Das ist schlimm!« - sagte Taittinger. - »Herr 
Baron sind ein Engel. Herr Baron, Sie waren der einzige, der gut zu 
mir war« - sagte Lazik. »Ich mochte Ihnen die Hande kiissen, Herr 
Baron. Erlauben Sie mir die Gnade, Ihnen die Hande zu kiissen. « La- 
zik beugte sich vor, Taittinger verwahrte die Hande in den Taschen. 
»Nein, ich verstehe, ich bin nicht wiirdig« - sagte Lazik. »Aber ich 
darf Ihnen von der himmelschreienden Ungerechtigkeit erzahlen, ja?« 
- »Ja!« - sagte der Baron. »Also da bin ich mit meinen Buchln zu dem 
Grafen W. gegangen, gelahmt ist er jetzt, Gott sei Dank, eine himmli- 



Jl6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sche Gerechtigkeit gibt's noch. Und ich red' mit ihm, wie ich seinerzeit 
mit Herrn Baron gesprochen hab'. Aber der Herr Graf hat leider noch 
einen gesunden Arm, und den streckt er aus und klingeltj und der 
Diener kommt, und der Graf sagt: den Sekretar, und der Sekretar 
kommt, und der Graf sagt: Behandeln Sie den Herrn, wie es sich ge- 
buhrt. Ich sprech' ahnungslos, ein unschuldiges Kind, mit dem Sekre- 
tar - und wie ich nach Haus 5 komm, steht der Rothbucher von der 
Brigade da und sagt: Lazik, ich muss Dich verhaften! - Also, kurz und 
gut, die Biichln sind beschlagnahmt und verboten, aus der Zeitung 
schmeissen's mich hinaus, jetzt leb' ich nur noch von den Jungln dru- 
ben, sie sind auch von der Brigade!« 
»Schlimm, Herr Redakteur!« - sagte Taittinger. 

»Herr Baron sind noch so lieb, mich so zu betiteln« - sagte Lazik, 
Tranen glucksten schon horbar in seiner Kehle. »Wenn ich mich re- 
vanchieren darf : Ich hab' hier so eine kleine Vertretung von Medika- 
menten«. Er zog Tubchen und Pulverchen aus den Taschen. - »Man ist 
schlaflos, manchmal, ich weiss, Herr Baron, und der Doktor ver- 
schreibt's nicht!« 

In diesem Moment erhoben sich die sechs Manner, griissten mit den 
ernsten steifen Hiiten, und der letzte sagte: »Entschuldigung!« steckte 
die Tuben und Pulver in die Tasche und befahl Lazik: »Komm!« - 
Lazik erhob sich, verbeugte sich und folgte den Mannern. 
Der Kellner kam an den Tisch. »Bitte um Verzeihung, Herr Baron, ich 
soil vom Herrn Oberinspektor Sedlacek. (Herr Baron haben ihn nicht 
erkannt, sagt er), ausrichten, dass der Redakteur Lazik mit Kokain 
handelt und die Polizei beniitzt ihn und - und, sollt' ich sagen, dass 
Herr Baron ihn nicht unterstiitzen sollten!« 

»Danke!« - sagte Taittinger. Er trat hinaus, winkte einem Fiaker, be- 
fahl: Kagran! 

Als er die Strafanstalt betrat und sich beim Direktor melden liess, hatte 
er das Gefiihl, dass er hierher gekommen sei, um sich freiwillig ein- 
sperren zu lassen. Es war noch immer der alte Direktor, er erkannte 
Taittinger sofort. »Ich lasse Herrn Baron hier« - sagte er, wie damals. 
»Nein, bitte!« - sagte Taittinger, so bestimmt, dass der Direktor sitzen 
blieb. »Ich mdchte das Fraulein Schinagl nicht allein sprechen!« 
Man machte die Tiir auf, die Schinagl kam, sie blieb an der Schwelle 
stehn, wie damals, sie schlug auch die Hande vors Gesicht, Taittinger 
ging ihr entgegen. »Griiss' Gott, Mizzi!« - sagte er. Mizzi erblickte 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT J1J 

den Direktor hinter dem Schreibtisch, erschrak und machte einen un- 
gelenken Knix. »Kommen's naher, MizziU - sagte der Direktor - und 
zum Baron: »Sie ist sehr brav! Im Marz wird sie frei!« »Was wirst du 
machen?« - fragte Taittinger. »Oh, Herr Baron sind so gut!« - sagte 
Mizzi. Sie erschien Taittinger anders als das letzte Mai. Er schob ihre 
Haube empor, das Haar quoll blond und voll hervor. Der Direktor 
sagte: »Wir sind nicht so grausam, Herr Baron!« 

»Dank' schon! Herr Rat!« - sagte Mizzi und versuchte noch einmal 
einen verfehlten Knix. Sie zog ein Taschentuch aus dem blauen Kleid 
und wischte sich die Augen. Aber ihre Augen waren trocken, der 
Baron sah es wohl. Nidus riihrte sich in seinem Herzen. Es war nicht 
so wie das letzte Mai. Er wollte gut sein, vielleicht war die Schinagl nur 
wegen des Direktors so verandert oder wegen der nachgewachsenen 
Haare. »Dein Sohn war bei mir!« - sagte Taittinger. »Ich nab' inn 
wieder nach Graz zuruckgeschickt!« - »Der Xandl!!« rief Mizzi. »Wie 
sieht er aus?« - Leider nicht wie ich - wollte Taittinger antworten, aber 
er sagte: »Ganz gut, recht gut!« - Mizzi begann, wirklich zu weinen, 
aber dies Mai wischte sie sich die Augen mit den Handknocheln trok- 
ken. Sie war iibrigens schnell fertig mit dem Weinen. Mit einer harten, 
gleichgultigen, metallenen Stimme bat sie um die Erlaubnis, gehen zu 
diirfen. »Bitte!« - sagte Taittinger. Sie wurde abgefuhrt. 
»Die fiihlt sich ganz wohl, Herr Baron!« sagte der gefallige Direktor. 
»Gewiss, das sieht man!« - sagte Taittinger. »Sie sind sehr liebenswiir- 
dig.« - »Immer zu Diensten, Herr Baron!« Der Direktor erhob sich. 
»Immer zu Diensten!« wiederholte er. 

Der Fiaker wartete. Taittinger hatte das deutliche Gefuhl, dass etwas 
zerbrochen sei. Zugleich kam es ihm auch vor, dass er durchaus nicht 
imstande sei, nie und nimmer imstande sein wurde, die verworrene 
Welt zu begreifen. Es war genau so wie einst, in Mahrisch-Weisskir- 
chen, vor der mathematischen Schulaufgabe. Er war kein Soldat mehr 
und er war noch kein Zivilist. Hing es damit zusammen? Er wusste 
nicht, ob ein Mensch gut sei oder nicht. Er hatte, wiirde man ihn da- 
nach gefragt haben, nicht sagen konnen, ob Lazik gut, schwach, ge- 
mein sei, ob Mizzi brav, verdorben, bose, nicht einmal, ob ihr Sohn - 
sein Sohn, dachte er nebenbei - ein Luder sei oder noch kein Verlore- 
ner. - Wenn wenigstens der Zenower schon da ware. 
Es war offenbar ein ereignisreicher Tag, das Wort: schicksalsschwer, 
das er einmal irgendwo gelesen hatte, kam dem Baron in den Sinn. 



728 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Man sagte ihm im Hotel, dass der Herr Leutnant Zenower eben ange- 
kommen sei. 

Zum vierten Mai verandert war Zenower in der Offiziersunifornij 
fremder noch als in Zivil. Jetzt, da er nicht mehr die Streifen des 
Wachtmeisters trug, sondern die jugendliche Distinktion des Leut- 
nants, erschien er alt, weit alter, als er in Wirklichkeit war. Er selbst 
mochte es wohl spiiren. Er ging nicht soldatisch mehr einher, er sah 
aus, wie Reserve aussieht: ein wenig verkleidet. Es war nicht Zivil und 
es war auch keine Montur. Ein Rechnungsleutnant hat keine Sporen. 
Man glaubt, nachdem man dreizehn Jahre lang Sporen getragen hat, 
entweder, dass man Zivil tragt, oder aber, dass man gar nicht geht. Es 
ist fast, als hatte man keine Fusse! All dies erzahlte Zenower mit einem 
echten, beinahe bittern Ernst. Taittinger begriff ihn vollkommen. Bei 
der Parade-Uniform hatte man keinen Tschako mehr, sondern einen 
Krappenhut, wie ein Bezirkskommissar. Taittinger verstand diesen 
Schmerz. Es dauerte noch lange, ehe sie aufhoren konnten, gemeinsam 
das tiefe Unrecht zu verdammen, das ein lacherliches Reglement den 
Rechnungsoffizieren zufugte. Die ganze angeborene Klugheit nutzte 
Zenower nichts. Dreizehn Jahre Kavallerie waren genau so stark wie 
die Natur. Man war ein Rechnungsleutnant. Man war ein altlicher 
Leutnant. 

Es konnte nicht fehlen, dass sie in dieser Nacht noch Bruderschaft 
tranken. Arm in Arm kehrten sie in das Hotel zuriick. Der Rech- 
nungsleutnant Zenower hatte am nachsten Tag in eine entfernte Garni - 
son abzugehn, just dorthin, wo ein Rechnungsleutnant gebraucht 
wurde. Es war das vierzehnte Jagerbataillon, weit weg von aller Welt, 
in Brody, an der russischen Grenze. 

Man erwachte spat, hatte kaum noch Zeit, miteinander zu sprechen, 
vor allem wieder in den familiaren Duzton der gestrigen Nacht heim- 
zufinden. »Wer weiss, wann ich Dich wiedersehe!« - sagte der Baron. 
»Wer weiss, ob ich Dich wiedersehe!« - sagte Zenower. Sie umarmten 
sich und kussten sich auf beide Backen. 

Der Baron blieb verlassen zuriick, ein Waisenknabe. Er liess sich ge- 
hen. Seine Nachlassigkeit gewann allmahlich auch einen bestimmten 
Rhytmus. Er traf keine alten Freunde mehr. Er genoss stundenlange 
Gedankenlosigkeit, Gange ohne Ziel, Essen ohne Appetit, Trank ohne 
Lust, eine Frau ohne Freude, sinnlose Einsamkeit mitten im geschafti- 
gen Getriebe und zuweilen den Rausch ohne Frohlichkeit. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 729 

Manchmal dachte er an Mizzi Schinagl und an den Marz. Eines 
Abends schrieb er an den Gefangnisdirektor. Er erfuhr, dass die Schi- 
nagl am fiinfzehnten Marz entlassen werden sollte. Weder empfand er 
etwas besonderes fur die Mizzi, noch auch etwas gerade fiir den fiinf- 
zehnten Marz. Es war wenigstens ein Datum, ein fester Punkt, eine 
Grenze. Die ruhelosen Gedanken hielten manchmal vor diesem Da- 
tum inne; vor einem Schranken. 

ZWEIUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

Dieses Jahr brachte einen fruhen Friihling. Im Marz warmte bereits 
eine maienhafte Sonne. Mit einer j alien iibersatten Kraft bliihte der 
Goldregen in den Garten. Die Amseln iibertonten alle Gerausche der 
Stadt. Zusehends breiter und wuchtiger wurden die hellgrlinen Blatter 
der Kastanien und ihre Kerzen dufteten herb, stolz, weiss und ragend. 
Sogar die hurtigen Schwalben schienen in diesem Jahr zutraulicher zu 
sein. Hart iiber den Kopfen der Passanten schossen sie vorbei, friedli- 
che Pfeile des Himmels. Vom Kahlenberg wehte ein standiger sachter 
Atem in die Stadt. Die Mauern und das Pflaster erwiderten ihm dank- 
bar und zartlich mit ihrem eigenen besondern Atem. Und wenn der 
Abend kam, konnte man von jedem Punkt der Stadt das gutige Rot der 
Sonne die Spitze des Stefansturms liebkosen sehn. Es roch nach erwa- 
chendem Hollunder, nach dem frischen Brot der Backerladen, deren 
Tiiren weit offen standen, nach dem Hafer in den Sacken vor den Fia- 
kergaulen, nach jungen Zwiebeln und Radieschen von den Markten. 
An einem solchen Tage, morgens um neun Uhr vierzig, wurde Mizzi 
Schinagl aus der weiblichen Strafanstalt entlassen. Ihre Entlassung war 
fiir Taittinger seit Wochen ein Grund gewesen, nicht so bald auf das 
Gut zuriickzukehren. 

Manchmal, wenn er so allein sass, in einem der friihreif erbliihten 
Gasthausgarten der Wiener Vorstadte, der Wein ihn traurig gemacht 
hatte und die Luft zugleich heiter, fuhrte er stumme Zwiesprache mit 
sich selber. Er stellte sich Fragen, auf die er keine Antwort wusste 
Nicht sein Gewissen plagte ihn! Ob die Mizzi durch seine Schuld ins 
Haus der Matzner gekommen war oder nicht, beschaftigte ihn schon 
deshalb nicht, weil er nichts Betrubliches im Schicksal einer verlorenen 
Frau sehen konnte. Er kannte nur heitere, sorglose Freudenmadchen, 
denen das Leben viel mehr Spass zu bereiten schien als zum Beispiel 



730 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

den Frauen der Ministerialrate, der Sektionschefs, als den versauerten 
und bosen Tabaktrafikantinnen, als verweinten Kochinnen, von Man- 
nern verlassenen Biirgerstochtern. Im iibrigen hatte er durch seine 
ekelhafte »Affare« der Mizzi ein paar gute, sogar marchenhafte Jahre 
verschafft; durch die gleiche »Affare«, dank der er selbst seinen Glanz, 
seine Sorglosigkeit und um ein Haar Ehre und Namen verloren hatte. 
Weshalb also kummerte er sich noch um die Mizzi? Liebte er sie? - 
Auch dies nicht. Das Herz gehorte zu den verkummerten Organen 
Taittingers. Er wusste keine Antwort. Er fuhlte nur irgendeine unbe- 
greifliche und unlosliche Beziehung zur Mizzi, zur »Affare«. Unbe- 
greiflich war all dies zwar, aber so schien es ihm, beschlossen und be- 
siegelt. Gegen Beschlossenes und Besiegeltes war einfach nichts zu ma- 
chen. 

Er konnte sich einer gewissen feierlichen Stimmung nicht enthalten, als 
er am Morgen des funfzehnten Marz nach Kagran hinausfuhr. Er 
wusste selbst nicht mehr, dass er allein es sich vorgenommen hatte, die 
Schinagl abzuholen. Ihm schien es, dass ihm irgendein Zeremoniell 
diese torichte Handlung diktiere. Uebrigens war die Fahrt im Fiaker 
durch den iippigen Triumph dieses Morgens durchaus geeignet, Tait- 
tingers aufkeimende Ueberlegungen in einem heiteren Rausch aufzulo- 
sen. 

So kam er, als ware es das Selbstverstandliche in die Kanzlei des Ge- 
fangnisdirektors, um die Schinagl abzuholen. Sie wurde infolgedessen 
eine halbe Stunde friiher aus der Zelle geholt. Sie trug den braunen 
Mantel, in dem man sie im vergangenen Herbst eingeliefert hatte. Den 
grossen Filzhut mit den Glaskirschen hielt sie in der Hand, aus Angst, 
er konnte in der Zwischenzeit unmodern geworden sein. Ihr immer 
noch kurzes, uppig nachgewuchertes schones Haar leuchtete mit 
frischem Glanz, und ihr gebleichtes Angesicht erschien schmal, edel 
geradezu. Jetzt sieht sie wirklich wie die Helen* aus! - dachte Taittin- 
ger. 

»Ich kann mir die iibliche Sittenpredigt ersparen« - sagte lachelnd der 
Direktor. »Mizzi Schinagl, der Herr Baron kummert sich in so edler 
Weise um Sie, dass ich bestimmt weiss, ich werd* Sie hier nicht mehr 
wiedersehn. Herr Baron, ich steh' Ihnen immer zur Verfiigung!« 
Auf Taittinger wartete draussen der Wagen. »Wohin willst Du?« fragte 
er. Mizzi aber sah sich erst bekummert um, offenbar vermisste sie je- 
manden. »Ich muss noch warten« - sagte sie - »die Leni kommt noch. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 73 1 

Sie haben mich zu friih herausgeholt!« - Es war ein Vorwurf. Die Frei- 
heit, der Friihling, der wartende Gummiradler und der Baron schienen 
der Mizzi keine Freude zu machen. »Wer ist die Leni?« fragte Taittin- 
ger. »Meine Freundin, Herr Baron! Wir waren alle beide in der Zelle. 
Die Leni wegen Beihilfe zur Fruchtabtreibung, die ist ein sauberes 
Weibsstiick, die Leni, wir waren gut miteinander, sie ist schon vor vier 
Wochen freigekommen. Die halt Wort, die kommt sicher.« 
In diesem Augenblick sari der Baron auch etwas Stattliches, Grelles 
und Winkendes eilig herannahen. Jetzt konnte man diese Erscheinung 
schon vernehmen. Schrille Rufe wehten vor ihr einher. Immer deutli- 
cher erkannte man, dass sie den Namen »Mizzi« rief und, dass es sich 
um ein weibliches Wesen handelte, in einem gelben rohseidenen Ko- 
stiim, mit einem hellgrunen, radgrossen Hut, mit schwarzen, hervor- 
quellenden Locken, in gelben Knopfstiefeln, mit Regenschirm, Boa 
und Pompadourtaschchen. Es war Magdalene Kreutzer, konzessio- 
nierte Karussellbesitzerin im Prater. Die Frauen kiissten sich innig. 
»Sie sind der Herr Baron, weiss eh' schon, mir brauchn's nix mehr zu 
sag'n, i weiss eh' schon alles von der Mizzi. Und das ist der Wagen, da 
steig'n m'r ein und fahren erst zu Deinem Papa, der is gelahmt, sonst 
waV er hergekommen!« Und ehe Taittinger noch wusste, was eigent- 
lich vorgefallen war, sass er schon auf dem Riicksitz, Mizzi und Leni 
gegeniiber, schiichtern und ausserst unbequem, mit hoch gezogenen 
Knieen. Er senkte den Kopf. Ueber ihn hinweg rasten unverstandliche 
Redensarten, zuckten Ausrufe wie grelle Blitze, klatschte Gelachter 
wie heiterer Platzregen, in einem Dialekt, den er noch niemals so in- 
tensiv und in solcher Nahe vernommen hatte, und der an Raderrollen, 
Miauen und Hornerblasen zugleich erinnerte. Endlich erreichte man 
Sievering. 

DREIUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

Hier war Mizzi einmal grossartig vorgefahren, als »Kebsweib« des 
persischen Kaisers. Die Hausmeisterin freilich lebte noch, der Friseur 
Xandl war verheiratet und nach Briinn verzogen. Im Laden, hart ne- 
ben der offenen Tur, sass der gelahmte aite Schinagl. Im dunklen Hin- 
tergrund schimmerten die weissen Meerschaumpfeifen wie Knochen 
von Skeletten. Auch im Baron erweckte der Laden einige Erinnerun- 
gen. Hier hatte er die Mizzi zum ersten Mai gesehn. Der alte Schinagl 



J}2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

konnte nur die Arme bewegen. Audi seine Zunge war hilflos, er stot- 
terte, stohnte und schneuzte sich schliesslich, mit unerwarteter Kraft. 
Aus Verlegenheit kaufte Taittinger fiinf Pfeifen, Die Hausmeisterin 
fragte, ob sie Tabak holen diirfe. Aus Verlegenheit sagte er: »ja, bitte, 
danke vielmals!« - Ob die Mizzi nun hier bieiben wollte? - stammeite 
der Alte. »Nein!« entschied Magdalene Kreutzer. Es war langst be- 
schlossen. Die Mizzi wohnte, um sich ein bisserl »zu renovieren« vor- 
laufig im Hausc der Kreutzer, Klostcrneuburgerstrasse. Sie hatte auch 
gedruckte Visitkarten im Pompadourtaschchen, sie kramte eine her- 
vor, gab sie dem Taittinger und sagte: »Nicht verschmeissen, Herr 
Baron, wir erwarten Sie morgen, Sonntag, dritter Stock links, Tiir 21, 
nicht vergessen, nachmittag fiinf. Bitte, nicht zu spat kommen, Herr 
Baron! « Damit verabschiedete sie Taittinger. Er verneigte sich, sagte 
dem Fiaker die Adresse der Kreutzer, bezahlte die Fahrt der Frauen im 
Voraus und verlor sich in der nachsten Seitengasse, wo ihm eine Cafe- 
terasse trostlich entgegenwinkte. 

Er verschmiss die Adresse nicht, er vergass auch nicht die Stunde, er 
hielt alles Abgemachte ein, wie immer. Mit einiger Bangnis stand er am 
Sonntag vor der Tiir2i, roch er Sauerkraut, Katzen und trocknende 
Kinderwasche, horte er Stimmen aus alien Zimmern, unter, iiber, ne- 
ben sich, auch die Stimme der Mizzi unterschied er jetzt. Er zog ent- 
schlossen an der Klingelschnur, er trat unmittelbar in ein Zimmer, das 
aus rotem Pliisch, grunem Tischtuch, gelben Vasen, Torten, Orangen, 
Kaffeetassen und einem enormen Guglhupf bestand. In sommerlichen 
weissen, schwarzgetupften Kleidern sassen beide Frauen, wie Schwe- 
stern, da. Schwarz die eine, goldblond die andere. Er tat Alles, was sie 
ihm befahlen: er ass Guglhupf, schleckte Eingemachtes, trank Kaffee, 
hierauf Himbeerwasser, rauchte eine Trabucco, obwohl er nur Ziga- 
retten ertrug, horte zu, verstand nichts, dachte auch nichts und bekam 
Sodbrennen, Er entschloss sich, nach der Toilette zu fragen, wurde in 
die Kiiche geleitet, in einen unerkennbaren Raum gesperrt, begniigte 
sich damit, Wasser aus der Blechkanne in die Muschel zu giessen und 
wieder hinauszugehn. Er hatte sich kaum wieder hingesetzt, als die 
Klingel ertonte. Ein Ungeheuer trat ein, das nicht von dieser Welt zu 
sein schien. Es erinnerte an einen Kutscher, an einen Schlachtermeister 
und ein angekleidetes Monument. Es war Ignaz Trummer, der Freund 
der Magdalene Kreutzer. So stellte er sich vor, und von Allem, was er 
im nachsten Augenblick noch hersagte, mit einer Geschwindigkeit, die 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 733 

weder seinen korperlichen Ausmassen, noch seiner grollenden Stimme 
entsprach, verstand Taittinger nur, dass er sich sehr geehrt fiihle. Er 
ass, trank, sprach, rauchte, trank, ass und sprach. »Wos habt's denn 
nur?« - fragte er schliesslich. »Und fahr ma endli aussa?« - »Um Got- 
ters w6lln!« - rief er ohne Grund von Zeit zu Zeit und dann wieder: 
»Haarfix no amoi!« - Es war nicht mehr einfach der Wiener Dialekt. 
Es war, wie wenn ein Bar den Versuch gemacht hatte, italienisch zu 
sprechen. 

Die Pferdebahn war uberfullt, der Trummer, Haarfix no amoi, bestand 
darauf, dass sie zu Fuss in den Prater gingen, ins »Geschaft«, - er 
meinte das Karussell. Gehorsam schritt Taittinger neben dem Ignaz 
dahin, die Frauen gingen voran. Wenn man sich an den Dialekt ge- 
wohnte, konnte man bald Einiges begreifen. Trummer kannte die 
grosse Welt, er war in der Tat einmal Kutscher gewesen, beim Grafen 
Zamborski. Nach dem Tode des Alten war er Pferdehandler gewor- 
den. Dann hatte er leichtsinnig gehandelt und einer militarischen 
Pferde-Assentkommission Schwierigkeiten gemacht, einem Freunde 
zuliebe, und ein anderes Tier geschickt statt des assentierten, und so 
Sperenzchen« gemacht, Na, der Herr Baron kennen ja auch so 
G'schichten, vom Aerar halt, und so ist man jetzt beteiligt am Karus- 
sell der Magdalene Kreutzer, und ein gutes Geschaft war's; man konnt' 
jetzt eventuell das Wachsfigurenkabinett billig kaufen. Das ist was No- 
bles und direkt hohe Kunst, musealische. . . 

Das Karussell war in der Tat stattlich, es bestand aus Pferden, Wagen, 
Schlitten und Booten. Es drehte sich um eine grosse Statue aus buntem 
Pappmache, eine Jungfrau, mit zwei weizenblonden Zopfen, Riesenar- 
men, einer turmhohen Frisur und einer Riesenkrinoline. Auch diese 
Jungfrau selbst drehte sich um die eigene Achse. Aus ihrem Innern 
ertonte eine Drehorgel. Das Karussell stand auf einem runden holzer- 
nen Unterbau. Eine Tiir in diesem holzernen Rund ging auf, die 
Frauen traten ein, Taittinger musste folgen, selbst das Ungetum kam 
seltsamerweise durch die kleine Tiir. Jetzt stand man unten, iiber sich 
den Larm der Menschen, die Musik der Orgel, das Gerassel der Ket- 
ten, an denen die Fahrzeuge schlenkerten. Es war dunkel und feucht. 
Ein Esel, grau wie der Dammer in diesem Raum, drehte sich unaufhor- 
lich im Kreis, einem Hafersackchen nach, das unerreichbar vor ihm 
baumelte. Das Tier erhielt das Karussell in Betrieb, Schani feuerte es 
manchmal an, dermassen, dass es zu galoppieren begann, als war's ein 



734 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Gaul. »Mir sind keine Unmenschen«, erklarte die Kreutzer, »mir 
hab'n noch an andern Esel, zum Ablosen!« Sie klemmten sich alle wie- 
der durch die kleine Tiir an die Luft. Auf den Befehl Trummers muss- 
ten sie ins »Zweite Cafe«. Die Militarmusik spielte, die Leute lachten, 
weiss, frohlich, verschwitzt, in einer bewusstlosen Gemeinsamkeit. 
Die Luft war dennoch leicht, wiirzig, elegant beinahe, eine gesittete 
Luft, und selbst in der Lautheit blieben die Menschen diskret. Ihre 
Ausrufe klangen wie Aufmunterungen, an die Betriibten gerichtet, 
Wunsch der Frohlichen, nur Frohliches ringsum zu sehen. Taittinger 
wurde heiter. 

Die Kreutzer fragte ihn, ob er schon ein Panoptikum gesehen habe. 
Gewiss, sagte er, und er erzahlte angeregt, was er dort Alles gesehen 
hatte. Zum Beispiel den Blaubart, den Schwerverbrecher Zingerl, den 
Rauberhauptmann Krasnik aus Siebenbiirgen, die Komitadschis aus 
Bosnien, die zusammengewachsenen Zwillinge. »Der Herr Baron« - 
sagte Trummer, diesmal hochdeutsch und feierlich - »haben ein sche- 
niales Kopfverm6gen!« - Niemals hatte Taittinger derlei Komplimente 
gehort. Wann er wieder in Uniform erscheinen wiirde, wollte die 
Mizzi wissen. An Kaisers Geburtstag - sagte Taittinger. Er wusste, 
dass er log. Aber er wollte aller Welt eine Freude machen. EigentHch 
war dies alles hier ja Volk. Sie waren ganz charmant, die »Kinder aus 
dem Volke«, sogar das Ungetum, der Trummer. 
Um Mizzis zertrummerte Existenz wieder aufzurichten, war es notig, 
ihr jetzt die einzig giinstige Gelegenheit zu verschaffen: das war das 
Panoptikum. Die Frau Kreutzer meinte, dass der Baron nichts dagegen 
haben konnte. Taittinger sagte auch: »Aber, wie denn!« Nun sei es ja 
einfach, man miisste sich nur nicht anschwindeln lassen und einen 
richtigen Preis erzielen. 
»Is zu vull!« rief Trummer. 

Nicht, wenn der Herr Baron was beitragen wollte, statt der Alimente 
sozusagen, wo doch die Mizzi selber den Buben grossgezogen hat und 
sogar so nobel, wie es sich gehort fur das Kind eines solchen Vaters. 
So - dachte Taittinger. Auf diese Weise bin ich endlich diese langweili- 
gen Alimente los. »Selbstverstandlich!« - sagte er. »Im Rahmen meiner 
M6glichkeiten« - er sagte die Phrase nicht aus Vorsicht, sondern weil 
sie so serios klang - »will ich der Mizzi helfen!« 

Leider geschah im nachsten Augenblick etwas aussergewohnlich Pein- 
liches. Der Oberleutnant Teuffenstein von den elf'er Ulanen ging, Arm 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 735 

in Arm mit seiner Braut, Fraulein Hoffmann von Nagyfoteg, vorbei 
und rief: »Da ist er ja! Taittinger!« - Es war eine furchterliche Situa- 
tion, um ganz genau zu sein, eine »unkommode«. »Ich wohne im 
Prinz Eugen!« - sagte er zu seiner Tischgesellschaft. »Bitte morgen 
nach mir zu fragen.« Er vergass sogar, zu zahlen, stand auf, eilte dem 
Teuffenstein entgegen, wurde von ihm an einen andern Tisch gezogen, 
trank Wein, musste iachen, Anekdoten horen, erzahlen, dass er sich 
auf sein Gut beschranke. »Weisst« - sagte er »es ist immerhin ein Ver- 
mogen, und es waV sonst rettungslos verloren.« 

Spat in der Nacht ging er einsam durch den Prater. Der Staub wirbelte 
immer noch in der Luft. Durch die Hauptallee trommelten zartlich die 
eleganten Hufe der Pferde vor den lautlosen Gummiradlern. »Ret- 
tungs-los-ver-loren, rettungs-los, rettungs-los« trommelten die Hufe. 
Aus den Buschen am Alleerand kam das liisterne Flustern der Verlieb- 
ten. Eine Blumenfrau bot ihm Veilchen an. Er kaufte funf Strausse und 
behielt sie gedankenlos, bis ihm das erste Madchen in den Weg kam. Er 
hab der Kleinen die Blumen und ging mit ihr ins Hotel zur Nordwest- 
bahn. Denn er hatte Angst vor der einsamen Nacht. 

VIERUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

Der Prater offenbarte am Vormittag die gesittete Lieblichkeit eines 
Parks, die geheimnisvolle Stille eines Waldes und die riihrige Bewegt- 
heit eines Vorfeiertages. 

Man sag damals den Baron Taittinger haufig in der Hauptallee zu Fuss. 
Vor vielen Jahren - eine Welt lag dazwischen - war er diesen Weg 
geritten, auf dem Riicken des »Pylades«. 

