Hellmuth Kaiser
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Eine psychologische Deutung
seiner iStralphantasie
Internationaler
.Psycnoanalytiscner Verlag
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Eine psychologische Deutung
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Sonderabdrude aus „Imago, Zeitsdirift für Anwendung der
Psydioanalyse auf die Natur- und GeUteswissensdiaften"
(herausgegeben von Sigm. Freud), Bd. XVII (xgzi)
193l
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien
AM
Alle Rechte,
insbesondere die der Übersetzung,
vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Druck: Christoph Relsier's Söhne, Wien V
„Der wahre Weg jährt über ein Seil, das nicht
in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem
Boden; es scheint weniger bestimmt, begangen zu
werdenah stolpern zu machen.' 1 (Kafka.)
Die Werke Franz Kafkas, in ihrer Mischung ans kühner Phantastik und
strenger Realistik Träumen gleichend, durch die lebendige Kraft der Sprache
und die zwingende Anschaulichkeit der Darstellung Kunstwerken höchsten
Ranges verwandt, erlauhen der analytischen Betrachtung so reiche Ein-
blicke in die sie erzeugenden Strömungen des Unbewußten, wie wohl kaum
eine Kunstdichtung sonst.
In der Geschlossenheit ihres Symbolgehalts Märchen und Mythen vergleichbar,
haben sie für das psychologische Interesse diesen gegenüber den Vorzug, daß sie
die inneren Schicksale einer einzigen Individualität verkörpern und daher die
Zusammenhänge einer ganzen Persönlichkeitsentwicklung erkennen lassen.
Den Hauptgegenstand der vorliegenden Studie bildet eine 69 Seiten um-
fassende, im Jahre 1919 erschienene Erzählung Kafkas, die den Titel trägt:
„In der Strafkolonie. '
1) Wir benutzen
Bericht
Landarzt
Verwandlung
Urteil
Strafkolonie
Schloß
Prozeß
beim Zitieren Kafkascher Dichtungen folgende Abkürzungen:
= „Ein Bericht für eine Akademie". Enthalten in: Ein Landarzt.
Kleine Erzählungen. Kurt Wolff Verlag, 1919.
= „Ein Landarzt". Ebenda.
sc „Die Verwandlung". Kurt Wolff Verlag, 1917.
es „Das Urteil". Eine Geschichte. Kurt Wolff Verlag, 1916.
= „In der Strafkolonie". Eine Geschichte. Kurt Wolff Verlag, 1919.
as „Das Schloß". Roman. Kurt Wolff Verlag, 1926.
— „Der Prozeß", Roman. Verlag Die Schmiede, Berlin 1925.
Jbicllmuth JVa
Sie enthält eine Art Privatmythologie, die gleichwohl bedeutsame An-
klänge an die Mythologie der jüdisch-christlichen Religion nicht vermissen
läßt. Der Verfall und endgültige Zusammenbruch dieser religiösen Schöpfung
macht die Handlung der Dichtung aus.
Der Besprechung dieses Werkes stellen wir die Deutung zweier anderer
kurzen Erzählungen voran, von denen die erste in der Sammlung: Ein
Landarzt, kleine Erzählungen, 191g erschienen ist. Ihr Titel lautet: Ein
Bericht für eine Akademie. Die zweite heißt: Die Verwandlung. Sie ist
1917 erschienen. Über die Reihenfolge der Entstehung dieser Dichtungen
wissen wir nichts. Wir glauben aber, mit der von uns eingehaltenen Reihen-
folge, in der wir die Dichtungen besprechen, der historischen Entwicklung,
zum mindesten ihres psychologischen Gebalts, Rechnung zu tragen; in der
Tat stellt die psychologische Interpretation der beiden ersten Geschichten
eine wesentliche Erleichterung und Vorbereitung für das Verständnis der
dritten dar.
Der Natur einer analytischen Untersuchung entsprechend, wird das, was
wir an psychologischen Tatsachen finden werden, nicht dem Kafkaschen
Charakter angehören, der sich in bewußten Handlungen, Gedanken und
Worten äußerte, sondern es werden Elemente, die dem Bewußtsein des
Dichters ganz oder teilweise entzogen waren, eine große Rolle spielen.
Wir müssen daher den mit solchen Untersuchungen nicht vertrauten
Leser warnen, etwa zu glauben, daß durch diese Untersuchungen der „eigent-
liche Kafka ans Licht käme, während die auf Grund nichtanalytischer
Anschauung erfaßte, bewußtseinsnähere Gestalt des Dichters nur eine trüge-
rische Maske sei.
Es kommt nicht in Frage, daß wir das Charakterbild Kafkas, wie es
seine Freunde und Bekannten sich bildeten, korrigieren. Wir erforschen
vielmehr eine Schicht seines Wesens, die eben nur der analytischen Be-
trachtung zugänglich ist, und die bei den meisten Menschen dauernd im
Dunkel bleibt. Wir wollen diesem Umstand, daß unsere Aussagen sich auf
ein der gewöhnlichen biographischen Forschung nicht angehöriges Objekt
beziehen, um Mißverständnisse nach Kräften auszuschließen, auch äußer-
lich Rechnung tragen und werden die Persönlichkeit, deren unbewußte
Seelenschichten wir zu erforschen suchen, mit dem Decknamen „K," be-
zeichnen, mit dem Kafka die Helden seiner Romane meistens benannte.
Frans Kafkas Inferno
Min Bericht für eine Akademie
In der Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie" läßt Kafka einen
„gewesenen Affen" die Geschichte seines Eintritts in die Menschenwelt dar-
stellen nebst Vorgeschichte, Randbemerkungen und einem Überblick über
seine gegenwärtige Artisten existenz.
Auf dem Transportschiff, das ihn von der Goldküste, wo er eingefangen
wurde, nach Europa tragt, führt er in einem engen Käfig ein qualvolles Dasein :
„Ich hatte keinen Ausweg, mußte mir ihn aber verschaffen, denn ohne ihn
konnte ich nicht leben. Immer an dieser Kistenwand — ich wäre unweiger-
lich verreckt. Aber Affen gehören bei Hagenbeck an die Kistenwand — nun,
so hörte ich auf, Affe zu sein. Ein klarer, schöner Gedankengang . . . K (Bericht, 161.)
In Konsequenz dieses Gedankens übt er sich in der Nachahmung der
Menschen. Der entscheidende Schritt vom Affentum zum Menschendasein
geschieht, indem der Affe es lernt, Schnaps zu trinken, und zwar aus der
Flasche, wie es die Matrosen tun. Dies glückt erst nach vielen vergeblichen
Versuchen, die vor allem durch den Ekel des Tieres vor dem Schnaps er-
schwert werden.
„Der Geruch peinigte mich; ich zwang mich mit allen Kräften; aber es
vergingen Wochen, ehe ich mich überwand- Diese inneren Kämpfe nahmen die
Leute merkwürdigerweise ernster als irgendetwas sonst an rnir." (Bericht, 174.)
Die Schilderung dieser Bemühungen, das Schnapstrinken zu erlernen,
nimmt einen breiten Raum in dem Bericht ein und ist in einer Sprache
gegeben, deren zupackende Kraft und dramatische Spannung keinen Zweifel
darüber lassen, daß es sich hier um Entscheidendes handelt.
Diese Szenen bilden einen Anknüpfungspunkt für die psychologische
Interpretation; denn der Alkoholgenuß hat eine ganz allgemeine symboli-
sche Bedeutung. Das „Trinkenkönnen", die Trinkfestigkeit, wie wir sagen,
ist im Bewußtsein unseres Volkes eine charakteristische Fähigkeit des dem
Knabenalter entwachsenen Mannes. Der Abschiedskommers der Abiturienten,
die Biergelage der studentischen Verbindungen, die Liebesmahle der Offi-
ziere, der Wirtshausbesuch des konfirmierten Schulentlassenen sind Initiations-
riten und bedeuten die Aufnahme in die männliche Gemeinschaft. Selbst
unzweifelhafte Exzesse werden — wenn man sie auch öffentlich tadelt —
doch unter der Hand mit verständnisvoll lächelnder Nachsicht beurteilt,
so daß die Haltung, die man dem Alkoholgenuß gegenüber einnimmt,
deutlich an diejenige erinnert, die man gegenüber dem Geschlechtsgenuß
zur Schau tragt.
Hcilmutli Kaiser
Nehmen wir einmal an, daß die Bedeutung des Alkoholgenusses — näm-
lich ein Kennzeichen und Ausdruck der Männlichkeit zu sein — nicht zu-
fällig ist für die Betonung des Schnapstrinkens in dem Bericht des Affen,
so können wir sagen, daß dem Eintritt des Affen in die menschliche
Gesellschaft — deutungsweise — der Eintritt K.s in die männliche Ge-
sellschaft entspreche. Wir werden diesen Gedanken nun weiter verfolgen
und es von seiner Zusammenstimmung mit weiteren Einzelheiten abhängig
machen, ob wir ihm definitive Anerkennung gewähren wollen.
Ist deT Ausweg, ein Mensch zu werden, psychologisch deutbar als der
Wunsch, ein Mann zu werden, so muß der qualvolle Aufenthalt im Käfig
dem qualvollen Zustand entsprechen, in dem sich jemand befindet, der
nicht Mann ist und es doch aus irgendeinem Grunde nötig hat, Mann
zu sein.
Um herauszubekommen, um was für einen Zustand es sich da handelt,
verfolgen wir die Geschichte des Affen rückwärts, bis wir erfahren, auf
welche Weise er in den Käfig hineinkam:
„Eine Jagdexpedition der Firma Hagenbeck ... lag im Ufergebüsch auf dem
Anstand, als ich am Abend inmitten eines Rudels zur Tränke lief. Man schoß;
ich war der Einzige, der getroffen wurde; ich bekam zwei Schüsse." (Bericht, 152.)
Mit dem „ersten Schuß**, der den Affen in die Backe traf, können wir
vorläufig nichts anfangen. Wir gehen daher gleich zu dem zweiten über:
„Der zweite Schuß traf mich unterhalb der Hüfte. Er war schwer, er hat
es verschuldet, daß ich noch heute ein wenig hinke." {Bericht, 153-)
Hier bietet sich die Möglichkeit einer Anknüpfung. Ein Schuß, dessen
Einschlagstelle auffällig unbestimmt durch die Worte „unterhalb der Hüfte
beschrieben wird, könnte es in der Tat bewirken, daß ein an und für sich
männliches Individuum genötigt ist, sich um Männlichkeit zu bemühen —
ein solcher Schuß könnte nämlich das Genitale getroffen haben.
Der Schuß bewirkt ein Hinken.
Nun dient das „Hinken in der Symbolik der Mythen, Sagen und Dichtun-
gen zur Andeutung einer im Sinne der Kastration wirkenden Schädigung.
Man denke etwa an ödipus, Hephäsrus und Tollers „Hinkemann .
Unsere Vermutung findet nun gleich eine neue Stütze, wenn wir den
Text der Erzählung weiter verfolgen; es heißt da:
„Letzthin las ich in einem Aufsatz irgendeines der zehntausend Windhunde,
die sich in den Zeitungen über mich auslassen: Meine Affennatur sei noch nicht
ganz unterdrückt; Beweis dessen sei, daß ich, wenn Besucher kommen, mit
Vorliebe die Hosen ausziehe, um die Einlaufstelle jenes Schusses zu zeigen. Dem
_
Kafkas Inh
Kerl sollte jedes Fingerchen seiner schreibenden Hand einzeln weggeknallt werden.
Ich, ich darf meine Hosen ausziehen, vor wem es mir behebt. Man wird dort
nichts finden als einen wohlgep Hegten Pelz und die Narbe nach einem . . . frevel-
haften Schuß. . . . würde dagegen jener Schreiber die Hosen ausziehen, wenn
Besuch kommt, so hätte dies allerdings ein anderes Ansehen ..." (Bericht, 155.)
Daß man bei ihm, dem Affen, „nichts finden wird als einen wohl-
gepflegten Pelz und die Narbe", also nichts, was das Schamgefühl verletzen
könnte, während es bei dem „Schreiber" ein „anderes Ansehen" hätte, läßt
sich kaum anders verstehen, als daß er, der Affe, im Gegensatz zu jenem
Schreiber das Genitale nicht mehr besitzt; denn der Anblick des Genitales
dürfte wohl in erster Linie das sein, was Anstoß erregt.
Einen weiteren Hinweis gibt die Strafe, die der Affe dem Schreiber zu-
denkt. Das, was dem Genitale des Affen geschehen ist, soll den Fingern
an der Hand des Schreibers geschehen, nämlich, sie sollen abgeschossen
werden! Der Finger ist ein Ersatz für den Penis; der Plural entspricht
einer Intensivierung, wie es in unserer Umgangssprache gebräuchlich ist,
wenn wir etwa sagen: bitte tausendmal um Verzeihung I
Es muß auffallen, daß der Affe den Schreiber durch Kastration strafen
will, aber sich doch offenbar seiner eigenen Kastriertheit rühmt. Auf das
hierin liegende Problem werden wir später zurückkommen. Zunächst wollen
wir uns darüber klar werden, wie wir das Kastrationserlebnis des Affen in
unserer psychologischen Interpretation verwenden wollen.
Ein solches Erlebnis ist nun in der psychoanalytischen Forschung wohl-
bekannt. Wenn das männliche Kind den ersten Höhepunkt seiner Sexual-
entwicklung erreicht hat, was etwa um das Ende des dritten Lebensjahres
der Fall zu sein pflegt, erlebt es jede Einschüchterung seiner sexuellen
Strebungen als eine Bedrohung seines Geschlechtsgliedes — als eine Kastra-
tionsdrohung. Die sich summierenden Wirkungen mehrerer solcher Erlebnisse
führen dann zur Verdrängung der auf das Genitale konzentrierten Libido
und somit zum Eintritt der sogenannten Latenzperiode.
Hiermit stimmt es gut zusammen, wenn es in dem „Bericht", S. 156, heißt:
„Nach jenen Schüssen erwachte ich - und hier beginnt allmählich meine
ii
eigene Erinnerung . , .
Der zweite Teil dieses Satzes lehrt uns, daß für die ganze der Gefangen-
nahme voraufgehende Zeit Amnesie besteht, und dies trifft mit geringen
Ausnahmen tatsächlich für das kindliche Leben vor der Latenzzeit zu.
Der erste Teil des Satzes läßt uns schließen, daß der Affe durch die
Schüsse das Bewußtsein verlor. Auch diese — scheinbar unwesentliche —
Hellmuth Kaiser
Tatsache gestattet eine Deutung, und zwar eine, die für das Verständnis
des Gesamtzusammenhanges der Erzählung von Wichtigkeit ist.
Das Ohnmächtigwerden und Wiederaufwachen des Helden ist nämlich
ein nicht nur von Kafka angewandtes Symbol der Dichtung und bedeutet
etwa so viel wie das Fallen und Wieder-in-die-Höhe- Gehen des Vorhanges in
einem Theaterstück. 1 Dieses will nämlich sagen, daß hier eine längere oder
kürzere Zeit als verstrichen gedacht werden muß, in der gleichwohl nichts
Erzählenswertes geschehen ist; so daß nun, nach dieser Zeit, die Handlung
sozusagen da wieder ansetzen muß, wo sie abgebrochen wurde. Psychologisch
gesehen heißt das: Es ist zwar Zeit vergangen, aber die Problematik ist
dieselbe gehlieben, oder, anders ausgedrückt, wir befinden uns (nach der
Ohnmacht) zwar auf einer anderen der historisch aufeinanderfolgenden
Seelenschichten — aber an einer analogen Stelle.
Diese Symbolübersetzung ergibt — wie wir gleich sehen werden — in
unserer Erzählung einen guten Sinn: Es ist wohl einleuchtend, daß der
durch die Deutung zu entschleiernde, dem Dichter unbewußte Gehalt einer
Dichtung, unbeschadet seiner Unbewußtheit, irgendwie mit dem aktuellen
Leben des Dichters zu tun haben muß. So gehört das Problem K.s: „wie
werde ich ein Mann?" — dargestellt durch das Problem des Affen: „wie
werde ich ein Mensch?" — sicher in die Zeit, in der die Erzählung ent-
stand, hinein. Um nun die Entstehungsgeschichte seiner Notlage (d. h. der
Unvollkommenheit seiner Genitalität) zu erzählen, greift K, — in Über-
einstimmung mit den Erfahrungen der Psychoanalyse, die genitale Störungen
bis in die Infantilität verfolgt, — auf seine Kinderzeit zurück und weist
auf den Kastrationsschock hin, der offenbar bei K. besonders heftig ausfiel.
Nach dem — traumatisch wirkenden — Kastrationsschock trat zunächst die
Latenzperiode ein, in der sich die besondere Heftigkeit jenes Schocks nicht
unmittelbar in Gestalt einer Störung der genitalen Sexualität auswirken
konnte, da in dieser Zeit ja ohnehin die Sexualität verdrängt ist. Erst nach
dem Wiedererwachen der Sexualität in der Pubertätszeit machte sich —
wie wir annehmen müssen — die Störung der Genitallibido bemerkbar.
Nun verstehen wir, was das Ohnmächtig werden und Wiedererwachen des
Affen bedeutet. In der Erzählung geht die symbolische Darstellung des
Kastrationsschocks (Schüsse) der Schilderung der Sexualnot (Käfig- Qual)
unmittelbar voran, denn das Verdrängte bleibt — vergleichsweise — un-
berührt von der Zeit; gleichwohl aber gehört das Kindheitserlebnis einer
1) Soweit nämlich die „Pause" nicht nur den Wechsel der Szenerie technisch er-
möglichen soll.
Franz Kafkas Inferno
alteren (wohl mindestens um anderthalb Jahrzente älteren) Seelenschicht
an als die aktuelle Not, und diese Zeitlücke wird durch die Ohnmacht
angedeutet.
Nachdem wir uns so über die Bedeutung des zweiten Schusses verständigt
haben, wollen wir versuchen, auch die des ersten zu erklären. Sehen wir
uns zuerst wieder den Text an:
Einen in die Wange; der war leicht; hinterließ aber eine große, abrasierte
Narbe, die mir den widerlichen, ganz und gar unzutreffenden, förmlich von einem
Affen erfundenen Namen Rotpeter eingetragen hat, so, als unterschiede ich mich
von dem unlängst krepierten, hie und da bekannten Affentier Peter nur durch
den roten Fleck auf der Wange. Dies nebenbei. (Bericht, 152.)
Der Name Rotpeter erinnert an das Kinderspiel „Schwarzer Peter". Dies
Spiel besteht bekanntlich darin, daß nach Verteilung der Karten der Reihe
nach jeder von seinem Nachbar eine Karte „zieht" und die paarweise zu-
sammengehörenden Karten, wie Kaiser und Kaiserin, Bauer und Bäuerin,
Müller und Müllerin usw. ablegt. Zuletzt bleibt einem der Kinder eine
Karte, zu der es keine dazugehörige gibt, der sogenannte „Schwarze Peter"
(gewöhnlich eine greuliche Mohrenfigur) in der Hand. Das Kind wird als
Schwarzer Peter" verhöhnt und bekommt mit Kohle einen Schnurrbart
ins Gesicht gemalt.
Der aufgemalte Schnurrbart verspottet das Männlichkeitsstreben des Kindes :
Du willst erwachsen sein und einen Bart haben wie der Vater, dein Bart
i"st aber nur ein scheinbarer und bedeutet zugleich eine Beschmutzung zum
Zeichen, daß du noch ein schmutziges Kind bist; also bist du so wenig
paarungsfähig wie die Karte, die dich kennzeichnet." Das ist der grausame
Sinn dieses Spieles, das, wenn es sich um kleine Kinder handelt, oft genug
und begreiflicherweise einen Tränenstrom bei dem „Schwarzen Peter" auslöst.
Nach dem Sinn dieser Parallele würde also der erste Schuß auch wieder
eine Kastrationsdrohung bedeuten, nur daß die Angriffsrichtung von unten,
vom Genitale, nach oben auf die Wange verschoben ist. Solche „Verschie-
bungen nach oben" sind bei der Darstellung unbewußter Erlebnisse überaus
häufig und stehen im Dienst einer Verhüllungstendenz. - Hier soll wohl
auch die relative Unbedeutendheit des ersten Schocks durch die Verschiebung
angedeutet werden. Die Gereiztheit, die der „gewesene Affe" über den ihm
angehängten Namen Rotpeter zeigt, und die seiner Verachtung für den Affen
Peter entspringt, hängt - wie es scheinen will - wieder mit dem uns
vorläufig noch rätselhaften Umstand zusammen, daß der Verfasser des Be-
richts auf seine Kastriertheit stolz ist. Was ihn von jenem dressierten
Hi:llmtmi Kaiser
Affen unterscheidet, ist — so will er sagen — nicht nur der rote Fleck
auf der Wange, sondern er trägt — wie wir ergänzen können — noch eine
andere, bedeutungsvollere Narbe.
Über den realen Anlaß jener Sexualeinschüchterung, die als Kastrations-
drohung wirkte, wollen wir erst später eine Vermutung anstellen. Ihre Folge
war, daß — nach dem Text der Erzählung — der Affe gefangengenommen,
an Bord gebracht und in einen engen Käfig gesperrt wurde. Im Sinn der
Deutung heißt das, daß der erwachsene K, infolge seiner Kindheitserlebnisse
an einer Sexualhemmung litt und durch die Stauung der Libido, der keine
Abfuhrmöglichkeit gegeben war, gequält wurde. Wahrscheinlich waren diese
Qualzustände auch von schweren Minderwertigkeitsgefühlen begleitet; dafür
spricht das dick aufgetragene Selbstbewußtsein des Affen, das eine Über-
kompensation der Selbstverachtung andeutet.
Wir kommen nun, in der Lebensgeschichte des Affen vorschreitend,
wieder zu dem „Ausweg", der ihn aus seiner Zwangslage befreit. Das Er-
lernen des Schnapstrinkens ist zwar — wie wir jetzt wohl mit einiger Sicher-
heit sagen dürfen — ein Symbol für das Mannwerden oder wenigstens für
eine Kompensation der fehlenden Männlichkeit, aber es ist doch keines-
wegs das einzige Symbol, das hier in Betracht kam, und so sind wir auch
berechtigt, den Umstand, daß gerade dieses gewählt wurde, inhaltlich aus-
zudeuten.
Wie aus unserem Zitat (S. 5) hervorgeht, ist der Schnapsgenuß dem
Affen ekelhaft. Schon der Geruch des Fusels widersteht ihm. Dem Ekel
entspricht bekanntlich immer eine verdrängte Lust, die ekelhafte Sache
mit dem Munde zu berühren oder zu verschlucken, sie zu riechen oder
2U schmecken. — Das Schnapstrinken muß also den Affen an einen anderen,
früheren Genuß erinnern, der später mit Hilfe des Ekels verdrängt wurde.
Dieses Übergehen der Lust in Ekel finden wir — und zwar gerade bei
einem Fall von Alkoholgenuß — in einem anderen Werke Kafkas unmittelbar
dargestellt.
„Wie es sich beim Trinken verwandelte, aus etwas, was fast nur Träger
süßen Duftes war, in ein kutschermäßiges Getränk." (Schloß, 301.)
Dasjenige, was den kleinen Kindern lustvoll ist und was ihnen später
ekelhaft wird, ist aber Kot und Urin. Da es sich hier um das Trinken
einer Flüssigkeit handelt, könnte nur Urin in Frage kommen. — Was
leistet aber eine solche Deutung für das Verständnis der Tatsache, daß
das Trinken der Menschwerdung des Affen oder der Man nwer düng K.s
dient?
Frans Kafkas Inferno
11
Wir müssen uns hier daran erinnern, daß der Affe den kastrierenden
Schuß erhielt, als er aines Abends „zur Tränke lief". Diese Angabe ist
gewiß keine zufällige, d. h. keine bloße Zeitbestimmung. Wir wollen uns
getrauen, aus dieser zeitlichen Koinzidenz in der Erzählung in der Deutung
ein „propter hoc" zu machen und behaupten, daß der Kastrationsschock wegen
dieses Zur-Tränke-Laufens oder dieses Trinkenwollens erfolgte. Daraus ergibt
sich dann weiter, daß dieses „Trinkenwollen" einen genitalsexuellen Sinn
gehabt haben muß. Ja, es scheint nicht zu kühn, anzunehmen, daß K.
schon in der Kindheit die Vorstellung hatte, daß man durch „Trinken
zum Manne werden könne. Dieser Trinkversuch muß nun für die Erwach-
senen den Charakter einer „Unart" gehabt haben, so daß von ihrer Seite
ein schroffes Verbot ausgesprochen, vielleicht sogar eine Strafe verhängt wurde.
