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Full text of "Journal Für Psychologie Und Neurologie 1908 11 = Z Hypnotismus 21"

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JOURNAL 

FOR 

PSYCHOLOGY UNO NEUROLOGY 

— BAND XI 

X 

ZUGLEICH 

ZEITSCHRIFT FOR HYPNOTISMUS, BAND XXI 

HERAUSOEGEBEN VON 

AUGUST FOREL UND OSKAR VOGT 

REDIGIERT VON 

K. BRODMANN 

MIT ZAHLREICHEN TEXTABBILDUNGEN 



LEIPZIG 

VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH 
1908 


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Spauerscbe Buchdruckerei ia Leipzig. 


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Inhalts -V erzeichnis. 


Band XI. 


Abhandlungen. 

Scite 

Bielschowsky, M., Ober den Bail der Spinalganglien unter normalen und 
pathologischen Verhaltnissen. — Ein Beitrag zur Kenntnis der 
Regenerationsvorgange an Ganglienzellen und Nervenfasern. (23 Text- 

figuren).188 

Binswanger, L., Diagnostische Assoziationsstudien. XI. Beitrag: Ober 
das Verhalten des psychogalvanischen Phanomens beim Assoziations- 

experiment (Fortsetzung und Schlufi).65, 133 

Forel, A., Zum heutigen Stand der Psychotherapie. Ein Vorschlag . 266 

Gaspero, H. di, Ober das Phanomen der Makropsie als Symptom akuter 

toxischer Halluzinose.115 

Goldstein, K., Zur Lehre von der motorischen Apraxie .... 169, 270 

Hafsahl, Ober den Beginn der Silberreifung der Neurofibrillen im Riicken- 

mark der Sauger.109 

Hudovemig, K., Beitrage zur mikroskopischen Anatomie und zur Lokali- 
sationslehre einiger Gehirnnervenkerne (Nervus Hypoglossus, Vagus 

und Facialis). (II. Fortsetzung und Schlufi).26 

Janssens, G., und Mees, R. A., Ein Fall von progressiver juveniler 

Demenz (klinisch: Juvenile Paralyse 4 *).157 

Lewandowsky, M., und Stadelmann, E., Ober einen bemerkenswerten 
Fall von Hirnblutung und iiber Rechenstorungen bei Herderkrankung 

des Gehirns.249 

Mayr, E., Physikalisch-chemische Untersuchungen zur Physiologie und 

Pathologie des Riickenmarkes. (44 Textfiguren) . . . 49, 228, 284 

Mees, R. A., vgl. Janssens.157 

Rossi, O., Ober einige morphologische Besonderheiten der Spinalganglien 
bei den Saugetieren. Bemerkungen iiber die sog. Collateral- 

regeneration (31 Figuren). 1 

Stadelmann, E., vgl. Lewandowsky.249 



566637 


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Seite 


Persbnliche Bemerkungen. 

Schaffer, K., In eigener Sache. Erwiderung auf die Bemerkungen der 

Herren M. Bielschowsky und L. Huismans.96 

Huismans, L., Antwort an Herrn Karl Schaffer-Budapest.246 

Besprechungen und Buchanzeigen. 

Anton, G., Arztliches liber Sprechen und Denken.105 

Heidenhain, M., Plasma und Zelle. I. Abteilung: Allgemeine Anatomie 

der lebenden Masse. 1. Lieferung.154 

Hoche, A., Notwendige Reformen der Unfallversicherungsgesetze . . 105 

Hellpach, W., Technischer Fortschritt und seelische Gesundheit . . 247 

Karplus, J. P., Zur Kenntnis der Variability und Vererbung am Zentral- 

nervensystem des Menschen und einiger Saugetiere.105 

Lewandowsky, M., Die Funktionen des zentralen Nervensystems 106 

Oppenheim, H. und Cassirer, R., Die Encephalitis.299 

Pilcz, A., Beitrag zur vergleichenden Rassen-Psychiatrie.107 

Verworn, M., Zur Psychologie der primitiven Kunst.107 

de Vries, H., Der Mechanismus des Denkens.107 

Ziehen, Th., Die Erkennung und Behandlung der Melancholie in der 

Praxis.156 


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Journal for Psychologie und Neurologie. 

Band XI. Heft 1/2. 


Klinik fiir Nerven- und Geisteskrankheiten am Institut fur hohere Studien in Florenz. 

(Leitung: Prof. E. Tanzi.) 

Cber einige morphologische Besonderheiten der 
Spinalganglien bei den SSugetieren. 

Bemerkungen Ober die sog. Collateralregeneration. 

Von 

Dr. Ottorino Rossi, 

Assistent und Privatdozent. 

(31 Textfiguren.) 

Die Zelle der Spinalganglien, die bislang als eines der einfachsten Bildungsele- 
mente gait, lieB dagegen neuerdings seit Anwendung der Methode von R. y Cajal 
mit reduziertem Silbersalpeter eine ziemlich komplizierte Struktur erkennen, die in 
verschiedener Hinsicht eines eingehenden Studiums wiirdig zu sein scheint. Tiichtige 
Forscher sind auf diesem Gebiete mit Werken hervorgetreten, deren Wichtigkeit 
hauptsachlich darin gipfelt, daB man auf Grund der Beobachtung einiger morpho- 
logischen Besonderheiten an den Spinalganglienzellen SchluBfolgerungen ziehen 
konnte zur Stiitze der neuen Ansichten auf dem Gebiete der allgemeinen Pathologie 
des Nervensystems. Ich berufe mich hier auf die Theorie der sogenannten „ Collateral - 
regeneration ' 1 , welche, wie wir im Verlaufe vorstehender Abhandlung sehen werden, 
von Nageotte formuliert und spater von andem, namentlich Cajal angenommen 
wurde. 

Bei der Erorterung eines so interessanten Themas gewinnt jede neue Beob¬ 
achtung an Wert, um so mehr, wenn eine solche sich auf die einfache Darstellung der 
Tatsachen beschrankt, ohne das an und fiir sich schon schwierige Gebiet mit einem 
Ballast unniitzer Hypothesen zu beschweren. Ich habe mir deshalb in vorliegender 
Arbeit zum Ziele gesetzt, die Ergebnisse langjahriger Beobachtungen an einem wert- 
vollen Priifungsmateriale zusammenzufassen. Mein Zweck ist nun, in erster Linie an 
der Hand der eigenen Resultate und derjenigen anderer Forscher zu priifen, welche 
von den an den Spinalganglien beobachteten Bildungen normal, oder besser gesagt 
konstant sind, und welche mit dem oder jenem Krankheitszustande zusammen- 
hangen, und in zweiter Linie zu sehen, ob die eine oder andere dieser Bildungen 
solche Merkmale zeige, daB man sie fiir die Tragerin irgend einer Regenerationstatig- 
keit halten konnte. 

Journal (ur Psychologie und Neurologie. Bd. XI. 1 


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DR. OTTORINO ROSSI. 


Journal f. Psychologie 
und Neurologic. 


Ich werde bei Darlegung meiner Resultate ein analytisches Verfahren ein- 
schlagen, um die groBtmogliche Deutlichkeit zu erreichen. 

Nach meinem unmaBgeblichen Dafiirhalten haben die ziemlich leichten und 
sehr glanzenden mit der Cajalschen Methode erzielten Ergebnisse die zwar nicht 
so vollstandigen, aber nicht minder interessanten mit anderen Methoden erhaltenen 
Resultate vielleicht etwas zu sehr in den Hintergrund gedrangt, wie wohl selbst der 
spanische Histologe sehr viel Gewicht auf sie legte in seiner Arbeit liber die Morpholo¬ 
gic der Spinalganglienzelle; andrerseits wurden auch die Befunde, die uns die verglei- 
chende Anatomie an die Hand gibt, allzuwenig bei der allgemeinen Behandlung des 
Themas beriicksichtigt. 

Wollte ich nun diese Befunde fur sich behandeln, so gabe das Veranlassung zu 
unliebsamen Wiederholungen und hatte auBerdem den Nachteil, die Analogien und 
die Differenzen zwischen jenen und den neueren Ergebnissen weniger deutlich zur 
Anschauung zu bringen. Um diesem MiBstande so weit als tunlich vorzubeugen, 
werde ich liber jeden einzelnen Zellentypus die notwendigen Angaben machen, wobei 
ich selbst verstandlich nur jene Bildungen beriicksichtigen werde, die Bezug auf unsere 
Erorterung haben und fur die angefiihrten neuen Hypothesen von einiger Bedeutung 
sind. Ich werde mich in meiner Darstellung an die von Cajal angewendete Nomen- 
klatur halten (i). 

* * 

* 

Unter den bislang nur wenig bekannten Zellentypen hat Caj al in seiner bereits 
angefiihrten Arbeit unter der Bezeichnung von Celulas desgarradas o seniles einen 
Zellentypus beschrieben, der dem jugendlichen Alter tatsachlich abginge, sich da- 
gegen nach dem sechzigsten Lebensjahre sehr haufig vorfande. Der ProzeB, welcher 
zu diesem Zellentypus fiihrt, ist durch eine Art bogenformiger Ausbuchtung der 
Umgebung des Zelleibes gekennzeichnet, von welchem in groBerer oder geringerer 
Anzahl strahlenformige Auslaufer mit winkelfdrmigen Umrissen ausgehen. 

Bald darauf fand Marinesco(2) mittels derselben Methode Zellenelemente von 
diesem Typus in den Spinalganglien eines mit progressiver Paralyse behafteten 
Mannes, der in verhaltnismaBig jugendlichem Alter — 45 Jahr alt — starb, und 
sodann bei einem jungen Manne, welcher im Zustande einer schweren Kachexie starb 
und auBerdem mit einer RiickenmarksgeschwTilst behaftet war. 

Mir ist es gelungen, Zellen vom Typus „desgarrado“ und auch mit ,,Knopf- 
lochern" versehene peripherische Zellen in j ungen Individuen ausf indig zu machen, 
so bei einem 2ojahrigen jungen Manne, der an Pneumonie starb und, wie sich aus 
der klinischen Priifung ergab, durchaus frei von irgendwelcher krankhaften Anlage 
des Nervensystems war, sowie an einer 22jahrigen Frau, die im Verlaufe eines 
Abdominaltyphus starb, ebenso ohne Spur von einer friiheren krankhaften Anlage. 
Diese Resultate habe ich in einer meiner friiheren Arbeiten aufgefiihrt (3), wo ich 
auch die am meisten charakteristischen Formen dieser Elemente zeichnete. 

Im Verfolg meiner neueren Forschungen konnte ich auch neuerdings wieder 
die Haufigkeit dieser Anhangsel an Zellen j unger Individuen beobachten. Fig. 1 
stellt eine derartige Zelle dar, welche sich in den Ganglienpraparaten eines jungen, 
mit Dementia praecox behafteten, Mannes vorfanden. Ubrigens ist bekannt, wie als 
erster Dogiel und nach ihm Cajal und Oloriz mittels der Golgischen Methode in 


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BD. XI. HETT 112 
1908. 


BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


3 


den Spinalganglien erwachsener Saugetiere in tiberzeugender Weise Expansionen des 
Zellenkorpers nachweisen konnten, welche sie fur Protoplasmafortsatze hielten. 
Levi (4) konnte unter Anwendung der Methode mit reduziertem Silbersalpeter in der 
Spinalganglien der Chelonien Expansionen von verschiedener Form und verschiedenem 
Durchmesser beschreiben und fand sodann in einigen Teleosten, und zwar besonders 
beim Orthagoriscus mola, viele Zellenelemente, welche analoge Bildungen aufweisen. 
Ich selbst habe in der bereits angefiihrten Arbeit Zellen beschrieben und abgebildet 
(Fig. 6), welche ganz den Charakter des ,,Desgarrado-Typus“ ansich tragen, bei einem 
jungen Rind und gelangte deshalb zu der SchluBfolgerung, daB sich nach dieser Kon- 
statierung bei normalen Tieren verschiedener Klassen ganz von selbst die Bemerkung 
aufdrangt, ,,es seien diese Expansionen, die von Ca j a 1 als speziell der Senilitat zukom- 
mend und von Marinesco in einigen Krankheiten des Nervensystems beschrieben, 
von mir dagegen auch in den Ganglienzellen von jungen und nicht neuropathischen 
Individuen gefunden wurden, nicht ohne weiteres als morphologische Erscheinungen 
aufzufassen, die auf einen abnormen Status 
der Ganglienzellen hinweisen". 

Levi widmete sich weiteren Studien 
vom vergleichend-anatomischen und em* 
bryologischen Gesichtspunkte aus und 
publizierte eine Reihe von Arbeiten, in 
welchen er die konstante Anwesenheit die¬ 
ses Zellentypus mit den Expansionen be- 
statigt. Derselbe gelangt sogar auf Grund 
seiner Beobachtungen zu der wichtigen 
SchluBfolgerung, daB sowohl alle diese Ex¬ 
pansionen, wie auch der gefensterte Appa- 
rat, welchem er eine viel weitergehende 
Bedeutung alsCajal zuerkennt, indem er 
darin auch das feinste die Zellen umgebende Netzwerk einschlieBt, Gebilde von ge- 
meinsamen Ursprunge darstellten: ,,Alle stammen von Keimzellenteilen, welche in- 
folge besonderer mechanischer Einwirkungen sich vom Zellenkorper getrennt* und 
wenigstens zum Teil tiefgehende Modifikationen in ihrer Struktur erfahren haben“. 
Auch der Zweck dieser Bildungen bestande ausschlieBlich darin, die Oberflache des 
Zelleibes in entsprechender Weise zu vermehren. 

Diese Resultate bilden eine neue und wichtige Stiitze fiir die von mir beziiglich 
der pathologischen Anatomie des Nervensystems gemachte Reserve, ja dieselben 
diirften mich sogar berechtigen, dieselbe in weniger dubitative Form einzukleiden. 


GroBeres Interesse bieten jene neueren Forschungen und die Behauptungen 
einiger Autoren, welche sich auf die sogenannten ,,Knauelbildungen im Zellen- 
bereiche“ beziehen. 

Ehrlich (5) und Aronson (6) beschrieben zuerst Formen von Knauelbil- 
. dungen im Bereiche der Spinalganglienzellen. Cajal (7), dem es gelang, dieselben 
mittels der Golgischen Methode nachzuweisen, sprach die Vermutung aus, daB die- 

1* 



Fig. 1. Zelle vom Desgarradotypus. — 
Spinalganglion eines mit Dementia praecox 
behafteten jungen Mannes. 


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4 


DK. OTTORINO ROSSI. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


selben das Ende von sympathischen Fasern darstellten. Dogiel (8) gab sodann eine 
eingehendere Beschreibung von diesen Gebilden, die es in zwei Kategorien einteilte: 
die Kategorie, zu der die zellenumgebenden Nester gehoren, die aus feinen Fasern, 
sowie verschiedenen Elementen bestehen, denen er einen sympathischen Ursprung 
zuschreibt, und eine zweite Kategorie von zellenumgebenden Nestern, die von einer 
Markfaser herriihren und aus den marklosen Verzweigungen derselben bestehen. 
Die Markfaser selbst ware auf einen Hauptfortsatz der Zellen des zweiten Typus 
zuriickzufiihren, welchen er in den Ganglien beschrieb. 

Cajal( 9) unterzog das Thema einer nochmaligen Priifung, und an der Hand 
seiner eigenen Resultate und derjenigen von Dogiel beschrieb er die folgenden 
Typen dieser Bildungen. 

1. Von Knauelchen umgebene Plattenbildungen, bestehend aus einer marklosen 
Faser, welche den knaueligen Teil des Fortsatzes der Ganglienzelle umhiillt: Cajal 
konnte keinerlei Abteilungen dieser Faser entdecken, aber er vermutete deren Vor- 
handensein aus der Anwesenheit von einigen Merkmalen langs ihres Verlaufes; in 
manchen Fallen geht die Faser vom Knauelchen der einen Zelle auf dasjenige einer 
benachbarten iiber. Das solcherweise gebildete Geflecht erstreckt sich manchmal auch 
auf den, Zelleib, indem es zu einen gemischten Typus von Knauelbildung die Veran- 
lassung gibt. 

2. Zellenumgebende krampfaderartige Plattenbildungen sehr reich an Asten, 
welche um den Zelleib herumlaufen, ohne um die Knauelchen herum Spiralen und 
Verastelungen zu bilden: die feinsten Aste endigen in krampfaderartigen Expansio- 
nen: die Nester von diesem Typus finden sich bei weitem weniger haufig vor, als die- 
jenigen des folgenden Typus. Wahrscheinlich, sagt Cajal, riihren diese End- 
apparate von sympathischen Fasern her. 

3. Zellenumgebende Eichen oder Dogiel nester, welche sich nicht nur in der 
Umgebung von Zellen groBen Umfangs, sondern auch in denen von kleinem Umfange 
vorfinden. Caj al verhalt sich sehr reserviert beziiglich des Ursprungs der Fasern, aus 
denen sie gebildet sind, jedoch scheint er geneigt zu sein, auszuschlieBen, es konne 
sich um Zellen sympathischen Ursprungs handeln. Wie bereits erwahnt, ist Dogiel 
der Ansicht, daB sie die Aste der Hauptfaser seiner Zellen vom zweiten Typus ein- 
fach fortsetzten. Cajal hat mittels seiner neuen Methode das Vorhandensein dieser 
Nester bestatigt. Eben diesen Bildungen kommt nun die Benennung: ,,Dogielsche 
Nester" zu, die ihnen von Cajal zu Ehren ihres Entdeckers gegeben wurde und 
nicht den Plattenbildungen von angeblich sympathischem Ursprung, wie Nageotte 
ungenau angibt, wenn er schreibt: 

„Les pelotons en nids pericellulaires de Dogiel sont actuellement 
consideres comme les terminaisons de fibres simpathiques qui viendraient 
s’articuler avec certaines cellules des Ganglions rachidiens.“ 

Es ist von Wichtigkeit, diese Ungenauigkeit hervorzuheben, da daraus erhellt, 
daB man die Dogielschen Nester schon fiir intergangliaren Ursprungs hielt. An 
diese drei Typen von zellumgebenden Verzweigungen schlieBt sich nun ein 

4. zellumgebende Plattenbildung an, die auf die Verzweigungen des Achsen- 
zylinders der namlichen Zelle zuriickzufiihren ist. Schon Levi hatte in seiner Arbeit 
iiber die Ganglien der Chelonien feine Fortsatze beschrieben, welche vom Zelleib aus- 
gehend auf der Zellflache, jedoch immerhin auf einer beschrankten Zone, ein kompli- 


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BD. XI, HEFT 112 
1906. 


BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


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ziertes Netz bilden. Ich selbst habe in der bereits angefiihrten Arbeit, die ich der 
Versammlung der italienischen Gesellschaft fiir Pathologie (Sitzung v. 2. Okt. 1906) 
vorlegte, beim „Menschen“ in iiberzeugenderWeise dargetan, „wie der Achsenzylinder 
vor seiner klassischen Spaltung feine Nebenaste ausschicke, die ihrerseits sich wieder 
in feine Aste verteilen, welch letztere einen feinen Faserwulst bilden, der die Zelle 
selbst umhiillt". Diese Anordnung kommt in Fig. 7 der genannten Arbeit zur Dar- 
stellung. 

Diese bibliographischen Reminiszenzen berechtigen mich zu dem SchluBe, daB 
schon vor den Forschungen Nageottes betreffs der Obertragung der Ganglien zwei 
Typen von zellumgebenden Plattenbildungen intergangliaren Ursprungs bekannt 
waren, d. h. jener der Dogielschen Nester, sowie der von Levi bei den Chelonien 
bloB angedeutete und von mir mit absoluter Deutlichkeit bei den Saugetieren vor- 
gefiihrte Typus. 

SchlieBlichbeobachtete Levi beimOrthagoriscus einen anderenBau. Die Ober- 
flache der Zelle war mit einem Geflecht feiner Faserchen bekleidet, deren Herkunft 
nicht festgestellt werden konnte; dieselben anastomisierten unter sich an einigen 
Stellen und, was viel wichtiger ist, mit den der Peripherie zunachst gelegenen Balken 
der Zelle. Im Hinblick auf diese Struktur fiigt der Autor hinzu: „wenn, was ich fiir 
wahrscheinlich halte, diese feinen Faserchen den sympathischen Enden entsprechen, 
wie sie von Ehrlich, Retzius, Dogiel und Cajal an den Ganglien anderer Tiere 
beschrieben wurden, ware die Kontinuitat zwischen diesen angeblich sympathi¬ 
schen Enden und dem Protoplasma der Ganglienzellen dargetan* 

In der mehrfach erwahnten Arbeit beschrieb Caj al auch unter der Bezeichnung 
„Extrazellulare Endplatten oder Endknauelbildungen“ verworrene Geflechte von 
feinen krampfaderigen Faserchen, deren urspriingliche Faser man von markhaltigen 
Fasem ausgehen sieht. Dies sind die von der Anatomie gewonnenen Befunde, und die 
in jiingster Zeit von Nageotte (10) mittels der Methode der Ubertragung der Spinal- 
ganglien unter die Haut erzielten Resultate bilden eine wichtige Bestatigung derselben. 

Derselbe konnte mit dieser Methode in der Tat feststellen, daB verschiedene 
Arten der Plattenbildung, die sich in den Ganglien vorfinden, auf einen intergangliaren 
Ursprung zuriickzufiihren sind. Von dem Knauelchen enthaltenden Teile des Achsen- 
zylinders einer iibertragenen Ganglienzelle entstehen, schon wenige Stunden (24) nach 
der Einimpfung Fasern, welche drei Typen von Plattenbildungen darstellen: 

A . Knotige Plattenbildungen, bestehend aus Seitenasten, die von einem 
Knauelchen einer, oder mitunter mehrerer Zellen ausgehend auf jene Knotchen iiber- 
greifen, welche von subkapsularen Elementen gebildet sind, die an der Stelle einer 
zerstorten Ganglienzelle zuriick blieben. 

B. Von Knauelchen umgebene Plattenbildungen, die den von Cajal beschrie- 
benen vollstandig ahnlich sind. Ihre Aste gehen vom Knauelchen der Zelle selbst 
aus, sich um dasselbe herumwindend, mitunter auch von benachbarten Knauel¬ 
chen; diese Formen kommen ziemlich friihzeitig zum Vorschein, spater entwickeln 
sie sich und die von ihnen auslaufenden Zweige bilden den Typus: 

C. Zellenumgebende Plattenbildungen — pelotons pericellulaires —. Diese 
letzteren riihren fast immer vom Knauelchen derselben Zelle her, die sie umgeben, 
mitunter, aber seltener, von einer Nachbarzelle derselben Art, und in letzterem Falle 
zeigt die Zelle, um die sich die Aste herumwinden, wenig Lebensfahigkeit zu besitzen. 


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6 


DR. OTTORINO ROSSI.- 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Diese Ergebnisse Nageottes beziiglich der zellenumgebenden Plattenbildungen 
wiirden also den von mir beschriebenen und abgebildeten Befund, betreffend die 
Bildung von zellenumgebenden Nestem, deren Fasern vom Hauptfortsatz der Zelle 
selbst ausgehen, zu bestatigen, und dieselben zeigen auch in evidenter Weise, daB 
die Dogielschen Nester nicht von den Fasern, die von den Zellen des zweiten 
Typus dieses Autors herriihren, stammen, sondern vielmehr von den Fasern, welche 
von dem knaueligen Teile des Fortsatzes der groBen Ganglienzelle ausgehen. 

Marinesco (n), der sich auch mit dem Studium der Erscheinungen beziig- 
Jich der vibertragenen Ganglien befaBte, hat nach Nageotte, in bezug auf diese Art 
von Fortsatzen der Nervenzellen, zur Kenntnis gebracht, daB die zellumgebenden 
Nester, abgesehen von solchem Ursprung, auch gebildet werden konnen, wenn das 
Ganglium iibertragen werde auf denVerlauf eines Nerven von neugebildeten Fasern 
des Nervs selbst welche in das Ganglium iibergreifen. 

Noch groBere Aufmerksamkeit verdient jedoch die Erklarung, welche Nageotte 
beziiglich der Natur und Funktion aller dieser Strukturen gibt. Er gibt zu, daB es 
sich um eine Hypertrophie von Bildungen handle, die sich.zwar auch in normalem 
Zustande vorfanden, aber nur in kleiner Anzahl. Es befanden sich in den Ganglien 
Nervenanhangsel, die sich wesentlich darin charakterisierten, daB sie nicht dazu 
dienten, zwischen den einzelnen Nervenstrangen einen Zusammenhang herzustellen 
und daB sie in keinerlei Beziehung mit den Funktionen der Empfindung und der 
Bewegung stiinden: sie nehmen keinen Anteil an der Nervenfunktion. Diese An- 
hangsel bezeichnet Nageotte mit dem Namen „Paraphytes “. Ihre Haufigkeit 
wechselt je nach der Gattung, dem Alter, dem Gesundheitszustande des Tieres; die¬ 
selben sind nicht feststehend, sondern vermehren sich in gewissen Verhaltnissen und 
konnen anscheinend auch verschwinden. Zu diesen Paraphytes rechnet Nageotte 
auch die Fasern welche mit „Bolas“ endigen und von der Zelle herriihren. Aber 
wahrend diese, in gewissen Fallen, in Tatigkeit treten und sich vermehren konnen, 
indem sie dann zu den Erscheinungen der collateralen Regeneration Veranlassung 
geben, hatten dagegen die bisher untersuchten, welche die sogenannten Plattenbil¬ 
dungen veranlaBen, eine Ernahrungsfunktion zugunsten des gesamten Neuron: 

*11 est done probable que les arborisations des nodules residuels sont des racines k 
Paide desquelles certains neurones etendent leur champ nutritif et mettent a profit les amas 
de cellules satellites devenues sans emploi par suite de la mort de leur cellule nerveuse. 
Quant aux pelotons pericellulaires ils semblent jouer un role analogue k celui du trophos- 
pongium en augmentant la surface de contact entre le neurone et ses propres cellules 
satellites." 

Die Nageottesche Hypothese ist sicherlich geistreich, indeB will mir bei dem 
heutigen Stande der Frage ein gewiBe Reserve beziiglich derselben durchaus nicht als 
iibertrieben erscheinen. Vor allem basiert die Hypothese des franzosischen Forschers, 
was ja bei jeder logischen Beweisfiihrung als ihre schwache Seite zu bezeichnen ist, 
selbst wieder auf Hypothesen, d. h. auf derjenigen C a j als, daB zwischen denTrabanten- 
zellen der Kapsel und den Nervenelementen unter gewissen Umstanden eine wirk- 
liche Symbiosis bestehe, sowie auf jene Holmgreens, welcher den subkapsularen 
Zellen die Rolle zuweist, den Nervenzellen Nahrsubstanz zuzufiihren, oder wenigstens 
die zur Ausiibung ihrer Funktion notwendigen Erregungsmittel. Nun weiB man aber, 
daB nicht alle Autoren daruber einig sind, den subkapsularen Zellen Funktionen 


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BD. XI, HEFT 1/2 
1906. 


BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


7 


dieser Natur zuzuschreiben. Marinesco (12) z. B. glaubt, dieselben hatten lediglich 
den Zweck, die von zugrunde gegangenen NervenzeUen zuriickgelassene Liicke wieder 
auszufiillen, und auch Esposito (13) vertritt in dieser Beziehung eine ziemlich ahn- 
liche Meinung. Ca j al selbst, in seiner Arbeit iiber die Ganglien, spricht ihnen hochstens 
eine formbildende Tatigkeit auf die Zelle zu, welche sie umgeben, deren Emahrung, 
oder das Wachstum von deren Nervenfasem sie anregen. In normalen Verhaltnissen 
ware jedoch diese formbildende Tatigkeit in Schranken gehalten durch eine ,,anti- 
mitosigenea“ Substanz, d. h. eine Substanz, welche die Vermehrung der Trabanten- 
zellen maBigt und die in der Nervenzelle enthalten ware. Werin nun, wie das z. B. im 
Alter geschieht, die Nervenzelle Veranderungen erfahrt, so wiirde die besagte ein- 
schrankende Substanz bedeutend geringer, die Satellitenzellen vermehrten sich dagegen 
und regten die Nervenfasern zum Wachstum an, was die Bildung von Auslaufem im 
Zelleibe zur Folge hatte. Wenn Nageotte in ihrem vollen Umfange die hypothec 
tische Funktion annehmen will, welche Cajal den Trabantenzellen zuschreibt, so 
miiBte man z. B. im Falle der knotigen Plattenbildung sich vorstellen, daB eine 
Nervenzelle vemichtet wiirde und ihre Trabantenzellen in tatiger Weise wucherten ? 
indem sie ein Knotchen bilden, wahrend eine Nachbarzelle nur in geringfiigigerem 
Grade verandert wiirde und zwar in der Weise, daB ihre Trabantenzellen, nicht mehr 
strenge im Ziigel gehalten, die Bildung von Verastelungen hervorriefen, welche dann 
auf das restierende Knotchen zuliefen, um femer jenen Erreger zu suchen, welchen 
sie in der Nahe haben und welcher auf die Zelle selbst einwirkt, von welcher sie 
herriihren. • 

Jedoch anstatt auf diesem unsicheren Gebiete der Hypothesen zu debattieren, 
sehen wir ein wenig, welche Argumente uns die objektiven Befunde zur Beurteilung 
dieser Verhaltnisse an die Hand geben konnen. 

Nageotte, welcher diesen Bildungen die oben angegebene Bedeutung zuweist, 
gibt jedoch zu, daB sie normal seien, aber auf demselben mechanischen Wege ent- 
standen und deshalb nur in beschrankter Anzahl. 

Die an Tieren der verschiedensten Art ausgefiihrten Untersuchungen Levis 
haben dargetan, daB selbst ziemlich komplizierte Bildungen dieser Natur sich haufig 
in den Ganglien vorfinden ohne irgendwelches Anzeichen von einem krankhaften 
Zustande. Die embryologischen Untersuchungen dieses Autors haben auch in evi- 
denter Weise gezeigt, wie diese Bildungen schon friihzeitig bei der Entwicklung des 
Embryo zum Vorschein kommen. Er gelangt zu dem Schlusse, dieselben seien mit 
denjenigen analog und homolog, welche Caj al unter dem Namen gefensterter Apparat 
beschrieb. 

Beim Menschen finden sich die oben genannten Plattenbildungen in alien 
Altersstufen und bei Individuen, die mit keinerlei Krankheit des Nervensystems 
behaftet sind. 

Die von mir in Fig. 7 der erwahnten Arbeit gezeichnete Zelle gehorte einem 
Spinalganglion eines zwanzigjahrigen jimgen Mannes an, welcher an Pneumonie starb. 
Ziemlich ahnlich ist die Zelle, welche ich in vorliegender Arbeit unter Fig. 2 zur 
Darstellung bringe und die sich in einem anderen Abschnitte desselben Ganglion be- 
findet. Seitenaste des Achsenzylinders der Ganglienzelle, welche sich zu einem 
Perizellulargeflecht vereinigen, von dessen Fasern einige in einen Knopf auslaufen, 
kann man auch bei Fig. 3 beobachten, welche von dem Ganglion einer mit 22 Jahren 


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DR. OTTORINO ROSSI. 


Journal f. Psychologic 
and Neurologic. 


an Abdominaltyphus verstorbenen Frau herriihrt. Ein Netzwerk von aus der Um- 
gebung derZelle selbst entsprungenenAsten ist in Fig. 4 gegeben, und solches findet 



Fig. 2. Zelle mit pericellularer 
Knauelbildung von Asten gebil- 
det, die vom Hauptfortsatz der 
Zelle selbst ausgehen. — Vom Gang¬ 
lion eines 2ojahrigen jungen Man¬ 
nes, der an Pneumonie starb. 



sich in einem Ganglienpraparat derselben 
jungen Frau. Ein anderes Ganglienpraparat 
derselben Person bringt Fig. 5 zur Anschau- 
ung, wo man sehen kann, wie die Faserchen, 
entstanden aus dem Fortsatze der tiefer liegen- 
den Zelle, die in ihrer Struktur auch zieinlich 
verandert erscheint, zusammenlaufen, um ein 
Netz zu bilden, welches die hoher liegende Zelle, 
die in besserem Zustande sich befindet, umgibt. 
Ebenso aus Fasem entsprungen, die nicht von 



Fig. 4. Pericellulametz aus Asten 
gebildet, welche aus dem Umkreis 
der Zelle entspringen. — Ganglion 
eines 22jaiirigen Mannes. 


Fig. 3 . Zelle mit Pericellularnetz, das aus dem Anfangs- 
teile des Fortsatzes der namlichen Zelle hervorgeht. — 
Ganglion eines^22 jahrigen Mannes. 


derselben Zelle stammen, ist jenes elegante Netz, das wir in Fig. 6 eine wohl- 
erhaltene Ganglienzelle umgeben sehen. Das Praparat stammt von dem Ganghon 


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BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


9 


BD. XI, HEFT 1/2 
. 1908. 


eines mit Dementia praecox behafteten Mannes, der mit 40 Jahren an Lungen- 
tuberkulose starb. Fig. 7 veranschaulicht die netzartige Bildung um den Pol einer 
Ganglienzelle von einem an progressiver Paralyse verstorbenen Individuum; viele 
Aste endigen mit kleinen Massen, und andere vereinigen unter sich groBere An- 
haufungen, auf deren wahrscheinliche Bedeutung ich zuriickkommen werde. 



Fig. 5. Pcricellularaetz das mit zwei Zellen Fig. 6. Pericellularnetz von extracellularen Fa¬ 
in Verbindung steht. — Ganglion eines 22 jah- sern herriihrend. — Ganglion eines 40 jahrigen, 
rigen Mannes. mit Dementia praecox behafteten Mannes. 


Auch bei Fig. 8, die gleichfalls dem Ganglienpraparat eines Paralytischen ent- 
stammt, beobachten wir den Anfang eines Perizellularnetzes, das aus den Veraste- 
lungefi des knaueligen Teiles des Achsenzylinders entspringt. Einige Aste endigen in 
groBe Stabe. 

Auch bei Fig. 9 beobachten wir ein elegantes Perizellularnetz. Die dasselbe 
zusammensetzenden Aste gehen von den groBen Fasern seiner Umgebung aus. Auch 
diese Abbildung wurde dem Ganglienpraparate eines Paralytischen entnommen. 
Die Fig. 10 zeigt drei von dichten und unentwirrbaren Perizellularnetzen umgebene 
Zellen, wobei die Aste eines Netzes in das andere iibergehen, zuweilen dem Verlaufe 
eines Achsenzylinderteiles folgend. Auch dies ist ein Praparat vom Ganglion eines 
Paralytiker. 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Ein reiches Geflecht, teils in der Nahe, teils in der Umgebung der Zelle gelegen, 
ist das in Fig. n abgebildete, das dem Ganglienpraparate eines 75jahrigen Mannes 
entstammt. 



Fig. 7. Netzartige Bildung mit Bolas. — Ganglion cines mit Paralysis progressiva 

behafteten Individuums. 


Die in Fig. 12 dargestellte Zelle, die verschiedene Anhangsel aufweist, schickt 
von einem derselben eine zarte und lange Faser aus, die sich hinter einer kleineren 
Zelle teilt. Auch sie findet sich im Ganglion eines Greises. 



Fig. 8. Pericellulare Verzweigungen, von dein Fig. 9. Periccllulare Knauelbildung. — 
knaueligen Teile des Achsencylinders der Gang- Ganglion eines Paralytikers. 

lienzelle herruhrend. — Ganglion eines Paraly¬ 
tikers. 


Einen FensterungsprozeB des sehr zarten und eleganten Zelleibs in der Weise, 
daB der Anschein eines weitmaschigen Netzes erweckt wird, bringt die in Fig. 13 
abgebildete Zelle zur Anschauung, ebenfalls dem Ganglienpraparate eines Greises 
entstammend. 


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und Neurologie. 


Endlich zeigen Fig. 14 und 15 komplizierte Verzweigungen, welche sich sehr 
haufig in den Spinalganglien vorfinden. Plattenbildungen, welche den von Na- 
geotte unter dem Namen knotige Plattenbildungen, sowie von Cajal unter dem von 
extrazellularen Endplattenbildungen. 

Die perizellularen Plattenbildungen finden sich demnach in den Ganglien aller 
gepriiften Tiere, sie sind konstant und nach meinen Beobachtungen bei dem Men- 
schen in den verschiedenen Lebensaltern gleich zahlreich und gleichmaBig entwickelt, 



Fig. 12. Zelle welche eine Faser ausschickt, Fig. 14. Extracellulare Knauelbildung. 

welche in der Umgebung einer anderen Zelle 
endet. — Spinalganglion eines Greises. 


noch erweisen sich ihre Haufigkeit und ihre Entwicklung speziell an irgend eine 
Krankheit gebunden. — 

Ferner habe ich aus meinen Praparaten, von denen ich eine erhebliche Anzahl 
priifte, ein anderes wichtiges Ergebnis gewonnen, daB namlich, besonders in den 
Ganglien junger Individuen, selbst wenn die Plattenbildungen in reichlichem MaBe 
vorhanden waren, sich keine Vermehrung der Trabantenzellen zeigt und im Einklang 
mit den extrazellularen Plattenbildungen sich kein restierendes Knotchen vorfindet. 

Solche Ergebnisse konnten einen wohl zu der Ansicht verleiten, alle diese 
Strukturen als normal anzusehen, ohne sich weiter um die Losung des noch schwe- 
benden Problems ihrer Funktion zu kiimmern. 

Nageotte macht jedoch zur Unterstiitzung seiner Thesis darauf aufmerksam, 
daB bei tJberimpfung der Ganglien die fraglichen Bildungen in viel groBerer Anzahl 
und mit groBeren Komplikationen zum Vorschein kamen, als unter normalen Ver- 
haltnissen. In der Tat sind einige von meinen Abbildungen, die sich auf junge und 


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BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


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BD. XI, HEFT 112 
1906. 


nicht neuropathische Individuen beziehen, ziemlich kompliziert. Sodann darf man 
nicht vergessen, daB die angewandte Methode, die im wesentlichen auf einer Metall- 
impragnation beruht, wie alle derartigenMethoden, ziemlich verschiedene Resultate 
liefern kann, je nach dem Zustande, in dem sich das Gewebe befindet, an welchem 
man die Probe vomimmt. 

Es ware ja leicht moglich, und eine solche Annahme ist weder unwahrscheinlich 
noch unlogisch, daB, wenn die Mehrzahl der Ganglienzellen sich im Zustande groBer 
Veranderung befinden, die fraglichen Fasern in Verhaltnissen sein konnten, welche 
die Impragnierung mit dem Silbersalz begiinstigen, und sie fur die nachfolgende Ein- 
wirkung des Reduzenten mehr aussetzten. Diese Vermutung wird von den Beob- 




Fig- Extracellulare Knauel- Fig.1i6. Gbertragung des Ganglion auf den Verlauf 

bildung. des N. Ischiaticus. Die Figur zeigt das Eindringen 

von zarten, marklosen Fasern, die dem Nervus ent- 
stammen, in das Ganglion und die Teilnahme an der 
Bildung pcricellularer Knauelbildungen. 


achtungen namhafter und erfahrener Forscher bestarkt. Caj al sagt in seiner erwahn- 
ten Monographic, wo er auf die ,,ovillos“ zu sprechen kommt: 

„La distancia entre dichas arborizaciones y el protoplasma del corpusculo sensitivo 
se hace enorme en las celulas desgarradas 6 seniles en las cuales se impregnan bastante 
bien las referidas fibras nerviosas: le que, dicho sea de pasada, demonstra la gran resis. 
tancia de las mismas a la degeneracidn, y la ninguna influencia que sobra ellas ejercen 
las celulas satelites.* 

Veratti sagt in seinem Berichte iiber einige von ihm ausgefiihrte Versuche, in 
den Spinalganglien aseptische Verletzungen hervorrufend, worauf wir spater 
noch zuriickkommen werden: ,,die Faserapparate impragnieren sich in den verletzten 
Ganglien viel leichter, als in den normalen Ganglien". 

Nageotte jedoch will bei Anstellung seiner Beobachtungen an iibertragenen 
Ganglien in aufeinander folgenden Zeitraumen die Entwicklung dieser Plattenbil- 
dungen wahrgenommen haben. Wiewohl auch ich derartige Beobachtungen angestellt 
habe, ist es mir nicht gelungen, diese Tatsache mit Sicherheit festzustellen. Natiir- 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologie. 




lich werden in den seit drei oder vier Tagen ubertragenen Ganglien die Plattenbil- 
dungen mitunter komplizierter sein, als in den erst seit kiirzerer Zeit ubertragenen, 
aber man muB auch erwagen, daB mit dem Verlaufe der Zeit die Nervenzellen sich 
immer mehr verandern, und dies bringt uns wieder das oben geauBerte Bedenken in 
Erinnerung, daB ein reichlicheres Auftreten der Netze der Anderung in den Verhalt- 
nissen zuzuschreiben sei, welche die Impragnierung beeinflussen konnen. 

Auf Grund all dieser Erwagung bin ich der Ansicht, ohne einem iibertriebenen 
Skeptizismus zu huldigen, man miiBe erst noch neue Tatsachen abwarten, bevor man 
eine Entscheidung fallen konne beziiglich 
der Funktion, welche diese Perizellular- 
netze ausiiben. 

Was sodann die Frage der ubertra¬ 
genen Ganglien betrifft, so kann ich Mari - 
nescos Befund bestatigen, daB bei Vor- 
nahme der Cbertragung auf den Verlauf 
eines Nervs, neugebildete Fasern dieses 


Fig. 17. Pericellulametz von sehr feinen, Fig. 18. Netz von feinen, varikosen Fasern ge- 
vaxikosen Fasern gebildet, deren Ursprung bildet. — Ganglion eines 80 jahrigen Mannes. 
nicht wahrzunehmen ist. — Ganglion eines 
20 jahrigen Mannes. 


letzteren in den Ganglion eindringen und um seine Zellen herum komplizierte Netze 
bilden, oder wenigstens zu deren Bildung beitragen konnen. Auf Fig. 16, gewonnen 
vom Praparat eines Ganglions, welches auf den Verlauf des Nervus ischiaticus 
desselben Tieres (Hund) iibertragen und nach zehn Tagen wieder entfernt wurde, 
bemerkt man viele Faserchen des Nervenstammes gegen einen fremden Ganglion 
umbiegen und nach Auffindung eines Punktes, wo die Umhiillung dieses eine Unter- 
brechung zeigte, in denselben eindringen unter Bildung eines unentwirrbaren Netzes 
um die Zellen herum, bei welchem es nicht moglich ist, die Aste extragangliaren 
Ursprungs von denen zu unterscheiden, welche von den verschiedenen Elementen 
des Ganglion selbst herriihren. 

SchlieBlich wurden in den menschlischen Ganglien mittels der Methode Cajal 
noch Plattenbildungen von Zellen von einem anderen Typus zur Anschauung ge- 


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190& 


BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


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bracht, welche von sehr feinen, oft krampfaderartigen Fasern gebildet sind, und deren 
Ursprung nicht festzustellen ist, so daB nur die Vermutung iibrig bleibt, es handle 
sich um diejenigen, die als sympatischen Ursprungs beschrieben wurden. In den 
Fig. 17 und 18 sind zwei von diesen Netzen abgebildet: das eine gezeichnet nach dem 
Ganglienpraparat eines 2ojahrigen Individuums, das andere nach dem eines 8ojah- 
rigen Mannes. 

* * * 

Nun wollen wir zu einer eingehenden Besprechung der sogenannten „Colla- 
teralregeneration “ iibergehen. 

Cajal hat in seiner schon des ofteren zitierten Arbeit in den Ganglien in evi- 
denter Weise eine morphologische Besonderheit zur Kenntnis gebracht, die schon 
von Huber beobachtet und von Barker in seiner Abhandlung angefiihrt wurde. 
Es handelt sich darum, daB von dem Umkreis der Zelle oder von dem Fortsatz der 
Ganglienzelle feine Fasern entspringen, die in eine kugelformige Schwellung auslaufen, 
welche von dem spanischen Autor mit dem Namen „bola“ bezeichnet wurde. Von 
diesen Expansionen kann man drei Hauptkategorien unterscheiden. 

A . Elemente, bei welchen die Endanhangsel mit den Schwellungen unter der 
Kapsel stehen. 

B. Elemente, deren Anhangsel mit den Bolas auBerhalb der Kapsel, manchmal 
in groBer Entfernung, endigen. 

C. Gemischte oder Ubergangstypen. 

Cajal verhalt sich beziiglich der Erklarung dieser Bildungen, bei denen er 
keine Fibrillstruktur nachweisen konnte, sehr reserviert, und spricht nur als Kon- 
jektur die Vermutung aus, es konnten Organe sein, die zu jenen Apparaten gehorten, 
die sich zur Ausiibung einer gewissen Kenaestetischen Funktion oder der Sensibilitat 
eigneten, deren sich die Spinalganglien bedienten und mittels welcher sie der Zelle 
und femerhin dem Riickenmark irgend eine besondere Erregung zufiihren konnen, 
welche bestimmt ist, die sympathische Nervenanordnung der BlutgefaBe zu regeln. 

Spater gelang es Levi, zuerst bei den Chelonien und sodann bei den Sauge- 
tieren, die Fibrillarstruktur dieser Bolas iiberzeugend nachzuweisen, was sich nach 
dem Autor nicht gut mit der Cajalschen Hypothese vertragt. 

Die originellste und verlockendste Hypothese beziiglich der Bedeutung dieser 
auf eine Schwellung auslaufenden Expansionen ist jedoch diejenige, welche wir 
Nageotte (14) verdanken. Da er seine Beobachtungen an den Ganglien von 
Tabischen vornahm, gewahrte er, daB diese Bildungen sich in weit groBerer Anzahl 
in den Ganglien dieser Patienten vorfanden, als in denen normaler Individuen. Dieser 
Umstand, sowie die morphologischen Analogien, welche diese Bildungen mit jenen 
gemeinsam haben, die sich in den peripherischen Nerven nach dem Schnitte vorfinden, 
bestimmten ihn zu der SchluBfolgerung, dieselben seien der Exponent einer speziellen 
Regeneration mit eigenem Charakter, welcher er den Namen Collateralregeneration 
beilegte, um schon mit dem Appellativum den Unterschied anzuzeigen, der sie von 
der Endregeneration scheidet, welch letztere eintritt, wenn ein Nervenfortsatz unter- 
brochen wird. Die morphologischen Einzelheiten dieser Regeneration kann man in 
der Arbeit Nageottes nachlesen und abgebildet finden, und es ware darum iiber- 
fliissig, dieselben hier vorzufiihren. Ich mochte hier nur in Erinnerung bringen, wie 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


16 


der Autor selbst einraumt, daB diese Regeneration ihren Zweck nicht erreicht. Auch 
in den Fallen, in denen die mit den^Bolas endigenden Fasern sehr zahlreich sind, 
drangen sich dieselben am Markpol des Ganglion zusammen, iiberschreiten aber nie 
den Herd der neuritis radicularis. 

Diese Bildungen kommen, wie Nageotte sich auBert, auch unter normalen 
Verhaltnissen vor, jedoch in weit geringerer Anzahl und sind als Versuche zur Rege¬ 
neration aufzufassen, welche die Zelle den Faktoren entgegensetzt, welche sie auszu- 
beuten streben. 

Spater versetzte Nageotte in seiner Arbeit iiber die iibertragenen Ganglien 
auch diese Expansionen in die Kategorie der Paraphyten: dieselben hatten unter 
normalen Verhaltnissen keine besondere Funktion, aber sobald das Bediirfnis einer 
Reparatur eintritt, vermehrten sie sich ins Unendliche. Auch die Fasern, welche aus 
dem Zentralstumpf eines abgeschnittenen Nervs entspringen, sind Paraphyten, ahn- 
lich denen der Ganglien. Jene von den Fasern sodann, welche Nervenkonnexe herzu- 
stellen fahig sind, verwandeln sich in „Orthophyten “, d. h. in Fasern mit Nerven- 
funktion. Diese Umwandlung vollzieht sich wahrscheinlich niemals bei der Tabes. 

Priifen wir nun in Kiirze die Ansichten und die Tatsachen, auf welchen 
Nageottes neue Hypothese beruht, welcher Cajal (15) selbst seine schwerwiegende 
Zustimmung gab, und die auchDejerine und Thomas (16) anzunehmen scheinen. 

Vor allem nimmt Nageotteals bewiesen an, daB die in Schwellungen endigen¬ 
den Fasern in den Nervennarben lediglich den Ausdruck eines Vorganges regenerati- 
ver Natur darstellten. Allein in Wirklichkeit haben einige von den im Studium der 
Nervenregeneration kompetentesten Autoren, wie z. B. Perroncito (17) in dieser 
Hinsicht noch einiges Bedenken, zumal wenn man sich die Tatsache vergegen- 
wartigt, daB Bildungen von solchem Aussehen und manchmal mit offensichtlicher 
Fibrillarstruktur sich am zentralen Endpunkt der Fasern des peripherischen Stumpfes, 
Welche der Entartung verfallen sind, befinden. 

Cbrigens deutet Cajal in einer seiner neuesten Arbeiten iiber diese Sache die 
Formen, die sich in dem peripherischen Stumpfe befinden, als einen Regenerations- 
versuch, der sodann miBgliickt. 

Wenn wir jedoch unter Beobachtung der namlichen Kriterien, die uns bei der 
Erorterung der perizellularen Knauelbildungen leiteten, fortfahren, miissen wir hier 
in Erinnerung bringen, wie aus den Studien Levis hervorgehe, daB diese mit Bolas 
versehenen Anhangsel sich bei vielen Tieren finden und schon in einer ziemlich friihen 
Periode ihrer ontogenetischen Entwicklung zum Vorschein kommen. Dieser Autor 
hat eine Reihe von Tatsachen in evidenter Weise zur Kenntnis gebracht, die ihn zu 
der SchluBfolgerung veranlaBten, daB die Fasern mit keulenformigen Enden und ge- 
fenstertem Appar&te des Achsenzylinders analoge Bildungen sind und aller Wahr- 
scheinlichkeit nach einen einzigen Zweck verfolgen. Nun widerspricht aber, wie Levi 
bemerkt, die Art, wie die Fensterung vor sich geht, der Hypothese Nageottes iiber 
die Collateralregeneration. 

Femer geht noch aus Levis Studien hervor, daB in den Gehirnganglien der 
Primaten fast alle Zellen keulenformige Anhangsel oder eine Fensterung auf- 
weisen, und in diesem Falle fiihrte, wie Levi schreibt, die Nageottesche Hypo¬ 
these zu der logischen Konsequenz, daB fast alle Zellen jener Ganglien, selbst unter 
normalen Verhaltnissen, sich in einem Zustande der tatigsten Regenerationsprozesse 


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BD ' XI i906?^ 1/2 BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 

befinden miiflten. Wenn wir auch von der Unhaltbarkeit einer derartigen Vermu- 
tung ganz absehen, konnte man wohl annehmen, daB diese hypothetischen Regenera- 
tionsprozesse die gleiche Intensivitat bei jungen Individuen, wie bei solchen in vor- 
geriicktem Alter auBerten“. 

Wenden wir uns sodann wieder dem Gebiete der menschlichen Pathologie zu, 
so ist schwer zu begreifen, wie diese Vorgange regenerativen Charakters ihre groBte 
Intensivitat gerade in jenen Krankheiten, welche, wie die Tabes und die progressive 
Paralyse, einen verhangnisvollen und nicht regredierenden Verlauf haben. Ubrigens 



Fig. 19. Anhaufung von Fasern mit End- Fig. 20. Anhangsel mit Endkeulen. — 

und Seitenbolas. — Ganglion eines Para- Ganglion eines mit Dementia praecox 

lytikers. behafteten Mannes. 


kann man auch bei Individuen, welche nicht mit diesen Krankheiten behaftet sind, 
derlei Bildungen in groBer Anzahl antreffen. 

Auf Fig. 19 kommt ein Stuck vom Polarteile des gegen das Mark zu gelegenen 
Ganglions eines mit progressiver Paralyse behafteten Indiyiduums zur Darstellung. 
Es finden sich hier Fasern mit Schwellungen in groBer Anzahl, von denen die eine 
oder andere nicht gegen das Mark, sondern gegen den Ganglion gerichtet ist. Etwas 
kugelige Masse findet sich auch nicht an dem auBersten Ende, sondern an dem Ver- 
laufe einer Nervenf&ser. 

Zahlreich sind ebenfalls die mit einer Keule endigenden Anhangsel in dem 
Praparate, von dem ein Stuck in Fig. 20 wieder gegeben ist, und welches von den 
Ganglien eines vierzigjahrigen Individuums, behaftet mit Dementia praecox, 
stammt. 

Ubrigens kommen in den Ganglien der Greise, wie auch in denen der Paraly- 
tischen oft Fasern vor, die in Massen endigen und mitunter auch eine Fibrillarstruktur 

Journal fur Psychologic und Neurologic. Bd. XI. 2 


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DR. OTTORINO ROSSI. 


Journal f. Psychology 
und Neurologic. 


aufweisen. Es ware jedoch bei diesen zum mindesten unklug, ihnen die Bedeutung 
von regenerativen Vorgangen zuzueignen lediglich auf Grund eines morphologischen 
Kriteriums. 



Fig. 21. Fasern, die mit Substanz- Fig. 22. Die gleichen Bildungen um eine Ganglien- 

massen fibrillarer Struktur endigen. zelle eines 75jahrigen Mannes. 

— Ganglion eines Paralytikers. 


Derartige Fasern finden wir in Fig. 21 (vom Ganglion eines Paralytikers), 
sowie diejenigen, welche die Zelle umgeben auf der Fig. 22 (vom Ganglion eines 



Fig. 23. Achsencylinder auf dem Wege der Degenerierung; SchluBentfaserung. — 

Ganglion eines Greises. 


75jahrigen Mannes). In der schon erwahnten Fig. 7 habe ich ein Netzwerk wieder- 
gegeben, das aus feinen Fasern zusammengesetzt ist, welche Massen von verschie- 
dener Form untereinander verbinden. Konnte es sich hier nicht um einen Fall han- 


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BD. XI, HEFT 1/2 
190a 


BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


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deln, der Analogien mit jenem hat, den Cajal bei dem peripherischen Stumpfe der 
abgeschnittenen Nerven unter der Bezeichnung ,,Zentralfasertypus umgeben von 



Fig. 24. Keulcnfdrmige Anschwellung mit laxer, netzformiger Struktur uber einem Achsen- 
cylinder, — Ganglion eines Paralytikers. 

nekrotischer Hiille“ beschrieb, und welcher hier ein anderes Aussehen annimmt in- 
folge des Umstandes, daB der knauelige Teil des Ganglienzellenfortsatzes kein Mielin 
noch eine Scheide besitzt, so daB die nekrotische Substanz nicht an Stelle verbleibt? 



Fig. 25. Anschwellung mit fibrillarer Struktur im Verlauf eines Achsencylindcrs. — 

Ganglion eines Greises. 

Ahniiche oder identische Erscheinungen mit denjenigen, welche sich in dem 
peripherischen Nervenstumpfe und in Beziehung mit Fasern, die der Entartung ver- 
fallen sind, vorfinden, kommen in den Fig. 23, 24 und 25 zur Darstellung, 


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BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


21 


BD. XI, HEFT 1/2 

190a • 

Da ich nun auch die mit geschlossenen Ringen endigenden Fasern erwahnt habe, 
welchen Bildungen Perroncito einigen Wert beilegt als Ausdruck eines regenerieren- 
den Vorgangs, so mochte ich nochmals betonen, daB bei den zahlreichen und kom- 
plizierten Knauelbildungen, welche die Ganglienzellen umgeben, ich in den von mir 
gepriiften Zellen niemals in deutlicher Weise diese spezielle Endungsart wahrnehmen 
konnte. 

Um jedochwieder zuder AuffassungNageottes zuriickzukommen, will esmir 
bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse in der Sache bediinken, dieselbe sei nur 
als eine Hypothese anzusehen, die viele schwache Sei ten darbietet und die mit vielen 
der bekannten Tatsachen nicht in Einklang steht. 

Jedoch auch bei der Annahme der Auffassung, die mit den Bolas endigenden 
Fasern seien das Produkt eines Versuches von Neubildung unter besonderen Ver- 
haltnissen — ich wende absichtlich nicht das Wort Regeneration an, welches einen 



Fig. 28. Purkinjezelle in deren Nahe sich zwei in Bolas auslaufende Fasern befinden. 

bestimmten Begriff von Zweck und Nutzen involviert — konnte man immerhin diese 
Erscheinungen doch nicht mit denjenigen vergleichen, welche sich in dem Zentral- 
stumpfe eines abgeschnittenen Nervs abspielen, sondem vielmehr mit denjenigen 
an dem peripherischen Stumpfe, d. h. mit jenen Erscheinungen, die sich aus der 
Degenerierung verfallenen Elementen entwickeln, und denen auch Caj al keine hohere 
Rolle zugeschrieben hat, als die eines verungliickten Versuchs zur Regeneration. 

Bei einer solchen Erklarungsweise der in Frage stehenden Tatsachen kommt 
auch die schon von Levi gemachte Einwendung wieder vollauf zu ihrer Geltung, 
welcher ihre regenerierende Bedeutung in Zweifel zieht wegen ihres reichlichen Vor- 
handenseins in friiheren Entwicklungsphasen. Man konnte in der Tat nicht be- 
greifen, wie eine Bildungsart schon in der Fotalperiode zum Vorschein kommen und 
dann sich das ganze Leben hindurch erhalten sollte, die doch zu keinem positiven 
Regenerationsergebnisse fiihren konnte. 

Nageotte brachte zur Stutze seiner Auffassung von der Collateralregeneration 
in Erinnerung, daB Cajal auch in dem Kleinhim von Hunden in Bolas auslaufende 


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Journal f. Psychol ogie 
und Neurologie. 


Fasern fand, denen es zufolge dem, was er art Nageotte schrieb, und im Gegensatz 
zu seinen friiheren Behauptungen, einen pathologischen Charakter zuerkenne. In 
Fig. 28 sind solche auf Bolas auslaufende Fasern, die sich in der Nahe einer Purkinje- 
zelle befinden, dargestellt. Das Praparat wurde dem Kleinhirn eines mit progressiver 
Paralyse behafteten Individuums entnommen. 



Fig. 29. Fig. 30. 

Endmassen im Riickenmarke eines Paralytikers. Endmassen im Riickenmarke eines Greises. 


Eine fernere Stiitze findet N ageotte in der Tatsache, daB sich im Riickenmark 
Anhaufungen von kugelformigen Substanzmassen vorfinden, die oberhalb von feinen 
und mittleren Fasern des Nervennetzes der vorderen und hinteren Horner liegen; 
solche finden sich besonders langs des vorderen Randes der vorderen Horner, konnen 

aber auch in anderen Gebieten 
der grauen Substanz vor- 
kommen. 

Die Bemerkung Nage- 
ottes ist richtig. Fig. 29 stellt 
einen Schnitt vor , wo sich solche 
Bildungen zahlreich vorfinden. 
Das Praparat entstammt dem 
Riickenmarke eines mit pro¬ 
gressiver Paralysis behafteten 
Individuums. 

Fig. 31. Gefugte Fasern, die in kleine Bola auslaufen. Identische Bildungen 

finden sich jedoch auch und 
zwar ziemlich haufig im Riickenmarke von Greisen, und weisen dieselben die 
namliche Topographie auf. Auf Fig. 30 findet sich eine Zeichnung derselben. 
(Dem Riickenmarke eines 67jahrigen Greises entnommen.) 

Aber zum Unterschied von Nageotte nehme ich keinen Anstand, diesen Bil¬ 
dungen einen degenerativen Charakter zuzuschreiben, sei es nun auf Grund ihres 
Aussehens, sei es mit Riicksicht auf die Gewebeverhaltnisse, in denen sie sich be- 



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23 


BD. XI. HEFT 1/2 

loos. 


BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLlEN. 


finden; dieses Gewebe tragt namlich alle Eigenschaften einer tiefgehenden Veranderung 
an sich. Bei Greisen kann man sehr leicht Anhaufungen dieser Bildungen in jenen 
Bezirken atrophischer Verdiinnung (Sof t e n i ng-Lichtungsbezirke) wahrnehmen, wel- 
che um die durch den arteriosklerotischen ProzeB veranderten GefaBe herumstehen. 

Unter den gefugten Fasern des Riickenmarkes findet man dagegen mitunter 
feine Fasern, glatt in ihrem ganzen Verlaufe, welche in kleine, regelmaBige Knopfe 
endigen, und nach verschiedenen Richtungen hin verlaufen. Diesen will ich jedoch 
keinerlei Bedeutung zuschreiben, da es mir geniigt, hier die Tatsache erwahnt zu 
haben, welche ich in Fig. 31 zur Darstellung bringe, wobei ich noch bemerke, daB 
das Praparat vom Riickenmarke eines mit progressiver Paralyse behafteten Indi- 
viduums herriihrte. 


Literaturverzeichnis. 

1) S. R. Cajal: Tipos celulares de los ganglios sensitivos del Hombre y Mamiferos. — Trabajos 

del Lab. de laves. Biologicas de la Univ. de Madrid T. 4—F. I—2 — pag. I, 1905. 

2) M. G. Marinesco: Quelques recherches sur la morphologic normale et patbologique des 

cellules des ganglions spinaux et sympathiques de l’homme. Le Nevraxe — V. 8 — F. 1. 

3) O. Rossi: Intorno ad alcune particolaritk morfologiche delle cellule dei gangli spinali nei 

Mammiferi. 

— Comunicazione alia IV» riunione della Society Italiana di Patologia 1—4 ottobre 1906 — Atti 

di detta riunione (Pavia — Tip. Cooperativa) — e — Bollettino della Society Medico 
Chirurgica di Pavia — 1906 —.No. 4. 

4) S. Levi: La struttura dei ganglii cerebro spinali dei Chelonii. — Monitore zoologico Italiano. 

A. 17 — No. 4 — 1906 — pag. 112. 

— Ulteriori osservazioni sulla struttura dei ganglii spinali. — Lo Sperimentale A. 40 — 2 — 1906. 

— La struttura dei ganglii cerebro spinali nei Selaci e nei Teleostei. — Monitore zoologico Ita¬ 

liano. A. 17 — No. 8 — 1906 — pag. 242. 

— Ricerche comparative sui ganglii cerebro spinali. — Atti della IVa Riunione della Soc. Ital. di 

Patologia — pag. 186. 

— Struttura ed istogenesi dei ganglii cerebro spinali nei Mammiferi. — Anat. Anzeiger Bd. 80(1907) 

Nr. 7—8 S. 180. 

— Intorno alia cosidetta rigenerazione collaterale dei neuroni radicolari posteriori. — Monitore Zoo¬ 

logico Ital. A. 18 — No. 4 — pag. 89. 

— Di alcuni problemi riguardanti la struttura del sistema nervoso. — Archivio di Fisiologia V. 4 — F. 

4 — 1 9 ° 7 * 

5) Ehrlich: Cber die Methylenblaureaktion der lebenden Nervensubstanz. — Deutsche med. 

Wochenschr. Nr. 4, 1886. 

6) Aronson: Beitrage zttr Kenntnis der zentralen und peripheren Nervenendigungen. Inaug.- 

Dissertation. Berlin 1886. 

7) S. R. Cajal: Sobra la existencia de terminaciones nerviosas pericelulares en los ganglios 

nerviosos raquidianos. Barcelona 1890. 

8) Dogiel: Der Bau der Spinalganglien bei den Saugetieren. — Anat. Anzeiger 1896. 

9) S. R. Cajal: El sistema nervioso del Hombre y de los Vertebrados. — 2 F. 

10) J. Nageotte: Recherches experimentales sur la morphologie des ceUules et des fibres des 

Ganglions rachidiens. — Revue neurologique No. 8 (Aprile 1907), pag. 367. (Avec l’enume- 
ration des travaux anterieurs.) 

— Note sur l’apparition precoce d’arborisations pericellulaires etc. — C. R. de la Soci£t£ de Bio- 

logie — 13 Aprile 1907 — pag. 580. 

11) M. G. Marinesco: Quelques recherches sur la transplantation des Ganglions Nerveux. — Revue 

neurologique No. 6 — 1907 — pag. 241. 

— Quelques mots a propos du travail etc. — Revue neurologique No. 11 — 1907 — pag. 538. 

12) — Mecanisme de la senilite et de la mort des cellules nerveuses. Academie des Sciences. 

Aprile 1900. 


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*4 


DR. OTTORINO ROSSI." 


Journal 1 Psychologic 
and Nearologie. 


— Etudes histologiques sur le mecanisme de la senilite. Revue generale des Sciences 1904. 

13) Esposito: La Neuronofagia. Atti del Manic, interprov. Vitt. Em. n — Nocera In- 

feriore. 

14) J. Nageotte: Note sur la presence des massues d’accroissement dans la substance grise de 

la moelle etc. — C. R. de la Soc. de Biologie 12 Maj 1906. 

— Regeneration collat^rale de fibres nerveuses terminees par des massues de croissance, a Tetat 

pathologique et a l’etat normal; lesions tabetiques des racines medullaires. — Nouvelle Icono- 
graphie de la Salpetri£re A. 19. No. 3 — 1906 — pag. 217. 

15) S. R. Cajal: Die hystogenetischen Beweise der Neurouentheorie von His und Forel. — Anat. 

Anzeiger Bd. 30, Nr. 5—6 (1907), S. 129. 

16) J. Dejerine et A. Thomas: Les lesions radiculo — ganglionnaires du Zona. — Revue neuro- 

logique A. 15 (1907), No. 10, pag. 469. 

17) A. Perroncito: La rigenerazione delle fibre nervose. Archivio per le science mediche. — 

V. 29 (1905), No. 32. 

— La rigenerazione delle fibre nervose. — Bollettino della Soc. Med. Chirurgica di Pavia 1906. 

18) S. R. Cajal: Les metamorphoses precoces des neurofibrilles dans la regeneration et la de¬ 

generation des nerfs. Travaux du laboratoire de recherches biologiques de l’univ. de Madrid 
T. 5, Avril 1907 — F. 1 —2. 

19) E. Veratti: Alcune osservazioni sui processi consecutivi alle ferite dei ganglii spinali. Atti 

della IV* Riunione della Soc. Ital. di Patologia (Pavia — Tip. Cooperativa). 


ErkISrung der Abbildungen. 

Fig. 1. Zelle vom Desgarradotypus. Spinalganglion eines mit Dementia praecox behafteten j ungen 
Mannes. VergroBerung: Ob 8+ Oc. 3 Koritska. 

Fig. 2. Zelle mit perizellularer Knauelbildung, von Asten gebildet, die vom Hauptfortsatz der 
Zelle selbst ausgehen. Vom Ganglion eines 2ojahrigen jungen Mannes, der an Pneumonie 
starb. Vergr.: Ob 8+ Oc. 4 Koritska. 

Fig. 3. Zelle mit Perizellulametz, das aus dem Anfangsteile des Fortsatzes der namlichen Zelle 
hervorgeht. Vom Ganglionpraparat eines 22jahrigen jungen Mannes. Vergr.: Ob 8+ Oc. 4. 
Koritska. 

Fig. 4. Perizellulametz aus Asten gebildet, welche aus dem Umkreis der Zelle entspringen. Ganglion 
- desselben Individuums. Vergr.: Ob 8+ Oc. 4. Koritska. 

Fig. 5 . Perizellulametz, das mit zwei Zellen in Verbindung steht. Von demselben Individuum. 
Vergr.: 06 8+ Oc. 4. Koritska. 

Fig. 6. Perizellulametz von extrazellularen Fasem herriihrend. Ganglion eines mit Dementia 
praecox behafteten Mannes im Alter von 40 Jahren. Vergr.: Ob = 2 mm. apoc. Zeiss 
Oc. 4 c. 

Fig, 7. Netzartige Bijdung mit Bolas. Ganglion eines mit paralysis progressiva behafteten In¬ 
dividuums. Vergr.: Ob — 2 mm. apoc. Zeiss = Oc 4c. 

Fig. 8. Perizellulare Verzweigungen von dem knaueligen Teile des Achsenzylinders der Ganglien- 
zelle herriihrend. Ganglion eines mit paralysis progressiva behafteten Individuums. Vergr.: 
Ob 8+ Oc. 4 Koritska. 

Fig. 9. Perizellulare Knauelbildung. Ganglion eines Paralytiker. Vergr.: Ob 8+ = Oc. 3 
Koritska. 

Fig. 10. Drei Zellen, deren Perizellulametze Aste zeigen, welche von der einen zur anderen 
iibergehen. Ganglion eines Paralytiker. Vergr.: Ob DD Zeiss = Oc. 3. 

Fig. II. Peri- und juxtazellulares Geflecbt. Ganglion eines 75jahrigen Greises. Vergr.: Ob 8+ 
Oc. 4 Koritska. 

Fig. 12. Zelle, welche eine Faser ausschickt, welche in der Umgebung einer anderen Zelle sich 
teilt. Vom Spinalganglion eines Greises. Vergr.: Ob 8+ Oc. 4 Koritska. 

Fig. 13. Netzartige Fensterung der Zellumgebung. Ganglion von einem Greise. Vergr.: Ob 8 + 
Oc. 4 Koritska. 

Fig. 14—15. Extrazellulare Knauelbildungen. Vergr.: Ob 2 mm. apoc. Zeiss Oc. 4 C. 


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BD. XI, HEFT 1/2 
1908. 


BESONDERHEITEN DER SPINALGANGLIEN. 


25 


Fig. 16. Ubertragung des Ganglion auf den Verlauf des Nervus ischiaticus. Die Figur zeigt das 
Eindringen in den Ganglion and die Teilnahme an der Bildung perizellularer Knauel- 
bildungen von zarten, marklosen Fasern, die dem Nerv entstammen. 

Fig. 17. Perizellularnetz von sehr feinen, varikosen Fasern gebildet, deren Ursprung nicht wahr- 
zunebmen ist. Ganglion eines 2ojahrigen Mannes. Vergr.: Ob 2 mm. apoc. Zeiss. — 
Oc. 4 C. 

Fig. 18. Netz von demselben Aussehen. Im Ganglion eines 8ojahrigen Mannes. Vergr.: Ob 
2 mm. apoc. Zeiss = Oc, 4 C. 

Fig. 19. Anhaufung von Fasern mit End- und Seitenbolas. Ganglion eines Paralytischen. Vergr.: 
Ob — 5 Oc. 3 Koritska. 

Fig. 20. Anhangsel mit Endkeulen. Ganglion eines mit Dementia praecox behaiteten Mannes. 
Vergr.: Ob DD Zeiss. Oc. 3. 

Fig. 21. Fasern, die mit Substanzmassen fibrilloser Struktur endigen. Ganglion eines Paralytischen. 
Vergr.: Ob 2 mm. apoc. Zeiss. Oc. 4. 

Fig. 22. Die namlichen Bildungen um eine Ganglienzelle eines 75 jahrigen Mannes herum. Vergr.: 
Ob 8+ Oc. 4 Koritska. 

Fig. 23. Achsenzylinder auf dem Wege der Degenerierung. SchluBentfaserung. Ganglion eines 
Greises. Vergr.: Ob 8+ Oc. 4 Koritska. 

Fig. 24 Keulenformige Anschwellung mit laxer, netzformiger Struktur iiber einem Achsenzylinder 
auf dem Wege der Degenerierung. Ganglion eines Paralytischen. Vergr.: Ob 2 mm. 
apoc. Zeiss. Oc. 4 C. 

Fig. 25. Anschwellung mit fibrilloser Struktur auf dem Verlauf eines Achsenzylinders. Ganglion 
eines 75jahrigen Mannes. Vergr.: Ob 8+ Oc. 4 Koritska. 

Fig. 26. Degenerierte Achsenzylinder. Ganglion eines Greises. Vergr.: Ob 2 mm. apoc. Zeiss. 
Oc. 4 C. 

Fig. 27. Schwellung langs des Verlaufs eines Achsenzylinders, von einer im Degenerierungs- 
prozesse begriffenen Zelle herriihrend. Ganglion eines. Greises. Vergr.: Ob 8+ Oc. 4 
Koritska. 

Fig. 28. Purkinjezelle, in deren Nahe sich zwei in Bolas auslaufende Fasern befinden. Vergr.: 
Ob DD Zeiss. Oc. 4. 

Fig. 29. Endmassen im Riickenmarke eines Paralytischen. Vergr.: Ob 8+ Oc. 3 Koritska. 

Fig. 30. Endmassen im Riickenmarke eines Greises. Vergr.: Ob 8+ Oc. 3 Koritska. 

Fig. 31. Gefugte Fasern, die in kleine Bolas auslaufen. Riickenmark eines Paralytischen. Vergr.: 
Ob DD Zeiss. Oc. 4. 



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26 


Journal f. Psychologic 
qpd Neurologie. 


CARL HUDOVERNIG. 


Mitteilung aus detn hirnanatomischen Laboratorium der konigl. ungar. Universitatsklinik 
fur Psychiatric iu Budapest. Direktor: Hoi rat Prolessor Erust Emil Moravcsik. 

BeitrSge zur mikroskopischen Anatomie 
und zur Lokalisationslehre einiger Gehirnnervenkerne 
(Nervus Hypoglossus, Vagus und Facialis). 

Von 

Privatdozent Dr. Carl Hudovernig, 

Assistent der Klinik. 

II. Fortsetzung und Schlufi. 


b) Resiimee der eigenen untersuchten Falle. 

Nach Feststellung der mikroanatomischen Verhaltnisse und der nuclearen 
Topographie kann mit Zuhilfenahme dieser das Ergebnis meiner Untersuchungen 
iiber die Vaguskerne im folgenden zusammengefaBt werden: 

I. Fall: Carcinoma epiglottidis. (Die in demselben Falle als Folge des 
Zungenwurzelcarcinoms vorkommenden Veranderungen im Hypoglossuskeme wurden 
im friiheren Kapitel gewiirdigt.) Die Epiglottis wird von einem Aste des Laryngeus 
sup. innerviert und erhalt von diesem motorische und sensible Nerven. Die De- 
struktion der Epiglottis muB Veranderungen im Zentrum des Laryngeus superior 
nach sich ziehen. Die mikroskopische Untersuchung ergab Veranderungen im 
dorsalen und im ventralen Vaguskerne, welche sich in folgender Weise verteilten 
(Fig. 8): a) Im dorsalen Vaguskerne fand ich Pigmentdegeneration in der ventralen 
Gruppe (am ventralen Rande derselben) und in einem Teile des Solitarbiindelkernes 
(in jenen Nervenzellen, welche dem Solitarbiindelkerne kappenartig aufsitzen); diese 
Veranderung war bloB im spinalen Langsabschnitte des Kernes nachweisbar und 
besonders ausgesprochen im Niveau des Calamus scriptorius. b) In demselben 
Niveau zeigt ein Teil der Zellen des Nucleus ambiguus Chromolyse, und zwar am 
ventralen Rande der dichten und halbdichten Formation. 

II. Fall: Oesophaguscarcinom. Die Destruktion war bloB auf den oberen 
Teil der Speiserohre lokalisiert, dessen motorische Nerven aus dem Vagus stammen 
(Plexus oesophagus), seine sensiblen Nerven gehoren teils zum Vagus, teils zum 
Sympathicus. Auch in diesem Falle waren dorsaler und ventraler Vaguskern ver- 
andert (Fig. n): a) Im dorsalen Vaguskern war der Befund ziemlich ahnlich dem 
soeben beschriebenen: Chromolyse am unteren Rande der ventralen Gruppe, nament- 
lich aber in den Zellen des Solitarbiindelkernes; die Nervenzellen veranderungen 
waren auch diesmal auf den spinalen Langsabschnitt des Kernes beschrankt, be- 


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BD. XI, HEFT 1/2 
1908. 


BEITRAGE ZUR MIKROSKOPISCHEN ANATOMIE USW. 


2 7 


sonders ausgesprochen in der Hohe des Uberganges vom Zentralkanal in die Rauten- 
grube, etwas pragnanter im rechten Kerne, b) Der Nucleus ambiguus zeigt in 
diesem Falle Veranderungen geringeren Grades als der dorsale Kern: Chromolyse 
am ventralen Rande der dichten, dann am dorsalen und ventralen Rande der halb- 
dichten Formation. Ausdehnung der Veranderungen wie im dorsalen Kerne. 

III. Fall: Carcinoma pulmonum et ventriculi. Mehrere Umstande 
tragen dazu bei, die Lokalisationen in diesem Falle als schwierig und ungenau er- 
scheinen zu lassen; diese Umstande sind: abnorme Lagerung der Vaguskeme infolge 
abnormer Schleifenkreuzung; Ausdehnung des peripheren Krankheitsprozesses auf 
ein iiberaus groBes Vagusgebiet; Defekt in der Oblongata. Deshalb vermag ich in 
diesem Falle nur summarische Schliisse zu ziehen, welche in Verbindung mit anderen 
Ergebnissen verwertet werden konnen. Die Untersuchung der liickenhaften Ob¬ 
longata' ergab nachstehende Veranderungen: a) Dorsaler Vaguskern: im spinalen 
Ende komiger Zerfall der Nervenzellen im lateralen Teile der ventralen Gruppe; von 
hier bis zur Hohe des Calamus scriptorius fehlt ein Stuck des verlangerten Markes; 
der dorsale Kern wies von hier angefangen im ganzen cerebralen Kemabschnitte 
hochgradige Chromolyse der dorsalen Gruppe und des ventralen Teiles der ventralen 
Kemgruppe auf. b) Nucleus ambiguus. Trotz der Liicke war derselbe fast in seiner 
ganzen Ausdehnung der Untersuchung zuganglich, bloB sein spinales Ende fehlt. 
Im spinalen Kemabschnitte waren die Nervenzellen der lockeren Formation, im 
cerebralen Abschnitte die Zellen der lockeren und halbdichten Formation chromo- 
lytisch verandert. 

IV. Fall. Vagusdurchschneidung. Dieser stellt unter samtlichen un- 
streitig den interessantesten und zu den weitestgehenden Schliis^en berechtigenden 
dar. Wie bereits erwahnt, handelte es sich um ein auf das periphere Gebiet mehrerer 
Hirnnerven ausgebreitetes Carcinom, bei dessen operativer Entfernung der linke 
Vagus durchschnitten worden ist. Da der Tod erst 72 Tage nach der Operation ein- 
trat, muBten sich in dieser Zeit im Kerngebiete des durchschnittenen Nerven not- 
gedrungenerweise so schwere Nervenzellenveranderungen ergeben, daB diese andere, 
durch das Carcinom hervorgerufene Zellveranderungen verdeckten, weshalb ich 
auch bloB auf die Folgeerscheinungen der Vagusdurchschneidung mein Augenmerk 
richtete. Die Durchschneidung erfolgte in jener Hohe des Vagus, wo nur der Ramus 
auricularis und die Nervi pharyngei mit dem Zentrum in Zusammenhang bleiben 
konnten, wahrend samtliche anderen Vagusaste von ihrem Kernzentmm getrennt 
wurden; diese letzteren muBten daher den schwersten Veranderungen anheimfalien. 
— Den Gegenstand der Untersuchung konnte in diesem Falle nicht bloB die Ob¬ 
longata, sondern auch die Ganglia nodosa und jugularia, sowie jenes Stuck des 
peripheren Nerven bilden, welches zwischen Ganglien und Durchschneidungsstelle 
liegt. In diesem Stiicke war, wie voraussichtlich, kein Markscheidenzerfall vor- 
handen. Zu meiner groBten Uberraschung habe ich auch in den Ganglien des 
linken Vagus keine pathologischen Nervenzellenveranderungen nach- 
weisen konnen, sondern bloB solche, welche als Kunstprodukte bei der Fixation 
oder als kadaverose Veranderungen anzusprechen waren, denn genau dieselben 
Nervenzellenveranderungen waren auch in den Gafiglien des nicht durchschnittenen 
Vagus sichtbar. Schwere Nervenzellendegenerationen aber waren in beiden intra- 
medullaren Vaguszentren nachweisbar: a) Der dorsale Vaguskern war in seinem 


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28 


CARL HUDOVERNIG. 


Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 


spinalen Abschnitte einer intensiven Chromolyse anheimgefallen, namentlich im 
ventralen und lateralen Teile der ventralen Gruppe. Im cerebralen Abschnitte des 
linken dorsalen Vaguskernes sind die*Zellen der dorsalen Gruppe und jene des ven¬ 
tralen Teiles der ventralen Gruppe hochgradig verandert, und in der Niveauhohe 
der riickwartigen Rautengrubenhalfte sind dieselben Kemteile fast vollkommen 
atrophisch (Fig. 15), denn an dieser Stelle sind bloB die mittleren und medialen 
Zellen der dorsalen Gruppe sichtbar. Das cerebrale Ende des dorsalen Kernes, 
welches den Glossopharyngeuskern bildet, ist unverandert. Auffallend war, daB nicht 
bloB im Kerne des durchschnittenen Vagus, sondern auch im heterolateralen Kerne 
Nervenzellenveranderungen nachzuweisen waren, und zwar im cerebralen Kem- 
abschnitte am medialen Rande der ventralen Kemgruppe (bemerkenswert ist, daB 
in Praparaten, wo der rechte Kern die erwahnte Veranderung aufwies, dieselbe 
Gruppe des sonst stark atrophischen linken Kernes fast ganz unverandert blieb). 
b) Im Nucleus ambiguus waren bloB im linken Kerne (also jenem der Vagusdurch- 
schneidung) Nervenzellenveranderungen nachweisbar, jedoch in noch ausgesproche- 
nerem MaBe als im dorsalen Kerne. Die linke innere Gruppe oder dichte Formation 
zeigt in ihrer ganzen Langenausdehnung tiefgreifende Veranderungen, d. h. Zell- 
atrophie (Fig. 17), denn die linke innere Gruppe ist bedeutend kleiner als die rechte, 
und hochgradige Chromolyse der nicht atrophischen Nervenzellen (Fig. 18). In der 
linken mittleren Gruppe (halbdichte Formation) sind dieselben Veranderungen 
vorhanden, nur in etwas leichterem Grade. In der auBeren Gruppe (lockere Formation) 
blieb ein Teil der Nervenzellen durchweg unverandert. Der rechte Nucleus ambiguus 
blieb iiberhaupt unverandert. c) SchlieBlich sei noch hervorgehoben, daB sich auch 
im spinalsten Abschnitte des verlangerten Markes veranderte Nervenzellen nach- 
weisen lieBen, und zwar im linken ventralen Accessoriuskern. Demgegeniiber war 
der linke Glossopharyngeuskern, welcher die unmittelbare Fortsetzung des eigent- 
hchen dorsalen Vaguskernes bildet, links ganzlich unverandert. 

c) Bedeutung und gegenseitiges Verhaltnis der zentralen 

Vaguskerne. 

Wie bereits nachgewiesen, besteht hinsichtlich der Bedeutung und physio- 
logischen Wertung der Vaguszentren keine Einmiitigkeit der Forscher. Ober- 
steiner (53) bezeichnet den dorsalen Vago-Glossopharyngeuskern als sensibel, den 
Nucleus ambiguus als motorisch. Edinger (18) vertritt eine ahnliche Ansicht, nur 
schreibt er dem dorsalen Kerne eine gemischte (sensible und motorische) Rolle zu. 
Nach van Gehuchten (20) und seinen Schiilem sind samtliche intramedullaren 
Vaguszentren motorisch und befinden sich seine sensiblen Zentren auBerhalb des 
verlangerten Markes, in den Ganglien des Vagus. 

Zu welchen Konklusionen fiihren nun meine Untersuchungen? Diesbeziiglich 
ist der Fall Vagusdurchschneidung von eminenter Bedeutung, da die bis zum Tode 
verstrichene Zeit geniigend lang war zur Ausbildvmg sekundarer Nervenzellen- 
degenerationen. Ich konnte nun in diesem Falle hochgradige Nervenzellenverande¬ 
rungen (Zellatrophie und Chromolyse) in beiden intramedullaren Zentren nachweisen, 
aber in den Vagusganglien derselben Seite nicht eine einzige pathologisch veranderte 
Nervenzelle finden. Dieser nackte mikroskopische Befund kann mm keineswegs als 
eine Bestatigung dessen gelten, daB die Vagusganglien die sensiblen Vaguszentren 


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BD * XI io5P T 112 BEITRAGE ZUR MIKROSKOPISCHEN ANATOMIE USW. 


29 


darstellen, ja derselbe ist direkt geeignet, jedwede solche Funktion der Ganglien 
als ausgeschlossen erscheinen zu lassen. Da aber in den Ganglien unzweifelhafte 
kadaverose Veranderungen oder Kunstprodukte bei der Fixation vorhanden waren, 
laBt sich mem Befund auch nicht in absolut negativem Sinne verwerten. Soviel aber 
steht fest, daB nach meinem Befunde die Ganglien keineswegs als alleinige sensible 
Vaguszentren anzusprechen sind, sondern daB solche auch intramedullar vorhanden 
sein miissen. 

In den librigen Fallen konnte sich die mikroskopischeUntersuchung aus auBeren 
Griinden bloB auf die Oblongata erstrecken. In .alien Fallen aber fand ich sowohl im 
dorsalen als auch im ventralen Vaguskerne veranderte Nervenzellen. Wenn nun 
dorsaler Vaguskem und Nucleus ambiguus je ein motorisches Vaguszentrum dar¬ 
stellen, ware es etwas schwer begreiflich, daB eine pathologische Destruktion in 
beiden motorischen Kemen Zellveranderungen verursacht. 

Diese Erscheinung ware noch plausibel im dritten Falle, wo es sich um Car- 
cinom der Lunge und des Magens handelt und angenommen werden kann, daB das 
eine Organ im dorsalen, das andere im ventralen Kerne sein motorisches Zentrum 
besitzt. Nach Kohnstamm (31 und im Texte zitiert) kann dies wohl damit erklart 
werden, daB der dorsale Kem das viscerale, der ventrale Kern das motorische Zentrum 
der quergestreiften Muskulatur darstellt. 

Schwerer verstandlich aber ist die Annahme einer solchen Bifurkation der 
motorischen Fasern im zweiten Falle, wo ein isoliertes Oesophaguscarcinom im 
dorsalen und im ventralen Vaguskern Nervenzellen veranderungen verusacht, ob- 
wohl bloB ein Teil des Oesophagus zerstort worden ist. Ebenso muB der Fall Epi- 
glottiscarcinom interpretiert werden. Die Epiglottis erhalt ihre Innervierung durch 
einen Ast des Laryngeus superior, also kann nur ein kleiner Teil des Laryngeus- 
zentrums pathologisch verandert sein. Und dennoch land ich sowohl im dorsalen, 
als im ventralen Vaguskerne veranderte Nervenzellen. Es ware schwer anzunehmen, 
daB ein Bruchteil der motorischen Laryngeus fasern zwei motorische Kerne be- 
sitzen sollte. 

All dies spricht dafiir, daB ich in keinem meiner Falle eine Bestatigung der 
Ansicht van Gehuchtens und seiner Schule erblicken kann, daB namlich die 
sensiblen Vaguszentren ausschlieBlich in den Vagusganglien zu suchen waren. Immer- 
hin kann mich ein einziger Fall auch dazu nicht berechtigen, den Vagusganglien 
jede Rolle als sensibles Vaguszentrum absprechen zu konn^n. 

Der Umstand, daB ich bei der einseitigen Vagusdurchschneidung im Nucleus 
ambiguus die schwersten Zelldegenerationen (Atrophie und hochgradige Chromolyse) 
fand, im dorsalen Vaguskerne hingegen teils leichtere Veranderungen, teils normale 
Nervenzellen, spricht eher zugunsten der Ansicht Edingers, welcher im Nucleus 
ambiguus das motorische, im dorsalen Vaguskerne ein gemischtes motorisches und 
sensibles Vaguszentrum erblickt. Zu dieser Ansicht scheint auch der Umstand zu 
berechtigen, daB der dorsale Vaguskern aus Nervenzellen von zwei verschiedenen 
Formen und Typen besteht, wahrend im rein motorischen Nucleus ambiguus nur 
ein einziger Zelltypus vorkommt. 

Der Fall Vagusdurchschneidung hat iiberdies noch einige wichtige anatomische 
Daten geliefert: erstens, daB bei linksseitiger Vagusdurchschneidung mit der Nissl- 
schen Methode auch im dorsalen Vaguskerne der rechten Seite veranderte Nerven- 


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CARL HUDOVERNIG. 


Journal f. Psychologic 
nnd Neurologic. 


zellen nachweisbar sind, und zwar im medialen Anteile der ventralen Gruppe, und 
daB dieselbe Gruppe im linken Kerne intakt blieb. Dies spricht somit fur eine 
partielle Kreuzung der Fasern des dorsalen Vaguskernes. — Des weiteren ergab 
mein Fall, daB bei Durchschneidung des linken Vagus auch Chromolyse im homo- 
lateralen Accessoriuskerne eintritt. Hieraus folgt, daB im Vagusstamme auch solche 
Fasern vorhanden sind, welche zum Accessoriuskerne ziehen. Dieser Fall beweist 
somit, daB das zentrale Vagus-, GlQssopharyngeus- und Accessoriusgebiet nicht 
scharf getrennt werden kann, denn einerseits fallt ein Teil der Accessoriuskernzellen 
einer Chromolyse anheim, wenn der homolaterale Vagus durchschnitten wird, 
andererseits bleibt trotz Vagusdurchschneidung das cerebrale Ende des dorsalen 
und auch des ventralen Vaguskernes unverandert. Es beweist dies die Richtigkeit der 
Annahme Kohnstamms (31), daB namlich Vagus, Glossopharyngeus und Acces¬ 
sorius ein groBes gemeinsames Kerngebiet haben: der spinale Teil desselben gehort 
zum Accessorius, aber auch der Vagus erhalt aus demselben Fasern; der mittlere 
und groBte Teil gehort zum Vagus; das cerebrale Ende dieses Gebietes gehort gar 
nicht oder bloB in geringem MaBe zum Vagus, da die hierher ziehenden oder von dort 
entspringenden Fasern in iiberwiegender Anzahl in den Glossopharyngeus gelangen. 

Die soeben besprochenen Tatsachen berechtigen nun zu folgenden SchluB- 
folgerungen: 

1. Meine Untersuchungen lieferten keinerlei Anhaltspunkte da- 
fur, daB die Vagusganglien beim Menschen das ausschlieBliche sen¬ 
sible Vaguszentrum darstellen. Es ist moglich, daB ein Teil der sen¬ 
sible n Vagus fasern auch beim Menschen in die Vagusganglien gelangt, 
keinesfalls aber samtliche sensiblen Fasern. 

2. Der Nucleus ambiguus stellt das hauptsachliche motorische 
Vaguszentrum dar. Das cerebrale Ende dieses Kernes steht nicht in 
Zusammenhang mit den Fasern, welche im Vagusstamme ziehen, 
sondern scheint zum Glossopharyngeus zu gehoren. 

3. Der dorsale Vaguskern ist ein gemischtes Zentrum, dessen 
Zellen teils mit motorischen, teils mit sensiblen Vagusfasern in Ver- 
bindung stehen. 

4. Ein Teil der Fasern aus dem dorsalen Vaguskerne geht eine 
Kreuzung ein und endet im medialen Teile der ventralen Nerven- 
zellengruppe des heterolateralen dorsalen Vaguskernes. 

5. Ein Teil der im Vagusstamme ziehenden motorischen Fasern 
endet im homolateralen ventralen (motorischen) Accessoriuskerne. 

6. Die cerebrale Fortsetzung des dorsalen Vaguskernes ist der 
(dorsale) Glossopharyngeuskern; einen Zusammenhang desselben mit 
Vagusfasern konnten meine Untersuchungen nicht erweisen. 

7. Der sog. Rollersche Glossophar yngeuskern (die graue Substanz 
im Infteren und an der Peripherie des Solitarbiindels) gehort wenig- 
stens in ihrem spinalen Abschnitte zum Vagus (Kreidl). 

8. Die zentralen Kerngebiete des Glossopharyngeus, Vagus und 
Accessorius konnen anatomischwohl getrennt werden, sind aber phy- 
siologisch in engem Zusammenhang, so daB man eigentlich bloB von 
einem gemeinsamen Kerngebiete dieser dreiHirnnervensprechen kann. 


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BD - X fcJ| EFT 1/2 BEITRAGE ZUR MIKROSKOPISCHEN ANATOMIE USW. 31 


d) Physiologische Lokalisationen in den einzelnen Nervenzellen- 
gruppen der intramedullaren Vaguskerne. 

Die physiologischen resp. funktionellen Lokalisationen, welche auf Grand der 
untersuchten Falle fiir die intramedullaren Vaguskerne feststellbar waren, sind: 

Der Nervus laryngeus superior hat im verlangerten Marke zwei Kem- 
zentren: das eine bilden die ventralen polygonalen Nervenzellen in der inneren und 
mittleren Grappe des Nucleus ambiguus (dichte und halbdichte Formation), das 
zweite befindet sich im Rollerschen Glossopharyngeuskem resp. im Solitarbiindel- 
kem, d. h. in jenen Nervenzellen, welche das Solitarbiindel dorsal kappenartig um- 
geben. Beide Zentren befinden sich im geschlossenen Teile der Oblongata resp. im 
spinalen Abschnitte der Vaguskerne. 

Auch dem Oesophagus entsprechen zwei Zentren im verlangerten Mark; 
sie befinden sich in jenen Teilen der intramedullaren Vaguskerne, welche in der 
Niveauhohe des Calamus scriptorius gelegen sind. In dieser Hohe sind einerseits 
die im und um das Solitarbiindel befindlichen Nervenzellen in Verbindung mit der 
Speiserohre (sensible Fasern?), andererseits besitzt der Oesophagus ein motorisches 
Zentram im Nucleus ambiguus, zu welchem der ventrale Teil der mittleren und der 
mediale Teil der inneren Grappe gehort. 

Die auf den Magen und die Lungen beziiglichen Lokalisationen sind teils 
wegen Liickenhaftigkeit des untersuchten Materials, teils wegen gleichzeitigen Vor- 
kommens des Carcinoms dieser zwei Organe nicht so genau bestimmbar wie die 
bisherigen. Immerhin lieBen sich aus diesem Falle folgende Lokalisationen fest- 
stellen: Im spinalen Kernabschnitte des dorsalen Vago-Glossopharyngeuskemes ist 
der untere Rand der ventralen Grappe, ferner im cerebralen Kernabschnitte eben- 
falls der ventrale Teil der ventralen und der dorsale Teil der dorsalen Grappe in Ver¬ 
bindung mit den sensiblen Fasern des Magens oder der Lunge. — Im Nucleus ambi¬ 
guus haben Magen und Lunge ihre motorischen Zentren: die auBere Grappe (lockere 
Formation) steht sowohl im spinalen als im cerebralen Kernabschnitte mit den 
motorischen Fasern der genannten Organe in Verbindung; ob aber das Zentram des 
Magens im spinalen oder im cerebralen Kernabschnitte gelegen ist, konnte ich in 
meinem Falle nicht feststeilen. 

Im Falle Vagusdurchschneidung sind mit ihrem Kernzentram in Verbindung ge- 
blieben der Ramus auricularis vagi und die Rami pharyngei. In den intramedullaren 
Vaguskernen fand ich sowohl im dorsalen Vago-Glossoparyngeuskem als auch im 
Nucleus ambiguus einige relativ intakte Grappen von Nervenzellen, doch konnte 
absolut nicht nachgewiesen werden, ob dieselben nun mit solchen Vagusfasem, welche 
mit ihren Zentren in Zusammenhang blieben, oder aber mit Glossopharyngeus- 
fasem in Verbindung stehen, weshalb ich aus diesem Falle keine lokalisatorischen 
Schliisse ziehen kann. 

Die aus meinen Untersuchungen feststellbaren lokalisatorischen 
Schliisse sind folgende: 

I. Dorsaler Vago-Glossopharyngeuskern: 

i. Im spinalen Kernabschnitte ist die ventrale Gruppe in Ver¬ 
bindung mit dem Plexus gastricus (event. Plexus pulmonalis, doch 
wahrscheinlich mit ersterem). 


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CARL HUDOVERNIG. 


Journal t Psychologic 
und Neurologic. 


2. Im spinalen Kernabschnitte bilden der ventrale Rand der 
ventralen Gruppe und die dem Solitarbiindel kappenartig aufsitzen- 
den Nervenzellen das (sensible?) Zentrum des Laryngeus superior. 

3. In der Langsmitte desKernes sind dieZellen des Solitarbiindels 
in Zusammenhang mit dem Oesophagus. 

4. Im cerebralen Kernabschnitte stehen die dorsalen Zellen der 
dorsalen und die ventralenZellen der ventralen Gruppe inZusammen- 
hang mit dem Plexus pulmonalis (oder Plexus gastricus). 

II. Nucleus ambiguus: 

5. Im spinalen Kernabschnitte bilden dieZellen der inneren und 
mittleren Gruppe (dichte und halbdichte Formation) das motorische 
Zentrum des Laryngeus superior. 

6. I n der Langsmitte des Kernes (Niveau des Calamus scrip tori us) 
bilden die medialen Zellen der inneren und die ventralenZellen der 
inneren Gruppe das Zentrum der motorischen Oesophagusfasern.. 

7. In der ganzen Langsausdehnung des Kernes bilden die Zellen 
der auBeren Gruppe (lockere Formation) das motorische Magen- oder 
Lungenzentrum. 

Die Ergebnisse meiner eigenen Untersuchungen decken sich nicht vollstandig 
mit jenen anderer Autoren. 

Holm (27) sieht das Respirationszentrum in der ventralen Gruppe des dorsalen 
Vaguskernes. Dies entspricht den oben sub. 1. und 3. zitierten Resultaten, wonach 
ich den Zusammenhang dieser Gruppe mit dem Laryngeus sup. und mit dem Plexus 
pulmonalis nachweisen konnte. Doch haben meine Untersuchungen auch ergeben, 
daB diesen Nerven ein noch groBeres Zentrum im Nucleus ambiguus entspricht. So- 
mit bin ich nicht in der Lage, die Ansichten Holms (27) und de Beules (6) accep- 
tieren zu konnen, wonach das motorische Zentrum der Kehlenmuskulatur bloB im 
dorsalen Vaguskeme ware. Diesbeziiglich nahert sich mein Standpunkt eher jenem 
Bunzl-Federns (13), indem auch ich das hauptsachliche motorische Zentrum 
der Kehlenmuskeln in den Nucleus ambiguus verlege, welcher Ansicht auch Edinger 
(18) beipflichtet. Nach Bunzl-Federn ist das sensible Zentrum des Brust- und 
Bauch vagus im dorsalen Vaguskerne gelegen, was mit meinen Untersuchungs- 
ergebnissen iibereinstimmt. 

Ferner fand ich die Bestatigung jener Ansicht Dees' (16), daB der Nucleus 
ambiguus das nachste motorische Zentrum der Kehlenmuskeln sei, aber dariiber 
konnten meine Untersuchungen schon keine Aufklarung geben, ob der dorsale Vagus- 
kern tatsachlich vasomotorische Fasem abgibt. 

Bei Vagusdurchschneidung hat Osipow (54) degenerierte Nervenzellen im 
Nucleus intercalate gefunden, was ich nicht bestatigen kann. 

Beziiglich der Faserkreuzung nimmt Osipow eine solche fiir den dorsalen 
Vaguskern an, was Dees (16) auf Grund ahnlicher Untersuchungen leugnet; auch 
Kohnstamm (31 und im Text zitiert) leugnet die Kreuzung fur den dorsalen Kem, 
hingegen acceptiert er eine solche fiir den Nucleus ambiguus. Ich konnte bei Vagus¬ 
durchschneidung eine Kreuzung der Fasern gerade fiir den dorsalen Kem nach¬ 
weisen, hingegen keine solche fiir den Nucleus ambiguus. 


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BD - X \ , 9o| EFT 1,2 beitrAge zur mikroskopischen anatomie USW. • 


Alfewski (i) sucht das motorische Laryngeuszentrum im dorsalen Vagus- 
kern, das sensible im Ganglion nodosum. Auch ich fand ein Laryngeuszentrum im 
dorsalen Kerne, aber ein bedeutend groBeres im Nucleus ambiguus und halte es fiir 
wahrscheinlich, daB dieses das motorische und jenes das sensible ist. 

Die Ergebnisse von Kosaka und Yagita (32) sind zum groBen Teil analog 
mit den meinigen; so fand ich gleich den genannten Autoren im spinalen Abschnitte 
des dorsalen Vaguskemes ein Zentrum fiir den Magen und eines fiir den Oesophagus; 
doch bezeichnen K. und Y. diese Zentren als motorisch, wahrend ich neben den ge¬ 
nannten Zentren noch je eines und unzweifelhaft motorisches Zentrum im Nucleus 
ambiguus nachgewiesen habe; deshalb muB ich diese Zentren im dorsalen Kerne als 
sensible oder gemischte bezeichnen. Kosaka und Yagita fanden ferner, daB der 
Nucleus ambiguus das wichtigste motorische Zentrum der Kehlenmuskulatur sei, 
und daB die dichte Formation das motorische Zentrum der quergestreiften Epiglottis- 
und Oesophagusmuskeln sei; dasselbe habe auch ich gefunden. Einen Zusammen- 
hang des Nucleus ambiguus mit derMagenwand halten sie fiir ausgeschlossen, wahrend 
ich denselben als wahrscheinlich bezeichnen kann. 


V. Nervus facialis. 

A. Zur Anatomie des peripheren Facialis . 

Bekanntlich verlaBt der Facialis das Zentralnervensystem in jener quer- 
gestellten Furche, welche den spinalen Briickenrand von der Oblongata trennt; der 
Facialis tritt hier gemeinsam mit dem Nervus intermedius Wrisbergi heraus und 
bildet ein ca. 2 mm breites Fasembiindel. Der weitere intrakranielle Verlauf des 
Facialis geschieht fast durchwegs parallel mit dem Acusticus und verlaBt er das 
knocherne Schadelgeriist im Foramen stylo-mastoideum. Nach seinem Eintritt in 
die Parotis teilt sich der Facialis in zwei periphere Hauptaste: Nervus temporo- 
facialis und N. cervico-facialis. 

Noch wahrend seines Verlaufes im Fallopschen Kanale geht der Facialis mehr- 
fache Anastomosen ein und gibt einige Zweige ab: den Nervus stapedius, die Chorda 
tympani und einen Verbindungsnerv zum N. auricularis vagi. Nach seinem Austritt 
aus dem Foramen stylo-mastoideum gibt er noch andere Nerven ab: N. auricularis 
posterior, N. styloideus und gelangt durch letzteren in Verbindung mit dem Glosso- 
pharyngeus. 

Die zwei peripheren Hauptaste des Facialis bilden untereinander noch ein 
dichtes Nervengeflecht (Pes. anserinus major); die Endaste der Hauptzweige sind: 
I. Aus dem Ramus temporo-facialis: Nach Mihalkovics (51) 1. die Nervi facialis- 
temporales (zu den Muskeln der Schlafe, Stirne und des Ohres, sowie zum oberen 
Teile des Orbicularis oculi); 2. die Nervi zygomatici-malares zur Jochbogengegend 
und zum unteren und seitlichen Teile des Orbicularis oculi; 3. die Nervi buccales 
superiores zum M. quadratus labii sup., M. anguli oris und zu den oberen Teilen der 
Mm. orbicularis oris und buccinatorius. — van Gehuchten (20) nimmt hier noch 
einen vierten Endast an: Nervi orbitales seu palpebrales, welche zum SchlieBmuskel 
des Auges ziehen. — II. Aus dem Ramus cervico-facialis entstammen: 1. die Nervi 
buccales inferiores zu den unteren Teilen des M. orbicularis oris und zum M. bucci¬ 
natorius; 2. der Nervus subcutaneus mandibulae zu den Muskeln der Unterlippe 

Journal far Psychologic und Neurologie. Bd. XI. 3 


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CARL HUDOVERNIG. 


Journal f. Pjjcholofie 
and Nearoloirle. 


und des Kinnes; 3. der Nervus subcutaneus colli, welcher mit Nervenasten aus dem 
Plexus cervicalis anastomiert. 

Mit dem Facialis zugleich verlaBt auch der Nervus intermedius Wrisbergi das 
zentrale Nervensystem, zieht mit ersterem bis zum Ganglion geniculi, und indem er 
in dieses eindringt, hort er makroskopiscb auf, ein selbstandiger Nerv zu sein. 


B. Anatomic des Facialis kernes und bisherige Untersuchungen iiber denselben. 

Der tatsachliche Facialisursprung befindet sich teils im verlangerten Mark, 
teils in der Briicke, wo er den Facialiskern bildet. Infolge dieser einheitlichen Kern- 
formation sind die anatomischen Verhaltnis$e des Facialiskernes um vieles einfacher 
als die bisherigen. Diese Einfachheit bezieht sich bloB auf den rein nuclearen Facialis¬ 
ursprung, denn der Wurzelverlauf ist ziemlich kompliziert; da sich aber meine Unter¬ 
suchungen bloB auf den rein nuclearen Kemursprung beziehen, brauche ich auf den 
Faserverlauf nicht weiter einzugehen. 

Der Facialis besitzt bloB einen Kern. Es ist dies jene Anhaufung von Nerven- 
zellen, welche wir schon im friiheren Kapitel als cerebrale Fortsetzung des Nucleus 
ambiguus kennen gelernt haben. Der Facialiskern befindet sich eigentlich im spinalen 
Briickenanteile, aber seine distalen Zellen reichen oft ziemlich weit in das verlangerte 
Mark. Obersteiner (53) gibt die Lange des Facialiskernes mit 4 mm an; Edinger 
(18) macht keine ziffermaBigen Angaben. Die cerebrale Fortsetzung des Facialis¬ 
kernes ist der motorische Trigeminuskern, doch konfluieren diese zwei Zellanhau- 
fungen nicht. 

An Querschnitten erscheint der Facialiskern in der Substantia reticularis 
lateralis, lateral von ihm befindet sich die spinale Trigeminuswurzel, medial der 
obere Olivenkern. Da der Facialiskern eigentlich die cerebrale Fortsetzung des 
Nucleus ambiguus bildet, ist es selbstverstandlich, daB das spinale Ende des Facialis¬ 
kernes lateraler liegt als das spinale Ende des Nucleus ambiguus, da ja letzterer, 
wie im friiheren Kapitel dargelegt, in cerebraler Richtung nach der Seite divergiert. 

Nach Obersteiner (53) wird der Facialiskern durch zirkular verlaufende 
Markfasern in mehrere rundliche Gruppen geteilt; innerhalb dieser bilden groBe, 
polygonale, leicht pigmentierte Nervenzellen den eigentlichen Kern, van Ge- 
huchten (20) betont, daB samtliche Nervenzellen des Facialiskernes vom gleichen 
Typus sind und daB dieser dem Nisslschen motorischen Typus entspricht. 

Derzeit besteht unter samtlichen Forschern die einmiitige Ansicht, daB der Facialis 
nur diesen einzigen Kern besitzt. Doch war diese Einheitlichkeit des Kernes friiher 
stark umstritten und haben viele fur den oberen Facialis ein gesondertes Zentrum 
angenommen. Duval (17) und Testut (67) supponierten den Ursprung des oberen 
Facialis aus dem Abducenskem, und daB die Facialis wurzel gelegentlich ihres 
Bogens um den Abducenskern aus diesem Kerne einen Fasemzuwachs erhalte. 
Bei Exstirpationen im oberen Facialisgebiete hat Mendel (50) keine Veranderung 
im Facialis- oder Abducenskerne gefunden, dafiir solche im Oculomotoriuskerne, 
weshalb M. den Ursprung des oberen Facialis in diesem Kern suchte. Doch haben 
alle neueren Untersuchungen von van Gehuchten (20, 22, 25), Kotelewsky 
(34, 35 )> Marinesco (47, 48), Parhon-Savou (60), Parhon-Papinian (57) ein- 
miitig ergeben, daB auch der obere Facialis im groBen Facialiskern entspringt. 


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BD . XI, HEBT 112 BEITRAGE zur mikroskopischen anatomie usw. 35 


Eine derzeit noch offene Diskussionsfrage in der Anatomie des Facialikernes 
ist, ob die Facialisfasern sich intramedullar kreuzen? Obersteiner (53) 
erwahnt eine solche in positiver Form, bemerkt aber, daB die Versuche von Breg¬ 
ma n (9), Bischof (8) und Mayer (49) dies beim menschlichen Gehirne nicht unter- 
stiitzen/weshalb die Ansicht Lugaros (42) nicht unmoglich sei, daB namlich Fasem 
aus der Raphe zur Facialiswurzel gelangen, mit letzterer ziehen, aber diese noch vor 
dem Austritte aus der Oblongata verlassen. Edinger (18) erwahnt nichts von einer 
Faserkreuzung. Zahlreiche neuere Untersuchungen bezweckten die Losung dieser 
Frage teils auf pathologischem Wege beim Menschen, teils experimentell bei Tieren; 
die Ergebnisse sind einander widersprechende. Menschliche Gehirne untersuchten 
Pardo (55), Vespa (68), Bary (2) und Flatau (19) bei alten Facialislahmungen: 
Vespa fand Veranderungen bloB im homolateralen Facialiskem, Pardo und Flatau 
auch im heterolateralen; Pardo konnte sogar nachweisen, daB eine umschriebene 
Zellgruppe bloB im heterolateralen Kern verandert war, wahrend dieselbe Gruppe 
auf der Seite der Facialislahmung intakt blieb. Auch Bary auBert sich fur die Faser¬ 
kreuzung. — Die iiberwiegende Zahl der Tierexperimente hat das Bestehen einer 
intramedullaren Facialiskreuzung bestatigt, so die Untersuchungen von Ram6n 
y Cajal, Marinesco (47, 48), Lugaro (42), Bruce (n), Wyrubow (71) u. a. 
Auf Grund alterer Untersuchungen spricht sich auch van Gehuchten (22) fiir 
die Kreuzung aus, und nur nach den Ergebnissen seiner neueren Forschungen (25, 26) 
gelangt er zur gegenteiligen Ansicht. 

Beziiglich der Zellgruppen im Facialiskerne und deren physiologischer Be- 
deutung stehen uns mehrfache Mitteilungen zur Verfiigung. Obersteiner (53) er¬ 
wahnt in seinem Lehrbuche, daB der Facialiskern oft aus zwei umschriebenen Zell¬ 
gruppen besteht. Unabhangig voneinander haben van Gehuchten (22) und 
Marinesco (47) beim Kaninchen dieselben Zellgruppen beschrieben. Beim Kanin- 
chen besteht der Facialiskern aus vier voneinander scharf trennbaren Zellgruppen; 
es sind dies die innere, mittlere, auBere und riickwartige (post£rieur) Gruppe, welch 
letztere oberhalb der drei ersten Platz findet und deshalb auch „dorsale“ genannt 
werden kann, wahrend die drei anderen Gruppen die ventralen bilden. Auch be- 
ziiglich der physiologischen Wertung dieser Gruppen kamen van Gehuchten und 
Marinesco zu identischen Resultaten. So vermochten sie den Zusammenhang der 
inneren Gruppe mit den Muskeln des Ohres nachzuweisen; die dorsale Gruppe bildet 
das motorische Zentrum des oberen Facialisastes, wahrend die mittlere und auBere 
Gruppe mit dem unteren Facialis in Verbindung stehen. 

Beim Menschen beschreibt Marinesco (48) dieselben Zellgruppen, doch waren 
diese nicht so scharf umschrieben wie beim Kaninchen. Auch beim Menschen 
entspringt der obere Facialis aus der dorsalen und zum Teil aus der medialen 
Gruppe. 

Auf den Facialiskem des Menschen beziehen sich noch zwei Mitteilungen 
Par ho ns (57, 60); in beiden handelt es sich um Carcinome im peripheren Facialis- 
gebiete. Im Gegensatze zu Marinesco (48) kann Parhon auch im menschlichen 
Facialiskerne scharf umschriebene Zellgruppen unterscheiden und zwar vier dorsale 
und vier ventrale Gruppen. Die detaillierte Gruppeneinteilung gibt Parhon in 
seiner Arbeit mit Papinian (57), welche die folgenden lokalisatorischen Ergebnisse 
brachte: die dorsalen Kemgruppcn innervieren die Muskeln des oberen Facialis- 

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CARL HUDOVERNIG. 


Journal f. Psychologic 
und Nenroloyie. 


astes, wahrend die ventralen Gruppen das motorische Zentrum des unteren Astes 
bilden; genau entspricht die zweite dorsale Gruppe dem Muse, biventer, die dritte 
ventrale Gruppe den Muskeln des Kinnes. — Aus einem zweiten Falle konnten Par- 
hon und Savou (60) feststellen, daB die Muskeln der Oberlippe und der Nase mit 
der zweiten ventralen Gruppe in Verbindung stehen. Dieser Befund deckt sich mit 
den erwahnten Untersuchungen von Marinesco und van Gehuchten 1 ). 

In neuerer Zeit haben sich Kosaka und Hiraiwa (32) auf experimentellem 
Wege mit dem Facialiskem des Huhnes beschaftigt und hier drei Facialiskerne nach- 
gewiesen. Der Hauptkern liegt im ventro-lateralen Teile der Oblongata; derselbe 
besteht aus multipolaren Nervenzellen und ist in Verbindung mit den Hauptmuskeln 
des Halses. Der zweite Facialiskem ist bedeutend kleiner, liegt dorso-medial vom 
Hauptkern und innerviert den M. stylohyoideus. Dorso-medial von diesem liegt der 
dritte Facialiskem, welcher um weniges kleiner als der Hauptkern, aus groBen 
multipolaren Zellen besteht und das Zentrum des M. digastricus darstellt. 

Bei seinem Austritte aus dem Foramen stylo-mastoideum enthalt der Facialis 
auch sensible Fasern. Doch sind diese nicht in Verbindung mit dem bisher genannten 
motorischen Zentrum, denn das periphere Neuron dieser sensiblen Fasern endet im 
Ganglion geniculi; das zweite sensible Neuron dieser Fasern gelangt durch den Nervus 
intermedius Wrisbergi in das zentrale Nervensystem, wo sie ganz unabhangig von 
den Facialisfasem verlaufen. 

C. Eigene Untersuchungen iiber den Facialiskem. 

Beziiglich des Facialiskernes habe ich Falle untersuchen konnen, von welchen 
der erste ein Carcinom im Gebiete des unteren, der andere ein Carcinom im oberen 
Facialisaste war und dieser peripheren Lagerung entsprechende nucleare Verande- 
mngen hervorgemfen hat. — Die detaillierten Ergebnisse dieser Untersuchungen 
sind : 


1. Fall B. M. (Carcinoma buccae). 

Das Material stammt von einem 45jahrigen Manne, bei welchem sich im rechten 
Mundwinkel seit zwei Jahren eine Geschwulst entwickelte. Bei der Untersuchung ergab 
sich (September 1902), daB die Geschwulst, vom rechten Mundwinkel ausgehend, die 
Wange auf 5 cm, ferner die Ober- und Unterlippe fast ganzlich ergriffen hat, so daB von 
der linken Oberlippe 4, von der linken Unterlippe 3 cm lange Stucke frei blieben. Bei der 
Operation wurde ein handflachengroBes Territorium exstirpiert; in diesem Defekt waren 
die beiderseitigen Ober- und Unterlippen inbegriffen, mit Ausnahme eines beim linken 
Mundwinkel freigebliebenen gesunden Stiickes von ca. 2 cm Ausdehnung. Pat. starb 
im Februar 1903. Bei der Autopsie wurden auBer dem bereits erwahnten keine weitcre 
pathologische Veranderung gefunden. Klinische und anatomische Diagnose: Carcinoma 
epitheliale buccae. 

Das Carcinom hat im gegenwartigen Falle ein ausgedehntes Gebiet beider unterer 
Facialisaste und zum Teil auch des oberen Astes zerstort. Rechts waren beide Lippen 
vollkommen, links die Oberlippe zum groBen Teil, die Unterlippe fast ganzlich destruiert; 
auBerdem erstreckte sich die Krebsgeschwulst noch auf die rechte Wange. Von den 
Asten des Nervus cervico-facialis war das Gebiet der Nervi buccales inferiores beiderseits 


*) Neuerlich haben Par ho n und Nadejge (Rivista Stintelor. Nr. 2; 1906) feststellen konnen, 
daB die Fasern des oberen Facialis beim Menschen der dorsalen und inneren Partie des Facialis- 
kerngebietes entspringen. 


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BD ‘ XI i<5f n 1,2 beitrAge zur mikroskopischen anaxomie usw. 


stark zerstort (M. orbicularis oris rechts und links, M. buccinatorius rechts stark, links 
wenig), ebenso war das Gebiet des Nervus subcutaneus mandibulae rechts starker alteriert 
als links. Der obere Facialisast war nur wenig alteriert, indem auch dieser Nerven ent- 
sendet zum M. orbicularis oris, zum M. buccinatorius und zum teilweise zerstorten 
M. quadratus labii superioris. — Nach meinen bisherigen Erfahrungen waren somit in 
jenen Teilen des rechten Facialiskernes Nervenzellenveranderungen zu erwarten, welche 
den genannten drei Nerven entsprechen, wahrend im linken Kerne hauptsachlich die 
Erkrankung jener Zellen zu erwarten war, welche mit dem Nervus subcutaneus mandibulae 
in Verbindung stehen. (Wohl wurde im vorliegenden Falle noch ein groBes peripheres 
Gebiet des Trigeminus zerstort, dieses aber habe ich nicht in den Rahmen meiner Unter- 
suchungen einbeziehen konnen, da die ersten Veranderungen wohl im peripheren Ganglion 
zu erwarten waren, dieses aber [das G. Gasseri] mir nicht zuganglich war.) ^ 



Figur 19. SchematischerQuerschnitt durch das spinaleEnde des rechten Facialis¬ 
kernes. — Der Kern besteht aus einer auBeren und inneren Zellgruppe, in der letzteren konnen 
eine dorsale und zwei ventrale Gruppen unterschieden werden. VII. 1. = auBere Gruppe; VII. i. 
= innere Gruppe; d., v. 1. und v. 2. = die Untergruppen der inneren Zellgruppe. 

MikroskopischeUntersuchung: Dieselbe erstreckt sich bloB auf den Facialis- 
kern; diesem Zwecke diente eine nach der Nisslschen Methode gefarbte Serie, deren 
spinales Ende die Pyramidenkreuzung bildete, wahrend das cerebrale Ende den cere- 
bralen Briickenrand erreichte. Infolge schrager Schnittebene ist die rechte Halfte eines 
jeden Praparates um ca. 200 Mikromillimeter cerebraler als die linke; dies der Grund, 
warum die Facialiskerne sich in den Praparaten nicht gleich zeigen, denn der rechte ist 
stets in einem cerebraleren Formationsstadium getroffen. 

Niveau: Cerebrale Rautengrubenhalfte. — In beiden Praparathalften 
ist eine Zellgruppe in der seitlichen Retikularsubstanz erkenntlich, welche das obere 
Ende des Nucleus ambiguus darstellt und dessen Zellen keine Veranderung aufweisen. 
An den folgenden Praparaten nimmt das Volumen des Nucleus ambiguus zusehends ab; 
in der rechten Halfte der Praparate verschwindet er fruher als in der mehr spinal ge- 
legenen linken, dafiir zeigt sich rechts fruher eine neu auftauchende Gruppe von Nerven- 
zellen, welche als direkte Fortsetzung des Nucleus ambiguus den Facialiskern bildet. 
Zwischen dem cerebralen Ende des Nucleus ambiguus und dem spinalen Ende des Facialis¬ 
kernes ist eine Lucke von kaum 100 Mikromillimeter. 


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CARL HUDOVERNIG. 


Journal f. Psychology© 
und Neurologie. 


Niveau: Oberes Ende des Olivenkernes. — Der kaum aufgetauchte Facialis- 
kern nimmt an Volumen rasch zu, er besteht aus groBen polygonalen Nervenzellen von 
motorischera Typus. Bereits um einige Praparate cerebraler kann man im Facialiskerne 
auch Zellgruppen unterscheiden (Fig. 19), der Facialiskern besteht anscheinend aus zwei 
Hauptgruppen, eine lateral gelegen (VII 1 ) und eine medial gelegen (VII i). In dieser 
letzteren Gruppe sind die Nervenzellen kreisformig angeordnet, ohne aber an der Peri¬ 
pherie des Kreises gleichmaBig gelagcrt zu sein, so daB eine dorsale Gruppe (VII i d) und 
zwei ventrale Gruppen (VII i vi und VII i V2) erkenntlich sind. Die Zellen sind nicht 
verandert. 

Niveau: Dasselbe, etwas cerebraler; rechts nur mehr Spuren des 
Olivenkernes. — Rechts ist dieGruppenbiidung im Facialiskerne nochausgesprochener, 
iiberdies ist die laterale Gruppe in zwei Gruppen zerfallen, so daB der Kern nunmehr aus 



Figur 20. Schematischer Querschnitt durch die spinale Halfte des rechten Fa¬ 
cialis kernes, nahe zur Langsmitte desselben. Es sind drei dorsale (VII. d. 1., VII. d. 2. und 
VII. d. 3.) und vier ventrale (VII. v. i. t VII. v. 2., VII. v. 3., VII. v. 4.) Gruppen erkenntlich. 


ciner dorsalen Gruppe (Fig. 19, VII i d) und aus vier ventralen Gruppen besteht (VII 1 
aus Fig. 19 ist in zwei weitere Gruppen zerfallen). Zur Bezeichnung der Zellgruppen im 
Facialiskerne ist die von Parhon vorgeschlagene Numerierung (in der Praparatmitte 
beginnend) entschieden das zweckmaBigste, da die einzelnen Gruppen in cerebraleren 
Kcrnabschnitten stets wechselnde Situationen einnehmen und so die Bezeichnung nach 
der jeweiligen Lage stets wechseln muBte, was die leichte Gbersicht ganz bedeutend be- 
eintrachtigen wiirde. Die zweite ventrale Gruppe enthalt einige chromolytische Nerven¬ 
zellen. — Im (spinaler getroffenen) linken Facialiskerne bilden die Zellen noch eine 
Gruppe; keine Zellveranderungen. 

Niveau: Der Olivenkern ist an beiden Seiten verschwunden; rechts 
sind die quergestellten Bruckenfasern bereits sichtbar. — Im rechten 
Facialiskern hat sich die Situation abermals geandert, denn dorsal von der zweiten 
und dritten ventralen Gruppe hat sich noch je eine dorsale Gruppe gebildet. Der Kern 
besteht somit aus sieben Zellgruppen (Fig. 20), von welchen drei dorsal, vier ventral ge¬ 
legen sind. Die Langsachse des am Querschnitte langlichen Facialiskernes ist nach innen 
und oben gerichtet. Chromolyse ist nachweisbar in der zweiten dorsalen, dann in der 


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Ba X . I <*S EFT 1,2 beitrAge zur mikroskopischen anatomie usw. 


zweiten und dritten ventralen Gruppe. — Der linke Facialiskern zeigt dieselbe Kon- 
figuration wie Fig. 19, ohne degenerierte Nervenzellen. 

Niveau: Bruckenfasern bereits an beiden Seiten sichtbar. — Im 
rechten Facialiskern ist abermals eine Veranderung der Zellgruppen nachweisbar; die 
Zahl derselben hat sich durch Konfluieren zweier Gruppen auf sechs verringert, wovon 
vier dorsal, zwei ventral zu liegen scheinen. Chromolyse ist in der zweiten ventraleh 
Gruppe nachweisbar. — Der linke Facialiskern zeigt in diesem Praparate dieselbe Ge- 
staltung, wie der rechte im friiher beschriebenen Praparat, doch ist links ein Teil der 
Zellen in der zweiten und dritten ventralen Gruppe chromolytisch, wahrend die dorsalen 
Gruppen durchweg aus normalen Zellen bestehen. 

Niveau: ca. 100 Mikromillimeter weiter cerebral. — Infolge weiterer Kon- 
fluierung besteht der rechte Facialiskern (Fig. 21) nur mehr aus einer dorsalen und aus 



Figur 21. Schematischer Querschnitt durch den spinalen Teil der cerebralen 
Facialiskernhalfte. Derselbe besteht aus einer dorsalen (VII. d.) und drei ventralen (VII. 
v. 1., VII. v. 2. und VII. v. 3) Zellgruppen. 


drei ventralen Zellgruppen; samtliche Gruppen sind machtig entwickelt, namentlich 
aber die einzige dorsale Gruppe; eine jede der vier Gruppen ist annahernd kreisformig; 
der ganze Kern besteht aus groBen polygonalen Nervenzellen, welche den motorischen 
Vorderhornzellen ahnlich sind. An dieser Stelle erreicht der Facialiskern seine starkste 
Entwicklung, was auch gleichzeitig seiner Langsmitte entspricht. Beilaufig der funfte 
Teil der Zellen in der zweiten ventralen Gruppe weist folgende Veranderung auf: Zell- 
korper stark gequollen, Zellrand abgerundet, diffuse Farbung des Zelleibes, ohne erkennt- 
liche Nisslkorper, Kern peripher gelagert. Die drei anderen Zellgruppen enthalten un* 
veranderte Nervenzellen. — Im linken Facialiskerne sind die Gruppen erkenntlich, 
welche im friiheren Praparate fur den rechten Kern beschrieben wurden; in der zweiten 
ventralen Gruppe kommen einige erkrankte Nervenzellen vor. 

Niveau: ca. 400 Mikromilli meter weiter cerebral. — Im rechten Facialis¬ 
kern hat sich die zweite ventrale Gruppe gesenkt, so daB die vier Gruppen des Kernes 
ein auf einer Spitze stehendes Viereck bilden. Im rechten Kerne sind keine Zellverande- 
rungen nachweisbar. — Im etwas spinaler getroffenen linken Fazialiskerne kommen am 
medialen Rande der zweiten ventralen Gruppe einige chromolytische Nervenzellen vor. 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologie. 


Niveau: Machtig entwickelte Bruckenfasern, die Pyramidenfasern 
sind noch ventral von den Bruckenfasern gelagert. — Im rechten Kerne 
hat die zweite ventrale Gruppe ihre ursprungliche Lage wieder eingenommen; keine 
veranderte Nervenzelle im ganzen rechten Kerne. — Im linken (spinaler getroffenen 
Kerne) fallen noch einige Zellen der zweiten medialen Gruppe durch exzentrisch ge- 
lagerten Kern auf. 

Niveau: Dasselbe etwas cerebraler; die Pyramidenfasern sind be- 
reitszwischendenBriickenfasern. — Im wei ter cerebral getroffenen rechten F acialis- 
kern hat sich die Zahl der Zellgruppen bereits auf zwei reduziert; wie im spinalen Ende 
besteht der Kern aus einer inneren und einer auBeren Gruppe. Noch weiter cerebral 
vereinigen sich samtliche Zellen des Facialiskernes zu einer einzigen Gruppe, welche in 
cerebraler Richtung stets kleiner wird und schlieBlich, aus einzelnen zerstreuten Zellen 
bestehend, endlich verschwindet. 

2 . Fall K. J. (Carcinoma frontis). 

Dieser Fall bezieht sich auf eine 82jahrige Frau, welche im Siechenhause gepflegt 
wurde und ca. 4 Jahre ein handflachengroBes carcinomatoses Geschwur an der Stirne 
hatte, in dessen Mitte (welche gerade der Stirnmitte entsprach) der Knochen arrodiert 
war. Das Geschwur erwies sich bei der histologischen Untersuchung als Carcinom; 
keine nennenswerte Leichenveranderungen. 

Dieser Fall erschien ganz besonders geeignet zum Studium der nuclearen Lokali- 
sation des oberen Facialisastes, da es sich um ein nahezu vier Jahre bestehendes Car¬ 
cinom handelt, welches wahrend dieser Zeit ausschlieBlich auf das periphere Gebiet dieses 
Nerven beschrankt blieb, denn von samtlichen Gesichtsmuskeln war bloB der Stirn- 
muskel in den pathologischen ProzeB einbezogen. Die carcinomatose Veranderung war 
bilateral und erstreckte sich gleichmaBig auf den linken und rechten Stirnmuskel. Die 
motorische Innervation des Musculus frontalis besorgen ausschlieBlich die Nervi faciales- 
temporales, welche uberdies noch Aste zu den Muskeln der Schlafe und des Ohres ab- 
geben und einen Teil des Orbicularis oculi innervieren. Aus alldem folgt, daB nur in 
jener Zellgruppe des Faciahskernes Veranderungen zu erwarten waren, welche mit dem 
Stirnmuskel in Zusammenhang stehen. 

Mikroskopische Untersuchung: Aus dem im ersten Falle dargelegten Grunde 
muBte ich auch in diesem Falle von der Lokalisation im Trigeminus absehen und mich 
bloB auf die Veranderungen im Facialiskerne beschranken. Der Untersuchung diente 
eine durch die Oblongata und Briicke angelegte, nach der Nisslschen Methode gefarbte 
Serie, welche von der Mitte der Rautengrube bis zum spinalen Briickenrande reichte 
und aus ca. 300 gefarbten Praparaten bestand. 

Nachdem die Konfiguration des Facialiskernes und die Lagerung der in dem- 
selben nachweisbaren Zellgruppen mit den im fruheren Falle beschriebenen vollstandig 
identisch war, halte ich eine detaillierte Schilderung fiir uberfliissig. 

Das spinale Ende des Facialiskernes fand ich auch in diesem Falle in der Hohe des 
cerebralen Olivenkemendes, von wo sich der Facialiskern ca. 4 mm in die Brucken- 
substanz erstreckt. Den Kern bildet stets eine Reihe von dorsalen und ventralen Gruppen. 
Die Zahl der ventralen Gruppen konnte ich im spinalen Kernabschnitte mit zwei, spater 
mit drei und in der Langsmitte des Kernes mit vier feststellen, im cerebralen Kem- 
abschnitte nahm diese Zahl wieder sukzessive ab, um im cerebralen Kernende auf eine 
ventrale Gruppe zusammenzuflieBen. Die Zahl der dorsalen Gruppen schwanltte im 
spinalen Kernabschnitt zwischen einer und drei, im cerebralen Abschnitte war stets nur 
eine dorsale Gruppe nachweisbar. Chromolyse habe ich ausschlieBlich nur im dorsalen 
Teile des Faciahskernes finden konnen; im spinalen Kernabschnitte war standig die innere, 
resp. erste dorsale Gruppe aus veranderten Nervenzellen bestehend (Fig. 23); im cere¬ 
bralen Abschnitte des Faciahskernes waren erkrankte Nervenzellen in der einzigen 
dorsalen Zellgruppe nachweisbar (diese Gruppe ist die direkte Fortsetzung der ersten 
dorsalen Zellgruppe des spinalen Kernabschnittes). Die Chromolyse erstreckt sich aber 
keineswegs auf samtliche Nervenzellen der genannten Gruppe, sondern bloB auf einen 


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kleineren Teil derselben. Die Nervenzellen samtlicher ubrigen Facialisgruppen waren 
durchgehend unverandert. Besonders will ich betonen, daB der Abducenskern an beiden 
Seiten ganz normal war und daB nicht eine einzige chromolytiscbe Nervenzelle in der¬ 
selben auffindbar war. 

Z). Konklusionen der Untersuchungen fiber den Facialiskern. 

Die Konklusionen, welche ich aus meinen im friiheren Punkte dargelegten 
Untersuchungen abzuleiten vermag, werde ich nach den nachstehenden Gesichts- 
punkten zusammenfassen, wobei ich bemerken will, daB die auf Anatomie des 
Facialiskemes und auf die Zellgruppen bezliglichen Befunde in beiden Fallen voll- 
kommen identisch waren und Differenzen sich bloB im Sinne der Lokalisationen 
ergaben. 

a) Ausdehnung und Teile des Facialiskemes. 

Beziiglich Mikroanatomie und allgemeiner Gestaltung des Facialiskemes 
haben meine eigenen Untersuchungen bloB die Bestatigung der allgemein anerkannten 
resp. von der iiberwiegenden Mehrheit der Forscher akzeptierten Verhaltnisse er- 
geben, ebenso auch die in neuerer Zeit immer mehr in den Vordergrund tretende 
Ansicht, daB auch die Fasern des oberen Facialisastes aus den Ganglienzellen des 
groBen Facialiskemes entspringen. 

Der Facialiskern liegt im cerebralsten Teile der Oblongata und im distalen 
Briickenteile derart, daB seine groBere Langenausdehnung in die Briickenformation 
zu liegen kommt, und bloB die distalsten Nervenzellen des Kernes finden sich im 
proximalen Oblongatateile. 

Das distale Ende des Facialiskemes laBt sich nicht ganz genau bestimmen, 
weil es fast ohne Unterbrechung in den Nucleus ambiguus iibergeht; dasselbe ist im 
cerebralsten Teile der Oblongata in der Hohe des cerebralen Olivenkemendes zu 
finden; zwischen dem Facialiskern und dem Nucleus ambiguus ist eine kleine Liicke 
von beilaufig 100 Mikromillimeter nachweisbar. Das obere Ende des Facialiskemes 
ist jedoch scharf sichtbar, weil es sich nicht unmittelbar in einen anderen Nervenkern 
fortsetzt; wohl bildet der motorische Trigeminuskem die cerebrale Fortsetzung des 
Facialiskemes, doch findet kein flieBender Cbergang des einen Kernes in den an¬ 
deren statt. 

Aus der Gesamtzahl der in meinen Serien angefertigten Praparate und aus der 
Dicke derselben konnte ich die Lange des Facialiskemes mit ca. 3600 Mikromillimeter 
bestimmen; es entspricht dies der von Obersteiner (53) angegebenen Lange von 4 cm. 

Die Querausdehnung des Facialiskemes ist ganz namhaften Schwankungen 
unterworfen: im spinalen Ende ist sie gering, da der Kern nur aus einigen zerstreuten 
Zellen besteht; in cerebraler Richtung nimmt der Querschnitt rapid zu und erreicht 
eine ziemlich groBe Ausdehnung, welche der Kem fast bis an sein cerebrales Ende 
behalt, wo er dann rasch auf eine ganz kleine QuerschnittsgroBe reduziert wird. 

Die Nervenzellen des Facialiskemes besitzen durchgehend denselben Typus: 
er besteht aus groBen polygonalen Nervenzellen, welche Form und Struktur der 
motorischen Vorderhornzellen besitzen. Im Facialiskern fand ich nicht Zellen von 
verschiedener Form und Typus, wie z. B. im dorsalen Vaguskeme, welchen ich auch 
aus diesem Grunde fur einen gemischten Kem halten muB. Auch deshalb muB der 
Facialiskern als rein motorischer Kem bezeichnet werden. Einen Pigmentgehalt der 


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Facialiskemzellen habe ich bloB im zweiten Falle (Carcinoma frontis) nachweisen 
konnen; doch glaube ich, daB es sich dabei um eine einfache senile Erscheinung bei 
einem 82jahrigen Individuum handelt und nicht um ein normales Attribut der 
Facialiskem-Zellen, oder um eine carcinomatose Zellveranderung; dies ist um so 
wahrscheinlicher, da in diesem Falle auch die Zellen anderer Hirnnervenkerne 
durch starkeren Pigmentgehalt ausgezeichnet waren. 

Die Frage der Fasernkreuzung im Facialiskeme konnte auf Grund meiner 
Falle nicht gelost werden; in beiden fand ich wohl bilaterale Zellveranderungen, 
welche aber durch die bilaterale periphere Destruktion bedingt waren. 

Was nun den Fasernursprung des oberen Facialisastes betrifft, muB ich mich 
diesbeziiglich ganz auf den Standpunkt der neuesten Forschungsergebnisse stellen, 
daB namlich die Fasern des oberen Facialisastes aus dem groBen Facialiskeme 
stammen; der Fall Carcinoma frontis beweist dies in untriiglicher Weise, denn bei 
isolierter Destruktion im peripheren Gebiete des oberen Facialisastes war nur in der 
dorsalen Gruppe des groBen Facialiskemes eine Zellveranderung vorhanden, wahrend 
alle anderen in Frage kommenden Nervenkeme unverandert blieben. 

Meine Konklusionen bezuglich Anatomie des Facialiskemes 
kann ich somit in folgenden Punkten zusammenfassen: 

1. Der Facialiskern bildet eine ca. 4 cm lange graue Saule, deren 
kleinerer spinaler Anteil im verl anger ten Mark liegt, der iiberwiegende 
Teil aber befindet sich im spinalenTeil derBriicke, in der Substantia 
reticularis, medial und ventral von der Trigeminuswurzel. 

2. Das spinale Ende des Facialiskemes ist in der Oblongata, in 
der Hohe des cerebralen Olivenkernendes, wo er fast unmittelbar in 
den Nucleus ambiguus iibergeht; das cerebrale Ende des Facialis- 
kernes reicht ca. 3 mm in die Briickensubstanz und iibergeht dieses 
nicht unmittelbar in den motorischen Trigeminuskern. 

3. Die Langsachsen der beiderseitigen Facialiskeme verlaufen 
nahezu parallel. 

4. In seiner ganzen Ausdehnung bilden den Facialiskern Nerven- 
zellen vom gleichen Typus: groBe, polygonale Zellen, ahnlich den 
motorischen Vorderhornzellen. Dieselben weisen physiologischkeinen 
besonderen Pigmentreichtum auf. 

5. Die Ursprungszellen des oberen Facialisastes befinden sich im 
groBen Facialiskeme und besteht dieser Nervenast nicht aus Fasern, 
welche in einem anderen Hirnnervenkerne entspringen. 

b) Nervenzellengruppen im Facialiskeme. 

Mit Ausnahme des spinalen und cerebralen Endes zeigt der Facialiskern am 
Querschnitte nie eine einheitliche Anhaufung der Nervenzellen, sondern sind stets 
wenigstens zwei distinkte Zellgruppen erkennbar. Obersteiners (53) Einteilung 
in zwei standige Gruppen erscheint als ungeniigend; die Einteilung Par ho ns (57, 60) 
in standige acht Gruppen ist wieder zu detailliert und vermochte ich auf keinem 
einzigen Querschnitte acht Zellgruppen zu erkennen. Meine eigenen Beobachtungen 
stehen am nachsten den Befunden von van Gehuchten (24, 25) und Marinesco 
(47, 48), obwohl ich die Einteilung dieser Autoren hauptsachlich im cerebralen 


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Kemabschnitte bestatigt fand, wahrend sich die Einteilung der Gruppen im spinalen 
Kemabschnitte eher der Auffassung Par ho ns (57, 60) nahert. Keinesfalls kann ich 
der Ansicht Marinescos (48) beipflichten, wonach der menschliche Facialiskern 
keine distinkten Zellgruppen aufweise. 

Am Querschnittsbilde zeigt sich der Facialiskern als eine in seitlicher Richtung 
langgestreckte Anhaufung von Nervenzellen, deren Langsachse nach oben und 
innen gerichtet ist; die Langsachsen der beiderseitigen Facialiskerne kreuzen sich 
in der Raphe, nahe zum dorsalen Rande der Briickenformation. 