Manchmal ging der Baron den Rand der Reitallee entlang. An ihm 
vorbei trabten und galoppierten die Herrschaften. Manche erkannte er, 
ohne sie erst gesehn zu haben, am Rhytmus und am Schritt der Tiere, 
an der Reiter Art, im Sattel zu sitzen, Ziigel und Peitsche zu halten, an 
der Kriimmung der Riicken. Dies hier war die Stute Glans-Ei-re pasz. 
Dort ritt Tibor von Daniel. Driiben griisste eben Emilio Casabona 
seinen Landsmann, den Grafen Pogaccio. Das Pferd des Bankiers von 
Goldschmidt war ein Brauner aus dem Gestiit des Grafen Khun-He- 
dervary / es war seine zweitausend Gulden wen /. Dagegen ritt die 
Seilern und Aspang eine hassliche Stute mit plumpen Gang und viel zu 
breitem Hinterteil. Mit grundlichem Ernst machte Taittinger jeden 



J}6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Vormittag derlei Feststellungen. Er ging nirgends mehr hin, er kannte 
immer noch alle. Es kam ihm vor, dass es seine Aufgabe sei, sie in 
»Evidenz zu halten«. Manchmal beunruhigte ihn die Abwesenheit 
eines Kavaliers, der schon zwei Tage nicht in der Allee erschienen war. 
Dann ging er bis zum Spitz und setzte sich ins Gasthaus, wo viele von 
den Reitern abzusteigen pflegten, Viele erkannten ihn. Was denn mit 
ihm geschehen sei, fragten sie, und er antwortete immer mit der glei- 
chen lugnerischen Phrase: »Ich bin ganz verbauert!« - So sagte er. Es 
sei schauderhaft auf dem Gut, aber seine Anwesenheit ware unbedingt 
notwendig. Weltfremd und menschenscheu sei er geworden. In einen 
Salon traue er sich nicht mehr. Und das Leben habe fur ihn jeden Sinn 
verloren. »Jetzt endlich solltest Du heiraten!« sagte der alte Baron Wil- 
mowsky, Mitglied des Herrenhauses und seit Jahren leidenschaftlich 
beflissen, altliche Herren mit jungen Madchen aus verschuldeten Fa- 
milien zu verheiraten. Er gestand freimiitig, dass er keine andere Poli- 
tik betreibe und anerkenne als Familienpolitik. »Ich hatte damals die 
Helen' heiraten sollen!« sagte Taittinger. »Sie ist recht ungliicklich!« - 
antwortete Wilmowsky _ »Graf W. ist paralytisch. Der junge 
Tschirschky macht ihr den Hof. Ihr Mann war immer schon ein bissel 
teppert.« 

Die Vormittage waren auf diese Weise meist der Aristokratie gewid- 
met. Die Nachmittage aber weihte der Baron dem »Volk«, ebenfalls im 
Prater. Er kam oft am Karussell vorbei, unterhielt sich mit der Mizzi, 
mit der Kreutzer und mit Herrn Trummer, ging mit ihnen gerne zur 
Militarmusik, ins zweite Caf ehaus, und liess sich den Stand der Ver- 
handlungen iiber das Wachsfigurenkabinett berichten. Er fand Gef al- 
ien am Panoptikum iiberhaupt. Wachsfiguren waren ganz sympa- 
thisch; netter als ein Karussell auf alle Falle. Trummer sagte, es gehore 
ein ordentliches Stuck Geld dazu, die Geschichte Himmel-Herr-Gott- 
sakra no amoi! - richtig zu machen. Allerdings waren dann die Ver- 
dienstchancen unabsehbar. Manchmal kam es vor, dass Mizzi Schinagl, 
als hatte sie sich plotzlich wieder einer langst vernachlassigten Pflicht 
entsonnen, mit der Kreutzer oder dem Trummer den Platz tauschte, 
hart an den Baron heranriickte und leise seine Hand streichelte. Das 
erste Mai erschrak er und wurde plotzlich schweigsam. Dann ge- 
wohnte er sich an seine Aus rede: es macht eh' nix, die Mizzi ist brav; 
es sind uberhaupt alles brave Leute. Es waren halt ihre »volkstiimli- 
chen Sitten«. Allmahlich gefielen ihm diese Sitten sogar. Es ging eine 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 737 

freundliche Warme von Mizzi Schinagl aus, an so kiihlen Friihlings- 
abenden. Warme Erinnerungen erwachten, Erinnerungen an ihren 
Korper, an manche seiner geheimen Merkmale, an seine verborgene 
Liisternheiten, an seine wollustigen Geschenke. Storende Gebarden 
vollfuhrte die Mizzi freilich. Sie merkte sie aber selbst zuerst und be- 
gann allmahlich, sich ihrer zu enthalten. Sie bandigte ihre Lebhaftig- 
keit, schlug nicht mehr die Hande vors Gesicht, wenn sie lachte, und 
schrie nicht mehr auf, wenn sie erschrak. All dies zwang sie sich ab, 
den Trost im Herzen, den sie einst in der Schule parat gehalten hatte: 
es dauert ja doch nur vier Stunden. Sehr wirres und widerspruchsvolles- 
Zeug huschte durch ihren Kopf. Sie hatte sich auch in der Anstalt le- 
diglich bestraft gefuhlt, ebenfalls wie einst in der Schule; aber keines- 
wegs etwa entwiirdigt. Jetzt aber, in der Freiheit, empfand sie, dass ihr 
zu Unrecht ein Schimpf anhaftete. Zu Unrecht! Denn worin war sie 
schuldig? Sie tiberlegte angestrengt und schritt mit der Genauigkeit, 
deren nur Beleidigte und Geschmahte fahig sind, Jahr fur Jahr, Hand- 
lung fur Handlung ihres bisherigen Lebens ab. Am Anfang stand Tait- 
tinger. Vorher war nichts als der unbestimmte Dammer des vaterlichen 
Ladens gewesen. Ein glanzumflossener trat plotzlich ein. Sterne hat er 
am Kragen, Sonnen am Rock und einen silbernen schmalen Blitz an 
der Hiifte. Man hatte brav den Friseur Xandl geheiratet, wenn der 
Strahlende nicht gekommen ware! Man ware zur Matzner nicht ge- 
kommen! Man ware auch nicht ein Kebsweib geworden und mit Per- 
len beschenkt. Perlen bringen Ungliick! Schuld war der Taittinger. 
Unfahig, wie sie war, lange Zeit zu schweigen, sprach sie ihre Gedan- 
ken auch vor der Kreutzer aus. Sie erntete Zustimmung. Den Bankert 
erwahnte die Kreutzer. Es war Taittingers Pflicht, Mutter und Sohn zu 
erhalten. Ignaz Trummer kam herbei. Er war der gleichen Meinung. 
»Alle Menschen san gleich« - von dieser Pramisse ging er aus. Unse- 
res gleichen wird »vurgeladen«, wann er kane Alimenter zahlt - und 
ujegerl, was noch fur Tanz! Zarwuzeln kennt ma si! - Trummer dachte 
an seine drei unehelichen Kinder. Was fur Scherereien! Ihn hatten die 
Mutter naturlich geklagt. In zwei Fallen war es ihm gelungen, die 
Vaterschaft abzuleugnen. Das dritte Kind, ein Madchen, hatte er bei 
seiner alten Tante in Krieglach untergebracht. Da war es in einen 
Waschkessel gefallen und verbriiht. Derlei »Sperenzln« machte man 
den noblen Herren nicht. Es war nur selbstverstandlich, wenn der 
Baron das Wachsfigurenkabinett der Mizzi zum Prasent machen tat! 



738 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Und das war 5 noch auch fiir all das Ausgestandene eine mittelmassige 
Entschadigung. 

»Ich lieb ihn halt, immer noch!« - gestand die Schinagl. Sie liebte ihn in 
der Tat. Manchmal glaubte sie, dass sie dem Taittinger noch einmal 
folgen konnte, wie einst, vom Vater fort in die Herrengasse und hier- 
auf ins Haus der Matzner gehen und ein Kind haben und Unglucks- 
perlen bekommen und noch einmal eingesperrt werden. Sie bereute 
nichts von all dem. Auch das Heimweh nach ihm, seinen Handen, 
seinem Geruch, seinen Nachten, seiner Liebe zehrten an ihrem Her- 
zen. Sie verlangte nach ihm; und es erschien ihr selbst merkwiirdig, in 
klaren Augenblicken, dass ihr dieses Verlangen nicht allein die Liebe 
befahl, sondern auch Rachsucht. Vergeltung wollte sie iiben. Sie ge- 
horte zu Taittinger. Weshalb blieb er ihr fern? 

Sie wusste, dass er am Vormittag im Prater zu spazieren pflegte; sie 
machte sich einmal auf, um ihm zu begegnen. Sie erblickte ihn zuerst 
aus der Feme, weit vor ihr ging er, seinen Riicken erkannte sie und 
seinen Gang. Dunn und zart ging er dahin, mitten zwischen den star- 
ken Baumen, es riihrte sie zu Tranen; iiber seine Art, dahinzugehn 
allein hatte sie weinen mogen. Es war eigentlich wunderschon, dem 
Herrn zu folgen, nur seinen Riicken zu sehen und zu lieben und seinen 
Schatten, wenn er dann und wann die Allee verliess und in der sonni- 
gen Strasse weiterging. Sie nannte ihn in Gedanken: den Herrn, den 
Baron, den Rittmeister. Auch im stillen wagte sie nicht, ihn Franz zu 
nennen - aus korperlicher Angst. Wenn die »Franz« dachte, fuhr ein 
Schwert durch ihr Herz. 

Es war gut, dass sie ihm nicht zufallig entgegengekommen war; das 
hatte sie vielleicht nicht ausgehalten. Sie wollte auch schon umkehren, 
damit er ihr heute, heute nicht, heute noch nicht begegne; das Umkeh- 
ren aber konnte noch etwas Zeit haben. Sie ging, ohne es zu wissen, 
immer schneller. Jetzt konnte sie schon seinen Schritt horen. Plotzlich 
blieb er stehn, wandte sich schnell um und erblickte sie. Er hatte ge- 
fuhlt, dass man ihm folgte. 

Er liess sie herankommen. »Weisst, Mizzi, Ueberraschungen nab' ich 
nicht gern!« - Es war ehrlich, er hasste Ueberraschungen. Weihnachts- 
geschenke, die er nicht selbst gewunscht und gleichsam bestelit hatte, 
hasste er, vernichtete oder verlor er auch sofort. Er empfand Ueberra- 
schungen als vulgar, ebenso wie Schreckrufe, lautes Weinen einer Frau, 
gerauschvolles Tarockspiel im Cafe, Streit zwischen Mannern auf der 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 739 

Strasse. »Es ist ein Zufall, bitt' urn Entschuldigung, Herr Baron !« - log 
die Mizzi. »Ich hab 5 gedacht, Herr Baron reiten?« - »Ich hab' kein 
Pferd, Mizzi. Auf gemieteten Pferden reit' ich nicht! - Wohin gehst 
denn?« - Er war beinahe schon misstrauisch. »Nix, so halt« - sagte 
Mizzi. »Nun, geh zuriick, setz' Dich zu Steinacker in den Garten, 
trink' ein Bier. Ich komm' in einer Stunde!« Er wandte sich um und 
ging. 

Er hatte aber in Wahrheit keine Lust mehr an diesem Spaziergang. 
Auch mied er die Reiter. Er kehrte um. Ein wenig Mitleid riihrte sich 
fur die Mizzi. Er schamte sich auch dieses Mitleids. Alles ware gut, 
wenn sie nur nicht diesen vertrackten Sohn hatte! Er erinnerte sich 
plotzlich, dass es ja sein Sohn war. Schuldig fuhlte er sich nicht - kei- 
neswegs. Aber es war ein Faktum: unleugbar war der Xandl sein Sohn, 
und die Mizzi konnte nichts dafur - oder nur sehr wenig. Als er das 
Gasthaus Steinacker betrat, hatte er fast schon ein freundliches Ge- 
sicht. Es war ein etwas vorweggenommener Nachmittag des Barons. 
Die Mizzi eroffnete schon gegen elf die Abteilung Volk. Automatisch 
erwachte auch das Interesse Taittingers an den Wachspuppen. Es sei 
viel Geld notig. Wieviel? Das wiisste der Trummer. Und wieviel sie 
selbst habe, fragte Taittinger. Mizzi gestand lediglich die von der 
seligen Matzner ererbten 300 Gulden. Was von der Pfaidlerei iibrig 
geblieben war, verschwieg sie. Noch in der Zelle hatte ihr die Kreutzer 
geraten, von diesem »Notgroschen« keiner Seek etwas zu sagen, nicht 
einmal dem Trummer. Am allerwenigsten dem Sohn. Aber es war 
nicht nur der gute Rat der Leni, den sie jetzt befolgte, sondern auch die 
Stimme ihres Herzens. Seit ihrer Haft hatte sie eine grauenhafte Angst 
vor dem Alter und vor der Not. Es war, als ob der ganze Leichtsinn, 
des sen sie iiberhaupt fahig gewesen war, aufgezehrt, geschmolzen 
ware, gleichzeitig mit dem Geld. Der ganze Vorrat an Unbekummert- 
heit, Vertrauensseligkeit. Uebermut und Grossziigigkeit verbraucht. 
Uebrig blieb auf dem Grunde ihrer Seele die natiirliche, lediglich durch 
die Jugend verhullt gewesene Angst vor dem Zufall des bittern Lebens, 
Sehnzucht nach der garantierten Sicherheit, warme Liebe zu Hab und 
Gut, eiferstichtige Zartlichkeit fur Zuruckgelegtes, Aufgespartes und 
Verborgenes, kurz, der ewige, den Frauen ihrer Art angeborene Glau- 
ben an Sparkasse und Assekuranz. Sie empfand keine Scham. Dieses 
Verschweigen war geradezu eine moralische Pflicht. Ebenso war es ein 
moralisches Gebot, Taittinger zahlen zu lassen. Das Geld, das er fur sie 



740 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ausgab, nahrte noch ihre Liebe zu ihm. Die zweitausend Gulden lagen 
in der Post, und das Sparkassenbiichl, eingewickelt im Taschentuch, 
auf dem Grunde des Koffers. Und der Kofferschltissel hing um den 
Hals, neben dem Kruzifix und dem Medaillon mit der heiligen The- 
rese. »Dreihundert sind gewiss zu wenig«, meinte Taittinger, dem die 
Ehrfurcht vor den Wachsfiguren schon zu tief eingegraben war, 
ebenso wie die Geringschatzung des Geldes. Dergleichen Wachsfigu- 
ren konnten gar nicht billig sein. Gewiss, gewiss, er begriff es. »Ich 
werd' mir erlauben, Dir mit etwas auszuhelfen« - sagte er. »Oh, dank 
schon! Das ist so lieb, so nobel, ganz Ihre Art, Herr Baron !« - Und sie 
fasste schon mit ihren beiden Handen nach seiner Rechten; und ehe er 
noch eine Bewegung der Abwehr machen konnte, beugte sie sich liber 
seine Hand und kusste sie innig. Er war erschrocken, verzweifelt, 
machtlos. 

Plotzlich brach Mizzi in Tranen aus. Dies steigerte Taittingers Unwil- 
len, aber es riihrte auch an sein Herz, fast so wie damals, als Mizzi in 
der Kanzlei des Gefangnisdirektors zu weinen angefangen hatte. »Sie 
haben mkh noch ein bisschen lieb?« - fragte Mizzi. »Ja, ja, sicher- 
lich« - sagte Taittinger, mit der festen Zuversicht, dass die Tranen in- 
nehalten wiirden. Aber das Gegenteil ereignete sich: sie stromten noch 
heisser und dichter. Es wahrte allerdings nicht mehr lange. Mizzi er- 
hob ihr Gesicht. Ihr zerzaustes Haar, der verbogene Hut,, das zer- 
knullte Taschentuch, das treuherzige Blau der Augen, die zwischen 
den verweinten Lidern geradezu kindlich erschienen, gefielen dem 
Baron eigentlich und machten ihm die Frau vertraut. Sie fuhlte es so- 
fort und mit der Schnelligkeit, mit der ein Adler nach langem, lauern- 
dem Kreisen auf die Beute hinunterstiirzt, sobald er deren schwachen 
Augenblick gekommen weiss, fragte sie: »Darf ich heute zu Ihnen 
kommen - abends ?« - »Heut' nicht!« - sagte Taittinger. Er liebte 
nichts Unvorbereitetes. »Morgen? Uebermorgen? Wann?« - »Ja, mor- 
gen!« - sagte Taittinger - »das heisst, wenn ich nicht plotzlich abgehal- 
ten bin!« 

FUENFUNDVIERZIGSTES KAPITEL 

Er hatte wirklich noch eine vage Hoffnung auf irgendein Ereignis, das 
geeignet ware, ihn abzuhalten. Aber soich ein Ereignis traf nicht ein, 
und die Mizzi Schinagl kam, wie abgemacht. Er gewohnte sich schnell 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 741 

an sie, wie iiberhaupt an das Meiste, an das Gute, an das Schlimme, 
an das Charmante und an das Langweilige, das ihm zustiess. Er fand 
bei Mizzi vertraute Warme wieder und entdeckte ihre wohlbekannten 
Geheimnisse. Mizzi kam immer haufiger. Sie futterte die wiederer- 
wachte Gewohnheit eifrig. Sie liebte inbriinstig, wie einst, als es ange- 
fangen hatte. Und wie einst ergab sie sich zuweilen jenen gefahrlichen 
Traumen, von denen sie wusste, dass sie toricht waren und das Erwa- 
chen aus ihnen eine wiiste Bitterkeit. Lacherliche Traume, giitig in ih- 
rer Fluchtigkeit und beseligend noch in der Enttauschung, die sie 
selbst ankiindigten: der Baron wind alt werden, vielleicht auch ein 
bisschen krank. Oh, nicht viel! Vielleicht eine ganz kleine, voriiberge- 
hende, Pflege erfordernde Lahmung. Dann pflegt man ihn, gehort 
ihm ganz, nicht nur so, sondern auch als Opfer. Dann wird er immer 
alter, und er braucht die Mizzi - und dann wird sie seine Frau. Eine 
Nacht lang war sie schon einmal Graf in gewesen. Die letzten zehn 
Jahre ihres Lebens konnte sie ganz gut Baronin sein. 
An einem dieser Tage bekam der alte Schinagl - da er noch Vormund 
seines Enkels war - vom Direktor der Grazer Anstalt die Verstandi- 
gung, dass man nicht mehr in der Lage sei, den Xandl zu behalten; er 
musste sofort nach Wien, zur Mutter, oder sonst irgendwohin. We- 
der sein sittliches Betragen, noch sein Fleiss, noch auch seine Bega- 
bung wiirden ihm gestatten, noch eine andere Artstalt, in der Steier- 
mark wenigstens, zu besuchen. Der Alte schickte den Brief seiner 
Tochter. Sowohl die Magdalene Kreutzer, als auch der Trummer wa- 
ren der Meinung, dass ein Kind zur Mutter gehore und ein Bankert 
niemals in eine Anstalt. In die Lehre sollte er einfach, da konnte et- 
was Anstandiges aus ihm werden. Es war iibrigens ein Wink des 
Himmels, ein Fingerzeig Gottes, wie's geschrieben steht und der Ka- 
techet immer schon gesagt hat. Der Vater war hier, an Ort und Stelle. 
Dem sagt man nix. Der Bub' kommt einfach her. Dann schickt man 
ihn zum Herrn Baron, am besten morgens. Da bin ich, was soil ich 
nun machen? Da bin ich, Herr Vater! Vielleicht schickt er ihn aufs 
Gut, wer kann's wissen? Der Baron hat manchmal so Launen, Him- 
mel-sakra no amoi! 

Eine Woche spater, am Morgen, als Taittinger das Hotel verlassen 
wollte, meldete man ihm den jungen Mann, Schinagl. Der grausiiche 
Junge hatte einen starken Eindruck im armen Taittinger hinterlassen. 
Er wusste jetzt, ganz gegen seine Natur, im Nu, iim wen es sich han- 



74* ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

delte. »Holen Sie ihn!« - befahl er. »Aber wenn er noch einmal hier- 
herkommt, schmeissen's ihn 'naus!« 

Ja, das war der grausige Junge, grosser als das letzte Mai, das Maul 
schiefer, die Augenrander roter. Sein eigener Sohn! Sein eigener Sohn 
sah genau so aus, als wenn sich die Natur iiber den Baron hatte lustig 
machen wollen. Die Stirn war ahnlich, der Haaransatz, das Kinn, die 
Augenbrauen, der Schnitt der Augen. »Guten Morgen!« - sagte der 
Junge. Er hielt die Miitze in der Hand. Er war verandert, bedeutend 
hasslicher geworden, aber es war dennoch beinahe so, als ob man ihn 
gestern erst gesehen hatte. »Herr Schinagl?« - sagte Taittinger. »Die 
Mutter hat g'sagt, ich soil guten Morgen wiinschen!« - »Danke, griis- 
sen Sie Fraulein Schinagl!« - sagte Taittinger und winkte einem Fiaker. 
Ein schrecklicher Tag war angebrochen. Wohin fahren? - »Nach Ba- 
den !« - rief Taittinger, besann sich aber gleich darauf, in der Karntner- 
strasse schon, und sagte: »Zur Polizeidirektion!« Er stieg aus, zahlte, 
hatte nicht den Mut, den Polizeiarzt aufzusuchen, mit dem er eigent- 
lich den Fall Schinagl hatte besprechen wollen. Er wanderte ziellos 
durch die Strassen. Als es zwolf von den Tiirmen schlug, kam er just an 
der Burg vorbei, eine Sekunde vor der Wachablosung. Der Leutnant 
der Deutschmeisterkompagnie kommandierte: Kurzer Schritt!, weil 
die Uhr im Burghof noch nicht den Mittag zu verkiinden begonnen 
hatte. Der Tambour hob sein Zepter, die letzten Klange des Radetzky- 
Marsches erstarben wehmiitig und weckten schon ein schwaches Echo 
unter der Wolbung des Burgtors. Jetzt drohnte die Uhr im Hof, jetzt 
trommelte es sachte, wie wenn Sammetpfotchen auf das Kalbfell schlu- 
gen, jetzt erscholl drinnen das »Gewehr heraus!« Jetzt erschien ir- 
gendwo, hinter einem Vorhang, der Kaiser selbst. Eine unsagliche 
Traurigkeit bemachtigte sich Taittingers. Zum ersten Mai nach langer 
Zeit empfand er wieder Heimweh nach der Uniform und Schmerz um 
die Armee. Die Kapelle spielte den Donauwalzer. Das Volk im Burg- 
hof glaubte an einem der Fenster den Kaiser erblickt zu haben. Hike 
und Hande erhoben sich. Im Hurrahgeschrei erstarb beinahe die Mu- 
sik. Die Fruhlingssonne lag milde iiber der Burg und lachelte: eine 
junge Mutter. Das Gott- erhalte! erklang, Taittinger durchrann der alte 
wohlbekannte Schauer, der Soldatenschauer, der Hymnenschauer. Er 
stand da, den Hut in der Hand; er hatte lieber salutiert. 
Auf dem Weg zum »Deutschen Haus«, wo er heute mittags essen 
wollte, iiberlegte er ernstlich, ob er nicht wieder in die Armee eintreten 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 743 

sollte. Er hatte kein Geld mehr. Gut! Auch die Landwehr war ihm 
lieb. Den Befund konnte man wieder andern, Sein Freund Kalergi sass 
im Kriegsministerium. Fur die Dauer einer Stunde oder zwei sari der 
Rittmeister a. D. die ganze Vergeblichkeit seines Lebens. Das Gut, die 

Mizzi, das Volk im Prater, diese Kreutzer und dieser Trummer! 

Und auch die Wachsfiguren weckten nicht mehr das geringste Inter- 
esse. Einmal hatte er schon eine Pfaidlerei gekauft, jetzt wird er freilich 
noch ein Panoptikum beschaffen miissen, aber dann ist's aus. Den la- 
cherlichen Rest des Guts verkaufen! Und zuriick zur Heimat! Heim in 
die Armee! Er wollte noch im Hotel ein wenig nachdenken. Er ging 
nach Haus, er setzte sich in die Halle. 

Der Portier kam und meldete ihm, dass der junge Mann von heute 
morgen wieder da sei, in Begleitung der Dame, die jeden Tag komme, 
und man wisse nicht, was zu tun sei. Sie mochten beide herkommen, 
sagte Taittinger. - Sie kamen. Taittinger hatte sich vorgenommen, 
nicht aufzustehen, aber er erhob sich: es hob ihn vom Sessel hoch. Er 
war unfahig, vor einem Wesen in Frauenkleidern sitzen zu bleiben. 
(Wenn sich ihm ein Kleid aus irgendeinem der Mode-Schaufenster ge- 
nahert hatte, ware er ebenfalls aufgestanden.) Er lachelte sogar. Er bat, 
Platz zu nehmen. Mizzi Schinagl zog den Brief des Schuldirektors aus 
dem Sackchen und zeigte ihn Taittinger, Hierauf nahm sie auch das 
Taschentuch in die Hand. Sie praparierte schon das Weinen. Taittinger 
las ein paar Zeilen und legte den Brief auf den Tisch. Mizzi riihrte 
schon mit dem Tuch an die Augen. Und schon mit heftig schluchzen- 
der Stimme stiess sie den Satz hervor: »Der Bub ist ganz missraten!« 
Es war ein deutlicher Vorwurf. Das Werk Taittingers war misslungen. 
»Liebes Fraulein Schinagl« - sagte Taittinger - »wie alt ist ihr Sohn?« 
»Er wird jetzt grad' achtzehn, morgen! « 
»Ah, gratuliere!« - sagte Taittinger zu Xandl. 
»Was wollen Sie jetzt anfangen?« - fragte Taittinger. 
»Ich denk', und der Herr Trummer sagt's auch, er soil zu meinem 
Vater, im Geschaft helfen, und dann erbt er vielleicht das Geschaft, 
und der Vater ist ja krank! 

»Morgen nicht« - sagte Xandl - »morgen ist mein Geburtstag!« 
»Da will ich Ihnen auch gleich was schenken« - sagte Taittinger - »da 
brauchen Sie sich morgen nicht noch einmal hierher zu bemuhen!« Er 
zog einen Hundertguldenschein aus der Brieftasche. Xandl faltete ihn 
zusammen und behielt ihn in der Faust. »Danke!« - sagte er. »Sag' 



744 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Dank schon, Herr Baron!« rief Mizzi. »Ja«, sagte Xandl, »dank' schon, 
Herr Baron! « - Es war eine Weile still. Dann sagte Xandl plotzlich: 
»Geh 3 ma, Mizzi !« und erhob sich. »Ich muss auch fort!« - sagte Tait- 
tinger, sah auf die Uhr und erhob sich. Er nahm den Hut und ging 
zuerst. 

SECHSUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

»Gib mir das Geld!« - sagte Mizzi zu ihrem Sohn auf der Strasse. 
»Fallt mir grad' ein!« rief Xandl. »So'n Hunderter is nix fur Frauen- 
zimmer wie Du!« Er ging noch neben ihr ein Stuckchen weiter, aber 
bei der nachsten Querstrasse bog er ein, ohne ein Wort zu sagen. 
»Xandl, Xandl! « rief Mizzi. Er wandte sich nicht um. Sie ging zu Fuss, 
durch die Rotenturmstrasse, am Franz-Josephskai musste sie sich set- 
zen. Es war still um diese Stunde. Man horte das gute Murmeln der 
Donau hinter den dichten Goldregenbiischen. Zutrauliche Amseln ka- 
men zur Mizzi auf die Bank. Sie kamen um Atzung, den Strassenmusi- 
kanten ahnlich, die einsammeln gehn, nachdem sie ihr Liedchen ge- 
spielt haben. Mizzi erhob sich, sie wollte im Cafe nebenan einen Kipfel 
holen, um die Vogel zu fiittern. Sie hatte fur Vogel die Zartlichkeit 
aller. kleinen Frauen, deren riihrselige Dankbarkeit fur die Zutraulich- 
keit der Tiere. Sie zerbrockelte langsam und sparsam einen Kipfel, um 
die Amseln moglichst lange in der Nahe zu wissen. Sie konnte heute 
nicht allein sein. Sie wollte auch schnell zur Kreutzer und zum Trum- 
mer zurlick. Sie sprach leise zu den Amseln. Sie erzahlte ihnen, wie 
schlimm der Xandl sei, seit dem Augenblick seiner Ankunft. (Und so 
goldig is er gewesen, wie er zur Welt gekommen is - und spater auch, 
wie er noch die Locken g'habt hat. Und so g'freut hat's mi, wann er 
mir Mutter gesagt hat. Und jetzt sagt er mir nimmer Mutter, Mizzi 
sagt er halt und Frauenzimmer, Frauenzimmer! -) Sie begann, bitter- 
lich zu weinen. Sie hatte das Gefuhl, dass sie erst seit der Ankunft des 
Buben zum ersten Mai Erniedrigungen erfahren habe. Im Haus der 
Josephine Matzner hatte man sie freilich missbraucht, aber niemals be- 
schimpft. Auch bei dem obligaten wochentlichen Besuch beim Arzt, 
auf der »Sitte«, hatte sie nie Krankungen gefiihlt, und spater auch 
nicht, weder in der Untersuchungshaft, noch im Gefangnis. Ihr eigenes 
Kind musste kommen, um sie zu schanden. Sie empfand in diesem 
Augenblick das ganze Gewicht des Wortes: schanden. Dieses Wort - 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 745 

wie wunderlich - gehorte, seit sie denken konnte, zu ihrem taglichen 
Sprachschatz - jetzt erst begriff sie seine wuchtige Bedeutung. Sie er- 
hob sich, sah sich um, es war kein Wachmann in der Nahe. Sie traute 
sich auf den Rasen, trat an die Briistung des Donau-Kanals und sah 
hinunter auf den Fluss. Vor ein paar Jahren hatte sich die rothaarige 
Karolin' in die Donau geworfen, etwas weiter oben, bei der Augarten- 
briicke; man hat sie nie gefunden. Die Matzner hat damals gesagt, dass 
die Donau nicht gerne Leichen hergibt. Sie schleppt sie bis zum Meer. 
Der Mizzi schauderte vor solch einem Tod; je langer sie auf das dahin- 
eilende Wasser blickte, desto starker wurde der Schauder; aber sie be- 
gann zugleich auch, ihre Furcht zu lieben. Sie liebte ihre Furcht vor 
dem nassen Tode. AIs sie unten, am Kai-Ufer, den Helm eines Wach- 
manns aufblinken sah, kehrte sie auf die Bank zuriick. 
Sie hatte Sehnsucht nach dem Gefangnis. Dort war sie nicht so allein 
gewesen, die Zelle war klein. Aber hier draussen war die Welt gross, 
eine kleine Frau war tausendfach einsam. Die Einsamkeit war so gross 
wie die Welt. Die Kreutzer war eine Freundin, aber sie hatte ihren 
Trummer. Wo gibts eine Freundin, auf die man sich verlassen kann, 
wenn sie einen Mann liebt? Den Baron konnte man niemals haben. 
Das einzige, was man von ihm behalten konnte, war der Xandl - und 
der lief ihr weg, fur den war sie keine Mutter. Wenn man nur vergessen 
konnte, wie goldig er einmal gewesen ist. Vielleicht tat's ihm schon 
leid, und er erwartete seine Mutter wie jeden Nachmittag im Karussell. 
Sie ging in den Prater, sie ging langsam. Je spater sie kam, desto siche- 
rer war Xandl schon dort. Aber Xandl kam erst spat, am Abend, er 
roch nach Bier und Schnaps. Er war stiller als sonst. In seinen Augen 
blinkte ein kleines fremdes Licht. Sie zogerte lange, bevor sie ihn nach 
dem Hunderter fragte. Aber schliesslich war die Vorstellung, dass sie 
wenigstens siebzig Gulden retten konnte, unbezwinglich. »Hier ist 
es!« - sagte Xandl. Er zog ein Biindel Zehnguldenscheine hervor. 
»Zwanzig Gulden hab' ich ausgegeben. Ich nab' ein Bizykl angezahlt, 
morgen will ich's holen.« - »Gib mir den Rest!« Xandl ■ steckte das 
Geld wieder ein. Er ging hinunter, den Esel ein bisschen anzutreiben 
und mit Schani zu sprechen. Er wollte auch seinen Reichtum zeigen. 
Schani brauchte Geld. Er hatte einen silbernen Ring mit einem echten 
Stein, aber Xandl traute weder dem Silber noch dem Juwel. Der ein- 
zige Wertgegenstand, den Schani besass, war ein Revolver. Er ver- 
kaufte ihn, samt zwanzig Patronen, dem Xandl fur fiinf Gulden. Mor- 



746 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

gen sollte man den Revolver ausprobieren, auf der Wasserwiese, wo 
die Soldaten exerzierten und wo die Schusse keinem Wachmann ver- 
dachtig erscheinen konnten. Herr Trummer zwangte sich eben durch 
den kleinen Eingang, im Augenblick, da der Handel abgeschlossen 
wurde. Er sah die Scheine, fragte, woher sie kamen nannte den Baron 
einen Teppen, ein narrisches Gewachs, befahl Xandl, das Geld sofort 
ihm oder der Mutter zu geben. Sonst wollte er den Wachmann holen; 
wegen des Revolvers wiirden beiden Buben eingesperrt. »Aber den 
Revolver behalt' ich« - sagte Schinagl konziKant. Er behielt den Revol- 
ver und lieferte das Geld aus. Trummer sagte der Mizzi, er wiirde es 
aufheben, solang der Bub im Hause sei. Ihm konne er's nicht stehlen, 
wie der Mutter. Mizzi hielt das Geld fur verloren und sie wurde noch 
trauriger. 