Als nun beim erwachsenen K. die Folgen jener Einschüchterung in Gestalt
einer Sexualstörung, einer Neurose, fühlbar wurden, und er den Mangel
eigener Männlichkeit empfand, muß er in einer unbewußten Phantasie auf jene
alte Vorstellung vom Männlichkeitserwexb durch Trinken zurückgekommen
sein, indem er sozusagen an derselben Stelle seine Sexualentwicklung wieder
aufnahm, wo er sie auf den Kastrationsschock hin unterbrechen mußte.
Nun wird man aber immer noch den Zusammenhang von „Trinken ,
Männlichkeitserwerb" und „Urin" vermissen. Diesen Zusammenhang liefern
uns zwei dem Kindheitsalter eigentümliche Theorien. Die eine ist die in-
fantile Sexualtheorie, wonach der Urin das Genitalprodukt ist, das der Mann
beim Geschlechtsverkehr in die Frau hinein-entleert. Die andere ist die
dem magischen Weltbilde nahestehende Vorstellung, daß man eine Fähigkeit,
die ein anderer besitzt, erwerben kann, wenn man diesen anderen oder
auch nur dasjenige seiner Organe, an das die betreffende Fähigkeit geknüpft
ist verschlingt. Nimmt man diese beiden Theorien zusammen, so ergibt
sich der Satz,* daß man Männlichkeit erwerben kann, wenn man den Urin
aus dem väterlichen Penis saugt.
Wenn wir am Anfang unserer Betrachtungen auf den Zusammenhang
der Trinksitten mit der Schätzung der Männlichkeit hinwiesen, so waren
wir vielleicht von diesem letzten Resultat nicht so weit entfernt, wie es
scheinen möchte. Wir brauchen uns nur zu erinnern, daß die Studenten-
kommerse Vorbilder in der nordischen Götter- und Heldensage finden, bei
denen das feierliche Trinken, insbesondere das Wetttrinken aus Hörnern
geschieht, und daß das Hörn ein phallisches Symbol ist.
In der Schilderung der Trinkübungen des Affen findet sich folgende
Stelle, die unsere Deutung stützen kann:
Hellmuth Kaiser
Diese Verunreinigung - wir nehmen an, daß K. an urinieren gedacht hat -
Et SLv g6dUM ' d - h - 5ie 1St *» V «*«"*«I «*«* nimmt
ol . Tn U \ g T"** ZU d6r daS Schna P st "«ken den Affen befähigen
11= die phalhsche Es ist bekannt, daß das mannliche Kind das Urinieren
als einen Beweis seiner Männlichkeit betrachtet.
Wir hatten gesehen, daß das Affen tum ««■«„ u j
AfF^v* j I» Anenmm offenbar wegen der sogenannten
a ■ . u *. , ^«acnsenen infantileres Em Wicklungsstadium darstellt-
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neuer Gr. erkafig erwartet, und dem Variete, wo er sein eigener Herr werden
Kann; und wählt das letzte.
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sXt mt de, p iZT* WlU; man kmt "«****«• Man beaufsichtigt sich
(Berief j8 g e ) PmSChe; man Zerfleischt sich »"*» gerieten WidersLd."
So der Weg I — Nun das Erreichte:
W»"S! W ^ ich J^ine bisherige Entwicklung, so klage ich weder, noch
hm ich zufrieden Die Hände in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem
lisch, hege ich halb, halb sitze ich in dem Schaukelstuhl und schaue aus dem
enster. Kommt Besuch, empfange ich ihn, wie es sich gebührt. Mein Impresario
T \T y?™ ,ier i läute ich > k °™™t « und hört, was ich zu sagen habe
S , « 4f f3St immer VarateUim fc und ich habe wohl kaum mehr zu steigernde
Erfolge. (Bericht, 186.) * Qe
Kafkas lnle
Das Leben, das der Affe sich unter verzweifeltem Kräfteeinsatz geschaffen
hat, ist ein Artisten dasein . Allein, vereinzelt, steht er auf der Variete'bühne
der Masse der Schauenden gegenüber, die er durch seine Leistungen ver-
blüfft. Diese Leistungen und die Anerkennung, die sie finden, sind es auch
nur, die ihm die Kraft zu der stolzen Resignation geben, mit der er sein
Dasein — dem die Zufriedenheit fehlt — klaglos erträgt. — Denn voll ist sein
Ziel nicht erreicht. Er ist nicht ganz und gar Mensch geworden, trotz der
„Durchschnittsbildung eines Europäers", trotz der Anhäufung von Wissen
und trotz der „kaum mehr zu steigernden Erfolge". — Die folgende Stelle
schließt sich unmittelbar unserem letzten Zitat an:
„Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften,
aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine kleine halb-
dressierte Schimpansin, und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr wohlgehen.
Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn des verwirrten,
dressierten Tieres im Blick; das erkenne nur ich, und ich kann es nicht er-
tragen." (Bericht, 187.)
Man sieht, trotz aller intellektuellen Leistungen ist das Triebleben äffisch
geblieben. Hier klafft eine Lücke. Die Persönlichkeit ist gespalten.
Wir brauchen nicht viel hinzuzusetzen, um aus diesem Affenschicksal
die Deutung zu gewinnen. Durch keine noch so gewaltige Anstrengung
des Willens kann der Triebgestörte zu dem Leben eines vollentwickelten
Menschen gelangen. Nachahmung bleibt Nachahmung. Diese Nachahmung
ist ja nicht das freudige Sichaneignen eines Verhaltens, das der eigenen
Natur gemäß ist: .
„Ich wiederhole: es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen;
ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund."
(Bericht, 181.)
Es ist ein gewaltsamer Versuch, sich aus einer Zwangslage zu befreien.
Menschen, die an Entwicklungshemmungen leiden, pflegen zu sagen: „Ich
tue so, als wäre ich wie die anderen. Ich spiele Theater, wenn ich wie
ein Erwachsener rede und handle.
Freilich gibt es auch in einem solchen Leben Befriedigungen:
„Diese Fortschritte! Dieses Eindringen der Wissensstrahlen von allen Seiten
ins erwachende Hirn! Ich leugne nicht: es beglückte mich." (Bericht, 185.)
Ja, es ist nur ein Ausweg, den der Affe, den K. gefunden hat —
nicht „dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten". — „Als Affe
kannte ich es vielleicht" — geht es im Text weiter — „und ich habe
Menschen kennengelernt, die sich danach sehnen." (Bericht, 162.)
* Hellmutli Kaiser
Aber das Merkwürdige ist, daß der Ausweg dem Affen lieber ist, als
jene „Freiheit nach allen Seiten*.
„Was mich aber anlangt, verlangte ich Freiheit weder damals noch heute."
(Bericht, 181.)
„Freiheit* bedeutet ja hier offenbar, der Käfig-Qual enthoben 2u sein,
den Druck der unbefriedigten Triebe nicht zu spüren — zufrieden zu sein,
mit einem Wort. Der „Ausweg* aber ist der schmale und steile Weg zu
einem künstlichen, gesteigerten, schwierigen, auf Triebsublimierung beruhen-
den Dasein, in dem man des Triebdrucks niemals ledig, zu außerordent-
lichen Leistungen genötigt und befähigt ist. Es ist das Dasein eines Künstlers,
der keine Zufriedenheit kennt — sich über das Schicksal aber auch nicht
beklagt, weil er die Zufriedenheit ja gar nicht will. — Wie würde denn
die Freiheit aussehen?
„Oft habe ich in den Varietes vor meinem Auftreten irgendein Künstler-
paar oben an der Decke an Trapezen hantieren sehen. Sie schwangen sich
sie schaukelten, sie sprangen, sie schwebten einander in die Arme, einer trug
den anderen an den Haaren mit dem Gebiß. ,Auch das ist Menschenfreiheit' dachte
ich, selbstherrliche Bewegung . Du Verspottung der heiligen Natur ! Kein Bau
würde standhalten vor dem Gelächter des Affentums bei diesem Anblick "
(Bericht, 163.)
Dies Schaukeln und Sich-in-die-Arme-Schweben ist eine symbolische Dar-
stellung der normalen Triebbefriedigung, aber zugleich auch ihre Verspottung.
Der seelisch komplizierte, in stetem inneren Kampf gespannte Künstler ver-
achtet die Monotonie im Leben des einfachen, seinen Trieben folgenden
Menschen, mag diese Verachtung auch mit Neid gemischt sein.
Und nun verstehen wir, warum der Affe seiner körperlichen Verstüm-
melung gegenüber ein so ambivalentes Verhalten zur Schau trägt warum
wenn er den Schuß, der ihn kastrierte, einen „frevelhaften* nennt er die
Worte einschaltet: „. . . wählen wir hier zu einem bestimmten Zweck ein
bestimmtes Wort, das aber nicht mißverstanden werden wolle. " (Bericht 1 54 )
Er erkennt, daß diese körperliche Beeinträchtigung die Bedingung 'seiner
ungewöhnlichen Leistungen ist, und in diesem Sinn legt er Wert auf die
„Narbe m seinem wohlgepflegten Pelz«, die ihn von dem Journalisten unter-
scheidet und ihn zu einem exhibitionistischen Verhalten berechtigt, das
jenem verwehrt ist. Der andere ist eben nur ein Journalist geworden, er
selber aber ist ein Künstler.
Die Mischung von äffischen und menschlichen Zügen in dem Verfasser
des „Berichts" zeigt genau das Bild des hochbegabten aber entwicklungs-
Frau« Kafka* Inferno
gehemmten — neurotisch erkrankten Menschen eines bestimmten Typs.
Die intellektuellen Leistungen überragen durchaus den Durchschnitt, die
beruflichen und gesellschaftlichen Beziehungen zu Menschen beruhen auf
Routine und geschickter Nachahmung, das Triebleben, insbesondere das
Sexualleben, ist äffisch, d. h. unentwickelt geblieben. Der Mangel reifer,
normaler Männlichkeit ist teilweise kompensiert, aber nicht behoben.
Dies noch sehr lückenhafte, noch sehr schematische Bild von der Pro-
blematik der K. sehen Seele werden wir nun durch die Ausdeutung einer
zweiten Erzählung zu ergänzen suchen, die, so wenig das bei ihrer Lektüre
zunächst in die Augen springen mag, mit dem Bericht des Affen mancherlei
Verwandtschaft hat.
Die Verwandlung
Die Erzählung »Die Verwandlung" beginnt damit, daß der Held, ein
junger Handlungsreisender, eines Morgens, als er gerade im Begriffe ist,
sich in Erfüllung seiner Berufspflichten auf eine Geschäftsreise zu begeben,
beim Aufwachen entdeckt, daß er in ein häßliches, unappetitliches Insekt
(etwa in eine Wanze, von freilich übernatürlicher Größe) verwandelt
worden ist.
Eine Ursache dieser Verwandlung, aus der man etwa ihre Symbol-
bedeutung herleiten könnte, wird nicht genannt. Wir werden daher ihre
Wirkungen, die Veränderungen, die sie hervorruft, studieren, um daraus
auf ihren Sinn zu schließen.
Dem Eintritt der Verwandlung geht ein Zeitraum von fünf Jahren vor-
aus, innerhalb dessen sich an dem Helden, Gregor Samson und an seiner
elterlichen Familie, in der er lebt, eine stetige, immer im gleichen Sinn
verlaufende Entwicklung vollzieht. Eingeleitet wird diese Entwicklung durch
den Zusammenbruch des väterlichen Geschäftes, der eben um fünf Jahre
dem Anfang der Erzählung vorausgeht. Dieses Ereignis veranlaßt Gregor,
sich mit verdoppeltem Eifer seiner Berufstätigkeit hinzugeben, so daß er bald
vom Kontoristen zum Reisenden avanciert, seine Einnahmen vermehrt und
der Erhalter und Ernährer seiner Eltern und seiner Schwester wird. Die
Mutter war wegen eines körperlichen Leidens immer schon untätig gewesen,
der Vater versinkt, offenbar von seiner wirtschaftlichen Niederlage seelisch
schwer getroffen, in einen Zustand physischer und psychischer Lethargie, in
dem er sein Äußeres vernachlässigt, viel schläft, teilnahmslos vor sich hin-
dämmert und meistens ruht. Die Schwester sorgt mit Hilfe eines Dienst-
1 j l'I ImutJi K.;i
mädchens für die Wirtschaft und widmet sich im übrigen ihrem Geigenspiel.
Der Sohn, Gregor, dessen Ehrgeiz mit seinem Erfolge wachst, geht in der
Sorge für die Familie schließlich so weit, daß er den Entschluß faßt, die
Schwester aufs Konservatorium zu schicken, obwohl er sich deswegen in seiner
geschäftlichen Bewegungsfreiheit würde einschränken müssen. Er nimmt sich
vor, der Schwester diesen Plan am Weihnachtsabend — der beim Beginn
der Erzählung kurz bevorsteht — zu verkünden, „ohne sich um irgend-
welche Widerreden (Verwandlung, 63.) zu kümmern.
Nun tritt die Verwandlung ein. Gregor wird arbeitsunfähig und stirbt
schließlich nach ein paar Monaten einen freiwilligen Hungertod, nachdem
er eingesehen hat, daß er in diesem Zustande seiner Familie ein Grauen
und eine schwere Last und Sorge ist.
Die Wirkung dieses Ereignisses auf die Familie ist die folgende: Die
Schwester nimmt eine Stellung in einem Büro an, die Mutter näht
Wäsche für ein Moden geschäft, der Vater wird Diener bei einer Bank.
Die Geschichte endet mit einem gemeinsamen Ausflug von Vater, Mutter
und Tochter, bei dem die wirtschaftliche Lage der Familie erörtert wird
und sich als relativ sehr günstig herausstellt. Die letzten Sätze gelten
hoffnungsvoll aufkeimenden Wünschen für eine glückliche Versorgung der
„schönen und üppigen" Tochter durch Heirat mit einem „braven Mann".
Am auffälligsten aber ist die Veränderung, die im Laufe der Erzählung
mit dem Vater vorgeht. Fast eine ganze Seite (49} ist ihrer Beschreibung
gewidmet. Aus einem alten Manne, der meistens einen Schlafrock trägt,
sich kaum allein vom Sessel erheben kann und beim mühseligen Gehen
einen Krückstock benutzt, wird ein „gut aufgerichteter", in eine „straffe
blaue Uniform" gekleideter Bankbeamter, dessen Blick unter buschigen
Augenbrauen frisch und aufmerksam hervordringt, der das sonst „zerzauste
weiße Haar zu einer peinlich-genauen, leuchtenden Scheitelfrisur nieder-
kämmt" und sein Doppelkinn über einem hohen steifen Kragen trägt.
(Verwandlung, 49.)
Der Verlauf der Ereignisse ist also, zusammengefaßt, der, daß der Sohn
an der beruflichen Niederlage des Vaters erstarkt, durch seine Tüchtigkeit
den Erwerbssin und die Selbstachtung seines Vaters lähmt und schließlich
in der Familie die Stellung des Vaters einnimmt, während dieser zu einem
unselbständigen, hilflosen und pflegebedürftigen Wesen herabsinkt. — Nach
der katastrophalen Verwandlung, die der Geschichte ihren Namen gegeben
hat, vollzieht sich genau die umgekehrte Entwicklung; der Vater nimmt
seine Stellung als Familienoberhaupt wieder ein, und der Sohn sinkt zum
m-
Frans Kafkas Inferno
unnützen Ballast herab, bis er durch seinen freiwilligen Tod die Familie
erlöst.
Die Erzählung schildert also den Kampf zwischen Sohn und Vater wie
er dem Ödipuskonflikt entspringt. Und zwar werden zwei Phasen dieses
Kampfes hart gegeneinander gesetzt, eine erste, in der der Sohn im Vorteil
ist, und eine zweite, in der der Vater den Sohn besiegt. Zwischen den beiden
Phasen steht als die Grenze oder richtiger als das den Entwicklungssinn
umkehrende Ereignis die Verwandlung.
Natürlich bedeutet die Verwandlung des Sohnes — psychologisch be-
trachtet — kein äußeres Ereignis, sondern einen inneren Wechsel der Trieb-
richtung. Sie ist eine Art Selbstbestrafung für das vorangehende, gegen den
Vater gerichtete Konkurrenzstreben, ein Sich-Zurückziehen aus der an-
spruchsvollen genitalen Position.
Das Wort „Strafe" scheint nicht angemessen zu sein, da doch der Sohn
nichts anderes getan hat, als was ein reges Verantwortungsgefühl für die
Familie einem jeden an seiner Stelle vorgeschrieben hätte.
Allein wir müssen damit rechnen, daß feindselige Gefühle gegenüber
dem Vater, eben wegen ihrer Strafwürdigkeit, in der Erzählung nicht offen
zum Ausdruck gelangen durften. Sehen wir recht genau zu, so können
wir noch ihre verhüllten Spuren auffinden. Wenn nämlich auch das
Handeln des Sohnes sowohl vor wie nach der Verwandlung so geschildert
wird, daß ihn keinerlei Vorwurf treffen kann, 1 so ist doch das Verhalten
des Vaters von einem deutlichen Rachedurst getragen : Dies Gefühl tritt
zutage, wenn der Vater in dem Moment, wo er Gelegenheit und äußeren
1) Genau besehen, gibt es hievon sogar eine Ausnahme. Gregor will die Schwester
aufs Konservatorium schicken, „ohne sich um irgendwelche Widerreden" zu kümmern.
Das ist sozusagen sein letzter und kühnster Wille vor dem Eintritt der Verwandlung.
Dem steht, am Ende der Erzählung, der Wunsch der Eltern, die Tochter zu ver-
mählen, gegenüber. Wenn Gregor also die Schwester aufs Konservatorium schicken
wollte, so geschah das nicht nur aus brüderlichem Interesse an ihrer musikalischen
Entwicklung, sondern — wie wir eben dem gegensätzlichen Wunsch der Eltern ent-
nehmen können — um sie durch die Bindung an einen künstlerischen Beruf an einer
Vermählung zu hindern. Die sich hierin ausdrückende brüderliche Eifersucht auf
die Schwester mag nun ihrerseits wieder durch eine Verschiebung der der Mutter
geltenden Eifersucht der Ödipussituation entstanden sein. Diese Überlegung mag
eine Stütze darin finden, daß der Entschluß Gregors, die Schwester aufs Konser-
vatorium zu schicken, sein letzter Gedanke vor der Verwandlung ist, von dem wir
durch die Erzählung erfahren, so daß wir annehmen dürfen, die Verwandlung werde
durch ihn ausgelöst. Daraus folgt, daß in diesem Entschlüsse etwas zum Ausdrucke
kommen muß, was geeignet ist, starke Schuldgefühle und somit ein starkes Straf-
bedürfnis auszulösen.
Kaiser: Kafkas Inferno 2
I
riclJitiutli Kai.v
Anlaß hat, gegen den Sohn aggressiv vorzugehen, nicht nur „wütend
sondern auch „froh ist . (Verwandlung, 48.) Die verhüllende Tendenz hat
hier bewirkt, daß die Schilderung der Haßgefühle des Sohnes gegen den
Vater eingekleidet ist in die Schilderung der korrespondierenden Gefühle
des Vaters gegen den Sohn. Diese Interpretation ist der Natur unserer
psychologischen Deutung nach nicht nur eine allenfalls in Betracht
kommende Möglichkeit, sondern geradezu eine Notwendigkeit. Denn jede
markante Erscheinung innerhalb der Dichtung muß ihren psychologischen
Grund in der Seele des Dichters haben, nichts Wesentliches darf als das
zufällige Merkmal einer nun eben so gestalteten und angeblich wahrheits-
getreu abgeschilderten „Natur" oder „Umwelt betrachtet werden.
Die Strafe, die sich K. durch die Verwandlung zudiktiert, hat einen
grauenvollen, unheimlichen Charakter. Wir werden verschiedene Züge an
ihr sondern müssen.
Das Tier, in das sich Gregor verwandelt, ist ein Insekt, ein unappetit-
liches, ekelerregendes Wesen. Aus den Speisen, die ihm vorgesetzt werden,
wählt er sich das Verdorbene, Verfaulte, für Menschen Ungenießbare heraus.
Das andere mag er nicht. Wir sehen, daß auch hier, wie in dem Bericht
des Affen, die Tierheit ein niedrigeres, infantileres Entwicklungsniveau des
Trieblebens bezeichnet. Es ist kein Zufall, daß das Tier hier ein Insekt ist
also ein Wesen, das auf der Stufenleiter der Entwicklung weit unter dem
Affen steht. Was den Ekel betrifft, verläuft ja die Entwicklung so, daß
zunächst eine Kotlust besteht, die gänzlich ekelfrei ist. Bei der Verdrängung
der Kotlust entsteht der Ekel vor dem Kot. Solange die Verdrängung noch
nicht konsolidiert ist, ist der Ekel heftig und das Objektbereich, auf das
er sich richtet, verwaschen, da jede Kotähnlichkeit eines Genußmittels als
solche erkannt und aufgegriffen wird und das betreffende Genußmittel in
das Bereich des Ekelhaften hineinzieht. Mit zunehmender Konsolidierung
der Kotlustverdrängung werden die Grenzen, die das Ekelhafte vom Nicht-
ekelhaften trennen, schärfer und enger, weil keinerlei Kotlust mehr die
Verwandtschaft oder Ähnlichkeit mit dem Kote sucht Im Sinne dieser
Tatsachen ekelt sich der vergleichsweise höher entwickelte Affe vor dem
Schnaps, weil seine unvollkommen verdrängte Urinlust ihn dabei an Urin
denken läßt, während das Insekt der „Verwandlung" noch ausgesprochene
Lust am Unreinen, Ekelhaften, also am Kot empfindet und daher die ver-
dorbene Speise ekelfrei genießen kann.
Nach dem, was wir uns eben überlegt haben, können wir bei der Ver-
wandlung von einer Regression in die anale Phase sprechen.
L.
Frans Kafkas Inferno 19
Bemerkenswert ist, daß der Triumph des Sohnes über den Vater genau
so von einem Schmutzig werden des Vaters begleitet ist (und zwar nicht nur
hier, sondern auch in anderen Dichtungen Kafkas), wie der Triumph des
Vaters von einem Unrein wer den des Sohnes. Der Sohn kann sich nicht an
des Vaters Stelle setzen, ohne daß sich der Vater an des Sohnes Stelle setzt.
Die Unreinheit, die Analität, wird hier wie ein Dämon aufgefaßt, der, aus
der einen Person ausgetrieben, in eine andere hineinfahren muß. 1 Die Triebe,
die man in seinem Handeln nicht mehr zur Auswirkung kommen läßt,
werden auf den Partner, auf den „Gegner" projiziert.
Ein weiteres Moment an der „Verwandlungsstrafe" ergibt sich aus dem
Verhalten des Vaters gegen den Sohn. Wie wir schon sagten, kehrt sich das
Macht Verhältnis zwischen Vater und Sohn durch die Verwandlung des Sohnes
um. Die bisher unterdrückte Feindseligkeit und Rachbegierde des Vaters —
das Spiegelbild des von uns erschlossenen Ödipushasses, den der Sohn gegen
den Vater hegt, äußern sich in zwei aggressiven Akten, bei denen der Vater
den Sohn körperlich mißhandelt.
Die erste dieser Mißhandlungen ereignet sich, als der verwandelte Gregor
in seiner Mißgestalt versucht, den über Gregors Ausbleiben erzürnten Pro-
kuristen seiner Firma zu besänftigen und zu diesem Zweck sein Zimmer
verläßt. Der Vater, von dem Entsetzen, das sowohl die Mutter wie den
Prokuristen beim Anblick Gregors packt, angesteckt, sucht das „Insekt"
unter wütendem Zischen zurückzuscheuchen. Gregor, der in seinem neuen
Zustand seinen Körper nur mangelhaft beherrscht, bleibt in der nur halb
geöffneten Tür seines Zimmers stecken, seine eine Flanke reibt sich wund,
an der weißen Tür bleiben häßliche Flecke:
„, . . da gab ihm der Vater von hinten einen jetzt wahrhaft erlösenden starken
Stoß, und er flog, heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein." (Verwandlung, 27.)