Nach meinen Untersuchungen muB am Querschnittsbilde des Facialiskemes 
stets eine dorsale und eine ventrale Gruppierung der Nervenzellen unterschieden 
werden; diese Gruppen sind an jedem Querschnitte scharf erkennbar (Fig. 19, 20, 21). 
Innerhalb der dorsalen und ventralen Kempartie sind die Zellen auch nicht gleich- 
maBig angeordnet. Die dorsale Kernhalfte besteht fast immer aus einer einzigen 
Zellgruppe (Fig. 19 u. 21) und nur in der Langsmitte des Kernes, dort, wo derselbe 
seine groBte Ausdehnung hat, konnen drei dorsale Gruppen unterschieden werden 
(Fig. 20). — Die ventrale Kernhalfte zeigt fast stets drei Gruppen von Nervenzellen 
(Fig. 19 u. 21) und dort, wo die dorsale Halfte aus drei Gruppen besteht, kann man 
in der ventralen Halfte vier Gruppen unterscheiden (Fig. 20). Voriibergehende 
Lageveranderungen der einzelnen Gruppen konnen vorkommen, wodurch es den 
Anschein gewinnt, als ob an einer Stelle des Facialiskern es derselbe aus zwei ven¬ 
tralen und vier dorsalen Gruppen bestehen wiirde, wie ich dies auch in einem Pra- 
parate des Falles Carcinoma buccae beschrieben habe. 

Wenn man den Facialiskern synoptisch rekonstruiert, wird 
derselbe aus zwei langen grauen Saulen gebildet: aus einer dorsalen 
und einer ventralen. Diese zwei Saulen sind gleich lang und konfluieren bloB 
an den zwei Enden des Facialiskemes, verlaufen im iibrigen getrennt und parallel. 
Die dorsale Saule bildet eine einheitliche Zellansammlung, und bloB in der Langs¬ 
mitte des Kernes losen sich von ihr zwei kurze accessorische Saulen los; sie befinden 
sich stets lateral und ventral von der dorsalen Hauptsaule, ihre Lange betragt einige 
Millimeter. Die ventrale Saule teilt sich stets in drei Saulen zweiter Ordnung; 
es sind dies eine mittlere, eine innere und eine auBere Saule. Dort, wo der Facialis- 
kem seine groBte Ausdehnung erreicht, lost sich von der auBeren Saule noch eine 
kurze accessorische Saule los, welche von dieser lateral liegt. 

Behufs Bezeichnung der Zellgruppen des Facialiskemes ist die Benennung 
van Gehuchtens (24, 25) und Marinescos (47, 48) nicht zweckmaBig und auch 
nicht iiberall geniigend; viel einfacher ist die von Par ho n (57, 60) vorgeschlagene 
Numerierung und zwar in der Weise, daB in der dorsalen und ventralen Kernhalfte 
die jeweilige medialste Gruppe als erste dorsale resp. ventrale bezeichnet wurde 
und die weiter seitlich gelegenen Gruppen mit der fortlaufenden Nummer benannt 
werden. 

Beziiglich der Zellgruppen im Facialiskerne bin ich somit zu 
folgenden Schliissen gekommen: 

1. An jedem Querschnittsbilde bildet der Facialiskern eine quer- 
gestellte langliche Zellanhaufung, deren Achse medial und dorsal 
gerichtet ist. 


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2. Die Nervenzellen bilden im Facialiskerne stets eine dorsale 
und eine ventrale Gruppierung; synoptisch besteht der Facialiskern 
stets aus einer dorsalen und einer ventralen Saule (Fig. 19, 20, 21). 

3. Die ventrale Gruppierung ist immer die groBere. 

4. Die dorsale Kernhalfte besteht am spinalen Kernende aus 
einer (Fig. 19), dann aus zwei und in der Langsmitte des Kernes aus 
drei Gruppen (Fig. 20); im cerebralen Kernabschnitte wird die dorsale 
Kernhalfte stets von einer einheitlichen Zellgruppe gebildet (Fig. 21). 

5. Die ventrale Kernhalfte besteht in ihrer ganzen Langenaus- 
dehnung aus drei Zellgruppen (Fig. 19, 21), zu welchen in der Langs¬ 
mitte des Kernes noch eine vierte Zellgruppe (Saule) hinzutritt 
(Fig. 20). 

6. Die Bezeichnung der Kerngruppen des Facialis kernes geschieht 
in der einfachsten Weise, wenn man die dorsalen und ventralen 
Gruppen, von der jeweiligen medialsten Gruppe beginnend, mit 
Nummern bezeichnet. 

c) Physiologische oder funktionelle Lokalisationen im Facialiskerne. 

Zur Feststellung der aus meinen Untersuchungen ableitbaren lokalisatorischen 
Folgerungen ist es notwendig, die untersuchten Falle in Kiirze zu resiimieren: 

Im ersten Falle wurde durch das Carcinom zerstort: a) in der rechten Gesichts- 
halfte die obere und untere Halfte des M. orbicularis oris (Nervi buccales inf. et sup.), 
der M. quadaratus labii sup. und zum Teil die Mm. zygomatici (Nervi buccales sup.) 
und schlieBlich die Muskeln des Kinnes (Nervus subcutaneus mandibulae); in der 
linken Gesichtshalfte waren zerstort der M. orbicularis oris (namentlich sein unterer 
Teil) und die Muskeln des Kinnes. — Dementsprechend fand ich im Facialiskern 
Chromolyse in folgenden Zellgruppen (Fig. 22): a) im rechten Facialiskern war die 
zweite ventrale Gruppe fast in ihrer ganzen Lange, die dritte ventrale Gruppe nur 
im spinalen Kernabschnitte und die zweite dorsale Gruppe in der Langsmitte des 
Kernes verandert; b) im linken Facialiskerne waren die Zellen der zweiten ventralen 
Gruppe fast ausnahmslos degeneriert, wahrend solche in der dritten ventralen und 
in der zweiten dorsalen Gruppe nur ganz vereinzelt vorkamen. 

Daraus folgt nun, daB die zweite ventrale Gruppe das motorische jener Muskeln 
bildet, welche in beiden Gesichtshalften gleichmaBig verandert waren: dies ist die 
untere Partie des M. orbicularis oris. Die dritte ventrale Gruppe enthielt rechts 
zahlreiche, links wenige degenerierte Zellen; dem entspricht die rechts stark, links 
kaum zerstorte Kinnmuskulatur. Die zweite dorsale Gruppe war rechts starker 
erkrankt als links; dem entspricht die rechts starker als links zerstorte obere 
Halfte des Orbicularis oris und die Mm. zygomatici. 

Bedeutend einfacher sind die Lokalisationsverhaltnisse im zweiten Falle, wo 
das Carcinom bloB einen Teil des rechten und linken Stirnmuskels zerstort hat; in 
beiden Facialiskemen habe ich degenerierte Nervenzellen gefunden, jedoch aus- 
schlieBlich in einer Zellgruppe: im spinalen Kernabschnitte in der ersten, im cere¬ 
bralen Kernabschnitte in der (einzigen) dorsalen Zellgruppe (Fig. 23). 

Aus meinen Untersuchungen lassen sich nun fur den Facialis¬ 
kern die folgenden Lokalisationen feststellen: 


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i. Die dorsalen Gruppen des Facialiskernes sind in Zusammen- 
hang mit dem oberen Facialisaste (Nervus temporo-facialis). 



Figur 22. Fall Carcinoma buccae: Querschnitt aus der Mitte des rechten Facialis¬ 
kernes. Chromolyse (weiB dargestellte Zellen) in der zweiten dorsalen (VII. d. 2), in der 
zweiten und dritten ventralen (VII. v. 2. und VII. v. 3.) Zellgruppe. — Vergr. 30 : 1. 



Figur 23. Fall Carcinoma front is: Querschnitt durch die spinaleHalfte des rechten 
Facialiskernes. Chromolyse (weiB dargestellte Zellen) in der dorsalen (VII. d.) Nervenzellen- 

gruppe. — Vergr. 30 : 1. 

2. Die Zellen der ventralen Gruppen des Facialiskernes sind mit 
dem unteren Facialisaste (Nervus cervico-facialis) in Verbindung. 


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und Neurologic ._ 


3. Die motorische Innervation des Stirnmuskels besorgt die erste 
(im cerebralen Kernabschnitte die einzige) dorsale Zellgruppe. 

4. Die zweite dorsale Zellgruppe im spinalen Kernabschnitte 
entspricht der oberen Halfte des M. orbicularis oris und den Mm. 
zygomatici. 

5. Aus der zweiten ventralen Gruppe des Facialiskernes ent- 
springen jene Nerven, welche die untere Halfte des M. orbicularis 
oris und den M. levator labii sup. motorisch versehen. 

6. Die dritte ventrale Gruppe des Facialiskernes ist mit den 
Muskeln des Kinnes in Verbindung. 

Lokalisationen fur den menschlichen Facialiskern haben bloB Marinesco 
(47, 48) und Parhon (57, 60) mitgeteilt. Meine Ergebnisse decken sich mit den- 
selben resp. erganzen jene in einigen Details. 

Marinesco (48) lokalisiert das Zentrum des oberen Facialis in dorsale Gruppen, 
das Zentrum des unteren Facialisastes in die mittlere und auBere ventrale Gruppe. 
Dies stimmt ganz mit meinen sub 1 und 2 ausgefiihrten Ergebnissen. In die innere 
ventrale Gruppe lokalisiert Marinesco die Ohrnerven des Facialis; in meinen 
Fallen war kein derartig lokalisiertes Carcinom vorhanden, dafiir war auch in meinen 
Fallen diese Gruppe unverandert. 

Nach Parhon und Papinian (57) entspricht den Kinnmuskeln die dritte 
ventrale Gruppe, was auch ich sub 6 betone. Die zweite dorsale Gruppe nehmen 
Parhon und Papinian fur die Fasern des M. biventer in Anspruch, wahrend ich 
in diese Gruppe den Orbicularis oris und die Mm. zygomatici lokalisiere. 

Parhon und Savou (60) lokalisieren in die ,,untere Halfte des Facialiskernes“ 
(?) die Muskeln der Nase und den M. corrugator supercilii, femer supponieren sie 
hier das motorische Zentrum des M. frontalis. Fur die Lokalisation der Nasen- 
muskeln und des M. corrugator supercilii habe ich keine Belege; den M. frontalis 
aber konnte ich unzweifelhaft in die dorsale Gruppe lokalisieren. 

Bei AbschluB meiner vorliegenden Arbeit ist es mir eine angenehme Pflicht 
und auch ein warm empfundenes Bediirfnis, drei Mitgliedem der Budapester medi- 
zinischen Fakultat meinen innigsten Dank auszusprechen: Herrn Prof. Julius 
Dollinger danke ich fur die giitige Uberlassung der klinischen Daten und Krank- 
heitsgeschichten, Herrn Prof. Hofrat Anton v. Genersich fur die Oberlassung des 
durch ihn sezierten pathologischen Materials. Ganz besonderen Dank schulde ich 
meinem hochverehrten Chef, Herrn Prof. Hofrat Ernst Emil Moravcsik, welcher 
fur meine Untersuchungen stets das warmste Interesse zeigte und mir Zeit und 
Untersuchungsapparate in der liebenswiirdigsten Weise zur Verfiigung stellte. 


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54. Osipow, Uber d. zentr. Ursprung u. Endigung d. N. accessorius Willisii u. d. N. vagus. 

Neurol. Bote. VI. Bd. H. 1 u. 2 (russisch). 

55. G. Pardo, Contributo alio stud, del n. faciale dell'uomo. Richerche Laboratorio di Anatom. 

norm, della R. University di Roma. VII. Bd. H. 2 u. 3. 

56. C. Parhon et Goldstein, L6sions s6condaires dans les cellules du noyeau du Hypoglosse 

k la suite d’un cancer de la langue. Roumaine m6dic. 1901. 1. u. 2. u. Revue neurol. 1901. 

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protub6rantielles (hypoglosse et facial) chez l’homme. Semaine m£dic. 1904. Nr. 50. 

58. C. Parhon et Mme. Parhon, Contrib. k l’6tude des Localisations dans le Noyeau de l’Hypo- 

glosse. Revue neurol. 1903. 

59. C. Parhon et G. Nadejge, Nouvelle contrib. k l’6tude des Local, dans les Noyeaux des 

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Roumaine m6dic. 1900. Nr. 1 u. 2. 

61. B. Pollack, Die Farbetechnik d. Nervensystems. 1903. 

62. Raymond et Duval. Zitiert nach Bechterew. 

63. Roller, Ein kleinzelliger Hypoglossuskern. Arch. f. mikr. Anatom. 1881. 

64. M. Schaternikoff u. H. Friedenthal, Uber d. Ursprung u. Verlauf d. herzhemmenden 

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65. Steinach, Zeitschr. f. mikr. Anatom. XI. 1894. 

66. Streiff, Arch. f. mikr. Anat. 56. Bd. 1900. 

67. Testut, Trait6 d’Anatomie humaine. 

68 . B. Vespa, Studio sulle alterazione del nucleo bulbare del faciale in caso di antica paralisi 

perif. etc. Rivista quindic. di psychiatria. 1899. II. 

69. A. Wallenberg, Das dorsale Gebiet d. spinalen Trigeminuswurzel u. seine Beziehungen 

z. solitaren Bundel b. Menschen. Deutsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. XI. Bd. 

70. Weigert-Ehrlich, Enzyklopadie d. mikroskop. Technik. 1903. 

71. Wyrubow, Uber d. zentr. Endigungen u. Verbindungen d. VII. u. VIII. Hirnnerven. Neurol. 

Centralbl. 1901. 



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1906. 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


49 


Aus der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universitat in Graz. 

Physikalisch-chemische Untersuchungen zur Physiologie 
und Pathologie des Riickenmarkes. 

Von 

Dr. E. Mayr, klin. Assistenten. 


Inhalt. 


Einleitung. 

I. Kolloidchemische Unterschiede der Achsencylinder einzelner Faserarten. 

II. Das Wesen derartiger liistologischer Veranderungen des nervosen Gewebes. 

III. Veranderungen der Achsencylinder im Ruckenmark durch narkotische Stofle. 

IV. Zusammenfassung. 


Einleitung. 

Die fortschreitendcn Kenntnisse in der Chemie und die vielfaltig ausgestal- 
teten Methoden derselben haben in den letzten Jahren auf die Entwicklung der 
meisten biologischen Disziplinen einen wesentlichen und bestimmenden EinfluB 
genommen. Es ist jedoch auffallig, daB davon bisher die Neurologie, sowohl die 
normale als die pathologische, verhaltnismaBig wenig beriihrt wurden. 

Im folgenden wird nun der Versuch gemacht. eine der jiingsten Methoden der 
Chemie, namlich die kolloidchemische auf streng neurologische Probleme an- 
zuwenden. 

Es empfiehlt sich, kurz das zusammenzufassen, was bisher mit chemischen 
Methoden auf neurologischem Gebiete gearbeitet wurde. 

Am oftesten wurde das Zentralnervensystem selbst in verschiedenster Weise 
untersucht und der Wassergehalt des Gehirnes (der grauen Substanz mit 58%, 
der weiBen mit 41%) bestimmt x ) 2 ). 

Ebenso wurde das quantitative Verhaltnis zwischen grauer und weiBer 
Substanz, erstere mit 37,7—39%, letztere mit 61—62,3% des Gesamtgewichtes 
festgestellt 3 ). 

1) C. de Regibus, Atti dell’ accademia di mcdicina di Torino in omaggio di prof. Setin, 

1884. 

2 ) Bernhard, Virch. Arch., Bd, 64, S. 297. 

3 ) B. Danilewski, medic. Centralbl., 1880, Nr. 14. — Petrowsky, Pfliigers Arch., 
Bd. 7, S. 317. 

Journal for Psychologic und Neurologic. Bd. XI 4 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychology 
und Neurologic. 


Den Gehalt und die Verteilung von anorganischen Substanzen hat 
beispielsweiseu. a. Maccallum untersucht und mikrochemisch Chlorideim Achsen- 
cylinder, mit Ausnahme der Lantermannschen Einkerbungen, aber nicht in der 
Markscheide nachgewiesen. Das Protoplasma der Nervenzellen wurde chlorarm, 
der Kern chlorfrei gefunden 1 ). 

Ein Versuch desselben Autors, Kalium als Kobaltsalz mikrochemisch zu 
lokalisieren, scheint miBlungen zu sein 2 ). 

Neuerlich wurde auch der Calciumgehaltim Zentralnervensystem genauer 
untersucht 3 ). 

t)ber die Extraktivstoffe hat Gulewitsch genaue Untersuchungen an- 
gestellt und neben dem Cholin eine Reihe ahnlicher Korper vom Typus der 
Ammoniumbasen dargestellt, welchen Befunden sich eine Anzahl weiterer ange- 
schlossen hat. Es liegen auch schon altere Mitteilungen iiber das Vorkommen von 
Hamsaure, Inosit, Kreatin, Leucin und Milchsaure vor, die seither ofter bestatigt 
wurden 4 ). 

Sehr groBes Interesse hat sich, seitdem Gehirnchemie betrieben wird, den 
Substanzen zugewandt, die sich aus dem Nervengewebe in Alkohol, Ather oder 
ahnlichen Losungsmitteln herauslosen und im allgemeinen „lipoide“ Substanzen 
(Overton) benannt werden. Obwohl diese zum Teil schon Jahrzente hindurch 
bekannt waren, brachte Thudichum zuerst eine zusammenfassende Darstellung. 
Er unterschied: i. Phosphatide, eine Glycerinphosphorsaure, an deren zwei 
Hydroxylen Fettsaure-Radikale hangen, das eine nach dem Typus der Stearinsaure, 
das andere nach dem der Olsaure gebaut, worin eine Saurevalenz durch einen basi- 
schen Korper nach dem Typus der quaterharen Ammoniumbasen (Cholin, Neurin 
usw.) gesattigt ist. Je nach den Fettsauren und dem basischen Radikal entstehen 
verschiedene Korper: Lecithin, Kephalin, Amidomyelin, Paramyelin usw., von denen 
die zwei ersten im Gehirne in groBeren Mengen vorhanden sind. 2. Cholesterin; 

3. Cerebroside (wie Phrenosin, Kerasin usw.), die aus einem basischen Korper 
(Sphingosin), einer hochzusammengesetzten Fettsaure und Galaktose bestehen; 

4. einen schwefelhaltigen Korper, dessen Zusammensetzung noch nicht ge- 
klart ist; schlieBlich noch einige andere in kleinen Mengen vorkommende, noch nicht 
vollkommen charakterisierte Substanzen (siehe Thudichum, die chemische Kon- 
stitution des Gehimes, Tubingen 1902) 6 ). 


!) Maccallum-Menten, Proc. of Roy. Soc. Series B, 1906, Bd. 77, p. 165. 

8 ) A. B. Maccallum, Joum. of Physiolog. Bd. 32, p. 95, 1905. — Macdonald, Proc. 
physiol. Soc March, 1905, 1907, Bd. 79, p. 12. 

3 ) Dh6r6 u. Grim me, Comtes rendues Soc. biol., Bd. 60, p. 1119, 1906. 

4 ) WO Muller, Liebigs Annalen, Bd. 103 usw. — Gulewitsch, Zeitschr. f. physiol. 
Chemie, Bd. 24, S. 513. 

6 ) W. Muller, Annalen der Chem. u. Pharm., Bd. 105, S. 365. — Geoghegan, Zeitschr. 
f. physiol. Chemie, Bd. 3, S. 332. — Gamgee-Blankenhorn, Bd. 3, S. 260. — Liebreich, 
Virch. Arch., Bd. 39, S. 183, 1867 u. Liebigs Annalen, Bd. 134, S. 29. — Parc us. Inaugural- 
dissertation, Univ. Leipzig, 1881. — Diakonow, Hoppe-Seylers med.-chem. Untersuchungen, 
I, 221, 1869. — Ba u mstar k, Zeitschr. f. phys. Chemie, Bd. 9, S. 196. — Chevalier, ibid., Bd. 14, 
S. 97. — Thierfelder, ibid., Bd. 14, S. 299. — Noel, ibid., Bd. 27, S. 370. — Zulzer, ibid., 
Bd. 27, S. 225. — Kossel-Freytag, ibid., Bd. 18, S. 431. — Ruppel, Zeitschr. f. Biologie, 
N. F. Bd. 13, 1895. 


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1906. 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


51 


Diese Befunde, welche die friiheren teils bestatigten, teils richtigstellten, 
wurden auch durch die letzten Arbeiten groBtenteils richtig befunden und weiter 
ausgefiihrt 1 ). 

Koch, der schon mehrfach auf die biologische Bedeutung der Phosphatide 
hingewiesen hatte (Zeitschrift f. physiol. Chem., Bd. 37, S. 181), untemahm gemein- 
sam mit Goodson Untersuchungen fiber die verschiedene chemische Zu- 
sammensetzung einzelner Hirnregionen 2 ). Zwischen dem frontalen und 
dem motorischen Rindengrau fanden sie keinen Unterschied. Das Corpus callosum 
hatte weniger Gehalt an Proteinen, mehr Cerebrin (recte Phrenosin), in der weiBen 
und grauen Substanz waren Lecithin und Kephalin in gleicher Menge vorhanden. 
Jene hatte jedoch, auf feste Substanz berechnet, weniger Extraktivstoffe und 
anorganische Substanzen als diese aufzuweisen. Bedeutend war der Unterschied 
zwischen Corpus callosum und dem Nervus Ischiadicus. Dieser enthielt (mit dem 
Bindegewebe der Scheiden) mehr Proteide und Nucleoproteide, weniger Wasser, 
Lecithin, Kephalin, Cerebrin (recte Phrenosin) als das Corpus callosum; der 
schwefelhaltige Korper war reichlicher im periferen Nerven, am geringsten im 
Rindengrau. Entartetes Gewebe, sowie solches, daB durch Schnitt vom iibrigen 
abgetrennt wurde, enthielt weniger feste Bestandteile und etwas mehr Nucleo¬ 
proteide; der schwefelhaltige Korper, das Lecithin und Kephalin zeigten keine 
wesentlichen quantitativen Differenzen. 

Es enthalten also die zentralen Markfasem mehr Cerebrin als die peripheren. 
Vergleichbar damit ist die Tatsache, daB aus Menschenhim leicht darstellbares 
Paramyelin aus Pferdeischiadicis nicht gewonnen werden konnte 8 ). Es besteht dem- 
nach ein bedeutsamer Unterschied in der Zusammensetzung der zentralen und der 
peripheren Nervenfasern. 

Die Zusammensetzung des degenerierten Nervengewebes wurde auch 
noch von Mott und Bar rat untersucht und es ergab sich, daB die hemiplegische 
Halfte eines Riickenmarkes im Vergleiche mit der gesunden mehr Wasser, einen 
quantitativ reichhaltigeren, aber phosphorarmeren Atherextrakt enthielt 4 ). 

Von den EiweiBkorpern konnte Halliburton (loco cit.) beim Saugetier 
und Vogel gewinnen: 1. ein Neuroglobin a, das bei 47 Graden gerinnt; 2. einNucleo- 
proteid, das bei 56—60 gerinnt und 3. ein zweites Neuroglobulin /S mit einer Ge- 
rinnungstemperatur von 70—75 °. Entsprechend der Gerinnungstemperatur der 
einzelnen EiweiBkorper laBt sich eine entsprechende treppenformige Verkiirzung 
des Riickenmarkes oder der Nerven leicht darstellen. Die Gerinnungstemperatur 
des ersten Neuroglobulins ist bei den einzelnen Tierarten verschieden hoch und 

x ) Bethe, Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 48, S. 72. — Cousin, Journ. de pharm. et 
chimie, Bd. 23, p. 225, 1906, Bd. 24, p. 101. — Gies, W. J., Journ. of Biol, chem., Bd. 93, p. 30, 
1902. — Koch, Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 36, S. 134. — Americ. sec. Naturalist, Science 21, 
p. 884. — Thierfelder-Woerner, Zeitschr. f. phys. Chem., Bd. 30, S. 592. — Thierfelder, 
ib. Bd. 43, 1904, Bd. 44, S. 366—370. — Kitagawa-Thierfelder, ib., Bd. 48, S. 18, 1906. 

2 ) Americ. journ. of physiol., Bd. 14, p. 272, 1906. — Vgl. dazu: Petrowsky, loco cit., 
dann Baumstark, loco cit., Zulzer, loco cit. 

s ) Eigene unveroffentlichte Versuche aus dem Hofmeisterschen Institute zu StraB- 

burg. 

*) Cit. nach Halliburton, Biochemie der periferen Nerven, in Spiro-Ashers Ergeb- 
nissen der Physiologie, Bd. 4, 1905. 

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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
und Neurolog ic._ 


zeigt eine auffallende Ubereinstimmung mit dem Erloschen der elektrischen Erreg- 
barkeit, der Leitfahigkeit der Nerven und dem Eintreten der Warmestarre beim 
wilikiirlichen Muskel (Halliburton, loco cit.). Ein Nucleoproteid wurde von 
Levene 1 ) dargestellt, femer ein Nucleon von Cavazzini 2 ). 

Nach Erschopfung des Nervengewebes durch Ather und Alkohol, sowie nach 
einer peptischen und tryptischen Verdauung erhielten Kiihne und Chittenden 3 ) 
als Riickstand eine Substanz, die sie wegen ihres Schwefelgehaltes und ihrer sonstigen 
Ahnlichkeit mit dem Keratin Neurokeratin nannten. Neuere Untersuchungen 
iiber diesen Korper stehen noch aus. 

Die chemische Untersuchung des nervosen Gewebes ist noch auBerordentlich 
wenig vorgeschritten. Einzelne Substanzen kennt man schon etwas genauer, die 
chemische Konstitution des Cholesterin scheint sich zu klaren 4 ). Ebensp 
wurden die einzelnen lecithinartigen Phosphatide genauer untersucht, in ihrer 
Konstitution und biologischen Bedeutung naher gewiirdigt und diese (Koch, 
loco cit., Ilija, Ruskij Wratsch 1906, cit. nach Biochem. Zentralblatt), sowohl 
in anderen Organen als auch in Pflanzen aufgefunden 6 ). Ober die physiologisch 
interessanten Substanzen ist bisher sehr wenig bekannt. 

In letzterer Zeit wurden einige neue Stoffe aus dem Gehirne dargestellt, 
die der Vollstandigkeit halber hier genannt werden sollen, so ein Paranucleopro- 
tagon von Ulpiani 6 ) und eine Phosphorfleischsaure von Panella 7 ). Auch 
die alte Protagonfrage wurde aufgeworfen und wie es scheint, doch in dem Sinne 
gelost, daB Protagon als ein Gemenge anzusehen ist 8 ). Es liegt noch eine neue 
Angabe iiber Gewichtsabnahme des Gehirnes bei Hunger vor; dieser Verlust 
bezieht sich hauptsachlich auf die Eiweiskorper 9 ). 

Koch hat in jiingster Zeit vergleichende Untersuchungen iiber die Zusam- 
mensetzung von Gehirnen geistesgesunder und an Dementia praecox leiden- 
der Personen angestellt. Bei letzteren zeigte sich in der grauen Substanz eine deut- 
liche Erhohung der Zahlen fiir Protein und Nucleoprotein, eine geringe fiir Cere- 
brine und Aschebestandteile, eine geringe, aber deutliche Herabsetzung fiir die 
Lecithine und den Lipoidschwefelkorper. In der weiBen Substanz sind die Zahlen 


J ) Levene, Arch, of Neurolog. and Psychopath., Bd. i, 2, S. 1 —14. 

2 ) Cavazzini, Arch. ital. de biolog., Bd. 42, Fasc. 1904. 

8 ) Kiihne-Chittenden, Zeitschr. f. Biol., Bd. 26, S. 291. 

4 ) Diels O. Abderhalden, Chem. Berichte, Bd. 39, S 884, 1906. — Neuberg, C., 
ibid, loco, Bd. 39, S. 1155 —Windaus, A., ibid, loco, Bd. 39, S. 518 und 2249. —Mathner,. 
Monatshefte f. Chemie, Bd. 27, S. 421. — Schultze u. Winterstein, Zeitschr. f. physiol. 
Chemie, Bd. 48, S. 546, 1906. 

6 ) E. Schultze u. E. Steiger, Zeitschr. f. physiol. Chem., Bd. 13, S. 365, 1889. — 
Wintgen, M. u. Keller, O., Arch, des Pharm., Bd. 244. — Winterstein u. Hiestand, Zeitschr. 
f. physiol. Chem., Bd. 47, S. 496. 

®) Ulpiani, G. Selli, Gaz. chim. ital. 32, 1, 466. 

7 ) O. Panella, Gion. d. R. Accad. di med. di Torino, 1902, 398. 

®) W. W. Lesem, W. J. Gies, Am. Journ. physiol., Bd. 8, p. 183—196. — W. Cramer, 
Journ. of physiol., Bd. 31, p. 30—37 (pro Protagon). — E. R. Rosner u. W. J. Gies, Am 
Journ. Physiol., Bd. 13, p. XXXV. — Journ. of biol. Chem., Bd. 1, p. 59—122. — N. A. Barbieri, 
Comtes Rendues, Bd. 140, p. 1553. 1620. 

9 ) Shinkishi Hatai, am. Journ. of Physiol., Bd. 12, p. 116—127. 


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1908 . 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. S 3 


bis auf eine geringe Herabsetzung des Proteingehaltes vom normalen wenig ver- 
andert 1 ). Versuche, den Stoffwechsel des Nervensystems dadurch zu bestim- 
men, daB man den Stoffwechsel des ganzen Korpers bei bestimmten korperlichen 
und psychischen Leistungen untersuchte, ergaben, daB geistige Arbeit keinen 
direkten EinfluB auf den Stoffwechsel ausiibe 2 ). Ein Versuch, den Phosphor- 
stoffwechsel desGehirnes als solchen bei star kenSchmerzreizen zu bestimmen, 
zeigt keine wesentlichen Differenzen in den Mengen der atherloslichen Substanzen 
des Jugularis- und des Carctisblutes 3 ). Untersuchungen iiber den Wechsel der 
Blutgase im Gehirn und in den Muskeln im Zustand der Ruhe und der Tatigkeit 
wollen festgestellt haben, daB der Stoffwechsel und die Stromgeschwindigkeit im 
Gehirn unverandeit, in den Muskeln aber beschleunigt sind. 4 ) 

Uber den Stoffwechsel wahrend des Schlafes liegen nicht ganz eindeutige 
Befunde vor 5 ). 

Stoffwechselversuche, wie sie bei pathologischen Zustanden, speziell 
der Hysterie, der Epilepsie, neuerdings auch der Neurasthenic sowie bei Kata- 
tonikern ausgefiihit wurden, seien hier auch erwahnt 6 ). Ebenso die Untersuchungen 
einzelner Se- und Exkrete bei organischen und funktionellen Gehimerkrankungen 
(Blut, Speichel, Stickstoffausscheidung und Phosphatstoffwechsel, dann Ptomaine 
im Ham,Glykosurie usw.), sowie solche, die den EinfluB von Lasionen des Zentral- 
nervensystemes auf den Stoffwechsel des ganzen Korpers feststellten 7 ). 
DaB chemische Vorgange im Zentralnervensystem wahrend dessen 
Tatigkeit ablaufen, ergibt sich auch aus den Versuchen von Lodato und 
Miceli 8 ), die durch Belichtung der Netzhaut die normale neutrale Reaktion der 
Lobi optici des Frosches sich in eine saure umwandeln sahen. Auf die verschie- 
denen in letzter Zeit festgelegten interessanten und auBerordentlich wichtigen 
Beziehungen zwischen Nervensystem und gewissen anderen Organen 
(Schilddriise, Epitelkorperchen, Nebenniere, Hypophyse usw.) soil hier nicht naher 
eingegangen werden. 

Es lag nahe, an die Moglichkeit zu denken, durch Untersuchungen des Liquor 
cerebrospinalis bei den verschiedensten physiologischen und pathologischen 
Zustanden eine Reihe von Aufschliissen iiber das Wesen dieser Vorg&nge selbst zu 
erhalten. Trotzdem die diesbeziigliche Literatur bereits sehr angewachsen ist, 
konnten nur wenige Befunde in diesem Sinne verwertet werden, so die Phosphat-, 


!) Koch, Arch, of Neurol., 1907, Bd. Ill, p. 331. 

2 ) S. Speck, Arch. f. exper. Path. u. Pharm., Bd. 15, S. 81, wohl auch Mainzer, Monats- 
schrift f. Psychiatrie u. Neurol., Bd. 14 (6), S. 442, 1903. — Atwater, Woods u. Benedikt, 
U. S. Departement of agriculture Bull 44, 1897. 

3 ) Malerba, Gionnale intern, di scienz. med., Bd. 27, 1906. 

4 ) L. Hill u. Navarro, Journ. of Physiol. Bd. 18, S. 218. 

6 ) Leo Breisach, Dubois’ Reymonds Archiv, 1890. 

6 ) Gilles de la Tourette u. Cathelineau, C. R. Soc. biol., Bd. 41, p. 533 etc. — 
F. Roger, ibid., Bd. 45, p. 2. — Krai ns ki, Stoffwechsel bei Epilepsie, Charkow 1895—96. — 
Rosenfeld, M., allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 63, 1906. — Bechterew, Neurol. Zentralbl., 
Bd. 17, p. 1084 und viele andere. 

7 ) Modica u. Andenino, Archivio di psichiat. scienze penali ed antropol., Bd. 22, 
fasc. 4—5, Torino 1901. — Valenti, A., Arch, di farm, e scienze affini, Bd. 2, p. 127. 

8 ) Lodato u. Miceli, Arch, di ottalmog., Bd. 9, 1902. 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


die Ammoniak- und die Cholinbestimmungen (siehe weiter unten). Eine Tatsache 
erscheint besonders bemerkenswert, namlich die sekretorische Funktion des 
Plexus Chorioideus, welche diesem einzelne Stoffe zu Retinieren gestattet, 
wahrend andere glatt in den Liquor iibergehen. Interessant ist auch, daB diese 
Fahigkeit durch bestimmte Gifte verloren gehen kann und an Stelle der Sekretion 
eine Transsudation tritt 1 ). 

Der Gasaustausch der Nerven wurde erst in letzter Zeit untersucht und 
dabei der EinfluB der Kohlensaure und die Bedeutung des Sauerstoffes festgestellt 2 ). 
t)ber den Gasaustausch kleiner Abschnitte des Nervensystems unter den verschie- 
densten Bedingungen wurden genaue Bestimmungen vonT. Thunberg 3 ) mit dessen 
Mikrorespirometer gemacht. Versuche liber den Gasaustausch narkoti- 
sierter Nerven ergaben eine Hemmung der Sauerstoffaufnahme 4 ). Es konnte 
auch festgestellt werden, daB das Zentral nerve ns ystem ein bedeutend groBeres 
Sauerstoffbediirfnis hat als das iibrige Gewebe (S. Baglioni, Zeitschr. f. 
allg. Physiol., Bd. 5, S. 415—434); daB femer bei den einzelnen Schlafmitteln 
eine wesentlich verschiedene Beeintrachtigung des Gasaustausches statt- 
findet. Dieser war am geringsten bei Chloralhydrat, etwas starker bei Sulfonal und 
Paraldehyd. Die geringste Beeintrachtigung ergab sich bei Wirkung von Urethan 
und Hedonal 6 ). Untersuchungen der Blutgase bei Anasthesie mit Amylen, 
Bromathyl und Stickoxydul lieBen eine Herabsetzung und Verlangsamung der 
Oxydationsprozesse annehmen 6 ). 

Ein besonderes Kapitel bilden die Untersuchungen der Einwirkungen einzelner 
Gifte im weitesten Sinne des Wortes auf den Organism us, speziell die Reaktion 
des morphologischen Aufbaues der nervosen Apparate und von deren Leistungen. 

Bekannt ist die Wirkung der Bakteriengifte auf das Nervensystem; die 
daraus entstehenden Storungen sind klinisch wohlbekannt, wenig jedoch deren 
Mechanismus (die verschiedenen Neuritiden, der Tetanus, die artifizielle Myelitiden 
durch Dyssenterie 7 ) usw.). Dazu wird man wohl auch die sogenannten metalue- 
tischen Erkrankungen des Nervensystemes zahlen miissen. 

Es gibt viele Untersuchungen, welche diese Verhaltnisse zu klaren bemiiht 
waren; so fiii* die Lyssa den beriihmten Versuch Pasteurs, fur den Tetanus 
die bekannten Versuche Wassermanns (Berlin. Klin. Wochenschr, 1898, S. 5), 
denen sich noch viele andere angeschlossen haben 8 ). Die Untersuchungen von 


*) A. u. E. Cavazzini, Zentralbl. f. Phys., Bd. 6, Nr. 18, S. 533. — Ducrot u. Gau- 
trelet, C. R. Soc. biol., Bd. 57, I. p. 160. 

*) Bayer, Frohlich, Bait, Zeitschr. f. allg. Physiol., Bd. 2, 3, 4, 1902—04. — Bag¬ 
lioni, ib., Bd. 4, Heft 3, 4, 1904. — Baas, Pflugers Arch., Bd. 103, 1904. 

3 ) T. Thunberg, Zentralbl. f. Physiol., Bd. 18. 

4 ) Winterstein, Zeitschr. f. allg. Physiol., Bd. I. — Frohlich, ibid., Bd. 2, S. 75. 

6 ) M. Glagoleff, Inaugurationsdissertation, Petersburg 1903. 

®) Ch. Livon, C. R. soc. biol. Paris, Bd. 55, p. 144, 397, 1477. 

7 ) Dopter, Annales Inst. Pasteur, Bd. 19, 1905, p. 353. 

®) Donitz, Deutsche med. Wochenschr., S. 428, 1897. — Knorr, Munchner med. 
Wochenschr., 1898, S. 11—12. —Mayer, Ransom, Arch. f. exper. Pharm., Bd. 49, S. 369—416. 
— Ransom, Deutsche med. Wochenschr., 1898. — Asakawa, Zentralbl. f. Bakteriol., Bd. 24, 
S. 66. — Tiberti, ibid., Bd. 38, Heft 3, 4, 5, 6, 7, 1905. — Zupnik, Deutsche med. Wochenschr., 
1905, S. 1899. 


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1906 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


55 


Calmette, Kyes und Sachs usw. liber die Schlangengifte, auch die Spinnen- 
gifte waren hier einzubeziehen 1 ). 

In jiingster Zeit wurde yon Landsteiner und Botteri (Zentralbl. f. Bak- 
teriol., Bd. 42, S. 562—566, 1906), eine Affinitat zwischen lipoiden Substanzen, 
speziell einem phrenosinhaltigen Gemenge, dem Protagon, einerseits und dem 
Tetanustoxin andererseits festgestellt, dagegen keine solche zu EiweiBkorpem. Es 
wurde auf Grund dieser Befunde die Ansicht ausgesprochen, daB die Toxinwirkung 
auf einer Zerstorung der normalen Kombination von Lipoid und EiweiB im Proto¬ 
plasma beruhe. 

Aus alien diesen Befunden geht hervor, daB im Nervengewebe Affinitaten 
physikalischer oder chemischer Natur fur die einzelnen Gifte verhanden sind, 
soweit die bisherigen Erfahrungen einen Cberblick gestatten. Die Affinitaten fur 
die einzelnen Gifte sind nicht identisch und nicht fiber das gesamte Organ gleich- 
maBig verteilt, sondem bestimmt lokalisiert und haben den Charakter des Spezi- 
fischen 2 ). Es finden sich eine Reihe von den oben erwahnten Bestandteilen des 
Nervengewebes in groBerer Menge auch im Stroma der roten Blutscheiben vor. 
Viele Nervengifte haben spezifische hamolytische Wirkungen und es werden auch 
diese Wirkungen vielfach von serologischen Gesichtspunkten betrachtet. 

Eine andere Reihe von Korpem sind die zahlreichen organischen Substanzen, 
welche vorwiegend narkotische Wirkungen haben. Die groBe Loslichkeit der 
,,lipoiden" Substanzen in Alkohol, Ather, Chloroform usw. waren schon lange bekannt 
und mit ihrer narkotischen Wirkung in Zusammenhang gebracht worden 8 ). t)ber 
den Mechanismus der Wirkung gibt es eine Reihe wertvoller Untersuchungen; 
es liegt die Annahme von Claude Bernard vor (Le$on des Anesthesiques, 
Paris 1875, S. 153), wonach die Narkose eine Semicoagulation des Proto¬ 
plasmas sei, die nach Entfernung des Narkoticums zuriickgehe. In der Tat 
konnte Binz aus Stricken (Vorlesungen iiber Pharmak., Vorles. 10, S. 175, cit. 
nach Overton, a. a. O.) von Himrinde, welche in 1 proz. Morphiumlosung oder in 
solcher von neutralem Choralhydrat gelegen hatten oder Chloroformdampfen aus- 
gesetzt waren, Schnitte anfertigen, die ganz triibe waren und in denen sich die 
Kerne dicht bestaubt zeigten. Dazu gehoren die Befunde von Lo Monaco und 
Marroni 4 ). Ather laBt in den Nervenzellen die Fortsatze schwinden, die Chromatin- 
masse zerfallt in kleine Stiicke, spater Chromatolyse; der Kern ist diffus gefarbt 
und es erfolgt eine langsame Zerstorung. In Petrolather hingegen bleiben die Fort¬ 
satze lange erhalten, die Kerne und Kernkorperchen aber schrumpfen. 

P. Dubois faBt die Narkose als eine partielle Entwasserung des Ner¬ 
vengewebes auf 6 ). H. H. Mayer und Overton stellten beide unabhangig von 

Calmette, Annales Instit. Pasteur, 1894, Bd. 8, 1895, Bd. 9. — Noc, Annales Instit. 
Pasteur, Bd. 18, p. 387, Bd. 19, 210. — Joukowsky, ibid., Bd. 14, p. 464. — P. Kyes, Berlin, 
klin. Wochenschr., 1902, Nr. 38, 39, 1903, Nr. 42, 43, 1904, Nr. 19; Zeitschr. f. physiol. Chemie, 
Bd. 41, Heft 4, 1904. — Sachs, Sammelreferat, Biochem. Zentralbl., Bd. 5, S. 257, 305. 

2 ) Ehrlich, tlber die Beziehungen von chem. Konstitution, Verteilung und pharm. 
Wirkung. Leyden-Festschrift, Bd. I, 1899. 

8 ) Bibra-Harlefi, 1847. — Hermann, Arch. f. Anat. u. Physiol., 1866. — Pojil. 
Arch. f. exper. Path. u. Pharm. 1891, Bd. 28. 

*) Archivio di Farmacologia sperimentale, 1902, Heft 1. 

*) Anesthesie physiologique, Paris 1894, p. 15. 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


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einander fest, daB die narkotische Wirkung einer groBen Zahl von Substanzen 
um so starker ist, je leichter sich diese in 01 losen und daB die Giftigkeit parallel 

mit dem Teilungskoeffizienten = ^y^ ser 

Baum wies nach, daB sich die Giftigkeit mit der Temperatur (Arch, 
f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 46) entsprechend dem verschiedenen Teilungskoeffi¬ 
zienten andeit. Archangelsky 2 ) fand mit dem Fortschreiten der Narkose immer 
groBere Mengen von Chloralhydrat und Aceton im Gehirn, wahrend die anderen 
Organe viel armer an Gift blieben. J lingste Versuche mit Chloroform hatten 
dasselbe Ergebnis 3 ). Es scheint also, daB im Gehirne gewisse Stoffe vorhanden sind, 
welche fiir die narkotisierenden Substanzen eine besonders groBe Affinitat haben. 
Tatsachlich sind die sogenannten ,,lipoiden“ Substanzen, die im Nervensystem 
reichlich vorkommen, dem Olivenol ziemlich ahnlich, die Phosphatide diesem sogar 
chemisch einigermaBen verwandt. Alle diese Stoffe losen sich in den untersuchten 
narkotischen Substanzen. In alien iibrigen Organen des Korpers sind, wie bereits 
friiher hervorgehoben wurde, solche ,,Lipoide“ vorhanden, so auch in den Stromas 
der roten Blutscheiben. Es muB also auch in den iibrigen Organen eine Ansammlung 
von narkotischen Stoffen erfolgen, die auch dort ihre Wirkungen ausiiben (die 
Hamolyse bei der Narkose am Menschen). 

AuBer den bereits oben erwahnten Untersuchungen des Gasaustausches bei 
Narkose liegen noch solche iiber den Stoffwechsel bei Ather-, bzw. Chloro¬ 
form narkose vor, welche aber bis jetzt noch keine allgemein zu formulierenden 
Resultate ergaben 4 ). 

Die oben geschildei te GesctzmaBigkeit gilt fiir eine groBe Zahl von organischen 
Substanzen (Kohlenwasserstoffen, Alkoholen, Aldehyden, Siiuren, Estern und deren 
Halogenderivaten), fiir viele andere Stoffe (meist Alkaloide), wie Morphium, 
Cocain, aber auch andere basische Substanzen und Farbetoffe jedoch nicht. Fiir 
diese miiBte neben einer physikalischen Affinitat noch eine streng chemische 
angenommen werden. 

A. Babel 6 ) fand fiir einzelne Korper der letzten Kategorie eine der folgenden 
Reihe nach fallende Affinitat zu den Gehirnzellen: Morphium, Dionin, Heroin, 
Cocain; durch Zufuhr von Sauerstoff werden diese Substanzen oxydiert, und zwar 
am meisten Morphium, am wenigsten Kodein. Eigenartige Beziehungen konnten 
zwischen Hungerzustand und narkotischer Wirkung festgestellt werden: Chloral¬ 
hydrat, Paraldehyd und Morphium hatten am hungernden Tiere eine starkere 
Wirkung als am normalen, wahrend Alkohol, Urethan und Amylenhydrat ihre 
Wirkung nicht wesentlich anderten. Diese Befunde waren so zu deuten,.daB im 
Hungerzustand die Substanzen, welche Affinitaten fiir Narkotica haben, aus dem 
iibrigen Korper verschwinden, wahrend sie im Nervensystem erhalten bleiben, 

*) H. Mayer, Arch. f. experim. Path. u. Pharm., Bd. 42, p. 46. — Overton, Studien 
iiber die Narkose, 1901. 

2 ) Archangelsky, Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 46, S. 347. 

3 ) Mans jo u u. Tissot, Comt. rendues d. 1 . society de biologi?, Bd. 60, p. 241. — Journ. 
de phys. et path, gener., Bd. 8, p. 442, 1906. 

*) Hawk, Am. Journ. of Physiol., Bd. 10, p. 38. — F. Gelati u. L. Vaccari, Bollet, 
Societa chirurgo med. die Modena, Bd. 6, p. 97—102. 

6 ) A. Babel, Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 52, p. 267. 


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PHYSIKAL 1 SCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 57 


und zwar bloB die Substanzen, welche Chloralhydrat, Paraldehyd und Morphium 
festhalten; also auch hier pragen sich zwei Gruppen von Narkotica 1 ). In jiingster 
Zeit wurde diese Angabe nachgepriift. Es ergab sich, daB der Fettgehalt der 
Tiere keinen EinfluB auf die Tiefe der Narkose ausiibt und die Lipoide des 
Korpers somit auf die Verteilung des Narkoticums nicht in der angenommenen 
Weise wirken, daB also die bei den Hungertieren festgestellten Befunde in anderer 
Art zu erklaren seien 2 ). B. Moore und Roaf 3 ) nehmen fur beideTypen unbestandige 
Verbindungen zwischen Anastheticum und Lipoid, Anastheticum und EiweiBkorper 
an, welche Verbindungen mit sinkendem Partialdruck im Blut wieder zerfallen. 
Man vergleiche hierzu Landsteiner und Botteri weiter oben. 

P.Ehrlich 4 ) fand, daB dieeinzelnenOrganein den KorpergebrachtesMethylen- 
blau in verschiedenem Grade zuriickhalten und zur farblosen Leukobase reduzieren. 
Das normale Gehim reduziert den Farbstoff sehr stark, was auf einen star ken 
Sauerstoffbedarf in diesem Organe schlieBen laBt. Vergiftung mit Ather, Chloroform, 
Chloral, Sulfonal, Diathylsulfon, Blausaure, Leuchtgas, Adrenalin, aber auch starke 
Temperaturemiedrigung setzen die Fahigkeit des Gehirns, Methylenblau zu ent- 
farben, sehrherab 6 ). Wahrend der Narkose ist also entweder das Sauerstoffbediirfnis 
geschwunden oder die Fahigkeit verloren gegangen, Sauerstoff aus seiner Verbindung 
freizumachen. Man kann eine Obereinstimmung der Resultate dieser Untersuchun- 
gen mit jenen der Versuche iiber den Gasaustausch bei Narkose deutlich ersehen. 

Es sollen noch kurz die Angaben von Mott und Halliburton (Halliburton, 
loco cit.), referiert werden: die charakteristischen Wirkungen des Cholins, dessen 
Vorkommen im Blute und in der Cerebrospinalfliissigkeit bei verschiedenen Zu- 
standen, die mit Zerfall nervoser Substanz einhergehen, wie paralytischer Anfall, 
Degeneration periferer Nerven usw. Bei den letzteren erfolgt mit dem Sinken der 
Erregbarkeit des Nerven und dem Auftreten der Marchischen Reaktion, welche 
bekanntlich auf Reduktion der Cberosmiumsaure durch freie Valenzen von Sub¬ 
stanzen mit doppelter Bindung beruht (wie Olsaure, Kephalinsaure usw.), ein An- 
stieg des Cholingehaltes im Blute. Die Cholinbefunde wurden von mancher Seite 
bestatigt 6 ), von anderer Seite aber widersprochen und zwar in methodischer Hinsicht 7 ). 

Die ursachliche Bedeutung fur den paralytischen Anfall, die Halliburton 
dem Cholin zuzusprechen geneigt ist, muB vorlaufig als noch nicht bewiesen an- 
gesehen werden. 

Das Verhalten von Cholin im Tierkorper wurde in jiingster Zeit untersucht 
und ein Abbau von Ameisensaure und Glyoxylsaure festgestellt; liber den Verbleib 
des Stickstoffes 8 ) ist dermalen noch nichts bekannt. 

*) G. Mansfeld, Magyar orvosi archivum, p. 547, 1904. 

2 ) Cloetta, M. f Arch. int. de Pharm. et de Ther., Bd. XVII, Heft 1—2, 1907. 

3 ) Moore, B. u. Roaf, H. E., Proc. Roy. Soc. Series B., Bd. 77, p. 86, 1906. 

4 ) Ehrlich, Deutsche med. Wochenschrift, 1887. 

6 ) C. A. Her ter, Zeitschr. f. physiol. Chem., Bd. 42, p. 491. 

8 ) Gumprecht, Verhandl. inn. KongreB, Wiesbaden 1900, S. 326. — Donath, Zeitschr. 
f. physiol. Chem., Bd. 39, 42, 1903 u. 1905. — Coriat, Amer. Journ. of Physiol., Bd. 12, p. 353; 
Amer. Journ. of Isanity, Bd. 59, p. 393, 1903, Bd. 6o, p. 733, 1904. — Kutscher-Lohmann, 
Zeitschr. f. physiol. Chem., Bd. 39, S. 313, 1903. — Noll, ibid., Bd. 27, S. 370. 

7 ) Mansfeld, Zeitschr. f. Physiol. Chem., Bd. 42, S. 157, 1905. 

8 ) Hoesslin, Hofmeistcrs Beitrage, Bd. 8, S. 27, 1906. 


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nnd Neurologic. 


Nach Cholininjektionen erfolgt im Kaninchenblut ein Sinken der Leukocyten- 
zahl mit gleichzeitigen Zerfallserscheinungen, dem ein Anstieg und starkere Schwan- 
kungen folgen 1 ). % 

Von den anorganischen Giften seien das Blei, das Arsen wegen ihrer selek- 
tiven Lokalisation kurz erwahnt. Man vergleiche damit die Angabe Bokornys, 
daB sehr geringe Konzentrationen (Pfliigers Arch., Bd. no, S. 174, 1906), bis zu 
1:1000 Millionen, von Kupfersalzen oder solchen von Silber oder Quecksilber auf 
einzellige Lebewesen gif tig wirken. 

Hierher gehort auch noch die eigenartige curare-ahnliche Wirkung der 
Magnesiumsalze 2 ). 

Es sollen noch einige Angaben referiert werden, welche den EinfluB fiir ge- 
wohnlich indifferenter Stoffe auf die nervosen Organe behandeln. 

Ivo Novi 3 ) konnte durch intravenose Einverleibung von groBeren Koch- 
salzmenge n, bis zum doppelten Gehalt des Blutes an Kochsalz, tetanische Krampfe 
auslosen, die er auf Wasserarmut bezog. In der Rinde war tatsachlich eine Wasser- 
verminderung eingetreten, der Kaliumgehalt nahm zugunsten des Natriums ab, 
dementsprechend die Menge der Chloride zu. Die Summe des Kaliums und des 
Natriums blieb aber konstant. Ducceschi 4 ) untersuchte die Reizbarkeit des 
Frosch-Gastocnemius bei mit Kochsalzlosung durchspiilten Riickenmark. Bei 
einer Konzentration von 0,1—0,6% war die Reizbarkeit herabgesetzt, bei 0,6 bis 
1,0% normal, bei 1,0% und hoher steigerte sich die Reizbarkeit, wenn nicht mit 
diinner Losung abgewechselt wurde, bis zum Tetanus, Erschopfung oder Tod. Die 
histologische Untersuchung zeigte bei hypotonischen Losungen (0,1—0,6%) Quellung, 
bei hypertonischen (1,0 und dariiber) Schrumpfung der Gewebselemente. 

S. Lalou und Andr6 Mayer 5 ) riefen durch Infusionen von konzentrierter 
Kochsalzlosung epileptiforme Zustande hervor. Bei genuiner Epilepsie erhielten 
sie auch erhohte Blutkonzentrationen (entsprechend einem Gefrierpunkte von 
— 0,74—1,40), durch konz. Natriumbromid-Losungen konnten sie keine Anfalle er- 
zielen. Im Gegensatze dazu war bei der Wirkung der eigentlichen Krampfgifte 
(Ammoniak, Tetanustoxin), der Gefrierpunkt nie erniedrigt, weder der des Blutes, 
noch der des Gehirnes, wie es bei hypertonischen Losungen immer der Fall war. 

Hierher gehoren noch die Befunde Sabbatanis und Roncoronis 6 ), von 
denen der erste durch Aufpinseln von Calciumlosungen auf das freie Gehim dessen 
Erregbarkeit herabsetzen und durch Natriumoxalat oder Alkaliseifen steigem, 
der andere durch sekundares Natriumphosphat die hemmende Wirkung einiger 
Calciumsalze, nicht aber des Bromides und Jodides aufheben konnte. 


1) Werner Lichtenberg, Deutsche med. Wochenschr., Bd. 32, Nr. 1, S. 22, 1906. 

2 ) Overton, Pflugers Arch., Bd. 1905, S. 176 (1904). — Meltzer-Auer, Amer. Journ. 
of physiol., Bd. 14, p. 306—388, 1905; Journ. of exp. Medec., Bd. 8, p. 692, 1906. — Meltzer, 
Berl. klin. Wochenschr., 1906. — Wiki B. C. R., soc. de biol., Bd. 6o, p. 1008 (1906). 

8 ) Ivo Novi, Lo sperimentale Maggio, 1887; Annali di chim. e farmac. Bd. 4, Ser. 6, 
p. 367; Pflugers Arch., Bd. 48, S. 320. 

4 ) Ducceschi, Lo sperimentale, Bd. 52, p. 283, (1898). 

*) S. Lalou u. A. Mayer, C. R. soc. biol., Bd. 54, p. 45 2 u. 7 $ 5. 

«) Sabbatani, Riv. sper. die freniatr. e med. leg., Bd. 27, 1901. — Roncoroni, ibid., 
p. 120, 1904; Neurol. Zentralbl.. Bd. 24, S. 992. 


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PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


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Batelli untersuchte die einzelnen Bestandteile des Blutes 1 ), hauptsachlich 
die Salze, in ihrem Einflusse auf die Leistungen der nervosen Zentren. Dberlebende 
Riickenmarke erhielten sich am langsten bei Durchspiilung mit einer Fliissigkeit, 
die Kochsalz (8—12%), Calciumchlorid, Traubenzucker enthielt und mit Sauer- 
stoff gesattigt war. Zu ahnlichen Resultaten gelangte Baglioni 2 ), der in Kochsalz- 
losung und Sauerstoffstrom Froschmuskelnerven-Ruckenmark-Praparate lange er- 
halten konnte, wahrend andere Salze (Calciumchlorid, Lithiumchlorid, Natrium- 
nitrat, Natriumacetat und Natriumcarbonat), die Reflexerregbarkeit in kiirzester 
Zeit zerstorten. Diese Befunde ergeben eindeutig die Notwendigkeit einer kon- 
stanten Konzentration bestimmter Salze fiir den normalen Ablaut der Leistungen 
nervoser Organe. Ein Versuch (Jovi) gibt uns sogar einen Fingerzeig, in welcher 
Art die Schadigung bei Veranderung der Konzentration einzelner Salze erfolgt; 
es treten namlich aus dem Gewebe gewisse Ionen ein und andere dafiir aus. Die 
Versuche Sabbatanis und Roncoronis zeigen auch, wie bestimmte Salze das 
Gewebe zu bestimmten Leistungen veranlassen konnen. 

Wenn der isolierte Nerv in Losungen verschiedener Salze gebracht wird, so ver- 
andem sich einzelne Funktionen in bestimmter Weise. Es zeigt sich auch hier, daB 
Kochsalz die Erregbarkeit des Nerven am langsten erhalt: Na>Cs> Rb> K 
und da wieder Cl > Br > J; dann Ba > Sr > Ca von den Erdalkalien 8 ). 

Nach Mathews und Hober 4 ) erganzt sich diese Reihe folgendermaBen: 
J > Br > Cl > S 0 4 , HP 0 4 , Tartrat und K < Rb < NH 4 < Na < Li <. In einer 
jiingsten Arbeit Hobers 5 ) wurde sowohl die Erregbarkeit des Nerven als dessen 
primare Farbbarkeit (nach Bethe) durch Salzlosungen in ahnlicher Weise er- 
erhalten, beziehungsweise zerstort: Tartrat < S 0 4 < CH S • COO < Cl < Br und 
K < HH 4 < Li< Na. Diese Vorgange werden uns noch verstandlicher, wenn wir 
die Versuche Lobs 6 ) zum Vergleiche heranziehen. Es konnte namlich die Ent- 
wicklungsbedingungen fiir verschiedene Arten von marinen Tieren aus dem be- 
fruchteten oder auch dem unbefruchteten Ei durch verschiedene Anderungen in 
dem Gehalte und den Konzentrationen der einzelnen im Medium gelosten Sub- 
stanzen kiinstlich geschaffen, und auch einzelne Organe (Herz) oder Gewebsteile 
(Muskeln, Nerven) im isolierten Zustande in ihrer Tatigkeit erhalten, ja sogar 
Kern- und Zellteilungen in willkiirlicher Art beeinflussen werden. 

Alle diese Versuche zeigten, daB das lebende Gewebe durch differente Stoffe, 
aber auch durch sogenannte indifferente Salze in seiner physikalischen Struktur 
und chemischen Konstitution verandert werden kann und dieser Veranderung auch 
eine solche in den Leistungen entspricht, daB sogar zwischen beiden innige Be- 
ziehungen bestehen. Lob 7 ) konnte bereits in der Wirkung der ein-, zwei- und drei- 
wertigen Kationen eine Reihe von GesetzmaBigkeiten gewinnen und zwar solche, 

x ) Batelli, Journ. de physiol, et path, gener., No. 6, Nov., 1900. 

*) Baglioni, 2 ^eitschr. f. allg. Physiol., Bd. 4, Heft 3 u. 4, 1904. 

8 ) Grutzner, Pfugers Arch., Bd. 53, S. 82, (1893), nach Hober, Physikalische Chemie 
der Zellen und Gewebe, S. 275, 2. Aufl. 1906. 

4 ) Mathews, Amer. Journ. of Physiol., Bd. 11, S. 455, (1904) und Hober, loco. cit. 

®) Hfiber, Zentralbl. f. Physiol., Bd. 19, S. 390, (1905). 

6 ) Lob, Vorlesungen uber die Dynamik der Lebensvorgange, S. 124, 1905. 

7 ) Lob, Amer. Journ. of Physiol., Bd. 6, p. 411, 1902 und Neilson, ibid., Bd. 7, p. 405, 
1902 und Mathews, Science, Bd. 15, p. 492 (cit. nach H6ber). 


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Journal f. Psychologie 
_mid Neurologic._ 


die mit den Befunden an der toten Materie, wie EiweiB und Gelatine (Hof meister, 
Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 24, 25, 27, 28; Pauli, Hofmeisters Beitrage, 
Bd. 3, S. 225, 1902), sowie auch den Phosphatiden (W. Koch, Zeitschr. f. physiol. 
Chem., Bd. 37, S. 181, Journ. of Biol. Chem., Bd. Ill, S. 53—56, 1907) in vollem 
Einklange stehen. 

Die im vorhergehenden ausgefiihiten Ergebnisse von Untersuchungen der 
elementaren Vorgange im Xervensysteme durch chemische Methoden wurden 
in eigenartiger Weise durch die histologische Forschung erganzt. Es ist 
begreiflich, daB man dabei den morphologischen Substraten, welche die Ganglien- 
zelle darstellen, seit jeher das groBte Interesse geschenkt hat. 

Es mogen noch einige Versuche erwahnt vverden, in welchen durch histo¬ 
logische Farbe methoden die Verteilung einiger besser gekannter chemi- 
scher Substanzen auf die einzelnen morphologischen Elemente be- 
stimmt werden sollte. 

Gad und Heymann 1 ) glaubten auf Grund eigener Untersuchungen von 
Alkohol- und Atherextrakten des Xerven, daB die Osmiumfarbung eine Reaktion 
des Lecithin sei. Da sich bloB die Markscheiden, nicht aber die Ganglienzellen und 
der marklose Nerv mit Osmium farben, nahmen sie an, daB das Lecithin in der 
Markscheide in lockerer Bindung oder ganz frei, im Achsencylinder aber und in den 
Zellen nicht praformiert sei. 

Wlassak 2 ) stellte folgende Tabelle auf: 

MitWeigert farbt sich Protagon und vielleicht Lecithin, mit Osmium farbt 
sich Lecithin und Fett, Marchi farbt bloB Fett. Das Lecithin ist daher farberisch 
hochstens als Differenz zwischen Osmium- und Marchipraparaten zu bestimmen. 

In anderen Arbeiten 3 ) wurde ein Korper als Trager der Affinitat des Nerven- 
systems zum Methylenblau dargestellt, welcher im wesentlichen den Cebrosiden 
nahezustehen und hauptsachlich in der Markscheide lokalisiert zu sein scheint. 

F. Reich (Journ. f. Psychol, u. Xeurol., Bd. VIII, S. 244, 1907) untersucht 
die Farbebedingungen einzelner chemischer Bestandteile des Nervensystems 
fiir die hierfur iiblichen Farbemethoden. Das Lecithin gibt nach Miiller-Hartung 
eine der Weigertschen Markscheidenfarbung entsprechende Tinction mit Hama- 
toxylin und wird durch Osmium grauschwarz. Das ,,Protagon“ farbt sich mit 
Anilinfarben metachromatisch; daher ist diese Art der Farbung nicht als charak- 
teristisch fur EiweiB usw. anzusehen. Das Xeuromucin Unnas miisse nach alien 
seinen Eigenschaften (besonders wegen der Loslichkeit in heiBem Alkohol) als pro¬ 
tagon ahnlicher Korper betrachtet werden. 

Unsere Vorstellungen iiber den Mechanismus der Leistungen der Nervenzelle 
und deren Pathologie gewinnen erst mit den beriihmten Befunden Nissls sicheren 
Boden; gewiB nicht so sehr deswegen, weil er bei verschiedenen Vergiftungen charak- 
teristische Veranderungen in der Struktur und der Farbung dcr nach ihm benannten 
Schollen der Ganglienzellen des Riickenmarkes gefunden hat, als vielmehr, weil von 
ihm zuerst der Begriff des Aquivalentbildes aufgestellt wurde: die Fixierung 

*) Gad u. Heymann, Arch. f. Anat. u. Physio)., anat. Abteil. 1896. 

2 ) Wlassak, Die Herkunft des Myelins, Arch. f. Entwicklungsmechanik, Bd. 6, 1898. 

3 ) Bing, Skand. Arch. f. Physiol., 1900. — Bing u. Ellermann, Arch. f. Anat. u. 
Physiol., 1901, physiol. Abteil. — V. Ellermann, Skand. Arch. f. Physiol., Bd. 14, S. 336, 1903. 


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PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


6l 


und die Farbung des Gewebes ist eine chemische Reaktion desselben. Das histo- 
logische Bild ist nicht das tatsachliche, sondem das durch die^Behandlung bei der 
Fixierung und Farbung entstandene. Jede normale Zelle wird bei gleichbleibender 
Fixierung und Farbung immer dasselbe Bild geben, und ein verandertes Bild wird 
bei gleicher Behandlung auf eine pathologische Veranderung der Zelle hinweisen. 
Dieselbe Auffassung findet man bei der ,,primaren Farbbarkeit" Bethes 1 ): 

Bei einem in Alkohol fixierten Riickenmarkschnitte farbt sich in schwach 
alkalischer Toluidinblaulosung das Grau sehr gut; ebenso die Glia- und Binde- 
gewebsmaschen, dann die motorischen Wurzelfasern, der periphere Nerv, nicht aber 
die Strangfasern. Fixiert man in Ather oder in Ammoniakalkohol und vermeidet 
reinen Alkohol, so findet man die Langsfasern in einem Rosaton gefarbt. Es konnte 
auch bei Alkoholpraparaten durch Behandlung mit schwach konzentrierten Sauren 
die Farbbarkeit der Strangfasern wieder aktiviert werden. Be the faBt die pri- 
mare Farbung als eine Verbindung des Farbstoffes mit einem in der Nerven- 
substanz in verschiedener Form vorhandenem Korper, der Fibrillensaure auf 2 ). 

Je nach den Affinitateri der Substanz zum Gewebe unterscheidet Be the 
freie, aktive (gebundene) und aktivierbare Fibrillensaure. Bei Einwirkung 
des galvanischen Stromes auf den peripheren Nerven verteilt sich die Fibrillensaure 
derart, daB ihre Verteilung einer farberischen Darstellung des Pfliigerschen Elek- 
totonus gleichkommt. Verschiedene physiologische Zustande des Nerven (Er- 
miidung usw.), dann Degeneration und Vergiftung andern die Verteilung der Fi¬ 
brillensaure im Nerven, somit auch die Intensitat der primaren Farbung. Die Art 
des Nervengewebes, mit dem Farbstoff zu reagieren, kann also uber Funktionszu- 
stande oder Schadigungen desselben Aufschliisse geben. Man vergleiche hierzu den 
von Hober 3 ) festgestellten Parallelism us zwischen Erregbarkeit, Farbbarkeit und 
Kolloidkonsistenz der nervosen Substanz. In ahnlicher Art wie die primare Far¬ 
bung der Nervenfasern, verhalt sich die der nach Nissl farbbaren Anteile des 
Ganglienzelleibes. Analog der Fibrillensaure sucht Bethe auch diese Farbung 
auf die Anwesenheit einer besonderen Substanz, der Nisslsaure, zuriickzufuhren 4 ). 

In einer langeren Versuchsreihe wurden unter Bethes Leitung Riickenmark- 
stiicke 5 ), die mit verschiedenen Neutralsalzlosungen vorbehandelt waren, auf die 
Farbbarkeit mit Toluidinblau untersucht. Es zeigte sich eine deutliche Abhangig- 
keit der Farbungsintensitat der Nisslschollen von der vorher beniitzten 
Salzlosung und es konnte eine dem Farbungsgrade entsprechende Tabelle auf- 
gestellt werden. Pauli hat fur die Fallung von EiweiBlosung 6 ) durch Salze eine 
Reihenfolge fur die Fallungsintensitat der einzelnen Salze gefunden. Beim Vergleiche 
beider Tabellen zeigte sich, daB die Anordnung in beiden ziemlich ahnlich ist, jedoch 

Bethe, Allg. Anatom, u. Physiol, des Nervensystemes, S. 135, 1903; Zentralbl. f. 
Physiol., Bd.19, S. 332; DieTheorie der Zentrenfunktion, Spiro-Ashers Ergebnisse der Physiol., 
Jahrg. 5, S. 251 ff. 

2 ) fiber die Frage der chemischen Natur der Farbung siehe u. a. Han Ibuch der mikrosko- 
pischen Technik, 1902, Art. Farbung von O. N. Witt und M. Haidenhein, ferner A. Bethe, 
Hofmeisters Beitrage, Bd. 6, S. 401, 1905. — Michaelis, ibid., Bd. 8, 1906. 

3 ) Hober, loc. cit. 

4 ) Bethe, Allg, Anatom, usw., S, 144. 

6 ) Mayr, Hofmeisters Beitrage, Bd. 8, S. 548. 

6 ) Pauli, Hofmeisters Beitrage, Bd. 3, S. 225, (1903), Bd. 5, S. 27, (1905). 


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Journal f. Psychology© 
and Neurologie. 


in umgekehrter Reihenfolge derart, daB die Salze, welche eine native EiweiBlosung 
am besten fallen, die Farbbarkeit der Nisslschollen am wenigsten erhalten und um- 
gekehrt. Ahnlich verhalt es sich mit der Farbung der Kerne der Glia und des 
Bindegewebes und mit den Kernkorperchen der Ganglienzellen, obwohl 
die drei Reihen untereinander auch deutliche Unterschiede zeigen. Die Eigen- 
schaft, durch Salze in der obenerwahnten Art und Reihenfolge gefallt zu 
werden, wird im allgemeinen den Losungen von Kolloiden zugeschrieben. 
Es lag nun nahe, entsprechend der Ansicht Bethes 1 ) und entgegen der 
Helds 2 ) als Bedingung fiir die Nisslsche Zellfarbung eine hochmolekulare kolloide 
Substanz anzunehmen, die durch die einzelnen Salze mehr oder weniger stark ge¬ 
fallt und dann erst durch ihre Affinitat mit dem Farbstoff sichtbar wird. In Alkohol 
fixierte Stiicke gaben an Salzlosungen die farbbare Nisslsubstanz genau in dem 
Grade ab, als es ihrer Fallungsintensitat entsprach; hingegen mit Magnesiumsulfat 
(gut fallend) vorbehandelte Schnitte, an Natriumsulfat (gut losend) nur sehr wenig. 
Hier handelt es sich offenbar um eine irreversible Fallung. Diese Tatsachen wider- 
sprechen in keiner Weise der Annahme einer einheitlichen Substanz. 

Bei der gleichzeitig ausgefiihrten Untersuchung von Achsencylindern der 
Quer- und Langsfasern von mit Salzlosungen vorbehandelten Riickenmarkstiicken 
zeigte sich, daB es hier zu einer in der Intensitat sehr wechselnden histologischen 
Veranderung der Achsencylinder gekommen war, bei guter Erhaltung der peripheren 
Nerven und der motorischen intramedullaren, sowie der iibrigen extramedullaren 
Wurzelfasem. Die Intensitat der histologischen Veranderung war hier wieder in weit- 
gehendstem MaBe von der Salzlosung, in der das Stuck gelegen hatte, abhangig. Die 
aufgestellteTabelle der Intensitat dieser histologischen Veranderung zeigte eine iiber- 
raschende Gbereinstimmung mit Paulis Tabelle in der Anionenreihe, derart, daB der 
fallenden Wirkung fiir EiweiB eine guterhaltende (resp. wenig zerstorende) fiir Achsen¬ 
cylinder entsprach, wahrend in der Kationenreihe die Wirkung umgekehrt war. 

Pauli (EiweiBfallung durch Alkalisalze): 

FI > S 0 4 > HP 0 4 > Citrat > Tartrat > Acetat > Cl > N 0 3 > Br > J > CNS 
und Mg > NH 4 > K > Na > Li. 

Erhaltung der Strangfasem: 

FI > Tartrat > Citrat > S 0 4 > Oxalat > Acetat > HP 0 4 > Br > N 0 8 > CNS 
> Cl > J und Li > Na > K > NH 4 . 

Ahnliche Reihen wurden bereits von Hofmeister 2 ) fiir die Quellung von 
Leim in Salzlosungen festgestellt. 

In Alkohol vorbehandelte Stiicke gaben an Salzlosungen nichts mehr ab, eben- 
sowenig auf 75 0 erhitzte. Steigerte man die Konzentration der „losenden“ Salz¬ 
losungen, so wurde die Erhaltung immer besser. Man muBte auch hier wieder an ein 
kolloides Substrat denken, dessen Eigenschaften (irreversible Alkoholfallung, 
Koagulation durch Hitze, Fallung durch Schwermetallsalze und die genaue t)ber- 
einstimmung der Salzfallungen) sehr fiir dessen EiweiBreichtum sprachen, was 
mit den allgemeinen Ansichten iiber die Bestandteile des Achsencylinders iiberein- 
stimmt. 

!) Be the, Hofmeisters Beitrage, Bd. 6, S. 417. 

2 ) Held, Arch. f. Anatomie, S. 393, 1895. 

3 ) Hofmeister, Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 25. S. 1, 1889 und Bd. 28, S. 210. 


V 


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BD. XI, HEKTl'2 
1906 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


63 


Neben der deutlichen Differenz zwischen der Resistenz des peripheren 
und des zentralen Achsencylinders konnte man innerhalb der Langsbahnen 
Unterschiede feststeUen, die zu weiteren Untersuchungen aufforderten. Ferner 
fielen die bedeutenden Veranderungen auf, welche die physiologische Kochsalz- 
losung (0,85%), die Ringersche Losung und selbst das eigene Blut verursachten. 
Diese an und fur sich befremdenden Tatsachen stehen nicht allein da: Physio- 
logische Rochsalzlosung \virkt fiir unbefruchtete, noch mehr aber fiir befruchtete 
Seeigeleier sehr giftig; eine solche Losung wird erst durch Beifiigung einer bestimm- 
ten Menge von Kalium- und Calciumsalzen entgiftet 1 ). Bei kiinstlicher Ernahrung 
eines isolierten Kaninchenherzens durch Lockesche Losung entsteht Allorhytmie 2 ). 

Wie weit sich solche am lebenden Organismus beobachteten Vorgange mit 
denen des toten Nervengewebes vereinbaren lassen, soil einstweilen nicht erortert 
werden. 

Das nervose Gewebe besteht somit aus einer Reihe von chemisch leidlich de- 
finierten Substanzen, die hochmolekular und zum Teil eiweiBahnlich, zum Teil 
fettahnlich sind. Von diesen Substanzen losen sich viele ineinander, viele aber nicht, 
so daB Phasen verschiedenartiger Gemenge nebeneinander zu liegen kommen. Die 
x meisten dieser Korper losen sich sehr schlecht, quellen aber darin sehr leicht. Die 
im Wasser gelosten Salze beeinflussen, wie aus den soeben berichteten Versuchen 
hervorgeht, in bedeutendem Masse den Quellungszustand, die Losung oder Fallung 
einzelner Stoffe; es kann angenommen werden, daB die iibrigen Stoffe in ahnlicher 
Weise beeinfluBt werden 3 ). Die durch den fortwahrenden Zerfall der hoch- 
molekularen Stoffe entstehenden Produkte diirften dieselbe Rolle, wie die Salze 
spielen. Von den gelosten Stoffen konnen, falls sie eine entsprechende Diffusibilitat 
besitzen, einige in die gequollenen Teile eintreten und hier chemische Veranderungen 
eingehen. So darf man wohl mit allerVorsicht schlieBen, daB die morphologischen 
Einheiten des Nervensystemes (das Ganglienzellprotoplasma, der Kern, das 
Kernkorperchen, die Nisslschollen, die Dentriten und der Achsencylinderfortsatz, 
dann die Markscheide, der Achsencylinder und darin wieder die Fibrillen) in phy- 
sikalisch-chemischer Hinsicht einzelnen Phasen oder Phasengruppen 
entsprechen. Diese Phasen werden erst dadurch mikroskopisch sichtbar, daB sich 
alle Substanzen, aus denen sie bestehen, entweder in Fixierungsmitteln sehr gut 
losen oder mindestens eine Substanz dieser Phase durch das Fixierungsmittel gut 
ausgefallt wird, oder mindestens eine Substanz dieser Phase fiir einen geeigneten 
Farbstoff elektive Affinitaten hat, oder daB eine Phase einen von der Nachbarphase 
verschiedenen Brechungsindex fur gewohnliches Licht besitzt. Ich erinnere hierbei 
an die unlangst berichteten veranderten Strukturen und Bilder, welche Gewebe 
unter anderen optischen Verhaltnissen zeigen. 


*) Lob, Biochem. Zeitschr., Bd. 2, S. 81, (1906). 

2 ) Humblet, M. Arch. int. de Physiol., Bd. II, S. 257. 

3 ) Siehe auch: Hober, Physikalische Chemie der Zelle und der Gewebe, 2. Aufl. 1906.— 
Flexner-Nogushi, Joum. of exp. Med., Bd. 8, S. 547—567, (1906). — Craw, Proc. Roy. 
Soc., Bd. 77, Ser. B., p. 311, (1906). —Bechthold-Ziegler, Zeitschr. f. Physiol. Chemie, Bd. 56, 
S. 105, (1906). — Ostwald, W. Pflugers Arch., Bd. hi, S. 581, (1906). 

4 ) V. Schrotter, Virch. Arch., Bd. 183, S. 343, 1906. — Gaidukov, N., B. d. deutsc!:. 
botan. Ges., 1906, Bd. 24, S. 107, 155, 192. 




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6 4 


DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychology 
und Neurologie. 


Es ist begreiflich, daB beim Austreten oder Eintreten eines Salzes, Jons oder 
eines anderen Stoffes mehr oder weniger groBe Verschiebungen im Zustande der 
einzelnen Phasen und damit in der morphologischen Struktur entstehen miissen, 
und es ist auch vorauszusetzen, daB diese physikalisch-chemischen Zustandsander- 
ungen fiir die Tatigkeit des Gewebes von wesentlicher Bedeutung sind. 

Nach den bis jetzt gemachten Erfahrungen muB man den Elektrolyten, d. i. 
den Salzen, demnach einen bedeutenden EinfluB auf die jeweiligen Leistungen des 
lebenden Gewebes zusprechen. (Siehe friiher Novi, Ducceschi, Lalou und 
Mayer, Sabbatani und Roncoroni, schlieBlich Lob, Griitzner, Hober 
und Overton). 

Die elektrische Reizung des Nerven wird auf Anreicherung von 
Jonen im Inneren des Nerven an der Grenze zweier Phasen, des Nervenprotoplas- 
mas und der umgebenden Gewebsfliissigkeit zuriickgefuhrt, welche Grenze durch die 
Plasmahaut (Nernst) dargestellt wird 1 ), wobei es noch zu Veranderungen ge- 
wisser Phasen im Sinne einer entstehenden Durchlassigkeit kommt (Membran- 
theorie, Hober, loco cit.). Es bestehen weitgehende Analogien zwischen den Vor- 
gangen bei der elektrischen Reizung von lebendem Nerven- und Muskelgewebe 
mit den Ausflockungen von kolloidalen Losungen (wie Schnelligkeit der Verande- 
rung der Stromdichte und Schnelligkeit der Ausfallung, dann paralleles Verhalten 
gegeniiber Narkoticis 2 ), schlieBlich die elektronegativen Eigenschaften der Plas¬ 
mahaut). 

Die Aufhebung des Gasaustausches bei Narkose konnte man sich 
entweder als eine durch das Narkoticum hervorgerufene geringe Loslichkeit des 
Sauerstoffes in den gequollenen Substraten oder als eine Hemmung der innerhalb 
des Gewebes vor sich gehenden fermentativen Vorgange vorstellen. 

Die Moglichkeit der Sauerstoffaufspeicherung, etwa im Sinne der 
Verwornschen Schule, kann man sich von der Losungsaffinitat der in Betracht 
kommenden Kolloide fiir Sauerstoff ahhangig denken, ebenso die der Abgabe von 
Kohlensaure von der Loslichkeit dieser in den betreffenden Phasen. 

Wenn man sich, wie es tatsachlich der Fall ist, Leist ungen des Nervensystems 
parallel mit kolloidchemischen Zustanden andern sieht, wird die Frage naheliegen, 
ob sich nicht funktionell verschiedene Gewebsteile kolloidchemisch 
verschieden verhalten. Wenn die ganz entgegengesetzt verlaufende Fallungs- 
reihe fiir die Achsencylinder und das sich farbende Prinzip der Nisslschollen auf eine 
entgegengesetzte elektrische Ladung der betreffenden Kolloide zu schlieBen ge- 
stattet, so konnte dies im Sinne der Betheschen Konkurrenzsubstanz-Hypo- 
these verwertet werden. 

Im folgenden soli das verschiedene kolloidchemische Verhalten der Achsen¬ 
cylinder in der weiBen Substanz des Riickenmarkes untersucht und zu einigen 
pathologischen Veranderungen in Beziehung gebracht werden. 

*) Nernst, Gottinger Nachrichten, Math. phys. Klasse, S. 1004, 1899 u. S. 54, 1901. — 
Macdonald, Proc. of the Royal Soc. Ser. B., Bd. 67, p. 315, 1901 u. Bd. 76, p. 322, 1900. — 
Lob, Pflugers Arch., Bd. 116, S. 193, 1907, Verarmung von Ca-Ionen an der Kathode. 

2 ) R. Hober, D. Gordon, Hofmeisters Bcitrage, Bd. 5, S. 432, 1904. — K. Spiro, 
ibid., Bd. 4. S. 300. (Fortsetaung folgO 


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BD - XI j 9 oe Err 12 XL VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 65 


A us der psychiatrischen Universitatsklinik in Zurich. 

Diagnostische Assoziationsstudien. 

XI. Beitrag: 

Ober das Verhalten des psychogalvanischen PhMnomens beim 
Assoziationsexperiment 

Von 

L. Binswanger, 

gewes. Volontararzt. 

(I. Fortsetzung.) 

Versuch II. V.-P. II ist ein etwa 4ojahriger intelligenter Techniker, der es von einem 
einfachen „Gesellen M in einer Maschinenfabrik zu angesehener Stellung und Reichtum brachte. 
Ein unausrottbarer Hang zum Betrugen mittels halb ausgefiihrter eigener Erfindungen brachte 
ihn aber bald ins Zuchthaus. Im Sommer 1906 wurde er uns aus dem Zuchthaus, wo er 
seine dritte grofle Freiheitsstrafe verbQfite, zugeschickt, weil man dort an seiner geistigen 
Gesundheit zu zweifeln anfing. Nach dreimonatlicher Beobachtung mufiten wir ihn als 
„geistig gesund im Sinne des Gesetzes* in die Strafanstalt zuruckbringen. Aufier einer 
sehr starken Emotivitat, einem Hang zum Querulieren und einer gewissen Unklarheit des 
Denkens war nichts Abnormes an ihm zu konstatieren. Da ich das Gutachten abzufassen 
hatte und mich daher viel mit dem Manne abgab, erhielt ich in den drei Monaten einen 
guten Einblick in sein Seelenleben. Nachdem friiher schon wiederholt Assoziationsversuche 
an ihm aufgenommen waren, machte ich am 21. VII. 06 den ersten Versuch am Galvano¬ 
meter. (Die Analyse der drei folgenden Versuche ist sehr unvollstandig geblieben, da ich 
zu der Zeit, wo ich dieselben aufnahm, noch zu wenig mit der Psychanalyse vertraut war. 
Wenn ich trotzdem gerade diese Versuche hier anfuhre, geschieht es aus dem Grand, weil 
mir die Kurve II c an und fhr sich und verglichen mit den Kurven II a und II b von be- 
sonderem Interesse zu sein scheint.) 

Versuch a (21. VII. 1906). V.-P. bringt dem Experiment grofles Interesse entgegen, 
da es ihn von der technischen Seite interessiert und er durch verschiedene Kurven, die 
er mir gezeichnet hatte, darauf vorbereitet war. 

Das wahrscheinliche Mittel der R.-Z. betragt 11, das arithmetische 13,1. Das W. M. 
der Galvanometer-Ausschlage 30, das arithmetische 37. Das W. M. deijenigen Galvano- 
meter-Ausschlage, die auf zu lange Zeiten fallen 35 l ). 

Aus der deutlichen Differenz zwischen dem W. M. und dem A. M. der Zeit, sowie 
aus deijenigen zwischen dem W. M. und dem A. M. der Ausschlage konnen wir schon 
vermuten, dafl es sich um eine emotive Personlichkeit handelt. 

Die Versuchsanordnung aller drei Versuche an V.-P. II unterscheidet sich von der 
vorigen dadurch, dafl statt eines galvanischen Elementes deren zwei angewandt wurden. 
Die Ausschlage kdnnen daher nicht ohne weiteres mit denjenigen der V.-P. I verglichen 

] ) An denjenigen Stellen, wo die Zeit nicht angegeben ist, werden auch die Ausschlage nicht 
zur Berechnung des Mittels verwendet, da sonst der Vergleich zwischen beiden Mitteln nicht genau 
ware. 

5 


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Journal far Psychologic und Neurologie. Bd. XI. 



66 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologie 
und Neurologic._ 


werden, da durch die Anwendung eines starkeren Stromes auch die Ausschl&ge starker 
werden. Dafur tritt dann die Diflferenz zwischen den Ausschlagen des dritten, an V.-P. II 
aufgenommenen Versuches und denjenigen des ersten und zweiten um so deutlicher zutage 1 ). 

R.-Z. G. A. 

1. Kopf: rund io 15 

2. grim: Baum 16 16 

Die Ursache fiir die starke Zeitverlangerung ist unaufgeklart. 

R.-Z. G. A. 

3. Wasser: dunn 9 10 

4. stechen: Herz 11 25 

V.-P. hat Stechen in der Heragegend, furchtet daher, ein Herzleiden zu besitzen. 
In seiner Familie sind verschiedene Todesfalle an Herzerkrankungen vorgekommen. Der 
Komplex wirkt nur vergrofiemd auf den Ausschlag, der aber immer noch unter dem W. M. ist. 

R.-Z. G. A. 

5. Engel: Phantasie 16 17 

Eine etwas auffallende Assoziation. Schon in einem etwa drei Wochen vorher aus- 
gefuhrten Experiment (ohne Galvanometer) hatte er unter deutlichen Komplexstorungen 
dasselbe Reaktionswort an dieser Stelle ausgesprochen. Die R.-Z. war damals 20. Els ist 
hier nur die Zeit verlangert, der Ausschlag noch unter dem Mittel. Dadurch. dafl die 
V.-P. schon einmal auf dieselben Reizworte reagierte, sind die Verhaltnisse hier ganz be- 
sonders kompliziert. Wir wissen noch zu wenig fiber den Einflufi der Wiederholungen 
derselben Reizworte auf das psychogalvanische Phanomen, um die hier entstehenden Mifi- 
verhaltnisse zwischen R.-Z. und Ausschlag erklaren zu konnen 2 ). Die Reaktion bezieht 
ihre Wurzeln einmal aus der Stellung der V.-P. zur Religion: Engel sind nur Phantasie- 
gebilde, will die Reaktion sagen, dann aber auch aus dem praktischen Leben: Eine 
Phantasie, zu glauben, man fande einen „Elngel im Leben*. V.-P. ist von seiner Frau ge- 
schieden und redet oft in schmahenden Ausdrucken von ihr. Die erste Version gab V.-P. 
zu, die zweite konnte er weder bejahen noch vemeinen. Sie liegt jedoch sehr nahe, wenn 
man die Psychologie dieser V.-P. kennt. 

R.-Z. G. A. 

6. lang: Tanne 25 40 

Die R.-Z. beim ersten Experiment (drei Wochen vorher) war hier 37! Das Reaktions¬ 
wort dasselbe. Da zwischen den Assoziationen Engel: Phantasie einerseits und lang: 
Tanne andererseits durch das erste Experiment schon eine Bahnung hergestellt war, 
erfolgen sie hier begreiflicherweise mit kurzerer R.-Z. ais damals. Wie stark der Komplex 
in Reaktion 6 aber noch immer ist, das zejgt die auch jetzt noch sehr lange Zeit und der 
lange Ausschlag. 

Bei lang: Tanne hatte V.-P. an den in ihrem Berufe gebrauchlichen Ausdruck 
Langholz gedacht. Holz wurde durch das eingeschliffene Tanne verdrangt. Der Kom¬ 
plex, der hier nach unserer Erfahrung bei Intemierten besonders gern auftritt, ist die 
lange Dauer der Internierung. Dieser Komplex war bei V.-P. besonders stark betont. 

R.-Z. G. A. 

7. Schiff: Meerschiff 7 10 

8. pfliigen: Acker 7 12 

9. Wolle: Baumwolle 8 3 

Drei indiflferente und durch das erste Experiment eingeschliffene Assoziationen. 

R.-Z. G. A. 

10. freundlich: freundliches Gesicht 16 27 

l ) Es sei hier noch betont, daB auch, bei Anwendung von immer derselben Stromstarke die 
Ausschlage je nach der V.-P. eminent in ihrer durchschnittlichen Grofie variieren. Das hangt ein¬ 
mal von physikalisch-physiologischen Bedingungen ab (Dicke der Epidermis, Temperatur der Haut und 
der ganzen Umgebung, mehr oder weniger starker Druck auf die Ellektroden), vorwiegend aber von 
der psychologischen Eigeoart der V.-P. Diese ist es, die der ganzen Kurve den Stempel aufdruckt! 

*) Jung und Peterson sind augenblicklich mit solchen Wiederholungsversuchen beschaftigt. 


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BD ' XI im FT 1IS X1, VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 67 


Erklart hier, er habe lieber, wenn man freundlich zu ihm sei. Bezieht sich auf die 
Arzte, vor alletn auf den Experimentator. Es hangt fur ihn sehr viel davon ab, ob dieser 
freundlich mit ihm sei oder nicht. 



R.-Z. G. A. 

11. Tisch: eckig 

9 

14 

12. fragen: fragen? Worte 

28 

45 


Dafi die Reizwortwiederholung hier ihre Entstebung einem Komplex verdankt, geht 
aus der stark verlangerten Reaktionszeit hervor. Der Komplex ist hier, wie V.-P. zugibt, 
das Experiment selber. Im ersten Experiment assoziierte er auf fragen: medizinischl 
Da V.-P. gerichtlicher Explorand ist, ergibt sich die grofie Wichtigkeit, die er dem Ver- 
laufe des Experimentes beimiflt, von selbst. 

R.-Z. G. A. * 

13. Staat: Bundesstaat 15 35 

Nach seiner Auffassung ist nicht er schuld an seinem Ungluck, sondem die Gesell- 
schaft, der Staat. 

R.-Z. G. A. 

14. trotzig: Menschen 8 25 

Eingeschliffen und etwas „abreagiert u durch das erste Experiment. Menschen ist 
fast immer ein „Komplexvertreter u . Wer hier damit gemeint ist (er selber? seine Frau?) 
ist unaufgeklart. 

R.-Z. G. A. 

15. Stengel: Hanfstengel — 23 

16. tanzen: Parchen 15 35 

Er war ein guter Tanzer und grofier Lebemann. 

R.-Z. G. A. 

17. See: Ziirichsee 22 25 

„Sonntagsausfliige auf dem Ziirichsee sind meine schdnsten Erinnerungen*, gab er 
hier bei der Analyse an. (Gegensatz zu seiner jetzigen Lage.) 

R.-Z. G. A. 

18. krank: herzkrank 15 58 

Der Komplex von Reaktion 4 tritt hier unverhiillt zutage. Wie bei V.-P. I haben 
wir hier ein Beispiel, wie ein Komplex sich zuerst nur undeutlich kundgibt und erst bei 
wiederholtem „Ant6nen“ deutliche Komplexmerkmale aufweist. 

R.-Z. G. A. 

19. Stolz: Hagestolz 8 30 

Eingeschliffen durch das friihere Experiment. Das Reaktionswort Hagestolz mag 
bedingt sein durch die Trennung von seiner Frau. 

R.-Z. G. A. 

20. kochen: elektrisch kochen 16 80 

„Er habe kifrzlich daruber gelesen. u Kochen erinnert ihn aber an seine Frau Und 
seinen friiheren (fiir seine Verhaltnisse sehr grofiartigen) Haushalt. Im ersten Experiment 
assoziierte er auf kochen: Haushaltungskochen, Haushaltungskiiche.* 

R.-Z. G. A. 

21. Tinte: schwarze 10 45 

Unaufgeklart. 

22. bds: Menschen 16 35 

Er glaubt, von vielen Menschen Bdses erlitten zu haben, namentlich vom Staats- 
anwalt, als dessen Opfer er sich ansieht. Es ist aber nicht aufgeklart, ob gerade dieser 
sich hinter dem harmlosen Reaktionswort Menschen verbirgt. 



R.-Z. 

G. A. 

23. Nadel: spitzig 

10 

75 

Wollte sagen Nadelstich. Unaufgeklart. 



24. schwimmen: See 

11 

1 7 

25. Reise: um die Welt 

15 

70 


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68 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
nnd Neurologic. 


Dieses Reizwort wirkt (als Gegensatz zur Internierung und als Ausdruck fOr Flucht- 
gedanken) bei Strafgefangenen haufig sehr stark. Aufierdem deutet die Reaktion mit mehr 
als einem Wort auf Komplexeinflufi hin. 

R.-Z. G. A. 

26. blau: himmelblau 8 45 

Er bemerkte hier, dafi der Experimentator einen Augenblick nach dem Fenster sah 
und frug sich: „Sieht er jetzt nach dem Wetter?“ Es ist bezeichnend, wie genau er den 
Experimentator beobachtet. (S. auch Reaktion 54.) Nach Reaktion 26 steigt die Kurve 
noch weiter an, ein Zeichen, dafi eine gewisse Erregung vorhanden ist. 

R.-Z. G. A. 

27. Brot: tagliches 10 95 

„Hier habe er an das Vaterunser gedacht und dafi er am nachsten Tage in die An- 
staltskirche dQrfe." Er ist durchaus nicht glaubig. Geht nur in die Kirche zur Zerstreuung. 
Der starke Ausschlag war mir lange unaufgeklart, bis ich erfuhr, dafi er nur deswegen zur 
Kirche ging, weil er dort eine Patientin sah, in die er sich bei einer Tanzunterhaltung in 
der Anstalt verliebt hatte. V.-P. habe deshalb den Gottesdienst jeweils kaum erwarten 
konnen. Mit dieser Angabe ist der starke Ausschlag aber noch nicht genugend erklart 



R.-Z. 

G. A. 

28. Drohen: Gesetze 

*5 

80 

Der Komplex ist klar. 



29. Lampe: Tischlampe 

11 

55 


„Er hatte gern die schdne Lampe bei sich, die er frQher zu Hause hatte.* Unaufgeklart. 

R.-Z. G. A. 

30. reich: arm — 85 

Die V.-P. hat an sich selbst den Ubergang aus der Armut zum Reichtum und vom 
Reichtum zur Armut durchgemacht. Er hat den Luxus der Pariser Salons und die Ode 
der Zuchthauszelle kennen gelemt. Sein Sinnen bei Tag und bei Nacht geht darauf aus, 
die Freiheit zu erlangen und mit seinen Erfindungen wieder Reichtum zu erwerben. 

Die Kurve des Versuches a steigt vom Ende der ersten Halfte, der 
Reaktion 13 an, rapide in die Hohe. Auf den ersten Blick sieht man, dafi 
die Ausschlage der zweiten Kurvenhalfte im allgemeinen bedeutend grofier 
sind als die der ersten. Auch das arithmetische Mittel der R.-Z. der zweiten 
Halfte des Versuches (13,0) ist grofier als das der ersten Halfte (11,7). Aus 
dem raschen Anstieg der Kurve, dem Zunehmen der Ausschlage und des 
arithmetischen Mittels der R.-Z. in der zweiten Halfte des Versuchs diirfen 
wir annehmen, dafi die V.-P. durch das Experiment in eine gewisse Erregung 
geriet. Wir sahen auch, dafi die einzelnen Reaktionen genug Anlafl dazu 
boten, eine an sich sehr emotive V.-P. „aufzuregen“. Der Umstand, dafi der 
Experimentator zugleich der Begutachter der V.-P. ist, wodurch diese in ein 
sehr starkes Abhangigkeitsverhaltnis zu jenem kommt, tragt das Seinige bei, 
die Erregung zu steigern. Letzterer Umstand diirfte auch wesentlich zu einer 
allgemeinen Experimenterregung beitragen, welche seine Komplexwirkungen 
erfahrungsgemafi beeintrachtigt. 

Versuch b. (24. VII. 1906) 

W. M. der Reaktionszeiten: 11 W. M. der Ausschlage: 23 

A.M. „ „ 11,5 A.M. „ „ 30 

W. M. derjenigen Ausschlage, die auf „zu lange* Zeiten fallen: 30. 

Die „emotiven Hemmungen* zeigen sich in diesem Versuch deutlicher in den Ver- 
haltnissen der Ausschlage als in denjenigen der Reaktionszeiten, indem die Differenz zwischen 
dem W. M. und dem A. M. bei den letzteren nur gering (0,5 gegenQber 2,0 bei Versuch a), 
bei den ersteren dagegen nahezu gleich grofi wie im vorigen Versuch ist Dafi hier die 


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BD ' XI im FT 112 XI - VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 69 

Ausschlage im Durchschnitt kiirzer sind als im Versuch a (W.-M. 23 gegenQber 30, A.-M. 30 
gegeniiber 38), hat wohl hauptsachlich einen physikalischen Grund. Das Experiment wurde 
zweimal dadurch unterbrochen, dafi ich die V.-P. mit kaltem Wasser die Hande waschen 
liefi. Ich suchte dadurch zu verhindern, dafi der Lichtstreifen die Skala Qberschritt, was 
im Versuche a beinahe geschehen ware, und zweitens wollte ich die Wirkung des „Hande- 
waschens“ studieren, da ich damals noch der Menge des produzierten Schweifies einen 
grofien Einflufi auf das Phanomen zuschrieb 1 ). 

Wie gering der Einflufi dieses starken physikalischen Eingriffes auf den Charakter 
der Kurve ist, ist leicht ersichtlich. Er zerschneidet sie in drei Teile, aber jeder dieser 
Teile zeigt das Bild, das wir schon bei Versuch a kennen lemten; ein fast unaufhdrliches 
rasches Ansteigen, das keine deutlichen Komplexkurven erkennen lafit. Ganz anders aber 
verlauft, wie wir sehen werden, die Kurve des Versuches c, wo ein psychologischer 
Eingriff erfolgte. 

Da auf demselben Formular weitergefahren wurde, behalten wir flir die Reaktionen 
die Zahlen desselben bei. 

R.-Z. G. A. 

31. Baum: griin 9 10 

32. singen: Tenor 9 25 

Er sang in einem kleinen Anstaltschor, den ich damals leitete, im Tenor mit Man 
sieht, dafi nur irgendwie sein „Ichkomplex“ starker „angetont“ werden mufi, um einen starken 
Ausschlag zu erhalten. Bei etwas erregbaren V.-P. kann man beobachten, dafi ganz gesetz- 
mafiig jedesmal, wenn der „Ichkomplex“ berQhrt wird, ein starker Ausschlag erfolgt. Es 
braucht sich dabei gar nicht um besonders stark gefiihlsbetonte Reaktionen zu handeln, 
es kdnnen ganz gleichgQltige Erinnerungen aus langstvergangener Zeit sein. Immerhin 
ist aufier einer gewissen Emotivitat der V.-P. noch erforderlich, dafi dieselbe in einem 
besdmmten Affektverhaltnis zum Experimentator steht, wie es auch hier der Fall ist. Das 
sehen wir ja auch im gewohnlichen Leben: je mehr wir z. B. eine Person lieben, desto ge- 
fuhlsbetonter wird jede Mitteilung, die wir von unserem Ich machen. Bei anderen Affekten 
ist es ahnlich. 



R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

33. Mitleid: Menschen 

12 

18 


34. gelb: goldgelb 

10 

i 3 


35. Berg: hoch Berg 

9 

12 

hohe Berge 

36. spielen: Kinderspiel 

13 

20 



Hierzu gibt V.-P. an, er habe gedacht: „Es ware ein Kinderspiel, einen neuen 
Apparat (zu galvanometrischen Messungen) zu konstruieren. 44 Sein Grfifienkomplex zeigt 
sich hier deutlich. In der Tat hat er mir eine Zeichnung entworfen flir eine Vorrichtung, 
um die Galvanometerschwankungen direkt auf das Kymographion ubertragen zu konnen. 
Auf dem Papier sah diese, wie alle seine Zeichnungen, sehr sauber und brauchbar aus, der 
Ausfiihrung. standen jedoch prinzipielle Schwierigkeiten entgegen. 

R.-Z. G. A. 

37. Salz: rafi 14 22 

Unaufgeklart Repr. 

38. neu: Kleid 12 25 — 

V.-P. halt viel auf seine aufiere Erscheinung! Er mochte Gberhaupt einen distin- 
guierten Eindruck machen. 

R.-Z, G. A. 

39. Sitte: Landessitte 10 15 

40. reiten: Pferde reiten 12 38 

Die V.-P. hat bei der ArtiUerie gedient. Dafi die Erinnerung daran stark gefiihls- 
betont ist, zeigen auch die Reaktionen 48 stinken: Pferdemist und 72 schlagen: 
Pferde schlagen. Er hatte damals einen „Schlager“ im Stall zu besorgen, und femer 

*) Das Waschen der Hande mit kaltem Wasser erhoht den Leitungswiderstand der Haut 
Femer wirkt das Abtrocknen der vorher feuchten HSnde verschlechtemd auf den Kontakt an den 
Elektroden. Daher beginnt die Kurve nach dieser Prozedur jeweils tiefer, als sie vorher stand* 


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70 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologie. 


stdrte ihn der Mistgeruch beim Schlafen, wenn er StaUwache hatte. Dafi die Erinnerung 
an den Militardienst im Assoziations-Experiment so deutlich hervortritt (es sind 21 Jahre 
seitdem vergangen), riihrt daher, dafi er nicht zum Offizier emannt wnrde, weil er nach der 
Offiziersbildungsschule keinen Dienst mehr tat (da er ins Ausland ging), sich aber trotzdem 
als schweizerischen Offizier ausgab. Das hatten wir ihm hier nachgewiesen und das 
krankte ihn. 

R.-Z. G. A. 

41. Wand: vertikal 11 43 

Unaufgeklart. 

42. dumm: saudumm — no 

„Es ist saudumm, wie manchmal auf der Abteilung einer redet.“ Elin sehr starker 
Ausdruck, der immer auch ein starkes Gefiihl andeutet. Da V.-P. bei der Reaktion lachte, 
ist der Ausschlag besonders stark (s. R. 55). 

R.-Z. G. A. 

43. Heft: Schulheft — 40 

V.-P. besafi eine grofie Anzahl von Heften, in die er Notizen eintrug aus allem, was 
er las. Die Hefte sind eingeteilt in Rubriken, betitelt: Philosophic, Kunst, Technik usw. 
Er ist sehr stolz auf diese Tatigkeit. 

R.-Z. G. A. 

44. verachten: Menschen verachten 12 90 

. „Die Menschen haben die Tendenz, einander zu verachten.** Er mufite ofters dar- 
unter leiden, dafi er im Zuchthaus war. Einmal wurde er aus einem Gesangverein aus- 
gestofien, als seine Vergangenheit bekannt wurde. Wenn er davon redet, gerat er in sehr 
starken Affekt 

R.-Z. G. A. 

45. Zahn: -weh 8 53 

Bei der Reaktion sei ihm eingefallen, dafi er hier „kein Zahnpulver bekomme**. 
Wieder der Komplex der gegenwartigen Lage, der aus so reichlichen Quellen ;,Affekt- 
zuwachs** erhalt. Dafi die Zeit so kurz, erklart sich aus der sprachlich motorischen Fassung 
der Reaktion. Bei sprachlich so eingeschliflfenen Reaktionen reagiert der sprachliche 
Mechanismus, wie Sfters betont, fast automatisch, ohne von der „emotiven Hemmung** stark 
beeinilufit zu werden. 



R.-Z. 

G. A. 

46. rich tig: folgerichtig 

25 

50 

(nicht verstanden!) 



47. Volk: Schweizervolk 

11 

10 

48. stinken: Pferdemist 

17 

22 

49. Buch: gutes Buch 

10 

20 

50. ungerecht: Strafe 

12 

35 


Els ist nicht genau zu sagen, wie weit er selber an seine Unschuld glaubt, jedenfalls 
bis zu einem hohen Grade. Er iiberschuttete die Justiz- und Strafanstaltsdirektion, den 
Staatsanwalt und den Direktor des Burgholzli mit epdlosen Schreiben, in denen er seine 
Unschuld klarzulegen sucht. 

R.-Z. G. A. 

51. Frosch: Laubffosch 7 25 

Da bei Reaktion 50 ein aufierst starker Kompex angeregt wurde, mufi hier die Per- • 
severation als wirksam angenommen werden. Die Reaktion 51 ist jedenfalls rein sprach- 
ljch erfolgt ohne einen besonderen Gefuhlsinhalt. Els kann also kein starker Kampf um 
die Aufmerksamkeitsbesetzung eingetreten sein, als Reaktion 51 erfolgte. Die Zeit ist daher 
sehr kurz. Dasselbe sollte man in diesem Falle vom Ausschlag erwarten, der jedoch hier 
ein wenig grofier als das W. M. ist. Die Reaktion hat demnach eine ansehnliche Aufmerk¬ 
samkeitsbesetzung erhalten, mit anderen Worten, es ist eine deutliche Aufmerksamkeits- 
spaltung eingetreten. Diese erfolgte in unserem Falle daher so leicht (s. R.-Z. = 7), weil 
die V.-P. in den Versuchen a und b das Bestreben hat, sich moglichst auf das Experiment 


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BD - XI jjoa FT 1,2 XL VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 71 

selber, das ihn sehr intcressiert, zu konzentrieren, um ffir jedes neue Reizwort parat zu sein. 
Dieser starken Anspannung der Aufmerksamkeit auf das Experiment entspricht auch das 
rasche Steigen der Kurven in a und b und das ganzliche Fehlen von ausgesprochenen 
Komplexkurven! (Denn diese werden bedingt durch die Fesselung der Aufmerksamkeit 
durch den betreffenden Komplex und ihre Ablenkung vom Experiment.) Es ist also auch 
in diesem Versuche eine allgemeine Experimenterregung zu konstatieren. 

R.-Z. G. A. 

52. scheiden: Ehescheiden — 25 

Die Ehescheidung ist unter sehr unangenehmen Verhaltnissen erfolgt. 

R.-Z. G. A. 

53. Hunger: Heifihunger 7 30 

Unaufgeklart 

54. weifi: schneeweifi 11 30 

Damit ist der Kragen des Experimentators gemeint. Der Experimentator gehdrt 
zum Komplex des Experimentes, und zwar in hohem Grade. Bei R. 26 sahen wir schon, 
wie gut die V.-P. den Experimentator im Auge behalt. Hier ist der zweite Beweis. Wo 
im Assoziationsexperiment Reaktionen vorkommen, die das Aufiere des Experimentators 
zum Inhalt haben, kann man sicher sein, dafi auch ein inneres affektives Band zwischen V.-P. 
und Experimentator vorhanden ist. Daher trifft man auch solche Reaktionen viel haufiger 
bei Personen des anderen Geschlechtes! 

R.-Z. G. A. 

55. Rind: Rindvieh 11 60 

Er erinnerte sich dabei an den Direktor einer Fabrik, wo er Lehrling war, der zu 
seinen Untergebenen diese Bezeichnung dfters gebrauchte. Reaktionen, die ein Schimpf- 
wort oder dgl. (s. R. 42 dumm: saudumm) zum Inhalt haben, sind meist von einem starken 
Ausschlag begleitet. Das rQhrt daher, dafi bei der Aussprache solcher Worte gewdhnlich 
auch das Gef&hl hinzutritt, der Experimentator kdnnte es auf sich beziehen, da man im 
gewdhnlichen Leben solche Worte meist an einen anderen richtet, seltener auf sich selbst 
bezieht. Immerhin spielt auch das letztere hier und da im Experiment eine Rolle. So gab 
mir z. B. V.-P. I bei der Reaktion dumm: Dubel an, „er hatte dabei gedacht, ich konne 
glauben, er meine sich selbst damit“. Solche Nuancen geben uns immer Fingerzeige f&r 
die Beurteilung des Charakters der V.-P. So ist bei V.-P. I neben dem erhohten Selbst- 
bewufitsein auch eine Andeutungvon „Kleinheitswahn“ vorhanden, wasja sehr haufig neben- 
einander vorkommt l ). 

R.-Z. G. A. 

56. aufpassen: Obacht 13 50 

V.-P. gab an, er habe dabei an elektrische Leitungen gedacht. Obacht ist ein War- 
nungsruf, der an sich schon gefiihlsbetont ist. 

R.-Z. G. A. 

57. Bleistift: spitzen — 40 

V.-P. ist ein hervorragender technischer Zeichner, worauf er sich nicht wenig einbildet. 

Unterbrechung durch Handewaschen. 

*) Ebenso wie bei Schimpfworten erbalt man meist sehr starke Ausschlage, wenn man die 
V.-P. die Znnge herausstrecken lafit. Die meisten Menschen tun dies wohl nur in ihrer Kindheit, 
nm so unzertrennlicher ist es assoziiert mit einem starken Geffihlston. Wenn wir in Gegenwart eines 
andem die Znnge herausstrecken und es nicht aus arztlichen Griinden geschieht, so wird auch jener 
Affekt (des Zomes, des Widerwillens, des Spottes) wieder mit angeregt. Da aber niemand gegen- 
wartig ist aufier dem Experimentator, so werden wir ganz unbewufit jenen Affekt auf den Experimen¬ 
tator iibertragen. Wir konnen uns lange klar machen, dafi es sich hier nur um ein Experiment 
handelt Das „Unbewufite w ist starker als unsere bewufiten Oberlegungen. Erst nach ofterer Wieder- 
holung, wenn er rein automatiscb erfolgt, verliert der Vorgang seine affektive Komponente und da¬ 
mit seine Einwirkung auf das psycho-galvanische Phanomen (vgl. das fiber die Wiederholangsversuche 
mit defer Inspiration Gesagte). 


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72 


L. BINSWANGER. 


Journal t. PflTchologie 
und Neurologic. 


R.-Z. G. A. 

58. triib: Wetter II 10 

59. Pflaume: siifl 10 7 

Infolge des Handewaschens sind die Ausschlage besonders klein. Der nachstfolgende 
zeigt jedoch, dafi eine starke zentrifugale Erregungdurch solche physikalische Eingriffe nur 
wenig beeinflufit werden kann. 

R.-Z. G. A. 

60. trefFen: schiefien — 30 

Erinnert sich dabei an die Schutzenfeste, die er in seinen guten Zeiten mitgemacht. 
Aufierdem hat sich V.-P. viel mit artilleristischen Problemen befafit, und behauptet, auch 
einen Schrapnellziinder erfunden zu haben. 

R.-Z. G. A. 

61. Gesetz: Volksgesetz — 23 

62. lieb: haben 10 35 

Er erganzt bei der Analyse: „meine Kinder". Er hangt sehr an seinen Kindem. Es 
ist ihm ein Dorn im Auge, dafi sie bei seiner Frau leben. 




R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

63. 

Glas: zerbrechlich 

— 23 


64. 

streiten: Parteien 

14 

40 

Parteien streiten 


Er lag in bestandiger Fehde mit seiner Frau und deren Eltern. Wenn er darfiber 
sprach, genet er jedesmal in sichtliche Erregung. S. auch R. 75. 


Versuch c (25./VII. 06.). 

Zur bessern Obersicht fiihre ich die Durchschnittswerte der beiden Ver- 
suche a und b nochmals an und lasse ihnen die Werte des Versuches c 


folgen: 

I. W. M. der 

n. A. M der 

Different 

IIL W. M. der 

TV. A. M. der 

Differenz 

W. M. derjenigen 
Ausschlage, die 
auf zu ,|l*nge 


R.-Z. 

R.-Z. 

zw.Iu.Il 

Ausschlage 

Ausschlage 

zw.inu.1V 






Zeiten" folgen 

Versuch a 

II 

13 

2 

30 

38 

8 

35 

Versuch b 

II 


o ,5 

23 

30 

7 

30 

Versuch c 

14 

14,9 

0,9 

5 

9 

4 

3 


Reproduktionsstorungen: Vers, a: o, Vers, b: 4, Vers, c: 8. 


Bei dieser Zusammenstellung fallt auf, 1. dafi das W. M. der R.-Zeiten 
in Versuch c 14 betragt, gegeniiber 11 in den beiden vorigen Versuchen, dafi 
also eine durchschnittliche Verlangerung der R.-Z. eingetreten ist 
und 2. dafi das W. M. der Ausschlage dagegen nur 5 betragt, also stark 
abgenommen hat gegeniiber Versuchen a und b, 3. dafi in Versuch c 
das W. M. derjenigen Ausschlage, die auf zu lange Zeiten erfolgen, 
(3) kiirzer ist als das W. M. samtlicher Ausschlage (5), dafi also gerade 
auf „zu lange“ Zeiten durchschnittlich „zu kurze“ Ausschlage 
erfolgen und 4. dafi die Reproduktionsstorungen bedeutend zuge- 
nommen haben. Das auffallende Mifiverhaltnis zwischen den R.-Zeiten und 
den Ausschlagen dieses Versuches untereinander und gegeniiber den Ver¬ 
suchen a und b mufi uns jetzt nach dem bei Versuch I Gesagten den Ge- 
danken an den Einflufi einer sehr starken Perseveration nahelegen. Ebenso 
deuten die gehauften Reproduktionsstorungen darauf hin, dafi die Aufmerk- 
samkeit der V.-P. stark abgelenkt wurde. 

Betrachten wir die Kurve, so Fallt uns sofort auf, dafi sie einen von den 
Kurven a und b ganz verschiedenen Charakter hat. Kein steiles Ansteigen 


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BD XI i9^ FT12 XI * VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 73 


in die Hohe mit auffallend grofien Ausschlagen, sondern im Gegenteil ein 
steiles Absinken mit auffallend kleinen Ausschlagen. Der Beginn der Kurve 
erinnert an den abfallenden Schenkel einer Komplexkurve, also wiederum an 
Perseveration eines Komplexes. Es fehlt nur der lange Ausschlag, der 
solchen abfallenden Kurvenschenkeln vorauszugehen pflegt und den Komplex 
anzeigt. Das Ratsel lost sich, wenn wir erfahren, dafi kurz vor Beginn des 
Experimentes ein starker Komplex angeregt wurde. Als die Hande der V.-P. 
schon auf den Elektroden lagen, das Galvanometer aber noch ausgeschaltet 
war, eroffnete ich der V.-P. absichtlich, dafi wir zu der Ansicht gekommen 
seien, dafi er ein ganz gewohnlicher Schwindler sei, dafi seine Erfindungen 
wertlos, weil unausfiihrbar seien. Diese Eroffnung mufite V.-P. schwer treffen, 
da er damit seine Hoffnungen, uns fur sich zu gewinnen, jah zertriimmert sah, 
und seine Aussichten so schlecht standen, wie vorher im Zuchthaus. 

Nachdem wir schon in den Versuchen a und b seine starke Emotivitat 
kennen gelernt haben, begreifen wir, wie er auf diese Mitteilung reagieren 
mufite. Hatte er nicht einen erheblichen Grad von Gutmiitigkeit besessen, so 
hatte er jetzt wohl auf alle weiteren Experimente verzichtet. Er behielt jedoch 
die Hande ruhig auf den Elektroden und wandte sich dem Experimente zu, 
als ich nun, nach Einschaltung des Galvanometers, damit begann. 


R.-Z. G. A. Repr. 

65. Ziege: Tier 44 o — 

Die Zeit halt das W. M. ein, dagegen weisen der mangelnde Ausschlag und die 
Reproduktionsstdrung auf die Stoning durch den eben angeregten Komplex hin. 

R.-Z. G. A. Repr. 

66. grofi: Menschen — —1 (langes Besinnen) 

Das Verlegenheitswort Menschen zeigt deutlich die durch den Komplex bedingte 
„Assoziationsleere M an. Die Reaktion vermochte nicht einmal das Abfallen der Kurve fur 
einen Moment aufzuhalten, geschweige einen positiven Ausschlag hervorzubringen. Nur 
das nachtragliche Steigen der Kurve zeigt eine geringe Einwirkung an. Das — Zeichen 
vor dem Ausschlag gibt an, dafi trotz der Reaktion die Kurve noch 1 mm sank. Wir 
haben es hier nicht etwa mit einem durch die Reaktion bedingten negativen Ausschlag 
zu tun, vielmehr handelt es sich einfach um das Fehlen jeglicher Einwirkung der neuen 
Reaktion auf die abfallende Komplexkurve. Man beobachtet daher dieses Verhalten nur 
da, wo es sich um starke Perseveration handelt, d. h. um eine vollst&ndige Sperrung der 
V.-P. gegen neue Eindriicke infolge einer vorangegangenen Komplexwirkung. Daher werden 
auch bei der Berechnung solche negative Werte als o angefuhrt. In der Kurve sind die 
negativen Ausschlage mit einem * versehen. 

R.-Z. G. A 

67. Kartoffel: Feld 10 o 


Die oberflachliche Reaktion und der Wert o fur den Ausschlag weisen auf die Per¬ 
severation hin. 

R.-Z. G. A. 

68. malen: mahnen? Miihlen — 3 

Die Aufmerksamkeitsstorung zeigt sich in dem Mifiverstehen des Reizwortes. 


R.-Z. G. A. Repr. 

69. Teil: Erbteil 13 2 

70. alt: Menschen — —2 (Besinnen) 

71. Blume: rote Blume 14 4 rote 


Konstelliert durch die Blumen, die einer seiner Mitpatienten vor den Fenstem stehen hat. 


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74 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
nnd Nenrolofk. _ 


R.-Z. G. A. 

72. scblagen: Pferde schlagen 16 2 

S. Reaktion 40. 

73. Kasten: Kleiderkasten — 5 

74. wild: schemes Bild 10 8 

Verstand Bild. In kurzer Zeit zweimaliges Mifiverstehen des Reizwortes, was in den 
Versuchen a und b nie vorkommt. 

Erst diese Reaktion vermochte laut Ausschlag eine grdfiere Aufmerksamkeitsbesetzung 
zu erzielen. V.-P. dachte dabei an Napoleon I., seinen Heros, von dem er viele Bilder 
besafi. 

R.-Z. G. A. 

75. Familie: nette Familie 18 15 

Meint die Familie seiner Frau. Hier wirkte ein starker Komplex ein (s. Reaktion 64). 
Der hohnische Ausdruck nette Familie! weist schon auf einen starken GefQhlsinhalt. 
Trotzdem wirkt die Perseveration noch in starkem Mafie nach, denn im Vergleich zu den 
Ausschlagen der Versuche a und b ist dieser noch sehr gering. 



R.-Z. 

G.-A. Repr. 

76. waschen: Gesicht 

14 

— 2 Gesicht waschen 

77. Kuh: Milchkuh 

12 

—2 

78. fremd: Arbeiter 

25 

5 (Besinnen) 


Erklart, er habe hier an einen Streik in der Nahe von ZQrich gedacht, bei dem 
viele seiner Freunde beteiligt waren und der damals ein Militaraufgebot zur Folge hatte. 
Der Staatsanwalt, dessen unschuldiges Opfer er zu sein glaubt, kommandierte das be- 
treffende Regiment. Spater erklarte er einmal, derselbe sei schuld daran, dafi das Militar 
die Streikenden so schlecht behandelt habe. Das wiirde ihm spater vergolten werden wie 
sein Unrecht an ihm selber. Griinde genug, um der Erinnerung an den Streik einen leb- 
haften Gefiihlston zu verleihen. 

R.-Z. G.-A. 

79. Gluck: hausliches 15 o 
Erklarte hier, er sehne sich darnach. 

S. Reaktion 19 und 20. 

» R.-Z. G. A. 

80. erzahlen: Geschichten 13 2 

81. Anstand: Anstaltsanstand — 15 

Die sonderbare Wortzusammensetzung fallt auf. Er erklarte, an das unanstandige 
Benehmen der Patienten auf seiner Abteilung gedacht zu haben. Trotz der Perseveration 
ein ansehnlicher Ausschlag. Wir sahen, dafi fast alle Reaktionen, die ihn an sein Leben 
in der Anstalt erinnem, von starken Ausschlagen begleitet sind. 

R.-Z. G. A. Repr. 

82. eng; Pafl. 35 2 Zimmer 

Er erklarte auf Befragen, er habe bei dieser Reaktion gedacht: engherzig ware 
seine Beurteilung, wenn sie so erfolgte, wie es nach meiner Eroffnung den Anschein habe. 
Wir sehen hier, dafi jenes Gesprach unzweifelhaft wahrend des Versuches noch nachwirkt. 
Dafi der Ausschlag so gering, ist auffallend. (S. S. 66). 

R.-Z. G. A. 

83. Bruder: jungerer 15 3 

Denkt an seinen jung verstorbenen Bruder. 

R.-Z. G. A. 

84. Schaden: Hagelschaden 15 5 

Unaufgeklart. 

85. Storch: Kinder 25 28 

Dabei fallt ihm ein, dafi sein Tochterchen gerne B Storchengeschichten“ erzahlte. 
Schon bei R. 62 sahen wir, dafi die Erinnerung an seine Kinder sehr gefuhlsbetont ist. 
R. 88 deutet wiederum darauf hin. 


V 


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BD ‘ XI 1§« FT 1,2 XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 75 


Von hier an tritt bis R. 89 eine Insel ein, wo die Kurve den Charakter deijenigen 
der Versuche a und b annimmt. Da hier starke Komplexe angeregt werden, ist es begreiflich, 
dab der Einilub jenes perseverierenden Affektes vorubergehend durchbrochen wird. l ) 

R.-Z. G. A. 

86. falsch: Menschen 10 12 

Man wird nicht fehlgehen, hinier dieser Reaktion den Experimentator selber zu ver- 
muten. 

R.-Z. G. A. 

87. Angst: nie 25 60 

Das Reaktionswort zeugt von einer personlichen Stellungnahme der V.-P. Nach der 
vorausgehenden Mitteilung mQssen sich an Angst sehr gefuhlsbetonte Assoziationen 
kntipfen. 

R.-Z. G. A. 

88. kQssen: Kinder 15 30 • 

Obwohl V.-P. ziemlich erotisch veranlagt, glaube ich nicht, dab Kinder hier nur eine 
„Deckassoziation fa ist Er war seinen Kindem gegeniiber stets ein liebevoller besorgter 
Vater. Immerhin konnen erotische Gedanken mitwirken. 

R.-Z. G. A. 



89. Brand: -fall 

10 

30 

Unaufgeklart. • 

90. schmutzig: Strabe 

R.-Z. 

7 

G. A. 

—2 


91. TGre: grobe 

10 

7 


92. wahlen: Volker 

13 

3 


93. Heu: gedorrtes 

15 

3 


94. still: Zimmer 

10 

5 


95. Spott: Menschen 

20 

17 


V.-P. ist auberst empfindlich gegen Spott, ebenso wie gegen Verachtung (s. Reaktion 44, 
wo auch Menschen assoziiert wurden). 

R.-Z. G. A. Repr. 

96. schlafen: gehen 15 3 Zimmer 

97. Monat: Zehn 10 16 

Gibt an, er habe bis jetzt 10 Mon ate seiner Strafe abgesessen. Die kurze Reaktions- 
zeit verrat, wie intensiv er sich mit der Frage des Strafvollzuges, wegen deren er ja die Ver- 
bringung in die Irrenanstalt bewirkt hat, beschafligen mub. Sonst konnte die Reaktion 
zehn auf Monat nicht so prompt erfolgen. Der Ausschlag entspricht der Starke des 
Komplexes, der auch' die Perseveration iiberwindet. (S. nachtragliches Ansteigen der Kurve.) 

R.-Z. G. A. 

98. farbig: Natur 15 18 

Nachdem die vorige Reaktion den Bann der Perseveration gebrochen, kann diese 
le ich ter mit einem ansehnlichen Ausschlag erfolgen. V.-P. wubte auf einfaches Befragen 
hier nichts anzugeben. 

R.-Z. G. A. 

99. Hund: Hofhund 10 5 

100. reden: wenig 7 5 

Zusammenfassung der Versuche H a, b und c. 

Die Kurven a und b steigen sehr rasch an, die Ausschlage sind sehr 
stark. Deutliche Komplexkurven sind nicht vorhanden. V.-P. schenkt den 
beiden Versuchen grobe Aufmerksamkeit. 

l ) Diese „Insel w zeigt deutlich, dab fur den eigentiimlichen Verlauf der Kurve c nicht 
etwa doch noch physikalische Ursachen verantwortlich zu machen sind. Wir sehen, sobald die 
psychologische Konstellation sich derjenigen der Versuche a und b wieder nahert, wird auch der 
Charakter der Kurve wieder abnlich wie dort 


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76 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
_und Neurologie. 


Kurve c stellt den absteigenden Schenkel einer Komplexkurve dar, die 
Ausschlage sind sehr gering, fehlen hie und da ganzlich. 

Der Komplex wurde vor Beginn des Experimentes angeregt, daher fehlt 
der dem absteigenden Schenkel vorausgehende lange Ausschlag. 

Versuch c zeigt deutlich den Einflufi der inneren Ablenkung durch 
einen Affekt auf das psychogalvanische Phanomen und bestatigt das bei 
Versuch I iiber die Perseveration Gesagte. 

Mit andern Worten: 

Ein unabhangig vom Experiment bestehender starker Affekt 
bedingt das Abfallen der ,,Assoziationskurve 44 und das Kleinerwerden 
oder Ausbleiben der Ausschlage. Nur da, wo durch geeignete Reizworte 
die Wirkung des Affektes auf die V.-P. durchbrochen und ein neuer Affekt- 
zustand geschaffen wird, werden die Ausschlage wieder grofier und steigt die 
Kurve wieder an. (Kurvenabschnitt 85—89). Der Affekt perseveriert wahrend 
des Versuches so stark, dafi das W. M. der Reaktionszeiten von 11 (in den 
Versuchen a und b) auf 14 erhoht und das W. M. der Ausschlage von 30 
(in Versuch a) und 23 (in Versuch b) auf 5 erniedrigt wird. Gerade auf „zu 
lange Zeiten 44 erfolgen ,,zu kurze 44 Ausschlage, wahrend in den Versuchen a 
und b die verlangerten Zeiten durchschnittlich von verlangerten Ausschlagen 
begleitet waren. 

Versuch III. 

V.-P. ist ein junger, verheirateter Arzt, der das Assoziationsexperiment schon viel- 
fach an anderen V.-P. vorgenommen hat, dagegen bisher noch nie an sich selbst ausfuhren 
liefi. Wir erblicken schon darin eine gewisse Abwehrtendenz gegen die psychologische 
Durchfbrschung seiner Person. V.-P. ist auch nach dem gewohnlichen Sprachgebrauch 
verschlossen. Die Verschlossenheit ist eine Schutzwehr gegen seine erhdhte Empfindlichkeit 
Sie ist jedoch weniger angeboren als erworben durch verschiedene Erlebnisse, die nachhaldg 
auf den Knaben und Jungling eingewirkt haben und zum Teil heute noch einwirken. Da 
der mit ihnen verbundene Affekt auch jetzt noch nicht „abreagiert“ werden kann, spaltet 

V. -P. die betreffenden Komplexe stark ab. Er hat es darin schon sehr weit gebracht. Die 
Folgen der gegen jene Erlebnisse gerichteten, teils bewufiten, toils unbewufiten Abwehrtendenz 
machen sich aber nun in seinem ganzen Wesen geltend. Aus dem heiteren, ausgelas- 
senen Knaben ist frtih ein sehr ernster Mann geworden, der nun, als Kompensation, einen 
aufiergewohnlichen Pflichteifer und Tatigkeitsdrang in seinem Berufe entwickelt. 

Die Versuchsanordnung ist dieselbe wie in Versuch I (1 Element, 
Messingelektroden). 

Die Durchschnittswerte sind folgende: 

W. M. der A. M. der W. M. der Galv. A. M. der Galv. W. M. derjenigen Ausschlfige, Reproduktions- 

R.-Z. R.-Z. Ausschlage Ausschlage die auf zu lange Zeiten fallen sthrungen 

8 8,7 o 4 o 33,3% 

Das W. M. der R.-Z. ist sehr kurz, die Differenz mit dem A. M. gering. 
Wir erkennen daraus, dafi V.-P. sehr gewandt reagierte. Von „emotiven 
Hemmungen 44 sagen uns die beiden Werte nichts. Der Wert o fur das W. M. 
der Ausschlage ist frappant. In keinem „Normalversuch“, mit keiner Versuchs¬ 
anordnung habe ich o als W. M. erhalten. Wir sind daher wieder auf eine 
Komplikation gefafit. Das A. M. der Ausschlage (4) sagt uns, dafi immerhin 
Ausschlage erfolgt sein miissen. Aus dem W. M. deijenigen Ausschlage, die 
auf „zu lange* 4 Zeiten fallen (o) erfahren wir, dafi die Verlangerung der R.-Z. 


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BWIjHBIW XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 77 


ohne durchschnittliche Verlangerung der Ausschlage erfolgt ist. 33,3% Re- 
produktionsstorungen sind fiir einen gebildeten Mann eine sehr hohe Zahl. 
Wir miissen daraus schliefien, dafi entweder sehr starke Komplexe im Experi¬ 
ment angeregt wurden oder dafi aus einem andern Grunde eine Aufmerksam- 
keitsstorung vorhanden war. Das Verhalten der R.-Z. und der Ausschlage 
spricht fur das letztere. 

Betrachten wir die zugehorige Kurve, so fellt uns ein der Kurve lie 
ahnlicher Verlauf auf. Die Kurve fallt wie dort ab, statt anzusteigen, wie es 
. bei der normalen Assoziationskurve der Fall ist. Wahrend aber bei Kurve II c 
der steilste Abfall und die geringsten Ausschlage im Beginn zu finden sind, 
haben wir hier anfangs ansehnliche Ausschlage und erst spater sinkt die Kurve 
und fehlen die Ausschlage. Wir werden daher annehmen, dafi die Aufmerk- 
samkeitsstorung erst nach und nach sich geltend machte. 

Das Verhalten der Durchschnittswerte und der Kurve erklart sich aus 
folgender psychologischer Konstellation der V.-P.: Wie der Kollege mir nach- 
her angab, ging er mit einem Gefiihl des Mifitrauens gegeniiber dem Wert 
der galvanometrischen Untersuchungsmethode an das Experiment. Er glaubte 
die Ausschlage wurden durch eine gewisse Autosuggestion bewirkt und wollte 
an sich erfahren, ob auch dann Ausschlage auftreten, wenn. man es nicht wolle. 
Zweitens war er wie er angab, sicher, dafi er das Assoziationsexperiment als 
V.-P. beherrsche, d. h. dafi er seine Komplexe dabei verbergen konne. Er 
nat daher absichtlich sehr rasch reagiert und achtete darauf, dafi keine Zeit- 
verlangerungen eintraten. Das ist ihm in betrachtlichem Mafie gelungen. 
(Die Komplexe traten dadurch aber in den Reaktionsworten um so deutlicher 
zutage!) 

Er hatte sich nun, wie er nachher gestand, sehr gefreut, wenn mich auch 
die Ausschlage als Komplexmerkmale, im Stiche gelassen hatten, gewisser- 
mafien aus einem Anflug von Eifersucht, weil ich Zeit hatte, mich mit den 
galvanometrischen Untersuchungen abzugeben, wahrend er selber durch ge- 
haufte praktische Arbeit nicht zu wissenschaftlicher Tatigkeit Mufie fand. (Wie 
stark der Komplex der Behinderung wissenschaftlicher Arbeit bei der V.-P. 
ist, wird das Experiment selber sagen.) Drittens kommt hinzu, dafi der Ver- 
such nach Tisch stattfand, wo V.-P. etwas schlafrig war. Wir haben somit 
zwei Motive fur bewuflte aktive Absperrung der Aufmerksamkeit vom Experi¬ 
ment, und in der Ermiidung einen weiteren Grund, um die Konzentration der 
Aufmerksamkeit zu erschweren. 

Weitaus die wichtigste Bedingung fur die so gut gelungene Ab¬ 
sperrung der Aufmerksamkeit scheinen mir aber die damals unbe- 
wufiten Komplexe, von denen oben die Rede war, gewesen zu sein, 
zumal, wie V.-P. spater angab, er vor mir einen seiner Hauptkomplexe nicht 
preisgeben konnte und wollte. Die von jenen Komplexen ausgehende Hem- 
mung scheint mir in erster Linie schuld zu sein an dem Ausfall der Aus¬ 
schlage. Man mag es sich in diesem Falle so vorstellen, dafi infolge der Ab¬ 
sperrung die Reizworte meist nicht in ihrer vollen Bedeutung aufgcfafit wurden 
und daher auch keine Affektentwicklung hervorrufen konnten. Dafiir sprechen 
auch die kurzen Reaktionszeiten. Dafi ich jener bewuflten aktiven Absperrung 


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78 


L. BINSWANGER. 


Journal l Psychology 
und Neurologic 


wenig Wert beilege, riihrt daher, dafi bei einem zweiten Experiment, wo V.-P. 
den guten Willen hatte, auf das Experiment seine Aufmerksamkeit zu kon- 
zentrieren, die Kurve genau denselben Verlauf zeigte. Auch das zweitemal 
war V.-P. leicht ermiidet. Ermiidung allein geniigt jedoch nicht, um den Ab- 
fall der Kurve zu bewirken, wie mir ein Experiment an einer ermiideten 
Warterin zeigte, das am Tag nach einer Nachtwache aufgenommen wurde. 
Dafi die „Absperrung“ nicht von Anfang an gelang, zeigt uns der Anfangs- 
teil der Kurve. Das Experiment regte V.-P. nach seinen eigenen Angaben 
anfangs etwas auf (was nach vorstehendem leicht begreiflich). Ungefahr von 
R. 26 habe er jedoch das Gefiihl gehabt, ,,seine Komplexe seien jetzt abge- 
tan“ und daher habe er sich von nun an sicher gefiihlt. 

Nach R. 26 sinkt die Kurve auch deutlich ab. Immerhin erkennen wir 
schon vorher die Tendenz zum Abfallen. Wie in Versuch I das Steigen der 
Kurve eintrat, bevor die V.-P. das Gefiihl der Erregung hatte, so macht sich 
auch hier die Beruhigung auf der Kurve geltend, bevor die V.-P. dieselbe 
wahrnahm. Wie dort der „Ichkomplex“ seine Herrschaft iiber die iibrigen 
Komplexe nach und nach verlor, so iibte er sie hier immer starker aus. Be- 
rechnen wir die Durchschnittswerte des Kurvenabschnittes 1—26 fur sich, so 
erkennen wir darin deutlich die gegeniiber dem folgenden Abschnitt des Ver- 
suches viel starker in Anspruch genommene Aufmerksamkeit der V.-P.: 

W. M. der A. M. der W. M. der A. M der W. M. derjenigen Ausschlage, die Reproduktions- 
R.-Z. R.-Z. Ausschlage Ausschlage auf „zu lange w Zeiten fallen stOrunge n 

7 8,1 5 8 » 23% 

Dafi das W. M. der R.-Z. kiirzer als im Gesamtversuch ist, deutet dar- 
auf hin, dafi der V.-P. die Absicht, moglichst rasch zu reagieren, anfangs 
besser gelang als spater. Aus der grofiern Differenz zwischen W. und A. M. 
der Zeit, aus den gesteigerten Werten fiir die Ausschlage (s. namentlich das 
W. M. derjenigen Ausschlage, die auf zu lange Zeiten fallen) und aus der 
Abnahme der Reproduktionsstorungen konnen wir jetzt ohne weiteres ersehen, 
dafi im Beginn des Experimentes eine viel starkere Affektentwicklung statt- 
fand. 

R.-Z. G. A. 


1. Kopf: schon 9 16 

Glaubt, „ich dachte, er dachte dabei an seine Frau.“ Naturlich ist hier sofort, zum 
mindesten unbewufit, die Assoziation seiner Frau angeregt worden und erst nachtraglich 
erfolgte die Einkieidung des Gedankens in jene Form. Das erinnert mich sehr an einen 
Fall von Dem. praecox, wo mir der Pat. katamnestisch angab, er habe immer, wenn er in 
der Nahe von Damen gewesen sei, „geglaubt, die betreffende Dame glaube, er sei in sie 
verliebt.“ 

R.-Z. G. A. 

2. griin: Wiese 7 10 

3. Wasser: blau 6 15 

Unaufgeklart. 

R.-Z. G. A. 

4. stechen: tief 7 12 

Denkt daran, dafi diese Reaktion bei andem V.-P. leicht sexuelle Assoziationen 
wachruft 

R.-Z. G. A. 

5. Engel: Engel? hoch 14 18 

Verstand zuerst h an gen. Ursache des Mifiverstandnisses ist hier die Perseveration 
(vgl. 4 tief, 5 hoch und die Analyse)- Warum gerade hangen verstanden wurde, ist un- 


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BD XI,HEFT 1/2 XI. VEHHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 79 


aufjgeklart. Es mufi in Beziehung zu tief und hoch stehen. Die Reaktion hoch analysiert 
er selber: „Er habe den Engel nicht tief stechen wollen!“ Die Reizwortwiederholung, 
R.-Z. und Ausschlag sind objektive Zeugnisse fiir den Komplex und nicht zum mindesten 
das Reaktionswort selber. Die Symbolik ist klar. 

R.-Z. G. A. Reproduktion 

6. lang: tief 8 n grofi 

V.-P. weifi, dafi bei dem Reizwort lang oft sexuelle Komplexe berOhrt werden. Er 
reagiert daher auch mit dem, wie wir sehen werden, bei ihm stereotypen „Komplexver- 
treter“ tief. Das falsch reproduzierte grofi ist nur ein Ersatzwort fiir lang. Dafi hier 
ein eigener sexueller Komplex beriihrt wird und die Storung nicht etwa nur durch seine 
Erfahrungen an andem Versuchspersonen bedingt ist, zeigt sich ziemlich deutlich. Reaktionen 
4,5 und 6 hangen eng zusammen. 

R.-Z. G. A. Reproduktion 

7. Schiff: fahren 8 8 grofi 

Die falsche Reproduktion und der Ausschlag (das W. M. der ersten 26 Reaktionen 
ist 5) weisen wiederum auf einen Komplex. Der V.-P. ist nichts Besonderes bewufit Grofi 
ist verdachtig, und wenn wir in dem 4 Wochen spater vorgenommenen zweiten Versuch sehen, 
dafi er hier auf Schiff mit Mast reagierte, wird die Sache erst recht deutlich. Auch im 
zweiten Versuch reproduzierte er falsch, namlich Wasser. Ich habe ofters durch spatere 
Versuche Aufschlusse iiber scheinbar harmlosere Reaktionen friiherer Versuche ; die aber 
deutliche Komplexmerkmale aufwiesen, erhalten. Wenn wir uns erinnem, dafi noch nach 
vielen Monaten ein erstaunlicher Prozentsatz von Reaktionen genau so ausfallt wie beim 
ersten Versuch, so wissen wir, wie festgefugt die Assoziationen im allgemeinen sind. Es 
schsint mir daher nicht zu gewagt, aus einem Versuch, der 4 Wochen auf den ersten er- 
folgte, RQckschlQsse zu machen, zumal wenn ich annehmen mufi, dafi unterdes die Kon- 
stellation fiir den Komplex keine andere geworden ist. 1 ) 

R.-Z. G. A. 