Sie suchte ein paar Tage nach Taittinger. Er kam nicht mehr in den 
Prater. Im Hotel traf sie ihn nicht. Sie ging in die Konditorei Schaub in 
der Petersgasse, wo sich die noblen Herren zuweilen trafen. Da sass er 
auch, mit zwei Offizieren. Sie wagte nicht, an ihn heranzugehn nicht 
einmal, sich an einen anderen Tisch zu setzten. Sie blieb draussen. Sie 
ging vor der Tur auf und ab. Taittinger kam endlich, er war allein: 
»Pardon, Mizzi«, - sagte er - »ich hab' in diesen Tagen zu tun. Eine 
Woche noch. Griiss Gott!« 

Er betrieb mit einer Energie, die er nie an sich gekannt hatte, seine 
Rikkkehr zur Armee. In einer Woche wollte er vor der arztlichen 
Kommission erscheinen, Um zur Infanterie transferiert zu werden, 
brauchte er noch einen Kurs von sechs Monaten. Er war jugendlich 
aufgeregt wie ein Kadett. Er hatte, wie gesagt, einen heissen Eifer, aber 
unselig kindliche Vorstellungen von dem Eifer der militarischen admi- 
nistrativen Behorden. Er glaubte, es ginge im Kriegsministerium so zu 
wie im Regiment, der Vorgesetzte befahl, der Subalterne gehorchte. 
Am Nachmittag wurde der Regiments befehl verlesen, und am nach- 
sten Tag vollfuhrte sich alles so, wie es im Befehl gestanden hatte. Aber 
so war es nicht in den Kanzleien des Ministeriums. Man sprach nicht 
zueinander, man korrespondierte. Taittingers Gesuch konnte auch der 
Oberstleutnant Kalergi nicht vor der verworrenen Wanderung bewah- 
ren, die alle Schriftstiicke in der alten k.u.k. Monarchic zuriicklegen 
muss ten. Der »Akt Taittinger« wuchs und schwoll an, wahrend er 
wanderte. Er hatte noch lange nicht jene Ueppigkeit erreicht, die ihm 
gestattet hatte, zum Oberstleutnant Kalergi zuriickzukehren. Und 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 747 

mochte dieser auch noch so aufmerksam die Kreuz- und Querfahrten 

des Aktes iiberwachen, dieser entschlupfte immer, just in den Augen- 

blicken, in denen er ihn gerade erwischt zu haben glaubte. 

Nein, Baron Taittinger kam noch lange nicht vor die arztliche 

Kommission. 



SECHSTES BUCH 



SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

An einem dieser Tage erhielt er den hochst peiniichen Besuch seiner 
»Freunde aus dem Volke«. Sie kamen gemeinsam diesmal, das Fraulein 
Kreutzer und der Herr Trummer. Taittinger sass in der Halle und sah 
sie mit einem gelinden Schrecken anriicken. Herr Trummer kam zuerst 
und fragte nach dem Baron. Im gleichen Augenblick sah er auch schon 
Taittinger vor seiner Kaffeetasse. Er schwenkte den feierlichen schwar- 
zen Hut. Es sah aus, als gabe er Signale mit einer Trauerfahne. Er 
wandte sich sofort wieder dem Aus gang zu und winkte Magdalene 
Kreutzer heran. Er war wiirdig schwarz gekleidet, die Kreutzer som- 
merlich bunt. Neben dem dunklen Ernst des Mannes erinnerte sie an 
ein wandelndes Gartenbeet, das vom Tod personlich betreut wird. Sie 
waren nun einmal da, Taittinger fand sich damit in einigen Sekunden 
ab. Er konnte nicht leugnen, dass er selbst schon daran gedacht hatte, 
sie an einem dieser Tage aufzusuchen. 

Sie setzten sich sofort, sahen einander lange an, iiberlegten gleichsam 
mit den Augen, wer von ihnen zuerst sprechen sollte. Schliesslich fin- 
gen sie gleichzeitig an, hochdeutsch und mit dem gleichen Satz: »Es ist 
ein grosses Malheur passiert!« - »Was ist geschehn?« - fragte Taittin- 
ger. »Ein Malheur! « - wiederholte die Kreutzer - und sie weinte auch 
schon. »Ruhe, Leni!« befahl Trummer. Er nahm das Wort, verfiel nach 
zwei hochdeutschen Satzen wieder in den Dialekt, wurde unsicher, 
fragte immerzu: »verstanden?« - und musste schliesslich innehalten. 
Frau Kreutzer begann die Geschichte wieder von neuem. Das Weinen 
steckte noch in ihrer Kehle, farbte ihre Rede, erinnerte an das Miauen 
einer Katze und an Messerschleifen zugleich und hie und da an den 
durchdringenden Aufschrei einer Gabel, die auf einem Teller ausglei- 
tet. Sie betaubte Taittinger dermassen, dass er zehn Minuten lang gar 
nichts begriff. Dazu kam, dass sie selbst nicht immer zu wissen schien, 
was sie eben erzahlt hatte, denn von Zeit zu Zeit, unterbrach sie ihre 
Rede mit der Frage: »Wos hab' ich jetzt gesagt?« - worauf Taittinger 
schwieg und Herr Trummer wieder von vorn anfing. Jetzt, nachdem er 
sich entschlossen hatte, durchwegs beim Dialekt zu bleiben, gelang es 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 749 

ihm auch, einen Zusammenhang in den Bericht zu bringen. Es verging 
immerhin eine Viertelstunde, bevor Taittinger begriff, dass der Xandl 
etwas Schreckliches angestellt hatte - und zwar infolge der Schuld des 
Barons. 

»Schuld hob' i gesogt!« - wiederholte Trummer. 
»Allen gehorsamen Respekt, Herr Baron« - warf die Kreutzer ein, - 
»aber man kann dem Buben doch kein Vermogen in die Hand geben!« 
»Was hat er denn damit angestellt ?« - fragte der Baron. Alles ist falsch, 
was ich mache, dachte er. Jetzt nab' ich ihm das Geld gegeben, damit 
ich Run' hab', und das Gegenteil ist der Fall. 

»An Murd hat er begangen!« sagte Trummer - »aber Gott sei Dank: an 
mir. Und i leb' noch! I leb' noch lang!« 

»Wieso, einen Mord?« fragte Taittinger. »Geschossen hat er halt!« 
sagte die Leni. Und sie erzahlte, noch einmal, das Trummer das rest- 
liche Geld vom Hunderter dem Xandl abgenommen hatte; den Revol- 
ver hatte aber Xandl behaiten. Vorgestern Abends nun, wie der Trum- 
mer das Geld vom Karussell, wie gewohnt, zusammenzahlt und sich 
nach Mitternacht auf den Heimweg macht, kommt ihm der Xandl ent- 
gegen und verlangt nicht nur sein Geld, sondern einen ganzen Hun- 
derter. Der Trummer holt aus zum Schlagen. Da zieht der Xandl den 
Revolver und sagt: Hande hoch. Aber der Trummer, der hat noch nie 
Angst vor so einem Hascherl von Rauber gehabt und gibt dem Xandl 
einen Stoss, der Bub fallt hin, und der Schuss geht los, und nun schiesst 
der Xandl, wie ein Wilder, noch die anderen Patronen ab, so plan auf 
der Erde liegt er und schiesst hinauf, und da ist auch gleich die Polizei 
da. Und jetzt sitzen wir alle »in der Tinten«. 

»Lesen's denn gar nie a Blattl?« fragte Trummer. Er war beleidigt. Seit 
gestern stand die ganze Geschichte ausfuhrlich in der Zeitung; auch 
sein Verhor im Polizeikommissariat Leopoldstadt. Heute hat ihn so 
sein Journalist sogar gezeichnet, und sein Portrat kommt morgen in 
die Oeffentlichkeit. So wars. Die Mizzi sass den ganzen Tag auf der 
Polizei. Es wird ein grosser Prozess werden, hat der Herr Kommissar 
gesagt, und die Delikte / »Dalikter« sagte Trummer / hiessen: versuch- 
ter Raubiiberfail und Mordversuch. Auch die Mizzi ist verhort worden 
und sie hat ausgesagt und erzahlt, wer der Vater ist. - Und da stent's 
auch schwarz auf weiss in der Zeitung - Trummer holte ein Blatt her- 
aus und deutete auf einen Satz. Taittinger las: »Der junge Attentater is 
die uneheliche Frucht einer echt romantischen Liebesbeziehung zwi- 



75© ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

schen der jungen Mizzi Schinagl und einem Dragoneroffizier von 
Add, der zur besten Wiener Gesellschaft gehort, einem Baron. . .« 
Hier kamen drei Sterne. 

Der arme Taittinger blieb versteinert sitzen. »Hatten's nur nicht dieses 
Siindengeld gegeben, Herr Baron!« - sagte die Kreutzer. Sie hatte sich 
fest vorgenommen, dem narrischen Baron die Wahrheit zu sagen. Sie 
stellte alles Fiirchterliche dar, dass nicht nur den Buben, sondern auch 
die Mizzi und den Taittinger selbst erwartete, wenn es zum Prozess 
kam. Der Advokatursschreiber Pollitzer, ein Bekannter der Kreutzer, 
hat alles gesagt, wie es kommen muss. In anderen Landern, in Amerika 
zum Beispiel, so hat Pollitzer gesagt - werden Jugendliche ganz anders 
vom Gericht behandelt. Aber bei uns in Oesterreich ist alles nickstan- 
dig. »Weil's wahr is!« - grollte Trummer. »Weil die Herrn kan blauen 
Dunst haben. Himmel - Herr-gott - Sakra - No amoi!« 
Taittinger iiberlegte, aber er wusste ja schon langst, dass ihn noch nie- 
mals eine Ueberlegung zu irgend einem vernunftigen Ziel gefuhrt 
hatte. Es gait vor Allem, die beiden loszuwerden. Er bediente sich also 
einer Methode, die einst, beim Militar, in vielen Fallen geholfen hatte, 
wenigstens eine vorlaufige Beruhigung herbeizufiihren. Er erhob sich 
und sagte: »Ich werde das Notige veranlassen!« Diese bewahrte Re- 
densart tat ihre Wirkung. Mit dem stolzen Bewusstsein, Alles erreicht 
und dem Baron eine Niederiage beigebracht zu haben, verliessen die 
Kreutzer und der Trummer das Hotel. 

ACHTUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

Im Laufe der nachtsten Tage aber musste Taittinger die Erfahrung ma- 
chen, dass er durchaus nicht imstande war, »das Notige zu veranlas- 
sen«. Die Sache Schinagl-Trummer war bereits dem Untersuchungs- 
richter anvertraut, als Taittinger den Polizeiarzt aufsuchte. »Weisst 
Du« - sagte der Doktor Stiasny - »bei uns, bei der Polizei, das lasst 
sich immer noch was machen. Bei uns, weisst Du, da gibt's sozusagen 
Abtreibungen, da sind die Geschichten noch Embryos. Aber Du bist 
zu spat gekommen! Beim Untersuchungsrichter reift die Frucht lang- 
sam, aber sicher und unaufhaltsam. Und da gibt's auch nix zu machen. 
Du kannst grad noch verhindern, dass beim Prozess Dein Name ge- 
nannt wird, direkt oder indirekt. Das ubernehm ich gerne: der Doktor 
Blum von der Gerichtssaalkorrespondenz ist mein Freund. Auch wenn 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 751 

von Dir die Rede sein sollte, im Verlauf des Prozesses, so kommt nix 
davon in die Zeitungen. Lieber Baron, das ist alles, was ich fur Dich 
machen kann.« 

Der Oberstleutnant Kalergi meinte ebenfalls, dass die Affare unrettbar 
verloren sei. Taittinger begriff nicht ganz, weshalb es schwieriger sein 
sollte, etwas beim Gericht zu unternehmen, als bei der Polizei. »Ein 
Richter, weisst Du« - so belehrte ihn Kalergi - »ist etwas anderes als 
ein Beamter der Polizei. Die sind so was wie die Engel unter den Be- 
amten. Aber Dich geht ja die ganze Geschichte nur insoweit an, als sie 
Deinem Gesuch um Wiederaufnahme in die Armee schaden kann. 
Fahr' weg! Vorlaufig! Ich sorg' schon dafur, dass Alles gut geht.« 
Nein, Taittinger fuhr nicht weg. Eine seltsame Bangnis hielt ihn zu- 
rlick. Beinahe war es schon eine Furcht des Gewissens. Schon fuhlte er 
sich schuldig und unlosbar verbunden mit fremden Schicksalen und 
Angelegenheiten. Er fuhlte selbst, dass eine grosse Veranderung in ihm 
vorgegangen war, er wusste nicht genau, wann sie angefangen hatte. 
Vielleicht damals, als Sedlacek ihm auf der Treppe entgegengekommen 
war. Vielleicht fruher schon, im Laden Schinagls, in Sievering. Viel- 
leicht spater dann, als er die Mizzi im Gefangnis besucht hatte. Viel- 
leicht gar erst nach dem Abschied von der Armee. Er war jetzt sogar 
imstande, die gleichgultige Heiterkeit seiner friiheren Jahre zu erkla- 
ren: Ahnungslosigkeit war es gewesen. Manchmal kam es ihm vor, 
dass er lange Jahre, gleichsam mit verbundenen Augen an wiisten und 
gefahrlichen Abgriinden vorbeigewandert und lediglich deshalb nicht 
gestiirzt ware, weil er sie nicht gesehn hatte. Viel zu spat hatte er sehen 
gelernt. Grosse und kleine Gefahren sah er jetzt uberall. Gedankenlos 
begangene Handlungen, harmlos ausgefuhrte, harmlose Einfalle, 
leichtsinnig hingeworfene Redensarten und aus purer Gleichgultigkeit 
unterlassene Massregeln rachten sich furchterlich. Langst war die Welt 
nicht so einfach mehr wie fruher; besonders nicht mehr seit der 
Stunde, in der man die Uniform abgelegt hatte. Langst gab es nicht nur 
drei einfache Kategorien von Menschen mehr: Charmante, Gleichgul- 
tige und Langweilige, sondern vor allem: Unerkennbare. Wie leicht 
hatte vor Jahren das nette Verhaltnis mit der netten Mizzi ausgeschaut, 
eine der vielen angenehmen Episoden, unbedeutend wie eine gute 
Mahlzeit, ein angenehmer Ritt, eine Einladung zur Jagd, eine Flasche 
Champagner, ein zweiwochentlicher Urlaub. Die Erlebnisse sahen da- 
mals, als man ihnen begegnete, bunt, heiter, schwebend aus. Man hielt 



7$2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sie an einem Faden, wie Luftballons, solange sie Freude bereiteten. 
Dann, wenn sie anfingen langweilig zu werden, liess man den Faden 
los. Sie schwebten freundlich in die Luft, man sah ihnen noch dankbar 
eine Weile nach, dann mochten sie irgendwo in den Wolken zerplat- 
zen. Aber einige waren gar nicht zerplatzt. Tuckisch unsichtbar hatten 
sie sich lange Jahre irgendwo aufgehalten, alien Naturgesetzen zum 
Trotz. Mit Ballast gefiillt, fielen sie jetzt, wuchtige Gewichte, auf den 
armen Kopf Taittingers zuriick. 

Er wehrte sich nicht mehr gegen das sinnlose Pflichtsgefuhl, das inn 
jeden Tag antrieb, in den Prater zu gehn und der Mizzi, der Kreutzer 
und dem Trummer von den Misserfolgen seiner »Demarchen« zu be- 
richte. Er konnte nichts gegen das qualende Bewusstsein, dass er an 
Allem Schuld war: an der Existenz Xandls, an den Hundert Gulden, 
an der Grauslichkeit des Buben. Er sank - er fiihlte es wohl - in der 
Wertschatzung des »Volkes«; (denn die drei Personen waren fur ihn 
das »Volk«.) »Wann i die Grosskopferten so kenna tat', wie Sie!« - 
sagte der Trummer. »Es g'hort nur Kurasch dazu!« meinte die Kreut- 
zer. »Mein armer Bub!« schrie die Mizzi. Sie weinte leicht, schnell und 
gehassig. Nicht der Kummer, sondern der Hass gebar ihre Tranen. 
Alle drei bildeten eine feindliche Front gegen Taittinger. Selbst er, der 
ebenso unfahig war, irgendein Misstrauen zu empfinden, wie er ausser 
Stande gewesen ware, etwa einer Pferdebahn nachzulaufen, oder sich 
nach einem fremden Gegenstand, der auf seinem Wege lag, zu biicken: 
selbst er entdeckte hie und da die flinken Blicke, die geheimnisvollen, 
die zwischen den drei Reprasentanten des Volkes iiber seinen Kopf 
hinweg ausgetauscht wurden. Manchmal wurde »das Volk« auch di- 
rekt. Es sprach deutlich durch den Mund der Magdalene Kreutzer: »Ja, 
wann'S immer die Alimente gezahlt hatten! « und: »Mit so aner Pfaid- 
lerei abfinden, wann man ein ehrliches Madchen verfiihrt hat!« - Die 
Geringschatzung der Drei ging so weit, dass sie nur noch selten und 
immer seltener in den Dialekt verfielen. Sie schufen gewissermassen 
eine hochdeutsche Distanz zwischen sich und dem Baron. Er war nicht 
mehr wiirdig, Dialekt zu vernehmen. 

»Mir werden uns schon selber helfen!« - sagte bedeutsam eines Tages 
die Kreutzer. 

Sie hatte einen grossartigen Einfall, wie es ihr schien. Mit Hilfe Pollit- 
zers, der fur zwei Gulden fiinfzig jedes gewiinschte und gebrauchte 
Gesuch abzufassen bereit ist, schreibt man an Seine Majestat person- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 753 

lich: ein Gnadengesuch. In der Hof- und Kabinettskanzlei - sagt Pol- 
litzer wird alles sorgfaltig gepriift. Man schreibt, dass die arme Mizzi, 
von Baron Taittinger verfiihrt und mit einem Kind ohne Alimente sit- 
zen gelassen wurde. Der Junge ist leichtsinnig und ohne Vater aufge- 
wachsen. Man vernichtet sein bluhendes Leben. Die ailerhochste 
Gnade des Kaisers allein kann einen Knaben, einen Staatsbiirger, einen 
kiinftigen treuen Soldaten vor der unbarmherzigen Strenge des Geset- 
zes retten. Zuerst meinte der Pollitzer zwar, dass man mit diesem Ge- 
such noch Zeit hatte, bis zur Gerichtsverhandlung. Allein er dachte 
auch an die zwei Gulden funfzig - und sagte nur: »Ich schreib's - aber 
auf ihre eigene Verantwortung!« Und er schrieb. 
Eine Viertelstunde, bevor Seine Majestat der Kaiser, seine tagliche Spa- 
zierfahrt durch die Strassen der Stadt Wien unternahm, kamen die 
»Geheimen« an die Kreuzungen und Strassenecken - mcht etwa, um 
nach Verdachtigen Ausschau zu halten, sondern, im Gegenteil, um 
ihre uniformierten Kollegen, die Wachleute im Strassendienst zu war- 
nen. Seine Majestat halt darauf, dass kein Polizist in die Lage kommt, 
das Volk von Wien im Zaum zu halten, wenn es seine Liebe aussert. 
Der Kaiser liebt Uniformen, - aber militarische. Auch Burggendarmen 
sind ihm sympathisers Der deutsche Kaiser und der russische Zar las- 
sen sich von Polizisten zu Pferd und zu Fuss bewachen. Der Kaiser 
Franz Joseph braucht keine Polizei. Der Polizeiprasident umgeht die 
Wiinsche Seiner Majestat. Die uniformierten Wachter verschwinden in 
den Haustoren. Statt ihrer postieren sich die Geheimen an den Ecken 
und mischen sich unter das Publikum. Wenn die Wachleute unsichtbar 
werden, so weiss man, dass der Kaiser bald kommen wird. Die Pferde- 
bahnen werden selten, als hielten sie unerwartete Betriebsstorungen 
auf. Merkwiirdig ist auch, dass die Fiaker irgendwo stecken geblieben 
sind. Es muss sonderbare, geheime, gewohnlichen Menschen unver- 
standliche, plotzlich wirkende Uebereinkommen geben, dank denen 
die Gefahrte aufgehalten werden. Den Kaiser kennen alle. Jeder hat ihn 
schon oft gegriisst, seinen Dank, Allen gewidmet, genau so empfan- 
gen, als ware er just ihm, dem Einzelnen, zugedacht gewesen. Den- 
noch scheint es Allen, sobald sie erfahren, dass der Kaiser dahergefah- 
ren kommt, als wurden sie ihn jetzt zum ersten Mai erblicken. Die 
Spazierfahrt des Kaisers ist ahnlich wie einer der gewohnten und ver- 
trauten Feiertage: man kennt sie schon lange, aber man erwartet sie, 
wie etwas Unbekanntes, So kennen die Menschen auch den Friihling, 



754 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

zum Beispiel, und sie begriissen ihn doch jedes Jahr mit der gleichen 
begierigen Freude. Die Geschaftsleute schliessen ihre Laden und stel- 
len sich am Strassenrand auf. In den grossen Warenhausern, die einige 
Stockwerke einnehmen, reissen die jungen Verkauferinnen, Naherin- 
nen, Modistinnen, ewig neugierige, ewig flatterhafte, nach Abwechs- 
lung liisterne, friihlingshaft genaschige Kinder Wiens, alle Fenster auf. 
Eine halbe Stunde lang ist Feiertag: Der Kaiser fahrt vorbei. 
Da hort man auch schon seinen Wagen, die zwei schlanken Braunen, 
die hurtig und sachte, mit empfindlichen Hufen, das Pflaster zu lieb- 
kosen scheinen, wahrend sie es treten. Auf dem Bock sitzt der Li- 
vrierte, in kleiner Gala, und der Kutscher halt die Peitsche, lediglich als 
Zeichen seiner Wiirde und seines Amtes. Denn kaiserliche Pferde 
brauchen keine Peitsche. Die Pferde des Kaisers wissen immer, was sie 
zu tun haben, und auch, wen sie dahinfuhren. Es ist, als ob sie es auch 
gar nicht notig gehabt hatten, vor den kaiserlichen Wagen eingespannt 
zu werden: von selbst haben sie sich Ziigel und Geschirr angelegt. Sie 
geben dem Kutscher Richtung und Rhytmus an; nicht er ihnen. 
An diesem Tage stiirzte, als die Pferde vom Ring in die Mariahilfer- 
strasse einbogen, eine Frau aus der dichten Reihe der »Hoch«- und 
»Vivat«-Rufenden, war in einer Sekunde am Trittbrett des Wagens an- 
gelangt und warf einen Brief hinein, der dem Adjutanten auf den 
Schoss fiel. Aehnliche Vorfalle hatten sich oft ereignet, der Kaiser 
kannte sie bereits. Es waren Gnadengesuche, geschriebene Hilferufe 
seiner Untertanen. Er hatte schon viele gelesen, viele gutgeheissen, 
viele abgelehnt. Genau so aber, wie er derlei Begebenheiten fur ge- 
wohnliche, selbstverstandliche Folgen seines Amtes halten mochte, so 
erschienen seinen Dienern diese heftigen und uberraschenden Bitten 
um Gnade ausserst gefahrliche Symptome einer anarchischen und be- 
drohlichen Freiheit. Die Geheimen stiirzten hervor, zwei, drei, vier, 
fiinf; zu viel Manner fur eine einzige Frau. Der Hut fiel ihr vom Kopf, 
das Pompadourtaschchen aus der Hand. Ein Polizist hob Beides auf. 
Der Kaiser war schon weit fort. Man brachte die Frau in die Wach- 
stube, in die Neubaugasse, untersuchte sie genau, wie es die Vorschrift 
befahl, nahm ihre Personalien auf. Es war Mizzi Schinagl. Sie wurde 
entlassen. Man sagte ihr, das sie von nun ab unter besonderer polizeili- 
cher Bewachung stehe und gewartig sein miisse, jeden Moment vorge- 
laden zu werden. All dies bekummerte die Mizzi nicht. Sie wusste, wie 
alle Welt, dass sie zwei Tage Arrest oder funf Gulden Strafe zu bekom- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 755 

men hatte. Die Kreutzer und der Trummer, die mit der Mizzi gekom- 
men waren, urn ihr Mut zu machen, begleiteten sie triumphierend in 
den Prater. Die Familie Havlicek, Inhaber des Puppenspieltheaters, 
die, obwohl nicht weit vom Karussell der Kreutzer installiert, dennoch 
bis jetzt eine gewisse Distanz zu den Nachbarn bewahrt hatte, weil 
doch ein Puppentheater Kunst war und kein torichtes Vergniigen: 
auch die Familie Havlicek fand sich ein und gratulierte der Mizzi zu 
ihrer »Kurasch«. Man trank »Lager« und vergass beinahe, dass es 
schon vier Uhr war; die Zeit, das Karussell in Gang zu bringen. 
»Deinem Baron sagst nix!« - befahl Trummer. Der Baron war bereits 
ein erklarter Feind, fur vogelfrei erklart sozusagen. Wenn er zu fruh 
von dem Gnadengesuch der Mizzi erfuhr, war er imstande, das Geld 
fur das Wachsfigurenkabinett zu verweigern. 

Mizzi Schinagl litt unter einigen peinlichen Empfindungen, wegen der 
Abgaben, die sie im Gesuch gemacht hatte. Allein, sie sagte sich, dass 
sie ihren Sohn, ihr einziges Kind, ihr »Alles auf der Welt« retten 
musste. Eine Mutter bin ich eben! - sagte sie sich. Sie beschloss, spater 
erst, in zwei Tagen vielleicht, Taittinger von ihrer Tat zu berichten. 
Spater erst: sobald das Panoptikum bezahlt ware. In zwei, drei Tagen 
sollte man abschliessen; im Cafe Zirrnagl, im Artisten-Cafe in der Pra- 
terstrasse, wie es eine alte Ueberlieferung den Budenbesitzern vor- 
schrieb. 

NEUNUNDVIERZIGSTES KAPITEL. 

Um funf Uhr nachmittags sollte Taittinger ins Cafe Zirrnagl kommen. 
Seit vier Uhr erwarteten ihn die Schinagl, die Kreutzer und der Trum- 
mer. Jeden von den dreien beherrschte die Furcht, der Baron konnte es 
sich im letzten Augenblick iiberlegen und also ausbleiben, oder, was 
noch schlimmer war, gestern schon weggefahren sein. Man hatte ihn 
fester halten miissen! - dachte die Kreutzer. Die Mizzi Schinagl qual- 
ten widerspruchsvolle Gefuhle weit mehr, als die Angst, dass der 
Baron nicht kommen konnte. Ja, in manchen Augenblicken empfand 
sie geradezu den deutlichen Wunsch, der Baron mochte es sich iiber- 
legt haben. Und nahe war sie daran, auf das Panoptikum zu verzichten. 
Sie erhob sich, sagte, sie wolle noch schnell etwas zum Essen kaufen, 
fur morgen, um es Xandl mitzubringen. Aber sie ging eigentlich nur 
fort, weil sie ausserstande war, langer die Kreutzer und den Trummer 



756 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

zu ertragen. Es kam ihr vor, dass sie im Begnffe war, zum ersten Mai 
etwas »wirklich Schlechtes« anzustellen, Sie hatte gerne einen beliebi- 
gen Fremden auf der Strasse angesprochen, ihm Alles erzahlt und ihn 
urn Rat gebeten. Sie sah die Manner an, die ihr in den Weg kamen. 
Vielleicht fand sich einer, zu dem man reden konnte, wie ein Mensch 
zum Menschen redet. Ach, woher kamen ihr nur derlei Gedanken? So 
viele Menschen - dachte sie - gehn an mir voriiber, kommen mir entge- 
gen, und ich seh' keinen einzigen, dem ich etwas erzahlen konnte! 
Fremde sind's halt, das ist wahr! Aber grad den vertrauten kann ich's ja 
erst recht nicht sagen! Grad' der Leni! Und mit der hatte man doch die 
ersten Stunden der Verlorenheit in der Zelle geteilt - und wer weiss, ob 
man sie iiberhaupt ertragen hatte ohne die Leni! Und vielleicht hatte 
man auch mit ihr allein noch sprechen konnen - aber niemals mit dem 
Trummer. Und die Leni war auch gar nicht mehr so vertraut, weil sie 
eben die Frau vom Trummer war, so ein Stuck von ihm wie sein Stock, 
sein Hut, seine Taschenuhr. Wer war der armen Mizzi eigentlich ver- 
traut? - Nicht der Xandl? Er war ihr Sohn und sie graute sich vor ihm. 
Ohne die Kreutzer und den Trummer hatte sie auch das Gnadengesuch 
nicht in den kaiserlichen Wagen geworfen. Ist der Xandl wirklich ihr 
Sohn? Ist sie wirklich seine Mutter? Ist der Xandl ihr »Einziges auf der 
Welt«, wie sie so oft in diesen Tagen versichert hat? Jetzt weiss sie es 
plotzlich genau, dass sie Worte gesagt hat, die Andere ihr diktiert hat- 
ten, - Worte hat sie gesagt, die sich einfach so gehorten. Und auch jetzt, 
zu diesem Panoptikum, sagte ihr Herz: Nein! Dennoch musste sie bald 
zuriick ins Cafe Zirrnagl. Sie ging um das Hauserviereck herum, in 
einem Uhrmacherladen zeigte es halb funf, es war noch Zeit. Es fiel ihr 
ein, dass sie Taittinger vor dem Cafe abwarten konnte, ihm alles geste- 
hen, selbst die zweitausend, die sie beiseite gelegt hatte. Auch, dass sie 
ihn im Gnadengesuch an den Kaiser angeschwarzt hatte, wollte sie ihm 
sagen. Ja, das wollte sie. Sie stellte sich in der Praterstrasse, schrag 
gegeniiber dem Cafe Zirrnagl auf und so, dass die Kreutzer und der 
Trummer sie nicht erblicken konnten. Ihr Herz klopfte, es war ein 
freudiges Herzklopfen. Sie legte sich alles, Wort fur Wort, getreulich 
zurecht, was sie Taittinger sagen wollte. Sie war ganz sicher. 
Da kam er auch, im Fiaker. Sie kannte seine Gewohnheit. Er liebte es 
nicht, an dem Ort vorzufahren, an dem er aussteigen sollte. Sie hatte 
Zeit genug, die breite Strasse zu tiberqueren und ihn noch rechtzeitig zu 
erreichen. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 757 

»Ich bin hoffentlich nicht zu spat?« - fragte Taittinger. »Hast Du hier 
auf mich gewartet?« Er sah auf die Uhr, er war punktlich, wie immer. 
»Ich muss was schnell vorher erzahlen!« - sagte Mizzi. Sie hatte gar 
keine Angst mehr vor dem Widerwillen des Barons gegen heftige und 
intime Bewegungen. Sie glaubte, in diesem Augenblick zu fuhlen, dass 
er allein von alien Menschen in der Welt er allein, ihr vertraut war. Ihr 
Geliebter war er. Sie liebte ihn mehr als ihren Sohn und ihren Vater. 
Sie wusste es jetzt ganz genau. »Was gibt's denn, was gibt's denn?« - 
fragte er. Er Hess sich in die Seitengasse fiihren. 

»Ich mocht' nicht, dass Du das Kabinett kaufst« - begann sie. Sie sagte 
»Du«, es schien ihr selbstverstandlich, sie sprach zum ersten Mai so zu 
ihm, am Tage, wie sonst nur in der Dunkelheit vertrauter Nachte. Sie 
habe selbst noch Geld genug und sie brauchte ja auch seine Hilfe nicht. 
Sie hatte nur die Ratschlage der Kreutzer befolgt, aber dies sei schlecht 
von ihn Sie wollte nichts mehr Schlechtes anstellen. Und ausserdem 
hatte sie noch ein Gnadengesuch gemacht, fur den Xandl, ja — «. 
Sie sprach so eifrig, dass Taittinger keine Moglichkeit fand, sie zu un- 
terbrechen. Er tat, wie es seine Art war, so, als horte er zu. In Wirk- 
lichkeit vernahm er nur die Halfte. Diese Halfte geniigte, urn ihn un- 
willig zu machen. Was ihn betraf: er lebte schon voraus. Er lebte schon 
sein zukiinftiges, neues, erneuertes Leben. Er war schon wieder heim- 
gekehrt in die Armee, in seine Heimat. Er war fertig mit der Mizzi, mit 
seinem Sohn, mit dem Volk vom Prater. Obwohl er nur knapp die 
Halfte gehort hatte von all dem, was die Mizzi daherredete, glaubte er 
doch so viel zu verstehen, dass die Frau im Begriffe war, ihm Hinder- 
nisse zu bereiten. Wenn sie kein Geld von ihm nahm, so war es wahr- 
scheinlich deshalb, weil sie mehr und anderes von ihm wollte. Niemals 
war Misstrauen in ihm wachgewesen, vor der Ankunft Xandls. Diesen 
furchtete er. Von dem, so schien es Taittinger, kamen Peinlichkeiten, 
Gefahren, Verwicklungen zumindest. Nur durch Geld konnte er frei 
werden. Sehr spat erwachte in ihm der naturliche Abwehrinstinkt, der 
alien Lebewesen in der Stunde der Gefahr eigen ist. Er fuhlte auch 
schon seit einigen Tagen, dass er verloren war, wenn er sich nicht zur 
Armee zuriickrettete; dass es zu spat, dass er zu alt war, um noch 
Reinheit zu bewahren, ohne militarische Gesetze, Kraft zu haben, 
ohne Vorschriften, den Tod nicht zu furchten, ohne Befehl. 
»Nein, liebe Mizzi« - sagte er, mit einer Stimme, die sie nicht kannte. 
Er befreite seinen Arm. Seine Stimme kam von weitem, jede Silbe war 



758 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

eine zuschlagende metallene Tiir. Die Satze schnappten ein wie einst 
der Riegel an der Zellentiir draussen. »Nein, ich zahle meine Schulden. 
Du hast dann eine sichere Existenz und der Junge auch, wenn er ein- 
mal herauskommt! - Gehn wir!« - sagte er - und sie folgte ihm, einen 
halben Schritt hinter ihm, so schnell ging er dahin. Ihr Herz klopfte 
nicht mehr, obwohl sie jetzt eilen musste, und ihr Kopf war leer, aus- 
gehohlt und dennoch schwer. Wie eine fremde Last sass er auf ihrem 
Hals. 