Die zweite Mißhandlungsszene ist reicher an Einzelheiten : Die Schwester
beabsichtigt, die Möbel aus Gregors Zimmer auszuräumen, um ihm dadurch
das Herumkriechen zu erleichtern. Sie gewinnt auch die Mutter für diesen
Plan, obwohl diese mit richtigem Instinkt zunächst dagegen Bedenken hat
weil ein solches Tun den Sohn glauben machen müsse, die Familie sei
von der Unveränderlichkeit seines jetzigen Zustandes überzeugt. Gregor, der
sich früher die Entfernung der Möbel gewünscht, empfindet die Ausräumung
1) Vgl. „Die Affennatur raste, sich überkugelnd aus mir hinaus und weg, so daß
mein erster Lehrer seihst davon fast affisch wurde und in eine Heilanstalt gebracht
werden mußte." (Bericht, 184.;
2*
Hellmuth Kaiser
der ihm lieb gewordenen Einrichtungsgegenstände, da sie zur Tat werden
soll, schmerzlich, und in dem Bestrehen, wenigstens etwas zu retten, bricht
er aus der Verborgenheit, in der er sich aus Rücksicht auf Mutter und
Schwester hält, hervor und deckt mit seinem Leib ein Bild, das an der
"Wand hängt und eine Dame darstellt, die in Pelzhut und Pelzboa aufrecht
dasitzend, „einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm ver-
schwunden ist, dem Beschauer entgegenhält . (Verwandlung, 5.) Die Mutter
fällt bei seinem Anblick in Ohnmacht. Sie liegt in Gregors Zimmer; die
Schwester, die sich um die Mutter bemüht, läßt Gregor im Wohnzimmer
wohin er ihr nachgefolgt war, zurück und sperrt die Tür seines Zimmers,
damit er ihr nicht dorthin nachfolge. Gregor, der sich nun also im Wohn-
zimmer aufhält, wird dort vom Vater überrascht. Der, in falscher Auffassung
von Gregors Verschulden an der Ohnmacht der Mutter, jagt den Sohn um
den Tisch herum und bombardiert ihn schließlich mit Äpfeln:
„. . . da flog, knapp neben ihn leicht geschleudert, irgend etwas nieder und
rollte vor ihm her. Es war ein Apfel. Gleich flog ein zweiter nach. . . , Ein
schwach geworfener Apfel streifte Gregors Rücken, glitt aber unschädlich ab
Ein ihm sofort nachfliegender drang dagegen förmlich in Gregors Rücken
ein. Gregor wollte sich weiterschleppen, als könne der überraschende, unglaub-
liche Schmerz mit dem Ortswechsel vergehen. Doch fühlte er sich wie fest-
genagelt und streckte sich in vollständiger Verwirrung aller Sinne." (Verwand-
lung, 51.)
Es sind zwei Mißhandlungsszenen. In der ersten Szene kommen zwei
Verwundungen vor, in der zweiten sind es zwei Äpfel, die treffen. Diese
mehrfach auftretende Zweizahl erinnert an die zwei Schüsse, die der Affe
erhält, und dies bekräftigt die ohnehin naheliegende Deutung der Miß-
handlungen als „Kastrationsakte" in jenem weiten Sinn, in dem wir das
Wort auch bei der Besprechung des Affenberichts brauchten.
In der zweiten Szene finden wir auch leicht deutbare Anspielungen auf
die sexuelle Basis der ganzen Vorgänge. Das Verhalten von Mutter und
Schwester schildert mit unheimlicher Genauigkeit das typische Verhalten
einer wohlgesinnten Familie gegen ein neurotisch erkranktes Mitglied. „Die
Möbel werden ausgeräumt", d. h. das Familienleben wird auf die Neurose
hin orientiert. Man gibt dem Erkrankten eine Sonderexistenz, macht, teils
um ihm wohlzutun, teils um besser mit ihm auszukommen, Konzessionen
und räumt Konfliktstoffe aus dem Wege. Auch die Gefahr, die hierin liegt,
ist in der Erzählung angedeutet: Dies Verhalten raubt dem in die Regres-
sion Geflüchteten die letzten Beziehungen zur Realität, Dies empfindet K.
instinktiv und, um wenigstens etwas von seinem früheren Leben zu retten,
■
xrnn? ivatkaä Inlerzio
»1
stellt er sich schützend — und zwar durch Verhüllung schützend — vor
seine Beziehung zur Frau, zur Sexualität. Ans anderen Werken Kafkas kann
man entnehmen, daß der Pelz für ihn fast immer Symbol für das weib-
liche Genitale ist {wie dies Symbol auch im Folklore häufig angetroffen
wird) und daß für K. als Liebesobjekt nur erotisch -aktive und aggressive
Frauen in Betracht kommen. Diese Hinweise werden genügen, um die Be-
deutung des „Bildes", das, wie im Anfang der Erzählung erwähnt wird,
von Gregor aus einer illustrierten Zeitung ausgeschnitten wurde, verständ-
lich zu machen.
Daß es sich hier wirklich um den Ödipuskonflikt, d. h. um die Eifer-
sucht auf den Vater der Mutter wegen handelt, geht aus dem Ende der
zweiten Mißhandlungsszene hervor, das sich unmittelbar an unser letztes
Zitat anschließt:
Nur mit dem letzten Blick sah er noch, wie die Tür seines Zimmers auf-
gerissen wurde und vor der schreienden Schwester die Mutter hervoreilte, im
Hemd, denn die Schwester hatte sie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht Atem-
freiheit zu verschaffen, wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf
dem Weg die aufgebundenen Röcke, einer nach dem andern, zu Boden glitten,
und wie sie stolpernd über die Röcke auf den Vater eindrang und, ihn um-
armend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm — nun versagte aber Gregors Seh-
kraft schon — , die Hände an des Vaters Hinterkopf, um Schonung von Gregors
Lehen bat." (Verwandlung, 51.)
Hier finden wir im unmittelbaren Zusammenhang mit der „kastrierenden ,
gewalttätigen Einschüchterung durch den Vater eine Urszenenbeobachtung
des Sohnes angedeutet, kenntlichgemacht durch das typische, dem Verdrän-
gungseffekt entsprechende „Erlahmen der Sehkraft".
Es mag vielleicht Befremden erregen, daß in der Erzählung sich zunächst
die Verwandlung, d. h. also die Regression vollzieht und erst im weiteren
Verlauf dieses Prozesses der Kastrationsschock und die Urszenenbeobachtung
auftreten. Wenn wir aber — wie es im folgenden geschehen wird — diese
Erlebnisse genauer betrachten, so werden wir, wenigstens was den Kastrations-
schock angeht, finden, daß es gar nicht die ursprünglichen, der Regres-
sion zeitlich um Jahre voraufgehenden Kindheitserlebnisse sind, sondern
Fortbildungen dieser Eindrücke, komplexe Gebilde, die durch Verflechtungen
verschiedenartiger Strebungen innerhalb des Unbewußten entstanden sind.
Aber auch da, wo — wie bei der „Urszenenbeobachtung" — eine Weiter-
bildung nicht zu erkennen ist, braucht nicht das entsprechende primäre
Erlebnis gemeint zu sein, sondern nur ein Wiederauftauchen dieses Erleb-
nisses in der Erinnerung oder in der Phantasie. Denn die Symbolsprache
''A
\
** Hellmuth. Itai*er
der Dichtung macht zwischen einem realen Erlebnis und dem Wieder-
vordringen des Verdrängten zum Bewußtsein keinen Unterschied.
Wir haben bisher an der Verwandlungsstrafe zwei Momente betrachtet j
die Regression aufs Anale und die Wiederbelebung der Ödipussituation
(Kastration, Urszenenbeobachtung) . Wir kommen nun zu einem dritten Mo-
ment, dem für die besonderen Ziele unserer Untersuchung wichtigsten.
Wenn Gregor während seiner Strafzeit in Wiederholung des Kastrations-
erlebnisses von seinem Vater mißhandelt wird, so liegt hierin nicht nur
eine Befriedigung des Strafbedürfnisses. Die Frucht, deren sich der Vater
bei der Mißhandlung bedient, der Apfel, ist ja die typische, sprichwört-
liche Belohnung des Kindes, wie sie beispielsweise in vielen „moralischen
Erzählungen" vorkommt, von der Bedeutung des Apfels im Sündenfall der
Bibel gar nicht zu reden. Was der Vater dem Sohne bei dem Bombarde-
ment gewährt, ist also nicht nur Strafe, sondern auch Lust, und zwar
masochistische Lust. Wir ahnen nun, daß das „Unglaubliche, Überraschende"
an dem Schmerz, den Gregor nach dem Apfel wurf empfindet, der Um-
stand ist, daß dieser Schmerz Lust enthält. Diese Lust ist es auch di^ „
bewirkt, daß Gregor sich „wie festgenagelt" fühlt und daß er sich „streckt"
oder, wie wir jetzt sagen können, „wollüstig dehnt" in „vollständiger Ver-
wirrung" aller Sinne. Die Verwirrung rührt natürlich ebenfalls daher, daß
Schmerz und Lust sich aufs innigste vermischen.
Die Verletzungen treffen den Sohn allemal von hinten. In der ersten
Szene ist es „ein Stoß von hinten", der ihn bluten läßt, die Äpfel in der
zweiten Szene treffen seinen Rücken, und der eine von ihnen bleibt sogar
darin stecken. Dies deutet darauf hin, daß der Masochismus hier mit der
analen Sphäre zu tun hat, was gut damit zusammenstimmt, daß die Ver-
wandlung in das schmutzige Insekt eine Regression auf anale Fixierungen
darstellt. Man könnte sich etwa denken, daß die Wirkungen einer vom
Vater erlittenen Züchtigung (Schläge auf das Gesäß) in Verbindung ge-
treten ist einerseits mit der vom Vater angedrohten Kastration, anderseits
mit den Lustgefühlen, die mit der Defakation verbunden sind. Aus dem
Zusammentreffen dieses Komplexes mit den Anregungen, die von einer
Urszenenbeobachtung ausgegangen sind, mag sich als Resultante der Wunsch
nach einer gewaltsamen Befruchtung durch den Vater in Form eines
coitus per anum gebildet haben, ein Vorgang, dessen Bezeichnung durch die
Apfelwurfszene dargestellt wird, wenn wir sie wie einen Rebus oder einen
Kalauer auffassen. Unter Zuhilfenahme von Parallelen aus anderen Dich-
tungen Kafkas (die wir zum Teil noch erörtern werden) können wir noch
tranz Kafkas Inferno
einen Schritt weitergehen und annehmen, daß auch das Steckenbleiben des
Apfels im Rücken des „Insekts" die Erfüllung eines Wunsches bedeutet,
nämlich, bei diesem Koitus den Penis des Vaters als Ersatz für den ver-
lorenen eigenen zu gewinnen.
Hiermit haben wir das in der kleinen Erzählung vorhandene Material
soweit ausgeschöpft, wie es für die Zwecke der vorliegenden Arbeit erforderlich
ist. Es erübrigt nur, die Beziehung zwischen ihr und dem Bericht des Affen
herzustellen. Dazu wird uns eine Zeitangabe von Nutzen sein, die sich
— hier wie dort — d. h. in beiden Dichtungen vorfindet. Im Affenbericht
heißt es: „Nahezu fünf Jahre trennen mich vom Affentum . . ." (Bericht, 146.)
Im Sinne der Deutung will dies besagen, daß seit dem Kastrationserlebnis
fünf Jahre der Kompensationsarbeit vergangen sind, um K. zu der — wie
gesagt recht unvollkommenen — Lösung zu führen, die durch den Beruf eines
Varietekünstlers und die teilweise Mensch enhaftigkeit des Affen symbolisiert ist.
Wir können es nicht als zufällig ansehen, daß auch in der Verwandlung
ein Zeitraum von fünf Jahren vorkommt, und schließen daher, daß die
beiden Zeiträume identisch sind. Die „fünf Jahre" der „Verwandlung"
umfassen die Zeit von dem Zusammenbruch des väterlichen Geschäftes bis
zu der Verwandlung Gregors, also eine Periode genitalen Aufschwunges.
Demnach würde sich der Inhalt der „Verwandlung" dem Inhalt des Affen-
berichtes anschließen; sofern man allein die aktuelle Gegenwart in diesen
Erzählungen in Betracht zieht. Nimmt man auch auf die Vorgeschichten
Rücksicht, so beginnt der Affen bericht ja mit der Kastration, die Ver-
wandlung etwa kurz nach diesem Ereignis. Fünf Jahre der Entwicklung,
die nun hier wie dort folgen, sind beiden Geschichten gemeinsam. In dieser
Zeit erobert sich der Affe die Aufnahme in die Menschenwelt, Gregor
wird das Oberhaupt der Familie. Während der Affenbericht an dieser Stelle
abbricht, tritt in der „Verwandlung" jetzt die Katastrophe ein. Es ist so,
als ob die im Bericht des Affen gefundene „Lösung" des Lehensproblems in
der „Verwandlung" als „doch nicht tragbar" erkannt und verworfen würde.
In der Strafkolonie
Nach ihrem manifesten Inhalt schildert diese Erzählung das Strafsystem
und die dazugehörige Hinrichtungsmaschine, die der „alte Kommandant
der Strafkolonie nach eigenen Plänen dort einführte. Zu Beginn der Er-
zählung ist der „alte Kommandant" schon tot; an seiner Stelle sitzt ein
neuer Kommandant, der den Ideen des „Alten" abgeneigt ist, und unter
;<
%4
HellmutJi Ka
dessen Führung das alte System seinem Ende entgegengeht, wie auch die
Hinrichtungsmasehine, die es gewissermaßen verkörpert, langsam verfällt.
Die Handlung besteht darin, daß ein Forschungsreisender, der Einladung
des neuen Kommandanten folgend, das einsame Tal, in dem die Maschine
steht, aufsucht, um sich bei Gelegenheit einer gerade stattfindenden Exekution
von dem „Offizier", einem fanatischen Anhänger des alten Systems, die
Maschine zeigen und ihren Gebrauch vorführen zu lassen. Der Offizier
hofft, in dem Reisenden einen Parteigänger und Fürsprecher des alten
Systems zu gewinnen, und tut alles, ihn für die Maschine und das Straf-
verfahren einzunehmen. Das ablehnende Urteil des Reisenden besiegelt das
Schicksal der Partei des alten Kommandanten.
Das Vergehen des Verurteilten besteht in einer Tat der Auflehnung gegen-
über seinem Vorgesetzten, einem Hauptmann. Es wird sehr flüchtig ab-
getan, wie ja auch der Verurteilte selbst als ein „stumpfsinniger, hündisch-
ergeben" dreinschauender Mensch, wenig Interesse beansprucht.
Wir aber wollen uns gleich wohl für seine Tat interessieren:
Der Hauptmann findet seinen Rurschen schlafend, während er der Dienst-
ordnung nach wachen sollte, holt die Reitpeitsche und schlägt ihn übers
Gesicht, Statt nun aufzustehen und um Verzeihung zu bitten, faßt der
Mann seinen Herrn bei den Beinen, schüttelt ihn und ruft:
„Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse dich." (Strafkolonie, i 9 )
Der Vorgesetzte, also in diesem Falle der „Hauptmann", ist eine Vater-
figur. Das Delikt bedeutet den uns aus der Verwandlung schon bekannten
Versuch, den Vater zu überwältigen. Die Aufforderung, die Peitsche weg-
zuwerfen, deutet auf eine Kastrationsabsicht. Die Androhung des Auffressens
verrat den Wunsch, sich den Vater einzuverleiben (um dadurch zum Vater
zu werden), eine Tendenz, die an die Bedeutung des Schnapstrinkens im
Affenbericht erinnert. Die schon bei der Besprechung der Verwandlung
angemerkte Doppelheit der Ziele des Ödipuskampfes mit dem Vater zeigt
sich auch hier. Entweder der Vater soll die Peitsche wegwerfen, sich also
selbst kastrieren und so zum unmännlichen (schmutzigen) Kinde werden,
oder der Sohn wird zum Vater werden. (Durch Verschlingen des Vaters.)
Aus der Verwandlung wissen wir nun schon, daß diese beiden Möglich-
keiten untrennbar miteinander verknüpft sind, sozusagen das gleiche be-
deuten. Die Alternative, die der Bursche dem Hauptmann stellt, ist also
nur eine scheinbare, wie das in der Sprache des täglichen Lebens sehr häufig
vorkommt und als Mittel einer vulgären Redekunst meistens eine Ver-
spottung des Angeredeten bezweckt.
Franz Kafkas Inferno a5
Auf die Meldung des Hauptmanns von dem Vorfall — so erzählt der
Offizier dem Reisenden — habe er, der Offizier, gleich das Urteil verfaßt,
ohne den Burschen zu verhören oder ihm Gelegenheit zur Verteidigung
2U geben, denn:
„Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos."
(Str af koloni e , 18.)
Die Strafe, die den Verurteilten erwartet, ist fürchterlich. Die „Maschine",
die sinnreiche Erfindung des alten Kommandanten, schreibt, oder richtiger,
sticht den Urteilsspruch dem Verurteilten mit Nadeln in die Haut, um ihn
erst nach zwölfstündiger Qual zu töten. Zu dieser Hinrichtung muß der
Verurteilte entkleidet werden. Dies geschieht so, daß der „Soldat" (der dem
Offizier bei der Exekution assistiert) dem Verurteilten „mit einem Messer
hinten Hemd und Hose durchschneidet". (Strafkolonie, 29.) Schon diese
Art des Entkleiden s, die ja nicht zweckmäßiger ist als irgendeine andere,
gibt der Strafe den Charakter des „Angriffes von hinten", wie er auch der
Verwandlungsstrafe eigentümlich ist.
Zur Exekution wird der Verurteilte auf ein mit Watte bedecktes Lager —
im Volksmund „das Bett" geheißen — gelegt, und zwar bäuchlings, so daß
die von oben her wirkenden Nadeln in die Rückseite des Körpers eindringen.
Freilich erzählt der Offizier, daß die Maschine während der Exekution den
Körper herumwälzt, so daß der ganze Körper des Delinquenten mit den
Schriftzeichen und den Verzierungen des Urteils bedeckt wird. In der Dichtung
selbst aber kommt es zu diesem Stadium der Exekution gar nicht; was un-
mittelbar geschildert wird, ist immer nur die Bauchlage. Diese muß daher
auch für unsere Deutung entscheidend sein.
An der Maschine gibt es zwei Arten von Nadeln, lange und kurze. Sie
stehen paarweise zusammen, jedesmal steht eine lange bei einer kurzen.
Die lange Nadel dringt in den Körper ein; die kurze ist hohl und spritzt
Wasser aus, um das Blut abzuwaschen.
„Früher aber tropften die schreibenden Nadeln eine beizende Flüssigkeit aus,
die heute nicht mehr verwendet werden darf. (Strafkolonie, 57.}
An den Ecken des „Bettes" erheben sich vier Messingstangen; diese tragen
den Zeichner, einen Kasten von der Größe des Bettes, in dem das „Räder-
werk" deT Maschine untergebracht ist und in den die Zeichenvorlage ein-
gelegt wird, die Form und Inhalt der Beschriftung bestimmt.
An einem Stahlseil hängt vom Zeichner die „Egge" herab, eben jenes
System von Nadeln, das den Körper des Verurteilten beschreibt.
HellmutL Ko
„Bett und Egge" zittern rhythmisch und genau abgemessen in feinster
Bewegung, wodurch die Stiche und die aus den Stichwunden gebildete
reichverzierte Schrift Zustandekommen.
„Wenn der Mann auf dem Bett liegt und dieses ins Zittern gebracht ist
wird die Egge auf den Körper gesenkt. Sie stellt sich von selbst so ein, daß
sie nur knapp mit den Spitzen den Körper berührt; ist die Einstellung voll-
zogen, strafft sich sofort das Stahlseil zu einer Stande."
Die Ähnlichkeit des ganzen Vorganges mit einem Koitus springt in die
Augen: Das zur Stange sich straffende Stahlseil deutet die Erektion an.
Die Nadeln, die zugleich stechen und eine Flüssigkeit ausspritzen, stellen
Penes dar. Die „beizende" Flüssigkeit, die die Nadeln früher austropften,
dürfte Urin bedeuten, der seines Säuregehalts wegen wohl als „beizend*
empfunden werden kann, so, wie er in dem Bericht des Affen und auch
sonst bei Kafka durch den „scharfen, brennenden" Schnaps symbolisiert
wird. Wenn gesagt wird, daß diese beizende Flüssigkeit früher gebraucht
wurde, jetzt aber nicht mehr verwendet werden darf, so kann darin zum
Ausdruck kommen, daß die Vorstellung, das Sexualsekret sei Urin, eine
alte, kindliche Vorstellung ist, die zu einer Zeit, als die Strafphantasie
noch modulationsfähig war, der wachsenden Einsicht zum Opfer fieL Das
rhythmische Zittern des Bettes und der Egge ahmt die rhythmischen Be-
wegungen der beiden koitierenden Partner nach.
Wir haben hier als Strafe für die Auflehnung gegen den Vater eine
Marterung, die die Züge eines mit grausamer Gewaltsamkeit ausgeführten
coitus a tergo trägt, und befinden uns damit in guter Übereinstimmung
mit der Deutung, die wir für die Apfelwurfsszene der Verwandlung fanden.
Diese Übereinstimmung berechtigt uns zu der Vermutung, daß auch die
Marterung der „Strafkolonie" ein Lustmoment enthält. Dafür finden wir
auch die ein und andere Bestätigung im Text der Erzählung, obwohl hier
wie in der „Verwandlung" gerade über den Lustcharakter der Strafe die
dichtesten Schleier gebreitet sind:
„Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht
dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich.
Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen."
(Strafkolonie, 36.)
Und an einer anderen Stelle heißt es:
„Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten
Gesicht ..." (Strafkolonie, 38.)
Und da, wo von der mißglückten Marterung des Offiziers selbst die Rede ist :
~r rr*—
Franz Kafkas Inferno 27
„Kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken. Was alle
andern in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht ..." (Straf-
kolonie, 65.)
Wir sagten schon, daß die Hinrichtung als ein Vom -Vater-koitiert -Werden
aufzufassen sei. Aber genau wie in der „Verwandlung die Apfelwurfsszene
erst das Ende eines Entwicklungsverlaufes innerhalb der Regressionsphase
darstellt, und erst durch Reaktivierung der Kastrationserlebnisse und anderer
Triebumwandlungen (Speise- Ekel, Kot- Lust) die komplexe, aus analen und
masochistischen Strebungen, aus einer homosexuellen Identifizierung mit
der Mutter und einem Verlangen nach dem väterlichen Penis zusammen-
gewobene Libidoorganisation zustandekommt, die das Genießen der in der
Apfelwurfsszene gebotenen Lust ermöglicht, so durchläuft auch in der Straf-
kolonie die Libidogestaltung des Verurteilten einige Phasen, ehe die Möglich-
keit zu dem orgastischen Erlebnis der Hinrichtung erreicht wird.
Wenn der Verurteilte auf das „Bett" geschnallt wird, dringt ihm ein
Filzstumpf in den Mund.
„Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu
hindern" (Strafkolonie, 12), wie der Offizier in seinen einleitenden Erläute-
rungen bemerkt. Nachher, wenn die Exekution an dem Verurteilten wirklich
vorgenommen wird, verursacht dieser Filz eine Störung, Da er infolge der
Vernachlässigung der Maschine, die sich der neue Kommandant zuschulden
kommen läßt, lange nicht erneuert worden ist, so ruft er bei dem Ver-
urteilten einen unwiderstehlichen Brechreiz hervor.
„Wie kann man ohne Ekel diesen Pilz in den Mund nehmen, an dem mehr
als hundert Männer im Sterben gesaugt und gebissen haben." (Strafkolonie, 34.)
Wir betrachten nun wieder den normalen Exekutionsverlauf, wie er sich,
wenn kein Zwischenfall eintritt, vollziehen soll:
„Nach zwei Stunden wird der Filz entfernt, denn der Mann hat keine
Kraft zum Schreien mehr. Hier, in diesen elektrisch geheizten Napf am Kopf-
ende wird warmer Reisbrei gelegt, aus dem der Mann, wenn er Lust hat,
nehmen kann, was er mit der Zunge erhascht. Keiner versäumt die Gelegen-
heit . . . Erst um die sechste Stunde verliert er das Vergnügen am Essen . . .
Der Mann schluckt den letzten Bissen selten, er dreht ihn nur im Munde
und speit ihn in die Grube. Ich muß mich dann bücken, sonst fahrt es mir
ins Gesicht." (Strafkolonie, 37.)