8. pflugen: Acker 6 1 

. An dieser, fur die wenigsten Leute gefuhlsbetonten Reaktion kann man immer wieder 
von neuem sehen, wie das psycho-galvanische Phanomen von dem Gefuhlston der Vor- 
stellungen abhangig ist. 

R.-Z. G. A. 

9. Wolle: Baumwolle 7 13 

Die Reaktion erinnerte V.-P. daran, dafi einige seiner Versuchspersonen hier wo lien 
verstanden und zwar in sexuellem Sinne. 

R.-Z. G. A. 

10. freundlich: lieb 8 13 

Er erklart, lieb sei im Experiment immer ein Ersatzwort fiir seine Frau. 

R.-Z. G. A. 

11. Tisch: Stuhl 6 5 

12. fragen: antworten 6 3 

Zwischen 12 und 13 hat V.-P. die Hande bewegt. Ich kann nicht sagen: daher der 
starke Abfall der Kurve, hochstens: daher die starke Scnwankung derselben. Denn gewdhn- 
lich bemerkt man nach Bewegungen ein Ansteigen der Kurve (s. spater), wahrscheinlich 
weil die Hande dann meist starker auf die Elektroden gedriickt werden. Hier ware das 
Umgekehrte der Fall, ein Lockem der Hande von den Elektroden. Man konnte dies 
in Beziehung zu dem nachlassenden Interesse der V.-P. bringen und umgekehrt ein starkeres 
AufdrOcken der Hande zu dem Auftreten eines starkeren Komplexes, der motorische 
Innervationen hervorriefe. 

R.-Z. G. A. Reproduktion 

13. Staat: Land 9 2 Volk 

Verstand Stadt. V.-P. hat einen starken sozialen Komplex. Er besitzt eine aus- 

gesprochene soziale Ader, bedauert aber, dafi er zu wenig Zeit und Kenntnisse besitze, um 


*) Vgl. die Wiederholungsversuche von Peterson und Jung; Brain 1907 . 


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8 o 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologie 
und Neurologie 


politisch oder nationalokonomisch sich zu betatigen. Auflerdem wird er bei Staat an den 
Staatsdienst und die dadurch bedingte personliche Unfreiheit erinnert 

R.-Z. G. A. 

14. trotzig: freundlich 


15. Stengel: hoch 

16. tanzen: viele 
Denkt dabei an seine Frau. 

17. See: blau 


18. 

19 - 


krank: gesund 
Stolz: hoffartig 


7 

R.-Z. 

ir 

(s. I 

11 

6 

9 

11 


3 

G. A. 
17 

- 6 .) 
10 

o 

4 
2 


Repr. 

lang 


Die Reaktion 
worfen wurde. 


ist konstelliert durch ein Erlebnis, wo ihm zu grofier Stolz vorge- 


R.-Z. G. A* 

20. kochen: viel 9 o 

21. Haushalt: Frau 7 4 

Der Gedanke an den Haushalt seiner Frau ist fur V.-P. stark gefiihlsbetont. 
R. ist inhaltlich von Einflufi auf die folgende. 

R.-Z. G. A. 


Die 


22. bos: gut 6 12 

Bezieht sich nach seinen eigenen Angaben auf seine Frau und den Haushalt. Der 
starke Ausschlag ist nicht etwa so zu verstehen, dafl der auf R. 21 liegende Gefuhlston 
sich erst nachtraglich bei R. 22 geltend macht, vielmehr gibt V.-P. an, dafl ihm der 
Komplex erst bei R. 22 ein deutliches Gefiihl verursachte. 

R.-Z. G. A. 

23. Nadel: Schere 7 o 

24. schwimmen: tief 6 1 

Die hier ausgelassene Assoziation ist Wasser. Dafur der Komplexvertreter tief. 
Vgl. R. 3, wo bei Hervorrufung der Assoziation Wasser der Ausschlag so stark war. Der 
Komplex ist auch hier nicht ganz klar geworden. 

R.-Z. G. A. 

25. Urlaub: lang 14 16 

Der Urlaub ist wie fur V.-P. I fur den Kollegen ein starker, an gefiihlsbetonten 
Assoziationen sehr reicher Komplex. 

R.-Z. G. A. Repr. 

26. blau: grfln 7 3 Wasser 

Die Reproduktionsstorung ist offenbar durch Perseveration bedingt. Da R. 3. Wasser: 
blau lautete, ist nicht allzuviel Gewicht auf sie zu verlegen. 

R.-Z. G. A. Repr. 

27. tot: Leben 90 — 

Von hier an beginnt die erste Reihe von fehlenden Ausschlagen. 

R.-Z. G. A. Repr. 

28. drohen: viel 80 — 

Wir horten, dafl ungefahr bei R. 26 V.-P. das Gefuhl hatte, „jetzt sei der sexuelle 
Komplex abgetan", und sich nun in Ruhe wiegte. Es ist bezeichnend, dafl diese Stelle 
drei Reproduktionsstorungen hintereinander aufweist. Sie sind ein Ausdruck dafiir, dafl 
an dieser Stelle eine innere Ablenkung stattfand. 



R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

29. Lampe: Docht 

6 

0 


30. reich: arm 

6 

0 


31. verdienen: Geld 

7 

0 

reich 


Das Geld verdienen spielt in der Psyche der V.-P. eine gewisse Rolle, trotzdem kein 
Ausschlag. Man hat den Eindruck, dafl V.-P. denkt: Jetzt ist mir alles gleich, ich lasse 
mich nicht aufregen; das Schlimmste ist ja schon vorbei! Nur die Reproduktionsstdrung 
weist auf einen Komplex hin. 


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BD X, i < 8F rl ' 2 XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 81 



R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

32. sorgen: viel 

9 

0 

schdn 

33. Mitleid: gut 

11 

0 


V.-P. bemerkt hier bei der Analyse: „ 

Hier sollte ich eigentlich einen Berufekomplex 

haben, infolge meiner Stellung als Arzt.“ 

R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

34. gelb: blau 

9 

0 


35. Berg: Tal 

8 

0 


36. spielen: Kinder 

8 

0 


37. eifrig: viel 

16 

0 

Arbeit 

38. neu: alt 

6 

3 



Bei R. 37 wurde sein Berufekomplex beruhrt, und er empfand eine deutliche Er- 
regung dadurch. (Er fiihlt sich durch den Beruf unangenehm gehemmt in seiner wissen- 
schaftlichen Betatigung.) Dementsprechend die auffallend lange Reaktionszeit. Jedoch 
kein Ausschlag. Erst bei der nachsten, ganz indifferenten und mit sehr kurzer Zeit er- 
folgenden Reaktion tritt ein Ausschlag auf. 

Solche gleichsam verspatete Einwirkungen auf das Galvanometer kann man nicht 
selten beobachten. In der Annahme einer wirklichen Verspatung der Einwirkung des 
Affektes auf das psychogalvanische Phanomen mufl man aber sehr vorsichtig sein (vgl. 
R. 21 und 22). Man kann nie wissen, ob der Affekt bei der betreffenden Reaktion nicht 
erst deutlich subjektiv wahrgenommen wurde, oder ob nicht ein ganz neuer Komplex den 
scheinbar verspateten Ausschlag hervorrief. Die Selbstbeobachtung lafit V.-P. in diesem 
Falle im Stich. 

R.-Z. G. A. Repr. 

39. Sitte: alt 9 o Anstand 

alt perseveriert von R. 38 her. Ein Hinweis darauf, dafi auf alt ein gewisser Ge- 
fiihlston liegt, was mir aus nicht naher zu referierenden Griinden sehr wahrscheinlich ist. 
(Beziehungen zu den wichtigsten Komplexen der V.-P.) Bei der Reproduktion, wo die 
Perseveration aufgehoben ist, erfolgt das an dieser Stelie ubliche Reaktionswort: 
Anstand. Ein gutes Beispiel fiir eine der Bedingungen, die zu Reproduktions- 
storungen fuhren. 

R.-Z. G. A. 

40. reiten: gut 9 9 

Er hatte im Militardienst gerne gut reiten gelemt, wurde aber durch eine Krank- 
heit am Reiten verhindert. Er gibt an, dafi ihn dies nachhaltig beschaftigt. Wir sehen, 


dafi alles, was ihn in seinen Ambitionen hemmt, 

lebhafte Gefiihlsaufierungen hervorruft. 


R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

41. Wand: Zimmer 

11 

0 


42. dumm: gescheit 

7 

0 


43. Heft: Buch 

8 

0 


44. verachten: 

14 

0 

tief 

Die Reaktion erinnert ihn an eines der Jugenderlebnisse, die 

so nachhaltig auf ihn 

eingewirkt haben. 

R.-Z. 

G. A. 


45. Zahn: Mund 

14 

0 


Denkt an die Zahnarztrechnung und einen 

„Zahnreiztraum w 

seiner Frau. Beides 

ist gefiihlsbetont. 

R.-Z. 

G. A. 


46. richtig: falsch 

7 

0 


47. Volk: Staat 

9 

9 



Wieder -der soziale Komplex wie in R. 13. Eine Komponente desselben ist die, dafi 
der Staat seine Krafte so in Anspruch nimmt, dafi er seiner Frau wenig Zeit widmen kann. 
Daher werden auch die Komplexe seiner Frau und der soziale dfters miteinander vermengt. 
Das zeigt sich durch den Vergleich mit dem 2. Versuche; z. B.: 

Journal far Psychologic und Neurologie. Bd. XI. 6 


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82 


L. BINSWANGER. 


Journal t Psychologic 
und Neurologic. 


I. Versuch 

Repr. 

II. Versuch 

Repr. 

47. Volk: Staat 

+ 

lieb 

Staat 

50. ungerecht: gerecht 

+ 

Staat 

lieb 

92. wahlen: lieben 

ja 

Stadtrat 

+ 


Dcr Vergleich zeigt klar, wie ahnlich die Konstellation in den beiden vier Wochen 
auseinander liegenden Versuchen ist. 


R.-Z. 

7 

8 

7 


G. A. 

i 

o 

20 


Repr. 


48. stinken: schlecht riechen 

49. Buch: Heft 

50. ungerecht: gerecht 

S. R. 47. 

51. Kind: Mutter 12 o 

V.-P. denkt bei dieser Reaktion an seine Frau. Die Reaktion soil, wie er angibt, 
nicht sehr geffthlsbetont sein, da er den darin enthaltenen Komplex sehr „abspalte“. 

Ich Qbergehe, der Kurze halber, die nachsten Reaktionen, die nichts Besonderes 
aufweisen. 

R.-Z. G. A. Repr. 

R. 61. Gesetz: Staat 7 o 

Trotz der Komplexe keinerlei Storungen nvehr! 

62. lieb: treu 9 11 

63. Glas: Geschirr 29 6 trinken 

Glas erinnert ihn an das nachher reproduzierte trinken und damit an die Ab- 
stinenzbewegung, deren eifriger Anhanger er ist. Der starke Gef&hlston rflhrt wiederum 
daher, dafi ihm die Beschaftigung mit der Abstinenzpropaganda sehr viel Zeit fttr wissen- 
schaftliche Arbeit wegnimmt. 

R.-Z. G. A. Repr. 

64. streiten: lieb haben 11 1 zanken 

65. Wurm: Suppe 7 3 

Konstelliert durch eine unter den Kollegen gebrauchliche Bezeichnung. Der Kurven- 
abschnitt von R. 62—68 stellt eine deutliche Komplexkurve dar. Durch die verschiedenen 
von 62—65 angeregten Komplexe wird das Absinken der Kurve wieder einmal unter- 
brochen und die V.-P. aus ihrer Ruhe aufgerQttelt. 


R.-Z. 

6 

6 

7 


G. A. 
o 
o 
o 


Repr. 


Abfallender ( 66 . grofl: klein 
Schenkel der j67. Kartoffel: Erdapfel 
Komplexkurve (68. malen: Bild 7 o viel 

Bei R. 68 dachte der Kollege an seine Frau, was sofort eine Reproduktionsstdrung 
bewirkte. 

R.-Z. G. A. Repr. 

69. Teil: Geschlecht 9 5 

70. alt: jung 6 o 

71. Blume: durch die Blume 11 o — 

Konstelliert durch die Erinnerung an eine komische Anwendung des Wortes Blume. 

R.-Z. G. A. Repr. 

72. schlagen: tief 7 o 

73. Kasten: hoch 8 o Wand 

Schlagen erinnerte V.-P. an stechen, daher das Reaktionswort tief, das 

wiederum, wie bei R. 4, in der nachstfolgenden Reaktion (73) perseveriert. (Vgl. R. 5: 
hoch = nicht tief.) 

Die Perserveration von R. 72 bedingt hier wahrscheinlich auch die Reproduktions¬ 
stdrung bei R. 73. 

R.-Z. 


74. wild: sehr 

Bezieht sich auf eine Patiendn. 

75. Familie: Kind 


G. A. 
o 


Repr. 


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BD ' XI im FT112 XI - VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 83 


Wir sehen, wie bei R. 51, dafi der Inhalt dieser Reaktion bei der V.-P. keine grofie 
Rolle spielt. 

R.-Z. G. A. Repr. 

80. erzahlen: berichten 10 o viel 

Auch hier verrat sich der Gedanke an seine Frau durch das falsch reproduzierte 
viel. (S. R. 16, 68, 88, 101 u. a.) „Er soil seiner Frau immer viel von seinem Berufe 
erzahlen. u 

R.-Z. G. A. 

81. Anstand: Sitte 7 2 

Hierauf Bewegung mit den Handen und Anstieg der Kurve. Die Bewegung scheint 
an dieser Stelle durch einen nicht naher zu referierenden Komplex bewirkt worden zu sein. 



R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

82. eng: weit 

7 

1 


83. Bruder: Schwester 

6 

0 


84. Schaden: untreu 

7 

0 


85. Storch: Kind 

7 

0 


S. R. 51 und 75. 




86. falsch: gut 

8 

0 

treu 

Beim 2. Vereuch wurde hier ohne weiteres Frau assoziiert. 



R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

87. Angst: ja 

11 

0 


88. kQssen: viel 

12 

2 


Vgl. R. 80. 




89. Brand: Feuerwehr 

9 

0 


90. schmutzig: sauber 

8 

0 


91. Tflre: Tor 

8 

0 

— 

Die Symbolik war ihm hier wie bei R. 82 bewufit. 




R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

92. wahlen: lieben 

12 

0 

ja 

S. R. 47. 




93. Ehe: treu 

11 

0 


Ungefahr von hier an schlofi V.-P. die Augen, wahrend 

bo 

1 

J 3 

a 

4 ) 

■8 

0 

> 

4 > 

gebung betrachtet hatte. 





R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

94. still: sanffc 

7 

0 

gut 

95. Spott: ja 

9 

0 



Sozial konstelliert. Erinnert sich an ein Jugenderlebnis. 

R.-Z. G. A. 

96. schlafen: zusammen 9 104 


Der enorme Ausschlag riihrt daher, dafi nun der Komplex ganz unverhfillt zutage 
trat. V.-P. hatte „wie aus dem Schlaf heraus tt reagiert, die Reaktion war ihm entfahren, 
bevor er es wufite und hindem konnte. Nun mufite er in sich hinein lachen und zitterte 
mit den Handen, so dafi dadurch der Ausschlag um so starker wurde. Das Wichtigste 
bei dieser Reaktion ist das, dafi von nun an die Kurve sich auf der Hohe halt, d. h. dafi 
die Erregung anhalt. Wir sehen hier deutlich, dafi durchaus nicht nach jedem langen 
Ausschlag die Kurve (etwa aus physikalischen Grunden) absinken mufl, dafi vielmehr ihr 
Verhalten durch die jeweilige psychologische Konstellation der V.-P. bedingt ist. In diesem 
Falle handelt es sich um den brusken Ubergang aus einem schlaf ahnlichen Zustand in den 
wachen, und zwar ist der Weckreiz (R. 96) so stark, dafi er nicht nur V.-P. aus dem schlaf- 
ahnlichen Zustand aufruttelte, sondern noch eine ziemliche Erregung mit mannigfachen 
Innervationen hervomift. Es tritt daher kein absteigender Komplexkurvenschenkel auf 
(wenn das Experiment nicht so bald abgebrochen worden ware, hatten wir jedenfalls doch 
noch einen solchen beobachten konnen), vielmehr halt sich die Kurve entsprechend der 
durch R. 96 bedingten Erregung zunachst auf der Hohe. 

6 * 


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84 


L. B 1 NSW ANGER. 


Journal f. Psychology 
und Neurologie. 



R.*Z. 

G. A. 

Repr. 

97. Monat: Jahr 

12 

1 


98. farbig: grim 

9 

0 

blau 

99. Hund: Schwein 

9 

6 


Unaufgeklart. 

100. ^eden: viel 

8 

0 

unterhalten 

101. Nacht: viel 

17 

27 

— 

Man erkennt deutlich die durch R. 96 gesetzte 

„ Komplexempfmdlichkeit“ x ). 


R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

102. nahen: Gras 

9 

8 

Wiese 

Verstand „mahen“. Unaufgeklart. 

103. Wein: Glas 

12 

8 


S. R. 63. 

104. schon: gut 

8 

0 


105. Uhr: -werk 

8 

5 


Nicht aufgeklart. 


In den von R. 99 bis 105 auftretenden starken Ausschlagen erblickt man deutlich 
die Wirkung von R. 96 auf den Bewufitseinszustand der V.-P. Die Abspemmg und 
Schlafrigkeit sind uberwunden, ein Zustand erhohter Reizbarkeit ist eingetreten. 

Zusammenfassung des Versuches III. 

Der Versuch zeigt den Einflufi der zum Teil beabsichtigten, zum 
Teil durch die psychologische Konstellation der V.-P. bedingten 
Ablenkung der Aufmerksamkeit. 

Die V.-P. ist im Zustande der ,,aktiven Absperrung" gegen die 
Analyse. 

Die aktive Abspemmg bedingt den Abfall der „Assoziationskurve“. Es 
vergeht eine gewisse Zeit (bis etwa R. 26), ehe die V.-P. in den Zustand der 
Absperrung gelangt. Bis dahin sinkt die Kurve nur wenig. Die Absperrung 
ist verantwortlich zu machen fur den so haufigen Ausfall der Ausschlage. 
Auch dieser macht sich erst von R. 26 an geltend. 

Zum Unterschied von Versuch lie sind die Reaktionszeiten auffallend kurz; 
ftir die Reaktionszeiten des Gesamtversuches ist das W. M. nur 8, fur diejenigen 
von 1—26 sogar nur 7. In der Kiirze der Reaktionszeiten sehen wir wiederum 
den Einflufi einer aktiven Tatigkeit, namlich des Bestrebens, moglichst rasch 
zu reagieren, urn moglichst wenig verraterische Reaktionszeiten zu liefern. Die 
aktive Absperrung wirkt also hier im Gegensatz zu der passiven Ablenkung 
der Aufmerksamkeit (durch einen perseverierenden Komplex) sowohl auf die 
Ausschlage, als auf die Reaktionszeiten verkiirzend. 

Der Grand fur diesen Unterschied gegeniiber Versuch lie ist leicht darin 
zu erkennen, dafi hier die ganze Aufmerksamkeit auf das eine Ziel gerichtet 
ist, moglichst rasch zu reagieren. Den „emotiven Hemmungen* 4 steht daher 
eine entgegengesetzt wirkende, viel starkere Intention gegeniiber. 

Durch das Bestreben, moglichst rasch zu reagieren, iiberhaupt der psy- 
chologischen Durchforschung durch das Experiment moglichst auszuweichen, 


1 ) Unter Komplexempfmdlichkeit versteht Jung die den einm&l angeregten Komplexvonstellungen 
anhaftende „Bereitschaft, auf ahnliche aber viel schwachere Reize hin wieder in ann&hrend voller 
Starke aufzutreten. a Zur Psychologie der Dem. praec. S. 47. 


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BIXXI i 9 af FT12 XI * VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 85 

werden die Reizworte in vielen Fallen nur oberflachlich aufgefaBt, so dafi die 
Komplexe nicht beriihrt werden, wodurch keine Affektentwicklung zustande 
kommt. Infolgedessen bleiben die Ausschlage aus. 

Versuch IV. 

Nachdem mir der Einflufi der Ablenkung der Aufmerksamkeit auf die 
Galvanometerkurve in 2 Modifikationen, namlich durch einen perseverierenden 
Komplex (Versuch lie) und durch aktive Sperrung (Versuch III) aufgefallen war, 
versuchte ich noch auf eine dritte Art experimentell Ablenkung der Auf¬ 
merksamkeit zu erzielen. Ich bediente mich hierfiir der von Jung und Rik- 
lin angewandten Methode der aufieren Ablenkung, die darin besteht, dafi man 
die V.-P. wahrend des Assoziationsexperimentes nach dem Takte eines Metro- 
noms Bleistiftstriche von 1 cm Lange anfiihren lafit . l ) Die Wirkung der auf 
diese Art erzielten Ablenkung der Aufmerksamkeit auf die Assoziationsqualitat 
haben Jung und Riklin deutlich nachgewiesen. (Die Assoziationsqualitat wird da- 
bei eine viel oberflachlichere.) Um gleichzeitig das Verhalten der psychogal- 
vanischen Kurve beobachten zu konnen, legte ich die Elektroden an die (nackten) 
Fufisohlen an, sodafi die V.-P. statt auf den Fufiboden ihre Fiifie auf die Elektroden 
(Messingplatten) aufsetzte. (Vorher hatte ich mich durch wiederholte Versuche ver- 
sichert, dafi man bei Anlegen der Elektroden an die Fufisohlen dieselben Resultate 
erhalt, wie bei der Verwendung der Hande. Die Ausschlage sind im ersteren 
Falle sogar in der Regel grofier, da die Kontaktflache grofier und der Kon- 
takt inniger ist. Beim „Normalversuch“ steigt die Kurve bei dieser Ver- 
suchsaiiordnung oft rascher an, als bei Anlegung der Elektroden an die 
Hande.) 

Um den Unterschied zwischen der normalen Assoziationskurve und der 
„Ablenkungskurve“ besonders deutlich zu machen, beschreibe ich im folgen- 
den einen Ablenkungsversuch an derselben V.-P., die wir in V. I kennen ge- 
lernt haben. Da es sich um einen hochgebildeten Herrn handelt, mufite das 
Tempo der Metronomschlage moglichst rasch gewahlt werden, um iiberhaupt 
eine Spaltung der Aufmerksamkeit zu erzielen. Das Metronom wurde auf 94 
eingestellt; es mufiten also pro Minute 94 aufrechte Striche von genau 1 cm 
Lange (die Lange war durch wagerechte Linien angegeben) ausgefuhrt werden. 
Erst wenn alles im Gange war, wurde mit dem Zurufen der Reizworte be- 
gonnen. Bei der Vergleichung der so erhaltenen Kurve IV mit Kurve 1 fallt 
sofort der gewaltige Unterschied auf. Kurve I steigt im Anfang wie nach der 
Unterbrechung (nach R. 47) rasch an. Kurve IV fallt im Anfang wie nach der 
Unterbrechung (nach R. 26) rasch ab. Sie erinnert dadurch, sowie durch das 
Kleinerwerden und inm grofien Teil ganzliche Ausbleiben der Ausschlage an 
den Beginn der Kurve lie und an Kurve III und zeigt im grofien das, was 
wir als abfallenden Schenkel einer Komplexkurve in jedem „normalen“ Ex¬ 
periment finden. Dafi die Kurve so hoch beginnt (zwischen 37 und 38 mm), 
riihrt zum grofien Teil von den, bei Anwendung der Fufisohlen verbesserten 
Leitungsbedingungen fur den elektrischen Strom her. Dafceben spielt aber 

*) Siehe 1. Beitrag, S. 11. 


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86 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
und Nenrologie. 


auch ein psychischer Faktor mit. Denn wenn man abwechselnd zeitweise „ab- 
lenkt“ und dann wieder ohne Ablenkung fexperimentiert, indem man immer 
mit Fufisohlenkontakt arbeitet, sieht man, dafi diejenigen Partien der Kurve, 
wo abgelenkt wurde, hoher beginnen als die andern. Der psychische Faktor 
ist gegeben durch einen gewissen Grad von Aufregung, der, bei den einzelnen 
V.-P. sehr verschieden stark, durch die komplizierteren Anforderungen, die 
das Ablenkungsexperiment stellt, bedingt ist. — Vergleichen wir zunachst die 
Durchschnittswerte des Normalversuches 1 und des Ablenkungsversuches IV 
und erinnern wir uns, dafi bei Anwendung des Fufisohlenkontaktes im Normal- 
versuch die Ausschlage in der Regel grofier sind und das Steigen der Kurve 
rapider erfolgt als bei Handekontakt. Wenn hier trotz des Fufisohlen¬ 
kontaktes die Werte fiir die Ausschlage geringer sind als beim Handekontakt, 
so spricht das um so mehr fiir die starke Beeinflussung des psychogalvanischen 
Phanomens durch den psychischen Vorgang der Ablenkung. 

W. M. d. R.-Z. A. M. d. R.-Z. Differ. W. M. d. Ausschlage A. M. d. Ausschlage Differ. Repr.-StOr. 

I.Versuch 9 8,8 —0,2 8 10 +2 10 % 

IV. Versuch 7 8,4 -fi,4 0 2,5 +2,5 21 % 

Sowohl das W. M. der R.-Zeiten als das A. M. derselben ist geringer 
als im Normalversuch. Wir haben hier wieder einen deutlichen Unterschied 
gegeniiber der inneren Ablenkung durch einen perseverierenden Komplex 
(V. lie). Dort war die R.-Z. im Mittel verlangert gegeniiber den Normal- 
versuchen derselben V.-P. Wir hatten dort als Ursache der Zeitverlangerung 
die erschwerte Spaltung der Aufmerksamkeit angesehen, die, durch den 
perseverierenden Komplex in Anspruch genommen, nur mit Oberwindung 
eines grofien Widerstandes einen Rest fiir die Reaktionen selber abgab. Er¬ 
innern wir uns, dafi dort die Assoziationsqualitat keine auffallend oberflachliche 
war. Das riihrt daher, dafi V.-P. trotz des Komplexes bestrebt war, sinn- 
gemafl su reagieren. In unserem Versuch riihrt die Zeitverkiiyzung einfach 
daher, dafi die Spaltung der Aufmerksamkeit eine viel vollkom- 
menere ist, indem V.-P. fast nur noch sprachlich reagierte. Vermoge ihrer 
grofien Sprachgewandtheit war sie imstande, den sprachlichen Mechanismus 
fast automatisch arbeiten zu lassen und ihr ganzes Interesse dem Zeichnen 
der Striche zuzuwenden. Je selbstandiger aber der sprachliche Mechanismus 
arbeitet, desto kiirzer wird die R.-Z. Die Verhaltnisse liegen hier sehr ahn- 
lich wie beim vorigen Versuch. Wie hier durch das Zeichnen der Striche, 
so war dort durch das Bestreben, rasch zu reagieren, die Aufmerksamkeit fast 
ganz in Anspruch genommen, alles andere dadurch gehemmt. Die Differenz 
zwischen dem W. M. der R.-Z. und dem A. M. der R.-Z. in unserm Versuch 
weist darauf hin, dafi auch eine Reihe ,,zu langer“ Zeiten aufgetreten scin 
miissen, dafi also emotive Storungen in den rein sprachlichen Ablauf der 
Reaktionen eingegriffen haben. Das W. M. der Ausschlage ist o wie in 
Versuch III. Nur das A. M. derselben zeigt an, dafi iiberhaupt Ausschlage 
erfolgt sind. Das haufige Fehlen von Ausschlagen erklart sich durch die- 
selben Oberlegungen wie bei Versuch III. Dafi die Reproduktionsstbrungen 
in diesem Versuch doppelt so haufig sind als im Normalversuch, weist eben- 
falls auf die Ablenkung der Aufmerksamkeit hin. Bei der Mitteilung der 


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BD * XI i«m FT 1,2 XI - VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 8 J 


Assoziationen dieses Versuches kommt es mir hauptsachlich darauf an, den 
aufierst oberflachlichen Assoziatio«stypus zu zeigen. 


I. 

Kopf: Hals 

R.-Z. 

7 

G. A. 
16 

Repr. 

2. 

grQn: Gras 

7 

2 


3 - 

Wasser: Wasser 

6 

11 


4 . 

stechen: weh 

7 

M 

Messer 

5 - 

Engel: Bengel 

7 

6 


6. 

lang: bang 

6 

2 



Die 3 ersten Reaktionsworte enthalten alle den Vokal A, dann folgt in Reaktion 3 
und 5 der Vokal E. Beim Ubergang von Reaktion 3 zu 4 perseveriert aufierdem der An- 
laut W, wie bei Reaktion 6 der Anlaut B von Reaktion 5 her. Das Reaktionswort bang 
ist also ausschliefilich sprachlich determiniert; wie der Anlaut durch das vorhergehende 
so der Klang durch das zugehorige Reizwort. 

R.-Z. G. A. Repr. 

7. Schiff: Schiff 6 8 (Besinnen) 

Die Reizwortwiederholungen bei Reaktion 3 und 7 zeigen am deutlichsten, wie stark die 
Aufmerksamkeit abgelenkt ist. 

R.-Z. G. A. 

8. pfliigen: f—fliegen 14 25 

Die lange Zeit ist durch das Stolpem bei der Aussprache des Reaktionswortes be- 
dingt, der lange Ausschlag erfolgte wohl hauptsachlich infolge einer Stoning, die jedesmal 
auftrat, wenn V.-P. mit den Strichen eine neue Zeile begann, was eine Bewegung des 
ganzen Oberkorpers und damit auch der Beine zur Folge hatte. Wir sehen diese Stoning 
aufier in R. 8 in R. 16, sowie in ziemlich regelmafiigen Abstanden noch R. 34, 49 und 62 
auftreten. 

Es ist bemerkenswert, dafi die ersten beiden Male, wo V.-P. noch nicht an das 
Experiment gewohnt und noch etwas erregt war, die Stoning sich in einem starkeren Aus- 


schlag kundgibt, wahrend nachher nur noch ein 

leichtes Ansteigen der Kurve zu be- 

merken ist. 

R.-Z. 

G. A. 

9. Wolle: st—w—stricken 

11 

4 

V.-P. wollte sagen Strolle. Wir sehen das Bestreben, 

, rein klanglich zu reagieren. 


R.-Z. 

G. A. 

10. freundlich: hafllich 

7 

2 

11. Tisch: Fisch 

6 

0 

Hier bleibt der Ausschlag zum ersten Male aus. 

Wie beim Normalversuch sind auch 

hier die Ausschlage anfangs grofier als spater. 



R.-Z. 

G. A. Repr. 

12. fragen: antworten 

7 

0 tragen ? 

13. Staat: Mut 

11 

4 Schweiz 

Wollte sagen: Mat. Dachte zuerst an eine „ 

Tat w zu 

der „Mut u gehorte. Mut ist 

also eine mittelbare Assoziation. 

R.-Z. 

G. A. Repr. 

14. trotzig: freundlich 

16 

0 heftig 

S. R. 32. 



32. 15. Stengel: Bengel 

6 

4 

16. tanzen: schwanzen 

9 

2 4 

Die Zwischenglieder sind nach Angabe der V, 

,-P.: Wanzen und Walzer (s. R. 8). 


R.-Z. 

G. A. 

17. See: Meer 

6 

7 

18. krank: schwach 

6 

0 

19. Stolz: Holz 

6 

0 

20. kochen: Moch-Rochen 

9 

2 


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88 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


V.-P. gibt an, das Reizwort habe in ihm das visuelle Bild einer Hohle am Meer 
wachgerufen, und dieses wieder das Wort Roc, wejphes dann Rochen bedingte. Moch 
ware demnach entstanden durch Zusammenziehung der Klangbilder Meer und Rochen. 
Objektiv scheint wahrscheinlicher, dafi kochen zuerst das Klangbild Rochen hervor- 
gerufen hat, und dafi sich an dieses roc anschlofi. Roc (Fels) hatte dann gemeinsam 
mit Rochen die Vorstellungen Ho hie und Meer hervorgerufen. Erinnem wir uns, dafi 
vier Reaktionen vorher die Reaktion See: Meer erfolgte, und zwar mit einem starken 
Ausschlag. Aus Versuch I wissen wir, dafi Meer fur V.-P.* sehr gefhhlsbetont ist Wir 
wiirden daher begreifen, warum Meer sich so vordrangt. 

R.-Z. G. A. 


21. Tinte: saufen 6 o 

V.-P. wollte sagen: Fisch. Vgl. diese Reaktion in Versuch I. 

R.-Z. G. A. 

22. b6s: ho—falsch 14 4 

„Hohn sein“ ist ein Dialektausdruck fur bose sein. 

23. Nadel: hm stechen 11 o 

Wollte zuerst Nabel sagen. 

24. schwimmen: Fisch 7 o 

25. Reise: machen . 9 o 

26. blau: See 9 o 

Wollte sagen mau. Das m von machen perseverierte offenbar. 

Hier mufite der Versuch unterbrochen werden, da der Papierstreifen zu Ende war. 
Sofort stieg die Kurve wieder bis 33,6; der elektrische Leitungswiderstand wurde in der 
Pause ein besserer. Mit Beginn der Ablenkung sinkt die Kurve sofort wieder, d. h. def 
Leitungswiderstand uimmt rasch wieder zu. 

R.-Z. G. A. 


27. Brot: — hm — rot 
Wollte sagen schneiden. 

28. drohen: schlagen 

29. Lampe: Schein 

30. reich: arm 

31. Baum: Stamm 

32. singen: \ i) 

Istimmenj 


12 9 

7 4 

7 6 

6 o 

6 o 

7 9 


Wir sahen bisher und werden noch weiterhin sehen, dafi die Zischlaute sch und st 
(scht) in diesem Experiment sich besonders hervordrangen. Ich wufite, dafi kurz vor dem 
Experiment der V.-P. mitgeteilt worden war, dafi eine ehemalige Patientin, deren Name 
mit dem Klang Schu... beginnt, ihn verleumdet habe. Am Schlusse des Experimentes 
liefi ich V.-P. ruhen, um die Ruhekurve zu beobachten. Dabei schlief er ein und hatte 
einen Traum, in dem jene Dame die Hauptrolle spielt. Dadurch erfuhr ich, dafi der Ge- 
danke an dieselbe unbewufit wahrend des Experimentes perseverierte. Ich bin daher sehr 
geneigt, und V.-P. nahm diese Erklarung sofort an, in dem Vordrangen der Anlaute Sch 
und Scht eine „Symptomhandlung“ a ) zu erblicken. 

Moglich, dafi auch die Komplexmerkmale in den Reaktionen 1*4. trotzig: freundlich; 
22. bos: falsch; 28. drohen: schlagen und 64. streiten: streifen auf den unangenehmen 
Komplex zuriickzufuhren sind. 

R.-Z. G. .A. Repr. 

33. Mitleid: Arme 6 o arm. 

Diese Reaktion wie auch freundlich: hafilich; fragen: antworten sind fiir V.-P durch 
die Erfahrung in seinen eigenen Experimenten stereotyp geworden und laufen daher ebenso 
sprachlich-motorisch ab wie etwa Reime. 


1 ) Hier werden einmal wieder 2 Reakdonsworte gebracht. Dafi so hanfig 2, wenn auch 2 
verstiimmelte Worte assoziiert werden, zeigt ganz frappant, dafi ihnen die Anfmerksamkeit entzogen 
ist, mit andem Worten dafi keines gendgend „Aufmerksamkeitsbesetzung u erhalt, um aus der Kon- 
kurrenz mit anderen Assoziadonen als Sieger bervorzugehen. 

*) S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. 


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BD - 1,2 XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS.USW. 

89' 


R.-Z. 

G. A. 


34. gelb: arm 

9 

0 


Verstand Geld. Der Komplex verrat sich auch bei der Ablenkung. 


Arm perseveriert von 33. S.-R. 8. 

R.-Z. 

G. A. 


35. Berg: steigen 

7 

0 


36. spielen: Kinder 

8 

0 


37. Saiz: malen 

9 

0 


Wollte sagen Malz. 




38. neu: alt 

6 

12 



Da bei dem Ablenkungsversuch Bewegungen eine storende Rolle spielen, dQrfen wir 
hier dem isolierten Auffcreten von zu langen Ausschlagen (ohne andere Komplexmerkmale) 
nicht zu viel Bedeutung beilegen. 


R.-Z. G. A. 


39. Sitte: Unsitte 

8 

1 

40. reiten: Pferd 

6 

5 

41. Wand: Stall 

7 

2 


Wie in Versuch I fiel der V.-P. hier ein englisches Wort ein, namlich wall (S.-R. 3 
in Versuch I). Versuch IV. fand 7 Wochen nach Versuch I. statt. Damals wurde Stem reagiert. 
Das Wort Stall kam in der Analyse (Stall von Bethlehem) vor. Trotz der Ablenkung ist 
der Komplex noch zu erkennen. 


42. dumm: stumm 

R.-Z. 

7 

G. A. 

7 


43. Heft: Messer 

9 

0 


44. verachten: achten 

7 

0 


45. Zahn: Zeit 

7 

0 


46. richtig: unrichtig 

7 

4 


47. Volk: voH' 

6 

0 


48. stinken: ver — Vieh 

9 

0 


Wollte sagen verdammt. 

49. Buch: Huch 

12 

0 


Denkt an Ricarda Huch. 

50. ungerecht: gerecht 

7 

0 


51. Frosch: hm Brosch-e 

14 

0 


Brosche mag, wie V.-P. angibt, konsteiliert sein 

durch die Absicht, seiner Frau einen 

Schmuck zu schenken. 

52. scheiden: neiden 

R.-Z. 

7 

G. A. 

0 


53. Hunger: Durst 

6 

0 


54. weifi: schwarz 

6 

0 


55. Rind: -vieh 

6 

0 


56. aufpassen: hm aufmerken 

12 

0 


57. Bleistift: spitz 

6 

0 


58. trub: hm Wetter 

9 

0 


59. Pflaume: sGfi 

7 

0 


60. treflfen: antreffen 

7 

0 


61. Gesetz: Buch 

9 

0 


62. lieb: teuer 

7 

0 


63. Glas: klar 

6 

0 



R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

64. streiten: str-eifen 

12 

0 

Zwist, streifen 

S. R. 32. 

65. Ziege: hm Tier 

11 

0 


66. grofi: schwer 

9 

0 


67. Kartoffel: Kapital 

9 

0 





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90 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychology 
und Neuro logic. 


Eine auflerst oberflachliche, klangliche Assoziation Kapital spielt bei V.-P. momentan 
eine besondere Rolle, da er mit dem Ankauf von Papieren beschaftigt ist. 



R.-Z. 

G. A. Repr. 

68. malen: Bild 

7 

0 

69. Teil: haben 

7 

0 Erdteil 

Hangt zusammen mit R. 67. V.-P. ist Teilhaber an einer Fabrik. 


R.-Z. 

G. A. 

70. alt: sein 

7 

0 

71. Blume: Lumen 

11 

0 

Das Altwerden und „Lumen u werden spielt hier laut eigner Angabe eine Rolle. 


R.-Z. 

G. A. Repr. 

72. schlagen: Uhr 

Konstelliert auch die Metronomschlage. 

9 

0 (Besinnen) 

R.-Z. 

G. A. Repr. 

73. Kasten: Kasse 

7 

0 

74 Wild: Bild 

7 

0, wild 

75. Familie: haben 

6 

0 

76. waschen: Wasser 

6 

0 

77. Kuh: hoch 

9 

0 

Verstand Buch. In Reaktion 49 erfolgte aul Buch: 

Huch, Hoch scheint nur eine 


Klangsverschiebung von Huch zu sein. 

Nach Beendigung des Versuches ging der Lichtstreifen sofort wieder 
auf 42, d. h. er durchlief in wenigen Sekunden die Strecke von 13,6—42. 
Ich liefl darauf V.-P. sich ganz ruhig verhalten, wobei er einschlief und den 
angedeuteten Traum hatte. In dieser Zeit (5 Min.) ging der Lichtstreifen 
wieder von 42 auf 25 herunter, nach dem Erwachen dagegen wieder in die 
Hohe. Die Schlafkurve verhielt sich also wie die Ablenkungskurve. 


Zusammenfassung des Versuches IV. 

Der Versuch zeigt den Einflufi der „aufieren Ablenkung u auf die 
Galvanometerkurve. Die Wirkung der aufieren Ablenkung ist in diesem Ver- 
suche die gleiche wie die der aktiven Absperrung in Versuch III: Sinken 
der Kurve, Abnahme oder Ausfall der Ausschlage, auffallend 
kurze Reaktionszeiten. In Versuch IV ist das W. M. der R.-Zeiten 7 
gegeniiber 9 im Normalversuch an derselben V.-P. Durch die kurzen 
Reaktionszeiten stehen Versuch III und IV im Gegensatz zu Versuch lie. 
Der Unterschied im Verhalten der R.-Zeiten wird dadurch zu erklaren ver- 
sucht, dafi bei III und IV die Aufmerksamkeit aktiv auf einen bestimmten 
Vorgang gerichtet ist, in Versuch lie dagegen passiv durch den vorher an- 
geregten Komplex gefesselt wird. Die Spaltung der Aufmerksamkeit bei III 
und IV ist infolgedessen eine viel vollkommenere, die Reaktionen verlaufen, 
ohne viele Assoziationen anzuregen, bei III durch aktiven Widerstand, bei IV 
durch rein sprachlich-motorische Einstellung. Bei lie dagegen ist V.-P. be- 
miiht, die Aufmerksamkeit vom Komplex weg auf die einzelnen Reaktionen 
zu richten, daher der „Widerstreit“, die Zeitverlangerung. Nach Schlufi des 
Experimentes steigt hier der Lichtstreifen sehr rasch (nicht aufgezeichnet), 
wahrend er nach Beendigung des Normal versuches gewohnlich absinkt 

Wahrend V.-P. schlief (5 Minuten), sank der Lichtstreifen (um 17 mm) 
auf der Skala. Die Schlafkurve verhielt sich in diesem Fall wie die 
Ruhe- und die Ablenkungskurve. 


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BD * 1/2 XI * VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 91 


Schlufifolgerungen aus Versuch I—IV. 

Bei der Auswahl der obigen Versuche aus meiner Sammlung hatte ich 
3 verschiedene Ziele im Auge. 

Erstens wollte ich zeigen, welch grofien Dienst uns die Beobachtung des 
psychogalvanischen Phanomens beim Assoziationsexperiment fur die psycho- 
logische Durchforschung der V.-Pn. leistet, indem es das Experiment um ein 
objektives Komplexmerkmal bereichert, das uns unmittelbarer als die ubrigen 
Komplexmerkmale liber die affektive Reaktionsweise der V.-P. Auf- 
schlufi gibt. 

Zweitens wollte ich diejenigen, die dem Assoziationsexperiment ferner 
stehen, durch Gewinnung einiger, wenn auch noch so bescheidener Resultate 
allgemein experimentell-psychologischer Natur auf die Bedeutung aufmerksam 
machen, die dem Phanomen als ,,unwillkurlichem Ausdrucksmittel“ fur die 
experimentelle Psychologie zukommt. 

Drittens stellte ich die Versuche deswegen zusammen, weil wir an ihnen 
die korperlichen Auflerungen eines und desselben psychologischen Vorgangs, 
der Ablenkung der Aufmerksamkeit, beobachten konnen. Fernerhin 
werden uns die Beobachtungen liber den Einflufi der Aufmerksamkeit auf 
unser Experiment, verglichen mit anderen Beobachtungen, einige Andeutungen 
iiber das Wesen des psychogalvanischen Phanomens gestatten. — 

Erinnern wir uns zunachst, dafi es sich bei den in den obigen Versuchen 
angewandten Versuchsanordnungen, soweit wir bis jetzt wissen, zum groflten 
Teil oder ausschliefilich um Veranderungen des elektrischen Leitungswider- 
standes der Haut handelt, die ihrerseits die Schwankungen der Stromintensitat 
verursachen, welche das Galvanometer anzeigt. Wenigstens sind wir zu 
dieser Annahme gezwungen, bis genaue elektrophysiologische Untersuchungen 
iiber den Gegenstand gemacht sind. Die friiher angefiihrten franzosischen 
Forscher nehmen ohne weiteres Veranderungen des elektrischen Leitungs- 
widerstandes bei ihren Versuchen an. Von Anderungen der elektromotorischen 
Kraft dagegen wissen wir bei unseren Versuchsanordnungen gar nichts. Wir 
miissen daher in dem Steigen der Galvanometerkurve (d. i. in der 
Zunahme der Stromintensitat) den Ausdruck der Abnahme, in dem 
Absinken den Ausdruck der Zunahme des elektrischen Leitungs- 
widerstandes der Haut erblicken. 

Eine Abnahme des elektrischen Leitungswiderstandes bei der Applikation 
sensorieller Reize konstatierte schon Fere. Dasselbe haben E. Miiller, 
Veraguth, Jung und ich beobachtet. Auch dafi bei hoheren psychischen 
Reizen der Leitungswiderstand abnimmt, haben die Obigen (aufier Fer6, der 
nur sensorielle Reize anwandte) festgestellt. (Veraguth spricht nur von 
einer Abnahme oder Zunahme der am Galvanometer direkt gemessenen Strom¬ 
intensitat, ohne zu sagen, wodurch diese bedingt ist.) Dagegen nimmt der 
Leitungswiderstand zu in der Ruhe und wie wir eben in einem Fall gesehen 
haben, im Schlaf. Auch bei ruhiger geistiger Arbeit, z. B. Addieren, 
oder indifferenter Lektlire (Veraguth) nimmt der Leitungswiderstand zu. 
Stellen wir nun diese Beobachtungen zusammen mit denjenigen, die wir in 
den obigen Versuchen fanden: 


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92 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psycbologie 
upd N eurologic._ 


I. Abnahme des elektrischen Leitungswiderstandes: 

a) bei sensoriellen Reizen, 

b) bei hoheren psychischen Reizen, 

c) im Verlauf des von Aufmerksamkeit begleiteten Assoziationsexperi- 
mentes, das ja nichts anderes als eine Kombination von a) und b) 
darstellt. 

II. Zunahme des elektrischen Leitungswiderstandes. 

a) in der Ruhe, 

b) im Schlaf, 

c) bei ruhiger (nicht aufregender) geistiger Arbeit, 

d) bei der Fesselung der Aufmerksamkeit durch einen Komplex (ab- 
steigender Schenkel der Komplexkurven. Versuch lie), 

e) bei der Ablenkung der Aufmerksamkeit durch willkurliche „Absper- 
rung“ gegen das Experiment (Versuch III), 

f) bei der „aufieren Ablenkung“ (Versuch IV). 

Wir haben oben gesehen, dafi es bei sensoriellen und psychischen 
Reizen der durch sie hervorgerufene Gefiihlston ist, der das psychogalvanische 
Phanomen bedingt Auf dieser Erfahrung beruht ja auch die Brauchbarkeit 
des Phanomens beim Assoziationsexperiment. Die Versuche haben uns dann 
zur Geniige gezeigt, welch enger Zusammenhang zwischen der Starke der Aus- 
schlage und dem Gefiihlston existiert, den die einzelnen Reaktionen anregten. 
Das psychogalvanische Phanomen verdankt also seine Entstehung rein affek- 
tiven Vorgangen, d. h. solchen, von denen wir wissen, dafi sie allein Wir- 
kungen auf die Funktionen des Korpers haben 1 ). Und diese Wirkungen be- 
ruhen auf Anderungen in den Innervationen. Welche Arten dieser Inner- 
vationen in unserem Experiment in Betracht kommen (sekretorische?), konnen 
wir noch nicht mit Sicherheit sagen, nur ihre spezielle Wirkung kennen wir, 
und das ist eben die Herabsetzung des elektrischen Leitungswider- 
standes der Haut. Wir werden daher iiberall da, wo der Leitungs- 
widerstand der Haut abnimmt, auf einen Zuwachs, iiberall da, wo 
er zunimmt, auf eine Abnahme an Innervationen schliefien. 

Wie vertragt sich nun diese Schlufifolgerung mit den unter II zusammen- 
gestellten Beobachtungen? 

Dafi die Innervationen im Ruhezustand, im Schlaf und bei ruhiger 
geistiger Arbeit abnehmen, ist ohne weiteres verstandlich. Denn hier kommt 
es nicht zu affektiven Vorgangen, und somit nicht zur Entstehung von Inner¬ 
vationen. Schwieriger ist die Erklarung fiir die Falle d, e und f, denn hier 
spielen affektive Vorgange eine grofie Rolle (bei d handelt es sich um mehr 
oder weniger starke Affekte, bei e und f wird die Aufmerksamkeit auf ein 
gewisses Ziel gelenkt, also auch ein affektiver Vorgang angeregt). Wenn es 
hier trotzdem zu einer Abnahme der Innervationen kommt, so kann es sich 
nur um eine Hemmung derselben handeln. 

Betrachten wir zunachst den Fall d. 

Es handelt sich um den absteigenden Komplexkurvenschenkel und den 
Versuch lie. Diirfen wir hier von einer Hemmung der Innervationen reden? 

l ) Siehc Bleuler, Affektivitat us^. S. 14. 


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BD ‘ XI im FT 112 XI - VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 93 


— Gewifi! Denn beidemal handelt es sich nicht um die galvanometrische 
Registrierung desjenigen Momentes, wo ein Affekt angeregt wird (diesen Mo¬ 
ment geben der oder die zu den Komplexreaktionen gehorigen Ausschlage 
an), vielmehr beobachten wir in dem absteigenden Komplexkurvenschenkel 
und in Versuch lie die Folgeerscheinungen des Affektes. Nun ist es aber 
eine altbekannte Tatsache, dafi ein bestehender Affekt nicht nur bahnend wirkt 
auf die Assoziationen, die zu dem Affekt gehoren, sondern auch hemmend 
auf alle andern. Es werden daher die auf die Komplexreaktionen oder den 
angeregten Affekt folgenden Reizworte (wenn sie, wie es meist der Fall ist, 
nicht den zuerst angeregten Komplex von neuem treffen) in ihrer Wirkung 
auf den Vorstellungsablauf und auf die korperlichen Funktionen gehemmt. In 
dieser Weise haben wir uns die Ablenkung durch einen bestehenden Komplex 
und deren Wirkung auf die Galvanometerkurve zu erklaren. 

In den Fallen e und f erfolgt die Ablenkung durch die auf ein be- 
stimmtes Ziel gerichtete Aufmerksamkeit. Warum ruft hier die Anspannung 
der Aufmerksamkeit, die doch ein affektiver Vorgang sein soil, keine Inner- 
vationen hervor? Auch hier ist die Fragestellung eine falsche, denn auch 
hier haben wir es mit den Wirkungen einer bereits bestehenden Kon- 
zentration der Aufmerksamkeit zu tun. Im Momente, wo die Aufmerk¬ 
samkeit auf einen bestimmten Punkt gelenkt wird, erhalt man, wie ich oft be¬ 
obachten konnte, einen Ausschlag. Doch diese Momente fallen wie in Ver¬ 
such lie vor das Experiment. 

Die Wirkung der auf einen bestimmten Vorgang gerichteten und vom 
Experiment abgelenkten Aufmerksamkeit ist aber ganz dieselbe wie diejenige 
eines bestehenden Affektes. So sagt Bleuler von der Aufmerksamkeit: „Sie 
ist eine Seite der Affektivitat, die dabei gar nichts anderes tut, als 
was wir von ihr schon kennen, indem sie gewisse Assoziationen 
bahnt, andere hemmt. Zu den Bahnungen (und Hemmungen 1 )) gehoren 
natiirlich nicht blofi die intrazentralen Verbindungen und die zentripetalen, 
sondern auch eine Menge zentrifugaler." Und Lehmann kommt zu dem 
Schlusse: „dafi die Aufmerksamkeit eine Bahnung an einem einzelnen Punkte 
von mehreren anderen aus ist, woneben die auf den angebahnten Punkt hier 
zustromende Energie zugleich auf andere gleichzeitige Vorgange im Central- 
organe hemmend wirkt.“ 2 ) 

Wir konnen jetzt zusammenfassend sagen: 

Uberall da, wo die Aufmerksamkeit abgelenkt ist, sei es durch 
einen bestehenden Affekt, durch willkiirliche Absperrung oder 
durch aufiere Ablenkung, rufen die Reizworte abgeschwachte oder 
gar keine korperliche Aufierungen hervor. 

Dieses Resultat steht in engster Beziehung mit den Angaben von Leh¬ 
mann und Zoneff und Meumann 3 ), die ebenfalls eine Verminderung oder 


*) Von mir eingeschaltet. 

*) Lehmann; Elemente der Psychodynamik. Ubersetzt von Bendixen. 1905. S. 362. 

*) Zoneff und Meumann: Uber die Begleiterscheinungen psychischer Vorgange In Atem 
und Puls. Wundts philosophische Studien 1901, Bd. XVIII, S. 1. 


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94 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologie 
nnd Neurologic. 


Authebung der korperlichen Aufierungen bei denjenigen Reizen konstatierten, 
die im Zustande abgelenkter Aufmerksamkeit appliziert wurden. 

Auch zu den galvanometrischen Untersuchungen an Geisteskranken 
fiihren die Beobachtungen iiber die Ablenkung der Aufmerksamkeit hin- 
iiber. 

Wir werden jetzt fiir die von A. Vigouroux 1 ) gemachten Angaben, dafi 
er bei Melancholischen einen erhohten elektrischen Leitungswiderstand fand, 
eine Deutung finden, indem wir sagen: der Melancholische befindet sich in 
einem dauernden Zustand abgelenkter Aufmerksamkeit. Seine Komplexe be- 
schaftigen ihn dauemd so, wie Versuchsperson II voriibergehend der absicht- 
lich angeregte Affekt. 

Es wird daher dort wie hier zu einer Hemmung zentrifugaler Inner- 
vationen kommen, und damit zu einer Erhohung des Leitungswiderstandes. 

Ferner fanden Jung und Ricksher 2 ) bei Katatonikern und organisch 
Dementen oft einen erhohten Leitungswiderstand und einen Ausfall der Aus- 
schlage bei Reizen verschiedenster Art. Es wird hierbei jedoch in erster 
Linie an primare Storungen der Wahmehmung und Auffassung zu denken 
sein, weniger an eine Hemmung durch „innere Ablenkung 14 . Auch die von 
R. Vigouroux 8 ) gemachte Beobachtung, dafi bei Hysterischen der elektrische 
Leitungswiderstand auf der hemianasthetischen Seite erhoht ist gegeniiber der 
gesunden Seite, scheint mir jetzt dem Verstandnis naher geriickt. Nehmen 
wir doch an, dafi die hysterische Hemianasthesie dadurch eintritt, dafi die be- 
treffende Seite funktionell vom Bewufitsein abgespalten ist. Es werden daher 
auch hier die jener Seite zustromenden Innervationen geringer werden. Und 
diese Abnahme der Innervationen fanden wir bis jetzt immer von einer Er¬ 
hohung des Leitungswiderstandes begleitet 

Schliefilich mochte ich hier noch auf den Unterschied hinweisen, den die 
„Ruhekurve 44 zeigt, je nachdem ein gtrom von sehr geringer oder von grofler 
Starke angewandt wird. Im letzteren Falle finden wir immer die Angabe: Mit 
der Dauer der Durchstromungszeit nimmt der Leitungswiderstand der Haut ab. 
Veraguth wies schon auf den Widerspruch mit der Ruhekurve bei geringer 
Stromstarke hin. Hier nimmt ja gerade mit der Dauer der Durchstromung der 
Widerstand zu. Eine Erklarung dieses „Widerspruches 44 wird darauf hinweisen 
miissen, dafi man es bei Anwendung einer erheblichen Stromstarke (eine Grenze 
kann ich nicht angeben) nicht mit einer Ruhekurve, sondern stets mit einer 
,,Reizkurve 44 zu tun haben wird, d. h. dafi hier physiologische Wirkungen ein- 
treten, eventuell auch psychologische. Denken wir nur an die Reizwirkungen 
der Elektroden auf die Haut bei starkem galvanischen Strom: 4 ) Aufierdem 
mogen noch rein physikalische Ursachen hier mitspielen. 

Unsere obigen, fur die Psychologie wichtigen Resultate lassen sich mit 
kurzen Worten folgendermafien zusammenfassen: 


*) A. Vigouroux 1 . c. 

*) Die Arbeit wird im Journal of Abnormal Psychology erscheinen. 

3 ) R. Vigouroux 1 . c. 

4 ) Vgl. Erb, Handbuch der Elektrotherapie, 1882, S. 116. 


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BD * XI i<5F FT 1,8 XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 95 


Ein bestehender Komplex (Daueraffekt, Dauerkonzentration der Auf- 
merksamkeit auf etwas anderes als die Experimentreize) hemmt die psychi- 
sche Verarbeitung des Reizes. Er bleibt assoziations- und gefuhlsarm. 
Aus dem Mangel an neuen Affekten ergibt sich der Mangel an neuen Inner- 
vationen und daher auch das Verschwinden der Ausschlage. Dafi die Kurve 
allmablich absinkt, erklart sich daraus, dafl der akute Affekt allmahlich er- 
lischt, wohingegen die durch den Affekt geschaffene intellektuelle Hemmungs- 
einstellung noch langere Zeit anhalt. (Fortseuung foigt) 


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PROF. KARL SCHAFFER. 


Journal f. Psychology 
and Neurologie. 


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In eigener Sache. 

Erwiderung auf die Bemerkungen der Herren M. Bielschowsky (Berlin) 

und L. Huismans (KOln). 

Von 

Prof. Karl Schaffer (Budapest). 

I. 

Meine letzte Arbeit beziiglich der Histopathologie der Sachsschen familar- 
amaurotischen Idiotie erfuhr in histoanalytischer Richtung in diesen Blattern 1 ) 
einen kritischen Angriff seitens des Herrn Max Bielschowsky. Ich schicke 
voraus, daB ich Herrn Bielschowsky fiir seine Bemerkungen zu groBem Dank 
verpflichtet bin, denn die Ansichten, welche sich mir auf Grund meiner Sachsschen 
Praparate aufdrangten, konnten nur so von Bedeutung werden, wenn dieselben die 
Retorte der wissenschaftlichen Diskussion passierten. DaB sich Herr Kollege Biel¬ 
schowsky, einer der kompetentesten Beurteiler fibrillarer Streitfragen, dieser 
Miihe unterzog, erfiillt mich mit aufrichtiger Freude. Nachdem einleitend Biel¬ 
schowsky die Freundlichkeit hat, meiner histopathologischen Forschung iiber 
die Sachssche Krankheit Anerkennung zu zollen, indem er der mich ehrenden An- 
sicht ist, daB meine deskriptive Darstellung „auf dauemde Geltung Anspruch 
machen“ kann, erhebt er andererseits Protest gegen meine Auseinandersetzungen 
iiber den Bau der sogenannten Neurofibrillen. Sein Angriff wendet sich gegen die 
von mir geschilderten intrazellularen und dendritischen Netze, von welchen er sich 
mit Bezugnahme auf Economos Forschungen iiber die normale Anatomie der 
Ganglienzelle nachzuweisen bemiiht, daB diese mit den Fadenstrukturen nichts zu 
tun haben, denn meine Netzformationen waren eigentlich ein plasmatisches Waben- 
werk, welches ganz dem von ihm und von Econo mo wiederholt beobachteten 
entspricht. Economo hat namlich an Riickenmarkszellen, mit Bielschowskys 
Silberaldehydmethode behandelt, ein blaB-braunes, ziemlich dickes Wabenwerk be- 
obachtet, in welchem zentral gelagert, ungeteilte Neurofibrillen sichtbar waren; 
er scheidet daher streng dieses plumpe Wabenwerk von den Neurofibrillen, um so 
mehr, da durch die partielle Impregnation dieses Netzwerkes, die Neurofibrillen 
ihrer individuellen Darstellung verlustig werdend, ein Retikulum sichtbar gemacht 
wird, welches man dann irrigerweise als ein fibrillares Netzwerk anzusprechen ge- 
neigt sein konnte. „Sind diese Wabenwande besser impragniert, so sieht man die 
ganze Zelle wie von einem aus breiten, schwarzen Balken bestehenden Netze durch- 

l ) Uber die fibrillare Struktur der GanglienzeUen. Joum. f. Psychol, u. Neurologie. Bd. X. 
Heft 6. 1908. 


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BD. XI, HEFT 1/2 
1908. 


IN EIGENER SACHE. 


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zogen“, sagt Econo mo 1 ). AuBer diesem Wabenwerk unterscheidet dieser Autor 
imZelleibe derGanglienzellenochdasDonaggiosche endozellulare Netz, welches er 
aber ebensowenig wie das Wabenwerk fur ein echtes Neurofibrillen-Netz betrachtet, 
da es (gleichwie letzteres) mit den Neurofibrillen nirgends zusammenhangt, daher 
eine von den Fibrillen unabhangige Bildung darstellt. 

Bielschowsky meint nun (teilweise sich auf das Studium eines meiner 
Originalpraparate stiitzend), daB an meinen Praparaten die Neurofibrillen deutlich 
nur in den Dendriten zu sehen waren, „und auch hier sind neben ihnen, wie aus 
dem Vorhandensein zahlreicher quergestellter Verbindungsbalkchen auf den ersten 
Blick hervorgeht, die Plasmawaben stark mitgefarbt. Beim Betreten des Zell- 
korpers sind diese Fibrillen unterbrochen, und die stark gefarbten Langswande 
derProtoplasmawabenbildenihrescheinbareFortsetzung". DiesenBehauptungen 
Bielschowskys muB ich folgendes entgegenhalten. DaB die Fibrillen beim Be¬ 
treten des Zellkorpers unterbrochen sind, entspricht den tatsachlichen, an vielen 
Zellexemplaren sichtbareii Verhaltnissen, nur sei hervorgehoben, daB diese Unter- 
brechung durch den tangentiellen Durchschnitt der oberflachlichen Fibrillen be- 
dingt ist; daB aber die stark gefarbten Langswande der Protoplasmawaben die 
scheinbare Fortsetzung der Dendritenfibrillen bilden wiirden, ist eine Behauptung, 
welche nur durch das ungeniigende Studium meiner Praparate erklarlich wird. 
Meine Praparate bieten dem unbefangenen Auge gerade das Gegenteil des von 
Bielschowsky behaupteten Bildes, namlich man sieht mit Zeiss Apochromat 1,5 
und Kompensationsokular 18 einzelne Dendritenfibrillen kontinuierlich in den 
Zelleib eintreten und alsbald durch hackenformige Seitenaste sich mit analogen 
Astchen in ein reines Netzwerk verschmelzen, dessen zweifelloser Zusammen- 
hang mit dem epizellularen Netzwerk besonders an Aquatorialschnitten des Zell- 
leibes leicht festzustellen ist. Hier namlich sieht man von den oberflachlichsten 
Balkchen, welche als perizellulare Faden verlaufen, bald schrag bald rechtwinklig 
ebenso starke, gleich intensiv gefarbte Seitenaste abgehen, welche oft, eine kurze 
Schlinge bildend, mit anderen Balkchen zu einer Masche sich vereinigen. Von 
diesen Verhaltnissen gibt Fig. 18 meiner letzten Arbeit annaherungsweise einen Be- 
griff, entspricht aber als halbschematische Zeichnung insoferne nicht den natiirlichen 
Verhaltnissen, denn letztere bedingen Netzbalkchen, deren Starke mit dem 
urspriinglichen Fibrillenkaliber iibereinstimmt. Ist also eine Faden- 
bildung im Dendritenfortsatz als Neurofibrille im Sinne Bielschowskys zu be- 
trachten — und Bielschowsky bezweifelt die Fibrillennatur der in den Dendriten 
meiner Praparate sichtbaren Langsfaden auch nicht — soistdieununterbrochene 
Fortsetzung derselben im Zelleibe natiirlich auch nur als Neurofibrille anzusprechen. 
Freilich ist hierbei der Umstand in Betracht zu ziehen, daB durch die zufallige 
Mitimpragnation der Wabenwande die rein fibrillare Struktur in tauschendster 
und kiinstlicher Weise in eine Netzformation iibergehen konnte und nun ein fibril- 
lares Maschenwerk um so leichter vortauschen vermag, da nach Bielschowsky 
infolge der abnormen Anfiillung der Maschen des Wabenwerkes (mit dem vermehrten 
Hyaloplasma) sekundar eine Verdiinnnung der Wabenwande entsteht, und „da die 
verdiinnten Wabenwande auf dem Schnitte echten Fibrillen noch viel ahnlicher 
sehen als die normalen, so sind Irrtumer um so leichter moglich" ( 1 . c.). Hierauf 

4 ) Arch. f. Psych. Bd. 41, 1906. S. 166. 

Journal far Psychologic und Neurolog^e. Bd. XI. 7 


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PROF. KARL SCHAFFER. 


Journal f. Psychology© 
and Neurologie. 


erlaube ich mir folgendes zu bemerken. Erstens diirfte es doch mehr als ein 
Zufall zu betrachten sein, daB an alien Bielschowsky - Praparaten von drei 
Sachs - Fallen, welche aus den verschiedensten Abschnitten des Zentralorgans 
(Rinde, Oblongata, Riickenmark) stammen, ausschlieBlich zweifellose Netz- 
formationen zur Darstellung kamen; hierin kann ich nur den Ausdruck eines Organi- 
sationsprinzipes erkennen. Zweitens aber verstehe ich nicht, wieso mir in 
so exakter und konstanter Weise die zufallige Mitimpragnation eines protoplasma- 
tischen Wabenwerkes gelungen ware, notabene an Praparaten, die in sehr weit 
voneinander gelegenen Zeitpunkten angefertigt wurden. Drittens muB ich be¬ 
merken, daB es mir trotz eifrigster Betrachtung der Netzfaden niemals gelang, 
an denselben eine noch so diinne Hiillsubstanz zu erkennen. Freilich soli diese 
nach Bielschowsky sekundar eine Verdiinnung erfahren haben; diirfte aber dann 
angesichts der so enormen Schwellung der Sachs - Nervenzellen infolge der ex- 
trem starken Verdiinnung nicht die rein fibrillare Struktur um so klarer zum Vor- 
schein gelangen? 

Ich resumiere: Da i. ich die sogenannten Neurofibrillen der Dendriten zweifel- 
los in das intrazellulare Netzwerk eintreten sehe; 2. die Netzbalkchen nicht dicker 
sind als die Dendritenfibrillen; 3. das perizellulare Fibrillenwerk mit dem intra- 
zellularen zusammenhangt, eine Tatsache, von deren Richtigkeit man sich eben an 
meinen Praparaten leicht iiberzeugen kann, so folgere ich hieraus, daB die am 
Bielschowsky - Praparate sichtbaren Innennetze der Ganglienzellen 
sogenannte echte Fadenstrukturen sind. Hieraus erhellt, daB ich Biel¬ 
schowsky s „morphologische“ Einwandefiirentkraftet erachte. ImGegensatzehierzu 
bekenne ich aber unumwunden, daB seine chemische Bemerkung beziiglich des mit 
Toluidin gefarbten Netzwerkes, Cajals Spongioplasmas, mir sehr einleuchtend ist. 
Er halt namlich meiner Identifikation beziiglich des Fibrillen-Innennetzes mit dem 
Spongioplasma mit Recht die Tatsache entgegen, daB die intrazellularen Fibrillen 
mit einfachen Anilinfarbstoffen ohne vorherige Beizung nicht farbbar sind, wahrend 
die Wande der Plasmawaben sich ihnen gegeniiber sehr schwach positiv verhalten. 
Dieses chemische Verhalten spricht allerdings sehr zugunsten jener von mir ur- 
spriinglich auch vertretenen Ansicht, daB das Fibrillen- 1 nnennetz und das Cajal- 
sche Spongioplasma zwei differente Strukturen darstellen. 

Ich mochte aber mit Nachdruck hervorheben, daB Bielschowskys Kritik 
den eigentlichen Kern meiner Ausfiihrungen gar nicht traf. Meine Bedenken ob 
der Leitungsnatur der Fibrillen entspringen bekanntlich aus jenem Umstand, daB 
das primftr - pathologische Moment in der Histopathologie der Sachsschen 
Krankheit in der Erkrankung der i nterfibrillaren Substanz liegt. Ziehen wh¬ 
in Betracht, daB es sich bei der Sachsschen Krankheit klinisch um eine rein endo- 
gene, von auBeren Einfliissen unabhangige Krankheitsform des Zentralorgans han- 
delt, welche histopathologisch durch eine elektive und ubiquitare Ganglienzellen- 
affektion in der denkbar scharfsten Weise charakterisiert ist, so ist es doch im 
hochsten Grad befremdend — sage ich in meiner angegriffenen Arbeit — daB bei 
einem nur als primar deutbaren Nervenzellprozesse nicht das als Reizleiter angenom- 
mene fibrillo-retikulare Geriist die primare Veranderung erleidet. Angesichts dieses 
Verhaltens gibt es hier keine andere Annahme, als daB die sogenannten Neuro¬ 
fibrillen faktisch keine Reizleiter waren. 




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BD. XI. HEFT 1/2 
1906. 


IN EIGENER SACHE. 


99 


Diese Ansicht entspringt nicht normal-, sondem pathohistologischen Ver- 
haltnissen. Man mag iiber die Netzstrukturen Bielschowskys oder meiner Mei- 
nung sein, diese Stellungnahme beriihrt in allererster Linie nicht die durch die 
Histopathologie aufgeworfene Frage iiber die Bedeutung der interfibrillaren Substanz. 
Die funktionelle Bedeutung einer Einrichtung vermogen wir oft schon durch ge- 
wisse morphologische Eigenschaften zu erkennen; das angeblich alleinige Passieren 
der Neurofibrillen durch die Ranviersche Stelle der peripheren Nerven entschied 
zugunsten der Leitungsnatur der Fibrillen. Bekanntlich wurde dieses histologische 
Moment durch Wolff angegriffen und als die Tragerin spezifisch-nervoser Funk- 
tionen die interfibrillare Substanz von ihm angesprochen. Dieser Auffassung ist, 
wie ich dies bereits im Jahre 1905 bemerkte, die Histopathologie der Sachsschen 
Krankheit ungemein giinstig; in dieser Affektion vollzieht sich ein cytopatholo- 
gischer ProzeB, welcher gleich einem Naturexperimente in elektiver Weise 
die funktionstragende Substanz angreift. Denn daB es sich darum handelt, erhellt 
aus der progressiven Abnahme aller Nervenfunktionen. Dazu, daB meine die Lei¬ 
tungsnatur der Fibrillen bekampfende Ansicht widerlegt werde, ware eine andere 
Auslegung dieser Ganglienzellenerkrankung als ein primarer, in abnormer Zunahme 
der interfibrillaren Substanz bestehender cytopathologischer ProzeB notwendig. 
Solange dies nicht geschieht, d. h. solange man mir nicht nachweist, daB das histo- 
pathologische Wesen der Sachsschen Krankheit in der Primaraffektion der Fi¬ 
brillen besteht, bin ich auch nicht in der Lage, meine Stellung gegen die Leitungs¬ 
natur der Fibrillen zu andern. Wenn aber Bielschowsky fur den Funktionsaus- 
fall bei der amaurotischen Idiotie eine friihzeitig auftretende und weitverbreitete 
Diskontinuitat der Fibrillen in den Zellen verantwortlich machen will, so ignoriert 
er die cytopathologisch sehr wichtige Tatsache, daB gerade die Neurofibrillen nicht 
leiden, sondem nur das Innennetz, welches aber Bielschowsky mit den Neuro¬ 
fibrillen nicht identisch halt; femer entgeht seiner Aufmerksamkeit die bezeich- 
nende lokale, ballonformige Blahung der Dendriten ohne Diskontinuitat der Den- 
dritenfibrillen! Allein mit dieser Bemerkung bekundet Bielschowsky, daB er 
das cytopathologische Wesen der Sachsschen Krankheit total verkannt hat. 

Ich komme daher zum SchluB, daB meine These: das funktionstragende 
Element des Neurons ist das bislang als strukturlos betachtete Hyalo- 
plasma; dem fibrillo - retikularen Geriist wiirde nur die Bedeutung 
einer Fixationsvorrichtung zukommen, welchem sich das offenbar 
zahfliissige Hyaloplasma anlegt — durch die Tatsachen der Cytopathologie 
der Sachsschen Krankheit formlich von selbst sich aufdrangt; ihre Wahrschein- 
lichkeit erhellt am leuchtendsten aus dem Umstande, daB Bielschowsky selbst 
einen durchaus ahnlichen Standpunkt vertritt, indem er das Hyaloplasma als einen 
— wenn auch nicht den einzigen — fur die Leitung wichtigen Faktor anerkennt. Bei 
dieser erfreulichen Konvergenz der fundamentalen Ansichten aber angesichts 
Bielschowskys Bekampfung fragt es sich, wie ich dennoch mit ihm zu fast iden- 
tischer Auffassung gelangen konnte? Einfach dadurch, daB wir beide gewisse 
wesentliche Zuge, Bielschowsky auf normal-, ich auf patholog-anatomischem 
Gebiete, in identischer Weise erfaBten, wenn auch in histologischen Detailfragen 
uns die verschiedene Beobachtungsweise trennte. 


7 * 


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IOO 


PROF. KARL SCHAFFER. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


II. 

Gleichzeitig in meiner letzten Sachs-Arbeit beriihrte ich den Wiesba- 
dener Vortrag des Herrn L. Hu is mans 1 ), indem ich den, in diesem Vortrag 
als Tay-Sachssche fam. amaurotische Idiotie bezeichneten Fall als solchen an- 
erkennen nicht konnte, vielmehr diesen als Pseudo-Sachs beurteilte, welcher 
nur in akzidentellen Ziigen der echten Sachsschen Krankheit ahnelt; klinisch das 
Fehlen des charakteristischen Makulabefundes, anatomisch aber die kolossale Ven- 
trikelektasie (papierdiinne Rinde!) und die hochgradige und diffuse Entziindung 
des ganzen Zentralorgans lieBen diesen Fall sicher aus dem Rahmen der Sachs¬ 
schen fam. amaur. Idiotie ausschlieBen. Meine ganz kurzen, in einer FuBnote ent- 
haltenen Bemerkungen veranlaBten Herrn L. Huismans zu Gegenbemerkungen 
in diesem Journal, welche eigentlich nur die Rekapitulation seines KongreBvortrages 
enthalten. Kurz gesagt ist er der Ansicht, daB der Mangel des Makulafleckes kli¬ 
nisch einen sonst dem Sachsschen Bilde entsprechenden Symptomkomplex nicht 
kompromittiert; ferner betont er, daB anatomisch in seinem Falle ebenfalls Schwel- 
lung der Ganglienzellen nebst Vermehrung der Neuroglia und der Desintegrierung 
des Tigroids der Rindenganglienzellen als solche Veranderungen festzustellen waren, 
wodurch sein Fall „als durchaus zur Tay - Sachsschen Erkrankung" ge- 
horig sich erweisen sollte. 

Ich halte L. Huismans irrige Stellungnahme nicht allein kasuistisch fur 
beklagenswert, sondem auch vom Standpunkte der bereits errungenen klaren kli- 
nischen Begriffe als Verwirrung stiftend, somit fiihle ich mich verpflichtet, klinisch- 
anatomisch diesen Fall naher zu beleuchten. Uberblicken wir die Symptomatologie 
der Sachsschen Krankheit, so finden wir nebst spezifischen Ziigen noch solche von 
ganz allgemeiner Bedeutung. Ich kann als bekannt voraussetzen, daB der charakte- 
ristische symmetrische Makulafleck sowie die Rassenpradisposition Ziige von spezi- 
fischer Farbung fiir die Sachssche Krankheit darstellen; finden sich dieselben an 
einem Kinde zwischen 1 / 2 —2 J ahre, welches auBerdem Lahmung resp. spastische 
Starre nebst Verblodung und progredienten Marasmus zeigt, so ist die Diagnose 
fiir Sachssche amaurotische Idiotie zweifellos und sicher zu stellen. Hierbei ist vor 
Augen zu halten, daB die Lahmung resp. Starre, ferner die Verblodung und der 
Marasmus Erscheinungen sind, welche aus zahlreichen Griinden entstehen konnen, 
daher ist denselben in der Diagnose niemals der erste Platz einzuraumen; sie be- 
kommen ein individuelles Geprage erst durch das Vorhandensein des Makulabefundes 
und der jiidischen Rasse. t)ber die Bedeutung dieser letzten Momente ist kein 
Zweifel, und Kenner der Sachsschen Krankheit, wie in erster Linie B. Sachs und 
Falkenheim, heben dieselben gehorig hervor. B. Sachs 2 ) erklart den Augen- 
befund fiir den auffallendsten Zug der Krankheit (,,most striking feature of the 
disease"), welcher in alien Fallen festzustellen war; bemerkt aber ausdriicklich, 
daB das Krankheitsbild auch dann erkannt werden kann, wenn die typische Makula- 
veranderung noch nicht zur Entwicklung gekommen ist. Zu letzterer Bemerkung 
Sachs* muB ich aber hinzusetzen, daB ohne Makulabefund nur die Erfahrung, 

*) Zur Neurologie und pathologischen Anatomie der Tay-Sachsschen familiaren-amaurotiscben 
Idiotie. Verhandlungen des XXIV. Kongresses. Wiesbaden 1907. 

2 ) B. Sachs, Nervous Diseases of Children. 2. Aufl. New York 1905. 


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BD. XI. HUT 1/2 
1906. 


IN EIGENER SACHE. 


IOI 


d. h. wenn man schon einige echte Sachs-Falle gesehen hat, uns vor diagnostischen 
Irrtiimem schiitzen kann. Durch die Makulaveranderung und die Rassenpradispo- 
sition aber wird ein als Sachs imponierender Fall direkt stigmatisiert; kein Wunder 
daher, wenn ich mich an diese Merkmale klammere und wenn ich diese als spezi- 
fischeCharakteristica bezeichne. Wenn daher Huismans meint, ich ware sachsischer 
als Sachs, so habe ich hierauf nur so viel zu erwidem, daB dies sicherlich kein Fehler 
ist, hingegen es zu einer heillosen Konfusion fiihrt, wenn man Falle mit Sachs 
etikettiert, wekhe alles nur nicht Sachs sind. Huismans beruft sich beziig- 
lich der nosographischen Bedeutung des Makulafleckes auf H. Vogt, der in diesem 
keine conditio sine qua non erblickt. Ich bemerke darauf, daB H. Vogt in seiner, 
von mir hochgeschatzten Arbeit)* liber die infantile oder Sachssche Form der 
familar-amaurotischen Idiotie nicht aus eigener, personlicher Erfahrung, sondern auf 
Grund von Literaturstudien sich auBert, indem er die Falle von Heveroch, Miihl- 
berger, Roller und Huismans als durch den Mangel des Makulabefundes aus- 
gezeichnete Sachs-Falle betrachtet. An dieser Stelle beeile ich mich mit Nach- 
druck hervorzuheben, daB diese als Ausnahmsfalle immer zitierte Falle nicht 
wirkliche Sachs - Falle sind. Wie ich aus H. Vogts brieflicher Mitteilung erfahren 
habe, betrachtet dieser kompetenteste Forscher der Idiotie Huismans’ Fall eben 
auf Grund seines anatomisch-histologischen Substrates nicht mehr fiir einen Aus- 
nahms-Sachs. Was weiterhin Miihlbergers Falle anbelangt, so waren folgende 
Bemerkungen notwendig. Der erste Fall betraf einen 3 1 / 4 }ahrigen Jungen aus 
germanischer Familie; abgesehen von der Rasse des Kranken ist hier das Alter 
sehr auffallend; ist doch aus Sachs' Schilderung bekannt, daB das typische Krank- 
heitsbild vor dem zweiten Lebensjahre letal endet. Femer faljt mir die von 
Muhlberger fiir diesen Fall geschilderte groBe allgemeine Unruhe auf, dies um so 
mehr, da die Sachs - Falle eben durch die korperliche Reglosigkeit sich auszeichnen. 
Endlich ist der nebst Optikusatrophie erhobene Makulabefund — an der Stelle des 
gelben Fleckes ein blasser Saum ohne kirschroten Tupf — so unbestimmten 
Charakters und ist dem charakteristisch-typischen Befund so flagrant-gegensatz- 
lich, daB ich diesen Fall ebenfalls nicht als einen Sachs betrachten kann. Der zweite 
Fall Miihlbergers nahert sich noch weniger dem typischen Bilde. Heverochs 
Falle bieten ebenfalls genug abweichende Ziige vom typischen Bilde. Fall I bezog 
sich auf ein 2 s / 4 Jahre altes Madchen; Erkrankung im sechsten Monat. Um die 
Makula ein Schatten ohne typischen Befund; bei der Sektion eine auffallige Derb- 
heit der hinteren Hemispharenteile, mikroskopische Untersuchung fehlt. Diesen 
Fall mochte ich etwa als lobare Sklerose betrachten, um so mehr, da ich in acht 
Fallen von echter Sachs - Krankheit grob makroskopische Veranderungen nieroals 
sah. Der II. Fall, eine Schwester des vorgehenden, bot genau dieselben Verhalt- 
nisse. Es bleibt nur Rollers Fall aus dem Jahre 1896 librig, wekher vermoge 
des typischen Augenbefundes und der jiidischen Rasse als Sachs anzusprechen ist; 
abweichend ist das Alter des Rindes, denn zur Zeit der fortgesetzten Beobachtung 
war es zehn Jahre alt. Ich bin der Meinung, daB es sich hier faktisch um einen 
Ubergang von dem infantilen zum juvenilen Typus handelt. Rollers zweiter Fall, 
Schwester des I., war schon in den allerersten Lebensmonaten blind, motorisch 
schwach, hatte blasse Papillen und zeigte keine Makulaveranderung. Tod im zehnten 
Monate, Augenhintergrund wurde niemals charakteristisch. Rlinisch ist dieser 


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102 PROF. KARL SCHAFFER. XeumfoSto** 

Fall so verschwommen, daB nur die Familiaritat etwas vermuten laBt; als Sachs 
ist er sicherlich nicht ohne weiteres anzusprechen. 

Ziehen wir in Betracht, daB aus der Zahl der bisher veroffentlichten Sachs- 
Fallen, welche mit Hinzurechnung der acht Falle des Budapester Br6dy-Kinder- 
hospitals (Prim. Dr. Julius GroB) und meines eigenen, bisher nicht veroffent- 
lichten Falles ca. 95 ausmacht, nur die soeben beleuchteten Falle von Heveroch, 
Miihlberger und Huismans den typischen Augenbefund entbehrten, welche aber 
einer strengen Kritik standhalten nicht konnen: so glaube ich die diagnostische 
Bedeutung des Makulabefundes nicht noch mehr hervorheben zu miissen. Auch er- 
heischt der Umstand keine besondere Betonung, daB je unsicherer ein Fall vermoge 
der Abweichung vom typischen Bilde ist, um so mehr miissen wir nach spezifischen 
Ziigen fahnden, denn nur diese sind dann angesichts der schwankenden Diagnose 
ausschlaggebend. Ich wiederhole, daB ich gemaB dem heutigen Stand unserer 
klinischen Kenntnisse die Makulaveranderung fiir ein solches spezifisches Charak- 
teristikum der Sachsschen Form halte, gegen welche Auffassung Huismans 
sehr unrich tig den Claibor neschen Fall anfiihrt, in welchem bei einem elf Monate 
alten aus christlicher Familie stammenden Saugling, welcher in vivo komplette 
beiderseitige Okulomotoriuslahmung, Sopor und an der Stelle des gelben Fleckes 
einen weiBlich-runden Hof mit zentralem, kirschrotem Tupf zeigte, bei der Sektion 
ein haselnuBgroBes Tuberkel in der Gegend des Vierhiigels sich vorfand. Es ist 
wohl zweifellos, dafl die Somnolenz und Ophthalmoplegie mit der Herderkrankung 
ursachlich zusammenhangen, was aber den Makulabefund anbelangt, so ist dieser 
nicht ein Beweis dafiir, „daB sich der letztere aus den verschiedensten Ursachen 
entwickeln kann, nicht allein bei der Tay - Sachsschen fam. am. Idiotie", wie 
dies Huismans meint, sondem ist gemaB Falkenheims sehr richtiger Ansicht 
eine Andeutung dafiir, daB die Herderkrankung zufallig mit der Sachsschen Form 
der fam. amaur. Idiotie verkniipft war. Mit Recht bedauert Falkenheim*), daB 
in diesem Falle das GroBhim einer histologischen Untersuchung nicht unterworfen 
wurde, denn „gerade in diesem komplizierten Falle ware es von doppeltem Inter- 
esse gewesen zu wissen, ob die in den anderen Fallen von amaurotischer Idiotie 
gefundenen Veranderungen auch in ihm vorhanden waren." 

SchlieBlich muB ich noch auf Huismans' Bernerkungen beziighch der Ana- 
tomie reflektieren. Ich mochte ihn da auf den wichtigen Umstand aufmerksam 
machen, daB durch die histologischen Untersuchungen von B. Sachs, mir, 
W. Spielmayer und ganz zuletzt von H. Vogt 2 ) ein gewisserTeil der Idiotie von den 
zahlreichen iibrigen Formen scharf abgegrenzt wurde; das von H. Vogt klinisch 
als familiare amaurotische Idiotie bezeichnete Krankheitsbild definiert dieser Autor 
( 1 . c. S. 504) mit folgenden Worten in pragnanter Weise: „Als die Grundlage dieses 
Prozesses kennen wir eine Zellerkrankung der spezifischen Elemente des Zentral- 
nervensystems, die, abgesehen von Differenzen, durch welche sich einzelne besondere 
Formen des gemeinsamen Typus charakterisieren, in alien Fallen, die naher unter- 
sucht sind, bisher den gemeinsamen wesentlichen Befund darbot, daB sie 1. einen 
ubiquitaren Charakter besitzt, 2. einen endozellularen Typus mit der spezifischen 

*) Uber familiare amaurotische Idiotie. Jahrb. f. Kinderheilk. 1902. 

2 ) H. Vogt, Zur Pathologie u. path. Anatomie der verschiedenen Idiotie-Formen. Referat, 
Mouatsschrift f. Psych, u. Neurologie. Bd. XXII, Heft 5. 


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BD. XL HEFT 1/2 
1906. 


IN EIGENER SACHE. 


103 


Eigenheit des Untergangs des Tigroids und der FibriUennetze zeigt und 3. er- 
kennen laBt, daB die iibrigen Bestandteile des nervosen Parenchyms (Markfaser, 
Glia, GefaBe usw.) sich in kaum nennenswerter Weise oder iiberhaupt nicht, und 
wenn, dann nur sekundar an dem Prozesse beteiligen. Diese Gesichtspunkte sind 
fur die Definierung der pathologisch-anatomischen Eigenart des Krankheifsbildes 
so grundlegend und so erschopfend, daB wir. den Fallen, welche diesen Gesichts- 
punkten entsprechen, ohne Riicksicht auf ihre sonstigen spezifischen Besonder- 
heiten den Charakter eines gemeinsamen Typus beilegen dlirfen. 44 

Wie verhalt sich die Anatomie des Huismansschen Falles zu dieser, haupt- 
sachlich auf meiner auch Herm Hu is mans bekannten Arbeit — Beitrage zur 
Nosographie und Histopathologie der amaurotisch-paralytischen Idiotieformen, 
Arch. f. Psych. 42 — fuBenden Definition? Die Antwort ist ungemein einfach und 
kurz: kein einziger Zug desselben entspricht der Vogtschen klaren Be- 
stimmung! Allerdings ist Huismans anderer Ansicht, denn er behauptet, daB 
sein Fall „anatomisch neben der Schwellung der Ganglienzellen durchaus den 
von Sachs erhobenen Befund der Vermehrung der Neuroglia und der durch Des- 
integrierung des Tigroids veranderten Ganglienzellen der Rinde bot. Das Zell- 
plasma war homogen, der Kern an die Peripherie verschoben, der perizellulare 
Raum bedeutend vergroBert. Beziiglich des anatomischen Befundes ge- 
hort mein Fall also durchaus zur Tay - Sachsschen Erkrankung. 44 

So ich wie Spielmayer und Vogt heben fur die amaurotische Idiotie die 
auf samtliche Nervenzellen des Zentralorgans sich erstreckende Schwellung her- 
vor; irgendwelcher Ausfall der Ganglienzellen fehlt vollkommen. Ebenso ist es 
hochst bezeichnend fiir den histopathologischen ProzeB, daB trotz der, besonders 
bei der Sachsschen Form hochgradigen endozellularen Erkrankung die Nerven- 
fasem sich ganz normal verhalten. Die hier und da mehr oder minder bemerkbare 
Marklosigkeit der Pyramidenbahn entspringt keineswegs der Ganglienzellen - 
erkrankung in der Gegend der motorischen Himwindungen, sondem ist von einer 
Hemmung in der Markscheidenentwicklung abhangig, wie ich dies spater a. O. ent- 
wickeln werde. Nirgends eine noch so geringe Spur der Entziindung. 

Im Gegensatz zu diesen fiir alle echte Sachs-Falle giiltigen histopatholo¬ 
gischen Faktoren sehen wir nun in der GroBhirnrinde des Huismansschen Falles 
,,iiberall Schwund der Nervenfasem und der Ganglienzellen 441 ). AuBerdem „typische 
Rundzellen, auBerst erweiterte Venen, Kapillaren und Lymphspalten." Allerdings 
bezieht sich die Rindenuntersuchung Huismans' nur auf die dem Scheitellappen 
entnommenen Stiicke; ererwahnt die Durchforschung anderer Rindenstellen nicht. 
Dann spricht er von „geschrumpften Ganglienzellen 44 , welche in der 
Gegend der Pyramidenkreuzung, besonders im Hypoglossuskeme und den Vorder- 
komem, nachgewiesen wurden. Besonders im Lendenmarke lieB sich in den medialen 
Vorderhomzellen Chromolyse, in fast samtlichen Ganglienzellen der grauen Substanz 
des Brustmarkes Blahung und Chromolyse feststellen. Es fand sich eine Py-De- 
generation alterer Natur, femer Degenerationen im Hinterstrang frischeren und 
alteren Datums vor; schlieBlich war der Zentralkanal in seinem ganzen Verlaufe 
„enorm erweitert 44 . 


*) Huismans’ Kongrefivortrag. S. 612. 


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104 


PROF. KARL SCHAFFER. 


Journal f. Piyaholoffe 
and Nearologie- 


Ich spreche diesmal von den grob-makroskopischen Veranderungen entziind- 
lichen Charakters des Huismans9chen Falles nicht; mir ist es diesmal nur daran 
gelegen, nachzuweisen, daB dieser absolut nicht die histopathologischen Kriterien 
der echten familiar-amaurotischen Idiotie im Sinne H. Vogts besitzt. In Huis- 
mans’ Fall fand sich die typisch - ubiquit&re Ganglienzellenerkrankung 
nicht vor, denn, abgesehen davon, dafl sich eine mit dem histopathologischen 
Wesen der familiaren amaurotischen Idiotie absolut nicht vereinbare Schrumpfung 
der Ganglienzellen segment ar vor fand, ist die hier auftretende Blahung und Chromo- 
lyse auch nur eine segmentare und keineswegs eine ubiquitare Erscheinung, indem 
diese nur im myelitisch-veranderten Abschnitt des Riickenmarks— hier durch 
die Entziindung bedingt! — vorkommt. Schwellung der Ganglienzellen, Ver- 
mehrung der Neuroglia und Desintegrierung des Tigroids*sind histopathologische 
Einzelziige, welche als solche fur die Sachssche Form absolut nicht charakte- 
ristisch sind; anatomisch wird ein Idiotiefall erst dann zur familiar-amaurotischen 
Form gestempelt, wenn sich die ubiquitare Ganglienzellenschwellung, d. h. vom 
Rindengrau angefangen bis zum Conusgrau hinab — ohne Ausnahme auch 
einer einzigen Ganglienzelle! — vorfindet!! Und da diese Form der cyto- 
pathologischen Veranderung nach unseren bisherigen Kenntnissen stereotyp in 
den echten Sachs-Fallen wiederkehrt, so muB ich die Behauptung Huismans', 
daB anatomisch ,,ein sehr verschiedenartiger ProzeB die Ursache des 
Tay - Sachsschen Krankheitsbildes“ sei, energisch zuriickweisen. 

Somit ist Huismans' Fall so klinisch wie anatomisch keine familiar-amau- 
rotische Idiotie! 



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BD. XI. HEFT 1/2 
1908. 


REFERATE. 


105 


REFERATE. 


Anton, 0 ., Arztliches iiber Sprechen 
und Denken. Carl Marhold. Halle a. S. 
1907. 20 S. M. —,60. 

Wiedergabe eines offentlichen Vortrags. 
Dem Fachmann bringt die kleine Schrift 
nichts Neues, dagegen ist sie sehr geeignet, 
dem Laien einen Einblick in das Wesen und 
die psychologische Bedeutung der zentralen 
Sprachstorungen zu bieten. Ob die letzteren, 
wie A. sagt, die Moglichkeit des wortlosen 
Denkens illustrieren, mochte ich einiger- 
mafien bezweifeln. Unter anderem gibt in 
dieser Hinsicht die Tatsache zu denken, dafi 
es schwer Aphasische gibt, die nach ihrer 
Genesung bzw. Besserung versichem, wahrend 
der Zeit der Aphasie in manchen Traumen 
in deutlichen Worten bzw. korrekten Satzen 
gedacht und gesprochen zu haben. 

Mohr-Coblenz. 

Hoche, A., Notwendige Reformen der 
Unfall vers icherungsgesetze. Halle 
a. S. 1907. Carl Marhold. 27 S. M. —75. 
Der Verf. geht von der Frage aus: 
„Welche klinischen Folgen hat bei Unfallen 
die Tatsache des Versichertseins und was 
kann geschehen, um diese tatsachlich vor- 
handenen Folgen einzudammen, ohne die 
Segnungen der Versicherung preiszugeben ?“ 
Dafi durch die staatliche Mafiregel der Ver- 
sicherungsgesetzgebung eine nervds-psychi- 
sche Epidemie von gesetzmafiigem Charakter 
erzeugt worden ist, lafit sich nicht bestreiten. 
Als Beweis fur einen inneren Zusammenhang 
zwischen der ersteren und der letzteren ist 
vor allem die Tatsache zu nennen, dafi Un- 
falle von gleicher Quantitat und Qualitat 
bei nicht Versicherten einen anderen Ver- 
lauf nehmen, als bei Versicherten. Dafiir 
werden interessante Beispiele beigebracht. 
Sodann wird in Kiiree die Psychogenese der 
Rentenhysterie besprochen und darauf die 
Wege angegeben, auf denen dieser grund- 
satzlich heilbaren Krankheit beizukommen 
ist. Als solche werden genannt: Besei- 
tigung aller vermeidbaren seelischen Schad- 
lichkeiten im Entschadigungsverfahren, Rege- 
lung der Erziehung zur Arbeit (und zwar zu 
einer befiriedigenden, Werte schaffenden 
Arbeit) und Ausdehnung der einmaligen 
Kapitalabfindung an Stelle des fortlaufenden 


Rentenbezugs. Die Arbeit ist trotz ihrer 
Kurze inhaltreich und von erfreuHcher Objek- 
tivitat. Mohr-Coblenz. 

Karplus, J. P., Zur Kenntnis der Varia¬ 
bility und Vererbung am Zentral- 
nervensystem des Menschen und 
einiger Saugetiere. Mit 57 Abbil- 
dungen im Text und 6 Tafeln in Licht- 
druck. Leipzig und Wien 1907. Verlag 
von Franz Deuticke. 

Verf. verfugt iiber ein Material von 16 
Gruppen menschlicher Nervensysteme zu 
zwei, drei und fiinf Mitgliedern und eine 
Reihe von Tierfamilien (Aflfen, Hunde, Katzen, 
Ziegen) mit etwa derselben Mitgliederzahl. 
K. kommt auf Grund seiner Untersuchungen 
zu dem Resultate, dafi es beim Menschen 
eine Vererbung der Grofihimfurchen gibt, 
und zwar eine Vererbung des gesamten 
Habitus, wie einzelner Varietaten. Besonders 
bemerkenswert ist, dafi dieEigentumlichkeiten 
in einer Reihe von Familien ausnahmslos auf 
den Hemispharen derselben Seite auftreten. 

Anders liegen die Verhaltnisse bei den 
Affen. Hier konnte nur bei einer einzigen 
Varietat eine Ubereinstimmung zwischen 
Mutter und Kind festgestellt werden. Dagegen 
zeigt Macacus eine auffallende Ubereinstim¬ 
mung in den Furchenvarietaten zwischen den 
beiden Hemispharen ein und desselben Ge- 
hirnes. 

Auch bei Hund und Katze findet Verf. 
grofie Furchenvariabilitat und Ahnlichkeit 
zwischen den Hemispharen desselben Ge- 
himes bezuglich dieser Varietaten. Im Gegen- 
satz zum Affen zeigt sich aber hier eine un- 
verkennbare Familienahnlichkeit, die sich 
durch gehauftes Auftreten einer seltenen 
Varietat dokumentiert. Eine Gleichseitigkeit 
der Vererbung wie beim Menschen tritt auch 
bei diesen beiden Tiergruppen nicht hervor. 

Beim Ziegengehirn lassen sich weder 
einwandsfreie Ubereinstimmung beider Hemi¬ 
spharen, noch deutliche Familienahnlich- 
keiten nachweisen. 

Von den Befunden am menschlichen 
Hirnstamm sind am bemerkenswertesten 
eigentiimliche, von dichter Markkapsel um- 
gebene, doppelseitige Herde im Hypoglossus- 
kem bei drei Geschwistem. Verhaltnismafiig 


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REFERATE. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic- 


106 


wenig Familienahnlichkeiten ergaben die 
Untersuchungen des Rtickenmarks. Interes- 
sieren diirfte hier das Auftreten einer ziemlich 
betrachtlichen Hydromyelie bei Zwillings- 
sch western. 

Kaum nennenswerte familiare Ahnlich- 
keit bieten Himstamm und RGckenmark bei 
den Tiergruppen. 

Zahlreiche Abbildungen und gut ge- 
lungene Lichtdrucke vervollstandigen die 
aufierordentlich interessante Arbeit und man 
kann dem Wunsche des Verfassers nur bei- 
stimmen, dafi seine Ergebnisse zu weiteren 
Forschungen auf diesem fruchtbaren Gebiete , 
anregen mochten. Dr. Maufi. 

LeWandowsky, M., Die Funktionen des 
zentralen Nervensystems. Jena, Ver- 
lag von G. Fischer, 1907. 

Es ist ein Buch aus einem Gufi, und 
zwar aus dem Gufi einer aus vielen fruheren 
Arbeiten bestens bekannten scharfumrissenen 
und auch scharfkantigen Personlichkeit. Sie 
baut sich auf wenigen, einfachen Pfeilern ein 
festes Fundament und errichtet darauf in 
schroflfer Ehrlichkeit einen schmucklosen, 
aber charakteristischen Bau. 

Der Verfasser beherrscht das Gebiet der 
experimentellen Nervenphysiologie sowohl 
auf Grand vielseitiger eigener Arbeiten als 
ausgedehnter Literaturkenntnis; beides wird 
mit dem Kitt kritischer Synthese zu einem 
Ganzen vereinigt, das vorziiglich geeignet ist, 
den wissenschaftlichen Arbeiter — wenn 
auch zuweilen von einem einseitigen Stand- 
punkt — zu orientieren. Nicht ublich, aber 
sehr zu loben ist, dafi er das Gebiet der Hirn- 
pathologie, einschliefilich Aphasie, Apraxie 
undCerebrospinalfltissigkeit, in ausgedehntem 
Mafie heranzieht und ausfuhrlich darstellt, 
wenn auch hier billigerweise nicht immer 
die souverane Beherrschung des Stoffes von 
ihm erwartet werden darf, wie in anderen 
Abschnitten. Fiir ktinftige Auflagen mochten 
wir daran erinnern, dafi gerade ein so uni- 
versell angelegtes Werk auf das physiologisch 
bedeutungsvolle Material der vergleichenden 
Anatomie des Wirbeltiergehims nicht ver- 
zichten sollte. 

Viele Dinge, die man in den herrschenden 
deutschen Lehrbiichern vermifit, sind zum 
erstenmal ausfuhrlich dargestellt, so Ka- 
lischers Bearbeitung des Papageiengehirns, 
die englischen Forschungen uber den Sym¬ 
pathies und die centrifiigale (antidrome) 
Leitung im sensibleh Nerven, bei welch 1 


letzterer des Referenten Prioritht einer Er- 
wahnung vielleicht nicht unwert gewesen ware. 

Uberall fuhlt man, wie selbstandig Ver¬ 
fasser die physiologische Anatomie des Nerven¬ 
systems beherrscht, der er durch seine „Lei- 
tungsbahnen des Hirnstammes 4 * (Jena 1904) 
eine fur den Forscher unentbehrliche Be- 
reicherung geschepkt hat. Aber gerade in 
hier einschlagigen Fragen zeigt L. auch die 
Kehrseite seiner Tugenden durch eine ge- 
wisse Neigung, Methoden und Ergebnisse 
nicht anzuerkennen, die seinen eigenen Uber- 
zeugungen zu widersprechen scheinen. So 
, tauscht ihn sein Glaube an die Allein-Mafi- 
geblichkeit der Marchischen Methode. So 
kommt es, dafi in manchen Fragen der in 
jeder Beziehung mit schwacheren Mitteln ar- 
beitende Ref. ihm gegenflber recht behalt 
oder behalten wird, wie bei der Leitung des 
Temperatursinnes u. a. m. 

Die Klarheit der methodologischen Prin- 
zipien erhellt aus fblgenden Worten der Ein- 
leitung: „Es ist denn auch ein metaphysischer 
Streit, ob ein „psychophysischer Parallelismus 4 * 
oder eine „psychophysische Wechselwirkung** 
anzunehmen sei. Fflr uns darf nur bestehen 
die psychophysische Identitat. Die psychischen 
Vorgange sind die materiellen Vorgange in 
den Molekulen des zentralen Nervensystems 
selbst. So allein kann, so allein mufi die 
Einheit des biologischen Problems gewahrt 
werden. Die psychischen Reaktionen sind 
genau so der Kausalilat und dem Zwang der 
Gesetze unterworfen, als die physischen, und 
wenn darum die „Seele“ etwas raumlich 
Ausgedehntes, die psychischen Vorgange 
Bewegungsvorgange werden.** 

FQr irrefiihrend halten wir hingegen, was 
er uber die Zweckmafiigkeit an derselben 
Stelle schreibt. Sie verkorpert ihm nur „das- 
jenige besondere Zusammenwirken der Natur- 
gesetze, das in dem biologischen Individuum 
zur Erscheinung kommt**. Dafi die Zweck- 
tatigkeit in unsererWillenshandlungals reale 
Tatsachlichkeit auftritt und aufierdem nach 
diesem Vorbild ein allgemeines Schema bio¬ 
logischen Geschehens ist, dem ebenso real 
als biologische Antithese die Ausdrackstatig- 
keit gegeniibersteht, wird hoffentlich einem 
so klardenkenden Forscher auf die Dauer 
nicht entgehen. Doch mogen diese und 
andere denkbaren Ausstellungen nur der 
Hintergrand sein, auf dem wir unser Urteil 
wiederholen: ein unentbehrliches Buch. 

1 Oskar Kohnstamm, Konigstein i.Taunus. 


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BD. XI, HEFT 1'2 
1908. 


REFERATE. 


IQ/ 


Pilcz, Alexander, Beitrag zur ver- 
gleichenden Rassen - Psychiatrie. 
Leipzig und Wien 1906. Verlag von Franz 
’ Deuticke. 

Der Verfasser legt seinen sehr beachtens- 
werten Studien ein Material von rund 3000 
Einzelbeobachtungen zugrunde und kommt 
unter gleichzeitiger Beriicksichtigung der ein- 
schlagigen Literaturangaben etwa zu folgen- 
den Schlfissen: 

Fur die depressiven Geistesstorungen 
stellen * die skandinavisch - germanischen 
Stamme, fur die hereditar degenerativen die 
Juden das bedeutendste ^Contingent. 

Alkohol und alkoholische Psychosen 
tiberwiegen bei den europaischen Volkern, 
speziell bei den Germanen und Nordslawen. 
Bei aufiereuropaischen Rassen sind Alkohol- 
psychosen relativ selten. 

An den Intoxikationspsychosen beteiligen 
sich alle Volkerstamme in nahezu gleichen 
Prozentsatzen, nur das Narkotikum selbst 
wechselt. 

Endemisch und epidemisch auftretende 
hysterische Geistesstorungen finden sich nur 
noch bei wilden Rassen, welche scheinbar 
iiberhaupt zu Hysterie und Epilepsie neigen. 

Die progressive Paralyse beschrankt sich 
hauptsachlich auf Europa. Dr. Maufi. 

Verworn, M., Zur Psychologie der pri- 
mitiven Kunst. Verlag von G. Fischer, 
Jena 1908. 47 Seiten. 

Verf. entwickelt seine „Psychologie“ der 
primitiven Kunst aus einem Vergleich der 
uns aus palaolithischer und neolithischer Zeit 
erhaltenen Reste. Diese werden an Abbil- 
dungen veranschaulicht, die nicht wenig zu 
dem Wert der kleinen Schrift beitragen. In 
den wundervoll charakteristischen Hohlen- 
zeichnungen der palaolithischen Periode sieht 
Verf. den Niederschlag naturwahrer Beobach- 
tung —physioplastische Kunst —, in der 
kiinstlerisch tiefstehenden symbolischen Pro- 
duktion folgender Epochen das Gegenstiick, 
namlich konstruktive Arbeit: ideoplas- 
tische Kunst. Dieser stellt er die primitiv 
konstruierende Art unserer Kinder an die 
Seite, die ebenfalls schon fiir die Anschauung 
verdorben sein sollen, was insofem stimmen 
mag, als die reproduzierten Autoren 11 bis 
I4jahrige Schulknaben sind. Dann mufiten 
aber die Kinder der heutigen Buschmanner, 
die in ausgewachsenem Alter auch nach 1 
unserer Meinung Kiinstler sind (physioplas- | 


tische nach Verf.), unseren Kindem flberlegen 
sein, welches Experimentum crucis vielleicht 
ausfiihrbar ware. 

Unter den Vorstellungsgruppen, welche 
die physioplastische zur ideoplastischen Kunst 
verderben, sollen der Seelenkult und ver- 
wandtes die Hauptrolle spielen. Woher dann 
aber der Hochstand kiinstlerischen Sehens in 
der Zeit des Sophokles und mittelalterlichen 
Kirchentums? Re£ glaubt, dafi jene uralten 
Kunstler schon echt artistisch im inneren 
Herzen spQrten, was sie mit der Hand er- 
schufen und dafi spatere Zeiten, wie in jeder 
kiinstlerischen Verfallzeit, die urspriinglich 
gefiihlswarmen Kunstwerte zu konventionellen 
Zeichen erstarren lieBen. — Vergl. tiber diese 
und verwandte Fragen des Ref. Schrift: Kunst 
als Ausdruckstatigkeit, biologische Voraus- 
setzungen der Asthetik, MQnchen, E. Rein¬ 
hardt, 1907. 

Oskar Kohnstamm, Konigstein i. Taunus. 

de Vries, H., Der Mechanismus des 

Den kens. 64 S. mit 5 Figuren im Text. 

Bonn 1907. Mk. 2,50. 

Wenn wir aus dieser Schrift einen Passus 
des Vorwortes zitieren, so ist fast genug uber 
sie gesagt: „Die Meinung, dafi die Geistes- 
tatigkeit nicht erklart werden konne, hat bei 
mir nie einen festen Boden gefunden" und 
„Ein zwanzigjahriges eingehendes Studium 
und Nachsinnen haben mir gebracht, was 
ich erwartete: 

„Das Wesen des Denkens begreifen zu 
konnen.“ Neuere faseranatomische, nerven- 
physiologische und klinische Arbeiten hat 
der Verf. zwar in ganz ansehnlicher Menge 
studiert. Und was er rein referierend von 
diesen mitteilt, hat wohl Hand und Fufi. 
In Manchem werden aber auch diese Grund- 
lagen nicht so gepriift, wie man es verlangen 
sollte: die Fibrillen sind das reizleitende 
Element, — das ist noch nicht bewiesen! 
Das in ihnen geleitete sind elektrische 
Strome, — das ist ein Irrtum. „Der Neu- 
geborene hat weder Geist noch Seele, noch 
Bewufitsein“ („weder — noch“, sic!). Was 
weifi der Verf. von dem Bewufitsein eines 
Neugeborenen? Vom Nougeborenen zu sagen: 
„er gleicht dem weifien Papier, worauf noch 
geschrieben werden mufi, und ist ebenso 
widerstandslos wie weifies Papier . . . M , — 
das ist mindestens nicht sehr schdn! Und 

1 was ist damit „begriflfen u , wenn der Verf. 

I sagt: „Es liegt in der eigentumlichen Be- 


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io8 


REFERATE. 


Journal f. Psychologie 
and Nenrologie. 


schaffenheit des Nervengewebes und in der 
besondem chemischen Art der Endfibrillen, 
dafi Reize von der Aufienwelt her chemischen 
Einfiufi ausuben; diese chemische Verande- 
rung in den Endfibrillen erzeugt Nerven- 
strdme ..In den Zellen wandelt sich der 
Strom in chemische Wirkung um, „woher 
sonst diesaureReaction, die in derarbeitenden 
Nervenzelle konstatiert worden ist?“ „Wenn 
nun der Strom in eine Zelle kommt, dann 
wird er die Blutkdrperchen in dem Haar- 
gefafie anziehen; dies wird um so mehr statt- 
finden bei chemischer Wirkung in der Zelle, 
und die roten Blutkorperchen, in der Mitte 
des Fasses (gemeint ist wohl „Flusses“ oder 
„Rohres“) schwebend, nach der Wand hin * 
locken, wodurch Verzogerung der Blutzirku- i 
lation entsteht und Anhaufung der roten 
Korperchen, mit dem Erfolg: dafi Erweiterung 
des kapillosen Fasses (?) entsteht. Diese 
Vermehrung des Blutes auf einer Stelle gibt 
die Empfindung von Lust.“ 


Man hat den Eindruck, dafi die glanzende 
Lehre der aphasischen Phanomene (und doch 
riitteln auch an ihr manche der exakten neueren 
klinischen Arbeiten!) den Verf. in erster Linie 
zu seinen halb phantastischen, schematischen 
Produktionen begeisterte, die zum Beispiel das 
psycho-physiologische Geschehen erlautem 
sollen, das gegeben ist, wenn eine Mutter zu 
ihrer Tochter sagt: „Losche das rote Licht 
aus. u Der physiologische Teil dieser Aus- 
lassungen ist nicht neu und entspricht nicht 
immer dem Stande der Wissenschaft. Und 
das psychologische? Ja, man erfahrt zum 
Schlufi, wie der Verf. das Denken, Geist 
„und u Seele, „sowie“ Bewufitsein „be- 
griffen 1 * hat: „Das abstrakte Denken ist 
immer zu zergliedem zu gewohnlichem 
Denken mit vielen Wortspielen dazu, des- 
wegen ist es kQnstlich, miihsam und ofters 
ungeniefibar. M 

Dr. Max Wolff (Bromberg). 


DHSXSSD 


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Journal for Psychologie und Neurologie. 


Band XI. 


Heft 3. 


(Aus dem neurobiologischen Institut der Universitat Berlin.) 

Ober den Beginn der Silberreifung der Neurofibrillen 
im Riickenmark der S&uger. 

Von 

Dr. med. Hafsahl. 

Nachdem der Streit liber die Existenz von Neurofibrillen innerhalb der Zellen 
und Fasern des Nervensystems, namentlich durch die neuen Silbermethoden von 
Cajal und Bielschowsky im positiven Sinne entschieden war, hatte sich'natur- 
gemaB ein lebhaftes Interesse der Frage zugewendet, wann im Laufe der Entwick- 
lung des Nervensystems diese Fibrillen entstehen. 

Die Erkenntnis, die sich sehr bald herausstellte, daB namlich die Silberimpr&g- 
nierungsmethoden nicht etwa spezifisch nur die Fibrillen im urspriinglichen Sinne 
des Wortes impragnieren, sondern iiberhaupt gewisse feine Faserungen im Bereich 
des Nervensystems, — die Erkenntnis femer, daB die verschiedenen mit Silber im- 
pragnierbaren fibrillaren Systeme und Elemente des Nervensystems in offenbar ge- 
setzmaBiger Reihenfolge das Silber annehmen — die Einsicht endlich, daB das Vor- 
handensein von Fibrillen Und die Aufnahme des Silbers sich nicht ohne weiteres 
decken — alles dies hat bekanntlich dazu gefiihrt, daB aus der Frage nach dem 
ersten Entstehen von Fibrillen (sensu strictiori) sich die viel umfangreichere und 
andersartige nach der Reihenfolge der Silberimpragnierung der verschiedenen Teile 
des Zentralnervensystems entwickelt hat. Wir untersuchen bekanntlich heute die 
sogenannte „Silberreifung“ der Neurofibrillen in ahnlichem Sinne wie bisher die 
Markreifung der Nervenfaser. 

Selbstverstandlich hat nach wie vor beim Studium dieser Silberreifung der 
Neurofibrillen die Frage nach dem allerfriihesten Auftreten von Silberimprag- 
nierungen eine ganz besondere Bedeutung, einmal weil es an sich von groBem 
Interesse ist, zu wissen, wie friih im Lauf der Entwicklung des Individuums die 
Bestandteile des Nervensystems spezifisch nervosen Charakter zeigen und zweitens 
weil in diesen friihesten Studien gewisse Gebilde isoliert impragnierbar sind, die 
spater schwer oder gar nicht mehr abgrenzbar sind. 

Die bisher von diesen friihesten Verhaltnissen gegebenen Darstellungfen sind 
nun keineswegs vollig iibereinstimmend. 

Zwar sind die Angaben, von Held (1) und Besta(2 ) liber das Vorkommen 
von Neurofibrillen in den friihesten Entwicklungsstadien niederer Vertebraten — 

Journal far Psychologie und Neurologie. Bd. XI. & 


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no 


DR. MED. HAFSAHL. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologie. 


bis einschlieBlich zu den Vogeln — ohne Widerspruch geblieben. Dagegen stehen 
den Angaben Helds beziiglich des ersten Auftretens der Neurofibrillen in den 
Ganglienzellen des Riickenmarks der Sauger (Maus, Kaninchen) Angaben anderer 
Autoren gegeniiber, wonach gerade die ersten Fibrillen in den Ganglienzellen des 
Vorderhoms erst in relativ sehr viel spateren Stadien nachweisbar sind. 

So findet Brock (3) an Schweinefoten zwar schon bei 14mm NackensteiB- 
lange die vorderen Wurzeln und einiges andere mit Silber impragniert. Er findet 
dagegen fibrillare Impragnierung der Zellen selbst, die Held bereits in der friihesten 
Anlage als fibrillar differenziert beschreibt, erst bei einem Fotus von 108 mm 
NackensteiBlange, also in einem Stadium, welches sehr viel weiter fort- 
geschritten ist. 

Ebenso finden Gierlich und Herxheimer (4U.5) beim Menschen zwar die 
vorderen und hinteren Wurzeln, die Fasem der weiBen Substanz und auch die 
grauen Massen des Riickenmarks friihzeitig fibrillenhaltig, nicht aber die Ganglien¬ 
zellen selber. Gierlich (4) gibt an, daB im dritten fotalen Monat, zu einer Zeit, 
wo die intra- und extraspinalen Wurzelfasern kraftig entwickelt seien, von Fi- 
brillenbildung in den Vorderhornzellen noch nichts zu sehen sei und 
zieht aus diesem Befund mit Brock den weittragenden SchluB, daB die Entwick- 
lung der motorischen Nervenbahnen von der Peripherie nach der Zelle zu fortschreite 
(„von dem im anatomischen Sinne peripherischen Ende nach dem zentralen", wie 
Brock sich ausdriickt). 

Diesen Angaben gegeniiber hat Brodmann an verschiedenen Orten beim 
Menschen das Vorkommen fibrillar differenzierter Ganglienzellen, speziell 
von Vorderhomzellen des Riickenmarks in sehr friihen Entwicklungsstadien be- 
hauptet. Bereits 1905 demonstrierte er nach Bielschowskys Blockmethode be- 
handelte Riickenmarkschnitte eines menschlichen Embryos etwa vom Anfang des 
zweiten Monats, wo deutlich fibrillare Strukturen an den Zellen des Vorderhoms er- 
kennbar waren, und spa ter stellte er an einem einmonatlichen menschlichen 
Fotus fest, daB auBer der Anlage der Wurzeln und reichlicher Faserungen der 
weiBen Substanz bereits zahlreiche Neuroblasten des Riickenmarks ein ausgepragtes, 
den Kern umgreifendes Neuroreticulum aufweisen, aus dem vielfach eine derbe 
Faser bis zurWurzelaustrittszone sich verfolgen laBt, ganz wie es Held bei niederen 
Saugem und Vertebraten beschrieben hat. 

Angesichts dieser widersprechenden Angaben (die Zeitdifferenzen zwischen 
Gierlichs und Brodmanns Befunden beim Menschen betragen fiir das Riicken- 
mark zwei Monate) und im Hinblick auf die prinzipielle Wichtigkeit der Frage 
erscheint eine Nachpriifung der ersten zentralen Fibrillationsprozesse bei anderen 
Saugem und Vertebraten angezeigt. 

Ich selber habe aus AnlaB von Studien iiber die Fibrillenentwicklung in der 
Himrinde — bei Kaninchen- und Katzenfoten — Gelegenheit gehabt, an einer 
groBeren Anzahl von Foten auch das Riickenmark zu untersuchen und zwar in 
Stadien, die denen Helds bei Vogeln und niederen Vertebraten annahemd ent- 
sprechen, jedenfalls jiinger als die jiingsten von Brock untersuchten Schweine¬ 
foten (17 mm), jiinger auch noch als die von Brodmann untersuchten jiingsten 
menschlichen Foten sind. Ich habe mich bei meinen Untersuchungen vorwiegend 
Cajals zweiter Modifikation bedient (Fixierung in Ammoniak-Alkohol). 


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BD. XI, HEFT 8 
1908 


CBER DEN BEGINN DER SILBERREIFUNG USW. 


Ill 



Bielschowskys Gefriermethode, die im allgemeinen die schonsten Prapa- 
rate gibt, war leider fur mich deshalb ausgeschlossen, weil mir aus verschiedenen 
Griinden ah liickenlosen Serien lag. 

Dagegen habe ich immer gleichzeitig auch Serien nach Cajals Original- 
methode und Bielschowskys Block- 
methode angefertigt, wozu ich um deswillen 
in der Lage war, als bei den von mir unter- 
suchten Tieren immer mehrere Foten der- 
selben Altersstufe angehorten. 

Um moglichst einheitliche Resultate zu 
bekommen, sind alle Schnitte gleich dick ( 4 / 4 ). 

Ich mache im iibrigen noch besonders 
darauf aufmerksam, daB ich, wenn ich im 
folgenden von Fibrillen spreche, nur deutlich 
mit Silber impragnierte, also tiefschwarze 
Fasem im Auge habe, also Strukturen, iiber 
deren Charakter ein Zweifel nicht bestehen 
kann. 

Die im nachstehenden im spe- 
ziellen beschriebenen Befunde sind 
bei einem 51 j mm langen Kaninchen- 
embryo erhoben. (Nacken-SteiBlange.) 

Unsere Textfigur stellt die eine Halfte 
eines Riickenmarksquerschnittes und zwar aus 
dem oberen Halsmark dar. 

Das Medullarrohr hat sich bereits ge- 
schlossen. Irgendwelche Differenzierungsvor- 
gange in den den Zentralkanal umgebenden und 
das Ruckenmark konstituierenden Zellschichten 
kann man nur im ventralen Teil des Rucken- 
marks sehen, in der Gegend der Vorderhorner. 

Man sieht hier in derMantelschicht (His) zahl- 
reiche Neuroblasten. Die Schicht hebt sich 
dadurch deutlich ab, daB die Zellen lockerer 
liegen als in der Innenplatte. An zahlreichen 
Zellen dieser Gegend (a) ist nun schon bei ober- 
flachlichet Betrachtung die Stelle des so- 
genannten Ansatzkonus als dunkel mit Silber 
impragniert erkenntlich. Bei Betrachtung mit 
Olimmersion sieht man, daB diese Imprag- 
nierung nicht etwa eine diffuse ist, 
sondern daB sie von sehr deutlich er- 
kennbaren intracellularen Fibrillen 
herruhrt. Die Fibrillen sind zum Teil ziem- 
lich dick und breiten sich netzformig um den 
dem Ansatzkonus zugewendeten Pol des Zellkerns aus. Zu der Frage, ob es sich dabei 
um ein echtes Netz handelt oder nicht, mochte ich jedoch keine Stellung nehmen. 

Der ubrige Teil der Zelle ist hell und frei von Fibrillen. 

Aus dem beschriebenen Fibrillennetz geht ein Hauptfortsatz der betreffenden 



Zellen hervor. 


8 * 


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112 


DR. MED. HAFSAHL. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Die einzelnen Hauptfortsatze, resp. die daraus entspringenden Achsenzylinder 
wenden sich nach verschiedenen Richtungen, konvergieren jedoch im grofien und ganzen 
nach der Austrittsstelle der vorderen Wurzeln. Man kann sie nach ihrem Austritt aus 
den Zellen oft auf weite Strecken verfolgen. Sie laufen dabei haufig geschlangelt, indem 
sie anderen Zellen gewisserma,Ben ausweichen mussen. 

Einzelne Achsenzylinder mussen, um in die vorderen Wurzeln zu gelangen, direkt 
rechtwinklig umbiegen. Die vorderen Wurzeln selber sind uberall leicht erkennbar und 
gut impragniert; sie vereinigen sich peripheriewarts zu geschlossenen Bundeln. Eine 
Langsfaserung/des Ruckenmarks ist noch nicht angedeutet. 

Diese friihzeitige Impragnierung der vorderen Wurzeln ist ja allgemein bekannt. 
Was aber die Impragnierung der Vorderhornzellen betrifft, so kann, ich in Anbetracht 
derDeutlichkeit der Befunde nicht umhin, anzunehmen, dafl die Befunde von Brock (3), 
Gierlich und Herxheimer (4 u. 5), die mit denen von Held (1) und Brodmann (6) 
unvereinbar sind, in ersterLinie auf Unvollkommenheiten derTechnik und des Materials, 
in zweiter Linie erst auf einer etwaigen Unsicherheit der Methode beruhen. 

Ich habe in diesem Stadium sechs Serien nach verschiedenen Metho¬ 
de n untersucht und uberall mehroderwenigerdeutlichdasselbegefunden, 
so dafl ein Zweifel oder eine Unsicherheit bezuglich der Befunde ausge- 
schlossen ist. Die der Arbeit beigegebene Zeichnung ist nicht schematisiert, sondern 
genau nach der Natur. Bei v sind die vorderen Wurzeln, bei a die impragnierten Vorder- 
homzellen deutlich. 

AuBer den beschriebenen Impragnierungen sind aber noch einige weitere in der 
Abbildung deutlich. 

Zunachst ist die bekanntlich sehr fruhzeitig impragnierbare vordereKommissur 
auch auf unserer Abbildung erkennbar, wenn sie auch nur durch einzelne Fibrillen an¬ 
gedeutet ist, die oberflachlich, unmittelbar unter der Membrana limitans externa ver- 
laufen (co der Fig.). 

Sodann aber sind auch die hinteren Wurzeln bereits impragniert und auBer- 
dem ein Fibrillenzug, der aus der Gegend des spateren Vorderhorns zur Eintrittsstelle 
der hinteren Wurzeln verlauft, an der Grenze zwischen Mantelschicht und Randschleier. 

Was diesen Faserzug betrifft, so ist ein ahnliches Gebilde von His (8) beschrieben. 
Derselbe findet beim Menschen ziemlich friih Bogenfasern, die nach'einwarts vom Rand¬ 
schleier liegen, genau wie das von mir abgebildete Biindel. Diese Fasern sollen aus 
Zellen im dorsalen Teil des ^Ruckenmarks stammen, die „ventralwarts verlaufen und 
die motorischen Kerne durchsetzen und umgreifen." 

Die von mir abgebildeten Fasern konnen in dieser Weise nicht aufgefaBt werden. 

Zunachst i 3 t in dem Stadium, welches His beschreibt, die Differenzierung des 
Ruckenmarks erheblich weiter vorgeschritten, insofern bereits die Anlage der Langs- 
faserung des Marks begonnen hat. 

Sodann ist im dorsalen Teil des Ruckenmarks in meinem Stadium eine fibrillare 
Differenzierung noch nirgends erkennbar. 

Wohl aber gibt es im Vorderhorn eine Reihe von Neuroblasten, die 
ihren Hauptfortsatz deutlich nicht in die vordere Wurzel, sondern dorsal- 
warts gegen die hintere Wurzel zu senden. Ich finde solche Zellen ziemlich 
haufig, teils ventral, teils dorsal von der Austrittsstelle der vorderen Wurzeln. Nament- 
lich an den letzteren ist es deutlich zu sehen, wie die Spitzenfortsatze dorsalwarts ge- 
richtet sind. In einzelnen Fallen kann man, wie die Fig. deutlich zeigt, einzelne aus solchen 
Vorderhorn-Neuroblasten entspringende Fortsatze direkt bis dicht an die Eintrittsstelle 
der hinteren Wurzel verfolgen. Eine einzelne Faser durch die Wurzel selber oder gar 
bis in das Spinalganglion zu verfolgen, ist mir allerdings nicht gelungen; es hat das be- 
sondere Schwierigkeiten, da die hinteren Wurzeln nach ihrem Austritt aus dem Rucken- 
mark meistens quer getroffen sind und die Verfolgung einer einzelnen Faser dadurch 
unmoglich wird. 

Es liegt deshalb nahe, da der beschriebene Faserzug jedenfalls im ganzen durch- 
aus seine Fortsetzung in den Fasern der hinteren Wurzeln findet, anzunehmen, dafl es 


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1908. 


CBER DEN BEGINN DER SILBERREIFUNG USW. 


1*3 


sich bei denselben um die gleichen Fasem handelt, die von Le n hosse k (9) (Huhnerembryo 
von funf Tagen), von Gehuchten, Retzius, Held u. a. bei niederen Vertebraten 
gefunden sind, wahrend sie bei Saugem meines Wissens bisher nicht beschrieben resp. 
abgebildet sind, obwohl man ihre. Existenz auf Grund von Durchschneidungsversuchen 
vermutet hat. 

DaB die Fasern der hinteren Wurzel in unserem Falle nicht etwa ausschlieflhch 
Oder auch nicht einmal nur vorwiegend Abkommlinge von Zellen der Spinalganghen 
sind, dafur spricht mit groBer Wahrscheinlichkeit der geringe Grad der Entwicklung des 
Fibrillationsprozesses in den Spinalganglien dieser Stadien. In dem hier beschriebenen 
Stadium finden sich in den Zellen der Spinalganglien noch keine intracellularen Fibrillen, 
sondern es sind nur die beiden Fortsatze der bipolaren Zellen teilweise und immer haufig 
nur auf kurze Strecken impragniert. 

Wenn man also auch mit Bestimmtheit annehmen kann, dafl Fasern der Spinal- 
ganglienzellen am Aufbau der hinteren Wurzeln in unserem Stadium beteiligt sind, so 
kann man sie doch kaum als ausschlieBliche Ursprungsstatte ansehen resp. die Mit- 
beteiligung der Bogenfasern ausschlieBen. 

Zusammenfassend ware zu sagen: 

1. Es finden sich bei Saugerembryonen (Katze, Kaninchen) mit Silber im- 
pragnierte Fibrillen bereits in den allerersten Entwicklungsstadien des Riicken- 
marks, wo weder eine Bildung von Langsfasersystemen noch sonst eine morpho- 
logische Differenzierung auBer einer gewissen Lockerung der Zellen im ventralen 
Teil der Mantelschicht erkennbar ist. 

Es zeigen um diese Zeit deutliche silbergeschwarzte Fasem: 

a) die vorderen Wurzeln; 

b) die hinteren Wurzeln; i 

c) die vordere Kommissur; 

d) ein System von Bogenfasern. 

e) AuBerdem zeigen die Zellen in der Gegend des spateren Vorderhorns, aber 
auch nur diese, intracellulare impragnierte Fibrillen in Form eines retikulierten 
Ansatzkonus, welcher den einen Pol des Neuroblastenkorpers korbartig umgreift 
und von dem meist ein Hauptfortsatz (Achsenzylinderfortsatz) zu einer der Wurzeln 
zu verfolgen ist. 

Diese Befunde widerlegen die Angaben von Brock, Gierlich und Herx- 
heimer, welche in viel spateren Stadien noch keine fibrillare Differenzierung der 
Riickenmarkszellen gefunden haben. 

2. In diesem friihen Stadium des Fibrillationsprozesses ist ein System von 
Fasem nachweisbar, welches von Zellen des Vorderhorns zur Gegend der hinteren 
Wurzeln zieht und teilweise in diese eintritt, ein System, wie es bei niederen Verte¬ 
braten bis zu den Vogeln bereits beschrieben und abgebildet war. 

Literaturverzeichnis. 

1) Held, Die Entstehung der Neurofibrillen. Neurol. Centralblatt 1905, Nr. 15, S. 706. 
Derselbe, Zur Histogenese der Nervenleitung. Anatomischer Anzeiger Bd. XXIX. 

1906. Erganzungsheft S. 185. 

2) Besta, Ricerche usw. ... Riv. sperim. di Freniatria. 1904. 

3) Brock, Untersuchungen liber die Entwicklung der Neurofibrillen des Schweinefotus. 

Monatsschrift f. Psych, u. Neurol. XVIII, 1905. S. 469. 

4) Gierlich, Ober die Entwicklung der Neurofibrillen in der Pyramidenbahn des 

Menschen. Deutsche Zeitschr. f. Nhlk. 32. 

5) — und Herxheimer, Studien iiber die Neurofibrillen im Zentralnervensystem. 1907. 


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DR. MED. HAFSAHL. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


6) Brodmann, Demonstration von Fibrillenpraparaten zur Histogenese des Zentral- 

nervensystems. Neurol. Centralblatt 1905, Nr. 14, S. 669. — Femer Anat. Anz. 29. 
Erganzungsheft 1906. 

7) — Bemerkungen uber die Fibrillogenie und ihre Beziehungen zur Myelogenie mit 

besonderer Beriicksichtigung des Cortex cerebri. Neurol. Cbl. 1907, Nr. 8. 

8) His, Die Entwicklung des menschlichen Gehiras wahrend der ersten Monate. 1904. 

9) v. Lenhossek, Der feinere Bau des Nervensysterns. 1895. 


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BD. XI, HEFT 3 
1906. 


CBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


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Aus der neurologisch-psychiatrischen Universitatsklinik in Graz. 

Ober das Phanomen der Makropsie als Symptom bei 
akuter toxischer Halluzinose. 

Von 

Dr. H. di Gaspero, 

Assistent der Klinik. 

Das in erster Linie von den Ophthalmologen und Physiologen und erst in 
zweiter Linie von den Hirnpathologen studierte Phanomen der Makropsie und 
Mikropsie (= Dysmegalopsie) wurde durch Jahrzehnte hindurch als eine 
Stoning im peripheren motorischen Perzeptionsapparate, d. i. im muskularen Seh- 
apparate, aufgefaBt. 

Die friiheren einschlagigen Theorien fuBten in physikalischen Experimenten 
und in okulistischen Versuchen, welche vielfach eine direkte toxische Beeinflussung 
des peripheren Akkomodationsapparates zur Grundbedingung hatten. Die Haupt- 
stiitze fur alle entstandenen Theorien iiber das Wesen der Dysmegalopsie war die 
aus den Versuchen hervorgehende Tatsache, daB die Parese des Akkomodations¬ 
apparates infolge Atropinisierung bzw. Homatropinisierung gelegentlich Mikropsie 
und die Sphinkterenreizung, d. i. Anspannung des Akkomodationsapparates durch 
Miotica (Physostigmin, Pilocarpin), Makropsie zu erzeugen vermag. 

Handelte es sich um eine primare auf Basis einer nervosen Erkrankung ent¬ 
standenen Dysmegalopsie, so konnte experimentell zu der vorhandenen auch noch 
eine Summationsdysmegalopsie hinzugefiigt werden, indem die Makropsie durch 
Miotica bei entsprechender Linsenkorrektur verstarkt, durch Homatropin unter 
denselben Kautelen verringert werden kann. 

Bei der Erklarung der Dysmegalopsie gait im allgemeinen die Annahme, 
daB die Innervation zur Akkomodation behufs scharfen optischen Fixierens ceteris 
paribus bald zu groB, bald zu klein sei, daher ein physiologischer Irrtum iiber die 
tatsachliche GroBe und Entfernung der Objekte bei ansonst folgerichtiger Ein- 
schatzung ihrer Stellung im Raume vorliege. (Donders, Roster, Aubert u. a.) 

Zoth sieht fur das Zustandekommen dieser optischen Perzeptionsstorung 
die Annahme fur die wahrscheinlichste an, daB durch Assoziation des vermehrten 
und verminderten Konvergenzimpulses mit der vermehrten bzw. verminderten 
Akkomoddation indirekt die Entfernungs- und GroBeneinschatzung von Objekten 
beeinfluBt wird. 


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Ii6 


DR. H. DI GASPERO. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


DaB die Schatzung von GroBe und Entfernung eines Gegenstandes in engster 
gegenseitiger ^Wechselbeziehung stehe, erscheint als eine zweifellose Tatsache. 
Die Wichtigkeit des prazisen Zusammenspieles des Akkomodations- und des Kon- 
vergenzapparates fiir die GroBenwahrnehmung und das gesetzmaBige Auftreten 
dysmegaloptischer Perzeptionsanomalien bei Alteration dieses Zusammenspiels geht 
unter anderem aus den Konvergenzversuchen Elsehnigs mit Sicherheit hervor. 

Diese Theorien waren wohl imstande, eine Reihe von Krankenbeobachtungen 
mit Dysmegalopsie pathogenetisch befriedigend zu erklaren: so die akut toxischen 
Mikropsiezustande bei Atherinhalationen, bei Cannabisintoxikationen (Redigius), 
die Makropsie bei Jaborandimedikation (George, Crequ^ u. a.), sodann die Ma- 
kropsie bei Tics und Spasmen der Akkomodationsmuskulatur (Meige), endlich die 
pramonitorische Dysmegalopsie bei metaluetischen organischen Nervenkrankheiten, 
z. B. Tabes (Sidler-Huguenin u. a. m.). 

Weniger befriedigende Erklarungen vermochten die herrschenden Lehrsatze fiir 
die Dysmegalopsie bei einer Reihe anderer Nervenkrankheiten zu bieten. Bekanntlich 
wird bei der hysterischen Neurose und bei der Epilepsie von mehrfacher Seite das Auf¬ 
treten von Makropsie (bzw. Mikropsie) berichtet. Ich verweise kurz auf die Berichte 
Charcots iiber fiinf Mikropsiebeobachtungen bei hysterischen'Personlichkeiten; 
femer den Bericht De Bonos iiber einen Fall von Macropsia hysterica (neuro- 
pathischer Landmann, der plotzlich Polyopsie, damach Makropsie bekam, die nach 
einigerZeit schlieBlichdurchWachsuggestion geheilt wurde); sodann die Beobachtung 
von Cruchet-Aubaret (12 jahriges Madchen mit wiederholten Anfallen von 
hysterischer Amaurose und Makro-Mikropsie); endlich die interessanten Beobach- 
tungen Fischers iiber Hystero-Dysmegalopsie, auf welche ich noch in extenso zuriick- 
kommen werde, Ich verweise desweiteren auf die Berichte vonVoisin, Binswanger, 
Gowers, Ziehen, Sauvages, Veraguth, iiber die epileptische Dysmegalopsie. 
Die ersteren Autoren vermelden eine Makropsie als sensorielle epileptische Aura. 
Der letzgenannte beschreibt das Phanomen der Makropsie als petit mal selbst: 
bei einem 3ojahrigen Epileptiker* trat als petit mal of ter eine mehrere Sekunden 
andauernde Makropsie auf; alles erschien dem Patienten hochgradig vergroBert; 
kurz dauemdes Angstgefiihl, Gesichtsblasse; Patient konnte wahrend des Anfalles 
noch lesen, doch waren samtliche Buchstaben aufs Doppelte und Dreifache ver¬ 
groBert; dieses Phanomen trat hingegen niemals als Aura der groBen Anfalle auf. 

Ganz und gar unerklart blieben schlieBlich Falle von Makropsie, die im 
Verlaufe anderer Gehimkrankheiten beobachtet wurden. Hieriiber finden sich 
in der Literatur auch nur sporadische Mitteilungen vor: so von Pichou, Vera¬ 
guth, Anglade, Flournoy). Flournoy macht eine interessante Mitteilung 
iiber einen 90 jahrigen Mann, welcher der Beschreibung nach offenbar an einem 
deliranten Zustande litt, Makropsien sowie Photopsien im ganzen Gesichtsfelde 
hatte und iiberdies noch optische Sinnestauschungen, die nur das linke Gesichtsfeld 
einnahmen, darbot. Der Zustand trat 11 Jahre nach erfolgreicher Kataraktoperation 
auf. Als merkwiirdige Erscheinung moge noch die von Mackay mitgeteilte hierorts 
Erwahnung finden. Mackay sah sieben Falle von Blendung durch Sonnenlicht; 
die erste Erscheinung bestand in Nachbildern, worauf auBer voriibergehenden posi- 
tiven zentralen Skotomen noch in vier Fallen eine langer andauernde Makropsie 
und einmal Mikro- mit Metamorphopsie auftrat. 


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1908. 


OBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


II7 


Es ertibrigt, die interessanten Ausfuhrungen Fischers eingehender wieder- 
zubringen. Derselbe unterscheidet unter den Erkrankungen, welche zur Dysme- 
galopsie fiihren, zwei Gruppen voneinander: die funktionellen Nervenerkrankungen 
und die Gruppe der Storungen im peripheren Akkomodations-Konvergenzapparate. 
Die Dysmegalopsie selbst teilt er demgemaB ein in eine ,,nervose“ und eine ,,mus- 
kulare“ Form. Unter anderem berichtet Fischer von einer an einer hysterischen 
Neuropsychose leidenden Patient in, welche sowohl in ihren hysterischen Ausnahms- 
zustanden, als auch in ihren luziden Intervallen paroxysmale Makropsie-Attacken 
hatte. Nach kurzen Prodromalsymptomen sah sie ganz plotzlich alles Gewohnte 
groBer und fremdartig erscheinen: es kamen ihr (laut Fischers Mitteilungen) im 
Spiegelbilde die eigenen Hande, sogar ihr eigenes Gesicht geschwollen vor; ihre 
Haare erschienen ihr wie dicker Zwirn, das Gewebe der Kleidung auffallig rauh, 
das Zimmer auffallig lang und hoch. Entfemungen schatzte sie immer groBer ein. 
Bei der GroBenschatzung von Objekten, die sich in einer groBeren Entfemung be- 
fanden, z. B. von Hausern in einer Entfemung von 120—200 m, war diese Sehstorung 
nicht mehr vorhanden. Bemerkenswert ist, daB Patientin auch alles in einer eigen- 
artig dunklen Farbe wahmahm (Dyschromatopsie), indem weiB als grau, grellgelb 
als orange mit Beimisfchung von grau, dunkelblau oder braun als.schwarz perzipiert 
wurde. Im Abklingen der Dammerzustande verschwanden diese Storungen, oder 
sie blieben eine Zeitlang noch bestehen. Wahrend die Makropsie in der Dammerphase 
mit angstvollem Affekt einherging, war sie bei klarem BewuBtsein von dieser Affekt- 
lage nicht begleitet. Manchmal war die Dysmegalopsie in der luziden Phase mit 
einem eigentiimlichen ,,Oszillieren“ in der GroBe der Gegenstande verbunden. Durch 
Vorsetzen von Konkavglasem bei gleichzeitiger Homatropinisierung des Auges 
konnte die Makropsie zum Schwinden gebracht, durch Konvexglaser bei gleichzeitiger 
Physostigmineinwirkung verstarkt werden. Analog den makroptischen Dammer- 
zustanden traten auch mikroptische At taken mit einem entsprechendem Verhalten 
auf. Daran ankmipfend berichtet Fischer von einem Traumatiker, der in einem 
als hysterisch charakterisierten Dammerzustande mit nachfolgender totaler Amnesie 
optische Sinnestauschungen mit halbseitiger Makropsie aufwies. Nach Sistieren der 
deliranten Sinnestauschungen bot der Mann auBer seiner halbseitigen Dysmegalopsie 
keine psychopathologischen Erscheinungen mehr dar. Nach kritischer Aufhellung 
des Sensoriums wurde er sowohl fur das Trauma, als auch fur die ganze Phase 
des Ausnahmszustandes als erinnerungslos befunden. 

Ehevor ich zur ausfiihrlichen Schilderung einer interessanten Eigenbeobach- 
tung — die einen klinischen Kranken betrifft — iibergehe, mochte ich ganz kurz 
eines gelegentlich erhobenen Befundes Erwahnung tun. Es handelt sich hier um einen 
konstitutionell schwer neuropathischen Menschen (Studenten) von 25 Jahren, 
welcher nach einem reichliche'n Alkoholgenusse mit Gemiitserregungen in einen 
kurz dauemden toxischen Ausnahmezustand geriet. Hierbei erkannte er zum 
Teil noch seine Umgebung, konnte auch die Personen richtig beim Namen 
nennen. Er sah dieselben jedoch in gigantischer GroBe und Schreckhaftigkeit: 
sah riesengroBe Menschen vor sich, die samtlich eigentiimlich verzerrt erschienen. 
Darob geriet er in eine angstvolle Erregung und inszenierte stiirmische Abwehr- 
und Fluchtversuche. Dieser Ausnahmezustand dauerte etwa l / 2 Stunde lang an, 
und war auch in seiner Intensitat wechselnd. Nach dem Luzidwerden erzahlte er, 


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DR. H. DI GASPERO. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


er habe seine Kameraden als Riesen, zum Teil als Germanen mit gehomten Helmen 
gesehen und war noch gedriickter Stimmung, miBtrauisch und ablehnend. Nach 
mehrstiindigem Schlafe trat voile Einsicht in den durchgemachten Zustand mit 
traumhaftem Erinnerungsvermogen ein. Hier lieB sich mit Sicherheit der Tatbe- 
stand eines transitorischen toxischen Dammerzustandes (pathologischen 
Rausches) erkennen. 

Die klinische Krankenbeobachtung, die nunmehr niedergelegt wird, betrifft einen 
28 jahrigen ledigen Beamten aus Steiermark. (Protokoll No. 667 ex 1906.) 

Seine Eltern leben, sind gesund. Keine nennenswerte Hereditat. Hat keine Vor- 
krankheiten, speziell niemals epileptische bzw. hysteriforme Krankheitszustande durch- 
gemacht. Als 14 jahriger Student war er im Winter einmal auf dem Eise eingebrochen 
und unter die Eisdecke geraten; damals heftiger Shok, konnte nur mit Muhe gerettet 
werden. Patient ist seit Jahren beruflich angestrengt, fiihlt sich nervos, abgespannt, 
leicht erschdpfbar, schlaft wenig. Starker NikotinmiBbrauch (mehr als 20 Zigaretten 
taglich) wird zugegeben. Seit Jahren konstanter Bier- und Weinkonsum, Pat. trinkt 
durchschnittlich pro Tag 3 4 Liter Wein, bei Gelegenheit auch bis zu 3 Liter und abends 
stets mehrere Flaschen Bier. Am 23. Dezember v. J. brach er neuerlich auf dem Eise 
ein, erlitt einen heftigen Nervenshok, ging mit durchnaBten Kleidem mehrere Kilometer 
weit nach Hause. Hier angelangt, trank er zur Erwarmung etwa 1 Liter Gluhwein ziem- 
lich rasch aus. Tags darauf wurde er trotz seiner „nervosen Verfassung“ von einem 
Freunde zur Weihnachtsfeier eingeladen, wobei er 2 Liter Wein austrank. Schon wahrend 
des Weingenusses fiihlte er sich beklommen und beengt und kam ihm seine Umgebung 
merkwurdig verandert vor. Seine Freunde bekamen geschwollene, gedunsene, fratzen- 
hafte Gesichter. Am Schlusse des Gelages wurde er derart auffallig, daB seine Freunde 
ihn nach Hause zu Bette bringen muBten. Er selbst hat sich dabei nicht verandert 
gefuhlt. Nach einer unruhigen Nacht mit schweren Traumen fiihlte er sich morgens 
sehr matt und abgeschlagen, trank aber trotzdem den ganzen Tag uber fort, um sich zu 
betauben. Gegen Abend wurde er sehr aufgeregt, gegen Gerausche uberempfindlich, 
bekam Ohrenbrausen und warf sich wie in einem Schuttelfroste im Bette herum. Er 
verblieb die ganze Nacht hindurch schlaflos, durch eine Menge von subjekti ven Gerauschen 
angstlich erregt. Am kommenden Tage (26. Dezember) ging er voll innerer Unruhe und 
Angst in die Kanzlei, weil er es zu Hause nicht mehr aushalten konnte. Hier vernahm er 
allerlei Stimmen, die ihn direkt anriefen und wurde hierdurch im hochsten Grade angst¬ 
lich erregt. In Begleitung eines Mitbeamten ins Freie gebracht, hatte er nun eigenartige 
Sehstorungen. Er nahm alle Leute merkwurdig groB und verzerrt wahr: ein bekannter 
Herr, ein Advokat, kam ihm besonders riesig groB, dabei gedunsen vor. Der betreffende 
Herr erschien ihm mehr als das Dreifache vergroBert und zwar in alien Dimensionen. 
Seine Gesichtsfarbe war eine dunkelrotblaue; der Herr ging etwa 15—20 Schritte ent- 
fernt am gegenuberliegenden Gehsteig an ihm vorbei. Trotz der peinlichen Gberraschung 
fiber diesen Anblick gruBte Patient diesen Herrn und fand GegengruB. Sein (desPatienten) 
Begleiter gruflte mit. Der letztere, der knapp neben ihm einherging, kam ihm in nor- 
maler GroBe und Breite, wenn auch etwas verzerrt und dunkler gefarbt vor. Patient 
selbst fiihlte sich hierbei selbst gegen friiher nicht verandert. Er fiihlte auch nicht, daB 
sich sein SchrittmaB verandert hatte. Die Tiere auf der StraBe erschienen dem Patienten 
ebenfalls vergroBert und eigenartig dunkel gefarbt, zum Teil verzerrt, jedoch richtig und 
unzweifelhaft erkennbar mit den im iibrigen gewohnlichen Konturen. Neben der Wahr- 
nehmung dieser optischen Phanomene horte er fortwahrend direkt apostrophierende Be- 
schimpfungen und eine Menge miBfalliger AuBerungen uber sich. Nach Hause gebracht 
duldete es ihn daselbst nur kurze Zeit, er kehrte in die Kanzlei zuriick. Hier fand er, daB 
seine Amtskollegen ihn starr und feindseliganschauten und hierbei ihm vergroBert vorkamen. 
Ob Patient mit einem Auge die gleichen Sehstorungen hatte, kann nicht mit Sicherheit 
erhoben werden. (Patient glaubt aber auch mit einem Auge allein dieseSehstorungen ver- 
nommen zu haben, als er zufolge eines Juckreizes im Auge dasselbe rieb und dabei zuhielt.) 
Trotz Abratens seitens der Kollegen versuchte er zu arbeiten; dabei horte er ununter- 


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BD. XI, HEFT 3 
1908. 


CBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


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brochen laute Stimmen, die an ihn gerichtet waren, ihn entweder direkt ansprachen 
oder iiber ihn untereinander verhandelten und eine ihm bekannte Klangfarbe hatten. 
Z. B. „merkwiirdiger Mensch das“ — „recht hat er“ — ,,er hat einen eisernen Willen“ 
— „Schweinehund“ — „du Mistvieh“ — „aber er ist ein Opfer seines Berufes“ usw. 
Ofter horte er mehrere Stimmen gleichzeitig zusammen rufen, die samtlich zu gleicher 
Zeit Ansprachen an ihn hielten. Patient hielt diese Stimmen fur Spott und Verhohnung 
seitens seiner Amtskollegen und beschwerte sich darob, erhielt aber von denselben nur 
gegenteilige Versicherungen. Unter anderem horte er auch Verhohnungen wegen seiner 
bisherigen Lebensweise, sowie Aufforderungen, seine Lebensweise von nun an zu 
andern. Unter einem erhielt er auch allerlei Ratschlage fur eine verniinftige Lebens- 
fuhrung. Einmal verspiirte er von hinten her kurze Schlage ins Genick, so daB er fast 
zusammensank; er hatte hierbei das Gefiihl, als ob er am Halse gepackt wurde, trotzdem 
er hinter sich keinen Menschen erblicken konnte. Daraufhin verlieB er fluchtartig die 
Kanzlei und suchte ein Wirtshaus auf, das er ebenfalls wieder rasch verlieB, um sich 
schlieBlich nach Hause zu begeben. Zu Hause nun fuhlte er sich korperlich krank, zu 
jeglicher Beschaftigung unfahig, ratios, voll Angst. So oft er auf die StraBe blickte, 
kamen ihm die lebenden Wesen bis zur Riesenhaftigkeit vergroBert, auch gedunsen und 
dunkel verfarbt vor. Die leblosen Gegenstande, die Hauser sowie ubrigen Objekte, 
schienen weder der Grofle noch der Form, noch der Farbung nach verandert. Die Leute, 
die er vergroBert sah, bewegten sich nach seiner Ansicht nicht in einem schnelleren 
Tempo, machten auch keine Riesenschritte. Stundenlang sah er die Lebewesen auch wieder 
ganz normal wie gewohnlich. In den kommenden 2 Tagen verstarkte sich sein krankhafter 
Zustand permanent; er horte mehrere Stimmen zugleich, er sei ein Riesenmorder und 
ein Verbrecher; er glaubte schlieBlich selbst daran, wollte die Stadt cilig verlassen, 
wurde aber von den Stimmen durch Drohungen und Befehle davon abgehalten. Es traten 
nun bei ihm immer massenhafter und praziser konsekutive Verfolgungswahnvorstellungen 
auf, er fuhlte sich nirgends mehr lebenssicher und wagte sich nicht mehr aus seiner 
Wohnung hinaus. Da er von den Stimmen als Tater aller Morde der letzten Zeit bezeich- 
net wurde, fuhlte er sich bestimmt, bei Gericht eine diesbezugliche Selbstanzeige zu 
machen. Am Abend des 28. Dezember sah er in seinem Zimmer viele abnorm groBe 
Menschen auf sich zukommen; die Leute bewegten sich in einer Entfernung von etwa 
5—8 m vor ihm im finstern Zimmer. So sah er „Fremde M , die sich ihm vorstellten, ihn 
auch ansprachen und merkwiirdige Gesichter machten. Diese Personen hielt er fur 
„Seelen“ von Verstorbenen und begann uber die Seelenwanderung nachzudenken. 
Die Zimmereinrichtungsgegenstande sah er hierbei in ganz verschwommenen Umrissen 
in der gewohnten Entfernung. 

Wahrend der ganzen Zeit war er iiber Ort und Zeit vollstandig orientiert, verlor 
niemals die Besonnenheit und befand sich zumeist in einem Affekte einer gefaBten 
angstlichen Erwartung. Auch wahrend der optisch halluzinanten Phase am Abend des 
28. Dezember war seine Orientiertheit im Raume angeblich nicht getriibt gewesen. 
Am 29. Dezember kam ihm auf der StraBe alles eigentumlich „automatisch“ vor, wenn er 
auch die Personen nicht mehr vergroBert wahrnahm. Er horte Leute hinter sich her- 
laufen, glaubte sich nicht mehr „riickensicher“, von alien moglichen Leuten auf der StraBe 
betaubt und gegen seinen Willen iiber alles Mogliche ausgefragt. Er horte noch immer 
von alien Seiten Stimmen, zumeist laute befehlende, daneben auch von Feme her klin- 
gende, flustemde, ofters in einem ihm ganz fremden Dialekte sprechende Stimmen, den 
er nicht verstand. Diese Stimmen begleiteten alle seine Handlungen und gingen auch 
manchmal mit gleichzeitigen elektrischen Schlagen am Kopfe einher. Einmal vernahm 
z. B. Patient folgendes: „Ah! das macht ja gar nichts, wenn man den Kopf offnet! — 
der Dr. N. N. macht alles ganz gut — es entsteht nur eine Narbe, es gibt auch Doktoren, 
die nichts verstehen“ usw. Auf der StraBe sah er einige Male Frauenspersonen, die iiber 
das Gesicht eine Art Maske hatten und horte sich von einer derartig „maskierten“ Frau 
iiber soziale Reformen ausgefragt. SchlieBlich fuhlte sich Patient derart verfolgt und 
lebensunsicher, daB er sich in eine Infanteriekaseme fliichtete und dort um Schutz bat. 
Von dort aus wurde die behordliche Intervention veranlaBt, welche die Cberstellung des 


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Journal f. Psychologie 
und Neurologie. 


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Kranken in die hierortige psychiatrische Klinik am 6. Tage der manifesten Erkrankung 
zur Folge hatte. 

Bei der hierortigen Aufnahme zeigt der Kranke einen gefaBten Angstaffekt, ist 
zu einem geordneten Gedankengange wohl befahigt und hat uber den durchgemachten 
Krankheitszustand ein geschlossenes Erinnerungsvermogen. Er zeigt sich den Anstalts- 
funktionaren gegenuber miBtrauisch, ablehnend und verrat deutliche Sprechunlust. 
Die Orientiertheit ist bis ins Detail intakt, sowohl fur die Zeit als auch fur den Ort, fur 
seine Umgebung und fur seine Situation. Er gibt zu, auch hierorts Stimmen zu horen, 
die ihn ausfragen, kritisieren und ihm Befehle erteilen (z. B.: „du sollst hier dein Testa¬ 
ment machen“), furchtet sich im dunklen Krankenzimmer zu schlafen, verlangt in die 
belichtete Wachstation zuruck. Eine entsprechende Krankheitseinsicht fehlt. Der Kranke 
behauptet, psychisch gesund, nur nervos zu sein und halt an der Realitat der Sinnes- 
tauschungen und der Persekutionen fest. Anamnestisch gibt er an, er habe schon Monate 
vorher an schweren Traumen gelitten und habe hierbei die Empfindung gehabt, als ob 
er von hohen Felsen in die Tiefe hinab falle oder mittelst Flugmaschine hinwegfliege. 
Kurz vor dem Ausbruche seiner Erkrankung habe er eine aufregende Schaustellung be- 
sucht. In der Nacht habe er davon getraumt, wobei die unter Tags im Schaustiicke ge- 
sehenen Bilder eine groteske und veranderte Formen angenommen hatten. Er sei daruber 
auch in Angst aufgewacht und habe nicht mehr einschlafen konnen. Patient, der viel uber 
Spiritismus gelesen hat, glaubt jetzt das Opfer der Spiritisten geworden zu sein. Letztere 
hatten die Verfolgungen inszeniert, hatten ihn hypnotisiert und seine besten Freunde 
gegen ihn aufgehetzt. Das Sehen von Menschen in RiesengroBe mit veranderter Gestalt 
und GroBe halt er auch fur das Werk dieser Spiritisten, und halt daran fest, die Seelen- 
wanderung mit eigenen Augen angesehen zu haben. Veranderungen am eigenen Korper 
oder falsche Vorstellungen uber seine GliedmaBen, bzw. falsche Bewegungsempfindungen 
hat Patient nach seiner Angabe niemals empfunden. Die Merkfahigkeit, das Kom- 
binationsvermogen, sowie der intellektuelle Besitzstand sind im ubrigen in vollem Um- 
fange erhalten geblieben. 

Korperlicher Bef und: Grofler anamischer, korperlich herabgekommener Mann. 
Fahle Hautfarbe. Extremitatenenden kuhl, zyanotisch. Herzdampfung nach rechts 
und links leicht verbreitert. Herzarbeit etwas beschleunigt, rythmisch. Puls uber ioo 
pro Minute, Herztone rein, klappend. Magengegend vorgetrieben, druckempfindlich. 
Leberdampfung nicht vergroBert. t)ber den Lungen diffuse, bronchitische Neben- 
gerausche. Keine Anzeichen eines spezifischen Lungenleidens. Harn ohne EiweiB und 
ohne Nierenelemente. Zunge trocken, fibrillar, stark zitternd; keine ZungenbiBnarben. 
Hande beim Vorstrecken einen schnellschlagigen Tremor aufweisend. Pupillen weit, 
rechts gleich links, rund, prompt auf Lichteinfall, auf Konvergenz und konsensuell 
reagierend. Augenhintergrund normal. Gesichtsfeld desgleichen vollkommen intakt. 
Am peripheren Sehapparate inklusive Augenmuskulatur sind vollkommen normale Ver- 
haltnisse vorzufinden. Keine Nervendruckpunkte. Keine Sensibilitatstorungen. Allent- 
halben gesteigerte Sehnenreflexe, ohne Differenz zwischen den beiden Seiteli. Schleim- 
haut- und Hautreflexe durchwegs erhalten. Volumen, Muskelkraft, Tonus der Extre- 
mitaten- und Rumpfmuskulatur intakt. Keine Koordinationsstorungen. 

In Zusammenfassung des erhobenen anamnestischen und Untersuchungs- 
resultates konnte diagnostisch unschwer das Symptomenbild einer akutenHallu- 
zinose im Sinne Wernickes erschlossen werden. Die diesem psychopathologischen 
Symptomenkomplexe zugrunde liegende alkohol-toxische Hirnerkrankung lieB all- 
gemein pathogenetisch eine Obererregung zentraler Wahmehmungsfelder voraus- 
setzen, sowohl in der kortikalen Wortklangssphare, als auch in optisch-taktilen 
Territorien. Mit der Diagnose: akute Halluzinose stand auch der uberaus giinstige 
Verlauf in Einklang, indem nach Ablauf weniger Tage mit dem Aufhoren der 
Sinnestauschungen, mit Abblassung der konsekutiven Wahnvorstellungen, ferner mit 


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CBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


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richtiger retrospektiver Einschatzung friiherer Situationen und schlieBlich mit einer 
generellen Korrektur seiner krankhaften Zustande vollige Krankheitseinsicht eintrat. 

* * 

♦ 

Die an diesem Kranken beobachteten Storungen in den Leistungen des op- 
tischen Apparates gliedem sich in: 

1. Dysmegalopsie (Makropsie) in Verbindung mit Dyschromatopsie 
und Dysmorphopsie, belebte Raumobjekte betreffend. 

2. Dyschromato-morphopsie und einfache Dysmorphopsie bei nor- 
maler GroBenwahmehmung der belebten Raumobjekte. 

3. Dysmegaloptische und dysmegalo-morphoptische Halluzina- 
tionen. 

* * 

. * 

Die bisher in der Literatur liber die Dysmegalopsie bei Krankheitszustanden 
vertretenen Anschauungen lassen dieselbe einerseits als eine Tauschung der opti- 
schen Wahmehmung, anderseits als eine Stoning des Mechanismus der optischen 
Perzeption erscheinen. In dieser Anschauung fuBten alle Erklarungsweisen fur 
Pathogenese und Mechanismus dieses Phanomens. Die Dysmegalopsie wurde einer¬ 
seits als Funktionslasion im peripheren Teile des Perzeptionsapparates bei physio- 
logisch intakter Zentralfunktion angesprochen. In diesem Sinne kann von einem 
physiologisch bedingten Irrtume die Rede sein, indem beim BewuBtwerden der 
betreffenden optischen Eindriicke eine Reihe normaler und wohlgefestigter asso- 
ziativer Verbande wirksam wird, welche falsche Pramissen zu einem falschen 
Schlusse verarbeiten. Anderseits wurde diese Sehstorung als Folge einer patho- 
logischen Zentralfunktion bei intakten peripheren optisch-motorischen Leistungen 
angesehen. Diese Funktionsstorungen wurden dann auf eine Alteration der 
Wechselbeziehungen zwischen Augenmuskelsphare und rein optischer Projektions- 
sphare zuriickgefiihrt, welche bei normalen Verhaltnissen unter ganz bestimmtem 
Modus sich abspielen. Die Dysmegalopsie im Sinne des physiologischen Irrtumes 
land unter den Ophthalmologen und Neurologen namhafte Interpreten (Donders, 
De Wecker-Landolt, Koster, Aubert, Elschnig, Fuchs, Binswanger 
u. a.). Die interessant gestiitzten SchluBsatze und Hypothesen konnen hierorts 
keine Wiedergabe finden. Allen diesen Autoren gemeinsam ist jedoch die Ansicht, 
daB die Dysmegalopsie in ihrem letzten Ursprung nicht in die Bahn des Optikus 
und in seine zentrale Ausbreitung zu verlegen ist, sondem in den muskularen 
Augenapparat. Diesen allgemein herrschenden Ansichten von der rein motorischen 
Pathogenese stellte Veraguth seine Theorie der Storungen der Dynamasthesie 
fiir das Zustandekommen der perzeptiven Dysmegalopsie entgegen. Es handelt 
sich hierbei im Prinzipe um Storungen der Funktion komplexer zentripetaler Systeme, 
deren eine wichtigeKomponente eben die Dynamasthesie darstellt, d.i. „dieEmp- 
findung vom Muskelkontraktionszustande“ (namlich vom Grade der motorischen 
Innervation) im peripheren Augenapparate. Man versteht demnach darunter die 
vom Muskelkontraktionszustande hernihrenden, zentralwarts geleiteten Reize, 
welche subjektiv als Empfindung des Grades der motorischen Innervation bewuBt 
werden. Geniigende, zum BewuBtsein gelangte dynamasthetische Unterschiede bei 


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Journal f. Pevchologie 
und Neurologie. 


der „Abtastung“ eines Objektes unter ,,Kontrolle der Sehbahnen" (Veraguth) 
liefern dann das Material fur die Schliisse iiber GroBe und Entfemung eines 
Objektes. Bei Stoning der Dynamasthesie (Dynamohypo- und -hyperasthesie) 
entsteht ceteris paribus die Makro- und Mikropsie. Dieser Erklarung fiigt 
Fischer die Bemerkung hinzu, daB Storungen in der Selbstwahrnehmung der 
Starke des zentralen motorischen Impulses bei der Ausmessung des Raumes durch 
das Sinnesorgan zur Erklarung der Dysmegalopsie vollkommen geniigt. Das Zu- 
standekommen dieser Selbstwahrnehmung denkt er sich rein zentral und benotigt 
fur das Zustandekommen nicht die hypothetischen zentripetalen Bahnen, die der 
dynamasthetischen Empfindung nach Veraguth dienen. Zufolge der angenom- 
menen „Muskelsinnesstorungen“ und ihrer Beziehungen zur raumlichen Orien- 
tierung ware nach Veraguth die Dysmegalopsie den Orientierungsstomngen im 
Raume unterzuordnen, zumal klinisch der Nachweis erbracht werden konnte, 
daB es hierbei konsekutiv selbst zu falschen Orientierungsvorstellungen iiber die 
raumlichen Beziehungen der Teile des eigenen Bewegungsapparates und dadurch 
zu abnormen Lage- und Bewegungsempfindungen (z. B. der Extremitaten) kommen 
kann. (Veraguth, Pfister, Hitzig, Charcot.) 

Die Veraguthsche Theorie deutet die Dysmegalopsie als eine Wahrnehmungs- 
storung im weiteren Sinne, gleichviel, ob die Perzeptionsanomalie eine primare 
Storung im Bereiche des peripheren motorischen Apparates in sich begreift oder aber 
eine primare zentrale Affektion bei korrekter peripher-motorischer Leistung darstellt. 
Veraguth und nach ihm Heilbronner betonen ausdriicklich, daB neben rein 
zentralen Anomalien auch organisch und experimentell ausgeloste Erkrankungen 
des Augenbewegungsapparates die gleichen dysmegaloptischen Erscheinungen her- 
vorrufen konnen. In anderen Worten ausgedriickt: die Veraguthsche Theorie 
begreift in sich sowohl die ,,muskulare“ als auch ,,nervose“ Dysmegalopsie 
im Sinne Fischers. 

Das „BewuBtwerden“ der Folgen der eingetretenen dynamasthetischen Ver- 
schiebungen verlegt Heilbronner in kortikale Bezirke, und stimmt mit Sachs 
im allgemeinen uberein, daB hiefiir die Konvexitat des Hinterhauptlappens vor- 
wiegend in Betracht kommt. Analog der gemeinsam lokalisierten Projektion der 
GliedmaBenmotilitat und der GliedmaBensensibilitat in den Zentralwindungen waren 
nach Heilbronner die kortikale Projektion des motorischen Augenapparates 
inklusive Akkomodation, sowohl beziiglich der rein motorischen als auch der sensiblen 
Komponente an identischen Rindenstellen zu suchen. Hitzig betont, daB es sich 
hier um ein durch besonders innige Verkniipfung der einzelnen Teile ausgezeichnetes 
Feld handeln miisse. 

Tatsache ist, daB der ,,nervose Bewegungsapparat der Augen ein mit dem 
Sehapparat sehr prompt arbeitendes Werk vorstellt" (Monakow), und daB nach 
denUntersuchungen von Munk, Schafer, Berger, Sherrington, Mott, Bech- 
terew u. a. die kortikalen Projektionsfelder der Retina mit den wichtigsten kor- 
tikalen Zentren fur die assoziative Augenbewegung und Akkomodationstatigkeit 
zusammenfalien, und diese zusammen wieder mit den die optischen Vorstellungen 
erzeugenden Zentralorganen im innigsten Konnex stehen. 

Fischer trennt die zentralen (,,nervosen“) Dysmegalopsien in zwei Unter- 
arten, in eine kortikale und eine transkorti kale. Die erstgenannte besteht nach 


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UBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


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diesemAutor in einer Stoning in den supponierten kortikalen optischen Projektions- 
gebieten, wahrend die letztere ihrer Ursache nach in transkortikalen (d.i. psychischen. 
Storungen) zu suchen sei. Wahrend die kortikale Dysmegalopsie an anatomisch- 
physiologische Prinzipien gebunden sei, gehorche die letztere nur psychischen 
Gesetzen. Bei der kortikalen Dysmegalopsie gelegentlich vorkommende Hallu- 
zinationen gestalten sich nicht dysmegaloptisch, sind bei der transkortikalen Form 
hingegen in gleicher Art dysmegaloptisch verandert. Die Konklusionen Fischers 
basieren auf der Annahme eines kortikalen Akkomodationszentrums, welches aus 
einem motorischen und einem sensiblen — in engstem Konnex miteinander stehenden 
— Anteile sich zusammensetzt und durch funktionelles Zusammenarbeiten mit dem 
der Registrierung der optischen Eindriicke vorstehenden sensoriellen kortikalen Seh- 
zentrum der GroBeneinschatzung dient. Die Erkrankung dieses Zentrums bedinge 
die Dysmegalopsie, die richtige psychische Verwertung in den ,,hoheren“ Gebieten 
psychischer Funktionen vorausgesetzt. Die bei der kortikalen Dysmegalopsie 
etwaig auftretenden optischen Halluzinationen sind diesen Anschauungen gemaB, 
wie bereits angefuhrt* dysmegaloptisch nicht verandert. 

Die herangezogenen Krankheitsphanomene haben bei Fischer pathogene- 
tisch eine hysterische bzw. traumatisch-psychogene Diathese zur Grundlage. Bei 
toxisch - psychopathischen Hirnerkrankungen ist meines Wissens bislang iiber der- 
artige Phanomenen eine tiefergehende Betrachtung nicht geleistet worden, speziell 
nicht bei der toxischen Halluzinose. Bonhoeffer berichtet zwar von Storungen 
der optischen GroBenschatzung beim Delirium tremens in dem Sinne, daB z. B. 
Langen- und HohenmaBe exzessiv iiberschatzt werden konnen. So z. B. wurde von 
einem Deliranten ein gewohnliches Fenster auf 30 m Hohe geschatzt. Bei genauer 
Untersuchung handelte es sich hier um komplizierte ,,Verkennungen“; sobald der 
Gegenstand richtig erkannt war, wurde auch dessen GroBenschatzung eine annahernd 
richtige. Nach Bonhoeffer findet sich hier aber kein nachweisbarer perzeptiver 
Funktionsausfall vor und darf der Defekt der Wahmehmungsdeutlichkeit Deliranter 
nicht auf den anatomischen Wegen, auf denen schlieBlich die sinnliche Wahmehmung 
zustande kommt, gesucht werden. Von dysmegaloptischen Erscheinungen erwahnt 
Bonhoeffer nichts. In der Literatur sind verstreute Andeutungen iiber toxisch 
bedingte dysmegaloptische Zustande zu finden, z. B. wie schon angefuhrt, beim 
Atherrausch, bei Cannabisvergiftung usw. Ausfiihrliches findet sich dariiber nicht 
vor. Moglicherweise sind hier rein peripher-perzeptive Funktionsalterationen im Spiele. 

Im ersten eigen-beobachteten Falle (transitorischer Alkoholdammerzustand) 
sah der betreffende Patient die Personen seiner Umgebung riesenhaft vergroBert 
undschreckhaft verzerrt, nicht aber die unbelebten Objekte. Trotzder Riesen- 
groBe und Verzerrtheit erkannte er sie trotzdem noch halbbewuBt als seine Kameraden 
und vermochte sie zum Teil richtig beim Namen zu nennen. Von einer elementaren 
Wahmehmungsstorung kann hier wohl nicht die Rede sein, sondern vielmehr von 
einer elektiven Apperzeptionsstorung im Sinne einer traumhaft-illusionaren Ver- 
falschung bestimmter optischer Eindriicke (bei hochgradig desorientierendem Angst- 
paroxysmus). Im Gegensatze hierzu zeigten sich die optischen Phanomene des eigen- 
beobachteten Falles Nr. 2 (ak. tox. Hall.), bei voller Besonnenheit und ungestorter 
BewuBtseinskontinuitat. In Wiederholung des bereits ausfiihrlich dariiber Gesagten 
sei erwahnt, daB der Kranke am ersten Tage der manifesten Krankheit im Freien 


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Journal f. Psychologye 
_ und Ne uroiog ie. 


alle Leute merkwiirdig groB und furchtbar wahmahm; besonders ein dem Patienten 
wohlbekannter Mann erschien ihm in alien Dimensionen riesenhaft vergroBert, 
gedunsen, von dunkelrotblauer Gesichtsfarbe; seinen eigenen Begleiter sah er nicht 
vergroBert, wohl aber merkwiirdig verzerrt. Tags darauf wiederholten sich die Seh- 
storungen, welche stundenlang andauerten und wobei er ^benfalls nur die Lebe- 
we sen vergroBert, gestaltsverandert und verfarbt sah. In den iibrigen Tages- 
stunden erschienen ihm die Lebewesen wie gewohnlich oder hochstens im Gesichte 
fremdartig verandert. Die leblosen S’ehgegenstande behielten GroBe und Form 
bei und waren vielleicht nur in etwas diisteren Farben gehalten. Am vierten Krank- 
heitstage sah Patient abends in seinem Zimmer, bei angeblich erhaltener ortlicher 
Orientiertheit in einer von ihm auf 5—8 m gesdiatzten Entfemung eine Reihe 
abnormal groBer und auch merkwiirdig gestalteter Menschen vor sich, die sich be- 
wegten, sich ihm zukehrten, von ihm abwandten, und wie im Nebel nach riickwarts 
verschwanden." 1 In ganz charakteristischer Weise hielt Patient diese Personen, die 
sich ihm ,,wie in einem lebenden Bilde“ prasentierten, fiir Seelen und brachte ihr 
Erscheinen mit einer seinerzeit gelesenen Broschiire iiber Seelenwanderung in Zu- 
sammenhang. Auch die Erwahnung des Kranken, daB ihm auf der StraBe die Gesichter 
wie von Masken bedeckt vorkamen, sei noch einmal hier wiederholt. 

Zur Beurteilung der das Hauptinteresse beanspruchenden dysmegaloptischen 
Phanomene sind einige psycho-physiologische Erorterungen notwendig. 

DieoptischeErkenntnisbaut sich nachMonakowim allgemeinen auf mehreren 
dynamischen Faktoren auf: 1. Elementare Sinneswahrnehmung; 2. An- 
schauung, d. i. das unmittelbare subjektive Ergebnis der Sinneswahrnehmung 
und Aufmerksamkeit (Einstellung) mit Riicksicht auf das betreffende Einzelobjekt; 
3. Assoziative Einordnung in den BewuBtseinsinhalt nach bestimmten 
Kategorien (Wiedererkennung); 4. Individuelle Auffassung nach Inhalt und 
Kausalitat, d. i. die Beziehung des Gesehenen zur Umwelt und zur eigenen Per- 
sonlichkeit, samt den entsprechenden Begleitaffekten. 

Die optische Anschauung mit samt der assoziativen Einordnung bildet nach 
Wernicke den Begriff der primaren Identifikation des Sehgegenstandes, 
die individuelle Auffassung und das Verstandnis des Sehgegenstandes hingegen den 
Begriff der sekundaren Identifikation. Den Akt der funktionellen Fortleitung 
von den perzipierenden zu den Erinnerun'gszentren rechnet Wernicke der primaren 
Identifikation zu, die transkortikale Fortleitung des, Reizes iiber diese letzteren 
hinaus der sekundaren. 

Beim ,,Sehen“, d. i. dem optischen Erkennen, nehmen wir unter Zuhilfe- 
nahme der Erfahrung iiber die besondere Natur des Sehgegenstandes die wirklichen 
raumlichen Formen und die wirkliche GroBe des betreffenden Gegenstandes und 
nicht die eigentliche Sehform bzw. SehgroBe wahr (Storch). Die GroBe des 
Netzhautbildchens ist ceteris paribus innerhalb gewisser Grenzen irrelevant. (Storch, 
Sachs.) 

Im Ruhezustande befindet sich dasAuge in der Primarlage (Sachs), d. h. im 
Muskelgleichgewichte. Bei Verbringung des Auges in eine sekundare Lage wird es 
in den sogenannten Halbmeridianen des Gesichtsfeldes bewegt. Ist das Auge in eine 
gewisse sekundare Lage (Einstellungslage) gebracht worden, bestimmt der betreffende 
Halbmeridian das gegenseitige Innervationsverhaltnis, der zur Funktion gelangten 


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UBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


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Augenmuskeln und vice versa ein bestimmtes Innervationsverhaltnis von Augen- 
muskeln den zugehorigen Halbmeridian. Ich mochte hier hinzufugen: das gegen- 
seitige Innervationsverhaltnis der auBeren und inneren Augenmuskeln. Der Annahme 
von Sachs und Wernicke nach kommen nun samtlichen Retinapunkten, deren 
,,Lokalzeichen“ durch den betreffenden Halbmeridian und durch die Distanz vom 
Augenmittelpunkte gegeben ist, bestimmte Wahrnehmungsstatten (Zellkomplexe) 
im zentralen Projektionsfelde zu. 

Alle den Netzhautpunkten je eines bestimmten Halbmeridians zugehorigen 
perzeptiven Zellkomplexe haben durchvvegs dieselbe assoziative Verkniipfung mit 
bestimmten Teilen des okulomotorischen Projektionsfeldes. Jede Augenmuskel- 
(inkl. Akkomodations)-Innervation, bzvv. jedes Einstellungsinnervationsverhaltnis 
erzeugt im optisch-motorischen Felde der Rinde eine entsprechende Innervations- 
empfindung und -Vorstellung. Jeder Beziehung eines gesehenen Punktes zu einem 
anderen (ausgedriickt durch die die beiden Punkte verbindende Richtungslinie) 
entspricht die analoge Beziehung der zugehorigen Augenbewegungsvorstellungen 
im optisch-motorischen Rindenfelde. Das Wahmehmungsbild ist demgemaB stets 
mit fixen, bestimmt lokalisierten Augenbewegungsvorstellungen assoziativ ver- 
kniipft (Sachs). Diese Augenbewegungs-(und Akkomodations)-Vorstellungen 
sind es eben, welche in einer gegebenen assoziierten Summe die Auffassung von der 
raumlichen Form und GroBe des Objektes bedingen. Der Vorgang beim Wahrnehmen 
ware demnach der, daB die Beziehung einer Summe von Punkten des Sehobjektes 
zueinander aufgefaBt, d. i. optisch erkannt wurde, welcher Beziehung ein bestimmtes 
gegebenes Verhaltnis der Augenmuskelinnervation entspricht. Es sei hier auf den 
obigen Sat^ nochmal verwiesen, daB alien Punkten je eines Halbmeridians des Ge- 
sichtsfeldes dasselbe Innervationsverhaltnis zukommt. 

Die Augenbewegungsvorstellungen sind aber auch ein wichtiges Konstituens 
bei der Erwerbung der optischen Erinnerungsbilder. Der funktionelle Akt bei der 
Erwerbung ist nach Wernicke 1 ) folgender: Durch synchron oder zeitlich aufein- 
anderfolgende Erregung benachbarter Netzhautpunkte entsteht einerseits eine feste 
Assoziation zwischen den entsprechenden perzipierenden Zellen des Projektionsfeldes 
untereinander; durch die Einstellungsbewegungen des Auges entsteht anderseits 
eine Assoziation der Perzeptionszellen mit den zugehorigen Rindenstatten der 
Augeneinstellungsbewegungen und eine gegenseitige Verkniipfung dieser unter 
sich; der durch eine stetige Wiederkehr von Gesichtswahrnehmungen im Normalen 
bis zur Unloslichkeit gefestigte perzeptiv-okulomotorische Assoziationskomplex ist 
die Voraussetzung des Erinnerungsbildes. Dieses „kombinierte“ Erinnerungs- 
bild von Wernicke: „Gesichtsvorstellung“ benannt 2 ), umfaBt funktionell 
bereits ein Raumbild der Netzhaut und setzt die erfolgte Anbildung von orientierten 
Empfindungen voraus, namlich Empfindungen, die einen bestimmten raumlichen 
Gehalt haben. 

Wenn auch fiir die Entstehung der Gesichtsvorstellungen dieFunktion der 
Perzeptionszellen einen unerlaBlichen dynamischen Faktor, wie Wernicke meint, 
vorstellt, kommt beim Anklingen derselben dieser Faktor nicht mehr in Betracht, 
d. h. es werden hierbei unter normalen Verhaltnissen die Perzeptionszellen, die ersten 

l ) Wernicke (34) III. und IV. Vorlesung. 

*) Nicht im Stillingschen Sinne. 

Journal for Psychologic und Neurologic. Bd. XI. 9 


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DR. H. DI GASPERO. 


Journal f. Psychologic 
und Neorologie. 


Statten optischer Wahmehmung, nicht miterregt. Deshalb unterscheidet sich das 
Erinnerungsbild von dem Anschauungsbilde auch dadurch, daB es nicht wie jenes 
von den zugehorigen ,,Organgefiihlen“ (Wernicke) begleitet wird, mit denen 
iiberhaupt jede elementare Sinneswahmehmung ausgestattet erscheint. Die Gesichts- 
vorstellungen als Erinnerungsvorstellungen an ein assoziatives Verhaltnis im Ge- 
biete des Gesichtssinnes sind nach Wernicke-Sachs auch nicht an Ort und Stelle 
der Wahmehmung, sondern in raumlich davon getrennten Lokalitaten des optisch- 
motorischen Projektionsfeldes reprasentiert zu denken. Hinsichtlich der GroBenauf- 
fassung eines Sehgegenstandes kann in vollem Einklange mit den vorstehenden 
Ausfiihrungen die Theorie Storchs herangezogen werden, die folgendes besagt: 
die in unserem BewuBtsein vorhandene konstante Vorstellung der wirklichen GroBe 
eines bestimmten Objektes ist eine zum Begriffe dieses Objektes streng zugehorige 
potentielle Assoziationseinheit, die bei erfolgter Wahmehmung jedesmal „kinetisch“ 
wird. Die SehgroBe (das ist das Netzhautbild) ist fur die Erkenntnis der wirklichen 
GroBe innerhalb gewohnter Grenzen gleichgiiltig. Sie ist nichts anderes als ein 
,,Agent provocateur" fur die Auffassung der unveranderlichen ObjektgroBe (Storch). 
Es unterliegt gewiB keinem Zweifel, daB die Gesichtsvorstellung auBer der Vor¬ 
stellung der wirklichen Form irgend eines bekannten Gegenstandes auch die seiner 
wirklichen GroBe mitinbegreift, daher ein Wechsel der NetzhautbildgroBe die Ge¬ 
sichtsvorstellung unter normalen Verhaltnissen nicht zu alterieren vermag. 

Die vorgebrachten psycho-physiologischen Erorterungen bilden die Grund- 
lage zur Erklarung unserer in Rede stehenden dysmegaloptischen und dysmorph- 
optischen Phanomene. 

Weil nun unsere beiden Kranken nur ganz elektiv die Lebewesen dysmegalop- 
tisch wahrnahmen und gewohnliche Objekte in normalerWeise optisch verarbeiteten, 
und weil sie ferner selbst diese Lebewesen richtig wiedererkannten, miissen ihnen 
intakte perzeptive Funktionen in der Peripherie und den zugehorigen Rinden- 
endstatten zugemessen werden. 

So kommt es, daB in den beiden Fallen die bei normalen Verhaltnissen des 
perzipierenden Apparates gewonnenen Wahrnehmungsbilder primar richtig identi- 
fiziert werden konnten: es ist also die primare Identifikation der Objektbilder bei 
intakter elementarer Perzeption unversehrt geblieben. Eine normale sekundare 
Identifikation vorausgesetzt, miiBten die so gewonnenen Wahrnehmungsbilder sich 
mit den normal angeregten Gesichtsvorstellungen im Sinne Wernickes vollig 
decken. 

Die Ursache der vorliegenden optischen Storungen kann daher nur in einer 
krankhaft modifizierten „Fortleitung“ bestimmter Gesichtsvorstellungen (krank- 
hafte Verarbeitung der Gesichtsvorstellungen), oder aber in einer funktionellen 
Schadigung dieser letzteren selbst gelegen sein. 

In diesem Sinne fasse ich die dysmegaloptischen Sehstorungen 
als den Effekt einer Alteration der Gesichtsvorstellungen durch eine 
pathologische Transformation normal gewonnener Wahrnehmungs¬ 
bilder auf. 

Der Ort der krankhaften Geschehnisse wird infolgedessen nicht in der Peri¬ 
pherie und auch nicht in den Lokalitaten des optischen Projektionsfeldes, sondern 
in den Statten der optisch-motorischen Erinnerungsbilder zu suchen sein. 


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1908- 


OBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


127 


Ich sage also: Das Wahrnehmungsbild ist normal entstanden, die Mitarbeit 
des Erinnerungsbildes beim Einordnen bestimmter optischer Eindriicke ist patho- 
logisch. Der Effekt ist eben eine Verfalschung (Entstellung) des Anschauungs- 
bildes bestimmter Sehgegenstande im Raume. In eigenartig elektiver Weise betrifft 
bei unseren Kranken diese Entstellung die Anschauungsbilder von Lebewesen, 
namlich Menschen und Tieren. 

Unsere Sehstorungen haben mit jenen kurz gestreiften, to^isch ausgelosten 
dysmegaloptischen Zustanden bei Homatropin- und Physostigmineinwirkung und 
hochstwahrscheinlich auch mit jenen im Cannabisrausch usw. sich einstellenden 
voraussichtlich keine Gemeinschaft. 

DerMechanismus der vorliegenden Sehstorungen ist mit dem Mechanismus jener 
die sekundare Identifikation betreffenden Wahrnehmungsverfalschungen, die Wer¬ 
nicke dem Begriff der psychosensorischen Parasthesien subsumiert, identisch. 
Es konnen demnach auch unsere Storungen des optischen Erkennens als psycho- 
sensorische Parasthesien — das sind Ulusionen einfachster und elementarster Art — 
aufgefaBt werden. Als Illusionen im Sinne von Urteilsillusionen, erzeugt durch Urteils- 
defekte, Kombinationsstorungen oder durch ein krankhaft abgeandertes Sensorium 
diirfen sie aber gewiB nicht ausgelegt werden. Auch nicht als falsche, wahnhafte 
Deutungen ungenauer oder unklarer optischer Sinneswahrnehmungen wie sie speziell 
durch eine angstvoll formierte Affektgrundlage erzeugt werden konnen. Bei unserem 
Patienten (Beobachtung II) bestanden diesbeziiglich—abgesehen von einer Einstellung 
im Sinne eines gefaBten Angstaffektes — normale Voraussetzungen: ungetriibtes 
Sensorium, deutliche Sinneswahrnehmungen, hinreichende Urteilskraft. Die Illu¬ 
sionen unserer Art sind als auBerliche von jenen innerlichen wohl zu differen- 
zieren. Unsere Illusionen . betreffen die Gesichtsvorstellung der Objekte nach 
GroBe, Form undFarbe, jene innerhchen den psychischen Inhalt der Wahmehmung. 
Diese Erwagung erlaubt die Annahme einer eigenartigen Storung der sekundaren 
Identifikation, deren auBerlicher Ausdruck eben durch die dysmegaloptischen 
Phanomene gegeben erscheint. Diese Auffassung wird unterstiitzt durch die 
psychische Verwertung derselben. Der Kranke berichtet bekanntlich, daB ihn alle 
vergroBert erschienenen Personen eigentiimlich starr, hohnisch und feindselig an- 
schauten und dadurch seine Angst nur noch erhohten. Und nicht zu aller- 
letzt: auch das sozusagen stets unzertrennlich mit dem VergroBertsehen mit- 
auftretende Verandertsehen von Form und Farbe spricht zugunsten obiger 
Behauptungen. Auf diese Koinzidenz hat iibrigens schon eine Reihe von 
Autoren hingewiesen. 

Die gegebenen Vorausetzungen ermoglichen ferner auch eine befriedigende 
Erklarung der dysmegaloptischen Halluzinationen. Die optischen Halluzi- 
nationen sind nach Wernicke Erregungen der optisch-motorischen Erinnerungs- 
bilder durch einen krankhaften inneren Reiz mit riicklaufiger Miterregung der 
zugeordneten perzipierenden Elemente. Der krankhafte Reiz, welcher die Statten 
der optisch-motorischen Erinnerungsbilder erregt, erstreckt sich iiber diese hinaus 
auf die Wahmehmungsstatten. Dadurch werden die Erinnerungsbilder (Pseudo- 
identifikation) realisiert, werden zu sinnlich belebten Anschauungsbildem, die in 
den Raum projiziert, daselbst lokalisiert imd gleichzeitig mit den zugehorigen 
Organgefiihlen versehen werden. 

9* 


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DR. H. DI GASPERO. 


Journal f. Paychologie 
und Neurologie. 


Bekanntlich konnen Erkrankungen der Projektionsfelder auch krankhaft ab- 
geanderte Halluzinationen nach sich ziehen, wie z. B. paraphasisch entstellte Wort- 
und Satzbildungen halluziniert werden konnen (Pick, Wernicke). In unserem 
Falle nahmen die in irgend einer Art temporar auf den Wahmehmungsakt patho- 
logisch einwirkenden Erinnerungsbilder auch dementsprechend einen abandemden 
EinfluB auf die Visionen, oder mit anderen Worten: es erfolgte eine gleich- 
sinnige Realisation krankhaftbeeinfluBter(transformierter) Gesichts- 
vorstellungen (d. i. jener kombinierten okulomotorisch-optischen Erinnerungs¬ 
bilder, welche beim Zustandekommen der Halluzinationen ansonst eine den auBeren 
Verhaltnissen entsprechende normale Realisation erfahren). Hier ist die Bemerkung 
einzuflechten, daB im Gegensatze zu den als Halluzinationen spezifizierten Sinnes- 
tauschungen jenen im Vordergrunde des Interesses stehenden dysmegaloptischen 
Phanomenen (Illusionen) ein adaquater reeller Reiz entsprach. Allerdings kann 
angesichts der bekannten Tatsache, daB ein prinzipieller Unterschied zwischen 
Illusion und Halluzination nicht existiert, die hier statthabende illusionare Dysme- 
galopsie mit Ziehen etwa in dem Sinne aufgefaBt werden, daB die patho- 
logische Transformation des Anschauungsbildes in der Weise sich 
vollzog, daB etwas Krankhaftes in die normale Wahrnehmung hinzu- 
bzw. hineinhalluziniert wurde. 

Im Anschlusse daran sei wiederholt, daB der erste hier herangezogene Fall 
(transitorischer toxischer Dammerzustand) ein Musterbeispiel fur eine illusionare 
Dysmegalopsie und Dysmorphopsie unter traumhaft veranderten BewuBtseins- 
verhaltnissen darbietet. Hier hat sich wohl die Verfalschung der Anschauungs- 
bilder im Sinne eines Hineinhalluzinierens in die Wahrnehmung in geradezu klassi- 
scher Weise vollzogen. 

Dysmegaloptische Visionen auf toxischer Grundlage kommen nicht so selten 
vor, und kann man denselben am klinischen Krankenbette wiederholt begegnen: 
Ein etwa 4ojahriger Mann (klinische Eigenbeobachtung), welcher an einer akuten 
Halluzinose der Gewohnheitstrinker mit deliranten Phasen erkrankt war, sah durch 
mehrere Stunden hindurch am Abende eine riesengroBe schwarze Katze vor sich auf- 
tauchen und auf sich zugehen. Patient, der seine Umgebung ansonst richtig auffaBte, 
wurde durch diese Erscheinung (die er fur den leibhaftigen Teufel hielt) hochgradig 
angstlich desorientiert und inszenierte blinde Abwehrbewegungen. Ein anderer 
klinischer Kranker, ein 44jahriger Grundbesitzer, seit Jahren schwerer Trinker, sah 
wahrend eines protrahierten Alkoholdelirs stundenlang erschreckend groBe und graus- 
licheTiere, Katzen von KalbsgroBe, riesengroBe Ratten usw.; die rattenahnlichenTiere 
nahm er bald groBer, bald kleiner wahr, sie wuchsen nach seiner Angabe bis zur 
Mannshohe her a::, schrumpften dann wieder bis zur Winzigkeit zusammen und 
liefen hierbei durch das Fenster ein und aus. Auch das Gegenteil dieser Art dysmegal- 
optischer Visionen, namlich mikroptische, kommt nicht so selten zur Beobachtung. 
Ein Kranker eigner Beobachtung sah wahrend einer euphorischen Phase eines 
Alkoholdelirs eine groBe Menge ganz kleiner, alter, merkwiirdig gekleideter Manner 
in geschaftiger Eile durcheinander wimmeln. Diese Mannchen seien, laut MaBangabe 
des Patienten, hochstens 30—40 cm hoch gewesen; er habe sich darob sehr ver- 
wundert, zumal er eine Menge Bekannter darunter sah; diese Leute seien hierbei 
nicht etwa in weiter Feme, sondern zum Greifen nahe vor ihm gewesen. Ein Deli- 


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1908 ._ 


UBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


129 


ranter Wernickes sah auf einem Tische Pferde und Kanonen in winziger Gestalt 
exerzieren. Ein anderer Kranker Wernickes sah wahrend seines Delirs eine ganze 
Landschaft mit einem FluBe in der GroBe eines Handtellers und darin die Gestalt 
eines badenden Kameraden. 


Es wurde in dieser Arbeit bereits oben darauf hingewiesen, daB Veraguth 
und Heilbronner die Dysmegalopsie unter die Orientierungsstorungen im Raume 
einordnen. — Wenn man darauf eingeht, findet man vollauf befriedigende Stiitzen 
fiir diese Annahme. 

Mit Hartmann 1 ) versteht man unter Orientierung in einem Sinnesraume 
die psychische Verwertung der Beziehung des Organismus zum umgebenden Raume 
nach Richtung und Lokalisation durch Vermittlung der Zentralstatten des einen 
betreffenden Sinnesorganes. Nach seiner Darstellung zerfallt der raumliche Orien- 
tierungsapparat im allgemeinen in eine Reihe von Einzelleistungen. Das periphere 
sensorische Neuron besitzt ein Reflexfeld in niederen (subkortikalen) Hirnteilen, 
woraus periphere zentrifugale (motorische) und zentripetale Bahnen den Ausgang 
nehmen. Diese letzteren leiten die durch die Lageveranderung des peripheren 
Sinnesorganes entstandenen Reizkomplexe (Tiefe-, Lage-, Bewegungsreize) eben 
kortikalwarts. In diesem Teile des raumlichen Orientierungsapparates spielt sich der 
elementare biologische Orientierungsvorgang ab (Hartmann). 

Sowohl die sensorischen als auch die eben gekennzeichneten zentripetalen, 
dem subkortikalen Reflexmechanismus entstammenden Reizkomplexe nehmen in 
der Himrinde einen stetigen EinfluB auf den Ablauf der hier entstehenden zentri- 
fugalen Impulse (Hartmann, Hitzig). So werden bestandig die elementaren 
Orientierungsvorgange durch das Zusammenspiel der sensorischen, sensiblen und 
motorischen Vorgange in der Hirnrinde beeinfluBt. 

Es kommt bei gleichartigen auBeren Reizen (Lange, Breite, Tiefe usw.) zu 
gleichartigen zentralen Vorgangen, bei gleichartigen elementaren Orientierungs- 
vorgangen am Sinnesapparate zu gleichartigen Reizempfindungen, welche Lage 
und Lageveranderung des Sinnesorganes zur Grundlage haben. In dieser Gleich- 
artigkeit und ferner in der Gleichzeitigkeit dieser zentralen Voi^ange — denen 
auch eine analoge Gleichzeitigkeit der auBeren Reizvorgange entspricht — liegt 
ein wesentliches assoziatives Moment fiir das Zustandekommen dessen, was eine 
raumlich orientierte Sinnesempfindung genannt wird (Hartmann). 

Storungen der Endstatten dieses Orientierungsapparates in einem Sinnes- 
systeme fiihren zu einem herdformigen Ausfalle dieser Orientierungsempfindungen. 
Wenn man die Dysmegalopsie unter die einfachen optischen Orientierungs¬ 
storungen im Raume eingereiht wissen will, konnen diese Storungen nicht in jenen 
Endstatten der Rinde zustande kommen, in denen die den orientierten Sinnes- 
empfindungen zugrunde liegenden Vorgange ablaufen. Der hierfiir giiltige Grund 
wurde bereits einmal herangezogen: das elektive dysmegaloptische Wahrnehmen 
bewegter Lebewesen bei normaler optischer Verarbeitung gewohnlicher lebloser Seh- 
gegenstande. 

J ) Hartmann (15) pag. 50 ff. und 65. 


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130 


DR. H. DI GASPERO. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


In unseren Fallen kann es sich demnach nicht um eine herdformige Stoning 
im raumlichen Orientierungsapparate — bzw. seiner Endstatten — handeln, sondern 
einen Zerfall (= Sejunktion) zwischen den Eigenleistungen dieser StStten und ihrer 
Verarbeitung der optischen Eindriicke zur Gesichtsvorstellung Wernickes, bei 
deren Zustandekommen aber auch Elemente von Leistungen des iibrigen Gehirnes 
mit wirksam sein miissen. Die dysmegaloptischen Storungen sind demnach solche 
Orientierungsstorungen, welche durch krankhafte Vorgange jenseits der Endstatten 
des optischen Sinnessystemes, also transkortikal, entstanden gedacht werden miissen. 

Der dem Mechanismus der akuten Halluzinose naturgemaB zukommende 
Affekt von gefaBter Angst und peinlicher Erwartung wurde bei unserem Patienten 
(Beob. II) wahrend der ganzen Krankheitsdauer in wechselnder Intensitat ent- 
auBert. Es ist nun klinisch bekannt, daB die in der Regel massenhaften Phoneme 
und nicht zuletzt auch die etwaig vorhandenen optischen Sinnestauschungen, wie 
z. B. in unserem Falle, den Angstaffekt in ganz erheblichem MaBe propagieren konnen. 
Es ist aber hier auch der von Meynert und von Wernicke wiederholt verfochtenen 
Tatsache der Abhangigkeit des Inhaltes der Sinnestauschungen von der herrschenden 
Affektbasis Raum zu geben, und es muB wohl die Frage aufgeworfen werden, in- 
wieweit diese Abhangigkeit hier zu Recht besteht. Es ist namlich schlechterdings 
nicht ohne weiteres verstandlich, warum in unseren Fallen nur makroptische und in 
bedrohlich verzerrten Formationen gestaltete Sinnestauschungen auftraten und 
nicht auch mikroptische. Jedenfalls ist es von hohem Interesse, die in der Affektbasis 
liegenden wirksamen Faktoren fur die Ausgestaltung der hier in letzter Linie „psy- 
chisch" erzeugten dysmegaloptischen Phanomene kennen zu lernen. Betont ja schon 
Meynert, daB die Affekterscheinungen ein so wichtiges Moment innerhalb der Be- 
wuBtseinsvorgange sind, daB an ein Bestehen des animalischen Lebens ohne dieselben 
gar nicht zu denken ware. BloBe Erinnerungsbilder ohne gleichzeitige Gefiihls- 
wirkungen wiirden sich nur zu unwirksamen Gedankenketten vereinigen. Vielleicht 
lieBe sich das elektive VergroBert- und Verandertsehen von bewegten Lebewesen 
in unseren Fallen mit den die Affektlagen peinlicher Erwartung begleitenden Ab- 
wehrvorstellungen in Zusammenhang bringen. Die elementare assoziative Ver- 
kniipfung und die Wirkungsform dieser letzteren ist bekanntlich eine biologisch 
tief fundierte Tatsache. Vice versa miiBte dann das euphorische Gefiihl Angriffs- 
vorstellungen zur Auslosung bringen und mit denselben unter gegebenen Umstanden 
mikroptische Phanomene nach sich ziehen. — Eine abschlieBende Erklarung hierfiir 
steht wohl noch aus. 

Ich habe es mir angelegen sein lassen, den Wert und die Stellung der in Rede 
stehenden Gattung dysmegaloptischer Phanomene in der Psychopathologie zu kenn- 
zeichnen und einen Beitrag zum Ausbau der Lehre von den Sinnestauschungen 
zu leisten. 

In Zusammenfassung des Gesagten bin ich in der Lage, zum Schlusse folgende 
Konklusionen aufzustellen: 

Die makroptischen (dysmegaloptischen) und mutatis mutandis 
dysmorphoptischen Sehstorungen stellen den Effekt einer krankhaft 
veranderten DynamikderGesichtsvorstellungen(im Sinne Wernickes) 
dar, welcher Effekt in einer pathologischen Transformation normal 
gewonnener Wahrnehmungsbilder besteht. 


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1906. 


CBER DAS PHANOMEN DER MAKROPSIE USW. 


131 


Diese pathologische Transformation betrifft in den vorliegen- 
den Fallen in elektiver Weise die Bilder belebter (bewegter) Raum- 
objekte. 

Im Sinne Wernickes sind diese Sehstorungen klinisch deskriptiv 
als psychosensorische Parasthesien einfachster und elementarster 
Art (d.s. auBere Illusionen) zu bezeichnen und als solche den S tor ungen 
der sekundaren Identifikation zu subsummieren. 

In diesem Sinne liegt den dysmegaloptischen Phanomenen das » 

Moment einer transkortikalen Alteration des raumlichen Orientie- 
rungsapparates im weitesten Sinne des Begriffes zu Grunde. 

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132 


DR. H. DI GASPERO. 


Journal f. Psycholo*i e 
und Neurologie. 


30. Derselbe, Klinische Monatsblatter fiir Augenheilkunde, XXXIX. Jahrg. 1901. 

31. Derselbe, ,,t)ber das raumliche Sehen". Zeitschrift f. Psychologie und Physiologie der 

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33. Voisin, L'epilepsie, 1897. 

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BD. XL HEFT 3 

1908. 


XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 133 


Aus der psychiatrischen Universitatsklinik in Zurich. 

Diagnostische Assoziationsstudien. 

XI. Beitrag: 

(Jber das Verhalten des psychogalvanischen PhSnomens beim 
Assoziationsexperiment. 

Von 

L. Binswanger, 
gewes. Volontararzt. 

(II. Fortsetzung und Schlufi.) 

III. Tell. 

Ausdehnung der im II. Teil gewonnenen Gesichtspunkte 
auf das Gesamtmaterial. 

Reaktionszeit und Galvanischer Ausschlag. 

In diesem Abschnitt soli das gegenseitige Verhalten dieser beiden Kom- 
plexmerkmale im Zusammenhang besprochen und auf weitere Bedingungen 
hingewiesen werden, die zu einem Mifiverhaltnis zwischen den beiden Werfcen 
fiihren. Wir haben aus den milgeteilten Versuchen erfahren, dafi in der Regel 
einer „zu langen“ R.-Z. ein „zu langer“ Ausschlag entspricht. Damit ist er- 
wiesen, dafi mit der Verlangerung der R.-Z. in der Regel 1 ) ein affektiver 
Vorgang einhergeht, und wir werden uns nicht besinnen, mit Jung diesem 
affektiven Vorgang die Schuld an der Verlangerung der R.-Z. zuzuschreiben. 
Von diesem proportionalen Verhalten zwischen R.-Z. und Ausschlag haben 
wir aber auch schon zur Geniige Ausnahmen kennen gelernt, die wir zu einem 
grofien Teil auf den Einflufi eines perseverierenden Gefiihlstones zuriickfiihren 
konnten. Wir sahen, dafi da, wo von einer friiheren Reaktion her ein Gefiihls- 
ton vorhanden ist, bei der darauffolgenden Reaktion (oder den darauffol- 
genden) von einer direkten Proportionality zwischen beiden Faktoren keine 
Rede ist, dafi sich sogar, wenn der perseverierende Komplex sehr stark ist, 
das Verhaltnis umkehren kann, indem die Zeit verlangert, der Ausschlag ver- 
kiirzt werden kann. Die Griinde dafiir glaube ich geniigend beleuchtet zu 
haben. 

Eine zweite, praktisch nicht wichtige, aber theoretisch interessante Ur- 
sache fur die Verlangerung der R.-Z. ohne gleichzeitige Vergrofierung der 
Ausschlage sahen wir in dem Auftreten eines ,,intellektuellen Gefuhls“ im 

*) Ausnahmen werden wir gerade in diesem Abschnitte kennen lemen. 


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*34 


L. BI NSW ANGER. 


Journal f. Psycfcologie 
und Neurologic. 


Sinne Nahlowskys. Es handelte sich um das ,,Gefiihl der Unsicherheit“ 
beim undeutlichen Verstehen des Reizwortes. Es wurde dort schon darauf 
hingewiesen, dafi diese Falle aufierst selten sind, weil die Bedingungen fiir 
das Auftreten rein ,,intellektueller Gefuhle“ nur ausnahmsweise beim Assozi- 
ationsexperiment gegeben sind. Zu dem oben gegebenen Beispiel zahm: 
wild, wo V.-P. zuerst Zahn verstanden hatte, fiige ich hier noch eines, das 
mir einwandsfrei erscheint: 



R.-Z. 

G. A. 

V.-P. XVI (Arzt). R. 14. Schlauch: We in 

21 

7 


(9) 

( 19 ) D 


V.-P. schwankte, ob ich schlau oder Schlauch gesagt hatte. Schliefi- 
lich siegte die letztere Auffassung. Es ist leicht einzusehen, dafi, wenn zwei 
Wortklangbilder auftauchen, von denen keines fiir die V.-P. einen besonderen 
Gefiihlston hat, wie hier, eine gewisse Zeit vergeht, bis V.-P. sich fiir eine 
der beiden entschieden hat. Man konnte von einer „Wahlzeit u reden, die 
hier noch zu der R.-Z. im engeren Sinne hinzukommt. Dieses Schwanken 
hat auch hier keinen affektiven Vorgang erzeugt, da der Ausschlag sich noch 
unter dem W.M. halt. Sehr oft ist die undeutliche Auffassung des Reizwortes 
von einer Wiederholung desselben oder dem Pronomen ,,was“ gefolgt. In 
solchen Fallen wird die R.-Z. besonders lang, da ich den Zeiger der Uhr erst 
anhalte, wenn die Aussprache des eigentlichen Reaktionswortes erfolgt. Fiir 
die Grofie des Ausschlags handelt es sich in solchen Fallen wiederum darum, 
ob mit dem Vorgang der Reizwortwiederholung oder des Fragens ein „in- 
tellektutlles Gefiihl“ oder ein affektiver Vorgang verbunden ist. Auch hier 
ist •gewohnlich das letztere der Fall, doch habe ich auch deutliche Beispiele 
fiir das erstere: 





R.-Z. 

G. A. 

V.-P. XIII. (Warterin). 

R. 

82. eng: End? Anfang 

12 

1 




( 9 ) 

(2) 

V.-P. XII. (Studentin). 

R. 

4. stechen: was? weh 

18 

3 




(11) 

( 5 ) 


R. 

6. lang: was? viele 

26 

3 


R. 

15. Stengel: was? Blume 

27 

5 


Durch Wortschwierigkeit scheint mir folgender Fall von Miflverhaltnis 
zwischen R.-Z. und Ausschlag sich erklaren zu lassen. 




R.-Z. G. A. 

V.-P. XI. (Ungebildeter Mann) 

Salz: Mineral 

18 2 

(9) (2) 


Bei dem Worte Salz sieht man sehr oft verlangerte Zeiten. . Ich kann 
vorderhand die Ursache in nichts anderem sehen als einer gewissen Schwierig- 
keit, passende Assoziationen dafiir zu finden (Pfeffer und bitter sind die 
gebrauchlichsten). V.-P. hatte hier, wie viele Ungebildete, das Reizwort offen- 
bar als Frage aufgefafit. Was ist das Salz? Die richtige Antwort bereitete 
ihm intellektuelle Schwierigkeiten, ohne dafi er sich dabei „aufgeregt“ hatte. 

*) Die Zahlen, die eingeklammert unter R.-Z. und Ausschlage sich befinden, geben die wahr- 
scheinlichen Mittel beider Werte fiir den ganzen Versuch, aus dem die Beispiele entnommen sind, 
an. Nur durch den Vergleich mit den W. M. haben die betreffenden Werte einen Sinn. 


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1906 . 


XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 135 


Auf einer besonderen intellektuellen Arbeit scheint mir zum Teil auch folgende 
Zeitverlangerung zu beruhen. Die Reaktion begegnete uns bei Versuch lie. 
Sie lautet: 



R.-Z. 

G. A. 

R. 82. eng: — Pafi 

35 

2 


( 14 ) 

( 5 ) 


Wir sahen dort, dafi die Reaktion unter dem Einflufl eines perseverieren- 
den Gefiihlstones steht. Trotzdem scheint mir die exzessive Zeitverlangerung 
noch einer Erklarung zu bediirfen. V.-P. wollte sagen: engherzig, was fur 
ihn auBerst gefiihlsbetont war. Um engherzig zu verdrangen und das harm- 
lose (eng)-Pafi zu finden, bedurfte es wieder einer starken intellektuellen 
Arbeit, die durch die Perseveration noch erschwert wurde. 

Immerhin bleibt auffallend, dafi trotz dieser zweifellos von Affekt be- 
gleiteten Verdrangungsarbeit der Ausschlag so gering ist. Ich kann mich 
dem Eindruck nicht verschliefien, dafi hier eine Hemmung der Innervation 

durch die die Aufmerksamkeit der V.-P. so sehr in Anspruch nehmende in- 

tellektuelle Arbeit vorliegt. 

Konnten wir so darauf hinweisen, dafi aufier der Perseveration noch 
hauptsachlich intellektuelle Schwierigkeiten zu einer Verlangerung der Zeit 
ohne Verlangerung des Ausschlags fiihren konnen, so begegnen wir haupt¬ 
sachlich sprachlichen Griinden in denjenigen Fallen, wo der Ausschlag, 
aber nicht zugleich die Zeit verlangert ist. In solchen Fallen handelt es 

sich meist um Komplexe, die sich deswegen in der R.-Z. nicht bemerkbar 

machen, weil die V.-P. eine sprachlich eingeschliffene Assoziation 
fand. Wir sahen, dafi emotive Hemmungen sich nur schwer an solchen 
Assoziationen geltend machen konnen. Das mag ernmal von der starken 
Bahnung zwischen den betreffenden Assoziationen herriihren, die dann rasch 
aufeinander folgen, trotzdem andere Assoziationen mit angeregt werden, sehr 
oft wird der Grund aber darin liegen, dafi die sprachlich eingeschliffene 
Assoziation schon hergestellt war, bevor der Komplex iiberhaupt allgemeiner 
erregt wurde und seinen hemmenden Einflufi in vollem Mafie geltend machen 
konnte. An mir selber konnte ich das oft beobachten. Der Ausschlag, der ja 
viel langsamer erfolgt, wird dann trotzdem noch durch den Komplex beeinflufit. 

Beispiele (samtlichen Reaktionen liegen Komplexe zugrunde!): 


V.-P. XXII. Warter. 


R.-Z. 

G. A. 


R. .61. Gesetz: widrig 

8 

24 



(10) 

( 14 ) 


„ 69. Teil: haben 

8 

20 


„ 75. Familie: Verhaltnisse 8 

25 


„ 82. eng: herzig 

8 

17 


„ 83. Bruder: Liebe 

8 

17 


„ 84. Schaden: Freude 

7 

46 


„ 89. Brand: Ursache 

6 

25 

V.-P. XII. Studentin. 

„ 62. lieb: haben 

11 

9 



(n) 

( 5 ) 

V.-P. XIX. Arzt. 

„ 79. Gluck: haben 

8 

10 



( 9 ) 

( 5 ) 


„ 88. kiissen: gem 

8 

12 

(Er hatte diese Reaktionen haufig bei seinen 

eigenen V.-P. gehort!) 


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136 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


V.-P. II. R.-Z. G. A. 

R. 45. Zahn: -weh 8 53 

( 14 ) ( 5 ) 

V.-P. XVIII. Waiter „ 68. malen: Maler 9 7 

( 14 ) (2) 

Klangassoziationen und Galvanometerausschlage. 

Einwirkung „unbewuflter“ Komplexe auf den Galvanischen 

Ausschlag. 

Ehe wir an die rein statistische Bearbeitung unseres Materials gehen und 
das Feld der Analyse einzelner Reaktionen verlassen, mochte ich nochmals 
ira Zusaramenhange von den Klangassoziationen reden, die uns Geleg*en- 
heit geben werden, die Einwirkung „unbewufiter “ l ) Komplexe auf das 
psychogalvanische Phanomen zu studieren. 

Bei der Analyse des I. Versuches konnten wir nachweisen, dafi diejenigen 
Klangreaktionen, die ihre Entstehung der Ablenkung der Aufmerksamkeit 
durch einen vorausgehenden Komplex, also einem perseverierenden Ge- 
fiihlston, verdankten, einen ,,zu kleinen“ Ausschlag zeigten, diejenigen aber, wo das 
Reizwort selber einen Komplex anregte, einen „zu langen“. Aufierdem konnten 
wir an den Beispielen Krote : spote (R. 51), Wahl : Qual (R. 92) und 
Reue : Treue (R. 38) neben der „anstofligen“ Verbindung'durch Klangassozi- 
ation eine ,,korrekte, tiefergehende Verkniipfung“ zwischen Reiz- und Reaktions- 
wort aufdecken. In alien drei Reaktionen war die Klangassoziation durch 
einen vom Reizwort angeregten Komplex bedingt, bei R. 38 Reue : Treue 
hatte jedoch auch die Perseveration mitgespielt, weshalb der Ausschlag selbst 
nicht iiber dem W.M. war. Dafiir deutete sich der an der Stoning beteiligte 
Komplex galvanometrisch in dem nachtraglichen Steigen der Kurve an. Da, 
wo ein perseverierender Gefiihlston die Ablenkung und damit die Klangasso¬ 
ziation bewirkt hatte, war auch keine tiefergehende Verkniipfung nachweisbar 
(R. 32 ringen : schwingen, R. 37 Schmalz : Hals und R. 52 scheiden : 
meiden. Es hat sich nun gezeigt, dafi das, was wir an dem I. Versuch 
konstatieren konnten, auch bei den Klangassoziationen der iibrigen Versuche 
zu erkennen war. Lehrreich ist gerade die Zusammenstellung derjenigen 
Falle, wo, wie bei V.-P. I, auf scheiden : meiden reagiert wurde. Von 
14 V.-P., denen das Reaktionswort scheiden zugerufen wurde, reagierten 5 init 
meiden. 

Es seien zuerst die beiden Falle genannt, wo die Perseveration einwirkt, dann die 


3, wo Komplexe einwirken. 





R.-Z. 

G. A. 

V- P. I. R. 

52. scheiden: 

meiden 9 

8 



( 9 ) 

(8) 

V.-P. XXIII. Arzt. R. 

52 . 

» n 

6 



(H) 

( 7 ) 


l ) Wir werden sehen, daft es sich hier nicht am unbewufite Komplexe im Sinne Freuds 
handelt, sondern nur urn verdrangte Komplexe, d. h. solche, die einmal im Bewufitsein waren 
und jederzeit wieder ins Bewufitsein treten konnen. Sie waren nur unbewufit zur Zeit des Experi- 
mentes und mehr oder weniger lang nachher. Unter unbewufiten Komplexen im strengen Sinne 
versteht Freud solche, die der Person nie bewufit waren und die nur durch Psychanalyse ins 
Bewnfitsein gehoben werden konnen. 


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1908 . 


XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 137 


In diesen beiden Fallen hat ein perseverierender Gefuhlston die StSrung bewirkt. 
Bei V.-P I riihrte dieser von der unmittelbar vorangegangenen Reaktion Krote: spote 
her, die, wie wir sahen, einen sehr starken Komplex angeregt hatte. Bei V.-P. XXIII ist 
die Perseveration ebenfalls sehr deutlich. Sie ruhrt her von 

R.-Z. G. A. 

R. 50. ungerecht: gerecht n 13 

(”) (7) 

Darauf folgen 

R. 51. Frosch: Wasser 12 5 

R. 52. scheiden: meiden 11 6 

Der Komplex in Reaktion 50, der bei R. 51 und 52 perseveriert, zeigt sich objektiv 
in dem langen Ausschlag. Die R.-Z. ist, wie so oft, erst in der darauffolgenden R. 51 
verlangert. Subjektiv wurde der Komplex vollauf bestatigt, indem V.-P. angab, dafi er viel 
gegen Ungerechtigkeiten habe ankampfen mussen und einen starken Gerechtigkeitskomplex 
besitze. In den 3 anderen Fallen von den ffinfen, wo ein Komplex zugrunde lag, sind 
die Ausschlage (auf die es uns hier aber ankommt) sehr deutlich verlangert, die Zeiten 
dagegen nur in einem Fall. 

R.-Z. G. A. 

V.P. XII. Studentin. R. 52. scheiden: meiden 19 12 

(11) (5) 

Hier zeigen beideWerte den Komplex an. V.-P. erklarte sofort, sie habe bei dieser 
Reaktion an eine von ihr sehr geliebte Freundin gedacht, die vor kurzem durch ihre Heirat 
ZQrich verlassen mufite. Diese Freundin, vielmehr ihre Hochzeit, spielt auch sonst in dem 
Experiment eine groBe Rolle. 

R.-Z. G. A. 

V.-P. IV. gebildete Dame. R. 52. scheiden: meiden n 15 

(11) (5) 

Einer der seltenen Falle, wo die durch einen Komplex bedingte Klangassoziation 
ohne ersichtlichen Grund keine verlangerte Zeit aufweist. Der Ausschlag, der das Drei- 
fache des W. M. betragt, spricht aber deutlich genug. Der Gefuhlston ruht hier auf meiden. 

R.-Z. G. A. 

V.-P. XIX. Referent. R. 52. scheiden: meiden 8 8 

(9) (5) 

Die kurze R.-Z. erklart sich dadurch, dafi die Reaktion bei mir eingeschliffen ist 
durch die eigenen Versuche. Trotzdem bricht der Komplex durch und ist objektiv am 
Galvanometer kenntlich. Auch hier liegt der Gefuhlston auf meiden. 

Zur Ubersicht stelle ich die Reaktion zusammen: 




R.-Z. 

G. A. 


V.-P. I. scheiden: meiden 

9 

5 




v 9 ) 

(8) 

[ Klangassoziationen 

V.-P. XXIII. 

n r> 

11 

6 

| durch Perseveration bedingt. 



(12) 

( 7 ) ■ 


V.-P. XII. 

n r> 

19 

12 




(ID 

( 5 ) 


V.-P. IV. 

n r 

11 

15 

Klangassoziationen 



(11) 

( 5 ) 

durch Komplex bedingt. 

V.-P. XIX. 

v n 

8 

8 




( 9 ) 

( 5 ) . 



Inmeinem Material finde ich zwei mal den Reim: stechen: brechen, beideMale mit 
kurzer Zeit und kurzem Ausschlag. Es war kein Komplex zu eruieren, der bei der Asso- 
ziation angeregt worden ware, aber auch kein perseverierender Gefuhlston von einer vorher- 
gehenden Reaktion. Das Reizwort stechen findet sich aber an 4. Stelle in unserm Reiz- 
wdrterformular, also ganz im Anfang, wo die Aufregung iiber das Experiment noch vorhanden 
und die Einstellung auf den Sinn der Reizworte daher erschwert ist. Wenn man will, kann 
man auch hier sagen, die AblenkungderAufmerksamkeit ist bedingt durch einen perseverierenden 


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und Neurologic. 


Komplex, namlich den, der die auf das Experiment sich beziehenden Vorstellungen zum 
Inhalt hat. 

Folgendes Beispiel soil noch einmal den Einflufi der Perseveration auf die Klang- 
assoziationen zeigen. Die W. M. sind 17 und 10. 

V.-P. XV. Studentin. R.-Z. G. A. 

R. 11. jung: alt 24 28 

(17) (IO) 

„ 12. fragen: Antwort 23 29 

„ 13. Staat: Rufiland 12 7 

„ 14. trotzig: -kopf. 14 10 

„ 15. Stengel: Engel 13 5 

In Reaktion 11 waren 2 starke Komplexe angeregt, deren Inhalt fur die V.-P. von 
grofier Wichtigkeit war und noch ist. In Reaktion 12 wird derGedanke an das bevorstehende 
Doktorexamen wach, das der V.-P. Anlafi genug zur Affektentwicklung gibt. Reaktion 13 
zeigt nichts Besonderes. Reaktion 14 ist sprachlich-motorisch. Nur das Klangbild Trotz 
wird aufgefafit und dann zu dem Worte Trotzkopf erganzt. Die Oberflachlichkeit dieser 
Assoziation weist deutlich auf die Ablenkung der Aufmerksamkeit hin, die sich in der 
Klangassoziation 15 wiederum zeigt. Infolgedessen ist der zugehorige Ausschlag auch nicht 
vergrofiert, vielmehr betragt er nur die Halfte (5) des W. M. (10). 

Bei den bisher erwahnten Klangassoziationen mit „zu langem* Ausschlag war der 
V.-P. der Komplex noch wahrend der Reaktion bewufit geworden (s. Krote: spote, 
Wahl: Qual, scheiden: meiden.) Nun finde ich aber in meinem Material noch einige 
auffallende Klangassoziationen, die einen deutlich verlangerten Ausschlag zeigen, ohne dafi 
V.-P. irgend welche Angaben machen konnte, dafi die betreffende Reaktion mit einem 
gefiihlsbetonten Erlebnis, einem Komplex iiberhaupt, zusammenhinge. 

Wie ich, abgesehen von V.-P. I, nur wenige Klangassoziationen bei meinen 
Versuchen erhalten habe, so handelt es sich auch im folgenden nur um einige 
wenige Beispiele, von denen mir aber jedes einzelne Interesse beanspruchen 
zu diirfen scheint. Durch sie kann noch einmal gezeigt werden, welch grofie 
Bedeutung das Unbewufite fiir die Assoziationstatigkeit hat. Die Bedeutung 
des Unbewufiten fiir die Assoziationstatigkeit ist aus den Arbeiten Freuds 
am deutlichsten zu ersehen (siehe aufier der Traumdeutung vor allem: Zur 
Psychopathologie des Alltagslebens und: Der Witz und seine Beziehung zum 
Unbewufiten. Wien. Deudicke 1905) J ). Hier soli ein Versuch gewagt werden, 
den Einflufi eines unbewufiten oder, wie wir besser sagen wollen, eines ver- 
drangten Komplexes auf die Affektentwicklung, mit anderen Worten auf die 
korperlichen Innervationen, nachzuwcisen. Auch hierfiir hat Freud schon 

*) Vgl. auch Bleuler: BewuBtsein und Assoziation, V. Beitrag der Diagn. Assoz.-Stud. Femer 
Jung und Riklin I. Beitrag S. 66 und Jung IV. Beitrag S. 211. Siehe auch Jung: „Zur Psychologie 
und Pathologie sog. okkulter Phanomene. 44 Leipzig. Mutze 1902. In der jiingst erscbienenen Arbeit: 
t)ber die Psychologie der Dementia praecox sagt Jung, nachdem er von dem EinfluB des Kom¬ 
plexes auf die Assoziationstatigkeit gesprochen: r Theoretisch wichtig ist dabei, dafi der Komplex 
nicht notig hat, bewuBt zu sein. Er kann auch aus der Verdrangung eine aufmerksamkeitsstorende 
Hemmung ins BewuBtsein senden; er kann mit anderen Worten die inteUektuelle Leistung des.Bewuflt- 
seins aufhalten (verlangerte Reakdonszeit!), verunmoglichen (Fehler!) oder in ihrer Werdgkeit herab- 
setzen (Klangreaktionen!). Siehe femer die Studien zur Assoziationslehre von Miinsterberg (Bei- 
trage zur Experimentellen Psychologie, Heft 4, S. 1. Freiburg i. B. 1902) und die eingehende Arbeit 
von Scripture: Dber den assoziadven Verlauf der Vorstellungen (Wundts Phiiosoph. Studien 7. Bd. 
S. 50). f)ber die Berechdgung von unbewuBten psychischen Vorgangen zu reden und uber die Rolle, 
die diese in unserem Seelenleben spielen, siehe auch Lipps: Leitfaden der Psychologie (Leipzig 1903) 
S. 37 ff M Hoff ding: Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung (3. deutsche Ausgabe 
Leipzig 1901) S. 99 ff. und Ebbinghaus: Grundziige der Psychologie I. Bd (Leipzig 1905) S. 54 ff. 


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1908 . 


XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 139 


die theoretische Grundlage geschaffen. (Siehe seine Neurosenlehre.) In der 
Traumdeutung sagt er S. 343: ,,Dieselbe (namlich die Aflfektentwicklung) wird 
als eine motorische oder sekretorische Leistung angesehen, zu welcher der 
Innervationsschliissel in den Vorstellungen des Unbewuflten gelegen ist“. 

Bevor ich auf die Beispiele naher eingehe, mochte ich einige Bemer- 
kungen iiber unsere Methode hinzufiigen. Weicht sie doch in manchem 
von der bis jetzt in der experimentellen Psychologie iiblichen ab. In den 
Grundziigen der physiologischen Psychologie sagt Wundt bei der Besprechung 
der Methode der Gefiihlsanalyse (Bd. II, S. 271 ff.): „In alien Fallen bleibt 
iibrigens zu beachten, dafl die vasomotorischen wie die respiratorischen Sym- 
ptome an sich nur Zeichen von Innervationsanderungen in den Atmungs-, 
Herz- und Gefaflnervencentren sind, dafi sie aber an sich weder liber die in 
der Mechanik der Nervencentren begriindeten Ursachen dieser Symptomc, 
noch liber die weiteren physiologischen Zusammenhange der betreffenden 
Innervationen etwas aussagen. — Vielmehr haben alle diese Symptome zunachst 
ihren psychologischen Wert lediglich darin, dafi sie objektiv nachweisbare Er- 
scheinungen sind, die, sofern sie bestimmte Gefiihlsvorstellungen regelmafiig 
begleiten, in ihren Unterschieden Hinweise auf entsprechende psychische Unter- 
schiede erkennen lassen. Dabei darf man aber niemals vergessen, dafi sie 
eben nur solche Hinweise, nicht im allergeringsten jemals Beweise sind. 
Wo die subjektive Beobachtung nicht das Vorhandensein eines be- 
stimmten Geflihls unzweideutig erkennen lafit, da kann man natiir- 
lich aus einer noch so grofien Haufung objektiver Erscheinungen 
nicht auf dasselbe zuriickschliefien. (Dieser Satz ist von mir hervor- 
gehoben!) Immerhin lehrt die Erfahrung, dafi Spuren von Gefiihlen der sub- 
jektiven Beobachtung entgehen konnen, solange nicht durch besondere Motive 
die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt wird.“ 

Was hier von den vasomotorischen und respiratorischen Symptomen 
gesagt ist, mllfite sich auch auf die galvanometrischen beziehen, liber deren 
physiologische Grundlage wir indes noch nichts Sicheres wissen. Nach obigen 
Auseinandersetzungen Wundts miifite man es daher von vornherein als ein 
verfehltes Beginnen ansehen, die Beziehungen unbewufiter Komplexe, deren 
Vorhandensein sich der Selbstbeobachtung entzieht, zu korperlichen Sym¬ 
ptomen aufzudecken. Es wird aber auch sonst aufgefallen sein, dafi wir als 
Kontrolle fur den Zusammenhang der galvanometrischen Unterschiede mit 
psychischen Unterschieden in letzter Linie oft nicht auf das Vorhandensein 
eines subjektiv konstatierten Geflihles abstellten. Beim Assoziationsexperiment, 
wo so rasch hintereinander die verschiedensten Geflihle miteinander ab- 
wechseln, sich steigern oder hemmen, sind die subjektiven Angaben liber die 
Natur oder Starke dieser Geflihle auflerst unzuverlassig. Es bedarf ja so 
aufierordentlich grober Gefiihlsunterschiede, damit wir sie durch Selbstbeob¬ 
achtung unterscheiden konnen, qualitativ und quantitativ. Wund gibt oben 
selbst zu, dafi Spuren von Gefiihlen der Selbstbeobachtung entgehen konnen. 
Ich glaube, dafi das Galvanometer, obwohl der Shunt die Stromschwankungen 
ganz erheblich dampft, ein viel feineres Reagens fiir quantitative Gefiihlsunter¬ 
schiede ist! Als subjektive Kontrolle diente uns, wie zur Geniige aus dem 


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140 

bisher Gesagten hervorgehen diirfte, der Nachweis, dafl eine Reaktion, die 
von einem zu langen Ausschlag begleitet war, zu einem gefiihlsbetonten Kom- 
plexe gehort. In der Mehrzahl der Falle fiihlt V.-P. die Konstellation und 
erkennt sie oft rasch, oft auch erst nach einigem Nachsinnen. Wo nun aber 
der subjektive Nachweis eines solchen Zusammenhanges nicht geleistet werden 
kann, da bleibt uns noch ein objektives Mittel, denselben aufzudecken. Es 
ist die von Freud der Psychologie geschenkte Methode der Psychanalyse. 
Sie hat iiberall da einzusetzen, wo uns der von der V.-P. gegebene Aufschlufi 
iiber eine Reaktion ungeniigend erscheint (siehe z. B. die Reaktion 3 Wand : 
Stern bei V.-P. I) und vor allem da, wo die Komplexe aus der Verdrangung 
heraus, also ohne dafl der V.-P. ihre Wirkung bewufit wird, die Assoziation 
beeinflussen. In der Annahme, dafl auch unbewuflte psychische Vorgange 
korperliche Innervationsanderungen hervorrufen konnen, wird uns der bekannte 
Satz Lehmanns, dafl ein auflerer Reiz bis zum Bewufltsein durch- 
dringen mufi, um organische Reaktionen hervorzubringen, nicht irre 
machen 1 ). Setzt er doch Bewufltsein = Psyche. Von diesem Standpunkt 
aus kann er natiirlich nur zu dem Schlufl gelangen, dafl, wenn ein bestimmter 
auflerer Reiz im Individuum keinen bestimmten Bewufitseinszustand erzeugt, 
auch die organischen Reaktionen unterbleiben 2 ). Da Lehmann offenbar nur 
einen psychische n Vorgang verlangt, damit organische Reaktionen ent- 
stehen, wir aber auch unbewuflte psychische Vorgange anerkennen, so fallt 
der Widerspruch unserer Annahme mit dem obigen Satze Lehmanns dahin 3 ). 

Das erste Beispiel stammt von einem Arzte (V.-P. XVI), der mir in liebenswiirdiger 
Weise alien wiinschenswerten Aufschlufi dariiber gab. Hier gelang es der V.-P. selber, 
nach einiger Zeit den wahrend und noch einige Stunden nach dem Experiment verdrangten 
Komplex aufzudecken. Die Reaktion lautet: 

R.-Z. G. A. 

qualen: Quelle 9 15 

(9) (9) 

Die R.-Z. hat denselben Zahlenwert wie das W. M., der Ausschlag ist aber betracht- 
lich vergrofiert. Er mufi sofort darauf hinlenken, eine defer gehende inhaltliche Ver- 
kniipfung zwischen qualen und Quelle aufzusuchen. Bei der Analyse fallt der V.-P. nur 
ein, dafl er kiirzlich in der StadtB. war mit einer Patientin, die dort operiert werden 
sollte. Da diese Reise nach B. in den Assoziationen der V.-P. auch an anderen Stellen 
ofters vorkommt, ohne eine Vergroflerung des Ausschlags zu verursachen, konnte diesem 
Einfall keine Bedeutung beigemessen werden. Es wird sich jedoch zeigen, dafl die 
Stadt B. auf den Komplex hinweist. Jedenfalls wufite V.-P. nicht, wie er zu 
dieser Assoziation kam, und seine Selbstbeobachtung liber irgend ein bestimmtes Ge- 

J ) Siehe Lehmann: Die korperlichen Auflerungen psychischer Zustiinde. Dbersetzt von 
Bendixen, I. Bd. S. 158, Leipzig 1899. 

*) Siehe D. Bd. S. 313 ff. 

8 ) Genau genommen gelangt auch in den jetzt zu besprechendeu Fallen der Reiz, das Reiz- 
wort, zum Bewufltsein. Die V.-P. reagieren ja mit einem andern Worte daraut, erinnem sich nach- 
her an das Reizwort usw. Was nicht zum Bewufltsein gelangt, das ist die Beziehung des Reizes 
zu einer bestimmten fiir die V.-P. sehr bedeutungsvollen VorsteUungsmasse. Und auch an diesem 
Satz mufl noch eine Einschriinkung vorgenommen werden. Oft wird den V.-P. eine Beziehung zu 
irgend einem Komplex mehr oder weniger deutlich bewuCt, in dem sie bei solchen Reaktionen ein 
„Gefiihl von Hemmung“, eine gewisse Unsicherheit, „die Reaktion konnte sich auf einen Komplex 
beziehen w , verspiiren. Was ihuen aber durchhaus mc r ! bewuflt wird, das ist der Komplex selber, 
sein Vorstellungsinhalt. 


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und Neurologie. 


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XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 141 


fiihl wahrend der Reaktion versagte. Da es an Zeit mangelte, mufite von einer eingehenden 
Psychanalyse abgesehen werden. Ich war daher sehr erfreut, als mir der Kollege am 
anderen Tag die Losung schriftlich mitteilen konnte. Es war ihm noch im Laufe des 
Abends eingefallen, dafi Quelle: = fons amoris („sempitemi fons amoris 44 ) friiher eines 
seiner „Komplexsymbole 44 gewesen sei. Es handelt sich um einen starken „Junggesellen- 
komplex 44 , der fur V.-P. damals, als er in jener Stadt B. lebte, zur Quelle vieler 
Qualen wurde. Die Worte ,,Sempiterni fons amoris 44 waren ftir beide Teile das 
Symbol der Freundschaft geworden und dienten auch als Grufiformel. Erst recht deutlich 
wird die Sache, wenn wir die ganze dem Scheffelschen Studentenliede entnommene Strophe 
betrachten, deren Anfang obiger Vers darstellt: 

Sempiterni fons amoris, 

Consolatrix tristium, 

Pia mater Salvatoris, 

Ave virgo virginum. 

Dafi fons amoris auch einen konkreten Sinn hat, braucht nur angedeutet zu werden. 
Interessant ist, dafi der Kollege jahrelang nicht mehr an diese Episode seines Lebens ge- 
dacht hatte, und dafi sich diese zuerst in den Traumen wieder bemerkbar machte, als er 
sich verheiratet hatte (etwa ein halbes Jahr vor dem Experiment). Durch die Heirat hatte 
der Komplex zunachst im Unbewufiten einen Zuwachs an Assoziationen erhalten, die ihn 
zuerst im Traume und alsdann auch im wachen Bewufitsein die „Zensur“ iiberwinden liefien. 

Die beiden nachsten Beispiele habe ich selbst geliefert. 

R.-Z. G. A. 

R. 28. drohen: Drohne 14 19 

(9)' (5) 

Die R.-Z. und der Ausschlag sind auffallend verlangert. Wahrend der Reaktion 
war mir kein Komplex bewufit, ich hatte auch kein deutliches Gefuhl dabei. Nachdem 
jch das Reaktionswort ausgesprochen, wunderte ich mich daruber, da es ein mir ganzlich 
femliegendes und kaum je von mir ausgesprochenes Wort darstellt. Ich konnte auch zu¬ 
nachst gar keine weitere Assoziation daran knupfen, und gab es auf, einen Sinn fur diese 
Reaktion zu finden. Erst zwei Monate spater, als ich von einer I4tagigen Reise zuriick- 
gekehrt war und meine Assoziationen wieder vornahm, wurde mir der Sinn des Wortes (ohne 
dafi ich jetzt darnach gesucht hatte) klar, und zwar im selben Moment, wo mein Auge auf 
die Reaktion fiel: die Drohne bin ich selbst! Meine Kollegen hatten mich oft damit 
geneckt, dafi ich so wenig auf den Abteilungen erscheine und ihnen keine Arbeit abnahme. 
Ich hatte mich namlich nach und nach ganzlich auf die wissenschaftliche Arbeit beschrankt. 
Von jenen Neckereien blieb aber immer etwas bei mir hangen. Aufier der vollstandigen 
inneren Gewifiheit, die ich beim Entdecken dieses Zusammenhanges verspurte, spricht auch 
der Umstand fQr die Richtigkeit der Deutung, dafi ich sie erst dann fand, als infolge einer 
Reise, auf der ich viele neue Eindriicke empfangen, meine psychologische Konstellation 
eine andere geworden war, womit sich auch die inneren Widerstande verschoben hatten. 
Aufierdem war auf der Reise mein reales Interesse an der Rolle, die ich in der Anstalt 
spielte, in den Hintergrund getreten (vgl. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens 
S. 84). Am ersten Tage nach der Riickkehr hatte der Komplex jedoch neuen Aflfekt- 
zuwachs erfahren, als ich die angestrengte Tatigkeit der Kollegen mit meinem Leben 
wahrend der Reise verglich. 

Mein Komplex hat die Gelegenheit wahrgenommen, durch einen Assimilations- 
prozefi das Reizwort sich anzueignen und sich zu manifestieren, in ahnlicher Weise, wie 
alle die anderen Falle von Verlesen, Versprechen usw., die Freud so meisterhaft be- 
schrieben hat. 

Drohen ist ein allgemein unlustbetontes Wort, zudem noch etwas schwierig zu be- 
antworten. Aus diesen Umstanden ergeben sich genug hemmende Momente. Diesen Augen- 
blick der Stockung kann der Komplex benutzt haben. Auf dasselbe Reizwort hat eine 
meiner V.-P. mit trocknen reagiert. In diesem Falle, wo nur die Zeit, aber nicht der 
Ausschlag vergrofiert ist, ist mir ein Grund fur das Auftreten des Wortes trocknen nicht 
klar geworden (es liegt ja sicherlich einer vor), dagegen wurde drohen ganz energisch 

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L. BINSWANGER. 


Journal t Piychologie 
und Neurolo gic. _ _ 


abgewehrt, da der V.-P,, einer Warterin, die Entscheidung Qber ihre Verlobung drohte, 
die aus vielfach ^leterminierten Griinden ihr viel Aufregung bereitete. 

Ebenfalls erst nach jener Reise gelang mir die Auflosung der Klangassoziation: 

R.-Z. G. A. Repr. 

R. 73 bos: Ol 9 13 (Besinnen) 

( 9 ) ( 5 ) 

Die Assoziation findet sich in folgender Umgebung: 



R.-Z. 

G. A. 

Repr. 

71. kochen: Kiiche 

7 

3 


72. Tinte: Fisch 

9 

S 

schreiben. 

73. bos: Ol 

9 

i 3 

(Besinnen) 

74. Nadel: Ohr 

9 

4 

Stich 

75. schwimmen: Stich 

9 

10 



Die gehauften Reproduktionsstorungen, die unsinnige Klangassoziation b6s: Ol, das 
Perseverieren der bei Nadel angeregten Assoziation Stich bei Schwimmen, deuten auf eine 
schwere Stoning der Aufmerksamkeit. Diese ist einmal bedingt durch einen gewissen Grad 
von Ermudung, in dem ich mich im Momente des Experimentes befand, zweitens aber 
durch mehrere Komplexe. Ich war wahrend dieses Abschnittes des Experimentes gleich- 
sam der Zuschauer, der die Assoziationen wie automatisch an sich voruberziehen liefi- Erst 
bei der Reaktion schwimmen: Stich, die mir gar zu unsinnig vorkam, ergriff mich ein 
deutliches Unlustgefuhl. Der Ausschlag ist dementsprechend hier vergrdfiert. Im Mittel- 
punkte des Interesses steht die Klangassoziation bos: Ol 1 ), die ebenso automatisch erfolgte 
wie die ubrigen (die R.-Z. ist nirgends uber dem Mittell) und erst spater mein Interesse 
wachrief, als ich auf die Wirkung verdrangter Komplexe auf die korperlichen Innervationen 
aufmerksam wurde. Trotz mancher Ansatze kam ich aber anfangs nicht weiter in der Ana¬ 
lyse. Erst nach der erwahnten Reise, als mir die ganz vergessene Assoziation wieder vor 
Augen kam, fuhlte ich deutlich, dafi ich, um die Losung zu finden, dabei etwas iiber- 
setzen miisse. (Ich mochte an dieser Analyse zeigen, wie das Unbewuflte an* der Auf- 
losung beteiligt ist, und jede willkurliche Deutungsarbeit ausgeschlossen ist.) Der Wider- 
stand war aber noch so grofi, dafi mir der richtige Eihfall nicht kam. Ich tappte noch 
ganz im Dunkeln, indem ich Ol in oleum, oeil, oil iibersetzte (immerhin schon ein An- 
satz, sich von dem Laut 6 freizumachen!), dann bos und Ol zusammenzog und 
mit franzosischer Orthographie schrieb, so dafi ich beuseul, seul, beul und 
ahnliche meist ganz unsinnige Worte erhielt. Wir werden nachher sehen, dafi ich das 
richtige Verfahren einschlug, um die Losung zu finden, dafi ich mich aber in der Wahl 
dessen, was iibersetzt, zusammengezogen und franzosisch geschrieben werden mufite, ver- 
griff. Auffallend ist, dafi ich bei diesen Versuchen schon auf das Wort Vesoul stiefi, 
eine Station zwischen Basel und Paris. Da aber noch andere Widerstande zu uberwinden 
waren, konnte ich auch mit Paris noch nichts anfangen (s. spater). Ich stand dann von 
der Sache ab, in der Meinung, hier seiwirklich nichts aufzulosen. FQnfTage spater zog es 
mich wieder zu dieser Assoziation zuriick. Sofort kam mir jetzt der Einfall, der den Ein- 
bruch ins Unbewufite bedeutete und den Hauptwiderstand brach. Bei bos, das ich bisher 
ganzlich vernachlassigt hatte, indem ich alles Gewicht auf Ol legte, und das ich auch gar 
nicht zu ubersetzen versuchte, womit ich ebenfalls dem Ziele naher gekommen ware, fiel 
mir der Eigenname Bofi ein (dazu hatte ich zwei Monate gebrauchtl), und damit trat mir 
mit grofier sinnlicher Klarheit eine Situation vor Augen, die vor 1 l / a Jahren stattgefunden : 
Wie ich bei Herm Bofi, einem Lederhandler in X, einen Koffer kaufte und wie dieser 
im letzten Moment mein Monogramm mit einer schwarzen Fliissigkeit (siehe vor- 
hergehende Reaktion Tinte: Fisch, Reproduktion schreiben) auf den gelben Koffer 
in lateinischen Lettern schrieb. Zugleich wurde mir bewufit, dafi ich mit dem Klang- 
bild 0 immer einen gelben Farbenton assoziierte. (Am Tag nach diesem Kaufe reiste 
ich nach Paris, was mir jedoch erst spater einfiel.) Schon hier war mir aber klar, dafi Ol 
nichts anderes als „el a (L) bedeutete, das klanglich an bos assimiliert wurde. Der Kom- 

l ) Ich hatte beim Aussprechen des Wortes Ol nicht im entfemtesten den Vorstellungs- 
In halt desselben im Bewufitsein, sondern nor das Klangbild. 


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1908. 


XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 143 


plex war noch nicht aufgedeckt. Indem ich mir nun das auf dem Koffer befindliche Mono- 
gramm LB deutlich vorzustellen suchte, fuhlte ich, dafl ich das Wort Koffer iibersetzen 
miisse. Dazu vollbrachte ich eine bewufite Arbeit, indem ich mich frug, wie Koffer auf 
franzosisch laute: malle. In demselben Moment war mir die Losung klar, was sich auch 
in einem unwillkurlichen Aufatmen kundgab. Das m in malle gab die Uberleitung zu 
einem Monogramm MLB, das ich oft in lateinischen Buchstaben wie LB auf einem 
Koffer gesehen hatte. Es ist das Monogramm derjenigen Dame, die erstens mich veranlafit 
hatte, jenen Koffer zu kaufen, zweitens aber mit mir nach Paris reisen wollte, was sich 
jedoch zersdhlug. Ich war daruber sehr verstimmt. Auf diesem langen Umweg also wurde 
mir erst klar, wer mit bos gemeint sei. (Es ist noch zu bemerken, dafl der hier angedeutete 
Komplex nur ein Stuck eines grofieren, in der Gegenwart noch vorhandenen ist.) Bos 
fuhrte also zunachst iiber Bofl-Koffer — LB — zu malle und damit zu MLB. Daneben 
lauft noch ein direkterer Weg von bos zu MLB durch die Ubersetzung in mal. Hier 
scheint jedoch das Lateinische mitzuspielen, was sich schon in dem ersten Einfall auf Ol: 
oleum kundgab. Mala ware die genaue lateinische Wiedergabe fur bos in diesem Fall; 
das franzosische mal ist nur ein Hinweis. Mal machte mir erst dann, als ich die Analyse 
niederschrieb, auch begreiflich, warum ich auf das folgende Reizwort Nadel: Ohr reagierte, 
was mir ganz fremd vorkam. Bei der Reproduktion glaubte ich ja auch Stich gesagt zu 
haben. Es scheint sehr wahrscheinlich, dafl das klanglich naheliegende und inhaltlich 
determinierte mal-heur die Reaktion Ohr bedingt hat, und jetzt wird mir auch klar, 
warum ich anfangs die Worte bos und Ol immer zusammenziehen und franzosisch 
schreiben mufite. Es war, wie wenn mir jemand gesagt hatte: iibersetze ins Franzo- 
sische, ziehe zusammen und schreibe einen deutschen Klang mit franzosischen Buchstaben, 
so wirst du die Losung finden. Wir'sehen deutlich, dafl das Unbewufite die Wege vor- 
schreibt, die die Psychanalyse zu gehen hat. Wir wissen jetzt: iibersetzt werden mufite: 
Bos in mal, franzosisch geschrieben: Ohr (heur), zusammengezogen mal und heur in 
malheur. In dem Worte mal heur gipfelt die ganze Analyse. 

Bei bos wurde das Klangbild dr jedenfalls schon angeregt neben dem Klangbild 
dl (denn von bos zu mal und von mal zu Malheur ist nur ein kleiner Schritt). Dieses 
mufi jedoch das starkere gewesen sein (siehe die gehauften L in der Analyse), da es die 
entsprechende Innervation der Sprachmuskulatur hervorrief, wahrend or unausgesprochen 
und unbewufit blieb. Erst als das Reizwort Nadel erfolgte, erhielt das bereitliegende 
Klangbild dr eine starkere ,Energiebesetzung“ und verdrangte das mir gelaufigere Re- 
aktionswort Stich. Dieses erscheint dann wiederum in der folgenden Reaktion. Um 
nicht zu breit zu werden, konnte nur das Hauptgeriiste der Assoziationen mitgeteilt und 
vor allem konnten auch die psychischen Triebfedern fur den ganzen Mechanismus nur an- 
gedeutet werden. Ich hoffe jedoch, gerade durch mein Tasten und Fehlgehen zeigen zu 
konnen, wie der psychische Ablauf einer solchen Selbstanalyse vor sich geht. Die innere 
Sicherheit, die die Losung einer solchen Aufgabe begleitet, kann anderen natiirlich nicht 
mitgeteilt werden. Daher wird am ehesten der in unsere Methode eindringen, der an sich 
selber Analysen versucht. 

Es ist nun keineswegs erstaunlich, dafl ein verdrangter Komplex, der trotz der Ver- 
drangung korperliche Reaktionen verursacht, sich mit Vorliebe in Klangassoziationen 
aufiert. Vielmehr scheint uns das gemeinsame Auftreten von Klangassoziationen und 
skorperlicher Reaktionen ein Hinweis auf die Starke des verdrangten Komplexes zu sein 
oder besser gesagt, auf den Widerstand, den der verdrangte Komplex zu uberwinden hat, 
um bewufit zu werden. Dieser Widerstand war in alien drei Fallen, namentlich in den 
meinigen, eklatant. Das Auftreten von Klangassoziationen ist ja auch nichts anderes als 
ein Zeichen dafur, dafl der Komplex von der Zensur zuriickgehalten wird, und sich wie im 
Traume nur in harmlosem Gewande zeigen darf. Der Schlufi liegt daher nahe, dafl ein 
verdrangter Komplex dann korperliche Reaktionen, mit anderen Worten Affektwirkungen 
hervorruft, wenn seinem Bewufltwerden ein starker Widerstand gegeniibersteht. 

Ich finde in meinem Material nur noch ein Beispiel, wo ich die Wirkung eines 
verdrangten Komplexes auf das Galvanometer nachweisen kann. Es stammt von einer 
gebildeten Dame und lautet: 

10* 


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Journal f. Psychologie 
und Neurologic. 


R.-Z. G. A. Rfpr. 

V.-P. IX. R. 20. essen: essen? Mittag 18 28 (lang^es 

(16) (16) Besinnen) 

Vier Komplexmerkmale: Wiederholung des Reizwortes, Reproduktionsstorung, ver- 
langerte Reaktionszeit und verlangerter Ausschlag. V.-P. ist erstaunt uber das Reizwort. 
Das weist ebenfalls auf einen Komplex hin. Das Reizwort selber kann sie ja nicht er¬ 
staunen, vielmehr wird das Erstaunen eine Ahnung bedeuten, dafi hier etwas ihr Fremdes, 
d. h. Unbewufites, in ihr vorgeht. Lange Zeit setzt sie der Analyse grofien Widerstand 
entgegen und bringt Ausreden, es falle ihr sicher nichts ein usw. Endlich kundet ein 
Lacheln die Losung an: Sie esse nicht gern mit ihren Angehorigen bei Fremden und habe 
nicht gern Besuch beim Essen zu Hause, weil die Leute dann sahen, dafi sie eine ihrer 
Angehorigen (Tante) nicht gern habe. Was der Grund fur diese Antipathie war, wurde 
nicht mitgeteilt. Ich wollte auch nicht darauf dringen. Es ist sehr wahrscheinlich, dafi 
diese Antipathie gegen die Tante den Komplex darstellt, der sich hier verbirgt. 

Ein sehr schones Beispiel von dem Einflufi eines verdrangten Komplexes auf das 
psychisch-galvanische Phanomen findet sich bei Jung und Peterson (Brain 1907). 

Es handelt sich um einen Warter von emotivem Charakter. Ein und dieselbe Serie 
von Reizwortern wurde dreimal hintereinander angewandt, was besonders deutlich die 
Wirkung des verdrangten Komplexes zeigt. Der grofite Ausschlag der ersten Serie er- 
folgte bei Sonne: brennt. Weitere starke Ausschlage lagen bei den Assoziationen 
Sonne: brennt, Boden: Parkett, Zahlen: schreiben und warm: der Ofen. Bei den 
letzten drei Reaktionen uaren in alien drei Versuchen konstante Storungen vorhanden. 
Alle Reproduktionen waren verandert, mit einer Ausnahme lagen alle Ausschlage 
iiber dem A. M. der einzelnen Serie. Von den-neun Reaktionszeiten waren vier uber 
dem W. M., zwei fallen damit zusammen. V.-P. versicherte, wahrend der Reaktion nichts 
Besonderes gedacht zu haben. Els fallt ihm auch von selbst nichts ein. Erst als er gefragt 
wurde, was Boden denn fiir ihn bedeute, kam plotzlich mit Erstaunen und Verlegenheit 
heraus, dafi vor kurzem in der Wohnung der V.-P. ein Ofen schadhaft geworden war und 
den Boden zerstort hatte, so dafi nicht nur der Ofen, sondern auch der grofite Teil des 
Bodens erneuert werden mufite. V.-P. mufite dies ailes selber zahlen, was fur ihn eine 
grofie Ausgabe bedeutete. Aufierdem war die Gefahr eines Brandausbruches sehr grofi 
gewesen. Damit sind alle obigen Storungen vollstandig erklart, auch der grofie Gefiihls- 
wert von Sonne: brennt. Dafi der Komplex trotz der Ftille von Reizworten, die ihn an- 
regten, und trotzdem er 1 §0 rezent war, in den drei Versuchen nicht bewufit wurde, zeigt, 
welch starker Widerstand ihm vom Bewufitsein entgegengesetzt wurde. 


IV. Teil. 

Statistische Berechnungen iiber die Normalversuche. 

In diesem letzten Teil der Arbeit kommt es mir darauf an, an meinem 
gesamten Materiale statistisch die Gesetzmafiigkeiten nachzuweisen, die erstens 
zwischen R.-Z. und Ausschlag, zweitens zwischen den Komplexmerkmalen ins- 
gesamt und dem Ausschlag existieren. Wir werden dabei sehen, dafi kon¬ 
stante Beziehungen zwischen den genannten Faktoren und dem Ausschlag 
vorhanden sind, die sich iiber die Unterschiede der Versuchsanordnungen, des 
Geschlechts und des Bildungsgrades der Versuchspersonen hinwegsetzen. Wir 
werden diese Beziehungen bei den vier Gruppen der gebildeten und unge- 
bildeten Manner und Frauen gesondert besprechen, um zu zeigen, dafi sie bei 
jeder Gruppe vorhanden sind. Warnen mufl ich jedoch, die bei den einen 
Gruppen gefundenen Ausschlagswerte ohne vveiteres mit denjenigen der anderen 
Gruppen zu vergleichen und daraus etwa Unterschiede in der Emotivitat, der 
Bildung oder dem Geschlechte abzuleiten. Fiir solche Zwecke mufite man 


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XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 145 


iiberall dieselbe Versuchsanordnung anwenden und auch dann miifiten indivi- 
duelle physikalische Unterschiede, wie z. R. in der Beschaffenheit der Haut 
bei Mannem und Frauen, Hand- und Kopfarbeitern gehorig beriicksichtigt 
werden. Nur die Werte der Reaktionszeit diirfen wir direkt miteinander ver- 
gleichen. Ich werde daher die absoluten Werte fur die Mittel der Ausschlage 
bei den einzelnen Gruppen ganz beiseite lassen und werde mich darauf 
beschranken, die Differenzen zwischen den einzelnen Werten, z. B. dem A. M. 
und dem W. M. mitzuteilen. Da diese Differenzen ausschliefilich psychologischen 
Vorgangen ihre Entstehung verdanken (die physikalischen Bedingungen bleiben 
ja wahrend des Versuches meist die gleichen oder miissen, wenn Anderungen 
doch vorkommen, auf beide Werte gleichstark einwirken), so diirfen wir sie 
mit den Differenzen in anderen Gruppen vergleichen. Das Material zerfallt 
in folgende Gruppen: 

I. Gebildete Frauen. 

5 Versuche an 5 verschiedenen Personen. 304 Assoziationen. In alien 
Versuchen wurde ein Strom durch die V.-P. geleitet, viermal wurden Messing- 
elektroden, einmal Nickelelektroden angewandt. Die Zahl der galvanischen 
Elemente betrug einmal 3, einmal 2, dreimal 1. 

II. Gebildete Manner. 

12 Versuche an 8 verschiedenen Personen. 830 Assoziationen. 

Einmal wurde die Sommersche Versuchsanordnung (Zink- und Kohle- 
elektrode ohne durchgeleiteten Strom) angewandt, umal Messingelektroden 
und galvanisches Element (dreimal 2, achtmal 1 Element). Versuch lie wurde 
fiir die statistische Berechnung ausgeschaltet. 

III. Ungebildete Frauen. 

5 Versuche an 4 verschiedenen Personen. 491 Assoziationen. 

Einmal Sommersche Versuchsanordnung, zweimal Messingelektroden 
mit einem galvanischen Element, zweimal Wasserkontakt mit zwei galvanischen 
Elementen. (Bei den 2 Versuchen mit Wasserkontakt wurden 2 Nickelelek¬ 
troden in je ein Glasgefafl gestellt und die V.-P. aufgefordert, den 2. und 
3. Finger jeder Hand in eines der Gefafle zu tauchen, ohne die Elektroden 
zu beriihren. Dadurch werden Kontaktanderungen zwischen Elektroden und 
Hand ausgeschaltet. Das Versuchsergebnis weicht in nichts Wesentlichem von 
den ubrigen Versuchen ab, nur sind hier die Ausschlage wegen der geringen 
Kontaktflache (2 Finger jederseits) gering. Das W. M. der Ausschlage be¬ 
trug in beiden, an derselben Person ausgefiihrten Versuchen 2, das A. M. 
derselben im ersten 1,5, im zweiten (wo der Experimentator die Komplexe 
der V.-P. kannte) 2,6. 

IV. Ungebildete Manner. 

7 Versuche an 6 verschiedenen Personen. 535 Assoziationen. 

Dreimal Sommersche Versuchsanordnung, dreimal Messing-, einmal 
Nickelelektroden mit durchgeleitetem Strom (zweimal zwei, einmal ein galvan. 
Element). 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologie. 


. Insgesamt 29 Versuche an 2 3 V.-P., mit 2160 Assoziationen. Wenn 
wir zunachst die Mittel der R.-Z. der einzelnen Gruppen miteinander vergleichen, 
so finden wir folgende auffallende Reihenfolge: (Die Zahlen bedeuten hier 
nicht 1 /5 , sondern ganze Sekunden.) 


Tabelle I. 


i 

W. M. 

, A. M. 

Diflerenz | 

! 

„Zu lange Zeiten“ 

in •/. 

Ungebild. Manner . . 

2,94 

3,51 

o ,57 

1 39,8 

Gebild. Frauen . . . 

2,9 

3,3 

0,4 

32,2 

Ungebild. Frauen . . 

2,5 

I 2,7 

0,2 

33,4 

Gebild. Manner . . . 

2,0 

! 2,2 

0,2 

! 32,2 


Mit den Resultaten Jungs verglichen (S. IV. Beitrag, S. 226) fallt die 
durchschnittliche Erhohung meiner Resultate gegeniiber den seinigen auf. 
Dies hangt einmal, wie schon hervorgehoben, von meiner personlichen Gleichung 
ab, sodann diirfte wohl auch die ganze komplizierte Versuchsanordnung bei 
meinen Experimenten die Reaktionszeit der V.-P. wesentlich beeinflussen. Die 
ungebildeten Frauen (lauter Warterinnen) sind von der ersten Stelle bei 
Jung in die dritte bei mir geriickt, wahrend sonst die Reihenfolge dieselbc 
ist wie dort. Dies riihrt daher, dafi von den vier ungebildeten Frauen zwei 
(beides Schwabinnen!). die 2 / H der Assoziationen in Anspruch nehmen, auf¬ 
fallend redegewandt sind. Ihr A. M. der Zeit ist auch kaum grofier als das 
W. M. Der Assoziationstypus ist namentlich bei der einen auffallend ober- 
flachlich. Den aus friiheren Untersuchungen bekannten Typus einer unge¬ 
bildeten Frau wies nur eine auf dem Lande aufgewachsene Schweizerin auf. 
Die groBe Dififerenz der beiden Mittel bei meinen ungebildeten Mannern 
mochte ich ebensosehr auf sprachliche Ungewandtheit als auf lebhafte Emo- 
tivitat zuriickfiihren. Dagegen ist die auffallend grofie Dififerenz bei den ge- 
bildeten Frauen ein reines Zeichen ihrer Emotivitat, wie sich aus der Ver- 
gleichung der folgenden Werte beweisen lassen wird. 


Tabelle II. 



| Dififerenz zwischen W. 

M. und A. M. des 
| Ausschlags 

111m 

Dififerenz zwischen W. 

M. der Zeit und dem 
A. M. der Zeit 1 ) 
Sekunden 

Zu lange Ausschlage 

•n •/, 

Gebild. Frauen . 

7,6 

0,4 

45,9 

Gebild. Manner. 

2,8 

0,2 

43,8 

Ungebild. Manner. 

2,5 

o,57 

49,9 

Ungebild. Frauen. 

ifl 

0,2 

40,0 


Zuerst mochte ich darauf hinweisen, dafi wir in alien Gruppen eine Ver- 
langerung des A. M. der Ausschlage gegeniiber dem W. M. derselben finden. 


*) Zur t)bersicht fiige ich die Difi'erenzeu der Zeitenmittel noch einmal an. 


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ldoa 


XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 147 


Unbedingter als bei der R.-Z., wo intellektuelle und sprachliche Verhaltnisse 
mitwirken, diirfen wir aus der Differenz dieser beiden Ausschlagmittel Riick- 
schliisse auf die Emotivitat der V.-P. raachen. Denn da, wo das arithmetische 
Ausschlagmittel gegeniiber dem wahrscheinlichen sehr grofi ist, miissen auch 
sehr grofle Ausschlage vorgekommen sein und diese werden bedingt durch 
affektive Einflusse. Auffallend ist sofort der Wert der Differenzen bei den 
gebildeten Frauen, der die Werte der anderen Gruppen bei weitem iiber- 
ragt. Er zeigt uns deutlich, dafi bei dieser Gruppe wirklich eine grofle Emo¬ 
tivitat vorhanden war, so dafi wir berechtigt sind, die grofle Differenz zwischen 
W. M. und A. M. der Reaktionszeit bei dieser Gruppe lediglich auf emo¬ 
tive Ursachen zuriickzufuhren. Aus den widersprechenden Werten der Diffe¬ 
renzen von Zeiten und Ausschlagmittel bei den ungebildeten Mannern 
glaube ich mit Recht schliefien zu diirfen, dafi die grofle Zeitdifferenz nicht 
nur durch den Grad der Emotivitat jener V.-P. allein bedingt wurde, sondern 
eben durch die sprachliche Ungewandtheit und die nicht sehr hervorragende 
Intelligenz der meisten unter ihnen. Denn hatte die ganze Zeitendifferenz nur 
emotive Grundlage, so miiflte auch die Ausschlagsdifferenz, die die Emotivi¬ 
tat angibt, dementsprechend grofier sein als bei den iibrigen Gruppen, wie 
dies bei den gebildeten Frauen der Fall ist. Bei den ungebildeten Frauen 
entspricht die niedere Ausschlagdifferenz der niederen Zeitendifferenz. Daraus 
miiflte man auf eine geringe Emotivitat jener Gruppe schliefien. In der Tat 
haben die zwei erwahnten Versuchspersonen, die der Gruppe den Typus ver- 
leihen, sich nicht sehr iiber das Experiment aufgeregt. Da jedoch zwei Ver- 
suche mit Wasserkontakt unternommen wurden, wobei mit der geringen Grofle 
der Ausschlage eine geringe Differenz der beiden Mittel Hand in Hand geht, 
will ich aus diesem Werte nichts schliefien. Aus dem Vergleich der Werte 
der gebildeten Manner kann man auf eine grofle sprachliche Gevvandt- 
heit (geringe Zeitendifferenz) neben einer ansehnlich entwickelten Emotivitat 
schliefien, was mit dem mir sonst bekannten Verhalten der V.-P. iiberein- 
stimmt. 

Als wichtigster Faktor, um die Beziehung von R.-Z. und Ausschlag zu 
vergleichen, bleibt uns das Mittel, das angibt, um wieviel das W. M. derjenigen 
Ausschlage, die mit „zu langen“ Zeiten zusammenfallen, grofier ist, als das 
W. M. der Ausschlage des Gesamtversuches. Fur diesen Zweck werden, wie 
schon einmal beschrieben, diejenigen Ausschlage, die mit „zu langen u Zeiten 
vorkommen, fur sich herausgeschrieben und ihr W. M. berechnet. Ist 

das W. M. dieser Ausschlage grofier als dasjenige samtlicher Ausschlage 
des betreffenden Versuches, so heifit das: In diesem Versuch ent- 

sprechen „zu langen“ Zeiten auch ,,zu lange“ Ausschlage. Die 

folgenden Werte werden uns zeigen, dafi dies fur alle vier Gruppen der 

Fall ist. 

Ich gebe wieder nicht die Werte fur die auf ,,zu lange“ Zeiten fallenden 
Ausschlage an, sondern gleich die Differenzen dieser mit dem W. M. des 
ganzen Versuches. Zum Vergleich werden die schon genannten Differenzen 
der Zeiten und Ausschlagsmittel noch einmal angefiihrt. 


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L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
and Neurologic. 


Tabelle III. 



Differenzen rwischen 
den auf „zu lange w 
Zeiten fallenden Aus¬ 
schlagen und samt¬ 
lichen Ausschlagen 

eines Versuches 

. . ...... 

Differenzen zwischen 
W. M. der Aus¬ 
schlage und A. M. 
der Ausschlage 

,[ 

Differenzen zwischen 
W. M. der R.-Zeit 
und A. M. der R.- 
Zeit in Sekunden 

Gebild. Frauen. 

1 +5,3 

7,6 

o,4 

Ungebild. Frauen. 

+ 2,8 

M | 

0,2 

Gebild. Manner. 

+ 2,8 

2,8 

0,2 

Ungebild. Manner. 

+ 1,0 

2,5 

o,57 


Wiederum weisen die gebildeten Frauen den hochsten Durchschnitts- 
wert auf, d. h. bei den gebildeten Frauen sind die Ausschlage, die auf „zu 
lange“ Zeiten fallen, am deutlichsten verlangert. Ein weiterer Beweis, dafi 
die verlangerten Zeiten bei den gebildeten Frauen in der Tat emotiven Ur- 
sprungs sind. Bei den ungebildeten Frauen ist die Differenz, die uns hier 
beschaftigt, auffallend grofier als die Differenz zwischen W. M. der Ausschlage 
und A. M. derselben und derjenigen zwischen W. M. der R.-Z. und dem A. M. 
der R.-Z. Wir konnen diese Verhaltnisse ausdriicken, indem wir sagen: Bei 
den ungebildeten Frauen (unserer Versuche) kommen wenig lange Ausschlage 
und wenig sehr lange Zeiten vor. Wo die letzteren aber auftreten, da ent- 
spricht ihnen auch ein deutlich verlangerter Ausschlag (namlich 6,8, gegen- 
iiber dem W. M. samtlicher Ausschlage = 4). Oder: Die ungebildeten Frauen 
unserer Versuche sind sehr redegewandt, daher eine geringe Differenz zwischen 
W. M. der R.-Z. und A. M. der R.-Z. Ihre „zu langen* 1 Zeiten sind aber 
deutlich emotiven Ursprungs (starke Zunahme der Ausschlage, die auf zu lange 
Zeiten fallen). Bei den gebildeten Mannern, die, wie wir sahen, ebenfalls 
sehr sprachgewandt sind, ist die Zeitverlangerung wiederum deutlich emotiven 
Ursprungs. Dafi die Differenz zwischen dem A. M. der Ausschlage und ihrem 
W. M. dieselbe ist wie die Differenz, die wir hier besprechen, deutet aber an, 
dafi die Verlangerung der Ausschlage, die auf ,,zu lange“ Zeiten fallen, weniger 
ausgesprochen ist als bei den ungebildeten Frauen. Die geringe Differenz (1) 
der ungebildeten Manner bestatigt, dafl die Zeiten hier nur zum kleinen 
Teil durch emotive Hemmungen verlangert wurden (da die ihnen entsprechenden 
Ausschlage so wenig vergrofiert sind); zum grofiten Teil handelt es sich hier 
um sprachliche oder intellektuelle Schwierigkeiten, die als nicht affektive Vor- 
gange von keiner Verlangerung des Ausschlags begleitet sind. 

Wir sehen, dafi die Vergleichung der drei Differenzen uns viel genauer 
als die Differenz zwischen dem arithmetischen und wahrscheinlichen Zeiten- 
mittel allein, Riickschliisse auf die bei dem Experiment zutage getretene Emo- 
tivitat der V.-P. gestattet. 

Aufier den Beziehungen zwischen R.-Z. und Ausschlag fiir sich allein 
wurden noch diejenigen zwischen Ausschlag einerseits und samtlichen Kom- 
plexmerkmalen anderseits berechnet. War eine Proportionalitat zwischen der 
Lange der R.-Z. und des Ausschlages von vornherein wahrscheinlich (obwohl 
wir einzelne Bedingungen kennen gelernt hatten, die die Proportionalitat auf- 
heben!), so liefi sich liber konstante Beziehungen zwischen Ausschlagen und 


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BD * X f«S EFT8 XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 149 


Komplexraerkmalen iiberhaupt zunachst nichts aussagen. Auf Veranlassung 
von Jung schrieb ich daher alle diejenigen „zu langen 44 Ausschlage fiir sich 
heraus, die das einzige Komplexmerkmal waren, dann diejenigen, die zusammen 
mit einem Komplexmerkmal, ganz gleichgiiltig welcher Art, vorkamen, zu- 
letzt diejenigen, die sich zusammen mit zwei und mehr Komplexmerkmalen 
fanden. Als Komplexmerkmale warden angesehen: Zu lange R.-Z., alle Arten 
von Reproduktionsstorungen, Wiederholung und Mifiverstehen des Reizwortes, 
stereotypeWiederholung desselben Reaktionswortes (,,Komplexvertreter“), (jber- 
setzung in eine fremde Sprache, Versprechen, ,,sonderbare Reaktion 14 , Klangasso- 
ziationen, die nachweisbar durch einen Komplex bedingt waren. Fehler kamen in 
meinen Versuchen nicht vor. Man sieht, dafi wir hier Komplexmerkmale anfiihren, 
die unter U ms tan den gar nicht durch die Reaktion bedingt sind, mit deren Aus- 
schlag sie verglichen werden (z. B. Reproduktionsstorungen infolge Perseveration). 
Wenn trotzdem dieGrofie des Ausschlags mit derZahl der Komplexmerkmale zu- 
nimmt, so zeigt das, dafi jene Ausnahmen (die ja mit zu kleinem Ausschlag vor- 
zukonimen pflegen) das Gesamtergebnis nicht zu beeintrachtigen vermogen. 

Ich werde wieder die einzelnen Gruppen einander gegeniiberstellen und 
fiir jede Gruppe das arithmetische Mittel des Gesamtversuches angeben ( 1 ), 
dann dasjenige der Ausschlage, die das einzige Komplexmerkmal bilden (II), 
sodann dasjenige der Ausschlage, die mit noch einem Komplexmerkmal vor- 
kommen (III) und schliefilich das arithmetische Mittel deijenigen Ausschlage, 
die mit zwei und mehr Komplexmerkmalen angetroffen werden. 


Tabelle IV. 



I. 

A. M. samtlicher 
Ausschlage 

II. 

Ausschlag das 
einzige Komplex¬ 
merkmal, Arith- 
metisches Mittel 
derselben 

in. 

Ausschlag 4 1 
Komplexmerkmal 
A. M. 

IV. 

Ausschlag 4- 2 und 
mehr Komplex¬ 
merkmale. A. M. 

Gebild. Frauen . . . 

13,7 

18,2 

24,9 

29,2 

Gebild. Manner . . . 

I 3 d 

18,3 

19,9 

21,8 

Ungebild. Frauen . . 

6,8 

7,8 

8,8 

io ,3 

Ungebild. Manner . . 

10,0 

15,5 

15,9 

1 7,7 


Wir sehen, dafi in alien vier Gruppen die durchschnittliche Lange 
des Ausschlags mit der Zahl der Komplexmerkmale zunimmt! Dieses 
Zusammentreffen ist eine inhaltslose, unverstandene Tatsache ohne die Kom- 
plexlehre (und ohne die Psychanalyse). Einzig die Komplexlehre gibt uns 
das Verstandnis dafiir und zeigt uns die notwendigen inneren Verkniipfungen 
dieser Phanomene. Was das Verhalten der einzelnen Gruppen anlangt, so 
mochte ich nur darauf hinweisen, dafi die gebildeten Frauen wiederum die 
deutlichste Zunahme der einzelnen Werte zeigen. Der Wert IV ist mehr als 
doppelt so grofl als Wert I, was bei keiner anderen Gruppe erreicht wird. 

Die folgende Tabelle zeigt, in °/ 0 ausgedriickt und auf die Gesamtzahl 
der Assoziationen bezogen, wie oft bei den einzelnen Gruppen der Ausschlag 
das einzige Komplexmerkmal bildete (I), wie oft er mit einem ( 11 ) und wic 
ofl cr mit zwei und mehreren Komplexmerkmalen vorkam (III). 


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L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
nod Neurologie- 


150 


Tabelle V. 



I. 

Ausschlag das einzige 
Komplexmerkmal, 
in */. 

n. 

Ausschlag -f 1 Kom¬ 
plexmerkmal in °/ 0 

m. 

Ausschlag +2 und 
mehr Komplex- 
merkmale in °/ 0 

Gebild. Frauen. 

13,3 

17,5 

13,2 

Gebild. Manner. 

* 9,1 

15,7 

7,5 

Ungebild. Frauen. 

15,5 

14,3 

10,2 

Ungebild. Manner. 

I 7 ,i 

18,2 

10,2 


Die Tabelle spricht flir sich selber. Besondere Schliisse daraus zu ziehen 
halte ich noch fur verfriiht. 

DaB die gebildeten Frauen in den vorstehenden Tabellen iiberall, wo 
es sich um Gefiihlsmomente handelt, so auffallend grofie Werte zeigen, mag 
neben zufalligen einen gemeinsamen, nicht zufalligen Grund haben. Die Emo- 
tivitat gilt in dieser Gruppe von vornherein hauptsachlich dem Experimentator, 
nur zum kleinen Teil etwa bewuBt oder durch aufiere Umstande bedingt. 
Vielmehr handelt es sich hier um den in der Psychanalyse so aufierst wich- 
tigen Faktor der „ Obertragung auf den Arzt“ (Freud) 1 ), in diesem 
Falle der Ubertragung auf den Experimentator. 

Zusammenfassung. 

I. Teil. 

1. Es existieren drei verschiedene Methoden, psychische Vorgange gal- 
vanometrisch zu untersuchen: 

a) Applikation unpolarisierbarer Elektroden an unsymmetrischen Stellen 
der Hautoberflache (Tarchanoff, Sticker). 

b) Anwendung von Metallelektroden von erheblicher Spannungsdifferenz 
(Zink- und Kohle, Sommer und Fiirstenau). 

c) Anwendung von Elektroden desselben Materials und Leitung eines 
elektrischen Stromes durch die V.-P. (R. Vigouroux, F£re, A. Vigouroux, 
E. H. Muller, Veraguth). 

2. Ober die physiologische und physikalische Grundlage des psycho- 
galvanischen Phanomens sind wir noch im unklaren. Es scheint bis jetzt, daB 
bei alien drei Methoden das Schweifidriisensystem eine hervorragende Rolle 
spielt, und zwar bei a) durch Lieferung der sog. Sekretionsstrome, bei c) durch 
Veranderung des Leitungswiderstandes der Haut gegeniiber dem durchge- 
leiteten Strom. Die Methode b erscheint als die komplizierteste in bezug auf 
die physiologische und physikalische Erklarung. 

3. Obwohl Veranderungen im Schweifidriisensystem bei alien Versuchs- 
anordnungen mitwirken, wissen wir aber noch nicht, ob sie unbedingt not- 
wendig zum Zustandekommen des psychogalvanischen Phanomens sind, und 
wissen auch noch nicht, ob wir wirklich mit alien drei Methoden dieselben 
physiologischen Veranderungen messen. 

*) Siehe Freud: Bruchstiick einer Hysterieanalyse. Monatsschriit fur Psychiatric und Neu- 
rologie. Bd. XVIII, S. 462. 


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BD * XI l908 EFT 8 XI * VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. 1 5 I 

4. Ober die letzten physikalischen Veranderungen konnen wir uns erst 
ganz allgemein aufiern. Jedenfalls kann es sich „bei der auffallenden Prompt- 
heit und Genauigkeit, die in dem Zusammenhang zwischen dem galvanischen 
Phanomen und den psychischen Vorgangen zu beobachten sind, nicht um 
grob physikalische (oder chemische) Vorgange handeln, die sich zwischen 
beide einschalten. Und vor allem kann es sich nicht um Vorgange handeln, 
die einmal angeregt, unabhangig vom psychischen Geschehen gleich abgc- 
schossenen Pfeilen ihren Weg fortsetzen, vielmehr sind wir genotigt, 
solche Vorgange anzunehmen, deren Ablauf fortwahrend vom Cen- 
tralorgan beherrscht, gefordert oder gehemmt werden kann. u 

5. Kontaktanderungen an den Elcktroden konnen keine wesentliche Bc- 
dingung fur das Zustandekommen des psychogalvanischen Phanomens (bei 
Anordnung b und c) sein, da es bei Anwendung von Wasserkontakt und 
durchgeleitetem Strom gleichfalls auftritt. Jedoch kann unwillkiirlicher Druck 
auf die Elektroden in merkbarem Mafle auf die Grofie der Ausschlage einwirken. 

6. Tiefelnspirationen (Seufzer) wirken im allgemeinen wie ein psychologischer 
Reiz, d. h. durch den ihnen anhaftenden Gefuhlston, nicht etwa direkt durch die von 
ihnen hervorgerufenen vasomotorischen Veranderungen (Wiederholungsversuche). 

7. Von psychischen Vorgangen haben wir bei den von uns angewandten 
Versuchsanordnungen (b und c) nur affektive Vorgange (im Sinne Bleulers) 
auf das psychogalvanische Phanomen einwirken sehen. Bei rein intellektueller 
Arbeit (z. B. Addieren kleiner Zahlen, Lesen indififerenter Lekture), sowie beim 
Auftreten von Empfindungen, die von keinem deutlichen Gefuhlston begleitet 
waren, traten keine Ausschlage auf. 

II. Teil. 

8. Komplexreaktionen entsprechen in den meisten Fallen ,,zu 
lange“ Ausschlage (d. h. solche liber dem wahrscheinlichen Mittel des 
Gesamtversuches), nicht gefiihlsbetonten dagcgen kurze. Der zu lange Aus- 
schlag ist daher ein wertvolles neues Komplexmerkmal. 

9. Es wird unterschieden zwischen der Assoziationskurve (Veraguth), 
die die Basis samtlicher Ausschlage eines Versuchs miteinandcr verbindet 
und zwischen den Komplexkurven, d. h. solchen Abschnitten der Assoziations¬ 
kurve, die sich auf deren Gesamtverlauf als sekundare Wellen abheben. 

10. Die typische Komplexkurve besteht in einem sehr langen Ausschlag 
und darauffolgendem abfallenden Kurvenschenkel mit kurzen Ausschlagen. 
Abweichungen von dieser Norm sind haufig. In dem abfallenden Schenkcl 
der Komplexkurve finden wir ein dem Gesamtverlauf der normalen Assoziations¬ 
kurve, die immer eine aufsteigende Tendenz hat, entgegengesetztes Verhalten. 

11. Ein dem abfallenden Komplexkurverschenkel ahnliches Bild er- 
halt man: 

a) Bei einem unabhangig vom Experiment bestehenden starken Aflfekt 
(Kurve lie). 

b) Durch aktive Absperrung der Aufmerksamkeit von dem Experiment, 
(Kurve III). 

c) Durch aufiere Ablenkung (Kurve IV). 


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152 


L. BINSWANGER. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


12. Die in io und u enthaltenen Beobachtungen lassen sich folgender- 
mafien ausdriicken: 

Ein bestehender Komplex (Daueraffekt, Dauerkonzentration der Auf- 
merksamkeit auf etwas anderes als die Experimentreize) hemmt die psychi- 
sche Verarbeitung des Reizes. Er bleibt assoziations- und gefuhlsarm. 
Aus dem Mangel an neuen Affekten ergibt sich der Mangel an neuen Inner* 
vationen und daher auch das Verschwinden der Ausschlage. DaC die Kurve 
allmahlich absinkt, erklart 6ich daraus, dafi der akute Affekt allmahlich erlischt, 
wohingegen die durch den Affekt geschaffene intellektuelle Hemmungsein- 
stellung noch langere Zeit anhalt. 