Nur schnell fertig werden - dachte Taittinger, als er ins Cafe Zirrnagl 
eintrat. Da sassen sie schon, der Besitzer des Panoptikums und der 
Makler und noch einer, den Taittinger noch nicht kannte. Es war der 
juristische Beirat, der den Vertrag aufsetzen sollte, der Pollitzer. Tait- 
tinger strengte sich gar nicht an, um die einzelnen Phasen des Ge- 
sprachs zu begreifen. Er bemuhte sich lediglich, die Verwirrung zu 
unterdrucken, die nicht aus ihm selber kam, sondern die von alien Sei- 
ten auf ihn einstromte, eindrang, wie Wind, Gestober, Staub und Eis- 
regen zugleich. Es wimmelte hier von Menschen, an denen schon die 
einfache Tatsache, dass sie an einem Tisch sassen, tranken, aufstanden, 
verhandelten, lachten und ernst waren, ausserordentlich iiberraschte. 
Es waren namlich Zwerge und Riesen, bartige Frauen und Manner mit 
weiblichen Briisten. Die Zwerge verwunderten Taittinger nicht ihrer 
Kleinheit wegen, sondern durch den Umstand, dass es selbst unter ih- 
nen noch Grossenunterschiede gab. Mit ihren gewaltigen Kiirbiskop- 
fen, mit ihren bartlosen Gesichtern, auf deren pergamentener Haut die 
Runzeln regellose Netze bildeten, mit ihren kleinen weichen Hand- 
chen und den winzigen Knopfstiefelchen, die unter den Stiihlen hoch 
liber dem Fussboden schlenkerten, sahen sie nicht etwa aus wie allzu- 
kleine Menschen, die zu sein sie offensichtlich beflissen waren, son- 
dern wie die Versuche einer tastenden Natur, gross e Menschen hervor- 
zubringen. Es war, als konnten sie, als miissten sie eigentlich noch 
wachsen, als musste ihre Haut sich glatten, als muss ten ihre Runzeln 
sich noch regelmassig ordnen und natiirlich reihen. Sie selbst aber 
rechneten nicht damit - und also waren sie noch unheimlicher. Mit 
heiser-dunner Stimme lachten sie, sprachen sie. Riesig scheinende Tas- 
sen hielten sie in den winzigen Handen. Mit hervorquellenden Augen 
die trotzdem zu klein waren, schienen sie zerstreut und fluchtig hier- 
hin und dorthin zu schauen. Einer schlug mit den Faustchen auf den 
Tisch. Wenn Einer Anstalten machte, aufzustehn, hob ihn der Kellner 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 759 

vom Stuhl. Es gab ungelenke Riesen, deren Kopfe den oberen Tiirrah- 
men iiberragten und die, wenn sie sich an den Tischen niederliessen, 
fremd und verwandelt aussahen, als bestiinden sie aus zwei Personlich- 
keiten, von denen die eine nur aufrecht existieren konnte, die andere 
nur sitzend. Ihre Gesichter waren stark und knochern, ihre Halse lang 
und mager, ihre aus den Aermeln herausragenden Handgelenke rot 
und wie entziindet. Die bartigen Frauen rauchten Trabuccos, die voll- 
busigen Manner Zigaretten. Dazwischen verloren die normal gewach- 
senenen Seiltanzer, Gladiatoren, Messerwerfer, Schwarzkiinstler und 
Tierstimmenimitatoren an Glaubwiirdigkeit. Taittinger glaubte ihnen 
einfach nicht, dass sie normal gewachsen waren. 

Einige' brachten Affen und Aeffchen an Ketten mit. Die Tiere s as sen 
auf den Schultern der Manner, im Schoss der Frauen und schienen an 
den Unterhaltungen teilzunehmen. Unternehmer schlossen Kontrakte 
ab, manche verlangten von den Arris ten Pro ben ihrer Kunst. Imitato- 
ren trillerten wie Lerchen, floteten wie Nachtigallen, wieherten wie 
Pferde, heulten wie Schakale; Bauchredner hielten Zwiesprach mit sich 
selber; Musiker spielten Walzer auf Teeglasern; Armlose knopften sich 
mit den Zahnen die Stiefel auf; Zauberer assen bunte Papierschlangen 
und beleuchtete Lampions. Taittinger fuhlte sich verloren, als hatte 
man ihn ganz allein, ein Kind, hiehergefuhrt und dagelassen. Er hatte 
oft Wundermenschen und Anomalien im Zirkus und im Variete gese- 
hen. Allein, dort war er von ihnen getrennt gewesen durch Raum, 
Licht, Rampe und Eintrittsgeld. Sobald der Vorhang gefallen war, hat- 
ten die Sonderbarkeiten aufgehort. 

Er hatte noch kaum seinen Kaffee angeruhrt, und schon mahnte der 
Pollitzer zum Aufbruch. Taittinger fragte, ob man endlich fertig sei. 
»Leider nicht, Herr Baron !« - sagte Pollitzer, der hier das Wort fuhrte 
und den Alle »Herr Doktor« nannten. »Wir miissen mit dem alten 
Percoli sprechen, er wohnt nur zwei Hauser weiten Er ist sehr geizig 
und geht nie ins Cafe. Er ist ein alter Neaploitaner, wohnt schon an die 
dreissig Jahre in Wien. Herr Baron ziehen es vielleicht vor, uns hier zu 
erwarten? Nein, dagegen wehrte sich etwas in Taittinger. Er konnte 
hier nicht allein bleiben, obwohl er auch etwas Unbehagen vor Pollit- 
zers Lavalliere-Krawatte, vor seinem Schlapphut, seiner bunten Samt- 
weste und den vielen Papieren in seiner Rocktasche empfand. Er ging, 
zwei Hauser weiter. Er folgte dem Trupp, gehorsam wie ein Haustier 
und mit verdoppelter, weil muhsam gezahmter Ungeduld. Er stieg die 



760 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

drei Treppen empor. Er trat hinter den Andren durch eine finstere 
Kiiche in ein helles, von einem Glasdach iiberdecktes Atelier. Der alte 
NeapoHtaner blieb sitzen. Er sass an einem langen Tisch vor Zeichnun- 
gen, Photographien, Zeitungsausschnitten. Er war ein beriihmter 
Modellierer, der alte Percoli. Er belief erte mit seinen Puppen die 
Wachsfigurenkabinette der Monarchic, das Berliner Panoptikum in 
der Lindenpassage, zeitweise - wenn es sich urn Figuren des Balkans, 
Mitteleuropas, des Orients handelte, das Pariser Musee Grevin. Alle 
nannten ihn: Meister; Pollitzer, (weil er gebildet war): Maestro. Der 
Maestro hatte noch ein paar wichtige, ja, unerlassliche Puppen zu lie- 
fern. Aber er gab nichts auf Kredit, und ausserdem war ihm der fallit 
gegangene Besitzer FKegl noch fiinfunddreissig Gulden fur den be- 
riihmten Raubmorder Kudal, der fiinf jiidische Hausierer in der 
Bacska mit der Hacke erschlagen hatte, und fur den Henker Taller 
weitere zweiundzwanzig. Dies las der Alte aus einem winzigen Notiz- 
biichlein vor. Er sprach mit einer diinnen singenden Stimme, sie kam 
wie aus einem verstaubten Spind und aus einem versunkenen Jahrhun- 
dert. Rings um ihn lagen erschreckend lebendige Riimpfe und Kopfe, 
Uniformierte und Zivilisten, Bartige und Bartlose, nackte Frauen, zwi- 
schen deren rosa Briisten Messer steckten, Indianer mit Federbiischen, 
die Pfeile abzuschiessen im Begriffe waren, schwarze Leiber von Ne- 
gern, die auf einem griinen Stiickchen Theaterwiese aus Pappe und 
gefarbter Holzwolle lagerten, uppige Haremsfrauen in einem glaser- 
nen Bassin, Angler am Ufer eines runden Spiegels. Und grosse Haufen 
aus Wachs, Gips, Sand, Topfe voll verkrusteter Farben, Pinsel, Spach- 
tel, Hammerchen und spitze Feilen. Es gab ausser dem Stuhl, den der 
Maestro einnahm und niemanden abzutreten gewillt war, ein holzer- 
nes Bett, auf dem Taittinger keinen Platz mehr fand. Er stand also, steif 
auch er fast wachsern. Es war ihm, als verhartete er sich allmahlich und 
verwandelte sich in eine der Puppen, die er im Grunde beneidete, weil 
sie aller Verpflichtung enthoben waren, irgendetwas zu unternehmen. 
Man zeigte sie; und damit basta. 

Den Vertrag hatte Pollitzer mitgebracht, der alte Tino Percoli ver- 
pflichtete sich darin, die Aktualitaten der letzten Monate nachzulie- 
fern, gegen einen Vorschuss von hundert Gulden. Er durfte innerhalb 
der Monarchic keine gleichen Modelle anbieten, an das Berliner Pan- 
optikum erst in einem Abstand von zwei Wochen. Ausgenommen war 
das Musee Grevin in Paris und uberhaupt das Ausland. »Den Vertrag 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 761 

behalf ich bis morgen« - sagte Percoli. »Morgen nachmittag! Ich will 
ihn allein durchlesen.« 

»Ich bitte um die Freundlichkeit, das durchzulesen, was Herrn Baron 
betrifft« - sagte Pollitzer. Taittinger musste noch einmal ins Cafe. 
Es erwies sich, dass er siebenhundert Gulden in bar zu erlegen hatte, 
fur den Rest - achthundert rund - garantierte er. Man brachte ihm 
Tinte und Feder. Er unterschrieb mit fester und heiterer Hand. Es kam 
ihm vor, dass er gewaltige Lasten abgeworfen, das Gewissen befreit 
hatte, Sorgen entronnen war, alien moglichen Verwicklungen und 
Peinlichkeiten. Er nahm geradezu herzlichen Abschied von Allen. Er 
versprach, Sonntag zur Neueroffnung des Panoptikums zu kommen. 
Es sollte einen neuen Namen tragen. Pollitzer hatte vorgeschlagen: 
»Das Welt-Bioscop«. Der Name gefiel alien Beteiligten. Man ging trin- 
ken. Man machte nicht einmal den Versuch, den Baron einzuladen. 
Mizzi Schinagl begann plotzlich, zu weinen. »Warum?« - fragte man. 
»Ach, so, vor Freude« - erwiderte sie. 

FUENF2IGSTES KAPITEL. 

Die Eroffnung des neuen, »Grossen Welt-Bioscop-Theaters« gehorte 
keineswegs etwa zu den nebensachlichen und rein regionalen Ereignis- 
sen jener Zeit. In der spektakelsiichtigen und lustgierigen Reichshaupt- 
und Residenzstadt bedeuteten schon eine neue Schaubude, eine neue 
Tanagra-Buhne, das erste mechanische Karussell, ja, was sag' ich, eine 
neue Schaukel und das veranderte Programm eines Flohtheaters eine 
Sensation, deren Glanz und deren Ruf weit iiber die Grenzen des Pra- 
ters in alien Bezirken der Stadt und auch jenseits des Stadtgiirtels 
Widerschein und Widerhall erweckten. Machtige Plakate liess der 
Trummer drucken. Sie verkiindeten, dass in dem neueroffneten 
Wachsfigurenkabinett in hochst kiinstlerischer Ausfuhrung des be- 
riihmten Skulpteurs aus Neapel Tino Percoli die ganze Schrecklich- 
keit, aber auch die ganze Pracht der vergangenen Geschichte wie die 
bedeu tends ten Figuren der jiingsten Aktualitat zu sehen waren. K6- 
nige und Morder, Anomalien und Diplomaten, Feldherren und Vivi- 
sektionen, das Altertum, das Mittelalter und die Neuzeit, Katakomben 
und Geschlechtskrankheiten, Rauber und Spione und Monstren, die in 
New-York, in Canada, am Aequator und im Eismeer vorkamen, wa- 
ren im Bioscop -Theater naturgetreu dargestellt. Der Harem des Sul- 



762 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

tans, die Kebsfrauen des Schahs von Persien, die Geheimmsse in den 
Palasten der indischen Maharadschas, die Stahl-, Eisen- und Petro- 
leummagnaten der Neuen Welt waren zu sehen. Der Eintritt kostete 
fiinfzehn Kreuzer, fur Soldaten vom Feldwebel abwarts und fiir Kin- 
der die Halfte. 

Der arme Taittinger hatte gar keine Moglichkeit, der Eroffnungsvor- 
stellung fernzubleiben. Am Sonntag, um ein Uhr schon, wurde er von 
Herrn Trummer abgeholt, vom Hotel weg, ohne Umschweife. Ver- 
geblich versuchte er ein paar Mai schuchtern anzudeuten, dass er im 
Stande ware, auch allein am Nachmittag in den Prater zu kommen. 
Langst schon, und besonders, seitdem er bewiesen hatte, dass er nicht 
einmal im Stande war, den Xandl den Behorden zu entreissen, war er 
in den Augen Trummers und iiberhaupt der »Menschen aus dem 
Volk« nicht der Mann mehr, dessen Andeutungen irgendein Gewicht 
haben konnten. Er fiihlte es auch, er wusste es. Allein, nachgiebig wie 
er war, im Laufe der letzten Monate gewohnt an allerhand Unterwiir- 
figkeit unter die Wixnsche seiner Freunde und im Stillen der Hoffnung 
ergeben, dass er ja ohnehin bald, nachste Woche schon, in seine Hei- 
mat, zur Armee, zuriickkehren wiirde, fand er niemals die Kraft sich 
den Diktaten des Praters zu widersetzen. 

Das Panoptikum war uberfiillt von geladenen Gas ten. Es war eine Art 
Generalprobe, die offizielle Eroffnung sollte erst um fiinf Uhr nach- 
mittags beginnen. Jetzt - es war zwei Uhr - sah man Bekannte und 
Journalisten, Spezialberichterstatter fiir Lokales und Polizeireporter. 
Der Redakteur Lazik, (mit verringertem Zeilenhonorar und einge- 
schrankten Befugnissen seit einiger Zeit Mit-arbeiter der »Kronenzei- 
tung«, so wie des Witzblattes »Hatschi!«,) erkannte den Baron im Nu 
und streckte ihm die Hand entgegen, die Taittinger zerstreut ubersah. 
Er hatte gar keine Zeit, sich Gedanken iiber Laziks Vertraulichkeit zu, 
machen. Es gab weit mehr Monstren als im Cafe Zirrnagl. »Hans und 
Grete«, der merkwiirdige Mensch, der rechts ein Mann war, links ein 
Frauenzimmer und dessen Ebenbild in Wachs einen hervorragenden 
Platz in der »Schreckenskammer« des Bioscops einnahm, unterhielt 
sich mit seinem Kollegen vom Zirkus Rolf, dem »L6wenmenschen«. 
»Hans und Grete« - so erklarte der Maestro Tino Percoli dem Baron 
Taittinger - war von Natur ein ganz gewohnlicher Mann gewesen. 
Aber Birmann aus Budapest, der in der Artistenwelt beriihmte Schop- 
fer von Monstren und Naturwundern, war auf die Idee gekommen, 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 763 

solch ein Wesen zu schaffen. Rechts wurden die Haare gestutzt, in der 
Mitte ein Scheitel gezogen, links vom Scheitel liess man die Haare ein 
Jahr lang wachsen. Das rechte Bein bedeckte eine Hose, um das linke 
wallte die Halfte eines Unterrocks. Die rechte Brust liess man natiir- 
lich, in die linke Brust spritzte der gefallige Budapester Chirurg, Dok- 
tor Lakatos, geniigend viel Paraffin, das allerdings immer wieder er- 
neuert werden musste; so bekam der junge Mann eine Frauenbrust. 
Sein Gewand bestand rechts aus einem Mannerrock, links aus einer 
Frauenbluse. Fiinf Kreuzer kostete es, und man konnte seine linke 
Brust entblossen und sich uberzeugen, dass sie eine wirkliche bizarre 
Laune der Natur war. Was aber den Lowenmenschen anlangt, so war 
er in der Tat zum Teil echt. Die Natur hatte ihn wirklich mit einer 
unerklarlichen Lowenmahne beschenkt, die bis zum Nacken reichte. 
Den Oberkorper bedeckte das Fell eines vor einigen Jahren in der 
Schonbrunner Menagerie an Altersschwache verendeten Lowen. Per- 
coli kannte alle Anomalien und Monstren und ihre Geheimnisse. Er 
nahm keinen Anstand, sie dem Baron zu erklaren. Der »Mann der 
blauen Rasse« zum Beispiel, dessen Haut eine violette Farbung zeigte, 
den jeder Besucher mit Schwamm und Seife an beliebiger Korperstelle 
abreiben durfte und dessen Farbe immer violett blieb, litte an einer 
merkwiirdigen, tibrigens unschadlichen Hautkrankheit. Folge einer 
ratselhaften Vergiftung, die er sich in Columbien zugezogen hatte. Er 
gait als der »letzte Reprasentant eines langst ausgestorbenen Men^ 
schengeschlechts«, der sogenannten »blauen Indianer«. Der Schlan- 
genmensch, der lediglich um sich auszuruhen, seine Kniee am Hinter- 
kopf zu verschranken pflegte, war von der Natur selbst mit derlei 
elastischen Knochen ausgestattet worden. Alle diese Menschen stan- 
den oder sassen oder lagen nun neben ihren Ebenbildern aus Wachs, 
die aus dem Atelier Tino Percolis gekommen waren. Und wenn sie 
auch eine Sekunde nur reglos blieben, konnte man wahrlich die wach- 
serne Materie nicht von der lebendigen unterscheiden. 
Magdalene Kreutzer bediente die Gaste mit Kaffee und Guglhupf, Sli- 
wowitz und Okocimer. Die Zwerge kreischten, die bartige Frau 
briillte, die Riesen lachten aus ihren unerreichbar hohen Kehlen, in 
einer ebenso hohen Stimmlage, der Bauchredner hielt einen Toast, den 
er sich selbst beanwortete, die Tierstimmen-Imitatoren krahten, wie- 
herten, bellten, heulten, zwitscherten, floteten. Am meisten aber er- 
schreckte den Baron Taittinger die Ankiindigung Trummers, dass 



764 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

nunmehr, als besondere Ueberraschung, die Lieblingsfrau Seiner Ma- 
jestat des Schahs von Persien gezeigt werden sollte, ein Meisterwerk 
der Lieblichkeit, aus Wachs und dennoch mit menschlicher Sprache 
begabt - und, was das besonders Interessante war - eine durchaus hi- 
storische Nachahmung historischer Begeberiheiten. Diese Frau war ein 
Kind des Wiener Volkes, ein Kind aus Sievering. Seine Majestat, der 
Schah, hatte sie nach seiner Hauptstadt gebracht, reich beschenkt, und, 
obwohl er dreihundertfiinfundsechzig Frauen in seinem Harem hatte, 
fur jede Nacht des Jahres eine, war doch das liebe Wiener Kind die 
Herrscherin aller andern Frauen geworden. 

Der Vorhang ging leise kreischend auf, und Taittinger sah masslos er- 
schrocken die Mizzi auf einem roten Thron. Es war in der Tat unmog- 
lich, zu erkennen, ob sie wachsern oder lebendig war. Eine schwere, 
gelb, silbern und zugleich auch blauhch schimmernde, dreifach ge- 
schlungene Kette aus schweren grossen Perlen zierte ihren wachsernen 
Hals und den wachsernen Ausschnitt der Biiste. Wuchtige Diamanten 
hingen an ihren Ohrlappchen. Zauberlicht kam aus einem Rundbren- 
ner, der sich hinter einem blauen Schleier verbarg, ander Decke. Auf 
dem Kopf trug die Lieblingsfrau des Schahs einen tiirkischen Halb- 
mond, gestiitzt und gehalten von zwei silbernen schmalen Pfeilen, 
zwischen denen das Haar in goldener Fiille wucherte. Reglos sass die 
Mizzi - war sie es wirklich? - auf ihrem roten Thron. 
Ja, es war die Mizzi. Sie begann jetzt mit ihrer gewohnlichen Stimme 
zu sprechen: »Seine Majestat, der Schah von Persien, ist sehr gut zu 
mir, einmal war ich ein armes Kind aus dem Wiener Volke. Ich herr- 
sche uber alle Frauen des Harems, und mich hat er am liebsten. Ich 
gedenke, noch lange Jahre zu herrschen, und ich griisse Wien, die Wie- 
nerstadt und das Wiener- Volk und den alten Steffi !« 
Alle klatschten. Mit hurtigem Gerassel schloss sich der Vorhang. 
»Diese Vision ist zu Ende!« - verkiindete Trummer. 
Alle Welt drang nun zum Vorhang vor. Die Verwirrung benutzte Tait- 
tinger. Er ging. Er floh. 



SIEBENTESBUCH 



EINUNDFUENFZIGSTES KAPITEL. 

Langsam zuerst, vorsichtig und dann immer heftiger begannen die Zei- 
tungen, nach langen Jahren wieder einmal von Persien zu sprechen, 
dem befreundeten Konigreich in nahen Orient und von seiner Maje- 
stat, dem Schah, dessen letzter Besuch in Wien dem Volk von Oester- 
reich, ja, alien Volkern der Monarchic noch in Erinnerung sein musste. 
Russische Aspirationen, englische Winkelzuge, franzosische Intriguen 
berichteten die Korrespondenten aus Petersburg, London und Paris. 
Das »Fremdenblatt« schickte einen Journalisten nach Teheran, Er be- 
richtete von persischen Sitten, persischen Frauen, persischen Garten, 
von der persischen Armee, von persischen Bauern. Nach einigen Arti- 
keln glaubte sich ein Wiener ebenso heimisch in Teheran wie in Dob- 
ling, Grinzing, in der Leopoldstadt und am Alsergrund. 
Nichts steht in den Zeitungen iiber Persien, was nicht eine besondere 
Bedeutung hatte, eine besondere, politische Bedeutung. Die Politiker, 
die Diplomaten, die Journalisten wissen es: der Schah von Persien wind 
noch einmal nach Wien kommen. 

Am Ballhausplatz durchstobert man die Protokolle. In der Hof- und 
Kabinettskanzlei Seiner Majestat forscht man nach dem geringsten 
Vorfall, der sich seinerzeit, beim letzten Besuch des Schahs von Per- 
sien, ereignet hatte. Man blattert auch in den alten Archiven der Wie- 
ner Sicherheitspolizei. 

In diesen Tagen hatte Lazik den glanzenden, um nicht zu sagen: unbe- 
zahlbaren Einfall, das neue Welt-Bioscop-Theater im Prater um eine 
Aktualitat zu bereichern. Alle Zeichnungen, Skizzen und Portrats der 
»Kronenzeitung« vom Besuch der persischen Majestat besass er noch. 
Zehn Gulden zahlte Mizzi Schinagl fur die Idee. 

Es war kein Zweifel: die Reichshaupt- und Residenzstadt bereitete sich 
auf einen Empfang der persischen Majestat vor. Alle Redaktionen 
wussten es. Bald wussten es alle Amtsdiener, alle Hoflakaien, alle Kut- 
scher, alle Dienstmanner, alle Wachleute; (zuletzt erfuhren es, wie ge- 
wohnlich, die fremden Diplomaten.) 
Tino Percoli stellte fur fiinfzig Gulden die »brennende Aktualitat« her: 



j66 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

den Schah von Persien, den Grossvezir und dessen Adjutanten und 
den Obereunuchen. Die Haremsfrauen waren iiberfliissig. (Zur Not 
konnte man sie aus dem bereits fertigen Harem des Sultans in das neu 
zu errichtende »Persische Zimmer« iibernehmen.) In der Hof- und 
Kabinettskanzlei, im Ministerium des Innern und im Ministerium fur 
Verkehr und Handel, in der Wiener Polizei und in der von Triest, im 
Triestiner Hafen und in der Direktion der Sudbahn: iiberall war man 
parat. Winzige Radchen, unverstandige, im unverstandlichen Betrieb 
des vielfaltigen Reiches, begannen die kleinen Beamten mit sinnlosem 
Eifer zu surren, zu suchen, zu schreiben, zu schwirren, Berichte zu 
erstatten, Berichte entgegen zu nehmen. Man erinnerte sich, dass die 
Koffer Seiner persischen Majestat einst eine unverzeihliche, fast irrepa- 
rable Verspatung erlitten hatten. An alles erinnerte man sich. Alles 
grub man aus: Zeremonielle, Namen, Programm des Hofballs, des 
Empfangs, die Offiziere des seinerzeit an der Franz-Josefsbahn gestell- 
ten Ehrenregiments, die Oberstenuniform, des persischen Eliteregi- 
ments, dessen Inhaber der Kaiser war. Man erinnerte sich auch an den 
Rittmeister Baron Alois Franz von Taittinger, der seinerzeit, zwecks 
besonderer Verwendung, von seinem Regiment detachiert gewesen 
war. Und einer der besonders eifrigen Beambten, Werkzeug des 
Schicksals und ahnungslos, wie die Werkzeuge des Schicksals sein sol- 
len, folgte gewissenhaft den Spuren, die Taittingers Taten und Untaten 
hinterlassen hatten, und berichtete getreulich, was er erfahren hatte, 
der Polizei. Auch hier gab es eifrige Werkzeuge des. Schicksals, und sie 
schickten Berichte an das Kriegsministerium. 

Urn jene Zeit befand sich der Akt Taittinger in den Handen des 
Kriegsministerialrats Sackenfeld. Schon war er im Begriff gewesen, die 
Ueberprufungskommission zu bestimmen und das Datum, an dem 
sich der Rittmeister vor ihr prasentieren sollte, als er den Bericht be- 
kam mit der Ueberschrift: »Streng geheim, betrifft Taittinger«. Er ging 
mit dem Akt und dem Bericht zum Oberstleutnant Kalergi, in den 
linken Trakt. Es war beiden Herren klar, dass man jetzt, im Augen- 
blick, an Taittingers Gesuch nicht denken diirfe. 

Man musste es dem Baron sagen. Oberstleutnant Kalergi schnallte den 
Sabel um und ging. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 767 

ZWEIUNDFUENFZIGTES KAPITEL. 

Er traf Taittinger im Hotel; einen verbitterten, veranderten und, wie es 
Kalergi schien, sehr schnell gealterten Taittinger. Das runde Tischchen 
in der Hotelhalle, an dem er sass, war von einem riesigen viereckigen 
Plakat iiberdeckt, das der Baron bekummert studierte. Er erhob sich 
schwerfallig. Obwohl Taittinger keinen Stock hatte, schien es Kalergi, 
als stiitzte er sich auf einen unsichtbaren Stock. Kalergi setzte sich. 
Taittinger unteriiess die ubliche Frage nach Wohlergehn und Gesund- 
heit und Frau. 

»Du kennst ja mein ganzes Leben, Kalergi« - begann er sofort. »Du 
weisst ja die blode Geschichte mit der Schinagl und dann die Affare. 
Und von meinem Sohn hab J ich Dir auch erzahlt. - Jetzt also, vor zwei 
Wochen, hab' ich Alles geregelt. Ich nab* das Panoptikum bezahlt, Du 
weisst, das Neue Welt-Bioscop-Theater. Ihr Sohn, das heisst: mein 
Sohn, Xandl heisst er - das wirst Du auch wissen, ist wegen Raub- 
mordversuchs, glaub' ich, eingesperrt -.« 
»Ah, die Geschichte !« - sagte Kalergi. »Die hab' ich gelesen!« 
»Ja, also!« - fuhr Taittinger fort. »Jetzt hab' ich natiirlich, bevor ich 
wieder in die Armee geh', entschieden Schluss machen wollen mit den 
alten bloden Geschichten. Und jetzt aber, vor einer Viertelstund' eben 
bringt mir der Trummer, es fuhrt zu weit, Dir zu erklaren, wer er ist - 
aber ist ein Freund der Mizzi - dies Plakat - und morgen wirds in alien 
Zeitungen stehn an alien Wanden kleben.« Taittinger schob das Plakat 
dem Oberstleutnant Kalergi zu, der las: 

»Das Neue Welt-Bioscop-Theater zeigt - aus Anlass der Wiederkehr 
Seiner Majestat des Schahs von Persien, naturgetreu gestellt und nach- 
gebildet: 

1). Die Ankunft des grossen Schahs mit seinen Adjutanten am Franz- 

Josefsbahnhof (Hofzug verkleinert). ; 

2). Den Harem und den Ober-Eunuchen von Teheran. 

3). Die Kebsfrau von Wien, ein Kind des Volkes von Sievering, dem 

Schah zugefiihrt von hochsten Personlichkeiten und seitdem Beherr- 

scherin des Harems in Persien. 

4). restliche Suite des Schahs von Persien. « 

Oberstleutnant Kalergi faltete sorgfaltig das grosse Plakat zusammen, 

sehr langsam, ohne aufzusehn. Er hatte Angst, den verzweifelten Blick 



768 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Taittingers anzuschauen. Aber er war gekommen, um ihm die Wahr- 
heit zu sagen. Er woilte anfangen. Er glattete noch ein wenig das gefal- 
tete Plakat und iiberlegte die ersten Worte. 

»Ich bin ungeduldig« - sagte Taittinger. - »Verstehst Du das? Ich nab* 
mein ganzes Leben leichtsinnig gehandelt, ich sen's jetzt, aber es ist zu 
spat. Schau her - heut' nab' ich mich im Spiegel angeschaut und nab* 
gesehn, dass ich alt bin. Jetzt grad 5 , vor dem Plakat, ist mir eingefallen, 
dass ich immer blod gewesen bin. Vielleicht hatt' ich die Helen* heira- 
ten sollen. Jetzt gibt's nix mehr fur mich als die Armee. - Was weisst 
Du Neues von meiner Sache?« 

»Eben deswegen bin ich gekommen« - sagte der Oberstleutnant. 
»Na, und?« 

»Ja, lieber Freund! Die alte Geschichte, die Affare, wie Du sagst! Ich 
hab' eben die Sache mit dem Sackenfeld besprochen. Du musst warten, 
der Tepp von Teheran kommt uns dazwisschen. Die Polizei grabt die 
alten Akten aus und grad* jetzt, jetzt kommst Du wieder vor. Ich kann 
nur sagen: abwarten!« 
»Ich kann also nicht jetzt — ?« 

»Nein« - sagte Kalergi. - »Deine blode Geschichte ist wieder da. Lie- 
ber ruhrt man nicht dran.« 

Taittinger sagte nur: »So« und »Danke!« Dann blieb er eine kurze 
Weile still. Es war schon spat am Abend, man entziindete die Lichter 
in der Halle. »Ich bin ein Verlorener« - sagte Taittinger. Er schwieg 
eine Weile und fragte dann schrill, mit einer Stimme, die nicht aus ihm 
selbst kam: »Also, ist nichts mit dem Gesuch?« 

»Vorlaufig nichts!« erwiderte Kalergi. »Warten wir ab, bis die persi- 
sche Geschichte aus is\« - Und, um den Freund wieder in das normale 
Leben zuruckzufuhren, fiigte Kalergi hinzu: »Gehn wir zum »Anker« 
essen!« - und sah auf die Uhr. 

»Ja, ich muss mich nur waschen!« - sagte Taittinger. »Wart* einen Au- 
genblick! Ich geh' ins 2immer.« Er stand auf. ■-- - 
Fiinf Minuten spater horte Kalergi einen Schuss. Mit langem Echo 
tonte er wider auf Treppen, Korridoren. 