Wenn wir uns über die Bedeutung dieser oralen Zeremonien klar zu
werden suchen, so fällt uns zunächst der Reisbrei als die typische Kinder-
speise ins Auge, an dem sich der Verurteilte eine Zeitlang (von der zweiten
aß HelWtt K*
bis zur sechsten Stunde) erquickt. Da wir die ganzen Vorgange in die Kinder-
zeit zu verlegen haben, bedeutet der Reisbrei die normale Nahrung, und
das Verlangen nach dem Reisbrei die normale Eßlust. Diese normale Eß-
lust erleidet nun um die sechste Stunde (das sechste Lebensjahr?) eine
Störung, und zwar dadurch, daß das Kind mit dem Essen im Munde
spielt; das bedeutet, daß die Funktion der Nahrungsaufnahme erotisiert
worden ist und ihrem eigentlichen Zweck dadurch entfremdet. Dieser
neue Lustgewinn läßt sich nicht lange ausbeuten; dann wird diese Be-
tätigung von einem inneren Verbot des „Ich" getroffen und die' Kaulust
oder Zungenspiellust verwandelt sich in Ekel: Der Bissen wird ausgespieen
und die Lustgewinnung geht von der oralen Zone auf die anale über'
denn nun setzt ja die orgastische Verklärung und Erlösung ein, bei der
der Verurteilte den Urteilsspruch - mit Hilfe seiner Wunden - zu ent-
ziffern beginnt. Daß zu diesem Erkenntnis Orgasmus aber auch die der
oralen Zone angehörige Libido einen Beitrag liefert, werden wir später
zu zeigen versuchen.
Welche ältere libidinöse Strebung ist es nun, die sich an die Stelle der
normalen Eßlust setzt und sich unter der Wirkung der Zensur in Ekel
verwandelt? - Vermutlich war diese Strebung schon einmal, nämlich in
ihrer primären Form verdrängt und durch Ekel abgelöst und hat dann
die Gelegenheit des Essens benutzt, um wieder für eine Weile als Lust-
quelle manifest zu werden. Nun ruft die Aufnahme des abgenutzten Filz-
stumpfes beim Verurteilten Erbrechen, also Ekel hervor, so daß wir auch
hier die Spuren einer verdrängten oralen Lust gefunden haben. Nehmen
wir diese Tatsache mit dem Umstand zusammen, daß bei der ordnungs-
gemäßen Exekution der Mund des Delinquenten zunächst zwei Stunden
lang durch den Filz ausgefüllt wird - um den Verurteilten am Schreien
zu verhindern! - und daß dann der Filz entfernt und durch den Reis-
brei ersetzt wird, so werden wir in dem Filz die mütterliche Brustwarze
erkennen, die ja auch das Schreien des Kindes „verhindert", und in dem
Spiel mit dem Essen (Herumdrehen des Bissens) eine Reaktivierung der
Sauglust. Das Saugen an der Mutterbrust (zwei Zeiteinheiten), darauf das
Essen von Reisbrei (vier Zeiteinheiten), dies stellt ziemlich genau ein Stück
der Entwicklung der oralen Sphäre in der Kindheit dar. Die dann auf-
tretende Eßstöruug (Spielen mit dem Bissen, Ausspeien des Bissens, Auf-
hören mit Essen) und der Übergang zur analen Lust (wie wir der
Kürze halber sagen wollen) ist durch Andeutungen der Erzählung selbst
nicht weiter motiviert. Wir müssen annehmen, daß ein Fortschritt in der
Frans Kafkas Inferno 29
Triebentwicklung — vielleicht in Richtung auf das Anale — auch auf
die Munderotik Einfluß nimmt, den Vorgang des Essens umdeutet, ihn
dadurch zensurwidrig macht und ihn so dem Verbot des Ich anheimfallen
läßt. Dies ist die Deutung des normalen Verlaufes der Exekution, die uns
ein Stück der frühesten Libidoentwicklung K.s in schattenhaften Umrissen
zeigt. Die Besonderheiten bei der Exekution des verurteilten Burschen
scheinen uns eine im ganzen zeitlich spätere Stufenfolge anzudeuten, die
eine modifizierte Wiederholung der durch die normale Exekution symboli-
sierten früheren Entwicklung darstellen dürfte.
Beim Festschnallen der rechten Hand des Burschen reißt dem Soldaten
der Riemen. Darauf folgt eine Klage des Offiziers über die Vernach-
lässigung, mit der die Maschine behandelt wird, und hierauf die Ein-
führung des Filzes und das Erbrechen des Verurteilten, worauf sich der
Offizier wiederum beklagt, und zwar diesmal über die Weichherzigkeit des
neuen Kommandanten, der sich nicht dazu verstehen will, den Verurteilten
den letzten Tag über fasten zu lassen, und es gestattet, daß seine Damen
dem Verurteilten „den Hals mit Zuckersachen vollstopfen".
„Riemen" ist ein vulgärer Ausdruck für den Penis. Das Abreißen des
Riemens deutet die Kastration an. Da der Riemen bestimmt war, die
rechte Hand zu „fesseln", und die als Ersatz gewählte Kette „die Zart-
heit der Schwingung für den rechten Arm beeinträchtigt*, können wir
uns vorstellen, daß die Kastrationsdrohung ein Onanieverbot war. Als Ent-
schädigung für die versagte Onanie wurde das Saugen — vielleicht als
Daumenlutschen — reaktiviert. (Die Hand ist ja nun nicht mehr durch
den Penis „unten" gefesselt.) Bei einer solchen Verschiebung der Libido
von unten nach oben ist es wohl nie etwas rein Quantitatives, was ver-
schoben wird. Etwas von dem qualitativen Wesen des Penis geht auf den
Daumen über oder gegebenenfalls auf die Brustwarze der Mutter, die ja
auch durch den Lutschdaumen repräsentiert wird.
Handelte es sich nur darum, den Ekel vor dem Filz zu erklären, so
wären wir schon fertig: Die von der Onanie auf eine Saugphantasie ver-
schobene Libido stößt auf die bei der Entwöhnung gebildete Saugtrieb-
abwehr und wird dadurch in Ekel verwandelt. Schwierigkeiten macht der
Hinweis auf die „mehr als hundert" Männer, die an dem Filz vorher ge-
saugt und gebissen haben. Man könnte hier an die Eifersucht auf jüngere
Geschwister denken, die von der Mutter genährt werden. Von solcher
Eifersucht finden wir bei Kafka sonst nirgends eine Andeutung und meinen
darum, diese Deutung aufgeben zu müssen. Dagegen dürfen wir nach
Mellm-utn Kaiser
unserer obigen Bemerkung hinsichtlich der Übertragung des Penischarakters
auf das Objekt der Sauglust uns vorstellen, daß ein Saugen an einem
„mütterlichen Penis* phantasiert wird. In der Erzählung „Ein Landarzt"
finden wir Andeutungen der — ja sehr häufigen — infantilen Sexual-
theorie, nach der die Vagina der Frau dadurch zustande kommt, daß der
Mann den Penis der Frau abbeißt. Wenn wir daran denken, daß wir uns
bei diesen oralen Strebungen in der phallischen Phase K.s befinden (Onanie
und Kastrationsdrohung!), so gelingt es uns nun, in dem Hinweis auf
die „hundert Männer" eine Eifersucht auf den Vater zu erkennen, der
den Penis der Mutter abgebissen hat — „hundertmal ehe K. ihn hätte
abbeißen können".
Der Ekel vor dem Filz entspringt, wie wir jetzt sehen, nicht sowohl
einer verdrängten Sauglust als vielmehr einer verdrängten Beißlust; dies
findet eine Bestätigung darin, daß der Filz ja nicht nur „am Schreien"
sondern auch „am Zerbeißen der Zunge" hindern soll. Dieses „Hindern"
besorgt der Filz natürlich auf mechanischem Wege; aber zugleich auch
auf einem psychologischen. Die Beißlust, die ohne den Filz die Zunge zum
Objekt genommen hatte, kann sich jetzt an dem Filz austoben und darum
die Zunge verschonen. Auf „das Zerbeißen der Zunge" werden wir später
noch in einem anderen Zusammenhang zurückkommen. Jetzt wollen wir
uns die Frage vorlegen, ob wir aus dieser Aufklärung über den Grund
des Ekels, den der Verurteilte vor dem Filz empfindet, auch Nutzen ziehen
können für das Verständnis des Speiseekels, der den Verurteilten veranlaßt,
den letzten Bissen auszuspeien. Wir waren aber über das in diesem Speise-
ekel liegende Problem hinweggegangen, indem wir die sehr allgemein
gehaltene Vermutung aussprachen, irgendeine Triebwandlung werde zu einer
Umdeutung des Essens in eine — verbotene — Form der Lustgewinnung
geführt haben. Jetzt können wir die spezieBere Vermutung wagen, daß
die Eßstörung auf einer auftauchenden Beißlust und auf deren Verdrängung
beruht. Der letzte Bissen wird nicht hinuntergeschluckt sondern ausgespieen,
und der Offizier muß sich ducken, damit es ihm nicht ins Gesicht fliegt]
Hieraus kann man erkennen, daß in dem Essen ein aggressiver Impuls
erlebt wird, der gegen den Vater gerichtet ist. (Denn für den Verurteilten
ist der strafende Offizier eine Vaterfigur.) So wird auch durch den Ekel
vor dem Filz ein Erbrechen hervorgerufen, in dem der Verurteilte die
Maschine, d. h. den väterlichen Genitalapparat verunreinigt. Wir dürfen
nun schließen, daß der aggressive Impuls gegen den Vater und die Beißlust
identisch sind, so daß wir von einem Antrieb, den Vater zu beißen, sprechen
Frans Kafkas Inferno
können. Dieser Antrieb ist uns ja schon bekannt als die Reaktion des Ver-
urteilten auf die Peitschenschläge des Hauptmanns, wo der Verurteilte aus-
ruft: „Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse Dich!" Hier, beim Hin-
richtungsakt, wird der Beißtrieb zweimal geweckt, einmal durch das Ein-
dringen des Filzes, das wir wegen seines zeitlichen Verhältnisses zum Reis-
breiessen mit der Ernährung an der Mutterbrust in Verbindung bringen
durften, das zweitemal durch den Fortschritt der Marterung, wodurch
natürlich feindselige Impulse gegen den Vater aktiviert werden. 1 Wir finden
hier eine Bestätigung für unsere Erklärung des Zusammenhangs zwischen
Männlichkeitserwerb und Schnapstrinken im Bericht des Affen. In dem
Schnapstrinken vereinigt sich wie hier beim Filzekel die Vorstellung des
Saugens und Trinkens mit der einer Aggression, und zwar einer oralen
Aggression gegen den Vater, genauer: gegen den väterlichen Penis.
Nach diesen Betrachtungen müssen wir sagen, daß der in der „Straf-
kolonie" agierende Sadismus zu einem großen Teil oraler Natur ist, während
der Sadismus, der in der „Verwandlung" zum Ausdruck kommt, im wesent-
lichen anale Züge zeigt. Genau besehen, konnten wir freilich in der „Straf-
kolonie" einen oralen Sadismus nur auf seilen des „Sohnes" nachweisen —
und das ist auffällig.
Im Unbewußten herrscht mit größter Strenge das Gesetz der Talion,
nach dem die Strafe dem Verbrechen gleichartig sein muß. In der „Ver-
wandlung" war dies Gesetz erfüllt. Wirtschaftlicher Aufschwung des Sohnes
und wirtschaftlicher Niedergang des Vaters werden durch das umgekehrte
Verhältnis gesühnt; dem früheren Schmutzigwerden des Vaters entspricht
als Strafe ein Unreinwerden des Sohnes. Die anale Mißhandlung in der
Apfelwurfsszene ist eine „Heimzahlung" des „Geldes , das der Sohn den
Eltern gezahlt hatte. (Geld = Kot.) Der Verfügung des Sohnes über die
Schwester steht eine entgegengesetzte Verfügung der Eltern über die Schwester
gegenüber. Was entspricht nun in der „Strafkolonie" der oralen Aggression
des rebellierenden S »hnes ? Nun, wir können die Maschine auch als ein
beißendes Werkzeug auffassen, das den lebenden Bissen herumwälzt, ihn
mit Speichel benetzt und zerkaut, um ihn schließlich zu verschlingen,
d. h. in die bei der Maschine befindliche Grube zu werfen, „wo er auf
das Blutwasser und die Watte niederklatscht". (Strafkolonie, 29.) Dabei hat
die Grube nicht etwa den Magen sondern wohl die Abortgrube zu repräsen-
tieren, dafür spricht ihr ausgesprochen schmutziger Charakter. Diese zweite
1) Wir vermuten, daß die hier besprochenen Zusammenhänge auch ein Licht auf
die heute noch bestehende Sitte der sogenannten „Henkersmahlzeit" werfen.
3a Hellmuth Kaiäer
Deutung der Hinrichtungsmaschine steht natürlich nicht im Widerspruch
mit der zuerst gegebenen, wonach sie den väterlichen Genitalapparat dar-
stellt. Die beiden Deutungen überlagern sich vielmehr, und sie treffen sich
in der Rolle, die das Anale in beiden Deutungen spielt. Bei der ersten
Deutung dringt der Penis des Vaters von hinten in den Körper des Sohnes
ein und übt eine Reizung aus, deren Lustbestandteil wir der analen, durch
den Kotreiz ausgelösten Lust vergleichen konnten, in der zweiten Deutung
wird der Sohn vom Vater verschlungen und wie ein Kotballen ausgestoßen
und in die schmutzige Grube geworfen. Das Anale tritt hier also in zwei
Erscheinungen auf: Einmal in der durch einen Kotpenis (wie wir der Kürze
halber sagen wollen) bewirkten Lustempfindung, das andere Mal durch das
„Ganz-und-gar-Kot-Werden der Sohnesfigur. Beide Erscheinungsformen des
Analen treten auch in der „Verwandlung" auf. Die erste im Apfel wurf,
die zweite in dem Ganz-und-gar-zum-schmutzigen-{braunen)-Insekt-Werden
des Sohnes.
Es ist wichtig, daß wir das Gemeinsame in diesen Dichtungen lebhaft
herausfühlen, um die Unterschiede zwischen ihnen und die Entwicklung,
durch die sie bedingt sind, um so deutlicher empfinden zu können. Das
Gemeinsame liegt im Stofflichen. Wir wollen es, so gut es geht, benennen,
und bezeichnen es als „Hingabe an die Bestrafung der Ödipustat". Der
Unterschiede sind mehrere, und wir müssen sie einzeln betrachten und
auf ihre Bedeutung prüfen.
Der auffallendste Unterschied ist vielleicht der, daß es in der „Verwandlung"
offensichtlich die Hauptperson der Erzählung, der „Held" der Geschichte
ist, der die Ödipustat vollzieht und die darauf folgende Strafe erduldet,
während in der „Strafkolonie" der sich gegen die Vatergewalt des Vorgesetzten
auflehnende Rebell ein armer, tierisch-dumpfer, stumpfsinniger Mensch
ist, der in der Geschichte eine äußerst nebensächliche Rolle spielt.
Durch diese Personenverteilung — aber auch durch die Ausführlichkeit.
oder besser Nicht- Ausführlichkeit der Darstellung — kommt in der Straf-
kolonie" die Auflehnungsphase gegenüber der Bestrafungsphase gewaltig zu
kurz. Verglichen mit dem entsprechenden Verhältnis in der „Verwandlung",
und dies als Ausgangspunkt betrachtet, hat hier eine sehr deutliche Akzent-
verschiebung zugunsten der Bestrafung stattgefunden.
Dies zeigt sich auch in der psychologischen Motivierung, der „Auflehnung*.
Während in dem Affenbericht das Wiederaufleben nach dem Kastrations-
schock, durch das hier die Auflehnungsphase repräsentiert wird, ein sinn-
voll-planmäßiges Ringen um den Eintritt in die Menschheit ist, wobei aber
Frans Kafkas Inferno 33
der Kampf mir gegen die eigene Affennatur geführt wird, und eine nach
außen gewandte Aggressivität allein in der unbetonten Bemerkung über
das Äffischwerden eines Lehrers schattenhaft in Erscheinung tritt, kollidiert
in der „Verwandlung" das „Erwachsen werden" des Sohnes ganz offensichtlich
mit dem Interesse des Vaters, wobei freilich die bewußte Absicht des Sohnes
eine friedliche, ja sogar liebevolle bleibt; in der „Strafkolonie" endlich stellt
die Auflehnung einen primitiven, unüberlegten und von vornherein zur Er-
folglosigkeit verurteilten „Ausbruch" dar, wobei die der Vatergestalt geltenden
Haß ge fühle deutlich sichtbar werden. Nur die moralische Integrität der
Sohnesfigur bleibt auch hier gewahrt. Die Insubordination des Burschen
gegenüber dem Hauptmann ist so geschildert, daß das Rechtsgefühl des
Lesers sich auf die Seite des Burschen stellen muß, wenn auch der „Offizier"
die Tat bedingungslos verdammt.
Was die Auflehnung verliert, gewinnt die Strafe. In dem Affenbericht
ist sie kaum als solche erkennbar: „Ich beklage mich nicht, bin aber
auch nicht zufrieden." (Bericht, 186.) Das ist alles, was sich in dem
Bericht an Hindeutungen auf ein dem Aufstieg des Affen folgendes „Arges"
finden läßt. — In der „Verwandlung besteht die Strafe in einer alle Existenz-
bedingungen des Sohnes umstürzenden und ihn dem Tod in die Arme
treibenden Katastrophe und in körperlichen, das Kastrationserlebnis reaktivieren-
den Mißhandlungen durch den Vater. Überdies steckt in dem durch diese
Mißhandlungen bereiteten Schmerz auch eine Lust, die aber nur zaghaft
angedeutet und schwer hinter den Verhüllungen zu erkennen ist.
Einen völlig anderen Aspekt gewinnt die Strafe in der „Strafkolonie".
Zunächst fällt es auf, daß ihr Zusammenhang mit der Straftat erheblich
gelockert ist. Denn die Straftat ist ja ein herzlich unbedeutender Einzelfall,
der nur erwähnt wird, weil er ein — wie es scheinen will — zufälliger
Anlaß oder Vorwand für die Strafe ist. Die Strafe aber, wie die begeisterten
Worte des Offiziers sie uns schildern, ist kein Einzelfall, sondern ein System,
eine Institution, Sie erscheint uns als eine lange, unüberblickbare Reihe
von Exekutionen, vollzogen an gleichgültigen, namenlosen „Opfern" für
unbekannte, mit keinem Wort erwähnte Taten, so daß keine Teilnahme für
das Individuum unsere Aufmerksamkeit ablenkt von der Würdigung des
Scharfsinnes, des Ernstes und der liebevollen Mühegabe, die an die Exe-
kutionen gewendet werden.
Wir ahnen schon, daß an dieser Akzentuierung der Strafe in der „Straf-
kolonie" der Umstand schuld hat, daß hier das in der Strafe liegende Lust-
moment eine viel größere Rolle spielt als etwa in der „Verwandlung". Diese
Kaiser: Kafkas Inferno ,
£>4 Hellmuth. K :u.s
Tatsache hat zwei Folgen, die beide ihren Grund darin haben, daß der
masochistische, aus einer homosexuellen Einstellung zum Vater geschöpfte
Lustgewinn natürlich dem männlichen Selbstbewußtsein K.s besonders zu-
wider ist. Die eine Folge besteht in der Übertragung der Leidensrolle von
dem K. unmittelbar vertretenden Offizier auf eine Nebenperson (den Ver-
urteilten). Der Offizier genießt die analmasochistische Lust des Verurteilten —
oder vielmehr der vielen Verurteilten, die er hinrichtet — zwar auch selbst,
aber doch nur durch die Einfühlung und Identifizierung, wie sie der Zu-
schauer vollzieht. Man kann sich vorstellen, daß die Entwicklung K.s von
einem Stadium masochistischer Phantasien infolge eines von der Zensur
ausgeübten Druckes zu einem Stadium führte, in dem diese Phantasien
durch sadistische ersetzt werden mußten. Daß diese Entwicklung keine
eigentliche Überwindung der masochistischen Triebgestaltung im Sinne einer
Lockerung der die ursprünglichen sadistischen Antriebe niederhaltenden Ver-
drängung ist, sondern selbst ein Verdrängungsprodukt, geht aus der Stellung
des Offiziers zu der Vatergestalt des alten Kommandanten hervor. Gegenüber
dem alten Kommandanten empfindet der Offizier nichts als Liebe und ehr-
furchtsvolle Bewunderung. Keine Spur einer rivalisierenden, rebellischen
Tendenz, wie sie dem Ödipuskomplex angehören würde, ist hier zu finden.
Der ganze Vaterhaß K.s ist aus der Seele des Offiziers herausgelöst auf die unbe-
deutende und kulturlose Gestalt des Delinquenten übertragen und so isoliert.
Die zweite Folge des Anwachsens der anal-masochisti sehen Lust und der
dadurch wachgerufenen herberen Kritik der höheren Instanzen ist die Ent-
persönlichung der Strafe. Die „Strafe" ist eigentlich erst hier — in der
„Strafkolonie" — zu einer „Strafe" im juristischen Sinne geworden. In
der „Verwandlung" war sie noch als ein väterlicher Racheakt dargestellt,
soweit sie nicht als eine freiwillige Büß etat des Sohnes erschien oder ai
eine Vergeltung des Schicksals. An die Stelle des individuellen Vaters ist
hier die durch den Tod entrückte und verklärte, schon legendär gewordene
Persönlichkeit des alten Kommandanten getreten, einer Amtsperson, also
einer von höheren Stellen eingesetzten Autorität, die nicht einen indivi-
duellen Familienkonflikt auf gut bürgerliche Manier mit Rohrstock und
Polterstimme austrägt, sondern ein Gesetz schafft, „ein System", eine Öffent-
lich-rechtliche Institution, einen Brauch, einen Kult. Der Schauplatz der
von ihm eingeführten bluttriefenden Zeremonien ist nicht mehr die gute
Stube einer Kaufmannsfamilie, sondern ein weites, sandiges Tal in der Welt-
ferne der Strafkolonie, unter dessen freiem Himmel sich eine zahlreiche,
andächtige Zuschauerschaft versammelt.
s
Franz Kafkas Inferno 35
„Wie war die Exekution in früherer Zeit! Schon einen Tag vor der Hin-
richtung war das ganze Tal von Menschen überfüllt; alle kamen nur, um zu
sehen; früh am Morgen erschien der Kommandant mit seinen Damen; Fan-
faren weckten den ganzen Lagerplatz; . . . kein hoher Beamter durfte fehlen.
. . . Vor hunderten Augen — alle Zuschauer standen auf den Fußspitzen bis
dort zu den Anhöhen — wurde der Verurteilte vom Kommandanten selbst
unter die Egge gelegt." (Strafkolonie, 56.)
Diese Ausweitung des seelischen Raumes, in dem die Strafe vollzogen
wird, eine Ausweitung, die das Erlebnis eines einzelnen umbildet zu dem
Ritual einer sozialen Gemeinschaft, müssen wir als eine Art Sublimierung
der ursprünglichen Triebe bezeichnen. Diese Form der Sublimierung ist
aber nicht die einzige, die hier vollzogen wird. Auch innerlich — wenn
wir hier so sagen dürfen — erfährt das Leidenserlebnis eine Umwandlung.
Bezeichnend für diese Umwandlung ist der Gebrauch zweier Worte, die
die seelische Wirkung der Strafe auf den Verurteilten schildern. Es sind
die Worte „Erlösung" und „Verklärung".
Hier eröffnet sich der analytischen Betrachtung ein reiches Material an
Einzelheiten und Beziehungen, dessen Erörterung wir aber — aus dar-
stellerischen Gründen — noch zurückstellen müssen. Wir hatten bisher
unsere Erläuterungen im wesentlichen nach dem Zusammenhang orientiert,
in dem die Erzählung von der „Strafkolonie" mit der „Verwandlung" und
dem „Bericht des Affen steht. Das Fundament unserer psychologischen
Interpretation bildete die Triebkonstellation, die sich aus dem schroffen,
durch den Kastrationsschock ausgelösten Zusammenbruch des Ödipuskom-
plexes ergab. Wir konnten dann noch vermutungsweise zwei Entwicklungs-
phasen unterscheiden. Die eine stellte eine Art künstlicher Restaurierung
der Genitalitat dar (Menschwerdung des Affen), wobei älteres, verdrängtes
Triebmaterial (im wesentlichen der oralen Phase entstammend) mit den
Resten der genitalen Organisation eine neue — freilich nicht sehr trag-
fähige — Verbindung einging. Die andere Phase erwies sich als eine um-
fangreiche Regression auf die anale Stufe (Verwandlung), wobei sich vor-
übergehend (später nämlich von den Selbstmordtendenzen überdeckt) die
Spur einer anal-masochistisch-homosexuellen Libidoorganisation zeigte. In
der Erzählung von der „Strafkolonie" fanden wir eine Art Fortentwick-
lung dieser letztgenannten Organisation, die hier durch starke orale Züge
erweitert und kompliziert erscheint.