13. Wenn es sich als richtig herausstellt, dafi wir bei den von uns an- 
gewandten Versuchsanordnungen im Sinken der Galvanometerkurve eine Zu- 
nahme des elektrischen Leitungswiderstandes erblicken miissen, im Steigen 
der Kurve dagegen eine Abnahme desselben, so konnen wir sagen: Uberall 
da, wo ein Zuwachs an Innervation eintritt (bei der Applikation senso- 
rieller und psychischcr Reize im Normalzustand, bei gesteigerter Emotivitat, 
bei plotzlicher Anspannung der Aufmerksamkeit), nimmt der Leitungs- 
widerstand ab, uberall da, wo es zur Hemmung oder zum Wegfall 
von Innervationen kommt, nimmt der Leitungswiderstand zu (also 
in den unter 10 und 11 gcnannten Fallen, ferner in der Ruhe, im Schlaf und 
bei rein intellektueller Arbeit). 


III. Teil. 

14. Verlangerung der Reaktionszeit ohne gleichzeitige Verlangerung des 
Ausschlags kann vorkommen 

a) bei intellektuellen Schwierigkeiten, wie undeutlicher Auffassung des 
Rcizwortcs, Wiederholung desselben, seltenem Wort als Reizwort, 

b) ungleich viel haufiger unter dem Einflufi der Perseveration. 

Wo ein Komplex perseveriert, konnen die in das Bereich der Perse¬ 
veration fallenden Zeiten deutlich verlangert, die Ausschlage deutlich verkiirzt 
sein. Eine Erklarung hierfiir finden wir in der Verschiedenheit dessen, was 
wir da, wo es sich um Perseveration handelt, mit beiden Werten messen. Die 
Reaktionszeit gibt die Intensitat des Widerstreites zwischen perseverierendem 
Gefuhlston und neuauftretender Reaktion an, der Ausschlag dagegen das Re- 
sultat dieses Widerstreites, mit anderen Worten die Aufmerksamkeitsbesetzung, 
die die neue Reaktion erhalt. Wo der perseverierende Gefuhlston sehr stark 
ist, wird daher die Reaktionszeit sehr lang, der Ausschlag aber sehr kurz sein, 
da dann die eine Reaktion nur wenig Aufmerksamkeit und damit nur einen 
geringen Gefuhlston erhalt. 

15. Verlangerung des Ausschlags ohne gleichzeitige Verlangerung der 
R.-Z. kann vorkommen aus rein sprachlichen Griinden: Der Komplex, der 
sich in dem verlangerten Ausschlag kundgibt, kann dann auf die R.-Z. nicht 
verlangernd einwirken, wenn der V.-P. eine sprachlich eingeschliffene Asso- 
ziation zur Verfiigung steht; an sprachlich eingeschliffenen Assoziationen 
machen sich die vom Komplex ausgehenden emotiven Hemmungen nur 
schwer geltend. 


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BD. XI. HEFT 8 
1908 . 


XI. VERHALTEN DES PSYCHOGALVAN. PHANOMENS USW. I 53 


16. Die Klangassoziationen weisen im allgemeinen einen „zu langen“ 
Ausschlag auf, wo sie durch einen in der Reaktion selber enthaltenen Komplex, 
einen ,,zu kurzen 4 , Ausschlag, wo sie durch Perseveration von einem vorhergehenden 
Komplex hervorgerufen werden. Im ersten Fall kann gewohnlich eine korrekte 
tiefergehende Verkniipfung zwischen den Klangassoziationen aufgefunden werden, 
im letzteren gewohnlich nicht. Ein bei einer Klangreaktion auftretender 
zu langer Ausschlag weist daher anf eine tiefergehende Verkniipfung hin, die 
jedoch oft im Unbewufiten liegt und durch Psychanalyse eruiert werden mufi. 

17. Es scheint, dafi aus dem Bewufitsein verdrangte Komplexe auf das 
psychogalvanische Phanomen einzuwirken vermogen. 

IV. Teil. 

18. Die Dififerenz zwischen dem W. M. und dem arithmetischen Mittel 
der Ausschlage ist ein sichereres Kriterium fur die Emotivitat einer V.-P. als die 
Dififerenz zwischen beiden Mitteln der Reaktionszeiten. Denn bei letzteren 
konnen auch intellektuelle und sprachliche Faktoren mitwirken, wahrend die 
Ausschlage nur durch affektive psychische Vorgange bedingt sind. 

19. In alien 4 Gruppen von V.-P. (gebildete und ungebildete Manner und 
Frauen) ist das Mittel derjenigen Ausschlage, die mit „zu langen“ Zeiten 
einhergehen, grofier als das Mittel samtlicher Ausschlage. Es entsprechen 
also durchschnittlich in alien 4 Gruppen den „zu langen 44 Zeiten auch „zu 
lange 44 Ausschlage. 

20. In alien 4 Gruppen nimmt die Grofle des Ausschlages mit der Zahl 
der Komplexmerkmale zu. — Nur die Komplexlehre, die aus dem Auftretcn 
der Komplexmerkmale auf das Vorhandensein einer gefiihlsbetonten Vorstellungs- 
masse schliefit, gibt uns das Verstandnis fur diese Beobachtung. 

Zum Schlusse sei es mir gestattet, meinem hochverehrten friiheren Chef 
und Lehrer, Herrn Professor Dr. Bleuler, fur das rege Interesse an dieser Arbeit 
und fur manchen wichtigen Fingerzeig meinen Dank auszusprechen. Ferner 
bin ich zu besonderem Dank verpflichtet Herrn Privatdozenten Dr. Jung, der 
mir bei der Entstehung und Durchsicht der Arbeit jederzeit mit Rat und Tat 
beistand. 


Erklarung der Kurven. 

Die auf einer Horizontalen nebeneinander stehenden Stabchen stellen die 
Reaktionszeiten dar. Die am Fufie der Ordinate befindlichen (kleinen) Zahlen 
dienen als Mafistab fur die Lange der Reaktionszeiten und beziehen sich auf 
V 5 Sekunden. 

Die auf einer auf- oder absteigenden Linie befindlichen Stabchen stellen 
die Galvanometerausschlage dar. Die (grofien) Zahlen der Ordinate gestatten, 
deren Stellung auf der Skala in cm und mm abzulesen. 

Reaktionszeit und Ausschlag ein und derselben Reaktion stehen iiber- 
einander. (Das Nahere siehe im Text.) 

L, ^cEE 1 ; >sZD 


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REFERATE. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


154 


REFERATE. 


Heidenhain,M., PlasmaundZelle. I.Abt.: 
Allgem. Anatomie der lebendigen 
Masse. I. Lieferung: Die Grundlagen 
der mikroskopischen Anatomie, 
die Kerne, die Centren und die 
Granulalehre. VIII und 506 S. mit 
276 teilw. farbigen Abbildungen Tm Text. 
Gustav Fischer, Jena 1907. Mk. 20,—. 

Die erste vorliegende Lieferung des 
monumentalen Werkes, zu dessen Schopfung ' 
und Gestaltung sich der Fiihrer der modernen 
Histologie und der glanzendste naturwissen- 
schaftliche Verlag die Hande gereicht haben, 
wird weit iiber die engeren Kreise der Zell- 
forschiirig hinaus mit einer groflen aufrich- 
tigen Freude begriifit werden. Wir diirfen 
mit dem vollendeten Werk den Anfang einer 
neuen Periode in der wissenschaftlichen 
Arbeit setzen. Das grofie Verdienst des Verf. 
ist es, einen enormen Stoff: die Arbeits- 
leistung der letzten fiinf Dezennien auf dem 
Gesamtgebiete der Zellforschung kritisch auf 
Grund denkbar umfassender Kenntnis ge- 
sichtet, das Erkannte mit meisterhafter Pra- 
zision und ebenso vollstandig wie btindig 
dargestellt und die resultierenden Probleme 
samt ihrer Basis und ihrer Strebung klar- 
gelegt zu haben. Das macht diesen Teil des 
Bardelebenschen Handbuches zu einem un- 
entbehrlichen Arbeitsbuche fur jeden mikro- 
skopierenden Anatomen, Zoologen und Bota- 
niker, — iiberhaupt fur jeden, der sich wissen- 
schaftlich mit der Zelle beschaftigt, also auch 
nicht zuletzt fur den Physiologen. 

Auf den reichen Inhalt soli an dieser 1 
Stelle im Zusammenhange eingegangen wer¬ 
den, wenn die ubrigen Lieferungen des Buches 
erschienen sein werden. Von ganz speziellem 
Interesse wird fur die Neurologenkreise die 
zweite, hoffentlich bald erscheinende Liefe¬ 
rung sein, die die kontraktile und nervose 
Substanz behandeln soli, dazu die faserigen | 
Dififerenzierungen der Epithelzellen und Ver- 
wandtes, ferner die amoeboiden Plasmen. 
Eine zweite Abteilung wird als die dritte 
und letzte Lieferung des Buches erscheinen 
und die Zelle als organisches System und in 
ihren Teilungserscheinungen behandeln. 

Die vorliegende Lieferung behandelt in- 
haltlich die Grundlagen der mikroskopischen 
Anatomie folgendermafien: Auf einen kurzen 


einleitenden Abschnitt folgt eine ausftihrliche 
Darstellung der Entwicklung der Zellenlehre 
von Schleiden und Schwann bis Max 
Schultze. Ein weiterer, dritter Abschnitt 
behandelt den Ausbau und die Wandelungen 
der Theorie der Zellen und Gewebe bis auf 
die Jetztzeit und schliefit mit der Aufrollung 
der bedeutungsvollen Theorie der Proto- 
meren, kleinster metamikroskopischer Ele- 
mentarteilchen der belebten Materie, auf die 
in der angekiindigten Besprechung des vollen¬ 
deten Werkes naher eingegangen -werden 
soli. Nur eins mit freudiger Genugtuung 
hervorzuheben kann sich Ref. nicht versagen: 
dafl auch Verf. sich zu einer Auffassung be- 
kennt, die eine ahnliche, fast konnte man 
sagen die Stufenfolge morphologischer In- 
dividualisationen anerkennt, wie sie Hackel 
zuerst in seiner Generellen Morphologie ge- 
zeichnet und entwickelt hat. Ref. empfindet 
es wie einen Triumph der im historischen 
Geschehen sich immer ausgleichend geltend 
machenden Gerechtigkeit, dafl der modernste 
Histologe, am Werke einer Umgestaltung der 
alten Zellenlehre, die fast bis zu deren Auf- 
losung fuhrt, auf jenes monumentale Werk 
unseres ehrwurdigen Altmeisters zuriickgeht 
und dort in klarster Weise, die iiber ein 
Menschenalter den begrenzten Kenntnissen 
ihrer Zeit vorauseilt, jene Biosysteme in der 
aufsteigenden Linie bis zu den Metameren 
der Metazoen entwickelt findet, die er nun 
selbst jetzt bis zur verborgenen Metastruktur 
zuruckverfolgt und rekonstruiert. Und jenes 
1 Werk ist von den Fachgenossen lange Jahre 
einfach totgeschwiegen worden! 

Die Strukturtheorie der lebenden Masse, 
die der Verf. gibt, lauft im wesentlichen auf 
folgendes hinaus: „Der tierische Korper ist 
in eine Reihe von Struktursystemen niederer 
und hoherer Ordnung auflosbar, welche 
i effektiv oder dem Ursprunge nach das Ver- 
mbgen der Vermehrung durch Teilung be- 
sitzen, bezw. durch Teilung aus ihresgleichen 
entstanden sind. Diese eigentumliche Gliede- 
rung ist zweifellos eine Folge der Form des 
Wachstums, so dafl mithin das entwicklungs- 
physiologische Geschehen fur sich allein 
schon eine besondereStrukturform des Leben¬ 
digen bedingt. Die gedachten Struktur- 
systeme des Korpers entsprechen indessen 


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BD. XI, HEFTS 
1906 . 


REFERATE. 


155 


nur zum Teil (Zellen, Metameren) freilebenden 
Personen des Tierreiches. Die weitaus grofiere 
Zahl bietet in ihrem Verhalten nur allgemein 
entwicklungsphysiologische Analogien zum 
Verhalten der freilebenden Geschdpfe, und 
die hauptsachlichste Analogic betrifft gerade 
die Form der Vermehrung (durch Teilung, 
Spaltung, Knospung). Alle Systeme dieser 
Art fassen wir als Biosysteme zu- 
sammen. 

Von diesen stellen sich die meisten bei 
unmittelbarer Betrachtung als zusammen- 
gesetzte Histosysteme dar, als eine Ver- 
gesellschaftung von Histomeren verschie- 
dener Ordnung, welche unter sich keines- 
wegs homolog sind. So sind die meisten 
Organe und in diesen wiederum die Zellen 
selbst zusammengesetzte Histosysteme, welche 
zunachst nur in ungleiche Komponenten 
auflosbar sind.“ Aber „jedes Biosystem samt 
den in ihnen enthaltenen, scheinbar homo- 
gen en lebendigen Massen* mufi „durch 
successive Zerlegung in die kleinsten leben- 
den Einheiten oder Protomeren auflosbar 
sein, so dafi wir auf diese Weise zu einer 
einfach gearteten Elementarstruktur kommen, 
welche der Theorie der lebendigen Masse 
zugrunde zu legen ist.“ 

„Somit ist fiir uns auf dem Felde der 
Biologie der Grundbegriff aller Dinge nicht 
der der Zelle, sondem der der lebendigen 
Masse, welche aus kleinsten spaltungs- 
fahigen Lebenseinheiten (Protomeren) sich 
zusammensetzt, und die Tatsache der Onto- 
genie, dafi alle Metazoen aus einer befruch- 
teten Eizelle sich entwickeln, darf dariiber 
nicht hinwegtauschen, dafi die Evolution des 
Lebendigen weder mit der Zelle begonnen 
hat, noch mit ihr aufhort, sondem wiederum 
im Korperinnern der hoheren Geschopfe uber 
dieselbe hinausfuhrt (Metaplasmen). 4 * 

Ein Beispiel aufsteigend geordneter Bio¬ 
systeme ware: 

I. Chromiolen, Centriolen, Chromato- 
phoren. 

II. a) Chromosomen, Mikrozentren; 

b) Myofibrillen, Neurofibrillen; 

c) leimgebende und elastische Fi- 
brillen. 

III. Kerne. 

IV. Zellen; Muskelprimitivbfindel; Ner- 
venfasern bezw. Neuronen. 

V. Muskeln, Sehnen, Nerven, Skelett- 
teile, Drusenorgane. 

VI. Metameren (eventuell Antimeren). 


Ein zweiter Hauptabschnitt behandelt in 
drei Unterkapiteln die Kerne. Zunachst 
wieder das Historische, dann den lebenden 
Kem, seine Konservierung, Farbung und die 
Kemchemie. Endlich in grofier Ausfuhrlich- 
keit die Anatomie des Kemes. 

In einem dritten Hauptabschnitt werden 
die Centren abgehandelt. Die Darstellung 
dieses Gegenstandes, auf die heute nicht ein- 
gegangen werden soil, ist natiiriich von einem 
Werte, der auch von denen nicht bestritten 
werden wird, die aus irgend welchen Griinden 
den Standpunkt nicht einnehmen mogen, 
den der Verf. der alten Zellenlehre gegen- 
tiber inne hat. Verdanken wir doch die 
wesentlichste Forderung der Kenntnis jener 
wichtigen Bildungen in erster Linie mit den 
klassischen Arbeiten des Autors. 

Der vierte und letzte Abschnitt ist die 
Grundstiitze der Heidenhainschen Proto- 
meren-Theorie, der Altmannschen Granula- 
lehre und ihrer Weiterentwicklung gewidmet. 

Der, von ihrem BegrQnder selbst schon 
in kluger Weise revidierten Granulalehre, die 
eigentlich ganz und gar sich mit den Anschau- 
ungen Naegelis, Elsbergs, Hackels, 
Spencers, Darwins, de Vries’, Wies- 
ners, Hertwigs iiber die Metastruktur des 
Plasmas deckt, wird die lichtvolleDarstellungs- 
weise des Verf. hoffentlich endlich den Platz 
erringen, den ihr kein Biologe heute mehr 
versagen darf, der unvoreingenommen sich 
uber den Stand unserer Kenntnisse Rechen- 
schaft gibt und das Bediirfnis nach einer 
theoretischen Auswertung der unmittelbar 
sich ergebenden nackten Tatsachen emp- 
findet. 

Zum Schlusse noch ein Wort iiber die 
Ausstattung des Werkes, obwohl sich ein 
solches bei denUntemehmungen desjenenser 
Verlages fast erubrigt, die durchweg in dieser 
Beziehung das Schonste darstellen, was Autor 
und Leser fiir das Buch und von ihm wiin- 
schen kdnnen. In der Illustration ist nir- 
gends gespart worden und was der Text von 
der bildlichen Verdeutlichung verlangt, das 
ist prompt gegeben worden: entsprechend 
der Bedeutung der Farbemethoden, und zwar 
gerade der Mehrfachfarbungen, fur die Diffe- 
renzierung der plasmatischen Elemente sind 
zahlreiche Figuren nach Originalen des Verf. 
oder der Autoren, in Dreifarbendruck aus- 
gefiihrt, also in dem besten und kostbarsten 
Verfahren, das fur solche Zwecke zur Ver- 
fugung steht. Besonders sei die schone 


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156 


REFERATE. 


Joum&l f. Psychologle 
_ und Neurologie. 


Kopie der Altmannschen Original-Tafel- 1 
figuren hervorgehoben. Die gesamten fibrigen 
Figuren (Raster, Strichatzung und Holzstich) 
sind aber nicht weniger vorzfiglich und aus- 
schliefilich dem Zwecke entsprechend aus- 
gewahlt. Der einfache Holzschnitt ist fast 
nur fur die einfacheren Objekte gewahlt und 
von F. Tegetmayer in der bekannten muster- 
gfiltigen Art ausgeffihrt. 

Kurz, das Werk ist in jeder Hinsicht ein 
wirkliches Kleinod unserer wissenschaftlichen 
Literatur. Dr. Max Wolff (Bromberg). 

Ziehen, Th., Die Erkennung und Be- 
handlung der Melancholie in der 
Praxis. Halle a. S. 1907. Carl Marhold. 
67 S. 2 Mk. 

Bei der grofien Haufigkeit der Depres- 
sionszustande, die dem Arzt in der Praxis 
vorkommen, ist es an sich erfreulich, wenn 
ein erfahrener Psychiater den Versuch macht, 
dies Gebiet einem weiteren Kreise von Arz- 
ten moglichst verstandlich darzustellen. Nach 
einer Definition des Begriffs der Melancholie 
macht der Verf. Angaben fiber Haufigkeit 
und Atiologie. In letzterer Hinsicht werden 
aufier mehr nebensachlichen veranlassenden 
Ursachen vor allem Erblichkeit und Gemfits- 
erschfitterungen genannt. Der endogene 
Faktor scheint mir dagegen etwas zu kurz 
gekommen zu sein. In den Kapiteln fiber 


Symptomatologie und Verlauf und Prognose 
tritt Z.s ablehnende Haltung gegen Krapelin 
natfirlich deutlich zutage; es wird z. B. ange- 
geben, im „Nachstudium trete oft eine reak- 
tive Hyperthymie 41 auf, der Ausgang sei ent- 
weder Heilung oder Tod oder sekundarer 
Schwachsinn oder chronische Melancholie 
oder „chronische Paranoia 41 . Namentlich 
letztere Behauptung halten wir im Interesse 
einer klaren Scheidung von Paranoia und 
Melancholie fur bedauerlich. Eigentfimlich 
berfihrt auch die Angabe, die „Weiterent- 
wicklung 44 der periodischen Melancholie zu 
zirkularem Irresein komme selten vor. Die 
Unterscheidung von sieben verschiedenen 
„Varietaten“ der Melancholie, die angeblich 
auch betr. des Verlaufs nicht unerheblich 
voneinander abweichen sollen, wird dem 
Praktiker kaum gelingen; ist sie doch schon 
dem Psychiater oft nur auf dem Papier mog- 
lich! Praktisch brauchbar sind dagegen die 
Angaben fiber die zweckmafiigste Art, zu 
einer klaren Diagnose zu kommen. In be- 
zug auf die Behandlung wird sich mancher 
mit der von Ziehen empfohlenen Diat (z. B. 
sollen sich Milch, Kakao, Eier, Fleisch ganz 
besonders eignen, grfine Gemfise verboten, 
1 — 2 Glas Bier aber gestattet sein) nicht 
ganz einverstanden erklaren, wenigstens hat 
sich mir eine vorwiegend vegetabilische Diat 
mehr bewahrt. Mohr-Coblenz. 




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Journal for Psychology und Neurology. 


Band XI. 


Heft 4/5. 


Ein Fall von progressiver juveniler Dentenz 

(Klinisch: Juvenile Paralyse") 

durch 

G. Janssens und R. A. Mees 

2. Arzt an der Assistent der 

Irrenanstalt „Endegeest“ Psychiatrischen Klinik in Leiden. 


Am 25. Mai 1906 starb zu „Endeg-eest“ J. S., 1884 zu Leiden geboren. 
Seine Krankengeschichte lautet wie folgt: 

Erbliche Belastung ist nicht zu vermuten, seine Mutter soli jedoch eine sehr „nervdse“ 
Frau sein. FOr Lues waren bei den Eltern keine Anhaltspunkte zu fin den, vor allem soil 
die Mutter niemals feinen Abortus durchgemacht haben. Potus wird vom Vater vemeint. 
Die Eltern teilten bei Aufnahme des Knaben liber ihn mit, dafi er sich in allem spater 
entwickelt habe als die anderen Kinder. Er lemte im Alter von ungefahr 2 Jahren gehen 
und sprechen, doch auch hierin war sein Zuriickbleiben deutlich erkennbar. Er besuchte 
die Schule vom 6. bis zum 13. Jahre, wurde regelmafiig jedes Jahr in eine hohere Klasse 
versetzt und gab seinen Lehrem keinen Grund zu Klagen: es wird mitgeteilt, dafi er be- 
sonders gut schreiben lemte. Emste Krankheiten soil er in seiner Jugend nicht durch¬ 
gemacht haben, ob er wahrend seiner ersten Lebensjahre an Konvulsionen gelitten hat, 
wird nicht angegeben. 

Im Alter von ungefahr 11 Jahren bemerkten die Eltern, dafi sich die t bereits be- 
stehenden Sprachstorungen verschlimmerten, diese Verschlimmerungen schienen progressiv. 
Zugleich fiel ihnen auf, dafi ihr Junge anfing schlechter zu gehen, und was ihnen vor allem 
auffiel, war der Stillstand, ja bald der Riickgang seiner geistigen Fahigkeiten. Der Patient, 
der mit leidlichem Erfolge die Elementarschule besucht hatte, schien ungeschickt, ein Hand- 
werk zu erlemen odeV dem Unterricht einer hoheren Schule zu folgen. 

Dies war in kurzen Ziigen die Anamnese des 15 jahrigen Jungen, als er am 24. Marz 
1899 in Endegeest aufgenommen wurde. 

Der Status praesens lautete wie folgt: Der erste Eindruck ist der eines hilfsbediirftigen 
Idioten. Er antwortet auf Fragen, zeigt jedoch so intensive Sprachstdrungen, dafi er sehr 
schwer und zuweilen Qberhaupt nicht zu verstehen ist. Spontan aufiert er sich sehr wenig. 
Er iflt allein, doch bestehen solch grobe Tremoren in seinen Handen, dafi er vor allem 
beim Trinken verschiittet und dabei Hilfe erwiinscht ist. Wiederholt ist er unreinlich. 

Befohlene Bewegungen werden willig und richtig ausgefiihrt. Einfache Rechenaufgaben, 
wie 5 X5 und 7 X5 werden falsch gelost; von seinen Schulkenntnissen scheint schon viel 
aus seinem Gedachtnis entschwunden zu sein, deutlich ist dies aus seinen geographischen 
Kenntnissen zu ersehen. 

11 


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Journal fur Psychologie und Neurologic. Bd. XI. 



G. JANSSENS UND R. A. MEES. 


Journal f. Psychology e 
und Nenrologie. 


i 5 8 


Sein Orientierungsvermdgen fur Zeit und Ort ist ziemlich gut. Es wurde bereits be- 
meikt, dafi er sich spontan wenig aufiert; er scheint jedoch wahrzunehmen, was um ihn herum 
vorgeht, denn wiederholt hort man ihn iiber sonderbare Handlungen und Aufierungen seiner 
Mitpatienten lachen. Die somatische Untersuchung ergab, dafi neben sehr starken Sprach- 
stdrungen starke Tremoren in den Fingern und Handen bestanden. Die letzteren waren 
derart, dafi Schreiben ganz unmoglich war. Auch in der ausgestreckten Zunge waren deut- 
liche Tremoren wahrzunehmen. 

Die Pupillen sind rund, von gleicher Grdfie, mittelweit und reagieren auf Licht und 
Konvergenz. Die Bewegungen der Augen sind normal. In Fundo sind keine Abweichungen 
festzustellen. 

Der rechte Facialis wird weniger stark innerviert als der linke, der rechte Mund- 
winkel steht im Ruhezustande etwas niedriger. In der linken Gesichtshalfte sind dann und 
wann fibrillare Zuckungen wahrzunehmen. 

Der Gaumen ist eng, die Zahne sind schlecht entwickelt, stehen aber nicht unregel- 
mafiig. Das Kennzeichen von Hutchinson zeigen sie nicht. 

Die Haut ist trocken und schuppig, nur die der Hande ist blau und geschwollen, 
ffihlt sich kalt an und zeigt wunde Flecken. Der Puls zahlt 88 Schlage, ist irregular und 
inaqual. In Corde und Pulmonibus ist nichts Abweichendes zu finden. Die Reflexe, 
mit Ausnahme der Periostreflexe an den Unterarmen, sind sehr hoch. Es besteht jedoch 
kein Unterschied zwischen rechts und links, Erscheinungen von Klonus sind nicht vorhanden. 
Bab in sky fehlt. Die rohe Kraft in den Handen ist gering, links ist diese deutlich geringer 
als rechts. Romberg ist nicht vorhanden; es bestehen deutliche Stdrungen beim Gehen; 
diese sind spastisch-paretischer Natur. 

Am 4. Mai d. J. ist fiber ihn vermerkt: 

Bei einem Besuche seines Vaters sagt er eine ganze Stunde nichts, murmelt nur un- 
verstandliche Worte vor sich hin. Nur mit grofler Mfihe ist er rein zu halten. Er steht 
da mit gebeugten Knieen, umherstarrend und fiber unbedeutende Dinge lachend. Es geht 
mit ihm merklich zurfick, die Nahrungsaufnahme bleibt jedoch gut. 

August 1899. Durch eine neue Untersuchung der Pupillen wird festgestellt, 
dafi beide auf Licht und Konvergenz reagieren, gleichgrofi und etwas mehr als mittel¬ 
weit sind. 

Fragen, die man ihm stellt, begreift er nicht mehr, schliefit die Augen, wenn er sie 
offnen soli. Bei einem Besuche seines Vaters bricht er in Tranen aus. 

Januar 1900. Spricht weder spontan, noch reaktiv, zeigt jedoch noch einiges Inter- 
esse ffir seine Umgebung. Aufgetragene Bewegungen werden erst nach langerem Drangen 
ausgefuhrt. 

Marz 1900. Hat grofies Vergnfigen bei der Vorffihrung der Zauberlateme und lacht 
noch frohlich, wenn er Musik hort — Er spricht uberhaupt nicht mehr, der Gang ist noch 
ziemlich. Er ist fortwahrend unreinlich und in hochstem Mafie hilfsbedfirftig, kann nicht 
mehr allein essen und mufi gefuttert werden. 

August 1900. Wird sehr b6se und schreit, wenn er gereinigt wird. Er kann nicht 
mehr gehen. 

Mai 1901. Patient reagiert nur noch auf Nahrungszufuhr; sowie man ihm Speise 
vorhalt, sperrt er den Mund weit auf wie ein junger Vogel und verschluckt gierig die ge- 
reichte Nahrung. Er reagiert jedoch wie ein Automat, nicht allein, dafi er keinen Unter¬ 
schied mehr zeigt in der Reaktion auf die Art der gereichten Speisen, sondem auch bei 
jedem Gegenstand, den man vor seinen Mund bringt, — einen Schlfissel oder etwas anderes 
— offnet er diesen sofort wagenweit. 

Verhaltnismafiig schnell nach seiner Aufnahme war also eine Dementia ultima er- 
reicht. Das Korpergewicht, das bis dahin konstant 45 kg betragen hatte, stieg langsam 
bis zu 48,2 kg (Juni 1902). 1903 und 1904 schwankte es zwischen 42 und ungefahr 47 kg, 

um danach langsam abzunehmen. Im Dezember 1905 betrug es nur 34 kg und am 1. Mai 
1906, drei Wochen vor dem Exitus letalis, war es auf 33 kg reduziert. Die Gewichtsabnahme 
war um so auffallender, als die Nahrungsaufnahme eine sehr gute war, eine Tatsache, die 
man oft bei Paralyse findet. 


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BD - X ^^® FT 4 < 5 EIN FALL VON PROGRESSIVER JUVENILER DEMENZ. 


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Von psychischem Leben war wahrend der letzten 6 Jahre seines Aufenthalts in der 
Anstalt keine Rede mehr. Der unreinliche Kranke safi halbaufgerichtet im Bett, stunden- 
lang an den Decken pfluckend, steckte das Herausgepfluckte jedesmal in den Mund, oder 
er rieb sich die Hande. 

Gefahr fftr Decubitus drohte stets, und in den letzten Monaten vor seinem Tode war 
ein leichter Druckbrand trotz vieler Sorgen und Muhe nicht mehr zu vermeiden. In der- 
selben Zeit entwickelten sich starke Kontrakturen in den unteren Extremitaten. 

Am 25. Mai 1906 starb das sehr abgemagerte, kindlich aussehende Individuum. 

Kollege van der Kolk, auf dessen Abteilung der Patient verpflegt 
wurde, stellte uns die Krankheitsgeschichte zur Hand und beschrieb unter 
Nr. 29 in seinem Aufsatze: Lumbalpunktie en Cytodiagnostiek 1 ) die Resultate 
der verschiedenen bei dem Patienten gemachten Lumbalpunktionen, wie folgt: 

27. Nov. 1903 Lumbalpunktion: Ergebnis: negativ. 

21. Jan. 1904 „ „ negativ. 

19. April 1904 „ „ positiv. 

29. Sept. 1904 „ „ Reaktion discrete. 

Kurz resiimiert haben wir es also mit einem Kranken zu tun, der von 
Jugend an in geringem Grade zuriickgeblieben war, niemals vollkommen gut 
lief und sprach, jedoch mit gutem Erfolge die Elementarschule besuchen 
konnte-. Nach seinem 11. Jahre war dagegen von weiterer Entwicklung keine 
Rede mehr, im Gegenteil, erst auf somatischem Gebiet (Sprach- und Gang- 
storungen), spater auf intellektuellem Gebiet zeigten sich nicht allein Spuren 
von Stillstand, sondern auch von deutlichem Riickgang. Es entwickelte sich 
eine progressive Demenz, die spater schnell einen Grad erreichte, bei dem 
kaum ein Weiterleben moglich war. Zugleich bildeten sich eine Anzahl Lah- 
mungserscheinungen. Erwagen wir nun noch weiter, dafi als dystrophische 
Stigmata der hereditaren Lues in diesem Falle gelten konnten: der Infanti- 
lismus, der angeborene leichte Grad von Imbezillitat, die schlechten Zahne, 
der enge Gaumen und nicht weriiger der plotzliche Stillstand der Entwicklung 
im Alter von 11 Jahren, dann erscheint die Diagnose: „juvenile Paralyse 4 * 
mehr als wahrscheinlich. 

Nur zwei Abweichungen, die wir bei Paralyse so oft antreffen, namlich 
Storungen im motorischen Apparat des Auges und die paralytischen Anfalle, 
fehlten, um das Syndrom der genannten Krankheit vollstandig zu machen. 

Es ist jedoch bekannt, dafl diese beiden Erscheinungen, sowohl lichtstarre Pu- 
pillen als auch paralytische Anfalle, fehlen konnen. Die reflektorische Pupillen- . 
starre kommt namlich nach verschiedenen Autoren in 50 bis 68°/ 0 der Falle 
vor, wahrend die paralytischen Anfalle in ungefahr demselben Prozentsatz auf- 
treten sollen. Wo nun intensive Sprachstorungen, starke Tremoren, fibrillare 
Zuckungen in den Gesichtsmuskeln, rechtsseitige Facialislahmung und spastisch- 
paretische Erscheinungen in den unteren Extremitaten vorhanden waren, konnte 
das Fehlen der erstgenannten schwerlich als Argument gegen die gestellte 
Diagnose gelten. Nur ist es ungewohnt, dafi sich bei solch einem demen ten 
Kranken erst nach 6 Jahren Kontrakturen in den untersten Extremitaten ent¬ 
wickelten. 


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*) Psych, und Neurol. Bl. 1905, S. 185. 



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Journal f. Psychologie 
und Neorologie. 


Dafl die Lumbalpunktion nur einmal in den 4 Versuchen positiv ausfiel, 
und doch dies einmalige Resultat wahrend des Lebens des Patienten als unter- 
stiitzendes Argument fur die Diagnose auf juvenile Paralyse angesehen wurde, 
diirfte auf den ersten Blick fremd erscheinen. Durch van der Kolk wird 
jedoch dieserhalb bemerkt, dafl die Unregelmafiigkeit der cytologischen Re- 
sultate (Erfahrungen auch durch Ac hard, Nissl und andere zuweilen bei adulter 
Paralyse gemacht) aus der verhaltnismaflig geringen Menge Zellenelemente in 
den c. s. Fliissigkeiten erklart werden mufl, wodurch uns technische Fehler 
unterlaufen, die bei grofierem Zellenreichtum mehr oder weniger unbemerkt 
bleiben 1 ). 

Naher wird die Richtigkeit dieser Auffassung durch die histo-patholo- 
gische Untersuchung der kiirzlicb succombierten Nr. 30 und 32 aus van der 
Kolks Aufsatz befestigt, die bei wechselnden Punktionsresultaten wahrend 
des Lebens, post mortem alle fiir Paralyse typische Veranderungen in Cere¬ 
brum und Meningen zeigten. 

Diese klinische Diagnose wurde jedoch schon gleich bei der Sektion 
ins Wanken gebracht. Diese, die I x / 2 Stunden nach dem Tode stattfand, 
brachte das Folgende ans Licht: 

Sektionsbefund. Die Schadeldecke ist symmetrisch, enthalt wenig DiplOe. Die 
Dura ist nicht mit dem Schadel verwachsen. Es besteht eine starke Hydrocephalus externus. 
Pacchionische Granulationen fehlen ganzlich. Die Meningen sind nirgend verdickt oder 
triibe. Die Konfiguration der Windungen ist uberall durch dieselben hin deutlich wahr- 
zunehmen. Die Pia mater lafit sich leicht entfemen. 

Es besteht eine sehr starke Atrophie, die Sulci sind weit und die Windungen schmal. 
Das Cerebrum wiegt 910 g und ist von sehr fester Konsistenz. Die Ventrikel scheinen nicht 
ausgedehnt, nur maflige Hydrocephalus internus 1 st vorhanden. In dem 4. Ventrikel be- 
stehen einige wenige Ependymgranulationen. 

Aufier ein paar kirschkemgrofien tuberkulosen Herden in der rechten Lungenspitze 
und dem Verwachsensein der Pleurablatter an derselben Seite lieferte die Korpersektion 
nichts Besonderes zutage. Vor allem bestand keine Arteriosklerose und schienen Milz 
und Leber makroskopisch vollkommen normal. Dasselbe gait von den Nieren. 

Wir sagten oben, dafl das Sektionsergebnis unsere Diagnose ins Wanken 
brachte, immerhin von Meningitis war keine Spur zu finden. Nun ist Me¬ 
ningitis eine bei Paralyse so konstant vorkommende Erscheinung, dafl mit 
Recht schon lange fur die pathologisch-anatomische Diagnose diesem Symptom 
grofie Bedeutung zuerkannt wird. Alzheimer (Nissl und Alzheimer, Histo- 
logische Arbeiten, Seite 25 und 35) und Cramer behaupten, dafl bei Para¬ 
lyse in keinem Fall Veranderungen der Meningen fehlen. In 170 Fallen, wo 
die Diagnose ohne Zweifel auf Paralyse gestellt werden konnte, fehlten ma¬ 
kroskopisch sichtbare Veranderungen an der Pia nur in 23 Fallen. 

Um Sicherheit zu bekommen, wurde beschlossen, das ganze Cerebrum 
so genau wie moglich nach verschiedenen Methoden zu untersuchen. 

Das Cerebrum wurde ganz aufbewahrt, die eine Halfte in 10°/ 0 Formol, 
die andere in 96% Alkohol. Auflerdem wurden viele Stiickchen in 5% Bi- 
chromas kalicus gelegt und fixiert. Eine grofie Anzahl Stiickchen wurden 
aus beiden Hemispharen zur Untersuchung genommen und auf verschiedene 


*) Psych, und Neurol. Bl. 1905, Seite 235. 


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BD * 4/6 EIN FALL VON progressiver juveniler demenz. 161 


Weisen nachbehandelt. Auf einem Schema wurde genau angegeben, welchfc 
Stiickchen zur naheren Besichtigung aus dem Cerebrum genommen waren. 

Die Untersuchuag fand hauptsachlich mit in Celloidin eingebettetem Ma¬ 
terial statt: es diirfte wahr sein, besonders fiir die Nissl-Methode, dafi man 
schonere Bilder erhalt, wenn man diese Methode auf nicht eingebettetes Ma¬ 
terial anwendet, dagegen wiegen unseres Erachtens die Nachteile nicht auf. 

Es ist namlich nicht selten darum zu tun, neben den Veranderungen 
der Ganglienzellen und Gliaelemente uns ein Urteil liber das piale Gewebe 
und die Gefafie zu bilden. An nicht eingebettetem Material wird solches nur 
teilweise gliicken, weil nicht allzu selten die Pia vor dem Messer weicht oder 
iiber den Schnitt hinweggezogen wird. Nicht selten kann man iiberdies 
wahrnehmen, dafl Gefafie aus dem Gewebe herausgerissen werden, und je 
kranker die Gefaflwand ist, desto ofter wird derartiges vorkommen. So ist es 
uns z. B. mehrmals passiert, dafi wir Schnitte von nicht eingebettetem Material 
untersuchten, worin wir aus allerlei klinischen Anhaltspunkten Gefafiverande- 
rungen und vor allem Infiltrate in den endadventitiellen Gefafischeiden meinten 
erwarten zu diirfen und doch solche auf einmal vermifiten oder dann nur in 
sehr geringem Mafie antrafen. Sobald man aber Kontrollschnitte von ein¬ 
gebettetem Material untersuchte, fand man sehr eraste Gefafiveranderungen, 
sehr starke Infiltrate. Die veranderten, infiltrierten Gefafie waren ausgerissen, 
und an deren Stelle fand man in dem nicht eingebetteten Gewebe nur grofie 
Offnungen und Liicken. 

Um kurz zu gehen: Die zu verschiedenen Zwecken ausgeschnittenen 
Stiickchen wurden je nach der Vorhartung nach den Methoden von Nissl, 
von Bevan-Lewis und Weigert untersucht. Aufierdem wurde die Elastica- 
Methode von Weigert wiederholt angewendet, um mogliche Gefafiveranderungen 
feststellen zu konnen, und zudem wurden von in Formol gehartetem Material 
Schnitte mit dem Gefriermikrotom angefertigt und mit Sudan III und Hama- 
toxylin gefarbt, um fettige Zerfallsprodukte in Ganglienzellen, im Protoplasma- 
korper der Gliazellen, in der endadventitiellen Gefafischeide und im Proto¬ 
plasma der Gefafiwandzellen selbst anzeigen zu konnen. Endlich wurden noch 
verschiedene Stiickchen aus der Formolfliissigkeit in 5% Bichromas kalicus 
nachgehartet und die Schnitte nach Weigert-Pal (Modification Jelgersma) ge¬ 
farbt. 

So wie es leider nur allzuoft passiert, gliickte in diesem Falle wahrscheinlich 
infolge der langdauernden Agone die Weigertsche Gliafarbung nicht. Die 
Methode von Bevan-Lewis, die eigentlich nur als Vervollstandigung fiir die 
Obersicht der Gliaveranderungen dienen kann, mufite darum in diesem Falle 
in ausgebreitetem Mafie angewendet werden. Wer diese Methode haufig an¬ 
wendet, wird sicher manchmal enttauscht worden sein. Das Schneiden unter 
Seifenwasser des nicht eingebetteten, aber mit Siegellack aufgeklebten Mate¬ 
rials erfordert schon einige Gewandtheit. Aufierdem mufi man sehr genau 
aufpassen, wann das Material die geniigende Harte erlangt hat; schneidet 
man zu friih, dann kratzt man mit dem Messer wirklich das Gewebe weg; 
schneidet man zu spat, dann rollen sich die Schnitte aufs Messer auf, 
und das sehr sprode Gewebe ist unmoglich zu entrollen. Wir umgehen auf 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


dem Laboratorium von Professor Jelgersma nun fast immer diese Schwierig- 
keiten, indem wir sehr diinne und kleine Stiickchen von in Bichromas ge- 
hartetem Material, die 4 bis 6 Wochen in der Fliissigkeit verblieben, in toto, 
in Nigrosin oder in Karmin farben. Lafit man diese Farbung wahrend 7 bis 
10 Tage in dem Brutofen bei +37° stattfinden, dann kann man das Material 
in Paraffin einbetten, diinne Coupes anfertigen und sehr brauchbare Praparate 
bekommen. 

Nissl-Praparate. Die Pia ist schmal, nicht verdickt, doch sehr gefafi- 
reich. Die groflen, bleichen Kerne der Fibroblasten, wiederholt zu Gruppen 
von 2 bis 4 vereinigt, lassen sich bequem erkennen. Nur mit Miihe findet 
man dann und wann in den Maschen des pialen Gewebes, und dann oft 
in der Nahe der Gefafie, einen einzelnen Lymphocyten. Wenn in diesem 
Falle von Meningitis die Rede sein kann, ist es jedenfalls in aufierst leichtem 
Grade. 

Bei kleiner Vergrofierung hat die Rinde ein eigenartiges Aussehen. Sie 
ist schmal, und die Ganglienzellen sind in gedrungener Kolonnadenform an- 
geordnet. Der Saulenbau selbst ist deutlich erhalten, und an den meisten 
Stellen kann man die verschiedenen Schichten der Gehirnrinde leicht erkennen. 
Weder von Gefafivermehrung, noch von Infiltraten ist bei dieser Vergrofierung 
etwas wahrzunehmen. 

Besieht man die Praparate mit der Immersion, dann erscheinen die 
Ganglienzellen sehr abgeandert; selbst das Protoplasma der kleineren ist 
vakuolisiert, und in Schnitten, die von solchen Stiickchen stammen, die nicht 
zu lange im Alkohol lagen, kann man mehrfach in den Vakuolen gelbes, 
kornartiges Pigment antreffen. 

Viele grofie Gliakorper, meistens zwei ziemlich grofie Kernkorper enthaltend, 
sind zwischen die Ganglienzellen und in der Nahe der Gefafie ausgestreut. 
Einige liegen sehr dicht an den Ganglienzellen, haben sozusagen den Proto- 
plasmaleib dieser Zellen fur sich ausgebuchtet, so dafi sie in eine Nische zu 
liegen kommen. Es gehort nicht zu den Seltenheiten, dafi man Gliakeme in 
den Ganglienzellen selbst antrifft. 

Die Protoplasma-Auslaufer der Ganglienzellen sind als feingekomte, diinne, 
verzweigte Streifen, worin sehr oft kleine Vakuolen mit gelbem Pigment sind, 
iiber grofie Abstande zu verfolgen. Dadurch bekommt das Gewebe zwischen 
den Ganglienzellen ein eigenartiges schmutziges Aussehen. 

Die Randzone ist sehr kernreich, enthalt dieselben groflen bleichen Glia- 
kerne, die schon beschrieben wurden. Zuweilen liegen sie in Gruppen von 
3 bis 4 beieinander. Nur selten kann man eine Farbung eines Protoplasma- 
saumes um dieselbe hin wahrnehmen, vielfach findet man jedoch sowohl in 
dieser, als in den tieferen Schichten der Rinde in der unmittelbaren Nahe 
der Gliakeme feine Kornchen gelbgriin gefarbten Pigments liegen. 

Verhaltnismafiig oft kann man in der ersten Schicht der Rinde Stabchen- 
zellen antreffen, Zellen mit einem dunklen, chromatinreichen Kern, die vieler- 
lei Eindriicke und Kriimmungen zeigen. Die langen, diinnen Protoplasma- 
streifen dieser Zellen sind hell gefarbt und fein gekornt. Nur selten trifft 
man dieselben Elemente in tieferen Schichten an. 


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BD * XI i9ol FT 4/5 EIN FALL VON PROGRESSIVER juveniler demenz. 163 


Es 1st wohl selbstverstandlich, dafi in Hinsicht auf die klinische Diagnose 
mit besonderer Sorgfalt nach dem Vorhandensein von Plasmazellen und 
Lymphocyten in den endadventitiellen Gefaflscheiden gesucht wurde. Trotz- 
dem sehr viele Schnitte aus einer grofien Anzahl verschiedener Stiickchen 
aus den meist verschiedenen Teilen der Gehirnrinde durchsucht wurden, gliickte 
es nicht, Plasmazellen in der Gefaflwand zu finden. Nur nach sehr langem 
Suchen konnten einige sehr vereinzelte dunkelgefarbte Kerne, ohne Proto- 
plasmasaum, als Lymphocyten in der Lymphscheide einiger Gefafle der weifien 
Substanz gefunden werden. 

Besieht man die Wande der Gefafle selbst genauer, dann fallt es auf, 
wie sehr kernreich diese sind. Sowohl die Kerne der Endothel- als der 
Adventitiaelemente sind dunkel gefarbt und enthalten viel feinkorniges Chroma¬ 
tin. Viele dieser Elemente haben einen deutlichen Protoplasmasaum; dieses 
Protoplasma liegt in der Langsrichtung des Kernes geordnet, so dafi sehr 
lange Stabchen geformt werden. Sehr oft ist dieses Protoplasma mit feinen, 
gelbgriin gefarbten Kornchen vollgepfropft. 

Auffallend oft stoflt man weiter auf sehr diinnwandige Kapillaren, in 
denen man wiederholt kein Lumen sehen kann. Als Bogen lassen sich diese 
kleinen Gefafle oft iiber grofie Abstande durch das Praparat verfolgen. 

Wucherungsprozesse an den Endothelien, Gefafiprozesse und Neubil- 
dungen von Gefaflen konnten nicht gefunden werden. Ebensowenig war 
eine Spur von Bildung sogenannter Gefafipakete da. Nur an der Arteria basilaris 
konnte man eine deutliche Kernvermehrung der Endothelzellen in neuen 
Schichten wahrnehmen. 

Die zur Kontrolle angefertigten Elastica-Praparate brachten nichts Neues: 
auch in diesen war nichts weder von Wucherungserscheinungen an der Intima, 
noch von Spaltung oder Regeneration der Membrana elastica zu bemerken. 
Nur in einem Praparat der ebengenannten Arteria basilaris und eines anderen 
kleinen Pialgefafies, nach Weigcrts Elastica-Methode.gefarbt, konnte eine ziem- 
lich starke Vermehrung der elastischen Fasern an einer bestimmten Stelle der 
Gefaflwand, in der Membrana elastica, gezeigt werden. 

Von dem in 5 °/ 0 Bichromas gelegten Material wurden Schnitte mit Nigro- 
sin gefarbt, und scheint es deutlich, dafi hier eine ansehnliche Vermehrung 
des Gliagewebes stattgefunden hat. Besonders deutlich kommt es hier ans 
Licht, dafl die Randzone sehr stark' verbreitert ist. Obrigens findet man in 
den verschiedenen Schichten der Gehirnrinde wenig gut geformte Spinnenzellen, 
viele Gliakerne sind dagegen von grofien Lappen Protoplasma umgeben; sie 
sind von unregelmafiiger Form und umranden vielfach die Gefafiwande. Einige 
dieser Gliaelemente liegen augenscheinlich frei im Gewebe, ein einziges Mai 
konnte man dagegen wahrnehmen, wie das Protoplasma dieser Zellen wie ver- 
kettet war mit dem der Ganglienzellen, so dafi die Grenzen zwischen beiden 
unmoglich mehr festzustellen sind. 

In der weifien Substanz des Cerebellums war dagegen eine starke Ver- 
mehrung der grofien Spinnenzellen wahrzunehmen. 

Schnitte mit Sudan III nach Herxheimer gefarbt, liefien noch deutlicher 
als in den Nissl-Praparaten sehen, in welch hohem Verfallzustande sich das 


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und Neurologic 


Nervengewebe befand. Selbst bei kleineren Ganglienzellen war das Protoplasma 
wie mit Pigment vollgepfropft; Gliakerne waren von einem Saume feinerer 
und groberer roter Korner umgeben. Das Protoplasma der Gefaflwandzellen 
zeigte dieselben roten Korner, und besonders in der weifien Substanz waren 
die Gefaflscheiden mit grofien Brocken Pigment gefullt. 

In den Markscheidepraparaten nach Weigert-Pal war eine sehr deut- 
liche Verminderung der Fasern wahrzunehmen. 

Nach obenstehendem ist es nicht deutlich, mit welchetn Zustande man 
es hier zu tun hat. Klinisch hatten wir einen Kranken vor uns, der von Haus 
aus korperlich und geistig schlecht entwickelt war, den man ohne weiteres 
mit dem Worte „Imbezil“ bezeichnet haben wiirde, hatten sich bei diesem 
Jungen nicht Erscheinungen einer fortschreitenden Demenz gezeigt. Die 
Demenz erreichte iiberdies einen solchen Grad, daft kaum das Fordeben 
moglich war. Die einzige Aufierung, die dem Patienten schliefilich noch 
mdglich war, war eine Art Gahnreflex, wie man solche bei jungen Vdgeln 
wahrnimmt. Zugleich hatten sich starke Lahmungen und Kontrakturen in 
den unteren Extremit&ten entwickelt. 

Fragt man sich, welche bekannten Krankheiten in jugendlichem Alter 
zu einem derart schweren Grade von Demens flihren, dann kann man nur 
deren vier nennen, namlich die amaurotische Idiotie, die juvenile Para¬ 
lyse, einige Falle von Idiotismus, bei dem von Anfang an schwere epi- 
leptische Insulte auftreten und endlich ein Krankheitsbild, zuerst durch 
Homin unter dem Namen „Lues hereditaria tarda“ beschrieben. Die letzt- 
genannte Krankheit wurde durch Homh bei mehreren Gliedern einer Fa- 
milie wahrgenommen; sie entsteht in jugendlichem Alter unter Erscheinungen 
von Schwindelanfallen, Unsicherheit beim Gehen und fortschreitender Ab- 
nahme des Gedachtnisses und des Verstandes. In einem sp&teren Stadium 
der Krankheit kamen hinzu Sprachstorungen, Spasmen und Kontrakturen, 
Inkontinenz, Schluckbeschwerden, leichte Konvulsionen und zuweilen auch 
Krampfe, wahrend inzwischen die Demenz den hochstmoglichen Grad er¬ 
reichte. Der Tod trat erst nach einer Reihe von Jahren ein. Die anato- 
mische Untersuchung lehrte in diesen Fallen, dafi man es zu tun hatte mit 
sehr ausgebreiteten endarteriitischen Veranderungen, Atrophie von markhal- 
tigen Fasern, vor allem in den Stirnwindungen, neben leichten Veranderungen 
an den Pyramidenzellen und geringen Gliawucherungen. 

Homh nennt in seinen „Arbeiten aus dem Pathologischen Institut der 
Universitat Helsingfors, Band I, Heft 3“ als anatomische Veranderungen bei 
der von ihm beschriebenen Krankheit: sklerotische Veranderungen an den 
Gehirngefafien und an vielen Korperarterien. In den drei von ihm unter- 
suchten Fallen waren Erweichungsherde in der Mitte der Nuclei lentiformes 
zu finden. Aufierdem bestand in diesen Fallen eine deutliche Lebercirrhose 
und die Milz war hart und vergroflert. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung erschien die Pia mit Lymphocyten 
infiltriert, und es war als auffallende Erscheinung zu notieren, dafi in der Ge- 
himrinde die Gefafiwande sklerotisch oder hyalin verdickt waren und sich in 
einigen Fallen in einem Zustande von fettig-korniger Degeneration befanden. 




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BD ’ XI i9Cfc FT4/5 EIN FALL VON PROGRESSIVER juveniler demenz. 165 

In einem Falle waren aufierdem in der Gegend der Gefafle zahllose kleine 
Hamorrhagien zu bemerken. Die Gefaflscheiden waren sparsam mit einigen 
wenigen Lymphocyten infiltriert und enthielten viel Pigment 

Zu unserem Bedauern haben wir keine nahere Untersuchung von Leber, 
Nieren und Milz angestellt; diese Organe machten jedoch makroskopisch dem 
pathologischen Anatomen den Eindruck, ganz normal zu sein. An der Aorta 
und anderen Gefafien war in diesem Falle keine Spur von Arteriosklerose 
vorhanden 1 ). 

Da in diesem Falle weder klinisch noch histologisch von amaurotischer 
Idiotie oder Idiotie mit Epilepsie kombiniert die Rede sein kann, ist es also 
von Interesse zu erwagen, ob man bei der patho-histologischen Untersuchung 
Ankniipfungspunkte finden kann, die fur eine juvenile Paralyse oder fiir die 
ebengenannte Lues hereditaria tarda sprechen. 

Die Moglichkeit einer juvenilen Paralyse glauben wir mit Sicherheit aus- 
schliefien zu diirfen und zwar aus folgenden Griinden. Obwohl man iiber die 
Resultate der histologischen Untersuchung von Gehirnen solcher Personen, 
die psychotisch gestorben waren, nicht mehr so begeistert sein diirfte wie vor 
einigen Jahren, und obwohl das Vertrauen bei vielen empfindlich erschiittert 
sein mag, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dafi die Arbeiten Nissls und 
Alzheimers uns hauptsachlich iiber luetische und paraluetische Veranderungen 
des Cerebrums viel Aufklarung gebracht haben. 

Beachten wir die Veranderungen, die beide Autoren als stets bei Para¬ 
lyse vorkommend nennen, dann treffen wir an: 

I..In alien Fallen von Paralyse ist die Pia verandert, das Bindegewebe- 
element zeigt progressive und regressive Veranderungen, und als besonderes 
Kennzeichen kann gelten, dafi die Pia stark mit Plasmazellen, Lymphocyten 
und ,,Mastzellen“ infiltriert ist. 

2. Wucherungen der Gefafiwandelemente: Neubildung elastischen Gewebes, 
Wucherung der Endothelien, Neubildung von Gefafien. Aufierdem findet man 
stets eine Wucherung der Adventitiaelemente. 

3. Eine Erweiterung und Infiltration der adventitiellen Lymphscheiden 
mit Plasmazellen und Lymphocyten. 

4. Das Vorhandensein von grofien Mengen Stabchenzellen. 

Fiihren wir nun noch an, dafi bei Paralyse Markscheiden und Nerven- 
fasern sehr schnell und in ausgedehntem Mafle vernichtet werden, dafi 
die Ganglienzellen entweder dermafien vernichtet werden oder durch neu- 
gebildete Gefafle auf solche Weise verdrangt werden, dafi ihre Anordnung in 
regelmafiige Kolonnaden verschwindet, dann haben wir die hauptsacblichsten 
Criterien fiir Paralyse genannt. 

Schon makroskopisch war es bei der Sektion aufgefallen, dafi von einer 
Meningitis keine Rede sein konnte. 

Die mikroskopische Untersuchung bestatigte diese Ansicht. Eine Gefafi- 
vermehrung im Gehirngewebe selbst war nicht deutlich. Ebensowenig waren 
deutliche Wucherungserscheinungen an den Gefafiwandzellen wahrzunehmen. 

*) Siehe aufierdem de la Chape lie: „Ein Fall yon Lues hereditaria 4 *. Dasselbe Heft „Aib. 
Pathol. Instit. der Univ. Helsingfors 44 . 


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und Neurologic. 


Wohl waren die Gefafiwande sehr kernreich, doch waren die Kerne vielfach 
sklerotisch und pyknomorph gefarbt. Nur an der Arteria basilaris und an 
einem anderen kleinen Pialgefafie waren deutliche Wucherungserscheinungen 
der Intima (Neubildung elastischen Gewebes) zu sehen. Endlich konnten wir, 
obwohl wir viele Schnitte, aus sehr verschiedenen Stiickchen herriihrend, 
durchsuchten, in den Gefafischeidcn keine einzige Plasmazelle vorfinden. 

H. Vogt ist sicher zu weit gegangen, als er das haufige Vorkommen von 
Plasmazellen in den Lymphscheiden als so charakteristisch fur die Paralyse 
auffaflte, dafi er nicht zogerte, bei der histologischen Untersuchung des Ge- 
hirns eines epileptischen Idioten, in dem er viele Plasmazellen fand, die 
Diagnose auf juvenile Paralyse zu stellen. Nissl, in dessen Laboratorium 
Vogt diese Untersuchungen machte, hat sich spater zuriickhaltender iiber den 
differential - diagnostischen Wert der Plasmazellen bei der Paralyse geaufiert. 
Doch ist bis jetzt wohl mit Sicherheit erwiesen, dafi bei klinisch-sicheren Pa- 
ralyse-Fallen stets deutlich Plasmazellen in den endadventitiellen Lymphraumen 
vorhanden waren. U. a. haben hierzulande Jelgersma und Bourn an diese 
Tatsachen bestatigt. 

Noch eine andere Moglichkeit miissen wir in unserem Falle in Betracht 
ziehen. Es ist namlich eine bekannte Tatsache, und Alzheimer weist aus- 
driicklich darauf hin, dafi man an Stellen, wo die Atrophie einen grofien Umfang 
angenommen hat (vor allem soli das der Fall sein bei den sogenannten aty- 
pischen Paralysen) oft nur mit Miihe noch wenige degenerierte Plasmazellen 
erkennen kann. Wo nun in diesem Falle das Cerebrum so hochgradig und 
gleichmafiig atrophiert ist, ist die Moglichkeit, dafi friiher reichlich vorhandene 
Plasmazellen jetzt ganzlich verschwunden sind, sicher nicht sofort auszuschlie- 
Ben. Auffallend wiirde dann nur bleiben, dafi man in keinem einzigen Teil 
des Cerebrums (und wir wissen, dafi der paralytische Prozefi dasselbe nicht 
gleichmafiig iiberfallt) auch nur eine einzige Plasmazelle vorfand. Dafi aber 
nicht unbedingt bei langwierigen Prozessen Plasmazellen an Zahl bedeutend 
abnehmen, geht aus dem Folgenden hervor. Zufallig wurden in dem Labo¬ 
ratorium von Prof. Jelgersma in diesen Tagen einige Schnitte aus einem 
alten, stark eingeschrumpften encephalitischen Herd, der sicher mehr als 
18 Jahre alt war, angefertigt. An verschiedenen Stellen konnte man in den 
Gefafischeiden gut geformte und gut erkennbare Plasmazellen erkennen. Unsere 
aufgestellte Behauptung diirfte moglich sein, sie gehort aber sicher zu 
den aufierst unwahrscheinlichen. Das dritte Kennzeichen, das Vorhandensein 
von Stabchenzellen, fiel in diesem Fall positiv aus; in der Randzone sowohl, 
als auch in der zweiten und dritten Schicht der Gebirnrinde konnte man diese 
wiederholt antreffen. 

Vergleichen wir nun noch unseren Befund, dafi von einer allgemein ver- 
breiteten starken Gliawucherung in diesem Fall keine Rede sein kann, mit 
der Tatsache, dafi diese bei alten paralytischen Prozessen stets iibermaflig an- 
wesend ist, dann fallen eigentlich alle histopathologischen Kenn- 
zeichen fur die Paralyse bis auf eins negativ aus. 

Nun ist auf der Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater 
von Gaupp und Alzheimer die Frage der atypischen Paralysen hervor- 


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BD * M i9oa 4/5 EIN FALL VON pROGRessiver juveniler demenz. 167 


gehoben worden, und ist eine besondere Gruppe von Fallen von ihnen be- 
sprochen worden, welche sie versuchsweise', „stationare Paralyse* 4 genannt haben. 
Wenn wir unseren Fall klinisch betrachten, so gilt fur diesen weniger als fur 
die von Gaupp beschriebenen der Name „stationare Paralyse**. Ist doch von 
uns ein fortwahrender, zwar langsam progressiver Verlauf konstatiert worden. 
Histologisch hingegen ist einiger Anklang an den von Alzheimer beschrie¬ 
benen Befund zu finden 1 ). Auch wir fanden: leichte Gefafiwucherung, geringe 
Endothelabanderungen, Zusammenriicken der Ganglienzellen und Gliawuche- 
rung. Jedoch war in unserem Falle keine einzige Plasmazelle aufzufinden. 
Auch von einer atypischen Paralyse in Bezug auf die Qualitat des Prozesses, 
wobei infiltrative Erscheinungen ganz in den Hintergrund treten, kann also 
hier keine Rede sein. 

Das klinische Krankheitsbild konnte vielleicht einige Ahnlichkeit haben 
mit dem durch Homh beschriebenen, die Resultate der histologischen Unter- 
suchung sind aber auch in dieser Richtung nicht befriedigend und zwar, weil 
eigentliche ernste endarteriitische Veranderungen fehlen. Schliefilich konnen 
wir demnach keine patho-histologische Diagnose stellen. 

Die Bedeutung der klinisch einmal festgestellten Lymphocytose der Cere- 
brospinal-Fliissigkeit ist in diesem Fall nicht sogleich deutlich. Sowie bereits 
mitgeteilt, wurden einige Lymphocyten in der Pia gefunden; von einer Me¬ 
ningitis exsudativa von einiger Bedeutung konnte jedoch keine Rede sein. 
Nur mit einigem Vorbehalt wurden wir das Resultat der Punktion, sowie 
das Finden von Lymphocyten in den Meningen in diesem Falle als Beweis 
fiir die luetische Art der Psychose gelten lassen diirfen. Das Bekannteste in 
dieser Richtung ist ein von Nissl beschriebener und untersuchter Fall. Es 
betraf einen an einer Form von Gehirnlues leidenden Mann. Die wiederholt 
gemachte Punktion hatte stets ein positives Resultat. Die nach dem Tode 
untemommene histologische Untersuchung der Meningen lehrte, dafi von 
einer exsudativen Meningitis keine Rede war: diese trug einen rein hyper- 
plastischen Charakter. Aufierdem ist es bekannt, dafi bei Luetikern, ohne dafi 
das zentrale Nervensystem in Mitleidenschaft gezogen ist, wiederholt Lympho¬ 
cytose gefunden wurde, eine Tatsache, die viele verlockt hat, die ganzlich 
in der Luft hangende Theorie der ,,Meningealen Reizung** anzunehmen, eine 
Meinung, die Merzbacher (Centralblatt fur Nervenheilkunde und P 9 ychiatrie 
Nr. 210, 211 und 212) u. a. aus guten Griinden bestreitet. 

Auch E. Meyer (Untersuchungen des Liquor C. S. bei Geistes- und 
Nervenkrankheiten, Arch. f. Psych., Bd. 42, Heft 3) stimmt ihm teilweise bei, 
doch ist dieser iiberzeugt: ,,dafl die Syphilis am ehesten in den Friihstadien 
Lymphocytose hervorruft, wie es z. B. Rosenthal annimmt**. 

Die Zeit, da das Erkennen einer deutlichen Lymphocytose in der Cere- 
brospinal-Fliissigkeit, mit Ausnahme einiger wenigen Krankheiten, als Beweis 
gait, dafi man es mit einem Fall luetischer oder paraluetischer Natur zu 
tun hatte, liegt jedoch hinter uns. Man ist in der Beurteilung des Wertes 
dieses klinischen Zeichens viel vorsichtiger geworden, seit niemand ge- 


l ) Der Fall Frau K. Zentralblatt fiir Nervenheilk. und Psych. Nr. 245, Seite 709. 


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G. JANSSENS UND R. A. MEES. 


Journal f. Psychology© 
und Neurologic. 


ringer als Alzheimer 1 ) die Mitteilung machte, dafi Lymphocyten zuweilen 
selbst bei an Arteriosclerosis Cerebri Leidenden vorkommt, die niemals 
psychotische Erscheinungen zeigten. Wir konnen also nicht mit Sicher- 
heit einen deutlichen genetischen Zusammenhang mit hereditarer Lues fest- 
stellen; wo in der Anamnese keine beweisenden Momente, die in diese Richtung 
deuten, zu finden sind, darf wohl sicher dem Vorkommen einer Lymphocytose 
in diesem Falle kein zu grofler Wert beigemessen werden. 

Wir hoffen in obenstehenden Zeilen deutlich gemacht zu haben, dall 
un6er Fall nicht einzureihen 1 st in ein bis jetzt bekanntes Krankheitsbild. Ein 
Analogon haben wir auch in der uns zu Diensten stehenden Literatur nicht 
finden konnen. Es bleibt also nichts iibrig, als unseren Fall mit dem nichts 
prajudicierenden Namen von „Progressiver juveniler Demenz“ zu belegen. 

J ) Diskossion fiber den Vortrag von O. Fischer. NeuroL Centralblatt 1906, Nr. 10. 



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BD - XI i 9 gj^ rr 4,6 ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


A us der Kgl. Psychiatrischen Universitats-Klmik zu Konigsberg (Direktor Prof. Dr. £. Meyer). 

Zur Lehre von der motorischen Apraxie. 

Von 

Privatdozent Dr. Kurt Goldstein. 

Krankengeschichte 1 ). 

57jahrige Tischlerfrau H. M. 2 ) Die Familienanamnese enthalt nichts Besonderes. 
Patientin hat eine ihrem Stande entsprechende Bildung genossen, konnte schreiben 
und lesen. Nie besonders krank. Seit mehreren Jahren Veranderungen an den Knie- 
und Hiiftgelenken: schmerzhafte Verdickungen wohl auf arthritischer Basis. Seit 
langeren Jahren Kopfweh, kein Schwindel. Vor 2 Jahren plotzlich umgefalien, Ohn- 
macht, kein schwerer BewuBtseinsverlust; nachher nicht gelahmt, aber verwirrt. Konnte 
sprechen und verstand alles. Nach 14 Tagen war es gut. Sie soli aber hin und wieder 
etwas Falsches dazwischen gesprochen haben. Mit der linken Hand soil sie etwas 
schlechter haben hantieren konnen; es wurde aber allmahlich besser. Hat die Wirt- 
schaft gefuhrt. Nichts Besonderes, auBer manchmal Stichen im Kopf bis 31. Dezember 
1907. Kam fruh vom Markt, setzte sich auf den Stuhl, sagte, das Bein werde zu kurz, 
fiel vom Stuhle und war 1 Stunde bewuBtlos. Nachher schwer besinnlich; hat aber 
alles verstanden, konnte gar nicht sprechen, konnte den Mund nicht be- 
wegen, konnte schlecht schlucken, bekam nichts herunter. Rechte Seite in jeder 
Beziehung frei beweglich, linke gelahmt. Nach wenigen Stunden sprach sie verstandlich, 
aber schwer und langsam. 1 

Silvesterabend 1907/08 in das stadtische Krankenhaus (innere Abteilung): Aus 
dem dortigen Krankenjournal entnehme ich, daB sich die linksseitige Lahmung bald 
besserte. Patientin begann den linken Arm zu bewegen, auBerte aber bald, daB er ihr 
nicht gehorche, sondern tue, was er selber wolle. Einmal hat die Hand ihren eigenen 
Hals umfaBt und sie stark gewiirgt, sie konnte nur mit Gewalt fortgerissen werden. 
Ebenso hat sie die Bettdecke zerrissen, ohne daB Patientin es wollte. — Da Patientin 
zeitweise einen ganz verwirrten Eindruck machte, wird sie am 3. Februar in die psychia- 
trische Klinik verlegt. 1 st bei der Aufnahme ruhig. Erklart bald, sie habe ihren Ver¬ 
stand. WeiB anzugeben, wann sie ins Krankenhaus gebracht worden. Erzahlt, sie 
konntel nicht gehen; hatte eine Lahmung gehabt. Die Lahmung sei verschwunden, 
jetzt habe sie Schmerzen im linken FuB, konne nicht allein sitzen. Beklagt sich bald 
uber ihre linke Hand; die sei ganz fur sich allein; sei ein willenloses Werk- 
zeug; wenn sie etwas gefaBt hat, laBt sie es nicht mehr los; „ich selbst kann 
nichts mit ihr machen; wenn ich trinke und sie faBt den Becher, so laBt 
sie ihn nicht mehr los und gieBt aus. Ich schlage sie dann und sage: mein 
Handchen sei doch still." (Lachelnd.) „Es muB wohl ein boser Geist in der Hand 

x ) Meinem sehr verehrten Chef, Herm Prof. E. Meyer, sage ich auch an dieser Stelle 
fur die Bberlassung des Falles gern meinen herzlichen Dank. 

2 ) Demonstriert im Verein fur wissenschaftliche Heilkunde zu Konigsberg. Januar 1908. 


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170 


DR. KURT GOLDSTEIN. 


Journal f. Psychology e 
nnd Nenrologie. 


sein." Sie wisse nicht wie es komme. Das sei seit Ende Dezember. Sie konne auch 
seitdem das Wasser nicht halten. Uber ihre Familie gibt sie richtig Auskunft. All- 
gemcine Kenntnisse und Rechenvermogen ihrem Stande entsprechend. Die korperliche 
Untersuchung ergibt: Leidlicher Ernahrungszustand. Innere Organe: Lungen ohne 
Befund, Herzgrenzen ohne Befund. Tone dumpf, an der Spitze und der Aortenklappe 
unrein, keine ausgesprochenen Gerausche. Arterien: rigide und geschlangelt. Puls: 
ioo, etwas unregelmaBig. Temperatur: in der Achselhohle links 36,5, rechts 37,3. Haut- 
temperatur: Gesicht gleich; ebenso am Oberarm. Im Bein deutliche Differenz zwischen 
links und rechts. Unterschenkel (4 Min. Messen; beiderseits mindestens so lange, bis 
das Thermometer nicht mehr steigt): links 30,3°, rechts 35,7°. Nie Temperatursteige- 
rungen. Nahrungsaufnahme gut. Urin und Stuhl meist ins Bett. Sie verlangt oft das 
Becken, erledigt aber ihre Bedurfnisse nicht auf diesem. Sobald das Becken entfernt 
ist, laBt sie meist alles ins Bett. 

Nervensystem. Schadel: ohne Befund, nicht klopfempfindlich. L. Pup. 7 als 
r. R/Lr etwas gering R/C + . Augenbewegungen frei, nur die Blickrichtung nach links 
etwas beschrankt und ungeschickt ausgefuhrt, namentlich auf GeheiB; sonst besser. 
Augenhintergrund: o. B. Bindehaut- und Cornealreflex beiderseits+. Sehscharfe: ohne 
Befund. Es besteht keine Hemianopsie, auch sicherlich keine wesentliche Einschrankung 
des Gesichtsfeldes. Das Gehor weist keine Storung auf. Geruch ist auf beiden Seiten 
sehr gering, fast fehlend. Linker Facialis etwas geringer innerviert als rechter. Bei 
den Bewegungen des Mundes und der Zunge ist auffallend, daB sie auf GeheiB am 
schwersten in richtiger Weise erfolgen, gelegentlich auch ganz versagen, wahrend sie 
auf den sensiblen Reiz hin beim Essen, Kauen, Schlingen absolut prompt vor sich gehen. 
So kann Patientin z. B. den Mund auf GeheiB nur ganz wenig offnen, wahrend sie ihn 
beim Essen sehr gut offnet. Ebenso gelingen die Bewegungen beim Sprechen 
besser; z. B. vermag sie nur sehr unvollkommen auf GeheiB den Mund zu spitzen; 
sie weiB wohl wie man es macht, aber sie konne es doch nicht; wahrend sie das „O f< 
tadellos ausspricht. Schlucken und Sprechen in jeder Beziehung einwandsfrei. Die 
Zunge wird auf GeheiB nur wenig vorgestreckt, so daB die Spitze nicht vor die Zahn- 
reihe kommt. Nur seiten gelingt es, die Zunge ganz herauszustrecken. Beim Sprechen 
und Essen keine Storung der Zungenbewegung. Gaumensegel: ohne Befund. Auch 
ist es nicht seiten, daB eine Bewegung eben gut gelungen ist und beim folgenden Versuch 
dann kurze Zeit darauf nicht mehr gelingt. Die mimischen Bewegungen zeigen keinen 
Defekt. Patientin begleitet alle ihre Gefuhlsregungen mit lebhaften mimischen Aus- 
drucksbewegungen. Pfeifen geht meist gut. Kopfbewegungen kann sie auf GeheiB 
ziemlich ordentlich machen; manchmal etwas ungeschickt, ebenso Nachmachen. Gaumen- 
und Rachenreflex + . Trigeminus: motorisch frei; jedoch gelingt Backenaufblasen auf 
GeheiB beiderseits nur mangelhaft, wahrend es beim Trompetenblasen gut vonstatten 
geht; sensibel: geringe Herabsetzung fur alle Qualitaten auf der linken Seite. Die Sprache 
zeigt keinerlei Storung: sowohl Sprachverstandnis, Spontansprache, Nachsprechen, Lesen, 
Schreiben rechts vollig intakt. 

•Korpersensibilitat. Es finden sich Storungen nur auf der linken Seite, zu 
den Extremitatenenden zunehmend. Die Schmerzempfindung ist an der ganzen linken 
Seite deutlich, aber nicht sehr hochgradig gegen rechts herabgesetzt; jedenfalls weniger 
als die ubrigen Qualitaten. Es erfolgen auf Stiche lebhafte reflektorische Bewegungen 
auch auf der linken Seite. Ahnlich verhalt sich die Temperaturempfindung. Die 
Beruhrungsempfindung ist weit schwerer gestort; nur grobere Beruhrungen, Beruhrungen 
auf groBerem Querschnitt, werden uberhaupt empfunden, wahrend Pinselberuhrungen 
gar nicht wahrgenommen werden. Am schwersten sind die Gelenkempfindungen ge- 
stort; Fingerbewegungen werden meist gar nicht gespurt; auch leichtere Bewegungen 
im Handgelenk nicht empfunden. Erst grobere Bewegungen der ganzen Extremitaten 
werden uberhaupt, aber auch ohne die Moglichkeit genauerer Angaben, wahrgenommen. 
In ahnlicher Weise verhalt sich der Drucksinn. Kleinere Gewichte gar nicht bemerkt; 
auch groBere Differenzen sehr wenig deutlich empfunden. Die Sensibilitat ist an Bein 
und Arm etwa in gleicher Weise gestort. 


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BD. XI, REFT 4/5 
1906. 


ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


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Passive Bewegungen links kann sie rechts bei AugenschluB oft gar nicht, und 
wenn, nur sehr unvollkommen nachmachen, auch nicht mitmachen. Uber die Lage 
der linken Extremitaten ist sie nur ganz im Groben orientiert, so daB sie deshalb immer 
nach links aus dem Bett zu fallen droht, besonders mit den Beinen. 

Die Lokalisation der Schmerzempfindung ist jedenfalls mangelhaft, wenn auch 
keineswegs vollig aufgehoben. Es kommen Verwechslungen der Finger vor, manchmal 
auch Arm statt Hand. Es besteht eine vollstandige Tastlahmung der linken Hand. 
Tastbewegungen gut ausgefuhrt. Manchmal einzelne Qualitaten leidlich angegeben* 
doch Gegenstand nicht erkannt. Auch das Tastwiedererkennen ist vollig unmoglich. 

Reflexe. Patellarreflex: links + + ; rechts + ; keine Cloni. Achillesreflex: + . 
FuBsohlenreflex: ohne Befund, lebhaft. Babinski 0 * Oppenheim 0 , Mendel dorsal. 
Abdominalreflex: beiderseitig +. Tricepsreflex links > rechts. Hautreflexe und Muskel- 
reflexe: lebhaft. Ausgesprochene Dermographie. 

Passive Beweglichkeit. Linker Arm: in den Finger- und Handgelenken 
freie Beweglichkeit; im Ellbogengelenk: Sparinung maBigen Grades. Schulter: ohne 
Befund. Hiifte: schlaff. Kniegelenk: sehr schlaff. FuBgelenk: ohne Befund. 

Motilitat. Vorweggenommen sei, daB alle Bewegungen einfacher und 
komplizierter Art, sowie auch alle sogenannten Handlungen rechts in 
jeder Beziehung einwandsfrei und prompt erfolgen. Es ist also bei den weiter 
zu erwahnenden Storungen immer nur die linke Seite gemeint. 

Patientin liegt dauernd zu Bett, sie kann nicht stehen und nicht gehen; 
sie laBt sich, wenn man sie aufstellt, einfach zusammensinken. Sie klagt dabei 
uber Schmerzen im linken Bein, wohl als Folge ihrer Arthritis. Das Sitzen geht, ab- 
gesehen von den entsprechend bedingten Schmerzen leidhch, doch halt sie sich etwas 
schwer aufrecht, muB immer angelehnt sitzen. Das linke Bein liegt schlaff auf der 
Unterlage, wird gar nicht bewegt. Wieviel davon auf Rechnung von eigentlicher Lah- 
mung kommt, wieviel auf Apraxie, ist nicht zu entscheiden; auf Stiche erfolgt reflek- 
torisches Zuriickziehen. Irgendeine wie willkurlich aussehende Bewegung ist nie be- 
obachtet. Der linke Arm weist eine Reihe von Storungen der Motilitat auf: 

1. Es besteht einestarke Verarmunganspontanen Bewegungen: Patientin 
bewegt ihn, allein gelassen, sehr wenig; wenn sie zweihandig irgend etwas machen muB, 
so legt sie den betreffenden Gegenstand mit der rechten in die linke Hand hinein, die 
ihn festhalt, ohne jedoch weiter damit zu manipulieren. Oft sieht man sie auch die 
linke Hand mit der rechten ergreifen und sie wie ein totes Objekt dirigieren; besonders 
ist sie dazu geneigt, wenn man von ihr eine Betatigung der linken Hand fordert; doch 
ist gelegentlich beobachtet, daB sie sich mit beiden Handen, auch mit der linken in 
zweckmaBiger Weise, an den Randern ihres Bettes festhalt, um sich etwas aufzurichten. 
Es werden jedoch auch links sicher einzelne spontane Bewegungen beobachtet, 
so faBt sie sich haufig wischend mit der linken Hand uber das Gesicht, 
sie fahrt sich uber die Haare, reibt sich die Augen, steckt einen Finger 
bohrendindieNase. (Sie bezeichnet diese und ahnliche Bewegungen als Angewohn- 
heit. Auf die Frage: „Ob es denn jucke?“ — es muB doch wohl!) Gelegentlich zieht 
sie an der Bettdecke. Die Hand wird haufig zusammengekrampft an der Bettdecke 
angetroffen, ist ,nur schwer davon loszumachen, was Patientin haufig mit der rechten 
Hand tut; dann in der vorher schon angefuhrten Weise uber die Hand sprechend oder 
schimpfend. Wenn man Patientin fragt, ob sie alle diese Bewegungen absichtlich macht, 
so sagt sie immer nein, das mache die Hand ganz alleine; sie sagt deshalb nie „ich greife 11 
usw., sondem immer „die Hand greift“ usw. (Deshalb soli auch im folgenden immer 
von den Bewegungen d£r linken Hand in ahnlicher Weise gesprochen werden.) Wenn 
man sich mit Patientin beschaftigt, macht sie viel mehr Bewegungen auch 
links als sonst; besonders kommt dies auch bei gleichzeitigen Hautreizen 
zum Ausdruck. 

Es besteht keine eigentliche Ataxie. Bei denjenigen Bewegungen, die 
sie ausfuhrt, zeigt sich kein atuktisches Wackeln oder Zittem, sondem wesentlich nur 
eine Verlangsamung. 


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DR. KURT GOLDSTEIN. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Es besteht weiterhin keine eigentliche Lahmung. Das geht aus den 
Bewegungen hervor, die die linke Hand ausfuhrt, die zum Teil recht komplizierten 
Charakters sind und eine wohl geordnete Koordination zeigen. Vielleicht besteht eine 
gewisse Schwache. 

2. Bewegungen auf sprachliche Aufforderung. Es besteht schon bei 
einfachen Bewegungen eine groBe Unvollkommenheit; vor allem dauert es oft lange 
und bedarf wiederholter Aufforderung, besonders bei schweren Bewegungen, ehe uber- 
haupt eine Intention zur Bewegung sich zeigt. 

Erheben des linken Armes: macht erst sehr ungeschickte Versuche, dann gelingt 
es unvollkommen. Der Arm wird etwa bis zur Horizontalen erhoben, im EUenbogen- 
gelenk etwas gebeugt. Ahnlich verhalt sie sich beim Beugen der Hand, beim Strecken 
der Finger, bei den Oppositionsbewegungen: alle erfolgen nach umstandlichen Ver- 
suchen schlieBlich doch, aber sehr langsam und mit geringer Sicherheit. Vor allem ist 
Patientin meist nicht imstande, die Bewegung festzuhalten. Ataxie tritt bei 
alien diesen Bewegungen kaum zutage, nur eine Langsamkeit und Schwerfalligkeit, 
besonders der Intention. Die Bewegungen gelingen auch bei AugenschluB 
nicht wesentlich schlechter als bei offenen Augen. Immer gibt Patientin 
ihrem ratlosen Gefuhle Ausdruck, dafl sie die Bewegungen gar nicht ausfuhre, 
sondern die Hand das alles allein mache. Alle diese einfachen Bewegungen 
werden auch gelegentlich ohne direkte Aufforderung gemacht und dann anscheinend 
schneller und geschickter als auf Aufforderung. Es fallt vor allem auf, daB sie eine 
Bewegung, die sie eben scheinbar unwillkurlich ganz gut gemacht hat, auf GeheiB erst 
nach langerer Zeit mit groBer Muhe machen kann. Man hat auch haufig den Eindruck, 
daB die Bewegung zunachst gar nicht recht geht, dann aber plotzlich ganz leidlich zu- 
stande kommt. Alle Versuche sind von lebhaften Mitbewegungen besonders der anderen 
Hand und starken Anstrengungsbewegungen im Gesicht begleitet. Kompliziertere 
Bewegungen werden zum groBen Teil nicht ausgefuhrt, sondern es bleibt bei einem 
ganz unvollkommenen Torso. Gelegentlich wird aber auch eine ganz komplizierte 
gemacht, kann aber bei emeuter Aufforderung nicht wiederholt werden. Eine Anzahl 
gelingt fast immer. 

FaustschluB: Patientin sieht die Hand an, macht allerlei Bewegungen mit 
den Fingern, beugt sie auch, es kommt auch zum FaustschluB, Patientin kann aber 
den Effekt nicht festhalten, die Finger gehen wieder auseinander. 

Hinzeigen auf den Arzt, KuBhand werfen, Hand reichen (auch nicht 
bei entgegengestreckter), Geld zahlen, Bewegung des Wassertrinkens aus 
einem Glase, militarischer GruB, Kaffeemuhle drehen, Winken, Drohen, 
K&mmen, Bdrsten usw. unmoglich. LaBt meist nach einigen vergeblichen Ver- 
suchen, die meist nur aus Hin- und Herwenden der Hand bestehen, von alien Bewegungen 
ab. Bewegung des Wassertrinkens, des Burstens gelingt zeitweise leidlich, auch einmal 
eine der anderen gelegentlich. Die Manipulation mit Gegenstanden, Burste, 
Ldffel usw. gelingt, wenn uberhaupt (cf. spater), besser, wenn sie die Gegen- 
stande in der Hand hat, fast nie, wenn sie sie nur sieht. Stellen des eigenen 
Korpers beruhren gelingt zeitweise, namentlich, wenn die Hand sich schon in der Nahe 
der Stelle befindet, z. B. kann sie gelegentlich das Ohr zeigen, wenn die Hand am Ge¬ 
sicht ist; dann legt man die Hand auf die Bettdecke und sie ist es nicht mehr imstande. 
(Sie erlautert: „Wenn es grad so paBt, so ginge es;“ „es ginge durch Zufall.“) Ganz 
verkehrte Bewegungen kommen sehr wenig vor, direkte Verwechslungen 
sind hochst selten beobachtet. Es bleibt immer bei wenigen Bewegungen uber¬ 
haupt oder die Bewegungen fallen ganz aus. Gelegentlich streicht sie die Haare bei der 
Aufforderung, die Nase zu zeigen, macht Klopfbewegungen anstatt Drohen und Ahnliches. 
Auch die Bewegungen, die vorher als spontane erwahnt wurden, Nase bohren, Kopf 
wischen, Kratzen im Gesicht, kann sie auf Aufforderung nicht machen. 

3. Bewegungen auf optischen Anreiz, also das Nachmachen, gelingen etwa 
in gleicher Weise recht schlecht. Bei einfacheren Bewegungen erkennt man den Grund- 
zug der vorgemachten Bewegungen meist heraus, bei „Handlungen“ auch dieses oft 


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^'^iwa^ 416 ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 173 


nicht. Oft ist die Patientin uberhaupt nicht imstande, eine Bewegung nachzumachen, 
wenn es ihr auch nachher auf sprachliche Aufforderung gelingt. Die optische Kontrolle 
bei geoffneten Augen nutzt aucb nicht viel, jedenfalls fallen die Bewegungen bei ge- 
schlossenen Augen nicht wesentlich schlechter aus. Nur ist zu bemerken, daB haufiger 
bei geschlossenen Augen gar keine Bewegung zustande kommt als bei offenen. Man 
muB sie energischer auffordern; „sie konne das doch nicht. 14 Eine Reihe auch kompli- 
zierterer Bewegungen kann sie jedenfalls bei AugenschluB ebensogut wie bei offenen: Kopf 
kratzen, Glas Wasser zum Munde fuhren. Gelegentlich macht sie sogar eine Manipulation 
bei geschlossenen Augen ganz leidlich und sofort darauf bei Augenoffnung viel schlechter. 

Wahlreaktionen: rechts in jeder Weise prompt. Links werden, wenn es uber¬ 
haupt zu richtigen Greif- Oder Zeigebewegungen kommt, ganz falsche ergriffen Oder 
gezeigt. Patientin ist sich dieser Fehlreaktion wohl bewuBt und sagt immer: „Das ist 
falsch/ 4 „das kann ich nicht/ 4 „die Hand gehorcht doch nicht.“ 

4. Bewegungen auf taktilen Anreiz: Hautreize vermehren die Be¬ 
wegungen des linken Armes ganz wesentlich. Es ist schon bemerkt worden, 
daB sie spontan bei angeblichem Jucken im Gesicht usw. richtige Juckbewegungen 
macht. Kunstlich ist dies durch Kitzeln, Stechen im Gesicht nur hochst selten einmal 
hervorzurufen. 

Jede Beruhrung der Hand, besonders der Volarflache, die Patientin nicht zu 
spuren angibt, ruft eine Bewegung, energischen HandschluB, hervor, der auf GeheiB 
nur mangelhaft gelingt. Es tritt dann deutliche tonische Innervation ein, die 
Patientin willkurlich nicht beseitigen kann, und die plotzlich nachlaBt, indem die Hand 
eine andere Bewegung ausfiihrt. Bei anderweitigen Beruhrungen laBt der HandschluB 
nach und es erfolgen andere Bewegungen, z. B. Streckung. Passiv mit ihrem linken 
Arm ausgefuhrte Bewegungen vermag sie meist gar nicht, und wenn, nur 
hochst unvollkommen nachzumachen. Ebenso nicht passive Bewegungen 
des linken Beines Oder passive Bewegungen und Stellungen der anderen 
Extremitaten. Auch wenn sie hinsieht, nicht wesentlich besser. 

In die Hand gegebene Gegenstande: Bei geschlossenen Augen weifi 
sie mit ihnen gar nichts anzufangen, sie erkennt sie nicht infolge der Tast- 
lahmung. Nennt man ihr den Namen, so benutzt sie sie etwa in derselben 
Weise wie bei offenen Augen, nur etwas unsicherer. Vor allem glaubt sie zu- 
nachst immer selber nicht, daB es ginge. 

Burste: Zunachst biirstet sie die Decke mit dem Rucken der Biirste nach unten, 
dreht die Burste mit der rechten Hand um und macht es richtig. 

Kamm: Wiederholt richtig, wenn auch langsam. Nicht selten fahrt sie mit dem 
Kamm unter die Nase und macht dort streichende Bewegungen (lacht uber sich); oft 
weiB sie mit dem Kamm gar nichts anzufangen. 

Kleine Schnurrbartburste: Rechts prompt; links macht allerlei Ausfluchte, 
„Frauen haben keinen Bart. 44 Bewegt die Burste hin und her, kann nicht bursten. 

Zigarette in der Hand: Rechts absolut richtig; links steckt sie langsam mit 
ungeschickten Bewegungen in den Mund, haufig verkehrt oder quer, stulpt den Mund 
dabei unzweckmaBig vor, macht auch, wenn die Zigarette leidlich im Munde ist und sie 
rauchen soli, allerlei ungeschickte Bewegungen mit dem Munde, ohne die richtige Rauch- 
bewegung zustande zu bringen. Steckt sie mal die Zigarette mit der linken Hand gleich 
richtig in den Mund, so macht sie auch richtige Rauchbewegungen. Steckt sie die 
Zigarette rechts in den Mund, macht sie nie falsche Rauchbewegungen. LaBt man sie 
erst rechts agieren, dann bald darauf links, so kommen doch falsche Bewegungen, 
besonders auch falsche Rauchbewegungen zustande. Steckt man ihr die Zigarette in 
den Mund, so raucht sie immer richtig. 

Trompete: Nach verschiedenen unrichtigen Versuchen* oft richtig zum Munde 
gefuhrt und richtig benutzt. 

Nase wischen + (immer). 

Glas immer richtig zum Munde gefuhrt und getrunken. Sie vermag dies auch bei 
geschlossenen Augen gut. 

Journal fur Psychologic und Neurologic. Bd. XI. 12 


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DR. KURT GOLDSTEIN. 


Journal f. Psychology 
nnd Neurologic- 


Schlussel: Meist verkehrte Bewegungen, halt den Schlussel verkehrt nach unten 
oder oben; nicht selten aber auch richtige Bewegungen. 

Geldzahlen gelingt links nie. 

Knopfen gelingt nicht, allerlei ungeschickte unzweckmaBige Bewegungen; auch 
nicht, wenn man ihr die Hand an den halbgeknopften Knopf legt. 

Hackelnadel: Rechts prompt; links: halt sie ausgestreckt, macht bohrende Be¬ 
wegungen, keine richtigen Hackelbewegungen. 

Federhalter: Halt ihn ungeschickt; sie konne das nicht anders. 

Loffel: Halt ihn ziemlich richtig, bringt ihn nicht an den Mund (macht dabei 
richtige Schmeckbewegungen). 

Es nutzt ihr fur die Ausfuhrung der linksseitigen Bewegungen nichts, wenn sie 
dieselben rechts vorher oder gleichzeitig macht, oder wenn man sie passiv mit ihrer 
linken Hand ausfuhrt. Allerdings ist hierbei beobachtet, daB sie derartige Bewegungen, 
die eine ganz gleichmaBige Fortbewegung ermoglichen, so lange fortsetzt, bis dann ein 
Hindemis auftritt. Dann hort sie auf und eine selbstandige Fortsetzung ist unmoglich. 
Ihre hnke Hand wird an den Griff der Kaffeemuhle gebracht und die Hand in drehende 
Bewegung versetzt. Sie dreht weiter, was sie sonst nicht kann, hort aber sofort auf, 
als ihre Hand an einem Vorsprung der Maschine hangen bleibt, und kann auch, wieder 
weggebracht, nicht weiter, solange man die Hand nicht wieder in drehende Bewegung 
versetzt. 

5. Zweihandige Bewegungen. Handefalten: auf Aufforderung ganz leidlich; 
allerdings macht die rechte Hand wesentlich mehr als die linke. Die linke allein vermag 
die entsprechende Bewegung nicht zu machen. Liegt die linke Hand erst richtig an der 
rechten, so legt sie sich gut zusammen. 

Streichholz herausnehmen: mit der linken Hand unmoglich; legt Schachtel in 
die linke Hand, die sie festhalt, dann rechts Herausnehmen prompt. 

Hande umeinander drehen: Halt dabei die linke richtig, meist dreht aber nur die 
rechte, jedoch sicher ofters auch die linke, was allein wesentlich schlechter oder meist 
gar nicht geht. 

Mit Messer und Gabel essen: Die linke Hand halt dabei die Gabel sehr ungeschickt; 
das mit der rechten Hand gehaltene Messer fahrt an der Gabel herum, ohne daB die 
linke irgendeine zweckmaBige Bewegung macht (gleichgultig ob sie was eBbares vor 
sich hat oder nicht). 

Schleife machen: Linke macht leidliche Schlinge, wahrend aber die rechte Hand 
den Faden herumwinden will, laBt die linke nicht los (Patientin schimpft), so daB eine 
Schieife nie zustande kommt. 

Hut bursten: Legt Hut auf die hnke Hand, burstet rechts. Umgekehrt kann 
sie es nicht. Sie macht es dann so, daB sie mit der linken die Burste halt und den rechts 
gehaltenen Hut an der Burste vorbeifuhrt. 

6. Schreiben: rechts absolut richtig. Links halt sie den Halter ungeschickt, 
macht allerlei Striche aufs Papier. Auch wenn sie ihn richtig halt, vermag sie keinen 
richtigen Buchstaben zu machen, sondem macht langliche Ringe und senkrechte, 
schrage und horizontale Striche. Nur diese Dinge kann sie auch, wenn auch nur u n- 
vollkommen, nachzeichnen. Von Buchstaben und Zahlen kann sie keinen ein- 
zigen auch nur mit entfemter Ahnhchkeit nachmachen. Sie schreibt in Abductions- 
schrift. 

7. Die „tonische Innervation**. Es wurde schon erwahnt, daB Patientin, 
wenn sie die hnke Hand um einen Gegenstand geschlossen hatte, zunachst nicht los- 
lassen konnte, so sehr sie sich bemuhte. Man muBte ihr die Hand mit Gewalt losmachen 
und empfand dabei verstarkte Innervation. Ahnhch hielt sie gelegenthch die Bettdecke 
fest und zerriB sie, ohne es zu wollen. Einmal hatte die Hand sie so fest um den Hals 
gefaBt, daB sie sie fast stranguherte. Auch bei sonstigen Bewegungen wurden derartige 
dauemde Innervationen beobachtet, die gewohnlich dadurch nachheBen, daB die Hand 
eine andere Bewegung machte. Haufige Wiederholung der gleichen Bewegung sukzessive 
wurde nicht beobachtet. Vielleicht ist jedoch das haufige nach dem Gesichtfassen, Nase- 


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*75 


TO.XLHBFT 4/6 ZUR leHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


bohren, Augenwischen mit der linken Hand so zu deuten. Sonst kein Haftenbleiben 
in irgendeiner Weise. 

Allgemein-psychisches Verhalten der Patientin: Die Orientierung 
war ziemlich gut, doch zeitlich nicht ganz exakt. Ortlich ist sie immer orientiert, kennt 
den Arzt, das Personal, die Namen einer Reihe von Patienten, und nimmt Anteil an 
deren Reden. Das Gedachtnis und die Merkfahigkeit zeigen in jeder Beziehung 
jedenfalls keinen wesentlichen Defekt. Die Aufmerksamkeit war eine gute; auch 
wurden erst nach langeren Untersuchungen Zeichen von Ermudung gemerkt. Selbst- 
verstandlich sind Resultate in der Ermudungszeit nicht verwertet. Das Auffassungs- 
verm6gen ist vdllig intakt, sowohl was die Umgebung betrifft, wie ihre eigene Lage. 
Deshalb ist ihre Stimmung sehr oft eine trube; jedoch zeigt sie daneben eine groBe 
Neigung zu witzelnden Bemerkungen, etwas ahnliches wie ,,Galgenhumor“. Sie ist sich 
mit seltener Klarheit ihrer Stoning bewuBt, wie auch die AuBerungen, die sie daruber 
macht, aufs deutlichste zeigen. 

Sie empfindet den Arm als von ihrer Willenskraft getrennt. „Das sind ja zweierlei 
Menschen, der Arm und ich." Sie wisse ganz genau, wie sie die Bewegungen zu machen 
habe, konne es aber nicht, weil der Arm ihr nicht gehorche. „Die Hand ist nicht normal 
„sie tut was sie selber will." Der Zustand qualt sie, sie wunscht lebhaft, dafl es besser 
wurde, habe aber wenig Hoffnung. Wie richtig sie die Situation erfaBt, zeigt die AuBe- 
rung: „Wozu qualen Sie mich, Herr Doktor, es nutzt ja doch nichts. Sie tun es ja nur 
wegen der Wissenschaft." Trotzdem ist sie bei Zureden fur die Untersuchungen recht 
zuganglich. Sie weiB meist sofort, wenn sie etwas falsch gemacht, z. B. bei den Wahl- 
reaktionen, und argert sich daruber. Sie ist sehr vorsichtig bei alien Bewegungen und 
sagt vorher, sie konne es nicht. Wenn eine Bewegung gelingt, bezeichnet sie 
es meist als Zufall. Namentlich in der ersten Zeit brachte sie allerlei Ausreden vor, 
wenn sie die Verrichtungen links nicht machen konnte. Sie war ausgesprochene Rechts- 
handerin. „Wozu soli ich das links machen?" „Ich habe das nie links gemacht" und 
ahnlich. 

Der Befund hat sich wahrend zweimonatlicher Beobachtung in keiner wesentlichen 
Weise geandert. Vielleicht ist sie jetzt imstande, manche Bewegungen zu machen, die 
ihr fruher nicht gelangen. Es besteht darin ein haufiger Wechsel. Die Objekthand- 
lungen an der Hand des Objektes scheinen sich am meisten gebessert zu haben. Am 
Ende der Beobachtung gelingen eine ganze Anzahl. 

Der korperliche Befund hat sich nicht verandert. Die anfangs verzeichnete 
Temperaturdifferenz zwischen beiden Seiten hat sich etwas mehr ausgeglichen. 


Zusammenfassung: 

Die 57jahrige Frau hat durch einen Schlaganfall eine Lahmung der ganzen 
linken Seite davongetragen, die sich nach kurzer Zeit sehr besserte, so daB eine 
schwerere Lahmung nur im Beine bestehen blieb, wahrend der Facialis und die 
Armmuskulatur nur geringe Schwache aufweisen. Mit dem Nachlassen der Lah¬ 
mung ist jedoch in Gesicht- und Zungenmuskulatur, besonders aber im Arm, 
speziell der Hand, eine Stoning der Motilitat zutage getreten, die in der Haupt- 
sache durch folgende Momente charakterisiert ist: 

1. Starke Verarmung von Spontanbewegungen (Hypo-Akinese). 

2. Erschwerung jeder Bewegungsintention. 

3. Unfahigkeit resp. schwere Storung des „Handelns" bei in- 
takter Ideation und intakter Motilitat (motorische Apraxie). 

4. Bei Vorhandensein von „Spontanbewegungen“ auch kompli- 
zierter Art Eintreten von amorphen Bewegungen bei dem 
Versuch zur Ausfiihrung auch einfacher Bewegungen auf Auf- 

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and Neurologie. 


forderung (nicht wesentlich verschieden, von welchem Sinnes- 
organe her diese erfolgt). 

5. Schwere Storung des optischen Nachahmens. Unmoglichkeit 
des Nachahmens passiver Bewegungen der anderen Seite und 
der linken Seite selbst. 

6. Agraphie der linken Hand. 

7. Volliges Fehlen des Willensgefiihles bei den spontanen und 
auf GeheiB ausgefiihrten Bewegungen. 

8. Tonische Innervation bei gewissen Bewegungen der linken Hand. 

x. Vorlfiufige Charakterisdk des Falles. 

Es besteht also — im wesentlichen — eine vollige Gebrauchsunfahigkeit des 
linken Armes (und nur von diesem sei zunachst die Rede) bei erhaltener Bewegungs- 
fahigkeit, eine Apraxie; und zwar eine Apraxie motorischen Charakters. 

Die Abgrenzung gegeniiber einer ideatorischen ist sehr leicht. Es finden sich 
alle Kriterien, die Liepmann 1 ) zu dieser Differentialdiagnose angefiihrt hat. 
Die Storung ist einseitig, kommt schon bei einfachen Akten und beim Nachmachen 
zum Vorschein, die amorphen Bewegungen stehen sehr im Vordergrunde. In unserem 
Falle lieB schon die einfache Angabe der vollig klaren Patientin, daB sie ganz genau 
wisse was sie tun solle, und auch wisse wie sie es machen solle, und rechts auch in 
jeder Beziehung richtig machte, keinen Zweifel dariiber, daB keine ideatorische 
Stdrung vorlag. Es braucht nach der Krankengeschichte auch kaum erst hervor- 
gehoben zu werden, daB irgendwelche psychischen Anomalien, Anomalien der 
Auffassung, Aufmerksamkeit, fiir die apraktische Storung in keiner Weise in Be- 
tracht kommen. 

Das ist sicher, die Storung liegt peripher von K in der Liepmannschen 
Formel der Bewegung Wo (cf. H S. 90). 

K 

I 

k 

I 

i 

B 

Es fragt sich nur, ob wir eine Abspaltung zwischen K und k anzunehmen 
haben oder einen Verlust des k selbst. In letzterer Richtung konnte die schwere 
Sensibilitatsstorung leiten, auf die wir etwas naher eingehen miissen, da von ihrer 
Auffassung zweifellos das Verstandnis des ganzen Bildes abhangt. 

Die objektive Untersuchung der Sensibilitat hatte eine maBige Herabsetzung 
der Schmerz- und Temperaturempfindung, eine schwere Storung der Beriihrungs- 
empfindung, ein fast volliges Fehlen der Tiefensensibilitat und eine schwere Tast- 
lahmung ergeben. Ist nun die motorische Storung etwa nur die Folge der schweren 
Beeintrachtigung der Bewegungs- und Lageempfindungen? 

Liepmann 2 ) haben ahnliche Bedenken zu einer eingehenden Differential¬ 
diagnose zwischen den durch die Sensibilitatsstorungen bedingten Motilitatsstorungen 

!) Liepmann, t)ber Storungen des Handelns bei Gehimkrankheiten. Berlin 1905. 
Karger (zit. als Liepmann 

2 ) Liepmann, Das Krankheitsbild der Apraxie. Berlin 1900. Karger (zit. als Liep¬ 
mann „A.“). 


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BD * X ^^® PT4 ^ ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


177 


und den apraktischen veranlaBt. Es eriibrigt deshalb, hier darauf nochmals ein- 
zugehen. Eine Stoning wie die hier vorliegende kann durch eine Sensibilitats- 
storung nicht geschaffen werden; hier war nicht die Rede von irgendwie aus- 
gesprochener Ataxie, von elementaren Koordinationsstorungen, wie sie die Sensi- 
bilitatsstorungen hervorbringen, sondem im Gegenteil fand sich teilweise prompte 
Ausfuhrung komplizierter Bewegungen, aber Unfahigkeit „der Zuordnung der 
koordinierten Bewegung zum Zweck", wie es Liepmann ausdriickt (A. S. 36). 
Es ist auch charakteristisch, daB der AugenschluB die Bewegungen in keiner wesent- 
hchen Weise beeintrachtigt, wie es in den bekannten Fallen von Strum pell 1 ) usw. 
der Fall war. 

Auf ein Fehlen der Bewegungsempfindungen kann die vorliegende Motili- 
tatsstorung sicher nicht zuriickgefiihrt werden; ebensowenig aber auch auf eine 
Beeintrachtigung der kinasthetischen Erinnerungsbilder; also — wovon wir aus- 
gingen — auf eine Beeintrachtigung des k selbst. Liepmann hat in diesem Sinne 
auf den schonen Fall Westphals 2 ) wieder hingewiesen, von dem die auf Grund 
des Verlustes der kinasthetischen Erinnerungsbilder entstehende Bewegungsstorung 
sehr charakteristisch als eigentiimliche Ungeschicklichkeit der Hand beschrieben 
worden ist. Liepmann zeichnet den Gegensatz dieses „Seelengelahmten“ gegen- 
iiber dem Apraktischen: „Wahrend bei dem motorisch-apraktischen viele Be¬ 
wegungen gar keine Beziehungen zu dem ideatorischen Entwurf haben, handelt es 
sich hier nur um auBerst unvollkommene Wiedergabe des ideatorischen Entwurfes, 
ahnlich wie bei der Ataxie 44 (H. S. 152), und hebt besonders die Bewegungsverwechs- 
lungen und amorphen Bewegungen als fur die Apraxie charakteristisch hervor. 
Nun kamen eigentliche Bewegungsverwechslungen in unserem Falle sehr selten vor 
(ubrigens auch im Liepmannschen nicht gerade haufig), dagegen waren die 
amorphen Bewegungen das gewohnliche Resultat der Bemiihungen der Patientin 
bei Ausfuhrung bestimmter Handlungen, was um so auffallender hervortrat, als 
sie — wie schon gesagt — ganz komplizierte andere Bewegungen prompt ausfiihrte. 
Es ware aus der Annahme des Verlustes der kinasthetischen Erinnerungsbilder gar 
nicht zu verstehen, daB jemand zwar sich im Gesicht kratzen kann, ein Glas Wasser 
zum Munde fiihren kann, aber die relativ einfache Bewegung des FaustschlieBens 
oder des Winkens nicht sollte verrichten konnen. Die einzelnen Bewegungen, die 
das Winken zusammensetzen, beherrschte Patientin wohl, aber die bestimmte 
Aufeinanderfolge der dazu notwendigen Einzelbewegungen war sie nicht imstande 
zu leisten, was — da der ideatorische Entwurf an sich intakt war — nur durch 
eine Stoning der Uberleitung von diesem Entwurf auf das spezielle Innervations- 
gebiet zu erklaren ist. 

Wir konnen also die vorliegende motorische Storung mit Recht 
als unabhangig von der gleichzeitigen sensiblen betrachten. 

Die Sensibilitatsstorung beansprucht aber noch eine weitere Behandlung. 
Es ist doch sehr eigentiimlich, daB trotz so schwerer Beeintrachtigung der Lage- 
und Bewegungsempfindungen keine Ataxie bestand. Dieser Befund muBte sofort 
an den ganz ahnlichen bei Liepmanns Kranken erinnem. Ebenso wie dieser 
konnte unsere Kranke eine ganze Reihe komplizierter Bewegungen gut, auch bei 

!) Strum pell, Archiv f. klin. Med. Bd. 32. 

2 ) Westphal, Charitde Annal. VII. 1882. 


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und Nenrologie. 


geschlossenen Augen, ausfiihren. Wir miissen also annehmen, daB doch von der 
Peripherie geniigende Reize zum Zentrum des Armes gelangen, die eine geordnete 
Bewegung garantieren. Bei der Erklarung dieses eigentiimlichen Verhaltens konnen 
wir uns nur Liepmanns glanzenden Ausfiihrungen anschlieBen, und miissen auch 
in unserem Falle das Ergebnis der Sensibilitatsuntersuchung erklaren als bedingt 
durch „Leitungsunterbrechung resp. -stoning zwischen dem sensomotorischen 
Gebiet der linken Extremitaten und dem iibrigen Gehim" (A. S. 40). 

Wahrscheinlich war auf ahnliche Weise auch die Tastlahmung zu erklaren, 
die in alien Einzelheiten ebenfalls eine groBe Ubereinstimmung mit der des Liep- 
mannschen Patienten aufwies. Ein 'Erkennen durch Tasten war vollig ausgeschlos- 
sen, auch Wiedererkennen von soeben noch vorher Getastetem war unmoglich. — 
Wir werden spater bei der Behandlung des Agierens mit Gegenstanden sehen, daB 
die Tastempfindungen hierbei vielleicht doch etwas verwertet wurden. 

Die groBe Ahnlichkeit unseres Falles mit dem Liepmannschen in bezug 
auf die Sensibilitatsstorung legte die Vermutung nahe, daB auch die motorische 
Stoning ahnlich wie dort zu erklaren ware. Ebenso wie Liepmann, diirfen wir 
wohl fur unsere Patientin eine ziemliche Intaktheit des Sensomotoriums, 
wie es sich in seinen „Eigenleistungen“ (Heilbronner) 1 ) kund tut, annehmen. 
Bei der Beurteilung der Eigenleistungen des rechten Sensomotoriums, um das es 
sich hier handelt, besteht die Schwierigkeit, daB sehr viele Menschen derartige so 
sehr gewohnte Handlungen der linken Hand gar nicht oder nur in sehr beschranktem 
MaBe besitzen. Das scheint auch bei unserer Patientin der Fall zu sein, die immer 
ausdriicklich ihre Rechtshandigkeit betonte. Doth kann man zunachst den immer 
moglichen HandschluB auf sensible Beriihrung als derartige KurzschluBreaktion 
im Sinne Liepmanns auffassen. Das gleiche gilt wahrscheinlich auch von den 
Kratz- und Wischbewegungen im Gesicht, dem Bohren in der Nase und Streichen 
der Haare, die zu den konstantesten und haufigsten Bewegungen der Patientin 
iiberhaupt gehoren. Es handelt sich dabei zweifellos um gewisse Gewohnheits- 
bewegungen; sie traten sehr haufig bei Verlegenheit in den Vordergrund, wenn sie 
irgendeine Bewegung ausfuhren sollte und nicht konnte. Man kann sich vorstellen, 
daB die im Sensomotorium angesammelte Spannung sich dann auf den irgendwie 
angeregten Reiz in den gewohnten Komplexen entlud. Dafiir spricht, daB Patientin 
die Bewegungen auch machte, ohne daB eine entsprechende sensible Ursache 
(z. B. Jucken) dafiir vorlag, ohne daB die^e ihr wenigstens zum BewuBtsein kam; fiir 
unsere Annahme spricht weiterhin, daB sie alle diese Bewegungen willkurlich auf 
GeheiB so gut wie nie ausfuhren konnte, ahnlich wie sich der Regierungsrat z. B. 
beim Knopfen verhielt. tlbrigens hat Heilbronner auf das Vorkommen ganz 
ahnlicher Bewegungen nach epileptischen Anfallen hingewiesen, die er ebenfalls 
als Eigenleistungen des Sensomotoriums auffaBt (S. 169). 

Jedenfalls steht so viel fest, daB das Sensomotorium recht kompli- 
zierte Leistungen verrichten konnte, was seine Intaktheit am besten 
garantiert. 

Im Gegensatz zu diesen Eigenleistungen war eine willkiirliche Anregung 
auch schon einfacher Bewegungen hochgradig gestort, die meisten 

!) Heilbronner, Zur Frage der motorischen Asymbolie (Apraxie). Zeitschr. f. Psychol, 
u. Physiol, d. Sinnesorgane. Bd. 39. 


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BD * XI im FT4/6 ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 179 


eigentlichen „Handlungen“ waren so gut wie unmoglich; also wie schon gesagt, 
die Uberleitung des richtigen ideatorischen Entwurfes auf das Sensomotorium der 
linken Hand fast vollig gehindert. 

Wie soli man sich es dann aber erklaren, daB bei einer derartigen Lostrennung 
des Sensomotoriums iiberhaupt Bewegungen in ihm zustande kommen? Zunachst 
kommt hierfiir die periphere Sensibilitat in Betracht, die, wie wir schon sahen, 
zweifellos mit dem Motorium in Verbindung war. Es war auch charakteristisch, 
daB jeder sensible Reiz, auch solche, die der Patientin selbst nicht zum BewuBtsein 
kamen, wie leise Beriihrungen der Handflache, zu vermehrter Bewegung des linken 
Armes fiihrte, auch solcher, die nicht direkt mit dem Reiz in Beriihrung standen, 
z. B. vermehrte Reize der Arme zu den erwahnten Juckbewegungen im Gesicht. 
Die auf dem sensiblen Wege ankommende Erregung fiihrte zur Auslosung der- 
jenigen Bewegungskomplexe, die im Motorium vorgebildet waren. Auch sind ja 
keineswegs alle Verbindungen des Motoriums mit dem xibrigen Gehim als gelost 
zu denken, wie schon daraus hervorgeht, daB manchmal einzelne auch kompliziertere 
Bewegungen auf Aufforderung gelangen. Gleichwie Liepmann miissen wir auch 
fur gewisse optische Bewegungsdirektionen auf intakte Fasem requirieren. Wenn 
diese auch nicht geniigten, um geordneten Bewegungsablauf zu garantieren, konnen 
und werden sie doch dem Motorium anregende Impulse iiberhaupt zugefiihrt haben. 

Man kann sich auch vorstellen, daB zwar eine bestimmte Anregung des 
Motoriums vom Willen her gehindert war, daB aber trotzdem beim Willensantrieb 
gewisse funktionelle, vielleicht nutritive Veranderungen im Motorium angeregt 
wurden, die Veranlassung zur Bewegung iiberhaupt wurden und eben zu den Be¬ 
wegungen fiihrten, die das Motorium allein leisten konnte. Fiir diese Annahme 
spricht der Umstand, daB die erwahnten Bewegungen besonders dann auftraten, 
wenn Patientin iiberhaupt Bewegungen intendierte. Es fand also doch eine gewisse 
willkiirliche Anregung statt, die der Patientin allerdings nicht als solche zum Be¬ 
wuBtsein kam. 

Wenn wir den Fall im ganzen iiberblicken, so hat er, wie gesagt, die groBte 
Ahnlichkeit mit dem Liepmannschen Regierungsrat, nur daB die Stoning nicht 
die rechte, sondem die linke Seite betrifft. In einem Punkte weicht er besonders von 
diesem ab: in dem weit starkeren Ausfall von Bewegungen iiberhaupt und der 
hochgradigen Behinderung schon der Intention zu Bewegungen. Darin zeigt sich 
eine weitgehende Ahnlichkeit unserer Patientin mit dem ersten von Hartmann 1 ) 
publizierten Fall, bei dem auf der zur Lasion gekreuzten Korperhalfte die Be¬ 
hinderung der Intention sehr im Vordergrunde stand und fast vollige Akinese 
bestand. 

Im iibrigen ist der Fall natiirlich mit den wenigen bisher beschriebenen Fallen 
von linksseitiger Apraxie in Parallele zu setzen. Es kommen besonders die Falle 
von van Vleuten 2 ), Hartmann, Liepmann und Maas 8 ) und Maas 4 ) in 

*) Hartmann, Beitrage zur Apraxielehre. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. Bd. 21. 

*) van Vleuten, Linksseitige motorische Apraxie. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. 
Bd. 64. 1907. 

<) Liepmann und Maas, Fall von linksseitiger Agraphie und Apraxie bei rechta- 
seitiger Lahmung. Journ. f. Psychol, u. Neur. Bd. 10. 1907. 

4 ) Maas, Ein Fall von linksseitiger Apraxie und Agraphie. Neurol. Centralbl. 1907. 


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Journal f. Piychologfo 
und Neorojogie. 


Betracht. Es sind weiterhin die Erscheinungen der linksseitigen Apraxie bei rechts- 
seitig Gelahmten zu beriicksichtigen, auf die Liepmann 1 ) aufmerksam gemacht 
hat (cf. auch Heilbronner) 2 ). Vor allem die Falle mit Sektionsbefund werden 
uns bei der schwierigen Entscheidung zu leiten haben, in welcher Weise wir die 
bei unserer Patientin vorliegende Lasion zu lokalisieren haben. Es scheint ja bei 
der groBen Ubereinstimmung mit Liepmanns Falle zunachst am einfachsten, 
ahnliche Herde anzunehmen, wie sie Liepmann als Ursache der Apraxie des 
Regierungsrates gefunden hat. 

Zur Erklarung der apraktischen Erscheinungen der linken Hand ist aller- 
dings die Annahme einer so weitgehenden Lasion, einer volligen Enucleation (Liep¬ 
mann) des Sensomotoriums nicht notwendig. Wir wissen durch neuere Beobach- 
tungen van Vleutens, Hartmanns und die kiirzliche, reinere Mitteilung von 
Liepmann und Maas, daB die Unterbrechung c^es Balkens allein linksseitige 
Apraxie erzeugt 8 ). Es bestand aber bei unserer Patientin mehr als reine Apraxie, 
es war auch jede Bewegungsanregung von alien sinnlichen Gebieten in hohem MaBe 
gestort. Diirfen wir auch diese Stoning auf eine Balkenlasion zuriickfiihren, oder 
miissen wir zu ihrer Erklarung auf die Unterbrechung bestimmter direkter Bahnen 
zwischen den Sinnesgebieten und dem Motorium requirieren? 

Ehe wir auf diese Frage an der Hand der tatsachlichen Beobachtungen ein- 
gehen, wollen wir rein psychologisch erortem, ob iiberhaupt die Annahme einer 
derartigen direkten Assoziationsbahn gerechtfertigt und notwendig ist. Im An- 
schluB daran wollen wir die Theorie des Handelns iiberhaupt etwas naher beriihren, 
und erst dann auf dem Boden der so gewonnenen Anschauungen unsem Fall noch- 
mals zu analysieren und die ihm zugrunde liegende Lasion zu lokalisieren versuchen. 

2 . Zur Theorie des Handelns. 

Das Nachahmen. Die raumliche Vorstellung. Das Handeln. 

Es erscheint mir immer bedeutungsvoll, unsere pathologischen Erfahrungen 
auf die Uberlegungen der normalen Psychologie zu stiitzen; ein derartiges Ver- 
fahren wird vor manchem FehlschluB, zu dem die Pathologie nicht selten verfiihrt, 
bewahren. Manche Auswiichse der Lehre von der Aphasie miissen uns hierfiir 
eine dauemde Wamung sein. 

Welche Bedeutung haben wir den sinnlichen Erregungen zur Auslosung von 
Bewegungen zuzuschreiben, und auf welchem Wege kommt die Beeinflussung 
zustande? 

Ich sehe hier ab von den Beziehungen der Sensibilitat im weitesten Sinne 
zur Motilitat, die in der Tatsache der Koordination der Bewegungen und in der 
einfachen reflektorischen Reaktion ihren Ausdruck finden. Fiir diese Vorgange, 
die alles psychischen Aquivalentes entbehren, geniigt die einfachste direkte Ver- 
bindung der beiden Gebiete im Sinne eines vorgebildeten Mechanismus. 

1 ) Liepmann, Die linke Hemisphare und das Handeln. Miinchn. med. Wochenschr. 

1905. Nr. 48. 

2 ) Heilbronner, Uber isolierte apraktische Agraphie. Munchn. med. Wochenschr. 

1906. Nr. 39. 

3 ) Cf. auch Liepmann, Ober die Funktion des Balkens beim Handeln usw. Med. 
Klinik. 1907. Nr. 25. 


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BD * XI l 90 a ^ 4/6 ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN apraxie. 181 

Den Reflexen stehen zweifellos diejenigen motorischen AuBerungen nahe, die 
nach Liepmann auf dem Wege des cerebralen Kurzschlusses zustande kommen 
sollen, und die Heilbronner als Eigenleistungen des Sensomotoriums bezeichnet. 
Sie haben mit den Reflexen den prompten Ablauf auf die sensorische Erregung, 
sowie die relative Unabhangigkeit von der Psyche gemeinsam, so daB sie auf den 
sensorischen Reiz noch ablaufen konnen, wenn ihre willkurliche Erregung nicht 
moglich ist (z. B. Knopfen im Falle Liepman ns). Wir konnen annehmen, daB 
diesen Bewegungen motorische Merksysteme zugrunde liegen, die sich durch die 
unendlich haufige Wiederholung ausgebildet haben. Sind diese Merksysteme irgend- 
wie angeregt, so entladen sie sich ohne bewuBte Tatigkeit des Individuums. Ja, 
das Eingreifen des Willens wirkt eher storend auf den exakten Ablauf (cf. Wernicke, 
S. 263) *). Dadurch unterscheiden sie sich aber schon in gewisser Weise von den 
einfachen Reflexen, die das Individuum nur in geringem MaBe willkiirlich hemmen 
kann, und auf deren Ablauf der Wille ohne wesentlichen EinfluB ist. Der gewich- 
tigste Unterschied gegeniiber den Reflexen ist aber wohl der, daB der motorische 
Ausschlag hier ohne weiteres auf den sensorischen Reiz erfolgt, daB aber fur den 
Antrieb zu den Eigenleistungen eine gewisse Intention zur Bewegung iiberhaupt 
seitens des Individuums notwendig ist. Erst wenn die Intention gegeben ist, ver- 
lauft das Weitere nach Art eines Reflexes. Das Individuum ist nicht gezwungen, 
die Bewegung auf den sensorischen Reiz hin auszufiihren, wie beim Reflex. Das 
BewuBtseinsmoment des Willkiirlichen, das diese Eigenleistungen begleitet, braucht 
nur ein sehr geringes zu sein, so daB die Bewegung, wie bei unserer Patientin, dem 
Individuum sogar als unabhangig von seinem Willen erscheinen kann; aber eine 
gewisse Willkiirlichkeit ist doch vorhanden (cf. vorher S. 179). 

Fiir diese Eigenleistungen diirfen wir wahrscheinlich eine ahnliche anatomische 
Grundlage annehmen wie fiir die Reflexe, einen sensomotorischen KurzschluB — 
jedoch wahrscheinlich nur als Nebenleitung, wahrend auch fur sie als Hauptleitung 
ein anderer Weg in Frage kommt, derselbe, der alien iibrigen Bewegungen zugrunde 
liegt. Die Annahme eines solchen Hauptweges wird deshalb notwendig, weil die 
sog. Eigenleistungen auch wiUkiirlich vonstatten gehen konnen und sehr haufig von- 
statten gehen, weil sie ihre Entstehung ausgesprochenen Wiflkiirakten verdanken. 
Sie sind ja erlemt. Die Nebenleitung ist nur ein sekundares Produkt der tJbung 
des Einzelindividuums. (Die Frage, ob wir es in den eigentlichen Reflexen viel- 
leicht mit ahnlichen Produkten einer phylogenetischen t)bung zu tun haben, bleibe 
hier unbenicksichtigt.) 

Die Hauptleitung, auf die wir jetzt naher eingehen wollen, der Weg jeder 
willkiirlichen Innervation auf sensorischen Reiz hin, ist keine direkte 
Uberleitung von Reiz zu Reaktion, sondem geht iiber den Umweg der Vor- 
stellung. 

Oberlegen wir, was in uns vorgeht, wenn wir auf einen sinnlichen Reiz hin 
eine Bewegung ausfiihren, wenn wir z. B., um ein einfaches Beispiel zu wahlen, 
eine gesehene Bewegung nachmachen. Die gesehene Bewegung ist eine Wahr- 
nehmung. Wie jede andere Wahmehmung, enthalt sie neben der spezifisch sinn¬ 
lichen Komponente eine Reihe anderer Momente, die durch keinerlei Empfindung 

1 ) Wernicke, Ein Fall von isolierter Agraphie. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 
Bd. 13. 


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Journal f. Psychologie 
and Neurologic. 


direkt gegeben sind, sondem durch die Verarbeitung der qualitativen Empfindung 
seitens unseres tatigen BewuBtseins entstehen 1 ). Von diesen ist das bedeutungs- 
vollste und uns hier allein interessierende das raumhche. Ohne hier naher darauf 
eingehen zu konnen, wie wir uns das Entstehen der Raumkomponente zu denken 
haben, konnen wir sagen, daB sie in jeder Wahmehmung enthalten ist mid uns 
als raumliche Vorstellung entweder als Formvorstellung oder als Wegvorstellung 
zum BewuBtsein kommt. Es ist nun von groBer Bedeutung, daB diese raumliche 
Vorstellung bei demselben Objekt dieselbe ist, ganz gleichgiiltig, durch welches 
Sinnesorgan das Objekt uns vermittelt wird, daB der Kreis z. B., den wir sehen 
(abgesehen vom sinnlichen Moment), als raumliche Vorstellung derselbe ist wie der, 
den unser Finger passiv gefiihrt beschreibt, der in uns wachgerufen wird, wenn 
uns das Wort Kreis genannt wird usw. 

Diese Identitat der raumlichen Vorstellung bei volliger Verschiedenheit des 
sinnlichen Moments fordert, daB wir sie uns in einem von den Sinnesfeldem ver- 
schiedenen Rindenabschnitt zustande gekommen denken, das wir nach Storchs 
Vorbild als stereopsychisches Feld bezeichnen. Die Erregungen der „Stereopsyche“ 
kommen uns als raumhche Vorstellungen zum BewuBtsein. 

Die gesehene Bewegung, von der wir ausgingen, erweckt in uns neben der 
spezifisch optischen Wahmehmung durch die Miterregung der Stereopsyche eine 
raumliche Vorstellung. Diese Erregung der Stereopsyche, die raumliche Vorstellung, 
wird der Ausgang der eigenen willkurlichen Bewegung. 

Zunachst braucht die gesehene Bewegung nur die Vorstellung der reinen 
Form zu erwecken. „Die Form vorstellung als Komplex von Richtungen" (Storch 2 ), 
S. 16) hat zunachst gar keine Beziehung zu einem bestimmten Gliede meines Korpers; 
erst wenn sich damit die Vorstellung des eigenen zu bewegenden Gliedes verbindet, 
haben wir die Vorstellung einer bestimmten eigenen Bewegung. Fur die Vor¬ 
stellung des Gliedes sind die sinnlichen Erregungen, die von demselben durch ver- 
schiedene Sinnesgebiete uns zugetragen werden, von groBer Bedeutung. Durch sie 
wird durch Umwandlung in stereopsychische Erregungen die von friiher her nur in 
gewissen groBen Umrissen bekannte Korperform, die „Vorstellung des Gliedes 14 , 
im einzelnen gefestigt und zu der Prazision gebracht, die erst eine exakte Bewegung 
ermoglicht. 

Die abstrakte raumhche Vorstellung der gesehenen Bewegung tritt dadurch 
in Beziehung zu der bestimmten Lage des Gliedes und dem augenblicklich in seiner 
zentralen motorischen Vertretung herrschenden Innervationszustande. „Erst durch 
diese Beziehujig zu einem motorischen Rindenfocus, durch die Eroffnung eines 
AbfluBventils der stereopsychischen Erregung, wird die raumhche Vorstellung 
eines Weges zur Bewegungsvorstehung eines bestimmten Korperteiles zur Vor- 
stufe einer Muskehnnervation" (Storch, S. 17). 

Die spezielle Vorstehung einer bestimmten Bewegung mit einem bestimmten 
Gliede enthalt aber auBerdem — aherdings bei verschiedenen Menschen in ver- 
schieden hohem MaBe — noch ein gewisses sinnliches Residuum, ahnlich wie das 
Erinnerungsbild jeder anderen Wahmehmung neben dem raumlichen Moment 
ein verschieden starkes sinnliches Residuum enthalt (cf. meine Ausfuhrungen 

*) Goldstein, K., Zur Theorie der Halluzinationen. Archiv f. Psychiatrie. 1908. 

2 ) Storch, Der Mechanismus der Willkurbewegungeu. Gaupps Centralblatt. Bd. 25. 


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BD * XI i«¥* fiFT4fB ZUR LEHRE von der motorischen apraxie. 183 


dariiber 1. c.). Es sind die Residuen friiherer gleicher Bewegungen, die in uns er- 
wachen, sobald wir die Aufmerksamkeit auf die mit einer bestimmten Muskelgruppe 
auszufiihrende Bewegung lenken. Mit Recht halt Heilbronner (S. 198) diese 
„fuhlbare Vorstellung" der Bewegung fiir einen „integrierenden“ Bestandteil der 
Zielvorstellung (im Liepmannschen Sinne) einer bestimmten Bewegung. Die 
„gliedkinasthetischen Vorstellungen“ Liepmanns sind aus den stereopsychischen 
Vorstellungen des Gliedes und diesen sinnlichen Erinnerungsbildem zusammen- 
gesetzt zu denken. GewiB wird gerade diesen sinnlichen Residuen fiir die Ver- 
bindung der abstrakten Formvorstellung mit der Bewegung des bestimmten Gliedes 
eine nicht unwesentliche Bedeutung zukommen. Sie stellen im Gegensatz zu der 
einheitlichen Bewegungsvorstellung etwas Differentes fiir jedes Glied dar (cf. Liep- 
mann, H. S. 75). 

Ebenso wie die abstrakte raumliche Vorstellung einer Bewegung Leistung 
des stereopsychischen Feldes ist, ebenso diirfen wir die Vorstellung eines bestimmten 
Gliedes als Funktion desselben denken. Es ist eine stereopsychische Erregung, die 
„an den die Bewegung verwirklichenden motorischen Rindenzellen endigt" (Storch, 
S. 17), aber natiirlich nicht etwa einseitig lokalisiert zu denken ist. Ebenso wie jede 
andere raumliche Vorstellung, ist sie Leistung des gesamten stereopsychischen 
Feldes. Jedoch wird man sich vorstellen konnen, daB dadurch, daB die betreffenden 
Gliedvorstellungen vorwiegend auf einem unilateralen Wege geweckt werden (durch 
die gekreuzte Sensibilitatsleitung und das BewuBtwerden der Tatigkeit der ge- 
kreuzten motorischen Zentren), die Verbindung des Abschnitts des stereopsychischen 
Feldes, der diesen zentralen Projektionsfeldem entspricht, eine gewisse hohere 
Wertigkeit fur die Gliedvorstellungen hat. Wir werden spater sehen, daB dies 
nicht in vollem MaBe zutrifft, sondem daB der hnksseitige Abschnitt der Stereo¬ 
psyche tatsachlich fiir beide Sensomotorien eine prominente Bedeutung besitzt. 

Anders steht es natiirlich mit den sinnlichen Residuen, die die Vorstellung 
bestimmter Bewegungen begleiten, sie sind an die Tatigkeit bestimmter Muskeln 
gebunden, mit denen sie auch in der Erinnerung zusammenhangen, und werden 
an die zentrale Projektionsstatte der Muskeln lokalisiert werden diirfen. 

Erreicht die stereopsychische Erregung eine gewisse Hohe, die uns als Wille 
zur Bewegung zum BewuBtsein kommt, so tritt eine Erregung der motorischen 
Foci ein, deren Ergebnis die tatsachliche Bewegung ist. Wir wissen, daB dabei 
meist kombinierte Muskelaktionen als Einheiten erregt werden, die durch haufigen 
Gebrauch vorgebildet sind und als motorische Merksysteme (im Sinne Georg 
Hirths) 1 ) bezeichnet werden konnen (z. B. die Duchenneschen Synergien usw.). 
Derartige Merksysteme komplizierteren Charakters diirfen wir auch als Grundlage 
der „Eigenleistungen“ des Motoriums, die uns durch Liepmann und Heil¬ 
bronner naher bekannt geworden sind, annehmen. Fiir ihre Erregung allein 
geniigt eventuell die einfache sensorische Anregung, wie wir schon vorher aus- 
fiihrten, ohne das Dazwischentreten der Vorstellung. Hier hat sich ein friiherer 
komplizierterer auf dem Wege iiber das Psychische ablaufender ProzeB durch die 
haufige tJbung vereinfacht und mechanisiert 2 ). Ob wir iibrigens derartige Kurz- 
schluBreaktionen nur zwischen der motorischen Zone und der sensiblen Sens, strict., 

1) Cf. Hirth, Georg, Energetische Epigenesis. Miinchen u. Leipzig 1898. 

2 ) Cf. hierzu Munsterberg, Die Willenshandlung. 1888. S. i5off. 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


184 


sondem auch den sensorischen im weiteren Sinne anzunehmen haben, was wahr- 
scheinlich ist, ware einer Untersuchung wert. Ich denke z. B. an das fast reflek- 
torisch erfolgende Verziehen des Gesichtes auf einen sauren Geschmackreiz und 
ahnliches 1 ). Es wird nicht immer leicht sein, diese Eigenleistungen von den eigent- 
lichen Reflexen zu unterscheiden; wie wir ausfiihrten, bestehen eben enge Be- 
ziehungen zwischen beiden. 

Unsere Uberlegungen iiber das optische Nachahmen haben schon fiir diesen 
relativ einfachen Vorgang eine ziemliche Kompliziertheit aufgezeigt. Von einer 
direkten Obertragung der sinnlichen Anregung auf die Motilitat kann hier gar 
nicht die Rede sein. Es geht das ja auch ohne weiteres schon daraus hervor, dafi 
keineswegs alle Einzelakte der gesehenen Bewegung von uns aufgefaBt werden, 
sondern im wesentlichen nur der Erfolg der Bewegung; so daB in uns nur die all- 
gemeine Wegvorstellung wachgerufen wird, wahrend die feinere Ausarbeitung gar 
nicht auf dem Wege der Nachahmung, sondem unter Zuhilfenahme friiherer Er- 
innerungen vor sich geht. Es besteht sicher keine direkte Kongmenz zwischen 
jedem Einzelakt der gesehenen und der gemachten Bewegung 2 ). Das erklart ja 
auch, warum wir unbekannte Bewegungen nur so unvoUkommen nachmachen 
konnen. Jede Nachahmung enthalt schon eine betrachtliche Eigenleistung der 
Stereopsyche auf Grund von Erinnerungen. Nicht wesentlich anders liegen die 
Verhaltnisse bei der Nachahmung passiver Bewegungen, also bei der Anregung 
von den kinasthetischen Wahmehmungen. Auch hier findet kein direktes llber- 
tragen statt, wenn auch durch die engere Beziehung der sensiblen und motorischen 
Komponente die Leistung wahrscheinlich eine einfachere ist und infolge der groBen 
anatomisch-physiologischen Ubung relativ haufig und leicht KurzschluBreaktionen 
vorkommen. Sicherlich geht aber jede nur etwas schwierigere kinasthetische 
(namentlich unbekannte) Nachahmung ebenfalls den Weg iiber die Vorstellungen, 
iiber das stereopsychische Feld. Es zeigt sich das ja auch darin, daB die nach- 
gemachte Bewegung keineswegs exakt der vorgemachten entspricht; auch hier 
handelt es sich wesentlich um die Nachahmung des Erfolges im allgemeinen. DaB 
die Differenzen nicht so deutlich hervortreten, wie etwa bei Fehlem des Nach- 
sprechens, liegt einfach darin, daB es sich iiberhaupt um viel grobere Verhaltnisse 
handelt. Jeder kleinste Fehler in einem gehorten Worte fallt sehr auf, wahrend 
die Fehler einer gesehenen Bewegung schon recht betrachtliche sein miissen, um 
iiberhaupt bemerkt zu werden. 

Leichter zu iibersehen sind die Vorgange bei der Anregung der Bewegung 
von anderen Sinnen her, besonders vom Gehor, bei der Anregung der Bewegung auf 
GeheiB, von der Sprachregion her. Hier ist ja gar nicht an eine direkte Zuordnung 
von sensorischer und motorischer Leistung zu denken, und es ist ohne weiteres 
klar, daB das verstandene Wort die stereopsychische Vorstellung erweckt, die zur 
Ursache der Bewegung wird. 

Die Verhaltnisse beim Nachsprechen, also einem dem Nachahmen ahnlichen 
Vorgange, scheinen fiir eine direkte Uberleitung des sensorischen Reizes auf die 
Motilitat zu sprechen. Mit Recht ist jedoch besonders von Heilbronner und 

*) Cf. hierzu z. B. Heilbronners Ausfuhrungen iiber den Essakt, 1 . c. Zeitschr. f. 
Psych, u. Phys. S. 169. 

2 ) Cf. hierzu Heilbronner, S. 1899, 1 . c. Munch, med. Wochenschr. 


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BD. XI, HEFT 4[5 
1908. 


ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


I8 5 


Hartmann die Leistung beim Nachsprechen als keineswegs identisch mit der des 
Nachahmens von Bewegungen gekennzeichnet worden. Hartmann hebt weiter 
gegeniiber Heilbronner hervor, daB auch die Analogie mit der Nachahmung 
von passiv erteilten Bewegungen nicht einwandsfrei ist, sondem daB man eine 
solche Analogie eigentlich nur fiir die Nachahmung passiv erteilter Bewegungen 
der Sprachmuskeln (wenn das moglich ware) annehmen konnte. 

Trotz einer gewissen Differenz hegen aber meiner Meinung nach die Verhalt- 
nisse beim Nachsprechen keineswegs prinzipiell anders als beim Nachahmen. Auch 
hier findet kein direkter Obergang vom Sensorischen zum Motorischen statt, sondem 
eine Ubertragung durch ein dazwischengeschaltetes Organ, das der Stereopsyche 
entspricht. Ich habe schon an anderer Stelle 1 ) in Anlehnung an Storchsche Aus- 
fiihrungen 2 ) die Notwendigkeit der Annahme eines solchen Organes, der Glosso- 
psyche, vertreten und mufl dorthin verweisen. Der gehorte Laut erweckt in der 
Glossopsyche die Sprachvorstellung, die die Ursache der Innervation im Broka- 
schen Felde wird. Wie wenig beim Nachsprechen eine einfache Oberleitung statt- 
findet, zeigt sich beim Nachsprechen fremder Lautgebilde, zeigt sich besonders 
bei Nachsprechversuchen mit ungebildeten Leuten, die in der Sprache nicht so 
geiibt sind wie die gebildeten. 

Sehr bedeutungsvoll ist in dieser Beziehung auch die Beobachtung von 
Kindem in einer Periode, wo sie der Sprache noch wenig machtig sind und nur 
weniges sprechen konnen. Diese Kinder, von denen man doch gemeinhin annimmt, 
daB sie das Sprechen durch Nachahmen lemen, sind iiberhaupt nicht imstande, 
richtig nachzusprechen — abgesehen von den Worten, die sie auch spontan 
sprechen konnen, fiir die sie also schon gefestigte (auf dem Wege des Horens 
und vor allem durch selbstandige Sprechiibungen gewonnene) Sprachvorstellungen 
besitzen. (Auf den Einwand, daB es sich nur um motorische oder sensorische 
Unvollkommenheit handelt, kann ich hier nicht eingehen, es trifft nicht das 
Wesen der Sache.) 

Alle fremden Worte werden iiberhaupt nicht nachgesprochen; oder das Kind 
bringt ahnlich klingende ihm bekannte vor. Es ist besonders interessant, daB die 
Kinder, wenn man ihnen Worte vorspricht, die vielleicht bis auf einen Buchstaben 
mit den ihnen bekannten identisch sind, nicht imstande sind, das vorgesprochene 
Wort nachzusprechen, sondem immer das ihnen gelaufige wiederholen. So konnte 
ich meinem i^jahrigen Kinde z. B. immer wieder das Wort Butter vorsprechen, 
es wiederholte immer wieder Bitter, obgleich es andere Worte mit u, z. B. Hut, 
gut sprach und nachsprach, also eine mangelhafte Auffassung des u und motorische 
Unfahigkeit es auszusprechen, ausgeschlossen war 3 ). 

1 ) Zur Frage der amnestischen Aphasie. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 41. Heft 3. — Ein 
Beitrag zur Lehre von der Aphasie. Journ. f. Psychol, u. Neur. VII. 1906. 

2 ) Cf. bes. Storch, Versuch einer psycho-physiologischen Darstellung des BewuBtseins. 
Berlin 1902. 