Man fand den Baron tot, neben dem Schreibtisch. Offenbar hatte er 
versucht, etwas aufzuschreiben. Der Revolver lag noch in seiner Rech- 
ten. Der Schadel war zerschmettert. Die toten Augen quollen hervor. 
Der Oberstleutnant Kalergi schloss sie muhsam. 
Man begrub Taittinger mit den iiblichen militarischen Ehren. Ein Zug 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 769 

der Hoch- und Deutschmeister schoss die Ehrensalve ab. Am Leichen- 

zug nahmen teil: der Direktor des Hotels Prinz Eugen, Mizzi Schinagl, 

Magdalene Kreutzer und Ignaz Trummer, der Oberstleutnant Kalergi 

und der Ministerialrat Sackenfeld. 

Auf dem Riickweg fragte der Ministerialrat: »Weshalb hat er sich 

eigentlich umgebracht? Sie waren ja sozusagen dabei?« 

»Halt so!« antwortete Kalergi. »Ich glaub', er hat sich verirrt im Le- 

ben. Derlei gibts manchmal. Man verirrt sich halt!« 

Dies war der einzige Nachruf auf den ehemaligen Rittmeister, den 

Baron Alois Franz von Taittinger. 

DREIUNDFUENFZIGSTES KAPITEL. 

Dies Mai hatte der Kapellmeister Nechwal von der Regimentskapelle 
der Hoch- und Deutschmeister kaum drei Tage Zeit, die persische Na- 
tionalhymne mit seinen Leuten ordentlich einzuiiben. So plotzlich war 
der Befehl gekommen. Man iibte also auch ausserhalb der Dienststun- 
den. 

Der Tag, an dem die persische Majestat anlangte, war ein giitiger, 
blauer Fnihlingstag; einer jener Wiener Friihlingstage, von denen das 
kindliche Gemiit der Bevolkerung annahm, dass lediglich ihre Stadt 
imstande ware, dergleichen hervorzubringen. Die vorgeschrieben drei 
Ehrenkompagnien, eine am Perron aufgestellt, die zwei anderen vor 
dem Bahnhof Spalier bildend, vor der Menge der Neugierigen, der Ju- 
belwutigen und der Beflissenen, sahen in ihren blauen Uniformen wie 
ein integraler aerarischer Bestandteil des spezifischen Wiener Friih- 
lings aus. Es war ein Fruhlingstag, ahnlich jenem, weit zuriickliegen- 
dem, an dem der Schah zum ersten Mai nach Wien gekommen war; so 
ahnlich wie ein spater geborener Bruder dem altern. 
Dies Mai hatte den Schah nicht die Unruhe des Blutes nach dem Okzi- 
dent gebracht, auch nicht die Neugier und kein ratselhaftes Verlangen 
nach Abwechslung. Seit einigen Monaten namlich lebte er in einer vol- 
kommenen Seligkeit mit einer neuangekauften vierzehnjahrigen Inde- 
rin Jalmana Kahinderi, einem Geschopf aus Sanftheit und Wonne, ein 
braunes Reh, ein gutes Tier von den fernen Ufern des Ganges. Sie 
allein hatte der Schah diesmal mitgenommen und, ihretwegen allein, 
auch den Obereunuchen. Es war langst ein neuer Grossvezir vorhan- 
den; (den fniheren hatte seine Majestat aus plotzlichem Unwillen in 



770 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

eine mediokre Pension geschickt). Aber der Adjutant war der gleiche 
geblieben; es war immer noch der leichtlebige Kirilida Pajidzani, Lieb- 
ling des Schahs geworden im Laufe der Jahre und, verhaltnismassig 
noch jung, dennoch befdrdert zum General mit dem Honorartitel 
eines Kommandanten der gesamten Rekerei. 

Der arme Taittinger freilich lag seit zehn Tagen im Grabe, und die 
Wiirmer nagten schon an seinem Sarg. Statt seiner war ein anderer 
Kavallerie-Offizier, dies Mai ein Ulane, zur besonderen Verwendung 
nach Wien versetzt, ein Pole namens Stanislaus Zaborski, der seinen 
Dienst ernster nahm, sei es auch nur, um den Herrschaften zu bewei- 
sen, dass der Ruf der polnischen Unzuverlassigkeit keineswegs berech- 
tigt sei. Der Oberleutnant Zaborski stand auch nicht, wie einst der 
charmante Taittinger im Bahnhofs restaurant am Buffet, sondern auf 
dem Perron, neben dem Giiterwagen. Das Gepack war diesmal auch 
ordnungsgemass angekommen. Er stellte sich ornungsgemass Seiner 
Excellenz, dem Adjutanten des Grossvezirs, dem General Kirilida Pa- 
jidzani vor. Pajidzani, an dessen Schlafen und dunnen Koteletts schon 
mattes Silber schimmerte, entsann sich des lustigen Rittmeisters Tait- 
tinger und fragte, ob der noch in Wien geblieben sei. »Excellenz«, - 
erwiderte Oberleutnant Zaborski, »der Herr Rittmeister ist vor zehn 
Tagen plotzlich gestorben!« Pajidzani hatte ein oberflachliches Herz 
und ein hartes Gemiit, aber auch Angst vor dem Tod, besonders vor 
einem plotzlichen. Er sagte: »Der Herr Rittmeister war doch noch 
jung?« - und dachte gleichzeitig daran, dass er selbst noch jung war. - 
»Es war ein plotzlicher Tod, Excellenz !« - wiederholte Zaborski. 
»Herzschlag?« - insistierte Pajidzani. »Nein, Excellenz!« - »Also 
Selbstmord?« - Zaborski antwortete nicht. Pajidzani atmete auf. 
Seit einigen Jahren unterhielt Pajidzani mit dem Obereunuchen bei- 
nahe bruderliche Beziehungen. Beide hatten sie eifrig daran gearbeitet, 
den Grossvezir unmoglich zu machen. Es gelang ihnen, nun waren sie 
auf Tod und Leben Verbundete. Pajidzani war zwar nicht Grossvezir 
geworden, aber immerhin General. Der Obereunuch aber - was hatte 
er noch werden konnen? begmigte sich mit der Genugtuung, einen 
Sieg errungen und den Beweis fur die erfolgreiche Methode erbracht 
zu haben, derer sich seine Tiicke, seine angeborene Rachsucht, seine 
standig wache Gehassigkeit ohne Grund bald gegen den, bald gegen 
jenen bedienten. Er hatte schon, der fette, zufriedene, kluge und an- 
scheinend so friedliche Obereunuch einige Wiirdentrager ins Gefang- 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT JJI 

nis gebracht; und er hatte selber kaum sagen konnen, aus welchen 
Griinden und zu welchem Zweck. Dass er die Frauen geringschatzte, 
war selbstverstandlich. Aber weshalb suchte er die Manner zu verder- 
ben, die ihm eigentlich gleichgliltig waren? Weshalb bereitete es ihm so 
viel wonnigen Schauder, wenn es ihm gelungen war, eine Freundschaft 
zu zerbrechen, einen Giinstling stiirzen zu sehen, einen Machtigen fal- 
len? Rachte er sich an der Mannlichkeit iiberhaupt? 
Er war schon alt, aber er kannte sein Alter nicht. Niemand kannte es. 
Kein Papier zeugte von seiner Geburt. Manchmal kam es ihm vor, dass 
er neunzig Jahre alt sein musse, nach all dem, was er gesehen hatte. 
Nebel lag iiber seiner Kindheit. Er wusste, dass man ihn in Albanien 
gekauft hatte, als Knaben. Er erinnerte sich nicht mehr an die Opera- 
tion. Die erste Handlung seines Lebens war ein Diebstahl. Er mochte 
zwolf, dreizehn oder vierzehn Jahre damals alt gewesen sein. Er stahl 
dem alten Kaleguropolos, einem weissbartigen Griechen, der die aus- 
gewahlten Eunuchenknaben im Gesang und Geigenspiel unterrichtete, 
eine Stuckchen Kolophonium, nichts mehr. Er trug es heute noch im- 
mer bei sich. Manchmal roch er daran, und er glaubte im Stillen, dass 
es ihm Kraft verlieh. 

In der Tat fiihlte er sich nicht alt. In der Tat war er niemals krank 
gewesen. Seinem unveranderlich graugelben, unveranderlich weichen 
Angesicht, seinen stetig verhangten Augen konnte man kein Alter an- 
sehen. Er hatte voiles glattes Haar, das nicht weiss werden wollte. 
Seine ewig wache Neugier, die sich um alles bekummerte, das Wichtige 
vom Nebensachlichen nicht zu unterscheiden wusste und die sich von 
den geringfugigen Ereignissen unter dem Gesinde ebenso nahrte, wie 
von den wichtigen Vorgangen im Rate der Minister, war frisch und 
lebendig geblieben. 

Spat hatte er den harmlosen Kirilida Pajidzani gern gewonnen. Es war 
ein Mann nach seinem Herzen. Ungefahrlich, horig, leichtfertig, hilf- 
los manchmal, und fur jeden Rat dankbar; gelegentlich ein williges 
Werkzeug. Ein vorzuglicher Freund! 

Zwei Tage schon nach ihrer Ankunft schlenderten beide in europai- 
schem Zivil durch die hellen Friihlingsstrassen. Sie betrachteten die 
bunten Laden, kauften sinnlose Dinge ein, Spazierstocke, Opernguk- 
ker, Stiefel, Westen und Panamahiite, Regenschirme und Hosentrager, 
Pistolen, Munition, Jagdmesser, Brief taschen und Lederkoffer. Als sie 
durch die Karntnerstrasse kamen, blieb der Obereunuch gebannt, ver- 



JJ1 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

bliifft, beinahe erschrocken vor dem Schaufenster des Hoflieferanten 
Gwendl stehen. Auf einem breiten, dunkelblauen Kissen aus Samt 
leuchteten opalen, wie eine Hagelwolke, weiss wie der Schnee auf den 
Gipfeln der heimatlichen Berge und blaulich - rosa zugleich wie ein 
gewitter-schwangerer Himmel drei Reihen schwerer grosser Perlen, 
die dem Eunuchen vertraut waren wie Schwestern. Unvergleichlich 
war sein Blick fur Edelsteine. Rubine, Smaragde, Saphire, Perlen, die 
er einmal mit der Hand, ja einmal nur mit den Augen betastet hatte, 
konnte er niemals vergessen. Diese Perlen - er wusste, woher sie ka- 
men. Diese Perlen hat er einmal, auf Befehl seines Herrn in ein be- 
stimmtes Haus gebracht. »Du hast mir gestern« - sagte der Ober- 
eunuch zum General, ohne den Blick von den Perlen zu losen - »von 
dem Dragoneroffizier erzahlt, der sich das Leben genommen hat!« - 
»Ja« - sagte Pajidzani. - »Nun, das ist ganz gut!« sagte der Ober- 
eunuch. »Komm' mit! Du musst dolmetschen! Ich will den Handler 
drin sprechen.« 

Sie gingen in den Laden, sie verlangten den Besitzer. Der General 
nannte Rang und Namen. Der Hofjuwelier Gwendl kam wiirdig die 
steile Treppe herunter. 

»Wir sind vom Gefolge Seiner Majestat, des Schahs« - sagte der Ober- 
eunuch. - Und der General iibersetzte »Woher stammen die Perlen in 
ihrem Schaufenster?« 

Gwendl antwortete, der Wahrheit gemass, dass er sie zuerst vom 
Bankhaus Ephrussi erhalten, nach Amsterdam verkauft habe. Jetzt wa- 
ren sie ihm wieder in Kommission zunickgegeben worden. »Was 
kosten sie?« - fragte der Obereunuch. - und Pajidzani iibersetzte. 
»2weihunderttausend Gulden!« - sagte Gwendl. »Ich werde sie zu- 
riickkaufen« - sagte der Eunuch. Er zog einen schweren blauen Leder- 
beutel, loste langsam die dicken Schnure, die den Beutelhals umschlan- 
gen, und schiittete den Inhalt auf den Tisch, lauter goldene Reindln. Es 
waren fiinfzigtausend Gulden. Er verlangte, dass die Perlen morgen 
fur ihn bereit gelegt wiirden und dass sie sofort, im gleichen Augen- 
blick noch, aus dem Schaufenster verschwanden. Er brauchte die Be- 
statigung nicht, die Gwendl zu schreiben sich anschickte. Er sah den 
Zettel eine Sekunde an, zerriss ihn und liess die weissen Papierschnit- 
zel auf die rotlichen Dukaten niederf alien. (Es erinnerte an Schnee im 
Sommer.) »Morgen um diese Zeit bin ich hier!« - sagte der Obereu- 
nuch - Pajidzani iibersetzte es. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 773 

»Warum hat Du das getan?« - fragte der General. 

»Ich liebe diese Perlen!« - antwortete der Obereunuch. 

Pajidzani blieb an der Ecke der Karntnerstrasse und des Stephansplat- 

zes stehen. Hier lehnte eine grosse holzerne Plakatwand. Eine bunte, 

von persischen Fahnchen eingerahmte rote Inschrift auf schwarzem 

Grunde lautete; 

»Der Schah, Seine Majestat, der Herr der glaubigen Perser und Anbe- 

ter Mohammeds in Naturahnlichkeit. - Der Harem von Teheran. - 

Die Geheimnisse des Orients. - Alles im Grossen Welt-Bioscop-Thea- 

ter, Prater-Hauptallee!« 

»Fahren wir!« - sagte Pajidzani. 

VIERUNDFUENFZIGSTES KAPITEL. 

Der Abend vergoldete schon das Griin des Praters, als sie anlangten. 
Vor dem Welt-Bioscop waren bereits die drei grossen Laternen ent- 
ziindet, blau, griin und weiss. Ueber der Kasse wehte die persische 
Fahne. Der mechanische Musikapparat schmetterte unaufhorlich die 
persische Nationalhymne. An der Kassa sass Flerr Trummer, eine 
griine Scharpe um die Brust geschlungen, einen roten Fez auf dem 
Kopf. Er rief unermudlich: »Der Schah, wie er liebt und lebt; seine 
Kebsfrau und sein Harem! Die Geheimnisse von Teheran, und andere 
Geheimnisse auch! Preise nicht erhoht, bis morgen. Heute billige Ge- 
legenheit!« 

Der General und der Obereunuch traten ein. Da standen sie bereits, 
beide in Wachs, von dem genialen Tino Percoli lebensgetreu nachge- 
bildet. Zwischen ihnen ihr Herr, der Schah. Am Rand eines silbernen 
grossen Spiegelbeckens lagerten die »Frauen des Harems«. 
»Die sind's nicht! « - sagte der Obereunuch. Er zerrte den General 
hinaus. Eine gewaltige Verachtung erfullte sein Herz. Er verachtete die 
normale Welt, der er nicht angehorte, die westliche auch, die ihm noch 
fremder ivar. Als er wieder draussen stand, sah er, dass an der Kassa 
nicht mehr der dicke Europaer im roten Fez sass, sondern eine gold- 
blonde Frau, drei falsche Perlenschnure um den Hals. Er erkannte sie 
sofort. Er ging nahe an sie heran. Pajidzani folgte ihm. »Frag' sie, ob 
sie mich erkennt!« - sagte er. Mizzi Schinagl sah auf. Sie erkannte den 
dicken Fremden nicht, sie gestand es. »Frag' sie, ob sie sich an den 
Morgen erinnert, an dem ich ihr die Perlen gebracht habe« - sagte der 



774 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Obereunuch. - Ja, Mizzi Schinagl erinnerte sich. Aber sie schien vollig 
unbekiimmert. »Ja, so, gehn wir!« sagte der Obereunuch. Sie verloren 
sich im gerauschvollen Gewimmel des abendlichen Praters. Die zwei 
Geheimen, deren Pflicht es war, den beiden Persern zu folgen, traten 
zur Kassa, klappten ihre Rockaufschlage um und flusterten; »Schlies- 
sen Sie sofort Ihre Bude! Folgen Sie uns unauffallig!« 
An diesem Abend wurde das Welt-Bioscop schon um neun Uhr ge- 
schlossen. Laut polizeilicher Verfugung durfte es auch an den nachsten 
Tagen nicht offnen. 

Pollitzer, der bei dem Herrn Polizei-Oberkommissar Fiirstling inter- 
venierte, bekam die knappe, leicht begreifliche Aufklarung: »Solang' 
die Herrschaften aus dem Orient da sind, bleibt das Weltbioscop ge- 
schlossen. Wunsch von hoheren Stellen.« 

FUENFUNDFUENFZIGSTES KAPITEL. 

Nach alter Gewohnheit liess der Schah am Morgen den Obereunuchen 

rufen. 

Die Majestat schliirfte den gewohnten Karluma-Tee. Die Pfeife lehnte 

am Tisch, lang wie ein Wanderstab; sie schien von selbst zu rauchen. 

»Gestern hast Du die Welt gesehen!« - begann der Schah. »Was meinst 

Du? 1st sie verandert seit dem letzten Mai, da wir hier waren?« 

»Alles verandert sich, Herr« - antwortete der Eunuch. »Und alles 

bleibt sich dennoch gleich. Dies ist meine Meinung!« 

»Hast Du alte Bekannte vom letzten Besuch her wieder gesehen?« 

»Nur einen, Herr, eine Frau!« 

»Was fur eine?« 

»Herr, sie war Deine Geliebte, eine Nacht. Und ich hatte die uner- 

messliche Ehre, ihr Dein Geschenk zu uberbringen.« 

»Denkt sie noch an mich? Hat sie von mir gesprochen?« 

»Ich weiss es nicht, Herr! Sie hat nicht von Dir gesprochen.« 

»Was hast Du ihr damals geschenkt?« 

»Die schonsten Perlen, die ich in den Kisten gefunden habe. Es war ein 

wiirdiges Geschenk. Aber . . .« 

»Aber?« 

»Sie hat es nicht behalten. Ich habe die Perlen gestern im Schaufenster 

eines Ladens gesehn. Ich habe sie zuriickgekauft.« 

»Und wie ist die Frau?« 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002 NACHT 775 

»Herr, sie ist nicht wert, dass von ihr gesprochen werde.« 

»Und damals? War sie damals mehr wert?« 

»Damals, mem Herr, war es anders. Eure Majestat waren jiinger, auch 

damals sah ich, wer sie war. Ein armes Madchen. Nach den Sitten des 

Westens eine kaufliche Ware.« 

»Sie hat mir aber damals gefallen!« 

»Herr, es war nicht dieselbe; es war nur eine ahnliche!« 

»So bin ich also blind?« 

»Wir sind alle blind« - sagte der Obereunuch. 

Dem Schah ward es unbehaglich. Er schob den Honig, die Butter, die 

Fnichte beiseite, Er dachte nach, das heisst, er gab sich den Anschein, 

als dachte er nach, aber sein Kopf war leer, ein ausgehohlter Kiirbis. 

»So, also, so!« - sagte er. Und dann: »Sie hat mir dennoch Freuden 

gegeben!« 

»Wohl, wohl, das ist so!« - bestatigte der Eunuch. 

»Sag' mir noch«, begann der Schah wieder, »sag's mir auf rich tig: 

glaubst Du, ich irre mich, ich irre — in andern — wichtigeren Dingen 

auch?« 

»Herr, wenn ich aufrichtig sein muss: es ist gewiss! Du irrst, denn Du 

bist ein Mensch!« 

»Wo gibt es Sicherheit?« - fragte der Schah. 

»Driiben!« - sagte der Obereunuch, - »driiben, wenn man tot ist.« 

»Hast Du Angst vor dem Tod?« - 

»Ich erwarte ihn, lange schon. Ich wundere mich, dass ich noch lebe!« 

»Geh!« - sagte der Schah, rief aber im nachtsten Augenblick: »Bring' 

mir die Perlen zuriick!« 

Der Eunuch verneigte sich und glitt hinaus, ein behabiger Schatten. 

SECHSUNDFUENFZIGSTES KAPITEL. 

Eine Woche spater verliess der Schah die Reichshaupt- und Residenz- 
stadt. Der Kapellmeister Nechwal dirigierte die Regimentskapelle der 
Hoch- und Deutschmeister auf dem Perron. Die Ehrenkompagnie 
prasentierte das Gewehr. Der Oberleutnant Zaborski nahm einen 
herzlichen Abschied vom General Kirilida Pajidzani. Die kleine Jal- 
mana Kahinderi stieg in einen diskret angehangten Waggon, in Beglei- 
tung eines alten, behabigen, immer noch munter scheinenden Herrn. 
Seine Majestat, der Kaiser, verabschiedete sich mit geiibter Herzlich- 



Jj6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

keit vom fremden Monarchen. Hinter dem Fenster im Bureau des Sta- 
tionsvorstands zeichnete der Illustrator der »Kronenzeitung« die Ab- 
schiedsszene, eventuelles Thema fur den Maestro Tino Percoli oder 
einen seiner Nachfolger. 

Was das »Welt-Bioscop-Theater« betraf, so durfte es am Tag nach der 
Abreise der persischen Majestat wieder aufmachen. Mizzi Schinagl sass 
zuweilen an der Kassa, mit Perlen behangt. Manchmal dachte sie an 
den Prozess, der ihrem Xandl bevorstand. Manchmal ging sie ins Un- 
tersuchungsgefangnis, um ihm einige starkende Sachen zu bringen, 
Kase, Salami und, hinter dem wohlwollenden Riicken des Aufsehers, 
auch Zigaretten. Niemals kam sie mit der Empfindung zurikk, dass 
Xandl ihr Sohn sei und sie seine Mutter. 

Sehr selten, aber dafiir auch immer heftiger dachte sie an den geliebten 
Taittinger. Dann wurde sie traurig. Da es aber keineswegs in ihrer Na- 
tur lag, traurig zu bleiben, zwang sie sich mit frohlicher Gewaltsam- 
keit, an die zweitausend Gulden zu denken, die sicher in der Postspar- 
kasse lagen und an das gute Geschaft, das sie mit dem Welt-Bioscop- 
Theater machte. Sie war gesund, munter, manchmal auch ausgelassen. 
Sie gehorte zu jenen Frauen, die man ihrer knusprigen Fulle wegen 
»resch« nennt. Und sie hielt manchmal Ausschau nach einem Mann. 
Der alte Tino Percoli, der dem Welt-Bioscop immer noch Wachsfigu- 
ren lieferte und der die Geschichte der Mizzi Schinagl kannte, pflegte 
manchmal zu sagen: »Ich konnte vielleicht Puppen herstellen, die 
Herz, Gewissen, Leidenschaft, Gefiihl, Sittlichkeit haben. Aber nach 
dergleichen fragt in der ganzen Welt niemand. Sie wollen nur Kuriosi- 
taten in der Welt; sie wollen Ungeheuer. Ungeheuer wollen sie!« 



ANHANG 



EDITORISCHE ANMERKUNGEN 

Abkurzungen 

AKL Archiv des Gustav Kiepenheuer Verlags, Leipzig 

Bijvoet/Rietra Theo Bijvoet und Madeleine Rietra (Hrsg.), Aber 

das Leben marscbiert welter und nimmt uns mit. 
Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und 
dem Verlag De Gemeenschap 193 6-1939, Kie- 
penheuer & Witsch, Koln 1991 

Briefe Joseph Roth, Briefe 1911-193$, herausgegeben 

und eingeleitet von Hermann Kesten, Koln/Ber- 
lin 1970 

Bronsen David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, 

Koln 1974 

DOKU Dokumentationsstelle fur neuere osterreichische 

Literatur, Wien 

Hackert (I) Fritz Hackert, Kulturpessimismus und Erzahl- 

form. Studien zu Joseph Roths Leben und Werk, 
Bern 1967 

Hackert (II) Fritz Hackert, »Joseph Roth. Zur Biographie«, 

in: Deutsche Vierteljahrsschrift fur Liter aturwis- 
senschaft und Geistesgeschichte, Jg. 43 (1969) 
Heft 1, S. 161-186 

Hackert (III) Fritz Hackert, »Joseph Roths Nachlaft im Leo- 

Baeck-Institute in New York«, in: David Bron- 
sen (Hrsg.), Joseph Roth und die Tradition, 
Darmstadt 1975, S. 374-399 

Katalog Joseph Roth 1894-1939. Eine Ausstellung der 

Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, Kata- 
log: Hrsg. von Brita Eckert und Werner Bert- 
hold, Buchhandler-Vereinigung, Frankfurt a.M., 
2.Aufl. 1979 

Kessler/Hackert Michael Kessler/Fritz Hackert (Hrsg.), Joseph 

Roth. Interpretation, Rezeption, Kritik (Akten 
des internationalen, interdisziplinaren Sympo- 
sions 1989, Akademie der Diozese Rottenburg- 
Stuttgart), Tubingen 1990 

LBI Archiv des Leo-Baeck-Institute, New York 

Lunzer Heinz Lunzer, »Die Versionen von Joseph Roths 

Roman >Die Geschichte von der 1002. Nacht<«. 
Textkritische Uberlegungen, in: Kessler/ 
Hackert, S. 201-226 

Werke (1956), I— III Joseph Roth, Werke in drei Banden, herausgege- 

ben und eingeleitet von Hermann Kesten, Am- 
sterdam/Koln-Berlin 1956 



778 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Werke (1975/76), I-IV Joseph Roth, Werke, herausgegeben und einge- 

leitet von Hermann Kesten, 4 Bande, Amster- 
dam/K6ln 1975-76 

Werke 4 Joseph Roth, Werke 4, Romane und Erzahlun- 

gen 1916-1929, Herausgegeben und mit einem 
Nachwort von Fritz Hackert, Koln/Amsterdam 
1989 

Werke 5 Joseph Roth, Werke $, Romane und Erzahlun- 

gen 1930-1936, Herausgegeben und mit einem 
Nachwort von Fritz Hackert, Koln/Amsterdam 
1990 



ANHANG J79 

BEICHTE EINES MORDERS 

Manuskripte 
M/i: Deutsche Bibliothek, Frankfurt a.M.: Teilmanuskript von ins- 
gesamt 57 Blattern mit der Seitenzahlung 86-142, wobei zwei Blatter 
nacheinander als S.97 numeriert sind. - Textanfang auf S. 86: »Wenn 
man jung ist, kann es vorkommen, dafi die Eifersucht am Beginn der 
Liebe stent; ja, [. . .]«. Textende auf S. 142: »[. . .] >Ah!< - sagte sie nach 
einer Weile - trat zuriick, schloft die Tiir und offnete sie wieder aufs 
Neue. >Ah< wiederholte sie und breitete die Arme«. - Faksimile-Aus- 
zug in: Brita Eckert, »Mehr ein Entschluft des Herzens als des Ver- 
standes«, Borsenblatt des deutschen Buchhandels 28 vom 6. 4. 1990, 
S. 1243. 

M/2: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-C.661/1837, II. Manu- 
skripte: Novellen und einzelne Kapitel A. -2., No. 9. Varia, 20. Unbe- 
stimmtes. - 3 linierte Schulheftblatter, ca. im A 5 -Format, numeriert als 
Seiten 85., 86. und 87. - Textanfang auf S. 85: »Es waren torichte, 
manchmal sogar unsinnige Vorsichtsmaftregeln. [...]«. Textende auf 
der nur mit 3 Zeilen beschriebenen S. 87: »[. . .] Ich war damals jung, 
meine Freunde!« 

M/3: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-C.661/1837, II. Manu- 
skripte: Novellen und einzelne Kapitel A.-Z., N. 9. Varia, 24. Durch- 
schriften. - Zwei Blatter ungefahr im A4 -Format und liniert; das erste 
iiberschrieben »ad Seite i44« und begonnen mit dem Text: »Ich hatte 
bis zu jener Stunde noch niemals im Zorn geschlagen [...]«; das zweite 
nur noch mit 4 Zeilen beschrieben und beendet mit dem Text: »[. . .] Es 
war, als miifke ich bald - wollte ich noch warten - in dem Blut ertrin- 
ken miissen, daft ich selbst vergossen hatte. « 

Typoskripte 
T/i: Deutsche Bibliothek, Frankfurt a.M.: Teiltyposkript von insge- 
samt 75 Blattern mit der Seitenzahlung 11—85 unc ^ ^ er durchlaufenden 
Kapitelnumerierung II.— XL - Textanfang auf S. 11 : »Ich habe Ihnen 
eine kurze Geschichte versprochen, sagte Galubtschik [. . .]«. Textende 
auf S. 85: »[. . .] war damals jung, meine Freunde!« 
T/2: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-C. 660/1836, I. Manuskripte: 
Romane No. 3. Trotzki 168. 169. 170. 171. - 4 Blatter ungefahr im A4- 



780 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Format, numeriert mit den Seitenzahlen 76, 77, 78 mid 85. - Von S. 76 
bis S. 78 durchlaufender Text, der auf der Halfte von S. 78 abbricht. 
Textbeginn auf der S. 76 unter der Kapitelziffer XI: »Einige Zeit spater 
wurde ich nach Petersburg versetzt. Ihr wisst nicht [...]«. Textende 
auf S. 78: »[...] Obwohl ich sozusagen von Beruf schon verpflichtet 
und geeignet war, die Welt zu kennen, war«. - Textanfang und -ende 
auf S. 85: »dass wir schlecht gewesen waren, bleiben wir schlecht [. . .] 
Lutetia statt meiner zu (iberwachen. Ich war damals jung, meine 
Freunde!« 

Drucke 
D/i: Joseph Roth, Der Stammgast, in: Das Neue Tage-Bucb, Paris, 
3-Jg., Heft 16 vom 20. 4. 1935, S. 379-381. - Vorabdruck des ersten 
Kapitels (»Vor einigen Jahren [. . .] beschlossen, sie nachzuschrei- 
ben.«) 

D/2: Joseph Roth, Restaurant >Tari-Bari< y in: Pariser Tageszeitung, 
Nr. 125 vom 14. 10. 1936 (Spake >Das Neue Buch/Aus Neuen Bii- 
chern<). - Romanbeginn bzw. »Eroffnungsabschnitt« (ebd.) bis kurz 
vor Kapitelschlufi (»Vor einigen Jahren [. . .] >Gar nicht! Sehr alltag- 
lich!< - erwiderte Golubtschik.«) 

D/3 : Joseph Roth, Beichte eines M orders, erzdblt in einer Nacht, Am- 
sterdam: Allert de Lange 1936. 262 S. 8°. 
D/ 4 : Werke (1956), II, S. 807-929. 
D/5: Werke (1975/76), II, S. 645-765. 

Zur Textkritik 
In Roths unveroffentlichter wie in seiner publizierten Korrespondenz 
(Brief e, S. 459) hat der Roman den Arbeitstitel »Der Stammgast«. Un- 
ter welchem Druck er entstand, belegt ein Geschaftsbrief Walter Lan- 
dauers vom Kj.Juni 1935 an Roth. Herr de Lange, so wird ihm darin 
mitgeteilt, »rechnet bestimmt darauf, dass Sie das Manuskript Ihres 
Romans >Der Stammgast< per 1. Sept. 1935 abgeliefert haben.« (LBI: 
Joseph Roth, Bornstein-Collection, AR-B. 394/4152. V. Geschafts- 
korrespondenz A.-Z., No. 29. Lange, Allert de, Amsterdam: Lan- 
dauer, Walter) Blanche Gidon erfahrt unter dem 26. Mai 1936 durch 
Roth von der Fertigstellung und Titelanderung: »Die Correcturen im 
Manuskript habe ich erst gestern unter unsaglichen Qualen fertig ge- 
macht. Der Roman >Stammgast< ist es. Er heifk jetzt: >Beichte eines 



ANHANG 781 

M6rders.< Er erscheint im August und Sie bekommen in 10 Tagen die 
Biirstenabzuge.« (Briefe, S. 473/474) - Zur Entstehung des Romans 
und Roths Umgang mit dem Manuskript vgl. Bronsen, S. 528-529 und 
S. 572-573. - Zu den im Nachlafi verstreuten Manuskriptteilen (LBI: 
Joseph-Roth-Collection) vgl. Hackert (III), S. 375. 

Hier abgedruckt: D/5. 



DAS FALSCHE GEWICHT 

Drucke 
D/i: Joseph Roth, J adlowker vor Gericht. Ein Bild aus dem alten k.k. 
Galizien, in: Pariser Tageszeitung, Nr. 369 vom 16. Juni 1937 (Sparte: 
Das Neue Buch). - Textbeginn: »In Zloczow macht man dem Jadlow- 
ker keineswegs einen kurzen ProzefS, wie man sagt [. . .]«. Text-Ende: 
»[. . .] Unter dem Namen Michael Chomnik wurde Jadlowker aus dem 
Spital entlassen, als geheilt.« - In der redaktionellen Einleitung wird 
der Ausschnitt als »Sittenbild« bezeichnet; im Dialog zwischen Eich- 
meister und Schmugglerwirt wiirden »alle idealen Giiter des k.k. 
Oesterreich in den Staub« gezogen. 