Damit haben wir uns aber erst der einen Seite der psychischen Phäno-
mene K.s bemächtigt. In allen unseren bisherigen Erörterungen handelte
es sich immer nur um solche Triebregungen, die dem „Es" angehören.
3*
•
3b Hellmuth Kaiser
Die Sphäre der Ich-näheren Triebe haben wir zwar überall da gestreift
wo von Verdrängungen, von zensurierenden Instanzen und dem Begriff der
Bewußtseinsfähigkeit die Rede war. Aber wir haben sie eben auch nur
gestreift, sie als ein undifferenziertes Ganzes summarisch und eben nur als
das die Triebbefriedigung einschränkende „Etwas" abgetan. Dies Verfahren
mochte bei der Besprechung des „Berichts für eine Akademie" und der
„Verwandlung" zur Not genügen, bei der Erzählung von der „Strafkolonie"
reicht es nicht aus, da hier Ichtriebe eine äußerst markante Rolle spielen.
Sie sind es nämlich, die den Gang der Handlung, sozusagen das dynamische
Moment der Erzählung wesentlich bestimmen.
Es ist daher an der Zeit, die Betrachtung der Ausgangssituation zu unter-
brechen, um den Gesamtverlauf der Erzählung und damit eben die be-
wußtseinsnäheren Phänomene, die sich darin ausdrücken, ins Auge zu fassen.
Danach erst werden wir die spezielle Betrachtung der Es -Triebe und ihrer
Sublimierungen fortsetzen.
Der Reisende ist von dem Kommandanten, dem „neuen", eingeladen
worden, der Exekution beizuwohnen. Der Offizier äußert sich über diese
Einladung folgendermaßen :
„Ich war gestern in der Nähe, als der Kommandant Sie einlud. Ich hörte
die Einladung, ich kenne den Kommandanten. Ich verstand sofort, was er mit
der Einladung bezweckte. Trotzdem seine Macht groß genug wäre, gegen mich
einzuschreiten, wagt er es noch nicht. Wohl aber will er mich Ihrem, dem
Urteil eines angesehenen Fremden aussetzen. Seine Berechnung ist sorgfältig
Sie sind in europäischen Anschauungen befangen ..." (Strafkolonie, 40.)
So spricht der Offizier, während der Verurteilte schon angeschnallt auf
dem „Bett" liegt, und fährt dann mit der Erörterung eines Planes fort,
der darin besteht, in öffentlicher Sitzung den Reisenden zur Frage der
Exekutionen zu Wort kommen zu lassen und durch sein Eintreten für das
alte Strafsystem dieses wieder zu Ansehen und Geltung zu bringen. Nach-
dem der Offizier dem Reisenden, in unerhört eindringlicher Weise, alle
möglichen Eventualitäten vorsorgend, den Entwurf ihres gemeinsamen Vor-
gehens unterbreitet hat, indem er zuletzt seine Stimme zu einer lauten Be-
schwörung erhebt, heißt es weiter:
„Die Antwort, die er zu geben hatte, war für den Reisenden von aUem
Anfang an zweifellos; er hatte in seinem Leben zu viel erfahren, als daß et
hier hätte schwanken können; er war im Grunde ehrlich und hatte keine Furcht.
Trotzdem zögerte er jetzt im Anblick des Soldaten und des Verurteilten einen
Atemzug lang. Schließlich aber sagte er wie er mußte: ,Nein!' Der Offizier
1
Frans Kafkas Inferno
blinzelte mehrmals mit den Augen, ließ aber keinen Blick von ihm. ,Wollen
Sie eine Erklärung?' fragte der Reisende. Der Offizier nickte stumm. ,Ich bin
ein Gegner des Verfahrens', sagte nun der Reisende, ,noch ehe Sie mich ins
Vertrauen zogen — dieses Vertrauen werde ich natürlich unter keinen Umständen
mißbrauchen — habe ich schon überlegt, ob ich berechtigt wäre, gegen dieses
Verfahren einzuschreiten und ob mein Einschreiten auch nur eine kleine Aus-
sicht auf Erfolg haben könnte . . . Ehre ehrliche Überzeugung geht mir nahe,
wenn sie mich auch nicht beirren kann.' " (Strafkolonie, 50.)
Wir haben diese Stelle mit solcher Ausführlichkeit zitiert, um, so gut
als möglich, auch den Lesern, die die Erzählung Kafkas nicht zur Hand
haben, das im Vergleich zu dem Benehmen des Offiziers ganz auffällig
leidenschaftslose, kühl - sachliche Verhalten des Reisenden nahezubringen.
Der Reisende wird von beiden Parteien als Richter, als Unparteiischer, an-
gerufen, und er ist für diese Rolle wirklich wie geschaffen. Auch die
Deutung muß diese Eigenschaft der Sachlichkeit und Nüchternheit als
maßgebendes Kennzeichen verwerten. Nüchtern und sachlich aber sind nicht
die Affekte, sondern Verstand und Vernunft. Der Dialog, in dem die Er-
zählung im wesentlichen verläuft, das Ringen des Offiziers um die Teil-
nahme und Zustimmung des Reisenden ist also der Kampf einer Trieb -
konstellation gegen die Macht vernünftiger Einsicht. Aber mit dieser
Formulierung haben wir schon der Erzählung Gewalt angetan, denn der
Kampf geht ja eigentlich zwischen der Partei des alten und der des neuen
Kommandanten, und der Reisende ist so wenig aktiv, so zurückhaltend und
maßvoll, daß wir ihn und die psychische Instanz, die er vertritt, kaum als
„Gegner", als Mitkämpfer, sondern eben nur — wie wir es oben taten
als „Richter" bezeichnen dürfen. Diese Tatbestände zwingen uns eine Formu-
lierung auf, die auch psychologisch bedeutsam ist. Vernunft und Verstand
sind überhaupt keine Kräfte, die unmittelbar einen Trieb einzuschränken
vermöchten. Ein Trieb kann immer nur von einem Trieb bekämpft werden.
Und Einsicht hat für sich allein überhaupt keine bewegende Gewalt. Sie
ist nur ein Vermögen, das anderweit vorhandene Mengen von Triebenergie
auslösen und hinsichtlich ihrer Zielrichtung bestimmen kann. Diesem Sach-
verhalt trägt die Kafkasche Erzählung in erstaunlich getreuer Weise Rech-
nung. Die Stimme des Reisenden braucht in der Sitzung, auf der nach dem
Plane des Offiziers der neue Kommandant bekehrt und geaemütigt werden
soll, nicht zu „brüllen" — es genügt, wenn sie ihr Urteil „flüstert". Und
da dieses Urteil denn, dem wirklichen Gang der Ereignisse nach, zu Un-
gunsten des alten Straf Systems ausfällt, ist gar keine weitere Aktion des
Reisenden vonnöten, als daß dieses Urteil eben ausgesprochen wird — so-
3ö Hcllmutli Jva
gleich ändert der Offizier seine Haltung: Er gibt den Verurteilten frei und
legt sich selbst unter die Maschine.
Die Kraft, die sich dem über das Grab hinaus wirksamen Willen des
alten Kommandanten entgegenstellt, ist also nicht der Reisende — sondern
eigentlich und genau gesprochen — der neue Kommandant, der ja den.
Reisenden zum Resuch des einsamen Tales, wo die Richtstätte liegt, ver-
anlaßt hat. Um nun unsere Deutung zu vervollständigen, müssen wir uns
überlegen, welchem psychischen Tatbestand denn der neue Kommandant
und seine Partei entspricht.
Zunächst müssen wir die Tatsache hinnehmen, daß der neue Kommandant
der Nachfolger des alten Kommandanten und somit die von oben eingesetzte
Autorität und die mächtigste Persönlichkeit der Insel ist, auf der die Straf-
kolonie liegt. Den alten Kommandanten hatten wir als eine VaterTmago
gedeutet, wir werden daher versuchen müssen, auch den neuen als eine
VaterTmago — nur als eine neue, das heißt jüngere zu verstehen. Die Vor-
stellung vom Wesen des Vaters, wie sie der K.schen Imagination des alten
Kommandanten zugrunde liegt, entspricht natürlich nur einem bestimmten,
engbegrenzten Lebensalter K.s. Wie auch immer der wahre Vater K.s be-
schaffen gewesen sein mag, dem Bilde des alten Kommandanten, dem
Erfinder jener teuflischen Foltermaschine, konnte er nicht gleichsehen.
Nun brauchte freilich der Widerspruch zwischen den beiden Vaterbildern,
dem neuen, verhältnismäßig wirklichkeitsgerechten und dem alten, zum
sadistischen Schreckbild verzerrten, nicht immer in Erscheinung zu treten.
Die alte Vater -Imago war von K. mitsamt der masochistischen Befriedigungs-
phantasie, der sie entsprach, sicher tief verdrängt worden und stand wie
alles Verdrängte unter hermetischem Abschluß von allen anderen und neueren
Bewußtseinsinhalten. Wir können und müssen aber annehmen, daß diese
Verdrängung nicht auf die Dauer voll wirksam war (sonst wäre ja schon
die Erzählung von der „Strafkolonie" nie geschrieben worden) und daß mit
der Zeit die Erkenntnis der Wirklichkeit — das heißt hier „des wirklichen
Vaters mit jener alten Phantasie in Berührung und damit auch in Konflikt
kam. Der wirkliche Vater war vergleichsweise human, milde, nachsichtig,
gerecht und damit untauglich, den an das alte Vaterbild anknüpfenden, ver-
drängten Wunschphantasien eine Entladung zur Realität hin zu verschaffen.
Er mußte vielmehr dem ganzen sado-masochistischen Komplex, wo immer
er sich dem Bewußtwerden nähern wollte, als eine Art lebenden Beweises
seiner Absurdität entgegentreten. Eine Szene wird uns hier lebendig, eine
Szene aus der Kindheit K.s, die, ohne selbst auf historische Wirklichkeit
Frans Kafkas Intenio ->9
Anspruch machen zu können, — dazu reicht das Material, aus dem wir
sie rekonstruieren, nicht aus — doch das, was wir meinen, zutreffend ver-
anschaulichen mag. Wir erinnern uns, daß der Offizier versucht hatte, die
Verurteilten vor der Exekution einen Fasttag durchmachen zu lassen, damit
der durch den Filzstumpf hervorgerufene Brechreiz nicht zu einer Be-
schmutzung der Maschine führen könne. Der neue Kommandant aber hatte
davon nichts wissen wollen und seinen Damen erlaubt, dem Verurteilten
den Hals mit Zuckersachen vollzustopfen. Wir stellen uns nun den acht-
jährigen K. vor, wie er beim Mittagessen im elterlichen Hause vor dem
Genuß des Fleischgerichtes von einem unerträglichen Speiseekel überfallen
wird. Da er sich weigert zu essen, wird er als schlimmes, ungezogenes
Kind vom Tisch geschickt und muß fasten. Dies Fasten aber ist ihm will-
kommen; denn es dient ihm als Selbstbestrafung für die unbewußten und
auch nicht mehr bewußtseinsfähigen Wünsche, die ihm bei der Vorstellung
des Fleischgenusses aufsteigen und sein Gewissen belasten. Er hat — wenn
auch unbewußt — den Vater fressen wollen; deswegen quält ihn ein rätsel-
haftes Schuldgefühl, und diese Qual wird erst durch die Wohltat einer Strafe,
eines Leidens gemildert. Wenn der, der fressen wollte, was nicht gefressen
werden durfte, hungern muß, dann und nur dann geschieht „Gerechtigkeit",
empfindet der kleine K., und es ist eine Enttäuschung für ihn, daß der
Vater der Mutter oder einem weichherzigen Dienstboten erlaubt, ihm „den
Hals mit Zuckersachen vollzustopfen". Aber trotz der Sehnsucht nach einer
Stillung des Schuldgefühls, trotz des Wunsches zu leiden, und neben diesen
Strebungen ist natürlich auch der Wunsch nach den „Zuckersachen", nach
Liebe und Güte in der Seele des Knaben K. vorhanden und dieser Wunsch
gibt „dem neuen Kommandanten" über die bloße Existenz hinaus auch ein
Stück Macht, der es ihm ermöglicht, dem Strafkodex und der Hinrichtungs-
maschine des alten Kommandanten Abbruch zu tun.
Die Humanität des neuen Kommandanten zeigt sich aber auch in einem
positiven Bestreben. Dieses — es ist nur eines — gilt den Hafenbauten. (Straf-
kolonie, 47.) Hafenbauten können ja nur den Zweck haben, den Verkehr der
Strafkolonie mit der übrigen Welt zu erleichtern. Im Sinne der Deutung zeigt
sich hier ein Verlangen, die Inselexistenz des verdrängten, an die masochisti-
schen Phantasien gebundenen Partial-Ichs zu sprengen und es in Verkehr mit
den übrigen Gebieten der Seele zu bringen, es der Gesamtpersönlichkeit ein-
zugliedern, wodurch denn ein Wesen entstünde, das seinerseits nun wieder
aus der Isolierung des Neurotikers herauszutreten vermöchte und den An-
schluß an die Welt, an die anderen, an die soziale Gemeinschaft fände.
4° Hcllmuti Kaiser
Die Partei des „neuen Kommandanten" verspricht also — im Sinne der
Deutung geredet — dem Ich einen Zuwachs an Geschlossenheit und eine
Annäherung an humane, soziale Ideale und stellt somit einen Triebkomplex
dar, der sozusagen im Zentrum des „Ich" liegt. Aber natürlich sind diesen
Strebungen auch solche angegliedert, die, ohne Ich-widrig zu sein doch
zum Ich peripherer liegen. Der Offizier empfiehlt dem Reisenden, in der
Sitzung die Hände „für alle sichtbar" hinzulegen, ,. . . sonst fassen sie die
Damen und spielen mit den Fingern . . .• (Strafkolonie, 48.) Diese Warnung
des Offiziers zeigt, daß unter dem Schutz des neuen Kommandanten erotische
Beziehungen zur Frau, die unter dem Regime des alten unterdrückt wurden
zum Vorschein kommen dürfen.
Mit den eben gegebenen Erläuterungen glauben wir aber die Bedeutung
des neuen Kommandanten noch nicht völlig ausgeschöpft zu haben Wir
können an dem eigentümlichen Umstand nicht vorübergehen, daß der neue
Kommandant - der doch nun einmal vom Standpunkt schlicht-realistischer
Betrachtungsweise aus - die absolut mächtigste Persönlichkeit der Insel
ist, bei seiner Bekämpfung des überkommenen Strafsystems gar zu leise-
treterisch verfährt. Statt einfach die Fortsetzung der Exekutionen zu ver-
bieten, verhalt er sich passiv abwartend und mildert nur in Kleinigkeiten
das grausame Zeremoniell. (Verbot der Anwendung der ätzenden Flüssigkeit
und Verbot des Fastens.) Statt die Maschine zerschlagen zu lassen, beschränkt
er nur die Mittel zu ihrer Erhaltung, so daß sie langsam zerfällt Seine
Gestalt ist auffällig blaß. Das Positive, was von ihm gesagt wird, daß er
sich für Hafenbauten interessiert, ist nicht stark ge „ U g, zu irgendeiner
anschaulichen Darstellung seiner Tätigkeit und ihrer Erfolge zu führen
Wahrend wir von der Hinrichtungsmaschine jede Einzelheit deutlich vor
Augen sehen, erblicken wir von den Hafenbauten nichts. Es ist, als seien
die Hafenbauten nicht Mittel des Weltverkehres, sondern bedeuteten den
Hafen der Ruhe, in dem jede Bewegung endet.
Die Frage, ob es Todestriebe gibt, soll hier nicht diskutiert, geschweige
denn in diesem oder jenem Sinne entschieden werden. Wir haben hier nur
auf die Tatsache hinzuweisen, daß in dem neuen Kommandanten, diesem
Vertreter der Ich-nahen Strebungen K.s, eine Tendenz nach Ausgleich
Entspannung und Zerfall merkbar wird, die jedenfalls einigen der Tat-
bestande verwandt ist, um derentwillen Freud den Begriff der Todestriebe
einführte.
Wir kommen nun zu dem „Ereignis", von dem die Geschichte erzählt.
Das Ereignis besteht — wie wir schon früher sagten — in dem Zusammen-
Kafkas Inferno jf 1
bruch des alten Straf Systems. Es vollzieht sich in zwei Phasen, von denen
die erste sich beim Beginn der Erzählung schon im Lauf befindet, während
die zweite ganz in die Gegenwart der Dichtung hineinfällt. Unter der ersten
Phase verstehen wir die Gesamtheit der Auswirkungen der passiv-ablehnen-
den Haltung, die der neue Kommandant gegenüber dem alten Strafverfahren
einnimmt, unter der zweiten die durch das Urteil des Reisenden bewirkte
Selbstaufgabe des Offiziers. Psychologisch gesehen handelt es sich bei jener
um einen Widerstand, der sich gegen die anal-sadistische Libidoorganisation
erhebt, bei dieser um etwas, was wir nur als eine Auflösung, eine Zersetzung
dieser Organisation bezeichnen können. In der ersten Phase gerät die Wunsch-
phantasie in Konflikt mit der Realität (Vatergestalt des neuen Kommandanten !),
in der zweiten mit der Kritik einer vernünftigen, ethischen Überzeugung.
Das psychologisch bemerkenswerteste Detail der ersten Phase ist das vom
Offizier lebhaft geschilderte Abflauen des öffentlichen Interesses an der Exe-
kution. Während früher die Zuschauer sich drängten, ist jetzt der Offizier
der einzige, der mit liebe und Begeisterung der Hinrichtung beiwohnt.
Ein Haufen von Rohrsesseln am Rande der Grube bildet ein kümmerliches
Denkmal der einstigen Volksstimmung. Für unsere Deutung heißt dies,
daß der Untergang der Strafphantasie damit begann, daß K. das Eigen-
brötlerische, Asoziale in ihr empfinden lernte. Die hinzuphantasierten,
begeisterten Zuschauer — die natürlich einer Komponente von passiver
Schaulust (vgl. Artistenberuf des „gewesenen" Affen) ihr Dasein verdankten,
erfüllten zugleich die Funktion, der ganzen Handlung die soziale Sanktion
zu verleihen, das Schuldgefühl durch Teilung der Verantwortung zu mildern.
Erlaubt es die erwachende Realitätserkenntnis nicht mehr, eine solche
Phantasie für das Wunschziel vieler oder aller Artgenossen (z, B. Alters-
genossen) zu halten, so ist ihr Fortbestehen äußerst gefährdet, da nun die
ganze Verantwortung für den Inhalt der Phantasie von dem „Träumer selbst
getragen werden muß. 1 Das dadurch sich anstaunende Schuldgefühl bereitet
natürlich die zweite Phase, die der Kritik und Zersetzung vor.
Diese zweite Phase wollen wir nun an Hand des Textes unserer Erzählung
genauer studieren.
i) Ein von zwei Brüdern in ihrem sechsten bis zwölften Lebensjahr ausgesponnener
gemeinsamer Tagtraum, worin sie eine Unterwelt imaginierten, in der sie Herrscher-
stellungen einnahmen, behandelte jahrelang im wesentlichen Staatsaktionen und soziale
Institutionen des Unterweltreiches, an denen die ganze Bevölkerung teil hatte. Ihr
Ende fanden diese Träumereien erst, nachdem die Ereignisse, die sich die Träumer
erzählten, immer mehr den Charakter privater Erlebnisse der beiden „Helden" an-
genommen hatten.
T 3 Hellmuth Kaiser
Nachdem der Reisende sein Urteil abgegeben hat, sagt der Offizier: „Dann
ist es also Zeit", läßt den Verurteilten frei und schickt sich an, sich selbst
unter die Maschine zu legen. — Die innere Stellungnahme des Offiziers zu
der Entscheidung des Reisenden ist nicht leicht zu bestimmen. Keinesfalls
dürfen wir annehmen, daß er durch den Reisenden überzeugt worden sei:
„Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt", sagte er für sich und lächelte
wie em Alter über den Unsinn eines Kindes lächelt und hinter dem Lächeln
sein eigenes, wirkliches Nachdenken behält." (Strafkolonie, 52.)
Wie eine grundsätzliche Änderung seines Standpunktes mutet es freilich
an, wenn er die für den „Verurteilten« bestimmte, in den Zeichner ein-
gelegte Schablone mit dem Urteilsspruch „Ehre deine Vorgesetzten" für
den Zweck seiner eigenen Hinrichtung austauscht gegen eine Schablone
deren Text lautet: „Sei gerecht!« Zweifellos hat das Wort „gerecht" i n
diesem Imperativ einen gründlich anderen Sinn als das Wort „Gerechtig-
keit , wenn der Offizier, von seinen früheren Exekutionen erzählend, saet-
„Hier geschieht Gerechtigkeit.« Die Gerechtigkeit, die den andern Delin-
quenten zuteil wurde, ist ein religiös -mystisches Erlebnis und hat mehr
mit „gra.ua zu tun als mit „iustitia", während in dem Urteil, das der
Offizier sich selbst zuerkennt, der humane Begriff der Billigkeit, der demo-
kratischen Gleichheit, gemeint sein dürfte. 3
Einer solch „billigen, humanen« Gesinnung schlägt es dagegen wieder
ms Gesicht, wenn der Offizier sich ihre Formel in der alten mystisch-
sadistischen Weise ins Fleisch stechen will - ein Verfahren, dem freilich
auch der Reisende Folgerichtigkeit ausdrücklich zubilligen muß. Wir können
über diese Gegensätzlichkeiten nicht mehr sagen, als daß wohl auch hier
die bekannte Wiederkehr des Verdrängten im Verdrängenden stattfindet. Bei
dem Abbau der alten Strafphantasie scheint sogar durch die Marterung des
Utnziers eme - allerdings nur von uns vermutete - frühere und durch
em Weniger an Verdrängung charakterisierte Stufe wieder erreicht zu
werden, bei der nämlich die Phantasie noch unmittelbar masochistischen
Charakter trug und noch nicht die Ersetzung des Leidens durch das ein-
fühlende Zuschauen beim Leiden anderer ihr einen „sadistischen" Aspekt
verliehen hatte.
In der Tat trägt der in den nun folgenden Geschehnissen ausgedrückte
psychische Prozeß auch sonst das Gepräge eines Abbaues, einer Rück-
1) Im umgekehrten Sinn ist es wohl wieder aufzufassen, daß nur der Offizier
dagegen nicht der Reisende den Urteilsspruch „Sei gerecht!« entziffern kann.
Frans Kafkas Inferno ^3
Verwandlung psychischer Bildungen, wie wir sogleich im einzelnen sehen
werden .
Nachdem der Offizier das Blatt mit dem Urteil: „Sei gerecht" in den
Zeichner eingelegt und diesen darauf eingestellt hat, entkleidet er sich.
Er tut es umständlich und sorgfältig. Einzelne Kleidungsstücke werden
erwähnt und zum Schluß heißt es ausdrücklich: „Nun stand er nackt da."
(Strafkolonie, 58.) Die Uniform mit ihrem metallisch-glänzenden Schmuck
dient neben anderem der Eitelkeit, und diese ist ein narzißtisch orientierter
Abkömmling der passiven Schaulust. Wenn der Offizier sich nun entkleidet,
so macht er diese Entwicklung wieder rückgängig. Die Freude am Hübsch-
und-adrett- gekl ei det-Sein zerlegt sich in die ästhetische Wertung des Uniform-
schmuckes, wie sie in seiner sorglichen und zärtlichen Behandlung der
Monturstücke während des Entkleidens zum Ausdruck kommt, und in die
kindliche Lust am Sich-(nackt-)zur-Schau-Stellen.
Zu der pfleglichen Behandlung der eigenen Kleidung liefert natürlich
auch das Beinlichkeitsbedürfnis einen Beitrag, ein Bedürfnis, das aus dem
Überwiegen der einen Seite des ambivalenten Verhaltens zum Schmutz
resultiert. Bei der Entkleidung des Offiziers zeigt sich auch hier ein Aus-
einanderfallen der Libidoorganisation. Sobald er ein Stück seiner Kleidung
mit Sorgfalt ausgezogen und zurechtgeschüttelt hat, wirft er es mit einem
unwilligen Ruck in die Grube. Es ist, als ob sich aus seinem Ordnungs-
sinn die ursprüngliche anale Komponente der Schmutzfreudigkeit heraus-
gelöst hätte. 1
Nun legt sich der Offizier auf das Bett; er wird von dem Soldaten und dem
Verurteilten festgeschnallt und von selbst beginnt die Maschine zu arbeiten.