8 ) Cf. hierzu Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig 1900. S. 281/2. Preyer fuhrt das 
Unvermogen des Nachsprechens zu einer Zeit, wo ,,die peripheren akustischen und expressiven 
Phonationsbahnen schon entwickelt sind," auf das Fehlen der Verbindungen ,,zwischen dem 
Laut- und Silbenzentrum und dem Sprechzentrum" auf das Fehlen der ,,interzentralen Wege 
erster Ordnung vom Lautzentrum zum Sprechzentrum" zuruck — das entspricht etwa der Aus- 
bildung unserer Sprachvorstellungen. 


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Journal f. Psychology 
und Neurologle. 


186 


Das ist natiirlich ein Beispiel unter unendlich vielen. Immerhin mag gerade 
fur das Nachsprechen durch die groBe Ubung die Moglichkeit einer KurzschluB- 
reaktion beim Erwachsenen besonders groB sein. 

Im groBen ganzen finden wir bei jeder Anregung motorischer 
Reaktionen durch sinnliche Reize immer dasselbe; immer die Not- 
wendigkeit eines Zwischengliedes zwischen Sensorium und Motorium, 
dem psychisch Vorstellungswert innewohnt und das sich dadurch 
prinzipiell sowohl vom Motorischen wie Sensorischen unt^rscheidet. 
Von einer direkten Beeinflussung des Motoriums durch das Sensorium 
kann nur in ganz geringem MaBe die Rede sein. Es widerspricht dem nicht, 
daB tatsachlich gewohnlich eine groBe Anzahl recht. komplizierter Bewegimgen 
ohne BewuBtsein ablaufen. Man denke z. B. an den korrekten Ablauf zweier Be- 
wegungsreihen nebeneinander, von denen nur eine BewuBtseinswert bat, an den 
korrekten Bewegungsablauf bei intensivem Nachdenken. Es ist wohl kaum not- 
wendig, ein Beispiel fur diese bekannten Tatsachen anzufiihren. Bei alien diesen 
Bewegungen handelt es sich, auch wenn sie ohne BewuBtsein verlaufen, keineswegs 
um direkte (Jbergange vom Sensorischen ins Motorische, wie daraus hervorgeht, 
daB sie nicht mehr prompt ablaufen, wenn das Zwischenglied, das uns fiir gewohn¬ 
lich als Vorstellung zum BewuBtsein kommt, alteriert ist, wie eben z. B. bei der 
Apraxie. GewiB haben alle diese Handlungen Ahnlichkeit mit den eigentlichen 
KurzschluBreaktionen, jedoch unterscheiden sie sich von ihnen dadurch wesenthch, 
daB fiir erstere die Leistimg des Ubertragungsapparates, die wir als bewuBte Vor- 
stellung erleben, anscheinend gar nicht mehr notwendig ist, fiir letztere dagegen 
immer. Die Erregung in diesem Ubertragungsapparat kann nur (infolge groBer 
tlbung) eine so modifizierte werden, daB sie durch ihn hindurch geht, ohne jene 
Eigentiimlichkeiten zu gewinnen, die wir bewuBte Vorstellungen nennen. 

Samtliche verschiedenen Sensorien wirken auf das Motorium immer auf 
dem gleichen Umwege fiber das stereopsychische Feld, fiir das wir deshalb eine 
doppelte Verbindung mit diesen beiden Gebieten annehmen miissen. Im Gegensatz 
zu der doppelten Vertretung der Sensibilitat und Motilitat in beiden Hemispharen 
haben wir uns das stereopsychische Feld als einheitliches Organ vorzustellen. 

Die Stereopsyche ist aber nicht nur das Organ der Obertragung von Be¬ 
wegungen, sie birgt auch — das liegt ja schon in unserer ganzen Ayffassung der 
,,Ubertragung“, die ja einer Eigenleistung gleichkommt — die Erinnerungen friiherer 
Bewegungen und liefert den AnstoB „spontaner“ Bewegungen. 

Sie ist weiterhin das Organ der Erinnerungen iiberhaupt, bestehen diese 
doch, wie ich an anderer Stelle (1. c.) ausgefiihrt habe, wesentlich in raumlichen 
Vorstellungen (soweit es nicht nur Erinnerungen von sprachlichen Ausdriicken sind), 
die eine gewisse, verschieden starke sinnliche Komponente besitzen, der allerdings 
bei den Erinnerungen mancher Menschen eine nicht geringe Bedeutung zukommen 
mag. In der Stereopsyche findet ein wesentlicher Teil der Arbeit des Wiedererkennens 
von Objekten statt, denn in ihr verbinden sich die verschiedenen sinnlichen Kom- 
ponenten eines Objektes durch die einheitliche Raumvorstellung zur Einheit des 
Objektes. Von ihr gehen die Bewegimgen des Hantierens mit den Objekten aus 1 ). 

l) Wahrscheinlich spielen hierbei gerade KurzschluBreaktionen mit Umgehung der 
Stereopsyche eine nicht geringe Rolle (cf. Heilbronner 1 . c. Zeitschr. f. Psych. S. 195). 


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B1) - X ^^® FT4 / B ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


187 


So ist die Stereopsyche das Zentralorgan alles Erkennens, aller hoheren 
psychischen Tatigkeit, aller willkurlichen Bewegung. Damit wird sie auch das 
Zentralorgan des „Handelns“. In der Stereopsyche entsteht der ideatorische Ent- 
wurf der Handlung. Deshalb sind die ideatorischen Storungen des Handelns von 
mehr Oder weniger ausgedehnten anderweitigen Storungen der Stereopsyche be- 
gleitet; deshalb weisen auch alle Falle von sog. ideatorischer Apraxie mehr oder 
weniger Storungen anderer hoherer psychischer Leistungen auf. Es ist kein Zufall, 
da8 Agnosie (cf.Liepmann, H.S. 65), allgemeine Merkfahigkeitsstorungen und das 
Symptom der Perseveration bei ihnen so haufig sind, und daB es sich anatomisch 
wohl immer um diffusere Erkrankungen, Paralyse, senile Hirnatrophie usw. (Pick) 
handelt. 

Das Handeln ist prinzipiell nicht anderes als eine einfache Bewegung; es ist 
nur durch die Kompliziertheit, durch die bestimmte Verbindung einer groBen Anzahl 
Einzelbewegungen zu einer Einheit ausgezeichnet. Auf den feineren Bau dieser 
psychischen Einheit naher einzugehen, eriibrigt nach der glanzenden Analyse 
Liepmanns iiber diesen Punkt. 

Die Lasion der Verbindungen der Stereopsyche mit den sensorischen und 
motorischen Zentren ruft charakteristische Storungen hervor; erstere umfassen 
die verschiedenen Agnosien, Seelenblindheit, Seelentaubheit usw., letztere die 
motorische Apraxie. (Schiufi foigo 



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MAX BIELSCHOWSKY. 


Journal f. Fsjchologie 
und Neurologic. 


188 


Aus dem Neurobiologischen Laboratorium der Universitat Berlin. 

Ober den Bau der Spinalganglien unter normalen und 
pathologischen Verh&ltnissen. 

Ein Beitrag zur Kenntnis der Regenerationsvorgange an Ganglienzellen 

und Nervenfasern. 

Von 

Max Bielschowsky. 

(23 Textfiguren.) 

Durch die neuen Silberimpragnationsmethoden, welche auf so viele Gebiete 
der normalen und pathologischen Histologie des Nervensystems befruchtend ge- 
wirkt haben, sind auch unsere Kenntnisse vom Bau der Spinalganglien erweitert 
worden. Ramon y Caj al 1 ) selbst hat kurze Zeit nach der Publikation seiner Technik 
iiber neue Befunde in den normalen Ganglien verschiedener Saugetiere berichtet, 
und diese Arbeit ist der Ausgangspunkt einer schon recht reichhaltigen Literatur 
geworden. Seine Forschungen brachten eine ausfiihrliche Darstellung bisher un- 
bekannter oder ungenau gekannter Zelltypen, welche teils durch atypische Fort- 
satze, teils durch eine fensterartige Durchlocherung ihrer Randzonen gekennzeichnet 
sind. Auch iiber die Anordnung und den Verlauf markloser Nervenfasern in den 
Ganglien enthalt die Arbeit Cajals manchen wertvollen Beitrag. Giuseppe Levy 
hat in einer Reihe dankenswerter Untersuchungen diese Befunde fur niedere Wirbel- 
tiere erganzt und erweitert. Fiir pathologisch-anatomischesMaterial habenN ageot te a ) 
und Marinesco 3 ) die Methoden Cajals erfolgreich zur Anwendung gebracht, und 
mancher im normalen Gewebe erhobene Befund ist erst durch die Beobachtungen 
dieser Autoren in das rechte Licht geriickt worden. Besonders interessante Re- 
sultate boten ihre Untersuchungen an den Spinalganglien der Tabiker, weil 
sie eine bis dahin nicht geahnte Regenerationsfahigkeit an den Parenchym- 
elementen aufdeckten. Diese Regenerationstiichtigkeit der Zellen und Fasem wurde 
von ihnen auf experimentellem Wege weiter erforscht, indem sie iiberlebende Gang¬ 
lien in fremde Gewebe, mit besonders giinstigem Erfolge in subcutanes Bindegewebe, 

!) Ramon y Cajal, Tipos cellulares de los ganglios sensitivos del hombre y maniferos. 
Trabajos del laboratorio. 1905. 

2 ) Nageotte, Regeneration collaterale de fibres nerveuses termin6es par des massues 
de croissance. Nouv. Iconograph. de la Salpetr. 1906. 

8 ) Marinesco, Contrib. k l’etude de Thistol. et de la pathogenie du Tabes. Sem. m6d. 

1906. 


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BD XI im FT4/B UBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 189 


transplantierten. Auch diese Experimente diirfen das groBte Interesse beanspruchen, 
weil sie wichtige Beitrage zur Biologie der Ganglienzelle erbracht haben. Ich werde 
im Laufe meiner Arbeit Gelegenheit haben, auf einzelne Punkte der zitierten Arbeiten 
ausfiihrlich zuriickzukommen. Fiir meine eigenen Untersuchungen bildeten Be- 
obachtungen an einem pathologischen Objekt den Ausgangspunkt. Es betraf einen 
seltenen Fall von Krebsmetastasenbildung in den hinteren Wurzeln und Spinal- 
ganglien einer 62 jahrigen Frau 1 ). In den von Krebszellen durchwucherten Ganglien 
fanden sich iiberraschenderweise nicht nur deutliche Neubildungen von Nerven- 
fasem, sondem auch Formveranderungen an den Ganglienzellen, welche den Ver- 
dacht erwecken muBten, daB es sich hier auch um Ansatze zu Regenerationsvor- 
gangen handelte. Die Befunde geben mir die Veranlassung, die Struktur der Spinal- 
ganglien mit meiner Silberaldehydmethode unter normalen und pathologischen Ver- 
haltnissen weiter zu verfolgen. Trotz der seither stark angewachsenen Literatur ist 
die folgende Mitteilung nicht ganz iiberfliissig. Bisher basieren namlich alle Unter¬ 
suchungen auf dem Cajalschen Verfahren. Die Kontrolle durch meine Methode, 
welche durch die Vollstandigkeit ihrer Bilder sichere Riickschliisse auch nach der 
quantitativen Seite gestattet, war deshalb wiinschenswert. AuBerdem machten die 
neuerdings in den Spinalganglien der Tabiker beobachteten Veranderungen neue 
sorgfaltige Vergleiche normaler und pathologischer Organe notwendig. Jch 
will deshalb an dieser Stelle zunachst eine Darstellung der Spinalganglien des 
normalen erwachsenen Menschen geben, dann kurz die histologischen Differenzen 
in den verschiedenen Lebensaltem skizzieren, und schlieBlich die Veranderungen 
beschreiben, welche bei einer Reihe pathologischer Zustande hervortraten 2 ). 

In den Spinalganghen eines erwachsenen nervengesunden Menschen aus dem 
Anfang des dritten Dezenniums machen sich bei oberflachlicher Betrachtimg zu¬ 
nachst nur die bekannten monopolaren Zellformen bemerkbar, unter denen man nach 
ihrer GroBe drei Typen abgrenzen kann. Der erste betrifft die groBen kreisrunden 
oder ovalen Zellen mit zentral gelegenem Kern, in denen das intracellulare Fibrillen- 
netz ein weitmaschiges Gefiige besitzt. Liegt der Ursprung des Achsenzylinders in 
der Schnittebene des Zellkorpers, dann sieht man, daB bei eijiem Teil dieser Zellen 
die im Achsenzylinder parallel angeordneten Fibrillen an seiner Ursprungsstelle 
napf- oder schiisselformig auseinander weichen und einen sich allmahlich verjiingen- 
den Randstreifen bilden, aus dem sich unter rechtwinkliger Abzweigung einzelne 
Fadchen in die Netzbalken einsenken. Ahnliche Zellformen mit derartigen margi- 
nalen Fibrillenbandem enthalten im Nervensystem der Wirbeltiere nur die 
Zellen des elektrischen Lappens der Tropedineen. Vergleicht man das Fibrillenbild 
mit dem Nisslbilde, so erkennt man leicht, daB diesem Zelltypus im gefarbten 
Praparat die groBen hellen Zellformen entsprechen, welche durch eine konzentrische 
Schichtung in der mittleren Protoplasmazone gekennzeichnet sind und an der Peri- 


*) Bielschowsky, Uber das Verhalten der Achsenzylinder in Geschwulsten des Nerven- 
systems. Journ. f. Psychol, u. Neurol. 1906. 

*) Bezuglich der Technik bemerke ich, daB ich genau nach dem in dieser Zeitschrift, 
Bd. 4, von mir angegebenen Verfahren gearbeitet habe. Wunscht man eine recht klare Dar¬ 
stellung speziell der marklosen Nervenfasern in den Ganglien, dann empfiehlt es sich, die Ge- 
frierschnitte vor dem Einlegen in die erste Silberldsung 24 Stunden in reines, unverdhnntes 
Pyridin zu bringen, dieses aber nachher gut auszuwaschen. 

Journal fttr Psychologic und Neurologic. Bd. XL 13 


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MAX BIELSCHOWSKY. 


Journal l Psychologie 
nnd Neurologic. 


190 


pherie eine von chromophiler Substanz vollkommen oder fast vollkommen freie 
Zone aufweisen. Es ist nicht uninteressant, daB hier wie in anderen Zelltypen 
einer von N. K. freien Zone in den Silberpraparaten die am scharfsten hervortreten- 
den marginalen Fibrillenziige entsprechen. Der Achsenzylinder entspringt in der 
Gestalt eines breiten Bandes mit deutlicher fibrillarer Parallelstreifung und bildet, 
bevor er die Kapsel verlaBt, die bekannten, sehr variabeln Schlingentouren. Nach 
dem Dnrchdringen der Kapsel bekleidet er sich mit einer Markhiille und einer 
SchwannschenScheide, wobei zu bemerken ist, daB dieSchwannscheScheide nur 
die kontinuierliche Verlangerung der Zellkapsel darstellt. Sowie die Markhiille auf- 
tritt, verschmalert er sich zu einem ganz homogenen schwarzen Bande, in welchem 
keine fibrillare Zeichnung mehr zu sehen ist. Eine kurze Strecke nach dem Austritt 
aus der Kapsel erfolgt dann meist die Bifurkation in der Weise, daB der medullar- 
warts abzweigende, fast stets viel zartere Ast wie eine Kollaterale aus dem dicken 
nach der Peripherie sich wendenden Aste mit einem kleinen Hiigel entspringt. Jeder 
dieser beiden Aste schlieBt sich dann einem der zahlreichen Markfaserbiindel an, 
welche das Ganglion in der Langsrichtung durchziehen. 

Der zweite Typus unterscheidet sich von diesem durch die etwas geringere 
GroBe, das dichtere Gefiige der Netztrabekeln und das Fehlen des Randstreifens. 
Im Nisslbilde entsprechen ihm diejenigen Zellen, welche auch an der Peripherie 
eine Lage groberer N. K. aufweisen und in toto dunkler gefarbt sind. Der dritte 
Typus wird von ganz kleinen durch ihre dunkle Farbung auffallenden Exemplaren 
gebildet, deren fibrillares Reticulum so feinmaschig ist, daB es schon mehr als eine 
Schaumstruktur imponiert. Auch im Nisslbilde sehen diese Zellen sehr dunkel aus, 
weil die Grundsubstanz des Protoplasmas die Farbe stark annimmt. Zwischen den 
einzelnen Typen bestehen Ubergangsformen ganz in derselben Weise wie im ge- 
farbten Praparat. In den Ursprungsverhaltnissen der Achsenzylinder und deren 
Verlaufsrichtung bestehen zwischen den einzelnen Formen keine wesenthchen Unter- 
schiede. 

Neben diesen Normaltypen kommen aber auch noch andere Zellformen vor, 
welche in diesem Alter etwa 6—8 % der Gesamtzahl ausmachen. Auch diese lassen 
sich in zwei Gruppen gliedem. Erstens in Zellen mit gefensterter Randzone und 
zweitens in Zellen mit fadenformigen Fortsatzen, welche mit kugelformigen End- 
anschwellungen enden. Wenden wir uns zunachst dem erstgenannten Typus, den 
Celulas fenestradas Ramon y Caj alszu. Eshandelt sichumsehrpragnanteFormen, 
welche bei der ersten Betrachtung der Silberpraparate uberraschend wirken, weil sie im 
Nisslbilde nur sehr undeutlich hervortreten. Sie sind von denjenigen Autoren, welche 
Spinalganglien nur an gefarbten Schnitten untersucht haben, in den groBen Topf 
der vakuolisierten Zellen geworfen werden. Wie der Name andeutet, handelt es sich 
um Zellen, deren Randzone durchlochert ist. Die Fenster, welche dadurch ent- 
stehen, haben eine sehr charakteristische Umrahmung von dunklen bogen- oder 
henkelformigen Protoplasmastreifen, deren Konturen sich von der Nachbarschaft 
scharf abheben (vgl. Fig. ia und ib). Die Neurofibrillen sind in diesen Henkel- 
formationen etwas verdickt und in parallelen Ziigen angeordnet, so daB eine gewisse 
Ahnlichkeit mit der intracapsularen Pars glomerularis des Axons zustande kommt. In 
den Fensteroffnungen sieht man immer rundliche Kerne, welche proliferierten, und, wie 
weiter unten noch gezeigt werden soil, stets vergroBerten Kapselzellen angehoren. 


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BD - XI j^ !FT 4/5 OBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 191 

Nicht selten sieht man, daB sich die Randbogen teilen; dann bilden sich recht kompli- 
zierte Randnetze, welche der ganzen Zelle ein sehr phantastisches Aussehen ver- 
leihen konnen. Beim Menschen halt sich die Gliederung der Fensterbogen meist 
in maBigen iibersehbaren Grenzen. Bei gewissen Saugem konnen aber die Verhalt- 
nisse schon recht kompliziert werden und bei niederen Wirbeltieren, z. B. bei Fischen 
(Orthagoriscus) entwickeln sich ganz unentwirrbare Formationen (G. Levy). Cajal 
hat diese Fenster vorwiegend im Urspnmgsgebiete des Achsenzylinders beobachtet. 
Beim Menschen ist eine solche Beschrankung auf ein circumscriptes Randgebiet 
der Zelle nur selten. Meist findet man sie an mehreren Punkten zugleich, haufig ver- 
teilen sie sich auch liber die ganze Peripherie. Von Bedeutung ist, daB fast alle Zellen, 
an denen sich die Fenestration bemerkbar macht, verkleinert und geschrumpft 
erscheinen; es besteht eine mehr oder minder weite Retraction des Zellkorpers 



Fig. 1 . Fensterzellen aus dem Spinalganglion einer 33jahrigen Frau. 


von der Kapsel an denjenigen Teilen der Peripherie, welche nicht durch die henkel- 
formigen Bogen mit ihr verankert sind; auch hier wird der entstehende Raum 
durch gewucherte Kapselzellen ausgefiillt. Weiterhin fallt an derartigen Zellen fast 
immer eine Veranderung des fibrillaren Geriistes auf, welche man als Rarefikation 
bezeichnen kann. Die einzelnen Balkchen sind verschmalert und ihre Gesamtzahl 
entschieden vermindert. Es entsteht dadurch das Bild eines sehr porosen schwamm- 
artigen Gebildes. Manche Fensterzellen weisen uberhaupt keine fibrillare Differen- 
zierung auf und erscheinen als homogene Mattscheiben, ahnlich den Zellen mit 
extremer Chromatolyse im Nisslbilde. 

Als Abart der Fensterzellen betrachte ich zwei andere Zellformen, die beim 
erwachsenen Menschen in jedem Ganglion in einzelnen Exemplaren anzutreffen sind. 
Die Bedeutung besonderer Typen konnen sie meines Erachtens nicht beanspruchen. Es 

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192 MAX BIELSCHOWSKY. J °™ d 


sind dies erstens die sogenannten multipolaren Zellen mit jenen kurzen und dicken 
Fortsatzen, welche schon von zahlreichen Golgiforschem an niederen und hoheren 
Wirbeltieren beobachtet worden sind. Man hat diese Fortsatze als Dendriten be- 
zeichnet. Eigentlich handelt es sich aber nur um kurze, meist mit keulenformigen 
Verdickungen endigende Stummel, die mit den Dendriten zentraler Ganglienzellen 
keine Ahnlichkeit besitzen. Ich halte diese Gebilde fur Henkelfragmente, die auf der 
Hohe des Bogens abgeschniirt worden sind. Die Ahnlichkeit mit den Fensterbogen 
tritt auch in der streifenformigen Anordnung der Fibrillen und ihrer gegeniiber dem 
Zellkorper dunkleren Farbung zutage. Auch diese Fortsatze entwickeln sich nur an 
verkleinerten und geschrumpften Zellformen, und zwar entsprechen ihre Ursprungs- 
stellen haufigden am weitesten von der Kapsel retrahierten Randgebieten. Den Raum 
zwischen Zelle und Kapselwand fiillen, wie man an gut gefarbten Praparaten immer 
sehen kann, die Kapselzellen aus. Zu erwahnen bliebe noch, daB von der Spitze der 
stumpfen Fortsatze solcher Zellen mitunter feinste Fadchen ausgehen, die in einer 
Bogentour zum Zellrand zuriickkehren und dort wieder mit dem Protoplasma ver- 
schmelzen, ein Faktum, welches besonders deutlich fiir die Zugehorigkeit dieser Zell¬ 
formen zum Typus des Celulas fenestradas spricht. 
Noch naher als die multipolaren Zellen, steht den 
Fensterzellen die zweite hier in Betracht kommende 
Art, die Celulas seniles o desgarradas, die senilen 
Oder zerkliifteten Zellen Ramon y Cajals, welche 
von ihm auch als besondere Art beschrieben werden; 
bei dieser senilen Abart handelt es sich auch um 
Veranderungen der Randzone, welche von zahl¬ 
reichen mit Kapselzellen erfiillten Liicken zerkliiftet 
erscheint. Wahrend aber die Protoplasmastreifen, 
welche die Fensteroffnungen am Rande der Fenster- 
Fig. 2 . Ubergangsfonn einer Fenster- ‘zellen einschlieBen, zart und gleichmaBig kalibriert 
zelle zai n Celula desgarrada M Cajals. sind, tragen sie hier plumpe und knorrige Ver¬ 
dickungen, die sich an den Beriihrungspunkten mit 
der Kapsel zu fuBformigen Platten verbreitem. Ihre Ahnlichkeit mit den Fenster¬ 
zellen ist demnach eine eklatante; zahlreiche Ubergange, welche zwischen beiden 
Arten vorkommen, machen die Abgrenzung einer besonderen Zellenart unmoglich. 
Fig. 2 zeigt eine derartige Ubergangsform, welche an einer Seite die von den 
Fensterzellen her bekannten Randbogen aufweist; diese jedoch in einer so plumper* 
und unregelmaBigen Gestalt, wie sie sonst nur den ,,senilen" Zellen eigen ist. Bei 
dieser Gelegenheit mochte ich betonen, daB die Bezeichnung „senil" nicht un- 
bedingt akzeptiert werden darf. Denn wenn diese Zellen sich auch vorwiegend in 
spateren Dezennien des Lebens finden, so kommen sie vereinzelt auch bei jiingeren 
Individuen vor, besonders bei solchen, die an langdauemden Kachexien zugrunde 
gegangen sind. 

Die zweite Hauptform atypischer Zellformen, welcher man bei jedem er- 
wachsenen Individuum begegnet, ist gekennzeichnet durch feine, fadenformige Fort¬ 
satze Oder besser Anhangsel, welche in kugelformige Anschwellungen auslaufen. 
Entdeckt hat sie Huber bei einer in Nordamerika einheimischen Froschspezies, 
und es ware deshalb berechtigt, wenn man von Huberschen Zellen und Huber- 



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BD. XL HEFT 4/5 
190a 


OBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


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schen Fortsatzen sprache. Das Verdienst, sie auch bei den Saugem gefunden und 
ihre weite Verbreitung erkannt zu haben, gebiihrt Ramon y Cajal. Zahllose Modi- 
fikationen lassen sich aus der Lagerung und Verlaufsrichtung des Fortsatzes kon- 
struieren. Er kann innerhalb der Zellkapsel bleiben, er kann die Kapsel durchbrechen 
und an die bindegewebige AuBenseite derselben vordringen, er kann sich schlieBlich 
auch weit von der MutterzeUe entfemen und sich iiber lange Strecken den Nerven- 



c 

Fig. 3. a. Zelle mit fadenformigen Fortsatzen, welche mit dicken Endanschwellungen versehen sind. 
b. Diinnkalibrige Faserchen in der Kapsel. c. Grobkalibrige Nervenfasem in der Kapsel mit 

Anastomosen. 

biindeln der Nachbarschaft anschlieBen. Bald ist seine Endanschwellung hiillen- 
los, bald von einer Endothelkapsel umschlossen. Sein Verlauf im Kapselinnem ist 
meist ein recht verschlungener; zahlreiche Knaueltouren um die Ursprungszelle 
herum sind etwas ganz Gewohnliches. Haufig sind zwei und noch mehr derartige 
Anhangsel an ein und derselben Zelle vorhanden, wie z. B. Fig. 3 a erkennen laBt. 
Dieselbe Abbildung zeigt auch, daB die Endanschwellungen in ihrer Form variabel 
sind, und daB neben kugeligen auch ovale und gelappte Gebilde vorkommen. Dieser 


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Zelltypus ist durch die Silberreduktionsmethoden sehr leicht darzusteUen und des- 
halb in zahlreichen Arbeiten der letzten Jahre beschrieben worden. Auch ich 
werde im Laufe der Arbeit noch Gelegenheit haben, mich in mehrfacher Hinsicht 
mit ihnen zu beschaftigen. Nur einen Punkt mochte ich hier gleich hervorheben. 
Man sieht diese Huberschen Kugelfaden sehr haufig, ja in der iiberwiegenden Mehr- 
zahl der Falle von Zellen ausgehen, deren Form und Struktur Veranderungen auf- 
weisen. Haufig sind es geschrumpfte Zellen, die sich mit einem Teile ihres Randes 
oder mit der ganzen Peripherie von der Kapsel entfemt haben. Selbstverstandlich 
darf man von einer pathologischen Schrumpfung nur dann sprechen, wenn kein 
„leerer“ Raum zwischen Kapsel und Zelle besteht. Solche Bilder sind immer Kunst- 
produkte, welche durch den FixierungsprozeB bedingt sind. Es miissen, wie schon 
wiederholt erwahnt wurde, zelligeElemente aus der Kapselwandung diesenRaum aus- 
fiillen. Das ist hier aber stets der Fall. Im vollen Einklang mit dieser Beobachtung 
steht auch die Tatsache, daB sich Hubersche Faden haufig an Fensterzellen und 
sensil zerkliifteten Exemplaren zeigen. 

Neben diesen atypischen Zellformen ist dann auch der Nachweis mark- 
loser Nervenfasem der Spinalganglien durch die Reduktionsmethoden sehr er- 
leichtert worden. DaB marklose Elemente in den Spinalganglien der Sauger 
vorkommen, ist eine langst bekannte Tatsache, welche durch die Golgische 
Impregnation und vitale Methylenblaufarbung aufgedeckt wurde. Besonders wert- 
voll sind in dieser Hinsicht die Arbeiten Dogiels, welcher sie als sympathische 
Fasem ansprach. Aber Bilder von solcher Klarheit und Vollstandigkeit, wie 
wir sie auf dem Reduktionswege erzielen, waren friiher unbekannt, und des- 
halb konnen diese Elemente erst jetzt einer erschopfenden Diskussion unter- 
zogen werden. 

Die wichtigste Art der marklosen Fasem ist bereits erwahnt. Es sind die 
fadenformigen Fortsatze der Ganglienzellen mit den kugelformigen Endanschwel- 
lungen. Durchdringen diese Gebilde, was ja sehr haufig geschieht, die Zellkapsel, 
dann imponieren sie vollkommen als marklose Faserchen, und nur wenn der Zufall 
dem Beschauer zu Hilfe kommt, sind sie dann als direkte Zellfortsatze zu erkennen. 
Ganz ebensolche mit homogenen dunklen Endkugeln oder Endkeulen versehene 
Fasem entspringen aber auch aus dem Achsenfortsatz der Ganglienzelle, sowohl 
wahrend seines intracapsularen Verlaufes, wie auch nach Verlassen der Kapsel. 
Unter normalen Verhaltnissen sind beim Menschen in dem uns hier beschaftigenden 
Lebensalter solche marklose Seitensprossen nicht gerade haufig. Bei genauerer 
Durchmusterung sind wohl aber in jedem Praparat einzelne Exemplare ausfindig 
zu machen. Ihr Liebhngsurspmng hegt in der Pars glomerul. des Achsenzylinders, 
von dem sie sich mitunter in mehreren Exemplaren abzweigen. Nur selten bleiben 
diese „Kollateralen“ auf einer langeren Wegstrecke in der unmittelbaren Nachbar- 
schaft ihrer Stammfasern; geschieht dieses aber, dann umziehen sie dieselbe haufig 
in Spiraltouren, und bilden jene eigentiimlichen Figuren, welche von den Fort- 
satzen der Nervenzellen in den sympathischen Ganglien her bekannt sind. Diejenigen 
Sprossen, welche sich von den extracapsularen Achsenzylinderstrecken abzweigen, 
tun dies meist unter spitzen Winkeln und erfahren in ihrem weiteren Verlauf noch 
wiederholte dichotomische Teilungen, bis schlieBlich die letzten Auslaufer mit den 
bekannten Anschwellungen enden (vgl. Fig. 4). 


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In demselben MaBe, wie diese Fasem, lenken dann in jedem normalen Praparat 
marklose Elemente, welche in der Kapsel der Spinalganglien verlaufen, die Aufmerk- 
samkeit auf sich. Es handelt sich hier bei der Mehrzahl nicht um Kollateralen 
des Achsenzylinders, welche sich in der Hiille seiner Mutterzelle verasteln, sondem 
vorwiegend um Fasem, welche aus benachbarten gleichgearteten Neuronen hervor- 
gehen. Sie sind nicht sehr zweckmaBig als pericellulare Fasem bezeichnet worden, 
denn niemals benihren sie unmittelbar den Korper der betreffenden Ganglienzellen; 
sie bleiben vielmehr stets im Gewebe der Kapsel selbst, wo sie in der Regel der 
Innenflache ihres bindegewebigen Grundmembran aufgelagert sind. Die endothel- 
artig gelagerten Kapselzellen trennen sie von der Oberflache der Ganglienzelle. 
Wenn diese unter pathologischen Bedingnngen proliferieren und mehrschichtige 
Belege auf der Grundmembran bilden, dann riicken mit ihnen auch die nervosen 
Elemente in das Innere des Kapsellumens vor. Aber auch in diesem Falle kommt 
es niemals zu einem Kontakt mit 
dem Zellkorper selbst. Ich unter- 
scheide zwei Arten von derartigen 
Fasem; erstens solche von sehr 
zartem Kaliber, die sich meist in 
groBer Zahl wie Knauel in der 
Kapselwand aufrollen (Fig. 3 b) und 
zwei tens dickere, mitunter echte 
Netzmaschen bildende Fasem, die 
aber im Vergleich mit den erst- 
genannten nur in geringer Zahl 
auftreten (Fig. 3 c). Ein Blick auf 
Fig 3 b zeigt, daB die feinfaserigen 
Knauel mit den pericellularen 
Nestem Dogiels identisch sind, 
welche er bei jungen Katzen und an- 

deren Saugem vital gefarbt als End- Fig 4 Norma ies Spinalganglion. Achsenzylinder mit 
verzweigungensympathischerFasem Seitensprossen, welche in Endkugeln auslaufen. 
betrachtet hat. Seine Deutung ist 

heute durch die Ergebnisse der experimentellen Forschungen Nageottes 1 ), speziell 
durch dessen Befunde an liberpflanzten Spinalganghen von Kaninchen unhaltbar ge- 
worden. Diese Nester treten in Ganglien, welche in das subcutane Bindegewebe des 
Ohres verpflanzt werden, innerhalb einer gewissen kurzen Periode nach der Trans¬ 
plantation in recht betrachtlicher Menge auf, und lassen sich hier als Produkte einer 
stiinnischen Regeneration nachweisen, die aus den an den betreffenden Kapseln 
vorbeiziehenden Nervenfasem hervorgeht. In den normalen menschlichen Gang- 
lien, wo die Nester bisher nicht sehr beachtet worden sind, ist es nicht leicht, sich 
iiber die Herkunft der Fasem zu orientieren. Nach langem Suchen ist es mir aber 
wiederholt gelungen, sie als Kollateralverzweigungen markhaltiger Nervenfasem 
zu rekognoszieren. Es sind dazu dicke und dabei doch gut differenzierte und nicht 
zu dunkle Schnitte notig, weil die einzelnen Fadchen liber einen weiten Weg ver- 

1 ) Nageotte, Etude sur la graffe des ganglions rachidiens; variations et tropismes du 
neurone sensitif. 



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folgbar sein miissen. Die Befunde am Menschen sprechen also fiir die Richtigkeit 
der Auffassung Nageottes, fiir welche sich auch noch der Umstand ins Feld fiihren 
laBt, daB die einzelnen Faserchen zahlreiche spindelformige Auftreibungen zeigen, 
wie man sie haufig in embryonalen Nerven sieht. Manchmal prasentieren sich die 
einzelnen Faserchen als ganze Ketten derartiger Spindelknotchen. Von den perl- 
schnurartigen Verdickungen degenerierender Fasem sind diese Spindeln durch die 
GleichmaBigkeit ihres Abstandes voneinander und durch die Zartheit und Gleich- 
heit der Form weit verschieden. Bemerkenswert ist die Tatsache, daB in diesen 
nervosen Geflechten nicht nur dichotomische Teilungen, sondem auch polygon- 
artige Netzmaschen vorkommen, welche nur durch echte Anastomosenbildungen 
bedingt sein konnen. 

Die grobfaserigen intracellularen Geflechte sind viel seltener, verhalten sich 
aber topographisch genau ebenso (Fig. 3c). Der Ursprung dieser Fasem ist noch 

zweifelhaft. Man konnte sie 
fiir ein alteres Stadium der 
ersten Art halten, doch fehlen 
die Zwischenglieder zwischen 
beiden, welche diese Annahme 
wahrscheinlich machten. Es 
ist femer moglich, daB es sich 
hier um neugebildete Fort- 
satze der in der Kapsel liegen- 
den Zelle selbst handelt. Fiir 
diese Annahme konnte die fi- 
brillare Langsstreifung spre¬ 
chen, welche lebhaft an die 
Zeichnung der intracapsularen 
Axonstrecken erinnert. Tat- 
sachlich kommen solche Zellen 
mit mehreren die Oberflache 
des Zellkorpers umkreisen- 
den und durch Verbindungs- 
briicken anastomotisch ver- 
kniipften Fortsatzen verein- 
zelt vor. Bei senilen und kachektischen Individuen sind sie sogar nicht ein- 
mal selten (Fig. 5). Befunde von Giuseppe Levy, welcher derartige Bil- 
dungen im Ganglion Gasseri des Rindes gefunden hat, machen es aber wahr¬ 
scheinlich, daB wir es hier meist mit den Endprodukten einer eigenartigen 
Fenestration des Zellkorpers zu tun haben. In diesem Falle waren die fraglichen 
Fasern als Differenzierungsprodukte der mit den Kapselzellen verankerten plasma- 
tischen Randzone der Ganglienzelle aufzufassen. Diese Auffassung setzt eine be- 
stimmte formative Leistung der Kapselzellen voraus. Wir werden weiter unten 
noch zu erortern haben, wieweit diese Voraussetzung begriindet ist. Die Tatsache, 
daB die zugehorigen Ganglienzellen (Fig. 3c) sich meist in einem weit vorgeriickten 
Stadium der Nekrobiose befinden, stimmt zu dieser Deutung gut; es sind dann diese 
derben Kapselfasem als das ultimum moriens der Zelle selbst zu betrachten. In 



Fig. 5. Aus einem senilen Spinalganglion. Grobkalibriger 
pericellularer Plexas, dessen Fasem z. T. aus dem Korper der 
umsponnenen Zelle hervorgehen. 


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dem Verhalten der umsponnenen Ganglienzellen besteht, wie besonders hervor- 
gehoben werden muB, eine unverkennbare Ahnlichkeit mit den feinkalibrigen Faser- 
nestem; denn auch diese Formationen finden sich fast ausnahmslos an solchen Zellen, 
welche deutliche Zerfallserscheinungen aufweisen. Der nekrobiotische Zustand sol- 
cher Zellen dokumentiert sich nicht nur in den wiederholt erwahnten Veranderungen 
der auBeren Form, sondem auch in einer mehr oder minder vorgeschrittenen Auf- 
losung des fibrillaren Geriistes. Manchmal sind von der Zelle nur noch schattenhafte 
Fragmente im Kapsellumen vorhanden, deren Endothelzellen stets in demselben MaBe 
proliferieren als die Ganglienzelle schrumpft. Die Veranderungen an den Kapsel- 
zellen treten in meinen Praparaten nicht nur in der Vermehrung ihrer Kerne uberall 
zutage, sondem es lassen sich auch deutliche Schwellungsvorgange an ihren Zell- 
korpem nachweisen. Bei einer bestimmten Modifikation meiner Methode lassen sich 
ihre Grenzen leicht zur Darstellung bringen; und dann sieht man, daB die urspriing- 
lich platten endothelartigen Gebilde zu mehr oder minder groBen Wiirfeln an- 
schwellen, in denen eine breite, feingranulierte Protoplasmahiille den Kem um- 
schheBt (Fig. 3b). Auch die Kittlinien, welche diese Zellen untereinander verbinden, 
kommen deutlich zu Gesicht, und es entsteht dadurch eine ziemlich regelmaBige mo- 
saikartige Felderung, besonders in der unmittelbar der Kapselmembran anhegenden 
Schicht. DaB ein kausales Abhangigkeitsverhaltnis zwischen dem Zerfall der Ganglien¬ 
zellen und den Proliferationserscheinungen an den Kapselzellen besteht, daran kann 
bei dem gesetzmaBigen Nebeneinanderauftreten beider Phanome kein Zweifel be- 
stehen. Es handelt sich hier um Erscheinungen, welche langst bekannt sind, und 
deren innerer Zusammenhang bereits 1873 von Carl Weigert betont worden ist. 
Denn hier liegt nur ein Spezialfall des von ihm aufgestellten Gesetzes vor, daB der 
beim Zerfall des Parenchyms, gleichviel welchen Organes, entstehende Raum von 
den Elementen des interstitiellen Gewebes durch Ersatzwucherung gedeckt wird. 
Neuerdings sind diese Bilder wieder viel diskutiert und als Ausdruck einer „Neu- 
ronophagie" bezeichnet worden. Ein schlechtgebildetes Wort, welches auch dem 
Tatbestande nicht ganz entspricht. Denn das Primare des Vorganges liegt stets 
in einer regressiven Veranderung der Ganglienzelle. Niemals entfalten die Kapsel¬ 
zellen phagocytare Wirkungen an gesunden Nervenzellen. Es kann auch keinem 
Zweifel unterliegen, daB die geschilderten progressiven Vorgange an den Kapsel¬ 
zellen im engsten Zusammenhang mit dem Auftreten der neugebildeten Nerven- 
fasem in der Kapselwandung* stehen. Wie man sich das Zustandekommen dieser 
Wechselwirkungen vorzustellen hat, soli spater noch erortert werden. Die Affinitat 
der Kapselzellengranula zu alkalischen Silbersalzlosungen spricht wohl dafur, daB 
die Komchen chemisch der fibrillaren Substanz der Ganglienzelle nahestehen 
und als deren Abbauprodukte aufzufassen sind. Sie liefem aber zum Teil auch 
deutliche Fettreaktion. 

Alles was hier liber atypische Formen der Ganglienzellen und iiber marklose 
Nervenfasem gesagt worden ist, bezog sich auf nervengesunde Menschen aus dem 
dritten Dezennium. Vergleicht man verschiedene Altersstufen miteinander, so laBt 
sich durch Zahlungen feststellen, daB so wohl die mit Fadchenfortsatzen versehenen 
Huberschen Zellen, wie die Fensterzellen und ebenso die marklosen Fasem um so 
zahlreicher auf treten, je alter das betreffende Individuum ist. Der jiingste der von 
mir untersuchten Falle betraf einen Neugeborenen. Hier waren die atypischen 


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Zellen nur ganz vereinzelt vorhanden und marklose Fasem entzogen sich dem 
exakten Nachweis voUkommen. Bei dem altesten meiner Falle, einem 78jahrigen 
Mann, waren ca. 30% aller Zellen in den untersuchten Ganglien der Form nach ver- 
andert, und daneben war eine groBe allerdings quantitativ nicht meBbare Zahl 
atypisch verlaufender markloser Nervenfasem vorhanden, die vorwiegend am me- 
dullaren Pole der Ganglien saBen. Bei einer 25jahrigen Frau betrug die Durch- 
schnittsmenge der formveranderten Zellen in den Dorsalganglien ca. 6 %. Auch 
hier waren marklose Kugelfasem in den meisten Praparaten vorhanden. Schon diese 
wenigen Zahlungen sch^inen darauf hinzudeuten, daB die Quantitat der fraglichen 
Zellen und Fasem mit den Jahren des Individuums konstant zunimmt. Zahlreiche 
Schatzungen an Ganglien der zwischenliegenden Altersstufen sprechen mir dafiir, 
daB ein solches Verhaltnis tatsachlich besteht, nur darf man sich nicht einbilden, 
daB es als eine arithmetische Progression zutage tritt. Es kommen doch iiber- 
raschende Ausnahmen von der Regel vor, und das wird leicht erklarlich, wenn man 
erwagt, daB bei der Bearbeitung menschlichen Materials nur selten einmal ein wirk- 
lich nervengesundes Individuum in die Hand des Untersuchers gelangt. Chronische 
Krankheiten, wie die meisten Carcinome und Tuberkulosen, wirken storend auf 
den Stoffwechsel des Nervensystems und schaffen in ihm nachweislich fast immer 
pathologische Veranderungen, welche sich in den Spinalganglien im Sinne eines 
Senium pracox bemerkbar machen. Wie fein das Nervensystem in dieser Hinsicht 
reagiert, sehen wir bei derartigen Fallen ja taglich an den Marchidegenerationen 
in den langen Fasersystemen des Riickenmarkes, besonders deutlich in den Hinter- 
strangen. DaB ein ursachlicher Zusammenhang zwischen diesem Faserzerfall in 
den Hinterstrangen und den erwahnten Zellveranderungen der Spinalganglien be¬ 
steht, kann kaum einem Zweifel unterliegen. Aber gleichviel, ob die Zellverande¬ 
rungen vorwiegend primarer oder sekundarer Natur sind, man muB mit diesen Dingen 
rechnen und in der Auswahl seines Materials fur solche Zahlungen sehr vorsichtig 
sein. Am besten beschrankt man sich auf solche Falle, welche akuten Infektionen 
oder Verletzungen erlegen sind. 

Einzelne Spinalganglien der Greise enthalten manchmal eine so groBe Menge 
atypischer Zellen und Fasern, daB auch der Kenner, wenn ihm das Alter des Indi¬ 
viduums unbekannt ist, nicht entscheiden kann, ob es sich lediglich um Alters- 
erscheinungen oder um Veranderungen handelt, welche durch irgend einen 
KrankheitsprozeB im Verlauf des peripherischen sensiblen Neurons bedingt sind. 
So bildet das Senium den natiirlichen tlbergang zu einer Reihe von pathologischen 
Zustanden, die jetzt erortert werden sollen. Unter dieSen pathologischen Prozessen 
nimmt nach den Arbeiten Nageottes und Marinescos die Tabes dorsalis das 
groBte Interesse fiir sich in Anspruch. 

Nageotte hat mit dem Cajalschen Verfahren in zahlreichen Fallen fest- 
gestellt, daB in den Spinalganglien und Wurzeln der Tabiker Veranderungen von 
destruktivem und regenerativem Charakter vorkommen. 

Die Degeneration gibt sich kund in starken Kaliberschwankungen der Achsen- 
zylinder, welche stellenweise einen Etat moniliforme bedingen. 

Es handelt sich hier keineswegs um besonders charakteristische Bilder, son- 
dem um eine weitverbreitete Form der Destruktion, welche bei den verschieden- 
artigsten Prozessen vorkommt. 


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Die Regeneration macht sich in viel pragnanterer Weise bemerkbar: es treten 
in den Ganglien zahlreiche marklose Faserchen von ganz atypischem Verlauf auf; 
dieselben verzweigen sich biischelformig, rollen sich nicht selten spiralig um alte 
Markfasem auf und lassen sich als Auswiichse oder Knospentriebe der Zellen und 
ihrer Fortsatze erkennen. Ein betrachtlicher Teil dieser Elemente erhalt eine be- 
sondere Pragung durch homogene, ovale, kuglige oder gelappte Endanschwellungen, 
welche haufig von zarten Endothelkapseln umschlossen werden. Ihre Ahnlichkeit 
mit den Wachstumskeulen embryonaler Nervenfasem sei unverkennbar. 

Man sieht, daB diese Gebilde identisch sind mit den unter normalen Verhalt- 
nissen vorkommenden marklosen Fasern; das haben Nageotte und auch Mari- 
nesco hervorgehoben. Das fur den tabischen ProzeB charakteristische Moment 
sehen sie auch nicht in dem vereinzelten Vorkommen dieser Gebilde, sondem in 
ihrem massenhaften Auftreten; sie konnen gelegentlich viel zahlreicher werden als 
die zu Grunde gegangenen Markfasern. 

Alle diese neugebildeten Elemente zeigen die ausgesprochene Tendenz, sich 
nach dem medullaren Pol des Ganglions zu wenden: keine einzige derartige Faser 
dringe in den peripherischen Nerv vor. Offenbar iibe das Riickenmark eine gewisse 
Attraktion auf diese Gebilde aus. Aber weit kommen sie auf diesem Wege nicht. 
Schon am medullaren Pol der Ganglien selbst werden sie allmahlich sparlicher und in 
die Wurzel selbst dringen sie nur in vereinzelten Exemplaren vor. Da, wo die Wurzel 
im Weigertpraparat verodet aussieht, wo nach Nageotte die n6vrite radiculaire 
sitzt, verschwinden die Regenerationserscheinungen vollkommen. ,,Es ist, als ob 
die Wurzeln mit einem Gift durchtrankt waren, das lahmend auf die Neubildung 
der Fasern wirkt.“ Ein gemeinsames, wesentliches Merkmal aller regenerierenden 
Elemente liege darin, daB sie nicht an der Unterbrechungsstelle der durch den ta¬ 
bischen ProzeB ladierten Markfasem entstehen, sondem an einem der Mutterzelle 
nahergelegenen Punkte der Faserstrecke oder an der Mutterzelle selbst. Wahrend man 
jene aus dem Nervenstumpf hervorgehende Regeneration als terminale bezeichne, 
sei dieser bisher unbekannte Entstehungsmodus als kollateraler zu benennen, weil 
er an das normale Verhaltnis von Stammfaser und Kollaterale erinnert. 

Marinescos Untersuchungen haben ahnliche Ergebnisse gezeitigt. In einem 
wichtigen Punkte weicht er aber von Nageotte ab; er glaubt auf Grund seiner 
Praparate annehmen zu konnen, daB in den Hinterstrangen der Tabiker regenerierte 
Fasern vorkommen, welche aus den Spinalganglien stammen und durch die hinteren 
Wurzeln dorthin vorgedrungen sind. Diese Fasern gelangen aber niemals in das 
Stadium der Markreife und bleiben deshalb fiir die klinische Seite des Prozeeses be- 
deutungslos. 

Meine eigenen Beobachtungen erstrecken sich auf fiinf Falle von gewohnlichem 
Verlauf. Die Dauer der Krankheit schwankte zwischen fiinf und sechsundzwanzig 
Jahren. Bei einem meiner Kranken bestand seit mehreren Jahren vor dem Tode 
eine doppelseitige Opticusatrophie, welche zu vollkommener Blindheit gefiihrt hatte. 
Bei alien Fallen wurden Spinalganglien aus verschiedenen Hohen untersucht. 

Pathologische Befunde nennenswerter Art ergaben sich meist nur in denjenigen 
Abschnittfen, in deren Bereich auch klinische Ausfallserscheinungen vorhanden waren. 

Was die Veranderungen in den Ganglien der erkrankten Gebiete betrifft, so 
sind zuerst quantitative Differenzen gegeniiber den normalen Organen hervorzu- 


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heben. Der ParaUelismus zwischen dem Grad der Degeneration in den hinteren 
Wurzeln und dem Zellausfall in den Ganglien, der von Koster 1 ) und anderen 
Autoren hervorgehoben worden ist, war auch in meinen Praparaten unverkennbar. 
Betroffen sind dabei vorwiegend die groBen Zelltypen, wahrend die kleinen keinen 
merklichen Ausfall verraten. 

In den Fallen mit dem langsten Krankheitsverlauf erscheinen inselformige 
Partien in einzelnen Ganglien ganz verodet. Stets fallt die enorme Pigmentation 
der Ganglienzellen auf, welche, verglichen mit normalen Verhaltnissen, einem viel 
spateren Lebensalter entspricht. Es sind zwei Arten von Pigment vorhanden, ein 
gelbes feinkomiges und ein rostbraunes viel groberes, wie es den Zellen des Locus 
coeruleus und der Substantia nigra eigen ist. Dieses dunkle Pigment fiillt nicht 
selten den Leib vieler Zellen vollkommen aus und gibt dann den Schnitten eine 
bereits dem bloBen Auge erkennbare Eigenfarbung. Im Fibrillenbilde ist das intra- 

cellulare Reticulum der groBen Zell- 
formen vielfach verandert. Die Liicken 
zwischen den Balkchen sind vergroBert, 
die Balkchen selbst sind verdiinnt und 
schlecht gefarbt. Vereinzelte Exem- 
plare zeigen aber auch ein entgegen- 
gesetztes Verhalten, dort sind die Balk¬ 
chen verdickt und verklumpt, so daB 
sich schlieBlich eine fast homogene 
dunkle Masse aus dem Zellkorper ent- 
wickelt. 

Sehr zahlreich sind diejenigen 
Zellen, deren auBere Formen ver¬ 
andert sind, die Fensterzellen und 
die Zellen mit den fadenformigen 
Fortsatzen. ‘Wieweit die Fenestration 
bei der Tabes geht, zeigt z. B. Fig. 6. 
Hier ist der urspriingliche Rand der 
Zelle durch ein dunkelgefarbtes, strei- 
figes und streckenweise geteiltes Proto- 
plasmaband markiert, welches durch zahlreiche, radiar gestellte Balkchen mit dem 
Zellkorper verbunden ist. In den weiten Liicken der Randzone sind iiberall die 
Kerne der Kapselzellen nachweisbar. Nebenher kommen gar nicht selten Zellen mit 
stummelformigen Fortsatzen (Fig. 9a) vor, die friiher als Dendriten angesprochen 
wurden. DaB auch diese Sprossen sich vomehmlich an veranderten Zellen ent- 
wickeln, zeigt diese Abbildung. Ihr Fibrillennetz ist hier in eine homogene Masse 
aufgegangen; der Zellrand ist ausgebuchtet, und ein grobes, schwarzes Pigment 
fiillt einen groBen Raum in ihrem Korper aus. Am meisten von alien Zelltypen 
fallen diejenigen auf, welche mit fadenformigen Fortsatzen versehen sind, ohne 
daB sie sich im einzelnen von den in normalen Organen vorkommenden unter- 
scheiden. 



Fig. 6. Tabes dorsalis. Fensterzelle mit stark 
geschrnmpftem Zellkorper. 


!) Koster, Zur Physiologie der Spinalganglien usw. Leipzig 1904. 


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Vielmehr als durch atypische Zellformen wird aber das Aussehen der Tabiker- 
ganglien auch in meinen Fallen durch das Auftreten markloser Fasem bestimmt, 
welche in Endanschwellungen auslaufen. 

Besonders zahlreich sind derartige Fadchen auf der medullaren Seite der Or- 
gane. Der Ubergang in die dicken, schwarzgefarbten Endkorper erfolgt meist un- 
vermittelt. Viele dieser Gebilde sind auch hier von zarten, den Schwannschen 
Scheiden ahnlichen Membranen umschlossen, viele enden nackt. 

Riicklaufige Figuren und Spiraltouren der Faserchen um ihre Endkugeln 
sind recht haufig. Alle diese Varianten sind in Fig. 7 zu erkennen. In meinen Fallen 
waren diese Gebilde immer dicht* gesat, ohne daB starke quantitative Unterschiede 
beim Vergleich der einzelnen Falle miteinander hervorgetreten waren; vielleicht 



Fig. 7. Tabes dorsalis. Marklose Faserchen mit Endkngeln. 

waren sie in den beiden altesten etwas sparlicher. Neben diesen mit Endkugeln ver- 
sehenen marklosen Elementen fanden sich noch andere Kennzeichen einer stellen- 
weisen recht intensiven Regeneration. In den Schwannschen Scheiden zugrunde ge- 
gangener Markfasem, welche noch deutliche Myelintriimmer enthielten, waren ganze 
Biindel zarter Fibrillen vorhanden, die gleichfalls in kugelige oder gelappte End- 
formationen ausliefen. Femer sah man nicht selten Spiralfasem, welche sich in zahl- 
reichen Touren um alte Markfasem aufrollten und biischelformige, besonders haufig 
von der Pars glomerularis der Achsenzylinder ausgehende Formationen. DaB alle 
diese Bildungen eine Vermehrung der unter normalen Verhaltnissen vorhandenen 
Regenerationsprodukte bedeuten, kann nicht bezweifelt werden. Neben diesen 
ihrer Entstehung nach leicht zu beurteilenden Fasem kommen in den Ganglien der 
Tabiker diinne Nervenbundel von gewohnlicher Verlaufsrichtung vor, deren Ur- 


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sprung schwer zu erkennen ist. Hier ist es fraglich, ob es sich um persistierende 
oder neugebildete Elemente handelt. Wie Lissauer bereits betont hat, konnen 
gerade die diinnen Markfasem dem tabischen ProzeB lange widerstehen; und es ist 
deshalb moglich, dafi hier derartige Gebilde vorliegen. Auch Vergleiche mit der 
Weigertschen Farbung fiihren zu keinem sicheren Resultate, weil selbst bei der 
vorsichtigsten Differenzierung diese zarten Markfaserchen leicht entfarbt werden. 

DaB die Angaben Nageottes iiber den Entstehungsmodus der regenerierten 
Fasem zutreffen, davon konnte ich mich auf Schritt und Tritt iiberzeugen. Nur 
ganz ausnahmsweise machen sich an der terminalen Lasionsstelle alter Markfasern 
Sprossungsvorgange bemerkbar; gewohnlich entwickeln sich die neuen Fasem als 
Kollateralen auf intakten Strecken. Wiederholt habe ich im Ursprungsgebiete neu- 
gebildeter Nervenfasem Schhngenbildungen beobachtet. Fig. 8 zeigt eine solche 
Formation. Aus dem Achsenzylinder einer alten, rechtwinklig geknickten Maxk- 
faser treten zwei Seitenaste hervor, die sich nach kurzem Verlauf wieder in den 



Fig. 8. Tabes dorsalis. Sprossungsstelle regenerierender Nervenfasem. 


Achsenzylinder einsenken. Es entstehen dadurch zwei Schlingen. Von der groBeren 
nach oben gelegenen zweigen zwei diinne marklose Faserchen ab, die sich wieder 
teilen und bis in die hintere Wurzel verfolgbar sind. Die Bifurkationsstellen sind 
durch kleine spindelformige Varicositaten gekennzeichnet. 

Was die Grenze der Regenerationszone betrifft, so ist sie in meinen Prapa- 
raten niemals so scharf, wie nach den Beobachtungen Nageottes anzunehmen ware. 
Richtig ist, daB die mit Endanschwellungen versehenen Fasem zum groBten Teil 
in der Nahe des zentralen Ganglienpoles verschwinden. Aber gesetzmaBig ist dieses 
Verhalten nicht, denn vereinzelt kommen diese Fasem noch an den Durchtritts- 
stellen der Wurzeln durch die Pia vor. 

Zu erwahnen ist auch noch die Tatsache, daB in alien meinen Fallen die 
capsularen Fasemester recht zahlreich sind. Wie unter normalen Verhaltnissen, so 
ist auch hier das Zusammentreffen von regressiven Veranderungen an den Gang- 
lienzellen und dem Auf treten der Nestfasern ein ganz konstantes. 


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CBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


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Auch der Schwellung der Kapselzellen und ihrer Belastung mit einem fein- 
kornigen Material begegnet man an alien Enden. Das weitere Schicksal dieser Nester 
ist hier leicht zu verfolgen. Die Ganglien der altesten Falle enthalten viel knotchen- 
formige Bildungen von der GroBe gewohnlicher Kapseln, die aus einer derben 
bindegewebigen Hiille und einer etwas lockereren Innenzone bestehen. Zu- 
weilen enthalt diese innere Partie noch die letzten Triimmer einer Ganglienzelle. 



Fig. 9. Tabes dorsalis, a. Pigmentierte Ganglienzelle mit stummelartigem Fortsatz (Dendriten). 
b, c und d. Ubergang der kapsularen Nester in Nodules resid. 


Zwischen den Bindegewebsfibrillen verlaufen marklose Fasem, die auch hier zum 
Teil mit Endkugeln versehen sind. Sie sind aber sparlicher und meist auch etwas 
dicker als in den gewohnlichen Nestem (Fig. 9 b und c). Auch die Kapselzellen sind jetzt 
ihrer Zahl nach vermindert; neben ihnen treten Bindegewebszellen auf, welche sich 
durch ihre spindelformigen und dunkler gefarbten Kerne von jenen unterscheiden. 
Sie stammen aus dem benachbarten endoneuralen Gewebe. SchlieBlich kommen 


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und Neurologie. 


ganz derbe Knotchen vor, welche fast ausschlieBlich aus fibrillarem Bindegewebe 
bestehen und nervose Elemente gar nicht oder nur ganz vereinzelt enthalten. Das 
sind die Nodules residuels, die letzten Reste ehemaliger Nester, welche im Nissl- 
praparate als einfache Kemkonglomerate imponieren (Fig. 9d). Es ergibt sich aus 
diesen Bildem, daB die Lebensdauer der capsularen Nester eine ziemlich kurze sein 
muB. Sie wahrt nur so lange, als die Nekrobiose der Ganglienzelle und die Re¬ 
sorption ihrer Abbauprodukte durch die Kapselzellen im Gange ist. 

Bei seinen Transplantationsversuchen ist Nageotte zu ganz ahnlichen Bil¬ 
dem gelangt. Dadurch, daB die Regenerationserscheinungen in den iiberpflanzten 
Ganglien sich in einem viel schnelleren Tempo entwickeln und auch viel rascher 
wieder abkhngen, sind die Obergange der einzelnen Phasen ineinander viel be- 
quemer verfolgbar, was natiirlich auch die Erkennung.des Zusammenhanges wesent- 
hch erleichtert. 

Ich komme nun zu einigen Punkten, in denen meine Befunde denjenigen 
Nageottes widersprechen. Nach seinen Beobachtungen soil sich bei der Tabes keine 
regenerierte Faser dem peripherischen Pol der Ganglien zuwenden. In vollem Umfange 
ist diese Behauptung nicht richtig. Zum mindesten hat sie sehr bemerkenswerte Aus- 
nahmen. In einem meiner Falle waren auch auf der peripherischen Seite der Organe 
und im Eintrittsgebiete der peripherischen Nerven selbst einzelne Ziige markloser, 
mit alien Kennzeichen der Regeneration versehener Fasem vorhanden. Dieser Be¬ 
hind muBte die Annahme, daB die Wachstumsrichtung der neugebildeten Elemente 
durch eine Art Femwirkung des Riickenmarkes beeinfluBt werde, stark erschiittem. 
Klarend wirkte in diesem Falle derVergleich der Fibrillenbilder mit Marchipraparaten, 
der ja bei Anwendung der Gefriertechnik leicht durchgefiihrt werden kann. Es zeigte 
sich namlich, daB an genau denselben Stellen, wo sich am peripherischen Pol die 
neugebildeten Fasem fanden, auch frische Degenerationsprodukte in Gestalt der 
bekannten Marchischollen und schwarzen Kriimelchen vorhanden waren. Auch 
die Schwannschen Zellen enthielten in diesen Gebieten feine schwarze Granula zu 
beiden Seiten ihrer Kempole. (Gegen den Einwand, daB dieser Parallelismus der 
Bilder fur den degenerativen Charakter der fraghchen Fasem im Fibrillengebilde 
spreche, brauche ich mich wohl nicht zu verteidigen. Denn selbst fiir den Anfanger 
sind die Unterschiede zwischen neugebildeten und zerfallenden Fasem in den 
Ganglien so markante, daB ihm eine Verwechslung nicht leicht passieren kann.) 
Diese Entdeckung veranlaBte mich auch, die zentralen Partien der Organe einer ver- 
gleichenden Betrachtung zu unterziehen; und auch hier stellte sich heraus, daB die 
Zerfallsprodukte und Regenerationsprodukte immer an den gleichen Stellen lagen. 
Die RegelmaBigkeit dieser Beziehungen weist mit Entschiedenheit darauf hin, daB 
die Wachstumsrichtung der regenerierenden Fasem durch Faktoren bestimmt wird, 
welche mit dem DegenerationsprozeB zusammenhangen. Treten die regenerierten 
Fasem fur gewohnlich am zentralen Pol der Ganglien auf, so liegt dies daran, 
daB eben dort gewohnlich auch ein mehr oder minder starker Degenerations¬ 
prozeB im Gange ist. Der peripherische Pol, welcher gewohnlich frei von De- 
generationsvorgangen ist, enthalt deshalb auch in der iiberwiegenden Mehrzahl 
der Falle keine Kugelfasern. Sowie aber hinsichthch der Degeneration eine 
Ausnahme festzustellen ist, dann werden dort auch Regenerationsphanomene an- 
zutreffen sein. 


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Der zweite Punkt betrifft die Endigungsweise der regenerierten Fasem in 
den hinteren Wurzeln. Dort sollen auf der den Ganglien benachbarten Strecke die 
neugebildeten Elemente so schnell verschwinden, daB man den Eindruck einer 
lokalen Giftwirkung gewinne. Niemals fanden sich nach seinen Beobachtungen 
jene eigenartigen Aufrollungen und Wirbelformationen, welche zustande kommen, 
wenn sich ein rein mechanisches Hindemis dem Vordringen regenerierter Fasem 
in den Weg stellt.“ 

Es komme, mit einemWort, niemals zur Neurombildung; stets bleibe die An- 
ordmmg der Fasem die denkbar einfachste und selbst riicklaufige Elemente fanden 



Fig. io. Tabes dorsalis. Ansatze zu einer Neurombildung in der hinteren Wurzel eines Tabikers. 

sich nicht zahlreicher vor als im Zentralgebiet der Ganglien. „Le seul fait, qui 
apparaisse, c’est Tarret pur et simple des fibres r6g6n£r£es.“ 

In zweien meiner Falle habe ich Bilder gesehen, welche dieser Darstellung 
widersprechen. Denn hier waren deutliche Ansatze zu einer Neurombildung in den 
hinteren Wurzeln vorhanden. Fig. io gibt eine solche Stelle wieder. Man sieht hier 
eine stark verodete Wurzelstrecke. Sie enthalt neben Fragmenten alter Markfasem 
nur neugebildete marklose Fasem, von denen einige die bekannten Endkorper tragen. 

Besonders auffallend sind aber zwei andere Fasem, welche ungefahr im 
gleichen Niveau in unentwirrbare Knauelbildungen ubergehen. Diese eigen- 

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artigen Bildungen sind durch zahlreiche Teilungen und riicklaufige Schlingenfiguren 
der Aste bedingt. Merkwiirdig ist besonders die obere der beiden Fasem, welche 
nacheinander zwei derartige Wirbel durchlauft. Man kann sich dem Eindruck nicht 
entziehen, daB sie bei ihrem Vordringen nach dem Riickenmark hin einem Hinder- 
nis begegnet und diesem durch eine nach der Seite und nach hinten gerichtete Bie- 
gung ausweicht. Sie macht dann einen neuen Vorstofi, welcher aber wieder durch 
das den ganzen Querschnitt beherrschende Hemmnis vereitelt wird; in einer zweiten 
noch dichteren Knauelformation erreicht sie dann scheinbar ihr Ende. An einer 
dritten, etwas diinneren Faser, vollzieht sich derselbe Vorgang (bei c). An dieser 
Stelle sieht man auch, daB die Knauel nicht lange existieren, denn hier bemerken 
wir bereits einen deutlichen Zerfall der an seiner Bildung beteiligten Elemente. 
Es finden sich da gewundene und spiralige Faserfragmente, die durch mehr oder 

minder weite Lucken von- 
einander getrennt sind. 
An dem neuromahnlichen 
Charakter der geschilder- 
ten Formationen wird wohl 
niemand zweifeln. Selbst- 
verstandlich konnen die 
hinteren Wurzeln der. Ta- 
biker, welche der Wirkung 
eines chronischen De- 
struktionsprozesses unter- 
liegen, keine so stiirmischen 
Regenerationsvorgange zei- 
gen, wie der zentrale Stumpf 
eines durchschnittenen N er¬ 
ven, zumal da wir sehen, 
daB hier auch die neuge- 
bildeten Fasem einem mehr 
oder minder raschen Unter- 
gange preisgegeben sind. 
Aber die geschilderten Be- 
funde geniigen, uns davon zu iiberzeugen, daB das bei der Tabes wirksame Agens 
keine spezifischen Veranderungen hervorbringt. Was die hinteren Wurzeln hier an 
Eigentiimlichkeiten aufweisen, laBt sich zwanglos auf das langsame Tempo des 
Prozesses und die permanente Wirkung der Schadlichkeit zuriickfuhren. 

Die erste Frage, welche sich an die Betrachtung der Regenerationserschei- 
nungen bei \der Tabes kniipft, ist natiirlich die, ob die neugebildeten Fasem den 
durch die Krankheit gesetzten Defekt in den hinteren Wurzeln uberbriicken und das 
Riickenmark erreichen konnen. DaB marklose Fasem bis an die Pia vordringen, 
wurde bereits erwahnt. Gelangen sie aber bis in die Hinterstrange ? 

An Querschnitten, sagittalen und frontalen Langsschnitten durch Riicken- 
mark und Wurzeln zusammen habe ich mich in mehreren Fallen bemiiht, eine 
Antwort auf diese Frage zu erzielen, und ich glaube, daB meine Bilder im positiven 
Sinne zu verwerten sind. Man sieht namlich in den Wurzeleintrittszonen der Hinter- 


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Fig. II. Tabes dorsalis. Marklose Hinterstrangfaser mit atypischer 
Bifurcation (bei B). 


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strange gar nicht selten marklose Fasem mit atypischen Teilungsfiguren, welche 
nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse nicht auf praformierte Elemente be- 
zogen werden konnen. 

Fig. 11 zeigt ein Gesichtsfeld aus dem dorsolateralen Teile jener Zone im 
Niveau des ersten Lumbalsegmentes von einem alten Falle. Neben veranderten 
Achsenzylindem alter Markfasem sehen 
wir hier eine Anzahl markloser Faser- 
chen, die sich an die Nachbarschaft 
eines capillaren GefaBes halten. Unter 
ihnen fallt eines auf, welches sich (beim 
Buchstaben B) in zwei diinne Astchen 
teilt. Beide konnen bei Anwendung der 
Mikrometerschraube iiber weite Strecken 
verfolgt werden. Um die Abgangsstelle 
einer Kollateralen kann es sich hier im 
Querschnitt kaum handeln. Noch klarere 
Verhaltnisse finden wir in Fig. 12. Hier 
handelt es sich um einen Querschnitt 
aus einem frontalen Langsschnitt. Das 
Gebiet entspricht der Eintrittszone der 
zwolf Dorsalnerven. Neben Gliakemen 
und Fasertriimmem sehen wir zwei 
marklose Faserchen, von denen das eine 
sich in ganz atypischer Weise wiederholt 
teilt. Auch riicklaufige Touren und Auf- 
rollungsfiguren habe ich an marklosen 
Elementen wiederholt bei der Tabes in 
den Hinterstrangen gefunden. In dieser 
Hinsicht stimmen meine Befunde ganz 
mit denjenigen Marinescos uberein. 

Freilich ist damit noch nicht bewiesen, 
daB diese Fasem aus den hinteren Wur- 
zeln stammen, denn ihr direkter t)ber- 
gang von den Wurzeln in die Hinter- 
strange ist mit Sicherheit noch nicht 
festgestellt worden. Aber das Vor- 
handensein regenerierter Fasem an der 
pialen Durchtrittsstelle der Wurzeln auf 
der einen Seite und das Vorhandensein 
atypischer Elemente in den Hinter¬ 
strangen auf der anderen machen es doch sehr wahrscheinlich, daB hier ein innerer 
Zusammenhang besteht. 

Ich bin aber weit davon entfernt, alle marklosen Fasem in den Hinterstrangen 
fur neugebildete zu erklaren. Der groBte Teil von ihnen sind ehemalige markhaltige 
Nervenfasem, welche durch den pathologischen ProzeB ihrer Markscheide beraubt 
worden sind. Denn auch bei derTabes findet ein Persistieren zahlreicherHinterstrangs- 

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fasern in marklosem Zustande statt. Das haben neuerdings besonders Herxhei- 
mer und Gierlich 1 ) an zwei Fallen nachgewiesen. In dem durch Ersatzwucherung 
gebildeten Gliafilz, welcher die degenerierten Partien ausfiillte, konnten sie bei An- 
wendung meiner Methode immer mehr Achsenzylinder nachweisen als Markscheiden 
mit der Weigertschen Methode. Daraus geht hervor, daB ein Teil der Achsen¬ 
zylinder seines Markes entkleidet sein muBte. Ob und wieweit diese marklos ge- 
wordenen Fasem noch funktionstiichtig sind, lasse sich zunachst mit Sicherheit 
nicht entscheiden. 

Meine eigenen Untersuchungen stehen mit denjenigen Herxheimers und 
Gierlichs in vollem Einklange, denn nur eine kleine Minderheit der marklosen 
Fasem, namlich diejenigen welche durch atypische Teilungen, atypische Verlaufs- 
richtung oder durch Endformationen gekennzeichnet sind, diirfen wir als regenerierte 
ansprechen. DaB ihres Markes entkleidete Achsenzylinder ehemaliger Markfasem 
sehr lange persistieren konnen, dafiir fand ich in den Sehnerven amaurotischer 
Tabiter einen neuen Beleg. Im intrakraniellen Abschnitt derselben sieht man gar 



Fig. 13. Tabes dorsalis. Marklos gewordene Nervenfasern a us dem intrakraniellen 
Sehnervenabschnitt eines vollkommen amaurotischen Kranken. 


nicht selten, daB an Stellen, wo die Markscheidenfarbungen eine vollkommene Ver- 
odung zeigen, bei Anwendung meiner Methode immer noch viele Achsenzylinder 
vorhanden sind, die in ihrem Aussehen nicht einmal wesentlich verandert zu sein 
brauchen. Ihre Verlaufsrichtung entspricht hier ganz der Norm. Fig. 13 ist einem 
solchen Sehnerven entnommen; die Stelle entspricht etwa der Mitte zwischen dem 
Foramen opticum und dem Chiasma. Die Fasem konnen also nicht etwa aus den ba- 
salen Kommissuren stammen. Bemerkenswert ist dabei, daB der betreffende Kranke 
schon seit Jahren nicht mehr die geringste Lichtempfindung besaB. Die Fasem 
miissen demnach funktionsuntiichtig gewesen sein, woraus aber nicht der SchluB 
zu ziehen ist, daB die Marklosigkeit einer Faser unter alien Umstanden fur ihre 
Funktionsuntiichtigkeit spricht. Gegen eine solche Annahme lassen sich zahl- 
reiche Argumente aus der normalen und aus der pathologischen Histologie an- 
fiihren. Es sei nur an die Verhaltnisse bei der multiplen Sklerose erinnert. 


*) Herxheimer und Gierlich, Studicn fiber die Neurofibrillen. Wiesbaden 1907. 


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Nicht unerwahnt darf an dieser Stelle bleiben, daB im Riickenmark der Ta- 
biker marklose Fasem vorkommen, welche die Kennzeichen der Regeneration tragen, 
mit dem tabischen ProzeB aber in keinem Zusammenhange stehen. In der Mittel- 
zone der grauen Substanz und in den Vorderhomern des Riickenmarkes finden 
sich bei alien meinen Fallen neben klecksigen Zerfallsprodukten von Achsen- 
zylindem zarte Biindelchen feinster Achsenfibrillen, die zum Teil mit Endlingen, 
zum Teil mit den bekannten Kugelformationen abschlieBen. Ihr Lieblingssitz ist 
die mediale Partie der Vorderhdmer in den Anschwellungen. Auch Teilungsfiguren 
ganz atypischer Art sind hier keine Seltenheit. Die Bilder sind in alien ihren 
Details so pragnant, daB an ihrer Bedeutung kein Zweifel aufkommen kann. 

Auch Nageotte hat derartige Fasem in der grauen Substanz bei Tabes be- 
obachtet und als regenerierte angesprochen. Nichts lage nun naher, als diese Ge- 
bilde als die letzten Auslaufer neugebildeter hinterer Wurzelfasern aufzufassen. Ein 
solcher Zusammenhang besteht aber nicht, denn derartige Fasem sind in der grauen 
Substanz des Riickenmarks und in anderen Kemgebieten der Zentralorgane auch 
unter ganz normalen Verhaltnissen vorhanden. Unter pathologischen Bedingungen 
kann ihre Zahl betrachtlich anschwellen; aber gerade bei der Tabes wird nach 
meinen Erfahrungen ihre Zunahme keine besonders groBe. Am dichtesten gesaet 
fand ich sie im Riickenmark zweier Falle von Huntingtonscher Chorea, wo sich fiir 
ihr massenhaftes Auftreten gar kein plausibler Gmnd finden heB. Sehr zahlreich 
waren sie auch bei senilen Individuen und Kranken, die chronischen Kachexien 
erlegenwaren. Nageotte hat wohl recht, wenn er diese Elemente als Regenerations- 
produkte endogener Neurone betrachtete, die das Bestreben haben, die graue Sub¬ 
stanz zu verlassen. 

Eine weitere Frage, welche sich an die anatomische Betrachtung der Faser- 
neubildungen in den hinteren Wurzeln kniipft, ist die, ob diese Vorgange fiir die 
klinische Seite des Prozesses ganz bedeutungslos sind. Eine sichere Antwort kann 
darauf heute noch nicht gegeben werden, dazu ist das bisher untersuchte Material 
noch viel zu klein, dazu fehlen vor alien Dingen exakte Vergleiche des anatomischen 
und klinischen Befundes in den einzelnen Fallen. Es liegt ja auf der Hand, daB 
unter Umstanden eine einzige vergleichende Betrachtung viel beweiskraftiger sein 
kann, als noch so zahlreiche rein anatomische Untersuchungen. Wir sind da noch 
ganz auf Vermutungen angewiesen. So gut wie sicher darf man die Tatsache be- 
zeichnen, daB bei der Tabes regenerierte hintere Wurzelfasern ins Riickenmark ge- 
langen und dort eine Strecke weit verfolgbar sind. Marinesco erklart zwar, daB 
diese Fasern niemals funktionstiichtig werden, weil sie niemals zur Markreife ge- 
langen. Diese These beruht aber auf der falschen Voraussetzung, daB nur mark- 
haltige Fasem als Reizleiter funktionieren konnen, und auBerdem fehlt auch 
jeder Beweis dafiir, daB sich nicht gelegentlich jene marklosen Elemente mit einem 
Myelinmantel bekleiden. Ich habe bei einem meiner Falle, in welchem die atypischen 
Hinterstrangfasem recht zahlreich waren, den entgegengesetzten Eindruck wie 
Marinesco gewonnen, ohne indessen zwingende Griinde fiir meine personliche An- 
schauung ins Feld fiihren zu konnen. Jedenfalls verdient die Frage, ob die im 
silinischen Verlauf der Tabes unabhangig von jeder Therapie auftretenden Remis- 
konen ihre Grundlage in jenen Regenerationsvorgangen haben konnen, eine ruhige 
Diskussion. Vielleicht ist auch der auBerordentlich chronische und blande Ver- 


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MAX BIELSCHOWSKY. 


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and Neurologic. 


lauf vieler Falle auf eine andauemde Reparation zerstorter Leitungswege zu 
beziehen. 

Uber das Wesen des tabischen Prozesses verraten auch meine Praparate 
nicht viel Neues. Nach den experimentellen und pathologischen Untersuchungen 
von Roster darf die Lehre, daB der Sitz der primaren Lasion in den hinteren Wurzeln 
zu suchen ist, als gesichert betrachtet werden. Die Zellbilder in den Ganglien 
meiner Falle stehen in quantitativer Hinsicht mit seinen experimentellen Resultaten 
in vollem Einklange. Freilich ist die Situation bei der Tabes keine so klare, wie 
nach Durchschneidungen. Denn auch in den altesten Fallen ist stets noch eine 
Anzahl leitungsfahiger Wurzelfasem vorhanden, andererseits wirkt die im End- 
stadium fast jeder Tabes auftretende Kachexie als destruierender Faktor. Daher 
kommt es auch, daB die Spinalganglienzellen stets Veranderungen aufweisen, wie 
man sie sonst nur im spaten Greisenalter findet. 

Weniger sicher wird der Boden bei der Beantwortung der Frage, welchen Teil 
der Strecke zwischen Ganglion und Riickenmark der ProzeB zuerst angreift, und 
welcher Art dieser ProzeB ist. Fur die Losung des ersten Teiles des Problems bieten 
die Silberbilder kein besseres Substrat als die alten Markscheidenfarbungen. Je 
mehr man vom Ganglion ausgehend sich dem Riickenmark nahert, um so starker 
tritt die Degeneration in den Wurzeln zutage, ohne daB jemals eine bestimmte 
Querschnittslinie als Grenze hervortritt. In dieser Hinsicht machen auch die viel- 
verdachtigten Durchtrittsstellen der Wurzeln durch die Pia keine Ausnahme. Man 
kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, daB der ProzeB vom Riickenmarke zum 
Ganglion vorschreite, und daB, wie Marinesco deduziert, die Degeneration die 
entgegengesetzte Richtungstendenz als die Regeneration hat. Eine eigentiimliche 
Fragmentation der Markfasem in lange Bruchstiicke, welcher man in den Wurzeln 
haufig begegnet, scheint dafiir zu sprechen, daB das schadliche Agens an mehreren 
Punkten zugleich, vielleicht gleichzeitig auf der ganzen Strecke angreift. Da die 
zentralsten Stiicke durch ihren Zusammenhang mit der Ursprungszelle langer er- 
halten bleiben, als die losgelosten Faserteile, so wird der zentrale Pol der Ganglien 
und die benachbarte Wurzelstrecke immer faserreicher aussehen als die femer ge- 
legenen Partien. Die histologischen Bilder stellen eine Kombination von primaren 
und sekundaren Veranderungen in den Wurzeln dar. Das darf bei der Be- 
urteilung des Gesamtbildes nicht vergessen werden; dieser Umstand vereitelt 
auch das Streben nach einer genauen Lokalisation. Was den zweiten Teil der 
Frage angeht, so mochte ich nur kurz gegen Nageotte bemerken, daB mir 
niemals Veranderungen begegnet sind, welche die Annahme einer Wurzelneuritis 
rechtfertigen. Mit unseren bisherigen Hilfsmitteln ist nur festzustellen, daB ein 
primarer Parenchymzerfall stattfindet. Entzundungserscheinungen am Binde- 
gewebsapparat kommen bei reinen Tabesfallen nicht vor. Die Proliferationsvor- 
gange am Endo- und Perineurium sind sekundarer Natur und unterscheiden sich 
prinzipiell in keiner Weise von anderen Ersatzwucherungen. 

Es wird vielleicht der Ein wand erhoben werden, daB gerade die von mir be- 
schriebenen Ansatze zur Neurombildung auf einen scharf lokalisierten Widerstand 
hinweisen, der hier nur durch einen Entziindungsherd bedingt sein kann. Mit einer 
solchen SchluBfolgerung wurde man aber uber das Ziel hinausschieBen, denn auch 
eine diffuse, allmahlich zunehmcnde Verdichtung des endoneuralcn Bindegewebes 


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kann schlieBhch in einer Querschnittsebene die Bedingungen schaffen, welche 
die anriickende regenerierte Nervenfaser zur Knauelbildung zwingen. 

Zum Vergleich mit den Veranderungen, welche der tabische ProzeB in den 
Wurzeln und den Spinalganglien setzt, wurde in erster Reihe ein Fall herangezogen, 
der eine gewisse Ahnlichkeit des anatomischen Befundes bot. Es handelt sich um 
eine 38jahrige Kranke, bei welcher die Symptome einer syphilitischen Erbschen 
Spinalparalyse bestanden hatten, und die nach mehrjahrigem Siechtum zugrunde 
gegangen war. Die Untersuchung des Riickenmarks ergab eine kombinierte Strang- 
erkrankung. Beide Seitenstrange waren stark gelichtet; neben den Pyramiden- 
bahnen waren auch die benachbarten Kleinhimsysteme betroffen. Auch die Hinter- 
strange erwiesen sich verandert: in den kaudalen Segmenten bis zum unteren Dorsal- 
teil zeigten die Wurzeleintrittszonen auf beiden Seiten einen deutlichen Faser- 
ausfall, wahrend im Cervicalteil nur eine leichte Degeneration der Gollschen Strange 
auffiel. Die Pia war im lumbosacralen Gebiet etwas verdickt; zwischen ihren La- 
mellen waren stellenweise Rundzellenhaufen eingestreut. Charakteristische GefaB- 
veranderungen bestanden nicht. Die hinteren Wurzeln zeigten im Weigertpraparate 
in den erwahnten kaudalen Abschnitten eine geringe Degeneration, die mit zu- 
nehmender Annaherung an die Ganghen fast verschwand. Wurzeln und Hinter- 
strange, zusammen betrachtet, boten demnach ein Bild, welches dem einer beginnen- 
den Tabes sehr ahnlich war. Meine Silberpraparate von den Spinalganglien waren 
dementsprechend den Praparaten von den Tabesfallen zum Verwechseln ahnlich. 
In quantitativer Hinsicht lieB sich ein maBiger Ausfall von Zellen der groBen Art 
feststellen. Die qualitativen Abweichungen bestanden, ganz wie bei der Tabes, 
im Auftreten zahlreicher Fensterzellen und Zellen mit fadenformigen Fortsatzen. 
Daneben fielen iiberall die pericellularen Fasemester auf und am zentralen Ganglien- 
pol zahlreiche marklose Fasern mit ganz denselben Endgebilden, wie wir sie unter 
normalen Verhaltnissen und vermehrt bei der Tabes gesehen haben. So bot der Fall 
im allgemeinen nur eine Bestatigung und Erganzung der friiheren Beobachtungen. 
Besonders klar trat auch in ihm wieder die Tatsache hervor, daB die Fenestration 
und Fortsatzbildung nur an strukturell veranderten Zellen vorkommen, und daB 
auch die Fasemester sich nur da entwickeln, wo bereits im Fibrillengeriist der zu- 
gehorigen Ganglienzelle Zeichen des Zerfalls bemerkbar sind. Das zeigt Fig. 14, 
wo die Destruktion des Zellkorpers bereits weit vorgeschritten ist. Diese Ab- 
bildung ist auch noch in anderer Hinsicht von Interesse. Die Lage der beiden 
Zellen ist ganz naturgetreu wiedergegeben; beide befinden sich im Zustande der 
„Neuronophagie“. Die Kapselzellen sind (besonders deutlich an der links gelegenen) 
vermehrt und in den Zellkorper vorgedrungen. Dadurch entsteht das Bild einer 
hochgradigen Zerkliiftung. Wahrend nun aber die rechte von einem Korb feiner 
Nervenfasern umschlossen ist, weist die linke keine einzige derartige Faser in ihrer 
Kapsel auf. Die Ortlichkeit bietet keinen Anhaltspunkt zur Erklarung dieses ver- 
schiedenen Verhaltens. Der Gegensatz wird aber verstandlich, wenn man auf den 
bindegewebigen Teil der Kapseln achtet. Wahrend links derbe Ziige von Binde- 
gewebsfasem in der Kapsel vorhanden sind, besteht dieselbe rechts aus einer zarten, 
fast noch normalen Membran. Wir sehen hier einen deutlichen Antagonismus 
zwischen Bindegewebs- und Nervenfasern. Erreichen die ersteren beim Untergang 
der Zelle eine gewisse Dichtigkeit, bevor aus den benachbarten Nervenfasern die 


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und Neurologie. 


Kollateralsprossung beginnt, dann wird jede Invasion nervdser Elemente un- 
moglich. Dasselbe Verhaltnis laBt sich auch bei der Narbenbildung in den Zentral- 
organen konstatieren. Da, wo ein Substanzverlust vorwiegend durch fibrillares 
Bindegewebe gedeckt wird, gleichviel ob es von der Pia oder von der Wandung 


Fig. 14. Lues spinalis. Beide Spinalganglienzellen sind schwer verandert. Die rechts gelegene 
Zelle ist von einem kapsularen Nervenfaserkorb umgeben. 



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Fig. 15. Lues spinalis. Neugebildete Nervenfasern aus einer hinteren Wurzel. 


benachbarter GefaBe hernihrt, da wird jede Regeneration von seiten der Parenchym- 
bestandteile vereitelt (Saltykow). 

Um MiBverstandnissen vorzubeugen, sei noch betont, daB Fig. 14 nicht etwa 
ein fur die Syphilis charakteristisches Bild darstellt. Derart’ge Gegensatze finden 
sich iiberall, und nur der Umstand, daB zwei Zellen mit so verschiedener Kapsel- 


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stmktur hier zufallig unmittelbar nebeneinander liegen, war die Veranlassung auf 
diese Dinge hier naher einzugehen. 

Wie stark bei diesem Falle auch die Neubildung von Nervenfasern hervor- 
tritt, zeigt Fig. 15, welche aus dem Anfangsteil einer hinteren Wurzel kurz nach 
ihrem Austritt aus dem Ganglion entnommen st. Hier finden wir neben einer alten 
Markfaser dichte Ziige feinster Achsenfibrillen, welche iiberall die Spindelvaricosi- 
taten j unger Nervenfasern aufweisen. Auch querverlaufende, sich teilende, sowie 
mit Endknopfen versehene Fasem sind zu sehen. 

Das Gegenstiick zu den Veranderungen, die bei der Tabes und Lues spinalis 
vorhanden waren, bot ein Fall von alkoholischer Polyneuritis. Er betraf eine 34ja.l1- 
rige Gewohnheitstrinkerin, welche mit einer schlaffen Extremitatenlahmung in das 
Krankenhaus eingeliefert wurde und dort nach wenigenTagen an einer Respirations- 
lahmung zugrunde ging. Die untersuchten’Extremitatennerven boten das bekannte 
Bild des frischen Markzerfalls, der besonders bei Anwendung der Marchischen 



a b 

Fig. 16. Polyneuritis alcoholica. Stark veranderte Ganglienzellen, a mit Ansatzen zur Fenestration, 

b mit Vakuolenbildung. 


Methode deutlich zutage trat. Es wird iiber diesen Fall an anderer Stelle noch aus- 
fiihrlich berichtet werden. 

In den Spinalganglien war ein erheblicher Zellausfall nicht nachzuweisen, da- 
gegen waren die qualitativen Veranderungen von einer Schwere, wie sie auch die 
altesten Tabesfalle nicht annahernd aufwiesen. Kaum eine einzige Zelle hatte in 
den zum Innervationsbereich der gelahmten Extremitaten gehorigen Ganglien ihr 
normales Fibrillengeriist bewahrt. tlberall fand sich eine deutliche Auflosung des- 
selben in Komchen zusammen mit einer Dunkelfarbung der plasmatischen Grund- 
substanz. Viele Zellen bildeten ganz homogene schwarze Kugeln. Sehr zahlreich sind 
Exemplare, deren Kern ganz an den auBersten Zellrand geriickt ist. Auch stark- 
geschwohenen Zellformen mit sanduhrformigen Einschniirungen begegnet man 
haufig. Im Nisslbilde sind fast alle groBen Zelltypen im Zustande einer mehr 
oder minder ausgesprochenen Chromatolyse mit ausgesprochener Randstellung 
ihrer Kerne. 


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MAX BTELSCHOWSKY. 


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Was gegeniiber den normalen und besonders den Tabikerganglien auffallt, 
ist der grofie Mangel an gefensterten und mit fadigen Fortsatzen versehenen Zellen. 
Nut an ganz vereinzelten Exemplaren finden sich Ansatze zur Fenestration (Fig. 16a). 
Dagegen sieht man ziemlich zahlreiche Exemplare mit groBen Vakuolen, die mit- 
unter den ganzen Zellkorper durchsetzen (Fig. 16b). Im Gegensatz zu den Fenstem 
sind die Vakuolen unscharf begrenzt und lassen jede Andeutung einer streifenfor- 
migen Umlagerung der fibrillaren Substanz in den sie begrenzenden Plasmabalken 
vermissen. Auch marklose Nervenfasem, welche die Kennzeichen der Regeneration 
besaBen, habe ich in diesem Falle nur ganz vereinzelt gesehen. Dagegen zeigten die 
Achsenzylinder der Markfasem uberall erhebliche Anschwellungen, welche auf 
einen raschen Zerfall hindeuteten. Auch im Marchipraparate wiesen die Faser- 
ziige des Ganglions zahlreiche, mitunter in Perlschnuren angeordnete Schollen auf. 
Die Kapselzellen hatten nirgends eine erhebliche Vermehrung erfahren. Trotz der 
starken Veranderungen an den Ganghenzellen war also von einer „Neuronophagie“ 
kaum etwas zu sehen. 

Wie sind nun diese Veranderungen zu deuten? Sind sie lediglich als Ausdruck 
einer durch den neuritischen ProzeB bedingten retrograden Degeneration aufzu- 
fassen? Durch die Experimente von Cassirer, Kleist, Roster u. a. ist ja er- 
wiesen worden, daB nach Durchschneidungen peripherischer Nerven Destruktions- 
erscheinungen in den Spinalganglienzellen auftreten, welche sich im Nisslbilde 
durch deutliche Chromatolyse und Schrumpfungen der Zellen bemerkbar machen. 
Nach einem bestimmten Zeitraum, fiber dessen Dauer die Ansichten der einzelnen 
Autoren allerdings weit auseinander gehen, soil dann bei einem betrachtlichen Teil 
derselben eine Restitutio ad integrum erfolgen, wahrend ein anderer definitiv zu- 
grunde geht. Vergleichen wir die Veranderungen des vorliegenden Falles mit den 
experiment ell erzeugten, so kann wohl kein Zweifel dariiber bestehen, daB die 
sekundare Degeneration als erheblicher Faktor an ihnen mitgewirkt hat. Dafiir 
spricht schon die starke Chromatolyse und die exzentrische Lage der Kerne bei 
einer groBen Zahl von Zellexemplaren. Die Quantitat der veranderten Zellen ist 
aber eine zu bedeutende, als daB jener Faktor allein geniigte, sie zu erklaren, selbst 
wenn man annimmt, daB der Tod auf der Hohe der sekundaren Degeneration ein- 
getreten ist. Es muB hier noch eine ortlich wirkende Lasion, welche die Zellen 
unmittelbar betroffen hat, angenommen werden. Dafiir sprechen die starken Zer- 
fallserscheinungen in den Markscheiden und Achsenzylindem der intraganglionaren 
Nervenfasem, welche zu betrachtlich sind, um allein auf einen retrograden Zerfall 
zuriickgefiihrt werden zu konnen. AuBerdem lieBen sich auch Proliferationserschei- 
nungen an den Intimakernen der GefaBe in den Ganglien nachweisen, welche diese 
Annahme stiitzen. Auch das Fehlen nennenswerter, progressiver Erscheinungen 
an den Kapselzellen laBt sich zwanglos in dem Sinne deuten, daB eine ortlich wir¬ 
kende Noxe ihre reaktive Proliferation lahmgelegt hat. DaB unter diesen Um- 
standen auch die nervosen Regenerationserscheinungen ausbleiben, ist leicht ver- 
standlich. 

In diesem Falle ist der Tod im akutesten Stadium des Prozesses erfolgt; 
das darf bei der Beurteilung der histologischen Bilder nicht vergessen werden, und 
es ware ganz falsch, annehmen zu wollen, daB ein gleichartiger Befund nun in jedem 
Falle von multipier Nervenentziindung zu erwarten sei. Man wird im Gegenteil 


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190& 


CBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


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voraussetzen diirfen, daB gerade bei dieser Erkrankung das Aussehen der Fasem 
und Zellen in den Ganglien ein sehr schwankendes sein wird. Wahrscheinlich wer- 
den auch bei diesem ProzeB die Regenerationserscheinungen am Parenchym nicht 
vermiBt werden, wenn das Material einige Zeit nach Ablauf der akuten Attacke 
in die Hande des Untersuchers gelangt. 

Da wir es hier mit einer akuten Erkrankung, zum mindesten im anatomischen 
Sinne, zu tun haben, lassen sich die Befunde nicht in Parallele mit denjenigen 
bei der Tabes und Lues spinalis bringen. Aus den erwahnten Griinden ist der Fall 




Fig. 17 . Myelomalacie. a and • c. Kapsulare Nervenkorbe in verschiedenen Entwicklungsstadien. 

b. Zelle mit fadenformigen Fortsatzen. 


auch kein geeignetes Substrat fiir die Diskussion der Frage, ob die Integritat des 
zentralen oder des peripherischen Fortsatzes fur das Leben der Ganglienzelle von 
groBerer Bedeutung ist. 

Welchen EinfluB eine primare Lasion der Hinterstrange auf die Zellen und 
Fasem der Spinalganglien besitzt, dieser Frage konnte ich an einem Falle von 
Myelomalacie nachgehen. Es handelte sich um eine 6ojahrige Frau, bei der sich 
in akuter Weise eine schlaffe Paraplegie mit visceralen Storungen und sensiblen 
Ausfallserscheinungen an den Unterschenkeln entwickelt hatte. Nach ca. zweimonat- 
licher Krankheitsdauer ging sie an einem ausgedehnten Decubitus zugrunde. Bei 


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MAX BIELSCHOWSKY. 


Journal f. Psychologye 
und Neurologie. 


der Sektion erwies sich das Riickenmark im Lumbosacralteil stark verandert. Die 
graue Substanz war erweicht und stellenweise in eine fast breiige Masse verwandelt. 
Auch die benachbarte weiBe Substanz war in diesen ErweichungsprozeB hinein- 
gezogen worden; be onders gait dies von der Kuppe der Hinterstrange im Sacral- 
teil. Die mikroskopische Untersuchung ergab, daB eine hochgradige Sklerose der 
zentralen GefaBe und der RandgefaBe der Erweichung zugrunde lag. Von diesem 
Falle konnte ich einige zum Sacralgebiet gehorige Ganglien nach meiner Methode 
untersuchen. Quantitative Veranderungen waren weder an Zellen noch an den 
Markfasern erkennbar. Dagegen war auch hier wieder in zahlreichen Exemplaren 
der groBen Zellart eine Auflosung des fibrillaren Geriistes nachweisbar, die haufig 
mit einer Homogenisierung ihrer gesamten Korpersubstanz einherging. Die Fenster- 
zellen waren zahlreich, und noch zahlreicher die mit fadenformigen Fortsatzen ver- 
sehenen Zellen. Fig. 17 b zeigt eine solche Zelle, welche neben dem aus dem Zell- 



Fig. 18. Myelomalacie. Marklose Fasern aus einer binteren Wurzel. 

korper selbst entspringenden Fortsatz noch einen zweiten aufweist, der von Pars 
glomerularis des Axones entspringt Die Konturen der Zelle und ihr verwaschenes 
fibrillares Geriist lassen deutlich erkennen, daB wir es hier wieder mit einem zu¬ 
grunde gehenden Exemplare zu tun haben. Am auffalligsten sind aber in diesem 
Falle die capsularen Fasernester, welche viel zahlreicher als unter normalen und 
den bisher geschilderten pathologischen Verhaltnissen vorhanden waren. Auch die 
Dichtigkeit in der Anordnung der Netzfaserchen ist stellenweise eine ganz iiber- 
raschende (Fig. 17a). Nodules residuels und die Ubergangsformen zu ihnen sind 
haufig wahmehmbar (Fig. 17c). Auch sonst sind in den Ganglien viel marklose 
Fasern vorhanden, welche vomehmlich auf die medullare Seite lokalisiert sind 
und dort ganz unregelmaBige und schwer aufzulosende Knauelfiguren und Ge- 
wirre bilden. Auch in den hinteren Wurzeln selbst lassen sie sich noch nach- 
weisen, und zwar auch hier wieder vorwiegend auf der den Ganglien benachbarten 
Strecke (Fig. 18). 


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CBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN TJSW. 


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DaB sowohl die Destruktionserscheinungen an den Zellen, wie die Prolifera- 
tionsphanomene an den marklosen Fasem weit iiber das MaB dessen hinausgehen, 
was man unter normalen Verhaltnissen bei einem 6ojahrigen Individuum zu sehen 
bekommt, lehrte schon ein oberflachlicher Vergleich mit normalen Objekten der 
entsprechenden Altersstufe. Man kann also beide Reihen von Erscheinungen, 
da sich fur die Annahme einer lokalen Lasion nicht der geringste Anhalt bot, nur 
auf die Riickenmarksaffektion, d. h. auf die Unterbrechung von Hinterstrangs- 
fasem resp. deren Kollateralen beziehen. DieAhnlichkeit des histologischen Gesamt- 
bildes mit demjenigen bei der Tabes liegt auf der Hand, und die vorhandenen Unter- 
schiede lassen sich leicht durch den rascheren Verlauf der Krankheit erklaren. Der 
ProzeB dauerte hier nicht lange genug, um einen so betrachtlichen Zellausfall zu 
erzeugen, wie wir ihn bei den gewohnlichen Tabesfallen sehen; hatte aber auf der 
anderen Seite bereits so lange gewahrt, daB viele Zellen in den Zustand einer retro- 
graden Degeneration geraten konnten. Der Abbau ist offenbar noch uberall im Gange, 
uberall beladen sich die Kapselzellen noch mit Zerfallsprodukten und iiben eine 
machtige chemotaktische Wirkung auf die benachbarten gleichfalls retrograd ver- 
anderten Nervenfasem aus. 

Recht betrachtliche Veranderungen in den Spinalganglien lieBen sich bei 
einem Fall von multipler Sklerose nachweisen. In mancher Hinsicht waren 
sie den bei Myelomalacie beobachteten ahnlich und diirften, wie bei jener Krankheit, 
kaum anders als durch eine Lasion der zentralen Zellfortsatze in den Hinterstrangen 
zu erklaren sein. Das Material stammte von einer j ungen Frau, bei welcher die 
Symptome der Sclerose en plaques langer als zwolf Jahre bestanden. Es handelte 
sich um die rein spinale Form dieser Erkrankung. Ausfallserscheinungen von seiten 
der Himnerven waren nie beobachtet worden; auch die Sprache war normal. Die 
oberen Extremitaten boten nur leichte Ii\tensionsstorungen, dagegen befanden sich 
die unteren gegen Ende des Krankheitsverlaufes im Zustande einer kompleten 
spastischen Paraplegie. Die visceralen Reflexe waren schwer beeintrachtigt und 
auch die Hautsensibilitat an den Beinen fur alle Qualitaten herabgesetzt. Bei der 
Autopsie wurde eine iiber das ganze Riickenmark verbreitete multiple Sklerose 
festgestellt. Die Lage der Herde HeB, wie so haufig, eine gewisse Tendenz zur sym- 
metrischen Anordnung erkennen; dies gilt besonders von den Seitenstrangherden 
des Cervicalteiles. Im Lendenteile, und zwar im Niveau der dritten bis fiinften 
‘ Lumbalwurzel, war auch der rechte Hinterstrang von einem groBen Herde betroffen, 
welcher bis in den dorsolateralen Winkel reichte. Die Wurzeleintrittszonen der be- 
zeichneten Segmente waren fast vollkommen in seinen Bereich hineingezogen. 

Die mikroskopische Untersuchung der Riickenmarkherde wies uberall das 
typische Bild auf. Mit meinem Silberverfahren war in dem dichten Gliafilz der 
Herde uberall eine Unmenge markloser Achsenzylinder nachweisbar, die an Dichtig- 
keit den Marfkasem entsprechender Normalgebiete nur wenig nachgaben. Auch 
in ihrer Anordnung lieBen die ,,nackten“ Elemente das normale Bild auf den ersten 
Blick wiedererkennen, so daB an ihrem persistierenden Charakter kein Zweifel auf- 
tauchte. Das gilt ohne Einschrankung allerdings nur von den Querschnitten. Bei 
sorgfaltiger Durchsicht zahlreicher Langsschnitte, besonders solcher, welche in 
halbsagittaler Richtung durch den lumbalen Hinterstrangsherd gelegt waren und 
die eintretenden hinteren Wurzeln gut verfolgen lieBen, fiel eine gewisse Zahl zarter 


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Journal f. fojchologie 
und Neurologic. 


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Faserchen auf, die sich, nach einem mehr oder minder langen Langsverlauf, wieder- 
holt unter spitzen Winkeln teilten und mitunter auch riicklaufige Touren bildeten. 
Bei diesen Gebilden ist der Verdacht begriindet, dab sie aus einer Regeneration 
hervorgegangen sind. 

Was nun die Spinalganglien betrifft, so bot ihr mikroskopisches Aussehen 
groBe Verschiedenheiten. Soweit sie ihre Wurzeln in normale Hinterstrangsgebiete 
des Riickenmarks, wie z. B. im Cervicalteil, sandten, waren erhebliche Veranderungen 
in ihnen nicht vorhanden. Ein geringes Plus an marklosen Fasem und atypischen 
Zellformen war bei dem langen Siechtum der Patientin, welche an groBen Decubital- 
geschwiiren gelitten hatte, nicht auffallend. Uberraschend gestaltete sich dagegen 
das Bild in den hinteren Wurzeln und Ganglien des Lumbalteils, soweit sie mit dem 
erwahnten Hinterstrangsherde in Beziehung standen. Hier waren neben einer 
Menge nur in ihrer fibrillaren Struktur veranderter Ganglienzellen auch eine be- 



Fig. 19. Multiple Sklerose. Kapsularer Faserkorb in hochster Entfaltung. 


trachtliche Zahl gefensterter und mit Fadchenfortsatzen versehener Exemplare vor¬ 
handen. Quantitativ iibertreffen sie in dieser Hinsicht alle meine Tabespraparate. 
Sehr auffallend ist dann die Menge der pericellularen Fasemester, welche stellen- 
weise dicht nebeneinander liegen. Sie bestehen ausschlieBlich aus feinkalibrigen 
Faserchen, mit den bekannten regelmaBig verteilten embryonalen Splindelvaricosi- 
taten. Fig. 19 zeigt ein derartiges Exemplar. Allerdings kann man sich eine richtige 
Vorstellung von der Dichtigkeit und Massenhaftigkeit der Nestfasern auch nicht 
mit Hilfe der besten Zeichnungen machen. Zur Illustration wurde diese Stelle des- 
halb gewahlt, weil sie die Herkunft der Nestfibrillen demonstriert. Vom Achsen- 
zylinder einer dicken Stammfaser zweigt an einem die Kapsel beriihrenden Punkte 
ein starker Seitenast ab, der sich wiederholt verastelt und mit seinen feinsten Aus- 
laufem an der Bildung des Nestgespinstes teilnimmt. In der Zelle selbst beginnt 
der Zerfall des fibrillaren Geriistes, ihr Kern ist an den Rand des Korpers geriickt. 
Der scheinbar leere Raum zwischen ihrem Rande und der Kapselmembran ist 




BD. XI, HBFT4/5 
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OBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


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durch gewucherte Kapselzellen ausgefiillt, deren Konturen im Praparat erkennbar 
sind, hier aber nicht angedeutet wurden, um die Dinge nicht zu komplizieren. 

Ein besonderes Kennzeichen erhalten die Ganglien und Wurzeln bei diesem 
Falle durch das Vorhandensein sehr vieler markloser Langsfaserchen. Unter ihnen 
fallen besonders spiralige Elemente auf, an denen die einzelnen Windungen 
auBerordentlich eng beieinander stehen; ein Teil von ihnen besitzt das Kaliber ge- 
wdhnlicher Markfasem, wahrend ein anderer sehr dick und plump aussieht. Auch 
Zerfallserscheinungen sind nicht selten an ihnen zu beobachten, wie z. B. an der der 
Fig. 20 zugrunde liegenden Stelle. Hier lost sich eine solche Faser in eine Kette 
kurzer Fragmente auf. Ahnliche Gebilde finden sich im zentralen Stumpf durch- 
schnittener Nerven und sind von Marinesco auch in den hinteren Wurzeln nach 
Durchschneidungen beobachtet worden. Sie bergen nach seiner Darstellung.im 
Lumen des von ihnen begrenzten Hohlraums mitunter diinne Biindelchen zarter 
Nervenfasern. In meinen Praparaten von multipler Sklerose habe ich diese An- 
ordnung nur ganz vereinzelt wiedergefunden; die meisten der Spiralfasem haben 






Fig. 20. Multiple Sklerose. Hintere Wurzel mit fragmentierter Spiralfaser, riicklaufigen 
Fasem und diinnen marklosen Bimdeln. 


ein leeres Spirallumen. Neben diesen Gebilden finden sich auch viele riicklaufige 
Fasem mit dicken Endanschwellungen (vgl. Fig. 20), und eine immense Menge 
zarter in diinnen Biindeln angeordneter Faserchen, die keine Endformationen 
tragen, aber deshalb als marklos und regeneriert angesprochen werden miissen, 
weil sie in den Vergleichspraparaten, welche die Weigertsche Markscheiden- 
methode lieferte, fehlen und auBerdem eine ganz eigenartige Beziehung zu den 
alten Nervenfasern besitzen. Man kann sich namlich an einzelnen Stellen davon 
iiberzeugen, daB diese zarten Fasern aus einer Kollateralsprossung an den Achsen- 
zylindern normal aussehender Markfasern hervorgehen. Ein Teil von ihnen 
durchdringt die Scheiden ihrer Mutterfaser und zwangt sich zwischen diese und 
ihre Nachbam hinein. Der groBere Teil aber scheint seinen Lauf innerhalb 
der Schwannschen Scheide ihrer Ursprungsfaser zu nehmen und sich dabei 
zwischen dem Markmantel und jener Membran vorzuschieben. Demnach wird 
man kaum bezweifeln konnen, daB diese Fasergebilde tatsachlich dem gleichen 
regenerativen Vorgange ihr Dasein verdanken, wie die Nestfasern und die Fadchen- 


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MAX BIELSCHOWSKY. 


Journal f. Paychologie 
nod Neurologic. 


fortsatze der Zellen. Es fragt sich nur, wo hier der AnstoB zu dieser stiinnischen 
Neubildung zu suchen ist. Nach unseren bisherigen Erfahrungen werden wir die 
Ursache in einer primaren Destruktion suchen miissen. Das Aussehen der Ganglien 
selbst bietet fur die Annahme einer primaren Lasion keinen Anhaltspunkt; denn 
weder die FibriUenbilder noch die Markscheiden- und Marchipraparate zeigen 
erhebliche Zerfallserscheinungen. Dasselbe gilt von den hinteren Wurzeln, ob- 
gleich hier die Marchimethode stellenweise positive Bilder liefert. Man sieht 
namlich neben einer Reihe in toto dunkelgefarbter Fasern mitunter Konglomerate 
kleiner Kornchen und Kriimelchen, welche in mehr oder minder groBen Abstanden 
in sonst noch normal aussehende Markscheiden eingebettet sind. Zur Erklarung der 
Regenerationsvorgange reichen aber diese nicht sehr betrachtlichen Veranderungen 
nicht aus. Erst nach ihrem Eindringen in das Riickenmark erfahren die zentralen 
Fortsatze der Ganglienzellen eine wirklich greifbare Veranderung, welche zwar nur 
bei wenigen Elementen zur volligen Vernichtung gefiihrt, eine tiefe strukturelle 
Umwandlung aber bei der Mehrzahl bedingt hat. Hier gelangen sie in den 
sklerotischen Herd und hier vollzieht sich eine komplete Entmarkung der Fasern. 
Hand in Hand damit gehen auch Veranderungen im Achsenzylinder, welche sich 
in einem Verlust des Myeloaxostromas kundgeben. So befremdend es zunachst 
erscheinen mag, nach Lage der Dinge muB man diesen Vorgang als Ursache der 
progressiven Erscheinungen in den Ganglien und Wurzeln annehmen. Die anato- 
mischen Befunde, soweit wir sie mit unseren heutigen Hilfsmitteln beurteilen 
konnen, lassen keinen anderen Ausweg. Wir miissen uns aber dariiber klar sein, 
daB unsere Technik bei dem Nachweis degenerativer Vorgange an den Nerven- 
fasern immer noch eine sehr mangelhafte ist. Die Marchische Methode verrat 
nur, was in der Markscheide vorgeht und liefert uns auch nur dann positive Bilder, 
wenn bereits eine schwere Dissoziation der sie konstituierenden Substanzen statt- 
gefunden hat. Fur nekrobiotische Vorgange am Achsenzylinder, speziell an dessen 
lei tender Substanz, besitzen wir noch keine brauchbare Methode, ja leider fehlen 
nocji alle Vorbedingungen fiir den Ausbau einer solchen. Deswegen ist auch der 
Widerspruch, der bei der multiplen Sklerose zwischen Funktion und histologischem 
Befund besteht, schwer zu losen. Die klinische Erfahrung zwingt uns zu der An¬ 
nahme, daB die nackten Nervenfasem der Herde leitungsfahig sind, wenn auch 
in einem mehr oder minder herabgesetzten MaBe; auf der anderen Seite wirkt 
der ProzeB der Entmarkung der Hinterstrangsfasem auf die Ganglien in ahn- 
licher Weise wie eine komplete Unterbrechung. Dieser Widerspruch wiirde sich 
vielleicht ldsen lassen, wenn wir chemische Reaktionen fiir differente vitale Zu- 
stande des Achsenzylinders besaBen. Heute miissen wir uns mit der Vermutung 
begniigen, daB sich in den im Silberpraparate ganz iibereinstimmend aussehenden 
und gleichmaBig schwarz gefarbten Achsenzylindem der Herde die leitende 
Substanz in recht verschiedenartigem Zustande befindet. Zu diesem SchluB drangt 
uns auch die Tatsache, daB die an multipler Sklerose leidenden Kranken 
schlieBlich an dieser Affektion zugrunde gehen. Der todiiche Ausgang der Krank- 
heit ware ganz unverstandlich, wenn nicht eben im Laufe der Zeit in den bis zum 
Ende morphologisch gut konservierten marklosen Fasern die Leitung unmog- 
lich wiirde. DaB ein primar degenerativer Vorgang an den Nervenfasem 
fiir die Genese der fraglichen Proliferationserscheinungen am Parenchym verant- 


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CBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


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wortlich ist, das geht nicht nur aus den zahlreichen Analogien mit den iibrigen 
pathologischen Beobachtungen hervor, sondern auch aus der unzweideutigen Tat- 
sache, daB die Ganglien und Wurzeln nur in denjenigen Regionen abnorme Re- 
generationsprodukte aufweisen, welche zu erkrankten Hinterstrangsgebieten ge- 
horen, wahrend sie sonst, wie schon erwahnt, kaum eine nennenswerte Veranderung 
erfahren haben. Die Frage, ob die neugebildeten Wurzelfasem in die Herde der 
Hinterstrange hineingelangen und durch dieselben weiterlaufen, mochte ich wie bei 



Fig. 21 . Krebsmetaataae. a und b. Geschrumpfte Ganglienzelien mit zahlreichen nicht 
ladenfdrmigen Fortaatzen. c. Bipolare Zelle. 


der Tabes allerdings fiir eine nur kleine Zahl bejahen. Aber hier wie dort wird 
dieses Problem noch an einem groBen Material erforscht werden mfissen, bevor 
seine Losung eine definitive sein wird. 

Zur Vervollstandigung der bisher gegebenen pathologischen Darstellungen ziehe 
ich noch einen Fall heran, bei welchem der krankhafte ProzeB unzweifelhaft in den 
Spinalganglien selbst, und nicht in den Nerven oder Wurzeln seinen primaren Sitz 
hatte. Es handelt sich um jene Beobachtung, fiber welche ich schon frfiher berichtet 
habe, f namlich um den Fall, wo sich multiple Krebsmetastasen in den Wurzeln und 
Ganglien angesiedelt hatten. Da mir noch Material zur Verffigung stand, nahm ich die 

Journal (hr Psychologic und Neurologic. Bd. XI. *5 


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MAX BIELSCHOWSKY. 


Journal f. Psychology 
und Neurologic. 


Gelegenheit wahr, mich an einer groBen Zahl neuer Schnitte, iiber die Reaktions- 
weise, speziell der Ganglienzellen gegeniiber dem eindringenden fremden Gewebe 
zu informieren. DaB atypische Zellformen mit zahlreichen Fortsatzen in diesen 
Ganglien haufig vorkommen, hatte ich bereits betont. Erganzend mochte ich nur 
hinzufiigen, daB an vielen Stellen die Ahnlichkeit dieser Gebilde mit den von Na- 
geotte in transplantierten Ganglien beobachteten Formen eine recht groBe ist. So 
sieht man in Fig. 21a und 21b Zellen, welche durch das Vorhandensein von Fort- 
satzbiindeln ausgezeichnet sind, wie man sie sonst auch unter pathologischen Be- 
dingungen kaum findet. Fig. 21c zeigt eine bipolare Zelle, welche neben ihrem 
nach links oben strebendem Axom einen zweiten, dicken Fortsatz gebildet hat, der 
nach Abgabe eines kurzen Seitensprossen mit einer sondenknopfa*tigen Verdickung 
endigt. Bei alien diesen Zellen geht die Entwicklung der Fortsatze Hind in Hand 
mit einer Schrumpfung des Zellkorpers. Das fibrillare Gerust. erscheint stellen- 
weise verwaschen und an anderen Stellen verklumpt. In den Zellen Jbei a und b 
ist auch der Kern an den Rand geriickt. DaB auch die Kapselzellen, wie unter anderen 



Fig. 22. Krebsmetastase. Neuromartiger Fibrillenknauel im Lumen der Schwannschen 
Scheide einer degenerierten Markfaser. Zahlreiche Endkugeln. 

pathologischen Verhaltnissen, in demselben MaBe wuchern, als die NervenzeUe 
schrumpft, zeigt Fig. 21c; hier wird auch der neugebildete Fortsatz von einer Kette 
proliferierter Kapselzellen begleitet. Wahrend sehr viele neugebildete feine Nerven- 
faserchen besonders an der Grenze von Geschwulst- und normalem Gewebe vor¬ 
kommen, die sich mit Vorliebe in alte Schwannsche Scheiben hineindrangen und 
dort neuromartige Knauelformationen bilden (Fig. 22), sind pericellulare Nester 
selten. Der Grund ist darin zu suchen, daB die einwandernden Krebszellen auch das 
bindegewebige Stroma sehrfriih zu reaktivenWucherungsprozessen veranlassenund auf 
diese Weise an den meisten Nervenzellen der erwahnten Grenzzone die Bildung einer 
Bindegewebsschicht um die Zellkapseln herbeifiihren, welche das Vordringen ner- 
voser Elemente vereitelt. An einzelnen Stellen sieht man derbe Nester, deren Fasem 
hier aber nur zum Teil von den Nervenfasern der Nachbarschaft abstammen. 
Eine Anzahl entspringt allem Anschein nach aus der Ganglienzelle selbst, welche 
sie umspinnen (Fig. 23). Derartige Bildungen sind recht schwer zu beurteilen, weil 
das Gewirr der Faden ein auBerordentlich dichtes ist. Auf einen Punkt, der 
fur den groBen vitalen EinfluB der Kapselzellen auf die NervenzeUe spricht, mochte 
ich noch besonders hinweisen. Man findet gelegentlich, daB Krebszellen in das 
Kapsellumen eindringen. An solchen Stellen erfahrt wohl die Ganglienzelle grobe 


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BD. XI, HEFT 4/5 
1906 . 


t)BER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


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Formveranderungen in Gestalt von tiefen Mulden und breiten Spalten, aber nie- 
mals kommt es zur Bildung von Fenstem, von fadenformigen oder andersgearteten 
Fortsatzen. Um derartige durch Sprossungsphanomene ausgezeichnete Zellen ist 
die Kapsel stets unversehrt, und der Kontakt zwischen Kapselzelle und Ganglien- 
zellkorper unverandert. 

Die Ahnlichkeit mit den Transplantationsbildem Nageottes erklart sich 
daraus, daB die von Krebsmetastasen erfiillten Ganglien auch eine schroffe 
Anderung ihrer Lebensbedingungen erfahren. Dort sind diese Organe in ein fremdes 
Gewebe hineingepflanzt, hier pflanzt sich das fremde Krebsgewebe in die Ganglien 
hinein, und zwar in einem ziemlich raschen Tempo, wie aus den massenhaften Kern- 
teilungsfiguren der Krebszellen hervorgeht. Es fragt sich, ob auch hier die Spros- 
sungsers£heinungen an den Ganglienzellen und ihren Fortsatzen nur auf eine Unter- 



Fig. 23. Krebsmetastase. Kapsularer Faserkorb, der sich aus dipken z. T. aus der 
umsponnenen Ganglienzelle hervorgehenden Fasem zusammensetzt. 

brechung entfernterer Partien jener Fortsatze zuriickzufuhren ist. Sicher spielt 
dieses Moment eine hervorragende Rolle. Daneben muB man aber noch mit der 
Moglichkeit einer direkten Druckwirkung auf die Zellkorper rechnen, welche ein de- 
struierender und zugleich regenerationsanregender Faktor sein kann, wenn auch in 
einem anderen Sinne, alsMarinesco und Minea 1 ) sich das auf Grund ihrer Kom- 
pressionsversuche vorstellen. 


Fassen wir in einem kurzen Riickblick die Ergebnisse dieser Untersuchungen 
zusammen, so ist in erster Reihe hervorzuheben, daB in den menschlichen Spinal- 
ganglien und sensiblen Wurzeln die Erscheinungen der Regeneration und De¬ 
generation im postfotalen Leben schon unter normalen Verhaltnissen deutlich her- 


Marinesco et Minea, Recherches exp>erimentales et anatomo-pathologiques sur les 
lesions cons^cutives 4 la compression et k l‘6crasement des ganglions sensitifs. Folia neurobiol. 
Band 1. 


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MAX BIELSCHOWSKY. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic 


vortreten. Je alter das Individuum wird, um so betrachtlicher werden sie. Die 
pathologischen Prozesse fiihren nur zu einer quantitative!! Steigerung jener 
Phanomene. Qualitative Differenzen gibt es nicht, und pathognostisch verwert- 
bare Einzelbefunde kommen hier ebensowenig, wie in anderen kranken Organen 
vor. Eine Unterscheidung der verschiedenen pathologischen Prozesse ist nur in- 
sofem moglich, als wir gewisse Anhaltspunkte dafiir ausfindig machen konnen, 
ob die Lasion der Ganglienzellen eine vorwiegend primare oder sekundare ist. 
Die durch Riickenmarksprozesse bedingten, vorwiegend sekundaren Veranderungen 
der Spinalganglien haben auch bei recht verschiedenartigem Charakter der Grund- 
krankheit ein ziemlich gleichartiges Geprage. Es konnen also aus den Ganglien- 
befunden sichere diagnostische Schliisse auf Art und Wesen der primaren Er- 
krankung nicht gezogen werden. Die quantitativen Differenzen in der Menge der 
jeweilig vorhandenen Regenerations- und Zerfallsprodukte enthalten nur einen Hin- 
weis auf das Verlaufstempo des auslosenden Prozesses. Ob bestimmte Regene- 
rationsprodukte bei akuten und subakuten Erkrankungen starker hervortreten, 
als bei chronischen, und umgekehrt, wird erst an einem groBeren Material ent- 
schieden werden konnen; das Pravalieren der Nester bei Myelomalacie und das 
Oberwiegen der mit Endanschwellungen versehenen Fasern bei der Tabes und 
Lues spinalis deuten vielleicht darauf hin, daB solche Unterschiede bestehen. 

Wichtiger als die Resultate dieser Vergleiche sind die Gesichtspunkte, welche 
sich aus meinen Befunden fur das Wesen der Regeneration und deren Verhaltnis 
zur Degeneration ergeben. Das ortliche Zusammentreffen beider Vorgange 
ist ein so konstantes, daB der innigste Kausalnexus zwischen ihnen 
angenommen werden muB. Die Regeneration ist niemals eine autochthone. 
An gesunden Neuronen zeigt sie sich nie. Sie erscheint stets als Folge einer pri¬ 
maren Destruktion. Wo Sprossungsvorgange an Zellen und Fasern stattfinden, 
konnen wir mit Hilfe unserer verschiedenen Methoden den Nachweis fiihren, daB 
dieselben in ihrer Struktur mehr oder minder verandert sind. Den einfachsten Fall 
bildet die Fenestration, hier tritt das destruktive Moment in einer starken Raum- 
verminderung der Zelle und einer meist recht deutlichen Degeneration ihres fibril- 
laren Geriistes in der Umgebung des Kernes zutage. Die Regeneration erkennen wir 
in der Ausbildung des Fenstergeriistes, dessen Gliederung ins Phantastische gehen 
kann, und in der axonahnlichen Anordnung der Fibrillen in den Fensterbalkchen. 
Man kann sich dem Eindruck nicht verschlieBen, daB hier dem kerntragenden Teil 
der Zelle Substanz verloren geht, und daB diese am Rande wieder angesetzt wird. Die 
Tatsache, daB dabei in den Fensteroffnungen vermehrte und vergroBerte Kapselzellen 
liegen, deren Korper mit einem feingranulierten, zum Teil lipoiden Material erfiillt 
ist, spricht dafiir, daB der Abbau der zentralen Ganglienzellsubstanz und der An- 
bau der Randzonen durch die Vermittlung dieser Gebilde geschieht. Ramon y 
Cajal halt die Fensterung fur eine dem Axonglomerulus homologe normale Bil- 
dung, welche den Zweck haben soil, die Zelloberflache zu vergroBern und die 
Kontaktbedingungen fur herantretende fremde Nervenfasern zu verbessern. DaB 
diese Deutung nicht zutrifft, erhellt schon daraus, daB es Fibrae afferentes wohl 
nicht gibt, denn auch die Nestformationen, welche Cajal noch als Endformationen 
fremder Neurone angesprochen hat, haben sich jetzt als Regenerationsprodukte 
entpuppt.jSein^Standpunktjist deshalb^schwer verstandlich, weil er die Bcdeutung 


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BD.Xr. HEFT 4/6 
1906. 


CBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


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der Kapselzellen an einer anderen Stelle mit wunderbarer Klarheit und Scharfe 
schildert, und ihre Tatigkeit ganz zutreffend mit derjenigen der Osteoklasten ver- 
gleicht, welche bei der Bildung der Knochensubstanz eine halb zerstdrende, halb 
aufbauende Rolle spielen. 

Auch die Zellen mit den Fadenfortsatzen, die ja als Prototyp eines Regene- 
rationsvorganges angesprochen worden sind, zeigen in ihren Korpern fast immer 
Veranderungen destruktiver Natur. Die Ausnahmen von dieser Regel sind so selten, 
daB sie gar nicht in Betracht kommen. Auch hier ist das Volumen der Zelle meist 
reduziert und der Apparat der Begleitzellen in einem Zustand der Proliferation. 
Der Unterschied gegeniiber der Fenestration liegt bei der Bildung der Fadenfort- 
satze hauptsachlich darin, daB der An- und Abbau der Zellsubstanz sich nicht an 
der ganzen Peripherie der Zelle oder einer groBeren Strecke vollzieht, sondem auf 
einen oder wenige Punkte beschrankt bleibt. Dafiir wird hier das der Zelle ent- 
nommene Material haufig auf viel weitere Entfemungen ausgesponnen. 

In einer Diskussion mit Nageotte hat G. Levi 1 ) diese Fortsatzbildungen zum 
Gegenstande eingehender Betrachtungen gemacht. Ihr massenhaftes Auftreten bei 
der Tabes betrachtet er als Ausdruck eines formativen Reizes, der bei dieser Krank- 
heit auf die Zellen einwirkt. Die Zelle erhalt dadurch ein Plus an fibrillarer Substanz, 
und da sie ihr Volumen iiber eine bestimmte Grenze hinaus im Interesse der Er- 
nahrung aller ihrer Teile nicht vergroBern kann, so legt sie das iiberschiissige Material 
in Gestalt jener Fortsatze an. Nach meiner Meinung werden bei dieser Theorie 
die Dinge auf den Kopf gestellt, denn abgesehen davon, daB mit der unklaren Vor- 
stellung des formativen Reizes gearbeitet wird, und auch die Voraussetzung, 
daB die Fibrillen die wesentlichste Zellsubstanz darstellen, ganz unbewiesen ist, wird 
dieTatsache vollkommen ignoriert, daB wir gerade in den Tabikerganglien die 
weitaus groBte Zahl der fraghchen Zellen stark verandert finden. Normale For- 
men mit normalen Fibrillennetzen sind mir kaum begegnet. In der Regel tragen 
sie die deutlichen Kennzeichen einer Schrumpfung und des inneren Zerfalles. 

In derselben Weise wie die Sprossungsvorgange am Zellkorper, sind auch die 
Regenerationserscheinungen an den Nervenfasern zu deuten: nur an Fasem 
ladierter Neurone entwickeln sich neue Fortsatze. Die Entdeckung der kollateralen 
Regenerationen an den Wurzelfasern der Tabiker durch Nageotte ist nur eine 
Bestatigung dieser Auffassung. Auch die stiirmischen Sprossungsvorgange an den 
Wurzelfasern des Falles von multipler Sklerose stehen mit dieser These durchaus 
im Einklang. Die Rolle der Kapselzellen iibemehmen an den Fasern die Zellen 
der Schwannschen Scheiden, welche gegeniiber dem Zerfallsmaterial der Faser 
in ahnlicher Weise reagieren, wie jene auf die Abbauprodukte der Ganglienzelle. 
Aus dem innigen Kontakt der vermehrten und an den Kernpolen mit Protagon- 
und lipoiden Komchen beladenen Zellen mit den neugebildeten Fasern laBt sich 
entnehmen, daB dem Anbau der jungen Nervenelemente auch hier die transfor- 
mierende Tatigkeit dieser Gebilde zu Grunde liegt. Mit diesem Grundgedanken steht 
die Tatsache, daB viele regenerierte Fasem ohne Scheiden verlaufen, durchaus nicht 
in unuberbriickbarem Widerspruch. Man kann sich wohl vorstellen, daB bei einem 
vermehrten Wachstumswiderstand auf der alten Bahn, welcher meist durch eine 
Wucherung des endoneuralen Bindegewebes herbeigefiihrt wird, ein Ausweichen der 

1 ) Levi, Intorno alia cosidetta rigenerazione collat. Monitore zool. ital. Bd. 18 . 


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MAX BIELSCHOWSKY. 


Journal f. Psychologic 
_nn d Neurologic. 


rieugebildeten Elemente durch die Hiille der Mutterfaser hindurch stattfindet. Das 
Bildungsmaterial w'rd ihnen dann von den letzten vor der Durchbruchsstelle ge- 
legenen Scheidenzellen nachgeschoben. Aber diese marklosen Elemente behalten 
die Tendenz bei, sich wieder mit Begleitzellen zu verbinden; das sieht man am 
deutlichsten in den Krebsmetastasen, wo sie auf manchmal recht verschlungenen 
Wegen in alte Scheiden eindringen. Aus dieser Affinitat erklart sich auch das Auf- 
treten von Spiralfasem in der Hiille alter Markfasern, sowie das Zustandekommen 
der peri-cellularen Nester, nur daB hier eben die Kapselzellen das Bildungs- 
material liefem. Das Zustandekommen der Kapselnester hangt also von zwei 
Bedingungen ab. Es miissen die endothelialen Kapselzellen mit Bildungsmaterial 
beladen sein, welches ihnen der Zerfall der zugehorigen Ganglienzellen geliefert 
hat; es miissen femer die an der betreffenden Kapsel vorbeiziehenden Nerven- 
fasem in irgend einer Weise ladiert sein, weil sonst durch die chemotaktische 
Wirkung jener Zellen keine Sprossungen an ihnen erzeugt werden konnen. So 
entwickeln die Begleitzellen bei alien Regenerationsvorgangen eine formative Tatig- 
keit von hochster Bedeutung. Die am pathologischen Material in dieser Beziehung 
gemachten Beobachtungen berechtigen uns, in ihnen spezifische Gebilde mit be- 
stimmten Funktionen zu erblicken. Auf einem anderen Wege ist Marguli^s 1 ) zu 
dem gleichen Resultat gelangt. Er sieht in jeder Regeneration peripherischer Ner- 
ven nach Durchschneidungen einen autonomen Wachstumsvorgang, insofem als 
die anatomische Grundlage des Nerven von jenen Zellen gebildet wird 2 ). 

Bei aller Anerkennung der hohen funktionellen Bedeutung der Begleitzellen darf 
der EinfluB der Ganglienzelle auf die Regenerationsphanomene riicht unterschatzt 
werden. Tote Zellen und Fasern konnen keine Sprossen treiben ; auch wenn der Zell- 
korper unter dem EinfluB akut wirkender, schwerer Noxen steht (wie bei Pblyneuritis), 
konnen die Kapselzellen aus den Abbauprodukten keine faserigen Fortsatze bilden; 
ebensowenig wie die Schwannschen Zellen aus dem Zerfallsmaterial eines dauernd 
von der Mutterzelle getrennten Faserfragmentes frische Fasern formen. Die Voraus- 
setzung ist stets, daB der zelltragende Teil des Neurons lebt. In diesem Punkte 
bin ich mit der iiberwiegenden Mehrzahl der Autoren einig, die sich mit diesem 
Problem beschaftigt haben. Irrtiimlich ist nach meiner Meinung nur die Anschauung, 
welche die Grundlage der Regenerationsphanomene in einer gesteigerten" vitalen 
Energie der Ganglienzelle sieht, gleichviel ob sie, wie von G. Levy, als Hypertrophie, 
oder wie von Marinesco, als plastische Aktivitat bezeichnet wird. Meine Befunde 
sprechen entschieden fur das Gegenteil, daB namlich die vitalen Eigenschaften 
dieser Zellen im Niedergang begriffen sind. Die Regeneration ist mit anderen Worten 
die Begleiterscheinung einer Nekrobiose; denn nur ein ladiertes Neuron liefert an 
seinem Zellkorper und an seinen Fortsatzen das Materia 1 , aus welchem die-ekto- 

!) Marguli6s, Zur Frage der Regeneration in einem dauernd von seinem abgetrennten 
peripherischen Nervenstumpf. Virchows Archiv, Band 191. 

2 ) Die Bildung der normalen Collateralen waJirend der Entwicklung der Zentral- 
organe hangt von ahnlichen Faktoren ab. Dafiir spricht der Umstand, daB ihre Zahl in 
derjenigen Wachstumsperiode am groflten ist, in welcher der Transport des lipoiden und 
protagonalen Bildungsmateriales zu den nervosen Elementen auf seinem Wege durch die 
Zellen des ..Stiitzapparates' 4 am deutlichsten hervortritt. Im spateren Fotalleben und 
ini postfotalen Leben verschwindet die weitaus groflte Zahl der Collateralen wieder, und 
nur in bestimmten Gebieten bleiben sie gesetzmaBig erhalten. 


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! UBER DEN BAU DER SPINALGANGLIEN USW. 


227 


dermalen Begleitzellen neue Sprossen aufbauen konnen. Die pathologischen Be- 
obachtungen zwingen zu der Auffassung, daB ein verminderter Widerstand der 
kranken Ganglienzellsubstanz gegeniiber der chemotaktischen Wirkung der mit 
Zerfallsmaterial beladenen Begleitzelle besteht. Unter dem EinfluB der degene- 
rativen Faktoren entwickelt sich neben chemischen und morphologischen Ver- 
anderungeji vermutlich eine Verminderung der inneren Kohasion der Substanz- 
teilchen, und dieser tritt dann die gesteigerte Attraktion jener Gebilde gegeniiber. 
Unter diesen Umstanden kann sich leicht* ein Circulus vitiosus entwickeln, in dem 
die Substanz der Nervenzelle langsam verbraucht wird. Wie lange dieses Spiel 
sich hinzieht, und wie es sich im einzelnen gestaltet, dariiber lassen sich keine 
Regeln aufstellen. Wird der primare Defekt in der leitenden Substanz durch 
neue Sprossen iiberbriickt, wie es nach einiachen Durchschneidungen peripherischer 
Fasern meist geschieht, dann kann der pathologische Antagonismus zwischen der 
Nervenzelle und ihren Begleitzellen einem normalen Gleichgewichtszustand weichen. 
Bei chronischen Erkrankungen im Bereich der hinteren Wurzeln und ihrer zen- 
tralen Fortsetzungen, speziell bei der Tabes, scheint dieser Fall nur selten ein- 
zutreten. 

DaB auch diese Art der Betrachtung manchen Punkt im Dunkeln laBt, daB 
sie das innerste Wesen der Regeneration unserer Erkenntnis nicht viel naher 
bringt, ist unbestreitbar. Aber es ist schon ein Fortschritt, wenn es gelingt, einer 
Menge von Einzelbefunden eine einheitliche Deutung zu geben; und das scheint 
auf diesem Wege erreicht zu sein. 



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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Aus der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universitat in Graz. 

Physikalisch-chemische Untersuchungen zur Physiologic 
und Pathologie des Riickenmarkes. 

Von 

Dr. E. Mayr, klin. Assistenten. 

I. Fort*etzung. 

I. Kolloidchemische Unterschiede der Achsencylinder einzelner Faserarten. 

Legt man ein Stuck frischen Riickenmarkes, dem die Pia tunlichst abgezogen 
wurde, unter Beobachtung groBter Reinlichkeit auf 24 Stunden in physiologische 
Kochsalzlosung, so erfolgt in den einzelnen Gewebselementen eine histologische 
Veranderung, die sich jedoch nur auf gewisse Teile erstreckt und anscheinend auch 
hier mit wechselnder Starke. Die graue Substanz zeigt nach dieser Kochsalz- 
behandlung in Anordnung und Farbung der Nisslschollen keine bedeutende An- 
derung gegeniiber dem normalen Alkoholpraparat, ebensowenig die Kerne des 
Bindegewebes und der Glia; auch ist die sonstige Struktur der grauen Substanz 
nicht in nennenswerter Weise verandert. Ganz anders jedoch die weiBe Substanz : 
es zeigt sich hier, besonders an den Schnittflachen, eine deutliche Veranderung 
der Achsencylinder, und zwar hauptsachlich der langen Bahnen. Auch unter diesen 
scheinen Unterschiede der einzelnen Gebiete zu bestehen. 

Bei den vorliegenden Untersuchungen war die erste Aufgabe, festzustellen, 
ob die bereits in friiheren Untersuchungen erkannten Veranderungen konstant 
sind und dann die elektive Wirkung auf die einzelnen Gewebselemente, hauptsach¬ 
lich die Achsencylinder der einzelnen Bezirke der weiBen Substanz genauer zu unter- 
suchen. Bei der Betrachtung der histologischen Einzelheiten dieses Vorganges 
wurden pathologische Zustande ahnlicher Art zum Vergleiche herangezogen und 
tatsachlich manche Ubereinstimmung sowohl in der Art als auch in der Lokalisation 
gefunden. Die Untersuchungen liber das Wesen dieses Vorganges konnten nicht 
zum vollstandigen AbschluB gebracht werden; sie gaben jedoch AnlaB zu Vermu- 
tungen liber das Wesen einiger pathologischer Veranderungen, lun so mehr als das 
Verhalten der einzelnen Achsencylinderkategorien verschiedenen physiologischen 
Losungen gegeniiber im wesentlichen stets dasselbe war. 

Methodik: 

Frischgeschlachteten Kaninchen wurde das Ruckenmark sorgfaltig herausge- 
nommen, die Dura und Pia abgezogen, dann mit einem durch Kochsalzlosung ange- 
feuchteten Rasiermesser */, cm diinne Scheiben geschnitten und diese in die einzelnen 
Fliissigkeiten fur eine bcstimmte Zeit gclegt (12, 24, 36 Stunden). Die Fliissigkeiten 


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BD. XI, HEFT 4/6 
1006 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


229 


waren physiologische (0,9% Kochsalzlosung oder die sogenannte Ringersche 
Losung (0,8 g NaCl, 0,1 g NaC 0 3 , 0,1 g CaC^, 0,075 g KC 1 , 100 g dest. aqu.), zum 
Teile auch die Lockesche Losung (1000 aq. dest., 9 g NaCl, 0,2 g KC 1 , 0,2 g CaCl 2 , 
0,1 g NaHC 0 3 , 1,0 g Dextrose), schlieBlich das defibrinierte Blut desselben Tieres. 
Nach Abspiilen mit destilliertem Wasser wurden die Blocke entweder in 96% Alkohol 
oder in 10% Formol fixiert und dann in Paraffin eingebettet. Es wurden moglichst 
viel Querschnitte in verschiedenen Hohen gemacht, aber auch die Halfte eines Blockes in 
sagittale Langsschnitte zerlegt und Serien gebildet. Die Farbung geschah fast aus- 
schlieBlich mit alkalischem Toluidinblau nach Be the (Be the siehe oben), was sehr 
hubsche Bilder ergab. 

Die erhaltenen Langsschnitte und Querschnitte wurden auf Papier skizziert und 
in Querschnittschemata eingezeichnet. Die Untersuchung bezog sich auf Riickenmark- 
stiicke verschiedener Hohen. Dieselben Versuche wurden auch noch mit Ochsenmark 
und einigen gesunden Ruckenmarken von Selbstmordern angestellt. 