D/2: Joseph Roth, Das falscbe Gewicht. Die Geschichte eines Eich- 
meisters, Amsterdam: Querido 1937. 198 S. 8°. 
D/3: Werke (1956), I, S. 431-524. 
D/4: Werke (1975/76), II, S. 767-862. 

Zur Textkritik 
Die im Frankfurter Ausstellungskatalog dem Falschen Gewicht zuge- 
schriebenen zwei handschriftlichen Seiten (Katalog, Nr. 595) enthalten 
Texte aus dem Stummen Propheten, die im Nachtrag unter diesem Ti- 
tel identifiziert sind. - Mit dem Querido Verlag schloft Roth unter dem 
3o.Marz 1936 den Verlagsvertrag iiber das Falscbe Gewicht ab (LBI: 
Joseph-Roth-Collection, AR-C. 663/1841, VI. Geschaftspapiere 
(u. a.): No. 3. 1936-1939, A-Z. Konvolut). Termin fur die »Abliefe- 
rung des druckfertigen Manuskriptes« war der »i. August i936«. - Die 
Zeitnot bei der Abfassung und die Stoffbeschaffung kommen in dem 
Brief an Stefan Zweig vom 4. Mai 1936 zum Ausdruck: »Ich korrigiere 



782 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

meinen ersten Roman, dann schreibe ich am zweiten. Da werfe ich 
schnell alles hinein, was ich an Materie fur den groftangelegten Roman 
>Die Erdbeeren< hatte.« (Brief e y S. 469). - Erst im Marz 1937 ist von 
Korrekturen zum Falschen Gewicht die Rede, wobei Roth den Text als 
»Novelle« bezeichnet (vgl. Bijvoet/Rietra, Brief Nr. 40: Joseph Roth 
an Verlag De Gemeenschap,- Wien, 22. Marz 1937). - Im Briefwechsel 
mit Fritz Landshoff vom Querido Verlag kommt dann die Fertigstel- 
lung des Buchs zur Sprache. Unter dem 11. Mai 1937 erkundigt sich 
Roth von Wien aus nach dem Eintreffen seiner Korrekturen. Am 
14. Marz 1937 antwortet ihm Landshoff: »Die Korrektur des FAL- 
SCHEN GEWICHT ist hier eingetroffen. Das Buch ist fertig und er- 
scheint in den ersten Tagen nach Pfingsten.« Und ins Briisseler Hotel 
Cosmopolite schickt er unter dem 15 . Juli 1937 an Roth die Abrech- 
nung uber das Buch mit der Bemerkung: »Wenn der Verkauf ebenso 
gut ware wie die Urteile, die ich von vielen Seiten (nicht nur von 
Schickele) bekomme, ware Ihnen und uns gedient.« (LB I: Joseph 
Roth, Bornstein-Collection. AR-B. 394/4152. V. Geschaftskorrespon- 
denz A.-Z. No. 44) - Vgl. auch Bronsen, S. 573-577. 

Hier abgedruckt: D/4. 



DIE KAPUZINERGRUFT 

Manuskripte 
M/i: JOSEF ROTH, DIE KAPUZINERGRUFT (Verf. und Titel 
auf einem Vorsatzblatt des gebundenen Manuskripts, einem Ge- 
schaftsbriefbogen: The Galerie St.Etienne, 24 West 57th Street, New 
York N.Y. 10019. - Mit Erlaubnis der Geschaftsfuhrerinnen, Hilde- 
gard Bachert und Jane Kallir, welche die Nachfolge des Griinders Otto 
Kallir antraten, wurde von dem Manuskript ein Mikrofilm hergestellt, 
der als Grundlage zur folgenden Beschreibung diente.) - Das gesamte 
Konvolut umfafit 117 Blatter, von denen 115 einseitig mit Romantext 
beschrieben sind. Zwischen die Textblatter sind leere Zwischenblatter 
eingelegt, auf deren Vorderseite haufig in Spiegelschrift der Text der 
vorangehenden Seite erscheint. Die beiden textfremden Blatter befin- 
den sich am Beginn und am Schlufi des Skripts: 1) zwischen dem neun- 



ANHANG 783 

ten und zehnten Blatt, wo unter verschiedenen Notizen zur Kapuzi- 
nergruft auch Bemerkungen zu »III. Perlefter« oder zu »Verlobung« 
stehen; 2) zwischen dem hundertvierzehnten und hundertfiinfzehnten 
Blatt, wo ein kariertes Doppelblatt etwa im A 5 -Format mit Vignetten 
und Grafik bedeckt ist. - Format und Beschaffenheit des Papiers 
wechseln ebenso wie die Grofte von Roths Schrift; gelegentlich ist eine 
Seite langsgeteilt und spaltenartig beschrieben, wobei dann die Pagi- 
nierungsziffern diesen Spalten folgen. Auch bei durchlaufendem Text 
fehlen manchmal die entsprechenden Seitenzahlen. 
Textabfolge: Auf Bl. 1-16 (unpaginiert: 8, 9, 10, 16) stehen die Kap. 
I-V der Druckfassung. - Das Kap. VI der Druckfassung ist iibersprun- 
gen. Statt dessen zahlt das Skript als VI. Kap. das Kap. VII der Druck- 
fassung (Beginn: »Hier, an dieser Stelle [...]«)• Mit Bl. 17 setzt eine 
neue Paginierung ein, die von S. 27 bis S. 56 durchlauft (entspricht Bl. 
17-45). Es handelt sich um die Buchkapitel VII-XIV, die entsprechend 
im Skript als Kap. VI-XIII gezahlt sind. - Mit Bl. 46 setzt die Paginie- 
rung erneut von vorn ein. Sie reicht von S. 1 bis S. 13 (entspricht Bl. 
46-58) und umfafk die Buchkapitel XV-XVIII, die im Skript als 
XIV-XVII numeriert sind. - Mit Bl. 59 springt die Seitenzahlung auf 
die S. 18, und das jetzt folgende Buchkapitel XIX wird im Skript als 
Kap. XIV gefuhrt, so daft bei den folgenden Kapitelzahlungen immer 
eine Differenz von 5 Ziffern besteht. Die Blatter 59-105 sind mit den 
Seitenzahlen 18-65 durchpaginiert (keine Bezifferung fur S. 23 u. 24; 
Zahlsprung von S. 53 zu S. 55), und sie umfassen die Buchkapitel XIX 
bis XXXIII mit der Skriptzahlung XIV-XXVIII. Auf der S. 65 (Bl. 
105) wird die Schrift schlagartig grower und bleibt so bis zum Kapitel- 
schluft, offensichtlich in Roths Bemuhen, eindrucks voile Schluftsatze 
zu formulieren. Von der Druckfassung abweichend, lautet im Skript 
hier der letzte Satz: »[. . .] Allein blieb ich, allein, allein.« Als Hinweis, 
daft der Roman nicht zu Ende ist, folgt im Skript die Kapitelziffer 
XXIX. Den Ubergang deutet der Kapitelschlufi im Buch an, wo das 
Wort »allein« ein drittes Mai wiederholt und dann der Satz hinzuge- 
fugt ist: »Ich ging in die Kapuzinergruft.« - Die Blatter 106- 114 sind 
als Seiten 1-9 paginiert (keine Ziffer auf S. 1) und enthalten das 
Schluftkapitel XXXIV der Druckfassung. Im Skript lautet der Beginn: 
»Auch an diesem Freitag [. . .]«; fur den Schlufi werden erneut ver- 
schiedene Formulierungen erwogen (»Und auf dem Stefansdom die 
Glocken, sie schwiegen.«); der Text endet hier dann: »[. . .] Ich wuEte 



784 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

es ebensowenig wie er.« (S. 9/Bl. 114) - Den endgultigen Schlufi der 
Druckfassung enthalt nach dem vorletzten, eingeschobenen Zeich- 
nungsblatt das Blatt 115, dessen Seitenziffer 67 zu einer 66 korrigiert 
1st. Unter die groften Schriftzuge ist am Ende des Textes ein Abschlufi- 
stnch gezogen. Der Beginn des Absatzes lautet wie im Druck: »Die 
Kapuzinergruft [...]«; das Romanende hat im Skript noch nicht die 
knappe Fassung wie im Buch: »[. . .] Pst! sagte der Bruder und legte 
den Finger auf die Lippen./ Die Kapuzinergruft ist geschlossen./ Mein 
Sohn ist noch jung. Wohin soil ich, ich armer Trotta.« 
M/2: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-C. 661/1837, II. Manu- 
skripte: Novellen und einzelne Kapitel A.-Z., No. 7. Radetzkymarsch, 
1. eigenh. Handschrift: Nicht zum Radetzkymarsch, sondern zur Ka- 
puzinergruft gehort hier das karierte Doppelblatt aus einem Notiz- 
buch, dessen zwei Seiten im A6-Format quergenommen und als ein 
Blatt iiber den Falz hinweg beschrieben sind. Rechts oben steht die 
Seitenzahl 55. Der Textanfang lautet: »entbehren<7 >Ich bin gekom- 
men< - erwiderte ich ihm [. . .]«; Textschlufi: »[. . .] >Meine Tochter, der 
Herr Trotta hat eben bei mir um Deine Hand angehalten.<« Moglicher- 
weise handelt es sich um eine Fassungsvariante zu Kap. XIV des 
Buchs. 

Typoskripte 
T/i: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR.-A. 557/1838, III. Novellen, 
Essays [u. a.], No. 6. Kapuzinergruft: Mit Bleistift paginierte 71 Seiten, 
von denen die S. 1-63 aus einem Original-Typoskript, die S. 64-71 aus 
einem Durchschlag bestehen. - Der Text umfafk die Kap. VII-XXI 
der Buchfassung. Durch die ursprungliche Seitenzahiung sind vonein- 
ander abgesetzt: Kap. VII-XIV, wonach mit Kap. XV von vorn und 
bis Kap. XIX paginiert worden war; danach folgte die Seitenzahiung 
des 8 Blatter umfassenden Durchschlags, der die Kap. XX und XXI 
enthalt; sie weisen neben der alten Paginierung auch eine alte Kapitel- 
zahlung auf, namlich XV und XVI. 

T/2: ebd.: 21 Seiten Original-Typoskript (Blatt 1 unpaginiert) mit den 
Kap. I-V der Buchfassung, 

T/3: ebd.: (verlagert aus No. 4. Essays A-Z, wo der Text irrtxim- 
lich eingeordnet war): 31 Blatter Original-Typoskript, paginiert 
als S. 2-32; 32 Blatter Typoskript-Durchschlag, paginiert als S. 2-33. - 
Textbeginn von Original und Durchschlag: »Die Gnade des Kaisers 



ANHANG 785 

erstreckte sich noch auf seinen Sohn [...]« (Kap. I, Mitte). Textschlufi 
im Original: »[. . .] Er bot sogar dem Manes Reisiger aus lauter Dank- 
bar-« (S. 32); im Durchschlag: »[. . .] Chojnicki versprach es; und auch, 
dafi wir im nachsten Sommer bestimmt nach Zlotogrod kommen wur- 
den.« (S. 33; Ende von Kap. VI) Das Typoskript umfafk also die 
Kap. I-VI, wobei vom ersten Kapitel die erste Halfte fehlt. 
T/4: Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, 
Den Haag: Joseph Roth, Der Kelch des Lebens. - Dieses »i4~seitige 
Fragment eines Typoskripts der ersten Fas sung des Romans Die Kapu- 
zinergrufu (Bijvoet/Rietra, Herausgeberbericht) ist als Beilage 4 dem 
Briefwechsel Roths mit De Gemeenschap hinzugefugt. Der Text ist in 
zwei Kapitel unterteilt: »Erstes Kapitel I Ein Samstag war's am 17, Au- 
gust [. . .]« (Anfang) »[. . .] Du bist mein Vetter.« (Schlufi) - »Zweites 
Kapitel I Joseph Branco fiihlte sich im Nu seinem unbekannten Vetter 
zugetan [. . .]« (Anfang) »[. . .] Es war ein nobles Spektakel. Er liebte 
es.« (Schluft) 

Drucke 
D/i: Das Neue Tage-Bncb, 6.Jg., Heft 17 vom 23. April 1938, 
S. 403-405: Der schwarze Freitag. Von Joseph Roth (Nach einem re- 
daktionellen Vorspann beginnt der Text: »Auch an diesem Freitag 
[. . .]«; Textschlufi: »[, . .] Ich wufke es ebensowenig, wie er.«) 
D/2: Pariser Tageszeitung, Nr. 674, Sonnabend, 30. April 1938, Bei^ 
lage: Graf Chojnicki und Manes Reisiger. Von Joseph Roth. - Der 
redaktionelle Vorspann lautet: »Das Kapitel, das wir aus dem neuen 
Roman von Joseph Roth hier zum ersten Mai veroffentlichen, zeigt das 
Verhaltnis, das im untergegangenen Oesterreich zwischen Aristo- 
kraten und Ostjuden bestanden hat./ In einer Zeit der Umwandlung in 
ein antisemitisches Oesterreich erscheint uns dieser Beitrag beson- 
ders kennzeichnend.« - Es handelt sich um das Kap. VI der Buchfas- 
sung. 

D/3: Die Osterreickische Post, Nr. 1 (Weihnachten 1938) bis Doppel- 
Nr. 17/18 (x. 9. 1939) - mit Ausnahme der Nr. 7: Die Kapuzinergruft 
(Durch die Einstellung des Erscheinens brach der Zeitungsdruck nach 
der 12. Fortsetzung ab: mit dem ersten Satz des zweiten Absatzes von 
Kap. XIX, »[. . .] in das Innere des Reiches verlegt worden war.«) 
D/4: Joseph Roth, Die Kapuzinergruft, Bilthoven: De Gemeenschap 
1938. 231 S. - Auf dem Vorderdeckel des weift eingebundenen Buchs 



786 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sind Verfasser und Titel rot eingedruckt. Der Umschlag ist in den Far- 
ben der Habsburger, Schwarz-Gelb, gehalten und zeigt auf der Vor- 
derseite in Umrissen eine Karte der zersprengten k.u.k. Monarchic - 
Der vordere Klappentext lautet: »>Die Kapuzinergruft< ist das Gegen- 
stiick zum >Radetzkymarsch< und der Roman vom Untergang Oester- 
reichs als selbstandiger Staat. Eindrucksvoll und ergreifend hat Joseph 
Roth die Erzahlung dieses letzten Unterganges beschrieben.« - Der 
hintere Klappentext bietet eine Inhaltsangabe. 
D/5: Werke (1956), I, S. 313-430. 
D/6: Werke (1976/76), II, S. 863-982. 

Zur Textkritik 
In der Edition von Bijvoet/Rietra ist die Entstehungsgeschichte des 
Romans genau zu verfolgen. Ebenso sind dort die Umstande und 
Griinde dafiir zu finden, daft Die Kapuzinergruft vom Verlag De Ge- 
meenschap noch vor der fruher fertiggestellten Geschichte von der 
1002. Nacht publiziert wurde. - In ihrer Anmerkung zu Brief Nr. 82 
zitierten Bijvoet/Rietra die Titelvarianten: »der Mann ohne Paft oder 
ein Mensch sucht Osterreich«; Ein Mann sucht sein Vaterland; Der 
Kelch des Lebens; Die Kapuzinergruft. Ein an Roth gerichteter Brief 
vom 3. Mai 1937, in dem der Wiener Bastei-Verlag ein Angebot fur das 
Buch unterbreitet, nennt noch die Titelversion »Ein Mann sucht sein 
Oesterreich« (LBI: Roth, Joseph - Bornstein-Collection; AR-B. 394/ 
4152, VI. Korrepondenz, nicht identifiziert, Varia. 2.Briefe an Joseph 
Roth, Sender nicht ersichtlich, No. $[. . .] 2p), Den endgiiltigen Titel, 
Die Kapuzinergruft, bittet Roth in einem Brief vom 8. Juni 1938 »vor- 
laufig geheim zu halten. Er ist, er bedeutet symbolisch, die wahrhaftige 
Fortsetzung des >Radetzky-Marsch<.« (Bijvoet/Rietra, Brief Nr. 108) - 
Von einem »neuen Manuskript«, mit dem wohl Die Kapuzinergruft 
gemeint ist, spricht Roth in seinem Brief vom 29. 12. 1936. (vgl. ebd., 
Brief Nr. 11) Zeitlich stimmt damit iiberein, daft er am 22. April 1937 
bemerkt, er »arbeite bereits seit vier Monaten daran.« (ebd., Brief 
Nr. 47) Im gleichen Brief drangt er De Gemeenschap zur Ubernahme 
des neuen Buchs. Der Verlag reagiert mit dem Vertrags- und Zah- 
lungsangebot vom 12. Mai 1937, wobei dieses »nachste Buch« noch 
den Arbeitstitel tragt Ein Mann sucht sein Vaterland (ebd., Brief 
Nr. 53). Weil die Veroffentlichung der Geschichte von der 1002. Nacht 
sich immer mehr verzogerte (vgl. ebd., Brief Nr. 65), bestand Roth 



ANHANG J%J 

»u. a. aus verkaufstechnischen [. . .] Griinden« darauf, daft Die Kapu- 
zinergruft zuerst erschien. (ebd., Anm. 2 zu Brief Nr. 90) Am 6. Dez. 
1937 teilte er dem Verlag die Titelanderung - »jetzt: Der Kelch des 
Lebens« - mit, sowie die Umarbeitung der Erzahlperspektive: »Ich 
verandere den ganzen Roman aus der dritten in die erste Person. « 
(ebd., Brief Nr. 92) Mit der Ubersendung des Artikels »Der schwarze 
Freitag« als letztem Kapitel des Romans verkniipft Roth ausdriicklich 
die Bitte, doch dieses Werk nun zu publizieren und Die Geschichte 
von der 1002. Nacbt weiterhin zuriickzuhalten (vgl. ebd., Brief 
Nr. 106 mit Anm. 2). Die Fertigstellung der Kapuzinergruft meldet er 
dem Verlag mit seinem Brief vom 5. August 1938 (ebd., Brief 
Nr. 117), in dem er auch einen Vorschlag fur den Werbetext zum 
Buch macht, wie er iiberhaupt um dessen Typografie und Aufma- 
chung besorgt ist (vgl. die Brief e Nr. 137 und 163). Erschienen ist der 
Roman Ende Dezember 1938. - Zur politischen Situation seiner Ent- 
stehungszeit vgl. Hackert (II), S. 175/76; zu biographischen Umstan- 
den Bronsen, S. 509-511. - Man finde »im Roman nahezu wortwort- 
liche Passagen aus Roths damaligen Artikeln in der monarchistisch 
orientierten Osterreichischen Post«, notierte Gerhard Scheit (ders., 
»Vom Habsburgischen Mythos zum Mythos der Masse«. Uber einige 
Voraussetzungen und Besonderheiten der osterreichischen Exillitera- 
tur. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 5: Flucht- 
punkte des Exits und andere Themen, edition text u. kritik, Miinchen 
1987, S. 209). - Als Sammler fur Manuskripte Roths hatte sich schon 
Mitte der dreiftiger Jahre der Kunsthandler Otto Kallir-Nirenstein in- 
teressiert, der in der Griinangergasse 1 von Wien die »Neue Galerie« 
betrieb. Am 13. 5. 1935 z. B. schrieb er an Roth, »doch nicht so ohne 
Weiteres auf Ihren neuen Roman verzichten« zu wo lien. (LB I: Roth, 
Joseph-Bornstein-Collection, AR-B. 394. 4152. V. Geschaftskorre- 
spondenz K-Z. Nr. 36) Dem Leiter des Leo-Baeck-Instituts in New 
York, Fred Grubel, zeigte er mit einem Brief vom 2.Februar 1971 
den Besitz von Roth-Skripten an: »It might interest you that I own, 
among other works, the entire manuscript of Roth's >Kapuziner- 
gruft<, as well as proofs of >Die Tausendzweite Nacht< throughout 
corrected and changed by the author. Both mansucripts I obtained 
from Mr. Roth during the time when we frequently met in Paris in 
the years 193 8-3 9. « (LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-CZ. 472. 
2048 Part II) Das Manuskript der Kapuzinergruft befindet 



788 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

sich bis heme im Besitz der iiber Frankreich in die USA gefliichteten 
»Galerie St. Etienne«, New York. 

Hier abgedruckt: D/6. 



DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT 

Typoskripte 
T/i: DOKU: Durchschrift, aus dem Nachlafi von Hedy Davis; vgl. 
Lunzer, S. 209-214. 

T/2: DOKU: Reinschrift als Satzvorlage, aus dem Nachlafi von Hedy 
Davis; vgl. Lunzer, S. 214-215. 

T/3: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-A. 557/1838, III. Novellen, 
Essays [. . .], No. 7. Novellen A-Z. 3. Die Frau Matzner 24 p; vgl. Lun- 
zer, S. 215-216. 

Drucke 
D/i: DOKU: Biirstenabzug der ersten Druckfassung (D/2); aus dem 
Nachlafi von Friederike Zweig; vgl. Lunzer, S. 216-217. 
D/2: Die Geschichte von der 1002. Nacbt. Roman von Joseph Roth - 
1937 erfolgter Erstdruck in Probe-Exemplaren (Deutsche Bibliothek, 
Frankfurt a.M.; Harvard University Library); hier abgedruckt in: Jo- 
seph Roth, Werke 6. Romane und Erzahlungen 1936- 1940, Koln 199 1, 
S. 575-776. - Vgl. Lunzer, S. 217-219. 

D/3: Joseph Roth, Die Geschichte von der 1002. Nacht. Roman, 
Bilthoven: De Gemeenschap 1939. - Zweite Druckfassung, vgl. Lun- 
zer, S. 219-221, 

D/4: Werke (1956), I, S. 631-795 (entspricht D/3). 
D/5: Werke (1975/76), II, S. 983-1148 (entspricht D/3). 

Zur Textkritik 
Die Entstehungsgeschichte des Romans hat Lunzer (S. 201-208) 
ebenso detailliert ausgefuhrt wie den Vergleich zwischen den verschie- 
denen vorliegenden Fassungen. Dabei konnte er sich auf das Skript des 
von Bijvoet/Rietra edierten Briefwechsels zwischen Roth und dem 
Verlag De Gemeenschap stiitzen, wo die Begleitumstande der Entste- 



ANHANG 785? 

hungszeit ausgebreitet sind. - Von D/2 wurde neben dem Lunzer »be- 
kannt gewordenen Exemplar« (S. 217) noch ein weiteres in der Har- 
vard University Library festgestellt. - Die Textanderung von T/2 zu 
T/3, die Lunzer (S. 216) notiert, konnte mit Roths Absicht zu erklaren 
sein, den Empfang der »Absolution« in der letzten Olung durch das 
Wahrnehmungsmoment des Kruzifixes (»den Herrgott, den sie gestern 
geschaut hatte«) zu verbildlichen. - Die »proofs of >Die Tausendzweite 
Nacht< throughout corrected and changed by the author« (vgl. die 
Textkritik zur Kapuzinergruft) sind im Nachlafi Otto Kallirs in der 
New Yorker »Galerie St. Etienne« bisher nicht gefunden worden. 

Hier abgedruckt: D/5. 



DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER 

Manuskript 
M/i: Deutsches Literaturarchiv, Marbach a.N.: 59 Blatter, davon 58 
Durchschlage; Bl. 1-14 in der Handschrift Roths, Bl. 15-59 in wech- 
selnder fremder Handschrift. - Als Beilage ein Briefumschlag mit der 
Aufschrift »Legende eines Trinkers / Eigentum Fr. Zweig«, der die 
Herkunft des Manuskripts aus dem Besitz von Friederike Zweig an- 
zeigt. - Das erste Blatt ist unpaginiert, besteht aus kariertem Papier 
ungefahr im Format A5 (evtl. aus einem Schulheft) und ist in der obe- 
ren Halfte mit Bleistift beschrieben. Textbeginn: »An einem Friih- 
lingsabend des Jahres 1934 [. . .]«. Text-Ende: »[. . .] die Obdachlosen 
von Paris zu schlafen, oder besser geagt: zu lagern.« Mit dem zweiten 
Blatt beginnen die Durchschlage (Blaupausen), deren Papierformat ge- 
legentlich wechselt. 

Typoskript 
T/i: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-C. 661/1837, II. Manu- 
skripte: Novellen und einzelne Kapitel: A.-Z., No. 6. Die Legende 
vom Trinker Andreas. - 40 Seiten durchpaginiert und in die Kap. 
I.-XV. eingeteilt; Korrekturen und Uberschrift (s. o.) mit Bleistift, ge- 
legentliche Einfiigungen mit Tinte; auf S. 40 die Schluftformel »Ende«. 



790 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Drucke 
D/i : Die Legende vom heiligen Trinker I von Joseph Roth. - In: Pari- 
ser Tageszeitung, Beilage zur Ausgabe Nr. 1014 vom Sonntag/Montag, 
4-/5.Juni 1939, S. 3-4. - Der redaktionelle Vorspann lautet: »>Die Le- 
gende vom Heiligen Trinker< ist die letzte Erzahlung, die Joseph Roth 
geschrieben hat. Sie erscheint in den nachsten Tagen in Buchform im 
Verlag Allert de Lange, Amsterdam. Hier folgen die Anfangskapitel 
der Erzahlung.« - Der Text umfafit die Kap. I — III. 
D/2: Das Ende der Legende vom heiligen Trinker i Von Joseph Roth. 
- In: Das Neue Tage-Buch> 7. Jg., Heft 24 vom 10. Juni 1939, 
S. 570-571. - Der redaktionelle Vorspann lautet: »Das letzte, was Roth 
geschrieben hat, war die Abbitte >Ein antiker Selbstmorder< im Neuen 
Tage-Buch vom 27. Mai: dem Tage seines Todes. Das letzte, was er 
seinem Verleger iibergab, war die Novelle >Die Legende vom heiligen 
Trinker<. Sie wird binnen kurzem bei Allert de Lange, Amsterdam, 
erscheinen. Das Folgende sind die letzten Seiten des melancholischen, 
graziosen, formvollendeten Marchens. Die letzten Seiten: der Epilog. 
Und nicht nur der Epilog einer Legende.« - Der Text umfafit die Kap. 
XIV -XV. mit der Schlufiformel »Ende«. 

D/3: Joseph Roth, Die Legende vom heiligen Trinker } Amsterdam: 
Allert de Lange 1939. 109 S. 
D/ 4 : Wferfee (1956), III, S. 149-178. 
D/5: Werke (1975/76), S. 229-257. 

Zur Textkritik 
Dafi sich die Erzahlung aus autobiographischen Motiven entwickelt, 
belegen Einzelstellen in Roths Korrespondenz speziell mit seinen 
Geldgebern. So schreibt er am 22,7. 1938 wegen einer Zuwendung an 
den Prinzen zu Lowenstein und bittet dabei, ihm »auf Ehrenwort zu 
glauben, daft ich das Geld zuriick schicke«, und er schliefit den Brief 
mit der »Bitte um einen gemeinsamen genossenen Schnaps« (Katalog, 
Nr. 464, S. 339), Am ^November 1938 heifit es in einem Schreiben an 
De Gemeenschap: »[. . .] ich beschaftige mich bereits mit einem neuen 
Buch«; womit nach Bijvoet/Rietra Die Legende vom heiligen Trinker 
gemeint ist (vgl. ebd., Brief Nr. 153 u. Anm. 1). Das Abkommen iiber 
den Druck halt ein Schreiben aus der deutschen Verlagsabteilung von 
Allert de Lange fest, das vom 27, April 1939 datiert (LBI: Joseph- 
Roth- Collection, AR-C.663/1841, VI. Geschaftspapiere, Vertrage, 



ANHANG 791 

Abrechnungen, Korrespondenz mit Verlegern. No. 3. 1936- 1939, 
A.-Z. Konvolut). Am 9. Mai 1939 berichtet er wiederum an den Prin- 
zen zu Lowenstein, er habe »an einer langeren Novelle geschrieben«. 
(Deutsche Bibliothek, Frankfurt a.M.; Deutsches Exilarchiv, Ameri- 
can Guild - EB 70/117) Schliefilich kiindigt ihm Walter Landauer vom 
Allert de Lange Verlag unter dem 22. Mai 1939 an: »[. . .] Die Korrek- 
turen von der Legende bekommen Sie sehr bald. [. . .]«. (LBI: Joseph 
Roth, Bornstein-Collection, AR-B. 394/415 2, V. Geschaftskorrespon- 
denz A.-Z., No. 29) - Stefan Fingal behauptete in einem Gedenkarti- 
kel zum io.Todestag Roths: »Wenige Tage vor seinem Tode hatte er 
mir den Burstenabzug der Legende vom beiligen Trinket gegeben.« 
(Aufbau, Friday, June 24, 1949) Und Hermann Kesten will mit der 
Unterstiitzung von Ernst WeilS und Leonhard Frank den Text redi- 
giert haben (vgl. Hackert (I), S. 135 f.). - Bis hin zum Namen des Hel- 
den bestehen zwischen Manuskript und Druck erhebliche Unter- 
schiede: » Andreas Woituch« (M/i, S. 26) - » Andreas Kartak« (D/3). - 
Zur Entstehung und Interpretation vgl. auch Bronsen, S. 582-587. - 
Zur Interpretation unter Beriicksichtigung von M/i vgl. Hackert (I), 
S. 135 ff. - Wie schon friihere Erzahlwerke Roths, reizte auch dieser 
Text zur bibliophilen Austattung seines Drucks. Die Erstausgabe 
(1939) in Kleinoktav ist auf dem Vorderdeckel mit eine Titelvignette 
L. v. Horvaths versehen, die ein Rosengewinde umgibt und auf stern - 
gelbem Hintergrund in blauem Mantel und grauer Kutte die Kleine 
Heilige Therese zeigt. In zweiter Auflage bei Allert de Lange erschien 
die Erzahlung 1949. Fur den Bibliophilenkreis De Roos erschien, mit 7 
Holzschnitten ausgestattet, die auf 175 numerierte Exemplare be- 
schrankte Edition: Joseph Roth, Die Legende vom heiligen Trinket, 
Stichting De Roos: Utrecht 1966. 

Hiet abgedruckt: D/5. 



792 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

DER LEVIATHAN 

Typoskript 
T/i: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-A. 557/183 8, III. Novellen, 
Essays [. . .] No. 7. Novellen A.-Z., ^.Korallen, Masch.-Durchschr. 
25 p, unvollstandig (mit eigenhandigen Korrekturen). - Die 25 Seiten 
des Typoskript-Durchschlags sind mit den Ziffern 17 bis 41 durchpa- 
giniert. Auf Seite 17 setzt der Text mit dem letzten Drittel von Kap. Ill 
ein: »Man trank noch Meth und mehrere Schnapse [...]«. Ab Seite 35 
finden sich neben den Bleistift- auch Tintenkorrekturen. Die Kapitel- 
zahlung und der Textanfang des jeweiligen Kapitels entsprechen dem 
Druck. Das Kap. VIII schliefit auf S. 41 abweichend vom Druck mit 
dem Satz: »M6ge er dort in Frieden ruhn, bis zur Ankunft des Mes- 



Drucke 
D/i: Der Korallenhandler I Von Joseph Roth / Aus einem unverof- 
fentlichen Manuskript. - In: Das Neue Tage-Buch, 2. Jg., Heft 51 vom 
22. Dezember 1934, S. 1217-1220. - Abdruck des ersten Kapitels. 
D/2: LBI: Joseph-Roth-Collection, AR-A.557/1838, III. Novellen, 
Essays [. . .] No. 7'. Novellen A.-Z., 5. Der Leviathan, Novelle, 
Druckseiten 60 p, 2 Ex. - Das erste dieser beiden Exemplare von 
Druckfahnen besteht aus einem Umbruch mit handschriftlichen Kor- 
rekturen. Der Text beginnt auf S. 5 und endet auf S. 60 abweichend von 
T/i mit dem Satz: »M6ge er dort in Frieden ruhn neben dem Levia- 
than bis zur Ankunft des Messias.« 

D/3: LBI: siehe D/2, - Das zweite Exemplar enthalt den fertigen 
Drucktext, dem als Titelblatt vorangestellt ist: »Joseph Roth / DER 
LEVIATHAN / NOVELLE / 1937 / Querido Verlag N.V Amster- 
dam «. 