Jetzt aber tritt eine Störung ein:
„Langsam hob sich der Deckel des Zeichners und klappte dann vollständig
auf. Die Zacken eines Zahnrades zeigten und hoben sich, bald erschien das
ganze Rad, es war, als presse irgendeine große Macht den Zeichner zusammen,
so daß für dieses Rad kein Platz mehr übrig blieb, das Rad drehte sich bis
zum Rand des Zeichners, fiel hinunter, kollerte aufrecht ein Stück im Sand
und blieb dann Hegen. Aber schon stieg ein anderes auf, ihm folgten viele,
große, kleine und kaum zu unterscheidende, mit allen geschah dasselbe, immer
glaubte man, nun müsse der Zeichner jedenfalls schon entleert sein, da erschien
eine neue, besonders zahlreiche Gruppe, stieg auf, fiel hinunter, kollerte im
Sand und legte sich ... die Maschine ging offenbar in Trümmer ..." (Straf-
kolonie, 62.)
1) Wir erinnern daran, daß auch in der „Verwandlung" die Uniform (des Vaters)
und Schmutz polar entgegengesetzte Symbole sind.
44 Hellmuth Kaiser
Erinnern wir uns daran, daß wir den Hinrichtungsakt als einen Koitus
auffaßten. Wir betrachteten den Delinquenten samt dem „Bett", das ihm
die rhythmischen Schwingungen erteilt, als den passiven Partner. Der aktive
wird durch die übrigen Teile der Maschine, das heißt durch den auf seinen
vier Messingstangen wie auf vier Extremitäten ruhenden Zeichner symboli-
siert, in dessen Mitte die Egge, einem Penis gleich, an ihrem Stahlseil
herunterhängt. Der Zeichner ist also der Leib des aktiven Partners. Was
aber durch gewaltsame Pressung in unregelmäßigen Gruppen und in zahl-
reichen rundlichen Gebilden aus dem Leibe herausgedrückt wird, ist der
Kot. Es liegt also nahe, den im Texte geschilderten Vorgang als eine Kot-
entleerung aufzufassen. Tun wir dies, so zeigt sich auch hier der Zerfall
der komplizierten Libidoorganisation in ihre ursprünglichen Komponenten.
Die grausame Vernichtung, die die Maschine leistet (insbesondere in der
oral-analen Auffassung ihres Mechanismus) wird hier durch die primitivste,
ursprünglichste Form analer Vernichtung: die Kotentleerung, dargestellt.
Das Räderwerk ist der subtilste Teil der Maschine. In ihm verkörpert
sich ihre Genauigkeit, ihre wahrhaft unerhörte Präzision, durch die allein
das Zusammenwirken in den Bewegungen der Egge und des Bettes er-
möglicht wird. Auch in der „Genauigkeit" steckt bekanntlich eine Fort-
bildung analer Antriebe, so daß die Umwandlung des Räderwerkes in Kot
eine Rückentwicklung sublimierter analer Strebungen bedeutet.
Wir würden jedoch der Bedeutung dieses ausführlich geschilderten, merk-
würdigen Zerfallphänomens nicht gerecht werden, wenn wir es nicht noch
einem weiteren Sinnzusammenhang einreihten. Sehen wir uns die Folgen
dieser Entleerung des Zeichners an, so finden wir sie in der Wirkung der
Maschine deutlich ausgeprägt:
„Die Egge schrieb nicht, sie stach nur, und das Bett wälzte den Körper
nicht, sondern hob ihn nur zitternd in die Nadeln hinein ... das war ja
keine Folter, wie sie der Offizier erreichen wollte, das war un-
mittelbarer Mord." (Strafkolonie, 63.)
und weiter:
„Es (das Gesicht der Leiche des Offiziers) war, wie es im Leben gewesen
war: Kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken; was alle
anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht. . ." (Straf-
kolonie, 65,)
Offenbar ist das, was der Offizier in der Maschine nicht findet, was alle
seine Vorgänger gefunden hatten, und was er selber dort sucht, — Lust.
Die Maschine kann jetzt nach der Beschädigung, die sie erlitten hat, nur
Frans Kafkas Inlc
<5
noch töten aber nicht mehr beglücken. Wir müssen suchen, uns dies ver-
ständlich zu machen. Die Wirkungsweise der Maschine faßten wir als einen
coitus per anum auf, als eine „von hinten erfolgende" Befruchtung durch
den Vater, wie wir in Analogie zu der Apfel wurfsszene der „Verwandlung"
sagen konnten. Das in den Körper des Delinquenten eindringende Instru-
ment, die Egge mit ihren Nadeln, war ein Modell des väterlichen Penis.
Daß das Eindringen des väterlichen Penis in den anus als lustvolles Erlebnis
phantasiert und ersehnt wird, geht bekanntlich auf folgende einzelne, in
ihren Auswirkungen aber sich unauflöslich durchdringende Tatbestände zurück :
1) Eine mechanische Reizung der Darmschleimhaut, zum Beispiel durch
zurückgehaltene Kotmassen wird (oder wurde) als lustvoll empfunden.
2) Es besteht der Wunsch, an die Stelle der Mutter zu treten und vom
Vater gewaltsam etwas angetan zu bekommen.
3) Es besteht der Wunsch, den Penis des Vaters (als Ersatz für den ver-
lorenen eigenen) zu erhalten.
4) Es besteht die infantile Theorie: Einen Penis kann man durch eine
Defäkation erzeugen: der Penis ist eine Kotstange,
Durch diese Aufstellung wollen wir daran erinnern, daß die in der
Hinrichtungsphantasie erlebte Lust durchaus komplexer Natur ist und eine
nicht zu unterschätzende genitale oder, noch genauer, phallische Komponente
enthält. Die von K. dort einmal erreichte phallische Position ist durch die
Regression nicht völlig vernichtet worden. Ja gerade in der Erscheinungs-
form der durch die regredierende Libido reaktivierten, infantileren Strebun-
gen zeigen sich sehr merkbare Spuren der zerstörten phallischen Organisation.
So bedeutet das Schnapstrinken des Affen zwar eine Wiederbelebung der
Sauglust der oralen Phase, aber die Flasche ist nicht — oder nicht nur —
ein Abbild der mütterlichen Warze, sondern auch und vorwiegend ein Symbol
des väterlichen Penis, der verschlungen und so durch Einverleibung zum
eigenen (Ersatz-) Penis gemacht werden soll. Das Endziel des Schnapstrinkens
ist nicht Befriedigung einer Sauglust, sondern die Gewinnung phallischer
Lust. Diese Triebgestaltung einmal vorausgesetzt, erhält das Herausquellen
der Zahnräder des Zeichners und die dadurch angedeutete Kotentleerung
einen neuen Sinn. Da nämlich die Folge dieses Ereignisses in dem Aus-
bleiben der sonst bei der Marterung zu gewinnenden Lust besteht, können
wir annehmen, daß das eigentliche Lustinstrument, der Penis, an dem auch
die anal angeregte Lust im wesentlichen empfunden wird, bei jenem Er-
eignis zugrunde geht: Der aus Kot gebildete Penis wird in Kot zurück-
verwandelt und ausgestoßen. Dabei geht die Lust, die einer komplizierteren,
I — ^1
J
46 Hellmutli Ka
eine phallische Komponente enthaltenden Libidoorganisation entspricht, ver-
loren — aber die rein anale Ausstoßungslust kommt zustande, ein Sach-
verhalt, der sich darin ausdrückt, daß der höher organisierte Offizier nicht
gefoltert (lustvoll gereizt), sondern nur getötet wird, während der primitive
Verurteilte von den herausquellenden „Zahnrädern" „völlig entzückt" ist.
Überhaupt werden die beiden primitiven Nebenfiguren, der Soldat und
der Verurteilte, jetzt zum Schluß besonders lebendig und treiben allerlei
kindlichen Scherz; so dreht sich der Verurteilte in seiner hinten zerfetzten
Kleidung vor dem Soldaten im Kreise herum, und beide raufen sich um
ein paar Taschentücher, die der Verurteilte von den Damen geschenkt be-
kommen hatte. Es ist so, als ob durch die Zerstörung und kritische Auf-
lösung der kombinierten Wunschphantasie primitive Partialtriebe frei ge-
worden wären.
Es ist natürlich nur konsequent, daß die zerstörte Maschine dem Offizier
nicht wie den früheren Verurteilten zur Erkenntnis und zum Verständnis
seines Urteilsspruchs verhelfen kann. Trotzdem glauben wir, daß in der
Schilderung des Toten:
«... die Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen waren offen
hatten den Ausdruck des Lebens, der Blick war ruhig und überzeugt, durch
die Stirn ging die Spitze des großen eisernen Stachels ..." (Strafkolonie, 65.)
neben der Vernichtung der „Erlösungskraft" der Maschine, auch gerade
das Gegenteil, nämlich die Unzerstörbarkeit des alten Systems zum Ausdruck
kommt. — Etwas bleibt von jeder psychischen Bildung erhalten.
Nach dem Tode des Offiziers begibt sich der Beisende in die Kolonie;
der Soldat zeigt ihm im Teehaus unter einem Tisch das Grab und den
Grabstein des alten Kommandanten. Er liest unter dem Lächeln der Arbeiter,
die dort herumsitzen, die Aufschrift des Steines mit der Prophezeiung von
der Wiederkehr des Alten und verläßt das Haus, um sich an den Hafen
zu begeben. Den Soldaten und den Verurteilten, die sich in das Boot, das
zum Dampfer übersetzt, hineindrängen wollen, wehrt er mit einem Tau-
ende ab. Und das Boot löst sich vom Ufer.
Auf die Bedeutung dieses Wenigen, was nach dem Tode des Offiziers
noch geschieht, wollen wir später eingehen. Wir wenden uns jetzt wieder
zu der Ausgangssituation der Strafphantasie zurück, deren Auflösung wir
soeben studiert haben, mit der Absicht, die darin verwobenen „Sublimierungen*
genauer zu betrachten.
Das Urteil wird dem Verurteilten nicht verkündet, sondern die Strafe
besteht darin, daß er gezwungen wird, den Urteilsspruch, den ihm die Maschine
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in die Haut gestochen hat, mit seinen Wunden zu entziffern. — Dieser
Vorgang — wir müssen ihn einen Erkenntnisprozeß nennen — beginnt am
die sechste Stunde und währt bis zum Tode des Mannes, das heißt bis zur
zwölften. Um die gleiche Zeit, zu der der Verurteilte zu erkennen beginnt,
verliert er die Lust am Essen. Wir hatten oben die Vermutung ausgesprochen,
daß infolge der Marterung und der dadurch hervorgerufenen aggressiven
Impulse gegen die Obrigkeit, das bei der Nahrungsaufnahme betätigte Kauen
und Beißen eine Bedeutungsverschiebung, eine Erotisierung erfährt, so daß
der Impuls zu einer oralen Aggression gegen den Vater auftritt. Der gegen
diese Aggression gerichtete Verdrängungsdruck bringt mit der Beißlust auch
die Eßlust zum Verschwinden, die libidinöse Besetzung der oralen Funktionen
verwandelt sich in Ekel und der Bissen wird ausgespieen (worin sich dann wieder
ein Stück Aggression gegen die Vatergestalt äußert). — Wir haben mit
dieser Erläuterung aber wohl nur den Verbleib eines Teils der oralen Libido
getroffen. Der Umstand, daß das Essen von der Erkenntnis abgelöst wird,
läßt an eine Libido -Verschiebung zwischen diesen beiden Funktionen denken,
dergestalt, daß das Erkennen einer „ sublim ierten" Beiß- und Verschlinglust
gleichzusetzen wäre.
Ein solcher Zusammenhang ist ja der analytischen Psychologie wohl
bekannt, — er besteht bei allen Menschen. 1 Unsere Aufgabe ist es, die
spezielle Natur dieses Zusammenhanges bei K. zu untersuchen.
Eine Stelle aus den Tagebüchern Kafkas vermag uns hier einen Fingerzeig
zu geben. Es heißt da:
„Beim Diktieren einer größeren Anzeige bleibe ich stecken . . . Endlich
habe ich das Wort „brandmarken" und den dazugehörigen Satz, halte aber
alles noch im Mund mit einem Ekel und Schamgefühl, wie wenn es rohes
Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre (solche Mühe hat es mich gekostet).
Endlich sage ich es, behalte aber den großen Schrecken, daß zu einer dich-
terischen Arbeit alles in mir bereit ist und eine solche Arbeit eine himmlische
Auflösung und ein wirkliches Lebendigwerden für mich wäre, während ich
1) Ein paar geläufige bildliche Ausdrücke
Denken gleich Beißen:
Eine harte Nuß iu knacken geben.
Sich an einer Aufgabe die Zähne ausbeißen.
Schärfe des Verstandes.
Messer der Logik.
Schneidende Dialektik.
Jemandem etwas vorkauen.
Sich auf etwas abkauen.
(aus dem reiterlichen Sprachgebrauch.)
der Volkssprache mögen als Belege dienen :
Erkennen gleich Verschlingen:
Ein Buch verschlingen.
An den Brüsten der Weisheit trinken.
Geistige Nahrung.
Erkenntni s qu eile .
Habt ihr's gefressen?
(militärisch: gleich: „habt ihr's ver-
standen?")
Etwas nicht verdauen können.
\
1
1
48 HeUmutk K a
hier im Büro um eines so elenden Aktenstückes willen einen solchen Glückes
fähigen Körper um ein Stück seines Fleisches berauben muß."
Wir müssen zunächst auf den Unterschied aufmerksam machen, der
zwischen der Situation des Verurteilten und der Situation Kafkas in jeuer
Tagebuchstelle besteht. Der Verurteilte soll einen ihm — wenn man so
sagen darf — vorgelegten Gedanken verstehen, Kafka soll einen Gedanken
produzieren. Man wird daher das, was sich aus der Betrachtung der Tage-
buchstelle ergibt, nicht ohne weiteres auf die Situation der „Strafkolonie"
übertragen dürfen.
In der Tagebuchstelle zeigt sich deutlich, daß für Kafka das Ausdenken
eines Gedankens und seine Formulierung Akte sind, die mit dem Beißen
zu tun haben, und zwar mit einem Zerbeißen des eigenen Körpers. Die
Vorstellung einer solchen Verwandtschaft zwischen dem „Erkennen" und
dem „Etwas-vom-eigenen-Körper-Lostrennen" ist nicht ganz so absurd, wie
sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Als das wesentliche Merkmal der
Erkenntnis, das sie beispielsweise von der bloßen Reizempfindung unter-
scheidet, betrachten wir ihr „Bezugnehmen" auf ein vom Ich verschiedenes
Etwas, den Gegenstand. Nehmen wir — was naheliegt — an, daß in der
Entwicklung des Kindes der Wahmehmungserkenntnis von Sehdingen die
Empfindung von Lichtreizen vorausgeht, so müssen wir den kritischen Punkt,
in dem „Erkenntnis" auftritt, an der Zeitstelle suchen, wo zuerst der Licht-
reiz, der bisher als Qualität schlechthin erlebt wurde und sozusagen ganz
in das Ich hineinfiel, nun teilweise als „Nicht-zum-Ich- Gehörig" gewertet
wird. Genau gesagt: Der Gegenstand — und natürlich auch das Ich —
entstehen durch einen Schnitt, der den bisher unterschiedslosen Stoff der
Empfindung in Objekt und Subjekt zerlegt. — I n ganz analoger Weise
bedeutet die gedankliche wie die künstlerische „Darstellung" des Erlebens
em Abtrennen gewisser Lebensinhalte vom Ich.
Nun zurück zu K.I In der Szene, die das Tagebuch beschreibt, sucht
er das Wort „brandmarken". Es ist verständlich, daß er es nicht leicht
findet. Denn dies Wort bezeichnet ja eine Körperverletzung, eine schimpf-
liche, entehrende, und er selbst ist gerade dabei, eine ebenso entehrende
und schimpfliche Körperverletzung an sich selbst zu vollziehen. Worin be-
steht hier das Schimpfliche? Dem K.schen Texte nach in dem Mißbrauch
des Produktionsprozesses für die „elenden" Zwecke der Büroarbeit. In
Wirklichkeit wird durch die Ausdrücke „Ekel" und „Schamgefühl" eine
andere Motivierung nähergelegt. Das Schamgefühl deutet auf eine der
bewußten Kritik mißliebige, also schimpfliche Entblößungslust, die eben
Frans Kafkas Inferno
49
wegen ihrer Zensur Widrigkeit nicht voll zum Durchbruch kommen kann.
Was K. zu zeigen wünscht, ist natürlich das, was er eine Weile scham-
haft zurückhält: das abgebissene rohe Stück Fleisch in seinem Munde.
Soweit ist die Situation verständlich. Wie aber kommt das Stück Fleisch
in seinen Mund, dieses Stück seines eigenen Körpers? Die uns bei K. schon
bekannte Beiß- und Verschlingungslust kann für sich allein noch nicht ver-
ständlich machen, warum es gerade der eigene Körper ist, gegen den sie
sich richtet. Wir nehmen daher an, daß diese oralen Strebungen hier in
den Dienst einer Selbstbetraf ungstendenz getreten sind. Das „Delikt" werden
wir in eben der Strebung zu suchen haben, die sich auch nach der Be-
strafung noch regt : in der Exhibitionslust. Wir haben bisher von dem männ-
lichen Exhibitionsdrang, den Penis zur Schau zu stellen, noch nie etwas bei
K. entdeckt, es zeigte sich vielmehr immer nur der weibliche, der auf die
Zurschaustellung des ganzen Körpers abzielt. (Varieteberuf des Affen, Ent-
blößung des Offiziers, Zuschauer bei der Hinrichtung.) Dieser männliche
Exhibitionismus ist offenbar bei K. besonders stark verdrängt worden, und
wir können uns vorstellen, daß er frühzeitig in der Phantasie durch die
Strafe der Selbstkastration verscheucht wurde. Er mag dann durch eine „Ver-
schiebung nach oben", wie bei vielen Kindern, im Herausstrecken der Zunge
wieder zum Vorschein gekommen sein. Und auch hier folgte ihm die Strafe,
nun unter Verwendung anderweit vorgebildeter oraler Strebungen, die das
Moment des Ekels hineinbringen : durch das Abbeißen der Zunge. In dieser
Strafe aber setzt das Verdrängte sich wieder durch: Die abgebissene Zunge
oder der Penis, wie wir auch sagen können, muß ja ausgespien und auf
diese Weise sichtbar gemacht werden, wodurch freilich auch die „Brand-
markung" K.s, nämlich seine Kastriertheit, sichtbar wird. Die Parallele zur
dichterischen Produktion ist nun deutlich zu sehen. Der dichterische Pro-
duktionsdrang entsteht ja auch durch eine Triebeinschränkung, nämlich durch
die Versagung, von der die ödipusstrebung getroffen wird. Dem Abschneiden
des Penis entspricht hier die Abstoßung, die Entpersönlichung, die Verobjekti-
vierung der ödipustriebe in einem Dichtwerk. Und wie dort das Ausspeien
des Fleischstückes einem exhibitionistischen Triebe zugute kam, so geschieht
etwas Ähnliches auch bei der Veröffentlichung der dichterischen Produktion,
mag dieser Lustgewinn auch nicht das einzige Motiv sein, das zur Veröffent-
lichung drängt. Unbeantwortet bleibt freilich die Frage, warum die dichte-
rische Arbeit eine „himmlische Auflösung" für Kafka wäre, während ihn
die Büroarbeit nur beraubt. Diese Frage ist keineswegs mit einem Hin-
weis auf den höheren Rang künstlerischer Produktion zu erledigen. Wir
Kaiser: Kafkas Inferno 4
"1
I
5o Hellmuth Kai
können sie aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht beantworten,
da uns das in den großen Romanen enthaltene Material hier fehlt. Wir
lassen sie also offen.
Wenn wir nun zu der Strafphantasie unserer Erzählung zurückkehren
so werden wir den Umstand, daß der Verurteilte den letzten Bissen aus-
speit, wieder in einem neuen Lichte sehen.
„Erst um die sechste Stunde verliert der Mann das Vergnügen am Essen.
Ich knie dann hier nieder und beobachte diese Erscheinung" (Strafkolonie, 28)
sagt der Offizier, und dieses Beobachten, dieses gespannte „Draufschauen"
auf seiner Seite setzt ein Zeigen wollen auf der anderen voraus. Denken
wir ferner daran, daß der Filzstumpf auch das Zerbeißen der Zunge
hindern sollte, gewissermaßen um durch Verhinderung der primitiven
körperlichen Aktion die Sublimierung der auf das Zungezerbeißen zielenden
Impulse zu Erkenntnisimpulsen zu erzwingen, so scheint die Situation des
Verurteilten in der Strafkolonie doch derjenigen K.s, die in der Tagebuch-
steile zum Ausdruck kommt, ähnlicher, als wir anfangs vermuten konnten.
Zusammengefaßt sagt das Verfahren, den Verurteilten das Urteil mit
seinen Wunden entziffern zu lassen, etwa aus: Erkenntnis ist eine Marter —
aber eine lustvolle, verklärende. Sie zerreißt uns, aber sie gewährt uns auch
„Gerechtigkeit".
Wir hatten schon einmal Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß das Wort
„Gerechtigkeit" hier eine andere Bedeutung hat, als die einer bürgerlichen
oder — wie wir auch sagen können — weltlichen Tugend, unter der das
Wort in der Ethik eine Rolle spielt. Dies wird aus der folgenden Stelle
vielleicht noch deutlicher:
„Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten
Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten
und schon vergehenden Gerechtigkeit!" (Strafkolonie, 38.)
Die Art, wie das Wort hier gebraucht wird, atmet nicht den Geist der
Jurisprudenz, sondern den der Theologie, sie erinnert lebhaft an die Sprache
der lutherischen Bibelübersetzung, wo es z. B. Rom. 3, Vers 28 heißt:
„So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes
Werke allein durch den Glauben."
Diese Einzelheit, der wir später noch eine ganze Menge ähnlicher an-
reihen werden, mag uns ahnen lassen, daß wir die in der K. sehen Phantasie-
bildung enthaltenen Sublimierungen nicht beschreiben können, ohne sie
als ein Analogon zu den religiösen Schöpfungen — insbesondere der jüdisch-
v-
Frans Kafkas Inferno
christlichen Religion zu betrachten; ja das Wort „Analogon" ist vielleicht
noch zu schwach, so daß wir geradezu von einer Nachschöpfung jüdisch-
christlicher Mythologien sprechen müssen.
Wenn wir bisher unsere Darstellung von jeder Andeutung dieser Be-
ziehungen freigehalten haben, so geschah es, um zu zeigen, daß die K.sche
Phantasiebildung weitgehend durch die primitive Trieb anläge K.s und deren
nächste Umwandlungen und Fortentwicklungen determiniert ist, so daß das
mythische Element nur wie eine Art Patina die schon geprägte Form des
Problemkomplexes überzieht, gewissermaßen durch eine weitere Behandlung
der Oberfläche aus dieser erwachsen.
Der alte Kommandant ist ein Gott, ein strenger, grausamer, aber auch
ein weiser und einsichtiger. Er schuf die Welt — die Welt der Strafkolonie,
die Hinrichtungsmaschine, die kunstvollen Zeichnungen der Urteilssprüche,
das Gesetz und die kultische Zeremonie, durch die es verherrlicht wird,
„Hat er denn alles in sich vereinigt? War er Soldat, Richter, Konstrukteur,
Chemiker, Zeichner?"
„, Jawohl', sagte der Offizier." (Strafkolonie, 15.)
Sein Grab und der Stein mit der Inschrift sind von einem Tisch bedeckt.
So sind auch heute die Steinbilder der Gottheit als Tische maskiert. Der
Altar, der „Tisch Gottes", ist ja eigentlich ein Opferstein und dieser ist
ursprünglich ein Steinbild des Gottes und letzten Endes der Gott selbst. 1
Der Mensch ist mit der Erbsünde behaftet:
„Die Schuld ist immer zweifellos." (Strafkolonie, 18.)
Diese Erbsünde besteht im Ungehorsam gegen Gott. „Ehre deinen Vor-
gesetzten" lautet ja das Urteil. Die Strafe besteht in dem durch die Folter
erzwungenen quäl- und lustrollen Erkennen des Urteils. Wir möchten an-
nehmen, daß hier eine Verdichtung stattgefunden hat, kraft derer die Strafe
das Verbrechen und seinen Lustgewinn in sich schließt; wir behaupten:
die Sünde besteht gerade im Erkennen - genau wie die Strafe. Dieses
sündhafte Erkennen finden wir ja auch in der Bibel in der Geschichte
vom Sündenfall. (Mose 1.) Dort erreicht Adam diese Erkenntnis, indem er,
dem Verbot Gottes zum Trotz, die Frucht vom Baum der Erkenntnis ver-
zehrt. Baum und Frucht stellen, wie Reik 2 gezeigt hat, den Penis Gottes
dar. Wir erinnern hier an den Apfelwurf in der Kaftasehen „Verwandlung",
wo auch der Apfel an die Stelle des väterlichen Penis getreten ist. Die
1) Vgl. Reik: Der eigene und der fremde Gott.