In fast alien Fliissigkeiten erfolgte eine histologische Veranderung des ner- 
vosen Gewebes, und zwar ging diese mit bestimmten Ausnahmen immer von den 
Querschnitten aus und schritt gegen die Mitte des Blockes mit absteigender In¬ 
tensity vor. Die Beteiligung war, wie bereits erwahnt, fiir die einzelnen morpho- 
logischen Elemente eine verschiedene. Es bestand ein deutlicher Unterschied 
zwischen WeiB und Grau, dann auch wieder deutliche Unterschiede zwischen den 
einzelnen Bezirken der Langsbahnen; ein eigenartig refraktares Verhalten zeigten 
auch die Wurzelfasern, wobei die intra- und extramedullaren Anteile in mancher 
Beziehung Unterschiede aufwiesen. 

In physiologischer Kochsalzldsung bemerkte man nach 24 Stunden bereits 
einen Unterschied zwischen Gra u und WeiB; ersteres war sehr gut erhalten, die Struktur 
sehr gut erkennbar, die Gliakerne und die Gangiienzellen gut erhalten und gefarbt, 
letztere etwas geschrumpft; die Nissl-Strukturen sehr deutlich und intensiv gefarbt 
(Fig. I). 

Im Gegensatze dazu zeigte die weifle Substanz deutliche Veranderungen: ein 
periferer Ring von gut erhaltenen, etwas geschrumpften Achsencylindern, nur in der 
Gegend der vorderen Wurzeln durch eine Zone veranderten Gewebes durchbrochen, 
sendete am vorderen Septum einen Zapfen bis gegen die Kommissur und war im Seiten- 
strange nahe der hinteren Wurzel breiter. Der iibrige Teil des Vorder- und des Seiten- 
stranges war vom Querschnitt an in bedeutender Tiefe stark gequollen und stellen- 
weise sogar ausgefallen. Eine besondere Verteilung wies der Hinterstrang auf, in 
welchem der Rand und der ventralste Abschnitt sehr gut erhalten waren, ebenso ein 
schmaler um das Septum gelegener, vom ventralen Feld bis zum Rand verlaufender 
Streifen; der restliche Teil des Hinterstranges hatte stark gequollene Achsencylinder. 
Die periferen Fasern, dann die intramedullaren W urzel n, sowohl die vorderen 
dicken, als auch die hinteren dunnen, waren gut erhalten, auch wenn sie durch Gebiete 
liefen, welche stark gequollene Achsencylinder der Langsbahnen hatten. Das Stutz- 
gewebe bot keinerlei Veranderungen dar. 

Die Ringersche Losung setzte weit eingreifendere Destruktionen als die Koch¬ 
salzldsung. Es waren hierbei alle Gewebsteile ungefahr gleichmaBig beteiligt; nicht nur 
das spezifisch nervdse Gewebe, sondern auch das Glia- und Bindegewebe zeigten starke 
Quellung und Zerstdrung. Die graue Substanz hatte fast keine deutliche Struktur mehr, 
war ganz verquollen und die Zellen defekt, vielfach mit homogener Struktur. Die weiBe 
Substanz war schwer geschadigt, die meisten Maschen der Langsfasem leer, im Vorder- 
strang am dorsaleren Anteile des Septums, ferner am Rande in der Gegend des Austrittes 
der vorderen Wurzeln, im Seitenstrange am dorsalsten Randteile nahe dem Hinterhom, 
im Hinterstrange in gleicher Nahe (Wurzeleintrittszone) fanden sich nur einige 
geringe Reste gequollener Achsencylinder (Fig. 2). 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
and Neurologic. 


In den verschiedenen Hohen des Ruckenmarkes zeigten sich eigentlich nur geringe 
Unterschiede, derart, daB die soeben beschriebenen Verhaltnisse, welche :fur das Hals- 
mark gelten, auch im wesentlichen fur die anderen Hohen zutreffen. Im Brustmarke 
(Fig. 3), war blofl der Bezirk im Seitenstrange deutlich erkennbar, wahrend sich im 
restlichen Teile der weiflen Substanz diffus zerstreute minimale Reste von Achsencylindem 
vorfanden. ImLendenmark (Fig. 4) hingegen waren die Reste in der vorderen Wurzel- 
zone betrachtlicher, ebenso an den hinteren Wurzelzonen, solche erstreckten sich auch 
langs des dorsalen Randes bis zur MitteUinie; der benachbarte Bezirk im Seitenstrang 
war hier auch etwas groBer, am Rande bestand eine sehr schmale Zone von sparlichen 
Achsencylinderresten und am Hinterstrang in der Mitte des Septums ein kleiner Bezirk 
mit sparlichen Resten. Von den Wurzelfasern waren nur sparliche, allerdings kon- 
stante Reste in der vorderen Wurzelzone, von den hinteren nicht mehr viel zu erkennen. 

Ringer-Gummilosung 1 ) setzte ahnliche Veranderungen wie reine Ri nger- 
Losung. Im aUgemeinen war die Konservierung eine etwas bessere, die graue Substanz 



Fig. 1. Kaninchen, 24 h Kochsalzlosung, Fig. 2. Kaninchen. 24 h Ri nger-Losung, 

Halsmark. Halsmark. 



Fig. 3. Kaninchen, Ri nger-Losung, 24 11 , Fig. 4. Kaninchen, 24 h Ri nger-Losung, 

Brustmark. Lendenmark. 

Die Stellen mit Puhkten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder defekte 
Achsencylinder, an leeren Stellen fehlrn diese. 

weniger gequollen, das Stutzgewebe auch deutlicher und besser gefarbt, dierZellen ge- 
schrumpft. In der w e i B e n Substanz waren ebenfalls die Achsencylinder bis auf einige Reste 
in bestimmten Bezirken verschwunden, so eine schmale im Vorderstrang gelegene, bis 
nahe an den Rand und die Kommissur reichende Zone, wahrend die unmittelbar benach-. 
barten Kommissurenfasern fehlten; in der vorderen Wurzeleintrittszone.sparliche Reste, 
daneben deutliche Bruchstucke von gequollenen intramedulaTen: vorderen Wurzelfasern; 
im Seitenstrang an der schon mehrfach erwahnten Stelle ebenfalls deutliche Reste, 
dann im Hinterstrang in der Wurzeleintrittszone wiederum solche, Konfluierung in det 
MitteUinie und schmaler Zapfen in der Mittellinie bis nahe an die hihtere graue Kom* 
missur. Von den hinteren intrameduUaren Wurzeln waren deutliche Reste vorhanden, 
die extramedullaren erschienen gar nicht besonders gegen das normale verandert; so 
im Halsmark. Das Brustmark war weniger reich an Bezirken mit erhaltenen Achsen* 


x ) Ringersche Losung mit 9% Gummi arabicum. 


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-1908. 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


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cylindern; es zeigte sich dort hauptsachlich die vordere Wurzelzone mit Resten beteiligt, 
das dorsale Feld des Seitenstranges auffallend gut erhalten, dann noch minimale Spuren 
gequollener Fasem im Hinterstrang nahe der Clarkeschen Saule, diese ebenfalls ganz 
frei von Achsencylindern. Die Blocke aller bisher beschriebenen Praparate hatten 
24 Stunden in der bctreffenden Fliissigkeit gelegen (Fig. 5 u. 6). 




Fig. 5. Kaninchen, 24 h Ringer-Gummi, Fig. 6. Kaninchen, 24 h Ringer-Gummi, 
Halsmark. Brustmark. 

Die Stellen mit Punkten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder defekte 
, Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 


Eine besondere Unter- 
suchungsreihe bildeten die Ver- 
suche mit defibrinierten 
Blut desselben Tieres. 

Je nach der Dauer der 
Einwirkung beobachtet man 
Veranderungen verschiedener 
Ausbreitung. AuBer der Zer- 
storung der Achsencylin¬ 
der, teilweise auch des Stutz- 
gewebes und der grauen 
Substanz, kameshier noch zu 
eigenartigen Einlagerungen, 
hauptsachlich in die weiBe Sub¬ 
stanz, und zwar fanden sich 
entweder groflere kugelartige 
oder geldrollenartige Gebilde, 
die sich sehr blaB farbten und 
meist nahe an der grauen Sub¬ 
stanz lagen, oder strahlige kuge- 
lige, aber stark sich mit Toluidin- 
blau farbende Korper, diffus 
sowohl im Grau als im WeiB 
verteilt. 

Halsmark (Fig.7), durch 
16 Stunden im Blut gelegen, 
zeigte, sowie die soeben beschrie¬ 
benen Praparate, einen gut er- 
haltenen periferen Ring, der in 
der Gegend der vorderenWurzel- 
zone, dann im Seitenstrang nahe 
dem Hinterhorn breiter wurde, 
auBerdem vorne in der Median- 
linie einen wohlerhaltenen Strei- 
fen bis zur vorderen Kommissur 



Photogramm I. Kaninchenruckeumark. In eigenem defi¬ 
brinierten Blut durch 24 h , Formolfixierung, Farbung mit 
Toluidinblau. Langsschnitt. ZeiB-System 3. Okular 4. 
2i5fach vergr. Vorderstrang mit langsgetroffenen vor¬ 
deren Wurzelfasern. Diese sind, wenn auch gequollen, 
doch gut erhalten (a). Die Langsfasern des Vorder- 
stranges sind spindelformig verdickt (b), zum Teil in 
Kugeln zerfallen (c), zum Teil ganz verschwunden. 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
und Nenrologie. 


entsendete. Der Rest war stark ge- 
quollen, jedoch nicht frei von ner- 
vosemGewebe. Im Hinterstrang 
(24 Stunden) waren die Wurzelein- 
trittszone, das ventrale Feld, dann 
(Fig. 8, Photogramm I u. II) ein 
von diesem langs des Septums bis 
ungefahr zur Mitte reichender Strei- 
fen leidlich gut erhalten, alleAchsen- 
cylinder unregelmafiig geformt und 
zahlreiche blasse Kugeln. Nach 36 
Stunden (Fig. 9) waren die Maschen 
sehr weit und die Achsencylinder 
wie die Stutzsubstanz sehr ge- 
quollen. Ungefahr derselbe im 
vorigen Praparate am Rande gut 
erhaltene Bezirk war hier gequollen, 
aberes fehlte kein Gewebsteil; der 
restliche Teil war vollkommen frei 
von nervosen Elementen. Um die 
graue Substanz reihten sich dunkel- 
blaue, strukturlose Kugeln von 6 bis 
1 o Achsencylinder-Durchmesser. Je 
weiter entfernt von der ur- 
sprunglichen Schnittflache, 
desto schlechter konservier- 
ten sich die mittlerertPartien. 
Die Fasern der hinteren Wurzeln 
erhielten sich in der Lissauerschen 
Zone und auch in ihrem ganzen 
Verlaufe im Hinterhome deutlich. 
Ebenso zeigte sich in der Wurzel- 
eintrittszone deutliche Quellung. 

Dorsal mark: 24 Stunden 
(Fig. 10). Im Vorderstrange waren 
zwei Drittel vom Rande gut er¬ 
halten, und dieser Bezirk schweifte 
gegen den»Seitenstrang in einem Bogen ab; im hinteren Teil des Seitenstranges ebenfalls 
ein breiter Randstreifen, der nach vorne schmaler wurde und in schlecht konserviertes 
Gewebc ubergirig. Der iibrige Teil des Gewebes war schlecht erhalten][und^bestand aus 
gequollenen Achsencylindern und wenig deutlich sichtbarem Stiitzgewebe. In den 


Photogramm II: Kaninchenruckenmark. Halsmark. In 
eigenem Blut durch 24 11 . Farbung und Fixierung wie 
oben. ZeiB S. 50, 0,4, 15 fache Vergrofierung. Langs- 
schnitt parallel zur Sagittalebene. Im Hinterstrange 
sind die leeren Maschenraume (h) und nur sparliche 
Achsencylinderreste sichtbar, wahrend im Vorder¬ 
strange die Achsencylinder gut erhalten sind (v). 





Fig. 7 . Kaninchen, 
i6 h eigenes Blut, Halsmark. 


Fig. 8. Kaninchen, 24 11 Blut, 
Halsmark. 



Fig. 9. Kaninchen, 36 h Blut, 
Halsmark. 


Die Stellen mit Punkten bedetiten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder defekte Achsencylinder, 
an leeren Stellen fehlen diese. Die Veranderungen des Hinterstranges hier nicht eindeutig. 


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BD. XI, HKKT .4 5 
1906 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


233 


Hinterstrangen waren die ventralen Anteile defekt und von diesen gingen ebensolche 
schmale Streifen knapp am Hinterhorn aus, wahrend der Rest gut erhalten, nur gegen 
die Mitte zu gequollen war. 

Nach 36 Stunden (Fig. 11) fand man die Verteilung annahernd dieselbe, nur die 
Randteile gequollen, die mittleren Anteile, und im Hinterstrang die ventralen Bezirke 
sehr defekt; ein breiter Randteil enthielt gut erhaltene Achsencylinder, Wurzeleintritts- 
zonen und der ubrige Rest bestand aus gequollenen Fasern. Die graue Substanz war 
ebenso erhalten wie im Halsmark und in und um dieselbe helle und dunkle kugelige 
Bildungen gelagert. 

Das Lumbalmark (Fig. 12) war in ahnlicher Art verandert wie das vorige: 
ein maBig gut erhaltener Randbezirk, der im Vorderstrange in der Mittellinie einen 
kurzen Zapfen gegen die Kommissur zu entsendete, sich nahe am Hinterhorn etwas ver- 



Fig. 10 . Kaninchen, 24 h Blut, Brustmark. Fig. 11 . Kaninchen, 36 h Blut, Brustmark. 

Die SteUen mit Punkten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder defekte 
Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 



Fig. 12 . Kaninchen, i6 h Blut, 
Lendenmark. 


Fig. 13. Kaninchen, 36 11 Blut, 
Lendenmark. 


Fig. 14 . Ochs, 
Ringer-Losung, 24 h . 


Die Stellen mit Punkten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder defekte 
Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 


dickte und im Hinterstrang in der Mittellinie ebenfalls einen Fortsatz bis nur ungefahr 
zur Halfte der Entfernung gegen die Kommissur zu schickte. Wahrend im Vorder- und 
Seitenstrang der restliche Teil stark gequollene Achsencylinder, daneben einige leere 
Maschen enthielt, welche wieder zum Teile von den schon mehrfach genannten kugeligen 
Gebilden erfullt waren, zeigte sich die Veranderung im Hinterstrang weniger regelmaBig. 
Die ventralen Gebiete waren dort stark gequollen und hatten eine Fortsetzung, die als 
Zapfen in der Mittellinie gegen den Rand zu verlief und dem ahnlichen Fortsatz vom 
Rande her entgegenzog. AuBerdem war der gesamte Rand der Hinterhorner an der 
Seite mit einem Saume von gequollfenen Achsencylindern besetzt, der ubrige Teil des 
Hinterstranges defekt und enthielt nur Reste von Nervenfasern. Diese Veranderungen, 
die nach 24 Stunden auftraten, blieben nach 36 Stunden (Fig. 13) im wesentlichen die- 
selben. Die periferen Felder enthielten dann starkere Fasern, aber auch leere Felder, 
die inneren Anteile mehr leere Bezirke. Im Hinterstrange war das ventrale Feld schwer 
defekt, von den Randteilen die Wurzeleintrittszonen und der Teil am Septum besser er¬ 
halten, im ubrigen Teile des Hinterstranges kugelig gequollene Achsencylinderreste sicht- 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
_und Neurologie. 


bar. Neben den Veranderungen der Achsencylinder fiel noch die schlechte Konservierung 
dcs Stutzgewebes an den Randteilcn, besonders des Hinterstranges auf. 

Je tiefer der Schnitt, desto zahlreichere hellblau gefarbte Kugeln mit strahliger 
Struktur waren iiber das ganze Praparat verbreitet und die Zelleiber zeigten homogene, 
hier und da faserige Struktur. ^ 

Ganz frisches Ochscnmark (Fig. 14) veranderte sich in Ringerscher Losung 
cbenfalls in charakteristischer Weise. Der Vorderstrang war nur nahe an der Mittellinie 
ganz gut erhalten, der ubrige Teil bestand aus zum Teil gut erhaltenen, zum Teile stark 
gequollenen Fasem. Im Seitenstrang fand man den vorderen Anteil auch zum Teil ge- 
quollen, zum Teile intakt; nur in einer Serie war an einer Seite in der Hohe des Vorder- 
hornes am Rande ein sektorenformiger Defekt. Der hintere Anteil zeigte sich bis auf 
cinen schmalen Randstreifen aus gequollenen Achsencylindem sehr schwer geschadigt. 

Im Hinterstrange waren die Hinterhorner mit einem Saume von gut erhaltenen 
Fasem ausgekleidet, dieser Saum wurde in der Wurzeleintrittszone etwas breiter und 
ging dort in einen Randstreifen aus gequollenen Fasern iiber, der in der Mittellinie einen 
breiten Fortsatz gegen die Kommissur zu entsendete. Ungefahr in der Mitte des Sep- 
tums war ein isoliertes Feld von gequollenen Fasem, der ubrige Teil des Hinterstranges 
sehr schwer defekt und weder an den Vorder- noch an den Hinterwurzeln wesentliche 
Veranderungen zu bemerken. 



Fig. 15. Menschl. Cervicalmark, 
Kontrollpraparat, Formol. 


Fig. 16. Mensch I. 
24 h Kochsalz, Halsmark. 


Fig. 17. Mensch I. 

24 11 Locke-Ldsung, Halsmark. 

Die Stellen mit Punk ten bedeuten gut erhalten© Achsencylinder, die kleinen Kreise gequoQene oder defekt© 
Achsencylinder, an leeren Stellen fehlea dies©. 


Beim Kaninchenriickenmarke kann man also durch die soeben beschrie- 
bene Behandlung einzelne Bezirke einzeln zerstoren, resp. erhalten, die bei den ein- 
zelnen dazu verwendeten Fliissigkeiten im wesentlichen dieselbe Verteilung und auch 
dieselbe Ausdehnung haben. 

Pie vorlaufigen Untersuchungen am Ochsenriickenmarke zeigten im 
wesentlichen dasselbe Resultat wie die mit dem Kaninchenriickenmarke. 

Bei Versuchen an menschlichen Riickenmarken ergab sich schon im 
vorhinein die Notwendigkeit, in ausgiebiger Weise Kontrollpraparate zu bemitzen, 
da, abgesehen von etwaigen Erkrankungen der nervosen Organe, p.ostmortale 
Veranderungen die Resultate sehr leicht triiben. Von den erhaltenen Ergebnissen 
miissen daher aus diesen Griinden einige ausgeschaltet werden; dennoch kann man 
auch solchen Praparaten manches erschlieBen. 

In einer Versuchsserie zeigte sich im Cervicalmark (Fig. 16) folgende Veran- 
derung: Bei Kochsalzlosung starke Quellung; die geringste Schadigung wiesen auf: 
der mittlere Teil des vorderen Septums, ein kleiner Bezirk in der vorderen Wurzelein¬ 
trittszone, der hintere Anteil des Seitenstranges mit Ausnahme der Gegend nahe dem 
Hinterhorn, die hintere Wurzeleintrittszone, das ventrale Hinterstrangsfeld, ein Feld 
im mittleren Teil des hinteren Septums und die benachbarten Gebiete am Hinterhorn. 


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PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


235 


BD. XI, HEFT 415 
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In der Lockeschen Losung wax die Verteilung die gleiche, nur die Schadigung eine 
viel starkere (Fig. 17). 

Im Brustmarke war die Schadigung eine sehr ahnliche, bloB der Vordex- 
strang etwas besser erhalten und das Feld am hinteren Septum etwas kleiner, dann 
auBerdem noch eine ganz diffuse Schadigung des ganzen Blockes vom Rande her (siehe 
daruber spater). In der Kochsalz- und der Locke-Ldsung waren die Verande- 
rungen nur graduell verschieden. 

Im Lendenmarke stellte sich eine fast gleiche Verteilung ein: die vordere und 
die hintere Wurzeleintrittszone etwas breiter; der erhaltene Anteil des Seitenstranges 
sehr klein. ” 

Auch hier bestand kein wesentlicher Unterschied zwischen Kochsalz- urid Lo- 
kescher Ldsung. 



Fig. x 8 . Mensch II. Kontroll- Fig. 19 . Mensch II. Fig. 20 . Mensch II. 

praparat, Formol, Brustmark. 24 h Kochsalzlosung, Brustmark. 24 h Locke-Ldsung, Brustmark. 

Die Stellen mit Punk ten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder defekte 
Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 



• Fig. 21 . Mensch II. Fig. 22 . Mensch II. Fig. 23 . Mensch (Typhus ab- 

Kochsalzchinin24 h , Brustmark. 24 b Loc ke-Chinin, Brustmark. dominalis). Ringer-Kampher 

24 h . (Kontrollpraparat normal.) 

Die Stellen mit Punk ten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder defekte 
Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 


An alien Schnitten wurden die Achsencylinder der Clarkeschen Saulen nicht 
wesentlich verandert gefunden. 

An einer zweiten Serie (Fig. 18 u. 19) fiel auf, daB bei alien Blocken den an dem 
Randteile bis ungefahr ein Drittel des halben Querschnittes das Gewebe viel heller war, 
die Achsencylinder mehr oder weniger zerstort, auch das Gliagewebe verandert; diese 
Veranderung war am Rande am starksten und nahm gegen die Mitte ab. Ein inter- 
essantes Verhalten boten die queren Wurzelfasern: die vorderen zeigten im 
intramedullaren Teil selten eine wesentliche Veranderung, der extra- 
medullare war immer intakt; an den hinteren war ein deutlicher Unterschied 
zwischen dem immer gut erhaltenen extramedullaren r und dem meist schwer 
geschadigtcn intramedullaren bemerkbar. Die Pia gab meistens die sehr 
scharfe Grenze zwischen dem intakten und dem geschadigten Anteil ab; 
nur manchmal sah man die Veranderung vom intramedullaren Anteil auf eine ganz 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
and Neurologic. 


kurze Strecke nach auswarts fortschreiten. In der Lissauerschen Zone waren die 
Langsbahnen leidlich gut erhalten, die Querfasern hingegen ganz zerstort. 
Zu dieser Zerstorung stand (im sichtlichen Gegensatze) die stellenweise sehr gute 
Konservierung der Wurzelzone und des hinteren Anteiles des Seitenstranges. 

In der Lockeschen (Fig. 20) Flussigkeit war nicht nur die rein nervose Substanz, 
sondern auch das Stutzgewebe, namentlich am Rande, sehr geschadigt; es bestand hier 
ofter sogar ein Gegensatz zwischen dem gut erhaltenen Achsencylinder und dem zer- 
stdrten Stutzgewebe. Zusatzeiner geringenMengevon Chininumsulf uricu m 1 ) 
(Fig. 21 u. 22) verhinderte weitgehend die Veranderang des Stutzgewebes und konser- 
vierte auch das nervose Gewebe ein wenig besser; diese Wirkung trat bei der Locke¬ 
schen Losung deutlicher als bei der Kochsalzlosung ein. 

Die graue Substanz veranderte sich in den einzelnen Flussigkeiten ebenfalls, 
doch lassen sich bis jetzt keine konstanten Beziehungen feststellen 2 ). 

Eine weitere Versuchsreihe mit Ringer, dem eine geringe Menge gepulverten 
Kampfers (Fig. 23) unter Schutteln beigefugt wurde, gab bei ganz intakten Kontroll- 
praparat folgenden Befund: Vorderstrang von der Kommissur bis zur Hohe der Vorder- 
horner intakt, der ganze Seitenstrang bestand aus zum Teil gequollenen, zum Teil gut er¬ 
haltenen Achsencylindern; ein Teil, ungefahr entsprechend den Pyramidenbahnen, war 
sehr gut erhalten, im Hinterstrange das dorsale Drittel sehr defekt, mit Ausnahme der 
gut erhaltenen Lissauerschen Zone, einem schmalen Streifen langs des Hinterhomes, 
welcher in der Gegend der Clarkeschen Saule etwas breiter wurde. Der ubrige Teil 
bestand zumeist aus gequollenen Achsencylindern. Von den Querfasern waren die 
Vorderwurzeln sehr gut erhalten, die hinteren intramedullaren hingegen nur in Bruch- 
stucken. 

Zusammenfassend kann man hiermit feststellen: 

1. Das nervose (aber auch das Stutzgewebe) des Riickenmarkes 
von Kaninchen, Rind und Menschen verhalt sich in seinen einzelnen 
Teilen „physiologischen“ Losungen gegeniiber verschieden. 

2. Die von den entstehenden Veranderungen betroffenen Areale 
sind fur die eine Spezies in den einzelnen Segmenten und auch bei 
den verschiedenen Behandlungen im wesentlichen gleich. Geringe 
Ausnahmen bestehen, z. B. ist das dorsale Hinterstrangsfeld im Hals- 
marke gut erhalten, im Brustmarke aber nicht. 

3. Mit der Dauer der Einwirkung wird die Intensitat der Ver- 
anderung eine groBere. 

4. Die Veranderungen im Kaninchenriickenmarke sind im we¬ 
sentlichen folgende: 

Die peripheren Anteile sind resistenter und hier wieder ein Teil 
des Vorderstranges nahe dem Septum, welcher bei den einzelnen Fliis- 
sigkeiten mehr oder weniger vom Rande entfernt ist. Ahnlich verhalt 
sich der Bezirk am Austritt der vorderen Wurzeln, dann der hinterste 
Teil des Seitenstranges, die hintere Wurzeleintrittszone, das ventrale 
Hinterstrangsfeld und das schmale Feld am hinteren Septum. Die 
geringeren Unterschiede in den einzelnen Segmenten miissen vor- 
laufig bloB konstatiert werden; ebenso die doch einzelne Verschieden- 
heiten bietende Auslese der einzelnen Flussigkeiten. 

*) Autolytische Fermente werden in ihrer Wirkung durch Chinin am starksten gestort 
(Laqueur, Arch. f. exper. Path., Bd. 55, S. 240—264, 1906. 

2 ) Der zweiten Serie parallel angefertigte Marchi-Serien ergeben ein Fehlen jedweder 
entsprechender Degenerationsprodukte. 


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PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


237 


5. Beim Ochsenmarke bestehen gut erhaltene Areale la.ngs des 
vorderen Septums, in der hinteren Wurzelzone und von dort als 
schmaler Streifen langs des Hinterhorns bis zur Kommissur, wenig 
verandertes Gewebe im restlichen Vorderstrange, dann im Seiten- 
strange mit Ausnahme des hinteren Drittels, von dem ein schmaler 
periphererStreifen gequollen, der iibrigeTeil iiberhaupt keine Achse^- 
cylinder aufweist. Im Hinterstrange ist der Rand gequollen, ebenso 
ein kleines ovales Feld am Septum, der Rest schwer defekt. 

6. Die Versuche mit menschlichem Riickenmarke sind deswegen 
weniger eindeutig, weil Kontrollpraparate von direkt in Formol 
fixierten Stiicken schon deutliche Veranderungen im Hinterstrange 
(Fig. 15, 18) und Defekte in den Randpartien zeigten. 

Die Veranderungen beziehen sich hier neben dem nervosen auch 
auf das Stiitzgewebe und sind am starksten in den Hinterstrangen 
lokalisiert. Es besteht auBerdem ein auffallender Ujiterschied im 
Verhalten der extra- und intramedullaren hinteren Wurzelfasern. 

Zusatz von Chininsulfat zu den Losungen schrankt die Veran¬ 
derungen (hauptsachlich des Stiitzgewebes) sichtlich ein. 

7. Zwischen den einzelnen Spezies besteht in Bezug auf die Ver- 
teilung der Schadigung ein deutlicher, aber anscheinend nicht prin- 
zipieller Unterschied. 

II. DasWesen derartiger histologischerVerSnderungen des nervdsenGewebes. 

Wie bereits hervorgehoben wurde, besteht ein bedeutender Unterschied in 
der Intensitat der Zerstorung bei den einzelnen hierzu verwendeten Fliissigkeiten. 
Die geringste Zerstorung erfolgte durch die physiologische Kochsalzlosung, be- 
deutend starker war die Schadigung durch die Ringersche Losung, ungefahr ebenso 
stark bei Einwirkung der Lockeschen. Zusatz von Gummi zur Ringerschen Losung 
setzte die histologische Veranderung deutlich herab, ebenso war die Wirkung des 
Kochsalzes und der Loc ke-Losung durch Zusatz von Chininum sulfuricum geringer. 

Die histologische Veranderung war in alien diesen Fliissigkeiten im wesent- 
lichen in bezug auf die Zerstorung der Achsencylinder der Langs- und Querfasern 
dieselbe. Sie wurde bereits a. a. O. beschrieben. In der Kochsalzlosung wurden die 
Achsencylinder mehr geschlangelt und unregelmaBig gequollen; an den Enden 
wuchsen die Spindeln zu Ovalen und Kugeln an, die entweder durch einen diinnen 
Faden zusammenhingen oder frei aneinandergereiht waren. An der Ringerschen 
Losung waren die Quellungsbilder viel groBer und unregelmaBiger. Helle Massen 
fiillten oft den ganzen Maschenraum aus, daneben fanden sich die vielen ganz 
leeren Maschenraume mit stark gequollenen Stiitzgewebsbalken. AuBerdem waren 
liber das ganze Gewebe zahlreiche kleine, dunkle, runde Gebilde verteilt, welche als 
geloste und durch das Fixiermittel wieder ausgefallte Achsencylindersubstanz an- 
zusehen sind. 

Stiicke, die in Ringergummi gelegen waren, enthielten runde und ovale Ge¬ 
bilde, dann Achsencylinder, die entweder regelmaBig oder unregelmaBig gequollen, 
spindelformig verandert, auch mit kriimmeligen Auflagerungen versehen oder auch 
brockelig zerfallen waren. 

Journal for Psychologic und Neurologic. Bd. XI. 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
and Neurologic. 


Bei der Beantwortung der Frage, durch welche Vorgange diese Zerstorung 
entstehe, muBte es von Interesse sein, die Fliissigkeiten, in denen die Zerstorung 
erfolgte, auf ihren Gehalt an ,,Nervensubstanzen“ zu untersuchen. 

Die Resultate einiger diesbeziiglicher vorlaufiger Versuche mdgen hier an- 
gefiihrt werden: 

Die Locke- und Kochsalzlosung, worin Menschenriickenmark gelegen 
hatte, gab mit Salpetersaure und Essigsaure eine Triibung (EiweiB), ebenso die 
Biuretreaktion, das Filtrat hingegen nach Aufkochen keine Biuretreaktion mehr 
(keine Albumosen, d. i. keine EiweiBabbauprodukte). In der Fliissigkeit konnte 
man auch keinerlei peptisches Ferment (nach Mett) nachweisen. Die Lockesche 
Losung wurde nach Zusatz von wenig Natronlauge ausgeatert, der Atherextrakt 
enthielt eine in heiBem Alkohol losliche, aus diesem beim Erkalten ausfallende 
Substanz, welche aus mikroskopischen Nadeln bestand, durch essigsaures Blei 
aus Alkohol gefallt wurde, keinen leicht abspaltbaren Stickstoff enthielt und 
phosphorfrei war. Die Oleocholidreaktion (Cerebroside) war negativ, ebenso die 
Cholesterinprobe, daher muB der Korper als fettsaureahnlich angesehen 
werden. 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Gehalt der Locke-Losung 
und dieser mit Chininzusatz war nicht nachweisbar. 

Die Veranderungen der Achsencylinder durch das eigene Blut ist von den 
soeben beschriebenen etwas verschieden. Bei kiirzerer Einwirkung (i6 h ) kam es 
zu abnorm starker Quellung, man sah helle oder dunkle Strange und Kugeln, hier 
und da von granuliertem Aussehen, das Zwischengewebe dabei ganz verquollen 
und oft verschwunden oder homogen. Nach einiger Zeit (24k) schritt die Zer¬ 
storung immer mehr gegen die Mitte zu, der Rand dagegen blieb auffallend gut 
konserviert; die Veranderungen hatten immer denselben Charakter. Noch spater 
(36k) wurden die Formen immer mehr rund, es entstand neben den friiher be¬ 
schriebenen Gebilden noch diffus verteilte, dunkle bis ganglienzellgroBe granulierte 
Kugeln, welche meist ohne Zusammenhang mit Achsencylindem oder einem anderen 
Gewebsteil waren. 

In der Absicht, Aufschliisse liber die Art der Einwirkung des defribinierten 
Blutes zu erlangen, wurden noch einige Bestandteile des Blutes und ahnliche Stoffe 
in ihrer Einwirkung auf das Riickenmarkgewebe untersucht, iiber deren Resultate 
nachstehende Tabelle kurz AufschluB gibt. (Tab. I S. 239.) 

Besonders muB noch die Einwirkung von destilliertem Wasser hervorge- 
hoben werden: Starke Quellung der grauen Substanz, besonders des Hinterhoms, 
die Nissl-Strukturen sehr schlecht erhalten; von den Achsencylindem bloB einige 
am Rand erhalten, dann noch etliche im Vorderstrange nahe am Septum, auBerdem 
ein ovaler Bezirk in der Mitte des hinteren Septums; von den Querfasem die extra- 
medullaren Wurzeln, dann einige intramedullare hintere Fasern gut erhalten; die 
erhaltenen Achsencylinder sind sehr dicht und intensiv gefarbt. 

Zur Entscheidung der bereits an anderen Orten (siehe Mayr, loco cit.) auf- 
geworfenen Frage, ob diese Zerstorung auf chemische oder physikalische Vorgange 
zuriickzufiihren sei, wurde Ruckenmark in eine physiologische Kochsalzlosung ge- 
legt, welche gleichzeitig eine der Verdauungssalzsaure entsprechende Menge von 
Salzsaure und Pepsin enthielt. 


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. 1906 . 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


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240 


DR. E. MAYR. 


Journo] f. Psychologic 
und Nenrologie. 


Nach 24 Stunden fand man in den oberflachlichen Schnitten sehr gut erhal- 
tene Achsencylinder, in einzelnen Maschen in der weiBen Substanz waren diffus ver- 
teilt hyaline Bildungen, innerhalb einer solchen Masche oft eine derartige Kugel 
eingelagert, welche in der Mitte einen dunkel gefarbten Kern enthielt. In tieferen 
Schnitten waren die Achsencylinder ebenfalls sehr gut erhalten, jedoch besonders 
im Seitenstrang an der Grenze zwischen weiBer und grauer Substanz die Sep ten 
deutlich in der Art einer moosartigen Zerfaserung zerfallen, wahrend auch 
in diesen Bezirken die Achsencylinder in keiner Weise verandert erschienen. 

Solche durch physiologische Losungen hervorgerufene Zerstorungen iiber- 
lebender Nervengewebe wurde zum ersten Male von Rumpf beschrieben 1 ). 

Dieser Autor fand, daB sich Froschnerven in Kochsalzlosung, Wasser und 
Lymphe aufldsen, daB sich aber auch im Korper abgetrennte und liegengelassene 
Nerven-, Riickenmark- und Gehirnteile nach wenigen Tagen zum groBten Teile auf- 
losen und zwar zumeist unter starker Quellung samtlicher Teile, der Achsenzylinder, 
Markscheiden und Ganglienzellen. Interessanterweise wurden gleich von diesem 
Autor die anscheinend vitalen Vorgange im Tierkorper mit denen auBerhalb des 
Korpers identifiziert. 

Diese lange nicht beachteten Versuche wurden von Kahler 2 ) bemitzt, um die 
bei Kompressionsmyelitis auftretende Veranderungen der Achsencylinder zu 
erklaren. Durch Kompression der LymphgefaBe sollten Lymphstauungen entstehen, 
welche die Quellungszustande der Achsencylinder verursachen. 

Striimpell 3 ) schloB sich dieser Vorstellung an, wahrend Leyden 4 ) fur diese 
Erscheinungen entziindliche Prozesse in Anspruch nahm. Wahrend man so 
bei der einfachen Erweichung ahnliche Bilder, wie sie durch postmortale kiinstliche 
Veranderungen hervorgerufen werden konnen, gefunden hat, fand schon Licht- 
heim 6 ) und ebenso von Noorden 6 ) solche bei pernicioser Anamie, Leichten- 
stern und Eisenlohr 7 ) bei primaren Darmerkrankungen. Minnich 8 ) traf 
ahnliche Quellungszustande bei Blutkrankheiten, Nephritis an. ebenso Lu- 
barsch 9 ) solche bei Carcinomkachexien durch Geschwulste des Magendarm- 
traktes. Es folgten noch Befunde bei Diabetes (Sandmeyer, Williamson) 10 ), 
dann bei Phtisikern (Summa) 11 ) und endlich bei postdyphterischen Lah- 
mungen (Bitteler); auBerdem wurden die Befunde bei pernizioser Anamie 
bestatigt (Bowmann) 12 ). Bei alien diesen Veranderungen findet man immer die 

Rumpf, Untersuchungen aus dem physiol. Institut Heidelberg, Bd. X., Nr. 3, 1879. 
— Pfliigers Archiv, Bd. 26. 

2) Kahler, Zeitschr. f. Heilk., Bd. Ill, S. 187. 

3 ) Strum pell, 59. Naturforscherversammlung, Berlin 1886, S. 306. . 

4 ) Leyden, Klinik der Ruckenmarkskrankheiten, Bd. 1. 

6 ) Lichtheim, KongreQ f. inn. Medic., 1887, S. 84 und Naturforscherversammlung 1889. 

6 ) von Noorden, Charit6 Annalen, 1891, S. 277. 

7 ) Leichtenstern, Deutsche med. Wochenschr., S. 849, 1889. — Eisenlohr, Deutsche 
med. Wochenschr., S. 1105, 1892. 

») Minnich, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. XXI, XXII, 1892/93. 

») Lubarsch, ibid., Bd. XXXII. 

10 ) Sandmeyer, Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 50, S. 381. — Williamson, Brit, 
med. Journ., S. 398, 1894. 

n ) Summa, Inauguraldissertation, 1891. 

12 ) Bowmann, Schmidts Jahrbi'icher, Bd. 245, S. 141. 


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BD. XI. HEFT 4'5 
1908. 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


241 


Quellung der Markscheiden wiederkehrend. Teilweise fehlen diese uberall, es be- 
steht Quellung, korkzieherartige Schlangelung, varikose und spindelige Auftreibun- 
gen der Achsencylinder, daneben auch Zerfall derselben. AuBer diesen Veranderun- 
gen der spezifischen nervosen Substanz kommen noch andere weniger konstante 
Quellungen der Glia vor, Homogenisierung dieser, daneben manchmal auch noch 
fliissiges oder plasmatisches Exsudat oder gar Neubildung von Gliagewebe. 

Es sind dies Prozesse, die als weiBe Erweichung, Odem, Myelitis, dann 
alsprimare Degeneration beschrieben wurden, die in ihrem Bilde untereinander 
sehr ahnlich sind und schwer voneinander getrennt werden konnen. 

Allen diesen Prozessen ist die Quellung des spezifischen nervosen Gewebes 
gemeinsam, welche vielfach als durch die Gewebslymphe verursacht betrachtet 
wird, wahrend man die iibrigen Veranderungen als sekundar entstanden anzunehmen 
geneigt ist. 

Am reinsten tritt diese Form als traumatische Degeneration nach Er- 
schiitterung der Wirbelsaule mit und ohne auBere Verletzungen auf 1 ). SchlieBlich 
miissen noch die kadaverosen Veranderungen angefiihrt werden, welche im Prin- 
zipe mit den soeben erwahnten nahe verwandt sind. Hier kommt es ebenfalls 
zu Quellen der Achsencylinder und Markscheiden, zu perlschnurartigen Gebilden, 
im Gegensatze zu den iibrigen Veranderungen meist an der Peripherie 2 ). 

SchlieBlich sollen noch einige a. O. veroffentlichten Versuche (Mayr, a. a. O.) 
mit Autolyse von Riickenmark in der feuchten Rammer erwahnt werden, welche in 
der Zeit von 24 und 48 Stunden eine bloBe geringfiigige Quellung des Gewebes, 
aber keine Zerstorung ergaben. Dasselbe gilt auch beim Verweilen im Tierkorper 
fur die gleiche Zeit. 

Es soli noch hervorgehoben werden, daB die meisten klinischen Befunde an 
Marchi- oder Weigertschnitten gewonnen wurden, was fur die* Auffassung des 
Vorganges von wesentlicher Bedeutung ist. 

Wenn man auf die Lokalisation der Schadigung im Riickenmarke achtet, 
kann man auch in dieser Beziehung Analogien finden. Bei den Veranderungen infolge 
von Blutkrankheiten, Kachexien usw. konstatierte schon Minnich eine besondere 
Beteiligung des Hinterstranges mit Freilassen der Rander und Zonen an der grauen 
Substanz, ebenso Herde in den Seiten- und Vorderstrangen, wahrend die hinteren 
Wurzeln intakt waren. Nonne (Archiv f. Psychiatrie, Bd. XXV, S. 421) sah im 
Hinterstrange konfluierende Herde. Die Lissauer-Zone war intakt, ebenso die 
vordersten ventralen Felder, und ein schmaler innerer Hinterhornrand und die 
graue Substanz. Ahnliche Befunde bei postdiphterischer Lahmung, sowie 
bei traumatischer Degeneration, bei Diabetes usw. auch in bezug auf die 
Lokalisation wurden schon zu wiederholten Malen (siehe oben) beschrieben. Wahrend 
bei der perniziosen Anamie, den postdiphterischen Affektionen (Strum- 
pell) und deni kachektischen Veranderungen ein Toxin als zerstorendes Agens 


*) Schmaufl, Pathologische Anatomie des Ruckenmarkcs, S. 222, 375, 1901. — Hart¬ 
mann, Jahrbiicher der Psychiatrie u. Neurol. Bd. XIX. — Minor, Kapitel: Traumat. Er- 
krankungen d» Riickenm. i. Handbuche der pathol. Anatomie d. NervenSyst., 1901. — 
SchmauO, Artikel: Quellungszustande in Lubarsch-Ostertags Ergebnissen, Bd. Ill, 1896. 

2 ) Jacobsohn, Artikel: Postmortale Veranderungen im Nervensystem, Handb. d. 
path. Anat. d. Nervensystems, 1901. 


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242 


DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychology 
und Neurologic. 


angenommen wurde, muBte man bei der traumatischen Zerstorung an eine 
,,molekulare Umlagerung" und eine ,,ly mphoge ne 44 oder ,,hamatogene 44 
Veranderung denken (Hartmann loco cit., SchmauB loco cit.). 

Beim Studium der durch Salzlosungen gesetzten histologischen Veranderungen 
muBte man auch die verschiedenen Entstehungsmoglichkeiten solcher Veranderungen 
iiberlegen. Die Mdglichkeit bakterieller Einfllisse war fur die meisten Falle auszu- 
schlieBen, da es sich vielfach urn Stoffe handelte, welche das Wachstum von Bak- 
terien hemmen. Andererseits vermochten Zusatze von Kampfer, Formol, Alkohol 
usw. die bei reiner Kochsalzlosung erfolgte Zerstorung nicht zu verhindem. Es 
blieben bloB die Annahme von fermentativen Vorgangen und die rein physikalischer 
Prozesse, wie einfache Auflosung, iibrig. 

Gegen die fermentativen Vorgange spricht hauptsachlich das Fehlen von 
Zersetzungs- und Abbauprodukten in den restierenden Fliissigkeiten, dann das 
vollstandige Ausbleiben von Marchi-Reaktion in den Schnitten.' 

In jiingster Zeit wurde die BeeinfluBbarkeit von Fermentwirkungen durch 
anwesende Salze studiert 1 ). 

Fiir die physikalische Auffassung spricht hingegen die deutliche Uber- 
einstimmung der Intensitat, der Konservierung durch Salze mit der Paulischen 
EiweiB-Auflockerungsreihe, dann die BeeinfluBbarkeit durch die Konzentration der 
Salze, schlieBlich das Vorhandensein von Veranderungen bei solchen Stoffen (Alkohol 
in hdheren Konzentrationen), die eine Fermentwirkung erfahrungsgem&B ausschlieBen. 
Der Umstand, daB einerseits bei den vorhergenannten pathologischen Prozessen, 
andererseits bei den artifiziel durch Salzlosungen und defibriniertes Blut desselben 
Tieres erzeugten Veranderungen nicht nur eine groBe Ahnlichkeit der Zerstdrungs- 
bilder, sondern auch eine ahnliche Verteilung dieser Veranderungen besteht, laBt 
auf sehr ahnliche Entstehungsbedingungen schlieBen. 

Es wird daher erlaubt sein, bei alien Prozessen, in denen es sich um eine Zer¬ 
storung der Achsencylinder handelt, einen, wenn auch in einzelnen Fallen kurzen 
Zeitraum anzunehmen, wahrenddessen der Achsencylinder bloB gequollen und auf- 
gelost ist und dessen Losung als Fliissigkeit im Gewebe weiter diffundiert. 

Im Kochsalz- und Ringer-Praparat sieht man solche nachtraglich durch das 
Fixierungsmittel ausgefallte Substanzreste als gut gefarbte Kugeln oder Knollen 
diffus im ganzen Schnitt zerstreut, an den nichteingebetteten Blocken als eine 
diesen umgebende Wolke, die dann blaB gefarbt ist. Die einzelnen Bestandteile 
der Nervenfaser werden augenscheinlich verschieden stark und schnell gelost, daher 
man im Querschnitte an der Peripherie und mehr zentral verschieden geformte 
und auch verschieden intensiv gefarbte Gebilde findet. Einige davon sind als Cor¬ 
pora amylacea wohl bekannt, und wurden von Reich®) als protagonahnliche 
Substanzen ausgesprochen. Andere Gebilde zeigen wiederum einen besonderen 
rotlichen Farbenton, wie an nach Be the in Ather fixierten Riickenmarkstiicken, 
daher man im Sinne dieses Autors, wenn auch nur vorlaufig, eine der Fibrillen- 
saure naliestehende Substanz vermuten konnte. 

A ) Levites, Zeitschr. f. physiol. Chem., Bd. 48, S. 187—191, 1906: auf die peptische 
Spaltung des EiweiO. — Patten u. Stiles, Amer. Journal of Physiol., Bd. 17, p. 26 — 31, 1906: 
auf die Ptyalinwirkung. 

2 ) Reich, Journal f. Neurologie und Psychologie, Bd. 8, S. 244, 1907. 


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BI). XI, HEFT 4/5 
1908. 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


243 


Die Moglichkeit, solche bereits geloste Stoffe wieder durch einzelne Eigenschaf- 
ten, wie es die Affinitat zu Farbenstoffen ist, an anderen Stellen nachzuweisen, 
spricht gewiB sehr fiir die physikalische Natur solcher Veranderungen, da diese 
Eigenschaften offenbar durch chemische, indiesem Falle fermentative, Veranderungen 
zerstort werden konnen. Die Veranderungen durch defibriniertes Blut zeigen schon 
im histologischen Bilde deutliche, wenn auch kleine Unterschiede. Wenn man von 
.den Veranderungen der Glia, wie Quellung, Verschwinden jedweder Struktur usw. 
und den Veranderungen der grauen Substanz absieht, so kann man die dennoch 
andersartigen Quellungen der Achsencylinder, den eigenartigen kornigen Zerfall 
dieser, das auffallige in die Tiefe dringen bei relativ besser erhaltener Oberflache, 
nicht auf eine, sagen wir ,,physikalische Salzwirkung" allein beziehen. Die Ver- 
suche mit Zusatz von viscosen Stoffen wie Gummi, dann mit einzelnen anderen 
Bestandteilen des Blutes gaben auch keine eindeutigen Ergebnisse; die Verteilung 
war fast iiberall dieselbe, die histologische Veranderung aber keine der Blutwirkung 
entsprechende. (Siehe vorige Tabelle.) 

Es liegt nahe, diese besondere Art der Veranderungen im Blute den darin vor- 
handenen corpuscularen Elementen zuzuschreiben. Fiir eine besondere Art derselben, 
namlich die weiBen Blutkorperchen, ist eine gewebszerstorende Eigenschaft. schon 
lange vindiziert und in vollem Einklang damit steht auch der histologische Nachweis 
dieser morphologischen Elemente bei solchen pathologischen Prozessen. Bei Quellung 
von nervosem Gewebe, aus irgend welcher Ursache, miissen wir uns also den weiteren 
Abbau des Gewebes so vorstellen, daB den weiBen Blutkorperchen, welche durch 
chemotaktische Wirkungen oder bei gleichzeitiger Schadigung und abnormer Durch- 
lassigkeit der GefaBe sich an den einzelnen Stellen besonders ansammeln, eine be¬ 
sondere Bedeutung zugesprochen wird. 

So schwindet auch der prinzipielle Unterschied zwischen entziindlichem und 
hydramischem Odem; ebenso werden die Unterschiede zwischen nicht entziindlicher, 
degenerativen Veranderungen und Myelitis flieBende, ungefahr im Sinne von Hart¬ 
mann und SchmauB. 

Es wurde schon zu wiederholten Malen auf die durch alio- und autotoxische 
Schadigungen hervorgerufene Degenerationen der Hinterstrange und deren Ver- 
wandtschaft mit den eigentlichen Strangaffektionen hingewiesen 1 ). 

Die hauptsachliche Beteiligung der Hinterstrange, die relative Resistenz der 
peripheren Fasem, der anscheinend prinzipielle Unterschied zwischen extra- und 
intramedullaren sensiblen Fasern, das stellenweise Ubergreifen auch auf Seiten- 
und Vorderstrange sind diesen Erkrankungen mit den artifiziellen Schadigungen 
gemeinsam. Wenn dann in jiingster Zeit ein inniger Zusammenhang der tabischen 
Strangdegeneration mit den gleichzeitigen Veranderungen am GefaB- und Binde- 
gewebsapparat festgestellt wurde 2 ) und auch angenommen werden muB, daB zuerst 
die Fliissigkeit und die darin gelosten Salze, dann etwaige corpusculare Elemente 
bei derartigen Veranderungen eine Rolle spielen, tritt uns die Moglichkeit neuer 

1 ) Redlich, Pathologie der tabischen Hinterstrange-Erkrankungen, 1897. — Ho men, 
Kapitel: Tabes, im Handbuche der pathol. Anatomic des Nervensystems von Jacobsohn 
und Flattau. — Tuczek, Die Pellagra, Berlin, Fischer, 1893. 

► jk *) P. Schroder, Beitrag zur Histopathologie der Tabes, Zentralbl. f. Nervenheilk. u. 
Psychiat., Bd. XXIX, S. 585. 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologrie 
_nnd Neurologin. 


HH 

W 

HStr 



Gesichtspunkte fur die Pathogenesc der Tabes naher. Ober diese Frage sind besondere 
Untersuchungen im Gange. 

Mit Riicksicht auf diesen letzgenannten Befund drangt sich die Frage auf, wo* 
durch wohl diese Auslese der einzelnen Systeme bedingt sein kann. Die RegelmaBig- 
keit, mit der die einzelnen Regionen von den verschiedensten Schadigungen in 
immer derselben Weise befallen werden, zwingt uns an einen gemeinsamen Grund 
zu denken. Die einfachste zugleich grob morphologische Erklarung ware die, daB 
bei einer supponierten Auflosung die diinnsten Fasern sich zuerst auflosen, wahrend 

diedicken am lkngsten einer sol- 
chen Schadigung widerstehen. 
Das beistehende Schema, wel¬ 
ches nachnormalenKaninchen- 


Photogramm III. Kaninchenruckenmark. 24 11 in eigenem 
Blute. Zeifl S. 3, 0,4, i5ofach vergr. Langsschnitt durch 
das Hinterhorn (H.H) und den benachbarten Hinterstrang. 
Die Langbahnen (H.Str.) sind im Hinterstrange sehr stark 
verandert und auf spindel- und kugelformige Reste redu- 
ziert. Dagegen sind die sehr feinen eintretenden queren 
Wurzelfasern (W. F.) gut erhalten. 


sieht man im Hinterstrange oft 
sehr deutlich eine Auflosung. 
entsprechend einem Abschnitte 
des Septum intermedium, dann 
eine Auflosungszone in Form 
eines Zapfens einwarts von der 
Peripherie langs des vorderen 
und hinteren'Septums; auBer- 
dem einen randformigen De- 
fekt als schmalen Streifen. 


riickenmark-Praparaten ange- 
fertigt wurde (Fig. 24, siehe un¬ 
tan), zeigt einen deutlichen 
Widerspruch zwischen der In¬ 
tensity der Schadigung und 
dem Kaliber der einzelnen 
Faserregionen. AuBerdem wi- 
derspricht dieser Annahme das 
Erhaltensein der oft sehr diin- 
nen queren hinteren Fasern 
(Photogramm III). 

An den Praparaten von 
menschlichen Riickenmarken 


Am Kaninchenruckenmark ist die Zerstorung am Rande am allergeringsten, 
dagegen in der Nahe der grauen Substanz am starksten. Hier kann man keinerlei 
Beziehungen zum GefaB- oder Geriistsystem nachweisen. Es liegt daher nahe. 
an einen prinzipiellen Unterschied der Substanz einzelner Faserkategorien zu denken, 
wie er von Hering 1 ) aus theoretischen Griinden postuliert wurde. 

Es ist ja ganz gut denkbar, daB einerseits die ganz mechanischen Zu- und 
AbfluBbedingungen der Lymphe, resp. Zutrittsbedingungen der einwirkenden 
Fliissigkeiten, anderseits die chemische und physikalische Konstitution der Nerven- 
faser, die Zusammensetzung der Markscheide des Achsencylinders fur die Empfind- 
lichkeit gegeniiber diesen Beeinflussungen von Bedeutung sind. 


!) Zur Theoric der Ncrvuntatigkcit, Leipzig, 1S99. 


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B1) * XI i’JL EFT 1/2 PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


245 


Aus den sparlichen Untersuchungen iiber die Physiologie des Kaninchen- 
riickenmarkes konnte man leider keine derartigen Angaben iiber die Funktion 
der hier in Betrdcht kommenden Faserbezirke erlangen 1 ). 

Bei dem reichen Tatsachenmateriale iiber die Funktionen der einzelnen Faser- 
arten des menschlichen Riickenmarkes geben uns die Versuche an solchem Material 
gewisse Anhaltspunkte iiber die Beziehungen zwischen dem kolloidchemischen 
Verhalten und der Funktion. Man kann einerseits annehmen, da8 sich sowohl das 
zentrale, als auch das periphere motorische Neuron, um sich des schulmaBigen Aus- 
druckes zu bedienen, kolloidchemisch untereinander und gegeniiber den sensiblen 
Bahnen ganz anders verhalten, unter denen vvieder die langen von den kurzen 
deutlich verschieden sind; anderseits zeigen wiederum die sogenannten ,,endogenen“, 
d. h. von der grauen Substanz entstammenden oder die absteigenden Bahnen ein 
ganz besonderes Verhalten. 

Die Annahme solcher gesetzmaBiger Unterschiede der einzelnen Fasergruppen 
gewinnt noch sichereren Boden, wenn man bei rein biologischen Vorgangen, wie ihn 
die sekundare Degeneration bei Durchschneidung des Riickenmarkes ahnliche 
Reihenfolgen antrifft. Die ersten Veranderungen zeigt der Gollsche Strang am 
vierten Tag, ebenso der Fasciculus sulcomarginalis und intermedio-lateralis; am 
sechsten Tag die Kleinhimseitenstrangbahn und das Schulzsche Kommafeld, am 
vierzehnten Tag beginnt erst in der Pyramidenseitenstrangbahn deutliche Degene¬ 
ration. In ahnlicher aber umgekehrter Reihenfolge geht die Markscheidenentwick- 
lung der einzelnen Fasersysteme vor sich, wie sie in den Flechsigschen Zonen zur 
Darstellung gelangte 2 . 

Man wird daher berechtigt sein, zwischen den kolloidchemischen 
Eigenschaften, dem Verhalten bei pathologischen Vorgangen und 
schlieBlich der Funktion der einzelnen Fasersysteme feste und be- 
stimmte Beziehungen anzunehmen. 

x ) Woroschiloff, Berichte der k. Gesellschaft der Wissensch., Leipzig, math, physik. 
Cl., Bd. 26, 1874. — Stieda, Studien iiber das zentrale Nervensystem der Wirbeltiere, S. 46ft., 
Leipzig, 1870. — Liideritz, Ober das Ruckenmarksegment, Arch. f. Anatomie (und Physiol.), 
S. 423, 1881. — P. Mayser, Exper. Untersuchungen zur Kenntnis des Kaninchenruckenmarkes, 
Arch. f. Psychiatri und Nervenkrankheiten, Bd. VII, 1877. 

2 ) Hom6n, Worotynski, Schaffer, cit. nach Flatau, Abschnitt: Sekundare Dege- 
nerationen im Handbuche der path. Anat. des Nervensystems von Jacobsohn u. Flatau, 1903. 
— Flechsig, Neurol. Centralblatt, Nr. 2 u. 3, 1890. (Schlufi folgt.) 




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246 


L. HUISMANS. 


Journal f. Psyclioloirie 
und Nmirnloem. 


Antwort an Herrn Karl Schaffer-Budapest. 

Von 

L. H uismans-Coln. 


Z11 der temperamentvollen Kritik, welche Herr Schaffer Bielschowsky und mir im 
^Journal fiir Psychologie und NeuroIogie w , Bd. XI, Heft 1 2 angedeihen laflt, einige kurze 
Bemerkungen: 

Ich habe nicht „in der Hauptsache meinen Wiesbadener Vortrag wiederholt, sondern 
mich gezwungen gesehen, die entscheidenden Ausfiihrungen von B. Sachs (1898 und 1903) 
nochmals wortlich zu bringen, um den Nachweis zu fuhren, dafl Schaffer in der Tat viel 
weiter geht als Sachs und etwas in das Krankheitsbild hineintragen mochte, was ursprung- 
lich nicht in demselben lag. Ich werde in folgendem teilweise ebenso verfahren mflssen. 

Ich gab und gebe zu, dafl die Schafferschen und Sachsschen Falle sich insofern 
von meinem unterscheiden, als makroskopisch in den ersteren keine Veranderungen am 
Gehim vorhanden waren. Mikroskopisch fanden sich aber schon im Sachsschen Falle 
Reste einer Entziindung an den Meningen und im Gehim (Dura adharent, serose Flussig- 
keit bedeutend vermehrt, auflerdem Zeichen einer alten Pleuritis und einer vorgeschrittenen 
parenchymatosen Myocarditis). 

Ich behaupte auch gar nicht, dafl mein Fall mit dem Schafferschen klinisch ganz 
identisch ist, sondern stehe auf dem Standpunkt, dafl mein Fall ein Ubergang von den 
Sachs-Schafferschen infantilen Formen, welche mit Maculafleck einhergehen, meist 
in judischen Familien vorkommen und im 6. Monat beginnen, zu den juvenilen von 
Vogt beschriebenen ist. Eine nochmalige Wiederholung der Griinde mochte ich mir 
ersparen. 

Wenn Schaffer die Veranderungen der Macula fur charakteristisch halt, so steht 
bei dem gegenteiligen Standpunkte von Vogt und mir Behauptung gegen Behauptung. 
In dem Claiborneschen Falle fand sich der charakteristische Fleck bei einem Falle von 
Tuberkel in der Gegend der Vierhugel. Eine mikroskopische Untersuchung fand nicht 
statt. Da erscheint es uns zum mindesten sehr gewagt anzunehmen, „dafl die Herd- 
erkrankung zufallig mit der Sachsschen Form der familiaren amaurosen ldiotie verkniipft 
war“ (Schaffer). Denn es ist ein alter logischer Satz, dafl wir, wenn wir verschiedene Er- 
scheinungen aus einer Ursache erklaren konnen, dies auch wirklich tun mussen. Ich be- 
ziehe also diesen Maculafleck des Claib or neschen Falles logisch auf den Tuberkel. 

Mein anatomischer Bofund entspricht durchaus dem Sachsschen. Zur Charak- 
terisierung der einseitigen Schafferschen Auffassung stelle ich hier Sachs und Schaffer 
wortlich nebeneinander: 


Sachs 1898: 

Die grofien Pyramidenzellen fehlen zum 
grofien Teil in alien Rindenregionen oder 
sind auffallend degeneriert. 

„Weifle Fasern weniger, Tangen- 
tialfasern nirgends nachgcwiesen . . . 
Von Wichtigkeit sind die Degenerationen 


Schaffer 1908: 

„. . . irgend welcher Ausfall der Gang- 
lienzellen fehlt vollkommen.“ 

Schaffer S. 103: 

„Ebenso ist es hochst bezeichnend fiir 
den histopathologischen Prozefl, dafl trotz 
der, besonders bei der Sachsschen Form 


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Bn ' X, iim' KT4 ® ANTWORT AN HERRN KARL SCHAFFER-BUDAPEST. 247 

im Riickenmark, wie sie von Kingdon und hochgradigen endozellularen Erkrankung des 
mir beschrieben wurden, Kingdon halt sie ! Nervensystems die Nervenfasern sich 
fur sekundare. 44 ganz normal verhalten. 44 

Sachs 1903, S. 495: Schaffer S. 104: 

„Geringe Vermehrung der Neuroglia- „. . . mit dem histopathologischen 

zellen im ganzen Zentralnervensystem. In Wesen der familiaren amaurotischen Idiotic 
der Rinde und im Riickenmark kaum eine I ist cine Schrumpfung der Ganglien- 
einzige normale Ganglienzelle zu finden, \ zellen absolut nicht vereinbar 44 . 
oft kann man nur durch die allgemeine 
Kontur erkennen, dafi es sich uberhaupt um 
die Residuen einer Ganglienzelle handelt, | 
die veranderten Zellkorper sind von 
deutlichen perizellularen Raumen 
umringt.. .“ 

Mein Fall wurde klinisch als familiare amaurotische Idiotie anerkannt. Bei der 
Sektion fanden sich neben rachitischen Symptomen (Schadelumfang 48,5 cm, aber ge- 
schlossene Fontanellen) eine chronische Entzundung der Himhaute mit kolossalem Hydro¬ 
cephalus internus ec. 

Gerade dieser Gegensatz zwischen Klinik und Anatomie veranlafite mich zu der Bc- 
hauptung, dafi wir nicht imstande waren, vom klinischen Bild auf den anatomischen Be¬ 
hind zu schliefien. Dazu 

Sachs 1903, S. 497: Schaffer 1908: 

„Dafi es sich um ein leicht erkennbares \ „Ohne Maculabefund kann uns nur die 
Krankheitsbild handelt, ist nicht zu be- Erfahrung, d. h. wenn man schon einige 

zweifeln. Es geht schon daraus hervor, dafi echte Sachs-Falle gesehen hat, vor dia- 

in hiesiger Stadt nicht nur die Neurologen, gnostischen Irrtumern schtitzen." 
sondem auch die Kinderarzte und die all- | 
gemeinen Praktiker gerade diese Gruppe 
mit Leichtigkeit diagnostizieren .1 

Will Schaffer das, was er Vogt, Muhlberger, Heveroch, Roller und mir an 
klinischer Erfahrung einfach abstreitet, im Ernst fur sich allein in Anspruch nehmen? Es 
hat doch auch einmal fur ihn einen ersten Fall von Sachsscher Krankheit gegeben. 

Zweck meiner letzten Veroffentlichungen war der Nachweis, dafi das 
Bild der familiaren amaurotischen Idiotie in das grofie Gebiet der familiaren 
und hereditaren Erkrankungen des Zentralnervensystems gehort und eine 
Abart der Littleschen Krankheit resp. der cerebralen Diplegie ist. Und auf 
diesem Standpunkte stehe ich auch heute, und nicht allein. 

Ich halte es uberhaupt fur unzweckmafiig, immer wieder neue Namen zu schaffen, 
immer wieder Autor und Krankheitsbild zusammenzuschweifien, weil auf diese Weise schliefl- 
lich eine „heillose Konfusion a (Schaffer) entsteht. 


REFERAT. 

Hellpach, Willy, Technischer Fort- 
schritt und seelische Gesundheit. 

Halle 1907. CarlMarhold. 30 S. M. —,75. 

Die Broschure enthalt die akademische 
Antrittsvorlesung Hellpachs an der Karls- | speziell zur Technik, gesprochen und die 
ruher technischen Hochschule. Ein Geleit- j Frage erortert, von welchen Gesichtspunkten 


wort „Vom Bildungswert der. Psychologic 14 
ist der eigentlichen Vorlesung vorangeschickt. 
Darin wird iiber die Beziehungen der Psycho¬ 
logic als Wissenschaft zu anderen Disziplinen, 


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REFERATE. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


248 


aus der Psychologe zu einem Kollegium von 
Technikern reden mufi, um Interesse fur 
Psychologisches zu erwecken. Eine Art von 
praktischer Probe auf die Brauchbarkeit der 
entwickelten theorethischen Ansichten ist 
dann der eigentliche Vortrag. H. fragt: wie 
hat der technische Fortschritt auf die geis- 
tige Gesundheit des Menschen eingewirkt? 
Dafi sich die geistige Gesundheit im Laufe 
der letzten 50 Jahre verschlechtert hat, nimmt 
der Verf. als sicher an, ob mit Recht, ist 
eine immer noch offene Frage; jedenfalls 
ist es nicht richtig, wenn er behauptet, selbst 
die grofiten Optimisten unter den Irrenarzten 
seien dariiber einig, dafi die Zahl der Geistes- 
kranken sich bedenklich vergrofiert habe. 
Etwas anderes ist es bezuglich der Nervosi¬ 
tat, also der leichteren psychischen Anoma- 
Iiem. Als Hauplursachen fur die Zunahme 
der eigentlich geistigen Erkrankungen gibt 
Hellpach Alkohol, Syphilis und kfinstliche 
Kinderemahrung an, wogegen die technische 
Lebensumwandlung dabei weniger wichtig 
sei. Demgegenuber habe an der Zunahme 
der Nervositat die Maschine einen bedeu- 
tenden Anteil. Die Maschine als Verkehrs- 
mittel hat auf seiten des Burgertums eine 
„chronische seelische Uberreizung**, kurzweg 
Nervositat genannt, erzeugt, die moderne 
Arbeitsmaschine aber hat in der proletari- 
schen Volksklasse die Arbeitshysterie ent- 
stehen lassen. Die Art, wie diese beiden 
Erkrankungen entstehen, wird nun im Ein- 
zelnen besprochen, wobei besonders hervor- 
gehoben wird, dafi bei der Entstehung der 
Arbeitshysterie die Ubermudung (durch ode 
Gleichformigkeit der Arbeit bei langer Dauer) 
die Hauptrolle spiele, bei der Nervositat die 
Uberreizung. Das werden wohl manche zu 
bezweifeln geneigt sein, sofem eine Uber¬ 
mudung doch immer zugleich Uberreizung 
ist und umgekehrt Diese ganze Unterschei- 
dungzwischen burgerlicher und proletarischer 
Nervositat ist stark schematise!^ jeder, der 
in der Praxis steht, wird das zugeben. Be- 
achtung verdient dagegen des Verf. Erkla- 
rungsversuch fur die sonderbare Tatsache, 
dafi so viele Arbeiter, trotzdem die Invaliden- 
rente unter alien Umstanden kleiner ist, als 


ihr Verdienst aus ihrer Arbeit, doch von dem 
Wunsche, diese Rente zu erringen, nicht los- 
kommen: durch Loslosung des Arbeiters vom 
Arbeitsziel, durch Unteijochung des Arbei¬ 
ters unters Arbeitstempo hat die Arbeit von 
Millionen jede Spur eines Intellekts- und 
GefQhlswerts verloren. Natiirlich kommt 
dazu noch die Existenzunsicherheit als ver- 
starkendes Moment. Es ware, meint H., 
interessant, statistisch festzustellen, ob zwi- 
schen Unfallshysterie und Arbeitsfreude eine 
statistisch deutliche Gegensatzlichkeit exis- 
tiere. Dafi H. hier die Art unserer Unfalls- 
gesetzgebung nicht mitanfhhrt, ist ein Mangel. 
Aufier den durch den Verkehr und durch 
die Arbeitsmaschine in ihrer seelischen Ge¬ 
sundheit Geschadigten gibt es nun noch eine 
weitere Klasse, bei der die Frage, ob die 
Technik ihnen psychischen Schaden bringt, 
auftaucht: die Klasse der Unternehmer und 
Erfinder. Was die Unternehmer betriflt, so 
ist es, nach H.s Ansicht, sicher, dafi sehr 
viele „captains of industry** aus dem Rahmen 
des seelisch Gesunden von vornherein heraus- 
fallen. Und fur die Erfinder glaubt er so- 
gar den Satz wagen zu diirfen: „dafi es im 
Bereiche seelischen Fortschritts sehr oft, viel- 
leicht meist, am Ende immer, die geistig nicht 
ganz Gesunden gewesen sind, denen der vor- 
warts tragende Wurf gliickte**. Also, mufite 
man mit dem Verf. wohl schlieflen, die beiden 
letztgenannten Menschengattungen werden 
nicht eigentlich durch die Technik in ihrer 
geistigen Gesundheit geschadigt, vielmehr 
bietet sich ihren abnormen Veranlagungen 
in der Technik nur eine besondere Gelegen- 
heit zur Aufierung. Zum Schlusse gibt H. 
noch eine Art Prognose der weiteren Ent- 
wicklung: er hofft, dafi der weitere technische 
Fortschritt dadurch, dafi er immer mehr eine 
Trennung von Arbeitsstatte und Lebensstatte 
ermoglicht, in sich selbst den Balsam ftir die 
Wunden birgt, die er geschlagen hat. Wie 
man sieht, allerlei nachdenkenswerte Ge- 
danken, in einem feuilletonistisch-leichten 
Stil vorgetragen, aber manchmal zu geist- 
reich, als dafi die Wirklichkeit ,Ja“ dazu 
sagen konnte! Mohr-Coblenz. 


C 


3 


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Journal for Psychologie und Neurologie. 


Band XI. 




Heft 6. 


Aus der I. medizinischen Abteilung des Krankenhauses Friedrichshain in Berlin 
(Direktor: Prof. E. Stadelmann). 

Ober einen bemerkenswerten Fall von Hirnblutung 
und fiber Rechenstttrungen bei Herderkrankung des Gehirns. 

Von 

M. Lewandowsky und E. Stadelmann. 

Der folgende Aufsatz besteht aus zwei voneinander fast unabhangigen Teilen, 
der erste behandelt den klinisch bemerkenswerten Verlauf eines Falles von Him- 
blutung, der zweite behandelt ein im Verlauf dieses Falles aufgetretenes Symptom. 

I. 

Der 27jahrige Packer und Expeditor R. wird am 12. IX. 07 in das Kranken- 
haus Friedrichshain aufgenommen. 

Die von dem Kranken erst nach Ablauf der Erkrankung aufgenommene Anamnese 
ergibt, daB der Patient bisher noch nie krank war. Er ist verheiratet, ein Kind ist gesund. 
Lues negiert, kein Potus, kein Bluter. 

Seine Tatigkeit als Expedient in einem groBen Geschaft fur elektrisch-medizinische 
Apparate ist eine ziemlich verantwortungsvoile. Er hat die Boten abzufertigen, ihnen 
die Wege anzugeben, das Geld von ihnen in Empfang zu nehmen und dabei naturlich 
zu schreiben und, wenn auch nicht viel, zu rechnen. 

Seit acht Tagen war es ihm aufgefallen, daB er beim Schreiben von der Linie 
„herunterrutschte“. Hat gemerkt, daB er nicht mehr gut sehen konnte. In diesen 
Tagen auch starke Kopfschmerzen iiber den ganzen Kopf. Kein Fieber. Kein Schwindel. 
Seit drei Tagen bettlagrig zu Hause, fortschreitende Benommenheit und haufiges Er- 
brechen. 

12. IX. Temp. 37,5. Puls 84. In den inneren Organen nichts Abnormes. Sen- 
sorium benommen. Reflexe normal. Schadel klopfempfindlich. Urin ohne Befund. 

14. IX. Temperatur normal. Puls 68. 

16. IX. Lumbalpunktion: Die Fliissigkeit ist bemsteingelb. Druck 98 cm. Deut- 
liche respiratorische und pulsatorische Schwankungen. Nach Ablassen von 2 ccm stellte 
sich der Druck ein auf 60 cm, nach Ablassen von weiteren 3 ccm auf 33 cm, von weiteren 3 
auf 18, von weiteren 4, also im ganzen von 12 ccm, auf 13 cm. EiweiBgehalt nicht ver- 
mehrt. Beiderseits Stauungspapille. Pupillen reagieren prompt. 

18. IX. Leichte Facialisparese rechts. Patient liegt vollig somnolent da mit 
leicht eingezogenem Leib und angezogenen Knien. Zunge dick belegt. Die passiv 
erhobenen Arme fallen schlaff herunter. Klopfen auf der linken Kopfseite starker emp- 

Jouraal fflr Piiychologie und Neurologie. Bd. XI. 17 


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250 


M. LEWANDOWSKY UND E. STADELMANN. 


Journal f. Psychol o^ie 
und Neurologic. 


findlich als rechts. Patient laBt unter sich, schluckt kaum noch. Puls weich und leicht 
komprimierbar zwischen 52 und 80. Verlegung nach der chirurgischen Abteilung (Dir. 
Neumann). Patient wird von diesem noch am 18. punktiert. 

Mit Rucksicht auf die geringe rechtsseitige Facialisparese wird etwa in der Hohe 
des Facialiszentrums links in leichter Chloroformnarkose das Schadeldach durchbohrt 
und in der Richtung nach dem Seitenventrikel punktiert. Auch in der Tiefe, wo sicher 
der Ventrikel getroffen ist, bei mehreren radiaren Einstichen negatives Resultat. Aspira¬ 
tion von Gehirnsubstanz. 

Darauf weiter hinten und zwar etwa zwei Finger breit hinter und ebensoviel uber 
der linken Ohrmuschel Schadel noch einmal angebohrt, und dann nach vorheriger Aspira¬ 
tion von Gehirnsubstanz in einer Tiefe von 3Y2 cm bei leichter Senkung der Nadel unter 
die Horizontale und Wendung nach hinten eine schokoladenbraune Flussigkeit angesaugt, 
die unter ziemlichem Druck nachstromt. Nach Entleerung von 60 ccm dieser Flussigkeit 
Punktion abgebrochen. Aseptischer Verband. Die mikroskopische Untersuchung er- 
weist die entleerte Flussigkeit dem makroskopischen Aussehen entsprechend als reines 
altes Blut. 

19. IX. Das Sensorium fast klar. Patient klagt uber starke Kopfschmerzen und 
lebhaften Durst. Kein AufstoBen oder Erbrechen. Stuhl und Urin werden gut gehalten. 
Von seiten der Hirn- und Ruckenmarksnerven nur leichte Schwache des rechten 
Mundfacialis. 

21. IX. Kopfschmerzen geschwunden. Seitdem der Patient nicht mehr benommen 
ist, laBt sich eine typische Hemianopsie nach rechts (uberschussiges Gesichtsfeld 15 bzw. 
10 °) feststellen. 

26. IX. Punktionsstellen reaktionslos geheilt. Subjektiv vdlliges Wohlbefinden. 
Keine Sprachstor ungen, keine Alexie, Rechenstdrungen (s. II. Teil). Die Stauungspapille 
geht zuriick. 

6. X. Beschwerdefrei. Steht auf. 

10. X. Geheilt entlassen. Hemianopsie besteht noch. 

Ende IV 08 haben wir den Patienten noch einmal untersucht. Er sieht bluhend 
aus, hat seine friihere Tatigkeit wieder aufgenommen, fiallt sie gut aus. Keine Beschwerden 
von seiten des Nervensystems, keine Kopfschmerzen. Eine sehr geringe Hemiamblyopie 
nach rechts besteht noch. Augenhintergrund normal. 

Zusammenfassung: Ein gesunder junger Mensch erkrankt ohne erkenn- 
baren AnlaB mit Sehstorungen und Kopfschmerzen. Die Beschwerden steigem sich 
. im Verlauf von 8 Tagen so, daB Patient jetzt mit schweren Himdrucksymptomen, 
Benommenheit, Erbrechen ins Krankenhaus gebracht wird. AuBer einer leichten 
Facialisparese rechts — auf Hemianopsie kann nicht untersucht werden — bestehen 
keine Herdsymptome. Beiderseitige Stauungspapille, Lumbaldruck von fast 100 ccm 
Wasser, Lumbalfliissigkeit vollig klar. Der Allgemeinzustand verschlechtert sich 
innerhalb der nachsten 6 Tage bis zu volligem Sopor. Es wird die Neissersche 
Punktion ausgefiihrt, welche in der Gegend des linken Occipitallappens 60 ccm 
altes Blut fordert. Darauf rapide Besserung. 2 Tage nach der Punktion ist das 
Sensorium wieder klar. 9 Tage nach der Punktion drangt der Patient auf Entlassung. 
Jetzt kann eine Hemianopsie festgestellt werden, die dann allmahlich zuriickgeht. 
6 Monate danach kann die Fortdauer volliger Heilung festgestellt werden. 

In diesem Krankheitsverlauf sind folgende Punkte bemerkenswert : 

1. Das spontane Auftreten einer Blutung in der Schadelhohle bei 
einem gesunden j ungen Menschen von 27 Jahren. In der Tat hat bei dem 
Kranken keine andere innere Erkrankung vorgelegen, und auch subjektiv hatte 
er sich niemals in seinem Leben krank befunden. Potus war vollig auszuschlieBen, 
und auch fur Lues lag gar kein Anhaltspunkt vor. Der Patient war kein Bluter. 


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1908. 


EIN BEMERKENSWERTER FALL VON HIRNBLUTUNG. 25 1 


Er wuBte nichts von irgendeinem Unfall. Auch ist es (lurch den Verlauf — die 
vollige Heilung durch die einmalige Punktion ohne jede andere (etwa spezifische) 
Behandlung — auBerst unwahrscheinlich geworden, daB, wie man zunachst wohl an- 
nehmen konnte, hier ein anderes Himleiden, etwa ein Himtumor vorliegen konne, 
das erst sekundar zu einer Blutung gefiihrt hatte. Gegen eine entziindliche Er- 
krankung spricht der nicht nur vollstandige, sondem auch zauberhaft schnelle 
Erfolg der Punktion (sofortiges Aufhoren der Kopfschmerzen, Herstellung des 
BewuBtseins usw.). Ab und zu, wenn auch auBerst selten, sehen wir eben doch 
auch durch die Obduktion bestatigte Himblutungen bei jungen, anscheinend ge- 
sundenMenschen ohne jede nachweisbare praexistierendeVeranderung derGefaBwand. 

2 . Wenn es ganz sicher ist, daB es sich in unserem Falle um eine intrakranielle 
Blutung gehandelt hat, so diirften auch nur geringe Zweifel bestehen dariiber, 
daB wir es mit einer echten Hirnblutung, nicht mit einem duralen Hamatom 
bei Pachymeningitis interna zu tun hatten. Denn die Punktionsnadel traf den Blut- 
herd erst in einer Tiefe von 3^2 cm, nachdem vorher Gehimsubstanz angesaugt 
worden war. Man miifite sich schon eine ganz merkwurdige Gestaltung eines von 
der Dura ausgehenden Blutherdes und eine ganz unregelmaBige Verdrangung des 
Gehims durch ihn denken miissen, um zu erklaren, daB die Nadel erst nach Durch- 
bohrung von 3V2 cm Gehimsubstanz in das Hamatom gelangt. Tatsachlich sind die 
Hamatome bei Pachymeningitis aber immer flach ausgebreifet. Khnisch sprach, 
wie schon bemerkt, gegen eine Pachymeningitis hsemorrhagica das Fehlen jeder 
erkennbaren Ursache, der Umstand, daB die Spinalfliissigkeit ganz klar, nicht 
sanguinolent war, und endlich der Dauererfolg der einmaligen Punktion. 

3. Sehr auffallend war nun allerdings der klinische Verlauf dieser Blutung: 
keine Spur eines Ictus, vielmehr ganz allmahliche Entwicklung ohne initiale Be- 
wuBtseinsstorung, und zwar mit Sehstorungen, die wohl eine Hemianopsie waren, 
die aber den Kranken an der Arbeit tagelang nicht hinderten, und Kopfschmerzen, 
die sich allmahlich verstarkten. Darauf dann eine wahrend 14 Tagen dauernd zu- 
nehmende Benommenheit mit Erbrechen. Es kann nicht geleugnet werden, daB 
dieser Verlauf im allgemeinen einer Pachymeningitis haemorrhagica, die wir aber 
aus den genannten Griinden trotzdem ausschlieBen mochten, viel mehr entspricht, 
als einer Hirnblutung. Die weitere klinische Beobachtung lehrte dann, daB die 
schweren Allgemeinsymptome die Zeichen eines Hirndruckes waren, dem entsprach 
die Stauungspapille und der enorme Druck der Cerebrospinalflussigkeit von 980 mm. 
Der Verlauf der Lumbalpunktion war insofem bemerkenswert, als das Ablassen 
sehr geringer Quantitaten Fliissigkeit auBerordentliche Abfalle des Druckes ver- 
ursachte, schon nach AbflieBen von 5 ccm war der Druck von 980 auf 330 mm ge- 
sunken, und nach AbflieBen von im ganzen 12 ccm auf 130 mm. Das ist nicht das 
Gewohnliche beim Tumor; bei einem solchen und ebenso beim Hydrocephalus wiirde 
man sehr viel mehr ablassen miissen, um solche Druckdifferenzen zu bewirken. 
Es scheint in der Tat, daB eine wesentliche Zunahme der Menge der Cerebrospinal¬ 
flussigkeit in unserem Falle gar nicht best and, sondem daB der Dfuck in der Haupt- 
sache nur von dem Orte der Blutung fortgeleitet war. Das Blut selbst muB sich in 
einem abgeschlossenen Raum befunden haben, in welchem ein hoher Druck herrschte, 
ein Druck, der natiirlich nur durch das Nachstromen von Blut aus dem blutenden 
GefaB in diesen Hohlraum geschaffen sein konnte. Wenn man bedenkt, daB bei der 

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Punktion 60 ccm alten fliissigen Blutes unter ziemlichem Druck sich entleerten, 
so diirfte es leicht begreiflich sein, da8 dieses Blut, welches erstens einen seiner 
Menge entsprechenden Raum dem Gehirn im Schadel wegnahm, und welches zweitens 
durch seine innere Spannung nun noch einen erheblichen Druck ausiibte, zu der 
Ausbildung eines Hirndruckes fiihren konnte. Wenn es sich also um eine Him- 
blutung handelte, so miissen allerdings in unserem Falle sehr ungewohnliche Be- 
dingungen an der Stelle der Blutung vorhanden gewesen sein; denn die Ausbildung 
eines erheblichen Hirndrucks bei Hirnblutung gehort zu den groBten Seltenheiten. 
Uber direkte Messung eines erheblich erhohten Hirndrucks durch Lumbalpunktion 
bei Hirnblutung ist iiberhaupt nichts bekannt. Was die Stauungspapille betrifft, 
so lassen es Wilbrand und Saenger 1 ) noch zweifelhaft, ob iiberhaupt eine solche 
bei Hirnblutung ohne begleitende Nephritis vorkame. Nonne 2 ) hat jedoch in 
neuester Zeit zwei Falle von Hirnblutung mit Stauungspapille mitgeteilt und auch 
dabei betont, daB eine direkte Einwirkung auf den Optikus durch die Blutung 
nicht notwendig zur Erklarung der Stauungspapille angenommen werden brauche. 
Von einer solchen direkten Einwirkung kann wohl auch in unserem Falle keine 
Rede sein, da die Stauungspapille hier nachgewiesenerrnaBen nur das eine Symptom 
des enormen Hirndrucks war. Zum Zustandekommen eines dauernden Hirndrucks 
bei Hirnblutung wird es notig sein, daB das Blut sich nicht, wie gewohnlich, weithin 
in und zwischen das Gewebe ergieBt, sondern daB es einen abgeschlossenen Raum 
findet, den es ausfiillt. Zweierlei Moglichkeiten erscheinen hier denkbar: Entweder 
konnte man bei dem ganz auBerordentlich langsamen schleichenden Beginn der 
Blutung in unserem Falle allenfalls daran denken, daB sich schon friih eine reaktive 
Zone um die Blutung zu bilden anfangt, die durch die Zunahme der Blutung dann 
nicht mehr gesprengt wird. Viel wahrscheinlicher erscheint es aber, daB ein solcher 
Hohlraum zustande kommt, wenn die Blutung von vornherein nicht in die Gehim- 
substanz selbst, sondern entweder direkt in eine praformierte Cyste oder aber in 
der Tiefe irgendeiner Furche in die Maschen der Arachnoidea-Pia erfolgt, und nun 
bei langsamer Zunahme der Blutung hier Verklebungen sich bilden, welche die 
flachenhafte Ausbreitung der Blutung verhindem. Dann wiirde es sich natiirlich 
auch erklaren, wie an einer Stelle 3 1 / 2 cm Gehirndicke liber dieser Blutung liegen 
konnen. Auch das Fehlen einer Blutbeimengung zur Lumbalfliissigkeit — das 
Lumbalpunktat war wie erwahnt klar und frei von Blut — ist nur erklarbar 
durch vollstandigen AbschluB der Hamorrhagie, so daB das Blut nicht mit dem 
Subarachnoidalraum kommunizieren konnte. Die so weitgehende Restitution 
auch der Hemianopsie spricht iiberdies dafiir, daB das Gehirn nicht in dem Mafie 
zerstort war, wie es dem Austritt von 60 ccm Blut entsprechen wiirde, sondern im 
wesentlichen nur verdrangt war. Ganz aufgeklart wird der Fall, da er ohne genaue 
Lokalinspektion zurHeilung gekommen ist, ja nicht werden. Wir mochten auch be- 
merken, daB wir mit absoluter Bestimmtheit ein subdurales Hamatom, bzw. 
Pachymeningitis haemorrhagica interna nicht ausschlieBen konnen. Klinisch diirfte 
er wegen all der erwahnten Besonderheiten Interesse verdienen 3 ). 

*) Neurologie des Auges. 

2 ) Neurol. Centralbl. 1906. S. 425. 

3 ) In der Diskussion auf dem wissenschaftlichen Abend des Krankenhauses Friedrichshain 
erwahnte Hr. Axhausen aus der Kieler chirurgischen Klinik einen Fall, welcher eine Unfall- 


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EIN BEMERKENSWERTER FALL VON HIRNBLUTUNG. 253 


4. Vielleicht am merkwiirdigsten in dem klinischen Verlauf ist aber die Fest- 
stellung des Blutherdes und die Heilung durch die Neissersche Gehirnpunktion. 
Eine genaue lokalisierende Diagnose war vor der Punktion wegen der Benommenheit 
des Kranken nicht zu stellen; nur die rechtsseitige Facialisparese’deutete auf die 
linke Gehimseite, und da schwerere motorische Erscheinungen nicht bestanden, so 
konnte man nach dem Versagen der Punktion in der Facialisgegend wohl vermuten, 
daB der Herd eher nach hinten sich befinden wfirde, wo er dann im Occipitallappen 
gefunden wurde. Ohne die Neissersche Punktion ware der Herd in diesem Fall 
nicht ermittelt worden, da fur eine Trepanation iiber dem Occipitallappen angesichts 
der Benommenheit des Kranken keine geniigende Indikation vorhanden gewesen 
ware. DaB nicht nur der Sitz, sondern auch die Art des Herdes, als einer Blutung 
ohne die Punktion nicht zu durchschauen war, geht schon aus dem oben fiber die 
Seltenheit dieser Erkrankung unter den in dem vorliegenden Falle bestehenden 
Verhaltnissen hervor. 

Indem sie die Diagnose feststellte, bewirkte die Neissersche Punktion in 
unserem Falle zugleich die Heilung. Es dfirfte der unsere, soweit wir die Literatur 
iibersehen, wohl der erste Fall sein, in welchem durch die einmalige Entleerung 
eines intrakraniellen Blutergusses mittels Neisserscher Punktion eine dauernde 
Heilung erzielt worden ist. Aus der Krankengeschichte diirfte hervorgehen, daB 
der letale Ausgang ohne die Punktion als ganz sicher angenommen werden kann. 
Da aber der Erfolg der einfachen Punktion ein so augenblicklicher und in die Augen 
fallender war, lag gar kein Grund vor, der Punktion die Trepanation folgen zu 
lassen, und die Dauer des Erfolges hat die Richtigkeit dieses Vorgehens bestatigt. 

II. 

Ehe wir auf die bei unserem Kranken beobachtete Rechenstorung eingehen, 
sollen einige all gem eine Bemerkungen iiber die Fahigkeit des Rechnens und ihre 
Storungen vorausgeschickt werden. 

Die Fahigkeit des Rechnens gilt im allgemeinen als ein MaBstab der 
Intelligenz unter Beriicksichtigung natfirlich der individuell erlangten Erziehung 
und Obung. Unter Inrechnungstellung dieses letzteren Faktors wird daher die 
Rechenfahigkeit auf psychiatrischen Kliniken ziemlich allgemein als Methode der 
Intelligenzpriifung angesehen und verwandt. 

Es ist dann vor kurzem von P. Marie betont worden, daB Aphasische 
gewohnlich nicht und immer nur schlecht rechnen konnen, und Marie hat 
diese Tatsache im Sinne seiner bekannten Anschauung verwertet, daB auch die 
Aphasie eine Intelligenzstorung sei. 

Wenn schon die Theorie P. Maries fiber die Aphasie der modernen und be- 
rechtigten Entwicklung zuwiderlauft, welche dahin geht, alle sogenannten Intelligenz- 
storungen in ihre Elemente aufzulosen, die Intelligenz gewissermaBen zu 

anamnese hatte. Der Kranke litt anfallsweise an Kopfschmerzen, Druckpuls und BewuBt- 
losigkeit. Er wurde trepaniert und nach der Trepanation wurden mit der Punktionsspritze 
aus einem Hohlraum im Bereich des rechten Schlafenlappens aus einer Tiefe von 3—4 cm 15 ccm 
alten Blutes entleert, worauf dauernde Heilung eintrat. Der Unfall lag 1 Jahr zuriick. Dieser 
Fall beweist also jedenfalls, daB im Gehirn sich fliissiges Blut sehr lange halten, daB ein solcher 
BluterguB zu schweren Storungen fiihren kann, und daB diese Storungen durch Entleerung des 
Blutes beseitigt werden konnen. 


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und Neurologic. 


parzellieren, so ist ihm auch, was die Rechenstorungen bei der Aphasie betrifft, 
schon von Liepmann und Heilbronner 1 ) entgegengehalten worden, dab der 
Grad der Rechenstorung bei der Aphasie ein individuell verschiedener sein konne. 
Dieser letzteren Feststellung wird sich jeder anschlieBen miissen, der eine Reihe 
von Aphasischen auf ihre Rechenfahigkeit hin untersucht hat. Es bestehen 
hier in der Tat bei in bezug auf den sprachlichen Symptomenkomplex 
durchaus nicht sehr verschiedenen Fallen groBe Differenzen mit Bezug 
auf das Rechnen. Es diirften sich diese Unterschiede am leichtesten erklaren 
durch die Annahme, daB das Rechnen, das Umgehen mit Zahlen, in individuell 
verschiedenem MaBe abhangig ist von den Worten, insbesondere den 
Zahlworten. Auch Liepmann 2 ) hat auf die Wichtigkeit des Zahlwortes fur 
das Rechnen besonders aufmerksam gemacht. Aber diese Wichtigkeit des Zahl¬ 
wortes diirfte eben eine individuell verschieden groBe sein. Wer in Zahl¬ 
worten oder mit Benutzung von solchen rechnet, dem wird die Stoning des Sprach- 
werkes eine schwere Schadigung auch fur das Rechnen sein. Was die motorische 
Aphasie betrifft, so ist es moglich, daB die Bedeutung des motorischen Sprach- 
zentrums hier eine ahnliche ist wie fur das Lesen. Wie die Vernichtung des motori¬ 
schen Sprachzentrums meist eine Aufhebung der Lesefahigkeit herbeifiihrt, weil 
zwischen dem Lesen und der motorischen Sprache ein im einzelnen nicht ganz auf- 
geklarter und vielen Menschen auch subjektiv durchaus unbewuBter Zusammen- 
hang besteht, so konnte eine Beziehung gleicher Art auch zwischen motorischem 
Sprachzentrum und Rechnen bestehen. Bei sensorisch Aphasischen kann man 
sich oft mit aller Klarheit davon iiberzeugen, wie insbesondere das Haftenbleiben 
an Zahlworten das Rechnen stort und manchmal unmoglich macht. Denn es be¬ 
steht hier sehr wahrscheinlich eine Beziehung in doppelter Richtung zwischen dem 
RechenprozeB und dem Sprachzentrum. Beim Rechnen, auch beim leisen Rechnen, 
werden Zahlworte wachgerufen. Das richtige und gewandte Rechnen, insoweit es 
iiberhaupt mit Hilfe des Sprachzentrums erfolgt, ist dann davon abhangig, daB 
der Rechnende frei iiber das Sprachzentrum verfiigt, daB er die Zahlworte in der 
dem Rechenvorgang gemaBen Weise sich einander folgen und ablosen lassen, daB 
er sie festhalten und zuriickdrangen kann. Bleibt etwa ein Zahlwort zu lange haften, 
indem es also innerlich zu lange erklingt, so stort es riickwarts den eigentlichen 
begriffliohen Rechenvorgang; wenigstens leuchtet es ein, daB jemand, in dem innerlich 
etwa ,,fiinf“ erklingt, sehr schwer mit 6 und 7 rechnen kann, weil sich das „fiinf“ 
immer in seine Rechenversuche hineindrangt. Wenn man einmal diese Stoning 
des Rechnens durch Insuffizienz des Sprachzentrums bei der sensorischen Aphasie 
zugibt, so ist das Haftenbleiben natiirlich nicht der einzige schadliche Faktor, 
ebenso schadlich ist das Vergessen der Zahlworte und das Auftauchen ungerufener 
Zahlworte. Es sind das keine theoretischen Spekulationen, sondern man kann diese 
Mechanismen und ihre Storungen bei entsprechenden Fallen von Aphasie praktisch 
verfolgen 3 ). 

A ) Allg. Zeitschr. f. Psychiatric. LXIV. S. 459. 

2 ) Mcdizinischc Klinik. 1907. Nr. 25/26. 

3 ) Eine besondere Art von Rechenstorung kann bei Aphasischen dadurch zustande kom- 
men, dab sie den Sinn der Rechenzeichen nicht mehr auffassen. (Lewandowsky, fiber eine 
als transkortikale sensorische Aphasie gedeutete Form aphasischer Storung. Zeitschr. f. klin. 
Mediz. 1907. Bd. 64. Hft. 314.) 


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In dem Falle nur, in dem das Rechnen sich vom Sprachzentrum ganz unab- 
hangig gemacht hat, ohne innere Sprache vonstatten geht, wiirde eine Stoning des 
Sprachwerkes das Rechnen gar nicht beeintrachtigen. Die Moglichkeit, daB eine 
solche Unabhangigkeit einmal vorkommt, wird nicht zu leugnen sein. Insbesondere 
diirfte das Operieren mit Zahlen von vomherein als den optischen Funktionen 
nahestehend betrachtet werden; geben doch einzelne Menschen an, daB sie beim 
Rechnen die Aufgabe innerlich vor sich sehen; ob ein rein begriffliches Rechnen 
moglich ist, bleibe hier dahingestellt. Aber ob auch nur eine absolute Unabhangig¬ 
keit des Rechnens von der Sprache vorkommt, erscheint uns schon zweifelhaft. 
Sehr wahrscheinlich jedoch ist, daB sich die individuell verschieden schweren Rechen- 
storungen bei gleichem Grade von Aphasie durch die groBere oder geringere Wichtig- 
keit erklaren, welche fur den einzelnen die Sprachzentren beim Rechnen haben. 
Diese Annahme wiirde dann eben zugleich die andere enthalten, daB das Rechnen 
nicht allein durch die Tatigkeit der Sprachzentren geleistet wird, und daB daher 
noch andere Faktoren fiir das Rechnen aufgefunden bzw. aus der allgemeinen 
„Intelligenz“ losgelost werden miissen; vielleicht ist unser Fall geeignet, zur Kennt- 
nis dieser anderen beim Rechnen ins Spiel tretenden Funktionen und Himteile etwas 
beizutragen. 

Bei unserem Kranken nun wurden wir auf die Rechenstorung, da er 
vorher benommen gewesen war, erst wahrend der Rekonvaleszenz aufmerksam, 
und zwar zuerst am 24. IX., als das Sensorium fast vollig frei, und auch die Hemi- 
anopsie nach rechts schon genau festzustellen war. Unsere genaueren Aufzeichnungen 
dariiber erstrecken sich vom 26. IX. bis zum 9. X.; dann haben wir den Kranken 
noch einmal am 20. X. gesehen und im wesentlichen den gleichen Befund wie am 
9. X. erhoben. Wahrend der Beobachtungszeit aber hatten sich die Rechenstorungen 
schon nicht unerheblich gebessert, deshalb und in Anbetracht der Kiirze der Be¬ 
obachtungszeit werden wir auf die Wiedergabe der Protokolle verzichten, sondem 
den Tatbestand im Zusammenhang darzustellen versuchen. Auch spater, im April 
1908, hatten wir den Kranken noch einmal zu untersuchen Gelegenheit, er zeigte 
immer noch, wenn auch unbedeutende Storungen in der gleichen Richtung wie 
vorher; wir werden auf diesen spateren Befund nicht mehr eingehen. 

Wir wissen sehr wohl, daB die Kiirze der Beobachtungszeit und die Besserung 
wahrend derselben manchen Leser gegen die ganze Storung miBtrauisch machen 
wird. Denn oft hort man, daB nur dauernde Storungen von wesentlichem Wert fiir 
die Pathologie sind. Demgegeniiber sind wir 1 ) iiberzeugt, daB dieser Standpunkt 
ein prinzipiell falscher ist, und daB es weiter gerade in der Natur der hoheren, d. h. 
komplizierteren Funktionen, zu denen unzweifelhaft das Rechnen schon gehort, 
liegt, daB sie nicht so scharf lokalisiert sein, und daB sie demnach auch nicht so 
dauemd ausfalien konnen wie niedere Funktionen. Bei diesen komplizierteren 
Funktionen wird die anfangliche Storung durch Wiederherstellung alter oder Schaf- 
fung neuer Assoziationen viel eher wieder ersetzt werden konnen, als bei den ele- 
mentaren Funktionen. Es bedeutet schon ein besonderes Gliick, wenn man einmal 
auch nur fiir wenige Tage eine isolierte Storung einer solchen komplexen Funktion 
zur Beobachtung bekommt. 

*) Vgl. daruber Lewandowsky, Lehrbuc^i der Funktionen des zentralen Nervensystems. 
Jena 1907. S. 357 / 3 $^ 


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und Neurologic. 


Allerdings muB eben die Isolierung dieser Storung durch eine moglichst 
eingehende Untersuchung der anderen Funktionen gesichert sein. Was daher zu- 
nachst den Allgemeinzustand und die sogenannte Intelligenz des Kranken 
wahrend der bezeichneten Zeit betrifft, so war er schon am 26. IX. in keiner Weise 
mehr benommen, er war iiber Ort und Zeit genau orientiert. Er gab sein Alter, 
seinen Geburtstag, die Zeit seiner Verheiratung richtig an, nur auf die Frage nach 
dem Datum sagte er „der 25. XII., nein wir haben ja erst den neunten Monat“. 
Die iiblichen Intelligenzpriifungen, die am 26. und 27. IX. vorgenommen wurden, 
ergaben folgendes: 

Farbe der gebrauchlichen Marken: -f 
Name des Kaisers: Friedrich Wilhelm II. 

Deutsch-franzosischer Krieg: -f 
FluB, der durch Berlin flieBt: + 

FlieBt wohin: + 

ZusammenfluB wo: -f 
U nterschiedsf rage n: 

Teich und FluB: + 

Leiter und Treppe: „Sprossen, Stufen". 

Geiz und Sparsamkeit: „G. traut sich nichts auszugeben, S. haltalles zusammen". 
Bitten und Betteln: ,,Bitten anstandig". 

Mord und Totschlag: o. 

Wochentage aufsagen: + , ruckwarts: +. 

Monate aufsagen: +, ruckwarts: + . 

Bedeutung von Weihnachten: -f, von Ostern: o. 

Jetziger Reichskanzler: o, (Bismarck, Caprivi, Bulow?) „Bulow.“ 

Parteien im Reichstag: „Das weiB ich nicht", dann: .,Sozialdemokraten und Frei- 
sinnige." 

Sind Sozialdemokraten in der Regierung: „Da bin ich sehr unsicher drin.“ 

(Was wurden Sie tun, wenn Ihnen etwas gestohlen wiirde?) -{- 
Patient, der vor zwei Jahren eine Ubung derart mitgemacht hat, ist imstande, 
in alien Einzelheiten die Anlegung eines Notverbandes und die Behandlung eines vom 
Hitzschlag Getroffenen anzugeben. 

Die Masselongsche* Probe (Bilden von Satzen aus einzelnen gegebenen Worten) 
wird wie von einem Normalen ausgefiihrt. 

Angefangene Nebensatze w r erden sinnentsprechend vervollstandigt. 

Patient kann die StraBen der Stadt und die zweckmaBigen Verbindungen inner- 
halb der Stadt sehr genau angeben. 

Seine Merkfahigkeit fur die Vorgange im Krankensaal war eine ausgezeichnete. 

Es ist nicht alles protokolliert worden, was mit dem Kranken gesprochen 
wurde. Es geht aber aus dem, was notiert wurde, hervor, und der allgemeine Ein- 
druck bestatigte es, daBdas, was man im allgemeinen Intelligenz nennt, bei dem 
Kranken intakt war. Einzig die Moglichkeit kann man zugeben, daB die mangel- 
hafte Kenntnis einiger historischer und zeitgeschichtlicher Daten und Tatsachen 
einen Ausfall bedeuteten. Sicher ist es auch nicht deswegen, weil der Kranke angab, 
daB er sich um diese Dinge niemals kiimmere. Es ist femer besonders zu bemerken, 
daB der Kranke schon am 26. IX. spontan zu seiner Cbung einen langen Lieferungs- 
zettel ausschrieb, wie er ihn als Expeditor zu schreiben gewohnt war, und in dem 
Name und Adresse der Kunden, wie auch Angabe und Preis der verschiedenen 
Apparate fehlerlos angegeben waren. Der Kranke fiihlte sich auch am 26. IX. 
schon subjektiv so wohl, daB er auf Entlassung drangte. 




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BD ' X I9« BFT 6 EIN BEMERKENSWERTER fall von hirnblutung. 257 


An das Bestehen der Hernia no psie sei noch einmal erinnert. 

' Was die Sprachfunktion betrifft, so war Expressivsprache und ebenso 
Wortverstandnis bei entsprechender Priifung vollig intakt. Auch Storungen der 
Wortfindung waren selbst bei schwierigen Worten nicht direkt nachweisbar, in- 
dessen sei nicht unterlassen zu erwahnen, daB der Kranke selbst angab, es kame 
ihm vor, als wenn er nicht mehr so schnell und gelaufig sprechen konne und manchjnal 
Worte nicht so schnell finde wie friiher. Schreiben und Lesen war erhalten, das 
Lesen nur durch die Hemianopsie etwas erschwert, aber durchaus nicht im Sinne 
einer Alexie. Auch lange sinnvolle Satze konnte er gut wiederholen, auch schwierige 
und unbekannte Worte sprach der Kranke sehr gut nach, nur die Merkfahigkeit fur 
solche ihm unbekannten Worte, wie z. B. Artaxerxes, erwies sich als herabgesetzt. 
Fiir ihm bekannte, wenn auch schwere Worte, wie z. B. Zystoskop, war sie gut. 
Die Storungen der Lautsprache und auch der Schriftsprache im gewohnlichen 
Sinn konnen also wohl fiir die Rechenstorungen eine zureichende Erklarung 
nicht geben. 

Inwieweit dagegen die nun folgenden Storungen, die auch noch auf dem Gebiete 
der Sprache liegen, mit den Rechenstorungen in Zusammenhang zu bringen sind, 
darauf wird spater zuriickzukommen sein. Es fanden sich namlich leichte Storungen 
schon beim lautlichen Buchstabieren und noch mehr bei der lautlichen Bil- 
dung von Worten aus dem Kranken genannten Buchstaben. Einfache 
und kurze Worte buchstabierte er richtig (z. B. Tisch, Braut, saufen usw.), bei 
langeren aber machte er fast immer Fehler. So buchstabierte er Krankenkaus fiir 
Krankenhaus, Buchtelter fiir Buchhalter, Seibzeug fiir Schreibzeug. 

Viel schwieriger noch war fiir ihn das Zusammensetzen von Worten aus ihm 
genannten Buchstaben. Kurze Worte, wie Sarg, Bad, Hut gingen zwar, aber schon 
Worte wie Krone, machten ihm die allergroBten Schwierigkeiten, er miihte sich mit 
„Krog“ und ,,Krong“ ab, sagt ,,es fallt mir furchtbar schwer" und bekommt es nicht 
heraus. Fiir Brett sagt er zuerst ,,Bert“, fiir Lage ,,Laden“. Nach einer Woche, 
am 2. X„ war diese Funktion besser, aber einigermaBen schwierige Worte, wie 
Hochzeit, Sauberkeit usw., gelangen ihm doch noch durchaus nicht. Das Buch¬ 
stabieren war um diese Zeit fast vollig wiederhergestellt. 

Wenn man die Buchstaben, anstatt sie dem Kranken nacheinander zu ne n nen, 
ihm nacheinander zeigte, indem man sie hinter einem in einen Karton geschnitteiien 
quadratischen Loch vorbeifiihrte, waren die Leistungen etwas besser, wenn auch 
noch immer nicht ganz normal. 

Wir kommen nun zum Verhalten des Kranken Zahlen gegeniiber. 
Hier ist zunachst zu betonen, daB der Kranke eine groBe Reihe von Zahlen, die 
in fester Beziehung zu anderen Dingen standen, auswendigwuBte. Er konnte 
nicht nur nach den iiblichen Fragen nach der Zahl der Tage im Jahr usw. richtig 
antworten, er kannte auch die Hausnummern einer groBen Anzahl Berliner Arzte, 
mit denen sein Geschaft in Verbindung stand, und er konnte auf die Frage, mit 
welcher StraBenbahn man von seinem Geschaft nach einer beliebigen Gegend der 
Stadt komme, durchweg die richtige Nummer nennen — die er ja in seiner Tatigkeit 
den Unterangestellten anzugeben hatte. 

Weiter las er ihm aufgeschriebe ne Zahlen ohne weiteres laut und richtig 
auch 6- und 7stellige. 


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and Neurologic. 


Aufgefordert, ihm als ganze, also wortmaBig, diktierte Zahlen nieder- 
zuschreiben, machte er bei mebr als sstelligen Zahlen vereinzelte Fehler, schrieb 
aber auch im allgemeinen noch 7stellige Zahlen richtig. Ebenso konnte er als 
ganze vorgesprochene Zahlen gut wiederholen. 

Ein sicherer, wenn auch nicht sehr erheblicher Defekt zeigte sich bei der 
sprachlichen Wiederholung einer ihm vorgesagten Reihe von Ziffern. 
Sicher vermochte er nur 5 Ziffern nacheinander zu wiederholen, bei 6 machte er 
meist und bei 7 immer Fehler. Auch das Wiederholen von 5 ging schon auffallend 
langsam; da in der Norm 7 bis 8 Ziffern mindestens wiederholt werden konnen, ist 
das also eine Minderleistung. Zu erwahnen ist noch, daB, was sehr selten vorkommt, 
der Kranke beim Wiederholen von Ziffern sich nicht nur in den einzelnen Ziffern, 
sondem auch in der Zahl der Ziffern in der Weise irrte, daB er mehr als die ihm 
genannte Anzahl von Ziffern nannte (z. B. fur 918 743: 9 187 349). 

Ein weiterer Defekt war festzustellen bei der Aufgabe, eine vorgesagte 
Zifferreihe umgekehrt aufzusagen. Schon 3stellige Zahlen gingen sehr 
langsam und 4stellige gar nicht mehr, oder sie wurden falsch umgestellt (z. B. 2619 
bei 9126, 813 bei 1358. 

Ganz auffallig war nun schon die folgende Stoning, daB der Kranke nicht 
oder nur sehr schlecht imstande war, einzelne vorgesprochene Ziffern 
zu Zahlen zu vereinigen. Schon zwei Ziffern, z. B. 2,9 (29), machten hier die 
entschiedensten Schwierigkeiten und wurden manchmal nicht herausgebracht. Die 
Aufgabe, 3 Ziffern als Zahl zu nennen, bezeichnet Patient als „furchtbar schwer", 
versagt oft, oder lost sie falsch. Auf die Frage, warum er das nicht oder so schlecht 
konne, antwortete er regelmaBig; „Das muB ich mir erst vorstellen “ oder „das 
habe ich mir erst geschrieben vorstellen miissen, und das dauert so lange“ 
oder Ahnliches, und nun gab der Kranke dieselbe Deutung auch fiir seine Unfahigkeit, 
eine ihm genannte Ziffernreihe umgekehrt aufzusagen. Auch diese miisse er sich 
erst geschrieben vorstellen, das mache ihm die Schwierigkeit. Wenn man, anstatt 
dem Kranken die Zahlen nacheinander zu nennen, sie ihm nacheinander zeigte, 
so wurden die Leistungen wohl etwas, aber nicht sehr erheblich besser und blieben 
durchaus hinter der Norm zuriick. 

Wenn wir das bisher liber das Verhalten des Kranken Zahlen gegeniiber Er- 
mittelte zusammenfassen, so hatten wir neben einem sehr guten Gedachtnis 
fiir von friiher ihm bekannte einzelne Zahlen eine geringe Storung der 
Merkfahigkeit fiir eine Reihe von Ziffern und einen Defekt in der 
Richtung, daB der Kranke nur schwer oder nicht imstande war, ihm 
nacheinander genannte oder gezeigte Ziffern als Zahlen aufzufassen 
undinihremWertalsZahlenauszusprechen. AlsGrunddieserletzteren 
Storung findet der Kranke selbst spontan das Unvermogen, sich die 
ihm genannten Zahlen geschrieben vorzustellen. Wir werden dem Kranken 
wohl hier glauben diirfen; denn die Selbstbeobachtung diirfte den meisten Menschen 
ergeben, daB bei der erwahnten Aufgabe die optische Vorstellung der genannten 
Ziffer eine groBe Rolle spielt oder unentbehrlich ist. DemgemaB ist es sehr ein- 
leuchtend, daB eine Storung der optischen Reproduktion von Zahlen, auch wenn 
sie, wie bei unserem Kranken, keine vollstandige Aufhebung darstellt, das Zusammen¬ 
fassen von Ziffern zu Zahlen sehr erschweren muB. Auch daB das Sehen der ein- 


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BD. XI, HEFT 6 
190& 


EIN BEMERKENSWERTER FALL VON HIRNBLUTUNG. 259 


zelnen Ziffem nacheinander die Aufgabe erleichterte, ohne sie aber ganz zu er- 
moglichen, ist leicht verstandlich, da mit der Ubertragung aus dem sprachlichen in 
das optische Gebiet zwar eine, aber nicht die essentielle Schwierigkeit gegeben war. 
Die bisher erwahnten Storungen konnen also im wesentlichen zuriickgefiihrt werden 
auf eine Storung der optischen Reproduktion von Zahlen. 

Hier ist nun die Frage einzuschieben, ob die Storung der optischen Reproduk¬ 
tion sich auf die Zahlen beschrankt oder auch auf andere optische Symbole sich 
erstreckt. Zur zeichnerischen Wiedergabe komplizierterer Gegenstande war der 
Kranke nicht zu bewegen; er behauptete, das habe er nie gekonnt. JEinfache geo- 
metrische Figuren zeichnete er ohne Schwierigkeit. Es sei jedoch keineswegs be- 
stritten, daB hier leichte Storungen in der allgemeinen optischen Reproduktion vor- 
gelegen haben, und insbesondere nun miissen wir, wie angekiindigt, in diesem Zu- 
sammenhang noch einmal auf das erwahnte Verhalten des Kranken Buch- 
staben gegenuber zuriickkommen. Der Kranke konnte Worte aus ihm genannten 
Buchstaben, wie erwahnt, schlecht oder gar nicht zusammensetzen, und er selber 
erklarte diesen Defekt in ahnlicher Weise wie sein Verhalten Ziffern und Zahlen 
gegenuber. Beim Zusammensetzen von Worten aus Buchstaben unterschied der 
Kranke zwei Arten. i. ,,gebrauchliche“, die er sofort erkannte, z. B. Bauer, sauber, 
auch langere wie: Kartoffel und selbst Fremdworte wie: Diat und 2. solche, bei 
denen er mit aller Bestimmtheit erklarte, sich die Buchstaben ,,geschrieben" vor- 
stellen zu miissen. Was die erste Gruppe anlangt, so erkannte der Kranke keines¬ 
wegs alle im gewohnlichen Sinn gebrauchlichen Worte, es schien vielmehr, als wenn 
besonders charakteristische Buchstabenzusammenstellungen, wie sie etwa in Kar- 
toffeln und Diat vorliegen, die Erkennung des Wortes besonders begiinstigten. 
Der Kranke selbst konnte nicht sich dariiber auslassen, woran er diese Worte er¬ 
kannte; nur bestritt er eben bei diesen Worten mit Bestimmtheit, daB er sie sich 
geschrieben vorstellen miisse. „Das geht nach dem Sprechen." Es ist wohl mog- 
lich und wahrscheinlich, daB der Kranke diese Worte mehr akustisch nach dem 
Klang der Buchstaben fliichtig rekognoszierte und dann aussprach, denn sicherlich 
riet er hier auch zum Teil, wie charakteristische Fehler bewiesen, z. B. Laube statt 
Laub, schieben statt Schein. Wenn man ihm das richtige Wort sagte, so sagte er 
dann wohl: „So, ich dachte, es ware das, ein bekanntesWort.“ Dabei war ihm der 
Sinn der wirklich vorbuchstabierten Worte, wie oben Laub und Schein, durchaus 
bekannt, wohl aber nicht so gelaufig oder im Augenblick nicht so gegenwartig, wie 
der anderer. Jedenfalls war der Kranke bei dieser Gruppe von Worten nicht all ein 
auf die optische Reproduktion der Buchstaben angewiesen. 

Die zweite Gruppe von Worten muBte er sich, wie er selbst angab, ge¬ 
schrieben vorstellen, und das machte ihm selbst da, wo es schlieBlich gelang, 
sehr groBe Schwierigkeiten. Fur das Wort Brust brauchte er voile 5 Sekunden, 
fur Gardine 10 Sekunden und manchmal fur nicht langere Worte noch mehr Zeit. 
Unzweifelhaft gewahrte ihm auch bei diesen Worten, die er sich geschrieben vor¬ 
stellen muBte, schlieBlich das Auftauchen eines ihm bekannten Wortbildes Unter- 
stiitzung; denn wenn man ihm sinnlose Buchstabenzusammenstellungen oder ihm 
unbekannte Fremdworte aufgab, so versagte er schon bei 4 Buchstaben vollig, und 
zwar auch dann, 19 wenn er die 4 Buchstaben nicht vergessen, sondern die gestellte 
Aufgabe wohl behalten hatte. AUerdings war die Merkfahigkeit fur eine Reihe von 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Buchstaben auch keine normale, und manchmal war zu beobachten, wie das Be- 
streben, die Buchstabenreihe als solche nicht zu vergessen, den Kranken hinderte, 
das Wort aus diesen Buchstaben zu bilden. Es ware vielleicht lohnend, diesen Be- 
ziehungen zwischen Wort und Buchstaben, die wir hier nur andeuten konnen, im 
einzelnen nachzugehen, besonders wegen der doppelten Bedeutung des Buchstabens 
als akustisches und als optisches Symbol. Hier geniigt es, darauf hinzuweisen, daB 
bei unserem Kranken, der sehr wahrscheinlich besonders visuell veranlagt war, die 
Reproduktion und die Benutzung des Buchstabens als optischen Symbols gestort 
war. Jedenfalls war daher auch die Storung des Zahlenbildens keine vollig isolierte, 
sondern es bestand auch eine Storung der Reproduktion anderer Gebilde der 
optischen Sphare, eben sicherlich und wenigstens auch der Buchstaben. Fur die 
Auffassung der Rechenstorung diirfte im iibrigen die Frage, ob die Storung der 
Reproduktion der Zahlen eine ganz isolierte oder mit anderen Storungen der opti¬ 
schen Reproduktion verbunden war, unerheblich sein. 

Wir gehen nunmehr endlich zu der Besprechung der Rechenstorung selbst 
liber. Im voraus ist hier noch zweierlei zu betonen, i. daB der Kranke seiner ganzen 
Stellung nach vor der Erkrankung ziemlich gut rechnen muBte und auch rechnen 
konnte, wie er selbst angab, 2. daB der Kranke infolge des Mangels von Sprach- 
storungen. iiber die Ursache der von ihm gemachten Fehler leidliche subjektive 
Angaben machen konnte. 

Was zunachst den Grad der Rechenstorung anlangt, so kam es seit dem 
26. IX. nicht mehr vor, daB der Kranke im Addieren und Subtrahieren in den 
Rechnungen bis zur 10 noch Fehler machte. Am 24. IX. war auch das noch der Fall, 
aber man konnte, da fur diesen Tag noch keine Intelligenzpriifung vorliegt, gegen 
diese Befunde geltend machen, daB der Kranke hier vielleicht psychisch noch all- 
gemein etwas geschadigt war. Uns war aber schon gerade an diesem Tage der Be¬ 
hind beim Rechnenlassen des Kranken im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten 
so auffallig, daB wir gerade dadurch veranlaBt wurden, die Rechenfahigkeit des 
Kranken genauer zu priifen. 

Beim Addieren und Subtrahieren mit kleinen Zahlen fiel seit dem 26. IX. 
nur die fast konstante groBe Langsamkeit auf, mit der die Aufgaben gelost 
wurden. Der Kranke selbst merkte das und wunderte sich dariiber. ,,BloB sagen 
brauchte man es friiher, dann war es raus", meinte er. Wenn man ihn nun fragte, 
wie er denn diese Aufgaben lose, so antwortete er meist, daB er eben ,,rechne“. Nur 
sehr selten kam es in den ersten Tagen vor, daB er einmal eine schnelle Antwort 
gab, und selbst bei den einfachsten Aufgaben war er fiber die Richtigkeit der even¬ 
tual richtigen Losung vollig unsicher, wenn man etwa eine diese Richtigkeit anzwei- 
felnde Frage an ihn richtete. Am 9. X., als so einfache Aufgaben wie 8 — 5, 9 — 7, 
5 — 2 schon wieder ziemlich schnell gelost wurden, sagte er spontan, ,,jetzt weiB 
ich es, in den ersten Tagen muBte ich es rechnen". Genauere Angaben iiber die 
Art dieses Rechnens vermochte er eben nicht zu machen. Nur ist zu bemerken, 
daB er keineswegs an den Fingem abzahlte, und auch auf Befragen mit Bestimmt- 
heit leugnete, etwa zu zahlen, oder bei Subtraktionsaufgaben immer 1 nach 1 ab- 
zuziehen. ,,Ich habe es eben abgezogen." 

Bei Aufgaben, die Zahlen iiber 10 enthielten, kamen noch sehr grobe Fehler 
— auch nach dem 26. IX. — vor. Z. B. 11 —- 7 = 9. Immer wurde dann natiirlich 


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BD * x Jol EFT 6 ein bemerkenswerter fall von hirnblutung. 261 


gepriift, ob der Kranke auch die Aufgabe behalten hatte. Das war in dem genannten 
Beispiel der Fall. Er antwortete auf die Frage nach der Aufgabe trotz der falschen 
Losung „n — 7". Darauf gefragt (ist n — 7 = 9?). ,,Nein." Darauf gefragt (ist 
11 — 7 = 5?). „Ja." Weiter gefragt (44-7=) ,,9" (falsch!), ,,44-7 = 10“ (falsch!), 
,,44-7 = 11“ (sind Sie sicher?). „Nein, sicher bin ich nicht." Nur in der Minderzahl 
der Falle waren die Resultate so schlecht wie in dem oben mitgeteilten. Aber trotz- 
dem ist das doch ein ganz enormer Ausfall von Rechenfahigkeit bei einem Menschen, 
der zu rechnen gewohnt war. Der Kranke war sich dessen auch nicht unbewuBt. 
Einmal auBerte er: ,,Es ist, als wenn ich alles verloren hatte." 

Sowohl was die Resultate wie was das Verhalten beim Rechnen betrifft, war 
der Kranke durch die Herderkrankung des Gehirns in die Lage eines Kindes 
zuriickversetzt, das die einfachsten Aufgaben bzw. ihre Losungen nicht mehr 
„wuBte", sondem sie sich erst wieder errechnen muBte. Das war auch bei den 
anderen Rechnungsarten der Fall. 

Vielleicht konnte man die Leistungen im kleinen Einmaleins als etwas 
besser bezeichnen wie die im Addieren und Subtrahieren. Aber auch hier, auf dem 
Gebiet, wo man noch am ehesten von einem erlernten festen „Wissen" reden 
mochte, kamen die Resultate zogernd und waren zum Teil falsch. Wir mdchten hier 
einen Teil des Protokolles vom 28. IX. anfiigen. 

(5 x 6) 4 -. 

(6x7) -f • 

(9 x 8) ,,40, 45“ (wie hieB die Aufgabe?) ,,9x8 = 72“, gibt an, sich 5x8 vor- 
gestellt zu haben, dann 9x5, ,,nachher habe ich mir es uberlegt". 

(8 x 7) ,,42, stimmt das?“ (Aufgabe?) ,,8 x 7, ich denke, es ist richtig." 

(8x6) ,,36-. 

(6x8) ,,30“ (an keine andere Aufgabe gedacht?), „nein“, spontan ,,45“ (was sollten 
Sie rechnen?) ,,5 x 8“ (und wieviel ist das?): ,,40“. 

(3 x 4) (nach langem Zogern) ,,12“. (Wie rechnen Sie das, kommt das Resultat 
plotzlich oder allmahlich?) „Nein, ich rechne, ich stelle mir vor 4, dann 3mal so viel." 

(5 x8) 4 *. 

(8 x 7) ,,42“ (Aufgabe?) „8 x 7“. (Wie stellen Sie sich das vor?) ,,7 und 8mal so 
viel.“ (Wieviel ist das?) ,,56“ ( + ). 

Bei der Aufgabe 9x8 gab er an, erst 10x8 gerechnet und dann 8 abgezogen zu 
haben. Manchmal sagte er: ,,Ich weiB das aus dem Einmaleins.“ 

Sehr schwer wurde dem Kranken das Dividieren. Bei einer Aufgabe wie 
25 : 5 auBerte er: ,,Furchtbar rechnen muB ich daran.“ Beim Dividieren probierte 
er es dann mit Multiplizieren und antwortete dann auch entsprechend. Also auf 
die Frage (56 : 7) ,,8 X 7 = 56, 8 also". Einmal auBerte er auch auf die Frage, wie 
er denn 63 : 9 rechne: ,,Ich stelle mir das Einmaleins mit der 9 vor, dann nehme 
ich es 7 oder 8mal, und wenn es rauskommt, dann stimmt es." In dieser Lage, daB 
sie sich das Resultat des angeblichen Dividierens durch Multiplizieren ausproben, 
diirften ja eine ganze Anzahl, vielleicht die meisten Menschen sein, und da unser 
Kranker schon schlecht multiplizierte, wurde ihm das Dividieren natiirlich noch 
schwerer. Nur manchmal sagte der Kranke in den spateren Tagen auch hier wieder 
bestimmt ,,das weiB ich". Uber das Wesen der Rechenstorung ergab die Priifung 
der einzelnen Rechenarten im iibrigen keinen weiteren AufschluB. 

Dagegen ergab das Rechnen mit mehrstelligen Zahlen noch einigesWeitere. 
Ein typischer Fehler ist folgender: 


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und Neurologie. 


(28 + 46) ,,86“. 

(Aufgabe?) ,,28 + 46“. 

(Also) + (74). 

(Was hatten Sie vorher gesagt?) „86“ (richtig). 

(Warum?) „Da ist mir die 40 in den Kopf gekommen.“ 

Es diirfte wohl kaum ein Zweifel sein, daB der Fehler sich so erklart, daB 
der Kranke die 46 in 6 und 40 zerlegt hatte, und daB er nun anstatt 28 + 46 40 + 46 
gerechnet hatte. Die Antwort: ,,Da ist mir die 40 in den Kopf gekommen“ ist sehr 
charakteristisch und diirfte den Sachverhalt durchaus treffend bezeichnen. Be- 
merkenswert ist, daB in dem Kranken, trotzdem er die Aufgabe, wie das Protokoll 
ergibt, keineswegs vergessen hatte, doch diese Verwechslung der Zahlen vor sich 
ging. Der Kranke zerlegte, wie wohl fast jeder Normale, die zusanimen- 
gesetzten Zahlen in dieZehner und dieEiner und vermochte nun die 
einzelnen Bestandteile nicht mehr zu beherrschen. 

DaB er die zusammengesetzten Zahlen zerlegte, ging auch daraus hervor, 
daB er nach einiger Zeit auf die Aufforderung, die Aufgabe zu wiederholen, manch- 
mal die Einer und die Zehner umstellte, also z. B. statt 29 + 36 39 +- 26 als Auf¬ 
gabe angab. In diesem Falle hatte diese Umstellung ah und fiir sich fur das Resultat 
nichts zu sagen, weil Einer Einer und Zehner Zehner bleiben. Ist das nicht der Fall, 
so ergeben sich aus den Umstellungen, die da vorkommen, eine groBe Reihe von 
Fehlermoglichkeiten, und in der Tat konnte man in einer Reihe von Fallen die Her- 
kunft der falschen Resultate aus solchen irrtiimlichen Umstellungen, wie auch aus 
der Vernachlassigung einzelner Komponenten nachweisen. Wenn der Kranke z. B. 
in dem obigen Falle 26 + 39 = 56 rechnete, so hatte er den einen Teilfaktor, die 9, 
eben einfach vernachlassigt bzw. vergessen. Ein anderes Beispiel ist folgendes: 

(96 — 42) ,,44“. (Aufgabe wiederholen) +. (Wie rechnen Sie das?) ,,96 — 40 ist 
56“ (und?),,— 2 sind 48“. (Wovon wollten Sie 2 abziehen?) „ Von 50.“ (Aufgabe wieder- 
hole*?) +. (Wievielalso?) ,,54“ ( + ). (Warum vorher falsch?) „Ich war vorher auf 50 
gewesen.“ 

Hier hatte der Kranke wohl sicher 96 in 90 und 6 zerlegt, nun von 90 die 40 
abgezogen, hatte die 6 der 96 vergessen und von 50 nun die von 42 iibrigbleibenden 2 
abgezogen. 

Nun kann die Zerlegung ja noch weiter gehen als in Zehner und Einer. So 
diirfte sich vielleicht folgendes Resultat erklaren: (89+ 27) ,,111“. Hier hatte der 
Kranke vielleicht 89 + 20 + 5 + 2 rechnen wollen — ahnlich macht es ja auch der 
Normale haufig — und hatte dann die 5 vergessen. 

Auch daB der Kranke etwa eine 50 oft nicht im ganzen abzog, sondem sie in 
20 und 30 oder sogar in 5 einzelne Zehner geteilt rechnete, gab er selber wiederholt 
an, und dadurch ergeben sich natiirlich eine groBe Anzahl von Fehlreaktionen. 

Wenn das Resultat eine 3stellige Zahl war, konnte es der Kranke iiberhaupt 
nicht mehr rechnen, z. B. bei Aufgaben, wie 85 + 76 erklarte er: „Das ist mir zu 
groB im Kopf/* Lautes Rechnen war fiir ihn keine Erleichterung, dagegen waren 
natiirlich schriftliche Aufgaben wie 85 + 76, fiir ihn sehr viel leichter losbar. Er 
behielt die Zahlen ja dann vor Augen. Er verrechnete sich aber auch schon bei 
langeren schriftlichen Additionsaufgaben leicht. 

Auf eine Umstellung der Zehner und Einer im Resultat selbst kann es mit 
Wahrscheinlichkeit bezogen werden, wenn der Kranke die Aufgabe 19 + 48 mit 76 


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BD. XI, HEFT 6 
1906. 


EIN BEMERKENSWERTER FALL VON HIRNBLUTUNG. 263 


anstatt 67 beantwortete. Er meinte hier selber, er hatte wohl die beiden Zahlen 
verwechselt, bestritt aber auf die Frage, ob er sie sprachlich verwechselt hatte, mit 
einem „nein auf keinen Fall". JedenfaUs ist es wohl moglich, daB solche Fehler von 
Storungen der inneren Sprache unabhangig waren. 

In jedem einzelnen Fall die Ursache der Fehler zu bestimmen, war natiirlich 
unmoglich. Browne 1 ) hat beim normalen, in der Selbstbeobachtung geiibten 
Menschen iiber die Ursache der Rechenfehler einige Untersuchungen angestellt. 
Wir finden da z. B., daB bei der Aufgabe 26 + 7 der Untersuchte (normale) ant- 
wortete: 31 und dazu folgende Erklarung: „ Because 7 + 6 = 13, the throught 
of the 1 in 13 made the subject say 31.“ Bei ,,47 + 7:4 got into subjects mind 
and he wanted to say 11." 

Zu Auskiinften von solcher Feinheit der Selbstbeobachtung war unser Kranker 
natiirlich nicht imstande, wird wahrscheinhch auch nie ein in dieser Weise Erkrankter 
imstande sein. Die sparlichen AuBerungen von Selbstbeobachtung, die der Kranke 
gab und die Art der Fehler selber berechtigen aber zu der Annahme, daB zu seinen 
MiBerfolgen auch solche Mechanismen, wie sie Browne beim Normalen beobachtet 
hat, beitrugen und dazu in enorm vergrobertem MaBstabe vorhanden waren. 

AuBer dem Zerlegen der Zahlen und der Vertauschung und der Vernach- 
lassigung der Teile, oder ihrer Einschiebung am unrechten Platz kamen noch andere 
Fehlerquellen in Wirkung, bzw. bestimmten die anderen Fehlerquellen die Art 
der Fehler. Das war zunachst das Haftenbleiben, und zwar das Haftenbleiben 
an der Zahl, nicht am Zahlwort. So wenn der Kranke, nachdem er eben 21 + 23 = 44 
richtig gerechnet hatte, auf die Frage nach 13 + 29 auch wieder die Antwort 44 
gab. Es war nicht zu verkennen, daB in dieser Weise besonders Aufgaben mit nicht 
allzu toeit auseinanderliegenden Zahlen sich am meisten storten. 

In dem erwahnten Falle perseverierte das Resultat der vorangehenden Auf¬ 
gabe als Ganzes. Das Perseverieren von Teilfaktoren friiherer Aufgaben 
ist natiirlich nicht so leicht nachzuweisen, aber war uns doch haufig sehr wahr- 
scheinlich. Wenn freilich die Zahl, die perseveriert, weiter zuriickliegt, so ist ohne 
weiteres ersichtlich, daB es geradezu unmoglich sein muB, das Perseverieren nach¬ 
zuweisen. Wie merkwiirdig hier friihere Inhalte wieder auftauchen konnen, das 
sehen wir ja auf dem rein sprachlichen Gebiet bei der Paraphasie der sensorisch 
Aphasischen. Dabei erkennen wir aber das auftauchende Wort als solches ohne 
weiteres wieder, wahrend wir beim Rechnen die Zahl ja nur als Faktor des Gesamt- 
resultates herauserkennen konnten, was natiirlich in der Mehrzahl der Falle bei der 
Mannigfaltigkeit der hier in Frage kommenden Moglichkeiten ausgeschlossen sein wird. 

Etwas Ahnliches wie Haftenbleiben liegt wohl vor, wenn der Kranke auf die 
Frage 105 + 106 207 antwortet. Hier verfiihrt ihn die Folge 5, 6 seinerseits 7 zu 
sagen. Er haftet sozusagen nicht an der einzelnen Zahl, sondem an der Zahlenfolge. 

Dem Haftenbleiben nur anscheinend entgegengesetzt ist das schnelle Ent- 
schwinden des Resultats aus dem Brennpunkt des BewuBtseins. „Eben 
hatte ich's, und nun ist es wieder weg.“ ,,Ich hatte es ausgerechnet, und jetzt ist es 
mir aus dem Kopf,“ das war dann die Auskunft des Kranken. Es ist dieses schnelle 
Entschwinden von Zahlen jedoch nur als ein Korrelat des Haftenbleibens aufzufassen. 
Es findet sich ganz Analoges auf dem rein sprachlichen Gebiet bei der sensorischen 

!) Americ. Journ. of Psychology. XVII. 1906. S. 1. 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Aphasie, ist aber hier merkwurdigerweise neben dem Haftenbleiben, soweit uns 
bekannt, kaum ausdriicklich gewurdigt, vielmehr fast immer als selbstverstandlich 
betrachtet worden. Auch bei der sensorischen Aphasie kommt es haufig vor, be- 
sonders wenn man den Kranken darauf achten laBt, daB er angibt „eben hatte ich 
das Wort, nun ist es wieder weg“ oder Ahnliches. Es scheint, daB auch bei lokali- 
sierten Storungen, wie es vor kurzem fur gewisse Psychosen und fur allgemeine 
Storungen der Aufmerksamkeit besonders Stransky 1 ) nachgewiesen hat, Haften¬ 
bleiben und Ideenflucht sich in eigentumlicher Weise mischen. Das Kauderwelsch 
des sensorisch Aphasischen stellt sich ja haufig ohne weiteres dar als eine — sit 
venia verbo — ,,lokale Ideenflucht'', eine Ideenflucht der Worte, in der immer 
ein Wort durch das andere verdrangt wird, und neben der das Haftenbleiben doch 
quantitativ sehr haufig zuriicktritt. Etwas Ahnliches glauben wir also auf dem Gebiete 
der Zahlen unabhangig von der Sprache bei unserem Kranken feststellen zu konnen. 

Dabei ist noch auf eines besonders hinzuweisen, daB es namlich im einzelnen 
Fall ganz unmoglich ist, vorauszusehen oder nachtraglich zu erklaren, warum in 
dem einen Falle das Resultat besonders langsam, im anderen schneller, im einen 
durch Perseverieren, im anderen durch Vernachlassigung, im dritten durch „ideen- 
flvichtigen" Ersatz eines Teilfaktors durch einen anderen beeinfluBt war. Auch auf 
diesem verhaltnismaBig niederen Gebiete kann man vielmehr schon von den Wir- 
kungen einer Konstellation nach der Nomenklatur Ziehens sprechen. Im 
iibrigen diirfte ersichtlich sein, wie eng alle diese Arten von Storungen miteinander 
zusammenhangen, wie eine die andere bedingt, ja wie die andere eigentlich nur die- 
selbe eine ist, nur von einem anderen Standpunkt aus gesehen. 

Objektiv haben wir — und das erscheint wohl grundsatzlich wichtig — eine 
Storung des Rechnens, die wir weder zu einer allgemeinen Intelligenz- 
storung noch zu einer Sprachstorung in Beziehung zu bringen ver- 
mogen. Sie ist -gekennzeichnet durch eine allgemeine sehr verlang- 
samte und erschwerte Findung der Resultate, durch haufige Fehler 
und durch Versagen. Diese Fehler erklaren sich durch eine mangelhafte Merk- 
fahigkeit fur Zahlen, durch Haftenbleiben an einzelnen Zahlen und durch Ent- 
schwinden anderer. Im einzelnen wurde verfolgt, wie die einzelnen Faktoren die 
Resultate beeinflussen. Dabei ergaben sich gewisse Analogien mit Sprachstorungen, 
insbesondere bei der Wernickeschen Aphasie (Haftenbleiben usw.). Wir hatten 
jedoch keinen Zweifel, daB die Rechenstorungen von Storungen der Sprache, auch 
der inneren Sprache, unabhangig waren, vielmehr nur das erschwerte Operieren mit 
Zahlen bedeuteten. 

Wenn wir nun glauben, das Vorkommen einer Rechenstorung, die unabhangig 
ist von einer Storung der allgemeinen Intelligenz und unabhangig von. Storungen 
der Sprache, wahrscheinlich gemacht zu haben, so bleibt nun doch die Frage, ob 
diese Rechenstorung zusammenhangt mit der Storung der optischen 
Reproduktion von Zahlen, die wir bei dem Kranken oben beschrieben haben. 
Wir erinnern daran, daB der Kranke ja nur mit Schwierigkeit imstande war, ihm 
nacheinander genannte Ziffern als Zahlen sich vorzustellen. Geht die Rechenstorung 
auf diese Storung der optischen Reproduktion, insbesondere von Zahlen, zuriick? 
Der Kranke selbst, der doch die Storung der optischen Reproduktion von Zahlen 

1 ) t)ber Sprachverwirrtheit. Haile . 1905. 


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EIN BEMERKENSWERTER FALL VON HIRNBLUTUNG. 265 


selber angab, behauptete mit Bestimmtheit, beim Rechnen irgendwelcher optischen 
Vorstellungen nicht zu bediirfen, solche sich nicht zu machen oder friiher gemacht 
zu haben. Ein bewuBter Zusammenhang derart bestand also nicht. Trotzdem kann 
ein solcher Zusammenhang unbewuBt bestehen. Es ist moglich, daB auch bei dem 
anscheinend abstrakten Rechnen — dem Rechnenden unbewuBt — gewisse optische 
Vorstellungen anklingen miissen 1 ), und daB so die Erschwerung der optischen 
Reproduktion doch die Grundlage der Erschwerung des Rechnens bildet. Wer weiB, 
ob nicht beim anscheinend rein begrifflichen Rechnen des Erwachsenen im Un- 
bewuBten jene urspriinglich sinnlichen Eindriicke anklingen miissen, die das Kind 
sammelte, als es seine ersten Erfahrungen iiber das Rechnen an den Kugeln der 
Rechenmaschine machte, oder die auf den Tisch gelegten Streichholzer abzahlte. 