D/4: Nach Bijvoet/Rietra erschien »ein Abdruck der ersten fiinf Ka- 
pitel mjiidische Revue (Paris, Prag, Mokacevo) 3 (1938) Nr. 9 (Sept.) 
S. 539-546 und 3 (1938) Nr. 10/11 (Okt./Nov.) S. 606-620. Ursprling- 
lich sollte Der Leviathan vollstandig hierin abgedruckt werden, nur 
stellte die Zeitschrift 1938 nach Nr. 10/11 (Okt./Nov.) ihr Erscheinen 
ein.« (Anmerkung 7 zu Brief Nr. 8) 
D/5: Der Leviathan /Novelle/ von Joseph Roth. - In: Pariser Tages- 



ANHANG 793 

zeitung; Nr. 823-832; Sonntag/Montag, 23-/24. Oktober 1938, bis 

Donnerstag, 3. November 1938. - Vollstandiger Abdruck. 

D/6: Joseph Roth, Der Leviathan, Amsterdam: Querido Verlag 1940. 

71 S. 

D/7: Wcrie (1956), III, S. 117-148. 

D/8: Werke (1975/76), III, S. 258-287. 

Zur Textkritik 
In seinem Werkverzeichnis fur den Verlag De Gemeenschap (Bijvoet/ 
Rietra, Brief Nr. 8) notiert der Sekretar von Roth, A. van Ameringen, 
unter dem 4. November 1936: »Der Leviathan (eine kleine Novelle), 
die zu gelegener Zeit in einer >Sammlung von Novellen bekannter 
Schriftsteller< erscheinen wird.« Bijvoet/ Rietra bemerken dazu 
(Anm. 7): »Die Anthologie, in der diese Erzahlung zu gelegener Zeit 
erscheinen sollte, konnte nicht ermittelt werden.« - Hans-Albert Wal- 
ter berichtet iiber die Wirren der Exilpublikationen bei Kriegsbeginn: 
»Anfang 1940 sollten bei Querido drei Bucher erscheinen: Joseph 
Roths nachgelassene Erzahlung >Leviathan<, Bruno Franks Novelle 
>Sechszehntausend Franken< und Alexander M. Freys >Der Mensch<. 
Die Bogen waren ausgedruckt, aber noch nicht gebunden, als Holland 
iiberfailen wurde. Trotz des damit verbundenen Risikos bewahrte die 
Druckerei die Rohbogen auf. Nach dem Kriege konnte der nach Am- 
sterdam zuriickgekehrte Verlag die Bucher binden und >mit einiger 
Verspatung< ausliefern lassen.« (ders., »Die Heifer im Hintergrund«. 
Zur Situation der deutschen Exilverlage 1933-1945, in: Frankfurter 
Hefte, 20. Jg. (1965), Heft 2, S. 129) 

Hier ahgedruckt: D/8. 



Nachtrage 

[Joseph Roth, Der Hilfsredakteur]: Transkription und textkritische 
Einfiigungen von Klaus Westermann. 

»Der Tag des Hilfsredakteurs Frank Thompson ist ausgefullt mit la- 
cherlicher und saurer Klein arbeit. Der Kleistertopf und die Schere, der 
schmutzige und bestaubte Schreibtisch und der niegeleerte Papierkorb, 



794 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

erne elektrische Klingel, die versagt und stumm bleibt, wenn sie schril- 
len soil, ein Redaktionsdiener, der frifit, wenn er gehorchen soil, die 
schmutzige Vertraulichkeit des Personals und die klatschsuchtalteren 
Kollegen, deren aufgeblasene Gonnerschaft und deren Ubermut Frank 
Thompson, den Uberlegenen, zwar nicht reizen, oder demiitigen kon- 
nen, wohl aber zermurben: das alles erfiillt den Tag des Hilfsredak- 
teurs. 

Er klebt Geburts- und Verlobungsanzeigen, Portozettel [?] verstorbe- 
ner angesehener Abonnenten und die taglichen Lebensmittelpreise. Er 
schneidet das Feuilletonmaterial aus den grofien Blattern der Haupt- 
stadt und nimmt Telephonstenogramme auf, die er selbst auf die Ma- 
schine umtippt, weil die einzige Sekretarin des Blattes auf dem Schofi 
des Bier trinkenen Lokalredakteurs sitzt, wenn man ihrer Arbeit be- 
darf. Bell, John Bell, der Chef, weifi, dafi Thompson unzufrieden ist 
und ein Rebell. Man darf den gefahrlichen Thompson nicht reizen, 
weil er begabt ist, Aber man darf ihn argern, weil er geduldig ist, und, 
weil es die untergeordnete Stellung Thompsons so erfordert. 
Eines Tages bringt Bell, der Chefredakteur, die Nachricht, dafi der 
Magistrat 20000 Dollar dem Waisenhaus bewilligt habe. John Bell 
weifi sehr gut, wie es urn das Waisenhaus bestellt ist. Er weifi, dafi 
zwischen dem Biirgermeister Sam Landshope und dem Waisenhausdi- 
rektor William Buttler ein intimes, auf gegenseitigen kleinen Schurke- 
reien beruhendes Verhaltnis besteht. Bell hat sich schon oft geargert, 
dafi er und seine Geldveriegenheit von jenen beiden so gering geachtet 
wurde. Auch scheinen Biirgermeister und Waisenhausdirektor die 
Macht der Presse zu unterschatzen, oder sie sind so ahnungslos, dafi 
sie nicht riechen, wieviel Bell schon weifi. Diese zwanzigtausend 
Dollar, von denen es fest steht [!], dafi nur der geringste Teil dem 
Waisenhaus, der grofite dem Biirgermeister und seinem Freund, dem 
Waisenhausdirektor zufliefien wird, argern Bell. Er beschliefit, dem 
Biirgermeister einen Besuch zu machen. 

Dieser Besuch verlauft fur Bell ergebnislos. Seine leisen aber deutli- 
chen Winke will der Biirgermeister nicht verstehen. Bell droht mit der 
Veroffentlichung alles Dessen, was er weifi. Bell freut sich schon auf 
den Skandal. Fast ist diese Freude imstande, ihm den Arger iiber den 
mifilungenen Besuch zu vertreiben. Er sieht seine Leser, die behabigen 
kleinen Burger der kleinen Stadt, beim Morgen Kaffee und beim Fri- 
seur, an den Stammtischen, in den Kneipen, in der Strafienbahn und 



ANHANG 795 

auf Familienabenden. Er sieht ihre verziickten, entriisteten, erstaunten, 
neugierigen Gesichter. Bell reibt sich vergniigt die Hande. Er ist fast 
ebenso Skandalliebender [!] Journalist, wie bestechliche Stiitze der Ge- 
sellschaft. 

Er hat mehr Gliick, als er selbst glaubt. Sein Hilfsredakteur Thompson 
hat inzwischen im Park der Stadt Gelegenheit gehabt, zwei Waisen- 
hauskinder, die sich um eine gefundene Schocoladetafel fast zu Tode 
gepriigelt hatten, der Aufseherin Catheline Potters zuzufiihren. Von 
ihr, (der Tochter des Farmers James Potters) erfahrt er grauenhafte 
Dinge iiber die Zustande im Waisenhaus. Sie sucht schon lange nach 
einem Menschen, dem sie alles, was sie so schwer bedrtickt, und dem 
sie, stumm leidend, zusehen muE, erzahlen konnte [!]. Sie verschafft 
Thompson die Moglichkeit, sich durch einen Besuch im Waisenhaus 
von dem Schmutz, in dem die Kinder leben, dem Hunger, der nicht 
groft genug ist, daft sie sterben, den Schlagen, die haufig genug sind, 
daft sie erkranken, zu iiberzeugen. Und Thompson beschliefit, die Zu- 
stande aufzudecken. 

Das kommt Bill [!] sehr gelegen. Die Enthiillungen erregen Aufsehen, 
die Burger sind erstaunt, aufgeregt, entriistet, wie Bill es sich vorge- 
stellt hat. Schon furchtet man im Burgermeisteramt, die Angelegenheit 
konnte schwere Folgen haben. Dem Burgermeister und dem Waisen- 
hausdirektor geht erst jetzt die Einsicht in die Macht des Chefredak- 
teurs Bell auf. Sie beschlieften, ihm auch einen Teil abzutreten. 
Sie besuchen den Chefredakteur Bell. Thomspon sieht die beiden im 
Biiro Bells verschwinden, wundert sich, dafi es vollkommen ruhig zu- 
geht und noch mehr dariiber, daft der Besuch so kurz ist: nach kaum 
zehn Minuten entfernen sich namlich Burgermeister und Waisenhaus- 
direktor, lachelnd, zufrieden und mit jener satten Behaglichkeit, die 
Honoratioren ihres Grades ziemt. 

Es laftt sich nicht mehr vermeiden, daft von der Kreishauptstadt eine 
Untersuchung angeordnet und durchgefuhrt wird. Allein, es lassen 
sich potemkinsche Waisenhauszustande schaffen. Es lassen sich die 
schmutzigen und kranken Kinder in Winkeln verstecken, die noch ge- 
fundenen strahlen [?] und militarisch abrichten zur Parade. Es lassen 
sich fur einen einzigen Tag Tische hobeln und Fleischtopfe auf den 
Herd stellen. Es lassen sich Kochinnen engagieren, Betten mit saube- 
ren Laken uberziehen. 
Und so geht die Untersuchung resultatlos aus. Chefredakteur Bell hat 



J$6 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

selbst an ihr teilgenommen, seinen Hilfsredakteur hat er fur jenen Tag 
in die Nachbarstadt geschickt, zu einer Premiere. Thompson fuhr 
nicht, Allein, er fand, als er ins Waisenhaus treten wollte, einen War- 
ter, der ihm den Eintritt verwehrte und seine Ahnung, dafi Bell besto- 
chen worden ist, bestatigt. 

Bell widerruft alles und die Leser versinken beruhigt in den gewohnten 
sachten Gleichmut. 

Thompson aber wird vor Gericht zitiert, und bekommt eine lange- 
re Freiheitsstrafe wegen boswilliger Verleumdung. Ein Ehrengericht 
spricht dem Abwesenden und bereits Eingesperrten jede Moglichkeit 
einer weiteren journalistischen Tatigkeit ab. 

In der Stadt herrscht Ruhe. Im Waisenhaus wird wieder gepriigelt. 
Catheline, ist als Mitschuldige Thompsons entlassen worden. Sie reist 
zu ihrem Vater auf die Farm. 

An einem kalten Wintertag wird Thompson mit zwanzig Centimes [!] 
in der Tasche aus der Haft entlassen. Er weifi, daft er nicht mehr Jour- 
nalist werden kann. Aber es ihm gleichgultig, was er tut. Er mufi nur 
hinaus aus dieser Stadt, womoglich nach New-York. Wahrend er un- 
schliissig im winterlichen Park herumgeht, fallt sein Blick auf ein Pla- 
kat. Es verkiindet einen groften Landarbeiterstreik und fordert Ar- 
beitswillige zur Landarbeit auf. Thompson wandert zu Fufi in das an- 
gegebene Gehoft, wo sich viele Arbeitslose melden. Thompson wird 
angenommen, er arbeitet auf dem Felde, bis zur Beendigung des 
Streiks. Dann wird er entlassen. 
Er hat nun Geld und fahrt nach New-York. 

Sein Geld reicht weder fur ein ausgiebiges Essen in einem besseren 
Gasthaus, noch fur eine saubere Schlafstatte. Er treibt sich in billigen 
Kneipen herum, nachtigt im Asyl fur Obdachlose. Hier erwacht er 
eines Nachts, von einer Ratte gebissen, und beschliefk, das Haus zu 
verlassen. Er geht in eines jener Kinotheater, die in New-York die 
ganze Nacht liber offen bleiben und tausende Obdachloser fassen. 
Und dort lernt er einen Agenten kennen, der ihm einen erwagenswer- 
ten Vorschlag macht: 

Die Windermere Petroleum A.G., an deren Spitze Lloyd Windermere, 
einer der amerikanischen Petroleum- Konige steht, sucht nach neuen 
Petroleumquellen. Die nach alien Windrichtungen gehetzten Inge- 
nieure der Gesellschaft graben hier und dort, graben Tag und Nacht, 
ruhen nicht, rauchen und graben, rauchen und graben. Es gelang ih- 



ANHANG jy] 

nen, im bliihenden Ackerland der in der Nahe Shortlands angesiedel- 
ten Farmer das heift ersehnte Petroleum zu entdecken. Die Gesell- 
schaft Windermere beschlieftt, den Farmern das Land abzukaufen und 
sie in einer anderen Gegend anzusiedeln. Und nun braucht [sie] fur die 
Verhandlungen mit den Farmern sehr viele Agenten. 
Einer dieser Agenten soil auch Thompson werden. Er erhalt in der 
Baracke, in die ihn sein neugewonnener Freund aus dem Kino fuhrte, 
und wo trotz der spaten Nacht eine fege Tatigkeit herrschtj ein grofte- 
res Hemd und Reisegeld. Er begibt sich noch in derselben Stunde zur 
Bahn und reist in die Farm. 

Unter den Farmern, bei denen er in den ersten Morgenstunden an- 
langt, herrscht grofte Aufregung. Zeitungen haben die Nachricht ge- 
bracht, daft die Petroleum A.G. ihre Arbeiter in der Farm anzusiedeln 
gesonnen sei. Den Farmern stelle sie nicht nur den vollen Preis fur ihre 
Grundstiicke, sondern auch noch einen andern Anteil [?] zur Verfii- 
gung. 

Die Farmer, die die Grabungen der Windermereschen Ingenieure gese- 
hen haben und ihren Erfolg kennen, vermuten, daft es sich nicht um 
die Ansiedlung der Arbeiter, sondern um Petroleumgewinnung han- 
delt. Sie versammeln sich vor dem Hause des altesten Farmers, James 
Potters, des Vaters der ehemaligen Waisenhausschwester Catheline. 
In diese Versammlung gerat der neue Agent Thompson. Er hort, was 
die Farmer untereinander reden, vernimmt, daft es sich um andere 
Dinge handelt, als ihm gesagt worden war und erblickt unter den An- 
wesenden Catheline. Er nimmt Wohnung im Hause ihres Vaters. Von 
hier aus reist er in jene Gegend, die fur die Neuansiedlung der Farmer 
in Betracht kommt. 

Es ist eine sumpfige Gegend. In den Hiitten fiebern die Alten und die 
Kinder, ein Arzt, den Thompson unterwegs trifft, erzahlt, daft diese 
Gegend eine der schrecklichsten des Landes iiberhaupt sei. Thompson 
sendet sofort einen Brief an die Windermeregesellschaft und reist in die 
Farm zu Potters zuriick, um weitere Auftrage abzuwarten. 
In der Windermeregesellschaft herrscht grofte Aufregung. Es besteht 
die Gefahr, daft dieser unerwunschte Agent, ein heimlicher Wahrheits- 
fanatiker [,] die Farmer von der Schadlichkeit der ihnen in Aussicht ge- 
stellten neuen Heimat unterrichtet. Man muft dem entgegenarbeiten. 
Deshalb begibt sich Lloyd Windermere selbst in die Redaktion der 
New Yorker Nationalzeitung, zu seinem Freund, dem Chefredakteur 



798 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Bell, der inzwischen sichtbar Carriere gemacht hat. Es ist aus dem klei- 
nen Provinzunternehmer ein grower Mann in der groften Stadt gewor- 
den. Bei ihm zu Besuch weilt gerade Senator Landshope, der ehemalige 
Biirgermeister der Provinzstadt, der auch [!] inzwischen New Yorker 
Senator geworden ist. 

Alle drei beschliefien eine energische Agitation. Bell schreibt einen 
Leitartikel von dem sozialen Sinn der Windermere A.G., von den glan- 
zenden Aussichten, die den Farmern im neuen Land winken, und wie 
durch die Groftziigigkek der Windermere A.G. mit einem Schlag alien 
geholfen sei: der Aktiengesellschaft, ihren Arbeitern, den Farmern, 
dem Vaterlande und der Welt. 

Allein, die Gefahr, daft jener vielwissende Agent Unerwiinschtes plau- 
dern konnte, bleibt dennoch bestehen. Es ist keine Zeit, lange zu iiber- 
legen. Senator Landshope und Chefredakteur Bell beschlieften, selbst 
in die Farm zu reisen und jenen gefahrlichen Agenten aufzusuchen. 
Groft ist das Erstaunen, als sie in dem Agenten Thompson erkennen. 
Auch Thompson prallt im ersten Moment zuriick. Doch staunt er, 
mehr noch als iiber das Zusammentreffen selbst, iiber die freundliche 
Art, mit der er von seinen alten Feinden begriiftt wird. Sie versprechen 
ihm unter sechs Augen, die Angelegenheit begraben sein zu lassen. 
Und Thompson - sagt zu. 

Auf der Ruckfahrt auftert der Chefredakteur Bell dem Senator gegen- 
iiber allerdings Bedenken. Bell kennt Thompson, traut ihm nicht, ist 
stutzig iiber die Nachgiebigkeit Thompsons, dessen halsstarrige Ehr- 
lichkeit er zu kennen glaubt. In der Nahe einer Station zieht er die 
Notbremse. Der Zug halt. Chefredakteur und Senator steigen aus, be- 
zahlen den Lokomotivfuhrer fur das unvorgesehene Halten des Zuges 
und begeben sich in die Wohnung des in dieser Stadt lebenden Privat- 
detektivs Alvaredo, der im Dienst der Windermeregesellschaft stent. 
Ihm machen sie die Gefahrlichkeit Thompsons klar. Thompson mufi 
aus dem Weg geraumt werden. Alvaredo begibt sich sofort in die Farm 
mit einem brieflichen und angeblich streng geheimen Auftrag fur 
Thompson und findet in dem beim Farmer Potters bediensteten Neger 
Bob ein willfahriges Werkzeug. Bob soil in der Nacht Thompson in 
seinem Zimmer erschieften, durchs offene Fenster also, daft dieser 
Mord niemals aufgeklart werden kann. 

Allein, es ist Bob unbekannt geblieben, daft Thompson nicht mehr im 
Fremdenzimmer schlaft. Dieses lag dem Schlaf zimmer des alten Pot- 



ANHANG J99 

ters zu nah und Thompsons Reisen im ersten Morgengrauen storte den 
Alten. Deshalb hat Catheline mit Thompson das Zimmer getauscht. 
Der Schufi des Negers Bob trifft sie und verwundet sie schwer. 
Alvaredo, rasch erkennend, dafi Bob nunmehr gefahrlich werden 
konnte, bringt ihn erst zur Anzeige und ins Gefangnis. Inzwischen 
verbreitet er bei den Farmern das Geriicht, daft Bob einen Uberfall auf 
Catheline versucht hatte. Er beruft eine Versammlung ein und fordert 
alle auf, Rache an dem Schwarzen zu nehmen, der es versucht habe, 
eine Weifte zu schanden. Die aufgeregte Menge zieht nach wiisten Kra- 
wallen im Negerviertel, wo die > Civilisation einen volligen und bluti- 
gen Sieg erringt, zum Gefangnis, um den Neger Bob herauszuholen 
und zu lynchen. 

Im letzten Augenblick, schon ist Bob aus dem Gefangnis gezerrt, gerat 
Thompson unter die Leute. Es gelingt ihm [,] fur einen Augenblick 
Ruhe herzustellen. Als er versucht, Bob ins Gefangnis zuruckzufuh- 
ren, wird er selbst von der Menge bedroht. Da verspricht er eine wich- 
tige Enthullung und alles bleibt still. Thompson erzahlt den erstaunt 
horchenden Farmern von dem Sumpffieber, das ihnen in der neuen 
Gegend droht. Er enthiillt die Plane der Windermere-Gesellschaft, 
wird mit Jubel umringt und von den Farmern zum Burgermeister ge- 
wahlt. Er heiratet Catheline und griindet mit dem Geld, das ihm die 
Farmer zur Verfiigung stellen, eine neue Zeitung in New^York: Die 
Gerechtigkeit. 

Der Neger Bob, der in seiner Zelle des Untersuchungsgefangnisses auf 
die Verhandlung wartet, um die Mordplane der Windermere-Leute zu 
offenbaren, wird von dem umsichtigen Detektiv Alvaredo, durch das 
Fenster der Zelle heimlich und meuchlings erschossen. 
Thompson hat nun ein Werkzeug, mittels dessen er sich nicht nur ra- 
chen kann, sondern dariiber hinaus auch Macht gewinnen und behal- 
ten. Er ist geachtet von der Mitwelt und zuhause glucklich. Da tritt 
Ruth in sein Leben. 

Ruth ist die Tochter des Petroleum-Konigs Windermere, des Feindes. 
Neunzehnjahrig und verwohnt, Tochter eines Milliardars mit den 
Launen von amerikanischer Dimension, hat neben der Erbschaft des 
Geldes, die sie erwartet, die der vaterlichen Schlauheit schon angetre- 
ten. Bei ihr, dem Weibe, wird es eine erotische Verschlagenheit. Von 
alien Mannern, die in den naheren oder weiteren Umkreis ihrer Per- 
sonlichkeit getreten sind, gefallt ihr der von alien bewunderte Feind 



800 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

ihres Vaters am besten. Mit ihm sucht sie in Beriihrung zu kommen. 
Ein Versohnungsversuch, den sie bei ihrem Vater unternommen hatte, 
scheiterte selbstverstandlich. Jedes Mittel ist ihr recht. Sie verschmaht 
es nicht, sich eines Spitzels zu bedienen, eines gewissen Kniippelfere 
[zuerst: Kniippelfeld], der ahnlich, wie Alvaredo, der Gesellschaft ihres 
Vaters verpflichtet ist. 

Kniippelfere gelingt es [,] zu einem offiziellen Abend, den Thompson 
gibt, Zutritt zu erlangen und als Leiter eines grofien Dienstvermkt- 
lungsbiiros mit Thompson in nahere Beriihrung kommen, erzahlt die- 
sem, die Tochter Windermeres, Ruth, sei im Gegensatz zu ihrem Va- 
ter, eine Fanatikerin der Wahrheit und der Gerechtigkeit und konnte 
sehr gut gegen ihren Vater zu gebrauchen sein. Er zeigt Thompson das 
Bild einer Zeitschrift und einen Artikel, woraus Thompson ersehen 
kann, daft Ruth fur die Freiheit der Neger kampft, im Farmerbezirk, 
dem Thompson selbst seine Frau und Carriere zu verdanken hat, sich 
grower Beliebtheit erfreut, weil sie dort fur arme Kinder, Kranke und 
Greise hilfreich tatig ist. Thompson, dem Ruth ebenso sehr gefallt, wie 
ihre Gesinnung [,] hat nichts gegen eine Zusammenkunft mit ihr. Und 
diese wird rasch herbeigefiihrt. 

Zwischen seiner Pflicht als Gatte und der Liebe zu Ruth Windermere 
wird Thompson zerrieben. Er vernachlassigt immer mehr seine Arbeit, 
und der Gedanke an die noch ausstehende Abrechnung mit seinen 
Feinden gerat immer weiter in den Hintergrund. 
Der Windermere A.G. ist die Veranderung im Leben Thompsons 
nicht unbemerkt geblieben. Planmafiig beginnt ein rankereicher Feld- 
zug gegen Thompson. 

Da geschieht etwas, was Thompson aus seiner Willenlosigkeit fiir eine 
Zeit erwachen lafit: In Mexiko gerat die Regierung in grofie finanzielle 
Note. Der Minister des Innern Don Lorranza schlagt ein neues Boden- 
steuergesetz gegen Fremde vor und dringt damit durch. Dadurch wird 
vor allem die Windermere Petroleum A.G. [,] die ausgedehnte Petro- 
leumfelder in Mexiko besitzt, betroffen. Ihre Aussichten, die Regie- 
rung der Vereinigten Staaten zu einem Einschreiten gegen Mexiko be- 
wegen zu konnen, sind gering. [Hinweis auf fehlende Anlage] [folgen- 
des im MS gestrichen: Zwar schreibt die Nationalzeitung unter Bills [!] 
Fiihrung hetzende Artikel. Allein, die Autoritat des Staates kann nicht 
eher in Bewegung gesetzt werden, ehe nicht der amerikanischen Of- 
fentlichkeit klargemacht ist, daft es hier um die Verteidigung nationaler 



ANHANG 801 

Interessen von allgemeiner Wichtigkeit geht. Die Detektive Alvaredo 
und Kniippelfeld [!] werden nach Mexiko entsandt.] Mit Hilfe der na- 
tionalistisch-chauvinistischen Partei in Mexiko, zu deren Vorstand sie 
als die Abgesandten eines nationalen Offiziersvereins kommen, beru- 
fen sie eine Versammlung ein, unter dem Moto: Hinaus mit den Frem- 
den! Sie bringen das mexikanische Volk in Aufruhr durch haufige Ver- 
sammlungen. Einen absichtlich herbeigefuhrten Unfall in den Winder- 
mereschen Petroleumfeldern, bei dem eine mexikanische Steuerbesich- 
tigungskommission, in der sich auch Don Moreto befindet, durch eine 
Explosion zu Grunde geht [zuerst: anderer Satz in Roth-HS], benut- 
zen sie, um den Zufall zu einer feindlichen amerikanischen Absicht zu 
stempeln. Dieser Unfall gibt den Ausschlag. Und wahrend die mexika- 
nischen Blatter den Krieg prophezeien und androhen, ist Bill [!] in 
seiner New Yorker Nationalzeitung bestrebt, den wilden Ton der me- 
xikanischen Blatter noch zu ubertreffen. Ein Krieg scheint unvermeid- 
lich. 

Vergeblich warnt und besanftigt Thompson in seiner »Gerechtigkeit«. 
Jetzt endlich hat er Ruth iiberwunden. Ihre Liebesschwiire lassen ihn 
kalt, jetzt, da ihn die Pflicht wieder gerufen hat. Er entgeht ihren 
Nachstellungen. Als er ihr eines Tages eine Aussprache gewahrt, um 
ihr deutlich eine Absage zu erteilen, beschliefk sie, sich zu rachen. 
Was ihrem Vater nie gelungen ware, ihr gelingt es. 
Thompsons rechte Hand, Sekretar Lincoln [von fremder Hand korri- 
giert zu U.D.], ist langst in sie verliebt. Nur die Achtung vor Thomp- 
son und die Anhanghchkeit an seinen Chef haben Lincoln vor Anna- 
herungsversuchen bewahrt, von denen er iibrigens weift, daft sie 
fruchtlos waren. Ruth ist nicht umsonst Weib und Tochter Winderme- 
res dazu. Sie werft, wie es um Lincoln steht, und kurz entschlossen 
macht sie ihm einen Besuch und den Vorschlag, Thompson zu verra- 
ten. Sie verspricht Lincoln eine Nacht und er erliegt. 
Nun ist Thompson ausgeliefert. Lincoln [s.o.: U.D.] verrat nicht nur 
selbst seinen Chef, - er revolutioniert auch Setzer und Redakteure. 
Noch merkt Thompson nicht das Geringste. Aber eines Tages ist Lin- 
coln nicht mehr anwesend, als ihn Thompson rufen will Er lautet 
Sturm und - kein Bote erscheint. Er geht durch alle Raume der >Ge- 
rechtigkeit< und weder Redakteure, noch Setzer, noch Diener sind zu 
finden. Auf dem Schreibtisch Lincolns findet Thompson einen Brief, 
in dem ihm angekiindigt wird, daft kein ehrlicher Amerikaner noch mit 



802 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

einem Vaterlandsverrater zu tun haben wolle. Thompson verlafit die Re- 
daktion und trifft vor dem Hause Streikposten, die ihn nicht griifien. Aber 
vor seinem Haus angelangt, tritt der jiidische Setzer Morgenstern, ein 
Buckliger, der einzige, der Thompson treu geblieben, auf ihn zu und 
versichert ihn seiner Anhanglichkeit. Thompson bewegt Morgenstern, als 
>Faktor< in die Setzerei der Billschen [!] Nationalzeitung einzutreten. (Zu 
Hause ist Catheline vor Aufregung etc. [!] erkrankt und stirbt. B. ist nun 
ganz allein. [Von fremder Hand]) [folgendes gestrichen, aber Roth-HS: 
Morgenstern bringt taglich wertvolle Nachrichten und Burstenabziige aus 
der Redaktion der Nationalzeitung, Eines Tages iibergibt ihm Thompson 
einen Friedensartikel, den er selbst in der >Gerechtigkeit< gesetzt hat. 
Morgenstern hat Schlufidienst in der Nationalzeitung. In grofiter Auf- 
machung bringt Morgenstern diesen Artikel, der fur den Frieden ein- 
tritt zur grofiten Uberraschung Aller in der Nationalzeitung. 
Samtliche mexikanischen Korrespondenten telephonieren sofort diesen 
Umschwung der Nationalzeitung in die Heimat. Die mexikanische Re- 
gierung schlagt telephonisch Kompromisse den Vereinigten Staaten vor. 
Im Kreise Windermere herrscht grofie Bestiirzung.] 
Ruth und Lincoln horen dessenungeachtet nicht auf [orig. Roth: »haben 
[. . .] nicht aufgehort«; verbessert durch fremde HS], die Arbeiter gegen 
Thompson aufzuwiegeln. [hier Einfiigezeichen Roths : Im LBI sind keine 
Unterlagen mit entsprechenden Einfiigungen zu finden.] Eine Lohnbe- 
wegung wird von ihnen zum Anlaft genommen, der >Gerechtigkeit<, die 
sich, gerade infolge groEziigiger sozialer Fiirsorge fiir ihre Arbeiter, in 
Schwierigkeiten befindet, den Hals zu brechen. Drucker, Arbeiter, Set- 
zer und Redakteure ziehen [fremd eingefiigt: verhetzt] eines Tages vor 
Thompsons Villa. Thompson erscheint auf dem Balkon. Aber statt der 
erwarteten Ansprache schiefk er sich eine Kugel in die Schlafe. 
Eine Woche spater wird sein Testament eroffnet. Es enthalt die Be- 
stimmung, daft Alle, die an der »Gerechtigkeit« mitgearbeitet haben, in 
den Besitz des ganzen Thompsonschen Vermogens gelangt sind. 
An Thompsons Bahre stehen die Fiihrer der Arbeiter. Ruth [gestrichen 
Roths HS: erschieftt sich/Ende Roth-Text, Fortsetzung fremde HS!] 
und Mac Donald [i. e. Lincoln] verpflichten sich, von diesem heldi- 
schen Beweis erschuttert, gemeinsam und unter Verzicht auf Entloh- 
nung 5 Jahre Bennets [i. e. Thompsons] Werk mit den Arbeitern weiter 
zu fuhren. Als letzter kehrt vom Leichenbegrabnis Morgenstern heim, 
der bucklige Jude.« 



ANHANG 803 

Editorische Anmerkung: 
Angaben zur Beschaffenheit und Aufbewahrung des Manuskripts ent- 
halt die thematische Anmerkung zur Erzahlung Das Kartell (Joseph 
Roth, Werke 4, Romane und Erzahlungen 1916-1929, Koln 1989, 
S. 1054). - Klaus Westermann und Fred Grubel, der Direktor des LBI, 
nehmen als Entstehungszeit die dreifiiger Jahre an. Im Namen der 
Hauptfigur, Frank Thompson, sehen sie eine Anspielung auf Roths 
Ubersetzerin: Job, the Story of a Simple Man. Ubers. von Dorothy 
Thompson, New York: The Viking Press 1931. Im »Burgermeister 
Sam Landshope« wird nach ihrer Meinung Fritz Landshoff parodi- 
stisch zitiert, der seit 1927 Mitinhaber des Berliner Gustav Kiepen- 
heuer Verlages war und 1933 die deutsche Abteilung im Verlag Que- 
rido, Amsterdam, griindete. 



Erganzungen zu den Editorischen Anmerkungen in Werke 4 und 
Werke 5 

Das Kartell {Werke 4, S. 1054): 

Titel und Motivik dieser Erzahlung nimmt der zweite Satz am Beginn 
von Kap. XIX der Geschichte von der 1002. Nacht auf: »Das Kartell 
der Polizeireporter saft niedergedriickt im Cafe Wirzl [. . .]«. 

Hotel Savoy (Werke 4, S. 1055/1056): 

Die Drucknachweise konnen durch einen weiteren Zeitungsabdruck 
erganzt werden. - Joseph Roth, Hotel Savoy, in: JUdische Rundschau, 
Berlin (Unterhaltungsbeilage): vom 10. 1. 1928 (Beginn) bis zum 28. 2. 
1928 (6. Fortsetzung), und vom 13.3. 1928 (7. Fortsetzung) bis zum 
8.5. 1928 (Schlufi). 