2) Reik: Religionspsychologie.
5* Hellmuth Ka
Sünde der „Erkenntnis" entspricht also der Sünde, Gott zu verschlingen.
Und diese Tat ist es denn auch, die der Verurteilte der Strafkolonie begeht
er droht ja, seinen Hauptmann zu fressen.
In der Bibel stellt die Schlange Eva in Aussicht, daß sie durch den
Genuß der Früchte gottähnlich würde:
„Da^sprach die Schlange zum Weibe: ihr werdet mit nichten des Todes
sterhen.
„Sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset, so werden eure
Augen aufgetan und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse
ist. [t, Mose, Kap. 3, 4. — g.)
Diese Aussicht gründet sich auf den Gedanken, daß man durch Ein-
verleibung eines Wesens dessen Eigenschaften und Kräfte erwirbt. In der
Strafphantasie K.s geht dieses „Gottähnlichwerden" zusammen mit dem
Erkennen in die Strafe ein: denn als ein solches Gottähnlich werden dürfen
wir wohl die Verklärung deuten, die auf dem Gesicht des Gemarterten
erscheint. Auch für den Umstand, daß Vers 5 zunächst von dem Aufgetan-
werden der Augen spricht, finden wir eine Parallele in der Kafkaschen
Erzählung:
„Wie still wird aber dann der Mann um die sechste Stunde! Verstand ceht
dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es." g
Was das Aufgetanwerden der Augen in der Bibel bedeutet, geht be-
kanntlich aus dem Vers 7 hervor, wo es heißt:
„Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie
nackt waren. (1. Mose, Kap. 5, Vers 7.)
Hier enthält die K.sche Phantasie insofern eine Modifikation, als die
durch oder mit dem Sündenfall erregte Schaulust im wesentlichen auf den
Offizier verschoben worden ist, wie ja überhaupt die Zerlegung des „Sohnes"
m die beiden Gestalten, die des Verurteilten und die des Offiziers, in dem
Sündenfall der Genesis nicht vorkommt.
Die von Gott angedrohte Todesstrafe:
--denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben*
(1. Mose, Kap. 2, Vers 17),
die in der Genesis nicht sofort vollstreckt wird, tritt in der Kafkaschen
Dichtung wirklich ein — aber, genau besehen, auch bei Kafka nicht sofort,
sondern erst nachdem die tragende Rolle von dem kindlich-primitiven Ver-
urteilten an den Offizier übergegangen ist. Es ist ja nicht der Verurteilte,
der des Todes stirbt, sondern der Offizier. Auch er muß, wie Adam, zuvor
das „Paradies", das heißt die Ideenwelt seines Hinrichtungskultes verlassen.
Kafkas Inferno 53
Von dem Moment an, wo der Reisende ihm sein leises „Nein" entgegen-
gesetzt hat, ist von einer „Verklärung", einem Gottähnlichwerden nicht mehr
die Rede. Jetzt geht es nur noch um den irdisch-menschlichen Tod. Das
die Gottähnlichkeit gewährende Lustinstrument löst sich auf und wird zu
Kot, wie es aus Kot gemacht war.
„Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis daß du
wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und
sollst zu Erde werden." (1. Mose, Kap. 5, Vers 19.)
Wir glauben, daß man sich dem Eindruck des Parallelismus zwischen
jenem ersten Sundenfall der Bibel, jener Auflehnung Adams gegen Gott,
und den Ereignissen in der Kafkaschen „Strafkolonie" nicht wird entziehen
können. Aber auch ein zweiter „SÜndenfall", eine zweite revolutionäre
Wendung der jüdischen Religion spiegelt sich in der Kafkaschen Dichtung:
die Tat Christi. Auch sie bedeutet ja eine Erhebung des Gottessohnes gegen
Gott-Vater mit dem Ziel, an Gottes Stelle zu treten — selber Gott zu
werden. 1 Hier ist es wesentlich die Bestrafung, der Kreuzestod Christi, der
in der Marter des Verurteilten dargestellt wird. Hier wie dort wird der
nackte, von vielen kleinen Wunden zerrissene Leib — man denke etwa
an die' Darstellung des Isenheimer Altars — vor einer Zuschauermenge in
langen Stunden zu Tode gequält. Der tödlichen Beschriftung bei Kafka ent-
spricht die Überschrift: „Jesus von Nazareth, der Juden König" (Job. XIX, 19),
die Pilatus aufs Kreuz setzen ließ und die ebenfalls auf das Vergehen man-
gelnder Ehrfurcht vor der Obrigkeit hindeutet.
Die Tränkung Christi mit dem Essig erinnert an den Reisbrei, den der
Verurteilte bei Kafka bekommt. Eine weitere Übereinstimmung liegt darin,
daß auch beim Tode Christi „um die sechste Stunde" eine Wendung eintritt:
Luk. 23, Vers 44 heißt es:
„Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das
ganze Land bis an die neunte Stunde. Und die Sonne verlor ihren Schein, und
der Vorhang des Tempels zerriß mitten entzwei.
Und Jesus rief laut und sprach: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine
Hände, und als er das gesagt hatte, verschied er.
Dieser, wie der Schilderung der anderen Evangelien, darf man entnehmen,
daß der eigentliche Todeskampf Christi mit der sechsten Stunde beginnt,
derselben Stunde (freilich nicht des Tages, sondern der Marterung), in der der
Verurteilte anfängt, die Schrift des Urteils zu entziffern.
$4 Hellmuth K.
Die Ergriffenheit der Zuschauer bei Kafka ist mehr als bloße Anteil-
nahme an dem Sterben eines Verbrechers:
„Und nun begann die Exekution! Kein Mißton störte die Arbeit der Maschine.
Manche sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen mit geschlossenen Augen
im Sand; alle wußten: ,Jetzt geschieht Gerechtigkeit/ . . . Nun — und dann kam
die. sechste Stunde! Es war unmöglich, allen die Bitte, aus der Nahe zuschauen
zu dürfen, zu gewähren. Der Kommandant in seiner Einsicht ordnete an, daß
vor allem die Kinder berücksichtigt werden sollten ..." (Strafkolonie, 37)
und weiter:
«... Wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten
und schon vergehenden Gerechtigkeit . . ." (Strafkolonie, 38.)
Die Hinrichtung ist für die Zuschauer offenbar ein Gottesdienst, ein Akt,
der sie alle angeht, an dem sie alle innerlich aufs stärkste beteiligt sind!
Die Gründe hiefür sind voraussichtlich die gleichen, die die Feier des
Kreuzestodes Christi und seiner Auferstehung zu einer gemeinsamen Sache
aller Gläubigen machen. Der Tod Christi bedeutet die Ablösung der mensch-
liehen Schuld gegen Gott.
Die aufgeführten Übereinstimmungen zwischen der Kafkaschen Dichtung
und dem jüdisch-christlichen Mythus verdienen zweifellos auch an sich ein
gewisses Interesse. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen sie aber nur ein
Mittel sein, den Leser auf das Anerkenntnis des religiösen Gehalts der Kafka-
schen Erzählung vorzubereiten. An und für sich ist es natürlich möglich
daß eine Dichtung, die sich in Inhalt und Form weitgehend einer historisch
gegebenen, religiösen Schöpfung anpaßt, dennoch ihrerseits keinen Hauch
religiösen Gefühls enthält, wie es umgekehrt auch möglich wäre, daß eine
Ausdrucksform religiösen Erlebens mit keiner der bisher vorhandenen eine
wesentliche Verwandtschaft aufwiese. Für die Beurteilung der Kattaschen
Dichtung ist natürlich vor allem die erste dieser beiden Möglichkeiten von
Bedeutung, also die, daß die gefundenen Übereinstimmungen mehr äußer-
licher Natur sein könnten. Wir glauben, daß gegen diese Möglichkeit schon
allem der Umstand spricht, daß die in Betracht gezogenen Übereinstimmungen
zum Teil gar nicht leicht in die Augen fallen, und daß sie sogar oft auf
recht mühsame Weise zur Evidenz gebracht werden mußten. Insbesondere
scheint dadurch eine absichtliche Anlehnung an die biblischen Formen,
wie sie sonst als ein Kunstmittel des Sarkasmus, der Ironie oder des Witzes
in Frage käme, ausgeschlossen zu sein.
Auch von einem unbewußten ^Nachwirken" oder „Im-Gedächtnis-hängen-
Bleiben" der biblischen Szenen kann bei Kafka nicht gut die Rede sein.
w~
Frans KafUs Inferno ^
Zwar mag etwa der Ausdruck: „, . . um die sechste Stunde als eine so che
Bibelreminiszenz aufgefaßt werden, da er bei Kafka in dem gleichen Wort-
laut auftritt wie in dem Evangelium. Dagegen läuft die Parallele zwischen
dem sündigen Apfelbiß Adams und dem „Wirf die Peitsche weg, oder ich
fresse dich" des Verurteilten soweit abseits anschaulicher Ähnlichkeit, daU
wir wohl mit voller Sicherheit sagen dürfen: Hier ist nicht die biblische
Form für einen anderen Inhalt übernommen worden, sondern die Gleich-
heit der Inhalte hat zu Darstellungsformen geführt, die zwar anschaulich
sehr verschieden sind, aber, jede in ihrem Zusammenhang gedeutet, auf
den gleichen seelischen Gehalt zurückweisen.
Natürlich kann die Frage, ob die Kafkasche Schöpfung wirklich reli-
eiösen Gehalt besitzt, in letzter Instanz nur gefühlsmäßig entschieden werden.
Den zweifelnden Leser müssen wir daher auf die Lektüre der Dichtung
selbst verweisen. Aber einiges läßt sich vielleicht doch durch Erläuterungen
zur Verstärkung des Echtheitseindruckes beitragen, und wir wollen »m
folgenden ein paar solche Hinweise geben.
Ein Charakteristikum der religiösen Kulte ist ihre Unabhängigkeit von
irdischen Zwecken. Dieses Merkmal finden wir auch in dem Strafkult der
Kafkaschen Erzählung. Das Ziel des ganzen Aufwandes tat, dem Verur-
teilten zur „Einsicht" zu verhelfen, ihn das Urteil lesen und verstehen
zu lassen, bis die wachsende Erkenntnis ihn verklärt. Wenn diese Absicht
auch an den human-vernünftigen und heute besonders gern diskutierten
„Besserungszweck" der Strafe denken läßt, so hat sie doch im Grunde nichts
mit ihm gemein. Denn dem „humanen« Standpunkt erscheint eine Todes-
strafe mit Besserungszweck als ein vollendeter Widersinn, weshalb auch die
leitliche Institution unserer Justiz auf jede moralische Bearbeitung zum
Tode verurteilter Verbrecher verzichtet. Im Gegensatz dazu lassen es sich
die Vertreter der Kirchen angelegen sein, den „armen Sunder nicht nur
zu trösten, sondern auch in eine religiös angemessene, bußfertige Seelen-
verfassung zu bringen, gerade im Hinblick auf seinen «^Sl
Das, was in der „Strafkolonie" mit dem Verurteilten ge schient entspricht
durchaus den kirchUchen Bemühungen um den *^^™^
Erkenntnis und Erlösung sollen ihm zuteil werden, nicht damit er danach
Jüricnnrow s sondern weil Erkenntnis und Erlösung
ein sittlich besseres Leben führe, sondern
an sich wichtig sind und sogar den Preis des Lebens aufwiegen.
Wir hatten schon an früherer Stelle darauf hingewiesen daß die „Ge-
rechtigkeit« der Strafphantasie etwas anderes ist als die so benannte zivile
Tugend. Bürgerlich-weltliche Gerechtigkeit wägt die Taten und bestimmt
56 Hellmuth Kaüer
danach das Urteil. Aber bei dem Verfahren des Offiziers ist die Schuld
„immer zweifellos". Das bedeutet, daß sie von den besonderen Taten des
einzelnen Verbrechers unabhängig ist, daß sie eine „tragische", eine Schick-
sals-Schuld ist. Der Begriff - oder besser - das psychische Phänomen
der Schicksals-Schuld, der Erbsünde, wie wir auch sagen können, ist aber
das notwendige Gegenstück zu der religiösen Lehre von der Erlösung
Wahrend für eine rationale Betrachtung die Unvermeidlichkeit einer Schuld
ihren Schuldcharakter aufheben würde, dient gerade diese Vereinigung der
Widerspruche (notwendige Schuld) dem Religiösen zur Wiedergabe eines
charakteristischen Erlebnisses, nämlich zur Darstellung unserer moralischen
Ohnmacht vor Gott.
Wie die Erlösungsbedürftigkeit ein Zustand ist, der unabhängig v on der
Moralitat des Menschen ihm schicksalsmäßig zukommt, so isf auch die
Befreiung von diesem Zustand, das heißt also die Erlösung, weitgehend un-
abhängig von dem individuellen moralischen -Verhalten und Leiden. Dadurch
wird es möglich, daß die Erlösung eines Menschen nicht durch ihn selbst
sondern durch einen anderen, einen Stellvertreter oder einen Mittler be-
werkstelligt wird. Diese spezifisch religiöse Bedeutung der Mittlerschaft
oder, von der andern Seite aus gesehen, der Anteilnahme, findet sich auch
» der „Strafkolonie . Die Zuschauer der Hinrichtung sind nicht nur Zu-
schauer, so wenig wie die Gemeinde einen Gottesdienst nur anschaut oder
anhört. Wenn es dort heißt:
„nd"^ hi6lten i wir j alle ™ se 'e Wangen in den Schein dieser endlich erreichten
und schon vergehenden Gerechtigkeit" (Strafkolonie, 3 8),
so deutet diese Schilderung etwas durchaus anderes an als ein Kenntnis-
nehmen, wie es durch die Augen oder Ohren vermittelt würde. Hält man
die Wangen in den Schein der Sonne, so will raan die Sonne nicht bloß
-hen, mcht bloß ihr Vorhandeilseill feststeHen) sondem man wüi . hre
Wirkung spuren, man will durch sie verändert (etwa gewärmt oder gebräunt)
werden. Die Teilnahme an dem Hinrichtungsakte bedeutet also für die Zu-
schauer auch so etwas wie eine Läuterung, eine Erlösung.
Dieser Eindruck, daß die geheimnisvoll erlösende Wirkung des Straf-
aktes, ganz ohne Vermittlung rationaler Prozesse, auf die Teilnehmer über-
greift, wird noch verstärkt, wenn wir daran denken, daß man auch Kinder
denen man ein intellektuelles Verständnis der Vorgänge ja nicht zutrauen
darf, zu diesem Akte zulaßt:
„Und der Kommandant in seiner Einsicht ordnete an, daß vor allem die
Kinder berücksichtigt werden sollten." (Strafkolonie, 37.)
Kafkas Inferno ^7
Sollte sich der Leser — sei es unmittelbar durch Lektüre der Kafka-
schen Erzählung, sei es erst mit Hilfe unserer Anmerkungen — davon über-
zeugt haben, daß es sich bei dem „Strafkult" wirklich um einen Kult im
religiösen Sinne handelt, so wird sich ihm eine Reihe von Fragen aufdrängen,
deren wichtigste wir hier sogleich behandeln wollen.
Wir haben uns in der vorliegenden Arbeit bemüht, ein und dasselbe
Phänomen, nämlich die Hinrichtungszeremonie, in einer doppelten Weise
zu behandeln. Einmal deuteten wir sie als das Abbild eines ziemlich
komplexen Systems von Triebregungen, wie sie sich um das infantile Er-
lebnis der Ödipussituation herumgruppieren, das zweite Mal versuchten wir,
sie in die Erscheinungen des religiösen Lebens einzureihen. Die Verbindung
zwischen diesen Betrachtungsweisen stellten wir bisher lediglich durch einen
bildlichen Ausdruck her, indem wir sagten, daß der religiöse Charakter
das System primitiver Triebe wie eine Patina überziehe, die sozusagen durch
eine Art weiterer Oberflächenbehandlung aus jenem erwachsen sei. Für
ein Verständnis dieser zwar anschaulichen, aber vom Psychologischen ab-
führenden Darstellung, steuerten wir dann noch gelegentlich aus dem Vor-
rat der analytischen Terminologie den Ausdruck „SublimieTung" bei, ohne
damit die Klarheit unserer Ausführungen wesentlich zu fördern.
Es scheint, daß wir hier vor die folgende Alternative gestellt sind: Ent-
weder ist die religiöse Nomenklatur, deren wir uns bedient haben, eben
nur eine Nomenklatur und wir müßten, um Klarheit zu schaffen, statt
„Gott" — „Vater-Imago", statt „Erbsünde" — „unbewußtes Schuldgefühl",
statt „Verklärung" — „Orgasmus", statt „Erlösung" — „Befriedigung des
Strafbedürfnisses" und „Ablösung des Schuldgefühls" und, zusammengefaßt,
statt „Religion" — „Zwangsneurose" sagen — oder wir müssen uns herbei-
lassen, ausdrücklich zu erklären, was es bedeutet, wenn wir sagen, das religiöse
Erleben entwickele sich aus einer bestimmten Libidoorganisation und sei
ihr Sublimierungsprodukt.
Zunächst erkennen wir leicht, daß beide Glieder der Alternative auf ein
und dieselbe Schwierigkeit stoßen: Diese gemeinsame Schwierigkeit besteht
in der Tatsache, daß — um ein Beispiel herauszugreifen — das Erleben von
Lust ein wertindifferenter Vorgang ist, während es im Begriffe der „Ver-
klärung" liegt, daß in ihrem Zustandekommen ein Wert realisiert wird.
Wenn wir dies etwas weniger nüchtern ausdrücken, so heißt es, daß die
Gestaltung unserer Triebe — ob sie nun verdrängt sind oder nicht — eine
triviale, prosaische und profane Sache ist, während wir dem religiösen
Erlebnis, auch wenn wir es nicht teilen, mit Respekt, Achtung und Be-
'
58 Hellmuth Ka
■
wunderung gegenüberstehen, als einer Erscheinung, die auf jeden Fall an
das Erhabene rührt. Sind nun, wie es mit dem obigen gesagt ist, Trieb
und religiöses Gefühl wesensverschiedene Dinge, so ist es unzulässig, sie
mit dem gleichen Namen zu nennen (was dem ersten Glied unserer Alternative
entspricht), und es ist unfruchtbar, das Triebleben als den Keim des religiösen
Lebens zu betrachten, da das, was für dieses wesentlich ist, in jenem fehlt
und wir weiter fragen müßten, wo denn das für die Religion Wesentliche
nun herstammt.
Wir behaupten, daß das Dilemma, in dem wir uns befinden, wirklich ganz
unauflöslich wäre, wenn sich in unsere Überlegungen nicht ein Fehlschluß
eingeschlichen hätte, dessen trügerische Scheinwahrheit man nur zu zerstören
braucht, um die Schwierigkeiten schwinden zu sehen.
Um dies klar zu machen, müssen wir zunächst einmal unseren Sprach-
gebrauch etwas berichtigen. Das Wort „Trieb" bezeichnet ja nicht einen
unmittelbar aus der Wahrnehmung gewonnen, sondern einen durch Ab-
straktion geschaffenen Begriff, Wir verstehen darunter eine in bestimmter
Weise gerichtete seelische Kraft. Der Begriff des Triebes ist genau so eine
Hilfskonstruktion wie in der Physik der Begriff der Schwerkraft. Wie diese
kann auch der Trieb nicht unmittelbar beobachtet werden. Wohl aber gibt
es unter Umständen in unserem Bewußtsein etwas, was dem Triebe ent-
spricht, — eine Triebrepräsentanz, — die uns ihrerseits anschaulich ge-
geben ist. So ist das bewußt erlebte Hungergefühl die Triebrepräsentanz
des Ernahrungstriebes. Triebrepräsentanz und Trieb sind demnach ver-
schiedene Dinge und stehen in demselben Verhältnis zueinander wie der
Ton, den wir hören, und die Wellenbewegung der Luft oder unseres Trommel-
fells, die diesem Ton entspricht. Zwischen der anschaulichen Qualität des
Tones und dem gedachten physikalischen Sachverhalt, den wir mit dem
Wort „Schallwelle" bezeichnen, bestehen gewisse Relationen, deren Er-
forschung (nebenbei bemerkt) für uns den Sinn hat, daß wir zum Beispiel
bei dem Bau eines Musikinstruments gewisse Wirkungen vorausberechnen
können. Unser ästhetisches Urteil aber trifft nur das anschauliche Erlebnis
und nicht das physikalische Korrelat, so daß es sinnvoll ist, von einem
schönen Ton, aber ungereimt, von einer schönen Schallwelle zu reden.
Kehren wir nun wieder zu dem Verhältnis: Trieb zu Gefühlserlebnis
des Triebes zurück, so finden wir, daß auch hier das anschauliche
Phänomen des Gefühls allein der Träger eines eventuellen Wertes ist.
Die Ehrfurcht, die wir etwa einer starken, leidenschaftlichen Liebe ent-
gegenbringen, meint das Gefühl, in dem diese Liebe erlebt wird, nicht
_J
Frau; Kafkas Inlerim
die zugrunde liegende Libidoorganisation. Aber wie bei unserem physikali-
schen Beispiel bestehen zwischen der Libidoorganisation und dem Gefühl,
in dem sie dem Träger zum Bewußtsein kommt, Belationen, deren Kenntnis
uns unter Umständen befähigen kann, den Verlauf der Gefühlserlebnisse
vorauszusagen oder ihn zu beeinflussen.
Wir sehen hieraus, wie wir uns zu jener oben erwähnten Alternative
zu stellen haben. Eine Gleichsetzung des Triebes mit dem Gefühlserlebnis
des Triebes müssen wir ablehnen. Wir müssen auch zugestehen, daß das
religiöse Erlebnis ein Moment enthält, — und zwar ein wesentliches, — das
in der Libidoorganisation, die dem religiösen Erleben zugrunde liegt, nicht
enthalten ist. Aber wir sehen jetzt, daß dieser Sachverhalt keineswegs für
das Religiöse charakteristisch ist, sondern für jedes Erleben überhaupt gilt.
Es erübrigt somit nur, daß wir zu der Frage Stellung nehmen, welchen
Sinn es hat, dem religiösen Erleben (wie übrigens jedem anderen auch)
eine Trieborganisation als seine Grundlage gegenüberzustellen. Nun, darauf
können wir jetzt reicht die Antwort geben. Das religiöse Erlebnis Kafkas
wurde uns ja überhaupt erst dadurch zugänglich, daß es sich nicht in
einem bloßen Gefühl erschöpft, sondern in Form eines Kultes — der Hin-
richtungszeremonie — leibliche Gestalt angenommen hat. Überhaupt ver-
mag ein Gefühl niemals in reiner Gefühlsform in unserem Bewußtsein zu
bestehen. Immer drängt es nach einer Art Inkarnation in Form von Hand-
lungen, Gedanken, von Urteilen, von Phantasien, Visionen und Träumen.
Diese Inkarnationen aber sind es eigentlich, die durch die psychologische
Theorie zu einer bestimmten Libidoorganisation in Beziehung gesetzt und
dadurch „verständlich" gemacht werden. So verstehen wir beispielsweise
die Bezeichnung „Gott -Vater", die der Fromme anwendet, aus der Ab-
stammung der religiösen Triebe von den Relikten des Ödipuskomplexes.
So verstehen wir, daß die Verklärung des Verurteilten während der
Marterung eintritt, aus der sadistischen Komponente, die der der Kafkaschen
Kultphantasie zugrunde liegenden Libidoorganisation eingefügt ist. Wir
wiederholen; die Erklärungsmöglichkeit — aber auch die Erklärungs-
bedürftigkeit — besteht allein für die Erscheinungen, Handlungen, Ge-
danken oder Phantasien, in denen Gefühlserlebnisse sich äußern — mit
den Gefühlen selbst hat es eine andere Bewandtnis — und zwar eine merk-
würdige. Wir wollen uns einmal die Frage vorlegen, was von einem Ge-
fühl, sagen wir von einem Liebesgefühl, übrig bleibt, wenn wir von allen
Äußerungsformen abstrahieren. Wir denken uns also bei einem Liebenden
alle Gedanken ausgelöscht, die sich mit dem geliebten Objekt beschäftigen,
6 ° Hellmuth K*
alle Phantasiebilder, die das Objekt zum Gegenstand haben, alle Wünsche,
die eine geistige oder seelische oder körperliche Vereinigung erstreben, alle
Handlungen, die diese Wünsche auf irgendeine Weise befriedigen sollen sc
behalten wir nicht etwa nichts übrig - keineswegs. Bestehen bleibt 'die
Intensität des Gefühls, seine Innigkeit, seine Stärke, vielleicht auch der
Grad, in dem es die Seele des Liebenden erfüllt.