Daran schlieflt sich dann die letzte Frage, ob die Rechenstorung gerade 
durch die Lokalisation deskrankhaften Prozesses im linken Occipital- 
lappen — die ja durch Neissersche Punktion in unserem Falle nachgewiesen 
wurde — bedingt war. DaB die Storungen der optischen Reproduktion, auch der 
Zahlen, durch die Lokalisation im linken Occipitallappen bedingt war, diirfte sehr 
wahrscheinlich gefunden werden. Der Occipitallappen ist doch nun einmal die 
optische Sphare, und daB der linke Occipitallappen hier dem rechten an Wichtigkeit 
voransteht, lehren eine Reihe von Erfahrungen iiber Seelenblindheit und verwandte 
Zustande bei Erkrankung gerade des linken, niemals des rechten Occipitallappens. 
Es muB freilich immer wieder betont werden, daB in der Wertigkeit der linken und 
der rechten Hemisphere individuelle Differenzen bestehen, so daB man nicht er- 
warten kann, bei jedem linksseitigen Occipitalherd dieselben Storungen zu sehen, 
ganz abgesehen von der individuell verschiedenen Wichtigkeit, die, wie eingangs 
erwahnt, die optische Sphare fur das Rechnen hat. Im vorliegenden Falle sind wir 
aber durchaus geneigt, nicht nur die Storungen der optischen Reproduktion, sondern 
auch die Rechenstorungen auf die Erkrankung des linken Occipitallappens als 
Herdsymptom zu beziehen, entsprechend unserer Auffassung, daB die beobachteten 
Storungen als solche der optischen Komponente des Rechnens bei Integritat der 
sprachlichen mit einiger Wahrscheinlichkeit anzusehen sind. Vielleicht zeigt es sich 
bei Untersuchung weiterer Falle, daB hier doch eine gesetzmaBige Beziehung be- 
steht im Sinne einer Lokalisation der optischen Komponente des Rechnens im 
linken Occipitallappen. Wir selber haben seit der Beobachtung des hier berichteten 
Falles 4 Falle von Erkrankung des Occipitallappens gesehen, davon 2 des rechten, 
2 des linken. Beide rechts lokalisierten zeigten keine Spur von Rechenstorung, 
beide links lokalisierten zeigten sie. Entscheidenden Wert konnen wir aber auf diese 
Beobachtungen darum nicht legen, weil die beiden Falle nicht ganz frei waren von 
sensorischer Aphasie, worauf wir einen sehr groBen Wert legen. Weitere Beobach¬ 
tungen diirften hier zur Entscheidung fiihren. 

t) Es ware das etwas Ahnliches, wie die von dem einen von uns an einem anderen Fall (Le- 
wandowsky, Abspaltung des Farbensinnes, Monatsschr. f. Psych, u. Neur., 1908, S. 488) wahr¬ 
scheinlich gemachte Tatsache, dab auch bei dem Nennen der Farbe bekannter Gegenstande, z. B. 
also bei der Angabe, daB Blut rot, Gras grim sei, von der sinnlichen Vorstellung des roten Blutes 
und des griinen Grases doch nicht ganz abgesehen wird, daB vielmehr der VVegfall dieser sinn¬ 
lichen Vorstellung auch die korrekte Bezeichnung der dem Gegenstande zugehorigen Farbe 
verhindert. Auch das ist ein Vorgang, der unterhalb' der Schwelle des BewuBtseins ablauft. 

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Journal filr Psychologic und Neurologic. Bd. XL 18 




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DR. A. FOREL. 


Journal f. Psychology 
und Neurologic. 


Zum heutigen Stand der Psychotherapie. 

Ein Vorschlag 

von 

Dr. A. Forel-Yvome. 

Suchen wir zunachst eine Definition der Psychotherapie zu geben: 

Ich nenne Psychotherapie die Gesamtheit derjenigen Heilmethoden, die die 
natiirliche Nervenwelle resp. die Tatigkeit der Neuronen, die ich Neurokym genannt 
habe, direkt benutzt, um Heilwirkungen zu erzielen. Ich nehme hier den Begriff 
des Neurokyms im weitesten Sinne des Wortes, namlich im Sinne alter und jeder 
Nerventatigkeit, vom peripheren Sinnesorgan bis zum Gehim; die Tatigkeit der 
Nervenfasem und Fibrillen, sowie der Ganghenzellen in- und auBerhalb des Ge- 
hirnes mit ihrem den Muskeln mitgeteilten Wellenreize, ebenso wie mit ihren Riick- 
wirkungen auf niedrigere Ganglienzentren, wie z. B. das sympathische Nerven- 
system. 

Wir konnen diese Nerventatigkeit auf mannigfaltigste Weise, durch die 
Sprache, durch Sinnesreize, durch die Phantasie und das Gefiihl erregende Sym- 
bole jeder Art usw usw. in Bewegung setzen und dadurch, gegen alle und jede rein 
funktionelle Nervenstorung, hemmende Bollwerke oder Gegenstromungen reizender 
Neurokyme ins Werk setzen. 

Ich verstehe also unter Psychotherapie nicht nur die Benutzung oberbewuBter 
Vorgange, sondem auch diejenige aller unterbewuBten Nerventatigkeiten. Der 
Ausdruck Neurotherapie oder neurokymische Therapie ware daher eigentlich 
adaquater, da der Sprachgebrauch das Wort ,,psychisch“ fiir diejenigen Nerven- 
vorgange reserviert wissen will, die introspektiv in unserem erinnerhchen Ober- 
bewuBtsein erscheinen und seinem Revier erhalten bleiben. 

Es geht daraus hervor, daB das Gebiet der Psychotherapie einerseits enger 
und andererseits viel weiter ist, als die meisten Arzte es nur ahnen. Es ist enger 
insofem, als es gegen organische Prozesse, die das Himgewebe dauemd verandem 
oder gar zerstoren, gegen bakterische und andere auBerlichen Giftwirkungen auf 
den Korper, als solche, ohnmachtig ist. Ihr Gebiet ist aber umgekehrt darin viel 
weiter, als gewohnlich geglaubt wird, als es samtliche Krankheiten und Symptome 
umfaBt, die von einer Stoning der reinen Nerventatigkeit abhangen. Da die Nerven 
uberall im Korper vorhanden sind, jeder zirkulatorischen, sekretorischen, mo- 
torischen usw. Tatigkeit vorstehen; da ferner das GroBhim als gewaltiger Kraft- 
akkumulator die Krafte samtlicher iibrigen Nervenzentren gelegentlich iiberwinden 
kann, ist es nicht zu verwundem, wenn eine Unzahl Storungen, die die innere 
Medizin und alle ihre Spezialitaten fiir sich in Beschlag zu nehmen pflegen, psycho- 


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ZUM HEUTIGEN STAND DER PSYCHOTHERAPIE. 


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therapeutischen Einwirkungen zuganglich sind, so z. B. Dysmenorrhoen, Stuhl- 
verstopfung, Verdauungsstorungen usw. 

Im Jahre 1886 hat bekanntlich das Buch Bernheims in Nancy: „Die Sug¬ 
gestion und ihre Heilwirkung" der wissenschaftlichen Welt die therapeutische 
Macht und zugleich die wissenschaftliche Erklarung des Hypnotismus durch Li 6- 
bault und andere geoffenbart. Der Magie, dem Heilmagnetismus und alien den 
sonstigen okkultistischen Machten oder den mystischen Erklarungen der Nerven- 
kraft durch friihere Autoren schien damit zunachst der Nimbus genommen und, 
offen gestanden, hoffte ich damals in meiner naiven Begeisterung, diese wirklich 
epochemachende Erkenntnis wiirde sich rasch in unseren Hochschulen Bahn brechen. 
Wie schwer bin ich enttauscht worden! Ich hatte den Schlendrian, die Bonzen- 
wirtschaft der Fakultaten, die Macht des mystischen Obskurantismus, vor allem 
die Tragheit des menschlichen Geistes schwer unterschatzt. Tatsachlich haben die 
medizinischen Fakultaten, haben die Inhaber der offentlichen Lehrstiihle von der 
ganzen neuen psychologischen und psychotherapeutischen Erkenntnis nur so ganz 
auBerlich und nebenbei einige Schlagworter aufgenommen, im iibrigen aber das 
so wichtige Problem und die beziigliche Lehre, mit wenigen Ausnahmen, vollstandig 
ignoriert imd abseits hegen lassen. Das Schlagwort ,, Suggestion" wird allerdings 
viel im Munde gefiihrt und ersetzt heute ungefahr das friiher ebenso unklar ge- 
brauchte Wort „psychisch". Es ist ein so bequemes Ruhewort geworden, mit welchem 
der Chirurg, der Gynakolog, der Ophthalmolog, der innere Khniker usw. kurzweg 
alles belegen, was ihnen als unklar funktionell nervos erscheint. Mit iiberlegener 
Miene reiBt man dariiber entweder faule Witze, oder nimmt man umgekehrt ein 
emstes Gesicht und wittert dahinter Simulation oder dann „Geistesstorung" 
oder „Neurasthenic' ‘ (den groBen Unratstopf), und meint so etwas Unange- 
nehmes aus dem Krankheitsbild ausgeschaltet oder umgekehrt in dasselbe hinein- 
gebracht zu haben. Hat dann das Gehim des Bonzen (gehore es zur Fakultat oder 
zur Landpraxis; das kommt aufs gleiche heraus) sich die Frage vorgelegt, ob das 
beziigliche Symptom oder die beziigliche Krankheit ,,auf Suggestion" oder auf 
„Wirklichkeit" (die Suggestion ist namlich fiir ihn keine Wirklichkeit) beruht, so 
begniigt er sich in der Regel damit, im ersten Fall die Krankheit zu vemeinen und 
den Kranken als eingebildet, eventuell dem Pfarrer, dem Lehrer oder dem Juristen 
zuzuweisen und im zweiten Fall mit erhabenem Tone zu erklaren: „Suggestion ist 
ausgeschlossen." Damit wird in den meisten Fallen die Sache abgetan und irgend 
ein Rezept oder ein physikalisches Heilmittel (Massage, Elektrizitat, Badekur, 
Mastkur, Wasserkur et tutti quanti) verordnet. 

Selbst die Psychotherapie und den Hypnotismus zu studieren oder den Kranken 
einem sachkundigen Psychotherapeuten zuzuweisen, dies fallt den allerwenigsten 
ein; manche halten es sogar fiir kompromittierend. Freilich ist letzteres schwer, 
denn wo sollen die psychologisch und psychotherapeutisch Gebildeten zu finden sein, 
nachdem man in der Hochschule von der ganzen Disziplin entweder gar nichts 
oder nur die obengenannten Schlagworter zu horen bekommt! Hat nicht vor einigen 
Jahren das beriihmte oder besser beriichtigte Gutachten der brandenburgischen 
Arztekammer (Mendel usw.) den Hypnotismus kurz und biindig mit unglaublicher 
Oberflachlichkeit und Sachunkenntnis verurteilt und fiir sehr gefahrlich erklart! 

Die Folgen dieser traurigen Zustande sind mannigfaltige: 

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DR. A. FOREL. 


Journal f. Psychologic 
and Nenrologie. 


Die Frechheit der Charlatane, Heilmagnetiseure, New York Institute of 
Science, Lourdeswunderkuren, Gebetheilanstalten, Naturheilkiinstler und Cie. 
wachst und wuchert ins Unglaubliche und benutzt weidlich die Unwissenheit der 
Arzte im psychotherapeutischen Gebiet, um bei verkannten Nervenleiden Triumphe 
zu feiem, die im Publikum groBes Aufsehen erregen. Diese Frechheit geht so weit, 
daB z. B. schon mehrmals Heilmagnetiseure sich direkt an mich wandten und von 
mir Empfehlungen fur Behandlung von Kranken mit Hypnotismus u. dgl. mehr 
forderten. Jedesmal wies ich sie kurz ab, mit der Bemerkung, ich erkenne niemandem 
das Recht an, Kranke zu behandeln, der nicht Medizin studiert habe, aber jedesmal 
muBte ich auch mit Wehmut daran denken, daB so viele arztlich ungebildete Men- 
schen tatsachlich den Hypnotismus und die Psychotherapie besser verstehen als die 
meisten Arzte, obwohl sie sie freilich, infolge ihrer Unkenntnis des menschlichen 
Korpers und der Medizin iiberhaupt, vielfach verkehrt und falsch anwenden. Das 
sind wenig erbauliche Erfahrungen. 

Andererseits haben gewisse Arzte, wie L£vy in Paris, Dubois in Bern u. dgl., 
sich eingebildet, auf Grund einer unklaren Psychologie, eine Persuasions- oder Willens- 
therapie einfiihren zu konnen, die sie in Gegensatz zum Hypnotismus bringen und 
bei welcher sie den unseligen alten Irrtum des psychophysischen Dualismus im 
Gehim des Menschen wieder mehr oder weniger unbewuBt mitspielen lassen. Sie 
sehen nicht ein, daB der Wille, die Gberzeugung und iiberhaupt alle psychischen 
Eigenschaften des Menschen, ob bewuBt oder unbewuBt, den gleichen Gesetzen der 
Nerventatigkeit folgen; sie haben die ganze Frage nicht verstanden und sehen nur 
eine Seite derselben, die introspektive. 

Sehr wichtig dagegen ist die von Breuer und Freud entdeckte psychana- 
lytische Methode, durch welche die pathogene Wirkung emotiver Traumen und die 
Moglichkeit, solche im unterbewuBten Hirnleben weiter verwiistend wirkende 
Storungen vermittels eines Wiederdurchlebenlassens derselben zu beseitigen. Doch 
hat auch hier Freud einseitig aufgebaut und den Boden der Suggestion und 
des Hypnotismus einfach vollstandig verlassen, wahrend tatsachlich alle jene Er- 
scheinungen in harmonischem Zusammenhang studiert und begriffen werden miissen. 
Wenn man nichts anderes tut, als nach sog. ,,Komplexen“ zu graben, riskiert man 
in manchen Fallen, wo solche in einem fort und mannigfaltig zum Vorschein kommen, 
zu einer schadlichen Erziehung des Gehimes, zu einer Komplexfabrikation zu ge- 
langen, die besonders bei sexuellen Komplexen unheilbringend werden kann. 

So sieht man, wie im Gebiet der Psychotherapie iiberall, und zwar meist ganz 
auBerhalb der Fakultaten, vereinzelte wissenschaftliche und therapeutische Be- 
strebungen ohne Zusammenhang entstehen und der Boden zu einer ruhigen sach- 
lichen Kritik und zu gemeinsamen, einander erganzenden Forschungen noch groBten- 
teils fehlt. Was spezieller die suggestive Therapie anbelangt, die doch in so ungeheuer 
vielen alltaglichen Fallen, wie Enuresis nocturna et diurna, habituelle Obsti¬ 
pation, funktionelle Dysmenorrhoe, Schlaflosigkeit, Cephalalgie usw., die einzige 
rationelle und wirksame indicatio morbi bildet und in ungezahlten anderen 
als indicatio symptomatica die besten Dienste erweisen kann, deshalb durchweg 
unterlassen wird, weil die Arzte nichts davon verstehen, oder weil kein kundiger 
Arzt zu haben ist. Ich werde selbst bestandig mit beziighchen Briefen bestiirmt; 
ich habe mir die Adressen einer leider hochst beschrankten Zahl von Arzten auf- 


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ZUM HEUTIGEN STAND DER PSYCHOTHERAPIE. 


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geschrieben, die in einzelnen Stadten Europas ansassig sind und die Suggestions- 
therapie verstehen, um sie den beziiglichen Kranken anzugeben, aber es gibt 
viele, sogar sehr groBe Stadte, wo nicht ein einziger Arzt von Hypnotismus 
oder Psychotherapie etwas versteht. Vom Lande wollen wir gar nicht sprechen. 
Reiche und unabhangige Menschen konnen leicht irgendwo hinreisen; die iibrigen 
sind aber dazu unfahig. Kein Wunder, wenn sie dann in ihrer Verzweiflung zum 
Kurpfuscher laufen, der, wenigstens manchmal, etwas kann, was die Arzte nicht 
konnen. 

Diese Situation ist weder erbaulich, noch ermutigend. Sie erinnert lebhaft 
an den friiheren Stand der Psychiatrie, von welcher die medizinischen Fakultaten 
damals nichts wissen wollten. Hat nicht noch in der zweiten Halfte des 19. Jahr- 
hunderts kein geringerer als Theodor Billroth (freilich ein Chirurg) in allem 
Ernst den Vorschlag gemacht, die Psychiatrie aus dem medizinischen Studium aus- 
zumerzen! Diese Lehre der Vergangenheit mag uns vorlaufig trosten, denn die 
Psychiatrie hat schlieBlich doch ihren Platz unter der medizinischen Sonne erobert. 

Es will mir scheinen, es ware jetzt an der Zeit, wenigstens etwas zu tun. Es 
ist klar, daB man das zopfige Wesen der Hochschulen nicht andem kann. Wie es 
mit alien offiziellen, bureaukratischen, zur Verknocherung neigenden Institutionen 
geht, muB die Privatinitiative, abseits von denselben, zunachst einsetzen und die 
Reformen erzwingen. Spater folgen die Bonzen nach. Damit aber die Privat¬ 
initiative etwas tun kann, muB sie ihre Krafte vereinigen und sich nicht zusammen- 
hanglos zersplittern. Mein unmaBgeblicher Vorschlag ware daher der, es sollten 
samtliche arztlich gebildeten Psychotherapeuten, welcher Nuance sie auch angehoren 
mogen, sich zu einem internationalen Verein zusammentun und als solche sich bei 
internationalen Kongressen (arztliche Kongresse, psychiatrische und neurologische 
Kongresse, psychologische Kongresse) beteihgen. Wieder ein Verein, wird man 
sagen! GewiB! Was bleibt anderes iibrig? Man braucht deshalb nicht den iiblichen 
MiBbrauch der Vereine zu treiben, die in Bankette und Trinkgelage auszuarten 
pflegen. Ein solcher Verein braucht nicht einmal einen Mitgliederbeitrag. Der Verein 
schweizerischer Irrenarzte hat friiher — und es waren seine schonsten Jahre — 
ohne Mitgliederbeitrag, ohne Statuten und sogar ohne standiges Komitee gelebt 
und gewirkt. Man braucht nur eine Zentralstelle, einen Geschaftsfiihrer und eine 
Mitglieder- und AdreBliste zu haben. Auch der Geschaftsfiihrer hatte nichts anderes 
zu tun, als z. B. jahrlich eine bereinigte Mitglieder- und AdreBliste dem , Journal 
fur Psychologie und Neurologie“ beizulegen und allenfalls bei dieser Gelegenheit 
die Mitglieder auf Ort und Zeit der Kongresse und die Kongresse auf das Vorhanden- 
sein des Vereins aufmerksam zu machen. 

Damit ware wenigstens ein erster Schritt getan, um die Bestrebungen der 
Psychotherapie zu koordinieren und allmahlich in das Fahrwasser einer ruhigen 
und kritischen wissenschaftlichen Disziplin mit entsprechender Diskussion zu 
bringen. 


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DR. KURT GOLDSTEIN. 


Journal f. Psychology 
und Neurologic. 


Aus der Kgl. Psychiatrischen Universitats-Klinik zu Konigsberg (Direktor Prof. Dr. E. Meyer). 

Zur Lehre von der motorischen Apraxie. 

Von 

Privatdozent Dr. Kurt Goldstein. 

(L Forts etzung und Scblufi.) 

Die Analogien zwischen den Storungen des Handelns und der Sprache. 

Man hat verschiedentlich versucht, die Vorgange beim Handeln und ihre 
Stdrung in Beziehung zu denen bei der Sprache zu setzen; zweifellos bestehen weit- 
gehende Ahnlichkeiten. Die Anregung zu einer derartigen Auffassung hat schon 
Meynert 1 ) mit seiner Aufstellung der motorischen Asymbolie gegeben (cf. S. 270). 
Besonders Heilbronner hat im einzelnen die ,,asymbolischen“ Storungen in 
Analogic mit den aphasischen darzustellen versucht. Er hat die Liepmannsche 
Form der Apraxie, die durch die Intaktheit der Eigenleistungen des Sensomotoriums 
und die Storungen der komplizierten Willkiirbewegungen charakterisiert ist, als 
transcorticale bezeichnet und sie einer corticalen Apraxie gegeniibergestellt, die 
der motorischen Asymbolie Meynerts entspricht und im wesentlichen durch die 
Schadigung der Eigenleistungen definiert wird 2 ). 

Heilbronner geht dabei von der Anschauung aus, daB das Motorium der 
Extremitaten dem Brokaschen Zentrum homolog zu setzen ist, und daB die trans¬ 
corticale motorische Aphasie als durch eine Isolierung des Broca vom iibrigen 
Gehim entstanden aufzufassen ist. 

Gegen die erst ere Anschauung hat sich besonders Hartmann ausgesprochen. 
Er mochte die Extremitatenzone der Zentralwindung homolog der Zentralwindungs- 
zone der motorischen Himnerven setzen (S. 106), und das Analogon des Brocaschen 
Zentrums in einem noch ,,ausstehenden“ Zentrum fiir „die Erinnerungsbilder 
komplizierter Bewegungsvorgange der Extremitatenmuskulatur“ sehen, das er 
geneigt ist, ins Stimhirn zu verlegen. So sehr ich in bezug auf die Annahme eines 
derartigen iibergeordneten Zentrums mit Hartmann iibereinstimme (cf. spater), 
so wenig kann ich jedoch seiner Gegeniiberstellung der Zentralwindungszone 
fiir die Extremitaten und mit der fiir die Hirnnerven, soweit sie fiir die 
Sprache in Betracht kommen, einfach beitreten. Die Extremitatenzone ent- 
halt vielmehr meiner Meinung nach vveit mehr; sie enthalt zwei verschiedene 
Zentren der Hirnnerven vereinigt, oder richtiger, was in der Extremitaten¬ 
zone noch einheitlich ist, hat sich infolge der ganz speziellen Ausbildung 
des Sprachapparates hier in zwei Abschnitte getrennt. Was bei den Extremitats- 

1 ) Meynert, Klinische Vorlesungen liber Psychiatrie. Wien 1890. 

2 ) Cf. hierzu Kleist, Jahrbucher fur Psychiatrie. 1907. 


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1908 . 


ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


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bewegungen durch kompliziertere Funktion desselben Gebietes geleistet werden 
kann (und ev. bei der „motorischen Apraxie" Heilbronners durch Herabsetzung 
der Leistungsfahigkeit gestort sein kann), dafiir hat sich gemaB der soweit hoheren 
Kompliziertheit der in Frage kommenden Leistung bei der Sprache ein eigenes 
Himgebiet ausgebildet. Heilbronner stellt deshalb mit Recht die motorische 
Apraxie der motorischen Aphasie gegeniiber und die Eigenleistungen des Extremi- 
tatenmotoriums dem des Broca. Hartmann homologisiert dagegen meiner Meinung 
nach mit Unrecht „die Bewegungsbilder" der Sprache, die er als Leistung der 
Brocaschen Stelle betrachtet, mit der ,,Summe abstrakter Richtungsvorstellungen", 
die in dem den Zentralwindungen iibergeordneten Zentrum gebildet werden. 

Die „Bewegungsbilder" entsprechen den motorischen Merksystemen oder den 
kinasthetischen Erinnerungsbildern (resp. beiden), die wir, so wie in die Brocasche, 
in die motorische Extremitatenzone lokalisieren konnen; die ,,abstrakten" Rich- 
tungsvorstellungen sind aber, wie Hartmann sie an anderer Stelle bezeichnet, 
eine „neue, fur die Rezeption durch die motorische Extremitatenrinde brauchbare 
einheitliche Energieform" — einheitlich besonders gegeniiber der Vielgestaltigkeit 
der Sinneseindriicke, durch die sie erweckt wird. Diese ,,neue Energieform" kann 
unmoglich weder dem motorischen Bewegungsbild, noch den kinasthetischen Er¬ 
innerungsbildern gleich sein. Ihr entspricht bei der Sprache die Erregung der 
Glpssopsyche, die ebenso wie das iibergeordnete Zentrum Hartmanns „die Ein- 
heit der Handlung garantiert" (S. no), die Einheit der Sprachvorstellung garantiert 
gegeniiber dem akustischen und motorischen Bestandteil, denen sie ihren Ursprung 
verdankt. 

GemaB dieser Anschauung kann ich aber die Liepmannsche Form der 
Apraxie (ebenso wie prinzipiell ahnliche Falle wie den Hartmanns und meinen 
eigenen) nicht als transcorticale Apraxie bezeichnen. Sie entspricht einer Ab- 
sperrung des Brocaschen Zentrums; diese macht aber keine transcorticale Aphasie. 
Heilbronner hebt mit Recht hervor, daB diese Absperrung gerade einen wesent- 
lichen Teil der transcorticalen Aphasie, das Erhaltenbleiben des Nachsprechens 
und gewisser Eigenleistungen, unmoghch machen wiirde, weil jede sensorische An- 
regung fehlt. Eine derartige Lasion wiirde auch nicht die positiven Symptome, 
die Storungen der Spontansprache, erklaren. Die transcorticale Aphasie kommt 
eben gar nicht durch eine derartige Absperrung zustande, sondem durch eine Ab¬ 
sperrung des gesamten sensomotorischen Sprachapparats + Glossopsyche vom 
iibrigen Gehim, von den ,,Begriffen", und zwar meist durch eine Lasion der Be- 
griffe selbst, wie ich an anderer Stelle ausgefiihrt habe 1 ). Bei der transcorticalen 
Aphasie sind die hochsten psychischen Leistungen gestort, und die Stoning der 
Sprache ist davon abhangig, sekundar; der Sprachapparat an sich ist intakt. 

„Ein derartiger Patient besitzt", wie Pick 2 ) es schildert, ,,einen sehr groBen 
Wortschatz, spricht auch, dazu angeregt, sehr viel, reiht jedoch die einzelnen meist 
korrekten Worte sinnlos aneinander, ohne daB er daran etwas Auffallendes finden 
wiirde" (S. 646). 

Die Stoning des Handelns, die der transcorticalen Aphasie entsprechen wiirde, 
wiirde sich auch in sekundaren Bewegungsstorungen auf Grund von den Agnosien 

1 ) Zur Frage der amnestischen Aphasie usw. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 41. 

2) Pick, A., Ein Fall von transcorticaler sensorischer Aphasie. Neur. Centralbl. 1890. 


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DR. KURT GOLDSTEIN. 


Journal f. Psychologic 
and Neurologic. 


nahestehenden zentralen Schadigungen darstellen, wobei theoretisch der ideatorische 
Entwurf noch intakt sein kdnnte, nur infolge der Begriffsschadigung, z. B. einer 
Verkennung des Objektes, ein falscher Entwurf in Funktion gesetzt wiirde. Es ist 
nach unserer vorher dargelegten Auffassung jedoch wahrscheinlich, daB mit diesen 
Lasionen der „Begriffe“ immer auch eine Schadigung des ideatorischen Entwurfes 
bis zu einem gewissen Grade parallel gehen wird (was auch den Tatsachen ent- 
spricht, cf. die Beobachtungen Bonhoeffers 1 ), Picks 2 )), da beide Leistungen 
doch im selben Substrat zustande kommen. Es wird dann nicht immer leicht sein, 
zu entscheiden, wieviel von den Bewegungsanomalien auf Grund von „Begriffs- 
schadigung“, wieviel auf Rechnung der Schadigung der Ideation der dem Begriffe 
zugehorigen Bewegung zu setzen ist. Es hat erst sehr scharfsinniger Analysen be- 
durft, um diese ideatorischen Bewegungsstorungen iiberhaupt zu isolieren (cf. bes. 
A. Pick). 

Die ideatorische Apraxie an sich entsprache den Sprachstorungen auf Grund 
der Lasion des glossopsychischen Feldes, der sog. glossopsychischen Aphasie. Ebenso 
wie diese durch Paraphasie, Wortverwechslungen und Verstiimmlungen ausgezeichnet 
ist, also durch eine Lockerung in der Einheit komplizierterer Sprachvorstellungen, 
bei leidlichem Erhaltensein der einfachsten Leistungen, z. B. dem Sprechen von 
Buchstaben — ebenso stellt sich die Storung des ideatorisch Apraktischen als eine 
Lockerung im Verbande der komplizierteren Handlungen dar, wahrend die ein- 
fachen Bewegungen an sich intakt bleiben konnen. Die Bewegungsverwechslung, 
die Bewegungsverstiimmlung, sind das Charakteristische der ideatorischen Apraxie. 
Ich glaube auch sicher, daB bei der ideatorischen Apraxie immer Storungen des 
Nachahmens vorhanden sein werden, analog der Paraphasie des Nachsprechens 
beim glossopsychisch Aphasischen. 

Die Storungen, die der ideatorischen Apraxie, den Agnosien usw. und der 
transcorticalen Aphasie zugrunde liegen, sind nach unseren Ausfiihrungen in ahn- 
licher Weise zu lokalisieren, in der Stereopsyche. Daraus folgt, daB alle drei Sto¬ 
rungen in gewissem Grade wenigstens immer vergesellschaftet auftreten werden. 
Fur die transcorticale Aphasie und Agnosie usw. gilt dies in ausgesprochenem 
MaBe (cf. hierzu die Arbeit von Berg 3 ), im besonderen die Tabelle S. 348ft.); ob 
bei diesen Fallen auch Apraxie vorliegt, darauf ist bisher zu wenig geachtet worden. 
In den Fallen von ideatorischer Apraxie scheint Agnosie ebenfalls immer gleich- 
zeitig zu bestehen. In den Fallen Bonhoeffers und Picks ist das sehr aus- 
gesprochen. — Bei der Beurteilung des Einzelfalles ist zu beriicksichtigen, daB die 
gleiche Lasion zwar eine deutliche Storung in einer Richtung, aber eine relativ 
geringe in anderer wohl machen kann; es spielen hierbei so vielerlei Momente der 
Obung, der Anlage, der Kompliziertheit oder Einfachheit der Leistung mit, die 
nicht immer werden ganz zu entwirren sein, jedenfalls ohne eingehendste Spezial- 
analyse nicht zu beurteilen sind. 

Zwischen Stereopsyche und Motorium ist dann die eigentlich 
motorische Apraxie zu lokalisieren; beide sind intakt, der ideato¬ 
rische Entwurf sowie das ausfiihrende Organ, nur die Verbindung 

*) Archiv f. Psychiatrie. Bd. 37. 

2 ) Studien uber motorische Apraxie usw. Wien 1905. 

3 ) Beitrag zur Kenntnis der transcorticalen Aphasie. Monatsschr. f. Psych. XIII. 


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ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


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zwischen beiden ist gestort. Eine analoge Stoning kommt bei der Sprache 
kaum vor. Sie wxirde, wie Heilbronner schon darlegt, einer Abspemmg der 
Brocaschen Windung mit alleinigem Erhaltensein ihrer peripheren Bahnen ent- 
sprechen. Eine derartige Stoning miiBte die Eigenleistungen des Broca, die rein 
motorischen Sprachresiduen, intakt lassen, ahnlich wie die Absperrung der Extre- 
mitaten. 

Der Nachweis wird aber bei der Sprachstorung infolge der Unmoglichkeit 
jeder sensorischen Anregung unmoglich sein (cf. Heilbronner, S. 181). Darin 
besteht ein nicht unwesentlicher Unterschied zwischen dem Extremitatenmotorium 
und dem Broca. Eine Lostrennung des Extremitatenmotoriums von alien sen¬ 
sorischen Elementen ist aus rein anatomischen Griinden schon kaum denkbar; 
deshalb wird eine gewisse Anregungsmoglichkeit des Motoriums hier immer er- 
halten bleiben. Die entsprechende Aphasie ist, da sie von der einfachen Wort- 
stummheit nicht zu unterscheiden ware, bisher nicht als besondere Form be- 
schrieben worden, zumal eine derartige Lasion wohl nie ohne gleichzeitige Mit- 
lasion des glossopsychischen Feldes oder des Broca selbst eintreten konnte, deren 
Symptome dann das Bild beherrschen. 

Ehe wir naher auf die motorische Apraxie eingehen, der unser Hauptinteresse 
zugewendet ist, wollen wir der Vollstandigkeit halber noch kurz die letzte Form 
der Storung des Handelns erwahnen, die Heilbronner als corticale Apraxie 1 ) 
bezeichnet, und die er charakterisiert durch ,,die Schadigung der Eigenleistungen 
des Sensomotoriums und das Oberwiegen der parakinetischen Erscheinungen bei 
alien Bewegungsformen". Es kommt zu einer Schadigung im Gefiige gewisser 
erlemter Bewegungskombinationen, „die weder durch Parese noch durch Ataxie 
bedingt ist." Heilbronner weist besonders auf die Storungen des Pfeifens, 
Strickens, Gehens und ahnliches hin, ohne daB die motorische Aktionsfahigkeit 
an sich dafiir eine geniigende Erklarung bietet. Die dieser ,,corticalen motorischen 
Apraxie" zugrunde liegende Lasion miiBten wir innerhalb der motorischen Rinde 
suchen; und zwar hat sie einen mehr funktionellen als grob-anatomischen Charakter. 
Sie vernichtet nur die komplizierteren assoziativen Verbande, wahrend sie die ein- 
facheren intakt laflt. Diese Apraxie entspricht dadurch im groBen ganzen der 
Lasion der Brocaschen Stelle 2 ) selbst, also der sog. subcorticalen motorischen Aphasie 
(cf. Goldstein 1 . c. Archiv f. Psych., S. 28), die die Mund-, Lippen-usw. Bewegungen 
an sich verschont, nur ihre Zusammenfiigung zu den komplizierteren Sprach- 
bewegungen schadigt. Das Vorhandensein zw'eier Zentren fur die Sprachmuskulatur 
im Gegensatz zu dem einheitlichen Extremitatenzentrum, auf das wir schon vorher 
hinwiesen, erklart, warum die Storung bei der Sprache so sehr viel haufiger und 
reiner in Erscheinung tritt als bei den Extremitatenbewegungen. 

Die motorische Apraxie. 

Wir waren zu dem Resultat gelangt, daB die motorische Apraxie durch die 
Unterbrechung der Verbindung zwischen Stereopsyche und Motorium zustande 
kommt. 

1 ) Cf. die interessante Arbeit von Kleist. Jahrbucher f. Psychiatrie. 1907. 

2 ) Hiermit ist immer das psychologisch definierte Zentrum gemeint, ganz gleichgiltig, 
ob es wirklich der sog. Brokaschen Windung entspricht oder nicht. 


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DR. KURT GOLDSTEIN. 


Journal f. Psycbolojp® 
and Neurologic. 


Wo sollen wir die Lasion lokalisieren? Unsere theoretischen Oberlegungen 
konnten uns nur so viel lehren, daB das stereopsychische Feld sich fiber einen groBen 
Teil beider Hemispharen zwischen den sensorischen und motorischen Gebieten 
ausdehnt. Es muBte weiterhin, da es ein einheitliches Organ ist, einen Teil des Bal- 
kens in sich fassen. Dabei lieB sich rein theoretisch kaum ein Unterschied der 
Wertigkeit des linken und rechten Abschnittes ableiten. Die verschieden groBe 
Geschicklichkeit beider Hande kann durch die groBere Geiibtheit des linken Senso- 
motoriums ihre Erklarung finden. 

Hier haben uns die pathologischen Erfahrungen einen groBen Schritt weiter 
gefiihrt. Es hat sich ergeben, daB 

1. die linke Hemisphare eine weit groBere Bedeutung fur die Bildung und 
Reproduktion komplizierterer Bewegungsvorstellungen hat, so daB bei 
einer Absperrung des rechten Sensomotoriums von der linken Hemisphare 
auch die linke Hand a- resp. dyspraktisch wird (linksseitige Apraxie bei 
Balkenunterbrechung, Lie pman ns ,,sympathische“ Miterkrankung der 
linken Hand der cortical Dextroplegischen [S. 241]); 

2. daB in alien Fallen von Apraxie mindestens eine Unterbrechung von 
Bahnen des linken Stimhims zu dem apraktischen Motorium best eh t. 
Dieser zweite Punkt ist bisher noch nicht mit geniigender Klarheit hervor- 
gehoben worden. 

Tatsachlich sind ja recht verschiedene Lasionen bei Apraxie beobachtet 
worden; Balkenlasionen, Zerstorungen des Stimhirns (Hartmann, Liepmann) 
und schlieBlich die komplizierte Erweichung bei dem Liepmannschen Regierungs- 
rat. Es muB dies bei einem im groBen ganzen so gleichen Symptomenbilde stutzig 
machen und den Verdacht erwecken, daB die tatsachlich gefundenen Veranderungen 
die fiir das Symptomenbild notwendige Lasion zwar in sich bergen, aber durch 
eine Mitverletzung noch anderer Gebiete verdecken. Es laBt sich hoffen, daB wir, 
wenn wir das alien Gemeinsame herausschalen, die wirklich in Frage kommende 
Lokalisation finden. Dieses alien Gemeinsame ist aber die Unterbrechung 
zwischen Motorium und linkem Stirnhirn. Diese Lasion findet sich am 
deutlichsten verwirklicht in Hartmanns erster Beobachtung, der deshalb eine 
ganz hervorragende Bedeutung zukommt. Auch in Liepmanns Falle sind, nach 
des Autors eigenen Worten (Liepmann, Monatsschr. f. Psychiatrie, Bd. 17, S. 310), 
die linken Zentralwindungen durch einen subcorticalen Stimhimherd zahlreicher 
Verbindungen zur Rinde des Stimhims beraubt. DaB schlieBlich in den Balken¬ 
lasionen eine Unterbrechung der Bahnen vom linken Stirnhirn zum rechten Mo¬ 
torium inbegriffen ist, bedarf ja keiner Ausfiihrung. Ich bin deshalb geneigt, in 
der Lasion der Bahnen zwischen linkem Stirnhirn und dem betreffen- 
den Motorium die kleinste, fiir das Zustandekommen der motorischen 
Apraxie notwendige und damit die wesentlichste Lasion zu sehen. 
Ich stehe damit im allgemeinen in Ubereinstimmung mit den Aus- 
fiihrungenHartmanns(S. 262). Fiir ihn ist „das linke Stirnhirn ein Merkzentrum 
fiir die hohere Koordination der aus verschiedenen Sinnesgebieten und deren Merk- 
zentren gelieferten Bewegungsbilder". Dieses Merkzentrum entsprache funktionell 
dem stereopsychischen Felde. In ihm wird ,,das vergleichbare und gegenseitig 
ersetzbare kinasthetische raumliche Material, welches die einzelnen Sinnesgebiete 


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ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


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liefern, in eine neue, fur die Rezeption durch die motorische Extremitatenrinde 
brauchbare einheitliche Energieform 44 iibergefuhrt (S. no). Dieses Zentrum ,,ver- 
mag erst das durch zeitliches Nebeneinander und Nacheinander, zweckmaBige Folge 
und bestandige Kontroile des Gesamtgehimes charakteristische Continuum des 
Erregungsablaufes der motorischen Projektionsbahnen, die Einheit der Hand- 
lung zu garantieren 44 . Diese Worte Hartmanns stimmen im wesentlichen mit 
unserer Charakteristik des stereopsychischen Feldes iiberein. 

Ob man jedoch nach der Hartmannschen Beobachtung berechtigt ist, 
die Stereopsyche ohne weiteres in das Stimhim zu lokalisieren, ist zum mindesten 
zweifelhaft. Man kann den Befund jedenfalls auch so auslegen, daB durch den 
Stimhimherd wesenthche Verbindungen zwischen Stereopsyche und Motorium 
gelost sind, und daB das Stimhim die wichtigste Statte dieser Obertragung dar- 
stellt, wahrend das stereopsychische Feld selbst einen viel groBeren Teil des Ge- 
himes einnimmt. Allerdings spricht manches im Hartmannschen Falle fur eine 
betrachtliche Funktionsstdrung des stereopsychischen Feldes selbst; es fehlt dem 
Patienten jede Selbstwahmehmung der Ausfallserscheinungen, er saB stundenlang 
ruhig ohne sich um die Umgebung zu kiimmem; auch das Erkennen fur rechts- 
seitige Sinneseindriicke war unmoglich. Jedoch ist hierbei nicht mit Sicherheit 
zu entscheiden, inwieweit es sich nur um Nachbarschaftssymptome handelt infolge 
allgemeiner Druckwirkung oder durch spezielle toxische und mechanische Schadigung 
in der Nahe des Tumors. Immerhin miissen wir im Stimhim einen wesentlichen 
Bestandteil des stereopsychischen Feldes sehen und diirfen uns die Eupraxie 
im wesentlichen an die Intaktheit der Stirnhirnverbindung des Mo- 
toriums gebunden denken 1 ). Es scheint mir deshalb wahrscheinlich, daB auch 
in dem Liepmannschen Falle die Lasion im Stirnhirn eine wesentliche Ursache 
der rechtsseitigen Apraxie gewesen ist. 

Wir konnen jetzt den vorher nur allgemein fur die linke Hemisphere aus- 
gesprochenen Satz dahin prazisieren, daB es die Trennung der Verbindungen mit 
dem linken Stimhim ist, die in den Fallen von Balkenlasion die A- resp. Dyspraxie 
der linken Hand erzeugt 2 ). 

Kehren wir jetzt nochmals zu der Frage des Nachahmens zuriick, so muB 
nach der Theorie die Lasion der Stimhirnbahn zum Motorium auch das Nach- 
ahmen aufheben resp. schwer schadigen. Dieses findet sich tatsachlich bei Hart¬ 
manns Patienten bestatigt. Hier ist ja mit Sicherheit auszuschlieBen, daB etwa 


1) AuBerdem durften hierbei vielleicht bes. noch Verbindungen mit dem oder durch 
das untere Scheitellappchen eine Rolle spielen (cf. Liepmann, dann C. von Monakow, 
Ergeb. d. Physiolog. von Asher, Spiro 1907, S. 600 ff. fOber den gegenwartigen Stand der 
Frage nach der Lokalisation im GroBhim]). 

2 ) Gegen diese Annahme eines frontalen Praxiezentrums hat van Vleuten (1. c.) seine 
Beobachtung verwerten wollen und Liepmann (Deutsche Klinik, 1907) hat sich ihm an- 
geschlossen. Ich glaube nicht, daB der Fall in dieser Beziehung einwandsfrei ist. Die links- 
seitige Apraxie bei rechtsseitiger Eupraxie im ersten Stadium laBt sich, wie van Vleuten 
selbst einwendet (S. 239), durch einfache Balkenlasion erklaren. In diesem ersten Stadium 
braucht aber der Tumor nur wesentlich im Balken lokalisiert gewesen zu sein. Erst spater 
mag er ins linke Stirnhirnmark hineingewuchert sein; nachher fand sich dementsprechend 
auch rechtsseitige Dyspraxie. Die Verwertung eines derartigen Befundes erfordert jedenfalls 
groBte Vorsicht. 


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und Neurologie. 


eine optisch-motorische Bahn ladiert sei. Ganz ahnlich verhalt es sich bei der 
Stoning des optischen Nachahmens in den linken Extremitaten bei Balkenlasionen 
(cf. van Vleuten, Hart man n). Die psychologische Theorie und die pathologische 
Anatomie sprechen gegen die Annahme direkter sensorisch-motorischer Bahnen; wenn 
sie existieren, so haben sie nur eine geringe Bedeutung (fur KurzschluBreaktionen). 

Ein etwas groBerer Wert scheint ihnen nur fur die Korpersensibilitat zu- 
zukommen. Zu einer derartigen Annahme muB die Beobachtung Hartmanns 
veranlassen, bei der sich das Nachahmen passiv erteilter Stellungen intakt erwies. 
Es entspricht dies ja auch unseren theoretischen Ausfuhrungen, die dieses Nach¬ 
ahmen gerade als relativ einfache Leistung erkennen lieBen, fur deren Zustande- 
kommen wir am ehesten auf KurzschluBreaktionen requirieren konnten. 

Bei dem Hart man nschen Patienten handelte es sich zweifellos um sehr 
primitive Leistungen; sonst hatte der Autor die nachgeahmten Bewegungen, fur 
die unsere Beurteilung, wie wir schon betonten, an sich eine recht grobe ist, nicht 
als ungeschickt bezeichnet. Vielleicht ist auch von Bedeutung, daB ja in dem be- 
treffenden Falle das Motorium der linken Hemisphare mit dem stereopsychischen 
Abschnitt der rechten Hemisphare noch in Verbindung war. 

Die Lasion der Stimhirnbahn zum Motorium wird wegen der anatomischen 
Verhaltnisse wohl meist auch die Verbindung der Korpersensibilitat mit der Stereo¬ 
psyche und den iibrigen sinnlichen Erinnerungen mehr oder weniger unterbrechen. 
Deshalb wird die motorische Apraxie meist von einer Tastlahmung begleitet sein. 
Tatsachlich zeigten Liepmanns, Hartmanns und auch unsere Patientin eine 
derartige Tastlahmung. DaB jedoch kein notwendiger Zusammenhang zwischen 
Tastlahmung und motorischer Apraxie besteht, darauf deutet der Umstand hin, 
daB die Apraxie bei Liepmanns Patienten zwar bestehen blieb, die Tastlahmung 
aber erheblich zuriickging. 

Unsere Anschauungen iiber die Stereopsyche, die durch die Pathologie im 
wesentlichen bestatigt werden, erfahren durch diese insofern eine Prazision, als 
wir dem linksseitigen Abschnitt des stereopsychischen Feldes eine ganz hervor- 
ragende Bedeutung zuerkennen miissen. In ihm kommen wahrscheinlich allein alle 
komplizierteren Bewegungsfolgen zustande; er allein besitzt das Gedachtnis fiir sie. 
Deshalb sind auch alle linksseitigen komplizierteren Bewegungen an die Intaktheit 
der Verbindung des rechtsseitigen Sensomotoriums mit der linken Stereopsyche 
gebunden. Die Intaktheit der Leitungsbahnen zwischen Sensorium der linken 
Hemisphare und dem stereopsychischen Felde in der rechten Hemisphare, „die 
einfache Verbindung durch den Balken", geniigt auch nicht zur richtigen Auslosung 
von Bewegungen von den Sinnesflachen her (Hartmann). Auch hierfiir ist „das 
linke Stirnhirn und seine Balkenverbindung mit dem rechten Gehim von einschnei- 
dender Bedeutung" (Hartmann, S. 105). Dadurch tritt die Uberwertigkeit des 
linken Abschnittes der Stereopsyche ganz besonders klar hervor, wenn wir nicht 
iiberhaupt annehmen wollen, daB eine Ubertragung der sensorischen Erregungen 
von einer Seite auf die Stereopsyche der anderen nur durch Vermittelung des linken 
Stimhims moglich ist. (Anatomisch laBt sich diese Frage bisher in keiner Weise 
entscheiden.) 

Aus demselben Grunde ist das zweihandige Agieren abhangig von der Tatig- 
keit der hnken Hemisphare (Beobachtungen von Liepmann, Hartmann usw.). 


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ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


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Wahrscheinlich besitzt auch fur das Erkennen der linke Abschnitt der Stereo¬ 
psyche eine hohereWertigkeit als der rechte. Es ist hier nicht derOrt, darauf naher 
einzugehen. Wir diirfen annehmen, daB allein das linke stereopsychische Feld zur 
Bildung komplizierterer Raumvorstellungen und zu ihrer Bewahrung imstande ist. 
Darauf deutet z. B. die Beobachtung Oppenheims 1 ), der bei einer Affektion der 
linken Hemisphere auch eine Astereognosis der linken Hand fand, die mit Be- 
seitigung der linksseitigen Lasion zum Verschwinden kam 2 ). Es braucht wohl 
kaum betont zu werden, daB der Grad der Uberwertigkeit der linken Stereopsyche 
ein individuell sehr verschiedener ist. Vielleicht kommt hier auch gelegentlich, 
ahnlich wie in der Lokalisation der Sprache, ein Situs inversus vor. 

Welche Bedeutung kommt dem rechtsseitigen Abschnitt des stereo- 
psychischen Feldes zu? Zur Beantwortung dieser Frage, die uns speziell zur 
Beurteilung unseres Falles interessieren muB, haben wir, abgesehen von einer 
Beobachtung von Hartmann (Fall 3), nur wesentlich die Falle von Balkenunter- 
brechung heranzuziehen. Die Balkenunterbrechungen lehren nun, daB eigentlich, 
abgesehen von den Eigenleistungen des rechten Sensomotoriums, nur die Inten¬ 
tion zu Bewegungen iiberhaupt und das Nachahmen passiver Bewe- 
gungen derselben Seite intakt bleiben, also der rechtsseitige Abschnitt der Stereo¬ 
psyche weit weniger leistungsfahig ist als der linke. Er stellt im wesentlichen wahr¬ 
scheinlich einen Ubertragungsapparat zwischen Sensorium und Motorium der 
rechten Hemisphare und dem linksseitigen stereopsychischen Felde dar. Eine 
groBere Bedeutung diirfte ihm fur die zweihandige Tatigkeit zukommen; denn 
diese zeigt sich auch rechts bei einfacher Balkenunterbrechung gestort (Hart¬ 
manns Fall 2). Weiterhin scheint er doch den linksseitigen Abschnitt insofem 
unterstiitzen zu konnen, als ohne seine Mithilfe die gedachtnismaBige Reproduktion 
komplizierterer Bewegungsfolgen in diesem erschwert ist, sobald die direkten Sinnes- 
wahmehmungen ausgeschaltet werden (cf. Hartmann, S. 249), der rechts¬ 
seitige Abschnitt des stereopsychischen Feldes garantiert erst die 
Eupraxie der linken Hemisphare als reine Gedachtnisleistung. Da- 
mit diirften aber, soweit unsere jetzigen Kenntnisse reichen, die Leistungen des 
rechtsseitigen Abschnittes der Stereopsyche im wesentlichen erschopft sein. 

Den Hauptleistungen des rechten Sensomotoriums steht auch 
der linksseitige Abschnitt des stereopsychischen Feldes vor. Auf 
welchem Wege stehen diese beiden Abschnitte in Verbindung? Diirfen wir eine 
direkte Verbindung mit dem Sensomotorium annehmen, oder auch hier als Mittel- 
station das rechte Stirnhim betrachten ? Mir scheint rein theoretisch die zweite An- 
nahme wahrscheinlicher. Unsere Erfahrungen reichen nicht aus, um die Frage mit 
Sicherheit zu entscheiden. Die bisherigen Falle von Balkenlasionen sind dazu un- 
geeignet, weil sie immer zu ausgedehnt waren, und bei ihnen der groBte Teil aller 
Verbindungen zwischen beiden Hemispharen unterbrochen war. Liepmann, 
nach dessen Ansicht der EinfluB der linken Hemisphare auf die rechte vom linken 

*) Oppenheim, tlber einen bemerkenswerten Fall von Tumor cerebri. Berl. klin. 
Wochenschr. 1906. S. 1001. 

8 ) Cf. auch Lie p man ns Beobachtung von Seelenblindheit bei Herd in der linken 
Calcarinagegend mit starker Schadigung des Forceps (zit. nach Liepmann, Med. Klinik), 
der in ahnlichem Sinne zu verwerten ware. 


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und Neurologic. 


Sensomotorium selbst ausgeht, neigt dazu, besonders die mittlere Partie des Balkens 
als wesentlich fiir die Eupraxie der rechten Hemisphere zu betrachten. Diese mittlere 
Partie wiirde allerdings eher einer Einstrahlung ins rechte Sensomotorium selbst, 
als in das Stimhim entsprechen. Jedoch diirfte ein Beweis fiir die Liepmannsche 
Ansicht bisher kaum erbracht sein. Immer waren ja auch die vorderen Abschnitte 
des Balkens ladiert. Fiir unsere Anschauung spricht bis zu einem gewissen Grade 
der dritte von Hartmann veroffentlichte Fall, bei dem essich um eine Erweichung 
im Mark des rechten Stimhims handelt. Der betreffende Patient bot deutliche 
Zeichen einer rechtsseitigen A- resp. Dyspraxie. Nun ist die Beurteilung der Lage 
des Herdes nach der Hart man nschen Publikation nicht ganz einfach. Sicherlich 
diirften wohl aber die Balkenfasem zum rechten Sensomotorium intakt sein; und 
das ist ja fiir unsere Frage wesentlich. Wir diirfen also — soweit aus einem Falle 
einen SchluB zu ziehen iiberhaupt erlaubt ist — die Ursache der linksseitigen Apraxie 
hier nicht in einer Unterbrechung der Balkenfasern zum rechten Sensomotorium 
sehen. Der Herd in dem Hart man nschen Falle scheint mir vielmehr einerseits 
Fasem zwischen dem rechten Stirnhim und dem rechten Sensomotorium, anderer- 
seits Balkenfasern des rechten Stimhims zerstort zu haben. Der Fall ist also viel- 
leicht fiir die Annahme zu verwerten, daB dem rechten Stirnhirn resp. der 
rechten Stereopsyche eine Vermittlerrolle zwischen linker Stereo¬ 
psyche und rechtem Sensomotorium zukommt. 

Bemerkenswert ist bei dem Hartman nschen Falle das Verhaltnis der ge- 
storten zu den erhaltenen Bewegungsfolgen. Ein Teil erklart sich wohl dadurch, 
daB es sich nur um eine relativ geringfiigige Lasion handelt, die die schwereren 
Leistungen storte, die einfacheren aber noch zustande kommen lieB. Deshalb 
konnte Patient ahnlich wie die von Heilbronner und Maas beschriebenen Be- 
wegungen, die er aus der Erinnerung nicht auszufiihren vermochte, nachmachen. 
Schwer diirfte aber zu verstehen sein, daB dem Patienten Ausdrucksbewegungen 
auf GeheiB weit besser gelangen als einfache Bewegungen, wie z. B. das Spreizen 
der Finger. Leider sind die Protokolle nicht ausfiihrlich genug, so daB eine Be¬ 
urteilung der Einzelheiten nicht moglich ist. Auch die Tatsache, daB die Objekt- 
handlungen gerade so besonders schwer gestort sind, bietet der Erklarung gewisse 
Schwierigkeiten. 

Das Agieren mit Objekten kann man keineswegs als eine schwierigere Leistung 
auffassen, als die Ausdrucksbewegungen und das Nachmachen vorgemachter Be¬ 
wegungen. Heilbronner halt sogar wohl mit Recht das Agieren mit Gegenstanden 
in mancher Beziehung fiir einfacher als die Bewegungsnachahmung, „weil beim 
Manipulieren auftretende taktil-kinasthetische Empfindungen unter Umstanden 
durch Anregung der Eigenleistungen des Sensomotoriums gewisse Hilfen bieten“ 
( 1 . c. Miinch. med. Wochenschr., S. 1898). Nun gilt dies natiirlich nur fiir die Objekt- 
handlungen an der Hand des Objektes selbst, nicht fiir das Vormachen auf sprach- 
liche Aufforderung. Diese zweite Leistung ist zweifellos haufig schwieriger als die 
einfachen Ausdrucksbewegungen. Leider sind beide Arten von Leistungen bei den 
einzelnen Fallen nicht immer geniigend unterschieden worden. Im Hart man nschen 
Falle scheinen beide gestort gewesen zu sein. Aus der Lokalisation des Herdes 
diesen Befund zu erklaren, erscheint mir nicht recht moglich. Ebensowenig liefem 
uns fiir die Auffassung des Objekthandelns die Falle von Balkenlasion geniigende 


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Anhaltspunkte. In dem Hartmannschen Falle zeigten sich links die Objekt- 
handlnngen ebenso schwer gestort wie alle anderen. Dagegen gelang das Agieren 
mit Objekten in dem Falle von Liepmann und Maas zweifellos besser als die 
einfachen Ausdrucksbewegungen; und in noch weit hoherem MaBe war dies in dem 
Falle von van Vieuten der Fall. Ganz ahnliche Lasionen lieferten also ganz ver- 
schiedene Resultate, ohne daB sich aus den Einzelheiten des Falles bisher eine Er- 
klarung geben lieBe. Jedenfalls scheint fur das Objekthandeln auch wohl 
an der Hand des Objektes der linksseitige Abschnitt des stereo- 
psychischen Feldes auch fur die linke Hand von groBter Bedeutung 
zu sein. Ein abschlieBendes Urteil ist nach den bisherigen Erfahrungen iiber das 
Objekthandeln nicht moglich. 

Unsere Patientin bot fiir die Bedeutung der taktil-kinasthetischen Emp- 
findungen einen eigentiimlichen Beleg. Wahrend sie einerseits beim einfachen 
Tasten mit gesclilossenen Augen solange nicht zu richtigen Bewegungen imstande 
war, als man ihr nicht den Namen des Objektes nannte, oder sie hinsehen lieB, ge- 
niigte andererseits das Sehen und die sprachliche Aufforderung allein nicht zur 
Auslosung richtiger Objekthandlungen links (rechts war alles prompt), sondern erst 
nachdem man die Objekte ihr in die Hand gab, traten die richtigen Manipulationen 
ein. Es geht daraus hervor, daB die Tastempfindungen, wenn sie auch zur Erweckung 
der Objekthandlungen allein nicht geniigten, doch diese Erweckung unterstiitzen 
konnten, was um so bemerkenswerter war, als die Empfindungen der Patientin 
gar nicht zum BewuBtsein kamen und eine vollstandige Tastlahmung bestand. 

Ehe wir unsere theoretischen Erorterungen schlieBen, mochte ich noch auf 
einen Punkt eingehen, auf die Storung der Intention zur Bewegung iiber- 
haupt. Es besteht darin zweifellos' ein groBer Unterschied zwischen den ver- 
schiedenen Fallen. Hartmann hat schon auf den Gegensatz zwischen dem Liep- 
mannschen und seinem Patienten mit der linksseitigen Stimhimerkrankung in 
dieser Beziehung hingewiesen. Unser Fall ahnelt darin sehr dem Hartmannschen. 
Hartmann neigt dazu, auch fur die Intention fiir beide Hemispharen das linke 
Stimhirn verantwortlich zu machen. Sicherlich ist aber auch ein Erhaltenbleiben 
der Bewegungsintention des rechten Motoriums nach vollstandiger Unterbrechung 
seiner Verbindung mit dem linken Stimhirn moglich. Dafiir sprechen die Falle von 
Balkenunterbrechung von Liepmann und Maas und Hartmann. 

Fiir die linke Hemisphere diirfte das linke Stimhirn auch fiir den Antrieb 
zur Bewegung wesentlich sein, und zwar scheint mir die Differenz zwischen ein- 
facher Apraxie und Apraxie + Beeintrachtigung der Bewegungsintention sich aus 
der Hochgradigkeit der Unterbrechung der Verbindung des Stimhims mit dem 
Motorium zu ergeben. So erklarte sich der Unterschied zwischen Hartmanns 
und Liepmanns Fall. Wahrend bei Hartmanns Patienten fast alle diese Ver- 
bindungen als gestort zu betrachten sind, muB man in dem Liepmannschen Fall 
nach dem anatomischen Befund eine nicht ganz geringe Zahl sicherlich als intakt 
auffassen, die zwar nicht geniigte, um die Eupraxie zu garantieren, aber wohl zur 
Anregung von Bewegungen iiberhaupt. Auf diesen Unterschied ist wohl auch 
zuriickzufiihren, daB in dem Hartmannschen Falle im Gegensatz zu Liepmanns 
trotz anatomischer Intaktheit des Sensomotoriums die Eigenleistungen desselben in 
schwerstem MaBe gestort waren. Fiir das rechte Motorium diirfen wir wohl 


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und Neurologic. 


dem rechten Stirnhirn eine groBe Bedeutung fiir die Intention der 
Bewegung zuschreiben. Dafiir sprechen, abgesehen von dem erwahnten nega- 
tiven Moment, bei Balkenunterbrechung die Storung der Bewegungsintention in 
dem dritten Hartmannschen Falle, bei dem wir ja eine teilweise Unterbrechung 
der Stirnhirnverbindung zum Motorium annehmen miissen. Ahnlich erklart sich 
auch die Verminderung der Bewegungsintention rechts im ersten Hart man nschen 
Falle, der Tumor war ja schon in das rechte Stirnhimmark etwas hineingewachsen. 
Die Frage der S torungen der Bewegungsintention, die ebenfalls noch keineswegs 
eine nur einigermaBen erschopfende Beantwortung zulaBt, bedarf noch eingehender 
Untersuchung. 

Kehren wir jetzt zu unserem Falle zuriick, so konnen wir einen betracht- 
lichen Teil der Symptome durch eine Balkenlasion erklaren: die Apraxie der linken 
Hand, die Storung im Nachahmen vorgemachter Bewegungen, im Agieren mit 
Objekten, die Unmoglichkeit der Nachahmung passiver Bewegung der anderen 
Seite. Es fragt sich nun: wo haben wir die Unterbrechung der Balkenfasem an- 
zunehmen, im Balken selbst oder im MarkweiB der Hemispharen; ferner, geniigt 
die Annahme der Balkenlasion auch zur Erklarung des iibrigen Befundes, im be- 
sonderen der schweren Beeintrachtigung der Nachahmung gleichseitiger passiver 
Bewegungen auf der linken Seite, der Storung der Bewegungsintention und der 
eigentiimlichen Sensibilitatsstorung? Das gleichseitige Bestehen einer linksseitigen 
Hemiparese, das die Annahme eines Herdes in der rechten Hemisphare erfordert, 
muB uns veranlassen, auch den Herd, der die Balkenfasem ladiert hat, in das Hemi- 
spharenmark zu verlegen, wenn wir nicht zwei verschiedene Herde oder einen sehr 
ausgedehnten annehmen wollen. Weiterhin wiirde eine Lasion des Balkens selbst 
auch in groBter Ausdehnung allein nach unseren friiheren Ausfiihrungen die zuletzt 
angefiihrten Symptome nicht erklaren. Wir finden bei Balkenlasionen das Nach¬ 
ahmen gleichseitiger passiver Bewegungen auf beiden Seiten erhalten (Hartmann). 
Die Beeintrachtigung der Bewegungsintention ist dabei, wenn iiberhaupt, nur ganz 
geringen Grades vorhanden; von Sensibilitatsstorungen oder Tastlahmungen wird 
meist gar nichts erwahnt. Nur in der Krankengeschichte von van Vieuten finde 
ich Lagegefiihlsstorungen und eine Erschwerung und Beeintrachtigung des Tastens 
auf der linken Seite verzeichnet. Ein bestimmtes Urteil dariiber, wie weit die 
Balkenunterbrechung die Auffassung sensibler Reize der linken Hemisphare stort, 
ist nach dem vorliegenden Material nicht zu fallen. Fiir die Auffassung der einfachen 
Qualitaten diirfte der rechtsseitige Abschnitt des stereopsychischen Feldes wohl 
reichhch geniigen. Anders verhalt es sich vielleicht mit den Bewegungsempfindungen 
und der Lokalisation. Fiir diese kommt ja ein komplizierteres Urteil in Betracht, 
das wesentlich auf raumlichen Vorstellungen basiert. Man konnte sich deshalb 
denken, daB zu dieser Beurteilung die Leistungsfahigkeit des rechten stereopsychi¬ 
schen Feldes nicht ausreicht und darum die Mithilfe des weit leistungsfahigeren 
linken notwendig ist. Vielleicht lassen sich in diesem Sinne die Lagegefiihls¬ 
storungen des van Vieutenschen Patienten erklaren. Mit weit groBerer Wahr- 
scheinlichkeit diirfen wir fiir die Beeintrachtigung des Tastvermogens der linken 
Hand den Ausfall der Funktionen des linken stereopsychischen Feldes verant- 
wortlich machen. Ich verweise in dieser Hinsicht nochmals auf den schon vorher 


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erwahnten Fall von Oppenheim; im gleichen Sinne spricht auch die Beobachtung 
van Vleutens. Die Storung der Lokalisation, der Bewegungsempfin- 
dungen und des Tastvermogens der linken Seite scheinen mir jedoch 
bei unserer Patientin zu hochgradig zu sein, um sie etwa auch hier 
nur auf die Schadigung von Balkenfaserung zu beziehen; sie diirften 
wohl eher in der Annahme einer Unterbrechung der Verbindung zwi- 
schen rechtsseitigem corticalen Sensibilitatsfeld und rechtsseitigem 
Abschnitt des stereopsychischen Feldes ihre Erklarung finden. Eine 
solche Unterbrechung diirfte allein auch die Storung der Beriihrungs- und Schmerz- 
empfindung und der tiefen Sensibilitat als einfacher Qualitat erklaren, und wahr- 
scheinlich haben wir in ihr auch die Ursache der schweren Beeintrachtigung des 
Nachahmens gleichseitiger passiver Bewegungen der linken Korperseite zu sehen. 
Wenn diese Leistung auch der Mithilfe der Stereopsyche nicht in so hohem MaBe 
bedarf, wie das Nachahmen vorgemachter Bewegungen, so mag sie doch bei mehr 
oder weniger vollstandiger Loslosung des Sensoriums vom stereopsychischen Felde 
ebenfalls schwer leiden konnen. 

So erklart sich wohl auch, daB das Nachahmen vorgemachter Bewegungen 
nicht in so hohem MaBe wie das Nachahmen passiver Bewegungen gestort war. 
Wahrend die Zuleitung optischer Eindriicke zum rechtsseitigen und vielleicht auch 
linksseitigen Abschnitt der Stereopsyche als leidlich intakt angesehen und die 
Storung des Nachahmens wesentlicli auf die Lasion der zum Motorium hinfiihrenden 
Bahnen zuriickgefiihrt werden kann, diirfen wir fur die Beeintrachtigung passiver 
Bewegungen auBerdem noch die Schadigung der zur Stereopsyche zufiihrenden 
sensiblen Bahnen verantwortlich machen. 

Als Grundlage der so stark ausgesprochenen Erschwerung der Intention zu 
Bewegungen der linken Seite konnen wir schlieBlich nach unseren friiheren Aus- 
fiihrungen eine Lasion zwischen rechtsseitigem Motorium und rechtsseitigem Stirn- 
him annehmen. 

Wir miissen danach verschiedene Bahnen bei unserer Patientin als ladiert 
betrachten: 

1. Balkenfasem, 

2. Verbindungsfasern des rechten Motoriums mit dem rechten stereo¬ 
psychischen Felde resp. dem rechten Stimhim 1 ), 

3. Verbindungsfasern zwischen dem rechten corticalen Sensibilitatsfelde und 
dem rechten stereopsychischen Felde (mit dem Stirnhim oder einem 
groBeren Abschnitt des rechten Cortex?), 

4. Pyramidenbahnfasern. 

Ich glaube, daB zu einer Lasion aller dieser Bahnen die Annahme eines 
einzigen Herdes ausreicht, der im subcorticalen Marklager der rechten 
Zentralwindungen direkt unter der Rinde gelegen und, die Zentral- 
windungen selbst leidlich intakt lassend, ihre Verbindungen mit dem 
Stirnhirn, vielleicht auch dem iibrigen rechten Cortex und mit dem 

1 ) Man konnte vielleicht einwenden: wir konnen nach unseren friiheren Ausfiihrungen 
auf die Lasion von Balkenfasern uberhaupt verzichten; diese zweite Lasion geniigte, sie muBte 
doch auch die Balkenverbindung gestort haben; doch erschien mir eine derartige Annahme 
noch zu hypothetisch. 

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ond Neurologie. 


Balken schwer geschadigt hat, dagegen die Pyramidenbahn nur vor- 
iibergehend mitaffiziert hat. Moglicherweise diirfen wir die Rinde des Stim- 
hims selbst als mitbetroffen erwarten. 

Natiirlich bin ich mir bewuBt, daB die lokalisatorische Analyse, die sich in 
mehreren Punkten auf nicht bewiesene Hypothesen stiitzt, solange sie durch die 
Sektion keine Bestatigung gefunden hat, nur als ein Versuch zu betrachten ist. 

Vor allem besteht die Moglichkeit, daB es sich um mehrere Herde handelt, 
von denen einer den Balken selbst betrifft. GewiB liegt die Hauptlasion in der 
rechten Hemisphare und laBt die linke vollig intakt. Dadurch unterscheidet sich 
der Fall von alien bisher beschriebenen Fallen von linksseitiger Apraxie. Klinisch 
kommt dies in dem Fehlen jeglicher, auch einfacher Motilitatsstorung der rechten 
Korperhalfte zum Ausdruck, wodurch die apraktische Storung der linken Seite 
um so deutlicher hervortritt. 

Die vollige Intaktheit der linken Hemisphare ist vielleicht auch mit ein Grund 
fur das voile BewuBtsein, das die Patientin fiir die Storung besitzt, und das Be- 
wegungsverwechslung so gut wie nie zustande kommen lieB, weil die Patientin sich 
immer aufs lebhafteste kontrollierte. Es besteht darin zweifellos ein gewisser Gegen- 
satz gegeniiber dem sonst so ahnlichen Liepmannschen Regierungsrat. 

Die gute Selbstbeobachtung und psychische Intaktheit der Patientin brachte 
eine sehr eigen tiimliche subjektive Storung zu unserer Kenntnis: das Fehlen 
jedes Willensgefiihles fiir die tatsachlich mit der linken Hand ausgefiihrten 
Bewegungen. Es war immer wieder von neuem iiberraschend, wenn Patientin auch 
bei denjenigen Bewegungen, welche sie auf GeheiB leidlich richtig machte, erklarte, 
daB nicht sie sie mache, sondern die Hand; daB es nicht ihr Wille sei, der die Be¬ 
wegungen leite. Eine zufriedenstellende Erklarung diirfte fiir diesen eigentiimlichen 
Befund schwer zu erbringen sein. Vielleicht spielt dabei die schwere Storung der 
Sensibilitat, die ja Patientin zeitweise den Arm als gar nicht zu ihrer Person gehorig 
bezeichnen lieB, eine nicht unwesentliche Rolle. Es wiirde zuweit fiihren, hier auf 
diese Frage naher einzugehen. Ich begniige mich mit der Anfiihrung der Tatsache, 
zumal Patientin nicht intelligent genug war, um die eigentiimliche Storung psycho- 
logisch feiner zu analysieren. 

Von den apraktischen Erscheinungen bei unserer Patientin verdienen noch 
einige Einzelheiten hervorgehoben zu werden. Zunachst mochte ich ein Beispiel 
erwahnen, das den eigentiimlichen EinfluB falscher motorischer Reaktionen auch 
auf anderweitige Bewegungen beleuchtet, die unter anderen Umstanden normal 
vonstatten gehen. Patientin fiihrte eine Zigarette mit der rechten Hand richtig zum 
Munde und machte absolut prompt die entsprechenden Rauchbewegungen; gab 
man ihr nun die Zigarette in die linke Hand, so wuBte sie zunachst nichts mit ihr 
anzufangen, bewegte sie hin und her und versuchte, sie zum Munde zu fiihren. 
Wenn ihr dies scheinbar rein zufallig einmal gelingt und sie die Zigarette einmal 
bis an die Lippen bringt, so steckt sie sie verkehrt hinein oder quer und macht 
keineswegs Rauchbewegungen, sondern bewegt die Lippen in unzweckmaBiger 
Weise hin und her, so daB die Zigarette herauszufallen droht, oder fangt an zu 
kauen, oder ahnliches. Dieses Verhalten ist um so auffallender, als Patientin ihre 
falschen Bewegungen mit lebhaften Ausdriicken des MiBfallens begleitet und die 
richtigen Rauchbewegungen der Lippen sofort ausfiihrt, wenn man sie auffordert 


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1906 . 


ZUR LEHRE VON DER MOTORISCHEN APRAXIE. 


283 


zu zeigen, wie man raucht (ohne Objekt), oder ihr die Zigarette richtig in den Mund 
steckt, oder sie es mit der rechten Hand selbst machen laBt. Von einer Storung 
der Ideation konnte ja nicht die Rede sein; es zeigt dieses Beispiel, wie sehr der 
falsche motorische Ablauf eines Einzelaktes einer komplizierteren Handlung einen 
anderen Einzelakt derselben, der unter anderen Umstanden prompt vonstatten geht, 
zu storen vermag trotz volliger Intaktheit des Gesamtverlaufes. 

Die Apraxie betraf in unserem Faile, ahnlich wie bei Liepmann, auch bis 
zu einem gewissen Grade, namentlich im Anfang der Storung, die Gesichts- und 
Zungenmuskulatur beider Seiten. Interessant war besonders, daB die Lippen- und 
Zungenmuskulatur beim Sprechen in weit besserem MaBe funktionierte als bei 
ahnlichen auf GeheiB ausgefiihrten Bewegungen. Weiterhin scheint die Apraxie 
auch eine Ursache der Blasen- und Mastdarmstorungen gewesen zu sein. 
Patientin lieB dauemd sowohl Urin wie Stuhl unter sich. Es handelte sich aber 
keineswegs um eine einfache Inkontinenz. Patientin hatte ein ausgesprochenes 
Gefiihl des Dranges und verlangte dringend das Becken. Solange sie aber auf diesem 
saB — manchmal eine St unde lang —, lieB sie trotz lebhafter Anstrengung meist 
weder Urin noch Stuhl; sobald aber das Becken weggenommen wurde, lieB sie kurze 
Zeit danach Stuhl und Urin ins Bett. Da, wie man sich iiberzeugen konnte, die 
Bauchpresse gut funktionierte, darf man die Storung wohl auf eine Apraxie der 
Sphincterenmuskulatur zuriickfuhren. 

Zum SchluB will ich noch mit wenigen Worten auf die Schreibstorung 
der linken Hand eingehen. Die sog. innere Sprache, sowie das Schreibvermogen 
der rechten Hand der Patientin, waren in jeder Beziehung intakt. Dagegen konnte 
sie mit der linken Hand weder spontan noch nach Diktat einen einzigen Buch- 
staben schreiben, noch einen kopieren. Der Schreibakt an sich, die Haltung des 
Bleistifts und seine Bewegung waren nicht wesentlich gestort; alles was sie jedoch 
hervorbrachte, waren Kreise, die sie in immer ahnlicher Weise aneinanderreihte, 
und zwar in der Richtung von rechts nach links. Es bestand also eine isolierte 
vollstandige linksseitige Agraphie mit der Neigung zu Spiegelschrift. 
Die Patientin zeigt darin eine groBe Ahnlichkeit besonders mit dem von Liep- 
mann und Maas veroffentlichten Fall. Von den ahnlichen Fallen Heilbronners 
und von Maas* unterscheidet sie sich dadurch, daB die Stdrung auch das Ko¬ 
pieren betraf. Die Agraphie laBt sich nach dem Vorbilde der erwahnten Autoren 
ohne weiteres als apraktische Storung auffassen; die vollige Intaktheit des rechts- 
seitigen Schreibens laBt dariiber gar keinen Zweifel. 

Ich muB es mir leider versagen, auf die Stellung der Agraphie im Gesamt- 
bilde der Apraxie, so interessant es ware, naher einzugehen, da es zu weit fiihren 
wiirde. Zweifellos sind die Falle von apraktischer Agraphie von groBter Wichtig- 
keit fur die Auffassung der Schreibstorungen iiberhaupt und fur unsere Anschau- 
ungen der Lokalisation derartiger Fahigkeiten. 


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2 


19* 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psjchologie 
und Neurologie. 


Aus der neurologisch-psychiatrischen Kilnik der Universitat in Graz. 

Physikalisch-chemische Untersuchungen zur Physiologie 
und Pathologie des Rfickenmarkes. 

Von 

Dr. E. Mayr, klin. Assistenten. 

(II. Fortaetzung und Schlufi.) 

III. Veranderungen der Achsencylinder im Riickenmark durch 

narkotische Stoffe. 

Wahrend es sich bei den soeben beschriebenen Versuchen um absterbendes oder 
totes Gewebe handelt, welches auBerhalb des Korpers zerfallt, kommt es bei der 
sekundaren Degeneration des Nerven, resp. Riickenmarkes, zu einem Zerfall unter dem 
Einflusse des noch lebenden, mit dem schwer geschadigten Gewebsstiicke dennoch 
in Verbindung bleibenden iibrigen Korpers. Auf den prinzipiellen Unterschied 
in histologischer Hinsicht zwischen den Veranderungen im eigenen Korper und 
den Vorgangen in einem fremden Medium hat Merzbacher 1 ) hingewiesen; daB 
aber dennoch beiden Prozessen gemeinsame Vorgange zukommen, scheint bei der 
anscheinend hier gleichartigen Verteilung auf die einzelnen Systeme im Riicken- 
marke auBerordentlich naheliegend zu sein. 

Es drangt sich nun die Frage auf, in welcher Beziehung zu diesen Vorgangen 
die oben naher besprochene primare Degeneration bei den verschiedenen toxischen 
und infektiosen Zustanden steht. Um dieser Frage naher treten zu konnen, wurden 
Versuche angestellt, fiber die im folgenden berichtet wird. 

Stiickchen von Kaninchenruckenmark wurden in physiologische Losungen 
gelegt, denen verschiedene gut bekannte, auf das Nervensystem einwirkende Sub- 
stanzen beigefiigt waren. Es entstanden bei den einzelnen Stoffen verschiedene, 
sowohl in ihrer Verteilung auf die einzelnen Areale als auch in der histologischen 
Form andersgeartete Veranderungen, welche mit denen, die bei reinen physiolo- 
gischen Losungen gefunden wurden, nicht ubereinstimmten. 

Von den beigefiigten Substanzen wurden mit Absicht solche gewahlt, welche 
in der menschlichen Pathologie eine gewisse Rolle spielen und hier wieder von den 
einzelnen Gruppen einige Vertreter. Die Konzentrationen fiir die Korper der Alkohol- 
reihe wurden nach den von Overton in seinen Studien liber die Narkose (1902) 
bestimmten Zahlen berechnet, fiir die Stoffe der Alkaloidreihe aber, von der mensch¬ 
lichen Maximaldosis ausgehend, derart, daB das eine Mai angenommen wurde, das 
Gift wirke bloB auf das kleine Stiickchen Riickenmark— die Menge war also relativ 

!) Merzbacher, Neurol. Centralblatt 1904. 


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i m 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


285 


sehr groB — das andere Mai aber auf das ganze Nervensystem; und die Losungen 
wurden daher. als „stark“ und „schwach“ bezeichnet. Folgende kleine Tabelle gibt 
die Zahlen wieder. 


Tabelle II. 



Konzentrationen 
“ % 

Absolute Menge 
in Grammen 
auf 20 ccm 

Athylalkohol. 

I 

0,2 

Athylather . 

0,225 

0,045 

Chloroform. 

0,02 

0,04 

Choralhydrat. 

0,125 

0,025 

Morphium muriat. stark 

0,15 

0,03 

» „ schwach. 

0,0125 

0,0025 

Atropin muriat. stark . . . 

0,005 

0,001 

jj schwach. 

0,00041 

0,000082 

Cocain muriat stark ... 

1,0 

0,25 

» ,« schwach. 

0,02 

0,004 

Zentralnervensystem eines mittelgrofien Kanincheqs . . 


11,2 



Fig. 24. Kaninchen, Schema der Dickenunterschiede Fig. 25. Kaninchen, 

einzelner Fasergruppen (Alkoholfixierung). Kochsalzalkohol, 24 11 . 

Die Stellen mit Punk ten bode u ten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas 
defekte, schraffierte Stellen schr defekte Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 


Befunde: Korper der Alkoholreihe. Kochsalz-Alkohol (Fig. 25): 

Die Achsencylinder waren wenig, nur in einigen Bezirken besonders stark gequollen, 
und zwar im Vorderstrange ein breiter Streifen langs der grauen Substanz und vor 
diesem ein kleiner, beiderseits vom Septum gelegener, sehr defekter Herd. Ein ahnlicher 
solcher lag im ventralsten Anteile des Hinterstranges, im Seitenstrange beiderseits im 
Winkel zwischen Vorder- und Hinterhorn ein ebenfalls stark gequollenes Feld mit sehr 
defekten Maschenraumen. Eine gleiche Veranderung zeigten die beiderseitigen hinteren 
Wurzeleintrittszonen. Die vorderen und die hinteren Wurzeln waren gut erhalten, 
die peripheren Wurzeln etwas gequollen, innerhalb der weiBen Substanz kleine dunkel- 
blau tingierte und groBere, sehr hell gefarbte Kugeln unregelmaBig verteilt, die graue 
Substanz kornig mit einzelnen kleinen Vacuolen, die Zellen geschrumpft, die Nissl- 
Struktur fehlte und der Zellinhalt war dunkel und streifig. 

Ather-Kochsalz (Fig.* 26): DieGeriistsubstanz war gequollen, ebenso die Achsen¬ 
cylinder der langen Bahnen, und zwar die innen gelegenen mehr als die auBeren, die 
der Querfasern ventral sehr gut, dorsal ebenso bis auf kleine Defekte am Rande. 

Der Vorderstrang zeigte keine weiteren Eigenheiten; im Seitenstrang war der 
friiher beschriebene Herd mehr nach riickwarts verlagert und sehr defekt, auBerdem im 
Hinterstrange ein dem Gollschen Strange entsprechender Bezirk ebenfalls sehr geschadigt, 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


die Wurzeleintrittszone und die Lissauer-Zone zeigten sehr gequollene Fasem. Die 
Achsencylinder der peripheren Nerven, ebenso die graue Substanz hatte leidlich gut er- 
haltene Strukturen, jedoch groBe Schrumpfungsraume, die Ganglienzellen waren ge- 
schrumpft und homogen dunkel gefarbt. 

Kochsalz-Choroform (Fig. 27): 

Am Rande war das Stutzgewebe sehr schlecht, die Achsencylinder hingegen gut 
erhalten, das Gerust und die Septen sonst sehr gequollen und starker gefarbt; neben den 
Querschnitten der Achsencylinder runde homogene gefarbte Gebilde. In der Verteilung 
der Zerstorung wies der Vorderstrang keine Unterschiede auf; im Seitenstrange nahmen 
die bereits genannten Felder zwischen den beiden Homem einen sehr groBen Raum 
ein und waren fast leer, im Hinterstrange das dem Gollschen entsprechende Feld, 
ebenso der Rest stark gequollen, die intramedullaren vorderen und hinteren Wurzelfasem 
leidlich gut erhalten. 





Fig. 26 . Kaninchen, Fig. 27. Kaninchen, Fig. 28. Kaninchen, 

Kochsalz-Ather, 24 h . Kochsalz-Chloroform, 24 h . Kochsalz-Chloralhydrat 24**. 

Die Stellen rait Punk ten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas 
defekte, schraffierte Stellen sehr defekte Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 



Fig. 29. Kaninchen, Ri nger-Alkohol, 24 h . Fig. 30. Kaninchen, Ringer-Chloralhydrat, 24 h . 

Die Stellen rait Punk ten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas 
defekte, schraffierte Stellen sehr defekte Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 


Das Grau war gut struktiert mit groBen Schrumpfungsraumen, die Zellen darin 
geschrumpft und homogen. 

Kochsalz-Chloralhydrat (Fig. 28): 

Stark gequollene Achsencylinder, erhaltene Septen und Maschenraume; die 
Achsencylinder der vorderen Wurzeln gut erhalten, die der hinteren nur in nachster 
Nahe der grauen Substanz. Die Schadigung nahm insbesonders das eine im Seitenstrang 
gelegene, gegen das Hinterhorn verschobene Feld, dann das dem Gollschen Strang ent¬ 
sprechende Gebiet ein. In der weiBen Substanz befanden sich kleine, etwas uber einen 
Achsencylinderqucrschnitt einnehmende dunkel gefarbte Gebilde. Das Grau wies gute 
Strukturen auf, groBe Schrumpfungsraume, geschrumpfte Zellen mit netziger Struktur 
und gut erhaltenen Kernen. 

Ringer-Al kohol (Fig. 29): 

Sehr schlechte Konservierung, das Maschenwerk sehr gequollen, in der weiBen 
Substanz diffus sparliche Komer verteilt (Reste von Achsencylindern), die vorderen 


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190 & 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


287 


Wurzeln bis auf kleine Reste verschwunden; die graue Substanz schlecht erhalten, 
gequollen, die GanglienzeUen leidlich gut mit wabiger Struktur, die Kerne sehr gut. 

Ringer-Chloralhydrat (Fig. 30): 

Viel schlechtere Konservierung; die Maschen gequollen und defekt, die Achsen- 
cylinder der Langsbahnen bis auf ganz geringe Reste am hinteren Rande des Seiten- 
stranges verschwunden, erst gegen die Mitte des Blockes sah man Reste der vorderen 
Wurzelfasern, die hinteren Wurzeln fehlten vollstandig. Das Grau war gequollen, die 
Struktur ungenau und zerstort, die Zellen geschrumpft, weite Schrumpfungsraume; 
die Kerne gut erhalten. 

Ringer-Gummi-Alkohol (Fig. 31): 

Das ganze Praparat verquollen, die Maschen sehr weit. Die Achsencylinder 
fehlten bis auf Reste der vorderen Wurzeln und Detritus in einigen Bezirken; Streifen 
langs des vorderen Septums, laterale Partie des ventralen Anteils des Hinterstranges 



Fig. 31. Kaninchen, 
Ringer-Gummialkohol, 24 h . 


Fig. 32. Kaninchen, 
Ringer-Gummichloralhydrat, 24 h . 


Die Stellen mit Punk ten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas 
defekte, schraffierte Stellen sehr defekte Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 



Fig. 33. Kaninchen, Fig. 34. Kaninchen, 

Kochsalzmorphium (stark), 24 h . Kochsalzmorphium (schwach), 24 h . 

Die Stellen mit Punkten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas 
defekte, schraffierte Stellen sehr defekte Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 


und die hintere Wurzeleintrittszone. Das Grau war schollig, hatte wabige Struktur, 
die Zellen eher gequollen und homogen. Im allgemeinen war die Konservierung etwas 
besser als bei Ringer-Alkohol. 

Ringer-Gummi-Chloralhydrat (Fig. 32): 

Bessere Erhaltung als bei Ringer-Chloralhydrat. Von den Wurzelfasern waren 
die vorderen erhalten, die hinteren fehlten. Die Maschenraume waren nicht sehr gequollen, 
die Langsbahnen bis auf Reste an tieferen Schnitten zerstort und zwar an der Vorderseite 
des Vorderhorns und in der hinteren Wurzeleintrittszone. Die extramedullaren Wurzeln 
waren gut erhalten, wohl auch mit unregelmaBigen Quellungen. 

Die graue Substanz zeigte sehr gut erhaltene Struktur, die Zellen waren wenig 
geschrumpft und kornig zerfalien, die Kerne gut erhalten. 

Korper der Alkaloidreihe: Morphium-Kochsalz (stark) (Fig. 33): 

Alles war gequollen, die Achsencylinder uberall erhalten, in der Wurzeleintritts¬ 
zone die Maschenraume stark gequollen und weit, in den tieferen Schnitten noch mehr, 


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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psycholog-ie 
und Neurologic. 


ebenso im hinteren Teil des Seitenstranges; an den Randern die Achsencylinder viel 
dichter angereiht; die vorderen Wurzeln gut, die hinteren am Rande schlecht, die Lis- 
sauer Zone sehr gut erhalten, das Grau schollig. 

Morphiu m-Kochsalz (schwach) (Fig. 34): 

In den oberen Schnitten waren weite Maschenraume, in den tieferen waren die 
Achsencylinder im gesamten Seitenstrange, mit Ausnahme der Randbezirke sehr ver- 
andert. Ebenso war ein schmaler Streifen im Hinterstrange langs des Hinterhorns, 

sonst die Achsencylinder alle et- 
was gequollen, die vorderen Wur¬ 
zeln gut, die hinteren stellenweise 
gut, dann wieder schlechter er¬ 
halten, die Lissauer Zone uber- 
all gut. 

Die graue Substanz war 
besser erhalten als in der konzen- 
trierten Morphiumlosung, jedoch 
fanden sich einzelne Vacuolen. 

Kochsalz-Atropin (stark) 
(F‘g- 35): 

Alle Achsencylinder sehr 
gequollen, bloB die vorderen und 
hinteren intramedullaren Wurzeln 
nicht. Von den Achsencylindem 
der Langsfasern wax ein Bezirk 
im Seitenstrang, entsprechend 
dem Winkel zwischen Vorder- und 
Hinterhorn, starker gequollen 
und defekt, ebenso der ventrale 
Anteil des Hinterstranges und 
ein Feld, ungefahr dem Goll- 
schen Strang entsprechend fast 
leer. 

Die graue Substanz enthielt einige Vacuolen, die Zellen waren sehr geschrumpft, 
die feinen Fasern im Grau gerade und nicht gequollen. 

Atropin-Kochsalz (schwach) (Fig. 36): 

Oberall starke Quellung, die vordere Wurzel gerade und wenig gequollen, die hin¬ 
teren Wurzelfasern etwas mehr, noch starker die Langsfasern in einzelnen Bezirken; 



Photogramm IV. Kaninchenriickenmark, 24 h in Koch- 
salzmorphiura, S. 3, 0,4, 215 fach vergr. Hinterstrang. 
Rosenkranzformige Aufquellung der Achsencylinder (a). 



Fig. 35. Kaninchen, Fig. 36. Kaninchen, 

Kochsalzatropin (stark),^24 h . Kochsalzatropin (schwach), 24 11 . 

Die Stellen mit Punkten bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas 
defekte, schraffierte Stellen sehr defekte Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 


dort waren auch weite Maschenraume und zum Teile auch fehlende Achsencylinder 
(im Seitenstrange seitlich vom Vorderhorn als kleines Feld, dann im Hinterstrange 
ein Bezirk im latcralen Anteil des mittleren Drittcls). 


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190a 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


289 


Die Ganglienzellen waren geschrumpft, die Nissl-Struktur verschwunden, die 
Zellen diffus gefarbt. 

Cocain-Kochsalz (stark) (Fig. 37): 

Die Achsencylinder alle gequollen, im Inneren des Seitenstranges mehr gegen das 
Hinterhom zu, dann im Hinterstrange im lateralen Anted des mittleren Drittels je ein 
kleines Feld, mit weiten Maschenraumen, die intramedullaren und extramedullaren 
Fasern sehr gut erhalten. Das Grau zeigte sehr distinkte Strukturen, im Vorderhorne 
einige Vacuolen. In der weiBen Substanz waren um das Vorderhorn herum stellen- 
weise kleine, blaugefarbte, strukturlose, blasse, hyalinahnliche Kugeln. Die Quellung 
der Achsencylinder war oft sehr unregelmaBig, die Wurzeln hatten meist gleichmaBiges 
Kaliber und zeigten keine besondere Quellung. 

Cocain-Kochsalz (schwach) (Fig. 38): 

Die Achsencylinder der Langsfasern stark gequollen, die der queren Wurzelfasem 
vorne und hinten bis in die graue Substanz gut erhalten, im Vorderstrange ein schmaler 
Streifen am Vorderhorn und daran schlieBend die Langsfasern der „vorderen Wurzel- 
zone“, dann das ventrale Feld im Hinterstrange und noch der Bezirk im hinteren Anteil 
des Seitenstranges nahe dem Hinterhorn mehr defekt. 

Das Grau war gequollen; darin einzelne runde Vacuolen, die Zellen nicht sehr ge¬ 
schrumpft mit faseriger Struktur. 


Fig. 37. Kaninchen, Fig. 38. Kaninchen, 

Kochsalzcocain (stark), 24A Kochsalzcocain (schwach), 24 h . 

Die Stellen mit Punk tea bedeuten gut erhaltene Achsencylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas 
defekte, schraffierte Stellen sehr defekte Achsencylinder, an leeren Stellen fehlen diese. 

Die Serien, welche an Sagittalschnitten angelegt wurden, zeigten diese 
Veranderungen in anderem Lichte. 

Die langsgetroffenen Achsencylinder werden durch die Kochsalz- 
losung mehr geschlangelt und unregelmaBig gequollen, bei Ri nger-Losung entweder 
ganz aufgelost oder zu groBen Spindeln, elliptischen oder kugeligen Gebilden oder in 
sehr diinne Faden ausgezogen, in Ringer-Gummi wandelten sie sich ebenfalls in 
ovale oder kugelige Knollen oder einfache regelmaBige und unregelmaBige spindel- 
formige Quellungsfiguren um, deren kriimmelige Auflagerungen aufsaBen, oder sie 
zerfielen in feine Brockeln. In solchen Fliissigkeiten, denen kleine Mengen narko- 
tischer Gifte beigefiigt wurden, zeigten diese Achsencylinder zum Teile andersgeartete 
Veranderungen, die sich wieder mit ihren Eigenarten in verschiedener Weise auf die 
einzelnen Areale verteilten. 

Vor Erorterung dieser Veranderungen sollen noch die Bilder, welche durch Fixie- 
rung in Alkohol, Formol und Chloroform gewonnen wurden, zum Vergleiche kurz be- 
schrieben werden. Alkohol (96%) (Fig. 24): Die motorischen Wurzeln waren innerhalb 
und auBerhalb der Medulla sehr dick und hatten ungefahr das doppelte Kaliber als die 
langen Achsencylinder der Vorderstrange; die in die hinteren Wurzeln eintretenden 
Fasern waren ungefahr ein Drittel so dick, wie die langsverlaufenden der Hinterstrange. 
Diese zeigten ziemliche UnregelmaBigkeiten in ihrem Kaliber, waren oft sehr dick, dann 




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DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologie. 


sehr dunn. Die Achsencvlinder der intramedullaren hinteren Wurzeln hatten am Langs- 
schnitte dasselbe Kaliber, wie die des hinteren Stranges. Am Querschnitte fehlten oft 
viele AchsencyUnder oder sie waren punktformig Oder groB und ganz diffus gefarbt. 

Die extramedullaren Wurzelfasern hatten auch sehr wechselndes Kaliber. An den 
Seitenstrangen waren die hinteren Partien gleichmaBig und mitteldick, die mittleren 
dick, stark gequollen, gegen die Medianlinie sehr dunn; in den vorderen Partien die 
Achsencylinder gerade, dicker und ohne jede besondere Kaliberdifferenz; die Langsfasern 
in den Vorderstrangen ungefahr zweimal so dick wie in den Hinterstrangen; es gab da 
entweder sehr dicke Querfasern oder solche im Kaliber der Langsfasern oder sehr dunne 
ungefahr 1 / 8 — 1 / 5 der Langsfasern. Im Hinterstrange waren die Fasern sehr dunn, da- 
zwischen eine Gruppe von dicken. 

For mol (io%): Der Dickenunterschied war zwischen den einzelnen Fasergruppen 
viel geringer, die vorderen extramedullaren Fasern weniger dick als im Alkoholpraparate, 
auch die diinnen medianen Seitenstrange deuthcher erkennbar. Der hintere Anted des 
Seitenstranges hatte dunne Fasern und war vielfach unterbrochen, der Vorderstrang 
dagegen dickere und regelmaBige Achsencyhnder und Querfasern von ungefahr derselben 
Dicke. Im Seitenstrange waren nahe der grauen Substanz die Achsencylinder sehr dunn, 
darauf folgte eine breitere Zone von dickeren und schlieBlich am Rande bedeutend dunnere. 
In der Lissauerschen Zone sah man zweierlei Fasern: dunne, welche in das Hinterhom 
eintraten, dann relativ dickere, welche langs vehefen. Die Achsencylinder im Hinter- 
strang waren alle sehr dunn; an den den Querschnitten entsprechenden Randern uberall 
kleine diffuse Defekte. 

In Chloroform fixierte Ruckenmarkstucke hatten stark gequollenes Stutzgewebe, 
die Achsencylinder waren alle diffus kolbig, oft wurstformig gequollen, zeigten aber keine 
Diskontinuitat; die Zellen und die Kerne waren gut geformt, das Grau gleichmaBig 
granuliert 1 ). 

Kochsalz mit Alkohol, Ather, Chloroform erhielten die Achsencyhnder 
mehr glatt und dunn, mit Quellungen an den Enden und kugelformigen Gebilden. 

Kochsalz-Chloralhydrat quellte die Achsencylinder diffus auf; diese wurden 
dann kugelig, spindelformig; daneben entstanden reichliche Kugeln. 

Ringer-Alkohol bewirkte die gleichen Veranderungen wie Ringer allein; bei 
Ringer-Chloralhydrat waren die erhaltenen Reste viel dicker. In der Ringer-Gummi- 
losung erhielt sich die nervose Substanz bei Zusatz von Narkoticis im allgemeinen besser 
als in Ringer. Ringer-Gummlaikohol setzte dieselben Veranderungen wie Ringer- 
Gummi allein, nur gab es dabei etwas mehr kugelige Bildungen. 

In Ringer-Gummichloralhydrat waren die Achsencyhnder etwas dicker, 
die Reste diffus gequollen mit gekornter Oberflache und zahlreichen kugeligen Formen, 
in der weiBen Substanz vielfach kleine dunkle Substanzreste gelagert; um diese herum 
befindet sich eine hellere homogene Masse in der Form eines Zelleibes (gequohene Gha?). 

Morphium (stark): Starke Schlangelung, diffuse rosenkranzformige Quehung, 
die dorsal doch etwas mehr als ventral ausgesprochen war. Daneben bestand noch die 
Auflosung durch Kochsalz; auch einzelne Kugeln. 

Morphium (schwach): Die diffusen Rosenkranzformen waren noch mehr aus¬ 
gesprochen als im vorigen und gleichmaBiger ventral und dorsal verteilt (Photogramm IV). 

Eine genauere Untersuchung dieser Rosenkranzformen zeigte verlangerte 
Achsencyhnder, die spiralig verdreht waren; es bildeten sich Schleifen, diese verquohen 
und daraus entstanden kugelformige Gebilde, worin noch die Konturen der Schlingen 
erkennbar waren. 

Atropin (stark): Die Rosenkranzquellung war noch starker, an der Peripherie 
ging ein Zerfall in runde granulierte Gebilde vor sich; in der Mitte auch noch gut erhaltene 
Anteile. 


l ) Man vergleiche hierzu Perusini, Zeitschr. f. Heilkunde, Bd. XXVII, S. 193, 1906: 
Ober die Veranderungen des Achsencylinders und der Markscheide im Ruckenmarke bei der 
Formolfixierung. 


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BD. XL HEFT 6 
1908 . 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


291 


A tropin (schwach): Deutlicher Rosenkranz, weniger granulierte Gebilde, sonst 
wie das erstere. 

Cocain (stark): Die vorderen Achsencylinder in der ganzen Lange bis auf die 
Randveranderungen sehr gut erhalten, hingegen hauptsachlich die Hinterstrange rosen- 
kranzartig gequollen. 

Cocain (schwach): Die Randveranderungen deutlicher, die Randzonen breiter 
und die Quellungen weniger ausgesprochen. 

Im allgemeinen scheint die Randveranderung auf die Kochsalzeinwirkung zu 
beziehen zu sein. 

Den EinfluB der Konzentration eines Narkoticums auf den Quellungs- 
zustand der Achsencylinder soli nachfolgende Versuchsreihe erlautem: 

Kochsalzalkohol 1%: Dunne Fasern, im Hinterstrange Quellung, zum Teile 
auch rosenkranzartig. Im Verhaltnisse zum folgenden war die Zerstorung eine groBere, 
die Quellung eine geringere. 

Kochsalzalkohol 10%: Geschlangelte, wenig gequollene Achsencylinder, die 
Hinterstrange schlechter erhalten. In der weiBen Substanz waren schlecht begrenzte, 
schwach rosarot gefarbte, runde Gebilde, ungefahr in der GroBe von Vorderhornzellen 
gelagert. 



Fig- 39 - Kaninchen, 

Alkohol, dann Chloroform gekocht, dann 
Formol fixiert. Achsencylinder uberall 
erhalten, die Farbbarkeit an den schraf- 
fierten Stellen sehr reduziert. 



Fig. 40. Kaninchen, 
i6 h 0,89 proz. Harnstofflosung. 

Die Stellen mit Punk ten bedeuten gut erhaltene Achsen¬ 
cylinder, die kleinen Kreise gequollene oder etwas defekte, 
schraffierte Stellen sehr defekte Achsencylinder, an leeren 
Stellen fehlen diese. 


Kochsalzalkohol 40 %: Alle Fasern unregelmaBig gequollen und dicker, keine 
besondere Auswahl in der Schadigung. 

Kochsalzalkohol 60%: Sehr starke Quellung aller Fasern, keine Diskontinuitat. 

Kochsalzalkohol 80%: Die Quellung weniger stark, aber gleichmaBiger. 

SchlieBlich sei noch folgender Versuch beschrieben: Ein Riickenmarkstuck wurde 
zuerst in 96 proz. Alkohol, dann in Chloroform gekocht und in Formol weiter fixiert 
(F‘g- 39)- 

Die Achsencylinder waren alle erhalten, aber tropfig, die Wurzelfasem spindel- 
formig gequollen, und zwar sowohl die extra- als auch die intramedullaren Fasern. Die 
Farbung war gut, bis auf den ganzen Hinterstrang mit Ausnahmc der Wurzeleintritts- 
zonen, wo die Achsencylinder wohl erhalten, aber nicht gefarbt waren. Die graue Sub¬ 
stanz war homogen bis auf die Kerne und die Ganglienzellen, die alle plump aussehen; 
dazwischen Vacuolen, die feinen Fasern vollstandig verschwunden. Um die Gliakerne 
war oft ein blasser Protoplasmasaum, die Kernkorperchen uberall erhalten, die Strukturen 
der nach Nissl farbbaren Substanzportionen gut erhalten und gut gefarbt, kornig-schollig. 

Die in fruheren Praparaten (Kochsalz, Kochsalz-Alkohol usw) haufigen, blassen 
oder rotlichblau gcfarbten kugeligen Gebilde fehlten hier vollstandig. (Siehe Reich, 
loco cit.). 

Im Anhange soil noch folgendes Praparat beschrieben werden, welches durch Ein- 
legen eines Riickenmarkstiickes auf 16 Stunden in eine der physiologischen Kochsalz- 
losung isosmotische (0,84%) Harnstofflosung gewonnen wurde (Fig. 40 ). 


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292 


DR. E. MAYR. 


Journal f. Psychologic 
and Neurologic. 


Im Vorderstrang waren die Achsencylinder kugelartig gequollen, von den vorderen 
Wurzeln etliche Bruchstucke erhalten, die Langsfasern in dem Bezirke sehr defekt. 
Vom Seitenstrang der groBte Teil auch kugelig gequollen, vom Hinterhorn dieser Bezirk 
durch einen schmalen Streifen von enge aneinander gelagerten, defekten Achsencylindern 
getrennt; im Hinterstrange ein schmaler Randstreifen von in Detritus zerfallenen Nerven- 
fasern und die ventralen Felder sehr defekt und verquollen; langs des Septums verlief 
bis zum Rande ein maflig breiter Streifen von etwas besser erhaltenen, enge aneinander 
gelagerten Achsencylindern; im iibrigen Teil des Hiirterstranges waren diese stark ge¬ 
quollen. 

Auf der ganzen Schnittflache, an der Peripherie etwas sparlicher, lagen runde, 
drusenartige, rot gefarbte Gebilde verteilt, welche auch in Maschenraumen den Achsen¬ 
cylindern angelagert waren. 

Zusammenfassend kann gesagt werden: Die durch Kochsalzlosung her- 
vorgerufene Schrumpfung, Quellung und teilweise Zerstorung der nervosen Ele- 
mente im Riickenmarke, welche sich, wie im vorhergehenden Abschnitte ausein- 
ander gesetzt wurde, auf die einzelnen Bezirke und Gewebselemente in verschiedener 
Weise verteilt, wird durch Zusatz geringer Mengen von fiir das Nervensystem er- 
fahrungsgemaB differenten Stoffen deutlich beeinfluBt. 

1. Mit steigender Konzentration der in alien Fallen physio- 
logischerweise narkotisch wirkenden Substanz wird die Konservierung 
eine bessere. Abgesehen von den Veranderungen in der grauen Sub¬ 
stanz, iiber welche nachstens an anderer Stelle gehandelt werden soli, 
zeigt sich auch hier eine Auslese einzelner Achsencylinderkategorien, 
welche von denen bei der reinen Kochsalzwirkung oder der von Ringer- 
oder Ringer-Gummi-Losung nicht nur in der Verteilung, sondern auch 
in der Art der Veranderung in mancher Weise abweicht. 

Die Zerstorung der Areale nimmt hauptsachlich ein Feld im 
Seitenstrange, im Winkel zwischen dem Vorder- und dem Hinterhorn, 
ein im ventralen Teil des Hinterstranges gelegenes, dann einige andere 
weniger konstante Bezirke ein. 

2. Alle diese Areale wechseln bei den einzelnen Fliissigkeiten 
und Konzentrationen ihre Lage und ihre Ausdehnung ein wenig. 

3. Die Konservierung ist bei den Kochsalzlosungen am besten, bei 
den Ringerschen Losungen sehr schlecht, etwas besser bei der Kom- 
bination Ringer-Gummi (moglicherweise durch Ausfallung des Gummi 
bei anwesendem Alkohol, Chloral usw., wofiir die feinen, auf den 
Achsencylinderresten aufsitzenden Kriimmeln sprechen wiirden). 

4. An alien Schnitten und Bildern erkennt man deutlich die 
Konkurrenz zweier entgegen wirkender Einfliisse, die Wirkung der 
physiologischen Losung und die des Narkoticums, welch letztere sich 
hauptsachlich als Quellung auBert und in der Versuchsreihe von 
Alkohol mit steigender Konzentration deutlich zum Ausdrucke 
kommt. Diese Quellung verteilt sich bei den Substanzen der Alkoholreihe im all- 
gemeinen entsprechend der Kochsalzwirkung, d. h. dort, wo die Kochsalzzerstorung 
eine groBere ist, auBert sich auch die quellende Wirkung starker. Die Intensitat 
der Quellung steigt in folgender Reihe an: Alkohol, Ather, Chloroform, Chloralhydrat. 
Mit der Intensitat der Quellung wird auch die Verteilung eine mehr diffuse, so daB 


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1908 . 


PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


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schlieBlich bei dem Chloralhydrat das gesamte Gewebe verquollen ist. Bei den 
Alkaloiden nimmt die Art der Quellung einen besonderen Charakter an, welcher in 
anderen Losungen nur ganz sporadisch vorkommt, namlich die rosenkranz- 
artige Quellung oder Schrumpfung der Achsencylinder. Diese ist bei Morphium 
und Atropin auf alle Areale gleichmaBig verteilt, und zwar in den weniger konzen- 
trierten Losungen starker ausgesprochen als in den konzentrierteren. Im Cocain 
sind die Achsencylinder iiberall deutlich gequollen, und zwar entweder gleichmaBig 
oder spindelformig; die rosenkranzartige Veranderung beschrankt sich hier ausschlieB- 
lich auf den Hinterstrang. Man vergleiche damit die Angabe, daB Cocain im Gegen- 
satz zu den anderen Anastheticis die der Reflextatigkeit dienenden Bahnen ganz ver- 
schont, bloB das Leitungsvermogen fur die Schmerzempfindung, nicht aber fur das 
Beriihrungsgefuhl, das Temperaturgefuhl und die Reflexbahnen schadigt. Es ware 
vielleicht moglich, auf diesem Wege einerseits das Wesen der elektiven Wirkung 
auf die Nervenbahnen, anderseits auf die verschiedene physiologische Wertigkeit 
der Wurzeln und der einzelnen Systeme der Hinterstrangbahnen naher zu unter- 
suchen 1 ). 

Bei der Beurteilung dieser Veranderungen und deren Verwertung fur die 
Beantwortung der gestellten Frage geht man von der Vorstellung aus, alle diese 
Vorgange als chemische oder physikalisch-chemische Reaktionen auf- 
zufassen. Die soeben beschriebenen Bilder wiiren daher das morphologische Sub- 
strat der verschiedenen Reaktionen, welche die Stoffe, die den Achsencylinder auf- 
bauen, eingegangen sind. Demnach miissen also die histologischen Veranderungen 
in direktem Zusammenhange mit der chemischen und physikalisch-chemischen 
Konstitution des nervosen Gewebes stehen. Es sollte in dieser Arbeit bloB an den 
relativ einfacheren morphologischen Elemente des Nervensystems, dem Achsen¬ 
cylinder, die BeeinfluBbarkeit durch verschiedene Stoffe studiert und die gleich- 
zeitigen Befunde an Markscheidenbildem nnd Nisslpraparaten hier noch nicht zur 
Diskussion gestellt werden 2 ). 

Im einleitenden Abschnitt wurde bereits ausfiihrlich iiber den kolloiden Zu- 
stand speziell des Nervengewebes abgehandelt und dann die einzelnen morphologisch 
darstellbaren Elemente mit Phasen und Phasengruppen in Parallele gestellt, welche 
ein inhomogenes inkompletes System im Sinne der physikalischen Chemie 
darstellen sollen 3 ). 

Bei der Vorstellung, daB ein bestimmter Zustand der einzelnen Phasen und 
deren gegenseitiges Verhalten fur die Funktion des Gewebes von Bedeutung sind, 
wurden auch die durch Salzlosungen (Elektrolyte) hervorgerufenen Zustandsan- 
derungen der einzelnen Phasen mit den gleichzeitigen Funktionsanderungen in ur- 
sachliche Beziehungen gebracht. Die im Vorhinein wahrscheinliche Annahme, daB 
nicht nur Elektrolyte, sondern auch Anelektrolyte in dem MaB, als sie den kolloi- 


*) Adler, Pankow-Berlin, Neurol. Centralbl., Bd. 25, Nr. 19, 1906. 

2 ) Martinotti, Giornale d. R. accad. di medic d. Torino 1905, Bd. 68, p. 4—6, erhielt 
nach 24—48 stundiger Maceration von Hirnstuckchen in dest. Washer mit Ramon y Cayalscher 
Farbung sehr deutliche endocellulare Netze. 

8 ) Vgl. Hofmeister, Die chemische Organisation der Zelle, 1901, Vieweg, Braunschweig. 
— Mayr, loco cit. — Pauli, Naturwiss. Rundschau, Bd. XXI, Nr. 1—2, 1906. Beziehungen 
der Kolloidchemie zur Physiologie, A. Barth, Leipzig, 1906. 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


dalen Zustand beeinflussen, fur die Funktionen von Bedeutung sein mussen, wurde 
in der letzten Zeit 1 ) von verschiedener Seite experimentell untersncht. Besondere 
Beachtung verdienen die Arbeiten, welche die Quellungs- und Absorptionsbedingun- 
gen von Kolloiden behandeln, und wenn sie auch noch keine strikte Beantwortung 
von biologischen Fragen gestatten, so stellen sie trotzdem eine solche in Aussicht. 
Es sei daher erlaubt, iiber einige dieser Arbeiten kurz zu referieren. 

Die Diffusion von verschiedenen Substanzen (Sauren, Alkalien, Salzen, Glyko- 
siden und gewissen Toxinen) in Agar und Gelatine ist von der Konzentration des 
Kolloids abhangig 2 ). 

Die Diffusionsfahigkeit von Substanzen in kolloidale Medien wird durch 
gleichzeitig anwesende Stoffe, die auch diffusible sein konnen, verandert und beein- 
fluBt. Natriumsulfat, Traubenzucker, Glycerin und Alkohol vermindem den Diffu- 
sionsweg von Elektrolyten und Farbstoffen in Gelatine und Agar, Hamstoff ver- 
mehrt ihn. Traubenzucker, Glycerin und Harnstoff verzogem die Diffusion in EiweiB. 
Anderseits brauchen Substanzen, welche den Erstarrungspunkt der Gelatine erhohen, 
nicht diffusionshemmend zu wirken 3 ). 

Gelatine hat eine spezifische Permeabilitat fiir verschiedene Krystalloide und 
Kolloide; diese wird durch gleichzeitiges Filtrieren zweier Substanzen wie durch 
Anderungen in der Konzentration beeinfluBt. Man kann eine chemische Beziehung 
zwischen der Gelatine und dem filtrierenden Medium annehmen 4 ). 

Kautschukmilchsaft wird durch Alkali-, Erdalkali- und Schwermetallsalze 
agglutiniert, dieser Vorgang bleibt bei Zusatz von geringen Mengen Athyl-, Methyl- 
oder Amylalkohol aus 6 ). 

Wind blech 6 ) konnte aus Leim- oder Gelatinelosungen diese Stoffe durch 
Schiitteln mit Benzin, Petroleum, Benzol, Chloroform, Schwefelkohlenstoff usw. 
in geringen Mengen bei Anwesenheit von groBen Mengen von Salzen, Basen oder 
Sauren ausscheiden; dasselbe war auch bei EiweiB, Starke, Seife, Harnmucin, 
Gerbsaure usw. der Fall. 

Aus alien diesen Befunden kann man schlieBen, daB nicht nur die Salze, sondem 
auch die verschiedensten Substanzen (darunter einige in der Physiologie und Patho- 
logie sehr interessante), sowohl Gallerten als auch kolloide Losungen in mancher 
Weise sich verandern konnen. Es wurde von mancher Seite die Vermutung laut, 
daB es sich dabei nicht bloB um physikalische Zustandsanderungen, sondem auch 
um chemische Vorgange zwischen dem Kolloid und der eindringenden Substanz handle. 

Bei einer Gruppe der beim Nervensystem in Betracht kommenden kolloiden 
Stoffe, den ,,Lipoiden“ (Overton 7 ), ist fiir eine groBe Anzahl von pharmakolo- 
gisch wirksamen Substanzen (Korper der Alkoholreihe usw.) ein rein physikalischer 
Vorgang angenommen worden, wahrend man fiir die basischen Alkaloide chemische 
Affinitaten der Nervensubstanzen forderte. 

!) Ostwald, Pfliigers Arch., Bd. hi, S. 581—606, 1906. 

2 ) Flexner-Nogushi, Journ. of exper. Med., Bd. VIII, p. 547, 1906. 

3 ) Bechold-Ziegler, Zeitschr. f. physikal. Chem., Bd. 56, p. 105— 121 , 1907. 

4 ) Craw, J. A., Proc. Roy. Soc. 1906, Bd. 77, Ser. B, p. 311. 

6 ) Henri, V., Soc. biol., Bd. 60, p. 700, 1906. 

6 ) Windblech, Zeitschr. f. angew. Chem. 1903, S. 1953. 

7 ) Overton, H. Mayer, siehe oben — Gottlieb, Erg. d. Physiolog., I. Bd. 2, Theorie 
der Narkose. 


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PHYSIKALISCH-CHEMISCHE UNTERSUCHUNGEN. 


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Da nach den letzten Untersuchungen von Koch (loco cit.) ein groBerer Gehalt 
von Cerebrosiden in der weiBen Substanz festgestellt wurde, welche Stoffe sich im 
Vereine mit den Phosphatiden in Alkohol usw. gut losen (was ja bei Alkoholfixierung 
durch den Ausfall gewisser Gewebsteile, z. B. der Markscheiden ersichtlich wird), 
so wird man bei toxischen Erkrankungen durch derartige Substanzen die dort 
lokalisierten Bestandteile des Nervensystems als einige der Angriffspunkte annehmen 
diirfen. 

Eine andere anscheinend wichtige Gruppe der Nervenbestandteile sind die 
EiweiBkorper. Trotz der leichten Fallbarkeit dieser Korper durch Alkohol und ahn- 
liche Stoffe besteht doch eine geringe gegenseitige Loslichkeit 1 ). 

Einige durch Alkohol gefallte EiweiBarten losen sich bekanntlich un- 
mittelbar nach der Fallung wieder leicht in Wasser auf, ohne ihre Eigenschaften 
wesentlich zu verandem. Auch losen sich durch Alkohol entstandene Fallungen 
von EiweiBkorpern durch Zusatz geringer Mengen von Elektrolyten wieder in 
Alkohol auf 2 ). 

Kurz erwahnt sollen noch die Verbindungen von EiweiB und Lecithinen 
werden, welche Liebermann aus verschiedenen Organen dargestellt hat, dann 
noch die in jiingster Zeit aus Albumin und Lecithin dargestellten Kolloidenkomplexe 
mit Eigenschaften, welche einerseits denen des EiweiB, anderseits denen des Leci¬ 
thins entsprachen 3 ). 

Bei der Beurteilung der histologischen Veranderungen im Riickenmarke, 
welche durch physiologische Losungen mit beigefligten geringen Mengen von nar- 
kotischen Substanzen entstanden sind, wird man die nachtraglichen Veranderungen 
welche durch die verschiedenen Prozeduren bei der Fixierung, dem Einbetten und 
der Farbung entstehen, nicht unberiicksichtigt lassen diirfen. Die RegelmaBigkeit 
der Befunde laBt jedoch auch allgemeine Schliisse zu. Die Veranderungen des 
Kalibers des Achsencylinders konnen als Quellungen aufgefaBt werden, welche 
bei den einzelnen narkotischen Stoffen von verschiedener Form und Intensitat 
sind; vielleicht steht die varikose rosenkranzartige Autreibung durch die Alka- 
loide mit deren angenommener chemischer Wirkungsweise in Zusammenhange. 
Man wird sich aber hiiten, diese Bilder den bei der Narkose eventuell vorhandenen, 
uns bis jetzt nicht bekannten Veranderungen gleichzusetzen. Diese Versuche 
zeigen bloB, wie ein Teil der Substrate, denen wir besondere nervose Leistungen 
zuschreiben, mit den narkotischen Substanzen zu reagieren imstande ist, und man 
wird diese Veranderungen bestenfalls als groteske Verzerrungen der tatsachlichen 
Verhaltnisse ansehen diirfen. 

Bei der t)berlegung, in welcher Art die Veranderungen der nervosen Substanz 
bei Einwirkung von narkotischen Giften vor sich gehen konnen, wird man in erster 
Linie an die festen Beziehungen denken, in welchen die einzelnen Substanzen, aus 
denen das Nervengewebe besteht, zu einander stehen miissen, um bestimmte Funk- 
tionen ausiiben zu konnen. Veranderte Beziehungen werden Storungen der Funktion 
mit sich fiihren. 

!) Spiro, Hofmeisters Beitrage, Bd. IV, S. 300, 1903. 

2 ) Mayer, A., Terroine, Soc. biol., Bd. 62 , p. 317, 1907. 

8 ) L. Liebermann, Pflugers Archiv, Bd. 50, S. 25—54; Bd. 54, S. 573—585. — Mayer,A. 
Terroine, E. F., Soc. biol., Bd. 62, p. 398, 1907. 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Die einfachste Moglichkeit einer solchen Veranderung ware die der Ausfallung 
einer oder mehrerer Substanzen, wie sie bereits als „Semicoagulation“ von Claude 
Bernard angenommen wurde, und in den Befunden von Henri und Windblech 
(siehe oben) Analoga findet. 

DaB sich in der ,,Nervensubstanz“ tatsachlich viel von narkotisierenden 
Substanzen zu losen vermag, beweist folgender Versuch: Destilliertes Wasser, 
Kochsalz und Ringer-Losung, welche Riickenmark durch 24 Stunden maceriert 
hatten, also aufgeloste Achsencylinder (und Markscheiden) enthielten, behielten beim 
Ausschiitteln mit Ather diesen in viel groBerer Menge zuriick, als eine gleiche, aber 
frische Fliissigkeit; auch bei langerem Decantieren zeigte sich der Unterschied als 
ein deutlicher, besonders wenn der Ather aus den Fliissigkeiten durch Erwarmen 
verjagt wurde. 

Chanoz 1 ) fand bei Untersuchungen der elektrischen Phanomene bei der 
Osmose diese wesentlich abhangig von der osmotischen Membran. Die tierische 
Membran verleiht an neutrale Salzlosungen negative Elektrizitat, an Sauren positive; 
bei ersteren wird die Fortbewegung des Anions verlangsamt, bei letzteren die des 
Rations. Wie in dem einleitenden Abschnitt angedeutet wurde, bestehen innige 
Beziehungen zwischen den elektrischen Phanomen am Nerven, der Jonenkonzen- 
tration in- und auBerhalb des Nerven und der Durchlassigkeit der einzelnen 
Scheiden. 

Die Befunde von Baglioni 2 ), welcher die elektromotorische Kraft der Haut 
von Froschen nach Narkose herabgesetzt fand, dann die Galeottis 3 ), welcher fest- 
stellen konnte, daB die Haut von mit Ather oder Chloroform narkotisierten Froschen 
fur Kochsalz viel leichter durchgangiger wurde, lassen eine entsprechende Vorstellung 
wahrscheinlicher erscheinen. Durch Eintritt des narkotischen Stoffes in das Nerven- 
system erfolgt eine Veranderung des Quellungszustandes einzelner Phasen, zugleich 
auch eine veranderte Verteilung der Flussigkeitsmenge und der darin gelosten Stoffe, 
welche die veranderten Loslichkeitsverhaltnisse mit sich fiihren, andere Konzentra- 
tionsgefalle und andere elektromotorische Verhaltnisse .und dadurch auch veran¬ 
derte Bedingungen fiir die Leistungen des betreffenden Gewebes bewirken, und zwar 
sowohl in der Markscheide als auch im Achsencylinder. 

Von den klinischen und physiologischen hierher gehorigen Tatsachen 
muB die verschiedene Wirkung anscheinend ahnlicher Stoffe hervorgehoben werden. 
Der Unterschied zwischen Cocain und S to vain in der Wirkung bei der Lumbal- 
anasthesie des Riickenmarkes ist bereits von mehrfacher Seite hervorgehoben 
worden. Insbesonders gibt es Unterschiede in der Storung der einzelnen 
Sinnesqualitaten und der motorischen und sensiblen Funktionen 4 ). 

Ahnliche Unterschiede zeigen diese Stoffe auch in ihrer Wirkung auf den 
peripheren Nerven; es besteht eine groBere Affinitat zu den sensiblen Nerven- 
fasem als zu den motorischen; hier scheint hauptsachlich die Markscheide eine 
Rolle zu spielen 5 ). 

x ) Chanoz, M., Lyon), Journ. de phys. et path, gen., Bd. VIII, p. 46, 1906. 

2 ) Baglioni, Archivio di Fisiolog., Bd. IV, Heft 1, 1906. 

3 ) G. Galeotti, Verworns Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. VII, Heft 1, S. 136. 

4 ) Finkelnburg, Munchner med. Wochenschr., 1906, S. 397. — Adler, loco cit. 

6 ) Santesson, Upsala Lakareforen, N. F., 1906, Bd. XI., Hammarsten Festschrift. 


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Die Lahmung der Cornealreflexe, die Unterbrechung der zentripe- 
talen Reizleitung am Ischiadicus, die Reaktionszeit bei Reflexen von der 
Pfote aus, sovvie Schmeckversuche mit verschiedenen Alkoholen gaben in 
alien genannten Versuchsanordnungen ungefahr dieselben Zahlenverhaltnisse, so 
daB iiberall ein prinzipiell gleicher Vorgang angenommen werden kann 1 ). 

Innerhalb der einzelnen ahnlichen Stoffe gibt es wieder Unterschiede in der 
Starke der Wirkung und verschieden lange Reaktionszeiten. Durch Spiilung mit 
indifferenten Fliissigkeiten konnen die einen Substanzen leicht, die anderen 
schwer oder gar nicht ,,ausgewaschen“ werden 2 ). 

SchlieBlich soli noch erwahnt werden, daB die durch den konstanten Strom 
bewirkte Verteilung der Fibrillensaure im peripheren Nerven auf die Punkte 
der Kathode und Anode erfolgt, im narkotisierten Nerven nicht 3 ). 

Man kann nun mit einiger Berechtigung schlieBen, daB es sich bei den durch 
narkotische Gifte hervorgerufenen Storungen der Funktion des Nervengewebes im 
wesentlichen um physikalische Zustandsanderungen der kolloiden Substrate handelt, 
denen auch chemische Veranderung beigeordnet sein konnen. Die tatsachlichen 
Veranderungen im histologischen Bilde gehen durch die mit dem Tode eintretende 
Entmischung der Gewebsubstanz, abgesehen von den eingreifenden histologischen 
Manipulationen, zum groBten Teil verloren, bloB die Nisslsche Farbung der 
Ganglienzelleiber und die soeben erwahnte Bethesche Versuchsanordnung ver- 
mogen die bestehende Narkose histologisch zu bestatigen. 

Schon mit Riicksicht auf die meist rasch verschwindenden klinischen Symp- 
tome muB man die entsprechenden Vorgange in den kolloiden Substraten als 
,, reversible" Reaktionen auffassen 4 ). 

Mit Riicksicht auf die schwereren Storungen, welche durch dieselben Schad- 
lichkeiten auftreten konnen, ergeben sich nun verschiedene Moglichkeiten : 

Entweder ist die Stoning eine einmalige; es erfolgt dann eine Veranderung im 
Gleichgewichte der einzelnen Phasen mit entsprechender Veranderung in der Funk¬ 
tion; nach einiger Zeit tritt ein Ausgleich ein, der ,,schadliche" Stoff wird elimi- 
niert, das friihere Gleichgewicht kehrt zuriick und die Funktion wird der urspriing- 
lichen gleich (Narkose, auch viele funktionelle nervose Storungen). 

Der nachste Fall ist eine einmalige sehr heftige Schadigung, etwa eine schwere 
Vergiftung. Die dadurch entstehende Veranderung des Gleichgewichtes ist eine so 
weitgehende, daB die spater erfolgende neuerliche Einstellung der frliheren nicht mehr 
gleicht (Zustande dauernder Veranderung der Funktion). Grobe mechanische Ver¬ 
anderungen werden auch mikroskopisch sichtbar sein, ebenso etwaige ,,reaktive“ 
Vorgange, die man vorlaufig auf vitale, dem lebenden Korper eigentiimliche Ein- 
richtungen zuriickfiihrt: Exudation, GefaB- oder Zellneubildung usw. AuBerdem 
solche Veranderungen, die dann entstehen, wenn eine Phase ihre Form oder den 
Aggregatzustand geandert hat, etwa durch intercurrente chemische Vorgange. 


1 ) Rather, Ma., Inaugurations-Dissertation, Tubingen 1905. 

2 ) Laven, Arch. f. exper. Path., Bd. 56, p. 138, 1906, fiir Cocain, Novokain, Alypin und 
Stovain. 

3 ) Bet he, Allgemcine Anatomie unci Physiol, des Nervensystems, S. 289, 1903. 

4 ) Sifehe auch W. Pauli, Allgeineinc Physik. Chcmie der Zellen und Gewebc in Asher- 
Spiros Ergebnissen der Physiol., Bd. Ill, I. Abt., S. 159. 

Journal fur Psychologic und Neurologic. Bd. XI. 20 


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Journal f. Psychologic 
und Neurologic. 


Man konnte geneigt sein, die Veranderungen des Nervensystems, welche nach 
heftigen Erschiitterungen auftreten, hierher zu beziehen. Sowie Emulsionen, 
welche aus labilen Gleichgewichtsystemen bestehen, durch Erschiitterung entmischt 
werden, so muB auch im Nervensystem als einem komplizierten inhomogenen 
System im Sinne der physikalischen Chemie das Gleichgewicht seiner Phasen bei 
derartigen Einwirkungen verandert werden (,,molekulare Entmischung"). 

Eine weitere Moglichkeit stellt das haufige Auftreten kleiner Veranderungen 
dar, von welchen eine der anderen folgt, bevor sich diese vorhergehende noch riick- 
gebildet hat (Andauernde Steigerung der Funktionsstorung). In alien Fallen 
stellt das histologische Bild nur einen gewissen Teil der tatsachlichen Verhaltnisse dar. 

Wahrend fur die zahlreichen durch die narkotischen Gifte entstehenden Scha- 
digungen des Nervensystemes und seiner Funktionen eine derartige schematische 
Formulierung moglich ist, konnen fiir eine Reihe von ahnlich entstehenden Storungen 
noch keine derartigen Beziehungen festgestellt werden. Es sind dies hauptsachlich 
,,Gifte“, die entweder direkt Mikroorganismen entstammen oder mittelbar durch diese 
im Organismus entstehen, oder von diesem infolge von Storungen des Stoffwechsels 
gebildet werden. 

Diese Stoffe werden zumeist als hochmolekular und kolloider Natur angesehen; 
ihre chemischen Eigenschaften sind fast vollkommen unbekannt, wie auch ihre 
physikalisch-chemischen Beziehungen zu den Kolloiden des Nervengewebes. 

Es steht aber zu erwarten, daB die bereits angebahnten Untersuchungen 
iiber das elektrische Verhalten, die gegenseitige Durchlassigkeit, das gegenseitige 
Fallungsvermogen usw. auch iiber das biologische Verhalten, sowie die mannig- 
fachen pathologischen Beziehungen Klarung bringen werden 1 ). 

Zusam me nfassung. 

1. Die Tatsache, daB absterbendes Riickenmark in physiologischen Losungen 
zerstort wird, wurde genauer untersucht, insbesonders die Veranderungen der 
Achsencylinder. 

2. Es ergaben sich deutliche Unterschiede in der ,,Empfindlichkeit“ fur die 
Beeinflussung einzelner morphologischer Elemente durch physiologische Losungen. 
Innerhalb dieser bestanden groBe Differenzen, nicht nur zwischen den Wurzel- und 
Strangfasem, sondem auch unter diesen. 

In alien Strangen, insbesonders im Hinterstrang, konnte man einzelne Felder 
mit ausgesprochenen experimented erzeugten Veranderungen gut abgrenzen. 

3. Zwischen den einzelnen sogenannten ,,physiologischen" Fliissigkeiten zeigten 
sich auch groBe Unterschiede in der Intensitat derWirkung, wahrend in der- 
selben Einwirkungszeit die Verteilung der Schadigung im wesentlichen die- 
selbe war. 

4. Zusatz von kleinen Mengen narkotisch wirksamer Substanzen zu den 
physiologischen Losungen veranderte zum Teile die Verteilung und auch die Art der 
Zerstorung. Die Korper der Alkoholreihe bewirken eine gleichformige Quellung, 

!) Landsteiner-Jagic, Munch, med. Wochensch., Bd. XVIII, 1905, Bd. XX, Nr. 27, 
1904. — Iscovesco, H. Soc. biol., Bd. 62, p. 625, 1907; dersclbe, ibid., p. 770, 861, 892, 1023. — 
Cernovodeanu, P. u. Henri, V. Soc. biol.; ibid., p. 671, (Tetanustoxin). — Zangger (Zurich), 
Centralbl. f. Bacter., Bd. XXXVI, Nr. 6—7, 1905, 1. Abt., S. 812. —Neisseru. Friedemann, 
Munch, med. Wochenschr., 1904, Nr. 19 usw. 


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1908 . 


die ceteris paribus in derReihe: Alkohol, Ather, Chloroform, Chloralhydrat zunimmt. 
Bei letzterem war auch die Schadigung der iibrigen Gewebsanteile eine sehr bedeutende. 
L 5. Bei einigen darauf untersuchten Korpcrn der A 1 kaloidreihe war die Ver- 
anderung ahnlich verteilt wie bei den Korpern der Alkoholreihe, jedoch bestand 
diese nicht in einer gleichformigen Quellung; es nahmen vielmehr die Achsencylinder 
die Gestalt von rosenkranzartigen Auftreibungen an, welche bei Morphium 
und Atropin fiber alle Strangsysteme gleichmaBig verteilt waren, beim Cocain sich 
aber auf die Hinterstrange beschrankten. 

6. Daraus, daB bei diesen Schadigungen eine ahnliche Verteilung auf die ein- 
zelnen Areale stattfindet wie bei einer Reihe von pathologischen Veranderungen 
des Riickenmarkes, wurde auf gewisse gemeinsame Grundbedingungen geschlossen. 
Als solche kann man sich wesentliche Verschiedenheiten im chemischen 
und physikalischen Aufbau der einzelnen Achsencylinderareale vor- 
stellen, welche Verschiedenheiten vielleicht im Zusammenhange mit deren Funktion 
als Ursache fiir die eigenartige Lokalisation der El k ran kungs vorgange anzusehen sind. 

7. Aus der Beeinflussung des Zerstorungsvorganges, welcher fiir die einzelnen 
narkotischen Gruppen charakteristisch zu sein scheint, wird auf spezifische 
Affinitaten zwischen den einzelnen Faserkategorien und den einwirkenden 
Stoffen geschlossen. 

8. Wegen des Fehlens von EiweiBzersetzungsprodukten in den verwendeten 
Fliissigkeiten wird bei der Wahrscheinlichkeit des EiweiBreichtums -des Achsen- 
cylinders die an demselben beobachtete Veranderung auf eine mehr physi- 
kalische als chemische Wirkung der verwendeten Fliissigkeiten und auf das Be- 
stehen ahnlicher Vorgange und Bedingungen fiir dieselben bei den verschiedenen 
pathologischen Prozessen geschlossen. 

Es wird hierbei, von derVorstellung der physikalischen Chemie ausgehend, das 
tierischeGewebe als inkompletes inhomogenes System angesehen, und sowohl die expe- 
rimentell hervorgerufenen als auch die zumVergleiche herbeigezogenen pathologischen 
Veranderungen als Verschiebungen im Gleichgewichte der einzelnen Phasen aufgefaBt, 
aus welchen die einzelnen morphologischen Elemente bestehend gedacht werden konnen. 
Solche Gleichgewichtsverschiebungen wiirden sich dann im histologischen Bilde als 
Quellungen oder Schrumpfungen der einzelnen morphologischen Elemente auBern. 
Gleichzeitig vorhandene rein chemische Vorgange wurden hier vorlaufig un- 
beriicksichtigt gelassen, ohne jedoch ihre Bedeutung in Frage stellen zu wollen. 


REFERAT. 


Oppenhelm, H. und R. Cassirer, D i e En c e - 

phalitis. 2. Aufl. Wien 1907. Alfred 
Holder. 133 S. u. 2 Tafeln. 

Die zweite Auflage dieses wichtigen und 
hochst lehrreichen Werkes bespricht in dem 
einleitenden Kapitel die Schwierigkeiten 
einer scharfen Umgrenzung des Begrifis der 
Encephalitis. Grtinde: die geringe Zahl der 
Kriterien der „EntzOndung“ am Nerven- 
apparate uberhaupt und speziell am Gehim, 
weiter der Umstand, dafi die nosologische Be- 
grundung und Abgrenzung der Encephalitis 


zum Teil nur nach klinischen Merkmalen 
geschehen ist und daher diese Bezeichnung 
auch auf Himafifektionen angewandt wurde, 
I die anatomisch noch nicht erfbrscht sind; 
es gibt ferner Erkrankungen des Gehirns und 
seiner Adnexe, bei denen die Encephalitis 
nur eine sekundare Rolle spielt oder doch 
nur eine Komponente des Gesamtleidens 
bildet, z. B. bei den Meningitiden, den syphi- 
litischen Aflfektionen, den disseminiertenEnce- 
I phalitis, bei einzelnen Fallen von Chorea here- 
I ditaria, der Lyssa, der disseminierten Myelo- 

20* 


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REFERATE. 


Journal f. Psychologic 
und Neurologic . 


Encephalitis und der multiplen Herdsklerose; 
endlich ist es noch zweifelhaft, ob die Tren- 
nung der Encephalitis vom Hirnabszefi iiber- 
all durchgefuhrt werden kann. In einem 
historischen Uberblick werden sodann die 
einzelnen Phasen der Lehre von der Ence¬ 
phalitis besprochen und u. a. betont, dafi 
nach den neueren Erfahrungen der Ausgang 
der nicht-eitrigen Encephalitis in Genesung 
nicht selten ist. Die diagnostischen Schwie- 
rigkeiten haben sich im Laufe der Zeit eher 
vermehrt als vermindert. Ein weiteres Ka- 
pitel bespricht die Atiologie. Infektion 
und Intoxikation nehmen die erste Stelle 
ein. Cerebrospinalmeningitis, Endocarditis 
ulcerosa und andere Infektionskrankheiten, 
vor allem die Influenza, haben nahe Bezieh- 
ungen zur Encephalitis. Zu beachten ist, 
dafi bei einem auffallend grofien Prozentsatz 
der Falle von Encephalitis nach Influenza 
Chlorose vorlag (vgl. auch die Beziehungen 
der Chlorose zur Sinusthrombose). Die Be- 
deutung des Traumas ist noch nicht ganz 
klar. Sicher ist nur, dafi eine Verletzung 
des Gehirns ohne Eingangspforte fur Bakte- 
rien zu einer Encephalitis non purulenta 
fuhren kann. Schwere Zirkulationsstorungen 
konnen ebenfalls von Einflufi sein (Insolation, 
Konvulsionen, organische cerebrale Prozesse 
usw.). Eine sehr ausftthrliche Darstellung 
findet die Anatomie und Histologie, 
die durch eine Anzahl guter und instruktiver 
Abbildungen unterstutzt wird. Dabei wird 
vor allem auch die Frage besprochen, inwie- 
weit der Ausgangspunkt des Prozesses im 
Gefafiapparat zu suchen ist und welche Rolle 
primare, durch gewisse Noxen verursachte, 
akut verlaufende Degenerationszustande im 
Ganglienzellenapparat spielen. In dem Ab- 
schnitte uber die Symptomatologie wird 
ausgegangen von Wernickes Poliencephalitis 
hamorrhagica superior, die sich nicht selten 
mit einer Polyneuritis verbindet. Wahrend 
bei dieser Form der Encephalitis das Hohlen- 
grau in der Nachbarschaft der Augenmuskel- 
kerne das vorwiegend ergriflene Gebiet ist, 
gibt es nun weiter Falle mit hauptsachlicher 
Beteiligung der unteren Abschnitte der Me¬ 
dulla oblongata: hierher gehoren die Polien¬ 
cephalitis inferior acuta, die akute Bulbar- 
myelitis, die Poliencephalitis superior et in¬ 
ferior und die Poliencephalomyelitis acuta 
und subacuta. Dafiir werden interessante 
Krankengeschichten und Sektionsbefunde 
beigebracht. Im Gegensatz zu diesen For- 


men ist der akuten primaren hamorrhagischen 
Encephalitis (auch als Influenzaencephalitis 
bezeichnet) die Lokalisation in den Groflhim- 
hemispharen eigentiimlich. Die Grenzen 
zwischen dieser Erkrankung und der Wer- 
nickeschen verwischen sich bei genauerer 
Betrachtung vollig. Fur den nahen Zu- 
sammenhang all dieser entzundlichen Krank- 
heiten des Nervensystems spricht auch die 
Tatsache, dafi Grofihirnencephalitis und spi- 
nale Kinderlahmungz u s am m e n vorkommen. 
Beziiglich der Frage, ob sich die cerebrale 
Kinderlahmung auf eine akute Encephalitis 
zuruckfiihren lasse, was Str(impel 1 zuerst 
nachzuweisen versuchte, schliefien sich die 
beiden Autoren dem letzteren an. Aus den 
Erorterungen uber Ver lauf und Prognose 
sei nur noch einmal ausdriicklich erwahnt, 
dafi nach O. und C. die Encephalitis „recht 
haufig, vielleicht meistens den Ausgang in 
vollkommene oder unvollkommene Genesung 
nimmt“, dafi die Prognose also als nicht un- 
gunstig bezeichnet werden mufi. Ab und 
zu, wenn auch selten, kommen Rezidive vor. 
Die Diagnose kann oft nicht mit Sicher- 
heit gestellt werden. Doch wird man bei 
genauer Beachtung der von den Verfassem 
angegebenen, allerdings z. T. recht feinen 
Merkmale haufig wenigstens zu annahem- 
der Sicherheit in der Diflerentialdiagnose 
kommen. Grofie Schwierigkeiten kann 
namentlich die Unterscheidung zwischen der 
Poliencephalitis acuta hamorrhagica von ge- 
wissen akut einsetzenden Ophthalmoplegien 
und Bulbarlahmungen ohne anatomisches 
Substrat (vor allem der myasthenischen Para¬ 
lyse) machen. Auch die Erscheinungen der 
Sinusthrombose konnen denen der Ence¬ 
phalitis bis in kleinste Einzelheiten gleichen. 
Betrubend kurz ist das Kapitel fiber die 
Therapie: ein Ausdruck dafiir, dafi die Er¬ 
fahrungen darin noch recht sparliche sind. 
Und doch ist das, was hier an praktischen 
Winken gegeben wird, der grofiten Beach¬ 
tung wert: gerade weil die Mehrzahl der 
Arzte uber die Encephalitis im Ganzen und 
noch viel mehr uber ihre einzelnen Formen 
nur hochst verschwommene Begriffe hat und 
weil die Prognose meist als absolut infaust 
angesehen wird, kann man hier oft einen 
therapeutischen Nihilismus beobachten, der 
sehr bedauerlich ist. Daraus geht aber auch 
zugleich hervor, dafi wir den Verfassern fiir 
ihre Aufklarungsarbeit ganz besonders dank- 
bar sein mussen. Mohr-Coblenz. 


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