Die Rebellion {Werke 4, S. 105 6/ 1057); 

M/i: AKL: Mappe 229: Manuskript mit vollstandigem Text der Er- 
zahlung. - 74 Blatter, einseitig teils mit Bleistift, teils mit Tinte be- 
schrieben; Formate wechselnd zwischen A 5 und A4; unterschiedliche 
Qualitat und Farbe des Papiers, teils karierte und linierte weifie Blatter 
aus Schulheften, teils blaues Briefpapier. - Die Seite 1 tragt keine 
Uberschrift. Der Text-Anfang lautet: »Die Baracken des Kriegs- 



804 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

spitals Nummero XXIV [...]«. Text-Ende auf Seite 74: »[. . .] Und 
pfeifend ging er, einen Greis fur die Toilette suchen.« - Kapitelzahl 
und -abfolge sind mit dem Druck identisch. In Orthographie, Zei- 
chensetzung und Einzelformulierungen weicht der Druck gelegentlich 
vom Manuskript ab. 

Die Flucht ohne Ende ( Werke 4, S. 10 5 9- 10 67): 

T/2: Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, 
Den Haag (Nachlafi des Verlags De Gemeenschap): 4 Seiten Typo- 
skript. - Bijvoet/Rietra setzen die Texte zum Brief Nr. 130 ihrer Edi- 
tion in Beziehung. Roth hatte darin unter dem 21.9. 1938 eine Beilage 
angezeigt: »Ich bitte sehr die zwei Kapitel, die ich beilege, noch druk- 
ken zu lassen. Das sind die zwei letzten Kapitel meines Buches.« - 
Nach der Anmerkung zu Brief Nr. 130 handelt es sich dabei um die 4 
Typoskriptseiten: »Sehr wahrscheinlich bilden diese >die zwei letzten 
Kapitel meines Buches<. Die ersten drei Seiten dieses Typoskripts sind 
eine Bearbeitung in der ersten Person eines Fragments des vierund- 
zwanzigsten Kapitels der Flucht ohne Ende: die letzte Seite eine Bear- 
beitung des letzten (vierunddreiftigsten) Kapitels dieses Romans. « 

Zipper und sein Vater (Werke 4, S. 1068/ 1069): 

M/i: AKL: Mappe 230: gegeniiber der Druckfassung fragmentari- 
sches Manuskript. - 52 Blatter, einseitig mit Tinte beschrieben, gele- 
gentlich Bleistift-Zeilen; Bl. 1-4 etwas grower als A 5 aus einem Heft 
gerissen mit linkem Rand und Karomuster, Bl. 5-34 etwas breiter und 
kiirzer als A4 aus einem Heft gerissen mit Karomuster (Ausnahme: 
Bl. 30, violettes Briefpapier), Bl. 35-36 wie vorher (jedoch glatt weifi), 
Bl. 37-52 (wie Bl. 5-34). - Die Seite 1 tragt keine Uberschrift, beginnt 
aber neben der Paginierung mit den Vermerken: »Abschrift. / I. / Frei- 
tag, 12. August ip2/.« Der Text-Anfang lautet: »Ich hatte keinen 
Vater - das heifk [. . .]«. Text-Ende auf Seite 52: »[...] Die Fliegen 
summten, als wollten sie die Glocken nachahmen. / Ende.« Dieser 
SchluEsatz des Manuskriptkapitels XV bildet in leicht veranderter 
Form das Ende des Druck-Kapitels XXI, dem im Buch dann noch der 
>Brief des Autors an Arnold Zipper< folgt. - Die 15 Kapitel des Manu- 
skripts sind durchlaufend numeriert, die letzte Datierung der Ab- 
schreib-Arbeit steht auf S.47 vor Kap. XIV: »2f. August. Donners- 
tag«. - Die Druckfassung ist gegeniiber dem Manuskript erweitert. 



ANHANG 805 

Wo sich die Texte decken, gibt es einzelne Abweichungen und Auslassun- 
gen. Fur den Druck wurden jedoch auch die Kapitel des Manuskripts 
zum Teil neu gegliedert: M, I.— III. entsprechend D,I.-IIL; M,IV. wurde 
aufgeteilt in D,IV. und V.; M,V. und VI. entsprechen D,VI. und VII.; 
M,VII. wurde aufgeteilt in D,VIII. und IX; M,VIII.-XL entsprechen 
D,X-XIII; neu im Druck kommt dazu D,XIV; M,XII und XIII entspre- 
chen D,XV und XVI; neu im Druck kommen dazu, D,XVII und XVIII; 
M,XIV entspricht D,XIX; M,XV wurde aufgeteilt in D,XX und XXI. 

Rechts und Links (Werke 4, S. 1069/1070): 

Den geplanten Romantitel (vgl. S. 1070) gibt Roth in seinem Brief an 
Rene Schickele vom 10. XII. 1929 an: »Brandeis ist die Hauptfigur 
eines folgenden Romans, Eintritt verboten, Geschichte eines Mannes 
ohne Mafi.« (Briefe, S. 155) 

Der stumme Prophet {Werke 4, S. 1070/ 1071): 

Die im Katalog der Frankfurter Roth-Ausstellung aufgefuhrten 2 Ma- 
nuskriptblatter (S. 451, Nr. 595) stammen nicht - wie dort angenom- 
men - aus dem Falscben Gewicht. Sie waren irrtiimlich im LBI unter 
diesem Titel rubriziert (Joseph-Roth-Collection, AR-C. 661/1837, II. 
Manuskripte: Novellen und einzelne Kapitel, A.-Z., No, 9. Varia, 
Aufsatze A-Z und Unbestimmtes, 3. Das falsche Gewicht, eigenh. 
Handschr. 2p). Der Text des Blatts mit der Seitenzahl 85. findet sich in 
der Ausgabe von Werner Lengning (D/5) auf S. 124/125; der Text auf 
dem Blatt mit der Seitenzahl 20. ebenda auf S. 40/41. 
Einen Roman-Ausschnitt unter dem Titel »Die Verbannten. Ein Ge- 
malde« druckte die Neue Freie Presse (Wien): Nr. 23863 vom 19.2. 
1931, S.n. 

Hiob. Roman eines einfachen Mannes {Werke 5, S. 870-872): 
Unter dem Titel »Mendel fahrt nach Amerika« druckte die Zeitung 
Arbeiterwille (Graz), Nr. 296 vom 26. 10. 1930, auf S. 7-8 einen Text- 
Ausschnitt ab. (Vgl. dazu: Eckart Friih, »Joseph Roth im Spiegel 
osterreichischer Arbeiterzeitungen«, in: Kessler/Hackert, S. 112 und 
S. 123/ Anm. 69.) 

Ein weiterer Abdruck umfafk das Kap. XIII des Hiob: Ztschr. Meno- 
rab (Wien/Frankfurt a.M. bzw. Wien / Berlin) 8. Jg., Doppelheft 9/10 
(Sept./Okt. 1930), S. 433-443. 



806 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Radetzkymarsch (Werke 5, S. 873-876): 

Unter dem Titel »Die Kosaken« erschien im Arbeiterwille (Graz), 

Nr. 272 vom 2. 10. 1932, ein Teilabdruck aus dem Roman. 

Einen weiteren Abdruck unter dem Titel »Die Borstenarbeker demon- 

strieren« brachte Das Kleine Blatt (Wien), 6Jg., Nr. 314 vom 12. 11. 

1932. 

Unter dem Titel »Epilog« publizierte das Karlsbader Arbeiterjahrbuch 

1934 (hrsg. von der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in 

der Tschechoslowakei) das letzte Kapitel aus dem Radetzkymarsch. 

(Vgl. zu alien drei Angaben: Eckart Fruh, a.a.O., S. 112 sowie S. 123/ 

Anm. 67 und 68) 

Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde (Werke 5, S. 877-882): 

Unter dem Titel »Der Mord in der Kneipe« veroffentlichte Das Kleine 

Blatt (Wien) in der Sonntagsbeilage vom 1. 10. 1933 das einleitende 

Kapitel des Romans. (Vgl. Eckart Fruh, a.a.O., S. 112 und S. 123/ 

Anm. 72) 

Im Pariser Tageblatt Nr. 41 vom 21. 1. 1934 (vgl. Anm, zu D/i, S. 879) 

gibt Joseph Roth unter anderen Exilschriftstellern Auskunft: »Schrift- 

steller 1934 /Eine Umfrage/ [. . .] Ich habe einen Roman geschrieben, 

der einen Pogrom in einem der nach dem Kriege neu entstandenen, 

fruher zu Rutland gehorigen Nationalstaaten behandelt. Der Roman 

heisst: >Tarabas, ein Gast auf der Erde<. / Joseph Roth [. . .]«. 

Die Biiste des Kaisers (Werke 5, S. 883-886): 

Stefan Zweig Archives. Acquired as a donation from Mrs. Eva Alber- 
man [i. e. Tochter von Friederike Zweig]. Now in Stefan Zweig Col- 
lection at Reed Library, State University College at Fredonia, New 
York [N.Y. 14063]: Die Biiste des Kaiser I von/ Joseph Roth. - 34 
Seiten Typoskript im A4-Format, deren Text und Kapitel-Einteilung 
mit der Vorlage zum ersten Buchdruck iibereinstimmt (vgl. die An- 
merkungen »Zur Textkritik«, S. 885). 



Nachwort 

Ein Liebesobjekt ist schwer diskutierbar. Das hat besonders der Er- 
zahlteil dieser Werkausgabe in den ersten Reaktionen von Kritikern 
und Lesern zu spiiren bekommen. 

Irritation bereitet dem Fachrezensenten, der seinen Rothschen Ideal- 
kanon hiitet, die wiederentdeckte Magazingeschichte »Das Kartell«. In 
welches Entsetzen wird ihn erst das Fragment »Der Hilfsredakteur« 
stiirzen? Oder gar die Filmentwiirfe von Roths eigener Hand, die der 
Verwandlung seines Hiob in ein Kintopp-Produkt nur wenig nachste- 
hen (s. Brita Eckert, »Joseph Roth und der Film«, in: Kessler/Hackert, 
S. 99-106)? 

Am besten, man verfahrt wie der Literatur-Liebhaber, der den Klassi- 
ker im eigenen Kopf dadurch rettet, dafi er fur die zweifelhaften Er- 
zeugnisse seines Autors einen namensgleichen anderen Urheber ver- 
antwortlich macht: Das Spinnennetz mit seinen Fortsetzungen in der 
Wiener Arbeiterzeitung kann unmoglich vom Verfasser des Radetzky- 
marsch stammen. 

Ob das Dilemma mit dem Beispiel zu beheben ist, das uns die Eltern 
Singer beim Wiedersehn mit ihrem Sohn zu bieten haben? »Sie sahen 
Schemarjah und Sam zugleich, als wenn ein Sam iiber einen Schemar- 
jah gestiilpt worden ware, ein durchsich tiger Sam. Es war zwar Sche- 
marjah, aber es war Sam.« (Werke 5, S. 71/72). Das Spinnennetz, Das 
Kartell, »Der Hilfsredakteur« - enthalten sie kein bifkhen wahren, 
echten Roth? Am klassischen Monument verdeutlicht: Ist Goethes 
»Hanswurst« oder »Burgergeneral« denn keine Kolportage? 
In Wertbestandigkeit und Konvention sich aufgehoben zu fuhlen ist 
gewifi keine . verwerfliche Sehnsucht. Meist ist sie allerdings nur um 
den Preis von Ignoranz zu stillen. Wer meint, dafi Roths Prosawerk 
keiner grundlegenden editorischen Korrektur mehr bediirfe, hat sich 
die Beschaftigung mit dessen Textlage erst gar nicht zugemutet. 
Durch alle drei Erzahlbande zieht sich das Datierungsproblem. Wo 
sind die drei Texte, die vorlaufig zwischen »Karriere« (1920) und »Das 
Kartell« (1923) eingeordnet wurden {Werke 4, 5,30-53), begriindet in 
der Werk-Chronologie zu plazieren? Uber welchen Zeitraum verteilen 
sich die Einzelpassagen, die Werner Lengning zu dem Mixtum 
Kompositum Der stumme Prophet vereinigte? Wann hat Roth sich 



SOB ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

vorgenommen, den Roman seiner Kindhek, »Erdbeeren«, zu schrei- 
ben, und wie lange klammerte er sich an dieses Projekt? Lassen sich fur 
die danach abgedruckten Fragmente (Werke 4, S. 1037-1050) doch 
noch Anhaltspunkte zur Datierung finden? 

Vom »Triumph der Schonheit« erschien die franzosische Ubersetzung 
ein Jahr vor dem deutschen Zeitungsdruck, so dafi sich die Frage nach 
der Entstehungszeit der deutschen Erstfassung erhebt. Im ahnlich ge- 
lagerten Fall der Erzahlung »Die Biiste des Kaisers« schliefk die Text- 
kritik sogar, daft die deutsche Version eine Art Riickiibersetzung aus 
dem Franzosischen darstelle. Uber sechs Jahre sind die Vorabdrucke 
des »Leviathan« verteilt, von dem unter dem Titel »Der Korallenhand- 
ler« bereits 1934 das erste Kapitel erschien; weshalb das Erzahlband- 
chen nicht 1937 mit dem damals schon datierten Titelblatt, sondern 
nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Datierung 1940 vorgelegt wurde, 
bleibt noch zu klaren. Verwirrend und erst in jiingster Zeit durch den 
Briefwechsel Roths mit dem Verlag De Gemeenschap zu durch- 
schauen sind Entstehungs- und Druckgeschichte der beiden Romane 
Die Geschichte von der 1002. Nacht und Die Kapuzinergruft. 
Und mit dieser Aufzahlung sind nur die grobsten Beispiele zum 
Thema Werkgeschichte angefuhrt. 

Mehr Fragen noch als bei der Datierung hat die Textkritik bei der 
Befassung mit den Entstehungsstufen und Publikationsformen der ein- 
zelnen Erzahhverke zu beantworten. 

Bereits mit der ersten Veroffentlichung, der Kurzfassung des »Vor- 
zugsschulers« in Osterreichs Illustrierter Zeitung, ist die grundsatzli- 
che Problematik verbunden, die dann viele weitere Titel betreffen 
wird: die Differenz namlich zwischen einer Zeitungsversion als Erst- 
druck und einer Fassung, welche in diesem Fall Manuskript geblieben 
war, spater oft aus dem Vorabdruck zur Buchfassung entwickelt 
wurde. Legt man Wert auf einen authentischen, mit dem Einverstand- 
nis des Autors publizierten Text, ist natiirKch der Zeitungs-Erstdruck 
mit Skepsis zu betrachten. Andererseits dient er manchmal als interes- 
santes Zeugnis fiir die noch ungelosten thematischen und formalen 
Schwierigkeiten, die eine Bearbeitung fiir die Buchversion veranlaftten. 
Daft dem literarischen Anfanger die Redaktion eine Kiirzung seines 
Produkts verordnet, wie im Fall des »Vorzugsschiilers« wohl gesche- 
hen, ist nicht weiter verwunderlich. Und etliche Jahre spater hat ein 
Erzahler Joseph Roth auch noch nicht die Geltung, redaktionelle Ein- 



NACHWORT 809 

griffe in seine Roman-Fortsetzungen Das Spinnennetz zu unterbinden. 
Wie aber verhalten sich dann die Buchfassungen von Hotel Savoy und 
Rebellion zu ihrem jeweiligen Zeitungsabdruck? Und welches Verhalt- 
nis dieser Drucktexte existiert bei Zipper und sein Vaterf 
Wie ganze Romankapitel einerseits vom Druck ausgenommen, andrer- 
seits vorabgedruckt wurden, ohne dafi ihnen ein Buchdruck folgte, 
dies lafk sich an der Flucht ohne Ende und am Romanprojekt Der 
stumme Prophet aufzeigen, dem in dieser Werkausgabe bezeichnen- 
derweise eine Fragment- Serie folgt: Perlefter, »Erdbeeren«, »Heute 
friih kam ein Brief « und »Jugend« ( Werke 4, S. 931 f.). 
Ein Fragment auch, vermutlich ein Anfang des Hiob, setzt die Reihe 
der Erzahltexte fort {Werke 5, S. 850 f£), und zum vollstandigen Ro- 
man wiederum ware zu fragen, ob die Version des Vorabdrucks mit 
dem Buch denn ubereinstimmt. 

Definitiv nicht der Fall ist das beim nachsten Werk, das Roth als Er- 
zahler seine dauernde Anerkennung eintrug. Den Radetzkymarsch hat 
er kompositorisch, stilistisch und inhaltlich fur die Buchfassung ent- 
schieden verandert und besonders am Schluft noch ausgebaut. 
Aus Roths Korrespondenz und der Biographie geniigend bekannt ist 
seine Weigerung, in Nazi-Deutschland noch Artikel oder Bticher er- 
scheinen zu lassen. Ermoglicht wurde ihm die kontinuierliche Verof- 
fentlichung von Erzahlwerken auf^erhalb Deutschlands durch Vertrage 
mit den hollandischen Verlagen Allert de Lange und Querido, Amster- 
dam, bei denen ehemalige Mitarbeiter des Verlags Gustav Kiepenheuer 
Exilabteilungen fur deutsche Literatur einrichten konnten. Fritz 
Landshoff, der Mitinhaber des Berliner Verlags, war kiinftig An- 
sprechpartner bei Querido, und Walter Landauer, den Roth seit dessen 
Assistenz-Zeit im Verlag Die Schmiede bereits kannte, betreute neben 
Hermann Kesten seine Publikationen bei Allert de Lange. 
Erst in jiingster Zeit wurde bekannt, daft Teile der nach dem deutschen 
Einmarsch in Holland beschlagnahmten Geschaftsunterlagen jener 
Verlage von deutschen Staatsarchiven in der Nachkriegszeit unter Ver- 
schlufi gehalten wurden. Sollte dieses Material zuganglich gemacht 
werden, dann waren interessante materielle Aspekte der Geschichte 
deutscher Exilliteratur und im Fall Roths weitere Einsichten der Art 
zu erschlieften, wie sie fur sein Exilwerk schon Theo Bijvoets und Ma- 
deleine Rietras Edition seines Briefwechsels mit dem Verlag De Ge- 
meenschap gewonnen hat. 



8lO ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

Noch im Jahr 1933 schloft sich Roth mit seinem Beitrag »Stationschef 
Fallmerayer« in den bei Allert de Lange veroffentlichten Novellen 
deutscher Dichter der Gegenwart einer literaturpolitischen Manifesta- 
tion an: der dffentlichen Feststellung namlich, daft deutsche Literatur 
nun zu einem erheblichen Teil aufterhalb von Deutschland gedruckt 
und verbreitet werde. 

Und wie zuvor die Frankfurter Zeitung in Fortsetzungen seine Romane 
vorgestellt hatte, brachte das nachste Werk, Tarabas. Ein Gast aufdieser 
Erde, die deutsche Emigrantenzeitung Pariser Tageblatt. Einen Sonder- 
fall unter den Druckfassungen der Romane bildet die Veroffentlichung 
des Tarabas fur ein begrenztes innerdeutsches Lesepublikum am Be- 
ginn der Nazi-Zeit. Unter dem Titel »Das Wunder von Koropta« er- 
schien das Werk ab dem 22. November 1934 in der Unterhaltungsbei- 
lage »Judische Bibliothek« des Israelischen Familienblatts. 
Wie sich die friiher als der deutsche Text publizierten franzosischen 
Ubersetzungen zu den Originalfassungen Roths verhalten, das miiftte 
fur die Erzahlungen »Triumph der Schonheit« und »Die Biiste des 
Kaisers« untersucht werden. 

Und vergleicht man die Textstufen des Napoleon-Romans Die Hun- 
dert Tage miteinander, dann fallt auf, daft das Manuskript wie auch das 
Typoskript eine Rahmenerzahlung enthalten, die in der Buchfassung 
wegfiel. 

Zunehmend schwieriger stellt sich in den bekannt gewordenen Zeug- 
nissen die Arbeitssituation Roths nach 1935 dan Verleger und Lekto- 
ren mussen ihn immer dringender mahnen, die abgeschlossenen Ver- 
trage und vereinbarten Termine nicht endlos zu uberschreiten, und so 
kommt es bei der Fertigstellung der Beichte eines Morders zur Klage 
uber die »unsaglichen Qualen«, unter denen das Manuskript nochmals 
durchkorrigiert wurde. 

Der Druck nimmt schlieftlich dermaften zu, daft Roth zu montieren 
beginnt und Material, das er in seinem Heimat- und Jugendroman 
»Erdbeeren« zu verwenden gedachte, fiir Das falsche Gewicht ver- 
brauchte. Was dieses Verfahren fiir den Roman und seine Struktur be- 
deutet, sollte natiirlich bei der Interpretation und Bewertung beriick- 
sichtigt werden. 

Doch nicht nur Erwerbsgriinde durchkreuzen die iiberlegte Ausfiih- 
rung der Erzahlvorhaben, sondern auch die politischen Ereignisse lau- 
fen nach Roths Auffassung seinen Publikationsplanen zuwider. Der 



NACHWORT 8ll 

bekennende osterreichische Monarchist wollte dem Publikum sein de- 
primierendes Dekadenzgemalde der Geschichte von der 1002. Nacbt 
nicht ausgerechnet zu dem Zeitpunkt vor Augen fuhren, wo dem 
Nachfolgestaat der k.u.k. Monarchic die Annexion durch das Dritte 
Reich drohte. Also brach er die Fahnenkorrekturen an der Erstfassung 
dieses Romans ab und bewog den Verlag De Gemeenschap, die soge- 
nannte Fortsetzung des Radetzkymarschs, namhch Die Kapuziner- 
gruft, in der Produktion vorzuziehen, ja dem Roman kurz vor dem 
Druck noch ein Schluftkapitel anzuhangen, in dem sich die Befurch- 
tung des politischen Anschlusses bestatigt fand. Die Auslieferung des 
fruher abgefaflten Romans diirfte Roth dann nicht mehr erlebt haben. 
1st fur Die Geschichte von der 1002. Nacht demnach Roths Autorisie- 
rung zweifelhaft, so fehlt sie fur die nachfolgenden Titel iiberhaupt. 
Besonders drastisch tritt dieser Umstand bei der Legende vom heiligen 
Trinker in Erscheinung, die ja nach Kestens Auskunft gleich von drei 
Bearbeitern ihre Endfassung erhalten haben soil. Wie zu Beginn seiner 
Karriere als Erzahler behalten im Presse-Zeitalter die Redakteure das 
letzte Wort. 

Philologischer Hochmut ihnen gegeniiber ware jedoch vollig fehl am 
Platz. Wie eingangs schon gezeigt, bedeutet Originalitat keineswegs 
automatisch auch Qualitat. Mit der Aufdeckung einer Originalfassung 
die Erwartung zu verbinden, man gelange in den Besitz des literarisch 
hoherwertigen Textes, das zeugt von einer Idolatrie, die mehr von 
Eigenliebe als von Liebe zum Autor motiviert ist. Eindringliche Bilder 
und fesselnde Formulierungen hat Joseph Roth gefunden, aber er war 
ein obsessiver Tagesschriftsteller und kein Dichterprophet letzter 
Worte und Weisheiten. Anstelle blofter Lobpreisungen ihn immer wie- 
der der Lektiire, dem Lesefleifi zu empfehlen, diirfte der vornehmste 
Gefallen sein, den man ihm erweisen kann. 

Den Klassiker endgiiltig und abgeschlossen im Schrank zu haben ist 
nicht das Ziel dieser Ausgabe, bei deren Herstellung viele neue Im- 
pulse zwischen Leserschaft, Publizistik, Bibliotheks- und Literatur- 
wissenschaft sowie den Editoren ausgetauscht wurden. Es gilt viel- 
mehr das Gegenteil: Off en und anregend soil die dritte Werksamm- 
lung sich prasentieren, zuganglich auch der Kritik an ihren buchmarkt- 
bedingten Schwachen, aber nicht bestimmt fur gralshuterische Ge- 
meinden. 
Setzt man die hier in Band 6 vereinigten Erzahlwerke Roths zu seinen 



8l2 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

letzten Lebensjahren in Beziehung, dann sind zwischen Poesie und 
Biographie ebenso augenfallige Ubereinstimmungen wie paradoxe Wi- 
derspriiche festzustellen. 

Die Trunksucht und ihre Versuchungs- bzw. Rechtfertigungspsycholo- 
gie bei Roths Erzahlfiguren ist Ergebnis auch der Selbstbeobachtung, 
was die Schlufiformel in der Legende vom heiligen Trinker ja ausdriick- 
lich betont. Kein einziger der hier zur Debatte stehenden Titel lafk die 
Gaststatten-, Bistro- oder Kneipenszene aufter acht, und gleich Die 
Beichte eines M orders fuhrt im Erzahlrahmen das Ich eines Berichter- 
statters vor, wie es sich an den ersehnten Ort des Selbstvergessens in 
Geselligkeit heranpirscht: 

»Ich trat kurz vor Mitternacht ein, mit der Absicht, einen einzigen 
Schnaps zu trinken und mich gleich darauf zu entfernen. Ich suchte mir 
also gar nicht erst einen Tisch, sondern blieb an der Theke stehen, neben 
zwei anderen spaten Gasten, die ebenfalls nur auf einen Schnaps herein- 
gekommen zu sein schienen, entgegen ihrem urspriinglichen Plan aber 
schon langere Zeit hiergeblieben sein mufiten; denn mehrere geleerte 
und halbgeleerte Glaser standen vor ihnen, dieweil es ihnen vorkommen 
mochte, daft sie erst ein einziges getrunken hatten. So schnell vergeht 
manchmal die Zeit, wenn man in einem Lokal an der Theke stehen 
bleibt, statt sich zu setzen. Sitzt man an einem Tisch, so iibersieht man in 
jeder Sekunde, wieviel man genossen hat, und merkt an der Anzahl der 
geleerten Glaser den Gang der Zeiger. Tritt man aber in ein Gasthaus 
ein, nur >auf einen Sprung<, wie man sagt, und bleibt auch am Schank- 
tisch stehen, so trinkt man und trinkt und glaubt, es gehorte noch alles 
eben zu jenem einzigen >Sprung<, den man zu machen gedacht hatte. Das 
beobachtete ich an jenem Abend an mir selbst.« 

Strategien der Selbsttauschung exerziert Roth mit seinen Hauptperso- 
nen durch und lafit sie in ihrer Desillusionierung verzweifeln oder in 
ihren falschen Traumen gnadig enden. Welch ein Monarchismus aber 
war es dann, den er tagespolitisch als Anhanger des Hauses Habsburg 
zu vertreten suchte, wahrend er dichterisch den Untergang des Vielvol- 
kerstaates immer zwingender ins Bild setzte? Der gelangweilte Hof- 
und Landadel, das Cliquenwesen des Militar- und Beamtenapparats, 
das schabige Kleinburgertum und die Gefuhlsmechanik des Volks - 
diese schauerlich-verlogene Staff age seiner Geschichte von der 1002. 
Nacbt bildet doch alles andere als ein Pladoyer fur die Wiederherstel- 
lung der in ihr sich spiegelnden Gesellschaftsverfassung. 



NACHWORT 813 

Der Spezialist fur Untergangsbeschreibungen wird aber allzu gem der 
von ihm kunstlerisch verfertigten Legendenwelt selbst zugeschlagen. 
Seine Trunksucht gilt als Flucht und Reaktion auf die katastrophen- 
trachtige Geschichtsentwicklung, sein Tod als bitteres Emigranten- 
schicksal. Zur Mitarbeit an einer Essay-Sammlung uber die Emigration 
aufgefordert, hat Roth demgegenuber noch 1937 festgestellt: »Ich habe 
Gewissensbedenken, an dem Emigrantenbuch als Emigrant mitzuar- 
beiten - im politischen Sinn >Emigrant<, alle meine Kameraden sind 
Preuflen, es ist, wie wenn ich, der ich noch einen Pafl habe und Staats- 
btirgerrechte, mich zu einem Ungliick bekennen wiirde, das mir nicht 
zugestoften ist und dessen ich nicht wiirdig bin. Nur, wenn alle Mitar- 
beiter damit einverstanden sind, dafi ich als Osterreicher mitarbeiten 
kann, ware ich dazu gewillt.« (Joseph Roth an Barthold Fles; Salzburg, 
Dienstag i.Juni 1937. - Abgedruckt bei: Madeleine Rietra: Muft man 
dann immer postwendend Geld senden, um iiberhaupt mit Ihnen ver- 
kehren zu konnen? Joseph Roth und Barthold Fles in Briefen. - In: 
Sjaak Onderdelinden [Hrsg.], Interbellum und Exil, Amsterdam / At- 
lanta, GA: Rodopi 1991, S. 212) 

Und wie zur Bekraftigung des Unterschieds zwischen Realitat und 
Dichtung skizziert Roth im gleichen Brief die Fabel vom Verlust des 
Passes und der osterreichischen Staatsangehorigkeit mit einer Titelver- 
sion seiner Kapuzinergruft: »der Mann ohne Pafi oder ein Mensch 
sucht Osterreich. Ich bin noch nicht entschlossen, das Buch genau so 
zu nennen. Die Hauptperson ist ein slowenischer Maronibrater, der, 
vor dem Krieg, jedes Jahr im Herbst in ein anderes Kronland der alten 
Monarchic geht, um seine Kastanien zu verkaufen. Im Krieg gerat er in 
Gefangenschaft und nach Sibirien. Er heiratet eine Frau aus dem Volk 
der Tschibonzen [?]. Er ist ein sehr primitiver Mensch; er lebt nahe der 
Taiga. Er erfahrt erst infolgedessen 10 Jahre nach dem Krieg, daft die- 
ser beendet ist. Er beschliefk also, nach Slowenien zuriickzukehren. Er 
ist aber kein Osterreicher mehr, kein Jugoslave, er hat keinen PafL Er 
versteht dies alles nicht. Er wachst daran und wird allmahlich das Pro- 
totyp des ewigen Juden, giiltig weit liber die Grenzen der Sukzessions- 
staaten hinaus, iiber die er geschoben wird. Es kann auch sein, daft ich 
ihn selig sterben lasse, ich weift es noch nicht.« (ebd.) 
Aus der Zeit gefallen, die Identitat verloren, ein schlichter Mensch, der 
mythische Bedeutung erlangt und ein seliges Ende findet - wieder ein- 
mal hatte der Erzahler seine Geschichte einem bevorzugten Projek- 



814 ROMANE UND ERZAHLUNGEN 

tionstypus anvertraut. Sich selbst jedoch gab der Autor nicht so schnell 
verloren. Am 8.Februar 1939 schrieb Roth aus Paris an seinen Litera- 
turagenten in den USA: »Ich bin vom P.E.N. Club eingeladen, nach 
Amerika zu kommen und ich hoffe, dafi Sie mich am Schiff erwarten 
werden. Trachten sie schon heute, moglichst viel Reklame fur meine 
Ankunft zu machen.« (ebd., S. 219). 



DANKSAGUNG 

Herausgeber und Verlag danken alien, die ihnen bei der Beschaffung 
vieler Texte von Joseph Roth geholfen und Auskiinfte und Hinweise 
gegeben haben. 

Von den Bibliotheken bzw. Instituten und ihren Mitarbeitern seien 
hier besonders genannt: 

Arbeiterkammer Wien: Dr. Eckart Friih 

Archiv des Verlags Gustav Kiepenheuer, Leipzig: Gerd Hexelschnei- 

der 

Deutsches Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum, Marbach 

a. N.: Dr. Nicolai Riedel und Reinhardt Tgahrt 

Deutsche Staatsbibliothek, Berlin/Ost 

Dokumentationsstelle fiir neuere osterreichische Literatur, Wien: 

Dr. Heinz Lunzer 

Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a.M.: 

Dr. Brita Eckert 

Galerie St. Etienne, New York, N.Y.: Hildegard Bacher und Jane Kal- 

lir 

Industrie- und Handelskammer, Frankfurt a. M. 

Institut fiir Weltwirtschaft, Kiel 

Institut fiir Zeitgeschichte, Miinchen 

Institut fiir Zeitungsforschung, Dortmund: Beate Volkenrath 

Leo-Baeck-Institute, New York, N.Y.: Dr. Fred Grubel, Dr. Sybil 

Milton, Dr. Jonathan Sperber, Dr. Diane Spielmann 

Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, Den 

Haag: Theo Bijvoet und Dr. Madeleine Rietra 

Osterreichische Nationalbibliothek, Wien 

Osterreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv, Wien 

Staatsbibliothek, Berlin/West 

Ferner sind wir zu besonderem Dank verpflichtet: 

Dr. Michael Bauer, Miinchen 

Hans Hochtberger, Miinchen 

Wolfram-Ulrich Junken, Berlin 

Katharina Ochse, Berlin 

Rainer-Joachim Siegel, Leipzig