Aber das merkwürdige, im Grunde freilich nicht so merkwürdige
Resultat dieses etwas anstrengenden Gedankenexperiments ist die Einsicht
daß wir dieses Gefühl kaum noch von einem anderen Gefühl etwa'
dem, das ein gewaltiges Inspirationserlebnis begleitet, zu unterscheiden ver~
mögen. Wir können vielleicht noch wahrnehmen, ob es spannend oder
losend ist, druckend oder weitend, stetig oder flackernd und dergleichen
formale Qualitäten mehr. Aber gerade sein Charakter als Liebesgefühl oder
als rehgiöses Erlebnis, als Eunsterleben oder Herrschergefühl geht verloren
Diese Charaktere werden erst an den Äußerungen, an den Inkarnationen
des Gefühles kenntlich,
vl . Wem ! T ir / 1S ° SagtCn ' daß eiDe Märungsmöglichkeit und eine Er-
klarungsbedurftigkeit wesentlich für die Äußerungen der Gefühlserlebnisse
m Betracht kamen, so hat dies den trivialen Grund, daß nur diese eine
Man nigfalt k t aufweisen) deren Zuordnung zu e . ner anderen
ialtigkeit eben die Aufgabe wissenschaftlicher Erklärung darstellt. Das Gefühl
selbst eme Abspaltung, die natürlich nur begrifflich möglich ist, psycho-
logxsch ist das Gefühl von seinen Äußerungen nicht zu trennen - ist
bis auf jene wenigen, wie wir sagten, „formalen« Bestimmungen immer
das gliche. Erstaunlicherweise ist gerade dieses „immer gleiche" Gefühl
der Gegenstand unserer Ehrfurcht. Wenn ein Liebender stets die gleichen
Worte wiederholt, wenn er stammelt oder gar schlechte Gedichte macht
so erscheint seine Leidenschaft dadurch um nichts weniger respektabel. Die'
einfaltigen Gebetsformeln eines Ungebildeten setzen unsere Achtung vor
seiner Frömmigkeit so wenig herab, wie wir die Frömmigkeit eines Mannes
der sie in wertvollen Kunstwerken ausdrücken kann, deswegen höher ein-
schätzen. Wir werten allerdings auch die Äußerungen, die Objektivie-
rungen des Gefühls: die Handlungen nach ethischen, die Kunstwerke nach
ästhetischen Gesichtspunkten, die wissenschaftlichen Schöpfungen nach ihrem
Wahrheitsgehalt. Aber diese Wertungen sind nicht abhängig von unserer
Schätzung des Gefühls, dem die Dinge, auf die sie sich beziehen, ihr Dasein
verdanken. Denn, wie wir schon sagten, das Gefühl ist immer das gleiche,
es variiert nur in hezug auf seine Intensität. Und dem entspricht auch der
^M.
Frans Kafkas Inferno
Wertmaßstab, nach dem wir es einschätzen. Je intensiver es ist, um so
mehr Respekt bringen wir ihm entgegen. Die deutsche Sprache besitzt einen
Ausdruck, der dieses Wertmoment des Gefühlserlebnisses prägnant bezeichnet,
und der erkennen läßt, daß es keinem anderen Ding in der Welt, keinem Er-
zeugnis, keiner Leistung, keiner Gestalt, keinem Wesen um seiner selbst willen
zugesprochen werden kann als allein dem Gefühl: Es ist das Wort „Tiefe".
Wer in unserem Bemühen, Phänomene, die wir als Äußerungen des
religiösen Gefühls erkannten, zu elementaren psychischen Gebilden in Be-
ziehung zu setzen, wer, sagten wir, in diesem unseren Bemühen die Würdigung
„der Tiefe" vermißt, die dem Religiösen zukommt, der verkennt, daß ein
Kult so wenig Tiefe besitzt wie ein Liebesbrief, ein Dogma so wenig wie
eine wissenschaftliche Theorie, ein Kunstwerk so wenig wie eine körperliche
Zärtlichkeit — der Kult mag Beziehungsreich sein, der Liebesbrief ausdrucks-
voll, das Dogma scharfsinnig, die Theorie wahr, das Kunstwerk schön oder
ergreifend, die Zärtlichkeit reich, — die Bedeutung, die ihnen zukommt,
ist immer nur eine mittelbare, die sich ableitet aus der Stärke des Erlebnisses,
das sie hervorrief, und der Stärke dessen, das durch sie erweckt wurde.
Kehren wir zu unserer psychologischen Erörterung zurück. Da müssen
wir uns nun einmal die Frage vorlegen, welche Bedeutung die Strafphantasie
oder vielmehr ihre dichterische Gestaltung und die ihres Zerfalles für K.
gehabt haben mag. Zur Beantwortung dieser Fragen werden wir uns noch
einmal dem Ende der Erzählung zuwenden:
Die Art, in der der Hinrichtungskult in der Kafkaschen Erzählung zerfällt,
erinnert durchaus an die Erschütterungen, die die christlich-jüdischen Reli-
gionen Europas in den letzten hundert Jahren erfahren haben. Der erste
Stoß gegen das „alte System" geschieht durch die Einsetzung des neuen
Kommandanten, nach unserer Deutung durch die Anerkenntnis des neuen
Vaterbildes, wie es die tägliche Erfahrung in einem spateren Abschnitt der
Kindheit der alten, aus der Frühzeit stammenden, unheimlich-allgewaltigen
Vater-Imago gegenüberstellte. Dieser Vergleich zwischen dem alten und dem
neuen Vaterbilde entspricht dem Wirken der aufblühenden Naturwissenschaft, die
dem religiös orientierten Weltbilde ihr auf Tatsachenerkenntnis gegründetes
entgegenhielt. Erst nachdem so die Glaubwürdigkeit der religiösen Lehren
in bezug auf theoretische Fragen erschüttert war, konnte eine ethisch-
wertende Kritik die praktische Geltung der Religionen angreifen, und dieser
Erscheinung entspricht in der „Strafkolonie" das Auftreten des Reisenden,
der erst erscheint, wenn schon ein gewisser Verfall des Hinrichtungsver-
fahrens eingetreten ist, um sein endgültig verdammendes Urteil zu sprechen.
Hellmuth Ka
Was geschieht nun weiter mit der obsiegenden Partei? Am Ausgang
der Erzählung, nach dem Tode des Offiziers, steht der Reisende allein im
Mittelpunkte der Aufmerksamkeit. Wir können annehmen, daß er jetzt der
Vertreter des K. sehen „Ich" ist. Er stattet dem Grab des alten Kommandanten
einen Besuch ab, einen respektvollen Besuch, wie man sagen muß; so
heißt es denn auch von ihm: „. . . er fühlte die Macht der früheren Zeiten."
(Strafkolonie, 66.) Das siegreiche „Ich" ist weit davon entfernt zu triumphieren.
Es fühlt, daß es zwar die Ausübung des grausamen Kultes durch die Klarheit
seines sittlichen Urteils zu hemmen vermochte, daß aber die Machte, die
hinter diesem Kult standen, noch ungebrochen sind und auch in dem
Schattendasein des Todes noch imponieren. Auf dieser Stätte, wo die Prophe-
zeiung von der Wiederkehr des alten Kommandanten unsichtbar die Luft erfüllt,
vermag es nicht zu wirken. Die Abreise des „Reisenden" gestaltet sich zur
Flucht. Der Soldat und der Verurteilte, denen der Reisende sich entzieht,
die er nicht mitnehmen will, sind sozusagen die Relikte der Hinrichtungs-
zeremonie. Sie sind die Repräsentanten der primitiven Partialtriebe, die
nach der Zersplitterung jener kunstvollen Libidoorganisation übrigbleiben
und beim „Ich" um Befriedigung nachsuchen. Aber das „Ich" ist nicht
imstande, sie sich einzugliedern, sie neu zu organisieren. Der ganze seelische
Bezirk, der von dem Strafkult eingenommen wird, ist dem „Ich" verleidet
dort ist nur „geringes, gedemütigtes Volk".
Der Reisende begibt sich nach dem Hafen und besteigt ein Boot, um
sich zum Dampfer bringen zu lassen, indem er den Soldaten und den Ver-
urteilten zurückscheucht. Es scheint, daß sich in diesem Gang zum Hafen,
zum Meere also, ein Verzicht ausdrückt, ein sehr weitgehender, — wohl
ein Verzicht auf das Leben überhaupt. — Wenn die Vernunft das Wahn-
system einer religiösen Form zerschlagen hat, so kann es oft geschehen,
daß sie die Triebenergien, die darin untergebracht waren, auf keine Weise
einer Ich-gerechten Verwendung zuzuführen vermag. Dann kann es sein,
daß dem „Ich" keine genügenden libidinösen Kräfte mehr zur Verfügung
stehen, um sich an die Realität zu halten, während auf der anderen Seite
die aus dem Paradies religiöser Visionen vertriebenen Strebungen des Ödipus-
komplexes regredieren und dem „Ich" unmittelbar gefährlich werden. 1
Immerhin steht, mag die Abfahrt des Reisenden vielleicht auch die Bedeutung
1) In der Erzählung „Das Urteil", die ähnlich wie die „Verwandlung" die Straf-
phase des Ödipuskonfliktes darstellt, verurteilt am Schluß der Vater den Sohn zum
Tode des Ertrinkens, den der Sohn willig an sich seihst vollstreckt.
.
Frans Kafkas Inferno 65
des Sterbens haben, der Tod hier nicht so sehr im Vordergrund wie in anderen
Kafkaschen Dichtungen.
Daß dieser psychische Ablauf in einer Dichtung Gestalt gewann, muß
wohl in erster Linie auf die Energie der in die Strafphantasie verwobenen
Strebungen zurückgeführt werden, die nach einer Auswirkung in der Reali-
tät hindrängten. Der Gegendruck der kritischen Instanzen prägte dann im
Lauf einer wahrscheinlich langen Entwicklung den zum „Ich" hinflutenden
Triebmassen die kunstvolle Form auf, in der sie in der Dichtung ans
Tageslicht getreten sind. Dies ist natürlich nur ein allgemeines Schema. Von
den einzelnen Stadien der Entwicklung wissen wir nichts. Ob zum Beispiel
irgend etwas von der Gestaltung des Straf kultes vorübergehend etwa in
Tagträumereien ins Bewußtsein getreten war, was möglich erscheint, könnte
nur durch ein zufälliges Auftauchen biographischen Materials entschieden
werden. Jedenfalls können wir annehmen, daß zur Zeit, in der die Dich-
tung entstand, der „Kult" nur als ein verfallender, überwundener bewußt-
seinsfähig war, und daß der Kampf zwischen der religiösen Form und der
kritischen Vernunft wohl nur in seiner allerletzten Phase, nämlich dem
Siege der Kritik, dem bewußten Erleben Kafkas angehörte.
Ein Stück der Bedeutung, die die Dichtung für Kafka hatte, bestand
also in der Entladung der sonst von jeder Abfuhr in die Realitätsgestaltung
abgeschnittenen Libido, die dem Ödipuskomplex zugehört. Dieser Erfolg
wurde möglich einmal durch die Sublimierungen, die sich der Trieb-
komplex hatte gefallen lassen müssen, zweitens aber durch die Niederlage,
die er innerhalb der Erzählung erleidet und die ihm die Sympathie des
Dichters wie des Lesers sichert. Denn mit dem, was unser Gewissen ver-
wirft, können wir nur dann sympathisieren, wenn es als ein Überwun-
denes, Gebrochenes erscheint.
Wir glauben aber, daß die Kafkaschen Dichtungen für Kafka noch
einen weiteren Sinn hatten. Während jene erste „ ökonomische" Aufgabe
der Dichtung, die Triebentspannung, mehr das seit langem Verdrängte und
mehr das „Es" angeht, hängt dieser zweite Sinn mehr mit der jeweilig
aktuellen Lage des Dichters zusammen und betrifft mehr das bewußte „Ich".
Wir meinen nämlich, daß die Dichtungen nicht nur in ökonomischem
Sinn Handlungen vertreten, sondern geradezu dem praktischen Handeln
dienen. Sie sind wie Gedankenexperimente, die durch das Kennzeichen des
künstlerischen Gelingens (worin ja die wenigstens ästhetische Zustimmung
des Publikums notwendig enthalten ist) zeigen sollen, daß eine gewisse Art
des Sich Verhaltens, eine gewisse Form, die Probleme des Lebens zu lösen,
64 Hellmutk K«
einwandfrei, erträglich, möglich ist. Das „Einen- Ausweg-Suchen", wie es
im „Bericht für eine Akademie" vorkommt, ist eine typische Tendenz
nicht nur der Gestalten in den Kafkaschen Dichtungen, sondern der Kafka-
schen Dichtungen selber, vielleicht der Dichtungen überhaupt.
Die versuchsweise in der Phantasie vorgestellte Form des Lebens oder
der Lebensbetrachtung schöpft immer aus der Vergangenheit. Sie ist so-
zusagen aus dem Material kindlicher Erlebnisse gezimmert. Die erforder-
liche Energie liefert eine wirksam gebliebene verdrängte Triebmasse, die
durch ein aktuelles Geschehen mobilisiert ist. Die aktuelle Lage des Dich-
ters ist für die Art der Verwendung des alten Materials bestimmend. „Das
Problem", das durch das „Gedankenexperiment" einer Lösung zugeführt
werden soll, ist aktuell. Inhaltlich stellt die probeweise in die Zukunft
projizierte Daseinsgestaltung immer eine Art Extrem dar. Es ist, als ob
der Dichter fragte, was würde sich äußerstenfalls ergeben, wenn . . .? Würde
ich schlimmstenfalls mich so und so verhalten können? Würde ich kon-
sequenterweise die Dinge nicht so und so anzusehen haben?
Es ist keine Frage, daß auch für diesen „Sinn" der Dichtung die von
Hanns Sachs (a.a.O.) hervorgehobene Bedeutung des „Publikums", dessen
Teilnahme das Schuldgefühl durch Teilung der Verantwortung mindert,
eine große Rolle spielt.
In dem „Bericht für eine Akademie" „versucht" K. den Ausweg in die
Künstlerexistenz. In der „Verwandlung" (wie in der Erzählung „Das Urteil")
wird der Weg des Opfers, des Zurücktretens und Sich- Auslöschen» erprobt.
In der „Strafkolonie" leuchtet die Möglichkeit einer religiös -kultischen Be-
wältigung des ewigen Vater-Sohn-Problems auf, um dem Vordringen einer
kritischen und human-vernünftigen Weltanschauung zu erliegen, die im
Bewußtsein ihrer Triebarmut wiederum den Fluchtweg des Verzichtes vor
Augen hat. In ihrer unbestechlichen Ehrlichkeit gesteht sich hier die Ver-
nunft ein, daß sie, entblößt von dem Beistand und der Kraft primitiver
Impulse, nicht dagegen gefeit ist, einmal dem eben überwundenen Gegner,
der zum Gott verklärten Vater gestalt, wieder zu erliegen, und während sie
ein Gebiet, wo sie nur zu zerstören, aber nicht zu wirken vermochte, ver-
läßt, klingt ihr die Prophezeiung von der Wiederkehr des „alten Komman-
danten in die Ohren, Fluch und Verheißung zugleich.
In der „Verwandlung" (ebenso im „Urteil", im „Landarzt", ja auch in
„Amerika ) ist der für Kafkas Problematik so entscheidende „Vater" ein
wirklicher Vater, ein Individuum mit höchst persönlicher, privater, oft
geradezu körperlicher Macht. Die Auseinandersetzung mit ihm ist ein
Frans Kafkas Inferno 65
Familienkonflikt, eine Privatangelegenheit'— vor allem ein Kinderstuben-
erlebnis, das den erwachsenen Dichter nicht unmittelbar an die aktuellen
Probleme, die die Realität ihm stellt, hinführt. In der „Strafkolonie* da-
gegen ist der Vater schon zu einer breiteren und unpersönlicheren Macht
geworden. Das Einzelwesen, das ihn „darstellt" (der alte Kommandant), ist
tot und so erscheint er in den Schöpfungen und Wirkungen dieses Toten,
d. h. in der Form des religiösen „Gesetzes", als „übernatürliche Gerechtig-
keit". Die Auseinandersetzung mit ihm ist ein soziales, ein öffentliches
Problem.
In dem Schloß roman sehen wir dann den Vater aufgelöst in die fast
ganz weltliche Macht einer Verwaltungsbehörde, und der Kampf mit ihm
stellt sich dar als ein Ringen um Duldung und Anerkennung seitens dieser
Behörde und um Aufnahme in die männliche Gemeinschaft der werktätigen
Bewohner des Dorfes, das jener Behörde untersteht.
Damit ist auch die entschiedenste Hinwendung zur Realität, die es bei
Kafka überhaupt gibt, vollzogen. Im Schloßroman — er blieb charakteristischer-
weise Fragment (wie übrigens auch „Amerika" und zu einem relativ ge-
ringeren Teil „Der Prozeß") — spielt sich ein zäher, mit aller Intensität
geführter Kampf um Lebensziele ab, der wohl den Höhepunkt der Kraft-
entfaltung darstellt. Der Prozeß roman, künstlerisch vielleicht dem „Schloß
noch überlegen, hat es nach unserer Meinung schon vorwiegend mit dem
Tode zu tun.
Die Ergebnisse der psychologischen Bearbeitung dieser großen Romane
und der übrigen Kafkaschen Werke, die den in der vorliegenden Arbeit
behandelten Stoff quantitativ wohl um das zehnfache übertreffen, können
hier natürlich nicht weiter mitgeteilt werden. Sie mögen vielleicht einmal
in einer umfangreicheren Arbeit eine ausführliche Darstellung finden.
Kaiser: Kafkas Inferno
I
Psychoanalytische Biograpkik^ /
D
urer
ALFRED WINTERSTEIN: Dürers „Meianckolie" im Lutte der Psychoana-
lyse. Mio a Kunstheilagen. Geheftet M,3.~, Ganzleinen M. 4. So
Inhalt: I) Der Inhalt ** Kupferstiches „Melencolia I» - II) Die historischen Voraussetzungen des Dürerischen
Konzept« - III) Die Quellen Durers _ IV) Saturn, Melancholie und Analcharakter - V) Dürers Lebens
VDiTz Tb Pe h rSOnhChkelt " VI) D " T ° d der Mutter - VII > Psychoanalytische Deutung der Melencolia -
R
ousseau
REN£ LAFORGUE: Jean Jacques Rousseau. Eine psyAoanalytisdie Studie.
Geheftet M. 2.20
Wir haben nicht die Absicht, Rousseau zu verkleinern, sondern ihn in seiner vollen Menschlichkeit
zu verstehen"
(j-oethe
THEODOR REIK: Warum verlief Goetne Friederike? Geheftet M. €,- 3 Ganz-
leinen M.. 8.—
Inhalt: Dichtung und Wahrheit - Ein alter Mann erzählt die Geschichte seiner Liebe - Die Gründe der
Trennung - Die Verkleidung - Der Kindtaufkuchen - Chronologische und andere Verwirrung - Die
KuJJangst — Sexualität und Gewissensangst — Der junge Goethe erzählt ein Märchen — Der Dichter über
die „Neue Melusine" - Der Schatten des Vaters - Der Text der Zwangsbefürchtung - Capriccio dolorosa -
*reundliche Vision — „Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm" — Coda
-PHILIPP 5ARASIN: Goethes Aiignon. Eine psydiaanalytisdie Studie.
Geheftet M.. 2.60, Ganzleinen M. 4.—
Inhalt: Vorbemerkung — I) Der Meisterroman — II) Goethes Jugendgeschichte — III) Ergänzungen zur
Jugendgeschichte. Knabenmärchen. Die französischen Schauspieler. Zum frühen Tode der Geschwister Goethes —
IV) Analytische Deutung der dramatischen Momente. Das Seiltinzermilieu. Mignon und Comelie. Die Vater-
identiüzierung — V) Analytische Deutung der lyrischen Momente — VI) Zusammenfassung
k— ,
Psychoanalytische Biographik
Fem
ner
IMRE HERMANN: Gustav TkeoJor leckner. Eine psYcnoaiialvtisdie Studie
üker individuelle Bedingtheiten wissensdiaftlidker Ideen.
Geheftet M. 3.—, Ganzleinen M, 4,60
Inhalt: Biographisches — Die schwere Krankheit — Die Idee der Psychophysik — Die „Tagesansicht" —Das
Formale im Denken Fechners — Die Begabungsgrundlagen — Fechner als Vorläufer psychoanalytischer Ideen
l^assalle
ERVIN KOHN: Lassalle — «1er Führet. Geheftet M. 4.-, Ganzleinen M. fe-
rnhält- I) Die psychologische Entstehung des Führers — II) Die psychologische Technik der Fahrun« bei
Lassalle - III) Das Liebesschicksal Lassalles - IV) Die psychische Struktur des Führertums bei Lassalle -
V) Die Nachfolge Lassalles und das Ende der Organisation
Jx^eller
EDUARD HITSCHMANN: Gottfried Keller. Psydtoanaly/se des Diditers,
seiner Gestalten und Motive. Geheftet M, 3. So
Das vorliegende Kelle^Buoh hat mir auch als Literarhistoriker einige Lichter aufgesteckt . ..Das
Buch veräe t un er| n Einblick in die erotischen Probleme bei dem Menschen wie be dem Kunstler Keller.
StlS? die Hemmungen in seiner persönlichen Liebeswahl und Sexualität und beleuchtet entsprechende
Motive^iner Dichtung.» (W- &** *V>* B«n, »» J******* «*» ■)
J^ajka
HELLMUTH KAISER: Tran* Kafkas Inferno. Geheftet M. J.-
Kafkas Phantasien, die als Privatmythologie des Dichters bezeichnet werden können, erfahren hier
eine psychologische Deutung. Es werden besonders die sadisUsch-masochistischen Phantasien der „Verwandlung"
und der „Strafkolonie" untersucht
Psychoanalytische Biographik
i5tnndber&
KARL BACHLER: August Strindberg. Eine psydioanalytisdie StuJ
Geheftet M. i.—
I) Die Eltern — II) Die Frau — III) Der Vater
H<
amsun
EDUARD HITSCHM ANN , Ein Ge, penst au , de, KindLeit Knu, H^suc,
Geheftet M. 2—, Ganzleinen M. S.So
-Dostojewski
JOLAN NEUFELD: Dostojewski. Geheftet M. §.~, Ganzleinen M. S.~
eine,, ^SL^^S?Ä£gS5 *— "" * "** ""* ^J*t&J*fSS" *
( w tVeue Zürcher Zeitung',)
Tel
stoi
N. OiSiSIPOW: Tolstois Kindheitserinnerungen. Ein Beitrag zu Freuds Litido-
tlieorte. Geheftet M. 6.—, Halbleinen M. y.So
Inhalt: I) Vorbemerkungen - II) Die „Ersten Erinnerungen" — III) Zwei allererrte Erinnerungen (Da» Indl-
vidual-Ich und die Ich-Libido — IV) Über den Narzißmus — V) Drei weitere Erinnerungen (Objektlibido) —
VI) Der Seelenkonflikt - VII) „Die Ameisenbrüder" (Das Supra-Ich) - VIII) Über die infantile Amnesie
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Unter Mitwirkung des Verfassers herausgegeben
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II) Die Traumdeutung
III) Ergänzungen und Zusatzkapitel zur Traumdeutung / Über den Traum / Beiträge
zur Traumlehre / Beiträge zu den „Wiener Diskussionen"
IV) Zur Psychopathologie des Alltagslebens / Das Interesse an der Psychoanalyse /
Über Psychoanalyse / Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung
V) Drei .Abhandlungen zur Sexualtheorie / Arbeiten xum Sexualleben und 2ur Neu-
rosenlehre / Metapsychologie
VI) Zur Technik / Zur Einführung des Narzißmus / Jenseits des Lustprindps / Massen-
psychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es / Anhang
VII) Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
VIII) Krankengeschichten
IX) Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten /Der Wahn und die Träume
in W. Jensens „Gradiva" / Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci
X) Totem und Tabu / Arbeiten zur Anwendung der Psychoanalyse
XI) Schriften aus den Jahren 1923 — 1926 / Geleitworte zu fremden Werken / Gedenk-
artikel / Vermischte Schriften j Schriften aus den Jahren 1926 — 1928
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